der neueſten Zeit.
Verlag von S. Hirzel.
1885.
[[III]]
im
Neunzehnten Jahrhundert
Bis zur Juli-Revolution.
Verlag von S. Hirzel.
1885.
[[IV]]
Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.
[[V]]
Vorwort.
Bei der Bearbeitung dieſes Bandes mußte ich fort und fort mit der
erdrückenden Maſſe der handſchriftlichen Quellen ringen. Außer den
unerſchöpflichen Schätzen des Berliner Geheimen Staatsarchivs waren
mir von beſonderem Werthe die Denkſchriften und Berichte des badiſchen
Bundesgeſandten Frhrn. v. Blittersdorff, der zuerſt der Politik der Mittel-
ſtaaten, nachher dem Wiener Hofe als rühriger Parteigänger diente. Sie
bieten eine erwünſchte Ergänzung zu dem Nachlaß von Metternich und
Gentz. Alſo kann ich es zur Noth verſchmerzen, daß die öſterreichiſchen
Archive für die Zeit nach 1815 bekanntlich noch unzugänglich ſind, und
ich nicht zu den Glücklichen gehöre, zu deren Gunſten man in Wien eine
Ausnahme macht. Ueber die deutſche Politik der kleinen Staaten habe
ich in den Karlsruher Akten, in der Correſpondenz der Naſſauiſchen
Staatsmänner Marſchall und Röntgen, ſowie in einigen Blättern der
Denkwürdigkeiten des Miniſters du Thil, welche ich im Darmſtädter
Archive einſehen durfte, manche neue Aufklärung gefunden. In den
meiſten Fällen war ich daher im Stande, die politiſchen Pläne der drei
großen Parteien des Deutſchen Bundes nach den eigenen Worten ihrer
Urheber darzuſtellen.
Außerdem ſind mir aus allen Theilen des Vaterlandes von Be-
kannten und Unbekannten mannichfache Nachrichten zugegangen, und ich
kann nur herzlich bitten, daß meine Leſer mir dies Vertrauen, das mich
oft tief ergriffen und beſchämt hat, auch bei den folgenden Bänden be-
thätigen mögen. Selbſt die Angehörigen ſolcher Männer, die ich nicht
rühmen konnte, ſelbſt die Neffen Karl Follen’s haben mich durch belehrende
Mittheilungen zu Dank verpflichtet. Die reichſte Ausbeute gewährten mir
die Papiere des Miniſters v. Motz, welche mir ſein Neffe, der inzwiſchen
[VI]Vorwort.
verſtorbene Oberſtleutnant v. Motz in Weimar zur Einſicht überſendete.
Durch ſie ward es mir erſt möglich, das Bild des hochſinnigen Staats-
mannes, der in den Jahren nach Hardenberg’s Tode das Beſte für
Deutſchlands Einheit gethan hat, in das rechte Licht zu rücken.
Die quellenmäßige Darſtellung einer nahen Vergangenheit, welche
faſt Niemand recht kennt und doch Jedermann zu kennen glaubt, müßte
ſehr geiſtlos ſein, wenn ſie nicht den Zorn politiſcher Gegner erregte.
Halbkenner haben zu allen Zeiten die ungeſchminkte Wahrheit am ſchwerſten
ertragen.
Auch für dieſen Band muß ich die Leſer um einige Geduld bitten,
zumal für ſeine erſten Bogen. Aus dem Gewühl der oft ſo kleinlichen
und abgeſchmackten Händel deutſcher Politik treten doch immer wieder be-
deutende Männer, große Machtfragen, fruchtbare Gedanken heraus, deren
Wirkſamkeit wir heute noch ſpüren. Ueber dem bunten Wirrſal waltet
die Nothwendigkeit einer erhabenen Vernunft.
Noch deutlicher als ſein Vorgänger zeigt der vorliegende Band, daß
die politiſche Geſchichte des Deutſchen Bundes nur vom preußiſchen
Standpunkt aus betrachtet werden kann; denn nur wer ſelber feſt ſteht,
vermag den Wandel der Dinge zu beurtheilen. Die Macht Preußens in
unſerem neuen Reiche iſt von langer Hand her durch redliche ſtille Arbeit
vorbereitet; darum wird ſie dauern. —
Berlin, 5. December 1885.
Heinrich v. Treitſchke.
[[VII]]
Inhalt.
- Drittes Buch.
- Oeſterreichs Herrſchaft und Preußens Erſtarken
1819—1830. - Seite
- 1. Die Wiener Conferenzen 3
- Die Schluß-Akte des Deutſchen Bundes 3
- Kampf um das preußiſche Zollgeſetz 29
- Das Manuſcript aus Süddeutſchland. Heſſiſche Verfaſſung 47
- 2. Die letzten Reformen Hardenberg’s 68
- Das Staatsſchulden-Edikt und die Steuergeſetze 68
- Entwürfe der Kreis- und Gemeindeordnung 98
- Reaction am Hofe. Der Kronprinz 113
- 3. Troppau und Laibach 131
- Die Revolution in den romaniſchen Ländern 131
- Congreß von Troppau 151
- Congreß von Laibach. Erhebung der Griechen 173
- 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes 198
- Verhandlungen mit dem römiſchen Stuhle. Clericale Bewegung 198
- Die preußiſchen Provinzialſtände 226
- 5. Die Großmächte und die Trias 254
- Congreß von Verona 254
- Wangenheim und die Triaspolitik. Die Darmſtädter Zollconferenzen 283
- Demüthigung Württembergs. Epuration des Bundestags 314
- Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe. Reaction in Süddeutſchland.
Verwicklung im Orient 333 - 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod 361
- Der Staatsrath und die Provinziallandtage 361
- Der Hof. Agendenſtreit. Gemiſchte Ehen 390
- Verwaltung und Heer. Berliner Leben 418
- Die Demagogen-Verfolgung 433
- Motz’s deutſche Handelspolitik 453
- 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland 486
- Königreich Sachſen 487
- Kurheſſen 517
- Die welfiſchen Lande. Georg IV. und Karl von Braunſchweig 534
- Mecklenburg. Oldenburg. Hanſeſtädte 566
- Erſtes Anklopfen der ſchleswig-holſteiniſchen Frage 586
- Seite
- 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine 603
- König Ludwig von Baiern 603
- Die Stuttgarter Zollconferenzen 623
- Der preußiſch-heſſiſche und der bairiſch-württembergiſche Zollverein 629
- Der mitteldeutſche Handelsverein 649
- Preußens Sieg. Preußiſch-bairiſcher Handelsvertrag 661
- 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit 682
- Dichtung und Wiſſenſchaft 682
- Radicalismus und Judenthum 701
- Anfänge der Hegel’ſchen Philoſophie 714
- 10. Preußen und die orientaliſche Frage 723
- Auflockerung der großen Allianz. Navarin 723
- Ruſſiſch-türkiſcher Krieg. Friede von Adrianopel 737
- Beilagen.
VI. Schmalz und ſein Rother Adlerorden 751 - VII. Die Burſchenſchaft und die Unbedingten 754
- VIII. Metternich und die preußiſche Verfaſſung 756
- IX. Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe 761
- X. Die Communalordnung vom Jahre 1820 768
- XI. Zur Geſchichte des preußiſchen Verfaſſungskampfes 769
- XII. Die Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe 769
- XIII. Schön’s Denkſchrift über die Provinzialminiſterien 770
- XIV. Motz an Kurfürſt Wilhelm I.770
- XV. Nebenius und der deutſche Zollverein 773
Berichtigungen.
- Seite 3, Zeile 1 v. u. lies: 28. Mai 1824.
- „ 45, „ 21 v. o. lies: deutſchen Stämme.
- „ 116, „ 7 v. o. lies: Großgrundbeſitzes.
- „ 144, „ 18 v. o. lies: blendende Halbwahrheit.
- „ 204, „ 3 v. u. lies: im Oſten.
- „ 219, „ 3 v. o. lies: könne.
- „ 225, „ 13 v. o. lies: Bisthum.
- „ 328, „ 9 v. u. lies: ſeine Schriften.
- „ 428, „ 16 v. u. lies: hiſtoriſch-philologiſchen.
- „ 589, „ 14 v. u. lies: aus den Kirchſpielen.
Drittes Buch.
Oeſterreichs Herrſchaft und Preußens Erſtarken.
1819—1830.
[[2]][[3]]
Erſter Abſchnitt.
Die Wiener Conferenzen.
Die Macht der trägen alltäglichen Gewohnheit betrügt den Genius
zuweilen um die Früchte ſeines Schaffens, aber ſie hemmt auch oft das
Unrecht auf ſeiner vermeſſenen Bahn. Ein Staatsſtreich, wie er dem
Fürſten Metternich zu Karlsbad und Frankfurt gelungen war, läßt ſich
nicht ſogleich wiederholen, am wenigſten in der vielgetheilten deutſchen
Welt. Die Angſt des Sommers 1819 war verflogen, die neuen Aus-
nahmegeſetze genügten vorläufig um die wirklichen wie die eingebildeten
Gefahren einer demagogiſchen Schilderhebung zu beſchwören, und je ſicherer
man ſich wieder fühlte, um ſo mächtiger regte ſich an den kleinen Höfen
wieder die Empfindung, welche in friedlichen Zeitläuften bei ihnen immer
vorherrſchte: die Sorge um ihre Souveränität.
Wohl hatte Baiern ſeinem nachträglichen Widerſpruche gegen die
Karlsbader Beſchlüſſe ſelber wieder die Spitze abgebrochen durch eine be-
ſchwichtigende Erklärung an die beiden Großmächte, und dem König von
Württemberg war die in Warſchau geſuchte Hilfe nicht zu theil geworden.
Die Wirkſamkeit der Bundesbeſchlüſſe ward auch dadurch keineswegs beein-
trächtigt, daß der Münchener Hof ſich bei ihrer Ausführung eine kleine
Eigenmächtigkeit erlaubt, die Executionsordnung gar nicht veröffentlicht,
die Cenſur nur für politiſche Zeitſchriften eingeführt hatte; denn die Exe-
cutionsordnung, die ja nur dem Bunde, nicht den Einzelſtaaten neue
Befugniſſe gewährte, beſtand unzweifelhaft zu Recht, ſeit der Bundestag
ſie verkündigt hatte, und für das Wohlverhalten der bairiſchen Schrift-
ſteller war durch die Amtsgewalt der Polizeibehörden ſo ausgiebig geſorgt,
daß Zentner ſpäterhin, der Wahrheit gemäß, verſichern konnte: auf ſolche
Weiſe werde der Zweck des Karlsbader Preßgeſetzes „ebenſo gut und oft
noch ſicherer erreicht als durch eine Cenſur“.*) Gleichwohl fühlte Har-
denberg, daß aus allen dieſen zaghaften Widerſtandsverſuchen ein ſtiller
Groll ſprach, der leicht gefährlich werden konnte. Wer vermochte zu
ſagen, ob nicht der bairiſche Kronprinz vielleicht bald am Hofe ſeines
1*
[4]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
gutherzigen Vaters obenauf kommen würde? Der junge Fürſt war ein
entſchiedener Gegner der Karlsbader Beſchlüſſe; ſein ganzes Weſen em-
pörte ſich dawider, die „freiſinnige, volksthümliche, teutſche“ Geſinnung,
deren er ſich ſo gern rühmte, und der Stolz auf die Souveränität des
Hauſes Wittelsbach. Man wußte in Berlin, daß Baiern und Württem-
berg fortan auf der Hut waren; beide Höfe hatten ihren Bevollmäch-
tigten die Weiſung ertheilt, auf den bevorſtehenden Wiener Miniſterbe-
rathungen nichts zu bewilligen, was der Landesverfaſſung zuwiderliefe.*)
Das rückſichtsloſe Gebahren der beiden Großmächte in Karlsbad hatte ſelbſt
die hochconſervativen kleinen Höfe des Nordens verſtimmt; ſogar der greiſe,
dem Hauſe Oeſterreich ſo treu ergebene König von Sachſen äußerte ſich
unzufrieden über die geringſchätzige Behandlung des Bundestags. Das
Alles mahnte zur Vorſicht, und obgleich Hardenberg die Angriffe des
Grafen Kapodiſtrias glücklich abgeſchlagen hatte, ſo hielt er doch für rath-
ſam, den Argwohn der ruſſiſchen Staatsmänner nicht noch mehr zu reizen,
ihnen keinen Vorwand für geheime Zettelungen in Deutſchland zu bieten.
Sobald General Schöler meldete, daß der Petersburger Hof den Wiener
Miniſterberathungen mit lebhafter Beſorgniß entgegenſehe, ließ Bernſtorff
ſogleich begütigend antworten, man beabſichtige in Wien durchaus keine
Aenderung, ſondern nur die Ausführung und Entwicklung der Bundes-
akte.**)
Aber auch Preußens eigenes Intereſſe ſchien dem Staatskanzler nach
den Erfahrungen der jüngſten Wochen ernſtlich gefährdet, wenn man den
in Teplitz eingeſchlagenen Weg weiter verfolgte. Dort hatte Hardenberg
die Hand geboten zu einer Erweiterung der Befugniſſe des Bundes,
welche dem völkerrechtlichen Charakter der Bundesverfaſſung zuwiderlief
und ohne eine ſelbſtändige Centralgewalt ſich kaum behaupten ließ. In-
zwiſchen war er zu der Einſicht gelangt, daß er ſelbſt die nächſte und
wichtigſte Aufgabe ſeiner deutſchen Politik, die Aufrechterhaltung des neuen
Zollſyſtems nur durchführen konnte, wenn ihn die Bundesgewalt nicht
durch willkürliche Eingriffe ſtörte. „Beſonders — ſo ſchrieb er, als er
dem Grafen Bernſtorff mit Genehmigung des Königs ſeine Weiſungen
für die Wiener Verſammlung ertheilte — beſonders ſind es die kleinen
Staaten, welche oft, von einem falſchen und anmaßlichen Gefühl ihrer
Souveränität verleitet, in nothwendigen Einrichtungen der großen Staaten
eine Verletzung ihrer Gerechtſame finden.“ Der erſte beſcheidene Verſuch
das preußiſche Zollgebiet zu erweitern hatte die kleinen Nachbarn alle-
ſammt in Harniſch gebracht; kein Zweifel, daß ſie in Wien verſuchen
würden, durch einen Beſchluß der Bundesgeſammtheit das preußiſche Zoll-
geſetz zu vernichten. Durfte Preußen dieſen Gegnern ſelber die Waffen
[5]Veränderte Politik der beiden Großmächte.
ſchleifen und jetzt noch für die Errichtung eines ſtehenden Bundesgerichts
wirken, die Lebensfragen ſeines Verkehrs, die ganze Zukunft der deutſchen
Handelspolitik den unberechenbaren Ausſprüchen eines Tribunals unter-
werfen, bei dem die Kleinſtaaten den Ausſchlag gaben? Sobald Harden-
berg eines der großen Probleme der praktiſchen deutſchen Einheit ernſtlich
ins Auge faßte, führte ihn die Natur der Dinge zurück zu jener nüch-
ternen Auffaſſung des Bundesrechts, welche ſich Humboldt ſchon bei der
Eröffnung des Bundestags gebildet hatte;*) er erkannte, daß die wirth-
ſchaftlichen Intereſſen der Nation nur unabhängig vom Bunde, allein durch
Verhandlungen zwiſchen den einzelnen Höfen gefördert werden konnten.
Eine ſtarke, das innere Leben der Einzelſtaaten meiſternde Bundes-
gewalt, wie er ſie noch auf dem Wiener Congreſſe erſtrebt, erſchien ihm
nunmehr weder möglich noch wünſchenswerth, nachdem der Bund „eine
andere Organiſation und Entwicklung als wir dabei vorausgeſetzt,“ er-
halten hatte. Die Bundesverfaſſung, wie ſie war, beruhte auf der Sou-
veränität der Einzelſtaaten; nur wenn man dieſen Grundſatz rückhaltlos
anerkannte, verſprachen die Wiener Verhandlungen irgend ein Ergebniß.
Daher wiederholte der Staatskanzler zwar nachdrücklich die alte Forde-
rung Preußens, daß die Bundeskriegsverfaſſung endlich geregelt würde;
er wollte auch die Karlsbader Beſchlüſſe als Nothgeſetze für wenige Jahre
unverbrüchlich feſthalten, aber eine noch ſtärkere Einwirkung auf die inneren
Angelegenheiten der Einzelſtaaten dachte er dem Bunde nicht einzuräumen.
Alſo kein ſtändiges Bundesgericht, auch keine definitive Executionsordnung,
ſo lange die proviſoriſche noch nicht erprobt ſei. Selbſt die verfaſſungs-
mäßige Einſtimmigkeit bei allen Beſchlüſſen über organiſche Einrichtungen
wollte Hardenberg jetzt nicht mehr beſeitigen, da die kleinen Staaten eine
gerechtere Stimmenvertheilung am Bundestage doch niemals bewilligen
würden. Ueber den Art. 13 der Bundesakte äußerte er nur einige un-
maßgebliche Wünſche und meinte ſchließlich trocken: am rathſamſten viel-
leicht, „man ließe es ganz bei den allgemeinen Erinnerungen des Präſi-
dialvortrags in der letzten Bundestagsſitzung bewenden.“**)
Auch Metternich begann bereits vorſichtig einzulenken. Prahleriſch
genug ſchrieb er freilich kurz vor Eröffnung der Conferenzen an den ge-
treuen Berſtett: „Zählen Sie auf uns. Zählen Sie auf den feſten
Gang Preußens, ich bürge Ihnen dafür. Zählen Sie endlich auf die
ungeheure Mehrheit der deutſchen Regierungen und vor Allem auf Sich
ſelbſt. Sie werden mich hier wieder finden, wie Sie mich am letzten
Tage in Karlsbad verlaſſen haben, Sie werden außerdem den Kaiſer fin-
den, ſicherlich eine ungeheure moraliſche Macht!“***) Indeß fühlte er
wohl, daß er jetzt nicht wieder, wie in jenen böhmiſchen Siegestagen, als
[6]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Dictator auftreten durfte. Seine Abſicht, das Repräſentativſyſtem überall
durch landſtändiſche Verfaſſungen zu verdrängen, war in Karlsbad ge-
ſcheitert; um wie viel weniger konnte ſie hier in Wien durchdringen, auf
umſtändlichen, förmlichen Miniſterconferenzen, wo die Künſte der Ein-
ſchüchterung und der Ueberraſchung nichts ausrichteten. Er fügte ſich alſo
klug in die Umſtände und gab ſchon dem Einladungsſchreiben, das am
16. Oktober an die kleinen Souveräne abging, eine beſcheidene, unver-
fängliche Form: nur „eine vorbereitende Rückſprache“ zwiſchen den deut-
ſchen Regierungen ſei beabſichtigt, damit der Bundestag für die wichtigen
Beſchlüſſe, welche Graf Buol am 20. September angekündigt, überein-
ſtimmende Inſtruktionen erhalte.*)
Als nun in der zweiten Hälfte des Novembers die geladenen Be-
vollmächtigten aller ſiebzehn Stimmen des engeren Rathes ſich bei ihm
meldeten, da fand er die meiſten wohlgeſinnt, bereit zu Allem, was den
Beſtand des „monarchiſchen Princips“ irgend befeſtigen konnte, aber auch
voll Furcht vor einer neuen Schmälerung ihrer Souveränität, und willig
ging er auf die verſöhnlichen Rathſchläge ein, welche ihm Bernſtorff in
vertraulichen Vorbeſprechungen ertheilte. Die Beiden wurden einig, von
den September-Beſchlüſſen „nicht um ein Haar“ abzuweichen, auch keine
erneute Beſprechung des Geſchehenen zu geſtatten; fortan aber ſollte ſich
die Karlsbader Politik „in den Grenzen des Ausführbaren“ halten, auf
dem Wege des „Glimpfs und der Eintracht“ nach einer Ausgleichung mit
den anders geſinnten Bundesgenoſſen ſtreben, bei der ſchwierigen Ausle-
gung des Art. 13 zugleich das monarchiſche Princip und die Bundesein-
heit ſichern und doch Schonung üben gegen die Staaten, welche bei ihrem
Verfaſſungswerk „jene doppelte Rückſicht großentheils ſchon aus den Augen
verloren hatten“.**) Um den Argwohn der kleinen Höfe von vornherein
zu beſchwichtigen, erging ſich Metternich in brünſtigen Betheuerungen ſeiner
Bundestreue: die Bundesakte, ſo verſicherte er gleich in der erſten Sitzung,
ſei für den Wiener Hof ſchlechthin heilig; ſelbſt wenn ſich ein Sprach-
fehler darin nachweiſen ließe, würde Kaiſer Franz niemals ein Wort in
dieſer heiligen Urkunde abändern laſſen. Damit war unzweideutig ange-
kündigt, daß Oeſterreich eine willkürliche Verſtärkung der Bundesgewalt,
wie ſie in Karlsbad beſchloſſen worden, für jetzt nicht wieder beabſichtigte.
Die Vertreter der beiden Großmächte erwarteten anfangs eine leb-
hafte Oppoſition von Seiten Baierns und Württembergs, doch ſahen ſie
ſich bald angenehm enttäuſcht.***) Der bairiſche Bevollmächtigte, Zentner
verſtand den Wünſchen beider Parteien des Münchener Cabinets zu ge-
[7]Haltung Baierns und Württembergs.
nügen und ſchlug eine mittlere Richtung ein, welche, wie die Dinge lagen,
für ſeinen Staat die einzig richtige Politik war. Er bekannte unverhohlen
ſeine Verfaſſungstreue und verfocht mit juriſtiſchem Scharfſinn jene ſtreng
partikulariſtiſche Anſicht des Bundesrechts, welche das Haus Wittelsbach
ſchon auf dem Wiener Congreſſe und ſeitdem am Bundestage beharrlich ver-
treten hatte: nach der bairiſchen Doctrin war das Grundgeſetz des Bun-
des allein in den elf erſten Artikeln der Bundesakte enthalten, die „be-
ſonderen Beſtimmungen“ der neun letzten Artikel über die inneren Ver-
hältniſſe der Bundesſtaaten galten in München nur als eine freiwillige,
nicht unbedingt verbindliche Verabredung zwiſchen ſouveränen Mächten.
Aber man wußte ſtets woran man mit dem Baiern war. Von den libe-
ralen Neigungen, die man ihm fälſchlich zugetraut, zeigte er gar nichts;
er vermied jedes Wort, das ihn in dieſem Kreiſe verdächtigen konnte, um
ſo vorſichtiger, da ihm ſeine Genoſſen nachdrücklich vorhielten, daß der
Münchener Hof ſelber durch ſeine Hilferufe die Karlsbader Beſchlüſſe mit
veranlaßt hatte. Blieb nur die Souveränität der Wittelsbacher und ihre
Landesverfaſſung unangetaſtet, ſo bot er willig ſeine Hand zu jedem An-
trage, der die „Ordnung“ ſichern ſollte; und da er in den Verhandlungen
ſich als ein ausgezeichneter Geſchäftsmann bewährte, immer gelaſſen und
höflich, arbeitſam und unterrichtet, ganz frei von Argliſt, ſo kam er ſelbſt
mit Metternich, wie Rechberg vorausgeſagt, auf einen guten Fuß. Mit
Bernſtorff verband ihn bald eine vertrauensvolle Freundſchaft, und wie-
der einmal erwies ſich die Verſtändigung zwiſchen den beiden größten rein
deutſchen Staaten als naturgemäß und heilſam: ſie konnte zwar, wie
hier die Parteien ſtanden, nur wenig Gutes ſchaffen, doch manche Thor-
heit reaktionärer Parteipolitik verhindern.
Minder freundlich, aber faſt noch ungefährlicher erſchien die Haltung
Württembergs. Ueber den Plänen des Stuttgarter Hofes lag noch immer
jenes ſeltſame Zwielicht, das dem Charakter König Wilhelms zuſagte.
Der preußiſche Geſandte vermochte ſchlechterdings nicht durchzuſehen; bald
verſicherte ihm ein Miniſter, der Hof ſei im Grunde mit den Karlsbader
Beſchlüſſen ganz einverſtanden, bald erging ſich der König vor dem ruſ-
ſiſchen Geſandten in hochliberalen Aeußerungen.*) Die nämliche Unſicher-
heit verrieth ſich auch bei der Wahl der Bevollmächtigten für die Conferenz.
Wintzingerode blieb in Stuttgart, aus denſelben Gründen, welche Rech-
berg in München zurückhielten: er wollte ſeinen Monarchen nicht aus den
Augen laſſen und in den Sitzungen des Geheimen Raths den Ausſchlag
geben.**) Statt ſeiner wurde Graf Mandelsloh bevollmächtigt, ein gut-
müthiger, bequemer, urtheilsloſer alter Herr, deſſen politiſche Unſchuld
über jeder Anfechtung erhaben war. Doch ganz ohne Hintergedanken ver-
[8]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
mochte die Stuttgarter Politik nie zu handeln. Als Gehilfe, ohne Stimm-
recht, wurde dem harmloſen Geſandten der Freiherr v. Trott beigegeben,
ein liberaler Rheinbundsbureaukrat, wie der Schwabenkönig ſie liebte,
geſcheidt, thätig, ehrgeizig. Er galt ſeit einigen Monaten für den nächſten
Vertrauten König Wilhelms; freilich wußte Niemand zu ſagen, wie lange
dies Glück währen würde, da die Rollen am Stuttgarter Hofe ſehr raſch
zu wechſeln pflegten. In Wien fand er von vornherein eine üble Auf-
nahme, weil er als Bonapartiſt verrufen war und den Triasplänen Wan-
genheim’s nahe ſtand; der kurheſſiſche Geſandte Münchhauſen weigerte
ſich ſogar mit ihm gemeinſam zu berathen, der einſt als Präfekt unter
König Jerome gedient hatte. Alſo von allen Seiten beargwöhnt, und über-
dies mit ſeinem Vorgeſetzten perſönlich verfeindet, vermochte Trott auf den
Conferenzen keine Rolle zu ſpielen; nur zuweilen, wenn von Stuttgart
her ein kleines Ränkeſpiel eingeleitet wurde, trat er aus dem Dunkel
heraus.*)
Unter den übrigen Bevollmächtigten ragte der darmſtädtiſche Miniſter
Freiherr du Thil hervor, ein ſcharfer ſtaatsmänniſcher Kopf, der als
ſtreng conſervativer Monarchiſt verrufen, gleichwohl die praktiſchen Ziele
der nationalen Politik und den deutſchen Beruf des preußiſchen Staates
freier, richtiger beurtheilte als die Mehrzahl der Liberalen; er erwarb ſich
hier bei den preußiſchen Staatsmännern ein Anſehen, das dereinſt noch
für Deutſchlands Einheit ſeine Früchte tragen ſollte.**) Aber auch er
zeigte ſich immer bedenklich, ſo oft von erweiterten Befugniſſen des Bun-
des die Rede war. Aehnlich dachten die meiſten anderen Miniſter, bis
herab zu dem wackeren Fritſch, der die erneſtiniſchen Höfe vertrat, und
dem Senator Hach, dem Bevollmächtigten der freien Städte. Und dieſe
Geſinnung der Staatsmänner entſprach unzweifelhaft der Meinung der
Nation.
Es war der Fluch der Karlsbader Politik, daß jede Verſtärkung der
Bundesgewalt nunmehr als eine Gefahr für die bürgerliche Freiheit be-
trachtet wurde. In einem Volke, das den nationalen Stolz, den Gedanken
des Vaterlandes kaum erſt wiederzufinden begann, mußte der Partikularis-
mus unvermeidlich mit verjüngter Kraft erwachen, nachdem die Politik der
Centraliſation ſich auf falſche Ziele gerichtet hatte. Eben in dieſen Tagen
veröffentlichte der Führer der fränkiſchen Liberalen, W. J. Behr in Würz-
burg eine Schrift über „die Einwirkung des Bundes auf die Verfaſſung
ſeiner Gliederſtaaten“, die in der Preſſe warmen Beifall fand und die
liberalen Durchſchnittsanſichten treulich wiedergab. Hier ward die partiku-
lariſtiſche Doctrin des Münchener Hofes noch weit überboten. Kein Wort
mehr von einer deutſchen Nation, von allen den großen Culturaufgaben,
[9]Triumph des Partikularismus.
die ſie nur mit geeinter Kraft löſen konnte. Durch die Auflöſung des
heiligen Reichs und den Rheinbund iſt die Unhaltbarkeit eines deutſchen
Völkerſtaates erwieſen. Der Deutſche Bund iſt lediglich ein freier geſell-
ſchaftlicher Verein zwiſchen coexiſtirenden Völkern, die unter einander
Frieden halten und ihre Sicherheit gegen das Ausland gemeinſam ver-
theidigen, aber ſich der vollen Souveränität erfreuen wollen; er läßt das
Innere ſeiner Gliederſtaaten ganz unberührt und darf gegen widerſetz-
liche, da Souveränität und Unterordnung völlig unvereinbar ſind, nur
das Mittel der Ausſchließung anwenden. Wehe uns, wenn „unſeren
deutſchen Staatenbund der Geiſt eines Völkerſtaates beſchliche, gelüſtend
nach einer höchſten Staatsgewalt!“ Mit einem Lobgeſange auf Baierns
freie Verfaſſung ſchloß die Abhandlung. So gänzlich hatte die neue Ver-
faſſungsherrlichkeit die Erinnerungen einer tauſendjährigen Geſchichte ver-
wiſcht: die Nation der Ottonen und der Staufer löſte ſich auf in coexi-
ſtirende Völker.
Da Metternich und Bernſtorff Beide fühlten, daß man mit dieſer
ſtarken partikulariſtiſchen Strömung rechnen mußte, ſo vollzog ſich bald
nach der Eröffnung der Conferenzen eine unerwartete Verſchiebung der
Parteien. Die Großmächte gingen mit Baiern Hand in Hand und er-
langten in den meiſten Fällen die Zuſtimmung derſelben Kleinſtaaten, die
man kurz zuvor mißtrauiſch von den Karlsbader Berathungen ausge-
ſchloſſen hatte. Die zwei reaktionären Höfe dagegen, welche ſich in Karls-
bad am dienſtfertigſten gezeigt hatten, Baden und Naſſau, bildeten in
Wien die Oppoſition und ſpielten die Rolle der deutſchen Ultras, wie
Bernſtorff zu ſagen pflegte. Für Berſtett’s beſchränkten Kopf waren die
zwingenden Gründe, welche den Wiener Hof zur Behutſamkeit nöthigten,
nicht vorhanden; er dachte nur an ſeine heimiſchen Verlegenheiten, an den
Karlsruher Landtag, der binnen Kurzem wieder zuſammentreten mußte,
an den zornigen Ausruf ſeines Großherzogs: „beſſer von Löwen gefreſſen
werden als von Schweinen!“ Er wollte, wie Bernſtorff ſchrieb, „ſein
eigenes Werk durch die Einmiſchung des Bundes zerſtört ſehen“ und
wünſchte eine umfaſſende Neugeſtaltung der Bundesakte, um den Landes-
verfaſſungen feſte Schranken zu ziehen, zum mindeſten aber ein neues
Ausnahmegeſetz, das die Oeffentlichkeit der Kammerverhandlungen für die
fünfjährige Dauer der Karlsbader Beſchlüſſe aufheben ſollte.*) Vergeblich
lieh ihm ſein Begleiter, der raſtloſe junge Blittersdorff ſeine ſcharfe Feder.
Nos Ultras wurden bald ihrem alten öſterreichiſchen Gönner ſelber läſtig.
Berſtett mußte einen ſeiner Pläne nach dem andern ſcheitern ſehen und
verſuchte endlich nur noch durch immer neue Anträge den Schluß der
Conferenzen hinauszuſchieben, weil er dem badiſchen Landtage „durch die
[10]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Dauer des hieſigen Vereins eine heilſame Scheu einzuflößen hoffte.“*)
So wunderliche Blaſen ſtiegen aus dem Sumpfe der deutſchen Bundes-
politik empor. Nicht nationale Geſinnung beſeelte den Staatsmann, der
ſo nachdrücklich die Nothwendigkeit einer ſtarken Centralgewalt vertheidigte,
ſondern die Furcht vor der Revolution und die naive Selbſtüberhebung
des Partikularismus; er verwechſelte, wie Bernſtorff ihm vorwarf, be-
ſtändig „die beſonderen Verhältniſſe Badens mit den höheren und allge-
meineren der Geſammtheit“. Der Ausgang der Wiener Verhandlungen
erfüllte dieſe reaktionären Centraliſten mit tiefem Unwillen. „Oeſterreich,
ſchrieb Blittersdorff zornig, ſicherte durch ſeine Halbheit den neuen Ideen
den Sieg; in dieſer Beziehung kann die Wiener Schlußakte als die nach-
theiligſte Friedensurkunde betrachtet werden, die von Oeſterreich ſeit langen
Jahren unterzeichnet worden iſt.“**)
Noch leidenſchaftlicher gebärdete ſich Berſtett’s Freund, der Naſſauer
Marſchall. Der hatte erwartet, daß in Wien ſofort der Vernichtungs-
krieg gegen die neuen Verfaſſungen entbrennen würde, und ſchon vor
Eröffnung der Conferenzen eine Denkſchrift entworfen, welche in glühenden
Farben „das Gemeinſchädliche und Rechtswidrige“ des württembergiſchen
Grundgeſetzes ſchilderte. Weil dieſe Verfaſſung die Form eines Vertrages
trug, ſo wurde ſie, trotz ihres wahrlich ſehr beſcheidenen Inhalts, von
den Doktrinären beider Parteien für das Meiſterſtück des Liberalismus
angeſehen. Der Naſſauer meinte die Sturmglocken des Aufruhrs läuten
zu hören, als die Stuttgarter Bürger in einer Adreſſe ſagten: „das
gebildete Europa von den Ufern des Tajo bis an den Niemen iſt über
den Grundſatz einig, daß ohne einen Unterwerfungsvertrag Regent und
Volk nicht gedacht werden könne.“ Er betheuerte, ſchon durch ihren Ur-
ſprung ſei dieſe Verfaſſung „eine Huldigung, dem in Deutſchland gäh-
renden demokratiſchen Princip dargebracht; an ihre öffentliche Mißbilli-
gung knüpfe ſich die Erhaltung und Befeſtigung der inneren Ruhe von
Deutſchland.“ Die ängſtlich beſchränkte Gemeindefreiheit der Schwaben
erſchien dem Oberhaupte der allmächtigen naſſauiſchen Bureaukratie als
ein Verſuch „den Staat von unten auf zu republikaniſiren“; und da
er ſelber mit ſeinem Landtage wegen der Domänen haderte, ſo fand er
es empörend, daß König Wilhelm, nach dem Vorgange [ſeines] Vaters,
dem Staate das Eigenthumsrecht an den königlichen Kammergütern zu-
geſtanden hatte, und rief entrüſtet: „ein deutſcher Fürſt hat ſein Fa-
miliengut für Volksgut erklärt!“***) Bald mußte er lernen, wie un-
günſtig die Wiener Luft jetzt ſolchen Plänen war. Als er ſodann das
vertrauliche Einvernehmen zwiſchen Bernſtorff und Zentner bemerkte, da
[11]Die deutſchen Ultras.
fühlte er ſich von Neuem beſtärkt in ſeiner alten Meinung, daß von dieſer
tödtlich gehaßten norddeutſchen Großmacht „der politiſche Gährungsſtoff
ausgehe“, und polterte mit maßloſer Heftigkeit wider den preußiſchen
Miniſter.
Die Vertreter der welfiſchen Häuſer, Münſter und Hardenberg,
ſtanden, wie von der Gefolgſchaft der Hochtorys zu erwarten war, den
Anſichten dieſer beiden reaktionären Heißſporne ſehr nahe, doch ſie trugen
Bedenken ſich mit den Großmächten zu überwerfen. Wie anders als in
Karlsbad war jetzt Metternich’s Lage. Wohl erſchien er noch immer vor
der Welt als der bewunderte Führer der deutſchen Staatsmänner, und
dem Meiſter zu Ehren ward das mühſelige Werk, das nach ſechsmo-
natlichen Verhandlungen endlich zu Stande kam, vom 15. Mai, dem
Geburtstage Metternich’s datirt. Aber während er in Karlsbad den Herrn
geſpielt hatte, vereinbarte er in Wien faſt jeden wichtigen Schritt zuvor
mit Bernſtorff, der hier zuerſt eine ganz ſelbſtändige Haltung zeigte
und ſeinerſeits wieder insgeheim mit Zentner Rückſprache nahm. Der
Oeſterreicher ließ ſich ſeine Enttäuſchung nicht anmerken und erzählte
in ſeinen Briefen mit gewohnter Ruhmredigkeit von den ungetrübten
Triumphen ſeines neuen diplomatiſchen Feldzugs. In Wahrheit entſprach
die Politik der Compromiſſe, welche auf dieſen Conferenzen eingehalten
wurde, wohl der gemäßigten Geſinnung des Berliner Cabinets, aber
keineswegs den Herzenswünſchen der Hofburg; wußte doch Jedermann,
daß die beiden Ultras Berſtett und Marſchall neben dem Mecklenburger
Pleſſen die erklärten Lieblinge Metternich’s waren.
Unterſtützt von dem zweiten Bevollmächtigten Küſter, der die Sinnes-
weiſe der kleinen Höfe noch von den Regensburger Zeiten her gründ-
lich kannte, errang ſich Bernſtorff durch kluge Nachgiebigkeit und unge-
heucheltes Wohlwollen raſch eine ſehr günſtige Stellung, ſo daß ihn Zentner
die Seele der Conferenzen nannte.*) Er vermied es in den Plenarver-
ſammlungen allzuhäufig zu reden, da Preußen in acht von den zehn
Ausſchüſſen, welche die Geſchäfte der Conferenzen vorbereiteten, den Vorſitz
führte und in allen zehn vertreten war. Der Gewinn aus den langwierigen
Berathungen konnte nur dürftig ſein; ihr Verlauf bewies für alle Zu-
kunft, daß ein Bund, der ſeinen Gliederſtaaten die Souveränität zuge-
ſteht, auf jede geſunde bündiſche Entwicklung verzichten muß. Immerhin
einigte man ſich doch über die Auslegung mehrerer gar zu kümmerlichen
Artikel der Bundesakte ſowie über einige gemeinſame Grundſätze für das
Verfaſſungsleben der Einzelſtaaten; die Ergänzung des Bundesrechts,
welche hier zu Stande kam, war mindeſtens etwas brauchbarer als die
Bundesakte ſelbſt, und was das Beſte blieb, man unterließ jeden Schritt
der Willkür, der die erbitterte Nation von Neuem aufregen konnte.
[12]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Der Rechtsboden, auf dem die Conferenzen ſelber fußten, war nach
der Bundesverfaſſung keineswegs unanfechtbar. Ganz ſo beſcheiden wie
in ſeinem Einladungsſchreiben erklärte Metternich bei Eröffnung der Con-
ferenzen am 25. November: dieſe Verſammlung ſei kein Congreß und
habe keine eigentlichen Beſchlüſſe zu faſſen, ſondern ſolle ſich nur „auf
eine vorbereitende, aber verbindliche Weiſe“ zu einer gemeinſamen Be-
handlung der Bundesangelegenheiten vereinigen; ſie beabſichtige nicht den
Wirkungskreis des Bundestags zu verengen, wohl aber den Umfang und
die Grenzen dieſes Geſchäftskreiſes zu beſtimmen. Da der Bundestag bis-
her noch keine der verheißenen organiſchen Einrichtungen zu Stande ge-
bracht hatte, ſo lag allerdings der Gedanke nahe, ihm zu Hilfe zu kommen
durch eine vertrauliche Berathung zwiſchen den leitenden Staatsmännern
ſelber, welche weder durch den ſchleppenden Geſchäftsgang der Bundesver-
ſammlung noch durch das Gaukelſpiel der Inſtruktionseinholung gelähmt
wurde; hier in Wien war ja nicht, wie einſt in Karlsbad, nur eine Partei,
ſondern die Geſammtheit der Bundesglieder vertreten. Aber der Art. 10
der Bundesakte hatte der Bundesverſammlung die Abfaſſung der Grund-
geſetze ausdrücklich als ihr erſtes Geſchäft zugewieſen; nahm man ihr dieſe
Aufgabe ab, ſo ward ihr Anſehen, das ohnehin ſeit den Septemberbe-
ſchlüſſen tief geſunken war, vollends zerſtört und die hoffnungsloſe Nich-
tigkeit der deutſchen Centralgewalt vor aller Welt eingeſtanden. Welch
ein lächerlicher Anblick: während in Wien über den Ausbau der Bundes-
verfaſſung verhandelt wurde, hielt die höchſte deutſche Behörde von Ende
Septembers bis zum 20. Januar gemächlich ihre Ferien, und dann erſchien
Graf Buol, der unterdeſſen die Befehle der Wiener Verſammlung ein-
geholt hatte, um nochmals eine Vertagung bis zum 10. April zu bean-
tragen. Umſonſt verſuchten halbamtliche Zeitungsartikel die öffentliche
Meinung zu beſchwichtigen durch die Verſicherung, daß die Commiſſionen
unabläſſig weiter arbeiteten; die Nation wußte ſo gut wie die Bundes-
geſandten ſelber, daß die Maſchine in Frankfurt vollkommen ſtill ſtand.*)
Sieben Monate lang gab der Bundestag nur einmal ein nennenswerthes
Lebenszeichen von ſich: als er den franzöſiſchen Hof erſuchte, den „Elſaſſer
Patrioten“, ein gemeinſames Organ der Liberalen beider Rheinufer zu
unterdrücken.**)
Mittlerweile ſchwoll den Wiener Conferenzen der Stoff unter den
Händen an; ihr erſter Ausſchuß, der die Competenz des Bundes feſtſtellen
ſollte, ſah ſich genöthigt, faſt alle die ſchweren Principienfragen des Bun-
desrechts zu erörtern, und ganz von ſelbſt erhob ſich die Frage, ob es
nicht zweckmäßig ſei, die alſo vereinbarten Grundſätze in einem großen
Bundes-Verfaſſungsgeſetze zuſammenzufaſſen. Nachdem die Mehrheit ſich
[13]Die Conferenz und der Bundestag.
in der Stille ſchon darüber geeinigt hatte, beantragte Metternich am
4. März, man möge aus den hier beſchloſſenen Sätzen eine Supplemen-
tar-Akte zur Bundesakte zuſammenſtellen und dieſe ſodann „unter Be-
zugnahme auf den Art. 10 der Bundesakte“ dem Bundestage zur förm-
lichen Bekanntmachung überſenden.
Alſo unter Bezugnahme auf den Art. 10 ſollte dieſer Artikel aufge-
hoben und die dem Bundestage gebührende Abfaſſung der Grundgeſetze
kurzweg einer Miniſterconferenz, von welcher die Bundesakte gar nichts
wußte, übertragen werden! Kühner hatte ſelbſt Metternich die Vorſchriften
des deutſchen Bundesrechts noch niemals ausgelegt. Was kümmerte es
ihn, daß er noch im November verſichert hatte, man beabſichtige nur eine
freundſchaftliche Rückſprache zwiſchen den verbündeten Regierungen? Jetzt
behauptete er zuverſichtlich, dieſer Miniſterverſammlung ſtehe die höhere,
dem Bundestage nur eine untergeordnete Gewalt zu. Aber ſo gewiß
der öſterreichiſche Vorſchlag ſchweren rechtlichen Bedenken unterlag, ein ge-
ſchickter diplomatiſcher Nothbehelf war er doch; er bot das einfachſte Mittel
um aus den weitſchweifigen Verhandlungen ein geſichertes Ergebniß zu
gewinnen und zugleich den Bundestag ganz zur Seite zu drängen. Dies
letztere Ziel hielt Metternich beſtändig im Auge, denn das Durcheinander
der Parteien in der Eſchenheimer Gaſſe beunruhigte ihn ſchwer. Weder
Graf Buol noch ſein preußiſcher Genoſſe vermochte die kleinen Bundesge-
ſandten im Zaume zu halten. Ueber die Abberufung des Grafen Goltz, der
ſich ſehnſüchtig aus dem Frankfurter Gezänk hinwegwünſchte, ward ſchon ſeit
Langem berathen; aber es fand ſich kein Nachfolger, denn Graf Solms-
Laubach war dem Wiener Hofe verdächtig und den katholiſchen Fürſten
Hatzfeldt fand der König für dieſen Poſten nicht geeignet, da Preußen am
Bundestage als Führer der proteſtantiſchen Höfe auftreten ſollte. Die un-
genügende Vertretung blieb alſo vorläufig unverändert und Goltz wurde nur
angewieſen, über Fragen des Bundesrechts den Rath des gelehrten Klüber
einzuholen.*) Der führerloſe Bundestag ſchien ſchlechthin unberechenbar; ge-
ſtattete man ihm über die Wiener Vereinbarungen nochmals zu berathen, ſo
war leicht vorherzuſehen, daß Wangenheim und ſeine liberalen Freunde,
mit oder ohne Erlaubniß ihrer Höfe, die Fahne der Oppoſition aufpflanzen,
ihre Reden, durch die öffentlichen Protokolle weithin ins Land getragen,
die öffentliche Meinung aufſtacheln würden. In der Anarchie dieſes Bun-
des war Alles möglich, ſelbſt ein Kampf zwiſchen den Bundesgeſandten
und ihren vorgeſetzten Miniſtern. Solches Aergerniß ließ ſich nur ver-
meiden, wenn man in Wien Alles ins Reine brachte und den Bundes-
tag wieder, wie im vorigen Herbſt, unter die Macht der vollendeten That-
[14]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
ſachen beugte. Dahin war der Deutſche Bund in kurzen fünf Jahren
gelangt: jede noch ſo beſcheidene Verbeſſerung ſeines Grundgeſetzes konnte
nur durch die Umgehung und Demüthigung ſeiner höchſten Behörde er-
reicht werden. —
Die ſogenannte Schlußakte, welche nunmehr auf Metternich’s Antrag
aus den gefaßten Beſchlüſſen zuſammengeſtellt wurde, enthielt in den 34
Artikeln ihres erſten Theils ausführliche Vorſchriften über Weſen und
Wirkungskreis des Bundes. Faſt jeder Satz dieſer allgemeinen Beſtim-
mungen war ein Triumph des Partikularismus. In der erſten Sitzung
nannte Metternich den Bundestag noch die oberſte geſetzgebende Behörde des
Bundes und verſprach, die Souveränität jedes einzelnen Staates ſolle
„nur inſofern beſchränkt werden, als es der Zweck der Einheit Deutſch-
lands erfordere“. Da legte Zentner ſogleich Verwahrung ein: das Wort
„deutſche Einheit“ gebe Anlaß zu Mißverſtändniſſen, eine oberſte geſetzgebende
Gewalt ſei in einem Bunde unmöglich — worauf denn Metternich als-
bald einlenkte und begütigend erwiderte, natürlich habe er nur an eine
vertragsmäßige Geſetzgebung gedacht. Den alſo angeſchlagenen Ton hielt
die Mehrheit auch im weiteren Verlaufe der Verhandlungen ein; die
Schlußakte erklärte den Deutſchen Bund für einen völkerrechtlichen Verein,
eine Gemeinſchaft unabhängiger Staaten mit wechſelſeitigen gleichen Ver-
tragsrechten — eine Faſſung, welche dem württembergiſchen Hofe ſogar
noch allzu unitariſch vorkam. Dem redlichen Fritſch ward doch zuweilen
ſchwül ums Herz, da er das deutſche Gemeinweſen ſich dergeſtalt in ein
lockeres Vertragsverhältniß verflüchtigen ſah; ſo ſuche man Deutſchland
zu entnationaliſiren, ſchrieb er klagend, dieſe ſouveränen ſelbſtändigen
Staaten würden ihre Unterthanen noch ſo unglücklich machen, „daß der
Ruf nach Einheit zur Volksſtimme und zur Volksrevolution wird.“ Trotz-
dem ſchloß ſich der Geſandte der Erneſtiner zuletzt unbedenklich den Be-
ſchlüſſen der Mehrheit an. Auch Bernſtorff trat der partikulariſtiſchen
Auslegung des Bundesrechts nicht entgegen, da ſie unleugbar den Worten
und dem Sinne der Bundesakte entſprach. Ihm genügte, daß ſich unter
dieſen doktrinären allgemeinen Sätzen doch eine praktiſch werthvolle Be-
ſtimmung befand: der Art. 6 geſtattete die Abtretung von Souveränitäts-
rechten zu Gunſten eines Mitverbündeten, und damit erhielt Preußen,
ohne daß die Mehrheit es gewahr ward, freie Hand für ſeine Zollan-
ſchluß-Verträge.
Der Bundestag ſollte den Bund „in ſeiner Geſammtheit vorſtellen“;
ſeine Mitglieder blieben von ihren Souveränen „unbedingt abhängig“,
ihnen allein für die Befolgung ihrer Inſtruktionen ſowie für ihre Ge-
ſchäftsführung verantwortlich (Art. 8). Durch dieſe Vorſchrift dachte man
zugleich jedem eigenmächtigen Verfahren der Bundesgeſandten vorzubeugen
und den Landtagen jeden Eingriff in die Bundesverhandlungen zu unter-
ſagen. Hier zeigte ſich aber, wie wenig ein Diplomatencongreß ſchweren
[15]Berathung über die Rechte des Bundes.
geſetzgeberiſchen Aufgaben genügen kann. Da außer Zentner, Hach und
Berg kein erfahrener Juriſt den Conferenzen beiwohnte, ſo gerieth ihr
Werk in der Form ebenſo mangelhaft wie einſt die Bundesakte, und auch
der Wortlaut des Art. 8 verrieth die unſicheren Hände juriſtiſcher Dilet-
tanten. Er verbot den Landſtänden nur, die Bundesgeſandten zur Ver-
antwortung zu ziehen, doch er verbot ihnen nicht, ihre conſtitutionellen
Miniſter wegen des Inhalts der nach Frankfurt geſendeten Inſtruktionen
zur Rede zu ſtellen, und bald genug ſollte man erfahren, daß die Con-
ferenz das Bundesrecht nur um ein neues unlösbares Räthſel bereichert
hatte. Die ſchwierige Frage, ob den Landtagen eine mittelbare Einwir-
kung auf den Gang der Bundespolitik zukomme, hat ſo lange dieſer Bund
beſtand niemals eine klare Antwort gefunden.
Sehr heftig ſtießen die Parteien auf einander, als ſodann die verfaſ-
ſungsmäßige Einſtimmigkeit der Bundesbeſchlüſſe zur Sprache kam. Da ent-
falteten Berſtett und Marſchall ihre ganze Beredſamkeit; ſie verlangten
Mehrheitsbeſchlüſſe für alle die Fragen, welche nicht über die weſentlichen
Zwecke des Bundes hinauslägen, und gaben deutlich zu verſtehen, daß ſie der-
einſt noch zu gelegener Zeit durch Stimmenmehrheit ein Bundeszollgeſetz und
einen Bundesbeſchluß über die Rechte der Landtage durchzuſetzen hofften.*)
Eben dieſe Hintergedanken der beiden ſeltſamen Unitarier nöthigten den
preußiſchen Miniſter, auf den Beſtimmungen der Bundesakte zu beſtehen;
er wollte ſein Zollgeſetz dem Belieben der Bundestagsmehrheit ebenſo
wenig preisgeben wie Zentner ſeine bairiſche Verfaſſung. So lange die
Kleinſtaaten, die kaum den ſechſten Theil der Nation umfaßten, die an-
deren fünf Sechſtel überſtimmen durften, blieb das aberwitzige Recht des
Liberum Veto eine unentbehrliche Nothwehr gerade für die lebenskräf-
tigeren Staaten. Dies ſtand nach den traurigen Erfahrungen der letzten
Jahre außer Zweifel; darum war auch Hardenberg, der noch in Teplitz
die Rechte der Bundesmehrheit zu erweitern gedacht hatte, längſt wieder
anderen Sinnes geworden. Selbſt Metternich erkannte jetzt die Unaus-
führbarkeit jener Teplitzer Pläne; er warnte die Verſammlung, daß ſie
den Staatenbund ja nicht in einen Bundesſtaat verwandle, und ver-
wahrte ſich lebhaft wider den gehäſſigen Ausdruck Liberum Veto, da dies
Recht des Einſpruchs von der Souveränität unzertrennlich ſei. Preußen
unternahm noch einen Vermittlungsvorſchlag: falls eine organiſche Ein-
richtung am Bundestage zwar die Zuſtimmung der Mehrheit, doch nicht
einſtimmige Annahme fände, dann ſollten die Staaten der Majorität be-
fugt ſein, unter ſich ein Abkommen, nach Art der altſchweizeriſchen Kon-
kordate, zu ſchließen. Der Antrag fiel, weil man die Entſtehung gefähr-
licher Sonderbünde befürchtete. So blieb es denn im Weſentlichen bei
[16]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
der Vorſchrift jenes Art. 7 der Bundesakte, der für alle Grundgeſetze und
organiſchen Einrichtungen Einſtimmigkeit verlangte, und der einzige Segen
der langen Berathung war eine unklare Erläuterung des unklaren Aus-
drucks „organiſche Einrichtungen“; er ſollte bedeuten: „bleibende Anſtalten
als Mittel zur Erfüllung der ausgeſprochenen Bundeszwecke.“
Ebenſo kümmerlich war das Ergebniß der mühſamen Verhandlungen
über die ſogenannte „permanente Inſtanz“. Wie ſeltſam hatten doch die
Rollen gewechſelt. Dies Preußen, das auf dem Wiener Congreſſe am
eifrigſten für ein ſtehendes Bundesgericht geſtritten hatte, berief ſich nun-
mehr ebenſo nachdrücklich wie der alte Gegner des Bundesgerichts, Baiern,
auf den Wortlaut der Bundesakte und ſtellte den Antrag: da das Bun-
desrecht nur ein Austrägalverfahren kenne, ſo möge jede Stimme des
engeren Rathes einen namhaften Juriſten zum Austrägalrichter er-
nennen; aus dieſen ſiebzehn ſollten darauf die ſtreitenden Parteien in
jedem einzelnen Falle fünf Richter erwählen; dann ſei doch einige Gewähr
für die Unparteilichkeit des Schiedsſpruchs gegeben. Metternich hingegen,
der vor fünf Jahren das Bundesgericht bereitwillig dem Widerſpruche
Baierns geopfert hatte, unterſtützte jetzt insgeheim die norddeutſchen
Kleinſtaaten, die alleſammt mit verdächtigem Eifer nach einem ſtehenden
Bundestribunale verlangten.
Alle Mitglieder der Conferenzen wußten, wo der Schlüſſel zu dieſem
Räthſel lag. Der ganze Streit galt in Wahrheit nicht dem Bundesge-
richte, ſondern dem preußiſchen Zollgeſetze, das wie eine drohende Wolke
über den kleinen Nachbarn hing. Weil die regelmäßige Rechtspflege nicht
zu den Befugniſſen des Bundes gehörte, ſo ſollte die geplante perma-
nente Inſtanz auch nicht, wie Humboldt noch vor fünf Jahren gehofft, an
die Stelle des alten Reichskammergerichts treten, ſondern lediglich die
Streitigkeiten zwiſchen den Bundesſtaaten entſcheiden. Welch ein Glück
nun für Kurheſſen, Naſſau, Mecklenburg, Anhalt und die thüringiſchen
Staaten, wenn ſie ihre zahlloſen Beſchwerden wider das preußiſche Zoll-
weſen vor ein ſtehendes Bundesgericht bringen konnten, das aus ſechzehn
Nichtpreußen und einem Preußen beſtehen ſollte! So mochte vielleicht das
gefürchtete preußiſche Enclavenſyſtem auf dem Wege des Civilproceſſes
unblutig beſeitigt werden. Nicht ohne Ironie erwiderte Küſter: ein ſtän-
diges Bundestribunal mit ſo beſchränktem Wirkungskreiſe „würde die
meiſte Zeit vergebens ſitzen und harren, vielleicht gar durch ſein Daſein
eine Proceßſucht erwecken und nähren.“ Da Preußen und Baiern un-
erſchütterlich blieben, ſo beruhigte man ſich endlich „einſtweilen“ bei der
beſtehenden Austrägalordnung von 1817, welche die Entſcheidung der
Streitigkeiten dem oberſten Gerichtshofe eines von beiden Parteien ge-
wählten Bundesſtaates anheimgab. Bernſtorff war mit ſeinem Erfolge
nur halb zufrieden; er wußte wohl, wie wenig ſich ein gewöhnliches Ober-
landesgericht zur Beurtheilung ſchwieriger ſtaatsrechtlicher Fragen eigne;
[17]Die militäriſch-politiſchen Fragen.
immerhin betrachtete er es als einen Gewinn, daß jenes von Haus aus
parteiiſche Bundesgericht nicht zu Stande gekommen war.*)
Auch die neue Executionsordnung, welche fortan ſtatt der Karlsbader
proviſoriſchen Vorſchriften galt, war in demſelben Geiſte partikulariſtiſcher
Behutſamkeit gehalten. Der Regel nach ſollte der Bundestag nur mit
den Regierungen verkehren und nur gegen ſie Execution verhängen; nur
wenn eine Bundesregierung ſelber ſeine Hilfe nachſuchte oder im Falle
offenen Aufruhrs durfte er unmittelbar gegen die Unterthanen ein-
ſchreiten. —
Bei allen dieſen Berathungen war Bernſtorff mit Zentner Hand in
Hand gegangen. Ganz anders geſtaltete ſich der Parteikampf bei dem
zweiten Theile der Schlußakte, der in achtzehn Artikeln (Art. 35—52)
über die auswärtige Politik und das Heerweſen des Bundes Vorſchriften
gab. In dieſen „militäriſch-politiſchen Fragen“ vertrat Preußen jetzt wie
immer die Sache der Bundeseinheit; wirkſamer Schutz gegen das Aus-
land blieb nach Hardenberg’s Anſicht der einzige Segen, welchen die im
Innern ſo unfruchtbare Bundespolitik der Nation noch zu gewähren ver-
mochte. König Friedrich Wilhelm konnte es noch immer nicht verwinden,
daß er den Eintritt Poſens und Altpreußens in den Bund nicht hatte
durchſetzen können. Um ſo ernſtlicher wünſchte er jetzt ein ewiges Ver-
theidigungsbündniß zwiſchen dem Deutſchen Bunde und den Geſammt-
ſtaaten Oeſterreich und Preußen abzuſchließen; vermöge man dies nicht zu
erlangen, ſo verlangte er zum mindeſten eine bündige Antwort auf die
noch immer offene Frage: was eigentlich ein Bundeskrieg ſei? Wenn
eine der beiden Großmächte in ihren nichtdeutſchen Provinzen angegriffen
würde, dann müſſe der Bund befugt ſein durch einfachen Mehrheitsbe-
ſchluß den Krieg zu erklären, und käme ein ſolcher Beſchluß nicht zu
Stande, ſo dürfe doch den Staaten der Minderheit nicht verwehrt wer-
den ihrerſeits dem Angegriffenen Hilfe zu leiſten. Der König dachte dabei
zunächſt an ſeine eigene ungeſicherte Oſtgrenze, aber auch an das öſter-
reichiſche Italien: denn darüber war er mit dem Staatskanzler einig,
daß jeder Angriff auf Oeſterreich auch ſeinen Staat bedrohe. Seine
Abſichten fanden indeß auf allen Seiten heftigen Widerſtand. Die Mittel-
ſtaaten trugen ſchon ihre Bundespflicht nur widerwillig und ſpürten keine
Neigung die Laſt noch zu vermehren. Sogar Zentner zeigte ſich diesmal
ſpröde, faſt feindſelig; ſein Benehmen verrieth, daß der Münchener Hof
ſich im Stillen vorbehielt, unter Umſtänden als Haupt eines rein-deut-
ſchen Bundes die Politik der bewaffneten Neutralität zu führen.**) Auch
das Ausland gerieth in Bewegung. Die fremden Geſandten am Bundes-
tage ſchilderten alleſammt ihren Höfen in aufgeregten Berichten die drohende
Gefahr eines großen mitteleuropäiſchen Völkerbundes; das Petersburger
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 2
[18]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Cabinet äußerte ſich ſehr gereizt über das Mißtrauen ſeiner deutſchen
Bundesgenoſſen; ſelbſt das nahe befreundete England warnte den Wiener
Hof vertraulich, man möge den Czaren nicht in Frankreichs Arme treiben.*)
Nach alledem wollte ſich Metternich nicht zur unbedingten Unterſtützung
des preußiſchen Antrags entſchließen; er fürchtete den Bund „vor Europa
zu compromittiren“.
Nach einem hartnäckigen und kleinlichen Streite einigte ſich die
Conferenz zunächſt dahin, daß Kriegserklärungen des Bundes nur durch
Zweidrittel-Mehrheit im Plenum beſchloſſen werden dürften. Angriffs-
kriege dagegen, welche ein Bundesſtaat mit außerdeutſchen Beſitzungen
als europäiſche Macht begönne, ſollten „dem Bunde ganz fremd“ bleiben.
Auf Baierns und Württembergs ſtürmiſches Verlangen mußte dieſer
letztere Satz, zur Erhöhung der Feierlichkeit, in einen beſonderen Artikel
(46) geſtellt werden.**) Nun erſt folgte im Art. 47 die Vorſchrift für den
Fall eines Angriffs wider die außerbündiſchen Provinzen deutſcher Bun-
desſtaaten; in ſolchem Falle konnte der Bundestag mit einfacher Mehrheit
im engeren Rathe beſchließen, daß Gefahr für das Bundesgebiet vor-
handen ſei, und dann in der gewöhnlichen Weiſe den Bundeskrieg erklären.
Daß einzelne Bundesſtaaten an den europäiſchen Kriegen der deutſchen
Großmächte theilnähmen, wurde nicht förmlich unterſagt und blieb mithin
erlaubt, da ihnen das Recht der Bündniſſe zuſtand. Der König von
Preußen war von dem halben Erfolge ſeiner Unterhändler wenig erbaut,
und Metternich vertröſtete ihn auf die Zukunft, die vielleicht noch einmal
den Abſchluß eines ewigen Bundes zwiſchen Deutſchland, Oeſterreich,
Preußen und den Niederlanden erlauben würde.***) Erſt in weit ſpäterer
Zeit, als die Politik des friedlichen Dualismus in die Brüche ging, ſollte
man in Berlin erkennen, welche Ruthe Preußen ſich ſelber mit dieſem
Artikel 47 aufgebunden hatte, wie leicht er von der Bundestagsmehrheit
mißbraucht werden konnte, um die norddeutſche Großmacht in die Kriege
des Hauſes Oeſterreich hineinzureißen. In jenem Augenblicke hätte Nie-
mand ſolche Befürchtungen auch nur verſtanden; alle Parteien hielten
für ausgemacht, daß Oeſterreich und Preußen immer zuſammen gehen,
die kleinen Staaten immer eine bequeme Neutralität vorziehen würden.
Das Bundesheerweſen gelangte auch in Wien noch nicht zum Ab-
ſchluß, da Oeſterreich dieſe Angelegenheit mit gewohnter Läſſigkeit betrieb;
man verabredete nur, daß die Contingente der kleinſten Bundesſtaaten
ausſchließlich aus Infanterie beſtehen ſollten. Ueber die Bundesfeſtungen
mußte der wackere Wolzogen wieder, wie früher in Frankfurt, mit ſeinem
[19]Verhandlung über die Landſtände.
Collegen Langenau endloſe Verhandlungen führen; aber obwohl der König
ſich nach wie vor bereit erklärte, den früheren Wünſchen Oeſterreichs entſpre-
chend für die Befeſtigung von Ulm zu ſtimmen, ſo zeigte Metternich doch
keine Neigung, durch ſolche Vorſchläge die ſüddeutſchen Nachbarn zu kränken.
Die kleinen Staaten verſuchten ſogar, den heiligen Grundſatz der unbe-
dingten Gleichheit aller Bundesglieder auch auf die Garniſonen der
Bundesfeſtungen anzuwenden, obgleich Preußen auf Grund der euro-
päiſchen Verträge berechtigt war, Luxemburg gemeinſam mit den Nieder-
landen, Mainz gemeinſam mit Oeſterreich zu beſetzen. Mit Mühe und
Noth erreichte Preußen endlich den Beſchluß, daß dieſe Verträge aner-
kannt, Mainz, Luxemburg und Landau vom Bunde übernommen werden
ſollten. Ueber die vierte Bundesfeſtung hingegen vermochte man ſich
wieder nicht zu einigen. Oberdeutſchland blieb noch immer ohne mili-
täriſchen Schutz, und das Haus Rothſchild wucherte mit den deutſchen
Feſtungsgeldern fröhlich weiter.*) Wie richtig hatte doch Kronprinz Ludwig
von Baiern dieſe grundſätzlich auf falſche Ziele gerichtete Bundespolitik
geſchildert, als er in ſeinem wunderlichen Lapidarſtile ſagte: „Zäumt
man nicht das Pferd verkehrt, wo Einheit ſein ſoll, gegen außen, dawider
iſt man, im Innern aber, zur Unterdrückung der Freiheit, dafür wird
ſich eifrig bemühet!“ Er wußte freilich nicht, daß ſein geliebtes Baiern
in den Fragen des Bundesheerweſens ſich ganz ebenſo ſtörriſch zeigte
wie die übrigen Königreiche des Rheinbundes, und Preußen allein die
Vertheidigung des Vaterlands mit redlichem Ernſt betrieb. —
Der dritte Theil der Schlußakte (Art. 53—65) begann ſogleich mit
dem Satze, daß „die Unabhängigkeit der Bundesglieder im Allgemeinen
jede Einwirkung des Bundes in die innere Staatseinrichtung ausſchließe“.
Nur über die Unterthanenrechte, welche bereits in der Bundesakte ver-
ſprochen waren, gab die Schlußakte einige „allgemeine Anordnungen“,
deren Anwendung aber ausdrücklich den Einzelſtaaten überlaſſen blieb.
Hier ſtand denn natürlich der verhängnißvolle Art. 13 der Bundesakte
obenan. Daß die Handhabung dieſes Artikels nur im ſtreng monarchi-
ſchen Sinne erfolgen dürfe, war allen Mitgliedern der Conferenz unzwei-
felhaft; außer Trott und Fritſch konnte Niemand unter ihnen liberaler
Neigungen verdächtigt werden. Die Verſammlung fühlte ſich in ihrer
hochconſervativen Geſinnung noch beſtärkt, als im Verlaufe des Winters
erſchreckende Nachrichten aus Süd- und Weſt-Europa einliefen. Im Ja-
nuar 1820 brach ein Aufſtand im ſpaniſchen Heere aus; im Februar
wurde der Thronerbe der Bourbonen, der Herzog von Berry ermordet;
das Gebäude der Legitimität krachte in allen Fugen, und wehmüthig
ſtimmte der Bundestag dem Grafen Reinhard zu, als dieſer ihm die
Pariſer Blutthat mit den Worten anzeigte: „ein Ereigniß ſolcher Art wird
2*
[20]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
zu einem gemeinſamen Trauerfalle für das civiliſirte Europa.“*) Gleich
darauf ward in London eine unheimliche Verſchwörung entdeckt, der Auf-
ruhr überfluthete ganz Spanien, riß auch Portugal in ſeine Wirbel hin-
ein. An allen Ecken und Enden erhob die Revolution wieder ihr Haupt;
um ſo feſter ſtand in Wien der Entſchluß, der Mitte Europas die Ruhe
zu bewahren. Die Conſervativen aller Länder richteten ihre hoffenden
Blicke auf die Verſammlung der deutſchen Staatsmänner; „die Wiener
Conferenzen ſind der Anker der Rettung“, ſagte Richelieu zu einem Be-
vollmächtigten des Kaiſers Franz, „an ſie wird ſich mit Gottes Hilfe die
Erhaltung der ſocialen Ordnung anſchließen“.**)
Trotzdem bewahrte auch die Verhandlung über die Landſtände das
Gepräge jener vermittelnden Bedachtſamkeit, welche die Wiener Bera-
thungen durchweg auszeichnete. Nur die beiden Ultras Berſtett und Mar-
ſchall verlangten eine umfaſſende Auslegung des Art. 13 im Sinne des
Abſolutismus.***) Bernſtorff dagegen gab zu erwägen, daß mehrere der
deutſchen Fürſten bereits durch feierliche Verpflichtungen gebunden ſeien;
Zentner wies jede Aenderung der bairiſchen Verfaſſung von vornherein
zurück; auch der König von Dänemark, der ſchon längſt die altſtändiſchen
Inſtitutionen Schleswigholſteins zu beſeitigen hoffte, ließ ſofort erklären,
als ſouveräner Fürſt halte er ſich berechtigt die Form ſeiner Landſtände
ſelber zu beſtimmen. So geſchah es, daß Metternich auf ſeine Karlsbader
Stände-Doctrin nicht zurückzukommen wagte. „Wir erneuern hier nicht“, ſo
tröſtete er einen Vertrauten, „wir bauen auf, nous ne revenons pas sur
nos pas.“ An Rechberg ſchrieb er ſchon im Januar: es ſei unmöglich, die
Formen wieder umzuſtoßen, welche unglücklicherweiſe in den letzten drei
Jahren nach Deutſchland verpflanzt worden; ſo möge denn — meinte er
mit einem Humor, der die üble Laune kaum verbarg — Württemberg
zur Strafe ſeine Verfaſſung behalten!
Die Verſammlung fühlte, daß man die Nation mindeſtens über die
ehrliche Erfüllung des Art. 13 endlich beruhigen müſſe. Daher beantragte
Preußen, der Bund ſolle eine allgemeine Gewährleiſtung für die land-
ſtändiſchen Verfaſſungen übernehmen. Berſtett aber widerſprach; der eifrige
Centraliſt fand diesmal die Erweiterung der Bundesgewalt bedenklich,
weil ſie den Rechten der Nation zu gute kommen ſollte. Da auch die
meiſten anderen Höfe die Mediatiſirung der Nation ſtreng aufrecht halten,
jede unmittelbare Berührung zwiſchen dem Bunde und ihren Unterthanen
ſorgſam verhindern wollten, ſo begnügte man ſich mit der unbeſtimmten Vor-
ſchrift (Art. 54): der Bundestag habe darüber zu wachen, daß der Art. 13
in keinem Bundesſtaate unerfüllt bleibe; indeß ward jedem Bundesgliede
[21]Das monarchiſche Princip.
das Recht vorbehalten für ſeine Verfaſſung die Garantie des Bundes nach-
zuſuchen. Daran ſchloß ſich der wohlgemeinte Vorſchlag, die beſtehenden
Verfaſſungen dürften nur „auf die durch die Verfaſſung ſelbſt beſtimmte
Art“ abgeändert werden. Auch dieſen Antrag bekämpfte Berſtett als einen
Verſtoß wider das monarchiſche Princip. Aber auch Bernſtorff hegte diesmal
Bedenken, weil Niemand mit Sicherheit zu ſagen wußte, welche Verfaſſungen
in Deutſchland noch wirklich beſtanden! Durfte Preußen ſich verpflichten,
die ärmlichen Trümmer der Feudalſtände in ſeinen alten Territorien nur
mit Zuſtimmung dieſer Stände ſelber aufzuheben? Dann war eine Ver-
faſſung für den Geſammtſtaat unmöglich. „Die neue Verfaſſung“, ſchrieb
der Staatskanzler an Bernſtorff, „muß aus dem Willen, der Weisheit
und Gerechtigkeit des Königs allein hervorgehen.“ Er forderte alſo volle
Freiheit für die preußiſche Krone, und auf Bernſtorff’s Antrag gab die Con-
ferenz dem Art. 56 die unverfängliche Faſſung: daß „die in anerkannter
Wirkſamkeit beſtehenden landſtändiſchen Verfaſſungen“ nur auf verfaſ-
ſungsmäßigem Wege abgeändert werden ſollten.*)
Hierauf folgte der Hauptſatz des neuen deutſchen conſtitutionellen
Staatsrechts. Das „monarchiſche Princip“, das ſchon in Karlsbad auf
Württembergs Antrag allgemeine Anerkennung gefunden hatte und in
der That für den Beſtand dieſes Fürſtenbundes unentbehrlich war, wurde
förmlich als Regel für alle deutſchen Landesverfaſſungen anerkannt. Der
Art. 57 beſtimmte: „Die geſammte Staatsgewalt muß in dem Oberhaupte
des Staates vereinigt bleiben, und der Souverän kann durch eine land-
ſtändiſche Verfaſſung nur in der Ausübung beſtimmter Rechte an die
Mitwirkung der Stände gebunden werden.“ Wie frohlockte Gentz, als
der Ausſchuß der Conferenzen ſich über dieſen Satz geeinigt hatte. So
lange ſchon führte er den Federkrieg wider Montesquieu’s Gewaltenthei-
lung und Rotteck’s Volksſouveränität; nun ſah er alle dieſe anarchiſchen
Doctrinen durch einen feierlichen Ausſpruch des deutſchen Areopags „un-
widerruflich geſtürzt“, und da er nach Publiciſtenart die Bedeutung ſol-
cher theoretiſchen Kämpfe überſchätzte, ſo ſchrieb er voll übermüthiger Freude
am 14. December 1819 in ſein Tagebuch: „eines der größten und wür-
digſten Reſultate der Verhandlungen unſerer Zeit; ein Tag wichtiger als
der bei Leipzig!“ Auch ſein getreuer Adam Müller wünſchte, daß der
koſtbare Satz in den Codex des allgemeinen europäiſchen Staatsrechts
übergehen möge, und drei Jahrzehnte hindurch ward der Art. 57 W. S. A.
als „das Motto des monarchiſchen Syſtems“ auf den deutſchen Kathedern
leidenſchaftlich bald bekämpft bald geprieſen. Sein praktiſcher Werth war
ungleich geringer als die Männer der Doctrin annahmen. Die juriſtiſchen
Dilettanten der Conferenzen hatten wieder nicht verſtanden, für ihren richti-
gen politiſchen Gedanken einen ſcharfen ſtaatsrechtlichen Ausdruck zu finden.
[22]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Der Wortlaut des Artikels erſchien ſo dehnbar, daß ſich jede der beſtehen-
den Verfaſſungen zur Noth damit vertrug und Baiern ebenſo unbedenk-
lich wie Sachſen und Hannover zuſtimmen konnte. An den vorhandenen
Zuſtänden änderte die Verkündigung des monarchiſchen Princips nichts;
nur mit dem Syſtem der reinen Parlamentsherrſchaft, das in Deutſch-
land erſt vereinzelte, machtloſe Anhänger fand, war ſie unvereinbar.
Die nämliche Unklarheit der ſtaatsrechtlichen Begriffe bekundete ſich
wieder, als die Conferenz über das Geldbewilligungsrecht der Landtage
verhandelte. Die Berathenden ahnten dunkel, daß jede geordnete Staats-
verwaltung unmöglich wird, ſobald die Volksvertretung alle Poſten der
Staatsausgaben nach Gutdünken ſtreichen kann. Aber die ſchwierige Frage
des conſtitutionellen Budgetrechts war bisher weder von der Wiſſen-
ſchaft noch in der Praxis gründlich erörtert worden. Noch hatte Nie-
mand die einfache Frage aufgeworfen: ob denn wirklich das Etatgeſetz der
Rechtstitel ſei, kraft deſſen der conſtitutionelle Staat ſeine Ausgaben leiſte?
— Niemand auf die unbeſtreitbare Thatſache hingewieſen, daß weitaus
die meiſten Ausgaben der deutſchen Staaten, die regelmäßigen Beſoldungen,
die Zinſen der Staatsſchulden u. ſ. f., auf älteren Geſetzen beruhten, und
mithin den Volkskammern auch nicht das Recht zuſtehen konnte, dieſe
Geſetze durch willkürliche Geldverweigerung einſeitig aufzuheben. Unſicher
taſtend ſuchte die Conferenz nach einem Auswege. Marſchall ſchlug vor,
die Landſtände ſollten keine Leiſtungen verweigern dürfen, die zur Erfül-
lung der beſtehenden Verwaltungsgeſetze nothwendig ſeien. Doch die Be-
ſonnenen fühlten, wie leicht ſich dieſer Antrag des Ultras zur Zerſtörung
des Budgetrechtes der Landtage mißbrauchen ließ. Schließlich fand man
rathſam, die heikle Streitfrage mit Stillſchweigen zu übergehen und ließ
es bewenden bei der ſelbſtverſtändlichen Beſtimmung (Art. 58), daß die
Souveräne durch keine landſtändiſche Verfaſſung in der Erfüllung ihrer
bundesmäßigen Verpflichtungen beſchränkt werden dürften.
Unter allen Vorſchriften der neuen Verfaſſungen erſchien keine der
diplomatiſchen Seelenangſt ſo gefährlich wie die Oeffentlichkeit der Land-
tagsverhandlungen. Ueber die Verwerflichkeit dieſes demagogiſchen Unfugs
war man in Wien ebenſo einig wie vordem in Karlsbad. Die Miniſter
der conſtitutionellen Staaten ergingen ſich in bitteren Klagen über die
Zügelloſigkeit der parlamentariſchen Beredſamkeit;*) Alle geſtanden zu,
daß die unbeſchränkte Veröffentlichung ſolcher Reden den heilſamen Vor-
ſchriften des neuen Preßgeſetzes widerſpreche, und Metternich meinte, durch
dieſen Mißbrauch werde jeder Staat, der nicht mindeſtens 10 Mill. Ein-
wohner zähle, unrettbar zu Grunde gerichtet. Gleichwohl trug Zentner
Bedenken, ſich auf eine Abänderung der bairiſchen Verfaſſung einzulaſſen.
Die Ultras unterlagen auch diesmal, und man gelangte wieder nur zu
[23]Metternich und der Buchhandel.
einer Halbheit. Der Art. 59 verfügte, die Geſchäftsordnung der Landtage
müſſe dafür ſorgen, daß die geſetzlichen Grenzen der freien Aeußerung
weder bei den Verhandlungen ſelbſt noch bei deren Bekanntmachung durch
den Druck überſchritten würden. Alſo lief die verſuchte Umgeſtaltung des
deutſchen conſtitutionellen Staatsrechts ſchließlich faſt überall auf leere
Worte hinaus.
Den Mediatiſirten gewährte die Schlußakte das Recht des Recurſes
an den Bund. Alle die anderen Verheißungen des zweiten Theiles der
Bundesakte dagegen wurden, nach einigen unfruchtbaren Verhandlungen,
dem Bundestage „zur ferneren Bearbeitung“ zugewieſen; dieſe humo-
riſtiſche Vertröſtung auf die griechiſchen Kalenden blieb immer der letzte
Nothbehelf, wenn man ſich nicht einigen konnte. Nur zu dem Abſatze
der Bundesakte (Art. 18), welcher gemeinſame Maßregeln wider den
Nachdruck verſprach, erlaubte ſich Metternich noch einen denkwürdigen
Vorſchlag. Aus Preußen verdrängt, trieb der literariſche Raub in Oeſter-
reich und den meiſten der Kleinſtaaten ſein Unweſen ungeſtört weiter;
jeder Band des umfänglichen Brockhaus’ſchen Converſationslexikons wurde
von einer Stuttgarter Firma ſofort nachgedruckt, und vergeblich ſetzte der
rechtmäßige Verleger auf die Titelblätter der neuen Auflage das Calde-
roniſche Motto: „wie ſie der Verfaſſer ſchrieb, nicht wie ſie der Diebſtahl
druckte.“ In den Kreiſen des altwürttembergiſchen Beamtenthums galt
die Begünſtigung des Nachdrucks geradezu für eine landesväterliche Pflicht,
weil er ſo viel Geld ins Land brachte; auch unter den Juriſten beſtand
noch weit verbreitet die Anſicht, daß der Nachdruck ein natürliches Recht
ſei, da ſich der Begriff des literariſchen Eigenthums allerdings nicht ju-
riſtiſch conſtruiren ließ. Nach vergeblichen Beſchwerden beim Bundestage
wendete ſich eine Anzahl angeſehener Buchhändler, Perthes und Brock-
haus voran, bittend an die Wiener Conferenzen; Brockhaus empfahl die
Errichtung einer Aufſichtsbehörde in Leipzig, nach Art der franzöſiſchen
Direktion des Buchhandels.
Dieſer harmloſe Vorſchlag des ehrlichen Liberalen wurde nun in
einer öſterreichiſchen Denkſchrift, welche Metternich der Conferenz über-
reichte, für die Zwecke der höheren Polizei ausgebeutet. Die Denkſchrift
ſtammte unverkennbar aus der Feder Adam Müller’s, der als k. k. Ge-
neralconſul in Leipzig lebte. Sie ging von dem Grundſatze aus, daß
die Cenſur und der Schutz des literariſchen Eigenthums unzertrennlich
zu einander gehörten: in den Ländern der Preßfreiheit ſteht der Buch-
handel ganz außerhalb des Civilrechts, während der Deutſche Bund durch
die Cenſur „die Druckſchriften gleich bei ihrer Entſtehung in den voll-
ſtändigen Nexus des Civilrechts aufnimmt und keinen unabhängigen,
neben dem wirklichen Staat herlaufenden Staat der Ideen anerkennt“.
Demnach muß die ſeit geraumer Zeit ſtillſchweigend geduldete Genoſſen-
ſchaft der deutſchen Buchhändler als förmliche Corporation anerkannt
[24]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
und der ſtrengen Aufſicht einer Bundesbehörde in Leipzig unterworfen
werden. Nur die bei dieſer Generaldirektion eingetragenen Schriften er-
freuen ſich des geſetzlichen Schutzes. Als Schutzverwandte können auch
die deutſchen Buchhändler des Auslands der Corporation beitreten, aber
nur wenn ſie einem Staate, der die Cenſur handhabt, angehören; denn
offenbar wäre es ein Unrecht, die „vogelfreien“ Verleger Englands und
Frankreichs den legitimen Buchhändlern Deutſchlands und Rußlands
gleichzuſtellen. So der „Plan zur Organiſation des deutſchen Buchhan-
dels“. Sein Zweck ſprang in die Augen; die Cenſur, die bisher nur pro-
viſoriſch auf fünf Jahre eingeführt war, ſollte ganz unter der Hand als
eine bleibende Inſtitution des Bundesrechts, als die Vorbedingung des lite-
rariſchen Eigenthums anerkannt werden. Aber zu einer Verſchärfung
der Karlsbader Beſchlüſſe zeigte ſich die Conferenz nicht geneigt, der Un-
terſchied zwiſchen den legitimen und den vogelfreien Buchhändlern war
ihr zu fein. Adam Müller’s Vorſchlag blieb liegen, ein lehrreiches Prob-
ſtück öſterreichiſcher Rechtsweisheit. —
Die Conferenz arbeitete mit anhaltendem Fleiße, obgleich es in dem
luſtigen Wien auch an Schmäuſen und Feſtlichkeiten nicht fehlte. Tag
für Tag verſammelten ſich bald die Ausſchüſſe bald das Plenum um den
langen Tiſch in Metternich’s Vorzimmer. Die Ernte ſchien bereits glück-
lich unter Dach gebracht, als Württemberg plötzlich die Frucht der langen
mühſamen Vermittlungsarbeit zu zerſtören ſuchte. Verdrießlich genug hatte
König Wilhelm bisher ſeinen conſervativen Miniſter Wintzingerode gewähren
laſſen, der mit unverhohlener Geringſchätzung von „unſerer vortrefflichen
Verfaſſung“ ſprach und das Vertrauen der beiden Großmächte wiederzu-
gewinnen bemüht war. Von Zeit zu Zeit ſendete Metternich ein lehrhaftes
Schreiben nach Stuttgart um den halbbekehrten Hof in ſeinen guten
Vorſätzen zu beſtärken und ihn durch die Schreckbilder der Revolution in
einer wohlthätigen Angſt zu erhalten. Deutſchland, ſo ſchrieb er dem
Geſandten Trauttmansdorff, bedarf der Befeſtigung der Ordnung ſogar
noch dringender als Frankreich; denn jenſeits des Rheines iſt die revo-
lutionäre Umwälzung aller Beſitzverhältniſſe bereits vollendet, „die Pläne
der deutſchen Demagogen aber gehen zugleich auf die Republik und auf
ein Ackergeſetz“. Da verlautete im Januar, daß die Conferenz die Formen
des Bundesrechts verletzen, ihre Beſchlüſſe dem Bundestage kurzweg auf-
erlegen wolle.
Eine ſo köſtliche Gelegenheit, wieder einmal den Anwalt der Freiheit
zu ſpielen und ſeinen durchlauchtigen Genoſſen ein Bein zu ſtellen, durfte
König Wilhelm ſich doch nicht entgehen laſſen. Sofort wurde Graf
Mandelsloh angewieſen, feierlich zu erklären, daß der König einem ſolchen
Plane niemals zuſtimmen werde; den Bundestag zu umgehen dürfe man
den beiden Großmächten nicht geſtatten. Eine harte Zumuthung an den
friedfertigen Geſandten, der jeden Abend ſtillvergnügt in Metternich’s glän-
[25]Württembergs Widerſpruch.
zenden Salons verbrachte, der in ſeinen Berichten „die Amönität“ des
großen Staatsmannes nie genug zu preiſen wußte und gelegentlich ein-
mal die tiefſinnige Sentenz einflocht: „auch hier iſt, nach meiner Anſicht,
der Sonnenuntergang ein ſehr intereſſanter Augenblick.“ Mandelsloh
wagte nicht den Befehl auszuführen. Erſt als Metternich förmlich be-
antragte die Beſchlüſſe der Conferenz in einer Bundes-Supplementarakte
niederzulegen, erſt am 4. März erhob der Württemberger den ſchüchternen
Einwand: dann würde wohl die Zuſtimmung der europäiſchen Mächte,
welche die Wiener Congreßakte unterzeichnet, einzuholen ſein. Mit Ent-
rüſtung verwahrten ſich alle Anweſenden wider dieſe Anſicht, ſo daß Man-
delsloh ſeine Bemerkung zurücknehmen mußte. Unterdeſſen hatte er aus
Stuttgart gemeſſenen Befehl erhalten, den Antrag Metternich’s entſchieden
zurückzuweiſen, und am 29. März gab er endlich einen Proteſt zu Proto-
koll, der ſich auf die verfaſſungsmäßigen Rechte des Bundestags berief
und nochmals an den möglichen Einſpruch der Garanten der Congreß-
akte erinnerte.
Der Streich war von langer Hand her vorbereitet. Während Man-
delsloh unter ſeinen Wiener Genoſſen Anhänger zu werben verſuchte,
hatte Wintzingerode nach München geſchrieben, wo Lerchenfeld eine Zeit
lang das Unternehmen Württembergs zu unterſtützten verſuchte. In
Frankfurt trug Wangenheim bei den Bundesgeſandten eine Denkſchrift um-
her, welche eindringlich vor der Gefahr warnte, daß ein neues Organ in
die Bundesverfaſſung eingeführt werde; der König ſelbſt reiſte nach Wei-
mar um Karl Auguſt’s Hilfe zu gewinnen und durch ſeine Schwägerin,
die Erbgroßherzogin Maria Paulowna auf den Czaren einzuwirken.*) Der
unerwartete Schlag rief in Wien zuerſt lebhafte Beſorgniß hervor;
Manche hielten ſchon die ganze Arbeit für verloren, da die Schlußakte
nur durch einſtimmigen Beſchluß angenommen werden konnte. Die beiden
Großmächte aber beſchloſſen ſofort dem Württemberger mit Ernſt ent-
gegenzutreten. „Man muß“, ſchrieb Bernſtorff, „dieſem nach ſchlecht ver-
ſteckten Abſichten handelnden Monarchen zeigen, daß er als der öffentlich
erklärte Feind des ganzen übrigen Deutſchlands daſtehen würde;“ und
nochmals: „er verſucht unſeren Verein zu ſprengen, das wird zu ſeiner
Schande endigen; wir laſſen ihm nur die Wahl beizutreten oder als
Feind aus dem Bunde auszuſcheiden, ſonſt würde Kapodiſtrias trium-
phiren!“**)
Und wohl hatte der Preuße Grund zum Unwillen. Nach Allem
was in dieſen Monaten unter Württembergs freiwilliger Mitwirkung
[26]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
geſchehen, war der verſpätete Proteſt nur ein frivoles Spiel mit dem
Buchſtaben der Bundesverfaſſung, und die wiederholte Hinweiſung auf
den Einſpruch des Auslandes ließ das Verfahren des Stuttgarter Hofes
nur noch zweideutiger erſcheinen. Sollte der Jammer der Wiener Ver-
handlungen wirklich in Frankfurt von vorn beginnen? Sollten dieſelben
Fürſten, die ſoeben durch ihre Miniſter den Grundzügen der Bundesver-
faſſung die längſt verheißene Ausbildung gegeben und dabei die Stimm-
ordnung des Bundestags gewiſſenhaft eingehalten hatten, nunmehr das
vollendete Werk durch ihre eigenen Bundesgeſandten prüfen und vielleicht
umgeſtalten laſſen? Gewiß litt die Würde des Bundestags, wenn man
ihn nöthigte, die Wiener Beſchlüſſe unbeſehen anzunehmen; aber was
ward aus der Würde der deutſchen Souveräne, wenn dieſer Geſandten-
congreß, der doch allein von den Inſtruktionen ſeiner Auftraggeber abhing,
wie eine höhere Inſtanz über eine freie Vereinbarung der ſämmtlichen
deutſchen Regierungen entſcheiden ſollte? Welchen Erfolg verſprach eine
erneute Berathung in Frankfurt? Doch nur den einen, daß Wangen-
heim, vielleicht unterſtützt von den Rednern der ſüddeutſchen Kammern, die
Beſchlüſſe der Conferenz einer boshaften Kritik unterwarf und ſchließlich,
nach erreichtem Aergerniß, ſich wehmüthig der Mehrheit anſchloß. Met-
ternich ſchaute ſeinem Gegner in Herz und Nieren, als er an Kaiſer
Franz ſchrieb: „die Sache ſoll zwar geſchehen, der König will aber den
Schein tragen, als unterwerfe er ſich der Gewalt.“
Alle Höfe ohne Ausnahme theilten dieſe Anſicht. In Weimar richtete
König Wilhelm nichts aus; auch der bairiſche Miniſterrath verwarf die
Vorſchläge Württembergs, nachdem Wrede, unzweifelhaft im Auftrage
König Max Joſeph’s, ſich entſchieden für die Politik der Bundestreue
ausgeſprochen hatte. Sämmtliche Mitglieder der Conferenz verpflichteten
ſich ſchriftlich, nicht eher auseinanderzugehen, als bis die Schlußakte end-
giltig feſtgeſtellt ſei, auch keine wiederholte Berathung am Bundestage zu
dulden. Oeſterreich aber nahm es auf ſich, den widerſpänſtigen Hof an
die Wand zu drücken, wie Bernſtorff ſich ausdrückte.*) Kaiſer Franz und
Metternich ſchrieben Beide nach Stuttgart und erklärten ſehr nachdrück-
lich, eine Reviſion ihrer Vereinbarungen würde die Conferenz dem Bun-
destage niemals geſtatten; auch ſei der Wiener Hof keineswegs geſonnen
die Wiener Beſchlüſſe wieder wie die Karlsbader durch eine Präſidialpro-
poſition an den Bund zu bringen, denn er wolle nicht als alleiniger Geſetz-
geber erſcheinen, da alle Bundesglieder an dem Werke gleichen Theil ge-
habt hätten. Dieſe Sprache wirkte. In einer geſchmeidigen Antwort
(14. April) erklärte Wintzingerode ſeine Zuſtimmung zu den Anſichten der
Conferenz und verſuchte den ganzen Streit als ein Mißverſtändniß dar-
zuſtellen. Um dem geſchlagenen Feinde eine goldene Brücke zu bauen,
[27]Der Bundestag und die Schlußakte.
wurde ſodann noch der den Württembergern anſtößige Name „Supple-
mentar-Akte“ geſtrichen, auch ſollte die Schlußakte in Wien nicht förmlich
ratificirt, ſondern erſt in Frankfurt auf Grund einer gleichförmigen In-
ſtruktion an die Bundesgeſandten zum Bundesgeſetze erhoben werden.
König Wilhelm ſelbſt richtete an Kaiſer Franz ein unterwürfiges Antwort-
ſchreiben, und da er den Unmuth über die erlittene Niederlage doch irgend-
wie auslaſſen mußte, ſo überhäufte er Trott mit Auszeichnungen und be-
rief bald nachher den unglücklichen Mandelsloh unter allen Zeichen der
Ungnade von ſeinem Wiener Geſandtſchaftspoſten zurück, was die Hofburg
als einen Beweis boshafter Geſinnung ſehr übel aufnahm.*)
Am 24. Mai wurden die Conferenzen geſchloſſen, und nachdem das
Wiener Drama beendet war, mußten die Satyrn des Bundestags ihren
Fackeltanz beginnen. Wie viel anzügliche Bemerkungen über ihre Unthä-
tigkeit hatten dieſe Armen unterdeſſen von der liberalen Preſſe hinnehmen
müſſen. Am 10. April, nach Ablauf ſeiner verlängerten Ferien, trat der
Bundestag wieder vertraulich zuſammen und beſchloß, auf eine Weiſung
Metternich’s, vorläufig nur vertrauliche Sitzungen zu halten, da die Wiener
Conferenz noch nicht beendet ſei. Am 20. April verſammelte er ſich wie-
der und faßte den Beſchluß, acht Tage darauf abermals vertraulich zu-
ſammenzukommen. Goltz aber geſtand kummervoll, dies ſei nur geſchehen
„zur Beſchönigung der fortdauernden Unthätigkeit der Verſammlung in
den Augen des Publikums“; der Zuſtand ſei drückend und compromittirend
in den Augen der Welt; noch ſchlimmer freilich, wenn der Bundestag
ergänzen müßte was in Wien unvollendet bliebe, dann würde ſicherlich
gar nichts fertig werden! So ging es weiter, in unverbrüchlicher Ver-
traulichkeit. Immer wieder klagte der preußiſche Geſandte über den „gänz-
lichen Mangel an Berathungsſtoff“.**) Ein Votum Württembergs über
die Exterritorialität der Mainzer Unterſuchungscommiſſion, eine Anzeige
Dänemarks über die erfolgte Ernennung zweier Cenſoren für Holſtein —
ſolche Staatsgeheimniſſe bildeten den einzigen Inhalt dieſer vertraulichen
Berathungen. Endlich am 8. Juni hielt der Bundestag, zum erſten male
in dieſem Jahre, eine öffentliche Sitzung. Die Verſammlung „bildete ſich
zu einem Plenum“, die Wiener Schlußakte ward verleſen. Nach einem
kurzen Präſidialvortrage erklärten die beiden Großmächte ihre Zuſtim-
mung, und dann erſchöpften die Vertreter der übrigen 61 Stimmen den
ganzen Floskelreichthum der deutſchen Kanzleiſprache um in verſchiedenen
Wendungen verabredetermaßen alle genau das Nämliche zu ſagen. Nur
Württemberg konnte ſich’s nicht verſagen, ſeiner Zuſtimmung einige bos-
hafte Bemerkungen über die Unregelmäßigkeit des Verfahrens voranzu-
[28]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
ſchicken. Wintzingerode fühlte, daß dieſer halbe Widerſpruch gegen die
gegebene Zuſage verſtieß, und betheuerte daher gleichzeitig dem öſterrei-
chiſchen Cabinet: die Erklärung ſei dem Grafen Mandelsloh ſchon nach
Wien zugeſendet worden, doch leider nicht rechtzeitig eingetroffen. Metter-
nich aber ertheilte dem ewig hadernden kleinen Hofe einen ſcharfen Ver-
weis; warum müſſe Württemberg „in einem Falle, wo Alle daſſelbe
wollten,“ wieder einmal die Eintracht ſtören?*) Alſo wurde am fünften
Jahrestage der Bundesakte das zweite und letzte Grundgeſetz des Deut-
ſchen Bundes angenommen. —
Die beſte Kritik des Werkes lag in der ſeltſamen Thatſache, daß,
mit Ausnahme des Stuttgarter Hofes ſowie der beiden Ultras Marſchall
und Berſtett, die ſämmtlichen Betheiligten damit zufrieden waren oder
ſchienen. Schwer beſorgt hatte Karl Auguſt von Weimar auf die Wiener
Verhandlungen geblickt und ſeinen Fritſch ermächtigt, ſich nöthigenfalls
unter Proteſt zurückzuziehen, wenn die Conferenz das innere Leben der
Einzelſtaaten zu ſtören ſuche. Jetzt ſah er wohl, daß im Grunde Alles
beim Alten blieb; er erkannte die Mäßigung der Großmächte dankbar
an, reiſte im Frühjahr nach Prag zum Kaiſer Franz, der ihn ſehr freund-
lich aufnahm und den alten Groll wider den Altburſchen ſcheinbar ganz
vergeſſen hatte.**) Auch die am Wiener Hofe ſo übel angeſchriebenen
Senate der freien Städte athmeten erleichtert auf, und die inbrünſtigen
Dankesworte, welche Hach beim Schluſſe der Conferenzen an das Haus
Oeſterreich richtete, kamen ſicherlich aus ehrlichem Herzen. In München
wurde der heimkehrende Zentner von ſeinem Könige mit Gnaden über-
ſchüttet und ſofort zum Staatsminiſter ernannt.***) Kaum minder zu-
frieden war das Berliner Cabinet. Bernſtorff’s ehrenhaftes und wohl-
wollendes Verhalten hatte an den kleinen Höfen manche der Vorurtheile
überwunden, welche dort noch von den Befreiungskriegen her gegen Preußen
gehegt wurden. Das neubefeſtigte freundliche Verhältniß zu Baiern ſchien
einen ruhigen Gang der Bundespolitik zu verbürgen, und glückſelig ſchrieb
Ancillon nach München: „die Schlußakte hat das Problem, die Sou-
veränität eines jeden Staates mit der Kraft des Ganzen zu vereinbaren,
ſo glücklich gelöſt, wie es unter den gegebenen Umſtänden nur immer
möglich war.“†)
Nicht ebenſo befriedigt mochte Metternich auf die Conferenzen zurück-
blicken, die ſo manchen ſeiner Lieblingspläne in der Stille begraben hatten.
Oft genug hatte er erfahren müſſen, welchem zähen, ſtillen Widerſtande
jeder durchgreifende Entſchluß in dieſer bunten deutſchen Staatenwelt be-
[29]Ergebniß der Conferenzen.
gegnet; er wußte, daß er die Unwahrheit ſagte, als er ſeinem Kaiſer am
17. Mai ganz in dem hochmüthigen Karlsbader Tone ſchrieb: „Ein Wort
von Oeſterreich geſprochen wird in ganz Deutſchland unverbrüchliches Geſetz
ſein. Nun erſt werden die Karlsbader Maßregeln in ihr wahres Leben
treten.“ Immerhin hatte er Grund, ſeine Erfolge nicht völlig ungenügend
zu finden. Wie dies alte Oeſterreich daſtand, ſcheinbar ſo mächtig und
beneidenswerth, und doch faſt erliegend unter der unmöglichen Aufgabe
Deutſchland, Italien, Ungarn zu beherrſchen, mußte die Hofburg ſchon
zufrieden ſein, wenn der Deutſche Bund gemächlich in dem alten Geleiſe
weiter fuhr. Durch ſein herriſches Gebahren in Karlsbad hatte Metter-
nich die kleinen Höfe nur erſchreckt, ſeine zuvorkommende Verſöhnlichkeit
in Wien gewann ihm ein Vertrauen, das ungleich werthvoller war; und
eben jetzt, da die Revolution in Südeuropa ausbrach, mußte jeder Zwiſt
in Deutſchland verhindert werden. Poſitive Pläne für unſere nationale
Wohlfahrt konnte er, nach ſeiner Natur wie nach ſeiner Stellung als öſter-
reichiſcher Staatsmann, niemals hegen. Genug alſo, daß das Frankfurter
Mühlrad wie einſt das Regensburger mit regelmäßigem Geklapper fort
arbeitete; ob dabei auch Korn gemahlen wurde, kam für ihn nicht in Be-
tracht. Es war ihm Ernſt, als er einem Vertrauten ſchrieb, die Con-
ferenz habe eine ungeheuere Arbeit in ſehr kurzer Zeit vollendet; hatte
er doch wirklich mit raſtloſem Fleiße Vorträge gehalten und Artikel ge-
ſchmiedet und ſelbſt durch den Tod einer Tochter, der ihn tief ergriff,
ſich in ſeinem Eifer nicht ſtören laſſen. Die Nichtigkeit dieſes leeren Para-
graphenwerks kam ihm gar nicht zum Bewußtſein.
Die Nation befand ſich nach den Conferenzen nicht beſſer und nicht
ſchlechter denn zuvor und nahm die Schlußakte ſehr gleichgiltig entgegen.
Der ſchon in der Anlage verfehlte Bau der Bundesverfaſſung war für
den Abbruch reif; einige wohlgemeinte Nachbeſſerungen konnten ihn nicht
feſtigen. Aber wie lange noch, bis dies wieder ganz im Partikularismus
verſinkende Geſchlecht erkannte, daß die von Ancillon gerühmte „Verein-
barung zwiſchen der Kraft des Ganzen und der Souveränität eines jeden
Staates“ nichts anderes war als die Quadratur des Cirkels! —
Die Hauptverhandlung der Conferenzen endete mit einem farbloſen
Compromiß, das ohne tiefe Nachwirkung blieb. Weit folgenreicher wurde
eine Epiſode der Wiener Berathungen: der Kampf um das preußiſche
Zollgeſetz. Als Hardenberg ſeine Weiſungen an Bernſtorff ertheilte,
ſchärfte er ihm noch einmal ein, daß ein Bundeszollweſen bei dem gegen-
wärtigen Zuſtande der deutſchen Staaten unmöglich ſei. Sodann wieder-
holte er ihm wörtlich, was er gleichzeitig den Abgeſandten des Liſt’ſchen
Handelsvereins antwortete und durch die Staatszeitung veröffentlichen
[30]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
ließ: „Man kann daher die Sache nur darauf zurückführen, daß einzelne
Staaten, welche durch den jetzigen Zuſtand ſich beſchwert glauben, mit den-
jenigen Bundesgliedern, woher nach ihrer Meinung die Beſchwerde kommt,
ſich zu vereinigen ſuchen, und daß ſo übereinſtimmende Anordnungen von
Grenze zu Grenze weiter geleitet werden, welche den Zweck haben, die
inneren Scheidewände mehr und mehr fallen zu laſſen.“*) So war das
handelspolitiſche Programm der preußiſchen Regierung nochmals klar und
unzweideutig ausgeſprochen. Indem ſie an ihrem Zollgeſetze feſthielt, er-
klärte ſie ſich bereit, anderen Bundesſtaaten durch freie Verträge den Zoll-
anſchluß oder Handelserleichterungen zu gewähren; aber ſie ſah auch ein —
und hierin lag ihre Ueberlegenheit — daß alle Klagen wider die Binnen-
mauthen müſſige Reden blieben, ſo lange die deutſchen Staaten ſich über
ein gemeinſames Zollgeſetz nicht einigen konnten.
Auf lebhaften Widerſpruch war Bernſtorff von vornherein gefaßt;
er wußte wohl, wie unfaßbar dieſe nüchternen handelspolitiſchen Gedanken,
die heute Jedem geläufig ſind, der großen Mehrzahl der deutſchen Höfe
noch erſchienen. Der leidenſchaftliche Ausbruch „gehäſſiger Vorurtheile“,
den er in Wien erleben mußte, übertraf doch ſeine ſchlimmſten Erwar-
tungen. Die naive volkswirthſchaftliche Unwiſſenheit der Epoche feierte
auf den Conferenzen ihre Saturnalien; faſt die geſammte deutſche Diplo-
matie lief Sturm wider das preußiſche Zollgeſetz. Sobald auf die Fragen
des Handels die Rede kam, verſchob ſich die Stellung der Parteien voll-
ſtändig. Der preußiſche Bevollmächtigte, der faſt in allen andern Fragen
die Mehrheit der Verſammlung nach ſich zog, ſtand in den handelspoliti-
ſchen Berathungen ebenſo vereinſamt wie in den militäriſchen, er erſchien
wie der Störenfried der deutſchen Einigkeit. Dieſelben Höfe, die überall
ſonſt den Wirkungskreis des Bundes ängſtlich zu beſchränken ſuchten,
hofften durch einen rechtswidrigen Bundesbeſchluß jene ſegensreiche Re-
form, welche dem preußiſchen Deutſchland den freien Verkehr geſchenkt
hatte, wieder umzuſtoßen. Von Mund zu Munde ging die ſophiſtiſche
Behauptung, das preußiſche Geſetz verſtoße wider den Art. 19 der Bun-
desakte, der nichts weiter enthielt, als die Zuſage, daß der Bundestag
wegen des Handels und Verkehrs „in Berathung treten“ ſolle.
Preußens böſer Genius, ſo ließen ſich ſelbſt Wohlmeinende vernehmen,
hat dies unglückliche Geſetz geſchaffen, das ihm überall Zutrauen und Zu-
[31]Das preußiſche Zollgeſetz und die Kleinſtaaten.
neigung verſcherzt; Preußen wird es dereinſt noch bereuen! Und ſeltſam,
die Angriffe der entrüſteten Vorkämpfer deutſcher Handelsfreiheit richteten
ſich ausſchließlich gegen Preußen, obgleich auch andere Bundesſtaaten des
gleichen Frevels ſchuldig waren. Baiern hatte ſoeben (22. Juli 1819),
wie Preußen, ein neues Zollgeſetz verkündigt, aber Niemand eiferte da-
wider. Vollends das öſterreichiſche Prohibitivſyſtem belaſtete nicht nur alle
Waaren ungleich härter als das preußiſche Geſetz, es verbot ſogar einzelne
deutſche Erzeugniſſe gänzlich, namentlich die Franken- und Rheinweine.
Keiner unter den deutſchen Miniſtern nahm daran Anſtoß. Metternich
ſagte kurzweg zu Berſtett: „ich betrachte Oeſterreich als gar nicht in der
Handelsfrage befangen“, und der badiſche Staatsmann nahm dieſe Er-
klärung ohne Widerſpruch als ſelbſtverſtändlich hin.*) Alſo ward gerade
durch den leidenſchaftlichen Eifer der Kleinen bewieſen, wie feſt ihre In-
tereſſen mit Preußen verkettet waren, wie loſe mit Oeſterreich. Einige
der kleinen Miniſter vertraten den Gedanken der Bundeszölle: ſo Fritſch,
dem ſein Großherzog befohlen hatte die Verlegung aller Zolllinien an die
Bundesgrenze zu fordern, ſo Berſtett, der noch immer der Meinung blieb,
durch die Verkündigung allgemeiner Verkehrsfreiheit werde der Bund am
ſicherſten die Unzufriedenheit der Nation beſchwichtigen. Andere wollten
nur den Verkehr mit deutſchen Produkten frei laſſen, und dieſe ſo wenig
wie jene wußten die Mittel zur Ausführung ihres Planes anzugeben:
gegen das Ausland, meinte Berſtett gemüthlich, möge jeder Bundesſtaat
ſeine Zölle nach Belieben anordnen, genug wenn im Innern Deutſchlands
die Mauthen hinwegfielen. Zu dieſen ehrlichen Enthuſiaſten geſellten ſich
einige Bundesgenoſſen, die ihre unlauteren Hintergedanken kaum ver-
bargen. Der Herzog von Koburg erſchien ſelbſt in Wien um durch ſein
Veto den Abſchluß der Bundeskriegsverfaſſung zu vereiteln, falls ihm nicht
unbeſchränkte Verkehrsfreiheit gewährt würde; doch da die Conferenz das
Bundesmilitärgeſetz nicht ins Reine brachte, ſo ward der feine Plan zu
Schanden. Noch dreiſter trat Marſchall auf. Der witterte mit dem In-
ſtinkt des Haſſes, daß die neue Zollgeſetzgebung, das Werk der „demago-
giſchen Subalternen“ in den Berliner Bureaus, dem preußiſchen Staate
vielleicht dereinſt die Hegemonie im Norden verſchaffen könne; durch ihre
Vernichtung dachte er zugleich dieſen Staat des Unheils zu demüthigen und
der Schlange der Revolution das Haupt zu zertreten.
Aehnliche Geſinnungen hegte der Kaſſeler Hof, der bereits, ohne eine
Verſtändigung mit dem Nachbarſtaate auch nur zu verſuchen, den Zoll-
krieg gegen Preußen eröffnet hatte. Durch ein Geſetz vom 17. Sept. 1819
wurde die Ein- und Durchfuhr vieler preußiſcher Waaren verboten oder
mit ſchweren Zöllen belegt. Der Mehrbetrag der erhöhten Abgaben ſollte
verwendet werden zum Beſten der heſſiſchen Gewerbtreibenden, welche das
[32]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
preußiſche Zollgeſetz an den Bettelſtab gebracht habe — ein Verſprechen,
das der geizige Kurfürſt ſelbſtverſtändlich niemals einlöſte. In Berlin
dachte man anfangs an Retorſionen. Der König aber hielt ſich ſtreng
an die Zuſage, daß die preußiſchen Zölle vornehmlich die außerdeutſchen
Waaren treffen ſollten, und wollte feindſelige Schritte gegen deutſche Staaten
wenn irgend möglich vermeiden. Auch ein Gutachten des Finanzminiſte-
riums gelangte zu dem Schluſſe, die heſſiſchen Retorſionen ſeien für Heſſen
überaus ſchädlich, für Preußen ungefährlich, alſo „nur der Form wegen
zu bekämpfen“. Der Geſandte in Kaſſel ſprach ſich in dieſem Sinne
vertraulich gegen den Kurfürſten aus. Unterdeſſen ließ Preußen die Köln-
Berliner Kunſtſtraße über Höxter und Paderborn, mit Umgehung des
heſſiſchen Gebiets, ausbauen. Der Verkehr des Nordoſtens mit dem Süden
zog ſich von Hanau hinweg nach Würzburg, die heſſiſchen Straßen be-
gannen zu veröden. Der Kurfürſt mußte ſeine Kampfzölle wieder herab-
ſetzen und harrte nun um ſo ungeduldiger auf einen Bundesbeſchluß,
der die Zolllinien des unangreifbaren Nachbarn zerſtören ſollte.
Unter den Widerſachern Preußens verſtand doch keiner eine ſo ur-
wüchſig grobe Sprache zu führen, wie der Herzog Ferdinand von Köthen,
ein eitler, nichtiger Menſch, der im Jahre 1806 wegen erwieſener Un-
fähigkeit den preußiſchen Kriegsdienſt hatte verlaſſen müſſen und jetzt per-
ſönlich an die Donau eilte um „die Mediatiſirung des uralten Hauſes
Anhalt“ abzuwenden. Die wirkliche Herrin ſeines Ländchens war ſeine
Gemahlin Julia, eine geborene Gräfin Brandenburg, Halbſchweſter des
Königs von Preußen, eine Dame von Geiſt und Bildung, unermeßlich
ſtolz auf ihre fürſtliche Würde, den katholiſirenden Lehren der romanti-
ſchen Schule eifrig zugethan. Da Metternich den Werth einer ſolchen
Bundesgenoſſin wohl zu würdigen wußte, ſo hatte er Adam Müller be-
auftragt, neben dem Leipziger Conſulate auch das Amt des öſterreichiſchen
Geſchäftsträgers an den anhaltiſchen Höfen zu bekleiden, und der ge-
feierte Publiciſt der ultramontanen Partei wurde der romantiſchen Her-
zogin bald ein unentbehrlicher Rathgeber. Müller haßte ſeine preußiſche
Heimath mit dem ganzen Ingrimm des Convertiten. Seinem erfinderi-
ſchen Kopfe entſprang der Plan zu einem großen Gaunerſtücke kleinfürſt-
licher Staatskunſt, das die preußiſche Zollgeſetzgebung von innen heraus
durchlöchern und mindeſtens für die Provinz Sachſen unmöglich machen
ſollte. Das Köthenſche Land wurde einige Stunden weit von der Elbe
durchfloſſen, und die Elbe zählte zu den conventionellen Flüſſen, denen
der Wiener Congreß die „vollkommene Freiheit der Schifffahrt“ zugeſagt
hatte. Welch eine glänzende Ausſicht eröffnete ſich alſo für die Macht-
ſtellung Köthens, wenn die Conferenz ſich bewegen ließ, die Freiheit der
Elbe ſofort und unbedingt von Bundeswegen einzuführen! Dann konnte
der Herzog, obgleich ſein Land von preußiſchem Gebiete umſchloſſen war,
eine ſelbſtändige europäiſche Handelspolitik beginnen, er konnte die Frei-
[33]Köthen gegen Preußen.
heit der Elbſchifffahrt mißbrauchen, um im Herzen des preußiſchen Staates
dem Schleichhandel eine große Freiſtätte zu eröffnen, den gehaßten Nach-
barſtaat mit geſchmuggelten Waaren zu überſchwemmen und ihn vielleicht
zur Aenderung ſeines Zollſyſtems zu zwingen. Begierig ging der kleine
Herr auf dieſe freundnachbarlichen Gedanken ein; Gewiſſensbedenken be-
rührten ihn nicht, und den Unterſchied von Macht und Ohnmacht ver-
mochte er nicht zu begreifen. Die wiederholten wohlwollenden Einladungen
zum freiwilligen Anſchluß an das preußiſche Zollſyſtem hatte er ſämmtlich
ſchroff abgefertigt, in jenem pöbelhaft ſchreienden Tone, der allen Schrift-
ſtücken dieſes Hofes gemein war. „Anhalt — ſo erklärte er ſtolz — kann
ſeine Rettung nur ſuchen in dem allgemeinen europäiſchen völkerrechtlichen
Staatenvereine und in den Hilfsmitteln, welche ihm ſeine geographiſche
Lage an großen Strömen darbietet.“
Mehr oder minder eifrig klagten auch die meiſten übrigen Bevoll-
mächtigten wider die Selbſtſucht des Staates, der allein dem Ideale der
deutſchen Handelseinheit im Wege ſtehe. Nur die Hanſeſtädte, befriedigt
mit ihrer kosmopolitiſchen Handelsſtellung, wieſen jeden Verſuch gemein-
ſamer deutſcher Handelspolitik kühl zurück. Auch Zentner zeichnete ſich
wieder durch kluge Beſonnenheit aus; dem geſtaltloſen Traumbilde einer
allgemeinen Verkehrsfreiheit, deren Bedingungen noch Niemand kannte,
wollte er das neue bairiſche Zollgeſetz nicht opfern. Metternich aber ließ
mit ſchlecht verhehlter Schadenfreude die Kleinen wider Preußen lärmen.
Meiſterhaft verſtand der Wiener Hof, die Angſt vor dem preußiſchen Ehr-
geiz, die allen Kleinſtaaten in den Gliedern lag, je nach Umſtänden für
ſeine Zwecke auszubeuten. Im Oktober hatte Graf Bombelles auf aus-
drücklichen Befehl des Kaiſers Franz dem Großherzog von Weimar ge-
droht: wenn man die Karlsbader Beſchlüſſe nicht überall ſtreng ausführe,
dann müßten die beiden Großmächte aus dem Bunde ausſcheiden, und
dann würde der Kaiſer ſich genöthigt ſehen, ſeinen preußiſchen Alliirten
„in Deutſchland eine erweiterte Stellung zu verſchaffen“.*) Ebenſo un-
bedenklich benutzte Metternich jetzt die Eiferſucht der Kleinen um Preußens
Handelspolitik zu bekämpfen. Freilich durfte er nicht wagen, die Gegner
ſeines unentbehrlichen Bundesgenoſſen offen zu unterſtützen, zumal da er
ſelber an dem öſterreichiſchen Zollweſen nicht das Mindeſte ändern wollte.
Unter der Hand jedoch ermuthigte er die Ergrimmten und flüſterte ihnen
zu, das preußiſche Zollgeſetz ſei das Werk einer Partei, deren Zwecke mit
„treuem Bundesſinne“ nichts gemein hätten.**) Als handelspolitiſchen
Rathgeber hatte er ſich den Urheber der anhaltiſchen Schleichhandels-
Pläne, Adam Müller, nach Wien kommen laſſen.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 3
[34]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Die Nation war über das Problem der Zolleinheit noch ebenſo wenig
ins Klare gekommen wie ihre Staatsmänner. Von dem politiſchen Er-
gebniß der Conferenzen erwartete ſie, nach den Karlsbader Erfahrungen,
nichts Erfreuliches; nur die Aufhebung der Binnenmauthen und nament-
lich der preußiſchen Zolllinien erſchien allen Parteien als ein beſcheidener
Wunſch, der bei einigem guten Willen der Regierungen leicht erfüllt
werden konnte. Eine Flugſchrift „Freimüthige Worte eines Deutſchen aus
Anhalt“ ſprach mit draſtiſchen Worten aus, was nahezu alle Nichtpreußen
über die Berliner Handelspolitik dachten. Der offenbar wohlmeinende
Verfaſſer fand es ehrenrührig, daß man die von preußiſchem Gebiete um-
ſchloſſenen Staaten als Enclaven bezeichne, und ſchlechthin rechtswidrig,
daß Preußen von „Fremden“ Steuern erhebe; das Strafurtheil der öffent-
lichen Meinung müſſe der Sache „der Wahrheit und des Rechts“ unfehl-
bar zum Siege verhelfen.
Als Wortführer der Kaufleute und Gewerbtreibenden fand ſich F.
Liſt mit ſeinen Getreuen J. J. Schnell und E. Weber auf den Conferenzen
ein und legte eine Denkſchrift vor, deren hochgemuthes patriotiſches Pathos
inmitten der engherzigen partikulariſtiſchen Intereſſenpolitik der Wiener
Verſammlung wildfremd erſchien. Mit der Einheit der Nation — ſo
führte er in beredten Worten aus — ſei die vollkommene Unabhängigkeit
der Einzelſtaaten nicht vereinbar; der Bund müſſe den dreißig Millionen
Deutſchen den Segen des freien Verkehrs ſchaffen und alſo in Wahrheit
ein Bund der Deutſchen werden. Und was war der praktiſche Vorſchlag,
der dieſen begeiſterten Worten folgte? Liſt verlangte, daß die deutſchen
Staaten ihre Zölle an eine Aktiengeſellſchaft verpachten ſollten, und machte
ſich anheiſchig die Aktien unterzubringen; dieſe Geſellſchaft würde das
deutſche Bundeszollweſen begründen und den Regierungen alle Sorge um
läſtige Einzelheiten abnehmen! Seltſam doch, in welche holden Selbſt-
täuſchungen der feurige Patriot ſich einwiegte. Er behauptete, Preußen
ſei geneigt ſein Zollgeſetz aufzugeben, obgleich man ihm ſoeben von Berlin
aus amtlich das Gegentheil verſichert hatte. Er ſah ſich von der Wiener
Polizei argwöhniſch beobachtet und ſchrieb in die Heimath: „wir ſind von
allen Seiten mit Spionen umgeben, bei einem Spion einquartiert, von
einem Spion bedient;“*) er wußte, daß Metternich in der Conferenz er-
klärt hatte, mit den Individuen, welche ſich für die Vertreter des deut-
ſchen Handelsſtandes ausgäben, könne man ſich auf keine Verhandlungen
einlaſſen, da der Bundestag bereits den Deutſchen Handelsverein als ein
geſetzwidriges und unzuläſſiges Unternehmen verurtheilt habe. Das Alles
beirrte ihn nicht in ſeiner rührenden Zuverſicht. Als nun gar Adam
Müller eine Denkſchrift Liſt’s über deutſche Induſtrie-Ausſtellungen wohl-
wollend begutachtete, und Kaiſer Franz in einer Audienz dem unverwüſt-
[35]F. Liſt in Wien.
lichen Agitator verſicherte, ſeine Regierung werde gern das Wohl des
deutſchen Vaterlandes fördern, da wähnte er ſich ſchon faſt am Ziele:
„Aller Augen ſind nunmehr auf die kaiſerlich öſterreichiſche Regierung ge-
richtet. Wie würde ſich nicht Oeſterreichs edelmüthiger menſchenfreund-
licher Kaiſer die Völker deutſcher Zunge aufs Neue verbinden, wenn ihnen
ſo große Wohlthat von ſeinen Händen käme!“ Als auch dieſe Täuſchung
ſchwand, warf er ſeine Hoffnungen auf die ſüddeutſchen Höfe und meinte,
ſeine Sache habe durch die Verzögerung nur gewonnen.*) So klammerte
ſich der edle Patriot an jeden Strohhalm; nur das preußiſche Zollgeſetz,
das dereinſt der Eckſtein unſerer wirthſchaftlichen Einheit werden ſollte,
erſchien ihm, wie faſt der geſammten Nation, als der Quell des Verderbens.
In der Conferenz eröffnete Marſchall den Kampf durch eine Denk-
ſchrift vom 8. Januar, welche den preußiſchen Staat mit ſo grobem Un-
glimpf überhäufte, daß Berſtorff ſie dem Verfaſſer zurückgab. Durch die
neuen Zolleinrichtungen, hieß es da, würden die Eigenthumsrechte von
Hunderttauſenden angegriffen, das Eigenthum und der Beſitz vermindert.
Dann forderte der Naſſauer getroſt: Aufhebung aller ſeit dem Jahre
1814 neu eingeführten Mauthen und ſofortige Vollziehung der Beſchlüſſe
des Wiener Congreſſes über die Flußſchifffahrt; im Uebrigen volle Frei-
heit für jeden deutſchen Staat, die Zölle gegen das Ausland willkürlich
feſtzuſetzen, wenn er nur keine Binnenmauthen errichte. Daß der letz-
tere Vorſchlag einen plumpen Widerſpruch enthielt, daß kein Einzelſtaat
ſich gegen das Ausland ſchützen konnte, wenn ſeine deutſchen Binnen-
grenzen unbewacht blieben — dieſe handgreifliche Wahrheit war dem
naſſauiſchen Staatsmanne ganz entgangen; er ſprach wie der Blinde
von den Farben, da ſein Ländchen gar keine Grenzzölle beſaß.
Dann wiederholte Berſtett ſeine alten Klagen gegen die Binnen-
mauthen und vertheilte unter den Genoſſen jene gedankenreiche Denk-
ſchrift von Nebenius über die Bundeszölle; bei ruhiger Prüfung mußten
jedoch Alle die Unmöglichkeit einer Bundeszollverwaltung zugeſtehen, und
der badiſche Miniſter ſelbſt ließ den Plan ſeines geiſtvollen Untergebenen
fallen.**) Darauf neue wüthende Ausfälle Marſchall’s, ſo grob und un-
geſchlacht, daß Bernſtorff beim Schluß der Conferenzen dem Bundes-
geſandten ſchrieb: „es würde unter der Würde unſeres höchſten Hofes
ſein, dieſem in keiner Hinſicht achtungswerthen Manne irgend eine gegen
ſeine Perſon gerichtete Empfindlichkeit zu äußern,“ Goltz möge ſich alſo
dem naſſauiſchen Collegen gleichgiltig fern halten. Nunmehr proteſtirte
auch Fritſch im Namen der Thüringer wider Preußens Enclavenſyſtem
und verlangte, jedem Producenten müſſe geſtattet werden, ſeine Erzeug-
niſſe überall in Deutſchland frei abzuſetzen, jedem Conſumenten, ſeinen
3*
[36]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Bedarf auf dem nächſten Wege zu beziehen. Dazwiſchen hinein fuhr
der Köthener Herzog, deſſen anmaßendes Benehmen Bernſtorff nicht grell
genug ſchildern konnte, mit wiederholten geharniſchten Verwahrungen.*)
Er klagte, man laſſe ihn alle Laſten des preußiſchen Zollweſens tragen,
nicht die Vortheile, während es doch lediglich an ihm lag, auf Preußens
Anerbietungen einzugehen und auch der Vortheile theilhaftig zu werden. Er
drohte die auswärtigen Garanten der Bundesakte anzurufen zum Schutze
der „über allem Angriff erhabenen Sache“ des uralten Hauſes Anhalt.
Schließlich verweigerte er geradezu der Schlußakte ſeine Unterſchrift, wenn
ihm der Bund nicht die „freie Communikation mit Europa“ ſicherſtelle: „ſo
lange die Herzöge von Anhalt ſich in einer drückenden unfreiwilligen Zins-
barkeit gegen einen mächtigen Nachbarſtaat befinden, kann für dieſes alte
Fürſtenhaus keine Bundesakte und alſo auch keine Schlußakte exiſtiren.“
Inmitten dieſes Gezänks bewahrte Graf Bernſtorff vornehme Ruhe
und aufrichtigen Freimuth. Er beklagte laut, daß die Bundesakte durch
ihre allgemeinen Verſprechungen unerfüllbare Erwartungen geweckt habe.
Feſt und ſtolz wies der preußiſche Miniſter jede ehrenrührige Zumuthung
zurück: von der Aufhebung des neuen Geſetzes könne gar nicht die Rede
ſein. Zugleich wiederholte er unermüdlich in immer neuen Umſchreibungen
die in der Staatszeitung veröffentlichten Gedanken. Es ſei „unmöglich,
eine ſolche Einigung anders als durch allmähliche Vorbereitung und die
mühſamſte Ausgleichung ſtreitender Intereſſen bewirkt zu ſehen“. Nur
Verträge zwiſchen den Einzelſtaaten könnten dem wirthſchaftlichen Elend
ſteuern. „Geſchieht dieſes im Süden wie im Norden von Deutſchland,
und werden dieſe Verſuche unter der Mitwirkung und Pflege des Bundes
gemacht, ſo läßt es ſich wohl denken, daß man auf dieſem freilich lang-
ſamen, aber vielleicht einzig möglichen Wege dahin gelangen werde, die
jetzt beſtehenden Scheidewände aus dem Wege zu räumen und in Be-
ziehung auf Handel und Verkehr diejenige Einheit der Geſetzgebung
und Verwaltung hervorzubringen, welche ein Verein neben einander be-
ſtehender freier und beſonderer Staaten, wie ihn der Deutſche Bund bil-
det, irgend zulaſſen kann.“ Auf die Schmähungen des Kötheners bemerkte
er trocken, daß in Dresden bereits ſeit mehreren Monaten eine Conferenz
der Elbuferſtaaten tage; dort allein ſei der Ort, die Frage der freien Elb-
ſchifffahrt zum Austrage zu bringen.
Wahrlich, ein hiſtoriſcher Augenblick! Der große Kampf zweier Jahr-
hunderte, der alte unverſöhnliche Gegenſatz öſterreichiſcher und preußiſch-deut-
ſcher Politik erneuerte ſich in dieſen unſcheinbaren Händeln, noch ohne daß
die Kämpfer den tiefen Sinn des Streites begriffen. Wem ſollte ſich hier
nicht die Erinnerung aufdrängen an den Frankfurter Fürſtentag von
1863? Dort das Haus Oeſterreich mit der dichten Schaar der Enthu-
ſiaſten und der Partikulariſten, jubelnder Beifall der liberalen Welt, tö-
[37]Preußens Sieg.
nende Worte, die der Nation ein unbeſtimmtes Glück verheißen und nur
an dem kleinen Fehler kranken, daß ſie hohle Phraſen ſind. Hier Preußen
allein, verwünſcht von der Nation, ein kaltes Nein den hochfliegenden
Plänen der Gegner entgegenſtellend. Und doch barg ſich hinter dieſer
ablehnenden, ſcheinbar unfruchtbaren Haltung der einzige Gedanke, der
uns retten konnte. Die ganze Zukunft deutſcher Politik hing daran, daß
Preußens verſtändige Redlichkeit triumphirte über dies Bündniß der Un-
klarheit und der Lüge. Und Preußen ſiegte.
Da die Gegner nur in ihrem Haſſe, nicht in irgend einem poſitiven
Gedanken übereinſtimmten, ſo errang Bernſtorff bereits am 10. Februar
einen durchſchlagenden Erfolg in dem handelspolitiſchen Ausſchuſſe der
Conferenz; er bewog den Ausſchuß, ſeine Anträge auf einige „mehr vor-
bereitende als entſcheidende, keinen künftigen bundesförderlichen Beſchlüſſen
vorgreifende Beſtimmungen zu beſchränken.“*) Der Ausſchuß bean-
tragte demnach lediglich, daß der Bundestag, dem Art. 19 gemäß, die Be-
förderung des Handels als einen der Hauptgegenſtände ſeiner Thätigkeit
anſehen ſolle. Nur über die Freiheit des Getreidehandels, welche Preußen
ſchon vor drei Jahren in Frankfurt befürwortet hatte, ſchienen jetzt alle
Theile endlich einig, und der Ausſchuß ſchlug vor, die Frage durch ſchleu-
nige Vereinbarung zu erledigen. Als dieſe Anträge am 4. März in der
Conferenz zur Verleſung kamen, da brach, ſobald der Name des Bun-
destags erklang, einer der Anweſenden in lautes Lachen aus, und die
ganze Verſammlung ſtimmte fröhlich ein. Und dieſe Staatsmänner, die
ihr Urtheil über die Leiſtungsfähigkeit des Bundestags ſo unzweideutig
bekundeten, hatten ſich ſoeben noch vermeſſen, das preußiſche Zollgeſetz
durch einen Bundesbeſchluß aufzuheben! Die Anträge des Ausſchuſſes
wurden angenommen, und um auch den widerſpänſtigen Köthener zu
gewinnen, fügte man noch ein Separatprotokoll hinzu, kraft deſſen die
betheiligten Staaten ſich verpflichteten, die Beſchlüſſe des Wiener Con-
greſſes über die Flußſchifffahrt unverbrüchlich zu halten, die Verhand-
lungen deshalb thätig zu betreiben.
Ueber die Freiheit des Getreidehandels ſetzte man ebenfalls ein beſon-
deres Protokoll auf, aber Metternich vereitelte ſchließlich auch dieſen einzigen
heilſamen Plan, in dem ſich alle Parteien zuſammenfanden. Er ſchob
die Entſcheidung immer wieder hinaus, und als die Conferenz endlich
zum Beſchluſſe ſchreiten wollte, da war Kaiſer Franz, zum lebhaften Be-
dauern ſeines Miniſters, bereits nach Prag abgereiſt. Arglos meldete
Bernſtorff einige Tage ſpäter, die Erwiderung Sr. Majeſtät ſei noch
immer nicht eingetroffen.**) Die Conferenz mußte auseinandergehen ohne
das Protokoll abzuſchließen. Erſt gegen Mitte Juni lief die öſterreichiſche
Antwort beim Bundestage ein. Der gute Kaiſer, der ſich gegen F. Liſt ſo
[38]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
väterlich über das Wohl des deutſchen Vaterlandes geäußert hatte, meinte
jetzt trocken: das Wiener Protokoll „ſei eigentlich nur beſtimmt die Ver-
anlaſſung zur weiteren Entwickelung der darin ausgeſprochenen Grund-
ſätze zu geben“; man brauche alſo nicht förmlich darüber abzuſtimmen,
ſondern ſolle nur ſogleich die vorbehaltene Berathung am Bundestage
beginnen. Dies geſchah denn auch. In einem ſalbungsvollen Präſidial-
vortrage feierte Buol die Reize des freien Getreidehandels; ſeine Worte
waren aber ſo allgemein gehalten, daß ſelbſt der harmloſe Goltz ſofort
bemerkte, Oeſterreich hege Hintergedanken.*) Darauf berieth der Bundes-
tag mit gewohnter Emſigkeit weiter, und nach einem Vierteljahre (5. Okt.)
beſchloß er, zunächſt Nachrichten über den Stand der Geſetzgebung in den
Einzelſtaaten einzuholen. Der freie Getreidehandel verſchwand in jenem
geheimnißvollen Schlunde, in deſſen Tiefen die ewig unvollendeten Bun-
desbeſchlüſſe gebettet lagen. Das waren Oeſterreichs Liebesdienſte zum
Beſten der deutſchen Verkehrsfreiheit. —
Der Verlauf der Conferenzen ſelbſt beſtätigte durchweg was Bern-
ſtorff vorhergeſagt: daß ein Bund ohne politiſche Einheit keine gemein-
ſame Handelspolitik treiben könne. Angeſichts dieſer Erfahrungen begannen
einige der ſüddeutſchen Staatsmänner ſich doch endlich mit den Rath-
ſchlägen Bernſtorff’s zu befreunden. Eingepreßt zwiſchen den Mauthlinien
Frankreichs, Oeſterreichs, Preußens vermochte die Volkswirthſchaft des
Oberlandes kaum mehr zu athmen, zumal da noch keiner der ſüddeutſchen
Staaten, außer Baiern, ein geordnetes Zollweſen beſaß. Die Frage ließ
ſich nicht mehr abweiſen, ob man nicht zunächſt verſuchen ſolle, dieſe zer-
ſtückelten Gebiete in einem handelspolitiſchen Sonderbunde zu vereinigen,
alſo genau daſſelbe zu thun, was man ſoeben dem preußiſchen Staate
als Bundesfriedensbruch vorgeworfen hatte. Den erſten Anſtoß zu ſol-
chen Plänen gab der wackere du Thil; noch ſpäterhin pflegte der Darm-
ſtädter Hof ſich dieſes Verdienſtes gern zu rühmen.**) Aber erſt durch
Berſtett’s rührige Thätigkeit gewann der Gedanke Leben. Der Badener
hegte, wie du Thil, die ehrliche Hoffnung, daß aus dieſem Sonderbunde
„nach und nach ein Ganzes“ hervorgehen werde; indeß dachte er auch an
Retorſionen gegen die preußiſchen Zölle und gab eine kurz abweiſende
Antwort, als Bernſtorff ihm verſicherte, mit einem ſüddeutſchen Zollver-
eine werde Preußen gern Handelsverträge abſchließen. Auch Marſchall
ließ ſich auf den Plan nur ein, weil er erwartete, daß Süddeutſchland
nunmehr mit vereinter Kraft den Zollkrieg gegen Preußen eröffnen werde.
Württemberg endlich ſpielte mit Triasplänen und hoffte den politiſchen
Bund des conſtitutionellen „reinen Deutſchlands“ aus dem Handelsvereine
hervorgehen zu ſehen — ein Gedanke, der weder in München noch in
Darmſtadt Anklang fand.
[39]Süddeutſche Zollvereinspläne.
Bei ſolcher Verſchiedenheit der politiſchen Abſichten konnte Berſtett nach
langwierigen vertraulichen Berathungen nur einen beſcheidenen Erfolg
erreichen. Am 19. Mai verpflichteten ſich die beiden ſüddeutſchen König-
reiche, Baden, Darmſtadt, Naſſau und die thüringiſchen Staaten, noch
im Laufe des Jahres Bevollmächtigte nach Darmſtadt zu ſenden, welche
dort auf Grund einer unverbindlichen Punktation über die Bildung eines
ſüddeutſchen Zollvereins verhandeln ſollten. Mehr wollte der vorſichtige
Zentner, der ſein bairiſches Zollgeſetz behüten mußte, ſchlechterdings nicht
verſprechen. Immerhin war jetzt doch ein Weg betreten, der aus dem
Elend der Binnenmauthen vielleicht hinausführen konnte. Die liberale
Preſſe begrüßte dankbar die patriotiſche That ihrer Lieblinge. Der alle-
zeit vertrauensvolle Liſt ſah das Ideal der deutſchen Zolleinheit bereits
nahezu verwirklicht, und als er bald darauf nach Frankfurt kam, fand
er ſeinen Gönner Wangenheim in einem Rauſche des Entzückens: ſo trug
das reine Deutſchland der geſammten Nation doch endlich die Fackel voran!*)
Minder hoffnungsvoll, aber durchaus wohlwollend beurtheilte Bernſtorff
den Entſchluß der ſüddeutſchen Höfe. Er verſicherte Berſtett ſeiner Zu-
ſtimmung; denn gelang es den Mittelſtaaten ihr zerrüttetes Verkehrsleben
aus eigener Kraft zu ordnen, ſo blieb für die Zukunft eine Verſtändigung
mit Preußen möglich. Seinem Könige ſchrieb er: trotz manchen feind-
ſeligen politiſchen und ſtaatswirthſchaftlichen Hintergedanken beſtehe für
Preußen kein Grund das Unternehmen zu mißbilligen, zumal da das
Gelingen noch ſehr fraglich ſcheine.**)
Der Verſuch, das preußiſche Zollgeſetz durch ein Machtgebot des
Bundes zu vernichten, war geſcheitert. Doch unterdeſſen führte der Kö-
thener Herzog ſeinen Schmuggelkrieg wider die preußiſchen Mauthen wohl-
gemuth weiter und hemmte dadurch zugleich die Verhandlungen über die
Elbſchifffahrt. Wie oft hatten einſt die Fremden geſpottet über die furiosa
dementia der Deutſchen, die ſich ihre herrlichen Ströme durch ihre Zölle
ſelber verſperrten! Erſt ſeit Frankreich das linke Rheinufer an ſich riß,
ward dies ſprichwörtliche Leiden Deutſchlands etwas gelindert. Im Jahre
1804 wurde ſtatt der alten drückenden Rheinzölle das Rhein-Octroi ein-
geführt, das im Weſentlichen nur beſtimmt war die Koſten der Strom-
bauten und der Leinpfade zu decken, und dieſe neue Ordnung bewährte
ſich ſo gut, daß der Wiener Congreß ſie auch für die anderen conventio-
nellen Ströme Deutſchlands als Regel vorſchrieb. Seitdem war die
Weſerſchifffahrt in der That frei geworden: nach einem langen Streite
mit Bremen ließ ſich Oldenburg durch die Vermittlung des Bundestags
bewegen, auf den widerrechtlichen Elsflether Zoll endlich zu verzichten
(Aug. 1819). Schwieriger lagen die Verhältniſſe zwiſchen den zehn Ufer-
[40]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
ſtaaten der Elbe. Die von W. Humboldt redigirten Art. 108—116 der
Wiener Congreßakte ſtellten den Grundſatz auf, daß die Schifffahrt auf
den conventionellen Strömen frei, das will ſagen: Niemandem verwehrt
ſein ſollte, und verpflichteten die Uferſtaaten, binnen ſechs Monaten Ver-
handlungen einzuleiten, damit die Schifffahrtsabgaben gleichmäßig und
unabänderlich, ungefähr dem Betrage des Rhein-Octrois entſprechend,
feſtgeſetzt würden.
Offenbar vermochten dieſe wohlthätigen Verheißungen nur dann ins
Leben zu treten, wenn die Erhebung der Schifffahrtsabgaben, wie der
Art. 115 ausdrücklich vorſchrieb, von dem Zollweſen der Uferſtaaten durch-
aus getrennt blieb und alle Betheiligten durch eine ſtrenge Uferpolizei
verhinderten, daß die freie Schifffahrt zum Schmuggel in die Nachbar-
lande mißbraucht würde. Nur unter dieſer Bedingung konnte Preußen,
das jene Artikel der Congreßakte als ſein eigenes Werk betrachtete, ſeine
Hand zu ihrer Ausführung bieten; wie durfte man — ſo fragte ſpäter-
hin eine preußiſche Staatsſchrift — einem mächtigen Staate zumuthen,
„in ſeinem Herzen einen Wurm zu dulden, der ſeine innere Lebenswurzel
annagt?“*) Nur wenn Anhalt, das von der Provinz Sachſen rings
umſchloſſen war, dem preußiſchen Zollſyſteme beitrat, konnte die verheißene
Freiheit der Elbſchifffahrt und der rechtmäßige Ertrag der preußiſchen
Einfuhrzölle zugleich geſichert werden. Seit der alte Deſſauer einſt die
ſämmtlichen Landgüter ſeiner Ritterſchaft aufgekauft, hatten ſich Landbau
und Forſtwirthſchaft in den anhaltiſchen Ländchen unter der ſorgſamen
Pflege ihrer Fürſten glücklich entwickelt; alle ſeine natürlichen Intereſſen
verwieſen dies blühende Gartenland, das der Induſtrie noch gänzlich ent-
behrte, auf den freien Verkehr mit den benachbarten gewerbreichen Be-
zirken Preußens. Was der Vereinbarung im Wege ſtand, war allein
der tolle Souveränitätsdünkel des Herzogs von Köthen und die weiter
blickende Feindſeligkeit ſeines Rathgebers Adam Müller. Die „Anſchlie-
ßungs-Inſinuationen“ des Berliner Cabinets wies der Herzog empört zu-
rück: ob man denn nicht einſehe, ſo fragte er einmal, „wie ſchon die
bloße Unnatur eines ſolchen Verhältniſſes, die Unterordnung eines ſou-
veränen Fürſten unter die Zoll-Adminiſtration eines benachbarten Staates,
dem Beſtande eines freundſchaftlichen Verhältniſſes mit der Regierung
deſſelben durchaus ungünſtig ſei!“**)
Da mit Vernunftgründen bei dieſem Hofe nichts auszurichten war,
ſo begnügte ſich Preußen vorläufig ſein Enclavenſyſtem gegen Anhalt auf-
recht zu halten. Alle zu Lande nach Anhalt eingehenden Waaren wurden
dem preußiſchen Eingangszolle unterworfen. Nur den Elbſchiffern er-
laubte man Sicherheit zu ſtellen für die Zahlung der preußiſchen Ab-
[41]Die. Elbſchifffahrts-Akte.
gaben und erſtattete ihnen den Betrag zurück, falls der Verbleib der ein-
geführten Waaren in Anhalt nachgewieſen wurde.
Schamloſer Unterſchleif war die Folge dieſer Erleichterung. Der an-
haltiſche Schleichhandel wuchs von Monat zu Monat, und mit Ungeduld
erwarteten die preußiſchen Finanzmänner die vertragsmäßige Regelung
dieſer leidigen Zuſtände, als endlich im Juni 1819 — viertehalb Jahre
nach dem Zeitpunkte, welchen der Wiener Congreß vorgeſchrieben — die
Elbſchifffahrts-Conferenz in Dresden eröffnet wurde. Dort ſprachen Ham-
burg und Oeſterreich eifrig für die Befreiung des Fluſſes, die ihnen frei-
lich nur Vortheil bringen konnte, da die Hanſeſtadt gar keine Schifffahrts-
abgaben erhob und die hohen böhmiſchen Elbzölle auf der wenig befahrenen
oberſten Stromſtrecke nur geringen Ertrag brachten. Dänemark hingegen,
Mecklenburg, Anhalt zeigten ſich ſchwierig. Am hartnäckigſten aber ver-
theidigte Hannover ſeinen Beſitzſtand; denn das welfiſche Königreich über-
ließ die Sorge wie die Koſten für das Fahrwaſſer der Nieder-Elbe groß-
müthig dem Hamburger Senate und erhob dafür in Brunshauſen, nahe
bei Stade, einige Meilen oberhalb der Mündung, ſeinerſeits einen hohen
Zoll von allen eingehenden Seeſchiffen. Sein Bevollmächtigter verwahrte
ſich feierlich gegen jeden Verſuch, dies Kleinod der Welfenkrone anzutaſten:
das ſei ein Seezoll, der mit der Elbſchifffahrt nichts zu ſchaffen habe, und
nimmermehr könne die Abſicht der Wiener Verheißungen dahin gehen,
„die Baſis alles volksthümlichen Glücks, den Rechtszuſtand zu erſchüttern.“
Kein Zureden half; die Conferenz mußte den Stader Zoll ganz aus dem
Spiele laſſen und nur den Stromverkehr oberhalb Hamburgs zu erleich-
tern ſuchen. Nach zweijährigen Verhandlungen, die den preußiſchen Be-
vollmächtigten oft der Verzweiflung nahe brachten, kam endlich am 23.
Juli 1821 die Elbſchifffahrtsakte zu Stande, ein dürftiger Vergleich, der
in Form und Inhalt die Spuren mühſeliger Kämpfe verrieth; immerhin
wurden die beſtehenden Schifffahrtsabgaben doch etwas herabgeſetzt, und
der Verkehr auf dem Strome begann ſich bald zu heben.
Die preußiſche Regierung behauptete während dieſes unleidlichen Ge-
zänks durchweg eine verſöhnliche Haltung. Sie gab für den Elbverkehr
ihre Durchfuhrzölle auf, die einen ſo weſentlichen Beſtandtheil ihrer
Handelspolitik bildeten, und war bereit die Schifffahrtsabgaben noch
weiter herabzuſetzen als die kleinen Nachbarn zugeſtehen wollten; aber
ſie erklärte auch von vornherein, daß ſie eine Schmugglerherberge im
Innern ihres Staates nicht dulden werde und darum die Elbſchifffahrts-
akte nur unterzeichnen könne, wenn Anhalt ſich ihrem Zollweſen an-
ſchließe. Ihr Bevollmächtigter fügte warnend hinzu: das eigene Intereſſe
der kleinen Regierungen gebiete ihnen das Zollſyſtem des großen Nach-
barſtaates zu unterſtützen, „weil dadurch die zu ihren Gunſten beſtehende
Zerſtückelung Deutſchlands in ihren nachtheiligen Folgen gemildert werden
würde.“ Wie flammte der kleine Köthener Herr auf, als er dieſe uner-
[42]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
hörte Aeußerung preußiſchen Uebermuthes erfuhr und gleichzeitig Bern-
ſtorff in einem neuen Mahnſchreiben an die Köthener Regierung offen
ausſprach: „die norddeutſchen Staaten haben den Schutz für ihre Exiſtenz,
ihre Wohlfahrt und Selbſtändigkeit und ihre gemeinnützigen Anſtalten
von Preußen zu erwarten.“*) Der Herzog, der grade mit ſeinem könig-
lichen Schwager zugleich in Karlsbad verweilte, berichtete ſofort Alles an
Marſchall. „Ich ſchmeichle mir, ſo ſchrieb er, daß alle Gutgeſinnten auf
meiner Seite ſtehen und nicht zugeben, daß es Preußen erlaubt wird
ſich Alles zu erlauben. Ob einem Cabinet, das durch einen ſolchen Mann
repräſentirt iſt, zu trauen iſt, laſſe ich dahingeſtellt.“ Dann fuhr er
höhniſch fort: „das Spaßhafteſte iſt, daß der König mit uns ebenſo freund-
lich als ſonſt iſt“ — und bat den Naſſauer, auch fernerhin auf Wittgen-
ſtein, „der ganz im guten Geiſte iſt“, wirken zu laſſen, damit die Partei,
welche das Zollgeſetz halte, zu Falle komme. Im gleichen Tone antwortete
Marſchall: „Man hat zwar bisher ähnliche Phraſen in dem Munde deut-
ſcher Revolutionäre gehört, nicht aber in dem eines Repräſentanten eines
deutſchen Königs. Wenn Preußen das nördliche Deutſchland und ganz
Deutſchland ſchützt, ſo ſchützt umgekehrt das nördliche Deutſchland und
ganz Deutſchland Preußen. Rechte und Verbindlichkeiten ſind durchaus
wechſelſeitig. Wer das Gegentheil behauptet, verletzt die erſte und Haupt-
grundlage des Bundes und bewegt ſich außerhalb des Bundes. Na-
mentlich hat der mächtigſte der deutſchen Bundesſtaaten, ſowohl im Bunde
als in Europa, bei jeder Gelegenheit den entgegengeſetzten Grundſatz laut
ausgeſprochen und bei jeder Veranlaſſung geltend gemacht.“**)
Dieſer mächtigſte der Bundesſtaaten trieb unterdeſſen ſein doppeltes
Spiel weiter. Metternich, der ebenfalls in Karlsbad anweſend war, hielt
zwar, auf Preußens Wunſch, einige Unterredungen mit dem Herzog, an-
geblich um den Streit beizulegen.***) Aber zur nämlichen Zeit reichte die
Köthener Regierung eine Klage beim Bundestage ein und forderte die
Herausgabe eines dem Köthener Kaufmann Friedheim gehörigen Elbſchiffes,
das beim preußiſchen Zollamte Mühlberg an der Kette lag, weil der
Schiffer für den Betrag der preußiſchen Zölle keine Sicherheit ſtellen wollte.
Nachher ergab ſich — der öſterreichiſche Bevollmächtigte Münch in Dres-
den mußte es ſelber dem preußiſchen Geſandten eingeſtehen — daß Adam
Müller den Friedheim zu ſeiner Weigerung aufgeſtiftet hatte um den
Streit vor den Bundestag zu bringen.†)
Da Preußen unerſchütterlich blieb, ſo bequemten ſich die drei anhalti-
ſchen Herzoge ſchließlich doch zu einem Zugeſtändniß und verſprachen auf
[43]A. Müller’s Schleichhandelspläne.
der Dresdener Conferenz feierlich „zu einem Vereine mit Preußen wegen
Sicherſtellung ſeiner Landesabgaben auf möglichſt ausführbare Weiſe die
Hand zu bieten“. Auf dies Fürſtenwort vertrauend hielt König Friedrich
Wilhelm den Hader nunmehr für abgethan; er ratificirte die Akte, ließ
jenes unglückliche Köthener Schiff freigeben, alſo daß die Klage am Bun-
destage ihren Gegenſtand verlor, und Bernſtorff lud die anhaltiſchen
Höfe nochmals ein, in Berlin wegen der Bedingungen des Zollanſchluſſes
zu verhandeln. Aber Monate vergingen, und kein anhaltiſcher Bevoll-
mächtigter erſchien. Dem unaufhaltſamen Köthener war es gelungen,
ſeine wohlmeinenden Vettern von Deſſau und Bernburg, die ihr Wort
halten wollten, wieder umzuſtimmen; ſie hatten ihm verſprechen müſſen,
nicht ohne ihn dem preußiſchen Zollſyſteme beizutreten, und er war in-
zwiſchen mit ſeinem Adam Müller über einen neuen Betrug einig ge-
worden.
Da die Elbſchifffahrtsakte im März 1822 in Kraft treten ſollte, ſo
entſchloß ſich Miniſter Klewiz im Januar, das Enclavenſyſtem gegen An-
halt vorläufig aufzuheben, was die Finanzpartei in Berlin ſchon längſt
gefordert, Eichhorn aber, aus Wohlwollen gegen das Nachbarland, bis-
her verhindert hatte. Man umringte demnach die drei Herzogthümer
mit preußiſchen Zollſtellen; der Elbverkehr dagegen ward, gemäß der
Akte, freigegeben und Preußen begnügte ſich die nach Anhalt beſtimmten
Schiffe einer Durchſuchung zu unterwerfen. Eben auf dieſe Vertrags-
treue Preußens hatte Adam Müller ſeinen ſauberen Plan berechnet. Die
Durchſuchung der Elbſchiffe wurde natürlich zu leerem Scheine, ſobald
man anhaltiſcherſeits unredlich verfuhr. Nun thaten ſich ſofort mehrere
große engliſche Exportfirmen mit köthener Kaufleuten zuſammen, um den
Schleichhandel unter dem Schutze des Herzogs in großem Stile zu pflegen.
Das geſammte Ländchen ward ein Schwärzerwirthshaus, ein Stelldichein
für die Gauner und Spitzbuben des deutſchen Nordens. Die große Mehr-
zahl der treuen Köthener ſegnete dankbar den Landesherrn, der ihnen
billige Waare und reichlichen Verdienſt beim ſchmutzigen Handel ver-
ſchaffte. Wunderbar, wie ſich die Verzehrungskraft dieſes glücklichen Völk-
chens mit einem male hob, als wäre ein Goldregen über das Land ge-
kommen. Nicht lange, und der anhaltiſche Conſum von ausländiſchen
Waaren verhielt ſich zu dem preußiſchen wie 64 : 1000, der von baumwol-
lenen Waaren, die in Preußen hoch verzollt wurden, wie 165 : 1000, die
Bevölkerung der beiden Lande ſtand wie 9 : 1000. Für die Droguen da-
gegen, welche das preußiſche Geſetz mit einem niedrigen Zolle belegte,
zeigten die Anhalter geringere Neigung; hier ſtellte ſich das Verhältniß
nur wie 13 : 1000. Und bei dieſer übernatürlichen Conſumtion gingen
die herzoglichen Zollbeamten dem Volke mit gutem Beiſpiele voran: der
Zollinſpector Klickermann in Deſſau bezog, wie Preußen aus den Liſten
ſeiner Elbzollämter nachwies, in dem einen Jahre 1825 für ſeinen Haus-
[44]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
bedarf zollfrei auf dem Strome: 53 Oxhoft Wein, 4 Oxhoft Rum, 98
Säcke und 1 Faß Kaffee, 13 Säcke Pigment und Pfeffer, insgeſammt
an 1000 Centner. Mehr denn eine halbe Million Thaler im Jahre
wurden durch den anhaltiſchen Schleichhandel den preußiſchen Kaſſen vor-
enthalten; der Zollertrag in den Provinzen Brandenburg und Sachſen
ſtieg nachher, als Anhalt endlich ſich dem preußiſchen Syſtem unterworfen
hatte, bald von 3,135 auf 4,128 Millionen.
Der Beſitz einer ſouveränen Krone ohne Macht entſittlicht auf die
Dauer ihren Träger. Wie gründlich mußte das Rechtsgefühl der kleinen
Höfe, ſeit ſie keinen Richter mehr über ſich anerkannten, verwüſtet ſein,
wenn dies rechtſchaffene askaniſche Haus, das von jeher einer wohlver-
dienten allgemeinen Achtung genoß und ſo viele ſeiner tapferen Söhne
in die Reihen des preußiſchen Heeres geſendet hatte, ſich jetzt unbedenklich
erdreiſtete, die Geſetzgebung ſeines alten treuen Beſchützers durch groben
Unfug zu untergraben! Ein Unglück, daß der ehrwürdige Senior des an-
haltiſchen Geſammthauſes, der ſeinem Ländchen unvergeßliche Leopold
Friedrich Franz von Deſſau vor Kurzem geſtorben war; er würde den
zweifachen Vertragsbruch ſchwerlich geduldet haben, denn Anhalt hatte ſich
auf dem Wiener Congreſſe zur Unterdrückung des Schleichhandels ver-
pflichtet und nachher in Dresden feierlich eine Verſtändigung mit Preußen
verſprochen.
Um dieſer letzteren Verpflichtung ſcheinbar zu genügen, ſendete Her-
zog Ferdinand endlich im Januar 1822 ſeinen Hofmarſchall Sternegg
nach Berlin, befahl ihm allein mit Hardenberg zu verhandeln; mit Bern-
ſtorff zu ſprechen, ſei unter der Würde des Kötheners. Der Staats-
kanzler aber zwang den Abgeſandten kurzweg, ſich an das Auswärtige
Amt zu wenden, und dort ſtellte ſich heraus, daß Sternegg durchaus
keine Anerbietungen wegen des Zollanſchluſſes zu bringen, ſondern lediglich
eine Entſchädigungsforderung zu überreichen hatte. Der Schaden Köthens
betrug, nach dem billigen Maßſtabe der Kopfzahl angeſchlagen, etwa 40,000
Thaler für drei Jahre. Der Herzog berechnete das Zehnfache und zeigte ſich
hoch erſtaunt, da Preußen den Köthener Schmuggel in Gegenrechnung
ſtellte. Nach langen, gereizten Erörterungen rückten die Herzöge ſchließ-
lich mit dem Vorſchlage heraus: Preußen möge dem enclavirten Anhalt
durch einen Gebiets-Austauſch auf ewige Zeiten freien Verkehr mit Sachſen
verſchaffen, dann ſeien die drei Höfe bereit, ſich verſuchsweiſe auf einige
Jahre dem preußiſchen Zollſyſteme anzuſchließen. Sofort wies Bernſtorff
die „unangemeſſene“ Zumuthung ſcharf zurück, der Unterhändler mußte
abziehen, und Anhalt blieb mit preußiſchen Zolllinien umgeben.*) Aber
[45]Anhaltiſcher Schleichhandel.
der Schleichhandel blühte fröhlich fort, die Grenzwache Preußens war
machtlos gegen den böſen Willen der herzoglichen Behörden. Obwohl
der Berliner Hof über Adam Müller’s Ränke genau unterrichtet war, ſo
wollte er doch ſchlechterdings nicht glauben, daß Fürſt Metternich das
Treiben ſeines Generalconſuls billige. Jahrelang ertrug der preußiſche
Adler langmüthig die Biſſe der anhaltiſchen Maus, immer in der Hoff-
nung, daß die drei Herzoge endlich noch ihr Wort einlöſen würden.
Und in dieſem Streite, der alle Selbſtſucht, allen Dünkel, alle Thor-
heit der Kleinſtaaterei an den Tag brachte, ſtand die deutſche Preſſe wie
ein Mann zu den anhaltiſchen Schmugglern. Der Schmerzensſchrei des
freien Kötheners war das Wiegenlied der deutſchen Handelseinheit, die
erſt nach zwei Menſchenaltern auf demſelben Elbſtrome unter den Wehe-
rufen des freien Hamburgers ihr letztes Ziel erreichen ſollte. Mit einer
Verblendung ohne gleichen täuſchte ſich die Bevölkerung der kleinen Staaten,
bei jeder Wendung dieſes wirrenreichen Kampfes, regelmäßig über ihr
eigenes und des Vaterlandes Wohl, um jedesmal, ſobald der gefürchtete
Anſchluß an Preußen endlich vollzogen war, die Nothwendigkeit der Aen-
derung nachträglich dankbar anzuerkennen. Ebenſo regelmäßig verdeckte
der Partikularismus ſeine Selbſtſucht hinter dem ſchönen Worte der Frei-
heit; bald nahm er die Freiheit des Handels, bald das freie Selbſtbe-
ſtimmungsrecht der deutſchen Ströme, bald auch Beides zugleich zum
Vorwand, und jedesmal ließ ſich die vom Liberalismus beherrſchte öffent-
liche Meinung durch ſolche hohle Kraftworte verführen.
Die unausrottbaren Vorurtheile wider das preußiſche Zollgeſetz
wirkten zuſammen mit jener gedankenloſen Gemüthlichkeit, die es unbe-
ſehen für unedel hält, bei einem Kampfe zwiſchen Macht und Ohnmacht
die Partei des Stärkeren zu ergreifen. Und dazu der juriſtiſche Forma-
lismus unſerer politiſchen Bildung, der gar nicht ahnte, daß im Staaten-
verkehre das formelle Recht nichtig iſt, wenn es nicht durch die lebendige
Macht getragen wird. War denn Köthen nicht ebenſo ſouverän wie
Preußen? Wie durfte man dieſer ſouveränen Macht einen Zollanſchluß
zumuthen, der ihr freilich nur Segen bringen konnte und ſich aus ihrer
geographiſchen Lage mit unabwendbarer Nothwendigkeit ergab, aber ihrem
freien Selbſtbeſtimmungsrechte widerſprach? Und wenn es ihr beliebte,
die Freiheit der Elbe zur boshaften Schädigung des Nachbarlandes zu ge-
brauchen — in welchem Artikel der Bundesakte war dies denn verboten?
Daß Anhalt ſich durch die Wiener Verträge zur Beſeitigung des Schleich-
handels verbunden hatte, überging man mit Stillſchweigen. Bignon, der
alte Anwalt der deutſchen Kleinſtaaten, trat ebenfalls auf den Kampfplatz
mit einem offenen Briefe über den preußiſch-anhaltiſchen Streit. Er be-
klagte ſchmerzlich, daß Frankreich nicht mehr wie ſonſt vom Niederrheine
her des Richteramtes über Deutſchland warten könne; aber „Frankreich
iſt von der Natur beſtimmt immer zu herrſchen, und wenn es das Scepter
[46]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
der Macht verloren hat, ſo hat es doch das Scepter der öffentlichen Mei-
nung bewahrt.“ Vor dem Scepterträger der öffentlichen Meinung fand
Preußen, wie billig, keine Gnade. Auf dieſem Wege der Uſurpationen,
rief Bignon, iſt das Haus der Capetinger einſt ſchrittweis dahin gelangt,
die großen Vaſallen Frankreichs zu vernichten. Treuherzig ſprach der
deutſche Liberale die Warnung des Bonapartiſten nach.
Auch die Mehrheit am Bundestage kam der Klage des Köthener
Hofes, die ſelbſt nach der Freigebung jenes Elbſchiffes nicht zurückgezogen
wurde, bereitwillig entgegen. Umſonſt verwahrte ſich König Friedrich Wil-
helm, als er im Sommer 1821 durch Frankfurt kam, mit ſcharfen Worten
wider den Vorwurf, daß er Anhalt mediatiſiren wolle. Die kleinen Höfe
ließen ſich’s nicht ausreden: Preußen wünſche, wie Berſtett ſich ausdrückte,
„ſeine geographiſche Dünnleibigkeit auf Koſten einiger Kleineren zu arron-
diren“. Der neu ernannte badiſche Bundesgeſandte Blittersdorff und
die Klügeren ſeiner Genoſſen wußten wohl, wie wenig „bei dem bekannten
Charakter des Herzogs oder vielmehr der Frau Herzogin“ auf ein ver-
ſtändiges Abkommen zu rechnen ſei; doch ſie meinten, „dies ſei die Gelegen-
heit für den Bundestag, ſeine Dauer und Lebenskraft zu erproben“.*)
Es galt, Preußen zu demüthigen vor einem ohnmächtigen Nachbarn; es
galt, der norddeutſchen Großmacht zu beweiſen, daß ſie, nach Marſchall’s
Worten, ebenſo ſehr durch Köthen geſchützt werde, wie Köthen durch
Preußen. Von den größeren Bundesſtaaten zeigte allein Baiern ein Ver-
ſtändniß für die Machtverhältniſſe; nachdem die Münchener Regierung ſo-
eben ſelber die Schwierigkeiten der Einführung eines neuen Zollſyſtems
kennen gelernt hatte, meinte ſie doch, daß ein kleiner Unterſchied beſtehe
zwiſchen einem Reiche und einer Enclave. Die anderen beurtheilten die
Frage nach den Geſichtspunkten des Civilproceſſes, und da die Rechts-
frage allerdings zweifelhaft lag, ſo entſpann ſich am Bundestage eine
grimmige Fehde, die durch viele Jahre hingeſchleppt den liberalen Zei-
tungen immer wieder den willkommenen Anlaß bot, Preußen als den
Friedensbrecher Deutſchlands zu brandmarken.
Das alſo war für Preußen das Ergebniß der handelspolitiſchen
Verhandlungen in Wien und Dresden. Das neue Zollgeſetz war gegen
den Widerſtand faſt aller Bundesſtaaten unverändert aufrecht geblieben,
auch die Freiheit der Elbe war nothdürftig ſicher geſtellt, und die alte
Anſicht der preußiſchen Regierung, daß der Bund für den deutſchen Ver-
kehr ſchlechterdings nichts zu leiſten vermöge, hatte ſich abermals beſtätigt.
Aber ebenſo feſt ſtand auch die Erkenntniß, daß Verhandlungen mit den
einzelnen Staaten, bei ihrer gegenwärtigen Stimmung, vorläufig ganz
ausſichtslos waren. Welche unbelehrbare Gehäſſigkeit war dem Grafen
Bernſtorff entgegengetreten, welche anmaßende Sprache hatte er anhören
[47]Preußens zuwartende Haltung.
müſſen, erſt in Wien, dann in Dresden! Nach ſo niederſchlagenden Er-
fahrungen faßte man in Berlin den verſtändigen Entſchluß, fortan keine
Einladungen mehr ergehen zu laſſen, ſondern gelaſſen zu warten, bis die
Noth den kleinen Nachbarn die Augen öffne. In dieſem Sinne erging
an ſämmtliche Geſandten in Deutſchland die gemeſſene Weiſung, ſich
ſtreng zurückzuhalten und auf alle handelspolitiſchen Anfragen lediglich
zu antworten: der König habe ſchon im Jahre 1818 ſich zu Verhand-
lungen bereit erklärt, er hege noch immer den Wunſch, andere deutſche
Staaten mit ſeinem Zollſyſteme zu verbinden, jetzt ſei es an den Nach-
barn, dem guten Willen entgegen zu kommen. Eichhorn begründete dieſen
Entſchluß mit der Erwägung, daß die Eiferſucht der Dynaſtien durch
Einladungen erfahrungsmäßig nur gereizt würde: „Solche Anträge konnten
zugleich als Aufforderungen zur Aenderung ihrer inneren Staatsgeſetz-
gebung und als ihre Selbſtändigkeit gefährdende Anmuthungen mißdeutet
werden.“*) Gegen das tief eingewurzelte Mißtrauen der kleinen Höfe
wirkte nur eine Waffe: ruhiger Gleichmuth, der die Natur der Dinge für
ſich wirken ließ. Was verſchlug es auch, wenn die Preſſe unabläſſig
über Preußens ſelbſtſüchtige Sonderſtellung Wehe rief? Von der öffent-
lichen Meinung, die ſich noch weit verblendeter zeigte als die Höfe, hatte
die Handelseinheit des Vaterlandes nichts zu erwarten; Preußens beſter
Bundesgenoſſe war die wachſende Finanznoth der kleinen Staaten. —
Die Bevollmächtigten der conſtitutionellen Staaten trugen aus Wien
die Gewißheit heim, daß ihre Verfaſſungen vorläufig vom Bunde nichts
zu fürchten hatten. Während Zentner dies Ergebniß als einen Sieg be-
trachtete, war Berſtett voll Unmuths. Er hatte ſo ſicher erwartet, daß
die Wiener Verſammlung ſeinen unruhigen Karlsruher Landtag zu Paaren
treiben würde, und mußte nun mit leeren Häuden heimkehren. Beim
Schluß der Conferenzen richtete er noch einmal eine dringende Bitte an
Metternich: jetzt da der politiſche Meuchelmord in Frankreich raſe, ſei es
doch hohe Zeit, daß alle europäiſchen Mächte einander den Beſtand der
monarchiſchen Principien feierlich verbürgten. „Mit einer Declaration
der Rechte der Völker hat der Turnus der Revolutionen begonnen.
Könnte er nicht mit einer Declaration der Rechte der Throne beſchloſſen
werden?“ Dem öſterreichiſchen Staatsmanne kam dieſe Aufforderung
im Augenblicke ſehr ungelegen. Er brauchte für jetzt Ruhe in Deutſch-
land, ſelbſt um den Preis eines Waffenſtillſtands mit den verabſcheuten
[48]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Liberalen, weil er vorausſah, daß Oeſterreich vielleicht bald alle ſeine
Kraft wider die Revolution in Südeuropa werde verwenden müſſen, und
hielt darum für nöthig, den reaktionären Eifer des Freundes zu be-
ſänftigen.
In einer langen ſalbungsvollen Denkſchrift (4. Mai) wiederholte er
dem Badener zunächſt ſeine alte Lieblingslehre, daß in ſo ſtürmiſchen
Tagen die Erhaltung des Beſtehenden das Ziel aller Wohlgeſinnten ſei,
und reihte daran den geiſtreichen Satz: „in dieſem Punkte, mit welchem
Alles gerettet, ja ſelbſt das Verlorene zum Theil noch wiedergewonnen
werden kann, müſſen alle Anſtrengungen zuſammentreffen.“ Auf dieſe
Axiome, welche der geſammten diplomatiſchen Welt ſchon längſt als
eiſernes Inventar der k. k. Kanzleiſprache wohlbekannt waren, folgten
jedoch die in Metternich’s Munde unerhörten Worte: „Wir begreifen
aber darunter nicht blos die alte, nur in wenig Staaten unberührt ge-
bliebene Ordnung im engeren Sinne des Worts, ſondern auch neu ein-
geführte Inſtitutionen, ſobald ſie einmal verfaſſungsmäßige Kraft haben.
In Zeiten wie die jetzigen ſind, iſt der Uebergang vom Alten zum Neuen
kaum mit größeren Gefahren verbunden, als die Rückkehr vom Neuen
zu dem bereits erloſchenen Alten. Der eine Verſuch kann wie der an-
dere materielle Unruhen herbeiführen, die heute um jeden Preis ver-
mieden werden müſſen. Den Einwurf, daß es unter den in Deutſchland
bisher eingeführten Verfaſſungen ſolche gebe, die gar keine Baſis und
folglich auch keinen Anhaltspunkt gewährten, betrachten wir als unge-
gründet. Jede einmal beſtehende Ordnung — ſie müßte denn, wie etwa
die Conſtitution der Cortes von 1812, das Werk reiner Willkür und
unſinniger Verblendung ſein — enthält Stoff zu einem beſſeren Syſtem.“
Darauf erinnert er die kleinen Höfe an die Eintracht der großen Mächte,
an die ſoeben in Wien neu befeſtigte Vereinigung zwiſchen den deutſchen
Bundesſtaaten, und ermahnt ſie ſchließlich zu einem ſtreng geſetzlichen, ver-
faſſungsmäßigen Regimente. Im Nothfalle bleibe ihnen noch „die
Appellation an die Hilfe der Geſammtheit. Wenn Oeſterreich, in ſeinem
Innern unbewegt, noch eine anſehnliche Maſſe moraliſcher Kräfte und
materieller Mittel beſitzt, ſo wird es beide auch für ſeine Bundesgenoſſen
zu verwenden bereit ſein.“*) Alſo kein Wort mehr von der Wiederher-
ſtellung der alten Landſtände; dieſelben ſüddeutſchen Verfaſſungen, welche
Metternich in Karlsbad als demagogiſch verdammt hatte, erkannte er jetzt
als einen unantaſtbaren Rechtsboden an.
[49]Metternich’s Ermahnungen an Berſtett.
Es war das Glück ſeines Lebens, daß alle Erzeugniſſe ſeiner Feder
ihn ſelber mit aufrichtiger Bewunderung erfüllten. Dies ſein neueſtes
Werk verſetzte ihn faſt in Verzückung, und er konnte ſich nicht enthalten in
einem Begleitſchreiben an Berſtett hinzuzufügen: „Es iſt kein Wort darin,
das ich nicht aus den Tiefen meines Denkens geſchöpft hätte. Die Ruhe,
welche Sie darin herrſchen ſehen, iſt die Ruhe meiner Seele. Ich werde
ein ſehr theueres Ziel erreicht haben, wenn ich durch meine Worte —
und der Ausdruck Worte ſcheint mir ſehr ſchwach um den Werth meiner
Arbeit zu bezeichnen*) — Ihrem vortrefflichen Herrn zu beweiſen ver-
mag was wir wollen, glauben und hoffen!“ Als die Note bald nachher,
wahrſcheinlich mit Vorwiſſen ihres Verfaſſers, in mehreren deutſchen und
franzöſiſchen Zeitſchriften erſchien, da hoffte Metternich, daß alle irgend
beſonnenen Politiker, nur die wildeſten Radikalen ausgenommen, ihm für
die förmliche Anerkennung der neuen Verfaſſungen danken würden. Bald
genug ſah er ſich enttäuſcht. Da das große Publikum jetzt zum erſten
male eine geheime Denkſchrift des gefürchteten Staatsmannes kennen
lernte und mit den eigenthümlichen Redeblumen des Metternich’ſchen
Stiles noch nicht vertraut war, ſo wurde der verſöhnliche Sinn des
Schreibens allgemein verkannt. Die Preſſe ſuchte den Kern der Note in
jenen Phraſen über die Erhaltung des Beſtehenden und ſchenkte den
Mahnungen zur Verfaſſungstreue, in denen doch der praktiſche Zweck des
Schreibens lag, keine Beachtung. Die Note vom 4. Mai erlangte einen
europäiſchen Ruf. Zwei Jahrzehnte hindurch hieß ſie bei der Oppoſition
aller Länder „das Programm der Stabilitätspolitik, der Aufruf zum
Kampfe wider das Vorwärtsſchreiten der Zeit“, während ſie in Wahr-
heit beſtimmt war, den badiſchen Hof vor reaktionären Gewaltſtreichen zu
warnen.
Berſtett ſelbſt verſtand die Abſichten ſeines Meiſters richtig und
klagte dem treuen Marſchall bitterlich, daß „unſere im reinſten deutſchen
Stile redigirte Schlußakte“ den gut geſinnten Regierungen ſo wenig Hilfe
biete; aber „wenn man von außen keine Energie noch Unterſtützung zu
erwarten hat, ſo muß man à tout prix den inneren Frieden zu erhalten
ſuchen.“**) So war es denn, ſeltſam genug, zum Theil das Verdienſt
von Metternich’s beſonnenen Rathſchlägen, daß ſich der badiſche Hof mit
ſeinen kurz zuvor ſo ungnädig heimgeſchickten Landſtänden wieder ver-
ſöhnte. Dieſe Mäßigung hinderte den öſterreichiſchen Staatsmann freilich
nicht, die Demagogenverfolgung in Baden, wie überall in Deutſchland
perſönlich zu überwachen. Er konnte es nicht laſſen ſeinen eigenen Büttel
zu ſpielen. Selbſt der Heidelberger Scharfrichter, der die Reliquien Sand’s
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 4
[50]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
ſo andächtig aufbewahrte, entging dem Vaterauge Metternich’s nicht, und
ſofort ward der badiſche Miniſter in einem langen eigenhändigen Briefe
zu kräftigem Einſchreiten ermahnt: „wenn ſolche Verſuche ganz ungeahndet
ſtattfinden, wird der Krebsſchaden ewig ungeheilt bleiben.“*)
So lange der badiſche Hof noch auf Oeſterreichs Unterſtützung rech-
nete, rüſtete er ſich zum offenen Kampfe wider ſeine Landſtände; er ver-
weigerte einigen liberalen Beamten den Urlaub für den Landtag und
rief die Mainzer Demagogencommiſſion an, um den Heidelberger Buch-
händler Winter, den tapferen Anwalt der Preßfreiheit, in eine poli-
tiſche Unterſuchung zu verwickeln.**) Aber als der Landtag im Juni zu-
ſammentrat und ſofort die Einberufung ſeiner ſämmtlichen Mitglieder
verlangte, da war auf auswärtige Hilfe nicht mehr zu rechnen; auch die
Nachrichten von den Fortſchritten der Revolution in Südeuropa beäng-
ſtigten den Hof. Die Regierung zog daher die Urlaubsverweigerung zurück,
Winter wurde durch gerichtlichen Spruch auf freien Fuß geſetzt, und nun-
mehr begegnete Berſtett den Ständen mit überraſchender Freundlichkeit.
Ernüchtert durch die bitteren Erfahrungen der letzten Monate trat auch
die Mehrheit des Landtags diesmal behutſamer auf. Mehrere Abgeord-
nete waren durch Gnadenbeweiſe des Hofes gewonnen, einzelne geradezu
beſtochen; ganz unbefangen geſtand der Großherzog dem preußiſchen Ge-
ſandten, das gute Einvernehmen mit dieſen Herren koſte Geld.***) Genug,
ſo ſtürmiſch dieſer Landtag begonnen, ſo ruhig war ſein Ende.
Nach einer freimüthigen Rede Rotteck’s verſprach die Regierung, ihr
hartes Preß-Edikt, das im ganzen Lande nur vier politiſche Zeitungen er-
laubte, bis auf das Maß der Karlsbader Beſchlüſſe zu mildern; einige
wohlthätige Geſetze über die Aufhebung grundherrlicher Abgaben wurden
vereinbart, auch über den Staatshaushalt traf man ein Abkommen durch
Bewilligung einer Bauſchſumme. Im September ward der Landtag fried-
lich entlaſſen, und froh aufathmend meldete Berſtett dem naſſauiſchen
Freunde, durch ſeine Milde gegen die Stände habe er ſich für zwei Jahre
Ruhe verſchafft. Die beiden Ultras der Wiener Conferenz begannen jetzt
doch zu glauben, daß die neuen Verfaſſungen, wenn man ſie nur zu
handhaben wiſſe, erträglich, ja ſogar dem Partikularismus förderlich wer-
den könnten. „Die Landſtände, meinte Marſchall, individualiſiren unſere
Staaten mehr und mehr und tragen zur Vernichtung des Einheitsprin-
cips, welches die revolutionäre Partei vorzüglich im Auge hatte, immer
mehr bei.“ Und als ſein getreues Echo ſchrieb Berſtett nach Wien: „durch
die Aehnlichkeit der neuen Conſtitutionen in Süddeutſchland iſt keineswegs
eine größere Annäherung der einzelnen Länder im Sinne unſerer Deutſch-
thümler bewirkt worden; es bildet ſich vielmehr eine ſtets zunehmende ab-
[51]Baden. Württembergiſcher Landtag.
geſonderte Eigenthümlichkeit aus“.*) So fanden ſich „die diesſeitigen und
die deroſeitigen“ Anſichten, wie Marſchall zu ſagen pflegte, fröhlich zu-
ſammen in dem beglückenden Gedanken, wie fern der Tag der deutſchen
Einheit ſei. —
Sogar der gefürchtete württembergiſche Verfaſſungsvertrag, deſſen
Aufhebung Marſchall vor Kurzem noch gefordert hatte, erwies ſich unter
König Wilhelms geſchickten Händen als ein Werk von untadelhafter Harm-
loſigkeit. Im Januar 1820 wurde der erſte ordentliche Landtag des
Königreichs eröffnet. Der aus Weimar vertriebene Lindner, der nach
langem Aufenthalt im Elſaß nunmehr in der Stuttgarter Preſſe für König
Wilhelms Ideen thätig war, hatte die Nation durch eine weihevolle Schrift
auf die Größe dieſes hiſtoriſchen Augenblicks vorbereitet. Niebuhr’s Freund
Graf Moltke kam eigens nach Württemberg, um hier im Muſterlande
deutſcher Freiheit das conſtitutionelle Weſen an der Quelle kennen zu
lernen;**) und die Krone verſäumte nicht, ihren Freiſinn von Zeit zu
Zeit durch ein wohllautendes Schlagwort der deutſchen Welt in Erinne-
rung zu bringen. Wie jubelten die liberalen Zeitungen, als Miniſter
Maucler den Ständen feierlich verſicherte, ſein König liebe die Oeffent-
lichkeit! Im Lande ſelbſt ließ man ſich zwar dieſe Huldigungen der deut-
ſchen Nachbarn wohl gefallen, aber die politiſche Ermattung, welche dem
leidenſchaftlichen Kampfe um das alte gute Recht gefolgt war, hielt noch
jahrelang an. Die Wahlen vollzogen ſich beinahe ohne Kampf, ſelbſt
Wählerverſammlungen und Candidatenreden kamen kaum vor. Faſt über-
all bezeichneten die Oberamtmänner den Wählern den Mann ihres Ver-
trauens und ſie bedurften weder des Zwanges noch der Beſtechung, um
die kleinen Bauern, die in den meiſten Wahlbezirken den Ausſchlag gaben,
zum ſchuldigen Gehorſam zu bewegen. Der alte bürgerliche Herrenſtand,
der das Herzogthum Württemberg ſo lange regiert, richtete ſich auch in
dem conſtitutionellen Königreiche wieder behaglich ein. Die große Mehr-
heit der zweiten Kammer beſtand aus Beamten und ließ ſich von ihrem
klugen Präſidenten Weishaar ſo fügſam nach dem Willen des Miniſters
Maucler leiten, daß ſelbſt Ancillon der Sanftmuth dieſer Stände warmen
Beifall ſpenden mußte.***) Eine Oppoſitionspartei fand ſich nicht wie-
der zuſammen, ſeit die Führer der Altrechtler ihren Frieden mit der Krone
geſchloſſen hatten; nur auf eigene Fauſt mahnten einzelne unabhängige
Abgeordnete an die zahlreichen uneingelöſten Verheißungen der Verfaſſungs-
urkunde, an alle die organiſchen Geſetze, welche ſie in Ausſicht ſtellte. Der
liberale König war mit der Zahmheit des Landtags wohl zufrieden und
äußerte gern vor den fremden Diplomaten: das Betragen ſeiner getreuen
4*
[52]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Stände könne anderen Ländern zum Muſter dienen.*) Er betrachtete ſein
Reformwerk als vorläufig abgeſchloſſen, die Geſetzgebung gerieth ins Stocken,
der Ausbau der Verfaſſung ward auf unbeſtimmte Zeit vertagt. Das ſo
heiß erſehnte conſtitutionelle Regiment erwies ſich in ſeinen erſten Zeiten
weit unfruchtbarer als vordem die königliche Diktatur.
An dieſem Stillſtande des öffentlichen Lebens trug der Adel des
Landes eine ſchwere Mitſchuld. Wohl mochte es den ſtolzen reichsun-
mittelbaren Geſchlechtern hart ankommen, daß ſie jetzt den Groll gegen
eine Krone, die ihnen ſo viel Unrecht zugefügt, überwinden und als Un-
terthanen an den unſcheinbaren Arbeiten eines kleinen Landtags theil-
nehmen ſollten. Aber die Verfaſſung hatte ihnen doch endlich Alles ge-
währt, was ſie nach den Wiener Verträgen fordern durften; wollten ſie
in dieſem demokratiſchen Jahrhundert ihr Anſehen behaupten, ſo mußten
ſie den neuen Rechtsboden ohne Hintergedanken anerkennen und min-
deſtens verſuchen, ob es möglich ſei auf ſo enger Bühne die Rolle einer
volksthümlichen, die Rechte des Landes muthig wahrenden Ariſtokratie zu
ſpielen. Zu ſeinem und des Landes Schaden verſchmähte der hohe Adel
Schwabens ſelbſt dieſen Verſuch. Die Kammer der Standesherren zeigte
ſich unluſtig zu den Geſchäften, feindſelig gegen jede Reform, ſie ſchloß
von vornherein alle Zuhörer von ihren Verhandlungen aus — was ihr
durch das Grundgeſetz nur freigeſtellt, nicht geboten war — und ent-
fremdete ſich dem Volke ſo gänzlich, daß ſie bald faſt ſo übel berufen
war wie der bourboniſche Adel. Durch den Widerſtand der Privile-
girten wurde die dringend nöthige und von König Wilhelm lebhaft ge-
wünſchte Ablöſung der grundherrlichen Laſten während eines Menſchen-
alters immer wieder hinausgeſchoben. Als der erſte Landtag im Winter
1820 nach mehrmonatlicher Vertagung abermals zuſammentrat, erſchienen
die Standesherren nicht in beſchlußfähiger Anzahl — ein ſeltſames Schau-
ſpiel, das ſich in den nächſten acht Jahren noch zweimal wiederholte.
Da die Verfaſſung für dieſen Fall bereits Vorkehrungen getroffen hatte,
ſo tagte die zweite Kammer vorderhand allein, und das nicht erſchienene
Haus ward als zuſtimmend angeſehen. Ein Jahr nach dem Abſchluſſe
des Grundvertrags ſah man ſich alſo bereits zu dem Nothbehelfe eines
unfreiwilligen Einkammerſyſtems gezwungen. Ein alſo verſtümmelter
Landtag konnte nur wenig leiſten.
Da wurde der parlamentariſche Friede plötzlich geſtört durch den Ein-
tritt Friedrich Liſt’s, im December 1820. Der unerſchrockene Gegner des
Schreiberregiments hatte mittlerweile in ſeinem „Volksfreund“ den alten
Kampf raſtlos fortgeführt. Er allein im Lande wagte rundheraus zu ſagen,
daß der alte Herrenſtand mit der neuen Bureaukratie ſich verſtändigt
hatte. Leider fehlte ihm die ſchonende Klugheit, deren der Publiciſt in der
[53]Ausſtoßung F. Liſt’s.
Enge kleinſtaatlicher Zuſtände nicht entrathen kann; ſo grauſame Artikel,
wie die Geſpräche zwiſchen Miniſter Großvezier und Gerichtsrath Frech-
ſtirn wollte ihm Niemand vergeben. Schon zweimal war es der Bureau-
kratie gelungen, ihren Todfeind dem Landtage fern zu halten; diesmal
erſchien er rechtmäßig gewählt von den demokratiſchen Reutlingern und
brachte ſofort Alles in Aufruhr durch die ſprudelnde Heftigkeit ſeiner ge-
dankenreichen Reden. Aber auch diesmal fand ſich ein Mittel den Stö-
renfried zu beſeitigen. Liſt hatte für ſeine Wähler den Entwurf einer
Adreſſe ausgearbeitet, die ſich in ſcharfen Worten gegen die Allmacht des
Beamtenthums wendete: „Jammer und Noth überall; nirgends Ehre,
nirgends Einkommen, nirgends Fröhlichkeit denn allein in dem Dienſt-
rock!“ Alle die Forderungen, welche er einſt im „Volksfreund“ ver-
treten, kehrten darin wieder: er verlangte öffentliche Rechtspflege, unbe-
ſchränkte Freiheit der Gemeinden, Verminderung des Beamtenheeres und
dazu — nach den neueſten Sätzen der national-ökonomiſchen Doctrin —
Verkauf der Domänen, Einführung einer einzigen direkten Steuer.
Ein wunderliches Gemiſch von guten Gedanken und unreifen Einfällen
enthielt die Adreſſe doch ſicherlich nichts Strafbares; der Herrenſtand aber
in und außerhalb der Kammer ſah die Grundlagen ſeiner Macht gefährdet.
Sofort mußte das Gericht in Eßlingen eine Unterſuchung gegen Liſt be-
ginnen wegen Beleidigung der geſammten Staatsdienerſchaft, und Maucler
muthete den Ständen zu, den Angeklagten kurzerhand aus dem Land-
tage auszuſchließen, da nach der Verfaſſung kein Abgeordneter in eine
Criminal-Unterſuchung verflochten ſein dürfe. Vergeblich wies Liſt nach,
daß er nur eines Vergehens, nicht eines Verbrechens bezichtigt ſei; ver-
geblich warnten Uhland und einige ſeiner Freunde: bei ſolcher Aus-
legung des Grundgeſetzes könne die Regierung nach Belieben jedes miß-
liebige Mitglied aus der Kammer entfernen. Die Mehrheit fügte ſich
willig dem mit allem Aufwand ſophiſtiſcher Künſte unterſtützten Anſinnen
des Miniſters, ſie verfuhr dabei mit der ganzen Parteilichkeit einer in
ihrer Herrſchaft bedrohten Kaſte; eine Adreſſe aus Heilbronn, die ſich
mit reichsſtädtiſchem Freimuth des Bedrängten annahm, wurde aus den
Akten entfernt unter ſtürmiſchen Zornreden wider Jakobinismus und
Sansculotterie. Von dem Ausgeſtoßenen verlangten die Richter nun-
mehr, daß er ſich auch wegen der Rede, die er im Landtage zu ſeiner
Vertheidigung gehalten, rechtfertigen ſolle, und als er die Aufforderung
zurückwies, bedrohten ſie ihn mit den geſetzlichen Zwangsmaßregeln, die
bei andauernder Widerſpänſtigkeit bis zu fünfundzwanzig Stockſtreichen
anſteigen konnten. Den erhebenden Anblick eines in den Bock geſpannten
Volksvertreters wollte Liſt dem Herrenſtande doch nicht gewähren. Er
ließ ſich verhören, wurde zur Feſtungshaft verurtheilt, nachdem das Ver-
fahren über ein Jahr gewährt hatte, und entzog ſich ſodann der Strafe
durch die Flucht.
[54]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Zwei Jahre verbrachte er darauf im Auslande, immer in der Hoff-
nung, daß ſich daheim doch ein Gefühl der Scham regen würde; und in
der That war ſelbſt Wintzingerode über die Rachſucht der Bureaukratie
empört. Der König aber blieb unverſöhnlich und erwiderte auf ein
Gnadengeſuch der Gattin des Flüchtlings in ſeiner hochmüthigen Weiſe:
Liſt’s Unternehmen hätte hochgefährliche Folgen für den Staat herbei-
führen können, gleichviel ob es aus Bosheit oder aus Unverſtand ent-
ſprungen ſei. Endlich glaubte der Vertriebene doch die Rückkehr wagen
zu dürfen, aber alsbald ward er auf den Hohenasperg abgeführt und
dort zu literariſchen Zwangsarbeiten — das will ſagen: zum Abſchreiben
militäriſcher Bekleidungs-Akten — angehalten. Erſt zu Anfang 1825
gab man ihn frei, unter der Bedingung, daß er auf ſein Bürgerrecht
verzichtete und das Land ſofort verließ. Alſo ward der ideenreichſte politiſche
Kopf, welchen Süddeutſchland zur Zeit beſaß, von ſeinen Landsleuten
verbannt — auch er, gleich ſo vielen anderen großen Schwaben, ein
Opfer der kleinlichen Zuſtände ſeiner Heimath. Ein ſtrenges und doch
gütiges Geſchick warf den ungeſtümen Agitator zur rechten Zeit in den
mächtigen Weltverkehr Amerikas hinaus, ſo daß er ſpäterhin nach erfah-
rungsreichen Wanderjahren heimkehrend die kleinſtädtiſche deutſche Welt
mit einer Fülle neuer Gedanken befruchten konnte. Der ſchimpfliche Vor-
fall fand in Deutſchland wenig Beachtung; denn Liſt hatte keine Partei
hinter ſich, es lag im Weſen dieſes Feuergeiſtes, daß er immer nur kühne
Pläne anregen, nur der Zukunft die Wege weiſen konnte; und die libe-
rale Preſſe verweilte ungern bei der läſtigen Thatſache, daß der freiſin-
nigſte deutſche Fürſt mit Genehmigung ſeines Landtags einen hochherzigen
Patrioten mit einer Grauſamkeit peinigte, welche den Sünden der Ber-
liner und der Mainzer Demagogenverfolger nichts nachgab.
Für die Entwicklung des württembergiſchen Verfaſſungslebens wurde
die Ausſtoßung Liſt’s auf Jahre hinaus verhängnißvoll. Nichts kettet
die Menſchen feſter an einander, als gemeinſam begangenes Unrecht.
Durch die Mißhandlung ihres Genoſſen hatte die Mehrzahl der Abgeord-
neten dem Miniſter ihre Seele verſchrieben; die Minderheit war entmu-
thigt, die ſchwachen Regungen eigenen Willens, die ſich im Anfange der
Seſſion noch gezeigt, verſtummten allmählich. Der Landtag verſank in
ein gemächliches Stillleben, und im Volke nahm die Gleichgiltigkeit der-
maßen überhand, daß die Regierung ſich bald genöthigt ſah, die Wähler
durch Taggelder und Strafdrohungen zur Ausübung ihres Wahlrechts
anzuhalten. Von den überſchwänglichen Freiheitswünſchen, welche einſt
das Erſcheinen der Verfaſſung begrüßt hatten, ging wenig in Erfüllung.
Aber für die materiellen Intereſſen ſorgte der König ſo einſichtig, daß ſelbſt
der liberale Wangenheim und ſein Freund Geh. Rath Hartmann an dem
geſcheidten und energiſchen Fürſten niemals ganz irr wurden; und min-
deſtens eine der Segnungen, welche dies unſchuldige Zeitalter von dem
[55]Das Manuſcript aus Süddeutſchland.
conſtitutionellen Leben erhoffte, die Verringerung der Steuerlaſten wurde
dem Lande zu theil. In den größeren Verhältniſſen Frankreichs und auch
in einigen der deutſchen Mittelſtaaten machte man ſehr bald die Erfah-
rung, daß die politiſche Freiheit mit der Wohlfeilheit der Verwaltung
keineswegs Hand in Hand geht. Der conſtitutionelle Staat ſah ſich faſt
überall gezwungen, den Umkreis ſeiner Thätigkeit beſtändig zu erweitern,
weil er den zahlloſen Anſprüchen der bürgerlichen Geſellſchaft, die jetzt in
den Kammern beredte Fürſprecher fanden, gerecht werden mußte; er leiſtete
mehr als der alte Abſolutismus und war darum auch koſtſpieliger. Den
Württembergern blieb dieſe Enttäuſchung vorläufig noch erſpart, da der
unmäßige Aufwand des alten Hofes hinwegfiel und der König in allen
Zweigen der Verwaltung auf genaue Ordnung hielt. Das Land war
mit ſeinem geſtrengen bureaukratiſchen Regimente und der Leidſamkeit
ſeines Landtags nicht unzufrieden.
Doch wie hätte der unſtete Ehrgeiz König Wilhelms in den beſcheidenen
Pflichten des landesfürſtlichen Berufs ſeine Befriedigung finden können!
Die Niederlage, die er auf den Wiener Conferenzen erlitten, wurmte ihn
tief; eine Genugthuung mußte er ſich verſchaffen, und ſei es auch mit ver-
ſchloſſenem Viſier. Vor Jahren, ſo lange Königin Katharina noch lebte,
hatte er wohl zuweilen in begehrlichen Träumen an die deutſche Königskrone
gedacht. So verwegene Hoffnungen bethörten ihn längſt nicht mehr. Aber
jener Bund im Bunde, den ihm Wangenheim und Trott ſo verführeriſch
zu ſchildern wußten, ſchien jetzt doch möglich, da ein Theil der Mittelſtaaten
ſoeben mit dem römiſchen Stuhle gemeinſam verhandelte und die große
Darmſtädter Berathung über den ſüddeutſchen Zollverein nahe bevorſtand.
Seit dem September 1820 wurde eine angeblich in London erſchienene
Schrift „Manuſcript aus Süddeutſchland von George Erichſon“ von
Stuttgart aus geſchäftig verbreitet. Es war das Programm der Trias-
politik. Alle die boshaften Schmähungen, mit denen einſt die Münchener
Alemannia ihre bairiſchen Leſer gegen die Norddeutſchen aufgeſtachelt hatte,
kehrten hier wieder, nur minder plump und darum gefährlicher: Berlin
hat die beſten Schneider, Augsburg die beſten Silberarbeiter; der ſchlaue,
unzuverläſſige Norddeutſche iſt im Felde nur als Huſar und Freibeuter
zu verwenden, die ſtämmigen Bauern des Südens bilden den Kern der
deutſchen Heere; eine politiſche Verbindung zwiſchen den beweglichen Han-
delsleuten des Nordens und dem ſeßhaften Volke des Oberlandes mag
in Jahrhunderten vielleicht möglich werden, heutzutage iſt ſie ebenſo un-
haltbar wie die Vereinigung der Engländer und der Schotten zur Zeit
Eduards I. Aber während Aretin und Hörmann ihre partikulariſtiſchen
Abſichten nie verhehlt hatten, erhob dieſer neue Zwietrachtprediger den
Anſpruch, der nationalen Politik die Bahnen zu weiſen. Eine polniſche
Theilung, ſo führte er aus, hat ſich unbemerkt an Deutſchland vollzogen,
von den neunundzwanzig Millionen Einwohnern des Deutſchen Bundes
[56]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
gehören ihrer neunzehn den fremden Mächten Oeſterreich, Preußen, Eng-
land, Dänemark, Holland; ſeine beſten Häfen ſind in der Hand der nor-
diſchen Barbaresken, der Hanſeaten, ein hors d’oeuvre am deutſchen
Körper, die Beute einer Kaufmannskaſte, die in Englands Solde ſteht.
Den rein deutſchen Staaten bleibt mithin nur eine Rettung: ſie müſſen ſich
losreißen von den Fremden und unter ſich den freien Bund ſelbſtändiger
Stämme, der Deutſchlands urſprüngliche Verfaſſung war, erneuern. Die
Führung des Bundes gebührt den Baiern und den Alemannen, den beiden
Kernſtämmen, die ſich ſoeben unter ihren neuen Königskronen wieder zu-
ſammengefunden haben. Die großen Staatsmänner des Südens erkannten
zuerſt, daß Deutſchlands Wiedergeburt nur durch Frankreichs Hilfe mög-
lich war, aus Liebe zu Deutſchland wurden ſie Frankreichs Freunde;
als die Krieger Württembergs und Baierns vereint mit den Franzoſen
unſterbliche Siege erfochten, dienten ſie dem Geiſte des Jahrhunderts und
ſicherten die Unabhängigkeit des Vaterlandes für immer, darum tragen
ſie noch mit Stolz das Kreuz der Ehrenlegion. So iſt auch heute wieder
Württemberg „das Aſyl deutſcher Freiheit und Selbſtändigkeit“ geworden,
ſein König gab das große, unſterbliche Beiſpiel einer vertragsmäßigen Ver-
faſſung; die beiden Könige des Südens haben das von Gott eingeſetzte
demokratiſche Princip anerkannt, in Karlsbad und Wien die deutſche Frei-
heit beſchützt, Deutſchland huldigt ihnen als den Garanten ſeiner Natio-
nal-Unabhängigkeit. Zwiſchen den Zeilen ward darauf noch die Hoff-
nung ausgeſprochen, Preußen möge ſeine weſtlichen Provinzen an den
König von Sachſen abtreten, dann erſt werde der Bund des reinen
Deutſchlands ſeinen natürlichen Beruf erfüllen, als ein „Zwiſchenſtaat“
das Gleichgewicht zwiſchen Frankreich, Preußen und Oeſterreich wahren.
So lange der Deutſche Bund beſtand, war ein ſo dreiſter Angriff
gegen die Grundlagen des Bundesrechts noch nie gewagt worden. Der
Anwalt der deutſchen Trias ging der kaum geſchaffenen neuen Verfaſſung
Deutſchlands ebenſo feindſelig zu Leibe wie einſt Hippolithus a Lapide
dem altersſchwachen heiligen Reiche. Von dem Gedankenreichthum, von
dem hinreißenden rhetoriſchen Ungeſtüm jenes leidenſchaftlichen Vor-
kämpfers der ſchwediſch-franzöſiſchen Partei beſaß der gewandte Epigone
freilich gar nichts; aber in der Willkür ſeiner Geſchichtsconſtruktionen, in
der Gewiſſenloſigkeit ſeiner Staatsräſon that er es dem alten Publiciſten
gleich. Der ganze ekle Bodenſatz der Fremdherrſchaft trat in dem „Manu-
ſcripte“ wieder zu Tage; Alles darin war bonapartiſtiſch, der Grundge-
danke der troisième Allemagne ſo gut wie die demokratiſchen Schlag-
worte, die Ausfälle auf die Hanſeſtädte und der Vorſchlag, Preußen in
den Oſten zu ſchieben. Faſt mit den nämlichen Worten hatte Dalberg
einſt den Rheinbund verherrlicht, und anders als durch Frankreichs Hilfe
konnte offenbar auch dieſer neue Bund des reinen Deutſchlands niemals
ins Leben treten.
[57]Urtheile über das Manuſcript.
Mit welchem Unwillen wäre zur Zeit des Pariſer Friedens ein ſolches
Buch von der öffentlichen Meinung empfangen worden! Aber auf die
großen Epochen unſerer neuen Geſchichte folgen mit unheimlicher Regel-
mäßigkeit Zeiten des Verdruſſes, denen der nationale Stolz über dem
kleinen Aerger des Parteiſtreits faſt abhanden kommt, und gerade die
Männer und die Thaten, die über allen Dank erhaben ſind, verfallen
dann am ſicherſten der Undankbarkeit der kurzlebigen Menſchen. Fünf
Jahre nach den Befreiungskriegen durfte der Verfaſſer des Manuſcriptes
zuverſichtlich behaupten „Preußen gehört ſo wenig als Elſaß zu Deutſch-
land“, und überall in den kleinen Staaten fanden ſich ſchon einzelne
wohlmeinende Patrioten, die ihm zuſtimmten; ihnen ſchien es nicht lächer-
lich, wenn er im Namen der Beſiegten von Dennewitz und Wartenburg
den Siegern ſogar die kriegeriſche Tüchtigkeit abſprach. Börne in Frankfurt
hatte an dem Buche nur das Eine auszuſetzen, daß es noch nicht die ganze
Wahrheit ſage. Der bairiſche Liberale F. v. Spaun, ein eifriger Vor-
kämpfer des Illuminatenthums und des bajuvariſchen Machtdünkels, ver-
ſicherte bald nachher in ſeinen „Gloſſen über den Zeitlauf“: Süddeutſch-
land hat den Alliirten gute Dienſte geleiſtet, verdankt ihnen aber rein
nichts; wir bedürfen des Deutſchen Bundes nicht; wenn „unſer Max“
ruft, dann werden tauſende der Helden, die bei Leipzig ſiegten, den blau-
weißen Fahnen zulaufen!
So weit gingen freilich nur einzelne Verblendete. Selbſt Wangen-
heim wies die landesverrätheriſchen Hintergedanken des „Manuſcripts“ weit
von ſich. Er hielt zwar, wenn die Unabhängigkeit der Kleinſtaaten bedroht
ſchien, ſogar die „immerhin bedenkliche“ Anrufung der auswärtigen Ga-
ranten der Bundesakte für erlaubt; doch an einen neuen Rheinbund dachte
er niemals. Sein Bund der Mindermächtigen ſollte auf dem Boden
der Bundesakte erwachſen, friedlich, allein durch die moraliſche Macht der
ſüddeutſchen Kronen, durch die Anziehungskraft ihrer freien Verfaſſungen.
In dieſer abgeſchwächten Faſſung erſchienen die Ideen des Manuſcripts
auch vielen anderen Liberalen verführeriſch. Das ſophiſtiſche Buch wirkte
im Stillen ſehr nachhaltig und nährte unter den ſüddeutſchen Liberalen
einen Dünkel, der um ſo ſchädlicher war, weil er ſich nicht auf die wirk-
lichen Vorzüge des oberdeutſchen Lebens, auf ſeine alte Cultur, ſeine un-
verwüſtliche Poeſie, ſeine heiteren, natürlichen, demokratiſchen Sitten, ſon-
dern auf eine eingebildete politiſche Ueberlegenheit berief. Aus der trüben
Quelle dieſer Schrift entſprang auch die jahrzehntelang unabläſſig wieder-
holte Parteilegende von den Karlsbader Conferenzen und dem heldenhaften
Kampfe der treu verbündeten liberalen Kronen Baiern und Württem-
berg wider die reaktionären Großmächte.
Den Preußen klang die Verherrlichung des Rheinbunds ſo unbegreiflich,
daß ſich Niemand dort zu einer öffentlichen Antwort herbeilaſſen mochte,
obgleich das Buch in den Berliner literariſchen Kreiſen mit lebhaftem Un-
[58]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
willen beſprochen wurde. Nur der Hamburger J. L. v. Heß, derſelbe, der
ſchon im Jahre 1814 für „die Freiheit der Hanſeſtädte“ geſchrieben hatte,
ſendete eine Erwiderung hinaus: „Aus Norddeutſchland, kein Manuſcript“.
Der wackere Freiſtädter ſprach noch ganz im Geiſte des weitherzigen Patrio-
tismus der Befreiungskriege, frei von partikulariſtiſcher Empfindlichkeit,
obſchon er nach hanſeatiſchem Brauche die „unbelaſtete Freiheit“ des Ham-
burger Handels etwas überſchätzte; er hielt feſt an der Hoffnung, daß der
Staat, der jenen nationalen Kampf begonnen, dereinſt noch „der Eini-
gungspunkt für Deutſchland“ werden müſſe, und beſchämte den Gegner
durch den unwiderleglichen Vorwurf, daß noch niemals ein norddeutſcher
Schriftſteller — auch nicht in den Tagen, da die Baiern noch unter
Frankreichs Fahnen fochten — ebenſo boshaft und lieblos über ſeine ſüd-
deutſchen Brüder geredet habe.
An den Höfen von Wien und Berlin erregte der offene Aufruf zum
Bundesbruche lebhafte Beſorgniß. Man forſchte eifrig nach dem Ver-
faſſer und rieth anfangs auf Hörmann oder Aretin, da der Pamphletiſt
ſelber in der Einleitung auf Baiern als ſeine Heimath hindeutete; auch
Wangenheim erklärte auf den Darmſtädter Conferenzen, das Buch könne
nur von der Partei Montgelas’ herrühren.*) Nachher blieb ein drin-
gender, unwiderlegter Verdacht auf Lindner haften, und nunmehr trat
das Libell erſt in das rechte Licht. Die Läſterungen jener fanatiſchen
Bajuvaren wider den Norden entſprangen doch zum Theil der Unkennt-
niß; dieſer Kurländer aber, der mit dem niederdeutſchen Leben von Kin-
desbeinen an vertraut war, konnte ſein widerliches Zerrbild vom nord-
deutſchen Volksthum unmöglich in gutem Glauben entworfen haben, er
mußte die Abſicht hegen den Süden gegen den Norden aufzuwiegeln,
und in der That iſt dies ſchlechte Handwerk, von Lindner an bis herab
auf die neueſten Zeiten, immer von norddeutſchen Ueberläufern mit be-
ſonderem Eifer getrieben worden. Man wußte, daß Lindner von König
Wilhelm zuweilen geheime literariſche Aufträge empfing; ſoeben erſt hatte
er gegen den Liberalen Keßler, der durch freimüthige Beſprechung würt-
tembergiſcher Zuſtände dem Hofe läſtig fiel, einen gehäſſigen Federkrieg
geführt.**) Doch jede Mitſchuld des Königs an dem Manuſcript wurde von
Wintzingerode, auf Befehl ſeines Herrn, entſchieden abgeleugnet, und ſie
ſchien auch kaum denkbar. Wer hätte glauben mögen, daß der Held von
Montereau jetzt den Rheinbund vertheidigen und ſeine eigenen Verdienſte
mit ſo unziemlichem und unwahrem Selbſtlobe der Nation anpreiſen ſollte?
Als aber Wintzingerode ſtrenges Einſchreiten gegen Lindner verlangte,
weil das Treiben „dieſer liberalen Tollhäusler“ die Großmächte un-
fehlbar erbittern müſſe, da weigerte ſich der König beharrlich, und erſt
[59]Baiern. Zentner.
auf das erneute Drängen ſeines Miniſters geſtand er dem Ueberraſchten
endlich: er ſelber ſei der Verfaſſer des Manuſcripts, er habe das Ge-
rippe, Lindner nur die Füllung der Arbeit gegeben.*) Durch ſolche Mittel
alſo hatte König Wilhelm ſich für ſeine Wiener Demüthigung zu rächen
verſucht! Der Graf verhehlte ſeinem Herrn nicht, daß er die Koſten
eines Auswärtigen Amtes für das kleine Württemberg nicht mehr zu
rechtfertigen wiſſe, wenn man ſich ſo muthwillig das Vertrauen der großen
Mächte verſcherze. Gleichwohl blieb er im Amte. Das Bewußtſein einer
eigenen politiſchen Verantworlichkeit war den deutſchen Miniſtern damals
noch fremd; ſie betrachteten ſich faſt alleſammt nur als Diener ihrer
Fürſten. Wintzingerode hielt es für unritterlich den König in einem
Augenblicke der Bedrängniß zu verlaſſen und mußte nun wohl oder über
durch unwahre Betheuerungen den Argwohn der deutſchen Höfe zu be-
ſchwichtigen ſuchen. Vergebliche Mühe. Der Scharfſinn F. Gentz’s, der
in literariſchen Dingen faſt immer das Rechte traf, hatte den Urheber
des Manuſcripts ſofort erkannt.
Die Nichtigkeit der württembergiſchen Triaspläne wurde nirgends
ſchärfer verurtheilt als an dem Hofe, welchem Lindner die Führung ſeines
Sonderbundes zugedacht hatte. In der bairiſchen Preſſe waren vor fünf
Jahren die Triasgedanken zuerſt aufgetaucht; aber die Regierung blieb
ihnen jetzt wie damals unzugänglich. Der bairiſche Staat war doch zu
groß, ſeine Dynaſtie zu ſtolz um ſo luftigen Traumbildern nachzugehen.
Wie glücklich fühlte ſich König Max Joſeph, da er nun wieder drei
Jahre lang vor ſeinen getreuen Landſtänden Ruhe hatte. Die durch
Zentner’s Klugheit herbeigeführte Verſöhnung mit den beiden Groß-
mächten that dem Herzen des gutmüthigen Herrn wohl. Sein Miß-
trauen gegen die Liberalen verſtärkte ſich noch, ſeit die Revolution in
Südeuropa immer weiter um ſich griff und im Laufe des Sommers
ſogar nach Italien hinüberſchlug. Als Gentz im Auguſt nach München
kam, fand der König kaum Worte genug, um dem Wiener Hofe ſeine
Anhänglichkeit zu betheuern. Er liebe, ſo geſtand er, die Conſtitutionen
ebenſo wenig wie Kaiſer Franz, und ohne den unglücklichen Wiener Con-
greß wäre er gewiß nie ſo weit gegangen; indeſſen ſei er Gottlob mit
einem blauen Auge davongekommen, und nun ſolle ihn auch der Teufel
keinen Schritt weiter führen. An dem gewohnten bureaukratiſchen Re-
gimente ward durch die parlamentariſchen Inſtitutionen nichts geändert.
Selbſt die den Kammern verſprochene Neugeſtaltung des Heerweſens
unterblieb, obgleich zwei der tüchtigſten Generale, Raglovich und Baur
ſchon ſeit Jahren die Einführung eines Landwehrſyſtems, nach der Art
des preußiſchen, befürwortet hatten. Der liberale Lerchenfeld ſah ſich
ganz auf ſein Finanzfach beſchränkt, und hier gelang es ſeiner ausdauern-
[60]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
den umſichtigen Thätigkeit endlich Ordnung zu ſchaffen, ſo daß der Kurs
der Staatspapiere in wenigen Jahren um mehr als 30 Procent ſtieg.
Die deutſche Politik des Münchener Hofes wurde durch Rechberg und
Zentner beſtimmt, und ſie ſtanden Beide, Jeder auf ſeine Weiſe, treu
zu den Großmächten. Auf ihre Veranlaſſung*) brachte die Augsburger
Allgemeine Zeitung eine Kritik des Manuſcripts, welche alle Sonder-
bundsgedanken mit bitterem Spotte abfertigte. —
Mittlerweile trat auch der letzte der ſüddeutſchen Staaten, der bisher
noch an der unbeſchränkten Monarchie feſtgehalten, zu den Formen des
conſtitutionellen Staates über. Pünktlich wie er es verheißen, verlieh
Großherzog Ludwig von Heſſen durch das Edikt vom 18. März 1820
ſeinem Lande eine Verfaſſung; er hoffte durch dieſe behutſame Gewäh-
rung, wie er den großen Mächten ſagen ließ, allen Erwartungen der
Wiener Conferenzen zu entſprechen, ſeine Zuſage zu erfüllen und zugleich
„die Kraft ſeiner Regierung zu ſichern“.**) Sein vertrauter Rath, der
verdiente Strafrechtslehrer Grolmann hatte erſt vor Kurzem ſein aka-
demiſches Amt in Gießen ſchweren Herzens mit dem Miniſterſeſſel ver-
tauſcht, weil er ſich verpflichtet hielt der drohenden Anarchie entgegenzu-
wirken; eine milde, verſöhnliche Natur, mehr Gelehrter als Staatsmann,
meinte Grolmann den Landſtänden „Alles gewährt zu haben, was ihnen
ohne offenbare Gefahr einer Republikaniſirung gewährt werden könne.“***)
Aber diesmal hatte ſich der ehrwürdige, in den Anſchauungen eines wohl-
wollenden Abſolutismus ergraute Fürſt über die Stimmung ſeines Landes
gründlich getäuſcht. Während der langen Zeit des Wartens war das
Volk durch zahlreiche Petitionen und Verſammlungen aufgeregt worden;
in den mediatiſirten Herrſchaften des Odenwalds hatten ſich die hart
belaſteten Bauern den Truppen bei der Eintreibung der Steuern ſchon
thätlich widerſetzt. Und nun brachte die erſehnte Verfaſſung, die aller
Noth ein Ziel ſetzen ſollte, nicht viel mehr als einige Vorſchriften über
den künftigen Landtag. Die gemüthliche patriarchaliſche Sprache des
Edikts verfehlte ihren Zweck, da der Inhalt gar ſo dürftig war. Die
Rechte der Landſtände waren ſehr eng bemeſſen und das Wahlrecht der-
maßen beſchränkt, daß ſich im ganzen Staate außer den höheren Staats-
beamten nur 985 Wählbare fanden. Zu allem Unheil erſchien dies
Grundgeſetz in dem nämlichen Augenblicke, da die ſoeben wieder aus dem
Grabe ſteigende ſpaniſche Cortesverfaſſung in den deutſchen Zeitungen
veröffentlicht wurde und das Entzücken der liberalen Welt erregte. „Eine
Verfaſſung mit zwei Kammern iſt gar keine“ — ſo hieß es jetzt häufig
in den ſüddeutſchen Wirthshäuſern, wenn auf das Wohl der Cortes und
[61]Das Darmſtädter März-Edikt.
ihres Helden Riego angeſtoßen wurde; und F. v. Spaun meinte: unſer
Max braucht nur mit dem Finger zu winken, um die Kammer der
Reichsräthe hinwegzufegen. Wie kümmerlich erſchien die Freiheit der Heſſen
neben dieſen ſpaniſchen Herrlichkeiten!
Das ganze Land gerieth in Bewegung. Einige in Stuttgart ge-
druckte anonyme Flugſchriften, die von E. E. Hoffmann in Darmſtadt
herrührten, unterwarfen das Edikt einer ſchonungsloſen, wohlberechtigten
Kritik, und da die Bauern ſchon längſt über Steuerdruck klagten, ſo
fiel die Mehrzahl der Wahlen zu Ungunſten der Regierung aus. Die
Rheinheſſen wählten gar den franzöſiſchen General Eickemeyer, denſelben,
der einſt bei der ſchmählichen Uebergabe von Mainz mitgewirkt hatte
und darum am Hofe, mit Unrecht, für einen gefährlichen Jakobiner
galt. Die größere Hälfte der Abgeordneten erklärte dem Großherzog ſo-
fort in einer ehrerbietigen, aber ſehr nachdrücklichen Eingabe: ſie könnten
in dem Edikte die verheißene „umfaſſende Conſtitutions-Urkunde“ nicht
erkennen und darum auch keinen Eid darauf leiſten. Umſonſt hatte Hans
v. Gagern die Grollenden beſchworen, nicht alſo von Haus aus jede Ver-
ſtändigung abzuweiſen. Dem wunderlichen Reichspatrioten erging es wie
vielen anderen Diplomaten der Kleinſtaaten: ſo phantaſtiſch er ſich einſt
in dem nebelhaften Bereiche der Bundespolitik gezeigt hatte, ebenſo be-
ſonnen verfuhr er jetzt, da er feſten Boden unter ſeinen Füßen fühlte,
in der praktiſchen Politik ſeines Heimathlandes. Von ihm geführt reichten
ſeine Standesgenoſſen von der Ritterſchaft und die Minderheit der übrigen
Abgeordneten eine Gegenerklärung ein: ſie waren unbedenklich zur Leiſtung
des Eides bereit, aber nur unter der Vorausſetzung, daß der Großherzog
ihnen noch andere Geſetze „zur vollſtändigen Ausbildung der Verfaſſung“
vorlegen würde.
Die Lage des kleinen Staates begann recht unſicher zu werden. Der
preußiſche Geſandte Frhr. v. Otterſtedt — notre ami aux mille affaires
hieß er in der diplomatiſchen Welt — ein erklärter Gegner der Liberalen,
der immer aufgeregt und geheimnißvoll zwiſchen den Höfen von Darm-
ſtadt und Bieberich hin- und herreiſte, ſchilderte ſeinem Kabinet „den
wahrhaft teufliſchen Geiſt“ der heſſiſchen Demagogen in den dunkelſten
Farben*); und allerdings nahm die peſſimiſtiſche Verbitterung bedenklich
überhand. Einzelne der Eidverweigerer hofften insgeheim auf einen Ge-
waltſtreich von oben, damit dann der ausbrechende Volksunwille den Hof
zu umfaſſenden Zugeſtändniſſen zwänge. Auch die mächtigen Mediatiſirten,
denen faſt ein Viertel des Großherzogthums gehörte, zeigten ſich feindſelig.
Vergeblich hatte ihnen die Regierung vor Kurzem alle die in der Bun-
desakte verheißenen Rechte, und noch einige mehr, zugeſtanden, ſo daß
fortan am Büdinger Schloßthore eine Iſenburgiſche Leibwache prunken
[62]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
durfte. Die Fürſten und Grafen waren mit Alledem nicht befriedigt und
blieben, bis auf Einen, ſämmtlich dem Landtage fern, obſchon ſie ſelbſt
ſchon vor Jahren die Berufung der Stände ſtürmiſch verlangt hatten.*)
Durch Grolmann’s Klugheit wurde die Gefahr noch zur rechten Zeit be-
ſchworen. Nüchtern genug um die Stimmung des Landes richtig zu wür-
digen und beſcheiden genug um den begangenen Mißgriff einzugeſtehen,
bewog er den Großherzog zur Nachgiebigkeit. In einer gnädigen Antwort
gewährte der alte Herr die Bitte der Gagern’ſchen Partei und verſprach,
daß den Ständen einige organiſche Geſetze zur Ergänzung des März-Edikts
vorgelegt werden ſollten. Nach dieſer Zuſage ließen auch mehrere Mit-
glieder der entſchiedenen Oppoſition ihren Widerſpruch fallen, und am
27. Juni konnte der Landtag endlich eröffnet werden. Die unbelehrbaren
Eidverweigerer wurden aus der Kammer ausgeſchloſſen, und die Neu-
wahlen vollzogen ſich überall ohne Widerſtand. Der Landtag errang ſich
ſogleich die Oeffentlichkeit ſeiner Sitzungen und damit ein großes Anſehen,
da das geſammte Volk mit geſpannter Aufmerkſamkeit den Berathungen
folgte; aber er mißbrauchte ſeine Macht nicht, die Miniſter kamen ihm
willfährig entgegen, und unter der ſachkundigen Leitung des Präſidenten
Eigenbrodt, des berühmten Forſtmannes, nahmen die Verhandlungen
anfangs einen friedlichen Verlauf.
Alles ſchien auf dem beſten Wege. Sogar Marſchall, der bisher
nach ſeiner Weiſe die Darmſtädter Demagogen bei allen Höfen verläſtert
hatte, meinte jetzt beruhigt: die Regierung habe das Heft in der Hand
behalten, das monarchiſche Princip ſei genugſam gewahrt.**) Grolmann
aber mußte bald fühlen, wie ſchwer es hielt, ſelbſt mit dieſer beſonnenen
Kammer zum Abſchluß zu gelangen. Er befand ſich in einer unhalt-
baren Stellung; denn die Geſetzentwürfe über ſtaatsbürgerliche Rechte,
über Miniſterverantwortlichkeit und Steuerbewilligungsrecht, welche er
jetzt dem Landtage vorlegte, enthielten in Wahrheit nicht die Ergänzung,
ſondern die Aufhebung des März-Edikts, und unter den Abgeordneten
äußerte ſich immer vernehmlicher das Verlangen, daß auch Heſſen, wie
die anderen ſüddeutſchen Staaten eine förmliche, das geſammte Staats-
recht umfaſſende Verfaſſungsurkunde erhalten müſſe. Wie viel einfacher
doch, wenn man den Ständen dieſen Herzenswunſch erfüllte! Der Mi-
niſter berieth ſich insgeheim mit ſeinem Schwager, dem Kanzler der Uni-
verſität Gießen, Arens, einem namhaften Juriſten, dann mit Staatsrath
Hofmann, der das Finanzweſen ſehr geſchickt leitete, endlich auch mit einem
jüngeren liberalen Beamten, Geh. Rath Jaup. Mit Ausnahme Jaup’s
war keiner dieſer vier Männer conſtitutionell geſinnt, ſie Alle betrachteten
eine Verfaſſung beſten Falles als ein nothwendiges Uebel, Arens gehörte
[63]Nachgiebigkeit des Großherzogs.
ſogar zu der hochconſervativen Partei und hatte ſich in Gießen als uner-
bittlicher Verfolger der Demagogen einen ſchlimmen Leumund erworben.
Gleichwohl vereinigten ſie ſich alleſammt in der Erkenntniß, daß die Gäh-
rung im Lande allein durch eine Conſtitution beſchworen werden könne.
Der Großherzog ertheilte ſeine Genehmigung, und am 14. Oktober
überraſchte Hofmann den Landtag durch die Aufforderung: die Stände
möchten nur Alles was ſie noch zur Vervollſtändigung des März-Edikts
wünſchten, der Regierung vorſchlagen; dann ſollten die vereinbarten Punkte
in einer Verfaſſungsurkunde zuſammengeſtellt werden und mit deren Ver-
kündigung das März-Edikt außer Wirkſamkeit treten. Der Erfolg bewies
augenblicklich, wie richtig Grolmann gerechnet hatte. Das den Herzen
dieſes Geſchlechts ſo unwiderſtehliche Wort „Verfaſſung“ wirkte wie ein
Zauberſchlag: nun waren die Heſſen doch ebenſo frei wie die Baiern,
Badener und Württemberger! Der Saal erdröhnte von Freudenrufen.
In tiefer Bewegung ſprach der Präſident Eigenbrodt: „ſie iſt nun da,
die Morgenröthe eines ſchönen Tages, der das Band der Liebe und des
Zutrauens zwiſchen einem edlen Fürſten und einem biedern Volke be-
feſtigen, noch feſter knüpfen wird.“ Dann ſchloß er die Sitzung, damit
der große Tag nicht durch andere Geſchäfte entweiht würde. Welch ein
Jubel ſodann, als der Großherzog Abends im Theater unter ſeinem ge-
treuen Volke erſchien! Ueberall im Lande die gleiche Begeiſterung, überall,
wie das Stichwort des Tages lautete, die gerührte Dankbarkeit glücklicher
Kinder gegen den allgeliebten Vater.
An den Höfen fand der Freudenrauſch des heſſiſchen Volkes wenig
Widerhall. Wie hart war ſchon der König von Württemberg getadelt
worden, weil er ſeiner Verfaſſung die Form eines Vertrags gegeben
hatte, und er konnte ſich doch auf das alte Recht ſeiner Schwaben be-
rufen. Jetzt aber erbot ſich ein zweiter deutſcher Fürſt freiwillig zu einer
Vereinbarung mit ſeinen Ständen, obgleich dieſen ein hiſtoriſcher Rechts-
anſpruch unzweifelhaft nicht zur Seite ſtand. Cine ſolche Verletzung des
monarchiſchen Princips ſchien hochgefährlich. Der Erbgroßherzog und ſein
Bruder Prinz Emil hatten ihres Unmuths kein Hehl und beſchuldigten
den Miniſter, daß er hinter ihrem Rücken die Gutherzigkeit ihres altern-
den Vaters mißbraucht habe. „Wenn Ihr Schwager ſeinen Frieden mit
den Jakobinern ſchließen will — ſagte Prinz Emil dem Kanzler Arens ins
Geſicht — dann will ich den Krieg mit ihm. Mag Grolmann in den
Koth ſtürzen, das iſt mir ſehr gleichgiltig; aber daß er meinen Vater mit
hineinreißt, das werde ich ihm nie verzeihen.“*) Prinz Emil hatte neuer-
dings die bonapartiſtiſchen Ideale ſeiner Jugendjahre allmählich aufge-
geben und ſich auf dem Aachener Congreſſe perſönlich mit den neuen
Gebietern Europas ausgeſöhnt. Ein ausgezeichneter Soldat, klug, unter-
[64]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
richtet, energiſch, blieb er fortan durch viele Jahre eine Säule der hoch-
conſervativen Partei in Süddeutſchland. Otterſtedt, der ſich ſeines be-
ſonderen Vertrauens erfreute, urtheilte über ihn: „er lebt nur in und
mit dem monarchiſchen Princip, das er wie ein wahrer Chevalier zu ver-
theidigen verſteht.“ Die Stimmung des Prinzen verdüſterte ſich noch
mehr, da eben in dieſen Tagen auch die alte feſte Mannszucht des kleinen
Heeres, dem er mit Leib und Seele angehörte, zu wanken ſchien. Leut-
nant Schulz, jener Genoſſe der Unbedingten, der das revolutionäre Frag-
und Antwortsbüchlein unter die Bauern geworfen hatte, wurde vom Kriegs-
gerichte freigeſprochen. Ein ſo ungerechter Wahrſpruch — Grolmann ſelbſt
konnte das nicht in Abrede ſtellen — wäre vor einem Jahre noch un-
möglich geweſen; es ließ ſich nicht verkennen, daß die aufregenden Nach-
richten von den ſpaniſchen und italieniſchen Soldatenmeutereien das mi-
litäriſche Pflichtgefühl der Offiziere des Kriegsgerichts verwirrt hatten.*)
Auch du Thil, der an dem entſcheidenden Beſchluſſe des Miniſte-
riums keinen Antheil genommen, ſprach ſich ſehr beſorgt aus. Er gab
wohl zu, daß der Beſtand einer Verfaſſung beruhigend wirken könne:
denn wie die Welt vor dreihundert Jahren für und wider die Trans-
ſubſtantiation kämpfte, ſo „iſt Conſtitutionsſucht heute die Modekrank-
heit“. Dennoch hielt er es für „eine unbegreifliche Unbeſonnenheit, das
furchtbare Beiſpiel zu geben, daß die Volksvertretung mit der Regierung
über die Verfaſſung unterhandelt.“**) Otterſtedt vollends, der ewig Auf-
geregte, redete in ſeinen Berichten, als ob die Jakobiner obenauf wären;
er beſchwor ſeine Regierung, in einem Miniſterialſchreiben ihre förmliche
Mißbilligung auszuſprechen: auf keinen Fall dürfe Grolmann, nach ſolchen
Beweiſen der Unzuverläſſigkeit, das Miniſterium des Auswärtigen be-
halten.
Der alte Großherzog ſelber begann bereits wieder zu ſchwanken und
verſprach ſeinem Sohne Emil im tiefſten Vertrauen, daß Grolmann das
auswärtige Amt an du Thil abtreten ſolle, ſobald die großen Mächte es
verlangten.***) Die Diplomaten der Nachbarſchaft blickten voll Angſt auf
„das Theater der Intrigue“, das ſich in Darmſtadt aufgethan; Goltz in
Frankfurt hielt für ausgemacht, daß der Unheilsmann Wangenheim auch
hier wieder die Hand im Spiele gehabt, und Marſchall ſchalt: ſo laſſe
„ein ſchwacher Regent und ein unerfahrener unbeholfener Miniſter die
Zügel aus der Hand“ gleiten.†) Der preußiſche Hof aber bewahrte auch
diesmal, wie noch bei allen Verfaſſungskämpfen des Südens, eine wohl-
wollende Zurückhaltung. Der vielgeſchäftige Geſandte erhielt die ſtrenge
[65]Verſtändigung über die Verfaſſung.
Weiſung, ſich jeder Einmiſchung zu enthalten; auch den Austritt Grol-
mann’s aus dem auswärtigen Amte hielt Bernſtorff nicht für wünſchens-
werth, weil der Verdrängte dann auf die Meinung der großen Mächte
noch weniger Rückſicht nehmen würde.*) Bei ſolcher Geſinnung der preu-
ßiſchen Staatsmänner wollte Metternich ebenfalls keinen entſcheidenden
Schritt thun, obwohl er einmal eine ſehr unfreundliche Note nach Darm-
ſtadt ſendete: ſo lange die Abwehr der italieniſchen Revolution ſeine ganze
Kraft in Anſpruch nahm, ſollte in Deutſchland jede Verwicklung vermieden
werden.
Unterdeſſen hatten ſich die Ultras in Darmſtadt von ihrem Schrecken
erholt, da die Haltung der Kammern durchaus den Erwartungen des
Miniſters entſprach. Beſchwichtigt durch die Zuſage der Verfaſſung, zeigten
ſich die Abgeordneten fortan ſehr nachgiebig, und Grolmann konnte mit
vollem Rechte dem preußiſchen Geſandten verſichern, der Entſchluß des
Großherzogs habe der radikalen Partei eine Niederlage bereitet, auf das
Vertrauen des Volks geſtützt ſtehe die Regierung jetzt mächtiger da denn
zuvor. Auch Arens redete dem beſorgten Preußen zu: — es ſei unmög-
lich, den Strom der allgemeinen Opinion aufzuhalten, möge das für
Preußen ein Fingerzeig ſein! — und Gagern diktirte ihm eine Denk-
ſchrift in die Feder, welche dem Berliner Hofe auseinanderſetzte, daß
die Heſſen nimmermehr hinter ihren ſüddeutſchen Nachbarn zurückbleiben
wollten, und mithin nur eine Verfaſſungsurkunde den Landtag zufrieden
ſtellen könne.**) Das Zureden wirkte, und wohlmeinend wie er war,
hielt es Otterſtedt nunmehr für ſeine Pflicht, den grollenden öſterreichi-
ſchen Geſandten v. Handel zu beſchwichtigen und auch die noch immer ver-
ſtimmten beiden Prinzen zur Beſonnenheit zu mahnen. Auf ſeine und
du Thil’s Vorſtellungen ſahen die Prinzen ein, daß es ihnen nicht zieme,
öffentlich wider ihren Vater aufzutreten; Beide gaben in der erſten Kammer
verſöhnliche Erklärungen ab. Um ſeine Söhne vollends zu gewinnen, be-
rief ſie der Großherzog ſodann in ſein Miniſterium; damit war, wie
Prinz Emil befriedigt ſchrieb, von Neuem bewieſen, daß der alte Herr
„das monarchiſche Princip kräftig aufrechthalten wollte“.***)
Im Miniſterrathe einigte man ſich hierauf über einen guten Ge-
danken, der den Doktrinären des monarchiſchen Princips ihre letzten
Formbedenken aus der Hand ſchlug. Man beſchloß, daß die Verfaſſungs-
urkunde zwar genau nach den angenommenen Vorſchlägen der Stände
abgefaßt, dann aber ohne nochmalige Befragung des Landtags, vom
Throne herab als ein freies Geſchenk fürſtlicher Gnade dem Lande ver-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 5
[66]III. 1. Die Wiener Conferenzen.
liehen werden ſolle. So erſchien das Grundgeſetz, obwohl es in Wahr-
heit mit dem Landtage vereinbart war, der Form nach als eine gegebene
Verfaſſung, und das den ſtrengen Monarchiſten ſo unheimliche Schreckbild
eines politiſchen Grundvertrages war glücklich vermieden. Zur ſelben
Zeit wurde Leutnant Schulz aus der Armee entlaſſen, nachdem Prinz
Emil und die Offiziere ſeines Reiter-Regiments den Großherzog dringend
um „die Entfernung dieſes Unwürdigen“ gebeten hatten; und nun erſt
ſöhnten ſich die Prinzen mit der neuen Ordnung der Dinge völlig aus.*)
Aus Ehrfurcht vor dem greiſen Landesherrn ließen ſich die Landſtände
gleichfalls die Form der Verfaſſungsverleihung wohl gefallen, da ſie in
der Sache doch faſt alle ihre Wünſche durchgeſetzt hatten; ſie widerſprachen
auch nicht, als der Miniſter die fragwürdige Behauptung aufſtellte, daß
die Weisheit des Großherzogs ſchon im März Alles genau ſo wie es ge-
kommen ſei vorhergeſehen habe. Genug, Grolmann hatte, gewandt und
feſt, zuerſt die Radikalen geſchlagen, dann die höfiſche Oppoſition, die bei
der beginnenden Altersſchwäche des Großherzogs unberechenbaren Schaden
ſtiften konnte, gänzlich entwaffnet. Am 17. December wurde das Grund-
geſetz unterzeichnet und alsdann, unter neuen Ausbrüchen ſtürmiſcher Freude,
von den Kammern entgegengenommen.
Die heſſiſche Verfaſſung war der badiſchen ſehr ähnlich; jedoch be-
ſtand die erſte Kammer, nach dem Vorbilde Württembergs, nur aus den
Standesherren und einigen vom Landesherrn Ernannten. Die Mitglieder
der Ritterſchaft erhielten ihren Platz in der zweiten Kammer neben den
Abgeordneten der großen Städte und der gemiſchten Wahlbezirke, damit
„das ariſtokratiſche Princip nicht zu ſehr die Oberhand gewinne“; und nach-
dem man während des Verfaſſungskampfes genugſam erfahren hatte, wie
niedrig die alten reichsunmittelbaren Geſchlechter den Werth einer darm-
ſtädtiſchen Pairie ſchätzten, ſo half man ſich, gleich den Württembergern,
durch die wunderliche Vorſchrift, daß eine nicht vollzählig erſchienene
Kammer als einwilligend angeſehen werden ſolle. Ueber die Beſchluß-
fähigkeit der zweiten Kammer enthielt die heſſiſche Verfaſſung, wie alle
die anderen neuen Grundgeſetze des Südens, ſehr kleinliche Beſtimmungen.
Da die Bureaukratie den geſetzgebenden Körper wie ein Regierungscolle-
gium, das ſeine Amtsſtunden abſitzen muß, betrachtete, und die Volksver-
treter überdies Tagegelder bezogen, ſo forderten die ſüddeutſchen Ver-
faſſungen alleſammt, daß mindeſtens die größere Hälfte, in Baiern und
Württemberg ſogar zwei Drittel der Abgeordneten immer anweſend ſein
müßten — eine pedantiſche Kleinmeiſterei, welche ſeitdem eine traurige
Eigenthümlichkeit des deutſchen Parlamentarismus geblieben iſt und ſein
Anſehen im Volke ſchwer geſchädigt hat.
[67]Die heſſiſche Verfaſſung.
Im Ganzen entſprach das heſſiſche Grundgeſetz den Bedürfniſſen des
Landes. Auch die preußiſche Regierung erkannte dies an und ſprach dem
Großherzog und ſeinem treuen Volke ihren warmen Glückwunſch aus.
„Durch die glückliche Wendung, welche dieſe große Angelegenheit genommen
— ſchrieb Ancillon — iſt das monarchiſche Princip, das Grundprincip
aller deutſchen ſtändiſchen Verfaſſungen, recht erhalten worden, indem
S. K. Hoheit dieſes Staatsgrundgeſetz Höchſtſelbſt Ihren Ständen gegeben
haben und die Freiheit Ihres ſouveränen Willens und die hohe Weisheit
Ihrer Beſchlüſſe durch das was ſie den Wünſchen der Kammern zugeſtan-
den wie durch das was ſie denſelben vorenthielten gleich bewährt haben.“*)
Der Geiſt der Eintracht, der dieſen Landtag beſeelte, blieb ungeſchwächt
bis zum Schluſſe der Seſſion, im Sommer 1821; die Honigmonde des
conſtitutionellen Lebens verliefen nirgends ſo ungetrübt wie in Darm-
ſtadt. Man vereinbarte noch einige wichtige Geſetze über die Ablöſung
der bäuerlichen Laſten, und ſeitdem ward die Entlaſtung des Bodens ſo
eifrig gefördert, daß Heſſen früher als alle anderen deutſchen Staaten
zur vollſtändigen wirthſchaftlichen Befreiung des Landvolkes gelangte.
Mit mächtigem Selbſtgefühle blickte der Darmſtädter von der Höhe ſeiner
modernen Lebensverhältniſſe auf die kurheſſiſchen Nachbarn hernieder
und meinte: wenn die Welt untergeht, dann wandern wir nach Kur-
heſſen aus, denn dort iſt man immer fünfzig Jahre hinter der Zeit
zurück. —
Dergeſtalt war in ganz Süddeutſchland die conſtitutionelle Staats-
form zur Herrſchaft gelangt, und ſo gewiß dieſe Wendung der Dinge
nothwendig und heilſam war, ebenſo gewiß bereitete ſie der Einigung
der Nation ernſte Gefahren. Erſt durch Napoleon und die Siege des
Rheinbunds war in den zerſtückelten Gebieten des Südens ein Gemein-
gefühl, ein Bewußtſein oberdeutſcher Eigenart, das im achtzehnten Jahr-
hundert noch geſchlummert hatte, erweckt worden. Jetzt verſchärfte ſich
dieſer Sondergeiſt, ſeit man anfing die ſchöne Heimath als das claſſiſche
Land deutſcher Freiheit zu preiſen und die großen nationalen Erinne-
rungen des waffenſtarken Nordens zu mißachten. Die Kluft zwiſchen
Nord und Süd verbreiterte ſich während der nächſten Jahre, und erſt
nach ſchmerzlichen Enttäuſchungen erkannten die Oberdeutſchen, daß nur
die Einheit Deutſchlands ihnen die politiſche Freiheit ſichern konnte. —
5*
[[68]]
Zweiter Abſchnitt.
Die letzten Reformen Hardenbergs.
Derweil die Wiener Conferenzen den Siſyphus-Stein der Bundes-
verfaſſung auf und nieder wälzten, gelangte in Berlin eine Arbeit zum
Abſchluß, die außerhalb Preußens wenig beachtet für Deutſchlands Zu-
kunft ungleich folgenreicher werden ſollte als alle Verhandlungen der
Bundespolitik. Der greiſe Staatskanzler legte die letzte Hand an das
Werk der inneren Reformen. Wie zuverſichtlich blickte er wieder ins Leben
ſeit er den verhaßten Humboldt in den Sand geworfen hatte. Er fühlte
ſich wie verjüngt, alle die ſtolzen Hoffnungen der erſten Jahre ſeiner Kanz-
lerſchaft wurden ihm wieder lebendig. Wie er damals als ein Dictator
den Staat zweimal mit einem ganzen Füllhorn neuer Geſetze überſchüttet
hatte, ſo dachte er jetzt die Neuordnung des Staatshaushaltes mit einem
Schlage zu beendigen. Eine Commiſſion des Staatsraths unter dem
Vorſitz von Klewiz und Bülow hatte mittlerweile die Entwürfe der neuen
Steuergeſetze vollendet, eine andere unter der eigenen Leitung des Staats-
kanzlers den Stand des Staatshaushaltes und des Schuldenweſens ge-
prüft. In jener war J. G. Hoffmann, in dieſer C. Rother der leitende
Kopf, beide Männer zählten zu Hardenberg’s nächſten Vertrauten, und er
betrachtete ihre Arbeiten als ſein perſönliches Werk.
In drei langen Vorträgen entwickelte er dem Könige ſeinen Finanz-
plan, und ſobald er am 12. Januar den Monarchen im Weſentlichen
überzeugt hatte, ſtellte er ſofort den Antrag, daß die ſämmtlichen neuen
Geſetze über das Steuer- und Schuldenweſen unverzüglich veröffentlicht
würden*); dann ſollten noch im Laufe dieſes Jahres die Gemeinde-,
Kreis- und Provinzialordnung und ſchließlich die Reichsverfaſſung folgen.
Er überſah in ſeiner Ungeduld, daß er ſich inzwiſchen der diktatoriſchen
[69]Kanzler und Staatsrath.
Gewalt, welche ihm der König einſt beim Antritt des Kanzleramtes zuge-
ſtanden, längſt ſelber entkleidet hatte. Schon ſeit Jahren beſtanden das
neue Staatsminiſterium und der Staatsrath, und die Verordnung über
die Bildung der letzteren Behörde beſtimmte unzweideutig, daß ſämmtliche
Vorſchläge zu neuen oder zur Abänderung von beſtehenden Geſetzen durch
den Staatsrath an den König gelangen müßten. Ergraut im Genuſſe
der Macht hatte Hardenberg dieſe Vorſchrift freilich nicht lange einge-
halten; ihm ſchien es widerſinnig, daß ein abſoluter Monarch ſeinen eigenen
Beamten gegenüber an Formen gebunden ſein ſollte. Während die ſech-
zehn neuen Geſetze des Jahres 1818 alleſammt erſt nach Berathung des
Staatsraths die königliche Sanktion erhielten, wurden ſchon im folgenden
Jahre von ſiebenundzwanzig neuen Geſetzen nur ſechzehn dem Staats-
rathe vorgelegt.*)
So gewöhnte ſich der Kanzler bereits daran den Staatsrath zu um-
gehen, und am wenigſten bei den höchſt unpopulären Finanzgeſetzen wollte
er auf dies kurz angebundene Verfahren verzichten. Seit Humboldt’s
Sturz hatte ſich die Stimmung in den Beamtenkreiſen noch mehr ver-
bittert. Die Erbſünde der Hauptſtädte, die Luſt am Skandal trat wieder
faſt ebenſo dreiſt auf, wie einſt vor der Jenaer Schlacht; Jeder ſchalt
und klagte, um ſo heftiger je höher er ſtand. Welche ungeheuerlichen
Lügen konnte Varnhagen allabendlich ſchadenfroh in den Moderſumpf
ſeines Tagesbuchs abladen! Der war nach ſeiner Abberufung mit einem
reichlichen Wartegelde ausgeſtattet worden, weil man ihn zufrieden ſtellen
und ſeine ſcharfe Feder unſchädlich machen wollte.**) Oeffentlich wagte er
auch nicht gegen die Regierung aufzutreten. Dafür trieb er ſich jetzt, als
Wirklicher Geheimer Ober-Literat, wie der treffende Witz der Berliner ihn
nannte, ziſchelnd, ſchleichend, horchend zwiſchen den hohen Beamten und
den Schriftſtellern der Reſidenz umher, und hier erfuhr er aus ſicherſter
Quelle, wie ſündlich General Kneſebeck, ein Mann von unantaſtbarer Recht-
ſchaffenheit, mit den militäriſchen Geldern umgehe und dabei ſich ſelber
nicht vergeſſe; auch der nicht minder ehrenhafte Rother, der ſich ſoeben
in Schleſien ein Gut gekauft, konnte das Geld natürlich nur frechem
Unterſchleif verdanken; keinen Treſorſchein — hieß es in dieſen Kreiſen —
dürfe man die Nacht über im Hauſe behalten, denn einer ſolchen Regie-
rung ſei nicht vierundzwanzig Stunden lang zu trauen. Bei dieſem
Fieber der Tadelſucht ſchien es in der That bedenklich, den Geſetzentwurf
über die Staatsſchulden mit allen den unerfreulichen Geheimniſſen, die
er aufdeckte, jetzt dem Staatsrathe vorzulegen. Ein leidenſchaftlicher Streit
um jeden einzelnen Poſten der Rechnung ſtand dann unausbleiblich be-
[70]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
vor, und dieſer Hader konnte nicht geheim bleiben; denn da die politiſchen
Parteien noch keinen anderen Kampfplatz beſaßen, ſo waren bisher faſt
alle wichtigen Verhandlungen des Staatsraths in gehäſſig übertreibender
Darſtellung der vornehmen Geſellſchaft Berlins bald bekannt geworden,
und ſchon mehrmals hatte der König die Mitglieder an die Pflicht amt-
licher Verſchwiegenheit erinnern müſſen.
Solche düſtere Gerüchte mußten jetzt den gebrechlichen Credit des
Staates geradezu vernichten. Mit unſäglicher Mühe hielt der Miniſter
Klewiz den Kurs der Staatsſchuldſcheine auf 70—71; im nächſten Februar
aber wurden mehr als drei Millionen Thaler Wechſel der Seehandlung
fällig, auch das Deficit aus den Jahren 1817—19, deſſen Daſein Hum-
boldt und ſeine Freunde ſo lange abgeleugnet hatten, lag jetzt klar am
Tage und ſollte ſofort gedeckt werden. Man bedurfte der Baarmittel,
unverzüglich, und was ward aus den Anleiheverhandlungen, welche Rother
bereits mit einigen Bankhäuſern eingeleitet hatte, wenn die ſo oft ver-
heißene Regelung des Schuldenweſens nochmals um Monate hinausge-
ſchoben, wenn das ohnehin ſchwarzſichtige Publicum im Voraus durch
halbwahre Berichte aus dem Staatsrathe beunruhigt wurde? Die Geld-
verlegenheit war ſo dringend, daß der Kanzler auch die unverweilte Ver-
öffentlichung der Steuergeſetze für nöthig hielt. Mochten das Miniſterium
und der Staatsrath nachträglich die Geſetze prüfen und einzelne Verbeſ-
ſerungen vorſchlagen, der Staat durfte der neuen Einnahmen keinen Monat
länger entbehren. „Was würden, ſchrieb Hardenberg dem Könige, Höchſt-
dieſelben von dem Vorſteher einer großen Stadt ſagen, der bei einer
Feuersbrunſt, welche ihr den Untergang droht, wiſſend, daß die Feueran-
ſtalten bisher mangelhaft waren, ſtatt ſogleich alle Mittel zur Rettung
anzuwenden, erſt eine Deliberation im Magiſtrat über die Verbeſſerung
jener Anſtalten veranlaſſen wollte?“
Die Rechtlichkeit des Königs konnte ſich indeß zu einem ſo eigen-
mächtigen Vorgehen nicht entſchließen. Friedrich Wilhelm befürchtete, daß
die Verletzung der Formen den unvermeidlichen üblen Eindruck der Steuer-
geſetze noch verſchlimmern würde, er beſtand auf der ordnungsmäßigen
Befragung des Staatsraths und ſendete aus Potsdam ſeinen Witzleben
hinüber, der ſchriftlich und mündlich dem ungeduldigen Kanzler ins Ge-
wiſſen reden mußte.*) Jetzt gelte es, ſo ließ ſich der Vertraute des Kö-
nigs vernehmen, „die Finanzen eines Staates zu ordnen, der einem
Schiffe ohne Segel und Maſten gleich, das auf den Wellen der bewegten
Zeit umhertreibt, nur durch die weiſe Führung eines großen Staats-
mannes nicht allein erhalten wurde, ſondern wie ein Phönix neu erſtand.“
Bei einem ſo umfaſſenden Unternehmen dürften die Fundamentalgeſetze
des Staates nicht mißachtet werden, und zu dieſen zählten die Verord-
[71]Staatsſchulden-Geſetz.
nungen über den Staatsrath und das Staatsminiſterium, welche „bis
etwas Anderes an die Stelle tritt, als die Charte des Reichs“ zu gelten
hätten. Der Ausfall in den Staatseinnahmen, welchen die Verzögerung der
Steuergeſetze bewirken würde, könne äußerſten Falles, wie im Jahre 1808,
durch Abzüge von den Gehältern der Beamten gedeckt werden. Kein an-
deres Motiv leitet mich — ſo betheuerte Witzleben ſchließlich — „als
meine Ueberzeugung von der Wichtigkeit der Sache und die Beſorgniß,
den in den Annalen des Vaterlandes glänzenden Namen eines Mannes
durch die Verletzung von ihm ſelbſt gegebener Geſetze befleckt zu ſehen.“*)
Hardenberg ließ ſich ſelbſt durch dieſe herzlichen Mahnungen keines-
wegs überzeugen, doch durfte er dem erklärten Willen des Monarchen nicht
zuwiderhandeln. Aber auch der König hatte inzwiſchen eingeſehen, daß
die Regelung des Schuldenweſens nur bei unverbrüchlicher Verſchwiegen-
heit möglich war, und ſo einigte man ſich denn auf Rother’s Vorſchlag
über einen Mittelweg. Man beſchloß, die Rechte der beiden höchſten Be-
hörden, ſo weit es noch anging, zu wahren, alſo die ſämmtlichen Steuer-
geſetze, die in der That auch ſachlich noch einer erneuten Prüfung be-
durften, dem Miniſterium und dem Staatsrath zu überweiſen, aber die
Edikte über die Staatsſchuld ſofort zu verkündigen.**)
Am 17. Januar 1820 erſchien demnach die Verordnung wegen der
Behandlung des Staatsſchuldenweſens, welche den Staatsſchuldenetat
feſtſtellte und auf immer für geſchloſſen erklärte. Vier volle Jahre nach
dem Friedensſchluß lernten die Preußen endlich das traurige Vermächtniß
der napoleoniſchen Tage kennen. Am Ende des Jahres 1806 hatte die
Schuld nicht ganz 54½ Mill. Thlr. betragen; jetzt belief ſie ſich auf
180,091,720 Thlr. verzinsliche Staatsſchulden, dazu noch 11,24 Mill.
unverzinsliches Papiergeld und 25,9 Mill. vom Staate übernommene Pro-
vinzialſchulden, insgeſammt 217,248,762 Thlr., etwa ſo viel wie die
Staatseinnahmen von 4¼ Jahren. Den Hauptpoſten der verzinslichen
Schuld bildeten 119,5 Mill. Staatsſchuldſcheine. Dies im Jahre 1810
durch Hardenberg eingeführte Papier wurde ſeit dem 1. Juli 1814 wieder
regelmäßig mit vier von Hundert verzinſt, und es lag im Plane, nach
und nach alle Schuldverſchreibungen des Staates in Staatsſchuldſcheine
umzuwandeln. Bereits waren vierundzwanzig verſchiedene Arten von
Schuldſcheinen, wie ſie die wilde Zeit dem Staate aufgebürdet hatte —
ruſſiſche Bons und polniſche Reconnaiſſancen, rückſtändige Gehaltbons
[72]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
und Lieferungsſcheine, Kalkreuth’ſche Danziger Obligationen u. ſ. w. — in
Staatsſchuldſcheine umgeſchrieben. Man verfuhr dabei mit einer Ehr-
lichkeit, die in der europäiſchen Finanzgeſchichte kaum ihres Gleichen findet.
So hatte König Jerome die mit ſeinen altpreußiſchen Provinzen übernom-
menen Landesſchuldverſchreibungen auf ein Drittel ihres Nennwerthes
herabgeſetzt. Als die Lande dann zu ihrem alten Herrſcher zurückkehrten,
war der Gewaltſtreich längſt verſchmerzt, und Preußen nach Völkerrecht
unzweifelhaft nur verpflichtet, ſeinen Antheil an der weſtphäliſchen Schuld,
wie ſie lag, zu übernehmen; der König aber wollte keinen Makel auf dem
preußiſchen Namen dulden und ließ trotz der Noth der Finanzen die Schuld
wieder nach ihrem vollen Werthe (7,2 Mill.) anerkennen, auch den über-
raſchten Gläubigern die Zinſen für 1814 und 1815 nachzahlen. Und
ſelbſt dieſe That peinlicher Rechtſchaffenheit ward von der verſtimmten
vornehmen Geſellſchaft mit übler Nachrede belohnt; Marwitz polterte, da
habe der Staatskanzler ſeinen Lieblingen, den Wucherern, wieder einmal
ein Geſchenk in den Rachen geworfen.
Der Schulden-Etat geſtand zu, daß nur ein Theil der Staatsſchuld-
ſcheine bereits im Umlaufe, ein anderer für die außerordentlichen Bedürf-
niſſe der nächſten Zukunft noch zurückbehalten ſei, jedoch er verſchwieg die
Höhe dieſer letzteren Summe und — er mußte ſie verſchweigen. Denn
im Januar 1820 hatte der Staat von den 119,5 Millionen Staatsſchuld-
ſcheinen erſt 59,685 Mill. ausgegeben, wovon 4 Mill. bereits wieder ein-
gelöſt waren, er behielt alſo die volle Hälfte, an 60 Mill. noch in der
Hand um die Straßen- und Feſtungsbauten der nächſten Jahre zu be-
ſtreiten und vornehmlich um ſeine ihm ſelber noch unbekannten Schuld-
poſten zu decken. Der veröffentlichte Etat gab nicht eine Ueberſicht über
die wirkliche Schuldenlaſt, ſondern lediglich einen Voranſchlag, wie ihn
Rother mit erſtaunlichem Geſchick, annähernd richtig, aber großentheils
nur nach Vermuthungen aufgeſtellt hatte. Der unbeſchreibliche Wirrwarr
der aus ſo vielen Territorien zuſammengeronnenen Schuldenmaſſe ließ
ſich noch immer nicht ſicher überſehen, und — ſo tief lag der Unter-
nehmungsgeiſt in dieſem verarmten und entmuthigten Geſchlechte darnieder
— ſelbſt die Gläubiger zeigten bei der Abwicklung des Schuldenweſens
eine unbegreifliche Saumſeligkeit; umſonſt ſetzte der Staat wiederholt
Präcluſivtermine für die Anmeldung alter Schuldforderungen, die An-
zeigen liefen niemals vollſtändig ein. Welch eine Arbeit, bis man nur
die Gewißheit erlangte, daß die Staatsſchuld des Herzogthums Sachſen
ſich auf 11,29 Mill. belief; da galt es zunächſt mit der Krone Sachſen,
die ſich begreiflicherweiſe ſehr ungefällig benahm, peinliche Verhand-
lungen zu führen, und dann mußte man noch mit ſieben ſtändiſchen
Körperſchaften abrechnen, denn jeder der ſieben kurſächſiſchen Landestheile
beſaß ſeine eigene Staatsſchuld und außerdem noch einen Antheil an den
Centralſchulden des kleinen Königreichs. Was Preußen von den Central-
[73]Die Staatsſchuldſcheine.
ſchulden des Königreichs Weſtphalen zu übernehmen habe, war noch im
Jahre 1827 nicht genau feſtgeſtellt, da Hannover, Braunſchweig und na-
mentlich der geizige Kurfürſt von Heſſen bei den Unterhandlungen immer
neue Schwierigkeiten erhoben.
In ſolcher Lage mußte die Krone darauf beſtehen, daß ihr noch
einige Jahre lang für die Ausgabe neuer Staatsſchuldſcheine die Hände
frei blieben, wenn die Regelung des Schuldenweſens nicht ins Unab-
ſehbare vertagt werden ſollte; und hierin lag auch der Grund, warum
Hardenberg die Berathung im Plenum des Staatsraths ſo ängſtlich zu
vermeiden ſtrebte. In Nationen von ſtarkem Staatsgefühl und gereifter
volkswirthſchaftlicher Einſicht wird der öffentliche Credit durch die rückhalt-
loſe Aufrichtigkeit der Schuldenverwaltung am beſten geſichert; dies Volk
aber, das an ſeinen neu erſtehenden Staat noch nicht recht glaubte und
jedem abenteuerlichen Gerüchte ſein Ohr lieh, konnte die ganze Wahrheit
noch nicht ertragen. Die volle Hälfte der Staatsſchuldſcheine noch nicht
ausgegeben! — wenn dieſe unerhörte Nachricht durch die Verhandlungen
des Staatsraths auf den Markt hinausgedrungen wäre, dann hätte un-
zweifelhaft ein paniſcher Schrecken die Geſchäftswelt ergriffen, die Kurſe
unaufhaltſam gedrückt und das ganze Reformwerk vereitelt. Tiefe Ver-
ſchwiegenheit war vorderhand unerläßlich, und nachdem man ſich einmal
an die Heimlichkeit gewöhnt hatte, verblieb man leider auch dabei als
ſie längſt nicht mehr nöthig war. Der Nationalökonom Leopold Krug,
der einſt den Freiherrn vom Stein zur Gründung des ſtatiſtiſchen Bureaus
veranlaßt hatte und jetzt unter Hoffmann’s Leitung in dieſer Behörde
thätig war, konnte noch im Jahre 1824 die Erlaubniß zum Drucke ſeiner
Geſchichte der preußiſchen Staatsſchulden nicht erlangen. Erſt zehn Jahre
ſpäter, 1834, wagte die Staatsſchuldenverwaltung zum erſten male einen
Auszug aus ihrem Verwaltungsberichte zu veröffentlichen.
Für die alſo ermittelte Schuldenmaſſe leiſtete der Staat die Gewähr
mit ſeinem geſammten Vermögen, insbeſondere mit den Domänen und
Forſten. Auch für die Verzinſung der Schuld ſowie für die Ausgaben
des Tilgungsfonds, dem der König jährlich ein Procent der gegenwärtigen
Schuldenſumme zuwies, wurden zunächſt die Einkünfte aus den Domänen
und Forſten, der Erlös der Domänenverkäufe und, ſoweit nöthig, der Er-
trag des Salzverkaufes beſtimmt. Die Finanzverwaltung ging jedoch mit
der Veräußerung der Domänen ſehr behutſam vor, obwohl die herrſchen-
den volkswirthſchaftlichen Theorien allen Staatsgrundbeſitz verwarfen. Sie
wußte wohl zu würdigen, welche Erleichterung dem ſo ſchwer beſteuerten
Volke aus dem reichen Grundvermögen der Monarchie erwuchs, und ver-
äußerte in der Regel nur kleine Parzellen, welche vom Staate unverhält-
nißmäßig theuer verwaltet wurden, beim Verkaufe aber, wegen des ſtarken
Wettbewerbes, hohe Preiſe erzielten. Solche Verkäufe und Rentenablö-
ſungen brachten in den Jahren 1821—27 mehr als 13½ Mill. Thlr.,
[74]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
einen jährlichen Zinſengewinn von 354,000 Thlr.; und doch blieb die Haupt-
maſſe des Domanialbeſitzes erhalten, ſein Geſammtertrag ungeſchmälert.*)
Die geſammte Verwaltung des Schuldenweſens wurde einer beſon-
deren Centralbehörde übertragen. Welch ein Aufſehen am Hofe und in
den Kreiſen der alten Bureaukratie, als der König in dieſe „Hauptver-
waltung der Staatsſchulden“ außer dem Präſidenten Rother und drei an-
deren höheren Beamten auch einen titelloſen Kaufmann, David Schickler,
den Chef des großen Berliner Bankhauſes berief; nun war der Staat
doch unzweifelhaft, wie Marwitz immer vorausgeſagt, mit Haut und Haar
den Wucherern verfallen! Die neue Behörde war vollkommen ſelbſtändig
und bezog die ihr gebührenden Einkünfte unmittelbar aus den Provinzial-
kaſſen; unbekümmert um den Finanzminiſter, der noch immer das Deficit
nicht zu bewältigen wußte, konnte Rother die Verzinſung und Tilgung ſo-
fort ſtreng nach dem Plane ins Werk ſetzen. Aber mit dieſem neuen Rade
ließ ſich die ohnehin ſchwerfällige Maſchine der Finanzverwaltung kaum
noch handhaben; die Zerſplitterung der Geſchäfte zwiſchen ſo vielen coor-
dinirten Behörden erinnerte ſchon lebhaft an die chaotiſchen Zuſtände von
1806. Neben dem Finanzminiſter ſtand bereits der Miniſter des Schatzes
Graf Lottum, der ſoeben den Auftrag erhielt alle Erſparniſſe und Mehr-
Einnahmen der laufenden Verwaltung zur Wiederherſtellung des längſt
verſchwundenen fridericianiſchen Staatsſchatzes anzuſammeln; unter dieſem
wieder, doch in Wahrheit ganz ſelbſtändig ſtand Ladenberg mit ſeiner
General-Controle, der unerbittliche Richter über die Staatsausgaben, und
nun nahm die neue Schuldenverwaltung dem unglücklichen Finanzminiſter
auch noch die Domanialeinkünfte vorweg.
Kein Wunder, daß Klewiz für das Gleichgewicht des Etats nicht ein-
zuſtehen, der Staatskanzler die alte Sünde ſeines Beamtenthums, den
Streit der Departements kaum noch zu bändigen vermochte. Und leicht
war es wahrlich nicht, mit Rother’s unaufhaltſamem Amtseifer ſich zu ver-
tragen. Wie der böſe Feind war er dahinter her, wenn irgendwo in
einem Winkel der Monarchie eine fiscaliſche Servitut abgelöſt wurde;
jeden Thaler aus ſolchem Erlös verlangte er für ſeine Verwaltung, da
ja das geſammte Staatsvermögen für die Staatsſchuld hafte; für jeden
Gehaltsbon der alten ſüdpreußiſchen Beamten forderte er erſt weitere Be-
lege. Einmal wendete ſich das geſammte Staatsminiſterium klagend an
den Kanzler: das Ehrgefühl der Regierungen werde verletzt, wenn ſie den
Befehlen der Staatsſchuldenverwaltung untergeordnet blieben. Harden-
berg aber entſchied: „nicht die Perſonen ſind zu ehren, ſondern das Ver-
trauen des Monarchen, der vor den Augen der ganzen Nation einen
wichtigen Theil der Verwaltung in ihre Hände gelegt hat.“ So in be-
[75]Schließung der Staatsſchuld.
ſtändigem Kampfe mit den anderen Behörden richtete ſich Rother ſeinen
Wirkungskreis ein, und er erreichte, daß die Schuldenverwaltung ihren
Verpflichtungen mit höchſter Pünktlichkeit nachkam, während in den Jahres-
budgets des Finanzminiſters die Unordnung noch lange fortwährte.*)
Die Börſe nahm den Schulden-Etat wider Verhoffen freundlich auf;
die Kurſe hielten ſich auf ihrem alten Stande, da man in der Geſchäfts-
welt nach allen den giftigen Gerüchten der letzten Wochen noch ſchlimmere
Enthüllungen erwartet hatte. Gleichwohl blieb der Credit des Staates
noch immer ſehr unſicher und empfindlich. Als im Sommer 1820 dreißig
Millionen von den zurückbehaltenen Staatsſchuldſcheinen ausgegeben werden
ſollten, durfte Rother nicht wagen die Papiere einfach an der Börſe zu
verkaufen; die Kurſe wären ſonſt zu tief geſunken. Er veranſtaltete viel-
mehr mit Hilfe einiger deutſchen Bankhäuſer eine Prämienlotterie und
brachte alſo, die Kursdifferenzen geſchickt benutzend, unter günſtigen Be-
dingungen 27 Millionen Staatsſchuldſcheine im Publicum unter. Noch im
Jahre 1822 konnte eine neue Ausgabe von 24,5 Millionen Staatsſchuld-
ſcheinen nur dadurch bewirkt werden, daß man die Scheine durch Ver-
mittlung der Seehandlung bei Rothſchild in London verpfändete und der
König perſönlich einen Schuldſchein über 3,5 Mill. £ unterſchrieb. Im
Ganzen ſind nie mehr als 115 Mill. Staatsſchuldſcheine ausgefertigt wor-
den, und dieſe waren niemals ſämmtlich im Umlauf. Es währte noch
lange bis die verrufenen preußiſchen Papiere ſich wieder einiges Anſehen
errangen. Seit 1820 wurden die Staatsſchuldſcheine in Leipzig, ſeit 1824
auch in Hamburg und Frankfurt regelmäßig gehandelt und im Börſen-
Kurszettel notirt. Im Jahre 1821 ging der Kurs wieder bis auf 66 herab;
dann begann die Beſſerung, 1825 hielt er ſich längere Zeit auf 90—91;
aber gleich darauf trat in Folge der Handelskriſis abermals ein Sinken
ein, erſt 1828 wurde der frühere Stand wieder erreicht, und im De-
cember 1829 konnte Rother dem Könige triumphirend melden, daß die
Noth überſtanden und der Pari-Kurs geſichert ſei.
Durch die Schließung der Staatsſchuld ward auch die ſeit Jahren
leidenſchaftlich erörterte ſogenannte Peräquationsfrage endlich entſchieden.
Das verheißungsreiche Finanzedikt von 1810 hatte auch die Ausgleichung
aller Kriegsſchulden der Provinzen verſprochen, indeß ergab ſich bald die
Unausführbarkeit dieſer Zuſage. Im Drange der Noth hatte jeder Lan-
destheil ſeine Kriegsſchäden nach ſeiner eigenen Weiſe, oft ſehr willkürlich,
abgeſchätzt; wo fand ſich ein Maßſtab um dieſe Rechnungen in Einklang zu
bringen? Und durfte man die Rheinländer, die Polen, die Kurſachſen, die
ſich noch nicht als Preußen fühlten und ſchon die allgemeine Staatsſchuld
wie eine aufgedrungene fremde Laſt betrachteten, aufs Neue erbittern, da
[76]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
die Ausgleichung doch allein den ſchwer heimgeſuchten alten Landen zu
gute gekommen wäre? Es blieb nichts übrig als das unbedachte Ver-
ſprechen zurückzunehmen und alle eigentlichen Communalſchulden, mit ein-
ziger Ausnahme der franzöſiſchen Contributionsgelder, den Provinzen und
Gemeinden zu überlaſſen.*) Den Communen der weſtlichen Provinzen
wurde im Jahre 1822 die planmäßige Tilgung ihrer Schulden und die
Nachzahlung der Rückſtände geſetzlich anbefohlen. Nur ausnahmsweiſe,
aus Billigkeitsgründen übernahm der Staat noch 7,9 Mill. Thlr. ſolcher
Kriegsſchulden für einige gänzlich hilfloſe Landestheile: die Kur- und Neu-
mark, Oſtpreußen und Litthauen; davon entfiel 1,1 Mill. auf das un-
glückliche Königsberg — ein Tropfen auf einen heißen Stein. Ganz
eigene Schwierigkeiten bot die Ordnung des Danziger Schuldenweſens. Die
Stadt hatte in den ſieben Jahren ihrer republikaniſchen Selbſtändigkeit
eine Schuld von beinahe 12 Mill. Thlr. aufnehmen müſſen, ihre Obli-
gationen ſtanden auf 33⅓, und Niemand wußte zu ſagen, wie viel von
jener Summe als Staatsſchuld, wie viel als Communalſchuld zu be-
trachten ſei. Die Gemeinde war gänzlich verarmt, der preußiſche Staat
aber konnte unmöglich zum Beſten einer einzigen Stadt ſeine Staats-
ſchuld um den zwanzigſten Theil vermehren. So entſchloß man ſich denn,
in dieſem einen Falle von dem Grundſatze der unbedingten Anerkennung
aller Staatsſchulden abzugehen. Die Danziger Schuld wurde, dem Bör-
ſenkurſe entſprechend, auf ein Drittel ihres Nennwerthes herabgeſetzt; für
die Verzinſung und Tilgung zahlte das Gebiet des ehemaligen Freiſtaats
30,000 Thlr., der preußiſche Staat aber den ganzen Ueberſchuß, den er
aus dieſem Gebiete bezog, 115,000 Thlr. jährlich.
Alles in Allem betrug die Staatsſchuld im Jahre 1822 etwa 20 Thlr.,
ihre Verzinſung etwa 25 Sgr. auf den Kopf der Bevölkerung, wahrlich
keine leichte Laſt für ein armes Volk. Aber ſie ward ertragen. Bis zum
Jahre 1848 wurden 173½ Mill. Zinſen gezahlt, 80½ Mill. vom Ka-
pital getilgt und daneben noch der neue Staatsſchatz angeſammelt, der
im Jahre 1835 über 40 Mill. enthielt. —
Faſt noch wichtiger als der finanzielle war der politiſche Inhalt des
Staatsſchuldengeſetzes, das nach Hardenberg’s Anſicht nicht blos die Ord-
nung im Staatshaushalte wieder herſtellen, ſondern auch den Abſchluß
des Verfaſſungskampfes ſichern ſollte. Im dritten Artikel der Verord-
nung ſtand hinter der Beſtimmung, daß der Staat mit allen ſeinen Do-
mänen für die Schuld Gewähr leiſte, der unſcheinbare Zuſatz: „mit Aus-
nahme der Domänen, welche zur Aufbringung des jährlichen Bedarfs von
2,5 Mill. für den Unterhalt der königlichen Familie erforderlich ſind.“
Mit dieſem beiläufigen Satze vollzog ſich eine folgenreiche Veränderung
des preußiſchen Staatsrechts. Die Krone hatte bisher die Bedürfniſſe
[77]Die Staatsſchuld und die Reichsſtände.
des Hofhalts nach freiem Ermeſſen aus den Domanialeinkünften beſtritten;
jetzt ſchrieb ſie ſich ſelber ein unüberſchreitbares Jahreseinkommen vor,
eine beſcheiden bemeſſene Summe, die nur bei knapper Wirthſchaft aus-
reichte, da die Ausgaben des Hofes durch die Erwerbung der neuen Pro-
vinzen beträchtlich geſtiegen waren. Der abſolute König bezog alſo fortan,
gleich den conſtitutionellen Fürſten, eine geſetzliche Civilliſte; indeß wurde
der verrufene moderne Name vermieden und das königliche Einkommen
nicht wie in mehreren der ſüddeutſchen Staaten blos für die Lebenszeit
des Landesherrn, ſondern ein- für allemal feſtgeſtellt, was der Würde des
Thrones beſſer entſprach. Die Prinzen erhielten auch keine Apanagen vom
Staate, ſondern der König blieb, den Traditionen der Hohenzollern ge-
mäß, das unbeſchränkte Oberhaupt des königlichen Hauſes, er beſtimmte
den Mitgliedern der Dynaſtie ihr Einkommen nach alten Vorſchriften und
Teſtamenten, die als Familiengeheimniß behandelt wurden. Damit ward
ein ſchweres Hinderniß der Verfaſſung aus dem Wege geräumt, da Fried-
rich Wilhelm ſo unziemliche Verhandlungen, wie ſie der badiſche Landtag
über das Einkommen des Fürſtenhauſes geführt, nie ertragen hätte, und
zugleich den künftigen Reichsſtänden ein wirkſames Recht gewährt; denn
ohne deren Genehmigung durfte die Krone fortan die zur Verzinſung
und Tilgung der Staatsſchuld beſtimmten Domanialeinkünfte nicht mehr
ſchmälern.
Das ganze Schuldenweſen ſollte künftighin den Reichsſtänden unter-
geordnet werden; nur unter ihrer Mitgarantie, ſo verſprach der Artikel 2,
konnte der König neue Anleihen aufnehmen. Bis ins Einzelne wurden
die Rechte der reichsſtändiſchen Verſammlung im Voraus beſtimmt. Die
Schuldenverwaltung erhielt den Auftrag, den Reichsſtänden jährlich Rechen-
ſchaft abzulegen; ſchied eines ihrer Mitglieder aus, ſo hatten die Reichs-
ſtände dem Könige drei Candidaten zu bezeichnen. Einſtweilen ſollte der
Staatsrath dieſe ſtändiſchen Rechte ausüben; zur Aufbewahrung der ein-
gezogenen Obligationen aber wurde vorläufig, bis zur Einberufung des
allgemeinen Landtags, eine Deputation des Berliner Magiſtrats hinzu-
gezogen — eine Vorſchrift, die, ſeltſam und willkürlich wie ſie war, offen-
bar nur als Nothbehelf für kurze Zeit dienen ſollte. Alle dieſe Zuſagen
hatte der König unbedenklich genehmigt. Der Staatskanzler glaubte ſich
ſchon faſt am Ziele ſeiner Wünſche. Nach allen dieſen neuen Verhei-
ßungen ſchien die Vollendung der Verfaſſung unausbleiblich, und mit
ſchwerem Herzeleid betrachtete der Badener Berſtett, der Getreue Metter-
nich’s, dies unglückliche Edikt, das ſo ſchlimme Mißdeutungen veranlaſſen
müſſe.*) Wohl war es ein gefährliches Wagniß, daß Hardenberg wieder
wie ſo oft ſchon das königliche Wort für eine unbekannte Größe verpfändete,
die Rechte der Krone zu Gunſten eines Reichstags, der noch gar nicht
[78]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
beſtand, im Voraus beſchränkte. Indeß er hoffte jetzt beſtimmt den allge-
meinen Landtag ſchon in Jahresfriſt zu eröffnen, und bis dahin konnte
man eine neue Anleihe ſicher vermeiden; ſelbſt wenn ein Krieg über Nacht
hereinbrach, beſaß der Staat noch einen Nothpfennig an den zurückbe-
haltenen Staatsſchuldſcheinen. Die Zuſage der ſtändiſchen Mitwirkung
war auch durch finanzielle Rückſichten geboten; denn nur darum fand das
Schulden-Edikt bei der Geſchäftswelt eine ſo günſtige Aufnahme. Selbſt
Rother, der keineswegs zu den liberalen Parteimännern gehörte, erklärte
offen, ohne Reichsſtände könne der öffentliche Credit nicht mehr auf die
Dauer geſichert werden.
Die Hoffnungen der Verfaſſungsfreunde begannen ſich wieder zu be-
leben. Marwitz aber meinte, durch die neue Civilliſte und den Verkauf
der Domänen verliere der König ſeine Wurzel im Staate, während um-
gekehrt der liberale Schön klagte, ſeit der Errichtung des Kronfideicommiſſes
ſei der Monarch nur noch der erſte der Landjunker. Nach der Anſicht
des Führers der brandenburgiſchen Adelspartei hätte man einfach die
Staatsſchuld auf ein Drittel oder ein Zehntel ihres Nennwerthes herab-
ſetzen ſollen, da die Zinſen doch nur den Wucherern den Beutel füllten.
Und zu allem Unheil vollzog der Staatskanzler gleichzeitig mit dem Schul-
den-Edikte den längſt vorbereiteten nothwendigen Eingriff in die ſtändi-
ſchen Inſtitutionen Brandenburgs. Da der Staat mit der geſammten
Staatsſchuldenmaſſe auch die alte bisher von den Ständen der Kurmark
verwaltete brandenburgiſche Staatsſchuld wieder ſelbſt übernahm, ſo wurde
die kurmärkiſche Landſchaft mitſammt ihren Biergelds-, Hufen- und Gie-
belſchoßkaſſen von Rechtswegen aufgehoben. „Die ſonſtigen ſtändiſchen
Verhältniſſe“, erklärte der König, ſollten dadurch nicht berührt, ſondern
ſpäter auf Grund der Verordnung vom 22. Mai neu geregelt werden.
Als die Ritterſchaft in einer höchſt unehrerbietigen Vorſtellung ihre an-
geblich verletzten Rechte verwahrte, ertheilte ihr der Monarch eine ſcharfe
Rüge. Der Oberpräſident nahm das Berliner Landhaus in Beſitz; die
Führer der Ritterſchaft verweigerten jede Mitwirkung, Allen voran der
alte Miniſter Voß-Buch. Alſo erſchien Hardenberg wieder, wie vor neun
Jahren, als der rückſichtslos entſchloſſene Bändiger des märkiſchen Adels.
Friedrich Buchholz aber, der früher die Herrlichkeit märkiſcher Stände-
freiheit geprieſen, hielt nunmehr für zeitgemäß, in der „Neuen Monats-
ſchrift für Deutſchland“ zu beweiſen, daß die Wiederherſtellung der alten
Zuſtände unmöglich ſei; nur eine wirkliche Volksvertretung könne der neuen
Zeit genügen.
Auch der ſtändiſche Partikularismus der rheiniſch-weſtphäliſchen Edel-
leute begegnete kalter Ablehnung. Sie waren vor Kurzem von dem
Juſtizminiſter abgewieſen worden, als ſie um Wiederherſtellung des privi-
legirten Gerichtsſtandes baten. Jetzt beſchwerten ſich die Stände der
Grafſchaft Mark, an ihrer Spitze abermals der raſtloſe Bodelſchwingh-
[79]Die Seehandlung.
Plettenberg, über die neuen Steuern und verlangten „Fixation der Steuern
für die Grafſchaft Mark, um dadurch den unſeligen Immoralitäten, dem
Untergange ſo vieler Familien und des Bodenbaues, ja dem Verfall der
ganzen Provinz vorzubeugen“. Den Einwand, daß die Fixation der
Branntweinſteuer ohne Abſperrung der Provinz ſich nicht durchführen
laſſe, beſeitigten ſie mit der einfachen Verſicherung, bei den hohen Ge-
treidepreiſen der Grafſchaft ſei Branntweinausfuhr dort „nie gedenkbar“.
Der König erwiderte, er könne nicht eingehen auf „den Antrag, den Sie
in Gemeinſchaft mit einigen andern Gutsbeſitzern und Städtebewohnern
der Grafſchaft Mark an Mich haben gelangen laſſen“, und ermahnte,
„die Opfer darzubringen, welche die Nothwendigkeit und das Wohl des
gemeinſamen Vaterlandes erfordern“. Darauf eine neue Eingabe: „ſchmerz-
haft war es, hier zum erſten Male unſere Eigenſchaft als Stände beſeitigt
zu ſehen.“ Der Staatskanzler blieb unerſchütterlich und ſtellte endlich, wie
früher erzählt, am 10. Mai den allgemeinen Grundſatz auf: der Staat er-
kenne die von der Fremdherrſchaft aufgehobenen Stände nicht mehr an.*)
So ſchien denn der altſtändiſchen Bewegung wieder der feſte Wille
der Majeſtät des Staats entgegenzutreten. Auch das unſelige Mißtrauen,
das Metternich’s und Wittgenſtein’s Einflüſterungen in der Seele des
Monarchen erweckt, verſchwand zu Zeiten. Als die Berliner Stadtver-
ordneten einen großen Verein zu bilden dachten, der durch freiwillige Bei-
träge die Staatsſchuld abtragen ſollte, lehnte der König (2. März) das
naive Anerbieten als unnöthig ab und dankte gerührt: „ich weiß, daß ich
auf die ſtandhafte Ergebenheit meiner treuen Unterthanen, wie ſie ſolche
in der jüngſt verfloſſenen Zeit zum unſterblichen Ruhme des preußiſchen
Namens gegen mich und das Vaterland bewieſen haben, mit Vertrauen
und Zuverſicht zählen kann.“ Die hellen herzbewegenden Klänge aus
dem Jahre 1813 tönten wieder in die verſtimmte und verbitterte Zeit
hinein. —
An dem nämlichen Tage, da die Staatsſchuld geſchloſſen wurde,
erhielt die ganz verfallene fridericianiſche Seehandlung eine neue Ver-
faſſung. Sie ſollte fortan als ein unabhängiges Bankhaus, unter Ge-
währleiſtung der Krone, die Geldgeſchäfte des Staates beſorgen und ihn
bei ſeinen Credit-Operationen unterſtützen. Da Rother an ihre Spitze
geſtellt wurde, ſo leiſtete ſie, mit der Staatsſchuldenverwaltung zuſammen-
wirkend, erſprießliche Dienſte bei der Aufnahme der ausländiſchen An-
leihen. Die überſeeiſchen Handelsgeſchäfte, welche ſie bald nachher wieder
begann, erwieſen ſich ebenfalls als vortheilhaft, ſo lange die Rheder und
Kaufleute ihren Unternehmungsgeiſt noch nicht wiedergefunden hatten.
Ihre Schiffe waren die erſten, welche die preußiſche Flagge um die Erde
[80]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
trugen, während vordem die Fahrzeuge der deutſchen Oſtſeehäfen nur
ſelten einmal über Bordeaux und Liſſabon hinausgelangten; ſie eröffnete
den Webern des Rieſengebirges zuerſt den wichtigen Markt der ſüdameri-
kaniſchen Kolonien, und da ihre Matroſen der Militärfreiheit genoſſen,
ſo erhielt ſie dem Lande einen Stamm von erprobten einheimiſchen See-
leuten. Die Schattenſeiten dieſes Staatsbetriebs zeigten ſich erſt in einer
ſpäteren Zeit, als Rother, ſeiner Erfolge froh, eine ganze Reihe ver-
ſchiedenartiger landwirthſchaftlicher und induſtrieller Unternehmungen für
die Seehandlung erworben hatte.
Während alſo für die Herſtellung des Staatscredits geſorgt wurde,
begann auch die Preußiſche Bank ſich von ihrer Zerrüttung langſam zu
erholen. Wie glänzend hatte dieſe Schöpfung Friedrich’s des Großen einſt
dageſtanden in dem behaglichen Jahrzehnt nach dem Baſeler Frieden.
Aber ihre Blüthe war immer nur ſcheinbar. Unter der gedankenloſen Leitung
Schulenburg-Kehnert’s hatte die Bank ihren eigentlichen Zweck, die Unter-
ſtützung des Handels durch Vorſchüſſe und die Beförderung des Geldum-
laufs, ganz aus den Augen verloren und ſich in eine große Sparkaſſe
verwandelt, welche die Kapitalien der Waiſen und milden Stiftungen auf-
nahm, um ſie an die Grundbeſitzer, vornehmlich in den polniſchen Landes-
theilen auszuleihen. Als Stein kurz vor dem Kriege von 1806 das
Finanzminiſterium übernahm, erkannte er ſofort die Gefahr und verbot
der Bank, ihr Kapital hypothekariſch feſtzulegen. Zu ſpät. Der Krieg
brach aus, die polniſchen Provinzen ſtanden auf und mit einem Schlage
fiel der Credit der Bank zuſammen. Dann folgte noch der ruchloſe Ge-
waltſtreich der Bayonner Convention: Napoleon raubte — dem Art. 25
des Tilſiter Friedens offenbar zuwider — die auf den polniſchen Gütern
haftenden Schuldforderungen der öffentlichen Anſtalten Preußens und ver-
kaufte ſie der ſächſiſch-polniſchen Regierung. Die Bank verlor an 10 Mil-
lionen, volle zwei Fünftel ihrer geſammten Activmaſſe, namenloſes Elend
brach über ihre Gläubiger herein. Jahrelang mußte ſie ihre Zinszah-
lungen einſtellen und ward überdies von der bedrängten Staatsgewalt
noch nach 1815 mehrmals zu Vorſchüſſen genöthigt. Erſt am 3. Nov.
1817 wurde die Bank, auf Rother’s Rath und gegen Bülow’s Wider-
ſpruch, von der Finanzverwaltung abgetrennt und als eine ſelbſtändige
Creditanſtalt unter der Aufſicht des Staatskanzlers und eines Curatoriums
neu geordnet. Aber wie hoffnungslos ſchien die Lage. Die ſeit der Kata-
ſtrophe überaus nachläſſig geführten Bücher wieſen einen Ueberſchuß von
920,000 Thlr. nach. In Wirklichkeit beſtand ein Deficit von 7,192 Mill.;
denn die Bank hatte über 26 Mill. Schulden zu verzinſen, und von
reichlich 27 Mill. Forderungen mußten, wie ſich nach und nach heraus-
ſtellte, 8 Mill. als völlig werthlos abgeſchrieben werden, im Augenblicke
trugen ſogar 15¼ Mill. keinen Zins. Alle Welt erwartete, die nächſten
Jahre würden nur zu einer anſtändigen Liquidation benutzt werden.
[81]Preußiſche Bank. Frieſe.
Nur der neue Bankpräſident Frieſe verzweifelte nicht. Einer der
freieſten Köpfe aus Schrötter’s oſtpreußiſcher Beamtenſchule, hatte Frieſe
einſt unter Stein, unter Dohna, unter Hardenberg faſt bei allen Ver-
waltungsreformen mitgewirkt, nachher als Mitglied von Stein’s Central-
verwaltung die deutſchen Kleinſtaaten genau kennen gelernt, dann wäh-
rend der Occupation das verwickelte Finanzweſen des Königreichs Sachſen
geleitet und ſoeben endlich die ſchwierige Auseinanderſetzung mit dem
Dresdener Hofe zu Stande gebracht. Obwohl er nicht zu Hardenberg’s
engerem Kreiſe gehörte, ſtand er doch den conſtitutionellen Plänen des
Kanzlers unter allen hohen Beamten am nächſten; er hoffte mit Zuver-
ſicht auf das politiſche und wirthſchaftliche Erſtarken des Bürgerthums,
das er als den Kern der Nation betrachtete, und wollte an ſeinem Theile
bei dieſem großen Umſchwung mitwirken; er traute ſich’s zu, dieſe ver-
kommene Bank ihrem urſprünglichen volkswirthſchaftlichen Berufe zurück-
zugeben. Bei einiger Kühnheit hätte der Staat wohl wagen können, die
Bank mit einem Stammkapitale, das ihr immer gefehlt hatte, auszuſtatten,
aber das Mißtrauen gegen ihre Lebenskraft war noch unüberwindlich, und
eine Erhöhung der Staatsſchuld ſchien nicht rathſam. Die Bank wurde
alſo vollſtändig von dem Finanzminiſterium abgeſondert, zwar durch Staats-
beamte verwaltet, doch ausſchließlich auf ihre eigenen Mittel angewieſen;
und nun galt es, ein Menſchenalter hindurch ohne eigenes Vermögen zu
wirthſchaften, mit einem Deficit, das dem Publikum ſtreng verborgen
bleiben mußte, denn die Enthüllung des wirklichen Zuſtandes ihrer ſoge-
nannten Activa wäre, in dieſen erſten Jahren mindeſtens, ihr ſicherer
Untergang geweſen.
Frieſe ließ ſofort das geſchloſſene Lombardgeſchäft wieder eröffnen,
knüpfte mit der neuen Corporation der Berliner Kaufmannſchaft, die ſo-
eben (1820) an der Stelle der beiden altväteriſchen Kaufmannsgilden
entſtanden war, Geſchäftsverbindungen an, ließ in den Provinzen nach
und nach neun Bankcontore und Commanditen errichten; er beſchränkte
ſich weſentlich auf bankmäßige Geſchäfte, Depoſiten, Lombards, Wechſel-
discontirung, ſo daß die Bank ihre Forderungen jederzeit leicht realiſiren
konnte, und wahrte ihr ſtreng den Charakter einer Handelsanſtalt. Da
die Seehandlung die Creditgeſchäfte des Staates zu beſorgen hatte, ſo
verweigerte die Bank dem Finanzminiſter grundſätzlich jeden Vorſchuß und
ſtand mit ihm nur dadurch in Verbindung, daß ſie zur Verſtärkung ihrer
Baarvorräthe die Einziehung der Ueberſchüſſe aus den Staatskaſſen über-
nahm. Der Erfolg dieſes neuen, klug und gewiſſenhaft geleiteten kauf-
männiſchen Verkehrs übertraf alle Erwartungen. Der Geſchäftsumſatz
der Bank, der im Jahre 1818 noch nicht 44 Millionen betragen hatte,
überſtieg im Jahre 1829 bereits 232 Millionen; in derſelben Zeit hob
ſich ihr Baarvorrath von 938,000 Thlr. auf 5,3 Millionen und die Ge-
ſammtſumme ihrer leicht realiſirbaren Activa von etwas über 1 Mill.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 6
[82]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
auf nahezu 13 Millionen. Die Unfertigkeit der verkommenen volkswirth-
ſchaftlichen Zuſtände ward ihr freilich oft fühlbar. Ueberall in dem ver-
armten Europa ſtand der Disconto ſehr hoch, bis auf 10 Procent, und
kaum irgendwo ſprang er ſo plötzlich auf und nieder wie in Berlin, da
die Bank durch die Armſeligkeit ihrer Mittel gezwungen wurde, ſich vor-
ſichtig geſchloſſen zu halten. Im Jahre 1821 ſchwankte ihr Discont zwi-
ſchen 3 und 8, zuweilen in wenigen Tagen um 2 bis 3 Procent; erſt
ſechs Jahre ſpäter war ſie ſo weit erſtarkt, daß ſie ſich ſelber einen un-
überſchreitbaren höchſten Discontoſatz vorſchreiben konnte.
Noch im Jahre 1824 erboten ſich die Rothſchilds und einige andere
große Firmen unter ſehr verlockenden Bedingungen, ein Actienunternehmen
an der Stelle der preußiſchen Bank zu gründen; der König aber wurde
durch Niebuhr über die Hintergedanken der Bankiers aufgeklärt und ver-
warf den Plan, obgleich Wittgenſtein und Bülow ſich lebhaft dafür ver-
wendeten. Nach und nach begann auch die Meinung der kaufmänniſchen
Welt dem verrufenen Inſtitute günſtiger zu werden, da ſich ſein neuer
Geſchäftskreis zum Segen des Handels beſtändig erweiterte, und man
hielt die Bank bereits für gerettet. In Wahrheit ſtand Alles anders.
Derweil der neue Verkehr ſo günſtigen Fortgang nahm, mußte Frieſe in
aller Stille die verworrene Schuldenmaſſe aus dem „alten Verkehr“ der
napoleoniſchen Zeiten abtragen — eine verzweifelte Arbeit, die jeden Ge-
winn des neuen kaufmänniſchen Geſchäfts unerbittlich verſchlang und die
Bank aus einer Bedrängniß in die andere ſtürzte. Zwar die Bayonner
Convention war auf dem Wiener Congreſſe durch einen preußiſch-ruſſiſchen
Vertrag förmlich aufgehoben worden. Aber wie nun die 10 Millionen
Schulden eintreiben von den Grundherren des vormaligen Herzogthums
Warſchau, die faſt alleſammt weder zahlen konnten noch wollten? Schon
in Poſen und Weſtpreußen konnte Frieſe ſeine Forderungen nur unter
ſchweren Verluſten durchſetzen, ſelbſt die Zwangsverſteigerung fruchtete
nichts; da ſich in den armen Landſchaften keine Käufer fanden, ſo blieb
nichts übrig, als einen Theil der verſchuldeten Güter für die Bank ſelbſt
zu übernehmen und ſie zu gelegener Zeit zu veräußern. Nun gar im
Königreich Polen: welch ein endloſer Streit mit feindſeligen Schuldnern,
feilen Gerichten und betrügeriſchen Anwälten! Die neue polniſche Regie-
rung zeigte ſich dabei faſt ebenſo böswillig wie einſt die ſächſiſch-war-
ſchauiſche. Auch hier mußte Frieſe große Gütercomplexe für die Bank
ankaufen und ſchließlich noch froh ſein, als er im Mai 1830 den unwill-
kommenen, koſtſpieligen Beſitz um einen lächerlichen Preis an die polniſche
Regierung wieder verkauft hatte; denn unmittelbar nachher ward das
unglückliche Polen durch einen neuen Aufſtand abermals zerrüttet.
Unter ſolchen Umſtänden gelang es zwar mit der äußerſten Anſtren-
gung bis zum Jahre 1828, die Schulden aus dem alten Verkehr bis auf
2 Mill. gänzlich abzutragen, aber das wirkliche Deficit der Bank betrug,
[83]Der neue Etat.
als Frieſe ſtarb, zu Anfang 1837 noch immer reichlich 4¾ Mill., war
mithin erſt um kaum 2½ Mill. vermindert. Auch an Mißgriffen hatte
es nicht gefehlt, da die Bank um jeden Preis Gewinn erzielen mußte und
darum eine Zeit lang einen Metall- und Papierhandel betrieb, der ihrer
Beſtimmung nicht entſprach. Immerhin waren die Dinge in gutem Gange,
ſeit ſie ſich der unglücklichen polniſchen Güter entledigt hatte, und es
bleibt Frieſe’s Verdienſt, daß dieſe Bank, die älteſte in Europa nach der
engliſchen und der Hamburger, allein durch ihre eigene Kraft ſich aus
hoffnungsloſem Verfalle wieder emporhob, während ſo viele andere rings
umher ſchwächeren Stürmen erlagen. —
Nunmehr begann der zweite ſchwierigere Act der Reformarbeit. Har-
denberg hatte den Jahresbedarf durch Rother und andere Finanzmänner
wiederholt prüfen laſſen und nach mehrfachen Streichungen ſchließlich die
Ueberzeugung gewonnen, daß der Staat mit weniger als 56 Millionen
ſeine regelmäßigen Ausgaben nicht decken könne; dies ergab ein wahr-
ſcheinliches Deficit von 12 oder, wie Rother annahm, von 9 Mill.*) Eine
ſolche Belaſtung ſeines armen Volkes wollte der König jedoch nimmermehr
dulden; er berief daher im December 1819 auf Witzleben’s Vorſchlag
eine neue Commiſſion, der auch der geſtrenge Ladenberg angehörte, und
dieſe ſtrich dann unbarmherzig Alles, was nur irgend entbehrlich ſchien.
Die Geſammtkoſten des auswärtigen Amtes wurden auf 600,000 Thlr.
beſchränkt. Die Repräſentationsgelder der Diplomatie ſanken bis unter
die Grenzen des Anſtandes herab, und viele Jahre hindurch geſchah es
nur ganz ſelten, daß einmal ein preußiſcher Geſandter einen Kurier ab-
zuſenden wagte; alle eiligen Briefſchaften wurden regelmäßig durch die
Kabinetskuriere befreundeter Mächte oder durch zuverläſſige Reiſende be-
fördert. Die Heeresausgaben bis auf 23 Mill. herabzuſetzen, übernahm
der König ſelbſt; er beſeitigte nicht nur eine Reihe überflüſſiger Poſten —
ſo auf den eigenen Antrag des Gouverneurs Gneiſenau den Aufwand
für das Berliner Gouvernement —, er ließ ſich auch durch ſeine landes-
väterliche Gewiſſenhaftigkeit zu manchen Abſtrichen verleiten, welche die
Schlagfertigkeit des Heeres ſchädigen mußten. Vergeblich warnte der
treue Witzleben.**) Der Kriegsminiſter Hacke blieb für ſolche Mahnungen
taub; geſchmeidig fügte er ſich in die Herabſetzung des Servis und der
Rationen und verſprach ſogar die Rekruten künftighin etwas ſpäter ein-
ſtellen zu laſſen. Alſo ward einer der Pfeiler der neuen Heeresverfaſſung,
die dreijährige Dienſtzeit ſchon unmerklich erſchüttert, und man näherte
ſich wieder jenem Syſteme falſcher Sparſamkeit, das ſich einſt bei Jena
ſo furchtbar beſtraft hatte. Während in den neuen Provinzen alle Welt
6*
[84]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
über Friedrich Wilhelm’s unſinnige militäriſche Verſchwendung klagte, wurde
im königlichen Cabinet das knapp bemeſſene Budget durch neue Strei-
chungen, die zur vollen Hälfte auf die Heeresausgaben fielen, nochmals
um 5 Mill. herabgebracht und der Ausgabeetat gleichzeitig mit dem
Schuldenetat für geſchloſſen erklärt.
Eine Cabinetsordre vom 17. Januar zeigte dem Staatsminiſterium
an, daß die Ausgaben für 1820 die Summe von 50,863,150 Thlr. nicht
überſchreiten dürften; durch Verminderung der Beamtenſchaar an den
Centralſtellen hoffte der König noch weitere Erſparniſſe zu bewirken. Nach
Abzug von reichlich 10 Mill. für die Staatsſchuld betrugen mithin die
Jahresausgaben für die eigentliche Staatsverwaltung 40,7 Mill., gegen
26 Mill. im Jahre 1805. Rechnete man aber zu den 51 Mill. die im
Voraus abgezogenen Sporteln und Steuererhebungskoſten hinzu, des-
gleichen die Rente für das königliche Haus ſowie die Beiträge der Pro-
vinzen und Communen für Staatszwecke, ſo ergab ſich ein Geſammt-
Aufwand von faſt 70 Mill., das will ſagen: 5 Thlr. 25 Sgr. für den
Kopf der mittlerweile auf 12 Mill. gewachſenen Bevölkerung. Der Druck
war hart; denn wie tief war der Volkswohlſtand in dieſen fünfzehn Jahren
herabgekommen! Aber wie mächtig hatte ſich auch die Thätigkeit des
Staates ſeitdem erweitert; was that er jetzt allein für die ſonſt ſo küm-
merlich behandelten Unterrichtsanſtalten! Mit dieſen Leiſtungen verglichen
erſchien die Summe der Ausgaben ſehr beſcheiden und nur bei ſtrengſter
Sparſamkeit genügend. Zugleich befahl der König den Etat fortan alle
drei Jahre zu veröffentlichen, damit Jedermann ſich ſelber von der Noth-
wendigkeit der Abgabenlaſt überzeugen könne. Damit wurde, zur Freude
der Verfaſſungspartei, wieder eine der weſentlichen Inſtitutionen des con-
ſtitutionellen Staatsrechts eingeführt. Endlich erhielt das Miniſterium
den Auftrag, auf Grund des Etats die Steuergeſetz-Entwürfe binnen vier-
zehn Tagen zu begutachten; dann ſollte die Schlußberathung im Staats-
rathe ſtattfinden.
Das Staatsminiſterium war ſeit Humboldt’s Sturz ſehr kleinlaut
geworden und wagte keinen entſchiedenen Widerſpruch; der einzige grund-
ſätzliche Gegner der Steuergeſetze, Bülow ſtand hier wie ſchon in der
Steuercommiſſion ganz vereinſamt. Dagegen erhob ſich im Staatsrathe
eine erbitterte Oppoſition, die ihre Angriffe nicht blos wider die anfecht-
baren Stellen der Entwürfe richtete, ſondern die Nothwendigkeit des ganzen
Reformwerks bezweifelte. Seit nunmehr ſieben Jahren wurde die Finanz-
verwaltung ohne einen genauen Etat geführt. Dies in Preußen uner-
hörte Schauſpiel hatte manchen wackeren Beamten tief verſtimmt, die
unſinnigen Märchen, die im Volke umliefen, bis in die Reihen des Staats-
rathes hinein verbreitet. Zudem fühlte ſich die höchſte berathende Behörde
der Monarchie in ihrer Amtsehre beleidigt. Sie ſollte, nach dem recht-
lich unanfechtbaren Befehle des Königs, lediglich über die Steuergeſetze
[85]J. G. Hoffmann.
ihr Gutachten abgeben, nicht aber das Jahresbudget nochmals prüfen.
Die Frage alſo, ob die Steuererhöhung unumgänglich ſei, dieſe Frage,
die alle Gemüther leidenſchaftlich bewegte, durfte der Staatsrath gar nicht
erörtern. Seine Verhandlungen wurden daher bald ſehr gereizt, und
vergeblich ſuchte Hardenberg durch wiederholte Unterredungen mit dem
Kronprinzen den nahenden Sturm zu beſchwören.*)
Jene ſiegreiche Macht des Genius, welche einſt aus Stein’s Geſetzen
ſo überzeugend geredet hatte, war in den neuen Entwürfen allerdings
nicht zu ſpüren. Ueberreich an glücklichen Einfällen hatte Hardenberg
in ſeiner vornehmen Läſſigkeit ſich doch um die trockenen Details dieſer
Steuergeſetze wenig gekümmert; ihr eigentlicher Urheber, J. G. Hoffmann
aber beſaß bei unbeſtreitbarem Talent nicht den ſchöpferiſchen Geiſt des
Reformators. Der kleine, von ſeinem eigenen Werthe lebhaft überzeugte
Mann, ein geborener Schleſier, rühmte ſich gern der praktiſchen Er-
fahrungen, die er nach gründlichen gelehrten Studien in verſchiedenen
Fabriken geſammelt hatte; dann erſt, mehr als vierzigjährig, war er, als
Kraus’ Nachfolger auf dem Königsberger Lehrſtuhl, für kurze Zeit in die
akademiſche Laufbahn eingetreten. Nach den Kriegen begleitete er den
Kanzler zu allen Congreſſen und erwarb ſich durch ſein erſtaunliches
Gedächtniß und ſeinen raſtloſen Fleiß bei der geſammten europäiſchen
Diplomatie den Ruf eines ſtatiſtiſchen Orakels. Das Berliner ſtatiſtiſche
Bureau erhob ſich unter ſeiner Leitung zu einer Muſteranſtalt, deren
Arbeiten den Gelehrten und den Praktikern gleich unentbehrlich wurden.
Auch er war gleich den meiſten ſeiner Amtsgenoſſen bei Adam Smith in
die Schule gegangen und hatte ſchon vor 1806 eine Lanze für die Ge-
werbefreiheit gebrochen. Indeß bewahrte ihn ſeine Welt- und Geſchäfts-
kenntniß vor manchen Uebertreibungen der Theoretiker. Er ließ es ſich
nicht nehmen, daß der Zweck der Volkwirthſchaftspolitik nicht in der
höchſtmöglichen Gütermaſſe, ſondern in der Wohlfahrt der Menſchen zu
ſuchen ſei und mithin der Staat den Arbeiter gegen die Uebermacht des Un-
ternehmers ſchützen müſſe, und zum Entſetzen aller rechtgläubigen Bekenner
der engliſchen Doktrinen ſprach er aus, daß die preußiſchen Inſtitutionen
der Wehrpflicht und der Schulpflicht auch der Volkswirthſchaft unmittelbar
zum Vortheil gereichten. In dieſem Preußen ging all ſein Denken und
Trachten auf; ganz und gar ein preußiſcher Beamter, ſchrieb er alle
ſeine wiſſenſchaftlichen Werke „mit beſonderer Beziehung auf den preußi-
ſchen Staat“, die Beleuchtung der heimiſchen Geſetze und Zuſtände gelang
ihm ſtets glücklicher als die Entwicklung der theoretiſchen Grundgedanken.
Dies lebendige Verſtändniß für die Wirklichkeit der vaterländiſchen Dinge
war freilich nicht frei von einer ſtillvergnügten Ruheſeligkeit, die ſo weit
es irgend anging, das Beſtehende zu entſchuldigen ſuchte. Die alte
[86]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
Wahrheit, daß jede Steuer von einem Theile der Pflichtigen auf die
Schultern Anderer abgewälzt wird und jede gewohnte Abgabe in ihrem
Beſtande ſelbſt einen gewiſſen Vorzug beſitzt, war ſo recht nach ſeinem
Herzen. Er wußte, daß jede Steuer, wirthſchaftlich betrachtet, ein Uebel iſt,
und nichts ſchien ihm vorwitziger als der Verſuch, einer unerreichbaren
Gerechtigkeit zu Liebe allzu tief in hergebrachte Lebensverhältniſſe einzu-
greifen. In dieſem Geiſte behutſamer Vermittelung waren auch ſeine
Geſetzentwürfe gehalten.
Das neue Budget ſchloß mit einem Deficit von mehr als 4 Millionen,
und da Hardenberg außerdem noch reichlich 6 Millionen unhaltbarer alter
Abgaben in den einzelnen Landestheilen aufzuheben dachte, ſo mußten
10½ Mill. Thlr. durch neue Steuern aufgebracht werden. Um dieſen
Ausfall zu decken, erneuerte Hoffmann den Vorſchlag einer allgemeinen,
nach Klaſſen abgeſtuften Perſonenſteuer, den er ſchon 1817, im Anſchluß
an die Wünſche der Notablenverſammlungen, aufgeſtellt hatte.*) Aber er
wagte nicht die Einführung dieſer Steuer für das ganze Staatsgebiet zu
beantragen. Seit den Tagen des großen Kurfürſten war das Abgaben-
weſen des flachen Landes von dem der Städte immer getrennt geblieben,
indem dort die Grundſteuer, hier die Acciſe als Hauptſteuer erhoben
wurde; erſt in dem Jahre der großen Hardenbergiſchen Verſprechungen
1810 hatte man gewagt, dieſen tief eingewurzelten Dualismus aufzuheben,
aber den verfrühten Verſuch ſchon nach einem Jahre wieder fallen laſſen,
und ſeit 1811 beſtanden in den Städten der alten Provinzen wieder
mehrere Conſumtionsſteuern, auf dem Lande eine rohe Kopfſteuer.**) An
dieſen gewohnten Zuſtänden wollte Hoffmann ſo wenig wie möglich ändern
und ſchlug daher vor, die neue Klaſſenſteuer auf das flache Land und die
kleinen Städte zu beſchränken, in den größeren Städten dagegen eine un-
gleich ergiebigere Mahl- und Schlachtſteuer einzuführen. Zur Ergänzung
der beiden Hauptſteuern ſollte eine mäßig bemeſſene Gewerbeſteuer auf
einige der einträglichſten Gewerbe gelegt werden.
Das ſchwerſte Hinderniß der Reform lag in der allgemein beklagten
Ungleichheit der alten Grundſteuern; ſie zeigte ſich beſonders gehäſſig in
Poſen, wo noch von den Tagen der ſarmatiſchen Adelsherrſchaft her die
Podymna beſtand, eine nach der Zahl der Rauchfänge erhobene Abgabe,
die den kleinen Beſitzer ganz unverhältnißmäßig drückte. Indeß die Aus-
gleichung der Grundſteuer war unmöglich ohne die Kataſtrirung des ge-
ſammten Gebietes, und ſo lange konnte der erſchöpfte Staat auf ſeine
neuen Einnahmen nicht warten. In ſolcher Verlegenheit kam Hoffmann
wieder auf den unglücklichen Gedanken der Quotiſirung zurück, der im
Staatsrath ſchon vor drei Jahren verworfen, gleichwohl unter den unzu-
friedenen Rheinländern und Weſtphalen noch immer warme Vertheidiger
[87]Verwerfung der Quotiſation.
fand. Er wollte die Geſammtſumme der Staatsſteuern, mit Ausnahme
der Zölle, nach der Kopfzahl auf die Provinzen vertheilen, dann jeder ein-
zelnen Provinz ihre Grundſteuern ſowie ihre Staatsſteuern von Wein,
Branntwein und Tabak anrechnen und nur den Reſt durch die neuen
Steuern aufbringen.
Dies ſchwächliche Zugeſtändniß an die mißleitete öffentliche Meinung
ward im Staatsrath ſofort und mit guten Gründen bekämpft. Welche
Unbilligkeit, die ausgeſogenen alten Provinzen mit einer höheren Klaſſen-
ſteuer zu belaſten als das wohlhabende Rheinland; in Schleſien lagen
die wirthſchaftlichen Verhältniſſe ſo verzweifelt, daß auf dem rechten Oder-
ufer viele Rittergüter, deren Inventar im Kriege zerſtört war, noch jahre-
lang herrenlos blieben, weil ſich kein Käufer finden wollte. Und war es
denn ſicher, daß die Rheinländer wirklich eine ſo unbillige Laſt trugen,
wie ſie behaupteten? Bei dem kläglichen Zuſtande der Kataſter konnte
Niemand dieſe Frage beſtimmt beantworten. Legte man den Maßſtab der
Bevölkerung an, der in den preußiſchen Büreaus als der immerhin
ſicherſte Werthmeſſer für das Volksvermögen galt und auch bei den Zoll-
verhandlungen mit den Nachbarſtaaten regelmäßig angewendet wurde, ſo
ergab ſich unzweifelhaft, daß der Kopf der Bevölkerung in der Provinz
Sachſen reichlich um die Hälfte mehr Grundſteuern trug als am Rhein,
und als vierzig Jahre ſpäter die Ausgleichung der Grundſteuer endlich
gelang, da ſtellte ſich heraus, daß bisher nicht die Rheinländer, ſondern
die Schleſier, nach dieſen die Weſtphalen und die Sachſen die höchſten
Procente vom Reinertrage des Bodens gezahlt hatten. Solche Durch-
ſchnittsberechnungen nach der Geſammtbelaſtung der Provinzen gaben über-
haupt kein treues Bild von der wirklichen Lage; denn die ärgſten Un-
gleichheiten des alten Grundſteuerweſens zeigten ſich innerhalb der ein-
zelnen Provinzen. Durfte man den märkiſchen und pommerſchen Bauer,
der bereits ſchwere Grundſteuern zahlte, darum noch mit einer erhöhten
Klaſſenſteuer beladen, weil in ſeiner Nachbarſchaft zahlreiche ſteuerfreie
Ritterhufen lagen? Noch ernſter als alle dieſe berechtigten Bedenken ſchien
die Gefahr, welche der Staatseinheit drohte. Wurden die Steuern quoti-
ſirt, ſo konnten ſie fortan nur nach Anhörung von acht oder zehn Pro-
vinziallandtagen erhöht werden, der Staatshaushalt gerieth abermals, wie
vor 1806, unter den lähmenden Einfluß des ſtändiſchen Partikularismus
und verfiel wieder in jene hilfloſe Unbeweglichkeit, die zur Zeit der Re-
volutionskriege ſo viel Unheil angerichtet hatte. Dieſe Erwägungen, von
Bülow nachdrücklich hervorgehoben, gaben den Ausſchlag, der Staatsrath
verwarf die Quotiſation mit 36 gegen 13 Stimmen, und der Kanzler
ſelber mußte jetzt zugeſtehen, daß die Vorſchläge ſeiner Commiſſion die
vorhandene Ungleichheit nicht aufheben, ſondern vielleicht noch verſtärken
würden.*) Alſo wurde das ſchlimmſte Gebrechen der neuen Entwürfe
[88]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
glücklich beſeitigt, und mit Genugthuung bemerkte der König, daß er doch
nicht ohne Grund, unbeirrt durch Hardenberg’s Widerſpruch, auf der noch-
maligen Befragung des Staatsraths beſtanden hatte.
Auch der Plan der Klaſſenſteuer erſchien, wie er vorlag, noch ſehr
unfertig, faſt roh. Hoffmann war und blieb ein Gegner der Einkommen-
ſteuer; da man ſie im Jahre 1812, in der Zeit der äußerſten wirthſchaft-
lichen Zerrüttung, nicht hatte durchſetzen können, ſo hielt er kurzweg für
ausgemacht, daß ſie eine gehäſſige und unpraktiſche Abgabe ſei. In der
That war der Zuſtand der Volkswirthſchaft für dieſe Form der Beſteue-
rung noch nicht reif. Wohl neun Zehntel der Bauern, die noch in den
Gewohnheiten altväteriſcher Naturalwirthſchaft dahinlebten, wußten ihr
eigenes Einkommen nicht in Geld abzuſchätzen; die höheren Stände aber
mußten erſt an die direkte Steuer gewöhnt werden, nimmermehr hätten
ſie ertragen, daß der Staat ihnen genaue Rechenſchaft über ihr Einkom-
men abforderte. Daher begnügte ſich Hoffmann, die geſammte Bevöl-
kerung nach den durchſchnittlichen Lebensgewohnheiten in vier große Klaſſen
einzutheilen, die er mit doktrinärer Zuverſicht für die vier natürlichen
Stände der deutſchen Geſellſchaft ausgab: in der erſten Klaſſe ſollten jähr-
lich 24 Thaler von jeder Haushaltung, in der vierten ein halber Thaler
von jeder erwachſenen Perſon erhoben werden. Ohne es zu ahnen, betrat
der gelehrte Statiſtiker damit einen Weg, der ſchließlich zu der verab-
ſcheuten Einkommenſteuer führen mußte. Beſchwerden wider die Ein-
ſchätzung in jene willkürlich angenommenen vier Klaſſen konnten gar nicht
ausbleiben; wollte man ihnen gerecht werden, ſo blieb zuletzt doch nichts
übrig, als eine ſchärfere Prüfung des Einkommens der Pflichtigen.
Der Gedanke der Einkommenſteuer hatte während der letzten Jahre
in der Stille ſeinen Weg gemacht und wirkte noch mit dem ganzen Reize
der Neuheit; erſt die Erfahrung ſollte lehren, daß auch das Einkommen,
ſo lange man ſeine verſchiedenen Quellen nicht unterſcheidet, nur einen
ſehr unſichern Maßſtab für die Leiſtungsfähigkeit der Steuerzahler ab-
giebt. Die Einkommenſteuer galt bereits in weiten Kreiſen des gebildeten
Bürgerthums, zumal unter den Rheinländern, als das Steuerideal und
fand auch im Staatsrathe manchen eifrigen Vertheidiger. Zu dieſen ge-
ſellten ſich ſodann einige Männer der alten Schule, wie Ancillon, die an
der Klaſſenſteuer nur die Mängel bemerkten, weil ſie an dem überlieferten
Syſtem der indirekten Abgaben feſthalten wollten. Und wie hart wurden
doch die niederen Stände durch Hoffmann’s Vierklaſſentheilung getroffen!
Wohl war die Zahl der Wohlhabenden noch verſchwindend klein; der
Staatsrath berechnete, daß im ganzen Staate nur etwa 8000 Familien
jährlich 24 Thaler zu ſteuern vermöchten, aber unter dieſen befanden ſich
doch ſicherlich Tauſend, die eine weit höhere Laſt tragen konnten, und ſie
ſollten begünſtigt werden, zum Schaden der Armen! Die königlichen
Prinzen rügten dieſen Uebelſtand mit ſcharfen Worten: ſie zeigten ſich alle
[89]Ancillon und die Prinzen.
durchdrungen von der volksfreundlichen Geſinnung ihres Hauſes, von
den guten alten Ueberlieferungen des Königthums der Bettler. Um die
öffentliche Meinung zu verſöhnen ſchien es namentlich rathſam, die
oberſten Staatsdiener ſchärfer zu beſteuern; denn überall in Deutſchland
glaubte das Volk, der hohe Beamte führe ein beneidenswerthes Wohl-
leben: hatte er doch ſein geſichertes Auskommen, und wie Wenige aus
dieſem verarmten Geſchlechte waren in der gleichen Lage! Auf den Antrag
des Prinzen Auguſt beſchloß der Staatsrath am 24. April, zu den vor-
geſchlagenen vier Klaſſen noch eine oberſte, mit einem Steuerſatze von
48 Thaler, hinzuzufügen.*) —
Mit dieſen Einzelverhandlungen verkettete ſich ein Streit, der alle
Finanzpläne Hardenberg’s wieder in Frage zu ſtellen drohte. Die reak-
tionäre Partei am Hofe betrachtete dies ganze Reformwerk, das ja offen-
bar die Einführung der Verfaſſung vorbereiten ſollte, von vornherein mit
ſcheelen Augen. Vor Kurzem erſt hatte ſie dem Staatskanzler zum Sturze
Humboldt’s und Boyen’s die Hand geboten, jetzt ſchien ihr die Zeit ge-
kommen, auch gegen ihn ſelber, der in Wien trotz aller ſeiner Nachgiebig-
keit als das Haupt der preußiſchen Jakobiner galt, den Kampf zu er-
öffnen. An ihre Spitze trat Ancillon mit ſeinen alten Genoſſen Karl
von Mecklenburg, Wittgenſtein, Kneſebeck. Auch der vormalige Miniſter
Brockhauſen ſchloß ſich an, ein greiſer Herr, der noch ganz in den Ge-
danken der neunziger Jahre lebte, desgleichen der ſtreng conſervative Ober-
präſident Bülow. Sogar Vincke näherte ſich jetzt dieſem Kreiſe, deſſen
politiſche Ziele ihm ſo fern lagen. Der treffliche Mann war ſeit den
Karlsbader Beſchlüſſen tief verſtimmt. „Es wird ja immer toller, ſchrieb
er verzweifelt ſeinem Freunde Solms-Laubach, an landſtändiſche Verfaſ-
ſungen, andere als die verabſcheuungswürdige öſterreichiſche, iſt gar nicht
zu denken.“ Mehrmals war er nahe daran ſein Amt niederzulegen; nur
das Pflichtgefühl hielt ihn zurück: „man muß ſich kaſteien und bleiben.“
Die hohen Ausgaben für das Heer betrachtete er als eine unverantwort-
liche Verſchleuderung. Zudem fühlte er ſich in ſeinem altpreußiſchen
Ordnungsſinne tief verletzt, da er in der Verwaltung Weſtphalens ſo
manche arge Nachläſſigkeit des Hardenberg’ſchen Regiments kennen gelernt
hatte, und ſchloß daraus, die Steuererhöhung ſei vielleicht nur durch die
Verſchwendung des Staatskanzlers nöthig geworden.**)
Aehnliche Bedenken hegten auch die fünf königlichen Prinzen, die im
Staatsrathe ſaßen, nicht blos der romantiſch aufgeregte Kronprinz, der
auf das Lob der guten alten Zeit, wenn es aus dem Munde ſeines alten
Lehrers erklang, ſo bereitwillig hörte, daß Hardenberg ärgerlich in ſein
Tagebuch ſchrieb: „des Kronprinzen Kleben am Alten per Ancillon“***) —
[90]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
ſondern auch die ungleich freier geſinnten beiden Prinzen Wilhelm, der
Bruder und der Sohn des Königs. Seit der große Kurfürſt einſt die
Grundlagen des preußiſchen Abgabenweſens mit eiſerner Hand feſtgeſtellt,
waren die Hohenzollern in ihrer Steuerpolitik ſtets conſervativ verfahren,
und wenn Einer von dieſer Tradition des Hauſes abgewichen war, wie
Friedrich der Große bei Einführung ſeiner Regie, ſo hatte ſich regelmäßig
ein ſtarker Unwille im Volke gezeigt. Die Erhebung von mehr als 10 Mill.
neuer Steuern ſtand in Preußens Geſchichte ohne Beiſpiel da, und ſie
ſollte erfolgen unmittelbar nachdem das neue Zollgeſetz die Abgaben vom
auswärtigen Verkehr völlig umgeſtaltet hatte.
Wie behutſam auch Hoffmann die Gedanken des Meiſters ausführte
— was Hardenberg plante, war doch eine Reform an Haupt und Glie-
dern. Drang er mit ſeinen Abſichten durch, ſo blieb von den althiſtori-
ſchen Steuern der Monarchie mit Ausnahme der Grundſteuer keine ein-
zige unverändert. Die Einheit des Marktgebiets, welche das Zollgeſetz als
Grundſatz ausſprach, verwirklichte ſich erſt durch die Aufhebung aller der
alten Acciſen und Octrois; der innere Verkehr ward endlich vollkommen
frei, bis auf die wenig läſtige Thorſperre an den Mauern der mahl-
und ſchlachtſteuerpflichtigen Städte, und an die Stelle der alten Finanz-
politik, welche die weithin zerſtreuten Provinzen als halb ſelbſtändige Ter-
ritorien von einander abgeſondert hatte, trat ein völlig neues Syſtem,
eine Politik der Staatseinheit, die im Laufe der Zeit unvermeidlich dahin
trachten mußte, auch die zwiſchenliegenden Kleinſtaaten ſich zu unterwerfen.
Es war ein Wagniß, kaum minder kühn als die Reformen von 1808
und 1810. Eine ſo radikale Neuerung mußte dem Nichtfachmanne wohl
befremdlich und, bei der Mißſtimmung in den neuen Provinzen, gefähr-
lich erſcheinen. Und dazu die unleugbaren Mängel der Klaſſenſteuer.
Selbſt nachdem der Staatsrath noch eine höchſte Steuerklaſſe für die
Wohlhabenden hinzugefügt hatte, blieb die Begünſtigung der Reichen noch
ſehr auffällig: kein Haushalt ſollte mehr als 48 Thlr. zahlen, lediglich
weil Hoffmann Bedenken trug, den Klaſſenſtolz der höheren Stände auf-
zuregen!
So geſchah es denn, daß eine aus ehrenwerthen und zweifelhaften
Elementen ſeltſam gemiſche Partei ſich um Ancillon zuſammenfand. Ihr
Führer aber entbehrte gänzlich der Sachkenntniß, er verſuchte nicht ein-
mal einen Gegenvorſchlag aufzuſtellen und verfiel in jene hohlen Phraſen,
welche niemals ausbleiben, wenn Dilettanten über Finanzfragen reden.
Gleich in der erſten Plenarſitzung (20. April) vertheidigte er den klein-
müthigen privatwirthſchaftlichen Grundſatz, der ſchon in der alten Mon-
archie ſo viele Mißgriffe veranlaßt hatte, jetzt aber, am Vorabend einer
umfaſſenden Finanzreform, gradezu wie Hohn klang: den Grundſatz, daß
ſich die Ausgabe immer nach der vorhandenen Einnahme richten müſſe.
Darauf beantragte er, den Monarchen zu bitten, daß nochmals unterſucht
[91]Die Oppoſition im Staatsrathe.
werde, ob ſich die Steuererhöhung nicht durch Erſparniſſe vermeiden laſſe.
Wie dieſe Erſparniſſe möglich werden ſollten, das wußte er freilich nicht
einmal anzudeuten. Die ungewohnte Lebhaftigkeit des ſanftmüthigen Theo-
logen bewies genugſam, daß ſeine Pfeile ſich nicht gegen die Steuergeſetze,
ſondern gegen den Staatskanzler ſelber richteten. Eine verſtändige Ent-
gegnung des Finanzminiſters verfehlte ihren Zweck, da Klewiz im Eifer
der Rede die ganz unhaltbare Behauptung aufſtellte, das Budget ſei jetzt
nicht höher als im Jahre 1803.*) Der ängſtliche Altenſtein, der den
Vorſitz führte, wußte ſich endlich nur dadurch zu helfen, daß er den An-
trag Ancillon’s als unzuläſſig zurückwies. Gegen dieſe Erklärung ließ
ſich rechtlich nichts einwenden; denn der Etat war nach dem alten Staats-
rechte kein Geſetz, ſondern ein Voranſchlag der Finanzverwaltung, und der
Staatsrath mithin nicht befugt, deſſen Abänderung zu beantragen. Aber
welch eine widerwärtige Zumuthung an ſeine Mitglieder, daß ſie den
Etat als eine gegebene Größe hinnehmen ſollten, während doch mehrere
von ihnen hofften, nach Verminderung des Budgets könne die Erhöhung
der Abgaben vielleicht überflüſſig werden. Die Verſammlung vermochte
ihren Unmuth nicht zu verhehlen; der Antrag Ancillon’s ward vor den
Sitzungen in erregter Unterhaltung beſprochen, und da das Amtsgeheimniß
wieder ſchlecht gewahrt wurde, ſo erzählten ſich bald alle böſen Zungen
Berlins, wie jämmerlich die verſchwenderiſche Verwaltung vor dem Rich-
terſtuhle des Staatsraths beſtehe.
Dem Staatskanzler aber gingen endlich die Augen auf: das alſo
war der treue Freund, den er vor fünf Monaten gegen Humboldt zu
Hilfe gerufen hatte! Er glaubte zu wiſſen, daß Ancillon die Prinzen zu
einer Kabale verleite, und ſendete am 27. April, mit Genehmigung des
Königs**), dem Präſidenten des Staatsraths ein Schreiben, das dem
ſalbungsvollen Gegner die ganze Ueberlegenheit des praktiſchen Staats-
mannes zu fühlen gab. Ironiſch wies er auf Ancillon’s erbauliche Ge-
meinplätze hin: wohl ſei es leicht ausgeſprochen: „man muß nicht mehr
ausgeben als man einnimmt, Geben iſt ſeliger als Nehmen.“ Aber Preu-
ßens Schuldenlaſt rühre her von den großen Unglücksfällen ſeit 1806
und von dem rühmlichen Kampfe um die Freiheit. Jetzt gelte es den
Verpflichtungen des Staates vollſtändig zu genügen und außer den lau-
fenden auch die außerordentlichen Ausgaben, welche die Wiederherſtellung
der Monarchie erheiſche, zu decken. Nach dem neuen Abſtrich von 5 Mill.
ſei eine weitere Herabſetzung des Etats unmöglich. „Es liegt in der That
ein höchſt ungerechter Tadel der Verwaltung darin, wenn man den Satz:
„keine Auflagen, Erſparen, mit den Einnahmen auskommen!“ im ver-
ſammelten Staatsrath ohne gründliche Sachkenntniß ausſpricht und Be-
[92]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
ſorgniſſe wegen entſtehender Unzufriedenheit durch die neuen Laſten äußert.
Ich fordere Den auf, der es vermag, noch fünf Millionen Erſparniſſe zu
bewirken, aufzutreten und ſie nachzuweiſen, ohne den Staat in die größten
Gefahren der Zerrüttung zu verſetzen. An einer ſolchen Adminiſtration,
wie die wäre, welcher jene Maximen zum Grunde lägen, möchte ich nicht
theilnehmen, ich würde eilen mich davon loszumachen.“ Als Ancillon in
der Schlußſitzung am 29. ſeinen Antrag erneuerte, erklärte Altenſtein noch-
mals, daß er keine Berathung zulaſſen dürfe, und ſtellte jedem Mitgliede
frei, ſeine Wünſche dem Könige in einer Beilage zum Protokolle vorzu-
tragen. Um ſeinen Worten Nachdruck zu geben verlas er alsdann das
Schreiben des Staatskanzlers.
Da brauſte der Kronprinz in hellem Zorne auf: „ſagen Sie dem
Staatskanzler, rief er dem Vorſitzenden zu, in der ſo hart angegriffenen
Verſammlung ſäßen die königlichen Prinzen!“ Hardenberg erwiderte dem
Prinzen brieflich (3. Mai) in jenem herzgewinnenden Tone, der ihm ſo
wohl anſtand: ſeine Vorwürfe gegen den Staatsrath hielt er aufrecht, doch
zugleich erklärte er ſich bereit zu jeder Aufklärung über den Etat, auch zu
jeder Erſparniß, wenn man ihm nur ausführbare, mit Zahlen belegte
Vorſchläge einreiche. Der reizbare junge Fürſt war raſch verſöhnt, wieder-
holte aber in ſeiner freundlichen Antwort nachdrücklich die Bitte um noch-
malige Prüfung des Etats: „Wir leben, ſo dachte ich, nicht in Zeiten,
denen man Alles bieten kann, und 5 Mill. neuer Abgaben ſchien
und ſcheint mir noch jetzt ſehr bedenklich. Ich bezwecke nur ein vor-
theilhaftes Einwirken auf die öffentliche Meinung, die deſſen ſehr be-
darf. Eine nochmalige Prüfung nun führt entweder wirklich Er-
ſparniſſe herbei oder beweiſt doch dem Volk im ſchlimmſten Fall, daß
Alles geſchehen.“ Der Staatskanzler fühlte nun doch, daß er den Bogen
nicht überſpannen dürfe, obwohl die neue Verzögerung den Staatskaſſen
ſchwere Einbußen bringen mußte; er wollte den Prinzen die Gelegenheit,
ſich über den Ungrund ihrer Bedenken zu belehren, nicht abſchneiden und
verſprach, dem Könige den Wunſch des Kronprinzen vorzutragen, „ſo
vollſtändig auch dieſe Prüfung mehrmals geſchehen iſt.“*)
Mittlerweile hatte der Staatsrath ſeine Berathungen beendigt. Elf
Mitglieder baten in Sonderabſtimmungen um nochmalige Prüfung des
Budgets: die königlichen Prinzen mit Ausnahme des Thronfolgers, der
jetzt durch Hardenberg’s Zuſage beſchwichtigt war, ſodann Vincke, endlich
Ancillon und ſeine fünf hochconſervativen Genoſſen. Wittgenſtein’s Votum
erging ſich in ſo allgemeinen Ausdrücken, daß Jedermann bemerken mußte,
wie wenig dem Hofmanne an dieſen Steuerfragen ſelber lag. Ancillon
ſchilderte beweglich die Nachtheile der Klaſſenſteuer, ohne irgend anzugeben,
[93]Die neuen Steuergeſetze.
wie dieſe Abgabe zu erſetzen ſei. Vincke verwahrte dem Staatsrathe das
Recht, nicht blos über die Zweckmäßigkeit, ſondern auch über die Noth-
wendigkeit der neuen Steuern zu berathen. Am Klarſten lautete das
Votum des jungen Prinzen Wilhelm, der mit militäriſcher Kürze den
wunden Fleck der Entwürfe bezeichnete und ſeinem königlichen Vater ehr-
erbietig anheimſtellte, ob nicht „die reicheren Klaſſen der Nation und die
höher beſoldeten Beamten zur Erleichterung des ärmeren Volkes mehr
anzuziehen“ ſeien.*)
Da die große Mehrheit des Staatsraths — 28 Stimmen und dar-
unter die erſten Finanzmänner der Monarchie — die Pläne des Staats-
kanzlers im Weſentlichen gebilligt hatte, ſo vollzog der König nunmehr
die Geſetze. Auf Ancillon’s weitſchweifige Phraſen gab er nichts. Nur
um ſeine Prinzen über „die wahre Lage der Sache“ aufzuklären befahl
er, daß eine neue Commiſſion mit den Mitgliedern der Minderheit den
Etat Poſten für Poſten noch einmal durchgehen ſolle. Das Ergebniß war,
wie Hardenberg dem Kronprinzen vorausgeſagt: die Zweifelnden mußten
zugeben, nicht nur, daß jede weitere Ermäßigung der Ausgaben vorderhand
unmöglich war, ſondern auch daß mehrere der bereits angeordneten Er-
ſparniſſe erſt nach Verlauf längerer Zeit in Wirkſamkeit treten konnten.**)
Darüber vergingen wieder zwei Monate, und die bereits am 30. Mai
unterzeichneten Geſetze konnten erſt am 7. Auguſt veröffentlicht werden.
Wie ſchwer auch die Staatseinnahmen unter dieſem Aufſchub litten, der
Staatskanzler durfte ſich doch eines wichtigen Erfolges rühmen: er hatte
die königlichen Prinzen von der Nothwendigkeit der Reform überzeugt,
Ancillon und deſſen reaktionären Anhang vorläufig zum Schweigen ge-
bracht. —
Unter ſolchen Zweifeln und Gewiſſensbedenken entſchloß ſich dieſe
abſolute Krone, deren Härte in der liberalen Welt verrufen war, zu einer
Steuererhöhung von 5 Millionen Thlr. Das Geſetz vom 30. Mai über
die Einrichtung des Abgabenweſens ſtellte die Grundlagen des Steuer-
ſyſtems auf ein Menſchenalter hinaus feſt. Außer den Zöllen von 1818
und den im folgenden Jahre eingeführten Abgaben von Branntwein, Malz,
Wein, Tabak ſollte fortan erhoben werden: die Salzſteuer, die ſoeben an
jenem fruchtbaren 17. Januar durch Gleichſtellung des Salzpreiſes neu
geregelt worden war, ſodann die Grundſteuer, die Klaſſenſteuer, die Mahl-
und Schlachtſteuer, endlich zur Aushilfe die Gewerbeſteuer und eine ſpäter-
hin noch zu ordnende Stempelgebühr. Was von alten Octrois, Verbrauchs-
abgaben, Perſonen- und Gewerbeſteuern in den einzelnen Landestheilen
[94]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
noch übrig war, fiel mit einem Schlage dahin. Alles in dieſem Steuer-
ſyſtem war neu. Auch die Grundſteuer, deren Ausgleichung der Bera-
thung mit den Provinzialſtänden vorbehalten blieb, erlitt in den vormals
franzöſiſchen und bergiſchen Landſchaften ſofort eine weſentliche Aenderung;
ſie war dort von der Fremdherrſchaft ſehr willkürlich aufgelegt worden
und ſollte fortan nie mehr als ein Fünftel des Reinertrags betragen.
Da die Rheinländer gar ſo ungebärdig klagten, ſo wurde am Rhein die
Kataſtrirung zuerſt begonnen und im Jahre 1833 beendet.
Die Klaſſenſteuer ſollte ſich nach den Beſchlüſſen des Staatsraths in
fünf Klaſſen gliedern: eine für die vorzüglich wohlhabenden und reichen
Einwohner, zwei für die Wohlhabenden, eine vierte für den geringeren
Bürger- und Bauernſtand, eine fünfte für Lohnarbeiter, Tagelöhner und
Geſinde. Aber ſogleich mußte man erfahren, wie richtig Prinz Wilhelm die
Stimmung des Landes beurtheilt hatte. Allgemein erklang die Klage
über die Begünſtigung der Reichen, und ſchon am 5. September 1821
wurden zwei neue oberſte Steuerſätze und mehrere Zwiſchenſätze für die
unteren Klaſſen eingeführt, ſo daß fortan zwölf Stufen von 144 bis zu
einem halben Thaler herab beſtanden. Auch dies genügte den Rhein-
ländern noch nicht; ſie murrten ſo lange, bis man ihnen im Jahre 1830
achtzehn Klaſſen zugeſtand. Die Natur der Dinge drängte den Staat
Schritt für Schritt der Einkommenſteuer zu; ganz wider Willen hatte
Hoffmann, wie ſeine Bewunderer ihm ſpäterhin nachrühmten, den kom-
menden Geſchlechtern in der Klaſſenſteuer ein Vermächtniß hinterlaſſen.
Die neue Abgabe fand Anfangs faſt überall Widerſacher; im Kampfe mit
ihnen mußte ſich der ſoeben in die Generalſteuerdirection berufene ſtreit-
bare junge Ludwig Kühne ſeine Sporen verdienen. „Es war, ſo erzählt
er ſelbſt, für die Aufrechterhaltung dieſer Steuer ein wahres Glück, daß
ich damals noch gewiſſermaßen mit dem erſten Schwerte focht und ge-
waltig um mich hieb und keinen Ausfall, er mochte von der Seite oder
von oben herab oder von unten herauf kommen, ohne eine tüchtige, viel-
leicht der Form nach ſelbſt zu derbe Erwiderung ließ. Die Leute wurden,
wenn ſie ein paarmal derb etwas auf die Finger bekommen hatten, doch
einigermaßen vorſichtiger und mußten nothgedrungen etwas näher auf die
Sache eingehen; aber ich bin überzeugt, daß bei einer ſchwächlichen Be-
arbeitung die Klaſſenſteuer ſich nicht ein Jahr gehalten haben würde.“
Nachdem der erſte ſtürmiſche Ausbruch des Unwillens ſich gelegt, ging die
Abgabe, unfertig wie ſie war, über alle Erwartung leicht ein, ſo daß nur
etwa 2⅓ Procent Rückſtände blieben; denn die Sätze waren mäßig, der
Geſammtertrag im Durchſchnitt der nächſten zwölf Jahre nur 6,8 Mill.,
während die Grundſteuer 10 Mill. abwarf, und die gehäſſige Arbeit der
Einſchätzung beſorgten die Gemeinden ſelber, da das alte Beamtenthum
bei all ſeinem Selbſtgefühle wohl wußte, daß die Bureaukratie aus eigener
Kraft ſolche Aufgaben nicht zu löſen vermag.
[95]Klaſſenſteuer. Mahl- und Schlachtſteuer.
Die Klaſſenſteuer trugen nur ſechs Siebentel der Bevölkerung. 132
Städte zahlten die einträglichere Mahl- und Schlachtſteuer, darunter alle
großen Communen, aber auch einige verkommene polniſche Judenſtädtchen,
wie Schneidemühl, die ſich der Klaſſenſteuer vielleicht ganz entzogen hätten;
ſo ängſtlich mußte der Finanzminiſter darüber wachen, daß ihm keine
mögliche Einnahme entging! Auch dieſe Abgabe erregte lebhaften Wider-
ſpruch; mancher bibelfeſte Steuerzahler erinnerte den frommen König an
jene Sprüche des Alten Teſtaments, welche die Beſteuerung des Brotes
verbieten. Indeß bemerkte man doch bald, daß ein Theil der Steuer durch
die Erhöhung der Löhne von den Arbeitern abgewälzt wurde und die
niederen Stände nicht ſo ſchwer darunter litten wie die herrſchende Doktrin
behauptete. Die neue Gewerbeſteuer endlich ließ die kleinen, ohne Ge-
hilfen arbeitenden Handwerker frei, doch ſie bewirkte keineswegs, wie der
ängſtliche Ancillon befürchtet hatte, eine übermäßige Vermehrung der kleinen
Geſchäfte. Die Zuſtände des Kleingewerbs blieben vielmehr in dieſen
ſtillen Jahren der Entſagung faſt unwandelbar, trotz der Gewerbefreiheit,
trotz der gewaltigen Umwälzungen des politiſchen Lebens: um das Jahr
1830 arbeitete faſt genau wie im Jahre 1800 ein Schneidermeiſter für
etwa 240 Einwohner, ein Schuſter für 200, und auf kaum zwei Hand-
werksmeiſter kam ein Gehilfe, ſo daß jeder noch hoffen konnte ſelber
Meiſter zu werden.
Zum Abſchluß der Steuerreform wurden dann noch im Jahre 1822
einige Stempelabgaben eingeführt, darunter auch ein Zeitungsſtempel, der
freilich in einer Epoche politiſcher und wirthſchaftlicher Ermattung nur
einen ſehr beſcheidenen Ertrag bringen konnte. Selbſt die Bücher pflegten
aus der Hand des unglücklichen Beſitzers von einem Entleiher zum andern
zu wandern; vollends die Zeitungen las der gebildete Mann auf dem
Caſino oder in der Conditorei, und wer ein Uebriges thun wollte hielt
ſich ein Blatt mit einem Dutzend Nachbarn gemeinſam. Noch im Jahre
1835 wurden in ganz Preußen von inländiſchen Zeitungen und Zeit-
ſchriften kaum 43,000 Exemplare verkauft, von nichtpreußiſchen etwa 3700,
insgeſammt weniger als heutzutage eine einzige große Zeitung abzuſetzen
vermag.
Dieſe Dürftigkeit aller Lebensverhältniſſe übte auch ihren Einfluß auf
das neue Münzgeſetz, das von Hardenberg als eine unentbehrliche Er-
gänzung der Finanzreform angeſehen wurde und am 5. September 1821,
namentlich durch Hoffmann’s Verdienſt, zu Stande kam. Geſtützt auf die
natürliche Macht ſeines großen Marktgebietes hatte der preußiſche Thaler
ſchon längſt weit über die Grenze des Staates hinaus ſeinen Siegeszug
durch Deutſchland angetreten, obgleich die Oſtpreußen im täglichen Ver-
kehr noch gern nach den gewohnten Gulden und Düttchen rechneten und
die neuen Provinzen an ihrem alten Gelde mit jener Beharrlichkeit feſt-
hielten, welche ſich nirgends zäher zeigt als im Münzweſen. Die Regie-
[96]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
rung war von vornherein entſchloſſen dieſe erprobte Hauptmünze, auf
Grund des Vierzehn-Thalerfußes, beizubehalten; ſchwerer war die Ent-
ſcheidung über die Stückelung des Thalers, da die wiſſenſchaftlichen Vor-
züge des neufranzöſiſchen Decimalſyſtems in den Kreiſen der preußiſchen
Finanzwelt bereits zahlreiche Fürſprecher fanden. Zuletzt beſchloß man
doch, den Thaler in dreißig Silbergroſchen zu theilen, weil dieſe Zahl den
Monatstagen entſprach und der geringe Mann mithin nach ſeiner Mo-
natseinnahme ſich leicht berechnen konnte, wie viel er an jedem Tage aus-
zugeben hatte; dieſer Staat bedurfte eines ſparſamen Volkes, wie er ſelber
jeden Groſchen ängſtlich zu Rathe hielt, und in der That hat die Silber-
groſchenrechnung den haushälteriſchen Sinn unter den kleinen Leuten ge-
fördert. Für den neuen Silbergroſchen wurde die Zwölftheilung des alten
Gutengroſchens beibehalten, nicht blos wegen der bequemen Halbirung,
Drittelung und Viertelung, ſondern vornehmlich weil man die Armen
nicht ſchädigen durfte, die ihre kleinen Einkäufe zumeiſt mit Dreiern be-
ſtritten.
Ein folgenreicher, von keinem der Zeitgenoſſen bemerkter Fehler der
neuen Steuergeſetzgebung lag in den Vorſchriften über die Gemeindeab-
gaben. Das Communalſteuerweſen war für Theorie und Praxis jener
Tage noch ein unbekanntes Gebiet, da die Koſtſpieligkeit der neuen Selbſt-
verwaltung erſt im Laufe der Jahre bemerkbar wurde. Stein’s Städteord-
nung hatte den Communen in Steuerſachen faſt unbeſchränkte Freiheit
gelaſſen; nur ſelten einmal, bei groben Mißgriffen, waren bisher die Auf-
ſichtsbehörden dazwiſchengetreten. Jetzt beſtimmte das neue Abgabengeſetz
(§ 13), daß die Gemeinden mit Zuſtimmung der Bezirksregierungen Zu-
ſchläge zur Klaſſenſteuer, ſowie zur Mahl- und Schlachtſteuer ausſchreiben
dürften, andere Abgaben jedoch nur, wenn ſie bereits beſtänden oder der
König ſie ausdrücklich genehmigte. Die Zuſchläge zu jenen beiden Haupt-
ſteuern des Staates wurden alſo geradezu als Regel vorgeſchrieben. Die
Regierungen verweigerten ihre Zuſtimmung niemals, da ſie hofften, daß
die neuen Abgaben ſich alſo am ſicherſten einbürgern würden. Die Ge-
meindebehörden, die großentheils aus Hausherren beſtanden, folgten der
Einladung mit dem ſicheren Inſtinkte der Klaſſenſelbſtſucht. Denn die
bequemen Zuſchläge erſparten ihnen jedes weitere Nachdenken über eine
billige Vertheilung der Communalabgaben und laſteten unverhältnißmäßig
ſchwer auf den Miethern und Einliegern; die Grundbeſitzer aber, denen
die Communalanſtalten unmittelbar den größten Gewinn brachten, meinten
durch die hohe Staatsgrundſteuer bereits genugſam bedrückt zu ſein. Da-
mit begann eine gefährliche Verbildung des Gemeindeſteuerweſens: der
Staat verſtopfte den Communen ihre natürliche Einnahmequelle, indem
er die Grundſteuer großentheils für ſich nahm, und die Magiſtrate ſchoben
den ſchwerſten Theil der Communallaſten auf die Schultern der Unbe-
mittelten, die von den Leiſtungen der Gemeinden den geringſten Vortheil
[97]Die Communalſteuern.
zogen. Hielt dieſe Entwicklung an, ſtiegen die Zuſchläge allgemach bis
zur Höhe der Staatsabgaben oder gar darüber hinaus, dann mochte der
Staat leicht dahin gelangen, daß er die Klaſſenſteuer, ſeinen einzigen
ſicheren Nothbehelf in Kriegszeiten, nicht mehr erhöhen konnte. Vorder-
hand hielten ſich die Communalzuſchläge noch in beſcheidenen Grenzen,
und Niemand ahnte, welchen abſchüſſigen Weg man betreten hatte.
Nur der Hauptſtadt, die unter ſchweren Einquartierungslaſten litt,
hatte der Staat noch eine eigenthümliche Einnahmequelle eröffnet. Berlin
erhob ſeit 1815 eine Liegenſchaftsſteuer, die von den Hausbeſitzern mit
4 Procent, von den Miethern mit 8¼ Procent bezahlt wurde. Auch als
ſieben Jahre ſpäter die Abgabe der Miether auf 6⅔ Procent des Mieth-
zinſes herabgeſetzt wurde, blieb dieſer Vertheilungsmaßſtab noch immer
höchſt unbillig, jedoch er beruhte auf einem alten ſchlechten Berliner Her-
kommen, und von dem heiligen Gewohnheitsrechte ging keine preußiſche
Commune freiwillig ab. Zum Glück war der Geſammtbetrag noch ſehr
niedrig, denn von den 41,047 Miethern der Hauptſtadt entrichtete die
größere Hälfte (20,743) im Jahre 1824 nur 50 Thlr. Miethe oder we-
niger, und nur für 115 Wohnungen wurden 1000 Thlr. und darüber
gezahlt. Wenn aber dereinſt die großſtädtiſche Wohnungsnoth, die ſchon
in Paris ihre Opfer forderte, auch über Berlin hereinbrach, dann mußte
die Miethſteuer zum Fluche der Armen werden. Alſo ward damals arg-
los der Grund gelegt für jene argen Mißſtände des preußiſchen Commu-
nalabgabenweſens, welche heute zu der Milde und Billigkeit unſerer Staats-
beſteuerung einen ſo grellen Gegenſatz bilden.
Die Finanzreform war beendet, und ſie war mit allen ihren Mängeln
ein gutes und tüchtiges Werk, wenngleich ſie die blinden Verehrer der
altpreußiſchen Ordnung ebenſo wenig befriedigte wie die doktrinären Ver-
theidiger eines wiſſenſchaftlich vollkommenen Abgabenſyſtems. Dieſe Groß-
macht, die unter den Schlägen des Krieges am ſchwerſten gelitten, hatte
mit tapferem Entſchluß ihren Eredit wiederhergeſtellt, während das reichere,
beſſer geſchonte Oeſterreich noch jahrelang vor dem Abgrunde des Bank-
rotts ſtand; ſie hatte, obwohl ſie noch immer das Königreich der langen
Grenzen war, ſich ein zugleich freies und ſchützendes Zollweſen gebildet,
das alle die wohlabgerundeten anderen Mächte beſchämte; ſie hatte endlich
ein völlig neues Abgabenſyſtem geſchaffen, das die Steuerkraft des ver-
armten Volkes an allen faßbaren Stellen packte ohne doch in die unmä-
ßige Zerſplitterung der alten Acciſe zu verfallen, das dem Staate ſein
Daſein, ſeine Wehrbarkeit ſicherte, ohne die Volkswirthſchaft in ihrem ge-
ſunden Wachsthum zu hemmen, und ſchon nach wenigen Jahren ſelbſt
von den grollenden Sachſen und Rheinländern als erträglich anerkannt
wurde. Und das Alles dankte Preußen zunächſt dem greiſen Kanzler, den
die unfruchtbare Wiener Staatsweisheit ſo tief verachtete. Am Rande
des Grabes, von aller Welt als altersſchwach verſpottet, war Hardenberg
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 7
[98]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
noch einmal mit jugendlicher Schnellkraft aufgeſtanden, um ſich einzuleben
in einen Gedankenkreis, der ſeiner Bildung fern lag, um ſicheren Blicks
die rechten Männer, Maaſſen, Rother, Frieſe, Hoffmann, an die rechte
Stelle zu ſetzen und ſchließlich bald ſchmeichelnd bald ſchlagend alle die
Gegner von rechts und links zu überwinden, die nur er mit ſeiner ſchmieg-
ſamen Findigkeit beſiegen konnte. Es war nicht das ſchlechteſte Blatt in
dem vollen Kranze ſeines Ruhmes. —
Nach ſolchen Erfolgen durfte Hardenberg ſich’s wohl zutrauen, daß
er auch das letzte Ziel aller ſeiner Reformen noch erreichen und ſein Tage-
werk mit der Berufung des erſten preußiſchen Landtags abſchließen werde.
Durch die neuen Finanzgeſetze war das Verſprechen von 1815 förmlich
erneuert und bekräftigt, die Staatsſchuld unter die Obhut der Reichsſtände
geſtellt, den Provinzialſtänden die Mitwirkung bei der Ausgleichung der
Grundſteuer zugeſagt. Von ſo feierlichen Verheißungen wieder abzugehen
ſchien unmöglich. Der König hatte nicht nur dieſe Geſetze von freien
Stücken gebilligt, ſondern auch während der Verhandlungen der jüngſten
Monate faſt immer im Sinne des Kanzlers ſich entſchieden und ihn ſelbſt
gegen die königlichen Prinzen nachdrücklich in Schutz genommen. Alles
ſchien auf gutem Wege. In einem Privatbriefe, der bald die Runde durch
die Zeitungen machte, mahnte Hardenberg, „dem langſamen aber folge-
rechten Gange der Regierung“ beſſeres Zutrauen zu ſchenken: unzweifel-
haft werde die Verfaſſung noch zu Stande kommen. Er hoffte um ſo
ſicherer, über die Flüſterer und Warner, die am Hofe umherſchlichen, noch
den Sieg davonzutragen, da der König alle Eingaben der altſtändiſchen
Partikulariſten ſcharf abgewieſen hatte, und außer dem wenig einfluß-
reichen Klewiz bisher noch kein namhafter Staatsmann, auch Metternich
nicht, dem Verfaſſungsplane offen entgegengetreten war.
Allerdings hatten die Finanzverhandlungen abermals bewieſen, daß
nicht blos Vorurtheile, ſondern auch berechtigte, ernſte Bedenken der Be-
rufung der Reichsſtände entgegenſtanden. Wie ſollte das nothwendige
Geheimniß, das über der Bank und der Staatsſchuld lag, gewahrt bleiben,
wenn die allgemeinen Landſtände zuſammentraten? Und war es nicht
leicht möglich, daß der Landtag die zur Sicherung des neuen Abgaben-
ſyſtems unentbehrlichen Zollverhandlungen mit den deutſchen Nachbar-
ſtaaten durch partikulariſtiſche Kleinmeiſterei erſchweren würde? Weit
überwiegende Gründe ſprachen jedoch für die entſchloſſene Durchführung der
Pläne Hardenberg’s. Wie ſchwer mußte die monarchiſche Geſinnung in
dieſem mit ſeiner Krone ſo feſt verwachſenen Volke erſchüttert werden,
wenn zum erſten male in Preußens Geſchichte die zornige Frage erklang:
[99]Verfaſſungspläne.
ob man an einem Königsworte drehen und deuteln dürfe? Und wie
konnte eine Großmacht mit geſetzlich geſchloſſener Staatsſchuld der unbe-
rechenbaren Zukunft ſicher entgegengehen? In ruhiger Zeit mochte ihr
Credit ſich halten; brachen wieder Stürme herein, dann war, nach ſo be-
ſtimmten öffentlichen Verheißungen, keine Anleihe mehr möglich ohne
Reichsſtände. Ein gefährlicher Angriff der Landſtände wider die Einheit
des Staates ſtand jetzt ſchwerlich mehr zu befürchten, da die Krone dieſe
letzten fünf Jahre ihrer Vollgewalt weislich benutzt hatte um faſt auf
allen Gebieten der Geſetzgebung eine Reform durchzuſetzen, die nur ein
diktatoriſcher Wille vollenden konnte. Die Heeresverfaſſung war nunmehr
geſichert, desgleichen die Eintheilung der Provinzen und die neuen Formen
ihrer Verwaltung, das Syſtem der Abgaben und Zölle, das Staatsſchul-
denweſen und der Unterhalt für das königliche Haus; auch von den Ver-
handlungen über die Rechte der katholiſchen Kirche, welche Niebuhr in
Rom führte, ſah Hardenberg mit ſeinem feinen diplomatiſchen Blicke vor-
voraus, daß ſie bald ein leidliches Ergebniß bringen würden, obwohl der
ſchwarzſichtige Geſandte beſtändig das Schlimmſte fürchtete.*) Kam dies
Werk noch unter Dach, wurde auch die Gemeinde- und Kreis-Ordnung
nach Hardenberg’s Plan durch die Krone allein neu geſtaltet und endlich
auch die Verfaſſung ſelbſt allein durch den König verliehen, dann waren
in den nächſten Jahren ſchwere politiſche Kämpfe kaum zu erwarten.
Nach menſchlichem Ermeſſen ging Preußen zunächſt einer jener ſtillen
Epochen entgegen, welche ſich nach den großen Zeiten der Reform überall
einſtellen. Sein erſter Landtag, dem ja nur berathende Befugniſſe zu-
ſtehen ſollten, hätte vermuthlich ein unſcheinbares Daſein geführt und ſich
begnügen müſſen einzelne Mißgriffe der neuen Reformgeſetze zu rügen und
zu verbeſſern; ſo konnte er vielleicht eine ſtille Lehrzeit durchlaufen, wie
ſie dieſem unerfahrenen Volke gerade noth that, Oſtpreußen und Rhein-
länder, Märker und Weſtphalen in gemeinſamer nüchterner Arbeit an ein-
ander gewöhnen, aus dem verbiſſenen Partikularismus der Stände und
der Provinzen allmählich eine kräftige Staatsgeſinnung herausbilden und
durch ſein Daſein ſchon die verſtimmte öffentliche Meinung in Deutſch-
land beſchwichtigen. In ſolchem Lichte ſah der Staatskanzler die nächſte
Zukunft Preußens. Wer darf heute mit Sicherheit ſagen, ob die Dinge
wirklich ſo harmlos verlaufen, ob die abſtrakten, ſtaatsfeindlichen Gedanken
des neufranzöſiſchen Liberalismus nicht auch in den preußiſchen Landtag
eingedrungen wären? Eine hohe Wahrſcheinlichkeit ſpricht doch dafür, daß
Hardenberg das Rechte traf. Was den ſüddeutſchen Staaten leidlich ge-
lang war für Preußen nicht unmöglich; ein preußiſcher Landtag zur rechten
Zeit berufen konnte der Krone die Schmach des Jahres 1848 erſparen.
Auch der König ſchien des langen Zauderns müde. Nachdem er
7*
[100]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
ſchon durch die Cabinetsordre vom 17. Januar das Staatsminiſterium
an die ſchleunige Ausarbeitung der Communalordnung erinnert hatte, be-
fahl er am 12. Februar die Bildung einer beſonderen Commiſſion, welche
die geſammte erſte Hälfte des Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes, Ge-
meinde- und Kreisordnung, binnen vier Wochen ins Reine bringen und
ſodann ihre Arbeit „wegen des innigen Zuſammenhanges mit der allge-
meinen ſtändiſchen Verfaſſung“ dem Ausſchuſſe für die ſtändiſchen Ange-
legenheiten vorlegen ſollte. Die Commiſſion beſtand durchweg aus treff-
lichen Beamten: Frieſe führte den Vorſitz, zu Mitgliedern wurden Daniels,
Eichhorn, Bernuth, Streckfuß, nachher auch Köhler und Vincke berufen.*)
Aber ihr Werk mißrieth, und dies Mißlingen ward verhängnißvoll: ſo-
bald der Unterbau der Verfaſſung ſich als morſch erwies, ſtürzte das ganze
Gebäude. An die feudale Verwaltung des flachen Landes war ſelbſt der
reformatoriſche Wille der großen Könige des achtzehnten Jahrhunderts
immer nur behutſam herangetreten; hier in den breiten Niederungen des
Staats hatte die unzähmbare Luſt der Deutſchen an örtlichem Sonder-
brauche von jeher freies Spiel, hier lag das letzte und ſtärkſte Bollwerk
der altſtändiſchen Macht, hier herrſchte noch ungebrochen ein uraltes Her-
kommen, und es war kein Zufall, daß an der zähen Kraft dieſes örtlichen
Kleinlebens, das dem alten abſoluten Königthum ſo lange getrotzt hatte,
auch der erſte Verſuch conſtitutioneller Reformpolitik zerſchellte. —
Noch einmal mußte Preußen die verderblichen Folgen von Stein’s
frühem Sturze ſchwer empfinden. Der große Reformer hatte, als er fiel,
den Entwurf einer Landgemeindeordnung faſt vollendet hinterlaſſen. Wäre
dies Werk damals ins Leben getreten, was nur Stein’s eiſernem Willen
gelingen konnte, ſo hätte die Geſetzgebung jetzt das Communalleben der
alten Provinzen in leidlicher Ordnung und damit einen feſten Anhalt für
weitere Reformen vorgefunden. Wie nun die Dinge lagen ſtand die
Commiſſion rathlos einer unüberſehbaren Mannichfaltigkeit örtlicher Son-
derrechte und Sonderbräuche, einem ſchlechthin chaotiſchen Zuſtande gegen-
über. In den öſtlichen Provinzen beſtanden etwa 25,000 Landgemeinden
und 15,000 Rittergutsbezirke. Unter dieſer ungeheueren Zahl befanden
ſich zwar manche ſtarkbevölkerte, halbſtädtiſche Ortſchaften, wie Langen-
bielau und die anderen gewerbreichen Dörfer, die ſich ſtundenweit in den
Thälern des Rieſengebirges hinaufzogen; doch die große Mehrzahl der
Landgemeinden des Nordoſtens war über die einfachen Zuſtände der erſten
Zeiten deutſcher Anſiedelung noch kaum hinausgekommen. Das kleine,
um den Herrenhof planmäßig angeſiedelte Koloniſtendorf bildete noch immer
die Regel; Gemeinden von hundert, ja fünfzig Köpfen waren nicht ſelten,
eine Ortſchaft von vierhundert Einwohnern galt ſchon für ein großes
Dorf. Dies Kleingemeindethum hatte den Bedürfniſſen des Landvolks
[101]Die Grundherrſchaft im Oſten.
genügt, ſo lange die Landgemeinde weſentlich den wirthſchaftlichen Zweck
des gemeinſamen Feldbaus verfolgte und die Kirche für Armenpflege und
Unterricht nothdürftig ſorgte. Seit aber die Reformation das Armen-
und Schulweſen ſeculariſirt und die Landgemeinde ſich nach und nach
aus einer wirthſchaftlichen Genoſſenſchaft in eine politiſche Gemeinde ver-
wandelt hatte, zeigten ſich die zwerghaften Communalgebilde des Nord-
oſtens völlig hilflos. Wie konnten ſie mit ihren dürftigen Mitteln Wege
bauen, Schulen unterhalten und alle die andern Leiſtungen für das ge-
meine Wohl aufbringen, welche der erſtarkte Staat jetzt von ihnen heiſchte?
Zumal in Altpreußen und Poſen, wo das Dorf durchſchnittlich kaum zwei-
hundert Köpfe zählte, war von modernen Communalanſtalten noch faſt
gar nichts vorhanden.
Einige Beihilfe leiſtete freilich der Grundherr, dem hier im Oſten
noch faſt überall die Patrimonialgerichtsbarkeit, die niedere Polizei und
das Kirchenpatronat zuſtanden: er war in ſeinem Gutsbezirke ſelber der
Gemeindevorſtand und ernannte den Schulzen für ſein Dorf. Dies pa-
triarchaliſche Verhältniß, das noch im Allgemeinen Landrecht als die nor-
male Dorfverfaſſung betrachtet wurde, begann ſich indeß ſeit der neuen
Agrargeſetzgebung gänzlich zu verſchieben. Durch die Ablöſung der bäuer-
lichen Laſten und Dienſte wurde das Dorf von dem Rittergutsbeſitzer
wirthſchaftlich unabhängig; die Grundherrſchaft war jetzt nur noch ein
Privatbeſitz, der in einer freien Nachbargemeinde den größten Theil der
Communallaſten zu tragen und die Rechte der Ortsobrigkeit auszuüben
hatte. Wie oft hatte der König ſeit dem Jahre 1808 ausgeſprochen, daß
dieſe Trümmer der altſtändiſchen Staatsordnung baldigſt fallen müßten.
Die Verbindung obrigkeitlicher Rechte mit dem Beſitz der Scholle wider-
ſprach nicht nur den erſten Grundſätzen moderner Rechtsgleichheit; die
Grundherrſchaft vermochte auch ihren polizeilichen Pflichten nicht mehr zu
genügen ſeit die Fabriken auf das flache Land drangen und die Freizügig-
keit viele Heimathloſe in die Dörfer warf; ohne die Hilfe der Gensdarmerie
des Staates hätten ſich die Ortsobrigkeiten nicht einmal der Vagabunden
erwehren können. Und während der wachſende Verkehr ſeine Anſprüche
an die ländliche Polizei täglich ſteigerte, ging der Grundherr ganz in den
Sorgen ſeiner eigenen Wirthſchaft auf. Wer ſich jetzt noch auf dem ver-
ſchuldeten und verwüſteten väterlichen Gute behaupten wollte, mußte hart
arbeiten und die neue Lehre der rationellen Landwirthſchaft gründlich
kennen. Das alte Sprichwort, daß auf dem Lande Jeder mit einer Hand-
voll Glück und Verſtand auskomme, galt längſt nicht mehr; das Ritter-
gut verlangte einen ganzen Mann, zumal ſeit die Brennerei, Dank der
neuen Branntweinſteuer, bei geſchicktem Betriebe reichen Ertrag bringen
konnte, und mancher Edelmann, der auf den Krämergeiſt der Städte ſtolz
herabſah, wurde, ohne es zu merken, ſelber ein eifriger Induſtrieller. Wo
blieb da noch Zeit und Kraft für die Pflichten der Ortsobrigkeit?
[102]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
Und wie ſelten hegte der Bauer jetzt noch zu ſeinem Grundherrn
das herzliche Zutrauen, das allein die Macht der Ortsobrigkeit erträglich
machen konnte! Schon früherhin hatte ſich der arme Adel des Nordoſtens
bei den ewig wiederkehrenden Kriegsnöthen nur ſelten lange in ſeinem
Beſitz behauptet, und es galt ſchon als Merkwürdigkeit, daß noch einzelne
alte Geſchlechter, wie die Bredow’s im Havellande, die Brandt’s von Lin-
dau in dem kurſächſiſchen Brandtswinkel, ſeit Jahrhunderten auf ihren
Stammgütern hauſten. Neuerdings, ſeit die Rittergüter frei veräußert
werden durften, ward der Beſitzwechſel noch häufiger und die Ueberlegen-
heit des bürgerlichen Kapitals auch auf dem Lande bald bemerkbar. Zu-
erſt die Amtmänner der Domänen, dann auch andere Bürgerliche ſiedelten
ſich in den alten Ritterſitzen an; in Oſtpreußen war ſchon jetzt die Mehr-
zahl der großen Güter in bürgerlichen Händen, hier und da regte ſich
auch ſchon die gewerbmäßige Güterſpekulation. Mancher der neuen Be-
ſitzer blieb ſeinen Bauern ganz fremd, und war er hartherzig, ſo ver-
ſuchte er ſich der Ortsarmen mit jedem Mittel zu entledigen, auch wohl
die kleinen Nachbarn, die ihm zur Laſt fallen konnten, auszukaufen.
Trotzdem waren dieſe verſchrobenen Zuſtände im Volke keineswegs
unbeliebt. Der Bauer haftete zäh am alten Herkommen und fand es
bequem, Gericht und Polizei ſo nahe vor der Thür zu haben; er blickte
über manche grobe Mängel der gutsherrlichen Verwaltung gleichgiltig hin-
weg, da die Grundherrſchaft jetzt nichts mehr von ihm zu fordern, ſon-
dern nur für ihn Laſten zu tragen hatte. Noch in den vierziger Jahren
dankten die Bauern des brandenburgiſchen Provinziallandtags ihrem Kö-
nige aus vollem Herzen, weil er ihnen ihre alte Gemeindeverfaſſung un-
angetaſtet gelaſſen habe. Der Adel andererſeits betrachtete die Grund-
herrſchaft als ein theueres Ehrenrecht ſeines Standes, und es war nicht
blos Junkerhochmuth, was aus ſolchen Anſichten ſprach. Die Grundherren
durften ſich rühmen, daß ſie ſich ihre Machtſtellung auf dem flachen Lande
durch ſchwere Opfer täglich neu erwarben; viele von ihnen empfanden
wirklich den Drang nach freier gemeinnütziger Thätigkeit, der in der Ariſto-
kratie geſunder Völker immer lebendig iſt. Mit Entrüſtung hatten ſich
ſchon im Jahre 1809 die Stände des Mohrunger Kreiſes, voran die
Grafen Dohna und Dönhoff, wider die geplante Aufhebung der gutsherr-
lichen Polizei verwahrt, weil ſie es für eine unwürdige Zumuthung hielten,
daß der Grundherr fortan unthätig von ſeinen Einkünften leben ſolle.
Wenn der Geſetzgeber dieſe ehrenhafte Geſinnung auf ein richtiges Ziel
zu lenken verſtand, wenn er die Privilegien des Landadels entſchloſſen be-
ſeitigte und ihm dafür auf dem Boden des gemeinen Rechtes einen neuen
fruchtbaren Wirkungskreis eröffnete, dann konnte das vorurtheilsvolle Jun-
kerthum des Nordoſtens dereinſt noch zu einer feſten Stütze der länd-
lichen Selbſtverwaltung werden.
Wie anders die Landgemeinden der weſtlichen Provinzen! Hier hatte
[103]Die Landgemeinden im Weſten.
die Geſetzgebung Frankreichs und ſeiner Vaſallenſtaaten jeden rechtlichen
Unterſchied zwiſchen Stadt und Land, Rittergut und Bauerngut beſeitigt.
Am Rhein waren die großen Güter faſt alleſammt zerſchlagen; in Weſt-
phalen beſtanden zwar noch einige ritterſchaftliche Gutsbezirke, doch ſie
waren Gemeinden wie die anderen auch, nur daß dem Grundherrn das
Amt des Gemeindevorſtandes zuſtand, und übten kein Herrenrecht über
die Nachbardörfer. Die Einebnung aller ſocialen Ungleichheiten entſprach
den wirthſchaftlichen Zuſtänden dieſer dichtbevölkerten Landſchaften, wo
der ſtädtiſche Gewerbfleiß ſich ſchon längſt auf den Dörfern eingebürgert
hatte. Der abſtrakte Begriff der franzöſiſchen Municipalité war hier tief
ins Volk gedrungen; wenn ein Weſtdeutſcher über die deutſche Gemeinde-
verfaſſung ſchrieb, wie der Naſſauer Pagenſtecher 1818, ſo ſprach er ſtets
nur von der Gemeinde ſchlechthin, ohne nach der Eigenart von Dorf und
Stadt zu fragen.
Die Landgemeinden des Weſtens waren aus den mächtigen Mark-
genoſſenſchaften der Germanen hervorgegangen, an ſich ſchon größer als
die Kolonialdörfer des Oſtens, durchſchnittlich 5—700 Köpfe ſtark und
überdies durch die Fremdherrſchaft zu Sammtgemeinden zuſammenge-
ſchlagen worden. Als Rudler einſt mit ſeinen Genoſſen die franzöſiſche
Verwaltung auf dem linken Rheinufer einrichtete, hatte er nicht genug
Maires, die franzöſiſch ſprachen, auftreiben können und daher nach Gut-
dünken oft mehrere Gemeinden unter einen Bürgermeiſter geſtellt. Dies
Verfahren, das dem Geſetze widerſprach und erſt nachträglich die Billi-
gung der Conſuln fand, war dann von den kaiſerlichen Präfekten fortge-
ſetzt worden, weil die Bureaukratie mit einer kleinen Zahl von Bürger-
meiſtern ſo viel leichter auskommen konnte. Auch in Berg waren ſeit
1808 Sammtgemeinden, ähnlich den Amtsverbänden der guten alten Zeit,
entſtanden. So traten denn den zahlloſen winzigen Gemeinden des Oſtens
in den weſtlichen Provinzen nur an fünftehalbtauſend Landgemeinden
gegenüber, die zu etwa tauſend Bürgermeiſtereien und Aemtern vereinigt
waren. Der rheiniſche Bürgermeiſter ſammt ſeinen Beigeordneten wurde
durch den Staat ernannt und regierte nach jenem oberſten Grundſatze des
napoleoniſchen Verwaltungsrechts, kraft deſſen die Verwaltungsthätigkeit
ausſchließlich den Staatsbeamten, den Regierten nur ein unmaßgeblicher
Beirath zuſtand; ſeine bureaukratiſche Gewalt war oft härter als das
patriarchaliſche Regiment des pommerſchen Gutsherrn.
Gleichwohl hatte auch dieſe undeutſche Einrichtung raſch feſte Wurzeln
im rheiniſchen Lande geſchlagen. Den neuen preußiſchen Landräthen er-
ſchien ſie ebenſo bequem wie einſt den Unterpräfekten. Zudem war der
ernannte Bürgermeiſter den Einflüſterungen des Clerus, den Launen der
öffentlichen Meinung weniger zugänglich als ein gewählter Dorfſchulze;
begreiflich alſo, daß die Regierungen der weſtlichen Provinzen alleſammt,
bis auf drei, ſich für den Fortbeſtand der Bürgermeiſtereien ausſprachen.
[104]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
Auch das Volk hielt ſeine Gemeindeverfaſſung hoch, ſchon weil ſie rheiniſch
war. „Wir wolle bleibe was wir ſin“ hieß es kurzab, ſobald man ver-
nahm, daß der Preuß eine Aenderung beabſichtige. Der kleine rheiniſche
Landmann, der mit der Gartenwirthſchaft und dem Glücksſpiele des Wein-
baues ſchon ſeine liebe Noth hatte, ſah es keineswegs ungern, daß ihm
der geſtrenge Bürgermeiſter die Arbeit und Sorge für das Gemeindeweſen
abnahm; auch konnten die großen Bürgermeiſtereien für die Zwecke der
Wohlfahrtspolizei ungleich mehr leiſten als die Zwerggemeinden der alten
Provinzen. Dieſer praktiſche Vortheil war ſo unleugbar, und die Volks-
meinung ſo entſchieden, daß ſelbſt die abgeſagten Feinde der franzöſiſchen
Geſetzgebung, Stein und Vincke, die Bürgermeiſtereien und Aemter nicht
antaſten wollten.
Ebenſo ſchroffe Unterſchiede zeigten ſich im Städteweſen. In den
alten Provinzen war Stein’s Städteordnung, nachdem ſie die ſchwere Prü-
fungszeit des Befreiungskrieges glücklich überſtanden, den Bürgern all-
mählich feſt ans Herz gewachſen, und Stein hoffte, ſein erprobtes Werk
mit einigen unweſentlichen Aenderungen bald auch in den neuen Provinzen
eingeführt zu ſehen, weil die Selbſtverwaltung die beſte Schule preußiſcher
Staatsgeſinnung ſei. Die Rheinländer aber ließen ſich’s nicht träumen,
wie viel freier die Städteverfaſſung des verachteten Oſtens war. Die
formale Gleichheit der franzöſiſchen Municipalitäten genügte ihnen; bei
uns, ſagte man ſtolz, gehen alle Klaſſen der Geſellſchaft in dem einen
Begriffe des Bürgers auf. Der ernannte Bürgermeiſter mit ſeinen Bei-
geordneten war nach rheiniſcher Anſchauung den deutſchen Magiſtraten
des Oſtens ebenſo überlegen wie der napoleoniſche Präfekt den preußiſchen
Regierungscollegien. Der rheinländiſche Bürger freute ſich, daß ihm die
vielen läſtigen Ehrenämter der Stein’ſchen Städteordnung erſpart blieben,
und Niemand bemerkte, daß ein Gemeinderath, der nicht ſelbſt verwaltete,
auch keine wirkſame Controle über den allmächtigen Bürgermeiſter aus-
üben konnte. Gewählte Magiſtrate wünſchte man ſchon darum nicht, weil
man die Wiederkehr des Kölniſchen Klüngels und ſeiner Vetternherrſchaft
befürchtete. Die tiefſinnige Auffaſſung vom Staate und ſeinen Pflichten,
welche der Städteordnung Stein’s zu Grunde lag, erſchien hier im Weſten,
wo Alles für die Ideen von 89 ſchwärmte, ganz unverſtändlich. Noch
im Jahre 1845 behauptete L. Buhl in einer Schrift über die Gemeinde-
verfaſſung der preußiſchen Rheinprovinz: das Beiſpiel „des Muſterlandes
Frankreich“ beweiſe genugſam, daß Freiheit des Staates und Freiheit der
Gemeinden einander ausſchlöſſen; vor dieſe Wahl geſtellt müſſe das libe-
rale Rheinland die Freiheit des Staates vorziehen. Der wackere Publiciſt,
einer der klügſten Liberalen der Rheinpfalz, hatte damit faſt allen Be-
wohnern des linken Rheinufers aus der Seele geſprochen. Ein Volk, das
in ſolchen Anſchauungen lebte und ſich dabei noch ſeines Freiſinns rühmte,
war für die harten Pflichten deutſcher Selbſtverwaltung offenbar noch
[105]Städte und Kreiſe.
ſchwerer zu gewinnen, als vormals das verſchüchterte Kleinbürgerthum
der Städte des Oſtens.
Auch in der Kreisverwaltung verrieth ſich überall der Gegenſatz von
Oſt und Weſt. Gleichzeitig mit den Provinzen und den Regierungsbe-
zirken war auch die altbewährte brandenburgiſche Kreiseintheilung mit-
ſammt dem Landrathsamte in die neuen Gebiete eingeführt worden, und
im Jahre 1816 hatte der König den Kreisſtänden wieder geſtattet, für
die erledigten Landrathsſtellen drei Candidaten aus den Grundbeſitzern
des Kreiſes vorzuſchlagen. Nach dem Buchſtaben des Geſetzes war der
Landrath fortan nur noch ein Staatsbeamter, und Hardenberg erklärte
ausdrücklich: wenn der Landrath aus den Kreiseingeſeſſenen ernannt
würde, ſo „liege dem keineswegs die Vorſtellung von einem repräſenta-
tiven Verhältniß zu Grunde, ſondern nur die Idee, daß ein Solcher mit
ſeinem Grundeigenthum für die Vermuthung bürge, daß er kennen und
befördern werde, was zum Wohl der Kreisinſaſſen gereicht.“*) That-
ſächlich blieb der Landrath im Oſten doch wie von Alters her zugleich
Organ der Regierung und Vertrauensmann ſeines Kreiſes. Dieſe eigen-
thümliche Doppelſtellung, die dem Hauptamte der alten Provinzen ſeinen
Charakter gab, ließ ſich leider auf die weſtlichen Landestheile nicht kurz-
weg übertragen. Hier war die Zahl der gebildeten Grundbeſitzer ſo gering,
daß man auch „andere geeignete Perſonen“, namentlich Offiziere, an die
Spitze der Kreisverwaltung ſtellen mußte. Solche Beamten-Landräthe
konnten nicht viel mehr ſein als Nachfolger der napoleoniſchen Unter-
präfekten. Einzelne von ihnen wurden zwar allmählich in dem neuen
Neſte warm: ſo der wackere Bärſch, der Genoſſe Schill’s, der in dem
armen Eifelkreiſe Prüm ein ſtrenges Regiment führte und bald durch
ſeine Schriften über die Landeskunde der Eifel bewies, daß er in dem
rauhen Gebirge beſſer Beſcheid wußte als die Eingebornen ſelber. Viele
aber blieben ihrem Kreiſe fremd und betrachteten ihr Amt als einen
Durchgangspoſten zu höheren Stellen. Die radikale Zerſtörung aller ari-
ſtokratiſchen Kräfte führte hier wie in Frankreich zu einer rein bureau-
kratiſchen Verwaltung. Ueber die Kreisverſammlungen war noch nichts
beſtimmt, ſeit der König das unglückliche Gensdarmerie-Edikt außer Kraft
geſetzt hatte; doch Jedermann fühlte, daß die Kreisſtände in dem bürger-
lichen Weſten eine andere Form erhalten mußten als in den ariſtokrati-
ſchen alten Provinzen. —
Wie wenig mußten der König und ſein Kanzler dieſe verwickelten
Verhältniſſe kennen, wenn ſie die Vollendung der Communalordnungs-
Entwürfe binnen vier Wochen erwarteten. Erſt nach einem halben Jahre
hatte die Commiſſion den ungeheuren Stoff nothdürftig, und nicht ohne
[106]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
Ueberſtürzung bewältigt, und am 7. Auguſt konnte ſie ihre Pläne für die
Verfaſſung der Kreiſe, Städte und Landgemeinden vorlegen.*) Die Arbeit
war weſentlich das Werk des Vorſitzenden Frieſe; manche ſeiner Vor-
ſchläge von 1811 kehrten in den neuen Entwürfen faſt wörtlich wieder.
Schon damals hatte er ſich gegen die Ortsobrigkeit der Gutsherren aus-
geſprochen. Liberal durch und durch, erkannte er in dem ſchroffen Gegen-
ſatze der Stände einen Hauptgrund des Unglücks von 1806, in der Be-
ſeitigung aller wirthſchaftlichen und politiſchen Privilegien des Grund-
adels die Vorbedingung eines freien Gemeindeweſens.
In der That hatte der Staatsrath mittlerweile die Agrargeſetzgebung
von 1811 rüſtig weiter geführt. Am 25. Sept. 1820 erſchien ein in ein-
zelnen Beſtimmungen faſt allzu radikales Edikt, das die Ablöſung der
bäuerlichen Laſten für die Länder zwiſchen Elbe und Rhein regelte. Darauf
folgte am 7. Juni 1821 nach langen und ſchwierigen Berathungen**)
das tief einſchneidende Geſetz über die Gemeinheitstheilungen, die letzte
große Reform der Hardenbergiſchen Epoche. Seit Friedrich der Große
die Aufhebung der Gemeinheiten begonnen hatte, waren ſchon über 2½
Mill. Morgen Gemeindeländereien aufgetheilt; jetzt wurden die Ausein-
anderſetzungen in größerem Umfang weiter geführt und unter die Auf-
ſicht der Generalcommiſſionen geſtellt, die bereits ſeit 1811 mit der Lei-
tung der Ablöſungen betraut waren. Die neue Geſetzgebung ging von
dem verwegenen Satze aus, daß jede Gemeinheitstheilung bis auf er-
brachten Gegenbeweis als förderlich für die Landescultur angeſehen wer-
den müſſe, andererſeits bot ſie volle Gewähr für ein ſtreng rechtliches
Verfahren, da die Generalcommiſſionen richterliche Beiſaſſen erhielten und
mit den Befugniſſen der Gerichtscollegien ausgeſtattet wurden. Es war
ein kühner Gewaltſtreich, doch er ergab ſich ſo nothwendig aus den Be-
dürfniſſen des Landbaus, daß nach und nach faſt alle deutſche Staaten,
Württemberg erſt im Jahre 1854, dem Beiſpiele Preußens folgten. Und
auch diesmal ward offenbar, wie hoch das Beamtenthum noch über der
wirthſchaftlichen Bildung des Volkes ſtand.
Von allen Seiten regte ſich der Unwille. Nicht blos Marwitz und
ſeine Freunde wetterten wider die buchgelehrten Generalcommiſſionen und
beſchuldigten den Staat der Volksverführung, wenn einmal ein ſchlaues
Bäuerlein, das ſeinen Acker weit vom Dorfe angewieſen erhielt, ſich den
Segen der neuen Feuerverſicherung zu nutze machte und ſein Haus an-
zündete. Auch die Bauern ſelbſt, die früher ſo oft geklagt hatten, „viel
Hirten, übel gehütet!“, widerſetzten ſich häufig der Auftheilung der Ge-
meindeweiden und erſchwerten den Behörden die Arbeit durch mißtrauiſchen
[107]Gemeinheitstheilung.
Zank. Die Staatsgewalt aber ſchritt unbekümmert vorwärts, und bis
zum Jahre 1848 wurden noch faſt 43 Mill. Morgen Gemeindeland auf-
getheilt oder von Servituten befreit. Faſt überall ſchämten ſich die Bauern
ihres Widerſtandes, ſobald das Werk gelungen war, und die verhaßten
Generalcommiſſionen gelangten nach und nach zu hohem Anſehen. Das
Landvolk begann einzuſehen, daß die Gemeinheitstheilung ein unentbehr-
liches Glied war in der langen Kette jener Reformen, welche den frohnen-
den Scharwerker zum freien Eigenthümer erheben ſollten. Mit den Ge-
meinheiten fiel auch der Flurzwang. Nun erſt ward auf den Dorffluren
ein leidliches Bewäſſerungs- und Wegenetz möglich, deſſen gerade Linien
allerdings die Schönheit der Landſchaft oft beeinträchtigten. Nun erſt
konnte der Bauer die altväteriſche Dreifelderwirthſchaft aufgeben und auf
ſeinem abgerundeten Gute einen intenſiveren Anbau verſuchen. Er war
jetzt ſeines Beſitzthums völlig Herr und durfte bei Fleiß und gutem Glück
auf ſteigenden Wohlſtand zählen. Im Mißgeſchick bekam er freilich die
Härten des Syſtems der freien Concurrenz ſchwer zu fühlen; dann fehlte
ihm der Nothpfennig der Gemeindenutzung, und da die landwirthſchaft-
lichen Creditinſtitute nur den großen Grundbeſitzern zu gute kamen, ſo
lief er leicht Gefahr von den benachbarten Grundherren ausgekauft zu
werden. Die Gemeinheitstheilung verſtopfte einen Quell ewigen Haders
zwiſchen den Grundherren und den Bauerſchaften, wie andererſeits die
meiſten der Grenzſtreitigkeiten, welche die proceßluſtigen Bauern unter
einander verfeindet hatten, durch die Zuſammenlegung der Güter beſeitigt
wurden. Sie wirkte auf das Communalleben des flachen Landes in ähn-
licher Weiſe wie einſt die Aufhebung der Zunft- und Bannrechte auf die
Städte. Der Gemeinheiten entledigt konnte das Dorf nunmehr in Wahr-
heit zu einer politiſchen Gemeinde werden.
Auf dieſen großen Umſchwung der ländlichen Verhältniſſe hatte die
Commiſſion ihre Entwürfe berechnet. Es war ihr ganzer Ernſt mit dem
Fundamentalſatze des Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes: „wir haben
lauter freie Eigenthümer.“ Und ohne den redlichen Eifer für das ge-
meine Recht konnte die Reform allerdings nicht gelingen. Aber auch Scho-
nung für das hiſtoriſch Gegebene, für die unendliche Mannichfaltigkeit des
communalen Lebens war unentbehrlich, und von ſolchem Verſtändniß beſaß
das liberale Beamtenthum, das die Mehrheit der Commiſſion bildete, nur
wenig. Frieſe vornehmlich war ſehr geneigt den berechtigten Gedanken
der Staatseinheit auf die Spitze zu treiben; hatte er doch vor neun
Jahren geradezu die Aufhebung der Provinzen befürwortet, weil der Pro-
vinzialgeiſt die Staatsgeſinnung ertöde. Gleich zu Beginn der Berathung
ward die unabweisbare Frage aufgeworfen, ob eine Communalordnung
für den ganzen Staat, wie Hardenberg ſie verlangt hatte, überhaupt mög-
lich ſei. Vincke erklärte nach ſeiner Kenntniß von Land und Leuten,
daß der Weſten ſeiner Bürgermeiſtereien und Aemter nicht entbehren
[108]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
könne.*) Hiſtoriſcher Sinn und bureaukratiſche Schablone geriethen hart an
einander. Die Mehrheit aber half ſich über alle Bedenken hinweg mit dem
doktrinären, ſelbſt theoretiſch anfechtbaren Satze: die Gemeinde ſei der
Mikrokosmus des Staates und könne darum wie dieſer nur eine gleich-
mäßige Verfaſſung erhalten. Ebenſo doktrinär war die weitere Behaup-
tung, daß der Unterſchied der Bildung zwiſchen den einzelnen Provinzen
gar nicht ſo groß ſei — als ob die Gemeindeverfaſſung durch die Bil-
dung und nicht vielmehr durch die wirthſchaftlichen Machtverhältniſſe be-
dingt würde. Darum beſchloß die Mehrheit, eine einzige Landgemeinde-
ordnung für den ganzen Staat auszuarbeiten, obgleich ſie ſelber einge-
ſtehen mußte, daß dies allgemeine Geſetz unvollſtändig ſei und der Er-
gänzung durch Provinzialgeſetze bedürfe. Durch dieſen ſchweren Mißgriff
ward die Grundlage des Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes unrettbar
verdorben, außer dem Kaſtengeiſte der Privilegirten auch der berechtigte
Partikularismus der Provinzen zu erbittertem Kampfe herausgefordert. —
Im Einzelnen enthielten die Entwürfe, wie von ſo tüchtigen Beamten
zu erwarten war, manchen trefflichen Gedanken. Die Commiſſion erkannte
den im deutſchen Leben ſo tief begründeten Gegenſatz von Stadt und Land
als eine gegebene Thatſache an, ſie wollte dem Bauern Alles was ihn
angehe in einem Geſetze handlich beiſammen bieten und verwarf daher
den Vorſchlag, Dorf und Stadt nach franzöſiſcher Weiſe in einen Rahmen
zu zwängen, obgleich mehrere Regierungen der weſtlichen Provinzen ſich
lebhaft dafür verwendet hatten. Der Entwurf der Landgemeindeordnung
nahm den Fortbeſtand der vorhandenen Einzelgemeinden als Regel an,
geſtattete jedoch benachbarten kleinen Ortſchaften ſich durch freie Ueberein-
kunft zu einer größeren Gemeinde zuſammenzuthun und ſprach die naive
Erwartung aus, dieſe Erlaubniß werde häufig benutzt werden, ſobald nur
erſt „die allgemeine Repräſentation des Staates“ den Gemeingeiſt geweckt
habe. Vor dem Frühlingshauche des conſtitutionellen Staatslebens ſollte
alſo das dicke Eis des bäuerlichen Partikularismus von ſelbſt zerſchmelzen!
Die rheiniſchen Bürgermeiſtereien fielen damit hinweg; indeß ward den
Regierungen geſtattet für die beſonderen Zwecke des Wegebaus, des Schul-
weſens, der Armenpflege u. ſ. w. Sammtgemeinden zu bilden und hierzu
auch die Bürgermeiſtereien zu benutzen. In jeder Gemeinde ein freige-
wählter, vom Landrathe beſtätigter Schulze mit Schöppen und eine Ge-
meindeverſammlung, die aus allen Gemeindebürgern, in größeren Ort-
ſchaften aus Repräſentanten beſtehen ſoll; das Gemeindebürgerrecht ſehr
weit ausgedehnt, ſo daß es der Regel nach keinem ſelbſtändigen Hausvater,
wenn er nicht Knecht oder Tagelöhner iſt, verſagt werden darf.
Behutſamer lauteten die Vorſchläge über die Grundherrſchaft. Die
Commiſſion wagte nicht, die Aufhebung der gutsherrlichen Polizei grades-
[109]Landgemeinde- und Städte-Ordnung.
wegs zu verlangen, über die Patrimonalgerichte hatte ſie ohnehin nichts
zu entſcheiden; ſie ſah auch ein, daß man den Grundherrn zum Eintritt
in die Dorfgemeinde, die ihm vor Kurzem noch unterthänig geweſen, nicht
ohne Weiteres zwingen durfte. Auf der anderen Seite war die Wiederein-
führung der Gutsherrſchaft in den weſtlichen Provinzen unmöglich und die
Ernennung des Schulzen durch den Grundherrn jetzt eine offenbare Un-
gerechtigkeit, da die Intereſſen des Dorfes und des Ritterguts bei der
noch unvollendeten Auseinanderſetzung oft genug feindlich auf einander
ſtießen. Daher ward ein Mittelweg eingeſchlagen. Der Grundherr ſollte
einſtweilen behalten was ihm von Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt noch
zuſtand, aber der Landrath war befugt in Polizeiſachen dem Dorfſchulzen
unmittelbar zu befehlen. Der Gutsherr durfte ferner beim Landrath Ein-
ſpruch erheben gegen die Schulzenwahl und zur Wahrung ſeiner Rechte
ſich das Gemeindebuch vorlegen laſſen; er konnte endlich verlangen, daß
ſein Gut, wenn es bisher dem Dorfverbande noch nicht angehört hatte,
auch fernerhin einen beſonderen Gutsbezirk unter ſeiner perſönlichen Lei-
tung bilden ſolle. Die ausgeſprochene Abſicht dieſer Vorſchläge ging da-
hin, den Dörfern und den Gutsbezirken in Zukunft „die gänzliche Ver-
einigung zu erleichtern“. Aber wie gründlich täuſchte man ſich doch am
grünen Tiſche über die Geſinnung des Landadels, wenn die Commiſſion
hoffen konnte, die Grundherren würden ihre Polizeigewalt bald ſelber „als
eine unnütze Laſt betrachten“.
Minder tief griffen die Vorſchläge der Commiſſion in die Städte-
ordnung ein. Hier galt es nur einige Mängel des Stein’ſchen Geſetzes zu
beſeitigen, welche ſich in der Erfahrung erwieſen hatten und von Stein
ſelbſt nicht abgeleugnet wurden. Jedermann gab zu, daß die Städteord-
nung die grundverſchiedenen Verhältniſſe der einzelnen Communen allzu
gleichmäßig regelte; darum forderte die Commiſſion für jede Stadt die
Befugniß, mit Genehmigung des Staates ein Ortsſtatut zu vereinbaren.
Sodann hatte das Bürgerrecht ſeit der Einführung der Gewerbefreiheit
ſeine wirthſchaftliche Bedeutung verloren; Gewerbe zu treiben, ſtädtiſche
Grundſtücke zu erwerben ſtand jetzt einem Jeden frei. Das einzige we-
ſentliche Recht des Bürgers blieb fortan die Theilnahme an der Gemeinde-
verwaltung. Demgemäß verlangte die Commiſſion, daß fortan den ſoge-
nannten Notabeln, den Staatsdienern, Geiſtlichen, Gelehrten, die bisher
zumeiſt Schutzverwandte geblieben waren, die Erwerbung des Bürgerrechts
erleichtert würde; von dem hohen Cenſus aber, deſſen Einführung die
Hochconſervativen forderten, wollte ſie nichts hören.
Eine andere Beſchwerde der Conſervativen richtete ſich wider die
mangelhafte Staatsaufſicht; „unſere Städte ſind zu kleinen Republiken ge-
worden“, hieß es im Lager der altſtändiſchen Partei. In der That ließ
der Staat die großen Communen ganz frei gewähren und den Magiſtraten
ſelbſt grobe Geſetzesverletzungen hingehen; es kam vor, daß eine Stadt
[110]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
zwanzig Jahre lang gar keine Erneuerungswahlen für die Stadtverord-
netenverſammlung ausſchrieb. Aber auch in dieſer Frage blieb die Mehr-
heit der Commiſſion den Wünſchen der Conſervativen unzugänglich. Bei
ihren Berathungen über die Städteordnung pflegte Geh. Rath Streckfuß
das entſcheidende Wort zu ſprechen, ein aus Sachſen herübergekommener
ausgezeichneter Beamter, der einſt daheim ein in Heimlichkeit und Nepo-
tismus verkommenes Städteweſen verachten gelernt hatte und nun das
kräftige bürgerliche Leben der preußiſchen Städte als ein Ideal bewunderte.
Wie war er ſtolz auf dieſe „preußiſche Freiheit“; „ſehr wunderlich“ er-
ſchien ihm dagegen die Freiheit Frankreichs, die der Nation zwar geſtatte,
die Miniſter abzuſetzen, aber ihr jede Mitwirkung bei ihren nächſten An-
legenheiten verſage. Ein warmer Vertheidiger der Städteordnung Stein’s
führte er acht Jahre ſpäter einen lebhaften Federkrieg gegen F. v. Raumer.
Auf ſeinen Rath beſchloß die Commiſſion, das Aufſichtsrecht des Staates
ſcharf zu beſchränken: beſſer immerhin, daß die Communen einige Miß-
griffe begehen, als daß die Regierung verhaßte Willkür übe; nur die Lan-
desgeſetze und die Grundgedanken des neuen Steuerſyſtems durfte die
Communalverwaltung nicht antaſten. Erſt ein ſpäteres Geſchlecht ſollte er-
fahren, daß dieſe allgemeinen Sätze keineswegs genügten um die Grenzen
zwiſchen Staat und Gemeinde abzuſtecken. Das Beſteuerungsrecht der
Communen bedurfte einer genauen geſetzlichen Regelung, ſonſt konnte der
Staat auf die Dauer ſein eigenes Steuerſyſtem nicht zugleich ſicher und
beweglich erhalten. Aber ſolche Erwägungen lagen noch ganz außerhalb
des Geſichtskreiſes der Zeit.
Sehr heftig wurden die Verhandlungen, als eine ſchon längſt von
allen Seiten beklagte Lücke der Städteordnung zur Sprache kam. Stein
hatte in ſeinem Geſetze nicht geſagt, wie die Streitigkeiten zwiſchen Ma-
giſtrat und Stadtverordneten auszugleichen ſeien; jetzt wünſchte er leb-
haft, daß in ſolchen Fällen der Schiedsſpruch von Obmännern eingeholt
werden ſolle. Streckfuß aber betrachtete den Stadtrath nur als den
Diener der Bürgerſchaft und erkannte die Gefahr, daß ſich aus den be-
ſoldeten Berufsbeamten der Magiſtrate eine neue Communal-Bureaukratie
herausbilde. In dieſen Kreiſen, ſo erklärten die hohen Beamten der
Commiſſion mit ſeltener Unbefangenheit, entſtehe leicht „der Beamtengeiſt,
der nur zu oft theils zu gänzlicher Schlaffheit, theils zur Aufopferung
des Weſens um der Form, der Sache um des Amtes willen verleite“.
Darum beantragten ſie, daß der Magiſtrat der Regel nach nur die Be-
ſchlüſſe der Stadtverordneten auszuführen habe und lediglich bei Anleihen,
bei Veräußerung der Gemeindegüter ſowie bei ungeſetzlichen Zumuthungen
ſeine Beiſtimmung verweigern dürfe. Der Antrag ſchoß weit über das
Ziel hinaus, und vergeblich warnte Geh. Rath Köhler: das heiße die
Magiſtrate jeder Kraft berauben, die Gemeinden demokratiſiren.*) Von
[111]Kreis-Ordnung.
ſo radikalen Abſichten war die Mehrheit allerdings weit entfernt; ſie gab
vielmehr zu, daß die kurze Amtsdauer der ſtädtiſchen Aemter viele tüchtige
Kräfte von der Communalverwaltung fern halte, die ſtädtiſchen Beamten
allzuſehr der Volksgunſt unterwerfe, und beantragte daher lebenslängliche
Anſtellung der beſoldeten Stadträthe.
Unter allen Sätzen der Städteordnung ward keiner ſo leidenſchaftlich
angefeindet wie die Eintheilung der Städte in Ortsbezirke. Die modiſche
Vorliebe für deutſchrechtliche Stände und Corporationen wollte in dieſer
Vorſchrift nichts als mechaniſche Willkür ſehen. Ancillon hatte ſchon 1819
in ſeiner Verfaſſungsdenkſchrift bitter getadelt, daß die Städteordnung
„alle Bürger ohne Unterſchied in eine Kategorie werfe“. Aber auch Hum-
boldt, J. G. Hoffmann und ſogar die Liberalen Dahlmann und F. v.
Raumer wünſchten, die alten Corporationen der Gewerbsgenoſſen in
freieren Formen wieder zu beleben und dieſen das ſtädtiſche Wahlrecht
anzuvertrauen. Die Lehre Niebuhr’s: „ohne Einungen und Corporationen
kann keine ſtädtiſche Wahl und keine Bürgerverſammlung gedeihen“ ent-
ſprach den Durchſchnittsanſichten dieſer romantiſchen Epoche. Stein ſelber
neigte ſich zu Zeiten der Meinung Niebuhr’s zu, obwohl ihm ſein ſtaats-
männiſcher Inſtinkt ſagte, wie ſchwierig die Ausführung ſei. Die Com-
miſſion dagegen hielt die nachbarſchaftlichen Stadtbezirke des Stein’ſchen
Geſetzes aufrecht; ſie wußte, daß die Gemeindeverwaltung die Bürger als
Bürger vereinigen, nicht als Gewerbsgenoſſen trennen ſoll. In der That
hatte ſich die Städteordnung gerade in den großen Städten, wo die Nach-
barſchaft ſo wenig bedeutet, am beſten bewährt; und auch ſpäterhin iſt
jeder Verſuch, die Communal-Verfaſſung auf gewerbliche Corporationen
zu ſtützen, an der bunten Mannichfaltigkeit des modernen ſtädtiſchen Ge-
werbslebens regelmäßig zu Schanden geworden. —
Aus allen dieſen Vorſchlägen ſprach ein lebendiges Verſtändniß für
deutſche Selbſtverwaltung. In auffälligem Gegenſatze dazu ſtand der
bureaukratiſche Geiſt des Kreisordnungs-Entwurfes, der lebhaft an das
unſelige Gensdarmerie-Edikt erinnerte. Als nach dem Jahre 1807 die
Reform der Kreisordnung zuerſt erwogen wurde, da begegneten ſich Stein
Vincke, Schrötter und Frieſe ſelbſt in der Einſicht, daß die Kreiseinge-
ſeſſenen bei der Verwaltung des Kreiſes ſelber Hand anlegen müßten.
Sie Alle wollten den Kreis in kleinere Bezirke gliedern, da ein Gebiet
von durchſchnittlich 35,000 Einwohnern für die Wirkſamkeit von Selbſt-
verwaltungsbeamten offenbar zu groß war, und in dieſen Bezirken einen
Theil der Verwaltungsgeſchäfte an Kreiseingeſeſſene übertragen. Dieſer
fruchtbare Gedanke, der allein weiter führen konnte, wurde jetzt leider auf-
gegeben. Wie wunderbar nachhaltig iſt doch die Wirkſamkeit des Genius.
Dem Städteweſen hatte Stein’s gewaltiger Wille den Grundſatz „Selbſt-
verwaltung iſt Selbſthandeln“ ſo unvertilgbar eingeprägt, daß keiner
ſeiner Nachfolger daran noch viel ändern konnte. Die Kreisverwaltung
[112]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
aber, die er nicht mehr hatte neugeſtalten können, blieb noch während
eines halben Jahrhunderts der Spielball wechſelnder geſetzgeberiſcher Ver-
ſuche; nichts ſtand hier feſt, nicht einmal die leitenden Grundſätze.
Durch das Gensdarmerie-Edikt hatte Hardenberg die Selbſtverwaltung
der Kreiſe faſt gänzlich zu zerſtören verſucht; und nunmehr, nachdem dieſer
Mißgriff zurückgenommen war, begnügten ſich Frieſe und ſeine Commiſſion,
die Bildung von Kreisverſammlungen vorzuſchlagen, welche über Kreis-
angelegenheiten berathen, Mißbräuche und Mängel rügen, die Landesab-
gaben vertheilen und über gemeinnützige Anſtalten beſchließen, aber ſich
jeder Einmiſchung in die Kreisverwaltung unbedingt enthalten ſollten.
Ein ſolcher Kreistag ohne eigene verantwortliche Thätigkeit ſtand neben
dem allein handelnden Landrath ebenſo machtlos wie der franzöſiſche
Generalrath neben dem Präfekten. Und ganz nach franzöſiſcher Weiſe
ſollte auch der Landrath fortan nur noch ein Staatsbeamter ſein. Bis-
her, ſo führte die Commiſſion aus, habe Preußen noch „keine wirklichen
Volksvertreter“ gekannt und daher den Landräthen etwas von den Rechten
einer Volksvertretung eingeräumt; jetzt aber, da die Regierung durch die
Verfaſſung „einen Theil der ihr bisher zugeſtandenen Geſammtgewalt
weggiebt“, muß ſie, nach dem Vorbilde aller anderen Verfaſſungsſtaaten,
ihre Beamten allein ernennen. Demnach darf der Landrath auch nicht
mehr den Vorſitz im Kreistage führen, ſondern nur ohne Stimmrecht den
Verhandlungen beiwohnen. Die ſcharfe Trennung von Aktion und Be-
rathung, der Grundgedanke des napoleoniſchen Verwaltungsrechts, ſollte
alſo mit allen ihren Conſequenzen nach Preußen hinübergenommen werden;
der Landrath war Alles, der Kreisverſammlung blieb nur die Berathung.
Damit ward die lebendige Selbſtverwaltung aufgegeben, und was
frommte es noch, daß die Zuſammenſetzung dieſer ohnmächtigen Kreistage
allen Wünſchen des Liberalismus entſprach? Neben der Grundherrſchaft
hielt der Adel des Oſtens keines ſeiner Standesrechte ſo hoch wie die alte
Kreisſtandſchaft. Er hatte es ſchon ſchwer genug verwunden, daß jetzt
auch Bürgerliche in die Ritterſchaft eintraten; ſeine Virilſtimmen auf den
Kreistagen wollte er ſich aber nimmermehr nehmen laſſen, darüber waren
alle Grundherren einig, in den alten Provinzen, in Sachſen und Vor-
pommern. Gegen dies alte Recht der Ritterſchaft führte nun die Com-
miſſion einen verwegenen Schlag. Sie beſeitigte die Virilſtimmen der
Ritterſchaft und gewährte den Großgrundbeſitzern nur das Recht, ein
Drittel der Kreisverordneten zu wählen. Die übrigen zwei Drittel ſollten
von ſämmtlichen Gemeinden des Kreiſes nach der Kopfzahl erwählt werden.
Wählbar waren außer den Grundherren, den Staats- und Communal-
beamten alle Kreisinſaſſen von 500 Thlr. Einkommen, und da die Wähler
nicht verpflichtet wurden, Männer ihres Standes zu wählen, ſo konnten
auch die dem Adel beſonders verhaßten „Bauern-Advokaten“ leicht in
den Kreistag gelangen. Der Vorſchlag war ebenſo kühn als ſchlecht vor-
[113]Mängel der Kreisordnung.
bereitet; denn wollte man die Ritterſchaft, die bisher die Kreistage allein
beherrſcht hatte, mit einem male in die Minderzahl hinabſtoßen, ſo for-
derten die Klugheit und die Gerechtigkeit, daß man den großen Grund-
beſitzern die Möglichkeit gewährte, ſich durch die Ehrenämter der Kreis-
verwaltung ihren wohlberechtigten Einfluß auf dem flachen Lande zu
ſichern. Doch für die Lebensbedingungen der ländlichen Selbſtverwal-
tung, die überall ariſtokratiſch iſt, beſaß die liberale Bureaukratie keinen
Sinn. Und durfte man den Gegenſatz von Stadt und Land, der in
der großen Mehrzahl der Kreiſe unverkennbar noch beſtand, durch einen
Befehl des Geſetzgebers einfach auslöſchen?
Wie ſchablonenhaft vollends war der Verſuch, den Großgrundbeſitzern
überall, trotz der ungeheuren Verſchiedenheit der ſocialen Verhältniſſe,
daſſelbe Drittel der Stimmen zu gewähren. Um dieſen künſtlichen Ge-
danken auch nur auf dem Papier durchzuführen, mußte die Commiſſion
alle Eigenthümer, die 100 Thlr. Grundſteuer zahlten, zu den großen
Grundbeſitzern rechnen, ſonſt konnte ſie in vielen Kreiſen der weſtlichen
Provinzen gar keinen Großgrundbeſitzer auftreiben. Das verfehlte Un-
ternehmen bewies unwiderleglich, daß eine gemeinſame Kreisordnung für
den Oſten und den Weſten ebenſo unmöglich war wie eine Landgemeinde-
ordnung für das ganze Staatsgebiet. Am Ende ihrer Arbeiten ſprach
die Commiſſion noch freimüthig die Befürchtung aus, daß man im Volke
vielleicht glauben werde, „hiermit ſolle nun die ganze ſtändiſche Angelegen-
heit abgethan, das Wort Sr. Majeſtät gelöſt und von einer Verfaſſung
für die Monarchie nicht mehr die Rede ſein“. Um ſolche Zweifel abzu-
ſchneiden, ſchlug ſie einen Schlußartikel vor, worin der König erklärte,
das Verhältniß der Kreistage zu den künftigen Ständen der Monarchie
würde „in der Urkunde über die Verfaſſung“ näher beſtimmt werden.
Die Arbeit der Commiſſion war verunglückt. Ein Werk aus einem
Guſſe, einen haltbaren Unterbau für Preußens Verfaſſung hatte ſie nicht
geſchaffen. Grade die beiden wichtigſten Entwürfe, Landgemeinde- und
Kreisordnung beruhten auf falſchen Grundgedanken, während die minder
erheblichen Vorſchläge zur Reform der Städteordnung auch minder an-
fechtbar waren. Und Angeſichts der mächtigen Feinde, welche das ganze
Verfaſſungswerk bekämpften, ließ ſich der begangene Fehler ſchwerlich noch
zur rechten Zeit ſühnen. Stein in ſeiner Verſtimmung hielt ſich von
vornherein überzeugt, daß die Gehilfen Hardenberg’s nur ein Werk „des
Buralismus und Liberalismus“ ſchaffen könnten. Und ſchon im Februar,
als die Commiſſion ihre Arbeit noch kaum begonnen, hatte das Comité
der oſtpreußiſchen Stände, voran der Miniſter Alexander Dohna, an den
König eine Adreſſe gerichtet, welche ſich heftig gegen die Karlsbader Be-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 8
[114]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
ſchlüſſe ausſprach, aber zugleich verlangte, daß bei der Reform des Ge-
meindeweſens „Alles, was geſchichtlich edel und tief im Leben des Volkes be-
ſteht, ſchonend behandelt,“ und zu der Verfaſſungsberathung „Eingeborene“
aus den Provinzen zugezogen würden. Dieſen Angriff hatte Hardenberg
noch durch einen ſcharfen Verweis abgeſchlagen, da das Comité unzweifel-
haft über ſeine Befugniß hinausgegangen war.*) Als aber jetzt die Ent-
würfe vollendet vorlagen, da erhob ſich ein allgemeiner Sturm am Hofe,
unter dem Adel, im Miniſterium ſelbſt. Ein Mitglied des Staatsraths
ſagte zu Varnhagen, dies Geſetz ſei „ein Feuerbrand zur Revolution“.
Die Aufhebung der Kreisſtandſchaft, die Schmälerung der gutsherrlichen
Rechte, die ſcharfen Eingriffe in das Sonderleben der Provinzen, der
wiederholte Gebrauch des verbotenen Wortes „Volksvertreter“ — das Alles
bot neben den unleugbaren Mängeln der Entwürfe überreichen Stoff zu
leidenſchaftlichen Anklagen. Die Hauptbedenken der hochconſervativen
Partei wurden ſpäterhin in zwei Sätzen zuſammengefaßt. Die Ent-
würfe, ſo hieß es, „werfen alle Klaſſen der Einwohner in einander und
können daher nicht die Grundlage einer ſtändiſchen Verfaſſung, ſondern
nur die einer allgemeinen Volksrepräſentation ſein“; ſodann: „ſie wollen
den Gemeinden eine geſetzgebende Gewalt geben und ſie zu conſtituirenden
Verſammlungen machen.“**)
In dieſem gefährlichen Augenblicke ſpielte Benzenberg, der treue Ver-
ehrer des Staatskanzlers, ſeinem Gönner einen Streich, wie ihn der
ſchlimmſte Feind nicht ärger hätte erſinnen können. Er ließ in Brock-
haus’ „Zeitgenoſſen“ eine anonyme Schrift über die Verwaltung des
Staatskanzlers erſcheinen, einen geiſtreichen Panegyricus, der, im Weſent-
lichen richtig, nachwies, daß Hardenberg bei allen Wendungen ſeiner Po-
litik immer nur die Verfaſſung als letztes Ziel im Auge gehabt. „Eine
neue Gemeindeordnung, meinte er hoffnungsvoll, iſt ſo gut wie vollendet;
mit den Fundamenten der Verfaſſung ſind wir ſchon aus der Erde heraus.“
Scharfſinnig ſagte er die friedliche ſociale Umwälzung voraus, welche den
Hardenbergiſchen Geſetzen folgen müſſe: bis zum Jahre 1850 werde über-
all in Preußen ein freier Bauernſtand entſtanden und die Bevölkerung
auf 16 Millionen angewachſen ſein. Der warmherzige Publiciſt, den der
große Haufe der Liberalen ſchon ſo oft mißverſtanden hatte, war auch
jetzt noch keineswegs gemeint, das landläufige Glaubensbekenntniß des
Liberalismus nachzuſprechen; vielmehr wollte er „die unbedächtigen Libe-
ralen“ warnen, daß ſie nicht durch unzeitigen Eifer den alten welterfah-
renen Fabius Cunctator in ſeinen tiefdurchdachten Plänen ſtören möchten.
„Da die Conſtitutionellen wirklich einigermaßen dumm ſind, ſagte er in
[115]Benzenberg. Bülow-Cummerow.
einem vertraulichen Briefe, ſo halte ich es für ein verdienſtliches Werk,
wenn man ihnen einmal erklärt, was dieſer ſiebzigjährige Mann für den
König und für das Gemeinweſen Alles gethan hat.“*) Darum ward
er auch von der liberalen Preſſe hart angelaſſen, und Grävell erwiderte
ihm in einem „Anti—B—z—b—g“: nicht jeder Zauderer ſei ein Fabius,
wie viel ſchneller habe man doch einſt in dem aufgeklärten Königreiche
Weſtphalen die Steuerreform beendigt! Ja der Verleger der Zeitgenoſſen,
Brockhaus ſelbſt verlegte auch den Anti—B—z—b—g und kündigte
nachher dem Bewunderer Hardenberg’s als einem verdächtigen Conſer-
vativen die Freundſchaft auf, da „meine Zeitſchriften pure dem Liberalis-
mus und ſeiner Verbreitung gewidmet ſind“. Gleichwohl hatte Benzen-
berg ſich’s nicht verſagen können, einige halbwahre Schlagwörter des
Tages auf ſeinen Gönner anzuwenden: er nannte die Städte-Ordnung
und die Agrargeſetze demokratiſch, ſchilderte den Staatskanzler als einen
entſchiedenen Liberalen, der die Grundſätze von 89 in Preußen verwirk-
licht und neuerdings blos zum Schein dem Strome der Reaction nach-
gegeben habe; er behauptete gar — was der Meinung Hardenberg’s
ſchnurſtracks zuwiderlief — die am 22. Mai verheißene Repräſentation
des Volks ſchließe ihrem Begriffe nach die ſtändiſche Vertretung aus.
In der Geſchichte, ſo weiſſagte er, wird man die Regierung des Königs
die bürgerliche nennen; um ſeiner Verfaſſung willen darf Preußen ſelbſt
den Krieg mit Oeſterreich nicht ſcheuen, der wird ihm die Herrſchaft über
Deutſchland ſichern!
Mit lauter Schadenfreude begrüßten die Feinde der Verfaſſung die
ungeſchickte Lobſchrift. Der tiefe, bis zum heutigen Tage noch unverſöhnte
Groll des brandenburgiſchen Adels wider den Staatskanzler fand jetzt
neue Nahrung. Nun war doch klar erwieſen, daß Hardenberg ſich ſelber
als einen Jacobiner verherrlichen ließ, daß er das demokratiſche Reprä-
ſentativſyſtem, nicht eine ſtändiſche Verfaſſung erſtrebte. Der Staats-
kanzler fühlte, wie ſehr ihn ſein Bewunderer bloßgeſtellt. Er erklärte
ſofort in den Zeitungen mit Namensunterſchrift, daß er keinen Antheil
an der Schrift habe, ihren Verfaſſer nicht kenne, und ließ durch ſeinen
getreuen Scharnweber eine Erwiderungsſchrift ausarbeiten, die aber ſo
unglücklich ausfiel, daß man ſie in den Acten vergraben mußte.**) Seine
Verſicherungen fanden nirgends Glauben; konnte er ſich doch in ſeiner
Herzensgüte nicht einmal entſchließen, den gewohnten brieflichen Verkehr
mit ſeinem Lobredner abzubrechen.
Gegen Benzenberg ſchrieb E. v. Bülow-Cummerow ſeinen „Punkt
auf’s i“ — ein in Pommern angeſiedelter Mecklenburger von ſcharfem
8*
[116]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
praktiſchem Verſtande, der in Wahrheit keiner Partei angehörte, aber die
agrariſchen Intereſſen eifrig vertrat und darum bei den Liberalen bald
in den Geruch junkerhafter Geſinnung kam, während ihn ſeine Standes-
genoſſen als unruhigen Kopf beargwöhnten. Er war kein unbedingter
Gegner des Staatskanzlers und billigte mindeſtens einen Theil der neuen
Reformgeſetze. Jetzt aber meinte er die legitime Machtſtellung des Groß-
grundbeſitzers bedroht; er verwahrte ſich gegen eine bureaukratiſche Politik,
welche dem Adel die Mehrheit auf den Kreistagen rauben wolle, und ge-
langte zu dem Schluß: Benzenberg’s Buch beweiſe, wie weit die preu-
ßiſche Revolution, gefördert durch die Staatsverwaltung ſelbſt, ſchon fort-
geſchritten ſei. —
Alle dieſe Feinde ließen ſich überwinden, ſo lange der König ſeinen
Kanzler hielt. Schon oft war Friedrich Wilhelm wegen der Folgen der
übereilten Verfaſſungszuſage beſorgt geweſen; zuletzt hatte er ſich doch
immer wieder mit der Politik Hardenberg’s ausgeſöhnt, ja ſoeben erſt das
alte Verſprechen feierlich erneuert und durch neue Verheißungen verſtärkt,
die den Staatscredit, wenn man ſie nicht ausführte, ſchwer zu erſchüttern
drohten. Der Staatskanzler fühlte ſich ganz ſicher und ließ noch zu Ende
Auguſt in der Staatszeitung das Gerücht, daß man ſich mit Provinzial-
ſtänden begnügen wolle, als eine böswillige Erfindung ſcharf zurückweiſen.
Doch faſt im nämlichen Augenblicke erhielt der König die unglücklichen
Entwürfe der Communalordnungs-Commiſſion. Er ſah ſofort, daß die
preußiſche Verfaſſung auf ſo ſchwankem Boden unmöglich aufgeführt wer-
den konnte, und von Stund an begann er ſich von Hardenberg wieder
abzuwenden. Diesmal für immer.
Die Schrift Benzenberg’s verſtimmte ihn tief; er las ſie ſorgfältig
und ſchrieb mißbilligende Bemerkungen an den Rand, die dem Kanzler
nachher durch Wittgenſtein zugetragen wurden.*) Je näher ihm das
Schreckbild der Reichsſtände jetzt auf den Leib rückte, um ſo heftiger ſträubte
ſich ſein innerſtes Weſen dawider: glückverheißende Thronreden und dank-
erfüllte Kammeradreſſen, die dem luſtigen Max Joſeph von Baiern ſo
viel Vergnügen bereiteten, waren dem ſchüchternen Friedrich Wilhelm
furchtbar. Sein Argwohn gegen die Demagogen hatte ſich noch nicht ge-
legt. Da er den Grafen Gröben, der als Bekannter von Görres unge-
recht verdächtigt worden war, ſeines unveränderten Wohlwollens verſicherte,
konnte er doch die Bemerkung nicht unterdrücken: „ſelbſt die frühere Ver-
bindung mit einem Manne von weniger bewährten Geſinnungen wird
mein Vertrauen gegen Sie nicht verringern.“**) Und dem badiſchen Ge-
ſandten General Stockhorn, der ihm von der wohlthätigen Wirkung der
Karlsbader Beſchlüſſe ſprach, gab er zur Antwort: „Iſt wohl wahr, aber
[117]Verſtimmung des Königs.
damit noch nicht Alles geſchehen. Die Sache iſt ſchon tief eingewurzelt,
durch Irrlehren die Jugend ſchon ſehr angeſteckt. In vielen Staaten,
meine nicht ausgenommen, viele Staatsdiener aller Klaſſen, ſelbſt Miniſter
davon angeſteckt gefunden, werde mich nun aber ernſtlich damit beſchäf-
tigen.“*) Nun brachte faſt jede neue Poſt ſchlimme Nachrichten von den
Fortſchritten der Revolution in Spanien und Italien, und überall hatte
das Zauberwort „Verfaſſung“ die bewaffnete Macht zum Bruche des
Fahneneides verführt: durften ſolche Gräuel unter den ſchwarzundweißen
Fahnen möglich werden? Ohne nähere Kenntniß von allen den Sünden
des bourboniſchen Regiments, welche die Thorheiten der Revolution nur
zu leicht erklärten, ſah der König in dieſer wilden Bewegung eines ver-
zweifelnden Volkes nur eine wüſte Empörung und fand es ganz in der
Ordnung, daß Oeſterreich die Ruhe in Italien wiederherſtellen wollte.
Eine neue Zuſammenkunft der Monarchen in Troppau war bereits ver-
abredet. Noch häufiger als ſonſt in den freudloſen Tagen ſeiner Witt-
wereinſamkeit ward er jetzt von Anfällen verzagten Trübſinns überwältigt.
Er fühlte ſich müde und mit fünfzig Jahren ſchon alt — wie viele ſchwere
Schickungen hatte er auch in dem Vierteljahrhundert ſeiner Regierung
ertragen müſſen! — und zuweilen, wie ſchon in früheren Jahren, dachte
er ernſtlich daran, die Bürde dieſer Krone niederzulegen, den Abend ſeines
Lebens in ländlicher Stille, ſeinen Neigungen gemäß, zu verbringen.**)
Die Geſchäfte ekelten ihn oft an, und es koſtete Mühe, ihn nur zur Ab-
reiſe nach Troppau zu bewegen.***)
In ſolcher Stimmung, verdrießlich und muthlos, richtete der König,
kurz bevor Hardenberg nach Troppau abreiſte, ein eigenhändiges Schreiben
an den Staatskanzler und forderte ihn auf, ſich nochmals über die Ver-
faſſungsſache auszuſprechen.†) Damit erhielt Hardenberg das erſte be-
ſtimmte Anzeichen, daß der König an dem Verfaſſungswerke bereits zu
verzweifeln begann; denn mit der Communalordnung fielen auch die
Reichsſtände, wenn nicht ein entſchloſſener Wille die ganze Arbeit von
vorn begann. Der Kanzler ſah, was auf dem Spiele ſtand und ſendete
zur Antwort eine ausführliche Denkſchrift. Er ſchrieb franzöſiſch, ohne
Zweifel, weil er vorausſah, daß der König in Troppau die Frage mit
den beiden Kaiſern erörtern würde.††) Noch einmal entwickelte er hier
den Plan ſeines Zweikammerſyſtems: eine erſte Kammer, gebildet aus
den Standesherren, der hohen Geiſtlichkeit, einigen Abgeordneten des Adels
und einer beſtimmten Anzahl von Männern des königlichen Vertrauens;
[118]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
eine zweite Kammer für die drei Stände, gegliedert in drei Bänke, die
für ſich berathen und nur bei den Hauptabſtimmungen ſich vereinigen.
Um die Bedenken der Altſtändiſchen zu beſchwichtigen, ſchlug er ferner
vor, daß ſich die Provinziallandtage ſo nahe als möglich an die alten
Territorien anſchließen ſollten. „Mit adminiſtrativen Gegenſtänden —
ſo ſchloß er — würde die allgemeine ſtändiſche Verſammlung gar nichts
zu thun haben, ſondern ſich blos mit allgemeinen, ihr von Ew. K. Maj.
zugeſandten Geſetzen und Sachen beſchäftigen. Ihr von Höchſtdenſelben
ernannter Präſident hätte in allen Dingen die Initiative. Die Verſamm-
lung wäre nicht öffentlich, nur die Reſultate würden öffentlich bekannt ge-
macht. Rein militäriſche Angelegenheiten, Polizei und auswärtige Ange-
legenheiten gehören nicht für ſie. Die königlichen Miniſter und Staats-
beamte könnten blos vor dem Throne Ew. K. Maj. angeklagt und zur
Verantwortung gezogen werden. So dürfte eine allgemeine reichsſtändiſche
Verſammlung wohl Nutzen, aber auf keinen Fall Nachtheil bringen.“
Eine Antwort auf dies Schreiben erfolgte vorläufig nicht, Friedrich Wil-
helm ſtand mit ſeinem Kanzler kaum noch im Verkehr. —
Je ſchweigſamer der König ſich abſchloß, um ſo ſtärker verſpürte Har-
denberg den Einfluß des jungen Kronprinzen, der jetzt zum erſten male
in die Geſchicke des Staates einzugreifen begann. Der natürliche, in
kräftigen Herrſcherhäuſern immer wiederkehrende Gegenſatz von Fürſt und
Thronfolger bewahrt die beharrende Macht der dynaſtiſchen Ueberlieferung
vor geiſtloſer Erſtarrung; ihm dankt die Monarchie die Kraft der Ver-
jüngung. Auf den Höhen des Lebens iſt kein Amt ſo freudlos, ſo von
Verſuchungen bedroht, wie die Stellung des Kronprinzen in einem mäch-
tigen Staate; nirgends wird der Geiſt des Widerſpruchs ſtärker gereizt,
nirgends der nothwendige Unterſchied der Generationen, die einander nie-
mals ganz verſtehen können, ſchmerzlicher empfunden. Im Hauſe der
Hohenzollern war ſeit den Tagen Georg Wilhelms und des großen Kur-
fürſten noch nie ein Thronfolger mit dem Herrſcher ganz eines Sinnes
geweſen; und wie weit erſchien jetzt wieder der Abſtand zwiſchen alter und
neuer Zeit: dort der unſcheinbare nüchterne König, der trotz ſeiner innigen
Frömmigkeit doch mit ſeiner ganzen Weltanſchauung in der Verſtandes-
aufklärung des alten Jahrhunderts wurzelte, hier ſprühend von Geiſt und
Witz der enthuſiaſtiſche Jünger der Romantik.
Unter den ritterlichen Königsſöhnen, deren „Lebensfülle, Muth und
Hoheit“ der junge Heinrich Heine in ſeinen Berliner Briefen nicht genug
bewundern konnte, ſchien dieſer älteſte doch den Preis zu verdienen. Alle
Welt nannte ihn den geiſtreichſten Prinzen Europas, und ſein Lehrer
Niebuhr hoffte, mit ihm werde eine ſchönere Zeit über Deutſchland kommen
und die Vollendung alles deſſen, was heute noch unfertig und unvoll-
kommen ſei. Blendend, unwiderſtehlich erſchien er in der Unterhaltung,
zumal in dieſen Jugendtagen, da er noch unverbittert, dankbar und em-
[119]Kronprinz Friedrich Wilhelm.
pfänglich Alles in ſich aufnahm was nur die Erde an Schönem und
Gutem trug; kein Gebiet des Wiſſens war ihm fremd, alle Höhen und
Tiefen des Lebens berührte er mit beredten Worten, immer geiſtvoll, immer
eigenthümlich. Wenn er in öffentlicher Verſammlung ſprach, dann be-
zauberte er Alles, ein geborener Redner, durch den Wohllaut ſeiner hellen
Stimme, durch den Schwung ſeiner Gedanken und den Adel einer form-
vollendeten Sprache. Sein Humor bewegte ſich im bitteren Sarkasmus
ebenſo frei wie im harmloſen Spaße, und ſchon damals pflegten die Ber-
liner jeden guten Witz, der in der Stadt umlief, dem Kronprinzen zu-
zuſchreiben. Bei den Sommerfeſten auf der Pfaueninſel konnte er noch
ganz ſo unbändig, in kindlichem Frohſinn mit den Geſchwiſtern tollen und
toben wie einſt da er ſich in dem kleinen Garten zu Memel mit dem
jungen Argelander gerauft hatte. Vor Fremden zeigte er ein ſtarkes per-
ſönliches Selbſtgefühl, ein lebendiges Bewußtſein ſeiner königlichen Würde,
weiche Naturen wie Steffens fühlten ſich ganz bewältigt von der kühnen
Sicherheit ſeines Auftretens. Wenn er aber einer gleichgeſtimmten Seele
ſein Herz erſchloß, dann rauſchten ihm die Bekenntniſſe von den Lippen,
ein mächtiger Strom der Liebe, der Frömmigkeit, der Begeiſterung. Wie
jubelte Bunſen über den Reichthum dieſes „königlichen und kindlichen Ge-
müths“, da er mit dem Prinzen einige Tage lang allein durch Italien
gereiſt war. Als Graf Gröben, der neu ernannte Generalſtabschef des
Kronprinzen, ſeinen Dienſt antrat, ſetzte ſich der Prinz mit ihm an einem
ſchönen Sommerabend zu Charlottenburg in den Wagen, und als man
früh um fünf Uhr in Königsberg i. N. hielt, hatte das Geſpräch noch
nicht einen Augenblick geſtockt, und der neue Begleiter war ſeinem jungen
Herrn für das ganze Leben gewonnen.*)
Und doch mangelte dieſem glänzenden Geiſte, der ſo viele bedeutende
Männer dämoniſch anzog, das urſprüngliche ſchöpferiſche Vermögen und
damit das Geheimniß aller Menſchengröße, die innere Einheit. In der
reichen Fülle ſeiner Gaben war keine von wahrhaft genialer Mächtigkeit,
keine welche die anderen alle beherrſcht und dem ganzen Leben eine gerade
Bahn gewieſen hätte. Nicht wie ein Erzbild, aus vielen Metallen in
eines verſchmolzen, erſcheint ſein Charakter in dem Spiegel der Geſchichte,
ſondern wie ein kunſtvoll zuſammengefügtes Moſaikgemälde. Darin lag
die Herrſchergröße der Hohenzollern ſeit dem großen Kurfürſten, daß ſie
alle, die großen wie die kleinen, einfache Menſchen waren, die in dem
Wirrwarr der deutſchen Dinge ein klar erkanntes Ziel mit zäher Aus-
dauer verfolgten: — denn auch in Friedrichs des Großen zwiegetheiltem
Geiſte war doch der deutſche Staatsmann unvergleichlich ſtärker als der
franzöſiſche Schöngeiſt. Jetzt zum erſten male erſchien auch in dieſem
Fürſtenhauſe ein widerſpruchsvoller problematiſcher Charakter, dem das
[120]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
tragiſche Schickſal beſchieden war, ſich ſelber und der Welt ein Räthſel
zu bleiben, ſeine Zeit zu verkennen und von ihr verkannt zu werden, eine
echt deutſche Natur, leider, der die Ueberfülle der Gedanken die Schnell-
kraft des Entſchluſſes lähmte, ein Fürſt, fähig die höchſten Erwartungen
zu erregen und doch keiner ganz zu genügen.
Für ſeine wiſſenſchaftliche Bildung war mit Umſicht geſorgt worden;
Niebuhr hatte ihn in die Staatswiſſenſchaft, Wolzogen in die Kriegsge-
ſchichte eingeführt. Doch keiner ſeiner beiden Erzieher, weder der milde
Theolog Delbrück noch ſpäterhin der höfiſche Ancillon, hatte vermocht den
eigenwilligen Sinn des Prinzen durch ſtrenge Zucht zur Selbſtbeherr-
ſchung zu zwingen. Nicht als ob er den gemeinen Verſuchungen der Höfe
je erlegen wäre: er blieb ſein Lebelang nicht nur ſittenſtreng, ſondern auch
innerlich rein, durch und durch ein Idealiſt, mit allen ſeinen Sinnen den
ewigen Gütern des Lebens zugewendet. Was ihm fehlte war die Samm-
lung des Geiſtes, die dem Reichbegabten am ſchwerſten erreichbar, doch
auch für ihn die Vorbedingung alles großen Schaffens bleibt. Wie ein
Schmetterling flog ſein Geiſt von Blume zu Blume über die weiten Auen
des idealen Genuſſes. Nie war er glücklicher, als wenn ihn ein „gött-
licher Sommernachtstraum“ umfing, wenn er von Hellas träumte oder
von der ewigen Stadt oder von der Einheit der allgemeinen evangeliſchen
Kirche; dann malte er ſich die Bilder ſeiner Sehnſucht in glühenden Farben
aus, bis er Traum und Wirklichkeit kaum noch unterſcheiden konnte. Als
er zum erſten male nach Rom kam, fühlte er ſich alsbald wie daheim: ſo
leibhaftig hatte er die Amphitheater, die Obelisken und die Dome ſchon
in ſeinen Träumen geſehen. Einem ſo vielſeitigen, ſo unſtet in die Weite
ſchweifenden Geiſte lag die Gefahr des Dilettantismus ſehr nahe, und
wie ſo viele Dichter der romantiſchen Schule mehr geiſtreiche Kenner
waren als ſchöpferiſche Künſtler, ſo fand auch dieſer Staatsmann der
Romantik ſeinen Beruf mehr im Anregen neuer Gedanken als im Ge-
ſtalten und Vollbringen.
Die ſtärkſte Kraft ſeiner Seele war das religiöſe Gefühl. Wohl
vertraut mit der Dogmatik und der Kirchengeſchichte, beugte er ſich in
Demuth vor der chriſtlichen Offenbarung. Ohne den perſönlichen Verkehr
mit ſeinem Herrn und Heiland ſchien ihm das Leben des Lebens nicht
werth; wenn ihn die heilige Andacht durchſchauerte, dann war es zu-
weilen, als ob der Geiſt ſeines Lieblingsbuches, des Pſalters aus ihm
redete, und ein Klang von Davids Harfe tönte durch ſeine begeiſterten
Worte. Er hoffte auf die Zeit, da der chriſtliche Glaube die weite Erde
bezwingen und überall die eine Kirche herrſchen würde, evangeliſch, ohne
ſichtbares Oberhaupt, aber frei und weit genug um verſchiedene Bekenntniſſe
zu ertragen; dann ſollten die Biſchöfe wieder alle auf ihren alten Sitzen
thronen und auch das altbibliſche Amt der Diakonen wieder aufleben.
Nichts ſchien ihm haſſenswürdiger als Gewiſſenszwang oder die Ver-
[121]Religiöſe Geſinnung des Kronprinzen.
miſchung geiſtlicher und weltlicher Dinge; er dachte die Tage noch zu er-
leben, da er die oberſtbiſchöfliche Gewalt in die Hand der Kirche ſelbſt
würde zurückgeben können, und verhehlte nicht, daß er die gegenwärtige
Verfaſſung der evangeliſchen Landeskirche nur als einen Uebergangszuſtand
anſah. „Seit König Friedrich II., ſo ſchrieb er in dieſen Tagen, hat
man ſich bemüht, in den Geiſtlichen nichts als Staatsdiener zu ſehen, und
dieſer unglücklichen Verkehrtheit ſchreibe ich großentheils das ungeiſt-
liche Leben ſo vieler! unſerer Geiſtlichen zu.“*) Das Idealbild der
Kirchenfreiheit beſchäftigte den Kronprinzen in ſeinen beſten Stunden; die
Frage, wie ſich der ſouveräne Staat neben dieſer freien Kirche behaupten
ſolle, ſtand ihm erſt in zweiter Reihe.
Unzertrennlich war dieſe Kraft des religiöſen Gefühls mit der reichen
künſtleriſchen Begabung Friedrich Wilhelms verbunden. Manche hielten
ihn ſchlechtweg für eine Künſtlernatur. Aber wie hätte die höfiſche Er-
ziehung ihm bieten können was dem Künſtler die Luft des Lebens iſt:
Natur und Freiheit! Er hatte des Schönen überviel, und mit ſeligem
Entzücken, geſehen; doch den goldenen Boden des Handwerks, dem die ge-
ſunde Kunſt entſprießt, kannte er nicht, und die rechte Künſtlerwonne, das
fröhliche Wandern mit dem Ränzel auf dem Rücken, blieb dem Königs-
ſohne verſagt. So zeigten ſich doch bald in ſeinen künſtleriſchen Verſuchen
die Spuren eines überbildeten Sinnes; ſeine Baupläne und Zeichnungen
waren alleſammt eigenthümlich, manche überaus geſchmackvoll, aber auch
manche ſchrullenhaft, überladen mit geiſtreichen Motiven, die keinen Ge-
ſammteindruck aufkommen ließen. Auch ſein äſthetiſches Urtheil blieb nicht
frei von dieſer Neigung zum Abſonderlichen. Er bezeigte jedem Talente,
das neu auftauchte, freudige Theilnahme und ging auf Schinkel’s Pläne
mit einem Verſtändniß ein, das den Meiſter in Erſtaunen ſetzte; er be-
trieb mit enthuſiaſtiſchem Eifer den Wiederaufbau der Marienburg, und
das ſollte ihm ein Feſt ſein, wenn er dereinſt ſeinen Niebuhr nach Griechen-
land ſenden könnte um die Wunderwerke der helleniſchen Kunſt, die dort
noch im Boden ſchlummerten, ausgraben zu laſſen. Seine Lieblinge unter
den Kunſtwerken aller Zeiten blieben gleichwohl die Baſiliken von Ravenna,
jene ernſten Bauten, die an der Grenze zweier Weltalter aufgerichtet, dem
ſchlichten Sinne wohl ehrwürdig und geſchichtlich lehrreich, doch nimmer-
mehr einfach ſchön erſcheinen können. Dort fühlte er ſich glücklich, in der
einſamen Apollinariskirche, wo die heiligen Bilder altchriſtlicher Kunſt ſteif
und feierlich von dem Goldgrund der Wände niederſchauen; in dieſer
Dämmerwelt ſah er Heidenthum und Chriſtenthum, Morgenland und
Abendland, Gothen, Byzantiner und Römer vor ſeinen ahnenden Blicken
phantaſtiſch durcheinander ſpielen.
Seine politiſchen Anſichten hatte er ſich erlebt in den Leidensjahren
[122]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
ſeiner Jugend, darum waren ſie mit ſeinem ganzen Weſen feſt verwachſen.
Niemals vergaß er, wie ſeine Mutter, die unausſprechlich geliebte, einſt
auf der Treppe des Schloſſes von Schwedt den Söhnen die Schreckens-
nachricht aus Jena mitgetheilt und wie ſie nachher ihnen ans Herz gelegt
hatte den preußiſchen Degen zu führen um ihre unglücklichen Brüder, die
Oeſterreicher zu rächen. Alle die Demüthigungen, welche ſein Vater von
dem übermüthigen Sieger erlitten, blieben dem Sohne unauslöſchlich ins
Herz gegraben; ganz vergeblich hatte der Imperator auf der Dresdener
Zuſammenkunft 1812 den gütigen Oheim geſpielt und dem Prinzen geſagt,
wie ähnlich er Friedrich dem Großen ſehe. Napoleon galt dem Erben der
preußiſchen Krone als der Held der Revolution, als der Vertreter jenes
„Lügengeiſtes“, der, Glauben und Recht verneinend, die alte glückliche
Ordnung Europas in einem Meere von Blut und Thränen ertränkt hatte,
und es bedurfte kaum der Lehren Ancillon’s um den Prinzen in dieſem
Urtheil zu beſtärken. In ſolcher Geſinnung nahm er theil an dem Be-
freiungskriege und bemerkte nicht, daß die erwachenden Nationen in Bona-
parte den Despoten haßten, daß ſie von dem Siege nicht die Wiederkehr
der alten Zuſtände, ſondern das unbeſtimmte Glück der Völkerfreiheit er-
warteten. Nun ſtand es wieder aufrecht, das alte Königthum von Gottes
Gnaden, und der Drache der Revolution lag gebändigt vor dem blanken
Schilde der chriſtlichen, legitimen Monarchie. Nimmer wieder durfte ein
Uſurpator den Thron des heiligen Ludwig beſteigen, und noch auf lange
hinaus mußte der Bund der vier Mächte aufrecht bleiben, unter der weiſen
Führung Metternich’s, dem der Kronprinz eine unbegrenzte Verehrung
widmete. So konnte vielleicht nach dem großen Schiffbruch der letzten
Jahre doch etwas wiederhergeſtellt werden von den alten Formen der
chriſtlich-germaniſchen Welt.
Von dem alten heiligen Reiche hatte ſich der Prinz ein Bild ent-
worfen, das ebenſo geiſtvoll und farbenprächtig, aber auch ebenſo willkür-
lich war wie jene bezaubernde Schilderung des romantiſchen Schwärmers
Novalis von den „ſchönen, glänzenden Zeiten, wo Europa ein chriſtliches
Land war, wo eine Chriſtenheit dieſen menſchlich geſtalteten Welttheil be-
wohnte“. Er dachte ſich einen Kaiſer aus dem alten Erzhauſe, frei ge-
wählt durch die durchlauchtigen Genoſſen, und begriff nicht, warum der
Kurfürſt-Kämmerer von Brandenburg nicht auch jetzt noch, trotz ſeines
königlichen Titels, Kaiſerlicher Majeſtät das ſilberne Becken reichen ſollte.
Unter dem Kaiſer ſodann „freie Fürſten über freien Völkern“; überall ein
mächtiger Adel, der ſeine Bauern väterlich regierte und auf den Tagen
der getreuen Landſtände den Ausſchlag gab; die Bürgerſchaft endlich in
Innungen gegliedert und ihres alten Zunftbrauchs froh. An ſolchen
Träumen hing ſein Herz. Er lebte in Zeiten, die geweſen. Er ſah den
Lauſitzer Stier und den Löwen von Jülich, das cleviſche Kleerad und alle
die weißen, rothen und grünen Greifen der pommerſchen Herzogthümer,
[123]Hiſtoriſche Romantik des Kronprinzen.
ein glänzendes Gewimmel althiſtoriſcher Landſchaften unter den Flügeln
des ſchwarzen Adlers vereinigt und gedachte dieſe Fülle geſchichtlichen
Lebens wieder herzuſtellen, in jeder Landſchaft des Reiches die Gliederung
der Stände neu zu beleben. Er ward nicht müde, überall in der Heimath
die Stätten großer Erinnerungen oder die Spuren alten Volksbrauchs
aufzuſuchen. Bald beſuchte er in den Marken die Gräber der Ascanier
oder in Quedlinburg die Wiege der Sachſenkönige, bald nahm er fürlieb
am Tiſche eines weſtphäliſchen Hofſchulzen und freute ſich der alten un-
verſtümmelten Cheruskerſitte; mit beſonderer Vorliebe verweilte er am
Rhein und in Altpreußen, in den grandioſen Hallen der gothiſchen Dome
und der Ordensburgen.
Neben ſolchen Bildern alter deutſcher Herrlichkeit blieb in ſeinem
Herzen nur wenig Raum für die lebendige preußiſche Staatsgeſinnung.
König Friedrich’s thatenfroher Genius hatte ſich den Werdegang der deut-
ſchen Geſchichte ſo zurechtgelegt, als ob die zwei letzten Jahrhunderte immer
nur in vergeblichen Anläufen nach einem Ziele geſtrebt hätten, das jetzt
endlich, durch die ſchleſiſchen Kriege, erreicht werden ſollte. Vor dem
Künſtlerauge dieſes jungen Prinzen dagegen geſtaltete ſich das Bild der
vaterländiſchen Vorzeit ſo wunderreich und prächtig, daß der Staat der
Gegenwart und die ſtolzen Hoffnungen der preußiſchen Zukunft daneben
faſt verſchwanden. Der Kronprinz war zuerſt ein legitimer, chriſtlicher
Fürſt, dann ein Deutſcher und zuletzt ein Preuße. Wohl beglückte ihn
der Gedanke, daß er dereinſt als der Siebzehnte an die erlauchte Reihe
von ſechzehn Kurfürſten und Königen ſich anſchließen ſollte. Aber außer
den Befreiungskriegen hatten Preußens Annalen doch nur wenige Blätter
aufzuweiſen, die er mit ungemiſchter Freude betrachten konnte. Im Kampfe
mit dem Erzhauſe Oeſterreich und den verlogenen Formen der Reichsver-
faſſung, im Kampfe mit der Herrſchſucht zeternder Theologen, im Kampfe
mit dem Sondergeiſt der Landſchaften und der Zuchtloſigkeit der ſtändi-
ſchen Libertät war dies ganz moderne, weltliche Königthum emporgeſtiegen.
Keiner ſeiner großen Ahnen ſtand dem Herzen dieſes Enkels recht nahe.
Die Rauheit Friedrich Wilhelm’s I. ſtieß ihn ab, und wie aufrichtig er
auch Friedrich’s perſönliche Größe verehrte, mit den Ideen des königlichen
Freigeiſtes, der zuerſt den deutſchen Dualismus zu löſen gewagt, hatte
der Nachkomme doch wenig gemein, der ſeiner Nation nichts Schöneres
zu wünſchen wußte, als die friedliche Zweiherrſchaft.
Auch die beiden kräftigſten Stützen des preußiſchen Königthums ver-
ſtand er nicht ganz zu würdigen. Das Beamtenthum mit ſeiner gleich-
mäßigen Ordnung war ihm langweilig, den Verkehr mit den alten Ge-
heimen Räthen liebte er wenig; er urtheilte über den Formalismus des
grünen Tiſches mit einer Schärfe, die er gegen die Sünden des Adels-
hochmuths nicht anwendete, und von allen Wiſſenſchaften war ihm wohl
keine innerlich ſo fremd wie die Rechtswiſſenſchaft, obwohl er den geiſt-
[124]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
vollen rechtshiſtoriſchen Forſchungen ſeines Freundes Savigny mit Theil-
nahme folgte. Von der Armee aber ward er durch ſeine unmilitäriſchen
Neigungen getrennt. Wohl ſprach er mit Stolz von dieſem Heere, „dem
erſten der Welt“, und verſicherte oft: ich fühle mich ganz als preußiſcher
Offizier. Auch auf dem Schlachtfelde hatte er ſich unerſchrocken gezeigt
und einmal im Kugelregen den Offizieren, die ihn zur Vorſicht mahnten,
gleichmüthig erwidert: „Was wär’ es denn weiter? Dann würde mein
Bruder Wilhelm Kronprinz.“ Nach dem Kriege führte er den Oberbe-
fehl über das pommerſche Armeecorps und lernte viel von ſeinem geiſt-
reichen militäriſchen Begleiter, Oberſt Schack, dem allzu früh verſtorbenen
Liebling York’s. Gleichwohl bemerkte man bald, daß die Pünktlichkeit und
das Einerlei des Dienſtes dem Prinzen läſtig waren. Offenherzige Ge-
nerale geſtanden, er verſtehe mit alten Soldaten nicht recht umzugehen,
und die ihn näher kannten, wußten wohl, daß er den Krieg verabſcheute,
daß die Friedensliebe der Hohenzollern dieſen Sohn des Hauſes nur allzu
ſtark beherrſchte. Mit den Offizieren, die er bevorzugte, mit C. v. Röder,
Gröben, Williſen, L. v. Gerlach verband ihn mehr die gemeinſame kirch-
lich-politiſche Geſinnung als die militäriſche Kameradſchaft.
Der Kronprinz verachtete den bureaukratiſchen Zwang, und da er
über die Aengſte der Polizei, über die Mißgriffe der Verwaltung ſich ſehr
freimüthig äußerte, ſo gerieth er bei Halbkundigen leicht in den Ruf des
Liberalismus; ſein Oheim, der ſtarre Hochtory Ernſt Auguſt von Cum-
berland beſchuldigte ihn gar jakobiniſcher Neigungen. Er ſelber war auch
keineswegs gemeint, den Strom der Zeit einfach abzudämmen; vielmehr
glaubte er ſich berufen, zwiſchen den beiden extremen Parteien, welche die
Welt erſchütterten, weiſe zu vermitteln und bezeichnete ſeine Stellung gern
mit dem Ausſpruch de Maiſtre’s: wir wollen weder die Revolution, noch
die Gegenrevolution, ſondern das Gegentheil der Revolution. Gneiſenau
aber ſchrieb dem Staatskanzler: „der Kronprinz möchte lieber die Gewäſſer
wieder gegen ihre Quellen leiten als ihren Lauf in die Ebene regeln.“*)
Und ſein Feldherrnblick ſah ſchärfer als die Selbſterkenntniß Friedrich
Wilhelm’s. Die politiſchen Ideen Niebuhr’s und Savigny’s wurden von
dem Prinzen gelehrig aufgenommen, aber durch die hiſtoriſche Sehnſucht
ſeines erregten Gemüths ſo lange umgebildet, bis er ſchließlich der libe-
ralen Welt weit ferner ſtand, als ſein ſchlichter Vater. Der König hatte
ſich nicht geſcheut, jene „Revolution im guten Sinne“ zu wagen, jene
ſociale Umwälzung, die mit den verrufenen „Ideen von 89“ doch Vieles
gemein hatte, und auch jetzt hielt er die Grundgedanken moderner Staats-
einheit und Rechtsgleichheit feſt, wenngleich ihn manche Erſcheinungen der
Zeit mit Beſorgniß erfüllten. Der Thronfolger dagegen haßte die Revo-
lution ſchlechthin, er ſah in ihr eine Macht der Finſterniß, die aus der
[125]Der Kronprinz und die Revolution.
Geſchichte verſchwinden müſſe, obwohl ſie ſchon längſt ihren Namen mit
ehernem Griffel in die Annalen Europas eingetragen hatte.
Mehr und mehr näherte er ſich den Anſchauungen Haller’s und
ſeiner Schüler, der Brüder Gerlach. Alſo gerieth er in einen ebenſo tra-
giſchen Widerſpruch mit den vorwärts drängenden Gedanken des Jahr-
hunderts, wie weiland ſein Vorfahr Joachim I., dem er auch in den Ge-
ſichtszügen auffallend ähnelte. So grundverſchieden auf den erſten Blick
die beiden Charaktere erſcheinen mögen, der harte, praktiſch nüchterne, eng-
herzige Joachim und ſein begeiſterter, liebevoller, unerſchöpflich wohlthätiger
Nachkomme: der geiſtige Hochmuth, die Geringſchätzung der lebendigen
Kräfte einer ringenden und gährenden Zeit war Beiden gemeinſam. Wie
Joachim aus der feſten Burg ſeiner canoniſchen Gelehrſamkeit hoffärtig
herabſah auf den plumpen Wittenberger Mönch, der ſich erdreiſtete, den
kunſtvollen Bau ſo vieler Jahrhunderte zu zerſtören, ſo wollte Friedrich
Wilhelm in den mächtig hereinfluthenden liberalen Ideen nichts ſehen als
Dummheit und Bosheit. Gewiß war ſeine Geſammtanſicht vom Staate
tiefſinniger und im Grunde auch freier als die platte Doktrin des libe-
ralen Vernunftrechts, und auch über viele einzelne politiſche Fragen ur-
theilte er richtiger als die Gegner: er erkannte die Gebrechlichkeit einer
auf Meinungen, nicht auf reale Intereſſen geſtützten Parteibildung und
täuſchte ſich niemals über den Werth der vielbewunderten conſtitutionellen
Freiheit Frankreichs. Doch er ſah nicht, daß hinter den oft ſo geiſtloſen
Reden der liberalen Kammerredner und Publiciſten eine lebensvolle, zu-
kunftsreiche ſociale Kraft ſtand, der Mittelſtand der Nation, deſſen Reich-
thum und Bildung mit jedem neuen Friedensjahre ſtetig wuchs. Ihm
entging, daß dieſelbe Macht der Geſchichte, welche einſt die alte ſtändiſche
Gliederung geſchaffen, ſchon vor dreihundert Jahren den erſten Stand,
den Clerus aus ſeiner Herrenſtellung verdrängt hatte und ſeitdem un-
aufhaltſam daran arbeitete, auch die anderen ſtändiſchen Gegenſätze zu
mildern. Und wie einſt jener Joachim mit aller ſeiner Klugheit und
Strenge nicht verhindern konnte, daß gleich nach ſeinem Tode die evan-
geliſche Lehre in die Marken einzog, ſo ſollte dieſem Enkel noch das härtere
Schickſal werden, daß er ſelber den ſo tief verachteten conſtitutionellen
Ideen die Thore ſeines Staates öffnen mußte.
Wer könnte ohne ſchmerzliche Bewegung das Bild dieſes zum Mar-
tyrium auserſehenen Fürſten betrachten? Zu allem Herrlichen ſchien er
geboren, verſchwenderiſch hatte ihm die Natur Kopf und Herz ausgerüſtet;
nur jene einfachen, maſſiven Gaben, die den Staatsmann machen, blieben
ihm verſagt. Ihm fehlte der Sinn für das Wirkliche, der die Dinge
ſieht wie ſie ſind, und der geradaus das Weſentliche treffende ſchlichte
Menſchenverſtand. Wie ſchwer fiel es doch dieſem Künſtler der Rede,
deſſen geſprochenes Wort ſo Viele beſtach, in ſeinen Denkſchriften und
Briefen beſtimmt zu ſagen, was er eigentlich wollte. Durch gehäufte Aus-
[126]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
rufungszeichen und zwei- und dreifache Unterſtreichungen ſuchte er zu er-
gänzen, was er trotz ſeiner ſeltenen Sprachgewalt nicht ausdrücken konnte;
der klare Geiſt bedarf ſolcher Krücken nicht, weil er durch den Bau ſeiner
Sätze den Leſer zwingt, die Worte richtig zu betonen. Ihm fehlte auch
die friſche Kraft des Wollens. Die Offiziere bemerkten bald, daß er nicht
zu befehlen verſtand und ſeinen Geboten ſchlecht gehorcht wurde. Seine
Stimmung ſprang jählings um von gütiger Hingebung zu aufbrauſender
Heftigkeit, und ſein blendender Witz gemahnte oftmals an den thatloſen
Humor Hamlet’s. Solche Bedenken wurden ſchon damals laut; General
Wolzogen faßte ſie höflich umſchreibend dahin zuſammen: gewiß, er iſt ein
Genie, aber ich zweifle, ob Preußen ein Genie ertragen kann. Für uns
Nachlebende fällt noch ein räthſelhaftes pathologiſches Moment ins Ge-
wicht, das der freimüthige Hiſtoriker zwar nur erwähnen, aber nicht ver-
ſchweigen darf. Es iſt möglich, daß die unheimliche Krankheit, welche
dieſen reichen Geiſt am Abend ſeines Lebens mit ihrem nächtigen Schleier
bedeckte, ſchon in früheren Jahren ſich auf Augenblicke angekündigt hat,
und unzweifelhaft erwieſen, daß ſpäteſtens ſeit dem Jahre 1848 im Leben
Friedrich Wilhelm’s Wendungen eintraten, welche ſich kaum anders als
aus augenblicklicher Geiſtesabweſenheit erklären laſſen. Die erſten Spuren
dieſer ſchrecklichen Heimſuchung werden wohl immer in Dunkel gehüllt
bleiben.
Um dieſe Zeit machten zwei neue politiſche Schriften in den hoch-
conſervativen Kreiſen Preußens die Runde. Der Reſtaurator der Staats-
wiſſenſchaft gab jetzt den allgemeinen Grundſätzen ſeines großen Werkes
die Nutzanwendung und ſagte in ſeiner Schrift „über die Conſtitution der
ſpaniſchen Cortes“ allen conſtitutionellen Beſtrebungen ſo ſchonungslos
den Frieden auf, daß die Behörden ſeiner Heimath für gerathen hielten,
das Buch zu verbieten. Metternich aber gab dem ſpaniſchen Geſchäfts-
träger, als dieſer für Oeſterreich das gleiche Verbot forderte, die gelaſſene
Antwort: erſt möge man der ſpaniſchen Preſſe die Angriffe auf Oeſter-
reich unterſagen.*) Und wohl hatte er Grund, den Berner zu beſchützen.
Denn grauſamer war das Ideal der liberalen Doktrinäre noch nie miß-
handelt worden. Wenn ſich nur mit dieſer wohlfeilen Kritik der radikalen
Thorheiten einige hiſtoriſche Gerechtigkeit gepaart hätte! Kein Wort davon,
daß dieſe monarchiſche Verfaſſung ohne monarchiſche Gewalt entſtanden
war in einer Zeit, da König Ferdinand ſein Land treulos verlaſſen hatte;
kein Wort von den himmelſchreienden Schandthaten des reſtaurirten Des-
potismus, welche das königstreue Volk zur Wuth geſtachelt hatten. Nur „die
Sophiſtenzunft, die mächtige Sekte, die in Frankreich den Thronfolger er-
morden läßt“, hatte dies Grundgeſetz zu Stande gebracht, und nicht um
ſeinetwillen, ſondern um ihre eigene Souveränität zu gründen — die-
[127]Haller. De Maiſtre.
ſelben Literatori, die auch in Deutſchland ſchreiend und ſchreibend an den
Thronen rütteln. Haller ſcheute ſich nicht, den Eidbruch offen zu pre-
digen: ein Eid, der den König zur Verachtung aller göttlichen und menſch-
lichen Geſetze verpflichtet, iſt ein Scandal, eine Läſterung Gottes und mit-
hin unverbindlich. Zugleich ſprach er nochmals aus, daß ſein „gottge-
wollter“ Staat nur eine privatrechtliche Geſellſchaft ſein und auf alle
Kulturzwecke verzichten ſolle; er verwarf die allgemeine Beſteuerung, die
Conſcription, die Staatsſchule und klagte: „ſo nimmt die Sekte uns zu-
gleich Eigenthum, Körper und Seele!“ Zum Schluß wendete er ſich an
Europas Könige, die deutſchen zumal: „Fliehet das Wort Conſtitution;
es iſt Gift in Monarchien, darum, weil es eine demokratiſche Grundlage
vorausſetzt, den inneren Krieg organiſirt und zwei auf Leben und Tod
gegen einander kämpfende Elemente ſchafft.“ Nur „Land- oder Provin-
zialſtände, wie die Natur ſie ſchuf“, ziemen der Monarchie, auf daß die
Idee der Macht durch die freie und freudige Zuſtimmung der unmittel-
baren Getreuen verherrlicht werde. Auch ein Hieb gegen das preußiſche
Kronfideicommiß ward mit angebracht: „veräußert jene urſprünglichen
Stammgüter, die Zierden Eures Hauſes nicht.“ Vor Allem aber: „Krieg,
heiligen Krieg gegen die Sophiſten, die ſich ſelbſt durch ihre Grundſätze
und ihre Verbindung von Eurem Volke geſondert haben!“ Jeder Satz
ſchien darauf berechnet, die Kluft zwiſchen den deutſchen Parteien gewalt-
ſam zu erweitern, und in der That hat Haller zur Vergiftung unſeres
politiſchen Lebens mehr als irgend ein anderer Publiciſt beigetragen.
So fanatiſche Grundſätze konnte der feine Sinn des Kronprinzen
ſich nicht ohne Vorbehalt aneignen; die freche Anpreiſung des Eidbruchs
mußte ihn abſtoßen. Trotzdem erkannte er nicht, daß dieſer Reſtaurator,
der die drei großen preußiſchen Bürgerpflichten, Wehrpflicht, Steuerpflicht,
Schulpflicht, gänzlich verwarf, auch von den Lebensbedingungen des preu-
ßiſchen Staates nichts ahnen konnte. Die Unterſcheidung der naturge-
mäßen Landſtände und der demokratiſchen Conſtitutionen ſagte ihm zu,
und an das Daſein der über Europa verzweigten Sophiſtenverſchwörung
glaubte er alles Ernſtes. Der Name Haller’s ſtand eben jetzt, da er dies
wüthende Libell herausgegeben hatte, im kronprinzlichen Palaſte hoch in
Ehren, und es ſcheint ſicher, daß man in den Hofkreiſen ernſtlich daran
dachte, den großen Berner Patricier nach Berlin zu rufen. Da wurde
zum Glück Haller’s Abfall von der proteſtantiſchen Kirche ruchbar, und
nunmehr wagte Niemand, dem Könige von der Berufung zu ſprechen.
Auch der Kronprinz hätte den Reſtaurator jetzt nicht mehr in ſeiner Um-
gebung geduldet, denn die evangeliſche Kirche blieb ihm heilig, obſchon er
manchen Gedanken des Katholicismus ſehr weit entgegenkam.
Noch weiter ab von der Gedankenwelt des proteſtantiſchen Nordens
lag die Schrift des Grafen de Maiſtre „vom Papſte“, ein Buch, das
ſchon acht Jahre früher, vermuthlich zur Bekehrung des Czaren Alexander,
[128]III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
verfaßt war, aber erſt 1819 in Paris veröffentlicht und erſt jetzt in
Deutſchland bekannt wurde — wohl das ſchönſte Werk der neueren ultra-
montanen Publiciſtik, meiſterhaft geſchrieben, unerbittlich folgerecht in ſeinen
Schlüſſen und durchglüht von einer Wärme der Ueberzeugung, die auch
den Gegner zur Achtung zwang. Rund und nett ward hier die furchtbare
Lehre der päpſtlichen Unfehlbarkeit aufgeſtellt — eine Doktrin, die ſich
aus dem Werdegang der römiſchen Kirche mit logiſcher Nothwendigkeit er-
gab, aber inmitten der nationalkirchlichen Gebilde des achtzehnten Jahr-
hunderts ſich noch nicht recht offen herausgewagt hatte. Da jedes menſch-
liche Geſetz unvollkommen iſt und der Ausnahmen bedarf, ſo muß eine
unfehlbare höchſte Gewalt beſtehen, ausgeſtattet mit dem Rechte zu binden
und zu löſen. Den unmittelbar von Gott eingeſetzten weltlichen Souveränen
wird dieſe Unfehlbarkeit menſchlicherweiſe beigelegt, wirklich vorhanden iſt
ſie nur in dem Statthalter Chriſti. Darum verkettet ein Band des Ge-
horſams alle legitimen Souveräne mit dem heiligen Stuhle, dem Schieds-
richter der Staatenwelt, und nur auf dem Boden der katholiſchen Glau-
benseinheit iſt ein geſundes politiſches Leben denkbar. Was kümmerte
dieſen Schwärmer die unbeſtreitbare Thatſache, daß die politiſche Ent-
wicklung der proteſtantiſchen Völker bisher in leidlichem Frieden verlaufen
war, während die Revolution, in dem katholiſchen Frankreich geboren, die
katholiſchen Staaten, und ſoeben wieder die beiden Halbinſeln Südeuro-
pas, mit krampfhaften Zuckungen heimſuchte? Er hatte für ſich die dia-
lektiſche Kraft des Wortes: wer Autorität ſagt, der ſagt Papſt oder er
ſagt gar nichts.
Die Angſt vor der Revolution beherrſchte aber die deutſchen Höfe ſo
gänzlich, daß mancher geiſtreiche Proteſtant auf die Weisheit des clericalen
Savoyarden ſchwur, ohne zu bemerken, wie feſt jeder Satz dieſes wohlge-
fügten Lehrgebäudes mit der päpſtlichen Unfehlbarkeit zuſammenhing.
Gentz, der im Kerne ſeines Weſens doch immer ein Kantianer blieb, er-
klärte de Maiſtre’s Schrift für das erſte Buch des Jahrhunderts und rief
entzückt: „das iſt mein Mann!“ Einzelne blendende Paradoxen des geiſt-
reichen Ultramontanen wurden in der vornehmen Welt mit Frohlocken
umhergetragen, ſo das berühmte Schlagwort, das faſt wörtlich mit Haller
übereinſtimmte: die Fürſten verdanken den Völkern nur leeren Glanz,
die Völker verdanken den Fürſten ihr Alles, ihr ſociales Daſein. Auch
der preußiſche Kronprinz berauſchte ſich an dem Weihrauchduft dieſer
legitimiſtiſchen Halbwahrheiten.
Monarchen von ſtarkem Selbſtgefühl pflegen ihren Thronfolger mit
einer gewiſſen Härte von den Geſchäften fern zu halten. König Friedrich
Wilhelm aber ſchaute mit väterlichem Stolz auf ſeinen vielverheißenden
Erben, der dem Vater ſtets mit kindlicher Pietät begegnete. Das Miß-
trauen, das ihn vor genialen Naturen ſo häufig überkam, verleugnete ſich
ganz gegenüber dieſem Sohne, in deſſen Weſen doch Vieles lag was im
[129]Der Kronprinz und Hardenberg.
tadelnden Sinne genialiſch heißen konnte. Auf Hardenberg’s Rath wurde
der Kronprinz ſchon gleich nach dem Kriege in das Staatsminiſterium
eingeführt*), und da er es dort wie nachher im Staatsrathe nicht an
feinen Bemerkungen fehlen ließ, ſo glaubte der beſcheidene König bald
in „ſeinem Fritz“ ein überlegenes ſtaatmänniſches Talent zu entdecken,
während er in Wahrheit ſelber einen ungleich ſchärferen politiſchen Blick
beſaß als der Thronfolger. Mit dem geiſtreichen alten Staatskanzler
unterhielt ſich der Kronprinz gern, wie er denn im geſelligen Verkehr das
ſchöne Vorrecht der königlichen Unparteilichkeit immer ausübte und mit
Staatsmännern jeder Richtung, mit W. Humboldt, Schön, Niebuhr —
wenn ſie nur Geiſt hatten — freundſchaftlich umging. Während des
Kampfes um die Steuerreform ſchrieb er dem Staatskanzler einmal:
„Und das Eine müſſen Sie mir glauben, daß die Worte: Freundſchaft,
Vertrauen, Verehrung keine leeren Laute in meinem Munde ſind
— und wahrlich weiß ich keine anderen zu gebrauchen, wenn ich von
meinem Verhältniß zu Ihnen rede.“ Im Augenblicke des Niederſchreibens
mochte er, leicht erregbar wie er war, ſolche Gefühle auch wirklich hegen.
Ein feſtes, dauerndes Zutrauen zu dem alten Herrn, der ſo ganz ein
Kind des achtzehnten Jahrhunderts war, vermochte er doch nie zu faſſen.
Der bureaukratiſch-liberale Zug der Hardenbergiſchen Politik blieb ihm
verdächtig, und über das anſtößige häusliche Leben des Kanzlers äußerte
er ſich ſehr bitter.
Die Zuſage der landſtändiſchen Verfaſſung erfüllte den Kronprinzen
mit frohen Hoffnungen, da er den geſtrengen alten Abſolutismus immer
nur als einen Nothbehelf betrachtet hatte. Aber — daran war ihm
kein Zweifel — auf den wiedererweckten, ſtändiſch gegliederten alten
Landtagen mußte der Adel eine mächtige Stellung behaupten, ein Stand,
deſſen Zukunft den Prinzen überhaupt lebhaft beſchäftigte. In einer der
wenigen Denkſchriften, die ſich von ihm aus dieſen Jahren vorfinden, er-
örtert er ſehr ausführlich die Frage, ob den Häuptern der reichsunmittel-
baren Geſchlechter der Titel „regierender Fürſt“ gebühre — was er be-
jahr — und verwirft für dieſe Häuſer den unhiſtoriſchen Namen der
Standesherren, der nur für die privilegirten Baronate Schleſiens und der
Lauſitz gelten könne: „jetzt vorzüglich, da das ſtändiſche Weſen im Werke
iſt, darf keine Verwirrung in dem Charakter der großen Familien des
Landes erzeugt werden.“**) Nicht minder feſt ſtand ihm die Meinung,
daß die neuen Provinzialſtände ſich an die althiſtoriſchen Territorien an-
ſchließen müßten; darum hieß er die altſtändiſche Bewegung der jülich-
cleve-märkiſchen Edelleute willkommen und dankte ihnen, daß ſie „ihr
Augenmerk dahin richteten dem Neuen ein bewährtes Fundament unter-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 9
[130]III. 2 Die letzten Reformen Hardenbergs.
zulegen“. Die ſchwierige Frage, wie ſich dieſe alten Territorialſtände
mit der neuen Provinzialeintheilung vertragen ſollten, erregte ihm wenig
Bedenken. Im Uebrigen wollte er den Unterthanen durchaus kein vor-
lautes Dreinreden in die Verfaſſungsfrage geſtatten, wie er auch in ſeinen
ſpäteren Jahren der Krone gern die Stelle der Vorſehung vorbehielt; das
Volk hatte ſchweigend abzuwarten, was der König über die Landſtände
verfügen würde. Darum wies er jene allerdings ungeſtüme Schrift von
Görres, der doch auch gut altſtändiſch geſinnt war, ſo ſchroff zurück. Die
Einberufung der Reichsſtände wünſchte der Kronprinz damals noch auf-
richtig; nur ſollten ſie ſich, gemäß der Verordnung von 1815, „organiſch“
aus den Provinzialſtänden herausbilden. Als grundſätzlicher Gegner des
Kanzlers war der Thronfolger bisher noch niemals aufgetreten; denn der
Streit über die Steuerreform bewegte ſich doch nur um die thatſäch-
liche Frage, ob wirklich ein Bedürfniß für die neuen Abgaben vor-
handen ſei.
Da ward der Kronprinz mit einem male durch die Entwürfe der
Communalordnungs-Commiſſion aus ſeiner zuwartenden Haltung hinaus-
gedrängt. Wie hätten dieſe Entwürfe ihm nicht ganz unannehmbar er-
ſcheinen ſollen, die ſo ſcharf mit dem bureaukratiſchen Beſen über die
Sonderart der Landſchaften dahinfegten, die den Landadel in den Grund-
feſten ſeiner alten Machtſtellung bedrohten, ohne doch eine kräftige Selbſt-
verwaltung für die Kreiſe zu begründen? Er konnte fortan dem Kanzler
nicht mehr folgen, und es lag in der Natur der Dinge, daß er nunmehr
mit der altſtändiſchen Partei, die ohnehin ſeinen Neigungen nahe ſtand,
ſich zu verſtändigen ſuchte. Sein Lehrer Ancillon, Wittgenſtein, Schuck-
mann ſprachen im gleichen Sinne, und hatte der Communal-Ausſchuß
durch den Verſuch übermäßiger Centraliſation ſchwer gefehlt, ſo tauchte
jetzt im gegneriſchen Lager der ebenſo bedenkliche Vorſchlag auf: ob man
nicht lieber die Gemeinde- und Kreisordnung der einzelnen Provinzen ganz
in die Hände der künftigen Provinzialſtände legen ſolle? Dergeſtalt
ſchaarte ſich aus alten und neuen Gegnern eine mächtige Oppoſition wider
den Kanzler zuſammen. Der Wind war ihr günſtig, und leicht konnte
ſie bewirken, daß dieſe letzten, ſo erfolgreich begonnenen Reformen des
greiſen Staatsmannes ein Stückwerk blieben.
So bedenklich ſtanden die preußiſchen Dinge, als Hardenberg ſich ge-
nöthigt ſah, ſeine Thätigkeit wieder den europäiſchen Fragen zuzuwenden.
[[131]]
Dritter Abſchnitt.
Troppau und Laibach.
Die neue Geſchichte verdankt ihren eigenthümlichen Reichthum nicht
dem Adel einer überlegenen Cultur, ſondern der Weite ihres Geſichts-
kreiſes, dem regen Verkehre ihrer freien Völkergeſellſchaft. Volksthum
und Weltbürgerthum, nationale und allgemein menſchliche Ideen be-
kämpfen, ergänzen und verbinden ſich ſeit den Tagen der Reformation
in ſo mannichfachem Wechſel, daß die harte nationale Einſeitigkeit des
Alterthums und die theokratiſche Gebundenheit des Mittelalters daneben
faſt eintönig erſcheinen. Bald ſcheidet ein neuer religiöſer oder politiſcher
Gedanke die moderne Staatenwelt in zwei große Lager, ſo daß die nationalen
Gegenſätze faſt zu verſchwinden ſcheinen, bald verſuchen ſich die Völker
in ſchroffer Selbſtgenügſamkeit von einander abzuſchließen; bald verjüngen
ſich die modernen Nationen durch die Aufnahme fremder Ideen, bald
ſtählen ſie ihre Kraft im Kampfe wider ausheimiſche Gewalten.
Kaum fünf Jahre nach dem Sturze des napoleoniſchen Weltreichs
erhob ſich die kosmopolitiſche Macht der Revolution von Neuem mit un-
geahnter Stärke. Aus Südamerika, wo eine junge Völkerwelt ums Da-
ſein rang, ſchlug der Aufruhr zu Anfang 1820 in das ſpaniſche Mutter-
land, bald auch nach Portugal hinüber, alle die alten Schlagworte der
Revolutionen Nordamerikas und Frankreichs übten wieder ihre berückende
Gewalt. Nach einem halben Jahre ſtand auch Italien in Flammen.
Wieder ein Jahr darauf erhob Griechenland die Waffen gegen ſeine tür-
kiſchen Herren, und auch in dieſen nationalen Kampf klangen die welt-
erobernden Ideen von 89 hinein: das Hellenenlied Δεῦτε παῖδες τῶν
Ἑλλήνων war der letzte ſtürmiſche Nachklang der Marſeillaiſe. In den
Hauptländern Europas unterdrückt, brach die Revolution plötzlich, wie die
räthſelhafte Naturgewalt eines unterirdiſchen Brandes, an allen Außen-
poſten der Culturwelt aus dem Boden hervor. Der Zauber der unge-
meſſenen Ferne, der Glanz des ſüdlichen Himmels, die flackernde Leiden-
ſchaft heißblütiger, halbgeſitteter Völker erhöhten noch den romantiſchen
Reiz des grandioſen Schauſpiels.
9*
[132]III. 3. Troppau und Laibach.
Mit dem ganzen Ungeſtüm ihres Haſſes und ihrer Begeiſterung
ſtürzten ſich die beiden größten politiſchen Dichter der Zeit, Byron und
Moore, die Wortführer des weltbürgerlichen Radikalismus, in den Strudel
der wilden Bewegung und begrüßten freudetrunken „das erſte Jahr des
zweiten Freiheitsmorgens“. Thomas Moore ſah den Eispalaſt, den ſich
die heilige Allianz auf den winterlichen Schollen der Newa aufgebaut,
vor dem Sonnenſtrahl aus Süden zuſammenſchmelzen, er ſah die Völker
im Fackelreigen die Leuchte der Freiheit von Hand zu Hand geben und
hoffte den Tag noch zu erleben, da dies heilige Feuer auf allen Altären
der Erde lodern, da der Bund der Fürſten der Brüderſchaft freier Na-
tionen weichen würde. Byron aber ließ im Don Juan den ſchmetternden
Weckruf erſchallen: „die Revolution allein kann von der Hölle Koth die
Welt befrei’n!“ — und bald kam die Zeit, da er triumphirend verkünden
konnte:
Wie hätten die Deutſchen, denen die äſthetiſche Weltanſchauung noch
im Blute lag, den abenteuerlichen Anblick dieſer vulkaniſchen Erſchütterung
nicht mit Entzücken genießen ſollen? Entmuthigt durch die traurigen
Enttäuſchungen ihrer erſten politiſchen Lehrjahre ſtand die Nation ſchon
im Begriff, ſich wieder gänzlich von den Fragen des Staatslebens ab-
zuwenden; nur der romanhafte Zauber, der jene entlegenen Kämpfe um-
ſpielte, vermochte ſie aus ihrer Schlummerſucht aufzurütteln. Echte Ideale,
geſunde politiſche Gedanken konnte ſie aus den Revolutionen des Südens
freilich nicht gewinnen. Raſch nach einander war eine Glanzzeit des litera-
riſchen Schaffens und dann wieder eine Epoche kriegeriſchen Ruhmes
über Deutſchland dahingegangen. Nach all dem Wunderbaren, was man
erlebt, erſchienen die ſtillen Friedensjahre ſchal und leer, und in dem
tapferen Geſchlechte, das die Schlachten des Befreiungskrieges geſchlagen,
erklang jetzt ſchon häufig die verzweifelte Klage, man lebe in einer Zeit
des Epigonenthums, die mit dem Fluche der Unfruchtbarkeit beladen ſei.
Welch eine Freude daher, als endlich wieder große Kämpfe und große
Leidenſchaften das Einerlei des Daſeins zu unterbrechen ſchienen. Mit
nervöſer Neugierde verſchlangen die deutſchen Zeitungsleſer alle die wun-
derbaren Nachrichten aus dem Süden und begeiſterten ſich für das oft ſehr
zweifelhafte Heldenthum der romaniſchen Volksführer, derweil Stein und
Gneiſenau noch unter den Lebenden weilten; ſelbſt der nüchterne Nieder-
ſachſe Rehberg meinte, die ſpaniſchen Ereigniſſe ſeien vielleicht das Größte,
was die Welt ſeit dreißig Jahren geſehen. Die chriſtlich-germaniſchen
Ideale der Studenten, die ſtolzen Erinnerungen von Leipzig und Belle
Alliance verblaßten mehr und mehr. Die kosmopolitiſche Schwärmerei
für die Ideen von 89 kam wieder obenauf, und dies Weltbürgerthum trug
franzöſiſche Farben, denn von dem Glorienſcheine, der die ſüdländiſchen
[133]Erhebung Südamerikas.
Freiheitskämpfer umſchwebte, fiel ein heller Abglanz zurück auf das Ge-
burtsland der Menſchenrechte. Durch die Erhebung der Völker des Nor-
dens war das napoleoniſche Weltreich zertrümmert worden; ſeit den Re-
volutionen von 1820 machten die politiſchen Gedanken der romaniſch-
katholiſchen Völker abermals die Runde durch die Welt.
Unterdrückung und Verfolgung hatten unſere Preſſe heimgeſucht, als
ſie zum erſten male das heimiſche Staatsleben zu beurtheilen gewagt; nun
wendete ſie ſich ganz dem Auslande zu und füllte faſt alle ihre Spalten
mit Berichten aus Spanien und Italien, die ſie den reicheren Zeitungen
der Engländer und Franzoſen entlehnte. So gewöhnten ſich die Leſer
mit ihren Gedanken unſtet in die Ferne zu ſchweifen und über un-
verſtandene Dinge abzuurtheilen. Mit dem Namen Revolution ward
wieder ein Cultus getrieben, wie vor Zeiten als Klopſtock die Morgen-
röthe der galliſchen Freiheit beſang. Nur ein plötzliches Erwachen der
freien Volkskraft ſchien dem deutſchen Elend ein Ziel ſetzen zu können,
und ſchon ſchalt mancher radikale Heißſporn zornig: alle Völker haben
ihre Revolution gehabt, nur nicht die langſamen Deutſchen! Daß die
kühnſte und fruchtbarſte aller modernen Revolutionen aus dem Vater-
lande Martin Luther’s hervorgegangen war, kam den Bewunderern der
neufranzöſiſchen Freiheit nicht zum Bewußtſein; und noch weniger hätten
ſie eingeſehen, daß die revolutionären Erhebungen des Südens nicht der
überlegenen Heldenkraft ſeiner Völker entſprangen, ſondern den Freveln
eines gewaltthätigen Despotismus, der auf den Maſſen ungleich härter
laſtete als die Nichtigkeit des Deutſchen Bundes. Dergeſtalt begannen die
Revolutionslehren der Beſiegten in das Land der Sieger wieder einzu-
dringen, und nach und nach ward ein Zündſtoff angeſammelt, der in den
Erſchütterungen von 1830 und 1848 ſich entladen ſollte. Noch war die
Mißſtimmung ſchwach und ungefährlich, ſie beſchränkte ſich auf einige Kreiſe
der gebildeten Klaſſen, denen die revolutionäre Willenskraft völlig abging;
doch ſie mußte mit den Jahren wachſen, da der Nation jede geſetzliche
Mitwirkung bei der Bundespolitik verboten war und der Groll über die
Mißgriffe der Regierungen durch das beſchämende Bewußtſein der deut-
ſchen Zerſplitterung beſtändig verſchärft wurde. —
Mehr denn zweihundert Jahre lang war das bunte Raſſengemiſch
des ſpaniſchen Amerikas den Europäern eine unbekannte Welt geblieben,
argwöhniſch abgeſperrt durch ein ſchläfriges kirchlich-politiſches Regiment,
das die Kolonien nicht eigentlich drückte, aber ſie im Zuſtande ewiger
Kindheit zu erhalten ſuchte. Erſt ſeit der Abfall Nordamerikas dem
jungen Welttheil den Anbruch eines neuen Tages verkündet und zugleich
die Reformen König Karl’s III. dem Mutterlande wie den Kolonien einige
Erleichterung des Handels, einige Freiheit des geiſtigen Lebens gewährt
hatten, begann ſich in dieſen werdenden Völkern ein amerikaniſches Selbſt-
gefühl zu regen. Als darauf die Spanier wider die franzöſiſchen Er-
[134]III. 3. Troppau und Laibach.
oberer kämpften, erhoben auch die Kolonien das Banner des Aufſtandes,
ſie verjagten die Statthalter Joſeph Napoleon’s und bildeten Junten
nach ſpaniſchem Muſter. Aber aus dem gemeinſamen Kampfe um natio-
nale Selbſtändigkeit entwickelte ſich nach und nach der Widerſtand gegen
Spanien ſelber, da das vom Kriege zerrüttete Mutterland die Kolonien
ſich ſelber überlaſſen mußte und die Cortes von Cadiz ſich gleichwohl be-
rechtigt glaubten „den Spaniern beider Hemiſphären“ Geſetze zu geben.
Schon im Jahre 1810 ertönte aus Mexico der Grito de dolores, eine
gräßliche Empörung brachte die ſpaniſche Herrſchaft in Mittelamerika dem
Untergange nahe. Ein Jahr darauf verwahrte ſich die „Erſtgeborene der
amerikaniſchen Freiheit“ Venezuela, faſt mit den Worten der nordameri-
kaniſchen Unabhängigkeitserklärung, das natürliche Recht der Völker, jeden
Bund aufzulöſen, der dem urſprünglichen Zwecke des Staatsvertrages
nicht entſpreche.
Jener „Schmerzensſchrei“ der Mexicaner, der ſpäterhin in das Wör-
terbuch der revolutionären Propaganda aufgenommen wurde, fand, als
er zuerſt erklang, in Europa wenig Beachtung; ſo lange die Spanier
ſelbſt den Verzweiflungskampf wider Napoleon führten, konnte ein Aufruhr
wider dies bewunderte Volk in der alten Welt nur wenig Theilnahme
erwecken. Als König Ferdinand nach Madrid zurückkehrte, lag es in
ſeiner Hand, die offenbar verfrühte Bewegung durch einige kluge Zuge-
ſtändniſſe zu unterdrücken. Der verblendete Hochmuth des Bourbonen
fachte das ſchon erlöſchende Feuer wieder zu hellen Flammen an. Im
Jahre 1817 ſtanden die Chilenen auf, das thatkräftigſte Volk des ſüd-
lichen Continents. Seitdem ſchritt die Revolution gewaltig vor und ſie
bekannte jetzt offen ihr letztes Ziel, die Trennung vom Mutterlande.
Die völkerbildende Macht des Krieges gab dem Leben dieſer jungen Völker
zuerſt einen großen Inhalt, ſie erweckte ihnen gemeinſamen Haß und
Stolz, gemeinſame ernſte Erinnerungen und damit das Bewußtſein ihrer
Eigenart. Das glänzende Vorbild der benachbarten Vereinigten Staaten
wirkte unwiderſtehlich auf ein geſchichtsloſes Geſchlecht, das noch nie ſelbſt-
thätig für den Staat gelebt und ſoeben erſt die Gleichheitslehren der Fran-
zoſen wie eine neue Offenbarung empfangen hatte; und ſchon ließ ſich
vorausſehen, daß aus dem Mordbrand des gräuelvollen Krieges ein ganzes
Bündel von Republiken hervorgehen und die Republik in Amerika auf
lange hinaus die Staatsform der Regel bleiben würde, wie die Mon-
archie in Europa, die Theokratie im Orient.
Die Bürger Nordamerikas harrten ungeduldig des Tages, da ihr
junger Welttheil der Vormundſchaft Europas endlich ganz entwachſen
ſollte. Die engliſche Handelspolitik hatte ihren ſpaniſchen Bundesge-
noſſen, nachdem er gegen Napoleon ſeine Dienſte gethan, gleichgiltig
fallen laſſen und betrachtete mit offenbarem Wohlgefallen den Fortgang
einer Bewegung, die ihr ein unendliches Marktgebiet zu erſchließen ver-
[135]Revolution in Spanien.
ſprach. Obgleich beide Mächte ihre Neutralität noch nicht förmlich auf-
gaben, ſo genügte doch ihre wohlwollende Haltung um den Plan einer euro-
päiſchen Einmiſchung, der in Petersburg mehrmals auftauchte, zu vereiteln.
Zahlreiche engliſche Freiwillige traten in die Heere der Rebellen ein,
getrieben von jenem ſicheren nationalen Inſtinkt, der die Briten überall
auszeichnet; auch der tapfere Hannoveraner Uslar und manche andere
Offiziere der Deutſchen Legion, die daheim mit ihrem guten Degen nichts
mehr anzufangen wußten, erwarben ſich hier neuen Kriegsruhm im Kampfe
wider dieſelben Spanier, mit denen ſie einſt Schulter an Schulter gefochten
hatten. Und nun, im Jahre 1819 kam die wunderbare Kunde von Bo-
livar’s verwegenem Zuge über das Hochgebirge der Cordilleren und von
der Gründung der Republik Columbia; wetteifernd verherrlichte die Preſſe
beider Welttheile den Befreier Bolivar, den anderen Waſhington, den
Hannibal der Anden. Von der Seelenruhe und der ſtaatsmänniſchen
Klarheit des großen Virginiers lag freilich gar nichts in dem widerſpruchs-
vollen Charakter dieſes creoliſchen Helden, der zwiſchen Tollkühnheit und
Kleinmuth, zwiſchen patriotiſcher Hingebung und ſchauſpielernder Eitelkeit,
zwiſchen radikalen Meinungen und despotiſchen Gelüſten unſtet ſchwankte.
Jedoch das kriegeriſche Ungeſtüm dieſer unfertigen Völker, ihre zähe
Ausdauer in Roth und Entbehrung übertraf bei Weitem Alles was die
Nordamerikaner einſt für die Unabhängigkeit ihres Landes geleiſtet hatten,
ſie verdienten ſich die Freiheit durch ſchwere Opfer; und wie wüſt auch die
Zuſtände in den neuen Republiken vorerſt noch erſchienen, wer über
den nächſten Tag hinausblickte durfte doch nicht mehr verkennen, daß
die Weltgeſchichte dort eines ihrer großen Gerichte hielt und wieder ein-
mal den grauſamen Wahrſpruch fällte: Sic vos non vobis! Das Werk
der Conquiſtadoren, die Entdeckung der neuen Welt konnte ſich erſt voll-
enden, als ihr Kolonialreich in Trümmer fiel, denn jetzt erſt begann
die europäiſche Geſittung in vollerem Strome über den jungen Welttheil
hereinzufluthen. —
Eine ſeltſame Gunſt des Schickſals fügte es nun, daß dieſelben
revolutionären Ideen, welche den Führern der aufſtändiſchen Creolen den
Muth entflammten, die Widerſtandskraft des Mutterlandes lähmten.
Von Kaiſer Alexander unterſtützt, hatte König Ferdinand eine Flotte ge-
bildet und um Cadix ein Heer verſammelt, das den Aufruhr der Ame-
rikaner bändigen ſollte. Als dies Heer am Neujahrstag 1820 zu meu-
tern begann, da war entſchieden, daß Spanien nicht mehr die Macht
beſaß ſeine Kolonien zur Unterwerfung zu zwingen. In dem Soldaten-
aufſtande entlud ſich nur der Unmuth einer arg verwahrloſten Truppe;
als der Urheber der Bewegung, Oberſt Riego, die Cortesverfaſſung von
1812 ausrief, fand er anfangs im Heere ſelbſt nur getheilte Zuſtimmung.
Erſt durch die rathloſe Schwäche König Ferdinand’s, der wie vom böſen
Gewiſſen geſchüttelt die Gegner gewähren ließ, errang die ſchwächliche
[136]III. 3. Troppau und Laibach.
Bewegung ungeahnte Erfolge. Ihr Sieg war geſichert, ſobald ſie im
Norden, unter den zähen Galicianern feſten Fuß gefaßt hatte. Am 9.
März beſchwor der König vor dem revolutionären Stadtrath der Mad-
rider Commune die Verfaſſung von 1812. Dies Grundgeſetz, das der-
ſelbe Fürſt ſechs Jahre zuvor unter dem Jubelgeſchrei der Maſſen be-
ſeitigt hatte, galt dem trunkenen Volke mit einem male als die Offen-
barung der Freiheit. Der heilige Codex ward durch die Straßen ge-
tragen und mit Kniebeugungen verehrt wie ſonſt das Allerheiligſte; die
Kinder in den Volksſchulen lernten den Katechismus des göttlichen Ge-
ſetzbuchs. In den neu berufenen Cortes entfaltete ſich die ganze Pracht
der melodiſchen ſpaniſchen Beredſamkeit; ſtürmiſcher noch erklangen die
großen Worte in dem radikalen Klub des Cafe Lorencini, der bald in
der Hauptſtadt ebenſo mächtig ſchaltete, wie einſt der Jakobinerklub in
Paris. Maſſenhaft wurden die Werke Voltaire’s, Diderot’s, Rouſſeau’s
über die befreite Grenze eingeführt um das Volk mit den Heilslehren
der Revolution zu tränken. Einige Monate hindurch badete ſich das
Land in einem Meere der Glückſeligkeit. Was andere Völker in jahre-
langen Kämpfen nicht erreichen konnten — ſo triumphirte die Madrider
Preſſe — das hat Spanien errungen durch ſechs Jahre der Geduld,
einen Tag der Erfüllung und zwei Tage der Freude; bald werden die
Fremden zu uns kommen um wahre Freiheit und Menſchenwürde kennen
zu lernen; Nationen, bewundert Spanien! Heere, ahmet unſerer Tapfer-
keit nach!
Es klang wie ein Märchen aus der verkehrten Welt, daß dieſe ſelbſt-
genügſame Nation, die ſich von den anderen Völkern ſtets am ſprödeſten
abgeſchloſſen hatte und darum unter allen am wenigſten die Kraft der
Propaganda beſaß, jetzt den Anſpruch erhob den Europäern das Geſetz
der Freiheit zu geben. Und doch wurde dies unbekannteſte Land Europas
eine Zeit lang wirklich von der Preſſe aller Völker als die Heimſtätte der
politiſchen Weisheit geprieſen. Lichter Ruhm umſtrahlte den ſpaniſchen
Namen noch von den napoleoniſchen Zeiten her; wie dies Heldenvolk ſich
einſt zuerſt gegen den Imperator erhoben hatte, ſo ſchien es jetzt wieder
der ſchlummernden Welt das Zeichen zu geben zum Kampfe um die
conſtitutionelle Freiheit. Der vollſtändige und faſt überall unblutige
Erfolg täuſchte auch Beſonnene über die Kraftloſigkeit dieſer Revolu-
tion, alle ihre Sünden erſchienen unſchuldig neben der grauſamen Miß-
regierung der letzten Jahre. Selbſt das entſetzliche Schauſpiel der Mili-
tärverſchwörungen erregte wenig Aergerniß, denn die liberale Welt war
beherrſcht von Widerwillen gegen die ſtehenden Heere und ſah in eid-
brüchigen Soldaten nur Unglückliche, die ihr Menſchenrecht zurückforderten.
Der Führer des aufſtändiſchen Heeres, ein nichtiger, prahleriſcher
Demagog, wurde zum Helden des Tages; in Paris und London, in
Wien und Berlin trug man Cravatten à la Riego. Und wie der ſpa-
[137]Die Cortes-Verfaſſung von 1812.
niſche Parteiname der Liberalen in alle Culturſprachen überging, ſo fan-
den ſich auch überall in der Welt gläubige Bewunderer, welche in dem
heiligen Codex der Spanier das allgemeingiltige conſtitutionelle Vernunft-
recht entdeckten, obgleich keine andere Verfaſſung jener Zeit ſo unverkenn-
bar den Stempel eines ganz eigenartigen Urſprungs trug. Mitten im
Sturme des Krieges, ohne jede Mitwirkung des landflüchtigen Königs,
und doch beſtändig in Angſt vor der Heimtücke des rückkehrenden Bour-
bonen, hatten einſt die Cortes von Cadix im Namen des ſouveränen Volks
dies neue Grundgeſetz berathen und Alles darin angeſammelt was jenem
aufgeregten, unerfahrenen Geſchlechte groß und ehrwürdig erſchien: die
radikalen Sätze der neufranzöſiſchen Doktrin und allerhand unklare Er-
innerungen aus den altſtändiſchen Fueros des ſpaniſchen Mittelalters.
Nur dieſe verwickelten, dem Ausländer kaum verſtändlichen Verhältniſſe
erklärten das Räthſel, wie die königstreuen Spanier dahin gelangt waren
ihr altes Königthum ſo arg zu verſtümmeln. Die Souveränität ſtand
den Cortes zu, die ohne Zuthun der Krone aller zwei Jahre neu ge-
wählt wurden und niemals aufgelöſt werden konnten; vertagten ſie ſich,
ſo ließen ſie einen Ausſchuß zur Beaufſichtigung der Krone zurück; ſo-
bald ſie einen Beſchluß zum dritten male wiederholten, durfte der König
nicht mehr widerſprechen, und ſogar das Recht, unfähige oder unwürdige
Perſonen von der Thronfolge auszuſchließen blieb den Cortes allein vor-
behalten. Die Vertreter des ſouveränen Volks beſaßen in der That alle
Rechte eines Convents; ihre Allgewalt war nur beſchränkt durch die naive
Vorſchrift: „Das ſpaniſche Volk iſt verpflichtet die Freiheit mittels weiſer
und gerechter Geſetze zu erhalten und zu beſchützen.“
Daß Spanien unter einer ſolchen Verfaſſung, mit einem nichtswür-
digen König, einer fanatiſchen Cleriſei und einem eidbrüchigen Heere, end-
loſen Wirren entgegentrieb, konnte den Staatsmännern der großen Mächte
nicht entgehen. Beſonders gefährlich erſchien den Kabinetten die Macht der
zahlreichen geheimen Vereine, die bei dieſer Revolution unverkennbar
mitgewirkt hatten. In ſeinen germaniſch-proteſtantiſchen Heimathlanden
war der Freimaurerorden von ſeinen humanen Zwecken niemals abge-
wichen und ſtets ein freier Bund verbrüderter Vereine geblieben, weil er von
der Staatsgewalt geduldet, in Preußen und einigen der deutſchen Klein-
ſtaaten ſogar begünſtigt wurde. Die deutſchen Logen ſtanden allen poli-
tiſchen Parteikämpfen fern, obwohl ſie natürlich einzelne Radikale zu ihren
Mitgliedern zählten und zuweilen wohl auch ein gewiſſenloſer Abenteurer,
wie Wit v. Dörring, ſeine Kenntniß der maureriſchen Symbole mißbrauchte
um Zutritt zu den Geheimbünden des Auslandes zu erlangen. In der
katholiſchen Welt dagegen war der Orden, ſeit Papſt Clemens XII. ihn
verdammt hatte, oft von kirchlicher und politiſcher Verfolgung heimgeſucht
und dadurch, ſeinem urſprünglichen Charakter zuwider, in die Reihen der
Oppoſition gedrängt worden. Die hierarchiſche, in Staat und Geſell-
[138]III. 3. Troppan und Laibach.
ſchaft nach ſtraffer Organiſation verlangende Geſinnung der romaniſchen
Völker und das ſchlimme Beiſpiel der Jeſuiten beförderten das Wachs-
thum der revolutionären Geheimbünde, die auf dem Sumpfboden des
Despotismus immer ihre natürliche Nahrung finden. Ein Netz von ge-
heimen politiſchen Vereinen überſpannte die Mittelmeerlande, und manche
von ihnen ſtanden mit den Maurern in Verbindung oder benutzten doch
maureriſche Zeichen. Daß die ſpaniſchen Logen bei der Schilderhebung des
Heeres die Hände mit im Spiele gehabt, ſtand außer Zweifel. Wie ein
Blitzſtrahl traf dieſe Nachricht den Wiener Hof: jetzt war ſie entlarvt,
die im Finſteren ſchleichende weltumſpannende Verſchwörung, vor deren
Umtrieben Fürſt Metternich die blinden Regierungen ſo oft gewarnt hatte.
Kaiſer Franz beeilte ſich, das Verbot des Freimaurer-Ordens, das in
ſeinen übrigen Kronländern längſt beſtand, auch dem lombardiſch-vene-
tianiſchen Königreiche drohend einzuſchärfen. Wie frohlockte Haller, da
er nun endlich beweiſen konnte, woher die revolutionäre Sophiſtenzunft
ihre räthſelhafte Macht ſchöpfe; bis an ſein Lebensende wurde er nicht
müde, in leidenſchaftlichen Schriften immer wieder zu verſichern, daß die
Wühlerei der Freimaurer alle die ungeheueren Erſchütterungen der letzten
Jahrzehnte verſchuldet habe: war doch einſt Philipp Egalité von Orleans
der Großmeiſter des Ordens in Frankreich geweſen, und viele Girondiſten
hatten ihm angehört! So armſelige Märchen konnten den König von
Preußen, der ſelber wie einſt Friedrich der Große in die Loge eingetreten
war, freilich nicht überzeugen; gleichwohl blieb an allen Höfen der Eindruck,
daß dort im Süden eine geheimnißvolle, dämoniſche Macht des Verderbens
ſich rege.
Die Beſorgniß wuchs, als in Portugal ein anderer Riego, General
Sepulveda auftrat. Auch hier meuterte das Heer, auch hier wurde, trotz
der alten Feindſchaft wider das Nachbarland, der heilige Codex der Spa-
nier mit einigen radikalen Verſchönerungen als Grundgeſetz ausgerufen
und die Bewegung zeigte hier eine unwiderſtehliche, naturwüchſige Kraft,
weil ſie einen berechtigten nationalen Zweck verfolgte. Die Fremdherrſchaft
der Engländer, die bisher das politiſche Leben des unglücklichen Volkes
unterbunden, ſeine wirthſchaftlichen Kräfte ſchonungslos ausgebeutet hatte,
brach zuſammen, ihr brutaler Vertreter Lord Beresford ward des Landes
verwieſen. —
Mittlerweile war die Revolution ſchon in das Machtgebiet des Wiener
Hofes ſelber erobernd eingezogen. Wie ſelbſtgefällig hatte Metternich noch
im vorigen Jahre die Huldigungen der italieniſchen Höfe entgegengenommen.
Wie zuverſichtlich baute er damals auf die Thatenſcheu dieſer furcht-
ſamen Nation, wie prahleriſch ſchrieb er an Conſalvi: die Pforten der
Hölle werden nichts vermögen wider die Eintracht des Papſtes und des
Kaiſers! Soeben noch war über dem Thore des Palaſtes Albergotti zu
Arezzo die unterthänige Inſchrift angebracht worden, welche der Welt
[139]Portugal. Neapel.
verkündigte, daß hier vor’m Jahre der ruhmvolle Kaiſer Franz gewohnt
habe. Und jetzt kam die Schreckenskunde, daß am 2. Juli auch das nea-
politaniſche Heer aufgeſtanden war. Die Demüthigung des Neffen in
Madrid erſchütterte durch einen natürlichen Rückſchlag auch den Thron
des Oheims in Neapel. So grauſam wie ſein ſpaniſcher Verwandter
war König Ferdinand von Neapel nach ſeiner letzten Rückkehr allerdings
nicht aufgetreten. Aber nachdem das mißhandelte Volk unter König Mu-
rat zum erſten male den Segen einer ſtreng geordneten bureaukratiſchen
Verwaltung kennen gelernt hatte, vermochte der geiſtloſe, zwiſchen Schlaff-
heit und Willkür ſchwankende Abſolutismus der Bourbonen, der um des
lieben Friedens willen ſogar mit den Räuberbanden Verträge ſchloß, ſein
altes Anſehen nicht wieder zu gewinnen.
Ein finſterer Geiſt des Mißtrauens, das arge Vermächtniß langer
Jahrhunderte der Fremdherrſchaft, lag wie ein Fluch über dem Lande.
Die Sicilianer verziehen dem Bourbonen nicht, daß er zum Dank für
ihre bewährte Treue die uralte Selbſtändigkeit ihrer ruhmreichen Krone
vernichtet, ihre kaum begründete neue Verfaſſung wieder aufgehoben und
die Inſel widerrechtlich mit den verhaßten Continentalen zu einem König-
reiche beider Sicilien zuſammengeſchweißt hatte. Die gebildeten Klaſſen
der Hauptſtadt dachten noch immer mit unverſöhnlicher Rachſucht an das
gräßliche Jahr 1799, an den Verrath und den Maſſenmord, welche da-
mals die erſte Rückkehr der Bourbonen geſchändet hatten, und rechneten
die ganze Blutſchuld jener Frevel dem königlichen Hauſe zu, denn ihr
eigentlicher Urheber, Nelſon, war vergeſſen. An den Perſonen des Hofes
bekundete ſich hier wie in Madrid ſchon jene ſtumpfſinnige Nichtigkeit,
welche die ſpäteren Geſchlechter uralter Fürſtenhäuſer ſo häufig auszeichnet,
nur daß der Angler Ferdinand von Neapel immerhin noch etwas männ-
licher erſchien als der Sticker Ferdinand von Spanien. Von allen den
conſtitutionellen Verheißungen, die der Bourbone einſt aus Palermo ſeinen
Neapolitanern zugeſendet, verlautete jetzt kein Wort mehr. Das Heer
hatte unter Napoleon’s Fahnen zuerſt den dieſem Volke ganz unbekannten
Feuertrank kriegeriſchen Ruhmes gekoſtet und ſah ſich jetzt mißachtet und ver-
nachläſſigt, ſeine ſchönſten Erinnerungen verhöhnt, ſeine bewährten Führer
durch die Günſtlinge des Hofes angefeindet oder verdrängt. Geſetzlicher
Sinn war unmöglich in einem Lande, das binnen weniger Jahre ſo viele
Herren hatte kommen und gehen ſehen. Das Sektenweſen der geheimen
Geſellſchaften ſtand in üppiger Blüthe. Die aus Frankreich eingedrungene
maureriſche Geſellſchaft der Carbonari, die in Italien bald den Charakter
eines revolutionären Geheimbundes angenommen hatte, wetteiferte mit
der reaktionären Verſchwörung der Keßler in ſchlechten demagogiſchen
Künſten.
Alſo von allen Seiten her unterhöhlt brach die Selbſtherrlichkeit der
Bourbonen jählings zuſammen, als die Dragoner in Nola den Aufſtand
[140]III. 3. Troppau und Laibach.
begannen. Unter den jauchzenden Zurufen des Volks zog die heilige
Schwadron der Empörer ſodann in der Hauptſtadt ein, und ſofort ward
die ſpaniſche Cortesverfaſſung ausgerufen, obgleich ſich ein vollſtändiger
Abdruck des heiligen Codex im ganzen Lande nicht auftreiben ließ; denn
überall verlangt die Maſſe, auch wenn ſie meutert, nach einer unzweifel-
haften Autorität, nach einem Panier, um das ſie ſich ſchaaren kann,
und jenes unbekannte Grundgeſetz galt nun einmal für das Evangelium
der Freiheit. Der König unterwarf ſich dem triumphirenden Aufruhr
ebenſo würdelos wie ſein Neffe in Spanien. Als er die Verfaſſung be-
ſchwor bat er den Himmel ſeinen Blitz auf ihn herabzuſchleudern, falls
er je den Eid bräche; insgeheim aber lauerte er wie der Spanier auf
den geſegneten Tag der Rache.
Die Aufſtändiſchen ſiegten ohne jeden Widerſtand und ſchonten ſorgſam
die Sicherheit von Hab und Leben. Die deutſchen Zeitungen konnten
nicht genug der Wunder berichten von der Weisheit dieſes ſo plötzlich zu
ſeinen Jahren gekommenen Volkes; zum dritten male in wenigen Wochen
triumphirte die Revolution ohne Blutvergießen. Liberale Kaufleute in Lon-
don und Paris erboten ſich zu Anleihen, napoleoniſche Generale entwarfen
Kriegspläne für die Sache der Freiheit. Die Revolution hatte ihren
Sitz im Heere und den gebildeten Klaſſen, nicht mehr, wie einſt zur
Zeit der parthenopäiſchen Republik, blos unter einer Handvoll unzufrie-
dener Edelleute und Gelehrten; ſelbſt der rohe Hafenpöbel der Haupt-
ſtadt, den die Bourbonen ſo oft ſchon gegen die höheren Stände gehetzt
hatten, zeigte ſich diesmal der Sache der Signoren nicht feindſelig. Trotz-
dem war dieſe unwiderſtehliche Bewegung nur der feſtliche Rauſch eines
Kindervolks, faſt noch ſchwächlicher als ihr ſpaniſches Vorbild. Die Maſſen
frohlockten, wie ſonſt bei dem Wunder des heiligen Januarius, als die
neugewählten Volksvertreter durch die fahnengeſchmückten Straßen zur
Kirche zogen und plötzlich Schwärme befreiter Vögel über den Gaffenden
aufſtiegen; das Parlament hallte wider von den Kraftworten revolutio-
närer Redekunſt, aber ſeine Beſchlüſſe bekundeten weder Einſicht noch Ent-
ſchloſſenheit. Das lärmende neue Nationalheer der Samniter, Marſen
und Hirpiner krankte an allen Gebrechen einer improviſirten Volksbe-
waffnung; und von Haus ward die Revolution geſchwächt durch den grim-
migen Haß der Inſel wider das Feſtland. Auch die Sicilianer waren
aufgeſtanden, auch ſie hatten — ſo unwiderſtehlich wirkte die Macht des
radikalen Götzenbildes in dieſer Zeit des Taumels — nicht ihr eigenes
Werk, die wohldurchdachte ſicilianiſche Verfaſſung vom Jahre 1812 wieder-
hergeſtellt, ſondern den unbekannten heiligen Codex der Spanier ange-
nommen; doch da ſie zugleich ein ſelbſtändiges Parlament für ihre Inſel
forderten und die Mordbanden der Galeeren in Palermo den Plünderungs-
krieg begannen, ſo entſpann ſich zwiſchen den beiden Hälften des Staates ein
verworrener, blutiger Kampf, deſſen Sinn und Zweck faſt im Dunkel lag.
[141]Italien und Oeſterreich.
Der Gedanke der italieniſchen Einheit war dieſem Süden der Halb-
inſel, der ſeit Jahrhunderten ein ſelbſtgenügſames Sonderleben führte,
noch faſt fremd; nicht die nationale Tricolore des Königreichs Italien,
ſondern die ſchwarzblaurothe Parteifahne der Carbonari wehte jetzt von
den Wällen von S. Elmo. Nur die beiden hochherzigen Brüder Pepe
und vielleicht noch einige andere napoleoniſche Veteranen hofften im
Stillen auf den Bundesſtaat Auſonien, das alte Traumbild der patrio-
tiſchen Schwärmer. Gleichwohl konnte ein ſcharfer Beobachter wie Graf
Adam Moltke aus dem phantaſtiſchen Treiben ſchon den erſten Wiegen-
ſchrei einer erwachenden großen Nation heraushören; er wollte die Wäl-
ſchen nicht tadeln, weil ſie jetzt um dieſelben Güter kämpften wie einſt
die Deutſchen in den Jahren 1806—1815. Ueberall auf der Halbinſel
trieben die Geheimbünde ihre unterirdiſche Arbeit. Noch war die Zahl
ihrer Genoſſen gering; aber ſie wirkten mit der ganzen fieberiſchen Raſt-
loſigkeit ſüdländiſcher Verſchwörer, und das feine Machtgefühl, das dieſem
Volke ſelbſt in den Zeiten ſeiner politiſchen Verſunkenheit immer eigen
blieb, hatte längſt errathen, wo der Thränenquell Italiens floß. Die
Fremdherrſchaft laſtete auf dem zerriſſenen Lande; auf Oeſterreichs Waffen
ſtützten ſich alle ſeine kleinen Despoten. Das ſchwarzgelbe Banner war
der unglücklichen Nation das Symbol ihrer Knechtſchaft, obgleich Oeſterreich
in Italien nicht willkürlicher ſchaltete als die einheimiſchen Fürſten; unum-
wunden erklärte der conſervative Piemonteſe d’Aglié jetzt ſchon den franzö-
ſiſchen Staatsmännern: der Sitz des Aufruhrs in Oberitalien ſind die öſter-
reichiſchen Provinzen. In der Hofburg ſelbſt ward dies dunkel empfunden.
Bald nach dem Ausbruch des neapolitaniſchen Aufruhrs ließ Kaiſer Franz
in der Lombardei eine Treibjagd auf wirkliche und vermeintliche Verſchwörer
veranſtalten. Giorgio Pallavicino, der Dichter Silvio Pellico und viele
andere treue Patrioten wurden aufgegriffen um dann jahrelang im
Sonnenbrande der Bleidächer Venedigs oder in den ſcheußlichen Kerkern
des Spielbergs über die Menſchenfreundlichkeit ihres guten Kaiſers nachzu-
denken. Wollte die Fremdherrſchaft ſich behaupten, ſo durfte ſie den bleiernen
Schlummer, der einſt unter der Herrſchaft der ſpaniſchen Vicekönige auf
der Halbinſel gelegen hatte, nicht ſtören laſſen; der Wiener Hof konnte in
ſeinen Vaſallenſtaaten niemals conſtitutionelle Formen dulden, die in Mai-
land und Venedig unmöglich waren. Jede revolutionäre Bewegung in
Italien war eine Kriegserklärung gegen Oeſterreich, auch wenn ſie ſelber
ihre nationalen Ziele noch nicht klar erkannte. —
Die Gefahr ſchien um ſo ernſter, da es auch auf dem alten Heerde
der europäiſchen Revolution wieder zu ſchwälen begann. In Frankreich
war das Jahr 1819 leidlich ruhig verlaufen. Als der Miniſter Decazes
den König bewogen hatte, ſechzig neue Pairs, zumeiſt Würdenträger des
Kaiſerreichs, in das Oberhaus zu berufen, da konnte man einen Augen-
blick hoffen, daß die alte mit der neuen Zeit ſich endlich vertragen und
[142]III. 3. Troppau und Laibach.
der Parteikampf mildere Formen annehmen würde. Damals erregten
die Betrachtungen der Frau von Staël über die franzöſiſche Revolution
allgemeine Bewunderung — das politiſche Teſtament der Tochter Necker’s,
das noch einmal mit der ganzen Selbſtgerechtigkeit des franzöſiſchen Doktri-
narismus die alten, dem Herzen der Verſtorbenen ſo theueren conſtitu-
tionellen Heilswahrheiten verkündigte: nur wenn Frankreich unbedingt
die engliſchen Inſtitutionen annehme, könne die Nation wieder geſunden
und eine neue Blüthezeit der Künſte und Wiſſenſchaft erleben; dann
würden auch die Frauen wieder tugendhafter werden und der Ehrgeiz
der Männer nicht mehr nach dem Mammon, ſondern nach den edleren
Kränzen des patriotiſchen Ruhmes trachten; wählet, ſo ſchloß ſie, zwiſchen
der Ruhmſucht und der Geldgier! Dieſe Weiſſagungen der edlen Frau,
die ſich von der wachſenden Macht der Börſe und ihrem Einfluß auf
die Abgeordneten offenbar nichts träumen ließ, fanden noch begeiſterte
Gläubige; die ganze mächtige Partei der Doktrinäre, der weitaus die
meiſten literariſchen Talente der Nation angehörten, gab ſich der ehrlichen
Hoffnung hin, daß die parlamentariſchen Formen den Franzoſen einen
neuen Idealismus erwecken würden.
Und doch fehlte dieſem Volke die erſte Vorbedingung conſtitutioneller
Freiheit, die Achtung vor dem Rechte. Es war Frankreichs Schickſal, alle
die großen Kämpfe, welche Europa erſchütterten, mit höchſter Leidenſchaft
durchzufechten. Tödlich verfeindet wie einſt Ligiſten und Hugenotten ſtan-
den Legitimiſten und Radikale einander gegenüber, Beide zu ſchwach zur
Herrſchaft, Beide ſtark genug um den verfaſſungstreuen Mittelparteien
die Maſſen des Volks zu entfremden. Während das Comité directeur
der revolutionären Vereine an ſeinen Verſchwörungsplänen weiter ſpann,
führten die Ultras des Pavillons Marſan ebenſo unbelehrbar den ge-
heimen Krieg gegen die Charte fort. Noch immer waren die Emigranten
für ihre Verluſte nicht entſchädigt, und ſo lange der Raub der Revolu-
tion ganz ungeſühnt blieb, konnte die Partei, die ſich ſo gern für die
Stütze des Thrones ausgab, die neue Ordnung der Dinge nicht ehrlich
anerkennen. Von Altersher war ſie an verrätheriſche Zettelungen mit
dem Auslande gewöhnt; auch jetzt wieder beſtürmten Chateaubriand und
andere Ultras die großen Mächte mit Bitten und Rathſchlägen. Im
Oktober 1819 kam in tiefem Geheimniß ein Anhänger des Grafen von
Artois nach Berlin und überreichte hier wie in Wien eine Denkſchrift,
welche die Höfe der großen Allianz beſchwor, mit Hilfe des Thronfolgers
dem verblendeten Könige die Augen zu öffnen und ihn zu einem Staats-
ſtreiche zu bewegen; im Nothfalle würde der verſtändige Theil der Nation
ſogar eine Intervention des Auslands zu Gunſten der königlichen Voll-
gewalt willkommen heißen.*)
[143]Ermordung des Herzogs von Berry.
Beide deutſche Mächte wieſen den unſinnigen Vorſchlag weit von ſich.
Aber die Parteiwuth der Ultras blieb unbeſänftigt und ſie entlud ſich
endlich in raſendem Toben, als am 13. Febr. 1820 der einzige noch jugend-
kräftige Sohn des königlichen Hauſes, der Herzog von Berry durch einen
radikalen Fanatiker, den Schloſſer Louvel ermordet wurde. Es ergab
ſich ſogleich, daß der Mörder ohne Mitwiſſer war, doch ſtatt zu beruhigen
erhöhte dieſe Entdeckung nur den unheimlichen Eindruck der Blutthat.
Welch ein tödlicher Haß gegen die Bourbonen mußte die hauptſtädtiſchen
Maſſen beſeelen, wenn ein ſchlichter Handwerker, der nur mit ſeines-
gleichen verkehrte und radikale Zeitungen las, auf den Gedanken verfallen
konnte durch die Vernichtung des Tyrannengeſchlechtes das Vaterland zu
erretten! Das königliche Haus ſchien dem Ausſterben nahe, die Ultras
ſchnaubten Rache und ziehen das gemäßigte Miniſterium der Mitſchuld.
Schon nach fünf Tagen mußte der König den Bitten des Thronfolgers
und der Prinzeſſinnen nachgeben und ſeinen Liebling Decazes entlaſſen.
Chateaubriand rief dem Geſtürzten die gräßliche Anklage nach: ſeine Füße
ſind im Blute ausgeglitten, er iſt gefallen! Nunmehr übernahm Richelieu
wieder die Leitung des Cabinets, in der ehrlichen Abſicht, zugleich die radi-
kalen Verſchwörer zu ſchrecken und den Grimm der Ultras zu mäßigen.
Das Wahlgeſetz ward geändert, ſo daß die Höchſtbeſteuerten den gehäſſigen
Vorzug eines doppelten Stimmrechts erhielten, die Freiheit der Preſſe und
der Perſonen ſcharf beſchränkt. Der alternde König hatte inzwiſchen an
der Gräfin du Cayla einen neuen Günſtling gefunden und näherte ſich
ſeitdem den Ultras.
Die großen Mächte verfolgten dieſen Umſchwung mit banger Be-
ſorgniß, ſie hielten den wohlmeinenden Miniſter nicht für ſtark genug
um den Sturm zu beſchwören.*) In der That beförderten ſeine Maß-
regeln nur die Erbitterung der Parteien. In Paris und anderen Städten
rotteten ſich die Maſſen zu wilden Aufläufen zuſammen, und mehrmals
floß Blut auf den Straßen. Im Auguſt ward in mehreren Garniſonen
eine gefährliche Soldatenverſchwörung entdeckt; ihre Fäden reichten, wie
Jedermann fühlte, ſehr weit hinauf in die Kreiſe der napoleoniſchen Offi-
ziere und hinab bis zu dem geheimnißvollen Comité directeur, jedoch es
gelang nicht ſie ganz bloßzulegen. Und wieder wendeten ſich leidenſchaft-
liche Ultras wie Soſthène de la Rochefoucauld hilfeflehend an die frem-
den Mächte. Bergaſſe, derſelbe unſelige Mann, der, ſchon vor der Re-
volution in Beaumarchais’ Luſtſpielen gebrandmarkt, dann im Jahre 89
bei allen Staatsſtreichsplänen des Hofes mitgeſchlichen war, ſendete jetzt
(1. Sept.) dem Czaren Alexander eine Denkſchrift, die an die ſchlimmſten
*)
[144]III. 3. Troppau und Laibach.
Ergüſſe der alten Emigrantenthorheit erinnerte. Sie forderte feierlich
den gemeinſamen Krieg der Großmächte wider die hölliſche Sekte, die
von jeher in Frankreich ihr Neſt gehabt; einen ſolchen Krieg beginnen
heiße nicht ein Volk knechten, ſondern ein geknechtetes Volk dem Joche
entreißen. Was ſei die Charte denn andres als die Verfaſſung von
Sieyes? Zum Schluß ward noch die ganze Fabelwelt der reaktionären
Geſpenſterſeher heraufbeſchworen und mit grellen Farben geſchildert, wie
der Vater aller revolutionären Sekten, der Freimaurerorden ſtets die Bour-
bonen als das älteſte aller Fürſtenhäuſer am bitterſten gehaßt, und ſchon
Caglioſtro auf ſeinem Maurer-Taſchenbuche die Buchſtaben L. P. C. —
Lilia pedibus calca — geführt habe.*)
So fanatiſchen Feinden gegenüber konnten auch die gemäßigten Par-
teien ihr Blut nicht mehr bändigen. Die geſammte Preſſe der Oppoſi-
tion hallte wider von ſchadenfrohem Gelächter, als Aug. Thierry und Guizot
eben jetzt in zwei geiſtreichen Schriften zu erweiſen verſuchten, daß die
franzöſiſche Nation ſeit dreizehn Jahrhunderten in zwei tief verfeindete
Stämme, den fränkiſchen Adel und den gallo-römiſchen Tiers-état zer-
ſpalten ſei — eine geiſtreiche Halbwahrheit, welche allerdings der hiſtoriſchen
Forſchung einen neuen Gedankenkreis erſchloß, aber in den Parteikämpfen
des Tages faſt wie ein Aufruf zum Bürgerkriege klang. Der inſtinktive
Haß der bürgerlichen Klaſſen gegen die Reſtauration, die ihnen als Herrſchaft
des Auslands galt, ſah ſich wiſſenſchaftlich gerechtfertigt ſeit alſo das Köſt-
lichſte was Frankreich beſaß, ſeine unzerſtörbare nationale Einheit in Frage
geſtellt wurde. Den tiefſten Grund der Unwahrheit des franzöſiſchen Par-
lamentarismus erkannten die beiden geiſtvollen Hiſtoriker ebenſo wenig wie
die anderen Liberalen. Beide fühlten zwar, wie mächtig der Bonapartis-
mus noch in allen Anſchauungen der Franzoſen fortwirkte, und Thierry
ſprach ſogar mit warmen Woxten von der Gemeindefreiheit, aber er ge-
langte nicht zu der Einſicht, daß die bureaukratiſche Verwaltungsordnung
Napoleons, die doch unzweifelhaft national war und mit den Lebensge-
wohnheiten des Volkes immer feſter verwuchs, ſich mit conſtitutionellen
Verfaſſungsformen niemals ehrlich vertragen konnte.
In dieſen Hader der Parteien hinein fiel nun plötzlich die erſtaunliche
Nachricht, daß die Wittwe des ermordeten Herzogs am 29. Sept. einen
Sohn geboren hatte. Durch ein Wunder des Himmels war noch einmal
aus dem alten Bourbonenſtamme ein friſches Reis ausgeſchlagen. Die
Ultras ſahen den Finger Gottes aus den Wolken herniederwinken und
begrüßten das Kind Frankreichs, das Kind Europas mit denſelben über-
ſchwänglichen Schmeichelreden, welche zehn Jahre zuvor an der Wiege
des Königs von Rom erklungen waren. Ihr Ch. Nodier ſchrieb: „das
erſte Lächeln, das ſeine Lippen am Tage der Taufe verklärt, wird eine
[145]Steigende Macht der Ultras.
ungeheure Erlöſung ankündigen!“ Die Blätter der Oppoſition verriethen
ihre üble Laune indem ſie verſtohlen die Echtheit des jungen Bourbonen
anzweifelten oder boshaft an die Stuarts erinnerten, denen das Schick-
ſal auch noch kurz vor ihrer Entthronung einen unerwarteten Stamm-
halter beſcheert hatte. In Wahrheit glaubte ganz Europa, daß ein un-
erhörtes Glück den franzöſiſchen Thron von Neuem befeſtigt habe. Erſt
die Zukunft ſollte lernen, wie wenig der befangene Blick der Mitleben-
den die Bedeutung der Ereigniſſe des Tages zu überſehen vermag. Jener
wunderbare Glücksfall war ein ſchweres Mißgeſchick für Frankreich und
die Sache der Monarchie. Wäre die alte Dynaſtie damals ausgeſtorben,
ſo hätte das Haus Orleans, das den Ideen des neuen Jahrhunderts näher
ſtand, kraft ſeines Erbrechts den Thron beſtiegen, und dann konnte viel-
leicht ein nationales, von allen Parteien anerkanntes Königthum wieder
Wurzeln ſchlagen und die zerriſſene Kette der Zeiten endlich ſchließen.
Die Geburt dieſes Thronerben aber weckte auf’s Neue den alten Haß
der demokratiſirten Geſellſchaft wider das königliche Haus und ſtachelte
den lauernden Ehrgeiz der Orleans zu unheimlichen Plänen auf.
Für den Augenblick freilich waren die Ultras im Vortheil, und da in
Frankreich Niemand gern lange in den Reihen einer ausſichtsloſen Minder-
heit verharrt, ſo errangen die Parteien der Rechten bei den Neuwahlen einen
großen Erfolg. Noch ehe das Jahr zu Ende ging ſah Richelieu ſich ge-
nöthigt zwei Führer der Ultras, Villele und Corbiere in das Miniſterium
aufzunehmen. Dies uneinige Cabinet behauptete ſich nur mühſam in
dem Gewoge der parlamentariſchen Kämpfe. Während die deutſchen Zei-
tungsleſer ſich bewunderungsvoll an der glänzenden Beredſamkeit der Pa-
riſer Kammern weideten, war der franzöſiſche Staat durch die Gehäſ-
ſigkeit ſeiner Parteien dermaßen geſchwächt, daß ſeine Stimme im Rathe
der großen Mächte wenig mehr galt. —
Kaum minder bedenklich erſchien zur Stunde die Lage Englands.
Die Erbſünde des britiſchen Parlamentarismus, die Vernachläſſigung der
niederen Stände trug endlich ihre Früchte. Die hungernden Maſſen,
denen der erſehnte Friede nur neues Elend gebracht, knirſchten in die
Zügel, blutige Straßenkämpfe verkündeten das Nahen einer ernſten ſo-
cialen Bewegung, und ſtatt die Gefahr durch die Herabſetzung der drücken-
den Kornzölle und andere dringend nöthige wirthſchaftliche Reformen zu
beſchwören griff das Tory-Cabinet mit rückſichtsloſer Härte durch. Faſt
gleichzeitig mit den Karlsbader Beſchlüſſen erſchienen die ſechs Knebelbills
gegen die Preſſe und die öffentlichen Verſammlungen. Während die Na-
tion über dieſe letzte ſchwere Verletzung ihres Verfaſſungsrechts noch murrte,
begann ſie auch ſchon wahrzunehmen, wie tief Englands Macht in der
Staatengeſellſchaft geſunken war. Gedeckt durch den Silbenwall ihrer
Meere war die engliſche Handelspolitik von Altersher gewohnt, die jedem
Staate eingeborene Selbſtſucht mit einer cyniſchen Unbefangenheit, die
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 10
[146]III. 3. Troppau und Laibach.
ſich keine Regierung des Feſtlandes erlauben durfte, zur Schau zu
tragen, und längſt betrachtete es die Welt als ein politiſches Naturgeſetz,
daß alle Bundesgenoſſen des treuloſen Albion unfehlbar betrogen wurden.
Schließlich kam doch ſelbſt für dieſe unangreifbare Inſel der Tag, da ſie
erfahren mußte, daß auch im Völkerverkehr ſittliche Mächte wirken und
jeder Staat durch das Uebermaß der Untreue ſein eigenes Anſehen zer-
ſtört. In Spanien, in Portugal, in Sicilien, in Preußen, überall hatte
England ſeine treuen Waffengefährten preisgegeben oder übervortheilt.
Der engliſche Name, der in den napoleoniſchen Tagen weithin durch die
Welt geleuchtet hatte, war jetzt allgemein verhaßt; Lord Caſtlereagh galt
auf dem Continente nur noch für den dienſtwilligen Schleppträger Met-
ternich’s, und nicht mit Unrecht ſchleuderte Brougham den unfähigen
Miniſtern den Vorwurf zu: unter ihrer Leitung ſei Großbritannien nur
eine Macht zweiten Ranges.
In dieſem Augenblicke allgemeiner Unzufriedenheit, im Januar 1820
ſtarb der geiſteskranke greiſe König. Der letzte und nichtigſte der nichtigen
vier George beſtieg den Thron und bewährte ſofort, daß er wirklich, wie Lord
Byron ſchon dem Prinzregenten zugerufen hatte, aus dem blutigen Staube
des kopfloſen Karl I. und des herzloſen Heinrich VIII. geformt war. Sein
Dichten und Trachten ging auf die Vernichtung der unglücklichen Königin
Karoline. Der Treuloſe, deſſen ganzes häusliches Leben nur ein fortge-
ſetzter Ehebruch geweſen, hatte die Stirn, ſeine Gemahlin öffentlich der
Untreue anzuklagen. Auch die gefährliche Verſchwörung des Radikalen
Thiſtlewood gegen das Leben der Miniſter, die im Februar entdeckt wurde,
brachte den König nicht auf ernſtere politiſche Gedanken. Seine eigenen
Miniſter und alle befreundeten Höfe ſahen mit Schrecken einen europäiſchen
Skandal voraus und riethen dringend ab; man erwog bereits, ob nicht
Metternich ſelbſt nach London gehen ſollte, um den ärgerlichen Handel
beizulegen.*) Sobald ſich aber zeigte, daß Georg IV. von ſeinem längſt
gehegten Entſchluſſe nicht abzubringen war, lieh der öſterreichiſche Staats-
mann dem alten Bundesgenoſſen unbedenklich ſeinen Beiſtand. Seit Jah-
ren waren die Diplomaten des Prinzregenten der verfolgten Fürſtin auf
ihren Reiſen nachgegangen, erlauchte Namen aus dem engliſchen und han-
noverſchen Adel hatten ſich nicht geſcheut die Bettmädchen in den Gaſthöfen
auszuhorchen. Jetzt legte ſich auch die bewährte k. k. Polizei ins Zeug und
trieb in Mailand ein ganzes Gelichter von Lakaien, Kurieren und Zofen
zuſammen, das in London wider die Königin ausſagen ſollte, und der
Kurfürſt von Heſſen ſendete dienſtbefliſſen ſeinen Hofbereiter als Zeugen
hinüber.**)
[147]Prozeß der Königin Karoline.
So begann denn im Auguſt der Prozeß der Königin vor dem Ober-
hauſe, und faſt ebenſo erregt wie die Engländer folgten die Deutſchen
den beiſpielloſen Auftritten dieſer „königlichen Bordellkomödie“. Denn
es war ein Fürſt des Deutſchen Bundes, der alſo jede Scham verleug-
nete, und eine deutſche Fürſtentochter, der ſolche Schmach bereitet wurde.
Was war dieſer braunſchweigiſchen Prinzeſſin nicht Alles geboten worden,
ſeit ſie zuerſt den Fuß an den Strand der ungaſtlichen Inſel geſetzt
hatte, ein unerzogenes junges Geſchöpf, vorlaut, taktlos, launiſch, und
bei Alledem doch ein ehrliches deutſches Naturkind, aufrecht und tapfer,
unter Menſchen menſchlicher Liebe fähig, zu wahrhaftig für die Schein-
heiligkeit dieſes Hofes. Von dem Gatten gleich im erſten Augenblicke
roh beleidigt, dann gleichmüthig verlaſſen, verrathen, mißhandelt; gewalt-
ſam getrennt von ihrer Tochter Charlotte, die doch immer mit dem ſiche-
ren Gefühle des edlen Weibes nach der Mutter zurückverlangte; gemieden,
verleumdet, mit Koth beworfen von der vornehmen Geſellſchaft — ſo
mußte ſie leben viele Jahre lang. Als ſie dann endlich den Staub dieſes
Landes von den Schuhen ſchüttelte, mit ähnlichen Empfindungen wie
Lord Byron, da fand ſie wie er eine boshafte Freude daran, den Abſcheu
der engliſchen Splitterrichter trotzig herauszufordern. Ungeduldig heiſchte
ſie vom Schickſal Erſatz für alle die vertrauerten Jahre und leerte auf
ihren abenteuerlichen Wanderfahrten den Becher der Luſt mit lechzenden
Lippen bis zu ſeiner eklen Hefe. Zuweilen brach die unverwüſtliche gute
Natur wieder hervor, im Oriente ſpendete ſie den Peſtkranken uner-
ſchrocken Troſt und Pflege; zuletzt verwilderte ſie doch in dem wüſten
Treiben. Nach der Thronbeſteigung ihres Gemahls kehrte ſie heim um
ihr königliches Recht zu wahren; und nun ſtand ſie vor den Unterthanen,
die ſie richten ſollten, gewiß ein ſchuldiges Weib, nicht mehr würdig einer
Krone, aber was wogen alle ihre Sünden gegen die Frevel deſſen, der
ihr Leben vergiftet?
Es war doch nicht blos der Haß gegen den verächtlichen Fürſten,
ſondern ein ehrenwerthes menſchliches Gefühl, was die Maſſen der
Hauptſtadt ſo günſtig für die Königin ſtimmte. Selbſt der Wittwer der
Prinzeſſin Charlotte, der kluge Prinz Leopold von Koburg hielt es für
Ritterpflicht ſeine Schwiegermutter zu beſuchen, wofür er denn freilich
in Gentz’s Briefen den Ehrentitel einer Haupt-Canaille erhielt. Tag für
Tag zog das Volk in dichten Schaaren den Hyde-Park entlang, um der
Königin zu huldigen und vor den Thoren des Oberhauſes den Lord
Caſtlereagh zu bedrohen, der gemächlich mit unbewegtem Geſicht mitten
durch die Tobenden ſeines Weges ſchritt. Wüthende Libelle überſchütteten
den König mit Verwünſchungen; ein Zerrbild zeigte ihn, wie er im
Karren zum Schindanger hinausgefahren wurde, darunter die Inſchrift:
Katzenfreſſen. Drei Monate hindurch wurde aller Schmutz des Hofes vor
den Augen Europas mit der umſtändlichen Gründlichkeit des engliſchen
10*
[148]III. 3. Troppau und Laibach.
Gerichtsverfahrens zuſammengekehrt, und ſein Brodem ſtank zum Himmel.
In Brougham’s beredtem Munde geſtaltete ſich die Vertheidigung der
Königin zu einer erdrückenden Anklage wider ihren Gemahl, der in der
Einſamkeit des Parks von Windſor ſeinen Grimm und ſeine Schande
verbergen mußte. Im November fiel endlich die Entſcheidung; nur mit
neun Stimmen Mehrheit ſprachen ſich die Lords für die Trennung der
königlichen Ehe aus. Der König gab ſein Spiel verloren, er ließ die
Bill zurückziehen, weil ſie nunmehr im Hauſe der Gemeinen unmöglich
durchgehen konnte.
Einen monarchiſchen Staat hätte eine ſolche Entehrung der Krone
bis in ſeine Grundfeſten zerrüttet. Der gewaltige Bau dieſer parla-
mentariſchen Ariſtokratie blieb unerſchüttert, denn ſein Schwerpunkt lag
nicht mehr bei der Krone. Der Prozeß der Königin Karoline ſetzte
nur das Siegel unter die längſt vollzogene Vernichtung der alten unab-
hängigen monarchiſchen Gewalt und bekundete vor aller Welt, daß der
König von England kaum noch die Macht eines venetianiſchen Dogen
beſaß. Für die Herrſchaft der Torys aber ward dieſe Niederlage ver-
hängnißvoll. Sie hatten einſt die Nation mit hartnäckigem Muthe zum
Kampfe gegen das napoleoniſche Weltreich geführt; doch ſeitdem war die
Zeit über ſie hinweggeſchritten, alle ihre früheren Verdienſte verſchwanden
neben der völlig unfruchtbaren, gedankenloſen Politik der letzten fünf
Jahre. Der allgemeine Unwille über das Syſtem der Erſtarrung ſtei-
gerte ſich jetzt bis zur Verachtung; die verhaßte Regierung hielt ſich nur
noch aufrecht, weil vorderhand Niemand bereit war ihre traurige Erb-
ſchaft anzutreten. Die ſeit Langem entmuthigten und zerſtreuten Whigs
begannen wieder zu erſtarken und ſammelten ſich in der Stille um das
Programm der Parlamentsreform. In ſolcher Lage durfte Caſtlereagh
nicht mehr wagen ſeinen reaktionären Herzensneigungen die Zügel ſchießen
zu laſſen und der europäiſchen Politik ſeines Freundes Metternich ohne
Vorbehalt zu folgen. Erſchüttert durch innere Kämpfe ſahen die beiden con-
ſtitutionellen Weſtmächte den Revolutionen des Südens gleich rathlos zu. —
Die moderne Wiſſenſchaft ſucht die Größe der Monarchie nicht mehr,
wie die politiſche Doctrin des Alterthums, in der perſönlichen Ueberlegen-
heit eines gottgeſendeten Herrſchergeſchlechts, ſondern in der Selbſtän-
digkeit einer auf eigenem Rechte ruhenden und darum unparteiiſchen,
der ſocialen Begehrlichkeit entrückten Staatsgewalt. Für das Gefühl der
Völker aber gewinnen die politiſchen Inſtitutionen nur durch die han-
delnden Menſchen Sinn und Leben. Eine ſo ſchmachvolle Selbſtent-
würdigung des Königthums, wie ſie dies Geſchlecht gleichzeitig in Spanien,
Italien und England erlebte, mußte in weiten Kreiſen die monarchiſche
Geſinnung untergraben. Solchen Fürſten gegenüber erſchienen die Lehren
der Legitimität wie ein grauſamer Spott; und da die Völker ſtets über
den Leiden der Gegenwart die ſchwereren Nöthe der Vergangenheit zu
[149]Der Bonapartismus.
vergeſſen pflegen, ſo wendeten ſich bereits viele Blicke ſehnſüchtig rück-
wärts nach jenem Gewaltigen, der einſt die legitimen Fürſtenhäuſer ſo
unvergeßlich gedemüthigt hatte. Ganz ohne Wirkung war die emſige
geheime Thätigkeit der Sendboten von St. Helena nicht geblieben. In
den letzten Jahren ſeiner Herrſchaft hatte ſich der Erbe der Revolution
nur noch als ein Despot gezeigt; jetzt im Elend kehrte der Bonapartis-
mus der Welt wieder das demokratiſche Geſicht ſeines Januskopfes zu.
Alle die Briefe und Denkwürdigkeiten, mit denen der Verbannte den
europäiſchen Büchermarkt überſchwemmen ließ, erzählten rührſam, wie
er ſein Lebelang nur das eine Ziel verfolgt habe, den Franzoſen nach
der Wiederherſtellung der Ordnung auch die Freiheit zu ſchenken; auf
ſeine alten Tage hatte er ſich mit einem Kreiſe aufgeklärter Menſchen-
freunde umgeben und dieſe als espions de vertu im Gefolge der Kai-
ſerin in die Provinzen ſenden wollen, um überall die Klagen der Armen
und Bedrängten entgegenzunehmen; lediglich durch die Kriegsluſt ſeiner
neidiſchen Nachbarn war der Friedensfürſt immer wieder gezwungen wor-
den das Schwert zu ziehen und die Ausführung ſeiner Lieblingspläne
zu vertagen. Die lächerlichen Märchen fanden doch ſchon manches wil-
lige Ohr. In Frankreich und Polen wiederholten Tauſende die zornige
Klage Beranger’s: adieu donc pauvre gloire; in allen Vaſallenlanden
des Imperators wurden die napoleoniſchen Erinnerungen wieder lebendig.
Selbſt in England gab es Unzufriedene, die in Napoleon’s Sturz nur
noch den Triumph der rohen Macht über den Genius ſehen wollten,
und Byron ſcheute ſich nicht, die Ehrenlegion und die Tricolore als den
Stern der Tapferen und den Regenbogen der Freien zu verherrlichen.
Mittlerweile unterhielten Eugen Beauharnais und ſeine Schweſter
Hortenſe von Baiern aus einen regen Verkehr mit Napoleon’s Abge-
ſandten. Frau v. Abel und die Wittwe des Marſchalls Ney vermittelten
die Verbindung mit Frankreich; und ungeachtet der wiederholten Mahnun-
gen der Großmächte konnte ſich der gute König Max Joſeph nicht ent-
ſchließen, ſeinem Liebling Eugen das Handwerk zu legen.*) Eine bona-
partiſtiſche Partei, welche geradeswegs die Herſtellung des Kaiſerreichs
erſtrebt hätte, beſtand freilich nirgends mehr außerhalb dieſes engen Krei-
ſes der Napoleoniden. Im Gefühl ſeiner Schwäche verband ſich der
Bonapartismus mit den radikalen Parteien; überall ſäte er Unfrieden
und nährte den Groll wider das Beſtehende; in allen revolutionären
Geheimbünden Frankreichs, Italiens, Polens waren napoleoniſche Vete-
ranen thätig. Die Preſſe war der Zornreden wider den Corſen endlich
müde geworden; ſie brachte jetzt häufig gefühlvolle Klagen über das harte
Loos des „Gefangenen der Millionen“, — denn aus den Lügenberichten
[150]III. 3. Troppau und Laibach.
von St. Helena konnte ſie unmöglich errathen, wie unwürdig dieſer
Mann des Mitleids war — oder ſie verglich boshaft anſpielend das
Genie des Entthronten mit den Erben ſeiner Weltherrſchaft. Ein
Spottbild, das in Süddeutſchland umlief, ſtellte die drei Monarchen der
Oſtmächte dar, neben ihnen ein Thier mit drei Leibern und einem Kopfe;
über dem Ungethüm erhob ſich die Geſtalt Napoleon’s; dazu die Frage:
„nun rathe, welchem von uns Dreien der eine Kopf gehört.“ Als endlich
im Sommer 1821 die Nachricht von dem Ableben des Verbannten nach
Europa kam, da übte der Tod ſeinen verklärenden Zauber, und Viele,
die dem Lebenden geflucht, fühlten ſich erſchüttert von der Tragik ſeines
Schickſals. Sogar Papſt Pius VII., der unter der Roheit des Impe-
rators ſo ſchwer gelitten, richtete an die greiſe Lätitia Buonaparte einen
warmen Troſtbrief und bekundete mit rührenden Worten, wie unaus-
löſchlich das Bild des großen Landsmanns in die Herzen der Italiener
eingegraben war.
Unwillkürlich entſann ſich die Welt wieder des kaiſerlichen Knaben,
der in Oeſterreich aufwuchs, ſeinem Hauſe, ſeinem Vaterlande abſichtlich
entfremdet. Auf dem zweiten Pariſer Friedenscongreſſe hatten die Staats-
männer der fünf Mächte ſich in dem Wunſche vereinigt, daß der Erbe
Napoleon’s, zur Beruhigung der Zukunft Europas, für den geiſtlichen
Beruf erzogen werden möge. Nun da die Begabung des frühreifen
Kindes ſich entfaltete, mußte der Wiener Hof bald einſehen, wie wenig
dieſer Feuergeiſt zum Prieſter taugte. Jedoch die Abſicht, den Stamm
des Imperators ausſterben zu laſſen, wurde feſtgehalten, am zäheſten
von dem Berliner Cabinet, das ſich gegen die Napoleoniden ſtets ganz
unverſöhnlich zeigte. Als Kaiſer Franz ſeinen Enkel zum Herzog von
Reichſtadt ernannte, verlieh er die Würde, auf Preußens dringende Vor-
ſtellungen, ausdrücklich nur dem Prinzen perſönlich, nicht ſeinen Nach-
kommen.*) So reifte der Sohn des Weltherrſchers zum Manne heran,
mißtrauiſch überwacht von den Todfeinden ſeines Geſchlechts. Und welch
eine Rolle ſpielte in der furchtbaren Tragödie dieſes Hauſes das flache
Weib, das einſt in den vier Jahren cäſariſcher Herrlichkeit alle heimiſchen
Erinnerungen verleugnet und ſelbſt die Mutterſprache faſt verlernt hatte!
Als wäre nichts geſchehen führte Marie Luiſe in Parma noch bei Leb-
zeiten ihres Gemahls ihr leichtfertiges Wittwenleben, und empört über
die Herzloſigkeit der Oeſterreicherin fragte Byron: warum ſollen die
Fürſten das Gefühl der Völker ſchonen, wenn ihre eigenen Gefühle
Poſſen ſind?
Die neue Ordnung der Staatengeſellſchaft begann ſchon überall zu
ſchwanken; der Wiener Congreß hatte den Zweck ſeiner großen Friedens-
arbeit nur halb erreicht, das Zeitalter der Revolutionen war noch nicht
[151]Radikale Stimmungen.
geſchloſſen. Ein radikaler Zug ging durch die Welt; die Sünden der
hergeſtellten alten Gewalten hatten den Schlauch des Aeolus wieder ge-
öffnet. Darum zog Haller ſofort die Sturmglocke und forderte, in jener
grimmigen Schrift über die ſpaniſche Verfaſſung, den Vernichtungskrieg
wider die Revolution. Sein Schweizer Landsmann Troxler antwortete
ihm, indem er Buchanan’s und Milton’s Schriften über das Recht des
Widerſtandes in deutſcher Bearbeitung herausgab (1821) und in einem ge-
harniſchten Vorwort der Partei Haller’s vorwarf, ihr Ultraismus ent-
ſpringe nicht der Ueberzeugung, ſondern dem Eigennutz und der Begehr-
lichkeit. Auch das war ein Zeichen der Zeit, daß dieſe Schrift „Fürſt und
Volk“ ſogleich in zwei ſtarken Auflagen vergriffen wurde, obgleich der ab-
ſtrakte Tyrannenhaß jener beiden kühnen Monarchomachen doch einer längſt
überwundenen Weltanſchauung, dem kirchlich-politiſchen Radikalismus des
Jahrhunderts der Religionskriege angehörte. Und gleich als gälte es
die Lehren Buchanan’s und Milton’s feierlich zu rechtfertigen, verjagte der
clericale Tägliche Rath von Luzern ſodann den Ueberſetzer aus ſeinem
Lehramt. Schroff und ſtarr traten faſt überall die revolutionäre Doctrin
und das legitime Recht einander entgegen. Der Kampf mußte kommen,
und noch auf lange hinaus ſchien jede Verſöhnung unmöglich.
Schon die erſten Nachrichten von den Unruhen im Südweſten er-
füllten alle Höfe der großen Allianz mit ſchwerer Sorge. „Der Libera-
lismus geht ſeine Wege“, ſchrieb Metternich nach der Ermordung des
Herzogs von Berry, „es regnet Mörder, da haben wir ſchon den vierten
Sand ſeit neun Monaten!“ Einige Wochen ſchmeichelte man ſich noch
mit der Hoffnung, daß die Fluth der Revolution wieder ebben würde;
erſt ſeit der König von Spanien ſich der Cortesverfaſſung unterworfen
hatte, erkannte man den ganzen Umfang der Gefahr. Ueber die Ver-
werflichkeit dieſes Grundgeſetzes waren alle fünf Mächte einig. Bern-
ſtorff und Ancillon ſprachen das allgemeine Urtheil aus, als ſie er-
klärten, König Ferdinand habe ſeine Schande unterſchrieben, aus einer
ſolchen durch Aufruhr ertrotzten Verfaſſung könne nur eine ſchlechte Re-
publik mit einem Schattenkönige hervorgehen. Beſonders verſtimmt zeigte
ſich König Friedrich Wilhelm ſelbſt. Hardenberg wollte den Geſandten
Frhrn. v. Werther, einen klugen Diplomaten, der ſchon ſeit längerer Zeit
beurlaubt, in Madrid durch einen Geſchäftsträger vertreten wurde, jetzt
ſofort auf den wichtigen Poſten zurückſenden; der König aber weigerte
ſich entſchieden*), offenbar weil er dieſer revolutionären Regierung keine
Höflichkeit gönnte.
[152]III. 3. Troppau und Laibach.
Weder in Berlin noch in Wien wurde irgend bezweifelt, daß der
in Aachen erneuerte Bund wider die franzöſiſchen Revolutionsparteien
mittelbar auch gegen andere Länder gelte und die großen Mächte mithin
berechtigt ſeien, wie vor fünf Jahren in Frankreich, ſo jetzt in Spanien
das Haus Bourbon zu beſchützen. Aber war es rathſam, war es auch
nur möglich, dies vermeinte Recht ſogleich zu gebrauchen? Von allen
Höfen wagte allein der Petersburger dieſe Frage rundweg zu bejahen.
Da Czar Alexander das Madrider Cabinet, freilich mit geringem Erfolg,
beharrlich bevormundet und die Verſammlung der Truppen um Cadiz
ſelber mit veranlaßt hatte, ſo empfand er den Aufruhr des ſpaniſchen
Heeres wie einen Schlag in’s eigene Angeſicht. Schon am 3. März,
noch bevor der Sieg der Revolution entſchieden war, bat er die Mächte,
daß ihre Geſandten zu Paris wegen der ſpaniſchen Angelegenheiten in
Berathung treten möchten, und nachdem er ſie ſodann noch mehrmals
vertraulich zu gemeinſamen Schritten ermahnt hatte, rückte er endlich
am 2. Mai mit dem Vorſchlage heraus: die verbündeten Höfe ſollten von
den ſpaniſchen Cortes die förmliche Verleugnung der Revolution und die
Einführung einer gemäßigten Verfaſſung fordern.
Auf einen ſolchen Antrag, der den reizbaren Nationalſtolz der
Spanier ſchwer verletzen mußte, konnten die deutſchen Großmächte ſich
nicht einlaſſen. Selbſt Napoleon hatte in Spanien die Grenzen ſeiner
Macht gefunden; jetzt vollends ſchien ein Krieg wider die Halbinſel ganz
ausſichtslos, da König Ludwig XVIII. inmitten der Wirren ſeiner hei-
miſchen Parteikämpfe weder ſelber eine bewaffnete Einmiſchung wagen
noch etwa deutſchen oder ruſſiſchen Truppen den Durchmarſch gewähren
konnte. Und hätte auch das Tuileriencabinet ſich zu einem ſo tollkühnen
Entſchluſſe aufgerafft, ſo durfte ihn doch die engliſche Handelspolitik,
nach ihren alten Traditionen, nimmermehr erlauben; die Tory-Regierung
war im Parlamente unrettbar verloren, ſobald ſie einem ruſſiſch-franzö-
ſiſchen Kreuzzuge gegen Englands alten Bundesgenoſſen zuſtimmte. Lord
Caſtlereagh fühlte dies ſofort und trat den Einmiſchungsgelüſten des
Czaren von Haus aus ſchroff entgegen. Die wahren Grundſätze der
großen Allianz — ſo erklärte er ſeinem Monarchen am 30. April —
dürfe man nicht dergeſtalt verallgemeinern, daß ſie zu einer Verlegenheit
für eine conſtitutionelle Regierung würden. Zugleich erinnerte Welling-
ton die Verbündeten an ſeine eigenen ſpaniſchen Erfahrungen und warnte
ſie vor dem Fremdenhaſſe dieſes unnahbaren Volks. Der alte Söldner-
führer konnte ſich’s dabei nicht verſagen, ſeinen ſtillen Groll gegen das
preußiſche Volksheer wieder einmal durch einen Vergleich, der wie die
Fauſt auf das Auge paßte, zu bekunden; er nannte in einem Briefe an
Richelieu die Meuterei der ſpaniſchen Truppen ein ſchreckliches Beiſpiel
für die deutſchen Staaten, welche ähnlich gebildete Heere beſäßen!
Angeſichts dieſer Haltung der Weſtmächte mußten auch die beiden
[153]Spanien und die Großmächte.
deutſchen Höfe den Gedanken einer europäiſchen Intervention von ſich
weiſen, obwohl Hardenberg gegen eine gemeinſame Berathung der Pariſer
Geſandten nichts einzuwenden fand. Beide betrachteten Spanien für
jetzt als einen verlorenen Poſten; die Ruhe Frankreichs galt ihnen mehr
als jene entlegenen Händel. Die Thatenluſt des Czaren hatte in Wien von
Neuem das alte Mißtrauen gegen Rußland erweckt; auch die zweideutige
Haltung des Petersburger Cabinets nach den Karlsbader Beſchlüſſen blieb
in der Hofburg unvergeſſen, und ſoeben waren aus der Balkanhalbinſel
wieder beunruhigende Nachrichten über die Umtriebe ruſſiſcher Agenten
eingelaufen.*) Darum empfahl Metternich jetzt abermals, wie vor zwei
Jahren**), den Abſchluß eines geheimen Sonderbündniſſes zwiſchen den deut-
ſchen Mächten, das ſeine Spitze nöthigenfalls wider Rußland kehren ſollte.
Aber auch diesmal lehnte Preußen die Zumuthung ab; denn der König blieb
unerſchütterlich des Glaubens, daß nur der Bund der drei Oſtmächte den
Weltfrieden ſichern könne, und auch Bernſtorff fand den Vorſchlag Met-
ternich’s weder klug noch redlich. „Wir müſſen, ſchrieb er an Ancillon,
Rußland gegenüber durchaus aufrichtig bleiben und wollen vor ihm weder
ein Unrecht zu verbergen noch ein Unrecht zu geſtehen haben. Unſere
Freundſchaft mit Oeſterreich kann nie zu eng und nie zu ſtark werden,
aber ſie muß vollkommen frei und ein reines Vertrauensverhältniß bleiben.
Der Vortheil, den wir uns davon verſprechen, würde vernichtet werden
durch den erſten geſchriebenen Buchſtaben, der uns einer förmlichen und
beſtimmten Verpflichtung unterwürfe.“***)
Nach dieſem Mißerfolge in Berlin verſuchte Metternich ſein Glück
bei dem Czaren ſelber und ſendete im Mai dem Geſandten Lebzeltern eine
lange, für den Kaiſer perſönlich beſtimmte Denkſchrift. Bernſtorff nannte
dieſe Arbeit ſeines Wiener Freundes ganz unklar, ſchwach, verworren,
und in der That war kaum jemals ein armſeligeres Schriftſtück aus
Metternich’s fruchtbarer Feder gefloſſen; denn da er mit ſeinen liberalen
Gegnern die Vorliebe für doktrinäre Sätze theilte, ſo hatte er auch jetzt
ſeinen Widerſpruch gegen eine europäiſche Intervention, der ſich doch nur
aus der augenblicklichen Lage der Großmächte ergab, in die Form allge-
meiner politiſcher Maximen eingekleidet und war alſo, ohne es zu merken,
zu einer Theorie der Nicht-Intervention gelangt, welche den ſo oft wieder-
holten Grundſätzen der Stabilitätspolitik ſchnurſtracks zuwiderlief.†)
Metternich’s Phantaſie hatte nur fünf Metaphern in ihrem Vermögen,
welche ſich alleſammt auf die Revolutionsgefahr bezogen und der diploma-
tiſchen Welt bereits geläufig waren: den Vulkan, die Peſt, den Krebs-
[154]III. 3. Troppau und Laibach.
ſchaden, die Waſſerfluth und die Feuersbrunſt. Diesmal eröffnete der
Vulkan den Reigen. „Europa ruht auf einem Vulkan,“ begann die
Denkſchrift wehmüthig, die Lavamaſſen der erſten Revolution bedecken
noch Frankreichs Umgebungen, und ſchon iſt der kaum wiederhergeſtellte
Grundſatz der Legitimität aufs Neue erſchüttert. „Die Aufgabe ſcheint
für die Menſchen zu ſchwer geweſen zu ſein; Gott allein ſteht es zu,
die Welt zu regieren und durch eine einzige Willensthat feſte und un-
wandelbare Geſetze zu begründen.“ Von den revolutionären Staaten
Frankreich, Italien, Spanien, Deutſchland, galt Italien dem Oeſterreicher
immerhin noch als das glücklichſte Land — wenige Wochen bevor die Re-
volution in Neapel ausbrach: dort herrſche leidliche Ruhe, Dank der
Klugheit der Regierungen. Unter den conſervativen Mächten ſtellte er
natürlich ſein Oeſterreich am höchſten; denn dieſer Staat „bewahrt vor
ſeinen Nachbarn den Vorzug ſeiner alten Geſetze, die Kraft ſeiner bunten
Zuſammenſetzung (la force de ses subdivisions) und die Macht der Ge-
wohnheiten.“ Mit Hilfe der Feuersbrunſt zog er ſodann aus dieſer dü-
ſteren Schilderung des Beſtehenden einige noch traurigere Schlüſſe: „Bei
Feuersbrünſten wird es oft unmöglich, die brennenden Gebäude zu retten
und die Vorſicht ſieht ſich darauf beſchränkt, die noch nicht vom Feuer
ergriffenen zu retten.“ Darauf folgte gar die in dieſem Munde unbe-
greifliche Verſicherung: die Geſchichte aller Völker lehrt „daß fremde Ein-
miſchung die Erfolge einer Revolution niemals aufgehalten oder geregelt
hat, es ſei denn in Ländern von mäßiger Ausdehnung.“ Und ſo bleibe denn
für jetzt nur übrig: feſte moraliſche Verbindung und lebendiger Gedanken-
austauſch zwiſchen den großen Höfen, gemeinſames Vorgehen gegen die
falſchen Doktrinen u. ſ. w. Eine Fülle von Schmeicheleien für Kaiſer
Alexander bildete den Schluß. Sie konnte den Czaren nicht darüber
täuſchen, daß Oeſterreich in die ſpaniſchen Händel bis auf Weiteres nicht
eingreifen wollte. Da der Wiener Hof dies überdies am 5. Juni förm-
lich erklärte und auch Preußen zu Anfang Juli in ähnlichem Sinne ant-
wortete, ſo mußte der Czar ſeine Pläne aufgeben. Spanien war durch
die Gunſt ſeiner geographiſchen Lage und durch Frankreichs Schwäche vor-
läufig vor jedem Angriff geſichert. —
Die friedfertige Stimmung des Wiener Hofes ſchlug aber ſofort und
vollſtändig um, als am 22. Juli die Nachricht von dem Beginn der italie-
niſchen Revolution einlief, eine Schreckensbotſchaft, die um ſo peinlicher
überraſchte, weil der Geſandte in Neapel ſoeben erſt gemeldet hatte, dort
ſei alle Welt über die Thorheit der ſpaniſchen Rebellen empört.*) Da
waren alle die ſalbungsvollen Verſicherungen, daß Gott allein die Welt
regiere und fremde Einmiſchung niemals eine Revolution zu hemmen ver-
möge, augenblicklich vergeſſen. In einem donnernden Artikel verkündete
[155]Italien und die Großmächte.
der Oeſterreichiſche Beobachter den getreuen Unterthanen, der Geiſt des
Verderbens habe ſich eines glücklichen, weiſe verwalteten Landes bemäch-
tigt, und alsbald erklärte Metternich dem preußiſchen Geſandten ſeinen
feſten Entſchluß, dieſen Aufruhr um jeden Preis niederzuwerfen.*) Er
ſah nicht nur die Machtſtellung Oeſterreichs in dem einen ihrer beiden
mitteleuropäiſchen Bollwerke bedroht, er durfte ſich auch über Verletzung
der Verträge beſchweren, da die italieniſchen Bourbonen ihm in dem ge-
heimen Wiener Vertrage vom 12. Juni 1815 verſprochen hatten, ihre
alten monarchiſchen Inſtitutionen nicht zu verändern. Mit raſtloſem Eifer
bereitete er ſeinen Gegenſchlag vor. Selbſt der Verluſt einer zweiten Tochter,
der ihn in dieſem Frühjahr getroffen hatte, lähmte ihm die Thatkraft
nicht, obgleich er im häuslichen Leben nicht ohne Gemüth war und die
zweifache Heimſuchung ſchwer empfand. Bei dem kläglichen Zuſtande des
Heeres und des Staatshaushalts ſchritten die Rüſtungen freilich ſehr lang-
ſam vorwärts; es währte viele Wochen, bis die Garniſonen in dem un-
ruhigen Oberitalien genügend verſtärkt waren, und dann noch mehrere
Monate, bis man den Kreuzzug nach Unteritalien wagen konnte. Metter-
nich mußte dies wiſſen; die Unwahrheit war ihm aber ſchon ſo zur an-
dern Natur geworden, daß er ſich nicht enthalten konnte, ſelbſt in einem
Privatbriefe, wo die Lüge gar keinen Zweck hatte, mit dem ruhigen und
doch raſchen Vorſchreiten der Rüſtungen Oeſterreichs zu prahlen. Auch
bei Leipzig, fuhr er fort, habe dies beſcheidene alte Oeſterreich zwei Drittel
des geſammten verbündeten Heeres auf das Schlachtfeld geſtellt, während
ſich in Wahrheit unter den 255,000 Mann der Verbündeten nur etwa
100,000 Oeſterreicher befunden hatten. Zum würdigen Abſchluß ſeines
Selbſtlobes fügte er noch hinzu: „wir ſind recht ſchlechte Marktſchreier!“
Doch was verſchlug es, wenn die Rüſtung ſich etwas verſpätete?
Der Ausgang eines Krieges gegen Neapel war um ſo weniger zweifelhaft,
da die Stimmung der großen Mächte den Plänen der Hofburg zu ſtatten
kam. Die italieniſche Revolution wurde an allen Höfen von Haus aus
ungleich härter verurtheilt als die ſpaniſche Erhebung, ſchon weil die Re-
gierung von Neapel bei Weitem nicht ſo übel berufen war wie die allgemein
mißachtete Madrider Camarilla. Inmitten der ſtreitenden Intereſſen und
der wechſelſeitigen Eiferſucht unſerer Staatengeſellſchaft kann jede Nation
nur durch die vollendete That das Recht ihres Daſeins erweiſen und ſich
die Achtung der Nachbarn erzwingen. Da der Bau der Wiener Ver-
träge auf der politiſchen Nichtigkeit der beiden Culturvölker Mitteleuropas
ruhte, ſo galt es unter den Staatsmännern dieſes Zeitalters jahrzehnte-
lang als ein Glaubensſatz, daß die Italiener zu nationaler Selbſtändig-
keit gänzlich unfähig ſeien. Und leider thaten auch die preußiſchen Diplo-
maten das Ihre um dies allgemeine Vorurtheil zu nähren; ſie ahnten
[156]III. 3. Troppau und Laibach.
nicht, daß alle Ausländer, aus dem nämlichen Grunde, ganz ebenſo lieb-
los und ungerecht über die politiſche Fähigkeit der Deutſchen ſprachen.
Der engliſche Geſandte A Court ſchilderte die Bewegung, die doch von den
beſitzenden Klaſſen ausging, als eine Erhebung des Pöbels wider das
Eigenthum. Niebuhr in Rom fühlte ſich von den demagogiſchen Künſten
der Carbonari dermaßen angeekelt, daß er den Aufſtand mit einer Neger-
Rebellion verglich und über die Hundiſchkeit dieſer Wälſchen nicht genug
Arges zu ſagen wußte; auch ſein junger Sekretär Bunſen meinte, an
eigentliche Freiheit ſei in dieſem verſunkenen Volke gar nicht zu denken.
Großes Aergerniß erregte insbeſondere die Haltung des Kronprinzen
Franz von Neapel, den der greiſe Ferdinand, um ſich ſelber für die Stunde
der Vergeltung aufzuſparen, zum Statthalter ernannt hatte. Der Sohn
war ſeines Vaters würdig; er trug die Carbonarifarben und ſpielte die Rolle
des volksfreundlichen Fürſten nur um die Liberalen deſto ſicherer zu ver-
derben. Im Auslande aber durchſchaute man das Doppelſpiel des bour-
boniſchen Thronfolgers noch nicht; er galt für einen Freund des liberalen
bairiſchen Kronprinzen, und ein an den Höfen umlaufendes Schreiben des
geiſtreichen Prinzen Chriſtian von Dänemark, der den Aufruhr in Neapel
mit angeſehen hatte und den Charakter König Ferdinands ganz richtig
beurtheilte, verſicherte beſtimmt, der Sohn ſei ernſtlich conſtitutionell und
handle nicht aus Schwachheit.*) Welche Ausſicht, wenn ein liberaler
junger König ſich an die Spitze einer nationalen Bewegung der Italiener
ſtellte! Die unheimlichſte Erſcheinung in dieſer Revolution blieb doch die
Macht der geheimen Vereine, die ſich hier ſo überraſchend ſtark zeigte; nichts
ſchien gewiſſer als daß dieſe furchtbare Verſchwörung ſich bis nach Frank-
reich, Deutſchland und England verzweige.**) Darum hielten die fünf
Mächte alleſammt ein ſtrenges Einſchreiten für nöthig; und Niemand be-
ſtritt, daß dem zunächſt bedrohten Oeſterreich dabei die Vorhand gebühre.
Die Geſandten der neuen neapolitaniſchen Regierung wurden von
keinem der fünf Höfe zugelaſſen. Der König von Preußen — und gleich
ihm Kaiſer Franz — ließ ein Schreiben König Ferdinand’s, das ihm
den erfolgten Umſchwung anzeigen ſollte, uneröffnet liegen, und Bern-
ſtorff erklärte, dereinſt werde Seine Sicilianiſche Majeſtät dem Könige
dafür Dank wiſſen. Um die Höfe in ihrem Abſcheu zu beſtärken, ſen-
dete ihnen Metternich den Bericht über ſeine vertrauliche Unterredung
mit dem revolutionären Geſandten, dem Fürſten Cimitille. Wie furchtbar
hatte er da den Unglücksmann angeherrſcht, wie kunſtvoll ſeine dritte
Lieblingsmetapher, die Peſt verwerthet: gegen ein ſo von der Peſt ver-
[157]Oeſterreich und Neapel.
wüſtetes Land müßten alle Nachbarn ſich durch eine ſtrenge Quarantäne
decken; nur eine Rettung bleibe noch, wenn die ehrlichen Leute in Neapel
ihren König bäten: nehmen Sie die Zügel der Regierung wieder, be-
rufen Sie ein Kriegsgericht über General Pepe, dann können Sie auf
den Beiſtand von 100,000 Oeſterreichern zählen.*)
Den kleinen deutſchen Regierungen wurde am 25. Juli mitgetheilt,
daß Kaiſer Franz, durch die Verträge zur [Ueberwachung] Italiens ver-
pflichtet, im äußerſten Falle entſchloſſen ſei, die bewaffnete Rebellion mit
Gewalt niederzuſchlagen, und inzwiſchen auf unverbrüchliche Ruhe in
Deutſchland zähle. Es bedurfte der Mahnung kaum. Die Kleinen hielten
ſich alle untadelhaft gehorſam, die meiſten aus Angſt vor der Revolution,
einige aus Furcht vor den Großmächten. Der König von Baiern ſprach
ſeine Entrüſtung über die Jakobiner des Südens ganz ebenſo heftig aus
wie der Kurfürſt von Heſſen, der ſich mehrmals erbot, ſeine Truppen
wider die wälſchen Rebellen marſchiren zu laſſen. Auf den Stuttgarter
Hof hatten die Carbonari große Hoffnungen geſetzt, weil die Wundermähr
von der ſchwäbiſchen Freiheit bis in den fernen Süden gedrungen war.
Zwei Agenten aus Neapel kamen nach Stuttgart um mit dem freien
Württemberg Freundſchaft zu ſchließen und ſeine Inſtitutionen kennen zu
lernen. Wintzingerode aber wies ſie aus und bemerkte ihnen trocken:
wir haben von Neapel nichts, von den Großmächten viel zu erwarten.
Die neue neapolitaniſche Regierung war von der Staatengeſellſchaft ge-
ächtet, ſie fand in ganz Europa nur bei zwei Mächten Anerkennung:
bei dem unberechenbaren Brüſſeler Hofe, der dafür von Kaiſer Alexan-
der ſcharf zurechtgewieſen wurde, und bei ihren Geſinnungsgenoſſen in
Madrid; dort hatte der Triumphzug der Cortesverfaſſung einen Freuden-
ſturm erregt, der ſpaniſche Stolz wallte hoch auf und die radikalen Parteien
ſchöpften friſchen Muth.**)
Ueber die Mittel und Wege aber, die zur Vernichtung der Revo-
lution führen ſollten, gingen die Anſichten der Großmächte noch weit
auseinander. Oeſterreich wünſchte freie Hand für ſeine Unterhändler
und für ſeine Waffen, um in Neapel, den Verträgen gemäß, den alten
Zuſtand wieder herzuſtellen; am beſten alſo, wenn ſich die Mitwirkung
Europas, die man doch nicht ganz umgehen konnte, auf einen „mora-
liſchen Beiſtand“ beſchränkte, wenn die Geſandten der großen Mächte
in Wien, wie früher in Paris, zu einer ſtändigen Conferenz zuſammen-
träten und das allein handelnde Oeſterreich mit ihren unmaßgeblichen
Rathſchlägen unterſtützten. Derſelben Meinung war der preußiſche Hof,
[158]III. 3. Troppau und Laibach.
der von vornherein die italieniſche Frage durch die Wiener Gläſer be-
trachtete. „Mehr denn jemals iſt die Sache Oeſterreichs jetzt die Sache
von ganz Europa“, ſchrieb Bernſtorff ſchon am 12. Auguſt, und Niebuhr
ward ſofort angewieſen, mit dem öſterreichiſchen Geſandten in Rom ſich
zu verſtändigen. Alles ſollte vermieden werden was den rächenden Arm
der Hofburg in Italien irgend aufhalten konnte.*) Freilich ward dieſe
Haltung Preußens nicht blos durch die Freundſchaft beſtimmt, ſondern
auch durch eine nüchterne realpolitiſche Erwägung, welche dem Wiener
Hofe noch monatelang verborgen blieb. Der König wollte ſeinen er-
ſchöpften Staat unter keinen Umſtänden mit neuen Verpflichtungen be-
laſten; keinen Mann und keinen Thaler dachte er für dieſe ſüdländiſchen
Wirren zu opfern. Behielt Oeſterreich in Italien volle Freiheit, ſo blieb
Preußen am ſicherſten aus dem Spiele. Auch die engliſche Regierung hätte
für jetzt gern jede förmliche Verabredung zwiſchen den großen Mächten ver-
hindert; denn lebhafter als Lord Caſtlereagh konnte ſelbſt Metternich die
Bändigung der Revolution nicht wünſchen, und da eine europäiſche Inter-
vention ſich vor dem ſchwierigen Parlamente nicht verantworten ließ, ſo
dachte das Tory-Cabinet die Züchtigung der Carbonari wo möglich der
Hofburg allein zu überlaſſen. Daß Oeſterreichs Machtſtellung auf der
Halbinſel ſich dadurch von Neuem befeſtigen mußte, war dem alten Bun-
desgenoſſen des Hauſes Lothringen nur willkommen.
Um ſo bedenklicher erſchien dieſe Gefahr dem Tuilerienhofe. Auch
Richelieu verabſcheute die Revolution, die ſich ja gegen die Vettern des
Allerchriſtlichſten Königs richtete, jedoch das Uebergewicht Oeſterreichs im
Süden durfte kein franzöſiſcher Miniſter noch verſtärken helfen, und wer
ſtand dafür, daß nicht England die italieniſchen Wirren benutzen würde
um ſich abermals auf Sicilien einzuniſten? Daher beantragte Richelieu
ſchon in den erſten Tagen des Auguſt bei der Hofburg die Einberufung
einer europäiſchen Reunion nach dem Muſter des Aachener Congreſſes.**)
In einem Rundſchreiben an die großen Mächte lehnte Oeſterreich den
Vorſchlag ab, weil er nur Zeitverluſt bewirken und den engliſchen Hof
abſchrecken würde (28. Auguſt). Das Petersburger Cabinet dagegen er-
griff den Gedanken Richelieu’s mit Feuereifer. Der Czar lebte und webte
noch in dem Traume ſeines großen chriſtlichen Bundes. Er hoffte: wenn
das hohe Tribunal Europas zuſammenträte, dann könnte vielleicht die
Revolution auf beiden Halbinſeln überwunden, aber auch Oeſterreichs
Eigenmacht gezügelt und in Neapel wie in Madrid unter der Aufſicht
der großen Mächte ein gemäßigtes Regiment begründet werden. Ganz
hatte Alexander die liberalen Ideale frührer Jahre noch nicht überwunden;
ſeine weiche Natur ſträubte ſich wieder die Einſicht, daß der Radikalismus
[159]Verabredung eines neuen Congreſſes.
des Krieges, wenn es einmal zum Schlagen kam, über beide Halbinſeln
faſt unvermeidlich eine harte Reaktion heraufführen wußte. Da die Hof-
burg bei ihrer Weigerung verblieb, ſo griff der Czar endlich zu einem oft
erprobten Mittel und beſchwor ſeinen königlichen Freund in einem zärtlichen
Briefe, ihm dieſen Herzenswunſch nicht zu verſagen. Der Sprache des
Gemüths vermochte Friedrich Wilhelm ſelten zu widerſtehen, ſofern es ſich
nicht um Gewiſſensfragen handelte. Er willigte in die Berufung einer
Reunion — ſehr ungern freilich und ohne ſeine Meinung über die ita-
lieniſche Frage zu ändern.*) Nunmehr mußte auch Metternich nachgeben,
wenn er den Czaren nicht beleidigen wollte, und die drei Monarchen ver-
abredeten, da der Czar des Reichstags halber in Warſchau weilte, um
Mitte Oktober in dem nahen Troppau zuſammenzutreffen. Wie einſt
die Niederlande unter Wilhelm III., ſo bildete jetzt Oeſterreich den Mittel-
punkt der Staatengeſellſchaft, und wie man damals alle großen Congreſſe,
vom Nymwegener bis zum Utrechter Frieden, auf niederländiſchem Ge-
biete abzuhalten pflegte, ſo ward es jetzt zur Regel, daß die Beherrſcher
Europas ſich um Kaiſer Franz, in ſeinen Kronländern zuſammenfanden.
Den Weſtmächten kam die Abrede der drei Monarchen ſehr unge-
legen. Richelieu erſchrak über die Folgen ſeines eigenen Vorſchlags, er
begann zu ahnen, welche peinliche Rolle die beiden conſtitutionellen Höfe
des Weſtens in Troppau neben den drei Oſtmächten ſpielen würden;
doch es war zu ſpät zur Umkehr. In ſeiner Verſtimmung verfiel er dann
auf eine unglückliche Halbheit und beſchloß, mindeſtens nicht ſelber auf
dem Congreſſe zu erſcheinen. Caſtlereagh aber wurde durch den Prozeß der
Königin in London feſtgehalten und beauftragte ſeinen Bruder, den Ge-
ſandten in Wien, Lord Charles Stewart, dem Kaiſer Franz nach Troppau
zu folgen. Das ließ ſich zur Noth vor dem Parlament entſchuldigen;
über die Herzensmeinung ſeiner britiſchen Freunde konnte Metternich doch
nicht in Zweifel ſein, da ſie eben jetzt zum Schutze der königlichen Fa-
milie eine Flotte nach Neapel ſendeten. Während alſo die drei Monar-
chen des Oſtens mit ihren leitenden Miniſtern perſönlich in Troppau er-
ſchienen, war England nur durch einen Staatsmann zweiten Ranges,
einen unbedeutenden, launiſchen Sonderling vertreten. Faſt noch deut-
licher ſpiegelte ſich die Rathloſigkeit des franzöſiſchen Hofes in den Per-
ſonen ſeiner Vertreter wieder. Was vermochte der kluge, aufrichtig con-
ſtitutionell geſinnte Graf La Ferronays zu leiſten, da ihm als erſter Be-
vollmächtigter der Marquis von Caraman vorgeſetzt war, ein erklärter
politiſcher Gegner, der den Ultras nahe ſtand? So traten die Weſtmächte
von Haus aus unſicher und ſchwächlich auf. Nur die beiden deutſchen
Höfe wußten genau was ſie wollten: die Vernichtung der Revolution durch
Oeſterreich allein.
[160]III. 3. Troppau und Laibach.
Dieſe Ueberlegenheit des klaren Willens mußte auch Kaiſer Alexan-
der bald genug empfinden. Der Czar wollte den Zweck ohne die Mittel,
er ſchwankte wieder zwiſchen den Rathſchlägen Neſſelrode’s und Kapodi-
ſtrias’, und die Erfahrungen, die er ſoeben auf ſeinem zweiten polniſchen
Reichstage geſammelt, konnten ihm wahrlich nicht die Kraft des Entſchluſſes
ſtählen. Welch ein widerwärtiges Bild politiſcher Thorheit war ihm dort
entgegengetreten! Eine ganze Reihe verſtändiger Geſetze unter tollen Reden
ſammt und ſonders verworfen; auf den Gallerien lärmende und drohende
Studenten; dazu im Lande überall das unfaßbare und doch Jedermann
fühlbare Treiben der nationalen Freimaurer, und in dem neuen natio-
nalen Heere nur eine große Verſchwörung. Unaufhaltſam trieb das ver-
blendete Volk einer neuen Revolution entgegen. Trotz alledem wollte
Alexander die Hoffnung nicht aufgeben, daß die Freiheit unter den Fitti-
chen des weißen Adlers eine Heimſtätte finden werde. Er ſchloß den un-
fruchtbaren Reichstag mit einigen ſchmerzlichen, aber liebevollen Vorwürfen.
„Ihr habt, ſo rief er den Landboten zu, das Gute für das Böſe erhalten,
Polen iſt in die Reihe der Staaten wieder eingetreten. Ich werde bei
meinen Abſichten beharren. Fraget Euer Gewiſſen und Ihr werdet wiſſen,
ob Ihr dem Lande alle die Dienſte geleiſtet habt, die es von Eurer Weis-
heit erwartet.“ Dieſe Thronrede verſchickte er ſodann an die Geſandt-
ſchaften, nebſt einem eigenhändigen Rundſchreiben, worin er nochmals
die conſtitutionellen Inſtitutionen pries, welche der faſt einſtimmige Wunſch
der Völker fordere. Immerhin ließen die widerwärtigen Vorgänge einen
Stachel in der Seele des Czaren zurück. Obgleich Alexander dem Wiener
Hofe noch keineswegs völlig traute, ſo empfing er doch den Geſandten
Lebzeltern, der mit vertraulichen Aufträgen des Kaiſers Franz nach War-
ſchau kam, ſehr herzlich, und ließ durch Kapodiſtrias der Hofburg aus-
ſprechen, wie viel Segen er ſich von der Eintracht der großen Mächte ver-
ſpreche: „zweimal haben die Völker und die Fürſten den Bund der mäch-
tigſten Monarchen geſegnet; ſie werden es auch diesmal thun.“ Zugleich
bat er die engliſche Regierung, mit vollem Vertrauen an der Reunion
theilzunehmen.*) An eine Intervention in Spanien wagte er für jetzt
nicht mehr zu denken; er ſah ein, daß die Thätigkeit des Congreſſes ſich
zunächſt auf Italien beſchränken mußte. —
So war die Lage am 20. Oktober, als die Vertreter der Mächte nach
und nach in der ſtillen Hauptſtadt des öſterreichiſchen Schleſiens eintrafen.
Hier im abgelegenen Wieſenthale der Oppa konnte man ganz den Ge-
ſchäften leben, hier war man ſicher vor allen den Neugierigen und Bitt-
[161]Eröffnung des Troppauer Congreſſes.
ſtellern, die ſich einſt in Aachen an die Monarchen herangedrängt hatten.
Mit dem Regenwetter des Herbſtes ſtellte ſich freilich auch die kleinſtädtiſche
Langeweile ein. Außer der Freundin Gentz’s, der geiſtreichen Gräfin Ur-
ban ließ ſich kaum jemals eine Dame in den Salons blicken, und die
meiſten der verſammelten Staatsmänner glaubten wirklich einer großen
Sache ein ſchweres Opfer zu bringen, indem ſie wochenlang in der Ein-
tönigkeit dieſes diplomatiſchen Mönchslebens aushielten. Die Vertreter
der Weſtmächte befleißigten ſich einer ſo ängſtlichen Zurückhaltung, daß
ein gemeinſames Vorgehen der fünf Höfe von vornherein faſt unmöglich
ſchien. Lord Stewart war von ſeinem Bruder angewieſen, alle Beſchlüſſe
womöglich nur zum Bericht zu nehmen, weil die engliſche Regierung nicht
glaube, daß die Beſtimmungen des großen Bundesvertrags ſich auf die
italieniſche Frage anwenden ließen. Er weigerte ſich gleich in der erſten
Sitzung am 27. Okt., ein Protokoll zu unterzeichnen, und man mußte
ſich mit einem von Gentz geführten Journale behelfen.*) Darum fanden
auch nur wenige förmliche Sitzungen ſtatt.
Die Entſcheidung erfolgte durch vertrauliche Unterredungen, und dieſen
ſteckte Metternich ſicheren Blicks ſogleich ein greifbares Ziel, indem er bald
nach Eröffnung des Congreſſes dem preußiſchen Staatskanzler ſagte: Wir,
die Oſtmächte ſollten vorangehen, da in den Grundſätzen Alles einig iſt,
und keine Zeit mit Verhandlungen verlieren, die weder in London noch in
Paris zum Ziele führen können.**) Es galt alſo, zunächſt den Czaren
ganz für die öſterreichiſche Anſicht zu gewinnen und einen einmüthigen
Beſchluß der drei freieſten und geſündeſten Staaten — wie Metternich
die Oſtmächte nannte — herbeizuführen; dann ſchien mindeſtens die ſtill-
ſchweigende Zuſtimmung der beiden unfreien, durch parlamentariſche Rück-
ſichten gebundenen Cabinette möglich. Preußen begnügte ſich dabei mit der
beſcheidenen Rolle des Vermittlers zwiſchen den beiden Kaiſermächten.
Dem Könige erſchien in der düſtern Laune, die ihn jetzt beherrſchte, der
Zwang der höfiſchen Geſellſchaft noch unleidlicher als ſonſt; ſichtlich un-
luſtig, traf er erſt am 7. Nov. in Troppau ein und ſchützte bald ein Un-
wohlſein vor, um den Congreß ſchon nach vierzehn Tagen wieder zu ver-
laſſen. Bernſtorff wurde durch einen Gichtanfall an das Bett gefeſſelt;
dem Staatskanzler aber lagen ſeine preußiſchen Sorgen näher am Herzen
als die wälſchen Streitigkeiten, er überließ die Leitung der Verhandlungen
vertrauensvoll ſeinem öſterreichiſchen Freunde, ohne zu errathen, wie arg-
wöhniſch dieſer ihn ſelber betrachtete.
Für Metternich war jetzt die Stunde gekommen, ſeine ganze diplo-
matiſche Gewandtheit zu entfalten; es koſtete ihn einige Tage heißer Ar-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 11
[162]III. 3. Troppau und Laibach.
beit, bis er endlich durch wiederholte vertraute Geſpräche die Vorliebe
des Czaren für den liberaliſirenden Kapodiſtrias etwas erſchüttert hatte.
In dieſem Griechen ſah der Oeſterreicher nur noch „einen gründlichen,
vollſtändigen Narren“; der wechſelſeitige Haß der beiden Staatsmänner
ließ die ſachliche Meinungsverſchiedenheit zwiſchen den Kaiſermächten größer
erſcheinen als ſie im Grunde war. Um dem Czaren ſeine Ergebenheit
zu beweiſen, ging Metternich alsbald auf jenen alten Lieblingsplan der
Petersburger Politik ein, welchen die ruſſiſchen Staatsmänner ſchon in
Aachen und dann noch oftmals den verbündeten Mächten empfohlen hatten:
er erbot ſich zur Unterzeichnung eines europäiſchen Garantie-Vertrages,
kraft deſſen alle Souveräne einander wechſelſeitig ihren Beſitzſtand gegen
jede gewaltſame Störung von innen wie von außen verbürgen und alſo
der traumhafte Heilige Bund endlich einen greifbaren Inhalt erhalten
ſollte.*) Aber der nüchterne Oeſterreicher wollte vorher die praktiſche Frage
des Augenblicks, die Intervention in Neapel, entſchieden ſehen, während
der phantaſiereiche Czar zuerſt den Ausbau ſeiner Heiligen Allianz zu
vollenden und dann erſt dieſe neuen Grundſätze des Völkerrechts auf
Italien anzuwenden dachte.
In der erſten Conferenz verlas Metternich mehrere Briefe, in denen
König Ferdinand von Neapel mit grellen Farben ſeine Nothlage ſchilderte
und ſich feierlich gegen den ihm angethanen Zwang verwahrte; derſelbe
Fürſt, der ſoeben die neue Verfaſſung beſchworen und dabei den Blitz
des Himmels auf ſich herabgerufen, erklärte jetzt, daß er mit dem Meſſer
an der Kehle ſein Parlament habe eröffnen müſſen. Eine ſo ſchamloſe
Zweizüngigkeit erregte ſelbſt bei dieſen voreingenommenen Hörern allge-
meinen Unwillen, und die Conferenz beſchloß, die Briefe aus dem Journal
hinwegzulaſſen „um den unglücklichen König nicht noch mehr zu compro-
mittiren“. Daran ſchloß ſich die Verleſung einer langen öſterreichiſchen
Denkſchrift, die ſich auf den geheimen Wiener Vertrag von 1815 berief.
Metternich’s Abſicht war, mit Zuſtimmung der verbündeten Mächte dem
Könige, der ſeine Unfreiheit ſoeben eingeſtanden, zu Hilfe zu kommen,
Neapel alsbald zu beſetzen und dann den Bourbonen unter dem Schutze
öſterreichiſcher Waffen die Ordnung herſtellen zu laſſen. Was galt es
ihm auch, daß der neapolitaniſche Miniſter Herzog von Campo-Chiaro
ſchon vor vier Wochen dem k. k. Geſchäftsträger v. Menz verſichert hatte,
ſeine Regierung werde ſich freuen, die Frechheit der radikalen Sekten durch
die Großmächte gezähmt zu ſehen? In Metternich’s Augen war dieſe
muratiſtiſch-conſtitutionelle Sekte, die im Cabinet zu Neapel ſaß, um nichts
beſſer als die Carbonari.**) Der Eindruck ſeiner Eröffnungen war ſehr
[163]Verſtändigung der drei Oſtmächte.
peinlich. Nur die Preußen ſtimmten dem Oeſterreicher zu. Die übrigen
Bevollmächtigten beobachteten ein verlegenes Stillſchweigen; denn der ge-
heime Wiener Vertrag war bisher dem franzöſiſchen, wahrſcheinlich auch
dem ruſſiſchen Hofe ganz unbekannt geblieben, und indem die Hofburg
ſich darauf berief, gab ſie unzweideutig zu verſtehen, daß ſie Neapel
als ihr Vaſallenland anſah, daß ſie dort nicht eine gemäßigte Regierung,
ſondern „die alten monarchiſchen Inſtitutionen“, den Abſolutismus wieder-
herſtellen wollte. Am 2. November ließ der Czar die öſterreichiſche Denk-
ſchrift beantworten; er fand es anſtößig, daß die großen Mächte ſich
auf die Klagen des meineidigen Bourbonen berufen ſollten, und wünſchte
durch einen Aufruf die Neapolitaner über ihre politiſche Unabhängigkeit
zu beruhigen; jedenfalls müſſe man den Schein vermeiden, als ob die
Intervention nicht um Europas willen, ſondern zum Beſten einer ein-
zigen Macht erfolge.
Die preußiſchen Staatsmänner erriethen ſogleich, wie wenig Wider-
ſtandskraft aus dieſen wohlgemeinten Bedenken ſprach; ſie ſetzten ihre
vermittelnde Thätigkeit eifrig fort, und am 6. Nov. erlebte der kranke
Bernſtorff die Genugthuung, daß ſich die Staatsmänner der Kaiſerhöfe
vor ſeinem Bett leidlich ausſöhnten. Am folgenden Tage erklärte Ruß-
land im Weſentlichen ſeine Zuſtimmung zu den Plänen Metternich’s, und
fortan hielten die Vertreter der drei Oſtmächte unter ſich vertrauliche Confe-
renzen, ohne die Weſtmächte einer Mittheilung zu würdigen. Noch waren
ſie nicht völlig handelseins. Der Czar erbot ſich noch einmal, in Neapel
zunächſt eine Vermittlung zu verſuchen, jedoch die beiden deutſchen Mächte
verwarfen den Vorſchlag, weil Rußland mit ſeinen Verbündeten durchaus
auf einer Linie bleiben müſſe (10. Nov.). Als die Ruſſen das Zimmer
verlaſſen hatten, überraſchte Metternich ſeine preußiſchen Freunde durch
einen neuen Einfall, der dem Czaren eine goldene Brücke bauen ſollte.*)
Wie nun, wenn man den König Ferdinand einlud, perſönlich vor dem
Congreſſe zu erſcheinen? Ließen ihn ſeine Miniſter nicht ziehen, dann
war ſeine Unfreiheit erwieſen und das Einſchreiten des öſterreichiſchen
Heeres vor aller Welt gerechtfertigt; folgte er der Ladung, ſo konnte er
ſein unglückliches Land mit den europäiſchen Mächten verſöhnen.
Welch ein Gedanke! Dieſer meineidige Bourbone, der von allen Mit-
gliedern des Congreſſes gleichmäßig verachtet wurde, der ſoeben ſein eigenes
Volk vor den Großmächten leidenſchaftlich verklagt hatte, er ſollte den Ver-
mittler ſpielen zwiſchen Europa und ſeinem Lande! Aber der ſchlaue Plan
ſchmeichelte ſich ein durch den Schein des Wohlwollens. Es klang gar
ſo menſchenfreundlich und entſprach auch buchſtäblich den Aachener Ver-
11*
[164]III. 3. Troppau und Laibach.
abredungen, wenn man über Neapels Zukunft nur unter Mitwirkung des
betheiligten Souveräns entſchied.*) Völlig verblendet durch ihren Ab-
ſcheu vor der Revolution, bemerkten die Höfe kaum noch, daß Metter-
nich’s unparteiiſcher Vorſchlag in Wahrheit darauf hinauslief, nur eine
Partei anzuhören. Für die ſchauſpieleriſchen Neigungen des Stifters
der Heiligen Allianz war es ein verlockender Gedanke, daß der hohe Ge-
richtshof Europas einen König feierlich vor ſeine Schranken rufen ſollte.
Aber auch König Friedrich Wilhelm und ſeine Räthe boten unbedenklich
ihre Hand zu dem Poſſenſpiele eines völkergerichtlichen Scheinverfahrens,
deſſen gleichen ſie in Preußen ſelbſt ſicherlich nie geduldet hätten. Es
iſt der Fluch großer politiſcher Verſammlungen, daß ſie das Rechtsgefühl
abſtumpfen, weil ſich die Verantwortung auf viele Köpfe vertheilt; Par-
lamente und Diplomatencongreſſe handeln leichter gewiſſenlos als einzelne
Staatsmänner. Da der preußiſche Hof ſich an der Intervention in Neapel
keinenfalls unmittelbar betheiligen wollte, ſo hielt er auch nicht für nöthig
die Lauterkeit der vorgeſchlagenen Mittel ſtreng zu prüfen.
Genug, zuerſt die Preußen, dann die Ruſſen genehmigten den öſter-
reichiſchen Antrag, und nunmehr ward die gemeinſame diplomatiſche
Action der Oſtmächte in guter Eintracht rüſtig vorbereitet. Da erhielt
der Czar am 15. Nov. aus Petersburg die Kunde, das berühmte Seme-
now’ſche Garderegiment habe ſeinem verhaßten Oberſten den Gehorſam
verweigert. Die Meuterei war ohne jeden politiſchen Hintergrund, und
General Witzleben gab daher dem Kaiſer mit ſeiner gewohnten Gradheit
den guten Rath, er möge, um die Wiederkehr ſolcher Zuchtloſigkeit zu
verhindern, für eine menſchlichere Behandlung der Mannſchaften ſorgen,
die Unredlichkeit der Heeresverwaltung beſeitigen. Doch da das Ereigniß
in den Zeitungen als eine gefährliche Verſchwörung dargeſtellt wurde und
der Czar ſelbſt ſchon ſeit zwei Jahren aus guten Gründen dem Geiſte
ſeines Heeres mißtraute, ſo ward er durch die peinliche Nachricht leb-
haft erregt und in ſeiner antirevolutionären Geſinnung von Neuem be-
ſtärkt.**)
Am 19. einigten ſich die Oſtmächte über ein vorläufiges Protokoll,
an deſſen Spitze der verhängnißvolle Satz ſtand: „die Staaten, welche
eine durch Aufruhr bewirkte Regierungs-Veränderung erlitten haben, deren
[165]Das Troppauer Protokoll.
Folgen für andere Staaten bedrohlich ſind, hören dadurch von ſelbſt auf,
an der europäiſchen Allianz theilzunehmen und bleiben davon ausgeſchloſſen,
bis ihre Lage Bürgſchaften geſetzlicher Ordnung und Beſtändigkeit bietet.“
Entſtehen durch ſolche Aenderungen — ſo fuhr das Protokoll fort —
unmittelbar Gefahren für andere Staaten, dann verpflichten ſich die
Mächte, durch friedliche Mittel oder nöthigenfalls durch die Waffen den
ſchuldigen Staat „in den Schooß der großen Allianz zurückzuführen“. So
weit war man alſo in zwei Jahren ſchon hinabgeglitten auf den abſchüſ-
ſigen Bahnen der Reaktion! Welches Befremden hatte dieſe legitimiſtiſche
Parteidoktrin noch auf dem Aachener Congreſſe erregt, als ſie dort in
Ancillon’s Denkſchrift zuerſt ausgeſprochen wurde. Jetzt nahm man ſie
willig auf. Die Oſtmächte verkündeten geradezu, daß die große Allianz
nicht das Recht gegen Jedermann wahren, ſondern nur die Throne gegen
den Aufruhr vertheidigen wolle; und wie furchtbar mußte die radikale
Verbitterung zunehmen, ſobald die Welt zu dem Glauben gelangte, daß
aus dem großen europäiſchen Friedensbunde ein Bund der Fürſten wider
die Völker geworden ſei. Auf jene doktrinären Vorderſätze folgte ſodann
der praktiſche Schluß, daß ein öſterreichiſches Heer im Namen der Mächte
in Neapel einrücken ſolle, aber „zu dem einzigen Zwecke, dem Könige und
der Nation die Freiheit wiederzugeben.“ Am folgenden Tage wurde König
Ferdinand durch gleichlautende Schreiben der drei Monarchen eingeladen,
vor ihnen in Laibach zu erſcheinen; dorthin wollte der Congreß, um dem
Schauplatz der Revolution näher zu ſein, mittlerweile überſiedeln. Die
Oeſterreicher bezweifelten kaum, daß der Bourbone der Ladung Folge
leiſten würde; ſchlimmſten Falls ſollten jedoch die Geſchäftsträger in Neapel
erklären, die Monarchen machten jeden einzelnen Neapolitaner für die
Sicherheit der königlichen Familie verantwortlich.*)
Und das Alles geſchah ohne die Mitwirkung der Weſtmächte. Man
ſpeiſte ſie ab mit dem Troſte, dies raſche Vorgehen werde ihnen den nach-
träglichen Beitritt erleichtern. Die Lage der engliſchen und franzöſiſchen
Bevollmächtigten wurde mit jedem Tage peinlicher; ſie glichen wirklich,
wie Tierney in einer Parlamentsrede höhnend bemerkte, den Zuhörern
im Unterhauſe, die ſich bei der Abſtimmung entfernen müſſen. Für Eng-
land war das Protokoll vom 19. Nov. geradezu beleidigend; denn auch
die moderne engliſche Verfaſſung war aus einem „Aufruhr“ hervorge-
gangen, und das Thronrecht des Hauſes Hannover beruhte auf dem revo-
lutionären Grundſatze, daß der legitime König Jakob II. den urſprüng-
lichen Vertrag zwiſchen Fürſt und Volk gebrochen habe. Unbekümmert
um den Groll der conſtitutionellen Höfe ſchritten die Oſtmächte vorwärts.
Sie nannten ſich ſelber les puissances délibérantes und verkündeten
[166]III. 3. Troppau und Laibach.
durch ein ſtolzes Rundſchreiben, das bald in die Zeitungen kam, den
kleinen Höfen die bisherigen Ergebniſſe des Congreſſes; ſie erklärten darin
jede durch Aufruhr bewirkte Regierungsveränderung für einen Bruch der
europäiſchen Verträge und ſprachen die zuverſichtliche Erwartung aus, daß
die Weſtmächte ſich ihnen noch anſchließen würden. In der That begann
der franzöſiſche Hof zögernd ihren Spuren zu folgen; König Ludwig ent-
ſchloß ſich nachträglich, ſeinen italieniſchen Verwandten ebenfalls zur Reiſe
nach Laibach aufzufordern. Dieſer aber nahm die Einladung freudig an,
und die überſtrömende Dankbarkeit ſeiner Antwortſchreiben verrieth deut-
lich, was in ſeinem Herzen kochte.
Noch gab es manche ſchwere Bedenken zu überwinden, ſelbſt im
Schooße des engeren Bundes der drei Höfe. Der Czar wünſchte Blut-
vergießen durchaus zu vermeiden; er fühlte Mitleid für das neapolitaniſche
Volk, das gleich ſeinem Könige durch die despotiſche Gewalt der Revolution
geknechtet ſei, und ſchlug daher vor, die Verirrten noch einmal durch den
Papſt warnen zu laſſen, da die Großmächte ſelber mit dieſer revolutio-
nären Regierung nicht verhandeln könnten. Getreu den Traditionen der
ruſſiſchen Politik, die ſich den italieniſchen Kleinſtaaten immer freundlich
gezeigt hatte, verlangte er ferner, daß auch Bevollmächtigte Piemonts,
Toscanas und des Papſtes nach Laibach geladen würden. Auf beide
Vorſchläge mußte Metternich wohl oder übel eingehen, ſchon weil Oeſter-
reich die guten Dienſte des Tuilerienhofes, der ebenfalls ſeine Vermitt-
lung anbot, unmöglich annehmen konnte. Die zwei Kaiſer ſchrieben alſo
(12. Decbr.) perſönlich an den Papſt — denn der König von Preußen
war mittlerweile heimgereiſt — und die Faſſung ihrer Briefe ließ den
Gegenſatz der Meinungen erkennbar durchſchimmern. Kaiſer Franz ſprach
die Erwartung aus, der geiſtliche Arm werde den weltlichen bei der Be-
ſtrafung der Revolution unterſtützen; Czar Alexander hoffte durch die
geiſtlichen Ermahnungen des Kirchenfürſten die Neapolitaner mit den Groß-
mächten zu verſöhnen. Metternich aber und ſeine preußiſchen Freunde
ſahen voraus, wie kläglich dieſer ſeltſame Vermittlungsverſuch enden mußte,
und die Thorheit der Radikalen des Südens gab ihnen Recht.*)
Die Sache der Liberalen in Neapel ſtand noch nicht ganz verzweifelt;
denn außer Oeſterreich wünſchten alle Großmächte, ſogar Preußen, die Durch-
führung einiger Reformen in dem zerrütteten Staate; auch an den italie-
niſchen Höfen glaubte man allgemein, daß mindeſtens einzelne Trümmer
der neuen Inſtitutionen den Neapolitanern erhalten bleiben müßten.**)
[167]Vorladung König Ferdinands.
Entſchloß ſich das Parlament in Neapel rechtzeitig, ſtatt der unbrauchbaren,
von den Großmächten verworfenen ſpaniſchen Verfaſſung ein verſtändiges
Grundgeſetz anzunehmen, ſo war eine Verſöhnung vielleicht noch möglich.
Aber auf die Nachrichten aus Troppau flammten die revolutionären Lei-
denſchaften wird auf; eingeſchüchtert durch die Drohungen der Carbonari
beſchloß die Kammer an ihrem heiligen Codex unverbrüchlich feſtzuhalten
und zwang die muratiſtiſchen Miniſter einem radikalen Cabinet den Platz
zu räumen. Indem ſie alſo die großen Mächte tödlich reizte, drückte ſie
ihnen zugleich eine furchtbare Waffe in die Hand: ſie erlaubte dem Kö-
nige, der ohne ihre Genehmigung das Land nicht verlaſſen durfte, nach
Laibach zu reiſen, nur ſollte er zuvor die ſchon zweimal beſchworene Ver-
faſſung zum dritten male eidlich bekräftigen. So ſtand dies Herrſcher-
haus zu ſeinem Volke! Bereitwillig kam König Ferdinand der ſchimpf-
lichen Zumuthung nach, und die Redner des Parlaments ſtellten ſich an,
als ob ſie ihm glaubten; ſie wähnten durch ihre zur Schau getragene
Sicherheit die großen Mächte abzuſchrecken. Die öſterreichiſchen Staats-
männer aber ahnten, daß dieſe Ueberſchlauheit, die den Südländern ſo
oft verderblich wird, an der eiſernen Stirn des Bourbonen ihren Meiſter
finden ſollte; ſie wußten, wie dieſer dreifach Meineidige in Laibach reden
würde, und ſahen ihr Spiel ſchon halb gewonnen.
Minder glücklich fuhr Metternich mit ſeinen Vorſchlägen für den
europäiſchen Garantie-Vertrag. In einer langen Denkſchrift vom 28. Nov.
führte er zunächſt ſeine vierte Metapher, die große Waſſerfluth, vor und zeigte
die Nothwendigkeit, „um jeden Preis wirkſame Dämme zu errichten gegen
dieſen revolutionären Strom, der, wenn er nicht in ſeinen Ueberfluthungen
aufgehalten wird, ſchließlich Alles zu verſchlingen droht.“ Darum muß
die legitime Souveränität durch einen allgemeinen Vertrag unter die Bürg-
ſchaft der europäiſchen Mächte geſtellt werden, ſo zwar, daß jede durch
eine angemaßte Gewalt bewirkte Revolution die Mächte ohne Weiteres
zum Einſchreiten berechtigt; wird der Umſturz hingegen durch den legi-
timen Souverän ſelber vollzogen, dann dürfen die Mächte nur einſchreiten
falls er die Nachbarſtaaten gefährdet.*) Die Arbeit führte im Grunde
nur ſchärfer aus, was in dem Protokoll vom 19. Nov. ſchon vorläufig
angedeutet war. Der Czar aber war inzwiſchen über die Folgen ſeiner
eigenen Vorſchläge beſorgt geworden; er konnte ſich nicht verhehlen, daß
weder die Weſtmächte noch ſelbſt die conſtitutionellen Kleinſtaaten Deutſch-
lands einen Vertrag unterzeichnen durften, der ihre Verfaſſungen der
oberſtrichterlichen Gewalt europäiſcher Congreſſe förmlich unterworfen hätte.
Alexander zeigte ſich ſo bedenklich, daß Metternich für nöthig hielt,
ſein ſchweres Geſchütz aufzufahren. Im tiefſten Vertrauen überreichte er dem
[168]III. 3. Troppau und Laibach.
Czaren, mit Genehmigung des Kaiſers Franz, ſein „politiſches Glaubens-
bekenntniß“, eine weitſchweifige geſchichtsphiloſophiſche Betrachtung über
das Zeitalter der Revolution. Wie geiſtvoll und gerecht ſchilderte um
dieſelbe Zeit General Clauſewitz, auch ein conſervativer Gegner der Re-
volution, in ſeiner claſſiſchen Abhandlung über die politiſchen Umtriebe
alle die gewaltigen Wandlungen des wirthſchaftlichen und des geiſtigen
Lebens, welche den Schwerpunkt der bürgerlichen Geſellſchaft allmählich
nach unten hin verſchoben hatten. Und wie armſelig erſchien daneben
die Geſchichtsweisheit Metternich’s, der diesmal ſeine fünfte Metapher,
den Krebs, mit einer Ausdauer anwendete, als wäre er ein Specialarzt
für Krebskrankheiten. Natürlich hatte der moraliſche Krebs ſeinen eigent-
lichen Sitz in den Mittelklaſſen; nur aus den philoſophiſchen Irrlehren
des alten Jahrhunderts, aus den unbedachten Reformen ſeiner aufge-
klärten Monarchen, aus der Ueberhebung ehrgeiziger Frevler und aus
dem Krebsſchaden der geheimen Geſellſchaften war die Revolution hervor-
gegangen. Während der Sturm der nationalen Ideen in Italien wie
in Deutſchland längſt vernehmlich an den ſchwachen Pfeilern der Wiener
Verträge rüttelte, behauptete Metternich alles Ernſtes, das Gefühl der
Nationalität ſei aus dem Katechismus der liberalen Partei bereits ge-
ſtrichen, die Partei erſtrebe die Vernichtung aller politiſchen und religiöſen
Unterſchiede, die völlige Entfeſſelung jedes einzelnen Menſchen, und ihre
beiden Fractionen, die Niveleurs und die Doktrinäre fänden ſich am Tage
des Umſturzes ſtets zuſammen. Inmitten ſolcher Leidenſchaften könne
man nicht an Reformen denken, ſondern nur das Beſtehende aufrecht
halten; la stabilité n’est pas l’immobilité. So verzerrt ſpiegelte ſich
die Welt in den Augen des Mannes, der eben damals prahlte: „Man
ſtelle mich auf die Tribüne des Capitols, und man wird mich ganz anders
reden hören als ich in Troppau es vermag. Ich brauche weiten Raum
und kann mich in kleinem und engem nicht zurecht finden.“ Ein gütiges
Geſchick hatte ihn in eine der fruchtbarſten Epochen der Weltgeſchichte ge-
führt; er aber fand die Zeit klein, weil er ſelbſt zu klein war ihre Zeichen
zu deuten, und klagte: „Heute bringe ich mein Leben zu, die morſchen
Gebäude zu ſtützen. Ich hätte im Jahre 1900 geboren werden und das
zwanzigſte Jahrhundert vor mir haben ſollen!“
Auf das erregbare Gemüth des Czaren waren die ſchauerlichen Ge-
ſchichtsbilder des „Glaubensbekenntniſſes“ gut berechnet. Gleichwohl über-
zeugten ſie ihn nicht gänzlich. Er blieb dabei, daß ein allgemeiner Ga-
rantievertrag nur Mißtrauen erregen und nimmermehr auf den Beitritt
aller Mächte rechnen könne. Auf ſeinen Wunſch wurde der unglückliche
Gedanke, den er einſt ſelber zuerſt angeregt, endlich aufgegeben.*) —
[169]Ergebniſſe des Troppauer Congreſſes.
Nicht ohne Beſorgniß ſchaute der Wiener Hof auf die Ergebniſſe dieſes
zweiten großen Fürſtenvereins zurück. Wie anders konnte er jetzt vor der Welt
daſtehen, wenn die Kühnheit ſtatt der Schlauheit ſein Ruder geführt, wenn
er ſchon im Herbſt auf eigene Fauſt die Revolution in Neapel niederge-
ſchlagen und dann, bei einiger Mäßigung, unzweifelhaft die nachträgliche
Zuſtimmung der großen Mächte erhalten hätte! Der klägliche Zuſtand
ſeines Heeres hatte ihn gezwungen, die Entſcheidung zu vertagen. Wohl
durfte er jetzt hoffen, in einigen Monaten das Verſäumte nachzuholen,
aber um welchen Preis waren Metternich’s diplomatiſche Siege erkauft.
Die alte Eintracht der großen Allianz beſtand nicht mehr unerſchüttert.
Von Aachen aus hatten noch alle fünf Mächte gemeinſam zu Europa ge-
ſprochen, das Troppauer Rundſchreiben vom 8. Dec. war nur von den
Oſtmächten unterzeichnet, und die laute Schadenfreude der liberalen Preſſe
zeigte, daß die Welt dieſe Wendung der Dinge verſtand. Der franzöſiſche
Hof ſchwankte freilich noch immer rathlos zwiſchen den Parteien. Wäh-
rend die Ultras die Wiederherſtellung der bourboniſchen Macht in Neapel
verlangten, predigten die Blätter der Oppoſition den Krieg wider Oeſter-
reich, und die neueſte Haartour der Pariſer Damen führte den unzweideu-
tigen Namen Chemin de Mayence. Zu Weihnachten gaben die franzö-
ſiſchen Bevollmächtigten eine ſchüchterne Erklärung zu Protokoll, welche wie
eine halbe Zuſtimmung zu den Schritten der Oſtmächte klang, aber dem
Allerchriſtlichſten Könige die Freiheit der Entſchließung vorbehielt.*) Gleich-
zeitig war indeß eine weit unfreundlicher gehaltene geheime Weiſung aus
Paris eingelaufen; Marquis Caraman theilte dieſe Depeſche eigenmächtig
dem Fürſten Metternich mit, und nun konnte der Oeſterreicher dem Czaren
ſchwarz auf weiß beweiſen, wie wenig auf die Meinung dieſes doppel-
züngigen Cabinets zu geben ſei.
England dagegen bekannte endlich Farbe. Am 19. Dec. verlas Lord
Stewart eine Note Lord Caſtlereagh’s, die in aller Freundſchaft, aber ſehr
nachdrücklich erklärte, England könne ſich nicht im Voraus auf die Grund-
ſätze einer europäiſchen Interventionspolitik verpflichten, ſondern halte feſt
an ſeiner alten Meinung, daß die Mächte bei jeder Gefährdung des allge-
meinen Friedens ſich von Fall zu Fall frei verſtändigen müßten. Harden-
berg bemerkte in ſeinem Tagebuche zu dieſer britiſchen Erklärung kurzab:
„Eigentlich erbärmlich!“**) Der Czar ließ der engliſchen Regierung hoch-
müthig antworten, ihre Note ſei zu den Akten genommen und werde keine
anderen Folgen haben. In Wahrheit fühlten ſich die Oſtmächte lebhaft
beunruhigt; ſie erkannten, daß Caſtlereagh’s behutſamer Widerſpruch zum
erſten male einen Keil in das feſte Gefüge der großen Allianz getrieben
[170]III. 3. Troppau und Laibach.
hatte. Noch war der Riß ſchmal, aber ein Miniſterwechſel in London
konnte ihn nur erweitern; denn offenbar hatte das Tory-Cabinet allein
dem unwiderſtehlichen Drucke der öffentlichen Meinung nachgegeben, alle
Parteien des Landes verdammten wie ein Mann das Troppauer Rund-
ſchreiben, die Whigs nannten den Bund der Oſtmächte ein dreiköpfiges
Ungeheuer und fragten, ob dieſe apokalyptiſche Politik etwa die fünfte
Monarchie der Puritaner ins Leben rufen wolle.
Auch in den kleinen deutſchen Staaten wurde das diktatoriſche Auf-
treten der drei Mächte mit Bangen betrachtet. Mit der Preſſe dieſer
Länder wußte man freilich in Troppau raſch fertig zu werden. Kaum hatte
das Weimariſche Oppoſitionsblatt ſich einige anzügliche Bemerkungen über
den Bund der meiſtbeerbten Monarchen erlaubt, ſo beſchwerten ſich die
beiden deutſchen Großmächte, auf Oeſterreichs Wunſch gab der Czar dem
Schwager in Weimar ebenfalls einen Wink, und das unglückliche Blatt,
das ſich ſeit den Karlsbader Beſchlüſſen ſehr zahm gehalten, wurde ſofort
unterdrückt.*) Bedenklicher war die Verſtimmung der kleinen Höfe ſelbſt.
Daß der königliche Verfaſſer des Manuſcripts aus Süddeutſchland die
Troppauer Nachrichten mit Unmuth aufnehmen würde, ließ ſich vorher-
ſehen. Der hatte ſchon zur Zeit des Aachener Congreſſes unter der Hand
verſucht, den Brüſſeler Hof und einige kleine deutſche Cabinette zu einem
gemeinſamen Proteſt zu bewegen; jetzt ergötzte man ſich in den Stutt-
garter Hofkreiſen an dem Traumbilde eines Gegencongreſſes der Minder-
mächtigen, der etwa nach Würzburg berufen werden ſollte, jedoch das luf-
tige Projekt gelangte nicht über erregte Geſpräche hinaus. Der treue
Kämpe der Kleinſtaaterei, Bignon trat auch wieder auf den Plan; er
ſchilderte in einer Flugſchrift über den Troppauer Congreß, welch ein
heller Tag über Baiern, Württemberg, Baden aufgegangen ſei und wie
ſchwarz daneben die Oſtmächte erſchienen.
Sogar an dem getreuen Karlsruher Hofe regte ſich das Mißtrauen
gegen die Großmächte. Der neue Bundesgeſandte Blittersdorff, der auf
den Wiener Conferenzen ſo eifrig für die Verſtärkung der deutſchen
Bundesgewalt gewirkt, hatte in Frankfurt mit dem ruſſiſchen Geſandten
Anſtett, dem Freunde Kapodiſtrias’, einen vertraulichen Verkehr ange-
knüpft; er meinte jetzt das Daſein der kleinen deutſchen Staaten ſelbſt
bedroht und empfahl ſeinem Hofe in zahlreichen, drängenden Denkſchriften
die Bildung eines Sonderbundes. Er dachte zu nüchtern, um auf die
begehrlichen Träume des Manuſcripts aus Süddeutſchland einzugehen
und beurtheilte das Zwitterdaſein der Mittelſtaaten mit einer Beſcheiden-
heit, die in dieſen Kreiſen ſelten war. „An und für ſich, ſo geſtand er,
enthält es eine Art von Widerſpruch, wenn man von der Politik eines
[171]Beſorgniſſe der kleinen Höfe.
Staates redet wie Württemberg.“ Man fühlt dies in Stuttgart und iſt
daher bemüht „das Partikularintereſſe Württembergs bis zur eigentlichen
Politik zu ſteigern.“ Doch eine Vereinigung der kleinen Staaten, min-
deſtens der ſüddeutſchen, zu einem gemeinſamen politiſchen Syſteme ohne
förmlichen Bundesvertrag hielt auch er für geboten; die fünf Mächte be-
fänden ſich „nicht mehr auf einer Linie“, dies ermögliche den Kleinen
„die relative Selbſtändigkeit“, die ihnen gebühre, zu wahren und „der
Ciment des Staatenſyſtems“ zu werden.*) Wenn ein hochconſervativer
Centraliſt alſo redete, was mochten die partikulariſtiſchen Liberalen empfin-
den! Für den Augenblick war dieſe Verſtimmung der kleinen Höfe un-
ſchädlich, aber ſie konnte gefährlich werden, wenn der Zwieſpalt im Schooße
der großen Allianz fortwährte. Als die Troppauer Conferenz zu Weih-
nachten geſchloſſen wurde, trennte man ſich nicht in heiterer Stimmung.
Die Politik der Legitimität verlangte ſtarke Nerven. Mitten in der fröh-
lichen Feſtzeit, bei grimmiger Kälte unternahmen die beiden Kaiſer und
ihr diplomatiſches Gefolge die beſchwerliche Reiſe nach Wien um nach
kurzer Raſt das mühſelige Friedenswerk in Laibach abzuſchließen. —
Zwei beglückende Gedanken nahm Metternich doch von dem Congreſſe
mit hinweg: er durfte beſtimmt auf eine glückliche Löſung der neapoli-
taniſchen Verwicklung rechnen, und er wußte jetzt nahezu ſicher, daß die
gefürchtete preußiſche Verfaſſung in einer abſehbaren Zukunft nicht zu
Stande kommen würde. Als König Friedrich Wilhelm in Troppau ein-
traf, befand er ſich in einer Verſtimmung, welche der Oeſterreicher jetzt
ebenſo leicht wie einſt in Teplitz für ſeine Zwecke ausbeuten konnte; er
war unzufrieden mit den mißrathenen Communalordnungs-Entwürfen und
ſeit dem Erſcheinen der Benzenbergiſchen Schrift dermaßen aufgebracht
gegen ſeinen Kanzler, daß dieſer ihn während des Congreſſes kaum zu Ge-
ſicht bekam. Hardenberg hielt zwar mehrere ernſte Unterredungen mit
General Witzleben, dem treuen Förderer der Verfaſſungsarbeit, und be-
ſprach mit ihm die Zuſammenſetzung der künftigen Reichsſtände, die ge-
heime Reaktion am Hofe, alle die verſteckten Hemmniſſe, die ſich ſeinen
Plänen in den Weg ſtellten. Der König aber ließ dem Staatskanzler
trocken ſagen, er wolle über die Verfaſſungsſache erſt in Berlin mit ihm
verhandeln.**) Unterdeſſen blieb der liebe Heimliche der Hofburg, Fürſt
Wittgenſtein, des Monarchen täglicher Begleiter, und noch einen zweiten
ergebenen Freund erwarb ſich Metternich an dem Kronprinzen. Dieſer
junge Herr war ſchon mehrere Wochen vor ſeinem Vater nach Troppau
[172]III. 3. Troppau und Laibach.
gekommen um ſich hier in die hohe Schule der europäiſchen Politik ein-
führen zu laſſen. Die Oeſterreicher hatten ihn ſogleich in Beſchlag ge-
nommen und er gefiel den Wiener Diplomaten ungemein durch ſeine
geiſtreiche Munterkeit wie durch ſeine korrekten Grundſätze. Er ſelber war
ganz entzückt von allen den Wundern chriſtlich-legitimer Staatskunſt, die
ihm hier aufgingen, und billigte jeden Schritt des großen Wiener Zauberers,
ſogar die Vorladung des Königs von Neapel. Hardenberg verſuchte auch
ſich mit „ſeinem künftigen Herrn“ zu verſtändigen, ſchickte ihm die Akten
über die Verfaſſungsſache, bat um ſein Urtheil, doch der Prinz vertröſtete
ihn wie ſein Vater auf die Zeit der Heimkehr.*)
Trotz dieſer verlockenden Gunſt der Umſtände ließ ſich Metternich zu
keinem unbedachten Schritte verleiten. Er unterſchätzte zwar den Cha-
rakter des Königs, wie er alles Preußiſche mißachtete; immerhin kannte
er die einfache Natur Friedrich Wilhelm’s genugſam um zu wiſſen, daß
er dieſem Fürſten nicht kurzweg rathen durfte das Verſprechen von 1815
förmlich zu brechen. Darum hatte er weder auf dem Aachener Congreſſe
noch in dem verhängnißvollen Teplitzer Geſpräche den Plan einer preu-
ßiſchen Verfaſſung ſchlechthin bekämpft, ſondern ſich begnügt das Reprä-
ſentativſyſtem zu widerrathen. Auch hier in Troppau deckte er ſeine Karten
nicht vor der Zeit auf, ſondern übergab dem Grafen Bernſtorff eine vor-
ſichtig gehaltene Denkſchrift, die er dem Könige ſelbſt wahrſcheinlich ſchon
vor’m Jahre in Teplitz mitgetheilt hatte.**) Dieſe zweite öſterreichiſche
Denkſchrift über Preußens Verfaſſung berief ſich auf das Aachener Me-
moire und wiederholte im Weſentlichen die damals gegebenen Rathſchläge,
nur in beſſerer Faſſung und mit Weglaſſung aller der Schnitzer und
Gedankenloſigkeiten, welche in Aachen der Feder Metternich’s entſchlüpft
waren. Sie verlangte ſtändiſche Landtage für die Provinzen und einen
aus den Provinzialſtänden hervorgehenden Allgemeinen Landtag — alſo
genau das Nämliche, was Hardenberg ſeit fünf Jahren erſtrebte. An
dem Tone ließ ſich freilich errathen, daß der Verfaſſer die Einberufung
des Allgemeinen Landtags zu vertagen oder auch ganz zu verhindern
hoffte. Wie unbeſtimmt lautete doch der Satz: „Erfordert das allgemeine
Intereſſe des Staates und der Landesverwaltung eine mit der Regierung
unmittelbar berathſchlagende Central-Repräſentation, ſo kann dieſelbe nur
aus Deputirten der Provinzialſtände gebildet werden.“ Der argloſe Staats-
kanzler aber fand nichts Verfängliches darin.***) Er wußte nicht, welch
ein gefährliches Spiel hinter ſeinem Rücken getrieben wurde.
Ueber die vertrauten Unterredungen, welche der König in Troppau
mit den beiden Kaiſern und mit Metternich gehalten hat, iſt nichts Näheres
[173]Neue Gemeinde-Commiſſion in Berlin.
bekannt; aber der Erfolg zeigte, daß der Oeſterreicher richtig berechnete, wo
diesmal der Hebel einzuſetzen ſei. Sein Plan war, die preußiſche Ver-
faſſung in weite Ferne hinauszuſchieben, bis das ſo lange verſchleppte
Unternehmen zuletzt gänzlich einſchlief. Und wie leicht, faſt ſpielend, ließ
ſich dieſer Zweck jetzt erreichen, da der König und ſein Thronfolger Beide
über die Communalordnungs-Entwürfe ſcharf aburtheilten; wie nahe lag
der Gedanke, dieſen verfehlten erſten Theil des Verfaſſungsplanes noch
einmal ernſtlich prüfen zu laſſen. In ſolchem Sinne wird Metternich
ſich auf dem Congreſſe ausgeſprochen haben; er brauchte nur den König
zu beſtärken in einem Entſchluſſe, der im Stillen wahrſcheinlich ſchon ge-
faßt war.
Am 19. December, bald nach ſeiner Heimkehr aus Troppau, befahl
der König die Berufung einer neuen Commiſſion zur Durchſicht jener
Entwürfe.*) Unzweifelhaft bedurften die Entwürfe einer gründlichen Umge-
ſtaltung, aber die Zuſammenſetzung des neuen Ausſchuſſes bewies, daß die
Prüfung nicht im Sinne des Staatskanzlers erfolgen ſollte. Es war be-
reits die vierte Commiſſion, die in dieſem unglücklichen Verfaſſungskampfe
gebildet wurde, ohne daß man die älteren auflöſte. Den Vorſitz erhielt
der Kronprinz, Mitglieder waren: Wittgenſtein, Schuckmann, Ancillon,
Oberpräſident Bülow, Cabinetsrath Albrecht, ſammt und ſonders altſtän-
diſche oder abſolutiſtiſche Gegner Hardenberg’s. Unter der Führung des
Thronfolgers hatten die beiden Parteien der conſervativen Oppoſition ihren
erſten Sieg über den Kanzler erfochten. Der König aber hielt nicht ein-
mal für nöthig, dem alten Herrn, der noch in Troppau weilte, das Ge-
ſchehene amtlich mitzutheilen; er hatte ihm ſein Vertrauen gänzlich ent-
zogen und duldete ihn nur noch im Amte, weil er den Hochverdienten
nicht allzu bitter kränken wollte. Was weiter geſchehen mußte, ließ ſich
errathen. Das Schickſal der Communalordnung war entſchieden; lag
dieſe erſt in Trümmern, ſo war wieder eine lange Friſt gewonnen, und
dann konnten vielleicht dieſelben Hände, welche den Unterbau der Harden-
bergiſchen Verfaſſung zerſtörten, nach neuem Plane ein altſtändiſches Ge-
bäude aufrichten. —
Wie anders als das vergangene begrüßte der greiſe Staatskanzler
dies neue Jahr. Damals hatte er ſich voll jugendlicher Zuverſicht ver-
meſſen, ſein Lebenswerk mit der preußiſchen Verfaſſung abzuſchließen; jetzt
[174]III. 3. Troppau und Laibach.
fühlte er ſchon, wie die tragiſche Vergeltung ihn ereilte. Humboldt, Boyen
und Beyme, die einzigen aufrichtigen Freunde ſeines Verfaſſungsplanes,
waren aus dem Miniſterium ausgeſchieden, und nun wuchs die reaktio-
näre Partei, die ihm dieſe Männer zu ſtürzen geholfen, bereits ihm ſelber
über den Kopf. Zu Neujahr erhielt er in Wien durch Wittgenſtein den
Befehl, mit Bernſtorff nach Laibach zu gehen; der König, dem der be-
ſchäftigte Müßiggang des Congreßlebens je länger je mehr widerſtand,
wollte Berlin nicht verlaſſen. Die Abſicht dieſer Weiſung konnte dem Staats-
kanzler nicht verborgen bleiben, um ſo weniger, da er durch Bernſtorff
erfuhr, daß Ancillon den Entſchluß des Monarchen veranlaßt hatte: die
Partei des Kronprinzen wünſchte offenbar, den Urheber der Verfaſſungs-
pläne von dem Monarchen und von der Hauptſtadt fern zu halten, ſo
lange die entſcheidende Berathung über die Gemeindeordnung noch ſchwebte.
Sichtlich gekränkt erwiderte Hardenberg am 5. Januar: das Ausbleiben
des Monarchen werde allerdings Mißdeutungen hervorrufen; doch wenn
der König nicht ſelbſt erſcheinen wolle, dann ſei die Anweſenheit des Kanz-
lers „wirklich unnütz, ſowohl für die Opinion, als für die Sache ſelbſt“;
der inzwiſchen wiedergeneſene Graf Bernſtorff könne die Geſchäfte des Con-
greſſes, welche das preußiſche Intereſſe doch nur mittelbar berührten, ſehr
wohl erledigen. Mit warmen Worten erbat er ſodann die Erlaubniß zur
Rückkehr nach Berlin „um Ew. K. Maj. die geringen Dienſte zu widmen,
die ich Ihnen nach meinen Kräften noch zu leiſten vermögend bin.“ Dort
harrten ſeiner die Verfaſſung, die Communalordnung und viele andere
wichtige Entwürfe, „deren Ausführung ich zwar wohl erwogen, aber nicht
mehreren Händen außer meiner Direktion anvertraut zu ſehen wünſchte,
ſo lange Ew. K. Maj. mich Ihres höchſten Vertrauens würdigen.“*)
Trotzdem unterwarf er ſich dem Befehle des Monarchen, und wagte
nicht, nach einem ſolchen Zeichen königlicher Ungnade den Abſchied zu
fordern. Statt ſein Amt einzuſetzen für ſeine Verfaſſungspläne, ließ er ſich
zur Seite ſchieben in eine Winkelſtellung, die einem leitenden Staatsmanne
übel anſtand, und tröſtete ſich mit der Hoffnung, ſeine Gegner durch zähes
Hinhalten zu ermüden. Das letzte fröhliche Aufflackern alter Rüſtigkeit
im vergangenen Frühjahr hatte ſeine Willenskraft erſchöpft. Die Alters-
ſchwäche kam über ihn, aber von dem Amte, das mit ſeinem Leben ver-
wachſen war, von dem Scheine der Macht vermochte er ſich nicht zu
trennen. Gehorſam reiſte er nach Laibach und fand dort für die preu-
ßiſche Politik ſo wenig zu thun, daß er nach vier Wochen heimſchreiben
konnte, auch die Anweſenheit des Königs ſei nunmehr gänzlich überflüſſig.**)
[175]Hardenberg in Laibach.
In den erſten Tagen des Januar trafen die Mitglieder des Con-
greſſes in Laibach wieder zuſammen. Die liebliche Stadt mitten im
Kranze der Krainiſchen Schneeberge, dicht am Eingangsthore des warmen
Südens gelegen, bot zwar etwas mehr Genüſſe als das langweilige Trop-
pau; immerhin erſchien auch dieſer Aufenthalt den verwöhnten Großſtädtern
als ein harter Frohndienſt, und auch die politiſchen Sorgen, welche die
letzten Tage in Troppau verdüſtert hatten, ſchwanden nicht ſo bald. Denn
mittlerweile, gerade als die Troppauer Verſammlung auseinander ging,
war eine zweite, noch ſchärfere Depeſche Lord Caſtlereagh’s an ſeinen
Bruder (vom 16. Dec.) eingelaufen. Der Lord wies darin die Grund-
ſätze des Troppauer Protokolls entſchieden zurück; er erklärte ſich „ent-
ſetzt bei dem bloßen Gedanken, der großen Allianz in einer förmlichen
Urkunde den Anſpruch auf die Ausübung einer ſo beiſpielloſen Gewalt
zu übertragen“, und verwahrte ſich feierlich dawider, daß dieſe Grund-
ſätze „unter irgend welchen denkbaren Umſtänden“ jemals gegen England
angewendet werden ſollten. Am 19. Januar ſendete er noch eine dritte
Depeſche an die Geſandtſchaften bei den kleinen Höfen, welche die Troppauer
Grundſätze als den Geſetzen Englands widerſprechend nochmals verwarf;
das Recht der Einmiſchung, ſo ſchloß ſie, laſſe ſich nur von Fall zu Fall er-
weiſen, für einen unmittelbar betheiligten Staat und auf Grund beſon-
derer Umſtände.*) Währenddem erdröhnte das engliſche Parlament von
Zornreden wider die große Allianz. Lord Grey und Lord Holland be-
wieſen, wie unverſöhnlich ein Fürſtenbund, der alle Staaten in ihrem
inneren Leben meiſtern wolle, den altengliſchen Ueberlieferungen inſula-
riſcher Selbſtändigkeit gegenüberſtehe; und unter dem Jubel der Whigs
rief Mackintoſh, nach der Troppauer Verabredung könne es dereinſt noch
dahin kommen, daß Kroaten und Koſaken als europäiſche Polizeiwache im
Hyde-Park einzögen.
Mancher der kleinen Höfe, die in der That guten Grund hatten für
ihre Selbſtändigkeit zu zittern, mochte dieſe Reden mit ſtillem Behagen leſen;
aber nur einer, der Stuttgarter, wagte der engliſchen Regierung zu
danken, und auch er nur mit behutſamer Umſchreibung. Er ſtellte ſich
an, als ob Caſtlereagh’s Meinung mit den Abſichten der Oſtmächte ſelbſt
vollkommen übereinſtimme; und nur unter dieſer boshaften Vorausſetzung
erklärte er ſein freudiges Einverſtändniß. König Wilhelm, ſo erwiderte
Wintzingerode dem engliſchen Geſandten, hält ſich verſichert, „daß die Be-
freier Europas nicht beabſichtigen konnten, den Völkern dieſes Welttheils,
die ſie vom Joche befreit, ein anderes ebenſo erniedrigendes Joch aufzu-
legen. Nein, dies hat, nach der feſten Ueberzeugung des Königs, nicht die
Abſicht der Troppauer Conferenzen ſein können.“ Noch deutlicher äußerte
ſich der König perſönlich in Gegenwart des preußiſchen Geſandten: er liebe
[176]III. 3. Troppau und Laibach.
keine Einmiſchung in fremde Angelegenheiten, möge Jeder Herr in ſeinem
Hauſe bleiben; und ſein Wangenheim verkündete in Frankfurt triumphirend,
nunmehr beginne der Entſcheidungskampf zwiſchen dem Abſolutismus und
der conſtitutionellen Freiheit. Indeß die deutſchen Mächte wußten längſt,
was von dieſen württembergiſchen Nadelſtichen zu halten war, und zum
Ueberfluß betheuerte Wintzingerode dem preußiſchen Geſandten, ſein König
habe zwar als conſtitutioneller Fürſt nicht anders reden können, bewahre
aber den Oſtmächten ſeine alte Verehrung.*) Selbſt der Widerſpruch
Englands, der anfangs lebhafte Beſtürzung hervorrief und den Grafen
Bernſtorff zu freundſchaftlichen Warnungen in London veranlaßte, erſchien
bei ruhiger Prüfung doch recht harmlos. Denn die Tory-Regierung fügte
ihren geharniſchten Proteſten ſtets die Verſicherung hinzu, daß ſie ſich
weder von der großen Allianz trennen, noch den Wiener Hof in ſeinem
Kampfe gegen Neapel irgend hindern wolle. Caſtlereagh’s ſtarke Worte
galten, wie er dem preußiſchen Geſandten geſtand, mehr der Beſchwich-
tigung des Parlamentes, als der Sache ſelbſt. Seine Thaten zeigten,
wie fern ihm der Gedanke lag, ſeine Wiener Freunde zu kränken. Er
ließ, allerdings in vorſichtiger Form, den König von Neapel auffordern,
der Einladung der Oſtmächte zu folgen, und ſtellte ihm für die Reiſe
ein engliſches Schiff zur Verfügung; derſelbe Capitän Maitland, der einſt
den gefangenen Napoleon an Bord geführt, geleitete jetzt den Bourbonen
nordwärts.**)
Wenn England ſo wenig Widerſtandskraft zeigte, wie viel ſchüchterner
mußte der Tuilerienhof reden, der den Plänen der Oſtmächte von Haus
aus näher ſtand. Zu den beiden franzöſiſchen Bevollmächtigten war mitt-
lerweile Graf Blacas hinzugekommen, ein ſtrenger Ultra, ganz erfüllt von
der Würde ſeines Allerchriſtlichſten Königs. Er konnte es nicht ſchweigend
mit anhören, daß Metternich in einer veröffentlichten Erklärung der Welt
erzählte, Frankreich habe den Troppauer Beſchlüſſen mit einigen Vorbe-
halten zugeſtimmt, und übergab mit ſeinen Genoſſen am 20. Febr. eine
Note, welche ſich nachdrücklich gegen das Syſtem der europäiſchen Inter-
vention ausſprach; aber auf die ſcharfe Verwahrung folgte die beſcheidene
Verſicherung, Frankreich ſei mit der Vorladung König Ferdinand’s ein-
verſtanden und werde nur, falls es zum Schlagen komme, den Krieg zu
mildern ſuchen.***) Auch dieſe den engliſchen Proteſten nachgebildete Er-
klärung erfüllte die Oſtmächte mit Unmuth; Ancillon nannte ſie in hei-
liger Entrüſtung die ſchlechte Nachahmung eines ſchlechten Originals. Be-
drohlich konnte die Sonderſtellung der beiden conſtitutionellen Höfe doch
[177]König Ferdinand in Laibach.
nur dann werden, wenn ſie feſt zuſammenhielten; und daran war nicht
zu denken, da ihre mediterraniſchen Intereſſen ſcharf auseinandergingen.
Der Zuſtand blieb wie er in Troppau geweſen: die große Allianz war
etwas gelockert, aber keineswegs aufgelöſt. Die Oſtmächte allein faßten
die entſcheidenden Beſchlüſſe, wenngleich ſie diesmal, um Frankreich zu
ſchonen, nicht wieder förmliche Conferenzen unter ſich abhielten; die Fran-
zoſen ſtimmten in der Regel nachträglich zu, und Lord Stewart nahm das
Meiſte ſchweigend zu Bericht.
Mit dem Czaren war Metternich allmählich auf vertrauten Fuß ge-
kommen; faſt jeden Abend trank er bei ihm allein Thee, was als ein
beſonderes Zeichen kaiſerlicher Gunſt galt; und obwohl Kapodiſtrias dem
Oeſterreicher abermals allerhand Bedenken und Gegenanträge in den Weg
ſchob, ſo war doch das Geſtirn des Griechen erſichtlich im Sinken. Der
Freund der Hofburg, Neſſelrode, gewann wieder das Ohr des Kaiſers,
und da auch die Preußen ſich in Allem, was ihren Staat nicht unmittel-
bar anging, willfährig zeigten, ſo konnte die Tragikomödie, welche Metter-
nich zum Beſten des Hauſes Bourbon erſonnen, ganz nach dem Plane
ihres Dichters über die Bretter gehen.
Der Held des Stückes hatte inzwiſchen ſeinen Sohn zum Regenten
ernannt und nachdem der Kronprinz ebenfalls mit bourboniſcher Gewiſſens-
ruhe die ſpaniſche Verfaſſung noch einmal beſchworen, ſich von ſeinem ge-
liebten Volke verabſchiedet. So lange das Schiff auf hoher See ſegelte,
behielt er die Farben der Carbonari auf der Bruſt, denn wie leicht konnte
ihn ein Sturm wieder an die Küſte ſeines Landes verſchlagen! Erſt als
er ſich im Hafen von Livorno geborgen ſah, riß er das Abzeichen der Re-
volution herunter und trat es mit Füßen. Dann ergoß er die Gefühle
ſeines landesväterlichen Herzens in Briefen an die fünf Monarchen. „End-
lich bin ich frei, ſchrieb er an den König von Preußen, endlich mir ſelbſt
zurückgegeben. Ohne Ihren Schutz wäre mein Leben den Gewaltthaten
erlegen, welche mich zur Anerkennung von Beſchlüſſen nöthigten, wogegen
ich unaufhörlich vor Gott und vor den Menſchen, die mir noch zu nahen
wagten, proteſtirt habe.“ Indem er ſeinen Proteſt hiermit erneuerte, bat
er zugleich den Brief noch geheim zu halten, damit nicht ſeine Kinder der
Rachgier einer ſcheußlichen Sekte zum Opfer fielen.*) Das war der
Mann, der zwiſchen den Großmächten und ſeinem Volke vermitteln ſollte!
Der hohe, hagere, ſehnige alte Herr machte den Eindruck eines biederen
Landedelmannes, und die unſchuldige junge Prinzeſſin Amalie von Sachſen,
die ihn auf dieſer Reiſe kennen lernte, erfreute ſich herzlich an ſeiner gut-
müthigen Offenheit. Die Staatsmänner in Laibach erſchraken doch, als
der Bourbone nun vor ihnen erſchien, von Neuem gebunden durch heilige
Eide, Alles verdammend, Alles beſchimpfend was er ſelber gethan und
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 12
[178]III. 3. Troppau und Laibach.
beſchworen, und zudem ſo unfähig, daß er kaum eine Depeſche zu Ende
leſen konnte. Seinen Begleiter, den Miniſter Herzog von San Gallo ließen
ſie nicht vor, weil ſie die revolutionäre Regierung nicht anerkannten. Statt
des Zurückgewieſenen berief der König den Fürſten Ruffo zu ſich, einen
fanatiſchen Reaktionär, der ſich zu allen Geſchäften ebenſo unbrauchbar
zeigte, wie ſein Herr. Beide verlangten, da der Ausgang noch nicht
ganz ſicher war, daß der Congreß für ſie und ohne ſie handle.*)
Nach langen Berathungen beſchloß die Verſammlung, dem neapoli-
taniſchen Grundgeſetze die Anerkennung zu verſagen und ein öſterreichi-
ſches Heer einrücken zu laſſen um die Gewalt des Königs in Güte oder
durch die Waffen herzuſtellen. Ferdinand erwiderte, da er nur noch die
Wahl habe zwiſchen dem Kriege und der Verleugnung der Revolution,
ſo ziehe er Letzteres vor, und befahl ſeinem Kronprinzen brieflich, ſich den
Befehlen des Congreſſes zu unterwerfen. Nunmehr ward auch der un-
glückliche Herzog von San Gallo, der unterdeſſen in dem nahen Görz hatte
bleiben müſſen, herbeigerufen um den Urtheilsſpruch Europas zu ver-
nehmen. (30. Jan.) Vor dem verſammelten Congreſſe verkündigte ihm
Metternich die Beſchlüſſe der Mächte und fügte drohend hinzu: ſollten
die Neapolitaner auf die väterliche Stimme ihres Königs nicht hören,
dann würden die Menſchen, welche aus Fanatismus oder aus noch ruch-
loſeren Beweggründen die Augen des treuen Volkes verblendet hätten, die
alleinige Verantwortung tragen und ſelber die erſten Opfer des über ihr
Vaterland hereinbrechenden Unheils werden.**) Währenddem ſteckte Fürſt
Ruffo nebenan in Metternich’s Cabinet und beobachtete durch ein Loch,
das ihm ſeine Gönner in die Thür gebohrt hatten, die Demüthigung
ſeines conſtitutionellen Landsmanns. Der aber bewahrte die dreiſte Gei-
ſtesgegenwart des ſüdländiſchen Buffo; er lächelte verbindlich zu Metter-
nich’s ſchnöden Vorwürfen, als ob er ſich geſchmeichelt fühlte, und ver-
ſprach dann ſehr artig, den erhaltenen Auftrag daheim auszurichten.
Keiner der Anweſenden ſchien zu empfinden, wie frevelhaft hier die Sache
der Legitimität durch ihre eigenen Anhänger geſchändet wurde.
Auch die Preußen nahmen an dem unwürdigen Spiele keinen An-
ſtoß, ſondern ließen den öſterreichiſchen Freund in Allem gewähren und
widerſprachen ihm erſt, als er die Bürgſchaft der großen Allianz für ein
k. k. Kriegsanlehen verlangte. Auf eine ſolche Zuſage, welche leicht zur Ver-
mehrung der ſoeben geſchloſſenen Staatsſchuld führen konnte, wollte ſich
Hardenberg nicht einlaſſen, und der König ſprach ihm dafür ſeine be-
ſondere Anerkennung aus.***) Bei den letzten Berathungen hatten auch
[179]Oeſterreichs Intervention in Neapel.
die Vertreter der kleinen italieniſchen Staaten mitgewirkt, ganz nach
Metternich’s Sinne. Als ſtrenger Legitimiſt zeigte ſich namentlich der Mi-
niſter des Herzogs Franz von Modena, des böſen kleinen Despoten, der
für das Haupt der italieniſchen Reaktionspartei galt und durchaus nur
als Erzherzog auftrat. Sogar der piemonteſiſche Bevollmächtigte, Graf
St. Marſan — derſelbe, der ſich einſt als Geſandter Napoleon’s in Berlin
ſo ehrenhaft betragen hatte — hielt den Kampf wider die Carbonari für
nothwendig. Die Angſt vor der Revolution war ſtärker als das alte
Mißtrauen der Piemonteſen gegen die öſterreichiſchen Nachbarn; und in
der That hegte die Hofburg augenblicklich keine Eroberungsgedanken, ſie
vermied auch weislich, ihre italieniſchen Bundes-Pläne, die den Turiner
Hof ſchon ſo oft beunruhigt hatten, wieder zur Sprache zu bringen. Nur
der päpſtliche Legat, Cardinal Spina, begnügte ſich mit einigen verlegenen,
unverfänglichen Erklärungen; denn der Papſt wollte ſeine kaum erſt wieder-
gewonnene Souveränität gegen Jedermann behaupten, und wie er alle
Rathſchläge der Großmächte für die Verwaltung des Kirchenſtaates zu-
rückwies, ſo wünſchte er auch, ſeinem Lande, das den Angriffen des Revo-
lutionsheeres zunächſt ausgeſetzt war, die Neutralität zu bewahren. Es
war die alte päpſtliche Politik, die noch niemals einer Macht die Allein-
herrſchaft auf der Halbinſel gegönnt hatte; freilich durfte die Curie auch
nicht wagen, den Oeſterreichern ihre einzige Straße nach Neapel zu ſperren.*)
Sodann beriethen ſich die Großmächte mit den italieniſchen Geſandten über
die Grundzüge der künftigen neapolitaniſchen Verfaſſung. Die Vorſchläge
lauteten verſtändig: eine Conſulta mit beſcheidenen Befugniſſen ſollte in
Neapel wie in Palermo der königlichen Gewalt an die Seite treten. Doch
leider konnte Bernſtorff nicht durchſetzen, daß dem Könige genau vorge-
ſchrieben wurde, was er nach ſeiner Rückkehr zu thun habe; und ſo blieb
denn das Schickſal Unteritaliens allein dem Kriegsglück und den unbe-
rechenbaren Launen des dreifach meineidigen Bourbonen preisgegeben.**)
Der nächſte Zweck des Congreſſes war erreicht, die förmlichen Be-
rathungen wurden bereits am 26. Febr. geſchloſſen. Schon einige Tage
vorher hatte Hardenberg die Congreßſtadt verlaſſen. Er ging nicht nach
Berlin zurück, obgleich er wußte, welche dringenden Geſchäfte ihn dort
erwarteten, obgleich ſein getreuer Rother ihm ſoeben erſt geſchrieben
hatte, wie Alles ins Stocken gerathe, wenn der Kanzler nicht mit dem
Könige zuſammen arbeite.***) Mit unbegreiflichem Leichtſinn entſchlug er
ſich dieſer Sorgen und unternahm eine Erholungsreiſe nach Italien;
nebenbei wollte er auch in Rom die nahezu fertige Vereinbarung mit dem
12*
[180]III. 3. Troppau und Laibach.
heiligen Stuhle förmlich beendigen. Unterdeſſen blieben die übrigen Staats-
männer bei den beiden Kaiſern in Laibach um den Gang der kriegeriſchen
Ereigniſſe abzuwarten. Der Anfang des Feldzuges verſprach wenig; er
bewies, daß Oeſterreich ſeine glänzende Stellung an der Spitze der euro-
päiſchen Mächte nicht ſeiner eigenen Stärke verdankte, ſondern nur Met-
ternich’s diplomatiſcher Kunſt und der Rathloſigkeit der anderen Höfe.
Schwerfällig zog die Armee des Generals Frimont ſüdwärts, und als
ſie endlich vor den Thoren Roms anlangte, da ſtellte ſich heraus, daß
nach ſiebenmonatlichen Vorbereitungen nicht einmal die Geldmittel für
dieſen unbedeutenden Krieg zur Stelle waren. Die Armeeverwaltung
gerieth in peinliche Verlegenheit, Niemand wollte ihr leihen. Da half ihr
Niebuhr aus der Noth, indem er in ſeinem eigenen Namen Wechſel auf
die Preußiſche Bank zog, die von den römiſchen Bankiers ſofort ange-
nommen wurden.*) Der beſchämende Vorfall ward raſch vergeſſen, da
das Kartenhaus der Revolution gleich darauf zuſammenfiel. In heller
Begeiſterung war die Landwehr der Samniter und der Marſen ſoeben
gegen die Schergen der Tyrannen ausgezogen, und die Kronprinzeſſin
hatte die Fahnen der Jauchzenden mit ſelbſtgeſtickten Carbonaribändern
geſchmückt. Aber Wilhelm Pepe ließ die Oeſterreicher ungehindert durch
den ſchwierigen Paß von Antrodocco im Hochgebirge der Abruzzen heran-
kommen, und als Frimont ihn darauf am 7. März bei Rieti angriff, da
hielt das Freiheitsheer nur vier Stunden lang leidlich Stand, dann lief
Alles in wilder Flucht ſchimpflich auseinander; taub für die Mahnungen
des tapferen Führers eilte Jeder in unwiderſtehlichem Heimweh ſeinem
Vaterſtädtchen zu. Der Krieg war beendet, das ganze Land lag zu Oeſter-
reichs Füßen. —
Dieſe Siegesbotſchaft hatten die Monarchen noch nicht erhalten, als
am 15. März eine andere unerwartete Nachricht bei ihnen einlief, die
auf die Laibacher Verſammlung ähnlich wirkte wie einſt die Kunde von
Napoleon’s Rückkehr auf den Wiener Congreß. Alle die kleinen Mißhel-
ligkeiten, welche noch immer zwiſchen den beiden Kaiſerhöfen beſtanden,
verſtummten augenblicklich, ſobald man erfuhr, daß auch in dem königs-
treuen Piemont eine Revolution ausgebrochen war. Es war die vierte
binnen Jahresfriſt, und ſie ſchien dem Wiener Hofe weit furchtbarer
als der Aufruhr in Neapel; denn ſie hatte ihren Sitz in dem einzigen
tapferen und nationalen Heere der Halbinſel, in dem Staate, der ſeine
Verwandtſchaft mit dem aufſtrebenden Preußen, ſeinen Beruf als Vor-
kämpfer der Einheit Italiens bereis zu ahnen begann. Graf Santa Roſa
und andere tüchtige Offiziere aus den erſten Familien des Landes, ſogar
ein Sohn des Grafen St. Marſan gehörten der Verſchwörung an. Sie
ſchaarten ſich nicht um das Parteibanner der Carbonari, ſondern um die
[181]Revolution in Piemont.
ruhmreiche Tricolore des Königreichs Italien. Ein Manifeſt der Auf-
ſtändiſchen erinnerte an das Vorbild York’s, der durch rühmlichen Unge-
horſam ſeinen König von dem Joche der Fremden erlöſt habe. Traum-
haft verſchwommen, aber unverkennbar ſtand der Gedanke der nationalen
Monarchie des Hauſes Savoyen im Hintergrunde der phantaſtiſchen Pläne.
Bernſtorff errieth ſofort, daß „dieſe Hyder aus Frankreichs Schooße her-
vorgegangen“ ſei*); und allerdings hatte ſich die Verſchwörung in jenen
liberalen Turiner Kreiſen vorbereitet, die mit der franzöſiſchen Geſandt-
ſchaft verkehrten. Eine Charte, der franzöſiſchen ähnlich, war urſprüng-
lich der Zweck der Verſchworenen, und nur weil ſie eines volksthümlichen
Schlagworts bedurften, riefen ſie ſchließlich die unglückliche ſpaniſche Ver-
faſſung aus.
So gewann auch dieſe nationale Schilderhebung den Anſchein, als
wäre ſie nur ein Glied in der Kette einer weltumſpannenden radikalen
Verſchwörung. Der Erfolg ſchien Alles zu beſtätigen, was Metternich
über die Pläne der im Dunkeln ſchleichenden Partei vorhergeſagt, und
ohne Vorbehalt ſchloß ſich der Czar jetzt dem untrüglichen Wiener Pro-
pheten an. Die Oſtmächte beſchloſſen (15. März) den Aufruhr unver-
züglich niederzuſchlagen: die öſterreichiſchen Truppen in der Lombardei
ſollten ſofort verſtärkt und unterdeſſen ein ruſſiſches Heer von 80,000
Mann über Ungarn herangezogen werden. Auch von Preußen erwarteten
die beiden Kaiſer, für den Nothfall mindeſtens, die Zuſage bewaffneter
Beihilfe. Bernſtorff aber erwiderte ſehr nachdrücklich, er müſſe ſeinem
Hofe die Freiheit der Entſchließung vorbehalten, da der König ſeinem
Volke keine Laſt auflegen wolle, die über die Verpflichtungen der Verträge
hinausgehe. Zugleich kündigte er ſeine bevorſtehende Heimkehr an und
reiſte in der That nach einigen Tagen ab. Die Kaiſer ließen ihn ziehen,
damit er daheim die gemeinſame Sache wirkſamer unterſtütze; er aber ver-
ließ den Congreß um zu verhindern, daß Preußen tiefer als der König
wünſchte in die italieniſchen Händel verwickelt würde. General Kruſemark,
der nunmehr allein als preußiſcher Bevollmächtigter zurückblieb, konnte
ſich allen „weiteren läſtigen Zumuthungen“ leicht entziehen, da er ſtets
erſt in Berlin anfragen mußte.**) So ſeltſam durchkreuzten ſich am preu-
ßiſchen Hofe landesväterliches Pflichtgefühl und antirevolutionäre Geſin-
nung. Friedrich Wilhelm wollte die Kräfte ſeines Volkes den italieniſchen
Plänen Oeſterreichs nimmermehr opfern und übernahm doch unbedenklich
vor aller Welt die Mitſchuld an den herriſchen Manifeſten der Wiener
Interventionspolitik, weil er in dem Bunde der Oſtmächte die Bürgſchaft
für die Sicherheit ſeines eigenen Staates ſah. Seine Haltung bewies,
[182]III. 3. Troppau und Laibach.
daß die Nüchternheit ſeines Urtheils immer noch ſtärker blieb als ſeine
Freundſchaft für Oeſterreich; aber dem Stolze einer Großmacht ſtand ſie
übel an.
Freilich zeigten ſich die beiden Weſtmächte noch weit rathloſer. Der
Miniſter des Auswärtigen, Pasquier, das liberalſte Mitglied des Pariſer
Cabinets, ſah voll ernſter Beſorgniß dem Augenblick entgegen, da die
Oeſterreicher bis zur franzöſiſchen Grenze vorrücken würden; Metternich
ſelbſt fand dieſe Eiferſucht erklärlich und erwog einige Tage lang ernſtlich,
ob es nicht gerathen ſei, die Beſetzung Piemonts den Ruſſen zu überlaſſen.
Doch wenn der franzöſiſche Hof ſein Intereſſe in Italien wahren wollte,
ſo mußte er, den Oſtmächten zuvoreilend, ſelber die Ordnung in Piemont
herſtellen, und dieſe Kühnheit war unmöglich, da er dem Geiſte ſeines
eigenen Heeres mißtraute. So verſtrich die Zeit, ohne daß man in den
Tuilerien einen Entſchluß fand.*) Lord Caſtlereagh vollends wurde durch
die Turiner Nachrichten nur in ſeinen öſterreichiſchen Neigungen beſtärkt
und gab unter der Hand zu verſtehen, alle ſeine Verwahrungen ſeien
nichts weiter als parlamentariſche Schachzüge.
Metternich allein war ſeines Zieles ſicher, und das Glück begünſtigte
ihn abermals wunderbar. Der gefürchtete piemonteſiſche Aufſtand erwies
ſich bald als ein verfrühtes, unfertiges Unternehmen. Nur ein Theil
des Heeres hatte ſich der Revolution angeſchloſſen, die Mehrheit des Volkes
harrte geſpannt auf die Entſcheidung des Königs. Der redliche, in dem
Abſolutismus des alten Jahrhunderts ergraute Victor Emmanuel wollte
weder den ausſichtsloſen Kampf gegen die großen Mächte beginnen, noch
das Ausland wider ſeine eigenen Truppen zu Hilfe rufen und faßte endlich
denſelben Entſchluß, welchen ſchon mehrere ſeiner pflichtgetreuen Vorfahren
gefaßt hatten, wenn ihnen die Bürde der Regierung zu ſchwer wurde: er
legte die Krone nieder und ernannte den Prinzen Karl Albert von Ca-
rignan zum Regenten, bis der Thronfolger Karl Felix aus Modena zurück-
kehren würde, um die Zügel ſelbſt in die Hand zu nehmen. Welche Auf-
gabe für den unerfahrenen, ehrgeizigen Prinzen, der mit den Verſchworenen
längſt im Verkehr ſtand und ſchon zuweilen von der italieniſchen Königs-
krone träumte! Er ließ ſofort durch eine Notabelnverſammlung die ſpa-
niſche Verfaſſung annehmen und hoffte in ſeiner jugendlichen Argloſigkeit
auf die nachträgliche Zuſtimmung des neuen Königs. Karl Felix aber,
ein Geſinnungsgenoſſe des Herzogs von Modena, verwarf in einem ſcharfen
Manifeſte jede Neuerung, und ſobald der König geſprochen hatte, war in
dieſem Lande der Würfel gefallen. Gehorſam gab Karl Albert ſeine
Regentſchaft auf. Mittlerweile war General Bubna mit einem öſter-
reichiſchen Heere eingerückt, die treu gebliebenen Truppen vereinigten ſich
mit ihm, und ſchon am 8. April unterlagen die Aufſtändiſchen nach tapferem
[183]Niederlage der Piemonteſen.
Widerſtande in dem Gefechte von Novara. Einige Tübinger Studenten
und andere junge Liberale, die aus den Nachbarlanden herbeizogen, fan-
den das Heer der Revolution bereits in voller Auflöſung; ein Geheim-
bund in der Lombardei, der ſchon zum Losſchlagen bereit ſtand, ging ent-
muthigt auseinander.
Aber auch Rußlands Hilfe war nunmehr überflüſſig. Mit zwei leichten
Schlägen, binnen vier Wochen, hatte Oeſterreich allein den Aufſtand im
Süden wie im Norden der Halbinſel niedergeworfen, ſein Wille gebot von
den Alpen bis zum ioniſchen Meere, und der ſtaatsmänniſchen Größe des
ſiegreichen Metternich huldigte alle Welt, nicht blos die Diplomatie, die
doch einen raſchen Erfolg erwartet, ſondern faſt mehr noch die widerſtre-
bende liberale Partei, die ſich über die Schwäche der Revolution ſo gründ-
lich getäuſcht hatte. Mit übermüthiger Schadenfreude berichtete Gentz im
Oeſterreichiſchen Beobachter, wie die Helden der Freiheit am Tage der
Schlacht nur die Künſte des Pulcinells gezeigt hätten, und ſchloß befriedigt:
„Der beſſere Bürger verbindet ſich freudig mit der ſchützenden Uebermacht,
ſein Vaterland von dem verderblichen Auswurfe der Letzten dieſer Sekte zu
reinigen, für die es kein Heil als das allgemeine Unglück, keine Hoffnung
als die einer einſamen Herrſchaft auf dem Schauplatze ihrer Zerſtörung
giebt.“
Für dies Werk der Reinigung bedurfte die Fremdherrſchaft der Bour-
bonen allerdings eines ſchärferen Beſens als das nationale Fürſtenhaus
von Savoyen. Anfangs erſchien die halberzwungene Abdankung Victor
Emmanuel’s den Oſtmächten als ein unzuläſſiger Verſtoß wider die
ſtrengen Grundſätze des legitimen Rechts. Die beiden Kaiſer verſuchten
ſogar den alten König umzuſtimmen; auch König Friedrich Wilhelm mahnte
ihn brieflich zur Wiederbeſteigung des Thrones. Er aber blieb feſt, und
die Monarchen beruhigten ſich endlich, zumal da ſein Nachfolger ſich als
harter Legitimiſt bewährte und in Laibach an dem Herzog von Modena
einen beredten Fürſprecher fand. Das ſtarre, bigotte, geiſtloſe Regiment
des neuen Königs traf die Empörer mit harten Strafen, und Metternich
beeilte ſich auch die Eidgenoſſenſchaft zur Mitwirkung aufzufordern, da
ſie durch ihre Gaſtfreundſchaft für die piemonteſiſchen Flüchtlinge „ihre
Neutralität moraliſch verletze“. Indeß vermied Karl Felix offenbare Rechts-
verletzung und Grauſamkeit, er bemühte ſich ſelbſt mit landesväterlichem
Eifer, die Oeſterreicher zu baldiger Räumung des Landes zu bewegen; das
alte herzliche Verhältniß zwiſchen Fürſt und Volk ward nicht auf die Dauer
getrübt.*) Zu beſonderer Genugthuung gereichte dem Wiener Hofe die
Entwürdigung des Prinzen von Carignan, der nunmehr dem Throne am
nächſten ſtand. Der unglückliche Prinz war bisher die Hoffnung der Pa-
[184]III. 3. Troppau und Laibach.
trioten geweſen; jetzt verurtheilten alle Höfe mitleidslos ſein ſchwankendes,
zweideutiges Verhalten, die öſterreichiſchen Offiziere verhöhnten ihn ins
Geſicht als den König von Italien — was dem Stolzen unvergeſſen blieb
— und die Liberalen, die ſich nach romaniſchem Brauche ihre Niederlage
nur aus einer großen Verrätherei erklären konnten, ſangen ihm die grau-
ſamen Verſe nach: Dein Name geht durch alle Völker, mit Fluch beladen,
Carignan Er ſchien der allgemeinen Verachtung erliegen zu müſſen, und
die reaktionäre Partei verſtieg ſich bereits zu dem Plane, den Verhaßten
von der Thronfolge auszuſchließen, die Krone nach dem Tode des alten
Karl Felix auf Franz von Modena zu übertragen.
Währenddem war über Neapel ein Schreckensregiment hereinge-
brochen, faſt ſo gräuelvoll wie jenes erſte bourboniſche Blutgericht vom
Jahre 1799. König Ferdinand hatte die Heimkehr verſchoben, bis er der
Unterwerfung ſeines Landes völlig ſicher war und ſich nicht mehr um die
Rathſchläge der Großmächte zu kümmern brauchte. Dann drängten ſich
in endloſer Reihe Einkerkerung, Auspeitſchung, Hinrichtung; viele der
beſten Männer des Landes verſchmachteten, mit gemeinen Verbrechern
zuſammengeſchmiedet, unter den Inſektenſchwärmen der ſchattenloſen Straf-
inſeln, mehr denn Tauſend lebten als Flüchtlinge in England, in der
Schweiz, bei den Barbaresken. Das alte Conſcriptionsheer ward auf-
gelöſt, ein neues geworbenes gebildet. In den clericalen Urkantonen der
Schweiz ließ Ferdinand durch einen anrüchigen alten Landsknecht, General
Auf der Mauer die Werbetrommel rühren, und obwohl mancher wackere
Eidgenoſſe die „biderben Männer von Schwyz“ beſchwor, die alte, ſchon
von Zwingli geſcholtene Nationalſünde des Reislaufens endlich zu laſſen,
ſo fanden ſich doch einige Regimenter von tapferen Fremdlingen zuſammen,
die nun von den Bergfeſten über der Bai die unruhige Hauptſtadt be-
wachten. Die zügelloſe Grauſamkeit dieſer Reaktion zwang die Mächte
mehrmals zu ernſten Warnungen; ſelbſt Kaiſer Franz ſchrieb dem König
zweimal noch von Laibach aus.*) Doch was konnten ſolche Mahnungen
fruchten, da der gute Kaiſer ſeine eigenen Soldaten Schergendienſte ver-
richten ließ bei den Blutrichtern des Bourbonen, ja ſogar in die gräß-
lichen Kerker ſeiner mähriſchen Feſtungen außer den lombardiſchen Patrioten,
die ſoeben nochmals durch ein Strafverfahren heimgeſucht wurden, auch
neapolitaniſche Hochverräther gaſtfreundlich aufnahm? Neapel war nur
noch ein Satrapenſtaat der Hofburg; die alte Verbindung zwiſchen dem
königlichen Hauſe und den franzöſiſchen Bourbonen lockerte ſich mehr und
mehr. Sechs Jahre lang blieben die Oeſterreicher im Lande, der Hof
überſchüttete ihre Führer mit Gold und Ehren, durch die Koſten der frem-
den Beſatzung wurde die Staatsſchuld in wenigen Jahren auf das Vier-
fache erhöht. Ein fürchterlicher Haß, der mit jedem Jahre wuchs, ſammelte
[185]Oeſterreichs Herrſchaft in Italien.
ſich an wider die Weißröcke; in Palermo ward einmal ein Geheimbund
entdeckt, der die geſammte öſterreichiſche Garniſon zu vergiften bezweckte.
Und dieſer Haß fiel zurück auf die Deutſchen außerhalb Oeſterreichs;
denn jeder Kroate, Raize oder Walache, der des Kaiſers Rock trug, hieß
den Wälſchen ein Tedesco, und auch die anderen Nationen machten das
deutſche Volk verantwortlich für die Sünden der Vormacht des Deutſchen
Bundes. In grimmigen Verſen brandmarkte Caſimir de la Vigne die
Germanen, dieſe Sklaven von geſtern und Tyrannen von heute, wie ſie
mit den elenden Beſiegten zuſammen unter dem Lorbeerſtrauche Virgils ſich
betränken. Nur wenige Ausländer unterſchieden ſo gerecht wie Lord Byron,
der unbefangen ſchrieb: „ich liebe die Deutſchen, nur nicht die Oeſter-
reicher; die haſſe und verabſcheue ich.“ Die Meiſten bemerkten mit ſtiller
Schadenfreude, daß die Nation, deren Erſtarken ſie alle fürchteten, nun
ſo übel berüchtigt wurde wie die Ruſſen, und die willige Ergebenheit des
preußiſchen Hofes der abgünſtigen öffentlichen Meinung zur Rechtfertigung
diente. Ueber die unglücklichen Neapolitaner freilich urtheilte die euro-
päiſche Welt faſt noch härter; ſie waren ſeit dem Tage von Rieti dem
Fluche der Lächerlichkeit verfallen. Ueberall erklang das Spottlied von der
„großen Retirade“, und mancher enttäuſchte deutſche Liberale nannte ſeinen
Hund „Pepe“. Je freudiger man ſoeben noch die Freiheit dieſes Volkes
begrüßt hatte, um ſo tiefer erſchien jetzt ſein Fall. „Wo ſoll ich meine
Schmach begraben?“ — ſo begann das neue neapolitaniſche Nationallied
Thomas Moore’s, und den carbone notatis rief der Dichter zu: weit
edler die Stiefeln des Czaren zu küſſen, als eure Ketten ſelbſt zu be-
ſudeln durch einen Kampf, wie dieſen! So unheimlich hatte ſich die Lage
der beiden großen Nationen Mitteleuropas geſtaltet: der einen ſetzte das
Haus Oeſterreich den Fuß auf den Nacken, die andere war mit dieſem
Feinde ihrer Einheit durch ein unwahres und gleichwohl noch unlös-
bares Bündniß verkettet und leiſtete ihm, mit Worten mindeſtens, gehor-
ſamen Beiſtand.
Durch Oeſterreichs Erfolge waren die Weſtmächte entwaffnet, und
freudetrunken ſchrieb Gentz: Paris und London liegt uns zu Füßen! Wie
konnte Frankreich der ſiegreichen Hofburg entgegentreten, da König Ludwig
für ſeinen eigenen Thron zitterte? Unabläſſig ängſteten ihn die Ultras
durch unheimliche Gerüchte; dieſe verblendete Partei hatte ſoeben, um den
Monarchen zu ſchrecken, eine Pulver-Exploſion in den Tuilerien veran-
ſtaltet, ſie war in Laibach durch einen geheimen Agenten Jouffroy ver-
treten, der dem Czaren einen neuen Brief von Bergaſſe überbrachte und
die Zuſtände des Mutterlandes der Revolution wieder einmal in den
dunkelſten Farben ſchilderte. Ein Zuſammenwirken der beiden großen
conſtitutionellen Höfe ſtand vollends außer Frage, da die Tory-Regierung
den Franzoſen ſchlechterdings keinen Uebergriff in die Mittelmeerlande ge-
ſtatten wollte. Als die Revolution in Piemont gebändigt war, konnte Lord
[186]III. 3. Troppau und Laibach.
Caſtlereagh die Empfindungen ſeines Herzens nicht mehr zurückhalten.
Er ſendete dem Wiener Freunde ſeinen Glückwunſch und ſprach zugleich
die Hoffnung aus: man werde die Beſetzung des unterworfenen Landes
doch nicht franzöſiſchen Truppen anvertrauen. Wie jubelte Metternich
über dieſe Aeußerung politiſcher Unſchuld; der Czar aber fragte lächelnd:
wofür halten uns eigentlich dieſe Leute?*) —
Indeſſen hatte das Schickſal dem öſterreichiſchen Staatsmanne be-
reits einen bitteren Tropfen in den Becher ſeiner Freuden gegoſſen. Der
doktrinäre Gedanke des unwandelbaren großen europäiſchen Bundes wider-
ſprach ſo offenbar der Mannichfaltigkeit entgegengeſetzter Intereſſen und
ungelöſter Fragen, welche das europäiſche Leben umſchloß, daß jede große
Wendung der Völkergeſchicke ihn nothwendig ſtören mußte. Noch während
des Laibacher Congreſſes brach eine fünfte Revolution aus, die anfangs
am wenigſten beachtet, zuletzt der großen Allianz am verderblichſten wer-
den ſollte. Die gräcoſlaviſche Welt begann zu erwachen, die ſchwerſte aller
europäiſchen Fragen, die orientaliſche, gerieth wieder in Fluß. Seit hundert
Jahren ſchon beſtand das Reich der Osmanen auf abendländiſchem Boden
nur noch durch die wechſelſeitige Eiferſucht der europäiſchen Mächte, nicht
mehr durch eigene Kraft. Eine im Schlaf erſtarrte Völkerwanderung
hatte ſich wie eine ungeheure Schuttlawine, alle Cultur begrabend, über
jene geſegneten Lande des Südoſtens gelagert, wo einſt die Chriſtenheit
ihr zweites Rom und der Handel zweier Welttheile ſeinen Mittelpunkt
gehabt. Was in dieſer Trümmerwelt noch lebte, arbeitete, um die Güter
der Geſittung rang, war chriſtlich; das Herrenvolk, das der Rajah mit
dem ſicheren Griffe orientaliſcher Herrſcherkunſt das Halsband der Unter-
thänigkeit feſt um den Nacken gelegt hatte, blieb im Glanze ſeines er-
beuteten Reichthums unwandelbar eine orientaliſche Reiterhorde, die nie-
mals heimiſch ward in Europa und über die Weltanſchauung des kriege-
riſchen Nomadenthums nie hinausgelangte. Unausbleiblich mußte ſich
dereinſt an den Türken, wie vormals an der polniſchen Adelsrepublik,
das hiſtoriſche Geſetz erfüllen, das in dieſem Jahrhundert der bürgerlichen
Arbeit kein Volk von Rittern und Müßiggängern mehr duldet.
Niemals hatten die Rajah-Völker ſich ausgeſöhnt mit ihren mitleidloſen
Herren, niemals aufgehört die Rache Gottes herabzurufen für jenen Tag
der Schmach, da der Eroberer in die Hagia Sophia einritt und die Hufe
ſeines Roſſes das ſchönſte Gotteshaus der morgenländiſchen Chriſtenheit
ſchändeten. Mitten im Schmutz und Elend ihrer Knechtſchaft geboten ſie
noch über jene unverwüſtliche Kraft der Verjüngung und Selbſterneuerung,
welche das Chriſtenthum überall von der geiſtloſen Erſtarrung des Islam
unterſcheidet. Als nun die weltbürgerliche Heilslehre der franzöſiſchen Re-
volution und mit ihr zugleich die nationalen Freiheitsgedanken der ſpa-
[187]Griechiſche Revolution.
niſchen und der deutſchen Unabhängigkeitskriege langſam ihren Weg in
den fernen Oſten fanden, da wirkten ſie zunächſt auf das rührigſte der
Rajah-Völker, das unter dem wirthſchaftlichen Druck der Türkenherrſchaft
am wenigſten litt. Die Griechen hatten ſeit dem Frieden von Kutſchuk-
Kainardſche faſt den geſammten Handel des ägeiſchen Meeres an ſich ge-
riſſen, ſie ſchöpften aus den Erinnerungen einer glorreichen Vergangenheit
das Selbſtgefühl eines unzerſtörbaren Volksthums, das befleckt mit allen
Sünden vielhundertjähriger Sklaverei doch immer noch zäh genug blieb um
ſeine uralte Sprache in erſtaunlicher Reinheit zu bewahren und ſtark genug
um die zahlreichen in das helleniſche Culturgebiet eingedrungenen albane-
ſiſchen und ſlaviſchen Stämme aufzuſaugen und mit griechiſcher Bildung
zu erfüllen.
Der Gedanke der Wiederherſtellung des byzantiniſchen Reichs war
nie ganz verſchwunden. Selbſt in dem harten ſiebzehnten Jahrhundert
hatte Milton mit einem helleniſchen Freunde von der Wiedergeburt Grie-
chenlands geträumt, und hundert Jahre darauf waren die Sendboten der
Czarin Katharina unter den Griechen umhergezogen um den Haß gegen
die osmaniſchen Herrſcher aufzuſtacheln. Doch erſt ſeit Rhigas in feurigen
Liedern die Freiheit der Hellenen beſungen hatte, begann die nationale
Bewegung ſtärkere Wellen zu ſchlagen. Korais und ſeine Freunde führten
die neugriechiſche Sprache in den Kreis der Culturſprachen ein und ſchufen
die erſten Anfänge einer nationalen Literatur. Der literariſche Bund der
Philomuſen von Athen vermittelte den Gedankenaustauſch zwiſchen den
weithin in allen Hafenplätzen der Balkanhalbinſel und Kleinaſiens zer-
ſtreuten Griechen, und gleichzeitig, ſeit 1812, gründete die politiſche Hetärie
von Odeſſa überall in den gräcoſlaviſchen Landen ihre Geheimbünde.
Während in den meiſten anderen Unabhängigkeitskriegen der neuen
Geſchichte die Kämpfenden ſich erſt ſpät ihres letzten Zieles bewußt wurden,
faßte dieſe Verſchwörung von vornherein die völlige Befreiung feſt ins
Auge, da jede Vermittlung zwiſchen dem Kreuz und dem Halbmond un-
möglich ſchien: Unabhängigkeit aller Hellenen hieß die Loſung, und nur
wenn das Kreuz wieder auf der Kuppel der Weisheitskirche prangte, ſollte
der Kampf enden. Der Beiſtand der Schutzmacht der orthodoxen Kirche
ſchien den Verſchworenen um ſo gewiſſer, da ein Liebling des Czaren, der
Fanariot Alexander Ypſilanti an ihrer Spitze ſtand und ruſſiſche Agenten
überall auf der Halbinſel ihr Weſen trieben. Auch Kapodiſtrias unter-
hielt mit der Hetärie geheimen Verkehr, er beſuchte im Jahre 1819, ſicher-
lich nicht ohne Hintergedanken, ſeine Heimath Corfu und ermuthigte die
Freunde durch halbe Zuſagen, als ſie ihm ein Jahr darauf die bevor-
ſtehende Empörung ankündigten. [Obwohl] die Hetärie mit den Venten
der Carbonari nicht unmittelbar zuſammenhing, ſo mußte doch der Anblick
der Revolution auf den beiden Nachbarhalbinſeln die Ungeduld der Ver-
ſchworenen reizen, den Ausbruch des Krieges beſchleunigen. Im December
[188]III. 3. Troppau und Laibach.
1820 erhoben ſich die Sulioten in den Gebirgen Albaniens. Die Nach-
richt ward in Europa kaum bemerkt; man ſah in dem Kampfe nur einen
jener zahlloſen lokalen Aufſtände, welche ſeit Langem den einzigen Inhalt
der inneren Geſchichte des Türkenreichs bildeten, und Niemand ahnte, daß
dies wilde Bergvolk in die Pläne der helleniſchen Verſchwörer eingeweiht
war. Aber welche Beſtürzung auf dem Congreß, als man erfuhr, daß
Ypſilanti am 7. März in Jaſſy die Freiheit der Hellenen ausgerufen und
den Aufſtänd iſchen die Hilfe des Czaren verheißen hatte; wie ſicher mußte
er auf dieſen Beiſtand zählen, wenn er dort an der ruſſiſchen Grenze,
unter den gleichgiltigen Rumäniern eine griechiſche Schilderhebung wagte!
Wenige Wochen darauf griffen auch die Stämme des Peloponnes zu den
Waffen, dann die Inſelgriechen des ägeiſchen Meeres, und nun raſte er
dahin, der gräuelvolle Agon der Hellenen, der wildeſte Raſſenkampf des
Jahrhunderts: unmenſchliche Wuth, Verrath und Treubruch auf beiden
Seiten.
Metternich’s Urtheil über dieſe fünfte Revolution war im erſten Augen-
blicke gefunden; denn unter allen ſeinen politiſchen Axiomen ſtand ihm
keines ſo feſt wie die Unantaſtbarkeit der Türkei. Keinen Augenblick be-
ſchäftigten ihn die Fragen: ob die Herrſchaft des Halbmonds im chriſt-
lichen Abendlande auf die Dauer beſtehen könne? ob Oeſterreich nicht
verſuchen ſolle, in die Herrſcherbahnen des Prinzen Eugen wieder einzu-
lenken und bei dem drohenden Zerfalle des türkiſchen Reichs ſich ſelber
eine ſtarke Stellung auf der Balkanhalbinſel, vielleicht ſogar die Herrſchaft
über die Mündungen ſeines Stromes zu gewinnen? Der Sultan war ihm
ein legitimer Fürſt wie jeder andere auch; mit heiligem Eifer bewies Gentz im
Oeſterreichiſchen Beobachter, daß die Herrſchaft der Pforte auf dem überall
in der Welt anerkannten Rechtstitel der Eroberung ruhe. Und dieſer
legitime Staat zeichnete ſich aus durch eine Verfaſſung, welche den politi-
ſchen Idealen des öſterreichiſchen Staatsmannes vollkommen entſprach: hier
beſtand noch unberührt von den zerſetzenden Lehren der Revolution die viel-
gerühmte force des subdivisions, ein lockeres Nebeneinander zuſammen-
geraubter Länder, die unter ſich nichts gemein hatten als den ſchweigen-
den Gehorſam gegen den Großherrn. Befangen in dem dürren Prag-
matismus der Geſchichtsphiloſophie des alten Jahrhunderts, ohne Sinn
für die elementariſche Kraft des nationalen Inſtinkts, die in ſolchen Kriſen
des Völkerlebens allein entſcheidet, ſuchte Metternich den Grund dieſer Ent-
ladung uralten Raſſenhaſſes allein in den ſchlechten Künſten einer Rotte
ehrgeiziger Böſewichter und legte auch die orientaliſche Frage unter die
Schablone ſeiner Stabilitätsdoktrin. Auch die helleniſche Bewegung konnte
nur durch die im Dunkeln ſchleichende Partei bewirkt ſein, und von vorn-
herein nahm er als erwieſen an, daß die Hetärie und die Carbonari der
nämlichen Sekte angehörten. Und dieſe unheimlichen griechiſchen Dema-
gogen erſchienen ihm zugleich als Werkzeuge der gefürchteten ruſſiſchen
[189]Die Großmächte und die Griechen.
Politik. Er ſah wohl ein, daß er die Pforte nicht offen unterſtützen durfte,
wenn er die Aufſtändiſchen nicht geradeswegs dem Petersburger Hofe in
die Arme treiben wollte; in ſeiner Angſt vor jeder Neuerung konnte er
ſich aber auch nicht entſchließen, durch eine gemeinſame Intervention der
großen Mächte den Rajah-Völkern ein halbwegs menſchenwürdiges Daſein
und damit dem türkiſchen Reiche vielleicht noch eine Lebensfriſt zu ſichern.
In ſolcher Bedrängniß erblickte er nur einen Weg der Rettung: wenn die
großen Mächte ihren Abſcheu vor der griechiſchen Erhebung nachdrücklich
ausſprachen und dann die orientaliſchen Wirren ſich ſelber überließen,
ſo mußte die gewaltige Uebermacht der Pforte den Aufſtand bald bemeiſtern
und der Krummſäbel der Osmanen, wie Metternich zuverſichtlich hoffte,
die alte Ordnung im Reiche des Sultans einfach wiederherſtellen.
In dieſer ſtarr conſervativen Geſinnung begegnete ſich der öſterrei-
chiſche Staatsmann mit den Anſichten des engliſchen Hofes, der durch
den Aufſtand der Hellenen ſeine gewohnten Handelswege zu verlieren
fürchtete und den geheimen Plänen Rußlands noch ängſtlicher als die
Hofburg ſelbſt mißtraute. Der Gedanke, daß die erſte Seemacht der Welt
durch die Entfeſſelung der gebundenen wirthſchaftlichen Kräfte der Bal-
kanhalbinſel nur gewinnen konnte, lag gänzlich außerhalb des Geſichts-
kreiſes dieſer Hochtorys. Auch die preußiſchen Staatsmänner ſchloſſen ſich
der Meinung Oeſterreichs an, obgleich Bernſtorff die Hoffnungen Metter-
nich’s nicht theilte und den Aufſtand der Hellenen keineswegs für aus-
ſichtslos hielt.*)
Doch wie ſollte es gelingen, den Czaren ſelbſt für eine Anſicht zu
gewinnen, welche allen Ueberlieferungen der Petersburger Politik und den
mächtigſten nationalen Leidenſchaften des ruſſiſchen Volkes widerſprach?
Noch ſaß Kapodiſtrias im Rathe Alexander’s, und dieſer Grieche mußte,
wie Bernſtorff ſagte, „ſeine natürlichſten und mindeſt zweifelhaften Em-
pfindungen verleugnen“, wenn er der Befreiung der Hellenen entgegen-
trat. Aber die Gunſt des Glückes, die dem öſterreichiſchen Hofe in dieſen
Laibacher Zeiten unwandelbar zur Seite ſtand, blieb ihm auch jetzt treu.
Das Schreiben Ypſilanti’s, das dem Czaren den Beginn des Aufſtandes
offen mittheilte, gelangte nach Laibach in den nämlichen Tagen, da Alex-
ander durch die Turiner Nachrichten tief erſchüttert war; leidenſchaftlich
erregt erblickte er überall in der Welt nur das Schreckgeſpenſt des großen
demagogiſchen Geheimbundes, und weil er von den Umtrieben der ruſſiſchen
Agenten wenig oder nichts wußte, ſo ſah er auch in ſeinem fanariotiſchen
Freunde nur einen Verblendeten, der ſich in den Netzen der Carbonari
habe fangen laſſen. In ſolcher Stimmung traf ihn Metternich, und es
hielt nicht allzu ſchwer, diesmal mit Hilfe der Feuersbrunſt, die Nerven des
Czaren noch mehr zu erregen: die griechiſche Rebellion, ſo verſicherte der
[190]III. 3. Troppau und Laibach.
Oeſterreicher, ſei die Fackel der Zwietracht, welche die Demagogen zwiſchen
Oeſterreich und Rußland geworfen hätten um die beiden Kaiſermächte zu
trennen und die liberale Feuersbrunſt zu unterhalten. Alexander ward
völlig bekehrt, er zeigte ſich ſo feſt, daß Metternich ſchreiben konnte: „wenn
je Jemand aus ſchwarz weiß geworden iſt, ſo iſt er es.“ Gentz aber froh-
lockte: „Gott ſtreitet für und mit uns!“ Wohl mochte er jubeln; denn
dieſer Erfolg Metternich’s ſah wahrlich einem Wunder ähnlich. Der
unglückliche Kapodiſtrias ſtand in Gefahr, das Vertrauen ſeines kaiſer-
lichen Herrn und damit jede Handhabe zur Unterſtützung ſeiner Lands-
leute zu verlieren. Geſchmeidig ſchickte er ſich in die Umſtände und ver-
faßte ſelbſt das ſtrenge Antwortſchreiben, das dem helleniſchen Rebellen-
führer die Ungnade des Czaren ausſprach (26. März); zugleich wurde
Ypſilanti’s Name aus den Liſten des ruſſiſchen Heeres geſtrichen. Dieſer
Geſinnung blieb Alexander bis zum Schluſſe des Congreſſes treu, und
ſein öſterreichiſcher Mentor verſäumte nicht, ihm die Lehrſätze der allein
wahren Staatskunſt, die alleſammt auf den einen Gedanken „ne rien
innover!“ hinausliefen, nochmals in wortreichen Denkſchriften nachdrück-
lich einzuſchärfen.
Gentz eröffnete unterdeſſen im Oeſterreichiſchen Beobachter den Feder-
krieg gegen die Hellenen und verfertigte fortan in regelmäßiger Folge jene
berufenen Berichte „aus Zante“, welche die Sünden der Rebellen, ihren
Hader, ihre Grauſamkeit mit ungeheuerlicher Uebertreibung ſchilderten.
Metternich ſelbſt durfte es wagen, in einer Denkſchrift vom 7. Mai das
gemeinſame Urtheil der beiden Kaiſer dahin zuſammenzufaſſen: ſie hätten
ſich überzeugt, daß die griechiſche Nation auf der tiefſten Stufe der Ent-
artung angelangt ſei. Als die Monarchen am 13. Mai nach halbjährigem
Zuſammenleben ſich endlich trennten, da ſchien ihre Freundſchaft inniger
denn je. Sie gaben ſich die Hand darauf, daß ſie Beide niemals allein,
ſondern immer nur nach den gemeinſamen Beſchlüſſen der großen Allianz
in die orientaliſchen Wirren eingreifen würden. Uebers Jahr dachten ſie in
Florenz mit König Friedrich Wilhelm zu einem neuen Congreſſe zuſammen-
zutreten, inzwiſchen wollten ſie den Verlauf der Bewegung ſcharf beob-
achten und einander jede Nachricht freundnachbarlich mittheilen. Beim
Abſchied von dem preußiſchen Geſandten pries Alexander den Bund der
Oſtmächte nochmals als „Europas Schutzwehr gegen die Revolution“ und
erkannte gerührt den Willen Gottes in der wunderbaren Fügung, die
ihn eben jetzt mit Kaiſer Franz zuſammengeführt. Nicht minder ſalbungs-
voll ſchrieb Ancillon: „Wenn man ſieht, wie die Pforte in ihrem Daſein
bedroht wird, wie Spanien mit ſchnellen Schritten dem Bürgerkriege ent-
gegeneilt, wie Amerika das von Europa empfangene ſchlechte und ver-
derbliche Beiſpiel noch überbietet und den alten Continent mit einer ſitt-
lichen und politiſchen Anſteckung von ganz neuer Art bedroht, dann fühlt
man doppelt den unſchätzbaren Werth der Vereinigung der Alliirten und
[191]Das Laibacher Manifeſt.
dankt dem Himmel, daß er der Macht des Kaiſers von Rußland in ſeinem
Herzen und in ſeinen Grundſätzen ein Gegengewicht gegeben hat.“*)
In einer hochtönenden Erklärung verkündeten die Oſtmächte beim
Schluſſe des Congreſſes (12. Mai) die Ergebniſſe ihrer Bemühungen:
der Plan des allgemeinen Umſturzes ſei geſcheitert an den verbündeten
Heeren, welche den unterdrückten Völkern zu Hilfe gekommen. „Die Vor-
ſehung hat ſo ſchuldige Gewiſſen mit Schrecken geſchlagen, und die Miß-
billigung der Völker, deren Loos die Urheber der Unruhen gefährdeten,
hat ihnen die Waffen aus der Hand fallen laſſen.“ Ein begleitendes
Rundſchreiben an die kleinen Höfe verſicherte ſodann, daß die drei Mächte
auch die griechiſche Revolution nach denſelben Grundſätzen wie die italie-
niſche beurtheilten, und erklärte nochmals alle durch Aufruhr bewirkten
Reformen für null und nichtig. Um jeden Zweifel zu zerſtreuen, ließ
der Czar noch eine beſondere Circulardepeſche an ſeine Geſandtſchaften er-
gehen, worin feierlich betheuert wurde, daß Rußland ſich auch der Pforte
gegenüber ſtreng an die Regeln des Völkerrechts halten werde und kein
anderes Ziel verfolge als die Erhaltung der allgemeinen Ruhe. Auch der
Berliner Hof ſchloß ſich dem Laibacher Manifeſte ohne Widerſpruch an.
Seine Fügſamkeit erſchien vor der Welt ſogar noch unbedingter als ſie
war; denn von Bernſtorff’s kluger Zurückhaltung erfuhr man nichts, da-
gegen trat Geh. Rath Kamptz eben jetzt öffentlich als Anwalt der neuen
Wiener Völkerrechtslehren auf. In einer „Völkerrechtlichen Erörterung“,
deren fanatiſcher Ton die Liberalen empören mußte, behauptete er kurz-
weg: das Recht der Intervention ſei für die Staatengeſellſchaft ebenſo
nothwendig und wohlthätig wie die Polizei für den einzelnen Staat; ſo-
bald ein Staat ſich durch die Verfaſſung des Nachbarlandes in ſeiner
Sicherheit bedroht glaube, ſtehe ihm ohne Weiteres die Befugniß zum
Einſchreiten zu; nur „die Faktionärs“, die mit ihrer revolutionären Pro-
paganda die Ordnung aller Staaten gefährdeten, wagten dies unbeſtreit-
bare Recht in Frage zu ſtellen. Zur Begründung ſeiner rohen Doctrin
berief ſich Kamptz ſogar auf die wiederholten Eingriffe Frankreichs und
Schwedens in die alte deutſche Reichsverfaſſung. So ſchienen denn die
Oſtmächte gänzlich für die Abſichten der Hofburg gewonnen. Metter-
nich’s Triumph war vollſtändig. Er ſtand auf der Höhe ſeines Ruhmes,
und zum Lohne für die Sorge, die er in dieſen zwei Jahren „dem Siege
des Rechts über das leidenſchaftliche Treiben der Friedensſtörer“ gewidmet
habe, verlieh ihm ſein dankbarer Kaiſer noch in Laibach die Würde eines
Hof- und Staatskanzlers.
Die Vertreter der Weſtmächte hatten die Laibacher Erklärung nicht
unterzeichnet, jedoch ſie wagten auch nicht öffentlich zu widerſprechen. Lord
[192]III. 3. Troppau und Laibach.
Stewart durfte nur in vertraulichen Geſprächen ſeinen Mißmuth äußern,
da ſein Bruder in der orientaliſchen Frage mit dem Wiener Hofe treu
zuſammengehen wollte, und das Pariſer Cabinet begnügte ſich den Grafen
Caraman zu tadeln, weil er nicht mindeſtens die Veröffentlichung des Rund-
ſchreibens verhindert habe. Schadenfroh weidete ſich der neue Hofkanzler an
der Verlegenheit der conſtitutionellen Großmächte und meinte, dieſe Demü-
thigung ſei ihnen recht heilſam, nachdem ſie ſich ſo weit von der gemein-
ſamen Sache getrennt hätten.*) Die kleinen deutſchen Höfe erwiderten
auf das Laibacher Circular in dem nämlichen Stile, den ſie vormals nach
Napoleon’s Siegen anzuwenden pflegten. König Max Joſeph ſtrahlte
vor Freude, als er zu Tegernſee das koſtbare Aktenſtück in Gegenwart
des preußiſchen Geſandten erbrach; die norddeutſchen Fürſtenhöfe wett-
eiferten mit den Senaten der freien Städte in Kundgebungen unter-
thäniger Dankbarkeit, die Souveräne der beiden lippiſchen Reiche ſchrieben
ſogar perſönlich an Bernſtorff um ihre Bewunderung zu bekunden. Selbſt
der König von Württemberg, der nach den Gefechten von Rieti und No-
vara ſeinen Aerger kaum hatte verbergen können, hielt es jetzt für ge-
rathen, durch Wintzingerode ſeinen Dank auszuſprechen.**) Schließlich
gab auch noch der Bundestag der allgemeinen Befriedigung des amt-
lichen Deutſchlands einen Ausdruck, wie ihn nur die ſprachgewaltige
k. k. Bundespräſidialkanzlei erſinnen konnte. Der Präſidialgeſandte bean-
tragte, „Ihren K. K. Majeſtäten die Huldigung unſeres ehrfurchtsvollſten
Dankes für dieſe Mittheilung mit der ehrerbietigſten Verſicherung ange-
nehm zu machen, daß wir einhelligſt in ihren Inhalten das ſchönſte Denk-
mal tief verehren, welches dieſe erhabenſten Souveräne Ihrer Gerech-
tigkeits- und Ordnungs-Liebe zum verbleibenden Troſte aller rechtlich Ge-
ſinnten ſetzen konnten.“ — „Einhelligſt“, ohne Debatte wurde der Antrag
angenommen.
Und doch war die Zukunft dieſes Bundes der Oſtmächte, der ſo
herriſch über Europa ſchaltete, bereits ernſtlich bedroht. Als der Czar von
Laibach abreiſte, ſagte er zu General Kruſemark: ich wünſche, nie an den
türkiſchen Ereigniſſen thätig theilzunehmen; aber, fügte er traurig hinzu,
wird dies möglich ſein, da die Pforte ſo harte Maßregeln ergreift? Und
er wußte was er ſprach; denn ſoeben, während dieſer freundſchaftlichen
Abſchiedsſtunden, hatte er eine neue Unheilsbotſchaft aus dem Oſten
empfangen. Am Oſterfeſte war der greiſe Patriarch von Konſtantinopel
durch den muhamedaniſchen Pöbel ermordet und an der Kirchthür auf-
gehenkt, dann von den Juden durch die Straßen geſchleift und ins Meer
geworfen worden; zur ſelben Zeit wurden noch mehrere andere Erzbi-
ſchöfe der orthodoxen Kirche niedergemetzelt und zwanzig Mitglieder der grie-
[193]Berwicklung im Orient.
chiſchen Gemeinde auf Geheiß des Sultans hingerichtet. Das war die
Antwort der Pforte auf die Empörung der Giaurs. Noch einmal er-
hob er ſich in der ungebrochenen Barbarei ſeiner Glaubenswuth, der alte
ſtreitbare Islam. In Galata freilich ſangen die römiſchen Katholiken ein
Tedeum als der Kirchenfürſt der Schismatiker gefallen war, ganz wie
einſt die Genueſen von den Mauern derſelben Stadt der Eroberung Kon-
ſtantinopels lachend zugeſchaut hatten. Das Abendland aber empfand die
Unthat wie eine der ganzen Chriſtenheit angethane Schmach. Und wie
durfte der ruſſiſche Hof, der ſich ſeit dem Frieden von Kutſchuk-Kainardſche
die Schirmherrſchaft über die orientaliſche Kirche zuſchrieb, dieſe Gräuel
ſchweigend anſehen? Die Leiche des Patriarchen wurde von den Wellen
des Meeres einem ruſſiſchen Schiffe entgegengetrieben und dann in Odeſſa
feierlich beigeſetzt; das gläubige Ruſſenvolk verehrte in dieſem Wunder zer-
knirſcht den Wink der Gottheit und nahm die griechiſchen Flüchtlinge, die
bei ihm Schutz ſuchten, gaſtlich auf. Auch die Armee ließ den Czaren über
ihre Geſinnung nicht im Zweifel. Als die Aufſtändiſchen am Pruth,
dicht an der Grenze, ein Gefecht gegen die Türken wagten, da waren
die ruſſiſchen Truppen auf dem anderen Ufer kaum zurückzuhalten und
begrüßten ihre Glaubensgenoſſen mit donnerndem Hurrah. Sogleich nach
den blutigen Oſtertagen verſuchte der ruſſiſche Geſandte in Konſtantinopel
die Vertreter der Großmächte zu einem gemeinſamen Proteſt zu bewegen.
Sein Vorſchlag ſcheiterte an dem Widerſpruche Lord Strangford’s; und
nunmehr entſpann ſich eine ſehr gereizte Verhandlung zwiſchen der Pforte
und dem Petersburger Hofe allein. Die Kriegsgefahr rückte näher; wie
lange noch konnte Alexander’s legitimiſtiſche Geſinnung den Todhaß des
ruſſiſchen Volkes wider den ungläubigen Buſſurman bändigen? Um ſo
kräftiger bethätigte Metternich ſein Wohlwollen für Oeſterreichs treueſten
Alliirten. Der Aufſtand in Rumänien wurde von den Türken niederge-
ſchlagen, und als Ypſilanti darauf nach Ungarn floh, ließ ihn Kaiſer Franz
auf die Feſtung Munkacz abführen und jahrelang im Kerker ſchmachten.
Die Welt ſollte lernen, dies glückliche Oeſterreich als das große Zucht-
haus für alle Demagogen Europas zu fürchten. Doch der Haß war
ſtärker als die Furcht. Die Höfe hatten ſich den Machtgeboten der Oſt-
mächte gern oder ungern unterworfen; in der öffentlichen Meinung wuchs
der radikale Zorn, ſeit der Vorkämpfer der chriſtlichen Legitimität die ge-
ſchworenen Feinde des Chriſtenthums ſo hartnäckig begünſtigte. In Italien
hatten die Hoffnungen der Liberalen eine klägliche Enttäuſchung erfahren,
beim Anblick des barbariſchen Heldenmuths der Hellenen richteten ſie ſich
wieder fröhlich auf. Der franzöſiſche Radikalismus erhielt jetzt erſt eine
feſtere Organiſation, ſeit der junge Dugied aus Neapel heimgekehrt war
und die Geheimbünde ſeiner Landsleute nach dem Vorbilde der italieni-
ſchen Carboneria umgeſtaltete. An die Spitze der hohen Venta der fran-
zöſiſchen Carbonari trat als Ehrenpräſident der unverwüſtliche alte Lafayette,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 13
[194]III. 3. Troppau und Laibach.
der auch in der Kammer unter brauſendem Beifall das ſchwere Geſchütz
der revolutionären Phraſen — Pillnitz, Koblenz und die Theilung Polens
— gegen den Laibacher Congreß ſpielen ließ. Die deutſchen Zeitungsleſer
ſtimmten aus vollen Herzen in den Jubel ein und ließen ſich in ihrer
Bewunderung keineswegs ſtören, als Gentz mit überlegenem Hohne nach-
wies, dieſer Held zweier Welten ſei im Grunde nur ein von Eitelkeit
aufgeblähter mittelmäßiger Kopf.
Wunderbar, wie das ſtille Deutſchland durch den Anblick der helle-
niſchen Kämpfe mit einem male wieder tief und nachhaltig bewegt wurde.
In der philhelleniſchen Schwärmerei fanden ſich faſt alle Richtungen des
deutſchen Lebens zuſammen: der Freiheitsdrang der Liberalen, die Kreuz-
fahrergeſinnung der chriſtlichen Teutonen und die romantiſche Luſt am
Fernen und Wunderbaren. Allen voran ſtanden Metternich’s alte Feinde,
die Gelehrten und ihre jungen Schüler, denen die Heldenkämpfe von Ma-
rathon und Salamis noch friſch im Herzen lebten. Der greiſe Voß, der
ſich für den deutſchen Freiheitskrieg nur mäßig erwärmt hatte, erhob jetzt
freudig ſeine Stimme; der Ueberſetzer Homer’s wollte nicht zurückſtehen
wenn es galt die Dankesſchuld der neuen Zeit an die ſchöne Heimath der
europäiſchen Geſittung abzutragen, und jubelnd feierte Thierſch ſeinen
Φόσσιος in eleganten griechiſchen Diſtichen als den Vorfechter der muſen-
geborenen Freiheit. Jakobs und Hufeland ſtimmten mit ein, der Schweizer
Orelli überſetzte die politiſchen Ermahnungen des alten Korais an ſeine
Landsleute. Tzſchirner in Leipzig hielt von der Kanzel der Thomaskirche
eine philhelleniſche Predigt, ſein ſchreibſeliger Genoſſe Krug erließ den
erſten Aufruf zur Bildung von Hilfsvereinen, und bald wanderte in vielen
deutſchen Städten der Gabenkaſten mit dem weißen Hellenenkreuze von
Thür zu Thür. Der Gedanke, für ihre eigenen Parteizwecke Geldopfer zu
bringen, lag dieſer gelehrten Nation noch ganz fern; doch für die halb-
ſagenhaften Kämpfe eines fremden Volkes ſteuerte ſie willig, die Kinder
leerten ihre Sparbüchſen, und Rückert ſang:
Die Theilnahme für die kriegeriſchen Bergſtämme des Südoſtens war
in den gelehrten Kreiſen ſchon ſeit Jahren durch Byron’s farbenglühende
Schilderungen und durch die ſchönen Volkslieder der Neugriechen erweckt,
dann durch die zahlreichen jungen Hellenen, die auf den deutſchen Hoch-
ſchulen ſtudirten, wach erhalten worden; nun ſchien die Wirklichkeit die
kühnſten Träume zu überbieten, denn immer wieder berichteten die Blätter
von den verwegenen Fahrten der ſchnellſegelnden Delphine von Hydräa,
von den glücklichen Berggefechten des Odyſſeus und ſeiner waghalſigen
Klephten. Dort auf der See und im Hochgebirge blieben die Griechen
[195]Der Philhellenismus.
Sieger, und wenn ſie in offener Feldſchlacht unterlagen, ſo ſtarben ihre
„heiligen Schaaren“ doch rühmlich auf dem Schilde; über den Türken aber
war der Stab gebrochen, ſeit ſie die blühende Inſel Chios nach einem
ſcheußlichen Blutbad in eine Einöde verwandelt hatten. Auch eine ſtatt-
liche Zahl deutſcher Kriegsgenoſſen eilte den Fahnen der Hellenen zu, leider
eine ſeltſam gemiſchte Geſellſchaft: neben dem napoleoniſchen Landsknecht
General Normann aus Württemberg, demſelben, der einſt bei Kitzen die
Lützower Freiſchaar niedergehauen hatte, kamen hochherzige Enthuſiaſten
wie Franz Lieber, der, mattgehetzt von den deutſchen Demagogenjägern, das
Ideal der Freiheit nun im Oſten ſuchte, und andere jugendliche Schwärmer,
die nur ihre Kraft ſtählen wollten für den dereinſtigen Freiheitskampf da-
heim. In der vornehmen Welt war Kronprinz Ludwig von Baiern neben
dem König von Württemberg das anerkannte Haupt der Griechenfreunde;
er betrachtete die griechiſche Sache faſt wie ſeine eigene, unterſtützte ſie
mit fürſtlicher Freigebigkeit und zwang auch ſeine Muſe zu wiederholten
philhelleniſchen Kraftleiſtungen:
Die liberale und die äſthetiſche Begeiſterung zugleich führten dieſen
Prinzen in das griechiſche Lager. Aber auch hochconſervative Männer
wie der Convertit Beckedorff in Berlin verweigerten der Hofburg die
Heeresfolge zu dem Kampfe des Halbmonds wider das Kreuz. Sogar der
ſanftmüthige Tiedge, der erbauliche und beſchauliche Poet des kurſächſiſchen
Stilllebens, beſang den Kampf der Griechen wider die Barbarei. Marwitz
ſchalt mit gewohntem Freimuth auf den gottloſen Oeſterreichiſchen Beob-
achter, der ſo gar nicht begreifen wolle, daß in dieſem Kriege wider eine
heimathloſe Horde die Griechen die Macht des Beharrens, der Erhaltung
verträten; und nicht lange, ſo erzählte man unter der Hand, daß ſich in
den griechiſchen Sammelkäſten namhafte Beiträge der Könige Friedrich
Wilhelm und Max Joſeph befänden: die beiden wohlmeinenden Fürſten
empfanden doch mit ſtiller Beſchämung, wie ſchwer ſich die hadernde Chri-
ſtenheit ſeit Jahrhunderten an den Rajahvölkern verſündigt hatte. Auch
Niebuhr, der über die romaniſchen Revolutionen ſo ſchonungslos aburtheilte,
wendete dieſem Kampfe den ganzen Enthuſiasmus ſeines großen Herzens
zu, er hoffte den Tag noch zu ſchauen, der die letzte Scholle Europas
der freien abendländiſchen Geſittung zurückgeben ſollte.
Bei aller phantaſtiſchen Leichtgläubigkeit, bei allen gelehrten Schrullen,
die mit unterliefen, entſprang die philhelleniſche Begeiſterung doch nicht blos
aus unklaren Empfindungen, ſondern aus einem geſunden politiſchen In-
ſtinkt. Die Deutſchen ahnten dunkel, daß dieſe Erhebung des Oſtens den
unerträglichen Druck, der auf dem Welttheil laſtete, dereinſt mildern würde,
ſie waren nicht ruſſiſch geſinnt, ſie hofften vielmehr durch die Befreiung der
orientaliſchen Chriſten den geheimen Eroberungsplänen Rußlands die Spitze
13*
[196]III. 3. Troppau und Laibach.
abzubrechen. Darum brachte auch die philhelleniſche Zeitdichtung, die
bald ins Kraut ſchoß, neben vielen tauben Blüthen doch einige reife Früchte
hervor: die ſchwungvollen Oden des Schwaben Waiblinger und vor allen
die feurigen Griechenlieder des Deſſauers Wilhelm Müller. Dem liebens-
würdigen jungen Dichter war ſchon manches tief empfundene Liebeslied,
manch friſcher Sang von Wein- und Wanderluſt gelungen; nun ließ er
am Abend ſeines kurzen glücklichen Künſtlerlebens die ſchöne Jünglings-
begeiſterung des deutſchen Befreiungskrieges, den er einſt ſelber als preu-
ßiſcher Freiwilliger mitgeſchlagen hatte, noch einmal in kräftigen, melodi-
ſchen Klängen hinaustönen, jenen weitherzigen, gläubigen Enthuſiasmus,
der mit der Freiheit des Vaterlandes zugleich die Freiheit aller Völker zu
erringen hoffte. Es war deutſche Empfindung, die ſich hier in fremd-
ländiſcher Hülle barg; Müller’s Lied vom kleinen Hydrioten klang wie der
Widerhall von Arndt’s „Knaben Robert“. Vernehmlicher als in den Zei-
tungen durfte ſich der Haß der liberalen Welt wider die Wiener Staats-
kunſt hier im Liede äußern. „Auch des Türkenkaiſers Polſter nennt Europa
einen Thron!“ — rief der Dichter zornig; dem Oeſterreichiſchen Beob-
achter erwiderte er: „Beobacht’ aus dem Staube die Welt dein Leben
lang“, und für den gährenden Thatendrang des jungen Geſchlechts fand
er Töne, die ſpäterhin in Becker’s Rheinlied und in der Wacht am Rhein
unverkennbar nachklangen:
Trotz der mitwirkenden kirchlichen Begeiſterung blieb der Philhellenis-
mus weſentlich oppoſitionell und fand daher unter den liberalen Süd-
deutſchen mehr Anklang als in dem ruhigen Norden. Auch in der Schweiz
zeigten ſich die liberalen Kantone am eifrigſten. Den proteſtantiſchen Appen-
zellern rief der Eidgenoſſe Frei ins Gedächtniß: ihre freien Väter hätten
einſt einen eigenen Bettag gehalten, daß Gott die Sache Friedrich’s und
ſeiner Preußen ſchützen möge; wie dürften die Söhne lau bleiben gegen
den neuen Freiheitskampf im Oſten? Von Genf aus kam der große Bank-
herr Eynard den Griechen mit reichen Geldmitteln zu Hilfe und verbreitete
zugleich die philhelleniſchen Vereine über Frankreich. Auch dort im Weſten
trug die Bewegung einen entſchieden liberalen Charakter, obgleich einzelne
Ultras ſich ihr anſchloſſen, und ſogar Bonald, ſeit de Maiſtre’s Tode der
namhafteſte Schriftſteller der Clericalen, im Journal des Debats erklärte,
die heiligſte Legitimität ſei die der Vernunft und der Wahrheit. Caſimir
Delavigne, der ſoeben in ſeinen Meſſeniennes das Unglück Frankreichs be-
klagt hatte, ſchilderte jetzt in neuen meſſeniſchen Oden, wie die Freiheit,
[197]Görres, Europa und die Revolution.
von der feigen Parthenope hinweggeſcheucht, nun nach Hellas ziehe um
dort kämpfend zu ſterben. Hoffnungsvoller, kühner, herausfordernder ſprach
die Muſe der beiden revolutionären Dichter Englands. Thomas Moore
ſah die Leuchte der Freiheit, die einſt von Hellas ausgegangen, ſtrahlend
wieder heimkehren in ihr Mutterland. Byron begrüßte frohlockend die
Stiche der ſpaniſchen Fliege und der attiſchen Biene. Lord Erskine, Tre-
lawney und viele andere namhafte Whigs wirkten mit Wort und That
für die griechiſche Sache, und der abenteuernde Seemann Cochrane, der
beutegierige Landsknecht der Revolution, der noch in Amerika gegen die
Spanier focht, entwarf bereits Pläne für einen helleniſchen Seekrieg.
Alſo trat dem Bunde der Fürſten zwar nicht, wie Moore gehofft,
ein Bund der Völker entgegen, doch immerhin eine weithin über die Welt
verzweigte Parteibewegung, mächtig genug um weitaus die meiſten euro-
päiſchen Zeitungen zu beherrſchen und den Namen der Heiligen Allianz,
der nun einmal für alle Thaten der Oſtmächte herhalten mußte, dem all-
gemeinen Abſcheu preiszugeben. Ein treues Bild der unklaren Erregung
der Zeit gab die neue Schrift von Görres „Europa und die Revolution“,
das verworrenſte zugleich und das radikalſte ſeiner Bücher. Gleich zu
Eingang ſtand die düſtere Mahnung: die cumäiſche Sibylle habe ſchon acht
von ihren neun Büchern vor den Augen der zaudernden Machthaber in
die Flammen geworfen; nicht lange mehr, und ſie nahe noch einmal mit
ihrem letzten Kleinod, dem Frieden! So ging es weiter unter beſtändigen
Weiſſagungen eines Gräßlichen, das da kommen werde, eines furchtbaren
Zuſammenſtoßes zwiſchen der alten Ordnung des Oſtens und der neuen
des freien Weſteuropas. Zuletzt blieb den Leſern aus der Fülle apoka-
lyptiſcher Bilder nur der eine Eindruck, daß der alte Welttheil faul ſei
bis ins Mark und in Deutſchland inſonderheit „Alles unheilbar ver-
ſchoben und verrückt.“
Der Zuſammenbruch der italieniſchen Revolution hatte die liberale
Welt wohl erſchreckt, doch ihren Mißmuth nur geſteigert. Je länger das
kleine Griechenvolk in ſeinem tapferen Widerſtande ausharrte, um ſo zu-
verſichtlicher ward die Hoffnung, daß die Politik des Wiener Hofes dort
im Oſten ihre erſte ſchwere Niederlage finden müſſe. —
[[198]]
Vierter Abſchnitt.
Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
In Berlin tagte die neue Verfaſſungscommiſſion unter dem Vorſitze
des Kronprinzen und ſchickte ſich an, über Hardenberg’s Gemeindegeſetzen
den Stab zu brechen. Währenddem durchreiſte der Staatskanzler ver-
gnüglich die Städte Oberitaliens, als ob ihn der Zuſammenbruch ſeines
Verfaſſungswerkes gar nicht berührte; er verlebte in Venedig eine Stunde
peinlichen Wiederſehens mit ſeinem alten Amtsgenoſſen, dem ganz im
Trunk verkommenen Grafen Haugwitz, beſuchte mit jugendlicher Wißbe-
gier die Kirchen und Kunſtſchätze, und beobachtete ſcharfen Blickes auch die
politiſchen Zuſtände des Landes, den Verfall des venetianiſchen Handels,
den unverſöhnlichen Haß der Italiener wider die öſterreichiſchen Behörden.
Als er im März 1821 in Rom eintraf, fand er dort ein ungewöhnlich
reges Fremdentreiben: außer dem treuen Stammgaſte der römiſchen
Muſeen, dem Kronprinzen von Baiern hatten ſich auch Prinz Auguſt
von Preußen, der Freiherr vom Stein und zahlreiche vornehme Englän-
der, unbekümmert um die Wirren im nahen Neapel, am Tiber einge-
funden. Der alte Herr verkehrte am liebſten in dem munteren Kreiſe
der deutſchen Maler und freute ſich herzlich der aufblühenden vaterlän-
diſchen Kunſt, als ihm Veit und Schadow in der Caſa Bartholdi die
neuen Fresken zeigten. Die Zerſtreuungen des Reiſelebens nahmen ihn
ganz in Anſpruch und nur für ein ernſtes politiſches Geſchäft behielt er
noch Zeit: für den Abſchluß der Verhandlungen mit dem heiligen Stuhle.*)
Wie alle die ſchroffen Gegenſätze des deutſchen Lebens in den großen
Verhältniſſen Preußens ihre ganze Schärfe zeigten, ſo bot auch die Wah-
rung des kirchlichen Friedens nirgends größere Schwierigkeiten als in
dieſem Staate, der trotz ſeiner altbewährten Duldſamkeit doch auf einer
ſtreng proteſtantiſchen Geſchichte ſtand und nun ein zu zwei Fünfteln katho-
liſches Volk regieren ſollte. Faſt die Hälfte ſeiner katholiſchen Unter-
thanen war polniſch, ſchon durch ihr Volksthum dem Herrſcherhauſe ent-
[199]Preußen und die römiſche Kirche.
fremdet, und die Mehrzahl ſeiner deutſchen Katholiken wohnte in jenen
Krummſtabsländern des Weſtens, die von Altersher den Kern der römi-
ſchen Macht auf deutſchem Boden bildeten, dicht neben dem Paradieſe der
Prieſter, den vormals ſpaniſchen Niederlanden. Zwei von den drei geiſt-
lichen Kurfürſtenthümern des heiligen Reichs, Köln und Trier, gehörten
jetzt faſt ganz zu Preußen, dazu Theile von Mainz und die beiden Hoch-
burgen der clericalen Geſinnung im Norden, Paderborn und Münſter.
Sogar der altbairiſche Katholicismus ſtand dem modernen Staate nicht
ſo feindſelig gegenüber, denn er war ſeit Jahrhunderten an die ſcharf
gehandhabte Kirchenhoheit eines volksbeliebten rechtgläubigen Fürſtenhauſes
gewöhnt. In den geiſtlichen Fürſtenthümern galt die Landeshoheit immer
nur als Zubehör und Ausſtattung des biſchöflichen Amts, und ganz unfaß-
bar ſchien hier der Gedanke, daß der dienende Staat ſich jemals über ſeine
Herrin, die Kirche erheben ſollte. Selbſt die Revolution hatte dieſe tief
eingewurzelten kirchenpolitiſchen Anſichten des rheiniſchen Volks nur er-
ſchüttert, nicht zerſtört. Die geſtrenge Kirchenhoheit des Bonapartismus
ward ertragen, weil Niemand der Herrſchaft des Säbels zu widerſprechen
wagte und weil Napoleon der mächtige Schirmvogt der römiſchen Kirche
war. Sobald aber die Behörden des proteſtantiſchen Preußenkönigs ihr
friedliches Regiment antraten, begegneten ſie überall dem Mißtrauen des
katholiſchen Volkes. Eben hier im Nordweſten, in den kirchlich gemiſchten
cleviſch-märkiſchen Landſchaften hatte die junge Monarchie der Hohenzollern
vor zweihundert Jahren ihre duldſame Kirchenpolitik zum erſten male be-
thätigt; jetzt erwuchs ihr die ungleich ſchwierigere Aufgabe, auch die Kern-
lande der katholiſchen Glaubenseinheit und der theokratiſchen Weltan-
ſchauung an das gemeine Recht eines paritätiſchen Staates zu gewöhnen.
Alle Feinde Deutſchlands hielten das Unternehmen für ausſichtslos und
hofften zuverſichtlich, an dem Danaergeſchenke dieſer weſtlichen Provinzen
werde Preußen zu Grunde gehen.
In ſolcher Lage mußte die preußiſche Krone jeden unnützen Streit mit
dem Papſte zu vermeiden ſuchen, und ſie täuſchte ſich nicht darüber, daß ſie
eine förmliche Anerkennung ihrer Kirchenhoheit von Seiten der Curie nie-
mals erlangen konnte. Unter Friedrich dem Großen hatte der römiſche
Stuhl die oberſtbiſchöfliche Gewalt der Landesherrſchaft, die er in Oeſter-
reich zur Zeit Joſeph’s II. leidenſchaftlich bekämpfte, ſtillſchweigend ertragen,
weil er wohl wußte, daß dieſe ſtarke Krone ſeiner gläubigen Heerde eine
Freiheit gewährte, wie kein anderer proteſtantiſcher Fürſt jener Tage. In-
zwiſchen hatte ſich die Welt verwandelt. Die Gleichberechtigung der Con-
feſſionen war überall in Deutſchland anerkannt, und die Bundesakte be-
ſtimmte ausdrücklich, daß die Verſchiedenheit der chriſtlichen Religionspar-
teien keinen Unterſchied im Genuſſe der politiſchen Rechte begründen dürfe.
Die Seculariſationen hatten den Reichthum der deutſchen Kirche zerſtört,
aber auch die Macht des Papſtes gegenüber dem beſitzloſen Clerus uner-
[200]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
meßlich verſtärkt. Die Curie war endlich wieder in der Lage Farbe zu
bekennen und offen auszuſprechen was ſie ſtets gedacht: daß ſie nicht die
Gleichberechtigung der Bekenntniſſe, ſondern die Herrſchaft der alleinſelig-
machenden Kirche erſtrebte. Selbſt dem Imperator wagte Cardinal Con-
ſalvi kurzweg zu ſagen, daß die Kirche nie den Grundſatz der Religions-
freiheit anerkennen werde, und ſeit der Herſtellung des Jeſuitenordens
lag der tiefe principielle Gegenſatz, welcher die römiſche Theokratie von
dem modernen Staate trennte, klar zu Tage. Daran vermochte weder
die Herzensgüte des kindlich frommen Papſtes etwas zu ändern, noch die
diplomatiſche Mäßigung ſeines klugen Cardinal-Staatsſekretärs, noch die
aufrichtige Verehrung, welche ſie Beide für den König von Preußen hegten.
Der diplomatiſche Verkehr zwiſchen der Curie und dem Berliner Hofe
hatte ſich ſeit W. Humboldt’s römiſcher Geſandtſchaft ſehr freundlich ge-
ſtaltet. Beide Höfe fühlten ſich als Schickſalsgenoſſen, da auf ihnen die
Hand Napoleon’s am ſchwerſten gelaſtet hatte, und Papſt Pius vergaß es
nicht, wie eifrig Hardenberg auf dem Wiener Congreſſe für die Wiederher-
ſtellung des Kirchenſtaates eingetreten war. Trotzdem beurtheilte König
Friedrich Wilhelm das Verhältniß ſeiner Krone zum römiſchen Stuhle
ganz nüchtern und ſagte zu Niebuhr, als dieſer im Jahre 1816 nach Rom
abging: den Verzicht auf einen Grundſatz dürfe man dem Papſte nicht
zumuthen. Aber auch er wollte nicht verzichten auf die territorialiſtiſchen
Grundſätze des Allgemeinen Landrechts, die ihm ſein Lehrer Suarez ſchon
in ſeiner Jugend eingeprägt hatte. Das Landrecht kannte weder den Papſt
noch die römiſch-katholiſche Kirche, ſondern nur die in Preußen beſtehen-
den „Kirchengeſellſchaften“, denen der Staat nach ſeinem Ermeſſen ihre
Rechtsſphäre anwies. Dieſe Vollgewalt ſeiner Krone hielt der König feſt,
nur verſtand er ſie in einem anderen Sinne, als ſein Großoheim: er
meinte ſich als chriſtlicher Monarch verpflichtet, den Confeſſionen nicht
blos Duldung zu gewähren, ſondern auch das kirchliche Leben unmittel-
bar zu fördern. Der große König hatte bei der Beſetzung ſeiner Lan-
desbisthümer ſtets ſolche Prälaten bevorzugt, welche dem Staate ungefähr-
lich ſchienen, ohne nach der Lauterkeit ihres Wandels und ihres Glau-
bens viel zu fragen. Friedrich Wilhelm wünſchte fromme Kirchenfürſten,
die den chriſtlichen Sinn wieder beleben ſollten. Er dachte ſeine neuen
Landesbiſchöfe mit königlicher Freigebigkeit auszuſtatten, ſo daß ſie den
Pflichten chriſtlicher Barmherzigkeit vollauf genügen könnten, und ließ ſchon
zur Zeit des Aachener Congreſſes dem ehrwürdigen Sailer den kölniſchen
Erzbiſchofsſtuhl antragen — leider vergeblich, da der greiſe Prälat ſich
von ſeiner bairiſchen Heimath nicht trennen mochte.
Wie der König ſelbſt, ſo begannen auch ſeine Räthe zu fühlen, daß
die alte fridericianiſche Kirchenpolitik in der verwandelten Zeit doch einiger
Milderung bedurfte. Miniſter Schuckmann freilich und Geh. Rath Raumer
wollten von den geſtrengen Grundſätzen des Landrechts nicht laſſen und
[201]Kirchenpolitik der preußiſchen Regierung.
betrachteten die römiſche Kirche mit unverhohlenem Mißtrauen; auch Graf
Solms-Laubach ſtand dieſer Anſicht nahe, da er als rheiniſcher Ober-
präſident ſchon manchen Straus mit dem Aachener Generalvicariate hatte
durchfechten müſſen. Der fromme Nicolovius hingegen bewahrte noch in
treuer Erinnerung das lichte Bild jenes gläubigen und durchgeiſtigten
Katholicismus, den er einſt in dem gottſeligen Kreiſe der Fürſtin Galitzin
lieben gelernt; er vergaß darüber beinahe die politiſche Macht und Herrſch-
ſucht der römiſchen Kirche und näherte ſich unvermerkt den kirchenpoliti-
ſchen Grundſätzen ſeines Amtsgenoſſen Geh. Rath Schmedding, der, ein
verſtändiger, nüchterner, faſt rationaliſtiſch geſinnter Geſchäftsmann, doch
von den clericalen Anſchauungen ſeiner münſterländiſchen Heimath nie-
mals ganz frei wurde und den Anſprüchen der römiſchen Curie ſehr weit
entgegenkam. Schmedding’s Urtheil fiel um ſo ſchwerer ins Gewicht, da
er der einzige Katholik und der tüchtigſte Kanoniſt im Cultusminiſterium
war. Faſt alle die anderen Räthe der Krone beſaßen keine lebendige
Kenntniß von der römiſchen Kirche — ein Mangel, der bis zum heutigen
Tage dem preußiſchen Beamtenthum eigenthümlich geblieben iſt; ſie über-
trugen ihre ernſthaften proteſtantiſchen Begriffe auf die katholiſche Welt,
betrachteten die weſentlich politiſche Partei der Ultramontanen als eine
Geſinnungsverwandte der evangeliſchen Orthodoxie und verſtanden nicht
recht zu leben mit dieſem Clerus, der, ſchon von der Schulbank her an
die römiſchen Künſte des silere, dissimulare, scire und tolerare posse
gewöhnt, für die ruhige Sprache der ſelbſtbewußten Macht immer empfäng-
lich iſt, aber jede Unſicherheit der weltlichen Gewalt rückſichtslos auszu-
beuten verſteht. Alſo erneuerten ſich im Schooße der preußiſchen Regie-
rung die nämlichen Kämpfe, welche ein Menſchenalter zuvor die literariſche
Welt bewegt hatten, als Nicolai und Bieſter in der Berliner Monats-
ſchrift die Jeſuiten und die Finſterlinge anklagten und F. H. Jacobi da-
wider das Recht des gläubigen Herzens vertheidigte. Wahrheit und Irr-
thum lagen ſeltſam gemiſcht auf beiden Seiten, und Altenſtein fühlte mit
feinem Takt heraus, daß der Cultusminiſter ſich keiner der beiden Par-
teien unbedingt anſchließen durfte.
Wieder eine andere ganz eigenthümliche Anſicht der Kirchenpolitik
hegte Niebuhr, der Geſandte in Rom. Preußen war der erſte proteſtan-
tiſche Hof, der ſich im Vatican durch eine ſtehende Geſandtſchaft vertreten
ließ. Der römiſche Poſten hatte bisher nur zur Erledigung unſchein-
barer laufender Geſchäfte gedient und erhielt jetzt erſt, da die Errichtung
der neuen Landesbisthümer bevorſtand, eine politiſche Bedeutung. Bei
ſeiner Neubeſetzung ging Hardenberg von der Erwägung aus, daß nur
ein gegen die geiſtlichen Waffen der Curie gefeiter Mann, ein Proteſtant
und ein Weltlicher, die Verhandlungen würdig führen könne; der neue
Geſandte durfte aber auch kein hohes Amt bekleiden, damit der Papſt
nicht auf den Einfall geriethe, ſeinerſeits einen Nuntius nach Berlin zu
[202]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
ſenden, was der König nimmermehr geſtatten wollte. Darum war Nie-
buhr für die Stelle auserſehen worden; der große Gelehrte konnte durch
die Macht ſeines Namens und ſeiner Perſönlichkeit erſetzen was ihm an
Rang gebrach. Die Wahl erwies ſich als ſehr glücklich. Niebuhr errang
ſich in Rom raſch ein hohes Anſehen, gewann das Vertrauen des Staats-
ſekretärs Conſalvi, des gelehrten Mathematikers Cardinal Capaccini und
anderer Kirchenfürſten. Papſt Pius, der vor Jahren ſelbſt Profeſſor der
griechiſchen Sprache geweſen war, zeichnete ihn vor allen anderen Diplo-
maten aus und fühlte ſich ganz in ſeinem Element, wenn er nach dem
Geſchwätz der Salons den geiſtvollen und doch ſo harmlos gemüthlichen
Geſprächen des preußiſchen Geſandten lauſchen konnte; es war ihm immer
eine Freude, den Hiſtoriker bei ſeinen Forſchungen zu unterſtützen oder ihm
bald Früchte und Blumen, bald eine köſtliche Gemme ins Haus zu ſchicken.
Darum durfte Niebuhr auch wagen im Jahre 1819 einen regelmäßigen
evangeliſchen Gottesdienſt in ſeinem Geſandtſchaftspalaſte einzurichten.
Mehr denn hundert Jahre zuvor hatten die Feldprediger der preußiſchen
Grenadiere auf dem Boden des Kirchenſtaates zum erſten male das freie
Evangelium gelehrt; jetzt verſammelte ſich an jedem Sonntage eine prote-
ſtantiſche Gemeinde in dem alten Theater des Marcellus, und ihre Seel-
ſorger — erſt Schmieder, dann Rothe — brauchten den Vergleich mit den
erſten Kanzelrednern Roms nicht zu ſcheuen.
Niebuhr war in der rein proteſtantiſchen Luft des deutſchen Nordens
aufgewachſen und ganz erfüllt von dem demokratiſchen Gedanken des
Prieſterthums der Laien; aber ſein tief religiöſes Gemüth hegte auch ein
liebevolles Verſtändniß für die Kräfte des lebendigen Chriſtenthums, welche
ſich der Katholicismus in ſeiner Verweltlichung noch bewahrt hatte. Er war
den Brüdern Stolberg, obgleich er ihren Uebertritt entſchieden mißbilligte,
doch in treuer Freundſchaft verbunden geblieben und verehrte als abge-
ſagter Feind der Revolution in der römiſchen Kirche eine conſervative Macht,
welche die Zuchtloſigkeit des neuen Geſchlechts zu bändigen helfen ſollte.
Ueber Weſſenberg’s nationalkirchliche Träume urtheilte er hart, aber treffend.
Er wußte, daß der Papſt, ſchon aus Mißtrauen gegen die politiſchen
Hintergedanken der Episcopaliſten, jetzt weniger denn je geneigt war irgend
eine Erweiterung der biſchöflichen Gewalt zuzugeſtehn; er kannte den un-
erſchütterlichen Gehorſam der rheiniſch-weſtphäliſchen Katholiken, die ſich
niemals einem ſchismatiſchen Biſchof anſchließen konnten; und die gut-
müthige Hoffnung auf die duldſame Friedfertigkeit des deutſchen Episco-
pats erſchien ihm, bei ſeiner gründlichen Kenntniß der Kirchengeſchichte,
zum mindeſten zweifelhaft: war doch die ſchwärzeſte That des modernen
Katholicismus, die Vertreibung der Hugenotten, nicht vom Papſte aus-
gegangen, ſondern von derſelben gallikaniſchen Nationalkirche, deren Frei-
ſinn die liberalen Anhänger Weſſenberg’s zu preiſen pflegten. Er wieder-
holte gern den Ausſpruch ſeines Amtsvorgängers Humboldt: Verhand-
[203]Niebuhr in Rom.
lungen mit der Curie führen entweder ſehr leicht oder niemals zum Ziele;
und warnte vor dem ausſichtsloſen Verſuche, durch Gründe oder durch
Drohungen ein päpſtliches non possumus erſchüttern zu wollen.
Trotz dieſer ſcharfen Einſicht täuſchte er ſich doch, wie die meiſten der
Zeitgenoſſen, über die Lebenskraft und die letzten Abſichten des wiederherge-
ſtellten Papſtthums. Wenn er dieſen ehrwürdigen, ſanften Hohenprieſter
betrachtete und das ziemlich beſcheidene Maß der geiſtigen Kräfte im Vatikan,
die zweifelhafte Gelehrſamkeit des großen philologiſchen Kirchenlichts Cardi-
nal Mai und die unzweifelhafte wiſſenſchaftliche Unſchuld der meiſten an-
dern Monſignoren, dann meinte er eine verſinkende Macht vor ſich zu haben,
die ſich in zunehmender Harmloſigkeit bis zu ihrem nahen Untergange
noch eine Weile hinſchleppen werde, und wies den Verdacht weit von ſich,
als ob dies ſchwache Papſtthum ſich jemals erdreiſten könnte, eine vom
Könige verworfene Biſchofswahl zu beſtätigen. Eben in den Tagen, da
der papa nero, der Jeſuitengeneral, wieder dem papa bianco an die
Seite getreten war, konnte Niebuhr ſchreiben: der Roſt hat die geiſtlichen
Waffen Roms verſehrt, und die Hand, welche ſie einſt ſchwang, zittert
in Altersſchwäche. Auf Augenblicke beunruhigten ihn wohl die erſten
Lebenszeichen des neu erwachten „erzpfäffiſchen, geradehin jeſuitiſchen Katho-
licismus“. Gleichwohl hielt er ein günſtiges Concordat für möglich, wenn
der Staat ſich nur in Formfragen nachgiebig zeige und der Curie ohne
Mißtrauen begegne; dann könne man ſelbſt zu einer Verſtändigung über
die gemiſchten Ehen gelangen.
Da die Anſichten im Schooße der Regierung ſelbſt noch ſo wirr durch-
einander gährten, ſo ſchien es dem Staatskanzler rathſam, die Vereinba-
rung mit dem römiſchen Stuhle nicht zu übereilen. Auch die Arbeits-
laſt der erſten Uebergangsjahre und die Einrichtung des neuen Cultus-
miniſteriums verzögerten den Beginn der Verhandlungen. Niebuhr frei-
lich befand ſich in dieſer langen Zwiſchenzeit ſehr unbehaglich, auch die
Biſchöfe von Paderborn und Corvey beſchwerten ſich lebhaft über die end-
loſe Ungewißheit. Der Krone aber gereichte dies Zaudern zum Vortheil,
denn ſie gewann Zeit, ſich in der neuen Lage zurechtzufinden und aus
den Erfahrungen der andern Staaten, die in Rom unterhandelten, die
Geſinnung des heiligen Stuhles kennen zu lernen. Und dieſe Erfah-
rungen waren in der That ſehr lehrreich. Baiern verſtand ſich zu jenem
unglücklichen Concordate, deſſen Ausführung noch jahrelang ſtreitig blieb;
bald darauf ſchloß Neapel einen Vertrag mit Rom, der die Rechte der
Staatsgewalt ſogar noch enger begrenzte, und das neue durch Graf Blacas
vereinbarte franzöſiſche Concordat erregte in den Kammern ſo ſtürmiſchen
Unwillen, daß die Krone ſelbſt es nicht aufrecht zu halten wagte. Noch
deutlicher redete eine Denkſchrift, welche Cardinal Conſalvi am 2. Sept.
1817 dem hannöverſchen Geſandten übergab. Hier ward dem Staate
jedes Recht der Oberaufſicht über die Kirche als „eine reine politiſche Er-
[204]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
findung“ rundweg beſtritten; nur die Pflicht, mit ihrem dienenden Arme
die Kirche zu ſchützen, liege den Fürſten ob, den proteſtantiſchen wie den
katholiſchen, denn auch die abgefallenen gehörten zur Heerde des heiligen
Vaters. Wenn der Staat die Kirche mit Einkünften ausſtatte, ſo gebe
er ihr nur ihr Eigenthum zurück. Darum bedürften auch die vom hei-
ligen Geiſte ſelbſt eingeſetzten Biſchöfe keiner Genehmigung von Seiten
der Staatsgewalt; der Clerus aber müſſe von aller weltlichen Strafge-
richtsbarkeit befreit, ſeine Erziehung ausſchließlich der Kirche überlaſſen
werden. Die Denkſchrift enthielt nichts weiter als die wohlbekannten un-
wandelbaren Anſprüche römiſcher Weltherrſchaft; überraſchend war nur,
daß der milde Papſt dem Könige von England-Hannover, der ihm erſt
vor drei Jahren den Kirchenſtaat wieder geſchenkt hatte, dieſe Herzens-
geheimniſſe ins Geſicht zu ſchleudern wagte.
Mit einer Macht, die in ſolchen Grundſätzen lebte, konnte ein ſtolzer
Staat niemals zu einer vollkommenen Verſtändigung gelangen. Daher
rieth Altenſtein ſchon im Mai 1818, der König möge ſich auf keine grund-
ſätzliche Erörterung ſeiner Hoheitsrechte einlaſſen, ſondern mit der Curie
lediglich über die eine Reform verhandeln, die nach Kirchenrecht nicht ohne
den Papſt vollzogen werden konnte, über die Abgrenzung und Ausſtattung
der neuen Landesbisthümer. Es währte noch faſt zwei Jahre, bis dieſe
verſtändige Meinung völlig durchgedrungen war. Erſt im Mai 1820 wurde
der Geſandte beauftragt, der Curie zu eröffnen, unter welchen Bedin-
gungen der König den Erlaß einer Circumſcriptionsbulle genehmigen
wolle, und einmal auf ein beſtimmtes Ziel hingewieſen, führte Niebuhr
die Verhandlungen feſt und umſichtig, in großem Stile. Die Krone ver-
mied jede den Grundſätzen der Curie widerſprechende Forderung und er-
bot ſich von freien Stücken zu einer ſo reichen Ausſtattung der Bisthümer,
daß der freudig überraſchte Papſt bereitwillig auf die enger begrenzte Ver-
handlung einging, obwohl er anfangs ein umfaſſendes Concordat ge-
wünſcht hatte. Er äußerte nachher, an dieſem König habe er nicht einen
proteſtantiſchen Fürſten, ſondern einen Erben Theodoſius’ des Großen ge-
funden. Bei der Berathung der Einzelheiten verfuhr Niebuhr peinlich
gewiſſenhaft, ſo daß Conſalvi klagte, der Preuße laſſe ihn allzu ſehr
ſchwitzen, aber auch mit ungeheucheltem Wohlwollen, ganz ohne Hinter-
gedanken. Das freundliche Einvernehmen ward nicht einen Augenblick
getrübt. Um die Freiheit der Proteſtanten zu ſchützen, beſtand der Geſandte
darauf, daß nicht das geſammte Staatsgebiet, wie die Curie wünſchte,
ſondern nur die katholiſchen Pfarreien und Kirchen nebſt ihren Gemeinde-
gliedern den neuen Sprengeln zugewieſen würden.
Neun Bisthümer, erheblich größer als die bairiſchen, ſollten fortan
beſtehen: im Weſten die vereinigten Erzbisthümer von Poſen und Gneſen
mit dem Suffraganbiſchof von Kulm, und die dem Papſte unmittelbar
unterworfenen Bisthümer Breslau und Ermeland. Im Weſten wurde
[205]Uebereinkunft mit dem römiſchen Stuhle.
das napoleoniſche Bisthum Aachen ſowie das kleine Corvey aufgehoben
und dafür der erzbiſchöfliche Stuhl von Köln wiederhergeſtellt, mit den
Suffraganbisthümern Trier, Münſter, Paderborn. Aengſtliche Gemüther
befürchteten zwar, die Maſſen am Rhein würden in dem neuen Erzbiſchof
den Nachfolger der alten Kurfürſten, den eigentlichen Landesherrn ſehen;
der König aber hegte ein beſſeres Zutrauen: wo anders als im Kölner
Dome durfte der Stuhl des erſten preußiſchen Prälaten ſtehen? Alle
dieſe Bisthümer lagen innerhalb der Landesgrenzen. Nur der Sprengel
des Breslauer Fürſtbiſchofs erſtreckte ſich auch über das öſterreichiſche
Schleſien, während die Grafſchaft Glatz und einige andere Landſtriche
der Provinz unter ihren böhmiſch-mähriſchen Biſchöfen verblieben. So
ſtand der ſchleſiſche Clerus unter einem zweifachen fremden Einfluß, von
Rom und von Oeſterreich her, und der Oberpräſident Merckel rieth
dringend, die läſtige Ausnahme zu beſeitigen; die Krone gab jedoch ſeinen
Mahnungen keine Folge, weil der Wiener Hof nach ſeiner Gewohnheit
den beſtehenden Zuſtand aufrecht halten wollte, und weil das Breslauer
Bisthum in Oeſterreich noch große Güter, in Preußen ſeit der Secula-
riſation von 1811 faſt nichts mehr beſaß.
Die Beſetzung der Biſchofsſtühle geſchah im Oſten unverändert nach
dem alten Herkommen, das will ſagen: durch eine Scheinwahl, unter ent-
ſcheidender Mitwirkung der Krone. Das Breslauer und die vier Dom-
capitel des Weſtens hingegen erhielten dem Namen nach freies Wahlrecht;
ſie ſollten jedoch durch ein Breve des Papſtes angewieſen werden, nur
einen dem Könige genehmen Geiſtlichen zu wählen und ſich deſſen vor
der Wahl genau zu verſichern. Damit wurde die gefährliche Liſtenwahl,
die ſo leicht zur Umgehung der ſtaatlichen Oberaufſicht mißbraucht wird,
glücklich vermieden. Die Krone war befugt, jeden ihr mißfälligen Can-
didaten unbedingt auszuſchließen; es ſtand ihr ſogar frei, den Wählenden
zu erklären, daß ſie im gegebenen Falle nur einen einzigen Mann als
persona grata anſehe. So wirkſame Rechte hatte die Curie einem pro-
teſtantiſchen Fürſten bisher noch niemals förmlich zugeſtanden; ſie that
es diesmal, weil der König der Kirche von ihrem alten Reichthum ſo viel
zurückgab als ſich nach den Seculariſationen der jüngſten Jahre noch er-
ſtatten ließ. Die Vorſchrift des Reichsdeputationshauptſchluſſes, welche
den Kirchen den ungeſtörten Genuß ihrer Güter und Schulfonds zuſagte,
konnte jetzt ohne Verletzung neubegründeter Rechte nicht mehr buchſtäblich
erfüllt werden; dafür verhieß der König einen Staatszuſchuß, der allmählich
bis zum Anfang der vierziger Jahre auf 712,000 Thlr. ſtieg, während
die genügſamere evangeliſche Kirche für ihre ſo viel zahlreicheren Gemein-
den mit kaum 240,000 Thlr. vorlieb nehmen mußte. Die beiden Erz-
biſchöfe und der Fürſtbiſchof erhielten außer dem Genuſſe ihrer Paläſte
jeder 12,000 Thlr. jährlich. Wie auffällig erſchien daneben die Karg-
heit Napoleon’s. Frankreich hatte für die Bisthümer Aachen und Trier
[206]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
kaum 53,000 Franken gezahlt, Preußen zahlte für das ungefähr ebenſo
große Gebiet der neuen Diöceſen Köln und Trier ſechsmal mehr, faſt
92,000 Thlr., eine Summe, die bald noch beträchtlich erhöht wurde.
Ueber dies Alles war Niebuhr bereits mit Conſalvi einig geworden.
Er hatte ſich muſterhaft gehalten, weit vorſichtiger als nach ſeinen ver-
trauensvollen Aeußerungen über die Curie zu erwarten ſtand, und wohl
mochte ſich der Reizbare gekränkt fühlen, als nun plötzlich Hardenberg
ſelbſt in Rom erſchien um hinter der bereits eingeheimſten Ernte noch
das Scheunenthor zu ſchließen. Eine einzige Conferenz des Staatskanzlers
mit dem Cardinal brachte Alles ins Reine.*) Am 25. März 1821 wurde
die Uebereinkunft unterzeichnet. Hardenberg aber nahm — nach dem
Rechte, das im Beamtenthum wie im Parlament dem leitenden Staats-
manne zukommt — allen Dank und alle Ehren unbefangen für ſich in
Anſpruch. Durch die Bulle De salute animarum (16. Juli) beſtimmte der
Papſt ſodann die neue Eintheilung der preußiſchen Diöceſen und ſprach
nochmals aus, wie dankbar er den freundlichen Willen des Königs aner-
kenne, der ſeinen Wünſchen ſo wunderbar (mirifice) entgegengekommen ſei.
Die Circumſcriptionsbulle veröffentlichte der König kraft ſeiner Majeſtäts-
rechte, dieſen und der evangeliſchen Kirche unbeſchadet. Darauf wurde
noch das verabredete Breve über die Biſchofswahlen erlaſſen und durch
die Regierung den Domkapiteln als bindende Vorſchrift mitgetheilt. Die
Staatszeitung aber erklärte amtlich: ein Concordat, eine Verabredung
über das Verhältniß der geiſtlichen Oberen zu den weltlichen Behörden
ſei abſichtlich vermieden worden; „der König konnte den Vollgehalt ſeiner
Hoheitsrechte, denen theuere von Gott ihm auferlegte Pflichten gegen ſein
Volk zur Seite ſtehen, nicht von fremder Anerkennung abhängig machen,
nicht den freien Gebrauch derſelben durch beengende Verträge einſchränken
wollen.“ Alſo behielt die Krone alle die Befugniſſe der Kirchenhoheit, die
ihr nach dem Preußiſchen Landrecht und nach Napoleon’s Organiſchen Arti-
keln zuſtanden, feſt in der Hand. Die Staatsbehörden allein vermittelten
den amtlichen Verkehr zwiſchen dem römiſchen Stuhle und den Biſchöfen,
ſie hatten die Cenſur der kirchlichen Schriften, die Aufſicht über alle Unter-
richtsanſtalten wie über die Prüfung der Candidaten. Ohne ihre Er-
laubniß wurde kein geiſtlicher Orden zugelaſſen, und bisher beſtanden in
den weſtlichen Provinzen, außer einigen Orden für Krankenpflege und
weiblichen Unterricht, nur zwei oder drei ganz unbedeutende Mannsklöſter;
ein Mönch war in den Straßen der rheiniſchen Städte eine ſo unerhörte
Erſcheinung, daß der Bonner Schirrmeiſter einſt bei ſeinem Poſtdirektor
ganz erſchrocken anfragte, ob er einen Franciscaner, der ſich eine Fahr-
karte gelöſt, im königlichen Eilwagen mitnehmen dürfe. Mit Rechten der
Kirchenhoheit war die preußiſche Regierung bis zum Uebermaße ausge-
[207]Die Circumſcriptionsbulle für Preußen.
rüſtet. Dennoch fühlte ſie ſich unſicher, denn befangen in dem proteſtan-
tiſchen Geſichtskreiſe des Nordoſtens vermochte ſie nicht zu verſtehen, welche
folgenſchwere Wandlung ſich in den Geſinnungen der katholiſchen Welt
allmählich vorbereitete. —
Das claſſiſche Zeitalter unſerer Literatur hatte den deutſchen Katho-
licismus nur oberflächlich berührt, doch ihn immerhin mit einigen prote-
ſtantiſchen Ideen befruchtet und durch das neue Ideal der Humanität
überall die Schroffheit der confeſſionellen Geſinnung gemildert. Erſt die
romantiſche Schule weckte wieder den Schaffensdrang in dieſer ſchlum-
mernden Welt und führte eine dichte Schaar begabter Katholiken in die
Reihen unſerer Dichter und Denker ein. Sie wirkte verbindend, indem
ſie die Ergebniſſe einer weſentlich proteſtantiſchen Gedankenarbeit dem katho-
liſchen Deutſchland mittheilte; aber leider auch trennend, denn alle Reli-
gion iſt poſitiv, mit der Kraft des religiöſen Gefühls, das ſich ſeit Schleier-
macher’s erſtem Auftreten, ſeit den erſchütternden Erfahrungen der Be-
freiungskriege ſo mächtig erhob, erwachte daher auch in ungeahnter Stärke
das Bewußtſein der kirchlichen Gegenſätze. In dem widerſpruchsvollen deut-
ſchen Leben zeigte der Stammbaum der Ideen zu allen Zeiten ſeltſame Ver-
äſtelungen. Wie oft war es ſchon geſchehen, daß grundverſchiedene geiſtige
Mächte von demſelben Aſte ſich abzweigten oder auch auf kurze Zeit mit
einander verwuchſen, um dann wieder auseinanderzugehen. So ſproßte
jetzt aus dem kräftigen Zweige der Romantik neben der weltlich freien
hiſtoriſch-philologiſchen Forſchung zu gleicher Zeit ein ganz anderes Reis
hervor, eine ſtreng katholiſche Wiſſenſchaft, unduldſam, ſtreitbar, confeſſionell
von Grund aus, eine Weltanſchauung, die in nothwendigem Wachsthum
ſchließlich dahin gelangte, das romantiſche Ideal mit dem römiſchen zu
vertauſchen und die geſammte moderne deutſche Bildung bis aufs Blut
zu bekämpfen. Abermals wie einſt in den Zeiten der Gegenreformation
verſtand die römiſche Kirche dem Proteſtantismus mit ſeinen eigenen
Waffen entgegenzutreten, mit den Waffen, welche ihr Friedrich Schlegel
und die anderen Convertiten des romantiſchen Dichterkreiſes zuerſt ge-
ſchliffen hatten.
Auf den Hochſchulen Tübingen und Freiburg war die katholiſche Theo-
logie durch die proteſtantiſchen Landesherren mit Lehrkräften und Lehr-
mitteln reich ausgeſtattet worden. Unter dem Schutze einer akademiſchen
Freiheit, welche den katholiſchen Univerſitäten des achtzehnten Jahrhunderts
faſt unbekannt geweſen, entfaltete ſie nunmehr eine achtungswerthe ge-
lehrte Thätigkeit. Sie brach gänzlich mit der lateiniſchen Bildung des
alten Jeſuitismus und eignete ſich die Sprache der neuen Literatur, das
vormals ſtreng verpönte lutheriſche Deutſch gelehrig an; ſie handhabte
für ihre Zwecke das ganze Rüſtzeug der proteſtantiſchen Kritik — ſo weit
Kritik möglich war im Bereiche der Kirche der Autorität — und nicht
lange, ſo übertraf der deutſche Katholicismus durch wiſſenſchaftliche Rüh-
[208]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
rigkeit alle anderen Zweige der katholiſchen Kirche. Er verdankte dieſen
Vorzug zum guten Theile der beſtändigen Berührung mit der proteſtan-
tiſchen Welt; denn in Oeſterreich, wo dieſe Berührung fehlte, war auch
von wiſſenſchaftlichem Leben wenig zu ſpüren. Seit dem Anfang der
zwanziger Jahre tauchte eine ganze Reihe junger theologiſcher Talente
auf, Hirſcher, Drey, Staudenmaier, nachher Möhler und der jüngere
Windiſchmann, ein geiſtlicher Kreis, der bald den Namen der Tübinger
Schule erhielt.
Keiner dieſer Gelehrten war irgend fanatiſch, Hirſcher ſogar eine
weiche, friedfertige Natur. Aber ſie alle ſtanden dem Proteſtantismus
doch ganz anders gegenüber als jene läßlich duldſamen, weltmänniſch auf-
geklärten Kleriker der guten alten Zeit, die über das Portal der Grau-
denzer katholiſchen Kirche die Inſchrift geſetzt hatten: „Wir glauben all’
an einen Gott, und die Liebe vereinigt uns alle.“ Sie alle fühlten ſich
als Vorkämpfer des alleinſeligmachenden Glaubens wider die Irrlehren
der Ketzerei, und obgleich die meiſten von ihnen noch vor der Geſellſchaft
Jeſu zurückſchraken, ſo mußte doch eine Schule, welche jedes Zugeſtändniß
an das evangeliſche Chriſtenthum grundſätzlich verwarf, kraft der gewal-
tigen Conſequenz der römiſchen Kirche, zuletzt unaufhaltſam in den römi-
ſchen Papismus ausmünden. Wir Rückſchauenden können nicht bezwei-
feln, was die Zeitgenoſſen freilich nicht zu ahnen vermochten, daß der
jeſuitiſche Katholicismus unſerer Tage in gerader Linie von jenen wohl-
meinenden und gemäßigten ſchwäbiſchen Theologen abſtammt. Der geiſt-
vollſte unter ihnen, Johann Adam Möhler, ein tief religiöſer, edler Mann,
der aus ſchweren Seelenkämpfen ſich ganz in die Welt der Ideale ge-
flüchtet hatte, trat ſchon in ſeiner erſten größeren Schrift über „die Ein-
heit in der Kirche“ dem Proteſtantismus als Angreifer entgegen. Mit
Hilfe jener kunſtreichen Geſchichtsconſtructionen, die er den proteſtantiſchen
Philoſophen abgelernt, ſuchte er zu beweiſen, daß die Tradition eine Macht
der Freiheit, die heilige Schrift ſelber erſt aus ihr geſchöpft und der Pri-
mat des Papſtes ſchon in den Anfängen des Chriſtenthums im Keime
vorhanden geweſen ſei; ſein Schluß war, die unſichtbare Kirche der Pro-
teſtanten ſetze den Tod an die Stelle des Lebens, ihre Grundſätze liefen
„allem Gemeinleben und in ihrer Conſequenz nothwendig allem Chriſten-
thum zuwider.“ So mächtig war bereits der confeſſionelle Zug der Zeit,
daß ſelbſt die rationaliſtiſche, den Eiferern längſt verdächtige Theologen-
ſchule der Hermeſianer ſich ihm nicht ganz entziehen konnte. Wenn Hermes
das katholiſche Dogma durch die Formeln der Kantiſchen Philoſophie ver-
nünftig zu begründen ſuchte, ſo blieb er doch feſt auf dem Boden ſeiner
römiſchen Kirche, und nichts lag ihm ferner als die Abſicht, mit Hilfe des
großen Königsberger Ketzers eine Brücke nach dem Proteſtantismus hin-
über zu ſchlagen. Sein Schüler Gratz in Bonn, der ſich ſogar einige
Hypotheſen Leſſing’s zur Bibelkritik angeeignet hatte, begründete doch eine
[209]Die Tübinger Schule. Möhler. Weſtenrieder.
eigene Zeitſchrift, den Apologeten des Katholicismus, zur Abfertigung aller
Ketzerei.
Auf dem Boden der Wiſſenſchaft konnte die römiſche Kirche dem deut-
ſchen Proteſtantismus freilich nie gefährlich werden, weil ſie die voraus-
ſetzungsloſe Forſchung nicht zu ertragen vermochte. Um ſo wirkſamer be-
währte ſie ihre alte Kunſt der Menſchenbeherrſchung in einer emſigen
ſocialen und politiſchen Thätigkeit. Aus vielen Anzeichen ließ ſich bereits
die unterirdiſche Arbeit des wiederhergeſtellten Jeſuitenordens erkennen,
und die Zukunft verſprach ihm noch reichere Erfolge; denn ſchon war das
Collegium Germanicum von Neuem eröffnet, und die deutſchen Jeſuiten-
zöglinge, die gamberi cotti, wandelten wieder, wie einſt vor den Tagen
Ganganelli’s, in ihren rothen Talaren ſittſam zu drei und drei durch
die Straßen der ewigen Stadt. In Oeſterreich wurden bereits einzelne
Jeſuiten unter dem harmloſen Namen der Redemtoriſten zugelaſſen. Kaiſer
Franz, der ſeine Kirchenhoheit mit mißtrauiſcher Härte, faſt ſo ſtreng
wie ſein Oheim Joſeph II. handhabte, zeigte ſich neuerdings ſeit ſeiner
römiſchen Reiſe etwas nachſichtiger gegen die clericalen Beſtrebungen; da-
mals hatte ihm der Papſt eine Denkſchrift voll beweglicher Klagen über den
verwahrloſten Zuſtand der öſterreichiſchen Kirche überreicht.
Die Milden und Verſöhnlichen unter dem deutſchen Clerus bemerkten
noch kaum, was dies Wiedererwachen der ſtreitbaren Mächte der Gegen-
reformation für den confeſſionellen Frieden unſeres paritätiſchen Volkes
bedeutete. Wohl erhoben Salat in Landshut und einige andere bairiſche
Geiſtliche ihre warnende Stimme gegen die Jeſuiten; ihre Streitſchriften
wurden wenig beachtet, weil ſie in Form und Inhalt noch den Geiſt des
alten Illuminatenthums, das ſich bereits überlebt hatte, verriethen. Selbſt
der von den Clericalen ſo oft verleumdete Sailer, dem der Papſt eben jetzt
die Beſtätigung für den Augsburger Biſchofsſtuhl verweigerte, ſah in der
Wiederherſtellung der Geſellſchaft Jeſu nur die Sühne alten Unrechts; auch
viele andere keineswegs ultramontan geſinnte Prieſter fühlten ſich durch
die Gräuel der Revolution noch tief erſchüttert und hießen die Jeſuiten
als Bundesgenoſſen wider den Unglauben willkommen. Es war ein Zeichen
der Zeit, daß der gute alte Lorenz Weſtenrieder, der treufleißige, um die
Geſchichte Baierns wohlverdiente Sammler, der in ſeinen jungen Jahren
durch freiſinnige Grundſätze zuweilen das Mißfallen der geiſtlichen Oberen
erregt hatte, jetzt in ſeinem Hiſtoriſchen Kalender als Lobredner des
Jeſuitismus auftrat. Gegen die Nationalkrankheit der Revolution, ſo
führte er aus, hilft nur eine große Nationalanſtalt; unſterblicher Ruhm
gebührt alſo unſerem heiligen Vater, weil er durch die Herſtellung des
Jeſuitenordens das ſicherſte Mittel gefunden hat „der Religion und den
Sitten wieder aufzuhelfen, die Sicherheit der Fürſten zu befeſtigen und
die Völker zu beruhigen.“
Mit bewunderungswürdiger Gewandtheit bemächtigte ſich die cleri-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 14
[210]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
cale Partei der neuen Machtmittel, welche ihr die revolutionäre Geſetz-
gebung darbot. Die Vereine und die Zeitungen, beide hundertmal von
der Curie verflucht, wurden bald zu furchtbaren Waffen in der Hand der
ultramontanen Propaganda. In dem bigotten dreizehnten Jahrhundert
hatte Rom die Bettelorden gegründet um die Maſſen an ſich zu ketten;
jetzt, in dem verweltlichten Zeitalter der Revolutionen erſtand die neue
Größe der ultramontanen Preſſe und erfüllte die Pflichten des kirchlichen
Demagogenthums mit der gleichen Rührigkeit und dem gleichen Erfolg.
Der erſte Anſtoß kam aus Frankreich. In Paris beſtanden, mittelbar
oder unmittelbar durch die Jeſuiten geleitet, drei große clericale Geſell-
ſchaften, die im Volksmunde mit dem Geſammtnamen der Congregation
bezeichnet wurden. Aus dieſen Kreiſen empfing die Preſſe der Ultras
ihre Weiſungen, und zu den royaliſtiſchen Clericalen geſellte ſich jetzt ein
rein kirchlicher Publiciſt, der in der Politik ſeines eigenen Weges ging,
aber die kirchlichen Forderungen der Congregation faſt noch überbot, der
Bretone Lamennais. Ein glänzender Redner, ganz durchglüht von dem
katholiſchen Glaubenseifer ſeiner keltiſchen Heimath, verlangte er in ſeiner
Schrift über die religiöſe Gleichgiltigkeit kurzerhand die Unterwerfung der
Fürſten unter den Papſt, denn nur in der unfehlbaren Kirche offenbare
ſich die göttliche Vernunft gegenüber dem Wahnſinn der individuellen Ver-
nunft, und nur dann gebühre der weltlichen Gewalt Gehorſam, wenn ſie
ſich dem göttlichen Geſetze unterordne. Da und dort tauchten auch bereits
einzelne liberale Ultramontane auf, da die römiſche Kirche in allen welt-
lich-politiſchen Fragen grundſätzlich grundſatzlos verfährt, und der ritter-
liche junge Graf Montalembert wählte ſich ſchon damals den Wahlſpruch
für ſein Leben: Dieu et liberté.
In Deutſchland wurde Mainz die Heimath der clericalen Preſſe. Dort
ließen zwei junge Geiſtliche, Weis und Räß, der ſpätere Straßburger Biſchof,
ſeit 1820 die Zeitſchrift „der Katholik“ erſcheinen, ein gut geſchriebenes
Blatt, das den Kampf wider den ſouveränen Staat und den Proteſtantis-
mus mit wachſender Aufrichtigkeit führte. Eine ganze Schule ſtreitbarer
Theologen verdiente ſich in dieſen Spalten die Sporen, Alle überragend
der junge Johannes Geißel. Auch Görres wirkte mit und Chriſtian Bren-
tano, der Bruder des Dichters, ein frommes Gemüth, das freilich die flie-
gende Hitze des Brentano-Blutes nicht verleugnen konnte. Görres ver-
focht jetzt die Anſicht, daß der Staat in der Kirche ſtehe, als dienendes
Organ ihrer höheren Zwecke; er hatte ſich bereits ſo tief in den kirchlichen
Haß verbiſſen, daß er nach ſeiner phantaſtiſchen Art das heliocentriſche katho-
liſche Syſtem dem geocentriſchen Syſtem des dem Erdgeiſt verwandten
Proteſtantismus entgegenſtellte. Vom Erdgeiſt zum Satan war der Weg
nicht mehr weit.
Dem Staate gegenüber benutzte die Partei zwei neue Schlagworte:
Duldung und Kirchenfreiheit. Beide Gedanken waren erſt auf dem Bo-
[211]„Der Katholik“. F. Walter.
den des Proteſtantismus möglich geworden; jetzt wurden ſie von ſeinen
Gegnern verwerthet um das eigenſte Werk der Reformation, die Souve-
ränität des verweltlichten Staates wieder zu zerſtören. In ſolchem Sinne
ſchrieb Chriſtian Brentano über die bairiſchen Concordatshändel und J. F.
J. Sommer in Arnsberg, unter dem Namen Westphalus Eremita, ein
Buch „von der Kirche in dieſer Zeit.“ Der ehrliche conſervative Weſt-
phale, ein eifriger Anhänger der altſtändiſchen Partei, wollte die Deut-
ſchen als „Bürger zweier Welten“ anerkannt ſehen und leugnete in aller
Unſchuld, daß es noch Ultramontane in Deutſchland gebe; die einzigen
Römlinge von heute ſeien die Vertreter jener abſoluten Staatsgewalt, die
„in dem Jahrhundert der Polizei“ der Freiheit der Kirche ſo ſchwere
Wunden geſchlagen habe.
Bald fand ſich auch ein namhafter Gelehrter, der die neue Doctrin
der römiſchen Kirchenfreiheit zu einem wohlgeordneten Syſteme abrundete.
In Bonn ſchaarte ſich ein kleiner, ſtreng clericaler Kreis um den geiſt-
reichen Arzt und Naturphiloſophen C. J. H. Windiſchmann zuſammen; hier
empfing der junge Danziger Juriſt C. H. Jarcke unvergeßliche Eindrücke,
die über ſein Leben entſchieden und ihn zum Uebertritt in die römiſche
Kirche bewogen. Windiſchmann’s Schwiegerſohn Ferdinand Walter ver-
öffentlichte nun im Jahre 1822 ein handliches Lehrbuch des Kirchenrechts,
das durch klare, überſichtliche Darſtellung die meiſten Compendien jener
Zeit übertraf und in dreizehn Auflagen verbreitet auf die kirchenpoliti-
ſchen Anſichten des katholiſchen Deutſchlands ſehr tief einwirkte. Ein ge-
ſcheidter Schüler Niebuhr’s und der hiſtoriſchen Juriſten, hatte Walter
als Freiwilliger im Befreiungskriege ſeine warme Begeiſterung für das
deutſche Vaterland bewährt, wie er auch nachher, in den Stürmen des
Jahres 1848, bewies, daß er ein treuer und tapferer preußiſcher Monarchiſt
war. Er rühmte ſich ſelber ſeiner wohlwollenden und ſchonenden Ge-
ſinnung gegen alle Confeſſionen. Doch aus den vorſichtigen, modern
klingenden Sätzen ſeines Kirchenrechts ſprach unverkennbar eine rein mit-
telalterliche Anſicht vom Weſen des Staates; er ſetzte den Staat als „von
der Kirche durchdrungen“ voraus und nannte die advocatia ecclesiae,
die Schutzherrſchaft des Staates über die Kirche, ganz im Sinne Gre-
gor’s VII. und Innocenz’s III. „eher eine Pflicht als ein Recht“, woraus
denn unzweifelhaft folgte, daß der weltliche Arm dem geiſtlichen zu dienen
habe. Von der Verfaſſung der evangeliſchen Kirche entwarf er in aller
Höflichkeit ein widriges Zerrbild. Dahin war es durch die ſchlaffe Nach-
ſicht der Proteſtanten ſchon längſt gekommen, daß der beleidigende, einſt
durch die Reichsgeſetze ſtreng verbotene Ausdruck „katholiſche Kirche“ ſich
im allgemeinen Sprachgebrauche eingebürgert hatte; den evangeliſchen
Namen aber wollten die Römiſchen nicht gelten laſſen. Walter’s Kirchenrecht
ſtellte in jedem Abſchnitte zunächſt ausführlich „das Syſtem der katholiſchen
Kirche“ dar und ließ darauf eine kurze Schilderung der „Anſichten der
14*
[212]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
Proteſtanten“ folgen, als ob es ſich nur um die ſubjectiven Meinungen
kleiner Conventikel handele. Da er nicht zu verſtehen vermochte, daß die
evangeliſche Chriſtenheit keinen Prieſterſtand kennt und mithin ihre ſicht-
baren Kirchen, in den Fluß der Zeit geſtellt, weder ſelig ſprechen noch
die Seligkeit verweigern können, ſo gelangte er zu der ungeheuerlichen
Behauptung, der Proteſtant ſei mit der Kirche nur durch Vertrag ver-
bunden — wobei die Anſpielung auf Rouſſeau’s revolutionären Contrat
social deutlich zwiſchen den Zeilen zu leſen war. Der bewegliche Gelehrte
war erſt vor Kurzem zu ſeinen ſtreng römiſchen Anſichten gelangt und
blieb auch fernerhin ſo empfänglich für die neuen Wallungen des kirch-
lichen Lebens, daß er erſt im Laufe der Jahre die letzten Folgerungen aus
ſeinem kirchenpolitiſchen Syſteme zu ziehen wagte und die verſchiedenen
Ausgaben ſeines Lehrbuchs gleich einem Barometer den wachſenden cleri-
calen Luftdruck erkennen ließen. In der erſten Auflage hatte er dem Staate
ſogar das Placet zugeſtanden, ſpäterhin erſchien ihm faſt jede Bethätigung
der Kirchenhoheit als ein Uebergriff, der die Kirche in den Zuſtand der
Verfolgung verſetze und die Gläubigen zum Ungehorſam berechtige.
Noch ſtand dieſer neue Romanismus, dem Fernſtehenden kaum bemerk-
bar, ganz in den erſten Anfängen; er gebot nur über wenige Blätter und
beſaß in den ſüddeutſchen Landtagen erſt vereinzelte Anhänger, die nur ſelten
Farbe zu bekennen wagten. Ein großer Theil der älteren Prieſter war
noch in der Schule des Rationalismus aufgewachſen oder ſtand den natio-
nalkirchlichen Ideen Weſſenberg’s nahe. In dem Breslauer Diöceſanblatt,
das während der Jahre 1803—19 dem ſchleſiſchen Clerus als Sprechſaal
diente, äußerte ſich häufig eine reformatoriſche Geſinnung, namentlich ward
die Einführung der deutſchen Sprache in den Cultus nachdrücklich gefordert,
und der junge Domherr Graf Sedlnitzky durfte ungeſtört die deutſche
Bibel unter ſeinen Gläubigen verbreiten. Aber nach dem Tode des milden
Fürſtbiſchofs v. Hohenlohe-Waldenburg (1817) zog ein anderer Geiſt in
das ſchleſiſche Kirchenregiment ein, das Diöceſanblatt ging unter, und hier
wie überall begann die ſtreng confeſſionelle Geſinnung unter dem jüngeren
Clerus überhandzunehmen.
Schwach an Zahl, war die clericale Partei doch ſchon im Aufſteigen,
ſie übertraf die letzten Vertreter der alten milderen Richtung an Talent,
Thatkraft, Zuverſicht und fand an der ganzen Weltanſchauung dieſes Zeit-
alters der Romantik einen überaus dankbaren Boden. Welch eine Hand-
habe bot ihr die Furcht vor der Revolution. Wie leicht ließ ſich die That-
ſache verdunkeln, daß die Revolution des ſechzehnten Jahrhunderts nicht
blos zerſtörend, ſondern mehr noch erhaltend gewirkt, daß Martin Luther
den urſprünglichen Geiſt des Chriſtenthums für die moderne Welt gerettet
hatte; wie verlockend klang die Lehre, daß die Wogen der Empörung allein
an der feſteſten aller Autoritäten, an dem Felſen Petri ſich brechen könnten.
Mit gründlicher Verachtung ſchaute die romantiſche Welt zurück auf „die
[213]Romantik und Papismus.
Zeiten der Finſterniß, die für Licht der Wahn ausgab,“ wie Ludwig von
Baiern ſagte; in den Kreiſen der Eingeweihten erfreute man ſich an dem
Ausſpruch von Novalis, die Aufklärung habe das Licht geliebt wegen ſeines
mathematiſchen Gehorſams und wegen ſeiner Frechheit, und pries mit dem
ſchwärmeriſchen Dichter das fromme Mittelalter, das den unendlichen
Glauben dem eingeſchränkten Wiſſen vorzog. In der That behauptete der
unendliche Glaube auch in dieſem bildungsſtolzen Jahrhundert noch ſeine
Macht, ſogar die höchſten Schichten der Geſellſchaft waren dem rohen
Mirakelwahn noch keineswegs entwachſen. Unter wachſendem Zulauf be-
trieb Prinz Alexander Hohenlohe in Franken ſeine Gebetskuren, er heilte
bereits blinde Hofdamen und gelähmte Prinzeſſinnen, ſelbſt der bairiſche
Kronprinz glaubte einmal, daß ihn der heilige Mann von ſeinem Gehör-
leiden befreit habe — was ſich freilich bald als ein Irrthum herausſtellte
— und ſchrieb einem Freunde bedeutſam: „wir leben in mehrfacher Hin-
ſicht in einer großen Zeit!“*) Viele fromme Gemüther, die ſich nach der
urſprünglichen Einheit der Chriſtenheit zurückſehnten, wiederholten gläubig
die berühmten Verſe A. W. Schlegel’s:
Sie wendeten ihre hoffenden Blicke auf den römiſchen Stuhl als den
Hort des allgemeinen Chriſtenthums und bemerkten in ihrem Rauſche nicht
mehr, daß die Kirche der Gegenreformation jene Kräfte der evangeliſchen
Freiheit, welche der mittelalterlichen Kirche noch angehörten, längſt von
ſich geſtoßen hatte.
In der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft war die harte, einſeitig proteſtantiſche
Beurtheilung des Papſtthums, welche im achtzehnten Jahrhundert vor-
herrſchte, zuerſt durch Joh. v. Müller’s Reiſen der Päpſte erſchüttert worden.
Dies Büchlein begann nun erſt ſeine volle Wirkung zu äußern. Walter,
Hurter, Böhmer und viele Andere aus der jungen Generation verdankten
ihm die Grundgedanken ihrer kirchenpolitiſchen Doctrin. Der erregbare, von
allen Strömungen der Zeit fortgeriſſene Hiſtoriker hatte das Buch einſt ver-
faßt um den Ehrgeiz Joſeph’s II. zu bekämpfen und dem einzigen politi-
ſchen Gedanken, den er in den proteiſchen Wandlungen ſeines Lebens un-
verrückbar feſthielt, der Idee des Gleichgewichts, der Verwerfung jeder
Weltherrſchaft einen mächtigen Ausdruck zu geben. Er ſah in den Trium-
phen Gregor’s VII. den Sieg des Geiſtes über Waffengewalt: ſeit jener
alte, kranke, flüchtige Papſt allen abendländiſchen Völkern ſeine Seele gab
und alsdann zu den Königen ſprach: bis hierher ſollt Ihr herrſchen! —
„von dem an war eine Freiſtatt wider den Zorn der Potentaten, der
Altar, es war eine Freiſtatt wider den Mißbrauch des geiſtlichen Anſehens,
der Thron, und in dem Gleichgewicht lag öffentliches Wohl.“
[214]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
In ſeinem berechtigten Eifer wider die gewaltſame Härte der joſephi-
niſchen Staatsgewalt war dem geiſtvollen Gelehrten ganz entgangen, daß
eine Macht, welche allen Königen der Erde die Grenzen ihrer Herrſchaft
vorzeichnen will, nothwendig ſelber nach der Weltherrſchaft trachten muß,
wie es die dreifach gekrönten Prieſter des Mittelalters auch gethan hatten.
Er hatte das Wunder vollbracht, die abſoluteſte Gewalt, welche die Geſchichte
kennt, durch die Idee der Freiheit zu rechtfertigen, und die werdende ultra-
montane Partei ſäumte nicht, die kühne Paradoxie des proteſtantiſchen
Denkers für ſich zu verwerthen. Walter ſelbſt wagte nur leiſe anzudeuten,
daß die ſo lange durch Liſt und Gewalt geleitete europäiſche Politik viel-
leicht dereinſt — aber nur ganz friedlich, von innen heraus — wieder
unter die ſanfte ſchiedsrichterliche Obhut des Stellvertreters Chriſti gerathen
könne. Vorläufig begnügte man ſich alſo mit der Müller’ſchen Forderung:
Gleichgewicht von Staat und Kirche, vollkommene Freiheit der beiden Ge-
walten; und da das große Wort der Freiheit dieſem durch thörichte poli-
zeiliche Quälerei erbitterten Geſchlechte unwiderſtehlich klang, ſo warb der
clericale Gedanke des kirchenpolitiſchen Dualismus auch im liberalen Lager,
ſehr langſam freilich, vereinzelte Anhänger. Der geſammten deutſchen
Geſchichtsforſchung wies Müller den Weg zu einer billigeren Würdigung
der mittelalterlichen Kirche. Ein ſtreng clericaler Hiſtoriker von irgend
welcher Bedeutung war freilich bisher noch nicht aufgetreten, aber in der
Stille ſeines Schweizer Pfarrhauſes brütete ein Fanatiker der Prieſter-
herrſchaft, der Proteſtant F. E. Hurter bereits über dem Plane, dem
herrſchſüchtigſten aller Päpſte, Innocenz III. ein leuchtendes Denkmal zu
errichten.
Und ſeltſam: wie die Idee der Freiheit den Zwecken der Clericalen
dienen mußte, ſo führte auch die vaterländiſche Begeiſterung manchen
unklaren jungen Schwärmer hinüber in das Lager der römiſchen Welt-
macht, die doch zu allen Zeiten der natürliche Feind jedes ſtarken natio-
nalen Staates und vornehmlich der deutſchen Einheit war. Das acht-
zehnte Jahrhundert hatte die Romfahrten unſerer alten Kaiſer mit aufge-
klärter Selbſtgefälligkeit verurtheilt und die Reformation als einen freilich
nur halb gelungenen Kampf für Licht und Wahrheit anerkannt. Der
romantiſchen Jugend ward die Seele weit bei den Namen der Ottonen
und der Staufer, und wenn ſie die phantaſtiſch ausgeſchmückten Bilder
alter Kaiſerherrlichkeit mit dem Elend des dreißigjährigen Krieges verglich,
ſo lief ſie leicht Gefahr, den Grund dieſes Verfalls in den Thaten Luther’s
zu ſuchen. Von ähnlichen patriotiſchen Idealen erfüllt hatte einſt Julius
Pflugk zur Zeit des Augsburger Friedens ſeine feurigen Reden an die
Deutſchen geſchrieben und die Kirchenſpaltung als den Anfang des natio-
nalen Unglücks beklagt. Es ließ ſich doch nicht leugnen, daß die Refor-
mation die längſt ſchon vorhandenen Keime des Zerfalls gefördert, die
längſt ſchon lebendigen politiſchen Gegenſätze noch durch kirchlichen Haß
[215]Erſtarken der ultramontanen Partei.
verſchärft hatte; wie nahe lag die Verſuchung, dies Unheil nicht jenem
Kaiſerhauſe zuzuſchreiben, das die deutſche evangeliſche Bewegung mit Hilfe
des romaniſchen Europas auf halben Wege gewaltſam aufhielt, ſondern
dem Reformator ſelber, der das ganze Vaterland von der römiſchen Herr-
ſchaft zu befreien dachte. Die alte, zumal in den Reichsſtädten noch ſehr
lebendige Verehrung für das fromme Erzhaus und die überlieferte Feind-
ſchaft gegen den Störenfried im Reiche, den preußiſchen Staat, wirkten
mit; und ſo entſtand nach und nach eine völlig verſchrobene Anſicht von
der vaterländiſchen Geſchichte, die ſpäterhin in der Gemüthspolitik der groß-
deutſchen Partei ihre Früchte trug und zuletzt immer nur den Clericalen
Vortheil brachte. Der liebenswürdige, hochſinnige junge Frankfurter
Johann Friedrich Böhmer, ein unpolitiſcher Kopf aber ein glänzendes
wiſſenſchaftliches Talent, verfiel jetzt ſchon gänzlich dem Banne dieſer hiſto-
riſchen Traumwelt, obwohl er ſich niemals entſchließen konnte, die evan-
geliſche Kirche förmlich zu verlaſſen; er pries die Siege der Päpſte über
die Staufer, verdammte die Reformation, weil ſie Deutſchland getheilt
habe, und bewunderte die undeutſche Politik der letzten habsburgiſchen Kaiſer.
Zu Alledem noch die raſtloſe publiciſtiſche Thätigkeit des großen Wiener
Convertitenkreiſes und der unverſöhnte Groll des katholiſchen Reichs-
adels, der den Raub von 1803 nicht verzeihen konnte; die geheime Be-
kehrungsarbeit in der vornehmen Welt und die zweideutige Haltung der
öſterreichiſchen Regierung, die in ihrem eigenen Lande den Clerus miß-
trauiſch in Schranken hielt, in Deutſchland dagegen alle ultramontanen
Umtriebe insgeheim unterſtützte — und dies in einer Zeit, da der Pro-
teſtantismus zwar an wiſſenſchaftlichen Kräften der alten Kirche unermeßlich
überlegen, aber durch Parteien zerriſſen, in ſeinen Cultusformen vertrocknet,
in ſeiner Verfaſſung unfertig und mithin keiner Ausbreitung fähig war.
Alſo floſſen aus vielen ſchmalen Rinnſalen und Bächen unmerklich die
Waſſer zuſammen, welche dereinſt zur ultramontanen Hochfluth anſchwellen
ſollten. —
In Preußens weſtlichen Provinzen bekundete ſich die zunehmende
Schroffheit der confeſſionellen Geſinnung ſchon durch manche bedenkliche
Reibungen. Das Jubelfeſt der Reformation und die perſönliche Mitwir-
kung des Königs erregten am Rhein viel böſes Blut, die Blätter der fran-
zöſiſchen Congregation wurden fleißig geleſen, und aus den nahen Nieder-
landen kamen beſtändig aufregende Nachrichten von den Kämpfen des
belgiſchen Clerus wider das Haus Oranien. In dem gläubigen Aachener
Volke lebte noch von den Geuſenkämpfen her ein tiefer Haß gegen die
Proteſtanten, „die Güß“; ſelbſt die Beamtenkinder in den Schulen hatten
darunter zu leiden. Da viele der jungen evangeliſchen Offiziere und Be-
amten an den liebenswürdigen Rheinländerinnen Wohlgefallen fanden, ſo
entſtanden in mehreren Städten Vereine von alten und jungen Mädchen,
die einander gelobten niemals einen Proteſtanten zu heirathen. Die Theil-
[216]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
nahme des Clerus an den Bibelgeſellſchaften wurde durch die Oberen
verboten, und bei der Einſegnung gemiſchter Ehen ſtellten die Prieſter
häufig geſetzwidrige Bedingungen, ſo daß der König ſich genöthigt ſah,
in einer ſcharfen Cabinetsordre vom 6. April 1819 zu erklären, er werde
„ſolche unwürdige Geiſtliche augenblicklich fortſchaffen.“ Der Oberpräſi-
dent Solms-Laubach, allerdings ein ſtrammer, gegen jede Regung kirch-
licher Selbſtändigkeit mißtrauiſcher Joſephiner, mußte unabläſſig den kleinen
Krieg führen wider den Aachener Generalvicar Fonck, der gefliſſentlich dem
neuen Unterrichtsweſen Hinderniſſe bereitete und es ſehr ungern ſah, wenn
tüchtige Pfarrer ein Schulpflegeramt übernahmen.*)
Nach ſolchem Geplänkel wagten die Clericalen im Jahre 1820, noch
bevor die Uebereinkunft mit dem römiſchen Stuhle abgeſchloſſen war, die
erſte offene Auflehnung gegen die Geſetze des preußiſchen Staates. Unter
den Domherrngeſchlechtern des münſterländiſchen Adels thaten ſich die drei
Brüder Droſte-Viſchering durch ihren kirchlichen Eifer hervor; man gab
ihnen, wie vormals dem erweckten Kreiſe der Fürſtin Galitzin, den Ehren-
namen der familia sacra. Der älteſte, Kaspar Max hatte einſt auf dem
napoleoniſchen National-Concile von 1810 die Befreiung des gefangenen
Papſtes gefordert und durch ſeinen tapferen Einſpruch den Imperator zur
Auflöſung der Verſammlung genöthigt; unter dem wohlwollenden preu-
ßiſchen Regimente hielt er ſich vorerſt klug zurück.
Von gröberem Metall war der zweite Bruder Clemens Auguſt, ein
mönchiſcher Eiferer, ohne Geiſt, ohne Gelehrſamkeit, ohne Menſchenkennt-
niß, altväteriſch erzogen und der modernen Welt völlig fremd, ganz dem
einen Gedanken ſeiner Kirche dahingegeben, unermüdlich im Wohlthun, im
Faſten und Kaſteien, in allen Pflichten römiſcher Werkheiligkeit. Wer dieſe
würdige prieſterliche Erſcheinung ſah, mit den ſchönen, einfältig frommen
blauen Augen und dem Zuge ſtörriſchen Trotzes um die Lippen, der mochte
wohl errathen, daß dieſer Mann einer fanatiſchen Partei als Mauer-
brecher dienen konnte. Wie an allen beſchränkten Köpfen, ſo erfüllte ſich
auch an ihm das alte tiefſinnige Wort, daß der Menſch durch heiligen
Eifer getrieben zu werden glaubt derweil ihn der irdiſche Zorn treibt. Er
haßte dies bürgerliche, paritätiſche Preußen mit dem ganzen Ingrimm des
geiſtlichen Junkers, er haßte die Philoſophen, und da er weder fähig noch
geneigt war ihre Werke zu leſen, ſo verdammte er ſie alle mit pfäffiſchem
Hochmuth als Vernünftlinge und Kirchenfeinde. Vor Napoleon’s Macht-
geboten war er, minder kühn als ſein Bruder, ſcheu zurückgewichen; er
hatte als rechtmäßiger Generalvicar des Bisthums Münſter die Verwal-
tung ſeines Amtes, auf einen Befehl aus Paris, ſeinem Todfeinde, dem
philoſophiſch aufgeklärten Grafen Spiegel abgetreten, aber dieſen Entſchluß
— die einzige muthloſe That ſeines Lebens — reuig zurückgenommen, als
[217]Droſte-Viſchering.
der Papſt ihn tadelte. Nach dem Einzug der Preußen trat er ſofort ſein
Amt wieder an und bemühte ſich durch erhöhte Zankſucht ſeine Schwäche
zu ſühnen.
Der Generalvicar lag in ewigem Streite mit Profeſſor Hermes, der
während der Fremdherrſchaft auf die Empfehlung des proteſtantiſchen Hal-
lenſer Kanzlers Niemeyer an die Münſter’ſche Akademie berufen worden und
ſchon darum in Droſte’s Augen kaum beſſer als ein Heide war. Die An-
maßung dieſer kleinen rührigen Minderheit war bereits ſo hoch geſtiegen, daß
der neue Biſchof von Augsburg ſich unterſtand, ſogar „das aftermyſtiſche
Chriſtenthum“ des ehrwürdigen Sailer in einem Hirtenbriefe zu verdammen.
Droſte befahl ſeinen Geiſtlichen, keine gemiſchte Ehe einzuſegnen ohne das
Verſprechen katholiſcher Kindererziehung, und erwiderte dem Oberpräſiden-
ten Vincke friſchweg, an die Landesgeſetze ſei er nicht gebunden. Als das
Reformationsfeſt herannahte, veröffentlichte er ein in Form und Inhalt
gleich barbariſches Büchlein über die Religionsfreiheit der Katholiken, das
in dem Satze gipfelte: „Religionsfreiheit iſt die Freiheit, alle jene Hand-
lungen zu verrichten, zu welchen die Unterwerfung des Verſtandes und
Willens unter die Lehre der katholiſchen Kirche auffordert.“ Jede bedingte
Anerkennung der Kirche von Seiten des Staates wies er entrüſtet zu-
rück, und von allen deutſchen Staaten ließ er nur einen als ſchuldlos
gelten: natürlich Oeſterreich, das allein an dem Kirchenraube von 1803
nicht theilgenommen hatte.
Die Händel über die gemiſchten Ehen ſchwebten noch, da bot ſich dem
Streitbaren ein neuer Anlaß um zugleich ſeinen perſönlichen Haß zu
kühlen und dem evangeliſchen Landesherrn die Macht der Kirche zu zeigen.
Im Jahre 1820 ſiedelte Hermes, wohl ausgerüſtet mit Spiegel’s Empfeh-
lungsbriefen, nach Bonn über; viele ſeiner Münſter’ſchen Zuhörer wollten
dem beliebten Lehrer an den Rhein folgen.*) Dieſe Verführung der weſt-
phäliſchen Jugend mußte verhindert und zugleich ein tödlicher Schlag gegen
die neue paritätiſche Hochſchule des Rheinlandes geführt werden; denn
ganz ſo herzlich wie ein Monſignore des Vaticans verabſcheute Droſte die
deutſchen Univerſitäten, er vergaß es nicht, was ſeine Kirche durch den
größten aller deutſchen Profeſſoren gelitten hatte. Wie eifrig war die
clericale Partei bemüht geweſen, die rheiniſche Univerſität nach Köln, un-
mittelbar unter die Aufſicht des Erzbiſchofs zu verlegen; der Unmuth über
das Mißlingen dieſes Planes wuchs noch ſeit die akademiſche Freiheit in
Bonn ſich ſo kräftig entfaltete. Bisher hatten die rheiniſchen Theologen
auf dem Kölner Prieſterſeminar einen elenden Unterricht empfangen, der
nach Solms-Laubach’s Urtheil nur in der Abrichtung für die Ceremonien
des Gottesdienſtes und „in etwas finſterer Mönchsdogmatik“ beſtand. Alten-
ſtein beabſichtigte nunmehr in Bonn ein theologiſches Convict zu errichten
[218]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
und den geſammten wiſſenſchaftlichen Unterricht der jungen Cleriker allein
der Univerſität zu überweiſen; darauf ſollte nur noch ein kurzer prakti-
ſcher Curſus im Kölner Prieſterſeminar folgen. In der theologiſchen Fa-
cultät aber herrſchten Hermes und ſein Geſinnungsgenoſſe Gratz. Nun
und nimmer wollte Droſte die künftigen Pfarrer des frommen Münſter-
landes ſolchen Lehrern und dem Verkehre mit ketzeriſchen Studenten preis-
geben. Er ließ daher in der Akademie eine Verordnung anſchlagen, welche
allen Theologen des Bisthums, bei Strafe der Verſagung der Weihen,
unterſagte, ohne ausdrückliche Erlaubniß des Generalvicars außerhalb
Münſters zu ſtudiren. Einem Studenten, der daraufhin anfragte, verbot
er ſofort, nach Bonn zu gehen, ohne Angabe von Gründen.
Es war eine offene Kriegserklärung wider die rheiniſche Univerſität
und zugleich ein dreiſter Eingriff in die Rechte der Staatsgewalt; denn
die Akademie gehörte dem Staate, und nur der Curator Vincke durfte
ihr Befehle ertheilen. Der letzte Zweifel über Droſte’s Abſichten mußte
ſchwinden, als einige Wochen ſpäter (3. März) der Weihbiſchof v. Graben
im benachbarten Osnabrück ſeinen Theologen ebenfalls befahl, vorläufig
nur in Münſter weiter zu ſtudiren, bis die geiſtliche Obrigkeit über den
Geiſt der andern Univerſitäten unterrichtet ſei.*) Was ſollte aus der
Bonner theologiſchen Facultät werden, wenn ſie alſo von den Biſchöfen
in den Bann gethan ward? Sie errieth auch alsbald die Gefahr und be-
ſchwor die Staatsbehörden um kräftige Abwehr: „wir haben mit einem
Gegner zu thun, der mit einem Schlage töden will.“ Dieſe hermeſiani-
ſchen Theologen erklärten unumwunden, noch immer ſei „der hierarchiſche
Despotismus an der Standhaftigkeit der Regierungen geſcheitert“, und
erinnerten den preußiſchen Staat an das ruhmreiche Beiſpiel der Republik
Venedig.**)
Die Mahnung war kaum nöthig; denn Vincke hatte inzwiſchen
ſchon die Verordnung Droſte’s für nichtig erklärt und ſie vom ſchwarzen
Brett abreißen laſſen. Selbſt Altenſtein billigte das entſchloſſene Auf-
treten des Curators, obgleich er in ſeiner Friedfertigkeit jeden Streit mit
der geiſtlichen Gewalt faſt eben ſo ängſtlich ſcheute wie ſein Rathgeber,
der halbclericale Schmedding; er forderte den Generalvicar auf, ſich zu
rechtfertigen wegen eines Betragens, das den Vorſchriften des Allgemeinen
Landrechts offenbar widerſpreche.***) Darauf erfolgte (20. März) eine Ant-
wort, die ſelbſt aus ſolcher Feder noch überraſchen mußte. Droſte er-
[219]Droſte’s Niederlage.
klärte dem Miniſter gerade heraus, er ſchulde ihm keine Rechenſchaft,
weder das Landrecht noch die Unterwerfung unter einen proteſtantiſchen
Landesherrn könnten das in Deutſchland allgemein giltige Kirchenrecht auf-
heben. Er hege kein Zutrauen zu Lehranſtalten, deren theologiſche Pro-
feſſoren die proteſtantiſche Obrigkeit anſtelle, „was man kaum auch da
möglich halten ſollte, wo die katholiſche Kirche nur geduldet wäre. Ew.
Excellenz, fuhr er fort, ſind gewiß nicht gemeint, durch Kränkung der auf
göttlicher Autorität beruhenden, von S. M. dem Könige anerkannten und
— inſofern menſchliche Gewalt das Höhere garantiren kann — garantirten
Freiheit der katholiſchen Kirche eine vermeintliche Freiheit der Studenten
zu ſchützen.“ Dann berief er ſich auf den Art. 63 des Reichsdeputations-
hauptſchluſſes, der nur verſprach, daß die bisherige Religionsübung gegen
Aufhebung und Kränkung geſchützt ſein ſolle, und behauptete dreiſt: dem
widerſpräche die Militärpflicht der Geiſtlichen und Schullehrer, ſowie das
ſogenannte Placet. Darauf polterte er noch in ſeinem ſchrecklichen Deutſch
einige allgemeine, aber offenbar auf den Miniſter perſönlich gemünzte
Schmähungen heraus wider „diejenigen, welche ſelbſt ungläubig, getaufte
Heiden ſind.“ Das war der Dank der Clericalen für die königliche Stif-
tung der Bonner Hochſchule.
Nach dieſer Kraftleiſtung eines Fanatismus, der dem Staate jedes
Recht der Kirchenhoheit abſtritt, mußte Altenſtein vorausſehen, daß Droſte
alle Schreckmittel der geiſtlichen Gewalt mißbrauchen würde um die weſt-
phäliſchen Studenten in Münſter zurückzuhalten. Hier galt es durchzu-
greifen, wollte die Staatsgewalt ſich nicht ins Angeſicht verhöhnen laſſen.
Im Einverſtändniß mit dem Staatskanzler ließ der Miniſter alſo (10. April)
die theologiſche Facultät in Münſter bis auf Weiteres ſchließen, und
ſchweren Herzens vollzog Vincke den harten Befehl. Wie eifrig hatte ſich
der treue Weſtphale bemüht, in der verfallenen Stiftung Fürſtenberg’s ein
neues Leben zu erwecken. Soeben erſt war er mit dem Miniſter über die
Verſtärkung der Lehrkräfte handelseins geworden; da beraubte der Trotz
dieſes blinden Eiferers die geliebte Provinz auf Jahre hinaus ihrer einzigen
Hochſchule, denn ohne ihre theologiſche Schweſter konnte die philoſophiſche
Facultät nicht gedeihen.*) Mit dieſem Schlage war Alles entſchieden.
Droſte wagte nicht die ihm angedrohte perſönliche Ahndung abzuwarten,
ſondern legte ſein Amt nieder und führte fortan jahrelang in einem kleinen
Kreiſe von Prieſtern und Nonnen ein beſchauliches Büßerleben; der Weih-
biſchof von Osnabrück aber hatte ſchon vorher, ſobald er den Ernſt der
preußiſchen Behörden bemerkte, ſeinen Theologen das Studium in Bonn
wieder geſtattet.**)
[220]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
Der Angriff der Clericalen war vollſtändig abgeſchlagen, und die
öffentliche Meinung, die ſonſt ſo gern über die preußiſche Knechtſchaft
wehklagte, ſtand diesmal einmüthig auf Seiten der Staatsgewalt. Ein
Hermeſianer in Naſſau ließ Droſte’s Schreiben drucken um die Regierun-
gen vor den Umtrieben ihrer geiſtlichen Widerſacher zu warnen. In der
That warf der Hergang ein erſchreckend klares Licht auf die letzten Ab-
ſichten der ultramontanen Partei. Man wußte in Berlin, wie lebhaft
die aufſäſſigen weſtphäliſchen Cleriker insgeheim mit dem Nuntius in
München verkehrten, und erfuhr mit Befremden, daß Preußens treuer
Freund Metternich die freche Antwort des Münſter’ſchen Generalvicars
in ſeinem Oeſterreichiſchen Beobachter mit wohlwollender Anerkennung be-
ſprechen ließ.*) Die Verſtändigung mit dem römiſchen Stuhl ließ den
Staat im Vollbeſitze ſeiner kirchenpolitiſchen Rechte, und ſeit der Papſt
dem Könige öffentlich ſeine Dankbarkeit ausgeſprochen, verhielten ſich die
Clericalen eine Zeit lang ſtill. Doch geſichert war der confeſſionelle Friede
mit nichten. Alles hing ab von der Ausführung jener Uebereinkunft,
mit Spannung ſahen beide Parteien der Ernennung der neuen Biſchöfe
entgegen. —
Zur ſelben Zeit, da Preußen ſich mit dem römiſchen Stuhle ver-
ſtändigte, gelangte auch Baiern zum Abſchluß ſeines Concordatſtreites,
nicht auf geraden Wegen, doch ſo, daß der Staatsgewalt zuletzt der Sieg
verblieb. Der Widerſpruch zwiſchen dem ſtreng kanoniſchen Concordate
und dem paritätiſchen Geiſte der neuen Verfaſſungsgeſetze ließ ſich ſchlech-
terdings nicht in Abrede ſtellen. Der römiſche Stuhl ſah ſich hinter-
gangen. Sein Nuntius Serra-Caſſano bemühte ſich den Widerſpruch
im Sinne des Vaticans auszugleichen und leitete insgeheim eine gegen
die Verfaſſung gerichtete clericale Bewegung. Auf der anderen Seite
waren die Anhänger des alten Illuminatenordens ſehr rührig und über-
ſchütteten in den „Mönchsbriefen“ und anderen Streitſchriften das Papſt-
thum mit gehäſſigem Spotte. Zentner aber, Lerchenfeld, Ignaz Rud-
hart, alle Talente des hohen Beamtenthums zeigten ſich entſchloſſen, die
begangenen Mißgriffe durch unerſchütterliche Feſtigkeit zu ſühnen, und ſie
hatten von Haus aus gewonnenes Spiel, da das Concordat, auf den
Wunſch der Curie ſelber, als Staatsgeſetz verkündet, mithin unzweifelhaft
den Vorſchriften der Verfaſſung untergeordnet war. Als Cardinal Con-
ſalvi am 8. März 1820 die Forderung ſtellte, im Falle des Widerſpruchs
müſſe das Concordat den Verfaſſungsgeſetzen vorgehen, da erwiderte Rech-
berg vertraulich: eine ſolche Erklärung ſei unmöglich, ſie würde die kirchen-
feindlichen Parteien aufs Aeußerſte erregen und vielleicht den Beſtand des
Miniſteriums ſelber gefährden. Schritt für Schritt wich der Cardinal
ſeitdem zurück, und nach langen Verhandlungen unterzeichnete der König
[221]Die Erklärung von Tegernſee.
endlich am 15. Sept. 1821 die mit der Curie Wort für Wort vereinbarte
Tegernſeeer Erklärung. Er genehmigte darin die Errichtung der neuen
Bisthümer und fügte die zweifache Verſicherung hinzu: der Verfaſſungseid
beziehe ſich, nach den Beſtimmungen der Verfaſſung ſelbſt, lediglich auf die
bürgerliche Ordnung und verpflichte die Unterthanen zu nichts, was den
Geſetzen Gottes oder der katholiſchen Kirche widerſtreiten könne; ſodann:
das Concordat ſei Staatsgeſetz und ſolle von den Behörden in allen
Fällen befolgt werden.
Nunmehr konnte der Nuntius die Circumſcriptionsbulle Dei ac Do-
mini, die ſeit ihrer Unterzeichnung am 1. April 1818 geruht hatte, in
der Münchener Frauenkirche unter feierlichem Gepränge verkündigen. Er
ſtellte ſich an, als ob er einen großen Sieg errungen hätte; den aus-
wärtigen Diplomaten fiel es auf, wie zuverſichtlich er fortan redete.*) In
Wahrheit war die Curie der Klugheit Zentner’s und ſeiner Freunde unter-
legen; ſie hatte ausdrücklich zugeſtanden, daß die Verfaſſung den Satzun-
gen der Kirche nicht widerſpreche, und ſie hatte das Concordat abermals
als ein Staatsgeſetz anerkannt. Ganz unzweideutig war die Tegern-
ſeeer Erklärung freilich nicht. Auch an ihr, wie an allen Vereinbarungen
zwiſchen dem modernen Staate und dem römiſchen Stuhle, ſollte ſich der-
einſt noch das Jeſuitenſprüchlein bewähren: überall lauert eine Schlange
im Graſe. Indeß konnte der bairiſche Staat einem Streite mit dem
Papſtthum gleichmüthig entgegenſehen; er hatte vor Preußen zwei große
Vortheile voraus: einen rechtgläubigen König, dem die Curie wie das katho-
liſche Volk Vieles nachſehen mußte, und ein Beamtenthum, das in katho-
liſcher Luft aufgewachſen, mit dem Clerus umzugehen verſtand. Seine
Krone ernannte alle Biſchöfe, beſtätigte alle Pfarrer und übte ihre Kir-
chenhoheit mit ſolcher Strenge, daß ſelbſt Faſtenpatente oder Breven über
die Domherrentalare nicht ohne königliches Placet erſcheinen und kein
Prieſter öffentliche Kirchenbußen verhängen durfte. Nach einer ſelbſtver-
ſchuldeten Demüthigung hatte ſich die Staatsgewalt wieder kräftig aufge-
rafft, und ein volles Jahrzehnt hindurch blieb der Friede zwiſchen Staat
und Kirche faſt ungeſtört. —
Minder glücklich verliefen die Verhandlungen der oberrheiniſchen
Staaten. Seit dem März 1818 tagten unter Wangenheim’s Leitung die
Frankfurter Conferenzen, und die liberale Preſſe, welche der Vorſitzende
ſtets auf dem Laufenden hielt, erwartete von dieſen Berathungen des
reinen Deutſchlands die Magna Charta deutſcher Kirchenfreiheit, die Be-
gründung des „geläuterten Kirchenrechts“. Minder wohlwollend betrachtete
der Vatican dieſe Staaten des Südweſtens, denn gerade hier war die
katholiſche Kirche wohl berechtigt, über bureaukratiſchen Druck zu klagen.
In den kurmainziſchen Bezirken Heſſen-Darmſtadts hatte der proteſtan-
[222]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
tiſche Großherzog die Ernennung der Pfarrer, die bisher dem Erzbiſchof
zugeſtanden, kurzerhand an ſich geriſſen, als ob ſie zu den Hoheitsrechten
des Staates gehörte. In Naſſau war ſeit 1817 die Simultan-Volks-
ſchule eingeführt, ſo daß fortan nur ein einziges Schullehrerſeminar für
alle Bekenntniſſe beſtand und die Kinder zuerſt gemeinſam „den allge-
meinen“, dann geſondert den confeſſionellen Religionsunterricht empfingen;
zur Vollendung der Aufklärung wurde den Schulbuben, ganz wie im
wiedergeborenen Spanien, auch Landesverfaſſungslehre vorgetragen —
natürlich nur die naſſauiſche, denn was ging die Naſſauer Deutſchland
an? Die Ergebniſſe dieſer bureaukratiſchen Volksaufklärung waren nicht
ganz ſchlecht, da ſo viele Confeſſionen in dem Ländchen bunt durch einander
hauſten; der römiſche Stuhl aber konnte an der allgemeinen naſſauiſchen
Schulreligion unmöglich Gefallen finden. Und noch weniger behagten ihm
die Bevollmächtigten der Conferenz.
Für Württemberg erſchien außer Wangenheim, der ſich von vorn-
herein zu den Sätzen „des muſterhaften joſephiniſchen Kirchenrechts“ be-
kannte, der Generalvikariatsrath Jaumann, ein gelehrter geiſtlicher Herr,
nebenbei archäologiſcher Dilettant, ebenfalls erklärter Joſephiner. Der
naſſauiſche Bevollmächtigte Koch, einer der Begründer der aufgeklärten
Simultan-Volksſchule, hatte den geiſtlichen Stand bereits aufgegeben und
ließ ſich während der Conferenzen durch einen proteſtantiſchen Pfarrer
trauen, ſo daß er des Skandals halber abberufen werden mußte. Von
den Vertretern Badens war der eine, Dekan Burg einſt mit Weſſenberg
nach Rom gegangen; auch der andere, der vielſeitig gebildete, um die Frei-
burger Univerſität hoch verdiente Staatsrath v. Ittner, verdankte ſeine
Berufung der Empfehlung des Conſtanzer Coadjutors und ſtand zu Rom
als Freund und Mitarbeiter des rationaliſtiſchen Eiferers Zſchokke in üblem
Anſehen. Domherr v. Wreden, der darmſtädtiſche Bevollmächtigte, hatte
ſchon zur Zeit der Emſer Biſchofsverſammlung die Anſprüche des Papſt-
thums mit ſcharfer Feder bekämpft. Außer Wangenheim war der Kur-
heſſe Ries der einzige Proteſtant in der Verſammlung.
Begreiflich alſo, daß Conſalvi in der Frankfurter Conferenz nur einen
Parteitag der Weſſenbergiſchen Partei ſah, und dieſe Richtung war dem
Papſte augenblicklich noch verdächtiger als der Proteſtantismus ſelber. Wan-
genheim aber blickte mit unerſchütterlicher Zuverſicht auf die geſammelte
Macht ſeines reinen Deutſchlands und hielt für undenkbar, daß der Va-
tican ſich je erdreiſten könnte, dem geeinten Willen von fünf deutſchen
Souveränen zu widerſprechen; ſogar die Ernennung der Biſchöfe glaubte
er der Curie abtrotzen zu können, da der Papſt zur Zeit des Rheinbundes,
in einem Augenblicke höchſter Bedrängniß, einmal nahe daran geweſen war,
dies Recht, den alten Grundſätzen der vaticaniſchen Politik zuwider, dem
proteſtantiſchen Könige von Württemberg zuzugeſtehn. Auf Wangenheim’s
Vorſchlag ſtellte die Conferenz die Rechte, welche ſie für die Staatsgewalt in
[223]Verhandlungen der oberrheiniſchen Staaten.
Anſpruch nahm — das Placet, die Ernennung der Biſchöfe und viele
andere ſehr weit gefaßte Befugniſſe der Kirchenhoheit — in einer Decla-
ration zuſammen und ſchickte eine gemeinſame Geſandtſchaft nach Rom
um über dieſe Anſprüche nicht mit dem heiligen Stuhle zu verhandeln,
ſondern nur ſeine Meinung zu vernehmen. Man gab ſich der harmloſen
Hoffnung hin, der Papſt werde nicht widerſprechen; wagte er es dennoch,
ſo waren die verbündeten Staaten entſchloſſen, auf eigene Fauſt, mit
Hilfe ihrer noch vorhandenen Bisthumsverweſer die neuen Diöceſen ein-
zurichten. Und doch zählte die Errichtung neuer Bisthümer zu den alten
unbeſtrittenen Rechten des päpſtlichen Primats, welche kein Prälat jemals
antaſten konnte. Die liberalen Zeitungen des Südweſtens feierten ſchon
im Voraus den Triumph der aufgeklärten Staaten über den römiſchen
Stuhl, und einer der Leiter der Conferenz, Koch, ſchrieb hoffnungsvoll:
ſo werde denn endlich eine Kirchenverfaſſung entſtehen, „die mit den Staats-
conſtitutionen und den Wünſchen und Bedürfniſſen der Zeit, welche aus
dem Zwielichte der Morgendämmerung in das helle Tageslicht hinein-
ſcheint, übereinſtimmt;“ von einer Herabminderung der beſcheidenen An-
ſprüche der Staatsgewalt könne natürlich gar nicht die Rede ſein.*)
Im März 1819 traf die Geſandtſchaft in Rom ein; ſie beſtand aus
dem Staatsrath v. Schmitz-Grollenburg, einem ehemaligen Domherrn,
der ſich nachher im Württembergiſchen Staatsdienſte als ſtrenger Joſe-
phiner gezeigt, und dem Freiherrn v. Türckheim, dem Vater des conſer-
vativen badiſchen Kammerredners. Beim Empfange beugte der Proteſtant
Türckheim die Kniee vor dem Papſte, während der Katholik Schmitz, um
die Souveränität ſeines Königs zu wahren, aufrecht ſtehen blieb. Der
Erfolg war wie Niebuhr den Geſandten vorausſagte. Selbſt der ſanft-
müthige Pius VII. fühlte ſich beleidigt, als dieſe fünf kleinen Höfe ihre
Verhandlungen ſogleich mit der Ueberreichung eines Ultimatums eröff-
neten; ſein Staatsſekretär fragte, ob man den Papſt für einen Türken
halte, und ſprach offen aus, nicht die proteſtantiſchen Höfe ſeien feind-
lich geſinnt, ſondern ihre katholiſchen Rathgeber. Am 10. Auguſt ant-
wortete Conſalvi mit einer langen Espoſizione, welche noch einmal bündig
bewies, daß der moderne Staat, wenn er ſich über den Umfang ſeiner
Hoheitsrechte mit der Curie verſtändigen will, entweder nichts ausrichtet
oder ſeine Souveränität aufgeben muß. Die Denkſchrift enthielt, in etwas
milderer Faſſung, dieſelben Grundſätze ſchrankenloſer Kirchenherrſchaft,
welche Conſalvi bereits dem hannöverſchen Hofe entgegengehalten hatte.
Trotz dieſer ſchroffen Abweiſung verbrachten die Geſandten noch einige
Zeit in Rom mit unfruchtbaren Verhandlungen. Einen Ausweg ließ
ihnen der Papſt noch offen; er erklärte ſich bereit, die Diöceſen der neuen
oberrheiniſchen Kirchenprovinz feſtzuſetzen.
[224]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
Mit dieſem Beſcheide kehrten die enttäuſchten Geſandten heim, und
die fünf Höfe erkannten bald, daß ſie auf den ſo pomphaft angekündigten
Plan einer kirchlichen Magna Charta vorläufig verzichten und ſich wie
Preußen mit der Vereinbarung einer Circumſcriptionsbulle für ihre Bis-
thümer begnügen mußten. Im März 1820 trat die Frankfurter Con-
ferenz aufs Neue zuſammen, um dreiviertel Jahr lang wegen der Einrich-
tung der oberrheiniſchen Kirchenprovinz zu rathſchlagen. Ueber die Grenzen
der neuen Bisthümer beſtand kein Streit; denn jeder der fünf Souve-
räne war entſchloſſen, ſich die Freude eines eigenen Landesbiſchofs zu
gönnen, obwohl der Kurfürſt von Heſſen blos etwa hunderttauſend katho-
liſche Unterthanen beſaß und die katholiſche Bevölkerung von Darmſtadt
oder Naſſau auch nur um die Hälfte ſtärker war. Aber welcher der fünf
Landesbiſchöfe ſollte die Würde des Metropolitans bekleiden? Der Papſt
wünſchte lebhaft die Herſtellung des Erzbisthums Mainz, das jahrhunderte-
lang im Volksmunde das würdigſte unter den rheiniſchen Hochſtiftern ge-
heißen hatte. Aber die hiſtoriſche Pietät, welche Preußen durch die Wieder-
aufrichtung des Kölner erzbiſchöflichen Stuhles bewies, war der Bureau-
kratie der Rheinbundſtaaten völlig fremd. Da die Mainzer Diöceſe zu
einem winzigen Darmſtädter Landesbisthum zuſammenſchrumpfen ſollte,
ſo zeigte ſich Württemberg nicht geneigt, ſeinen königlichen Landesbiſchof
einem ſo beſcheidenen großherzoglichen Metropolitan unterzuordnen. Auch
Naſſau widerſprach lebhaft, und ſchließlich ließ der Großherzog von Heſſen
ſelbſt, der ſich anfangs eifrig für die Rangerhöhung ſeines Landesbiſchofs
verwendet hatte, den Gedanken fallen. Unzweifelhaft regte ſich am heſ-
ſiſchen Hofe die Befürchtung, ein neuer Erzbiſchof von Mainz könne leicht
in Verſuchung gerathen, als Nachfolger der Reichskanzler in Germanien,
der vornehmſten Fürſten des heiligen Reichs aufzutreten und alſo dem
Anſehen des Landesherrn gefährlich werden. Der Zauber des ruhmreichen
alten kurmainziſchen Namens war in dieſen Jahren noch ſehr mächtig;
vor Kurzem erſt hatte der Großherzog ſelber vergeblich verſucht, ſich bei
den deutſchen Großmächten den Titel eines Kurfürſten von Mainz zu
erwirken.*)
Genug, der Plan ward aufgegeben, und da die anderen Souveräne
der württembergiſchen Königskrone kein Vorrecht zugeſtehen wollten, ſo
verfiel man ſchließlich auf das bequeme Auskunftsmittel der Kopfzahl und
beſchloß, das badiſche Landesbisthum als das volkreichſte der Kirchenpro-
vinz mit dem erzbiſchöflichen Titel zu ſchmücken. Die badiſchen Miniſter
frohlockten, doch ſofort erhob ſich eine neue Schwierigkeit.**) In Konſtanz
war Weſſenberg erwählter Bisthumsverweſer und verwaltete ſein Amt ſeit
Jahren, geſchützt durch die Regierung, gegen den Willen des Papſtes.
[225]Die oberrheiniſche Kirchenprovinz.
Wurde die erzbiſchöfliche Würde auf dieſes Hochſtift übertragen, ſo ſtanden
neue peinliche Zerwürfniſſe mit dem römiſchen Stuhle bevor, und zu ſol-
chen Händeln verſpürte der Karlsruher Hof keine Neigung mehr. Der
neue Großherzog Ludwig hatte ſich ſchon vor Jahren, als er noch in Salem
am Bodenſee ſein leichtfertiges Junggeſellenleben führte, über die frei-
müthigen Ermahnungen des ſittenſtrengen Conſtanzer Prälaten geärgert
und beargwöhnte Weſſenberg als einen gefährlichen Liberalen.
Die veränderte Stimmung des badiſchen Cabinets bekundete ſich ſchon
darin, daß der Bundesgeſandte Blittersdorff in die Frankfurter Conferen-
zen eintrat, allerdings kein unbedingter Gegner Weſſenberg’s, aber ein Hoch-
conſervativer, der um jeden Preis den Frieden mit der Curie herſtellen
wollte. Er warf zuerſt die Frage auf, ob man nicht den Conſtanzer Ca-
pitelsvicar zur freiwilligen Abdankung bewegen oder vielleicht gar das Bis-
ſelber aufheben könne; dann wurde die beſtrittene Conſtanzer Wahl von
ſelbſt nichtig, und der Stein des Anſtoßes fiel dahin.*) So ſollte denn
abermals ein ehrwürdiges hiſtoriſches Band zerriſſen und dies uralte Hoch-
ſtift, weiland das größte des heiligen Reichs, vernichtet werden. Doch in
dieſem badiſchen Lande, wo Alles neu war, konnte auch ein modernes Bis-
thum wenig Befremden erregen; der Vorſchlag räumte eine augenblickliche
Verlegenheit aus dem Wege, und das bequemer gelegene Freiburg mit
ſeinem herrlichen Münſter bot dem erzbiſchöflichen Stuhle eine würdige
Heimſtätte. Die fünf Höfe einigten ſich alſo über den Plan einer Erz-
diöceſe Freiburg mit vier Suffraganbisthümern Rottenburg, Mainz, Fulda,
Limburg und ſendeten dieſe Vorſchläge der Curie. In Rom führte unter-
deſſen der württembergiſche Geſandte Kölle die gemeinſamen Geſchäfte —
einer jener literariſchen Dilettanten, wie ſie in dem beſchäftigten Müßig-
gange des kleinſtaatlichen Diplomatenlebens gedeihen, allbekannt als Kunſt-
ſammler und unerſchöpflicher Geſchichtenerzähler; der Allgemeinen Zeitung
pflegte er mit der Miene des Tiefeingeweihten politiſche Artikel zu ſenden,
die alleſammt gewandt geſchrieben, auch nicht ohne Geiſt, doch ſchlechter-
dings nichts Neues ſagten.
Als Freimaurer und Joſephiner war er in Rom nicht an der rechten
Stelle. Conſalvi ließ ſich wenig mit ihm ein, und während die fünf Höfe
noch auf eine Erwiderung des Papſtes warteten, wurden ſie plötzlich durch
die Ueberſendung der Circumſcriptionsbulle ſelber überraſcht. Dieſe Bulle
Provida sollersque vom 16. Aug. 1821 beſtimmte die Eintheilung der
oberrheiniſchen Kirchenprovinz im Weſentlichen nach den Vorſchlägen der
Regierungen, aber ſie enthielt auch eine gefährliche Vorſchrift, welche Nie-
buhr bei ſeiner Unterhandlung ſorgſam vermieden hatte: der Papſt unter-
warf nicht blos die katholiſchen Unterthanen, ſondern das geſammte
Staatsgebiet der fünf Souveräne der geiſtlichen Gewalt der neuen Bi-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 15
[226]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
ſchöfe, er gründete alſo im paritätiſchen Deutſchland fünf neue Miſſions-
bisthümer mit allen den außerordentlichen Vollmachten, welche dem Miſ-
ſionsclerus zur leichteren Bekehrung der Ketzer zuſtehen. Ueber das Ver-
hältniß der Kirche zum Staate ſagte die Bulle nichts, und die fünf Höfe
bedurften noch mehrjähriger ſchwieriger Verhandlungen, um die Rechte ihrer
Kirchenhoheit einigermaßen zu ſichern.
Auch Hannover, das zuerſt unter allen proteſtantiſchen Kronen, ſchon
1816, wegen eines Concordats zu unterhandeln begann, mußte lernen,
daß der von Niebuhr eingeſchlagene Weg allein zum Ziele führte. Con-
ſalvi hielt die Herrſchaftsanſprüche ſeiner Kirche unerſchütterlich feſt, er
verlangte für die Biſchöfe die Jurisdiction juxta vigentem ecclesiae
disciplinam, das will ſagen: der proteſtantiſche König von Hannover
ſollte anerkennen, daß die Biſchöfe von Rechtswegen für die Einheit der
Kirche, auch den Ketzern gegenüber, zu ſorgen hätten. Im Jahre 1821
wurden die Verhandlungen abgebrochen; der Bevollmächtigte Ompteda und
ſein Nachfolger Reden hatten Beide nur zu deutlich bewieſen, wie wenig
man im proteſtantiſchen Norden die Geſinnungen des römiſchen Stuhles
kannte. Erſt als ſich die hannöverſche Regierung entſchloß, dem Beiſpiele
Preußens zu folgen, kam am 26. März 1824 die Circumſcriptionsbulle
Impensa Romanorum zu Stande, welche die Einrichtung der zwei kleinen
Bisthümer Osnabrück und Hildesheim anordnete. Aber auch hierbei ließ
die Curie ihre alten Künſte wieder ſpielen: nicht das katholiſche Volk Han-
novers, ſondern das geſammte Königreich wurde als terra catholica in
die neuen Bisthümer eingeordnet. —
Froh ſeiner römiſchen Erfolge, erfriſcht durch die mannichfaltigen Ein-
drücke der Reiſe kehrte Hardenberg am 24. April 1821 nach Potsdam zu-
rück. Unterwegs war er in Baireuth von den treuen Franken, die der
guten preußiſchen Zeiten nicht vergaßen, durch ein Fackelſtändchen geehrt
und an der Landesgrenze, in Gefell unter einer Ehrenpforte feierlich
empfangen worden. Man ſah ihn heiter und zuverſichtlich wie ſeit Jahren
nicht. Doch alsbald mußte er die üblen Folgen dieſer unbedachten Reiſe
erfahren. Die Gegner hatten ſeine Abweſenheit benutzt, die Lage war
gänzlich verändert, die Verfaſſungsſache ſtand ſchon am Anfang des Endes.
Unabläſſig arbeitete die altſtändiſche Oppoſition. Im Februar hatten die
Landesdeputirten der Niederlauſitz die ſofortige Berufung der Provinzial-
ſtände gefordert, und als der Staatskanzler heimkehrte, zeigten ihm Bo-
delſchwingh-Plettenberg und die markaniſchen Ritter kurzweg an, daß ſie
„wegen Verzögerung der Geſtaltung der öffentlichen Angelegenheiten der
Grafſchaft Mark, unſeres Vaterlandes“ ſich entſchloſſen hätten, ihren auf-
gehobenen Landtag einzuberufen. Beide Eingaben wurden freilich ſcharf
[227]B. Conſtant über die preußiſche Verfaſſung.
abgewieſen.*) Am Hofe aber beſprach man mit wachſendem Beifall die
Anſicht des alten Marwitz: es ſei ein toller Gedanke, einem ſo zuſammen-
geſetzten Staate einen Reichstag zu geben. Ein anderer brandenburgi-
ſcher Grundherr, v. Rochow-Rekahn verkündete in einer dem Kronprinzen
eingereichten Denkſchrift triumphirend: die Wiederbelebung der alten Pro-
vinzialſtände trage in den beiden größten deutſchen Staaten endlich den
Sieg davon „über die Einführung jenes trügeriſchen und revolutionären
Conſtitutionsweſens“. Da es unbegreiflicherweiſe „noch immer ſelbſt recht-
liche und wohlgeſinnte Leute gebe, die in dem Letzteren nicht das Werk des
Wahns und der Lüge erblicken“, ſo möge der König in jeder Provinz Ver-
treter der berechtigten Stände, aber nur ganz unzweifelhafte Gegner der
neuen verderblichen Theorien, verſammeln um mit ihnen über die Her-
ſtellung der alten Landtage zu berathen.**) Auch ein literariſcher Kämpe
des altſtändiſchen Partikularismus war mittlerweile aufgetreten, derſelbe
J. F. J. Sommer, der kürzlich als Weſtfalus Eremita die Unabhängigkeit
der römiſchen Kirche vertheidigt hatte. In ſeinem Buche „von deutſcher
Verfaſſung im germaniſchen Preußen“ erklärte er für ganz unzweifelhaft,
daß ſein altes kurkölniſches Herzogthum Weſtphalen noch fortbeſtehe, und
hoffte, die Krone werde ſchon noch einſehen, daß herzoglich weſtphäliſche
und markaniſche Brüder, wie ſehr ſie ſich auch liebten, unmöglich in dem-
ſelben landräthlichen Kreiſe beiſammen bleiben könnten.
Während alſo die Gegner immer zuverſichtlicher auftraten, ſah ſich
Hardenberg gleich nach ſeiner Rückkehr durch eine Uebereilung ungeſchickter
Freunde abermals ſchlimmen Verdächtigungen preisgegeben. Sein wun-
derthätiger Arzt Koreff hatte jene unglückliche Schrift Benzenberg’s an
Benjamin Conſtant, den gefeierten Publiciſten der franzöſiſchen Doctrinäre,
geſendet, mit der Aufſchrift: de la part de l’auteur; er ſetzte voraus,
daß der Empfänger den Namen des Verfaſſers, der längſt in allen deut-
ſchen Zeitungen ſtand, kennen müſſe. Conſtant aber ſchloß aus den ihm
wohlbekannten Schriftzügen der Aufſchrift, das Buch rühre von Koreff
ſelber her, und war freudig überraſcht, die allein wahren Gedanken ſeines
conſtitutionellen Syſtems alſo durch den Vertrauten des preußiſchen
Staatskanzlers anerkannt zu ſehen. Er ließ eine freie franzöſiſche Be-
arbeitung der Schrift beſorgen, verſah ſie mit ſelbſtgefälligen Anmerkun-
gen, erklärte ſie im Vorwort für ein officielles Buch und nannte kurzweg
Koreff als den Verfaſſer. Im März 1821 erſchien das ſonderbare Mach-
werk unter dem dröhnenden Titel: Du triomphe inévitable et prochain
des principes constitutionnels en Prusse. Die kecken Sätze Benzen-
berg’s kehren hier wieder im franzöſiſchen Gewande, bis zum Unkenntlichen
15*
[228]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
übertrieben. Hardenberg prangt als ein Bannerträger des Parlamenta-
rismus, der Ideen der Revolution; Wilhelm von Württemberg, der Feind
der Oſtmächte empfängt warmes Lob. Mit Stolz wird die Thatſache ver-
zeichnet, daß nunmehr auch Preußen ſich bekenne zu dem oberſten Grund-
ſatze conſtitutioneller Freiheit: „der König hat nicht zu handeln, er hat
nur die Männer zu wählen, welche handeln ſollen.“ Zum Schluß die
jubelnde Verſicherung: „die große Revolution iſt vollendet, die Entmuthi-
gung wäre heute nicht mehr blos Schwäche, ſondern Thorheit. Die ge-
ſittete Welt erträgt nur noch freie Völker und conſtitutionelle Monarchen.“
Es war ein tolles Mißverſtändniß; ſchlagender konnte der franzöſiſche
Doktrinär nicht beweiſen, wie wenig er den preußiſchen Staat kannte und
wie unberufen er ihm Rathſchläge ertheilte. In Laibach aber zeigten ſich
die beiden Kaiſer höchlich entrüſtet. Metternich ſchrieb ſogleich nach Berlin
um die exemplariſche Beſtrafung „eines ſo ausgezeichneten Frevels“ zu
beantragen, und Gentz donnerte im Oeſterreichiſchen Beobachter wider „die
betrügeriſchen Kunſtgriffe, die ſchmutzige politiſch-literariſche Gaunerei der
revolutionären Faktion.“ Was half es, daß der Staatskanzler ſogleich
in den franzöſiſchen Blättern eine Verwahrung erſcheinen ließ? Eine
gerichtliche Verfolgung gegen Conſtant war ausſichtslos, weil ſich bald
herausſtellte, daß er zwar ſehr leichtſinnig, aber in gutem Glauben ge-
handelt hatte.*) So blieb er unbeläſtigt, und das Geziſch der böſen Zun-
gen verſtummte nicht. Da man im Volke von Hardenberg’s ſtändiſchem
Verfaſſungsplane nichts ahnte, ſo wiederholten Freund und Feind jahr-
zehntelang das Märchen, daß der Staatskanzler eine Charte nach fran-
zöſiſchem Muſter geplant und bei den Schriften Benzenberg-Conſtant’s
insgeheim mitgeholfen habe.
Doch was wollten ſolche Mückenſtiche bedeuten neben dem wuchtigen
Schlage, welchen der Kronprinz und Wittgenſtein mittlerweile gegen die
Grundlagen des Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes geführt hatten? Die
zur Prüfung der Communalordnungs-Entwürfe eingeſetzte Commiſſion war
am 19. März mit ihrem Berichte zu Stande gekommen; ſie beantragte,
wie ſich vorausſehen ließ, die Verwerfung der ſämmtlichen Entwürfe und
fügte den Vorſchlag hinzu: der König möge vorläufig von der Verkündi-
gung einer Geſammtſtaatsverfaſſung abſehen und zunächſt nur eine neue
Commiſſion berufen, welche mit Eingeſeſſenen aus den Provinzen das
Geſetz über die Provinzialſtände zu berathen hätte. Stein’s Städteordnung
ſollte aufrecht bleiben und in den neuen Landestheilen mit einigen Aen-
derungen eingeführt, die Kreis- und Landgemeindeordnung dagegen für
jede Provinz beſonders mit dem Beirath der Provinzialſtände feſtgeſtellt
[229]Verwerfung der Communal-Ordnung.
werden. Das bedeutete alſo: Vertagung des Reichsverfaſſungsplanes auf
unbeſtimmte Zeit, vielleicht auf immer, und Mitwirkung der Stände bei
der Reform des Communalweſens, die doch nur durch das Niederhalten
der ſtändiſchen Selbſtſucht gelingen konnte. Die Gegner der Verfaſſung
hatten ihr letztes Wort geſprochen; der Krieg gegen den Staatskanzler
war erklärt. Dieſen Bericht fand der alte Herr bei ſeiner Heimkehr vor
und zugleich erlebte er die Kränkung, daß ihn der König jetzt erſt nach-
träglich von dem Daſein und den Arbeiten der hinter Hardenberg’s Rücken
einberufenen Commiſſion benachrichtigte.*)
Der Staatskanzler nahm alsbald den Handſchuh auf. In der länd-
lichen Stille ſeines Schloſſes Neu-Hardenberg entwarf er einen langen
Bericht, der am 24. Mai dem Monarchen eingereicht wurde. Noch ein-
mal wiederholte er hier die Hauptgedanken ſeiner Troppauer Denkſchrift
und mahnte drängend: kein Zeitpunkt könne günſtiger ſein „um eine Ver-
faſſung aus freiem Willen zu geben.“ In Italien liege die Revolution
am Boden, aber in anderen Ländern währe die Gährung fort, und ob-
gleich Preußen dem Anſchein nach von der Anſteckung noch frei geblieben,
ſo ſcheine es doch ſehr räthlich, jetzt durch Bewilligung billiger, freiwil-
liger Bedingungen dem Uebel zuvorzukommen. Auf das Beſtimmteſte
ſprach er aus, daß die Verordnung vom 22. Mai 1815 „als eine öffent-
lich ausgeſprochene königliche Zuſage aufrecht erhalten werden müſſe“;
daraus folge nothwendig die Verkündigung der verheißenen Verfaſſungs-
urkunde und die Einberufung der allgemeinen Stände. „Dadurch allein,
daß dieſe Urkunde das Ganze der königlichen Gnade ausſpreche, wird der
in dem Berichte der Commiſſion angegebene Zweck: die Beruhigung der
Gemüther, die Zufriedenheit der Beſten, die Zurechtweiſung der Schlechten
— erreicht werden; nicht wenn man einen weſentlichen Theil der Ver-
faſſung in der Ungewißheit laſſen wollte.“ Dann erinnerte er noch an
die vielleicht nothwendige Aufnahme neuer Schulden, die ohne die Zu-
ſtimmung der Reichsſtände nicht mehr möglich ſei, und erwähnte rühmend,
wie ſehr ſich der Credit in Baiern ſeit dem Beſtande der Verfaſſung ge-
hoben habe. In allem Uebrigen zeigte er ſich ſehr nachgiebig. Er er-
kannte die Mängel der Communalgeſetze an und ſchlug ſogar vor, einen
neuen Verfaſſungsausſchuß zu bilden, der unter dem Vorſitze des Kron-
prinzen die Communalgeſetze endgiltig feſtſetzen und ſodann unter Mit-
wirkung von Notabeln aus den altſtändiſchen Territorien die Provinzial-
und die Reichsverfaſſung zum Abſchluß bringen ſolle. „Dies Comité träte
an die Stelle des bisher unter meinem Vorſitz beſtehenden. Dieſes gebe
ich gern und willig auf, da mir nur daran gelegen iſt, daß geſchehe was
das Beſte des Staates erheiſcht, gleichviel von wem.“**)
[230]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
So zäh hielt der greiſe Staatsmann bei ſeinem Plane aus. Doch
leider fehlte ſeiner Denkſchrift gerade das Eine, was ihr vielleicht Nach-
druck geben konnte: die beſtimmte Erklärung, daß er mit ſeinem Verfaſ-
ſungswerke ſtehen oder fallen wolle. Indem er eine Verfaſſungscom-
miſſion vorſchlug, welche nicht unter ſeinem Vorſitze tagen ſollte, ver-
zichtete er ſelber auf die unbeſtreitbaren Rechte ſeines Staatskanzleramts.
So gab er den Gegnern gewonnenes Spiel. Die Commiſſion ſäumte
nicht, dieſe Schwäche zu benutzen. Sie hielt ihre Anſicht aufrecht und
beſchloß, der Krone die Entſcheidung anheimzuſtellen; fiel der Entſchluß
des Königs gegen den Staatskanzler, ſo blieb dieſem nur noch Unterwer-
fung oder Rücktritt offen. Man fühlte lebhaft den Ernſt des entſchei-
denden Augenblicks. In drei eigenhändigen Entwürfen ſtellten Wittgen-
ſtein, Ancillon, Schuckmann die Streitpunkte für den Monarchen zu-
ſammen; Wittgenſtein faßte den Gegenſatz dahin auf, daß die Commiſſion
nur die zeitgemäße Wiederherſtellung der älteren Verfaſſung in den ver-
ſchiedenen Provinzen wolle, während der Staatskanzler zugleich eine neue,
eine reichsſtändiſche Verfaſſung und mithin die „Begründung einer con-
ſtitutionellen Monarchie“ beabſichtige.*)
Im Sinne dieſer Entwürfe wurde nunmehr eine Ueberſicht der Streit-
punkte für den König ausgearbeitet und zugleich (28. Mai) ein Bericht
eingereicht, der rundweg ausſprach: „Eine Verfaſſungsurkunde würde immer
nur nach dem Vorbilde der bairiſchen, württembergiſchen, badiſchen beur-
theilt werden. Zufriedenheit würde ſie nicht befördern, weil ſie den For-
derungen der Schreier unmöglich genügen könnte. Eine ſolche Verfaſ-
ſungsurkunde würde den Schein herbeiführen, als ſolle der preußiſche Staat
nach veränderten Fundamental-Grundſätzen neu conſtituirt werden.“ Die
Commiſſion ſagte voraus, daß die Verfaſſung in Preußen wie in allen
andern Staaten ſofort den lebhafteſten Kampf über die Deutung der ver-
liehenen Rechte hervorrufen müſſe, und verſtieg ſich endlich zu dem kühnen
Satze: „Es bleibt da, wo eine Verfaſſungsurkunde verliehen werden ſoll,
nur die offene Wahl, entweder das reine monarchiſche Prinzip feſtzuhalten
und daher ſich auf berathende Landſtände zu beſchränken, oder ihm das
demokratiſche Prinzip wirklich beizufügen. Auf Letzteres trägt der Staats-
kanzler ſo wenig als wir an, und es kann kein treuer und verſtändiger
Beamter und Unterthan darauf antragen. Dann bedarf es aber auch
keiner Verfaſſungsurkunde.“ Und wie viel leichter — ſo fuhr die Commiſ-
ſion fort — ließen ſich die Formen und die Rechte eines ſpäterhin etwa
nöthigen allgemeinen Landtags dereinſt feſtſtellen, wenn die Provinzialſtände
bereits ins Leben getreten ſeien!
Der Bericht ſtammte aus Schuckmann’s Feder; er trug in Allem
[231]Die Entſcheidung.
das Gepräge parteiiſcher Uebertreibung und enthielt ſogar, wenngleich in
vorſichtiger Verhüllung, gehäſſige Verdächtigungen gegen den Staatskanzler,
der ja nie etwas Anderes als berathende Land- und Reichsſtände verlangt
hatte.*) Der Kronprinz aber unterzeichnete unbedenklich; die ſtarken Aus-
fälle wieder die papierenen Verfaſſungsurkunden behagten ſeiner roman-
tiſchen Staatsanſchauung. Auf die Stimmung des Königs waren die Vor-
ſchläge der Commiſſion auch ſehr geſchickt berechnet. Wie Friedrich Wilhelm
jetzt geſinnt war — voll Unmuths über die Revolutionen in Südeuropa,
mißtrauiſch gegen die ſüddeutſchen Kammerredner, und doch zu gewiſſen-
haft um ſein altes Verſprechen förmlich zurückzunehmen — ſo mußte er
es faſt als eine Erlöſung betrachten, wenn ihm nun gerathen wurde, einen
Theil ſeiner Zuſagen ſofort zu erfüllen und doch das gefährliche Wagniß
der Reichsſtände vorläufig zu vertagen. Die beiden Parteien der modernen
Staatseinheit und des altſtändiſchen Partikularismus traten endlich mit
geöffneten Helmen vor den Thron. Der König entſchied im Sinne des
Thronfolgers. Er genehmigte die Anträge der Commiſſion und befahl
eine abermalige Berathung, die ſich ausſchließlich mit der Einrichtung der
Provinzialſtände beſchäftigen ſollte. Eine Cabinetsordre vom 11. Juni
1821 gab dem Staatskanzler zu wiſſen: „das Weitere wegen Zuſammen-
berufung der allgemeinen Landſtände bleibt der Zeit, der Erfahrung, der
Entwicklung der Sache und Meiner landesväterlichen Fürſorge anheimge-
ſtellt.“**) So iſt der Plan der preußiſchen Reichsverfaſſung erſt im ſiebenten
Jahre nach der gegebenen Zuſage, und auch dann nur vorläufig, beſeitigt
worden.
Der Würfel war gefallen, die Altſtändiſchen triumphirten. Nur
Hardenberg wollte die Entſcheidung nicht als unwiderruflich anſehen. Er
richtete noch einmal (4. Juli) eine Gegenvorſtellung an den König und
empfing erſt nach Monaten die beiläufige Antwort, daß dieſe Denkſchrift
dem neuen Verfaſſungsausſchuſſe zur Benutzung übergeben worden ſei.
Inzwiſchen tröſtete er ſich mit der leichtſinnigen Hoffnung, die Oppoſition
durch Stillſchweigen zu entkräften, und blieb ſogar mit ſeinem gefährlichſten
Gegner Wittgenſtein in dem alten freundſchaftlichen Verkehre.***) Die
Künſte des diplomatiſchen Zauderns, die ihm einſt gegen Napoleon ſo för-
derlich geweſen, ſollten ihm auch wider die einheimiſchen Gegner helfen.
Die Berufung der Reichsſtände war ja nur verſchoben, nicht abgelehnt,
und vielleicht kam noch der Tag, da ſie möglich wurde. Wer den König
kannte, mußte freilich vorherſehen, daß dieſer Tag nicht ſo bald, und ſicher-
lich nicht mehr bei Lebzeiten des greiſen Kanzlers erſcheinen konnte. Nie-
mand wußte dies beſſer als General Witzleben, der unerſchütterlich zu Har-
[232]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
denberg’s Plänen ſtand und darum fortan den Verfaſſungsberathungen
fern gehalten wurde. Auf einer Reiſe durch die weſtlichen Provinzen, die er
im Laufe des Sommers im Gefolge des Monarchen unternahm, bemerkte
er zwar mit Freude, wie ſein verſtimmter königlicher Herr wieder aufzu-
thauen begann. Der Empfang am Rhein war überall ſehr herzlich, die
getreuen Altpreußen in Crefeld und den niederrheiniſchen Landen ſchwelgten
in patriotiſcher Begeiſterung, und ſelbſt die hartgläubigen Münſterländer,
die ſoeben erſt die ſtrenge Hand der paritätiſchen Staatsgewalt hatten em-
pfinden müſſen, bewahrten mindeſtens den äußeren Anſtand. Auch war
Friedrich Wilhelm noch immer keineswegs geſonnen allen Anſprüchen der
Altſtändiſchen zu willfahren; als ihn Bodelſchwingh und ſeine Markaner
unterwegs wieder einmal um die vorläufige Herſtellung ihres alten Land-
tags baten, wies er ſie nochmals freundlich aber ernſt zurück.*) Gleichwohl
entging dem Generaladjutanten nicht, wie argwöhniſch ſein königlicher Freund
jetzt Alles betrachtete was nur irgend des Liberalismus verdächtig ſchien.
Selbſt auf ſeine alten Bedenken gegen die Landwehr, denen er vor zwei
Jahren ſchon entſagt hatte, kam der König wieder zurück, und nach einem
peinlichen Geſpräche ſchrieb Witzleben traurig: „wie würden unſere äußeren
Feinde, wie würde Oeſterreich triumphiren, wenn wir unſer Landwehr-
ſyſtem aufgäben!“ In Ems ließ ſich Stein bei dem Könige melden, und
Witzleben fühlte ſich in tiefſter Seele erquickt, als er aus den flammen-
den Worten des großen Mannes erkannte, wie vollſtändig ſie Beide in
allen Staatsfragen übereinſtimmten. Aber ein politiſches Geſpräch des
Freiherrn mit dem Monarchen hielt der General ſelber nicht für rathſam:
„Der König iſt jetzt einmal von einer Idee ergriffen; eine bloße Unter-
redung kann keine Aenderung veranlaſſen, nur die Thatſachen können und
werden es leider.“**) So begnügte ſich Stein mit einem Anſtandsbeſuche,
der ihm indeß für die Monumenta Germaniae ein königliches Geſchenk
einbrachte. —
Mittlerweile zeigte ſich immer klarer, daß an jenem verhängnißvollen
11. Juni nicht eigentlich der Abſolutismus über die liberale Idee, ſondern
der Partikularismus über die Staatseinheit triumphirt hatte. Die Dok-
trinen der guten alten Zeit von 1805 ſtiegen wieder aus dem Grabe,
romantiſch ausgeſchmückt nach dem Sinne des Kronprinzen; dieſer in
Kämpfen ohne Gleichen zuſammengeſchmiedete preußiſche Einheitsſtaat hieß
wieder ein Föderativſtaat, ein mehrere Staaten umfaſſendes Staatenreich.
Kamptz vornehmlich vertheidigte dieſe Theorie, die ſich auf das erbauliche
Beiſpiel der öſterreichiſchen Kronlande berief, mit ſeiner gewohnten fana-
tiſchen Hartnäckigkeit, und trug ſie noch ein Vierteljahrhundert ſpäter in
[233]Altſtändiſche Hoffnungen.
ſeinen Staatsrechtlichen Abhandlungen vor. Marwitz empfahl eine radi-
kale Verwaltungsreform, welche die Macht der heimathloſen Bureaukraten
und Geldoligarchen, dieſer gefährlichſten Demagogen, brechen und die neue
demagogiſche Erfindung der Reichsſtände für immer beſeitigen ſollte. Ein
Staatsrath, gebildet aus den Chefs der Verwaltung und angeſehenen Ein-
geſeſſenen, an der Spitze des Staats; unter ihm Provinzialminiſter mit
Provinzialſtänden; endlich Landräthe, beſchränkt durch die Kreisſtände und
auf drei bis ſechs Jahre von ihnen gewählt — ſo die Grundzüge dieſer
feudalen Verwaltungsordnung, die geradeswegs darauf ausging den ge-
einten deutſchen Norden wieder in ein Chaos ſtändiſcher Kleinſtaaten zu
zerſprengen.
Wie hätte der bewährte Schmalz in dieſem tobenden Chore der Re-
aktion fehlen ſollen! Er ſchrieb (1822) unter dem Namen eines Freundes
der Verfaſſung (E. F. d. V.) eine „Anſicht der ſtändiſchen Verfaſſung der
preußiſchen Monarchie.“ Die Schrift ging aus von dem zufälligen Um-
ſtande, daß der preußiſche Staat ſeinen Geſammtnamen einem einzelnen
Landestheile entlehnt hatte, und ſtützte darauf den wunderbaren Schluß:
der Schleſier oder Märker ſei kein Preuße im eigentlichen — das will
ſagen: im ethnographiſchen — Sinne, während der Gascogner, der Be-
wohner von Yorkſhire ſich mit Recht einen Franzoſen, einen Engländer
nenne, und folglich ſei Preußen auch ſtaatsrechtlich kein Einheitsſtaat wie
England oder Frankreich, ſondern ein zuſammengeſetzter Staat, ähnlich
der Union von Nordamerika. Das Ganze klang wie ein ſchlechter Witz,
indeß mochte Schmalz’s harter Kopf wohl ſelber daran glauben, wenn er
dann alles Ernſtes weiter folgerte, der König ſei König nur in Oſtpreußen,
in Magdeburg nur Herzog, in Mörs nur Graf und mithin verpflichtet,
jedem dieſer Staaten einen beſonderen Landtag zu gewähren.
Alſo ſtellten die Altſtändiſchen mit ihren „heilloſen“ Doctrinen, wie
Witzleben ſie nannte, Alles wieder in Frage, was die Hohenzollern in
zwei ſchweren Jahrhunderten gebaut hatten, und behaupteten gleichwohl den
Thron gegen die Revolution zu vertheidigen. Und ſeltſam genug, dieſen
ſtaatsfeindlichen Beſtrebungen arbeitete eine Partei des hohen Beamten-
thums, die von durchaus anderen Anſichten ausging, arglos in die Hände.
Die neue Verwaltungsordnung hatte ſich trotz ihrer tüchtigen Leiſtungen
noch keineswegs ein unerſchütterliches Anſehen errungen. Alle Welt klagte
über Vielregiererei; das unerfahrene Volk vermochte nicht zu begreifen,
daß der Staat, der jetzt ſo viel mehr für das gemeine Wohl leiſtete, auch
mehr Diener brauchte. Am Rhein glaubte Jedermann, freilich auf Grund
ſehr zweifelhafter Berechnungen, die Verwaltung der napoleoniſchen Prä-
fekten ſei zwei- bis dreimal wohlfeiler geweſen. Der König ſelbſt forderte
dringend Erſparniſſe in der Civilverwaltung, um das Deficit endlich zu
beſeitigen. Die Provinzialbehörden aber, zumal die Oberpräſidenten em-
pfanden ſchwer die ungeheure Macht der neuen Fachminiſter, die jetzt auch
[234]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
über alle Streitfragen des öffentlichen Rechts in letzter Inſtanz entſchie-
den; der Staatsrath gewährte dawider nur in ſeltenen ſchweren Fällen
Abhilfe. Dem Aemterſyſteme fehlte noch eine geordnete Verwaltungs-
juſtiz mit unabhängigen Tribunalen; doch über die Fragen des Verwal-
tungsrechts war bisher weder die Wiſſenſchaft noch die Praxis ins Klare
gekommen, und ſo lange man den Sitz des Uebels nicht erkannt hatte,
richtete ſich aller Unwille gegen die Fachminiſter und das Uebermaß der
Centraliſation.
Um den endloſen Beſchwerden abzuhelfen, bildete Hardenberg im
Sommer 1821 einen Ausſchuß, der unter Altenſtein’s Vorſitz über die
Vereinfachung der Verwaltung berathen ſollte, und berief dazu außer
einigen Beamten der Miniſterien vier Präſidenten aus den Provinzen,
Vincke, Hippel, Baumann und Delius. Hier trat denn Vincke (13. Nov.)
mit dem Antrage hervor, die Monarchie in vier große Provinzialminiſterien
zu zerſchlagen und von den Fachminiſtern nur noch vier beſtehen zu laſſen.
Fachminiſter, ſo führte er aus, eigneten ſich nur für Kleinſtaaten oder
für ſolche Reiche, in denen die Revolution Alles eingeebnet habe und die
Willkür der Präfekten herrſche. So wurde dieſer Mann des gemeinen
Rechtes, der geſchworene Feind der gutsherrlichen Polizei und Gerichts-
barkeit, durch den Abſcheu vor der Verderbniß franzöſiſcher Centraliſation
dahin geführt, daß er den Plänen des feudalen Partikularismus auf
halbem Wege entgegenkam. Und er ſtand nicht allein. Klewiz, Schön
und mehrere andere tüchtige Beamte von unzweifelhaft liberaler Geſin-
nung huldigten derſelben Anſicht. Hippel aber erwiderte, die neue Ein-
richtung ſei nicht der Revolution nachgeahmt, ſondern hervorgegangen aus
der Nothwendigkeit, die Provinzen „zu einem Volke, einem Reiche“ zu-
ſammenzufaſſen. Unter den Provinzialminiſtern habe der Staat ſeine
Demüthigung erlebt, den Fachminiſtern verdanke er eine Epoche ſegens-
reicher Reformen. Und ſolle etwa dies kräftig aufſtrebende Preußen ſein
Vorbild ſuchen in dem lockeren Nebeneinander der Kronländer Oeſter-
reichs, das noch immer am Rande des Bankrotts ſtehe?
Zugleich ſendete Humboldt, von Vincke befragt, die nach Form und In-
halt reifſte ſeiner Denkſchriften, den berühmten Brief vom 29. Nov., der
ſpäterhin den Weg in die Preſſe fand und immer von Neuem gegen die
Provinzialſtände ins Feuer geführt wurde. Mit zwingenden Gründen wies
er nach, wie gerade die große Verſchiedenheit der Provinzen eine feſte Cen-
tralverwaltung bedinge, und der Miniſter des Innern, der nach Vincke’s
Plänen ganz verſchwinden ſollte, der natürliche Vertreter der Staatseinheit
unter den Miniſtern ſei. Dann ging er auf die Verfaſſungsfrage über und
zeigte den ganzen Widerſinn des noch nie und nirgends verwirklichten Ge-
dankens, einen Einheitsſtaat durch Provinzialſtände zu zerreißen — eines
Planes, der entweder die Staatsgewalt unabläſſigen ſtändiſchen Ueber-
griffen oder die Stände der Nichtigkeit preisgeben müſſe. Er ſagte vor-
[235]Provinzialminiſter.
aus, daß die Reichsſtände früher oder ſpäter aus den Provinzialſtänden
hervorgehen würden, und hielt darum für geboten, jetzt ſchon die Grund-
lagen der Geſammtſtaatsverfaſſung feſtzuſtellen. Am letzten Ende laufe
die Frage darauf hinaus: „ob der Staat wieder eine Verbindung mehrerer
Staaten werden oder ein Staat bleiben ſolle?“ Glücklicher als der Staats-
kanzler ſelber vertheidigte er alſo die Gedanken Hardenberg’s. Welch ein
Unheil, daß dieſe beiden in der Sache ſo ganz einigen Männer durch
unverſöhnlichen perſönlichen Groll einander entfremdet waren. General
Witzleben, der anfangs auf Vincke’s Seite geſtanden hatte, zeigte ſich auch
diesmal zugänglich für einſichtigen Rath. Er wurde durch Humboldt und
Hippel überzeugt, durch ihn der König. Die Altſtändiſchen ſind dann
noch mehrmals auf ihren Plan zurückgekommen. Marwitz empfahl ſein
Programm noch im Frühjahr 1823 dem Kronprinzen, und der badiſche
Geſchäftsträger v. Meyern, ein unbedeutender Mann, deſſen Berichte wie
ein Echo die Anſichten der reactionären Partei wiedergeben, meldete nach
Hardenberg’s Tode: „Provinzialminiſter ſind der allgemeine Wunſch.“*)
Aber der König hielt die Einheit der Verwaltung unbeirrt aufrecht.
Bei ruhiger Prüfung erkannte man doch, daß die Klagen ſtark übertrieben
und nur wenige der vorhandenen Beamten entbehrlich waren, wenn man
nicht das altbewährte Collegialſyſtem mit der despotiſchen Präfektenver-
waltung vertauſchen wollte. Die langwierigen Verhandlungen führten
ſchließlich nur zur Aufhebung von drei Regierungen (Cleve, Reichenbach,
Berlin) und zwei Oberpräſidentenſtellen. Der Tod des Grafen Solms-
Laubach im Jahre 1822 bot den Anlaß, das Großherzogthum Nieder-
rhein mit Jülich-Cleve-Berg zu vereinigen und den wackeren alten Ingers-
leben zum Oberpräſidenten dieſer neuen Rheinprovinz zu ernennen.
Währenddem betrieb Schön mit Feuereifer die Vereinigung von Oſt- und
Weſtpreußen. Der Wirkungskreis in Danzig genügte ſeinem Ehrgeiz nicht.
Er fühlte ſich als das natürliche Oberhaupt des geſammten altpreußiſchen
Landes und betrachtete, wie alle echten Oſtpreußen, das Weichſelland nur
als ein Trümmerſtück des glorreichen Ordensſtaates, das jetzt wieder ganz
zu der alten Heimath zurückkehren müſſe. Hatte doch Friedrich der Große
einſt beide Landſchaften unter Domhardt’s Leitung geſtellt und auch Auers-
wald in den napoleoniſchen Tagen beide Provinzen zugleich verwaltet.**)
Für das geiſtige Leben beider Lande war Königsberg der Mittelpunkt,
faſt in gleichem Maße wie Breslau für Schleſien, während Danzig immer
nur eine Handelsſtadt blieb; auch ſchien es rathſam, dem Polenthum in
Weſtpreußen ein ſtarkes Gegengewicht zu geben. Freilich waren die Ent-
fernungen ungeheuer und das Reiſen auf den ſchlechten Wegen ſelbſt mit
[236]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
den raſchen litthauiſchen Roſſen ſehr mühſam. Schön aber wußte alle
Bedenken zu überwinden, der allgemeine Wunſch nach Vereinfachung der
Verwaltung kam ihm zu ſtatten, und im Jahre 1824 wurde er zum
Oberpräſidenten der Provinz Preußen ernannt. So entſtanden zwei neue
Provinzen, die eine faſt ebenſo groß, die andere faſt ebenſo ſtark be-
völkert wie das geſammte rechtsrheiniſche Baiern. Im Rheinland be-
währte ſich die Vereinigung vollſtändig; in der Provinz Preußen traten
doch bald ſcharfe Gegenſätze hervor, die Weſtpreußen fanden ſich durch die
oſtpreußiſche Mehrheit in ihren Intereſſen geſchädigt, und nur ſo lange
Schön ſein geſtrenges und ſorgſames Regiment führte blieb die neue
Ordnung unangefochten. —
Der Angriff auf die Einheit der Verwaltung war geſcheitert; um ſo
ſicherer hoffte die feudale Partei die Einheit der Verfaſſung zu hinter-
treiben. Am 30. Okt. wurde die neue Commiſſion — die fünfte und
letzte — einberufen, um über die Bildung der Provinzialſtände zu be-
rathen. Der König nahm ſeinen würdelos nachgiebigen Staatskanzler
beim Wort, ſchloß ihn von den Berathungen gänzlich aus. Er berief
den Kronprinzen zum Vorſitzenden, zu Theilnehmern die ſämmtlichen Mit-
glieder jenes vierten Ausſchuſſes, welcher ſoeben die Verwerfung der Com-
munalordnung gegen Hardenberg durchgeſetzt hatte. Neu hinzu traten
nur: der Miniſter Voß-Buch, die Präſidenten Vincke und Schönberg und
als Schriftführer: Geh. Rath Duncker. Es war wie eine feierliche Ab-
dankung des Staatskanzlers. Die Commiſſion eröffnete ihre Sitzungen
am 4. Decbr. Sie berief ſodann nach einander eine kleine Zahl von
Notabeln aus den einzelnen Landestheilen. Zuerſt (Januar 1822) tagten
die Brandenburger, dann die Notabeln aus Pommern, Oſtpreußen, Weſt-
preußen, aus der Niederlauſitz, aus Sachſen. Im Mai wurden die
Schleſier und die Oberlauſitzer, im October die Weſtphalen, zuletzt die
Rheinländer und (im März 1823) die Poſener gehört. Die Einberufenen
waren zur ſtrengſten Verſchwiegenheit verpflichtet, und da die Cenſur auch
die Zeitungen ſcharf überwachte, ſo blieb das Geheimniß ſo wohl bewahrt,
daß erſt im Jahre 1847 durch die Schriften von Röpell und Wuttke
Einiges aus den Verhandlungen der ſchleſiſchen Notabeln bekannt wurde.
Schon die Auswahl der Vertrauensmänner ließ erkennen, wie viel
Boden die Altſtändiſchen gewonnen hatten in den vier Jahren ſeit jener
Bereiſung der Provinzen. Damals waren noch Männer aus allen Stän-
den vernommen worden. So weit ging man freilich auch jetzt nicht, kurz-
weg die Deputirten der alten Landtage als ſolche zu verſammeln, wie
einſt die Ruppiner Stände verlangt hatten. Aber wie ganz unbillig, wie
ganz zuwider allen Traditionen dieſer gerechten Krone wurde der Adel
bevorzugt! Unter den etwa hundert Notabeln, die man aus der Monarchie
einberief, waren: aus Schleſien 15 vom Landadel, 6 Bürger, kein Bauer;
aus den Marken 6 Edelleute, 4 Bürger, kein Bauer; aus Weſtphalen
[237]Die Notabeln. Voß-Buch.
7 Edelleute, 9 Bürger, ein bäuerlicher Gutsbeſitzer u. ſ. w. Begreiflich
alſo, daß Präſident Schönberg den Zweifel äußerte, „ob die Einberufenen
wirklich alle Wünſche der Provinzen zur Sprache gebracht hätten.“ Die
altſtändiſche Partei war durch einige ihrer thätigſten Führer vertreten.
Vom märkiſchen Adel kamen Rochow-Rekahn und Quaſt, zwei ſehr angeſehene
Männer, Beide ſo hoch conſervativ, daß Marwitz ſie ſich als branden-
burgiſche Provinzialminiſter dachte; vom weſtphäliſchen die alten Kämpen
Merveldt, Hövel, Romberg; vom ſchleſiſchen Herr v. Lüttwitz, der ſoeben
als Schriftſteller für die Adelsintereſſen auftrat, mit ihm freilich auch
der liberale Graf Dyhrn und Herr v. Gruttſchreiber, ein unruhiger Kopf,
der mehrmals auf eigene Fauſt ſchleſiſche Volksrepräſentanten verſammelt
hatte. Den alten Marwitz hielt man fern; man fürchtete wohl den un-
bändigen Freimuth des eiſernen Mannes. Dieſelbe Sorge und das alte
Mißtrauen, das Voß und Wittgenſtein noch gegen den großen Reformer
hegten, mochten auch verſchulden, daß der Freiherr vom Stein nur um ein
ſchriftliches Gutachten erſucht wurde.
Die Verhandlungen mit den einzelnen Gruppen der Vertrauens-
männer währten ſelten mehr als acht Tage; ſie waren ebenſo leer als
kurz. Die Notabeln ſollten, auf Befehl des Königs, nur über die Zuſam-
menſetzung der Provinzialſtände, nicht über den Umfang ihrer Rechte, be-
fragt werden; denn bei aller Verehrung für die Sonderrechte der Pro-
vinzen konnte man doch nicht verkennen, daß es unmöglich ſei, einen Ver-
faſſungsplan mit zehn Verſammlungen zu vereinbaren. Die Commiſſion
beſchloß daher über alle weſentlichen Grundſätze der Verfaſſung durchaus
ſelbſtändig. Die Einberufenen fühlten, wie wenig an der beſchloſſenen Sache
zu ändern ſei, traten ſtill und beſcheiden auf; ihr Gutachten gab nur in
geringfügigen Nebenfragen den Ausſchlag. Selbſt die Rheinländer wagten
nur ſchüchtern eine beſchränkte Oeffentlichkeit für die Landtage zu fordern,
und die Abſicht ſich für ihren Landsmann Görres zu verwenden ließen
ſie bald fallen. Leider zog man aus dieſen Erfahrungen nicht den nahe
liegenden Schluß, daß die Provinzialſtände ſelber der gleichen Unfrucht-
barkeit verfallen mußten.
Innerhalb der Commiſſion entbrannte aber ſofort von Neuem der
alte Parteikampf. Die altſtändiſche Anſicht des Kronprinzen und ſeines
Ancillon fand jetzt einen mächtigen Beiſtand an Herrn v. Voß-Buch. Ein
achtungswerther wohlmeinender Mann, ein pflichtgetreuer altpreußiſcher
Beamter, war der Führer des brandenburgiſchen Adels ſeit vielen Jahren
mürriſch auf ſeinen Gütern geblieben, gleich ſeinem Freunde, dem alten
Miniſter von Angern im Magdeburgiſchen, grollend über die neuen Agrar-
geſetze, über die meiſterloſe Zeit, die an der hergebrachten Gliederung
der Stände rüttelte. Er ſah den Staat durch doktrinäre Thoren dicht
an den Rand des Abgrunds gedrängt; innezuhalten auf dem Wege der
Neuerung, die Gewerbefreiheit, die Ablöſung der bäuerlichen Laſten wieder
[238]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
zu beſchränken, ſchien ihm unerläßlich. In allen ſeinen Reden klar, be-
ſtimmt, aufrichtig, immer bereit fremde Meinungen ernſthaft anzuhören,
war er doch völlig unfähig aus ſeinem engen Gedankenkreiſe hinauszu-
gehen und maß alle politiſchen Dinge an den wohlerworbenen Rechten der
märkiſchen Stände: „nach teutſcher Verfaſſung kann Niemand repräſentiren,
der eine Mediatobrigkeit hat.“ Vor ſeinem Könige erſchien er nie anders
als in Kniehoſen und langen Strümpfen; einem bürgerlichen Präſidenten
hingegen vergönnte er nur den Titel Ew. Wohlgeboren — zur namen-
loſen Entrüſtung Varnhagen’s und aller aufgeklärten Berliner. Mit Har-
denberg hatte er ſich ſchon in den napoleoniſchen Zeiten ſo gänzlich über-
worfen, daß ſeine Berufung wie ein Schlag ins Angeſicht des Staatskanz-
lers erſchien und von allen Gegnern Hardenberg’s, leider auch von Stein,
mit Befriedigung aufgenommen wurde. Die Rechtſchaffenheit und Arbeits-
kraft des alten ſtrengen Feudalen machte ihn bald dem Monarchen werth;
im Sommer 1822 beſuchte ihn der König in Buch, ſeitdem ſtand ſein Ein-
fluß feſt. Mit ſeiner Hilfe hofften die Altſtändiſchen ihr chriſtlich-ger-
maniſches Ideal zu verwirklichen. Als Küſter in ſeinem Amtseifer jetzt
noch eine Ueberſicht der ſüddeutſchen Verfaſſungen zur Benutzung für die
Commiſſion einſendete, da erwiderte Ancillon herablaſſend: mit ſolchen
nach fremden Muſtern gearbeiteten Geſetzen könne man in Preußen natür-
lich wenig anfangen.*)
Etwas moderner, mehr altbureaukratiſch als ſtändiſch waren die An-
ſichten Wittgenſtein’s, Schuckmann’s und Albrecht’s. Die Meinung des
liberalen Beamtenthums vertraten nur Vincke und der Merſeburger Re-
gierungspräſident Schönberg, Beide mit ausdauernder Tapferkeit und
rückſichtsloſem Freimuth. Im Ganzen verliefen die Verhandlungen matt
und ſchläfrig. Nach dem ſechsjährigen Zaudern war Alles abgeſpannt.
Jene feſte Ueberzeugung von der inneren Nothwendigkeit des Verfaſſungs-
werkes, welche Humboldt immer als die erſte Vorausſetzung des Gelingens
bezeichnete, beſtand längſt nicht mehr. Man arbeitete nur noch, um der
gegebenen Zuſage zu genügen.**)
Sogleich der Beginn der Berathung zeigte, wie unhaltbar der Plan
war, Provinzialſtände zu ſchaffen ohne jede klare Vorſtellung von dem
Wann und Wie der Reichsſtände. Es entſtand die Frage: Sollte das
Stückwerk, das man vorderhand in Angriff nahm, als eine Erfüllung
des alten Verſprechens gelten? Sollte das neue Geſetz in ſeinem Ein-
gange an die Verordnung vom 22. Mai erinnern? Ancillon und ſeine
Freunde fanden dies bedenklich; ſie nahmen Anſtoß an den Worten
„Repräſentation des Volkes“, die ſo oft mißdeutet würden, während man
[239]Die letzte Verfaſſungs-Commiſſion.
in Preußen doch nur eine Vertretung des eigentlichen Volkes, der Grund-
beſitzer beabſichtige. Schönberg ſchrieb dagegen, mit deutlichem Hinweis
auf Haller: „Alles in der Welt kann mißdeutet werden. Mögen die
Philoſophen über die Grundſätze, worauf Staaten baſirt ſein ſollen, träu-
men, erfinden und reſtauriren, Preußens König und ſein erlauchtes Haus
braucht von dieſen Theorien ſein Heil nicht zu erwarten. Dieſes liegt
feſt begründet in der Treue, dem Gehorſam und der Liebe ſeiner Unter-
thanen. Ich habe den Ausdruck nicht für bedenklich anſehen können. Der
König und ſein Volk iſt ein ſchönes Wort, deſſen Sinn in der Zeit der
großen Ereigniſſe ſich auf das Herrlichſte bewährt hat. Eine ſtändiſche
Repräſentation bleibt immer eine Repräſentation des Volks. Wäre dieſes
nicht der Fall, ſo würden alle Unterthanen, welche nicht ſo glücklich ſind
ein Grundbeſitzthum zu haben, gewiſſermaßen außer dem Geſetz ſein,
welches man doch nicht annehmen kann.“ Voß aber erwiderte ſchroff:
„S. Maj. haben ſeitdem irgend auf eine Weiſe nicht zu erkennen ge-
geben, daß ſie jene als Geſetzgeber gegebene Verordnung, in welcher ich
ein Verſprechen zu finden nicht vermag, ſowie ſie daſteht, ausgeführt wiſſen
wollten; vielmehr möchte ich auf das Gegentheil ſchließen.“
Damit war ein unheilvolles Wort geſprochen, das bald zum Schlag-
worte der reactionären Partei wurde und nach einem Vierteljahrhundert
ſich ſchwer beſtrafen ſollte. Als abſoluter Monarch war der König un-
zweifelhaft berechtigt, die Verordnung vom 22. Mai durch eine neue Ver-
ordnung förmlich aufzuheben; aber ſo lange er ſich dazu nicht entſchloß
blieb er an ſein Verſprechen gebunden. Und eine feierliche Zuſage enthielt
jene Verordnung allerdings; das zeigte der Wortlaut ſowie die beſtimmte
Verſicherung Hardenberg’s, der die Verordnung ſelbſt verfaßt und die Wil-
lensmeinung des Königs darüber eingeholt hatte. Welch eine Verwirrung
aller Rechtsbegriffe mußte entſtehen, wenn man jetzt begann dieſe klaren
Thatſachen zu verdunkeln und die ungeheuerliche Behauptung aufſtellte,
es ſtehe der Krone frei, die Verordnung vom 22. Mai nicht aufzuheben
und doch ſie nicht zu befolgen!
Aber ſollte nicht mindeſtens die frühere Zuſage wiederholt und den
Provinzialſtänden das Wahlrecht für die künftigen Reichsſtände nochmals
feierlich verſprochen werden? Vincke ſprach eifrig dafür. Selbſt Ancillon
ſtimmte ihm hier bei, weil dadurch der allein wahre Grundſatz der ab-
geſtuften Wahlen im Voraus anerkannt und „der Glaube an die künf-
tige Herſtellung der allgemeinen Reichsſtände belebt würde. Wir müſſen
nie vergeſſen“, fuhr er fort, „daß die allgemeinen Stände von Sr. Maj.
förmlich verſprochen ſind, daß auch die Beſſeren ſie wünſchen, daß wir
gleich den Grundbau mit Beziehung auf ſie aufführen müſſen, und daß
bei der großen Wirkſamkeit, die wir den Provinzialſtänden einräumen,
die allgemeinen um ſo nothwendiger mit der Zeit werden müſſen, da ſie
allein ein geſetzmäßiges Ausgleichungsmittel der oft entgegengeſetzten Pro-
[240]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
vinzialmeinungen darbieten.“ Voß hingegen erklärte kurzab, man dürfe
„dem geſetzgebenden Willen nicht vorgreifen“; Wittgenſtein und Albrecht
ſtimmten ihm zu. Man einigte ſich endlich (21. Mai) über ein ſchwäch-
liches Compromiß: das neue Geſetz ſollte weder der Verordnung vom
22. Mai noch des Wahlrechts für den Reichstag gedenken, doch dafür
aus jener entſcheidenden Cabinetsordre vom 11. Juni 1821 den Satz
aufnehmen, welcher ausſprach, das Wann und Wie der Reichsſtände bleibe
„Unſerer landesväterlichen Fürſorge vorbehalten“.
Welch ein Mißgriff! Das Geſetz befahl nicht, es verſprach nicht ein-
mal, es ſtellte nur mit ſchwankenden Worten in Ausſicht, daß vielleicht der-
einſt Reichsſtände erſcheinen könnten! Die unbeſtimmte, vieldeutige Rede-
wendung gab dem Zwieſpalt, der unter den Geſetzgebern ſelber herrſchte,
einen getreuen Ausdruck. Voß und Wittgenſtein wollten überhaupt keinen
Reichstag, während der Kronprinz, Ancillon und die beiden Präſidenten
noch immer daran feſthielten. Dem Prinzen ſchwebte der Gedanke vor, daß
die Monarchie in ihrem ſtändiſchen Leben denſelben langſamen Entwick-
lungsgang zur Einheit durchmeſſen ſollte, den ihre Verwaltung bereits
vollendet hatte. Und doch überkam ihn immer wieder der Zweifel, ob der
Lauf der Geſchichte ſich alſo meiſtern laſſe. Im October, lange nachdem
die Commiſſion ſchlüſſig geworden, verlangte er Stein’s Gutachten über
die Provinzialſtände und fragte den Freiherrn zugleich in einem ſchönen,
warmherzigen Briefe, ob die Reichsſtände gleichzeitig mit den Provinzial-
ſtänden oder unmittelbar nachher oder erſt nach längerer Erfahrung er-
ſcheinen ſollten. Der Brief kam zur unglücklichen Stunde. Stein war
gereizt und verſtimmt, er hatte ſich ſchon allzu tief eingelaſſen in die alt-
ſtändiſche Parteibewegung, die nach ihrem innerſten Weſen den Reichs-
ſtänden zuwiderlief. Er ermahnte den Prinzen zwar zum Vertrauen auf
dies brave, treue, beſonnene Volk; aber ſtatt dem Schwankenden die
ſchleunige Berufung der Reichsſtände ans Herz zu legen, gab er ganz
gegen ſeine Art eine halb ausweichende Antwort und begnügte ſich mit
der Bemerkung, die Provinzialſtände böten immerhin eine nützliche Vor-
übung, um Erfahrungen zu ſammeln für den Reichstag. Kein Zweifel,
daß dieſer unſelige Spruch aus ſolchem Munde ſehr tief eingewirkt hat auf
das Urtheil des Prinzen. Unter allen Staatsmännern der Zeit hat allein
Humboldt die planloſe Unklarheit des ganzen Unternehmens klar durch-
ſchaut. Er blieb dabei, daß man die Arbeit an den Theilen nicht be-
ginnen dürfe ohne einen Plan für das Ganze; und wie verkehrt, den
Bau in der Mitte anzufangen, ſtatt bei den Grundlagen, den Kreiſen
und Gemeinden!
Sodann erhob ſich eine Formfrage, welche den tiefen Gegenſatz der
Parteien grell zu Tage treten ließ. Sollten die allgemeinen Grundſätze
über die Einrichtung der Provinzialſtände in einem Geſetze für die ge-
ſammte Monarchie verkündigt, und dann die Detailbeſtimmungen über
[241]Die Provinzialſtände.
die Stimmenzahl u. dgl. durch Specialgeſetze für jede einzelne Provinz
feſtgeſtellt werden? Oder ſollte jede Provinz ihre eigene Verfaſſungs-
urkunde erhalten? Offenbar ſprach die Natur der Dinge wie die alte
preußiſche Tradition für die erſtere Form, die auch von den beiden Präſi-
denten lebhaft vertheidigt wurde. Man war ja entſchloſſen, allen Pro-
vinzen eine im Weſentlichen gleichförmige Verfaſſung zu geben; für die
geringfügigen Abweichungen von der Regel genügten kurze Specialgeſetze.
Aber die hiſtoriſche Doctrin verwarf Alles, was einer preußiſchen Ver-
faſſung auch nur ähnlich ſah. „Ein ſolches allgemeines Geſetz“, meinte
Ancillon, „würde den modiſchen, papierenen, aus dem Stegreif erſchaf-
fenen Verfaſſungen, als etwas ganz Neuem, ähnlich ſein; jede Provinz
ſoll ihre eigene vollſtändige Charte erhalten, eine Ehre und Wohlthat,
die eine jede gewiß hoch erfreuen werden.“ Noch beſtimmter ſchrieb
Schuckmann: „Ein allgemeines Geſetz würde als die in der Verordnung
vom 22. Mai angekündigte Verfaſſungsurkunde betrachtet werden und aus
dieſem Geſichtspunkte den bitterſten Urtheilen bloßgeſtellt ſein.“ Zuletzt
kam wieder ein Compromiß zu Stande, im Weſentlichen der Meinung
des hiſtoriſchen Partikularismus entſprechend. Ein allgemeines Geſetz von
wenigen Zeilen, das Niemand für eine Verfaſſungsurkunde halten konnte,
verkündigte die Errichtung der Provinzialſtände; darauf folgten acht um-
fängliche Provinzialverfaſſungen, welche, bis auf kleine Abweichungen, acht-
mal dieſelben Sätze wiederholten, und dieſe „Charten“, mit Ancillon zu
reden, ſtanden leider auch auf Papier!
Und waren es denn wirklich die hiſtoriſchen Landtage, die man wie-
derherſtellte? So lange es nur galt die Pläne des Staatskanzlers zu
durchkreuzen, war es ein Leichtes, für die unantaſtbaren Rechte althiſtori-
ſcher ſtändiſcher Verbände ſich zu begeiſtern. Sobald man ſelber an das
Schaffen ging, drängten ſich die Bedürfniſſe des modernen Staats auch den
hiſtoriſchen Doktrinären unabweisbar auf. Die Geſchichte des neuen Jahr-
hunderts forderte ihr Recht vor der älteren Geſchichte. Alle Inſtitutionen
des Staates hingen feſt mit der neuen Provinzialeintheilung zuſammen,
vornehmlich das Steuerſyſtem. Der Antheil der Altmark an der Klaſſen-
ſteuer war bereits in der Geſammt-Steuerſumme der Provinz Sachſen
verrechnet; riß man nun, nach dem „hiſtoriſchen Prinzip“, die altmärki-
ſchen Stände aus dem ſächſiſchen Provinziallandtage heraus, um ſie dem
brandenburgiſchen einzufügen, wie ſollten dann die brandenburgiſchen Pro-
vinzialſtände für die Repartition der altmärkiſchen Steuern ſorgen? Schon
die Verordnung vom 30. April 1815 hatte die provinzialſtändiſchen An-
gelegenheiten für Provinzialſachen erklärt und ſie der Aufſicht der Ober-
präſidenten unterſtellt. Darin lag keineswegs Willkür; denn die neuen
Provinzen durften mit beſſerem Recht hiſtoriſche Körper heißen als die
alten Territorien, ſie ruhten auf der lebendigen Gemeinſchaft der Stam-
mesart und Sitte, der Erinnerungen und des Verkehrs. Mit dieſen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 16
[242]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
neuen acht Provinzen mußten die ſtändiſchen Körper ſich decken, wenn
nicht eine Kluft entſtehen ſollte zwiſchen der Verfaſſung und der Ver-
waltung. Dicht vor Augen ſtand ja das abſchreckende Beiſpiel Hannovers,
wo Verwaltungsbezirke und ſtändiſche Provinzen in wirrem Gemenge lagen.
In ſolchem Sinne ſprachen Vincke, Schönberg und, als erfahrener
Verwaltungsbeamter, ſogar Schuckmann. Ancillon dagegen hielt für wün-
ſchenswerth, daß die moderne Verwaltung vielmehr ihre Provinzen wieder
nach den altſtändiſchen einrichte. Zum Glück ward die Hohlheit dieſes
doktrinären Einfalls ſofort handgreiflich nachgewieſen, da die engere Vater-
landsliebe nochmals ihre Bitten und Beſchwerden vor den Thron brachte.
Die ſchleſiſchen Einberufenen verlangten den Schwiebuſſer Kreis für ihre
Provinz zurück; unter den weſtphäliſchen Notabeln ſprachen Merveldt und
Hövel für die Herſtellung der alten Territorien. Der zur Neumark ge-
ſchlagene Lebuſiſche Kreis, die Heimath des alten Marwitz, bat um Wie-
dervereinigung mit der Kurmark. Der Kreis Schievelbein, tief in Hinter-
pommern gelegen, doch vormals zur Neumark gehörig, forderte die Rück-
kehr zum alten Vaterlande; die benachbarten Dramburger Stände aber,
die ſich genau in derſelben Lage befanden, betheuerten dem Kronprinzen,
ſie wollten bei Pommern bleiben. Am lauteſten klagten die treuen Alt-
märker; ſie ſchrieben dem König: „Die Trennung der Altmark, des älteſten
Beſtandtheils der glorreichen preußiſchen Monarchie, von den übrigen
Marken hat zugleich mit der Losreißung von der Monarchie ſelbſt ſtatt-
gefunden, darum bitten wir, auch das Andenken daran auszulöſchen.“
Die kurmärkiſchen Notabeln dagegen wünſchten die Altmark nicht wieder
aufzunehmen, die ſächſiſchen wollten ſie nicht aus ihrem Provinzial-Land-
tage ausſcheiden ſehen.*)
Die offenbare Unmöglichkeit, allen dieſen widerſprechenden partikula-
riſtiſchen Wünſchen zugleich zu genügen, und das gebieteriſche Bedürfniß
geordneter Verwaltung zwangen die Commiſſion endlich doch, die ſtändi-
ſchen Landſchaften im Weſentlichen den Grenzen der neugebildeten Pro-
vinzen einzufügen. Nur das Stammland der Monarchie ſollte in ſeiner
althiſtoriſchen Herrlichkeit wiederhergeſtellt werden: die Altmark und die
pommerſchen Theile der Neumark traten wieder in den Verband der
brandenburgiſchen Provinzialſtände; mit ihnen freilich auch Jüterbog und
die Niederlauſitz, die niemals zu den Marken gehört hatten. Alſo haben
die Verehrer des hiſtoriſchen Princips in Wahrheit nicht eine Reſtauration
der alten Stände vollzogen, ſondern acht völlig neue ſtändiſche Körper ge-
ſchaffen. Um den Partikularismus zu entſchädigen, wollte die Commiſſion
den althiſtoriſchen Territorien das Recht der itio in partes geben: jeder
Provinziallandtag ſollte in Theile gehen, ſobald ein Landestheil ſich in
[243]Ständiſche Gliederung.
ſeinem beſonderen Intereſſe gefährdet glaube. Auf Schönberg’s Antrag
wurde dieſe gefährliche Befugniß abgeſchwächt zu einem einfachen Be-
ſchwerderecht für den bedrohten Landestheil. Die „Communalverfaſſungen“
der einzelnen Territorien hingegen ſollten bis auf Weiteres unverändert fort-
dauern. Doch nur in der Alt- Kur- und Neumark, in den beiden Pommern
und den beiden Lauſitzen ſind die alten Landtage als Communallandtage
wieder aufgelebt. In allen anderen Provinzen verſchwanden die Trümmer
altſtändiſchen Sonderlebens ſpurlos vor den neuen Provinzialſtänden, die
Todten begruben ihre Todten. Der Markaner trat mit dem Paderborner,
der Magdeburger mit dem Thüringer willig zur politiſchen Arbeit zu-
ſammen. Wer hellen Blicks verfolgte, wie raſch der Gegenſatz der Land-
ſchaften innerhalb der Provinzen ſich ausglich, der mußte erkennen, daß
dies Volk fähig war, den vollen Segen des Einheitsſtaates zu ertragen.
Ebenſo unmöglich wie die Wiederherſtellung der hiſtoriſchen Terri-
torien war die einfache Erneuerung der alten ſtändiſchen Gliederung. Die
Provinzialſtände wurden, ſo ſagte das Geſetz, „im Geiſte der älteren deut-
ſchen Verfaſſungen“ errichtet, ſie waren „das geſetzmäßige Organ der ver-
ſchiedenen Stände Unſerer getreuen Unterthanen.“ Oftmals hat in ſpä-
teren Tagen König Friedrich Wilhelm IV. ihnen eingeſchärft, ſie ſeien
„deutſche Stände im altherkömmlichen Wortſinne, d. h. vor Allem und
weſentlich Wahrer der eigenen Rechte, der Rechte der Stände, ſie ſollten
ihren Beruf nicht dahin deuten, als ſeien ſie Volksrepräſentanten.“ Das
Geſetz hielt ſtreng darauf, daß jeder Gewählte wirklich ſeinem Stande und
ſeinem Wahlbezirke angehörte, gab den Ständen ſogar das heilloſe Recht
der itio in partes. Gleichwohl waren die Provinzialſtände nichts anderes
als eine einſeitig verbildete moderne Intereſſenvertretung. Da die alten
ſtändiſchen Corporationen überall vernichtet waren, ſo konnte man auch
die Erwählten nicht an die Aufträge ihres „Standes“ binden; die Abge-
ordneten ſtimmten, wie Volksvertreter, nach perſönlicher Ueberzeugung.
Die geringe Kopfzahl der Landtage verhinderte auch die von Stein ge-
forderte Errichtung ſtändiſcher Curien; jeder Provinziallandtag berath-
ſchlagte in Einer Verſammlung und faßte giltige Beſchlüſſe mit einfacher
oder Zweidrittelmehrheit aller Stimmen. Und wie war doch in den meiſten
Provinzen, zur Verzweiflung der antiquariſchen Idealiſten, ſelbſt die Er-
innerung an die alten ſtändiſchen Unterſchiede gänzlich verſchwunden! Wer
hätte auch nur daran denken mögen, den Clerus, der doch die Landtage
der rheiniſchen Krummſtabslande allein beherrſcht hatte, wieder zum erſten
Stande zu erheben? Da andererſeits die ländliche Selbſtverwaltung noch
nicht durchgeführt war, mithin die Grundlage für ein billig abgeſtuftes
Wahlſyſtem noch fehlte, ſo wurde die Commiſſion von ſelbſt zu den drei
Ständen der Hardenberg’ſchen Entwürfe zurückgeführt — zu einer ſtän-
diſchen Gliederung, die nach der Lage der Dinge unvermeidlich, doch ganz
gewiß nicht hiſtoriſch war.
16*
[244]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
Stein mit ſeinen weſtphäliſchen Freunden forderte, unter leidenſchaft-
lichen Ausfällen gegen die „zerſtörende“ Richtung des Beamtenthums, daß
der Adel den erſten Stand bilde; vier Ahnen und Grundbeſitz müßten
der Regel nach den Zutritt zu der Adelskorporation bedingen. Die Mehr-
heit der ſchleſiſchen Notabeln wünſchte nur die adlichen Rittergutsbeſitzer
in den erſten Stand aufzunehmen; den bürgerlichen Rittergutsbeſitzern
ſollten die ſtändiſchen Rechte nur kraft beſonderer königlicher Verleihung
zuſtehen, auf daß „verdienſtloſe Glückspilze“ dem erſten Stande fern
blieben. Ueberhaupt trat unter den Notabeln der Adelshochmuth der Zeit
weit härter auf als im Schooße der Commiſſion. Die ungeheure Um-
wälzung, die ſich in den Beſitzverhältniſſen des flachen Landes vollzogen
hatte, verbot der Commiſſion auf ſolche Begehren einzugehen; man be-
ſchloß, alle „Rittergutsbeſitzer“ ohne Unterſchied der Geburt in den erſten
Stand aufzunehmen. Der Begriff „Rittergut“ war freilich am Rhein
ganz unbekannt, auch im Oſten ſo unſicher, daß die ſächſiſchen Notabeln
ihn durch einundzwanzig verſchiedene Definitionen vergeblich zu erläutern
verſuchten. Man half aus durch Matrikeln, die in den weſtlichen Pro-
vinzen „auch andere größere Landgüter“ aufnehmen ſollten. Der erſte
Stand war mithin eine Vertretung des Großgrundbeſitzes. Auf den Vor-
ſchlag der Commiſſion behielt ſich die Krone jedoch das Recht vor, den
adlichen Beſitzern großer Fideicommißgüter ein verſtärktes Stimmrecht zu
gewähren. Dazu in vier Provinzen ein beſonderer, oberſter Stand für
die Standesherren und die Domkapitel.
Der Satz „das Grundeigenthum iſt Bedingung der Standſchaft“
ſtand ſchon ſeit Hardenberg’s erſtem Entwurfe feſt; man führte ihn jetzt
ſo ſtreng durch, daß ſogar die Kirche, der doch ein unbeſtreitbares hiſto-
riſches Anrecht zur Seite ſtand, keine Vertretung erhielt. Auch für die
Wählbarkeit in den Städten wurde Grundbeſitz verlangt, und mit Recht
zürnte Stein über die Ausſchließung der beſtgebildeten Kräfte der ſtädti-
ſchen Bevölkerung. Die Vorliebe der hiſtoriſchen Romantik für den Adel
und die Klaſſenſelbſtſucht der adlichen Notabeln wurden ſodann handels-
einig über eine Stimmenvertheilung, welche die berechtigten Anſprüche der
Städte und der Bauern unbillig verletzte. Die Commiſſion nahm als
Regel an, daß dem großen Grundbeſitz die Hälfte, den Städten ein Drittel,
den Bauern ein Sechſtel der Stimmen gebühre; nur im Weſten und in
Oſtpreußen ſollten die unteren Stände ſtärker vertreten werden. Von
den 584 Stimmen der acht Landtage kamen 278 auf die Standesherren
und Ritter, 182 auf die Städte, 124 auf die Bauern. Die beſcheidene
Stimmenzahl der Städte entſprach ungefähr dem Verhältniß der Kopf-
zahl, da die Städte der Monarchie im Jahre 1820 erſt 3 Mill. Einwohner
umfaßten, neben 8¼ Mill. Landbewohnern. Doch ſie entſprach mit nichten
der Machtſtellung, welche die Bildung und die längſt über das flache Land
verbreiteten Capitalkräfte der Städte in der neuen Geſellſchaft behaupteten;
[245]Befugniſſe der Provinzialſtände.
ſie zeigte handgreiflich, daß die ſtaatsrechtliche Trennung von Stadt und
Land ihren Sinn verloren hatte in dem modernen Verkehrsleben. Noch
ſchwerer war der Bauernſtand benachtheiligt; galt es doch noch als ein
Wagniß, dem neuen Stande irgend eine Vertretung zu geben. Und dieſer
zurückgeſetzte Stand trug im Oſten ungleich ſchwerere Steuerlaſten als
die Ritterſchaft!
Aus den Reihen der Notabeln erhob ſich kein irgend lebhafter Wider-
ſpruch. Zwar die ſchleſiſchen Ritter murrten, ſie fanden das Opfer, das
man dem Adel zumuthe, faſt zu groß; aber nur ein Bürgermeiſter aus
dieſer Provinz wagte, für die unteren Stände eine ſtärkere Stimmenzahl
zu verlangen, und die Bauerſchaft war ja gar nicht vertreten unter den
Notabeln. Schönberg dagegen forderte nachdrücklich für jeden Stand ein
Drittel der Stimmen, er trug dieſe Anſicht während der Ferien nochmals
brieflich dem Kronprinzen vor*) und beruhigte ſich erſt, als man ihm
vorſtellte, daß der Bauernſtand, vornehmlich in den Marken, erſt in der
Entwicklung begriffen ſei, ſeine Intereſſen mit denen des Adels meiſt zu-
ſammenfielen, und ihm im Nothfall noch die itio in partes offen ſtehe.
Zudem ſollte die Stimmenzahl der Bauern „nach Zeit und Umſtänden“
erhöht werden. Doch dieſe Zeiten und Umſtände konnten niemals er-
ſcheinen. Der Geſetzgeber ſelber gewöhnte den Adel, ſeinen Einfluß nicht
auf die ſchweren Pflichten der Selbſtverwaltung, ſondern auf die bequeme
Ausbeutung des ſtändiſchen Stimmrechts zu ſtützen; wie durfte man er-
warten, daß der herrſchende Stand der Provinziallandtage freiwillig auf
die Macht der Mehrheit verzichten würde?
Der politiſche Fehler, der in dem vorläufigen Aufgeben der Reichs-
verfaſſung lag, rächte ſich am ſchwerſten bei der Berathung über die Be-
fugniſſe der Provinzialſtände. Der Kronprinz hoffte mit der ehrlichen
Begeiſterung der Jugend, ein reiches vielgeſtaltiges Leben im Schooße ſeiner
hiſtoriſchen Stände erblühen zu ſehen. Auch Voß, Ancillon, Vincke und
Schönberg wollten keineswegs die Stände zur Ohnmacht verdammen. Nicht
böſer Wille, ſondern die unerbittliche Conſequenz des verfehlten Grund-
gedankens zwang den Ausſchuß, der Macht der Stände enge und doch
unbeſtimmte Schranken zu ſetzen. War die Krone feſt entſchloſſen, die
Reichsſtände den Provinzialſtänden auf dem Fuße folgen zu laſſen, ſo
mußten letztere ausſchließlich auf die Provinzialangelegenheiten angewieſen
werden, und man konnte ihnen unbedenklich auf dieſem ihrem natürlichen
Gebiete ſehr wirkſame Rechte einräumen. Jetzt, da jene entſcheidende
Frage in der Schwebe blieb, erſchien auch das Selbſtverſtändliche zweifel-
haft. Die Verordnung vom 22. Mai und das Staatsſchuldenedict ver-
hießen den Reichsſtänden beſtimmte Rechte, den Provinzialſtänden gar
nichts. Schönberg verfiel nun in guter Abſicht auf den Vorſchlag, daß
[246]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
die den Reichsſtänden zugeſagten Rechte vorderhand, ſo lange kein Reichs-
tag beſtehe, von den Provinzialſtänden ausgeübt werden ſollten. Natür-
lich nicht alle jene verheißenen Rechte; die Zuſtimmung der acht Provin-
ziallandtage zu der Aufnahme von Staatsanleihen konnte nur ein Thor
fordern. Nur das Recht der Berathung über alle Geſetze, „welche Ver-
änderungen in Perſonen- und Eigenthumsrechten und in den Steuern zum
Gegenſtande haben,“ ſollte jedem Provinziallandtage zuſtehen, „ſoweit ſie
die Provinz betreffen.“ Ancillon ſah diesmal ſchärfer. Er warnte: „Durch
eine ſolche Dotation der Provinzialſtände wird man in der öffentlichen
Meinung die künftigen allgemeinen Stände dermaßen ſchon berauben und
enterben, daß ſich daraus ergiebt, die letzteren ſollten nie ſtattfinden.“ Die
Commiſſion nahm trotzdem den Antrag an, in der argloſen Meinung, die
beſcheidene Befugniß zur Berathung könne wenig ſchaden. So erhielten
die Provinzialſtände ein hochgefährliches Recht, das ihre Macht nicht ver-
mehrte, doch die Thätigkeit der Geſetzgebung ins Stocken brachte. Die
achtfache Berathung mit ſtändiſchen Körpern, welche jedes allgemeine Geſetz
nur vom Standpunkte des Provinzialintereſſes beurtheilten, wurde in der
That „eine Schraube ohne Ende“, wie Savigny im Jahre 1846 klagte.
Während alſo die rechte Hand allzu reichlich ſpendete, kargte die linke.
Stein’s Gutachten verlangte für die Stände durchaus das Recht entſcheidender
Mitwirkung bei allen Provinzialſteuern und Provinzialgeſetzen; der tapfere
Freiherr blieb bei ſeiner alten Meinung, daß berathende Stände in ruhiger
Zeit nichts leiſten, in bewegter den Verſuchungen des Aufruhrs ſchwerlich
widerſtehen würden. Die Commiſſion ging zuerſt auf den Vorſchlag ein.*)
Nachher erwachten doch berechtigte Zweifel. So lange das Gegengewicht
des Reichstags fehlte, waren mächtige Provinzialſtände eine Gefahr für
die Staatseinheit; unmöglich konnte man ihnen überlaſſen, ob ſie eine
Laſt ſelber tragen oder ſie auf den Staat abwälzen wollten. Daher wurde
ihnen ſchließlich auch für Provinzialſachen nur das Recht der Berathung
zugeſtanden. Selbſt die Befugniß, in Sachen der Provinz Bitten und
Beſchwerden vor den Thron zu bringen, mußte zu unfruchtbaren Compe-
tenzſtreitigkeiten führen, ſo lange der allgemeine Landtag nicht beſtand.
Denn in dieſem feſtgeſchloſſenen Einheitsſtaate griff faſt jede Sorge, welche
einen Landestheil bedrückte, über die Grenzen der Provinz hinaus. Alles
in Allem erhielten die Provinzialſtände, die man für althiſtoriſch ausgab,
eine Competenz, welche nur wenig hinausging über die Befugniſſe der napo-
leoniſchen Generalräthe, dieſer Muſterſchöpfungen nivellirender Bureau-
kratie. Wie dieſe ſtanden ſie dem Staats-Beamtenthum nur mit unmaß-
geblichen Rathſchlägen zur Seite. Politiſche Körper aber, die keine wirk-
liche Verantwortlichkeit für ihr Thun tragen, verwildern entweder oder ſie
verfallen in Schlummer.
[247]Ergebniſſe der Berathung.
Dagegen erhielten die Provinziallandtage ein beſchränktes, aber frucht-
bares Gebiet der Selbſtverwaltung, das ſie bei einiger Rührigkeit leicht
erweitern konnten, zugewieſen: „die Communalangelegenheiten“ der Pro-
vinzen, die Sorge für Armenweſen, Straßenbau, Irrenhäuſer und andere
gemeinnützige Anſtalten, wurden ihren Beſchlüſſen überlaſſen, unter Vor-
behalt königlicher Genehmigung. Noch weit folgenreicher aber ward die
Zuſage, daß die Reform der Kreis- und Gemeindeordnung nur unter
Mitwirkung der Stände, für jede Provinz beſonders, ſtattfinden ſolle. Das
war der Triumph des ſtändiſchen Partikularismus. Die Anhänger der
hiſtoriſchen Doktrin rühmten als einen Vorzug des preußiſchen Verfaſ-
ſungsplanes, daß er auf „organiſche Entwicklung“ rechne, den Ständen
ſelber den Ausbau ihrer eigenen Inſtitutionen anheimgebe, im erfreulichen
Gegenſatze zu dem engherzigen bureaukratiſchen Geiſte der ſüddeutſchen Con-
ſtitutionen. Der Verſuch Hardenberg’s und Frieſe’s, das geſammte Ge-
meindeweſen der Monarchie gleichmäßig zu ordnen, hatte ſich als ſo ganz
verfehlt erwieſen, daß jetzt der entgegengeſetzte Plan kaum noch einen
Widerſpruch in der Commiſſion fand. Und doch berührte dieſe Frage die
Grundlagen des geſammten Staatslebens. Indem die Krone das Kreis-
und Gemeindeleben acht ſtändiſchen Körperſchaften preisgab, verzichtete ſie
auf ein unveräußerliches Recht der Staatsgewalt; ſie ließ die ſtändiſche
Selbſtſucht ſchalten auf einem Gebiete, das nur durch eine die Klaſſen-
intereſſen kraftvoll bändigende Macht mit Gerechtigkeit geordnet werden
kann. Eine Kreisordnung, welche den Intereſſen der Städte und der
Bauerſchaft einigermaßen gerecht wurde, ließ ſich von dem Beirath ſolcher
Landſtände nimmermehr erwarten. Vollends die Aufhebung der gutsherr-
lichen Polizei, dieſe erſte Vorausſetzung jeder ernſtlichen Reform des Land-
gemeindeweſens, war fortan unmöglich.
Daß die Rechte der Standſchaft an das chriſtliche Bekenntniß ge-
knüpft wurden, ſchien den Zeitgenoſſen ſelbſtverſtändlich; nur wenige
Stimmen unter den Notabeln (unter den ſchleſiſchen eine einzige) ſprachen
dawider. Ancillon gab ſich ſogar der harmloſen Hoffnung hin, die Juden
würden, von der Standſchaft ausgeſchloſſen, fortan ſeltener als bisher
verſuchen, chriſtliche Grundherren auszuwuchern. Ueber die Zahlung von
Diäten war alle Welt einig; die Selbſtſucht der beſitzenden Klaſſen ſtimmte
hier überein mit der alten bureaukratiſchen Gewohnheit und mit den hei-
ligen Glaubensſätzen des vulgären Liberalismus. Die Oeffentlichkeit der
Verhandlungen, die allerdings für Provinziallandtage nicht unbedingt noth-
wendig iſt, ſchien ſelbſt einem Niebuhr und Gneiſenau ſchreckhaft und ge-
fährlich; in der Commiſſion galt ſie von Haus aus für unannehmbar,
auch die Notabeln beſtanden nicht darauf. —
Als die Arbeit der Commiſſion beendet war, gab ihr Haller öffent-
lich ſeinen Segen und verkündete — was glücklicherweiſe nicht zutraf —
nunmehr ſei die alte Begrenzung der vom Hauſe Brandenburg allmäh-
[248]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
lich erworbenen Beſitzungen wiederhergeſtellt. Dieſe Verordnung, ſchrieb
er zufrieden, „iſt weſentlich antirevolutionär und reſtaurirend, eine Rück-
kehr zur natürlichen Ordnung der Dinge.“ Niebuhr’s geiſtvoller Freund
Deſerre aber meinte bedenklich: wie ſeltſam, daß die jüngſte der großen
Monarchien ihre Provinzialſtände freiwillig wiederherſtelle, während ſie faſt
in allen andern Großſtaaten untergegangen ſeien! Und in der That ſtand
es in grellem Widerſpruche mit allen Traditionen Preußens, daß dieſer
Staat, der ſich immer nur durch das kräftige Zuſammenfaſſen ſeiner Macht
hatte behaupten können, jetzt einer romantiſchen Doctrin zu Liebe ſeine
centrifugalen Kräfte ſelber wach rief. Gleichwohl erwieſen ſich die Hoff-
nungen der Altſtändiſchen bald als ebenſo irrig, wie die Schadenfreude
jener föderaliſtiſchen Thoren, die ſchon den Tag kommen ſahen, da der
künſtliche Bau des preußiſchen Staates wieder urwüchſiger Zerſplitterung
anheimfallen würde. Was war denn im Grunde das Ergebniß dieſer
langen Kämpfe? Der Verſuch, den in der Verwaltung ſchon vollendeten
Einheitsſtaat auch in die Verfaſſung einzuführen, war einfach geſcheitert.
Das alte Verhältniß, das ſchon im 18. Jahrhundert beſtanden, ſtellte ſich
in modernen Formen vorläufig wieder her: in den Provinzen ſtändiſche
Körper ohne Macht und Leben, über ihnen eine Staatsgewalt, die alle
aufſtrebenden Kräfte des Gemeinweſens in ſich vereinigte. Die errungene
Staatseinheit ward mit nichten aufgelockert, es gelang nur für diesmal
nicht, ſie zu verſtärken. Ein Gewirr halbſelbſtändiger Kronländer, wie in
dem belobten Oeſterreich, konnte in dieſem Staatsbau, der durch die feſten
Klammern moderner Verwaltung zuſammengehalten wurde, unmöglich
entſtehen. Die ohnmächtigen Provinziallandtage vermochten nur wenig
zu leiſten, aber auch den Werdegang der praktiſchen deutſchen Einheit nicht
zu hemmen. Die unverwüſtliche Geſundheit dieſes Staates ließ das Fieber
des Partikularismus nicht aufkommen. Verwaltung und Wehrpflicht,
Verkehr und Unterricht verbanden die Bewohner der Monarchie zu treuer
Gemeinſchaft, zerſtörten in ſtiller Arbeit alle die Kräfte des Widerſtandes,
welche der Einheit des deutſchen Staates noch im Wege ſtanden. Als end-
lich nach einem Vierteljahrhundert die Provinzialſtände zum Vereinigten
Landtag zuſammentraten, da verſammelten ſich um den Thron nicht die
Vertreter von acht Provinzen, ſondern die Bürger eines Staates, die
Söhne eines Volkes. Der alte Haß der Landſchaften war vernichtet. —
Während dieſer Verhandlungen blieb die Nation ſtumm und gleich-
giltig. Nur die Sache der Altſtändiſchen fand noch dann und wann
einen Vertheidiger in der Preſſe. Unter den Verfaſſungsfreunden herrſchte
allgemeine Entmuthigung; auch Gneiſenau war von den Hoffnungen
früherer Tage ſo weit zurückgekommen, daß er jetzt die Berufung der
Reichsſtände entſchieden widerrieth. Wohl ſchlich und ziſchelte in den
Salons der Hauptſtadt noch eine gehäſſige Oppoſition, die jeden Schritt
des Königs, ſelbſt ſeine beſterwogenen Entſchlüſſe, ſelbſt den Zollkrieg gegen
[249]Hardenberg’s letzte Tage.
Köthen, mit dem ganzen Dünkel Berliniſcher Allwiſſenheit verdammte.
Auch in den Maſſen beſtand viel ſtiller Mißmuth: die Zeiten waren zu
ſchlecht, die Steuern hoch, der Erwerb kläglich. Da die auf dem Aachener
Congreſſe erlangten Entſchädigungsgelder nicht entfernt ausreichten, ſo
hofften viele arme Leute vergeblich auf Erſatz ihrer Kriegsſchäden, und
die ärgſten Lügen fanden bei den Enttäuſchten Glauben: allgemein ward er-
zählt, das Kronfideicommiß ſei aus den franzöſiſchen Geldern gebildet worden
— ein Märchen, das noch heute hier und da fortſpukt. Gleichwohl blieb die
alte Königstreue der Preußen unerſchütterlich. Ein Aufſtandsverſuch, den
ein weſtpreußiſcher Oberförſter v. Hedemann im Sommer 1821 unter-
nahm, war ſo offenbar das Werk eines Tollkopfs, daß ſelbſt am Hofe der
Schrecken nicht lange anhielt.
Im November 1822 wurde der Gedenktag der fünfundzwanzigjährigen
Regierung Friedrich Wilhelm’s faſt überall mit dankbarer Freude gefeiert.
In Berlin freilich verlief das Feſt ohne beſonderen Prunk, denn der König
weilte in Italien, froh, den Huldigungen daheim entronnen zu ſein. Von
der Verfaſſung ſprach Niemand. Nur der Hiſtoriker Friedrich v. Raumer
wagte in akademiſcher Feſtrede vor dem Kronprinzen auszuſprechen, daß
die alte Zuſage noch nicht eingelöſt ſei und Provinzialſtände ohne Reichs-
tag einem Körper ohne Haupt glichen. Seitdem begannen die akademiſchen
Feſtlichkeiten der Hauptſtadt eine politiſche Bedeutung zu erlangen; das
Katheder rückte zuweilen an die Stelle, welche der parlamentariſchen Redner-
bühne gebührte. Forderungen, die ſich in der Preſſe nicht herauswagen
durften, wurden hier mit Freimuth geäußert, doch immer mit Maß und
Würde; in die Niederungen der Parteileidenſchaft ſank die Berliner Uni-
verſität nie herab. Der König nahm die Feſtrede freundlich auf; das
Obercenſurcollegium aber, zu deſſen Mitgliedern Raumer ſelbſt gehörte,
verweigerte ſeine Erlaubniß, und die Rede wurde erſt ein Jahr ſpäter in
Leipzig gedruckt.
Mittlerweile ging es raſch abwärts mit der Lebenskraft und dem
Anſehen des greiſen Kanzlers. Seit dem Scheitern ſeines Verfaſſungs-
planes war ſeine politiſche Rolle ausgeſpielt. Er wollte zwar die Hoff-
nung noch immer nicht aufgeben und begegnete ſeinen Feinden, trotz Allem
was geſchehen, mit zuverſichtlicher Heiterkeit. Aber von der Verfaſſungsbe-
rathung hatte er ſich ſelber ausgeſchloſſen. Das Wenige was er in ſeiner
Schwäche noch arbeitete, galt der Verwaltungsreform; wenn ihm dies Werk
noch gelinge, ſagte er zu Witzleben, dann wolle er ſich zurückziehen und nur
noch die Geſchäfte, welche der König ihm ausdrücklich auftrage, erledigen.
In jedem bewegten Menſchenleben erſcheint ein Zeitpunkt, da die Folgen
alter Fehler ſich mit einem male über dem Haupte des Schuldigen ent-
laden. Solche Tage mußte Hardenberg noch dicht am Rande des Grabes
erleben. Er büßte ſchwer, faſt allzu ſchwer; denn die perſönlichen Schwä-
chen öffentlicher Charaktere ſind nur dann unverzeihlich, wenn der Staat
[250]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
darunter leidet, und Hardenberg’s politiſche Haltung war durch ſeine
gemeine Umgebung nie beſtimmt worden. Das unſaubere Treiben in ſeinem
Hauſe ward ſchließlich zum öffentlichen Aergerniß, ſeit das Gelichter ſchlechter
Literaten und Abenteurer, das ihn umdrängte, in böſe Händel gerieth.
Dorow, der am Rhein werthvolle Alterthümer ausgegraben hatte und
ſich mit dieſen Schätzen in Bonn einniſten wollte, wurde von den Profeſ-
ſoren aus guten Gründen übel aufgenommen, und ſelbſt der nachgiebige
Altenſtein wagte diesmal den Befehlen Hardenberg’s, der ſich mit väter-
licher Zärtlichkeit ſeines Günſtlings annahm, zu widerſtehen. Zwiſchen
ſeiner ſomnambülen Geliebten Friederike v. Kimsky und ihrem traurigen
Gatten mußte der Kanzler ſelber Frieden ſtiften; auch der Leib- und
Wunderjude Koreff machte ſich unnütz, indem er das Cultusminiſterium,
zu Altenſtein’s Verzweiflung, mit unreifen Vorſchlägen für die Reform der
Univerſitäten beſtürmte, und wurde endlich nach einem widerwärtigen Zank
von dem „dicken Schöll“, der dieſes Gegners würdig war, aus dem Sattel
gehoben. Erſtaunlich immerhin, wie der alte Herr inmitten ſolchen Un-
raths doch noch ein vornehmer Mann blieb, kindlich gut und zutraulich,
freilich auch jedem Gauner eine leichte Beute. Zudem wuchs ſeine Geld-
noth. Während die Commiſſion zur Vereinfachung der Verwaltung ge-
wiſſenhaft über die Entbehrlichkeit jedes kleinen Beamten berathſchlagte,
während Alles nach Erſparniſſen rief und der König ſelbſt aus den Ein-
künften des Kronfideicommiſſes 250,000 Thlr. hergab um das Deficit für
1822 zu decken*), war Hardenberg der einzige Mann in dieſem ſparſamen
Staate, der die öffentlichen Gelder verſchleuderte. Er wirthſchaftete noch
immer aus dem Vollen, kraft ſeiner unbeſchränkten Befugniß. Mit wach-
ſendem Unmuth ſah der König dieſer Verſchwendung zu; um ein Ende
zu machen, ließ er dem Kanzler ſchließlich eine ſehr hohe Summe als feſtes
Jahresgehalt anbieten. Hardenberg war aber ſchon ſo tief verſchuldet, daß
er den Vorſchlag zurückweiſen mußte.
So ward Friedrich Wilhelm ſeinem Kanzler immer fremder. Seit
dem Erſcheinen jener Schrift B. Conſtant’s beargwöhnte er ſelbſt die Auf-
richtigkeit des alten Herrn; denn Conſtant war mit einer Nichte Harden-
berg’s verheirathet, und wie hätte man am Hofe glauben ſollen, daß der
Oheim von dem Buche des Neffen in der That nichts gewußt hatte? Da-
gegen wuchs das Vertrauen des Königs auf den ſittenſtrengen, peinlich ge-
wiſſenhaften alten Voß, und im September 1822 erklärte er ſeine Abſicht,
Voß als Vicepräſidenten in das Miniſterium zu berufen, damit endlich Ord-
nung in den Staatshaushalt käme. Auch dieſe Demüthigung ließ ſich Har-
denberg noch bieten; er blieb im Amte und nahm es hin, daß der unverſöhn-
liche Widerſacher ſeiner Verfaſſungspläne zu ſeinem Stellvertreter ernannt
wurde. Der Sieg der altſtändiſchen Reaktion war vollendet. Trium-
[251]Frieſe gegen die Provinzialſtände.
phirend ſchrieb Gentz, nunmehr ſeien alle reichsſtändiſchen Umtriebe end-
giltig beſeitigt; er betrachtete den König von Preußen als den Retter von
Deutſchland und Europa und meinte: „Es fehlt dieſem Staate nichts
als katholiſch zu ſein, und er iſt neben uns die kräftigſte Stütze der Welt.“
Gleich darauf reiſte der König zum Veroneſer Congreß und übertrug einſt-
weilen die Leitung der Staatsgeſchäfte dem Kronprinzen, der allerdings
in Berlin unentbehrlich war ſo lange die ſtändiſche Commiſſion noch be-
rieth. Der Kanzler ſah, wie die Gegner ihm über den Kopf wuchſen; welche
Wirkſamkeit blieb ihm noch zwiſchen Voß und dem Kronprinzen? Seine
Kraft war gebrochen, er wagte nicht mehr den Kampf perſönlich aufzu-
nehmen, räumte den Feinden das Feld und folgte dem Monarchen nach
Verona — zur Freude Wittgenſtein’s, der insgeheim befürchtete, daß Kron-
prinz und Kanzler ſich vielleicht noch verſtändigen könnten.
Jetzt erſt erhielt der Staatskanzler die erſte Mittheilung über die
Arbeiten des Verfaſſungsausſchuſſes. Der König ſendete ihm (16. Sept.)
die von der Commiſſion vollendeten Entwürfe, das allgemeine und das
brandenburgiſche Geſetz, und verlangte ſein Urtheil. Im Drange der Ab-
reiſe konnte Hardenberg die Antwort nicht mehr ſelbſt beenden, und ver-
anlaßte den getreuen Frieſe, das Gutachten auszuarbeiten. Dieſer faßte
nun in einer Denkſchrift vom 2. November die leitenden Gedanken des
alten Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes nochmals nachdrücklich zu-
ſammen.*) Er rieth auf das Beſtimmteſte zur Verwerfung der Commiſ-
ſionsbeſchlüſſe, zur Ausarbeitung eines neuen Planes, der von unten nach
oben aufſteigend, von den Gemeinden bis zu den Reichsſtänden die Ge-
ſammtheit der ſtändiſchen Inſtitutionen umfaſſen müſſe. Hauptzweck der
Arbeit ſei, das Uebergewicht des Adels zu brechen, den Gegenſatz der
Stände zu mildern; darum ein ehrliches Drittel für jeden Stand, darum
auch Vertretung aller Stadtbürger, nicht blos der Grundbeſitzer. Vor
Allem aber Einführung der Communal- und Kreisordnung durch könig-
lichen Befehl, nicht durch die Provinzialſtände, denn „man baut ja nicht
für die Vergangenheit, ſondern für die Zukunft. Das Aufblühen oder
Hinwelken des preußiſchen Staates ſteht in unzertrennlicher Verbindung
damit, auf welche Grundſätze die ſtändiſche Verfaſſung baſirt und wie ſie
eingerichtet wird.“
Alſo ließ der Reformer von 1810 noch einmal ausſprechen, welche
Kluft ihn ſein Lebelang von der feudalen Staatsanſicht getrennt hatte.
Es war ſein politiſches Teſtament. Noch bevor die Denkſchrift dem König
zu Händen kam, hatte Hardenberg geendet. Auf dem Congreſſe von
Verona trat der müde Greis kaum noch hervor; auch die kurzen, abge-
riſſenen Bemerkungen auf den Schlußblättern ſeines Tagebuchs laſſen er-
[252]III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
kennen, wie ſeine geiſtige Kraft ihn nach und nach verließ. Nur das
unwürdige Weib, das ſchon ſo viel Jammer über ſein graues Haupt ge-
bracht, verließ ihn nicht; die Schlafwandlerin Friederike reiſte ihm in den
Süden nach. Wer könnte es ohne Erſchütterung leſen — die letzten
Worte ſeines Tagebuches lauten: 9. Nov. Arrivée des Kimsky! In
dieſer Geſellſchaft brach er von Verona auf um die Riviera zu bereiſen.
Als die Wagen bei dem Leuchtthurm von Genua anlangten, an jener
Biegung des Strandes, wo ſich plötzlich der Ausblick öffnet auf das weite
Halbrund des Hafens und die ſtolz aufſteigende Stadt darüber, da gab
ſich die Liebenswürdigkeit des Greiſes, ſeine jugendliche Freude an allem
Schönen noch einmal in bewegten Worten kund. Er konnte ſich von dem
grandioſen Anblick lange nicht trennen und ſagte, ein ſchöneres Schau-
ſpiel habe er in ſeinem langen Leben nie genoſſen. Einige Stunden darauf
lag er auf dem Krankenbette und verſchied nach kurzem Leiden am
26. November.
Er ſtarb zu ſpät für ſeinen Ruhm. Den Reaktionären verhaßt, den
Conſervativen verdächtig, hatte er auch bei den Liberalen, die zudem von
dem Ernſt ſeiner Verfaſſungsarbeit nichts wußten, durch den Kleinmuth
ſeiner letzten Lebensjahre alles Anſehen eingebüßt. Faſt Niemand fühlte,
wie traurig es doch war, daß der Strom eines großen Lebens ſo ſtill im
Sande verlaufen mußte. Der König bekundete in der Geſetzſammlung
öffentlich ſein Bedauern über den Heimgang des Staatsverweſers, deſſen
Andenken ſtets erhalten bleiben werde, wie auch Gentz im Oeſterreichiſchen
Beobachter die pflichtſchuldigen amtlichen Harfenklänge ertönen ließ. In
ſeinem Herzen hatte Friedrich Wilhelm mit dem Manne, der ihm einſt ſo
nahe geſtanden, längſt gebrochen; er nahm die Todesnachricht ſo gleichgiltig
auf, daß ſeine Umgebung den wohlwollenden Fürſten kaum wiedererkannte
und Wittgenſtein zu dem jungen Grafen Redern ſagte: hier möge er
lernen, wie Könige über Menſchen dächten.*) Nur der treue Stägemann
wollte nicht vergeſſen, was ſeine Brennen — ſo nannte er die Preußen —
dieſem Todten dankten, und ſang:
Und wahrlich, ſo viele Fäden wie Hardenberg hatten bisher wohl ein-
zelne große Monarchen, aber noch niemals ein Unterthan in das Schick-
ſalsgewebe dieſes Staates eingeſchlungen. Klang es nicht wie ein Märchen,
daß er wirklich nur zwölf Jahre lang an der Spitze der Verwaltung ge-
ſtanden hatte? Welche Fülle von Thaten drängte ſich in der kurzen Friſt
ſeiner Kanzlerſchaft zuſammen: erſt der Umſturz der feudalen Geſellſchafts-
[253]Hardenberg’s Tod.
ordnung, dann Sieg und Erhebung, dann die Wiedererwerbung der
Hälfte des Staatsgebiets, dann der Neubau der Verwaltung und die Be-
freiung des Marktes, endlich die Steuergeſetze und jenes Staatsſchulden-
Edikt, aus dem dereinſt die preußiſchen Reichsſtände hervorgehen mußten;
und alle dieſe Erfolge waren gewiß nicht durch Hardenberg allein, aber
auch nicht ohne ihn möglich geworden. Wir Nachlebenden erkennen die
Schranken ſeiner Begabung, wenn wir ihn neben den erſten Kanzler des
deutſchen Reiches ſtellen, und wir ermeſſen den Werth ſeines fruchtbaren,
noch heute fortwirkenden Schaffens, wenn wir ihn mit ſeinem öſterreichiſchen
Nebenbuhler vergleichen, der, glücklicher im Augenblick, zuletzt noch ſelber das
ganze Werk ſeines Lebens ſpurlos zuſammenbrechen ſah. Der Idealismus
unſeres Volkes urtheilt anſpruchsvoll über die Männer der That. Die
Deutſchen wollen lieben wenn ſie ehren ſollen; das hatte König Friedrich
in der tiefen Einſamkeit ſeiner letzten Jahre erfahren müſſen. Doch ſie
wollen auch achten wo ſie lieben ſollen; und weil der weiche, leichtlebige
Jüngling im Greiſenhaar ſo wenig Achtung erzwingt, darum wird ſich
die Liebe der Deutſchen, wenn ſie der Befreiungskriege gedenken, immer
den Helden des Willens, den Stein und Scharnhorſt, Blücher und Gnei-
ſenau zuwenden und Hardenberg’s eigenthümliche Größe allezeit nur einem
kleinen Kreiſe politiſcher Köpfe ganz verſtändlich bleiben. Das Gewiſſen
des Volkes empfindet, daß der Charakter, nicht das Talent die Geſchicke
der Staaten beſtimmt. —
[[254]]
Fünfter Abſchnitt.
Die Großmächte und die Trias.
Wunderbar, über alles Erwarten hinaus hatte das Glück den öſter-
reichiſchen Hof in Laibach begünſtigt. Mit überſtrömender Freude pries
Gentz dieſen glorreichen Congreß, dieſe Krone ſeines diplomatiſchen Lebens,
und ſein getreuer Adam Müller ſah ſchon den lichten Tag eines neuen
Zeitalters über Europa hereinbrechen: das alte Völkerrecht der Natur-
rechtslehrer ging zu Grabe, und das chriſtliche Recht trat ſeine Herrſchaft
an. Aber die glänzende Machtſtellung des Wiener Kabinets konnte nur
dauern, wenn es gelang, den Czaren über ſeine nächſten Pflichten und
Intereſſen zu täuſchen, ihn fernzuhalten von dem unaufhaltſam dahin-
wogenden Freiheitskampfe der Hellenen. Und auch dieſer faſt unmögliche
Erfolg ward der glückhaften Wiener Staatskunſt noch beſchieden, weniger
durch ihre eigene Gewandtheit als durch die krankhafte Verſtimmung Kaiſer
Alexanders.
Welch ein armes, unglückſeliges Menſchenkind war nunmehr dieſer mäch-
tige Herrſcher, der ſich erkühnt hatte die geſammte Chriſtenheit zum heiligen
Bunde zu vereinigen. Mit ſeinen vierundvierzig Jahren ſchon verekelt an
allen Freuden des Lebens, ſeiner Gemahlin entfremdet, der alten Liebſchaf-
ten überdrüſſig, verlor er jetzt auch ſeine Lieblingstochter Sophie Nariſchkin;
haltlos und friedlos, zerknirſcht von der Strafe Gottes, ſuchte er Troſt
in einem ſchwärmeriſchen Einſiedlerleben, um nur dann und wann eine
jener plötzlichen Czarenreiſen in das Innere ſeines weiten Reichs zu unter-
nehmen, auf denen der Herrſcher nach altruſſiſchem Brauche nichts ſieht,
nichts lernt, nichts beſſert. Auf nachhaltige Arbeit hatte er ſich nie ver-
ſtanden; die Langeweile dieſes öden Daſeins grinſte ihn an; in dem grüb-
leriſchen Mißmuth ſeiner Einſamkeit ward ſein ſchwaches Gemüth endlich
ganz überwältigt von dem finſteren Argwohn, der ſein Lebelang nicht mehr
von ihm gewichen war ſeit jenem Tage des Grauens, da er einſt die
Krone aus den Händen der Mörder ſeines Vaters empfangen hatte.
Ueberall ſah er das Geſpenſt der Revolution. Noch von Laibach aus
befahl er die Errichtung einer geheimen Militärpolizei, welche, mit 40,000
Rubel jährlich ausgeſtattet, allein zur Beobachtung ſeiner Gardeoffiziere
[255]Kriegsgefahr im Oſten.
beſtimmt war. Einmüthig verlangten Volk und Heer eine Sühne für die
gräßliche der orientaliſchen Chriſtenheit angethane Schmach; denn obwohl
dem Petersburger Hofe die förmliche Schutzherrſchaft über die griechiſche
Kirche, die er ſeit dem Frieden von Kutſchuk-Kainardſche in Anſpruch nahm,
keineswegs zuſtand, ſo galt der weiße Czar doch allen Rajahvölkern für
das Oberhaupt der Orthodoxen, und ſein eigenes Anſehen ward gefährdet,
wenn die Ermordung des Patriarchen von Konſtantinopel unbeſtraft blieb.
Und bereits wagte die Pforte, die über die geheimen Umtriebe der ruſſi-
ſchen Agenten auf der Halbinſel beſſer Beſcheid wußte als der Czar ſelber,
der nordiſchen Nachbarmacht herausfordernd, drohend entgegenzutreten.
Den Verträgen zuwider blieben ihre Truppen, nachdem Ypſilanti’s Auf-
ſtand niedergeworfen war, noch monatelang in den Donaufürſtenthümern,
dicht an der ruſſiſchen Grenze, und hauſten und heerten nach Türkenart;
den fremden Schiffen, die bisher unter ruſſiſcher Flagge frei durch die
Dardanellen geſegelt waren, wurde der altgewohnte Verkehr plötzlich unter-
ſagt, ſo daß der Handel Odeſſas ſchweren Schaden litt.
Wie oft hatte Rußland ſchon aus geringerem Anlaß dem Erbfeinde
den Krieg erklärt, und wie verlockend ſchien diesmal die Lage. Die Haupt-
macht der Osmanen war durch den griechiſchen Aufruhr gefeſſelt, das
ſchlechtgerüſtete Oeſterreich durfte Italien nicht von Truppen entblößen.
Wenn der Herrſcher, der den Doppeladler von Byzanz im Wappen führte,
jetzt ſein Schwert für die Sache der Hellenen in die Wagſchale legte, ſo
konnte er wohl auf kriegeriſche Erfolge und, für den Anfang des Kampfes
mindeſtens, auch auf den jubelnden Beifall der liberalen Welt rechnen.
Alle Philhellenen hofften noch auf die Vertreibung der Ungläubigen aus
Europa, und W. Müller wünſchte ſeinem Helden Lord Byron
Doch gerade dieſe Mahnungen der Liberalen ſchreckten den Czaren zu-
rück. Er hatte allem Anſchein nach keine Kenntniß von der unterirdiſchen Ar-
beit der Handlanger ſeines Kapodiſtrias und fühlte ſich perſönlich beleidigt,
als die Pforte ihm die Aufwiegelung ihrer chriſtlichen Unterthanen vorwarf.
Jedes liberale Zeitungsblatt, das ihn zum heiligen Kampfe aufforderte,
beſtärkte ihn nur in ſeinem Mißtrauen gegen den Aufruhr der Griechen;
nimmermehr wollte er ſeine reinen Hände durch den Bund mit der Re-
volution beſudeln. Wohl kamen Augenblicke des Schwankens. Im Juli
1821 verließ der ruſſiſche Geſandte Konſtantinopel; er hatte Bürgſchaften
gefordert für die Sicherheit des griechiſchen Cultus und war von Sultan
Machmud mit jenem übermüthigen Hohne abgefertigt worden, den ſich die
Pforte jederzeit erlaubt ſobald ſie die Giaurs uneinig ſieht. Eine ruſſiſche
Staatsſchrift forderte die Mächte auf, zu erwägen, unter welchen Bedingun-
gen die unchriſtliche Macht des Divans noch in der Gemeinſchaft des euro-
päiſchen Völkerrechts geduldet werden könne. Der Krieg ſchien unver-
[256]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
meidlich, und ſchwer beſorgt ſchrieb Ancillon nach Wien, jetzt ſei der
Czar entſchloſſen zum Vernichtungskampfe wider die Ungläubigen.*) Aber
auch diesmal blieb Alexanders Schwert in der Scheide. Vergeblich ſuchte
Kapodiſtrias den Kaiſer für die Ideale früherer Tage zu erwärmen; ver-
geblich warnte ihn Czartoryski vor jenen fremden Monarchen, die ihn
jetzt hinabzögen zu ihrer Niedrigkeit, während ſonſt ſein Geſtirn hoch über
ihnen geſchwebt hätte; umſonſt eilte Frau v. Krüdener nach Petersburg,
um den Kreuzzug wider den Islam zu predigen. Der Czar wollte die
alte Freundin nicht mehr ſehen. Sein Argwohn gegen die weltumſpan-
nenden Pläne der Revolutionspartei ward immer von Neuem genährt
durch die Briefe ſeines Bruders Conſtantin aus Warſchau, die ihm von
dem geheimen Treiben der polniſchen Unzufriedenen erzählten, und willig
glaubte er der in unzähligen Denkſchriften wiederholten Weiſſagung Met-
ternich’s: der erſte ruſſiſche Soldat, der den Pruth überſchreite, werde
das Signal geben zu einer ungeheueren Feuersbrunſt in Polen, Deutſch-
land, Italien, Frankreich. Er wendete jetzt ſeine chriſtliche Legitimitäts-
doktrin auch auf den Sultan an, den er einſt ſelbſt von dem Heiligen
Bunde ausgeſchloſſen hatte, und auf die rechtloſen Rajahvölker, die durch
kein Band der Treue mit ihren muhamedaniſchen Gewalthabern verbun-
den, ihr verwirktes Leben ſich alljährlich durch die Zahlung des Haradſch
neu erkaufen mußten. Er ward auch nicht anderen Sinnes, als die
Nationalverſammlung von Epidaurus im Januar 1822 die Losſagung
der Hellenen vom osmaniſchen Joche feierlich ausſprach und der Wahr-
heit gemäß verkündete, ſie habe nichts gemein mit der Sache der Dema-
gogen, ſondern kämpfe für die nationale Unabhängigkeit.
Unzweifelhaft ward Alexanders friedfertige Haltung nicht blos durch
den Abſcheu vor der Revolution beſtimmt, ſondern auch durch eine poli-
tiſche Berechnung, welche den deutſchen Höfen für jetzt noch ganz ver-
borgen blieb. Die Türken ſelber rechneten ihre nordiſchen Nachbarn nie-
mals zu den Franken; als eine halbaſiatiſche Macht war Rußland über
die verwickelten Machtverhältniſſe des Orients immer genauer unterrichtet
als irgend ein europäiſcher Hof. Unmöglich konnte den argwöhniſchen
Blicken des Czaren entgehen, daß ein ſelbſtändiger griechiſcher Staat die
moskowitiſchen Zukunftspläne eher durchkreuzen als fördern, daß dies er-
ſtarkende Hellenenthum dereinſt vielleicht gar ſelber die Hand nach der
Kaiſerkrone von Byzanz ausſtrecken würde. Genug, nach manchem Schwan-
ken kehrte Alexander immer wieder zu dem Entſchluſſe zurück, die helleniſche
Revolution ſich ſelber — das hieß bei ihm: dem verdienten Untergange —
zu überlaſſen. Was irgend an den Liberalismus gemahnte war ihm ver-
dächtig. Im Herbſt 1821 fiel ſogar ſein langjähriger Vertrauter Fürſt
Galitzin in Ungnade; der wohlmeinende herrnhutiſche Schwärmer hatte
[257]Friedliche Haltung Rußlands.
ſeine philhelleniſche Geſinnung nicht verhehlt und ſich in der Unterrichts-
verwaltung duldſamer gezeigt, als den fanatiſchen Popen erlaubt ſchien.
Wetteifernd ſuchten England und Oeſterreich, die beiden treuen Gönner
des Divans, den Czaren in ſeiner friedlichen Geſinnung zu beſtärken. Im
Oktober 1821 empfing Metternich von Lord Caſtlereagh ein Schreiben, das
ihn über die Harmloſigkeit der Troppauer Proteſtnoten ſeines engliſchen
Freundes vollſtändig beruhigte. Der Lord, jetzt Graf Londonderry, lud
ihn ein, ſich in Hannover bei König Georg einzufinden; dort wollten ſie
Beide alle die kleinen Meinungsunterſchiede ausgleichen, die ſelbſt zwiſchen
vollkommen gleichgeſinnten Höfen zuweilen beſtänden.*) In Hannover
ward der Oeſterreicher mit offenen Armen aufgenommen; der Welfe ſprach
mit inbrünſtiger Bewunderung von der Weisheit des Kaiſers Franz, ließ
bei Tiſch ein urkräftiges Hep hep hurrah zu Ehren ſeines großen Alliirten
erſchallen und entwickelte Grundſätze, deren Lauterkeit den Gaſt entzückte:
ſeine eigenen Tory-Miniſter waren ihm noch viel zu liberal. Die beiden
Staatsmänner erneuerten unterdeſſen ihr altes Freundſchaftsbündniß, ſie
verſtändigten ſich leicht über alle europäiſchen Fragen, am leichteſten
über die Aufrechterhaltung des Friedens im Oriente: mit vereinter Kraft
dachten Beide zugleich den Czaren vor dem Kriege zu warnen und die
Pforte zur Mäßigung zu mahnen. Da aber die Feinheit der Orien-
talen ſogleich witterte, daß keiner der beiden Höfe geneigt war, ſeinen
menſchenfreundlichen Mahnungen durch die Waffen Nachdruck zu geben,
und der Oeſterreichiſche Beobachter nach wie vor jede Grauſamkeit der
Türken beſchönigte, jeden Sieg der Griechen verdächtigte, ſo ließen ſich die
Paſchas des herriſchen Machmud in ihrer gewohnten Kriegführung nicht
ſtören. Sie fuhren fort, gegen die Rebellen die altbewährten ottomani-
ſchen Beruhigungsmittel des Schändens und Schindens, des Pfählens
und Säckens, des Köpfens und Brennens anzuwenden; und wer ein Ohr
hatte für die Verzweiflung eines zur Raſerei gebrachten Volkes, der mußte
erkennen, daß die von Metternich und Londonderry erſehnte Unterwerfung
der Griechen ſchon längſt unmöglich war. Ein ſo gräßlicher Krieg konnte
nicht mehr anders enden als mit der Ausrottung oder der Befreiung des
Hellenenvolkes.
Dem Czaren freilich war die unfruchtbare Schlauheit der Hofburg
immer noch überlegen. Zunächſt galt es, „den Träumer“ Kapodiſtrias
vom Petersburger Hofe zu entfernen. Den ganzen Winter hindurch
ängſtete Metternich den ruſſiſchen Monarchen in zahlloſen Briefen und
Denkſchriften mit dem Geſpenſte des allgemeinen Weltbrandes: alle Un-
zufriedenen in Deutſchland erſehnten den Augenblick, da der Czar ſich für
die Revolution erklären würde! Von dem getreuen Rechberg wollte er ſo-
gar erfahren haben, daß die Münchener Liberalen nur auf das Los-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 17
[258]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
ſchlagen der Ruſſen warteten, um eine Veränderung der bairiſchen Ver-
faſſung durchzuſetzen*); und dazu immer wieder die brünſtige Verſicherung,
er treibe keine öſterreichiſche Politik mehr, ſondern lebe nur noch der ge-
meinſamen heiligen Sache der europäiſchen Legitimität. Im Frühjahr
1822 erſchien endlich der vormalige Madrider Geſandte Tatiſtſchew zwei-
mal in Wien, um hinter dem Rücken des Geſandten Golowkin, der Oeſter-
reichs Abſichten durchſchaute, mit Metternich zu verhandeln und die Hof-
burg durch gütliches Zureden mindeſtens zur Abberufung ihrer Geſandt-
ſchaft aus Konſtantinopel zu bewegen. Tatiſtſchew ſtand im Rufe großer
diplomatiſcher Gewandtheit, Metternich aber meinte höhniſch: „glücklicher-
weiſe bin ich ein alter Fiſcher.“ Und wirklich gelang es ſeinen ſophiſti-
ſchen Künſten, nicht nur alle Zumuthungen der Ruſſen zurückzuweiſen, er
beredete den Czaren ſogar zu einer Nachgiebigkeit, die einem Sündenbe-
kenntniß ſehr ähnlich ſah. Alexander erklärte ſich bereit den diplomatiſchen
Verkehr mit der Pforte wieder anzuknüpfen, obwohl der Sultan den ver-
mittelnden Mächten immer nur die trotzige Antwort gab: miſcht Euch nicht
in unſere Angelegenheiten! Der Oeſterreicher erleichterte dem Czaren den
Rückzug, bot ſeine guten Dienſte an für die Räumung der Donaufürſten-
thümer und die Herſtellung des Schifffahrtsverkehrs von Odeſſa — eine
Hilfe, die natürlich nicht allzu ernſt gemeint war, da Metternich von dem
Grundſatze ausging, ſchon die Möglichkeit eines Krieges der Kaiſermächte
wider die Pforte könne den Welttheil in Flammen ſetzen. Von einer
Sühne für die Ermordung des Patriarchen war keine Rede mehr, und
über eine Amneſtie zu Gunſten der griechiſchen Rebellen wollten die großen
Mächte erſt noch mit dem Divan verhandeln, was nach orientaliſchem
Brauche noch jahrelang währen konnte.
Kurz, Alexander hatte ſeine Hand von den Chriſten der Balkan-
halbinſel gänzlich abgezogen, und mit gutem Grunde grollte Rußland über
dieſen Czaren, der ſich die Gelegenheit zu einem gerechten, nationalen
Kriege ſo kleinmüthig entſchlüpfen ließ. Mit ſchmetternden Fanfaren ver-
kündete Metternich ſeinem Kaiſer die Niederlage Rußlands, „den voll-
ſtändigſten Sieg, den vielleicht je ein Cabinet über das andere davon ge-
tragen.“ Kurz vorher hatte er einmal in einen Brief den Weisheitsſpruch
eingeflochten, die Prahlerei ſei die lächerlichſte aller Eigenſchaften. Gewohnt
nur auf den nächſten Tag zu rechnen, wähnte er das Werk Peters des
Großen und aller ſeiner Nachfolger bereits vernichtet zu haben und ahnte
nicht, daß die dauernde Macht der Weltverhältniſſe und der nationalen
Leidenſchaften den ruſſiſchen Staat früher oder ſpäter in die Bahnen
Katharinas zurückführen mußte. Das unerhörte Glück dieſer Jahre hatte
ſeinen Dünkel bereits ſo hoch geſteigert, daß er jeden Andersgeſinnten faſt
wie einen Geiſteskranken anſah; da er ſelber in den ſüßlichen Neigungen
[259]Kapodiſtrias’ Fall.
der Höfe des alten Jahrhunderts befangen blieb und ſich nichts Schöneres
wußte als eine recht flache italieniſche Oper, ſo erſchien es ihm ſehr merk-
würdig, daß alle Liberalen die neue deutſche Muſik vorzögen, der falſche
Geiſt und der ſchlechte Geſchmack ſich ewig beiſammen fänden.
In Petersburg blieb der Rückſchlag nicht aus. Kapodiſtrias verließ den
Hof im September mit unbeſtimmtem Urlaub — für immer, wie er wohl
wußte. Auch Golowkin forderte ſeine Entlaſſung und wurde durch den glück-
lich überliſteten Tatiſtſchew erſetzt. So waren ſie denn Alle in Ungnade ge-
fallen, die bedeutenden Männer, die einſt nach und neben einander das Ver-
trauen des Czaren gewonnen hatten: Speransky und Stein, Czartoryski,
Galitzin, Kapodiſtrias. Nur Einer behauptete ſich vom Anfang bis zum
Ende dieſer wechſelreichen Regierung unerſchütterlich in der Gunſt des
Herrſchers: der dumme, rohe, heimtückiſche General Araktſchejew, ein Ka-
maſchenheld gemeinſten Schlages, knechtiſch nach oben, frech nach unten.
Wie ſanfte, hingebende Frauen ſich nicht ſelten zu einem völlig herzloſen
Manne dämoniſch hingezogen fühlen, ſo konnte Alexanders weiche Natur
dieſen böſen Geſellen nicht entbehren, der in ſeiner glücklichen Selbſt-
gewißheit kein Erwägen und kein Schwanken kannte. Der allgemeine
Haß, welchen das herriſche Gebahren dieſes Günſtlings hervorrief, fiel auch
auf ſeinen Beſchützer zurück. Seit Alexander vor den Osmanen die Segel
geſtrichen hatte, begann die Liebe des Volks ſich von dem einſt Vergöt-
terten abzuwenden, und je verlaſſener er ſich unter ſeinen Ruſſen fühlte,
um ſo feſter klammerte er ſich an den Bund der großen Mächte.
Der preußiſche Hof hatte während dieſer Händel ſeine öſterreichiſchen
Freunde unterſtützt, doch nur lau und nicht ohne Widerſtreben; denn
obwohl er in ſeiner unbedingten Friedensliebe den Ausbruch des orien-
taliſchen Krieges zu verhindern wünſchte, ſo konnte er ſich doch der phil-
helleniſchen Schwärmerei der öffentlichen Meinung nicht ſo gänzlich ent-
ziehen wie die Hofburg, die von Alters her darauf rechnen durfte, daß
ihre Völker ſich niemals ein Urtheil über die auswärtige Politik erlaubten.
Ein türkenfreundlicher Fanatismus, wie ihn der Oeſterreichiſche Beobachter
zur Schau trug, war in den Spalten der Berliner Staatszeitung un-
möglich, da faſt die geſammte gute Geſellſchaft, bis herauf zu dem Frhrrn.
vom Stein und dem hochkirchlichen weſtphäliſchen Adel, ſich laut für die
Griechen ausſprach. Einmal, im Juli 1821, wagte Ancillon ſogar den Vor-
ſchlag, die chriſtlichen Mächte ſollten durch gemeinſame Verhandlungen bei
der Pforte den Griechen einigen Rechtsſchutz ſichern. Bernſtorff beeilte ſich
freilich, dieſe Denkſchrift ſeines Freundes als eine Privatarbeit zu ver-
leugnen; er ermahnte ſogar im September, auf Metternich’s dringende
Bitte, die Höfe von München und Stuttgart zum Einſchreiten gegen die
revolutionären Umtriebe der Philhellenen: unter den Apoſteln der Frei-
heit, ſo ſchrieb er, habe keiner ſo viel Frechheit an den Tag gelegt wie
Profeſſor Thierſch in München. Nunmehr wurden die öffentlichen Wer-
17*
[260]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
bungen für die griechiſchen Freiſchaaren überall unterſagt, und Thierſch
durfte ſeine in der Allgemeinen Zeitung begonnene Fehde gegen Gentz
nicht fortführen.*) Aber dabei blieb es auch; die Geldſammlungen der
Griechen nahmen ungeſtört ihren Fortgang, und in Preußen ſelbſt drückten
die Behörden ein Auge zu. So lange Alexander noch ſchwankte vermied
der Berliner Hof behutſam Alles, was die ruſſiſche Freundſchaft irgend
gefährden konnte. Die Einladung nach Hannover ſchlug Bernſtorff aus,
damit die Zuſammenkunft nicht den Anſchein einer gegen Rußland ge-
richteten europäiſchen Verſchwörung gewänne, und trotz der Bitten Met-
ternich’s wollte der König die Friedensarbeit der Hofburg nicht durch
eigenhändige Briefe an ſeinen kaiſerlichen Freund unterſtützen.**)
Erleichtert athmete man in Berlin auf, als die Kriegsgefahr im Oſten
ſich verzog. Kaiſer Franz aber vergaß jene geringfügigen Meinungsver-
ſchiedenheiten gern, da ihm der König von Preußen im Sommer 1822
einen nur allzu unzweideutigen Beweis ſeiner Anhänglichkeit gab. Der
Geſandte General Kruſemark war geſtorben, ein Diplomat der alten Schule,
der trotz ſeiner Verehrung für die Hofburg doch auch die Gebrechen des
Kaiſerſtaates, die Zerrüttung des Haushalts und des Heerweſens, die un-
haltbaren Zuſtände in der Lombardei immer mit ehrlichen Soldatenaugen
unbefangen beobachtet hatte. Sofort ließ Metternich alle Minen ſpringen
um einen Nachfolger nach ſeinem Herzen zu erlangen, und da die Partei
Voß-Buch’s eben jetzt im Aufſteigen war, ſo wurde der König in unglück-
licher Stunde beredet, den Fürſten Hatzfeldt nach Wien zu ſenden. Mit
den Worten: „wir brauchten einen ſo reinen Mann wie Sie“ empfing Met-
ternich den alten Freund, und Kaiſer Franz meinte befriedigt: „ſo immer
feſter verbunden werden wir den revolutionären Geiſt überall und voll-
ſtändig beſiegen.“***) Fürſt Hatzfeldt hatte einſt nach der Jenaer Schlacht
als Gouverneur von Berlin eine kopfloſe Schwäche gezeigt, die dem Landes-
verrathe nahe kam und nur darum der verdienten Strafe entging, weil
Napoleon ſich drohend für ihn verwendete. Nachher geſellte er ſich zu
der kleinen Schaar der Franzoſenfreunde, da ihm der napoleoniſche Des-
potismus immerhin erträglicher ſchien als die Umſturzgedanken Stein’s
und Hardenberg’s. Noch im Februar 1813 beſchwor er den Imperator
in Paris, den preußiſchen Hof durch einige kleine Zugeſtändniſſe zu be-
ſchwichtigen, damit Deutſchland vor der Geißel der Revolution bewahrt
bliebe. Nach den Befreiungskriegen, die er nur mit gemiſchten Empfin-
dungen betrachten konnte, ſah er einen „Kampf auf Tod und Leben zwi-
ſchen Ariſtokratie und Demokratie“ voraus; wie früher Napoleon ſo war
ihm jetzt Oeſterreich der Hort der Autorität. Er lebte und webte in der guten
[261]Fürſt Hatzfeldt.
alten Zeit, da der Edelmann noch Alles war, und empfahl den Fürſten
ſich mit Rathgebern aus dem hohen Adel zu umgeben: „ich will zurück
zu jenen glücklichen Tagen meiner Jugend, wo die Ordnung, die Manns-
zucht, die Religion und die Sittlichkeit noch in allen Klaſſen der Geſell-
ſchaft anerkannte Tugenden waren.“ Als Geſandter in Brüſſel ſchloß er
gute Freundſchaft mit dem verhaßten Miniſter van Maanen und mahnte,
völlig eigenmächtig, den niederländiſchen Hof, daß man die Ehrfurcht vor
„der ſchlechten Verfaſſung“ nur ja nicht zu weit treiben möge.
Und dieſer greiſe Heißſporn der reaktionären Partei bekleidete fortan
fünf Jahre lang den damals wichtigſten Poſten der preußiſchen Diplomatie.
In ſeinem Oeſterreich fand er Alles bewunderungswerth; hier kann man
ruhig ſchlafen, ſchrieb er ſeelenvergnügt, inmitten eines guten Volkes, ge-
ſchützt durch ein treues Heer und eine ausgezeichnete Polizei. Nur gegen die
überlegene Cultur der Lombarden und Venetianer erging er ſich, wie Met-
ternich, gern in Ausdrücken hoffärtiger Verachtung. Wie jubelte er auf,
als Kaiſer Franz die fußfälligen Bitten der Gräfin Tereſa Confalonieri
für ihren gefangenen Gatten hartherzig abwies; die erſte aus jener lan-
gen Reihe hochſinniger Frauen, welche das einige Italien heute als die
Heldinnen der nationalen Freiheit ehrt, war in Hatzfeldt’s Augen nur das
Weib eines Verbrechers. Auch das k. k. Beamtenthum ſchien ihm zum Theil
ſchon gangréné; denn auch dies ſchöne Bild von dem liberalen Krebsſcha-
den ſowie die vier anderen Metaphern ſeines Meiſters Metternich eignete
ſich der Adept ſogleich gelehrig an. Seine geſchwätzigen, in brutalen, kaum
lesbaren Schriftzügen hingeworfenen Berichte ſtechen auffällig ab von der
maßvollen, ſtreng ſachlichen Darſtellung, welche ſonſt in den Arbeiten der
preußiſchen Diplomatie üblich war; ſie fließen über von Schmähungen wider
die liberalen „Taugenichtſe“, und auf jeder dritten Seite kehrt die Drohung
wieder: il faut terrasser pour toujours le monstre révolutionnaire.*)
Als er dann in der Sonne der kaiſerlichen Gunſt warm wurde, da verlor
er allmählich jedes Gefühl preußiſchen Stolzes; er pflegte ſeine Dienſtpapiere
mit unziemlicher Vertraulichkeit dem öſterreichiſchen Staatskanzler zu zeigen,
er ſchlug gegen ſein eigenes Cabinet oft einen Ton an, als wäre er ein
öſterreichiſcher Agent am preußiſchen Hofe, und fühlte ſich nur noch als
Sicherheitswächter für den geſammten Welttheil. Denn in allen groben
menſchlichen Verirrungen liegt ein weltbürgerlicher Zug; wie die Welt des
Laſters und des Verbrechens leider zu allen Zeiten eine internationale
Macht war, ſo verliert auch der politiſche Fanatismus, ſobald er eine
letzte Grenze überſchreitet, den Boden des Vaterlandes unter ſeinen Füßen.
Zum Glück reichte der Einfluß des Fürſten in Berlin nicht ſehr weit.
Bernſtorff ließ ſich nur ſelten einmal, in ſchwachen Augenblicken, durch
die öſterreichiſchen Geſpenſtergeſchichten einſchüchtern, und je weiter er ſich
[262]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
ſelbſt im Laufe der Jahre von den Bahnen der Politik Metternich’s ent-
fernte, um ſo läſtiger wurde ihm der alte Polterer, der jedes eigenen Ge-
dankens baar, nur wie ein Doppelgänger des öſterreichiſchen Geſandten
Zichy erſchien und zuletzt ſeinen vorgeſetzten Miniſter geradezu bekämpfte.
Witzleben aber las die Wiener Geſandtſchaftsberichte ſtets mit Entſetzen und
ſchrieb ſich zuweilen die ärgſten Stellen ab, um den König in vertraulichem
Geſpräche vor dieſem Uebermaße der Parteiwuth zu warnen. —
Mit Preußen feſt verbündet, mit England verſtändigt, mit Rußland
leidlich ausgeſöhnt, konnte Metternich dem vierten Congreſſe, der nach
neueren Verabredungen in Verona ſtattfinden ſollte, mit einiger Ruhe
entgegenſehen; er wußte mindeſtens, daß die orientaliſche Frage — der
Ausdruck kam in dieſen Tagen auf — dort nur geringe Schwierigkeiten
bereiten würde. In Spanien freilich hatte ſich die Lage mittlerweile ſehr
ernſt geſtaltet. Der Radikalismus war in beſtändigem Wachsthum; ſchon
ſchritt man zur Aufhebung der Klöſter und der Majorate, der katholi-
ſchen Majeſtät ins Angeſicht brüllte der Pöbel das wilde Hohnlied: tragala
perro, ſchling’ es nieder du Hund! König Ferdinand ſendete insgeheim
flehende Hilferufe an die großen Mächte und wagte endlich im Juli 1822
einen Staatsſtreich. Der tückiſche Anſchlag mißlang. Verzweifelnd an der
Treue dieſes Fürſten zerſtoben die gemäßigten Parteien in alle Winde,
die Radikalen allein behaupteten das Feld in der Hauptſtadt, der Bour-
bone war ein Gefangener in ſeinem Schloſſe. In den hartgläubigen
Provinzen des Nordens aber ſchaarte ſich die Partei der Servilen zu-
ſammen, Prieſter und Mönche predigten den Glaubenskrieg wider die
Revolution; in Urgel ward eine Regentſchaft eingeſetzt, die im Namen
des unfreien Königs zu handeln vorgab und ihre Agenten an alle Höfe
ſendete. Der Bürgerkrieg raſte dahin, und wie ſollte er enden unter
einem Fürſten, der alle Parteien verrathen und mißbraucht hatte? Dieſer
König muß fallen, ſchrieb Bernſtorff traurig, er hat alle Eigenſchaften ſich
zu verderben, keine ſich zu retten.*)
Und ſchon begannen von Frankreich her die erſten leiſen Verſuche
der Einmiſchung. Dort war im Dec. 1821 ein Ultra-Miniſterium unter
der Führung Villele’s gebildet worden. Der Sieg dieſer Partei bekundete
ſich ſogleich in harten Verfolgungen wider die radikalen Geheimbünde;
das ganze nächſte Jahr hindurch wurde das Land durch gehäſſige politiſche
Proceſſe in Athem gehalten. Zugleich verlangte die Preſſe der Ultras
mit wachſendem Ungeſtüm den Krieg wider Spanien: der beleidigte Vetter
des Allerchriſtlichſten Königs ſollte gerächt, das Brutneſt der jüngſten
Revolutionen ausgenommen und die beſcheidene Rolle, welche Frankreich
während der letzten Jahre in Europa geſpielt, durch die glänzenden Er-
folge eines legitimiſtiſchen Kreuzzugs geſühnt werden. Wenn der Erbe der
[263]Spaniſch-franzöſiſche Verwicklung.
Revolution einſt die Spanier nicht hatte bezwingen können, dem Erben
des heiligen Ludwig war ein leichter Sieg gewiß! Umſonſt bemühte ſich
der kluge, behutſame Villele dieſen blinden Eifer zu bändigen; ein Theil
ſeiner eigenen Amtsgenoſſen ſtand den Plänen der Kriegspartei nahe, der
Miniſter des Auswärtigen Montmorency unterhielt diplomatiſchen Ver-
kehr zugleich mit der Madrider Cortes-Regierung und mit der Regentſchaft
von Urgel. Schon ſeit dem Herbſt 1821 ſtand ein kleines Heer an der
Pyrenäengrenze um die Einſchleppung des gelben Fiebers zu verhindern.
Die Truppen blieben verſammelt auch als die Krankheit längſt erloſchen
war; ſie wurden nach und nach verſtärkt, ſie nahmen die Guerillas des
Glaubensheeres, die vor den Regimentern des Generals Mina nordwärts
flohen, gaſtlich auf und erlaubten ihnen ſich zu neuem Kampfe zu rüſten.
So verletzte der Staat, der ſich als Wahrer der Legitimität geberdete,
Tag für Tag die Geſetze des Völkerrechts, und da Mina mit den Truppen
der Cortes zuletzt überall ſiegreich blieb, ſo ward ein Krieg zwiſchen den
beiden Nachbarmächten immer wahrſcheinlicher.
In dieſem erwartungsvollen Augenblicke vollzog ſich am engliſchen
Hofe eine folgenreiche Wendung. Kurz vor dem Zuſammentritt des Vero-
neſer Congreſſes, am 13. Auguſt, entleibte ſich Graf Londonderry in einem
Anfall von Schwermuth, und mit aufrichtigem Kummer betrauerte Met-
ternich den Unerſetzlichen, „mein anderes Ich“. Lord Liverpool aber fühlte
längſt, daß die traurige Mittelmäßigkeit ſeines Cabinets einer Auffriſchung,
die Hartköpfigkeit der Hochtorys einer Milderung bedurfte; er entſchloß
ſich daher an die Stelle des Verſtorbenen Georg Canning zu berufen,
den freieſten und geiſtreichſten Kopf der Torypartei, der dem König Georg
und dem Wiener Hofe gleich verdächtig war. So zog denn endlich wie-
der ein entſchloſſener Vertreter engliſcher Intereſſen- und Handelspolitik
in die Säle von Downing-Street ein, während alle anderen Großmächte
den Doktrinen der Revolution nur einen ebenſo unfruchtbaren conſervativen
Doktrinarismus entgegenzuſetzen wußten. Von Jugend an lebte Canning
dem einen Gedanken der Macht Alt-Englands. Schon in dem Kriege
gegen das revolutionäre Frankreich ſah er nicht wie Burke einen Prin-
cipienkrieg, ſondern einen Kampf um die britiſche Seeherrſchaft; ihm war
es nur ein Mittel zum Zweck, wenn er in den Spalten ſeiner antijako-
biniſchen Zeitſchrift die Ideen der Revolution mit blendendem Witz ver-
ſpottete. Ganz unbedenklich befahl er nachher, als Mitglied des Mini-
ſteriums Portland, mitten im Frieden den Raubzug gegen Kopenhagen,
weil die Intereſſen des engliſchen Handels dieſen Gewaltſtreich geboten,
und ebenſo unbedenklich verſprach er den ſpaniſchen Junten ſeinen Bei-
ſtand wider Napoleon. Durch leidige Mißverſtändniſſe und perſönliche
Händel ward er dann, eben in der Zeit da ſein Ehrgeiz leidenſchaftlich
nach dem Beſitze der Macht verlangte, aus dem Cabinet verdrängt und
mußte grollend mit anſehen, wie kleinere Leute die Früchte ſeiner that-
[264]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
kräftigen Staatskunſt ernteten und Caſtlereagh das ſiegreiche England auf
den Friedenscongreſſen vertrat. Jetzt endlich, nach langen Jahren miß-
muthigen Harrens, gewährte ihm das Schickſal die Genugthuung, daß er
die halbverlorene Selbſtändigkeit der engliſchen Politik wiederherſtellen, den
ſtarren Bund der Großmächte zerſprengen und mit fünf Jahren glänzen-
der Erfolge ſeine ſtaatsmänniſche Laufbahn ruhmvoll abſchließen ſollte.
In der inneren Politik blieb er immer conſervativ; denn obwohl er die
Vorurtheile der ſteifen Hochtorys weit überſah, obwohl er als Halb-Irlän-
der die Emancipation der Katholiken lebhaft betrieb und auch der Mil-
derung der harten Zollgeſetze günſtig war, ſo verwarf er doch unbedingt
den neuen Gedanken, um den ſich die Whigpartei wieder zu ſammeln be-
gann, den Gedanken der Parlamentsreform. Nichts ſchien ihm gefähr-
licher für die Schlagkraft der britiſchen Politik als eine wirkliche Volks-
vertretung im Unterhauſe. Aber wie für ſein England ſo verlangte er
auch für jede andere Nation das Recht nach ihrer Eigenart zu leben, falls
ſie nur den engliſchen Handel nicht ſtörte. Und dieſer Handel gedieh dann
am ſicherſten, wenn das Feſtland nie zur Ruhe kam, wenn die wirthſchaft-
liche Spannkraft ſeiner Völker durch bürgerliche Kämpfe gelähmt wurde;
um ſo ungeſtörter konnte dann die glückliche Inſel die Meeresherrſchaft,
die ihr als ein natürliches Recht galt, erweitern. Der weltbürgerlichen
Doktrin des legitimen Fürſtenrechts ſtellte Canning feſt und ſicher den
nüchternen Satz entgegen: „die Harmonie der politiſchen Welt wird durch
die Mannichfaltigkeit der Staatsformen ſo wenig geſtört wie die Harmonie
der phyſiſchen Welt durch die verſchiedene Größe der Planeten.“ Den
Spaniern gegenüber befolgte er den nämlichen Grundſatz, welchen Lon-
donderry noch in einer hinterlaſſenen Inſtruktion ausgeſprochen hatte:
niemals dürfe England dem Pariſer Hofe den Einmarſch in Spanien,
den beherrſchenden Einfluß auf der iberiſchen Halbinſel geſtatten. Aber
wie viel günſtiger als vor’m Jahre war jetzt Englands Stellung.
In Troppau und Laibach hatte Caſtlereagh allein mit dem linken Arme
gefochten, da er die Einmiſchung Oeſterreichs in die italieniſchen Händel
ſelber lebhaft wünſchte und nur die doktrinären Manifeſte der Oſtmächte miß-
billigte. In der ſpaniſchen Frage dagegen konnte Canning ohne Vorbehalt
ein kaltes Nein ſprechen, und er war dazu um ſo feſter entſchloſſen, da er
das große europäiſche Bündniß mit vollkommener Gemüthsfreiheit be-
urtheilte. Londonderry hätte niemals den Muth gefunden ſich von der
großen Allianz förmlich loszuſagen; ſein Nachfolger betrachtete ſie als eine
Feſſel für England, zumal ſeit ſie, ihrem urſprünglichen Zwecke zuwider,
ſich nur noch mit der polizeilichen Ueberwachung Europas beſchäftigte.
Während ſein Vorgänger in freundſchaftlicher Ehrfurcht zu Metternich
emporgeblickt hatte, war Canning der erſte Staatsmann dieſes Zeitalters,
der die Nichtigkeit des großen Wiener Zauberers durchſchaute. Sobald
er die Schlangenwindungen der Metternich’ſchen Politik eine Weile ver-
[265]Canning.
folgt hatte, meinte er kurzab, das ſei der größte Lügner und Schuft des
Continents, und legte fortan alle die ſalbungsvollen politiſchen Sitten-
predigten der Hofburg mit einem trockenen Witze bei Seite. Er wußte wohl,
daß Englands kleines Heer kaum wagen durfte den Franzoſen in Spanien
mit dem Schwerte zu begegnen. Dafür hielt er eine andere Waffe bereit, um
die Nachbarn, falls ſie den Einmarſch wagten, empfindlich zu züchtigen:
wenn England die thatſächlich ſchon halb vollzogene Anerkennung der Un-
abhängigkeit Südamerikas zuerſt förmlich ausſprach, dann wurden die In-
tereſſen Frankreichs und Spaniens ſchwer geſchädigt, die britiſche Flagge
gewann die Vorhand auf dem neu erſchloſſenen Markte und konnte ſich
vielleicht dort im Weſten ein anderes größeres Portugal, ein unermeßliches
Gebiet handelspolitiſcher Ausbeutung ſichern.
Ebenſo gut engliſch war Canning’s Urtheil über die orientaliſchen
Wirren. Er hatte ſich ſchon als Student durch ſeine reiche claſſiſche
Bildung hervorgethan und vor Jahren ſogar philhelleniſche Gedichte ge-
ſchrieben, wie er auch jetzt noch den griechiſchen Rebellen ſeine menſchliche
Theilnahme nicht verſagte. Darum war er doch keineswegs gewillt, die
drückende Gewaltherrſchaft, welche ſein England gegen die Hellenen der
ioniſchen Inſeln ausübte, irgend zu mildern. Den Beſtand des Türken-
reichs hielt er, gleich der ungeheueren Mehrzahl ſeiner Landsleute, für eine
europäiſche — das will ſagen, eine engliſche — Nothwendigkeit, weil die
wirthſchaftliche Hilfloſigkeit der ſchlummernden Balkanvölker dem britiſchen
Kaufmann einen ſo bequemen Markt bot. Um dieſen treueſten Bundes-
genoſſen Alt-Englands nicht zu ſchwächen, wollte er den Griechen niemals
mehr als die Rechte eines halbſelbſtändigen Vaſallenſtaates, wie ſie Ser-
bien bereits beſaß, einräumen. Ungleich wichtiger als die Zukunft der
Hellenen war ihm der Kampf gegen Rußlands orientaliſche Politik. In
dem Mißtrauen gegen den Petersburger Hof ſtimmte er ganz mit Lon-
donderry und den Hochtorys überein, nur wollte er die ruſſiſchen Pläne
durch Thaten, nicht blos, wie Metternich, durch Hinhalten und Zuwarten
bekämpfen.
Wohl war es ein Segen, daß endlich wieder der grelle Lichtſtrahl
einer kräftigen nationalen Politik in die Nebelwelt der europäiſchen Re-
aktion hereinbrach. Und Canning ſchritt mit der Geſchichte, er erkannte
doch einige der jugendlichen Kräfte, die ſich im Völkerleben emporran-
gen, in ihrer Berechtigung an; die Gedanken ſeiner britiſchen Macht-
politik berührten ſich, wenn auch nur zufällig, mit manchen Herzens-
wünſchen der Liberalen des Feſtlands. Meiſterhaft verſtand er dieſen
Vortheil zu benutzen. Wie einſt die beiden Pitt das große Wort vom
europäiſchen Gleichgewicht verwendet hatten um die Intereſſenpolitik der
engliſchen Seeherrſchaft redneriſch zu umhüllen, ſo gebrauchte jetzt ihr
Nachfolger das neue Schlagwort von der Freiheit der Völker, das ſpäterhin
als bewährtes Erbſtück in den Wörterſchatz Lord Palmerſton’s überging.
[266]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Entzückt lauſchte die liberale Welt, wenn der ſchöne Mann mit den be-
geiſterten, leuchtenden Augen und der breiten kahlen Stirn eine ſeiner
ſchwungvollen, gedankenreichen Reden hielt und die ſcharfſinnige Erörte-
rung des engliſchen Handelsvortheils immer zur rechten Zeit durch einen
wohlberechneten Ausfall auf die verhaßte heilige Allianz oder durch einen
feierlichen Anruf der Selbſtändigkeit der Nationen oder durch ein Freiheit
athmendes claſſiſches Citat unterbrach. Da zudem die Verehrung für das
freie England noch von den napoleoniſchen Zeiten her nachwirkte, ſo ge-
ſchah das Seltſame, daß dieſer ariſtokratiſche eingefleiſchte Inſulaner bald
für einen Helden des weltbürgerlichen Liberalismus galt und dies Inſel-
volk, das unter allen Nationen der Welt die ſtärkſte nationale Selbſt-
ſucht beſitzt, als der hochherzige Vertheidiger der allgemeinen Völkerfreiheit
geprieſen wurde. Für Metternich ward Canning ein furchtbarer Feind.
Mit den Ideologen der Revolution wußte die Hofburg ſchon fertig zu
werden; dieſer Mann aber, der Feuer und Kälte, Schwung und Nüch-
ternheit ſo wunderbar vereinigte, der, geſtützt auf die wirthſchaftliche Kraft
der größten Geldmacht der Erde, die kühlen Berechnungen ſeiner Handels-
politik mit dem gewaltigen Pathos volksthümlicher Beredſamkeit vertheidigte
und die öffentliche Meinung Europas in den Dienſt der engliſchen See-
herrſchaft zog, er blieb den Wiener Staatslenkern ein Räthſel. Nur
wenige Wochen ſtand er am Ruder, da ward er ſchon von den Diplomaten
Oeſterreichs mit einer Fluth von Verleumdungen überſchüttet, welche die
geheime Beſorgniß deutlich verriethen. —
So ſtanden die Dinge, als Kaiſer Alexander und die Staatsmänner
der großen Mächte im September ſich in Wien zu vertraulichen Vor-
beſprechungen einfanden. Zur Beruhigung Aller zeigte der Czar eine
„europäiſche Geſinnung“, welche an die Laibacher Tage gemahnte. Er
nahm keinen Anſtand, den Preußen reumüthig zu geſtehen, daß er einſt
von den Plänen der Neuerer das Wohl der Menſchheit erhofft und auch in
der griechiſchen Sache mehrfach geirrt habe. Jetzt aber ſeien die Neuerer
entlarvt, jetzt gelte es nur noch die Revolution zu bewältigen und Europa
endlich zu beruhigen. Mit ſeiner ganzen Nation habe er kämpfen müſſen,
doch der Untergang der großen Allianz bleibe das größte aller Uebel,
und daneben dürften Privatintereſſen nicht in Betracht kommen. So ganz
verwandelt erſchien jetzt der Fürſt, der einſt der Welt die Lehren des
chriſtlichen Liberalismus verkündigt; ſelbſt die Schlagworte Metternich’s,
der jede geſunde nationale Staatskunſt als perſönlichen Eigennutz zu
brandmarken pflegte, hatte er ſich bereits angeeignet. Nur die fromme
Salbung früherer Tage war ihm noch geblieben. „Die Politik, ſagte
er zu Hatzfeldt, iſt nicht mehr was ſie einſt war. Sie ruht nicht mehr
auf der Selbſtſucht, die Grundſätze unſeres wahrhaft heiligen Bundes
ſind rein wie er ſelbſt; nur wenige Menſchen verſtehen dieſe Staatskunſt
ſchon ganz.“ So war man denn allerſeits einig, die griechiſche Frage
[267]Vorbeſprechung in Wien.
auf dem Congreſſe zu „töden“, und da die Truppen des Sultans neuer-
dings, ſeit der Ermordung des gefährlichen Rebellen Ali Paſcha, faſt
überall glücklich fochten, ſo gab ſich der Areopag des chriſtlichen Europas
wieder einmal, wie ſo oft ſchon, der menſchenfreundlichen Erwartung hin,
die Glaubensgenoſſen im Oſten würden demnächſt durch den legitimen
Großtürken gänzlich unterworfen werden.*)
Weit ſchwieriger erſchien die Verſtändigung über Spaniens Zukunft.
Wie oft hatte der Czar ſeiner ruſſiſchen Kriegspartei die Behauptung
entgegengehalten, daß er aller ſeiner Streitkräfte bedürfe zur Bekämpfung
der Revolution im Weſten; mit Leidenſchaft verlangte er alſo den ge-
meinſamen Kreuzzug der großen Allianz gegen Spanien, „das Haupt-
quartier des Jacobinismus.“ Das düſtere Mißtrauen, das ihn jetzt ganz
beherrſchte, ſtimmte ihn empfänglich für die verzweifelten Hilferufe des
Madrider Hofes; er glaubte im Ernſt, das Leben König Ferdinand’s ſchwebe
in Gefahr, obgleich die ungeheuere Mehrheit der Spanier, allen Aufwiege-
lungen der Radikalen zum Trotz, noch mit der alten abgöttiſchen Verehrung
zu der katholiſchen Majeſtät aufblickte. Die deutſchen Mächte widerſprachen
lebhaft; denn ſie wußten, daß die franzöſiſche Regierung den Durchmarſch
eines Coalitionsheeres unmöglich erlauben konnte, ſie wurden in dieſer
Einſicht beſtärkt durch die Mittheilungen Wellington’s, der als engliſcher
Bevollmächtigter noch zuletzt in Wien eintraf und unterwegs ſich mit
Villele beſprochen hatte.**) Ebenſo wenig wollte Metternich die Einmiſchung
Frankreichs allein dulden, weil er den Einſpruch Englands fürchtete und
weil er das franzöſiſche Heer, cette armée gangrénée, mit Mißtrauen
betrachtete. So vereinigten ſich denn drei der großen Mächte in dem
aufrichtigen Wunſche, das ſpaniſche „Fieber“ ſich ſelber zu überlaſſen.
Der Vertreter Frankreichs, Montmorency, rückte in Wien noch nicht mit
der Sprache heraus; man fühlte ihm an, wie erbittert die Parteien in
Paris mit einander rangen, die Ultras drängten zum Kriege, König Ludwig
und ſein Villele widerſtanden noch immer. Da Alexander den Gedanken
einer europäiſchen Intervention hartnäckig feſthielt, ſo begannen dieſe ſpa-
niſchen Dinge, ganz wider Erwarten, ſehr bedrohlich zu werden. Wellington
ſelbſt konnte ſich der Beſorgniß nicht ganz erwehren. Sein Feldherrnblick
reichte nicht über die engliſchen Intereſſen hinaus, traf aber innerhalb
dieſes Kreiſes meiſt das Rechte. Er erkannte ſogleich die Gefahr, daß der
Czar, wenn man ſeine ſpaniſchen Entwürfe gänzlich zurückwieſe, vielleicht
die orientaliſchen Pläne der altruſſiſchen Politik wieder aufnehmen würde;
denn ohne einen Erfolg durfte Alexander, nachdem er die Hoffnungen
ſeiner Ruſſen ſo ſchwer getäuſcht, nicht von Verona heimkehren. —
[268]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Außer den Angelegenheiten Südeuropas dachten Metternich und
Bernſtorff auch die deutſche Bundespolitik auf dem Congreſſe zur Sprache
zu bringen. Nicht als ob ſie das Ausland geradeswegs zur Einmiſchung
in die deutſchen Dinge hätten auffordern wollen. Doch ſie nahmen für
die große Allianz ein Recht der Aufſicht über die Ruhe des ganzen Welt-
theils in Anſpruch, ſie dachten bereits an die Errichtung einer europäiſchen
Centralbehörde, welche alle Nachrichten über die demagogiſchen Umtriebe
aus der weiten Welt zu ſammeln hätte. Darum hielten ſie ſich ver-
pflichtet, die ſtrengeren Grundſätze, welche fortan am Bundestage gelten
ſollten, dem Congreſſe mitzutheilen; dahinter verbarg ſich zugleich die Abſicht,
den Czaren über die deutſchen Verhältniſſe aufzuklären, damit er ſeinen
Schwager, den widerſpänſtigen König von Württemberg, der immer noch
ingeheim auf Rußlands Hilfe hoffte, nachdrücklich an die Bundespflichten
erinnere.*)
Auch dieſer neue Anſchlag wider die deutſchen Landesverfaſſungen war
wieder, wie einſt der Karlsbader Staatsſtreich, durch die Hilferufe der con-
ſtitutionellen Höfe des Südens mit veranlaßt. In Baden hatte die verſöhn-
liche Stimmung des Großherzogs nicht lange vorgehalten. Er befand ſich
allerdings in bedrängter Lage, da die Staatsdiener durch die neue Dienſt-
pragmatik ſehr unabhängig geſtellt waren und die Wortführer der liberalen
Oppoſition faſt ſämmtlich dem Beamtenthum angehörten. In ſeinem
Unmuth hatte Berſtett ſchon einmal ſeine Entlaſſung gefordert, weil er
ſeinen eigenen Subalternen nichts mehr befehlen dürfe. Mittlerweile
war auch der Landtag wieder zuſammengetreten, und die Liberalen zeigten
diesmal eine fröhliche Kampfluſt, welche manche Händel zwiſchen den beiden
Kammern herbeiführte. Aergerliche Geldſtreitigkeiten, bei denen eigentlich
beide Theile Recht hatten, konnten in dem unnatürlichen Daſein dieſer
ſouveränen Kleinſtaaten gar nicht ausbleiben. Die Koſten der diploma-
tiſchen Vertretung waren viel zu hoch für das kleine Land, und da der
Landtag nicht wagen durfte die Einziehung einiger Geſandtſchaften zu
beantragen, ſo wurden die Gehalte der Geſandten hier, wie in den meiſten
anderen Mittelſtaaten, lächerlich niedrig bemeſſen. Leben Sie als Jung-
geſell, ſchrieb Berſtett wüthend dem Bundesgeſandten Blittersdorff, er-
zählen Sie’s überall, wie man Sie darben läßt, damit ein Skandal ent-
ſteht und der Landtag endlich mehr bewilligen muß.**) So ärgerte ſich
der ſoldatiſche alte Großherzog ſchon ſeit Monaten im Stillen über ſeine
getreuen Stände, und dieſen Mißmuth des Fürſten benutzte jetzt der raſt-
loſe Blittersdorff, der ſoeben noch von dem Bunde der Mindermächtigen
[269]Neue Hilferufe aus Baiern und Baden.
geträumt hatte, um wieder einmal eine Rolle zu ſpielen. Er erbot ſich
nach Wien zu gehen um den beiden Großmächten die verzweifelte Lage
Badens vorzuſtellen — aber im tiefſten Geheimniß, denn ſonſt würde
er ſein Anſehen am Bundestage für immer verlieren. Zu Ende Sep-
tembers erſchien er wirklich in der Wiener Verſammlung, und „was er
bringt — ſchrieb Bernſtorff — iſt nur ein Schrei der Verzweiflung.“
In einer Denkſchrift vom 27. September ſchilderte er die Zuſtände ſeiner
Heimath mit ungeheuerlicher Uebertreibung, als ob der Staat dicht am
Rande der Revolution ſtünde, und verlangte die Hilfe der Großmächte
wider die allmächtige Kaſte der Staatsdiener.*)
Inzwiſchen hatte auch in Baiern jene Partei, welche vor drei Jahren
auf einen Staatsſtreich ausgegangen war, unabläſſig weiter gearbeitet.
Im Jahre 1821 tauchte der Vorſchlag auf, den Prinzen Karl, den Lieb-
ling des Königs und des Heeres, einen erklärten Anhänger des Abſolu-
tismus, an die Spitze des Kriegsminiſteriums zu berufen; der Plan
ſcheiterte nach langem Streite, vornehmlich an dem Widerſpruche des
ſtreng conſtitutionell geſinnten Kronprinzen. Dann wurden in der Armee
von einigen Heißſpornen abermals Adreſſen verbreitet, welche den Ver-
faſſungseid für das Heer und eine beſſer geſicherte Stellung für die Offiziere
forderten. Der ganze Lärm bedeutete wenig, da die Treue der großen
Mehrzahl der Offiziere ſich auch diesmal vollſtändig bewährte; aber der
ängſtliche König fühlte ſich von Neuem beunruhigt.**) Darauf folgte ein
leidenſchaftlicher Zwiſt über einige Erſparniſſe im Heerweſen, welche ſelbſt
Wrede für nothwendig hielt; Prinz Karl nahm entrüſtet ſeinen Abſchied
und überwarf ſich gänzlich mit dem Feldmarſchall.***) Der Landtag trat
im Jahre 1822 wieder zuſammen und hütete ſich diesmal ſorgſam vor
unvorſichtigen Beſchlüſſen. Der heißblütige Behr, der ſoeben zum Bür-
germeiſter von Würzburg erwählt, ſeinen Sitz als Abgeordneter der Uni-
verſität widerſtrebend aufgeben mußte, verſuchte zwar die Volksvertreter
durch einen flammenden Aufruf zu erregen. Er beſchwor ſie, „das in
Karlsbad gegebene Beiſpiel eines erſten Attentats auf die Verfaſſung nicht
ungeahndet zu laſſen; es gilt der rechtlichen Freiheit oder Sklaverei des
Bürgerſtandes, dem der Adel den Fuß mehr als je in den Nacken ſetzt.“
Das Schriftſtück ward indeß ſofort mit Beſchlag belegt, und die Kammer
wollte den ausſichtsloſen Kampf wider die Bundesbeſchlüſſe nicht aufnehmen.
Auch nachher führte der unaufhaltſame Hornthal noch manchen ſtürmi-
ſchen Auftritt herbei. Am Schluſſe der Tagung feierte Aretin, der Her-
ausgeber der Alemannia, die bairiſche Freiheit in dem blühenden Bilder-
[270]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
ſtile, der in dieſen Jugendtagen unſeres Parlamentarismus von den
Rednern verlangt wurde: „Mögen die inconſtitutionellen Staatsbeamten
auf Dornen liegen; die conſtitutionellen ruhen ſanft und nirgends ſanfter
als im Schooße der Verfaſſung.“ Dann wendete er ſich verachtungsvoll
wider die Menſchen inn- und außerhalb Baierns, welche vor drei Jahren
den Janustempel dieſes Ständeſaales für immer hätten ſchließen wollen;
„aber der Janustempel ward wieder eröffnet und aufs Neue begann der
Krieg, der heilige Krieg gegen Willkür und Selbſtſucht, gegen Vorurtheil
und Verſunkenheit.“ Im Ganzen verlief der Landtag friedlich, wenn-
gleich er wenig Erſprießliches zu Stande brachte. Graf Rechberg aber
und ſeine Genoſſen fühlten ſich ſelbſt durch jene vereinzelten lebhaften
Reden ſchwer beängſtigt, und auf eine geheime Mittheilung aus München
beſchloß Metternich, der den Erzählungen Blittersdorff’s nicht recht traute,
die befreundeten Miniſter der beiden klagenden Cabinette perſönlich zu ver-
nehmen.*)
Zu Anfang Oktober brach die Wiener Verſammlung auf um lang-
ſam auf verſchiedenen Wegen nach der Congreßſtadt zu reiſen. Unterwegs
verweilten Metternich und Bernſtorff drei Tage in Salzburg und hörten
Rechberg’s Klagen an. Der offenbarte hier, wie Bernſtorff ſchrieb, die
ganze Schwäche ſeiner Stellung und ſeines Charakters; er jammerte,
ohne auswärtige Hilfe müſſe das conſtitutionelle Syſtem in Baiern über
alle Autorität triumphiren. Der Preuße aber meinte: „Gott behüte uns
die Sache jemals ſo anzuſehen, das hieße das Mißtrauen unſerer deutſchen
Bundesgenoſſen rechtfertigen.“**) Gleich darauf, am 7. Okt., beſuchten
die beiden Kaiſer den König von Baiern in Tegernſee. Weit umher aus
dem Gebirge war das Landvolk herbeigeeilt um alle die erlauchten Gäſte
zu begrüßen, zumal die Tochter des geliebten Max, die Kaiſerin Karoline
Auguſte. Droben auf dem Parapluie, wo die Kaiſer mit ihrem könig-
lichen Wirth die Ausſicht bewundert hatten, wurden die Namenszüge der
drei Monarchen in den Stein gehauen, und am Thore der alten Kloſter-
kirche verkündete eine Marmortafel der Nachwelt das denkwürdige Ereigniß,
daß hier auf einmal 257 Hofperſonen verſammelt geweſen. Eingehende
politiſche Geſpräche ließen ſich mit König Max Joſeph, wenn er vergnügt
war, nicht leicht führen, indeß erkannten die Gäſte aus dem überaus
freundlichen Empfange, wie treu dieſer Fürſt zu der großen Allianz hielt.
Metternich und Bernſtorff reiſten währenddem geradeswegs nach Süden
und trafen in Innsbruck mit Berſtett zuſammen. Der Badener hielt
ſich weit muthiger als Rechberg. Er zürnte auf Blittersdorff, weil dieſer
die heimiſchen Zuſtände gar ſo ſchwarz geſchildert hatte, und warf dem
Uebereifrigen nachher vor: „ſchlechter als bei unſeren Nachbarn ſteht es
[271]Eröffnung des Congreſſes von Verona.
doch bei uns auch nicht.“*) Doch verſprach er, den Beſchlüſſen der beiden
Großmächte ſich unweigerlich zu fügen und dem Landtage feſt entgegen-
zutreten; heimgekehrt erlangte er leicht die Zuſtimmung ſeines Fürſten
zu dieſem neuen „Innsbrucker Syſteme“.**) —
Der Congreß, der am 20. Okt. endlich eröffnet wurde, erinnerte mit
ſeinen rauſchenden Feſten wieder an die unvergeßlichen Wiener Zeiten.
Kaiſer Franz erſchien umgeben von mehreren Erzherzögen, der König von
Preußen mit den jungen Prinzen Wilhelm und Karl, auch Alexander
Humboldt war als unermüdlicher Cicerone in ſeinem Gefolge. Aus Italien
kam eine dichte Schaar von Kleinfürſten und Prinzen, unter ihnen Na-
poleon’s fröhliche Wittwe mit ihrem Geliebten Neipperg. Eine wenig be-
neidenswerthe Rolle ſpielte in dieſer legitimen Geſellſchaft der geiſtreiche
Kronprinz von Schweden; denn die Entthronung des Hauſes Bernadotte
ward an den meiſten Höfen lebhaft gewünſcht. Bei Kaiſer Franz zumal
ſtanden die vertriebenen Waſas hoch in Gnaden; Metternich meinte ſchon:
„der Charles Jean fängt an reif zu werden“, und Gentz ärgerte ſich täglich
über den Anblick „des fatalen Oskar“. Alle Fürſten wetteiferten in Glanz
und Pracht, und der Allerchriſtlichſte König, den die Gicht in den Tuilerien
zurückhielt, ließ ſich mindeſtens durch fünf Geſandte vertreten. Ein Ge-
wimmel von vornehmen Fremden, Berichterſtattern, Bittſtellern, Aben-
teurern wogte täglich über die maleriſche Piazza d’Erbe, und wenn ein Wett-
rennen oder ein Feuerwerk in dem römiſchen Amphitheater veranſtaltet
wurde, dann trieb die k. k. Polizei das Landvolk aus der Nachbarſchaft her-
bei, weil die Bevölkerung des modernen Verona mitſammt ihren erlauchten
Gäſten nicht ausreichte, um den rieſigen Rundbau zu füllen. Wohl war
es nur menſchlich, daß die vornehme Welt nach der Langeweile von Troppau
und Laibach wieder einmal das Leben genießen wollte; aber neben den
Standgerichten, die in Neapel noch ihr blutiges Handwerk trieben, neben
dem Elend, das die Späher Metternich’s über ſo viele edle lombardiſche
Patrioten gebracht hatten, nahmen ſich die Luſtbarkeiten der Höfe häßlich
aus, und Byron ſprach wieder dem geſammten liberalen Europa aus der
Seele, da er in ſeiner gewaltigen Satire „das bronzene Zeitalter“ die
Italiener fragte, warum ſie doch mit gebundenen Händen durch ihr Kerker-
gitter die Feſte ihrer Zwingherren begafften. Den Czaren mahnte der
Dichter heimzukehren um die Baſchkiren zu waſchen und zu ſcheren, ſtatt
Pläne zu ſchmieden wider die Freiheit der Spanier, und mit grauſamem
Spott ſchilderte er die Dreiherrſchaft der Monarchen des Oſtens,
[272]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Die öſterreichiſchen Staatsmänner erwarteten „goldene Früchte“ von
der Verſammlung. Aber die Tage ihrer ungetrübten Erfolge gingen zu
Ende, der glanzvollſte Fürſtentag der großen Allianz ward unter allen der
unfruchtbarſte. In Troppau und Laibach war Metternich mit feſten Plänen
ſiegreich vor die ſchwankenden Großmächte getreten; über die ſpaniſche Frage,
die jetzt alle anderen Streitfragen in den Hintergrund drängte, hatte er ſich
ſelbſt noch keine beſtimmte Meinung gebildet. Er wollte weder einen franzö-
ſiſchen Kreuzzug noch einen Coalitionskrieg gegen die ſpaniſchen Rebellen,
und doch wünſchte er dringend, die revolutionäre Regierung in Madrid
feierlich aus der Gemeinſchaft der legitimen Mächte auszuſtoßen und da-
durch vielleicht die gutgeſinnten Spanier zur Befreiung ihres Königs zu er-
muthigen. So gerieth der Rathloſe bald zwiſchen die beiden harten Mühl-
ſteine der ruſſiſchen und der engliſchen Politik, die er in ſeinem Hochmuth
beide nach ſeinem Willen zu bewegen gehofft hatte. Wohl beſaß er jetzt das
Ohr Alexanders, jedoch er konnte dieſen ſchwer errungenen Einfluß nur
behaupten, wenn er den Launen des Kaiſers mindeſtens zu folgen ſchien;
welch ein Unheil für Oeſterreich, wenn der Czar ſich enttäuſcht aus den
Händeln des Weſtens zurückzog, um den beſten Freund der Hofburg, den
Sultan aufs Neue zu bedrängen! Von allen Seiten als „der Wohlthäter
Europas“ begrüßt und mit ſchmeichelhaften Verſicherungen der Dankbarkeit
überſchüttet, wollte Alexander jetzt auch die Früchte der Großmuth, die er im
Oriente bewährt, genießen und die Revolution im Weſten für immer nieder-
ſchmettern. Mit wachſender Ungeduld verlangte er den allgemeinen Krieg
wider die ſpaniſchen Rebellen; mochten immerhin die Franzoſen, denen er
ſelbſt keineswegs traute, den Vortritt nehmen, ein ruſſiſches Heer ſtand ſchon
an der polniſchen Grenze zum Nachrücken bereit. Dieſen kühnen Entwürfen
trat nun Wellington entgegen, trocken, bitter, griesgrämiſch, mit einem
ſteifen Dünkel, der auf der weiten Welt kein Intereſſe neben dem engliſchen
gelten ließ; jedes ſeiner Worte verrieth den ſtillen Groll der Torys wider
Rußland und beſtärkte den Czaren nur in ſeinem Eifer. Bei dem eiſernen
Herzog richteten Metternich’s Vermittlungskünſte nichts aus; er vollführte
mit ſoldatiſcher Strammheit die Befehle ſeines Cabinets, und da ſeine
hochconſervative Geſinnung außer allem Zweifel ſtand, ſo war er auch
gepanzert gegen den Vorwurf, daß er die Revolution begünſtige. Der
ſchroffe Gegenſatz der engliſchen und der ruſſiſchen Politik beſtimmte, wie
Bernſtorff bald bemerkte, den Gang der Verhandlungen und ihr allen
Parteien unerwartetes Ergebniß.*)
Um dem Czaren ſeine gute Geſinnung zu erweiſen, theilte Metternich
am 18. Oktbr., noch bevor der Congreß förmlich eröffnet war, eine Denk-
ſchrift mit, die ſich im Eingang ſehr ſcharf wider die ſpaniſchen Rebellen
ausſprach: das Ziel der Allianz bleibe die Vernichtung der Revolution,
[273]Verhandlungen über Spanien.
darum müſſe die Verfaſſung von 1812 nicht blos abgeändert, ſondern auf-
gehoben, der König befreit und in den Stand geſetzt werden, dem Lande
neue Inſtitutionen zu geben; denn ein Rückfall in das „unbeſchreibliche“
Syſtem der letzten Jahre ſei allerdings zu vermeiden. Aber auf dieſen
drohenden Anfang folgte ein mattes Ende. Metternich hoffte durch die
gleichzeitige Abberufung aller Geſandten der Großmächte das gemeinſame
Ziel vielleicht zu erreichen: kriegeriſche Drohungen gegen Spanien könnten
leicht die Ruhe in Frankreich ſelbſt gefährden, doch andererſeits dürfe die
Allianz dem Pariſer Hofe ihre Unterſtützung auch nicht verſagen. Die Denk-
ſchrift ſchloß mit dem frommen Wunſche, daß man ſich in guter Eintracht
verſtändigen möge.*) Mit ſo unbeſtimmten Worten war dem kriegeriſchen
Ungeſtüm des Czaren nicht gedient. Er verlangte nach Thaten, und ſeinem
Zureden war es wohl zunächſt zu verdanken, daß der gutmüthige beſchränkte
Montmorency, der als eifriger Ultra ſelbſt den Krieg wünſchte, ſich zu
einem eigenmächtigen unbedachten Schritte entſchloß. Der Franzoſe hatte
gemeſſene Weiſung, ſich vorſichtig zurückzuhalten; gleichwohl legte er am
20. Okt., in der erſten förmlichen Sitzung, den Verbündeten die drei Fragen
vor: ob ſie ihre Geſandten aus Madrid abberufen wollten, falls Frank-
reich den diplomatiſchen Verkehr abbräche? ob ſie ferner bereit ſeien beim
Ausbruch des Krieges dem Tuilerienhofe ihre moraliſche Unterſtützung zu
leihen? und endlich auch im Nothfall thätliche Hilfe?
So ward denn ein Krieg in Ausſicht geſtellt, für den es ſchlechter-
dings nur den einen Vorwand gab, daß Frankreichs Ruhe durch die ſpa-
niſche Revolution bedroht ſein ſollte. In Wahrheit hatte die Madrider
Regierung mit dem Bürgerkriege daheim vollauf zu ſchaffen und, bis auf
einen Austauſch unfreundlicher Noten, bisher noch keinen feindſeligen
Schritt gegen die Verbündeten unternommen. Nicht Frankreich, ſondern
Spanien durfte ſich über Bedrohungen beklagen, da das franzöſiſche Pyre-
näenheer fortfuhr, die Geſetze der Neutralität zu verletzen. Nach langen
und peinlichen vertrauten Berathungen übergaben die vier Mächte am
30. Okt. ihre Erwiderungen auf Frankreichs Fragen. Die ruſſiſche Ant-
wort lautete durchweg kriegeriſch. „Seit dem Monat April 1820, ſo hob
ſie an, hat Rußland auf die Folgen des Triumphes der Revolution in
Spanien hingewieſen.“ Alle dieſe Vorherſagungen hätten ſich erfüllt.
Frankreich werde heute durch den ſpaniſchen Aufruhr ganz ebenſo gefährdet
wie jüngſt Oeſterreich durch die Revolutionen in Italien; und mit wahrer
Genugthuung erfahre der Kaiſer, daß die franzöſiſche Regierung jetzt dieſe
Anſchauungen theile. Möge ſie alſo Europa den großen Dienſt leiſten
die Feuersbrunſt der Revolution zu erſticken; Rußland verſpreche ihr in
allen den drei angegebenen Fällen ſeine aufrichtigſte Unterſtützung. Wie
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 18
[274]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
gedämpft klang daneben die Antwort Metternich’s, der zwar ebenfalls alle
drei Fragen bejahte, aber mit dem Vorbehalt einer beſonderen Verſtän-
digung für den Fall thätlicher Hilfe. Noch behutſamer äußerte ſich Bern-
ſtorff. Er hatte ſeine Erwiderung dem Könige vorgelegt, und Friedrich
Wilhelm blieb hier wie vordem in Troppau feſt entſchloſſen, ſeinem Volke
kein unnöthiges Opfer zuzumuthen. Preußen verſprach daher zwar ſeinen
Geſandten gegebenen Falls abzurufen, auch den franzöſiſchen Hof im Kriegs-
falle moraliſch zu unterſtützen; thätliche Hilfe aber könne der König nur
leiſten, ſoweit die Nothwendigkeit ſeiner Lage und die ſeinem Königreiche
ſchuldigen Pflichten ihm dazu die Möglichkeit (la faculté) laſſen ſollten —
und daß der König dieſe Möglichkeit ſchlechterdings nicht zugeben wollte,
war allen Staatsmännern der Oſtmächte wohl bekannt. Wellington end-
lich erwiderte mit einer ſchroffen Ablehnung. War es ein Zufall oder
hatte er den Entwurf der ruſſiſchen Antwort vorher geleſen — genug,
ſeine Denkſchrift begann, als wollte ſie den Czaren verſpotten, ganz mit
denſelben Worten wie die ruſſiſche um dann zu den genau entgegengeſetzten
Schlüſſen zu gelangen. „Seit dem Monat April 1820, hub er an, hat
die britiſche Regierung keine Gelegenheit verſäumt um den Verbündeten
Sr. Majeſtät zu empfehlen, daß ſie ſich jeder Einmiſchung in die innern
Angelegenheiten Spaniens enthalten möchten.“ Dann ſchilderte er, wie
gefährlich, koſtſpielig und doch fruchtlos ein ſolcher Verſuch ſei; er erklärte
kurzab, der Grundſatz der Nichteinmiſchung bleibe für England die Regel
dem Auslande gegenüber, und verweigerte jede Antwort auf Montmoren-
cy’s Fragen, ſo lange er die Verhandlungen zwiſchen Spanien und Frank-
reich nicht kenne.
So ſchneidend hatte England in Troppau und Laibach nicht wider-
ſprochen; aus dem Munde des Feldherrn, der nie ein Wort umſonſt ſprach,
klangen die gewichtigen Sätze nur noch ernſter. Alle fühlten, daß Eng-
land bereits den erſten Schritt that um ſich von der Allianz zu trennen.
Der Czar aber ſtürmte vorwärts, er wollte Erfolge ſehen, und die deut-
ſchen Mächte durften, wie lebhaft ſie auch den Frieden wünſchten, ſeine
ungeſtümen Mahnungen nicht gänzlich von der Hand weiſen; es galt, den
Schein der Eintracht zu wahren und vor Allem ein Zerwürfniß im Oriente
zu verhindern. Wir mußten endlich, geſtand Bernſtorff an Ancillon, mit
England jede Verſtändigung aufgeben und, um mit Rußland nicht zu
brechen, einen Mittelweg einſchlagen. Dieſer Mittelweg war freilich ſehr
abſchüſſig. Schon in den jüngſten Tagen hatte Bernſtorff die Frage er-
wogen, ob es nicht möglich ſei, durch eine diplomatiſche Verwendung in
Madrid eine Aenderung der Verfaſſung mittelbar herbeizuführen.*) Am
31. Okt. beantragte Metternich ſodann gemeinſame Vorſtellungen beim ſpani-
[275]Drohungen der Oſtmächte in Madrid.
ſchen Cabinet, und wenn dieſe unbeachtet blieben Abberufung der Geſandten.
Die beiden anderen Oſtmächte nahmen den Vorſchlag an, Wellington aber
erhob am 1. Nov. förmlichen Einſpruch und hielt ſich fortan den Be-
rathungen über Spanien abſichtlich fern. Noch immer gaben Metternich
und Bernſtorff ihre friedlichen Hoffnungen nicht auf; ſie wähnten, die
diplomatiſche Verwendung in Madrid würde „die Gutgeſinnten“ in Spa-
nien ermuthigen.*) Unfähig die Macht der nationalen Leidenſchaften zu
verſtehen, ahnten ſie nicht, wie eine ſo ganz unberechtigte Drohung auf
den Stolz dieſes Volkes, das einem Napoleon getrotzt hatte, wirken würde.
Schritt für Schritt wurden ſie nunmehr durch den Czaren abwärts,
dem Kriege zu gedrängt. Am 18. Nov. verpflichteten ſich die Mächte durch
ein förmliches Protokoll, dem franzöſiſchen Hofe in drei Fällen den ver-
heißenen Beiſtand zu leiſten: wenn Spanien einen bewaffneten Angriff
auf Frankreich oder einen Verſuch revolutionärer Propaganda wage, wenn
König Ferdinand abgeſetzt oder ſein und der Seinigen Leben bedroht,
endlich wenn die legitime Thronfolge in Spanien geändert würde. Auch
noch in anderen Fällen ſollte die Hilfe eintreten, ſobald die drei Mächte
durch ihre Geſandten in Paris darüber einig würden. Dieſer Zuſatz
klang freilich ſchärfer als er gemeint war; die deutſchen Mächte hatten
ihn wieder nur ungern, auf Alexanders Verlangen, angenommen und
wieder nicht bedacht, wie ſtark der Thatendrang der Kriegspartei in den
Tuilerien durch dieſe unbeſtimmten Verheißungen erregt werden mußte.**)
Inzwiſchen wurden auch die nach Madrid abzuſendenden Depeſchen, aber-
mals unter beſtändigem Drängen des Czaren, vereinbart. Die preußiſche
(vom 22. Nov.) lautete beſonders ſchroff, da der König den Eidbruch des
ſpaniſchen Heeres tief verabſcheute; ſie entwarf ein furchtbares Bild von
der ſpaniſchen Revolution und fragte ſodann, ob die Madrider Regierung
ſo offenbaren Uebeln ſteuern wolle und könne, ob ſie namentlich dem
König Ferdinand ſeine Freiheit zurückzugeben denke.***) Trotz ihrer Schärfe
ſagten die drei Depeſchen der Oſtmächte doch nirgends mit Beſtimmtheit,
was man eigentlich von dem Madrider Cabinet verlangte. Sie waren offen-
bar darauf berechnet, die ſofortige Abberufung der drei Geſandten vorzu-
bereiten und konnten von der Cortesregierung nur mit einer ſtolzen Ab-
weiſung beantwortet werden; denn mit der nämlichen Forderung „Befreiung
des Königs“ hatte Oeſterreich einſt von Troppau aus den Feldzug gegen
Neapel eingeleitet.
Mit dieſen Nachrichten ging Montmorency am 21. Nov. nach Paris
um die Genehmigung ſeines Königs zu erlangen, und hierauf übernahm
der Eitelſte der Eiteln, Chateaubriand die Führung der franzöſiſchen Ge-
18*
[276]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
ſandtſchaft. Die Mächte trauten dem ſchöngeiſtigen Diplomaten nicht;
er hatte ſich in den räthſelhaften Wandlungen ſeines vielgeſchäftigen po-
litiſchen Lebens bald als Ultra, bald als Freund der Charte gebärdet
und vor Kurzem erſt als Geſandter in Berlin, bis auf ein paar Unter-
haltungen mit der galanten Herzogin von Cumberland, ſchlechterdings
nichts geleiſtet. Wie ſtrahlte der verwachſene kleine Mann in befriedigtem
Selbſtgefühl, da er jetzt als erſter Bevollmächtigter Frankreichs in den
engeren Rath Europas eintrat. Zur allgemeinen Ueberraſchung zeigte er
ſich noch kriegsluſtiger als Montmorency ſelber. Er ſchwärmte für die
Befreiung des bourboniſchen Stammesvettern, er bekannte dankbar, welche
treffliche Schule er hier, unter den Bannerträgern der Legitimität, durch-
gemacht habe, und ſcheute ſich nicht ſeinen Hof kurzweg zu belügen, in-
dem er ihm die kriegeriſchen Abſichten der drei Oſtmächte verſicherte. So
trieb man denn ſteuerlos hinein in einen Kampf, welchen mindeſtens Oeſter-
reich und Preußen nie gewollt hatten, und traurig bekannte Bernſtorff
ſeinem Ancillon: die Ergebniſſe dieſes Congreſſes ſind nicht nach unſeren
Wünſchen. Hatte Czar Alexander in Troppau, in Laibach, in den griechi-
ſchen Händeln überall zuletzt der Ueberredungskunſt Metternich’s nachge-
geben, hier in Verona blieb er der Sieger. Er erreichte zwar nicht eine
feierliche Kriegserklärung der Allianz gegen die ſpaniſche Revolution; doch
er bewirkte, daß ein Krieg Frankreichs gegen Spanien ſich vorbereitete,
der, wie man noch allgemein annahm, auch die anderen Mächte in ſeine
Wirbel hineinzureißen drohte.
Und wie theuer mußte dieſer Erfolg Rußlands bezahlt werden! Am
19. und 20. Nov. erklärte Wellington in zwei Denkſchriften, daß England
an den letzten Schritten der Mächte ſich nicht betheiligen könne und über-
haupt nur dann in die inneren Zuſtände anderer Staaten ſich einmiſche,
wenn ſeine eigenen Intereſſen bedroht ſeien. Das war Canning’s Ab-
ſage an die große Allianz. Am 24. Nov. zog Wellington ſchon das ſcharfe
Schwert, das England bereit hielt, halb aus der Scheide, indem er die
Unabhängigkeit Südamerikas zur Sprache brachte. Mit drängendem Eifer
hatte ihm ſein Miniſter geſchrieben: die amerikaniſchen Fragen ſind jetzt
für uns weit wichtiger als die europäiſchen; „wenn wir ſie nicht ergreifen
und zu unſerem Vortheil wenden, ſo laufen wir Gefahr eine Gelegenheit
zu verlieren, welche niemals, niemals wieder gewonnen werden kann.“
Von der Freiheit der neuen Welt, von dem Erwachen werdender Völker
verlautete in dieſen nüchternen handelspolitiſchen Erörterungen keine Silbe;
die großen Worte behielt ſich Canning für ſeine Parlamentsreden vor.
In der That befand ſich die britiſche Flagge in den amerikaniſchen Meeren
in peinlicher Bedrängniß; ſie konnte ſich der Seeräuber kaum erwehren,
ſo lange ſie nicht auf den Schutz der neuen Staatsgewalten in den
Küſtenſtaaten rechnen durfte. Schon im vergangenen März hatte Präſi-
dent Monroe im Namen der nordamerikaniſchen Union mehrere der neuen
[277]Englands Abfall von der Allianz.
Republiken förmlich anerkannt, und Henry Clay in mächtiger Rede ver-
kündigt, das ſei Amerikas Antwort an die unheilige Verſchwörung der
Despoten. Eben jetzt ſahen ſich britiſche Kriegsſchiffe genöthigt, die ſpa-
niſche Blokade vor Puerto Cabello zu ſprengen um den Kauffahrern die
Einfahrt zu ſichern. Dies England, das ſelber ſo viele gewalſame Herr-
ſchaftswechſel erlebt hatte und in ſeinen Strafgeſetzen den Gehorſam gegen
eine thatſächliche Regierung ausdrücklich erlaubte, konnte die legitimiſtiſche
Rückſicht für den ſpaniſchen Hof unmöglich ſo weit treiben, daß die ergie-
bigen Märkte von Venezuela und Peru unterdeſſen an die nordamerika-
niſchen Nebenbuhler verloren gingen.
In dem trockenen Tone einer kaufmänniſchen Geſchäftsanzeige machte
Wellington daher den Mächten die Mittheilung: England müſſe ſich mit den
Staatsgewalten der Kolonien über die gemeinſame Bekämpfung des See-
raubs einigen, und dies Zuſammenwirken werde unvermeidlich zur An-
erkennung des thatſächlichen Beſtandes dieſer revolutionären Regierungen
führen. Alle die anderen Mächte widerſprachen lebhaft. Kaiſer Franz
ließ rundweg erklären, er werde die Unabhängigkeit der Kolonien niemals
anerkennen ſo lange ihr legitimer König dies nicht ſelbſt gethan. Bern-
ſtorff ſprach ebenfalls den lebhaften Widerwillen ſeines Monarchen aus
und fand mindeſtens den Augenblick ſchlecht gewählt, da die Veroneſer
Beſchlüſſe vielleicht die Ordnung in Spanien herſtellen und eine Ver-
ſtändigung der Kolonien mit dem Mutterlande ermöglichen würden. Der
Czar wollte erſt die Wirkungen eines großen Verſöhnungsplanes abwarten,
welchen er mit König Ferdinand verabredet hatte. Frankreich endlich be-
kundete den Wunſch, daß die Allianz ſich „dereinſt“ über ein gemeinſames
Vorgehen vereinbaren möge, damit nicht eine einzelne Macht durch vor-
eilige Schritte die Handelseiferſucht der übrigen errege. Mit dieſer legi-
timiſtiſchen Bedachtſamkeit, die ſich ſo ängſtlich vor dem Eingeſtändniß
vollendeter Thatſachen ſcheute, war den drängenden Intereſſen des briti-
ſchen Handels nicht gedient. Wellington ſäumte nicht ſich darüber in
ſeiner kühlen Weiſe ſehr nachdrücklich auszuſprechen, und beim Schluſſe des
Congreſſes hielt Bernſtorff ſchon für ſicher, daß England nunmehr bald,
ohne die Alliirten zu fragen, ſich mit den Rebellenſtaaten Südamerikas
völlig verſtändigen werde.*)
Ebenſo unbekümmert um die Meinung der übrigen Mächte vertrat
Wellington auch ein anderes wichtiges Intereſſe der engliſchen Handels-
politik, die Unterdrückung des Negerhandels. Mit welcher Freude hatte
die geſittete Welt dieſen menſchenfreundlichen Gedanken einſt begrüßt, als
ihn der edle, gläubige Wilberforce zuerſt anregte. Seitdem war der fromme
Eifer auf dem Feſtlande längſt erkaltet, weil Englands Staatsmänner die
[278]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Reform auf allen Congreſſen mit allzu auffälliger Befliſſenheit betrieben
und ſelbſt die britiſche Geſchäftswelt ſich mit einer faſt fanatiſchen Heftig-
keit gegen die Sklavenhändler ausſprach. Die böſe Welt konnte ſich der
Frage nicht erwehren, warum wohl die ſonſt ſo wenig weichmüthigen Kauf-
leute von London und Liverpool ſich gerade der Neger ſo zärtlich an-
nahmen? Die Antwort gaben die Handelsliſten. Von der geſammten
Kaffee-Einfuhr jener Zeit kam kaum der zwanzigſte Theil aus den eng-
liſchen Kolonien, von der Zucker-Einfuhr etwa ein Viertel. Das unge-
heuere britiſche Kolonialreich beſaß nur wenige für die Negerarbeit ge-
eignete Pflanzungen, und dieſe waren längſt mit Schwarzen überfüllt;
die Abſchaffung des Sklavenhandels konnte hier wenig Schaden ſtiften,
während ſie in den Kolonien der anderen Seemächte ſchwere wirthſchaft-
liche Erſchütterungen hervorrufen mußte. So verbarg ſich denn hinter
den ſchönen Reden chriſtlicher Nächſtenliebe die minder chriſtliche Abſicht,
Englands Mitbewerber gründlich zu ſchädigen. Canning ſelbſt konnte nicht
leugnen, daß dieſer Argwohn, zumal in Frankreich, beſtand, obwohl er ihm
natürlich jede Berechtigung abſprach. Die Großmächte und ſogar das ganz
unbetheiligte Preußen urtheilten anders. Als Wellington geradezu for-
derte, Frankreich ſolle ſeine Geſetze ändern, die durch die Charte aufge-
hobene Strafe der Confiscation gegen die Sklavenhändler wieder einführen,
ſeine Kauffahrer der Durchſuchung durch fremde Kriegsſchiffe preisgeben,
da erwiderte der franzöſiſche Bevollmächtigte ſehr gereizt, und der Con-
greß begnügte ſich, in einigen ganz allgemein gehaltenen Sätzen den Grund-
ſatz der Abſchaffung des Negerhandels noch einmal auszuſprechen.*) Beſſer
begründet war Englands Beſchwerde über die vertragswidrigen Rheinzölle
der Holländer. Die Mächte beſchloſſen, gemeinſam in Brüſſel Einſpruch
zu erheben, und auch Bernſtorff ſchloß ſich Anſtandshalber an, obwohl das
preußiſche Finanzminiſterium bereits gewillt war, die unbelehrbaren Nachbarn
durch handgreiflichere Mittel an ihre Vertragspflichten zu erinnern. —
Es war nicht anders, die große Allianz begann ſich aufzulöſen. Eng-
land ging ſeines eigenen Weges, noch nicht offenbar feindſelig, aber völlig
ſelbſtändig, und Metternich wagte nicht mehr die Berufung eines neuen
Congreſſes zu beantragen, obgleich der Kampf gegen die ſpaniſche Revo-
lution erſt eingeleitet, nicht ausgefochten war. Schwerlich war es ihm
ſelber voller Ernſt, wenn er die Freunde tröſtete, das kalte Nein Welling-
ton’s bedeute nicht mehr als jene ſchwächlichen Noten, welche Caſtlereagh
einſt nach Troppau und Laibach geſendet hatte.
Einen beſſeren Troſt — freilich nur einen Troſt für den nächſten
Tag — bot die griechiſche Frage, die nun wirklich, wie Gentz jubelte, in
aller Stille begraben ſchien. Indem er dem Czaren in der ſpaniſchen Sache
[279]Griechenland. Italien.
nachgab, wähnte Metternich ſich den Frieden im Orient erkauft zu haben.
Eine dem Congreſſe übergebene ruſſiſche Erklärung (vom 26. Sept.) lautete
in der That ſo überaus verſöhnlich, daß alle Mächte wetteifernd verſpra-
chen, ſie würden dieſe billigen Forderungen des Czaren bei der Pforte lebhaft
unterſtützen. Nur Wellington hatte ſich, als gewiſſenhafter Vertreter der
Handelspolitik Canning’s, vorher mißtrauiſch erkundigt, welche Handelsvor-
theile Rußland im Schwarzen Meere beanſpruche. Tatiſtſcheff dankte den
Mächten verbindlich und erklärte, ſein kaiſerlicher Herr überlaſſe die weiteren
Verhandlungen mit dem Divan vertrauensvoll den Verbündeten.*) Alles
ſchien eitel Friede und Hoffnung; und doch hatte Lord Strangford, der ſoeben
aus Konſtantinopel in Verona eingetroffen war, bedauernd eingeſtehen
müſſen, daß er von der Pforte bisher noch nicht die kleinſte Nachgiebig-
keit habe erlangen können. Die orientaliſchen Händel ſollten abgethan
ſein und bleiben. Darum ward auch ein Schreiben der Nationalver-
ſammlung von Argos, das für den werdenden helleniſchen Staat die An-
erkennung Europas erbat, kurzerhand abgewieſen; und als der griechiſche
Bevollmächtigte Metaxas dem Congreſſe von Ancona aus ſeine An-
kunft ankündigte, da ließ ihm Metternich durch Cardinal Spina ant-
worten, man werde ihn an der öſterreichiſchen Grenze ſofort anhalten.
Mit ergreifenden Worten hatte Metaxas dem König von Preußen ge-
ſchrieben: „die griechiſche Nation verlangt mit lauter Stimme ein Vater-
land, einen Thron, ein Recht auf Daſein und Eigenthum.“**) Alle ſeine
Briefe an die Monarchen blieben unbeachtet, und höhniſch meinte Gentz,
das ſei die Art, mit „dem lächerlichen Geſchwätz“ der Rebellen fertig zu
werden. Niebuhr aber vernahm mit Entrüſtung, wie herzlos dies Chriſten-
volk von chriſtlichen Mächten mißhandelt wurde, und ſagte: „es wird auf
dem Congreſſe zum Antrag kommen, Homer’s Gedichte durch Büttelshand
zu verbrennen, alle Exemplare bei ſchwerer Strafe zuſammenzutreiben
und nach Konſtantinopel zu beliebiger Behandlung zu ſenden.“
Ueber die italieniſchen Dinge einigte man ſich leicht. Kein Laut des
Widerſpruchs regte ſich mehr in dem geknechteten Lande, und mit Genug-
thuung konnte König Karl Felix den Mächten anzeigen: „die Wiederge-
burt Piemonts iſt vollendet.“ Der Congreß genehmigte daher die Räu-
mung Piemonts und beſchloß, das öſterreichiſche Beſatzungsheer in Neapel
etwas zu vermindern. Eine Zeit lang trug ſich Metternich noch mit dem
Plane eine gemeinſame Polizeiſtelle für Italien zu errichten; doch ließ er
den Gedanken bald fallen, da Conſalvi, durch Cardinal Spina geſchickt
vertreten, die unbeſchränkte Souveränität des Kirchenſtaates entſchloſſen
[280]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
vertheidigte. Um die erſchreckten Kleinfürſten zu beruhigen erließen die
drei Oſtmächte (11. Dec.) an die italieniſchen Höfe ein Rundſchreiben,
das ihnen noch einmal ein ſtrenges Regiment anempfahl, aber auch feier-
lich verſicherte, die große Allianz beanſpruche durchaus keine Oberhoheit
über die Halbinſel.*)
Währenddem entſchied ſich auch das Schickſal Karl Alberts von
Carignan. Der unglückliche Prinz hatte ſchon vor’m Jahre, gleich nach
dem Scheitern ſeiner unbeſonnenen Schilderhebung dem preußiſchen Ge-
ſandten ſeine gute Geſinnung betheuert.**) König Karl Felix aber be-
wahrte ſeinen Groll und fragte bei den Großmächten an, ob ſie eine
Pragmatiſche Sanction anerkennen wollten, welche den Rebellen von der
Thronfolge ausſchlöſſe. Statt Karl Albert’s ſollte ſein Sohn Victor
Emanuel, der ſpätere König von Italien, der im März 1820, mitten in
den ſtürmiſchen Tagen der piemonteſiſchen Revolution, geboren war, zur
Thronfolge berufen werden; ſo ſtand vorausſichtlich eine lange Regentſchaft
bevor, und dieſe war dem Haupte der italieniſchen Reaktionspartei, dem
Herzog von Modena zugedacht, der dann Zeit behielt das Königreich Sar-
dinien auf öſterreichiſchen Fuß einzurichten. Die Mächte nahmen den Vor-
ſchlag in reifliche Erwägung. Bernſtorff urtheilte ſehr hart über dieſen
„von Geiſt und Charakter entblößten, unter ſchlechten Beiſpielen und Grund-
ſätzen aufgewachſenen Prinzen“; indeß ſchien ihm eine ſo grobe Verletzung
des legitimen Rechtes und der Vorſchriften der Wiener Congreßakte denn
doch bedenklich. Da auch Rußland und Frankreich lebhaft für den Be-
drängten eintraten, ſo ſprach ſich Metternich ebenfalls verſöhnlich aus***)
und der häßliche Plan ward verworfen. Der Prinz ſäumte nicht ſeine
Beſſerung zu beweiſen. Er trat bald nachher in ein franzöſiſches Regiment
und focht mit ihm gegen das Heer der ſpaniſchen Cortes — zum Entſetzen
der liberalen Welt, die von Neuem über den Verräther Carignano ſchalt,
und zum geheimen Aerger des Kaiſers Franz, der nunmehr wußte, daß
dieſer ehrgeizige Neffe ſeine hoffenden Blicke auf Frankreich gerichtet hielt.
Die italieniſchen Patrioten aber ließen ſich’s nicht ausreden, daß Oeſter-
reich dem Thronerben Piemonts nach der Krone getrachtet habe; und was
mußten ſie gar empfinden, da Einiges ruchbar ward aus der Denkſchrift,
welche Herzog Franz von Modena den Oſtmächten als Antwort auf ihr
Rundſchreiben ſendete. Hier ſprach ſie roh und frech, die Tyrannei eines
kleinen Wütherichs, der ſein Volk als ſeinen natürlichen Feind betrachtete.
Sechs Mittel vornehmlich empfahl er den italieniſchen Höfen „zur Bil-
dung ruhiger Unterthanen“: Begünſtigung der Prieſter, Wiedererhebung
des Adels, Verſtärkung der väterlichen Gewalt des Landesherrn, ſchärfere
[281]Ergebniſſe des Congreſſes von Verona.
Geſetze wider die Majeſtätsverbrechen, Verbeſſerung der Erziehung durch
Auflöſung der Univerſitäten, endlich ſtrenge Aufſicht über die Preſſe.
Daran war freilich nicht zu denken, daß die Staatsmänner in Verona
dieſen Grundſätzen förmlich zugeſtimmt hätten; aber ſie alle, Bernſtorff
nicht ausgenommen, hielten den Verfaſſer der Denkſchrift für den beſten
der italieniſchen Fürſten, und keiner von ihnen verfiel auf die Frage, ob
eine edle Nation ſich auf die Dauer unter das Joch ſolcher Despoten
beugen könne. —
Alles in Allem hatte Metternich wenig Grund ſich dieſes Fürſten-
tages zu freuen, und Gentz bedurfte ſeiner ganzen ſtiliſtiſchen Meiſter-
ſchaft um in dem Rundſchreiben, das die Oſtmächte am Ende des Con-
greſſes (14. Dec.) wieder an ihre Geſandtſchaften ausgehen ließen, das
dürftige Ergebniß der Berathung zu verhüllen. Er überhäufte darin die
Madrider Regierung mit Beleidigungen, er nannte dies Spanien in ſeiner
gegenwärtigen Zerrüttung den Feind der Grundſätze des europäiſchen Bun-
des, er kündigte an, daß die Geſandten der drei Mächte die Halbinſel
verlaſſen würden. Doch über die weiteren Entſchlüſſe der Cabinette wußte
er nichts zu ſagen, ſondern begnügte ſich mit der geheimnißvollen An-
deutung: die Monarchen würden nicht zurückweichen, was immer auch die
Folgen ihres Schrittes ſein möchten. Am Schluſſe der inhaltloſen Er-
klärung ſtand noch eine ſtrenge, faſt drohende Ermahnung, die offenbar
zunächſt den kleinen deutſchen Höfen galt. Die Staatsgewalt, hieß es da,
ſei ein den Obrigkeiten anvertrautes heiliges Pfand, und jede Regierung
ſetze ſich einer ſchweren Verantwortung aus, wenn ſie falſchen Rathſchlägen
folge; die drei Monarchen aber hofften in allen Regierungen Verbün-
dete, wahre, den Buchſtaben und den Geiſt der europäiſchen Verträge
achtende Verbündete zu finden. Die Preſſe konnte aus den unklaren
Worten nur das Eine errathen, daß eine neue Intervention im Werke
ſei, und hatte Görres ſchon die Eröffnung des neuen Fürſtentages mit
einer unmuthigen, völlig verworrenen Schrift — „die heilige Allianz und
die Völker auf dem Congreſſe von Verona“ — ironiſch begrüßt, ſo erklang
jetzt vollends überall nur eine Stimme des Zornes wider die diktatoriſche
Sprache der europäiſchen Dreiherrſchaft.
Die argen Früchte des Congreſſes reiften nur zu ſchnell. Die Ge-
ſandten der Oſtmächte überreichten am 6. Januar 1823 in Madrid ihre
drohenden Noten, empfingen von dem Miniſter San Miguel, wie vor-
auszuſehen, eine ſtolze, ſchroffe Antwort und verließen nach einigen Tagen
das Land. Mittelweile maß ſich am Tuilerienhofe die Kriegspartei Mont-
morency’s mit dem behutſameren Villele in einem lange unentſchiedenen
Kampfe. Ein Vermittlungsvorſchlag Englands, welchen der aus Verona
heimkehrende Wellington überbrachte, ward abgewieſen, aber zu Weih-
nachten mußte Montmorency aus dem Cabinet ausſcheiden und einen
Augenblick ſchöpfte die Friedenspartei friſche Hoffnung. Nunmehr jedoch
[282]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
erhielt Chateaubriand das Amt des Geſtürzten, und endlich am lang er-
ſehnten Ruder ſteuerte der romantiſche Staatsmann geradeswegs auf den
Krieg zu. Auch der franzöſiſche Geſandte mußte dem ſpaniſchen Miniſter
eine Note vorleſen, die etwas maßvoller in der Form, doch faſt ebenſo
feindſelig lautete wie die Depeſchen der Oſtmächte; auch er erhielt eine
ſcharfe Antwort (9. Jan.) und wurde nach kurzer Friſt abberufen. Am
28. Januar eröffnete König Ludwig ſeine Kammern mit einer Thronrede,
die einer Kriegserklärung nahe kam: hunderttauſend Franzoſen, ſo ſagte er
drohend, ſtünden an den Pyrenäen um den ſpaniſchen Thron einem Enkel
Heinrich’s IV. zu erhalten. Die große Mehrheit der neuen Kammer be-
ſtand aus leidenſchaftlichen Ultras; ſie ließ ihrem Parteihaß ſo gänzlich
die Zügel ſchießen, daß der Abgeordnete Manuel wegen einer Aeußerung,
die er in dem allgemeinen Toben nicht einmal hatte beenden können, aus
dem Hauſe ausgeſtoßen wurde und ein Theil der Oppoſition hierauf ent-
rüſtet ſeinen Austritt erklärte. Alſo ganz unter ſich bewilligten die Ultras
freudig die Mittel zum Kriege, während drüben in Madrid die Redner der
Cortes von der Unbeſiegbarkeit des ſpaniſchen Befreiervolkes ſprachen.
Im März war der Krieg bereits ſicher, und jetzt hielt auch Canning
die Zeit für gekommen, um den Widerſpruch, den er in Verona eingelegt,
öffentlich zu wiederholen. Am 31. März erklärte er den Tuilerien, Eng-
land halte ſich zunächſt neutral, doch nur unter drei Bedingungen: wenn die
Unabhängigkeit der ſpaniſchen Krone unangetaſtet bleibe, wenn die alte
Verbindung zwiſchen Großbritannien und Portugal nicht erſchüttert werde,
endlich wenn Frankreich keinen Anſpruch erhebe auf irgend ein Stück der
ſpaniſchen Kolonien, deren Trennung vom Mutterlande bereits entſchieden
ſcheine. Damit war unzweideutig angekündigt, daß der britiſche Hof die Unab-
hängigkeit Südamerikas binnen Kurzem anerkennen werde. Wohl grollte
König Georg auf den ihm aufgedrungenen Miniſter; vor dem öſterreichi-
ſchen Geſandten bejammerte er den Tod des unerſetzlichen Londonderry;
ſein hannöverſcher Vertrauter Graf Münſter ertheilte an den Bundes-
geſandten Hammerſtein Weiſungen, welche den Abſichten des engliſchen
Cabinets ſchnurſtracks zuwiderliefen, und ſehr lockend klangen den Welfen
die Mahnungen ſeines Freundes Metternich, der ihn mehrmals zur Ent-
laſſung Canning’s zu bewegen ſuchte.*) Doch was vermochte in dieſem
England der Wille des Monarchen gegen einen großen Staatsmann, der
ſich durch die entſchloſſene Vertretung des nationalen Handels ſofort alle
britiſchen Herzen erobert hatte, der Tag für Tag in der Volksgunſt ſtieg
und ſchon in gewaltigen Reden drohend auf das ſchlummernde Gefieder
der Segelſchiffe Altenglands wies? Den deutſchen Mächten blieb nun keine
Wahl mehr. Wie aufrichtig ſie auch anfangs den Frieden gewünſcht hatten,
[283]Neue Pläne gegen den Bundestag.
ſie waren mitſchuldig an Frankreichs Drohungen und mußten jetzt vor der
Welt die Verantwortung für den legitimiſtiſchen Kreuzzug tragen. Je
feindſeliger England auftritt, ſchrieb Bernſtorff nach Wien, um ſo feſter
müſſen die Oſtmächte zuſammenhalten, damit Frankreich nicht vereinzelt
wird.*) Das alſo war die Frucht der Kriegsluſt des Czaren, der Partei-
wuth der Ultras, der verlegenen Nachgiebigkeit Oeſterreichs und Preußens:
England ſagte ſich los von dem großen Bunde, und in Spanien begann
ein Krieg, der ſelbſt bei gutem Glück den Beſchützern des meineidigen Bour-
bonen nur endloſe Verlegenheiten bereiten konnte. —
Die ſpaniſche Frage hatte den Congreß ſo gänzlich in Anſpruch ge-
nommen, daß Metternich die geplante Beſprechung der deutſchen Ange-
legenheiten vertagen mußte. Er verabredete mit Bernſtorff, im Januar
ſolle eine neue deutſche Miniſterconferenz, diesmal nur ein kleiner Kreis
von Vertrauten, nach Wien berufen werden. Mit ihr wollten ſich die
beiden Großmächte über eine einmüthige Bundespolitik, über etwa nöthige
neue Bundesgeſetze und über die Beſeitigung der feindſeligen Bundes-
geſandten verſtändigen. Dieſe „Epuration des Bundestags“, wie Met-
ternich es nannte, war zwiſchen den beiden Großmächten ſchon ſeit dem
letzten Sommer verabredet, doch hielten ſie ihre Abſicht noch ſorgfältig
geheim.**) Die Spitze der Pläne richtete ſich gegen den Stuttgarter Hof
und ſeinen raſtloſen Bundesgeſandten Wangenheim. „Württemberg —
erklärte Bernſtorff, faſt mit den nämlichen Worten wie Metternich —
iſt heute als der Hauptbrennpunkt alles revolutionären Treibens in
Deutſchland und der König dieſes Landes als ein, der That und Abſicht
nach, entſchiedener Feind des Bundes anzuſehen.“ Um den Feldzug vor-
zubereiten nahm Metternich den Rückweg über München und fand dort
zu Neujahr eine überaus freundſchaftliche Aufnahme. Wie freute ſich der
gute Max Joſeph „ſeinen Clemens“ wiederzuſehen. Rechberg hielt es
auch diesmal, wie vor drei Jahren, für ſicherer, wenn Baiern auf den
Wiener Conferenzen durch Zentner vertreten wurde und er ſelber in Mün-
chen blieb; ſo konnte er dem Bevollmächtigten in Wien ſeine Weiſungen
ertheilen und zugleich den wankelmüthigen König im Auge behalten. Der
öſterreichiſche Kanzler war damit ganz einverſtanden. Völlig beruhigt über
die Geſinnung des bairiſchen Hofes kehrte er nach Wien zurück und ſchil-
derte dort ſeine Münchener Erfolge ſo ſelbſtgefällig, daß Hatzfeldt in ſeiner
fanatiſch übertreibenden Weiſe heimberichtete: „Metternich’s Ankunft machte
in München einen ſolchen Eindruck, daß der König, wenn er wäre was er
[284]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
leider nicht iſt, ſich durch einen Erlaß von ſechs Zeilen von dieſer fatalen
Verfaſſung hätte befreien können.“*)
Mittlerweile kam dem Könige von Württemberg Einiges über die
Abſichten der Großmächte zu Ohren; nach ſeiner Gewohnheit ſuchte er
Hilfe bei dem ruſſiſchen Schwager und bat ihn um eine vertrauliche Zu-
ſammenkunft. Schon mehrmals hatte er in den letzten Jahren das gleiche
Geſuch an den Czaren gerichtet, immer vergeblich. Diesmal ward es ge-
währt. In den Weihnachtstagen trafen ſich die beiden Schwäger zu Mit-
tenwald im bairiſchen Gebirge, und König Wilhelm ſäumte nicht, durch
ſeinen Geſandten in München erzählen zu laſſen, wie freundlich der Czar
ihn ſeines Schutzes verſichert habe.**) In Wahrheit zeigte ſich Alexander,
ſobald das Geſpräch auf die politiſche Lage kam, ſehr ſtreng und hielt
dem Könige vor, wie hochgefährlich es ſei der großen Allianz den Rücken
zu kehren.***) Nachher ſagte er zu Metternich: „ich habe dieſen lieben
Schwager nicht geſchont, aber dieſer Mann iſt gänzlich verdorben und von
den ſchlechteſten Grundſätzen durchdrungen.“†) Verſtimmt und mißtrauiſch
trennten ſich die beiden Verwandten.
Nicht ohne Grund wünſchten die beiden Großmächte eine klare
Verſtändigung über die Bundespolitik; denn in den jüngſten drei Jahren
war am Bundestage eine Anarchie, die unmöglich dauern konnte, einge-
riſſen. Jener Bund im Bunde, welchen das Manuſcript aus Süddeutſch-
land gepredigt, ſchien ſich zu verwirklichen, eine rührige Partei unter den
Bundesgeſandten ſammelte ſich um das Banner der deutſchen Trias.
Das ſichere, inſtinctive Verſtändniß für die wirklichen Mächte des politi-
ſchen Lebens war unter den Deutſchen von jeher ſeltener als unter den
Engländern oder den Italienern, und wie krankhaft hatte ſich während
der letzten Jahrhunderte, unter der Herrſchaft völlig verlogener Ver-
faſſungen, dieſer nationale Fehler der politiſchen Phantaſterei ausgebildet.
Im heiligen Reiche wie im Deutſchen Bunde war die Verfaſſung nicht die
rechtliche Form der beſtehenden Machtverhältniſſe, ſondern zwiſchen dem
Rechte und der Macht klaffte ein ſo weiter Abgrund, daß nur ſehr nüch-
terne Köpfe Schein und Weſen in der Staatskunſt unterſcheiden konnten
und ſelbſt bedeutende Köpfe auf politiſche Schrullen verfielen, die in
jedem anderen Volke für kindiſch gegolten hätten. Wie einſt der geiſtreiche
Joh. Chriſtian v. Boyneburg alles Ernſtes glaubte, daß ſein Kurfürſt
[285]Wangenheim’s Triasträume.
Johann Philipp, weil er den Titel des erſten deutſchen Fürſten führte,
auch im Stande ſei zwiſchen Frankreich und Oeſterreich den Weltfrieden
zu vermitteln, und kein ſchlechterer Mann als Leibniz die Narrenſtreiche
dieſer ireniſchen Politik verherrlichte, den Mainzer Kurfürſten als den
Atlas beſang, der Europas Schickſal auf ſeinen ſtarken Schultern trage:
ſo wurden jetzt manche wohlmeinende und geſcheidte Männer durch Man-
genheim’s kleinſtaatliche Großmachtsträume bethört.
Die Mittel- und Kleinſtaaten beſaßen eine erdrückende Mehrheit am
Bundestage, fünfzehn unter den ſiebzehn Stimmen des engeren Rathes;
und wenn man ſich an die imaginäre Bundesgrenze hielt, welche der
Wiener Congreß mitten durch das öſterreichiſche und preußiſche Gebiet ge-
zogen hatte, ſo waren ſie auch an Bevölkerung den Bundesländern jeder
der beiden Großmächte überlegen. Wie nahe lag alſo die Verſuchung, dies
Chaos der troisième Allemagne zu einer Geſammtmacht zu vereinigen;
wie viel näher noch der Gedanke, den Buchſtaben des Bundesrechts zu
mißbrauchen zur Bekämpfung der Großmächte, die ſich doch nur darum
mit einer ſo beſcheidenen Stimmenzahl begnügt hatten, weil ſie voraus-
ſetzten, daß der Bund ſich ihrer Leitung fügen würde. Die augenblickliche
Stimmung in der Eſchenheimer Gaſſe bot ſolchen Beſtrebungen einen
dankbaren Boden, denn die Geſandten fühlten ſich alleſammt durch die
ſchnöde Behandlung, welche der Bundestag in den Karlsbader Zeiten er-
fahren hatte, tief gekränkt und doch zugleich zu keckem Wagen ermuthigt,
da die Großmächte auf den Wiener Miniſterconferenzen ſo behutſam und
nachgiebig aufgetreten waren.
Mit dem ganzen Ungeſtüm ſeines Feuergeiſtes ſtürzte ſich Wangen-
heim in die Irrgänge einer Politik, die ihm recht eigentlich heilig war.
Denn nach ſeiner naturphiloſophiſchen Ueberzeugung war die Einheit in
der Dreiheit das Geſetz alles Lebens, und wer die Anwendung dieſes
Weltgeſetzes auf die deutſche Politik beſtritt, konnte nur durch Herrſch-
ſucht und Habgier getrieben ſein — welche Leidenſchaften er denn auch
bei den beiden Großmächten, insbeſondere bei Preußen, kurzerhand vor-
ausſetzte. Er „glühte vor Scham“, wenn er an die Karlsbader Beſchlüſſe
dachte, und war als ehrlicher Liberaler entſchloſſen jeden neuen Angriff
auf das conſtitutionelle Leben kräftig zu bekämpfen. Die Grundlagen der
Bundesverfaſſung fand er vortrefflich, da ſie ja den Kleinſtaaten das
Uebergewicht gab, und noch im Jahre 1849, als der Bundestag unter
den Verwünſchungen der Nation zuſammengebrochen war, vertheidigte er
die ehrwürdige Verſammlung leidenſchaftlich gegen den Vorwurf der Un-
fruchtbarkeit. Nur freilich ſollte das wahre föderative Leben in dieſem
glücklichen Bunde erſt erweckt werden durch eine feſtere wirthſchaftliche,
kirchliche, politiſche Einigung der Kleinen, und für dieſe Sonderbunds-
politik entwarf der Unermüdliche immer neue Pläne. Tag für Tag ließ
er ſeine Seifenblaſen in die Luft ſteigen, freute ſich kindlich, wenn ſie
[286]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
eine Weile goldig in der Sonne glitzerten, blieb aber auch ebenſo ſeelen-
vergnügt wenn ſie platzten. Denn die leidenſchaftliche Freude am Erfolge,
das ſicherſte Kennzeichen des praktiſchen Talentes, fehlte ihm gänzlich, trotz
der Ehrlichkeit ſeiner Ueberzeugung kam er niemals über den geſchäftigen
Dilettantismus hinaus. Unter allen Grundſätzen des Bundesrechtes hielt
er keinen ſo hoch wie die formale Rechtsgleichheit der ſouveränen Bundes-
ſtaaten. Nicht einmal den Schein eines Uebergewichts wollte er den Groß-
mächten gönnen, und niemals beunruhigte ihn das Bedenken, ob denn
die Macht und Einheit Deutſchlands, die er auf ſeine Weiſe ehrlich wünſchte,
mit der Gleichheit dieſer achtunddreißig Souveräne verträglich ſei. Als
er einmal in einem langen Gutachten bewieſen hatte, Köthen ſei ein Staat
wie Preußen auch und folglich der köthener Schmuggel ebenſo berechtigt
wie die preußiſche Handelspolitik, da erfüllte ihn das Bewußtſein einer
vollbrachten Großthat, und ſtolz ſchrieb er einem Freunde: „Die anhaltiſch-
preußiſche Streitfrage, welche ſynonym mit der iſt, ob wir einen Bund
oder eine societatem leoninam haben ſollen, wird würdig und folgen-
reich beantwortet, und — Württemberg hat die Antwort gegeben, die nun
ihr Echo in ganz Deutſchland findet!“*)
Die ſtattliche Erſcheinung des ſchönen hochgewachſenen Cavaliers mit
den ſchwärmeriſchen Augen und dem gutmüthigen Lachen war in der Ge-
ſellſchaft überall willkommen; man verzieh ihm gern, wenn er in der
Luſt des Weines ſeinem taktloſen Uebermuth die Zügel ſchießen ließ und
einmal gar in Gegenwart des preußiſchen Geſandten einen Trinkſpruch
auf die Republik ausbrachte. An Geiſt und Bildung übertraf er die
meiſten, an dialektiſcher Gewandtheit alle ſeine Amtsgenoſſen, und rück-
ſichtslos genug ließ er ſie ſein Uebergewicht fühlen; jeden ſeiner Einfälle
vertheidigte er in Repliken und Dupliken, und bald ward es zur Regel,
daß Württemberg über alle noch ſo geringfügigen Fragen ſein Sonder-
gutachten abgab. Seit Buol’s pomphaften Eröffnungsreden und Gagern’s
reichspatriotiſchen Herzensergießungen hatte ſich der Bundestag an den
Mißbrauch parlamentariſcher Redekünſte gewöhnt, obgleich dieſe Geſand-
ten alleſammt ſtreng an ihre Inſtruktionen gebunden waren; jetzt füllte
Wangenheim’s unerſättliche Beredſamkeit zuweilen ganze Sitzungen aus.
Der conſervative Wintzingerode in Stuttgart erſchrak nicht ſelten über die
kühnen Luftſprünge ſeines Bundesgeſandten; jedoch der König und ſein
geheimer Rathgeber Trott nahmen ſich Wangenheim’s in der Regel an,
und ſo konnte er ungeſtört eine Oppoſitionspartei um ſich ſammeln. Die
heſſiſchen Geſandten Lepel und Harnier, zwei tüchtige Geſchäftsmänner,
folgten ihm faſt unbedingt. Aber auch der Baier Aretin, ein feiner, geiſt-
reicher Gelehrter, der den wilden bajuvariſchen Fanatismus ſeines aleman-
niſchen Bruders keineswegs theilte, blieb nicht ganz unempfänglich, wenn
[287]Die Oppoſition am Bundestage.
ihm Wangenheim von Baierns großer Zukunft, von der Führung des
reinen Deutſchlands ſprach, und betheiligte ſich behutſam an dem kleinen
Kriege wider die Großmächte. In ſeiner naiven Unkenntniß der deutſchen
Dinge war der Holländer Grünne völlig wehrlos gegen die Redekünſte des
Württembergers. Selbſt Carlowitz, ein gutmüthiger Herr aus der ſchwer-
fälligen, formenſeligen alten kurſächſiſchen Beamtenſchule, ließ ſich bezau-
bern, und dem Hannoveraner Hammerſtein, der ſeine Nächte am Spiel-
tiſch zu verbringen pflegte, war es ein frivoler Spaß, den Frieden des
Bundestags gelegentlich durch kecken Widerſpruch zu ſtören.
Wangenheim’s redlicher Eifer für die conſtitutionelle Freiheit führte
auch den klugen Bremer Smidt, der ſich nur ungern mit dem Hauſe Oeſter-
reich überwarf, unterweilen in das Lager der Oppoſition hinüber; und zu
dieſer buntgemiſchten Geſellſchaft geſellte ſich anfangs noch als zweideutiger
Genoſſe das jüngſte Mitglied des Bundestags, der Badener Blittersdorff
— neben Smidt ſicherlich der beſte politiſche Kopf der Verſammlung, aber
ein ganz unlauterer Charakter, der durch niedrige Geſinnung und maß-
loſen Ehrgeiz die Früchte einer reichen Begabung ſich ſelbſt verdarb.
Wie viele Wandlungen hatte der Dreißigjährige am Ende des Jahres
1822 ſchon durchlaufen! Als Geſchäftsträger in [Petersburg] hatte er die
dynaſtiſchen Anſprüche ſeines Fürſtenhauſes geſchickt vertreten und war
nebenbei auch dem Ruſſen, wenn ſie gar zu anmaßlich über Deutſchland
abſprachen, ſcharf entgegengetreten; dann ward er, zur Zeit der Wiener
Conferenzen, der eifrigſte jener Ultras, welche die neuen Landesverfaſſungen
durch Bundesbeſchlüſſe zerſtören wollten; nachher ſchlug er wieder um
und ſchwelgte, etwa anderthalb Jahre lang, in Triasträumen, bis er end-
lich im Herbſt 1822 jene Reiſe nach Wien unternahm und, nunmehr für
immer, in das reaktionäre, öſterreichiſche Lager überging. Ein Sohn der
katholiſchen Ritterſchaft des Breisgaues hoffte er von Haus aus, entweder
mit Oeſterreichs Hilfe einen badiſchen Miniſterpoſten oder, noch willkom-
mener, eine hohe Stellung im k. k. Dienſte zu erlangen; Metternich’s
ängſtliche Politik wußte aber nichts anzufangen mit dieſem unruhigen
Pläneſchmied, der ſich an ſeine Weiſungen ſelten band und gegebenenfalls
ſelbſt vor radikalen Entwürfen nicht zurückgeſchreckt wäre.
Von kleinlichem Partikularismus war nichts in ihm. Ueber die
Stürme im Waſſerglaſe des Karlsruher Landtags urtheilte er mit einer
hochmüthigen Verachtung, die von den badiſchen Liberalen noch weit ſchmerz-
licher empfunden wurde als ſeine reaktionäre Geſinnung; und wenn er
gelegentlich äußerte, die Bundesverfaſſung ſei ein fortwährender Proteſt
gegen die Unterdrückung der Kleinen, oder auch: die Nationalität ſei das
höchſte Gut der Kleinſtaaten, das ſie niemals fremdem Einfluſſe opfern
dürften — ſo waren das nur paradoxe Einfälle, die er ſelber nicht ernſt
meinte. Seine Hoffnung blieb eine ſtarke, die Einzelſtaaten meiſternde
Bundesgewalt. Nur der ruheloſe Thatendrang, nur die Luſt ſein Licht
[288]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
leuchten zu laſſen trieb ihn eine Zeit lang in die Heerſchaaren Wangen-
heim’s. „Wahrlich, das Geld, das der Staat an mich wendet, ſoll nicht
verloren ſein“, ſchrieb er einmal, und mit frechem Galgenhumor ſchilderte
er die dialektiſchen Klopffechterkünſte der Oppoſition, der er ſich ſelber ange-
ſchloſſen hatte, alſo: „Belehrt durch das Beiſpiel der großen Höfe, daß man
durch Propoſitionen, Gegenpropoſitionen, Dilemmen, Syllogismen, Ketten-
ſchlüſſe, Sorites und wie die ganze Batterie logiſcher Formeln heißt, jeden
herzhaften Entſchluß in der Politik hintertreiben oder wenigſtens ajourniren
könne, haben wir uns bemüht, hierin nicht zurückzubleiben, ja vielmehr
die Meiſter in dieſer Kunſt wenigſtens durch die Ausführlichkeit unſerer
Abhandlungen zu überbieten, ſo daß es beinah unmöglich iſt, es in der
Kunſt, Alles zu beweiſen was man will, weiter zu bringen.“ Von dieſer
dreiſten Stirn glitt der Vorwurf der Treuloſigkeit ab wie das Waſſer von
der Ente. In ſeiner Jugend ein liederlicher Verſchwender, in ſpäteren
Tagen ein geriebener Speculant, beurtheilte er die Welt nach ſeinem
eigenen Charakter und bekannte ſich offen zu dem machiavelliſtiſchen Satze,
daß man die Menſchen durch Furcht und Hoffnung regieren müſſe.*) Trotz
ſeiner abſchreckenden Häßlichkeit war der lange hagere junge Mann ein be-
liebter Geſellſchafter, obgleich Niemand dieſen gemeinen Zügen recht trauen
wollte; er beobachtete ſcharf und ſicher, ſo daß ſeine Berichte dem Kundigen
noch heute reiche Belehrung bieten, und bezauberte Alles durch ſein ſelbſt-
bewußtes Auftreten, durch klatſchſüchtige Plauderei, durch geiſtreiche Ein-
fälle ſowie durch ein Wiſſen, das wenig tief, doch immerhin den Kennt-
niſſen der meiſten anderen Bundesgeſandten weit überlegen war. In
der Schule eines ehrenhaften Staatslebens hätte Blittersdorff’s Talent
vielleicht zu großem Ehrgeiz erzogen werden können, in dieſem Bundes-
tage ward er nur ein Zänker und ein Rabuliſt.
Das Aergſte blieb doch, daß dieſe wunderliche Oppoſitionspartei ebenſo
haltlos in der Luft ſchwebte wie die Triasträume Wangenheim’s ſelber.
Sie wurzelte nicht in den Geſinnungen und Intereſſen der Cabinette,
ſondern in den augenblicklichen Stimmungen der Geſandten, die von da-
heim jederzeit eine Zurechtweiſung erhalten konnten; und mit vollem
Rechte ſchrieb die badiſche Regierung an Blittersdorff: am Bundestage
kann es wohl eine bairiſche oder württembergiſche Partei geben, aber nie-
mals eine Partei Aretin oder Wangenheim.**) Aber die Oppoſition
umfaßte faſt alle Talente der Verſammlung; in der Debatte war ihr
weder Buol’s taktloſes Aufbrauſen noch Goltz’s redliche Gutmüthigkeit
gewachſen. An zuverläſſigen Bundesgenoſſen beſaß der Präſidialgeſandte nur
zwei: den Naſſauer Marſchall, der durch ſeine polternde Anmaßung ſeine
[289]Blittersdorff. Langenau.
eigenen Freunde in Verlegenheit brachte, und den Geſandten der ſech-
zehnten Curie, Leonhardi. Dieſer trübſelige Pedant hatte ſich die Ehre,
acht deutſcheSouveräne, von Hohenzollern bis Waldeck, zu vertreten, im
Submiſſionswege errungen, da er als wohlhabender Frankfurter Hausbe-
ſitzer mit einem lächerlichen Gehalte vorlieb nehmen konnte, und ſeine
Leiſtungen entſprachen dem Preiſe; als einmal eine eilige Sitzung, ſtatt
auf den üblichen Donnerſtag, ſchon auf den Samstag und die folgende
gar ſchon auf den Montag angeſetzt wurde, da verwahrte er ſich lebhaft,
denn wie konnte ein Frankfurter auf das Menſchenrecht verzichten, Sonn-
tags zum Aepfelwein in den Stadtwald oder nach Bockenheim hinaus-
zufahren?
Alſo ohne feſten Anhalt in der Verſammlung, waren die Geſandten
der beiden Großmächte auch unter ſich entzweit. Der natürliche Gegenſatz
der Intereſſen, der in der europäiſchen Politik immer wieder verhüllt
wurde, offenbarte ſich unverblümt am Bundestage. Wie unerträglich für
den preußiſchen Stolz war ſchon die Machtſtellung, welche der Präſidial-
geſandte ſich nach und nach angemaßt hatte. Er allein ſetzte die Tages-
ordnung feſt, ohne Vorwiſſen des Bundestags, und ſcheute ſich nicht ſelbſt
dem preußiſchen Geſandten zuweilen eine widerwärtige Ueberraſchung zu
bereiten. Er hielt das Archiv [unter] ſeinem Verſchluß; denn in dieſer
Verſammlung war Alles proviſoriſch; ſie beſaß weder eine eigene Kanzlei
noch eine definitive Geſchäftsordnung, ihre Geſandten mußten es hin-
nehmen, wenn ihnen die k. k. Kanzleibeamten in unterthänigſter Gemüth-
lichkeit die zur Einſicht verlangten Akten unter allerhand Vorwänden ver-
weigerten. Und was für Noth hatte General Wolzogen mit der Ordnung
des Bundesheerweſens, das der Hofburg, ſo lange ſie auf Preußens Waffen-
hilfe zählen konnte, ganz gleichgiltig blieb; Tag für Tag ſtieß er auf die
geheimen Ränke ſeines öſterreichiſchen Genoſſen Langenau. Der hegte
noch von ſeinen ſächſiſchen Zeiten her einen unverſöhnlichen Haß gegen
Preußen, verſtand jedoch ſeine Geſinnung ſo geſchickt hinter der Maske
derber militäriſcher Freimüthigkeit zu verbergen, daß er die geſammte Bun-
desmilitärcommiſſion hinter ſich herzog. Nur Wenige wußten, daß dieſer
offenherzige Soldat der vertrauteſte Rathgeber Metternich’s in allen Fragen
der Bundespolitik war und zugleich durch die geheime k. k. Polizei in
Frankfurt jeden Brief erbrechen, jedes Geſpräch der Bundesgeſandten be-
horchen ließ. Da die vierte Bundesfeſtung Ulm, Dank dem ewigen Ge-
zänk Württembergs und Badens, in einer abſehbaren Zukunft nicht ge-
baut werden konnte, ſo ſuchte ſich Oeſterreich, den Verträgen zuwider, aus-
ſchließlich der Feſtung Mainz zu bemächtigen und verweigerte den Preußen
unter lügneriſchen Ausreden den zugeſagten Wechſel im Commando. Immer
wieder verlangte Goltz, daß die 20 Mill. franzöſiſcher Feſtungsgelder,
welche Metternich eigenmächtig dem Hauſe Rothſchild gegen einen einfachen
Schuldſchein anvertraut hatte, zu gleichen Theilen vorläufig an Preußen und
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 19
[290]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Oeſterreich verliehen, die Zinſen verdoppelt und für die Erhaltung der be-
ſtehenden Bundesfeſtungen verwendet würden.*) Oeſterreichs Finanzen
konnten aber ohne das Wohlwollen des großen Bankhauſes nicht beſtehen,
und da auch die kleinen Staaten den preußiſchen Geſandten nicht herz-
haft zu unterſtützen wagten, ſo blieb es dabei, daß der Deutſche Bund
der Firma Rothſchild Jahr für Jahr etwa eine halbe Million Franken
ſchenkte.
Im Verlaufe dieſer Händel machte ſelbſt der friedfertige Goltz die Er-
fahrung, welche ſeitdem keinem der preußiſchen Bundesgeſandten erſpart
blieb, daß jeder pflichtgetreue Preuße, ſobald er die k. k. Bundespolitik näher
kennen lernte, zum Gegner Oeſterreichs werden mußte. Er entfremdete
ſich gänzlich ſeinem öſterreichiſchen Amtsgenoſſen; und wie ſeine Unter-
gebenen geſinnt waren, das lehrte eine geheime Denkſchrift des Legations-
raths Küpfer über Preußens deutſche Politik, welche Goltz im Jahre 1822
nach Berlin ſendete. Sie rieth dem Berliner Hofe, vorläufig das öſter-
reichiſche Bündniß noch aufrechtzuhalten, doch unter der Hand die frideri-
cianiſche Politik wieder aufzunehmen und durch entſchloſſene Vertheidigung
des „proteſtantiſchen Princips“ die kleinen Höfe im Süden wie im Norden
an ſich zu ziehen, damit dereinſt am Tage der unausbleiblichen Tren-
nung das ganze oder doch faſt das ganze nichtöſterreichiſche Deutſchland
ſich der Führung Preußens unterordne. Die Denkſchrift war nur die
Privatarbeit eines ehrgeizigen, wenig zuverläſſigen jungen Beamten, der
bald nachher den Staatsdienſt verlaſſen mußte, merkwürdig allein als ein
Zeichen der Geſinnungen der preußiſchen Bundesdiplomatie. Sie erlangte
jedoch ſpäterhin eine ganz unverdiente Berühmtheit, da ſie durch einen Be-
amten der Geſandtſchaft, den gefürchteten Demagogen Guſtav Kombſt, ge-
ſtohlen und in der liberalen Preſſe allgemein für ein unheimliches Werk
Eichhorn’s gehalten wurde — ein thörichter Verdacht, den die bureaukratiſche
Steifheit jener Tage leider zu widerlegen verſchmähte.**)
In dieſen Krieg Aller gegen Alle griffen auch noch die Diplomaten
des Auslands verwirrend ein. Da war der ruſſiſche Geſandte Anſtett,
ein unverbeſſerlicher Ränkeſchmied, der anfangs wohl mit Kapodiſtrias’
Vorwiſſen, nach deſſen Sturz aber ganz auf eigene Fauſt und gegen
Neſſelrode’s Abſichten ſein unterirdiſches Handwerk trieb. Ueberall ziſchelte
er umher um die kleinen Geſandten gegen die beiden Großmächte aufzu-
ſtiften; allwöchentlich mußte Blittersdorff berichten, was „man“ oder was
„der dicke Freund, der Freund der nicht mein College iſt“ wieder einmal
[291]Die Bundes-Kriegsverfaſſung.
geflüſtert hatte. Unter Anſtett wirkten ſeine allbekannten geheimen Agenten
Faber und Strinkewitſch; ſie trieben es mit dem Horchen ſo arg, daß
man nach Kapodiſtrias’ Abgang doch für gerathen hielt ſie aus der Bun-
desſtadt abzurufen. Minder bemerkbar, doch im Stillen ſehr mächtig war
der Einfluß des franzöſiſchen Geſandten Reinhard, der auch mit den
Unzufriedenen des linken Rheinufers wahrſcheinlich noch geheime Ver-
bindungen unterhielt. Als geborener Schwabe, als geiſtvoller Gelehrter,
als gemäßigter Liberaler und natürlicher Gönner der troisième Alle-
magne ſtand er dem württembergiſchen Geſandten beſonders nahe, und
obwohl Wangenheim’s ehrlicher Patriotismus allen Rheinbundsgedanken
völlig unzugänglich blieb, ſo konnte es doch kaum fehlen, daß der unge-
ſtüme, phantaſtiſche Deutſche zuweilen unbewußt von dem klugen Halb-
franzoſen gegängelt wurde. Wie ging ihm das Herz auf, als ſein Freund
Reinhard ein glänzendes Feſt gab um Goethe’s Geneſung von ſchwerer
Krankheit und zugleich die Geburt des württembergiſchen Kronprinzen zu
feiern.*) —
Unter ſolchen Umſtänden konnten die Verhandlungen über das Bun-
desheerweſen nur ein ekelhaftes Bild deutſcher Zerriſſenheit bieten, das
den häßlichſten Erinnerungen des Regensburger Reichstags keineswegs
nachſtand. Am 9. April 1821 einigte ſich der Bundestag endlich über
die „Allgemeinen Grundriſſe der Deutſchen Kriegsverfaſſung“ und am
11. Juli 1822 über die „Näheren Beſtimmungen“ dazu, ſo daß faſt ſechs
Jahre nach der Eröffnung der Bundesverſammlung die Grundlagen des
Heerweſens auf dem Papiere fertig ſtanden. Das Ergebniß war, da
Oeſterreich ſeinen Einfluß nicht gebrauchen wollte, eine gründliche Nieder-
lage für Preußen, ein vollſtändiger Sieg der kleinen Königreiche. Das
Bundesheer ſollte etwa 300,000 Mann ſtark ſein; davon ſtellte Oeſter-
reich drei Armeecorps, 95,000 Mann. Preußen, das mit drei Vierteln
ſeiner Bevölkerung dem Bunde angehörte, durfte nur ein Drittel ſeines
Heeres, drei Corps mit 80,000 Mann, ſtellen; ſo blieb den Kleinen die
Genugthuung, daß ſie ſelber mehr Bundestruppen als jede der beiden
Großmächte — vier Corps mit reichlich 120,000 Mann — in den Tabellen
aufweiſen konnten. Das ſiebente Corps war bairiſch, das achte umfaßte
die übrigen ſüddeutſchen Staaten, das zehnte Hannover und die Kleinſtaaten
Niederdeutſchlands; dieſe Truppenkörper mochte man auf der Landkarte
zur Noth für eine Einheit halten. Damit aber der König von Sachſen
ſich ebenfalls den Beſitz eines Corps-Generals gönnen konnte, wurde noch
ein wunderſames neuntes Armeecorps ausgeklügelt, das die Truppen von
Sachſen, Thüringen, Naſſau und Luxemburg umfaſſen ſollte — eine
Kriegsmacht, welche ſich natürlich niemals auch nur zu einem Manöver
zuſammenfand.
19*
[292]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
In ihrem Eifer für die föderaliſtiſche Gleichheit hatten Wangenheim
und ſeine Freunde alle Vorbedingungen militäriſcher Ordnung und Schlag-
fertigkeit abſichtlich zerſtört. Die beiden Hauptſätze dieſer Kriegsverfaſſung,
die Artikel 5 und 8, lauteten: kein Bundesſtaat, der ein eigenes Armee-
corps ſtelle, dürfe andere Truppen mit den ſeinigen verbinden, und ſelbſt
der Schein der Suprematie eines Bundesſtaates über den andern ſolle
vermieden werden. Damit war jede Möglichkeit verloren, die haltloſen
Contingente der kleinſten Staaten zu einigermaßen brauchbaren Heertheilen
auszubilden. Die Stärke des Bundesheeres, eins vom Hundert der Be-
völkerung, reichte gegenüber den Streitkräften Rußlands und Frankreichs
ſchlechterdings nicht aus und mußte im Verlaufe eines langen Krieges
völlig ungenügend werden, weil die Erſatztruppen nicht mehr als ⅙, im
äußerſten Falle ½ Procent der Bevölkerung betragen durften; das ganze
Syſtem beruhte auf der Erwartung, daß Preußen freiwillig dreimal mehr
als ſeine Bundesgenoſſen leiſten würde. Der im Kriegsfalle vom Bun-
destage — das will ſagen: durch die Mittelſtaaten — gewählte Bundes-
feldherr entbehrte jeder Selbſtändigkeit, da ihm Vertreter der verſchiedenen
Kriegsherren zur Wahrung der Intereſſen ihrer Contingente beigegeben
wurden; um ihn vollends zu lähmen, beantragten Württemberg und Baiern
ſogar, diesmal doch vergeblich, daß er ſeinen Kriegsplan vorher der Bun-
desverſammlung vorlegen müſſe. Dann ſtritt man, ob außer dem Feld-
herrn auch ſein Generalleutnant und ſein Generalquartiermeiſter dem
Bunde vereidigt werden ſollten. Wenn der Stoff des Gezänks auszu-
gehen drohte, ſo warf Wangenheim die beliebte Frage auf, ob im vor-
liegenden Falle Einſtimmigkeit oder einfache Mehrheit erforderlich ſei? —
oder die noch fruchtbarere: wer eigentlich an der Verſchleppung des Ge-
ſchäfts ſchuld ſei? Wurde dieſe Saite angeſchlagen, dann waren die Strei-
tenden immer einig, dann verſicherten alle mit der gleichen Entrüſtung:
„der Dieſſeite kann die Verzögerung auf keine Weiſe zur Laſt kommen.“
Dazwiſchen hinein ſpielte noch der Streit um die Bundesfeſtungen.
Obgleich die Beſatzungsverhältniſſe von Mainz und Luxemburg längſt durch
europäiſche Verträge beſtimmt waren, ſo erhob Wangenheim doch das Be-
denken: der Bund habe an jenen Verträgen keinen Theil genommen und
brauche mithin die beiden Bundesfeſtungen auch nicht zu übernehmen;
mindeſtens müſſe die Ernennung des Gouverneurs in Friedenszeiten dem
Landesherrn der Feſtungsſtadt überlaſſen werden, da ein „fremder Ober-
befehl“ für einen deutſchen Souverän allzu läſtig ſei. So währte denn
in Mainz und Luxemburg der bisherige proviſoriſche Zuſtand noch immer
fort, und die Feſtungswerke verfielen zuſehends. Im Jahre 1822 wurde
die Bodenaufnahme für die Bundesfeſtung Raſtatt vollendet, zwei Jahre
darauf der vollſtändige Feſtungsplan an die Militärcommiſſion eingereicht;
doch Alles blieb liegen, weil man noch immer nicht wußte, ob Raſtatt oder
Ulm oder beide Feſtungen zugleich befeſtigt werden ſollten. Für Landau
[293]Streit wegen der kleinen Contingente.
verwendete Baiern in den Jahren 1816—30 nur 1 Mill. Gulden, für
Germersheim, das ebenfalls Bundesfeſtung werden ſollte, gar nur 167,000
Gulden, alſo noch nicht einmal die Zinſen der ihm ausgezahlten fran-
zöſiſchen Gelder. Die Preußen, die in dieſem Hexenſabbath partikulariſti-
ſcher Nichtswürdigkeit allein noch an das Vaterland dachten, hatten ihres
Ekels kein Hehl, wie Blittersdorff ſelbſt ſeinem Hofe geſtehen mußte, und
Goltz ſchrieb verzweifelnd nach Berlin: er widerſpreche nicht mehr, ſonſt
komme gar nichts zu Stande.*)
Als nun endlich die Grundzüge der Kriegsverfaſſung doch vereinbart
waren, begann ſofort ein neuer Zwiſt. Da das Geſetz alle Truppen-
gattungen nach der Bevölkerungszahl gleichmäßig auf alle Souveräne ver-
theilte, ſo ergab ſich bald, daß ein großer Theil der deutſchen Fürſten
nicht im Stande war ein Reiterregiment oder eine Batterie zu ſtellen,
ſondern ſich mit Truppentheilen begnügen mußte, welche die höfliche Amts-
ſprache des Bundestags mit den wohllautenden Namen „Cavallerie- oder
Artilleriekörper“ bezeichnete. Der Cavalleriekörper des Fürſten von Liechten-
ſtein beſtand aus acht Pferden. Solche Heerſäulen ſchienen doch ſelbſt den
Strategen des Bundestags bedenklich. Er geſtattete daher den allerkleinſten
Staaten — denn jeder Zwang gegen die Souveräne wurde grundſätzlich
vermieden — durch freie Uebereinkunft mit den mächtigeren Genoſſen ihres
Armeecorps für die Stellung dieſer Specialwaffen zu ſorgen. Da erhob
jedoch der Herzog von Oldenburg geharniſchten Widerſpruch. In einer
langen Denkſchrift führte er aus: für große Staaten ſei die Erhaltung
einer ſtarken Heeresmacht eine „Selbſtbefriedigung“, ein Mittel, ihr eigenes
politiſches Anſehen zu ſichern, für kleine nur eine paſſive Pflicht; auch
werde Niemand leugnen, daß ein kleines Contingent im Kriege „das Opfer
eines Augenblicks“ werden könne, was ſich von dem preußiſchen Heere nicht
behaupten laſſe; da mithin das Vergnügen für die Kleinen geringer, die
Gefahr größer ſei, ſo verlangte er als ſein gutes Recht, daß ihm ſeine
Laſt erleichtert und die Stellung eines ungemiſchten Infanteriecorps ge-
ſtattet würde. Der Landgraf von Homburg war der entgegengeſetzten
Anſicht. Er ſollte 29 Reiter, 2 Pioniere, 3 reitende und 11 Fuß-Artille-
riſten zum Bundesheere ſtellen und beſtand darauf dieſe Truppenmacht
in unverfälſchter Homburgiſcher Urſprünglichkeit zu liefern, weil eine Ver-
tretung durch einen fremden Souverän koſtſpieliger ſein und überdies das
Homburgiſche Geld „in das Ausland“ locken würde. Naſſau dagegen be-
anſpruchte das Vorrecht, nur Fußvolk und Artillerie zu ſtellen, und da
Metternich dieſen Wunſch ſeines Freundes Marſchall unter der Hand
unterſtützte, ſo hielt ſich Wangenheim verpflichtet, leidenſchaftlich zu wider-
ſprechen: wolle man etwa, ſo fragte er, die Bundesſtaaten der anderen
Armeecorps, Naſſau zu Liebe, nöthigen, das neunte Corps durch Reiterei
[294]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
zu verſtärken? würden dort „dieſe fremden Truppen immer mit der gleichen
Aufmerkſamkeit, Schonung und Liebe behandelt werden“, wie die Soldaten
des neunten Corps ſelber? So ging es weiter, ein endloſer, heilloſer
Streit, der die Thatkraft der Militärcommiſſion ſo vollſtändig in Anſpruch
nahm, daß in den Jahren 1822—30 kein irgend nennenswerther Be-
ſchluß über die Organiſation des Bundesheeres mehr zu Stande kam.
Erſt als durch die Pariſer Julirevolution die Gefahr eines franzöſiſchen
Krieges näher gerückt ward, ermannte ſich der Bundestag am 9. Dec. 1830
zu dem verſtändigen Beſchluſſe, die allerkleinſten Contingente, von Weimar
abwärts, zu einer für den Feſtungsdienſt beſtimmten Reſerve-Infanterie-
diviſion zu vereinigen; freilich blieb es ſehr zweifelhaft, ob die Bücke-
burger und die Reußen im Kriegsfalle rechtzeitig in die rheiniſchen Feſtungen
gelangen würden.
Von gemeinſamen Truppenübungen, von irgend einer feſteren Ver-
bindung zwiſchen den Contingenten der Armeecorps war in Friedenszeiten
gar nicht die Rede; nur die Staaten des achten Armeecorps trafen einige,
ganz ungenügende, Verabredungen über gleichmäßige Bewaffnung ſowie
über die Ernennung des commandirenden Generals — natürlich nicht
ohne mannichfachen Streit, denn es währte lange, bis Württemberg und
Baden ſich herbeiließen „die ſchwächſte Macht“, Darmſtadt als gleich-
berechtigt anzuerkennen.*) Ein Cartell für wechſelſeitige Auslieferung der
Fahnenflüchtigen war verheißen; doch die Abſtimmung dauerte fünf Jahre,
von 1820—25; dann blieb wieder Alles liegen, bis endlich im Jahre 1831
ein Beſchluß zu Stande kam, der aber ſo mangelhaft ausfiel, daß die
Zweifel und Beſchwerden kein Ende nahmen. Ueber die Verpflegung des
Bundesheeres konnte man ſich während eines vollen Menſchenalters nicht
einigen. Die deutſchen Fürſten beſaßen nunmehr eine Kriegsherrlichkeit,
wie ſie ihnen ſo unbeſchränkt noch niemals zugeſtanden hatte, und unter-
ſtützt durch ihre haushälteriſchen Landtage mißbrauchten ſie dies Recht zu
übermäßigen Beurlaubungen, welche manches Contingent faſt bis zur
Kriegstüchtigkeit eines Milizheeres herunterbrachten. Von den geworbenen
Söldnern der Hanſeſtädte bis zu Preußens allgemeiner Wehrpflicht war
faſt jedes erdenkliche Syſtem der Heeresorganiſation im Deutſchen Bunde
vertreten.
Nach den gewaltigen Wandlungen, welche das Kriegsweſen in den
napoleoniſchen Zeiten erfahren hatte, waren die kleinen Contingente des
Bundesheeres faſt ebenſo unbrauchbar wie weiland die Reichsarmee des
18. Jahrhunderts und auch in ihrer äußeren Erſcheinung faſt ebenſo
lächerlich. Der einfache militäriſche Grundſatz, der eine möglichſt gleich-
mäßige Bekleidung der Waffengenoſſen gebot, wurde geradezu auf den
Kopf geſtellt. Jeder kleine Kriegsherr ſuchte „die Nationalität“ ſeiner
[295]Wangenheim und die Köthener Händel.
Truppen zu wahren, indem er ſie recht auffällig von den Truppen des
Nachbarſtaates unterſchied, damit der Feind immer genau wiſſen konnte
wen er vor ſich habe; die Erfindung neuer Uniformen wurde bald zu
einem Sport, der die zahlreichen Mußeſtunden deutſcher Kleinfürſten ver-
gnüglich ausfüllte. Nur wenige Souveräne folgten dem verſtändigen Bei-
ſpiele des Großherzogs von Baden, der ſeine Truppen nach preußiſchem
Muſter kleidete. Die Hannoveraner trugen noch die rothen engliſchen
Röcke, die Braunſchweiger die dunkle Tracht der Schwarzen Schaar; die
Darmſtädter prangten in kleeblattförmigen Epauletten; eine württem-
bergiſche Reiterabtheilung führte, wohl der ruſſiſchen Verwandtſchaft zu
Ehren, Lanzen und Pelzmützen nach Koſakenart; die Bückeburgiſche Uni-
form war eine kühne Combination von bairiſchen Raupenhelmen und
ſchwarzen Braunſchweiger Röcken; im Königreich Sachſen verfiel man gar
auf eine Farbenzuſammenſtellung, welche vermöge ihrer Scheußlichkeit gegen
jede Nachahmung geſichert war, man gab dem beklagenswerthen Fußvolk
grüne Fräcke und hellblaue Hoſen und fügte nachher noch eine Art Zipfel-
mützen mit Schirmen hinzu. Es ſchien als wolle die partikulariſtiſche
Eitelkeit dieſe tapferen deutſchen Krieger, die unter der Führung preußi-
ſcher Generale die beſten Soldaten der Welt werden konnten, abſichtlich
dem Geſpött preisgeben; für die Frankfurter Gaſſenbuben war es immer
ein Feſt, wenn die Bundes-Militärcommiſſion in ihren abenteuerlich bunt-
ſcheckigen Uniformen zur Parade erſchien. Alles in Allem bewährte ſich
dies Werk kleinköniglichen Dünkels und öſterreichiſcher Trägheit ſo jäm-
merlich, daß fortan jedesmal, wenn ein Kriegsfall drohte, auch ſofort die
Frage erwogen wurde, wie man die Bundeskriegsverfaſſung über den
Haufen ſtoßen ſolle; denn immer ſobald Noth an Mann kam zeigte ſich
mit überwältigender Klarheit, daß Oeſterreich durch ſeinen italieniſchen
Beſitz, die Mittelſtaaten durch ihre Ohnmacht gelähmt waren und nur
Preußen die deutſchen Grenzen zu vertheidigen vermochte.
Noch feindſeliger als in dieſen Heeresangelegenheiten trat Wangen-
heim dem preußiſchen Geſandten in dem elenden Köthener Handel entgegen.
Er hatte kein Auge für den Unfug des Anhaltiſchen Schmuggels; ihm
genügte, daß der Buchſtabe — aber auch nur der Buchſtabe — des Bun-
desrechts gegen Preußen ſprach. Mit allen Mitteln der Executionsord-
nung, nöthigenfalls mit den Waffen wollte er den Friedensbrecher heim-
ſuchen, und ſo heilig erſchien ihm dieſer Kampf, daß er noch ein Menſchen-
alter ſpäter, als Niemand mehr daran dachte, alle ſeine alten Köthener
Gutachten veröffentlichte um den Deutſchen zu zeigen, welch ein edler
Geiſt in ihrem alten Bundestage gewohnt habe. In politiſchen Macht-
fragen iſt aber Niemand unparteiiſch, und auch dieſer begeiſterte Wahrer
des Bundesrechts war es nicht; denn er hoffte ſelbſt auf einen Sonder-
zollverein der Kleinſtaaten und ſah in Preußens Handelspolitik den ge-
fährlichen Gegner ſeiner eignen Pläne. Das Ungeſchick des Grafen Goltz,
[296]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
der die politiſch unanfechtbare Sache Preußens mit zweifelhaften Rechts-
gründen vertheidigte, geſtattete dem Württemberger manchen kleinen Ein-
tagserfolg; doch bald mußte Wangenheim bemerken, daß ſeine eigenen
Freunde, Aretin vornehmlich, kopfſcheu wurden. Wer konnte auch im
Ernſt glauben, daß Preußen einem Bundesbeſchluſſe ſein Zollſyſtem opfern
würde? — und — meinte Blittersdorff in ſeiner frivolen Weiſe — „glück-
licherweiſe bietet die Bundesgeſetzgebung Ausflüchte genug dar um jede
Sache beliebig in die Länge zu ziehen.“ Auch Graf Buol, der anfangs
dem Streite mit Schadenfreude zugeſehen hatte, zog ſich beſorgt zurück,
ſeit Wangenheim’s Abſicht eine dritte Macht in Deutſchland zu gründen
immer dreiſter heraustrat. Den feindſeligen Ausſchußberichten, welche den
preußiſchen Staat, unter dem Jubel der liberalen Preſſe, mit argen Vor-
würfen überhäuften, folgte kein entſcheidender Beſchluß; die leidige Sache
ward verſchleppt, bis nach langen Jahren Anhalt freiwillig den preußiſchen
Forderungen nachgab. —
Einen wohlthuenden Gegenſatz zu dieſen partikulariſtiſchen Thorheiten
bildete Wangenheim’s Verhalten in den Streitfragen des Verfaſſungs-
rechts der Bundesſtaaten. Hier zeigte ſich Alles was tüchtig war in dem
ſeltſamen Manne: ſein Freimuth, ſein Rechtsgefühl, ſein Wiſſen und
ſein Fleiß. Er wurde die Seele des Ausſchuſſes für Beſchwerden und
Petitionen, der denn auch in der Hofburg als Feuerheerd der Bundes-
tags-Demagogie betrachtet wurde. Freilich blieb dieſe raſtloſe Thätigkeit
ebenſo unfruchtbar wie der Bundestag ſelber, aber Wangenheim verſtand,
ſie für den Gedanken des Bundes der Mindermächtigen zu verwerthen.
Er unterhielt mit der liberalen Preſſe lebhaften Verkehr und bald mel-
deten die Zeitungen faſt allwöchentlich, wie tapfer ſich Württemberg wie-
derum in Frankfurt aller Bedrängten angenommen habe. Der Glaube
an die liberale Geſinnung der ſüddeutſchen Höfe begann ſchon zum all-
gemeinen Vorurtheil zu werden. Auch das Ausland eignete ſich dieſe An-
ſicht an, ſchon weil die tonangebende franzöſiſche Preſſe in den Staaten
der Trias die Verbündeten Frankreichs liebte; der amerikaniſche Publiciſt
A. Everett, der im Jahre 1822 die deutſchen Dinge ärger fand als die
Zuſtände Hinteraſiens, ſah in dieſer großen Wüſte der Knechtſchaft nur
eine Oaſe: Württemberg und ſeine Nachbarlande.
Wangenheim’s Berichte über den Detmolder Verfaſſungsſtreit, über
die Klage der alten Stände Schleswig-Holſteins gegen die däniſche Re-
gierung erregten in den Zeitungen dankbare Anerkennung, in der Hof-
burg wachſenden Unwillen; doch ein Sturm des Unmuths ging durch
das öſterreichiſche Lager, als der Württemberger ſich auch der weſtphäliſchen
Domänenkäufer, die von den heſſiſchen Gerichten auf Befehl des Kurfürſten
ungehört abgewieſen wurden, tapfer annahm. Vor wenigen Jahren hatte
freilich der Bundestag ſelber ſich für dieſe Unglücklichen verwendet, jetzt aber
war den Diplomaten der Eſchenheimer Gaſſe der Muth geſunken; ſie wollten
[297]Wangenheim und die heſſiſchen Domänenkäufer.
ſich nicht noch einmal mit dieſem Kaſſeler Despoten einlaſſen, der auf alle
Mahnungen des Bundes mit Beſchimpfungen antwortete und dabei noch
der Gunſt Metternich’s ſicher war.*) In Berlin war man längſt zu der
Einſicht gekommen, daß der Bund dem kurheſſiſchen Willkürregimente nicht
ſteuern könne; Preußen hatte daher mit ſchwerer Mühe bei den Höfen
von Hannover, Braunſchweig, Kaſſel endlich (1821) durchgeſetzt, daß die
vier Erben des Königreichs Weſtphalen zu Berathungen zuſammentraten
um ſich über gemeinſame Rechtsgrundſätze zu verſtändigen. Graf Goltz
wünſchte alſo, der Bundestag möge, ſtatt nochmals einen unausführbaren
Beſchluß zu faſſen, zunächſt das Ergebniß dieſer Verhandlungen abwarten.
Hannover dagegen, Oldenburg, Kurheſſen ſowie mehrere andere kleine Kronen
fanden das legitime Recht und das monarchiſche Princip in ihren Grund-
veſten bedroht wenn man irgend eine Regierungshandlung des Uſurpators
Jerome als rechtsverbindlich anerkenne. Daß der kurheſſiſche und die
beiden welfiſchen Staaten in den Jahren 1807—13 unzweifelhaft nicht
mehr beſtanden hatten und mithin eine völkerrechtlich giltige debellatio
vorlag, übergingen ſie mit Stillſchweigen; auch daran erinnerten ſie ſich
nicht, daß in ihren eigenen Landen mediatiſirte Fürſten ſaßen, welche die
neue thatſächliche Staatsgewalt noch keineswegs ſämmtlich als legitim
anerkannt hatten. Unverkennbar ſprach aus dieſem legitimiſtiſchen Eifer
die geheime Angſt; die Souveräne fühlten ſich ihrer Kronen nicht ganz
ſicher, ſie dachten an den langmüthigen preußiſchen Nachbar und an
die Möglichkeit einer neuen Entthronung. Welch ein Aufſehen alſo, als
Wangenheim in einem gründlichen Berichte zeigte, der heſſiſche Kurfürſt
ſei offenbar der Rechtsverweigerung ſchuldig und müſſe von Bundeswegen
angehalten werden der Juſtiz freien Lauf zu laſſen. Dann erwies er,
in der Form allerdings nicht glücklich, den unanfechtbaren Satz, daß in
jedem Staate irgend eine Regierung beſtehen müſſe: „der ewige Staat
ſpricht durch jeden Regenten; die Staatsgewalt berechtigt das regierende
Subject nur dazu wozu ſie daſſelbe verpflichtet.“ Wiederholt berief er
ſich dabei auf den verdienten kurheſſiſchen Richter Pfeiffer und auf Ludwig
Klüber’s Oeffentliches Recht.
Eben dieſe Berufung verſchlimmerte nur den Eindruck der ehrlichen
Worte Wangenheim’s. Vor Kurzem noch hatte der Herausgeber der Akten
des Wiener Congreſſes bei den Cabinetten ſelbſt unbeſtritten für den erſten
deutſchen Staatsgelehrten gegolten; jetzt heftete ſich der Argwohn, der
überall umherſchlich, auch an Klüber’s reinen Namen. Als die zweite
Auflage ſeines Oeffentlichen Rechts erſchien und gleich darauf ſein alter
treuer Gönner Hardenberg ſtarb, verklagte ihn der Naſſauer Marſchall
in Berlin wegen demagogiſcher Geſinnung. Trotz ſeiner ungeheueren
Gelehrſamkeit war Klüber kein ſchöpferiſcher wiſſenſchaftlicher Kopf; un-
[298]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
bekümmert um die neuen Ideen der hiſtoriſchen Rechtsſchule hielt er die
hergebrachten Doctrinen des Naturrechts feſt, ſogar Rouſſeau’s Lehre vom
urſprünglichen Vertrage, wie ſie Kant der deutſchen Rechtswiſſenſchaft über-
liefert hatte; auf dieſe veralteten allgemeinen Grundſätze ließ er jedoch eine
ſtreng ſachliche, überaus ſtoffreiche Darſtellung des poſitiven Rechtes folgen,
welche nirgends über gemäßigte conſtitutionelle Anſichten hinausging und,
in ſcharfem Gegenſatze zu Rotteck’s geſchichtsfeindlichem Vernunftrecht,
überall den Zuſammenhang der Gegenwart mit dem alten Reichsrecht nach-
zuweiſen ſuchte. Marſchall’s Anklage wirkte weiter. Metternich ließ das
verdächtige Werk durch ſeinen Gentz prüfen und erklärte darauf, ſeit Jahren
ſei kein ſo revolutionäres Buch in Deutſchland erſchienen.*) Schmalz
aber, der allezeit ſtrebſame, hielt ſich verpflichtet der ſtudirenden Jugend
ein Gegengift zu reichen und ſchrieb ſelber ein Deutſches Staatsrecht, ein
Buch, das, minder fanatiſch als andere Schriften des Verfaſſers, doch
wegen ſeiner Gedankenarmuth faſt unbeachtet blieb. In Frankfurt wurde
Klüber, obgleich er der preußiſchen Geſandtſchaft als Rechtsrath beigegeben
war, von allen Oeſterreichern ängſtlich gemieden. Daß Wangenheim ſich
am grünen Tiſche des Bundestags auf eine ſolche Autorität berief, erſchien
in der Hofburg als unglaubliche Frechheit, und Metternich ſchrieb wüthend:
„dieſe erbärmliche Perſönlichkeit hat durch dieſen Bericht das Siegel unter
ihre Verdammniß geſetzt.“**) Zu allem Unheil ließ Wangenheim’s Attaché
Robert Mohl eben jetzt ſeine Erſtlingsſchrift über die Rechtspflege des
Bundes erſcheinen, ein junger Gelehrter, der mit ſeinem grundehrlichen
Freimuth, ſeiner wiſſenſchaftlichen Unbefangenheit in dieſer Frankfurter
Geſellſchaft wie ein Fremdling erſchien; in ſeinem Buche unterſtand er ſich
ſogar die Abſtimmungen einiger Bundesgeſandten ſcharf zu tadeln. Für
Metternich und Hatzfeldt ſtand jetzt außer Zweifel, daß ſich eine ganze Bande
literariſcher Mordbrenner um den Württemberger ſchaarte.
Unterdeſſen hatte Wangenheim gegen das Schooßkind Metternich’s,
gegen die Mainzer Central-Unterſuchungscommiſſion einen kühnen, wohl-
berechtigten Angriff unternommen. Mit Ausnahme der ſieben Regierungen,
welche an der ſchwarzen Commiſſion ſelber theilnahmen, blieben die deutſchen
Höfe ohne Kenntniß von dem Treiben der Mainzer Demagogenverfolger,
obgleich die Commiſſion geſetzlich verpflichtet war dem Bundestage Bericht zu
erſtatten. Im Sept. 1820, nachdem dieſer ſonderbare Zuſtand faſt ein Jahr
gewährt hatte, verlangte Wangenheim ſchleunige Einforderung des Berichts;
mehrmals wiederholte er ſodann ſein Begehren, aber die Mainzer ver-
harrten in tiefem Schweigen. Da riß ihm die Geduld, und am 14. März
1822 beantragte er kurz und gut die Auflöſung dieſer Behörde, die bisher
noch keinen einzigen namhaften Mann verhaftet, alſo offenbar nichts Er-
[299]Wangenheim gegen die Mainzer Commiſſion.
hebliches entdeckt habe: es werde hohe Zeit die erſchreckten Gemüther end-
lich zu beruhigen, auch beſitze jeder Bundesſtaat genügende Mittel um die
demagogiſchen Umtriebe ſelber zu beſtrafen. Daß Württemberg ſelber einſt
der Einſetzung der Commiſſion zugeſtimmt hatte, wurde freilich wohl-
weislich verſchwiegen. Und ſeltſam, dieſe kecke Kriegserklärung gegen die
Karlsbader Politik fand die Mehrheit im Bundestage. Acht Stimmen
des Engeren Rathes, lauter Kleinſtaaten von Baden abwärts, ſchloſſen
ſich dem württembergiſchen Antrage an; die beiden Großmächte und die
drei größten Königreiche wurden von den Kleinen überſtimmt. Mehrere
der kleinen Souveräne handelten allerdings lediglich aus gekränktem Selbſt-
gefühl, und dem geizigen Kurfürſten von Heſſen war an der Mainzer
Commiſſion nur das Eine anſtößig, daß ſie Geld koſtete; auch mögen
einige Geſandte der Mehrheit, fortgeriſſen durch Wangenheim’s Bered-
ſamkeit, auf eigene Fauſt gehandelt haben. Blittersdorff vollends ſchloß
ſich nur darum an, weil die Mainzer dem reaktionären Feuereifer des
Karlsruher Hofes noch nicht thatkräftig genug erſchienen.*) Gleichviel, es
blieb doch aller Ehren werth, es war die beſte That dieſer ſo ſeltſam ge-
miſchten Oppoſition, daß ſie das arge Neſt der politiſchen Verdächtigung
und Verfolgung auszunehmen verſuchte.
Graf Buol, der mit dem Präſidenten der Unterſuchungscommiſſion
geheimen Briefwechſel unterhielt, war um ſo peinlicher überraſcht, da ſogar
zwei in Mainz vertretene Höfe, Baden und Darmſtadt, mit der Mehr-
heit geſtimmt hatten. Um Schlimmeres zu verhüten gab er den Mainzer
Getreuen einen Wink, und am 30. Mai lag endlich der verlangte Rechen-
ſchaftsbericht nebſt zweiunddreißig Beilagen, Alles wohl verſiegelt, auf
dem Tiſche der Bundesverſammlung. In einem Begleitſchreiben erklärte
die Mainzer Commiſſion, über die noch ſchwebenden Unterſuchungen ent-
halte ſie ſich jeder Mittheilung, weil ſie eine vorzeitige Veröffentlichung
befürchte — ein boshafter Hieb auf Wangenheim, der ſchon mehrmals
unvorſichtig aus der Schule geplaudert hatte. Der Württemberger und
ſeine Genoſſen hofften nunmehr endlich das lichtſcheue Treiben genau
kennen zu lernen, aber die öſterreichiſche Gemüthlichkeit wußte ſich zu
helfen. Buol ſchlug vor, die verſiegelten Papiere zunächſt einem Aus-
ſchuſſe zu überweiſen, der aus den ſieben bereits in Mainz vertretenen
Staaten gebildet werden ſollte. So geſchah es, und Wangenheim nebſt
ſeinen Freunden erfuhr von den Mainzer Vorgängen nichts weiter als
was der Ausſchuß der ſieben Eingeweihten dem Bundestage mitzutheilen
für gut fand. An die Auflöſung der unheimlichen Behörde war vollends
noch gar nicht zu denken; denn ihr Rechenſchaftsbericht reichte nur bis
zum Jahre 1821; Jahre vergingen bis die Ergänzungen einliefen, und ſo
blieb den Mainzer Demagogenverfolgern noch eine lange Friſt fröhlichen
Wirkens geſichert. —
[300]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Auch außerhalb des Bundestags entfaltete der Württemberger eine
raſtloſe Betriebſamkeit. Die Frankfurter Conferenz der Staaten der
oberrheiniſchen Kirchenprovinz tagte noch immer von Zeit zu Zeit unter
ſeiner Leitung, und obwohl die Verhandlungen jetzt nur noch einen ſehr
unſchuldigen Gegenſtand, die Einrichtung einer kleinen Erzdiöceſe betrafen,
ſo hoffte Wangenheim doch zuverſichtlich, aus dieſen Conferenzen werde
ein neues aufgeklärtes nationales Kirchenrecht, zunächſt eine Generalſynode
für ganz Deutſchland hervorgehen. In überſchwänglichen Reden feierte
er die Erfolge dieſer rein deutſchen Höfe, die „das Epiſcopalſyſtem in
ſeiner ganzen Fülle und Würde hergeſtellt“ hätten. „So iſt eine Leuchte
aufgeſteckt worden, rief er entzückt, welche ſich durch die giftigen Dünſte,
die ſich hie und da geſpenſtiſch zu Schattenbildern aufthürmen, ſchwer-
lich verdunkeln laſſen wird.“
In Wahrheit hatten die oberrheiniſchen Staaten außer der Feſtſtel-
lung ihrer neuen Diöceſangrenzen bisher noch gar nichts erreicht, nicht
einmal eine bündige Vorſchrift über die Biſchofswahlen; und als ſie jetzt
verſuchten ihren künftigen Landesbiſchöfen eine ſtreng bureaukratiſche Kir-
chenpragmatik napoleoniſchen Stils aufzuerlegen, da begegneten ſie dem
entſchiedenen Widerſpruche des Vaticans. Auch die Candidaten, welche
ſie der Curie, nach Vorſchlägen ihrer Landesgeiſtlichkeit, für die erſte Be-
ſetzung der neuen Biſchofsſitze nannten, mißfielen dem Papſte durchweg.
Er antwortete durch eine Gegenliſte von vierzehn Namen — der junge
Räß, der Herausgeber des Mainzer Katholiken war auch mit darunter
— aber dieſe vierzehn heiligen Nothhelfer, wie man ſie in Karlsruhe
nannte, ſchienen wieder den Cabinetten unerträglich. In Baden hatten
alle Dekanate des Landes ihren Bisthumsverweſer Weſſenberg als den
Würdigſten für das erzbiſchöfliche Amt bezeichnet, die Regierung aber
fürchtete ſich vor ihm und verſuchte umſonſt ihn zu freiwilligem Verzicht
zu bewegen; Blittersdorff rieth ſogar ſeinem Gönner Berſtett, man möge
den unbequemen Mann in Wien als einen Ultraliberalen verdächtigen,
damit er nicht etwa in Rottenburg, wo er ebenfalls im Vorſchlage war,
zum Biſchof ernannt würde.*) Die Einrichtung der neuen Kirchenprovinz
gerieth einige Jahre lang ganz ins Stocken. Erſt lange nach Wangen-
heim’s Sturz kamen die Dinge wieder in Fluß, als Berſtett (1824), durch
Metternich unterſtützt, eine geheime Verhandlung in Rom begann. Da
endlich, nach langen und peinlichen Unterhandlungen, erließ der Papſt
am 11. April die Bulle Ad dominici gregis custodiam, zur Ergänzung
der Oberrheiniſchen Circumſcriptionsbulle. Sie wurde von den Regie-
rungen nur mit Vorbehalt veröffentlicht, weil ſie über die Prieſterſeminare
und die biſchöfliche Gerichtsbarkeit einige ganz unannehmbare Vorſchriften
enthielt. Doch mindeſtens die Frage der Biſchofswahlen kam jetzt zum
[301]Einrichtung der Oberrheiniſchen Kirchenprovinz.
Abſchluß: auch die oberrheiniſchen Domcapitel wurden, wie die preußiſchen,
vom Papſte angewieſen, nur Männer, welche dem Landesherrn genehm
ſeien, zu wählen.
Nunmehr verſtändigte man ſich leicht über die Perſonen der erſten
Biſchöfe; die verbündeten Regierungen gingen dabei von der Anſicht aus,
daß weichmüthige Naturen, die nach keiner Seite hin Anſtoß gäben, den
Vorzug verdienten. Der gefährliche Grundſatz genügte für den Augenblick,
ſpäterhin ſollte man freilich erfahren, daß in Zeiten des Kampfes grade
ſchwache Charaktere leicht aus Angſt zu pfäffiſchen Eiferern werden. Erſter
Erzbiſchof von Freiburg wurde Bernhard Boll, ein ſanfter, verſöhnlicher,
wohlwollender Kirchenfürſt. Sobald dieſe Ernennung entſchieden war (1827),
legte Weſſenberg das Verweſeramt nieder, das er zehn Jahre lang gegen
den Willen des Papſtes geführt, und nahm von ſeiner Heerde Abſchied in
einem ergreifend ſchönen, apoſtoliſch milden Schreiben: er mahnte ſie die
Zeichen der Zeit nicht zu verkennen und warnte vor der alten Sünde
der Menſchen, die, „nachdem das Licht in die Welt gekommen, dennoch die
Finſterniß mehr lieben als das Licht.“ Die Curie hatte ihn nur darum
ſo lange unbehelligt gelaſſen, weil ſie vorausſah, daß er bei der Neu-
ordnung ſeiner Diöceſe unfehlbar ſtürzen mußte. Er unterlag dem tragi-
ſchen Geſchick aller jener wohlmeinenden Halbdenker, welche nicht zu be-
greifen vermögen, daß evangeliſche Freiheit auf dem Boden der römiſchen
Kirche unmöglich iſt und nur der Ketzer den Papſt ſiegreich bekämpfen
kann. Unbeſchreiblich geliebt und verehrt hat er dann noch lange Jahre
daheim am Bodenſee und im Breisgau gelebt, ein Wohlthäter der Armen,
unermüdlich als Schriftſteller und Sammler, in der badiſchen Kammer
ein tapferer Vertreter des gemäßigten Liberalismus. Für die katholiſche
Kirche war er todt. Mit ihm ſchied der letzte Vertreter jenes alten Epiſko-
palſyſtems, das nur in dem feſten Erdreich des nationalen Staatslebens
Wurzeln ſchlagen kann, aber in dem lockeren Geröll des deutſchen Bun-
des keine Stätte fand.
Mittlerweile beriethen ſich die fünf Höfe von Neuem über die ge-
meinſame Wahrung ihrer Kirchenhoheitsrechte. Wie Napoleon ſeinem Con-
cordate die Organiſchen Artikel, Baiern dem ſeinigen das Religionsedikt
hatte folgen laſſen, ſo dachten ſie die beiden oberrheiniſchen Bullen durch
eine ſelbſtändige Kirchenpragmatik zu ergänzen. Nach langwierigen Ver-
handlungen, bei denen der badiſche Geiſtliche Rath Burg den allezeit dienſt-
willigen Vermittler ſpielte, wurde am 30. Januar 1830 die Verordnung
über das landesherrliche Schutz- und Aufſichtsrecht veröffentlicht. Sie ent-
ſprach im Weſentlichen den älteren Entwürfen, wahrte den Kronen das
Placet, unterwarf die Erziehung der Geiſtlichkeit ſtrenger Ueberwachung
und bekundete das polizeiliche Mißtrauen gegen die Kirche ſo unverhohlen,
daß der Papſt ſich ſogleich dawider verwahrte. Gleichwohl blieb das Ver-
hältniß zwiſchen Staat und Kirche in dieſen erſten Jahren noch faſt un-
[302]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
getrübt. Der blühende Zuſtand der theologiſchen Facultäten in Tübingen
und Freiburg bewies, wie aufrichtig dieſe kleinen Kronen, trotz ihrer bureau-
kratiſchen Aengſtlichkeit, das Wohl der Kirche förderten; ihre Beamten
verſtanden gleich den bairiſchen, beſſer als die Preußen, mit den Geiſt-
lichen zu leben, und im Clerus war das duldſame alte Geſchlecht noch
in der Mehrzahl. —
Ungleich wichtiger als dieſe kirchenpolitiſchen Sonderbundsverſuche
wurde die große Handelsconferenz der ſüddeutſchen und einiger mittel-
deutſchen Kleinſtaaten, welche, den Wiener Verabredungen gemäß, am
13. Sept. 1820 in Darmſtadt zuſammentrat. Auch hier war Wangen-
heim die Unruhe in der Uhr. Unermüdlich kam er von Frankfurt her-
übergeritten, immer zur Vermittlung bereit, gleich befreundet mit dem
Schutzzöllner Liſt und dem Freihändler Nebenius; denn aus dieſem Han-
delstage mußte unfehlbar der politiſche Bund des reinen Deutſchlands
hervorgehen. In der That blieben die Darmſtädter Verhandlungen nicht
ganz unfruchtbar, obgleich ſich Pläne und Gegenpläne noch raſtlos wie
die Blaſen im brodelnden Waſſerkeſſel über einander drängten. Sie dienten
als ein Läuterungsprozeß, der die unbrauchbaren, traumhaften Gedanken
aus der deutſchen Handelspolitik ausſchied. Sie boten den Theilnehmern
wie dem aufmerkſam zuſchauenden Berliner Hofe die Gelegenheit, die
wirthſchaftlichen Intereſſen der Bundesſtaaten kennen zu lernen, die Be-
dingungen eines Handelsvereins ernſtlich zu erwägen. Aber ſie lehrten
auch durch ihr wiederholtes Scheitern, daß ein Zollverein ohne Preußen
unmöglich war. Wie Wangenheim’s nationalkirchliche Träume mit der
Errichtung eines kleinen Erzbisthums endigten, ſo konnte auch von einem
binnenländiſchen Wirthſchaftsgebiete, dem die Küſte fehlte, niemals eine
lebensfähige nationale Handelspolitik ausgehen.
Kein Wunder freilich, daß die mißhandelte Nation den erſten Verſuch
zur Beſeitigung der Binnenmauthen mit Jubel aufnahm. Zahlreiche Dank-
adreſſen belohnten den hochherzigen Entſchluß der Höfe. Badiſche Land-
wirthe bezeugten ſchon im Voraus dem Miniſter Berſtett: durch die Darm-
ſtädter Conferenzen ſei „der Grund gelegt zu einem glorreichen, einem wahr-
haften Nationalinſtitute“. Sogar jener kluge E. W. Arnoldi in Gotha, der
zuerſt unter den deutſchen Geſchäftsmännern die nationale Bedeutung des
preußiſchen Zollgeſetzes erkannt hatte, ließ ſich jetzt durch die Zeitſtrömung
fortreißen und bat ſeinen Herzog um Anſchließung an die ſüddeutſchen Staa-
ten, weil Gotha den Wettbewerb der überlegenen preußiſchen Fabriken nicht
ertragen könne. Die Wünſche und Erwartungen des Publikums gingen
freilich hergebrachtermaßen nach allen Himmelsrichtungen auseinander.
Der badiſche Handelsſtand verlangte den unbedingten Freihandel: mehr
als 15 Kreuzer Zoll könne der Centner Colonialwaaren ſchlechterdings
nicht ertragen. Andere ergingen ſich in den üblichen Ausfällen gegen „jene
ſtolzen Ausländer“. In der bairiſchen Kammer beantragte der Abgeordnete
[303]Die Darmſtädter Zollconferenzen.
Köſter eine deutſche Nationaltracht aus deutſchen Stoffen; ſchon in der
Volksſchule müſſe den Kindern der patriotiſche Abſcheu vor ausländiſchen
Waaren eingeflößt werden. Die Mannheimer Kaufleute dagegen hofften
vornehmlich auf harte Zölle wider den Frankfurter Handel: der Verein
ſolle anderen Plätzen die Vortheile gewähren, welche die ſtolze Mainſtadt
ihren ungebührlich großen Capitalien verdanke; den Rheinpreußen müſſe
er jede Erleichterung verſagen, ſo lange nicht der preußiſche Staat dem
Vereine beitrete und der Mehrheit ſich unterwerfe.*)
Leider wurde die allgemeine Unklarheit nur vermehrt durch die Schriften
Liſt’s und ſeiner Genoſſen, die ſich allmählich ganz in die Irrthümer des
ſtarren Prohibitivſyſtems verloren. Miller von Immenſtadt forderte in
einer für die Darmſtädter Conferenzen beſtimmten Druckſchrift (Juli 1821):
Verbot aller auswärtigen Waaren, die wir ſelbſt erzeugen oder durch Sur-
rogate erſetzen können; mit der Schweiz und Piemont, mit Holland, Han-
nover, den Hanſeſtädten und Holſtein müſſe man ſich zu verbinden ſuchen;
der König von Dänemark werde als treuer deutſcher Bundesfürſt ſicherlich
geneigt ſein, die Schiffe des Vereins mit ſeinem Danebrog zu decken.
Das Alles im Namen deutſcher Ehre und mit dem unvermeidlichen pa-
triotiſchen Pathos! Den Regierungen wurden die zudringlichen Mahnungen
des Liſt’ſchen Vereins, der ſich auch in Darmſtadt wieder durch Send-
boten vertreten ließ, bald ſehr unbequem. Der badiſche Bevollmächtigte
Nebenius verbot ſeinem Secretär, mit Liſt zu verkehren, ſagte dem Agi-
tator ins Geſicht, ſeine Anweſenheit ſei überflüſſig, errege ſchlimme Ge-
rüchte. Liſt blieb ohne jeden Einfluß auf den Verlauf der Berathungen,
und Berſtett hielt für nöthig, ſeinem Gönner Metternich von vornherein
zu betheuern: nur das Gebot der Selbſterhaltung, „nicht die einſeitigen,
trügeriſchen, von einer kleinen Schaar eigenſüchtiger Fabrikanten ausge-
gangenen Declamationen“ hätten das Darmſtädter Unternehmen hervor-
gerufen.**)
Die Cabinette ſelbſt waren mit nichten einiger als die öffentliche
Meinung, denn die verbündeten Staaten bildeten nur ſcheinbar eine geo-
graphiſche Einheit. Sobald man den Geſchäften ernſthaft ins Auge ſah,
zeigte ſich die ſchändliche Lehre des „Manuſcripts aus Süddeutſchland“
alsbald in ihrer Hohlheit. Eine natürliche Gemeinſchaft ſüddeutſcher Volks-
wirthſchaft, dem Norden gegenüber, beſtand nicht. Vielmehr trat wieder
einmal jene eigenthümliche Stellung des Rheinlandes hervor, das ſo oft
ſchon in unſerer Geſchichte die heilſame Rolle des Vermittlers geſpielt
hat zwiſchen Nord und Süd. Die kleinen oberrheiniſchen Staaten waren
dem rheiniſchen Tieflande durch ſtärkere Intereſſen verbunden als den
[304]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
bairiſch-ſchwäbiſchen Landen. Nun gar Kurheſſen und Thüringen wurden
nur durch eine politiſche Schrulle, durch den Haß gegen Preußen, in dieſe
ſüddeutſche Genoſſenſchaft getrieben. Darum verhielt ſich der Caſſeler Hof
von vornherein unluſtig und ablehnend. Die thüringiſchen Staaten be-
gannen ſchon 1822 Sonderberathungen in Arnſtadt, doch nahmen ſie
gleichzeitig an den Darmſtädter Conferenzen Theil und beläſtigten das
Berliner Cabinet mit nichtsſagenden allgemeinen Anfragen — die baare
Rathloſigkeit des Nichtwollens und Nichtkönnens.
Und welch’ ein Gegenſatz der ſtaatswirthſchaftlichen Geſetze und An-
ſichten! In Baden verboten ſich hohe Zölle von ſelbſt, weil das geſammte
Land nur aus Grenzbezirken beſtand und die benachbarte Schweiz noch
kein geordnetes Mauthweſen beſaß. Die Regierung verſtand die günſtige
Handelslage des Staates geſchickt auszubeuten, ſie begnügte ſich mit ſehr
niedrigen Finanzzöllen, welche einen ſchwunghaften Durchfuhrhandel nach
Baden lockten und den Staatskaſſen reichen Ertrag brachten. Die Groß-
induſtrie konnte unter dieſem Syſteme freilich nicht Fuß faſſen; ſie galt
im Finanzminiſterium für überflüſſig. Auch das Volk vermißte ſie nicht,
da der Freihandel wohlfeile Fabrikwaaren vom Auslande brachte. Alle
deutſchen Nachbarn aber klagten laut; denn ein großartiger Schmuggel-
handel trieb von Baden her, namentlich auf dem Schwarzwalde, ſein
Unweſen, fand bei der Regierung unziemliche Nachſicht; manche häßliche
Skandalfälle, ſo der ungeheure Defraudationsprozeß der Firma Renner,
erinnerten an Köthenſche Zuſtände. In Darmſtadt herrſchte noch ein ver-
altetes phyſiokratiſches Syſtem, das keine Grenzzölle kannte und faſt den
geſammten Staatsaufwand aus direkten Steuern und dem Ertrage der
Domänen beſtritt; der Mainzer Handelsſtand, der die Douanen Napoleon’s
noch nicht vergeſſen konnte, beſchwor die Regierung, ſich vor dieſer Peſt zu
hüten. In Naſſau ging das herzogliche Domanium mit ſeinen herrlichen
Rebgärten und Mineralwaſſern jedem anderen wirthſchaftlichen Intereſſe
vor. Daher hielt Marſchall die Fabriken für ſtaatsgefährlich, Grenzzölle
zum mindeſten für bedenklich und führte ein Acciſeſyſtem ein, das er den
Nachbarn oft als ein finanzpolitiſches Meiſterwerk empfahl. Der mächtige
Beamtenſtand befand ſich wohl bei der unnatürlichen Wohlfeilheit des
Conſums auf dem engen Markte; nach den Producenten fragte Niemand.
Baiern dagegen beſaß bereits in Franken und Schwaben die erſten An-
fänge einer aufſtrebenden Großinduſtrie; die bairiſchen Zölle ſtanden im
Durchſchnitt etwas niedriger als die preußiſchen, brachten aber geringen
Ertrag wegen der unverhältnißmäßigen Koſten der Grenzbewachung. Der
württembergiſche Gewerbfleiß blieb hinter dem bairiſchen noch etwas zurück;
die Stuttgarter Handelspolitik ſtand daher in der Mitte zwiſchen dem Frei-
handel der Rheinuferſtaaten und den ſchutzzöllneriſchen Wünſchen der bairi-
ſchen Fabrikanten.
So abweichende Richtungen zu verſöhnen war unmöglich auf dem
[305]Die Parteien auf der Darmſtädter Conferenz.
engen Raume eines ſüddeutſchen Verbandes. Allein ein großes freies
Marktgebiet konnte die Staaten genugſam entſchädigen für die unvermeid-
lichen Opfer und Beläſtigungen, welche jeder Zollverein anfangs den Ge-
noſſen auferlegt; und dieſen einzig ausreichenden Erſatz gewann man nur
durch den Anſchluß an Preußen, der von ſämmtlichen Theilnehmern grund-
ſätzlich verworfen wurde. „Wir Alle — ſo geſtand du Thil ſpäterhin
ſelber — ſtrebten ja einzig darnach Front gegen Preußen zu machen.“*)
Selbſt die politiſche Eintracht der Verbündeten ſtand auf ſchwachen Füßen,
wie laut auch die Liberalen den natürlichen Bund der conſtitutionellen
Staaten prieſen. Die Triaspläne des Stuttgarter Hofes fanden im Grunde
nur bei Wangenheim und dem kleinen Kreiſe ſeiner Frankfurter Getreuen
lebhafte Unterſtützung; es war ein Unglück für die Conferenz, daß ihr
mehrere Bundesgeſandte als Bevollmächtigte angehörten und alſo auch noch
die Ränke und Klatſchereien der Eſchenheimer Gaſſe in das wüſte Durch-
einander der Berathungen hineinſpielten. Du Thil hingegen betrieb die
Verhandlungen, wie ſein greiſer Großherzog, mit nüchternem Geſchäfts-
verſtande und wollte von politiſchen Hintergedanken nichts hören. Mar-
ſchall und nach einigem Schwanken auch Berſtett blieben in dem politi-
ſchen Fahrwaſſer der Hofburg. Das Münchener Cabinet endlich zeigte keine
feſte Haltung. Während Aretin, der erſte Bevollmächtigte, in Darmſtadt
wie in Frankfurt vorſichtig den Spuren Wangenheim’s folgte und Lerchen-
feld, obgleich er die Triasträume ſeines ſchwäbiſchen Freundes nicht billigte,
doch den ſüddeutſchen Handelsverein ehrlich wünſchte, betrachtete Graf Rech-
berg die Darmſtädter Conferenz mit Mißtrauen, und der zweite Bevoll-
mächtigte Jörres, der ganz von Rechberg abhing, that unter der Hand
das Seinige um die Verhandlungen zu erſchweren. Mit zähem Eigenſinn
hielt jeder Hof ſeine Forderungen feſt, obſchon im Grunde noch keiner
eine durchgebildete handelspolitiſche Ueberzeugung beſaß;**) jede Nachgie-
bigkeit erſchien wie ein Verrath an der eigenen Souveränität. So fehlten
alle Vorbedingungen einer Verſtändigung.
Ein prunkendes Aushängeſchild für den Verein war raſch gefunden.
Die Handelspolitik der Verbündeten ſollte auf dem „ſtaatswirthſchaftlich-
finanziellen Principe“ ruhen — ein ſchönes Wort, dem leider jedes Cabinet
einen anderen Sinn unterlegte. Der tüchtigſte Staatswirth der Ver-
ſammlung, Nebenius, ward auf du Thil’s Vorſchlag beauftragt, einen
Entwurf für die Berathungen auszuarbeiten. Voll Zuverſicht ging er
ans Werk; er theilte die allgemeine Anſicht der ſüddeutſchen Bureau-
kratie, daß die Beſeitigung der Binnenmauthen den Partikularismus kräf-
tigen müſſe, und ſchrieb ſeinem Hofe hoffnungsvoll: durch unſeren Verein
„wird den Einheitspredigern das wichtigſte und ſchlagendſte Argument
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 20
[306]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
ſiegreich entriſſen“. Jedoch der Plan, den er am 27. Nov. vorlegte, ent-
ſprach allein dem badiſchen Intereſſe, war für alle anderen Staaten un-
annehmbar. Er ſchlug ein Syſtem ſehr niedriger Finanzzölle vor, für
den Centner Colonialwaaren 30 Kreuzer bis 2 Fl., für Fabrikwaaren 5
bis 15 Fl. — Sätze, welche Aretin viel zu gering fand. Der Streit blieb
unlösbar, da beide Theile ſich auf unwiderlegliche Gründe ſtützten. Ein
kleines Zollgebiet bedarf des Freihandels, weil es die Koſten ſcharfer
Grenzbewachung nicht tragen kann; doch ebenſo gewiß genügten die badi-
ſchen Zölle nicht, um die werdende bairiſche Induſtrie zu ſchützen.
Nebenius wollte ferner alle Zölle an den Grenzen erheben, keine
Packhöfe dulden, nur die Rheinhäfen außerhalb der Mauthlinie liegen
laſſen. Dahinter verbarg ſich die Hoffnung der Karlsruher Bureau-
kratie, Kehl und Mannheim zu Hauptſtapelplätzen des Vereins zu erheben.
Mit Recht erhob Baiern lebhaften Widerſpruch: nur bei ganz niedrigen
Zöllen ſeien Lagerhäuſer entbehrlich; auch ſolle man die Hoffnung auf
Frankfurts Beitritt feſthalten und nicht den natürlichen Mittelpunkt des
oberrheiniſchen Speditionshandels zu Gunſten kleinerer Plätze benachthei-
ligen. In demſelben Geiſte badiſcher Engherzigkeit war der weitere An-
trag, daß den Grenzſtaaten geſtattet werde, von allen Waaren, welche der
Verein zollfrei einlaſſe, Zölle für ihre eigne Rechnung zu erheben. Sofort
widerſprachen alle rückwärts liegenden Staaten. Auch bei der Vertheilung
der gemeinſamen Zolleinnahmen vergaß Nebenius den Vortheil Badens
nicht, das allerdings unter allen Bundesgenoſſen die reichſten Zolleinkünfte
beſaß. Er verlangte als Maßſtab: die Kopfzahl und die Länge der Gren-
zen, welche jeder Staat zu bewachen habe. Ebenſo dreiſt beſtand Baiern
auf ſeinem Intereſſe: man müſſe einen Durchſchnitt ſuchen aus der Kopf-
zahl und dem Umfange des Gebiets — weil Baiern dünner bevölkert
war als die Nachbarlande.
Die geſetzgebende Gewalt wollte Nebenius einer Conferenz von Be-
vollmächtigten anvertrauen, die alljährlich zuſammenzutreten und mit ein-
facher Mehrheit zu beſchließen hätte. Der Münchener Hof aber war nicht
geneigt ſich den kleinen Mitverbündeten alſo zu unterwerfen; Aretin trug
das Selbſtgefühl der Macht rückſichtslos zur Schau und forderte für jede
halbe Million eine Stimme — das wollte ſagen: die Stimmenmehrheit
für Baiern allein — was wieder von du Thil und den anderen Kleinen
als „ein allzu naiver Verſuch“ zurückgewieſen wurde. Die Zollverwaltung
endlich ſollte von einem gemeinſamen Beamtenthum geführt, durch eine per-
manente Commiſſion beaufſichtigt werden. Seltſamerweiſe erregte dieſe
Centralverwaltung zunächſt geringen Anſtoß. Die ſchwäbiſche Bureaukratie
ſprach ſogar lebhaft dafür. Dem allmächtigen Stande der württember-
giſchen Schreiber blieb der Verein unheimlich, der ſo viele Schreiberſtellen
aufzuheben drohte. Indeß wenn ſich das Unheil nicht abwenden ließ, ſo
erſchien die Centralverwaltung als das geringere Uebel; ſie mußte doch
[307]Zollkrieg mit Frankreich.
aus jedem Staate eine zahlreiche Beamtenſchaar anſtellen. Behielten da-
gegen die Staaten ihre ſelbſtändige Zollverwaltung, ſo hatte Württem-
berg nur zwei Grenzmeilen am Bodenſee zu überwachen, und die ganze
Herrlichkeit der königlichen Mauthverwaltung brach zuſammen!
Die Verhandlung über jene Streitfragen ward bald gereizt und ge-
häſſig. Nebenius ſprach in ſeinen Berichten mit ſehr ungerechter Bitter-
keit über die Gegner, die doch vielfach wohlbegründeten Einſpruch erhoben.
Zudem vertrat noch jeder Staat ſeine eigenthümlichen Wünſche. Reuß
und Weimar wollten das Geleitsgeld für ihre imaginären Harniſchreiter
nicht ohne Entſchädigung aufgeben. Der Kurfürſt von Heſſen weigerte
ſich, ſeine Tranſitzölle dem Vereine zu überlaſſen, forderte zum mindeſten
ein Präcipuum für den ſtarken Conſum franzöſiſcher Weine, worauf man
mit der kecken Lüge antwortete, im Oberlande werde davon mehr ge-
trunken als in Kurheſſen. Baden wollte nicht beitreten, wenn nicht ſo-
gleich ein Handelsvertrag mit der Schweiz geſchloſſen würde. Derweil
alſo die Meinungen ziellos durch einander wogten, hofften mehrere der
Cabinette, einmal ſelbſt der bairiſche Hof, auf Preußens Zutritt! Wie-
derholt beſprach man in Darmſtadt die Aufnahme der preußiſchen Rhein-
lande; dem kreißenden Berge dieſes Sonderbunds zu Lieb’ ſollte Preußen
die ſchwer erkämpfte handelspolitiſche Einheit ſeines Gebiets wieder zer-
reißen! Es war derſelbe unverbeſſerliche Dynaſtendünkel, der die Staaten
der oberrheiniſchen Kirchenprovinz verführt hatte, Preußen zur nachträg-
lichen Annahme ihres Concordat-Entwurfs aufzufordern.
Nachdem man ſechs Monate lang auf die bairiſchen Inſtructionen
gewartet, erklärte endlich (Juli 1821) der bairiſche Bevollmächtigte, ſein
Hof verlange, daß das beſtehende bairiſche Zollgeſetz dem Vereine zur
Grundlage diene. So begann der troſtloſe Streit von Neuem. Darauf,
nach anderthalb Jahren, bot ſich eine Gelegenheit, die Lebenskraft des
Vereines zu erproben. Frankreich erließ am 23. April 1822 ein neues
Douanengeſetz, das die Intereſſen der oberdeutſchen Staaten offenbar feind-
ſelig verletzte, die wichtigſten Gegenſtände der Einfuhr aus Süddeutſch-
land, Schlachtvieh und Wolle mit unerſchwinglichen Zöllen belegte. Der
Schlag traf faſt alle ſüddeutſchen Lande gleichmäßig; ſollte nicht mindeſtens
gegen dieſen Angriff gemeinſame Abwehr möglich ſein? Man verhandelte
und verhandelte. Baden verbot (17. Mai) die Weineinfuhr auf ſeiner
Weſtgrenze; Württemberg ſchloß ſich dieſen Retorſionen an; mit Baiern
war keine Verſtändigung zu erzielen. In ſeiner Noth wendete ſich Berſtett
an Metternich, bat die Hofburg um ihre guten Dienſte in den Tuilerien.
Nach faſt zwei Monaten (12. Auguſt) erwiderte der Oeſterreicher: „es iſt
kaum zu erwähnen nöthig, wie ſehr bereit wir ſind“, den deutſchen Bundes-
ſtaaten jede Gefälligkeit zu erweiſen; aber das franzöſiſche Geſetz iſt das
Ergebniß der nationalen Meinung und eines „national-ökonomiſchen Sy-
ſtems, das faktiſch das Lieblingsſyſtem unſerer Zeit geworden iſt.“ Das
20*
[308]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
war die Hilfe, welche Deutſchlands Volkswirthſchaft von Oeſterreich zu
erwarten hatte!*) Zuletzt riefen die unſicheren, vereinzelten Retorſionen
der ſüddeutſchen Höfe nur einen neuen gehäſſigen Zank zwiſchen Baiern
und Baden hervor; denn da die bairiſche Pfalz keine Mauthen beſaß,
ſo mußte Baden, um die franzöſiſchen Weine wirkſam zu treffen, auch die
Weineinfuhr vom bairiſchen Ueberrhein verbieten, was wieder bairiſche
Klagen veranlaßte — und ſo weiter ins Unendliche.
Gegen den Herbſt 1822 ſchienen die Verhandlungen wieder vorwärts
zu rücken. Baiern, ermuthigt durch einen drängenden Beſchluß ſeines
Landtags, legte ſich kräftig ins Zeug; der raſtloſe Wangenheim brachte
einen Vermittlungsantrag ein, zu Gunſten der bairiſchen Vorſchläge. Aber
noch immer ward man nicht Handels einig, man zerrte herüber und hin-
über. Da verlor die darmſtädtiſche Regierung die Geduld; ſie hatte ihrem
Landtage baldige Regelung des Zollweſens verſprochen und erklärte jetzt
(Februar 1823): wenn man nicht endlich ſich vergleiche, ſo werde Darm-
ſtadt für ſein eignes Haus ſorgen.
Die preußiſche Regierung ſah dieſen wohlgemeinten aber ausſichts-
loſen Verhandlungen gelaſſen zu, da ſie ſich mit jedem Jahre mehr von
der Lebenskraft ihres eigenen Zollgeſetzes überzeugte, und ließ ſich in ihrer
kühlen Geringſchätzung nicht ſtören, als die landesüblichen Kraftreden wider
Preußens Zollſyſtem auch auf der Darmſtädter Conferenz erklangen. Eine
Denkſchrift des Auswärtigen Amts bemerkte darüber ſpäterhin trocken:
„Man wählte in Darmſtadt Preußen zum Stichblatt, weil man dadurch
die öffentliche Meinung gewann und ſeine eigenen Pläne leichter durch-
ſetzen konnte.“**) Metternich hingegen, der den Darmſtädter Plänen keinen
fruchtbaren Gedanken entgegenzuſtellen wußte, ward der Sorgen nicht
ledig. Schon vor Eröffnung der Conferenzen ermahnte er Berſtett, min-
deſtens den Einfluß der Subalternen und der Landſtände fern zu halten.
Zugleich mußte Marſchall gegen den Karlsruher Hof den Verdacht äußern,
ob vielleicht Nebenius ſelber zu den verkappten Demagogen gehöre. Der
badiſche Miniſter verſuchte ſeinen Gönner zu beſchwichtigen und gab an Nebe-
nius gemeſſene Weiſung, ſich vor allen politiſchen Nebengedanken zu hüten:
„Auch aus dem Einfachſten wird Gift geſogen. Rückſichten, die mehr ge-
fühlt als bezeichnet werden können, verbieten, den Landtagen irgend welche
Einwirkung zu geſtatten.“ Gleichwohl blieb Metternich argwöhniſch, und
ſein Marſchall geſtand ihm wehmüthig: da der Kaufmann mit ſeinem be-
weglichen Capitale leider nicht einem, ſondern allen deutſchen Staaten
angehöre, ſo könne die Handelsſache von den Revolutionären allerdings
leicht für ihre Einheitsträume ausgebeutet werden.***) Selbſt der unver-
[309]Die Stuttgarter Preſſe.
kennbare Mißerfolg der Conferenzen beruhigte die Leiter der deutſchen
hohen Polizei nicht: dieſer Verſchwörer Wangenheim war überall, ſelbſt
das badiſche Land ſollte er zu Pferde durchſtreift haben um ſich mit den
liberalen Abgeordneten zu beſprechen. —
Ueberdies war Stuttgart ſeit einigen Jahren der Mittelpunkt der
liberalen Preſſe Deutſchlands, obgleich die Cenſur keineswegs ſehr nach-
ſichtig verfuhr. Dort ließ der Kurheſſe Friedrich Murhard, vor Zeiten
Herausgeber des königlich weſtphäliſchen Moniteurs, eine Fortſetzung von
Poſſelt’s Annalen erſcheinen, eine Zeitſchrift, die neben den phraſenhaften
Ergüſſen des Herausgebers ſelber manchen gediegeneren Aufſatz von Wan-
genheim, Rotteck und anderen liberalen Parteiführern brachte. Friedrich
Murhard lebte ſammt ſeinem Bruder, dem Nationalökonomen Karl in
Frankfurt, verkehrte viel mit Klüber und den Genoſſen der Bundestags-
oppoſition. So kam es, daß jeder Artikel der Annalen verdächtigt wurde
und ein unbedeutender Aufſatz des Stuttgarter Hofpubliciſten Lindner
über „die Diplomaten“, der im Grunde nur einige nichtsſagende Stiche-
leien gegen den Adelshochmuth und das leere Salongeſchwätz der Durch-
ſchnittsdiplomatie enthielt, peinliches Aufſehen erregte. Graf Buol und
die öſterreichiſche Partei ſahen darin eine boshafte Verhöhnung des Bun-
destags. Um dem gefährlichen Blatte die Wage zu halten gründete Pfeil-
ſchifter in Frankfurt, wahrſcheinlich mit öſterreichiſchem Gelde, eine ſtreit-
bare hochconſervative Zeitſchrift „der Staatsmann“. Der Reſtaurator
Haller ſelbſt beehrte ſie mit Beiträgen, aber ſie fand wenig Anklang,
weil ihr Legitimismus am letzten Ende auf die Verherrlichung der römi-
ſchen Kirche und der Geſellſchaft Jeſu hinauslief. Von den anderen Stutt-
garter Blättern erfreute ſich die Neckarzeitung ſchon längſt der beſonderen
Ungnade der Hofburg, und ihr Ruf verſchlimmerte ſich noch, ſeit Wan-
genheim ſie mit ſehr indiskreten Berichten aus der Eſchenheimer Gaſſe ver-
ſorgte.*) Noch weit verdächtiger erſchien Lieſching’s Deutſcher Beobachter,
ein entſchieden radikales Blatt, das übrigens kaum dreihundert Abonnenten
zählte und ſeine revolutionären Drohungen ſo geſchickt hinter unbeſtimmten
Redewendungen zu verſtecken wußte, daß die Cenſur ihm nichts anhaben
konnte. Was ließ ſich auch dawider thun, wenn der Beobachter den
Preßzwang, ganz im Allgemeinen, ohne Nennung der Karlsbader Be-
ſchlüſſe, als „das geiſtige Fauſtrecht“ des neuen Jahrhunderts brandmarkte
oder wenn er über den Aufſtand der Griechen ſagte: „der Todtenacker reift
ſchon zu einem Auferſtehungsfeſte; Ihr habt den Frieden der Völker zer-
ſtört, wie wollt Ihr den Frieden der Throne befeſtigen“ —?
Kampf gegen die Politik der Congreſſe — oder gegen die Heilige
Allianz, wie der Modeausdruck lautete — war der leitende Gedanke der
Stuttgarter Preſſe. Metternich in ſeiner Seelenangſt ließ ſich’s nicht aus-
[310]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
reden, daß Lindner und ſein Freund Le Bret mit Trott und dem alten
Bonapartiſten Malchus ein Württembergiſches Comité directeur bildeten,
das wieder mit den Brüdern Murhard und mit Lafayette’s franzöſiſcher
Venta zuſammenhänge. In der That ſtand dieſer neue Liberalismus in
ſcharfem Gegenſatz zu der teutoniſchen Begeiſterung der alten Burſchen-
ſchaft; er konnte ſeinen rheinbündiſchen Urſprung nicht verleugnen und
ſchwelgte in franzöſiſchen Ideen. Es war der Fluch unſerer verſchrobenen
politiſchen Verhältniſſe, daß in dieſem urgermaniſchen Schwabenlande der
Napoleonscultus verſchollener Tage wieder manche Anhänger fand. Lindner
und Le Bret bekannten ſich offen als Bonapartiſten und errichteten in
ihrem Garten dem Imperator ein Denkmal mit der Inſchrift: Au grand
homme. L’Europe le déplore, l’Asie l’adore, l’Afrique le regrette.
So ſtark war dieſe Zeitſtrömung, daß ſogar der ganz unpolitiſche liebens-
würdige Dichter Wilhelm Hauff ſich ihr nicht entziehen konnte; ſeine an-
muthige Novelle „das Bild des Kaiſers“, die in jenen Tagen entſtand,
trieb die Verehrung des Imperators bis zum Götzendienſte und behandelte
die preußiſchen Sieger mit ſpöttiſcher Verachtung.
Unterdeſſen war auf das Manuſcript aus Süddeutſchland ſchon ein
zweites ebenſo geheimnißvolles Stuttgarter Manifeſt gefolgt: ein diplo-
matiſcher Bericht „über die gegenwärtige Lage von Europa“ (1822), an-
geblich herausgegeben von Kollmanner, unverkennbar wieder ein Werk
Lindner’s. Die Schrift bekämpfte in der alten Weiſe das „Stabilitäts-
ſyſtem“ der großen Mächte, aber ſie gab auch „dem Repräſentativſyſtem,
unter deſſen Schutze die Redekünſtler nach Brod gehen“ förmlich den
Laufpaß und fertigte „die zahmen, faſt ſeelenloſen Stände“ Württembergs,
die Unfruchtbarkeit der übrigen ſüddeutſchen Landtage mit der äußerſten
Geringſchätzung ab. Nachdem alſo die beiden entgegengeſetzten Syſteme
ſich vernutzt hätten — ſo fuhr der Bericht fort — müſſe das Naturgeſetz
wieder in Kraft treten, „welches den höheren Genius zum Regenerator
der Geſellſchaft beruft. Männer werden wieder auf dem Schauplatz auf-
treten und verſtanden werden;“ ſie werden die Bundespolitik mit einem
neuen Geiſte erfüllen, die Mindermächtigen zum Gefühle ihrer Kraft er-
heben — und was der orakelhaften Andeutungen mehr war. Bignon, der
ſchreibſelige Anwalt der Rheinbundsfürſten beeilte ſich, in einem Buche
„die Kabinette und die Völker“ die Welt auf die unermeßliche Bedeutung
dieſes Stuttgarter Manifeſtes aufmerkſam zu machen.
Daß König Wilhelm von der neuen Schrift ſeines literariſchen Ver-
trauten nichts gewußt haben ſollte, ließ ſich ſchwer glauben; unzweifelhaft
aber war jeder Satz des Berichtes, der nach ſeiner ganzen Faſſung dem
großen Publikum völlig unverſtändlich bleiben mußte, auf die perſönlichen
Leidenſchaften des ehrgeizigen Fürſten berechnet. Die diplomatiſche Welt
ſollte vorbereitet werden auf irgend eine rettende That des Stuttgarter
Hofes. Worin dieſe Großthat eigentlich beſtehen würde — das wußten freilich
[311]Kollmanners Bericht.
die dilettirenden Pläneſchmiede der Triaspolitik ſelber nicht zu ſagen. Mit
vernichtendem Hohne fiel Gentz ſofort über das wunderliche Machwerk her
und ſchilderte in einer Denkſchrift, welche Metternich an alle öſterreichi-
ſchen Geſandtſchaften verſenden ließ, das hinterhaltige Treiben des Stutt-
garter Hofes ſo deutlich, daß Jedermann die einzelnen Perſonen mit
Händen greifen konnte: unmöglich, ſo ſchrieb er, ſei dieſer Bericht im Kopfe
eines einzelnen Schriftſtellers entſtanden, vielmehr habe hier offenbar ein
unbeſcheidener Vertrauter die unreifen Anſchläge einer Partei ausgeplau-
dert, welche mit Hilfe „eines raſtloſen abenteuerlichen Rathgebers“ (Wan-
genheim) den Deutſchen Bund, „den Mittelpunkt des Lebens und der
Kraft des europäiſchen Bundes“ zerſtören und einem gewiſſen Fürſten die
Rolle „des deutſchen Bonaparte“ auferlegen wolle. Den deutſchen Bo-
naparte aber überfiel alsbald die Angſt, und er ließ, um ſeine Unſchuld
darzuthun, die Gentziſche Denkſchrift in der Stuttgarter Hofzeitung ab-
drucken. —
Alſo hatte ſich der Stuttgarter Hof mit Preußen und Oeſterreich
völlig überworfen. Vergeblich ſtellte Wintzingerode ſeinem Könige vor, wie
zwecklos dieſer kleine Krieg gegen die Uebermacht ſei: ohne das Wohl-
wollen der großen Mächte könne ein Staat wie Württemberg doch nicht
beſtehen, darum müſſe man ſich mindeſtens von Lindner’s literariſchen
Umtrieben entſchieden losſagen. König Wilhelm erwiderte ſtolz: „Mein
Charakter und die Verhältniſſe meines Landes erlauben mir nicht den
chien couchant zu ſpielen. Ich habe ihn nicht gegen Napoleon in einer
weit gefährlicheren Zeit geſpielt und will nicht jetzt, wo ich einen begrün-
deten Ruf habe, damit anfangen, einem Menſchen gegenüber, den ich ſo
gründlich verachte wie Metternich. Stark durch mein Gewiſſen, durch die
Liebe meiner Unterthanen, durch die öffentliche Achtung Deutſchlands er-
warte ich feſten Fußes die geſchloſſenen Reihen des Machiavellismus des
ſchwachen Metternich. Dies mein letztes Wort.“ Immer wieder hatte der
vorſichtige Miniſter über den herausfordernden Trotz ſeines königlichen
Herrn zu ſeufzen, der ſich’s nicht nehmen ließ die großen Höfe durch kleine
Bosheiten zu ärgern und ſogar „den württembergiſchen Riego“, Oberſt
Baugold, einen der Urheber der demagogiſchen Ulmer Offiziersadreſſe, zu
ſeinem Flügeladjutanten ernannte.*) Immer wieder brachte ihn der Ueber-
muth des burſchikoſen Bundesgeſandten in Verlegenheit. Als Wangen-
heim in dem elenden Köthenſchen Streite gar zu gröblich gegen Preußen
geeifert hatte, ließ Wintzingerode durch den Geſandten in Berlin heilig
betheuern, daß ſein Hof, frei von Hintergedanken, lediglich die ehrliche
Entwicklung des Bundesſyſtems erſtrebe.**)
[312]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Inzwiſchen fühlte Wangenheim ſchon wie der Boden unter ſeinen
Füßen ſchwankte. Er erfuhr, daß General Langenau eine Denkſchrift über
den Bundestag nach Wien geſendet hatte, welche von der Partei des
Württembergers ein wenig ſchmeichelhaftes Bild entwarf.*) Sofort ant-
wortete er dem mächtigen Gegner mit boshafter Verhöhnung, indem er
ſelber eine falſche „Langenau’ſche Denkſchrift“ verfertigte, die unter der
Hand am Bundestage verbreitet, nachher auch den Weg in die Preſſe
fand und, obwohl ſie den Stempel der Erfindung unverkennbar an der
Stirn trug, doch zwei Jahrzehnte hindurch in der liberalen Welt als ein
Probſtück öſterreichiſcher Tücke galt. Der württembergiſche Schalk legte hier
dem k. k. General den Plan der Epuration des Bundestags in den Mund,
denn währe die Oppoſition in Frankfurt noch länger, dann würden „die
Völklein endlich an die Möglichkeit glauben, daß ſie ein Volk werden
könnten.“ Wenn man auch nur die Abberufung eines einzigen der auf-
ſäſſigen Bundesgeſandten erzwänge, ſo würden die anderen, „um ſich in
ihren einträglichen und zugleich ruhigen Poſten zu befeſtigen, ſelbſt dazu
mitwirken, ihre Höfe den öſterreichiſchen, alſo auch den preußiſchen An-
und Abſichten aus treuer Anhänglichkeit an das alte Kaiſerhaus entgegen-
zuführen“. So ſicher ſah der wunderliche Hitzkopf ſeinen Sturz voraus,
und doch konnte er es nicht laſſen, recht eigentlich den Teufel an die
Wand zu malen.
Alle Rückſichten der Klugheit geboten dem Könige, der Rachſucht des
Wiener Hofes jetzt keine Blöße mehr zu geben. Seit der Mittenwalder
Zuſammenkunft mußte er wiſſen, wie wenig er auf die Hilfe ſeines ruſſi-
ſchen Schwagers zählen konnte. Er aber ward durch dieſen Mißerfolg
nur in ſeinem Uebermuthe beſtärkt: Europa ſollte wiſſen, daß Württem-
berg auch allein ſtark genug ſei den Kampf gegen die großen Mächte auf-
zunehmen. Während die anderen kleinen Höfe alleſammt das Veroneſer
Rundſchreiben der drei Oſtmächte mit der gewohnten Unterthänigkeit auf-
nahmen, befahl König Wilhelm ſeinem Miniſter eine feierliche Verwah-
rung dawider einzulegen. Umſonſt hielt ihm Wintzingerode die offenbare
Unklugheit eines ſolchen Unterfangens vor. Wohl mußte die Veroneſer
Erklärung durch ihren diktatoriſchen Ton das Selbſtgefühl der kleinen
Staaten kränken, aber eine Rechtsverletzung enthielt ſie nicht, am wenigſten
ein Unrecht gegen Württemberg. Denn die deutſchen Angelegenheiten
waren in Verona, allerdings gegen Metternich’s urſprüngliche Abſicht, gar
nicht zur Sprache gekommen, und zur Verſtändigung über die Bundes-
politik hatten Oeſterreich und Preußen ſoeben die größeren deutſchen Re-
gierungen, auch die Württembergiſche, freundnachbarlich nach Wien ein-
geladen; ihre Schuld war es doch nicht, daß der Stuttgarter Hof die
[313]Württemberg gegen das Veroneſer Rundſchreiben.
Ladung ſehr unhöflich ablehnte. Wenn König Wilhelm in einem Augen-
blicke da kein Intereſſe ſeines Ländchens unmittelbar gefährdet war, den
großen Mächten den Handſchuh hinwarf, ſo trieb ihn lediglich die ge-
reizte Eitelkeit und jener den Mittelſtaaten eigenthümliche zweckloſe Tha-
tendrang, der immer von Neuem zeigen mußte, daß die Kleinen auch noch
auf der Welt ſeien.
Wintzingerode gab, wie gewöhnlich, kopfſchüttelnd dem Willen ſeines
Gebieters nach und ſendete am 2. Januar 1823 an die württembergi-
ſchen Geſandtſchaften ein Rundſchreiben, das lebhaft an die Fabel vom
Adler und vom Zaunkönig erinnerte. Geſchützt durch ſeine Winzigkeit
meinte der kleine Vogel die Könige der Lüfte durch ſchmähendes Gezwit-
ſcher ungeſtraft beleidigen zu dürfen. Alle die Vorwürfe, welche der Stutt-
garter Hof einſt in ironiſcher Umſchreibung gegen den Troppauer Con-
greß gerichtet hatte*), wiederholte er jetzt in der Form einer offenen An-
klage. Dieſer König von Napoleon’s Gnaden nannte die Mächte, welche
den Imperator geſtürzt hatten, kurzweg „Erben des Einfluſſes, den Napo-
leon ſich in Europa angemaßt“, was um ſo ſchwerer kränken mußte, da
der Vorwurf ein Körnlein Wahrheit enthielt. Dann fuhr die Depeſche
fort: „Verträge abgeſchloſſen, Congreſſe zuſammenberufen im Intereſſe der
europäiſchen Völkerfamilie, ohne daß es den Staaten des zweiten Ranges
geſtattet iſt ihre Anſichten geltend zu machen, ihre beſonderen Intereſſen
zu wahren; die Formen ſelbſt, unter welchen man ſie zu den Verträgen
zuläßt und ihnen die Beſchlüſſe der überwiegenden Mächte zu erkennen
giebt; die Erwartung der Großmächte, daß ſie bei keinem ihrer Verbün-
deten einer Meinungsverſchiedenheit begegnen würden — dieſe verſchie-
denen Neuerungen in der Diplomatie rechtfertigen wenigſtens einen aus-
drücklichen Vorbehalt zu Gunſten der Rechte, welche jedem unabhängigen
Staate unveräußerlich zuſtehen.“ Zum Schluß beſchwerte ſich Wintzinge-
rode über die Ausſchließung Württembergs vom Congreſſe und namentlich
über die Ausſchließung des Deutſchen Bundes, der doch nur zu den
Mächten erſten Ranges gezählt werden und als Ganzes ſeinen Theilen,
den beiden deutſchen Großmächten, nimmermehr nachgeſtellt werden dürfe!
Ungeſchickter konnte der Kampf gegen die Vormundſchaft der Pentarchie
nicht eingeleitet werden; denn was hatte Württemberg mit den Angelegen-
heiten Spaniens, Italiens, Griechenlands, die in Verona allein behan-
delt worden waren, gemein? Und welch’ ein phantaſtiſcher Machtdünkel
mußte die ſtaatsmänniſchen Köpfe der Triaspolitik verblenden, wenn ſie
nicht begriffen, daß Oeſterreich und Preußen nicht bloß Theile des Deut-
ſchen Bundes waren und der Bund ohne ſie, Dank ſeiner muſterhaften
Kriegsverfaſſung, unzweifelhaft höchſtens zu den Mächten zweiten Ranges
gehörte!
[314]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Da die Depeſche der öffentlichen Erklärung der Oſtmächte eine förm-
liche Rechtsverwahrung entgegenſtellte, ſo mußte ſie auch ſelbſt veröffentlicht
oder mindeſtens den großen Höfen mitgetheilt werden. Der Geſchäfts-
träger in Berlin, Wagner hielt dies auch für ſelbſtverſtändlich und las
das ſonderbare Schriftſtück dem Stellvertreter Bernſtorff’s, Ancillon in
aller Unſchuld vor. Wie groß war ſein Schrecken, als der ſanftmüthige
preußiſche Staatsmann in hellem Zorne auffuhr und ſich eine ſolche
Sprache ernſtlich verbat. Der Stuttgarter Hof allerdings, rief er dem
Württemberger zu, verdanke ſeine Krone der Gunſt Napoleon’s; die großen
Mächte aber hätten ihre Macht nicht von Napoleon geerbt, ſondern ſie
verwendet um den Cäſar zu bekämpfen. Sofort wurden Oeſterreich und
Rußland eingeladen, mit Preußen gemeinſam Genugthuung zu fordern
und „einen großen Schlag“ gegen das Haupt der deutſchen Oppoſition
zu führen.*)
So ſchroff ſtanden die Parteien einander gegenüber, als Metternich
um Mitte Januar die neue Wiener Conferenz um ſich verſammelte: nur
Bernſtorff, Zentner, Blittersdorff, Pleſſen und wenige andere Vertraute.
Selbſt Marſchall hatte keine Einladung erhalten, und der Herzog von
Naſſau klagte nachher bitterlich: was denn die gutgeſinnten unter den deut-
ſchen Fürſten nunmehr zu thun hätten, da ſie von den Wiener Beſpre-
chungen nichts wüßten?**) In dieſer geſchloſſenen Geſellſchaft glaubte Met-
ternich mit ſeinen Herzenswünſchen offener hervortreten zu können als
in der großen Miniſterconferenz vor drei Jahren. Er hatte durch Gentz
eine große Denkſchrift über den Schutz der Ruhe und Ordnung ausarbeiten
laſſen, die mit der herkömmlichen haarſträubenden Schilderung der deut-
ſchen Zuſtände begann: ſelbſt das Schattenbild einer monarchiſchen Regie-
rungsform, hieß es da, werde in Kurzem in den Händen der ſüddeutſchen
Regierungen zerfließen. Darauf folgten Vorſchläge gegen den Bundestag,
den man von allen feindſeligen Elementen ſäubern und fortan nur vier
Monate im Jahre tagen laſſen wollte. Auch die Veröffentlichung der Proto-
kolle ſollte unterbleiben, da ſie bisher nur die Eitelkeit einzelner Geſandten
aufgeſtachelt oder durch „die unvermeidliche Geringfügigkeit des Stoffs zu
unnützen Spöttereien Anlaß gegeben“ habe. Der Schwerpunkt der k. k. An-
träge lag in dem zweiten Abſchnitt über die Landesverfaſſungen: der Bun-
destag ſollte fortan die Bundesgeſetze „ſo auslegen, wie es das höchſte der
Staatsgeſetze, die Erhaltung des Ganzen und ſeiner Glieder verlange“, und
demnach befugt ſein, auf Antrag einzelner Regierungen deren Landesver-
faſſungen abzuändern, vornehmlich aber die Oeffentlichkeit der Landtags-
verhandlungen zu beſchränken, damit nicht „den noch an Zucht und Ord-
[315]Neue Wiener Conferenzen.
nung gewöhnten Bewohnern anderer Bundesſtaaten tagtäglich die empö-
rendſten Maximen ungeſtraft gepredigt würden.“
So der neue Staatsſtreichsplan Metternich’s, die natürliche Folge
der wiederholten Angſtrufe aus Baiern und Baden. Auch hier in Wien
noch bot Blittersdorff Alles auf, um eine Auslegung der Schluß-Akte im
Sinne des Abſolutismus, den er Ordnung nannte, zu Stande zu brin-
gen; denn daheim in Karlsruhe hatten die Miniſter ſoeben wieder einen
ſchweren parlamentariſchen Kampf zu beſtehen. Der Führer der badi-
ſchen Oppoſition, Liebenſtein, war inzwiſchen in den Dienſt des Miniſte-
riums eingetreten. Er und Ludwig Winter bewährten als Commiſſäre
der Regierung jene jugendliche, naturwüchſige Beredſamkeit, welche die
Oberdeutſchen immer vor den glätteren und kälteren Rednern des Nordens
ausgezeichnet hat; Liebenſtein begeiſterte durch ſein ſchwungvolles Pathos,
Winter gewann durch kernigen Mutterwitz und volksthümliche Derbheit.
Im liberalen Lager tauchte ein neues Talent auf: Adam v. Itzſtein aus
Mainz, ein feuriger und ſchlagfertiger Redner, weder durch ſtaatsmänni-
ſchen Blick noch durch überlegene Sachkenntniß ausgezeichnet, aber rührig
und gewandt. Er wußte ſeine Leute, die jungen vornehmlich, zuſammen-
zuſchaaren und bei guter Stimmung zu halten; durch ſeine gewinnende
Liebenswürdigkeit wurde er bald der Vermittler zwiſchen den Oppoſitions-
parteien der ſüddeutſchen Landtage. Auf ſeinem Landgute Hallgarten im
Rheingau, dicht unter dem Johannisberge, pflegten die Liberalen des
Südens ſich zu verſammeln; und wie oft, wenn droben auf dem Metter-
nich’ſchen Schloſſe die Diplomaten tagten um dem Bunde, nach Gentz’s
Ausdruck, eine neue Portion Karlsbader Waſſers einzuflößen, klangen
drunten im Thale die gefüllten Römer zuſammen zu einem Pereat auf
den Bundestag. Man nannte Itzſtein wohl den liberalen Metternich.
Von diplomatiſcher Klugheit gab er freilich auf dieſem ſeinem erſten Land-
tage keine Proben; er reizte auf und drängte vorwärts in einem Augen-
blicke, da nur behutſame Mäßigung das junge Verfaſſungsleben vor einem
zerſtörenden Schlage ſichern konnte.
Seit jener Zuſammenkunft Metternich’s und Berſtett’s trat das neue
„Innsbrucker Syſtem“ des badiſchen Hofes immer deutlicher hervor. Man
verhehlte die Sehnſucht nach einem Gewaltſtreiche ſo wenig, daß die preu-
ßiſche Regierung für nöthig hielt, die reaktionären Heißſporne in Karls-
ruhe zur Beſonnenheit zu mahnen. Verfaſſungsänderungen, ſchrieb An-
cillon (9. Dec.), könnten nur das Werk der Zeit ſein: „bis dahin be-
findet ſich die Regierung in der Nothwendigkeit, das ſich ſelbſt aufgelegte
Joch mit reſignirter Würde und dem Scheine nach freiwillig zu tragen;“
darum darf ſie auch nicht „einer in der Natur der Staatsformen begrün-
deten Oppoſition mit Bitterkeit begegnen.“*) Die Liberalen andererſeits
[316]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
trieben das von der conſtitutionellen Heilslehre geforderte Mißtrauen über
alles Maß hinaus, zumal bei der Berathung des neuen Conſcriptions-
geſetzes; aus Furcht vor Willkür beſtritten ſie den Militärbehörden ſogar
das Recht, dienſtuntaugliche Soldaten nach freiem Ermeſſen zu entlaſſen.
Und dazu die unhaltbare Doppelſtellung der Staatsdienerſchaft: Itzſtein
ſelbſt und mehrere andere Führer der Oppoſition waren Beamte, ſogar
die Regierungscommiſſäre ließen ſich das Recht nicht nehmen, gelegentlich
gegen das Miniſterium zu ſprechen. Zündſtoff in Fülle war hüben und
drüben ſchon längſt aufgehäuft, da kam es zum Bruche (Januar 1823),
leider, wie im Jahre 1819, wieder wegen einer Frage, welche die Grund-
lagen des Bundesrechts berührte.
Es war das Verhängniß des Karlsruher Landtags, daß er immer
mit dem Bunde unmittelbar zuſammengerathen mußte. Die Regierung
hatte ein Militärbudget vorgelegt, das ſie endlich auf 1,6 Mill. Gulden
ermäßigte; mit geringeren Mitteln, verſicherten die Miniſter, könne Baden
den Anforderungen der neuen Bundeskriegsverfaſſung nicht genügen. Jeder-
mann wußte, daß Großherzog Ludwig die Heeresverwaltung perſönlich leitete
und wiederholt gedroht hatte, auf dieſes Gebiet ſolle ſich der Landtag nicht
wagen. Gleichwohl wollte die Kammer noch die armſelige Summe von
50,000 fl. ſtreichen; der modiſche Haß gegen die ſtehenden Heere verlangte
ſein Opfer. Da erklärte der Großherzog: nach Art. 58 der Schlußakte
dürften die Stände ihn nicht in der Erfüllung ſeiner Bundespflichten hin-
dern, er werde daher die nöthigen Summen auch ohne Bewilligung aus-
geben. Damit war das Budgetrecht der Kammer in Frage geſtellt, und ſo-
bald eine conſtitutionelle Principienfrage aufgeworfen wurde, pflegte der
junge deutſche Liberalismus regelmäßig die Beſinnung zu verlieren. Wieder
wie vor drei Jahren erklang der Schlachtruf des Partikularismus: Landes-
recht geht vor Bundesrecht. Die verſtändigen Warnungen Liebenſtein’s ver-
hallten wirkungslos, als Itzſtein die Abgeordneten in heftiger Rede an ihre
„Ehrenpflicht“ mahnte. Mit einer Mehrheit von einer Stimme hielt die
Kammer ihre Beſchlüſſe aufrecht, und ſofort verließen die Vertreter der
Regierung den Saal. Am folgenden Tage ſchon wurden die Kammern
geſchloſſen. Ein zorniges Manifeſt verkündete dem Volke den Unwillen des
Großherzogs über ſeine pflichtvergeſſenen Stände; von allen den Geſetzen,
welche der Landtag beſchloſſen, ward kein einziges verkündigt, und da ein
Budget ſeit der Begründung dieſer Verfaſſung noch niemals zu Stande
gekommen war, ſo wirthſchaftete die Regierung mit den unbewilligten Ein-
nahmen vergnüglich weiter. Eine harte und rachſüchtige Reaktion brach
herein, das badiſche Land ſollte jene unglücklichen 50,000 Gulden noch
theuer bezahlen.
Auf der Wiener Conferenz wurde die Schließung des Karlsruher
Landtags mit einſtimmigem Beifall begrüßt. Kaiſer Franz ſagte zu Blit-
tersdorff, die That des Großherzogs Ludwig ſei ein heilſames Beiſpiel
[317]Bernſtorff gegen Metternich.
für In- und Ausland, und frohlockend ſchrieb der badiſche Staatsmann:
nun haben die Gegner „kaum etwas mehr für ſich als die Lüge, das Ge-
ſchrei und die Unverſchämtheit.“*) Aber die kühne Auslegung des Bun-
desrechts, welche Blittersdorff mit den Oeſterreichern verabredet hatte, fand
einen unbeſieglichen Widerſtand an der Rechtlichkeit Bernſtorff’s. Der preu-
ßiſche Miniſter trat ſehr kräftig auf, er war über die Gentz’ſche Denkſchrift
„wahrhaft entſetzt“ und tadelte ſcharf, daß Hatzfeld ein „ſo unreifes und
vages Werk“ mit gewohnter Befliſſenheit ſogleich nach Berlin geſendet hatte.
Nimmermehr wollte er den Rechtsboden der Schlußakte verlaſſen — ſonſt
würde das grundloſe Mißtrauen der kleinen Staaten gegen die Großmächte
„gewiſſermaßen gerechtfertigt“.**) Und wieder wie vor drei Jahren fand
er einen guten Bundesgenoſſen an Zentner, der von Rechberg’s Hilfe-
rufen ſehr wenig erbaut war. Seltſame Widerſprüche dieſer zwieſpältigen
Münchener Politik: von Baiern aus waren die Wiener Verhandlungen
veranlaßt, und nun half Baiern ſelber ihnen die Spitze abzubrechen. Da
die beiden Freunde auch Pleſſen für ſich gewannen, ſo ließ Metternich
ſeinen Vorſchlag vorläufig fallen, und wehmüthig mußte Blittersdorff heim
berichten: der Preuße und der Baier hätten die Oeffentlichkeit der Land-
tage gerettet, den geplanten Eingriff in die Landesverfaſſungen vereitelt.***)
In Berlin fand Bernſtorff’s ehrenhaftes Verhalten vollkommene Zuſtim-
mung; denn obwohl der preußiſche Hof jetzt zuverſichtlich hoffte, die ſüd-
deutſchen Verfaſſungen würden ſich bald als völlig unhaltbar erweiſen, ſo
dachte er doch jeden Rechtsbruch zu vermeiden. Selbſt Schuckmann, der
ſtarre Bureaukrat, ſagte in einem Gutachten: ein Eingriff des Bundestags
in die Landesverfaſſungen ſei rechtlich nur dann ſtatthaft, wenn man die
Regierungen vorher veranlaſſe ihre Grundgeſetze unter die Bürgſchaft des
Bundes zu ſtellen.†)
Auch über die Preſſe hatte Gentz einen Entwurf ausgearbeitet, der
ſogleich mit der Ermahnung begann, daß die Regenten den Verführern der
öffentlichen Meinung nicht bloß das Stillſchweigen der Verachtung entgegen-
ſetzen dürften. Gentz ſelber war gegen den Vorwurf übertriebener Schweig-
ſamkeit allerdings geſichert; denn auf achtundzwanzig engen Seiten entlud
er ſeinen alten Groll gegen die Zeitungsſchreiber. Wenn der große Publiciſt
dieſen ſeinen Lieblingsfeinden gegenübertrat, dann konnte er ſeine ſtaats-
männiſche Haltung nie bewahren. Was wurde dieſer geknebelten Preſſe nicht
Alles nachgeſagt: ſie ſollte bewieſen haben, „daß ſie in ihren gleißneriſchen
Anpreiſungen einer conſtitutionellen Monarchie nie etwas Anderes gewollt
hatte als eine demokratiſche Mißgeburt“, und da ein gemeinſamer Crimi-
nalcodex gegen Preßvergehen leider unerreichbar ſei, ſo „werde es bald er-
[318]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
laubt ſein zu fragen, ob, bei der offenbaren Unmöglichkeit einer Ausglei-
chung, die Schriftſteller oder die Regierungen das Feld räumen ſollen.“*)
Auch dieſe Kraftleiſtung der Hofburg befriedigte den preußiſchen Staats-
mann nicht. Er mißbilligte „die polemiſche Richtung, die leidenſchaftliche
Farbe“ der Denkſchrift, und zuletzt beſchloß die Conferenz nur, daß der
Preß-Ausſchuß des Bundestags — der lebendig-todte, wie Gentz ihn nannte
— wieder in Thätigkeit treten ſolle um zunächſt an einigen Stuttgarter
Blättern eine heilſam abſchreckende Beſtrafung vorzunehmen.**)
Dagegen war Bernſtorff mit der vorgeſchlagenen Säuberung des
Bundestags ganz einverſtanden. Der Frankfurter Geſandtencongreß hatte
ſich in der That ſeinem beſcheidenen Berufe ganz entfremdet; die zänkiſche
Oppoſition, welche dort auf eigene Fauſt ihr unfruchtbares Spiel trieb,
verwirrte nur die öffentliche Meinung, und nicht ohne Grund ſagte Gentz
in ſeiner Denkſchrift: „Geſuchte und kunſtreiche Darſtellungen individueller
Anſichten, Debatten wobei nur Eigenliebe und Perſönlichkeit ihre Befrie-
digung finden, Abſchweifungen in abſtrakte Theorien, populäre Vorträge,
Tribünenberedſamkeit — das Alles muß aus der Bundesverſammlung
verbannt ſein.“ Zur Vernichtung’ der Frankfurter Gegner und ihres red-
ſeligen Führers bot nun der König von Württemberg ſelber dem Wiener
Hofe durch jene unbedachte Circulardepeſche eine ſo bequeme Handhabe,
daß Hatzfeldt jubelte, dieſer gekrönte Revolutionär habe den Gutgeſinnten
einen ſehr großen Dienſt erwieſen.***) Die Stuttgarter Staatsmänner
ließen ſich’s freilich gar nicht träumen, wie ſchwer ſie die Oſt-Mächte be-
leidigt hatten, denn in einem machtloſen Cabinet verflüchtigt ſich das Be-
wußtſein der Verantwortlichkeit ebenſo leicht wie in einem vielköpfigen Par-
lamente. So viele Jahre hindurch hatte man die großen Höfe halb im
Ernſt, halb im frivolen Spiel durch kleine Gehäſſigkeiten ſtraflos gereizt;
man wußte kaum noch, daß ſtarke Worte einen Sinn und eine Folge haben
können. Wangenheim zeigte das verhängnißvolle Rundſchreiben ſeinen
Frankfurter Genoſſen triumphirend vor und mußte von dem bairiſchen
Bundesgeſandten die ſcharfe Antwort hören: am Umſturz des beſtehenden
Bundesſyſtems werde der Münchener Hof ſich nie betheiligen.†) Bald
darauf erſchien die Depeſche in franzöſiſchen Zeitungen, und weithin durch
die liberale Welt erklang das Lob des Schwabenkönigs, des Vorkämpfers
der europäiſchen Freiheit. Mittlerweile hatte der König auf Andringen
der Großmächte ſein Preßgeſetz verſchärft. Doch auch dieſe Gelegenheit
benutzte er um das Licht ſeines Liberalismus leuchten zu laſſen. In einer
neuen Circulardepeſche mußte Wintzingerode den Geſandtſchaften mittheilen,
[319]Spannung zwiſchen Württemberg und den Großmächten.
ſein Herr habe ſich nur mit Widerſtreben zu einer ſolchen Maßregel ent-
ſchloſſen, die in den Staaten des Abſolutismus wenig ſchade, in einem
Lande conſtitutioneller Freiheit aber bedenklichen Unfrieden erregen könne.*)
Am 6. Februar wurde die Veroneſer Erklärung der Oſtmächte der
Bundesverſammlung vorgeleſen, zugleich ein Begleitſchreiben des ruſſiſchen
Geſandten Anſtett, das in dem Satze gipfelte: „die Völker ſind nur ſo
lange ruhig als ſie glücklich ſind, und noch niemals hat ſich das Glück
in der Aufregung befunden.“ Baiern beantragte — diesmal in anſtän-
digeren Formen als nach dem Laibacher Manifeſt — den drei Mächten
den Dank des Bundestags und die Anerkennung ihrer weiſen und erhal-
tenden Grundſätze auszuſprechen. Wangenheim aber wollte boshaft nur
die reine Abſicht der Oſtmächte billigen und behielt ſich eine gründliche
Erwägung vor. Seine treuen Freunde, die beiden Heſſen Lepel und
Harnier traten ihm bei. Als aber nach vierzehn Tagen abgeſtimmt
wurde, hatten ſie von daheim ſchon Gegenbefehl erhalten, und Wangen-
heim ſchloß ſich allein von dem allgemeinen Danke aus, unter dem ſelt-
ſamen Vorwande: der Bund habe Rückſicht zu nehmen auf alle euro-
päiſchen Mächte, das wollte ſagen: auf England. So wenig Ernſt und
Würde war in dieſer deutſchen Oppoſition: ſtatt ehrlich Farbe zu bekennen
oder klug der Uebermacht nachzugeben, verſteckte ſie ſich hinter Canning.
Inzwiſchen begann der Stuttgarter Hof beſorgt zu werden. Er er-
fuhr von Ancillon’s donnernder Standrede und von der allgemeinen Ent-
rüſtung der preußiſchen Staatsmänner; ſelbſt der milde Bernſtorff zeigte
ſich ſehr aufgebracht und theilte allen Geſandtſchaften mit: „wie der König
von Württemberg ſich hat einfallen laſſen, in einem Gegen-Circular ſeinen
längſt bekannten feindſeligen Geſinnungen gegen die verbündeten Mächte
ohne Scheu und Rückſicht Luft zu geben.“**) Bald traf auch ein ernſtes
Schreiben Metternich’s ein; dem hatte der Württembergiſche Geſandte das
Rundſchreiben gar nicht vorzuleſen gewagt, gleichwohl verwahrte er ſeinen
Kaiſer ſchon im Voraus gegen den Vorwurf napoleoniſcher Gewaltherr-
ſchaft. Die Luft ward brenzlich, und König Wilhelm reiſte wieder nach
Weimar zu dem Schutzengel Württembergs, der Großfürſtin Maria Pau-
lowna. Wintzingerode gab den Vertretern der Oſtmächte die beſten Worte
und betheuerte heilig, das Rundſchreiben ſei nur durch einen ſtrafbaren
Bruch des Amtsgeheimniſſes bekannt geworden. Die Frankfurter Poſt
ſollte die Schuld tragen. Warum aber der Geſchäftsträger in Berlin das
tiefgeheime Aktenſtück ſelber im preußiſchen Auswärtigen Amte vorgeleſen
hatte? — dieſe einfache Frage blieb unerledigt. Ueber ihr lag das der
Stuttgarter Politik eigenthümliche Halbdunkel.***)
[320]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Dann brachte die Stuttgarter Hofzeitung einen demüthigen Artikel,
welcher die großen Mächte der vollkommenen Uebereinſtimmung Württem-
bergs verſicherte. Sofort erſah Metternich ſeinen Vortheil und ließ in
Stuttgart die Forderung ſtellen: ſei der König wirklich mit den Mächten
einverſtanden, ſo möge er dies beweiſen durch die Abberufung Wangen-
heim’s, der ſoeben noch dem Veroneſer Manifeſt die Anerkennung verſagt
habe. Preußen ſchloß ſich alsbald an. Wintzingerode aber war uner-
ſchöpflich in Vorwänden und Bedenken: was ſolle man mit dieſem ehr-
geizigen Talente im Lande Württemberg anfangen? ein Vergehen habe
ſich Wangenheim nicht zu Schulden kommen laſſen, für die Zukunft ſei
er ſchon zur Behutſamkeit ermahnt — und was ſich ſonſt noch an Aus-
flüchten bot.*) Der Grund der Weigerung lag allein in dem Stolze des
Königs. Der prahlte ſchon laut, eine andere Genugthuung als jenen
Zeitungsartikel würden die Oſtmächte nie erhalten. Er glaubte ſich Alles
erlauben zu können, weil der Petersburger Hof, auf deſſen Meinung er
allein Werth legte, ſehr mild auftrat; Czar Alexander wollte, obgleich
ſelbſt beleidigt, ſeinen Schwager ſchonen und empfahl ſeinem Geſandten
eine verſöhnliche Sprache.**)
Doch weder Bernſtorff noch Metternich gedachten ſich mit einer ſo ſpöt-
tiſchen Genugthuung zu begnügen. Großmüthig war es nicht, aber nach
allem Geſchehenen leicht erklärlich, daß ſie endlich beſchloſſen, dem hoch-
fahrenden kleinen Herrn die Schranken ſeiner Macht zu zeigen. Auch der
Czar ließ ſich überzeugen, und am 27. April richtete König Friedrich Wil-
helm an den König von Württemberg ein lakoniſches Schreiben, des In-
halts: „Ich finde Mich bewogen, Meinen Geſandten abzuberufen.“ Küſter
verließ Stuttgart, die Geſandten Oeſterreichs und Rußlands thaten des-
gleichen. Dabei wurden die Formen des Bundesrechts ſtreng gewahrt:
die ruſſiſche Diplomatie ſagte kein Wort über Wangenheim’s Entlaſſung,
weil der Czar ſich in die deutſchen Händel nicht miſchen wollte.***) Auch
der franzöſiſche Geſandte hatte Urlaub auf unbeſtimmte Zeit genommen,
da der Tuilerienhof die Angriffe der Stuttgarter Preſſe ſchwer empfand,
und ſo war denn mit einem male das diplomatiſche Corps, dieſer unent-
behrliche Zierrath jedes Kleinkönigshofes, faſt gänzlich vom Neſenbache
verſchwunden.
Das hatte König Wilhelm nicht erwartet. Als ſei nichts geſchehen,
befahl er ſeinen Diplomaten gleichmüthig in den Hauptſtädten der Oſt-
[321]Sturz Wangenheim’s und Wintzingerode’s.
mächte zu bleiben, jedoch das eiſige Stillſchweigen der drei beleidigten Höfe
beunruhigte ihn dermaßen, daß er ſchon im Juli die Abberufung Wan-
genheim’s beſchloß. Offen zu handeln, eine Uebereilung freimüthig ein-
zugeſtehen war ſeinem Charakter unmöglich. Er nahm jene berüchtigte
Denkſchrift Wangenheim’s über die weſtphäliſchen Domänenkäufer zum
Vorwand und ließ überall erklären: nur deshalb, aber keineswegs um den
Großmächten eine Genugthuung zu geben ſei der Bundesgeſandte zurück-
gerufen worden. Die Folge war, daß der diplomatiſche Verkehr abgebrochen
blieb. Wangenheim aber, der ſelber ſeinen Sturz ſo lange vorausgeſehen,
zeigte nunmehr, da das Unvermeidliche eintrat, ſeine ganze leidenſchaft-
liche Heftigkeit; er beſchuldigte Wintzingerode des Verraths, obgleich der
Miniſter ihn ſo lange als möglich und noch darüber hinaus beſchützt hatte,
er brach gänzlich mit dem alten Freunde und ließ ihn auf eine briefliche
Anfrage wiſſen: „zu jeder Antwort mit der Hand“ ſei er bereit.*) Im
Spätſommer ging der König nach Italien und mußte unterwegs an tauſend
kleinen Kränkungen erfahren, daß in dieſen Tagen ſelbſt ein gekröntes
Haupt, wenn es den Zorn der Hofburg auf ſich geladen, wie geächtet in
der Welt ſtand. Alle Höfe waren durch die Oſtmächte vor dem liberalen
Schwabenkönige gewarnt worden, und mit legitimiſtiſchem Tugendeifer
ſchrieb der junge Bunſen aus Rom, nachdem er den Cardinal Conſalvi
aufgeklärt: „Es bedarf keiner Bemerkung, daß der Lügengeiſt des Jako-
binismus auch hier thätig geweſen iſt, über die Motive der Allerhöchſten
Höfe bei dieſem ſtrafenden Schritte die abſurdeſten und falſcheſten Ge-
rüchte mit der ihm innewohnenden Frechheit zu verbreiten.“**)
Als der König, in ſeinem Stolze tief verwundet, heimkehrte, fand er
bereits das Entlaſſungsgeſuch Wintzingerode’s vor. Nur allzu treu war
dieſer Vielbewegliche allen Windungen und Wendungen einer Politik, die
er mißbilligte, gefolgt; jetzt hatte er es mit allen Parteien verdorben. Den
Großmächten blieb er trotz ſeiner conſervativen Geſinnung verdächtig, da
ſein Name unter dem verhängnißvollen Rundſchreiben ſtand, die Liberalen
aber wollten ihm Wangenheim’s Sturz nicht verzeihen. „Was, rief er ver-
zweifelt, was iſt das für ein Gang eines Gouvernements, welches vorwärts
ſtürzt, ohne Noth verletzt und zurückweichen muß, wenn es einem Hinderniß
begegnet!“ Perſönliche Klatſcherei, die in Stuttgart noch üppiger blühte
als an andern kleinen Höfen, ſtachelte auch den König wider ihn auf,***)
und am 2. Okt. wurde der Miniſter, der doch ſtets nur die Befehle ſeines
königlichen Herrn vollzogen hatte, in Ungnaden verabſchiedet. Ergrimmt
über den ſchnöden Undank, ließ ſich der Entlaſſene zu einem Racheſtreiche
hinreißen. Er ſchrieb in den Pariſer Conſtitutionnel einen von Bosheit
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 21
[322]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
überſtrömenden Artikel, der die liberalen Pläne des Abgeordneten Keßler,
„des Letzten der Römer“ und vornehmlich die hehren Abſichten des Königs
ſelber ſchilderte: König Wilhelm ſei bereit, ſein Heer zu vermindern, auf
ein Drittel ſeiner Civilliſte, welche den achten Theil des Staatseinkom-
mens verſchlinge, hochherzig zu verzichten und insbeſondere das unnütze
Miniſterium des Auswärtigen aufzuheben; „dann gäbe es keine jener
Rundſchreiben mehr, welche für nichts und wieder nichts ſo viel Lärm er-
regen, die Regierung bloßſtellen und den Staat gefährden.“ Mit dieſer
Selbſtkritik nahm der Staatsmann, der vier Jahre lang mittelſtaatliche
Großmachtspolitik getrieben, von ſeinem Wirken Abſchied! Der Verfaſſer
des Artikels wurde bald entlarot und hatte ſich für immer in der diplo-
matiſchen Welt unmöglich gemacht. Alſo waren bereits zwei Opfer dem
Grimme der Großmächte geſchlachtet worden. Beiden Entlaſſenen ließ der
König unverbrüchliches Stillſchweigen auferlegen; denn wollten ſie reden,
ſo konnten ſie leicht beweiſen, daß der Monarch in dem kleinen Kriege
wider die Großmächte allezeit noch ſtreitluſtiger geweſen war als ſeine
Räthe.*)
Mit Alledem war das diplomatiſche Zerwürfniß noch immer nicht
ausgeglichen, da König Wilhelm ſich ſchlechterdings nicht entſchließen konnte,
den beleidigten Monarchen ein verſöhnliches Wort zu ſchreiben. Vergeb-
lich verſuchte er, bald durch ſeinen Geſandten Beroldingen in Petersburg,
bald durch Tatiſtſcheff in Wien, die guten Dienſte ſeines kaiſerlichen Schwa-
gers zu erbitten. Der Czar meinte: am Beſten, wenn man den Schmol-
lenden eine Weile ſeinem eigenen Nachdenken überlaſſe; ſtrecke man ihm
auch nur einen Finger entgegen, ſo werde er ſich ſogleich zu neuem Streite
begeiſtert und in dem Gefühle ſeiner Wichtigkeit beſtärkt fühlen.**) Mehr
als ein Jahr lang verharrte der Württembergiſche Hof in ſeiner Verein-
ſamung: ſeine Geſandten führten in den Hauptſtädten des Oſtens ein
wenig beneidenswerthes Daſein, während in Stuttgart nur drei junge
Geſchäftsträger der Oſtmächte ſaßen, die ſich mit dem Viſiren der Päſſe
begnügten und niemals bei Hofe erſchienen. Die Hofbälle ohne Diplo-
maten boten einen herzzerreißenden Anblick. Auf Augenblicke tröſtete den
König wohl die Gunſt des Volks, das Märchen von der ſchwäbiſchen Frei-
heit war noch nicht ganz vergeſſen. Als er einmal durch Heidelberg kam,
ſchaarten ſich die Studenten zuſammen um „dem Vertheidiger der natio-
nalen Freiheit“ ein Hoch zu bringen. Im December eröffnete er ſeinen
Landtag mit einer freiheitsſtolzen Rede, obwohl die Kammer der Stan-
desherren wieder einmal nicht erſchienen und das Schauſpiel dieſes un-
[323]Demüthigung des Stuttgarter Hofes.
freiwilligen Einkammerſyſtems nicht allzu tröſtlich war. Dann ärgerten ihn
wieder die liberalen Reden des letzten Römers Keßler, und er war nahe daran
ſeine Stände nach Hauſe zu ſchicken. Einer ſeiner Miniſter aber ſtellte
ihm vor, das würde ausſehen wie eine Nachgiebigkeit gegen die Großmächte.
„Nein, rief der König bitter, ich bin nicht in der Laune dieſen Mächten
den Hof zu machen!“*)
Nach und nach begann er doch zu fühlen, wie hoffnungslos dieſer
Trotz gegen die Uebermacht war. Sein neuer Bundesgeſandter Trott, der
anfangs mit allgemeinem Mißtrauen empfangen wurde, mußte ſich in
Allem gefügig zeigen, und als im Sommer 1824 die Verlängerung der
Karlsbader Beſchlüſſe zur Sprache kam, erklärte König Wilhelm ohne Vor-
behalt ſeine Zuſtimmung. Darauf hin erhielt er aus Petersburg einen
Wink: jetzt ſei der Augenblick die Verſöhnung anzubieten.**) Noch eine
Weile rang er mit ſeinem Stolze, denn gar zu laut hatte er ſich vor
zwei Jahren vermeſſen, daß er niemals den chien couchant ſpielen werde.
Endlich überwand er ſich, und nachdem er mit ſeinem ruſſiſchen Schwager
Frieden geſchloſſen, ſchrieb er (23. Sept.) an den König von Preußen: durch
ſeine Zuſtimmung zu „der weſentlich erhaltenden Maßregel“ der Verlän-
gerung der Karlsbader Beſchlüſſe habe er bewieſen, wie ſehr er die Ord-
nung im deutſchen Bunde zu fördern wünſche. „Ew. Majeſtät, die eine der
feſteſten Stützen derſelben ſind, werden, wie ich mir ſchmeichle, den Grund-
ſätzen, welche mich bei dieſer Gelegenheit geleitet, Gerechtigkeit haben wider-
fahren laſſen. Sie können Ew. Maj. nicht zweifelhaft ſein, und der Werth,
Sire, welchen ich auf Ihre Freundſchaft lege, läßt mich hoffen, daß, wenn Miß-
verſtändniſſe, welche ich aufrichtig bedauere, ſtattgefunden haben, dieſelben
von jetzt an nicht mehr beſtehen werden.“ Aehnlich lautete der Brief an
Kaiſer Franz. Die beiden Monarchen waren indeß über das lange Schmollen
des Königs ſo erzürnt, daß ſie anfangs zweifelten, ob ſie ſich mit dieſer
Abbitte begnügen ſollten. Zuletzt beſchloſſen ſie doch Gnade für Recht er-
gehen zu laſſen, obwohl dem Reuigen noch der Trotz um die Lippen ſpielte.
König Friedrich Wilhelm verſagte ſich’s aber nicht, dem Württemberger
ſtrafend zu bemerken: „Beſonders hat mich gefreut, daß Ew. Majeſtät zu-
gleich den Grundſätzen Gerechtigkeit widerfahren laſſen, welche die Verbün-
deten bei den Verhandlungen von Laibach und Verona geleitet haben, und
welche Sie einen Augenblick mißzuverſtehen ſchienen.“***) So kläglich endete
der Verſuch, das reine Deutſchland um Württembergs Banner zu ſchaaren.
Die Rolle des liberalen Parteiführers, welche dem herriſchen Könige nie
recht zu Geſicht geſtanden, war ausgeſpielt für immer. Lindner mußte
21*
[324]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Württemberg verlaſſen, und von geheimnißvollen Stuttgarter Manifeſten
erfuhr die Welt nichts mehr. —
Derweil dieſe ſchwäbiſche Tragikomödie ſich langſam abſpielte, wurde
die Epuration des Bundestags vollendet, das einzige Ergebniß der un-
fruchtbaren Wiener Conferenz. Im April 1823 erſchien der neue Bun-
despräſidialgeſandte Frhr. v. Münch-Bellinghauſen in Frankfurt, ein noch
junger Mann, der ſich bei den Elbſchifffahrts-Verhandlungen durch diplo-
matiſche Gewandtheit ausgezeichnet und bald Metternich’s volles Ver-
trauen gewonnen hatte, herrſchſüchtig, aufgeblaſen, gemüthlos, überall
unbeliebt, aber weit geſchickter als ſein Vorgänger. Die Schmiegſamkeit
der kleinſtaatlichen Diplomatie verſtand er bald ſchmeichelnd, bald drohend
trefflich zu behandeln. Metternich ſagte von ihm: „er iſt ganz mein Mann.“
Seine Inſtruktion wies ihn an, die Geſchäftsordnung unnachſichtlich zu
handhaben und auch einige der Vorſchläge, welche Metternich auf der
Wiener Conferenz nicht zum Abſchluß gebracht hatte, vornehmlich die Heim-
lichkeit der Bundesverhandlungen durchzuſetzen; kein Wunder, daß Berſtett
dieſe Weiſungen mit wahrer Wonne las. Als Münch ſein Amt antrat,
war er noch Neuling genug um zu glauben, daß der Bundestag doch
irgend einen Zweck haben müſſe, und klagte dem befliſſenen Blittersdorff,
der ſich ſogleich an ihn herandrängte: hundertmal habe er in Wien ſeinen
hohen Gönner gefragt, was man eigentlich aus dem Bunde machen wolle,
aber niemals eine beſtimmte Antwort erhalten.*) Nach kurzer Friſt hatte
er dieſe jugendlichen Irrthümer gründlich abgethan; er lebte ſich ein in den
beſchäftigten Müßiggang der Eſchenheimer Gaſſe und fand es ganz in der
Ordnung, daß außer der Abwandelung von Demagogen und Zeitungen
eigentlich nichts weiter mehr vorkam als Inſtruktionseinholungen und In-
competenzerklärungen. Nachdem er dieſem Treiben ein viertel Jahrhundert
hindurch vorgeſtanden hatte, erſchien er der Nation wie die Verkörperung
der höheren Bundespolizei.
Noch bevor Münch eintrat und bevor Oeſterreich in Darmſtadt drohend
mahnte, wurde Harnier von ſeinem Poſten abberufen. Dann folgte Wan-
genheim’s Sturz. Am längſten unter den drei Führern der Oppoſition hielt
der Kurheſſe Lepel aus, obwohl Metternich ſeine Abberufung mehrmals
verlangt und endlich ſogar den diplomatiſchen Verkehr mit dem Kaſſeler
Hofe auf das geringſte Maß beſchränkt hatte. Der Kurfürſt blieb dabei,
ihm habe Niemand etwas zu befehlen. Doch aus dem Kaſſeler Glashauſe
ließ ſich’s ſchlecht mit Steinen werfen. Als der Kurfürſt im September
böhmiſche Landgüter für ſeine Maitreſſe zu erwerben wünſchte, da erwiderte
ihm Metternich trocken: einem Fürſten, der einen ſo ſchlechtgeſinnten Bun-
desgeſandten halte, könne der Kaiſer keine Gnade erweiſen. Nun war
[325]Münch-Bellinghauſen. Sprengung der Oppoſition.
Lepel gerichtet. Durch ſolche Erwägungen kleinfürſtlicher Staatsweisheit
kam die letzte Säule der Bundes-Oppoſition zu Falle.*) Mittlerweile war
an die Stelle des verſtorbenen Aretin Herr v. Pfeffel getreten, ein Deutſch-
franzoſe, der, wenig vertraut mit der deutſchen Sprache und Politik, ſich
einfach an Rechberg’s Weiſungen hielt. Hammerſtein wurde durch eine
ſcharfe Verwarnung des Grafen Münſter zurechtgewieſen, Blittersdorff
aber hatte längſt ſeinen Frieden mit der Hofburg geſchloſſen.**)
Auch Wangenheim’s wirthſchaftlicher Sonderbund, die Darmſtädter
Conferenz, lag bereits im Sterben. Am 3. Juli 1823 erklärte du Thil
den Austritt ſeines Großherzogs, weil Heſſen außer Stande ſei, die Ord-
nung ſeines Zollweſens noch länger zu verſchieben. Naſſau folgte dem
Beiſpiele. Darauf weigerte ſich Baiern, ohne Darmſtadt weiter zu ver-
handeln; unter lebhaften gegenſeitigen Anklagen ging der Congreß aus-
einander, nach drei Jahren unerquicklichen Streites. Er ſcheiterte an der
Unmöglichkeit, abweichende Intereſſen in engem Rahmen zuſammenzuhalten.
Doch auch die Ränke der Wiener Diplomatie und des preußiſchen Ge-
ſandten Otterſtedt beſchleunigten den Zuſammenbruch. Dieſer unruhige
Pläneſchmied ſchwärmte für Preußens „Präponderanz am Rheinſtrome“,
wünſchte lebhaft einen Zollverein zwiſchen dem preußiſchen Rheinland und
den ſüddeutſchen Staaten, wollte keinenfalls einen Bund der conſtitutio-
nellen Mittelſtaaten ohne Preußen dulden. Er ward nicht müde, dieſe
unreifen Gedanken ſeinem Chef darzulegen. Da er von Eichhorn immer
nur die Weiſung erhielt, ſich ruhig zu halten, ſo ging er endlich eigen-
mächtig vor. Er warnte Marſchall, was kaum nöthig war, ſchrieb an
den Geſandten in Wien und ſtellte ihm vor, welche „Stratageme einer
Oppoſition gegen die Allerhöchſten Monarchen“ ſich hinter dem Zollverein
verſteckten. Hatzfeldt ſchlug ſofort in der Hofburg Lärm, und nun er-
gingen von Wien aus nach München, Karlsruhe, Bieberich ſo dringende
Warnungen, daß der längſt von innen heraus gelockerte Sonderbund un-
haltbar wurde und Berſtett eingeſtand: die Darmſtädter Conferenzen
mußten erfolglos bleiben, „ſchon der Acteurs wegen und wegen der Neben-
pläne, die man darin ſuchte.“***) Lange nachher erſt erhielt das Berliner
Cabinet Kunde von dem Ungehorſam ſeines Geſandten. Der eitle Di-
plomat hatte ſich laut gerühmt, er habe den Darmſtädter Bund geſprengt;
da befahl der König den Thatbeſtand zu unterſuchen. Otterſtedt empfing
einen ſcharfen Verweis und abermals die Mahnung, ſich jeder Einmiſchung
in dieſe Händel zu enthalten: es genüge den kleinen Höfen auszuſprechen,
daß Preußen bereit ſei über die Erweiterung ſeines Zollſyſtems zu ver-
[326]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
handeln.*) Das Alles blieb freilich geheim, und noch jahrelang glaubte
in Süddeutſchland Jedermann, der König von Preußen habe dem wohl-
gemeinten Verſuche ſüddeutſcher Zolleinheit die Grube gegraben. Genug,
von allen Gebilden der Triaspolitik blieb nichts mehr übrig als die Ober-
rheiniſche Kirchenprovinz. —
Als die Bundesverſammlung im November, nach den Ferien wieder zu-
ſammentrat, war der phantaſtiſche Spuk der Bundes-Oppoſition bis auf die
letzte Spur verflogen. Um die Säuberung des Hauſes zu vollenden, wurde
im Juli 1824 auch Goltz abberufen. Die Oeſterreicher ſahen ihn mit
Freuden ſcheiden und verſprachen ſich viel von ſeinem Nachfolger, dem
Generalpoſtmeiſter v. Nagler, der in Art und Unart als Gegenfüßler des
gutmüthigen Grafen erſchien. Gleich ſeinem Schwager Altenſtein war
Nagler in Hardenberg’s fränkiſcher Beamtenſchule emporgekommen; er
hatte ſich aber bald mit den ſtreng-conſervativen Anſchauungen der alt-
ländiſchen Bureaukratie ſo gänzlich erfüllt, daß er zum Feinde ſeines alten
Gönners wurde und von dem Staatskanzler aus dem Dienſte entfernt,
elf Jahre zumeiſt auf Reiſen verbringen mußte. Erſt 1821, als Harden-
berg’s Geſtirn im Sinken war, wurde er in den Dienſt zurückgerufen,
bald nachher zum Generalpoſtmeiſter ernannt. In dieſer Stellung be-
währte er ein außerordentliches Verwaltungstalent, aber auch ein Uebermaß
jenes herriſchen Weſens, das im Poſtdienſt allerdings ebenſo unentbehrlich
iſt wie im Heere. Raſtlos thätig, hart und rauh, der Schrecken ſeiner
Untergebenen, erhob er die preußiſche Poſt binnen wenigen Jahren zu einer
Muſteranſtalt für Deutſchland. Nach der alten Ueberlieferung betrachtete
er das Poſtweſen zwar nur als eine Einnahmequelle für den Staat und
willigte ſelten in eine Herabſetzung der hohen Gebühren; aber ſollte die
Anſtalt Ertrag bringen, ſo mußte ſie über ein wohlgeſchultes, auskömm-
lich beſoldetes Beamtenheer gebieten und das Publikum raſch, bequem,
pünktlich, ſicher bedienen. Dieſe Sicherheit hatte freilich in Preußen,
wie überall, beſtimmte Grenzen; das Erbrechen der Briefe war in Nagler’s
Augen ein unveräußerliches Kronrecht, das nur Böswillige der könig-
lichen Poſt beſtreiten konnten. Er rühmte wohl die Milde ſeiner preu-
ßiſchen Poſt, die ſich mit dem „Perluſtriren“ begnügte, während die öſter-
reichiſche auch vor dem „Intercipiren“ nicht zurückſchrak. Sorgfältig wie
er Alles trieb, richtete er auch dieſen Zweig ſeines Dienſtes ein und ſcheute
kein Mittel um einen neuen Siegelabdruck „für eine Wappenſammlung“
zu erwerben; nach Saarbrücken ſendete er einen ſeiner geſchickteſten Agenten,
Opfermann, zur Ueberwachung des Briefverkehrs mit Frankreich. Ein
treuer Genoſſe Wittgenſtein’s trieb er ſein dunkles Handwerk bald mit
herzlichem Behagen, und als er den Frankfurter Poſten antrat, hielt er
[327]Nagler.
ſich von Amtswegen verpflichtet, zugleich die Stimmung am Rhein und
im Süden polizeilich zu überwachen, wobei ihm ſein gewandter Sekretär
Kelchner mit uneigennützigem Amtseifer zur Hand ging.
So bewältigte er viele Jahre hindurch mit wunderbarem Fleiße die Ge-
ſchäfte des Generalpoſtmeiſters, des Diplomaten, des freiwilligen Polizei-
miniſters, beſtändig unterwegs auf der großen Berlin-Frankfurter Land-
ſtraße, wo alle Poſthalter ſtets bereit ſtanden, ihre vier beſten Roſſe dem
Gefürchteten vor ſeinen Extrapoſtwagen zu ſpannen — immer im Dienſt,
immer mit Arbeiten überladen; kaum daß er noch einige Stunden frei
behielt für die Pflege ſeiner ſchönen Kunſtſammlungen. Er geizte mit jeder
Silbe, jeder Minute, ſchrieb ſeine Depeſchen mit dem denkbar geringſten
Aufwand an Worten, aber immer wirkſam und das Weſentliche treffend,
und begnügte ſich in ſeinen Privatbriefen mit wenigen abgeriſſenen Sätzen,
die in ihrer trockenen Kürze oft brutal und cyniſch wurden. Als ihm
ſein treuer Kelchner einmal vorhielt, daß der verzweifelte Demagog Kombſt
ſich vielleicht bei der Verhaftung ſelbſt entleiben könne, da antwortete Nagler
einfach: „der Selbſtmord iſt ſeine Sache.“
Der bebänderte und beſternte Großwürdenträger erſchien den gemüth-
lichen kleinen Leuten des Bundestags ganz unausſtehlich mit ſeiner ab-
ſprechenden Schroffheit, mit ſeiner feierlichen Amtsmiene, die nur auf
Augenblicke einer pfiffig herablaſſenden Freundlichkeit wich; die Frankfurter
ſahen in dieſem Franken die Verkörperung alles deſſen, was am nord-
deutſchen Weſen verrufen war, und unzweifelhaft hat ſein langer Aufent-
halt am Main viel dazu beigetragen, die ſüddeutſchen Vorurtheile gegen
das preußiſche Beamtenthum zu nähren. Nagler erfreute ſich der beſon-
deren Gunſt Metternich’s und wirkte bei Allem was die Hofburg für die
Sicherung der Ruhe plante freudig mit. Und doch war er auf ſeine
Weiſe ein ſtolzer preußiſcher Patriot. Nicht um Oeſterreichs willen, ſon-
dern nach ſeinen eigenen ſtarren abſolutiſtiſchen Grundſätzen unterſtützte er
die Maßregeln der k. k. Bundespolizei, und niemals vergaß er, daß ſein
König, den er abgöttiſch verehrte, ihm bei der Abreiſe nach Frankfurt ein-
geſchärft hatte, zwar das Bündniß mit Oeſterreich nicht zu vernachläſſigen,
aber auch dem preußiſchen Staate nichts zu vergeben. Schon ſeine hart-
proteſtantiſche Geſinnung, die überall jeſuitiſche Umtriebe witterte, ſtimmte
ihn mißtrauiſch gegen die Hofburg, und als er dann bemerkte, wie Oeſter-
reich in allen militäriſchen und wirthſchaftlichen Machtfragen dem preu-
ßiſchen Bundesgenoſſen insgeheim entgegenarbeitete, da ſetzte er ſich ſofort
zur Wehre. Münch mußte bald fühlen, daß mit dieſem ſtrammen Reak-
tionär noch ſchwerer auszukommen war als mit ſeinem milderen Vor-
gänger. Perſönlich konnten ſich die Zwei, anſpruchsvoll und ungemüth-
lich wie ſie Beide waren, ohnehin nicht vertragen. Schon bald nach Nag-
ler’s Eintritt begannen geheime Zwiſtigkeiten, die ſeitdem faſt alljährlich
wiederkehrten und immer wieder durch Metternich’s Vermittlung, meiſt zu
[328]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Gunſten des Preußen, beigelegt wurden. Wo es aber galt, die kleinen
Geſandten in Zucht zu halten, da ſtanden ſie ſelbander feſt zuſammen. —
Dergeſtalt war die Bundesverſammlung gereinigt, und Schlag auf
Schlag, faſt ohne Debatte, faßte ſie nunmehr unter Münch’s Leitung eine
Reihe von Beſchlüſſen, welche den Wiener Hof mit gerechter Befriedigung
erfüllten. Die weſtphäliſchen Domänenkäufer wurden einfach abgewieſen,
wegen Incompetenz der Verſammlung. Um ſeinen Abſcheu gegen Klüber’s
und Wangenheim’s Lehre vom ewigen Staate noch unzweideutiger zu be-
kunden, fügte der Bundestag den in der Geſchichte geſitteter Völker bei-
ſpielloſen Beſchluß hinzu, daß bei ſeinen Verhandlungen keine Berufung
auf „neue Bundeslehren und Theorien“ geduldet werden ſolle (11. Dec.
1823). Somit ward der Wiſſenſchaft feierlich verboten, klärend und mäßi-
gend mitzuwirken bei der Fortbildung eines Bundesrechts, das in ſeinem
dürftigen und unfertigen Zuſtande des Beiſtandes geiſtiger Kräfte gar
nicht entrathen konnte. So frech hatte ſich in dieſem Gelehrtenvolke der
Haß gegen alle Bildung noch niemals herausgewagt.
Seltſam, wie bei dieſen Verhandlungen wieder die zwei Seelen der
preußiſchen Politik hervortraten. Wo die Demagogenſcheu nicht einwirkte,
da zeigte ſich Preußen ſtets als der rechtlichſte unter allen deutſchen Staaten.
Der weſtphäliſchen Domänenkäufer nahm ſich Goltz bis zuletzt wacker an;
er wollte den Kurfürſten von Bundeswegen nöthigen, auch über alle noch
ſchwebenden Streitfälle dem Bundestage Rechenſchaft abzulegen, und ſprach
ſeine Entrüſtung ſehr derb aus, als die große Mehrheit der Verſamm-
lung, von Münch geführt, ihren eigenen früheren Beſchlüſſen zuwider, die
unſchuldigen Opfer des heſſiſchen Despoten kurzerhand abwies. Und dieſelbe
Regierung, die hier ſo ehrenhaft verfuhr, ſtimmte nicht nur dem Be-
ſchluſſe wider die Bundesrechts-Theorien willig zu, ſie überbot ihn noch
durch eine thörichte Ungerechtigkeit, welche Preußens guten Ruf ſchwer und
nachhaltig ſchädigte. Beunruhigt durch Marſchall’s und Metternich’s ge-
heime Anklagen hatte Bernſtorff, ohne den Angeſchuldigten auch nur an-
zuhören, die Schriften Klüber’s, vermuthlich durch Kamptz, unterſuchen
laſſen und überraſchte nun den Argloſen durch die Ankündigung: daß
eine Schriften auf den preußiſchen Univerſitäten nicht mehr benutzt wer-
den dürften, er ſelber aber im Auswärtigen Amte keine Beſchäftigung mehr
finden könne.*) Als Gründe waren namentlich angegeben: die naturrecht-
lichen Erörterungen in Klüber’s Bundesrecht und ſeine Vorliebe für die
neuen gemiſchten Verfaſſungen, deren demokratiſche Grundſätze die könig-
liche Regierung doch bekanntermaßen bekämpfe. Eine ſolche Behandlung
ließ ſich der hochangeſehene Gelehrte nicht bieten; er warf dem Miniſter
ſeine 5000 Thlr. Gehalt vor die Füße, nahm ſofort ſeinen Abſchied und
lebte noch lange als Privatmann in Frankfurt, das anerkannte Haupt
[329]Reaktion am Bundestage.
der unzufriedenen diplomatie volante, den Süddeutſchen ein lebendiger
Beweis preußiſcher Regierungswillkür.
Schon vorher, im Mai, hatte der Preßausſchuß ſeine Thätigkeit wie-
der aufgenommen und alsbald den Stuttgarter Deutſchen Beobachter
unterdrückt. Wie fühlte der Referent Blittersdorff ſich geehrt, da ihm
beſchieden ward „den Stier bei den Hörnern zu packen.“ In ſeinem Eifer
verleugnete er ſogar ſeine Eitelkeit und verſtand ſich dazu, eine unge-
heure Denkſchrift, die ihm aus der Hofburg zugeſandt worden, für ſein
eigenes Werk auszugeben. Sie brandmarkte das revolutionäre „Delirium“
des unheimlichen ſchwäbiſchen Blattes und mit beſonderem Ingrimm jenen
Lindner’ſchen Artikel „die Diplomaten“. „Obwohl es ſcheinen möchte als
ſpräche der Ausſchuß hier in eigener Sache“. gelangte er doch zu dem
einleuchtenden Schluſſe, daß die Sicherheit des Bundes gefährdet ſei, wenn
„dieſe angeſehene Klaſſe von Beamten“ unanſtändig behandelt würde. Bald
darauf wurde F. Murhard aus Frankfurt ausgewieſen; Naſſau und die
beiden Heſſen mußten ſich verpflichten, ihn in ihren Ländern, ſo nahe der
Bundesſtadt, nicht zu dulden. Lindner wagte ſich in einer Sammlung
ſeiner „Geheimen Papiere“ gegen Blittersdorff ſehr zahm zu vertheidigen
und beſchleunigte dadurch nur ſeine Verbannung aus Württemberg.
Während die Bundesverſammlung alſo unter den liberalen Schrift-
ſtellern aufräumte, bereitete ihr der bairiſche Kammerredner Hornthal mit
orientaliſcher Dreiſtigkeit eine ſchmerzliche Ueberraſchung. Er widmete ihr
ehrfurchtsvoll ſeine neueſte Schrift: „Werden die deutſchen Bundesfürſten
am Kriege gegen Spanien theilnehmen?“ — ein Büchlein, das die freien
Spanier mit phraſenreichen Lobſprüchen überſchüttete. Um ſolchem Aerger-
niß für immer vorzubeugen, beſchloß die Bundesverſammlung, daß ihr fortan
Niemand mehr ohne beſondere Erlaubniß ein Buch widmen dürfe; auch
Büchergeſchenke wollte ſie nur dann annehmen, wenn der Verfaſſer ſein
Werk vorher dem Bundesgeſandten ſeines Souveräns überreichte und dieſer
ſeinen Segen dazu gab. Dergeſtalt war den demagogiſchen Ideen jeder Zu-
gang zu der Bücherei des Taxis’ſchen Palaſtes verſperrt, und damit auch die
Akten des Bundestags vor der Einſchleppung des Krankheitsſtoffes bewahrt
blieben, beſchloß die Verſammlung am 15. Jan. 1824, daß alle Eingaben
an den Bund, ſofern ſie gedruckt würden, vorher der Cenſur unterliegen
ſollten. Alſo ſelbſt das beſcheidenſte aller ſtaatsbürgerlichen Rechte das
Recht der Bitte, das den Ruſſen und den Chineſen ungeſchmälert blieb,
wurde unſerem Volke verkümmert; die verhüllte Fremdherrſchaft, die auf
Deutſchland laſtete, ſetzte ſich ein Denkmal ohne Gleichen. Den Anlaß zu
dem unglaublichen Beſchluſſe hatte die holſteiniſche Ritterſchaft gegeben mit
ihren Bitten um Herſtellung der alten Landesverfaſſung, die natürlich
ſchroff abgewieſen wurden.
Nach Alledem war es nur folgerecht, daß der Bundestag ſeine Ver-
handlungen fortan geheim hielt, wie Metternich ſchon auf der Wiener
[330]III 5. Die Großmächte und die Trias.
Conferenz beantragt hatte. Am 1. Juli 1824 beſchloß die Verſammlung,
nur noch eine Auswahl aus ihren Protokollen zu veröffentlichen; von den
eigentlichen Protokollen wurden nur wenige Exemplare gedruckt, ſorgfältig
mit Nummern verſehen und im ſtrengſten Geheimniß den verbündeten
Höfen mitgetheilt, wo man ſie ſo ſorgſam verwahrte, daß bis zum Jahre
1848 kein einziger deutſcher Gelehrter davon Kenntniß nehmen konnte. Die
veröffentlichten dürftigen Auszüge fanden keine Leſer, und ſchon nach vier
Jahren wurde die Herausgabe „wegen Mangels an Stoff“ gänzlich ein-
geſtellt. Gewiß waren die Verhandlungen eines Geſandtencongreſſes für
das große Publicum wenig geeignet; ihre Veröffentlichung hatte oft den
Zwieſpalt zwiſchen den Höfen erweitert, öfter noch die Geſandten zur Ent-
faltung unnützer Redekünſte verführt. Aber die Heimlichkeit der Bera-
thungen wirkte noch unheilvoller. Die deutſche Centralgewalt erſchien der
erbitterten Nation fortan nur noch wie eine geheime Polizeibehörde, und
die dem Bundestage ſo verdächtige Wiſſenſchaft des deutſchen Bundes-
rechts kam niemals aus den Windeln heraus, weil ſie über Entſtehung,
Sinn und Zweck der Bundesgeſetze nichts Sicheres zu ſagen wußte. Nur
einmal in dieſen langen Jahren wagte ſich ſchwarzer Verrath an die Pro-
tokolle des Bundestags heran. Der Legationsſecretär einer Bundesge-
ſandtſchaft entdeckte eines Tags, als er ſich ſein Abendbrot beim Metzger
gekauft hatte, mit Entſetzen, daß die Wurſt in ein geheimes Bundespro-
tokoll eingewickelt war. Sofort wurde die Frankfurter Polizei aufgeboten;
ſie war längſt gewohnt dem k. k. Präſidialgeſandten treue Dienſte zu leiſten,
und es gelang ihr nicht nur, noch eine erkleckliche Anzahl fettiger Protokoll-
bogen aufzutreiben, ſondern auch den Nachweis zu führen, daß die Köchin
des Erneſtiniſchen Bundesgeſandten die alten Papiere, die ihr Herr doch
niemals las, an den Wurſtler verkauft hatte. Deutſchlands höchſte Be-
hörde erörterte den ſchwierigen Fall mit gewohnter Gründlichkeit; dann
wurden die aufgelaufenen Akten nebſt den glücklich wieder eingefangenen
alten Protokollbogen zu einem beſonderen Fascikel vereinigt und im Bun-
desarchiv niedergelegt, woſelbſt der Name der pflichtvergeſſenen Bundes-
köchin noch heute für das Gedächtniß der Nachwelt aufbewahrt wird.
Das Stillleben in der Eſchenheimer Gaſſe ward nachgerade ſo unheim-
lich, daß die Zeiten Wangenheim’s mit ihrem wüſten Lärm und Zank da-
neben noch beneidenswerth erſchienen. Seit Münch ſein Scepter ſchwang,
ging die ganze Thätigkeit des Bundestags im Niederhalten des nationalen
Lebens auf. Nur die preußiſche Regierung bewährte ſelbſt in dieſen Tagen
dumpfen Druckes noch ihren alten Eifer für die Stärkung der nationalen
Wehrkraft. Der König beſtand darauf, daß mindeſtens die Vertheidigung
des Mittelrheins endlich geregelt werden müßte, da die Süddeutſchen ſich
über ihre Bundesfeſtungen doch nicht einigten. Nachdem er in Frank-
furt noch mehrmals vergeblich hatte mahnen laſſen, ſendete er im Früh-
jahr 1824 den General Krauſeneck nach Wien. Hatzfeldt erſchrak über den
[331]Uebernahme der Bundesfeſtungen.
unbequemen Mahner, er fürchtete ſchon ein Zerwürfniß mit ſeinem öſter-
reichiſchen Freunde. Der General ließ ſich aber nicht beirren und trat
ſo nachdrücklich auf, daß Metternich kleinlaut die bündigſten Zuſagen gab:
nur unglückliche Mißverſtändniſſe ſollten bisher die Zögerung verſchuldet
haben; er ging ſo weit, dem General zu betheuern: „jeder Oeſterreicher
hat ein preußiſches Herz“ — was in Berlin ſehr peinlich berührte, weil
man die Abſicht merkte.*) In der That hielt er auch diesmal nicht Wort.
Erſt als Nagler ſelbſt im nächſten Winter nach Wien kam, wurde Oeſter-
reichs Widerſtreben gänzlich überwunden,**) und im April 1825, faſt zehn
Jahre nach Abſchluß der europäiſchen Verträge, verlangten die beiden Groß-
mächte endlich in vollem Ernſt, daß der Bund nunmehr Mainz, Landau
und Luxemburg als Bundesfeſtungen übernehmen müſſe.
Noch einmal begann die partikulariſtiſche Schamloſigkeit ihr altes Ge-
zänk. Obgleich die Mittelſtaaten keineswegs wünſchten, etwa ſelber an
Preußens Stelle das Beſatzungsrecht in den Bundesfeſtungen zu über-
nehmen, ſo ſtellten ſie ſich doch an, als wäre dieſe Laſt, welche Preußen für
ganz Deutſchland trug, eine dem preußiſchen Staate gewährte Gunſt; ſie
fanden es höchſt unbillig, daß der Bund für Servis und andere Nebenkoſten
aufkommen ſollte. Für Luxemburg wollte Württemberg gar nichts zahlen;
denn nach der Rechtsanſicht des Stuttgarter Hofes war Mainz allein eine
wirkliche Bundesfeſtung, Luxemburg dagegen „nur in militäriſcher Hinſicht
als Bundesfeſtung zu betrachten“ und folglich Preußen allein verpflichtet,
alle Laſten zu tragen. Auch der Hannoveraner Hammerſtein zeigte ſich
ſo widerſpänſtig, daß der engliſche Geſandte ihn an ſeine vaterländiſchen
Pflichten erinnern mußte; er fragte ihn, ob er denn nicht wiſſe, daß die
Verſtärkung der Rheingrenze im britiſchen Intereſſe liege? Am Lauteſten
lärmte der luxemburgiſche Geſandte: die Uebernahme ſei verfrüht, der
Feſtungsrayon noch nicht abgegrenzt, überdies müſſe ſein König für die
niederländiſchen Truppen auf ihrem vaterländiſchen Boden den Vortritt
vor den Preußen fordern.
Trotz alledem blieb Preußen feſt, und Münch, der bisher durch ſeinen
Langenau den vertragsbrüchigen Luxemburger zu allen ſeinen Winkelzügen
ermuthigt hatte, mußte ſich endlich entſchließen, die Macht der Mehrheit
zu gebrauchen, obgleich Baiern einen einſtimmigen Beſchluß verlangte. Am
28. Juli entſchied ſich die Mehrzahl der Stimmen für die Uebernahme
der drei Feſtungen. Nagler aber ſchrieb traurig: „die Angelegenheit hat
bewieſen, daß aus der Bundesverſammlung eine einhellige Vereinigung
zu größeren Zwecken, ſobald dabei ein Intereſſe eines einzelnen Bundes-
ſtaates berührt oder Geldleiſtungen von Allen gefordert werden, ſchwer,
ja wohl nie hervorgehen werde.“***) So urtheilte der Günſtling Metter-
[332]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
nich’s, ein Jahr nachdem er das Frankfurter Treiben kennen gelernt, über
die Lieblingsſchöpfung ſeines Meiſters; der ſachliche Ernſt des preußiſchen
Beamten war in ihm doch ſtärker als die öſterreichiſch-reaktionäre Partei-
geſinnung. Da Baiern ſich nicht zufrieden gab, ſo wurde die Uebernahme
von Landau noch verſchoben und nach wiederholten Verhandlungen erſt im
Jahre 1831 ausgeführt. Ueber die letzten Beweggründe der Widerſprechen-
den erklärte ſich der Stuttgarter Hof ſelber mit einer cyniſchen Aufrichtig-
keit, die er ſonſt nicht liebte. König Wilhelm hielt für räthlich, ſich vor
Kaiſer Franz wegen des Rückfalls in die alte Oppoſitionspolitik zu recht-
fertigen, und ließ darum nach Wien ſchreiben: „Es handelte ſich um eine
für uns weſentliche Sache, um das Geld, das heute überall und namentlich
in einem ackerbauenden Lande, wie das unſere, ſelten iſt.“ Dann abermals:
Württemberg ſei gern bereit, aus Rückſicht auf die Großmächte, Luxem-
burg und Landau in die Reihe der Bundesfeſtungen aufzunehmen; „es
wäre aber ungerecht, daraus eine für unſere Finanzen nachtheilige Fol-
gerung zu ziehen;“ für Preußen und Oeſterreich bedeuten dieſe Koſten
nichts, für uns ſind ſie „ein Gegenſtand“. Und ſchließlich noch einfacher:
„Es kann keiner Rechtfertigung bedürfen, daß S. k. Maj. Anſtand nehmen
mußten, auf eine Uebernahme von Feſtungen einzugehen, mit welchen
Höchſtihren Landen als daran geknüpfte Folgen bedeutende Laſten aufge-
legt worden wären.“*)
Der wackere Wolzogen, der ſich ſo viele Jahre lang mit der Bosheit
und dem Unverſtande hatte herumſchlagen müſſen, erlebte jetzt die Genug-
thuung, daß er im Dec. 1825 mit dem hannöverſchen General v. Hinüber
nach Mainz geſendet wurde und die Feſtung für den Bund übernahm.
Es war die höchſte Zeit, da die Werke ganz zu zerfallen drohten. Als
die beiden Bundescommiſſare aber einige Monate ſpäter nach Luxemburg
aufbrechen wollten, da verweigerte ihnen der luxemburgiſche Geſandte die
Päſſe. Sie reiſten nun ohne ſein Viſa, vollzogen die Uebernahme der
Feſtung, ſendeten einen Proteſt des niederländiſchen Generals Gödeke, der
ihnen nach der feierlichen Parade zuging, ungeleſen zurück (13. März 1826).
Nach der Heimkehr fanden ſie beim Bundestage ein Schreiben der nieder-
ländiſchen Regierung vor, das in den gröbſten Worten „den nicht leicht
zu qualificirenden Akt“ vom 13. März für null und nichtig erklärte. Der
alte Haß des Oraniers gegen den Nachbarſtaat, dem er ſeinen Thron
verdankte, entlud ſich noch einmal; er drohte für den Nothfall noch mit
„anderen Mitteln, um die Integrität ſeines Großherzogthums zu be-
ſchirmen.“ Solche Beleidigungen konnte ſich ſelbſt die Bundesverſammlung
nicht bieten laſſen. Sie wies die Beſchwerde als unſtatthaft zurück, und
ſprach über die Ausdrücke des Königs ihr Bedauern aus.**) Der Oranier
[333]Münch’s Vorſchläge zur Erneuerung der Karlsbader Beſchlüſſe.
aber gab ſchließlich nach: er wußte wohl, daß er das klare Recht gegen
ſich hatte.
Der Wiener Hof betheiligte ſich an dieſen langwierigen Händeln nur
ungern, nur weil er fühlte, daß die preußiſche Geduld auf die Neige ging.
Ungleich wichtiger als die Sicherung der Rheingrenze war ihm die Er-
neuerung der Karlsbader Beſchlüſſe, da die Giltigkeit des Preßgeſetzes mit
dem Jahre 1824 erloſch. Von langer Hand her wurde dieſe rettende
That vorbereitet; mit ihr ſollte die Säuberung des Bundestags ihren
Abſchluß finden. Schon am 6. Januar 1824 unterbreitete Münch dem
Staatskanzler ſeinen Feldzugsplan. Er wies in einem Promemoria nach,
daß eigentlich nur das Preßgeſetz der Verlängerung bedürfe, da die übrigen
Karlsbader Geſetze nicht für eine beſtimmte Friſt erlaſſen ſeien; er be-
hauptete dreiſt, für den Beſchluß der Verlängerung genüge die einfache
Mehrheit am Bundestage, rieth aber ſeinem Gönner dringend, zuvor ver-
traulich mit den größeren Höfen, vornehmlich mit dem Münchener zu ver-
handeln. Denn in Baiern beſtand noch immer die einzige beſcheidene
Ausnahme von der Regel des Karlsbader Preßgeſetzes. Nur die Zeit-
ſchriften, nicht die Bücher waren dort der Cenſur unterworfen, und ob-
gleich die Münchener Polizei durch ſcharfe Verbote auch die Bücher wohl
zu treffen wußte, ſo hielt der k. k. Präſidialgeſandte doch jede Abweichung
von dem großen Grundſatze der Cenſur für gefährlich. Metternich folgte
dem Rathe und ſuchte ſich zunächſt der Unterſtützung Preußens zu ver-
ſichern, indem er die Hauptſätze der Denkſchrift Münch’s durch Hatzfeldt
nach Berlin gelangen ließ (12. Mai). Bernſtorff gab ſeine Zuſtimmung,
denn über Zeitungen und Studenten dachte er nicht anders als ſein
Wiener Freund. Nur ein ernſtes Formbedenken machte er geltend. Die
Erinnerung an jene gefälſchte Abſtimmung, welche einſt die Annahme der
Karlsbader Beſchlüſſe herbeigeführt hatte, war dem preußiſchen Miniſter
doch peinlich. Er beſtand darauf, daß diesmal die Formen des Bundes-
rechts gewiſſenhaft geſchont würden; er verlangte einſtimmigen Beſchluß,
da die Erneuerung eines Ausnahmegeſetzes dem Erlaß eines neuen Ge-
ſetzes rechtlich gleichſtehe, und ſetzte endlich ſeinen Willen durch, obwohl
der Wiener Hof, aus Furcht vor einem Mißerfolge, ſehr lange und leb-
haft widerſprach.*)
Unterdeſſen ging Metternich ſelbſt nach Baiern, wo er die Stim-
mung über alles Erwarten günſtig fand. Wohl hatte Max Joſeph jüngſt
wieder, beim Jubelfeſte ſeiner Regierung, unzählige Beweiſe der Liebe von
ſeinem Volke empfangen und er wußte die bairiſche Treue zu ſchätzen;
[334]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
aber in das conſtitutionelle Weſen konnte ſich der alternde König nie recht
finden, und mit Bangen ſah er dem nächſten Landtage entgegen, der ein
beträchtliches Deficit decken ſollte. Zudem ſtand die Demagogenverfolgung
eben jetzt in voller Blüthe. In München wurden Dr. Eiſenmann und
einige andere brave junge Männer, auf eine Anzeige aus Berlin, ver-
haftet. In Erlangen wollte man bei gefangenen Soldaten einen Plan ent-
deckt haben, der darauf hinauslief, den König mitſammt ſeinen Miniſtern
zu beſeitigen oder gar zu erhängen, wie ängſtliche Gemüther behaupteten:
nur den liberalen Lerchenfeld dachten die jungen Unholde zu verſchonen.
Die Kinderei machte doch tiefen Eindruck bei Hofe, und dem liberalen
Miniſter gereichte die Verehrung, welche ihm die Demagogen erwieſen,
nicht zum Vortheil. Er war ſchon mehrmals ſeinem Sturze nahe ge-
weſen und hatte es hinnehmen müſſen, daß ſein geiſtvoller Freund Ignaz
Rudhart, wegen eines freimüthigen Buches über das Bundesrecht, in die
Provinz verſetzt wurde. Die um den Nuntius geſchaarte ultramontane
Partei trat täglich kecker auf; in der Frauenkirche hielt Pfarrer Hoek, ge-
ſchützt von ſeinem Erzbiſchof, Schmähpredigten wider die Proteſtanten.
Eine Schrift von Alexander Müller „Preußen und Baiern im Concordate
mit Rom“ wurde verboten, weil ſie die alte fridericianiſche Kirchenpolitik
vertheidigte.*) Unheimliche Gerüchte von hierarchiſchen Umtrieben durch-
liefen das Land und beunruhigten die proteſtantiſche Bevölkerung. Als
der König, um den proteſtantiſchen Gemeinden eine größere Selbſtändig-
keit zu geben, die Erwählung von Presbyterien anordnete, da ſtieß er bei
ſeinen Franken auf zähen Widerſtand. Anſelm Feuerbach eiferte in leiden-
ſchaftlichen Streitſchriften wider den Verſuch, die lutheriſche Freiheit durch
calviniſche Sittenzucht zu beſchränken, er beſtritt dem katholiſchen Landes-
herrn die oberſtbiſchöfliche Gewalt, verlangte ein beſonderes Cultusmini-
ſterium für die proteſtantiſche Kirche und ließ ſich auch nicht beſchwichtigen,
als Schleiermacher und ſogar der Todfeind der Prieſterherrſchaft, Paulus
den offenbar wohlgemeinten Plan des Königs vertheidigten. Das Miß-
trauen war unüberwindlich, die Krone mußte nachgeben. Tief erſchüttert
durch den Tod ſeines Lieblings Eugen Beauharnais zeigte ſich Max Joſeph
in dieſen Tagen noch weicher und lenkſamer als ſonſt. Rechberg ſtand
in höchſter Gnade und verſtand dieſe Stimmung zu benutzen. Er wurde
nicht müde dem preußiſchen Geſandten zu verſichern, ſein König werde
ſich herzlich freuen, wenn ihm der Bund eine Reform ſeiner Landes-
verfaſſung ermögliche; der Antrag darauf könne freilich nicht von Baiern,
ſondern nur von den Großmächten ausgehen.**)
In den letzten Maitagen traf Metternich in Tegernſee ein, im Ge-
folge des Erzherzogs Franz Karl, der ſich dort mit der Tochter des Königs,
[335]Metternich in Tegernſee.
Sophie verloben ſollte; um des öſterreichiſchen Bündniſſes willen hatte
ſich der zärtliche Vater doch entſchloſſen, die Hand der ſchönen und klugen
Prinzeſſin dieſem von der Natur gar ſtiefmütterlich behandelten zweiten
Sohne des Kaiſers Franz zu ſchenken. Während die fürſtlichen Herr-
ſchaften ihr glänzendes Familienfeſt feierten, unterhandelte Metternich ins-
geheim mit Rechberg, Wrede, Zentner, und legte ihnen zunächſt die Denk-
ſchrift Münch’s vor. Vorſichtig warf der Oeſterreicher ſodann die Frage
auf, ob nicht bei dieſer Gelegenheit auch die dringend nöthige Abänderung
der neuen Landesverfaſſungen von Bundeswegen verſucht werden könne.
Der Anlaß zu dieſer Frage kam wieder von dem unverbeſſerlich reaktio-
nären badiſchen Hofe. Während der jüngſten Monate hatten die Ultras
in Karlsruhe nicht aufgehört, ihrem Wiener Beſchützer die Befeſtigung des
monarchiſchen Princips, die Schließung der Zuhörertribünen in den Kam-
mern, die Aufhebung der akademiſchen Gerichtsbarkeit ans Herz zu legen;
im Januar war Berſtett ſelbſt nach Frankfurt geeilt um mit Münch wegen
der Bändigung des badiſchen Landtags zu verhandeln.*) Zu Metternich’s
freudiger Ueberraſchung nahm nicht blos Rechberg dieſe Eröffnungen
freundlich auf, ſondern auch Zentner. Derſelbe Mann, der vor kaum
fünf Jahren die Karlsbader Beſchlüſſe ſo eifrig bekämpft hatte, hielt jetzt
ihre Verlängerung für dringend nöthig. So unwiderſtehlich riß die reaktio-
näre Strömung der Zeit auch die Beſonnenen mit ſich fort. Alle leiten-
den Staatsmänner Deutſchlands, bis auf verſchwindende Ausnahmen,
bekannten ſich nunmehr offen zu Gentz’s frechem Ausſpruch: „das oberſte
Geſetz des europäiſchen Bundes heißt Cenſur.“ Allen erſchien es ruchlos,
unbegreiflich, daß die auf den Schlachtfeldern Südeuropas unterlegene
Revolution noch immer lebte, daß die geſchlagene Partei noch zu reden
wagte und die Todten — ſo höhnte Gentz — wie Banquo’s Schatten die
Lebendigen von ihren Stühlen trieben. In eine tiefgreifende Umgeſtal-
tung der Landesverfaſſungen wollte Zentner allerdings nicht willigen, doch
die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen — „dieſes erſte und in
ſeinen täglichen Ausbrüchen größte aller neueren Uebel“, wie Metternich
ſich ausdrückte — hielt auch er für verderblich, und auf das Andringen
des Oeſterreichers legte er endlich (28. Mai) ſeine Vorſchläge in einem
Aufſatze nieder, welcher die kühnſten Hoffnungen der Hofburg übertraf.**)
Die Denkſchrift verlangte, daß Oeſterreich in einem Präſidialvortrage
dem Bundestage die „bei ſcheinbarer äußerer Ruhe“ noch fortwährende
bedrohliche Thätigkeit der revolutionären Parteien darſtellen und darauf-
hin die Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe, ſoweit ſie nicht ohnedies
[336]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
ſchon fortbeſtänden, beantragen ſolle. Im Einzelnen forderte Zentner
namentlich die Aufrechterhaltung des monarchiſchen Princips bei der Aus-
führung des Artikels 13 der Bundesakte. Im Deutſchen Bunde können
„keine von dem urſprünglichen landſtändiſchen Charakter gänzlich abweichen-
den Formen und Grundſätze geduldet werden“, darum müſſen alle die
Bundesſtaaten, welche ihren Ständen öffentliche Verhandlungen geſtatten,
womöglich nach gemeinſamer Verabredung, ſtrenge Geſchäftsordnungen ein-
führen. Mit der Fortdauer der Geſetze wider die Univerſitäten und die
Preſſe erklärte ſich der bairiſche Miniſter ganz einverſtanden, obwohl er
hinzufügte, daß man in Baiern durch Bücherverbote ebenſo viel, ja ſogar
noch mehr erreicht habe als anderwärts durch die Büchercenſur. Von
einem Vorbehalte der bairiſchen Souveränität und Verfaſſung war gar keine
Rede mehr. Alſo ſchien der Vater der bairiſchen Conſtitution mit fliegen-
den Fahnen in das öſterreichiſche Lager hinüberzuziehen, und Metternich
beſchloß ſofort, dieſe Denkſchrift Zentner’s für ſeine eigenen Anträge am
Bundestage zur Grundlage zu nehmen. Er wollte, ſo geſtand er ſeinem
Kaiſer, „Baiern compromittiren“, dem unzuverläſſigen Münchener Hof
jeden Rückzug verſperren. Hochbefriedigt verließ er Tegernſee am 2. Juni,
um dann auf dem Johannisberge ſeine Vertrauten um ſich zu verſammeln.
Sie Alle begrüßten die bairiſche Denkſchrift als einen großen Erfolg. Der
preußiſche Bundesgeſandte meinte ſchadenfroh: „Zentner ſchien ſein eignes
Kind für ungerathen zu erklären und ging auf einen Erleuchtungspunkt
über, der von ſeinen früheren Anſichten als Illuminat, Profeſſor und Con-
ſtitutionsverfaſſer ſehr verſchieden iſt.“*)
Ganz ſo ſchlimm ſtand es denn doch nicht. Der kluge bairiſche
Staatsmann hielt, obgleich er den Wünſchen Oeſterreichs ſehr weit ent-
gegenkam, noch immer an den Grundſätzen feſt, welche er auf der Wiener
Conferenz mit Bernſtorff’s Unterſtützung vertheidigt hatte; er wollte kein
Eingreifen des Bundes in die Landesverfaſſungen. Und ſah man ſchärfer
hin, ſo enthielt Zentner’s Denkſchrift nicht einmal das unzweideutige Ver-
ſprechen, daß Baiern ſelber fortan das Karlsbader Preßgeſetz buchſtäblich
befolgen und, ſeinen Verfaſſungsgeſetzen zuwider, die Büchercenſur ein-
führen wolle. Wenn er eine ſcharfe Geſchäftsordnung für die Landtage
wünſchte, ſo war auch dies kein neues Zugeſtändniß, ſondern lediglich eine
Umſchreibung der in Art. 59 der Schlußakte bereits gegebenen Vorſchrift.
Metternich wußte auch ſehr wohl, daß die Gefügigkeit des Münchener
Hofes ihre Grenzen hatte. Als Berſtett jetzt auf dem Johannisberge er-
ſchien um wieder einmal die Hilfe des Bundes anzurufen und wieder
einmal in einer langen Blittersdorffiſchen Denkſchrift die bedrängte Lage
Badens darzuſtellen,**) da erwiderte ihm der Oeſterreicher achſelzuckend:
möge man in Karlsruhe zuſehen, wie man aus eigener Kraft mit den
[337]Berathung auf dem Johannisberge.
Landſtänden fertig werde; mehr als in Tegernſee erlangt ſei, laſſe ſich
für jetzt nicht erreichen; Preußen und Baiern wollten nicht weiter gehen.
Immerhin durfte er ſich ſeiner Erfolge freuen. Vor Kurzem noch hatte
er den Freunden geklagt: „Rechberg iſt nicht Baiern;“*) jetzt ward ihm
der Triumph, daß der alte Widerſacher der Karlsbader Beſchlüſſe ſelber
ihre Erneuerung beantragte.
Mehrere Wochen lang verweilte Metternich nunmehr auf ſeinem
rheiniſchen Schloſſe. Münch, Nagler, Hatzfeldt, Marſchall, Berſtett,
Münſter, du Thil, faſt alle leitenden Staatsmänner des Bundes machten
ihm ihre Aufwartung, der Herzog von Oldenburg erſchien perſönlich. Alle
ſprachen ſich für Zentner’s Vorſchläge aus. Am eifrigſten Berſtett. Der
hatte ſchon einen Plan fertig für eine gemeinſame Geſchäftsordnung der
ſüddeutſchen Volkskammern, welche die beſtehenden Verfaſſungen nicht im
mindeſten beeinträchtigen ſollte: man brauchte nur einfach „die Ausnahme
zur Regel und die Regel zur Ausnahme zu machen“, ſo daß die Kam-
mern künftighin nur in beſonderen Fällen, mit Genehmigung der Regierung,
eine öffentliche Sitzung beſchließen durften! Auch der Dresdener Hof er-
klärte ſein Einverſtändniß, die kleinen Cabinette wurden durch ein Rund-
ſchreiben Metternich’s aufgeklärt, und zum allgemeinen Erſtaunen erſchien
ſogar der württembergiſche Miniſter Maucler auf dem Johannisberge um
ſeinen Frieden mit den Großmächten zu ſchließen.**) Ganz zuletzt verbrachte
noch Großherzog Karl Auguſt von Weimar einige Stunden auf dem
Schloſſe, ſehr wenig erbaut von dem diplomatiſchen Geflüſter; aber wie
durfte er widerſprechen, da er die Mächtigen einig ſah?
Seinen Heimweg nahm Metternich über das Wrede’ſche Schloß Ellin-
gen, um dort noch einmal mit den bairiſchen Staatsmännern zuſammen-
zutreffen und die neue Freundſchaft zu befeſtigen. In ſeinem gewohnten
großſprecheriſchen Tone verkündete er alsdann (29. Juli) dem Kaiſer Franz,
der große Schlag am Bundestage ſei genugſam geſichert. Unglaublich,
welche ſelbſtgefällige Lügen er ſeinem Monarchen, der allerdings vom
deutſchen Bundesrechte kindliche Vorſtellungen hegte, ins Geſicht zu ſagen
wagte. Er erzählte ihm, durch die Miniſterconferenzen von 1820 hätte
der Bund „einige ſiebzig neue organiſche Geſetze“ erhalten — was nur
dann zur Noth zutraf, wenn man jeden einzelnen der 65 Paragraphen
der Schlußakte als ein beſonderes organiſches Geſetz zählte. Durch dieſe
fabelhafte legislatoriſche Fruchtbarkeit war die organiſche Geſetzgebung des
Bundes nunmehr natürlich abgeſchloſſen, und es fehlte nur noch die Er-
neuerung der Ausnahmegeſetze. Bereitwillig ertheilte Kaiſer Franz ſeine
Genehmigung: „An Ihren Bemühungen, Ruhe und Ordnung in der Welt
zu erhalten, hat es wahrlich nicht gefehlt. Gott kröne ſie mit Erfolg!“
Am 12. Auguſt wurde der Bundestag in vertraulicher Sitzung über
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 22
[338]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
die Abſichten der Hofburg unterrichtet. Vier Tage darauf ging das wohl-
vorbereitete Schauſpiel über die Bretter. Münch hielt einen langen Prä-
ſidialvortrag und führte darin auf Metternich’s Befehl mehrere Stellen
aus Zentner’s Denkſchrift wörtlich wieder an, damit die Anträge auch in
der Form als ein gemeinſames Werk Baierns und Oeſterreichs erſchienen.
Darauf beſchloß der Bundestag einſtimmig, die Giltigkeit des proviſoriſchen
Preßgeſetzes bis zum Erlaß eines endgiltigen Geſetzes zu verlängern. Auch
das Geſetz über die Univerſitäten ſollte fortbeſtehen und inzwiſchen ein
Ausſchuß der Bundesverſammlung die Gebrechen des deutſchen Unter-
richtsweſens näher prüfen. Endlich wurden alle Bundesſtaaten verpflichtet,
das monarchiſche Princip aufrecht zu erhalten und den Mißbräuchen der
öffentlichen Landtagsverhandlungen durch eine ſtrenge Geſchäftsordnung,
womöglich nach gemeinſamen Grundſätzen, vorzubeugen.
Die meiſten der kleinen Höfe, Berſtett ſelbſt geſtand es ſpäterhin,
fügten ſich nur widerwillig, jedoch der Schein der Freiheit blieb gewahrt,
die Zuſtimmung ward durchweg ohne Vorbehalt gegeben, und nur Blit-
tersdorff’s argwöhniſches Auge konnte aus den etwas gewundenen Sätzen
des Votums der Erneſtiner errathen, daß „der Wartburg-Geiſt“ in Weimar
noch ſpuke. Das verheißene definitive Preßgeſetz wagte man nicht anzu-
regen, aus Furcht vor Unfrieden, und aus demſelben Grunde trat auch
der neue Bundesausſchuß für das Univerſitätsweſen niemals ins Leben.
Der einzige Staat, welcher den bairiſch-öſterreichiſchen Anträgen ein kleines
Bedenken anhing, war, ſeltſam genug, Baiern ſelbſt. Sein Geſandter
willigte in die Verlängerung des Preßgeſetzes mit den zweideutigen Worten:
die im Jahre 1819 beſchloſſenen Maßregeln gegen die Preſſe ſollten in
allen deutſchen Staaten „wie bisher“ gehandhabt werden. Baiern behielt
ſich alſo ſeinen bisherigen Sonderbrauch ſtillſchweigend vor. Vergeblich
hatte Metternich bis zuletzt verſucht, dieſe Clauſel zu beſeitigen; endlich
drückte er ein Auge zu, da Baiern ohnehin ſchon feſt genug an Oeſter-
reich gekettet war. Die Annahme der Karlsbader Beſchlüſſe war vor fünf
Jahren nur durch einen Gewaltſtreich gelungen, ihre Erneuerung jetzt war
rechtlich unanfechtbar. Obwohl die vorgeſchriebene förmliche Berathung
nicht ſtattfand, ſo wurden doch alle übrigen Vorſchriften der Geſchäfts-
ordnung eingehalten, und die verfaſſungsmäßige Einſtimmigkeit kam zu
Stande. Der Beſchluß über die Landtage bedeutete ſehr wenig; denn im
Grunde ſtand es auch jetzt noch jedem Bundesſtaate frei, die Schranken
der Redefreiheit nach ſeinem Belieben zu ziehen. Aber ihr wichtigſtes Ziel
hatte die Hofburg erreicht, die Heilanſtalt der Cenſur blieb den Deutſchen
auf unbeſtimmte Zeit hinaus geſichert. Der König von Preußen ſprach
dem öſterreichiſchen Staatskanzler in einem gnädigen Briefe ſeinen Dank
aus, und Metternich meinte befriedigt, nunmehr erſt ſei der Deutſche
Bund ganz in das Syſtem der großen Mächte verflochten.*) Gentz aber
[339]Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe.
ſchrieb — ohne zu ahnen, wie furchtbar ſeine Weiſſagung ſich dereinſt
erfüllen ſollte: — „Das revolutionäre Syſtem kann von nun an in
Deutſchland nur dann die Oberhand gewinnen, wenn der Deutſche Bund
ſelbſt untergeht. So weit haben wir es ſeit dem Jahre 1819 gebracht.“ —
Seit dieſen Beſchlüſſen zeigte der Wiener Hof gegen den Bundestag
wieder dieſelbe träge Gleichgiltigkeit wie im Jahre 1817. Die polizeiliche
Ordnung war geſichert; was wollte man mehr? Poſitive Pläne für die
Mehrung deutſcher Macht und Wohlfahrt konnte das Haus Oeſterreich
nicht hegen; wenn nicht das ruheloſe Preußen die Bundesfeſtungsfrage
immer wieder aufgerührt hätte, ſo wäre dem Bundestage der Berathungs-
ſtoff faſt gänzlich ausgegangen. Die von der Hofburg gewünſchte vier-
monatliche Tagung der Bundesverſammlung trat thatſächlich in Kraft,
da Münch fortan regelmäßig acht Monate des Jahres zu Wien im Aus-
wärtigen Amte verbrachte; während ſeiner Abweſenheit ließ er ſich ſtets
durch Baiern oder Sachſen, niemals durch Preußen vertreten. Das Trei-
ben in der Eſchenheimer Gaſſe ward ſchlechthin geſpenſtiſch, unterſchied ſich
in nichts mehr von den Regensburger Zeiten. Die vielbelachten Eutiner
Gemeinweiden, in denen einſt der alte Reichstag bei ſeinem Untergange
ſtecken geblieben war, fanden im Jahre 1827 ihr würdiges Gegenſtück,
als die Mainzer Feſtungsbehörde „mit Eilfertigkeit und ebenſo rückſichts-
loſer Hintanſetzung ihres Verhältniſſes zu hoher Bundesverſammlung“
einige Abtritte in den Garniſonlazarethen erbaut hatte, und der Bundes-
tag über dieſe Eigenmächtigkeit in gerechte Entrüſtung gerieth. Natürlich
waren die Miſſethäter preußiſche Offiziere. Da ſich jedoch „die Noth-
wendigkeit der getroffenen Vorkehrung“ nicht beſtreiten ließ, ſo beſchloß
man endlich, durch die Militärcommiſſion „die Verwendung der ange-
ſchlagenen Summe vorderſamſt zu conſtatiren, wornächſt“ unter ſtrenger
Verwarnung der ſchuldigen Behörde das Geld ausgezahlt werden ſollte.
Im folgenden Jahre wurden wegen derſelben Abtritte nochmals ſo harte
und grundloſe Vorwürfe erhoben, daß Nagler den erbitterten Kleinen vor-
halten mußte: das preußiſche Feſtungsgouvernement ſolle doch erſt gehört
werden bevor man ſein Verfahren mißbillige.
Auch in der Kunſt, das Einfache zu verwirren, das Klare zu ver-
dunkeln hatte der Bundestag ſein Regensburger Vorbild längſt glücklich
erreicht. Das mußte unter Anderen die Fürſtin Berkeley erfahren, die
Wittwe des letzten Markgrafen von Ansbach-Baireuth. Ihr hatte einſt
die Krone Preußen eine jährliche Rente auf die öffentlichen Fonds der
fränkiſchen Provinzen angewieſen, und nach dem klaren Wortlaut der
Verträge unterlag es keinem Zweifel, daß der König von Baiern als
nunmehriger Landesherr von Ansbach-Baireuth das Witthum zu zahlen
hatte. Baiern wußte ſich jedoch ſeiner Verpflichtung unter leeren Vor-
wänden zu entziehen, und als die Fürſtin im Jahre 1825 ſich beim Bun-
destage beſchwerte, wurde die Sache erſt in Frankfurt mehrere Jahre lang
22*
[340]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
hinausgezogen, dann an das Austrägalgericht in Lübeck verwieſen. Im
Jahre 1830 entſchied das Gericht, wie ſich von ſelbſt verſtand, zu Gunſten
der Klägerin. Aber inzwiſchen war die Fürſtin geſtorben, und ihr Sohn,
Lord Craven, erhielt in Baiern den Beſcheid, die Forderung ſei nach
bairiſchem Geſetz erloſchen. Er konnte niemals zu ſeinem Rechte gelangen,
obgleich die engliſche Regierung ſich ſeiner annahm und die Londoner
Preſſe mit wohlverdienter Verachtung über dies Probſtück deutſcher Treue
ſprach. Gentz war im Rechte, ſo weit hatte man es ſeit dem Jahre 1819
gebracht! Angeſichts dieſes Jammers war es kaum noch zu verwundern,
daß Metternich am 18. Sept. 1828 der Bundesverſammlung die höhniſche
Zumuthung ſtellen ließ, ſich in Ermangelung von Geſchäften auf unbe-
ſtimmte Zeit zu vertagen. Der Antrag ward aus Schamgefühl nicht ein-
mal in die geheimen Protokolle aufgenommen, ſondern in einer geſchrie-
benen Regiſtrande verſteckt; aber man ging darauf ein, und die Vertagung
währte über vier Monate.
So ſchimpflich dieſer Zuſtand war, der ein großes Volk dem Ge-
ſpötte Europas preisgab, er hatte doch ſehr feſte Wurzeln in den großen
Weltverhältniſſen. So lange Oeſterreich, England, Dänemark, Holland
dem Deutſchen Bunde angehörten, mußte ſeine Centralgewalt entweder,
wie in Wangenheim’s Tagen, in unfruchtbarer Zänkerei oder in nichtigem
Stillleben verkommen, und wer unter den tauſenden treuer Patrioten,
die über das deutſche Elend weinten, hatte über die Gründe der natio-
nalen Schande auch nur ernſtlich nachgedacht? Mit der Zeit knüpfte ſich
auch manches geſellſchaftliche Band zwiſchen dem Bundestage, der Frank-
furter Börſe und den angeſehenen Häuſern der Nachbarſchaft; die vor-
nehme Welt des Südweſtens konnte dieſen immer unbeſchäftigten und
immer zu Luſtbarkeiten aufgelegten Diplomatenhof bald nicht mehr ent-
behren. Ungemein werthvolle Dienſte leiſteten ihm ſeine drei mächtigen
Günſtlinge, die Geſchäftshäuſer Rothſchild, Taxis und Cotta. Die Firma
Rothſchild erſtattete ihren Dank für die geſchenkten Zinſen der deutſchen
Feſtungsgelder, indem ſie den Wiener Hof mit geheimen Nachrichten be-
diente und durch ihre weitverzweigte, ſtillwirkende ſociale Macht die k. k.
Bundespolitik unterſtützte.
Nicht minder dankbar zeigte ſich das Fürſtenhaus Thurn und Taxis,
dem die Bundesakte alle ſeine alten Poſtrechte beſtätigt und dadurch von
Preußen und mehreren anderen Staaten eine reichliche Entſchädigung ver-
ſchafft hatte. In Württemberg, beiden Heſſen, Naſſau und den thüringi-
ſchen Landen verwaltete das Haus die Poſten ſelber mit der ganzen Scham-
loſigkeit des Monopolgeiſtes. Wie manche Reiſe in Mitteldeutſchland
unterblieb, weil man ſich fürchtete in den entſetzlichen Wagen dieſer Poſt
„thurn- und taxirt zu werden“, wie der Volksmund ſagte. Die durch
Börne’s Witze verherrlichte Taxis’ſche Poſtſchnecke brauchte für die vierzig
Stunden Weges zwiſchen Frankfurt und Stuttgart ſechsundvierzig Stun-
[341]Rothſchild. Taxis. Cotta.
den, fünfzehn davon für die Wirthshäuſer. An die Einrichtung von Ne-
benkurſen, die wenig eintrugen, war gar nicht zu denken. Gefälliger als
den Reiſenden erwies ſich die Taxis’ſche Poſtverwaltung der k. k. Präſidial-
geſandtſchaft; ſie ſtellte ihr nicht nur ihre Frankfurter Oberpoſtamtszeitung,
ein Blatt von unerreichter Geiſtloſigkeit, zur Verfügung, ſondern auch ihre
polizeilichen Künſte. Durch die napoleoniſche Polizei war der Unfug der
Brieferbrechung freilich längſt in ſämmtlichen Staaten des Feſtlandes ein-
gebürgert worden. Alle Höfe richteten ſich danach. Wenn ein Miniſter
einem fremden Souverän ungeſtraft eine bittere Wahrheit ſagen wollte, ſo
ſchrieb er ſeinem Geſandten durch die Poſt; dann konnte er ſich darauf
verlaſſen, daß ſeine Worte an ihre eigentliche Adreſſe gelangten. Aber ſo
dreiſt wie in den „Logen“ der Taxis’ſchen Poſt ward das ſchmutzige Hand-
werk nur noch in der Wiener Stallburg getrieben; wie eine Kreuzſpinne
ſaß mitten im Netze des deutſchen Verkehrs das berüchtigte Taxis’ſche
Oberpoſtamt von Eiſenach. Als Nagler einſt den Auftrag erhielt, eine
geheime Weiſung von Frankfurt aus ſicher an Küſter in München zu be-
fördern, da antwortete der gewiegte Sachkenner: das ſei rein unmöglich;
man möge die Inſtruktion in Berlin auf einen zierlichen Briefbogen
ſchreiben und von Damenhand an Fräulein v. Küſter adreſſiren laſſen;
dies Billet müſſe dann als Einlage in einem Briefe an einen Münchener
Kunſtfreund abgehen.*) In ſolchem Geiſte geleitet wurde die Taxis’ſche
Poſt eine mächtige Stütze der öſterreichiſchen Herrſchaft in Deutſchland.
Den Taxis’ſchen Palaſt in der Eſchenheimer Gaſſe benutzte der öſterrei-
chiſche Geſandte unentgeltlich als Miether, und der Bundestag fand es
nicht unanſtändig, jahrzehntelang die Gaſtfreundſchaft der Regensburger
Poſt-Dynaſten zu genießen.
Von anderer Art, aber ebenſo brauchbar waren die Gefälligkeiten,
welche das Haus Cotta dem Bundestage erwies. Im Jahre 1825 er-
bat ſich Goethe für ſeine Werke ein Privilegium gegen den Nachdruck.
Eine feierlich würdevolle Eingabe des Altmeiſters mahnte: „die von ſo er-
habener Stelle dem großen Ganzen gewidmete Ueberſicht ſchließt eine wohl-
wollende Betrachtung einzelner Angelegenheiten nicht aus“ — und empfahl
dem erhabenen Bundestage, dem Vereine aller deutſchen Souveränitäten
„dieſes für die ganze deutſche Literatur bedeutende Geſchäft“. Obwohl
ein Bundesgeſetz wider den Nachdruck trotz der Bemühungen Preußens noch
immer nicht zu Stande gekommen war und die Ertheilung von Privilegien
nicht zu den Befugniſſen des Bundestags gehörte, ſo fühlte die Verſamm-
lung doch was Deutſchland ſeinem Dichter ſchuldete. Von Nagler zur Eile
gedrängt ging ſie über die Formbedenken hinweg und beſchloß, ungewöhnlich
ſchnell, ſchon nach zwei Monaten, das Geſuch Goethe’s bei allen Bundes-
regierungen zu befürworten. So konnten denn „unter des durchlauch-
[342]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
tigſten Deutſchen Bundes ſchützenden Privilegien“ die vierzig Bände der
Ausgabe letzter Hand in Cotta’s Verlag erſcheinen. Späterhin wurde das
alte Privilegium erneuert und ein gleiches auch für Schiller’s Werke er-
worben. Aber die reichen Erben des hochverdienten Johann Friedrich Cotta
widerſtanden den Verſuchungen des Monopolgeiſtes ebenſo wenig wie das
Haus Taxis; unbekümmert um die Mahnungen der Gelehrten, mißbrauchten
ſie ihr Privileg durch ſchnöde Vernachläſſigung der ihnen anvertrauten
Schätze, und ſo lange der Bundestag beſtand erlangte das deutſche Volk
niemals eine anſtändige, correcte Ausgabe der Werke ſeiner größten
Dichter — ein nationaler Skandal, der, in England oder Frankreich un-
denkbar, nur von Neuem bewies, wie machtlos die öffentliche Meinung
in dieſem zerriſſenen Lande war.
Den Gegendienſt für dieſe außerordentliche Begünſtigung erſtattete das
Haus Cotta durch ſeine Augsburger Allgemeine Zeitung, die etwa ſeit dem
Jahre 1820 das angeſehenſte, in Oeſterreich ſogar das allein geleſene deutſche
Blatt wurde. Sie war den Diplomaten unentbehrlich durch ihre reichhal-
tigen Berichte, den Gelehrten durch die wiſſenſchaftlichen Aufſätze ihrer Bei-
lagen und ſchien ein Sprechſaal aller Parteien zu ſein, da ſie von Männern
grundverſchiedener Geſinnung, zuweilen, wenn die liberale Zugluft ſcharf
ging, ſogar von entſchiedenen Radikalen Beiträge brachte und ihre eigene
Meinung nur ſelten, und ſtets mit diplomatiſcher Behutſamkeit, ausſprach.
In der Redaktion ſaßen lange Jahre hindurch Stegmann und Lindner’s
Freund Le Bret, zwei liberale Partikulariſten von der Stuttgarter Farbe.
Gleichwohl ſtand dieſe unparteiiſche Zeitung mit dem öſterreichiſchen Hofe in
ſo inniger Verbindung, daß Cotta mehrmals daran dachte, ſein Organ
nach Wien zu verlegen — wäre nur die ängſtliche k. k. Cenſur nicht ge-
weſen! — und Gentz wußte wohl, warum er, hundertmal geärgert durch
die liberalen Artikel des Augsburger Blattes, ihm doch immer wieder ſeine
Gunſt zuwendete. Wirkſamer als in den Spalten des verrufenen Oeſter-
reichiſchen Beobachters ließen ſich die Herzensgedanken der Wiener Staats-
kunſt hier ausſprechen, da die Redaktion nach kaufmänniſchen Grundſätzen
verfuhr und, um ſich den Ruf diplomatiſcher Unergründlichkeit zu erhalten,
niemals eine Zuſendung „von hochgeehrter Hand“ zurückwies — nur
mußten die Artikel zeitgemäß gehalten und dem aufgeklärten Publicum
mundgerecht zugerichtet werden. Auf die politiſche Bildung der Nation,
die in ihrer unklaren Erbitterung und Sehnſucht vor Allem rückhaltlos
ehrlicher Belehrung bedurfte, konnte eine ſo in allen Farben ſchillernde
Zeitung nur tief verderblich wirken. Sie nährte in ihren Leſern jene
kenntnißreiche politiſche Hilfloſigkeit, welche den gebildeten Deutſchen vor
den Nachbarvölkern traurig auszeichnete. Wer durch dieſe Brille ſah,
gelangte zu der Einſicht, daß die ekelhafte Poſſe in der Eſchenheimer
Gaſſe ewig währen müſſe; er meinte Alles zu wiſſen, da er über Peru,
Schweden, Hinterindien genau unterrichtet wurde, und blieb doch fremd im
[343]Stillleben am Bundestage.
eigenen Vaterlande, denn über den lebenskräftigſten der deutſchen Staaten
erhielt der Leſer nur ſeltene, dürftige und, der Regel nach, böswillige Be-
richte. Alſo diente die Allgemeine Zeitung dem Hauſe Oeſterreich als
treuer Bundesgenoſſe, und es war kein Zufall, daß ſie ſofort nach Metter-
nich’s Sturz ihre alte Macht für immer verlor.
Durch dieſe Zeitung lernte Deutſchland zuerſt eine Macht kennen,
deren Wirkſamkeit den weſtlichen Nachbarn ſchon länger vertraut war,
die Anonymität der Preſſe; denn unverkennbar verdankte das Augsburger
Blatt einen Theil ſeines Anſehens dem undurchdringlichen Schleier, der
ſeine politiſchen Mitarbeiter, reaktionäre und liberale, einſichtige und un-
fähige, bedeckte. In den unſchuldigen erſten Friedensjahren hatte ſich die
tapfere deutſche Natur wider die namenloſe Schriftſtellerei noch lebhaft
geſträubt; beſaß doch unſere ehrliche Sprache nicht einmal ein ganz zu-
treffendes Wort für Anonymität. Die Kammerredner der badiſchen und
der bairiſchen Liberalen ſtimmten damals noch faſt alle überein in der
Anſicht, daß Preßfreiheit nur möglich ſei, wenn Jeder mit ſeinem Namen
für ſeine Meinung eintreten müſſe. Inzwiſchen war die Zeit der Verfol-
gungen und des Mißtrauens hereingebrochen, und die Anonymität erſchien
jetzt Allen als ein unentbehrliches Bollwerk der Preßfreiheit. Man fragte
nicht mehr, welche Verletzungen der Amtspflicht, welche ſittlichen Vergehun-
gen ſich hinter den anonymen Artikeln verſteckten; man geſtand den Tages-
ſchriftſtellern das Vorrecht zu, alles Verborgene ans Licht zu ziehen, ſich
ſelber aber in tiefem Dunkel zu verbergen, und nahm dies Stück verkehrter
Welt hin als könne es gar nicht anders ſein. So begann ſich auch in
Deutſchland eine der ſchlimmſten ſittlichen Krankheiten des neunzehnten
Jahrhunderts einzubürgern, ein unnatürlicher Zuſtand, der ſpäteren Zeiten
in einem ähnlichen Lichte erſcheinen wird, wie das Delatoren-Unweſen des
römiſchen Kaiſerreichs, dem gegenwärtigen Geſchlechte aber noch ſo gewohnt
und behaglich vorkommt wie den Orientalen die Peſt. —
Das einzige erfreuliche Ereigniß in dieſer öden Epoche der Bundes-
geſchichte war die Auflöſung der Mainzer Central-Unterſuchungscommiſſion,
die im Jahre 1829 endlich in aller Stille wegen gänzlicher Erſchöpfung
des Arbeitsſtoffes nach und nach beſeitigt wurde. An 90,000 Gulden hatte
ſie dem Bunde gekoſtet, den betheiligten Regierungen eine halbe Million.
Und was war das Ergebniß? Ein erſchreckender Einblick in die Geſin-
nungen — nicht der Demagogen, ſondern der deutſchen Höfe und ihrer
Polizeibeamten. Die Behörden waren von Haus aus auf falſcher Fährte,
ſie ließen den gefährlichſten der jungen Unzufriedenen, Karl Follen auf
freiem Fuße, ſo daß er ſchon zu Anfang 1820 nach Frankreich entfliehen
konnte, und führten die Unterſuchung gegen die übrigen Verhafteten ſo
unglücklich, daß die Mainzer Commiſſion, um doch irgend eine Spur ge-
fährlicher Umtriebe aufzuweiſen, zu den unwürdigſten Verleumdungen ihre
Zuflucht nehmen mußte. Schon im Jahre 1820 ſendete der Naſſauiſche
[344]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Bevollmächtigte Muſſet, Marſchall’s würdiges Werkzeug, hinter dem Rücken
der Collegen ſeinem Hofe einen geheimen Bericht, der im Verdächtigen und
Verdrehen das Unmögliche leiſtete. Zum Antritt des Bonner Lehramts
hatte einſt Nicolovius ſeinem Freunde Arndt Gottes Kraft und Segen
gewünſcht, „damit die Jugend treu dem Recht und der Wahrheit huldige
und Gottes auserwähltes Rüſtzeug werde.“ Auf Grund dieſes Briefes
ſchrieb der Naſſauer ſchadenfroh: „Nicht Alle hielten alſo das Treiben der
Studenten für unbedeutend, wofür man es jetzt gern gehalten haben möchte;
ſondern es gab auch Männer, die da glaubten, die Jugend könne bei
guter Lehre Gottes auserwähltes Rüſtzeug werden!“ Ueber das Turnen
bemerkte er ebenſo ſcharfſinnig: „das Gefühl der körperlichen Kraft, das
es verleiht, und der ſchnellere Umlauf des Blutes während der Uebungen
erweckt natürlich das Verlangen nach einem Gegenſtande des Ringens,
und ſo bereitet das Turnen ſolchen Ideen eine vollkommene Aufnahme,
deren Verwirklichung eine Anſtrengung des Leibes und der Seele er-
fordert.“*) Umſonſt verſuchte der wackere preußiſche Präſident v. Kaiſen-
berg, ruhiger als ſeine eigene Regierung, die Mainzer Septemvirn einiger-
maßen in den Schranken des Menſchenverſtandes zu halten. Seine maß-
volle Haltung bewirkte nur, daß der Karlsruher Hof beharrlich über „die
liberaliſirende Tendenz“ der Mainzer klagte und Metternich in Berlin
— diesmal ohne Erfolg — die diplomatiſche Anfrage ſtellte, ob nicht „die
Kränklichkeit des gegenwärtigen k. preußiſchen Bevollmächtigten vielleicht
eine Aenderung in der Perſon zur Folge haben werde?“**)
Der Baier Hörmann wurde mit der Anfertigung des Hauptberichts
beauftragt, und ſein Machwerk fiel ſo ungeheuerlich aus, daß ſelbſt Blit-
tersdorff in Entſetzen gerieth. Wie hatte ſich der Badener gefreut, als
ihm der Bundestag (1826) den ehrenvollen Auftrag ertheilte, aus Hör-
mann’s Arbeit einen kurzen, eindringlichen Bericht für das Publicum aus-
zuziehen: die Nation ſollte erfahren, an welchem Abgrunde ſie geſtanden,
vor welchen Feinden die Weisheit des Bundes ſie gerettet hatte. Aber
wie ward ihm zu Muthe, als er die Leiſtung des Septemvirats betrachtete!
„In anderen Ländern — ſchrieb er ganz außer ſich — würde man mit
Fingern auf uns deuten, wenn wir nach einer ſo langen Reihe von
Jahren dem Publicum aufs Neue ſolche alte Geſchichten auftiſchen wollten.
Läßt ſich aus ſolchen Materialien irgend ein impoſanter Bericht entwerfen?
Wie iſt dies vollends alsdann möglich, wenn man ſich auf einer gewiſſen
Höhe der Betrachtung halten ſoll?“ Und dann abermals, als er in den
Geiſt der Mainzer Arbeit noch tiefer eingedrungen war: „In dem ganzen
[345]Hauptbericht der Mainzer Commiſſion.
Berichte iſt nur eine durchgreifende und leitende Idee aufzufinden, und
dieſe beſteht darin, daß alle ſpäteren Umtriebe und geheimen Verbindun-
gen aus jenen hervorgegangen ſeien, welche gegen die franzöſiſche Herr-
ſchaft und gegen den Rheinbund gerichtet waren!“*)
So ſtand es in der That. Der alte Herausgeber der Münchener
Alemannia hatte ſich nicht entblödet, ſeine ungebrochene Rheinbundsgeſin-
nung, ſeinen Todhaß gegen Preußen und den Befreiungskrieg in dem Com-
miſſionsberichte auszuſprechen; er hatte die Denunciationen von Schmalz
zugleich benutzt und überboten. Durch ſeine Arbeit ging, wie Blittersdorff
wehklagte, „die ſchlecht verhüllte Tendenz, Preußen und die Mächte als
die Urheber des Geiſtes zu bezeichnen, den ſie ſpäter nicht mehr bändigen
konnten.“ Es iſt nicht anders, die Erhebung gegen Napoleon wurde hier von
Bundeswegen dem preußiſchen Volke als ein Verbrechen angerechnet. Der
erſte demagogiſche „Umtrieb“, womit Hörmann’s Erzählung begann, war ein
Brief Schleiermacher’s an Reimer, geſchrieben nach der Schlacht von Jena,
der mit den Worten ſchloß: „Eine allgemeine Regeneration iſt nothwendig
und wird ſich aus dieſen Begebenheiten entwickeln. Wie, das kann man
jetzt noch nicht ſehen; aber wir wollen dabei ſein und mit angreifen, ſo-
bald der Gang der Dinge uns aufruft oder mit ſich fortreißt.“ Darauf
folgten Fichte’s Reden an die deutſche Nation, der Tugendbund, Arndt’s
Katechismus für den deutſchen Landwehrmann, alle die patriotiſchen Ver-
eine, die ſich in der Zeit der ſchweren Noth gegen die Franzoſen zu-
ſammengethan. Stein und Gneiſenau waren mehrmals als verdächtig
erwähnt und faſt auf jeder Seite prangte der Name Hardenberg’s, des
großen Gönners der Verſchwörer. Aus dieſen Umtrieben gegen die legi-
time Herrſchaft Napoleon’s waren ſodann durch natürliche Fortpflanzung
die Burſchenſchaft, die Turnplätze, die Unbedingten, die beiden Mordthaten
von 1819 hervorgegangen. Aus ſpäterer Zeit wußte Hörmann nicht viel
mehr anzuführen, als einen Jünglingsbund und einen räthſelhaften Män-
nerbund, über deſſen Zwecke ſich die Commiſſion mit Wendungen wie „es
iſt gedenkbar“ hinweghelfen mußte.
War der Grundgedanke des Berichts ſchändlich, beleidigend für die
Ehre der Nation, ſo zeigte die Ausführung im Einzelnen eine gewiſſenloſe
Willkür, die ſich freilich aus dem ſeltſamen Zwittercharakter der Mainzer
Behörde faſt nothwendig ergab. Ein förmlicher Staatsgerichtshof, wie ihn
Preußen in Karlsbad vergeblich vorgeſchlagen, hätte ſich ſtreng an er-
wieſene Thatſachen halten müſſen. Dieſe Unterſuchungscommiſſion aber
meinte ſich verpflichtet, „aus einigen tauſend, ihrem wahren Sinne nach
größtentheils nicht hinlänglich erklärten Papieren, dann aus einigen hun-
dert zum Theil noch unvollſtändigen Vernehmungen die Geſchichte eines
mehr als zehnjährigen, weniger in beſtimmten Thathandlungen als in
[346]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Verſuchen, Vorbereitungen und Einleitungen ſich ausſprechenden politiſchen
Treibens zu ſchreiben und den Grad der Gewißheit der Thatſachen nach
den Grundſätzen des hiſtoriſchen Glaubens, nach ihrer eigenen ſubjectiven
Ueberzeugung zu bemeſſen.“ Nach dieſer ſubjectiven Ueberzeugung hatte
ſie denn auch ein wunderſames Gemiſch von Wahrheit und Dichtung,
von Thatſachen, Vermuthungen, Gerüchten zuſammengeſtellt, das über die
entſcheidenden Fragen gar keinen Aufſchluß gab; ſie geſtand ſelber zu, daß
Leutnant Schulz’s Frag- und Antwortbüchlein „beinahe die einzige in
unſeren Akten vorgekommene poſitive Handlung“ ſei, und beklagte tief die
allerdings ungerechte Freiſprechung dieſes Miſſethäters.
Mit einem ſolchen Berichte vor die Nation zu treten wollte Blitters-
dorff doch nicht wagen. Er fürchtete nicht den Unwillen der öffentlichen
Meinung, wohl aber den Zorn der preußiſchen Regierung: was würde
man in Berlin ſagen, wenn ein amtlicher Bericht des Bundestags die
Geſchichte der Jahre 1806—1815 im Geiſte der napoleoniſchen Geheim-
polizei ſchilderte! Der Badener ſchob alſo die gefährliche Berichterſtattung
hinaus, und die ſchwarze Commiſſion ward aufgelöſt, ohne daß die Nation
die ihr ſo oft verheißenen Enthüllungen erhielt. Nach langen Jahren erſt,
1831, entledigte ſich Blittersdorff ſeines Auftrags, und der Auszug, den er
nunmehr aus den Mainzer Akten gab, war durchaus parteiiſch und frivol;
er verſchwieg abſichtlich manche mildernde Umſtände, die zu Gunſten der
Demagogen angeführt waren, freilich auch Vieles was in Berlin Aergerniß
erregen konnte. Jetzt aber waren endlich alle deutſchen Regierungen, mit
Ausnahme der unverwüſtlichen Hofburg, des alten ſchmutzigen Handels
müde geworden. Preußen hatte ſoeben den Beſchluß durchgeſetzt, daß die
Namen hoher Beamten in den Unterſuchungsberichten nicht erwähnt
werden dürften, und als ſodann über die Veröffentlichung der Arbeit
Blittersdorff’s Inſtruktionen eingeholt wurden, da erfolgte keine Ant-
wort. Die meiſten der Höfe ſchwiegen aus Scham, einige wohl nur aus
löblicher Bundesgewohnheit. So endete jene Commiſſion, welche Metter-
nich einſt ſeinen Karlsbader Genoſſen zur Rettung Deutſchlands empfohlen
hatte. Nur die Unglücklichen, welche auf eine Anzeige aus Mainz in den
Kerker gewandert waren, wußten unter der Hand Einiges von der Wirk-
ſamkeit der unheimlichen Behörde zu erzählen. Der ganze Umfang ihres
lichtſcheuen Treibens wurde dem deutſchen Volke erſt im Jahre 1860 durch
Ilſe’s Aktenauszüge bekannt. —
Dergeſtalt war nach und nach alles Leben aus dem Bunde entwichen,
und mit gerechter Befriedigung horchte Metternich zuweilen auf die tiefen
Athemzüge des friedlich ſchlummernden Bundestags. Was konnte die
Hofburg von den Deutſchen draußen im Reich Beſſeres erwarten? Hatte
ſie es doch nicht einmal der Mühe werth gehalten, auch nur die Bundesakte
in ihren deutſchen Kronländern zu veröffentlichen. Unter den preußiſchen
Offizieren und Staatsmännern aber hörte man ſchon wieder häufig, wie
[347]Bairiſcher Landtag. J. Rudhart.
einſt in den Tagen des heiligen Reichs, die zornige Frage: ob dieſer Staat
die lähmende Feſſel, die ihn an den Leichnam des deutſchen Geſammt-
ſtaates kettete, nicht gänzlich abſchütteln müſſe? Nagler ſelbſt erklärte ſeinen
Frankfurter Genoſſen aufrichtig: nach meiner Meinung ſollte Preußen
eine Inſtitution, von der doch kein Heil zu erwarten iſt, ihrem Schickſal
überlaſſen. Alles was in Deutſchland noch lebendig war fühlte ſich ge-
hemmt durch den Druck, der auf dem Bunde lag. Für die jungen Ver-
faſſungen des Südens kam jetzt erſt die ſchwerſte Zeit. Die Gefahr war
größer als ſie im Jahre 1819 geweſen; denn die jugendliche Begeiſterung,
welche damals noch die neuen Grundgeſetze begrüßte, hatte ſich längſt ab-
gekühlt, die Entmuthigung war ſo allgemein, daß ſelbſt der ängſtliche Gentz
geſtehen mußte, die Stimmung der gefährlichen Mittelklaſſen habe ſich
erheblich gebeſſert. Die Maſſen vollends hatten von den Früchten der
neuen Freiheit bisher wenig mehr genoſſen als erhöhte Steuerlaſt, und
manches wackere Bäuerlein hörte ſchon begierig zu, wenn der Kaplan oder
der Amtmann auf die Ducatenmänner ſchalt — ſo hießen die Abgeord-
neten von wegen ihrer fünf Gulden Tagegeld.
In den neuen bairiſchen Landtag, der im März 1825 zuſammentrat,
war Hornthal nicht wieder gewählt; Behr und einige andere liberale Beamte
mußten fern bleiben, weil die Regierung ihr Recht der Urlaubsverweige-
rung unerbittlich handhabte. Dafür traten mehrere neue Talente auf,
alle überragend der junge Ignaz Rudhart, ein Franke aus den Stifts-
landen, der ſchon in frühen Jahren als Profeſſor und Schriftſteller ſeine
tüchtige Gelehrſamkeit, nachher als Verwaltungsbeamter eine noch größere
praktiſche Begabung bewährt hatte und jetzt der anerkannt erſte Redner
Baierns wurde, ein makelloſer, groß angelegter Charakter. Es war eine
Luſt, den jugendkräftigen Mann mit den ehrlichen, herzgewinnenden Augen
ſo friſch von der Leber weg ſprechen zu hören, immer ganz frei — was da-
mals noch eine Seltenheit war — etwas pathetiſcher als es die kurz an-
gebundene Gegenwart liebt, aber ſtets mit gründlicher Sachkenntniß, auf-
richtig und doch klug, gedankenreich und doch volksthümlich einfach. Bei
all ſeiner Unfertigkeit beſaß das junge conſtitutionelle Leben des Südens
den großen Vorzug, daß ſolche Naturen ſich auf ſeinem Boden frei ent-
falten konnten; der preußiſche Beamtenſtaat hatte für ſie noch keinen
Raum. Gleich allen Liberalen jener Tage hegte Rudhart anfangs etwas
überſpannte Vorſtellungen von der Macht der neuen Landtage; aber früher
als die Anderen lernte er ſich beſcheiden und erkannte die Schranken,
welche dem Parlamentarismus durch Deutſchlands monarchiſche Geſchichte
geſetzt ſind; und weil er ſeine Hoffnungen nicht auf das Unmögliche
richtete, darum bewahrte er ſich auch in den Tagen allgemeiner Abſpan-
nung jene fröhliche, mannhafte Zuverſicht, welche ſeinen Reden noch heute
einen eigenen Zauber giebt. Neben ihm that ſich durch ſeine Kenntniß
der Volkswirthſchaft Utzſchneider hervor, ein Induſtrieller großen Stiles,
[348]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
der erſte faſt, der im behäbigen Altbaiern modernen Unternehmungsgeiſt
erweckte. Auch Graf Bentzel-Sternau machte viel von ſich reden, ein alter
Bonapartiſt, der vor Zeiten im Großherzogthum Frankfurt Dalberg’s ver-
trauter Miniſter geweſen war, jetzt aber auf ſeinem Landhaus am Züricher
See zweifelhafte Dichtungen im Stile Jean Paul’s anfertigte und zu-
gleich den deutſchen Flüchtlingen gaſtlich Obdach gab. Er wirkte eifrig für
proteſtantiſche Aufklärung und trat endlich förmlich zur evangeliſchen
Kirche über. Seine Erfahrungen aus dem Landtage legte er nachher in
den „Baierbriefen“ nieder, einem mehrbändigen Briefwechſel zwiſchen
Reikiavik und Hochwittelsbach, deſſen wunderlicher, witzelnder Wortſchwall
im Grunde nur die eine Wahrheit erwies, daß die Geſchicke des Erdballs
ſich um das Münchener Ständehaus bewegten.
Wie beſcheiden auch die Mehrheit des Landtags auftrat, ſie mußte
doch bald fühlen, daß jetzt ein anderer Wind am Hofe wehte. Seit jener
Unterredung von Tegernſee hatte ſich Zentner ſeinen Gegnern Rechberg
und Thürheim genähert, und Lerchenfeld ſtand bereits ſo vereinſamt, daß er
im Miniſterrathe der Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe nach einigem
Bedenken ſchließlich ſelber zuſtimmen mußte.*) Im Saale an der Pran-
nersgaſſe hatte man in der Zwiſchenzeit die Logen für den Hof und die
Diplomatie beträchtlich erweitert, ſo daß der allgemeine Zuhörerraum ſich
verkleinerte; und derſelbe Geiſt kleinlicher polizeilicher Angſt bekundete ſich
auch in der Geſchäftsordnung, welche die Miniſter, um ihre Frankfurter
Zuſagen zu erfüllen, dem Landtage alsbald vorlegten. Die Vorlage ging
ſogar weit über die Bundesbeſchlüſſe hinaus, ſie enthielt nicht nur ſehr
ſcharfe Beſtimmungen wider den Mißbrauch der Redefreiheit, ſondern auch
die Vorſchrift, daß kein Abgeordneter fortan einen förmlich ausgearbeiteten
Geſetzentwurf einbringen dürfe; damit war das beſchränkte Recht der
Initiative, das dem Landtage nach der Verfaſſung zuſtand, ganz unter
der Hand durch einen Paragraphen der Geſchäftsordnung faſt gänzlich
beſeitigt. In einer Reihe geheimer Sitzungen wurden dieſe Vorſchläge,
unter begreiflicher Erregung, erörtert. Vergeblich warnte Rudhart: „ohne
Oeffentlichkeit zerfällt die Verfaſſung in ſich.“ Die Mehrheit unterwarf
ſich den Beſchlüſſen des Bundestags; ſie wußte wohl, daß die reaktionäre
Partei am Hofe entſchloſſen war, die Geſchäftsordnung dem Landtage
nöthigenfalls durch einen königlichen Befehl einfach aufzuerlegen.**)
An anderen geſetzgeberiſchen Ergebniſſen war dieſe Tagung ſehr arm;
auch die drei Geſetze vom 11. Sept. 1825 über Niederlaſſung und Ge-
werbebetrieb entſprangen nicht einem ſtaatsmänniſchen Plane ſondern der
Verlegenheit. Die Regierung fühlte lebhaft die Unhaltbarkeit des alten
Zunftweſens, aber ſie wagte auch nicht mit den tief eingewurzelten Vor-
[349]Letzte Zeiten König Max Joſeph’s.
urtheilen des Volkes zu brechen, das noch feſt am alten Herkommen hing
und die ungewohnten Erſcheinungen des modernen Großverkehrs, zumal
die verhaßten Muſterreiter aus Frankfurt und anderen „ausländiſchen“
Nachbarſtädten, mit tiefem Mißtrauen betrachtete. In guter Abſicht wählte
man alſo einen Mittelweg und entſchied ſich für das Conceſſionsſyſtem:
die Erlaubniß zum Heirathen, zur Niederlaſſung, zum Gewerbebetrieb
ſollte der Regel nach von den Behörden abhängen, die dabei den „Nah-
rungsſtand“ des Orts zu berückſichtigen hatten. Der Vorſchlag mißfiel
in Wahrheit allen Parteien; den Conſervativen ging er zu weit, die Libe-
ralen verlangten mehr, und Rudhart ſagte kühn voraus, die Zeit der voll-
ſtändigen Gewerbefreiheit werde noch kommen. Der Landtag ſtimmte ſchließ-
lich nur zu, weil ſich kein anderer Ausweg zu bieten ſchien. Doch ſofort
begann im Volke eine hartconſervative Bewegung wider die Störung der
alten Gewohnheiten — eine naturwüchſige Reaktion, welcher die neuen Ge-
ſetze nach wenigen Jahren erliegen ſollten. Bei den Budgetverhandlungen
kam in den geheimen Sitzungen viel verhaltener Groll zu Tage; der
Rechnungsabſchluß war ſehr ungünſtig, da das Sinken der Getreidepreiſe
den Ertrag der Domänen verringert, große Brände und andere Unglücks-
fälle ganze Landestheile heimgeſucht hatten. Zudem ſpielte wieder eines
jener unliebſamen kleinen Geheimniſſe mit, die ſich unter König Max
Joſeph kaum vermeiden ließen; bei der Hochzeit der Prinzeſſin Sophie
hatte der vergnügte Vater das Gold ſo mit vollen Händen ausgeſtreut,
daß es nachher ſchwer hielt dieſe Ausgaben in verſchiedenen Titeln des
Etats zu verſtecken.*)
Endlich ward das Budget bewilligt und der Landtag in Gnaden ent-
laſſen. Aber die vielen ſcharfen Worte, die in den letzten Verhandlungen
gefallen waren, hatten den Hof tief verletzt. Die reaktionäre Partei er-
hob wieder keck das Haupt; bereits war es ihr gelungen, den ehrwürdigen
Cajetan Weiller, einen der freieſten Köpfe des Clerus, aus ſeiner einfluß-
reichen Stellung am Münchener Lyceum in das Stillleben der Akademie
zu verſetzen. Auch Aretin’s Bajuvaren begannen wieder das literariſche
Kothſpritzen gegen die eingedrungenen Nordländer. Und dazu die ge-
heimen Zuſchriften aus der Hofburg. Selbſt die neue Geſchäftsordnung
des Landtags, die wirklich nichts zu wünſchen übrig ließ, genügte dort
noch nicht. Hatzfeldt, wie immer Metternich’s getreues Echo, tobte und
wetterte wider die Feigheit dieſes Münchener Hofes, der ſich ſo gar nicht
entſchließen konnte, einfach die alten bairiſchen Landſtände wiederherzu-
ſtellen. Bei der Adreßberathung der Reichsräthe hatte Kronprinz Ludwig
den verſtändigen Rath gegeben, man möge eine Stelle über „das mon-
archiſche Princip“ ſtreichen, weil ſie in der anderen Kammer ärgerliche Be-
merkungen veranlaſſen werde. Welch ein Zorn in Wien, als man von
[350]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
dieſer Selbſtentwürdigung des Thronfolgers erfuhr; „das iſt mehr als
unglaublich“, ſchrieb Hatzfeldt entſetzt. Dann wurde gar das neue Theater
in München mit der Aufführung der revolutionären Stücke Egmont
und Tell eröffnet, und die zügelloſe bairiſche Preſſe erlaubte ſich dabei
unehrerbietige Bemerkungen über weiland König Philipp II.*) Genug,
von Wien aus ermuthigt, begann Rechberg das alte Spiel von Neuem,
Lerchenfeld glaubte ſchon ſeinen nahen Sturz vorherzuſehen, noch Schlim-
meres wurde befürchtet, und bei der zunehmenden Willensſchwäche des
greiſen Königs ließ ſich der Ausgang ſchwer berechnen. Da ſtarb Max
Joſeph, am 12. Oktober 1825, glücklich und friedlich wie er gelebt. Nach
ſeiner Gewohnheit war er zu ſeinem Namenstage in die Hauptſtadt ge-
kommen um die Glückwünſche ſeiner Baiern entgegenzunehmen, und dann
am Abend, mit freundlichen Erinnerungen in ſeinem guten Herzen, nach
Nymphenburg zurückgefahren. Dort entſchlief er ſanft noch in derſelben
Nacht, aufrichtig beweint von ſeinem Volke. Mit der Thronbeſteigung
König Ludwig’s begann für Baiern eine neue Zeit. —
In Württemberg war eine neue Geſchäftsordnung für den Landtag
unnöthig, wie Trott in Frankfurt mit gutem Gewiſſen verſichern konnte.
Die altrechtliche Einrichtung der Landtagsausſchüſſe hatte hier längſt wieder
ihre zweiſchneidige Wirkung gezeigt. Unter Weishaar’s kluger Leitung
pflegte der ſtändige Ausſchuß alle wichtigen Angelegenheiten mit den Mi-
niſtern ſo genau zu vereinbaren, daß der Landtag ſelber nur noch das
Nachſehen hatte, und da die Kammern überdies ihre Kraft in endloſen
Commiſſionsberathungen vergeudeten, ſo verliefen die Verhandlungen des
Plenums ſtill und langweilig. Die ſchwäbiſche Schreiberregierung blühte
fröhlich fort, und die einzige Corporation des Landes, welche ſich neben
dem allmächtigen Beamtenthum noch in einiger Selbſtändigkeit behauptete,
die Univerſität bekam den Unwillen des Herrenſtandes ſchwer zu fühlen.
Der königliche Commiſſär Hofacker führte in Tübingen ein rohes, tyran-
niſches Regiment, das auf keiner anderen deutſchen Hochſchule ſeinesgleichen
fand. Dann tauchte der Vorſchlag auf, die Univerſität in die Hauptſtadt
zu verlegen. Von den Bildungsmitteln einer großen Stadt beſaß Stuttgart
damals zwar ſehr wenig; aber die fröhliche Ungebundenheit des akademi-
ſchen Lebens, die dem ſoldatiſchen Könige immer widerwärtig blieb, ſollte
an der Hofluft, an der Garniſon und der ſtarken Polizei der Reſidenz ihre
Meiſter finden. Der kleinliche Gedanke wurde vorläufig noch abgewendet,
jedoch im Jahre 1829 erhielt die Univerſität eine völlig neue, rein bureau-
kratiſche Verfaſſung. Seltſame Ironie des Schickſals, daß der Metter-
nich’ſche Plan der Univerſitätsreform, der in allen anderen Bundesſtaaten
auf unüberwindliche Hinderniſſe ſtieß, allein in dem Lande des liberalen
Schwabenkönigs ſich verwirklichte. Noch war in Tübingen unvergeſſen,
[351]Reaktion in Württemberg, Heſſen, Baden.
wie oft einſt Eberhard im Bart, der Stifter der Univerſität, bei ſeinem
alten Lehrer Nauclerus im Kanzlerhauſe neben der Stiftskirche Herberge
genommen hatte um mit ſeinen Profeſſoren in guter Freundſchaft zu zechen
und zu disputiren; und jetzt ward der ehrwürdigen Hochſchule durch einen
Nachkommen ihres Stifters und ſeinen Rath Maucler ſogar das uralte
Recht, Rector und Decane ſelbſt zu wählen, mißtrauiſch entzogen. Deutſch-
lands geſammte gelehrte Welt fühlte ſich beleidigt, und Schelling ſendete
in ſeine alte Heimath die bitteren Verſe:
Minder gehäſſig zeigte ſich die Reaction in Darmſtadt. Der fried-
fertige Geiſt, der über den Anfängen des heſſiſchen Verfaſſungslebens ge-
waltet, war noch nicht gänzlich verflogen; ſelbſt in dieſen müden Jahren
brachte der Landtag noch einige heilſame Reformen, vornehmlich die Auf-
hebung des Zehnten zu Stande. Aber die ungetrübte Eintracht früherer
Tage beſtand auch hier nicht mehr. Wie anders klang jetzt die Sprache
vom Miniſtertiſche! Wenn die Abgeordneten zu der dürftigen Ueberſicht des
Staatshaushalts, die ihnen allein vorgelegt wurde, einige Erläuterungen
verlangten, dann gab man ihnen vertraulich zu verſtehen: weitere For-
derungen könnten leicht den Beſtand der Verfaſſung ſelber gefährden.
Unbequemer Oppoſitionsmitglieder entledigte man ſich durch offenbare
Willkür. Vor den Wahlen von 1826 bereiſte der Miniſter Grolmann
ſelbſt das Land um die Wähler zu bearbeiten. Als E. E. Hoffmann,
der lauteſte und rührigſte Parteigänger der Liberalen, ſich dawider zur
Wehre ſetzte und die Heſſen aufforderte, nur unabhängigen Männern ihre
Stimmen zu geben, da ließ ihn die Regierung wegen indirekter Majeſtäts-
beleidigung anklagen, und erſt drei Jahre ſpäter konnte er, vollſtändig freige-
ſprochen, in die Kammer eintreten. Der wohlmeinende Miniſter, den man
vor Kurzem noch als den Vater der Verfaſſung geprieſen, wurde jetzt, nicht
ohne eigene Schuld, verdächtigt und befehdet; er rieb ſich auf in dem kleinen
Aerger der Landtagshändel und ſtarb ſchon in der Blüthe ſeiner Jahre.
Wie unſchuldig erſchien das Alles neben den Saturnalien der Re-
aktion, welche in Baden ſpielten. Nicht umſonſt hatte Blittersdorff in
jener Johannisberger Denkſchrift die Drohung ausgeſprochen: die Re-
gierungen ſeien allzu lange in der Vertheidigung geblieben, es werde
Zeit zum Angriff vorzugehen. Seit der Landtag von 1823 ſo ungnädig
entlaſſen worden, ſetzte die reaktionäre Partei alle Hebel ein um die Ver-
faſſung aus den Angeln zu heben. Auf einen Glückwunſch des Peters-
burger Hofs ſprach Berſtett ſeinen überſchwänglichen Dank aus für das
ſchmeichelhafte Zeugniß, das der Kaiſer den ſchwachen Bemühungen des
Großherzogs ausgeſtellt, und fuhr fort: „Alle die unruhige Thätigkeit,
welche ſeit einigen Jahren die Völker ſowie die Regierungen quält, ſcheint
ſich in dem Worte zu vereinigen „Verfaſſung“ und offenbart ſich haupt-
[352]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
ſächlich in dem Mißbrauch, welcher mit ſeiner Bedeutung getrieben wird.“
Gegen dies arge Wort begann bereits im Lande eine geheime Wühlerei.
Aufgeſtachelt von ihrem Dekan richteten die Ortſchaften Wolfenweiler und
Schallſtadt an den Großherzog die Bitte, er möge „die volle Souveränität
ohne Landſtände wieder übernehmen und ſolch eine Regierungsform wie
ſie ehemals war, herſtellen.“ Hoch beglückt ſendete der k. k. Geſandte
dieſe Kundgebung des Volkswillens nach Wien, und Hatzfeldt ſchrieb zu-
frieden: „das Volk iſt überall gut und überall daſſelbe; ſein Urtheil iſt
immer verſtändig wenn man den Verſchwörern nicht erlaubt es durch ihre
gefährlichen Grundſätze zu beeinfluſſen.“*) Die Verſuchung für den Groß-
herzog war ſtark; er konnte den Lärm ſeiner getreuen Stände kaum noch
ertragen und verhehlte keineswegs, wie glücklich er ſich ſchätzen würde,
wenn ihn der Bundestag oder irgend eine andere höhere Gewalt von
dieſer leidigen Verfaſſung befreite.**) Auch Berſtett und andere hohe Be-
amte begannen den Gedanken einer gewaltſamen Verfaſſungsänderung ernſt-
lich zu erwägen und befragten darüber den gelehrten Carl Salomo Zachariä
in Heidelberg, der ſich ſchon im letzten Landtage durch ſeine unterthänige
Befliſſenheit hervorgethan hatte. Der zählte noch zu jener alten Juriſten-
ſchule, die ein Rechtsgutachten nur für ein einträgliches Spiel des Scharf-
ſinns anſah, und war auch jetzt ſogleich bei der Hand mit einer Denk-
ſchrift, welche nicht nur die Zweckmäßigkeit ſondern ſogar die Rechtmäßigkeit
des geplanten Staatsſtreichs nachwies; in der Kunſt Alles zu beweiſen,
die man ihm nachrühmte, hatte er ſich diesmal ſelbſt übertroffen.
Aber zu einem offenbaren Eidbruch wollte Großherzog Ludwig ſich nicht
entſchließen; zudem war ihm wohl bekannt, wie man in Berlin über Saats-
ſtreiche dachte, und — „ich weiß, was ich unſerem König ſchuldig bin“,
pflegte der alte preußiſche Gardeoffizier zu ſagen. Da auch vom Bun-
destage keine unmittelbare Hilfe zu erlangen war, ſo entſchloß ſich der
Hof endlich, nur die Mittel, welche die Verfaſſung ſelber darbot, handfeſt
zu gebrauchen. Im December 1824 wurde der alte Landtag aufgelöſt,
und ſofort begann ein Wahlkampf ſtreng nach dem Muſter des nahen
Frankreichs, nur daß die freien Deutſchen gegen den Mißbrauch der Amts-
gewalt unvergleichlich empfindlicher waren als die bureaukratiſch gewöhnten
Franzoſen. Berſtett und mehrere ſeiner Räthe reiſten landauf landab,
bis zum Straßenwart herunter ward das ganze Beamtenheer aufgeboten;
in Freiburg, wo Rotteck verdrängt werden ſollte, trat man die Vorſchriften
des Wahlgeſetzes geradezu mit Füßen. Durch ſolche Mittel gelang es die
geſammte Oppoſition mit einem Schlage hinauszufegen. In der neuen
Kammer erſchienen nur drei Liberale, wackere, gemäßigte Männer, deren
Namen das mißhandelte badiſche Land noch lange in gutem Andenken
[353]Verfaſſungsänderung in Baden.
behielt: Föhrenbach, Grimm und der Freiburger Profeſſor Duttlinger, ein
gewiegter Kenner des Verfaſſungsrechts.
Gleichzeitig hatte der vielgewandte Günſtling des Großherzogs, Major
Hennenhofer an den Drähten gezogen, die er über alle Ecken des Länd-
chens ausgeſpannt hielt. Die Lorbeeren von Wolfenweiler und Schall-
ſtadt ließen ihn nicht ſchlafen. Mit einem male kamen aus zahlreichen
Ortſchaften Adreſſen an den Großherzog, alleſammt mit der Bitte um
Aufhebung der Verfaſſung. Mit erwartungsvoller Freude blickten Met-
ternich’s Getreue nach Karlsruhe, wo ſie an dem k. k. Geſandten Hruby
einen verſchlagenen, einflußreichen Helfer beſaßen. Hatzfeldt vermaß ſich
ſchon: „ich werde nicht eher an die Ruhe und das Glück Deutſchlands
glauben, als bis die letzte dieſer Verfaſſungen und Alles was ihnen
ähnelt von ſeinem Boden verſchwunden iſt.“*) Unmöglich ſchien es nicht,
bei der gefügigen neuen Kammer eine radikale Veränderung des Grund-
geſetzes zu erzwingen. Aber zu ſo kühnen Entſchließungen war Berſtett
nicht der Mann, wenn er ſich nicht auf den Bund ſtützen konnte, und im
Miniſterrathe ſaßen außer ſeinem Geſinnungsgenoſſen Berckheim auch die
beiden verfaſſungstreuen Staatsräthe Böckh und Ludwig Winter. Auf
Winter’s Antrag wurden die unterthänigen Adreſſenſchreiber abgewieſen,
und ſtatt einer umfaſſenden Verfaſſungsreviſion begnügte man ſich mit
dem Vorſchlage, daß fortan das Budget auf drei Jahre bewilligt und die
Kammer aller ſechs Jahre vollſtändig neugewählt werden ſolle.
Wider den Inhalt des Vorſchlags ließ ſich wenig einwenden: das
dreijährige Budget konnte dem Lande manchen unnützen Wortkampf er-
ſparen, und die neue Wahlordnung war unverkennbar zweckmäßiger als
die bisher übliche Viertels-Erneuerung der Kammer. Gleichwohl erregte
die Vorlage tiefen und berechtigten Unmuth unter den treuen An-
hängern der Verfaſſung; auch Winter ſelbſt hatte ihr nur um Aergeres
zu verhindern, widerwillig zugeſtimmt. Dies kaum erſt geſchaffene Grund-
geſetz ſchon wieder abändern, die Vorſchriften über das Budget zurück-
nehmen noch bevor jemals ein ordnungsmäßiges Budget zu Stande ge-
kommen war — das hieß mit der Verfaſſung ſpielen. Doch was galten
Gründe in dieſem unterthänigen Hauſe? Der junge Heidelberger Pro-
feſſor Roßhirt, eine Leuchte der werdenden ultramontanen Partei, er-
ſtattete einen empfehlenden Bericht, und die Abgeordneten ſtimmten zu —
bis auf jene tapferen Drei. Auch die erſte Kammer trat bei, obgleich
Weſſenberg ſie an „die jungfräuliche Unverletzlichkeit“ des Staatsgrund-
geſetzes erinnerte. Mit dieſem kleinmüthigen Beſchluſſe war die Lebens-
kraft des Karlsruher Landtags auf lange hinaus gelähmt. Matt und
kleinlaut ſchleppten ſich die Verhandlungen zu Ende; auch der kurze Land-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 23
[354]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
tag von 1828 verlief ſo ſtill, daß man ihn im Volke kaum bemerkte. Ein
Glück nur, daß der Staatshaushalt durch den trefflichen Finanzminiſter
Böckh, den Bruder des Philologen, endlich in gute Ordnung kam. Als
Varnhagen um dieſe Zeit wieder in Baden auftauchte und, zur großen
Entrüſtung des greiſen Fürſten, dem Großherzog ſeine Aufwartung machte,
da erſchien er der ſtillen Reſidenz wie eine Geſtalt aus einer verſunkenen
Welt.*) Metternich ſäumte nicht dem Karlsruher Hofe das Wohlgefallen
des Kaiſers Franz auszuſprechen, der „in Folge ſeines wahrhaft welt-
bürgerlichen Sinnes“ an dieſen Dingen lebhaft theilnehme: „In Zeiten,
welche eine ganz eigenthümliche Solidarität der Schlechten und des durch
ſie erzeugten Böſen darbieten, iſt das gute Beiſpiel ebenfalls ſtets frucht-
bar. Dem Herrn Großherzog war es vorbehalten, mit ſelbem in Deutſch-
land vorzugehen, und er wird demnach der erſte Regent ſein, welcher die
Früchte einer guten Ausſaat einernten wird.“**) Schärfer als ſein mäch-
tiger Vetter ſah Weſſenberg in die Zukunft. Er ſagte dem Hofe voraus,
auf dieſem Wege werde man nicht weit kommen; er wußte, daß die un-
verzagten Führer des badiſchen Liberalismus ihre geſchlagenen Truppen
in der Stille zu neuen Kämpfen ſammelten. —
Wie die Intereſſen Oeſterreichs und Preußens in der Bundespolitik
immer wieder gegen einander ſtießen, ſo wurde das Verhältniß der beiden
befreundeten Höfe auch in den europäiſchen Händeln durch mannichfache
Meinungsverſchiedenheit getrübt. Als das franzöſiſche Heer im April 1823
die ſpaniſche Grenze überſchritten hatte, trat Metternich mit dem Vor-
ſchlage auf, die Regentſchaft in Spanien bis zur Befreiung des Königs
ſeinem Oheim Ferdinand von Neapel zu übertragen; er wollte dadurch
verhindern, daß der franzöſiſche Oberbefehlshaber, der Herzog von An-
gouleme, ſeine Siege einſeitig zu Frankreichs Vortheil ausbeutete oder viel-
leicht gar die franzöſiſche Charte in Spanien ausriefe. Bernſtorff aber
widerſprach auf das Nachdrücklichſte: unmöglich könne man dieſen weſent-
lich franzöſiſchen Krieg benutzen um in Spanien ein Regiment zu be-
gründen, das den Intereſſen Frankreichs geradeswegs zuwiderliefe. Mit
Bitterkeit ſchilderte er die entſetzlichen Zuſtände in Neapel und fragte, ob
man einem ſolchen Fürſten auch noch die Verwaltung eines anderen Lan-
des anvertrauen dürfe. „Wenn es die Pflicht der Souveräne iſt die
Lehren und die Thaten der Empörung niederzuſchmettern, ſo iſt es nicht
minder ihre Pflicht, denſelben zuvorzukommen und ſie unmöglich oder unent-
ſchuldbar zu machen, indem man die Völker vor dem Despotismus wie
vor der Anarchie bewahrt und ihnen die erſten Güter der Geſellſchaft
ſichert.“ König Friedrich Wilhelm erwiderte dem neapolitaniſchen Bour-
bonen, der ihn um ſeine Unterſtützung bat, kühl ablehnend, er werde der
[355]Ausgang der ſpaniſchen Revolution.
Sache „die ernſteſte Aufmerkſamkeit widmen“.*) Desgleichen wünſchte
Metternich, dem franzöſiſchen Feldherrn militäriſche Vertreter der großen
Mächte beizugeben und die politiſche Leitung des Krieges der Pariſer Ge-
ſandtenconferenz zu übertragen. Auch dieſem Vorſchlage widerſprach Bern-
ſtorff, weil Frankreich eine ſolche Bevormundung nicht ertragen könne und
die Mächte ſelber nicht einig ſeien. Auf die Bekämpfung Villele’s, der
in Metternich’s Augen zu gemäßigt war, wollte der preußiſche Miniſter
ſich ebenſo wenig einlaſſen; das heiße Frankreich beleidigen, erwiderte er.
Der König billigte Bernſtorff’s Verfahren ausdrücklich und legte ihm nur
ans Herz, ſich in Nebenfragen nachgiebig zu zeigen, weil „an dem Einver-
ſtändniß mit den Kaiſerhöfen in der jetzigen Zeit Alles gelegen ſei.“**)
Der ſpaniſche Feldzug verlief über alle Erwartung leicht; die be-
fürchteten Meutereien im franzöſiſchen Heere blieben aus, da das un-
unterbrochene Kriegsglück die Mannszucht befeſtigte. Schon im Mai zog
der Herzog von Angouleme in Madrid ein, jauchzend begrüßt von dem
wetterwendiſchen Pöbel. Nach der Erſtürmung des Trocadero vor Cadiz,
der einzigen ernſtlichen Waffenthat dieſes militäriſchen Spaziergangs, un-
terwarf ſich das ganze Land, im November fiel Alicante, die letzte Feſte
der Revolution, und mit der ganzen Bilderpracht ſeiner Rhetorik konnte
Chateaubriand in Paris verkünden: ſo habe die weiße Fahne der Bour-
bonen in ſieben Monaten erreicht was der napoleoniſchen Tricolore in ſieben
Jahren nicht gelungen ſei. Noch ſchimpflicher ſogar als in Neapel ging
die Revolution in Spanien zu Grunde. Die nach Cadiz geflüchteten Cortes
beſchloſſen, hier auf der heiligen Stätte ſpaniſchen Ruhmes, noch ihre
eigene Auflöſung, gaben dem Könige ſeine abſolute Gewalt zurück, und der
Urheber der Bewegung, Riego endete unter Henkershand mit dem reuigen
Geſtändniß ſeiner revolutionären Blutſchuld auf den Lippen.
Die wohlwollenden Abſichten des Herzogs von Angouleme wurden als-
bald zu Schanden an dem Radicalismus, der jedem Kriege, zumal dem Bür-
gerkriege natürlich iſt. Sofort nach dem Einzug der Franzoſen erhob ſich
die reaktionäre Partei in raſender Wuth. Schon die Regentſchaft, welche
der Herzog eingeſetzt, verübte Gräuel, denen er vergeblich zu ſteuern ſuchte;
und als nun gar Ferdinand ſelber wieder die Zügel in die Hand nahm,
da wurde die heilig verſprochene Amneſtie nach bourboniſchem Brauche
ſofort zurückgenommen und es begann ein Schreckensregiment, wie es nur
in Spanien möglich war. Mit unbegreiflicher Argloſigkeit hatten die Ge-
ſandten der Oſtmächte, die den Charakter dieſes Bourbonen doch kennen
mußten, Alles aufgeboten um die königliche Gewalt ohne jede Bedingung
23*
[356]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
wiederherzuſtellen; nach der legitimiſtiſchen Doktrin ſollten ja nur die vom
Throne ausgehenden Reformen rechtsgiltig ſein. So lange als irgend
möglich ſuchte Bernſtorff über die Miſſethaten dieſer Reſtauration ſich ſelber
zu täuſchen; auch der neue Geſandte, Gneiſenau’s Vertrauter Royer hielt
ſich als ſtrenger Legitimiſt verpflichtet die Ruchloſigkeit des Monarchen
nach Kräften zu entſchuldigen, ſo daß Hatzfeldt die Madrider Berichte
immer mit einem freudigen Parfait, parfait! begrüßte. Bald ward doch
jede Täuſchung unmöglich; es ließ ſich nicht mehr verkennen, was man
freilich hätte vorausſehen müſſen, daß der befreite Bourbone genau
daſſelbe Syſtem wieder aufrichtete, deſſen Sünden die Revolution von
1820 verſchuldet hatten. Allzu ſpät erging ſich der preußiſche Miniſter
jetzt in heftigen Anklagen wider „die unglaubliche Schlechtigkeit und Wort-
brüchigkeit König Ferdinands“. Sein Wiener Freund konnte ſich zu einem
ſo herben Urtheil noch nicht entſchließen; er meinte noch im November
gemüthlich: „vielleicht iſt die augenblicklich etwas übertriebene Strenge des
Königs eher ein Glück, wenn er ſpäter die Nothwendigkeit fühlt Maß-
regeln der Milde folgen zu laſſen!“ Endlich begann man ſelbſt in Wien
beſorgt zu werden über die letzten Folgen der Madrider Mißregierung.
Den franzöſiſchen Siegern brachte der legitimiſtiſche Kreuzzug keinen
Gewinn. Ihr Rath galt in Madrid weniger als die Meinung der an-
deren Mächte, und daheim wuchs die Unzufriedenheit, da die Ultras, be-
rauſcht durch die leichten ſpaniſchen Erfolge, übermüthig von einer Thor-
heit zur anderen ſchritten und auch den beſonnenen Villele weit mit
ſich fortzogen. Inzwiſchen ging die neue Welt dem Syſtem der Legiti-
mität verloren. Am 2. Dec. 1823 verkündigte Präſident Monroe den
Vereinigten Staaten den ſtolzen Grundſatz: „Amerika für die Amerikaner“:
niemals werde die Union zugeben, daß die Großmächte Europas ſich in
die Angelegenheiten der unabhängigen Staaten dieſes jungen Welttheils
miſchten. Ein Jahr darauf führte Canning nach langem Zaudern den ſorg-
ſam vorbereiteten Schlag gegen die große Allianz. Zu Neujahr 1825 er-
öffnete er den Geſandten der drei Oſtmächte, daß er bei den Republiken
Columbia, Mexico, Buenos-Ayres engliſche Geſchäftsträger zu beglaubigen
denke. Alle drei proteſtirten ſofort, am heftigſten der preußiſche Geſandte;
denn im Auswärtigen Amte zu Berlin galt die Anerkennung der Rebel-
lenſtaaten, ſo lange König Ferdinand ſie nicht ſelber frei ließ, als eine
Todſünde wider das legitime Recht; die Intereſſen des heimiſchen Ge-
werbfleißes, der ſich in Südamerika einen einträglichen Markt gewinnen
konnte, kamen daneben nicht in Betracht. Wie anders die kluge engliſche
Handelspolitik! Mit überraſchender Offenheit ſprach ſich Canning über die
Gründe ſeines großen Entſchluſſes aus: „Spaniſch-Amerika iſt frei, und
wir müßten denn unſere Angelegenheiten elend zu Schanden machen, ſo
iſt es engliſch und novus seclorum nascitur ordo.“ An die Stelle der
politiſchen Herrſchaft Spaniens — das war ſein wohlerwogener Plan —
[357]Canning und die Unabhängigkeit Südamerikas.
ſollte die Handelsherrſchaft Englands treten, und für England allerdings
eröffnete ſich damit die Ausſicht auf glückliche neue Jahrhunderte. Auch
die Vereinigten Staaten ließ er über ſeine Abſichten nicht im Zweifel, er
erklärte ihnen ſehr beſtimmt, daß er die Monroe-Doctrin „Amerika für
die Amerikaner“ keineswegs anerkenne. Aber das engliſche Handelsintereſſe
entſprach in der That augenblicklich dem großen Zuge der Geſchichte, den
Lebensbedingungen der jungen Völkerwelt des Weſtens und nicht minder
den Hoffnungen des Liberalismus, der längſt nach einem Gegengewicht
gegen die große Allianz verlangte. Arglos ſtimmte daher die geſammte
liberale Welt in den wohlberechtigten nationalen Freudenruf der Briten
ein und wiederholte frohlockend den Ausſpruch Canning’s: „ich rief die
neue Welt ins Leben um das Gleichgewicht in der alten herzuſtellen.“
Faſt noch lauter erklang die Zuſtimmung, als Canning bald darauf durch
eine kühne Flottenfahrt nach Liſſabon zugleich den Portugieſen ihre neue
conſtitutionelle Staatsordnung und der engliſchen Handelspolitik ihren
alten Brückenkopf ſicherte. So endete die ſpaniſche Reſtauration mit einer
ſchweren Niederlage der Oſtmächte; ſie erwarb ihren Urhebern nur neuen
Haß und ſchenkte den amerikaniſchen Rebellen die Unabhängigkeit, der
britiſchen Flagge ein unermeßliches Handelsgebiet. —
Auch die Wirren in Oſteuropa konnte Metternich nicht mit der Be-
friedigung des Siegers betrachten. Das Geheimniß ſeiner orientaliſchen
Politik hat Niemand beſſer errathen als ſein gelehriger Schüler Haupt-
mann Prokeſch, ein federgewandter, betriebſamer, mehr durch großſpreche-
riſche Anmaßung als durch echtes Talent ausgezeichneter junger Diplomat,
der in Wien für ein Genie gehalten und ſeit dem Jahre 1824 zur Beob-
achtung des Orients verwendet wurde. Prokeſch’s Berichte galten in der
Hofburg als Orakelſprüche, weil er die glückliche Gabe beſaß Alles zu
ſehen was er ſehen wollte und demnach die griechiſchen Rebellen einfach
als ein verkommenes Geſindel darſtellte. Sein Urtheil über die türkiſchen
Dinge faßte er zuſammen in dem monumentalen Satze: „was man die
orientaliſche Frage nennt iſt nur eine Frage zwiſchen Rußland und dem
übrigen Europa; in der Türkei giebt es keine orientaliſche Frage!“ Dieſer
Weisheitsſpruch war durchaus nach dem Sinne des Meiſters. Was küm-
merten den Wiener Hof die Verhöhnung des Kreuzes durch den Halbmond
und das himmelſchreiende Elend der Rajahvölker, wenn nur Rußlands
Einmiſchung abgewendet und der treueſte Alliirte, der Sultan in ſeinem
legitimen Beſitzſtande geſichert wurde! Metternich rühmte ſich geradezu dieſer
gedankenloſen Unfruchtbarkeit und meinte: „die diplomatiſch ſtärkſte Stellung
iſt ſtets die Defenſive.“ Er fand, die griechiſche Frage ſei „die leichteſte
von allen“ — ſchade nur daß die anderen Staatsmänner nicht ebenſo weiſe
waren wie er ſelber, der erfüllt „von unüberwindlichem Haß gegen Worte
und Phraſen, ſich ſtets zu Thaten getrieben fühlte! Meine Stellung iſt
ein Fels, an dem die Fluth ſich brechen wird. Der Fels fordert nicht
[358]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
die See auf, ſie rennt gegen ihn.“ Dieſer hohle Dünkel, der in den
Kämpfen des Völkerlebens immer nur die kleinen Menſchen, niemals die
treibenden Kräfte ſah, ſtand der elementariſchen Macht der griechiſchen
Revolution bald rathlos gegenüber, um ſo rathloſer, da Metternich zwar
den Czaren mißbrauchen und über Rußlands natürliche Intereſſen täuſchen,
aber um keinen Preis mit ihm brechen wollte; denn ein europäiſcher Krieg,
das blieb in der Hofburg Glaubensſatz, mußte die allgemeine Revolution
entfeſſeln.
Einige diplomatiſche Eintagserfolge vermochte Metternich’s Gewandtheit
noch zu erringen. Tatiſtſcheff, der ruſſiſche Geſandte in Wien, wurde gänz-
lich in die Irre geführt und gelangte erſt nach Jahren zu der beſcheidenen
Erkenntniß, daß Oeſterreichs und Rußlands Anſichten doch nicht vollſtändig
übereinſtimmten. Im Oktober 1823, auf einer Zuſammenkunft der bei-
den Kaiſer in Czernowitz, ſprach der Czar ſeinen Widerwillen gegen die
griechiſchen Rebellen nochmals lebhaft aus; doch zugleich nöthigte er das
öſterreichiſche Cabinet, über die Zukunft der Hellenen mindeſtens ernſtlich
zu berathſchlagen, und am 9. Jan. 1824 ſtellte er die Forderung auf,
daß die griechiſchen Landſchaften fortan drei halbſouveräne Fürſtenthümer
unter türkiſcher Oberhoheit bilden ſollten. Ueber dies ruſſiſche Programm
beriethen die Mächte viele Monate hindurch auf einer Conferenz in Peters-
burg. Metternich vollzog dabei wieder einen glücklichen Schachzug; er
ließ durch Lebzeltern erklären, daß der Wiener Hof, wenn die Unterwer-
fung der Griechen unmöglich ſei, am liebſten ihre vollſtändige Unabhängig-
keit anerkennen würde, und zwang dadurch die ruſſiſchen Diplomaten zu
der Antwort, Rußland könne dieſe Unabhängigkeit nicht zugeben. Dies
Geſtändniß Neſſelrode’s war allerdings von hohem Werthe; die Welt wußte
nunmehr, daß der Petersburger Hof die Eroberungspläne Katharina’s
noch nicht aufgegeben hatte, und die Griechen wendeten ſich alsbald von Ruß-
land ab um fortan in England Hilfe zu ſuchen. Mit alledem wurde eine
Entſcheidung noch nicht erreicht. Die Petersburger Conferenz blieb ohne
jedes Ergebniß. Denn die Pforte konnte auf Oeſterreichs Freundſchaft
zählen und wußte wohl, daß keine der anderen Mächte ihre Wünſche mit
dem Schwerte unterſtützen wollte; ſie war entſchloſſen die Empörung nie-
derzuwerfen und ſendete darum auf alle Ermahnungen der gründlich
verachteten dummen Franken nur das bekannte „mit Honig beſchriebene
Papier“, die leeren Redensarten, in denen die ſchlauen Effendis des Di-
vans von jeher Meiſter waren, oder ſie hüllte ſich gar in verächtliches
Stillſchweigen.
Indeſſen raſte der Kampf weiter. Zweimal brach im Lager der Rebellen
ſelber der Bürgerkrieg aus; einer ihrer Führer, Odyſſeus ward zum Ver-
räther. Alles ſchien verloren, als im Jahre 1824 Sultan Machmud ſeinen
gefährlichen Vaſallen Mehemed Ali zur Hilfe aufbot und nun die ägyp-
tiſchen Regimenter Ibrahim Paſchas alle Schrecken abendländiſcher Kriegs-
[359]Zerwürfniß wegen der orientaliſchen Frage.
kunſt und morgenländiſcher Grauſamkeit zugleich über den unglücklichen
Peloponnes verhängten. Trotz alledem und trotz der gräuelvollen Erobe-
rung der Inſel Pſara hielt das kleine Heldenvolk aus. Zauberiſch war
der Eindruck in Weſteuropa, als Lord Byron in Hellas erſchien um der
großen Sache, der er als Sänger gedient, nun auch ſein Schwert zu
weihen.
ſo klang es weithin durch die Welt, und kaum hatte der Dichter dies ſein
letztes Lied geſungen, ſo ſank er dahin in der Blüthe ſeines Ruhmes, im
Tode noch der mächtigſte Freiwerber für die Sache der Hellenen. Wie
vielen Tauſenden hatte er einſt die Liebe zu der Wiege abendländiſcher
Freiheit zuerſt erweckt durch die ſehnſuchtsvollen Zeilen: „die Berge ſehn
auf Marathon, und Marathon ſieht auf die See“, und nun beſiegelte
er, auch er ein Perſerbekämpfer, die Wahrhaftigkeit ſeines Glaubens durch
einen ſchönen Tod. Vor ſeinem Bilde erhob ſich das Philhellenenthum
zu neuer Schwärmerei. Chamiſſo ſang:
und auf der Stätte, wo er heimgegangen, bewies die heldenhafte Ver-
theidigung von Miſſolunghi, daß er ſeine Liebe nicht an Unwürdige ver-
geudt, daß dies Volk nicht untergehen könne.
Inzwiſchen begann auch Czar Alexander endlich einzuſehen, daß Met-
ternich’s wortreiche Beſchwichtigungsverſuche alleſammt nur den Zweck ver-
folgten, dem Sultan freie Hand zur Vernichtung der Rebellen zu laſſen.
Im Auguſt 1825 befahl er ſeinem Geſandten, die Eröffnungen der Hofburg
fortan nicht mehr zu beantworten und verſuchte ſich dem engliſchen Cabinet
insgeheim zu nähern. Canning wünſchte die vollſtändige Unabhängigkeit der
Griechen ebenſo wenig wie der Czar, jedoch er erkannte ſcharfſichtig das
unaufhaltſame Fortſchreiten der Bewegung und beſchloß ſich der Hellenen
behutſam anzunehmen um den Beſtand des türkiſchen Reichs zu retten.
Schon im Frühjahr 1823 hatte er die von den Griechen verhängte Blo-
kade als rechtsgiltig anerkannt und die Pforte ernſtlich zur Sicherſtellung
der Rechte ihrer chriſtlichen Unterthanen aufgefordert, alſo daß Metternich
über „das revolutionäre Delirium“ des engliſchen Miniſters ganz außer
ſich gerieth.*) Ohne daß die Hofburg es ahnte, ward eine Unterhandlung
zwiſchen den beiden alten Gegnern angeſponnen, und die engliſche Regie-
rung nahm die Eröffnungen Rußlands nicht unfreundlich auf, weil ſie
durch ſchroffe Ablehnung die Petersburger Kriegspartei zu ſtärken fürchtete.
[360]III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Eine neue Epoche der orientaliſchen Verwicklung kündigte ſich an. Der
Berliner Hof hatte die öſterreichiſchen Freunde — wie in allen Fragen,
welche das preußiſche Intereſſe nicht unmittelbar berührten — bisher unter-
ſtützt; aber mit ſichtlicher Gleichgiltigkeit, denn an den Sieg der Türken
glaubte Bernſtorff längſt nicht mehr, und gegen die philhelleniſchen Nei-
gungen der öffentlichen Meinung, welche König Friedrich Wilhelm ſelber
theilte, mochte man nicht allzu dreiſt ankämpfen. Im Sommer 1825 ſchilderte
der preußiſche Miniſter ſeinem Monarchen die zunehmende Spannung
zwiſchen den beiden Kaiſerhöfen alſo: „Oeſterreich will unter keiner Be-
dingung und für keinen Preis den Krieg, Rußland will unter jeder Be-
dingung und für jeden Preis die Rettung und Befreiung Griechenlands.“
Darauf erhielt er den Befehl, dem Wiener Hofe offen zu erklären: der
König vermöge den Anſichten Oeſterreichs nicht zuzuſtimmen, er wünſche
weder den Untergang der Türkei noch die Vernichtung der Griechen.*)
Auch der Tuilerienhof zeigte ſich ſchon längſt verſtimmt über die unfrucht-
baren Wiener Zauderkünſte.
Da ſtarb Kaiſer Alexander, der einzige Mann, welcher den unver-
meidlichen Zuſammenſtoß im Oſten bisher hintangehalten hatte. Sogleich
nach ſeinem Tode lenkte Rußland wieder ein in die Bahnen ſeiner natio-
nalen Staatskunſt, und bald gewann auch Preußens Politik ihre volle
Selbſtändigkeit wieder. Die ſpaniſchen Wirren hatten England der großen
Allianz entfremdet; durch die griechiſche Revolution wurden alle Groß-
mächte zu einer veränderten Parteiſtellung genöthigt.
[[361]]
Sechſter Abſchnitt.
Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Nach dem Abſcheiden des Staatskanzlers glaubte die altſtändiſche
Partei auf lange hinaus der Herrſchaft ſicher zu ſein, da ſein Stellver-
treter, Miniſter v. Voß-Buch, wie zu erwarten ſtand, mit der Leitung der
Geſchäfte betraut wurde. Aber der greiſe Führer der Feudalen folgte
ſeinem Gegner ſchon nach wenigen Wochen ins Grab (Jan. 1823), und
nunmehr bot Witzleben ſeine ganze Beredſamkeit auf, um den König zur
Berufung W. Humboldt’s zu bewegen. Auch der Kronprinz wünſchte die
Rückkehr des Entlaſſenen, damit wieder Geiſt und Leben in den Miniſter-
rath käme; in den Berliner Gelehrtenkreiſen war nur eine Stimme für
ihn, und ſelbſt ein Theil der Altſtändiſchen hätte den Gegner Harden-
berg’s willkommen geheißen.
Humboldt ſelbſt ſtand dieſen Plänen fern; er hatte längſt in ſeinem
einſamen Tegel den Denkerfrieden gefunden, der ihm theurer war als
alle Ehren und Kämpfe des handelnden Lebens. Das ſtille Glück ſeiner
römiſchen Tage überkam ihn wieder, wenn er in dem einfach edlen Schloſſe,
das ihm Schinkel erbaut, zwiſchen den Antiken und Abgüſſen, „unter
lauter ſchönen Geſtalten“ umherwandelte oder wenn er Abends mit ſeiner
Frau am Ufer des blauen Sees entlang ging und drüben den Thurm
der vier Winde zwiſchen den alten Bäumen glänzen ſah. Hier lebte er
wie außer der Welt, nur in ſich und für ſich ſelber: „glücklich bin ich
ſehr, ſo innerlich und äußerlich geſchloſſen, daß ich keinen Wunſch habe,
den ich nicht durch mich erreichen könnte.“ Von der Höhe ſeiner Ge-
ſchichtsphiloſophie ſah er alles Menſchliche zuſammenſchrumpfen, er ſah
„mehr den Strom, der die Dinge fortreißt, als die Dinge ſelbſt“, und
über die Schranken, welche der Kraft des Einzelnen geſetzt ſind, urtheilte er
mit heiterer Faſſung:
In ſolcher Stimmung konnte es ihn weder überraſchen noch verletzen,
daß Witzleben’s Rathſchläge nicht durchdrangen. Der König hatte ſeinem
[362]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
geſtürzten Miniſter ſein Wohlwollen nie ganz entzogen, er nannte ihn den
fähigſten ſeiner Staatsmänner; allein daſſelbe Bedenken, das ſchon vor
fünf Jahren Humboldt’s Berufung ins Auswärtige Amt verhindert hatte,
ſchien auch jetzt noch unüberwindlich. Preußens Friedenspolitik ſtand und
fiel mit dem Bunde der Oſtmächte, und Friedrich Wilhelm traute ſich die
Kraft nicht zu, einen Mann, der in Petersburg und Wien gleich verhaßt
war, an der Spitze ſeines Miniſterraths zu halten. Etwas ſtilles Miß-
trauen und die alte Scheu vor genialen Naturen mochten wohl mitwirken;
genug, der König erklärte dieſe Ernennung für unmöglich.
In ſeiner Verlegenheit berief er ſodann den alten Feldmarſchall Kleiſt
von Nollendorf, der bisher dem politiſchen Leben fern geſtanden, doch ſchon
vor Jahren als Generaladjutant durch ſeine Rechtſchaffenheit und maß-
volle Ruhe ſich das perſönliche Vertrauen des Monarchen erworben hatte.
Aber auch er ſtarb plötzlich, noch bevor er ſein Amt angetreten hatte, und
da der König ſonſt keinen geeigneten Mann zu finden wußte, ſo kam er jetzt
auf einen Gedanken zurück, der ihm ſchon nach Voß’s Tode aufgeſtiegen
war. Er wollte fortan ohne einen leitenden Staatsmann, allein durch
Fachminiſter regieren. Der regelmäßige Vortrag beim Könige wurde dem
Grafen Lottum übertragen, der im Miniſterrathe verblieb, aber die Ver-
waltung des Staatsſchatzes dem Finanzminiſter abtrat.*) Der reiche Graf
bewährte ſich als fleißiger, gewiſſenhafter Berichterſtatter; ſeine vornehme
Gelaſſenheit, ſein allen Ränken unzugänglicher Gradſinn ſagten dem Mon-
archen zu, er behielt ſein Amt bis zu Friedrich Wilhelm’s Tode. Großen
politiſchen Ehrgeiz hegte er nicht, ſelbſt den Titel eines Cabinetsminiſters
hat er niemals erhalten. Im Uebrigen blieb das Miniſterium unver-
ändert, obgleich Hardenberg in einer hinterlaſſenen Denkſchrift die Berufung
neuer Kräfte dringend angerathen hatte.
Alſo folgte auf die Tage der Staatskanzlerſchaft wieder eine Zeit
königlicher Selbſtregierung. Der Wille des Monarchen allein hielt die
Miniſter zuſammen, Alles hing an ſeiner Entſcheidung. Nur ſeine Ver-
trauten Wittgenſtein, Witzleben, Albrecht beſtimmten zuweilen ſeinen Ent-
ſchluß, noch ſeltener der alte Oberhofmarſchall Schilden, der Morgens
über den Hofhalt kurzen Vortrag hielt und ſich dann und wann einen
politiſchen Rathſchlag erlauben durfte. Eine ſolche Regierung konnte nur
in einer Epoche tiefen Friedens genügen; Kraft, Einheit, raſche Entſchlie-
ßung zeigte ſie ſelten. Da der König weder rückſichtslos durchzugreifen
liebte, noch die geſammte Verwaltung zu überſehen vermochte, ſo wucherte
die alte Sünde des Beamtenthums, der Sondergeiſt der Departements,
wieder fröhlich auf. Jeder Fachminiſter ging ſo weit er konnte ſeines eigenen
Wegs, ſchroffe Gegenſätze ſtanden unvermittelt nebeneinander; derſelbe
[363]Königliche Selbſtregierung.
Staat, der die beſte Verwaltung Europas beſaß und die Einheit des deut-
ſchen Marktes begründete, betrieb zugleich das verächtliche Handwerk der
Demagogenverfolgung. Und doch bewahrte dieſe perſönliche Regierung mit
allen ihren augenfälligen Schwächen den preußiſchen Staat vor einer ge-
fährlichen Reaction, die unter einem Miniſterium Voß-Buch ſchwerlich
ausgeblieben wäre. Jetzt zeigte ſich erſt, wie weit die Geſetzgebung der
jüngſten Jahre der politiſchen Bildung des Volks vorausgeeilt war; ein
ſtarker Rückſchlag begann, ſehr ähnlich jener Bewegung, welche das Deutſche
Reich um das Jahr 1878 erſchütterte. Nicht blos der feudale Adel, auch
weite Kreiſe des Bürger- und Bauernſtandes fühlten ſich verletzt in ihren
Intereſſen, Gewohnheiten, Vorurtheilen und klagten laut über die Frei-
zügigkeit, die Agrargeſetze, die Gewerbefreiheit. Friedrich Wilhelm aber
ward an den Grundgedanken ſeiner ſocialen Reformen nicht irr, und ob-
wohl er raſch alternd ſich nur noch ſehr ſchwer zu Neuerungen entſchloß,
ſo verſtand er doch nach ſeiner ſtillen Weiſe, als König über den Parteien
zu ſtehen. Um die Heißſporne der Reaction zu „calmiren“, gewährte er
ihnen wohl einzelne Zugeſtändniſſe, zumal in Perſonenfragen, doch über
den Kopf durften ſie ihm nicht wachſen, und ihr letztes Ziel, die Auf-
hebung der Hardenbergiſchen Geſetze, erreichten ſie niemals.
Einmal, im Sommer 1825, wähnten die unbedingten Anhänger
Oeſterreichs ſchon einen entſcheidenden Sieg errungen zu haben, als ihr
Führer Herzog Karl von Mecklenburg mit dem Vorſitze im Staatsrath
betraut wurde, einem Amte, das bisher nur Staatsminiſter bekleidet hatten.
Im Schloſſe Monbijou, das der Herzog bewohnte, führten Kamptz und Ge-
neral Müffling das große Wort; die Haller’ſche Heilslehre wurde dort noch
weit nachdrücklicher gepredigt als in dem Palaſte auf der Wilhelmsſtraße,
wo der Kronprinz ſeine romantiſchen Freunde um ſich verſammelte. Der
König indeß, der von der ſtaatsmänniſchen Begabung ſeines tapferen Schwa-
gers offenbar nicht hoch dachte, hielt ihn ſehr kurz; er erlaubte ihm nur, an
den Sitzungen des Staatsminiſteriums ſchweigend theilzunehmen, damit
er ſich unterrichten und nöthigenfalls die Ueberweiſung eines Geſetzent-
wurfes an den Staatsrath beantragen könne. Sitz und Stimme im
Miniſterrathe wollte er ihm ſchlechterdings nicht gewähren, obgleich der
Herzog flehentlich darum bat und ſein Begehren durch wiederholte Ab-
ſchiedsgeſuche durchzuſetzen verſuchte. Alſo beſchränkt blieb das Amt des
Prinzen nicht viel mehr als ein Ehrenpoſten.*)
Dieſe Politik der Vermittlung, die alle Parteien ſtill unter der Glocke
hielt und in der Geſetzgebung nur Schritt für Schritt behutſam vorging,
ergab ſich nicht blos aus dem Charakter Friedrich Wilhelm’s, ſondern auch
[364]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
aus dem krauſen Durcheinander politiſcher Gegenſätze, das in den Ver-
handlungen der neuen Provinziallandtage zu Tage kam. Am Geburts-
tage des Königs, 3. Aug. 1823, wurden das allgemeine Geſetz über die
Provinzialſtände vom 5. Juni und die beſonderen Geſetze für Brandenburg,
Preußen, Pommern vom 1. Juli verkündigt. Dann folgten, 27. März
1824, die Geſetze für die übrigen fünf Provinzen. In den Jahren 1824
bis 1827 wurden ſodann die Provinziallandtage verſammelt, zuerſt in
Brandenburg, zuletzt in Poſen. Von der Richtigkeit der getroffenen Ent-
ſcheidung war der König jetzt tief überzeugt, und was er in jüngſter Zeit
von den Früchten des ſüddeutſchen Kammerweſens kennen gelernt hatte,
die unſtete Haltung des Stuttgarter Hofes und die beſtändigen Angſtrufe
aus Baiern und Baden konnten ihn in ſeiner Meinung nur beſtärken. Er
ließ die neuen Geſetze allen Geſandtſchaften zugehen mit der Erklärung,
die politiſche Ideenverwirrung der Zeit und die Mannichfaltigkeit der Pro-
vinzialverhältniſſe hätten den Abſchluß der Arbeit verzögert. Die Höfe und
die Diplomaten überboten ſich natürlich in Aeußerungen dankbarer Be-
wunderung. Berſtett war ebenſo entzückt wie der alte König von Sachſen,
Rechberg lobte vornehmlich die ſtarke Vertretung des Adels. Der badiſche
Geſandte ſprach die Hoffnung aus, daß nunmehr das allgemeine Urtheil
über Verfaſſungsleben ſich ändern werde, und Bunſen ſchilderte in einem
ſalbungsvollen Berichte die Freude aller gutgeſinnten Römer: wie leicht
ſeien ſolche Geſetze in Deutſchland, wie ſchwer in Italien; „wer wird bei
ſolchen Betrachtungen nicht vor Allem den Geiſt der Reformation ſegnen!“
Nur der alte Deutſch-Franzoſe Reinhard in Frankfurt konnte ſich’s nicht
verſagen, in einer boshaften Denkſchrift auf die Unzufriedenheit der Rhein-
länder hinzuweiſen.*) —
Die öffentliche Meinung in den Kleinſtaaten empfing das Werk, das
von ihren conſtitutionellen Idealen ſo weit ab lag, anfangs mit eiſigem
Stillſchweigen. Das Journal des Debats war das erſte Blatt, das die
neuen Geſetze eingehend beſprach, und als die deutſchen Zeitungen endlich
redeten, ging ihr Urtheil faſt einſtimmig dahin: die Erwartungen der
Nation ſeien getäuſcht, in Preußen bleibe Alles beim Alten. Die Preußen
ſelbſt empfanden anders. In der Maſſe des Volkes hatte das Verlangen
nach Reichsſtänden niemals tiefe Wurzeln geſchlagen, und auch die Männer,
welche einſt Größeres erhofft, waren von monarchiſcher Geſinnung ſo ganz
durchdrungen, daß ſie jetzt das Gebotene dankbar annahmen und die Pro-
vinzialſtände mindeſtens als den Unterbau der künftigen Verfaſſung gelten
ließen. So dachten Stein, Humboldt, Vincke, Schön. Selbſt in den
liberalen Kreiſen, denen General Pfuel und der Vater Theodor Körner’s
[365]Einführung der Provinzialſtände.
angehörten, begrüßte man hoffnungsvoll dieſen erſten Anfang „einer orga-
niſchen Geſtaltung der Nation.“*) Freilich fehlte es ſelbſt unter den
Hochconſervativen nicht an weitblickenden Männern, welche beſorgt die
Frage erwogen: was denn nun werden ſolle im Falle eines Krieges, da
doch nur der Reichstag die Staatsſchuld erhöhen dürfe? General Müff-
ling fühlte ſich in ſeinem Gewiſſen gedrungen zu dem Rathe, der König
möge etwa im Jahre 1828, ſobald die Provinzialſtände zweimal getagt
hätten, einen Reichstag von ungefähr 120 Köpfen, in zwei Kammern, um ſich
verſammeln, damit nicht ſpäterhin einmal in Zeiten der Noth eine plötz-
liche Berufung der Reichsſtände erzwungen würde.**) Der König aber
ging nicht auf den Vorſchlag ein; er rechnete auf einen langen Frieden
und wollte die Provinzialſtände ſich erſt gründlich erproben laſſen.
Die Wahlen zu den erſten Landtagen verliefen ohne Lärm, aber überall
unter ſehr lebhafter Betheiligung. Auch die Ritterſchaft der alten Terri-
torien nahm die neue Ordnung ohne Vorbehalt an, die altſtändiſche par-
ticulariſtiſche Oppoſition verſchwand mit einem Schlage, die preußiſche Ver-
faſſung ſtand endlich wieder auf einem allgemein anerkannten Rechtsboden.
Mochten Einzelne aus dem ſtändiſchen Adel insgeheim über den halben
Sieg klagen und den Untergang der alten Libertät beweinen, einſtimmig
ſprachen alle Landtage dem Monarchen ihren Dank aus, und nirgends
ward auch nur verſucht, die Rechte der aufgehobenen Landſtände zu ver-
wahren. Nur in Sachſen, Preußen und Pommern ſtellten die Provin-
zialſtände den Antrag, die Krone möge den einzelnen Landestheilen noch
beſondere Communallandtage gewähren, doch beruhigten ſie ſich ſogleich,
als der König die Bitte abſchlug. Wenn die neue Einrichtung das Staats-
gefühl nicht zu heben vermochte, ſo führte ſie doch mindeſtens die Be-
wohner der einzelnen Provinzen näher zuſammen. Der alte Marwitz
mußte zwar zu ſeinem Herzeleid erleben, daß ein im Magdeburgiſchen
angeſiedelter Altmärker und gar ein „Fremder“, ein Niederlauſitzer im
erſten brandenburgiſchen Provinziallandtage den Vorſitz führten; er murrte
über das „Unzeug“, das die Demagogen des Beamtenthums in die ſtän-
diſche Geſetzgebung hineingebracht hätten. Immerhin fügte er ſich, da er
ſeinen „märkiſchen Staat“ doch zum Theil wiederhergeſtellt ſah, und trium-
phirend überreichte der unbeugſame Feudale dem neuen Landtage den
Treſorſchlüſſel der alten Stände, den er vor vierzehn Jahren einſt vor
den Beamten Hardenberg’s gerettet hatte.
Die Theilnahme, welche die erſten Landtage begrüßte, erkaltete indeß
ſehr ſchnell, da die neuen ſchon in der Anlage verfehlten Inſtitutionen
ſich nur kümmerlich entwickelten. Wohl kam die Krone ihren getreuen
Ständen mit Vertrauen entgegen. Sie gab der Kurmark ihr altes
[366]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Landhaus und, unter einigen Beſchränkungen, auch die Verwaltung des
Landarmenweſens wieder. Sie ernannte, um die Landtage zu ehren, alle
Landtagsmarſchälle zu Mitgliedern des Staatsraths: ſo kam es, daß jetzt
endlich auch Stein die ihm längſt gebührende Stellung erhielt und gleich-
zeitig mit Marwitz in den Staatsrath berufen wurde, nachdem der König
ſich zuvor durch Herzog Karl behutſam hatte erkundigen laſſen, ob der
ſtolze Freiherr den Gnadenbeweis auch annehmen wolle.*) Der letzte
Verfaſſungsausſchuß, der die Provinzialſtände geſchaffen hatte, beſtand in
etwas veränderter Zuſammenſetzung fort als „Immediat-Commiſſion“ für
die ſtändiſchen Angelegenheiten, um alle Vorlagen für die Stände, alle
Landtagsabſchiede und Wahlprüfungen zu begutachten. Der Kronprinz
behielt den Vorſitz, das Protokoll führte Geh.-Rath v. Voß-Buch, des
alten Miniſters gleichgeſinnter Neffe, der ſich das volle Vertrauen des
Thronfolgers erwarb und in der Regel mit ſeiner gewandten Feder die
politiſchen Denkſchriften des Prinzen entwarf.**) Dreiundzwanzig Jahre
lang, bis nach der Berufung des Vereinigten Landtags, blieb dieſe Imme-
diatcommiſſion die Vermittlerin zwiſchen der Krone und den Landtagen;
an Wohlwollen ließ ſie es nicht fehlen, da der Kronprinz ſeine deutſch-
rechtlichen Stände ſo feſt ins Herz geſchloſſen hatte.
Aber das Alles konnte den lebendigen Verkehr mit den Landſtänden
nicht erſetzen; und dieſen hatte ſich die Regierung ſelber abgeſchnitten, theils
aus bureaukratiſcher Aengſtlichkeit, theils weil das unnatürlich zerſplitterte
Ständeweſen zu ſolcher Beſchränkung zwang. Es war unmöglich, daß die
Miniſter in acht Landtagen ſelbſt erſchienen, und ebenſo unmöglich, die Ver-
theidigung der Vorlagen den Provinzialbehörden zu übertragen, da die Ge-
ſetzentwürfe zumeiſt mittelbar oder unmittelbar den ganzen Staat angingen.
Darum erhielten die Landtage nur bei der Eröffnung durch den königlichen
Commiſſar die Propoſitionen der Krone vorgelegt und blieben nachher ſich
ſelber überlaſſen. Der beſte Inhalt deutſcher Landtagsverhandlungen,
der unmittelbare Gedankenaustauſch zwiſchen Regierung und Ständen,
fehlte hier gänzlich. Erſt nach dem Schluſſe des Landtags gab die Krone
ihre Entſcheidung kund, und dieſe Landtagsabſchiede verſpäteten ſich unge-
bührlich, oft um ein volles Jahr und mehr, weil der König die Bitten
ſeiner Rheinländer oder Brandenburger nicht beantworten konnte ohne
zuvor die Anſicht der Weſtphalen oder der Schleſier vernommen zu haben.
So rächte ſich überall jener künſtelnde Doctrinarismus, der die lebendige
Staatseinheit in acht Theile zerſchneiden wollte. Und wie nach oben ſo
hatten die Stände auch nach unten hin keine Fühlung. Die kurzen Ueber-
[367]Charakter der Provinziallandtage.
ſichten, welche die Landtagsmarſchälle zum Schluß veröffentlichten, gaben
nur ein unvollſtändiges Bild; über den Gang der Verhandlungen ſollte
jeder Abgeordnete ſtrenges Stillſchweigen beobachten. Sogar das harm-
loſe, einem Geſammtlandtage unentbehrliche Recht, Petitionen entgegen-
zunehmen und zu beſprechen, war dieſen Provinzialtagen verſagt, offen-
bar weil man fürchtete, ein Adreſſenſturm in Poſen oder am Rhein könne
leicht ſtaatsfeindlichen Zwecken dienen. Alſo blieb das Volk faſt ohne
Kunde von der Wirkſamkeit ſeiner Vertreter. Die ſtändiſchen Verhand-
lungen erzogen zwar einen kleinen Stamm politiſch erfahrener Männer,
aber auf weitere Kreiſe wirkten ſie kaum ein, und noch lange beſtand in
Preußen nur eine einzige Partei mit beſtimmten Zielen: die feudale. —
Am Erfreulichſten verliefen die Berathungen in Preußen und Weſt-
phalen. Dort im Oſten erwachten wieder die ſtolzen Erinnerungen an
den Königsberger Landtag und an das reichbewegte ſtändiſche Leben der
Ordenszeit. Ein friſcher Hauch jugendlicher Hoffnung und provinzialen
Selbſtgefühles durchwehte die Reden; man ſprach gern, wie Schön, von
„dem Königreich Preußen und Sr. Majeſtät übrigen Staaten.“ Die
Stände freuten ſich der wiedergewonnenen altpreußiſchen Freiheit und hätten
am liebſten ihren Sitz im Remter der Marienburg, dem Heiligthum des
Landes aufgeſchlagen, ſtatt abwechſelnd in Danzig oder Königsberg zu
tagen. Die patriotiſche Geſinnung des Adels und der Allen gemeinſame
ſtarke Provinzialſtolz ließen den Sondergeiſt der Klaſſen nicht aufkommen.
Als ein Vertreter der Städte einmal mit der itio in partes drohte, da
ſtürzte Alles entrüſtet über ihn her, und die Stände erklärten dem Könige:
von dem Rechte in Theile zu gehen würde der Landtag des Königreichs
Preußen wohl niemals Gebrauch machen, da die Preußen verſtänden ſich
über das Intereſſe einzelner Stände und Landestheile zu erheben. Gleich
in ſeiner erſten Tagung beantragte der Landtag — leider ohne Erfolg —
den Druck der geſammten Verhandlungen, damit die Nation ihre Stände
kennen lerne. Auch Schön, der königliche Commiſſar, ſetzte ſeine Ehre
darein, den Landtag ſeiner Provinz zum Muſter für die geſammte Mon-
archie zu erheben. Tagten die Stände in Danzig, ſo bezog der Ober-
präſident ein Landhaus in den Pelonken und fuhr täglich in die Stadt
hinüber, um durch perſönliche Zwieſprache, bald mahnend, bald drohend,
die Unzufriedenen bei der Stange zu halten. Die entlegene Provinz ſtand
zuſammen gleich einer großen Familie. Im Ständeſaale wurde Graf
Alexander Dohna, der erſte Landwehrmann von 1813, wie ein Patriarch
verehrt; das ganze Land trauerte mit ihm als während des Landtags
von 1827 die Nachricht von dem Tode ſeiner Schwägerin Julie Dohna,
der Tochter Scharnhorſt’s, einlief; mit Thränen in den Augen umdrängten
ihn die tapferen Preußen, da er nach ſeiner Gewohnheit noch eine Ab-
ſchiedsrede hielt und mit den Worten Paul Gerhard’s ſchloß: Gott gebe
uns Allen ein fröhliches Herz!
[368]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Die würdige Haltung des weſtphäliſchen Landtags war vornehmlich
dem Einfluß Stein’s zu verdanken. Lieber als in ſeinem ſchönen Naſſau,
wo ihn Alles an den Verluſt ſeiner Freiheit erinnerte und die Vielge-
ſchäftigkeit des rheinbündiſchen Beamtenthums ihn beſtändig reizte, lebte
der Freiherr jetzt auf ſeinem preußiſchen Dotationsgute, der alten Prä-
monſtratenſerpropſtei Cappenberg. Hier fühlte er ſich heimiſch. Mitten
im Hofe ſeines einſamen Schloſſes ſtand die ehrwürdige Kirche des heiligen
Norbert, und wenn er auf ſeinen „braunen Hengſt“ geſtützt auf der Ter-
raſſe luſtwandelte, dann blickte er über die alten Eichen ſeiner Forſten
hinweg ins Thal der Lippe und zum fernen Gebirge, weithinaus in das
Land der rothen Erde, dem er einſt die Kraft ſeiner erſten Mannesjahre
gewidmet hatte. Auf Vincke’s Vorſchlag wurde er als der anerkannt erſte
Mann der Provinz zum Landtagsmarſchall ernannt. Schwer heimgeſucht
von den Plagen des Alters und auf einem Auge ſchon erblindet, nahm
er doch willig an und eröffnete in dem prächtigen Friedensſaale des Rath-
hauſes zu Münſter den erſten Landtag mit einer Rede, worin er noch
einmal auf den ſittlichen Zweck der politiſchen Freiheit hinwies. Er hieß
die neue Verfaſſung willkommen, weil ſie helfen werde das Volk zur
Selbſtthätigkeit zu erziehen: „ſie wird binden, bilden, heben, ſie wird die
Gemüther vereinen, indem ſie alle nach einem Ziele ſtreben, der Verherr-
lichung des Vaterlandes; ſie wird dem Einzelnen ein Gefühl ſeines
Werthes geben, indem ſie ſeine edleren und beſſeren Kräfte in Anſpruch
nimmt.“ Leicht war es nicht unter Stein’s Vorſitz zu tagen, ſeine Hef-
tigkeit hatte ſich mit den Jahren nicht gemildert. Sobald er eintrat, ver-
ſtummten alle Geſpräche, und wehe dann Jedem, der durch unnützes Ge-
ſchwätz die Verhandlung erſchwerte; auch ungerecht konnte er werden,
wenn er etwa zu bemerken glaubte, daß ein „Bauernadvocat“ die Land-
leute gegen das bewährte alte Sachſenrecht aufwiegelte; ſelbſt mit Vincke,
dem Landtagscommiſſar, gerieth er wegen der Einrichtung des Kataſters
hart an einander, und die beiden Eiſenköpfe konnten ſich niemals wieder
ganz verſöhnen. Aber die ſittliche Hoheit des gewaltigen Mannes hob
die ganze Verſammlung; aus jedem ſeiner Worte ſprach die warme Liebe
zu ſeiner anderen Heimath. In der Leitung der Geſchäfte bewährte er
noch die alte Meiſterſchaft, alle Lebensverhältniſſe des Landes kannte er
aus dem Grunde, und die Bauern wußten wohl, daß ſie doch auf der
Welt keinen beſſeren Freund beſaßen, als dieſen Stolzen, der jetzt im
Alter ſeine ariſtokratiſche Geſinnung ſo oft mit verletzender Schroffheit
ausſprach.
Auch in den anderen Landtagen bekundete ſich viel Menſchenverſtand
und praktiſche Lebenserfahrung; die Anhänglichkeit an den König, die ſich
in den Adreſſen der Stände oft mit kindlicher Einfalt äußerte, ſchloß den
ehrlichen Freimuth keineswegs aus. An die Verwaltung der ihnen über-
laſſenen Communalanſtalten gingen die Landſtände faſt überall mit freu-
[369]Conſervative Geſinnung der Stände.
digem Eifer; die germaniſchen Freiheitsgedanken, denen Stein’s Städte-
ordnung entſprungen war, wurzelten doch ſehr tief in dieſem Boden. Und
wie überraſchend ſchnell hatte dieſer Staat ſein Volk für ſeinen Dienſt er-
zogen! Gegen die allgemeine Wehrpflicht, die noch vor zehn Jahren ſo
leidenſchaftlichen Unwillen erregt, erhob ſich jetzt auf ſämmtlichen Land-
tagen keine einzige Stimme mehr; ja die Stände von Brandenburg und
Poſen baten den König ſogar, er möge die Juden, zu ihrer Beſſerung,
womöglich alle durch die Schule des Heeres gehen laſſen.
Nur in Poſen wurde die Eintracht durch nationale Feindſchaft ge-
ſtört, und am Rhein führte der Gegenſatz der alten und der neuen Ge-
ſellſchaft, der auch in den anderen Provinzen, doch minder gehäſſig, her-
vortrat, ſchon zu bedenklichen Kämpfen. Die am grünen Tiſch erklügelte
ſtändiſche Gliederung erſchien nirgends ſo ungerecht, wie in den ganz bür-
gerlichen, modernen Lebensverhältniſſen des Rheinlandes. Man berechnete,
daß der Stand der Ritterſchaft nur etwa vier Procent des Bodens der
Provinz beſaß; mehrere der größten Grundbeſitzer ſahen ſich von den
Wahlen ausgeſchloſſen oder ſie mußten im Stande der Städte ſtimmen,
wenn ſie, wie es hier häufig vorkam, in der Stadt wohnten und ihre im
Lande zerſtreuten Güter verpachtet hatten. Der Kaſtengeiſt des rheini-
ſchen Adels verſtärkte noch die Unzufriedenheit. Dieſe Domherrengeſchlechter
trugen jetzt, da die Krone ihren Standeswünſchen ſo weit entgegenkam,
wieder eine dynaſtiſche Geſinnung zur Schau, welche freilich ſofort ver-
ſchwand, als der Staat nachher mit der Kirche in Streit gerieth; ſie ſprachen
herausfordernd von ihrem Berufe, den Thron gegen die Revolution zu
beſchützen, und verſchworen ſich untereinander, nur ſtiftsfähige Edelleute
in den Landtag zu wählen. Begreiflich alſo, daß manche bürgerliche Guts-
beſitzer verſuchten, dem Geſetze zuwider, in die Ritterſchaft einzudringen.
Gewandte Juriſten, wie der vielgeſchäftige Generaladvocat v. Sandt, liehen
ihnen ihre Federn, und ſchon während der Wahlen entbrannte wegen
der Vorrechte des Adels ein heftiger Streit, der dann im Landtage von
Neuem aufflammte. —
Alles in Allem war der Geiſt der preußiſchen Provinziallandtage
grundverſchieden von der Geſinnung der ſüddeutſchen Kammern. Der
Gegenſatz von Nord und Süd erſchien ſogar noch ſchroffer als er war,
weil das ſüddeutſche Zweikammerſyſtem dem Einfluß des Adels ungleich
engere Schranken ſetzte als die ſtändiſche Gliederung der preußiſchen Stände.
Auch im Süden beſaß die Ariſtokratie, dem Rechte nach, die volle Hälfte
der Macht des Landtags; aber ſie tagte für ſich in ihren Adelskammern
und durfte den Beſchlüſſen des anderen Hauſes, die mit der ganzen Wucht
des Volkswillens auftraten, doch nur in ſeltenen Fällen zu widerſtehen
wagen. In Preußen hingegen konnte der Adel durch Stimmenzahl und
Einfluß die Landtage unmittelbar beherrſchen. Einen großen Vorzug hatte
das preußiſche Ständeweſen vor den Landtagen Süddeutſchlands voraus:
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 24
[370]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
der Bauernſtand war zwar ſchwach vertreten, aber durch wirkliche Bauern,
nicht, wie im Süden, zumeiſt durch Beamte und Städter. Dieſer Stand,
auf deſſen Tüchtigkeit die unverwüſtliche Kraft des deutſchen Weſens vor-
nehmlich beruht, vermochte in den ſtändiſchen Landtagen ſeine Meinung mit
einer Freiheit auszuſprechen, die ihm durch die allgemeinen Wahlen des
Repräſentativſyſtems faſt immer verkümmert wird, und er verhielt ſich,
obwohl der Unfreiheit kaum erſt entwachſen, doch keineswegs ſchüchtern,
ſondern trat der Ritterſchaft, wenn ſie ſich zu überheben ſuchte, mit hartem
Bauerntrotz entgegen. Dagegen fehlten die gelehrten Stände, die Be-
amten, Advocaten, Profeſſoren und Schriftſteller, die in den ſüddeutſchen
Kammern das große Wort führten, in den preußiſchen Provinzialſtänden
faſt gänzlich, und auch die gewaltig anwachſende Macht des beweglichen
Vermögens beſaß nur mittelbar eine durchaus ungenügende Vertretung.
Hierin lag das ſchlimmſte Gebrechen der neuen Ordnung. Denn in
dieſen Schichten der Geſellſchaft wurzelte der junge Liberalismus, deſſen
Macht und Recht ſich doch nicht mehr verkennen ließ, ihre Meinung be-
herrſchte längſt den größten Theil der Preſſe. Da man ihnen den Zu-
tritt zu den Landſtänden faſt verſperrte, ſo gaben die ſtändiſchen Verhand-
lungen nur ein unvollſtändiges Bild von der wirklichen Volksgeſinnung,
und nach und nach wuchs außerhalb der Landtage eine gefährliche Oppo-
ſition heran, die in der Stille ſo lange fortwucherte, bis nach Jahren
plötzlich zur allgemeinen Ueberraſchung an den Tag kam, daß ſie bereits
die Mehrheit des gebildeten Bürgerthums für ſich gewonnen hatte.
Die Grundeigenthümer, die in den Provinzialſtänden allein zu Worte
kamen, bewährten in ihrer großen Mehrzahl eine ſtreng conſervative Geſin-
nung. Bis zum Jahre 1830 verlautete in ſämmtlichen acht Landtagen kein
Wort über die verheißenen Reichsſtände. In der Preſſe der Kleinſtaaten
erinnerte wohl noch dann und wann eine vereinzelte Stimme an das
alte Verſprechen: ſo der junge Heinrich v. Gagern, der in der Allgemeinen
Zeitung den erſten weſtphäliſchen Landtag warm begrüßte und die Er-
wartung ausſprach, mit der Eröffnung der preußiſchen Reichsſtände werde
eine neue Zeit preußiſch-deutſcher Größe beginnen. Bei den Provinzial-
ſtänden ſelber fanden ſolche Hoffnungen für jetzt noch keinen Anklang.
Die freieren Köpfe hielten ſich in ihrer Königstreue verpflichtet, den Ent-
ſchlüſſen der Krone nicht vorzugreifen, ſondern zunächſt abzuwarten, wie
die Provinzialvertretung ſich bewähren würde. Die weit überwiegende
Mehrheit aber blickte noch kaum über die heimiſche Provinz hinaus. Auf
den erſten ſüddeutſchen Landtagen war der Liberalismus ſogleich mit einem
langen Programm halbreifer Wünſche hervorgetreten; in Preußen mußte
die Krone beſtändig den zähen Particularismus der Landſtände, ihr Miß-
trauen gegen jede Neuerung bekämpfen. Hier erfüllte ſich vollſtändig was
Humboldt vorausgeſagt: die Stände würden immer den Grundſatz der
Erhaltung, die Regierung den der Verbeſſerung vertreten.
[371]Die Stände gegen die Hardenbergiſche Geſetzgebung.
Gleich der erſte Landtag, der brandenburgiſche, erhob alsbald heftige
Klagen wider die Neuerungen, welche der ſogenannte Zeitgeiſt einer blutigen
und wildbewegten Zeit hervorgerufen habe. „Der Theorie alter und neuer
Zeit fremd, erklärten die Märker, vermögen wir freilich nichts zu geben
als die Wahrheit der Erfahrung.“ Die Erfahrung aber lehre, wie Tau-
ſende „blos von gehoffter Selbſtändigkeit geblendet“ durch die neue Ge-
werbefreiheit verführt würden und der Landmann „bedrückt von den ver-
derblichen Einflüſſen freien Verkehrs auf der Grenze“ ſich vergeblich nach
Hilfe umſehe.*) Aehnliche Beſchwerden erklangen, etwas minder laut,
faſt auf allen Landtagen. Der König indeß hatte ſolchen Wünſchen von
vornherein einen Riegel vorgeſchoben, indem er der Immediatcommiſſion
die Weiſung ertheilte: die Grundſätze der Geſetzgebung von 1810 dürften
nicht umgeſtoßen werden, denn das hieße „Verhältniſſe zerſtören, die auf
Grund geſetzlicher Verpflichtungen ſich gebildet und mehr oder weniger
Wurzel geſchlagen haben“; nur einige Abänderungen im Einzelnen wollte
er geſtatten, wenn die Stände ſie mit guten Gründen verlangten, doch
auf keinen Fall eine Verminderung der neu gewonnenen Steuereinnahmen,
ſo lange nicht ein Erſatz gefunden ſei.**) Es war allein das Verdienſt
des Königthums, daß Hardenberg’s Reformen im Weſentlichen aufrecht
erhalten und behutſam in die neuen Provinzen eingeführt wurden. In
den Kleinſtaaten war der Berliner Hof als eine Macht der Reaction ver-
rufen, weil der politiſche Dilettantismus der Deutſchen es nicht der Mühe
werth hielt, die Zuſtände des größten deutſchen Staates ernſtlich kennen
zu lernen; in Wahrheit dachte und handelte König Friedrich Wilhelm
liberaler als ſeine getreuen Stände.
Nicht in Allem freilich zeigte ſich der Monarch ſeinen Ständen über-
legen. Die Kreisordnungen, welche er den Landtagen vorlegen ließ, ſchloſſen
ſich der mißrathenen Bildung der Provinzialſtände würdig an; ſie waren
das Werk der Immediatcommiſſion, und dort hatte der Kronprinz den
Ausſchlag gegeben. Dieſem Prinzen überließ der König auch fernerhin
den Ausbau aller ſtändiſchen Inſtitutionen. Er freute ſich ſeinen Thron-
folger ſo gründlich in alle Einzelheiten der Provinzialverwaltung eindringen
zu ſehen, und beklagte oft vor ſeinen Vertrauten, daß ihm ſelber dieſe
Kenntniß fehle, weil Beyme und die anderen Cabinetsräthe in den erſten
Jahren ſeiner Regierung ihm die Arbeit zu bequem gemacht hätten.***)
Aber bei allem Fleiß konnte der Kronprinz ein lebendiges Bild von den
Bedürfniſſen der Kreisverwaltung, das ſich nur durch praktiſche Erfah-
rung erwerben läßt, doch nicht gewinnen, und da ſich auch ſonſt in der
Commiſſion kein ſchöpferiſcher Kopf fand, ſo mißglückte die neue Kreisord-
24*
[372]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
nung ebenſo vollſtändig wie der letzte Hardenbergiſche Entwurf. Das
Weſen deutſcher Selbſtverwaltung ward gänzlich verkannt; der Kreistag
ſollte nur berathend und begutachtend, alſo völlig machtlos neben dem
allein handelnden Landrath ſtehen. Die Zuſammenſetzung der Kreisſtände
aber war ſtreng im Sinne Haller’s gedacht. Nach dieſer privatrechtlichen
Staats-Anſchauung waren die obrigkeitlichen Befugniſſe nicht um des
Staates willen verliehen und darum wandelbar je nach den Wandlungen
des öffentlichen Lebens, ſondern ſie galten als habende Freiheiten, als
wohlerworbene Rechte, welche wider den Willen ihres Beſitzers nicht aufge-
hoben werden durften. Marwitz gab dieſer Doctrin, die den Staat in
lauter Privateigenthumsverhältniſſe auflöſte, einen draſtiſchen Ausdruck,
indem er die Liberalen beſchuldigte, nach ihres Nächſten Gut zu begehren
und alſo die zehn Gebote zu verletzen. Darum ſollte jetzt auch die alte
Kreisſtandſchaft der Ritterſchaft ohne alle Beſchränkung wieder aufleben.
Jeder Rittergutsbeſitzer erhielt eine Virilſtimme auf dem Kreistage, jede
Stadt des Kreiſes ebenfalls nur eine Stimme, während die geſammte
Bauerſchaft ſich mit drei Stimmen begnügen mußte; nur in den beiden
weſtlichen Provinzen wurde jedem Amte und jeder Sammtgemeinde eine
Stimme zugeſtanden, und auf den rheiniſchen Kreistagen ſollten, wenn
die Zahl der Rittergutsbeſitzer nicht ausreichte, auch einige gewählte Ab-
geordnete der übrigen Großgrundbeſitzer erſcheinen.
Alſo ward im Namen des hiſtoriſchen Rechts ſchweres Unrecht gegen
die Städter und die Bauern begangen und der Ritterſchaft eine Macht-
ſtellung geſchenkt, welche ihr vordem niemals zugeſtanden hatte. Denn
vor dem Jahre 1806 hatte ſich die Kreisverwaltung der Landräthe und
ihrer adlichen Kreisconvente nur über die Rittergüter erſtreckt; ſeitdem erſt
waren die Städte — bis auf einige der größten, welche beſondere Stadtkreiſe
bildeten — und die freien Bauerndörfer in den Kreisverband eingetreten,
und ihnen muthete jetzt der Geſetzgeber zu, ſich auf den Kreistagen durch
die Ueberzahl der ritterſchaftlichen Virilſtimmen erdrücken zu laſſen. Um das
Unrecht zu mildern geſtattete man ihnen, in Theile zu gehen falls ſie ſich
in ihren Standesintereſſen bedroht ſähen — eine gefährliche Befugniß,
die nur ſelten benutzt werden konnte. An der Spitze des Kreistags ſtand
der Landrath; er blieb Staatsbeamter und zugleich Vertreter des Kreiſes
als einer ſelbſtändigen Corporation, da er der kreiseingeſeſſenen Ritter-
ſchaft — im Rheinland mindeſtens den größeren Grundbeſitzern des Kreiſes
— angehören mußte und durch den König aus drei vorgeſchlagenen Can-
didaten ernannt wurde. Das Vorſchlagsrecht ward, nach der mißver-
ſtandenen hiſtoriſchen Rechtsdoctrin, überall dort wo es vormals dem Adel
allein zugeſtanden hatte, alſo im größten Theile der alten Provinzen,
wieder ausſchließlich der Ritterſchaft zugewieſen; in den übrigen Provinzen
wählten die Kreistage.
Als dieſe Entwürfe an die Landtage gelangten, erhob ſich ſofort eine
[373]Die ſieben Kreisordnungen.
ſtürmiſche Bewegung. Selbſtſucht, Neid, Uebermuth, alle die häßlichen Lei-
denſchaften der Klaſſenkämpfe brachen ohne Scheu hervor. Der Kern der
Sache wurde kaum berührt, da noch keine Partei über die ſchwierigen Auf-
gaben der ländlichen Selbſtverwaltung ernſtlich nachgedacht hatte. Noch fand
ſich Niemand, der dem preußiſchen Adel geſagt hätte, daß es für ihn hohe
Zeit ſei, die feudale Machtſtellung mit der communalen zu vertauſchen,
die Geſchäfte der Kreisverwaltung ſelber auf ſeine Schultern zu nehmen
und ſich alſo ſtatt des gehäſſigen Vorrechts der Virilſtimmen einen un-
beneideten und darum geſicherten Einfluß auf dem flachen Lande zu er-
werben. Der Kampf bewegte ſich weſentlich um die Frage des Stimm-
rechts, Stand ſtritt gegen Stand. Dem brandenburgiſchen Adel gingen
die Vorſchläge der Regierung noch nicht weit genug. Hier auf dem Ber-
liner Landtage ſtand der Adelshochmuth in voller Blüthe. Obgleich viele
dieſer ſtolzen märkiſchen Junker auf ihren Gütern ein wohlwollendes Re-
giment führten und Marwitz ſelbſt von ſeinen Friedersdorfer Gutsunter-
thanen wie ein Vater geliebt wurde, ſo betrachteten ſie doch jeden Ver-
ſuch, die Rechte der Bauern zu erweitern, als ein revolutionäres Unter-
nehmen und bewilligten ſogar den bäuerlichen Mitgliedern des Provinzial-
landtags nur die Hälfte der ritterſchaftlichen Tagegelder — was der König
ſofort abſtellen ließ. Darum verlangten ſie auch, daß die Bauern auf
den Kreistagen nur eine, höchſtens zwei Stimmen erhalten ſollten.
Welch ein Abſtand zwiſchen dieſer märkiſchen Engherzigkeit und dem
kräftigen Gemeinſinn der Preußen! Dort im Ordenslande hatte ſich die
Ritterſchaft längſt gewöhnt die kölmiſchen Grundbeſitzer als Ihresgleichen zu
betrachten; ſie beantragte ſelber, daß der Landrath durch den geſammten
Kreistag gewählt werde, ſonſt verliere er das Vertrauen des Kreiſes und
die beiden unteren Stände müßten ſich gekränkt fühlen. In den anderen
Provinzen beſtand die Ritterſchaft faſt durchweg hartnäckig auf ihrem hiſto-
riſchen Rechte, während die Bauern, meiſt ſehr aufgeregt, Antheil an den
Landrathswahlen und eine gerechtere Vertheilung der Stimmenzahl for-
derten. Ueberall nahmen die Städte, in Sachſen ſogar der Stand der
Fürſten, Partei für die Bauernſchaft; in Weſtphalen war der clericale
Weſtfalus Eremita Sommer ihr eifriger Wortführer. Der König indeß
wies alle Abänderungsvorſchläge zurück. Man merkte ihm wohl an, daß
er, ſchlicht bürgerlich wie er war, die Wünſche der Bauern keineswegs
mißbilligte; der preußiſchen Ritterſchaft ſprach er ſogar ſeine Anerkennung
aus für ihren löblichen Gemeinſinn. Jedoch er vermochte mit ſeiner man-
gelhaften Rechtskenntniß ſich gegen die hiſtoriſche Rechtsdoctrin des Kron-
prinzen nicht zu wehren und beſchwichtigte die Klagenden durch die Ver-
ſicherung: auf die Stimmzahl der Kreistage komme wenig an, da jedem
Stande frei ſtehe in Theile zu gehen.
So kamen denn in den Jahren 1825 — 28 ſieben neue Kreisord-
nungen zu Stande, eine gemeinſame für Rheinland-Weſtphalen und je
[374]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
eine für die öſtlichen Provinzen. Die letzteren ſechs ſagten im Weſent-
lichen alle daſſelbe und wurden nur darum nicht zu einem einzigen Ge-
ſetze zuſammengefaßt, weil die hiſtoriſche Romantik ſich an Provinzialge-
ſetzen abſonderlich ergötzte. Die neuen Kreistage hatten „die Kreisver-
waltung des Landraths“ zu begleiten und zu unterſtützen, Wünſche und
Rathſchläge kundzugeben, auch für die Vertheilung einiger Staatsſteuern
zu ſorgen, jedoch die erſte Vorbedingung lebendiger Selbſtverwaltung, die
Verfügung über ſelbſtändige eigene Einkünfte blieb ihnen verſagt. Nur
dieſer Ohnmacht der Kreistage war es zu verdanken, daß die Virilſtimmen
der Ritterſchaft den Bürgern und Bauern nicht völlig unerträglich wurden.
Auf den Kreistagen der Monarchie tagten etwa 10,000 Rittergutsbeſitzer
neben 979 ſtädtiſchen und 975 bäuerlichen Bevollmächtigten; im Regie-
rungsbezirke Cöslin, wo die Macht der Ritterſchaft am ſtärkſten war,
zählte der erſte Stand 729, der zweite 36, der dritte 45 Stimmen. Eine
ſolche Unbilligkeit mußte die ſocialen Gegenſätze verſchärfen. Der ſtille
Groll gegen den Adel nahm im Bürgerthum und Bauernſtande mit den
Jahren zu, obwohl die Ritterſchaft faſt überall tüchtige Männer für die
Landrathsſtellen vorſchlug und die fortſchreitende Ablöſung der bäuerlichen
Laſten manchen Anlaß zum Unfrieden beſeitigte. —
Dergeſtalt hatte die altſtändiſche Partei noch einmal einen vollen
Sieg davon getragen. An die Neuordnung des Landgemeindeweſens war
nun nicht mehr zu denken, da Kreisſtandſchaft und Gutsherrſchaft ein-
ander wechſelſeitig bedingten und der Adel auf einigen Provinzialland-
tagen ſogar die Verſtärkung ſeiner gutsherrlichen Polizeigewalt beantragte.
Darum blieb dieſer Reformplan Hardenberg’s vorläufig liegen. Nur an der
Umgeſtaltung der Städteordnung ward im Staatsrath weiter gearbeitet,
aber auch nur langſam und zunächſt noch ohne Ergebniß. Denn auf
Schritt und Tritt ſah ſich die Geſetzgebung gehemmt durch die widerſpre-
chenden Anträge dieſer acht Landtage. Die Rheinländer dachten mindeſtens
die Grundzüge ihres franzöſiſchen Munizipalweſens zu retten, die Bran-
denburger und Altpommern verlangten Beſchränkung der Zahl der Bürger,
die Sachſen erweiterte Rechte für den Magiſtrat. Die Neuvorpommern
endlich wollten ſich aus dem ehrwürdigen Bau ihrer alten, ſchwerfälligen,
aber volksthümlich tüchtigen Städteverfaſſung keinen Stein ausbrechen
laſſen; jeder Stralſunder dachte mit Stolz an die ruhmreiche Geſchichte
ſeiner Achtundvierziger und Hundertmänner und hielt ſtreng darauf, daß
der königliche Commandant nach althanſiſchem Brauche noch allabendlich
die Schlüſſel der Feſtung dem regierenden Bürgermeiſter übergab.
Auch weitere Kreiſe betheiligten ſich lebhaft an dem Streite. Die Reform
der Städteordnung war in dieſen ſtillen Jahren die einzige öffentliche Ange-
legenheit, welche die preußiſche Preſſe ernſtlich beſchäftigte. Streckfuß und
der ſchleſiſche Bürgermeiſter Perſchke vertheidigten in gründlichen Schriften
die Städteordnung Stein’s — die politiſche Bibel der Preußen, wie ihre
[375]Der Federkrieg wegen der Städteordnung.
Bewunderer ſagten; Fr. v. Raumer rügte einzelne Mißſtände ohne das
Geſetz ſelber zu bekämpfen, Ulmenſtein vertrat die rheinländiſche, Wieſe
die hochconſervative kurmärkiſche Anſicht. Man konnte nicht leugnen, daß
manche Stadtverordnetenverſammlung ſich roh und engherzig benahm, zu-
mal bei der Einrichtung der Gemeindeſchulen. Man bemerkte mit Be-
fremden, daß allmählich — ganz gegen Stein’s Abſicht — eine neue Be-
amtenklaſſe heranwuchs, eine Communalbureaukratie von beſoldeten Bür-
germeiſtern und Stadträthen, welche bereitwillig von einer Stadt zur andern
wandernd, faſt ebenſo heimathlos wie das Staatsbeamtenthum, ſich gleich-
wohl berufen glaubte, den Municipalgeiſt gegen die Staatsgewalt zu ver-
treten. Aber was man auch tadeln mochte, im Ganzen beſtand Stein’s
Werk die Feuerprobe dieſes literariſchen Kampfes glänzend.
Alle ruhigen Beurtheiler, und auch die Regierung ſelbſt, begegneten
ſich in der Erkenntniß, daß doch nur die Verbeſſerung einzelner Mängel
nöthig ſei, und Raumer meinte ſtolz: wer Preußens Beamtenthum,
Heer und Städteweſen mit dem conſtitutionellen Präfektenſtaate Frank-
reichs vergleiche, der müſſe bekennen, daß die Preußen das Weſen der
Freiheit beſäßen, die Franzoſen nur den Schein. Wie weit aus ein-
ander gingen doch die politiſchen Bahnen der beiden Nationen! Zur näm-
lichen Zeit (1829), da die Preußen, vom Ausland gänzlich unbeachtet,
ſich nüchtern über die Grundſätze ihrer Selbſtverwaltung zu verſtändigen
ſuchten, wurde den franzöſiſchen Kammern ein neues Gemeindegeſetz vor-
gelegt. Bewundernd lauſchte Europa der prächtigen Redeſchlacht, die mit
der Verwerfung des Geſetzes und dem Rücktritt der Miniſter endigte.
Und doch lag in dieſen tönenden Reden weniger Gehalt als in jenen
ſchmuckloſen, geſchäftsmäßigen preußiſchen Schriften; denn Niemand in
Frankreich hielt es der Mühe werth, die Lebensbedingungen der Gemeinde-
freiheit zu prüfen; von dem Despotismus der napoleoniſchen Verwaltung
wollte keine Partei das Mindeſte miſſen, die ganze Leidenſchaft des par-
lamentariſchen Streites warf ſich auf die untergeordnete Frage, wie viele
Wähler an den Gemeinderathswahlen theilnehmen ſollten. Hier ſtürmiſche
Kämpfe um die Miniſterſeſſel und unwürdige Unterwerfung unter die
Allmacht der Präfekten, dort ein faſt kindliches Vertrauen auf die abſo-
lute Krone, ſehr wenig Empfänglichkeit für die conſtitutionellen Lehren
und daneben ein helles Verſtändniß für die Pflichten der Selbſtverwal-
tung: — der ganze Gegenſatz romaniſcher und germaniſcher Staatsgeſin-
nung trat grell hervor. Erſt die Zukunft ſollte lehren, daß die ruhigere
Entwicklung die geſündere war.
Sehr langſam freilich war dieſe Entwicklung; die Kräfte des Beharrens
zeigten ſich ſo ſtark, daß die Krone vollauf zu thun hatte, nur das Er-
rungene zu behaupten. Sie beabſichtigte, da bereits eine gemeinſame Ge-
werbeſteuer beſtand, nunmehr auch eine Gewerbeordnung für den ge-
ſammten Staat einzuführen; doch als ſie die Gutachten der Provinzial-
[376]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
landtage verlangte, da ſtieß ſie nicht nur in Sachſen und Neuvorpommern,
wo das alte Zunftweſen noch fortdauerte, auf zähen Widerſtand; auch die
Stände von Preußen, Altpommern, Poſen, Weſtphalen erhoben heftige
Beſchwerden wider den Unſegen der Gewerbefreiheit. In Weſtphalen
ſchürte der hochconſervative Schriftſteller H. Schultz die zünftleriſche Be-
wegung. Am Lauteſten klagte die Mark; Marwitz und der feudale Adel
kämpften Schulter an Schulter mit den Berliner Stadtverordneten und
ihrem ſtändiſchen Wortführer Kaufmann Knoblauch. Alle dieſe Unzu-
friedenen beriefen ſich zuverſichtlich auf ihre perſönliche Erfahrung, die
ſie nach der alten Unart des politiſchen Dilettantismus kurzweg zur allge-
meinen Regel erhoben, und meinten damit die Schulweisheit des grünen
Tiſches überwunden zu haben; ſie klagten über die unerträgliche Ueber-
füllung des Gewerbs, während in Wahrheit die Zahl der Handwerker in
den erſten zehn Friedensjahren nicht ſchneller als die Bevölkerung ge-
ſtiegen war und erſt ſeit 1825 etwas raſcher wuchs. Der ganze Zug der
Zeit ging wider die Gewerbefreiheit. Die romantiſche Dichtung, die hiſto-
riſche Rechtslehre und neuerdings auch Hegel’s Philoſophie weckten den
Deutſchen wieder die Freude an dem vielgeſtaltigen Genoſſenſchaftsweſen
ihrer Vorzeit; die Aufhebung der Zünfte erſchien jetzt Manchem nur wie
ein bureaukratiſcher Gewaltſtreich wider die germaniſche Freiheit.
In den kleinen Staaten des Nordweſtens wurde das Zunftweſen
nach dem Sturze der Fremdherrſchaft überall wiederhergeſtellt, zur Freude
der großen Mehrzahl des ſeßhaften Bürgerſtandes. Auch der ſüddeutſche
Liberalismus bekannte ſich noch nicht zu den wirthſchaftlichen Theorien der
franzöſiſchen Revolution, weil der gewaltige Bahnbrecher der Gewerbe-
freiheit, die Großinduſtrie noch kaum in das Oberland eingedrungen war.
Rotteck warnte nachdrücklich vor der ſchwindelhaften Pfuſcherarbeit des
freien Gewerbes, und ſelbſt der junge C. H. Rau, der die Lehren Adam
Smith’s zuerſt in Süddeutſchland einbürgerte, hielt die Vorzüge des
Zunftweſens noch für überwiegend. Dazu die allgemeine Furcht dieſes
verarmten Geſchlechts vor dem Geſpenſte der Uebervölkerung. Jener freudige
Glaube an den ewigen Fortſchritt der Menſchheit, der das achtzehnte
Jahrhundert ſo muthig und ſo leichtſinnig ſtimmte, war unter den Stürmen
der Revolution längſt verflogen. Der aufgeklärte Abſolutismus hatte einſt
der Rekruten und Steuerzahler nie genug haben können; dieſe neue, durch
tauſend Drangſale heimgeſuchte Zeit fragte beſorgt, wie alle die Neuge-
borenen ihr Brod finden ſollten. Malthus’ Bevölkerungslehre fand, durch
den Kieler Hegewiſch in Deutſchland eingeführt, zahlreiche Gläubige und
ward von der kleinbürgerlichen Aengſtlichkeit vielfach mißverſtanden: ſtatt
durch die Entfeſſelung der wirthſchaftlichen Kräfte freien Raum zu ſchaffen
für ein unternehmendes junges Geſchlecht, ſollte der Staat vielmehr die
vorhandenen Hausſtände in ihrem Erwerbe ſchützen, die Eheſchließung er-
ſchweren und ſich der Nahrungsloſen allenfalls durch die Auswanderung
[377]Die Stände wider die Gewerbefreiheit.
zu entledigen ſuchen — ein verzweifelter Rath, der ſchon manchen Klein-
müthigen als das letzte Heilmittel für alle ſocialen Nöthe galt.
Selbſt Unbefangene mußten zugeſtehen, daß auf dem preußiſchen Markte
neben dem Segen auch der Fluch der Freiheit ſich ſchon zeigte. Der
unbeſchränkte Wettbewerb ſtachelte die Thätigkeit, beförderte die Fortſchritte
der Technik. Die großen auf Vorrath arbeitenden Geſchäfte blühten, aber der
kleine Meiſter ward durch die Uebermacht des Capitals erdrückt; im Jahre
1831 konnten von den 1088 Tiſchlermeiſtern Berlins 640 keine Gewerbe-
ſteuer zahlen. Und wie leichtſinnig hatte Hardenberg mit den unhalt-
baren Vorrechten der alten Zünfte auch alle die ſittlichen Bande zerſtört,
welche das Handwerk noch zuſammenhielten. Die Zünfte, die jetzt noch
da und dort als freie Genoſſenſchaften fortbeſtanden, entbehrten des An-
ſehens und der Lebenskraft; der tapfere Handwerksſtolz, die alte ſtrenge
Zucht und Sitte verfielen, die Erziehung der Lehrlinge blieb dem guten
Glücke anheimgeſtellt. Hier lag der Grund, warum Stein, den man
jetzt mit Unrecht der Sinnesänderung zieh, immer nur eine Reform des
Zunftweſens gefordert und die Auflöſung der Zünfte von vornherein als
ſeichten, rechtloſen „Neologism“ bekämpft hatte. Was galten ihm tech-
niſche Fortſchritte neben der ſittlichen Entwicklung des Volkes, dem eigent-
lichen Zwecke des Staates? Mit flammendem Eifer trat er für ſeine
Anſicht ein, und Gneiſenau fürchtete ſchon, der Freiherr werde im Staats-
rathe mit Hilfe des Kronprinzen die geſammte neue Gewerbegeſetzgebung
über den Haufen werfen; „an ihn, ſo ſchrieb er, einen ſolchen Bekehrten
wird ſich eine zahlreiche Phalanx eifriger Bekenner, in Schutz genommen
von einer hohen Perſon, anſchließen; ich nicht.“*)
Die Gefahr einer unbedachten Reaction lag ſehr nahe. Die Regie-
rung aber blieb ruhig, und die Stimmung der Rheinländer, denen die
Gewerbefreiheit ſchon in Fleiſch und Blut gedrungen war, bot ihr einen
feſten Rückhalt. Sie hielt die beſtehende Ordnung vorläufig aufrecht,
gewährte den früheren Berechtigten durch eine Declaration billige Ent-
ſchädigung und ließ ſodann in mühſeliger Arbeit eine Gewerbeordnung für
den geſammten Staat vorbereiten, welche den begründeten Beſchwerden
Abhilfe bringen, aber die Grundgedanken der Hardenbergiſchen Geſetzgebung
nicht aufgeben ſollte. J. G. Hoffmann, dem dieſe Aufgabe zunächſt zufiel,
hatte in ſeinen jungen Jahren das Zunftweſen mit dem ganzen Radica-
lismus der neuen Volkswirthſchaftslehre bekämpft und den Corporations-
geiſt ſchlechthin für den Feind des Gemeingeiſtes erklärt. Seitdem war
er über „das unſelige laisser faire der Jünger Mercurs“ längſt ins Klare
gekommen und bemühte ſich nun bedachtſam die Frage zn beantworten,
ob es möglich ſei, in freien Innungen den ſittlichen Inhalt der alten
Zünfte, ihr ehrenhaftes Genoſſenſchaftsleben wieder zu beleben ohne den
[378]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Grundſatz der wirthſchaftlichen Freiheit aufzuopfern. Damit war das
Ziel der neuen deutſchen Gewerbepolitik richtig erkannt, das ſchwierige
Problem war geſtellt, zu dem unſere Geſetzgebung ſeitdem immer von Neuem
zurückgekehrt iſt. Begreiflich alſo, daß der erſte Verſuch der Löſung ſehr
langwierige Vorarbeiten erforderte, die überdies durch die widerſprechenden
Gutachten der Provinziallandtage noch erſchwert wurden. Mittlerweile
blieb die Gewerbefreiheit, mit Ausnahme der kurſächſiſchen und ſchwedi-
ſchen Landestheile, im ganzen Bereiche der Monarchie ungeſtört, der alte
Unterſchied von Handwerk und Fabrik wurde durch den überhandnehmen-
den Großbetrieb mehr und mehr verwiſcht, die von den Altſtändiſchen er-
hoffte Rückkehr zu den alten Zuſtänden erwies ſich bald als unmöglich.
Faſt noch härter bekundete ſich die conſervative Geſinnung der Pro-
vinzialſtände gegenüber den Juden. Das befreiende Edikt vom 11. März
1812 war in den neuen Provinzen noch nicht eingeführt, nur ſeine Vor-
ſchriften über den Staatsdienſt galten ſelbſtverſtändlich für den geſammten
Staat und wurden überall ſtreng eingehalten: auch in den Rheinlanden,
wo man einige von Frankreich übernommene jüdiſche Subalternbeamte
in der Stille penſionirte.*) Nach dem Kriege bemühte ſich Hardenberg
mehrmals, den jüdiſchen Freiwilligen, zumal den Rittern des eiſernen
Kreuzes, eine Anſtellung oder doch eine Entſchädigung zu erwirken; jedoch
das geſammte Staatsminiſterium, allein Bülow ausgenommen, wollte von
dem harten Buchſtaben des Geſetzes nicht abweichen, da den Juden be-
reits „ohne alle Aufopferung die früheren Rechte ſo bedeutend erweitert“
worden ſeien, und einigte ſich ſchließlich zu dem Beſchluſſe, daß jüdiſchen
Soldaten niemals ein Civilverſorgungsſchein gegeben werden dürfe, nur
in beſonderen Fällen Unterſtützung oder Penſion.**) Der König hegte,
wie den Miniſtern wohl bekannt war, im Grunde ſeines Herzens eine
ebenſo lebhafte Abneigung gegen das Judenthum wie einſt Friedrich der
Große. Auswärtigen Juden ertheilte er das Staatsbürgerrecht nur ſelten
und nach ſorgfältiger Prüfung.***) Er hoffte durch die religiöſe Bekehrung
den alten Gegenſatz allmählich verſchwinden zu ſehen und ſchenkte ſeine
beſondere Gunſt dem neuen Vereine „zur Verbreitung des Chriſtenthums
unter den Juden“, der von Witzleben geleitet, von der vornehmen Welt
und Theologen verſchiedener Richtung eifrig gepflegt, allerdings im Jahre
1824 mehrere hundert Bekehrungen verzeichnen konnte, doch gegen den
Stamm des ſtrengen Altjudenthums nichts ausrichtete. Indeß von dem
[379]Die Judenfrage.
bereits Gewährten dachte Friedrich Wilhelm nicht wieder abzugehen, und
nur einmal, in den Tagen, da die Partei Voß-Buch’s den Hof beherrſchte,
ließ er ſich zu einer Zurücknahme bewegen: im December 1822 wurde
den Juden der Zutritt zu den akademiſchen und Schulämtern wieder
unterſagt, „wegen der bei der Ausführung ſich zeigenden Mißverhältniſſe.“
Unterdeſſen beſtanden in den neuen Provinzen des Oſtens noch die harten
kurſächſiſchen und ſchwediſchen Judengeſetze, im Weſten die Vorſchriften
des Code Napoleon. Um dieſe unerträgliche Ungleichheit zu beſeitigen,
verlangte die Krone den Rath der Provinzialſtände.
Da brach auf allen acht Landtagen ſtürmiſche Entrüſtung los. Der
Groll, der hier redete, entſprang nicht, wie vormals der Judenhaß der
Burſchenſchaft, einer unklaren chriſtlich-germaniſchen Schwärmerei, ſondern
der wirthſchaftlichen Bedrängniß des Landvolks; denn unſägliches Elend
hatten jüdiſche Wucherer und Güterſchlächter während der ſchweren Kriſis,
die um die Mitte der zwanziger Jahre die deutſche Landwirthſchaft heim-
ſuchte, über Grundherren und Bauern gebracht. Angeſichts ſolcher Er-
fahrungen hielten die Grundbeſitzer faſt alleſammt für ausgemacht, daß die
Geſetzgebung der napoleoniſchen Zeit die Juden weder veredelt, noch ſie
ihren chriſtlichen Mitbürgern näher geführt habe. Kein einziger der acht
Landtage empfahl die allgemeine Einführung des Edikts von 1812. Alle
verlangten vorbeugende Maßregeln zum Schutze des Grundbeſitzes; ſchade
nur, daß die Vorſchläge wieder ſehr weit aus einander gingen. Die
Einen wollten den Juden den Ankauf von Landgütern, die Anderen den
Hauſirhandel und alle Darlehnsgeſchäfte unterſagen. Auch ſollte ihnen
nicht erlaubt ſein, ſich die Namen geachteter chriſtlicher Familien anzu-
eignen; dieſe Bitte kehrte faſt auf allen Landtagen wieder, da die großen
altgermaniſchen Geſchlechter der Lehmann und Meier ſich über ihre neue
morgenländiſche Namensvetterſchaft gar nicht tröſten konnten. Die drei
Grenzprovinzen des Oſtens forderten außerdem noch ſtrenges Einſchreiten
wider die Landplage der ſchnorrenden und ſchachernden Einwanderer, die
aus der polniſchen Wiege des deutſchen Judenthums jahraus jahrein weſt-
wärts zogen und zumal in Oſtpreußen die öffentliche Sicherheit ernſtlich
gefährdeten. Die Erregung war allgemein. Kaum minder heftig als die
conſervativen Brandenburger redeten die liberalen Preußen. Selbſt die
Rheinländer ſchloſſen ſich nicht aus; ſie wollten die einheimiſchen Juden
nur als Schutzverwandte in den Gemeinden dulden, den nichtrheiniſchen
den Zuzug in die Provinz der Regel nach ganz verbieten und empfahlen
dem Könige namentlich das napoleoniſche Geſetz vom 17. März 1808,
das für die Schuldverträge der Israeliten harte, zum Theil ehrenkrän-
kende Ausnahmevorſchriften aufſtellte.
Leicht war es nicht, allen dieſen Begehren zu widerſtehen, denn ſie
ſprachen nur aus, was die große Mehrheit des Landvolks dachte, und ſie
ſtanden auch im Einklang mit der Volksmeinung außerhalb Preußens.
[380]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Um dieſelbe Zeit (1828) konnte die württembergiſche Regierung ein Geſetz,
das die dort ſehr hart bedrückte Lage der Juden erleichtern ſollte, erſt nach
lebhaftem Widerſtande des Landtags und unter weſentlichen Einſchrän-
kungen durchſetzen. Gleichwohl ließ ſich die preußiſche Krone nicht fortreißen;
ſie verſprach nur die Rathſchläge der Landtage bei der Neuordnung der
Judengeſetze ſorgfältig zu prüfen. Aber dieſe Neuordnung unterblieb,
weil der König fühlte, daß ſie jetzt die Lage der Juden nur verſchlimmern
konnte. Noch lange Jahre lebten die preußiſchen Juden in den einzelnen
Landestheilen nach verſchiedenem Rechte. Abermals ſah ſich die Krone
durch das Wirrſal der achtfachen ſtändiſchen Verhandlungen in ihren
freien Entſchlüſſen behindert. Dieſer Staat, deſſen unnatürliche Centra-
liſation die Liberalen der Kleinſtaaten zu tadeln pflegten, litt in Wahr-
heit unter der Lockerheit ſeines Gefüges; wichtige Gebiete der Geſetzgebung
blieben ungeordnet, weil die Staatsgewalt der centrifugalen Kräfte nicht
Herr wurde. —
Entſchloſſener verfuhr die Krone in der Agrargeſetzgebung. Die
ſchwierige Arbeit der Ablöſung und Regulirung nahm in den alten Pro-
vinzen ihren ruhigen Fortgang, und ihr Segen ließ ſich mit Händen
greifen. Als der Verfaſſer des Regulirungsedikts, der alte Thaer, ſein
Jubiläum feierte, erſchienen Abgeordnete der märkiſchen Bauern in Möglin,
um dem gerechten Könige, der ſich des Laſtbauernſtandes ſo väterlich an-
genommen, ihren Dank zu ſagen und die gute Hand zu küſſen, die ihm
dabei geholfen habe. In den neuen Gebieten konnte die Hardenbergiſche
Agrargeſetzgebung nur durch Provinzialgeſetze, mit mannichfachen Aende-
rungen und Vorbehalten eingeführt werden. In Sachſen und Poſen galt
es den bäuerlichen Beſitz zu befreien, in Weſtphalen, die unter der Fremd-
herrſchaft vollzogene Befreiung anzuerkennen, aber den Berechtigten die
billige Entſchädigung zu gewähren, welche ihnen die franzöſiſchen Geſetze ver-
ſagten. Beim beſten Willen waren Uebereilungen und Mißgriffe unver-
meidlich. In den bergiſch-weſtphäliſchen Landen mußte das allzu radicale
erſte Geſetz von 1821 ſchon nach vier Jahren durch ein neues, billigeres
erſetzt werden. In Poſen umgekehrt trat der Geſetzgeber anfangs (1823)
zu ſchüchtern auf. Der mächtige Adel, der ſchon faſt alle Bauern zur
Zeitpacht herabgedrückt hatte und ſelbſt in ſeinen großen Mediatſtädten
Meſeritz, Krotoſchin, Kempen gutsherrliche Gefälle erhob, ſträubte ſich aufs
Aeußerſte gegen die Ablöſung. Erſt ein zweites Geſetz vom Jahre 1835
griff ſcharf durch und brach den Widerſtand. Dann aber zeigte ſich ge-
rade hier im Lande der ſarmatiſchen Adelsherrlichkeit am auffälligſten,
wie weit die preußiſche Geſetzgebung ihr franzöſiſches Vorbild übertraf.
Den franzöſiſchen Pächtern hatte die Nacht des vierten Auguſt gar keine
Erleichterung gebracht; das deutſche Geſetz ging von der wohlberechtigten
Annahme aus, daß die meiſten bäuerlichen Pachtungen nur durch will-
kürliche Uebergriffe der Grundherren entſtanden ſeien, und gewährte auch
[381]Die Agrargeſetze in den neuen Provinzen.
dieſen Zeitpächtern in der Regel freies Eigenthum. Dieſe Wohlthat des
deutſchen Regiments ward auch politiſch folgenreich; ihr vornehmlich ver-
dankte der Staat, daß die polniſchen Bauern ſich nur ſehr ſelten auf
die landesverrätheriſchen Umtriebe des Adels und der Kapläne einließen.
Bei der Vorbereitung der Agrargeſetze im Staatsrathe war Savigny
beſonders thätig. Die Apoſtel des liberalen Vernunftsrechts verläſterten
den großen Juriſten als einen Reactionär; im Staatsrathe ward er von
vielen ſeiner Genoſſen, ſogar von Gneiſenau, der revolutionären Geſin-
nung bezichtigt, weil er, obwohl nach ſeiner ganzen Weltanſchauung ein
Gegner Hardenberg’s, doch die Nothwendigkeit dieſer ſocialen Umwälzung
unbefangen anerkannte und durch die That bewies, daß die hiſtoriſche
Staatsanſchauung das Verſtändniß für die Bedürfniſſe der lebendigen
Gegenwart nicht ausſchloß. Die Ehrfurcht vor dem Berufe des König-
thums, des Beſchützers der Schwachen, half ihm über manche Rechtsbe-
denken hinweg; ſeine Beredſamkeit und die techniſche Meiſterſchaft ſeiner
Entwürfe zwangen ſelbſt die Gegner zur Bewunderung. Aber auch dieſe
Reform wurde durch die Provinzialſtände vielfach erſchwert. Auf mehreren
Landtagen veranlaßte die Ablöſungsfrage hitzige Steitigkeiten zwiſchen dem
erſten und dem dritten Stande, welche nur zu deutlich zeigten, daß die Ritter-
ſchaft keineswegs, wie ſie gern behauptete, auch die Intereſſen des Bauern-
ſtandes mit vertrat. Die treu an der väterlichen Scholle haftenden weſt-
phäliſchen Bauern wollten die Grundlaſten nicht durch Landabtretung
ablöſen, während anderwärts die Grundherren eine Geldabfindung ver-
langten, weil der Preis des Bodens und ſeiner Erzeugniſſe jetzt ſo gar
niedrig ſtand.
Die Krone bemühte ſich beiden Parteien gerecht zu werden, ſie ge-
ſtattete den Weſtphalen, auf Stein’s Vorſchlag, die Abfindung in Land
oder Geld, je nach der Uebereinkunft der Betheiligten; doch nicht immer
fand ſie den Muth, den Standesintereſſen der Grundherren zu wider-
ſtehen. Der reactionäre Zug, der dieſe Zeit beherrſchte, verleugnete ſich
auch in ihren Agrargeſetzen nicht ganz. Am bedenklichſten war, daß die
Ablöſung ſich fortan auf die größeren Höfe, die „Ackernahrungen“ be-
ſchränken ſollte. Auf die Bitte des Breslauer Landtags wurden die Gärtner-
ſtellen der ſogenannten Dienſtfamilien Oberſchleſiens von der Regulirung
ausgeſchloſſen — bis die Grundherren mit der Zeit ſelber bemerkten, daß
die Dienſte dieſer kleinen Leute dem kunſtvolleren Betriebe wenig mehr
nützten, und den Verpflichteten oft freiwillig die Ablöſung anboten. Durch
ſolche Mißhelligkeiten wurden die Bauern ſtörriſch; überall glaubten ſie
Anſchläge wider ihre neu errungene Freiheit zu wittern, und ihr Miß-
trauen legte ſich auch nicht, als die Krone einen offenbar bauernfreund-
lichen Reformvorſchlag an die Stände brachte. In dieſen Jahren der
allgemeinen Bodenentwerthung traten die Gefahren der völlig unbeſchränkten
Theilbarkeit der Landgüter drohend hervor; in manchen Landestheilen be-
[382]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
gann man ſchon zu befürchten, der kernhafte alte Bauernſtand würde
bald gänzlich ausgekauft ſein. Darum verlangte die Regierung das Gut-
achten der Landſtände über einige beſchränkende Maßregeln: ſie dachte
das Zerſchlagen der Bauerngüter fortan nur mit Zuſtimmung der Ge-
meinde und nur bis zu einer gewiſſen Grenze zu geſtatten, auch ſollte
dem Erben ſein Hof, nach den Grundſätzen des alten Anerbenrechts, zu
einem niedrigen Preiſe angerechnet werden. Aber nur wenige Landtage
antworteten zuſtimmend; am willigſten die Weſtphalen, denn dort im
Lande der großen Bauernhöfe war faſt Jedermann — Vincke ſo gut wie
Stein, der Adel ſo gut wie die Bauerſchaft — von der Nothwendigkeit
der gebundenen Erbfolge überzeugt. In den alten Provinzen hingegen
äußerten ſich die Bauern ſehr unwirſch: nur die Sitte, nicht der Staat
dürfe ihnen die freie Verfügung über ihr Eigen beengen. Alſo ſcheiterten
die wohlgemeinten, freilich noch ganz unreifen Reformgedanken an einem
Widerſtande, der liberal ſchien, aber in Wahrheit aus mißtrauiſchem
Bauerntrotz entſprang, und erſt in einer weit ſpäteren Zeit ſollten ſie
tiefer durchdacht wiederkehren.
Wie fern lag dieſen hochconſervativen Körperſchaften das Beſtreben,
ſich gleich den ſüddeutſchen Landtagen belebend und belebt mit der öffent-
lichen Meinung zu berühren. Bald genug fühlten ſie ſich wohl in der
Heimlichkeit ihrer Berathungen und bewachten das Geheimniß noch ängſt-
licher als die Regierung ſelbſt. Als die ſchleſiſchen Stände im Jahre 1829
arg übertreibend wegen der Ueberbürdung ihrer Provinz klagten, ſchrieb
der Finanzminiſter Motz eine gründliche Widerlegung, die mit dem Land-
tagsabſchiede veröffentlicht wurde und in der Preſſe verdiente Anerkennung
fand. Der Landtag aber fühlte ſich durch den Tadel, der in dieſem Lobe
lag, tief beleidigt, er erhob Beſchwerde in Berlin und mußte von dem
Könige die beſchämende Zurechtweiſung hinnehmen: die Krone ſelbſt ge-
ſtatte den Zeitungen eine freimüthige und anſtändige Kritik über ihre
eigenen Beſchlüſſe, auch die getreuen Stände ſollten lernen ſich daran zu
gewöhnen. —
Dieſelbe zähe Anhänglichkeit an den alten Landesbrauch, die auf den
Provinziallandtagen des Oſtens vorherrſchte, führte auch im Düſſeldorfer
Ständeſaale das große Wort; nur trug der Particularismus hier eine
liberale Färbung, weil das rheiniſche Landesrecht der Revolution entſtammte.
Der Beſtand der napoleoniſchen Geſetzgebung war neuerdings zum zweiten
male ernſtlich gefährdet, da ein gräßliches Ereigniß, das die Rheinländer
ſchon ſeit dem Jahre 1816 in Athem hielt, den Gegnern des rheiniſchen
Rechts neue Waffen in die Hand gab. Seit jener Zeit ſchon bezichtigte
das allgemeine Gerücht den Kölner Kaufmann Fonk der Ermordung eines
Handlungsdieners Cönen, deſſen Leiche man damals im Rhein gefunden
hatte. Fonk wurde zweimal verhaftet, zweimal nach langer Unterſuchung
frei gegeben, er verſchmähte die Flucht über die nahe belgiſche Grenze. Das
[383]Proceß Fonk.
erbitterte Volk aber ließ nicht von ihm ab. Jener unruhige Drang nach
nervöſer Aufregung, der dem modernen Geſchlechte ſo tief im Blute liegt und
in dem ſtillen politiſchen Leben der Zeit keine Nahrung fand, bemächtigte ſich
des Proceſſes Fonk und ſpielte mit abenteuerlichen Erfindungen, ganz wie
ſpäterhin als die räthſelhafte Erſcheinung Caspar Hauſer’s auftauchte.
Das unheimliche, wie mit einem Kainszeichen gebrandmarkte Geſicht des
Beſchuldigten ſchien die vorhandenen Verdachtsgründe zu beſtätigen; der
Argwohn der kleinen Leute wider die Reichen wirkte mit, in den pro-
teſtantiſchen Städten am Niederrhein wohl auch der confeſſionelle Haß
gegen den Neffen des clericalen Aachener Generalvicars Fonk. Genug,
faſt alle Rheinländer glaubten an Fonk’s Schuld, die Schulkinder ſangen
Gaſſenhauer auf den unbeſtraften Mörder, die öffentliche Stimme äußerte
ſich mit ſolcher Macht, daß die Behörden die Unterſuchung wieder auf-
nahmen. Zum dritten male verhaftet wurde Fonk, ſechs Jahre nach der
Auffindung des Leichnams, endlich vor die Aſſiſen in Trier geſtellt.
Ob die Volksmeinung das Rechte traf, iſt bis zur heutigen Stunde
noch völlig zweifelhaft; um ſo gewiſſer dagegen, daß alle Gebrechen des
Schwurgerichts, alle die bureaukratiſchen Mißbräuche des franzöſiſchen Ver-
fahrens bei dieſer Verhandlung häßlich zu Tage traten. Nach jeder Sitzung
wurden die Geſchworenen in den Weinhäuſern von den aufgeregten Maſſen
bearbeitet; unter den Zeugen ſpielten die Moutons, die berüchtigten Gefäng-
nißſpione der franzöſiſchen Polizei, eine ſehr widerwärtige Rolle; der Ge-
neraladvocat v. Sandt, derſelbe, der ſich in den rheiniſchen Wahlkämpfen
hervorthat, betrieb die Anklage mit unziemlicher Gehäſſigkeit und veröffent-
lichte noch vor der Entſcheidung eine Druckſchrift darüber; auch der Prä-
ſident mißbrauchte die ſchrankenloſe Gewalt, die ihm das franzöſiſche
Geſetzbuch einräumte, zu mannichfacher Einſchüchterung. Als die Ge-
ſchworenen, trotz der höchſt mangelhaften Beweiſe, ihr Schuldig ſprachen,
ging ein Ruf des Jubels durch das rheiniſche Land; in einzelnen Städten
veranſtaltete man geradezu Freudenfeſte; das Gewiſſen des Volkes war
befriedigt. Benzenberg aber, der ſich von den Stimmungen ſeiner Lands-
leute ſo leicht nicht fortreißen ließ, ſchrieb dem Staatskanzler: an dieſem
Wahrſpruch werde das rheiniſche Schwurgericht zu Grunde gehen.
In der That erweckte das Todesurtheil außerhalb der Provinz faſt
überall Entrüſtung. Der Göttinger Juriſt Kobbe ſendete alsbald eine
ſcharfe Kritik an Hardenberg, Berufene und Unberufene ſtürzten ſich in
den Federkrieg.*) Auch Helmine v. Chezy drängte ſich vor, die Enkelin der
Karſchin, eines jener fürchterlichen literariſchen Frauenzimmer, die ihre
Mitmenſchen bald durch Verſe, bald durch Nächſtenliebe zu mißhandeln
pflegen. Mit Schadenfreude ſah das reactionäre Lager dieſen Kämpfen
[384]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
zu, denn durch die Redner der ſüddeutſchen Kammern war das Schwur-
gericht längſt in den Streit der Parteien hinabgeriſſen worden. Metternich
frohlockte und pries die Fügung des Himmels, daß der verhängnißvolle
Name Sand nun abermals den Anſtoß geben müſſe zu einem heilſamen
Rückſchlage. Aber auch ein anerkannter Führer der ſüddeutſchen Liberalen,
Paulus in Heidelberg nahm ſich des Verurtheilten an; er füllte ganze Hefte
ſeines Sophronizon mit einer Darſtellung des Proceſſes, die dem ſtreit-
baren Theologen den juriſtiſchen Doctorhut einbrachte, und ſendete ſeine
Arbeit dem Könige ſelber ein. Noch ſchwerer fiel die Meinung des erſten
deutſchen Criminaliſten ins Gewicht. Anſelm Feuerbach hatte ſoeben erſt
in einer bahnbrechenden Schrift die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des
Strafproceſſes glänzend vertheidigt, er war auch kein unbedingter Gegner
der Geſchworenengerichte, die er mindeſtens im conſtitutionellen Staate
für unvermeidlich hielt; doch über die Vorgänge in Trier ſprach er ſeinen
tiefen Abſcheu aus: ein ſolcher Juſtizmord überbiete noch die Hinrichtung
des Jean Calas; noch ſei ja nicht einmal erwieſen, ob der Todte über-
haupt durch fremde Hand umgekommen ſei.
Das Alles ſtürmte auf den König ein, zugleich bedrängte ihn Fonk’s
unbeſcholtene Frau mit herzbrechenden Bitten. Friedrich Wilhelm fühlte
ſich tief im Gewiſſen erſchüttert, forderte zunächſt vom Juſtizminiſterium
genauen Bericht, und als auch dies Gutachten den Wahrſpruch der rhei-
niſchen Geſchworenen durchaus verdammte, da beſchloß er um der Gerech-
tigkeit willen ſelber das Geſetz zu verletzen — ganz wie ſein Großoheim
einſt nach dem Proceſſe des Müllers Arnold. Er wagte eine That der
Cabinetsjuſtiz und erklärte das Urtheil für nichtig, denn Begnadigung ſchien
ihm ungenügend nach ſolchem Unrecht. In den alten Provinzen wurde
die Entſcheidung des Monarchen faſt überall gebilligt. Die Rheinländer
grollten. Von Napoleon hatten ſie ärgere Eingriffe hingenommen, weil
er das Geſchworenengericht — wie er es ſich zugerichtet hatte — gefliſ-
ſentlich pflegte; von der deutſchen Herrſchaft befürchteten ſie, dem erſten
Schlage würden ſchwerere folgen.
Ihre Beſorgniß war nicht grundlos. Der König konnte die Eindrücke
jenes ſchrecklichen Proceſſes lange nicht verwinden. Nach Allem was ihm
ſein Miniſter Kircheiſen vorgetragen, hielt er ſich verpflichtet, der Wieder-
kehr ſolcher Fälle vorzubeugen, und befahl auf Antrag des geſammten
Staatsminiſteriums (9. Dec. 1824), daß die Aufhebung des rheiniſchen
Geſetzbuchs nicht, wie im Jahre 1819 beſchloſſen war, bis zur vollendeten
Reviſion des Allgemeinen Landrechts zu verſchieben, ſondern ſogleich ins
Werk zu ſetzen ſei. Als aber das Juſtizminiſterium über die Vollziehung
dieſer Cabinetsordre berieth, da zeigten ſich die Schwierigkeiten faſt unüber-
windlich, und Kircheiſen ſelbſt, der alte Gegner des franzöſiſchen Rechts,
erklärte wenige Tage vor ſeinem Tode (März 1825), im Widerſpruche
mit ſeiner früheren Meinung: man müſſe die Einführung des Landrechts
[385]Neuer Kampf um das rheiniſche Recht.
vertagen, bis die altpreußiſche Geſetzgebung gründlich umgeſtaltet ſei.*)
Erſt Kircheiſen’s Nachfolger, Graf Danckelmann, ein ausgezeichneter, ganz
in altländiſchen Rechtsanſchauungen aufgewachſener Juriſt, entſchloß ſich
dem königlichen Befehle ſofort nachzukommen.
Dem erſten rheiniſchen Provinziallandtage wurde demnach angekündigt,
daß der König ſchon im zweitnächſten Jahre, 1828, das Preußiſche Land-
recht, mit Ausnahme einzelner Abſchnitte, am Rhein einzuführen gedenke.
Die Ritterſchaft empfing die königliche Botſchaft mit Freuden: Freiherr
v. Mirbach weil er das fremde Recht als ein „ſchmähliches Zeichen der
Unterjochung“ verabſcheute**), die meiſten Andern weil ſie ihre Stan-
desrechte unter dem Schutze des preußiſchen Geſetzbuchs wohl geborgen
wußten. Die Mehrheit der beiden unteren Stände aber hielt zuſammen
wie ein Mann. Hier zum erſten male zeigte der rheiniſche Juriſtenſtand
ſeine politiſche Macht. Drei gewandte Redner aus ſeiner Mitte, Mylius,
Kamp, Haw übernahmen die Führung der Landtags-Oppoſition, während
draußen im Lande die Schrift des Düſſeldorfer Juriſten Brewer „zur
Rechtfertigung der Oeffentlichkeit der Gerichte“ aufmerkſame Leſer fand.
Der Provinzialſtolz gerieth in Wallung. Sechzehn Städte ſendeten Adreſſen
theils an den König, theils an den Landtag, der die Eingaben, dem Ge-
ſetze zum Trotz, unbedenklich annahm. So ſtark war die allgemeine Auf-
regung, daß ſelbſt die vorgeſchriebene Heimlichkeit der Berathungen nicht
gewahrt blieb; die ſtürmiſchen Debatten, die der wackere Landtagsmarſchall
Fürſt von Wied oft kaum zu zügeln vermochte, fanden ihren Weg in die
öffentlichen Blätter, auch die Abſtimmungen der einzelnen Mitglieder
wurden bekannt, und mancher Schwankende folgte der Mehrheit, nur weil
er ſich fürchtete als Prüß verrufen zu werden. Der Landtag bat den
Monarchen ſchließlich, die preußiſche Geſetzgebung nicht vor Vollendung
der Reviſion einzuführen und dem Rheinlande auf jeden Fall das Schwur-
gericht, das öffentliche Verfahren und die Handelsgerichte zu erhalten.
Die Particulariſten verlangten auch noch ein rheiniſches Indigenat und
geſetzliche Bevorzugung der Eingeborenen bei der Beſetzung der Aemter,
doch war die Mehrheit klug genug, die Berathung über dieſen rheiniſchen
Herzenswunſch vorläufig auszuſetzen.
Stein und ſein ariſtokratiſcher Freund Erzbiſchof Spiegel wollten in
Alledem nichts ſehen als Franzoſenthum und Zuchtloſigkeit. Der König
urtheilte billiger. Er ließ zwar dem Landtage wegen der wiederholten
Verletzungen der Geſchäftsordnung ſein Mißfallen ausſprechen, indeß bei
ruhigem Nachdenken fand er es doch begreiflich, daß die Provinz ihr rhei-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 25
[386]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
niſches Recht nicht gegen ein theilweiſe veraltetes Geſetzbuch vertauſchen
wollte. Er lenkte ein, befahl zunächſt die Reviſion des Landrechts abzu-
warten und geſtattete den Rheinländern — nachher auch den anderen
Provinzen — ſich durch eine ſtändiſche Deputation bei der Bearbeitung
der Provinzialrechte zu betheiligen. Unterdeſſen hatte Danckelmann das
große Reviſionswerk, das unter Beyme’s ſchlaffer Leitung ganz ins Stocken
gerathen war, in ſeine rüſtige Hand genommen und eine Anzahl nam-
hafter Juriſten, Savigny, Sethe, Kamptz, Sack, Simon u. A., zu einer
Commiſſion zuſammengerufen, welche den ungeheuren Stoff in ſechzehn
Penſa unter ſich vertheilte; auch eine Sammlung der neunundfünfzig
Provinzialrechte der Monarchie war beabſichtigt. Der König mahnte zur
Eile. Die Commiſſion aber mußte bald einſehen, daß ganze Theile der
fridericianiſchen Geſetzgebung, zumal das Strafrecht, in der verwandelten
Zeit einer vollſtändigen Umgeſtaltung bedurften, und zu einem ſolchen
Unternehmen war die deutſche Rechtswiſſenſchaft in ihrem gährenden Ueber-
gangszuſtande noch nicht gerüſtet. So zog ſich die Arbeit unabſehbar in
die Länge.
Der zweite Angriff der altländiſchen Juriſten war abgeſchlagen, das
franzöſiſche Recht blieb den Rheinländern noch auf lange hinaus geſichert.
Aehnliche Kämpfe ſpielten zur ſelben Zeit (1827) im Großherzogthum
Heſſen. Dort legte Miniſter Grolmann dem Landtage, auch er unzweifel-
haft in guter Abſicht, eine neue Gerichtsordnung vor; aber auch dort traten
die Abgeordneten des linken Ufers einmüthig für ihr rheiniſches Recht in die
Schranken, und der Miniſter mußte ſeinen Entwurf, der ohnehin nur
unfertiges Stückwerk war, alsbald zurückziehen. Den Rheinländern wurde
die Rückkehr zum deutſchen Leben durch dieſe unbedachten Verſuche der
altländiſchen Geſetzgeber nur erſchwert. Daß der Code Napoleon ein Ge-
ſetzbuch der Freiheit, ein Kleinod des linken Rheinufers ſei, galt nun-
mehr für unzweifelhaft, nachdem die reactionäre Partei ihren Haß gegen
das öffentliche Strafverfahren ſo unzweideutig bekundet hatte. Die ſchönen
Lande von der Lauter bis zur niederländiſchen Grenze betrachteten ſich
wieder, wie in den Tagen der cisrhenaniſchen Republik, als ein halb-
franzöſiſches Zwiſchenreich, das dem gebundenen Oſten die Freiheit des
Weſtens zu übermitteln habe, und die Verblendung des deutſchen Libera-
lismus, der ſich mehr und mehr in franzöſiſchen Idealen verlor, nährte
geſchäftig den Dünkel dieſes rheiniſchen Sonderlebens.
Ungleich bedrohlicher erſchien die ſtaatsfeindliche Oppoſition, die ſich
auf dem Poſener Landtage ſchon zuweilen herauswagte. Der polniſche
Adel verdankte der Fürſorge des preußiſchen Beamtenthums die Rettung
ſeiner Güter, denn ohne den Beiſtand der neuen landwirthſchaftlichen
Creditanſtalt hätte er in dieſen Jahren der Noth ſeinen Grundbeſitz un-
fehlbar verloren; doch was wogen ihm die Segnungen des deutſchen
Regiments neben dem Traumbilde der Wiederherſtellung Polens? Die
[387]Der Poſener Landtag.
ſchonende Nachſicht des Prinzen Statthalters und des Oberpräſidenten
Zerboni beſtärkte die Junker und ihre geiſtlichen Bundesgenoſſen nur in
ihrem Trotze. Zerboni geſtand ſelber, die Regierung müſſe ſich hier einen
Stamm treuer Lehrer erziehen, da die polniſchen Gymnaſien bisher „weniger
Stätten des Unterrichts als Stätten des Preußenhaſſes“ geweſen ſeien,
er ließ auch unter der Hand einige der gefährlichſten Ruheſtörer aus den
Schulen entfernen; aber er that das Nothwendige nur zögernd und mit
ſtillem Bedauern: „wir ſind in der beklagenswerthen Verlegenheit, Ge-
fühlen entgegenwirken zu müſſen, die in eigener Bruſt genährt unſere Un-
abhängigkeit retteten.“.*) Statt die polniſchen Bauern unter die ſcharfe
und gerechte Zucht deutſcher Beamten zu ſtellen, gewährte man dem Adel
(1823) vertrauensvoll einen Antheil an der Verwaltung des flachen Landes:
der Grundherr ſollte, allerdings nicht mehr kraft eigenen Rechtes, ſondern
im Auftrage des Staates, die Polizeigewalt des Woyt auf ſeinen Gütern
ausüben. Da und dort ward einmal ein polniſcher Zweigverein in ge-
heimer Sitzung überraſcht, ein Haufen Briefſchaften oder eine zertrümmerte
Büſte des Königs aufgefunden; doch zu durchgreifender Wachſamkeit konnte
weder Zerboni noch ſein Nachfolger v. Baumann ſich entſchließen. Un-
geſchreckt durch das Schickſal des Generals Uminski, der ſeine Umtriebe auf
der Feſtung Glogau büßen mußte, vermittelte Graf Titus Dzialynski jahre-
lang den geheimen Verkehr mit den Verſchworenen in Warſchau. Die
alten reichen Grundherren hielten ſich meiſt vorſichtig zurück; um ſo eifriger
nahm die Jugend an dem geheimnißvollen Treiben theil, und wer noch
zauderte, ward durch die feurige patriotiſche Beredſamkeit der polniſchen
Edelfrauen hingeriſſen.
Die Berufung des Provinziallandtags war dem Adel hochwillkommen,
weil die belobte ſtändiſche Gliederung den Polen eine erdrückende Mehr-
heit ſicherte; am Wahltage fehlte faſt Niemand, denn auch die deutſche
Minderheit wehrte ſich tapfer. Auf eine allerunterthänigſte Dankadreſſe,
deren überſchwängliche Ausdrücke dem ſarmatiſchen Gewiſſen durchaus
keine Beſchwerde bereiteten, folgte nun ſofort der kleine Krieg gegen das
deutſche Beamtenthum. Da man der milden Verwaltung ſchlechterdings
kein erhebliches Unrecht nachweiſen konnte, ſo klagten die Stände nur
ganz im Allgemeinen wegen der gefährdeten „Nationalität des Großher-
zogthums“, als ob das deutſche Drittel in der Provinz gar nicht vorhan-
den wäre. Sie baten, die Landräthe von den Sitzungen der Kreisſtände
ganz auszuſchließen, damit der Kreistag frei berathen könne; ſie beſchwerten
ſich über die große Zahl der deutſchen Beamten und empfingen die trockene
Antwort, der König werde ſehr gern Eingeborene anſtellen, allein bisher
habe ſich noch kein einziger Pole zur großen Staatsprüfung für den Ver-
waltungsdienſt gemeldet. Die heftigſten Angriffe galten dem Schulweſen,
25*
[388]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
das unter ein beſonderes Ephorat geſtellt werden müſſe, damit die deutſche
Sprache nicht die Oberhand erlange; die Kenntniß des Griechiſchen dürfe
man von polniſchen Abiturienten nicht verlangen, da man ihnen ſchon
zwei lebende Sprachen aufnöthige — und was der Thorheit mehr war.
Auf dem zweiten Landtage, im Januar 1830, war die Luft ſchon ſchwüler,
man ſpürte den nahenden Sturm. Die Stände erinnerten den Mon-
archen an die Verheißungen vom Jahre 1815, die er doch alle mit pein-
licher Gewiſſenhaftigkeit gehalten hatte; ſie erhoben eine Menge neuer,
unbeſtimmter Anklagen und verlangten unter Anderem die Beſeitigung
eines der polniſchen Sprache unkundigen Richters, der in der weſentlich
deutſchen Stadt Poſen angeſtellt war — worauf ihnen der König ſcharf
erwiderte: er werde die Provinz Poſen, unbeſchadet der Rechte ihrer ver-
ſchiedenen Volksſtämme, „auch ferner nur als einen Beſtandtheil ſeines
Reichs betrachten“ und unterſage jede willkürliche Deutung ſeines könig-
lichen Wortes, jeden Verſuch politiſcher Abſonderung.
Dergeſtalt wirkten die Provinzialſtände faſt überall nur hemmend,
und wohl nur einmal in dieſen Jahren ging ein neuer, ein productiver
Gedanke von ihnen aus. Die mächtigen Intereſſen der jungen Groß-
induſtrie forderten doch gebieteriſch ihr Recht. Auf die Bitte der beiden
Landtage des Weſtens gab der König ſeine legitimiſtiſchen Bedenken endlich
auf und trat in diplomatiſchen Verkehr mit den neuen Republiken Süd-
amerikas, damit dem rheiniſchen Gewerbfleiße der wichtige Markt nicht
ganz verloren gehe; ſeinen Alexander Humboldt aber, den ihm die rhei-
niſchen Stände für den mexicaniſchen Geſandtſchaftspoſten empfahlen,
meinte er in Berlin beſſer verwenden zu können. —
Der ſtille Kampf zwiſchen den hochconſervativen Rathſchlägen der
Stände und den freieren Anſchauungen der Krone ward um ſo läſtiger,
da er zuletzt die Eintracht der höchſten Behörden ſelber gefährdete. Im
Miniſterium überwog die bürgerliche Geſinnung des altpreußiſchen Be-
amtenthums. Im Staatsrathe dagegen war durch die Neuberufungen
der letzten Jahre nach und nach eine neue Mehrheit herangewachſen.
Herzog Karl von Mecklenburg, Ancillon, Kamptz, die Generale Kneſebeck,
Müffling, Marwitz und die Mehrzahl der Landtagsmarſchälle ſchloſſen ſich
dem Kronprinzen an. Dieſe ſtreng ariſtokratiſche Partei kam den Wün-
ſchen der Landtage, insbeſondere den Bitten der getreuen Kurmark, ſehr
freundlich entgegen, noch freundlicher ſogar als die Immediatcommiſſion,
und da ſie ſchon zuweilen den Ausſchlag gab, ſo entſtand allmählich eine
Spannung zwiſchen den Miniſtern und dem Staatsrathe.*) Die Folge
war, daß die Gutachten des Staatsrathes jetzt noch ſeltener denn bisher
eingeholt wurden. Nach mannichfachen Streitigkeiten übergab Herzog
Karl als Präſident dem Könige endlich eine förmliche Beſchwerdeſchrift
[389]Sinkende Macht des Staatsraths.
(8. März 1827). Er ſchilderte das unfreundliche Verhältniß zwiſchen den
beiden oberſten Behörden und verlangte, keine von beiden dürfe ein Ueber-
gewicht erlangen; dann wies er nach, daß im letzten Jahre von dreißig
neuen Geſetzen nur vier durch den Staatsrath gegangen ſeien, und ſchloß:
„Wird dieſen Uebeln nicht abgeholfen, ſo exiſtirt der Staatsrath nur dem
Namen nach, und dann wäre es beſſer ihn gänzlich aufzuheben.“*)
Welche Zumuthung an den Monarchen! Wie konnte er den Staat
feſt und ſicher leiten, wenn ſeine Regierung durch die ſo weit aus ein-
ander ſtrebenden Rathſchläge von acht Landtagen beengt wurde und zu-
gleich durch die Oppoſition eines Staatsraths, der den Anſpruch erhob, alle
Geſetzentwürfe zu prüfen, dem Miniſterium das Gleichgewicht zu halten?
Friedrich Wilhelm hatte den Streit ſeiner höchſten Räthe ſchon längſt mit
Unmuth betrachtet und eben deshalb ſeinem Schwager den erbetenen Sitz
im Miniſterrathe ſo entſchieden verweigert, weil er verhindern wollte, daß
der Zweiſpalt auch noch in das Miniſterium ſelber eindränge. Nun be-
ſchloß er ein Ende zu machen und ließ dem Herzog durch Graf Lottum
eröffnen: er behalte ſich ſelber vor, nach freiem Ermeſſen zu beſtimmen,
welche Geſetze dem Staatsrathe zur Berathung überwieſen werden ſollten.**)
Damit wurde dem Staatsrathe die Wirkſamkeit, die ihm die Verordnung
von 1817 zugewieſen, erheblich beſchränkt: er hatte nicht mehr über alle
neuen Geſetzentwürfe zu berathen, ſondern konnte fortan nach dem Be-
lieben des Königs auch unbefragt bleiben. Die Aenderung lag unbeſtreit-
bar in den Befugniſſen der abſoluten Krone, nur geſchah ſie leider in
anfechtbarer Form, durch einfachen mündlichen Befehl. Allen unerwartet,
aber ganz unvermeidlich ergab ſich alſo aus der Berufung der Provinzial-
ſtände das ſinkende Anſehen des Staatsraths. Er wurde zwar nicht, wie
Herzog Karl befürchtete, zu einem leeren Namen, ſeine Verhandlungen
blieben auch noch in den dreißiger Jahren gehaltreich und fruchtbar; doch
der Höhepunkt ſeiner Macht war überſchritten, ein abſchüſſiger Weg war
betreten, der ſchließlich in der conſtitutionellen Epoche dahin führte, daß
die einſt ſo einflußreiche Behörde ihre Thätigkeit faſt ganz einſtellte.
Von allen dieſen Händeln ward im Volke wenig ruchbar. Nur wer
den Geſchäften näher ſtand, mußte einſehen, daß die preußiſche Krone
durch ihre altdeutſchen Stände kaum weniger beläſtigt wurde als die
ſüddeutſchen Höfe durch ihre modernen Volksvertretungen. Die Provin-
zialſtände brachten der Monarchie manche Plagen des conſtitutionellen
Syſtems, aber keinen ſeiner Vortheile. Sie brachten ihr ein gut Theil
von dem Unfrieden, den Reibungen und Verzögerungen, die mit jeder
Form der Repräſentation unzertrennlich verbunden ſind, doch ſie ver-
[390]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
mochten weder im Volke das kräftige Selbſtgefühl eines bewußten Gemein-
ſinns zu erwecken, noch die Verwaltung jener beſtändigen, ſchonungsloſen
öffentlichen Kritik zu unterwerfen, welche in lebenskräftigen Monarchien
die wichtigſte und ſegensreichſte Aufgabe des Parlamentarismus bildet, weil
ſie den Staat nöthigt alle ſeine Kräfte rüſtig zuſammenzunehmen. Ohne
dieſe Ueberwachung mußte ſelbſt der wohlgeordnete preußiſche Beamtenſtaat,
wie jede unbeſchränkte politiſche Gewalt, ſchließlich in ſelbſtgenügſame Er-
ſtarrung verfallen. —
Für jetzt ſchienen ſolche Gefahren noch in weiter Ferne zu liegen.
Die Maſſe des Volks war trotz ſo mancher wirthſchaftlichen Nöthe unver-
kennbar zufrieden mit der ſorgſamen Verwaltung; ſie lebte ihrer Arbeit,
noch faſt unberührt von politiſchen Gedanken, und hing mit kindlicher
Treue an dem königlichen Hauſe. Allgemein war die Theilnahme, als
der König im Jahre 1824 mit der Gräfin Auguſte Harrach, die er zur
Fürſtin v. Liegnitz erhob, eine morganatiſche zweite Ehe einging; ſeit auch
ſeine beiden jüngſten Töchter das väterliche Haus verlaſſen hatten, war ihm
die Einſamkeit ſeines Wittwerlebens zur Qual geworden. „Nun wird das
Richten angehen,“ ſagte er zum Biſchof Eylert, als er ihm den gänzlich
unerwarteten Entſchluß mittheilte, und Varnhagen allerdings fand kaum
jemals eine ſo reiche Ernte für ſeine Tagebücher einzuheimſen wie in
dieſen erſten Tagen, da alle Welt den böhmiſchen Edelſtein in Preußens
Krone beſpöttelte. Aber das Gerede der böſen Zungen verſtummte, ſobald
der König ſelbſt in einer veröffentlichten Urkunde ſeinem Volke treuherzig
erzählte, wie einfach menſchlich Alles zugegangen war. Die junge Fürſtin
blieb der Politik ganz fern, ſie verſtand mit feinem Takte ſich in ihrer
ſchwierigen Stellung unter den ſtolzen Hohenzollern zu behaupten, und
als ſie dann ihren Gemahl nach einem gefährlichen Beinbruch monate-
lang mit aufopfernder Hingebung pflegte, da war Jedermann ihres Lobes
voll; man fühlte, wie die edle Frau dem Vielgeprüften den Abend ſeines
Lebens verſchönte. Damals ſchloß Friedrich Wilhelm mit dem Leben ab,
auf dem Krankenlager ſchrieb er ſein Teſtament; jeden Tag der dreizehn
Jahre, die ihm noch beſchieden wurden, nahm er demüthig hin wie eine be-
ſondere Gnade Gottes. Der Mißmuth, der ihm vordem ſo oft die Tage
verdorben, war von ihm gewichen; in der ſtillen Heiterkeit ſeines frommen
Alters erſchien er noch gütiger als ſonſt, freilich auch ſchwer zugänglich
für neue Gedanken. Einige Zeit nach der Vermählung trat die Fürſtin
v. Liegnitz zur evangeliſchen Kirche über und erfüllte damit einen Herzens-
wunſch ihres Gemahls, der auf die Dauer in einer gemiſchten Ehe ſein
Glück nicht hätte finden können; er betrachtete ſich als Haupt und Schirm-
herrn des deutſchen Proteſtantismus und hielt für Fürſtenpflicht, der pro-
[391]Heirath des Königs und des Kronprinzen.
teſtantiſchen Mehrheit ſeines Volkes das Beiſpiel eines evangeliſchen Haus-
ſtandes zu geben.
Wie ſchwer war es ihm gefallen, ſeinem Thronfolger die Verlobung
mit einer katholiſchen Fürſtin zu geſtatten. Schon vor Jahren hatte der
Kronprinz für die vielumworbene liebenswürdige Tochter des Königs von
Baiern, Prinzeſſin Eliſabeth, eine ſchwärmeriſche Neigung gefaßt, wie ſie
dem Manne auf den Höhen des Lebens ſelten vergönnt wird. Seine
Liebe ward erwidert, und der Prinz wähnte ſich bereits am Ziele. König
Max Joſeph, der den Gedanken dieſer Familienverbindung zuerſt aufge-
bracht hatte, begünſtigte den Freier aufs Wärmſte; ein Weltkind des auf-
geklärten Jahrhunderts legte er gar keinen Werth auf confeſſionelle Unter-
ſchiede und fand es ganz in der Ordnung, daß die künftige Königin von
Preußen, nach der alten Ueberlieferung der Hohenzollern, evangeliſch ſein
müſſe. Seine Tochter ſelbſt dachte ernſter; ſie war unter den Augen ihrer
frommen evangeliſchen Mutter Königin Karoline zwar in duldſamem
Geiſte, aber gut katholiſch erzogen und hatte in dieſer Kirche bisher ihren
Frieden gefunden. Durch einen Glaubenswechſel ſich eine glänzende Zu-
kunft zu erkaufen, ſchien ihr unwürdig; nur zu der Zuſage wollte ſie ſich
verſtehen, daß ſie ſpäterhin übertreten würde, wenn es ihr gelänge, ſich
von der evangeliſchen Wahrheit zu überzeugen. Der proteſtantiſche Beicht-
vater ihrer Mutter, der wackere Conſiſtorialrath Schmitt beſtärkte ſie ſelber
in ihrem Widerſtande. Der König von Preußen aber blieb unerbittlich;
nachdem er ſchwach genug geweſen, ſeiner älteſten Tochter den Uebertritt
zur griechiſchen Kirche zu geſtatten, meinte er jetzt um ſo feſter auf dem
Brauche ſeines Hauſes beſtehen zu müſſen. So vergingen den beiden
Liebenden vier kummervolle Jahre; ihr Unglück erregte an den Höfen
allgemeines Bedauern, mehrere Fürſten und Fürſtinnen verſuchten zu
vermitteln. Auf dem Veroneſer Congreſſe beſtürmten auch die beiden Kaiſer
ihren königlichen Freund mit vergeblichen Bitten. Bald darauf ſendete
er ſeinen geiſtlichen Vertrauten, den Biſchof Eylert unter dem angenom-
menen Namen eines Brandenburgiſchen Domherrn nach Tegernſee um
der Prinzeſſin noch einmal vertraulich zuzureden; der geſchmeidige theo-
logiſche Diplomat wurde jedoch durch ihre würdige Haltung völlig ent-
waffnet und kehrte heim mit der heiligen Verſicherung, daß der König
von einer ſolchen Schwiegertochter für den Glauben ſeines Hauſes nichts
zu fürchten habe.*)
Nun endlich gab der König ſeine Zuſtimmung (1823), und das tiefe
Herzensglück des jungen Paares beſchwichtigte ſeine Beſorgniſſe bald gänzlich.
Die Kronprinzeſſin beſaß eine ungewöhnliche Bildung, ihr Lehrer Thierſch
hatte ſie ſogar in das claſſiſche Alterthum eingeführt. Allen den mannich-
[392]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
faltigen Arbeiten und Plänen ihres geiſtreichen Gatten folgte ſie mit liebe-
vollem Verſtändniß; bei ihrer Sanftmuth, ihrer immer gleichen ruhigen
Heiterkeit ſuchte der Reizbare Troſt und Erquickung. So gewann ſie nach
und nach eine ſtille Gewalt über ſein unſtetes Gemüth und beſtärkte ihn
unwillkürlich in ſeiner romantiſchen, hochconſervativen Staatsanſchauung,
obgleich ſie ſich niemals mit Staatsgeſchäften befaßte. Die „bourboniſchen
Anſichten“ der bairiſchen Königstöchter waren allen befreundeten Höfen
wohlbekannt. Mit ihrem elterlichen Hauſe, mit ihren in Oeſterreich und
Sachſen verheiratheten Schweſtern blieb die Prinzeſſin in zärtlicher Liebe
verbunden und vermochte den Gedanken gar nicht zu faſſen, daß die deutſche
Politik ſich je verändern, daß Preußen mit dieſen ſo nahe befreundeten Höfen
jemals in Kampf gerathen könne. Auch als ſie, mehrere Jahre nach der
Hochzeit, zur evangeliſchen Kirche übergetreten war, bewahrte ſie ihrem
alten Glauben noch ein Gefühl weiblicher Treue, und aus der innigen
Seelengemeinſchaft dieſer Ehe ergab es ſich ganz von ſelbſt, daß der Kron-
prinz, wie tief er auch von der Wahrheit des evangeliſchen Chriſtenthums
durchdrungen blieb, doch den Herrſchaftsanſprüchen der römiſchen Kirche
mit den Jahren immer williger entgegenkam.
Da die Ehe des Kronprinzen kinderlos blieb, ſo mußte man bereits
mit der Möglichkeit rechnen, daß die Krone dereinſt auf den Prinzen Wil-
helm übergehen könne. An dieſem zweiten Sohne erlebte der König die
Freude, die jedem Vater die liebſte iſt: er ſah in ihm ein helleres Abbild
ſeines eigenen Weſens. Ebenſo ſchlicht, verſtändig und pflichtgetreu, nur
ungleich heiterer, entſchloſſener, friſcher als ſein Vater, war der ritterliche
junge Prinz jetzt ſchon die Hoffnung der Armee, ein geborener Heer-
führer, ſtreng und gütig zugleich, wie es dem Soldatenherzen wohlthut;
Offiziere und Mannſchaften gingen für ihn durchs Feuer. Sein Vater
hatte ihn ganz zum Soldaten erziehen laſſen, da die unkriegeriſche Natur
des Kronprinzen ſich bald offenbarte. Prinz Wilhelm widmete ſich ſeinen
militäriſchen Aufgaben mit anhaltendem Eifer; er führte gleichzeitig zwei
große Commandos, über das brandenburgiſche Armeecorps und über eine
Gardediviſion. Von ſeiner politiſchen Geſinnung wußte man bisher nur,
daß er von dem Berufe des unbeſchränkten preußiſchen Königthums ſehr
hoch dachte und ſich durchaus als zweiter Unterthan ſeines Vaters fühlte.
Er lebte und webte in den Ueberlieferungen des Befreiungskrieges und er-
wies den Helden jener großen Zeit herzliche Verehrung, auch dem bei Hofe
arg verläſterten greiſen York; die Flüſterreden der Verleumder fochten ſein
freies Gemüth nicht an. Gleich ſeinem Vater betrachtete er den Bund
der Oſtmächte als die Bürgſchaft des Völkerfriedens, und gleich ihm gab er
den Ruſſen vor den Oeſterreichern den Vorzug; mit ihnen hatte er einſt
ſeinen erſten Waffengang gethan, und ſeit er ſeine Lieblingsſchweſter, die
Großfürſtin Charlotte, auf ihrer Vermählungsreiſe begleitet, blieb er mit
dem Petersburger Hofe in vertraulichem Verkehr.
[393]Prinz Wilhelm und Prinzeſſin Radziwill.
Und dieſem Sohne, der ſeinem Herzen ſo nahe ſtand, mußte der König
die liebſten Träume der Jugend grauſam zerſtören. Prinz Wilhelm liebte
die Prinzeſſin Eliſe Radziwill, die ſchönſte und holdeſte unter den jungen
Damen des Hofes. Sie ſchien wie für ihn geſchaffen, aber ihre Eben-
bürtigkeit ward beſtritten. Denn obwohl dies alte litthauiſche Dynaſten-
geſchlecht durch Reichthum und hiſtoriſchen Ruhm manches deutſche Für-
ſtenhaus überſtrahlte, und einmal ſchon, in den Tagen des großen
Kurfürſten, ein Hohenzoller eine Radziwill als ebenbürtige Gemahlin heim-
geführt hatte, ſo waren doch neuerdings am preußiſchen wie an allen
deutſchen Königshöfen ſtrengere Rechtsbegriffe zur Herrſchaft gelangt. Seit
den Zeiten Friedrichs des Großen ſtand der Grundſatz feſt, daß nur die
Töchter der regierenden Fürſtenhäuſer und der vormaligen reichsſtändiſchen
Landesherren für ebenbürtig gelten ſollten; der König ſelbſt erkannte dieſe
Regel an, indem er bei ſeiner zweiten Vermählung öffentlich ausſprach,
daß er nach der Verfaſſung ſeines Hauſes mit der Tochter einer reichs-
gräflichen Perſonaliſtenfamilie nur eine morganatiſche Ehe ſchließen dürfe.
Fünf Jahre hindurch wurde nun von beiden Seiten Alles aufgeboten
um die Zweifel zu beſeitigen und dem Prinzen ſein erſehntes Eheglück
zu ermöglichen. Durch den Fürſten Anton Radziwill aufgefordert, ſchrieb
Karl Friedrich Eichhorn ein Rechtsgutachten, das ſich für die Ebenbürtigkeit
des Hauſes Radziwill ausſprach, jedoch die Anſicht des großen Staats-
rechtslehrers ſtieß bei anderen namhaften Juriſten auf wohlbegründeten
Widerſpruch. Dann tauchte der Vorſchlag auf, Prinz Auguſt von Preußen
ſolle die Prinzeſſin an Kindesſtatt annehmen; aber fünf der Miniſter er-
widerten nach ihrer Amtspflicht, die Adoption könne das Blut nicht er-
ſetzen. Unterdeſſen vermählte ſich der dritte Sohn des Königs, Prinz Karl
mit einer weimariſchen Prinzeſſin, und der großherzoglich ſächſiſche Hof
erklärte nachdrücklich, daß er für die Kinder dieſer Ehe das Vorrecht be-
anſpruchen müſſe falls der ältere Bruder ſeiner Neigung folge.
Nunmehr ward die Frage ſehr ernſt; es drohte ein Streit um die
Erbfolge, der vielleicht den Beſtand der Dynaſtie gefährden konnte. Auf
die wiederholten Vorſtellungen ſeiner Räthe beſchloß der König, tief be-
kümmert, ſein Anſehen zu gebrauchen (1826). In einem von Zärtlichkeit
überſtrömenden Briefe hielt er dem Sohne vor, was Alles vergeblich ver-
ſucht worden ſei, und wie nun doch nichts übrig bleibe als die harte Pflicht,
dem Wohle des Staates, des königlichen Hauſes eine edle Neigung zu
opfern. Als der Prinz dies Schreiben durch General Witzleben empfing,
war er anfangs ganz zerſchmettert; dann raffte er ſich zuſammen, und
noch am ſelben Abend ſchrieb er dem Könige, daß er gehorchen werde.
In jener einfachen, kunſtloſen und doch ſo tief zur Seele dringenden
Sprache, die ihm natürlich war, ſchüttete er dem Vater ſein Herz aus.
Er verſprach das Vertrauen des Königs zu rechtfertigen durch Bekämpfung
ſeines tiefen Schmerzes, durch Standhaftigkeit im Unabänderlichen, und
[394]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
bat um Gottes Beiſtand, daß er ihn nicht verlaſſe in dieſer ſchweren
Prüfung. Dem theuren Vater aber ſolle ſein Herz jetzt inniger denn je
angehören, denn deſſen väterliche Liebe ſei nie größer geweſen als in der
Art der ſchweren Entſcheidung. Witzleben bemerkte dazu in ſeinem Tage-
buche: „welche ein Sohn! welch ein Vater!“ Drei Jahre darauf ſchloß
der Prinz mit der Prinzeſſin Auguſta von Weimar die Ehe, welche dem
königlichen Hauſe den Stammhalter ſchenkte. Alſo erzog eine unerforſch-
lich weiſe Waltung der Nation ihren Helden und lehrte den gehorchen
und entſagen, der einſt Deutſchland beherrſchen ſollte.*)
Von dieſen Herzenskämpfen wurde außerhalb der Hofkreiſe wenig be-
kannt. Um ſo größeres Aufſehen erregte die Nachricht, daß des Königs
Halbſchweſter, Herzogin Julia von Anhalt-Köthen nebſt ihrem Gemahl in
Paris zur römiſchen Kirche übergetreten war (1825). Kaiſer Franz war
in das Geheimniß eingeweiht; er hatte nur des Aergerniſſes halber ver-
langt, daß der Uebertritt nicht in Oeſterreich geſchehen dürfe. Nach dem
alten Brauche römiſcher Ehrlichkeit und nach dem Vorbilde des gefeierten
Haller dachten die Bekehrten den Glaubenswechſel vor ihrem evangeliſchen
Lande zunächſt geheim zu halten, was der Papſt gern geſtattete. Aber
der Vorfall ward ruchbar, und die Herzogin ſah ſich genöthigt, ihrem
königlichen Bruder das Geſchehene zu beichten. Sie that es in einem
ſchwülſtigen Briefe, deſſen hohle Phraſen nur den phantaſtiſchen Rauſch
dieſer romantiſchen Tage, nirgends den tiefen Ernſt einer ſchwer erkämpften
Ueberzeugung erkennen ließen; zu guter Letzt gab ſie dem in ſeinen hei-
ligſten Gefühlen Verletzten noch die tröſtliche Verſicherung, ſie werde ſeiner
nach katholiſcher Sitte „namenlos oft“ in ihren Gebeten vor Gott ge-
denken.
In der Preſſe ſchlugen Krug und Paulus, die alten eiferſüchtigen
Wächter des Proteſtantismus, ſogleich Lärm. Das anhaltiſche Völkchen
fühlte ſich ſchwer beunruhigt; denn wer konnte wiſſen, ob nicht auch einige
Räthe des Herzogs, nach dem Beiſpiele des Landesvaters, bereits insge-
heim abgefallen waren, und die evangeliſche Landeskirche alſo ſchon unter
katholiſcher Leitung ſtand? Eine Schaar fanatiſcher Ultramontanen ſam-
melte ſich um die Herzogin und ihren Adam Müller: Alle überragend
der Pole Haza, ein gewandter Agent der römiſchen Propaganda, der ſeine
geheimnißvolle Thätigkeit viele Jahre lang, bis in den erſten deutſchen
Reichstag hinein, fortgeführt hat. Nicht lange, und man erfuhr, daß
noch ein anderes Kind Friedrich Wilhelm’s II., Graf Ingenheim in der
Köthener Schloßkirche ſich zum römiſchen Glauben bekannt hatte. Dann
ſchlug eine Jeſuitenmiſſion hier im Mittelpunkte der alten ſächſiſchen
[395]Uebertritt der Herzogin von Köthen.
Lutherlande ihr Lager auf; die verrufene Freiſtätte des deutſchen Schmug-
gelhandels wurde für drei Jahrzehnte zugleich die Hochburg der clericalen
Umtriebe im Nordoſten. König Friedrich Wilhelm antwortete ſeiner
Schweſter mit ſchonungsloſer Aufrichtigkeit: „Ich muß Ihnen ganz frei
herausſagen, daß meines Dafürhaltens nie ein unglücklicherer, unſeligerer
Entſchluß von Ihnen gefaßt werden konnte.“ Dann ſtellte er ihr Alles
vor, was ihm ſeine feſte evangeliſche Ueberzeugung eingab, und ſchloß:
„Heraus mußte es. Habe ich Unrecht, ſo helfe mir Gott!“ Bald darauf
erſchien dieſe Antwort in den Zeitungen, mit Genehmigung des Königs.
Ihn kümmerte es nicht, daß die katholiſchen Blätter und der anhaltiſche
Hofrath v. Schütz in einer eigenen Gegenſchrift über ſeine Härte klagten.
Er wollte vor der Welt ein Zeugniß ablegen von der unveränderten Ge-
ſinnung ſeines Hauſes, das ſich bisher des Convertitenweſens ſtreng er-
wehrt hatte; auch drängte es ihn, die gehäſſigen Gerüchte zu widerlegen,
welche ihn ſelber katholiſcher Neigungen bezichtigten. Mit Abſicht hatte
er in ſeinen Brief die Verſicherung eingeflochten, daß die erneuerte alte
evangeliſche Agende der unirten Landeskirche auf dem Boden der reinen
bibliſchen Lehre ſtehe; denn eben durch dieſe Agende ſowie durch die katho-
liſchen Heirathen im königlichen Hauſe waren neuerdings manche ängſt-
liche Proteſtanten an der Glaubenstreue des frommen Monarchen irr
geworden. —
Unauslöſchlich hafteten in Friedrich Wilhelm’s Seele die religiöſen
Eindrücke, die er einſt nach der erſten Einnahme von Paris in England
empfangen hatte; mit Rührung gedachte er der tiefen Stille des Sabbaths,
der dichten Schaaren der Kirchgänger in den Straßen Londons, der feier-
lichen Würde des anglicaniſchen Gottesdienſtes. Die tiefdunklen Schatten-
ſeiten der engliſchen Kirchlichkeit blieben dem Fürſten, der dort in der
Fremde nur die Oberfläche des Lebens kennen lernte, freilich verborgen;
er bemerkte nicht, wie viel herzloſe Werkheiligkeit ſich hinter dieſer Andacht
verbirgt, noch wie viel geheime Sünden die unnatürliche Strenge der
engliſchen Sonntagsfeier hervorruft. Als er dann heimkehrte, gehobenen
Herzens, voll demüthiger Dankbarkeit gegen die Gnade Gottes, die er ſo
ſichtbar über ſich und ſeinem Volke hatte walten ſehen, da erſchrak er
über ſeine ſpärlich beſuchten deutſchen Kirchen und fühlte ſich erkältet durch
die dürftige Nüchternheit ihres Cultus, der im Zeitalter der Aufklärung
allmählich allen Adel der Form, Alles was die Gemüther erbaut und er-
hebt, ſo gänzlich abgeſtreift hatte, daß eine Predigt über einige moraliſche
Gemeinplätze oft den ganzen Inhalt des Gottesdienſtes ausmachte. Der
alte Rationalismus wollte, wie einer ſeiner Führer ſelbſtzufrieden ſagte,
„den Intereſſen der Menſchheit und des Staates dienen mit ſchonender
Berückſichtigung des im Volke noch nicht erſtorbenen Chriſtenglaubens“.
Unter der langjährigen Herrſchaft dieſer ſittlich achtungswerthen, aber
durchaus unkirchlichen Richtung waren mit dem Dogma auch die Cultus-
[396]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
formen dem perſönlichen Gutdünken der Geiſtlichen anheimgefallen; faſt
jeder Pfarrer legte ſich nach Belieben ſeine eigene Agende zurecht. Wie
ward dem frommen Karl v. Raumer zu Muthe, als er in Halle an der
Bahre eines geliebten Sohnes ſtand und der Prediger, ſtatt der Bibel-
worte, nach denen das Herz des Vaters ſchmachtete, aus Witſchel’s „An-
dachten“ ein fades Gedicht über die Vergänglichkeit vorlas. Bei der
Trauung pflegten die aufgeklärten Geiſtlichen die Mahnung „und er ſoll
dein Herr ſein“ gemeinhin wegzulaſſen, weil ſie ihnen zu ungalant klang.
Der Anblick dieſer Anarchie mußte den Glaubensernſt des Königs
ebenſo peinlich berühren wie ſeinen militäriſchen Ordnungsſinn; unter
allen ſchlimmen Dingen auf der Welt, ſagte er zu Eylert, iſt das ſchlimmſte
die Willkür. Wie er vor Kurzem den Geiſtlichen anbefohlen hatte, ſtatt
der geſchmackloſen Modefräcke und Spitzhüte, die in jüngſter Zeit aufge-
kommen waren, den würdigen lutheriſchen Talar wieder anzunehmen, ſo
meinte er ſich auch verpflichtet, kraft ſeines oberſtbiſchöflichen Rechtes die
Einheit des Cultus, deren jede geordnete Religionsgemeinſchaft bedarf, ſeiner
Landeskirche wiederzugeben. Durch die Erneuerung der Agende Martin
Luther’s, den er als den theuern Gottesmann, als den größten aller Refor-
matoren verehrte, wollte er das Werk der Union ſichern, die evangeliſche
Kirche zu ihrem urſprünglichen Lehrbegriffe zurückführen, den erbaulichen
Gebeten und Geſängen wieder ihr gutes Recht neben der Lehre gewähren
und „ſeine evangeliſchen Unterthanen gegen den Mißbrauch einer regel-
loſen, Zweifelſucht und Indifferentismus erzeugenden Willkür ſchützen.“
Da er ſich bewußt war kirchlicher zu denken als der Durchſchnitt
der Geiſtlichen, ſo ging er mit ungewohnter Entſchloſſenheit ſelber vor und
gab zunächſt den Garniſonskirchen ſeiner beiden Reſidenzen eine Liturgie,
die er ſodann (1821) zu einer vollſtändigen Agende erweiterte und ſämmt-
lichen Gemeinden der Landeskirche anempfehlen ließ. Die neue Agende
war ein ſchönes Werk evangeliſcher Frömmigkeit; ſie ſchloß ſich treu an
die erſten liturgiſchen Arbeiten der Reformationszeit an und ſtand mit
den Bekenntnißſchriften des Proteſtantismus durchaus im Einklang. Mit
peinlicher Gewiſſenhaftigkeit hatte Friedrich Wilhelm bei der Ueberarbeitung
allen Bedenken und Rathſchlägen, die ihm aus kirchlichen Kreiſen zu-
kamen, gerecht zu werden geſucht. Alle ſeine guten Stunden widmete
er dieſer Arbeit, die unter den Pflichten ſeines Herrſcherberufs ſeinem
Herzen am nächſten ſtand. Er ward nicht müde die Frage immer von
Neuem gründlich zu erörtern, nicht blos mit ſeinen Hoftheologen, auch
mit Witzleben, auch mit Bunſen in Rom, der durch ſein reiches liturgi-
ſches Wiſſen damals zuerſt das Vertrauen des Monarchen gewann. Was
ſich von alten Agenden in dem zerſplitterten evangeliſchen Deutſchland
nur irgend auftreiben ließ, ward in den Zimmern des Königs zuſammen-
getragen; er las und prüfte Alles, bis er endlich den maſſenhaften Stoff
vollſtändiger beherrſchte als irgend einer ſeiner Theologen, und erwartete
[397]Die neue Agende.
arglos, daß ſeine Landeskirche, wie ſie ſoeben auf ſeinen Ruf die Union
abgeſchloſſen hatte, nun auch dies Werk ſeines treuen Fleißes als eine
neue Klammer ihrer Einheit dankbar annehmen würde.
Schmerzlich genug ſollte er enttäuſcht werden. Die Schwäche des
abſoluten Königthums liegt weit mehr in der Menſchenfurcht der Höfe
als in dem üblen Willen der Monarchen. Selbſt dieſem wohlwollenden
Fürſten, der freimüthigen Widerſpruch immer bedachtſam prüfte, wagte
ſelten Jemand die ganze Wahrheit zu ſagen, weil er unliebſame Mitthei-
lungen im erſten Augenblicke zuweilen mit einem unwirſchen Worte auf-
nahm. Seine Umgebungen wußten wohl, wie mannichfache Bedenken
ſchon der erſte Entwurf der Liturgie in kirchlichen Kreiſen veranlaßt hatte;
der König aber erfuhr kein Wort davon und war daher aufs Aeußerſte über-
raſcht, als bei der erſten Umfrage nur eine kleine Minderheit der Geiſt-
lichen ſich zur Annahme der Agende bereit erklärte und von allen Seiten
her heftiger Widerſpruch laut ward. Den ſtrengen Reformirten ſchien es
ein papiſtiſcher Gräuel, daß der Geiſtliche nach lutheriſchem Brauche beim
Segen das Kreuz ſchlagen ſollte. Denſelben Vorwurf erhoben die Ratio-
naliſten; waren ſie doch längſt gewohnt, ſich ſelber unbefangen für die
rechtmäßigen Erben der Reformation, jeden Andersdenkenden für einen
verkappten Jeſuiten anzuſehen. Aber auch die gläubigen Lutheraner nahmen
Anſtoß an der reformirten Sitte des Brotbrechens, an der einförmigen
Regel, die ſo viele liebgewordene Ortsbräuche zu verdrängen drohte;
manches Alte, was jetzt wiederkehrte, war im Verlaufe der Zeit vergeſſen
und erſchien den Eiferern als ärgerliche Neuerung, ſo die Formel „Unſer
Vater,“ die doch wörtlich in der lutheriſchen Bibel ſtand.
Der letzte Grund dieſer vielgeſtaltigen Oppoſition lag in dem Wieder-
erwachen jener republikaniſchen Gedanken, welche zum Weſen des Proteſtan-
tismus gehören und in allen Zeiten, da er ſich ſtark fühlt, ihr gutes Recht
fordern. Die oberſtbiſchöfliche Gewalt der Landesherren hatte ihre unver-
geßliche Zeit gehabt, ihr dankte der deutſche Proteſtantismus, daß er nicht
in gehäſſige Sekten zerfallen war. Aber das alte Geſchlecht der aufge-
klärten Geiſtlichen, die ſich harmlos nur als Staatsdiener fühlten, ging jetzt
zu Grabe. Die neue Zeit verlangte, vorerſt freilich noch in unklaren
Ahnungen, ein ſelbſtändiges kirchliches Leben, ſie wollte den großen Ge-
danken des Prieſterthums der Laien, den Martin Luther ſtreng innerlich
aufgefaßt, auch in der Verfaſſung der Kirche ausgeſtaltet ſehen. Männer
der verſchiedenſten Richtungen begegneten ſich in ſolchen Hoffnungen; ſie
alle fühlten, daß eine Reform, wie die Agende, die ſo tief in das innere
Leben der Kirche einſchnitt, nicht ohne die Mitwirkung der Kirche ſelbſt
gewagt werden dürfe.
Unverkennbar ſtanden dieſe neuen kirchlichen Anſchauungen in Wechſel-
wirkung mit dem politiſchen Idealismus der Zeit; ihr mächtigſter Wort-
führer Schleiermacher bekannte ebenſo offen wie ſein Freund Gaß, daß die
[398]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Conſtitution des Staates und die der Kirche einander bedingten. Auch der
König lehnte dieſe Gedanken anfangs nicht unbedingt ab. Er ließ im Jahre
1819 Provinzialſynoden zuſammentreten und erklärte noch drei Jahre ſpäter
dem Cultusminiſter ſeine Abſicht, eine Generalſynode von gewählten Geiſt-
lichen und Laien einzuberufen, welche, wie es in Baden geſchehen war, eine
Unionsurkunde für die geſammte Landeskirche entwerfen ſollte. Indeß
war er keineswegs geſonnen mit der Geſchichte zu brechen und auf ſeine
Stellung an der Spitze der Landeskirche zu verzichten; nur ein Zuſammen-
wirken der Synoden mit den beſtehenden landesherrlichen Conſiſtorien
wollte er zugeben. Darum begann er ſchon bedenklich zu werden, als
mehrere der Provinzialſynoden von 1819 ſich in ihrer Unerfahrenheit zu
radikalen Beſchlüſſen verſtiegen und geradezu die Aufhebung der Conſi-
ſtorialverfaſſung forderten; die brandenburgiſche Synode, die unter Schleier-
macher’s beherrſchendem Einfluß ſtand, wollte ſogar das Cultusminiſterium
abſchaffen und durch einen Ausſchuß der Generalſynode erſetzen — ein
Vorſchlag, der bei der Zerfahrenheit der kirchlichen Parteiung augenblicklich
nur Unheil ſtiften, nur eine verderbliche Sektenbildung hervorrufen konnte.
Als nun der Kampf gegen die Agende begann, eine Fluth widerſprechender
Beſchwerden und Bedenken ſich an die Stufen des Thrones heranwälzte,
da fürchtete Friedrich Wilhelm, eine Generalſynode, jetzt berufen, werde
die Verwirrung nur vermehren, vielleicht den Beſtand der jungen Union
ſelbſt gefährden. Auch politiſche Beſorgniſſe mochten ihn bedenklich ſtimmen.
Noch mißtrauiſcher betrachtete Altenſtein die unbequemen erſten Regungen
kirchlicher Selbſtändigkeit; er blieb bei all ſeiner Duldſamkeit doch ganz
in ſtaatskirchlichen Anſchauungen befangen und that gar nichts um die
Synodalreform zu fördern, ſondern ließ die Pläne des Monarchen, wie
Alles was ihm unbequem war, nach einigen unfruchtbaren Vorarbeiten
gemächlich einſchlafen. Die Provinzialſynoden wurden nicht wieder ein-
berufen, nur die kleinen Kreisſynoden der Geiſtlichen führten ihr unſchein-
bares Daſein weiter. Da der Kirche alſo ein berechtigtes Organ zum
Ausſprechen ihres Geſammtwillens noch fehlte, ſo beſchloß der König als
oberſter Biſchof ſein liturgiſches Recht zu gebrauchen, wie er es nannte,
und ohne unmittelbaren Zwang doch das ganze Anſehen ſeiner Krone
für die Durchführung der Agende einzuſetzen.
Nach ſeiner heiligen Ueberzeugung verfiel die Kirche ohne eine gleich-
mäßige Regel des Gottesdienſtes rettungslos der Zerſplitterung, und ihm
lag es ob, dem Verderben zu wehren. An den Rand einer Proteſtein-
gabe ſchrieb er eigenhändig: „Glaubens- und Gewiſſensfreiheit ſind wohl zu
unterſcheiden von Religionsfreiheit.“ Die Schriften einiger ungeſchickten
Vertheidiger beſtärkten ihn in ſolcher Anſicht. Der Theolog Auguſti in
Bonn verfocht geradezu den furchtbaren Satz cujus regio ejus religio, der
doch in Preußen ſchon ſeit den Tagen Johann Sigismund’s ſeine Herrſchaft
verloren hatte, und Ammon in Dresden pflichtete ihm behutſam bei. Der
[399]Der Federkrieg um die Agende.
Oberhofprediger der größten und vornehmſten lutheriſchen Landeskirche
Deutſchlands hatte vor Kurzem noch die Union lebhaft angefeindet; jetzt
fühlte er ſich von Amtswegen gedrungen für die harten ſtaatskirchlichen
Grundſätze, wie ſie im alten Kurſachſen galten, mit rationaliſtiſcher Sal-
bung einzutreten: untrennbar wie Mann und Weib im Haushalt ſollten
Staat und Kirche zu einander gehören, Alles unter dem Schutze „des
Vaters des Lichts, der uns durch Kunſt und Wiſſenſchaft auf den rechten
Glauben und durch die Wege des Rechts und der äußeren Ordnung auf
die hohen Wohlthaten ſeiner Gnade und Wahrheit durch Jeſum vorbe-
reitet.“ Die beſte Vertheidigungsſchrift für die Agende kam indeſſen aus der
Feder des Königs ſelber. Um dies ſein Lieblingswerk zu halten, überwand
er ſeine Schüchternheit und veröffentlichte ein kleines Buch „Luther in Be-
ziehung auf die preußiſche Kirchen-Agende“ mit dem Motto: Gott iſt nicht
ein Gott der Unordnung, ſondern ein Gott des Friedens. Schlicht und
liebevoll, ein Chriſt zu Chriſten ſprach er hier zu der Gemeinde, mit der
natürlichen Beredſamkeit eines frommen Herzens, und führte den Nach-
weis, daß die Agende nur den alten reinen evangeliſchen Gottesdienſt in
ſeiner urſprünglichen Geſtalt herſtelle. Aber wie ahnte er doch ſo gar
nichts von der Gewiſſenspein, welche ſein „allein zur Ehre Gottes“ be-
gonnenes Unternehmen unzähligen frommen Herzen bereitete; nur aus
Verblendung und vorgefaßten Meinungen konnte er ſich den Widerſpruch
der „ungerechten Verfolger“ erklären.
Unter dieſen Verfolgern ſah er zu ſeiner beſonderen Betrübniß auch
den erſten Theologen ſeines Landes. Seltſame Verſchiebung der Parteien!
Während Ammon, der Gegner der Union, jetzt den König vertheidigte,
erhob ſich der wirkſamſte Förderer der Kirchenvereinigung, Schleiermacher
zum Kampfe wider die Agende. Seinem Scharfblick entging nicht, daß
jede Veränderung des Gottesdienſtes nothwendig auch den Glauben be-
rührt, und ihm, der die Wurzel der Religion in dem Gefühle des gläu-
bigen Herzens ſuchte, war ſelbſt der Schein des Gewiſſenszwanges uner-
träglich. Zudem wußte er, daß manche der alterthümlichen liturgiſchen
Formen, welche der König alleſammt für unabänderliche Regeln anſah,
dem Bewußtſein der modernen Kirche bereits fremd geworden waren, und
fühlte ſich als Reformirter auch perſönlich verletzt durch einzelne Vor-
ſchriften der lutheriſchen Agende. Unter dem Namen Pacificus Sincerus
ſprach er ſich freimüthig „über das liturgiſche Recht deutſcher Landes-
fürſten“ aus und forderte, daß die Ausübung dieſes Rechts vertagt werde
bis die evangeliſche Kirche eine dauernde Verfaſſung erlangt habe.
Ueber die ſynodalen Formen dieſer künftigen Verfaſſung gab Schleier-
macher freilich nur unbeſtimmte Andeutungen. Hier lag die Schwäche des
großen Theologen; ſein Lebelang hing es ihm nach, daß er einſt von der
Herrnhuter Brüdergemeinde ausgegangen war, einer kleinen Gemeinſchaft
von Erweckten, die ſich immer nur in der Winkelſtellung einer unterdrückten
[400]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Kirche wohl gefühlt und für die Organiſation einer umfaſſenden Landes-
kirche niemals ein Verſtändniß gezeigt hat. Auch amtlich trat er für ſeine
Ueberzeugung ein, indem er mit noch elf anderen angeſehenen Berliner
Geiſtlichen eine nachdrückliche Vorſtellung gegen die Agende einreichte.
Dann wendete er ſich wider die liturgiſche Flugſchrift des Königs ſelber;
er unterwarf ſie in einem „Geſpräche zweier Chriſten“ einer ſcharfen Kritik
und ſcheute ſich nicht zu geſtehen, daß er den ungenannten Verfaſſer wohl
kenne. Dies Geſpräch fand in der Leſerwelt geringen Widerhall, weil die
gewundene Dialektik platoniſcher Dialoge dem modernen Geſchmack fremd-
artig und künſtlich erſcheint. Um ſo größer war die Entrüſtung in der
amtlichen Welt. Geh. Rath Kamptz, der natürlich unbedingt für das
liturgiſche Recht des Monarchen eintrat, verlangte ſtürmiſch die Beſtra-
fung der unerhörten Frechheit. Schon ſeit Jahren gepeinigt durch aller-
hand kleine Nadelſtiche des bureaukratiſchen Unmuths, erwartete Schleier-
macher täglich ſeine Entlaſſung, und nach glaubwürdigen Mittheilungen
war Altenſtein ſelbſt einmal nahe daran ſie zu verfügen. Der König aber
dachte hoch von dieſem Gegner, er wünſchte dringend ihn zu gewinnen
und ließ ihn frei gewähren.
Nachhaltiger als dieſe Kämpfe auf den Höhen der theologiſchen Wiſ-
ſenſchaft wirkte der zähe Widerſtand, welchen die Stillen im Lande der
Agende entgegenſetzten; denn jederzeit hat das religiöſe Gefühl in den
breiten Maſſen des Volks, unter den Mühſeligen und Beladenen ſeine
höchſte Kraft offenbart. Von Altersher beſtanden in allen Provinzen zer-
ſtreut allerhand kleine Conventikel von Gottſeligen, die ſich von dem vor-
herrſchenden Rationalismus der Landeskirche ſcheu abſonderten. Ihre
Zahl hatte ſich vermehrt ſeit den Heimſuchungen der Kriegsjahre, und
man pflegte in dieſen Kreiſen das neue Jahrhundert gern als die Zeit
der Erweckung zu bezeichnen. Es waren zumeiſt kleine Leute unter der
Führung einzelner Edelleute oder Gelehrten, nach der Weiſe des alten
Pietismus leidſam und ruheſelig gegenüber der Obrigkeit, aber ſehr reiz-
bar gegen jede Störung ihres kirchlichen Herkommens. Ein ſolcher Kreis
von Erweckten ſammelte ſich in Hinterpommern um Senfft-Pilſach, den
vertrauten Freund des Kronprinzen, und die Gebrüder v. Below. Im
gleichen Geiſte wirkte in Berlin und den armen Weberdörfern des Rieſen-
gebirges Freiherr v. Kottwitz, der fromme Baron, wie das Volk ihn nannte,
ein ehrwürdiger Patriarch, unermüdlich in werkthätiger Liebe, ein Vor-
läufer der inneren Miſſion; hunderte der brotloſen Berliner Arbeiter
hatten während der Kriegsjahre bei ihm in der alten Kaſerne am Alex-
anderplatze Obdach, Pflege und Erbauung gefunden. Nach ſeinem Vorbild
errichtete jetzt Graf A. v. d. Recke ein Rettungshaus am Niederrhein.
Minder unſchuldig war die verzückte Schwärmerei einer aufgeregten Sekte,
die in Königsberg den myſtiſchen Lehren des frommen Sonderlings Schön-
herr folgte. Am trotzigſten aber traten die Breslauer Altlutheraner auf.
[401]Widerſtand der Altlutheraner.
Dort lehrte Scheibel, ein Geiſtlicher von hartem Kopfe und gläubigem
Herzen, der völlig unberührt von den Ideen der neuen theologiſchen Wiſ-
ſenſchaft, noch ganz im Stile der Flacius und Heshuſius den reformirten
Cultus als Iſisdienſt verdammte und den Anordnungen des heidniſchen
Kirchenregiments mit der unbelehrbaren Zankſucht des berufenen Zions-
wächters, ja mit offenbarem Hohne widerſprach. Neben ihm ſtand der
Juriſt Huſchke, ein phantaſtiſcher Grübler, und der ruheloſe Steffens,
der in einer Schrift über den wahren Glauben die Unfehlbarkeit ſeines
harten ſkandinaviſchen Lutherthums vertheidigte.
Dem Beſtande der Landeskirche konnte dieſe ſo bunt gemiſchte Oppo-
ſition nicht gefährlich werden, wenn das Kirchenregiment duldſam genug
war Allen, die ſich nicht von freien Stücken zur Annahme der Agende
verſtehen wollten, den Austritt frei zu ſtellen. Altenſtein aber verharrte,
gleich ſeinem Könige, unwandelbar bei der alten territorialiſtiſchen Rechts-
anſicht, wonach jeder preußiſche Proteſtant der Landeskirche angehören mußte.
Das Verſtändniß für die Energie der ſtreng-kirchlichen Geſinnung fehlte
dem aufgeklärten Miniſter gänzlich; an ſeinem gaſtlichen Tiſche wurde
zuweilen kühl die Frage erörtert, ob das Chriſtenthum noch zwanzig oder
fünfzig Jahre dauern werde. Ihm war es genug, wenn das religiöſe
Gefühl ein gewiſſes anſtändiges Mittelmaß nicht überſchritt, und er glaubte
nur den öffentlichen Frieden zu wahren, als er (1825) eine ſcharfe Ver-
fügung wider die „verkehrten und unſtatthaften“ Richtungen des Pietis-
mus, Myſticismus und Separatismus erließ. Wie dankbar hatte einſt
die öffentliche Meinung noch in Friedrich Wilhelm’s erſten Regierungs-
jahren ähnliche Aeußerungen der aufgeklärten Geſinnung des Monarchen
hingenommen. Jetzt erregte die wohlgemeinte Warnung des Miniſters
ſelbſt unter Männern, welche ſeine Anſicht theilten, gerechtes Befremden.
Solche meiſternde Eingriffe der Staatsgewalt in das innere Leben der
Kirche vertrug die Zeit nicht mehr. Es blieb ein unlösbarer Widerſpruch,
daß ein Staat, der ein zu zwei Fünfteln katholiſches Volk beherrſchte und
allen Confeſſionen gerecht werden wollte, gleichwohl ſeinen Proteſtanten vor-
ſchrieb, in welchem Sinne ſie die Heilswahrheiten ihres Glaubens zu ver-
ſtehen hätten.
Die nämlichen Waffen einer veralteten Kirchenpolitik benutzte Alten-
ſtein auch um die Agende durchzuſetzen. Gewiß beabſichtigte der philoſo-
phiſche Miniſter ebenſo wenig wie ſein frommer Monarch irgend eine Be-
drückung der Gewiſſen; aber da die Kirche noch keine geordnete Gemeinde-
vertretung beſaß, ſo lag das Schickſal der Agende zunächſt in der Hand
der Geiſtlichen, und dieſe waren — Altenſtein wußte es nicht anders —
ſeine Untergebenen. Auch der König hielt ſcharfe Vermahnungen für er-
laubt, denn die böswillige Verdächtigung ſeiner evangeliſchen Glaubens-
treue kränkte ihn in tiefſter Seele. Er ſah nicht, wie heiße Thränen
um dieſer Agende willen floſſen; ſeine weltklugen Hofbiſchöfe Eylert und
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 26
[402]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Neander hielten nicht für gerathen ihn über Alles zu unterrichten. So
wurden denn für den guten Zweck zuweilen auch Mittel angewendet,
welche der Simonie nahe kamen. Mitten im bildungsſtolzen neunzehnten
Jahrhundert wiederholten ſich, minder gewaltſam, aber kaum minder ge-
häſſig, die Gewiſſensbedrängniſſe jenes traurigen Zeitalters der Concor-
dienformeln, da die kurſächſiſche Pfarrerin zu ihrem Gatten ſagte: ſchreibet,
lieber Herre, ſchreibt, daß Ihr bei der Pfarre bleibt! Eine Cabinetsordre
legte den Pfarrern den Wunſch des Monarchen ans Herz und verſprach:
„die Geiſtlichen, die was noth thut richtig auffaſſen“, würden im Ge-
dächtniß des Königs bleiben. Manche der Nachgiebigen erhielten den
rothen Adlerorden — non propter acta, sed propter agenda, wie
Schleiermacher ſpottete — und Jedem, der ſich widerſpänſtig zeigte, wurde
die bei Amtsjubelfeſten übliche Auszeichnung grundſätzlich vorenthalten.
Der Direktor des brandenburgiſchen Conſiſtoriums Keßler, ein trefflicher,
keineswegs ſtreng confeſſionell geſinnter Beamter, ließ ſich ins Finanz-
miniſterium verſetzen, weil er den kleinlichen Jammer dieſes Agendeſtreits
nicht mehr anſehen konnte. Und ein Jammer war es doch, wenn Eylert
als königlicher Commiſſar in dem Fräuleinſtifte zum Heiligen Grabe er-
ſchien um die frommen Seelen der alten Kloſterdamen zu beſänftigen,
oder wenn gar der Oberpräſident von Sachſen perſönlich die lutheriſchen
Bauern im Dorfe Bergwitz bereden mußte, daß ſie ihre Zuſtimmung zu
dem gefürchteten „ſchwarzen Buche“ nicht wieder zurücknähmen.
Mit Kummer bemerkte der Kronprinz, wie viel Niederträchtigkeit dieſer
Streit zu Tage brachte: feige Liebedienerei auf der einen, liebloſen Starr-
ſinn auf der anderen Seite. In den Kleinſtaaten aber, wo man alle
preußiſchen Sünden ſchadenfroh willkommen hieß, haftete fortan ein Makel
an dem Namen der Union, und jeder weitere Fortſchritt der Kirchenver-
einigung über Preußens Grenzen hinaus ward unmöglich.*) Im Jahre
1827 hatten ſich ſchon faſt ſechs Siebentel der evangeliſchen Gemeinden der
Monarchie für die Annahme der Agende erklärt. Inzwiſchen war der König
durch Schleiermacher’s Widerſpruch auf das Grundgebrechen ſeines Werkes
aufmerkſam geworden, und vielleicht noch tiefer berührte ihn der Wider-
ſpruch des Königsberger Superintendenten Kähler, der in einer muthigen
Schrift, ohne die Agende ſelbſt zu bekämpfen, doch die aufgebotenen poli-
tiſchen Machtmittel entſchieden verwarf. Friedrich Wilhelm bemühte ſich
jetzt redlich, die ſtrenge Einförmigkeit der gegebenen Regel zu mildern. Er
berieth ſich wiederholt mit namhaften Theologen und ließ ſodann durch
Biſchof Neander’s geſchickte Hand Nachträge zur Agende ausarbeiten, welche
[403]Der rheiniſch-weſtphäliſche Proteſtantismus.
neben der gemeinſamen Ordnung auch das örtliche Herkommen gelten
ließen, in jeder Landſchaft den Gebrauch altgewohnter liturgiſcher Formen
geſtatteten. Nach dieſem Zugeſtändniß gaben Schleiermacher und ſeine
Freunde ihren Widerſpruch auf, denn nunmehr konnte Jeder, der auf dem
Boden der Union ſtand, ſich unbedenklich der neuen Ordnung fügen. Am
Jubelfeſte der Augsburger Confeſſion, 1830, erlebte der König die Freude,
daß die Agende im weitaus größten Theile der Monarchie angenommen
und damit, wie er ſagte, die Union der Vollendung näher geführt war.
Am Längſten widerſtand der Weſten. Hier in Cleve-Berg und Mark
hatte der Proteſtantismus einſt ganz aus eigener Kraft, unabhängig von
der Landesherrſchaft, ſeine erſten Wurzeln geſchlagen und ſich nach dem
Vorbilde der benachbarten Niederländer eine freie Verfaſſung geſchaffen,
die unter der Fremdherrſchaft verfallen aber noch in ihren Trümmern
dem evangeliſchen Volke theuer war. Altenſtein ſelbſt mußte einſehen,
dieſe der Selbſtändigkeit gewohnten Proteſtanten würden ſich niemals zur
Annahme der Agende verſtehen, wenn man ihnen nicht ihre Presbyterien
und Synoden wiederherſtelle. So ward denn hier allein die Kirche ſelbſt
befragt, wie es dem Geiſte der Reformation entſprach. Auf den Rath des
Biſchofs Roß, der ſich ſeiner Landsleute wacker annahm, beſchloß der
König im Jahre 1835, mit der verbeſſerten Agende zugleich eine Neuord-
nung der Kirchenverfaſſung in Rheinland und Weſtphalen einzuführen,
und der Erfolg bewies, daß hier endlich der rechte Weg betreten war.
Dieſe Kirchengemeinſchaft des Weſtens blieb viele Jahre hindurch das
geſundeſte Glied der preußiſchen Landeskirche, die Heimſtätte eines ernſten
und freien Proteſtantismus, der inmitten der übermächtigen katholiſchen
Nachbarſchaft immer rührig auf der Wacht ſtand. In der brüderlichen
Arbeit ihrer kirchlichen Selbſtverwaltung wirkten ſcharfe confeſſionelle
Gegenſätze, pfälziſche und cleviſche Reformirte, ravensbergiſche Lutheraner
und die Gottſeligen des Wupperthales einträchtig zuſammen. Aus den
Erfahrungen dieſer rheiniſchen Synoden bildete ſich Karl Immanuel
Nitzſch ſeine Reformpläne für die Verfaſſung der evangeliſchen Landes-
kirche. Der fromme Wittenbergiſche Lutheraner lernte hier als Lehrer
und Prediger an der rheiniſchen Hochſchule das freie Gemeindeleben der
Reformirten kennen und lieben. In jungen Jahren ſchon eine ehrfurcht-
gebietende Erſcheinung, tief gelehrt und kindlich beſcheiden, errang er ſich
bald ein unbeſtrittenes Anſehen unter den rheiniſchen Proteſtanten und
überwand die letzten Vertreter des alten Rationalismus, der am Rhein
niemals recht heimiſch geworden war, durch die ſtille Gewalt ſeiner milden,
ſinnigen Beredſamkeit. Ueber die Agende urtheilte Nitzſch billiger als
Schleiermacher, weil er die Nothwendigkeit eines geregelten Cultus aner-
kannte; aber „den Teufel der politiſchen Hierarchie“ wollte er der Lan-
deskirche austreiben. Niemand unter den Zeitgenoſſen erkannte ſo klar,
daß die Union nur durch einen Neubau der Kirchenverfaſſung geſichert
26*
[404]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
werden konnte; Niemand hatte über die Lebensbedingungen einer ſelbſtän-
digen Unionskirche ſchon ſo gründlich und beſonnen nachgedacht, wie dieſer
Meiſter der praktiſchen Theologie, deſſen organiſatoriſche Gaben das Kir-
chenregiment leider nicht zu benutzen verſtand. —
Da die namhaften Widerſacher der Agende ſo über Erwarten ſchnell
verſtummten, ſo fühlte ſich Altenſtein wieder vollkommen ſicher und
rechnete auf eine lange Zeit ungeſtörten kirchlichen Friedens. Aber ſeine
Hoffnung erwies ſich nur zu bald als irrig. Erſt nachdem die Agende in
der Landeskirche faſt überall eingeführt war, verſammelten ſich die Altluthe-
raner Schleſiens zu verzweifeltem Widerſtande, und faſt noch ein Jahr-
zehnt hindurch ſollte der Miniſter mit dieſen Unverſöhnlichen zu ringen
haben. Mittlerweile erhob ſich im Schooße der Unionskirche ſelbſt eine
Parteibewegung, welche mit der Zeit den Beſtand der Union, den weit-
herzigen, duldſamen Geiſt der preußiſchen Landeskirche zu gefährden drohte.
Im Jahre 1827 gründete der Weſtphale Wilhelm Hengſtenberg, erſt fünf-
undzwanzigjährig, in Berlin die Evangeliſche Kirchenzeitung, ein Anhänger
der unbedingten Autorität in Staat und Kirche, als Gelehrter wenig be-
deutend, aber wie geſchaffen zum unermüdlichen Führer einer pfäffiſchen
Partei, hartherzig, herrſchſüchtig, weltklug, aus demſelben Holze geſchnitzt
wie einſt die Ketzerrichter Hogſtraten und Torquemada. Als Reformirter
erzogen und in ſeiner Jugend durchaus weltlich geſinnt, hatte er ſich dann
in Baſel plötzlich einem ſtrengen Bibelglauben zugewendet, und verdammte
fortan Jeden, der von dieſen Glaubensformeln nur um eines Nagels
Breite abwich, mit dem Bannfluch „chriſtliche Wahrheit hat er nicht.“
Was er chriſtliche Wahrheit nannte, war lediglich eine moderne Form
jener alten Orthodoxie, welche im ſiebzehnten Jahrhundert das Luther-
thum ſo tief herabgebracht hatte, verſetzt mit einigen pietiſtiſchen Ideen,
nur daß die Gemüthsinnigkeit des Pietismus, der ja einſt aus dem
Kampfe gegen den Buchſtabenglauben erwachſen war, der trockenen Natur
Hengſtenberg’s nie recht zuſagte. Er hatte ſoeben die Verordnung Alten-
ſtein’s gegen die Separatiſten und Myſtiker eifrig vertheidigt — in einem
ſeltſamen Büchlein, das immer wieder auf den Satz zurückkam, die Ratio-
naliſten ſeien noch weit unchriſtlicher als jene verworfenen Sektirer, — und
trat nachher auch gegen die Altlutheraner auf, weil ſie die oberſtbiſchöf-
liche Gewalt des Landesherrn beſtritten; aber früher oder ſpäter mußte
eine Partei, welche ſchlechterdings keine andere Richtung neben ſich dulden
wollte, ſelber zur Feindin der Union werden.
Zunächſt galt es den Rationalismus zu vernichten, und er war in
der That längſt reif zum Untergange. Nur in Halle behauptete er noch
die Alleinherrſchaft, in Berlin und Bonn ging ihm der Nachwuchs aus,
da die jungen Talente ſich alleſammt den Lehren Schleiermacher’s und
Nitzſch’s zuwendeten. Von allen Seiten her ſchritten ſeine Gegner zum
Angriff vor, ſeit der Leipziger Theolog Hahn zuerſt die Behauptung ge-
[405]Hengſtenberg. Evangeliſche Kirchenzeitung.
wagt hatte, für Rationaliſten ſei in der Kirche kein Raum. Alles was
die evangeliſche Kirche noch an Liebeswerken einer lebendigen chriſtlichen
Geſinnung zu Stande brachte, vollzog ſich ohne die Theilnahme, oft ſogar
unter dem Spott des Rationalismus, ſo die Begründung der Königs-
berger Heidenmiſſion durch den greiſen Biſchof Borowsky. Dieſen Nieder-
gang der alten Schule beſchleunigte die neue Kirchenzeitung durch ſcho-
nungsloſe perſönliche Ausfälle und Verdächtigungen; überall hielt Hengſten-
berg ſeine Berichterſtatter, die ſich vornehmlich die rationaliſtiſchen Elemen-
tarlehrer von Dinter’s Farbe zur Zielſcheibe wählten, und im Jahre 1830
führte er einen Hauptſchlag gegen die Hochburg der Gegner in Halle.
Es war, als ſollte der alte Göthe Recht behalten, der in dieſen Jahren,
angeekelt durch die zunehmende Gehäſſigkeit des kirchlichen Streites, ſchrieb:
Ludwig von Gerlach, der Freund des Kronprinzen, veröffentlichte in der
Kirchenzeitung eine Blumenleſe trivialer Spöttereien und ungehöriger
Witze aus den Collegien der beiden Hallenſer Rationaliſten Wegſcheider
und Geſenius, ganz wie einſt Joſ. Schwartz und die Lunder Orthodoxen
die Vorleſungen Pufendorf’s hatten behorchen laſſen. Der heimtückiſche
Streich erregte allgemeine Entrüſtung; denn die widerrechtliche Veröffent-
lichung akademiſcher Vorträge hat mit Recht von jeher für ein unehren-
haftes Kampfmittel gegolten, weil ſie die Zucht und das Vertrauen der
ſtudirenden Jugend untergräbt. Joh. Neander, der fromm beſchauliche
Kirchenhiſtoriker, ſagte ſich tief empört von den Denuncianten los, und
der üble Eindruck verwiſchte ſich auch nicht als die Kirchenzeitung dreiſt
herausſagte: das Vertrauen eines Studenten auf einen rationaliſtiſchen
Lehrer ſei nicht Pflicht, ſondern Sünde. Der Halliſche Rationalismus
ſtand aber bereits auf ſo ſchwachen Füßen, daß er ſelbſt einem ſolchen
Angriff nicht mehr gewachſen war. Geſenius und Wegſcheider erlangten
ihr altes Anſehen niemals wieder, und der Anhang ihres bibelgläubigen
Nebenbuhlers, des geiſtvollen jungen Tholuck wuchs von Jahr zu Jahr.
Das Kirchenregiment befand ſich dieſen Kämpfen gegenüber in peinlicher
Verlegenheit, da Altenſtein zwar den altproteſtantiſchen Lehrbegriff ſtreng
aufrechthalten wollte und bei Anſtellungen die bibelfeſten „Neologen“ ſtets
vor den Rationaliſten begünſtigte, aber auch jede Störung des kirchlichen
Friedens zu verhindern wünſchte. Endlich ward der Halliſche Skandal
dadurch beigelegt, daß eine Cabinetsordre ausſprach, zum Einſchreiten gegen
die beiden Profeſſoren ſei kein Grund vorhanden, und eine zweite Cabi-
netsordre vom nämlichen Tage dem Miniſter anbefahl, in Zukunft nur
Männer, welche der Augsburgiſchen Confeſſion treu ergeben ſeien, in die
geiſtlichen Aemter zu berufen. Die kleinen lutheriſchen Landeskirchen der
Nachbarländer mochten unter der Herrſchaft der landesherrlichen Conſi-
ſtorien ihr Stillleben noch eine Weile weiter führen; dieſe große Unions-
[406]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
kirche hingegen, die alle Gegenſätze des deutſchen Proteſtantismus in ſich
umſchloß, konnte auf die Dauer ohne ein ſelbſtändiges Organ ihres Ge-
ſammtwillens nicht beſtehen. Ihr Schickſal lag indeß noch immer in der
Hand des Königs und ſeines Cultusminiſters, und je ſchärfer die kirch-
lichen Parteien auf einander ſtießen, um ſo unerträglicher ward dieſe bureau-
kratiſche Ordnung. —
Etwas friedlicher, dem äußeren Anſchein nach, geſtaltete ſich in dieſen
Jahren die Lage der katholiſchen Kirche, zumal ſeit Graf Ferdinand Auguſt
v. Spiegel (1825) den wiederhergeſtellten erzbiſchöflichen Stuhl in Köln
beſtiegen hatte, ein Prälat aus der ariſtokratiſchen alten Schule, der in-
mitten der Wirren des napoleoniſchen Zeitalters immer mit jeder Re-
gierung gut ausgekommen war. Als Domherr hatte er vor Jahren in
Münſter für die Unabhängigkeit ſeines Hochſtifts gegen die preußiſchen
Eroberer geſtritten, aber ſogleich nach der Einverleibung ſeinen Frieden
mit Preußen geſchloſſen, um ſich bald nachher ebenſo gewandt unter das
Scepter Napoleon’s zu ſchmiegen, aus deſſen Händen er ſogar die biſchöf-
liche Würde entgegennahm. Im Jahre 1813 gewann ſein Name unter
den Patrioten einen böſen Klang, weil er in einem überſchwänglichen
Hirtenbriefe ſeine Gläubigen aufforderte, Gott zu danken für die ge-
wonnene Schlacht von Dresden und alſo zu bekunden „die willkommenſten
Triebe, welche jeder Unterthan des großen Kaiſers im Innerſten ſeines
Herzens empfindet.“ Alle dieſe Wandlungen wurden ihm vergeben, als
er ſich zur Zeit des Wiener Congreſſes abermals, und jetzt für immer,
an Preußen anſchloß. Selbſt Stein, der die Verirrungen der napoleoni-
ſchen Tage ſo ſchwer vergaß, widmete ihm aufrichtige Freundſchaft, weil
der weltkundige Prälat die neue Ordnung der Dinge ohne jeden Hinter-
gedanken anerkannte und bald zu der Einſicht kam, nur Preußen könne
„das allem Wiſſenſchaftlichen und Geiſtlichen abholde Franzoſenthum“ vom
Rheine hinwegfegen. Ein gelehrter Theolog, vielſeitig gebildet, in ſeiner
Haltung vornehm und gemeſſen, kannte Spiegel auch den Staatsdienſt
aus eigener Erfahrung, da er einſt unter Fürſtenberg’s ſorgſamem Regi-
mente in der Verwaltung des Münſterlandes thätig geweſen war. Ob-
wohl er die nationalkirchlichen Gedanken Weſſenberg’s, denen er früher
angehangen, bald als unausführbar fallen ließ, ſo hielt er doch die Grund-
anſchauungen des alten Epiſcopalſyſtems feſt: er wollte mächtige, hochan-
geſehene Landesbiſchöfe, die in treuem Einvernehmen mit der Krone jedem
willkürlichen Uebergriffe der römiſchen Curie entgegentreten, aber auch der
weltlichen Gewalt nicht geſtatten ſollten, die Kirche lediglich als Staats-
anſtalt zu behandeln, und empfand es in ſeinem biſchöflichen Selbſtge-
fühle ſehr ſchmerzlich, daß die preußiſchen Prälaten auf den Provinzial-
landtagen gar nicht, im Staatsrathe nur durch ihn ſelber vertreten waren.
In ſeinem Palaſte bei St. Gereon richtete er ſich einen ſtattlichen geiſt-
lichen Hofhalt ein mit einer reichen Bibliothek und wohlverſorgtem Keller;
[407]Erzbiſchof Graf Spiegel.
die erzbiſchöfliche Küche war immer dankbar wenn ihr Stein aus dem
Cappenberger Wildgarten Faſanen oder Rothwild ſendete.
Zu den Staatsbehörden trat er ſogleich auf guten Fuß; ſeine im
ſchwerfälligen altmünſterſchen Curialſtile gehaltenen Amtsſchreiben lauteten
immer ganz unzweideutig, und bis auf einige Aufwallungen jener reiz-
baren Standesempfindlichkeit, welche der katholiſche Clerus mit dem Offi-
ziersſtande theilt, kam niemals ein unfriedlicher Auftritt vor. Von freien
Stücken verſtändigte er ſich mit dem Miniſter über die Zahl der anzu-
erkennenden katholiſchen Feſttage und befahl ſeinem Clerus die Feier des
allgemeinen Buß- und Bettags, der als eine Stiftung proteſtantiſcher
Fürſten bei den clericalen Eiferern in üblem Geruche ſtand. Graf Spiegel
war mit den Jahren kirchlicher geworden und nahm die Pflichten ſeines
Amtes ſehr ernſt; ſeine wärmſte Fürſorge aber galt der Erziehung der
jungen Prieſter. Die „Sinnesdumpfheit“ mancher ſeiner älteren Cleriker
erregte ſein Mitleid, und noch bevor er ſeine Stellung antrat, erlangte
er von Altenſtein die Zuſage, daß an der rheiniſchen Univerſität ein theo-
logiſches Convict errichtet werden ſollte, denn unmöglich könne man die
wiſſenſchaftliche Ausbildung des theologiſchen Nachwuchſes „dem Unweſen
und dem Schlendrian“ des Kölner Prieſterſeminars allein überlaſſen.
Der ſchleppende Geſchäftsgang in Altenſtein’s Miniſterium brachte den
Eifrigen oft zur Verzweiflung; zuweilen argwöhnte er ſogar, daß Geh.
Rath Schmedding, der ſich mehr und mehr der clericalen Richtung zu-
wendete, ihm insgeheim entgegenarbeite. Nach zweijährigem Drängen und
Mahnen ſah er endlich ſeinen Lieblingswunſch erfüllt, und das neue Convict
wirkte in dieſen erſten Jahren durchaus wohlthätig, da ſeine Zöglinge
ſich zwar einer ſtrengen Hausordnung fügen mußten, aber mit den welt-
lichen Commilitonen frei verkehren und ihre philoſophiſchen Collegien nach
eigenem Ermeſſen auswählen durften. Eine klöſterliche Lebensweiſe wollte
der Erzbiſchof grundſätzlich vermieden ſehen, weil ſie den Gewohnheiten
des heutigen Lebens widerſpreche; ſelbſt gegen die Anſtellung evangeliſcher
Convictsdiener hatte er nichts einzuwenden, falls ſich keine geeigneten Katho-
liken fänden.*)
Leider übte er das Recht des Einſpruchs, das ihm bei der Anſtellung
theologiſcher Lehrer zuſtand, nicht unparteiiſch. Sollte die paritätiſche Hoch-
ſchule das Mißtrauen der alten Krummſtabslande überwinden, ſo mußten
alle Richtungen der theologiſchen Wiſſenſchaft in ihrer katholiſchen Facultät
eine Vertretung finden; darum wünſchte Altenſtein den beſten Kopf der
jungen Tübinger Schule, Möhler, nach Bonn zu berufen. Der Erz-
biſchof aber widerſprach entſchieden**); er war noch von ſeinen Münſter-
[408]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſchen Kämpfen her ein abgeſagter Feind der „leidenſchaftlichen Frömmler“,
wie er die harten Ultramontanen nannte, und folgte in wiſſenſchaftlichen
Fragen unbedingt dem Rathe ſeines „hochwerthen“ alten Freundes Hermes,
der zum Domcapitular ernannt in Bonn und Köln zugleich den Ton
angab. Erſt nach Jahren willigte er darein, daß ein ſtrenger Clericaler,
Klee in die theologiſche Facultät berufen wurde. Die Leitung des Con-
victs erhielt der Hermeſianer Achterfeldt; auch der Kirchenrechtslehrer
Droſte-Hülshoff, die Repetenten Braun und Vogelſang ſtanden wie die
ſämmtlichen älteren Theologen dieſer Schule nahe. Es waren durchweg
achtbare Gelehrte, dem Staate gehorſam und der Kirche treu ergeben;
über die Prieſterehe urtheilte Droſte-Hülshoff in ſeinem Kirchenrechte faſt
ebenſo ſcharf wie ſein Gegner Walter, und Braun richtete ſogar eine hef-
tige Streitſchrift wider eine Partei unter den ſchleſiſchen Geiſtlichen, welche
den Segen des Cölibats zu bezweifeln wagte. Den ſtrengen Ultramon-
tanen aber mußte eine Schule, die ſich auf Kant berief, als eine ver-
dächtige rationaliſtiſche Partei erſcheinen, und nur ſo lange die klugen
Augen des greiſen Erzbiſchofs offen blieben, war der äußere Frieden in
der rheiniſchen Kirche leidlich geſichert.
Als treuer Gehilfe ging dem Oberhirten der neue Biſchof von Trier,
Hommer zur Hand, ein Prieſter von altem kurtrierſchem Schrot und Korn,
gelehrt und wohlthätig, offenherzig, becherluſtig und lebensfroh. Er hatte
in ſeinen jungen Jahren der Emſer Verſammlung der deutſchen Erzbiſchöfe
beigewohnt und dann als Syndicus der kurtrieriſchen Landſtände die poli-
tiſchen Geſchäfte kennen gelernt; als guter Patriot begrüßte er die preußiſche
Herrſchaft mit Freuden und huldigte ſeinem „beſten Monarchen“ mit dem
ehrlichen Vorſatze, den Frieden der Confeſſionen nie zu ſtören. Als Stein,
der Erbe der Freiherren v. Landscron, die Landscroner Pfarre mit einer
Stiftung bedachte, da befahl der Biſchof unbedenklich, daß an jedem Ge-
burtstage des proteſtantiſchen Stifters Meſſe und Predigt gehalten werden
ſolle. Wie that es den beiden befreundeten Prälaten wohl, als der gleich-
geſinnte Nuntius Capaccini die Rheinlande bereiſte und über den blühen-
den Zuſtand der geiſtlichen Bildungsanſtalten ſeine freudige Verwunderung
ausſprach.*)
Mittlerweile hatte Cardinal della Genga, das Haupt der kirchlichen
Eiferer, der leidenſchaftliche Feind des klugen Conſalvi, als Leo XII. den
heiligen Stuhl beſtiegen. Es war ein Zeichen der Zeit, daß eine Schrift des
Abbate Fea „die Lehnsherrſchaft des Papſtes über die weltlichen Fürſten“,
die den Cenſoren des milden Pius VII. bedenklich geweſen, jetzt unge-
hindert erſcheinen durfte. Der neue Papſt kannte die ſchwierigen deutſchen
Verhältniſſe noch aus den Zeiten ſeiner Münchener Nuntiatur und hütete
ſich vor unbedachtſamen Eingriffen; aber die wachſende Dreiſtigkeit der
[409]Wachſende ultramontane Bewegung.
ultramontanen Preſſe ließ errathen, daß ein ſchärferer Wind von Rom her
wehte. Im „Katholiken“ führte Görres das große Wort. Der wurde neuer-
dings, ſeit er die Märtyrerkrone des Verbannten trug, von den Rheinländern
höher geehrt als vormals in der Heimath, und verlor ſich immer tiefer
in die phantaſtiſchen Irrwege des clericalen Demagogenthums. Für das
deutſche Elend war ihm kein Wort mehr zu ſchlecht: da ward die Wahrheit
von der Lüge genothzüchtigt, und alles Leben erſchien nur wie eine ſchwam-
michte, unganze Nagelfluh! Den höchſten Grad menſchlicher Freiheit fand
er jetzt in den ſchweizeriſchen Urkantonen, weil dort katholiſche und repu-
blikaniſche Freiheit ſich vermähle. Die Krummſtabsherrſchaft, die er einſt
ſelber ſo köſtlich verhöhnt, wußte er jetzt nicht genug zu preiſen. Selbſt die
Hunde — ſo verſicherte er in einem Aufſatz „Rom wie es iſt“ — zeigten
in der erleſenen Stadt des oberſten Reichspflegers Gottes mildere Sitten
als anderswo; und nun gar die unſchuldige Sittſamkeit der römiſchen
Menſchen ſpottete jeder Beſchreibung, denn jeder Römer ging allſonntäglich
zum Abendmahle, was doch ganz unmöglich war, wenn die frommen
Seelen ſich mit einer Todſünde belaſtet fühlten!
Die Mehrzahl der rheiniſchen Geiſtlichkeit fühlte ſich glücklich unter
Spiegel’s friedfertigem Walten. Aber faſt in jeder größeren Stadt be-
ſtand eine geſchloſſene clericale Oppoſitionspartei, die dem Erzbiſchof unter
der Hand entgegenarbeitete und namentlich ſein Bonner Convict als eine
Pflanzſchule kirchenfeindlicher Geſinnung verleumdete. Da war in Düſſel-
dorf der Jeſuit Wüſt, der Beichtvater der ſinnigen Dichterin Luiſe Henſel,
der Geliebten Clemens Brentano’s, die ſich vor dem Altar feierlich mit
ihrem Bräutigam Chriſtus verlobte — und ſo weiter überall kleine Kreiſe
von Erweckten, überall offene oder geheime Gegner der ketzeriſchen Regie-
rung. Der reizbare rheiniſche Particularismus ergriff begierig jeden Anlaß
um den evangeliſchen Landesherrn der Bedrückung des Katholicismus zu
bezichtigen. Die finanziellen Verſprechungen der Uebereinkunft mit dem
römiſchen Stuhle wurden ſo pünktlich erfüllt, daß Conſalvi mehrmals für
die Gewiſſenhaftigkeit und Großmuth des Königs ſeinen warmen Dank
ausſprach. Doch leider hatten Hardenberg und Niebuhr in Rom einen
ſchweren Fehler begangen — den einzigen großen Mißgriff ihrer Unter-
handlung — der nun den Ultramontanen willkommenen Anlaß zu argen
Verdächtigungen gewährte. Die Circumſcriptionsbulle enthielt die Zuſage,
daß die der Kirche bewilligten Staatszuſchüſſe als Grundzinſen auf die
Staatsforſten eingetragen werden ſollten, falls bis zum Jahre 1833 ein
genügender Theil der Domänen von der Haftbarkeit für die Staatsſchuld
frei würde; ſei dies nicht möglich, dann werde die Krone für die Kirche
Landgüter ankaufen, deren Ertrag den Staatszuſchüſſen entſpräche. Der
Staatskanzler hatte dieſe leichtſinnige Zuſage gegeben, obwohl die große
Mehrheit der Staatsminiſter entſchieden davon abrieth, und nur zu bald
zeigte ſich, daß die Abtragung der Staatsſchuld bei weitem nicht ſo ſchnell
[410]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
von ſtatten ging, als Hardenberg gedacht hatte. Es blieb ſehr zweifelhaft,
ob die Krone ſchon im Jahre 1833 über eine ausreichende Maſſe von
Staatsforſten würde frei verfügen können; ein Ankauf von Landgütern
aber war geſetzlich unmöglich, da die Staatsſchuld nicht ohne die Zuſtim-
mung der Reichsſtände vermehrt werden durfte. In ſolcher Lage drängten
ſich die ſchweren politiſchen und volkswirthſchaftlichen Bedenken, welche
gegen den Grundbeſitz der Kirche ſprechen, unabweisbar auf, und die Regie-
rung beſchloß ſtillſchweigend, dieſen Theil der Circumſcriptionsbulle unaus-
geführt zu laſſen. Die Kirche erlitt dadurch keine Einbuße, denn ſie er-
hielt den verſprochenen Zuſchuß pünktlich und ſicher von den Regierungs-
hauptkaſſen ausgezahlt; ſie verlor nur die ſehr unbeſtimmte Ausſicht auf
die mögliche Erwerbung von Grundbeſitz. Aber dies formelle Unrecht ge-
nügte der ultramontanen Partei, um den Staat des Vertragsbruchs, des
Kirchenraubes zu beſchuldigen.
Beſſer begründet war die Klage der Katholiken über die Kirchen-
paraden. Nach dem alten gedankenlos beibehaltenen Herkommen wurden
die Truppen auch jetzt noch an einem Sonntage jedes Monats in die
evangeliſchen Garniſonkirchen geführt, obgleich in manchen Regimentern
der weſtlichen Provinzen die Mannſchaft faſt durchweg aus Katholiken
beſtand. Der König hatte angeordnet, daß in ſolchen Fällen nur eine
kurze, für beide Confeſſionen unverfängliche Predigt gehalten würde, und
meinte arglos: wenn ſein Heer vor der Schlacht gemeinſam bete, warum
nicht auch am Sonntage? Er lebte ſelber ſo ganz in den Ideen des allge-
meinen evangeliſchen Chriſtenthums, daß er ſich die Anſchauungen einer
Kirche, welche ihren Mitgliedern die Theilnahme am Gottesdienſte anderer
Chriſten ſtreng verbietet, gar nicht vorſtellen konnte. Das katholiſche Volk
aber fühlte ſich in ſeinen heiligſten Empfindungen verletzt. Am Rhein
äußerte ſich der Unwille ſo laut, daß die Generale der Provinz überein-
kamen, die anſtößige Vorſchrift auf ſich beruhen zu laſſen, was ſie dem
Monarchen freilich nicht mitzutheilen wagten. In Weſtphalen dagegen
beſtand die Unſitte fort, und die wohlberechtigten Klagen, die von dort
herüberdrangen, fanden im Rheinlande dankbare Hörer. —
Alle dieſe Mißhelligkeiten bedeuteten wenig neben dem Streite über
die gemiſchten Ehen, der ſich von Jahr zu Jahr bedenklicher geſtaltete.
Da die römiſche Kirche die Ehe für ein Sakrament hält, ſo betrachtet ſie
jede Ehe, welche den kanoniſchen Vorſchriften widerſpricht, als ein Con-
cubinat und kann dem Staate niemals die Befugniß zugeſtehen, nach
ſeinem Ermeſſen das Eherecht zu ordnen. In den alten Zeiten der Staats-
allmacht hatte ſie ſich wohl den weltlichen Geſetzen gefügt, doch immer
mit dem ſtillen Vorbehalte, ihre niemals aufgegebenen Grundſätze zur
günſtigen Stunde wieder geltend zu machen. Und dieſe Stunde ſchien
jetzt gekommen, da das Schiff des Apoſtelfürſten wieder ſo fröhlich daher-
fuhr; zum mindeſten war der römiſche Hof entſchloſſen, der weltlichen
[411]Die gemiſchten Ehen.
Gewalt kein neues Zugeſtändniß mehr zu gewähren. Eine reine, unzwei-
deutige Verſtändigung zwiſchen dieſen herriſchen Anſprüchen und den
unveräußerlichen Rechten der ſouveränen Staatsgewalt blieb unmöglich.
Es gab für den Staat nur einen Weg um zugleich ſeine Hoheitsrechte
zu wahren, die Gleichberechtigung der Bekenntniſſe zu ſchützen und den
katholiſchen Prieſtern Gewiſſensbedrängniſſe zu erſparen: wenn er die
Eheſchließung durch ſeine eigenen Beamten vollzog und der Kirche frei
ſtellte, der rechtsgiltigen Ehe nachträglich ihren Segen zu geben oder zu
verſagen. Dies einzig wirkſame Mittel lag in Preußen nahe zur Hand,
da die Civil-Ehe in den Ländern des rheiniſchen Rechts bereits beſtand,
aber weder die Krone noch der Clerus wollte davon ernſtlich Gebrauch
machen. Die Kirche verdammte die bürgerliche Ehe als Ausgeburt des
jakobiniſchen Heidenthums; ſie hieß es willkommen, wenn der Staat ihr
ſeinen dienenden Arm lieh um die kirchliche Eheſchließung überall zu er-
zwingen, nur ſollte er auch ihr päpſtliches Eherecht anerkennen. Am Ber-
liner Hofe urtheilte man kaum weniger hart über dies Vermächtniß der
Revolution, am härteſten der König ſelbſt, der es ſeinem Luther hoch an-
rechnete, daß erſt durch die Reformation die kirchliche Einſegnung der Ehe
zur allgemeinen chriſtlichen Sitte geworden war. Im Juſtizminiſterium be-
ſtand längſt die Abſicht, die Civilehe am Rhein ſpäteſtens durch die Re-
viſion des Allgemeinen Landrechts wieder abzuſchaffen. Auch dem Rechts-
bewußtſein des Volkes war dieſe franzöſiſche Erfindung noch ganz fremd;
ein Bedürfniß darnach ſchien in Deutſchland nicht vorzuliegen, da ſeit
dem Weſtphäliſchen Frieden ein ernſter Streit wegen der gemiſchten Ehen
kaum vorgekommen war.
Erſt weit ſpäter, erſt durch die bitteren Erfahrungen des preußiſchen
Kirchenſtreits gelangte die öffentliche Meinung zu der Einſicht, daß ein
paritätiſches Volk um des confeſſionellen Friedens willen der Civil-Ehe
bedarf. Damals galt der großen Mehrheit der Deutſchen nur die kirch-
lich eingeſegnete Ehe für vollkommen rechtmäßig. Auch die Rheinländer
dachten nicht anders, und die preußiſche Krone hielt ſich daher für befugt,
die Bedingungen der kirchlichen Eheſchließung auch in den Ländern des
rheiniſchen Rechts durch Staatsgeſetze vorzuſchreiben. In den öſtlichen
Provinzen galt ſeit dem Jahre 1803 unangefochten die geſetzliche Vor-
ſchrift, daß die Kinder gemiſchter Ehen dem Bekenntniß des Vaters folgen
ſollten; in den Landſchaften des Weſtens dagegen beſtand noch eine Fülle
von verſchiedenen kirchlichen Vorſchriften, welche die Einſegnung gemiſchter
Ehen erſchwerten oder ſie nur gegen das Verſprechen katholiſcher Kinder-
erziehung geſtatteten. Nach wiederholten vergeblichen Verboten und Er-
mahnungen befahl der König durch die Cabinetsordre vom 17. Auguſt
1825, daß jene Declaration vom Jahre 1803 fortan in allen Provinzen
befolgt werden ſollte. Seine Miniſter glaubten in ihrer naiven Unkenntniß
katholiſcher Verhältniſſe, hiermit ſei endlich ein ſicherer, gleichmäßiger
[412]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Rechtszuſtand für das geſammte Staatsgebiet geſchaffen; denn nach pro-
teſtantiſcher Logik ſchien es undenkbar, daß die römiſche Kirche ein Geſetz,
das ſie in Schleſien ſeit zwanzig Jahren unweigerlich befolgte, in Weſt-
phalen und am Rhein bekämpfen ſollte. Man mußte jedoch bald lernen,
daß Rom niemals freiwillig einen Beſitzſtand aufgiebt. Die rheiniſchen
Prieſter umgingen das neue Geſetz, unbekümmert um das gute Beiſpiel
ihrer ſchleſiſchen Amtsbrüder. Sie verweigerten die Einſegnung gemiſchter
Ehen ohne Angabe von Gründen, da ſie nicht mehr wagten, den Braut-
leuten das förmliche Verſprechen der katholiſchen Kindererziehung abzu-
fordern; und ſelbſt die wohlmeinenden Biſchöfe Spiegel und Hommer ver-
mochten dem Unweſen nicht zu ſteuern, weil die in den rheiniſchen Krumm-
ſtabslanden noch beſtehenden alten kirchlichen Vorſchriften ohne päpſtlichen
Dispens nicht abgeändert werden durften.
Da bot ſich ein Helfer in der Noth: der neue Vertreter Preußens
beim römiſchen Hofe, C. K. Joſias Bunſen. Was hätte er ſich damals
auch nicht zugetraut, dieſer Liebling des Glücks, in den erſten Jahren
ſeiner vielbeneideten Erfolge! In kleinen Verhältniſſen aufgewachſen, dann
durch Niebuhr in die diplomatiſche Laufbahn eingeführt und nach wenigen
Jahren ſchon des Meiſters Nachfolger, errang er ſich in der römiſchen
Geſellſchaft bald eine günſtige Stellung durch das ſtärkſte und wirkſamſte
ſeiner mannichfaltigen Talente, die ganz eigenthümliche Kunſt belebender
und anregender Unterhaltung. In dem Palaſte Caffarelli auf der Höhe
des Capitols, wo die preußiſche Geſandtſchaft jetzt hauſte, fand ſich Alles
zuſammen, was die Weltſtadt an geiſtreichen Menſchen, Fremden und
Einheimiſchen beherbergte, und noch nach langen Jahren gedachten alle
alten „Capitoliner“, wo immer in der Welt ſie einander begegneten, mit
dankbarer Freude jener prunkloſen und doch ſo reizvollen Geſelligkeit, deren
ſie einſt bei Bunſen und ſeiner edlen Frau, einer vornehmen Engländerin
genoſſen hatten. Der Hausherr, ein bildſchöner Mann mit leuchtenden
Prophetenaugen, wußte aus der Fülle ſeiner Gedanken und ſeiner allſei-
tigen Beleſenheit jedem Gaſte etwas zu bieten. Die jungen Talente unter
den Künſtlern und Gelehrten ſchloſſen ſich ihm begeiſtert an, er förderte
ihre Entwicklung mit feinſinnigem Verſtändniß, und ſie ließen ſich’s gern
gefallen, daß er die Ideen ſeiner Schützlinge ganz unbedenklich in Wort
und Schrift für ſich ſelber ausnutzte. Das zweifelloſe Selbſtgefühl, das
aus jeder ſeiner Mienen ſprach, heiſchte und erzwang Bewunderung; nur
ſelten einmal wagte ein unbefangenes Weltkind flüſternd zu bemerken,
dies ewige feierliche Pathos werde auf die Dauer doch langweilig.
Von dem europäiſchen Ruhme ſeiner Vorgänger Humboldt und Nie-
buhr fiel ein Abglanz zurück auf Bunſen’s jugendlichen Scheitel; die nam-
haften Fremden, die ſich ſeiner Gaſtfreundſchaft erfreut, die Engländer
zumal, erzählten überall von dem Zauber ſeines Umgangs und der Un-
ermeßlichkeit ſeines Wiſſens. So ward er berühmt noch bevor er Erheb-
[413]Bunſen in Rom.
liches geleiſtet hatte, und er verſtand ſeinen Ruf im Dienſte der Wiſſen-
ſchaft zu verwerthen. Durch ihn und den jungen Poſener Philologen
Gerhard kam im Jahre 1829 das Inſtitut für archäologiſche Correſpondenz
zu Stande — gerade in dem günſtigen Zeitpunkte, da die Aufgrabung
des römiſchen Forums begann und die Vaſen von Vulci, die etruskiſchen
Wandbilder in den Gräbern von Corneto entdeckt wurden — ein groß ge-
dachtes und umſichtig geleitetes Unternehmen unter dem Schutze der Krone
Preußen, das von Gelehrten aller Länder, am eifrigſten von Deutſchen
und Italienern unterſtützt, für die Erforſchung der Alterthümer Italiens
einen feſten Grund legte und ſpäterhin, als R. Lepſius in das Haus am
tarpejiſchen Felſen einzog, auch die junge Wiſſenſchaft der Aegyptologie
förderte. Wie anders als zwanzig Jahre zuvor war jetzt Preußens Stel-
lung in der gebildeten Welt; das Ausland begann allmählich zu bemerken,
welche geiſtigen Kräfte dieſem Staate zu Gebote ſtanden. Die gelehrten
deutſchen Romfahrer brachten den verrufenen Namen der Tedeschi wieder
zu Ehren; keine Landſtadt in Mittelitalien, wo man Gerhard, den guten
Signor Odoardo nicht kannte und mit gelehrten Mittheilungen verſorgte.
Bunſen war von der Theologie ausgegangen, ſein frommes Gemüth
konnte mitten in den Zerſtreuungen der großen Welt den täglichen unmittel-
baren Verkehr mit Gott nicht entbehren; mit ſeinem Freunde dem Kron-
prinzen hoffte er auf die Selbſtändigkeit einer freien evangeliſchen Kirche.
Sein halbes Leben lang trug er ſich mit dem Plane, alle die weit entlegenen
hiſtoriſchen, linguiſtiſchen, theologiſchen, juriſtiſchen Forſchungen, die er in
den Mußeſtunden ſeines Amtes mit eiſernem Fleiße betrieb, zu einer Philo-
ſophie der Geſchichte zu vereinigen, welche „den ſicheren Pfad Gottes durch
den Strom der Zeiten verfolgen“, das Walten der Vorſehung im Werde-
gange der Völker nachweiſen ſollte. Er ſelber wähnte, nur das ſeltſame
Spiel des Schickſals, das ihn halb wider Willen in die Bahnen der
Diplomatie verſchlug, habe dies ſein Lebenswerk nicht zur Reife kommen
laſſen. In Wahrheit war die ſchöpferiſche Kraft ſeines Geiſtes einem ſo
gewaltigen Stoffe nicht gewachſen; auch er litt gleich ſeinem prinzlichen
Freunde unter dem Verhängniß einer glänzenden vielſeitigen Begabung,
die zu allem Großen berufen ſchien und ſich in ſtolzen Entwürfen über-
nahm ohne je ein vollendetes Werk zu geſtalten. Wie ſein Stil bei aller
Lebhaftigkeit immer weitſchweifig blieb und niemals mit der Naturgewalt
urſprünglicher Beredſamkeit das Herz des Leſers packte, ſo erhob ſich auch
der wiſſenſchaftliche Gehalt ſeiner Schriften nur ſelten über das Maß
eines allerdings gedankenreichen und weitumfaſſenden Dilettantismus.
Und noch weniger ſogar vermochte er den Aufgaben der praktiſchen
Staatskunſt zu genügen. Die unendliche Empfänglichkeit ſeines leicht
erregbaren Herzens war das genaue Gegentheil jener geſammelten, feſt
auf ein Ziel gerichteten Willenskraft, welche den Staatsmann macht;
niemals ging er gänzlich auf in dem diplomatiſchen Berufe, deſſen Nüchtern-
[414]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
heit er beklagte und deſſen Glanz er doch nicht miſſen mochte. Auch
in der Politik war er nicht arm an feinen Gedanken und neuen Ge-
ſichtspunkten; er verſtand zu wachſen mit der wachſenden Zeit und lernte,
nachdem er anfangs den antirevolutionären Anſchauungen Niebuhr’s blind-
lings gefolgt war, die conſtitutionellen Ideen des Jahrhunderts billiger
zu beurtheilen; er liebte das Vaterland ſeiner Wahl mit glühender Be-
geiſterung und gab ſelbſt in dieſer muthloſen Zeit nicht die Hoffnung
auf, daß Preußen dereinſt die Deutſchen beherrſchen werde. Aber er wußte
von ſeinem Staate ſehr wenig. Ihm fehlte gänzlich die Kenntniß des
praktiſchen Lebens und ſeiner endlichen Bedürfniſſe, die dem Staatsmanne
ſo weſentlich iſt wie dem Künſtler die Beherrſchung der techniſchen Hand-
griffe; ihm fehlte ſelbſt die Gabe das Wirkliche nüchtern zu beobachten,
dies erſte und unentbehrlichſte Talent für einen Diplomaten, der dem
harten Realismus der vatikaniſchen Politik Stand halten ſollte. Fort
und fort wiegte ſich ſein Selbſtgefühl in holden Täuſchungen. Weil ſein
gaſtliches Haus gern beſucht wurde, meinte er ſchon eine Macht in Rom
zu ſein. Wenn er aus den Fenſtern ſeines Palaſtes, von der ehrwür-
digſten Stelle Roms, wo einſt der Tempel des Jupiter Stator geſtanden,
hinabſchaute auf die ewige Stadt und die Kuppelkirche des Geſù tief zu
ſeinen Füßen, da überkam ihn zuweilen ein Rauſch der Ueberhebung, und
er redete in ſeinen Briefen, als wäre er ein proteſtantiſcher Gegenpapſt
hier mitten im katholiſchen Babel. So oft ihm der Papſt oder ein Car-
dinal eine jener Artigkeiten ſagte, welche den Südländern gar nichts koſten,
rühmte er ſich eines großen diplomatiſchen Erfolges. Obgleich er die mäch-
tige reaktionäre Stimmung in der Kirche wohl bemerkte, ſo hielt er doch
ſein Preußen für vollkommen ſicher, da der Staat in ſeinen trefflichen
Bildungsanſtalten ein unfehlbares Mittel beſitze um alle ultramontanen
Einflüſterungen abzuweiſen und „der römiſche Stuhl über unſere Katho-
liken nur eine ſehr gemäßigte Autorität ausüben werde.“ Die ſtolze Zu-
verſicht ſeiner Berichte gewann ihm in Berlin hohes Vertrauen; man über-
ſchätzte ihn allgemein, Mancher ſtellte ihn hoch über Niebuhr.
Als die Händel wegen der gemiſchten Ehen ſich verſchärften, wurde
er im Herbſt 1827 nach Berlin gerufen, um ſachkundigen Rath zu er-
theilen. Dort eroberte er im Sturme Aller Herzen, er bezauberte Eich-
horn, Bernſtorff, den Kronprinzen und vornehmlich den König ſelbſt. Kein
anderer Mann hatte jemals von dem alternden Fürſten ſo viel väterliche
Güte erfahren; die neidiſchen Hofleute meinten, es fehle nur noch, daß
der König den jungen Doctor an Sohnesſtatt annehme, ſonſt könne er
nichts mehr für ihn thun. Bis in die ländliche Abgeſchiedenheit des
Paretzer Schlößchens, das niemals ein Miniſter betrat, durfte Bunſen
ſeinem gnädigen Herrn folgen; wie ein alter Hausfreund war er zugegen,
wenn der König mit ſeiner Gemahlin Schach ſpielte. Für ſeine capi-
toliniſche Liturgie, die er eigenmächtig in der Geſandtſchaftsgemeinde ein-
[415]Das Breve über die Miſch-Ehen.
geführt hatte, erhielt er nicht nur Verzeihung; der König befahl ſogar
den Druck der Arbeit und ſchrieb ſelber das Vorwort. Was Wunder,
daß er alſo mit Gnaden und Ehren überſchüttet noch ſelbſtgefälliger als
ſonſt ins Leben blickte. Er vermaß ſich die Frage der gemiſchten Ehen
mit Leichtigkeit zu löſen; hatte ihm doch der Papſt feierlich verſprochen,
die Wirren am Rhein ſollten bald ein Ende nehmen. Im Vertrauen
auf dieſe Zuſage gab er den Rath: Graf Spiegel möge den heiligen
Stuhl um Dispenſation bitten, er ſelber aber wolle im Namen des Königs
dies Geſuch unterſtützen und den Papſt zu einer Entſcheidung bewegen,
welche dem Staatsgeſetze den Gehorſam des Clerus ſichere. Die Biſchöfe
des Weſtens gingen gern auf dieſen Vorſchlag ein; ſie fühlten ſich alle
durch den Gegenſatz der weltlichen und der geiſtlichen Geſetzgebung ſchwer
bedrängt und hießen es hochwillkommen, wenn der Papſt zu einer Aus-
gleichung bewogen wurde, die nach kirchlicher Anſchauung nur von Rom
ausgehen konnte.*)
Alſo ward auf Bunſen’s Rath zum erſten Male ein gefahrvoller
Weg betreten, den man unter Hardenberg’s Regiment noch klug ver-
mieden hatte: die Krone verhandelte mit dem heiligen Stuhle über den
Umfang ihrer Hoheitsrechte, denn am Ende lief der Streit doch darauf
hinaus, ob das Geſetz des Staates gelten ſolle oder nicht. Auf ſolchem
Wege ließ ſich eine redliche Ausgleichung nimmer erreichen, obwohl die
Curie damals der empfangenen Wohlthaten noch eingedenk und der Krone
Preußen keineswegs feindlich geſinnt war. Die Verhandlungen zogen ſich in
die Länge, Papſt Leo XII. ſtarb darüber, und erſt als der König mit ſcharfen
Maßregeln gegen die widerſetzlichen rheiniſchen Prieſter drohte, erließ Leo’s
Nachfolger Pius VIII. am 25. März 1830 ein Breve an die Biſchöfe
der Kölner Erzdiöceſe, das von Bunſen als ein großer Sieg der preu-
ßiſchen Staatskunſt gefeiert wurde und dem hoffnungsvollen Unterhändler
daheim reiche Lobſprüche eintrug. In Wahrheit hatte die Curie in dieſem
ſeltſamen Aktenſtücke den ganzen Wortſchwall ihrer eintönigen Rhetorik auf-
geboten um über den eigentlichen Streitpunkt wenig oder nichts zu ſagen.
Der Papſt gewährte zwar den bisher abgeſchloſſenen gemiſchten Ehen ſeine
Verzeihung und geſtattete, ſolche unerlaubte Ehen auch in Zukunft als
giltig anzuſehen; doch er verbot zugleich den Prieſtern unbedingt, dieſe
von der Kirche verabſcheuten Verbindungen einzuſegnen, wenn nicht ge-
nügende Bürgſchaften für die katholiſche Erziehung der Kinder vorlägen.
Alsdann fügte er — erzählend, nicht befehlend — hinzu: bisher ſei an
einigen Orten des Rheinlands, in Jülich-Cleve-Berg, den Pfarrern ge-
ſtattet worden, bei der Abſchließung gemiſchter Ehen die ſogenannte paſſive
Aſſiſtenz zu leiſten. Ob dieſer mildere Brauch auch fernerhin gelten, ob
[416]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
er auch in den alten Krummſtabslanden der Erzdiöceſe eingeführt werden
dürfe, darüber gab das Breve keine Vorſchrift. Die ſchwierige Frage blieb
ungelöſt, und da ſie irgendwie gelöſt werden mußte, ſo ſtand ein verhängniß-
volles kirchenpolitiſches Zerwürfniß faſt unvermeidlich bevor. —
Altenſtein fuhr indeſſen fort, die katholiſche Kirche mit rückſichtsvoller
Schonung zu behandeln. Noch niemals hatte Preußens Krone das Recht
des Placet ſo nachſichtig gehandhabt. Die älteren noch an die geſtrenge
fridericianiſche Kirchenpolitik gewöhnten Beamten konnten ſich in dieſe Zart-
heit gar nicht finden. Als einer von Altenſtein’s oberſten Räthen, Becken-
dorff zur römiſchen Kirche übertrat, erhob ſich ſofort das Gerücht, der
Miniſter ſei in der Hand der Papiſten, und es verſtummte auch nicht als
der Convertit unverzüglich entlaſſen wurde. Schön, der überall clericale
Umtriebe witterte, wagte ſogar ſeinen alten Freund, den treuen Prote-
ſtanten Nicolovius zu beſchuldigen, auch er ſei insgeheim katholiſch ge-
worden, und erregte dadurch einen langen gehäſſigen Zwiſt, den der
König durch einen ſcharfen Verweis an den leidenſchaftlichen Oberpräſi-
denten beendigte.*)
Freilich kam das Wohlwollen des Miniſters zumeiſt den Biſchöfen
zu gute. Denn nach ſeiner territorialiſtiſchen Anſicht war der Staat ver-
pflichtet, jede Kirche nach dem Geiſte ihrer eigenen Verfaſſung zu regieren,
mithin die katholiſchen Prieſter ebenſo zum Gehorſam gegen ihre Biſchöfe
anzuhalten, wie die evangeliſchen Geiſtlichen zur Unterwerfung unter
die oberſtbiſchöfliche Gewalt des Königs. Und wie die proteſtantiſche
Geiſtlichkeit in dieſen Tagen des Agendeſtreites durch die nachdrücklichen
Vermahnungen des landesherrlichen Kirchenregiments bedrängt wurde,
ſo hatte auch der niedere Clerus der katholiſchen Kirche Schleſiens unter
dem Bevormundungseifer des Miniſters zu leiden. In Schleſien begann
ſich die ultramontane Partei mit Macht zu regen, ſeit der Fürſtbiſchof
Schimonsky, ein noch im alten Germanicum erzogener ſtrenger Clericaler,
den Hirtenſtab führte. Wie wurde der Breslauer Juriſt Regenbrecht miß-
handelt und angeſchwärzt, weil er in einer Diſſertation über den Urſprung
des Kirchenregiments den Satz erwies, daß Chriſtus der Kirche eine Form
für ihre Verfaſſung nicht vorgeſchrieben habe — eine Wahrheit, welche
der proteſtantiſchen Welt ſchon ſeit dreihundert Jahren geläufig war. Der
Mainzer Katholik und die geſammte clericale Preſſe riefen Wehe, und er-
ſchreckt durch dies Geſchrei meinte Gentz, es ſei unglaublich, was man der
preußiſchen Regierung auf ihren Kathedern heute Alles bieten dürfe. Selbſt
der ehrwürdige Domherr Dereſer, ein alter Kämpe des gemäßigten Katho-
licismus, galt ſchon für verdächtig, ſein weitverbreitetes Deutſches Brevier
[417]A. Theiner und der ſchleſiſche Clerus.
für ein Lehrbuch des Unglaubens; und er hatte doch einſt in [Straßburg]
während der Revolution ſeine prieſterliche Treue mit Gefahr ſeines Lebens
bewährt.
Welches Aufſehen vollends, als ein Schüler Dereſer’s, der junge
Theolog Anton Theiner alle die unklaren reformatoriſchen Gedanken,
welche im ſchleſiſchen Clerus ſeit Langem gährten, öffentlich auszuſprechen
wagte. In ſeiner Schrift über die katholiſche Kirche Schleſiens (1826)
kündigte Theiner den Ultramontanen, „die von Mainz aus das bleierne
Scepter der Superſtition über Deutſchland ſchwingen“, offene Fehde an;
er verlangte Aufhebung des Cölibats, Einführung der deutſchen Meſſe
und des Gemeindegeſanges und meinte harmlos, das Alles laſſe ſich er-
reichen ohne die Einheit der katholiſchen Kirche zu gefährden. Das phra-
ſenreiche, weder durch neue Gedanken noch durch religiöſen Ernſt ausge-
zeichnete Buch rief eine Unzahl von Streitſchriften hervor, die alleſammt
vorſichtig außerhalb des Machtbereiches der preußiſchen Cenſur erſchienen.
Um dieſelbe Zeit wurde dem württembergiſchen und dem badiſchen Land-
tage in mehreren Petitionen die Abſchaffung des Cölibats empfohlen, doch
weder die Landſtände noch die Regierungen wollten darauf eingehen, da
die Maſſe des katholiſchen Volkes der Bewegung fern blieb. Auch die
Schleſier verſuchten die Staatsgewalt für ihre Reformgedanken zu ge-
winnen; elf Geiſtliche und einige Grundbeſitzer baten den König um Beſſe-
rung der Kirchenzucht und des Cultus, vor Allem um die Zulaſſung der
Mutterſprache.
Der Fürſtbiſchof fuhr ſogleich mit Vermahnungen und Strafen da-
zwiſchen. Altenſtein aber ertheilte den Bittſtellern eine ſcharfe Zurecht-
weiſung, weil er die Disciplin in der Kirche aufrecht erhalten wollte und
nebenbei auch demagogiſche Umtriebe befürchtete. Erſt als der Oberprä-
ſident Merckel ſich der verfolgten Geiſtlichen annahm und Bunſen, dies-
mal mit Erfolg, als Vermittler auftrat, da erſt entſchloß ſich die Regie-
rung zu einem milderen Verfahren. Der König unterſagte dem Fürſt-
biſchof die verhängten Strafen zu vollſtrecken, aber auch der Oppoſition
legte der Miniſter Stillſchweigen auf, denn die Einführung deutſchen
Gottesdienſtes berühre das Allerheiligſte der Kirche, das Meßopfer, und
ſei demnach unzuläſſig ohne Genehmigung der kirchlichen Oberen. Alſo
ward der Friede nothdürftig hergeſtellt; jedoch das Feuer glimmte unter
der Aſche fort. Dieſe geringfügigen ſchleſiſchen Kirchenhändel ließen einen
Groll zurück, der zwanzig Jahre ſpäter, in der ungleich radikaleren deutſch-
katholiſchen Bewegung ſich entladen ſollte. Dem wohlmeinenden Miniſter
zürnten beide Parteien. Nicht ohne Grund; denn das erſtarkende kirch-
liche Selbſtgefühl konnte nicht mehr dulden, daß dieſer Cultusminiſter ſich
berechtigt hielt, bald evangeliſche Geiſtliche über den Geiſt der lutheriſchen
Agende, bald katholiſche Prieſter über das Meßopfer amtlich zu belehren.
Das alte Syſtem des landesherrlichen Kirchenregiments hatte ſich über-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 27
[418]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
lebt; unaufhaltſam nahte die Zeit, da beide Kirchen dieſe Vormundſchaft
des Staates von ſich weiſen mußten.
In der Leitung des Unterrichtsweſens war Altenſtein’s Hand ungleich
glücklicher als in der Kirchenpolitik. Zwar vermochte er nicht zu verhindern,
daß ſein alter Gegner Kamptz im Jahre 1821 als Director in das Cul-
tusminiſterium berufen wurde. Der gefürchtete Demagogenverfolger be-
nahm ſich indeß ganz anders als die erſchreckten Lehrer erwarteten; er
konnte den gelehrten Juriſten doch nicht verleugnen und behandelte die
Männer der Wiſſenſchaft ſo freundlich, daß die Berliner ſpotteten: nun
möge er nur ſich ſelber nach Köpenick zu den eingeſperrten Demagogen
verbannen. Mit Juſtizgeſchäften überhäuft behielt er auch nur wenig Zeit
übrig für die Arbeiten ſeines neuen Amtes. Drei Jahre darauf kam noch
einmal ein Augenblick ſchwerer Beſorgniß, als Fürſt Hatzfeldt in Berlin
erſchien und durch ſeine Einflüſterungen bei Hofe durchſetzte, daß Nico-
lovius, der als Freund Arndt’s verdächtig ſchien, fortan nur noch die
Kirchenſachen, nicht mehr das Schulweſen bearbeiten ſollte. Metternich
und ſein Anhang nannten den getreuen Fürſten einen moraliſchen Her-
cules und hofften ſchon, die Macht des demagogenfreundlichen Miniſters
ſei gänzlich gebrochen. Doch auch dieſer Schlag blieb ohne ernſtere Folgen.
Altenſtein und ſein Johannes Schulze behielten freie Hand und führten die
Unterrichtsverwaltung in dem alten Geiſte fort: etwas langſam zwar und
nicht ohne Aengſtlichkeit, aber mit Einſicht und Güte. Eine harte Cabi-
netsordre vom Jahre 1822, welche die Abſetzung verdächtiger Lehrer und
Geiſtlichen beſchleunigen ſollte, wurde ſehr milde ausgeführt. Ueber die
politiſchen Umtriebe auf den Gymnaſien mußten die Oberpräſidenten mehr-
mals Bericht erſtatten, und ſie meldeten übereinſtimmend, daß gar kein
Anlaß zu Beſorgniſſen vorliege.*) Die im Jahre 1819 eingeleiteten Unter-
ſuchungen währten freilich fort, und auch ſpäterhin griff die Demagogen-
verfolgung ſich dann und wann noch ein Opfer aus den Reihen der
Lehrer heraus; aber Altenſtein erreichte, daß die Freiheit des Lehrſtuhls im
Weſentlichen ungeſtört blieb und die geſunde Entwicklung der Unterrichts-
anſtalten auch in dieſen Jahren des trüben Mißtrauens anhielt. —
Mittlerweile war die neue Verwaltungsorganiſation endgiltig ſicher
geſtellt worden. Noch einmal hatte der König, bald nach Hardenberg’s
Tode, eine Commiſſion einberufen, um einen Plan für die Vereinfachung
der Verwaltung, ſo weit ſie nur irgend möglich ſei, auszuarbeiten;**)
[419]Vereinfachung der Verwaltung.
natürlich durfte Ladenberg, der unerbittliche Sparer, dabei nicht fehlen.
Und noch einmal drängte ſich ein Gewirr von Reformvorſchlägen an den
Thron. Die altſtändiſche Partei und mehrere der Oberpräſidenten kamen
wieder auf ihren alten Lieblingsplan, auf die Provinzialminiſter zurück,
weil oder obgleich der greiſe Staatskanzler noch kurz vor ſeinem Tode drin-
gend vor dieſer Verſtärkung des Particularismus gewarnt hatte.*) Von
den Rheinländern und einzelnen ſtrammen Bureaukraten ward die Ein-
führung des Präfekturſyſtems empfohlen, und der unglückliche Vorſchlag
gewann einmal ſogar auf kurze Zeit die Mehrheit im Miniſterrathe, weil
man um jeden Preis ſparen wollte. Die Frage, wie die Einheit des Staats-
willens neben der freien Bewegung der Theile beſtehen ſolle, ſchien in
den verwickelten Verhältniſſen Preußens ſo ſchwierig, daß ſelbſt erfahrene
und einſichtige Staatsmänner in ihrem Urtheil ſchwankten. Motz, der
neue Oberpräſident von Sachſen, wollte den Schwerpunkt der Verwaltung
in die Provinzialinſtanz verlegen und an die Spitze jeder Provinz ein
großes Regierungscollegium ſtellen, das nur ausführende, abhängige Mit-
telbehörden unter ſich hätte.**) Er erkannte jedoch bald, daß die Größe der
preußiſchen Provinzen dieſen geiſtreichen Gedanken unausführbar machte,
und ſchlug nunmehr vor, die Oberpräſidenten ſollten drei Monate im
Jahre zu Berlin leben, um die Bezirksregierungen mit der Centralver-
waltung im Einklang zu erhalten; ſo ließen ſich die Vorzüge der Fach-
miniſterien mit denen der Provinzialminiſter vereinigen.***)
Alle dieſe Vorſchläge wurden verworfen. Die Wiedereinführung der
Provinzialminiſter erſchien jetzt, nach der Errichtung der Provinzialſtände,
ſchlechthin gefährlich für die Staatseinheit. Die Härte des Präfekturſyſtems
aber war dem Könige von Haus aus widerwärtig, und wie er dachte das
Volk in den alten Provinzen; hier war die altgewohnte collegialiſche Verwal-
tung der Regierungen ſehr tief eingewurzelt, außer den Landräthen konnten
Einzelbeamte hier niemals auf das öffentliche Vertrauen zählen. Auf den
Vorſchlag der Commiſſion befahl der König am 31. Auguſt 1824, daß die
neue Verwaltungsordnung im Weſentlichen unverändert bleiben ſollte;†)
nur die Oberpräſidenten erhielten durch eine neue Inſtruction (31. Dec.)
abermals erweiterte Befugniſſe. Im Einzelnen dagegen wurde rückſichts-
los und nicht ohne Härte aufgeräumt. Die Oberpräſidenten hatten fort-
an neben ihrem Amte auch den Vorſitz in dem Regierungscollegium der
Provinzialhauptſtadt zu führen; die Stellen der Vicepräſidenten und der
27*
[420]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Direktoren in den Regierungen fielen hinweg, desgleichen eine lange Reihe
niederer Aemter. Friedr. Schöll und einige Andere von Hardenberg’s zweifel-
haften Freunden mußten noch für allerhand Verſprechungen ihres alten
Gönners wohl oder übel entſchädigt werden.*) Doch nachdem dies letzte
Vermächtniß des leichtſinnigen Kanzlers berichtigt war, herrſchte in allen
Zweigen des Staatsdienſtes eine ſpartaniſche Einfachheit, faſt ſo ſtreng
wie zur Zeit Friedrich Wilhelm’s I. Knapp waren die Gehalte, kahl
und ärmlich die Amtsräume; manche der neuen Staatsbauten — ſo das
Haus des Arnsberger Oberlandsgerichts — ſahen einer Scheune ähn-
licher als einem Palaſte; nur für die Dienſtgebäude der Hauptſtadt konnte
Schinkel zuweilen eine anſpruchsloſe künſtleriſche Ausſchmückung erlangen.
Es war der Stolz des preußiſchen Beamten, daß keine andere Großmacht
die wirthſchaftlichen Kräfte ihres Volkes ſo haushälteriſch ſchonte; ſeine
Standesehre gebot ihm, der Krone jede irgend vermeidbare Ausgabe zu
erſparen. Als Eichhorn durch die langwierige Kriegskoſten-Abrechnung
mit Frankreich dem Staate Millionen gerettet hatte, wollte er eine ſehr
beſcheidene Gratification, die ihm der König zuwies, ſchlechterdings nicht an-
nehmen; erſt nach Jahren gab er nach, weil der Monarch darauf beſtand.**)
So ging die neue Verwaltungsordnung aus langem Streite ſiegreich
hervor, und fortan blieb ſie durch viele Jahre faſt unangefochten, weil
ſich ihre wohlthätige Wirkſamkeit nicht mehr verkennen ließ. Wohl klagte
man über ihre ſchwerfälligen, verwickelten Formen: kam es doch zuweilen
vor, daß eine Verwaltungsſache fünf Inſtanzen, von der Gemeinde zum
Landrath, zur Regierung, zum Oberpräſidenten, endlich zum Miniſter
durchlaufen mußte. Doch ſelbſt dieſer Mißſtand ward ertragen, denn die
Häufung der Inſtanzen bot gegen Willkür und Parteilichkeit eine ſichere
Gewähr. Der König aber hatte auch diesmal, wie ſo oft gegenüber den
Forderungen der Provinzialſtände, ſeiner monarchiſchen Pflicht getreu die
Continuität des Rechts gewahrt, die großen Errungenſchaften der Stein-
Hardenbergiſchen Epoche gerettet. Niemand war froher darüber als Stäge-
mann, der Veteran aus Stein’s Tagen, der jetzt als Lottum’s nächſter
Untergebener alle wichtigeren Cabinetsordres zu entwerfen hatte.
Nachdem die Entſcheidung gefallen war, verſuchte Schön noch ein-
mal dem Könige die Ernennung von acht Provinzialminiſtern neben ſechs
Fachminiſtern zu empfehlen. Der Verſuch blieb erfolglos. W. Hum-
boldt aber wurde dadurch veranlaßt, in einer meiſterhaften Abhandlung
(vom 1. Februar 1825) die Einheit der Verwaltung ebenſo ſchlagend zu
rechtfertigen, wie er vormals in ſeiner Denkſchrift über die Provinzial-
ſtände die Einheit der Verfaſſung vertheidigt hatte. „Grade die höchſte
Verantwortlichkeit — ſo erwiderte er dem Vorkämpfer des Provinzialſyſtems
[421]Die Landwehr.
— iſt bei dieſem Syſtem gelähmt. Die politiſche Einheit des Staates
iſt ganz etwas anderes als der Complexus aller ſeiner Theile. Daraus
folgt, was ich für den erſten aller Verwaltungsgrundſätze anſehe, daß die
Verwaltung von ihrem höchſten Punkt bis zum unterſten eine ununter-
brochene Reihe bilden und die oberſte Hand noch in dem unterſten Druck
fühlbar ſein muß. Wo das nicht iſt kann man weder für die Güte der
Normen noch für die der Ausführung ſtehen. Der politiſche Ausdruck
der Einheit aber iſt die Subordination; wo in einer Reihe Coordination
eintritt, da ſind zwei und nicht mehr eins.“*) —
Ebenſo glücklich wie die neue Verwaltungsorganiſation beſtand auch
das Wehrgeſetz alle Anfechtungen. Seit den Soldatenrevolutionen Süd-
europas betrachteten die fremden Höfe das preußiſche Volksheer noch arg-
wöhniſcher denn zuvor. So oft der König mit fremden Souveränen zu-
ſammentraf, bekam er freundſchaftliche Warnungen zu hören. Wenn
fremde Offiziere den preußiſchen Manövern beiwohnten, dann zeigten ſie
ſelten ein Verſtändniß für den kriegeriſchen Geiſt dieſes Volks in Waffen,
und manche erzählten daheim arge Märchen von der demokratiſchen Zucht-
loſigkeit der Landwehr. Im Lande ſelbſt dagegen verſtummte allmählich
jeder Widerſpruch; der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war dem
Volke in Fleiſch und Blut gedrungen. Der König gab um das Jahr
1824 ſeine letzten Bedenken auf, nachdem er ſich mehrmals perſönlich von
den achtungswerthen Leiſtungen der Landwehr überzeugt hatte; und ſeine
Generale ſtimmten nach und nach alle darin überein, daß der Staat nur
durch das Landwehrſyſtem ſeine Stellung unter den großen Militärmächten
behaupten könne. Kaum minder lebhaft als Gneiſenau vertheidigte ſein
alter Gegner Müffling die Ideen Scharnhorſt’s. Fragen Sie England,
Frankreich, Oeſterreich, Rußland, ob man uns bezwingen wolle — ſchrieb
er dem Prinzen Auguſt — ſo werden ſie antworten: „daß ein Krieg mit
uns ein höchſt gewagtes Spiel iſt, weil wir nichts anderes mehr führen
können als Nationalkriege. Freilich mag es den Herren unbequem ſein
ſich ſagen zu müſſen, das kleine unbedeutende Preußen wäre ſo leicht zu
bewehren. Von dem Tage, an welchem wir unſer Landwehrſyſtem in
ein Beurlaubtenſyſtem umwandeln ſollten, ſinkt der preußiſche Staat in
die Kategorie jedes anderen Staates herab, der 50 Mill. Thlr. Ein-
nahmen hat, während er jetzt auf einer ganz unberechenbaren Höhe ſteht,
da keine von allen uns umgebenden Nationen fähig iſt, das Landwehr-
ſyſtem in ſeinem ganzen moraliſchen Umfange einzuführen.“**)
[422]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Aber wie unfertig war dies Syſtem noch in ſeiner Durchbildung,
wie weit ſtand die Wirklichkeit hinter dem Ideale der allgemeinen Wehr-
pflicht zurück. Der enge Rahmen des ſtehenden Heeres reichte kaum aus
um die Hälfte der Dienſtfähigen aufzunehmen. Auch der Nothbehelf der
Landwehr-Rekruten bewährte ſich ſchlecht; dieſe mangelhaft ausgebildeten
Krümper paßten am wenigſten zu den altgedienten Wehrmännern. Da
der unüberſchreitbare Ausgabenetat ſchlechterdings keine Vermehrung der
Linientruppen geſtattete, ſo ſchien nur noch ein Mittel übrig, um mindeſtens
die Mehrzahl der Wehrpflichtigen durch die Schule des ſtehenden Heeres
gehen zu laſſen: die Herabſetzung der Dienſtzeit auf zwei Jahre. Dieſen
Ausweg empfahlen Müffling und mehrere andere Generale, der König
aber trug Bedenken, die ohnehin allzu ſchwache Linienarmee auch noch in
ihrer techniſchen Ausbildung zu ſchädigen. Die falſche Sparſamkeit des
Kriegsminiſters Hake, der den dringenden Mahnungen der Finanzver-
waltung nie zu widerſprechen wagte, wurde bereits zur Verſchwendung, da
die Ausgaben für das Heer ihren Zweck nicht mehr ganz erreichten. Die
Kriegstüchtigkeit der Landwehr ſank, ſeit das zweite Aufgebot gar nicht
mehr, das erſte nur noch einmal jährlich auf vierzehn Tage zu Uebungen
einberufen wurde. Für die ſchleunige Mobilmachung des Heeres war nur
mangelhaft vorgeſorgt; der Generalſtab, der im Kriege 100 Offiziere brauchte,
mußte ſich im Frieden mit 44 begnügen, wovon 26 an die Armeecorps
vertheilt waren. Mit Sorge berechneten die Generale, daß Preußen bei
plötzlich einbrechender Kriegsgefahr ſeine Rüſtungen zwar vielleicht etwas
ſchneller als die Nachbarſtaaten beenden könne, aber nicht ſchnell genug
um mit Sicherheit die Offenſive zu ergreifen, welche dem Charakter und
den Ueberlieferungen dieſes Heeres entſprach.
Auch die preußiſche Armee blieb nicht unberührt von der Erſtarrung,
welche in dieſer langen Friedenszeit alle großen Heere Europas, am ärgſten
das öſterreichiſche, überfiel. Das Avancement ſtockte gänzlich, Leutnants mit
zwanzig Dienſtjahren waren ſchon nicht ſelten; kein Regiment, das nicht
einige überzählige Offiziere in den Liſten führte. Die Formen des Dienſtes,
die ſich während des Krieges etwas aufgelockert hatten, wurden wieder
mit altpreußiſcher Peinlichkeit gehandhabt, denn der König erkannte, daß
bei ſo kurzer Dienſtzeit die Mannſchaft nur durch unnachſichtliche Strenge
militäriſch erzogen werden konnte; aber auch die unfruchtbaren Künſte des
Exercirplatzes erlangten wieder eine übermäßige Geltung. Bei vielen In-
fanterieregimentern wurde auf Lehrſchritt und Parademarſch mehr Werth
gelegt, als auf Felddienſt und Schießübungen. Mancher General der
Cavallerie meinte das Höchſte gelungen, wenn er ſeine Schwadronen in
ſchnurgerader Front — die Pferde ſcharf gezäumt, ſtark verſammelt und
mit hoch aufgerichteten Hälſen — in feierlichem kurzem Galopp oder Trab
defiliren ſah; die wichtigſte Aufgabe der Reiterei, das raſche Durchmeſſen
weiter Entfernungen, fand wenig Beachtung. Selbſt die Allgemeine Kriegs-
[423]Der Generalſtab.
ſchule in Berlin leiſtete in dieſen müden Jahren nur Mittelmäßiges, ob-
gleich der geniale Clauſewitz an ihrer Spitze ſtand. Auch jener leidige
Standesübermuth, der in den Zeiten vor 1806 ſo viel Unfrieden ange-
ſtiftet, regte ſich zuweilen wieder. Als Leutnant Blücher, ein Enkel des
Feldmarſchalls, bei einem nächtlichen Liebesabenteuer den Schauſpieler
Stich niedergeſtochen hatte, hielt der König ſelbſt für nöthig ſeine Offiziere
zu warnen. „Ich will nicht, ſchrieb er dem Kriegsminiſter, daß die Offiziere
meiner Armee die Aufrechterhaltung der Würde ihres Standes in der
blutigen Erwiderung ſelbſtverſchuldeter Beleidigungen ſuchen, ſondern ich
fordere von ihnen, daß ſie dieſelbe durch ein verſtändiges und ſittliches
Betragen und durch Unterlaſſung von Handlungen bewahren, die nach
den Geſetzen der Moral und der Ehre gleich verwerflich ſind.“*)
Bei Alledem blieb der Kern des Heeres geſund, der Vorrath an
militäriſchen Talenten unerſchöpflich. So ſchneidige Reiterführer wie General
Wrangel ließen, dem Reglement zum Trotz, den friſchen wagenden Reiter-
geiſt nicht untergehen, und für den Fall des Krieges blickte das Heer zu-
verſichtlich auf zwei Männer, die ihm als ſeine Feldherren galten: auf
Gneiſenau, den neu ernannten Feldmarſchall, und auf Grolman, der
ſechs Jahre nach ſeiner Entlaſſung wieder in die Linie eingetreten war,
nachdem Prinz Auguſt und Witzleben den Unwillen des Königs endlich
beſchwichtigt hatten. Unterdeſſen währte die rüſtige Thätigkeit, welche
Grolman einſt im Generalſtabe erweckt hatte, auch unter ſeinem Nach-
folger General Müffling fort. Der neue Chef unternahm alljährlich
Uebungsreiſen mit ſeinen Offizieren und veranſtaltete umfaſſende kriegs-
geſchichtliche Forſchungen, als deren erſte Frucht die Geſchichte des ſieben-
jährigen Krieges erſchien, eine, ſoweit die dürftigen Quellen reichten,
gründliche und unparteiiſche Arbeit, die Vorläuferin reiferer Werke. Im
Jahre 1821 wurde der Generalſtab vom Kriegsminiſterium abgetrennt und
als ſelbſtändige Behörde dem Könige unmittelbar untergeordnet. Tech-
niſche Gründe veranlaßten dieſe Reform, und Niemand ahnte, wie tief ſie
dereinſt auf die Verfaſſung des Staates einwirken ſollte: durch ſie ward
es möglich, daß der König von Preußen auch als conſtitutioneller Herr-
ſcher der freie Kriegsherr ſeiner Truppen bleiben und ſein monarchiſches
Heer vor den Schwankungen des parlamentariſchen Parteikampfes behüten
konnte. —
Trotz der allgemeinen Wehrpflicht, trotz der Städteordnung und der
Provinzialſtände blieb Preußen noch immer weſentlich ein Staat des Be-
amtenthums. Ungeheuer war die Macht dieſes politiſchen Standes; mit
Einſchluß der Offiziere, der Lehrer und der Geiſtlichen, die nach dem Land-
rechte noch zu den Beamten gerechnet wurden, umfaßte er nahezu Alles,
was die Nation an feinerer Bildung beſaß, und ergänzte ſich beſtändig
[424]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
durch den Zudrang friſcher Kräfte aus allen Schichten der Geſellſchaft.
Durch das Beamtenthum erfuhr die Krone was im Volke vorging und
das Volk was Rechtens war; denn von dem öffentlichen Rechte des Landes,
ſelbſt von ſolchen Geſetzen, welche Jeden unmittelbar angingen, beſaß die
Maſſe noch gar keine Kenntniß, ſie befolgte was die Behörden anordneten
und beruhigte ſich bei dem kindlichen Glauben, der auch ſelten getäuſcht
wurde, daß im königlichen Dienſte Alles mit rechten Dingen zugehe.
Mit gutem Grunde ſagte man in den Beamtenkreiſen: in Preußen
macht der Staatsdienſt faſt die Verfaſſung ſelber aus. Im Staatsdienſt
allein konnte der Ehrgeiz des politiſchen Talents ſeine Thatkraft erproben;
ſehr ſelten fand ſich in den höheren Ständen ein guter Kopf, der nicht
einmal auf längere oder kürzere Zeit ein Staatsamt bekleidet hätte. Durch
Rechtſchaffenheit, Pflichttreue, gründliche Bildung übertraf der preußiſche
Beamtenſtand in dieſer ſeiner klaſſiſchen Epoche jede andere regierende
Klaſſe in Europa. Selber ohne wirthſchaftliche Klaſſenſelbſtſucht, vermochte
er, wie das Königthum, dem er diente, die Intereſſenkämpfe der bürger-
lichen Geſellſchaft gerecht und unbefangen zu betrachten. Aber er ſtand
dem Leben zu fern, er gewann in der Stille ſeiner Amtsſtuben nur ſelten
ein vollſtändiges Bild von den Wünſchen und Bedürfniſſen des arbeiten-
den Volks, er vergeudete viel gute Kraft in formenſeliger Papierthätigkeit
und trug ein Selbſtgefühl zur Schau, das den Deutſchen draußen im
Reich ein Gräuel war. Wenn die ſteifen, ſparſamen Berliner Geheimen
Räthe im Sommer nach Karlsbad oder Ems kamen, um ſich von den
Plagen des arbeitsreichen Winters zu erholen, dann ärgerte ſich der ge-
müthliche ſüddeutſche Badegaſt an dem ſcharf abſprechenden Weſen der
geſtrengen Herren um ſo gründlicher, da er ihnen die geiſtige Ueberlegen-
heit ſelten beſtreiten konnte. Der Stolz der Beamten ſtand niemals höher
als in dieſen Tagen, da ihr Staat in der großen Politik eine ſo beſcheidene
Rolle ſpielte, und vertrug ſich ſehr wohl mit dem altpreußiſchen Erbfehler
der Tadelſucht.
Ganz unleidlich erklang das Selbſtlob der Bureaukratie in der Schrift
des Regierungsraths Wehnert über den Geiſt der preußiſchen Staatsorga-
niſation. Mit dem unfehlbaren Dünkel eines Standes, „der wiſſenſchaft-
liche Cultur und Erfahrung des Geſchäftslebens“ in ſich vereinigte, ſah
der geſcheidte und wohlmeinende Beamte hernieder auf „die öde Pedanterie
und die gewagte Speculation einſeitiger Gelehrten.“ Er erklärte das Be-
amtenthum für „die eigentliche ideelle Kraft des Volksgeiſtes“ und ver-
ſicherte herablaſſend: „der Widerſtreit der Verfaſſungsformen, der heute
die Welt erſchüttert, geht an Preußen vorüber“: erſt wenn die Provinzial-
ſtände in ihrem beſcheidenen Wirkungskreiſe die nöthige Reife erlangt
hätten, wollte er dereinſt einmal die Reichsſtände berufen ſehen. So wenig
ahnte man in dieſen Beamtenkreiſen von der revolutionären Macht der
conſtitutionellen Ideen.
[425]Die Blüthezeit der Bureaukratie.
Ein mächtiger Bundesgenoſſe erſtand der bureaukratiſchen Selbſtge-
nügſamkeit in der Staatslehre der herrſchenden Piloſophenſchule. Faſt
noch überſchwänglicher als die Beamten ſelbſt pries Hegel den Staat der
Intelligenz. Er fand in dem preußiſchen Beamtenthum das alte Ideal
der Philoſophen, die Herrſchaft der Wiſſenden verwirklicht, und nach
Schülerart des Meiſters Gedanken übertreibend, erwies der Juriſt Sietze
in den tollen Dithyramben ſeiner preußiſchen Staats- und Rechtsgeſchichte
(1829) geradezu die begriffsmäßige Vollkommenheit der preußiſchen Ver-
faſſung. Da war Preußen „eine Rieſenharfe, ausgeſpannt im Garten
Gottes um den Weltchoral zu leiten“, das preußiſche Recht die Frucht
des Selbſtbewußtſeins von Europa, die Verkörperung des göttlichen Wortes;
zum Schluß die Weiſſagung: „Preußen wird alle Völker beherrſchen,
nicht durch Ketten, aber durch ſeinen Geiſt.“ So wunderliche Verirrungen
trieb das Stillleben dieſes literariſchen Zeitalters hervor: der rüſtige Staat,
der durch den Schrecken ſeiner ſiegreichen Waffen als Störenfried der
alten Staatengeſellſchaft emporgekommen war, ſollte als weltbürgerlicher
Schulmeiſter ſeine Tage friedlich beſchließen! Dieſe harmloſe Anſicht von
Preußens hiſtoriſchem Berufe begann auch im Auslande bereits Anklang
zu finden. Die liberalen Redner der franzöſiſchen Kammer pflegten den
preußiſchen Staat, obgleich er ihnen ſonſt kaum der Beachtung werth
ſchien, als das Muſterland ernſter wiſſenſchaftlicher Bildung zu feiern.
Royer Collard geſtand: „Ihr habt die Freiheit des Unterrichts, wir
die Freiheit der Preſſe,“ und V. Couſin, den die Thorheit der Dema-
gogenverfolger eine Zeit lang in Berlin feſtgehalten hatte, hielt nach der
Heimkehr, der erlittenen Unbill hochherzig vergeſſend, begeiſterte Vorträge
über die Wunder der Hegel’ſchen Philoſophie und des preußiſchen Schul-
weſens. —
Die Preußen blickten mit Stolz auf ihren Staat und ſtimmten aus
vollem Herzen ein, als Spontini’s mächtige Hymne Boruſſia zuerſt auf dem
Halliſchen Muſikfeſte 1829 erklang. Und doch hatte dieſe Nation ſchon
längſt das Alter erreicht, das der Kämpfe eines freien öffentlichen Lebens
bedarf, um ſeine Cultur geſund zu erhalten. Die gerühmte Bildung des
Staates der Intelligenz zeigte der ſchwächlichen, krankhaften Züge genug.
Welch einen ſeltſamen Anblick boten doch die Zuſtände der Hauptſtadt mit
ihrer Fülle edler geiſtiger Kräfte und ihrem abgeſchmackten, kindiſch un-
reifen Philiſterthum. Selbſt nach deutſchen Begriffen war Berlin, obwohl
der Verkehr beſtändig wuchs, noch immer eine arme Stadt. Eine Spiegel-
ſcheibe in einem Fenſter des königlichen Palaſtes, ein Geſchenk des ruſſiſchen
Kaiſers, war die einzige in der Reſidenz und wurde ebenſo andächtig be-
wundert wie das neue Muſchelgrotten-Zimmer in Fuchs’ Conditorei unter
den Linden oder die überaus beſcheidenen Gaslaternen, die ſeit 1826 in
den Hauptſtraßen leuchteten. Von dem ſocialen Unfrieden der Groß-
ſtädte blieben dieſe fleißigen Hunderttauſende noch ganz verſchont; denn
[426]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
den rohen Soldatenpöbel der alten Zeit hatte die allgemeine Wehrpflicht
hinausgefegt, und das Proletariat der Fabriken war erſt im Werden.
Um die Kämpfe des Völkerlebens bekümmerte ſich nur ein kleiner
Kreis von Beamten und Gelehrten; der echte Berliner betrachtete den politi-
ſchen Stumpfſinn geradezu als einen Vorzug ſeiner „intellectuellen Bildung“
und ſpottete mit jener ſelbſtgenügſamen Ironie, die an der Spree für
geiſtreich galt, über die politiſche Leidenſchaftlichkeit anderer Nationen. Die
Cenſoren hatten gute Tage, da die drei einzigen politiſchen Blätter mit
einander um den Preis ſaftloſer Langweiligkeit wetteiferten; nur die Staats-
zeitung brachte zuweilen einmal einen gründlichen Artikel über die Elb-
ſchifffahrt oder die Klaſſenſteuer aus der Feder eines Geheimen Raths.
Der Beſprechung preußiſcher Zuſtände ging das Leibblatt des Bürgers,
die Voſſiſche ebenſo ſorgſam aus dem Wege wie die etwas vornehmere
Spener’ſche Zeitung. Als beim Einzuge der Braut des Kronprinzen an
zwanzig Menſchen im Gedränge umgekommen waren, wagte kein Berliner
Blatt auch nur der Thatſache zu gedenken, denn wie leicht konnte ſich
die Polizeibehörde dadurch beleidigt fühlen. Nur die Lokal-Satire, die
überall im deutſchen Stillleben blühte, und der Theaterklatſch erregten
die Theilnahme der großſtädtiſchen Leſerwelt; und wie kläglich war ſelbſt
dieſe belletriſtiſche Plauderei in der Berliner Preſſe vertreten. Weder der
Herausgeber des „Geſellſchafters“ F. W. Gubitz, ein kreuzbraver Mann,
der in einem langen Schriftſtellerleben niemals einen einfachen, fehler-
freien deutſchen Satz fertig brachte, noch der ſchreibſelige Ludwig Rellſtab,
der gefürchtete aber gänzlich harmloſe Feuilletoniſt der Voſſiſchen Zeitung,
konnte ſich mit den Kritikern des Stuttgarter Morgenblattes irgend ver-
gleichen.
Einige Jahre lang trieb auch Saphir in Berlin ſein Weſen, ein
ungariſcher Jude ohne Geiſt, ohne Geſchmack, ſogar ohne die gewöhn-
lichſten Schulkenntniſſe, aber von unverwüſtlicher Frechheit, ein Meiſter
in der Verfertigung jener faulen Wortwitze, welche nicht zufällig den
Namen Kalauer erhalten haben, da der Märker allein unter allen Ger-
manen ſie genießbar findet. Mit Saphir zog die geſchäftliche, allein auf
Geldgewinn berechnete journaliſtiſche Betriebſamkeit, die in England und
Frankreich längſt heimiſch war, zuerſt in Berlin ein. In zwei Zeitſchriften
zugleich, dem Curier und der Schnellpoſt witzelte er über „Theater, Mode,
Eleganz und Lokalität“ der Hauptſtadt, faſt noch geiſtloſer als unſere
heutigen Witzblätter, und buhlte mit allen Mitteln der Marktſchreierei um
die Gunſt „ſeiner lieben, goldenen Pränumeranten.“ Da er vor dem könig-
lichen Hauſe und den Behörden in tiefſter Unterthänigkeit erſtarb, ſo er-
laubte ihm die Cenſur nach Belieben gegen Dichter und Künſtler, Sänger
und Schauſpieler ſeine Klopffechterkünſte zu treiben. Das Publicum aber
ließ ſich von ihm Alles bieten, ſogar dieſe Verſe: „Die Dichtkunſt weibiſch
iſt, das wißt Ihr. Drum Poe-ſie ſie heißt, nicht Poe-er.“ Er war der
[427]Die Berliner Theater.
Held des Tages, das Bild des häßlichen Mannes mit der goldgelockten
Perücke hing in allen Schaufenſtern; eine reiche Literatur von Flug-
ſchriften bekämpfte oder vergötterte ihn, bis er ſich endlich durch das Ueber-
maß ſeiner Händelſucht doch unmöglich machte. Die Luſt an lärmendem
Streite, die jeder großſtädtiſchen Bevölkerung im Blute liegt, konnte ſich
nur in ſolchem Gezänk entladen.
Im Theater drückte die Polizei ein Auge zu und ließ es geſchehen,
daß mißliebige Schauſpieler auf der Bühne zu feierlicher Abbitte vor dem
ſouveränen Volke genöthigt wurden; Männer wie Callot Hoffmann trugen
kein Bedenken, perſönlich ſolche Volksgerichte zu leiten. Leidenſchaftlich, als
gälte es einen Kampf um die politiſche Macht, ergriffen die Berliner Partei
für und wider, als das Königſtädtiſche Theater eröffnet wurde. Begeiſterte
Romantiker hofften ſchon, Berlin werde nun endlich eine Volksbühne er-
halten und die deutſche Kunſt aus dem Vagabundenthum der alten Ko-
mödiantenbuden friſche Kraft ſchöpfen. An Karl v. Holtei, dem Impro-
viſator auf dem Papier, wie Goethe ihn nannte, beſaß die neue Bühne
einen liebenswürdigen, leichtlebigen Poeten, der mit ſeiner munteren ſchle-
ſiſchen Natürlichkeit auf die Berliner Ueberbildung wohlthätig einwirken
konnte. Aber die bureaukratiſche Leitung der königlichen Schauſpiele wollte
ſich nicht entſchließen, die leichte Waare der Poſſen und Singſpiele dem
Volkstheater zu überlaſſen. So begann ein gehäſſiger Wettbewerb, der
beide Bühnen herunterbrachte. Der Skandal ward vollſtändig, als die
ſchönſte aller deutſchen Sängerinnen, Henriette Sontag in der Königſtadt
die Bretter betrat. Die ganze Stadt gerieth in Bewegung; die Neider
und die Verehrer der ſchönen Henriette befehdeten einander in Zeitungs-
artikeln und Libellen, ſogar in Proceſſen vor dem Kammergerichte; Hegel
ſelbſt ſtieg aus dem reinen Aether der Idee hernieder um ſeinen philo-
ſophiſchen Unwillen über die Schwänke der Königſtadt kräftig zu bekunden,
und die Buben auf den Gaſſen pfiffen ein neues Volkslied „Lott’ iſt todt“,
das mit einem geiſtvollen Scherze über die Spitzenkleider der Demoiſelle
Sontag und ihren hoffnungsloſen Anbeter, den engliſchen Geſandten Lord
Clanwilliam endigte.
Zugleich wogte auf der königlichen Bühne ſelbſt ein unabläſſiger
Kampf zwiſchen der Generalintendanz und dem Muſikdirektor Spontini;
Graf Brühl erlag ſchließlich dem ewigen Aerger, aber auch ſein Nach-
folger, der kunſtſinnige junge Graf Redern konnte trotz ſeiner höfiſchen
Feinheit dem Streite mit dem herrſchſüchtigen Italiener nicht ausweichen.
Mehr als zwanzig Jahre lang behauptete ſich der Muſiker des napole-
oniſchen Cäſarenruhms in der Hauptſtadt des Volkes, das den entſchei-
denden Schlag gegen den Bonapartismus geführt hatte, in einer Welt
von Feinden, allein gehalten durch die Gunſt des Königs und die Meiſter-
ſchaft eines unbeſtreitbaren Talents. Wenn der hohe hagere Mann, mit
Edelſteinen und Spitzenmanſchetten pomphaft angethan, die Blitze ſeiner
[428]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſchwarzen Augen über das Orcheſter gleiten ließ, dann empfanden Alle,
daß ein Zug napoleoniſcher Herrſcherkraft in der brütenden Wildheit dieſes
leidenſchaftlichen gelben Geſichtes lag, und mit tadelloſer Sicherheit folgte
die Kapelle jeder Regung ſeines Taktſtocks. Er fühlte ſich ſtolz als letzter
claſſiſcher Vertreter jener alten Prachtoper der Romanen, deren große
Zeit nun zu Ende ging. Brachte ihm ein junger Anfänger ein ſchwäch-
liches Muſikſtück, dann führte er den Unglücklichen ans Fenſter, zeigte
hinüber nach der majeſtätiſchen Kuppel der franzöſiſchen Kirche und ſagte
erhaben: mon ami, il vous faut des idées grandes comme cette
coupole! Doch unmöglich konnte dieſer ſtolze Fremdling einer Nation ge-
nügen, die ſich in der Muſik längſt ihre eigenen Ideale geſchaffen hatte.
Mit patriotiſcher Entrüſtung ſtürzte ſich die Preſſe auf ihn, obgleich er unbe-
denklich Polizei und Cenſur, zuweilen ſogar ein Machtwort des Königs
ſelber zu Hilfe rief. Die Jugend verlangte nach nationaler Kunſt, ſie
wollte ihren Liebling C. M. v. Weber auf dem Stuhle des Kapellmeiſters
ſehen. Als der junge Felix Mendelsſohn-Bartholdy in dem neuen ſchönen
Saale, den der König der Singakademie geſchenkt hatte, Bach’s Matthäus-
Paſſion aufführte, da hätte der Maeſtro wohl lernen können, daß dieſe
weihevollen vaterländiſchen Klänge die deutſchen Herzen doch ganz anders
ergriffen als die Trommelwirbel ſeines Cortez; aber was kümmerten ihn
dieſe nordiſchen Barbaren, deren Sprache er niemals recht lernte? —
Wie kleinlich erſchien dies leichte Geplänkel neben den ernſten Kämpfen,
welche das wiſſenſchaftliche Leben Berlins bewegten. Die junge Univer-
ſität war jetzt wirklich, wie W. Humboldt einſt gehofft, die erſte Deutſch-
lands; ſie hatte Fichte, Niebuhr, K. F. Eichhorn verloren, aber Bopp, Ritter,
Ranke und viele andere glänzende junge Talente gewonnen; die ſchöpfe-
riſchen Gedanken, welche in der Theologie, der Rechtswiſſenſchaft und auf
dem weiten Gebiete der hiſtoriſch-philoſophiſchen Forſchung neue Bahnen
brachen, gingen großentheils von Berlin aus. Und nun ſchlug auch die
Hegel’ſche Philoſophie an der Spree ihr Lager auf, das letzte der großen
philoſophiſchen Syſteme, welche wirklich gelebt und die Nation beherrſcht
haben. Im Bewußtſein eines welthiſtoriſchen Berufs hatte Hegel (1818) ſein
preußiſches Amt angetreten: „Auf der Univerſität des Mittelpunkts muß
auch der Mittelpunkt der Wiſſenſchaft, die Philoſophie ihre Stelle finden.“
Er widmete ſich in Berlin ganz dem Katheder, und ungeheuer war die
Wirkung ſeines lebendigen Wortes. Neben den Studenten ſaßen auch
viele bedeutende Männer aus dem Beamtenthum und dem Heere zu des
Meiſters Füßen und bewunderten die großartige Architektonik eines feſt in
ſich geſchloſſenen, die ganze Welt umſpannenden Gedankenbaues, der ſo lange
der Grundfehler ſeiner Anlage unentdeckt blieb, dem Selbſtgefühle des
denkenden Geiſtes die höchſte mögliche Befriedigung gewährte. Die Philo-
ſophie war nicht mehr Liebe zum Wiſſen, ſie wähnte die Weisheit ſelber zu
ſein und zog mit maßloſem Hochmuth wider das blos verſtändige Denken der
[429]Die Univerſität. Das Muſeum.
gemeinen Sterblichen zu Felde; ſie wollte in Schleiermacher’s religiöſem
Gefühle nur die Willkür des endlichen Subjects, in den Forſchungen der
hiſtoriſchen Juriſten nur die ideenloſe Ueberſchätzung der ſchlechten Wirk-
lichkeit ſehen. In den Jahrbüchern für wiſſenſchaftliche Kritik gründeten
ſich die Hegelianer eine ſtreitbare Partei-Zeitſchrift, zur ſelben Zeit, da
Hengſtenberg die Orthodoxen um das Banner ſeiner Kirchenzeitung ſam-
melte; und auch die häßlichen Ränke fehlten nicht, die ſich in Deutſchland
mit jedem Gelehrtenſtreit verſchlingen. Dem redefertigſten ſeiner Schüler,
dem Todfeinde Savigny’s F. Gans verſchaffte Hegel durch die Gunſt des
Miniſters einen Lehrſtuhl in der juriſtiſchen Facultät; ihm ſelber aber
verweigerten ſeine Gegner, kleinlich genug, den gebührenden Platz in der
Akademie der Wiſſenſchaften. Zu allen dieſen ſo weit aus einander ſtre-
benden Parteien der proteſtantiſchen Wiſſenſchaft geſellte ſich noch eine
rührige kleine Congregation, wie die Liberalen ſie nannten: bei der liebens-
würdigen Convertitin Henriette Mendelsſohn kamen Jarcke, Philipps und
andere ſtrenge Ultramontane zuſammen, deren Einfluß am kronprinzlichen
Hofe ſchon zuweilen fühlbar wurde.
Unterdeſſen fuhr der König fort ſeine Hauptſtadt zu ſchmücken ſo
weit die knappen Mittel langten; kein Jahr verging, wo er nicht —
immer ganz in der Stille — ihre Sammlungen vermehrte oder einen
Palaſt, ein Säulenthor, ein Standbild ſtiftete. In dieſer Zeit wurde
Berlin allmählich eine ſchöne Stadt, anziehend auch für den Fremden.
Die Bibliothek, die erſt unter Humboldt’s Verwaltung ein feſtes Jahres-
einkommen von 3500 Thlr. erhalten hatte, ward endlich reichlicher aus-
geſtattet und durch außerordentliche Geſchenke des Königs ſo weit gehoben,
daß ſie in die Reihe der großen Bücherſammlungen eintrat; mit ihren
älteren Schweſtern in München oder Dresden konnte ſie ſich freilich noch
immer nicht von fern vergleichen. Schinkel erlebte jetzt ſeine glücklichſten
Tage. Seit ihm der große Wurf des Schauſpielhauſes gelungen war, ge-
wann er etwas freiere Hand für ſeine kühnen Pläne, er erbaute die präch-
tige Schloßbrücke, ließ das verſumpfte Bett des Fluſſes umgeſtalten, ſo
daß der einzige äſthetiſche Reiz, den die karge Natur den Berlinern ge-
währt hat, der freie Blick über die Waſſerflächen zu ſeinem Rechte kam;
und aus dem Moraſtboden hinter dem Luſtgarten erhob ſich die feſtlich
heitere Säulenhalle des Muſeums, ebenſo wirkſam in ihrer einfachen
Schönheit wie die ſchwere Maſſe des Schloſſes gegenüber.
Die innere Einrichtung des Muſeums leitete W. Humboldt, den der
König neuerdings vielfach auszeichnete und zuweilen in ſeinem Tegel be-
ſuchte; als ſeine Gattin ſtarb, ſuchte Friedrich Wilhelm den Tiefgebeugten
durch dieſe würdige Beſchäftigung zu tröſten. Dankbar folgte Humboldt
dem Rufe; ſeit jenem letzten Schickſalsſchlage war aller Spott und alle
Schärfe von ihm gewichen; verklärt von der milden Weisheit des Alters
lebte er nur noch in der Welt der Ideen, und es that ihm wohl, nachdem
[430]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
er einſt dem wiſſenſchaftlichen Leben ſeines Staates neue Wege gewieſen,
nun auch noch an der äſthetiſchen Erziehung der Preußen mitzuhelfen. Denn
darin war er mit Schinkel einig, daß die Kunſtſchätze des Muſeums nicht
der gelehrten Forſchung dienen, ſondern zunächſt der überkritiſchen haupt-
ſtädtiſchen Welt die harmloſe Freude am Schönen erwecken ſollten. Was
Preußen in den drängenden Nöthen ſeiner kriegeriſchen Geſchichte hatte
verſäumen müſſen, ließ ſich freilich nicht mehr ganz nachholen; die Meiſter-
werke der Malerei waren faſt alleſammt längſt in feſten Händen, und
Bunſen wurde wie ein Schooßkind des Glücks angeſtaunt, als er Raphael’s
Madonna Colonna, die er in Rom für den unerſchwinglichen Preis von
1000 Louisdor erſtanden, eigenhändig nach Berlin überbrachte. Immer-
hin ward dies jüngſte der großen europäiſchen Muſeen eine unſchätzbare
Bildungsſtätte für unſeren proſaiſchen Nordoſten; vor der Hoheit des
Geiſtes, die aus Schinkel’s mächtiger Rotunde ſprach, verſtummte ſelbſt
das Berliner Beſſerwiſſen. Auch Meiſter Rauch ſchritt vorwärts in kräf-
tigem Schaffen, neidlos bewundert von ſeinem alten Lehrer Gottfried
Schadow. Wie viel freier, einfacher, größer als einſt jener erſte Verſuch
Schadow’s in Roſtock, war Rauch’s neues Berliner Blücherdenkmal. Als
das Standbild am Frühmorgen geräuſchlos enthüllt wurde, ſtanden nur
drei Zuſchauer auf dem weiten Platze: Gneiſenau, Hegel und der Meiſter
ſelbſt. Preußens Heer, Wiſſenſchaft und Kunſt huldigten dem Helden des
heiligen Völkerzornes. —
Trotz dieſer Menge bedeutender Menſchen fehlte der Hauptſtadt noch
gänzlich der beſte Reiz des großſtädtiſchen Lebens, die weitherzige, alle
Gegenſätze umfaſſende Geſelligkeit. Friedrich Wilhelm verſtand wohl die
Talente der Kunſt und Wiſſenſchaft an der rechten Stelle zu verwenden;
jedoch ſie in regem geſelligen Verkehre um ſich zu verſammeln widerſprach
ſeinen anſpruchsloſen Gewohnheiten. Noch immer freilich boten der Hof
und die Erlebniſſe des königlichen Hauſes den einzigen Geſprächsſtoff, der
allen Ständen gemein war; die Berliner lebten mit ihrem Monarchen, ſie
redeten gemüthlich von „unſerem Schwiegerſohn“ in Petersburg, von
„unſerer Alexandrine“ in Schwerin und jubelten aus vollem Herzen als
ihr alter Herr nach ſeiner Geneſung zum erſten male wieder im Theater
erſchien. Von Zeit zu Zeit entſchloß ſich der König auch, der geſammten
Berliner Geſellſchaft ein Schauſpiel königlicher Pracht zu geben, wobei
Schinkel, Spontini und der Maler W. Henſel ihre ganze Kunſt aufbieten
mußten. Zwei dieſer Feſte, die beiden Märchenſpiele „Lalla Rookh“ und
„Die weiße Roſe“, erlangten einen europäiſchen Ruf, und das Feſt der
weißen Roſe verdiente in der That durch den Pinſel des jungen Adolf
Menzel verherrlicht zu werden, denn es war das letzte großartige und vom
Zauber der Kunſt durchleuchtete höfiſche Spiel der neuen Geſchichte, der
letzte Triumph der alten Romantik und der ariſtokratiſchen Geſellſchaft
der Reſtauration. In denſelben Tagen, da die königlichen Prinzen in
[431]A. v. Humboldt in Berlin.
Potsdam, von tauſenden ehrfürchtiger Zuſchauer bewundert, in goldenem
Aarhelm und ſchimmernder Rüſtung Carrouſſel ritten um ihrer Schweſter
Charlotte, der weißen Roſe, ritterlich zu huldigen, zog ſchon der Sturm-
vogel der Revolution, die Stumme von Portici über die Theater Europas
und verkündete das Nahen eines demokratiſchen Zeitalters, das mit ſeinen
Volksfeſten und politiſchen Kämpfen den Glanz der Höfe ganz verdun-
keln ſollte.
Doch ſolche Tage, da der Hof aus ſeinem Stillleben heraustrat, er-
ſchienen nur ſelten. Auch anderer Stätten großſtädtiſcher Geſelligkeit be-
ſaß Berlin nur wenige. Faſt allein in den reichen Häuſern Mendelsſohn
und Meyerbeer, in den beſcheidenen Salons Stägemann’s und ſeiner lie-
benswürdigen Damen oder in der Geſetzloſen Geſellſchaft, wo Schleier-
macher und der biderbe Zwingherr Buttmann um die Wette die Funken
ihres Witzes ſprühen ließen, fanden geiſtreiche Menſchen verſchiedener Ge-
ſinnung noch einen neutralen Boden für ungezwungenen Verkehr. Sonſt
beſtanden überall nur geſchloſſene kleine Parteien und Kränzchen; ſelbſt
der ſchöngeiſtige Kreis der Rahel Varnhagen trug ſchon die Färbung einer
literariſch-politiſchen Parteigeſinnung. In den langen Jahrhunderten deut-
ſcher Ohnmacht war aus dem alten Germanentrotz ein kleinlicher, neidiſcher
Sondergeiſt aufgewuchert und den Deutſchen zur anderen Natur geworden;
er trieb die Studenten in die Hahnenkämpfe ihres Verbindungslebens, er
verdarb die ſtädtiſche Geſelligkeit durch ein unleidliches Cliquenweſen, und
auch Deutſchlands größte Stadt war ihm noch nicht entwachſen. Gelehrte
und Schauſpieler, Schriftſteller und Künſtler ſaßen in ihren Fractionen und
Schulen eng zuſammen, anmaßend, unduldſam gegen den Nichtgenoſſen,
grenzenlos ungerecht gegen den Feind. In dieſer zerklüfteten und zerriſſenen
Welt war weder das urbane Wohlwollen der großſtädtiſchen Geſellſchaft
Italiens zu finden, noch jener durchgebildete Nationalſtolz der Franzoſen,
der jedes große Talent als ein Stück vaterländiſchen Ruhmes hoch hält.
Vor Fremden prahlten die Berliner gern mit dem geiſtigen Glanze ihrer
Stadt; daheim beſtrebte ſich Jeder, ſchon damit man ihn nicht ſelber für
einen Dummkopf hielte, alles Hervorragende herabzuſetzen, Alles ruppig
zu machen, wie Rahel ſich auf gut berliniſch ausdrückte. Darum blieb auch
die Kluft zwiſchen Gebildeten und Ungebildeten unnatürlich weit. Der
ehrſame Bürger, der Abends unter den Zelten ſeine Weiße trank, wußte
gar nichts von den Größen der Akademie und der Univerſität; war doch
die herrſchende Philoſophenſchule gefliſſentlich bemüht, durch eine unver-
ſtändliche Kunſtſprache ihre Weisheit allen Unzünftigen zu verſchließen. —
Da kehrte im Jahre 1827 Alexander Humboldt nach Berlin zurück,
um fortan nach dem Wunſche des Königs in freier Muße am heimiſchen
Hofe zu leben. Es war ein Wendepunkt in der Geſchichte unſerer Bildung.
Denn heilſamer konnte Niemand auf das zerfahrene deutſche Leben ein-
wirken als dieſer univerſale Geiſt, der für Jeden eine höfiſche Schmeichelei
[432]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
bereit hielt, aber auch jede tüchtige Kraft mit großherzigem Wohlwollen
und eindringendem Verſtändniß unterſtützte. Verwöhnt durch die leichte
Anmuth der Pariſer Salons wollte er ſich in die Grobheit, in die dürftige
Enge der Heimath lange nicht finden und ſeufzte noch nach Jahren:
„Berlin, ik hev di dick en ſatt, du biſt en blivſt en Barenſtadt.“ Aber
vom Tage ſeiner Heimkehr an war er eine ſociale Macht. Er lenkte
die Blicke des Königs auf alles Neue und Lebendige, was ſich in Kunſt
und Wiſſenſchaft regte. Er brachte die verwahrloſte, durch den Ueber-
muth der Speculation faſt erdrückte Naturforſchung zuerſt wieder zu
Ehren. Sobald er im Mendelsſohn’ſchen Garten, in ſeinem vielbewun-
derten eiſenfreien Kupferhäuschen ſeine magnetiſchen Beobachtungen be-
gann, ſchaarte ſich ein Kreis junger Talente — Encke, Dirichlet, Dove
— um den Meiſter; Karl Ritter, der junge Baeyer und die anderen Ge-
noſſen der neuen Geographiſchen Geſellſchaft arbeiteten ihm in die Hände,
auf allen Gebieten der exakten Forſchung erwachte ein rühriger Wetteifer.
Unvergeßlich war der Eindruck, als er gleich in ſeinem erſten Berliner Winter
in der Singakademie die öffentlichen Vorleſungen über phyſiſche Weltbe-
ſchreibung hielt, aus denen nachher der „Kosmos“ hervorging, und mit
genialer Sicherheit, die Träumereien der Naturphiloſophen fein und ſcharf
zurückweiſend, das Programm der rein empiriſchen Naturbeobachtung auf-
ſtellte, welche bald alle Lebensgewohnheiten des neuen Jahrhunderts von
Grund aus umgeſtalten ſollte. So kühn war die gelehrte Zunft in Deutſch-
land noch niemals auf den Markt hinausgetreten, und nur einem Manne
von Humboldt’s Weltruhm konnte dies Wagniß gelingen. Er zeigte den
Deutſchen zum erſten male, daß die ſtrenge Fachwiſſenſchaft gemeinver-
ſtändlich zu den Beſten der Nation zu reden vermochte — zur ſelben
Zeit, da Leopold Ranke mit ſeinem hiſtoriſchen Erſtlingswerke den gleichen
Verſuch unternahm.
Auch die Stellung der Gelehrten in der Geſellſchaft ward durch
Humboldt gehoben — was in dieſem Lande der höfiſch-bureaukratiſchen
Ranggliederung doch nicht unwichtig war. Schon im Jahre 1822 hatte
Oken, der ſich hier auf ſeinem eigenſten Gebiete ungleich glücklicher be-
währte als in der Politik, einen deutſchen Naturforſchertag nach Leipzig
berufen; auf die erſte Verſammlung, der nur dreizehn Mitglieder bei-
wohnten, waren ſeitdem mehrere gefolgt, und als für den Herbſt 1828
ein neuer Congreß nach Berlin ausgeſchrieben wurde, nahm ihn Hum-
boldt unter den Mantel ſeines großen Namens. Der Wiſſenſchaft brachten
ſolche Wandervereine unmittelbar zwar nur wenig Vortheil — denn in
der Forſchung wie in der Kunſt gehen alle ſchöpferiſchen Thaten von ein-
zelnen lichten Köpfen aus — aber in einer Zeit, da das Reiſen noch ſo
ſehr erſchwert war, boten ſie manchem tüchtigen Gelehrten, der in der welt-
fremden Abgeſchiedenheit ſeiner kleinen Univerſität verſauerte, die einzig
mögliche Gelegenheit, aus der Kleinſtädterei herauszuwachſen und mit
[433]Der Berliner Naturforſchertag.
Gleichſtrebenden in einen anregenden Gedankenaustauſch zu treten. Auch
einen nationalen Zweck hatte Oken im Auge, als er dieſe Verſamm-
lungen nach dem Vorbilde der Schweizer ins Leben rief. Mochten einzelne
der Theilnehmer im Bewußtſein der idealen Größe des Vaterlandes ſich
über das politiſche Elend behaglich tröſten, den Meiſten wuchs doch der
nationale Stolz und die Sehnſucht nach feſterer Verbindung mit den
Volksgenoſſen. Gleiche Empfindungen erweckte das damals zuerſt in
Stuttgart gefeierte, nachher oft wiederholte Schillerfeſt und die Säcular-
feier zu Ehren Albrecht Dürer’s, die in vielen deutſchen Städten mit
Sang und Klang und begeiſterten patriotiſchen Reden abgehalten wurde.
Noch glänzender verlief gleich darauf der Berliner Naturforſchertag.
An ſechshundert Theilnehmer hatten ſich eingefunden. Humboldt ſelbſt
machte den Wirth und ſagte in ſeiner claſſiſchen Eröffnungsrede: Deutſch-
land offenbare ſich hier gleichſam in ſeiner geiſtigen Einheit. Er zwang durch
ſein Beiſpiel den Hof und die amtliche Welt, auch ihrerſeits den Gelehrten
eine Achtung zu erweiſen, die ihnen in Paris und London längſt fraglos
gewährt wurde. Wie ſtaunten die Berliner, als bei dem großen Bankett
die königlichen Prinzen ſich unter die Profeſſoren miſchten und der Dema-
gogenrichter Kamptz mit dem erſchrecklichen Verſchwörer Oken Arm in Arm
zur Tafel ſchritt; der König ſelber freilich ſah nur ſchüchtern aus ſeiner
Loge auf das ungewohnte Treiben hernieder. Alles drängte ſich huldigend
um den Fürſten der Naturforſchung; und wenngleich viel modiſche Eitel-
keit mit unterlief bei allen den Adreſſen und Ehrengeſchenken, die dem
Gefeierten geſpendet wurden: es blieb doch ein dauernder Gewinn, daß er
der Wiſſenſchaft das Bürgerrecht eroberte in der vornehmen Geſellſchaft,
daß die zankſüchtige Hauptſtadt nun endlich eine anerkannte Größe beſaß,
die Alle gelten ließen, zu der Alle emporblickten. Erſt durch Humboldt
und die verſöhnende Macht ſeines Genies wurde der gute Ton groß-
ſtädtiſcher Duldſamkeit in dem zerfahrenen deutſchen Leben heimiſch.
Draußen im Reiche verlautete freilich von dem Glanze des Ber-
liner geiſtigen Lebens und von den Verdienſten der preußiſchen Verwal-
tung weit weniger als von den albernen Sünden der Demagogenjagd,
welche den Ruhm der hohenzollernſchen Krone befleckten. Nirgendwo ſonſt
in Deutſchland wurde die politiſche Verfolgung ſo unerbittlich betrieben.
Es lag im Weſen dieſes ſtarkknochigen Staates, daß hier alle deutſchen
Tugenden kraftvoll und mächtig, aber auch alle deutſchen Sünden ſchlecht-
hin ruchlos zu Tage traten. Fünf Jahre lang durfte eine Rotte von
Verworfenen und Verblendeten das kleinliche Mißtrauen, das dem bureau-
kratiſchen Abſolutismus überall anhaftet, für ihre unheimlichen Zwecke
ausbeuten und, während ſonſt überall das Recht unverbrüchlich gehand-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 28
[434]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
habt wurde, die Opfer ihrer Verdächtigung mit tyranniſcher Willkür miß-
handeln. Der Fanatiker der Angſt, Geh. Rath Kamptz war die Seele
dieſes finſteren Treibens. Er leitete als Director der Polizei die Verhaf-
tungen, er erſtattete dem Staatskanzler im Sommer 1819 die erſten An-
zeigen über die entdeckte große Verſchwörung.*) Und ſicherlich hat er nicht
wiſſentlich verleumdet; aber unbefangen war er jetzt ſo wenig wie vor
Jahren, als er gegen die Wartburgfeier zu Felde zog. Aus Jahn’s närri-
ſchen Goldſprüchlein, die ihm ſeine Späher zutrugen, meinte er herauszu-
leſen, daß ein Mordanſchlag gegen ihn ſelber im Werke geweſen ſei, und
mit der ganzen Roheit des perſönlichen Haſſes verfolgte er nun ſeine
Feinde. Unter ihm wirkte eine polizeiliche Unterſuchungs-Commiſſion, der
neben dem elenden Grano auch einer von Hardenberg’s zweideutigen Ver-
trauten, der Lauſitzer Tzſchoppe angehörte, ein knabenhaftes Männchen
mit blonden Locken, roſigen Wangen und ſanften blauen Augen, glatt
und leiſe wie ein Wieſel, überall horchend, immer bereit mit ſauberen,
wohlabgezirkelten Schriftzügen unſaubere Anzeigen in die Akten einzu-
tragen.
Nach dem Buchſtaben des beſtehenden Rechtes ließ ſich die Geſetz-
mäßigkeit des eingeſchlagenen Verfahrens ſchwer beſtreiten; denn unzweifel-
haft ſtand dem abſoluten Könige die Befugniß zu, in Zeiten der Gefahr
außerordentliche Maßregeln zu ergreifen, und nur für den Fall, daß die
Wahrſcheinlichkeit eines begangenen Verbrechens vorlag, verlangte das
Landrecht gerichtliche Unterſuchung. Gleichwohl beantragte das Staats-
miniſterium in mehreren Eingaben an den König und den Kanzler die
ſofortige Einſetzung einer Juſtizcommiſſion. „Die öffentliche Meinung —
dies gaben die Miniſter dem Monarchen zu erwägen (8. Sept.) — hängt
beſonders in unſeren Tagen vorzüglich von der Achtung für das Recht
und ſeine ſchützenden Formen ab. Vertrauen aber wird durch nichts ſo
ſehr gefährdet, als wenn die Verwaltung zu außerordentlichen Maßregeln
ſchreitet, die nachher nicht durch den Erfolg gerechtfertigt werden. Noch
ſteht dieſes Vertrauen feſt im preußiſchen Staate, ſo feſt, daß man —
wie die Zeitungsberichte der Regierungen übereinſtimmend ſich ausſprechen
— kaum an die gefährlichen Umtriebe glaubt, ſie wenigſtens nicht fürchtet.
Aber wohin könnte es führen, wenn man auf dem betretenen Wege er-
folglos noch lange fortſchreiten ſollte?“ Mit der äußerſten Grobheit trat
Kamptz dieſen Angriffen entgegen. „Auf dem betretenen Wege? ſo fragte
er höhniſch — dem der Umtriebe oder dem der Unterſuchungen? Erſterer
könnte freilich ſehr weit führen!“ Da der Staatskanzler den Verſiche-
rungen des Polizeidirectors unbedingt traute, ſo ſprach eine von Harden-
berg eigenhändig entworfene Cabinetsordre den Miniſtern das Befremden
des Königs aus, ermahnte zur Vorſicht in allen Aeußerungen und er-
[435]Die Immediat-Unterſuchungscommiſſion.
klärte ſehr nachdrücklich: eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ſei
unzweifelhaft vorhanden.*)
Ebenſo erfolglos blieben anfangs die wiederholten Anträge des Ber-
liner Kammergerichts auf Einleitung gerichtlichen Verfahrens. Auch dieſen
Gegnern begegnete Kamptz mit heftigen Schmähungen: ob ſie etwa die
Rolle des franzöſiſchen Parlaments ſpielen wollten? Auch ſie erhielten einen
Verweis vom Könige: das Kammergericht verkenne ſeinen Standpunkt,
wenn es jetzt noch ſeinen Antrag wiederhole, nachdem die Polizeibehörde
amtlich verſichert habe, die Unterſuchung ſei noch nicht reif für das Ein-
ſchreiten der Gerichte.**) Nach ſolchen Erklärungen des Staatsoberhauptes
durften die Behörden ihren Einſpruch nicht mehr aufrecht halten. Selbſt
der greiſe Kircheiſen, der Freund und Geſinnungsgenoſſe von Suarez,
fügte ſich. Er hatte einſt den König, als er noch Kronprinz war, in
freimüthiger Anrede vor der Verwerflichkeit der Cabinetsjuſtiz gewarnt und
ſein Lebelang die Unabhängigkeit der Gerichte tapfer vertheidigt; doch als er
jetzt die maſſenhaften Polizeiberichte durchmuſterte, die dem Miniſterium
auf königlichen Befehl mitgetheilt wurden, da glaubte auch er: der Staat
befinde ſich in einem Nothſtande, und der Monarch ſei berechtigt, von
den Machtbefugniſſen ſeiner landesherrlichen Gewalt Gebrauch zu machen.
Indeß hatten die ſo ungnädig aufgenommenen Mahnungen den König
doch zum Nachdenken gebracht. Am 1. Oktober wurde die Commiſſion
umgeſtaltet und förmlich mit den Befugniſſen eines inquirirenden Criminal-
gerichts ausgeſtattet; ſie beſtand fortan aus fünf Mitgliedern des Kammer-
gerichts und zwei Verwaltungsbeamten. In dieſer neuen Geſtalt entſprach
ſie dem Geſetze, da der König noch das gefährliche Recht beſaß, für beſondere
Fälle außerordentliche Gerichte einzuſetzen. Zu den Richtern zählten der
ehrwürdige Präſident v. Trützſchler und Kammergerichtsrath Hoffmann, der
romantiſche Humoriſt, dem der Geſpenſterſpuk dieſer Demagogenjagd ſo ſpaß-
haft ſchauerlich vorkam, daß er ſich nicht enthalten konnte, das Treiben, an
dem er ſelber theilnahm, in einer Epiſode ſeiner Novelle „Meiſter Floh“ zu
verſpotten. Die oberſte Leitung der geſammten Unterſuchungen übernahm
eine Miniſterialcommiſſion: Hardenberg, Kircheiſen, Schuckmann, Wittgen-
ſtein, Kamptz, Oberpräſident Bülow. Gedeckt durch den Kanzler ſowie durch
ſeine alten Gönner Schuckmann und Wittgenſtein behielt Kamptz alſo
mit ſeinen Helfershelfern ziemlich freien Spielraum. Da von der Mainzer
Bundescommiſſion wie von der Berliner Polizei beſtändig neue Anzeigen
einliefen, ſo konnte er das geheime Verfahren durch unerwartete Kreuz- und
Querfragen nach Belieben verlängern. Perſönlich begegnete der unan-
28*
[436]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſehnliche kleine Mann manchem der Unglücklichen, die er in ſeinen Krallen
hielt, mit überraſchender Freundlichkeit; aber war das ein Troſt für die
Folterqual der endloſen Unterſuchungshaft? In dem alten Schloſſe Köpenick
an der Spree, dicht neben dem berühmten Wappenſaale, wo einſt jenes
tapfere Kriegsgericht das Leben des Kronprinzen Friedrich gegen ſeinen
eigenen Vater vertheidigt hatte, ſaßen jetzt die Demagogen hinter ver-
blendeten Fenſtern und blickten hinaus auf ein viereckiges Stück grauen
Himmels; nur einige Stunden lang durften ſie unter den Bäumen des
Parks umhergehen oder im Fluſſe baden. Auch die Berliner Gefängniſſe
waren angefüllt mit Opfern der politiſchen Verfolgung, und das Stu-
dentenlied ſpottete: „wer die Wahrheit kennet und ſagt ſie frei, der kommt
nach Berlin auf die Hausvogtei.“
Die große Mehrzahl der Beamten zog ſich, nachdem der erſte Schrecken
verraucht war, von dem Unweſen der Demagogenverfolger angeekelt zurück
und betrachtete den kleinen um Kamptz geſchaarten Häſcherhaufen wie
eine Peſtbeule am Leibe ihres ehrenhaften Standes. Um den rheini-
ſchen Schwurgerichten die politiſchen Verbrechen zu entziehen, befahl der
König (6. März 1821), daß für alle Vergehen wider die Sicherheit des
Staates die Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts und der altlän-
diſchen Criminalordnung gelten ſollten; dieſe Cabinetsordre erhielt rück-
wirkende Kraft, nur wurden die Richter angewieſen, bei der Strafab-
meſſung für frühere Fälle ſtets das mildere Geſetz anzuwenden. Die
Miniſter des Innern und der Polizei empfingen den Auftrag, über das
Betragen der Lehrer Bericht zu erſtatten, da die Umtriebe in der Ver-
führung der Jugend ihre Wurzel hätten.*) Bei der Anſtellung von Jugend-
lehrern und Geiſtlichen ſollte fortan das Gutachten dieſer beiden Miniſter
eingeholt, gegen die Abſetzung demagogiſcher Lehrer nur noch ein Recurs
an das Miniſterium geſtattet, jede geheime Studentenverbindung aber ohne
Weiteres vor die Strafgerichte verwieſen werden.
Wie lächerlich erſchien neben dieſem gewaltigen Rüſtzeuge der Erfolg
der Unterſuchungen. Was mußten preußiſche Patrioten empfinden, wenn
ſie den Königsmörder Carnot, der in Frankreich unmöglich war, unter
dem Schutze der preußiſchen Krone frei in Magdeburg leben ſahen und
damit verglichen, wie der königstreue Jahn jahrelang gepeinigt wurde.
Vergeblich betheuerte der Turnvater: „Eigene Anſichten mögen meine Auf-
ſätze leicht enthalten, aber keine umkehreriſchen Abſichten. Von geheimen
Umtrieben bin ich weder Mitwiſſer noch gar Mittreiber.“**) Vergeblich
beantragte Kammergerichtsrath Hoffmann ſchon nach einigen Monaten die
Freilaſſung des offenbar Unſchuldigen. Man geſtattete ihm nur, auf der
Feſtung Kolberg in leichter Stadthaft zu leben; dort mußte er noch bis
[437]Unterſuchungen gegen Jahn und Welcker.
zum Jahre 1825 aushalten, da ward er endlich gerichtlich freigeſprochen
und erhielt vom Könige ein Gnadengehalt, aber auch den Befehl, ſeinen
Wohnort nicht am Sitze einer Univerſität oder eines Gymnaſiums zu
wählen. Ein verſchollener Mann lebte er fortan in ſeinem Weinbergs-
häuschen zu Freiburg an der Unſtrut ſtill dahin. Wenn zuweilen noch die
Burſchen von den ſächſiſchen Univerſitäten auf ihren Ferienreiſen bei ihm
einkehrten, ſo bemerkten ſie mit Befremden, daß der Alte im Bart dem
Teutonenthum ſeiner glücklichen Jahre unwandelbar treu geblieben war und
von dem Wälſchheitsteufel des neuen Radicalismus nichts hören wollte.
Nach Bonn wurde als Unterſuchungscommiſſär ein ebenſo unwiſſender
als kleinlicher Richter, des Namens Pape geſendet und zu ſeiner Unter-
ſtützung der Referendar Dambach, ein herzloſer Aktenmenſch, der nachher
die Leitung der Berliner Hausvogtei erhielt und neben Tzſchoppe jahre-
lang Kamptz’s gefügigſtes Werkzeug blieb. Was wußten dieſe beiden Leute
aus den Heften und Notizen C. Th. Welcker’s nicht Alles herauszuleſen!
Trotz der unvorſichtigen Heftigkeit des Angeklagten war ihm ſchließlich gar
nichts nachzuweiſen; das als Criminalunterſuchung begonnene Verfahren
wurde als polizeiliche Unterſuchung in der Stille eingeſtellt. Welcker er-
hielt, als er einem Rufe nach Freiburg folgte, ſeine Entlaſſung aus dem
königlichen Dienſte in ſchmeichelhaften Worten, doch da ihm gerichtliche
Freiſprechung verſagt blieb, ſo überſchüttete er durch eine faſt dreißig
Bogen lange „Oeffentliche aktenmäßige Widerlegung“ die preußiſche Will-
kür mit einem Sturzbade ſittlicher Entrüſtung.
Ganz anders wußte Arndt die Herzen der Leſer zu erſchüttern durch
die ſchlichte treuherzige Sprache ſeiner kurzen Vertheidigungsſchrift: „Ein
abgenöthigtes Wort aus ſeiner Sache.“ Wohin war es doch mit der
preußiſchen Gerechtigkeit gekommen, wenn dieſer Treueſte der Treuen ſich
jetzt genöthigt ſah, ſeine Briefſchaften im Keller und unter den Dielen
ſeiner Zimmer zu vergraben! Schon bevor die Demagogenverfolgung be-
gann, hatte er mit dem unbegreiflichen Mißtrauen der Behörden zu kämpfen
gehabt und dem Curatorium auseinanderſetzen müſſen, der Titel ſeiner
öffentlichen Vorleſung „über Leben und Studium“ ſei wirklich ganz harm-
los gemeint.*) Und dann die aberwitzigen Verhöre vor Pape und Dam-
bach! Alle die wunderlichen Wortbildungen und Wortverſchränkungen, mit
denen Arndt ſorglos zu ſpielen liebte, wurden ihm jetzt als verdächtig vor-
gehalten. Was bedeuteten die „papierlichen Künſte und Pläne“, die er
nach einem ſeiner Briefe noch vorhatte? Was beſagte der räthſelhafte
Satz: „Das liegt über meiner Sphäre —“? War das Lied „O Durch-
brecher aller Bande“ ein demagogiſches Gedicht oder ſtand es wirklich im
alten Berliner Geſangbuch? Mit beſonderem Argwohn ward ein Blatt
durchſpürt, das neben anderen abgeriſſenen Sätzen auch die Worte ent-
[438]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
hielt: „Wenn ein Prediger erſchoſſen iſt, hat die Sache ein Ende.“ Es
war eine Abſchrift jener Bemerkungen, welche der König im Jahre 1811
an den Rand der Denkſchrift Gneiſenau’s über den Volkskrieg geſchrieben
hatte.*) Welche Mühe, bis der Unterſuchungsrichter endlich ſeinen lächer-
lichen Irrthum einſah. Kamptz unterſtand ſich noch fünfundzwanzig Jahre
ſpäter, öffentlich dreiſtweg abzuleugnen, daß Arndt in der That wegen der
eigenen Worte des Monarchen zur Rede geſtellt worden war.
Drei Jahre nach der erſten Hausſuchung, anderthalb Jahre nach Be-
ginn der förmlichen Unterſuchung wurde das Verfahren plötzlich eingeſtellt.
Eine gerichtliche Freiſprechung konnte Arndt ſo wenig wie Welcker erlangen.
Erſt im Jahre 1827 erhielt er die Mittheilung, daß die Unterſuchung
nichts ergeben habe. Sein Amt und ſeinen Wohnſitz konnte er behalten,
da Stein, Niebuhr und Eichhorn ſich freimüthig für ihn verwendeten, aber
ſeine Vorleſungen durfte er nicht wieder eröffnen. Und bei Alledem blieb
der Tapfere unverbittert. Seine kindliche Frömmigkeit brachte es über
ſich, ſelbſt die ſchmähliche Unbill dieſer Jahre als ein Verhängniß des
ausgleichenden und gerechten Gottes hinzunehmen; wollte ihn einmal der
Groll übermannen, dann rief er ſich zu:
Von ſeinem Preußen wollte er nicht laſſen, „weil es mein Vaterland und
noch immer meine Hoffnung iſt.“ Und doch geſtand er, daß er die lang-
ſame Zerreibung und Zermürbung ſeiner beſten Kräfte bis ins Mark
hinein nur zu tief gefühlt habe. Die Publiciſtik war ihm verleidet und
ſo gut wie verboten; zu wiſſenſchaftlicher Arbeit fühlte er ſich wenig auf-
gelegt, da ihm der Stachel der Lehrthätigkeit fehlte; ſo verlebte er ſchöne
Jahre „in einer Art von nebelndem und ſpielendem Traume unter Kin-
dern, Bäumen und Blumen.“ Die deutſche Jugend aber verlor durch
die Thorheit der Demagogenjagd einen Lehrer, der wie kein anderer den
hereinbrechenden Verirrungen revolutionären Weltbürgerthums ſich ent-
gegenſtemmen konnte.
Arndt’s Schickſal erbitterte vornehmlich die Norddeutſchen; am Rhein
galt Görres für den Märtyrer der Freiheit. Der wiederholte aus ſeinem
Exile noch mehrmals, immer vergeblich, ſeine alte Forderung, daß man
ihn vor ein rheiniſches Schwurgericht ſtellen ſolle, und rächte ſich ſodann
durch die Flugſchrift „In Sachen der Rheinprovinzen und in eigener
Angelegenheit“, ein leidenſchaftliches Pamphlet, das dem Anſehen Preußens
am Rhein ſchwere Wunden ſchlug. Mit demagogiſcher Meiſterſchaft ſetzte
er hier alle Hebel des rheiniſchen Particularismus in Bewegung: den Haß
der Katholiken wider den proteſtantiſchen Uebermuth und die Abneigung
des Bürgerthums gegen das Heer: in der freien Schweiz, ſagte er mit
[439]Verfolgungen gegen Arndt, Görres u. A.
einer Redewendung, die in ſeinen Schriften fortan immer wiederkehrte,
„begegnet man nirgends jenen Schaaren ſtehender Müßiggänger, die im
Frieden den Wohlſtand des Volkes freſſen, damit ſie ihn im Kriege nicht
zu vertheidigen haben.“ Der Unbill, die ihm ſelber widerfahren, gab er
eine Färbung, als ob er blos um des rheiniſch-franzöſiſchen Rechtes willen
gelitten hätte, und ſchloß drohend: „Nun, wie es auch kommen möge, muß
ihm ſein Recht werden, ſobald der Provinz das ihrige geworden.“
Sonſt hatten nur noch wenige angeſehene Männer unter der Dema-
gogenverfolgung zu leiden. Dem wackeren Reimer war ſchlechterdings
nichts anzuhaben, trotz der ſorgſamen Durchſtöberung aller ſeiner Papiere.
Von den Breslauer Turngenoſſen kam Paſſow mit wenigen Wochen leichter
Haft davon, da ihm nichts Anderes zur Laſt fiel, als ein paar ſtarke
Worte in ſeinem „Turnziel“; Karl v. Raumer ließ ſich, um den ſchleſi-
ſchen Händeln zu entrinnen, ſelber nach Halle verſetzen, ſein Freund
Harniſch blieb, nachdem er einige unangenehme Amtsſchreiben empfangen,
unbeläſtigt am Lehrerſeminar. Die verhafteten Studenten aber hielten faſt
alle treu zuſammen. Man fand bei dem jungen Philoſophen v. Henning
eine Landkarte von Deutſchland, welche dem preußiſchen Staate ſchon
ungefähr die Grenzen vom Jahre 1866 beſtimmte, und entdeckte auch den
radicalen Reichsverfaſſungsplan der Unbedingten. Manche der aufge-
fangenen Briefe verkündeten die fanatiſchen Lehren Karl Follen’s: daß jeder
Staat, der in ſeiner Freiheit bedrängt ſei, ſich im Zuſtande berechtigter
Revolution befinde, daß dann der Krieg der Individuen beginne und jeder
Bürger die Volksverräther zu ſtrafen berechtigt ſei, wenn der Staat ſie
nicht beſtrafe. Noch häufiger fanden ſich allerhand drohende Redensarten
über den nahen Tag der That, der Rache. Doch wer mochte herausfinden,
wo hier die jugendliche Prahlerei aufhörte und der ernſte Vorſatz be-
gann? Selbſt die Demagogenrichter mußten ſich ſagen, daß der Weg von
der Feder zum Dolche in Deutſchland nicht kurz iſt. Von den nächſten
Freunden der beiden Mörder hatten ſich einige bereits ins Ausland ge-
flüchtet, die anderen ſchwiegen unverbrüchlich. Dann entfloh auch Mühlen-
fels, der, ſicherlich mit Unrecht, für beſonders gefährlich galt, weil ſeine
Briefe von burſchikoſen Kraftworten überfloſſen; er entkam auf einem
Fiſcherboote nach Schweden und konnte erſt nach vielen Jahren die Ver-
zeihung des Königs erlangen. —
Die große Unterſuchung drohte ſchon im Sande zu verlaufen; da
ward im Jahre 1823, zu Kamptz’s Genugthuung, ein neuer Geheimbund
entdeckt, der einer Verſchwörung mindeſtens ähnlich ſah. Wie war es auch
möglich, daß die Karlsbader Beſchlüſſe bei deutſchen Studenten unbedingten
Gehorſam hätten finden ſollen? Die Burſchenſchaft hatte ſich überall
aufgelöſt, die Breslauer unter feierlichem Abſingen des Liedes „unſern
Bund trennt nur der Tod“; doch überall ſchaarte ſie ſich ſogleich von
Neuem zuſammen, hier unter dem alten Namen, dort als Allgemeinheit
[440]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
oder in der Form verbündeter Kränzchen. In Jena und Halle war ſie bald
wieder ſtärker als alle anderen Verbindungen insgeſammt; auf manchen
Univerſitäten gewann ſie erſt durch den Reiz des Verbotes größeren An-
hang, und nicht lange, ſo wurden die verbotenen Farben in Leipzig ſchon
wieder auf offener Straße getragen. Entſittlichend wirkte der Gewiſſens-
zwang, den die Regierungen in ihrer thörichten Angſt den jungen Leuten
auferlegten. Da jeder Student jetzt auf Ehrenwort geloben mußte, keiner
geheimen Verbindung beizutreten, ſo beſchwichtigten die Einen ihr Ge-
wiſſen mit dem Troſte, die Burſchenſchaft ſei nicht geheim; Andere be-
ſchloſſen, jeder Burſch ſolle in dem Augenblicke, da er vor Gericht gerufen
werde, ſtillſchweigend aus der Verbindung austreten. Die Verwegenſten
aber behaupteten friſchweg: durch den Bruch unſeres Ehrenwortes haben
wir der Obrigkeit bereits den Krieg erklärt, folglich ſind wir auch zu
anderen ungeſetzlichen Schritten berechtigt.
Die alte Burſchenſchaft war von Haus aus zu groß um eine be-
ſtimmte Geſinnung einzuhalten; jetzt traten die verſchiedenen Parteien, die
ſich einſt in ihr zuſammengefunden, allmählich auseinander. Die Chriſtlich-
geſinnten kehrten der Politik den Rücken und begnügten ſich mit fröhlicher
Geſelligkeit oder mit akademiſchen Reformbeſtrebungen. Dieſen Arminen,
wie ſie ſpäterhin genannt wurden, ſtand die politiſche Germania gegen-
über. Wer jetzt noch, inmitten der allgemeinen Abſpannung, an politiſche
Ideale glaubte, verfiel leicht dem Radicalismus, und der erbitternde Druck
der polizeilichen Verfolgung, die aufregenden Nachrichten aus Südeuropa
konnten dieſe Stimmung nur verſchärfen. Auch die Germanen beſtanden
in ihrer großen Mehrzahl aus harmloſen jungen Schwärmern, die in
einem Athem ihr angeſtammtes Fürſtenhaus und den Kaiſer im Kyff-
häuſer prieſen. Die alte Kaiſertreue unſeres Volkes kam eben jetzt durch
Rückert’s Barbaroſſalied und nachher durch Raumer’s Hohenſtaufenge-
ſchichte wieder in Schwang; hunderte begeiſterter Jünglinge wiederholten
die Weiſſagung des Dichters:
Aber daneben ſtieg ſchon ein modernes Geſchlecht empor, das vom
chriſtlichen Mittelalter nichts mehr hören wollte und ſich das einige Deutſch-
land nur als ein Glied in dem großen Völkerbunde des befreiten Europas
vorſtellte. Im Burſchenhauſe zu Jena führte Arnold Ruge das große
Wort, ein derber, gemüthlicher Pommer voll trockenen Humors und friſcher
Lebensluſt, viel zu gutherzig, um ohne Noth eine Fliege todtzuſchlagen,
und trotz alledem ein Apoſtel des allgemeinen Umſturzes in Staat und
Kirche. Sein Ideal war „die Anarchie oder Selbſtbeherrſchung“, die er im
alten Athen zu finden glaubte; nachher hatten nach langen Jahrhunderten
[441]Der junge Radicalismus. A. Ruge.
der Zwingherrſchaft erſt die Republiken der Niederländer und der Ame-
rikaner wieder einiges Heil in die Welt gebracht, bis dann endlich der
lichte Tag der großen Revolution emporgeſtiegen war und eine neue Blüthe
der Menſchheit in den Heldenkämpfen des Convents ſich entfaltet hatte.
Solche Anſichten, die in den Tagen des Wartburgfeſtes noch einen Sturm
des Unwillens erregt hätten, fanden jetzt ſchon eine gläubige Gemeinde.
Unfähig, wie er ſein Lebelang blieb, Traumleben und Wirklichkeit zu
unterſcheiden, baute Ruge feſt auf die radikale Entſchloſſenheit ſeiner Ge-
noſſen und bezweifelte niemals die unermeßliche Ueberlegenheit „dieſer
ruhigen republikaniſchen Staatsmänner“ gegenüber der verrotteten mo-
narchiſchen Philiſterwelt. „Von dem richtigen Verſtändniß dieſer Frage
hängt die Zukunft Europas, insbeſondere unſeres noch nicht republika-
niſchen Volkes ab“ — ſo klang es dröhnend durch den Saal, da die
jungen Weltverbeſſerer über die Frage „des freien Schlägers“ beriethen
und als raufluſtige Philoſophen zu dem echt germaniſchen Entſchluſſe ge-
langten, die mittelalterliche Barbarei des Duells in Anbetracht der Vor-
urtheile des Zeitalters vorläufig noch nicht aufzugeben.
Wo dieſe radikale Richtung obenauf kam, da begann ſich der Ton
bald merklich zu ändern. Vom Chriſtenthum war gar keine Rede mehr;
aus den alten Wahlſprüchen „friſch, frei, fröhlich, fromm“ und „Gott,
Freiheit, Ehre, Vaterland“ wurden die Frömmigkeit und der liebe Gott ſtill-
ſchweigend weggelaſſen, hier und da ſchon förmlich geſtrichen. Wie erſchrak
Wolfgang Menzel, als er einige Jahre nach den Karlsbader Beſchlüſſen aus
der Schweiz heimkehrte und von der chriſtlich-germaniſchen Schwärmerei
ſeiner Burſchenzeit keine Spur mehr übrig fand. In Halle bemühte ſich
Karl von Raumer, der treue Freund der alten Burſchenſchaft vergeblich,
den radikalen Verführern der Jugend zu wehren. Die Burſchen hörten
nicht mehr auf ihren frommen Lehrer. Wie durfte man von ihnen
Mäßigung erwarten, wenn der Unverſtand der Behörden das altgewohnte
akademiſche Genoſſenſchaftsleben völlig zu vernichten ſuchte und den Stu-
denten nicht einmal die Einſetzung eines akademiſchen Ausſchuſſes geſtatten
wollte? Lächerlich grell trat der Gegenſatz des alten und des neuen Ge-
ſchlechts an den Tag, als Arnold Ruge eine Zeit lang mit Jahn zu-
ſammen in Kolberg auf der Feſtung ſaß, der pantheiſtiſche Republikaner
mit dem ſtrenggläubigen, preußiſchen Monarchiſten. Keiner von Beiden
verhehlte, daß er den Anderen für einen ausgemachten Narren anſah,
Kamptz aber hielt Beide für gleich ruchloſe Hochverräther. Für die Zu-
kunft des deutſchen Parteilebens wurde die radikale Verbitterung des
jungen Geſchlechts unheilvoll, für die öffentliche Sicherheit ſtand im Augen-
blicke nichts zu fürchten. Wie ſcharf durchſchaute Arndt die deutſche Jugend,
als er ihr zurief:
[442]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
In den Künſten der Verſchwörung hatten ſich die offenherzigen Germanen
niemals mit den Wälſchen meſſen können. Nun gar dies unbedacht-
ſame junge Volk gab ſich überall Blößen; die tiefgeheimen allgemeinen
deutſchen Burſchentage, welche in dieſen Jahren in Dresden, auf dem Kyff-
häuſer und an anderen Orten gehalten wurden, kamen ſämmtlich früher
oder ſpäter zur Kenntniß der Polizei.
Nur wenig ſchlauer war ein Geheimbund, der von dem alten Un-
heilſtifter Karl Follen ausging. Follen hatte mittlerweile in Paris mit
Lafayette und den Verſchworenen der Union Verbindungen angeknüpft
und alsdann in der Schweiz ein Unterkommen gefunden. Dort in Chur
trat er mit einigen der eifrigſten Schwarzen, W. Snell, Völker, Ditt-
mar und einem italieniſchen Carbonaro de Prati zuſammen, um einen
deutſchen Männerbund zu ſtiften. Zweck der Verſchwörung war Umſturz
des Beſtehenden und Begründung der Einheit Deutſchlands unter einer
gewählten Volksvertretung. Der Verfaſſung des Bundes dienten die
Grundſätze der italieniſchen Geheimbünde zum Muſter: kleine Venten,
die von einander nichts wiſſen durften; unverbrüchliches Geheimniß ohne
jeden ſchriftlichen Verkehr; unbedingter Gehorſam den Oberen, wenn ſie
den Tag der That beſtimmten; Tod dem Verräther. Zum Unglück kam
zur ſelben Zeit ein Mecklenburger, von Sprewitz, nach Chur, ein wackerer,
etwas überſpannter junger Mann, der faſt noch als Knabe gegen die
Franzoſen gefochten hatte und ſpäterhin in der Erziehungsanſtalt des
Doctors Guſtav Bunſen zu Frankfurt, einem beliebten Aſyle der Unzu-
friedenen, als Lehrer wirkte. Der ließ ſich bereden, im Sommer 1821
die deutſchen Hochſchulen zu bereiſen und in den zehn Kreiſen des alten
Reichs einen Jünglingsbund nach den Weiſungen der Schweizer Ver-
ſchworenen zu errichten; nur im öſterreichiſchen Kreiſe, der ja auch an
den Inſtitutionen des heiligen Reichs keinen Antheil genommen hatte,
ſollte die revolutionäre Kreisverfaſſung vorläufig nicht zur Ausführung
kommen.
Auf zehn Univerſitäten wurde nun geworben, und etwa hundertund-
fünfzig junge Männer ſchloſſen ſich dem nebelhaften Unternehmen an. Viele
gute Köpfe waren darunter: aus Schwaben Kolb und Mebold, in ſpäteren
Tagen allbekannt als Herausgeber der Allgemeinen Zeitung; aus Baden
Baader, der ſich nachher um die Geſchichte ſeiner Heimath Verdienſte
erwarb; aus Thüringen und Mecklenburg zwei tüchtige Juriſten Asverus
und Kippe; aus Baiern einer der talentvollen Söhne Anſelm Feuerbach’s
und der Mediciner Eiſenmann, ein grundehrlicher wunderlicher Heiliger,
zugleich politiſcher Enthuſiaſt und mirakelgläubiger Katholik; aus Sachſen
der Begabteſte von Allen, der Theolog Karl Haſe. Wohl Keiner mochte
mit den unklaren Drohungen der neun Bundesartikel einen beſtimmten
Vorſatz verbinden; Haſe und Kippe traten ſogar nur unter Vorbehalt
bei, weil ihre ehrliche Natur ſich gegen die undeutſche Zumuthung blinden
[443]Männerbund und Jünglingsbund.
Gehorſams empörte. Selbſt Ruge, der lauteſte und unermüdlichſte unter
den Freiwerbern des Bundes, war zum Verſchwörer verdorben. Kindiſche
Märchen wurden in Umlauf geſetzt, um den Muth der Verſchworenen zu
ſtacheln: Gneiſenau ſollte bereit ſein, die Rolle des deutſchen Riego zu
ſpielen, auch auf den Fürſten von Wied, auf die Generale Thielmann
und Jagow könne man ſich verlaſſen. Mit den Jenenſer Bundesbrüdern
unterhielten durch die Vermittelung Robert Weſſelhöft’s zwei ältere Männer
geheimen Verkehr: der Oelmüller Salomon in Erfurt, ein religiöſer
Schwärmer, vormals Turnlehrer, weitberühmt durch die Athletenkraft
ſeines ſchönen Körpers, und Hauptmann Fehrentheil, der einzige nam-
hafte preußiſche Offizier, der ſich in die demagogiſchen Umtriebe dieſer
Jahre verſtricken ließ. Fehrentheil hatte einſt dem Hauptquartier des
ſchleſiſchen Heeres angehört — ein willkommener Vorwand für Gneiſenau’s
geheime Feinde — indeß war er den alten Kameraden längſt fremd ge-
worden und in den Träumereien eines wüſten politiſchen Ehrgeizes ver-
wildert; er plante im Ernſt, mit Hilfe der Landwehr die Feſtung Erfurt
durch einen Handſtreich zu überrumpeln. Die erſten Urheber des Unfugs
aber ließen bald nichts mehr von ſich hören. Karl Follen mochte ein-
ſehen, daß nach der Niederlage der Revolutionen des Südens ein Auf-
ſtand in Deutſchland unmöglich war; er zog ſeinen Kopf aus der Schlinge
und überließ den Jünglingsbund ſeinem Schickſale. Die unglücklichen
verführten jungen Leute erwogen nunmehr in tragikomiſchen Berathungen:
ob der geplante Männerbund wirklich ins Leben getreten ſei? — was ſich
bis zum heutigen Tage noch nicht mit Sicherheit beantworten läßt — ob
er noch fortbeſtehe? ob man ohne ihn vorgehen ſolle?
Da erhielt die Mainzer Commiſſion Kunde von den Anſchlägen (1823),
und nun erfuhr dies zerſplitterte Volk zum erſten Male, was praktiſche
deutſche Einheit ſei. Kamptz in Berlin und die ſchwarze Commiſſion in
Mainz leiteten gemeinſam die Verfolgung; auf ihre Weiſung erfolgten in
allen größeren Bundesſtaaten zahlreiche Verhaftungen. Die kleinen Höfe
vergaßen in ihrer Angſt ſogar ihre heiligſte Empfindung, den Souveräni-
tätsdünkel und trugen kein Bedenken, ihre angeſtammten Demagogen auf
einige Zeit nach Köpenick auszuleihen, damit Kamptz die Unterſuchung
wirkſamer führen könne. Der aber benutzte die gute Gelegenheit, um
auch einige ältere Burſchenſchafter, die ſchon vor Jahren in Unterſuchung
geweſen, aufs neue einſperren zu laſſen. Dieſem Schickſal verfiel Franz
Lieber, der mittlerweile durch eine grauſame Lebensſchule gegangen war.
Er hatte als Jahn’s Schüler lange in Haft geſeſſen, dann, noch immer
unbelehrt, bei der Stiftung des Jünglingsbundes mitgeholfen und ſchließ-
lich Deutſchland verlaſſen um für das freie Griechenland zu ſtreiten.
Wie ward ihm aber, als er die fürchterliche Verwilderung dieſer Frei-
heitskämpfer kennen lernte. Gebrochen in allen ſeinen Lebenshoffnungen,
abgeriſſen und ausgeplündert wollte er über Italien heimkehren; da nahm
[444]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſich Niebuhr in Rom des „moraliſch Schiffbrüchigen“ an. Eine neue
Welt reiner und hoher Gedanken ging dem hochbegabten Jüngling auf,
als ihn der große Gelehrte ſeines väterlichen Vertrauens würdigte. Auf
Niebuhr’s Fürbitte erlaubte ihm der König unbeläſtigt heimzureiſen. Lieber
kehrte zurück und geſtand in einem freimüthigen Briefe an Kamptz, daß
er die Thorheiten ſeiner Jugend überwunden habe. Doch ſelbſt das Wort
des Königs war den Demagogenrichtern nicht heilig. Der gequälte Mann
ward abermals vorgeladen, um Zeugniß abzulegen wider ſeine alten Ge-
noſſen, und da er die Ausſage verweigerte, nochmals in Köpenick einge-
ſperrt, bis er endlich durch den Beiſtand ſeines treuen Gönners wieder
loskam.
Auch Heinrich Karl Hofmann, einer von den erſten Begründern
der Gießener Burſchenſchaft, mußte in Köpenick Rede ſtehen; er war
längſt ſchon Anwalt in Darmſtadt und hatte ſich bereits zu den gemäßigt
liberalen Grundſätzen bekehrt, denen er als Mann immer treu blieb.
Auch er weigerte ſich ſtandhaft die Freunde ſeiner Jugend zu verrathen.
Der unglückliche Sprewitz dagegen verſuchte im Gefängniß ſich zu er-
ſtechen; ſchwer verwundet verlor er den Muth und bekannte Alles. Seine
Geſtändniſſe ſtimmten großentheils überein mit den Anzeigen Wits v. Dör-
ring, des elenden Verräthers, der, einſt Follen’s und Sand’s vertrau-
ter Genoſſe, ſeitdem faſt in allen Ländern Europas das wüſte Bumm-
lerleben des Geheimbündlers geführt hatte und nun, nachdem er die
Kerker Piemonts und Oeſterreichs kennen gelernt, bei Metternich, Hatz-
feldt, Schuckmann den Angeber ſpielte. Schwer genug hielt es freilich
aus den Ausſagen des halbverrückten Abenteurers ein klares Bild zu
gewinnen; Alles was er mittheilte war ein Durcheinander von Wahrem
und Falſchen, ebenſo verworren wie die Denkwürdigkeiten, die er bald
nachher erſcheinen ließ.
Immerhin lagen jetzt endlich genügende Beweiſe vor; verſtand man
die hohlen Worte des Bundeseides buchſtäblich, ſo ließ ſich nicht beſtreiten,
daß der Jünglingsbund hochverrätheriſche Zwecke verfolgt hatte. Bei der
Verurtheilung der jungen Verbrecher trat der deutſche Particularismus
wieder in volle Wirkſamkeit; trotz der gemeinſam geleiteten Unterſuchung
ließ jeder Bundesſtaat durch ſeine eigenen Gerichte, nach ſeinen eigenen
Geſetzen Recht ſprechen, und die Erkenntniſſe offenbarten in der That die
vielbewunderte ſchöne Mannichfaltigkeit des deutſchen Staatslebens. Am
härteſten lauteten die Urtheile der preußiſchen Gerichte. Das Breslauer
Oberlandesgericht verurtheilte mit einem male (1826) achtundzwanzig
Mitglieder des Jünglingsbundes zu ſchweren Strafen — bis zu fünf-
zehn Jahren Feſtung; nur Einer, der junge v. Viebahn, ſpäterhin be-
kannt als ausgezeichneter Verwaltungsbeamter und Statiſtiker, wurde
vorläufig freigeſprochen — denn die Freiſprechung von der Inſtanz war
noch ſtatthaft — „dagegen wegen dringenden Verdachts, die Exiſtenz dieſer
[445]Einſchreiten gegen den Jünglingsbund.
Verbindung wohl gekannt, ohne aber hiervon der Behörde Anzeige ge-
macht zu haben, mit einem außerordentlichen zweijährigen Feſtungsarreſt
beſtraft.“ In Heſſen, Württemberg, Mecklenburg urtheilten die Richter
über daſſelbe Verbrechen weit milder. In Baiern wurden die Angeklagten
ſämmtlich vorläufig freigelaſſen, freilich erſt nach einer langen, harten
Unterſuchungshaft, die dem armen Karl Feuerbach den Geiſt zerrüttete.
König Friedrich Wilhelm nahm den leidigen Handel anfangs ſehr ſchwer.
Einem Beamten, der ſich für einen der Angeklagten verwendete, ertheilte er
eine ſcharfe Rüge: „ich muß Sie für einen Theilnehmer der höchſtverderb-
lichen Meinung halten, daß die im Finſtern ſchleichenden verbrecheriſchen
Umtriebe verzeihlich ſind, weil ſie aus irrthümlichen Anſichten entſpringen.“
Begnadigen wollte er erſt, wenn jeder der Schuldigen ein Drittel ſeiner
Strafe abgebüßt hätte.*) Gleichwohl ſiegte ſein gutes Herz bald über die
ſtrengen Vorſätze: er fühlte, daß die jungen Leute durch die lange Unter-
ſuchung ſchon genug gelitten hatten, und erließ ihnen ſämmtlich, den meiſten
ſchon nach Jahresfriſt die Strafe.
Alle dieſe Verfolgungen wurden von Metternich und Hatzfeldt mit
unermüdlichem Eifer überwacht. Welche Entrüſtung in Wien, als das
Zerbſter Appellationsgericht ein Mitglied des Jünglingsbundes nur zu
kurzer, leichter Haft verurtheilte — weil man doch nicht wiſſen könne, ob
der junge Mann ſpäterhin bei größerer Reife des Geiſtes ſeine Pläne
wirklich ausgeführt hätte. Sofort ließ Metternich die Mainzer Commiſſion
zum Einſchreiten auffordern, aber der redliche Präſident Kaiſenberg weigerte
ſich den Gang der Rechtspflege zu ſtören, obgleich ihm auch Schuckmann
die gleiche Zumuthung ſtellte. Dann abermals große Aufregung in der
Hofburg und ſcharfe Verwarnungen an das Darmſtädter Cabinet, als
die milden Urtheile der heſſiſchen Gerichte „einen neuen Skandal für ganz
Deutſchland“ geſchaffen hatten.**)
Während die große Unterſuchung gegen den Jünglingsbund noch
ſchwebte wurde zugleich auch unter den übrigen Studentenvereinen gründlich
aufgeräumt. An der Berliner Univerſität blühte noch nach 1819 ein man-
nichfaltiges und kräftiges Verbindungsleben; das brach nun alles zuſammen,
ſeit der neue Regierungsbevollmächtigte Schulz mit ſeinen plumpen Fäuſten
dazwiſchenfuhr. Auch ein Herminenbund mit dem ſchrecklichen Wahlſpruche
„Einheit, Freiheit, Gleichheit“ wurde dort entdeckt; ſeine Mitglieder kamen
aber alle mit leichten Disciplinarſtrafen davon, da Stägemann und Alten-
ſtein dem Könige die Harmloſigkeit der Sache nachwieſen.***) Wittgenſtein
dagegen und Schuckmann ſtimmten ſtets für Strenge. Unglaublich, mit
[446]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
welchen Kindereien dieſe Helden der Polizei, die doch das akademiſche Leben
aus eigener Erfahrung kennen mußten, ſich die Zeit verdarben. Schuck-
mann ſchämte ſich nicht, der badiſchen Regierung mit einem Miniſterial-
ſchreiben eigens den Brief eines jungen Bonner Hochverräthers zu ſenden,
worin erzählt war, daß Freund X. verwundet in der Hirſchgaſſe liege, Freund
O. einen ſchändlichen Schmiß über die Naſe bekommen habe. Unabläſſig
ward erwogen, welche neue Feſſeln man der Jugend wohl noch anlegen
könne. Arens, der Tyrann der Gießener Univerſität, verſtieg ſich zu dem
Vorſchlage, daß jedem Studenten ein politiſches Leumundszeugniß vom
Regierungsbevollmächtigten ausgeſtellt werden ſolle — worauf der Heidel-
berger Curator Fröhlich bitter erwiderte: „Die Zeit, wo man den Ver-
dacht des Verdachts mit dem Kopfe bezahlen mußte, liegt noch nicht ſo
weit hinter uns.“*)
Eine eigenthümliche Sonderſtellung behauptete die Polonia unter den
verfolgten Verbindungen. Die jungen Polen waren in Berlin und Breslau
als treue Freunde und ritterliche Schläger wohl angeſehen und ſtanden
mit den Burſchenſchaften auf gutem Fuße; denn wer der beſtehenden
Regierung widerſtrebte, galt für liberal, und der unſchuldigen deutſchen
Jugend war die Schärfe der nationalen Gegenſätze noch nicht zum Be-
wußtſein gekommen. Nach aller Wahrſcheinlichkeit hatte ſich die Polonia
weit tiefer als irgend eine deutſche Studentenverbindung in politiſche Um-
triebe eingelaſſen, da das altpolniſche Gebiet überall von Geheimbünden
unterwühlt war; aber die ſarmatiſche Schlauheit zeigte ſich den Künſten
der deutſchen Polizei vollauf gewachſen, die Nachforſchungen brachten kein
nennenswerthes Ergebniß. Um das Jahr 1824 erreichte der Spüreifer
der Behörden ſeinen Höhepunkt, dann erlahmte er allmählich, und im
Sommer 1829 beantragte Schuckmann ſelbſt, die Unterſuchung gegen die
Verzweigungen des Jünglingbundes einzuſtellen, weil man immer noch nicht
wiſſe, ob der geheimnißvolle Männerbund je ins Leben getreten ſei.**) —
Wer hätte damals geahnt, daß dieſe erſte politiſche Verfolgung der
neuen deutſchen Geſchichte einem fernen Abſenker unſeres Volkes nach-
haltige Stärkung bringen würde? Im Laufe des achtzehnten Jahrhun-
derts waren nach und nach zahlreiche Deutſche nach Nordamerika aus-
gewandert, zumeiſt Pfälzer und Schwaben, denen die plündernden Fran-
zoſen oder kirchlicher Druck und wirthſchaftliche Noth das alte Vaterland
verleideten. In den Hungerjahren 1816 und 17 wurden wieder an zwan-
zigtauſend Deutſche an den fremden Strand verſchlagen. Seitdem verſiegte
der Strom der Auswanderung nicht mehr, wenn er auch in ruhigen Zeiten
dünner floß; für die elf Jahre 1820—30 berechnete man in Amerika die
Zahl der deutſchen Einwanderer insgeſammt auf etwa 15,000. Es waren
[447]Die Deutſch-Amerikaner.
noch immer überwiegend Süddeutſche, die ſich in ihren dichtbevölkerten
Heimathslanden unter dem Zwange einer kleinlichen Wirthſchaftspolitik
nicht mehr fortzuhelfen wußten. Als Prinz Bernhard von Weimar im
Jahre 1825 die Union bereiſte, fand er in Neuyork, Philadelphia, Bal-
timore blühende deutſche Vereine und faſt in allen größeren Städten ein-
zelne angeſehene deutſche Bürger; unter den Millionären der jungen
Republik behauptete der Pfälzer Aſtor ſchon längſt eine glänzende Stellung.
Aber die große Mehrzahl der Deutſchen beſtand aus ungebildeten kleinen
Leuten, ſie galten wenig in Staat und Geſellſchaft. Der Name der Dutchmen
hatte ſogar einen üblen Klang, die Amerikaner dachten dabei nur an die
verkauften Heſſen und Ansbacher, die unglücklichen Söldner Englands,
und vergaßen gefliſſentlich, wie tapfer ihre deutſchen Mitbürger einſt für das
Sternenbanner gefochten, wie herrlich die Generale Steuben und Kalb
im Heere Waſhington’s den alten deutſchen Waffenruhm bewährt hatten.
Dies Urtheil begann ſich zu ändern, Bildungsſtand und Anſehen
der Deutſchen hoben ſich allmählich, ſeit eine ganze Schaar geiſtig und
politiſch regſamer Männer durch die Demagogenverfolgung in die neue
Welt getrieben wurde: Lieber und Karl Follen, Fehrentheil und Salomon,
Albert Lange und die Weſſelhöfts, Karl Beck aus Heidelberg, Bardili
aus Schwaben und viele Andere. Wunderbar, wie raſch die wildeſten
deutſchen Radikalen ſich hier in gute republikaniſche Bürger verwandelten.
Die Einen bändigte die harte Noth, die Anderen fanden hier ihr Staats-
ideal verwirklicht und brachten der neuen Heimath ein Uebermaß von
Pietät und gutwilliger Nachſicht entgegen, eine Fülle freundlicher Gefühle,
die ihnen auch in Deutſchland ein glückliches Leben geſichert haben würde,
wenn ſie ihr altes Vaterland mit der gleichen Milde beurtheilt hätten.
Es war aber nur menſchlich, daß dieſe verlorenen Söhne des deutſchen
Volks kein Ohr hatten für die Warnung, welche Niebuhr ſeinem Schützlinge
Lieber auf den Weg gab: er möge ſich durch die Leichtigkeit des wirthſchaft-
lichen Erwerbs in dem jungen Lande nicht über das Weſen der Demo-
kratie täuſchen laſſen. Befangen in den Anſchauungen des alten Natur-
rechts, erbittert über die Mißgriffe der deutſchen Polizei, wollten ſie daheim
nur die Grauſamkeit gekrönter Zwingherren ſehen und begrüßten dies un-
fertige Gemeinweſen, das der Willkür des Einzelnen ſo gar keinen Zwang
auflegte, kurzweg als das Land der Freiheit.
Am grellſten zeigte ſich dieſer Wechſel der Stimmungen in Karl
Follen. Der hatte, nachdem er zum zweiten male durch ſeine Verſchwö-
rungskünſte ſchweres Unglück über die verführte deutſche Jugend gebracht,
auch die Schweiz verlaſſen müſſen, da die deutſchen Großmächte aus trif-
tigen Gründen ſeine Auslieferung forderten. Kaum in Amerika angelangt,
redete er, ein geborener Republikaner, ſofort eine andere Sprache. „In
dieſem Lande, rief er entzückt, wo das Geſetz allein herrſcht, giebt es keinen
ruhigeren Unterthan als mich. In dieſer Vernunftwelt findet der Menſch,
[448]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
der in Europa nur ein Treibhausgewächs iſt, ſeinen Heimathboden. Steuern
giebt es keine oder doch faſt keine, denn die Regierung der ganzen Ver-
einigten Staaten koſtet nicht ſo viel als die von einem unſerer Fürſten-
thümer.“*) Niemals bemerkte er die augenfällige Thatſache, daß dieſelben
Aufgaben der Verwaltung, welche in Deutſchland der Staat löſt, in
Amerika durch die freie Thätigkeit der Geſellſchaft weit ſchlechter und weit
koſtſpieliger gelöſt werden. Thatkräftig und arbeitſam, wie er immer ge-
weſen, ſchlug er ſich durch ein Leben voll Sorgen und Entbehrungen und
nahm, wie ſo viele ſeiner Unglücksgefährten, vorlieb mit untergeordneten
Beſchäftigungen, welche daheim ſeinem Ehrgeiz nie genügt hätten. Als
Lafayette ſeine Triumphreiſe durch die Vereinigten Staaten hielt, be-
grüßte ihn Follen als alten Kampfgenoſſen; aber von der deutſchen Politik
wendete er ſich gänzlich ab. „Die Zeit wird hoffentlich kommen, ſo ſchrieb
er, da die Regierungen jenſeits mir glauben werden, daß ich in ihren
Kram, in den ich nicht tauge, mich nicht miſchen will.“**) Er ſuchte ganz
aufzugehen in den Intereſſen ſeiner neuen Heimath, ſtritt tapfer, einer
der Erſten, für die Aufhebung der Sklaverei und ſchloß ſich den unitari-
ſchen Gemeinden ſeines edlen Freundes W. E. Channing an: in dieſer
Kirche ohne Symbole, ohne Synoden und Behörden fand er das Höchſte,
was er im ſittlichen Leben kannte, die unbedingte Freiheit des perſön-
lichen Willens.
An den radikalen Ideen ſeiner Jugend hielt er feſt mit jener un-
heimlichen Hartnäckigkeit, welche der politiſche Fanatiker mit dem Geiſtes-
kranken gemein hat; ein Werden, eine innere Entwicklung war der Ein-
ſeitigkeit dieſer harten Natur nicht beſchieden. Noch in ſeiner letzten Schrift
über Krieg und Frieden vertheidigte er ſeinen alten, der franzöſiſchen Ver-
faſſung von 1791 entlehnten Lieblingsſatz: der einzige Zweck des Staates
iſt der Schutz der perſönlichen Rechte der Einzelnen; darum iſt der Krieg
eine Verſchwörung zu Raub und Mord, nur in dem einen Falle berechtigt,
wenn die Menſchenrechte, ſei es auch nur an einem einzigen Menſchen
verletzt worden ſind — und ſo lief ſchließlich Alles wieder auf den craſſen
Subjectivismus der Unbedingten, auf den Krieg der Individuen hinaus.
Wie gewandt er ſich auch in Sprache und Sitte ſeines zweiten Vater-
landes fand, der Fluch des Heimathloſen blieb ihm doch nicht erſpart. In
Deutſchland war für den Radikalen kein Raum geweſen, den Amerikanern
blieb der Idealiſt unverſtändlich. Wenn er ihnen Vorträge über Schiller
hielt, den er ganz abſtrakt als den Dichter der freien Sittlichkeit auf-
faßte, ſo bemerkte er bald, daß die Hörer ihm nicht folgen konnten: die
Kapuzinerpredigt aus Wallenſtein’s Lager war ihrem harten Confeſſiona-
lismus ſogar anſtößig. Nach manchen ſchmerzlichen Enttäuſchungen wurde
[449]K. Follen und F. Lieber in Amerika.
Follen unitariſcher Prediger und fand frühzeitig einen ſchrecklichen Tod
an Bord eines brennenden Dampfers (1839).
Nachhaltigen politiſchen Einfluß gewann aus dieſer erſten Generation
deutſcher Flüchtlinge nur Einer, Franz Lieber. Er ward ein Vermittler
zweier Nationen, indem er als Lehrer und Gelehrter, engliſch ſchreibend
aber deutſch denkend, die Ideen der Niebuhr’ſchen Geſchichtsphiloſophie zur
wiſſenſchaftlichen Begründung der Verfaſſungsgrundſätze Amerikas ver-
wendete. Mochte er auch die republikaniſche Freiheit der neuen Heimath
etwas überſchätzen, von der gehäſſigen Verbitterung des Flüchtlings blieb
ſein treues Gemüth unberührt. Mitten in ſeinem geſegneten Wirken
empfand er oft tief erſchüttert die tragiſche Wahrheit, daß Niemand zwei
Vaterländer haben kann, und ſehnte ſich aus der dünnen Luft dieſes
Landes der Arbeit hinweg in die Gedankenfülle der alten deutſchen Cul-
turwelt.
Für das unfertige nationale Leben Nordamerikas wurde die anhal-
tende deutſche Einwanderung ein köſtlicher Völkerdünger, wie der Hoch-
muth der Yankees ſagte, unſchätzbar durch Fleiß und Treue, durch Tapfer-
keit und Herzenswärme. Inmitten eines zwar minder geiſtvollen, aber
wirthſchaftlich rührigeren Volkes mußte die kleine deutſche Minderheit durch
die Nationalität der Mehrheit ebenſo unaufhaltſam erdrückt werden, wie
einſt die franzöſiſchen Refugiés im deutſchen Volksthum aufgegangen waren.
Späteſtens in der dritten Generation wurden alle deutſchen Einwanderer
zu Amerikanern, wenngleich ſich in einzelnen Strichen Pennſylvaniens
neben der engliſchen Sprache noch ein verdorbener deutſcher Dialekt be-
hauptete. Für Deutſchland aber bedeutete dies Abſtrömen geſunder Kräfte
ſchlechthin einen Verluſt, ein ohne jeden Entgelt dem Auslande darge-
brachtes Geſchenk. Der wagende Weltbürgerſinn unſeres Volks blieb auch
jetzt, da er ſich in neue Bahnen zu werfen begann, noch ebenſo unfrucht-
bar für das deutſche Staatsleben, wie vor Zeiten, als unſere Lands-
knechte die Schlachten aller Völker ſchlugen. Und ſo lange der Bundes-
tag über Deutſchland ſchaltete, konnte kaum die Frage aufgeworfen werden,
ob es nicht möglich ſei den Zug der deutſchen Auswanderung nach ſolchen
Ländern abzulenken, wo ſie der Sprache, der Sitte, der Volkswirthſchaft
des Mutterlandes nicht ganz verloren gingen.
An den Parteikämpfen der alten Heimath nahmen die Ausgewanderten
damals unmittelbar gar keinen Antheil; um ſo ſtärker wirkte in der Stille
was ſie in ihren Briefen erzählten von dem freien Lande ohne Fürſten
und Steuern, wo Jeder auf eigenen Füßen ſtehe, Jeder thun und laſſen
könne was ihm beliebe. Seit ſo viele Opfer des monarchiſchen Beamten-
ſtaates unter dem Sternenbanner gaſtliches Obdach gefunden hatten, ge-
wannen die Doctrinen des Vernunftrechts, das die Republik für den Frei-
ſtaat ſchlechthin erklärte, neue Kraft, und Gottfried Duden fand den Boden
ſchon wohl vorbereitet, als er zu Anfang der dreißiger Jahre ſeine über-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 29
[450]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſchwänglichen Schilderungen von dem glückſeligen Eldorado des Weſtens
in das alte Vaterland ſendete. Das Idealbild der großen Bundesrepublik
begann eine Macht zu werden im deutſchen Parteileben. —
Mit dem Eifer der Demagogenverfolgung ging die Wachſamkeit der
Cenſur Hand in Hand. Da Grano auf beiden Gebieten polizeilicher Ab-
wandlung zugleich ſeine bewährte Kraft entfaltete, ſo konnte es nicht aus-
bleiben, daß auch Berlin ſeinen Beitrag gab zu der Fülle läppiſcher Cen-
ſuranekdoten, welche überall in Deutſchland einen beliebten Unterhaltungs-
ſtoff bildeten. Vor den unerforſchlichen Launen dieſes Cenſors war Niemand
ſicher. Als General Minutoli einmal in Gubitz’s harmloſem „Geſellſchafter“
äußerte, von Intelligenz ſei in dem Berliner Intelligenzblatt wenig zu
ſpüren, da ſtrich ihm Grano dieſe frevelhafte Bemerkung, weil das In-
telligenzblatt ſeinen Namen mit Allerhöchſter Ermächtigung führe. Ganz ſo
arg ſtand es in Berlin freilich nicht wie in Oeſterreich, wo alle von den
deutſchen Behörden bereits cenſirten Schriften einer ſtrengen Recenſur
unterworfen und ſogar das Converſationslexikon nur einer kleinen Zahl
von Fürſten und Gelehrten, gegen das ſchriftliche Verſprechen ſtrenger Ge-
heimhaltung ausgehändigt wurde. Die Preußen waren aber auch be-
rechtigt eine milde Handhabung der Cenſur zu erwarten; denn bei der
Einſetzung des Ober-Cenſurcollegiums hatte der König ausdrücklich be-
fohlen, daß „nach liberalen Grundſätzen Preßfreiheit möglichſt erhalten,
dem Mißbrauche derſelben aber kräftigſt geſteuert werde.“*) Und wie
wurde dieſe Vorſchrift befolgt! Was ſollte Deutſchland von dem Staate
der Befreiungskriege denken, wenn jetzt Grano dem wackeren Reimer er-
öffnete, eine neue Ausgabe von Fichte’s Reden an die deutſche Nation,
die ſeit Jahren unbeläſtigt umliefen, ſei „für die jetzige Zeit nicht paſſend“,
und das Ober-Cenſurcollegium dies unglaubliche Verbot beſtätigte?**)
Auch eine Ueberſetzung von Hutten’s lateiniſchen Werken durfte nicht er-
ſcheinen, damit der römiſche Stuhl ſich nicht beleidigt fühle.
Beſonders ſchwer hatte Brockhaus in Leipzig unter der preußiſchen
Cenſur zu leiden. Er war als erklärter Liberaler und als Verleger von
Maſſenbach’s Denkwürdigkeiten in Berlin längſt übel berüchtigt. Als er
nun noch eine ungeſchickte Schrift Benzenberg’s über Friedrich Wilhelm III.
herausgab, welche dem Monarchen wie ſeinem Kanzler conſtitutionelle
Grundſätze nachrühmte, da fühlte ſich der König perſönlich verletzt, weil
darin „beſonders über die Verfaſſungsangelegenheit, in einem mit meinen
Abſichten gar nicht übereinſtimmenden Sinne geredet wird.“ Friedrich
Wilhelm befahl, fortan alle Schriften aus Brockhaus’ Verlag, bevor man
[451]Die Cenſur.
ſie in Preußen zulaſſe, einer erneuten Prüfung zu unterwerfen, denn auf
die machtloſe ſächſiſche Cenſur ſei kein Verlaß.*) Umſonſt ſuchte Harden-
berg den Zorn des Königs zu beſänftigen; Schuckmann wußte immer wieder
die Abſichten des Kanzlers zu durchkreuzen. Da Brockhaus in ſeinen Be-
ſchwerdeſchriften lebhaft und ausfällig wurde, vergaß ſich der Miniſter ſo
weit ihm anzudrohen: man werde, falls er nicht Ruhe halte, alle ſeine
Verlagswerke in Preußen verbieten und ſie den Nachdruckern preisgeben!
Nach faſt drei Jahren wurde die angeordnete Recenſur endlich zurück-
genommen.
Und dazu fort und fort in der Staatszeitung geheimnißvolle An-
deutungen über entdeckte Verſchwörungen; jedes Geſtändniß der Genoſſen
des Jünglingbundes wurde von Kamptz ſogleich zu unbeſtimmten journa-
liſtiſchen Verdächtigungen verwerthet. Der vielgeplagte Herausgeber Stäge-
mann, der dem Unweſen nicht wehren durfte, war in Verzweiflung; er
hatte einſt, als er dies dornige Amt übernahm, vor ſeinen Freunden
grimmig geſcherzt: „wer den Teufel zu verſchlucken ſich erſt entſchloſſen
hat, darf ihn nicht lang begucken“**) und dankte dem Himmel, als er
endlich davon entbunden wurde. Zu Alledem noch bei Hofe beſtändige
kleine Ohrenbläſereien, die meiſt ohne Erfolg blieben, aber vollauf genügten
um dies ohnehin verbitterte Geſchlecht in ewiger Beſorgniß zu erhalten.
Wie gern hätte Wittgenſtein den verhaßten Schleiermacher beſeitigt. Ge-
ſchäftig holte er die ängſtlichen Worte wieder hervor, welche der Staats-
kanzler vor Jahren über die politiſchen Vorleſungen des Theologen geäußert
hatte; zuletzt wagte er doch nicht zuzugreifen.***) Schleiermacher’s Freund
Gaß wurde amtlich aufgefordert nach Königsberg überzuſiedeln, weil er ſich
in Breslau durch ſeine Theilnahme am Turnſtreite unmöglich gemacht habe;
als er das Anerbieten kurzerhand ausſchlug, ließ man ihn in Ruhe.†)
Ueber Luden’s Vorleſungen fertigte der Berliner Univerſitätsbevollmäch-
tigte Schulz — nach dem Hefte eines offenbar ganz unfähigen Studenten
— ein vernichtendes Gutachten, das nach Mainz und Frankfurt geſendet
wurde; ſchließlich blieb auch der Jenenſer Hochverräther unbehelligt.††) An
die Spitzen des Beamtenthums trauten ſich die Spürer nicht recht heran.
Nur Oberpräſident Merckel forderte ſeinen Abſchied (1820), weil er der
Zwiſchenträgereien müde war und das Curatorium der Univerſität Breslau
nicht gern dem neuen Regierungsbevollmächtigten übergeben wollte. Doch
auf die Dauer konnte dieſer eingefleiſchte Schleſier nicht mit anſehen, wie
29*
[452]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
die Verwaltung ſeiner geliebten Heimath in fremden Händen lag. Als
nach fünf Jahren die Oberpräſidentenſtelle wieder erledigt war, erbat und
erlangte er vom Könige die Rückkehr in ſein altes Amt.*) —
Als Merckel und Grolman in den Dienſt zurückkehrten, W. Hum-
boldt das Wohlwollen des Königs völlig wieder erlangte, war die ſchlimmſte
Zeit der Reaction überſtanden. Und zum Glück für Preußen ſtarb jetzt
auch Fürſt Hatzfeldt (Febr. 1827). Der war bis zum letzten Athemzuge
der alte raſtloſe Spürer geblieben. Ganz ſo dreiſt, wie er ſich einſt —
von wegen ſeiner bergiſchen Beſitzungen — als „Unterthan Sr. Majeſtät
des Kaiſers der Franzoſen“ gebährdet hatte, ſpielte er jetzt den Handlanger
Oeſterreichs. Was für Geſpenſter die k. k. Polizei auch ſehen mochte,
Hatzfeldt glaubte ihr Alles, ſogar einen von Gentz verfaßten Bericht, der
die gefährlichſten politiſchen Schriftſteller Deutſchlands — Börne und
Gagern, Liſt und Weſſenberg, Zachariä und Pölitz freundnachbarlich neben-
einander — aufzählte.**) Es kam ſo weit, daß Metternich ſich einmal —
das einzige mal in allen dieſen Jahren — unterſtand, den Geſandten
wegen einer inneren Angelegenheit Preußens zur Rede zu ſtellen. Er
hatte in einem Verzeichniß des preußiſchen Staatsraths geleſen, daß
Gneiſenau den Vorſitz in dem diplomatiſchen Ausſchuſſe führe, und erklärte
dem Geſandten, ein ſolches zweites Miniſterium mache vertrauliche Mit-
theilungen unmöglich. Hatzfeldt nahm die Anmaßung ohne Widerſpruch
hin und empfing zu ſeiner Beſchämung aus Berlin die Antwort: jener
Ausſchuß beſtehe bekanntermaßen ſchon ſeit 1817 und trete nur in außer-
ordentlichen Fällen zur Berathung großer Fragen zuſammen.***) Dieſem
Liebediener Oeſterreichs die Vertretung Preußens am Wiener Hofe anzu-
vertrauen, konnte Bernſtorff nicht länger mehr verantworten. Er ertheilte
im Frühjahr 1826 dem unheilvollen Manne einen unbeſtimmten Urlaub.
Der alte Fürſt aber weigerte ſich geradezu, die Dienſtpapiere ſeinem Stell-
vertreter auszuliefern, da ſein Briefwechſel mit Metternich nicht für die
Augen Dritter beſtimmt ſei†), und ſetzte bei Hofe durch, daß er noch ein-
mal an die Donau zurückkehren durfte. Bald nachher machte ſein Tod
dem Skandal ein Ende, und ſeitdem zeigte Preußens Politik auch in ihrer
äußeren Haltung wieder die Würde einer Großmacht. Die Demagogen-
verfolgung ſchlief ein, die Gemüther begannen ſich zu beruhigen.
Den begnadigten Hochverräthern wurden ihre Sünden nicht nach-
getragen; man ſpottete ſogar in den Beamtenkreiſen, Niemand könne ſo
ſicher auf eine glänzende Carriere rechnen wie die bekehrten Demagogen.
Indeß empfand der König keineswegs Reue wegen des Geſchehenen; er
[453]Klewiz’s Rücktritt.
hat niemals begriffen, wie viel Schmach und Elend dieſe thörichte Ver-
folgung über ſeinen ehrenreichen Staat gebracht hatte. Auch der Kron-
prinz blieb, obwohl verſtimmt über die Kleinlichkeit der Verfolgung, doch
feſt überzeugt von dem Daſein der großen im Finſteren ſchleichenden Ver-
ſchwörung. Darum konnte, als nachher nochmals eine radikale Erregung
die Deutſchen ergriff, der ganze Jammer der Demagogenjagd zum zweiten
male über Preußen hereinbrechen. —
Das mildere Syſtem im Innern und das ſelbſtändige Verfahren
Bernſtorff’s in der orientaliſchen Frage bewirkten, daß um die Mitte der
zwanziger Jahre das Verhältniß zum Wiener Hofe merklich erkaltete. In
den hohen militäriſchen Kreiſen äußerte ſich wieder laut und entſchieden
die alte niemals ganz überwundene Abneigung gegen Oeſterreich. Was
hatte man denn im Grunde dem getreuen Alliirten an der Donau zu
verdanken? Jene ſchlaffe, kopfloſe Kriegführung von 1813 und 14, deren
Sünden durch furchtbare Opfer des preußiſchen Heeres geſühnt werden
mußten; dann die ſchweren diplomatiſchen Niederlagen auf dem Wiener
Congreſſe; und zuletzt die mehr als beſcheidene Rolle, welche Preußen am
Bundestage ſpielte! Wie viel feſter und treuer hatte ſich doch Rußlands
Freundſchaft bewährt, auf dem Schlachtfelde und in den ſächſiſchen Händeln!
Warum der Hofburg eine Hingebung erweiſen, die nur durch unredliche
Ränke erwidert wurde? Lag es denn nicht weit näher, die europäiſche
Stellung der Monarchie durch ein feſtes Bündniß mit Rußland zu ſichern
und dann die ganze Kraft des Staates auf Deutſchland, auf die Be-
herrſchung der Kleinſtaaten zu richten? Mit Erſtaunen vernahm der
badiſche Geſandte Frankenberg ſolche Anſichten aus dem Munde ehrgei-
ziger preußiſcher Offiziere.*) Lange Jahre ſollten noch vergehen, bis dieſe
Ideen zur Herrſchaft gelangten am Hofe. Doch der Bann, welcher den
freien Willen des Staates ſo lange gelähmt, war jetzt ſchon gebrochen.
Man begann in Berlin den tiefen Gegenſatz der Intereſſen, der unſeren
Staat von Oeſterreich trennte, wieder lebhaft zu empfinden.
So waren die Wege geebnet für die handelspolitiſchen Entwürfe des
kühnen Mannes, der in ſo ſtiller Zeit wieder in die Bahnen fridericiani-
ſcher Staatskunſt einzulenken wagte, des neuen Finanzminiſters F. C. A.
v. Motz. In das achte Jahr hinein hatte Miniſter Klewiz ſein ſchweres
Amt ertragen, mit unwandelbarer Geduld die große Steuerreform auf-
recht gehalten wider zahlloſe Angriffe von innen und außen. Aber das
Deficit vermochte er nicht zu beſeitigen, trotz allen neu angeordneten Erſpar-
niſſen; denn er begnügte ſich mit einer beſcheidenen Stellung, die es ihm
[454]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
unmöglich machte den Staatshaushalt vollſtändig zu überſehen. Er trug
vor der Welt die Verantwortung für das geſammte Finanzweſen; und gleich-
wohl verfügte Ladenberg mit ſeiner Generalcontrole ſelbſtändig über alle
Ausgaben und einen Theil der Einnahmen des Staates. Und dazu noch
die unabhängige Staatsſchuldenverwaltung, bei deren Einſetzung Klewiz
nicht einmal befragt wurde. Da der Streit der Departements einen
vollſtändigen Etat gar nicht mehr zu Stande kommen ließ, ſo mußte der
Miniſter ſchon 1824 die für jedes dritte Jahr verſprochene Bekannt-
machung des Budgets unterlaſſen. Müde der ewigen Reibungen und
doch zu ſchüchtern um für ſich ſelber die gebührende Macht zu fordern,
erklärte er im December 1824 dem Könige, unter den beſtehenden Reſſort-
verhältniſſen vermöge er das Gleichgewicht der Finanzen nicht herzuſtellen,
und erbat ſich nachher die Oberpräſidentenſtelle in ſeiner ſächſiſchen Heimath.
Der König ließ darauf (12. December) den vier Präſidenten Schön,
Vincke, Motz und Schönberg den Entwurf des neuen Etats zuſenden mit
der Anfrage: welche Bedenken ſie dawider hätten, und welche beſonderen
Befugniſſe ſie für den künftigen Finanzminiſter noch verlangten, damit
er das Gleichgewicht wieder herſtellen könne. Jeder der Vier ſollte ant-
worten, als ob er ſelber zur Uebernahme des Finanzminiſteriums beſtimmt
ſei; Keiner durfte von der Befragung der Anderen etwas erfahren. In ihren
Erwiderungen empfahlen Vincke und Schönberg lediglich eine abermalige
Verminderung der Ausgaben, ohne die Mittel und Wege anzugeben.
Tiefer ging Schön auf die Frage ein. Er wollte die Verwaltung der
Staatsſchuld und des Staatsſchatzes mit dem Finanzminiſterium vereinigen
und verlangte nach ſeiner Gewohnheit zugleich, daß dem Miniſterium „das
Vertrauen des Volks“ zur Seite ſtehen müſſe. Auch benutzte er die Ge-
legenheit um die neue Inſtruction für die Oberpräſidenten zu tadeln und
in einer beſonderen Denkſchrift ſeinen alten Lieblingsgedanken, die vom
Könige ſoeben erſt endgiltig verworfene Wiederherſtellung der Provinzial-
miniſter, zu befürworten.*) Nur Motz traf in ſeiner Antwort mit ſicherer
Hand den eigentlichen Sitz des Uebels, den Dualismus der Finanzver-
waltung. Er forderte für den Miniſter kurz und gut Sitz und Stimme
in der Generalcontrole, ſo daß auch die Ausgabe-Etats nicht ohne ſeine
Genehmigung zu Stande kommen könnten; ſodann ganz freie Hand bei
der Auswahl ſeiner Räthe, endlich Centraliſation des Kaſſenweſens. In
zwei weiteren Denkſchriften, die er gleich darauf dem Grafen Lottum über-
gab, verlangte er ferner die Aufſtellung völlig zuverläſſiger Etats und
erklärte ſich entſchieden gegen die Wiedereinführung der Provinzialmini-
ſterien. Denn neben ſolchen Unterminiſtern ſei ein mächtiger Finanz-
miniſter unmöglich; dieſer müſſe unmittelbar an der Verwaltung theil-
nehmen um „unverbeſſerliche Mißgriffe, Einſeitigkeit und Indolenz“ zu ver-
[455]Motz.
hüten; „er kann nicht darauf beſchränkt bleiben, durch Etats und Ver-
waltungsnormen nur die Zukunft nach ſeinen Anſichten zu regeln; auch
kann es ihm nicht helfen, die Vergangenheit nach todten Zahlen zu
meiſtern.“*) —
Nach dieſen Erwiderungen konnte die Entſcheidung nicht zweifelhaft
ſein. Schön’s Ernennung wurde vom Kronprinzen und von Witzleben
warm empfohlen; doch er hatte ſich ſelbſt unmöglich gemacht, indem er die
Grundlagen der neuen Verwaltungsordnung wieder in Frage zu ſtellen
unternahm, und es bedurfte kaum noch der geheimen Warnungen Witt-
genſtein’s um den Oſtpreußen zu beſeitigen. Der König entſchied ſich für
Motz. Er ahnte in jenem Augenblicke ſelber nicht, wie ſegensreich dieſer
Entſchluß auf den Ganz der deutſchen Geſchichte einwirken ſollte: Schön
hätte Deutſchlands Handelseinheit nimmermehr begründet, ſeine preußiſche
Selbſtgenügſamkeit fand für Motz’s Zollvereinspläne nur Worte ſchnöden
Tadels.
Motz ſtand in ſeinem fünfzigſten Jahre, als er am 1. Juli 1825 ſein
Amt übernahm, der einzige Staatsmann in einem Cabinet von Geſchäfts-
männern. Auch dieſer Kurheſſe war einſt, wie Eichhorn, durch den Glanz
der fridericianiſchen Zeiten aus ſeiner kleinſtaatlichen Heimath in den
preußiſchen Staatsdienſt hinübergeführt worden. Eine ungleich glänzendere
und doch nicht minder gediegene Natur als der ſtille gelehrte Maaſſen,
thatkräftig, wageluſtig, voll kecken Selbſtvertrauens, das ſich oft in beißen-
den Sarkasmen äußerte, hatte der rüſtige Naturaliſt in einer wechſel-
reichen praktiſchen Laufbahn alle Bücherweisheit verachten gelernt und doch
verſtanden die lebendigen Ideen der Zeit ſich anzueignen. Noch als Mi-
niſter konnte er jüngere Freunde um ihre „gebräunte Landrathsfarbe“
beneiden. Das waren ſeine froheſten Tage geweſen, da er als junger
Landrath auf dem Eichsfelde bald zu Pferd bald mit der Jagdflinte auf
der Schulter ſeinen Kreis durchſtreifte und die Bauern auf ihren Höfen
beſuchte, ſelten mit Befehlen eingreifend, immer bereit dem geringen Manne
zu zeigen, wie man ſich ſelber helfen könne, denn „Selbſtthätigkeit ent-
ſpricht dem energiſchen Charakter des preußiſchen Volks.“ Dort gewöhnte
er ſich den Bauernſtand als den Kern der Nation zu ſchätzen: „lieber
die drückendſten Luxusauflagen, lieber wie Pitt alle Elemente beſteuern,
als den Schweiß des Landmanns belaſten.“ Der Friede von Tilſit zwang
ihn in die Dienſte des verhaßten Königreichs Weſtphalen zu treten; er
leitete das Steuerweſen im Harzdepartement, erſchien zweimal als Depu-
tirter bei dem Gaukelſpiele des Kaſſeler Landtags und beobachtete voll froher
[456]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Ahnungen, wie unterdeſſen der preußiſche Staat die Gedanken echter deut-
ſcher Freiheit in ſich aufnahm. Kaum kam die Kunde von der Leipziger
Schlacht, ſo rief er ſeine Eichsfelder wieder unter die alten Fahnen und
war ſodann in Halle und Fulda bei der Organiſation der wiedereroberten
Provinzen thätig.
Als Präſident in Erfurt half er nachher jenen Zollvertrag mit Son-
dershauſen abſchließen, der ſo vielen anderen zum Vorbilde dienen ſollte.
Hier in Thüringen trat ihm die ganze Hilfloſigkeit der deutſchen Klein-
ſtaaterei vor Augen. Grenzenlos war ſeine Verachtung gegen die kleinen
Höfe. Er kannte ihre Geſinnung genugſam aus den Schickſalen ſeiner
eigenen Familie, die unter dem Geize des heſſiſchen Kurfürſten ſchwer
zu leiden hatte, und lernte ſie noch richtiger ſchätzen als der König ihn
einmal nach Kaſſel ſendete, um die ehelichen Zwiſtigkeiten im heſſiſchen
Hauſe — natürlich ohne Erfolg — zu beſchwichtigen. Ein ſtolzer Preuße
von Grund aus, freimüthig, ſelbſtändig in Allem, wollte er das Lob
Oeſterreichs, das in den Beamtenkreiſen geſungen wurde, niemals gelten
laſſen: pfui über dieſe faule, unwiſſende, unredliche k. k. Verwaltung
Außer Canning war Motz der einzige Staatsmann dieſer Epoche, der die
Hohlheit Metternich’s völlig durchſchaute. Während faſt alle anderen
preußiſchen Staatsmänner ein ſtilles Zagen nicht überwinden konnten,
blieb dieſem friſchen Geiſte die frohe Zuverſicht des Jahres 1813 unge-
ſchwächt. „Ein guter Krieg wird uns wohl thun, ſagte er oft. Aber es
muß ein Volkskrieg ſein, und dann werden wir Kräfte entwickeln, über die
man ſtaunen wird.“
Motz wollte die Stein-Hardenbergiſchen Reformen bis in die letzten
Conſequenzen vollendet ſehen: eine neue Landgemeindeordnung ſollte er-
gänzend neben die Städteordnung treten, die Ablöſung der Grundlaſten
vollſtändig ausgeführt, auch die Ausgleichung der Grundſteuer vollzogen
werden — um der Gerechtigkeit willen, ſelbſt wenn der Staat dabei Ver-
luſte erlitte. Wie die tüchtigen Beamten dieſer Zeit alleſammt ganz und
gar in der politiſchen Arbeit aufgingen, ſo lebte auch Motz allein dem
Staate, ſelbſt in ſeinen perſönlichſten Angelegenheiten ſtanden ihm poli-
tiſche Zwecke vor Augen. Als ſein Vermögen wuchs, erwarb er eine
große Beſitzung in Poſen und fühlte ſich hier ganz als Pionier deutſcher
Geſittung. Er griff das verwahrloſte Anweſen ſogleich in ſeiner ener-
giſchen großartigen Weiſe an, zog deutſche Coloniſten auf das Gut, gab
der Provinz ein Beiſpiel durch rührige, wohlgeordnete Wirthſchaft und
ſagte lachend zu ſeinen Verwandten: „macht es wie ich; ich weiß wo der
Has im Pfeffer liegt.“
Während ſeiner angeſtrengten Verwaltungsthätigkeit in Erfurt und
nachher als Oberpräſident in Magdeburg entſtanden die Denkſchriften
über die Abrundung des preußiſchen Staatsgebiets, über den Anſchluß
der kleinen Contingente an das preußiſche Heer, über die Reform der
[457]Die Kriſis im Handel und Landbau.
Verwaltung.*) Dieſe raſch hingeworfenen Arbeiten zeigen ſchon ſein ganzes
Weſen: weiten, ſcharfen Blick, vorurtheilsfreien, hochherzigen Patriotismus,
aber auch einen Zug von genialem Leichtſinn, der nothwendig zu ſeinem
Bilde gehört. Ohne ſolche Luſt am kecken Wagen und Pläneſchmieden
hätte er ſchwerlich die Kraft gefunden in einer Epoche der Ermattung
und Entſagung den Neubau des deutſchen Staates vorzubereiten. Die
ihm näher ſtanden, empfingen den Eindruck, daß hier eine groß angelegte
Natur, ein gedankenreicher, unruhiger, überaus productiver Kopf in allzu
engem Wirkungskreiſe ſich aufzureiben drohte. Der Mann bedurfte einer
großen Thätigkeit, wenn die Ideen, die in ſeinem Geiſte gährten, ſich ab-
klären, wenn ſein ſtarker Ehrgeiz und ſeine frohe Willenskraft ſich frei
entfalten ſollten.
Um das Deficit zu beſeitigen, hatte der König den neuen Miniſter
berufen. Die glückliche Löſung dieſer nächſten Aufgabe bildete zugleich die
Vorbedingung für das Gelingen der handelspolitiſchen Pläne, welche Motz
ſeit jenem Sondershauſener Vertrage nicht mehr aus den Augen verloren
hatte; nur wenn das Gleichgewicht des Staatshaushalts geſichert war,
konnte die Krone Zollverträge von zweifelhaftem finanziellem Erfolge wagen.
In den Kreiſen des hohen Beamtenthums wurde die Lage der Finanzen
allgemein ſehr ungünſtig beurtheilt. Hatte man vor ſechs Jahren ſchlechter-
dings nicht glauben wollen, daß in Preußen ein Deficit beſtehen könne,
ſo hielt man jetzt den Zuſtand für ganz verzweifelt, weil man die Er-
giebigkeit der neuen Steuern nicht genau kannte. Motz theilte dieſe düſtere
Anſicht nicht. Er war überzeugt, das vielbeklagte Deficit ſei längſt nicht
mehr vorhanden, wenn nur erſt Einheit, Ueberſicht, Ordnung in das
Finanzweſen komme; „aber, ſagte er ſpäter zu ſeiner Tochter, ich hütete
mich wohl, Ueberſchüſſe zu verſprechen, man hätte mich für wahnſinnig
gehalten.“**) —
Einen minder muthigen Mann hätte die Lage des Marktes wohl
erſchrecken können. Zur ſelben Zeit, da Motz ins Amt trat, brach über
England eine furchtbare Handelskriſis herein, eine der ſchwerſten Er-
ſchütterungen, welche die Handelsgeſchichte kennt. Die Eröffnung des ſüd-
amerikaniſchen Marktes hatte eine fieberiſche Speculation erweckt, welcher
nun der natürliche Rückſchlag folgte: in fünf Vierteljahren ſtürzten mehr
als ſiebzig Banken und an 3600 Geſchäftshäuſer zuſammen. Auch Deutſch-
land blieb von dem Unheil nicht verſchont, wie beſcheiden auch ſein An-
theil am Weltverkehre noch war: die große Firma Reichenbach in Leipzig
und einige der erſten Häuſer Berlins gingen zu Grunde. Doch was
bedeutete dieſe Bedrängniß des Geldmarkts neben der namenloſen Noth
des deutſchen Landbaues, die wie alle landwirthſchaftlichen Kriſen ungleich
[458]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
langſamer überwunden wurde? Die Hungerjahre waren kaum überſtanden,
da fielen die Preiſe aller landwirthſchaftlichen Erzeugniſſe ſchnell und an-
haltend. Die Zollgeſetze des Auslands und der elende Zuſtand der Straßen
hemmten die Abfuhr der überreichen Ernten; ſelbſt die techniſchen Fort-
ſchritte, welche die deutſche Landwirthſchaft ihren Lehrern Thaer und
Schwerz verdankte, wirkten für jetzt nachtheilig, da die Conſumtion dem
geſteigerten Angebote ſo raſch nicht zu folgen vermochte. Der Werth der
Grundſtücke ſank in manchen Landestheilen tiefer als einſt zur Zeit des
Krieges. Nur die Schäfereien behaupteten ſich noch; Deutſchland allein
führte nach England über zweimal ſo viel Wolle aus als alle übrigen
Länder zuſammen. Aber auch dieſer Vortheil drohte zu ſchwinden, ſeit die
Fremden von uns zu lernen begannen, deutſche Hirten und Schafe in Ruß-
land, Schweden, Frankreich, Auſtralien verwendet wurden. Am härteſten
litt das unglückliche Altpreußen; während der Kriegsjahre war mehr als die
Hälfte ſeines Viehſtandes drauf gegangen, jetzt ſtand in einzelnen Gegen-
den der Tagelohn auf 3 bis 4 Sgr., in anderen wurde der Scheffel
Roggen für 5 Sgr. ausgeboten. Schön’s Schwager, Oberſt Brünneck,
ſuchte den Nachbarn zu helfen durch die Einführung der Schafzucht und
anderer techniſcher Verbeſſerungen; doch nur wenige waren im Stande
ſich auf neue Unternehmungen einzulaſſen. Auf die flehentliche Bitte der
Stände gewährte der König „dieſer alten Kernprovinz“ abermals außer-
ordentliche Unterſtützungen: Chauſſeen wurden gebaut, große Getreide-
ankäufe für die Armee angeordnet, auch Magazine angelegt, welche den
Preis des Scheffels Roggen auf der Höhe von 1 Thlr. halten ſollten.*)
Dann erlangte Schön noch eine neue Bewilligung von 3 Mill. Thlr.
zur Rettung verſchuldeter Grundbeſitzer. Als guter Patriot wollte er vor-
nehmlich die alten, mit der Geſchichte des Landes verwachſenen Geſchlechter
im Beſitze ihrer Stammgüter erhalten. Dieſelbe Meinung vertrat ſein
Freund Stägemann im königlichen Cabinet; der war, obwohl ein An-
hänger der neuen Volkswirthſchaftslehre, doch von jeher der Anſicht ge-
weſen, daß durch den Untergang der alten Grundbeſitzer der Staat
ſelber zu Grunde gehe: „es ſcheint mir ganz ſimpel, weil ein anderer
Staat daraus wird.“ Aber die bewilligte Summe reichte nicht von fern
aus, obwohl ſie faſt den ſechzehnten Theil der geſammten Staatsein-
nahmen ausmachte; zudem mußte die große Creditanſtalt der Provinz,
die „Landſchaft“, der die bedrängten Grundherren alleſammt verſchuldet
waren, um jeden Preis vor dem Bankrott bewahrt werden, wenn man
nicht das ganze Land dem Verderben preisgeben wollte. Daher befahl
der König auf Schön’s Vorſchlag (1824), die Unterſtützungsgelder zwar
zunächſt zur Rettung der alten Grundherrengeſchlechter zu verwenden;
[459]Noth der oſtpreußiſchen Grundbeſitzer.
wenn es aber ganz unmöglich ſei, eine Familie im Beſitze zu erhalten,
dann ſolle ſie mit einer nothdürftigen Penſion abgefunden und ihr Stamm-
gut durch die Landſchaft unter den Hammer gebracht werden.*)
Mit dieſer faſt unbeſchränkten Vollmacht ſchritt Schön ans Werk.
Das Schickſal des altpreußiſchen Adels lag in ſeiner Hand. Abermals,
und noch ſtürmiſcher, als vor Jahren bei der Vertheilung der erſten Kriegs-
entſchädigungsgelder,**) drängte ſich Alles um die Gunſt des Beherrſchers
der Provinz. Er that ſein Beſtes, viele wackere Männer vom Landadel
verdankten allein ſeiner Fürſorge die Erhaltung ihres Beſitzes; wo er
aber die Lage für hoffnungslos hielt, da ließ er die Landſchaft uner-
bittlich zur Subhaſtation ſchreiten. So geſchah es, daß unter der Mit-
wirkung dieſer wohlwollenden Regierung die Grafen Schlieben, die Grafen
Goltz und viele andere angeſehene Adelsgeſchlechter von Haus und Hof
verjagt wurden — die meiſten ſchuldlos, denn der letzte Grund ihrer
Noth lag doch in den patriotiſchen Opfern der Kriegszeit. Hunderte von
Landgütern wurden verſteigert, einmal ihrer 218 faſt zu gleicher Zeit;
das unmäßige Angebot drückte die Preiſe ſo tief herab, daß die Landſchaft
ſelber nur durch Zuſchüſſe des Staates ſich behaupten konnte. In man-
chen Theilen der Provinz wechſelte die volle Hälfte der großen Güter
ihren Beſitzer. Zu den Käswurm, Biehler, Reichenbach und den anderen
Salzburger Exulanten, die ſich bereits in die Reihen des Grundherren-
ſtandes emporgearbeitet hatten, trat mit einem male eine ganze Schaar
bürgerlicher Rittergutsbeſitzer hinzu, aus dem Lande ſelbſt, aus Mecklen-
burg, aus Bremen, Braunſchweig, Sachſen: darunter viele tüchtige Männer,
die hier ihr Capital zu 15 Procent anlegen konnten und bald mit der
alten Ariſtokratie verwuchſen, aber auch manche rohe Abenteurer, welche
niemals auf einen grünen Zweig kamen.
Niemand hatte unter dieſer ſocialen Umwälzung ſchmerzlicher zu leiden
als der geſtrenge Oberpräſident. Thränen des Dankes ſah er fließen,
doch auch mit Verwünſchungen wurde er überhäuft. In den Nachbar-
provinzen erzählte man allgemein, der fanatiſche Liberale habe ſich ver-
meſſen, die verfaulte Raſſe des preußiſchen Adels durch ein neues kräf-
tigeres Geſchlecht zu verdrängen. Möglich immerhin, daß Schön in ſeiner
Heftigkeit einmal eine ſolche Aeußerung herausgepoltert hat; allein ſeine
Abſicht war gerecht, er wollte den alten Geſchlechtern retten was noch zu
retten war, und nur die Dürftigkeit der Geldmittel zwang ihn zu einer
Härte, die ſeinen Wünſchen widerſprach. Wie viel erfolgreicher hatte einſt
König Friedrich nach dem ſiebenjährigen Kriege für die „Conſervirung“
[460]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſeines Grundadels geſorgt. Eine ſo durchgreifende Hilfe ließ ſich aber
jetzt nur noch ermöglichen, wenn man den Staatscredit in Anſpruch nahm,
und die Staatsſchuld war geſchloſſen, ihre Vermehrung ohne die Zu-
ſtimmung der Reichsſtände unzuläſſig. So grell offenbarte ſich wieder,
daß die Monarchie ohne Reichsſtände nur noch in einem Proviſorium
lebte: ruhigen Zeiten war ſie gewachſen, jeder außerordentlichen Aufgabe
ſtand ſie rathlos gegenüber. —
Mit dieſen traurigen Wirren hatte der Finanzminiſter unmittelbar
nichts zu ſchaffen, aber an dem Ertrage der Abgaben lernte er die Noth
der Landwirthſchaft nur zu gründlich kennen, obwohl der König bei allen
ſeinen Unterſtützungen ſtreng den Grundſatz einhielt, daß auch dem Be-
dürftigſten niemals ein Nachlaß an den Staatsſteuern bewilligt werden
dürfe. Um die Schwierigkeiten zu bemeiſtern, wollte Motz zunächſt die
Lage des Staatshaushalts genau überſehen und erneuerte daher ſeine
alte Forderung, daß der Finanzminiſter in der Generalcontrole Sitz und
Stimme haben müſſe. Der König ſuchte nach ſeiner Gewohnheit zu ver-
mitteln, weil er den verdienten alten Ladenberg nicht kränken mochte, und
ordnete an, der Finanzminiſter ſolle im Falle der Meinungsverſchieden-
heit durch einen ſeiner Räthe mündlich mit dem Präſidenten der General-
Controle unterhandeln.*) Mit einer ſolchen Halbheit konnte ſich Motz
nicht zufrieden geben; denn zwiſchen den beiden coordinirten Behörden
hatte ſich längſt ein tragikomiſcher Wettſtreit des Amtseifers entſponnen,
wie er nur in der preußiſchen Bureaukratie möglich iſt. Die General-
Controle ſuchte ihre Lebenskraft zu erweiſen, indem ſie den Etats zahl-
loſe lächerliche Monita zuſetzte, zum Domänenetat allein 91, zum Forſt-
etat 146, und die Calculatoren des Finanzminiſteriums erwiderten natür-
lich mit gleicher Münze. Das Gezänk ward ſo unerträglich, daß Motz
ſich entſchloß den König um ſeine Entlaſſung zu bitten, wenn ihm ſeine
berechtigte Forderung nicht gewährt würde. „Ich kann mich nicht dazu
verſtehen — ſchrieb er an Lottum — die Rolle zu übernehmen, welche
Herr v. Klewiz viele Jahre zum Nachtheil der Finanzen des Staates er-
tragen hat.“ Ein ſolches Abſchiedsgeſuch galt nach den Grundſätzen des
alten Abſolutismus als ſtrafbarer Trotz, und Motz ſelber hielt für nöthig
die Verſicherung hinzuzufügen: „ich würde der Gnade des Königs mich
ſelbſt unwürdig erkennen, wenn ich in Eitelkeit und Thorheit befangen,
mich auf anderem Wege in meiner Dienſtſtelle zu conſerviren bemüht
ſein wollte.“
Seit Stein im Frühjahr 1807 aus ähnlichem Anlaß ungnädig ent-
laſſen worden, hatte kein Miniſter mehr gewagt in dieſem Tone zu reden;
ſelbſt Hardenberg hatte nur einmal, als er auf die Zuſtimmung des Königs
ſicher rechnen konnte, leiſe mit ſeinem Abgang gedroht. Friedrich Wilhelm
[461]Aufhebung der Generalcontrole.
brauchte auch volle vier Monate, bis er dem neuen Miniſter ſein ſelbſt-
bewußtes Auftreten ganz verzieh. Dann aber hatte er ſich durch Lottum’s
Vorträge von der Unhaltbarkeit des beſtehenden Dualismus gründlich
überzeugt, und da er ſeine bureaukratiſchen Hartköpfe kannte, ſo ging er
nunmehr ſogleich weit über die Vorſchläge des Finanzminiſters ſelber
hinaus. Am 8. April 1826 überraſchte er dieſen durch die willkommene
Mittheilung: er denke die General-Controle ganz aufzuheben, ihre Ge-
ſchäfte dem Finanzminiſterium zu übertragen. Am 29. Mai wurde dieſer
Befehl vollzogen und Ladenberg mußte ſich wehmüthig mit dem Präſidium
der Oberrechnungskammer begnügen.*) Motz aber war jetzt endlich Herr
der Lage, und die anderen Miniſter empfanden bald, daß er ſich berech-
tigt hielt, alle Gebiete der Verwaltung ſcharf zu überwachen. Der lang-
ſame Altenſtein mochte wohl Grund haben, ſich über die Anmaßung des
Finanzminiſters zu beſchweren, denn umſtändliche Bedachtſamkeit reizte
den ſtürmiſchen Mann leicht;**) doch über ſeine Kargheit konnte Niemand
klagen. Den Anforderungen der Kunſt und Wiſſenſchaft entſprach er,
nach dem Maße der vorhandenen Mittel, ſehr freigebig; als Kamptz ihn
wegen der hohen Koſten der Reviſion des Landrechts befragte, erwiderte
er nachdrücklich: für ein ſolches Werk muß in Preußen immer Rath ge-
ſchafft werden.
In jedem Zweige des Finanzweſens ſpürte man die rüſtigen Hände
des neuen Leiters. Durch eine gründliche Reform der Kaſſenverwaltung
verſchaffte er ſich einen genauen Ueberblick über alle Beſtände. Das
Steuerweſen ließ er in den Händen Maaſſen’s, des Urhebers der neuen
Zollgeſetzgebung. Die Beiden galten in der Beamtenwelt als Neben-
buhler, aber ſie wurden Freunde. Maaſſen fügte ſich gern der raſchen
Entſchloſſenheit des jüngeren Vorgeſetzten, und dieſer wußte wohl, was er
der Umſicht und Sachkenntniß des Generalſteuerdirektors verdankte. „Alles
mit Maaſſen,“ ſagte er lächelnd, wenn ihn der beſonnene Freund von
einem übereilten Wagniß zurückgehalten hatte. Unter Maaſſen arbeitete
der geiſtreiche Ludwig Kühne, Motz’s alter Freund von Erfurt her, der
Schrecken aller Trägen und Mittelmäßigen; wie wußte er ſeine Leute in
Athem zu halten, wenn er ihnen zurief: „Dummheit iſt eine Gottesgabe,
aber ſie zu mißbrauchen iſt ſchändlich!“
In den Provinzen war das Steuerweſen bisher von den Regierungen
verwaltet worden; der König hatte indeß bald eingeſehen, wie wenig das
langſame Collegialſyſtem ſich für dieſen Zweig der Verwaltung eignet,
und daher (1822) zunächſt in den beiden weſtlichen Provinzen das ge-
[462]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſammte Steuerweſen einem Provinzial-Steuerdirektor unterſtellt. Dieſe
Einrichtung bewährte ſich vollſtändig und wurde durch Motz auch in den
übrigen Provinzen eingeführt. Die neuen Behörden mußten nach Landes-
brauch anfangs oft mit der Eiferſucht der Regierungen kämpfen, Schön
namentlich verſtand ſeinem Steuerdirektor das Leben ſauer zu machen;
auch das Volk empfing ſie mit Argwohn, denn der Name der Zöllner
hatte einen böſen Klang, in den alten Provinzen dachte man noch mit
Schrecken an die Regie-Direktoren des großen Königs. Doch bald lernte
man die Pünktlichkeit und ſchlagfertige Raſchheit der Steuerbehörden
ſchätzen; am Rhein wurde der Steuerdirektor v. Schütz ſogar ein volks-
beliebter Mann. Jede tiefgreifende Steuerreform bedarf der Zeit, um
ihren Werth zu erproben. Jetzt hatte die Geſchäftswelt ſich nach und
nach an die neuen Abgaben gewöhnt, die Beamten Uebung und Sicherheit
erlangt in den ungewohnten Formen. Auch der Schmuggel begann nach-
zulaſſen. Etwa um das Jahr 1827 konnte die Reform als abgeſchloſſen
und in den Volksgewohnheiten feſtgewurzelt gelten.
Zu ihrer Ergänzung unternahm Motz die Neugeſtaltung der Do-
mänenverwaltung, die unter dem Drucke der großen landwirthſchaftlichen
Kriſis ganz in Verwirrung gerathen war. Der Miniſter ſelbſt und der
neue Direktor des Domänenweſens, Keßler, bereiſten perſönlich ſämmtliche
Domänen und Forſten der Monarchie, überall jubelnd empfangen von
der Jägerei und den Pächtern, die es kaum faſſen konnten, daß die Herren
in Berlin ſich endlich einmal ihrer Noth annahmen. Dann überwies
Motz, um mit dem alten Jammer aufzuräumen, alle Rückſtände einer
beſonderen Verwaltung und ſchloß für das geſammte Domanium neue,
billigere Pachtverträge, welche ſtreng eingehalten wurden, aber hunderte
von Pächtern vor dem Untergange bewahrten. Mit der Veräußerung
der Domänen verfuhr er ſehr vorſichtig; nur in Weſtpreußen und Poſen
ließ er zahlreiche Vorwerke an deutſche Coloniſten veräußern, „um einen
ſelbſtändigen und der Regierung anhänglichen Bauernſtand zu bilden.“
Das Beſte blieb doch, daß man nun endlich wußte, woran man war.
Nach kaum drei Jahren, am 30. Mai 1828 konnte Motz dem Monarchen
berichten, daß ſtatt des gefürchteten Deficits ein reiner Ueberſchuß von
4,4 Mill. erzielt worden ſei, der ſich nach Eingang der Rückſtände auf
7,8 Mill. ſteigern müſſe; 3,245 Mill. waren bereits baar an den Staats-
ſchatz abgeführt, 1,172 Mill. zu außerordentlichen Ausgaben verwendet.
Dankbar geſtand er zu, ohne die großen unter ſeinem Vorgänger voll-
zogenen Reformen würde er nicht im Stande ſein dem Könige ſo er-
freuliche Ergebniſſe vorzulegen; aber er durfte ſich ſagen, nur er habe
vermocht die Ernte dieſer Saaten einzuheimſen, und er fühlte ſich bereits
ſo ſicher, daß er eine mäßige Verminderung der Klaſſenſteuer vorzuſchlagen
wagte: die Steuerpflichtigkeit ſollte fortan zwei Jahre ſpäter als bisher,
erſt mit dem ſechzehnten Lebensjahre beginnen. Auch fernerhin, ſo ſchloß
[463]Beſeitigung des Deficits. Beuth.
der von L. Kühne entworfene Bericht, werden die Grundſätze der Finanz-
verwaltung bleiben: „Sparſamkeit und Ordnung in den gewöhnlichen Aus-
gaben; Bereithaltung der Kräfte, welche der Friede gewährt hat, für die
Zeit des erſten Krieges; Aufrechterhaltung des Credits durch Pünktlich-
keit; Verwendung eines Theiles der Ueberſchüſſe als werbendes Capital
für die Zukunft für den Gewerbfleiß.“*) —
Seitdem war Motz der Achtung des Königs ſicher. Bei Hofe be-
trachtete man ihn als einen Emporkömmling, da ſein altes heſſiſches
Adelsgeſchlecht im preußiſchen Dienſte neu war. Die Partei Wittgenſtein’s
witterte bald den Liberalismus des Miniſters heraus; Lottum aber und
die anderen Anhänger der unbedingten Sparſamkeit tadelten ſeinen Leicht-
ſinn, weil er mit den ſteigenden Einnahmen auch das knappe Ausgaben-
Budget allmählich, um etwa 900,000 Thlr., erhöhte. Wagten ſich ſolche
Vorwürfe aus dem Dunkel heraus, dann rechtfertigte er ſich ſtets frei-
müthig vor dem Könige ſelbſt, denn ohne das Vertrauen des Monarchen
könne der Finanzminiſter als Aufſeher der geſammten inneren Verwaltung
nicht beſtehen.**)
Die Verkehrspolitik lag jetzt ganz in ſeiner Hand. Das bisher vom
Grafen Bülow verwaltete Handelsminiſterium war ſeit 1825 aufgehoben,
und mit Beuth, dem Chef der neugegründeten Miniſterialabtheilung für
Handel, Gewerbe und Bauweſen, ſtand Motz auf dem beſten Fuße. Wie
fühlte er ſich glücklich, mit dieſem genialen Techniker zuſammenzuarbeiten,
der ſo ſicher wußte, daß eine völlig verwandelte Zeit, eine neue Epoche
der Entdeckungen und Erfindungen gekommen ſei, und ſo zukunftsfroh
auf dem Strome dieſes großen Jahrhunderts daherſchwamm. „Nicht
nach Rittern oder Pfaffen oder Räubern ſteht mein Sinn: — ſchrieb
Beuth einmal in ſeiner luſtigen Weiſe — nach den Spinnern, nach den
Webern, die erfindungsreich erſchaffen, im Genuß von Millionen, auf
den Hügeln ihres Landes Villen bauen, Künſte üben, gaſtfrei ſind.“ Zu
dieſer Höhe des Schaffens und des Genießens, die er den Briten be-
neidete, wollte er auch ſein Deutſchland aufſteigen ſehen; doch bei aller
Bewunderung für die himmelan ragenden „Obelisken“ der engliſchen
Fabrikſtädte fühlte er ſich ſtolz als Sohn einer menſchlicheren, weither-
zigeren, geiſtig freieren Nation und ſprach mit überlegener Ironie von
der unheilbaren Beſchränktheit des Inſelvolks. Die proſaiſche Unſchönheit
der modernen Großinduſtrie verletzte ihn kaum weniger als ſeinen Herzens-
freund Schinkel, und als ſie ſelbander 1826 England durchreiſten, be-
gegneten ſich Beide in dem Gedanken: ihr Volk ſolle dereinſt noch lernen
den Stoff ebenſo vollſtändig zu beherrſchen wie die Briten, aber ſich auch
die Feinheit des Formenſinnes, die Jenen fehlte, erringen.
[464]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Mannichfache Anzeichen verkündeten ſchon, daß die Deutſchen, zuerſt
die Preußen, aus der troſtloſen Verarmung der Kriegsjahre wieder aufzu-
ſteigen begannen. Ueber alle Erwartung hob ſich der Verkehr, ſeit Preußen
den Ausbau ſeines Straßennetzes ernſtlich in Angriff nahm. In den
kurzen fünf Jahren der Verwaltung Motz’s wurden 285 Meilen neuer
Chauſſeen vollendet, 141 begonnen — darunter die koſtſpieligen und
ſchwierigen Straßen durch die ſchleſiſchen und weſtphäliſchen Gebirge, durch
die Werder des Weichſelthals, durch die ſumpfigen Niederungen um Magde-
burg und Merſeburg, denn gerade in dieſen unwegſamen Gegenden war
das Verkehrsbedürfniß am ſtärkſten. Manchen Landſtrichen des entlegenen
Oſtens brachten die neuen Straßen ein ganz verändertes Leben; in der
Tucheler Heide konnte man des Räuberweſens jetzt erſt Herr werden, und
der Urheber des Baues, Schön verdiente wohl, daß die dankbaren Um-
wohner ihm mitten im Walde ein Denkmal ſetzten. Im Jahre 1831 beſaß
der Staat 1147 Meilen Steinſtraßen, mehr denn doppelt ſo viel als im
Jahre 1816. Von den 39½ Mill. Thlr., welche der König in den Jahren
1820—34 für außerordentliche Bauten, Meliorationen und Kunſtwerke
ausgeben ließ, wurden 11,6 Mill. für die Chauſſeen verwendet.*)
Und der Generalpoſtmeiſter verſtand die Straßen zu verwerthen.
Nagler’s Poſten erregten den Neid der Nachbarn und griffen ſchon vielfach
in das verzinkte und verzackte Gebiet der Kleinſtaaten hinein. Wie der
preußiſche Thaler überall ſeinen günſtigen Kurs behauptete, obgleich Naſſau
und andere Kleinſtaaten ſich redlich bemühten, ihn durch landesfürſtliche
Verordnungen um einige Kreuzer unter ſeinen Handelswerth herabzu-
drücken, ſo konnte man ſich auch die unheimlichen Poſtillone mit dem
Orangekragen nicht ganz vom Leibe halten. In den Städten Thüringens
ſtrömte das Volk zuſammen um den königlichen Eilwagen zu bewundern,
der ſeit 1825 zweimal wöchentlich den Tag und die Nacht hindurch zwi-
ſchen Berlin und Frankfurt fuhr. Die Einnahmen der Poſt ſtiegen in
ſieben Jahren, bis 1830, von 2,9 auf mehr als 4 Mill. Thlr. Die Zahl der
Briefe wuchs, denn bald nach den Binnenzöllen war folgerecht auch (1824)
das Binnenporto beſeitigt worden mitſammt allen den geheimnißvollen
Zuſchlagstaxen der guten alten Zeit. Die Gebühren wurden jetzt einfach
nach der Entfernung erhoben. Sie blieben noch recht hoch (1—5 Sgr.
für die Entfernungen unter 30 Meilen, und dann für je 10 Meilen mehr
1 Sgr. Zuſchlag); aber die Preußen wußten jetzt doch mindeſtens Beſcheid,
während es in den Kleinſtaaten noch täglich vorkam, daß etwa ein Brief
von Bremen nach Stuttgart theurer bezahlt werden mußte, als ein Brief
von Stuttgart nach Bremen.
Und ſchon begann die Wunderkraft des Dampfes ſich auch im deut-
[465]Aufſchwung des Verkehrs.
ſchen Verkehre zu regen. Bremen und Hamburg beſaßen bereits mehrere
Seedampfer. Dann wurde auf der Oſtſee ein regelmäßiger Poſtdampfer-
dienſt eröffnet und nach wiederholten vergeblichen Verſuchen auch die erſte
deutſche Flußdampfſchifffahrt auf der Oder eingerichtet. Zur ſelben Zeit
(1822) ſendete eine holländiſche Geſellſchaft den Dampfer „der Nieder-
länder“ zum grenzenloſen Erſtaunen der Uferbewohner nach Köln hinauf.
Drei Jahre ſpäter trat in Köln die erſte deutſche Rheinſchifffahrtsgeſell-
ſchaft zuſammen. Ihre drei Dampfer befuhren den Strom von Rotter-
dam bis Mainz, bald bis nach Mannheim, und beförderten im Jahre
1830 ſchon an 53,000 Reiſende. Die geſammte Einnahme belief ſich auf
wenig mehr als 200,000 Thlr., doch bereits war in Ruhrort eine Dampf-
ſchiffswerft im Bau, die Rheinſchiffer ahnten ſchon das nahende Ver-
derben. Wie üppig hatten noch zu Anfang des Jahrhunderts die Rotter-
damer Beurtſchiffer tagelang im heiligen Köln geſchlemmt, wenn ihre
ſchweren Schiffe nach ſechswöchentlicher Fahrt, von zwanzig Pferden ge-
zogen, im Hafen angelangt waren. Damals warf der Centner Kaffee
1 Thlr. 40 Stüber Fracht ab, jetzt fiel die Fracht auf 75 Centimes;
unerbittlich bewährte ſich das Naturgeſetz der modernen Volkswirthſchaft,
das den Handel zwingt, kleinen Gewinn durch raſchen Umſatz zu mehren.
Noch größere Umwälzungen waren im Anzuge. Im Jahre 1825 wurde
die erſte Lokomotiv-Eiſenbahn Europas, die kleine Strecke von Stockton nach
Darlington eröffnet, und da und dort wagte ſchon ein Vorwitziger die
Frage, ob nicht auch Deutſchland ſich die neue Erfindung zu nutze machen
ſolle; denn trotz allen Verbeſſerungen der jüngſten Jahre genügten die
vorhandenen Verkehrswege längſt nicht mehr, bei Gleiwitz im oberſchle-
ſiſchen Bergwerksbezirke lagen hunderttauſende von Centnern Steinkohlen
oft ein halbes Jahr hindurch müßig in den Kanalſchiffen, wenn der
Waſſerſtand der Oder niedrig war. Indeß ſolche Stimmen blieben ver-
einzelt; die große Mehrzahl wollte ſich in den alten Gewohnheiten nicht
ſtören laſſen, die Kaufherren und Fabrikanten dachten kaum anders als
die kleinen Krämer. Als in Leipzig 1829 der Plan einer Eiſenbahn nach
der Unterelbe zuerſt beſprochen wurde, da traten die Aelteſten der Magde-
burger Kaufmannſchaft zuſammen und verwarfen den Plan einſtimmig,
da die Bahn nur den Eigenhandel Magdeburgs nach Leipzig locken würde.
Unter den Wenigen, welche die Macht der großen Neuerung ahnten, war
auch Motz. Er ſchlug ſchon im Jahre 1828 dem Könige vor, durch eine
Eiſenbahn von Minden nach Lippſtadt die Weſer mit der ſchiffbaren Lippe
zu verbinden und alſo den geſammten Handelsverkehr zwiſchen Bremen
und Süddeutſchland durch preußiſches Gebiet zu leiten.*)
Gegen das Ende der zwanziger Jahre hatte der Landbau die ver-
heerenden Wirkungen der großen Kriſis leidlich verwunden, und ein Jahr-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 30
[466]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
zehnt nach dem Erlaß des Zollgeſetzes konnte Geheimrath Ferber ſeine
„Beiträge zur Kenntniß der preußiſchen Monarchie“ herausgeben, die auf
allen Gebieten der Erzeugung und Verzehrung ein ſtetig anhaltendes
Steigen nachwieſen. Die ſkeptiſche Statiſtik unſerer Tage iſt freilich über
manche roſige Schilderung, welche einſt Ferber und nach ihm Dieterici ent-
warfen, längſt zur Tagesordnung übergegangen. Die glänzenden Zahlen,
welche die Vermehrung des Conſums von Fleiſch und Getreide zeigen
ſollten, entbehrten offenbar der Beweiskraft, da man den Umfang der
landwirthſchaftlichen Production nicht mit voller Sicherheit kannte. Etwas
ſicherer ließ ſich die anhaltende Beſſerung an der Conſumtion der Colonial-
waaren nachweiſen: ſo wurden an Kaffee im Jahre 1804 nur 0,75 Pfd.,
1822 bereits 1,22 und 1838 ſchon 2,20 Pfd. auf den Kopf der Bevölke-
rung verzehrt, wobei allerdings die Verringerung des Schmuggels mit in
Anſchlag kam. Auch die Verzehrung des Tabaks ſtieg beträchtlich; ſeit
1820 etwa begann der leichtfertige „Cigarro“ immer zuverſichtlicher neben
der ehrenfeſten Pfeife aufzutreten. Die Dichtigkeit der Bevölkerung auf der
Geviertmeile wuchs in den Jahren 1816—31 von 2006 auf 2521 Köpfe.
Nach einer annähernd richtigen Schätzung betrug der Geſammt-
werth der Ein-, Aus- und Durchfuhr im Jahre 1796 gegen 105 Mill.
Thaler, im Jahre 1828 die Einfuhr allein 106, die Ausfuhr 85, die
Durchfuhr 104 Mill. Thlr. Die Zahl der Handeltreibenden ſtieg in den
erſten ſechs Jahren nach dem Erſcheinen des Zollgeſetzes von etwa ſiebzig
auf zweiundachtzigtauſend; die Gewerbeſteuer brachte 1824 einen Ertrag
von 1,6 Mill., 1830 ſchon 2,1 Mill. Thlr. Einzelne große Induſtrieplätze,
vornehmlich Berlin, Aachen, Elberfeld und Barmen, nahmen einen über-
raſchenden Aufſchwung, weniger in Folge des Zollſchutzes, als vielmehr,
weil ihren Producten ein weites freies Marktgebiet eröffnet war. Die
Einfuhr der zur Verarbeitung beſtimmten Baumwollengarne ſtieg in ſieben
Jahren (1823—29) von 51,000 auf faſt 112,000 Ctr. Die Summe der
auf den preußiſchen Meſſen umgeſetzten ausländiſchen Waaren verdoppelte
ſich im Laufe der zwanziger Jahre. Vielverheißend war vor Allem der
Aufſchwung des Bergbaus; die Steinkohlenabfuhr bei Ruhrort bewältigte
im Jahre 1831 ſchon 5½ Mill. Ctr., mehr denn doppelt ſo viel als in
dem erſten Friedensjahre. Auch das bisher den Deutſchen noch faſt unbe-
kannte Gewerbe der Maſchinenbauer fing an ſich in Preußen einzubürgern.
Um die Mitte der zwanziger Jahre ſiedelte James Cockerill aus der
Wunderſchöpfung ſeines Vaters, den Werken von Seraing, nach Aachen über
und ſuchte die Erfindungen der engliſchen Maſchinenfabrikation auf dem
deutſchen Markte zu verwerthen. In Berlin beſchäftigten die Maſchinen-
fabriken von Hummel, Freund, Egells (1830) etwa 500 Arbeiter. Den
beſten Kunden für ihre Dampfmaſchinen fanden ſie vorerſt noch an der
königlichen Bergwerks- und Kanalverwaltung; die Privatinduſtrie bediente
ſich des Dampfes faſt nur in den Spinnereien, ſeit Kurzem auch in den
[467]Beuth und die Gewerbeſchulen.
neuen Kartoffelbrennereien, die ſeit 1820 aufkamen und nach einigen
Jahren unglücklicher Verſuche endlich die alte Getreidebrennerei vollſtändig
verdrängten.
In dieſen erſten Entwicklungsjahren des deutſchen Großgewerbes war
die Wirkſamkeit der techniſchen Lehranſtalten ſtärker als heutzutage, wo
die induſtriellen Bildungsmittel gleichſam auf der Straße liegen. Das
neue von Beuth unmittelbar geleitete Berliner Gewerbe-Inſtitut wurde
eine Pflanzſchule von tüchtigen Baumeiſtern, Ingenieuren, Fabrikanten.
Dort lehrte der Schwabe Mauch, der geſchmackvolle Zeichner, der auch
an dem Prachtwerke Beuth’s und Schinkel’s, den „Vorbildern für Fabri-
kanten und Handwerker“, fleißig mithalf. In demſelben Jahre, da dies
Inſtitut eröffnet wurde (1821) ſtiftete Beuth den Verein zur Beförderung
des Gewerbfleißes, der bald in Breslau und anderen Induſtrieplätzen
Nachahmung fand. Mit allen Großinduſtriellen des Landes ſtand der
raſtloſe Dränger und Treiber in freundlichem Verkehr; ſie alle, der Stein-
gutfabrikant Bachmann in Mettlach an der Saar ſo gut wie die Direction
der Königshütte in Oberſchleſien, empfingen von ihm Rathſchläge, Nach-
richten, Modelle, und nie war er froher, als wenn er durch einen tech-
niſchen Fortſchritt zugleich die Veredlung des Geſchmacks fördern konnte.
Beuth wußte längſt, daß der claſſiſche Unterricht der Gymnaſien
nicht mehr genügte um die künftigen Gewerbtreibenden für die ſo mächtig
geſteigerten Aufgaben des modernen Verkehrs auszurüſten. Auch die
mannichfachen Vorbildungsanſtalten für techniſche Berufe, die ſchon ſeit
dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts unter verſchiedenen Namen be-
ſtanden, reichten nicht mehr aus. Seit dem Jahre 1824 etwa ward dem
Mangel abgeholfen durch die Einrichtung von Gewerbeſchulen, die von der
claſſiſchen Bildung ganz abſahen und den Unterricht auf Mathematik,
Naturwiſſenſchaft, Zeichnen, moderne Sprachen beſchränkten. Das Unter-
richtsminiſterium zeigte ſich dieſen, von Motz eifrig beförderten Unterneh-
mungen ſehr ungünſtig. Süvern und die anderen philologiſch geſchulten
Räthe Altenſtein’s wollten ſich nicht trennen von dem Idealbilde der Ein-
heitsſchule, das in der Mannichfaltigkeit der modernen Volkswirthſchaft
weder erreichbar noch nöthig iſt, da die großen gemeinſamen Intereſſen der
bürgerlichen Geſellſchaft die Stände doch immer wieder zuſammenführen.
Die Magiſtrate der großen Städte aber konnten ſich den gebieteriſchen
Anforderungen des praktiſchen Lebens nicht entziehen. Voran ging Berlin.
Dort bewirkte Bürgermeiſter Bärenſprung (1824), nicht ohne despotiſche
Eigenmächtigkeit, die Eröffnung einer Gewerbeſchule, die unter der Leitung
des wackeren Polyhiſtors Klöden kräftig gedieh und verwandten Anſtalten
in Breslau, Stettin, Elberfeld zum Vorbilde diente. Bald war keine
Provinz mehr ohne Gewerb- und Realſchulen; in Oberſchleſien wurden
auf Beuth’s Andringen ihrer drei zu gleicher Zeit eröffnet. So entſtand
eine neue Form deutſcher Bildung, minder geiſtvoll als die claſſiſche, aber
30*
[468]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
tief begründet in den Bedürfniſſen der modernen Geſellſchaft und reich
an eigenthümlichen ſittlichen Kräften: denn die Mathematik duldet keine
Lücke des Fleißes, ſie erweckt dem Schüler frühe ſchon den frohen Glauben,
daß der Menſch abſolute Wahrheiten zu finden vermag, und die meiſten
der techniſch gebildeten jungen Leute gingen ins Leben mit einer dreiſten
Zuverſicht, welche das Gymnaſium ſeinen Schülern nicht immer verleiht,
ſie fühlten ſich ſtolz an der Spitze der Civiliſation zu ſchreiten. Dieſe
realiſtiſche Bildung blieb geſund und wohlberechtigt, ſo lange ſie beſcheiden
ihre Schranken einhielt und noch nicht den anmaßenden Anſpruch erhob,
die Univerſitäten und Gymnaſien von der freien Höhe ihrer claſſiſch-hiſto-
riſchen Weltanſchauung herabzuſtürzen. Alexander Humboldt und der
Königsberger Aſtronom Beſſel begrüßten die Wandlung mit Freuden.
Goethe aber ſchrieb befriedigt, als er Klöden’s erſtes Programm empfing:
dieſe Schrift „belehrt uns von der umfaſſenden Sorgfalt, womit der preu-
ßiſche Staat ſich gegen die unaufhaltſam fortſtrebende Technik unſerer
Nachbarn ins Gleichgewicht zu ſtellen trachtet.“
Keck und fröhlich äußerte ſich der Lebensmuth dieſes neuen Geſchlechts,
wenn Beuth im Gewerbevereine „ſeine Leibgarde“ um ſich verſammelte,
wie der Kronprinz ſie nannte. Da war Egells, der Lehrer Borſig’s, und
Feilner, der den Norddeutſchen ihren unentbehrlichen Hausfreund, den
großen weißglaſirten Ofen ſchenkte; der Vergolder Hoſſauer, der die plat-
tirten Metallwaaren nach Deutſchland brachte, und viele andere auf-
ſtrebende techniſche Talente, alleſammt ſehr anſpruchslos nach unſeren
Begriffen, aber voll thatkräftiger Schaffensluſt und im Grunde glücklicher
als die reicheren Nachkommen. Denn noch war die Welt nicht vertheilt,
das Maſſenelend und die erdrückende Uebermacht des großen Capitals
kaum bemerkbar; weit leichter als heutzutage konnte ein armer Klempner-
geſell wie Hoſſauer durch die Kraft ſeines Kopfes und ſeiner fleißigen
Hände zu glänzendem Reichthum gelangen. Ohne die feſte Ueberzeugung,
daß die Welt dem Tüchtigen gehöre, hätte dies verarmte Geſchlecht nie
vermocht den Cyclopen unſerer heutigen Fabriken ihre Eſſen anzuzünden.
Am langſamſten erholte ſich die Rhederei von den Schlägen des
Krieges. Die Handelsflotte hatte im Kriege von 1806 durch die Eng-
länder ſchwere Verluſte erlitten, und als Neuvorpommern an Preußen
fiel, behielten viele der dortigen Schiffe die ſchwediſche Flagge bei, weil ſie
einigen Schutz gegen die Barbaresken bot. Im Jahre 1820 beſaß Preußen
nur noch 705 meiſt alte und baufällige Schiffe mit 72,435 Laſt Trag-
fähigkeit; vor den Kriegen hatte man an der Küſte von Barth bis Memel
ihrer 1102 gezählt. Während der letzten Kriegsjahre war die preußiſche
Flagge von der hohen See faſt verſchwunden; jetzt galt es ihren tief ge-
ſchädigten Ruf herzuſtellen, einen Stamm von tüchtigen Seeleuten zu er-
ziehen. Dies gelang der neu gegründeten Navigationsſchule in Danzig
und den Schifffahrts-Elementarſchulen von Memel, Pillau, Stettin,
[469]Schifffahrtsvertrag mit England.
Stralſund. Statt der unbrauchbaren alten Schiffe wurden neue gebaut,
in geringerer Zahl, aber ſtärker und von größerer Tragfähigkeit; im Jahre
1830 zählte die Handelsflotte wieder 643 gute Schiffe mit 75,079 Laſt.
Immerhin blieb der Fortſchritt ſehr mühſam; von dem Schiffsverkehr der
preußiſchen Häfen kam (1828) nur die Hälfte auf die heimiſche Flagge,
mehr als ein Viertel der aus- und eingehenden Schiffe war engliſch. —
So erfreulich dies langſame Erſtarken war, Motz wußte wohl, daß
ſein Staat weit Größeres leiſten könnte, wenn er nur nicht überall durch
die mißgünſtige Handelspolitik ſeiner zahlloſen Nachbarn gehemmt würde.
Noch am günſtigſten geſtaltete ſich, nach einigen Jahren der Feindſeligkeit,
das Verhältniß zu England. Da das Inſelreich an der Navigationsakte
Cromwell’s hartnäckig feſthielt und der Danziger Handel unter den eng-
liſchen Schifffahrtsabgaben faſt erlag, ſo griff Preußen zu Retorſionen
und belegte (20. Juni 1822) die Schiffe aller Nationen, welche nicht volle
Gegenſeitigkeit gewährten, mit einem hohen Flaggengelde. Auf die Be-
ſchwerde des engliſchen Hofes gab man die kühle Antwort, in dieſe häus-
liche Angelegenheit habe ſich das Ausland nicht zu miſchen. Der preu-
ßiſche Geſandte erklärte: nach der Anſicht ſeines königlichen Herrn ſeien
gegenſeitige Handelsbeſchränkungen nur gegenſeitiges Unrecht; Preußens
Politik gehe dahin, gegenſeitige Erleichterungen an die Stelle der Be-
ſchränkungen zu ſetzen; jedoch der König verlange Reciprocität und werde
im Nothfall die Flaggengelder noch erhöhen. Huskiſſon, der Präſident
des Handelsamtes, bekannte, daß er der Sprache der Billigkeit nichts ent-
gegen zu ſetzen wiſſe. Er ſah, was auf dem Spiele ſtand; die engliſche
Ausfuhr nach Preußen erreichte bereits einen Werth von mindeſtens
7 Mill. £., während Preußen kaum halb ſo viel nach England ausführte.
Das entſchloſſene Auftreten des Berliner Hofes bot dem klugen Manne
die erwünſchte Handhabe, eine Reform der engliſchen Handelspolitik zu ver-
ſuchen. Wohl regte ſich im Parlamente wieder der altengliſche unwiſſende
Hochmuth; acht Jahre nachdem die Preußen das Heer Wellington’s bei
Waterloo gerettet hatten, nannte ein Redner das preußiſche Flaggengelder-
geſetz „den anmaßenden Machtſpruch eines kleinen deutſchen Fürſten.“
Huskiſſon ſelber ahnte kaum, welche Macht der preußiſche Staat in ſeinem
Inneren barg; er meinte herablaſſend, es ſtehe der Würde Englands übel
an, gegen den Schwachen ein anderes Recht als gegen den Starken anzu-
wenden. Der anmaßende kleine deutſche Fürſt ſetzte endlich ſeinen Willen
durch. Das Parlament gab der Krone Vollmacht zu Reciprocitäts-Ver-
trägen, und am 2. April 1824 ward zuerſt mit Preußen ein Schifffahrts-
vertrag abgeſchloſſen, welcher die Flaggen beider Theile vollkommen gleich-
ſtellte. Zwei Jahre darauf wurde dieſe Vergünſtigung, welche England
in Europa bisher nur ſeinem Schützling Portugal zugeſtanden hatte, auch
dem preußiſchen Handel mit den Kolonien gewährt. Nachher folgten in
langer Reihe ähnliche Verträge mit anderen Handelsvölkern, die Naviga-
[470]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
tionsakte brach allmählich zuſammen. Zum erſten male ſeit der Her-
ſtellung des Weltfriedens war ein wirkſamer Schlag gefallen wider das
alte Bollwerk der britiſchen Seeherrſchaft. Jahrzehnte vergingen, ohne
daß, wie vordem ſo oft, britiſche Breitſeiten donnerten für die Verthei-
digung von Handelsvorrechten. England ſuchte fortan was in Europa
verloren war durch die Ausbreitung ſeines transatlantiſchen Handelsge-
bietes einzubringen. Jener Sieg der freien handelspolitiſchen Ideen, worauf
die Urheber des preußiſchen Zollgeſetzes gehofft, fing an, ſehr langſam frei-
lich, ins Leben zu treten. In den Parlamentsdebatten der nächſten Jahre
verwieſen die Freihändler gern auf die preußiſchen und die franzöſiſchen
Einfuhrtabellen, um den Segen der Freiheit, die lähmende Wirkung des
Zwanges zu zeigen, und Huskiſſon erklärte: ich hoffe, der Tag wird
kommen, da der Tarif dieſes Landes ebenſo frei ſein wird wie der preußiſche.
Weit ſchwerer hielt es mit der holländiſchen Handelspolitik ſich zu
verſtändigen. Das der Wiener Congreßakte beigelegte Rheinſchifffahrts-
reglement beſtimmte in unzweideutigen Worten, daß die Schifffahrt zwiſchen
Baſel und den Mündungen des Stromes allein den vertragsmäßigen
Schifffahrtsabgaben unterliegen ſolle; ſelbſt ein Krieg zwiſchen den Rhein-
uferſtaaten dürfe daran nichts ändern. Doch ſchamloſer ward niemals
ein Vertrag gebrochen. Selbſt nach allen den Proben gehäſſiger Habgier,
welche Hollands Krämerpolitik in vergangenen Jahrhunderten ihren Nach-
barn gegeben, gerieth die deutſche Welt doch in Verwunderung, als dieſer
durch unſer Blut wiederhergeſtellte Staat alsbald an ſeinen Rheinarmen,
die unter Napoleon frei geweſen, mehrere Zollſtellen errichtete, die durch-
gehenden Waaren mit Durchfuhrzöllen belegte, einzelne Waarenklaſſen
ſogar gänzlich verbot, ſo daß die Transportkoſten auf der niederländiſchen
Stromſtrecke ſich ungefähr dreizehnmal höher ſtellten als auf einer preu-
ßiſchen Strecke von gleicher Länge. Die Feder, die den Vertrag unter-
zeichnet, war noch kaum trocken. Schon auf der erſten Conferenz der
Rheinuferſtaaten, die im Jahre 1816 zu Mainz zuſammentrat, zeigte
Holland den böſeſten Willen; durch ſeine Schuld blieben dieſe Rheinſchiff-
fahrtsconferenzen viele Jahre hindurch ebenſo unfruchtbar wie weiland
die Schifffahrts-Kapitel der vier rheiniſchen Kurfürſten.
Mit vollendeter Frivolität erklärte das Haager Cabinet: unter dem
Rhein ſei offenbar nur der alte Rhein zu verſtehen, jener verſandete Fluß-
arm, der bei Leyden und Katwyk mühſelig die See erreicht; die Schifffahrt
auf den großen Mündungen des Stromes unterliege den Seezöllen; man
frage nur bei Hannover an, das ja auch ſeinen Stader Seezoll erhebe;
und wo ſtehe denn geſchrieben, daß der Rhein frei ſei jusque dans la
mer? — nur jusqu’à la mer ſage der Pariſer Friedenvertrag. Die
Mahnungen des Veroneſer Congreſſes blieben fruchtlos; auf eine Vorſtel-
lung des engliſchen Cabinets verweigerte man im Haag jede Erklärung.
Als Oeſterreich den König der Niederlande an die Wohlthaten erinnerte,
[471]Jusqu’à la mer.
die er den europäiſchen Mächten zu danken habe, gab der Haager Hof
die hochtrabende Antwort: die Souveränität des Königs dankt er, nächſt
der Vorſehung, dem Blute und dem Ruhme ſeiner Vorfahren, der Wahl
und dem Vertrauen eines freien Volkes. Holland iſt zur Noth bereit,
die Waal als Rheinmündung gelten zu laſſen; aber die Waal endet bei
Gorkum — neunzehn Stunden vom Meere entfernt! „Die Meeresarme,
welche den Zwiſchenraum zwiſchen dieſer Mündung und dem Meere aus-
füllen, können in keiner Beziehung mit dem genannten Fluſſe gleichgeſtellt
werden.“*) Schon der Wortlaut dieſer Sophiſterei ſtellte es außer Zweifel,
daß Holland nicht in gutem Glauben handelte. Bald nachher, wie zur
Abwechslung, verſicherten die Niederlande, nur der Leck ſei als die Fort-
ſetzung des Rheines anzuſehen; und im Jahre 1827 erklärten ſie ſich gar
bereit, auf ihre „Seerechte“ zu verzichten, wenn ihnen ein zollfreier
Handelsweg von Lüttich nach Aachen eröffnet würde.
Ganz Deutſchland ſtimmte ein, als George Canning den Holländern
zurief:
Nach der niederländiſchen Auslegung war nicht der Rhein frei für die
deutſchen und die anderen Uferſtaaten, ſondern der deutſche Rhein war frei
für Holländer, Franzoſen und Schweizer. Der Tuilerienhof unterſtützte
den holländiſchen Vertragsbruch aus freundnachbarlicher Berechnung; man
hoffte in Paris: wenn der Rhein veröde, ſo werde der Verkehr zwiſchen
Oberdeutſchland und der See ſich durch Frankreichs ſchöne Kanäle nach
Havre ziehen. Der vereinte Widerſtand der beiden böſen Nachbarn ſchien
lange unüberwindlich. Viele Städte des Rheingebiets begannen ſchon ihre
Colonialwaaren über Bremen oder Hamburg zu beziehen; die deutſche
Preſſe beſprach in vollem Ernſte den ungeheuerlichen Plan, Lippe und
Ems durch einen Kanal zu verbinden und alſo über Emden die hollän-
diſchen Zollſtellen zu umgehen.
Da trat Preußen für Deutſchlands Rechte ein. Der Berliner Hof
erkannte ſogleich, daß der holländiſchen Bosheit nur durch fühlbare Re-
torſionen beizukommen ſei. Er forderte die vollſtändige Befreiung des
Leck und der Waal bis in die See und erklärte: der Kölner Rheinſtapel
wird ſo lange fortbeſtehen bis Holland ſeine Verpflichtungen erfüllt hat;
Preußen iſt jederzeit bereit, dies Umſchlagsrecht, den Wiener Verträgen ge-
mäß, aufzuheben, hält es aber vorläufig feſt als das einzig mögliche Unter-
handlungsmittel gegen Holland. Dieſe Erklärung wurde in zahlreichen
diplomatiſchen Aktenſtücken, auch in den amtlichen Artikeln der Staats-
zeitung bündig wiederholt. Der König iſt feſt entſchloſſen, ſagte Witzleben
dem badiſchen Geſandten, in dieſer Sache keinen Schritt breit nachzu-
[472]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
geben; wir wiſſen, daß unſere Rheinſtädte durch die Aufhebung des Stapels
anfangs leiden werden, doch wir hoffen auf die Zunahme des geſammten
Rheinhandels und werden auf jede Gefahr unſere Vertragspflicht erfüllen,
ſobald Holland der ſeinen nachkommt.*) Die Frage war um ſo wichtiger,
da die Waſſerwege noch eine große Ueberlegenheit gegenüber dem koſt-
ſpielig langſamen Landhandel behaupteten; geſchah es doch, daß ſchwere
Geſchütze vom Rhein nach Pommern zur See befördert wurden und die
Fracht, trotz der holländiſchen Durchfuhrzölle, billiger zu ſtehen kam als
der Landtransport.
Das Berliner Cabinet hoffte auf die Unterſtützung aller deutſchen
Rheinuferſtaaten. Aber nur Heſſen ſtimmte von Haus aus dem ent-
ſchloſſenen Vorgehen Preußens bei; der kluge du Thil fühlte, daß Preußen
hier „auf dem Wege war, der dem Intereſſe Deutſchlands entſprach.“**)
Etwas ſpäter ſchloß ſich auch Baiern an. Naſſau dagegen hielt ſich zu
den oraniſchen Vettern, nach der alten Gewohnheit des herzoglichen Hauſes.
Baden zeigte lange eine ſehr ſchwächliche Haltung, klagte bitter über Preu-
ßens Härte, vertheidigte mehrmals die unehrlichen Vergleichsvorſchläge der
Niederländer. Die liberale Welt erging ſich wieder in der gewohnten
ſittlichen Entrüſtung, verfluchte Holland und Preußen in einem Athem
als die Bedränger des Rheinſtroms. Dazu der Neid der Oberländer
gegen das aufſtrebende Köln. Ueberdies haderten die ſüddeutſchen Staaten
nachbarlich unter einander: Mannheim klagte über den Mainzer, Württem-
berg über den Mannheimer Stapel, Mainz über den badiſchen Neckar-
zoll. Einmal erſann ſich Berſtett einen ſauberen Kriegsplan: Baden
wollte ſich von Württemberg beim Bundestage wegen des Mannheimer
Stapels verklagen laſſen, dann ſollten beide Cabinette gemeinſam alle
Schuld auf das Kölner Stapelrecht ſchieben und alſo das Signal geben
zu einem allgemeinen Angriff auf Preußen. Dies bundespolitiſche Meiſter-
ſtück kam jedoch leider nicht zur Ausführung, da der Plan vor der Zeit
verrathen wurde.***)
Ein Jahrzehnt verging, bis dieſe zankenden Kleinſtaaten endlich be-
griffen, das drückende Kölner Umſchlagsrecht ſei das einzige Mittel, um
den böſen Willen der Holländer zu brechen. Baden geſtand reumüthig
ſeinen Irrthum ein. „Wir verehren dankbar Preußens Arbeit für die
vollkommene Befreiung des Rheines — ließ Großherzog Ludwig an Fran-
kenberg ſchreiben. Nur die Noth hat uns bisher zu bedingungsweiſen
Vergleichsvorſchlägen bewogen. Jetzt werden wir um ſo weniger dem
jenſeitigen Intereſſe abſtehen, als es das allgemeine geworden iſt.“ Noch
wärmer ſprach ſpäter Berſtett den Dank ſeines Hofes aus „für das von
[473]Die Rheinſchifffahrtsakte. Der Sundzoll.
Preußen ſo kraftvoll feſtgehaltene Princip, deſſen Gewinn nun der ge-
ſammten Schifffahrt zu Theil wird.“*) Selbſt Frankreich bekehrte ſich,
gab die Hoffnung auf, den Rheinhandel nach Havre abzuleiten.
So führte Preußen endlich alle Rheinuferſtaaten gegen Holland und
Naſſau ins Feld. Die Niederlande begannen mürbe zu werden, ſie fühlten,
daß Preußen den Kampf länger aushalten könne als ſie ſelber. Die
großen Mächte erließen neue dringende Mahnungen nach dem Haag;
Rußland vornehmlich erwies ſich auch in dieſem Streite als ein treuer
Bundesgenoſſe Preußens, hielt dem oraniſchen Hauſe ernſtlich den uner-
hörten Vertragsbruch vor. Motz aber ſetzte noch einmal alle Hebel ein
und erreichte im Frühjahr 1829, daß Holland nachgab.**) Im Auguſt
legten die beiden nunmehr verſöhnten Höfe der Mainzer Rheinſchifffahrts-
conferenz ihre gemeinſamen Anträge vor, und ſo kam endlich, nach ſechzehn-
jährigem Federkriege, die Rheinſchifffahrtsconvention vom 31. März 1831
zu Stande, weſentlich gefördert durch die energiſche Thätigkeit des preu-
ßiſchen Präſidenten Delius. Der Rhein war frei „bis in die See“; Leck
und Waal, die beiden mächtigen Mündungen bei Rotterdam und Hel-
voetſluis wurden der freien Schifffahrt geöffnet, und ſofort hob Preußen
den Kölner Stapel auf. Noch blieb viel zu wünſchen übrig für den deut-
ſchen Strom; wirkſame Aufſicht über ihre Strombauten wollten die kleinen
Uferſtaaten keinenfalls ertragen. Doch eine weſentliche Erleichterung des
Verkehrs war durch Preußens Feſtigkeit allerdings errungen — und zu-
gleich der Beweis erbracht, daß die Kleinſtaaten nachhaltigen Schutz ihrer
Intereſſen nur in Berlin finden konnten.
Aus dem handelspolitiſchen Kampfe mit Holland ging Motz zuletzt
als Sieger hervor; einem anderen ſchlimmen Nachbarn aber, der Krone
Dänemark ſtand er waffenlos gegenüber. Der Wiener Congreß hatte,
weil man das ohnehin ſchwer geſchädigte Dänemark nicht völlig vernichten
wollte, die Frage des Sundzolles unerörtert gelaſſen, und ſo beſtand denn
dieſer ungeheuerliche Seezoll fort, der einzige ſeiner Art, im Widerſpruche
mit allen Anſchauungen des modernen Völkerrechts, allein gerechtfertigt
durch ein uraltes Herkommen, erhoben ohne jede Gegenleiſtung, an einer
Meerenge, welche ſeit mehr als anderthalb Jahrhunderten nur noch an
ihrem weſtlichen Ufer däniſch war und, wie die Erfahrung der napoleoni-
ſchen Kriege mehrmals gelehrt hatte, von den Kanonen Kronenborgs nicht
beherrſcht werden konnte. Als Preußen im Jahre 1818 mit Dänemark
einen Handelsvertrag ſchloß, verfuhr der Unterhändler, Graf Dohna ſehr
fahrläſſig. Ohne bei der Kaufmannſchaft der Oſtſeeplätze nachzufragen,
erkannte er den Tarif von 1645, der für die meiſten anderen Flaggen galt,
kurzerhand auch für Preußen an, obgleich die hinterpommerſchen und alt-
[474]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
preußiſchen Häfen behaupteten, daß ihnen von Altersher ein Recht auf Er-
leichterung zuſtehe; nur den beiden kleinen Plätzen Cammin und Kolberg
wurden in einem geheimen Artikel einige Begünſtigungen gewährt. Alſo
hatte man ſich für zwanzig Jahre gebunden. Der hohe Zoll (durchſchnitt-
lich 1 Proc. vom Werthe der Waaren) wurde durch willkürliche Neben-
abgaben beſtändig vermehrt; die Stettiner Rheder berechneten 1827, daß
ihnen alljährlich 40,000 Thaler zu viel abgenommen würden. Auf alle
Beſchwerden der Großmächte antwortete der kleine Staat mit jener Ueber-
hebung, welche gefallenen Größen natürlich iſt. Der Sundzoll war Däne-
marks Goldgrube, die letzte Erinnerung an die Zeiten ſeiner Großmachts-
ſtellung; die Patrioten feierten ihn als den Augapfel, den ſchönſten Dia-
manten der däniſchen Krone. Die preußiſchen Oſtſeeplätze empfanden den
Druck ſehr ſchwer. Vergeblich ſuchte der König zu helfen, indem er den
Stettiner Kaufleuten für alle überſundiſchen Waaren Steuererlaſſe be-
willigte. Der Colonialwaarenhandel der pommerſchen Hauptſtadt ging
unaufhaltſam zurück, ihre Kaffee-Einfuhr ſank ſeit 1821, in acht Jahren,
von 21,000 auf 8000 Ctr., und bald konnte man den Kaffee in Berlin
wohlfeiler kaufen als in Stettin. Und das Alles mußte man ertragen,
da ein einmüthiges Auftreten der großen Mächte nicht zu erreichen war. —
Noch weit bedenklicher erſchien die handelspolitiſche Lage an der Oſt-
grenze. Nach widerwärtigen Verhandlungen waren die drei Theilungs-
mächte ſtillſchweigend übereingekommen den unbedachten Wiener Vertrag
über den polniſchen Handel nicht buchſtäblich auszuführen.*) Preußen
konnte ſo wenig wie Oeſterreich ſeinen vormals polniſchen Landestheilen
eine handelspolitiſche Sonderſtellung einräumen, und Rußland war nicht
geſonnen, das polniſche Litthauen mit dem neuen Königreiche Polen zu
einem Zollverbande zu vereinigen. Wie die Dinge lagen, mußte man ſich
in Berlin ſchon zufrieden geben, als am 19. Dec. 1818 endlich ein Handels-
vertrag mit Rußland und Polen zu Stande kam, der einerſeits dem Durch-
fuhrhandel auf der Weichſel und der Memel große Vortheile, anderer-
ſeits den preußiſchen Induſtriewaaren einige Begünſtigungen gewährte. Die
Nationalpartei in Warſchau fühlte ſich empört; denn obwohl die Ueberein-
kunft als „Zuſatzakte zu dem Wiener Vertrage“ bezeichnet wurde, auch einige
verlorene Worte über „das Polen von 1772“ darin ſtanden, ſo enthielt
ſie doch ſachlich gar nichts, was die erträumte Wiederherſtellung des alten
Polenreichs fördern konnte: die von Rußland gewährten Zugeſtändniſſe
ſollten allen preußiſchen Unterthanen, nicht blos den Polen zu gute kommen,
und an der Grenze von Poſen und Weſtpreußen galt derſelbe Zolltarif
wie in den übrigen preußiſchen Provinzen. Die Folgen dieſer Ueberein-
kunft waren für Preußen recht erfreulich: der ſchleſiſche Gewerbfleiß zeigte
ſich ſtark genug die ruſſiſchen Zölle zu ertragen, der alte Handelsverkehr
[475]Handelsvertrag mit Rußland.
des Landes nach Polen hinein begann ſich ſchon wieder zu beleben. Aber
der günſtige Zuſtand währte kaum zwei Jahre, da erfolgte ein verhäng-
nißvoller Umſchwung in der ruſſiſchen Handelspolitik. Nachdem Czar
Alexander während der letzten Zeit zwiſchen den Ueberlieferungen des Pro-
hibitivſyſtems und den liberaleren Doctrinen des Petersburger Prinzen-
erziehers Storch unſicher geſchwankt hatte, gewann jetzt der Heſſe Cancrin
ſein Ohr — wieder einer aus der ſtolzen Reihe jener gewaltigen Deutſchen,
die mit ihrer organiſatoriſchen Kraft den Bau der czariſchen Selbſtherr-
ſchaft gefeſtigt haben, kühn, durchgreifend, zum Herrſchen geboren, ganz
erfüllt von dem einen Gedanken, daß „ein werdendes Land eines unab-
hängigen Handelsſyſtems bedürfe.“
Mancherlei Mißhelligkeiten mit den ruſſiſchen Grenzämtern zeigten
den preußiſchen Behörden längſt, daß der Wind in Petersburg umgeſchlagen
war. Darauf, im März 1822 erhielt König Friedrich Wilhelm ein Send-
ſchreiben ſeines kaiſerlichen Freundes (v. 27. Febr.), worin der Czar unter
den gewohnten Zärtlichkeitsbetheuerungen erklärte, er vermöge die Ver-
letzung der Intereſſen ſeiner Unterthanen nicht länger zu ertragen, eine
gebieteriſche Nothwendigkeit zwinge ihn weſentliche Aenderungen an dem
beſtehenden Vertrage zu verlangen — denn allerdings waren die Vortheile
der Uebereinkunft bisher überwiegend den preußiſchen Fabrikanten zuge-
fallen, da Rußland in dieſen Jahren des deutſchen Getreideüberfluſſes
nur wenig nach Preußen ausführte. Alexander berief ſich auf einen ge-
heimen Artikel der Uebereinkunft, welcher vorſchrieb: die beiden Regie-
rungen ſollten einander alljährlich ihre Beobachtungen mittheilen, um alle
der Ausführung entgegentretenden Schwierigkeiten zu beſeitigen und ſich
über etwa nöthige Aenderungen zu verſtändigen. Peinlich überraſcht er-
widerte der König: die Frage ſei ebenſo ernſt als ſchwierig, einzelne Be-
ſtimmungen ließen ſich kaum ändern ohne das Ganze zu gefährden. „Die
Richtung, welche der nationale Gewerbfleiß in meinen Staaten ſeit dem
Abſchluſſe unſeres Vertrages genommen hat, kann nicht aufgehalten wer-
den ohne eine zahlreiche Klaſſe meiner Unterthanen ebenſo grauſamen
als unerſetzlichen Verluſten auszuſetzen.“*) Indeß befahl er ſeinen Mi-
niſtern, dem geheimen Artikel gemäß, über die ruſſiſchen Vorſchläge zu
verhandeln. Er ſetzte dabei als ſelbſtverſtändlich voraus, daß Rußland
bis zu einer neuen Verſtändigung den beſtehenden Vertrag achten werde,
denn ausdrücklich hatten ſich beide Kronen verpflichtet, ohne Zuſtimmung
des anderen Theiles keine Zollerhöhung an der polniſchen Grenze vor-
zunehmen.
Kaum war dieſe Antwort abgegangen (22. März), ſo traf ſchon die
erſtaunliche Nachricht ein, daß der Czar durch den Ukas vom 24./12. März
ein ſtrenges Prohibitivſyſtem eingeführt habe, das die ruſſiſchen Grenzen
[476]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
durch Verbote und unerſchwingliche Zölle den ausländiſchen Fabrikwaaren
faſt gänzlich verſchließen und bereits am 1. Mai in Kraft treten ſollte.
Alſo wurde die Zuſatzakte durch Rußland eigenmächtig außer Kraft ge-
ſetzt; um den Vertragsbruch nothdürftig zu bemänteln, hatte man aller-
dings hinzugefügt, an der preußiſchen Grenze ſollten die neuen Zölle erſt
vom nächſten Neujahr ab gelten, damit unterdeſſen eine neue Vereinbarung
mit dem Berliner Hofe geſchloſſen werden könne. In Berlin mußte man
zwar auf die Kündigung des Vertrags jederzeit gefaßt ſein, da kein
Staat ſeine Handelspolitik auf immer dem Willen einer fremden Macht
unterwerfen kann; aber die grobe Rückſichtsloſigkeit des ruſſiſchen Ver-
fahrens erregte berechtigten Unmuth, und als ein erſter Verſtändigungs-
verſuch erfolglos blieb, ſchritt der Finanzminiſter (1823) zu Retorſionen,
indem er an der ruſſiſchen Grenze die Getreide- und Viehzölle bis auf
das Zwei- und Dreifache erhöhte. Mehrere ſeiner kundigen Räthe be-
zweifelten freilich von Haus aus, ob dieſe Abwehr helfen werde, und
der Erfolg gab leider den Zweifelnden Recht.*) Inzwiſchen hatte Cancrin
förmlich die Leitung des ruſſiſchen Finanzweſens erhalten, und ſofort
trat ſein Reſtrictionsſyſtem, wie er es nannte, vollſtändig in Wirkſamkeit.
Die Grenzſperre ſicherte den Markt für eine künſtlich gepflegte Staats-
induſtrie, ebenſo künſtlich ward der Staatscredit gehoben durch grund-
ſätzliche Vernachläſſigung des Privatcredits. Der finanzielle Erfolg des
neuen Syſtems war glänzend; ſchon im erſten Jahre ſeiner Verwaltung
gelang dem kraftvollen Miniſter die Beſeitigung des Deficits, er gewann
das Vertrauen des Czaren ſo ſchnell, daß er bereits namhafte Erſparniſſe
im Hofhalt und Heerweſen durchſetzen konnte. Erſt die Zukunft ſollte er-
fahren, auf wie ſchwachen Füßen die ſo gewaltſam emporgetriebenen Staats-
gewerbe ſtanden.
Preußen aber war in peinlicher Verlegenheit: man hatte viel von
dem unbequemen Nachbarn zu fordern und konnte ihm nur wenig bieten.
Die Kampfzölle bewährten ſich nicht, weil die Getreideeinfuhr ohnehin faſt
ganz aufgehört hatte. Neue Verhandlungen begannen, und da Klewiz
nicht der Mann war, den Unterhändler Bernſtorff wirkſam zu unter-
ſtützen, ſo kam am 11. März 1825 ein für Deutſchland ſehr ungünſtiger
zweiter Handelsvertrag zu Stande: Preußen nahm ſeine Kampfzölle zurück
und erlangte dafür einige ſehr geringfügige Erleichterungen zu Gunſten
ſeiner Tücher u. dgl.; im Uebrigen blieb die vollendete Thatſache der
ruſſiſchen Grenzſperre unangetaſtet. Wenn ſchon das ruſſiſche Volk dem
geſtrengen Miniſter fluchte, ſo erklangen die Verwünſchungen in den preu-
ßiſchen Grenzprovinzen noch lauter. Dort lag der geſetzmäßige Verkehr
mit dem Nachbarlande ganz darnieder, da die Grenzämter die hohen Zoll-
ſätze nicht einmal gewiſſenhaft einhielten; dafür blühte, gefördert durch die
[477]Ruſſiſche Grenzſperre.
Beſtechlichkeit der ruſſiſchen Beamten und durch die Liſt der Juden, ein
ungeheuerer Schmuggelhandel, der ganze Landſtriche entſittlichte. Dieſe
ſchlimme Erbſchaft fand Motz bei ſeinem Amtsantritt vor. Er bemühte
ſich wiederholt, immer vergeblich, um eine Milderung der Grenzſperre.
Als Alexander Humboldt (1829) von ſeiner ſibiriſchen Reiſe heimkehrte
und in Petersburg mit fürſtlichen Ehren empfangen wurde, überreichte
er ſeinem Freunde Cancrin in Motz’s Auftrag eine Denkſchrift, welche
dem ruſſiſchen Miniſter die zweiſchneidige Wirkung ſeines gewalſamen
Syſtems darlegen ſollte. Cancrin aber erwiderte — auf ſeinem Stand-
punkte unwiderleglich: — wir haben keine Differenzialzölle und können
nicht Preußen, das wenig von uns kauft, vor anderen Nationen be-
günſtigen. Ueber den rein fiscaliſchen Geiſt ſeiner Handelspolitik ſprach
er ſich ſehr unbefangen aus: „Die Handelsſyſteme ſind ein Uebel der
Welt, aber im Grunde nur eine Schminke der Fiscalität, aus Geldnoth
entſprungen. Von der Wahrheit der Abſtraction bin ich übrigens über-
zeugt.“*) —
Für dieſe Verluſte im Oſten wie im Norden mußte Preußen einen
Erſatz auf dem deutſchen Markte ſuchen, doch in den letzten Jahren hatte
ſeine Handelspolitik auch den kleinen Nachbarn gegenüber nur wenig Er-
folge errungen. Die von preußiſchem Gebiete umſchloſſenen Kleinſtaaten
waren durch das wüſte Geſchrei, das ſich an den Höfen und in der Preſſe
wider das Zollgeſetz erhob, gründlich eingeſchüchtert. Der Fürſt von Rudol-
ſtadt getraute ſich erſt nach drei Jahren (1822) dem verſtändigen Bei-
ſpiele ſeines Sondershauſener Vetters zu folgen und mit ſeiner Unter-
herrſchaft dem preußiſchen Zollſyſteme beizutreten. Im nächſten Jahre
wurden auch zwei weimariſche Aemter ſowie das obere Herzogthum Bern-
burg in die Zollgemeinſchaft aufgenommen, und alle Betheiligten be-
fanden ſich wohl bei dem freien Verkehre. Aber auf den ſo oft ver-
heißenen Beitritt der geſammten anhaltiſchen Lande wartete man in Berlin
noch immer vergeblich. Der Köthener Herzog führte den Schmuggel-
krieg gegen ſeinen königlichen Schwager wohlgemuth fort, ermuthigt durch
die Einflüſterungen ſeines Adam Müller und durch das endloſe Gezänk
am Bundestage. Als Müller es gar zu frech trieb, mußte ſich Hatzfeldt
in Wien beſchweren. Metternich gab dem Geſchäftsträger ſofort einen
ſcharfen Verweis wegen eines Benehmens, das „den bekanntlich zwiſchen
Oeſterreich und Preußen beſtehenden ſo innigen und freundſchaftlichen
Verhältniſſen“ durchaus widerſpreche, und theilte dies Schreiben dem
preußiſchen Hofe verbindlich mit.**) Müller’s geheime Weiſungen lauteten
aber wahrſcheinlich anders; er ließ ſich in ſeinem Treiben keineswegs
[478]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſtören und fand in der jeſuitiſchen Umgebung der Herzogin treue Bundes-
genoſſen. Die Wortbrüchigkeit des kleinen Nachbarn mußte den Berliner
Hof um ſo tiefer verſtimmen, da mittlerweile (1824) die hohenzollern’ſchen
Fürſtenthümer mit Württemberg einen Zollvertrag ſchloſſen, genau nach
dem Vorbilde der preußiſchen Enclavenverträge. So ſchlugen die Klein-
ſtaaten ſich ſelber ins Angeſicht. Dieſelben verſtändigen handelspolitiſchen
Grundſätze, welche Wangenheim in Frankfurt der preußiſchen Regierung
als eine Verletzung des Völkerrechts vorgeworfen hatte, wurden nun in
Schwaben eingeführt, und dieſelbe liberale Preſſe, die das preußiſche Encla-
venſyſtem mit Schmähungen überhäufte, fand die Anwendung dieſes
Syſtemes in Württemberg hocherfreulich.
Sobald Motz ſich in ſeinem neuen Amte zurecht gefunden hatte,
erklärte er dem auswärtigen Amte: Preußens Langmuth gegen den un-
redlichen kleinen Nachbarhof werde zur Schwäche, man müſſe endlich die
ganze Strenge des Zollgeſetzes wider ihn anwenden (Jan. 1826). Gleich
nachher baten Deſſau und Bernburg um die Aufnahme einiger Aemter
in die Zollgemeinſchaft und empfingen, auf Motz’s Betrieb, die Antwort:
mit ſolchem Stückwerk ſei nichts gethan; wollten die Herzöge mit ihren
geſammten Gebieten beitreten, ſo würde man ſie willkommen heißen.*)
Nach einiger Zögerung erſchienen nunmehr zwei anhaltiſche Unterhändler
in Berlin, und mit dem bernburgiſchen, v. Salmuth, einem geiſtreichen,
witzigen Manne, der das mönchiſche Unweſen des Köthener Hofes gründ-
lich verachtete, wurde Motz bald handelseins. Noch im Laufe des Sommers
erklärte der Herzog von Bernburg die Unterwerfung ſeines geſammten
Landes unter das preußiſche Zollgeſetz. Acht volle Jahre hatte es alſo
gewährt ſeit der Verkündigung dieſes Geſetzes, bis zum erſten male ein
ganzer deutſcher Kleinſtaat beitrat. Der deſſauiſche Bevollmächtigte aber
brach die Verhandlungen ab; denn unterdeſſen war Adam Müller von
Köthen nach Deſſau hinübergekommen, angeblich um in der Mulde zu
baden, in Wahrheit um den Anſchluß an Preußen zu hintertreiben.
In einem herzbrechenden Klageſchreiben ſprach Herzog Leopold von
Deſſau, der mit einer Nichte des Königs verheirathet war, dem Oheim ſein
Bedauern aus: ſchon vor Jahren habe er dem Köthener Vetter verſprochen
nicht ohne ihn beizutreten. Das preußiſche Miniſterium verlange, „daß die
enclavirten Staaten fremde Geſetze und Verwaltungsformen unweigerlich
annehmen müſſen. Dies aber, Allergnädigſter König, ich wage es ver-
trauensvoll auszuſprechen, wollen Allerhöchſtdieſelben nicht. Preußens
mächtiger und gerechter Monarch, der im zweiten Artikel der Bundesakte
Souveränität und Unabhängigkeit garantirte, wird nie geſtatten, daß die
Miniſter durch ſtrenges Feſthalten am Buchſtaben des Bundesvertrages
[479]Neuer Zollſtreit mit Anhalt.
den Geiſt, der ſichtbar in demſelben waltet, ertöden, daß aus dem erſteren
ein Rechtstitel für faktiſchen Zwang entlehnt werde. Wenn ich ſo das
kleine, auf mich gekommene Erbe meiner Ahnen, das, erhört Gott meine
und meiner vielgeliebten Gemahlin Gebete, der Urenkel eines Königs aus
meiner Hand erhalten wird, vor E. K. Maj. Herzen und Allerhöchſtihren
mir und meiner Gemahlin bewieſenen väterlichen Geſinnungen zu ver-
theidigen wage, ſo fehlt es mir dazu nicht an einem näheren Anlaß“ —
worauf denn eine lange Klage über die dem anhaltiſchen Lande ange-
drohte „Polizeilinie“ folgte. Der König aber zeigte ſich ſehr aufgebracht
über die Zweizüngigkeit ſeines Neffen. Er erinnerte ihn daran, daß
Preußen die Dresdener Elbſchifffahrts-Akte erſt unterzeichnet habe, nach-
dem die Askanier ihren Beitritt zum preußiſchen Zollſyſteme förmlich
verſprochen hätten; er forderte ihn auf, dem Beiſpiele Bernburgs zu folgen
und ſchloß: „Auch kann ich nicht glauben, daß das in Dresden von
ſämmtlichen Herzögen von Anhalt gegebene Verſprechen einer Einigung
durch irgend eine von ihnen ſpäterhin gegebene Zuſage an Verbindlich-
keit zu verlieren vermöchte.“*) Ein zweites Schreiben des Deſſauers,
das ſich abermals auf die hartnäckige Weigerung des Köthener Vetters
berief, blieb unbeantwortet.
Der König befahl nunmehr, dem Froſchmäuſekriege ein Ende zu
machen und das anhaltiſche Land mit der gefürchteten „Polizeilinie“ zu
umgeben, aber zugleich die beiden Herzöge nochmals zu Unterhandlungen
einzuladen.**) Im März 1827 wurde die Elbe oberhalb und unter-
halb Anhalts geſperrt, von den eingehenden Schiffen die vorläufige Zah-
lung der preußiſchen Zölle gefordert unter Vorbehalt der Rückvergütung
falls die Waaren wirklich in Anhalt verblieben. Sofort ſendete der
Köthener Herzog einen Leutnant mit einem Ultimatum nach Berlin; ſei
es daß er einen höheren militäriſchen Würdenträger nicht in ſeinem Ver-
mögen hatte, oder daß er Preußen verhöhnen wollte. Der tapfere Leutnant
forderte drohend die Zurücknahme der Maßregeln binnen acht Tagen,
ſonſt werde Köthen zu ernſteren Mitteln greifen. Natürlich erhielt er
keine Antwort; Eichhorn und Heinrich v. Bülow, Humboldt’s geiſtreicher
Schwiegerſohn, der in dieſen lächerlichen Händeln ſein diplomatiſches
Talent zuerſt bewährte, ſetzten nur einige ſcharfe Bemerkungen an den
Rand des Köthener Ultimatums.***) Nun brachte Köthen cette affaire
ennuyante, wie Bernſtorff zu ſeufzen pflegte, nochmals an den Bun-
destag. Wieder vertheidigte die geſammte Preſſe den unſchuldigen Klein-
ſtaat, den hochherzigen Beſchützer der Schwärzer und der Schwarzen;
[480]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
wieder trat in der Eſchenheimer Gaſſe ein Ausſchuß zuſammen unter dem
Vorſitz des k. k. Geſandten. Wieder ward ein Bericht zu Gunſten Köthens
erſtattet und wieder mußte der preußiſche Geſandte eine ſcharfe Erwide-
rung verleſen. Nagler ſagte geradezu, ſeine Regierung ſei durch den
Commiſſionsbericht in der Ueberzeugung von ihrem Rechte unerſchütter-
lich befeſtigt worden. Bernſtorff aber erklärte: „Dazu haben ſich große
Staaten mit den kleinen nicht in einen Verein zuſammengethan, damit
dieſe nur ihre, bei vernünftigem Gebrauch unantaſtbare Souveränität
nach Willkür und jeder überſpannten Einbildung ausüben dürfen.“*)
Oeſterreich zeigte bei Alledem eine ſehr zweideutige Haltung. Adam Müller
wurde zwar auf längere Zeit beurlaubt, doch im Uebrigen that die Hof-
burg gar nichts zur Unterſtützung Preußens; ihr Geſandter Graf Trautt-
mansdorff beſchwerte ſich ſogar über die angeordneten Zwangsmaß-
regeln.**)
Die kleinen Höfe ergriff ein jäher Schrecken, da ſie ſo unſanft an
die natürlichen Schranken ihrer Souveränität erinnert wurden. In einem
verzweifelten Briefe fragte Großherzog Georg von Strelitz ſeinen könig-
lichen Schwager, ob er denn wirklich den Beſtand des Deutſchen Bundes
gefährden wolle. Friedrich Wilhelm aber ließ ſich nicht beirren. Er ſen-
dete dem Schwager (Juli 1827) eine Denkſchrift, welche nochmals die
ganze Nichtswürdigkeit der anhaltiſchen Schleichhandelspolitik darſtellte,
und ſagte: daraus möge er lernen, „daß das Intereſſe meiner Unterthanen
die getroffenen Maßregeln gebieteriſch erheiſchte, daß ich dazu vollkommen
berechtigt war, und daher weder die Ausſprüche der Bundesverſammlung
noch das Urtheil des Publicums in und außer Deutſchland, ſondern nur
die Nachgiebigkeit der anhaltiſchen Fürſten eine Aenderung hervorbringen
können.“ Dann hob er mit ſeinem graden Verſtande noch einmal den
Kern des Streites heraus: „Ew. K. Hoheit wird außerdem einleuchten,
daß, wenn ſich die Intereſſen eines Staates von 30—40,000 Einwohnern
mit denen von zwölf Millionen in Conflict befinden, es in der Natur
der Verhältniſſe liegt, daß der erſtere nachgebe ſobald ihm eine vollſtän-
dige Entſchädigung geboten wird. Sollte der Bund die aus einer übel
verſtandenen Souveränität hergeleiteten Anmaßungen kleiner Staaten gegen
mächtigere nicht in die gehörigen Schranken zurückweiſen, ſo würde für
dieſe das Bundesverhältniß bald unerträglich werden und der Bund, wie
E. K. H. bemerken, allerdings in Gefahr ſchweben.“***)
Mittlerweile begannen die beiden bedrängten Kleinfürſten doch zu
merken, daß ſie den ungleichen Kampf nicht durchführen konnten. Sie be-
[481]Unterwerfung Anhalts.
ſchloſſen ihr verpfändetes Wort endlich einzulöſen und erklärten ſich zu Unter-
handlungen bereit. Am 17. Juli 1828, nach neunjährigen Schmuggel-
freuden, traten Deſſau und Köthen dem preußiſchen Zollſyſteme bei. Beide
Landesherren bedauerten in gefühlvollen Manifeſten, ihre geliebten Unter-
thanen ſo ſchwer belaſten zu müſſen; der Köthener berief ſich auf „unab-
wendbare Umſtände“, der aufrichtigere Deſſauer — mit jener cyniſchen
Gemüthlichkeit, die dem deutſchen Kleinfürſten nicht verargt wird — auf
„die Intereſſen ſeines Kammerhaushalts“. Alle dieſe Enclavenverträge
gewährten den kleinen Höfen einen nach der Volkszahl abgemeſſenen An-
theil am Ertrage der preußiſchen Ein- und Ausfuhrzölle, außerdem noch
allerhand Ehrenrechte — das Landeswappen neben dem preußiſchen für
die Zollämter und was der Eitelkeiten mehr war — aber durchaus keinen
Antheil an der Zollgeſetzgebung. Nur Deſſau und Köthen behielten ſich
das Recht des Widerſpruchs vor, falls die Grundſätze und Grundlagen
des Zollgeſetzes verändert würden — ein Satz, der glücklicherweiſe gar
nichts bedeutete. Eben ſo harmlos war die Klauſel, wonach Deſſau und
Bernburg nur für ſechs Jahre beitreten ſollten. Motz und Eichhorn
wußten wohl, wie wenig an einen Wiederaustritt zu denken ſei; ſo gönnte
man den Kleinen das erhebende Bewußtſein, daß ſie ſich nicht für ewige
Zeiten unterworfen hätten. In der That begann in den anhaltiſchen
Ländern der ehrliche Erwerb wieder zu gedeihen, und bald fühlte Jeder-
mann, die natürliche Ordnung der Dinge ſei hergeſtellt. —
Noch während dieſe anhaltiſchen Händel ſchwebten, eröffnete ſich für
Preußen plötzlich die Ausſicht auch größere deutſche Staaten in ſeine Zoll-
gemeinſchaft aufzunehmen. Gewitzigt durch die niederſchlagenden Erfah-
rungen der Wiener Conferenzen, hatte der Berliner Hof während der
letzten Jahre gelaſſen abgewartet, ob die Noth der Finanzen einen der
Mittelſtaaten bewegen würde, ſich freiwillig dem preußiſchen Zollſyſteme
anzuſchließen. Eine ſolche Politik gewährte zugleich den Vortheil, daß
Preußen verſchont blieb vor den unzähligen Zollvereinsplänen, welche gleich
Nebelgeſtalten, raſch gebildet und raſch zerfließend, an den kleinen Höfen
auftauchten und oftmals auch an die preußiſchen Geſandten herantraten.
Leichtfertiges Pläneſchmieden war von jeher das Vorrecht der Ohnmacht.
Ein Staat, der eine große nationale Idee vertrat, durfte auf die Mücken-
ſeigerei naſſauiſcher und meiningiſcher Staatsdilettanten ſich nicht ein-
laſſen. Ein einziger von Preußen übereilt abgeſchloſſener Zollvertrag, der
die Probe nicht beſtand und ſich wieder auflöſte, hätte die Höfe wie die
Nation vollends abgeſchreckt und die preußiſche Handelspolitik auf Jahre
hinaus gelähmt. Nur wenn ein Mittelſtaat, Dünkel und Mißtrauen
überwindend, ſelber in Berlin poſitive Anerbietungen ſtellte, dann allein
ließ ſich glauben, daß er durch gewichtige Intereſſen beſtimmt werde und
ein dauerhafter Bund möglich ſei.
Aus dem Ränkeſpiele Adam Müller’s erfuhr man überdies, welche
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 31
[482]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Kräfte an den kleinen Höfen ihr Weſen trieben und beſchloß daher, alle
Verhandlungen über Zollſachen nur in Berlin zu führen. Nur in Berlin
fanden ſich die kundigen Fachmänner und das reiche ſtatiſtiſche Material,
deren man zur Löſung ſo vieler verwickelten Einzelfragen bedurfte. Nur
hier war man leidlich geſichert gegen die Umtriebe der Hofburg, wie gegen
die Vorurtheile der kleinen Dynaſtien. Der Aufenthalt in einem ernſten
Gemeinweſen übt immer einen wohlthätig ernüchternden Einfluß, und
ſelbſt in jener ſtillen Zeit bewährte Preußen dieſe erziehende Kraft. In
den Geſandtſchaftsberichten läßt ſich deutlich verfolgen, wie die kleinen
Diplomaten ſtets mit mißtrauiſchem Zagen den verrufenen Berliner Boden
betraten und ſchon nach wenigen Monaten ein unbefangenes, ja wohl-
wollendes Urtheil über die preußiſchen Dinge ſich bildeten. Graf Bern-
ſtorff blieb mit den Geſandten der Mittelſtaaten immer auf gutem Fuße,
ſelbſt wenn das Verhältniß zu den Cabinetten ſich trübte.
Sodann lernte man aus dem unglücklichen Verlaufe der Darm-
ſtädter Zollconferenzen, daß Zollverhandlungen mit mehreren Staaten
zugleich, bei der großen Verſchiedenheit der Intereſſen, keinen Erfolg ver-
ſprechen. Seitdem ſtand in Berlin der Entſchluß feſt, immer nur mit
einem einzelnen Staate über Zollfragen zu verhandeln, mit mehreren nur
dann, wenn dieſe ſich bereits zu einer handelspolitiſchen Einheit verbunden
hätten.*) Dieſe ſtreng eingehaltene Regel erlitt eine einzige Ausnahme.
Die kleinen thüringiſchen Lande konnten vereinzelt weder eine Zollgrenze
bewachen, noch als Träger eines handelspolitiſchen Intereſſes gelten. Darum
hatte das Berliner Cabinet ſchon im Jahre 1819 dem Gothaer Hofe die
Bildung eines thüringiſchen Vereins empfohlen — ein Vorſchlag, deſſen
Berechtigung ſelbſt auf den Darmſtädter Conferenzen von dem ſachkundigen
badiſchen Bevollmächtigten anerkannt wurde.**) Allen anderen Staaten
gegenüber blieb der Grundſatz der Einzelverhandlungen aufrecht.
Ueber die handelspolitiſchen Pläne der Mittelſtaaten war der Ber-
liner Hof ſehr genau unterrichtet; denn an mehreren der kleinen Höfe
beſtand eine einflußreiche preußiſche Partei, in München und Stuttgart
mindeſtens ein tiefer Groll gegen Oeſterreich, der unſeren Geſchäftsmännern
zu ſtatten kam. Dazu der landesübliche Nationalhaß des Nachbars gegen
den Nachbar; wie ließ ſich ein Geheimniß bewahren, wenn heute ein
darmſtädtiſcher, morgen ein badiſcher Miniſter ſich gedrungen fühlte, ſeine
gerechte Entrüſtung über Baierns oder Württembergs anmaßende Vor-
ſchläge in den ſchweigſamen Buſen des wohlwollenden preußiſchen Ge-
ſandten auszuſchütten? Der Karlsruher Poſten diente als die beſte Warte
um den Wandel der kleinen Geſtirne zu beobachten. Die Theilnahme
Preußens an dem geplanten ſüddeutſchen Zollvereine befürwortete in
[483]Preußens deutſche Handelspolitik.
Berlin Niemand, weil man ihn für hoffnungslos hielt. Dagegen wurde
wiederholt und ernſtlich die Frage erwogen: unter welchen Bedingungen
Preußen mit größeren Nachbarſtaaten einen Zollbund abſchließen könne?
Klewiz beantwortete ſie in einem Gutachten vom 27. Juni 1822 dahin:
Nur unter drei Bedingungen können wir die Nachbarſtaaten in unſeren
Verband aufnehmen. Wir müſſen fordern: „Annahme unſerer Brannt-
weinſteuer und einer angemeſſenen Bierſteuer,“ nur dann wird der Ver-
kehr aller Schranken ledig. Ferner „ein ſehr überwiegendes Vorrecht für
Preußen bei Beſtimmung der Ein-, Aus- und Durchgangsabgaben“. End-
lich „die Douanenlinie in jenen Ländern muß ganz von uns abhängen,“
da die bisherige Zollverwaltung der Nachbarſtaaten keine Bürgſchaft giebt
für die gewiſſenhafte Ausführung der Geſetze.*) Begreiflich genug, daß
ein preußiſcher Miniſter für ſeinen Staat eine ſolche handelspolitiſche
Hegemonie wünſchte. Bald aber erkannte man in Berlin, wie wenig die
Mittelſtaaten geſonnen waren, eine „fremde“ Verwaltung in ihren Ländern
zu ertragen, und ſtimmte daher ſeine Anſprüche herab.
Im Jahre 1824 verhandelten die drei Miniſterien des Auswärtigen,
des Handels und der Finanzen nochmals über die Frage „wie ſich Preußen
bei den Zollvereinsunternehmungen zu verhalten habe.“ Geh. Rath Sotz-
mann, der Sohn des bekannten Geographen, eines der erſten Talente der
Finanzverwaltung, und H. v. Bülow faßten das Ergebniß der Berathung
in einer großen Denkſchrift zuſammen, welche ſchon mehrere Hauptgrund-
ſätze der ſpäteren Zollvereinsverfaſſung aufſtellte.**) Sie erklärten: der
Anſchluß an Preußen könne auf zwei Wegen erfolgen — entweder durch
vollſtändige Unterwerfung, wie ſie in Bernburg geſchehen ſei, oder durch
eine freiere Verbindung. Einem größeren Staate dürfe nur die letztere
zugemuthet werden; doch müſſe er jedenfalls ſeine Zölle und Conſumtions-
ſteuern den preußiſchen gleichſtellen. Der Unterſchied von „Zollanſchluß“
und „Zollverein“ war alſo ſchon damals den preußiſchen Staatsmännern
geläufig, wenngleich ſie die modernen Schulausdrücke noch nicht gebrauchen.
Da der Beitritt etwa von Kurheſſen „nur ſo viel Zuwachs bringt als
ein einziger unſerer Regierungsbezirke ausmacht“, ſo kann der Berliner
Hof die Entwicklung ſeines Zollweſens von der Zuſtimmung eines ſolchen
Bundesgenoſſen nicht unbedingt abhängig machen. Daher ſoll Preußen
ſich nur auf eine Reihe von Jahren binden, um bei Ablauf der Friſt
über Aenderungen und Zuſätze ſich von Neuem zu vereinbaren. Man
verzichtet mithin auf jedes Vorrecht, erkennt die volle Gleichberechtigung
des kleinen Bundesgenoſſen an und behält ſich nur das Recht der Kün-
digung vor, als unentbehrliches Gegengewicht. Jeder der beiden Staaten
ernennt ſeine Zollbeamten ſelbſt, doch werden ſie beiden Regierungen ver-
31*
[484]III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
pflichtet. Der Plan, die Grenzbewachung allein in Preußens Hände
zu legen, war mithin aufgegeben. Nur noch ein kleiner Schritt weiter,
und man mußte erkennen, daß auch die doppelte Vereidigung der Zoll-
beamten dem Dünkel der kleinen Höfe unerträglich ſei, blos eine gegen-
ſeitige Controle der Zollverwaltung ſich erlangen laſſe. Preußen hatte
ſein letztes Wort noch nicht geſprochen; die Denkſchrift verhehlte nicht, daß
der Berliner Hof gefaßt ſein müſſe auf noch größere Zugeſtändniſſe. „Wird
nur der Zweck erreicht — die wirkliche Einführung des preußiſchen Zoll-
und Conſumtionsſteuer-Syſtems und die Verfolgung der Contraventionen
— ſo kann man über Formalitäten, die durch öffentliche Unterordnung
der jenſeitigen Souveränitätsrechte anſtößig werden dürften, leichter hin-
weggehn.“ Zum Schluß wird ein wichtiger Gedanke entwickelt, den das
preußiſche Cabinet fortan getreulich feſthielt und weiter verfolgte: Sollte
Kurheſſen nur gegenſeitige Eingangsbegünſtigungen wünſchen, ſo wäre dies
für Preußen, wegen unſerer höheren Zölle, nicht blos koſtſpieliger, ſondern
auch gefährlicher; die völlige Verſchmelzung der beiden Zollſyſteme bleibt
in jeder Hinſicht vorzuziehen. — In der That, nicht die Höhe der Binnen-
zölle lähmte den deutſchen Handel, ſondern das Daſein der Binnen-
mauthen ſelber; jede Reform, die nicht an dieſe Wurzel des Uebels die
Axt legte, blieb ein Mißgriff.
Leider hatten dieſe verſtändigen Grundſätze für den Augenblick gar
keine Wirkung; denn die Verfaſſer der Denkſchrift hielten ſich noch buch-
ſtäblich an das Programm von 1819. Sie wollten in gerader Linie „von
Grenze zu Grenze“ vorgehen, von dem nächſten Nachbar zu dem ent-
fernteren. Was ſchien auch einfacher als der Plan, zunächſt die angren-
zenden Staaten zu gewinnen, die im unmittelbaren Bereiche der preu-
ßiſchen Macht lagen, und dann erſt zu verſuchen, ob das geeinte Nord-
deutſchland vielleicht mit dem Süden ſich verſtändigen könne? Und doch
war dieſer gerade Weg ganz ungangbar. Die Denkſchrift ſelber geſteht,
daß der allen Neuerungen abgeneigte Dresdner Hof ſich, ſchon wegen der
Leipziger Meſſen, dem preußiſchen Zollweſen fernhalten werde. Hannover,
als ein Brückenkopf Englands, wird gar nicht erwähnt, ebenſo wenig das
däniſche Holſtein. Thüringen „iſt auf Preußen angewieſen“, muß ſich
aber, wie in einem beſonderen Promemoria ausgeführt wird, zuvörderſt
zu einem Vereine zuſammenthun, der dem preußiſchen Zollſyſtem als
„Vorland und Deckwerk“ dienen ſoll. Darmſtadt „grenzt nicht an uns“,
ſelbſt ſein Oberheſſen kann nur in Betracht kommen, wenn Kurheſſen
gleichzeitig beitritt. — Nach Alledem blieb als nächſtes erhebliches Ziel nur
der Beitritt von Kurheſſen ſammt Waldeck, und ſogar dies war uner-
reichbar, denn der heſſiſche Kurfürſt zeigte, nachdem er es eine kurze Zeit
mit einem verſtändigen Zollſyſteme verſucht hatte, dem großen Nachbar-
ſtaate bald wieder die alte Gehäſſigkeit. So lange in Berlin dieſe An-
ſichten vorherrſchten, die offenbar mit dem alten unſeligen Gedanken der
[485]Motz’s Zollvereinspläne.
Mainlinie zuſammenhingen, ließ ſich eine Erweiterung des Zollſyſtems
über die kleinen Enclaven hinaus nicht abſehen.
Erſt durch Motz wurde der Bannkreis dieſer norddeutſchen Ideen durch-
brochen. Hierin und in der Beſeitigung des Deficits, die eine Handels-
politik großen Stiles erſt ermöglichte, liegt ſein bleibendes Verdienſt. Er
zuerſt unter den preußiſchen Staatsmännern verfiel auf die Frage: ob
nicht in dem wunderlichen Durcheinander unſerer Kleinſtaaterei der Um-
weg vielleicht raſcher zum Ziele führe als die gerade Linie? ob man nicht
die Nachbarn, die nicht zu überzeugen waren, vielmehr umgehen und um-
klammern müſſe? Der kühne Spieler kam mit ſeinen Bauern auf dem
Brette nicht vorwärts und ließ darum die Springer vorgehen. Er faßte
ſich das Herz, ſobald eine günſtige Stunde kam, über Kurheſſen und die
anderen unmittelbaren Nachbarn hinweg den ſüddeutſchen Staaten die
Hand zu reichen. In einer Zeit, da die amtliche deutſche Welt den
ewigen Bund zwiſchen Oeſterreich und Preußen für ein unverbrüch-
liches Geſetz anſah, ging er gradeswegs auf das Ziel los, das geſammte
Deutſchland mit Ausſchluß Oeſterreichs durch das unzertrennliche Band
wirthſchaftlicher Intereſſen unter der Führung Preußens für immer zu
vereinigen und alſo die Befreiung von der Herrſchaft des Hauſes Loth-
ringen vorzubereiten. Sobald dieſer Entſchluß feſt ſtand, war das Eis
gebrochen. Der ſteile Weg war betreten, der die Handelspolitik Preußens
raſch von Erfolg zu Erfolg führen ſollte.
Der Schlüſſel zum Verſtändniß dieſer ſegensreichen Wendung unſerer
Geſchicke liegt in dem verkümmerten Stillleben der norddeutſchen Klein-
ſtaaten. —
[[486]]
Siebenter Abſchnitt.
Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
In jenen matten Zeiten, da die Deutſchen an ihrer Zukunft mit
Gelaſſenheit verzweifelten, pflegte die Geſchichtsphiloſophie des Particula-
rismus aus der Noth eine Tugend zu machen und die Zerſplitterung
des Vaterlandes gradeswegs aus dem Charakter unſeres Volkes herzu-
leiten. Und doch lehrte der Augenſchein, damals noch deutlicher als heute,
daß die bunte Mannichfaltigkeit unſerer Staatsgebilde keineswegs in der
natürlichen Anlage der deutſchen Stämme und Stammesſplitter ihren
Grund hatte. Bis zum Jahre 1830 ſtanden die kleinen Territorien des
Nordens in ihrer politiſchen Entwicklung dem preußiſchen Staate ferner
als die conſtitutionellen Staaten des Südens; ſie verharrten in einer
veralteten Geſellſchaftsordnung, welche die norddeutſche Großmacht ſchon
ſeit den Tagen des großen Kurfürſten, Süddeutſchland ſeit dem napoleo-
niſchen Zeitalter überwunden hatte. In Preußen wie in Baiern, Würt-
temberg, Baden, war der altſtändiſche Staat im Weſentlichen zerſtört.
Hier wie dort beſtand, wenn auch in ſehr verſchiedenen Formen, ein
modernes Gemeinweſen, das auf den Gedanken des gemeinen Rechtes
und der Staatseinheit ruhte. Hier wie dort ſchaltete eine lebendige mon-
archiſche Gewalt über den ſocialen Gegenſätzen und ſuchte Adel, Bürger,
Bauern zu gemeinſamer Arbeit für den Staat heranzuziehen. Hier wie
dort wurde der Staat durch die Erwerbung neuer, ſchwer zu verſöhnen-
der, kirchlich gemiſchter Provinzen zu rühriger Verwaltungsthätigkeit und
zu einer wachſamen Kirchenpolitik genöthigt.
Wie anders der Zuſtand der norddeutſchen Klein- und Mittelſtaaten,
die durch Nachbarſchaft und Verkehr, durch die Gemeinſchaft des Blutes
und der proteſtantiſchen Bildung, auch durch die Macht ihres Großgrund-
beſitzes und die Aehnlichkeit der ſocialen Zuſtände ganz auf Preußen an-
gewieſen ſchienen und gleichwohl durch die unheimliche Erſtarrung ihres
politiſchen Lebens dem mächtigen Nachbar völlig entfremdet waren. Sie
hatten aus dem Länderhandel der napoleoniſchen Tage nur geringfügige
oder auch gar keine Erwerbungen davon getragen und bewahrten ſich mit
[487]Erſtarrung der norddeutſchen Kleinſtaaten.
ihrem alten Gebiete, ihren angeſtammten Fürſtenhäuſern und ihrem pro-
teſtantiſchen Sonderleben auch die Verfaſſungsformen des alten Jahr-
hunderts: Kurheſſen ſeinen höfiſchen Abſolutismus, Sachſen, Hannover,
Mecklenburg ihre ſtändiſche Vielherrſchaft, die Hanſeſtädte ihre bürgerliche
Oligarchie. In Sachſen und Mecklenburg war die alte Ordnung inmitten
der Stürme einer ungeheuern Zeit unwandelbar geblieben, in Heſſen, in
den welfiſchen Gebieten und den freien Städten wurde ſie nach der kurzen
Epiſode einer verhaßten Zwiſchenherrſchaft faſt unverändert wiederherge-
ſtellt. Aengſtlich ſperrten ſich alle dieſe Territorien gegen jede Neuerung
ab. Auf Hannover und Holſtein laſtete zudem noch die Fremdherrſchaft,
die ſelbſt wo ſie willig ertragen wird, überall lähmend wirkt, und den
Hanſeſtädten erſchwerten die weltbürgerlichen Intereſſen ihres Freihandels
die Theilnahme an der nationalen Politik. In Oeſterreich und in der
trägen Maſſe dieſer kleinen norddeutſchen Gebiete lagen die hemmenden
Kräfte unſeres Staatslebens, in Preußen und den ſüddeutſchen Territorien
die Kräfte der Bewegung, obſchon die liberale Durchſchnittsmeinung jener
Tage alle Schuld des deutſchen Elends kurzerhand den beiden Großmächten
aufzubürden liebte. Erſt durch die Nachwirkungen der Julirevolution ſind
dieſe Gegenſätze etwas gemildert, einige Kleinſtaaten Norddeutſchlands zum
Repräſentativſyſtem hinübergedrängt worden.
In dem wunderlichen Wirrſal der deutſchen Bundespolitik konnte
aber die Unvernunft zuweilen Segen bringen, da die Vernunft unmöglich
war. Die verknöcherten Verfaſſungen des Nordens bewahrten Deutſch-
land in den zwanziger Jahren vor der Gefahr der Trias, des Sonder-
bundes der Mittelſtaaten, denn zwiſchen der bairiſch-württembergiſchen
Bureaukratie und dem altſtändiſchen Regimente Sachſens oder Hannovers
war jede Verſtändigung undenkbar. Sie bewahrten aber auch die preu-
ßiſche Politik vor dem verderblichen Plane der Mainlinie, der in Berlin
jederzeit mächtige Fürſprecher fand; denn die adlichen Landtage des Nor-
dens fürchteten in Preußens ſtarker Krone den geborenen Feind ihrer
ſtändiſchen Libertät und vermieden mißtrauiſch jede Annäherung an den
norddeutſchen Großſtaat, grade weil ſie wußten, daß ſie ſeinem natürlichen
Machtgebiete angehörten. Die Regierungen des Südens fühlten ſich nicht
ſo unmittelbar bedroht, ſie vermochten die Leiſtungen der preußiſchen Ver-
waltung unbefangener zu würdigen, und da die Oberländer vor den nach-
tragenden Norddeutſchen die glückliche Gabe voraus haben, alten Groll
gründlich zu vergeſſen, ſo konnte es geſchehen, daß die Kernlande des
Rheinbundes ſich zu dem Berliner Hofe bald freundlicher ſtellten als ſeine
nächſten Nachbarn und eine Vereinbarung zwiſchen Preußen und den ſüd-
deutſchen Staaten den Grund legte für die wirthſchaftliche Einheit der
Nation. —
Von keinem ſeiner kleinen Nachbarn durfte Preußen zur Zeit weniger
Vertrauen erwarten als von dem Königreich Sachſen, dem alten unglück-
[488]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
lichen Nebenbuhler, der die ſchwere Hand der Hohenzollern ſo oft gefühlt
hatte und jetzt in ihnen nur die lachenden Erben ſeiner eigenen Macht
ſah. Wie viel ſchneller, ſtätiger, reicher als in dem unwirthlichen Bran-
denburg hatten ſich hier in den lieblichen Berglanden an der Elbe und
Mulde einſt die Anfänge deutſchen Lebens entfaltet. Zur Zeit, da die
erſten Askanier dort noch mit den Wenden rangen, war in der Mark
Meißen nach minder furchtbaren Kämpfen die Eroberung längſt vollendet
und aus der Vermiſchung der thüringiſchen und fränkiſchen Einwanderer
mit der wenig gelichteten Maſſe der Urbewohner ſchon ein neuer ober-
deutſcher Stamm hervorgegangen, der deutſche Kraft mit ſlawiſcher Be-
weglichkeit glücklich verband — ein rühriges Geſchlecht von erſtaunlich viel-
ſeitiger Anlage, reich begabt für Kunſt und Forſchung, kriegstüchtig, unter-
nehmend in der Wirthſchaft, harmlos genügſam und doch nach Mark-
mannenart ſtolz gegenüber den verachteten „Stockwenden und Stockböhmen“.
Schon in den Tagen Friedrich’s des Rothbarts erklangen im Erzgebirge
die Bergreihen und das herzhafte Glückauf der ſchürfenden Knappen,
ihres Freiberger Rechtes froh blühten die betriebſamen Bergſtädte auf,
und am Ausgang des Mittelalters war bereits das ganze rauhe Wald-
gebirge dicht beſiedelt bis hinauf zu ſeiner „wilden Ecke“ bei Annaberg.
Dem Segen ihrer Berge dankte die Mark Meißen in den Zeiten der
Naturalwirthſchaft ihren raſch anwachſenden Wohlſtand; mochten die
Markgrafen auf einem luſtigen Reichstage zuweilen einen Kux verkuxen,
das Volk ward durch die Verſuchungen der unſicheren Ausbeute des Berg-
baus von ſeinem beharrlichen Fleiße nicht abgebracht.
Eine glänzende politiſche Zukunft ſchien ſich der jungen Kolonie auf-
zuthun, als das Haus Wettin die Landgrafſchaft Thüringen erwarb und
dann — um die nämliche Zeit da die Hohenzollern in die Marken ein-
zogen — auch den Kurhut des zertrümmerten alten ſächſiſchen Herzog-
thums gewann. Fortan führten die Meißner, obgleich in ihren Adern
nur wenige Tropfen ſächſiſchen Blutes floſſen, den glorreichen Namen des
waffengewaltigſten der deutſchen Stämme, den einzigen der alten Stam-
mesnamen, der außer dem bairiſchen noch im Reichsrechte fortbeſtand,
und hielten das alte Fünfbalkenſchild der Askanier mit dem grünen Rau-
tenkranze darüber ſo hoch in Ehren, als hätte es ihnen immer angehört.
Ihre Fürſten trugen ſtolz die Schwerter des heiligen Reiches, und der
Prachtbau ihrer Albrechtsburg bekundete, daß ſie keinem anderen deutſchen
Fürſtengeſchlechte nachzuſtehen gedachten. Doch den weiten Blick, den
hohen Sinn des Herrſchers beſaßen ſie nicht. Die alte deutſche Fürſten-
ſünde des häuslichen Unfriedens ward den Wettinern noch verderblicher
als den Wittelsbachern. Schon oft hatten thörichte Theilungen und er-
bitterte Bruderkriege dieſen werdenden Staat in ſeinem Wachsthum auf-
gehalten, und nun da das kühne Werk Heinrich’s des Erlauchten und
Friedrich’s des Streitbaren der Vollendung nahe ſchien, da endlich ein-
[489]Die Mark Meißen.
mal aus der Trümmerwelt Mitteldeutſchlands eine lebenskräftige Staaten-
bildung aufſtieg, ſchlug das Haus Sachſen ſeinen eigenen Bau in Stücke —
faſt im ſelben Augenblicke, da Albrecht Achill die Untheilbarkeit der hohen-
zollerſchen Kurlande für alle Zukunft ſicherte.
Seit die Albertiner von den Erneſtinern ſich trennten und die Mark
Meißen des Kurhuts verluſtig ging, ſank dies alte Hauptland der Wet-
tiner für einige Jahrzehnte wieder in die Reihe der kleinen Territorien
herab und verharrte unter ſeinem geſtrengen Herzog Georg noch lange
bei der alten Kirche, derweil die erneſtiniſchen Gebiete die Heimath der Re-
formation wurden. Da wendet ſich plötzlich das Blatt. Eine unwider-
ſtehliche Bewegung im Volke drängt auch das albertiniſche Sachſen in
das evangeliſche Lager hinüber, und in den kurzen zwölf Jahren ſeiner
dämoniſchen Heldenlaufbahn erhebt Herzog Moritz dies der Reformation
kaum gewonnene Land zur führenden Macht des deutſchen Proteſtantis-
mus — ein durch und durch politiſcher Kopf, der mit der Federkraft ſeiner
kühnen Entſchlüſſe in dem Zeitalter der zaudernden Betefürſten wildfremd
erſcheint, gewaltig als Kriegsmann und aller hispaniſchen Lügenkünſte
Meiſter — und trotzdem nur der größte aller deutſchen Kleinfürſten, der
begabteſte Vertreter des ideenloſen Particularismus; denn kein Schimmer
eines großen nationalen oder kirchlichen Gedankens durchleuchtet die Irr-
gänge dieſer Hauspolitik, die mit vollendeter Schlauheit doch blos den
armſeligen Zweck verfolgt, Land und Leute zuſammenzuraffen wo es auch
ſei und dem wohlabgerundeten Kleinſtaate die ungeſtörte Selbſtändigkeit
zu ſichern. Durch den Verrath an der Sache ſeiner Glaubensgenoſſen
erwirbt ſich der Judas von Meißen, wie das erbitterte proteſtantiſche Volk
ihn nennt, den Kurhut und die werthvollſten Beſitzungen der Erneſtiner.
Durch einen zweiten Verrath giebt er die lothringiſchen Bisthümer den
Franzoſen preis, entreißt den Spaniern die Früchte des ſchmalkaldiſchen
Krieges, rettet dem Proteſtantismus das Daſein und demüthigt die kaiſer-
liche Gewalt alſo, daß ihr von der alten Majeſtät nur noch der Name
bleibt; aber niemals erhebt ſich ſein Ehrgeiz zu dem Plane, ein evange-
liſches Kaiſerthum oder irgend eine neue nationale Rechtsordnung auf den
Trümmern des zerſtörten alten Reiches aufzurichten. Dann endet er in
einer wilden Fehde, die er ſelber durch ſeine Rebellion hervorgerufen,
urplötzlich wie ein Wandelſtern. Das Tagewerk ſeines Lebens war gethan,
denn es hieße verzweifeln an der göttlichen Führung der Menſchenge-
ſchicke, wenn Einer wähnen wollte, ſie rufe den Mann des Schickſals vor
der Zeit von hinnen.
Unter Moritz’s Nachfolger wurde der neue albertiniſche Kurſtaat auf
kurze Zeit das beſtverwaltete aller deutſchen Territorien und auf lange
hinaus der Heerd der proteſtantiſchen Gelehrſamkeit. Zwei große Univer-
ſitäten, die drei Fürſtenſchulen und zahlreiche kleinere Lehranſtalten ver-
breiteten bis tief in die Maſſen hinein wiſſenſchaftliche Bildung; Craco’s
[490]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Conſtitutionen ſicherten dem Lande eine wohlgeordnete Rechtspflege; die
Muſterwirthſchaft der Kammergüter erlangte einen hohen Ruf; herrliche
Schlöſſer und koſtbare Sammlungen erzählten von dem Geſchmack und
dem Glanze des reichſten deutſchen Hofes. Handel und Wandel gediehen
unter dem Schutze des Augsburger Religionsfriedens, zumal ſeit die alte
meißniſche Betriebſamkeit an den gaſtlich aufgenommenen niederländiſchen
Flüchtlingen kunſtfertige Helfer fand, und nicht mit Unrecht nannte das
dankbare Land den kalt rechnenden, bis zur Grauſamkeit hartherzigen
Kurfürſten ſeinen Vater Auguſt. Es ward aber verhängnißvoll für die
politiſche Geſinnung von Fürſt und Volk, daß gerade in dieſem goldenen
Zeitalter der meißniſchen Landesgeſchichte die kurzſichtige deutſche Politik
der Albertiner die neu errungene Macht Kurſachſens ſchon wieder zu unter-
graben begann. In einer ſchickſalsſchweren Zeit, da der Proteſtantismus
noch die jugendliche Kraft des Eroberers beſaß, da die Heldenkämpfe der
Niederländer und der Hugenotten, die geheimen Umtriebe der Jeſuiten,
die gefährliche Vieldeutigkeit des Religionsfriedens und die anarchiſche
Verwirrung im Reiche den evangeliſchen Reichsſtänden die Pflicht aufer-
legten, ſich in brüderlicher Eintracht zum Kriege wider die habsburgiſche
Weltmacht zuſammenzuſchaaren, vertrieb Kurfürſt Auguſt die Krypto-Cal-
viniſten aus ſeinem Lande und ſagte durch die ſtarren Formeln ſeines
Concordienbuchs den willenskräftigſten Proteſtanten, den Reformirten die
Freundſchaft auf.
Seit dieſem „Siege Chriſti über Teufel und Vernunft“ verfällt Kur-
ſachſen der Glaubenseinheit des orthodoxen Lutherthums. Die ſprich-
wörtliche Kurfrömmigkeit des Dresdner Hofes entfremdet ſich gänzlich dem
urſprünglichen Geiſte der Reformation, ſie ſieht in der evangeliſchen Lehre
nicht mehr eine befreiende Macht für die geſammte Chriſtenheit, ſondern
ein behagliches Beſitzthum für einen bevorzugten Kreis von Gläubigen.
Taub für die Hilferufe des großen Oraniers und die Todesnoth der
Glaubensgenoſſen am Niederrhein, ſchließt ſich der mächtigſte evangeliſche
Reichsfürſt dem Hauſe Oeſterreich an und ſucht durch ſchwächliche Zuge-
ſtändniſſe an die raſtlos vordringende römiſche Partei das Gleichgewicht
der Bekenntniſſe im Reiche nothdürftig aufrecht zu halten, während der
Heidelberger Hof bereits alle aufſtrebenden, ſtreitbaren Kräfte des deutſchen
Proteſtantismus um ſich ſchaart. Die dynaſtiſche Eiferſucht wider die
ehrgeizigen Kurpfälzer, der lutheriſche Haß gegen den Calvinismus und
nicht zuletzt der lang nachwirkende Fluch alter Schuld, die ſtille Furcht vor
den unverſöhnten erneſtiniſchen Vettern beſtärken das albertiniſche Haus
in der Ruheſeligkeit ſeiner conſervativen Friedenspolitik. Nur einmal ſeit
Moritz’s Tode wagte Kurſachſen in die Bahnen einer großen proteſtan-
tiſchen Politik einzulenken: als Chriſtian I. und ſein unternehmender
Kanzler Crell, des alten Bruderzwiſtes vergeſſend, mit Kurpfalz und den
Hugenotten über die gemeinſame Vertheidigung des evangeliſchen Glaubens
[491]Kurſachſen als Haupt des Lutherthums.
ſich zu verſtändigen ſuchten. Aber kaum hat der junge Kurfürſt die Augen
geſchloſſen, ſo erhebt ſich das harte Lutherthum des Hofes, der Landſtände,
der Theologen zu einer blutigen Reaktion; dem Spruche eines böhmiſchen
Gerichtes preisgegeben muß der ſächſiſche Kanzler mit ſeinem Kopfe dafür
büßen, daß er ſich erdreiſtet hat, das fromme Kurhaus von dem Erzhauſe
abzuziehen. Seitdem ſtehen die Albertiner, den Reformirten tödlich ver-
feindet, beharrlich im öſterreichiſchen Lager; an jedem Sonntag bitten die
ſächſiſchen Lutheraner ihren Gott, ſie zu bewahren vor der Calviniſten
Teufelskünſten; es kommt ſo weit, daß der Dresdner Hof ernſtlich daran
denkt, ſich der katholiſchen Liga anzuſchließen.
Als nun der dreißigjährige Krieg hereinbricht — nicht ohne die ſchwere
Mitſchuld der ſelbſtmörderiſchen Politik dieſes entarteten Lutherthums
— da kämpft der mächtigſte evangeliſche Kurfürſt nur vier Jahre lang
für die Sache ſeines Glaubens. Unter den Jubelrufen der Dresdner
Hofprediger wird das Königthum der Pfälzer in Böhmen durch die katho-
liſche Liga niedergeſchmettert, mit Sachſens Hilfe unterwirft ſich das Haus
Oeſterreich die evangeliſchen Rebellen in Schleſien, und noch einmal
ſchallen durch die proteſtantiſche Welt die Zornreden wider den ſächſiſchen
Judas, als Johann Georg I. durch den Prager Sonderfrieden ſeine Glau-
bensbrüder preisgiebt und zum Lohne den Beſitz der Lauſitzen erhält.
In den großen Kataſtrophen der Geſchichte pflegen Schuld und Ver-
hängniß ſich unzertrennlich zu verketten; dies Fürſtenhaus aber verſcherzte
ſich allein durch ſeine eigene Verblendung und Zagheit den erſten Platz
unter den evangeliſchen Reichsſtänden. Der große Kurfürſt ward ſein
Erbe, er ſicherte im Weſtphäliſchen Frieden den Reformirten die Duldung,
dem Widerſpruche des Dresdner Hofes zum Trotz, er übernahm die Füh-
rung der deutſchen Proteſtanten. Ebenſo feindſelig wie einſt gegen Kur-
pfalz richtete ſich fortan das Mißtrauen der kurſächſiſchen Politik gegen
den aufſtrebenden Brandenburgiſchen Nachbarn. Und wie die Macht des
Landes ſank, ſo verknöcherte auch ſein Verfaſſungsleben. Unter Moritz
und Auguſt hatte ſich die altſtändiſche Libertät einem kraftvollen monar-
chiſchen Willen beugen müſſen; unter dem ſchlaffen Regiment der beiden
Chriſtiane und der vier Johann George reckte ſie ſich wieder behaglich
aus. Kurſachſen wurde das klaſſiſche Land des altlutheriſchen Epiſcopal-
ſyſtems, das in dem Leipziger Benedikt Carpzov ſeinen wiſſenſchaftlichen
Verherrlicher fand.
Unumſchränkt ſchaltete in Staat und Kirche der Lehrſtand verſchwä-
gerter und vervetterter Theologengeſchlechter; mit ihm feſt verbündet der
Wehrſtand, damals wie heute der hochmüthigſte Adel des deutſchen Reichs.
Dem geplagten Nährſtande war auferlegt, in der Kirche die Heilswahr-
heit aus dem Munde der Heiligen des Herrn dankbar zu empfangen,
dem Staate nach den Beſchlüſſen des adlichen Landtags gehorſam die
Steuern zu zahlen. Wohl kam das Anſehen der Krone in den größeren
[492]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Verhältniſſen Kurſachſens bei Weitem nicht ſo tief herab wie in Altwürt-
temberg, ſie war noch immer ſo ſtark, daß ſich Johann Georg III. ein
ſtehendes Heer ſchaffen konnte; doch zur Beſchützung der Bauern wider
den Adel, zu durchgreifenden Neuerungen beſaß ſie weder die Kraft noch den
Willen. Faſt unbeweglich verharrten Geſetzgebung und Verwaltung in den
Formen, die ſie durch Kurfürſt Auguſt empfangen hatten. Derſelbe ſtarr
conſervative Geiſt beherrſchte auch die Leipziger Univerſität, welche jetzt,
das verfallene Wittenberg überſtrahlend, für die anerkannt erſte der deut-
ſchen Hochſchulen, im Auslande für die Hauptſtadt deutſcher Wiſſenſchaft
galt. Schwer gelehrt und vornehm erwies ſie ſich bei allen großen Um-
wälzungen unſerer Bildung als eine Macht des Beharrens. Wie ſie in den
erſten Jahren der Reformation die Lehren Luther’s bekämpft hatte, ſo war
ſie nunmehr die Hochburg der verhärteten lutheriſchen Theologie und jener
correcten Staatsrechtsdoktrinen, welche das heilige Reich als die vierte
Monarchie Danielis verherrlichten. Im Kampfe mit den Excellentien der
Leipziger Theologenfacultät vertrat Calixtus den Gedanken der chriſtlichen
Union, im Kampfe mit ihnen begründete Pufendorf eine weltliche Staats-
lehre; unter den Klängen des Armenſünderglöckleins mußte Thomaſius
das Athen an der Pleiße verlaſſen, und als ein Trutz-Leipzig entſtand
dann in Halle die neue Univerſität, die Freiſtätte des Pietismus und des
Naturrechts.
Unverwüſtlich aber bewahrte das Volk bei dieſem Niedergange ſeines
Staates die alte fröhliche Arbeitskraft. Der ſeltſame Gegenſatz von ſo-
cialer Rührigkeit und politiſcher Erſtarrung blieb fortan lange der unter-
ſcheidende Charakterzug der kurſächſiſchen Geſchichte. Erſtaunlich ſchnell
erholte ſich das fleißige Land von den entſetzlichen Plünderungen der Hol-
kiſchen Jäger und der ſchwediſchen Dragoner, trotz der Verſchwendung des
Hofes und trotz der ſchwerfälligen Verwaltung. Ein unſchätzbarer Gewinn
erwuchs ihm aus der Einwanderung der böhmiſchen Lutheraner, denen
Johann Georg I. die Waffenhilfe verſagte, aber nach der Niederlage eine
Zuflucht gewährte; an 150,000 Exulanten ſtrömten über das Erzgebirge
hinüber, tapfere, thätige, in aller Noth frohmuthige Menſchen, das Mark
der Volkskraft Böhmens. Und welch eine ſtolze Schaar glänzender Talente
ſendete Kurſachſen jetzt in das verödete deutſche Leben hinaus. Die drei
reformatoriſchen Denker der Epoche, Pufendorf, Leibniz, Thomaſius ge-
hörten alleſammt der Mark Meißen an. Nie zuvor hatte dieſer Stamm
ſo entſcheidend eingegriffen in den Gang der nationalen Bildung; ſein
verfallender Staat wußte freilich mit den hellen Köpfen nichts anzufangen
und verdrängte ſie alle aus der Heimath.
Mit unerſchütterlicher Treue hing das Volk an ſeinem Rautenkranze,
obwohl das Bündniß mit dem katholiſchen Erzhauſe zuweilen Unmuth er-
regte und der Name der vier Hans Jörgen im Munde des gemeinen
Mannes einen wenig ſchmeichelhaften Nebenſinn erhielt. Dieſe dynaſtiſche
[493]Uebertritt der Albertiner.
Geſinnung hielt auch Stand, als die albertiniſche Politik den letzten Schritt
that auf ihrem abſchüſſigen Wege und Auguſt der Starke um die pol-
niſche Königskrone zu erringen zur römiſchen Kirche übertrat. Wie ein
Naturlaut erklang das Proteſtantenlieb „Erhalt’ uns Herr bei Deinem
Wort“ in allen Kirchen des Landes, da die unbegreifliche Kunde kam, der
Direktor des Corpus Evangelicorum habe ſich ſelber vom evangeliſchen
Glauben losgeſagt; denn im kirchlichen Leben war dies Volk von jeher
ebenſo reizbar wie geduldig in der Politik. Bei ſchwerer Strafe durfte
hier im Zion der lutheriſchen Rechtgläubigkeit kein Proteſtant dem Haus-
gottesdienſte der katholiſchen Geſandtſchaften auch nur zuſehen. Schon in
der Schule lernten die Kinder ihre Heimath als die Wiege der Refor-
mation verehren — was allerdings nur auf den Kurkreis zutraf, nicht auf
Meißen und das Oſterland; jeder Bergknappe in Schneeberg oder Schwar-
zenberg nahm ſeinen Antheil an dem Ruhme des großen ſächſiſchen Berg-
mannsſohnes, der den römiſchen Papſt geſtürzt hatte. Gleichwohl wurde
ſelbſt der Glaubenswechſel der Dynaſtie ertragen. Das altlutheriſche
Staatskirchenthum beſtand völlig unverändert fort, nur daß der Kurfürſt
fortan ſeine oberſtbiſchöfliche Gewalt den in Evangelicis beauftragten Ge-
heimen Räthen abtreten mußte, und auf dem Reichstage galt Kurſachſen
nach wie vor als der erſte evangeliſche Reichsſtand — denn nicht das
Kurhaus Sachſen, ſondern nur König Auguſt perſönlich ſollte ſein Be-
kenntniß gewechſelt haben. Der Landtag benutzte die Verlegenheit des
Monarchen um die Vorrechte des Adels zu verſtärken und Jeden, der
nicht acht Ahnen aufweiſen konnte, von der Ritterſchaft auszuſchließen.
Den Katholiken aber blieben alle politiſchen Rechte ſtreng verſagt; in Polen
ließ der König ſeine Jeſuiten gegen die Thorner Proteſtanten wüthen, in
Dresden wagte der päpſtliche Nuntius das Geſchäft der Propaganda nur
ſehr behutſam, und ſelten mit Erfolg zu treiben.
Alſo über ſeinen lutheriſchen Glauben beruhigt, brachte das treue
Volk ſiebzig Jahre hindurch ungeheuere Opfer für die undeutſche Politik
ſeiner beiden polniſchen Auguſte. Außer Weſtpreußen hat kein anderes
deutſches Land durch die Verbindung mit dem Auslande ſo namenlos ge-
litten. Die Hannoveraner, die Holſten, die ſchwediſchen Pommern ver-
dankten den Fremden doch zuweilen militäriſchen Schutz oder Handels-
vortheile für ihre Flagge; Kurſachſen aber wurde durch das Flitter-
königthum ſeiner Herrſcher nur in das Ränkeſpiel, in die anarchiſchen
Kämpfe und die ſittliche Verwilderung eines verſinkenden Staates hinein-
geriſſen. Als die Prunkſucht der Albertiner mit der Unzucht des polniſchen
Adels ſich freundlich zuſammenfand, trat der deutſche höfiſche Abſolutis-
mus in ſeiner Sünde Blüthe. Mit einer Geduld, die uns Nachlebende
halb rührt, halb empört, ließen ſich die armen Weber und Spitzenklöppler
des Gebirgs bis aufs Blut ausſaugen. Die beſte Kraft des Landes floß
dahin um der Königsmark, der Coſel, den zahlloſen anderen Dirnen des
[494]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ſtarken Auguſt die gierigen Hände zu füllen, um die Magnaten des pol-
niſchen Reichstags zu beſtechen, um das Wunder zu ermöglichen, daß der
Hof eines deutſchen Mittelſtaates ſelbſt das Verſailler Vorbild überbot
und in ſeiner „opulenten Somptuoſité“ auch noch die Mittel fand, den
Warſchauern ihren Sächſiſchen Palaſt und andere Prachtbauten zu ſchenken.
Zugleich warf der unſtete Ehrgeiz König Auguſt’s und ſeines abenteuern-
den Vertrauten Flemming das unglückliche Land in die Wirren des nor-
diſchen Krieges. Das tapfere Heer verblutete ſich in ruhmloſen Kämpfen
unter dem Banner des weißen Adlers; die Schweden, vorlängſt durch das
gute Schwert der Märker bis an den äußerſten Nordſaum Deutſchlands
zurückgeworfen, drangen noch einmal ſiegreich bis in das Herz des Reiches,
und nahe dem Lützener Schlachtfelde diktirte Karl XII. dem entthronten
Polenkönige einen ſchmachvollen Frieden.
Der ganze Unſegen der ausländiſchen Königskrone ward erſt unter
Auguſt’s elendem Nachfolger offenbar, als in den großen Entſcheidungs-
tagen der ſchleſiſchen Kriege der politiſch unkluge, aber menſchlich ent-
ſchuldbare Groll der Albertiner wider den glücklichen nordiſchen Neben-
buhler ſich zu blindem Haſſe ſteigerte und die polniſch-katholiſchen Groß-
machtsträume des Grafen Brühl dies proteſtantiſche deutſche Land gänz-
lich aus den Bahnen ſeiner natürlichen Politik hinausſchleuderten. Selbſt
die an luftigen Projekten ſo reiche Geſchichte der deutſchen kleinſtaatlichen
Diplomatie hat nichts Schwindelhafteres aufzuweiſen, als die begehrlichen
Anſchläge dieſes nichtigen Favoriten: wie er Preußen zerſchlagen, Sachſen
mit Polen durch die ſchleſiſche Via regia verbinden und durch Begün-
ſtigung der polniſchen Adelsanarchie die Erblichkeit der albertiniſchen
Königskrone erreichen wollte — und das Alles ohne eigene nachhaltige
Rüſtung, allein durch den Beiſtand Rußlands und der katholiſchen Groß-
mächte. Furchtbar war die Strafe. Sieben Jahre lang mußte Sachſen,
beſiegt, entwaffnet, in ſchmählicher Hilfloſigkeit, dem preußiſchen Sieger die
Koſten ſeines Krieges tragen helfen. Nach dem Hubertusburger Frieden
lag das Land faſt wieder ebenſo verwüſtet wie einſt nach dem dreißigjäh-
rigen Kriege. Die Verbindung mit Polen löſte ſich auf, der Kampf um
die zweite Stelle im deutſchen Reich war endgiltig zu Preußens Gunſten
entſchieden, und ſelbſt in ſeinem Familienleben ſtand das Fürſtenhaus ſeit
ſeinem Glaubenswechſel vereinſamt unter den norddeutſchen Dynaſtien;
die neuen anſpruchsvollen Verbindungen mit den bourboniſchen und den
habsburgiſchen Höfen vermehrten nur ſeinen Stolz, nicht ſeine Macht.
Der lange Streit zwiſchen Preußen und Sachſen war nicht blos ein
Kampf um die Macht, ſondern auch ein Kampf zweier Staatsgedanken;
das politiſche Königthum der Hohenzollern ſiegte über die Frivolität fürſt-
licher Selbſtvergötterung. Friedrich der Große blieb ſich dieſes principiellen
Gegenſatzes immer bewußt; in einer von zorniger Verachtung überſtrömen-
den Ode rief er, ſeiner männlicheren Tugend froh, dem unglücklichen
[495]Die polniſchen Auguſte.
Sklaven des Wohllebens, dem Grafen Brühl zu: „ich freie die Armuth,
wenn ſie mir zur Morgengabe Ehre bringt und Redlichkeit.“ Gleichwohl
hat das gewiſſenloſe Regiment der beiden polniſchen Auguſte in der deut-
ſchen Geſchichte einen bleibenden Niederſchlag zurückgelaſſen. Der üppigſte
Hof Deutſchlands war auch der geſchmackvollſte, Auguſt der Starke ſelbſt
nicht ohne einen Zug cyniſcher Genialität und ſein Nachfolger mindeſtens
ſo glücklich ſchönheitskundige Helfer zu finden. Dresden wurde der Schmuck-
kaſten des deutſchen Rococoſtils, eine liebliche Stätte heiteren Genuſſes, wie
ſie die ernſthafte germaniſche Welt ſonſt kaum kannte, ein Stelldichein
aller Nationen. In der wuchtigen Kuppel der Frauenkirche und dem präch-
tigen Hesperidengarten des ſächſiſchen Herkules, dem Zwinger, mit dem
goldenen Atlas über dem Portale, verewigte ſich eine Kunſt, die den Em-
pfindungen der Zeit getreuen Ausdruck gab und darum lebendig war.
Neben den koſtbaren Email-Spielereien des kurſächſiſchen Cellini Dinglinger,
neben den Diamantenagraffen und vergoldeten Straußeneiern und all dem
anderen theueren Firlefanz des Grünen Gewölbes ward doch auch die
ſchönſte und ſtimmungsvollſte Gallerie Nordeuropas angeſammelt, ein Be-
ſitzthum Deutſchlands für alle Zeiten. Die Kolonie der wälſchen Künſtler
im Italieniſchen Dörfchen, ernſte Gelehrte wie Graf Bünau, zahlreiche
heimiſche Künſtler und Kenner brachten dem leichtfertigen Leben der Saxe
galante doch ſo viel geiſtigen Gehalt, daß Winckelmann ſelig aufathmete,
als er ſich aus der Mark in das ſchöne Elbflorenz geflüchtet hatte. Die
Eleganz der kosmopolitiſchen Dresdener Geſellſchaft fand in dieſem Lande
der Frauenanmuth und der humaniſtiſchen Bildung dankbaren Boden.
Weithin im Volke verbreitete ſich eine Feinheit der Sitten, wie ſie ſonſt
nur in Ländern alter Cultur gedeiht, jene Freundlichkeit der Umgangs-
formen, die der Sachſe Leſſing in ſeiner Minna von Barnhelm mit un-
verhohlenem Selbſtgefühle der rauhen Schroffheit der Märker entgegenſtellte.
Die norddeutſchen Nachbarn, nach deutſcher Art gewohnt den Splitter
im Auge des Landsmanns aufzuſuchen, hatten ſchon in Luther’s Tagen
das ungerechte Sprichwort „ein Meißner, ein Gleißner“ aufgebracht und
gefielen ſich jetzt darin, die wortreiche Höflichkeit der ſchmiegſamen und
biegſamen Kurſachſen zu verſpotten. Und doch liegen im Charakter dieſer
Mitteldeutſchen Jähzorn und Wohlwollen, Kraft und Feinheit dicht bei-
ſammen, ganz wie ihr Dialekt die abſcheulichſte Ausſprache mit der größten
grammatiſchen Richtigkeit verbindet. Vielleicht kein anderer Stamm im
leidenſchaftlichen Deutſchland zählt ſo viele ſtürmiſch aufbrauſende Naturen
wie der oberſächſiſche. Unter der Unzahl begabter Männer, die er der
Nation geſchenkt hat, finden ſich zwar viele von milder, weicher, nachgiebiger
Liebenswürdigkeit, aber daneben auch von jeher ebenſo viele geborene
Kämpfer, die, in natürlichem Rückſchlage, ihr ſtolzes Ich rückſichtslos,
mit leidenſchaftlichem Trotz durchſetzen, kraftſtrotzende Vertreter des ger-
maniſchen Freimuths. So ſtanden einſt nebeneinander der friedfertige
[496]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Leibniz und die beiden unbändigen Störenfriede Pufendorf und Thomaſius;
ſo in der fridericianiſchen Zeit zwei typiſche Geſtalten, dort Gellert, hier
Leſſing; ſo wieder in den napoleoniſchen Tagen dort die glatten Diplo-
maten des Rheinbunds, hier Fichte und Theodor Körner; ſo noch in neueſter
Zeit unter den Gelehrten dort Lotze, hier Moritz Haupt, unter den Künſt-
lern dort Rietſchel und Ludwig Richter, hier Richard Wagner — immer in
den mannichfaltigſten Formen derſelbe auffällige Gegenſatz, und bei Allen
doch unverkennbar die gleiche Stammesart.
Und nicht zufällig ſind jene trotzigen Naturen auf oberſächſiſchem
Boden erwachſen. In dieſem höflichen, geduldigen Völkchen lag eine unzer-
ſtörbare ſittliche Widerſtandskraft, die den ſchwerſten Prüfungen Stand
hielt. Von der ſcheußlichen Sittenfäulniß des Hofes wurden wohl die
Reſidenz und ein Theil des Adels, vielleicht auch einzelne Kreiſe der Leip-
ziger Kaufmannſchaft angefreſſen; der Bürger und Bauer ließ ſich in
ſeiner ſchlichten Ehrbarkeit nicht ſtören. Ebenſo unverzagt wie einſt nach
den Zeiten der Schwedennoth ſchritt das Volk nach dem ſiebenjährigen
Kriege alsbald ans Werk, um mit ſeinen fleißigen Händen wieder aufzu-
bauen, was die Thorheit des Landesherrn zerſtört hatte. Und wie mann-
haft hielt das tapfere kleine Heer zuſammen, das ſeit ſeinen erſten glän-
zenden Ruhmestagen, beim Entſatze von Wien, faſt nur noch Unheil er-
lebt hatte und durch die klägliche Politik ſeiner Kriegsherren von einer
Niederlage zur anderen getrieben wurde. Die ſchönen Mörſer aus der
Werkſtatt des Dresdner Stückgießers Herold prangten jetzt als Trophäen
am Ufer des Mälar-Sees, und die Hellebarden der kurſächſiſchen Schwei-
zergarde ſtanden im Berliner Zeughauſe zu einem glitzernden Stacket zu-
ſammengeſtellt. Aber ſelbſt nach den zerſchmetternden Schlägen von Frau-
ſtadt, von Hohenfriedberg und Keſſelsdorf war die Armee niemals ganz
aus den Fugen gegangen, und als nach der Capitulation von Pirna Alles
verloren ſchien, da waren es Benckendorf’s ſächſiſche Reiter, die bei Kollin,
an Friedrich’s Schickſalstage, die Niederlage der Preußen entſchieden. Ganze
Bataillone gefangener Sachſen verließen den erzwungenen preußiſchen
Dienſt um ſich nach Polen zu ihrem Könige zu flüchten; auf dem weſt-
deutſchen Kriegstheater fochten die Trümmer der zerſchlagenen Regimenter
unter franzöſiſchem Oberbefehl weiter, und gleich nach dem Frieden ſtand
das Heer wieder in leidlicher Ordnung beiſammen, als ſei nichts geſchehen.
Politiſche Köpfe konnten freilich unter ſolchen Fürſten nicht auf-
kommen. Noch auffälliger ſogar als in Schwaben erſchien hier das Miß-
verhältniß der politiſchen und der literariſchen Talente. In den andert-
halb Jahrhunderten ſeit der Hinrichtung Crell’s trat in Kurſachſen nur
Einer auf, der den Namen eines Staatsmannes verdiente: der Boitzen-
burger Arnim, und er ward hier nie ganz heimiſch. Pufendorf aber, der
erſte politiſche Denker des Landes, ſchüttelte den Staub der Heimath von
ſeinen Füßen und kämpfte ſeinen großen Kampf für die moderne Mon-
[497]Friedrich Auguſt I.
archie unter den Zeterrufen ſeiner Landsleute. Die kurſächſiſche Diplo-
matie ſtand überall im Rufe ränkeſüchtiger Falſchheit, im Beamtenthum
nahmen Gunſtbettelei, Nachläſſigkeit, Beſtechlichkeit überhand, und auch
für das Volk, das ſich in ſeinem häuslichen Leben ſo rechtſchaffen er-
hielt, ward die elende politiſche Geſchichte des Landes wahrlich keine Schule
des Bürgerſinnes. Zu oft war Kurſachſen der Kriegsſchauplatz aller
Völker geweſen; zu oft hatte man den angeſtammten König fliehen, die
Schätze des Grünen Gewölbes in den Kaſematten des Königſteins ver-
ſchwinden, den Feind jahrelang als Herrn im Lande hauſen ſehen. Ueberall
hieß es: mit dem Hute in der Hand kommt man durch das ganze Land.
Die unterthänige Liebe der Deutſchen für ihre Landesherrſchaft mußte
hier, wo ſo wenig zu lieben war, in niedrige Schmeichelei ausarten. Der
tugendhafte Pelikan, der über dem Portale des Dresdener Schloſſes ſeine
Jungen von ſeinem Blute trinken läßt, konnte ſelbſt ergebenen Unterthanen
unmöglich als ein getreues Sinnbild für die Regierung des ſtarken Auguſt
erſcheinen; und wenn das Kenotaph dieſes Königs in der Warſchauer Ka-
puzinerkirche die Inſchrift erhielt: morte quis fortior? gloria et amor —
wenn die Stadt Leipzig ſeinen Nachfolger feierlich als den „Wiederher-
ſteller der öffentlichen Heiterkeit“ begrüßte — wenn die Lehrer den Schul-
kindern von dem vierzehn Ellen langen Prachtkuchen des Mühlberger Luſt-
lagers oder von den 835 Schnupftabaksdoſen des Grafen Brühl mit Stolz
wie von vaterländiſchen Großthaten erzählten, ſo ſprach aus dem Allen
ein Bedientenſinn, der ſchon den Zeitgenoſſen auffiel. —
Mit der kurzen wohlthätigen Herrſchaft Friedrich Chriſtian’s und der
langen Regierung ſeines Nachfolgers Friedrich Auguſt kam endlich eine
beſſere Zeit. In vielen der kleinen deutſchen Staaten gelangten gegen
den Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts einſichtsvolle, langlebige Fürſten
ans Ruder, die mit den Ueberlieferungen des höfiſchen Abſolutismus
brachen und, von ihrem Hauſe und Volke wie Heilige verehrt, ihrem
Staate auf lange hinaus die Richtung gaben: ſo in Baden Karl Friedrich,
in Weimar Karl Auguſt, in Darmſtadt Ludwig I., in Schwerin Friedrich
Franz, in Deſſau Leopold Friedrich Franz. Auch Friedrich Auguſt ge-
hörte zu dieſer Generation wohlwollender Landesväter, die ſich bewußt oder
unbewußt an dem Vorbilde Friedrich’s des Großen geſchult hatte. Streng
gerecht, gewiſſenhaft, arbeitſam brachte er ſeinen heimgeſuchten Unterthanen
wieder den Segen einer ſorgſamen Landesherrſchaft, der ihnen ſeit den
Zeiten des Kurfürſten Auguſt gefehlt hatte. Er machte der Schwelgerei
des Hofes ein Ende, ſtellte die gelockerte Zucht im Beamtenthum wieder
her, ordnete die Finanzen ſo gründlich, daß nachher ſelbſt durch die Stürme
des napoleoniſchen Zeitalters der Staatscredit nicht auf die Dauer er-
ſchüttert werden konnte, berief tüchtige Männer in die Geſchäfte, vor Allen
ſeinen Lehrer Gutſchmid — ſeit unvordenklicher Zeit den erſten Bürger-
lichen, der in dem Vetterſchaftsweſen dieſer Adelsherrſchaft durch wirkliches
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 32
[498]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Verdienſt, nicht durch Lakaienkünſte zu den höchſten Würden aufſtieg — und
ſchloß ſich in der deutſchen Politik, die gefallene Entſcheidung achtend, ver-
ſtändig an Preußen an — eine Entſagung, welche ihm der fromme Abſcheu
vor dem gottloſen Neuerer Joſeph II. allerdings erleichterte. Aber ein Orga-
niſator wie Karl Friedrich oder Karl Auguſt war er ſelbſt in ſeinen kräf-
tigen Jahren nicht. Er lebte in den Anſchauungen des altſtändiſchen Staates
und begnügte ſich in dem engen Kreiſe, welchen die Oligarchie des Land-
tags dem monarchiſchen Willen offen ließ, wohlthätig zu wirken. An die
Entlaſtung des hartbedrückten Landvolks, an alle die wirthſchaftlichen Re-
formen, deren ſein Land noch dringender als die Nachbarſtaaten bedurfte,
war ſchon darum nicht zu denken, weil ihm jeder Eingriff in die Standes-
privilegien ſeiner Ritterſchaft als ein gewiſſenloſer Rechtsbruch erſchien.
Erhaltung alles Beſtehenden wurde bald der Wahlſpruch ſeiner Regierung.
In ihren Anfängen hatte ſie viel alten Unrath hinweggeräumt, nachher
verſchuldete ſie, daß Sachſen in ſeiner politiſchen Entwicklung wieder um
ein Menſchenalter hinter den Nachbarländern zurückblieb.
Selbſt die Zeit des allgemeinen Umſturzes in den Rheinbundslanden
ging an Sachſens ſchwerfälligem Staatsbau ſpurlos vorüber. Grauſames
Schickſal, das dieſen ſanftmüthigen, bedachtſamen Fürſten in die Abenteuer
der napoleoniſchen Politik verwickelte und grade ihn noch einmal mit der
polniſchen Unheilskrone belaſtete. Im Grunde des Herzens blieb er ſelbſt
während jener ſtürmiſchen Jahre der friedfertige Landesvater, der ſich nichts
Beſſeres wünſchte als ſeine angeſtammten Unterthanen in Ruhe zu regieren;
die ehrgeizigen Großmachtspläne ſeiner Miniſter Boſe und Senfft regten
ihn wenig auf, wie blind er auch auf das Glück ſeines Großen Alliirten
vertraute. Um ſein Land nicht der Raubgier des Siegers preiszugeben,
ließ er ſich nach der Schlacht von Jena zu dem einzigen Treubruche ſeines
Lebens, zum Abfall von dem preußiſchen Bündniß verleiten. Um ſeinem
Lande die Gnade des mächtigen Protectors zu erhalten, ertrug er geduldig
jede perſönliche Entwürdigung und hörte ſelbſt im alten Frankfurter Kaiſer-
dome das Tedeum für die Wagramer Schlacht mit an; und wieder um
ſein Land vor der Rache Napoleon’s zu ſichern, kündigte er nach dem Tage
von Großgörſchen, noch unaufgefordert, dem Imperator ſeine Rückkehr
an.*) Als er dann kriegsgefangen in die Hände der Preußen fiel, war
er ſich keiner Schuld bewußt; hatte er doch immer nur für ſein Volk
geſorgt und ſeine Rheinbundspflichten gewiſſenhaft erfüllt. Er wollte ſchlech-
terdings nicht begreifen, daß er nun auch die Folgen der Niederlage tragen
ſollte. Nun gar die jungen Prinzen und Prinzeſſinnen waren — anders
als der Oheim — auf ihre Weiſe immer gut deutſch geſinnt geweſen, ſie
hatten ſich im Frühjahr des erſten Einzugs der Alliirten herzlich gefreut
[499]Heimkehr Friedrich Auguſt’s.
und empfanden es dann wie einen Verrath, als dieſe Befreier ihnen das
Erbe ihrer Väter ſchmälerten.
Mit den Gefühlen eines ſchwer und ungerecht Gekränkten kehrte der
greiſe König im Juni 1815 in ſein verkleinertes Land zurück, und der
Empfang daheim konnte ihn in ſolcher Meinung nur beſtärken. Zur
Zeit der Leipziger Schlacht hatte ein großer Theil der Gebildeten die un-
deutſche Politik des Königs hart verurtheilt. In der langen Zeit der Un-
gewißheit nachher ward die dynaſtiſche Anhänglichkeit wieder lebendig, und
ſie gewann gänzlich die Oberhand als die Nachricht von der Theilung des
Landes und der bevorſtehenden Rückkehr des Monarchen kam. Die We-
nigen, die ſich offen für Preußen ausgeſprochen, hielten ſich jetzt behutſam
zurück; das Volk nannte ſie die Preußen oder auch die Deutſchen. In
der Hilfloſigkeit dieſer Kleinſtaaterei wechſelte Mancher ſeine Meinung ohne
es ſelber zu merken. Der gutmüthige Leipziger Poet Mahlmann, der Her-
ausgeber der beliebten Zeitung für die elegante Welt, dichtete, als Napo-
leon die Rautenkrone gründete, eine begeiſterte Ode auf den Imperator:
„vor ihm geht Schrecken her, doch Großmuth folgt ihm nach“; dann be-
ſang er ebenſo rührend den Czaren Alexander und die Leipziger Völker-
ſchlacht, und zur Heimkehr des Königs verfertigte er das neue Sachſen-
lied „Blühe du Rautenkranz!“ Die ungeheuere Mehrzahl des Volks war
in ihren jubelnden Huldigungen unzweifelhaft aufrichtig; man hatte ſich
in das unbewegliche Regiment des alten Herrn ſo ganz eingewöhnt, als
ob man nicht mehr ohne ihn leben könnte, und nannte ihn ſchon bei Leb-
zeiten allgemein den Gerechten. Die nämlichen Auftritte wiederholten ſich
nach drei Jahren beim Jubelfeſte der Regierung Friedrich Auguſt’s; auch
mehrere der an Preußen abgetretenen Ortſchaften ſendeten inbrünſtige
Glückwünſche, und der neue Landesherr ließ ſie gewähren.
Eine lange Reihe ſtattlicher, mit Bildern geſchmückter Bücher er-
zählte ſodann der Welt von dieſen „allgemeinen Freudenfeſten der getreuen
ſächſiſchen Nation“, von den Triumphbogen und Obelisken und den „Tem-
peln der Unſterblichkeit“, von dem ſinnigen Liede „die Raute grünt, das
Veilchen blühet wieder“, von allen den gereimten und ungereimten Pracht-
reden zu Ehren „des guten Bienenvaters“, der ſo lange ſeiner fleißigen
Bienen treu gewartet hatte und dann von fremden Raubbienen, Hummeln
und Wespen vertrieben, endlich wieder zu ſeinen unſchuldigen Kindern heim-
gekehrt war. Zuweilen verſtieg ſich die Unterthänigkeit dieſer Kinder bis zur
offenbaren Gottesläſterung. In dem Feſtſpiele der Dresdener Geſellſchaft
zum Blauen Stern, die ſich während der preußiſch-ruſſiſchen Fremdherr-
ſchaft zur Nährung der dynaſtiſchen Treue zuſammengefunden hatte, er-
klang nach einer feierlichen Pauſe „das hohe Geiſterwort“:
32*
[500]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Und wie viel ekler Schlamm war von der wilden Zeit in den ſtillen
Wäſſern dieſes Kleinſtaats aufgewühlt worden. Die Angeber und Ver-
leumder hatten gute Tage. Wer in den jüngſten Monaten, das Land
ſeinem Schickſale überlaſſend, mürriſch daheim geblieben war, verdächtigte
jetzt die wackeren Offiziere und Beamten, die unter dem ruſſiſchen und
dem preußiſchen Gouvernement die Verwaltung geleitet hatten; ſie alle —
die Generale Vieth und Carlowitz, der Freiherr v. Miltitz-Siebeneichen
und Andere — wurden unmöglich und mußten das Land verlaſſen. Nicht
blos ehrenwerthe alte Staatsdiener, ſondern auch manche elende Denun-
cianten erhielten den neuen Verdienſtorden, den der König nach der Heim-
kehr für ſeine Getreuen ſtiftete und mit den ebenfalls neu erfundenen
grün-weißen Landesfarben ſchmückte.
Mit der glühenden Verehrung, welche fortan dieſen geſchichtsloſen
Farben gewidmet wurde, verkettete ſich leider unzertrennlich ein ebenſo
leidenſchaftlicher Haß gegen Preußen. Unter allen Deutſchen mußte es
den Kurſachſen am ſchwerſten fallen, ſich zurechtzufinden in dem Wirrſal
unſerer neuen Geſchichte und ihre ſchöpferiſchen Kräfte zu erkennen. Es
ſtand nicht anders: weil Kurſachſen ſank, war Preußen aufgeſtiegen,
faſt jeder deutſche Ruhmestag der jüngſten anderthalb Jahrhunderte war
eine Niederlage der kurſächſiſchen Politik. Wie ſollte man dies einſehen
in einem Lande, das von der nationalen Begeiſterung der jüngſten Jahre
nur einen leiſen Hauch verſpürt hatte? Von den beiden ſtreitbaren Kur-
ſachſen, welche ſo mächtig geholfen hatten das Feuer dieſes vaterländiſchen
Idealismus zu ſchüren, war der eine, Fichte, daheim wenig bekannt; die
Gelehrten ſchätzten ihn als Philoſophen, die Geiſtlichen entſannen ſich,
daß ihn einſt das Dresdener Conſiſtorium wegen Atheismus verklagt hatte,
die Reden an die deutſche Nation kannte man kaum. „Der Theater-
dichter Theodor Körner“ aber wurde wenige Tage vor ſeinem Tode in
den Dresdener Blättern wegen verſäumter Dienſtpflicht amtlich vorge-
laden; die gute Geſellſchaft ſprach nicht gern von ihm, war er doch wie
ſein Vater zu den Preußen übergelaufen. Wohl ſtand der Dichter von
Leier und Schwert nicht ganz vereinſamt unter der ſächſiſchen Jugend.
Nach der Leipziger Schlacht meldeten ſich bei der Armee manche für Deutſch-
lands Freiheit ſchwärmende junge Männer, die längſt ſchon danach ver-
langt hatten, unter dem Banner des heimathlichen Rautenkranzes gegen
Frankreich zu kämpfen. Um die Jugend der höheren Stände in ſtärkerer
Anzahl heranzuziehen, berief das ruſſiſche Gouvernement den Banner,
eine den Lützowern nachgebildete Freiſchaar, der ſich neben anderen ehrlich
Begeiſterten auch der Leipziger Philoſoph Krug anſchloß. Indeß war die
Theilnahme keineswegs allgemein, es fehlte der friſche Zug und Schwung
der preußiſchen Freiwilligen. Der Banner hatte kein Glück, er bekam den
Feind nur hinter den Mainzer Feſtungswällen zu ſehen. Das patrio-
tiſche Unternehmen blieb ebenſo unfruchtbar, wie das Syſtem der Kriegs-
[501]Sächſiſcher Preußenhaß.
wiſſenſchaft, das der ſchreibſelige Krug auf Grund ſeiner unblutigen Waffen-
thaten ſofort herausgab. Während Preußens geſammtes Volk für Deutſch-
land focht, verharrten viele brave junge Sachſen noch in den philiſterhaften
Anſchauungen des altüberlieferten Standesdünkels und vermochten den
Gedanken gar nicht zu faſſen, daß ein gebildeter Mann die Flinte tragen
könne. Recht aus dem Herzen ſeiner Leipziger Standesgenoſſen heraus
ſchrieb der gelehrte junge Aſtronom Möbius im Sommer 1814: „Ich
halte es gradezu für unmöglich, daß man mich, einen habilitirten Magiſter
der Leipziger Univerſität, zum Rekruten ſollte machen können. Es iſt der
abſcheulichſte Gedanke, den ich kenne, und wer es wagen, ſich unterſtehen,
erkühnen, erdreiſten, erfrechen ſollte, der ſoll vor Erdolchung nicht ſicher
ſein. Ich gehöre ja nicht zu den Preußen, ich bin in ſächſiſchen Dienſten.“
Als nun die Landestheilung ſo viele altgewohnte nachbarliche Ver-
hältniſſe roh zerſtörte, da war die Erinnerung an den Freiheitskrieg
und die Unthaten der Franzoſen bald völlig vernichtet. Niemand fragte
mehr, was Preußen auch für die Befreiung Sachſens gethan; Niemand
bedachte, daß Talleyrand und Metternich die Theilung des Landes ver-
ſchuldet, Preußen ſie nur widerwillig angenommen hatte. Ein maßloſer
Haß richtete ſich, menſchlich genug, gegen den nordiſchen Nachbar, und
er ward faſt zur Wuth als die entſetzliche Kunde von der Lütticher Meuterei
eintraf. Der ſächſiſche Particularismus war nicht mehr ſtolz, wie in den
Zeiten der Kurfürſten Moritz und Auguſt, ſondern giftig, verbiſſen und
verkniffen, ganz gegen die natürliche Art des gutherzigen Stammes. Wer
ein guter Sachſe war, mußte von Zeit zu Zeit einmal durch eine kräf-
tige Herzensergießung wider Preußen beweiſen, daß der meißniſche Dialekt
in der Grobheit ebenſo ausdrucksvoll und wortreich iſt wie in der Höf-
lichkeit. Lange Jahre hindurch blieb es eine ſächſiſche Eigenthümlichkeit,
daß man dort überall geſcheidte und ehrlich deutſch geſinnte Männer traf,
mit denen man über Alles vernünftig ſprechen konnte, nur nicht über
Preußen.
In der erſten Zeit nach der Theilung bekundete ſich dieſe Geſin-
nung noch durch einige häßliche Libelle. So erſchien ein offenbar ge-
fälſchtes Schreiben der ſächſiſchen Grenadiere, das den „Waffengefährten
aller teutſchen Nationen“ die „ſchauderhaften Verbrechen“ der preußiſchen
„Seelenverkäufer“ bei Lüttich ſchilderte. Eine andere Flugſchrift unter
dem ebenfalls erfundenen Titel „Rechtfertigung des aus ſächſiſchem in
preußiſche Dienſte übergetretenen Raths N.“ entwickelte den ſauberen Plan:
die altſächſiſchen Beamten in der Provinz Sachſen ſollten unter der Hand
„die Erſchlaffung ſächſiſcher Nationalität und die Amalgamation mit
Preußen“ zu verhindern ſuchen um das Volk auf „die Morgenröthe beſſerer
Tage“ vorzubereiten. „Oeſterreichs Kaiſerhaus hat gewiß nicht ohne den
tiefſten Schmerz jetzt dem Drange der Umſtände nachgegeben und in die
Erniedrigung der ihm befreundeten Familie gewilligt, Oeſterreichs Cabinet
[502]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
muß den gierigen nordiſchen Adler fürchten und ihm baldigſt Einhalt thun.
Frankreich, Baiern, der Papſt, die in Oeſterreich mächtigen Geiſtlichen,
alle kleineren deutſchen Fürſten, die in Sachſen ihre Exiſtenz gefährdet
ſehen, werden für uns ſprechen und die Flamme des Krieges zwiſchen den
beiden Nebenbuhlern der Oberherrſchaft in Deutſchland bald anfachen!“
Das Volk hielt die Hoffnung auf die Wiedervereinigung der albertiniſchen
Lande faſt ebenſo hartnäckig feſt, wie einſt die Erneſtiner auf die Rück-
gabe des verlorenen Kurhuts gewartet hatten. Die Kinder in den Schulen
ſangen das trutzige Liedlein: „Die Preußen haben uns ’s Land geſtohlen,
wir werden’s uns ſchon wieder holen; Geduld, Geduld, Geduld!“
Obwohl der König in ſeiner ſtrengen Rechtlichkeit den geſchloſſenen
Friedensvertrag unbedingt achtete, ſo war es doch nur eine nothwendige
Folge des Geſchehenen, daß er eine nähere Verbindung mit Preußen jetzt
für ganz unmöglich hielt. Als ſein natürlicher Verbündeter erſchien ihm
fortan Oeſterreich, obgleich der Kaiſerſtaat bei jeder Hungersnoth im Erz-
gebirge regelmäßig ſeine Grenzen ſchloß und ſich auch ſonſt keineswegs als
gefälliger Nachbar erwies. Der ſtille Groll gegen Preußen trat nur darum
nicht auffällig hervor, weil die beiden deutſchen Großmächte jetzt verbündet
waren, und weil Friedrich Auguſt ſich wieder ausſchließlich den Pflichten
der Landesverwaltung widmete. Die große Politik lag nicht in ſeinem
Geſichtskreiſe, indeß fühlte er ſich ſtets geſchmeichelt, wenn ihm die Ge-
ſandten der Großmächte etwas von den Wirren draußen in der Welt er-
zählten.*) Am Bundestage ſtimmte der ſächſiſche Geſandte gehorſam mit
Oeſterreich und ließ im Uebrigen ſo wenig von ſich hören, daß Metternich
zuweilen freundlich mahnte, der Dresdener Hof möge ſeine treffliche Ge-
ſinnung doch etwas lebhafter bethätigen. Alſo wirkte die Landestheilung
noch lange unheilvoll auf die ſächſiſche Politik zurück. Sie nährte im Volke
einen kleinlichen particulariſtiſchen Aerger, der den deutſchen Nationalſtolz
ganz überwucherte; ſie erſchwerte dem Hofe wie dem Volke, die großen
wirthſchaftlichen Intereſſen, welche dieſen Staat mit Preußen verbanden,
rechtzeitig zu erkennen.
Allerdings hatte das Land unerſetzliche Einbußen erlitten. Verloren
war außer den ſchönen thüringiſchen Stiftslanden und dem größten Theile
der Lauſitzen auch der Stolz Oberſachſens, der Kurkreis; ein gerechtes
Geſchick brachte die Heimath der Reformation wieder unter ein treues
proteſtantiſches Herrſcherhaus. Und wie viele köſtliche geiſtige Kräfte kamen
dem Staate allein mit den beiden Gelehrtenſchulen Pforta und Roßleben
abhanden. Die Armee verlor in Aſter ihren begabteſten Offizier, das Be-
amtenthum in Streckfuß, Schönberg, Ferber und dem Vater Theodor
Körner’s grade die freimüthigen Männer, welche die Gebrechen des alten
Adelsregiments längſt durchſchaut und gerügt hatten. Jedoch die ſchönere
[503]Dresden und Leipzig.
und werthvollere Hälfte des Landes, die dem albertiniſchen Staate von
jeher ſeinen Charakter gegeben hatte, blieb der Dynaſtie erhalten — ein
Gebiet, lächerlich klein für die Anſprüche der neuen Königskrone, aber noch
immer ſtark genug um im Deutſchen Bunde den erſten Platz hinter Baiern
zu behaupten. Welche erſtaunliche Mannichfaltigkeit der Bildung und
des Verkehrs drängte ſich hier auf engem Raume zuſammen; faſt an Allem
was Deutſchlands Leben ausmachte, nahm das fleißige Land ſeinen Antheil.
Halb Reſidenz, halb Fremdenort, bewahrte ſich die Hauptſtadt noch faſt
unverändert die harmoniſche Schönheit ihrer barocken Pracht, wie einſt
da Canaletto ſie malte. Der Saus und Braus jener polniſchen Zeiten
war freilich längſt verklungen, nur noch ſelten wurden die Damen des
Adels in altfränkiſchen Portechaiſen zu einem Feſte des ehrbaren Hofes
aufs Schloß getragen; nur noch die Kunſtſchätze und die Reize der Natur
lockten die Schaar der Fremden an die Elbe. Ein ſelbſtändiges Bürger-
thum hatte in dieſer einſchläfernden Luft niemals aufkommen können. Hier
gediehen jene göttlichen Philiſter, unter denen der junge Ludwig Richter
ſeine luſtigſten Geſtalten fand: die Calculatoren und Hofſecretäre, die
Nachmittags nach maßvoller Bureau-Arbeit mit Kind und Kegel in die
Baumblüthe wanderten; der Kleinadel und die höheren Beamten, die im
Frühjahr auf Sommerpläſir in ihre Loſchwitzer Weinbergshäuschen zogen;
und nicht zuletzt die Hofräthe, die äſthetiſchen Gelehrten vom Theater und
von den Sammlungen, im alten Dresden ebenſo angeſehen wie die Ge-
heimen Räthe im alten Berlin — alleſammt ein ſeelenvergnügtes, ewig
ſpazierengehendes Völkchen von makelloſer politiſcher Unſchuld und Zahmheit.
Mit ähnlichen freundnachbarlichen Gefühlen wie Frankfurt auf das
goldene Mainz, blickte das reiche Leipzig auf dieſe höfiſche Nachbarin her-
unter, der andere Pol des vielgeſtaltigen oberſächſiſchen Lebens, eine Stadt
des Bürgerthums, aller Schönheit baar, aber von Altersher mächtig durch
die lebendige Verbindung kaufmänniſcher und wiſſenſchaftlicher Thätigkeit.
Seit dem Ausgang des ſiebzehnten Jahrhunderts hatte der deutſche Buch-
handel, aus Frankfurt hinweggeſcheucht durch die geſtrenge kaiſerliche Cenſur,
an der Pleiße ſeinen Markt aufgeſchlagen; die Univerſität und die ſchrift-
ſtelleriſche Emſigkeit der Kurſachſen arbeiteten ihm in die Hände. Um
1820 wurde faſt ein Drittel aller deutſchen Bücher in Leipzig gedruckt,
jeder angeſehene deutſche Verleger hielt ſich dort ſeinen Commiſſionär
und beſuchte die Oſtermeſſe. Unaufhaltſam wurden die kleinen Verleger
im katholiſchen Oberlande, die bisher ihre Schul- und Andachtsbücher
durch Reiſende in die Bauernhöfe der Alpen verſendet hatten, in den ge-
ordneten Geſchäftsbetrieb des „proteſtantiſchen Buchhandels“ hineingezogen,
und wie die Literatur einſt das erſte Band unſerer nationalen Einheit
geweſen war, ſo ſchuf ſie ſich jetzt auch — nicht durch die Hilfe der
Bundespolizei, wie einſt Metternich geplant, ſondern frei aus eigener
Kraft — die erſte anerkannte geſammtdeutſche Corporation. Im Jahre
[504]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
1824 entſtand, vornehmlich angeregt durch Perthes in Gotha und Fleiſcher
in Leipzig, der Börſenverein der deutſchen Buchhändler, und mit ihm eine
wohlthätige Centraliſation des literariſchen Verkehrs, deren kein anderes
Land ſich rühmen konnte — ein glänzendes Zeugniß zugleich für die Ge-
ſchäftstüchtigkeit des deutſchen Bürgerthums und für die ſtill wirkende
Triebkraft des nationalen Gedankens.
Als Meßplatz war Leipzig, obgleich es nicht einmal einen ſchiffbaren
Strom beſaß, ſeit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts allen anderen
deutſchen Städten vorangekommen: vornehmlich durch die Ueberlegenheit
des erzgebirgiſchen Gewerbfleißes und durch den rührigen Unternehmungs-
geiſt ſeiner Kaufmannſchaft, der von der läßlich bequemen kurſächſiſchen
Verwaltung wenig beläſtigt wurde, während die fridericianiſche Handels-
politik durch ihre wohlgemeinte Bevormundung den Meßhandel von Frank-
furt a/O. zu Grunde richtete. Das am Weiteſten oſtwärts vorgeſchobene
deutſche Induſtrieland bildete den natürlichen Markt für die halbgeſitteten,
den Gewohnheiten des Karavanenhandels noch nicht entwachſenen Völker
Oſteuropas; und ſo lange der deutſche Verkehr noch durch die Binnen-
mauthen, durch die Anarchie des Maß- und Münzweſens, durch die
Zunft- und Bannrechte der Städte unterbunden war, fand auch er noch
ſeinen Vortheil bei der ſtoßweiſe wiederkehrenden Handelsfreiheit der Meſſen.
Was die preußiſche Regierung jetzt noch verſuchte um ihre eigenen Meß-
plätze Naumburg und Frankfurt a/O. zu heben, war verlorene Arbeit und
förderte nur ärgerlichen Nachbarzwiſt. So oft in Naumburg die Meſſe
eröffnet wurde, that ſich in Leipzig eine Winkelmeſſe auf, von den Behörden
unter der Hand geduldet; zur Wiedervergeltung hielten preußiſche Geſchäfts-
leute während der Leipziger Meſſe in Lützen eine Neben-Ledermeſſe. Aber
die Ueberlegenheit Leipzigs war entſchieden, und mit dem großſtädtiſchen
Verkehre, der ſich hier dreimal im Jahre aufſtaute, erweiterte ſich auch
der Geſichtskreis der Bürgerſchaft. Wie eine freie Reichsſtadt, nicht unbot-
mäßig, aber ſelbſtändig und mit dem Bewußtſein, daß ſie nicht blos dem
kleinen Königreiche angehöre, ſtand Deutſchlands zweite Handelsſtadt dem
Hofe und dem Beamtenthum gegenüber.
Noch wichtiger als Leipzig für den Handel war das kleine Freiberg
für den deutſchen Bergbau. Hier blühte die erſte Bergakademie der Welt,
die ihre Schüler bis in die Minen von Mexico und Peru ſendete und
ſoeben durch Werner ihren höchſten Ruhm erlangt hatte; denn je kärg-
licher die Ausbeute der edlen Metalle im Erzgebirge wurde, um ſo kunſt-
voller geſtaltete ſich der Betrieb. Hier hatten Humboldt und Buch reiche
Jugendjahre verlebt, hier hatte Heynitz gewirkt, der Lehrer Stein’s, und
Novalis das hohe Lied des Bergmanns gedichtet: „wer iſt der Herr der
Erde? der ihre Tiefen mißt.“ Dicht nebenan in Tharand leitete der
Thüringer Heinrich Cotta die große Forſtlehranſtalt, die bald für ganz
Deutſchland ein Muſter wurde. Ueberall im Erzgebirge auf und unter
[505]Das Erzgebirge.
der Erde eine großartige wirthſchaftliche Betriebſamkeit, wie ſie Deutſch-
land nur erſt am Niederrhein kannte: die Waſſerläufe des Gebirgs
durch ein Syſtem von Floßgräben verbunden; die mächtigen Kohlenwerke
des Plauenſchen Grundes und des Zwickauer Beckens bereits in Thätig-
keit; die Textilinduſtrie ſeit der Continentalſperre hoch entwickelt; in Chemnitz
C. G. Becker, der in ſeiner Kattundruckerei und Baumwollenſpinnerei
ſchon über 3000 Arbeiter beſchäftigte. Und faſt in jedem Bergſtädtchen
daſſelbe Bild: am Eingange des Orts der hohe Poſt-Obelisk mit dem
Namenszuge des ſtarken Auguſt, droben auf flußumrauſchtem Felſenriegel
ein altes kurfürſtliches Schloß, am Berge aufſteigend die ſchmucken Häuſer
mit den Werkſtätten der Weber, der Uhrmacher, der Steindreher, Alles
wimmelnd von fleißigen Menſchen, als einzige Nahrung oft wochenlang
nur Kartoffeln und der Cichorientrank aus den gelben Düten von Jordan
und Timäus, aber trotz der bitteren Armuth nirgends Schmutz und in
aller Noth immer der alte Troſt: gemüthlich iſt’s doch droben auf dem
Erzgebirge! Dazu durchweg gute Volksſchulen, freilich mit halbverhungerten
Lehrern, und ein mannichfacher techniſcher Unterricht, der in der Dresdener
techniſchen Bildungsanſtalt (1828) ſeinen Mittelpunkt fand. Es lag ein
herrliches Stück deutſcher Tüchtigkeit in dieſem ſtolzen alten Kurſachſen,
und ſelbſt im Rheinlande gedachte General Aſter noch mit Selbſtgefühl
des vielgeſtaltigen Lebens ſeiner Heimath, obſchon er wohl wußte, daß für
ſein Talent in dem kleinen Lande kein Raum war.
Aber dieſe Fülle ſocialer Kräfte ward unterbunden und darnieder-
gehalten durch eine Verfaſſung, die hierzulande wie ein Stück verkehrter
Welt erſchien. Alles, was dieſem Lande Bedeutung gab, Wiſſenſchaft,
Handel und Gewerbfleiß war bürgerlich. Zwar beſtand hier noch wie in
allen germaniſirten Slavenlanden eine Unzahl von Rittergütern, doch der
Grundadel war mit ſeltenen Ausnahmen arm, nur in der Lauſitz leidlich
wohlhabend; die große Mehrzahl der adlichen Familien mußte im Hof-
und Staatsdienſte ein Unterkommen ſuchen. Mit ſeiner dichten Bevöl-
kerung und dem überwiegend ſtädtiſchen Charakter ſeiner Cultur ſtand
Sachſen dem deutſchen Weſten weit näher als den ariſtokratiſchen Acker-
baulanden an der Oſtſee; und doch behauptete ſich in dieſen ganz mo-
dernen Wirthſchaftsverhältniſſen unwandelbar wie eine wohl erhaltene
politiſche Verſteinerung noch eine Adelsherrſchaft, deren Starrheit kaum in
Mecklenburg überboten wurde. Eine gründliche Neugeſtaltung war hier
durch die Landestheilung ganz ebenſo unabweisbar geboten wie einſt in
den ſüddeutſchen Rheinbundslanden durch die Vergrößerung des Staats-
gebiets; der weite Mantel der alten Verfaſſung hing dem verkleinerten
Staate ſchlotternd um die Glieder. Doch wer konnte von dem bedächtigen
Friedrich Auguſt jetzt in ſeinen hohen Jahren noch kühne Entſchlüſſe er-
warten? wer hätte auch nur gewagt ſolche Forderungen auszuſprechen
inmitten der überſchwänglichen Huldigungen dieſer Tage des Wiederſehens?
[506]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Der greiſe Herr meinte alle Wünſche ſeines dankbaren Volkes zu erfüllen,
als er mit gewohnter Arbeitſamkeit und Geſchäftskenntniß die alte Ord-
nung völlig unverändert herſtellte, das verroſtete Uhrwerk noch einmal
aufzog. Nun ging der Pendel wieder gemächlich hin und her, ſo ſtätig,
ſo eintönig, daß der preußiſche Geſandte immer nur über Eines berichten
konnte: über „den hier fortdauernden Mangel an Ereigniſſen von größerem
Intereſſe.“*) Unter allen Berichten der preußiſchen Diplomatie waren die
Dresdener die leerſten.
Sofort nach der Heimkehr ſtellte der König die alte ſteife Hofetikette
wieder her, die einſt den Berlinern, als er dort in Kriegsgefangenſchaft
weilte, ſo viel Anlaß zu ſchnöden Witzen gegeben hatte. Wie er, durch
und durch Gewohnheitsmenſch, ſein ſchönes muſikaliſches Talent noch immer
auf dem alten Silbermann’ſchen Kielflügel übte, als wäre das Piano nicht
ſchon längſt erfunden geweſen, ſo wollte er auch ſeinen Hof ſtreng auf
dem Stande von 1780 erhalten und entſchloß ſich nur ungern, einige der
vermeſſenen Neuerungen, deren der ruſſiſche Gouverneur Fürſt Repnin ſich
erdreiſtet, ſtillſchweigend anzuerkennen. Der hatte die koſtbare gelbblaue
Schweizergarde aufgelöſt, den Großen Garten der öffentlichen Benutzung
übergeben, die Brühl’ſche Terraſſe durch eine Freitreppe mit dem Schloß-
platze verbunden. Dieſe Frevel der Fremdherrſchaft ließen ſich nicht
mehr rückgängig machen. Späterhin wurden ſogar einige der Dresdener
Kunſtſammlungen dem Publicum geöffnet; ſie waren bisher als Hofge-
heimniß behandelt und, den Eingebornen faſt unbekannt, nur von einzelnen
Künſtlern und von Fremden, gegen das herkömmliche altſächſiſche Douceur,
beſucht worden. Im Uebrigen blieb der Hof ſo unnahbar wie je. Tag
für Tag ſtanden bei Tafel zwei Kammerherren hinter dem Könige, hoben
ihm erſt den linken, dann den rechten Frackſchoß in die Höhe und ſchoben
ihm den Stuhl unter; Abend für Abend erſchien er mit dem geſammten
Hofſtaate im Theater, wo Morlachi die italieniſche Oper leitete. An jedem
Winterſonntag nach der Meſſe harrten die wohlerzogenen Knaben der
höheren Stände in den Gängen des Schloſſes um den würdevollen Zug
der heimkehrenden „Herrſchaften“ zu bewundern: voran ſchritt eine Schaar
von Läufern, Hoffourieren, Kammerherren und Adjutanten, dann der König
in ſeiner altväteriſchen Tracht, bezopft und gepudert, die Hände in einen
großen Muff vergraben, darauf die faſt ebenſo alten Prinzen Anton und
Max, ebenfalls mit Muffs, den Chapeau-bas unter dem Arme — ein
wunderſames Schauſpiel, dem nur ein Dresdener Gemüth mit ungetrübter
Andacht beiwohnen konnte. Niemals erſchien der König zu Fuß in den
Straßen; das ſchöne ſoeben wiederhergeſtellte Denkmal ſeines Ahnherrn
Moritz bekam er nie zu Geſicht, weil es in den Anlagen hundert Schritt
von der Fahrſtraße entfernt ſtand. Wollte er eine durchreiſende Mena-
[507]Der Hof. Einſiedel.
gerie ſehen, ſo mußten die Elephanten und die Schlangen zu ihm in den
Schloßhof kommen. Wie erſtaunten die Dresdener, als König Max
Joſeph, auf Beſuch bei ihrem Hofe, vergnüglich nach ſeiner Münchener
Gewohnheit in der Stadt umherſchlenderte und ſogar mit Bürgers-
leuten redete: der ſächſiſche König ſprach mit Keinem der nicht Oberſten-
rang hatte.
Wohl Niemand mochte über den Druck dieſes höfiſchen Zwanges ſo
herzlich ſeufzen, wie die begabten Kinder des Prinzen Max. Da war
Prinz Friedrich Auguſt, die Hoffnung des Landes, ein liebenswürdiger
junger Herr, der geiſtreiche Geſpräche liebte und ſogar für die Ideen des
Liberalismus Verſtändniß zeigte; er verkehrte viel mit Wangenheim, als
dieſer nach ſeiner Entlaſſung in Dresden lebte, und der allezeit hoffnungs-
volle Triaspolitiker erwartete ſchon zuverſichtlich, dereinſt an die Spitze
des ſächſiſchen Miniſteriums berufen zu werden.*) Der jüngere Bruder
Prinz Johann ſchwärmte für Dante und ſchilderte das Unglück Italiens
zuweilen in Verſen, welche im Munde eines ſo nahen Verwandten des
Erzhauſes faſt frevelhaft klangen:
Die Schweſter Prinzeſſin Amalie ſchrieb kleine Schauſpiele, mit beſchei-
denem Talent, aber mit warmer natürlicher Empfindung und überraſchen-
der Kenntniß des bürgerlichen Kleinlebens.
Neben dem Könige, vor dem Alles in ſcheuer Ehrfurcht erſtarb, durfte
der freiere Ton dieſes jungen Hofes freilich nicht laut werden. Nach
unten hin drückte der Vorſtand des Geheimen Cabinets, der leitende Mi-
niſter Graf Einſiedel, ein hagerer, ſteifer, wortkarger Mann, des Monar-
chen unterwürfiger Diener, trotz ſeiner jungen Jahre ſchon ganz einge-
froren im kurſächſiſchen Hof- und Adelsbrauche. Die Fanatiker des Par-
ticularismus betrachteten ihn anfangs mit Argwohn, weil er in der preu-
ßiſchen Lauſitz begütert und alſo „Vaſall“ des Landesfeindes war.***) In
Wahrheit hörte der Geſichtskreis ſeines politiſchen Denkens genau an der
Stelle auf, wo die grünweißen Grenzpfähle ſtanden; die übrige Welt da
draußen kannte er kaum — ſein preußiſches Eiſenwerk Lauchhammer aus-
genommen — und wollte ſie auch nicht kennen. Kurz vor der Rückkehr des
Königs war deſſen langjähriger Günſtling Graf Marcolini geſtorben, der im
Lande allgemein verhaßte „Contino“, ein Italiener von der frivolen altbour-
boniſchen Art, dem mindeſtens das eine Verdienſt gebührte, daß er ſeinen
königlichen Freund etwas aufgeheitert und der Macht der Beichtväter die
[508]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Wage gehalten hatte. Dies ward jetzt anders, da Graf Einſiedel als
ſtreng orthodoxer Lutheraner den Anſprüchen des katholiſchen Clerus ſehr
freundlich entgegenkam. Die Vorliebe des Miniſters für den Prediger
Stephan, der in der Böhmiſchen Kirche zu Dresden eine fanatiſche Sekte
um ſich verſammelte und ſpäterhin als gemeiner Heuchler entlarvt wurde,
erregte im Lande berechtigten Unwillen und verſtimmte die öffentliche Mei-
nung dermaßen, daß man dem unbeliebten Manne ſogar ſeine Theilnahme
an der Bibelgeſellſchaft, an dem Miſſionsvereine und ähnlichen unſchul-
digen chriſtlichen Liebeswerken verdachte. Denn ganz unumſchränkt herrſchte
noch im oberſächſiſchen Volke der lutheriſche Rationalismus des alten
Jahrhunderts, der von der evangeliſchen Union nichts wiſſen wollte, aber
auch jede Regung ſtreng kirchlichen Sinnes mit der äußerſten Unduld-
ſamkeit als Muckerei und Pfaffenthum bekämpfte. Die Verbreitung ortho-
doxer Tractätchen war unter Ammon’s rationaliſtiſchem Kirchenregimente
ſtreng unterſagt. Die Conventikel des Grafen Dohna, eines Enkels von
Zinzendorf, und die Schüler Schubert’s, die gottſeligen armen Weber im
Erzgebirge mußten ſich ebenſo ſtill halten wie die Brüdergemeinden, die
in einem lieblichen Winkel der Lauſitz ihr Pella-Herrnhut gegründet hatten.
Neben dem Cabinet beſtanden der Geheime Rath, mit lediglich be-
rathenden Befugniſſen, und die Centralbehörde für Juſtiz und Polizei,
die unförmliche Landesregierung. Im Finanzweſen herrſchte noch unge-
brochen der Dualismus des altſtändiſchen Staates. Das königliche Ge-
heime Finanz-Collegium verwaltete die Domänen, das zum Theil durch
den Landtag beſetzte Oberſteuercollegium die Mehrzahl der Abgaben; die
Streitigkeiten zwiſchen Finanz-Aerar und Steuer-Aerar nahmen kein Ende.
In den Aemtern führten die Amtshauptleute die Verwaltung, Staatsbe-
amte aus dem angeſeſſenen Adel, den preußiſchen Landräthen ähnlich. Die
Ritterſchaft aber fragte wenig nach ihnen; ſie übte auf ihren Gütern eine
faſt unbeſchränkte Polizeigewalt, ließ Recht ſprechen durch Patrimonial-
richter, welche der Gerichtsherr nach Belieben entlaſſen durfte, und be-
herrſchte ihre Hinterſaſſen durch den Geſindezwang, durch ſchwere Grund-
laſten, Zehnten und Frohnden. In der Lauſitz beſtand ſogar noch die Erb-
unterthänigkeit. Vollends in den Receßherrſchaften des Hauſes Schönburg
beſaß die Krone nicht viel mehr als den Namen der Landeshoheit; ſie er-
hob bis in die zwanziger Jahre hinein Aus- und Einfuhrzölle an den
Grenzen dieſes Vaſallenländchens. Kaum minder ſelbſtherrlich ſchaltete
der Graf Solms-Wildenfels in ſeiner winzigen Standesherrſchaft; der
pflegte die Offiziere der benachbarten Zwickauer Garniſon, wenn ſie ihn
beſuchten, neugierig zu fragen: wie ſteht’s denn bei Euch drüben in Sachſen?
Auch die Städte fühlten ſich als Staaten im Staate; ihre Stadt-
räthe ergänzten ſich ſelbſt, wie einſt in Preußen vor den Reformen Friedrich
Wilhelm’s I., und beſtanden in den großen Städten ausſchließlich aus
Juriſten. In Leipzig und Dresden war der Rath, kraft der Privilegien
[509]Die Adelsherrſchaft.
der polniſchen Auguſte, berechtigt von ſeiner Verwaltung niemals Rechen-
ſchaft abzulegen, und ein ſchwermüthiges Sprichwort ſagte: wer kann wider
Gott und den Stadtrath von Leipzig? Selbſt in dringender Noth wagte
die Regierung nur ſelten den Trotz dieſer ſelbſtherrlichen Magiſtrate zu
brechen; viele Jahre hindurch mußten die Bewohner der Muldeniederung
auf den Bau der unentbehrlichen Brücke warten, weil der Wurzener Stadt-
rath ſeine einträgliche Fähre nicht aufgeben wollte. In der Oberlauſitz
wurde die Verwaltung, die bisher allein den Landſtänden zugeſtanden,
erſt 1821 unter die Leitung einer königlichen Oberamtsregierung geſtellt.
Nicht ohne ſtarkes Widerſtreben; denn dies kleine Land wollte noch immer
eine ſelbſtändige Markgrafſchaft neben den „Erblanden“ bleiben, obgleich
zwei Drittel ſeines Gebietes an Preußen gefallen waren, und ließ ſich
das Recht nicht nehmen, den König-Markgraf nach der Thronbeſteigung
an der Landesgrenze, vier Stunden von Dresden, mit ſeinen blaugelb-
rothen Bannern zu empfangen. Waren doch vier von den ſtolzen Sechs-
ſtädten der Lauſitz bei Sachſen geblieben, und darunter Bautzen, die Haupt-
ſtadt des ſtreng dynaſtiſch geſinnten Wendenvölkchens.
Dem Adel war ein Theil der Juſtiz- und Verwaltungsſtellen geſetz-
lich vorbehalten, da die Landesregierung und das Appellationsgericht nach
altſtändiſchem Brauche noch in eine adliche und eine gelehrte Bank zer-
fielen. Der Regel nach gingen die hohen Staatswürden reihum in einem
kleinen Kreiſe einflußreicher Adelsfamilien, der ſeit der Landestheilung ſich
noch mehr verengerte und Jedem im Lande wohlbekannt war. Auch in
das Adeliche Cadettencorps durfte der Bürgerliche blos als Volontär ein-
treten, nur der Beſuch der Artillerieſchule ſtand ihm frei. Dem entſprach
es auch, daß die Soldaten-Werbung hier erſt im Jahre 1825 durch ein
Conſcriptionsſyſtem nach franzöſiſch-rheinbündiſchem Muſter erſetzt wurde.
Noch länger, bis 1829, erhielten ſich die alten Bräuche an der Univerſität,
die noch aus den vier Nationen der Meißner, Sachſen, Franken und
Polen beſtand. Ihr Rector hatte Fürſtenrang; ihre Beamten führten,
vom Staate unbeaufſichtigt, nach altväteriſcher Weiſe die koſtſpielige und
ſchleppende Verwaltung der großen Univerſitätsgüter. Ihre Gerichtsbarkeit
erſtreckte ſich zwar nicht mehr über alle ſtudirten Leute, die in Leipzig
wohnten — dies hatte ein Machtſpruch Napoleon’s abgeſchafft — aber
noch immer über alle Angehörigen des Corpus academicum.
Natürlich war auch der geiſtliche Herr in dieſer Welt von Privilegien
und Sonderrechten nicht ohne Weiteres der Gerichtsbarkeit des Staates
unterworfen. Als der Pfarrer Tinius (1814) des Raubmordes bezichtigt
wurde, da mußte erſt der Leipziger Schöppenſtuhl durch ein vorläufiges Er-
kenntniß beſchließen, daß gegen den Inculpaten mit der Inquiſition zu ver-
fahren ſei; dann wurde der arme Sünder in der Nicolaikirche öffentlich
ſeines geiſtlichen Gewandes entkleidet und nunmehr als ein Weltlicher dem
weltlichen Gerichte übergeben. Die alten Vorrechte der Lutheraner hatten
[510]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
allerdings dem Unwetter der neuen Zeit nicht Stand gehalten. Nachdem
Napoleon im Poſener Frieden den Katholiken die bürgerliche Gleichberech-
tigung geſchenkt, waren bald darauf die Reformirten — nicht ohne die
landesüblichen Douceurs — derſelben Gunſt theilhaftig geworden. Dann
gab der Gouverneur Repnin auch den griechiſchen Katholiken die Rechts-
gleichheit, und der Leipziger Judenſchaft, die bisher ihre Todten hatte
nach Deſſau fahren müſſen, geſtattete er mindeſtens ſich einen eigenen
Friedhof anzulegen. Der ruſſiſche General erſchien in dieſem Lande, be-
zeichnend genug, überall als ein Bahnbrecher der Reform. Dabei blieb
es freilich, daß die Juden nur in Leipzig und Dresden wohnen durften.
Die ſtarren Formen des alten Zunftweſens wurden durch Adel und
Bürgerthum im Wetteifer behütet. Während die Städte beharrlich über
den Mitbewerb der Landkrämer klagten und das Heirathen der Geſellen
zu verhindern ſuchten, hielt die Ritterſchaft ſtreng darauf, daß kein Bauern-
ſohn zu einem Handwerker in die Lehre ging, wenn er nicht zuvor vier
Jahre in der Landwirthſchaft, zwei Jahre davon im Geſindedienſte der
Gutsherrſchaft, verbracht hatte. Uneheliche Kinder blieben anrüchig und
von den Zünften wie von jedem anderen ehrenhaften Erwerbe ausge-
ſchloſſen, falls ſie nicht durch den König, gegen hohe Gebühren, legitimirt
wurden.
Eine durchdachte Handelspolitik war ſeit dem alten Kurfürſten Auguſt
nicht mehr verſucht worden. Das Mercantilſyſtem drang in Sachſen
niemals ein und ward auch nicht vermißt, da der kräftige heimiſche
Gewerbfleiß des Schutzes entrathen konnte. Die polniſchen Auguſte wirth-
ſchafteten luſtig darauf los, in dem angenehmen Wahne, daß die Ver-
ſchwendung des Landesvaters das Geld unter die Leute bringe, und
auch als die Ordnung dann endlich wiederkehrte, blieb dies mächtige
Induſtrieland ohne geregelte Grenzbewachung. Seine Volkswirthſchafts-
politik trachtete nur dahin, den Leipziger Meſſen ſtarke Zufuhr, dem con-
ſumirenden Adel wohlfeile Waaren zu verſchaffen. Darum wurde die
Einfuhr durch einen ſehr niedrigen Grenzzoll begünſtigt, der inländiſche
Verkehr durch Acciſen und Geleitsgelder — in Leipzig auch noch durch
das Stapelrecht und bis 1823 durch eine läſtige Thorſperre — erſchwert.
Die Verbrauchsſteuern waren ungleich für Stadt und Land, die Ritter-
güter und die Geiſtlichen genoſſen mannichfache Begünſtigungen. Und dies
gedankenloſe fiscaliſche Syſtem, das für die Lebensbedürfniſſe der heimi-
ſchen Induſtrie gar kein Auge hatte, pries man als die weiſe „ſächſiſche
Handelsfreiheit“. Als nun Preußen dicht an den Grenzen des Leipziger
Weichbildes ſeine Zollhäuſer errichtete, die Ausfuhr nach Norden erſchwert
und in manchen Induſtriezweigen der preußiſche Mitbewerb ſchon bemerk-
bar wurde, da fühlte man ſich freilich beunruhigt. Jedoch der Zorn richtete
ſich allein gegen Preußen, nicht gegen die väterliche Regierung, der man
es auch geduldig nachſah, daß ſie an den ſchweren alten Conventions-
[511]Der Landtag.
münzen eigenſinnig feſthielt, obgleich die leichteren preußiſchen Thaler längſt
das geſammte Land überſchwemmt hatten. Die Induſtrie des Erzgebirges
ſah ſich bald großentheils, die der Lauſitz faſt ausſchließlich auf den
Schmuggel nach Oeſterreich angewieſen, und die Geſchäftsleute der alten
Schule fanden dieſen Schleichhandel ſegensreich. Wer aber die Verwilde-
rung des Volkes an der Grenze beobachtete, mußte doch bedenklich werden
und beſorgt fragen: ob man ſo weiter leben könne, abgetrennt von der
See und dem nordiſchen Markte?
Gleich allen Inſtitutionen dieſes Staates war auch der Landtag, wie
er gern von ſich rühmte, „ſchon aus dem Geiſte der biederen Vorzeit ent-
ſproſſen.“ „Höchſtdero getreue Stände, an Prälaten, Grafen und Herren,
denen von der Ritterſchaft und Städten“ — ſo lautete der amtliche Titel
— waren freilich arg zuſammengeſchmolzen. Der erſte Stand zählte ſeit
der Theilung nur noch drei Köpfe. Im Stande der Ritterſchaft erſchienen
alle Rittergutsbeſitzer, die acht Ahnen aufweiſen konnten; nur den katho-
liſchen Adelsfamilien aus Polen, Italien, Irland, welche ſeit dem Ueber-
tritte der Dynaſtie an den Hof gekommen, wurde die deutſche Ahnen-
probe erlaſſen. Die Folge war, daß reichlich drei Viertel der Ritterguts-
beſitzer nicht mehr den Landtag beſuchen durften; im Leipziger Kreiſe, wo
die Kaufherren der Meßſtadt zahlreiche Güter angekauft hatten, waren
von 217 Rittergütern nur noch 14 landtagsfähig. Die Vertreter der
Städte ernannte der Stadtrath allein, die Bauernſchaft war gänzlich aus-
geſchloſſen. Der Landtag durfte über Geſetzvorſchläge nur berathen, beſaß
aber ein ſo wohlgeſichertes Steuerbewilligungsrecht, daß er jede ernſtliche
Reform zu vereiteln vermochte; ſelbſt Auguſt der Starke hatte nur ſelten
gewagt eine unbewilligte Auflage auszuſchreiben und lieber Land und Leute
an die Nachbarfürſten verkauft um die Koſten ſeines Hofhalts zu beſtreiten.
In dem Labyrinthe dieſer ſtändiſchen Steuerverwaltung wußten ſich nur
vereinzelte Kenner zurechtzufinden. Die Grundſteuern, von denen die
Ritterhufen natürlich frei waren, wurden in Groſchenſchocken erhoben, nach
Kataſtern aus dem ſiebzehnten Jahrhundert; da aber inzwiſchen die nor-
diſchen, die ſchleſiſchen und die napoleoniſchen Kriege über die oberſächſiſche
Schlachtenebene dahingeſtürmt waren, ſo hatte ſich Manches geändert, und
man fand neben den „gangbaren“ auch viele „moderirte, decremente,
caduke und ermangelnde“ Schocke.
Der ganze Zuſtand war ſo ungeheuerlich, daß die Krone ſelber in
zwei Fällen eine kleine Aenderung nicht von der Hand weiſen konnte. Die
ſeit Jahrzehnten vergeblich erſtrebte ſtändiſche Union der Erblande mit den
kleinen Nebenlanden ließ ſich nicht länger mehr abwehren, da ſeit der
Landestheilung nur noch ein Stück der Oberlauſitz ſowie einige Fetzen der
Stiftslande Naumburg und Merſeburg bei dem Königreiche verblieben.
Dieſe Trümmerſtücke wurden jetzt endlich (1817) in den Landtag der Erb-
lande eingefügt; indeß behielt die Lauſitz noch immer ihren beſonderen
[512]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Markgrafſchaftslandtag, der von den adlichen Rittern und den vier Sechs-
ſtädten beſchickt wurde. Drei Jahre darauf wurde, nach lebhaftem Kampfe
zwiſchen Ritterſchaft und Städten, beſchloſſen, daß die Rittergutsbeſitzer,
welche die Ahnenprobe nicht beſtehen konnten, insgeſammt vierzig gewählte
Vertreter in den Landtag ſenden ſollten. Die Prälaten, Grafen und Herren
waren jedoch ſchlechterdings nicht zu bewegen, ſich mit der Ritterſchaft zu
einem Stande zu vereinigen; ſie meinten ſchon ein großes Opfer zu
bringen, indem ſie die Univerſität Leipzig in ihre Mitte aufnahmen. Als
die Stände den Wunſch ausſprachen, eine kurze Ueberſicht über die Aus-
gaben und Einnahmen zu erhalten, konnte der greiſe König ſich nicht ent-
ſchließen, dieſer Beſchwerde „abhelfliche Maße zu ertheilen“. Die Gewäh-
rung der Bitte war auch nicht nöthig, da doch Niemand den heilloſen
Dualismus des Finanzweſens aufheben wollte und im Uebrigen Alles
ehrlich zuging.
Die beantragte Veröffentlichung eines Theiles der Landtagsverhand-
lungen verwarf der König ebenfalls, denn das unverbrüchliche Amtsge-
heimniß galt für eine Säule des altſächſiſchen Staates; überdies war die
Oeffentlichkeit der Landtage eben jetzt in Wien wie in Frankfurt als dema-
gogiſch verrufen. Einem Leipziger Gelehrten, der im Nürnberger Corre-
ſpondenten Einiges aus den Verhandlungen der Stände erzählt hatte,
wurde das Allerhöchſte „Mißbelieben“ nachdrücklich ausgeſprochen. Um
doch etwas zu thun, ließ der König in der Geſetzſammlung einen kurzen
Landtagsbericht veröffentlichen, der aber mit den Schnirkeln und Schnör-
keln des ſächſiſchen Kanzleiſtils ſo reichlich ausgeſtattet war, daß Niemand
ihn leſen konnte. Uebrigens würden die Leſer auch die unverkürzte Mit-
theilung dieſer Ständeverhandlungen ſchwerlich vertragen haben. Im
Jahre 1820 ließen ſich die getreuen Stände alſo vernehmen: „Dankbar
prieſen ſie ſeitdem die Vorſehung an jenem gleichwichtigen Tage, in wel-
chem das Vorbild der Regenten ſowie der Inbegriff aller häuslichen Tu-
genden ſich in dem Glanz eines vollendeten halben Jahrhunderts ver-
herrlichte. Mit nicht minder treu devoteſter Theilnahme vernahmen ſie
die Kunde der fröhlichen Ereigniſſe, die während dieſer Zeit in Allerhöchſt-
dero Königlichem Hauſe ſtattfanden, insbeſondere der beglückenden Bande,
die es von Neuem an das erhabenſte Kaiſerhaus knüpfen. Noch in heu-
tiger Morgenſtunde betraten ſie die heilige Stätte, Dankopfer darbringend
dem Allerhöchſten, der E. K. Majeſtät zum Segen und zur Freude des
ganzen Landes in erwünſchtem Wohlergehen erhielt, der Allerhöchſtdenen-
ſelben die Kraft verlieh, ſich den mühevollen Regierungsſorgen auch wäh-
rend dieſes Zeitraumes mit der gewohnten beiſpielloſen Anſtrengung und
Thätigkeit widmen zu können, und in tiefſter Ehrfurcht“ — und ſo weiter
noch einige Aktenſeiten lang.*) Und wie mühſam kamen dieſe unſchätz-
[513]König Anton.
baren Aktenſtücke zu Stande! Jeder Vorſchlag wurde erſt zwiſchen den
verſchiedenen ſtändiſchen Ausſchüſſen und Directorien ſiebenmal, unter
Umſtänden neunmal hin und her geſchoben, bevor ein Beſchluß „gezogen“
werden konnte, und der Volkswitz ſpottete, der Landtag ſpiele Kämmerchen. —
Als König Friedrich Auguſt ſtarb (1827), erwartete man im Volke
wie am Hofe allgemein, ſeine beiden greiſen Brüder würden ſo viel Selbſt-
erkenntniß haben, zu Gunſten des jungen rüſtigen Prinzen Friedrich
Auguſt auf die Krone zu verzichten. Aber König Anton ließ ſich ſein
Recht nicht nehmen, und Graf Einſiedel blieb im Amte, unter der aus-
drücklichen, bereitwillig zugeſtandenen Bedingung, daß nicht das Mindeſte
an dem Beſtehenden geändert werden dürfe.*) Der neue König war ein
herzensguter Mann, weniger ſteif als ſein älterer Bruder, aber der Ge-
ſchäfte unkundig, da man ihn einſt für den geiſtlichen Stand erzogen
hatte, und ſo unbedeutend, daß ihn ſelbſt die Dresdener Ehrfurcht nur
mit dem Beinamen des Gütigen zu ſchmücken wußte. So ging denn das
greiſenhafte Regiment ſchläfrig und langweilig weiter; im Volke aber be-
gann die Stimmung allmählich umzuſchlagen. Während der erſten Frie-
densjahre nahm die wirthſchaftliche Noth hier wie in Preußen alle Ge-
danken in Anſpruch; denn furchtbar hatte das Land gelitten. Die Ver-
luſte der Dörfer auf dem Leipziger Schlachtfelde ſchätzte man amtlich
auf mehr als dritthalb Millionen Thaler — was unzweifelhaft noch zu
niedrig war. In Dresden wurde nach dem Frieden manches der Garten-
grundſtücke, auf denen heute die freundlichen Villen der Antonsſtadt ſtehen,
für fünf oder zehn Thaler verkauft; mancher Hausherr war allein ſchon
durch die ungeheuere Einquartierung zu Grunde gerichtet: hatte doch das
Körner’ſche Haus, zu 1085 Thlr. Miethwerth eingeſchätzt, im Sommer
1813 binnen 6 ½ Monaten eine Einquartierung von 7532 Mann ertragen
müſſen.**) Die geſammten Kriegsſchäden vom Jahre 1813 beliefen ſich
auf mindeſtens 100 Mill. Thlr. Jetzt waren dieſe Wunden endlich aus-
geheilt, und nun da die bittere Noth aufhörte, regte ſich doch die Frage,
ob Staat und Volk die Stellung in Deutſchland behaupteten, die ſie nach
ihrer Geſchichte verlangen durften. Auf die Dauer kam man nicht mehr
aus mit dem beliebten Selbſtlobe, Deutſchland ſei das Herz Europas,
Sachſen das Herz von Deutſchland, Dresden das Herz von Sachſen.
Wohl blieb die dynaſtiſche Ergebenheit unerſchüttert. Mit banger
Spannung blickte faſt das ganze Land auf die Zukunft des königlichen
Hauſes, die eine Zeit lang ſehr unſicher ſchien, weil die Ehen der beiden
jungen Prinzen kinderlos blieben. Auf die Ermahnungen des Papſtes
und der Hofbeichtväter ſchloß Prinz Max noch in ſeinen hohen Jahren
eine zweite Ehe mit einer jungen luccheſiſchen Prinzeſſin, aber der Kinder-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 33
[514]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ſegen blieb aus. Um ſo größer die Freude, als einige Jahre darauf dem
jungen Prinzen Johann doch noch ein Erbe geboren wurde; da ſtanden
begeiſterte Dresdener mit Champagnerflaſchen auf der Brücke und nöthigten
jeden Vorübergehenden, mit ihnen auf den Stammhalter anzuſtoßen.*)
Bei aller Unterthänigkeit ließ ſich jedoch nicht mehr verkennen, daß die
Unnatur der überlebten Staatsformen ſchon das geſammte Volksleben
zu lähmen begann. Die Induſtrie im Erzgebirge vermochte nicht zu ge-
ſunden, und wenn der Glanz der Leipziger Meſſen ſich noch hielt, ſo
war es dafür in der übrigen Jahreszeit um ſo ſtiller an der Pleiße; die
Landkundſchaft gewöhnte ſich bereits ihren Bedarf an Colonialwaaren über
Magdeburg zu beziehen, weil dort keine Acciſe bezahlt wurde.
Die Völker wie die Einzelnen erleben Zeiten der Unfruchtbarkeit,
denen Alles mißlingt; eine ſolche Epoche war jetzt für Oberſachſen ge-
kommen, man erkannte dies an guten Köpfen ſonſt überreiche Land kaum
mehr wieder. Die vormals ſo glänzende Hochſchule war zur ſächſiſchen
Landesuniverſität herabgeſunken. Außer einer Reihe achtungswerther Fach-
männer beſaß ſie zur Zeit nur zwei Gelehrte von großer, allgemein an-
erkannter Wirkſamkeit, Gottfried Herrmann und den geiſtvollen Theologen
Tzſchirner, dann noch den wäſſerigen Vielſchreiber Pölitz und den uner-
müdlichen Krug, der mindeſtens den Muth hatte, durch freimüthiges Rügen
öffentlicher Mißbräuche die ſchlummernde ſächſiſche Welt zuweilen aufzu-
rütteln. Nach dem Kriege hatte Graf Heinrich Vitzthum, der Gönner
Carl Maria v. Weber’s, die Hoffnung gehegt, Sachſen werde ſich für den
Verluſt ſeiner politiſchen Macht in großem Sinne entſchädigen und, wie
ſpäterhin Baiern unter König Ludwig, der Sammelplatz der deutſchen
Künſte werden. Was war aus dieſen ſtolzen Träumen geworden? Der
Componiſt von Leier und Schwert erfreute ſich nicht der Gunſt des Hofes,
da er des deutſch-preußiſchen Patriotismus verdächtig war. An den Er-
folgen der neuen bildenden Kunſt nahm Sachſen noch faſt gar keinen
Antheil, denn die jungen Talente Schnorr, Rietſchel, Richter ſtanden noch
in den Jahren der Entwicklung. Auch Tiedge, der beſchauliche Dichter
der Urania, der, obwohl kein Landeskind, doch in Dresden als vaterlän-
diſche Größe verehrt wurde, auch die poetiſche Harfenſpielerin Thereſe aus
dem Winckell, auch Tromlitz, Nordſtern und die anderen Geſtirne des
Dresdener Thee-Dichterbundes ſtrahlten nur einen ſanften Glanz über
das Land aus.
Mittelmäßigkeit und Verknöcherung überall; und dazu mußte man
noch die grauſame Ironie des Schickſals erleben, daß gerade der Anblick
der preußiſchen Zuſtände den politiſchen Groll unter den Bürgern und
Bauern wachrief. Mochte man die Preußen verfluchen — das ließ ſich
[515]Wachſende Unzufriedenheit.
doch mit Händen greifen, daß die Provinz Sachſen ſich in jeder Hinſicht
glücklicher befand als das Königreich und dort Niemand mehr ernſtlich
nach dem Rautenkranze zurückverlangte. Drüben beſaß man Alles was
hüben fehlte: eine geſcheidte, ſchlagfertige, bürgerfreundliche Verwaltung;
dazu ein freies Städteweſen, das von der Vetternherrſchaft der kurſäch-
ſiſchen Stadträthe ſeltſam abſtach und daher auch an dem Sachſen Streck-
fuß ſeinen eifrigſten Vertheidiger fand. Während drüben die Entlaſtung
der Bauerngüter ſtetig fortſchritt, wurden im Königreiche die beſtehenden
Grundlaſten ſogar noch erhöht; noch im Jahre 1828 beſtimmte eine neue
Verordnung über die Hutungen: der Hutungsleidende dürfe die Mitweide
auf ſeinem eigenen Boden nur dann beanſpruchen, wenn er dies Recht
ſeit verjährter Zeit geübt habe!
So begann man im Lande ſich nach der Städteordnung und den
Agrargeſetzen Preußens zu ſehnen, und zu dieſem wohlberechtigten Un-
muth geſellte ſich noch ein völlig grundloſes confeſſionelles Mißtrauen
gegen die ultramontane Geſinnung des königlichen Hauſes. Es war der
Lauf der Welt, daß in dieſem erzlutheriſchen Lande, wo man einſt ernſt-
lich daran gedacht hatte, neben der chriſtlichen noch eine lutheriſche Zeit-
rechnung — von 1517 an — einzuführen, beſtändig finſtere Gerüchte über
den katholiſchen Hof umgingen. Je dienſtfertiger man ſich ſonſt den
Befehlen des Königs unterwarf, um ſo reizbarer ward dieſer Argwohn,
er blieb lange faſt die einzige politiſche Leidenſchaft des kurſächſiſchen Volkes.
König Anton war noch bigotter als ſein verſtorbener Bruder, der von
Katholiken im Vertrauen zu ſagen pflegte: il est de notre religion. Es
kam auch zuweilen vor, daß irgend ein ſtrebſamer Leutnant oder Beamter
aus räthſelhaften Gründen zur römiſchen Kirche übertrat; doch ſolche
Fälle waren ſehr ſelten, nachweislich ſeltener als die Uebertritte von der
katholiſchen zur evangeliſchen Kirche. Und wenn am Hofe noch von alten
Zeiten her eine geheime Kaſſe zur Unterſtützung von Convertiten beſtand*),
wenn einmal einer vormaligen Hofdame der Gnadengehalt entzogen wurde
weil ſie ihre Kinder lutheriſch erziehen ließ**), ſo waren dies reine Pri-
vatangelegenheiten des königlichen Hauſes, welche den Staat nicht berührten.
Eine planmäßige Begünſtigung des Proſelytenweſens haben die Albertiner
im neunzehnten Jahrhundert immer ehrenhaft vermieden, trotz ihrer ſtreng
katholiſchen Geſinnung. Für eine jeſuitiſche Propaganda, wie ſie der neu-
bekehrte Köthener Hof trieb, war in Dresden gar kein Boden, Niemand
unter den hohen Beamten hätte ſich dazu herbeigelaſſen.
Gleichwohl wucherte der Argwohn im Volke fort und ſog aus einigen
harmloſen Vorfällen neue Nahrung. Als im Jahre 1824 das Kirchen-
jubiläum für das nächſte Jahr ausgeſchrieben wurde und ein Anſchlag in
33*
[516]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
der katholiſchen Hofkirche die Gläubigen einlud zu den üblichen Gebeten
um die Ausbreitung der katholiſchen Kirche und das Aufhören der Ketzerei,
da brach rings im Lande der Unwille los. Niemand bemerkte, daß in
allen Kirchen der katholiſchen Chriſtenheit genau dieſelbe altherkömmliche
Einladung zu leſen ſtand; Niemand bedachte, daß die Proteſtanten ihren
Gott doch auch um die Ausbreitung des geläuterten evangeliſchen Glaubens
zu bitten pflegten. Eine Adreſſe von Dresdener Bürgern fragte ent-
rüſtet, wie dergleichen möglich ſei „in einer deutſchen Provinz, von wel-
cher das Licht der Kirchenverbeſſerung zuerſt ausgegangen.“*) Auf den
Kanzeln wurde ſo leidenſchaftlich gezetert, daß der König endlich beiden
Theilen Schweigen gebieten mußte. Neuer Lärm unter den Lutheranern,
als die Krone (1827) gegen den Rath der Stände ein Mandat veröffent-
lichte, das für die Pfarrſprengel der Katholiken und die Einrichtung der
Seelſorge einige ganz unverfängliche Vorſchriften gab. Ein anderes Mandat
ſtellte die religiöſe Erziehung der Kinder gemiſchter Ehen gänzlich der freien
Verabredung der Eltern anheim, und auch dies offenbar wohlgemeinte Geſetz
ſtachelte die lutheriſche Unduldſamkeit zu heftigen Angriffen auf. Allge-
mein glaubte man, der Marcoliniſche Palaſt ſei für ein Jeſuitencolleg
beſtimmt. Eine Menge ähnlicher Märchen war im Umlauf, und doch ſtand
im Grunde nur die eine Thatſache feſt, daß der König und Graf Ein-
ſiedel den Biſchof Mauermann ihres beſonderen Vertrauens würdigten.
Die Unzufriedenheit nahm in der Stille dermaßen überhand, daß
ſogar die in Sachſen unerhörte Erſcheinung eines Oppoſitionsblattes mög-
lich wurde. Die „Biene“ des Zwickauer Theologen Richter war nicht
eigentlich eine politiſche Zeitſchrift — denn die Politik blieb durch könig-
liches Privileg allein der vom Staate verpachteten Leipziger Zeitung vor-
behalten — ſondern ein Sprechſaal für örtliche Angelegenheiten. Da
ſchütteten nachdenkliche Philiſter dem „lieben Bienchen“ und ſeinem biederen
Bienenvater ihren Kummer aus über den Pennalismus der Fürſtenſchulen,
über das Ungeziefer im Akademiſchen Carcer, über die gemeingefährliche
Lage des Leipziger Schießgrabens, über die Möpſe der luſtwandelnden
Dresdener Damen. Aber neben ſolchen läppiſchen Beſchwerden ſtanden
auch ernſte Klagen des belaſteten Landvolks — zumal aus dem Schön-
burgiſchen, wo der Bauer vom Getreide den Zehnten, vom Jungvieh den
Siebenten an den Grafen entrichtete — und ſcharfe Rügen wider die
Mißbräuche der ſtädtiſchen Verwaltung, nicht blos gegen den Bierzwang
und das ſchändliche Dünnbier der Rathskeller, ſondern gegen das ganze
Syſtem des unverantwortlichen Stadtregiments. Der Ton der Artikel
war zuweilen recht erregt; man hörte heraus, daß der neue König nicht
mehr auf unbedingte Ehrerbietung rechnen konnte. Mit Angſt blickten die
Männer der guten alten Zeit auf dies ſtreitbare Thierchen, das „überall
[517]Der Bienenvater Richter.
ſummſend, ſtörend erſcheine.“ Im November 1829 brachte die Biene gar
eine „Adreſſe des ſächſiſchen Volkes“ an den König, aus der Feder eines
der fähigſten Mitglieder der Ritterſchaft, Albert v. Carlowitz. Hier wurde
ſchon auf das Beiſpiel Weimars, Baierns, Württembergs hingewieſen,
die Einführung einer wirklichen Volksvertretung, die gleichmäßige Verthei-
lung der öffentlichen Laſten empfohlen: möge die Ritterſchaft den König
von den Reverſalien, welche ihr den Schutz ihrer Sonderrechte zuſichern,
ſelber entbinden!
Noch ſchärfer äußerte ſich bald darauf ein anderer angeſehener Grund-
herr, Otto v. Watzdorf, ein freimüthiger Mann, der erſt in weit ſpäterer
Zeit durch den Haß ſeiner Standesgenoſſen gereizt und in eine radikale
Richtung gedrängt wurde. Damals ſtand er noch auf dem Boden des
ſüddeutſchen conſtitutionellen Liberalismus und entwickelte das Programm
dieſer Partei — Theilung der Gewalten, Zweikammerſyſtem, Verantwort-
lichkeit der Miniſter — in einer Denkſchrift über die ſächſiſche Verfaſſung.
Die Regierung hatte dem Aufſatze mit ſchnöden Worten das Imprimatur
verweigert, ſie konnte aber nicht verhindern, daß er gedruckt und viel ge-
leſen wurde. Die beiden ariſtokratiſchen Liberalen ſtanden längſt nicht
mehr allein. Das zeigte ſich, als der Landtag von 1830 nochmals die
Vorlegung einer Ausgaben-Ueberſicht forderte und bei der Genehmigung
der Steuern offen ausſprach: „Bei Weitem zum kleinſten Theile iſt es
das Unſerige was wir bewilligen. Weit mehr als das Volk vor Jahr-
zehnten von ſeinen Vertretern forderte, fordert der Geiſt unſerer Tage.“
Die Krone wies abermals alle Neuerungen zurück; doch ihre Sprache
klang nicht mehr ſo zuverſichtlich wie ſonſt. Jedermann fühlte, daß der
Tag des alten Syſtems ſich neigte. Nachdem man fünfzehn Jahre that-
los verträumt, war eine friedliche Umbildung des vermorſchten Gemein-
weſens kaum noch wahrſcheinlich. —
Gleich den Oberſachſen waren auch die Heſſen immer rechte Mittel-
deutſche geblieben, durch Stammesart und Sprache den Oberländern ver-
wandt, durch Verkehr, kirchliche und politiſche Geſchichte mit dem Norden
verbunden. Die Chatten allein unter allen Germanen theilten mit den
Frieſen den Ruhm, daß ſie ſich durch die Stürme der Völkerwanderung
hindurch mit unverändertem Stammesnamen in ihren alten Sitzen be-
hauptet hatten. Hier und in Weſtphalen fanden einſt die Römer ihre
unbezwinglichen Feinde; nur noch in Friesland und einigen Strichen
Niederſachſens blieb das germaniſche Blut ſo völlig unvermiſcht. Dieſe
Oberfranken halfen mit, das weltherrſchende Frankenreich zu bilden; aus
ihren Flußthälern, aus Fulda, Hersfeld, Fritzlar drang dann das Chriſten-
thum in das innere Deutſchland vor; von hier erhielten die Deutſchen
[518]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ihren letzten Frankenkönig Konrad. Doch gleich darauf zerfiel die poli-
tiſche Macht des Chattenſtammes, mit Herzog Eberhard ſank das heſſiſche
Herzogthum ins Grab. Zweihundert Jahre lang mit Thüringen ver-
bunden galt Heſſen alsdann wenig mehr in der deutſchen Politik; nur
an der hierarchiſchen Bewegung, welche das Zeitalter der Innocenze er-
füllte, nahm die Heimath der heiligen Eliſabeth und des Ketzerrichters
Konrad von Marburg betend und ſtreitend einen bedeutſamen Antheil.
Erſt ſeit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, ſeit Heinrich, das Kind
von Heſſen, dem Hauſe Brabant die Landgrafenwürde erwarb, begann hier
wieder eine ſelbſtändige Landesgeſchichte, eine Geſchichte ſo ruhmvoll und
gehaltreich, wie ſie ſelten einem Kleinſtaate beſchieden wird. Den ſieghaften
Bannern des heſſiſchen Löwen und des Ziegenhainer Sternes, den Kämpfen
Ludwig’s des Friedfertigen wider Kurmainz verdankte Deutſchland, daß ſich
im Herzen des Reichs kein übermächtiger Prieſterſtaat bilden konnte und
die geiſtliche Gewalt ihre weltlichen Anſprüche etwas ermäßigen mußte.
Dann fand Martin Luther an dem Landgrafen des kleinen Heſſen-
landes den tapferſten ſeiner Vertheidiger. In Marburg wurde die erſte
proteſtantiſche Univerſität gegründet, auf der Homberger Synode die Ver-
faſſung der evangeliſchen Kirche zum erſten male folgerecht durchgeführt.
Nicht immer mit der Umſicht des Staatsmannes, aber willenskräftig
und thatenfroh drängte Philipp der Großmüthige die zögernden Luthe-
raner zur Entſcheidung, und als er dann im ſchmalkaldiſchen Kriege
unterlegen war, betrieben ſeine Heſſen den Kampf um ſeine Wieder-
befreiung, die Rebellion gegen Kaiſer Karl V. mit der heißen Leidenſchaft
eines Volkskrieges. Die Dynaſtie hatte von Haus aus den ſchweizeriſchen
und franzöſiſchen Reformatoren nahe geſtanden, die Oranier und die
Hugenotten unerſchrocken unterſtützt. Seit Moritz dem Gelehrten bekannte
ſie ſich förmlich zu der ſtreitbarſten Kirche der Proteſtanten, und obwohl
auch der Caſſeler Hof eine Zeit lang mitſchuldig ward an den unfrucht-
baren Zauderkünſten der Evangeliſchen Union, ſo ergriff er doch als Guſtav
Adolf auftrat ſofort entſchloſſen die ſchwediſche Partei. Glänzend bewährte
ſich der alte Waffenruhm der blinden Heſſen vor den Wällen von Hanau,
bis zum Ende des Krieges hielt die große Vormünderin Amalie Eliſabeth,
den Glaubensgenoſſen ein leuchtendes Vorbild, bei der evangeliſchen Sache
aus. Auch nachher in den ſchweren Jahren, da Wilhelm VI. und die
Schweſter des großen Kurfürſten Hedwig Sophie die Wunden des großen
Krieges ſorgſam zu heilen verſuchten, blieb das Fürſtenhaus ſeiner pro-
teſtantiſchen Politik getreu. Wie vormals die evangeliſchen Wallonen, ſo
fanden jetzt die vertriebenen Hugenotten bei Landgraf Karl ihre Zuflucht,
der Neffe in Caſſel wetteiferte mit dem Oheim in Berlin um den Ruhm
proteſtantiſcher Gaſtfreundſchaft.
Wohl blieb auch das Haus Brabant nicht frei von den Sünden
jenes Zeitalters höfiſcher Selbſtvergötterung. Das böſe Beiſpiel des Sol-
[519]Heſſens proteſtantiſche Politik.
datenverkaufs in die Fremde, das Johann Georg III. von Sachſen zuerſt
den deutſchen Kleinfürſten gab, erſchien nirgends verlockender als hier, wo
das tapfere Heer der Stolz des Landes war und doch ohne ausländiſche
Hilfsgelder nicht unterhalten werden konnte. Die Armee wurde eine
Geldquelle für den verarmten Staat. Auf jedem Schlachtfelde Europas,
auf Euböa wie auf den Heiden Hochſchottlands, floß heſſiſches Blut in
Strömen; im öſterreichiſchen Erbfolgekrieg focht ein Theil der heſſiſchen
Truppen in den Heeren Kaiſer Karl’s VII., während die andere Hälfte
auf der Gegenſeite, im Dienſte des engliſchen Soldherrn ſtand. Gleich-
wohl hielt ſich das Fürſtenhaus in der deutſchen Politik nicht unehren-
haft — ſoweit die Hilfloſigkeit der Kleinſtaaterei eine politiſche Haltung
erlaubte. In allen Kriegen gegen Frankreich genügte Heſſen redlich ſeiner
Reichspflicht, bei Höchſtädt, bei Ramillies und Malplaquet umſtrahlte neuer
Ruhm ſeine ſieggewohnten Fahnen, und immer kämpften die jungen Land-
grafen ritterlich unter ihren Landsleuten.
Im ſiebenjährigen Kriege erwarb ſich die Dynaſtie ihr letztes großes
Verdienſt um Deutſchland. Die Heſſen bildeten neben den Hannoveranern
den Kern der Heere, mit denen Ferdinand von Braunſchweig den deut-
ſchen Weſten gegen Frankreichs Uebermacht vertheidigte. Was dieſer Krieg
für die Zukunft des Proteſtantismus bedeutete, wurde von wenigen Staats-
männern ſo klar erkannt, wie von dem klugen Miniſter F. A. v. Hardenberg,
der immer wieder ſeinen greiſen Landgrafen Wilhelm VIII. ermahnte, aus-
zuharren bei dem système naturel der evangeliſchen Reichsſtände. Im
Volke erweckten die Plünderungen der Franzoſen ein kräftiges Gefühl des
Zornes, das dem Nationalſtolze nahe kam. Jeder Bauersmann wußte
etwas von den Thaten jener langen Reihe erprobter Kriegsmänner, welche
ſein Land ſeit „dem kleinen Heſſen“ Kurt von Boineburg bis herab auf
Gilſa und die anderen Generale Ferdinand’s von Braunſchweig, in die
deutſchen Heere geſtellt hatte. Von den Subſidiengeldern, welche dieſe
tapferen Kriegshandwerker den Landgrafen erwarben, kam dem Lande frei-
lich wenig zu gute; ungeheuere Summen verſchlang die prahleriſche Prunk-
ſucht des Hofes. Die Waſſerkünſte der Wilhelmshöhe mit dem rieſigen
Hercules darüber durften ſich wohl mit dem Glanze von Verſailles ver-
gleichen; aber das ſtille Caſſel wurde trotz ſeiner herrlichen Gallerie und
trotz der Bauten Du Ry’s doch keine große Stadt und der neue Weſer-
platz Karlshafen, der dem Heſſenlande den Zugang zum Weltmeere er-
öffnen ſollte, nicht einmal ein norddeutſches Mannheim. Immerhin zählte
die Landgrafſchaft noch zu den beſtverwalteten deutſchen Kleinſtaaten, das
alte fürſtliche Pflichtgefühl verleugnete ſich niemals ganz, faſt jederzeit lebte
der Landesherr mit ſeinen Ständen in Frieden.
Der ganze Unſegen fürſtlicher Willkür brach über Heſſen — ein ver-
hängnißvoller Anachronismus — erſt nach dem ſiebenjährigen Kriege her-
ein, eben in der Zeit, da die Uhr des alten höfiſchen Abſolutismus be-
[520]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
reits abgelaufen war, da die öffentliche Meinung ſchon mit ſchärferen
Blicken das Treiben der Großen verfolgte und faſt alle namhaften Fürſten-
häuſer Deutſchlands ſich ernſtlich zuſammenrafften um den Spuren König
Friedrich’s zu folgen. Seit Landgraf Friedrich II. beginnt im Hauſe
Philipp’s des Großmüthigen, ſtetig fortſchreitend, eine räthſelhafte Ent-
artung, in vier Generationen geht der Ruhm fünf reicher Jahrhunderte
ſchmählich verloren, bis dies weiland ehrenreiche Fürſtengeſchlecht endlich
ſeinem treuen Volke ſelber zum Ekel wird und unbeweint ins Verderben
ſtürzt. An den Erbfehler ihrer Fürſten, den Jähzorn, waren die Heſſen
gewöhnt, auch die Luſt an Weibern hatte ſchon einmal, als Philipp der
Großmüthige ſeine Doppelehe ſchloß, viel Elend über das Land gebracht;
aber ganz neu war die herzloſe Habſucht, die ſich fortan mit unheim-
licher Regelmäßigkeit zu jenen Schwächen geſellte und die Landesherren
geradezu als Feinde ihres Volkes erſcheinen ließ.
So lange die Heere aus geworbenen Söldnerſchaaren beſtanden, haftete
noch kein Makel an dem Kriegsdienſt unter fremden Fahnen. Erſt ſeit den
Tagen König Friedrich’s begannen die Deutſchen zu erkennen, daß die be-
waffnete Macht dem Staate angehöre; die Heſſen ſelbſt fochten im ſieben-
jährigen Kriege zwar in engliſchem Solde, aber für Hof und Heerd, für
die Sache ihres eigenen Landes. Mittlerweile wurde das preußiſche Can-
tonſyſtem in Heſſen eingeführt (1762); und als nun mit dieſem Heere dienſt-
pflichtiger Landeskinder der Soldatenhandel abermals, und ſchwunghafter
denn zuvor, betrieben wurde, da erſchien das altgewohnte Geſchäft der
verwandelten Zeit ſehr anſtößig. Mirabeau, Burke, Friedrich der Große
ſelbſt ſprachen in den härteſten Worten ihren Abſcheu aus, als Landgraf
Friedrich und ſein Sohn Erbprinz Wilhelm in Hanau von ihren 300,000
Unterthanen nach und nach 19,400, faſt den dritten Theil der geſammten
waffenfähigen Bevölkerung, an England verkauften, zum Bürgerkriege wider
die Amerikaner, die den Zeitgenoſſen als Vorkämpfer der Freiheit galten.
Im engliſchen Parlamente wurden „die Schandthaten dieſer kleinen deut-
ſchen Fürſten“ unbarmherzig ans Licht gezogen. Der alte Landgraf hatte
immerhin noch den äußern Anſtand gewahrt und mit Großbritannien ein
förmliches Bündniß geſchloſſen, das beiden Mächten ihren Beſitzſtand ver-
bürgte; der Erbprinz aber warf in ſchmeichleriſchen Briefen ſich und ſein
Heer „ſeinem großherzigen Beſchützer und edlen Wohlthäter“ Georg III.
zu Füßen. Dann wetteiferten Beide in fiscaliſchen Künſten um den eng-
liſchen Soldherrn zu übervortheilen; der Sohn ließ ſich ſeine gefallenen
und verwundeten Landeskinder Kopf für Kopf beſonders vergüten, der
Vater fand es einträglicher, die Löhnung ſeiner Soldaten ſelber in Em-
pfang zu nehmen, ſo konnte er die Gefallenen noch eine Weile in den
Präſenzliſten fortführen. Die Amerikaner aber bezeichneten fortan alle
knechtiſche Niedertracht mit dem guten Heſſennamen der unglücklichen Ver-
kauften, von denen mehr als ein Drittel die Heimath niemals wiederſah.
[521]Entartung des Hauſes Brabant.
Namenlos war der Jammer in dem entvölkerten Lande; Tag und
Nacht bewachten berittene Landjäger die Grenze um das Entweichen der Can-
tonspflichtigen zu verhindern. Zum Troſte erließ der alte Landgraf ſeinem
Volke für die Dauer des amerikaniſchen Krieges einen winzigen Theil der
Abgaben, da er ja das Heer nicht mehr ſelbſt bezahlte. Dem Erbprinzen
war ſelbſt dies Opfer noch zu groß; er begnügte ſich mit einem Steuer-
erlaß für die Eltern und die Eheweiber, denen er die Ernährer geraubt
hatte, und verkündete ſeinen getreuen Unterthanen, daß er ſich „ein weſent-
liches Vergnügen daraus mache, ihnen ein ſolches Merkmal ſeiner Gnade
zufließen zu laſſen.“ Die alſo erworbenen Blutgelder ſpeicherte der Sohn
haushälteriſch in ſeinem Schatze auf; der Vater verwendete ſie zum Theil
für ſeine Caſſeler Neubauten, einen andern Theil verpraßte er in ge-
ſchmackloſen Feſten mit den franzöſiſchen Dirnen und Abenteurern, welche
ſeinen Hof beherrſchten und die Sitten der Hauptſtadt auf lange hinaus
verdarben. Trotz dieſer Verſchwendung hinterließ er ein fürſtliches Haus-
vermögen, das in Deutſchland nicht ſeinesgleichen hatte. Die früheren
Verdienſte des Hauſes ſtanden aber noch in ſo gutem Andenken, daß die
getreuen Landſtände dieſem „Vater des Vaterlandes“ noch bei Lebzeiten
auf ſeinem Friedrichsplatze ein Denkmal errichteten.
Als Wilhelm IX. nach dem Tode des Vaters in Caſſel einzog, blieb
er den in Hanau erprobten Regierungsgrundſätzen treu. Der üppige
Prunk verſchwand, peinlicher Geiz herrſchte am Hofe wie im Staate, aber
die alte Unzucht verſchwand nicht. Niemand vermochte die Zahl der fürſt-
lichen Baſtarde genau zu berechnen; nur die Grafen von Heſſenſtein und
die Gebrüder Haynau kannte Jedermann, und im Volke ging die Sage,
daß der Landgraf, ſobald ihm wieder eine uneheliche Vaterfreude beſcheert
wurde, den Preis des Scheffels Salz in den Staatsmagazinen um einen
Kreuzer zu erhöhen pflegte. Auch das Heer focht wieder ſeines alten
Ruhmes würdig in den rheiniſchen Feldzügen und wieder im engliſchen
Solde, aber diesmal doch für das deutſche Reich und für eine Sache, die
dem Fürſten heilig war, denn er fühlte ſich ganz als Selbſtherrſcher und
verabſcheute die Revolution. Wo ſein Geiz nicht ins Spiel kam, war die
Verwaltung in dieſen Jahren immerhin erträglich, und als er dann un-
rühmlich entthront wurde, ein Opfer ſeiner rechnenden Schlauheit, die
nicht zur rechten Zeit die einträglichere Partei zu ergreifen verſtand, da
vergaß das treue Volk ſofort aller vergangenen Unbill. Dreimal, in den
Jahren 1806 und 1809, verſuchten die Heſſen ſich wider die Fremdherr-
ſchaft zu erheben. Der reiche Kurfürſt aber begnügte ſich in Böhmen ein
kleines ſchlecht bezahltes Freicorps zu bilden, er hatte kein Almoſen für
die Unglücklichen, die um ſeinetwillen ins Elend ziehen mußten; den Ur-
heber des zweiten Aufſtandsverſuchs, den tapfern Oberſt Dörnberg wollte
er mit 200 Thlr. ablohnen. Auch das ward vergeſſen. Bei ſeiner Heim-
kehr ſchwelgte alles altheſſiſche Land in patriotiſcher Begeiſterung. Selbſt
[522]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
das entlegene ſchöne Nebenland, die Grafſchaft Schaumburg an der Weſer
freute ſich von Herzen der wiederkehrenden alten Herrſchaft, obgleich die
reichen Bauern, die dort unter den Eichen auf ihren Höfen ſaßen und
das Sachſenroß noch auf den Knöpfen ihrer Linnenwämſer trugen, mit
den Altheſſen weder Stammesart noch Verfaſſung gemein hatten und
nur einmal wöchentlich, durch einen Poſtwagen, der bei Höxter regelmäßig
umwarf, aus dem fernen Caſſel Nachrichten empfingen. Minder lebhaft
war die dynaſtiſche Geſinnung in dem betriebſamen Hanau, das durch
Lage und Verkehr auf Frankfurt und die Rheinlande angewieſen, in dem
armen heſſiſchen Ackerbauländchen ſich nie recht heimiſch gefühlt hatte; die
ſtark mit franzöſiſchem Blute gemiſchte Bevölkerung galt von altersher
für unruhig und radical.
Ganz fremd ſtand in dem wiederhergeſtellten Kurſtaate ein Trümmer-
ſtück des alten fuldaiſchen Bisthums, das der Kurfürſt beim Friedens-
ſchluſſe eintauſchte und unter dem ſtolzen Namen des Großherzogthums
Fulda „mit ſeinen übrigen Staaten“ vereinigte. Dort war die Kirche
Eines und Alles. Mit Wehmuth erzählte das blutarme Volk noch, wie
es vormals ſo hoch herging in den prächtigen Rococopaläſten neben dem
Grabe des heiligen Bonifacius, wie bei den Gelagen des Biſchofs und
ſeiner Domherren der edle Johannisberger in Strömen floß, wie die Schul-
kinder ſich am Palmſonntage aus dem Bauche des geweihten Palmeſels
ihre Oſtereier herauslangten, und der beladene kleine Mann beim An-
blick der glänzenden Proceſſionen oder beim Genuſſe der Kloſterſuppe noch
auf Augenblicke ſein Elend vergeſſen konnte. Auch nach der Seculariſa-
tion behauptete ſich dort auf dem rauhen Rhöngebirge ein zähes katholi-
ſches Sonderleben, keineswegs unduldſam, aber ſcharf abgetrennt von den
Sitten und Gedanken der proteſtantiſchen Nachbarn; ſelbſt der Chriſtbaum,
der doch ſchon längſt aus den Lutherlanden ſeinen Weg in das katholiſche
Deutſchland gefunden hatte, war in Fulda noch unbekannt. Mit Wider-
ſtreben trat dieſe Heerde des Krummſtabs unter die Herrſchaft des refor-
mirten Kurfürſten. Bei ſeinem Einzuge wurde ein überaus unehrerbie-
tiges Lied verbreitet: „Frohlocket, Fulder, freuet Euch, uns nahet ſich das
Himmelreich. Nun wird der Held mit Helden ſich begatten, wir ſind nun
biedre Heſſen, tapfre Katten“ u. ſ. w.*) Doch ein irgend ernſthafter Wider-
ſtand war nicht zu erwarten von einem Völkchen, das binnen zehn Jahren
nach einander biſchöfliches, oraniſches, franzöſiſches, bergiſches, frankfurti-
ſches, öſterreichiſches und preußiſches Regiment genoſſen hatte. —
Mit etwas Gerechtigkeit und Wohlwollen ließ ſich kein deutſches Land
leichter regieren als dies Kurheſſen. Wie war man ſo glücklich, der ver-
fluchten weſtphäliſchen Herrſchaft endlich entledigt zu ſein; aus der Hand
[523]Kurfürſt Wilhelm I.
des Neſtors der deutſchen Fürſten wollte man Alles dankbar hinnehmen.
Aber ſelbſt die heſſiſche Treue begann zu verzweifeln, als der alte „Sie-
benſchläfer“ die Geſchichte der jüngſten ſieben Jahre mit einem Federzuge
zu vernichten ſuchte. Alles ſollte zurückkehren auf den Stand vom 1. Nov.
1806, die damals beurlaubten Regimenter ſich in ihren alten Garniſonen
ſofort verſammeln, die Staatsdiener ihre alten Aemter wieder übernehmen;
der Major ward wieder Leutnant, der Rath Aſſeſſor — wenn der Kur-
fürſt nicht vorzog ihm gegen die Zahlung neuer Taxen ſeine neue Würde
zu beſtätigen. Der Code Napoleon und die geſammte weſtphäliſche Geſetz-
gebung verſchwanden mit einem Schlage; tauſende von Mündigen wurden
entmündigt, weil die Volljährigkeit fortan wieder mit dem fünfundzwan-
zigſten Jahre ſtatt des einundzwangigſten beginnen ſollte. Als die Truppen
zu Neujahr 1816 aus dem franzöſiſchen Feſtungskriege heimkehrten, mußten
ſie alsbald die alten 15 Zoll langen Zöpfe wieder anlegen; 1 Zoll Abſtand
vom Kopfe, 13 Zoll gewickelt, 1 Zoll Haardollen, ſo lautete der Befehl.
Wenn ſich nur in dem Aberwitz dieſer Reſtauration mindeſtens die
Ehrlichkeit des Fanatismus gezeigt hätte! Der legitimiſtiſche Feuereifer
dieſes Fürſten aber vertrug ſich ſehr wohl mit kaufmänniſcher Berechnung.
Wie er die Domänenkäufer beraubte aber die neuen Erwerbungen König
Jeromes für ſich behielt, ſo führte er auch die altheſſiſchen Steuern wieder
ein und ließ daneben die ſchwerſten der weſtphäliſchen Abgaben fortbe-
ſtehen. Die weſtphäliſche Staatsſchuld wurde für nichtig erklärt, doch von
der altheſſiſchen Schuld wollte der alte Herr auch nur ein Drittel aner-
kennen, weil ſein Verwalter Jerome ihren Betrag gewaltſam herabgeſetzt
hatte. Welch ein Gegenſatz zu der peinlichen Ehrlichkeit des Königs von
Preußen!*) Das Zunftweſen lebte wieder auf, desgleichen die Frohnden
und die bäuerlichen Laſten, aber die Patrimonialgerichte blieben aufgehoben,
weil der Kurfürſt ſeiner Ritterſchaft mißtraute. Die jungen Männer,
deren Väter nicht den höheren Rangklaſſen angehörten, durften wieder
wie vormals nur mit beſonderer landesherrlicher Erlaubniß ſtudiren.
Die Staatsdiener, die unter der Fremdherrſchaft doch mit einiger Sicher-
heit auf den Bezug ihrer Gehalte hatten rechnen können, ſahen ſich jetzt dem
Geize des Landesherrn wieder ſchutzlos preisgegeben. In der Armee ward
es bald zur Regel, daß die Beförderten ihren bisherigen Gehalt beibe-
hielten; es gab Generale mit Rittmeiſtersgehalt, kein einziger General
empfing was ihm gebührte. Durch dieſe Begaunerung ſeiner eigenen Be-
amten gelangte der Landesvater nach vier Jahren ſo weit, daß er in jedem
Monat über 36,000 Thlr. an Gehalten erſparte und in ſeiner unergründ-
lichen Kammerkaſſe verſchwinden ließ.**) Nun gar die Verabſchiedeten
nagten faſt alleſammt am Hungertuche. Wenn es galt einen verdienten
[524]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
alten General um ſeine Penſion zu betrügen, dann ward ſein Dienſt-
leben mit allerhand erlogenen Verdächtigungen bemängelt, und klagte Einer,
daß er nur Kartoffeln zu eſſen habe, ſo hieß es kurzab: ich eſſe auch gern
Kartoffeln. Der Präſenzſtand der Armee wurde, da England keine Sub-
ſidien mehr gab, bald auf 1500 Mann (80 Mann im Bataillon) herab-
geſetzt; das Land aber mußte noch immer für 20,000 Mann Steuern
zahlen. Um noch etwas herauszuſchlagen, ließ der Kurfürſt die Fuhren
bei ſeinem Schloßbau durch die Pferde der Artillerie beſorgen.*) Selbſt
die Stiftungen waren vor den diebiſchen Händen des alten Herrn nicht
ſicher. Von dem Vermögen der aufgehobenen Univerſität Rinteln wurde
ein Theil für das Rintelner Gymnaſium, ein anderer für die Marburger
Hochſchule beſtimmt und der anſehnliche Reſt wieder der unerſättlichen
Kammerkaſſe überwieſen. Am Beſten fuhr noch die Judenſchaft; ſie ver-
ſtand ſich auf dieſen fürſtlichen Charakter, zahlte rechtzeitig eine gute Summe
baar und erhielt dafür einige der Rechte, welche ihr der Code Napoleon
gewährt hatte, von Neuem beſtätigt.
So waren faſt alle wohlthätigen Reformen der weſtphäliſchen Herr-
ſchaft beſeitigt, nur ihre Härten beſtanden fort und geſellten ſich zu den
wiederauflebenden Mißbräuchen der guten alten Zeit. Die Willkür war
ſo empörend, daß ſelbſt Goethe, der ſonſt ſo ungern den Klagen der libe-
ralen Welt glaubte, die bitteren Verſe ſchrieb:
Dazu am Hofe ewige Händel zwiſchen dem Kurfürſten, ſeinem Sohne
und ſeiner Hauptmaitreſſe, gräuliche Wuchergeſchäfte des Günſtlings Bu-
derus v. Carlshauſen, und beſtändige Ungezogenheiten gegen das diplo-
matiſche Corps, das ſich erſt durch Drohungen eine anſtändige Behand-
lung erzwingen mußte. Wie gern hätte der preußiſche Geſandte, der gute
alte Hänlein, dieſen Hof geſchont, der ſeinem königlichen Hauſe ſo nahe
ſtand; als ehrlicher Mann konnte er doch nur von Sultanslaunen und
Unſauberkeiten berichten. Der Landesherr ſelbſt war in ſeiner cyniſchen
Menſchenverachtung ſchon ſo eingeroſtet, daß er den Jammer ringsum
gar nicht bemerkte. Bei einem patriotiſchen Feſte laſen die Caſſeler über
dem Portale ſeines Schloſſes die Flammeninſchrift: Der Vater ſeinen
Kindern! —
Beim Eintritt in die große Allianz hatte der Kurfürſt den Groß-
mächten verſprechen müſſen, ſeinen alten Landtag wiederherzuſtellen, der
in den letzten Jahrzehnten allerdings nur noch ein Geldtag geweſen und
[525]Kurheſſiſcher Landtag.
ſeit 1798 nicht mehr zuſammengetreten war. Nach Jahresfriſt löſte er
ſein Wort ein und berief zum März 1815 einen Engeren Landtag für
Altheſſen: acht Prälaten und Ritter, acht ſtädtiſche Vertreter und dazu
noch eine dritte Curie von fünf Abgeordneten für die bisher unvertretenen
Bauern. Wie die Ritterſchaft an jedem der fünf heſſiſchen Ströme, am
Diemel-Lahn-Fulda-Schwalm-Werraſtrom bisher einen Vertreter erwählt
hatte, ſo fortan auch die Bauerſchaft. Es war die einzige reformatoriſche
That Wilhelm’s I.; er entſchloß ſich dazu nicht um ſeinem Landvolke gerecht
zu werden, ſondern um der beargwöhnten Ritterſchaft ein Gegengewicht
zu ſchaffen. Der Kurfürſt eröffnete die Ständeverſammlung mit Worten
väterlicher Liebe und ließ ihr dann als einzige Propoſition eine Forderung
von mehr als vier Mill. Thlr. vorlegen. Dieſe Summen behauptete er
für das Land ausgelegt zu haben, die Hälfte davon noch vor dem Jahre
1806; und ganz ſo hochherzig wie er einſt den Frauen der verkauften
Soldaten die Steuern erlaſſen hatte, gab er jetzt ſeinen Ständen zu wiſſen,
auf eine Entſchädigung für den Schloßbrand vom Jahre 1811 wolle er
in Gnaden verzichten.
Der Landtag bewährte, dieſen Zumuthungen gegenüber, den feſten,
ruhigen Gradſinn, der ſeitdem, in ſchweren Prüfungen oft erprobt, für
den hervorſtechenden Charakterzug der Heſſen galt und dem kleinen Volke
die Achtung der Welt erwarb. Obwohl die Ritterſchaft zuweilen verſuchte
ihres eigenen Weges zu gehen, ſo hielten die Stände doch bei allen
entſcheidenden Beſchlüſſen treu zuſammen, auch die Bauern behaupteten
ſich trefflich. Der preußiſche, ja ſelbſt der öſterreichiſche Geſandte konnte
der muthigen Beſonnenheit dieſes Landtags die Anerkennung nicht ver-
ſagen. Unter einem ſolchen Fürſten war die Politik nur ein Handels-
geſchäft; nach langem Feilſchen wurde die landesherrliche Forderung herab-
geſetzt, zuletzt auf 400,000 Thlr., und der Kurfürſt bewogen, die altheſſiſche
Schuld zu ihrem vollen Nennwerthe anzuerkennen. Aber eine Rechen-
ſchaft über die Lage des Staatshaushalts vermochten die Stände nicht
zu erlangen. Nicht blos die Cabinets- und die Kammerkaſſe, die nach
alter Verfaſſung allein dem Landesherrn gehörten, blieben ihnen ver-
ſchloſſen; auch über den Stand der Kriegskaſſe erfuhren ſie nichts, und
dort lag ein Theil der engliſchen Subſidiengelder, welche der Landtag auf
22 Mill. Thlr. ſchätzte und für den Staat in Anſpruch nahm. Die
widerlichſte Sünde der deutſchen Kleinſtaaterei, der Zank um das Landes-
vermögen, erſchien nirgends ſo ruchlos wie in Heſſen, wo die Schätze des
fürſtlichen Hauſes recht eigentlich durch das Blut des Volkes erworben
waren.
Mittlerweile begann es im Lande zu gähren. Der Erbkämmerer
Frhr. v. Berlepſch, ein ehrlicher, etwas überſpannter Radicaler, führte in
einer Druckſchrift den Nachweis, daß viele Bauern jetzt im Frieden zwei-
mal mehr Abgaben zahlten als vordem unter der kriegeriſchen Fremd-
[526]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
herrſchaft, und das Landvolk wußte, daß er die Wahrheit ſprach. Die
Bauern vom Diemelſtrom (131 Gemeinden) ſendeten dem Landtage ihre
Klagen über die erdrückende Steuerlaſt: „Die Franzoſenzeiten waren ſchlimm,
aber die jetzigen ſind, wenn man alles Geben zuſammenrechnet, noch
ſchlimmer, und wenn es nicht unſer lieber Kurfürſt wäre, der ein Heſſe
iſt ſo gut wie wir, ſo hätte das Land nicht ſo lange ſtill geſchwiegen.“
Dann baten ſie kindlich, der Landtag möge unterſuchen: was von dem
vielen Gelde, das Heſſen ausſtehen hat, dem Lande gehört, und wohin
das viele Geld, das wir zahlen müſſen, kommt.*) Aehnliche Eingaben
waren auch an den anderen vier Strömen ſchon im Umlauf. Auch einige
Offiziere wendeten ſich im Namen ihrer Kameraden an die Stände um
über die widerrechtlich vorenthaltenen Gehalte Bericht zu erſtatten, und
ſelbſt Hänlein fand dies militäriſch unſtatthafte Verfahren entſchuldbar,
da die Unglücklichen wirklich kaum mehr leben könnten.**)
Als die Stände nach längerer Vertagung im Februar 1816 wieder
zuſammentraten, ließ ihnen der Kurfürſt eine Verfaſſung für den neuen
Geſammtſtaat Kurheſſen-Fulda vorlegen. Ich bedarf keiner Conſtitution,
ſagte er dem preußiſchen Geſandten, aber ich will ſie geben des Beiſpiels
und der Folge wegen.***) Der Verfaſſungsentwurf, ein Werk des wohl-
meinenden Miniſters v. Schmerfeld, enthielt manche heilſame Beſtim-
mungen, nur das Eine nicht, worauf hier Alles ankam: die Abſonderung
des fürſtlichen Hausgutes von dem Staatsvermögen. In den lebhaften
Verhandlungen, die ſich nun entſpannen, erklangen ſchon zuweilen die
vieldeutigen Schlagworte der herrſchenden conſtitutionellen Doctrin: man
wollte ſich „das Ideal einer glücklichen Regierungsform, die engliſche“ zum
Muſter nehmen, man erſetzte den Namen „Landesherr“ — zur Entrüſtung
des Kurfürſten — durch den vernunftrechtlichen Ausdruck „Regent“ und
verlangte, daß der Regent den Verfaſſungseid vor der Huldigung leiſte.
Der beredte ſtädtiſche Abgeordnete Robert ſprach viel von einem allgemeinen
Staatsrechte, das dem Landesrechte vorgehe. Indeß die meiſten Abände-
rungsvorſchläge des Landtags lauteten durchaus verſtändig; und wenn er
ſchließlich beantragte, „die vereinbarte Conſtitution“ unter die Bürgſchaft von
zwei deutſchen Mächten zu ſtellen†), ſo war auch dieſe Forderung weder
überflüſſig, einem ſolchen Fürſtenhauſe gegenüber, noch ohne Vorgang in
der Landesgeſchichte. Hatten doch einſt, als der Vater des Kurfürſten zur
römiſchen Kirche übergetreten war, Preußen, die Seemächte und die ſkan-
dinaviſchen Kronen die Gewähr übernommen für die heſſiſche Aſſecura-
tionsakte und alſo dem Lande ſeinen kirchlichen Beſitzſtand geſichert.
[527]Der Streit um das Landesvermögen.
Der Kurfürſt aber brauſte wüthend auf, da er ſich alſo im Vollgenuſſe
ſeiner Souveränität bedroht ſah. Er hatte erwartet, die Stände würden das
freie Geſchenk ſeiner Gnade unbeſehen annehmen; nun gab er ihnen ſein
beſonderes Mißfallen zu erkennen, weil „Status ſich nicht entſehen hätten“
eine unzuläſſige Neigung zur Umkehrung der alten Verfaſſung an den
Tag zu legen. „Ein jeder unabhängige Staat — hieß es weiter — und
ſei er auch noch ſo mindermächtig, zählt es zu ſeiner Nationalehre, nicht
zu geſtatten, daß fremde Mächte ſich in ſeine inneren Angelegenheiten
miſchen, und für S. K. Hoheit iſt es eine bittere Erfahrung, daß die
Stände einen Zuſtand in dem kurheſſiſchen Staate eintreten laſſen wollen,
wodurch deſſen Unabhängigkeit in Gefahr geſetzt wird.“*) Einigen Abge-
ordneten, die von einer Vermittlung des Königs von Preußen geſprochen
hatten, drohte er perſönlich, er werde Jeden, der ſich an das Ausland wende,
als Rebellen behandeln.
Das Alles hätte ſich noch ausgleichen laſſen, aber ganz unmöglich war
die Verſtändigung über das Landesvermögen, welche der Landtag unter
ſehr beſcheidenen Bedingungen verlangte. Schroff und höhniſch, offenbar
in der Abſicht, die Dinge zum Bruch zu treiben, erklärte der landesherr-
liche Commiſſar Joh. Haſſenpflug: was dem regierenden Hauſe durch Erb-
ſchaft und Subſidien zugefallen, gehöre dem Landesherrn allein. Es lag
ein Fluch auf dem alten engliſchen Blutgelde; an dieſer Klippe ſcheiterte
ſchon der erſte Verſuch conſtitutioneller Ordnung. Im Mai ſchickte der
Kurfürſt ſeine Stände unverrichteter Sache nach Hauſe und gönnte ihnen,
was in Heſſen noch nie geſchehen war, nicht einmal einen Landtagsreceß.
Der Landtag trennte ſich unter feierlicher Verwahrung ſeines Steuerbe-
willigungsrechts ſowie der Anſprüche des Landes auf das Staatsvermögen.
Bald nachher wurden die beiden Offiziere, welche vor den Ständen das
Wort geführt hatten, ohne Urtheil und Recht auf den Spangenberg ge-
ſchickt, eine kleine Bergfeſte, die in der Geſchichte des deutſchen Klein-
ſtaatenglücks ſeit Langem eine ähnliche Rolle ſpielte wie der Königſtein
oder der Hohenasperg; den unterſten Kerker dort, die Karthauſe, hatte
noch Niemand lebend verlaſſen. Das Offizierscorps aber war, aufs
Aeußerſte gebracht, ſchon nahe daran, Mann für Mann um Entlaſſung
zu bitten. Als der Kurfürſt dies erfuhr, hielt er doch für gerathen, die
Gefangenen frei zu geben.**)
Im Uebrigen regierte er fortan bis zu ſeinem Tode wieder als abſo-
luter Herr und konnte ſich ungeſtört die Freude gönnen, durch Herab-
ſetzung der ſämmtlichen Gehalte im Großherzogthum Fulda wieder einige
Tauſende monatlich für ſeine Cabinetskaſſe zu erſparen.***) Die ſtändiſche
[528]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Schuldencommiſſion, welche als einziger Ueberreſt der alten Verfaſſung
noch fortbeſtand, war völlig machtlos; ſie vermochte nicht einmal zu ver-
hindern, daß die Steuern gelegentlich eigenmächtig erhöht wurden. Ein-
fluß beſaß Niemand, nur in Geldſachen wurde Amſchel Rothſchild’s be-
währter Rath gern berückſichtigt; ſelbſt Haſſenpflug’s Macht reichte nur ſo
weit, daß er ſeinem ſtrebſamen Sohne Hans Daniel die Anfänge eines
wechſelreichen Dienſtlebens erleichtern konnte. Jedes Heſſen Wohl und
Wehe hing allein ab von den unberechenbaren Tücken des greiſen Fürſten,
der jetzt kränkelnd immer grilliger und auffahrender wurde. Als er ſeinem
Lande die Karlsbader Beſchlüſſe mittheilte, fügte er die grimmige Drohung
hinzu: „Ich erkläre hiermit denjenigen meiner Unterthanen, welcher der
Theilnahme an jenen aufrühreriſchen Verbindungen ſchuldig erklärt werden
ſollte, des Namens eines Heſſen für unwürdig, mithin für immer ausge-
ſtoßen aus der Mitte meines biederen Volkes und der bürgerlichen Rechte
in ſeinem Vaterlande verluſtig.“*)
Das Volk blieb bei dem ſtillen Begräbniß ſeiner alten Verfaſſung
über Erwarten ruhig, obgleich die Stände in einer gedruckten Denkſchrift
über ihre geheimen Verhandlungen Bericht erſtatteten. Die Stadt Kaſſel
ſprach dem ſcheidenden Landtage ihren Dank aus, und als der Kurfürſt
im Jahre 1817 eigenmächtig ein Hausgeſetz erließ, beabſichtigten einige
Landſtände eine Rechtsverwahrung bei den deutſchen Großmächten einzu-
legen.**) Doch der Plan kam nicht zur Ausführung. Man hatte zu
hoffen verlernt, und wo blieb auch Zeit für politiſche Gedanken in der
wirthſchaftlichen Noth dieſes verkümmerten und verwahrloſten Landes? Wenn
der Wanderer zuerſt die Wälder und die rothen Felſen des Werra- oder
des Fuldathals erblickte mit dem glitzernden Fluß dazwiſchen, oder die
maleriſchen Baſaltkuppen an der Eder und Schwalm, dann meinte er
hier den ſtillen Frieden zu finden, der den Zauber aller dieſer mittel-
deutſchen Hügellandſchaften ausmacht. In den ärmlichen Dörfern aber
überraſchte ihn die ſeltſame Ernſthaftigkeit der Menſchen; zumal in den
vergrämten Geſichtern der alten Bauerfrauen, in den ſtrengen großen
Augen, die aus den ſchwarzen Hauben hervorblickten, lag oft ein tragi-
ſcher Zug, der von einer langen Leidensgeſchichte erzählte.
An Helden der Kunſt und Wiſſenſchaft war dieſer Stamm nie ſehr
reich, ſeine Stärke lag von jeher in der Tapferkeit und dem unbeugſamen
Rechtsgefühl; kam freilich einmal die Kraft des Genies empor, wie in dem
Hauſe der Grimm, dann zeigte ſie auch die unverſtümmelte Großheit des
urſprünglichen germaniſchen Weſens. So ſtill wie jetzt war das geiſtige
Leben des Landes doch kaum je geweſen. Die Univerſität Marburg erwarb
ſich damals, da ſie raſch nach einander Savigny, Creuzer, Tiedemann ver-
[529]Die Selbſtherrſchaft des Kurfürſten.
loren hatte, den Ruf, der ihr bis zum Ende der kurfürſtlichen Zeiten ver-
blieben iſt: daß ſie bedeutende junge Kräfte zu gewinnen aber niemals ſie
zu halten verſtehe. Noch ärger lag der bürgerliche Wohlſtand darnieder.
Kein anderer deutſcher Gau zeigte noch ſo deutlich die Spuren des dreißig-
jährigen Krieges, keiner war ſo weit zurückgekommen von der Behäbigkeit
des ſechzehnten Jahrhunderts. Wer jetzt in Fritzlar den herrlichen Re-
naiſſancebau des Nymphäums betrachtete, der wollte kaum glauben, daß
die Bürger dieſes verödeten Ackerſtädtchens ſich jemals ein ſolches Hochzeits-
haus hatten bauen können. In jedem Bauernhauſe arbeiteten die Weiber
am Rocken und Webſtuhl um dem Bauern ſeinen Hausbedarf und viel-
leicht etwas Leinwand für den Markt zu verſchaffen; aber ein irgend
rühriger Gewerbfleiß hatte ſich in dem Lande der großen Töpfe und des
ſaueren Weines, wie es die Rheinfranken nannten, noch nirgends ent-
wickelt, mit der einzigen Ausnahme Hanaus. Die ſchwachen Regungen
wirthſchaftlicher Unternehmungsluſt wurden darniedergehalten durch ein
veraltetes Zollſyſtem, durch Binnenmauthen mitten im Kurfürſtenthum
und durch unzählige lächerliche Quälereien: wie viele Jahre vergingen,
bis man das enge Stadtthor in Gelnhauſen, das die große Leipzig-Frank-
furter Handelsſtraße verſperrte und alljährlich hunderte von Fuhrleuten
zum Umladen zwang, endlich abtrug. Vierzig Procent des Bodens waren
Waldland. Der Landmann lebte in der höchſten Einfachheit. An der
Schwalm, wo die größten Bauernhöfe des Landes lagen, war der Kaffee
noch ganz unbekannt und der Covent, ein altberüchtigtes Dünnbier, der
einzige Labetrank.
Ueberall Verfall und Armuth; auch die Aasvögel des deutſchen Bauern-
elends, die Wucherjuden, hatten ſich längſt in Schaaren eingeniſtet. Auf
dem erinnerungsreichen Marburger Schloſſe, der Geburtsſtätte Philipp’s
des Großmüthigen, ſaßen die Eiſengefangenen; die ſchöne Marienkirche
drunten, das älteſte Werk deutſcher Gothik, lag verſchmutzt und halb ver-
fallen, und von der ſtaufiſchen Kaiſerpfalz auf der Kinziginſel bei Geln-
hauſen wurden um dieſe Zeit die beſterhaltenen Theile auf den Abbruch
verkauft. Selbſt für Kaſſel geſchah gar nichts, obgleich ſich doch ſonſt die
Reſidenz ſelbſt in den ſchlecht regierten deutſchen Kleinſtaaten der landes-
fürſtlichen Gnade zu erfreuen pflegte. In ſeinen jungen Jahren hatte
der Kurfürſt noch einige Badeorte mit Anlagen geſchmückt und den Park
der Wilhelmshöhe durch die lächerliche Geſchmackloſigkeit ſeiner Löwenburg
verſchönert; jetzt meinte er genug zu thun, wenn er das Standbild Napo-
leon’s vom Königsplatze entfernte und dafür den menſchenverkaufenden
alten pater patriae wieder auf dem Friedrichsplatze aufſtellen ließ. In
den fünfzig Jahren bis zum Einzug der Preußen blieb Kaſſel faſt völlig
unverändert, die Kunſtſammlungen geſchloſſen, Alles ſo todt und öde, daß
die Göttinger Studenten, wenn ſie herüberkamen, am hellen Mittag das
ſechsfache Echo auf dem runden Königsplatze wecken konnten. Nur zu
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 34
[530]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Ehren ſeiner erſehnten und doch niemals errungenen Kattenkönigskrone
begann der Kurfürſt noch den Bau der Kattenburg — mit ungeheuerem
Aufwande, der zuweilen in einer Woche bis auf 10,000 Thlr. ſtieg; das
rieſige, wie für ein Kaiſergeſchlecht beſtimmte Schloß wurde aber im Lande
als ein widerwärtiges Denkmal kleinfürſtlicher Selbſtüberhebung mit Un-
muth betrachtet.
Wenige Tage vor dem Tode des Kurfürſten hielt ihm ein aus Heſſen
gebürtiger preußiſcher Beamter ſeine Frevel vor, mit einem ſchonungsloſen
Freimuthe, der an den kleinen Höfen unfaßbar ſchien. Es war Motz, damals
Präſident in Erfurt. Der hatte ſich für ſeinen Oheim, einen alten, willkür-
lich der Penſion beraubten General, verwendet, und als er die übliche Ant-
wort empfing, die ſieben Jahre der weſtphäliſchen Herrſchaft würden nicht
anerkannt, da ſcheute er ſich nicht, dem alten Herrn den Namen des Sieben-
ſchläfers, der im Lande überall umlief, ins Geſicht zu ſchleudern. Die Unter-
thanen und die Diener des Kurfürſten, ſo ſchrieb er, wären ſehr glücklich
zu preiſen, wenn ſie daſſelbe von ſich ſagen könnten, „wenn ſie mit Frau
und Kindern in einen ſiebenjährigen Schlaf verfallen und auf dieſe Weiſe
nur zu neuen Dienſtleiſtungen für Ew. K. Hoheit erſtarkt, unter den ver-
änderten Verhältniſſen hätten wieder erwachen können.“ Dann fuhr er fort:
„Ew. K. H. ſind reich, Ihre Diener und Unterthanen arm“ und forderte
den alten Sünder auf, noch am Abend ſeines Lebens einen würdigen Ge-
brauch zu machen von ſeinen reichen Glücksgütern und die Noth des treuen
Heſſenvolks zu lindern, bevor er erſcheinen müſſe „vor dem Herrn über
uns Alle, der auch den Mächtigen der Erde den Stuhl bereitet.“*) So
urtheilte der größte politiſche Kopf, den Kurheſſen zur Zeit beſaß, über das
Treiben dieſes Fürſten. Als Wilhelm I. bald nachher, im Februar 1821,
ſtarb, fand ſich in ſeinem Nachlaß ein politiſches Teſtament, das den Thron-
folger ermahnte, immerdar als ein wahrer Selbſtherrſcher zu regieren. —
Die Mahnung war kaum nöthig. Noch feſter als bisher verketteten
ſich unter der neuen Regierung die Schickſale des Landes mit den per-
ſönlichen Verhältniſſen des Fürſtenhauſes. Kurfürſt Wilhelm II. war von
Natur weder dumm noch bösartig, aber ſchlecht erzogen, ohne Sinn für
geiſtiges Leben, unfähig ſein wildes Blut zu zügeln, ein gewöhnlicher Lebe-
mann und Paradeſoldat. Nun wollte ſein Unſtern, daß er noch bei Leb-
zeiten des Vaters unter die Herrſchaft eines gemeinen Weibes, Emilie
Ortlöpp aus Berlin, gerieth und um ihretwillen ſeine edle Gemahlin
Auguſte, eine Schweſter des Königs von Preußen roh beleidigte. Mit
ſeiner Thronbeſteigung begann ein Dirnenregiment, beiſpiellos in der Ge-
ſchichte des neuen Jahrhunderts. Kaum hatte ein prunkender Leichenzug,
der ſchwarze Ritter des Hauſes Heſſen voran, den Sarg des alten Herrn
auf die Löwenburg hinaufgeführt, ſo erfolgte die erſte befreiende That der
[531]Kurfürſt Wilhelm II.
neuen Regierung, das Abſchneiden der Zöpfe. Das Land frohlockte; zu
hunderten lagen die Symbole der ſchlimmen alten Zeit, ein Spiel der
Gaſſenbuben, auf dem Pflaſter und in den Rinnſteinen der Hauptſtadt.
Ebenſo freudig berührte die Nachricht, daß der Bau der Kattenburg ein-
geſtellt ſei; das anſpruchsvolle Gebäude blieb fortan, ſo lange der Kurſtaat
beſtand, als eine unheimliche Ruine liegen, Bettler und Landſtreicher ſuchten
Nachts ein Obdach unter den hohen Gewölben. Noch im ſelben Jahre
erſchien eine vom Miniſterialrath Krafft entworfene Verwaltungsorgani-
ſation, welche das Ländchen, nach der prahleriſchen Weiſe der deutſchen
Kleinſtaaten, in vier Provinzen eintheilte, vier Regierungen, vier Finanz-
directionen und außerdem noch eine beſondere ſchaumburgiſche Regierungs-
behörde über eine Bevölkerung von 600,000 Seelen ſtellte. Trotz ihrer
Koſtſpieligkeit war die neue, dem Muſter Preußens nachgebildete Ordnung
immerhin beſſer als die alte, heilſam insbeſondere die ſcharfe Trennung
von Verwaltung und Rechtspflege.
Aber mit dieſen Reformen gingen die löblichen Thaten Wilhelm’s II.
zu Ende. Noch während der Huldigung zog die Ortlöpp mit ihren Kin-
dern in den Palaſt ihres Liebhabers ein*) und genoß nunmehr, zur
Gräfin Reichenbach erhoben, alle Rechte einer kurfürſtlichen Gemahlin.
Die Einberufung des Landtags unterblieb, obgleich die Ritterſchaft mehr-
mals darum mahnte. Im Genuſſe der unbeſchränkten Selbſtherrſchaft
und im Verkehre mit dem verworfenen Geſindel, das ſich an die Reichenbach
anhing, verwilderte der Kurfürſt bald gänzlich; thieriſch ward ſein Jähzorn,
Niemand war vor ſeinen Mißhandlungen ſicher, wenn er ſich nicht das
Herz faßte, dem furchtſamen Wütherich ſelber mit der Fauſt zu antworten.
Bald kam es ſo weit, daß der Landesvater beſtändig eine Peitſche im Wagen
bei ſich führte, und man war ſchon froh, wenn auf ſeinen Reiſen durchs
Land weiter nichts vorfiel als „einige an verſchiedene Poſtmeiſter höchſt-
eigenhändig ausgetheilte Kantſchuhiebe.“**) Die Reichenbach ſelber mußte
auf ihrer Hut ſein, und ſie wußte ſich zu helfen: wenn er ſie angriff,
dann warf ſie mit theuren Vaſen und Taſſen ſo lange um ſich, bis der
Wüthende die Koſtſpieligkeit dieſer Wurfgeſchoſſe zu bemerken begann und
die Habſucht den Zorn beſiegte. Sobald ein ſolcher Auftritt überſtanden
war, konnte ſie von ihrem Geliebten Alles erreichen. An ihrer Gunſt
ſonnten ſich ihr Bruder, ein vollendeter Taugenichts, dem der Kurfürſt
zum Entſetzen ſeiner Ritterſchaft den Namen der ausgeſtorbenen Frei-
herren Heyer von Roſenfeld verlieh, und der Finanzrath Deines, der wie
alle Vermögensverwalter des heſſiſchen Hauſes bald ſehr reich wurde. Auch
das altbefreundete Haus Rothſchild ſah ſeinen Weizen blühen, da der
Sohn vom Vater nur die Habgier, nicht den Geiz geerbt hatte und trotz
ſeiner Schätze immer freundlicher Aushilfe bedurfte.
34*
[532]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Dem jungen Hänlein, der jetzt den Geſandtſchaftspoſten ſeines ver-
ſtorbenen Vaters bekleidete, verſicherte der Kurfürſt oft, und unzweifelhaft
ehrlich, daß er ſich ganz an Preußen anſchließen wolle. Doch da König
Friedrich Wilhelm nicht umhin konnte, zu Gunſten ſeiner mißhandelten
Schweſter, der Kurfürſtin, und ihres jungen Sohnes ſein Fürwort ein-
zulegen, ſo nahm der Streit zwiſchen den beiden verwandten Höfen kein
Ende. Einmal kam es zum Bruch: als der Kurfürſt ſeine Schweſter,
die kranke Herzogin von Bernburg, bei Nacht und Nebel aus Bonn hatte
entführen und nach Hanau bringen laſſen. Er behauptete, die Unglück-
liche ſei geiſteskrank; erwieſen iſt nur, daß ſeit jener Entführung die Krank-
heit ſich unverkennbar zeigte. Damals wurde Hänlein abberufen und
durfte erſt nach Monaten zurückkehren, nachdem der Kurfürſt wegen der
Verletzung des preußiſchen Gebiets Abbitte geleiſtet hatte.*) In den beſſer
regierten deutſchen Territorien ermöglichte die Enge der Verhältniſſe den ein-
zigen Vorzug der Kleinſtaaterei, die wohlwollende Berückſichtigung der per-
ſönlichen und örtlichen Intereſſen; in Heſſen bewirkte ſie ein Syſtem perſön-
licher Verfolgung. Die Reichenbach kannte Jeden, und Jedermanns Schickſal
richtete ſich nach ſeiner Stellung zu dieſem Weibe. An einem Sommer-
abend des Jahres 1823 kam der Kurfürſt plötzlich von der Wilhelmshöhe
nach Kaſſel herabgeſprengt, ließ Allarm ſchlagen und die Garniſon auf
dem Friedrichsplatze antreten; dann wurden Hauptmann Radowitz vom
Generalſtabe und drei andere Offiziere in kleine Garniſonen verwieſen mit
dem Befehle augenblicklich abzureiſen.**) Die Verbannten waren ſämmt-
lich Freunde des Kurprinzen und hatten ihre Meinung über die Reichen-
bach nicht verhehlt; Radowitz fand nachher durch die Gunſt des Prinzen
Auguſt eine neue, reichere Thätigkeit in Preußen. Als Heyer v. Roſen-
feld in Folge eines ſchmutzigen Liebeshandels von einem Offizier gefordert
wurde, erließ der Kurfürſt, um dies theure Leben zu ſchützen, ſofort ein
Geſetz, das den Zweikampf mit der Strafe des Mordes, die Forderung
mit anderen entehrenden Strafen bedrohte. Beſonders gefürchtet waren
die Zeiten des Wochenbetts der Reichenbach, die in jedem Jahre wieder-
zukehren pflegten; dann hatte der Kurfürſt nichts zu thun, überfiel Abends
die Behörden in ihren Dienſträumen, ſchrieb die Fehlenden auf, ließ ſeine
üble Laune an Jedem aus, der ihm in die Hände lief.
Aber was wollte dies ſagen neben der erſchütternden Familientragödie
im fürſtlichen Hauſe? Die Kurfürſtin war lange auf Reiſen und ſchloß
endlich mit ihrem Gatten einen Vertrag, der ihr einen eigenen Hofhalt
ſicherte. Der Kurprinz hielt ſtandhaft zu ſeiner Mutter; er hatte ſich zu-
geſchworen die Feſte der Reichenbach niemals zu beſuchen und blieb dabei,
obgleich die Hoftheologen ſeines Vaters ihm die Unverbindlichkeit des
[533]Das Regiment der Reichenbach.
Schwures zu erweiſen ſuchten. Als er nun einſt (1822) mit einem ver-
trauten Diener auf einem öffentlichen Maskenball erſchien, Beide etwa
gleich gewachſen und mit gleichen Dominos bekleidet, da bot eine unbekannte
Maske dem Diener ein Glas Grog an; der Mann nahm, trank und ſtürzte
vergiftet zu Boden. Der Kurfürſt, der den Prinzen auf ſeine Weiſe zärt-
lich liebte, befahl ſofort die ſtrengſte Unterſuchung, und ſeine Polizei be-
ſaß die Mittel dazu: ſie befahl einfach, daß Jeder, der auf jenem Balle
zugegen geweſen, ſich binnen achtundvierzig Stunden melden ſollte, widrigen-
falls werde er als des Mordes verdächtig in Unterſuchungshaft genommen.*)
Trotzdem blieb der unheimliche Vorfall völlig dunkel. Das Volk ließ
ſich den Glauben nicht nehmen, daß der Streich von dem Kreiſe der
Reichenbach ausgegangen ſei. Und welche Ausſichten für das Land, wenn
dieſer unglückliche Prinz dereinſt zur Regierung gelangte, der thöricht er-
zogen, mißtrauiſch und menſchenſcheu, in der Jugend ſchon Roheiten jeg-
licher Art, Ehebruch und Meuchelmord dicht vor Augen geſehen hatte!
Nach der argwöhniſchen Weiſe der Despoten hatte ſich der Kurfürſt ſchon
oft bedroht geglaubt und einmal als er einen Vergiftungsverſuch ver-
muthete, ſeine Leibköche in feierlicher Unterſuchung dreiundzwanzig Eide
ſchwören laſſen; da erhielt er, ſeit 1823, eine Reihe räthſelhafter Briefe,
die ihm den Tod androhten falls er von der Reichenbach nicht laſſe. Als-
bald ward das ganze Land beunruhigt, eine Menge von Verhaftungen
vorgenommen; eine „kurfürſtliche, zur Entdeckung der gegen S. K. Hoheit
ausgeſtoßenen Drohungen eingeſetzte Commiſſion“ verſprach dem Entdecker
des Frevels hohe Belohnungen. Zuletzt blieb der Verdacht auf dem allge-
mein verhaßten Ober-Polizeidirector Manger ſelbſt haften. Man ſetzte
ihn auf den Spangenberg, er geſtand aber nur zu, daß er bei den Nach-
forſchungen ſeiner Pflicht nicht gerecht geworden ſei, weil ſich die letzten
Spuren in unnahbare Regionen verloren hätten. Manger wurde zu
fünfjähriger Feſtungsſtrafe verurtheilt, die der Kurfürſt in lebenslängliche
Haft verwandelte; doch auch dieſe Sache blieb unaufgeklärt.
Das treue Land fühlte ſich wie verrathen und verkauft. Liberale
Ideen fanden in Heſſen vorerſt nur vereinzelte Anhänger; eine Schrift
des Anwalts Martin, die an die Berufung des Landtags erinnerte,
verhallte ungehört. Aber das Gewiſſen des Volks forderte ſein Recht.
Ueberall wo die geliebte Kurfürſtin ſich zeigte wurde ſie geehrt mit Hul-
digungen, die ihre Spitze gegen die Reichenbach richteten; die Marburger
widmeten „der naturliebenden Fürſtin“ einen Obelisken auf der Auguſten-
ruh hoch über der Lahn. Zuweilen brach der verhaltene Grimm durch.
Als ſich nach dem Tode von Manger’s Bruder herausſtellte, der Ver-
ſtorbene habe als Betrüger und Selbſtmörder geendet, da wendete ſich die
Kaſſeler Bürgerſchaft an die Gerichte und erzwang, daß der geſchändete
[534]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
bürgerliche Leichenwagen vernichtet, der Leichnam ausgegraben und hinter
der Stadtmauer verſcharrt wurde.*) Die beiden ehrenwerthen Miniſter
Witzleben und Krafft forderten endlich angeekelt ihre Entlaſſung. Nun
blieben nur noch Miniſter Schminke, ein bequemer Schlemmer, und der
zum Freiherrn v. Meyſenbug erhobene Cabinetsrath Rivalier, der zu-
weilen einmal eine Gewaltthat verhinderte, aber auch nur ein gefügiger
Hofmann war. Neue widerrechtliche Steuern, Taxen und Polizeiſtrafen
ſollten die leeren Staatskaſſen füllen. Sogar die Wachsbilder ſeiner
Ahnen im Kaſſeler Muſeum ließ der Kurfürſt einſchmelzen um den Preis
des Wachſes einzuſtreichen. Sein Hausvermögen legte er theils in aus-
ländiſchen Capitalien an, theils in böhmiſchen Landgütern für die Kinder
der Reichenbach.
Dem bedrückten und vernachläſſigten kleinen Manne verſperrte der
thörichte Zollkrieg gegen Preußen auch noch den nachbarlichen Verkehr.
Die Unzufriedenheit war allgemein, Schmuggel und Wilddieberei nahmen
überhand. Das letzte Bollwerk gegen die Willkür bildeten die Gerichte, die in
dieſer argen Zeit ihren guten Ruf abermals bewährten. Wie einſt Gerichts-
rath Pfeiffer noch unter dem alten Kurfürſten für die Domänenkäufer einge-
treten war, ſo widerlegten jetzt der wackere Präſident Wiederhold und das
Kaſſeler Oberappellationsgericht durch die That das liberale Vorurtheil,
das eine freie Rechtspflege in höfiſcher Luft nicht für möglich hält; wo ſie
nur konnten, nahmen ſie ſich des guten Rechts der Beamten, der Staats-
gläubiger, der Steuerzahler an, doch ihre Macht reichte nicht weit. Die
zweckloſe Nichtigkeit des politiſchen Lebens hatte der heſſiſche Kurſtaat mit
allen deutſchen Kleinſtaaten gemein; eigenthümlich war ihm eine gewiſſen-
loſe Tyrannei, die von der wohlmeinenden Beſchränktheit der meiſten an-
dern deutſchen Höfe häßlich abſtach und faſt an Neapel oder Modena er-
innerte. Noch unaufhaltſamer als Sachſen trieb dieſer Staat einer ge-
waltſamen Erſchütterung entgegen. —
Kurheſſen litt unter der Willkür ſeiner Fürſten; die kaum minder
krankhaften Zuſtände des Königreichs Hannover entſprangen dem ent-
gegengeſetzten Grunde, der Schwäche der monarchiſchen Gewalt. Unge-
heure Schickſalswechſel, wie ſie nur Deutſchlands Geſchichte kennt, waren
über dies niederſächſiſche Gebiet dahingegangen, bis es nach langer Ohn-
macht einen Theil ſeiner hiſtoriſchen Machtſtellung zurückerlangt hatte.
Mit dieſem zähen niederdeutſchen Sonderleben hatten einſt Römer und
Karolinger in endloſen Kriegen gerungen; an ihm fand die nationale
Monarchie ihren ſtarken Rückhalt ſo lange ſie in ſächſiſchen Händen blieb,
[535]Anfänge der welfiſchen Macht.
und ihren trotzigſten Feind ſeit ſie an die Süddeutſchen überging. Den
Saliern wie den Staufern wurden die Vorlande des Harzes das Land
des Schickſals. Zweimal, zu Canoſſa und Legnano, warf der Trotz der
Sachſen das Kaiſerthum vor dem Papſtthum in den Staub. Seit das
Haus Eſte mit dem reichen Erbe der alten Welfen das ſächſiſche Herzog-
thum vereinigte, diente der Name dieſes neuen Welfengeſchlechts diesſeits
und jenſeits der Alpen allen Feinden des Kaiſerthums zum Feldgeſchrei.
Vom Hochgebirge bis zu beiden Meeren reichte das Gebiet Heinrich’s des
Löwen, die mächtigſte Territorialſtaatsbildung, welche unſer Mittelalter
vor dem Staate des Deutſchen Ordens ſah, und lange ſchien es zweifel-
haft, ob der Kaiſeraar auf der Pfalz zu Goslar das Feld behaupten
werde oder der Löwe des gewaltigen Slavenbeſiegers auf dem Braun-
ſchweiger Burgplatze. Mit dem Sturze Heinrich’s des Löwen ging auch
die alte glorreiche Herzogswürde der Liudolfinger und Billinger zu Grunde,
weil der Beſtand dieſes übermächtigen Stammesſtaates ſich mit dem An-
ſehen der Reichsgewalt nicht vertrug. Das weiße Sachſenroß ward zer-
fleiſcht, und nachdem die Welfen noch ein Menſchenalter hindurch wider-
ſtrebt, einmal ſogar auf kurze Zeit die Kaiſerkrone an ihr Haus gebracht
hatten, unterwarf ſich endlich des Löwen Enkel, Otto das Kind dem
Spruche von Kaiſer und Reich und empfing ein kleines Bruchſtück der
Erbſchaft ſeines Ahnherrn, die Lande Braunſchweig und Lüneburg als
Lehen des Reichs aus der Hand des Staufers Friedrich’s II. zurück (1235).
Seitdem verſank das gedemüthigte ſtolze Haus ebenſo ſchnell, wie
ſpäterhin die Erneſtiner nach ihrem Sturze, in die Armſeligkeit des deut-
ſchen Kleinlebens; von dem großen Ehrgeiz der Ahnen blieb nichts übrig
als ein harter Eigenſinn, der ſich in häßlichen Bruderzwiſt entlud und
die geretteten Trümmer alter Macht durch beharrlich wiederholte Thei-
lungen ſchwächte. Bald war kaum ein namhafter Ort mehr im Lande,
der nicht einem Flugſandsgebilde dieſer nur im Wechſel beſtändigen dynaſti-
ſchen Politik einmal zum Herrſcherſitze gedient hätte; in Münden und Neu-
ſtadt am Rübenberge, in Calenberg und Hertzberg, in Harburg, Giffhorn,
Dannenberg, in Celle und Hannover, in Wolfenbüttel, Bevern und Braun-
ſchweig hauſten nach und neben einander die ungezählten älteren, mitt-
leren und jüngeren Linien des Welfenhauſes. Unter der zerſplitterten
landesfürſtlichen Gewalt hatte die ſtändiſche Libertät gute Tage, ſie errang
ſich durch die Lüneburger Friedensſate ſogar das Recht des bewaffneten
Widerſtandes. Da die reichen Städte Lüneburg, Göttingen, Braunſchweig,
denen die Welfen einſt als Nachbarn der ſtädteloſen Askanier einen guten
Theil ihrer Macht verdankt hatten, durch Kriegsnoth und die Verände-
rung der Handelswege bald herabkamen, ſo blieb der Macht des Adels
nirgends mehr ein Gegengewicht; hält unſer Herr, ſo halten wir auch,
ſagte der Edelmann trotzig. Die Reformation fand das welfiſche Geſchlecht
in vier Linien zertheilt, zwei hielten zur alten Kirche, zwei wendeten ſich
[536]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
der neuen Lehre zu; Ernſt von Lüneburg geſellte ſeinen Namen zu der
erlauchten Schaar der Bekennerfürſten des Evangeliums, aber in den
Entſcheidungskämpfen der Zeit vermochte das zerſpaltene Haus wenig aus-
zurichten. Auch nachdem die lutheriſche Lehre in allen welfiſchen Landen
zur Herrſchaft gelangt war, überraſchte der dreißigjährige Krieg die Welfen
wieder in rathloſer Zwietracht; hin und her geſchleudert zwiſchen den Par-
teien, liefen ſie Gefahr, ihr Stammland an die Condottieri der katholi-
ſchen Liga zu verlieren oder ganz in die Botmäßigkeit Schwedens zu
gerathen.
Inmitten dieſer Bedrängniß begann das Fürſtengeſchlecht ſich endlich
wieder aufzuraffen. In Herzog Georg erſtand der neuen calenbergiſchen
Linie ein kluger Stammhalter, der ſein Land beiſammen hielt und Han-
nover zur bleibenden Hauptſtadt erhob. Wie in allen großen deutſchen Für-
ſtengeſchlechtern ſo ward auch im welfiſchen Hauſe durch ein ſeltſames
Spiel des Schickſals der jüngeren Linie die größere Macht beſchieden. Auf
dem Weſtphäliſchen Friedenscongreſſe ſtritt der welfiſche Kanzler Lampa-
dius, mit Brandenburg vereint, tapfer für die unbedingte Gleichberechti-
gung der drei Bekenntniſſe. Fortan hob ſich das Anſehen des Geſchlechts.
Seine Fürſten trieben im Reiche gemeinſam eine vorſichtige Hauspolitik,
die ſich glatt zwiſchen Brandenburg und Schweden, Oeſterreich und Frank-
reich hindurchwand und immer bemüht war „keine Ombrage zu geben.“
Zugleich erſtarkte die fürſtliche Gewalt im Innern und deckte ſich durch
ein ſtehendes Heer. Ernſt Auguſt, der letzte Welfe, der noch etwas von
der ſtaatsmänniſchen Kühnheit Heinrich’s des Löwen geerbt hatte, erwarb
ſodann den Kurhut, ſicherte das Erbfolgerecht des Erſtgebornen und be-
reitete durch ein gewandtes diplomatiſches Spiel die neue Zeit des Glanzes
vor, welche unter ſeinem Nachfolger dem welfiſchen Hauſe aufgehen ſollte.
Ueber die Schultern von vierundfünfzig näheren Verwandten hinweg be-
ſtieg Georg I. den Thron der Stuarts, und faſt gleichzeitig ward ſein
deutſcher Kurſtaat abgerundet, das Haus Lüneburg mit dem Calenbergi-
ſchen vereinigt, das wichtige Küſtenland Bremen und Verden aus dem
Schiffbruch der ſchwediſch-deutſchen Großmacht für Kurhannover erworben.
Mit ſtolzer Freude verfolgte das hannoverſche Volk das Wiederauf-
ſteigen ſeines Fürſtenhauſes. Niemand bemerkte, wie wenig dies revolu-
tionäre Schattenkönigthum von Parlamentes Gnaden bedeutete, noch welche
klägliche Rolle die erbliche Mittelmäßigkeit der vier George in den Kämpfen
der britiſchen Adelsparteien ſpielte. Da die engliſche Ariſtokratie die äußere
Würde der Krone klug zu ſchonen wußte, und die Bevölkerung der kleinen
deutſchen Territorien überhaupt noch keinen Staat kannte, ſondern nur
Land und Leute fürſtlicher Geſchlechter, ſo wähnten die Hannoveraner alles
Ernſtes, Englands Macht ſei die Macht des welfiſchen Hauſes. Die deut-
ſchen Großbritannier fühlten ſich mit dem Inſelvolke durch gemeinſame
Unterthanenſchaft verbunden, ſie ſonnten ſich behaglich an dem Glanze
[537]England und Hannover.
britiſcher Freiheit und Größe, ſie ſangen das Rule Britannia wie ein han-
noveriſches Nationallied und widmeten dem mächtigen Schweſtervolke eine
brünſtige Verehrung, welche von drüben nur mit inſulariſchem Hochmuth
erwidert wurde. Selbſt der Schwabe Spittler, zu ſeiner Zeit der freieſte
Geiſt unter allen politiſchen Denkern Deutſchlands, konnte ſich als er in
Göttingen lebte der landläufigen Selbſttäuſchung nicht entziehen; er fand,
für die welfiſche Macht bleibe heute nichts mehr zu wünſchen übrig als
daß ſie dauere, und ſagte zufrieden: „Wir ſind ja hier ſo gern Halb-
Engländer, und gewiß nicht blos in Kleidung, Sitte und Mode, ſondern
auch im Charakter.“
So wurde Kurhannover neben Baiern und Kurſachſen eine der drei
Hochburgen des deutſchen politiſchen Particularismus. In Baiern erſchien
die particulariſtiſche Geſinnung naiv und naturwüchſig, in Oberſachſen
gehäſſig und bitter, in Hannover ſteif und dünkelhaft. Der alte Sonder-
geiſt der Niederſachſen und die unvergeſſenen Erinnerungen aus den fernen
Zeiten altwelfiſcher Größe verſchwiſterten ſich mit dem neuen großbritan-
niſchen Selbſtgefühle, und nach deutſchem Brauche fanden ſich auch bald
gelehrte Syſtematiker, welche den engliſchen Parlamentarismus mit der
kurhannoverſchen Adelsoligarchie unter eine gemeinſame Formel brachten,
an der Themſe wie an der Leine überall denſelben Segen „welfiſcher Frei-
heit“ entdeckten. Mit dem ganzen Stolze ſeines Englands blickte der kur-
hannoverſche Beamte herab auf die armen Teufel die nur Deutſche waren,
und behandelte die heſſiſchen Nachbarn ſo herablaſſend, als ob ſein Kur-
fürſt, und nicht das engliſche Parlament, dem Kaſſeler Landgrafen die
Truppen bezahlte.
Unterthänige Federn erinnerten gern an die Freundſchaft, welche ſchon
vor Jahrhunderten zwiſchen dem Welfenhauſe und der engliſchen Krone
beſtanden hatte. Aber wie anders, Macht gegen Macht, waren einſt Hein-
rich der Löwe und Kaiſer Otto IV. dem Inſellande gegenübergetreten.
Jetzt war der deutſche Welfenſtaat nur ein beſcheidenes Nebenland des
britiſchen Weltreichs, beſtändig mißbraucht von dem ſtärkeren Genoſſen. In
der Hitze des Streits eiferten die Redner des Parlaments zuweilen wider
den hannoverſchen Einfluß und wünſchten dies Land des Unheils im Meere
verſinken zu ſehen; der Abſcheu vor allem ausländiſchen Weſen lag den
Briten ſo tief im Blute, daß ſie den Welfen ihre deutſche Abſtammung
erſt in der fünften Generation ganz verziehen. Als aber Lord Caſtlereagh
nach den napoleoniſchen Kriegen die Summe zog aus den Erfahrungen
des erſten Jahrhunderts engliſcher Welfenherrſchaft, da mußte er ſelber
ehrlich bekennen, Hannover habe durch die Verbindung mit Großbritannien
mehr gelitten als gewonnen. Eine Ausbeutung, wie ſie Kurſachſen zu
Gunſten Polens erlitt, ward von den drei erſten Georgen freilich nie ver-
ſucht; während ihr engliſcher Hofhalt durch die Beſtechung der Parlaments-
mitglieder beſtändig in Noth gerieth und das Haus der Gemeinen mehr-
[538]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
mals um die Bezahlung ſeiner Schulden bitten mußte, ſendeten ſie als
gute Hausväter beträchtliche Summen in die Kammerkaſſe und das Kriegs-
gewölbe ihrer Heimath hinüber. Um ſo ſchwerer wog der Blutzoll, den
das deutſche Stammland für die engliſche Krone ſeiner Kurfürſten zahlte.
Hannover lieferte den drei Königreichen den beſten Theil ihrer Feſtlands-
heere, bald gegen Sold, bald aus eigenen Mitteln. In jedem Kolonial-
kriege richtete Frankreich ſeine Waffen gegen die einzige verwundbare Stelle
des Inſelreichs; die engliſche Handelspolitik aber konnte ihre überſeeiſchen
Eroberungen nur dann behaupten, wenn ſie die Kräfte des Gegners theilte
und auf das deutſche Nebenland ablenkte. Um Canada in Deutſchland
zu erobern, ſtellte das Kurland im ſiebenjährigen Kriege eine Truppenmacht
von 45,000 Mann und opferte zu den 17 Mill. Thlr, welche der Kurfürſt
zahlte, noch die gleiche Summe aus den Landeskaſſen. Nur an dem
Bürgerkriege gegen die amerikaniſchen Rebellen ließ Georg III. ſeine deut-
ſchen Landeskinder nicht theilnehmen. Immerhin erhielt das Welfenland
durch dieſe Kämpfe für fremde Zwecke wieder eine gehaltreiche Geſchichte,
das Heer große Erinnerungen, der denkende Theil der Bevölkerung eine
politiſche Geſinnung, die ſich neben der trägen Schlummerſucht der benach-
barten Kleinſtaaten mannhaft und ſtattlich ausnahm. Wohl war das Volk
nicht deutſch, ſondern engliſch geſinnt, aber auch nicht undeutſch ſchlecht-
hin; denn der Kampf um den Ganges und den Lorenzſtrom galt doch zu-
gleich der Befreiung des deutſchen Weſtens von den franzöſiſchen Räubern.
In Hannover wie in Heſſen erregten die Siege Ferdinand’s von Braun-
ſchweig ein Bewußtſein deutſcher Ueberlegenheit und unauslöſchlichen Haß
gegen das wälſche Weſen; der Bauer an der Weſer ehrte die Veteranen
von Minden und Crefeld als Muſter deutſcher Tapferkeit und jeden Schur-
ken nannte er einen Kumpfländer nach dem Plünderer Conflans.
Dem inneren Leben des hannoverſchen Staates, das ſoeben erſt
unter dem kraftvollen Regiment Ernſt Auguſt’s in friſchen Zug gekommen
war, brachte die Verbindung mit England ſchweren Schaden. Das Kur-
fürſtenthum zerfiel in ſechs ſelbſtändige Landſchaften, die mit eigenen Land-
ſtänden, Steuern, Zöllen ausgeſtattet, noch nicht viel mehr mit einander
gemein hatten als den Landesherrn, das Heer, den Geheimen Rath und
wenige Centralbehörden. Dieſe ſchwachen Anfänge monarchiſcher Einheit
im Sinne Ernſt Auguſt’s auszubilden, das lockere Nebeneinander der
Landſchaften zu einem modernen Staate zuſammenzufaſſen war nunmehr
ganz unmöglich, ſeit der Landesherr in der Ferne weilte und der Adel
ſeine „allmächtige Vicekratie“ einrichtete. Mit wachſamer Eiferſucht be-
hütete jeder der ſechs Landtage ſeine habenden Freiheiten. Faſt ein halbes
Jahrhundert verlief in ärgerlichen Verhandlungen, bis die Calenberger
Stände ſich endlich herbeiließen, den Landtag des Fürſtenthums Gruben-
hagen, das außer den ſteuerfreien Harzern nur 35,000 Köpfe umfaßte,
in ſeine Gemeinſchaft aufzunehmen. Welfiſche Patrioten bemerkten wohl-
[539]Die Adelsherrſchaft.
gefällig, daß dieſe denkwürdige Vereinigung der calenberg-grubenhagiſchen
Nation in demſelben geſegneten Jahre 1801 vollendet wurde, das auch
die Union von Großbritannien und Irland zu Stande brachte.
An politiſchen Talenten litten die niederſächſiſchen Lande niemals
Mangel. Während Schwaben und Oberſachſen durch eine Fülle ſchrift-
ſtelleriſcher Größen glänzten, lag hier die nüchterne Proſa in der Luft. Das
alte Sprichwort Frisia non cantat galt auch von dem Hinterlande der
frieſiſchen Küſte; außer Hölty haben die altwelfiſchen Lande den Deut-
ſchen nie einen namhaften Dichter geſchenkt. In der höheren Geſellſchaft
herrſchte, gefördert durch den Verkehr mit England, ein Ton langweiliger
Anſtändigkeit, der dem heiteren Spiele der Kunſt nicht günſtig war; auch
die Volksſprache mit ihrem ſchwerfälligen mek und dek klang breit und
unſchön neben dem koſenden, neckiſchgemüthlichen mi und di der Nachbarn
in Holſtein und Mecklenburg. Aber ſo weit einſt die mittelhochdeutſche
Dichtung die niederdeutſche überragte, ebenſo hoch ſtand der Sachſenſpiegel
über dem Schwabenſpiegel, und ſo ſelten in jenen literariſch fruchtbarſten
deutſchen Landen, in Schwaben und Oberſachſen, die ſtaatsmänniſchen
Köpfe erſchienen, ebenſo häufig traten ſie in der Geſchichte Niederſachſens
auf. Alles was ein Volk für die Kämpfe des Staatslebens ausrüſtet,
ſtrenges Rechtsgefühl und ausdauernde Willenskraft, Tapferkeit und Frei-
muth, geſunder Menſchenverſtand und ein ſicherer Blick für das Wirkliche,
war den Niederſachſen in die Wiege gebunden. Die politiſche Begabung des
Stammes bewährte ſich nicht blos in den großen Tagen der Sachſenkaiſer
und der welfiſch-ghibelliniſchen Kämpfe, ſondern auch nachher in den Zeiten
des kleinfürſtlichen Stilllebens. Ein Spittler hielt ſich nicht zu gut die
Geſchichte von Calenberg zu ſchreiben, denn kein anderes deutſches Land
von gleichem Umfang konnte unter ſeinen Beamten ſo viele gewiegte Ju-
riſten und kluge Geſchäftsmänner aufweiſen, wie alle dieſe welfiſchen Kanzler
und Geheimen Räthe Jagemann, Schwartzkopf, Lampadius, Kipius, Ludolf
Hugo, Struben, Bernſtorff, Grote, Bothmer, Münchhauſen.
Und doch, wie unfruchtbar erſchien das politiſche Leben dieſes tüch-
tigen Stammes unter dem zwitterhaften Regimente einer Monarchie ohne
Monarchen. Der koſtſpielige Hof mit ſeiner Schaar von Hofmarſchällen
und Kammerherren blieb erhalten, weil man den Adel nicht aus dem
Lande treiben und den Bürgern der Hauptſtadt den Verdienſt nicht ver-
kümmern wollte. Jahr für Jahr fuhr der Adel, die Damen alle mit dem
Abzeichen ihres Standes, der Straußenfeder geſchmückt, an den Galatagen
hinaus nach Herrenhauſen um in feierlicher Cour dem abweſenden Könige
zu huldigen. Aber die lebendige Kraft des monarchiſchen Willens ging
verloren. Georg III. betrat ſein Stammland niemals mehr, und bald
glaubte man im Volke allgemein, es ſei verboten Beſchwerden an den un-
ſichtbaren Landesherrn zu richten. Von dem Geheimen Rathe, der mit faſt
unbeſchränkter Vollmacht die Regierung führte, wurden die in der älteren
[540]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
welfiſchen Geſchichte hoch angeſehenen bürgerlichen Beamten allmählich aus-
geſchloſſen; die oberſten Staatswürden blieben den verſchwiegerten Adels-
geſchlechtern der Platen, Grote, Münchhauſen, Bremer vorbehalten. Die
Arbeitslaſt des Regiments dagegen trugen bürgerliche Cabinets- und Mini-
ſterialräthe, meiſt aus den „ſchönen Familien“ der Brandes, Patje, Reh-
berg, Hoppenſtedt, faſt durchweg hochgebildete, geſchäftskundige Männer,
deren Ueberlegenheit der welfiſche Edelmann ſelber ſtillſchweigend aner-
kannte indem er von einem Vetter oder Oheim harmlos zu ſagen pflegte:
„er war Miniſter unter dem Cabinetsrath Rehberg.“ Die ſtreng conſer-
vative Geſinnung, welche dies bürgerliche „Secretariat“ mit dem Adel
theilte, konnte doch nicht verhindern, daß ſich allmählich im Bürgerthum
ein ſtarker, berechtigter Groll gegen die bevorzugten Edelleute anſammelte.
Die Regierung war mild, da ſie aus dem Vollen wirthſchaftete und der
fiscaliſchen Strenge der preußiſchen Verwaltung nicht bedurfte; ſie bewies
durch die großartige Stiftung der Georgia Auguſta, wie hoch ſie die idealen
Güter des Lebens ſchätzte. Doch der heilige Grundſatz, keine Ombrage zu
erregen, ward auch im Innern ängſtlich gewahrt. Allen Potentaten durfte
Schlözer in ſeinen Staatsanzeigen die Wahrheit ſagen; erſt als er ſich
unterſtand Mißbräuche im kurhannoverſchen Poſtweſen zu rügen, ward
ihm die Cenſurfreiheit genommen. Hardenberg’s Jugendfreund, Freiherr
v. Berlepſch, derſelbe der ſpäterhin gegen den Sultanismus des heſſiſchen
Kurfürſten auftrat, wurde gar abgeſetzt und willkürlich des Landes ver-
wieſen, weil er im Landtage die Schwächen des Adelsregiments ſchonungs-
los aufgedeckt und die Neutralität der calenbergiſchen Nation während der
Revolutionskriege gefordert hatte.
Selbſt unter dieſer wohlwollenden Regierung verleugnete der alt-
ſtändiſche Staat nicht die Ungerechtigkeit, die ihn überall in Deutſchland
mit dem Haſſe des Volks belud. Die allerdings mäßigen Staatslaſten
lagen faſt ausſchließlich auf den Schultern der Kleinbürger und der Bauern.
Um keinen Preis wollte der Calenbergiſche Adel die einzige ſchwere Ab-
gabe, die er eine Zeit lang getragen hatte, den Zehnt- und Scheffelſchatz
wiederherſtellen, denn ſonſt wäre die Landesſchuld abgetragen worden und
damit die einträgliche Schuldenverwaltung der Landſtände hinweggefallen.
In der Finanzverwaltung der Landtagsausſchüſſe blühten alle Sünden
des altſtändiſchen Regiments: Nepotismus, Heimlichkeit, Sinecuren-Un-
weſen. Siebzig Jahre lang blieb es den Ständen Calenbergs verborgen,
daß ihr Ausſchuß dem erſten Georg 300,000 Thlr. gezahlt hatte um ihm
zur engliſchen Krone zu verhelfen. In der deutſchen Politik war die
Eiferſucht auf Preußen der leitende Gedanke des hannoverſchen Geheimen
Raths, obgleich die Natur der Dinge zuweilen ein Bündniß zwiſchen den
Nachbarſtaaten erzwang. Der welfiſche Stolz vermochte gar nicht einzu-
ſehen, warum dies gründlich verachtete arme Nachbarland in den deutſchen
Händeln ſo viel mehr galt als das vornehme England-Hannover. Auch
[541]Wiederherſtellung Hannovers.
empfand man lebhaft den ſcharfen Gegenſatz der Staatsgedanken: die alt-
ſtändiſche Behäbigkeit verwünſchte das gemeine Recht der modernen Mon-
archie als „militäriſchen Despotismus“. Als der junge Hardenberg im
Calenberger Landtage mit den Vorurtheilen ſeiner Standesgenoſſen ver-
geblich gekämpft und dann im Staatsdienſte die Gebrechen dieſes Gemein-
weſens näher kennen gelernt hatte, ſprach er dem Könige Georg III. frei-
müthig aus, eine Reform ſei hier nur möglich durch das perſönliche Ein-
greifen des anweſenden Monarchen.
Der Rath ward mißachtet, und als Hannover bald darauf — wieder
um Englands willen — von Bonaparte’s Truppen angegriffen wurde,
da war das Adelsregiment abermals nur darauf bedacht Ombrage zu ver-
meiden und überlieferte das tapfere Land ohne Schwertſtreich dem Feinde.
Aber in der glorreichen Deutſchen Legion lebten Hannovers Heer und
Staat fort, denn kein Staat iſt vernichtet ſo lange er ſich noch ſchlägt;
und mit beſſerem Rechte als der Kurfürſt von Heſſen konnten die Welfen
nach ihrer Wiederherſtellung behaupten, daß die Fremdherrſchaft hier nur
ein rechtswidriger Zwiſchenzuſtand geweſen ſei. Die Befreiung des Landes
erfolgte allein durch die Heere der Verbündeten; dagegen hielt ſich Han-
nover ſehr rühmlich in dem Feldzuge von 1815, und mit ſtolzer Zuver-
ſicht blickten die Althannoveraner in die Zukunft ihres neuen Königreichs.
Nüchterne Beobachter konnten freilich nicht verkennen, daß ſich der ver-
größerte Welfenſtaat, gleich dem anderen Staatsgebilde der engliſchen
Diplomatie, dem Königreich der Vereinigten Niederlande, auf der Land-
karte weit kräftiger ausnahm als in der Wirklichkeit. Die Hoffnung des
Londoner Hofes, in dieſen beiden Tochterſtaaten den engliſchen Intereſſen
ein weites Machtgebiet auf dem Feſtlande zu ſichern, erwies ſich bald als
ein Irrthum, da Holland ſelbſtgenügſam ſeines eigenen Weges ging. Das
Königreich Hannover war, trotz der langen Grenzlinie gegen Holland, ein
deutſcher Kleinſtaat wie andere auch, und trotz ſeiner 700 Geviertmeilen
volkswirthſchaftlich ungleich ſchwächer als das kleine Königreich Sachſen,
da der weite Raum nur von 1,4 Mill. Menſchen bewohnt wurde, zwei
Fünftel des Bodens als Heide, Moor und Gemeinweide unbebaut lagen.
Die altwelfiſchen Gebiete empfingen durch Hildesheim und Goslar
die längſt erſehnte Abrundung, obwohl das Göttinger Land noch immer
durch einen braunſchweigiſchen Streifen davon geſchieden blieb. Aber neben
dieſer leidlich geſchloſſenen Maſſe lag völlig abgetrennt die neu erworbene
Weſthälfte des Königreichs, das frieſiſch-weſtphäliſche Land an der Ems
und Haſe, das durch Verkehr und Geſchichte auf das preußiſche Weſt-
phalen angewieſen, mit dem Welfenlande nur auf der Landkarte durch
den ſchmalen Sumpfſtrich am Dümmerſee ſcheinbar verbunden war. Keiner
der neuen Landestheile trat gern unter das welfiſche Scepter. In Hil-
desheim ſtand die kurze Zeit des preußiſchen Regiments, das ſo kräftig
und maßvoll mit der Erbſchaft des Krummſtabs aufgeräumt hatte, bei
[542]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
der lutheriſchen Mehrheit der Bürgerſchaft noch in gutem Andenken. Die
treue Ghibellinenſtadt Goslar war von jeher, wie ihr Wappenſpruch ſagte,
ſonder Wahn dem heiligen Reiche zugethan und den Welfen verfeindet.
Auch in Osnabrück, das hundertundfünfzig Jahre lang abwechſelnd von
katholiſchen Biſchöfen und von welfiſchen Prinzen regiert worden war,
hatte ſich Kurhannover wenig Freunde erworben; die ſtolze, ihrer uralten
Geſchichte frohe Commune fühlte ſich als ein Staat im Staate, noch in den
fünfziger Jahren wurden „die hannöverſchen Kinder“ der Offiziere und
Beamten von den eingebornen Weſtphälingern in den Schulen wie Ein-
dringlinge angeſehen. Nun gar die tapfern Preußen in Oſtfriesland
wollten, zum Erſtaunen der welfiſchen Beamten, ſchlechterdings nicht be-
greifen, daß die Vereinigung mit Hannover für ſie ein Segen und ſelbſt eine
Standeserhöhung ſein ſollte; ſie ſtemmten ſich mit frieſiſcher Hartnäckig-
keit gegen die neue Regierung und ſetzten durch, daß ihnen mit allen
ihren alten Landesbräuchen auch das Preußiſche Landrecht erhalten blieb.
Ein Glück nur, daß der lutheriſche Welfenſtaat von ſeinen neuen katho-
liſchen Unterthanen keine kirchliche Feindſeligkeit zu befürchten hatte. Die
Katholiken in Osnabrück und Hildesheim waren gläubig, aber durch die
proteſtantiſche Nachbarſchaft an Duldſamkeit gewöhnt und hatten ſogar
nach dem Vorbilde der Lutheraner den deutſchen Gemeindegeſang in ihren
Cultus aufgenommen. Nur das blutarme Volk im oberen Emslande, die
vielverſpotteten Muffrikaner, die von mühſam gedämpften Sanddünen oder
aus verbranntem Moorboden ihre kärglichen Ernten gewannen, und die
nicht minder armen Kleinbauern im Eichsfelde ſtanden ganz unter der
Leitung des Clerus, der ſich aber auch hier noch behutſam zurückhielt. —
Wie künſtlich dieſer Staat auch zuſammengeſetzt war, eine gerechte
monarchiſche Gewalt, die ſich der belaſteten kleinen Leute wohlwollend an-
nahm, konnte der centrifugalen Kräfte wohl Herr werden. Dies forderte
E. M. Arndt in einem ſcharfen Aufſatze ſeines „Wächters“ (1815). Er
kannte die Sünden der ſatten altſtändiſchen Behaglichkeit von ſeiner ſchwe-
diſch-pommerſchen Heimath her und rief den Hannoveranern zu: dann erſt
ſollten ſie ſich Halb-Engländer nennen, wenn ſie nach engliſcher Weiſe
dem Verdienſte ſein Recht gewährten und auch den Bauernſohn zu den
Staatswürden aufſteigen ließen. „Die Welt iſt keine Maſtanſtalt, ſo
ſchloß er derb und ehrlich, und die Menſchen ſind kein Vieh, das in die Maſt
getrieben und fett gemacht werden ſoll.“ Solche Rathſchläge würde der
geiſteskranke König Georg III. ſelbſt in ſeinen geſunden Tagen kaum ver-
ſtanden haben. Der hatte einſt den letzten vergeblichen Verſuch gewagt, in
England ein perſönliches Regiment zu führen, und dann durch den Eigen-
ſinn ſeines beſchränkten Kopfes den Abfall der amerikaniſchen Kolonien
befördert, die Emancipation der Katholiken und die anderen Reformpläne
des jüngeren Pitt hintertrieben. Von der Heimath ſeiner Väter wußte
er ſehr wenig; er rühmte ſich des Namens eines Briten, wie er ſchon in
[543]Georg III. und IV.
ſeiner erſten Thronrede erklärte, und ſprach immer nur mangelhaft deutſch.
Nach altem Hausbrauch ließ er dem Stammlande, inſonderheit dem Adel
und den Beamten, reiche Geſchenke zufließen; doch bei jedem Streite der
Intereſſen entſchied er für England. Niemals wollte er geſtatten, daß Kur-
hannover das britiſche Parlament an die Zahlung der rückſtändigen Sub-
ſidien mahnte. Da er indeſſen ſeine hannoverſchen Geheimen Räthe in
ihrem Stillleben wenig ſtörte, ſo erfuhr er an unzähligen Beweiſen der
Treue, wie viel Liebe das deutſche Gemüth zu verſchwenden vermag. Seine
Deutſchen verehrten ihn zärtlich, weil er der König hieß und weil die klein-
bürgerliche Ehrbarkeit ſeines häuslichen Lebens ihre Herzen gewann. Als
er ſtarb, fiel in England manches ſcharfe Wort über die erſchreckende Nich-
tigkeit dieſes langen Lebens. Lord Byron ſchrieb ſeine von Geiſt und Bos-
heit überſchäumende Satire „die Viſion des Gerichts“ und ließ den hei-
ligen Petrus an der Himmelsthüre ſprechen:
In dem deutſchen Welfenlande herrſchte tiefe Trauer.
Dieſelbe urtheilsloſe Verehrung ward auch dem Prinzregenten und
Könige Georg IV. entgegengebracht, obgleich der Sohn ſich um ſein deut-
ſches Land ſogar noch weniger bekümmerte als der Vater. Wie weit zu-
rück ſchien ſchon die Zeit zu liegen, da dieſer Prinz einſt mit dem Beau
Brummell im Erfinden neuer Pommaden, Kravatten, Schuhſchnallen ge-
wetteifert und um den Namen des erſten Gentleman von Europa gerungen
hatte. Jetzt war der Abgott der Mode nur noch ein früh gealterter
Wüſtling und Trunkenbold, einer der leerſten Menſchen, welche jemals
einen Thron geſchändet haben. Selbſt die einzige unbeſtrittene Tugend
ſeines Hauſes, die Tapferkeit, hatte der Weichling nie bewährt, und nur
wenn er über ſeine eigene Gebrechlichkeit frivole Witze riß, zeigte ſich auf
Augenblicke noch ein matter Abglanz der entſchwundenen Lebenskraft. Als
Prinz von Wales hatte er nach der Gewohnheit der Thronfolger den Oppo-
ſitionsführer geſpielt, mit Fox und Sheridan, dem tollen Sherry, ſich in
Freiheitsreden überboten. Seit er die Regentſchaft führte, war er längſt
ein ſteifer Tory geworden, ein warmer Bewunderer Metternich’s; wo ihm
aber ein ſtarker Wille entgegentrat, wagte er niemals Farbe zu bekennen,
ſo daß er, in die Zügel knirſchend, ſelbſt den verhaßten Canning ertragen
mußte. Für ſein Stammland meinte er genug gethan zu haben, als er
ihm die Königskrone verſchafft und den Guelphen-Orden geſtiftet hatte,
eine Auszeichnung, die in England maſſenhaft vertheilt, dort ebenſo all-
gemein verſpottet wie in Hannover begehrt wurde.
Die langweiligen Regierungsgeſchäfte überließ er dem diplomatiſchen
Schöpfer des neuen Königreichs, dem Grafen Münſter, der fortan als
deutſcher Cabinetsminiſter in London lebte. Auf Münſter’s Rath wurde
die Würde des Generalgouverneurs nicht dem halsſtarrigen Herzog von
[544]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Cumberland verliehen, der das Land im Herbſt 1813 für den König in
Beſitz genommen hatte, ſondern dem gefügigen jüngeren Bruder, dem Her-
zog von Cambridge. Dieſer mäßig begabte, gutmüthige Prinz bezauberte
alle Herzen durch ſeine Leutſeligkeit, er mußte aber ſpäterhin ſelber ge-
ſtehen, daß ihm die Zuſtände und Stimmungen in Hannover fünfzehn
Jahre hindurch ganz unbekannt geblieben ſeien.
Graf Münſter blieb ſein Leben lang von der Unübertrefflichkeit der
althannoverſchen Inſtitutionen tief überzeugt. Ganz mit Unrecht war er
zur Zeit des Wiener Congreſſes in den Ruf liberaler Geſinnung gekommen,
weil er das Repräſentativſyſtem, das in Deutſchland zu allen Zeiten
Rechtens geweſen, gegen die ſultaniſchen Gelüſte der Rheinbundsfürſten ver-
theidigt hatte. Ebenſo grundlos ward er nachher des Geſinnungswechſels be-
ſchuldigt, als er ſich in Karlsbad für die deutſchrechtlichen Landſtände und
gegen die ausländiſchen Repräſentativverfaſſungen erklärte. In Wahrheit
hatte er auch in Wien unter dem deutſchen Repräſentativſyſtem nur ſeine
welfiſchen Landtage verſtanden. Da in Hannover wie in England der
Adel regierte, ſo fand Münſter keinen weſentlichen Unterſchied zwiſchen
den Verfaſſungen dieſer beiden Welfenlande; ſeine dilettantenhafte poli-
tiſche Bildung reichte nicht weit genug um zu erkennen, daß drüben das
gemeine Recht herrſchte, hüben eine ſtarre ſtändiſche Gliederung. Nach dem
Veroneſer Congreſſe ſchrieb er dem Bundesgeſandten Hammerſtein: der
König von Hannover werde ſich, was auch das engliſche Cabinet beſchließen
möge, niemals von den verbündeten Mächten trennen; die vernünftige
Freiheit in Hannover entſpreche durchaus den Grundſätzen der großen
Allianz.*) Einige Jahre darauf ward der welfiſche Staatsmann noch ein-
mal um ſeines Freiſinns willen hoch geprieſen, weil er in ſeinen Depeſchen
an den Geſandten in Wien (1826) die maßloſe Reactionspolitik Metter-
nich’s ſcharf tadelte. „Muß man denn, ſo fragte er, um das monar-
chiſche Syſtem aufrechtzuhalten, ein Abſolutiſt werden, ein Vertheidiger
aller Mißbräuche und der erbitterte Feind alles deſſen, was einer Bürg-
ſchaft gegen die Willkürgewalt ähnlich ſieht?“ Metternich wehrte ſich
in einer hochmüthigen Erwiderung; Hatzfeldt ſchrieb wüthend, etwas ſo
Grobes und Revolutionäres habe er noch nie geleſen, und auch Bern-
ſtorff äußerte ſein Befremden über den unbegreiflichen Angriff.**) Indeß
die flüchtige Aufwallung blieb ohne Folgen; ſie entſprang nicht einem
tiefen Gegenſatze der Geſinnung, ſondern perſönlicher Gereiztheit. Als
Münſter jene Depeſchen ſchrieb, war er mit Herzog Karl von Braun-
ſchweig, dem Schützling Metternich’s, in Händel verwickelt und zudem
über die türkenfreundliche Haltung der Hofburg erbittert, da er der Ueber-
legenheit Canning’s nicht ganz zu widerſtehen vermochte. Im Grunde des
[545]Münſter. Rehberg.
Herzens hielt er die Anſchauungen der Reſtaurationspolitik immer feſt,
und nach dieſen Grundſätzen führte er auch die Regierung von Hannover.
Er wies den angebotenen Fürſtentitel zurück und bezog nur einen nach
althannoverſchen Begriffen ſehr beſcheidenen Gehalt; um ſo eiferſüchtiger
wachte er darüber, daß in dieſem Staate, den er mit Recht als das Werk
ſeiner kunſtfertigen Hände betrachtete, kein anderer Wille als der ſeine
gelten dürfe. Leider kannte er ſeine Heimath kaum; er hatte nur drei
Jugendjahre in der Verwaltung, ſein ganzes Mannesleben als Diplomat
im Auslande zugebracht und kam auch jetzt nur zu kurzen Beſuchen nach
ſeinem ſchönen Dotationsgute, dem Kloſter Derneburg hinüber.
So fiel denn die Arbeit der Wiederherſtellung des Staates unter
Münſter’s Oberleitung zunächſt dem Cabinetsrath A. W. Rehberg zu,
der Zierde des althannoverſchen bürgerlichen Beamtenthums. Rehberg
vereinigte mit gründlicher Geſchäftskenntniß eine reiche, philoſophiſch durch-
gebildete Gelehrſamkeit und hatte ſich durch zahlreiche politiſche Schriften
großen Ruf, aber wenig Leſer erworben; die kühle Verſtändigkeit ſeines
wohlgefeilten, ſentenzenreichen Stiles feſſelte nur die Kenner. Er verab-
ſcheute die Revolution ſowie alle abſtrakten politiſchen Theorien; feurige
Naturen wie Fichte und Arndt tadelte er von oben herunter, mit der
Selbſtgefälligkeit des praktiſchen Geſchäftsmannes, da ihre Leidenſchaft
Ombrage erregte. Sein politiſches Ideal, den altſtändiſchen Staat, leitete
er ab aus „dem republikaniſchen deutſchen Geiſte“, der keinen ärgeren
Feind habe als die Monarchie Friedrich’s des Großen; darum ſei Preußen
überall in Deutſchland verabſcheut, Oeſterreich aber, das ſeine Kronländer
in der alten Weiſe ruhig gewähren laſſe, allgemein beliebt. Und wie viel
geſünder als das zuſammengewürfelte preußiſche Beamtenthum erſcheine
die durch Verwandtſchaft und Nachbarſchaft verbundene Dienſt-Ariſtokratie
der ſtändiſchen Länder! Den Beweis für die Verwerflichkeit der preußi-
ſchen Inſtitutionen fand er einfach in der Kataſtrophe von 1806, und
niemals verfiel der geſchichtskundige Mann auf die naheliegende Frage:
warum wohl der hannoverſche Muſterſtaat ebenfalls, und weit unrühm-
licher als Preußen, den franzöſiſchen Waffen erlegen war? Nachdem er
ſich während der Fremdherrſchaft in ein ſtilles Nebenamt zurückgezogen,
ging er jetzt mit freudigem Eifer an die Wiederaufrichtung der alten
Ordnung, ſoweit ſie ſich mit den verwandelten Verhältniſſen nur noch
irgend vertrug. Er blickte mit Stolz auf ſeine kernhaften niederſächſiſchen
Bauern und zeigte für die Lebensbedingungen communaler Selbſtverwal-
tung ein feines Verſtändniß, das ihm Niebuhr’s Beifall gewann. Auch
verwarf er nicht unbedingt die demokratiſchen Forderungen der neuen Ge-
ſellſchaft; doch alle Neuerungen ſollten ſich nur Schritt für Schritt, aus
dem Beſtehenden heraus entwickeln. Die Zeit, da es in Deutſchland
einen allgemeinen Stand von Staatsbürgern geben würde, ſchien ihm
noch in unabſehbarer Ferne zu liegen.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 35
[546]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Das altſtändiſche Weſen war aber in Niederſachſen dermaßen ins
Kraut geſchoſſen, daß ſelbſt Münſter und dieſer ſein conſervativer Rath-
geber ſich gezwungen ſahen behutſam in der Wildniß zu roden. Am
12. Auguſt 1814 wurden durch königliche Verordnung „die ſämmtlichen
Stände aller zum Kurfürſtenthum gehörigen Staaten“ berufen, Ver-
treter zu einer allgemeinen Ständeverſammlung zu ſenden. Es war ein
nothwendiger Entſchluß — denn wie hätte der Prinzregent ſich mit den
Trümmern von etwa vierzehn Landtagen über ihre Vereinigung verſtän-
digen ſollen? — aber ein gefährlicher Rechtsbruch. Indem man die alten
Landſtände anerkannte und doch ihre Zuſtimmung nicht einholte, gab man
ihnen ſelber einen Vorwand die Rechtmäßigkeit der neuen Ordnung an-
zuzweifeln. Der Landtag beſtand aus 8 Prälaten, 48 Rittern, 38 Ver-
tretern der Städte. Da die Oſtfrieſen ſich das alte Recht ihres „dritten
Standes“ nicht nehmen ließen, ſo wurden noch fünf Vertreter der oſt-
frieſiſchen Bauernſchaft und drei freie Bauern aus anderen Landſchaften
berufen. Dieſe acht Stimmen ſollten einem Bauernſtande genügen, der
von dem Acker- und Forſtlande des Königreichs etwa drei Viertel beſaß;
denn nach der altwelfiſchen, auch von Rehberg getheilten Rechtsanſicht
wurde der bäuerliche Hinterſaſſe durch ſeinen Gutsherrn vertreten, und
erſt vor wenigen Jahrzehnten hatte das Reichskammergericht dem klagen-
den Hildesheimer Landvolke die Belehrung ertheilt, ein Bauernſtand ſei in
der deutſchen Verfaſſung unerfindlich. —
Am 15. December wurde der Landtag eröffnet, mit all der Ruhm-
redigkeit, welche die hannoverſche Krone gleich der bairiſchen auszeichnete.
Die Thronrede hob hervor, daß der Prinzregent durch die Einberufung
ſeiner Stände allen deutſchen Fürſten ein Beiſpiel gebe. Der Präſident
Graf Schulenburg erwiderte Namens der Stände, durch England ſeien die
großen Mächte bewogen worden Deutſchland die Freiheit wiederzugeben,
und jetzt werde „von dem britiſchen Throne das heilige Feuer ausgehen,
welches ein Volk entzündet der Freiheit werth zu ſein.“ Dann verſicherte
der Herzog von Cambridge nochmals: dieſer Landtag ſei berufen, dem Prinz-
regenten „das zu ſein was in dem mit uns verſchwiſterten Großbritannien
das Parlament iſt: ein hoher Rath der Nation.“ Vollſtändig wurde der
Reiz dieſer drei Prachtreden nur von den Eingeweihten genoſſen, die ein-
ander zuflüſterten, daß alle drei aus Rehberg’s fleißiger Feder entſprungen
ſeien. Auch im Landtage bemühte man ſich nach Kräften, engliſche Formen
nachzuahmen; man ſprach von dem Hauſe, von dem geehrten Redner gegen-
über, von der Miniſterpartei und der Oppoſition. Der Inhalt der Ver-
handlungen unterſchied ſich freilich nur wenig von dem gewohnten Still-
leben altſtändiſcher Verſammlungen; ſogar die Oeffentlichkeit der Bera-
thung, welche Rehberg ſelbſt empfahl, wollte der Landtag nicht zugeben.
Indeß kam doch eine wichtige Reform zu Stande: die geſammten
Schulden und Steuern der Landſchaften wurden in eine Maſſe geworfen
[547]Der Allgemeine Landtag.
und damit erſt die Staatseinheit Hannovers feſt begründet. Aber bald
darauf (1818) ſtellte der Prinzregent die ſieben Provinziallandtage, für
Calenberg-Grubenhagen, für Lüneburg-Lauenburg, Hoya-Diepholz, Bremen-
Verden, Osnabrück, Hildesheim, Oſtfriesland, mit geringen Veränderungen
ihrer alten Verfaſſung wieder her. Hier war der Adel noch ſtärker be-
vorzugt als in der allgemeinen Ständeverſammlung; in der Osnabrücker
Rittercurie wurde noch die Adelsprobe verlangt, in Lüneburg und Bremen
ſtimmten die Stände nicht nach Curien getrennt, ſo daß die Ueberzahl
der ritterſchaftlichen Virilſtimmen ſtets den Ausſchlag gab. Begreiflich
alſo, daß die ſtolze Ritterſchaft ihre Thätigkeit mit Vorliebe den Provin-
zialſtänden zuwendete. Sie blieben der Heerd des feudalen Particularis-
mus; ihr ſtilles Widerſtreben gegen den Allgemeinen Landtag ward um
ſo gefährlicher, da ſie zwar nur die Verwaltung der Brandkaſſen und
ähnliche geringfügige Geſchäfte zu beſorgen hatten, aber ihr Verhältniß
zu den Allgemeinen Ständen nirgends klar begrenzt war. Kein Geſetz
beſtimmte unzweideutig, ob der Allgemeine Landtag nur ein Ausſchuß der
Provinzialſtände oder ihnen übergeordnet ſei. Ein allgemeiner und ſieben
Provinziallandtage in einem Staate, der ſelber nicht größer war als eine
preußiſche Provinz; dazu noch die Sonderrechte des Landes Hadeln und
die Verſammlungen der Vollmachten der freien Wurſtfrieſen in Dorum —
wahrlich, das verfitzte Durcheinander dieſer Verhältniſſe zeigte deutlich, was
aus Preußen geworden wäre, wenn dort die feudale Partei die Wieder-
herſtellung der alten Landtage durchgeſetzt hätte, und unzweifelhaft hat
das abſchreckende Beiſpiel ſeiner welfiſchen Heimath den Staatskanzler in
ſeinem Widerſtande gegen die altſtändiſche Partei beſtärkt.
Die Reform des Steuerweſens erzielte nur einen halben Erfolg, da
der altſtändiſche Dualismus der Finanzverwaltung unverändert blieb.
Neben der neuen ſtändiſchen Generalſteuerkaſſe, deren Schatzräthe theils
von der Krone, theils von den Provinzialſtänden und dem Allgemeinen
Landtage ernannt wurden, ſtand ſelbſtändig die königliche Domänenkaſſe,
in tiefem Geheimniß von Kronbeamten verwaltet. Das reiche Domanium
umfaßte mehr als ein Fünftel des geſammten bebauten Bodens; ſein Er-
trag war nach Verhältniß doppelt ſo hoch als in Preußen, doch reichte er
ſelbſt hier längſt nicht mehr aus um die ordentlichen Staatsausgaben
zu decken, wie es die altſtändiſche Regel verlangte. Daher denn ewiger
Streit zwiſchen den beiden Kaſſen und im Volke wie im Landtage ein
hartnäckiges Mißtrauen gegen die geheime königliche Kaſſe, deren Einkünfte
man allgemein überſchätzte. Nur weil der Landtag den Staatshaushalt
nicht zu überſehen vermochte, wurde im Jahre 1822 eine Staatsanleihe
nöthig.
Mit der Kaſſentrennung wurden auch alle die anderen Inſtitutionen
der guten alten Zeit, welche das Königreich Weſtphalen hinausgefegt hatte,
wiederhergeſtellt: die Belaſtung des Bauernſtandes mit Zehnten und Frohn-
35*
[548]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
den, die Gewerbsprivilegien der Städte, die Patrimonialgerichte, das heim-
liche Gerichtsverfahren mitſammt der Folter, die man allerdings nicht
mehr anzuwenden wagte, die Vermiſchung von Juſtiz und Verwaltung,
die geſtrenge Cenſurordnung vom Jahre 1705. Sogar in Hildesheim
mußte die Ablöſung der bäuerlichen Laſten ſofort eingeſtellt werden, ob-
gleich dies Land von der Krone Preußen durch förmlichen Vertrag an das
Königreich Weſtphalen gelangt war und die fremdländiſche Geſetzgebung
hier mithin zu Recht beſtand. Gegen Perſonen und wohlerworbene Rechte
verfuhr die Reſtauration nach Landesbrauch rückſichtsvoll. Grobes Un-
recht ward wohl nur einmal geübt: gegen den edlen Franzoſen Charles
von Villers, der in den napoleoniſchen Tagen muthig für die Rechte der
deutſchen Nation eingetreten war und nun, zur Entrüſtung der geſammten
gelehrten Welt, ſeine Göttinger Aemter aufgeben mußte. Die regierenden
Klaſſen richteten ſich wieder bequemlich ein im deutſchen China, wie der
Freiherr vom Stein das Welfenland zu nennen pflegte.
Der Schwerpunkt der Verwaltung lag in den 155 Aemtern, den
warmen Neſtern der kleinen Bureaukratie; ein halbſtändiſches Landraths-
amt, wie in Altpreußen, war hier unmöglich, da der anſpruchsvolle wel-
fiſche Adel nur etwa 7 Procent des Bodens beſaß. In dieſen winzigen
Bezirken ſorgte der Oberamtmann (war er von Adel, ſo hieß er Ober-
hauptmann) patriarchaliſch für Rechtspflege und Verwaltung; oft war er
zugleich Pächter der königlichen Domänen, ſo daß ſich ſein Amtseinkommen
mitſammt den zahlreichen wunderſamen Naturallieferungen auf 10,000 Thlr.
und mehr belaufen konnte. Von der Hauptſtadt aus ſtörte man die Amt-
leute ſelten; ein landläufiges Sprichwort ſagte, es ſei zwar ſehr ſchwer
in ein hannoverſches Amt hineinzugelangen aber unmöglich daraus ent-
fernt zu werden. Gleichwohl war Ueberfluß an trefflichen Beamten; ſo
geſcheidte Männer wie der Landdroſt v. Bar, der Schüler Juſtus Möſer’s
in Osnabrück, oder F. E. v. Bülow und Jacobi, die Förderer des land-
wirtſchaftlichen Vereins in Celle, bewährten auch ohne Aufſicht die alte
Geſchäftstüchtigkeit der Niederſachſen. In Celle, dem hannoverſchen Wetzlar,
blühte eine ſchwer gelehrte, aber abſtrakte, dem politiſchen Leben entfremdete
Rechtskunde; niemals trat dies welfiſche Oberappellationsgericht, wie das
kurheſſiſche, den Uebergriffen der Polizeigewalt entgegen.
Auch die Georgia Auguſta hielt ſich den politiſchen Kämpfen fern.
Sie lebte ihrem weltbürgerlichen wiſſenſchaftlichen Ruhme; für die prak-
tiſchen Bedürfniſſe des Landes leiſtete ſie ſo wenig, daß man faſt alle
höheren Schulſtellen mit auswärtigen Kräften beſetzen mußte. Obwohl
ſie das Recht der Berufungen nicht beſaß, befand ſie ſich ſehr glücklich
unter der väterlichen Obhut des vornehmen, rückſichtsvollen Beamten-
thums; denn der Todfeind der Gelehrtenrepubliken, die bureaukratiſche
Schablone war hierzulande unbekannt. In den erſten hundertundzehn
Jahren ihres Beſtandes leiteten — mit der kurzen Unterbrechung der weſt-
[549]Die Georgia Auguſta.
phäliſchen Zwiſchenherrſchaft — nach einander nur fünf Männer die Ge-
ſchäfte der Univerſität: zuerſt ihr Stifter Münchhauſen, dann Brandes
Vater und Sohn und die beiden Brüder Hoppenſtedt, alle fünf ausge-
zeichnet durch hohe Bildung, Menſchenkenntniß, Feinheit. So vererbte
ſich eine akademiſche Familientradition von Geſchlecht zu Geſchlecht; mit
einem Zartgefühle, das ſich in einem großen Staate von ſelbſt verboten
hätte, wurde die Empfindlichkeit der Gelehrten geſchont. Als der große
Blumenbach auf ſeine alten Tage die läſtige Gewohnheit annahm, alle
Amtsſchreiben, die er wegen der Naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen er-
hielt, ungeleſen in den Papierkorb zu werfen, da wußte Hoppenſtedt jede
Ombrage zu vermeiden; er ließ fortan die Miniſterialſchreiben in zwei
Abſchriften nach Göttingen ſenden, die eine verſchwand in Blumenbach’s
Papierkorb, die andere gelangte an den zweiten Director der Sammlungen.
War ein Lehrſtuhl erledigt, ſo wurden zunächſt bei Heyne, Heeren oder
anderen vertrauten Profeſſoren Erkundigungen eingezogen, dann alle ge-
lehrten Stachelſchweine, die etwa Unfrieden erregen konnten, ſorgfältig aus
der Liſte entfernt und ſchließlich, ohne Rückſicht auf die Koſten, faſt immer
ein tüchtiger und friedfertiger Mann berufen. Philoſophie und ſchöne
Literatur wollten in der kühlen Göttinger Luft freilich nicht gedeihen, aber
in jeder Facultät wirkten ausgezeichnete Fachmänner, in der juriſtiſchen
neben dem alten Hugo der beliebteſte aller Rechtslehrer, K. F. Eichhorn,
und mit Recht durfte Gauß rühmen, für die Phraſe ſei hier nie ein Boden
geweſen. Niemals früher hatte die Georgia Auguſta ſich eines ſo zahl-
reichen Beſuchs erfreut; der ſprichwörtliche Stolz ihrer Hofräthe war um ſo
begreiflicher, da das Welfenland keine andere Stätte höherer Bildung beſaß.
Der Hauptſtadt fehlten alle die Kunſtwerke und Sammlungen, mit
denen die deutſchen Höfe ihre Reſidenzen zu ſchmücken pflegten; der Fremde
fand hier außer dem ſchönen alten Rathhauſe nichts Merkwürdiges zu
ſehen als etwa die Iſabellen des Marſtalls. Auch in den anderen Städten
war wenig Leben. Der gewaltige Verkehr, der ſich einſt in althanſiſcher
Zeit um die Ilmenaubrücke zu Lüneburg bewegt, hatte längſt andere Wege
eingeſchlagen; die feierliche Pracht der Kirchen und die kunſtvollen Holz-
ſchnitzereien an den Bürgerhäuſern Hildesheims erzählten auch nur von
längſt verſchwundener Größe. Das heitere fränkiſche Völkchen droben im
Harz dünkte ſich zwar, im Bewußtſein ſeiner bergmänniſchen Kunſtfertig-
keit, weit gewitzter als die ſchwerfälligen Niederſachſen der Ebene, aber der
wirthſchaftliche Unternehmungstrieb fehlte auch dort; die königliche „Herr-
ſchaft“ beſaß die Forſten wie die Gruben, ſie mußte in jeder Noth durch
Brotkorn und andere Hilfe ihren Bergknappen beiſpringen. Noch ſorg-
loſer als unter der väterlichen Berghauptmannſchaft zu Clausthal lebte
ſich’s in dem Paradieſe der deutſchen Kleinſtaaterei, dem Communionharze,
der einige Bergwerke und Ortſchaften mit etwa 700 Einwohnern umfaßte
und ein Jahr ums andere abwechſelnd von Hannover oder von Braun-
[550]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ſchweig regiert wurde. Da die beiden Landesherren — das Directorium
und das Non-Directorium — ſich niemals über einen Beſchluß zu einigen
vermochten, ſo war ſeit unvordenklicher Zeit kein Geſetz mehr erlaſſen
worden; das Volk lebte in einem beinahe ſtaatloſen Naturzuſtande, wie
Rouſſeau’s urſprüngliches Menſchengeſchlecht, und Kaiſer Karl’s V. Hoch-
nothpeinliche Halsgerichtsordnung, die hier noch galt, brauchte nur ſelten
angewendet zu werden.
Dieſen unreifen wirthſchaftlichen Zuſtänden entſprach die altväteriſche
Handelspolitik, die ſogleich nach dem Frieden überall die alten Binnen-
mauthen wieder aufrichtete und, nach der Gewohnheit wohlhabender Acker-
bauländer, durch niedrige Zölle die Verzehrung der beſitzenden Klaſſen zu
erleichtern ſuchte. Das Welfenland ſtand den engliſchen Waaren offen,
diente ihnen als wohlgelegene Schmuggelſtätte für den Verkehr mit dem
inneren Deutſchland. Die Leineninduſtrie des Osnabrücker Stifts ging
faſt zu Grunde durch den Wettbewerb der engliſchen Baumwollwaaren;
aber die Mehrzahl des Volks war zufrieden, der wohlgenährte Küſtenbe-
wohner betrachtete es als ſein natürliches Recht, billigeren Rothwein zu
trinken als der Binnenländer. Das preußiſche Zollſyſtem ward allgemein
als gehäſſige fiscaliſche Quälerei verwünſcht; nicht einmal den unbrauch-
baren alten Zwanzigguldenfuß wollte man mit dem preußiſchen Münz-
weſen vertauſchen. Die Regierung nannte ihr Land gern den deutſchen
Nordſeeſtaat; doch ſie erkannte nicht, daß für die deutſche Nordſeeküſte jetzt
erſt die Zeit des Erwachens gekommen war, während die Handelskräfte
der Oſtſee ſich ſchon vor Jahrhunderten entfaltet hatten. Mit ſeinen
beiden großen Emporien Hamburg und Bremen lebte Hannover von Alters-
her in Unfrieden; alsbald nach der Rückkehr der Welfenherrſchaft wurde
die Pfahlbrücke abgetragen, welche Davouſt über die Elbe hatte ſchlagen
laſſen. Die Häfen an der Ems wollten neben dieſen übermächtigen Neben-
buhlern nicht recht gedeihen; die Regierung that Einiges um ihnen ihren
Strom ſchiffbar zu erhalten, aber der unentbehrliche Kanal zwiſchen Elbe
und Weſer kam nicht zu Stande. Auch für die Eindeichung der Küſte
wurde ſelbſt nach der ſchrecklichen Sturmfluth von 1825 nur nothdürftig
geſorgt; niemals iſt unter welfiſcher Herrſchaft dem Meere ein ſo großes
Gebiet entriſſen worden wie der Preußiſche Polder, den die treuen Oſt-
frieſen als ein Vermächtniß ihres großen Königs bewunderten.
Hannover beſaß wie wenige andere deutſche Landſchaften das Zeug
zu einem tüchtigen Bauernſtande. Nur in Göttingen und auf dem Eichs-
felde war der Grundbeſitz übermäßig zerſplittert; faſt überall ſonſt beſtan-
den ſtattliche Bauernhöfe, deren Untheilbarkeit meiſt durch Geſetz, in Oſt-
friesland und den Bremer Marſchen durch eine unverbrüchliche Sitte
geſichert war. Wie der königliche Domänenpächter ſeine Fuhren nie anders
als durch Viergeſpanne beſorgen ließ, ſo lebte auch der Bauer breit und
behäbig, ſelbſt in der verrufenen Lüneburger Heide gewann er durch die
[551]Welfiſches Junkerthum.
großen Heerden ſeiner Heidſchnucken leidlichen Wohlſtand. Ueberall wo
die ſächſiſchen Roßköpfe auf dem Hausgiebel prangten verſammelten ſich
die Bauern noch wie vor tauſend Jahren unter der Linde auf dem Ti
zur Berathung; und faſt noch ſtolzer hielten ſich die Frieſen, denn auf
dem gefahrvollen Marſchboden gedeiht die Unfreiheit ſo wenig wie im Hoch-
gebirge. Aber die wirthſchaftliche Kraft dieſes ſelbſtbewußten, kernhaften
Volkes wurde gelähmt durch mannichfache Grundlaſten und ein oft ſehr
drückendes Meierrecht; Vorzügliches leiſtete die Landwirthſchaft nur in
der Pferdezucht, die durch das treffliche Celler Landgeſtüt gefördert wurde.
Mit Neid ſah der Bauer auf den adlichen Grundherrn, der zu den Staats-
ſteuern wenig, zu den Gemeindelaſten nichts beitrug und bei ſchlechter
Wirthſchaft ſich durch den Lehnsconcurs ſeinen Gläubigern entziehen konnte.
Von Kindesbeinen an genoß der Edelmann einer unbilligen Begünſti-
gung, welche ſelbſt den geſetzlichen Sinn der Niederſachſen endlich erbittern
mußte. Auf der Lüneburger Ritterakademie, der Pflanzſtätte des welfi-
ſchen Junkerhochmuths, wurden zwölf adliche Freiſchüler durch vierzehn
Lehrer ſchlecht, aber ſtandesgemäß unterrichtet. Trat der junge Edelmann
als Auditor in die Verwaltung, ſo erhielt er nach kurzer Zeit den Titel
Droſt und damit das Recht ſeine bürgerlichen Genoſſen zu überſpringen.
Dazu noch die adliche Bank am Celler Obergerichte und die adlichen
Stellen im Forſtdienſt. Sogar für die Hausdienerſchaft des Adels war
durch die berüchtigte Livree-Carriere geſorgt; die Stellen der Subaltern-
beamten wurden in der Regel nicht mit ausgedienten Soldaten beſetzt,
ſondern nach engliſcher Weiſe mit Leuten die von einem vornehmen Herrn
eine Empfehlung beibrachten. Auch das reiche Kloſtergut, das bei dem
friedlichen Verlaufe der Reformation hier faſt ungeſchmälert geblieben war,
half mit zur Verſorgung der regierenden Familien; in der lieblichen Wald-
einſamkeit von Marienſee und in anderen ſtillen Winkeln verſteckt lagen
achtzehn Damenklöſter, wo die Töchter des Adels, der Offiziere, der hohen
Beamten als Chanoineſſen eine Unterkunft fanden. Das Land war über-
ſäet mit Privilegien und Exemtionen; von Gunſt und Gnade zog Jeder-
mann ſeinen Vortheil, bis herab zu den Göttinger Buchhändlern, die ſich
im Gnadenwege die Poſtmoderation für ihre Packete errangen.
In der Armee hatte der Adel nie ſo viel gegolten wie im Beamten-
thum. Sie beſaß an den Offizieren der Deutſchen Legion kampferprobte
und welterfahrene Führer. Dieſe Helden von Torres Vedras, Salamanca,
Waterloo ſchworen auf Wellington, „den Herzog“, und hingen an den
engliſchen Bräuchen noch treuer ſogar als die Hofgeſellſchaft, die jeden
vornehmen Mann mit dem Lobe beehrte: er ſieht aus wie ein Engländer.
Der tapfere General Hartmann ward als Commandeur des Bath-Ordens
allgemein „Sir Julius“ genannt. Minder behaglich empfand der gemeine
Soldat die Anmuth britiſcher Sitte, wenn er mit der neunſchwänzigen
Katze „geſtripſt“ wurde. Indeß forderte das erſtarkende deutſche National-
[552]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
gefühl auch in dieſem halbengliſchen Heere ſein gutes Recht. Die Tage
des Reislaufens waren vorüber. Auf das Verlangen des Landtags ver-
ſprach die Krone, die hannoverſchen Truppen niemals mehr für fremde
Zwecke zu benutzen, und dieſe Zuſage konnte in ſo friedlicher Zeit leicht
gehalten werden. Canning beabſichtigte zwar einmal, hannoverſche Regi-
menter zur Beſetzung von Portugal zu verwenden, gab aber den Plan
bald wieder auf, als der franzöſiſche Geſandte Reinhard in Frankfurt
Lärm ſchlug und der Bundestag unruhig wurde.*) Ein Geſetz über die
Dienſtpflicht beſtand noch nicht; die Aushebung erfolgte, oft ſehr willkür-
lich, nach dem freien Ermeſſen der Behörden. Nur bei der Reiterei traten
die Bauerburſchen gern ein; denn die Cavalleriſten mit ihren ſchönen Roſſen
wurden auf den Bauerhöfen, wo möglich bei ihren Verwandten einquar-
tiert, und oft dienten Vater, Sohn und Enkel nach einander bei derſelben
Schwadron. Die Regimenter waren klein, damit nach Landesbrauch eine
große Zahl von Stabsoffizieren angeſtellt werden konnte.
Mit den preußiſchen Kampfgenoſſen von Belle Alliance verkehrte die
Armee wenig und ohne Herzlichkeit; denn nach der welfiſchen Ueberliefe-
rung hatten die Briten und Hannoveraner allein geſiegt, die Preußen
nur ein wenig nachgeholfen, waren doch die letzten Trümmer der Kaiſer-
garde durch die Osnabrücker Landwehr vernichtet worden. Die Waffen-
brüderſchaft aus dem ſiebenjährigen Kriege war vergeſſen; um ſo lebhafter
gedachte man der Einverleibung vom Jahre 1806, die ſelbſt durch die
Thaten des Befreiungskriegs nicht geſühnt ſchien. Wenn ein junger Mann
aus den alten Soldatengeſchlechtern zu der Erkenntniß kam, daß ſein Wel-
fenreich doch nur eine preußiſche Enclave ſei, und ſich nach einem größeren
Wirkungskreiſe ſehnte, dann ging er regelmäßig in öſterreichiſche Dienſte —
ganz wie ſeine Standesgenoſſen in Mecklenburg und Sachſen — und half
an ſeinem Theile mit, die alte, politiſch ſo folgenreiche Verbindung zwiſchen
der Hofburg und dem deutſchen Adel zu befeſtigen. Dagegen galt es für
ganz unerhört, daß General Hartmann ſeinen Sohn in das preußiſche Heer
ſchickte und der trotzige junge Goeben bald nachher deſſelben Weges ging.
Im Volke war der Groll gegen Preußen faſt noch ſtärker. Ueberall wo
altwelfiſches und preußiſches Gebiet an einander ſtießen, erklang zur Ver-
höhnung der preußiſchen Hungerleider das ſtolze Lied „Gut Wein und gut
Bier! Luſtige Hannoveraner ſind wir,“ und die Raufhändel in den Grenz-
dörfern gingen oft ſehr weit über das herkömmliche Maß deutſcher nach-
barlicher Zärtlichkeit hinaus. —
Die Verhandlungen der Landſtände verliefen ſtill; das Volk beachtete
ſie kaum, das Königreich beſaß noch keine einzige politiſche Zeitung. Insge-
heim jedoch war eine Adelspartei ſehr thätig, die von dem gewandten, ränke-
ſüchtigen Geh. Rath v. Schele geleitet, mit ihren 26 Stimmen allen Re-
[553]Zweite Verfaſſungsänderung.
formvorſchlägen im Landtage geſchloſſen widerſprach. Ihren Einflüſterun-
gen gelang es, den Grafen Münſter gegen Rehberg einzunehmen, der
ſchon als Bürgerlicher verdächtig, bald als Liberaler verläſtert wurde, weil
er doch einige behutſame Verbeſſerungen der beſtehenden Mißbräuche
wünſchte. Im Jahre 1819, noch vor den Karlsbader Beſchlüſſen, trat
Rehberg tief gekränkt zurück, und fortan wurde Hannover von London
aus regiert. Den Miniſter v. Bremer und die anderen Geheimen Räthe
in Hannover behandelte Münſter als Subalterne; auch der neue Cabinets-
rath Roſe gewann, obwohl man ſeine Geſchäftstüchtigkeit gern benutzte, keinen
entſcheidenden Einfluß. Die Beamten gewöhnten ſich bald, über die Schul-
tern des Miniſteriums hinweg unmittelbar an die Deutſche Canzlei in
London zu berichten.
Die erſte That der Selbſtherrſchaft Münſter’s war eine neue Ver-
faſſungsänderung. Das neue Königreich beſtand noch nicht fünf Jahre,
und ſchon wurden die Grundlagen ſeines Staatsrechts zum zweiten male,
und diesmal ohne zwingende Noth, durch die Krone eigenmächtig umge-
ſtaltet. Ohne Zweifel beabſichtigte Münſter keine Rechtsverletzung, ſtand
er doch ſelber als Erblandmarſchall an der Spitze der Stände; er hielt
es nur in ſeinem ſtaatsmänniſchen Dünkel nicht für nöthig, ſich über die
Rechtsfrage zu unterrichten. Zwei königliche Reſcripte ſchlugen dem Landtage
eine Neugeſtaltung der Allgemeinen Ständeverſammlung vor. Die Krone
wünſchte das Zweikammerſyſtem einzuführen, das neuerdings an den Höfen
als ein Bollwerk der Ordnung betrachtet wurde und im adlichen Han-
noverlande vollends unentbehrlich erſchien; dafür wollte ſie den freien
Bauern in der zweiten Kammer eine ſtärkere Vertretung gewähren. Da
der Landtag zwar von der Bildung zweier Kammern abrieth, aber keinen
förmlichen Einſpruch erhob, ſo ging die Regierung über ſeine Bedenken
hinweg, und ſie theilte ihre Entſcheidung nicht einmal den Allgemeinen
Ständen ſelber mit, ſondern den Provinziallandtagen. Dieſe Körper-
ſchaften, von denen Niemand wußte, wie weit ſie in allgemeinen Landes-
angelegenheiten mitzureden hatten, wurden alſo ſtillſchweigend dem Allge-
meinen Landtage gleichgeſtellt: ſo unſicher war das Recht in dieſem alt-
hiſtoriſchen Gemeinweſen.
Ein königliches Patent vom 7. December 1819 beſtimmte nunmehr
die endgiltige Zuſammenſetzung des Landtags. In der neuen erſten
Kammer ſaßen außer einigen Prälaten nur die Standesherren und die
Abgeordneten der Ritterſchaft. Da der welfiſche Adel niemals einen bür-
gerlichen Rittergutsbeſitzer wählte, ſo war hier das adliche Standesintereſſe
ſo einſeitig und ausſchließlich vertreten wie in keinem anderen deutſchen
Oberhauſe. In der zweiten Kammer ſollten auch zwanzig Vertreter des
freien bäuerlichen Grundbeſitzes tagen; doch währte es noch zehn Jahre bis
dieſe langſame Regierung ſich zur Einberufung der Bauern entſchloß. Die
Oſtfrieſen proteſtirten, die Vertreter ihres dritten Standes blieben dem Land-
[554]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
tage fern. Vorläufig alſo beſtand die zweite Kammer überwiegend aus den
ſtädtiſchen Vertretern, die von den Magiſtraten ernannt wurden, und da
die Tagegelder von den Wahlkörperſchaften bezahlt werden ſollten, ſo fiel
die Wahl der ſparſamen Stadträthe zumeiſt auf hauptſtädtiſche Beamte,
denen man nichts zu zahlen brauchte — wie auch die Ritterſchaft aus
demſelben Grunde den Reſidenz-Adel bevorzugte. Alſo ward der defini-
tive Landtag faſt noch lebloſer als der proviſoriſche geweſen. Schele und
ſeine Adelspartei, die bisher meiſt in der Minderheit geblieben waren, be-
herrſchten jetzt die erſte Kammer und konnten jeden Beſchluß verhindern.
Nach ärgerlichem Streite und vergeblichen Vermittlungsverſuchen der Re-
gierung gingen die Stände in der Regel ohne Ergebniß auseinander. Die
Protokoll-Auszüge — das Einzige was aus ihren Verhandlungen in die
Welt drang — hörten bald auf zu erſcheinen weil Niemand ſie leſen
mochte.
Nur einzelne beſcheidene Reformen konnte Münſter noch zu Ende
bringen. Aus den verſchiedenen Beamtencorporationen der alten Zeit
wurde (1822) ein geſchloſſener Staatsdienerſtand gebildet; die adliche Dro-
ſten-Carriere hörte auf, und die adlichen Forſtmeiſter durften ſich wenig-
ſtens nicht mehr durch glänzende Uniformen von ihren bürgerlichen Ge-
noſſen unterſcheiden. Die Verwaltung erhielt endlich Mittelbehörden: ſechs
Landdroſteien, deren Grenzen ſich freilich mit denen der Provinzialland-
ſchaften wunderlich durchkreuzten. Auch die Wehrpflicht wurde geſetzlich
geordnet, natürlich mit Stellvertretung. Die Folter und einige barbariſche
Strafen der Vorzeit fielen hinweg; indeß blieb der Ton der Beamten
gegen den gemeinen Mann noch immer altväteriſch derb und herriſch, der
Bauer ward amtlich nur mit Er angeredet.
Im Jahre 1821 feierte das Welfenland ein großes dynaſtiſches Freu-
denfeſt, das auf die politiſche Bildung und Geſinnung der deutſchen Klein-
ſtaaterei ein grelles Licht warf. Seit zwei Menſchenaltern lernten die
hannoverſchen Kinder in den Schulen, ſie ſollten ihren König lieben, denn
den lieben Gott könne man ja auch nicht ſehen; da kam die erſtaunliche
Nachricht, daß der Unſichtbare ſich den Augen ſeiner deutſchen Unterthanen
zeigen wolle. Georg IV. hatte in England die Wandlungen der Volks-
gunſt genugſam erfahren.
ſo hatte einſt Lord Byron der weinenden Prinzeſſin von Wales zuge-
rufen, und wie viele andere Verwünſchungen edler und freier Männer
waren ſeitdem auf das Haupt dieſes Fürſten herniedergefallen. Als er
den Proceß gegen ſeine unglückliche Gemahlin führte, durfte er ſich kaum
auf die Straßen Londons hinauswagen. Dann ſchlug die Stimmung
plötzlich um, bei ſeiner pomphaften Krönung begrüßte ihn die ſchauluſtige
Menge mit donnerndem Hochruf. Froh dieſer Huldigungen wollte er ſich
[555]Stüve.
nunmehr auch den beiden Trabantenvölkern der engliſchen Sonne, den
Iren und den Deutſchen im Glanze der Majeſtät zeigen. Lärmend war
die Freude der Iren, faſt noch herzlicher der Empfang in Hannover.
Ein fragwürdiger Anblick allerdings: dieſe unbehilfliche Geſtalt mit dem
gedunſenen Geſicht und der jugendlichen braunen Kakadu-Perrücke; der
rothe Hals war von dem rothen Uniformkragen ſchwer zu unterſcheiden,
und der gerühmte königliche Anſtand ließ ſich auch nur dann bemerken,
wenn der Landesvater nüchtern war. Einerlei, das Volk konnte ſich an
ſeinem lebendigen Könige nicht ſatt ſehen; und als er nun gar, in ſehr
gehobener Stimmung, den Bürgern ſeiner deutſchen Hauptſtadt verſicherte:
„ich bin ſtets Hannoveraner geweſen, ich will für immer als Hannove-
raner leben und ſterben“ — da flammte die Begeiſterung hoch auf.
Wenige Wochen zuvor hatte er, ebenfalls in ſehr gehobener Stimmung,
den Iren betheuert, ſein Herz ſei ſtets iriſch geweſen. Ueberall im Lande
dieſelbe Glückſeligkeit, zahlloſe Reden und Gedichte, bald welfiſch ſtolz, bald
deutſch gemüthlich. Ein wackeres Bäuerlein hatte mit feinem Verſtändniß
den einzigen Charakterzug Georg’s, der deutſchen Gemüthern zuſagte, her-
ausgefunden und über ſeiner Thür einen gefüllten Humpen abmalen laſſen,
darunter die Inſchrift: „hei kümmt, hei kümmt; ob hei wohl enen nümmt?“
Die Georgia Auguſta feierte in prachtvoller Ode das Glück der vereinten
gens Britanna und gens Guelphica, und Heeren ſchilderte nachher mit
hiſtoriſcher Gründlichkeit in einer beſonderen Schrift die Empfangsfeier
der Muſenſtadt. Das politiſche Ergebniß dieſes Triumphzuges aber wurde
von einem patriotiſchen Dichter ſinnig zuſammengefaßt in den Verſen:
In den Landtag brachten um die Mitte der zwanziger Jahre zwei
neu eingetretene Mitglieder wieder einiges Leben: Lüntzel aus Hildesheim,
der gelehrte Geſchichtsſchreiber ſeiner Vaterſtadt, ein wohlmeinender, etwas
redſeliger Liberaler, und der Osnabrücker Anwalt Carl Stüve, ein Mann,
in dem ſich die Eigenart des niederſächſiſchen Stammes faſt ſo vollſtändig
verkörperte wie das ſchwäbiſche Weſen in Ludwig Uhland. „Freigeſinnt
ſich ſelbſt beſchränkend, immerfort das Nächſte denkend“ — alſo rühmten
ihn ſeine Landsleute auf ſeinem Denkmal, und in der That hat im buch-
gelehrten Deutſchland ſelten ein Staatsmann ſo feſt gehaftet an der väter-
lichen Scholle, an den Gedanken und Gewohnheiten der nächſten Heimath.
Stüve’s Vater hatte als Syndicus von Osnabrück mit Juſtus Möſer
vertraulich verkehrt, und des Sohnes erſte literariſche Leiſtung war die
Herausgabe des nachgelaſſenen Bandes von Möſer’s Osnabrückiſcher Ge-
ſchichte. Hier war ſeine Welt, unter den ſeßhaften Hofſchulzen und den
derben Kleinbürgern Weſtphalens; der wohlhabende Junggeſell hat nie-
mals auch nur den Rhein beſucht, die Welt des Schönen blieb ihm ver-
ſchloſſen. Er hatte der Burſchenſchaft angehört und unter Vater Jahn’s
[556]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Augen auf der Haſenheide eifrig geturnt, aber damals ſchon mit ſeinem
frühreifen Geſchäftsverſtande allen überſchwänglichen Plänen der jungen
Teutonen ſcharf widerſprochen. Vollends jetzt inmitten der Arbeiten des
praktiſchen Lebens erſchien ihm die deutſche Einheit als ein herrlicher,
aber unmöglicher Traum. Alles Unbegrenzte, ſo geſtand er ſelbſt, wider-
ſtand ſeinem Weſen. Es war ihm ſchwer genug geworden aus einem
Osnabrücker ein Hannoveraner zu werden; nimmer durfte dieſer Welfen-
ſtaat in einem großen nationalen Reiche verſchwinden. Am wenigſten in
Preußen, denn über das preußiſche Beamtenthum dachte er ganz wie
Rehberg; nur ſelten einmal geſtand er halb widerwillig zu, in Preußen
habe ſich der nationale Gedanke am ſtärkſten entwickelt, weil dort das
alte Ständeweſen ſo gründlich zerſtört ſei. An Rehberg erinnerte auch
die ernſte, nüchterne, ſtreng ſachliche Haltung ſeiner gedankenreichen Schriften;
jedoch er gehörte einem jüngeren, muthigeren Geſchlechte an, ſein Ehrgeiz
war, dem Bürger und Bauern die altgermaniſche Freiheit in neuen Formen
zurückzugeben, ſo daß der Ackerbauer die Früchte des Ackers ungeſchmälert
genießen, der Bürger bei den Geſchäften ſeiner Gemeinde ſelber Hand an-
legen ſollte. Die Liberalen der Rotteck’ſchen Schule wußten gar nichts
anzufangen mit dieſem Verächter der Doctrin, in dem ſich Deutſchthum
und Particularismus, reformatoriſcher Muth und Anhänglichkeit an alt-
überlieferte Sitte ſo ſeltſam vermiſchten. Und leicht war es nicht mit
ihm auszukommen. Streng, ſchroff, mäßig bis zur Pedanterei, etwas
ſchulmeiſterlich und ganz ohne Humor, konnte der kleine ſchmächtige Mann
Keinen gewinnen, wohl aber durch die Ueberlegenheit ſeines Verſtandes,
ſeiner umfaſſenden Sachkenntniß, ſeines ſittlichen Ernſtes die Widerſtre-
benden beherrſchen.
Sechsundzwanzigjährig trat Stüve in den Landtag ein als Nach-
folger des Hofraths Buch, dem ſein Collegium auf Befehl der Regierung
ferneren Urlaub verweigert hatte, weil er den Privilegien des Adels ent-
gegengetreten war. Unverdroſſen verwendete er ſeine ganze gewaltige Ar-
beitskraft für die Verhandlungen dieſer Kammer, die doch nur Monologe
hielt, da die Miniſter nicht vor ihr erſcheinen durften. Die von den
Bauern längſt erſehnte Ausgleichung der Grundſteuer war ſoeben voll-
zogen, allerdings ſehr zum Vortheil der Privilegirten. Sofort ging Stüve
einen Schritt weiter und forderte was dieſem Staate am meiſten noth
that: Ablöſung der Dienſte, Zehnten und Meiergefälle. Immer wieder
kam er auf dies ſein ceterum censeo zurück: die zweite Kammer ſtimmte
zu, die erſte widerſprach. Da griff der Bauernfreund zur Feder und
unterſtützte ſeine Reden durch die treffliche Schrift „über die Laſten des
Grundeigenthums in Hannover“ (1829). Endlich im Frühjahr 1830 er-
klärte ſich die Adelskammer zu Verhandlungen bereit, aber wie viele Jahre
mochten noch hingehen bis der Abſicht das Vollbringen folgte! Das Land-
volk begann ſchon die Geduld zu verlieren. Auch Hannover hatte die
[557]Braunſchweig.
große Kriſis der Landwirthſchaft ſchwer empfunden, nun brachte noch eine
arge Mißernte die Bauern im Harniſch.
Eine Fülle unverſöhnter Gegenſätze war in dieſem ſeltſamen Staate
aufgewuchert: die Provinzialſtände ſtanden gegen die allgemeinen Stände,
die zweite Kammer gegen die erſte, die Steuerkaſſe gegen die Kronkaſſe,
die Beamten gegen den Landtag, die bürgerlichen Staatsdiener gegen den
Adel, die Bauern gegen die Grundherren, die Bürger gegen die allmäch-
tigen Stadträthe, das hannoverſche Miniſterium gegen die deutſche Canzlei
in London. Noch war die Mißſtimmung bei Weitem nicht ſo ernſt wie
in Kurheſſen; aber Graf Münſter ließ ſich in ſeinem fernen Putney-Hill
von den Beſchwerden des deutſchen Landes nichts träumen, und ſo drohten
auch dieſem führerloſen Staate unberechenbare Verwicklungen. —
Der üble Ruf, deſſen die Welfen ſeit dem Proceß der Königin Caro-
line in Deutſchland genoſſen, verſchlimmerte ſich noch, als bald nachher
der alte Haß der beiden Hauptlinien des Hauſes von Neuem ein öffent-
liches Aergerniß gab. Die ältere herzogliche Linie hatte aus den Länder-
theilungen der Welfen nur einige Fetzen niederſächſiſchen Landes davon
getragen, die von Holzminden an der Weſer bis zum Magdeburgiſchen
hinüber zerſtreut lagen. Obgleich die ſocialen Verhältniſſe dieſes Länd-
chens denen der benachbarten lüneburgiſchen Gebiete glichen, ſo gelangte
doch der Adel hier niemals zu ſo unumſchränkter Herrſchaft wie in Han-
nover, weil die Herzoge daheim blieben. Braunſchweig lernte unter ſeinem
geiſtreichen Herzog Karl manche Sünden des Abſolutismus, den Hofprunk,
den Soldatenhandel, die franzöſiſche Verbildung gründlich kennen, aber
auch viele Wohlthaten dieſer Staatsform. Unter Karl Wilhelm Ferdinand
wurde ſodann der arg zerrüttete Staatshaushalt durch einen trefflichen
bürgerlichen Miniſter, Feronce, neu geordnet, und es begann eine Epoche
ſorgſamer Verwaltung, freier Preſſe, blühenden Schulweſens, die von dem
Volke noch lange nachher als die gute alte Zeit geſegnet wurde. An
Talent und Heldenſinn war die ältere Linie den engliſchen Welfen weit
überlegen. In der deutſchen Politik ging ſie faſt immer andere Wege
als ihre königlichen Vettern. Sie verſchwägerte ſich mit den Hohenzollern
und ſchloß ſich eng an Preußen an; mehrere ihrer Prinzen ſtarben den
Heldentod unter Preußens Fahnen; auch jener Leopold, der als Menſchen-
retter in den Wellen der Oder ſein Grab fand, war preußiſcher Offizier.
Dies Verhältniß begann ſich zu ändern, nachdem auch Karl Wilhelm
Ferdinand ſeine preußiſche Treue mit dem Leben bezahlt hatte. Sein
Nachfolger Friedrich Wilhelm, der Held der ſchwarzen Schaar, konnte als
Fürſt ohne Land und Todfeind Napoleon’s zunächſt nur bei England Hilfe
ſuchen. Durch Englands Fürſprache erhielt er ſodann im Befreiungs-
kriege ſeine Erblande zurück. Als er bei Quatrebas fiel, hinterließ er
ein Teſtament, das die Regentſchaft ſowie die Vormundſchaft über ſeine
beiden minderjährigen Söhne dem Prinzregenten von Großbritannien über-
[558]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
trug und zugleich den Grafen Münſter bat, ſich des Herzogthums anzu-
nehmen.
Der Regent überließ die braunſchweigiſchen Geſchäfte, unter Mün-
ſter’s Aufſicht, dem herzoglichen Geheimenraths-Collegium. Deſſen Seele
war Geh. Rath v. Schmidt-Phiſeldeck, ein einſichtiger, gewiſſenhafter Be-
amter, der ſchon das Vertrauen des verſtorbenen Herzogs beſeſſen hatte
und ſich bald allgemeine Achtung im Lande erwarb. Die vollſtändige
Wiederherſtellung der alten Ordnung erregte hier, wo das Königreich Weſt-
phalen unſäglich verhaßt war, keinen Unwillen. Die vormundſchaftliche
Regierung verfuhr nach der wohlwollenden, bedachtſamen hannoverſchen
Weiſe; doch die Dinge lagen hier einfacher, da Braunſchweig keine neuen
Gebiete erworben hatte, nothwendige Reformen waren leichter durchzu-
ſetzen. In einzelnen Fällen ließ ſich allerdings erkennen, daß die kalte
Hand eines fremden Verweſers über dem Lande waltete. Schwerlich hätte
ein eingeborner Herzog ſich ſo gleichmüthig wie der Prinzregent entſchloſſen,
den Braunſchweigern die Georgia Auguſta als Landesuniverſität anzu-
weiſen und die ruhmvolle Helmſtädter Hochſchule nicht wiederherzuſtellen,
obgleich der prächtige Thurmbau des Juleums und der reiche akademiſche
Grundbeſitz noch vorhanden waren: wie viel Segen war doch einſt von
dieſer Stadt des Friedens, von dem kleinen Holzhauſe Calixt’s über Deutſch-
land ausgegangen! Ueberhaupt erlangte das kleine Welfenland die be-
deutende Stellung, die es früherhin im deutſchen Leben behauptet, nie-
mals wieder. Seit die Herzöge ſich der Hauptſtadt bemächtigt und die
Thüren des Hanſeſaales im Altſtädtiſchen Rathhaus geſchloſſen hatten,
war Braunſchweig „die ſtolze Stadt“ nur noch eine kleinbürgerliche Re-
ſidenz; auch ihr Carolinum, im achtzehnten Jahrhundert eine ſo wichtige
Bildungsſtätte, galt jetzt nicht mehr als andere gute Gymnaſien.
Immerhin erſchien die neue ſtille Zeit dem Volke nicht unbehaglich. Die
Finanzen waren wohl geordnet, die Steuerlaſt mäßig, für Wegebau und
Schulweſen geſchah viel, und das Hausvermögen des jungen Herzogs nahm
unter Schmidt-Phiſeldeck’s ſparſamen Händen beträchtlich zu. Auf Bitten
der Ritterſchaft wurde 1819 der alte Landtag einberufen, deſſen Privilegien
zuletzt im Jahre 1770 feſtgeſtellt waren, und mit Zuſtimmung der Stände
kam am 25. April 1820 die Erneuerte Landſchaftsordnung, eine zeitge-
mäße Verbeſſerung des alten Landesrechts zu Stande. Dieſe neue braun-
ſchweigiſche Verfaſſung ſtand den Grundſätzen des hannoverſchen Patents
vom December 1819 nahe, aber ſie ruhte auf unanfechtbarem Rechts-
boden, und ſie gewährte den freien Bauern, die ſich in Hannover mit
einem Verſprechen begnügen mußten, ſofort eine Vertretung von zwanzig
Abgeordneten. Den bäuerlichen Hinterſaſſen war auch in Braunſchweig
kein Wahlrecht verliehen; an dieſe Reform wagten überall im altſtändi-
ſchen Norddeutſchland nur Einzelne zu denken. Im Weſentlichen entſprach
die neue Ordnung den Wünſchen des Landes.
[559]Karl von Braunſchweig.
So gewiſſenhaft der braunſchweigiſche Geheime Rath die politiſchen
Geſchäfte der Regentſchaft beſorgte, ebenſo gleichgiltig vernachläſſigte König
Georg die perſönlichen Pflichten ſeiner Vormundſchaft. Der frühe Tod
der Mutter und das abenteuerliche Schickſal des Vaters hatten den beiden
Prinzen längſt allen Frieden der Kindheit verkümmert; auf unſteten Wan-
derfahrten in Deutſchland, Schweden, England waren ſie nirgends recht
heimiſch geworden. Herzog Friedrich Wilhelm mochte dies fühlen; in
ſeinem Teſtamente beſtimmte er, daß ſeine Söhne in Zukunft unter der
Aufſicht ihrer Großmutter, der ehrwürdigen Markgräfin Amalie von Baden
erzogen werden ſollten. Der Vormund aber mißachtete dieſe Vorſchrift,
vermuthlich weil er die jungen Welfen ganz in welfiſchen Händen be-
halten wollte. So fiel denn niemals ein Strahl weiblicher Güte in die
dunkle Jugend des Herzogs Karl; ſeine Baſe, die Prinzeſſin Johann von
Sachſen und deren Schwägerin die gute Prinzeſſin Amalie waren wohl
die beiden einzigen edlen Frauen, die ihm jemals nahe traten, und auch
ſie erſt als ſein Charakter ſchon verhärtet war. Auf Befehl des Vor-
munds wurde er von dem Hofrath Eigner und dem Kammerherrn v. Lin-
ſingen ſehr ſtreng erzogen. Seine eigenen, von Unwahrheit überſtrömenden
Erzählungen verdienen keinen Glauben; Niemand kann mit Sicherheit
ſagen, was Alles verfehlt wurde bei der Behandlung des unbändigen
jungen Fürſten, der neben dem Hochmuth und Eigenſinn des Welfenblutes
von früh auf liederliche Neigungen und eine unbezwingliche Vorliebe für
ſchlechte Geſellſchaft zeigte. Gewiß iſt nur, daß der Herzog ſeine beiden
Erzieher tödlich haßte und in dem kleinen Kriege, den er täglich wider
ſie führte, ſeine natürliche Bosheit zur abgefeimten Tücke ausbildete; ebenſo
gewiß, daß er auf ſeinen fürſtlichen Beruf nur ſehr mangelhaft vorbe-
reitet, weder militäriſch geſchult, noch über die Zuſtände und das Recht
ſeines Landes unterrichtet wurde. Nach engliſcher Anſicht ſchien ein ſolcher
Unterricht überflüſſig, da dort alle Inſtitutionen darauf berechnet ſind, daß
der König niemals ſelbſt regiere. König Georg verbarg es kaum, daß ihm
dieſe deutſchen Mündel läſtig fielen; genug wenn ſie Ruhe hielten. Waren
ſie doch die Neffen ſeiner Gemahlin, und dieſe namenlos gehaßte Frau be-
kämpfte ihren Gemahl noch über das Grab hinaus; ihr Sarg trug die
Inſchrift „hier ruht Karoline von Braunſchweig, die mißhandelte Königin
von England“ und wurde auf ihren Befehl aus der feindlichen Inſel in
die braunſchweigiſche Welfengruft übergeführt.
Nicht eigentlich durch böſe Abſicht, wohl aber durch die frivole Träg-
heit des liebloſen Vormunds wurde die Erziehung des jungen Herzogs
arg verwahrloſt — wenn anders dieſer unglückliche Charakter zu erziehen
war. Der Zwang und die Langeweile brachten ihn auf, mit brennen-
der Ungeduld zählte er die Stunden bis zu dem Tage der Befreiung. Da
beging König Georg noch einen letzten, unbegreiflichen Mißgriff. Nach
einem alten Familienvertrage, dem Pactum Henrico-Wilhelminum vom
[560]III. 7. Altſtändiſches Stilleben in Norddeutſchland.
Jahre 1535, wurden die braunſchweigiſchen Prinzen mit dem vollendeten
achtzehnten Jahre mündig. Dieſe Regel war zwar nicht immer unver-
brüchlich eingehalten worden; in dem Teſtamente des verſtorbenen Herzogs
befand ſich auch eine unklare Stelle, welche ſich zur Noth ſo verſtehen
ließ, als hätte der Vater die Mündigkeit ſeines Nachfolgers noch um einige
Jahre hinausſchieben wollen. Weit überwiegende Gründe ſprachen jedoch
für die Giltigkeit des alten Hausgeſetzes, und da der König den ſtillen
Groll ſeines Neffen kannte, ſo mußte er Alles vermeiden, was dem Her-
zog einen Vorwand für rechtliche Beſchwerden bieten konnte. Gleichwohl
wünſchte Graf Münſter die Vormundſchaft zu verlängern. Unlautere
Abſichten beſtimmten ihn nicht, denn die Braunſchweigiſche Regentſchaft
brachte ihm nur Arbeit, keinen Vortheil; er war aber gewohnt über
Rechtsfragen vornehm hinwegzugehen, und fand den jungen Welfen noch
nicht reif für die Regierungsgeſchäfte. Bei einiger Menſchenkenntniß hätte
er freilich vorherſehen müſſen, daß dieſer Fürſt mit zwanzig Jahren ſchwer-
lich klüger ſein würde als mit achtzehn. Um alle Bedenken zu beſeitigen
ließ König Georg die Meinung des Wiener und des Berliner Cabinets
einholen. Hardenberg rieth (Juli 1822), man möge durch die Vermitt-
lung des Wiener Hofes, bei dem ſich der junge Herzog gerade aufhielt,
dieſen ſelbſt zur freien Zuſtimmung bewegen, und in der That genehmigte
Herzog Karl auf Metternich’s Zureden — allerdings erſt nachdem der
Zeitpunkt ſeiner Volljährigkeit bereits eingetreten war — daß die Regent-
ſchaft noch um ein Jahr verlängert wurde.
Damit ſchien Alles in Ordnung. Im Oktober 1823 hielt der nun-
mehr Neunzehnjährige ſeinen Einzug als regierender Fürſt, jauchzend be-
grüßt von ſeinem Völkchen, das die tapferen Welfen abgöttiſch verehrte.
Er vermied die neue Landſchaftsordnung zu beſchwören, ließ zunächſt die
Dinge gehen, verbrachte die nächſten drei Jahre zumeiſt auf Reiſen um
nach dem langen Zwange die Freuden des Lebens von Grund aus zu
genießen. Späterhin behauptete er freilich, wenig glaubhaft, er hätte dem
Fürſten Metternich verſprechen müſſen, während dieſer erſten Zeit nichts
in der Regierung zu ändern. Als er endlich heimkehrte, hatte er nichts
gelernt, aber im Strudel wüſter Ausſchweifungen die letzte Scham ver-
loren und zudem durch die Lehren Metternich’s, der dieſen Welfen zärt-
lich liebte und mit Schmeicheleien überhäufte, eine überſpannte, faſt wahn-
witzige Vorſtellung von der Schrankenloſigkeit ſeiner ſouveränen Fürſten-
gewalt gewonnen. Sofort begann nun ein Syſtem gehäſſiger Verfolgung,
das ſelbſt der Geduld der ergebenen Braunſchweiger zu arg ward; aus
jedem Worte und jeder That des Herzogs ſprach die Frechheit eines zucht-
loſen Knaben. Am 10. Mai 1827 erklärte Karl in einer Verordnung, er
erkenne die Handlungen der Regentſchaft nur inſoweit an, als ſie nicht über
wohlerworbene Regenten- und Eigenthumsrechte verfügt hätte; Alles aber
was in dem Jahre der verlängerten Regentſchaft geſchehen ſei, behalte er
[561]K. Georg IV. und Herzog Karl.
noch einer beſonderen Prüfung und Genehmigung vor. Er beabſichtigte
durch dieſen Staatsſtreich zugleich ſeinen Oheim öffentlich zu beſchimpfen
und die erneuerte Landſchaftsordnung umzuſtoßen. Sein Unrecht war
unzweifelhaft. Denn nach deutſchem Staatsrecht darf die Regentſchaft
nicht als eine privatrechtliche Vormundſchaft aufgefaßt werden; dem Re-
genten des unſterblichen Staates gebühren alle Befugniſſe des Staats-
oberhauptes, auch das Recht geſetzmäßiger Verfaſſungsveränderung. Auch
gegen die Verlängerung der Regentſchaft konnte Herzog Karl, wenn ihm
ſein Fürſtenwort heilig war, jetzt nicht mehr Einſpruch erheben, nachdem
er ihr ſelber zugeſtimmt hatte.
Mittlerweile wurde Schmidt-Phiſeldeck von den Geſchäften entbunden,
im Gehalte verkürzt, durch Anfragen, Vorwürfe, Drohungen dermaßen
mißhandelt, daß er ſeine Entlaſſung forderte. Sie ward ihm verſprochen,
aber trotz wiederholter Mahnungen nicht gewährt. Der geängſtete Mann
fürchtete das Aergſte und entfloh nach Hannover, wo er, gemäß einer
früheren Zuſage, einen Platz im Geheimen Rathe erhielt. Die vom Her-
zog nachgeſendeten Steckbriefe wies man in Preußen und Hannover als
offenbar willkürlich zurück. Nunmehr ward das braunſchweigiſche Ge-
heimrathscollegium mit willfährigen Männern ganz neu beſetzt; ein vor-
maliger Schreiber, Bitter erhielt die Leitung des Finanzweſens. Im her-
zoglichen Cabinet, wo fortan der Schwerpunkt der Geſchäfte lag, tauchten
unheimliche Geſtalten auf: ſo Wit v. Dörring, der Verräther der Dema-
gogen, und Dr. Klindworth, ein geheimer Agent, der während eines halben
Jahrhunderts von der Gräfin Lichtenau und dem Fürſten Wittgenſtein,
nachher von Metternich, Guizot, Wilhelm von Württemberg, Manteuffel
zu Späherdienſten verwendet wurde und ſich zumeiſt in der einträglichen
Rolle des Doppelſpions wohlgefiel; auch die verrufene Gräfin Görtz-Wris-
berg hatte die Hände mit im Spiele. Mit Hilfe dieſer Menſchen ließ
Herzog Karl eine Reihe unſauberer Libelle anfertigen, welche den König,
Münſter, Schmidt-Phiſeldeck, alle Räthe der Regentſchaft mit Schmähun-
gen überſchütteten und dem Vormund namentlich vorwarfen, er ſei [darauf]
ausgegangen, durch ſeine tyranniſche Erziehung die Willenskraft des jungen
Herzogs zu ertöden.
Der hochmüthige engliſche Hof wurde durch die Angriffe des Braun-
ſchweigers aufs Aeußerſte gereizt. Die politiſchen Beſchwerden des Her-
zogs ließen ſich leicht widerlegen, aber der Vorwurf der verfehlten Er-
ziehung war nicht grundlos, wie ſeltſam er ſich auch im Munde des
Erzogenen ſelber ausnahm. Weil König Georg dies empfand, verlor er
alle Haltung und ließ ſich von dem alten Haſſe gegen die Sippe ſeiner Ge-
mahlin gänzlich übermannen. In ſeinem Auftrage ſchrieb Münſter eine
„Widerlegung der ehrenrührigen Beſchuldigungen des Herzogs von Braun-
ſchweig“, ein Libell, deſſen maßloſe Sprache den Braunſchweigiſchen Brand-
ſchriften nichts nachgab. Der Graf ſcheute ſich nicht dem jungen Welfen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 36
[562]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
mit der Revolution zu drohen: „es ſcheint, ſchrieb er höhniſch, der Her-
zog will ſich in ſeiner unglücklichen Laufbahn nicht aufhalten laſſen.“ Auch
mit der Kriegsmacht des Großbritanniſchen Königs drohte er hochfahrend,
wenn der Deutſche Bund nicht im Stande ſei Genugthuung zu ſchaffen,
und wiederholt verſicherte er ſeinen „Ekel über die ſchwärzeſte Undank-
barkeit“ des Braunſchweigers. Welch ein Schauſpiel! Was mußte die
radikale Jugend, die ſchon längſt an der monarchiſchen Ordnung zu
zweifeln begann, jetzt empfinden, wenn dieſe beiden Fürſten — neben dem
Kurfürſten von Heſſen zur Zeit die verächtlichſten Mitglieder des deutſchen
hohen Adels — alſo vor aller Welt ihre ſchwarze Wäſche wuſchen; wenn
der hochconſervative welfiſche Staatsmann von einem Welfenfürſten öffent-
lich in einem Tone ſprach, den ſich die Redner des Burſchenhauſes kaum
erlaubten?
Herzog Karl beantwortete Münſter’s Schrift durch eine Forderung;
zur Vorübung ſchoß er täglich ſtundenlang nach dem Bilde des Feindes.
Als Münſter die unmögliche Zumuthung abwies, mußte der Oberhof-
jägermeiſter des Herzogs, v. Praun, der den hannoverſchen Miniſter nicht
einmal kannte, ſeinerſeits die Herausforderung wiederholen. Das Aerger-
niß ward unerträglich, alle Oppoſitionsblätter Europas hatten ihre Luſt
daran. Schon wurden hannoverſche Truppen an der Grenze Braun-
ſchweigs zuſammengezogen, auch der Herzog rüſtete, und da König Georg
nicht als Bundesfürſt, ſondern ganz perſönlich beleidigt war, ſo konnte
der knabenhafte Unfug vielleicht zu einer europäiſchen Verwicklung führen.
Beide Theile hatten ſich unterdeſſen klagend an den Bundestag gewendet.
Herzog Karl ſendete einen Vertrauten, v. Buttlar nach Stuttgart und
ſuchte auch König Ludwig von Baiern für ſich zu gewinnen. Die beiden
liberalen Könige wollten aber mit dieſem Handel nichts zu ſchaffen haben
und riethen dem jungen Welfen zur Nachgiebigkeit.*)
Es ward die höchſte Zeit daß der Bund einſchritt. Nach der Wiener
Schlußakte war er nicht nur befugt Thätlichkeiten zwiſchen Bundesgliedern
zu verhindern, ſondern auch verpflichtet, einen Bundesſtaat, der fremden
Mächten Anlaß zu berechtigten Beſchwerden gab, zur Genugthuung zu
nöthigen, und in der politiſchen Streitfrage, welche den Bundestag allein
beſchäftigen konnte, hatte der engliſche König unbeſtreitbar Recht. Gleich-
wohl befand ſich der Bundestag in peinlicher Lage. Münſter ſagte in
ſeiner hochpathetiſchen Weiſe: wie die Athener keine Strafe für den Vater-
mord beſtimmt hätten, ſo ſei auch die Bundesakte nicht auf einen ſolchen
Fall berechnet. Und allerdings hatten die Geſetzgeber des Bundes einen
ſo perſönlichen Zank zwiſchen gekrönten Häuptern nicht für möglich ge-
halten. Wie durfte die Frankfurter Geſandtenconferenz ſich herausnehmen,
einem deutſchen Souverän perſönlich einen Verweis zu ertheilen und ihn
[563]Herzog Karl und die Großmächte.
zur Abbitte zu nöthigen? Dieſe Formbedenken wußte Metternich, der
Gönner des jungen Welfen, gewandt zu benutzen; ſo weit es die Rück-
ſicht auf Preußen nur irgend erlaubte, nahm er Partei für den Braun-
ſchweiger und ſuchte die Entſcheidung des Bundestags hinauszuſchieben
oder zu vereiteln. Als Wit v. Dörring jetzt, während die Klage noch
ſchwebte, eine neue Schmähſchrift veröffentlichte und Herzog Karl jede
Mitwiſſenſchaft ableugnete, da ſtellte ſich Metternich als ob er der dreiſten
Unwahrheit Glauben ſchenke; der preußiſche Geſandte mußte ihm erſt
nachweiſen, daß Wit offenbar geheime Papiere des Herzogs benutzt hatte
und in einzelnen Sätzen die bekannten bubenhaften Witze des Welfen
wörtlich wiederkehrten.*) Auch Reinhard und Anſtett arbeiteten am Bun-
destage insgeheim für den Braunſchweiger, vermuthlich weil ſie das Er-
ſtarken der Bundesgewalt fürchteten.
Der entſchiedenſte Gegner des Herzogs war die Krone Preußen, die
neuerdings mit England-Hannover ſehr freundlich ſtand. Der junge
Fürſt hatte am Berliner Hofe allgemein mißfallen. Stein fand ihn un-
ſittlich, dünkelvoll, frech und leer; die Generale verziehen ihm nicht, daß
er ſich gegen die alten Ueberlieferungen ſeines Hauſes ganz an Oeſter-
reich anſchloß und, unzweifelhaft auf Metternich’s Rath, nicht um eine
Stelle im preußiſchen Heere nachſuchte. König Friedrich Wilhelm empfand
den Abſcheu des ernſten Mannes gegen ein kindiſches Treiben, das zu-
gleich den Frieden im Deutſchen Bunde und das Verfaſſungsrecht in
Braunſchweig gefährdete. Sein Unwille ſtieg, als die unermüdlichen braun-
ſchweigiſchen Pamphletiſten die welfiſche Winkeltyrannei ſogar durch dema-
gogiſche Schlagwörter zu beſchönigen ſuchten: nur darum, hieß es jetzt,
wolle Herzog Karl die neue Landſchaftsordnung nicht beſchwören, weil ſie
das Volk zu Gunſten des Adels übervortheile! In einem väterlichen
Briefe ermahnte Friedrich Wilhelm den Herzog (December 1827), ſeine
„unverdienten Vorwürfe“ zurückzunehmen. Umſonſt. Auch andere Ver-
mittlungsverſuche, welche Bernſtorff im Verein mit Metternich unter-
nahm, ſcheiterten an dem Starrſinn des Herzogs und der Unzuverläſſigkeit
Oeſterreichs.
Nunmehr hielt der König für unerläßlich, daß der Bundestag ſein
Anſehen gebrauche. Zeigte der Bund diesmal Ernſt, ſo konnte Herzog
Karl vielleicht vor weiteren Thorheiten behütet werden; jedenfalls ward
dem Volke bewieſen, daß in Deutſchland noch eine letzte Schranke fürſt-
licher Willkür beſtehe. Der König betrachtete die Beilegung dieſes Handels
als eine Ehrenſache des deutſchen Fürſtenſtandes. Als ſein Geſandter
in London die naheliegende Frage aufwarf, ob man nicht den häus-
lichen Streit der Welfen benutzen ſolle um durch eine ſanfte Drohung
auf Hannovers Zollpolitik zu drücken, da erwiderte Bernſtorff ſehr ernſt:
36*
[564]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
„Beide Gegenſtände (die Handelspolitik und die braunſchweigiſche Sache)
vertragen nicht eine ſolche Verbindung. Indeß es ſich bei dem erſteren
um blos materielle Intereſſen handelt, gilt es bei dem anderen Gegen-
ſtande Geſinnungen, über welche es ſich gar nicht transigiren läßt. Wir
wollen nicht zuerſt das Beiſpiel von Mißtrauen oder gar von Unrecht
gegen die deutſchen Staaten geben, welche bisher den Willen zu haben
ſchienen mit uns in guter Freundſchaft zu leben.“*) Immer wieder ließ
Bernſtorff in Wien mahnen, daß man gegen den Herzog eine ernſte
Sprache führen, den Streit ſchlechterdings aus der Welt ſchaffen müſſe.**)
Faſt zwei Jahre lang mußte Nagler in Frankfurt mit dem Präſidialge-
ſandten kämpfen, der immer neue Ausflüchte fand um die Berathung zu
vertagen. Die Herzensmeinung der Hofburg erhellte unwiderſprechlich ſchon
aus der einen Thatſache, daß Herzog Karl ſich am Bundestage durch
Metternich’s nächſten Vertrauten, den Naſſauer Marſchall vertreten ließ.
Die hoffärtige, faſt drohende Sprache des hannoverſchen Geſandten v. Stra-
lenheim gab auch den Wohlmeinenden manchen Anlaß zu Bedenken.
Endlich, am 20. Auguſt 1829, ſah ſich Münch doch genöthigt zur
Abſtimmung zu ſchreiten. Die Mehrheit beſchloß den Herzog aufzufordern,
daß er die Verordnung vom Mai 1827 zurücknehmen, an König Georg
ein Entſchuldigungsſchreiben richten und ſeinen Hofjägermeiſter wegen der
Herausforderung des Grafen Münſter beſtrafen ſolle. Einige Tage darauf
überraſchte Münch die Geſandten durch die Mittheilung, die Sitzungen
des Bundestags ſeien für dies Jahr geſchloſſen. Der Berliner Hof war
aufs Aeußerſte erſtaunt, „wie gerade im gegenwärtigen Moment, bei der
bekannten Lage der braunſchweigiſch-hannoverſchen Streitſache, jene ange-
kündigte Vertagung irgend für angemeſſen erachtet werden konnte“. In
der That mußte Münch am 17. September, nachdem mehrere Geſandte
ſchon abgereiſt waren, noch eine nachträgliche Sitzung halten, und nun-
mehr ließ König Georg die verſöhnliche Erklärung abgeben, daß er auf
das Entſchuldigungsſchreiben verzichte.***) Widerſetzlichkeit gegen den alſo
abgeſchwächten Beſchluß ſchien kaum noch möglich; die Commiſſion des
Bundestags hatte ſich nach Kräften bemüht, unparteiiſch zu verfahren und
offen ausgeſprochen, daß ſie den Ton der Münſter’ſchen Streitſchrift nicht
billigen könne. Aber die erfinderiſche Bosheit des jungen Welfen wußte
ſich zu helfen. Er hatte wieder unzählige Einwände und Gegenklagen in
Bereitſchaft; unter Anderem klagte er über eine längſt entſchuldigte Gebiets-
verletzung, die ein hannoverſches Bataillon in Folge einer Ueberſchwem-
mung bei einem Uebungsmarſche begangen hatte. Er forderte, der Bun-
[565]Herzog Karl und der Bundestag.
desbeſchluß müſſe ihm perſönlich überreicht werden, und um dies zu ver-
hindern reiſte er nach Paris.*) Dem Bundestage blieb ſchließlich doch
nichts übrig als die Androhung der Execution (März 1830). Das wirkte.
Herzog Karl nahm am 22. April, nach dreijährigem Gezänk, die verhäng-
nißvolle Verordnung zurück; doch ſogar jetzt noch verfuhr er unritterlich
und hinterhaltig, er verſteckte ſeinen Widerruf in einem Miniſterialerlaß,
der auch einige andere Verordnungen für unwirkſam erklärte. Mit einer
ſo ſpöttiſchen Genugthuung wollte Preußen ſich nicht zufrieden geben; der
Bundestag aber folgte diesmal den Winken Oeſterreichs und nahm das
Geſchehene ruhig hin.
Durch dieſe zaudernde Schlaffheit des Bundes war der Welfe in-
zwiſchen ſchon zu neuen Gewaltthätigkeiten ermuthigt worden und auch
mit ſeinen Landſtänden in Händel gerathen. Er hatte den ſtändiſchen
Ausſchüſſen, mit denen er bisher jahrelang amtlich verkehrt, plötzlich er-
klären laſſen, daß er nur die alte Landſchaftsordnung von 1770 aner-
kenne. Nach einem lebhaften Schriftenwechſel wendeten ſich auch die Stände
an den Bund, baten um Schutz und Bürgſchaft für die neue Verfaſſung
(1829). Sofort war der Herzog mit einer Gegenbeſchwerde zur Hand und
verlangte ſogar von der Bundesverſammlung, daß ſie den Ständen das Im-
primatur für ihre Klageſchriften verweigern ſolle.**) Dann kam noch eine
Klage von dem greiſen Frhrn. v. Sierſtorpff, den der Welfe ſeiner Hof-
ämter entſetzt und mitſammt ſeiner Gemahlin aus dem Lande verwieſen
hatte; das oberſte Gericht in Wolfenbüttel hatte ſich zwar des Verfolgten
angenommen, aber der Urtheilsſpruch war vor den Augen der Richter
durch einen Abgeſandten des Herzogs feierlich zerriſſen worden.
So ging es fort; jeder Monat brachte neue Willkürhandlungen —
lauter Nichtigkeiten in dem armſeligen Stile der deutſchen Kleinſtaaterei.
Dem geſammten Beamtenthum wurde durch förmliche Verordnung der Um-
gang mit dem abgeſetzten Kammerherrn v. Cramm unterſagt. Als ob er
ſeinen nahen Sturz ahnte, befahl der Herzog eigenmächtig Verkäufe aus
dem Kammergute, die ſelbſt der gefügige Kammerdirector v. Bülow wider-
rechtlich fand, und ſammelte den baaren Erlös an. Eine fieberiſche Un-
ruhe verzehrte ihn; eines ſeiner Siegel aus ſpäterer Zeit zeigt ein von den
Wellen umtoſtes Schiff ohne Segel und Steuer, dazu die Inſchrift:
voilà mon sort! In einem ſchwarzen Buche hatte er ſich einige „Straf-
manieren“ aufgezeichnet: wie man gefährliche Menſchen durch Verbot des
Theaterbeſuchs, Wartenlaſſen, polizeiliche Aufſicht, Wechſelarreſt, Proceſſe
quälen oder durch einen Dritten auf Piſtolen fordern laſſen könne. Auch
eine dreifache Form für ſeine Unterſchrift hatte er ſich erſonnen: die eine
— „giltig“, die zweite — „gilt nicht“, die dritte — „gilt gerade das Gegen-
[566]III. 7. Altſtändiſches Stilleben in Norddeutſchland.
theil.“*) Nach der alten Gewohnheit der Despoten kühlte er ſeinen Muth
zunächſt an dem Adel und den höheren Ständen; die Maſſe des Volks
wurde nicht gedrückt, die Steuerlaſt nicht verſtärkt. Jedoch die abſtoßende
Perſönlichkeit des Herzogs, der niemals durch einen Zug der Großmuth
für ſeine Narrheit entſchädigte, und das freche Geſindel im Schloſſe er-
bitterten auch den geringen Mann. Kopfſchüttelnd ſah der ehrbare Bürger
dem tollen Weſen zu und glaubte die wunderbarſten Gerüchte, denn dieſer
Fürſt forderte die mythenbildende Kraft des Volksgeiſtes geradezu heraus.
Schon im Februar 1830 ſchilderte der Abgeſandte der Landſtände am
Bundestage den Zuſtand als völlig unhaltbar.**) Trat aber hier ein
Umſchwung ein, ſo mußte ſich aller Groll unfehlbar gegen den Fürſten
ſelber richten, und dann konnte, da der engliſch-hannoverſche Hof noch
immer unverſöhnt blieb, leicht ein Sturz erfolgen, wie ihn die geduldige
deutſche Kleinſtaatenwelt noch nie erlebt hatte. —
In keinem dieſer Kleinſtaaten war die Gewalt des Landesherrn durch
die Macht der Stände völlig vernichtet worden; ein kräftiger Fürſt ver-
mochte hier überall noch Unheil oder Segen zu ſtiften. Allein in Meck-
lenburg ſtand die ſtändiſche Oligarchie ſo feſt, daß auf die Perſönlichkeit
der Landesherren wenig oder nichts mehr ankam. In ſiebenhundert Jahren
bekamen dieſe Gebiete nur zweimal die ſtarke Hand eines Monarchen zu
fühlen: als Wallenſtein den Herzogshut der Obotriten an ſich riß und
in ſeiner ſtürmiſchen Weiſe gleich damit begann, Kepler nach Roſtock zu
berufen, den Schweriner See durch einen Kanal mit der Bucht von Wis-
mar zu verbinden; und wieder als Friedrich der Große im ſiebenjährigen
Kriege das reiche Land unbarmherzig „wie einen Mehlſack ausklopfen“ ließ.
Indeß die Eintagsherrſchaft des Friedländers verſchwand ſpurlos, und
Friedrich ſchaltete hier nur als Feind, ohne die Abſicht Dauerndes zu
ſchaffen. Die einheimiſchen Fürſten beſaßen ſelten den Ehrgeiz und nie-
mals die Mittel um ſich ein monarchiſches Anſehen zu erringen.
Ungleich milder als an der Spree und Havel waren einſt die deutſchen
Eroberer hier an der Oſtſee aufgetreten. Nicht zum Heile des Landes; denn
beim Zuſammenſtoßen feindlicher Nationen werden Freiheit und Geſittung
dann am ſicherſten für die Zukunft gerettet, wenn das überlegene Volks-
thum ſeine Eigenart mit rückſichtsloſer Härte durchſetzt. Das wendiſche
Fürſtenhaus der Niklot und Pribislav, das durch den Sieger Heinrich
[567]Mecklenburg.
den Löwen in ſeiner Landesherrſchaft beſtätigt wurde, ſchloß ſich willig den
Eroberern an, förderte deutſche Sprache und Bildung ſo eifrig wie die
Piaſten in Schleſien oder das Greifenhaus in Pommern; aber der un-
bändige Thatendrang der Germanen blieb dem ſanften Wendenblute fremd.
Kein anderes Fürſtengeſchlecht des alten Reichs hatte eine ſo unkriegeriſche
Geſchichte. Wohl ſtreckte einmal ein Mecklenburger Albrecht ſeine Hand
aus nach den drei Kronen des Nordens und ein anderer, Johann Albrecht
nahm an dem Rebellenzuge des Sachſen Moritz theil; die große Mehr-
zahl dieſer gutmüthigen Dörchläuchtings ſaß jedoch ſtill daheim, zechend und
jagend, behäbig und leutſelig, hochbeliebt im Volke, zuweilen in örtlichen
Fehden thätig, aber wenig bekümmert um die Händel im Reich. Die Lan-
desgrenzen erlitten keine weſentliche Veränderung mehr, ſeit das Gebiet
durch die Erwerbung des Landes Stargard, der Kolonie der brandenbur-
giſchen Askanier abgerundet war. Dann und wann flog ein Feuerbrand
aus den Flammen der deutſchen und der nordiſchen Kriege bis in dieſen
verſteckten Winkel des Reichs hinüber, zumal nachdem die Krone Schweden
ſich in Wismar ihre deutſche Hauptfeſtung errichtet hatte; aber Mecklenburg
lag den großen Straßen des Handels und der Heere zu fern, um den
Ehrgeiz der Kriegsmächte ſo lebhaft zu reizen wie ſeine vielumkämpften
Nachbarlande Pommern und Schleswigholſtein. Außer den unvermeid-
lichen kurſächſiſchen Candidaten betrat ſelten einmal ein Hochdeutſcher dieſe
fremde Welt; die Wenigſten im Reiche wußten, wie ſchön dies verrufene
Land war mit ſeinen hunderten kleiner Landſeen, mit ſeinen ragenden
Buchen und üppigen Feldern, mit der Zinnenpracht ſeiner alten Städte
Roſtock, Wismar, Güſtrow, Neubrandenburg.
Alſo von außen faſt ungeſtört konnte ſich der altſtändiſche Staat in
ſeiner ganzen anarchiſchen Willkür entfalten und der Adel zu einer Zucht-
loſigkeit gelangen, welche dem Uebermuthe der polniſchen Slachtizen wenig
nachgab. Gleich dem Fürſtenhauſe war auch ein Theil der Edelleute wen-
diſcher Abſtammung und von altersher gewöhnt an jene cyniſche Men-
ſchenverachtung, welche den ſlaviſchen Adel überall auszeichnet. Im Volke
aber ſtarb, trotz der ſtarken Beimiſchung niederſächſiſchen Blutes und trotz
der völligen Vernichtung der Wendenſprache, die alte ſlaviſche Unterwür-
figkeit niemals ganz aus. Seit der ſtändiſchen Union vom Jahre 1523
war den altmecklenburgiſchen Landen für alle Zukunft ein gemeinſamer
Landtag geſichert. Zur Zeit des nordiſchen Krieges unternahm dann Her-
zog Karl Leopold, begeiſtert durch das Vorbild Karl’s XII., die Landſtände
ſeiner monarchiſchen Gewalt zu unterwerfen. Aber der Verſuch mißlang,
obgleich der Herzog unbedenklich ruſſiſche Truppen zu Hilfe rief. Der kaiſer-
liche Hof trat nach ſeiner Gewohnheit für die habenden Freiheiten des Adels
ein, und nach langen Wirren mußte das Fürſtenhaus in dem Erbver-
gleiche vom 18. April 1755 die Rechte der Stände anerkennen und er-
weitern. Zur ſelben Zeit, da faſt überall ſonſt in Deutſchland die Fürſten-
[568]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
gewalt ihre Machtvollkommenheit erreichte, erlebte ſie in Mecklenburg ihren
tiefſten Fall. In claſſiſchen Worten verkündete dies Grundgeſetz die patri-
moniale Staatsanſicht, welche Haller ſpäterhin ins Syſtem brachte: der
Staat erſchien hier nur als ein Nebeneinander wohlerworbener Sonder-
rechte, das gemeine Recht ward grundſätzlich verleugnet, ſelbſt das gemeine
Wohl nur nebenher anerkannt. Die Landesordnungen, ſo hieß es (§ 192,
194), theilen ſich in zwei Klaſſen: ſolche, die das herzogliche Kammergut,
und ſolche, die das geſammte Land, Ritter- und Landſchaft angehen. Unter
den letzteren wieder werden unterſchieden ſolche Ordnungen, welche die
wohlerworbenen Rechte von Ritter- und Landſchaft berühren, und „ſolche
Geſetze, welche gleichgiltig, jedoch zur Wohlfahrt und zum Vortheil des
geſammten Landes abſichtlich und dienſam ſind.“
Dieſen Rechtsbeſtand fand Herzog Friedrich Franz von Schwerin
vor, als er im Jahre 1785 ſeine lange Regierung begann, ein Fürſt ſo
recht nach dem Herzen des Volks, derb und gradezu, fröhlich und neckiſch,
nicht ſonderlich gebildet, aber von kerngeſundem Verſtande, ein abgeſagter
Feind aller Frömmelei. Wer hätte ihm zürnen mögen, weil er den Wei-
bern, dem Weine, den Karten und nahezu allen Freuden des Lebens
noch über das ländlich ſittliche Maß hinaus ergeben war? Sein Mutter-
witz und ſein Wohlwollen machten Alles wieder gut. In Doberan, dem
erſten deutſchen Seebade, das er eingerichtet hatte, ſah man ihn oft ſtun-
denlang mit den Roſtocker Studenten trinken oder auch mit irgend einem
Handwerksmeiſter zuſammen an der Spielbank ſitzen, bis ſie gründlich
ausgebeutelt ſelbander heimgingen. Mit jenen „gleichgiltigen“ Geſetzen
für die gemeine Wohlfahrt nahm er es ſehr ernſt, und mehrmals ver-
ſuchte er, faſt immer umſonſt, ſich der Bauern gegen den Adel anzu-
nehmen. Die demüthige Stellung, die ihm das Landesrecht anwies, war
der kräftigen Natur des Herzogs widerwärtig. Er ſprach ſeinen Unwillen
über das Adelsregiment ſo derb aus, daß er noch lange nach ſeinem
Tode von den Liberalen als der mecklenburgiſche Reformfürſt verehrt wurde.
Als er durch den Rheinbund die Souveränität erlangt hatte, erklärte er
den Ständen ſeine Abſicht, dem geſammten Lande eine Verfaſſung zu
geben. Der Landtag aber kannte die Geldnoth des leichtlebigen Fürſten
und vereitelte die Reform durch rechtzeitige Bewilligung eines erhöhten
Hufenſchoſſes.
So kam denn der Erbvergleich, als das älteſte der beſtehenden deut-
ſchen Verfaſſungsgeſetze, ganz unverändert in die neue Zeit hinüber und
ward auch vom Bundestage anerkannt, obwohl ſein Inhalt mit den Vor-
ſchriften der Bundesakte nicht recht übereinſtimmte. Das Großherzogthum
Mecklenburg-Strelitz, das die Bundesgeſetze unter den ſouveränen deut-
ſchen Bundesſtaaten aufführten, war dem mecklenburgiſchen Staatsrechte
ganz unbekannt. Hier kannte man nur das Herzogthum Schwerin, das
den mecklenburgiſchen Kreis umfaßte, und das Herzogthum Güſtrow, dem
[569]Der Erbvergleich.
neben dem wendiſchen Kreiſe auch das Großherzogthum Strelitz unter dem
Namen des Stargardiſchen Kreiſes angehörte; beide Sereniſſimi führten
nach altſtändiſchem Brauche genau den gleichen Titel als Großherzoge
von Mecklenburg, Fürſten zu Wenden, Schwerin und Ratzeburg. In
dieſer ſtändiſchen Union war aber keineswegs das geſammte Land der
beiden mecklenburgiſchen Großherzoge enthalten. Stadt und Gebiet von
Wismar, welche die Krone Schweden erſt im Jahre 1803 pfandweiſe zu-
rückgegeben hatte, wurden nicht wieder in die Ritter- und Landſchaft auf-
genommen, und das Fürſtenthum Ratzeburg blieb als neue Erwerbung
von vornherein ausgeſchloſſen: die Stadt Ratzeburg ſandte ihren Ver-
treter auf den Landtag des däniſchen Herzogthums Lauenburg, der dem
mecklenburgiſchen ähnlich war, aber vor dem Eingang ihres herrlichen
alten Doms verkündeten zwei blaugelbrothe Laternenpfähle, daß hier die
unbeſchränkte Herrſchaft des Strelitzer Großherzogs begann. Was hier
einmal der hiſtoriſche Zufall geſchaffen hatte, blieb für alle Zukunft un-
abänderlich. Dicht an der preußiſchen Grenze lag ein Rittergut Wolde,
das ſeit grauer Vorzeit weder Steuern zahlte noch Soldaten ſtellte, weil
Pommern und Mecklenburg ſich um die Staatshoheit ſtritten und Preußen
den kleinen Nachbarn ſchlechterdings nicht zu einem gütlichen Vergleiche
bewegen konnte.
Ob ein Staat Mecklenburg überhaupt beſtehe, blieb dem Rechtskun-
digen zweifelhaft; gewiß war ein Staatsbürgerrecht nicht vorhanden. Die
beiden Großherzoge herrſchten in ihrem Kammergute, das reichlich zwei
Fünftel des geſammten Gebiets umfaßte, ebenſo unumſchränkt wie die
Ritter auf ihren Dörfern, die Magiſtrate in den Städten. Jede dieſer
Ortsobrigkeiten durfte Fremde in den Verband ihres Dorfes oder ihrer
Bürgerſchaft aufnehmen, und die alſo Aufgenommenen nannten ſich Meck-
lenburger, obgleich ſie im ganzen übrigen Lande heimathlos waren. Auch
im Handel und Wandel beſtand keine Einheit. Die beiden Seeſtädte Ro-
ſtock und Wismar erhoben ihre eigenen Zölle, und mitten im Lande mußten
an 83 landesfürſtliche Zollſtellen Abgaben gezahlt werden — nach ver-
ſchiedenen Zollrollen, von denen keine jünger war als zweihundert Jahre.
Da aber die Ritter, ihre Pächter, ſowie viele andere Privilegirte ſteuer-
frei waren und den Genuß des trefflichen unverzollten Lübecker Bordeaux-
weins zu ihren wohlerworbenen Standesrechten zählten, ſo warf dies
wunderſame Zollweſen nicht mehr als etwa 60,000 Thlr. jährlich ab.
Einmal im Jahre kamen die Stände mit prächtigen Geſpannen nach einer
der beiden Landtagsſtädte Sternberg oder Malchin herübergefahren; die
adlichen Vaſallen prangten in den rothen Röcken, die den bürgerlichen
hartnäckig verſagt blieben. Die Ritterſchaft zählte an 700 Virilſtimmen;
die Landſchaft war durch 45 Bevollmächtigte der Magiſtrate vertreten.
Keine Rede von einer Geſchäftsordnung, von einer geregelten Verhand-
lung; oft ſprachen zwei, drei Redner zugleich. Jeder Landſtand konnte
[570]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
nach Belieben Gäſte mitbringen, die ſich, ganz wie auf den polniſchen
Reichstagen, mitten unter den Ständen umhertrieben; man erkannte ſie
ja leicht an ihrer ſchüchternen Haltung. Auch die gewaltigen Landtags-
Gelage am Abend erinnerten an die ſarmatiſche Adelsherrlichkeit.
Die ſtändiſchen Aemter der Landräthe und Landmarſchälle waren dem
alteingeſeſſenen Adel vorbehalten; denn auf die Kunſt des Herrſchens ver-
ſtand ſich dieſe Ariſtokratie aus dem Grunde. Viele ihrer Söhne er-
langten im Staatsdienſte Dänemarks, England-Hannovers, Württem-
bergs hohe Aemter. Namentlich in Oeſterreich war der mecklenburgiſche
Adel, von Stralendorff an bis herab auf Graf Lützow, faſt jederzeit durch
einflußreiche Staatsmänner vertreten. So gewann er Weltkenntniß und
mächtige Verbindungen. Klüger als der Adel Kurſachſens verlangte er
nicht gradezu die Ahnenprobe für die Landſtandſchaft, was ſich auf die
Dauer doch nicht halten ließ; er begnügte ſich mit dem Erreichbaren und
ſetzte durch, daß die neuadlichen und bürgerlichen Vaſallen in der Aus-
übung ihrer ſtändiſchen Rechte weſentlich beſchränkt wurden. Seit dem
Anfang des achtzehnten Jahrhunderts ſtellte der alte Adel die völlig rechts-
widrige Behauptung auf, daß nur die alteingeſeſſenen Geſchlechter, die
ſchon im Jahre 1572 der Landſtandſchaft ſich erfreut, einen Anſpruch
hätten auf die 340 Damenpfründen der drei reichen Landesklöſter; wolle
der neu eingewanderte ausländiſche Adel daran theilnehmen, ſo müſſe er
ſich erſt gegen hohe Gebühren in den alten Adel aufnehmen laſſen. Und
wirklich ward bald nach dem Erbvergleiche dieſer Stand im Stande förm-
lich begründet. Fortwährend bekämpft von den non receptis vertheilte
der alte und recipirte Adel die Kloſterpfründen unter ſich und beherrſchte
die Landſtände ſo vollſtändig, daß die langſam anwachſende Minderzahl
der bürgerlichen Rittergutsbeſitzer noch gar nicht dawider aufkommen konnte.
Auf den Landtagen der zwanziger Jahre war der Kittendorfer Oertzen
der gefeierte Redner, „ein geborener, erkorener und geſchworener Patriot“,
wie es dem echten altmecklenburgiſchen Landrathe geziemte; neben ihm
der Sukower Blücher, Proviſor des Landeskloſters Dobbertin, und der
greiſe Heißſporn Adolf Flotow, der ſchon im alten Jahrhundert durch
ſeinen altadlichen Standeseifer den Zorn des Herzogs Friedrich Franz er-
regt hatte. Was die Verſammlung auf den Rath dieſer Führer beſchloß,
wurde ſodann von dem gewiegten Roſtocker Juriſten, Landſyndicus Drewes
ſchriftlich ausgearbeitet, in einem Kanzleiſtile, deſſen feierliche Umſtänd-
lichkeit hinter den Periodenbauten der kurſächſiſchen Stände kaum zurück-
blieb; und der wohlwollende Miniſter Pleſſen, der frühere Bundestags-
geſandte, fand es ſelten rathſam den Beſchlüſſen des Landtags zu wider-
ſprechen. Es waren durchweg achtungswerthe Männer, freimüthig nach
Landesbrauch, ſehr thätig in der ſtändiſchen Selbſtverwaltung, wohlbe-
wandert in dem Labyrinthe des alten Landesrechts, aber eine durchgreifende
Aenderung hätte Keiner von ihnen auch nur für denkbar gehalten. Die
[571]Die Großherzoge.
Stände beſaßen nach dem Erbvergleiche das „landſittliche Eigenthums-
recht“ an ihren leibeigenen Gutsunterthanen, desgleichen die gutsherrliche
Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt, ſowie das Präſentationsrecht für die
Juſtizkanzleien und das neue Parchimer Oberappellationsgericht; ſie ver-
walteten durch ihren Engeren Ausſchuß in Roſtock den Landkaſten und
das ſtändiſche Schuldenweſen und ſendeten auch zu mehreren landesfürſt-
lichen Verwaltungsbehörden ihre Commiſſäre; ſelbſt zur Zahlung der ordent-
lichen Contribution waren ſie nur inſoweit verpflichtet, als „Ritter- und
Landſchaft mit ihren Hinterſaſſen bei dem Ihrigen ruhig wohnen können“.
Darum ſchien dieſer Staat zum ewigen Stillſtand verurtheilt; jede noch
ſo beſcheidene Reform war ein Eingriff in die wohlerworbenen Rechte der
Stände und mithin unmöglich ohne den freiwillgen Verzicht der Privi-
legirten.
Großherzog Friedrich Franz hatte dies auch längſt eingeſehen und
auf manche monarchiſche Pläne ſeiner Jugend verzichtet. Er wußte, daß
ſeine Junker ihn nur als den Erſten unter Gleichen betrachteten; wäh-
rend der ſtändiſchen Wirren des achtzehnten Jahrhunderts hatten befliſſene
Federn der Adelspartei das durchſichtige Märchen aufgebracht, daß Herzog
Pribislav kein Nachkomme der alten Obotritenfürſten geweſen ſei, ſondern
ein einfacher wendiſcher Edler. Friedrich Franz begnügte ſich, in ſeinem
Domanium, wo er Herr war, für die Bauern zu ſorgen. Zum Landtage
wagte er nur noch ſelten mit fürſtlicher Strenge zu reden, ſo einmal als
die Stände nahe daran waren ihm die Koſten ſeines Bundescontingents
zu verweigern.
Noch ſchwächer war der monarchiſche Ehrgeiz am Strelitzer Hofe.
Dort regierten nach einander die Großherzoge Karl und Georg, der Vater
und der Bruder der Königin Luiſe — Beide ſehr wohlmeinende Herren,
aber auch Beide ſo feſt verwachſen mit dem alten Landesbrauche, daß ſie
die Lächerlichkeit ihres Schattenfürſtenthums gar nicht mehr empfanden.
Der leitende Miniſter Klein-Mecklenburgs war Auguſt v. Oertzen, einer
der tüchtigſten aus dieſem obotritiſchen Geheimenrathsgeſchlechte, ehren-
haft, thätig, geſcheidt und doch ganz unfähig über den Geſichtskreis ſeiner
Standesgenoſſen hinauszublicken. Wie grimmig ging er einem bürger-
lichen Vaſallen zu Leibe, der ſich unterfangen hatte, dem Großherzoge
Georg zur vollſtändigen Ausführung des Art. 13 der Bundesakte die Be-
rufung einer allgemeinen Volksvertretung, ja ſogar die Abſchaffung des
Erbadels anzuempfehlen. Da hieß es in der großherzoglichen Antwort:
Du haſt durch Deinen Brief „das Maß gegeben, nicht was von der ehr-
würdigen Verfaſſung Unſeres Landes, wohl aber was von Dir als Vaſallen
zu halten ſei! Wir geben Dir unſere große und gerechte Unzufriedenheit
zu erkennen, verweiſen Dich an Deine Stelle, verbieten Dir andurch ähn-
lichen Vorwitz für die Zukunft aufs Nachdrücklichſte, ermahnen Dich aber
zugleich, Deine Anſichten und Meinungen zu läutern, vor Allem aber Dich
[572]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
der alles Gute tödenden Arroganz zu entäußern.“ So urkräftig und väter-
lich nahm ſich dieſe kleine Krone des Erbvergleiches an, der das Anſehen
der Landesherren kaum weniger ſchädigte als die Gemeinfreiheit der Bauern.
Der Trotz der Adelslibertät konnte nur durch die Macht einer ſtarken
Krone, wie die preußiſche war, gebrochen werden, und eine ſolche Wen-
dung war jetzt ganz unmöglich, da das mecklenburgiſche Haus, früher-
hin oftmals mit Preußen verfeindet, ſeit der Heirath der Königin Luiſe
eine innige Familienfreundſchaft mit den Hohenzollern geſchloſſen hatte.
In Berlin wie an allen anderen deutſchen Höfen ſtand die Meinung feſt,
daß man dies deutſche Abdera ſich ſelber und ſeinen ſtändiſchen Händeln,
die doch draußen Niemand ſchadeten, überlaſſen müſſe. Von dem hei-
miſchen Bürgerthum konnte der Anſtoß zu Neuerungen auch nicht aus-
gehen. Das derbe Volk, das dem Fremden ſo bequem und genußſüchtig
erſchien, war keineswegs arm an guten Köpfen; eine kerngeſunde, aus freiem
Gemüthe quellende heitere Laune behauptete hier immer ihr Recht. Wie
köſtlich hatte einſt Joh. Lauremberg in ſeinen niederdeutſchen Scherzge-
dichten die ſchwerfällige Kraft ſeiner Landsleute zugleich verſpottet und
verherrlicht:
Der wußte, daß in ſeinem geliebten Reineke Vos eine ganz eigene Macht
männlichen Humors lag, welche die Oberdeutſchen ſo nicht kannten; auch
Liscow reifte in der Roſtocker Luft zum geiſtreichen Satiriker heran und
blieb ſelbſt im feinen Oberſachſen der handfeſte Mecklenburger. Von den
ſchöpferiſchen Köpfen unſerer großen Literaturepoche gehörte zwar nur
einer, Joh. Heinr. Voß, dem mecklenburgiſchen Lande an; doch die Freude
an den Werken der neuen Dichtung war in den guten Bürgerhäuſern
von Roſtock und Wismar ſehr lebhaft, ſelbſt einzelne vom Adel, wie Graf
Hahn, der Freund Herder’s, huldigten den claſſiſchen Idealen. Weit ſtärker
noch wirkte die vaterländiſche Begeiſterung der Freiheitskriege auf die Hei-
math Blücher’s und der Königin Luiſe; die „Franzoſentid“ war dem Meck-
lenburger der Gräuel aller Gräuel. Das Land brachte willig ſchwere
Opfer, zahlreiche Freiwillige traten ein, namentlich in die Lützower Frei-
ſchaar; auch ein Bürgermädchen zog mit in den Kampf und brachte das
eiſerne Kreuz heim. Nach dem Frieden ſtanden die gemüthlichen, warm-
herzigen Patrioten von der Warnow auf allen deutſchen Univerſitäten in
gutem Anſehen; zwei von den drei Stiftern der Burſchenſchaft und ihr
Geſchichtsſchreiber Haupt waren Mecklenburger. Aber wenn dieſe liebens-
würdigen jungen Leute nachher zurückkehrten in die behagliche Heimath,
dann begannen die Dämonen des Landes, der Kartentiſch, der Rothwein
und die Wittköppe, die Champagnerflaſchen, ihren einſchläfernden Zauber
zu zeigen, und der Mann hielt ſelten ganz was der Jüngling verſprochen
[573]Mecklenburgiſche Adelsherrſchaft.
hatte; ohne die Ideale ſeiner Jugend zu verleugnen, ergab er ſich doch mit
einem ſeufzenden „Jeja“ in Verhältniſſe, die ſich ſo leicht nicht ändern ließen.
Was vermochte dieſe bürgerliche Geduld gegen den dreiſt zugreifenden
Muth der Junker, die noch immer nicht anders dachten wie jener alte
Bülow, deſſen Grab in Doberan die Inſchrift trug: „ik bin en mecklen-
borgiſch Edelmann, wat geit di Düwel min Supen an?“ Roſtock, die ſtolze
Greifenſtadt, die noch eigene Münzen ſchlug und das Recht der Begna-
digung übte, ging auf den Landtagen meiſt mit dem Adel Hand in Hand,
weil ſie alſo ihre eigenen Privilegien ſicherte. Auch der einflußreiche, un-
gemein tüchtige Advocatenſtand fand ſeine Rechnung bei dem Privilegien-
wuſt dieſes Streitländchens. Denn ganz wie einſt in Polen galt hier
das Sprichwort, ein Edelmann ohne Proceß ſei wie ein Hund ohne
Schwanz. Ohne einen Rechtsbeiſtand ließ ſich kaum das kleinſte Geſchäft
abſchließen, und wie viele Sporteln fielen dann noch ab, wenn der Advocat
zugleich die Patrimonialgerichtsbarkeit ſeiner adlichen Clienten beſorgte.
Im Jahre 1850 lebten in Mecklenburg-Schwerin 296 Advocaten; je 1700
Menſchen etwa, die Säuglinge mit eingeſchloſſen, mußten einen Rechts-
anwalt auskömmlich ernähren — eine Ziffer, die auch nur im Königreich
Sachſen ihresgleichen fand.
Mit den wirthſchaftlichen Kräften des Großgrundbeſitzes konnte ſich
das Bürgerthum auch nicht meſſen. In den Landſtädten handtirte der
Handwerker, durch Zunft- und Bannrechte wohl geſchützt, gemächlich nach
der Väter Weiſe. Der Fürſtenhof, das Schwarze Kloſter und die anderen
Prachtbauten des alten Wismar lagen verwahrloſt in verödeten Gaſſen,
und obwohl Roſtock die größte Handelsflotte der Oſtſee beſaß, ſo blieb
ſein deutſches Handelsgebiet doch nur klein, da die Zölle und die ſprich-
wörtliche Erbärmlichkeit der Straßen den Verkehr mit dem Binnenlande
erſchwerten. Ein mecklenburgiſcher Weg war nie ſchrecklicher, als wenn
ihn die Nachbarn auf Befehl der ſtändiſchen Behörden ſoeben „gebetert“
hatten. Die erſte Steinſtraße, ein Stück der großen Hamburg-Berliner
Chauſſee, wurde erſt 1826 durch eine engliſche Geſellſchaft erbaut. Alſo
von ihrem Hinterlande faſt abgeſchnitten, fühlten ſich die Roſtocker Rheder
ganz als hanſeatiſche Weltbürger und ließen viele ihre Schiffe, unter der
Führung der wetterfeſten Capitäne aus dem Fiſchlande, jahrelang zwiſchen
den Häfen Oſtindiens oder Chinas ſegeln. Die ſeemänniſche Tüchtigkeit
des Küſtenvolks bereicherte wohl einzelne große Firmen, dem Verkehre des
Landes brachte ſie wenig Vortheil.
Nicht einmal einer überlegenen Bildung durfte das Bürgerthum
ſich rühmen. Die bürgerlichen Ritter wetteiferten meiſt mit dem Adel in
plumpem Uebermuth; die alten, die ſich gern als „Fetthämmel“ in Ro-
ſtock zur Ruhe ſetzten, blieben jedem neuen Gedanken unzugänglich, nur
einzelne der jüngeren, die noch nichts galten, waren von den liberalen
Ideen erfüllt. Die Landesuniverſität Roſtock hatte von jeher unter den
[574]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
deutſchen Hochſchulen nur eine beſcheidene Rolle geſpielt, und in der luthe-
riſchen Landeskirche wurde der herrſchende flache Rationalismus von einer
ebenſo geiſtloſen Orthodoxie, die an den Führern des Adels ihre Gönner
fand, gröblich bekämpft. Darin ſtimmten beide Parteien überein, daß die
lutheriſche Glaubenseinheit, die hier ſo hart gehandhabt wurde wie in
Skandinavien, unerſchüttert bleiben müſſe. Den Katholiken war — den
Bundesgeſetzen zuwider — nur in zwei Gemeinden öffentlicher Gottes-
dienſt geſtattet, und die evangeliſche Union wurde gleich im Jahre ihrer
Entſtehung ſtreng verboten; wollte ein Reformirter am Abendmahle der
Lutheraner theilnehmen, ſo ſollte er zuvor ſeine calviniſche Ketzerei ab-
ſchwören. Die Juden mußten ſich’s gefallen laſſen, daß die Gleichberech-
tigung, die ihnen der gute Friedrich Franz in der hoffnungsvollen Zeit
des Befreiungskriegs gewährt hatte, vier Jahre nachher auf Andringen
des Landtags zurückgenommen wurde.
Noch weniger als dies unentwickelte Bürgerthum vermochte der Bauern-
ſtand aus eigener Kraft ſich der Uebermacht der Ritter zu erwehren. Der
lange, grauſame Vernichtungskampf der mecklenburgiſchen Grundherren
wider die Bauerſchaft füllt wohl das dunkelſte Blatt in der Geſchichte des
deutſchen Adels. Ungehindert von der ſchwachen Landesherrſchaft hatte ſich
der Adel ſeit 1621 völlig willkürlich das Recht angemaßt, ſeine Bauern
zu „legen“, ihre Güter einzuziehen falls ſie kein Erbzinsrecht nachweiſen
konnten. Nach dem dreißigjährigen Kriege wohnten noch an 12000 freie
Bauern im Lande; da ſtürzte ein großer techniſcher Fortſchritt des Land-
baus, die Einführung der holſteiniſchen Koppelwirthſchaft durch v. d. Lühe,
den Bauernſtand gänzlich ins Verderben. Ums Jahr 1730 begannen
die Grundherren wetteifernd ihre Bauern um- und niederzulegen, bis
ſchließlich nur noch etwa ein halb Dutzend freier Bauerndörfer übrig blieb;
die ſchönen Rinderheerden, die nunmehr auf den wohlumhegten Koppeln der
Edelleute weideten, waren die reißenden Thiere, welche den Bauer aufge-
freſſen hatten — wie die Schafe in England zur Zeit des Thomas Morus.
Der Erbvergleich beſtätigte der Ritterſchaft ihr angemaßtes Recht und ver-
langte nur, daß ganze Dorfſchaften nicht ohne die Erlaubniß des Herzogs
und des ſtändiſchen Ausſchuſſes gelegt werden ſollten — ein Verbot, das
der Grundherr leicht umging, wenn er die Bauernhöfe einzeln nieder-
legte. So brach über das unglückliche Land eine wirthſchaftliche Kata-
ſtrophe herein, wie ſie auch Brandenburg ohne die ſtarken Hände ſeiner
Monarchen leicht hätte erleben können. Die Güter der Ritterſchaft um-
faßten beim Beginne des neuen Jahrhunders etwa 45 Procent vom Lan-
desgebiete, aber kaum ein Drittel ſeiner Bevölkerung; nur 1300 Menſchen
lebten dort noch auf der Geviertmeile. Und doch ſtrebte das Volk hinaus
aus dem gewaltſam verödeten fetten Lande; wiederholte ſtrenge Geſetze
mußten den Leibeigenen, „die ihrer Leiber nicht mächtig ſind,“ die Aus-
wanderung unterſagen. Der dienſtpflichtige Landmann arbeitete oft ſechs
[575]Aufhebung der Leibeigenſchaft.
Tage in der Woche für den gnädigen Herrn, der, wie der Pächter im
Domanium, mit Stock und Peitſche das Recht des Dienſtzwangs übte und
bei ſchlechter Wirthſchaft den Bauer unnachſichtlich abmeiern ließ.
Dies Bauernelend hatte Stein im Auge, wenn er das Schloß des
mecklenburgiſchen Edelmanns mit der Höhle des Raubthiers verglich, und
Schlözer, wenn er dieſe Ritter privilegirte Landesverräther nannte. Unter
ſolchen Eindrücken bildete ſich Voß ſeinen leidenſchaftlichen Haß gegen den
Erbadel, „dies ſtinkende Ehrenkleid aus der Lade der Ahnen.“ Bei der
großen Nahrhaftigkeit des Landes war die Lage der Bauern nicht überall
unerträglich. Im „Hahn’ſchen“ hauſten die Gutsunterthanen behaglicher
als anderswo die Freien; auch die Maltzan und andere durch ihren Ahnen-
ſtolz bekannte Familien ſorgten immer väterlich für ihre Leute. Durch die
milderen Sitten der neuen Zeit ward allmählich der Dienſtzwang etwas
erleichtert. Die Mehrzahl der kleinen Leute aber lebte in arger Roheit,
vielfach mißhandelt, in elenden Schulen kaum nothdürftig unterrichtet.
In dem Jahrzehnt der Revolution bekundete ſich der Groll des armen
Mannes zum Schrecken des Adels in mehrfachen Aufläufen, und als
der Befreiungskrieg das geſammte Volk unter die Fahnen gerufen hatte,
da fühlte man endlich, daß man einlenken mußte. Auf dem Landtage von
1815 nahmen ſich die Städte „der edlen Unfreien“ an, die für Deutſch-
land ſo wacker gefochten, und nach langen ſtürmiſchen Verhandlungen
ward am 18. Jan. 1820 die Aufhebung der Leibeigenſchaft verkündigt —
ſeit unvordenklicher Zeit die erſte ſociale Reform in dieſem Lande. Doch
die Selbſtſucht der Ritterſchaft hatte dafür geſorgt, daß der Bauer ſeiner
Freiheit nicht froh wurde. Er erlangte nur die Befreiung von der Scholle,
durchaus keinen Anſpruch auf Grund und Boden. Wagte er ſeinem
Dienſtherrn zu kündigen, ſo ward er heimathlos und erfuhr, was der
landläufige Jammerruf „ken Hüſung!“ bedeutete; von einer Gutsherr-
ſchaft zur anderen abgeſchoben mußte er ſchließlich in dem großen Land-
armenhauſe zu Güſtrow eine Zuflucht ſuchen. Schon nach Jahresfriſt
war das gewaltige alte Obotritenſchloß zu klein um die Maſſe der neuen
Heimathloſen zu beherbergen, und der Landtag beſchloß, die Grundherren
ſollten fortan den befreiten Leibeigenen ein Obdach geben — aber was
war ſolch ein Obdach, von widerwilligen Händen gewährt? Von dieſen
Ständen, Friedrich Franz wußte es längſt, ſtand eine ernſtliche Erleichte-
rung des Bauernſtandes nicht zu erwarten; darum beſchloß der Groß-
herzog mindeſtens ſelber mit gutem Beiſpiele voranzugehen und ließ ſeit
1822 auf ſeinen Kammergütern eine umfaſſende Auseinanderſetzung vor-
nehmen. Er wünſchte der Mehrzahl ſeiner bäuerlichen Hinterſaſſen eine
wohlgeſicherte Erbpacht zu verſchaffen, aber der Schlendrian der Behörden
und die wunderſam verfitzten Rechtsverhältniſſe bewirkten, daß die wohl-
gemeinte Reform nur ſehr langſam fortſchritt.
Unter allen den hochariſtokratiſchen Staaten, welche einſt das Oſt-
[576]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ſeebecken umgaben, hatte ſich Mecklenburg allein, noch zäher ſogar als
Rußlands baltiſche Provinzen, ſein Adelsregiment ganz unverändert er-
halten. Hier galt es erſt den Grund zu legen für ein modernes Geſell-
ſchaftsrecht; für eine Volksvertretung fehlten noch alle Vorbedingungen,
und für Preußens deutſche Handelspolitik, die auf ein geordnetes Beam-
tenthum zählen mußte, kam dies Land noch gar nicht in Betracht. —
Der Adel allein war es nicht, der die ſeltſame Unbeweglichkeit der
norddeutſchen Kleinſtaaten verſchuldete. In Oldenburg, dem Lande der
Stedinger Ketzer, wo die ſtreitbaren Bauern den Adel ſchon vor Jahrhun-
derten faſt vernichtet hatten und auf freien Höfen hinter ihren Eichen-
kämpen ſaßen, zeigte ſich die nämliche Erſtarrung. Dies unnatürlichſte
aller deutſchen Staatsgebilde war allerdings nicht leicht zu regieren. Das
neue Großherzogthum umfaßte außer den hartproteſtantiſchen Bauern-
ländern an der Hunte und Jahde, die hundert Jahre lang unter däni-
ſcher Herrſchaft geſtanden hatten, noch ein Stück vom katholiſchen Münſter-
lande, dazu die Fürſtenthümer Lübeck an der Oſtſee und Birkenfeld an
der Nahe. Ein ſtraffes bureaukratiſches Regiment ſchien der wohlmeinen-
den Dynaſtie allein fähig, dieſe Frieſen, Weſtphalen, Holſten und Rhein-
länder unter einem Herrſcherhute zuſammenhalten. Der großherzogliche
Amtmann war allmächtig; die neu gewonnene Herrſchaft Jever verlor
ihre uralte Gemeindefreiheit, welche ſelbſt die ruſſiſchen Landesherren nicht
angetaſtet hatten, und die verheißene Verfaſſung blieb aus. In der deut-
ſchen Politik machte ſich Oldenburg nur bemerklich durch ſeine kleinlichen
handelspolitiſchen Kämpfe wider die Hanſeſtadt Bremen.
An den widerſpruchsvollen, unhaltbaren Zuſtänden der drei Hanſeſtädte
ließ ſich der ganze Jammer des deutſchen Föderalismus erkennen. Die
drei Städte hatten ſich einſt, als der große Hanſebund zerfiel, verpflichtet
den alten Namen und die alte Verbindung aufrechtzuerhalten, ſie hatten
während des Befreiungskrieges durch gemeinſame rührige diplomatiſche
Arbeit ihre Wiederherſtellung durchgeſetzt und hielten auch im Frieden
freundnachbarlich zuſammen. Sie behielten ihre alte Rangordnung bei, ſo
daß Lübeck obenan, Hamburg zuletzt ſtand, ſie hüteten getreulich die letzten
Beſitzthümer, die noch im Auslande von der althanſiſchen Herrlichkeit übrig
waren, den Londoner Stahlhof und das Oeſterſche Haus in Antwerpen;
ſie ſuchten häufig durch gemeinſame Conſulate und Handelsverträge ihre
Intereſſen zu wahren und errichteten in Lübeck ein Oberappellationsgericht,
das etwas langſam, aber ſehr tüchtig arbeitete. Wohl war es ein Unheil
fortwirkend durch Jahrhunderte, daß einſt, wie Dahlmann klagte, Schles-
wigholſteins beide Augen ſich geſchloſſen, Hamburg und Lübeck ſich ihrer
transalbingiſchen Heimath entfremdet und auch Bremen, gepeinigt durch
die Willkür ſeiner Erzbiſchöfe, den politiſchen Verband mit dem Hinter-
lande zerriſſen hatte. Aber ſo lange Schleswigholſtein däniſch, Hannover
engliſch war, konnte die Wiedervereinigung keinen Segen bringen.
[577]Oldenburg. Die Hanſeſtädte.
Darum verwendete ſich ſelbſt Stein im Herbſt 1813 lebhaft für die Un-
abhängigkeit der Hanſeſtädte. Er ging dabei von der zweifachen Voraus-
ſetzung aus: daß fortan wieder eine Reichsgewalt mit wirkſamen Hoheits-
rechten beſtehen und daß eine nationale Zolllinie alle deutſchen Grenzen
umſchließen würde. Beide Erwartungen erfüllten ſich nicht. Noch im acht-
zehnten Jahrhundert hatte die Reichsgerichtsbarkeit den Schlußſtein der
hanſeatiſchen Städteverfaſſung gebildet; wiederholt waren kaiſerliche Com-
miſſionen eingeſchritten um den Unfrieden in den Reichsſtädten beizulegen.
Durch die Bundesakte aber erhielten die Hanſeſtädte die volle Unabhängig-
keit ſouveräner Staaten, und damit eine Fülle von Anſprüchen und Ver-
pflichtungen, denen ſie unmöglich genügen konnten; denn obwohl Hamburg
mit ſeiner Kopfzahl einem thüringiſchen Herzogthum, mit ſeinem Staats-
aufwande etwa dem Großherzogthum Oldenburg gleich kam, durch ſeine
wirthſchaftliche Kraft ſogar das Königreich Württemberg übertraf, ſo war
doch der feſte Grund jedes ſelbſtändigen politiſchen Daſeins, die Wehr-
barkeit in einem modernen Stadtſtaate ganz undenkbar. Statt der von
Stein erhofften Reichszölle kehrte das Elend der Landeszölle wieder, und
die Städte ſahen ſich gezwungen zu ihrer alten ſelbſtändigen Handelspolitik
zurückzugreifen, die ſich ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden — wer durfte es
leugnen? — bei der Neutralität immer am wohlſten befunden hatte.
Alſo führten dieſe ſtolzen Communen, die als freie Glieder eines
mächtigen Staates eine Zierde Deutſchlands ſein konnten, fortan ein
krankhaftes Zwitterleben: ſie waren halb Städte, halb Staaten, halb deutſch,
halb weltbürgerlich, und obgleich es auch in ihren Mauern nicht an Pa-
trioten fehlte, welche die wirthſchaftliche Zerriſſenheit des Vaterlandes be-
klagten, ſo übte doch die Gewohnheit bald ihre unwiderſtehliche Gewalt.
Man lebte ſich ein in das handelspolitiſche Sonderdaſein und ſprach den
Landsleuten im Binnenlande, die allerdings oft ſehr ungerecht über die
verwickelten Intereſſen der Hanſeſtädte urtheilten, hochmüthig jedes Recht
ab in Sachen des Küſtenlandes mitzureden. Man bezeichnete die Abſon-
derung vom Vaterlande, die ſich doch nur als Nothwehr gegen die Binnen-
zölle vorläufig entſchuldigen ließ, mit dem tönenden Namen der Handels-
freiheit und machte nach deutſcher Weiſe aus der Noth nicht blos eine
Tugend, ſondern eine Theorie: während London, Neuyork, Marſeille, alle
großen Hafenplätze der Welt ſich unter dem Schutze nationaler Zolllinien
wohl befanden, ſollte — ſo hieß es jetzt — die Natur ſelber die Mün-
dungen der Elbe, Weſer und Trave ſo eigenartig geſtaltet haben, daß ſie
ein Zollweſen nicht ertragen könnten. Man verſicherte oft und inbrünſtig,
einer geſammtdeutſchen Handelspolitik würden ſich die Hanſeſtädte gern
unterwerfen. Aber die große Mehrzahl ihrer Kaufherren ſcheute jede
Aenderung, ſie fühlten ſich glücklich in der bequemen internationalen Frei-
hafenſtellung, die ihnen geſtartete, unbekümmert um das Hinterland, immer
den nächſten Handelsvortheil wahrzunehmen.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 37
[578]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Der lange Friede bewahrte die Städte vor der Verſuchung, wieder,
wie im achtzehnten Jahrhundert, durch eine ängſtliche Neutralität ſich zu
bereichern; aber auch die Zeiten kehrten nicht wieder, da die Hanſen ihren
Handel mit ihren wohlbewehrten Friedenskoggen geſchützt hatten. Waffenlos
wie ſie jetzt waren, außer Stande dem Auslande werthvolle Gegenvortheile
zu bieten, mußten ſie durch gewandte, nicht immer würdevolle diplomatiſche
Verhandlungen um die Gunſt der fremden Mächte werben und es ruhig
hinnehmen, daß ein nordamerikaniſcher Präſident ihnen ſagte: die Hanſe-
ſtädte ſind Hühner, die das Pferd der Vereinigten Staaten nur aus Mit-
leid nicht zertritt. In ſolcher Lage war das Leben der drei Stadtſtaaten
an grellen Gegenſätzen überreich. Größe und Kleinlichkeit, Fortſchritt und
Schlendrian, Handelsfreiheit und Zunftzwang, Bürgerſtolz und Beamten-
willkür, deutſcher Sinn und Ausländerei lagen dicht bei einander. Neben
königlichen Kaufleuten und ehrenfeſten republikaniſchen Staatsmännern,
die den Vergleich mit Gerhard v. Attendorn, mit Johann v. d. Wyck und
den anderen Größen althanſiſcher Geſchichte nicht zu ſcheuen brauchten,
gediehen hier auch die dünkelvollen Vertreter eines philiſterhaften, aus Welt-
bürgerthum und Pfahlbürgerthum ſeltſam gemiſchten Particularismus.
Am lebendigſten war die deutſche Geſinnung in dem aufſtrebenden
Bremen, das überhaupt in dieſen erſten Friedensjahren raſcher und kräf-
tiger vorwärts ſchritt als die reichere Schweſterſtadt an der Elbe. Die
Stadt war im Mittelalter in ihren nordiſchen und niederländiſchen Han-
delsbeziehungen ganz aufgegangen und erſt durch die Reformation in die
Strömung des nationalen Lebens hineingeriſſen worden, dann aber auch
mit Heldenmuth für die gemeinſame Sache des Proteſtantismus einge-
treten. Sie erlangte ſodann die Reichsſtandſchaft durch die Gunſt von
Kaiſer und Reich, unter beſtändigen Kämpfen mit Schweden und Kur-
hannover, den Rechtsnachfolgern der alten Erzbiſchöfe. Erſt der Reichs-
deputationshauptſchluß ſicherte ihr die Herrſchaft in ihrem eigenen Mauer-
ring: der kurhannoverſche Oberhauptmann zog ab, und der lutheriſche
Dom, der ſo lange mitten in der reformirten Stadt unter ſchwediſcher
und hannoverſcher Hoheit geſtanden, wurde dem bremiſchen Gebiete ein-
verleibt. Dieſe Händel mit unfreundlichen Nachbarn beſtärkten die Bürg-
erſchaft in der Reichstreue, die ihr ſchon Friedrich der Rothbart nachge-
rühmt hatte.
Mit heller Freude wurde der Untergang der verhaßten Fremdherr-
ſchaft begrüßt, und die Wiederherſtellung der erprobten alten Verfaſſung,
der Eintracht vom Jahre 1433 ſchien Allen ſelbſtverſtändlich. Der voll-
mächtige Rath, der ſich ſelber ergänzte, führte wieder das Regiment, ver-
pflichtete ſeine Mitglieder wieder auf den alten niederdeutſchen Eid „ik
will en recht Radmann ſin“, und berief von Zeit zu Zeit, nach freiem
Ermeſſen eine beliebige Anzahl rechtfertiger Bürger zu wichtigeren Verhand-
lungen. Ward eine Steuer ausgeſchrieben, ſo ſchätzte jeder Bürger ſich
[579]Bremen. Smidt.
ſelber ein, und die großartige Einfalt dieſer althanſiſchen Selbſtbeſteuerung
bewährte ſich auch jetzt noch ebenſo rühmlich wie vor drei Jahrhunderten
als Machiavelli ſie ſtaunend lobte. Da nahe Verwandte nicht gleichzeitig
im Rathe ſitzen durften und das kaufmänniſche Vermögen ſich ſelten durch
viele Geſchlechter erhält, ſo war trotz der ariſtokratiſchen Verfaſſung kein
geſchloſſenes Patriciat entſtanden; einzelne reiche Familien, die Meier, Wach-
mann, Bentheim genoſſen wohl hohen Anſehens, aber den unbemittelten
Talenten war der Zutritt zum Rathe keineswegs verſchloſſen.
Zu dieſen Emporkömmlingen zählte auch der kluge Staatsmann, der
während eines vollen Menſchenalters zugleich als Bundesgeſandter die
auswärtige, als Senator und Bürgermeiſter die innere Politik der kleinen
Republik mit dictatoriſcher Macht leitete. Johann Smidt war urſprüng-
lich Theolog, er hatte in Jena zu Fichte’s Füßen geſeſſen, mit Herbart
Freundſchaft geſchloſſen und ſich die Weltanſchauung unſerer claſſiſchen
Literatur angeeignet; aber ſeit der junge Prediger in den Senat einge-
treten war, lebte er nur noch der Politik, und erlangte durch die Ueber-
legenheit ſeines praktiſchen Verſtandes, ſeiner Willenskraft, ſeiner Geſchäfts-
gewandtheit bald ein unbeſtrittenes Anſehen, das um ſo williger ertragen
wurde, da er als überzeugter Republikaner ſeine ſelbſtherrlichen Neigungen
und ſeine Empfindlichkeit gegen den Tadel der Preſſe immer rechtzeitig
bändigte. Vorſichtig, verſchwiegen, berechnend, aber durchaus ehrlich, ver-
ſtand der unſcheinbare kleine Mann mit dem ernſthaften Schulmeiſter-
geſichte ſeine Mitbürger ebenſo geſchickt zu behandeln wie die Frankfurter
Diplomaten. Bremer mit Leib und Seele, war er ſchon als Student mit
Anti-Xenien gegen die Dioskuren von Weimar aufgetreten, weil Schiller
ſich unterſtanden hatte der Weſer die demüthige Aeußerung in den Mund
zu legen: „Leider von mir iſt gar nichts zu ſagen!“ Sein Lebelang blieb
ihm der Rathſchlag unvergeſſen, den ihm einſt ein alter Baſeler Bürger-
meiſter gegeben: wir haben uns immer ein wenig größer gemacht als wir
waren und uns gut dabei geſtanden. Er überſchätzte etwas die politiſche
Bedeutung der Hanſeſtädte und erkannte niemals, wie unhaltbar und ge-
fährlich die ſchrankenloſe Souveränität dieſer Communen war; doch ſah
er wohl ein, daß die deutſche Politik ſeines kleinen Staates vor Allem
darnach trachten mußte, niemals unter die Räder zu gerathen und hütete
ſich daher ſeine ſehr gemäßigten liberalen Anſichten in Frankfurt ohne
Noth zu verlautbaren; auch die Triaspläne ſeines Freundes Wangenheim
unterſtützte er, obwohl er ſie billigte, nur mit Vorſicht. Nur einmal,
zur Zeit der Karlsbader Beſchlüſſe fiel Bremen bei der Hofburg in Un-
gnade; aber der Senat beeilte ſich auf das Andringen der Großmächte
dem großen Kanzelredner Dräſeke wegen einer patriotiſchen Predigt einen
ſchonenden Verweis zu ertheilen und handhabte die Cenſur über die Bremer
Zeitung ſo ſtreng, daß man ſich in Wien bald wieder beruhigte. Trotz
mancher Reibungen gab Metternich den liberalen Bremer Bürgermeiſter
37*
[580]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
niemals ganz auf; er wußte, daß Smidt in dem Hauſe Oeſterreich den
Hort und Halt des Deutſchen Bundes, in Preußen den gefährlichen Feind
ſeiner geliebten Kleinſtaaten ſah.
Auf Smidt’s Rath entſchloß ſich der Senat bald nach ſeiner Wieder-
herſtellung zu einigen bedachtſamen Reformen: an der Wahl der Raths-
mitglieder ſollte fortan auch die Bürgerſchaft theilnehmen, und der Streit
zwiſchen Lutheranern und Reformirten, der den Frieden der Stadt ſo
oft geſtört hatte, ward durch die Gleichſtellung der beiden evangeliſchen
Bekenntniſſe glücklich beendigt. Die Juden wurden freilich ſtreng aus-
geſchloſſen, und das alte Zunftweſen, das hier ganz entartet und ver-
ſchnörkelt war, blieb auch unverändert. Indeß die Bürger waren zu-
frieden; ſie freuten ſich ihres wiedererwachten ernſten kirchlichen Lebens,
ihrer großartigen, ganz freiwilligen Armenpflege und vor Allem des be-
freiten Handels, der hier ſelbſt den Grundbeſitz in ſeine Dienſte zog: jeder
Bürger beſaß ſein eigenes Haus und konnte durch Veräußerung der leicht
verkäuflichen Hypotheken, der Handfeſten ſein ganzes Capital für Handels-
geſchäfte verwenden.
Bremens kriegeriſche Glanzzeit lag um vier Jahrhunderte zurück, aber
die Zeit ſeiner Handelsblüthe nahte jetzt erſt heran da die Stadt ſich mit
ihren militäriſchen Bundespflichten durch ein Bataillon geworbener Sol-
daten abfand. Gleich nach der Befreiung Nordamerikas hatten die Bremer
Kaufleute, unternehmender als die Hamburger, ein ſchwunghaftes Geſchäft
mit den Häfen der jungen Union begonnen, und obwohl die Stadt im
Jahre 1817 erſt durch einen Conſul in Nordamerika vertreten war, ſo
fühlte doch Jedermann, daß die Zukunft des Platzes weſentlich von dem
Gedeihen ſeines amerikaniſchen Eigenhandels abhing. Im Tabakhandel
begann Bremen ſchon viele andere europäiſche Häfen zu überflügeln, da
die fröhliche Rauchluſt der Deutſchen beſtändig wuchs. Das oberländiſche
Geſchäft war freilich als Geſchäft zweiter Hand noch wenig angeſehen und
gedieh wenig, weil die Binnenmauthen überall hemmten. Die von dem
unternehmenden F. Schröder eingerichtete Fluß-Dampfſchifffahrt ging bald
wieder ein; Hannover fand es nicht der Mühe werth, die Brücke von
Hoya, die den Dampfern den Durchgang verſperrte, umbauen zu laſſen.
Bedenklicher war, daß die großen Schiffe des transatlantiſchen Verkehrs
nicht mehr bis zu dem allzu weit landeinwärts gelegenen Weſerplatze hinauf
gelangen konnten. Wie vormals Schweden und Hannover ſo führte jetzt
Oldenburg den nachbarlichen Krieg gegen die Hanſeſtadt. Der Großherzog
fühlte ſich perſönlich beleidigt durch die Aufhebung des Elsflether Zolles,
die ihm Smidt am Bundestage mühſam abgerungen hatte*), und ſuchte
nunmehr den Seehandel der Weſer nach dem oldenburgiſchen Brake abzu-
leiten, ſo daß Bremen gar nicht mehr zu den Seeplätzen zählen ſollte. Wie
[581]Gründung von Bremerhaven.
viele Schlachten hatten einſt die Bremer geſchlagen um ſich ihre „könig-
liche Straße bis in die ſalze See frei“ zu halten; die Stadt war verloren,
wenn ſie nicht an der völlig ſchiffbaren Unterweſer ſich einen Hafen gründete,
etwa dort wo einſt Schweden die Zwingburg des Weſerhandels, die Karls-
burg erbaut hatte.
Smidt war es, der dieſen glücklichen Gedanken zuerſt faßte. Mit
diplomatiſcher Meiſterſchaft wußte er die Eiferſucht Hannovers, des böſen
Nachbarn, der augenblicklich ausnahmsweiſe mit Bremen leidlich ſtand,
gegen Oldenburg auszuſpielen. Er ſtellte dem Grafen Münſter und dem
Cabinetsrath Roſe vor, wie nöthig es ſei, den Weſerhandel auf dem
rechten, dem hannoverſchen Ufer feſtzuhalten, und erreichte wirklich, daß
Hannover (Januar 1827) einige hundert Morgen des Außendeichlands
von Lehe an Bremen abtrat. Die Bremer Bürger ſelber murrten, was
man mit dieſer Pfütze anfangen ſolle; Smidt aber ließ ſich nicht beirren,
er kannte die Legende von der Gründung Karthagos, und ſchon nach drei
Jahren wurde der neue Bremerhaven eröffnet — zur Verwunderung der
Hannoveraner, die den Sinn des Vertrages ſchwerlich ganz verſtanden
hatten. Nachher währte es noch mehrere Jahre, bis die mißtrauiſchen
Bremer Schiffer ſich daran gewöhnten in dem neuen Hafen zu löſchen;
der Briefverkehr zwiſchen den beiden Plätzen mußte durch Fußboten be-
ſorgt werden, weil Hannover ein bremiſches Poſtamt in Bremerhaven
nicht dulden wollte. So ſicherte ſich Deutſchlands zweite Hafenſtadt unter
den denkbar ungünſtigſten Verhältniſſen ihre Stellung als Seeplatz. Smidt
dachte auch ſchon ernſtlich an eine Eiſenbahnverbindung zwiſchen Bremen
und Hannover, da die Zeitungen den Plan einer Bahn Lüneburg-Braun-
ſchweig beſprachen, welche das Hamburgiſche Handelsgebiet zum Nachtheil
Bremens zu erweitern drohte. Neben ſolchen Zügen einer kühnen und
weitblickenden Handelspolitik nahm es ſich freilich ſeltſam aus, daß die
Stadt auch nachdem der preußiſche Thaler längſt die Herrſchaft in Nord-
deutſchland gewonnen hatte von ihrem veralteten Münzweſen, ihren Louis-
dor-Thalern, Groten und Schwaren nicht abgehen wollte.
In Hamburg war ſchon die Bevölkerung weit bunter gemiſcht als in
dem rein deutſchen Bremen; die zahlreichen eingewanderten Engländer,
Franzoſen, Niederländer, portugieſiſchen und polniſchen Juden erfüllten
ſich alle ſehr ſchnell mit dem ungeheuren Selbſtbewußtſein des Hamburger
Bürgers, fühlten ſich aber ſelten als Deutſche. Auch der Handel trug
hier mehr als in Bremen einen internationalen Charakter. Seit dem
Sinken Antwerpens war dieſer Platz allmählich der mächtige Zwiſchen-
markt für die Völker des Nordens geworden; große Fabriken verarbeiteten
hier im Freihafen die Rohprodukte des Auslands und ſchädigten den
deutſchen Gewerbfleiß durch einen erdrückenden Wettbewerb. Noch mehr
als die anderen Hanſeſtädte hatte Hamburg der Neutralität zu verdanken.
Mit Sehnſucht dachte Jedermann der goldenen Tage der Revolutions-
[582]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
kriege, da der Ertrag der Zölle ſich vervierfacht, die Häuſermiethe ſich ver-
achtfacht hatte und die Zahl der eingelaufenen Schiffe in acht Jahren
von 1504 auf 1960 geſtiegen war. Zudem war Hamburg eine Stadt
des Genuſſes — in ſcharfem Gegenſatze zu dem ehrbar nüchternen Bremen.
Die Reize ſeiner Auſterkeller, die Schaubuden und Tanzſäle des Ham-
burger Bergs lockten weither aus Niederdeutſchland Vergnügungsluſtige
herbei; der reichsſtädtiſche Freiheitsſtolz ſeiner Bürger war von jeher mit
einem Gefühle angenehmer Sättigung unzertrennlich verbunden. Ein Lied,
das in den glücklichen Zeiten der Neutralität viel geſungen wurde, rühmte:
Durch die Heimſuchungen der Fremdherrſchaft wurde dies ſelbſtgenüg-
ſame Bürgerthum dann ſehr fühlbar an ſein großes Vaterland erinnert.
Bei der Befreiung im Frühjahr 1813 regte ſich mächtig das deutſche Blut,
der wackere Mettlerkamp und die hanſeatiſche Legion ſchlugen ſich nach
alter Hanſenart, aber die Schlaffheit des kaufmänniſchen Regiments war
den Anforderungen des kriegeriſchen Zeitalters nicht gewachſen. In zehn
koſtbaren Wochen that der wiederhergeſtellte Senat ſehr wenig für die
Vertheidigung des Platzes, die befreite Stadt gerieth noch einmal unter
das franzöſiſche Joch, und mit Recht ſagte Niebuhr, ſelber ein Holſte:
mit dem tiefen Ernſt der preußiſchen Anſtrengungen dürfe die Hamburger
Erhebung nicht verglichen werden. Unbarmherzig hielt er in einem ſchönen
Aufſatze des Preußiſchen Correſpondenten dieſer ſtaatloſen Bürgerherr-
lichkeit den Spiegel vor: „Schon längſt hatte Hamburg wie alle ſeine
Schweſtern kein anderes als ein gefriſtetes Leben ohne alle politiſchen
Regungen gehabt. Solche Bürgerſchaften waren mit dem Glücke des
Schilfes ſehr zufrieden und ſahen es als ein Vorrecht an ſich vor dem
Winde zu beugen. Männlichkeit beſteht nur bei den Bürgern eines Staates
voll freien Lebens, der als Geſammtheit mit eigener Kraft ſich behaupten
kann.“ Er wagte die dem Particularismus ſo widerwärtige Wahrheit
auszuſprechen, Briſtol und Liverpool würden als abgeſonderte Städte tief
unter dem ſtehen, was ſie jetzt als freie Municipalſtädte ſeien, und ver-
hehlte nicht ſeine Herzensmeinung, daß Hamburg und Schleswigholſtein
nur unter Preußens Herrſchaft zur vollen Entwicklung ihrer natürlichen
Kräfte gelangen könnten.
Die kühnen Gedanken des Hiſtorikers eilten der Zeit weit voraus.
Die freie Stadt wurde mitſammt ihrem alten Gebiete wiederhergeſtellt,
und jeder Hamburger pries dieſe Wendung, obgleich ſich der Unſegen
der deutſchen Vielſtaaterei grade hier mit Händen greifen ließ. Noch
abenteuerlicher faſt als in der Frankfurter Gegend liefen die Landesgrenzen
[583]Hamburg.
in dem Winkel zwiſchen Elbe und Trave durcheinander. Die Vorſtädte
des großen Hafenplatzes, Altona, Blankeneſe, Wandsbeck waren däniſch.
Mit Lübeck, deſſen Gebiet in neun oder zehn Stücken zerſprengt lag, be-
ſaß Hamburg gemeinſam die fruchtbaren Vierlande, und die Verwaltungs-
zuſtände in dieſem beiderſtädtiſchen Amte Bergedorf erinnerten lebhaft an
die Herrlichkeit des ſtaatloſen Communionharzes. Während Dänemark den
nachbarlichen Verkehr durch ſeine Zölle beläſtigte, führte der Hamburger
Senat die aberwitzige abendliche Thorſperre wieder ein, die faſt während
eines halben Jahrhunderts mit unbegreiflicher Geduld ertragen wurde.
Mit ebenſo erſtaunlicher Leidſamkeit ergaben ſich die Kaufherren der erſten
Handelsſtadt des Feſtlandes darein, daß ſie ihre Briefſchaften bei ſieben
verſchiedenen Poſtämtern, der Stadtpoſt, der preußiſchen, der däniſchen,
der mecklenburgiſchen, der hannoverſchen, der thurn- und taxisſchen, der
ſchwediſchen Poſt aufgeben mußten. Im Jahre 1819 beantragten die
Hanſeſtädte in Frankfurt die Verbeſſerung des deutſchen Poſtweſens, worauf
der Bundestag hergebrachtermaßen die Einholung von Inſtructionen, welche
niemals eingingen, beſchloß. Seitdem rührte man keine Hand mehr:
ſechs fremde Poſtämter ließen ſich ertragen, aber die Abtretung des Poſt-
weſens an Preußen hätte die Ehre der Vaterſtadt bloß geſtellt. Der echte
Hamburger betrachtete es faſt als ein Zeichen vaterſtädtiſcher Macht und
Herrlichkeit, daß Hamburg die deutſche Münzverwirrung ſogar durch ein
doppeltes Münzweſen verſchönerte: der kleine Verkehr rechnete, wie Holſtein,
nach Mark lübiſch, die großen Firmen nach einer idealen Münze, Mark
Banco.
Die günſtige Lage der Stadt am Eingang des größten rein deutſchen
Flußgebietes und die altbewährte Handelstüchtigkeit ihrer Bevölkerung
kamen trotz aller dieſer Hemmniſſe doch zur Geltung. Erſtaunlich ſchnell
verharſchten die Wunden, welche Davouſt’s unbarmherzige Hand geſchla-
gen; der Verkehr wuchs, und die große Mehrzahl der zufriedenen Bürger
verſpürte keine Luſt, auf die Reformvorſchläge einzugehen, welche Perthes
mit einigen anderen weiterblickenden Männern im Jahre der Befreiung
aufgeſtellt hatte. Die wiederhergeſtellte alte Verfaſſung von 1528 blieb
im Weſentlichen unverändert. Der halb aus Juriſten halb aus Kauf-
leuten gebildete hochedle und hochweiſe Senat führte wieder die Herrſchaft
in gutem Einvernehmen mit den beiden Collegien der Oberalten und der
Hundertundachtziger, die auch in den ſeltenen Verſammlungen der erb-
geſeſſenen Bürgerſchaft ſtets den Ausſchlag gaben. Wie ſo oft in der Ge-
ſchichte der Hanſa zeigte der Rath auch jetzt mehr Einſicht als die Bür-
gerſchaft; er hielt einige kleine Verbeſſerungen für unumgänglich und er-
langte mindeſtens die Gleichſtellung der chriſtlichen Bekenntniſſe, doch die
Emancipation der Juden vermochte er bei der Bürgerſchaft nicht durchzu-
ſetzen. Leicht war das Regiment Ihrer Wohlweisheiten keineswegs. Die
unberechenbare patriarchaliſche Willkür der Hamburger Polizeiherren, ihre
[584]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Nachſicht gegen die öffentliche Unzucht und die Grobheit ihrer beſtechlichen
Unterbeamten genoſſen weithin in der Nachbarſchaft eines ſchlimmen Rufes.
In ganz Deutſchland gab es keinen ſo ganz unbeſchränkten Gewalthaber,
wie jenen Senator, der als Proconſul in dem ſchönen alten Schloſſe von
Ritzebüttel hauſte und die Elbmündung durch eine Batterie unbrauchbarer
Kanonen bewachte.
Hamburg war wie Bremen erſt durch die Reformation, durch die
mächtige Perſönlichkeit Johann Bugenhagen’s, in die geiſtige Arbeit der
Nation eingeführt worden und hatte dann, durch Hagedorn und Brockes,
und wieder durch Klopſtock, Reimarus, Leſſing, an Deutſchlands literari-
ſchem Schaffen rühmlich theilgenommen. Aber dieſe Tage des geiſtigen
Glanzes kehrten nicht zurück. Die wiederbefreite Stadt ging ganz im Ge-
ſchäft und Vergnügen auf. Den herrlichen Sammlungen, mit denen
Senckenberg und Städel ihr Frankfurt ſchmückten, konnte ſie nichts an die
Seite ſtellen. Ihr altes Johanneum blühte, doch das Volksſchulweſen lag
darnieder, nicht einmal die allgemeine Schulpflicht war eingeführt. Für
den Handel freilich ſorgte die Republik mit Einſicht. Im Senate ſaßen
neben dem ehrwürdigen blinden alten Bürgermeiſter Bartels noch viele
andere ausgezeichnete Geſchäftsmänner, wie Abendroth, Hudtwalker, Sieve-
king. Der alte Gemeinſinn der Bürgerſchaft bewährte ſich wieder in zahl-
reichen nützlichen Stiftungen, und mit dem wachſenden Reichthum kehrte
auch die alte particulariſtiſche Selbſtgefälligkeit zurück.
Am lauteſten äußerte ſich die vaterſtädtiſche Begeiſterung bei den
Uebungen des „Bürgermilitärs“, das aus ſieben Linien-Bataillonen,
Jägern, Reitern und Artillerie beſtand und mit grenzenloſer Verachtung
auf „die Hanſeaten“, die armen Teufel des ſtehenden Heeres hernieder-
blickte. Welch ein Feſt, wenn am Morgen die Trommler ihr „Kamerad
komm“ durch die Straßen ertönen ließen und dann der regierende Bür-
germeiſter — „der hohe Herr“ hieß er beim Volke — mit Dreimaſter
und Galanteriedegen feierlich angethan, draußen vor den Thoren die große
Heerſchau über das Bürgerheer abhielt; nach einem ungeheuren Zechge-
lage wälzten ſich ſchließlich die Bataillone wieder zur Stadt herein, die
meiſten Krieger ſtark angetrunken, manche auch mit einer Marketenderin
am Arme, nebenher die Straßenjugend, die nach der Melodie „bringt dat
Swin na’n Swinmarkt hen“ das ſtolze Nationallied ſang: „De Hambor-
gers hebbt den Sieg gewunnen, ho ho, ho ho!“ Unbedenklich war es doch
nicht, daß in der dritten Stadt des deutſchen Bundes das edle Hand-
werk der Waffen ſo undeutſch, ſo ganz nach der Weiſe der geldſtolzen
Pariſer Bourgeoiſie behandelt wurde: für die Armen der Ernſt und die
Laſt der Landesvertheidigung, für die Wohlhabenden die behagliche Spielerei
der Nationalgarde!
Von Deutſchland war bei dieſen Bürgerfeſten nie die Rede. Und
doch ließ ſich nicht verkennen, wie eng der Reichthum des großen Handels-
[585]Lübeck.
platzes mit dem Gedeihen des Hinterlandes zuſammenhing. Der ſchein-
bar ſo glänzende Zuſtand des Hamburger Handels beruhte keineswegs
auf geſunden wirthſchaftlichen Verhältniſſen. Im transatlantiſchen Handel
ſtand die Elbeſtadt unverhältnißmäßig hinter Bremen zurück. Noch im
Jahre 1840 gingen nach den Vereinigten Staaten nur 38 Schiffe aus
Hamburg ab, darunter 22 nordamerikaniſche und 11 hamburgiſche, wäh-
rend ihrer 70 einliefen. Ungleich ſtärker war der Verkehr mit Frankreich,
aber auch dorthin die Ausfuhr mäßig, bedeutend nur die Einfuhr, zumal
der Bordeauxweine, die erſt ſeit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
durch die Hamburger Kaufleute in Deutſchland bekannt geworden waren
und allmählich den ſpaniſchen wie den Rhein-Wein aus unſerem Norden
faſt verdrängt hatten. Aber der weitaus größte Theil der Hamburgiſchen
Einfuhr kam aus England. Von da liefen im Jahre 1840: 1610 Schiffe
in Hamburg ein, worunter 826 engliſche, 151 hamburgiſche. Nach Eng-
land gingen nur 1190 Schiffe — eine bedenklich niedrige Ziffer, da min-
deſtens neun Zehntel der deutſchen Ausfuhr nach Großbritannien den
Weg über Hamburg und Altona nahmen. Der in Süddeutſchland übliche
Vorwurf, die Hanſeaten ſeien nur engliſche Agenten, war Hamburg gegen-
über damals nicht ganz unbegründet. Mancher Hamburger Kaufherr hatte
es kein Hehl, daß er das Erſtarken des deutſchen Gewerbfleißes nicht
wünſche, weil er die gewohnte engliſche Einfuhr zu verlieren fürchte. Erſt
die Zukunft ſollte zeigen, wie kurzſichtig ſolche Berechnungen waren. Erſt
durch die Segnungen des Zollvereins, durch die wachſende Ausfuhr deut-
ſcher Induſtriewaaren iſt Hamburg in den Stand geſetzt worden, ſeinen
transatlantiſchen Verkehr zu erweitern.
Neben den beiden glücklichen Schweſterſtädten erſchien das ehrwürdige
Lübeck ſtarr und todt. Von ihrer Bevölkerung hatte die Königin der
Oſtſee wohl zwei Drittel, von ihrem Handel an fünf Sechſtel verloren.
Die Thurmpaare des Domes und der Marienkirche ragten noch weithin
ſichtbar über die wagriſche Bucht, aber die alten Landmarken wurden nicht
mehr wie ſonſt von ſiegreich heimkehrenden Orlogsflotten jubelnd begrüßt.
Die Nationen des Nordens, welche Lübeck einſt mit ſeinen Waffen und
ſeinem Capitale beherrſchte, waren längſt mündig und ſeine baltiſche See
ſeit dem Aufblühen des oceaniſchen Handels längſt ein beſcheidenes Binnen-
meer geworden. Die hundert Städte des deutſchen Reichs, die einſt an
der Trave ihren Oberhof gehabt, hatten in ihrem Rechtsleben neue Bahnen
eingeſchlagen. Auch hier wurde die ariſtokratiſche alte Verfaſſung von
1669 wieder eingeführt, und auch hier verſuchte der Rath vergeblich die
Bürgerſchaft zu einigen beſcheidenen Reformen zu bewegen. Lübeck be-
ſaß an dem Syndicus K. Georg Curtius und dem Senator Hach treff-
liche Staatsmänner, denen der Wahlſpruch der Väter „holt Mate, kant
wol halten“ unvergeſſen blieb. Doch obwohl ein Grundſtock des althan-
ſiſchen Wohlſtandes ſich immer noch erhielt, das Hospital zum Heiligen
[586]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Geiſt und die anderen herrlichen Stiftungen der Vorzeit die Armuth
nirgends aufkommen ließen, ſo konnte die Stadt doch, von ihrem Hinter-
lande künſtlich getrennt, ſich des Friedens nicht recht freuen. Ganz uner-
träglich ward ihr die böſe Nachbarſchaft der Dänen, die, als ob ſie der
Schlacht von Bornhöved gar nicht vergeſſen könnten, jetzt wie vormals
durch Feindſeligkeiten jeder Art das Aufſteigen Lübecks zu hemmen ſuchten.
Erſt nach jahrelangen ärgerlichen Verhandlungen erlaubte die däniſche
Krone den Bau der unentbehrlichen Straße nach Hamburg quer durch
Holſtein, und auch dann nur auf einem großen Umwege. —
Noch weit ſchwerer laſtete die Hand dieſes böſen Nachbarn auf der
transalbingiſchen Nordmark. Es war ein Schickſalstag, entſcheidend für
vier Jahrhunderte, jener 3. März 1460, da die Landräthe Schleswig-
holſteins in Ripen den Dänenkönig Chriſtian I. zum Herzog von Schles-
wig und Grafen von Holſtein kürten. „So wurden die Holſten Dänen“
klagte der Lübecker Chroniſt. Manchen der Tagenden mochte das däniſche
Gold beſtimmen, Manchen die Hoffnung, der ferne Landesherr, der Karſten
aver’n Belte werde die heimiſche Adelsfreiheit wenig ſtören; den Ausſchlag
gab doch die Einſicht, daß die alte, in ſo viel blutigen Kämpfen gegen die
Unionskönige des Nordens behauptete Verbindung zwiſchen dem däniſchen
Lehen Schleswig und dem deutſchen Reichslehen Holſtein nur durch dieſe
Wahl geſichert werden konnte. Ausdrücklich „nicht als ein König zu Däne-
mark“ ſondern als ein Herr dieſer Lande wurde Chriſtian gewählt und mußte
durch die Magna Charta und ihre Tapfere Verbeſſerung das Staatsrecht
der beiden vereinten Lande feierlich ſicherſtellen. Er beſchwor — und nach
ihm die lange Reihe ſeiner Nachfolger — dat ſe bliven up ewig toſamede
ungedeelt, daß nur deutſche Holſtenkinder angeſtellt, nur mit Bewilligung
der Stände Steuern erhoben, nur im Lande ſelber Kriegsdienſte geleiſtet
werden ſollten. Hoch war der Preis, der für dieſe Freiheitsbriefe gezahlt
wurde. Das altholſatiſche Hamburg trennte ſich nun erſt, wie vor ihm
Lübeck, von ſeinem Heimathsſtaate. Statt des glorreichen heimiſchen
Grafengeſchlechtes der Schauenburger herrſchten jetzt fremde Fürſten, die
mit leerer Taſche kamen um mit gefüllter davonzugehen. Das deutſche
Reichsland Holſtein gerieth durch die Vereinigung mit dem däniſchen Schles-
wig in unhaltbare Rechtsverhältniſſe, die nur darum erträglich ſchienen,
weil der Reichsverband ſo wenig mehr bedeutete. Beide Länder wurden
durch ihre däniſchen Herrſcher der deutſchen Politik entfremdet und in die
Händel Skandinaviens verwickelt.
Gleichwohl blieb das Eine gewahrt, worauf hier die ganze Zukunft
deutſchen Rechtes und deutſcher Geſittung ruhte: die Untrennbarkeit der
Herzogthümer. Zwar iſt auch Schleswigholſtein dem gemeinen deutſchen
Schickſal wiederholter Landestheilungen nicht entgangen. Aber niemals
wurde Schleswig von Holſtein abgetrennt; die Gottorper Herzöge, die ſich
[587]Schleswigholſtein und Dänemark.
ſo lange mit ihren königlichen Vettern in die Herrſchaft der Nordmark
theilten, beſaßen ſtets Stücke von Holſtein und Stücke von Schleswig zu-
gleich, und die Anweſenheit dieſer deutſchen Fürſten im Lande ſelbſt bot
zugleich eine Gewähr gegen däniſche Uebergriffe. Jahrhunderte lang land-
tagten beide Herzogthümer gemeinſam in deutſcher Sprache, und unter
dem Schutze dieſes deutſchen Staatsrechts drang die überlegene deutſche
Cultur unaufhaltſam gen Norden vor. Das Deutſche war die Sprache
der Bildung und herrſchte in allen Städten bis nach Hadersleben hinauf;
Hamburg, „die Stadt“, wie man kurzweg ſagte, bildete den Mittelpunkt
für den Verkehr des ganzen Landes. Wohl hatte ſich Schleswig noch
aus den Anfängen ſeiner Geſchichte her manche altnordiſche Einrichtung
erhalten, ſo das Jütiſche Low und die Eintheilung des Landes in Harden;
doch die geſammte neuere Rechtsbildung war auch hier deutſch, während
Holſtein aus dem däniſchen Rechte ſchlechterdings nichts aufnahm als einige
Danismen in der Amtsſprache — ſo den nordiſchen Ausdruck „unbei-
kommend“ für unbefugt. Selbſt die Bauern Nordſchleswigs, die unter
ſich ihr Rabendäniſch ſprachen, lebten mit den deutſchen Nachbarn noch
in ungeſtörter Eintracht. Alles Land von der Königsau bis zur Elbe ge-
hörte zuſammen — man wußte es gar nicht anders — und ſeit das
Haus Gottorp auf ſeine Mitherrſchaft verzichtet hatte (1773), war auch
die ſtaatsrechtliche Einheit wieder vollkommen geſichert.
Ein Gefühl der Bedrückung konnte hier um ſo weniger aufkommen,
da der däniſche Geſammtſtaat ſehr oft durch Männer aus dem ſchles-
wigholſteiniſchen Adel regiert wurde, der ſich, alſo in größeren Verhält-
niſſen geſchult, durch Weltkenntniß und freieren Blick vor den Standes-
genoſſen in Sachſen und Hannover vortheilhaft auszeichnete. Die Könige
waren deutſchen Blutes und früherhin meiſt deutſch gebildet. Seit ſie
ſich durch das Königsgeſetz (1665) die unumſchränkte Gewalt in Däne-
mark errungen hatten, erfreuten ſich die neuen Alleingewaltserbkönige des
Vortheils, welcher den Abſolutismus zur Beſchwichtigung nationaler Gegen-
ſätze vorzüglich befähigt: ſie konnten, was ein conſtitutioneller Fürſt faſt
niemals kann, zwiſchen den verſchiedenen Nationen, die ihr Scepter be-
herrſchte, eine neutrale Mittelſtellung einnehmen, ſo daß ſie keiner von
ihnen ſchlechthin als Fremde erſchienen. Bis in den Anfang des acht-
zehnten Jahrhunderts beſtand auch noch das Vermächtniß der Hanſa, die
alte Gemeinſchaft baltiſcher Cultur, die erſt allmählich durch das Erſtarken
des ſkandinaviſchen Volksthums zerſtört wurde: deutſche Sprache und
Wiſſenſchaft behaupteten das Uebergewicht in allen Oſtſeelanden, die Uni-
verſitäten Lund und Kopenhagen waren ihren deutſchen Schweſtern Kiel,
Roſtock, Greifswald, Königsberg in Art und Unart noch nahe verwandt,
ſelbſt im däniſchen Heere herrſchte noch die deutſche Commandoſprache.
Mit Selbſtgefühl, aber ohne Groll ſtanden die Schleswigholſteiner neben
den verbrüderten Dänen. Wohl ſchied ein ſcharfer natürlicher Gegenſatz
[588]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
die beiden Nationen. Den ſchwerfälligen, langſam erwarmenden, grund-
ehrlichen Holſten mißfiel das bewegliche und verſchlagene däniſche Weſen;
ſeit dem Königsgeſetze herrſchte auch im däniſchen Staate ein bürgerlich-
bureaukratiſcher Geiſt, der ſich mit der ariſtokratiſchen, altſtändiſchen Selbſt-
verwaltung der Herzogthümer ſchwer vertrug. Aber noch waren dieſe
Gegenſätze dem deutſchen Grenzvolke nicht zum Bewußtſein gekommen.
Man hatte ſo lange Freud und Leid mit einander getheilt, ſo lange in
gemeinſamer Verehrung emporgeblickt zu den langweiligen oldenburgiſchen
Friedrichen und Chriſtianen, die ſich zumeiſt nur durch die Ziffer hinter
ihrem Namen von einander unterſchieden, und noch in den zwanziger
Jahren ſagte mancher ehrliche Deutſche in Schleswig arglos: Seeländer
und Jüten, Holſten und Isländer ſeien alleſammt gute Dänen.
In vielhundertjährigem Sonderleben hatte der deutſche Particula-
rismus ſich hier natürlich ſehr ſtark und eigenartig ausgebildet. Er war
nicht eigentlich politiſch, da der ſeltſame Zwitterzuſtand des Landes zu
politiſchem Ehrgeiz keinen Anlaß bot, ſondern bekundete ſich, ganz wie
bei den Schwaben, in der Unduldſamkeit eines unermeßlichen perſönlichen
Selbſtgefühls. Für den Kieler vom alten Schrot und Korn beſtanden
auf Erden nur zwei Nationen: die „Butenminſchen“ und wir; die erſtere
umfaßte Alles was über Lübeck und Hamburg hinaus bis zum Südpole
wohnte und wurde nur mit ſehr gemäßigter Hochachtung betrachtet. Und
dies Selbſtbewußtſein war nicht grundlos. Im Verlaufe einer ehren-
reichen Geſchichte hatten ſich dieſe Sachſen, Ditmarſchen, Angeln und
Frieſen ein lebendiges Gemeingefühl gebildet, ihre alte Volksfreiheit und
ihre deutſche Eigenart tapfer behauptet. Die vielgefeierte Holſtentreue ſtand
ſelbſt unter den treuen Deutſchen in beſonderem Anſehen, und wie viel
köſtliche geiſtige Kraft hier noch ſchlummerte, das bewies im ſechzehnten
und ſiebzehnten Jahrhundert die Kunſtfertigkeit der holſteiniſchen Holz-
ſchnitzer, das bewieſen neuerdings Carſtens und die beiden Niebuhr. Wäh-
rend der literariſchen Bewegung des alten Jahrhunderts zeigte die ent-
legene Mark mehr dankbare Empfänglichkeit als ſchöpferiſche Kraft; nur der
Eutiner Freundeskreis der Stolberg, Voß, Boie, Jacobi und der Wands-
becker Bote des frommen Matthias Claudius zählten mit in den Kämpfen
der Zeit. Auch von der nationalen Leidenſchaft des Befreiungskriegs ver-
ſpürte man in Schleswigholſtein wenig. Aber in ſeiner Abgeſchiedenheit
bewahrte ſich das hochbegabte Volk eine glückliche Friſche der Empfindung,
und in der nächſten Generation ſollte dieſer Boden, der ſo lange brach
gelegen, dem Vaterlande eine erſtaunliche Fülle literariſcher und politiſcher
Talente ſchenken.
Da der abweſende König ſeine deutſchen Herzogthümer der Regel nach
ſich ſelber überließ, ſo wurde Schleswigholſtein, in noch höherem Maße
ſogar als Hannover, ein Land des Herkommens und der uralten Gewohn-
heiten. Wie viele natürliche Gegenſätze drängten ſich hier auf dem ſchmalen
[589]Altſtändiſche Selbſtverwaltung.
Raume zwiſchen zweien Meeren zuſammen. Der ſchleswigſche Bauer ver-
glich ſein ſchönes Land einem Schweine mit dürrem Rücken und fetten
Flanken. In der Mitte die ſchauerliche Einſamkeit der ſchwarzen Heide.
Im Weſten die Geeſt und weiter abwärts hinter dem güldenen Ring ihrer
Deiche die reichen Marſchen; davor zwiſchen der ſtillen grauen Wattenſee
und der brandenden Nordſee die mächtigen Dünenreichen der frieſiſchen
Inſeln und die flachen wie auf den Wogen ſchwimmenden Halligen. Im
Oſten an den tief eingeſchnittenen Buchten und Föhrden des blauen bal-
tiſchen Meeres königliche Buchenwälder auf welligem Boden, fette Weiden,
üppige Felder, alle von den lebendigen Hecken der Knicks umſchloſſen. Dazu
im öſtlichen Holſtein große adliche Güter, in Schleswig und den Marſchen
faſt überall bäuerlicher Beſitz.
In dieſer Mannichfaltigkeit der Bodenverhältniſſe war ein unabſeh-
bares Gewirr communaler Sonderrechte aufgewuchert, das der ſchleswig-
holſteiniſchen Kanzlei in Kopenhagen ſelber faſt unbekannt blieb. Daß dies
Land mit ſeinen 700,000 Menſchen jemals eine gemeinſame Kreisordnung
erhalten könnte, hielt Jedermann für unmöglich, und es war auch unmög-
lich ſo lange nicht eine ſtarke deutſche Staatsgewalt ordnend dazwiſchen-
fuhr. Da gab es Landſchaften, Aemter und Harden, in den eingedeichten
Marſchbezirken octroyirte Kooge, daneben ſelbſtändige Städte, adliche Guts-
bezirke und vier adliche Kloſterbezirke unter ihren Pröpſten und Verbittern;
hier demokratiſche, da ariſtokratiſche, dort monarchiſche Ordnung; hier Ur-
verſammlungen der geſammten Dorfſchaften, da erwählte Bauerſchafts-
vollmachten, dort durch den Amtmann ernannte Vorſteher. Ditmarſchen,
die glorreiche Bauernrepublik, die dreihundert Jahre lang ihre Freiheit
mit Heldenmuth vertheidigt hatte, war auch als ſich die Landſchaft nach
der unglücklichen „letzten Fehde“ dem Dänenkönige unterwerfen mußte,
noch im Beſitze koſtbarer Sonderrechte geblieben. Nur Landeskinder aus
den Marſchen durften hier angeſtellt werden, nur mit Zuſtimmung der
erwählten Räthe aus dem Kirchſpiele konnten die beiden Landvögte ihre
Verordnungen erlaſſen. Und welche Verſchiedenheit wieder innerhalb dieſer
kleinen Landſchaft: in Süderditmarſchen, das lange unter den Gottorpern
geſtanden, war Alles verwahrloſt, in Norderditmarſchen hatten die könig-
lichen Landvögte jederzeit gute Ordnung gehalten. Auf Sylt beſaßen die
Landesgevollmächtigten mit ihrem Landvogte ein wenig beſchränktes Recht
der Autonomie, ſie verfügten was ihnen gut dünkte durch Landesbelie-
bungen. Auf den adlichen Gütern dagegen übte der Bauernvogt die niedere
Polizei und verkündete den Hinterſaſſen die Befehle der Gutsobrigkeit;
wohlmeinende Gutsherren errichteten häufig gute Schulen und Armen-
häuſer, ordneten die communalen Beitragspflichten durch Contracte, aber
eine Dorfordnung wurde den hinterſäſſigen Bauern auch nach der Auf-
hebung der Leibeigenſchaft nur ſelten gewährt.
Die Entwicklung dieſes buntſcheckigen Communalweſens lag guten-
[590]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
theils in der Hand der königlichen Amtleute, Landdroſten, Landvögte und
Hardesvögte. Die Beamten waren hoch beſoldet, faſt durchweg ſehr ge-
bildet und in den Formen der guten Geſellſchaft heimiſch, aber auch meiſt
wenig geneigt ſich übermäßig anzuſtrengen. Mannichfache Privilegien
ſorgten für die Behaglichkeit der höheren Stände; der Kieler Profeſſor
zahlte weder Steuern noch Zölle, und auch der wohlhabende Student konnte,
da er doch unfehlbar mit irgend einem Amtmann oder Landvogt ver-
vettert war, mit Sicherheit auf die Ertheilung eines Armuthszeugniſſes
rechnen. Im Privatrechte beſtand noch der uralte Brauch des Einlagers
mancher Schuldner blieb jahrelang in freiwilliger Haft, lediglich durch
ſein Ehrenwort gebunden. Der Regel nach wurden alle Rechnungen des
vergangenen Jahres im Januar auf dem Kieler Umſchlage ausgeglichen;
da ſchleppte man Maſſen von Silbergeld in großen Karren durch die
Straßen. Die Holſten duldeten keine Milderung des harten Schuldge-
ſetzes, der Kieler Umſchlagsſtrenge; es war ihr Stolz, daß nirgendwo in
der Welt Manneswort ſo hoch gehalten werde.
Unter dieſen altväteriſchen Verhältniſſen konnte die wirthſchaftliche
Kraft des Landes ſich nur wenig entwickeln. Der Günſtling zweier Meere,
wie Dahlmann ſein Transalbingien nannte, zog aus ſeiner glücklichen
Lage geringen Vortheil, da der freie Verkehr mit Dänemark keinen Erſatz
bot für die Abtrennung von dem großen deutſchen Hinterlande. Die Ein-
tagsblüthe der beiden Plätze Huſum und Tönningen, die während der
Continentalſperre einen einträglichen Schmuggelhandel mit Helgoland ge-
trieben hatten, verſchwand gleich nach dem Frieden. Der Eiderkanal, der
beide Meere verband, trug nur kleine Schiffe. Der ſchönſte Hafen der Oſt-
ſee, Kiel, zählte kaum 12,000 Einwohner, und ſelbſt Altona gelangte trotz
der Sorgſamkeit ſeines trefflichen Oberpräſidenten des Grafen Blücher
nicht zu ſelbſtändiger Handelsgröße; die Stadt zehrte doch nur von den
Brocken, die von Hamburgs reichem Tiſche fielen. Erſtaunlich, wie das
vormals ſo kunſtgeübte Handwerk der Herzogthümer im Schlendrian des
Zunftweſens heruntergekommen war. Die wohlhabenden Landwirthe frag-
ten wenig nach alledem; ſie waren reich genug um ſich ihren Haus-
bedarf, trotz der hohen Zölle, aus Hamburg zu verſchreiben. Noth litt
hier doch Niemand. In Ditmarſchen geſchah es wohl, daß der Almoſen-
empfänger dem beſuchenden Armenvogt eine Flaſche Bordeaux vorſetzte;
das gehörte zum Leben. So lebte das reiche Ackerbauland ſtill gemüth-
lich dahin, recht nach dem Spruche des alten Ditmarſchen Neocorus: nik
flegen ſündern ſtahn, dat is in Gott gedan. In ähnlichem Zuſtande
hatten ſich achthundert Jahre zuvor, ehe der normanniſche Eroberer ſie
ſchüttelte, die nächſten Blutsverwandten der Holſten, die britiſchen Angel-
ſachſen befunden — ein tapferes, treues, ehrenfeſtes Volk, reich im Ge-
müthe und zu allem Großen fähig, aber befangen in ſattem Behagen,
ohne Ehrgeiz, noch ohne Ahnung von ſeinem hiſtoriſchen Berufe.
[591]Däniſche Uebergriffe.
Nur offenbare Willkür und Rechtsverletzung konnten dies Land des
Beharrens zu einem nationalen Kampfe aufſtacheln. Schon ſeit Langem
bemühte ſich die däniſche Krone, die Vollgewalt, die ihr in Dänemark ſeit
dem Königsgeſetze zuſtand, auch über Schleswigholſtein zu erſtrecken. Der
einſt ſo mächtige Landtag der Herzogthümer war in Verfall gerathen, weil
er nach altſtändiſcher Unart nicht verſtanden hatte, durch rechtzeitige Er-
höhung der Steuern den geſteigerten Anſprüchen des modernen Staates
gerecht zu werden. Im Jahre 1675 trat er zum letzten male ordnungs-
mäßig zuſammen. Die Städte zogen ſich von ihm zurück. Die Prälaten
und Ritter tagten noch einmal vollzählig im Jahre 1711. Dann ſchliefen
die altehrwürdigen Inſtitutionen allmählich ein, und am Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts war nichts mehr davon übrig als die fortwährende
Deputation der Prälaten und Ritterſchaft. Dieſe ſieben Männer mit
ihrem Sekretär ſorgten, ähnlich wie der ſtändiſche Ausſchuß der Kurmark,
für die gemeinſamen Standesangelegenheiten des Grundadels. Aber auf
dem Beſtande dieſes unſcheinbaren Ausſchuſſes und dem nexus socialis
der Ritterſchaft beruhte weſentlich die alte ſtaatsrechtliche Untrennbarkeit
der beiden Herzogthümer. Die Krone ſtand auch nicht an, das Landes-
recht bei jeder Thronbeſteigung feierlich zu beſtätigen, und hütete ſich weis-
lich die von den Ständen einmal für allemal bewilligte ordinäre Contri-
bution zu erhöhen.
Insgeheim beſtand aber am Kopenhagener Hofe längſt der Wunſch,
mindeſtens Schleswig unbedingt mit Dänemark zu vereinigen, da das
Königsgeſetz und ſeine neue Erbfolgeordnung in den deutſchen Herzog-
thümern nicht galt. Schleswig war ſeit 1658 ein ſouveränes Herzog-
thum, und als König Friedrich IV. im Jahre 1721 den gottorpiſchen An-
theil des Landes mit dem königlichen vereinigte, ließ er die huldigenden
Prälaten, Ritter und Beamten den zweideutigen, offenbar in hinterhal-
tiger Abſicht erſonnenen Eid leiſten: ſie wollten „ihm und ſeinen Erb-
ſucceſſoren in der Regierung secundum tenorem legis regiae treu, hold
und gewärtig ſein.“ Er dachte bereits daran, ganz Schleswig förmlich
dem däniſchen Königreiche einzuverleiben; auf die Vorſtellungen ſeiner be-
hutſamen Räthe gab er jedoch den Vorſatz auf und getröſtete ſich der Hoff-
nung, die Einverleibung werde von ſelber, peu adpres peu, erfolgen.
Nachher wurde ein gemeinſames Indigenat für Dänemark und Schles-
wigholſtein eingeführt; die Urkunden beſorgte die däniſche Kanzlei allein.
Mittlerweile erwachte in Dänemark, weit früher als in Schleswigholſtein,
der nationale Ehrgeiz; das Inſelvolk ward es müde, beſtändig von deut-
ſchen Miniſtern regiert zu werden. Schon an dem tragiſchen Sturze
Struenſee’s hatte der Haß der Dänen gegen die Deutſchen ſtarken Antheil.
Unter dem weiſen Regimente der beiden älteren Grafen Bernſtorff kam
dann noch einmal eine maßvolle Staatskunſt ans Ruder, die ſich redlich
bemühte die Angelegenheiten Dänemarks, Schleswigholſteins, Norwegens
[592]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
auseinanderzuhalten. Aber ſchon der dritte Bernſtorff, Graf Chriſtian —
der ſpätere preußiſche Miniſter — hatte einen ſchweren Stand gegenüber
der däniſchen Nationalpartei, die ſich unter Roſenkrantz’s Führung ſchaarte.
Während er die auswärtigen Angelegenheiten leitete*), begann die
Krone ihre offenen Angriffe gegen das Landesrecht Schleswigholſteins mit
einem Patente, das für den König das unbedingte Beſteuerungsrecht in
Anſpruch nahm (1802). Die Ritterſchaft proteſtirte und ſchickte ſich an
eine Klage bei den Reichsgerichten einzureichen. Da brach das heilige Reich
zuſammen, die alte Inſchrift am nördlichen Thore von Rendsburg Eidora
Romani terminus imperii wurde abgenommen, und ein Patent vom 9. Sept.
1806 vereinigte Holſtein „mit dem geſammten Staatskörper der Monarchie
als einen in jeder Hinſicht ungetrennten Theil derſelben.“ Dadurch war
die alte Landesverfaſſung und Erbfolgeordnung noch nicht unmittelbar ge-
fährdet; denn auf den Einſpruch des Herzogs von Auguſtenburg hatte
man doch für räthlich gehalten, das deutſche Land nicht gradezu, wie ur-
ſprünglich beabſichtigt war, für „einen unzertrennlichen Theil“ Dänemarks
zu erklären. Aber nunmehr folgten, da Holſtein nicht mehr durch die
Reichsgerichte geſchützt wurde, Schlag auf Schlag die Gewaltthaten wider
die Selbſtändigkeit der Herzogthümer. Die Verordnungen erſchienen in
beiden Sprachen, alle Beſtallungen wurden däniſch ausgefertigt, die theo-
logiſchen Candidaten in der däniſchen Sprache geprüft, der Unterricht im
Däniſchen in allen höheren Schulklaſſen eingeführt, endlich ſogar die
däniſche Reichsbank gegründet (1813) und alle liegenden Gründe in Schles-
wigholſtein bis zu ſechs Procent ihres Werthes mit der Bankhaft belaſtet.
Zugleich wirkte die ſchwere Finanznoth Dänemarks verderblich auf die
deutſchen Herzogthümer zurück; das angemaßte Beſteuerungsrecht ward
unerbittlich gehandhabt, ganze Dorfſchaften erlagen der Laſt und verfielen
in Concurs.
Hand in Hand mit dieſer Willkür der Staatsgewalt ging der Ueber-
muth des däniſchen Volks. Der neue König Friedrich VI. fühlte ſich ganz
als Däne und vertauſchte ſeinen deutſchen Taufnamen mit dem däniſchen
Frederick. Schon 1804, da er noch als Kronprinz in Kiel lebte, verfocht
unter ſeinen Augen der Prinzenerzieher Hoegh-Guldberg die Lehre, die
Herzogthümer ſeien verpflichtet die Sprache „des Mutterlandes“ zu er-
lernen; herablaſſend fügte er den Troſt hinzu, damit ſei nicht gemeint,
daß ſie ſogleich und gänzlich die deutſche Sprache ablegen ſollten. Als
[593]Schleswigholſtein nach dem Befreiungskriege.
nachher Norwegen verloren ging, ſuchten die Dänen, begreiflich genug, die
letzten Trümmer ihrer alten Macht krampfhaft zuſammenzuhalten. Da-
mals erſt tauchte die vordem nie gehörte Behauptung auf, Schleswig ſei
im Jahre 1721 unter das däniſche Königsgeſetz getreten. Das Herzog-
thum wurde von den Dänen jetzt wieder mit dem längſt verſchollenen
Namen Süderjütland bezeichnet. Gleichzeitig ſtellte ein däniſcher Patriot,
„dem die Ehre der Landesſprache am Herzen lag,“ die Preisfrage: wie
war die hiſtoriſche Entwicklung der beiden Sprachen in den Herzogthümern,
und „welches ſind die Mittel, durch welche Süderjütland auch in Hinſicht
der Sprache eine däniſche Provinz werden kann, wie es ehedem war?“
Angeſichts dieſer Anmaßungen bewahrten die Herzogthümer unwan-
delbar ihre geſetzliche Haltung. Hoffend auf beſſere Tage fügte man ſich
in das Unvermeidliche und entſchuldigte Vieles mit der Bedrängniß der
Zeiten; man ehrte den geiſtloſen, aber wohlwollenden Friedrich VI., man
verwünſchte mit ihm die Raubzüge der engliſchen Handelspolitik. Als im
December 1813 Bernadotte die Halbinſel beſetzte und den Plan eines
Königreichs Cimbrien aufwarf, da fand ſich in Schleswigholſtein kein Mann
bereit die beſchworene Verbindung mit Dänemark zu löſen. Die einge-
wanderten Gelehrten und einzelne Weiterblickende unter den Einheimiſchen
freuten ſich wohl des Befreiungskrieges, jedoch die Maſſe des Volks ſtand
feſt zu der Sache Napoleon’s, weil ſie ihres Königs Sache war. Viele
wackere, ganz deutſch gebildete Schleswigholſteiner hielten für Ehrenpflicht,
in der Politik unbedingt der däniſchen Krone zu folgen: ſo Dahlmann’s
Oheim Jenſen, ein einflußreicher Beamter in der Kopenhagener ſchles-
wigholſteiniſchen Kanzlei; ſo der geiſtreiche Diplomat Riſt, der nur mit
Achſelzucken davon ſprach, daß Niebuhr, durch einen wunderlichen „Kitzel“
getrieben, aus dem freien Dänemark in „den Mechanismus“ des preu-
ßiſchen Staatsdienſtes hinübergegangen war. Selbſt unter den Kieler
Studenten rief Dahlmann ſtarken Widerſpruch hervor, als er in ſeiner
Rede auf die Waterlooſchlacht ſagte, der Schleswiger habe immerdar Deutſch-
land angehört durch den verbrüderten Holſten. Eine Vorleſung über
deutſche Geſchichte konnte er damals nicht zu Stande bringen; ſo ſtark
war der Haß gegen England, den Verbündeten der Deutſchen. Noch eine
Weile nach dem Frieden pflegten die Hamburger und die Altonaer Straßen-
jungen als Deutſche und Franzoſen ſehr erbittert mit einander zu raufen.
Als C. Th. Welcker in Kiel die Oktoberfeier zu Ehren der Leipziger Schlacht
veranſtalten wollte, forderten einige Studenten alle treuen Unterthanen
des Königs auf, vielmehr das Gefecht von Seheſtedt zu feiern, das die
däniſch-holſteiniſchen Regimenter im Winter 1813 gegen die Mecklenburger
und andere Truppen Bernadotte’s rühmlich beſtanden hatten, und die
Holſten wurden darum von den deutſchen Univerſitäten auf einige Zeit
in Verruf gethan. Erſt nach und nach verrauchte dieſer däniſche Eifer;
dann aber ſchloß ſich die holſteiniſche Jugend mit der ganzen Wärme
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 38
[594]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ihres unverbildeten Gemüthes den teutoniſchen Schwärmern an, Binzer
und Lornſen ſtanden unter den Führern der Burſchenſchaft.
Der Widerſtand gegen die däniſchen Uebergriffe ging zunächſt von der
Kieler Univerſität aus. Zum zweiten male ſeit der Stiftung des Deut-
ſchen Bundes trat das Profeſſorenthum auf die politiſche Bühne; doch
während die Jenenſer Gelehrten in ihrer Iſis und Nemeſis neben manchen
guten Gedanken auch viele Thorheit zu Tage förderten, war der politiſche
Kampf der Kieler Profeſſoren durchaus berechtigt und heilſam. Sie weckten
dem ſchlummernden Volke der deutſchen Nordmark das helle Bewußtſein
ſeines Volksthums; ſie gaben, indem ſie das hiſtoriſche Recht vertheidigten,
der nationalen Bewegung in Schleswigholſtein jenen Charakter beſonnener
Mäßigung, der ſie ſo auffällig von den anderen nationalen Erhebungen des
Jahrhunderts unterſcheidet. Das Haupt dieſer ſtreitbaren Gelehrten war
Dahlmann. In Wismar als ſchwediſcher Unterthan geboren hatte er
den Unſegen der Fremdherrſchaft von Kindesbeinen an kennen gelernt und
hoffte ſchon damals, daß ganz Schleswigholſtein dereinſt in den Deutſchen
Bund eintreten werde. Zugleich wünſchte er, dies geliebte Land, das ihm
theurer war als ſeine Heimath, möge den Deutſchen vorangehen mit dem
Beiſpiele einer wohlgeordneten, auf dem feſten Grunde des hiſtoriſchen
Rechtes ſtehenden Repräſentativverfaſſung, wie er ſie ſelber ſoeben in
ſeinem „Worte über Verfaſſung“ geſchildert hatte; denn nirgends ſei der
Boden ſo günſtig für ein ſolches, dem engliſchen verwandtes Staatsweſen,
wie bei dem Sachſenſtamme, „dem volksfreieſten von Altersher in Deutſch-
land.“ Aber nicht von fern dachte er an eine Trennung von Dänemark.
Die Verſchiedenheit des Erbfolgerechts in den Theilen des däniſchen Ge-
ſammtſtaates hatte zur Zeit noch kein deutſcher Gelehrter ernſtlich er-
forſcht; die Frage ſchien ohne praktiſchen Werth, da das königliche Haus
noch genug männliche Nachkommen beſaß. Nun gar eine gewaltſame Los-
reißung wäre dieſem abgeſagten Feinde der Revolution ein Gräuel ge-
weſen. Gemeſſen und ernſthaft in Allem, eine erwägſame niederdeutſche
Natur, ein makelloſer, der Eitelkeit wie der Menſchenfurcht gleich unzu-
gänglicher Charakter, erſchien er den Freunden ſchon jetzt in ſeinen jungen
Jahren wie ein treuer Eckart, und nur durch die ungeheuere Rechtsver-
wirrung in den norddeutſchen Kleinſtaaten ward es möglich, daß dieſer
Mann zweimal, in Schleswigholſtein und Hannover, als ein Revolutionär
verrufen werden konnte. Was er für Recht erkannt hatte, das verthei-
digte er mit dem Freimuthe des guten Gewiſſens, mit einer markigen,
eindringlichen Beredſamkeit, die ihre Wirkung nie verfehlte, weil ſie aus
den Tiefen eines geſammelten Gemüthes aufſtieg.
Nicht ganz ohne Grund höhnten ſpäterhin die Dänen, Dahlmann
habe die ſchleswigholſteiniſche Frage erfunden; denn ſein Wort über Ver-
faſſung gab den Gebildeten des Landes zuerſt wieder ein Verſtändniß für
die halbvergeſſene Verfaſſungsgeſchichte der Heimath. Dann veröffent-
[595]Dahlmann und die Ritterſchaft.
lichte ſein Amtsgenoſſe, der Juriſt Nic. Falck, eine gründliche rechtshiſto-
riſche Unterſuchung über das Verhältniß Schleswigs zu Dänemark und
Holſtein — denn „Unkunde der Geſchichte iſt das Grab aller Verfaſſun-
gen.“ Auch er war ein Mann des hiſtoriſchen Rechts, noch bedachtſamer
als Dahlmann, dem königlichen Hauſe mit kindlicher Treue zugethan,
durchaus kein Freund der liberalen Doctrinen. An dieſe Führer ſchloß
ſich die Mehrzahl der Kieler Gelehrten an, Dahlmann’s Schwager Hege-
wiſch, Pfaff, Tweſten und Andere; die Eingewanderten blieben hinter den
Eingeborenen nicht zurück, ihnen allen war das ſchöne Grenzland raſch
zur Heimath geworden. Die Kieler Blätter, der literariſche Sammelplatz
der Univerſität, brachten in raſcher Folge Aufſätze über die Sprachver-
hältniſſe, über die Matrikel, über das rechtmäßige Steuerweſen des Landes,
ſcharfe Erwiderungen auf däniſche Angriffe, und ſo begann bereits der
literariſche Streit zwiſchen den beiden Hochſchulen Kiel und Kopenhagen,
der die politiſchen Kämpfe Schleswigholſteins einleitete. Nachher gab
Dahlmann auch die köſtliche Ditmarſcher Chronik des alten Pfarrherrn
Neocorus heraus um ſeine Landsleute zu erinnern an die Heldenkämpfe
dieſer „Schweizer der Ebene“ und an den alten Holſtenſpruch „welk ein
edel Kleinot und grote Herrlichkeit de leve Frieheit were.“
Mittlerweile war Dahlmann zum Sekretär der Ritterſchaft ernannt,
Falck von den nichtadlichen Grundbeſitzern zum Rechtsconſulenten er-
wählt worden. Die Gelehrten traten in Verbindung mit den Grund-
herren, und man verſtändigte ſich leicht, obgleich ſich in den letzten Jahr-
zehnten zwiſchen Adel und Bürgerthum zuweilen Mißhelligkeiten gezeigt
hatten, die in der Voß-Stolbergiſchen Fehde ihren Widerhall fanden. Dem
Kreiſe dieſer Ahlefeldt, Holſtein, Brockdorff, Moltke, Rumohr, Rantzau war
die Engherzigkeit des Junkerthums fremd. Sie wußten alle, daß eine ver-
altete Verfaſſung, die ein volles Drittheil des Landes, ſelbſt die Städte
Altona und Glückſtadt, ganz von der ſtändiſchen Vertretung ausſchloß, nicht
einfach wiederhergeſtellt werden konnte; ſie wollten auf die Bevorzugung
des Adels bei der Beſteuerung gern verzichten und waren bereit eine allge-
meine Landesvertretung für beide Herzogthümer gemeinſam anzuerkennen.
Indeß hielten ſie feſt an dem guten Grundſatze: Vorrechte ſollen zwar dem
Rechte weichen, aber auch nur dem Rechte. Nur wenn der König-Herzog
ihre Privilegien und damit die Untrennbarkeit der Herzogthümer anerkannte,
war eine rechtmäßige Fortbildung des Verfaſſungsrechts möglich. Schon
zur Zeit des Wiener Congreſſes hatte die Ritterſchaft den König durch
Niebuhr’s Freund, den Grafen Adam Moltke um die Einberufung „eines
den Zeitumſtänden angemeſſenen Landtags“ erſuchen laſſen. Auf wieder-
holte Bitten gewährte dann Friedrich VI. der Ritterſchaft mindeſtens die
bisher immer hinausgeſchobene Beſtätigung ihrer Privilegien (17. Auguſt
1816), aber die Beſtätigung erfolgte in zwei verſchiedenen Urkunden, für
Schleswig und für Holſtein beſonders.
38*
[596]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Mit unbeirrtem Vertrauen waren die treuen deutſchen Ritter und
Gelehrten bisher der Staatskunſt ihres Königs gefolgt; nur widerſtrebend
entſchloſſen ſie ſich, da berechnende Feindſeligkeit zu erkennen, wo ſie nur
einzelne Mißgriffe eines wohlmeinenden Monarchen geſehen hatten. Mitten
im Streite ſchrieb Falck arglos: von der Daniſirung der Herzogthümer,
worüber das Ausland klagt, iſt uns im Inlande nichts bekannt, hat
doch unſer König ſeine Tochter in deutſcher Sprache confirmiren laſſen.
Und ſelbſt Dahlmann, der minder Vertrauensvolle, verſicherte noch, es
ſei nie daran gedacht worden, Schleswig der abſoluten Gewalt des Königs-
geſetzes zu unterwerfen. Als aber jetzt, nur zwei Tage nach der Beſtä-
tigung der Privilegien, eine Commiſſion nach Kopenhagen berufen wurde
um eine neue Verfaſſung für Holſtein allein zu entwerfen, da begann man
doch ernſtlich beſorgt zu werden. Dänemark hatte in einem Athem das
Recht des Landes anerkannt und deſſen Grundlage, die Untheilbarkeit
der Herzogthümer, in Frage geſtellt. In einer drängenden Vorſtellung
ſprach Dahlmann Namens der Ritterſchaft die Erwartung aus, der König
werde „keine Trennung beſchließen, wo weder Trennung nützlich ſei noch
ohne Verletzung heiliger Verhältniſſe bewirkt werden könne.“ Und nun-
mehr ward es auch im Volke lebendig. Das Land hatte für die ver-
gilbten Pergamente ſeiner Ritterſchaft ſich nicht erwärmen können, aber
ſobald der alte Kernſatz „Up ewig ungedeelt“ bedroht ſchien, ſendeten alle
Städte Schleswigs und auch ein großer Theil der holſteiniſchen ernſte
Verwahrungen nach Kopenhagen.
Tief und allgemein war die Erregung allerdings nicht. Der Kampf
um ein vergeſſenes altes Recht, deſſen vollſtändige Wiederbelebung die
Ritterſchaft ſelber nicht wünſchte, konnte dem Volke nicht verſtändlich ſein,
und ſo lange nur unſichere Gerüchte umliefen glaubte die Maſſe auch nicht
recht an eine Gefährdung der Einheit des Landes. Mancher Liberale
ſpottete der Privilegien des Adels; A. v. Hennings, derſelbe der einſt in
ſeinem Genius der Zeit die franzöſiſche Revolution mit Freuden begrüßt
hatte, erklärte ſich offen gegen die Ritterſchaft. Auch Niebuhr, der größte
Sohn des Landes hielt dieſen verzwickten und verworrenen Rechtsſtreit
für ausſichtslos. Immerhin genügten die Petitionen um den Hof zu be-
unruhigen. Die bereits vollendete neue holſteiniſche Verfaſſung, die, wie
billig, den gefährlichen Profeſſoren die Wählbarkeit für den Landtag ab-
ſprach, ward in der Stille zurückgelegt, aber auch die alten Stände wur-
den nicht einberufen. Ein Verſuch der Grundbeſitzer, ſich zur Verweige-
rung der widerrechtlichen Abgaben zu vereinigen, wurde ſtreng unterſagt;
Dragoner trieben auf den Gütern die Steuern ein. Jahr um Jahr ver-
ſtrich. Da endlich proteſtirte die Ritterſchaft förmlich, und Dahlmann
gab ſeine Urkundliche Darſtellung des Steuerbewilligungsrechts der ſchles-
wigholſteiniſchen Stände heraus. Auf neue Proteſte, Bitten, Vorſtellungen
erfolgte als Antwort nur die Drohung, der König werde die Deputation
[597]Die Ritterſchaft vor dem Bundestage.
der Ritterſchaft auflöſen. So blieb denn nichts mehr übrig als eine Be-
ſchwerde beim Bundestage.
Am 4. December 1822 wurde die Petition der holſteiniſchen Prälaten
und Ritter in Frankfurt übergeben. Sie ging dahin: der Bundestag
möge auf Grund des Art. 56 der Wiener Schlußakte die alte Verfaſſung
Schleswigholſteins unter ſeinen Schutz nehmen und darüber wachen, daß
die nothwendige zeitgemäße Umgeſtaltung dieſes Landesrechts nur auf ver-
faſſungsmäßigem Wege erfolge. Eine treffliche Denkſchrift aus Dahl-
mann’s Feder begründete die Bitte. „In Vielem zwiſtig — ſo hieß es
zum Schluß — ſtimmen wir darin innerlich überein, daß wir in ſtarker
Verbrüderung mit Dänemark gedeihen können, glücklich unter dem gemein-
ſamen Oberherrn vom altgeliebten Geſchlechte, aber in Verſchmelzung
nimmermehr; eine zu ſtarke Scheidewand hat die Natur geſetzt, die ſich
nicht ſpotten läßt, an Sprache, Sitte, Verfaſſung, jeder geſchichtlichen Er-
innerung.“
Wärmer zugleich und würdiger war am Bundestage ſelten geſprochen
worden; zum erſten male erklärte die deutſche Nordmark feierlich, daß
ſie bei Deutſchland bleiben wolle. Aber ſtand auch das Bundesrecht den
Bittenden zur Seite? Jener Artikel 56 beſtimmte, daß „die in aner-
kannter Wirkſamkeit beſtehenden landſtändiſchen Verfaſſungen“ nur auf
verfaſſungsmäßigem Wege abgeändert werden ſollten. Beſtand die alte
Verfaſſung Schleswigholſteins in der That noch in anerkannter Wirk-
ſamkeit, obgleich der Landtag ſeit 1675, die Ritterſchaft ſeit 1711 nicht
mehr verſammelt worden und von allen ſtändiſchen Inſtitutionen nichts
mehr übrig war als der Siebenmänner-Ausſchuß der Ritterſchaft? Dahl-
mann bejahte die Frage zuverſichtlich, und faſt alle Hiſtoriker, welche ſeit-
dem den Streitfall erörtert haben, ſind ſeiner Meinung gefolgt.*) Ihnen
Allen waren die Berathungen der Wiener Conferenzen vom Jahre 1820
nicht im Einzelnen bekannt. Nur aus dieſen ließ ſich die Abſicht der
Geſetzgeber erkennen und mit Sicherheit erweiſen, was die Schlußakte
unter der „anerkannten Wirkſamkeit“ einer Verfaſſung verſtand. Der
Art. 56 hatte in Wien ſeine Faſſung auf Bernſtorff’s Antrag erhalten,
und die Worte „anerkannte Wirkſamkeit“ waren ausdrücklich darum ge-
wählt worden, weil Preußen verhindern wollte, daß ſolche halbzerſtörte
altſtändiſche Verfaſſungen wie die kurmärkiſche, die pommerſche, die cleviſche,
ſich auf den Schutz des Bundestags beriefen.**) Wer jene Wiener Ver-
handlungen kannte, mußte alſo leider zu dem Schluſſe gelangen, daß die
Verfaſſung Schleswigholſteins nach Bundesrecht nicht in anerkannter
Wirkſamkeit ſtand.
[598]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Noch ein anderes Formbedenken lag der Beſchwerde im Wege. Schles-
wig gehörte nicht zum Deutſchen Bunde, der Bundestag war nicht be-
fugt ſich um dies Land zu kümmern, darum hatten auch nur die Hol-
ſteiniſchen Ritter ſich nach Frankfurt gewendet. Für eine kühne, weitaus-
ſchauende deutſche Politik war dies freilich kein Hinderniß. Warum ſollte
der Bundestag minder muthig ſein, als Kaiſer Leopold I., der einſt den
Dänen erklärt hatte, wer Holſtein ſchützen wolle müſſe ſich auch in Schles-
wigs Wirren miſchen? Wenn der Bund für die Untrennbarkeit Schles-
wigholſteins entſchieden eintrat, ſo wahrte er zugleich ein unbeſtreitbares
Recht des Bundeslandes Holſtein und bereitete vielleicht für die Zukunft
den Eintritt Schleswigs vor, das ſchon einmal, im dreißigjährigen Kriege,
zu den Reichslaſten beigeſteuert hatte. Aber zu ſolchen Gedanken ver-
mochte ſich weder der Bundestag noch die Nation zu erheben. Die deutſche
Preſſe betrachtete die Frage mit einer Gemüthsruhe, die nur zu deutlich
zeigte, daß noch faſt Niemand etwas ahnte von der welthiſtoriſchen Be-
deutung des Kampfes, der ſich hier ankündigte; einzelne liberale Blätter
fanden den Eifer der nordalbingiſchen Privilegirten faſt lächerlich. In
Frankfurt aber herrſchte eine rein formaliſtiſche Anſicht vom Bundesrechte.
Da Oeſterreich, Preußen, Luxemburg dem Bunde aus guten Gründen
jede Einmiſchung in die Angelegenheiten Ungarns, Poſens, Hollands ver-
ſagten, ſo wollten ſie den Bundestag auch den ſchleswigſchen Händeln
fern halten. Ueberdies war man in der Eſchenheimer Gaſſe ſchon längſt
geneigt, jede Beſchwerde von Unterthanen wider die Obrigkeit als gefähr-
liche Widerſetzlichkeit zu betrachten.
In einem Gutachten, das wahrſcheinlich aus Klüber’s Feder ſtammte,
ſprach ſich Graf Goltz über „den würdigen und angemeſſenen Ton“ der
Dahlmann’ſchen Denkſchrift ſehr freundlich aus; er gab auch zu, daß die
Deputation der Ritterſchaft das letzte Ueberbleibſel der alten Ständever-
ſammlung darſtelle und der König-Herzog ihre Privilegien noch im Jahre
1816, alſo bereits zur Zeit des Deutſchen Bundes, beſtätigt habe. Doch
über die Formbedenken kam er nicht hinweg; daß der Bund ſich mit
Schleswig befaſſe, ſchien ihm „gar nicht gedenkbar“.*) Auch Bernſtorff war
den Rittern keineswegs feindlich geſinnt. Seinem Ancillon geſtand er im
Vertrauen, die däniſche Krone habe ſich vielfaches Unrecht gegen den hol-
ſteiniſchen Adel zu Schulden kommen laſſen.**) Aber eine Berufung auf
den Art. 56 der Schlußakte konnte und wollte er nicht zulaſſen; er hatte
dieſen Artikel ſelber verfaßt und wußte am Beſten, daß Dahlmann ihn
unrichtig auslegte. Eben jetzt ward das Geſetz über die preußiſchen Pro-
vinzialſtände vorbereitet, das alle die Trümmerſtücke altſtändiſcher Ver-
faſſungen in Cleve, Pommern, den Marken und den Lauſitzen mit einem
[599]Bernſtorff und die holſteiniſchen Ritter.
Schlage hinwegfegen ſollte. Die Stände Schleswigholſteins befanden ſich
genau in demſelben Rechtszuſtande wie die Stände der Kurmark oder der
Niederlauſitz — nur mit dem einen Unterſchiede, daß der König von
Dänemark ihre Privilegien noch neuerdings anerkannt hatte; und der-
ſelbe hochconſervative Rath Schloſſer, der vor fünf Jahren im Namen
des jülich-cleve-bergiſchen Adels geſchrieben,*) diente jetzt den holſteiniſchen
Rittern in Frankfurt als Agent. So verkettete ſich der preußiſche Ver-
faſſungskampf mit den transalbingiſchen Händeln. Wenn Preußen zugab,
daß der Bundestag — im Widerſpruche mit dem eigentlichen Sinne des
Art. 56 der Schlußakte — die alte Verfaſſung Schleswigholſteins aner-
kannte, ſo konnten jederzeit auch die alten Stände der Lauſitzen oder der
Kurmark in Frankfurt erſcheinen um mit Hilfe der Bundesverſammlung
die neue Provinzial-Ständeverfaſſung der Monarchie über den Haufen zu
werfen.
Darum ertheilte Bernſtorff dem Bundesgeſandten die Weiſung
(22. April 1823): von einer „anerkannten Wirkſamkeit“ der alten ſchles-
wigholſteiniſchen Verfaſſung könne gar nicht die Rede ſein; mit beſſerem
Rechte hätten die Ritter ſich auf den Art. 54 der Schlußakte berufen
ſollen, der den Bundestag anwies darüber zu wachen, daß die verheißene
Einführung einer landſtändiſchen Verfaſſung „in keinem Bundesſtaate un-
erfüllt bleibe“. In einem Berichte an den König führte er dann noch-
mals aus, daß die Ritterſchaft den Art. 56 „offenbar falſch“ auslege.**)
Mit dieſer Behauptung war der Miniſter unzweifelhaft im Recht. Aber
wie gänzlich verkannte er die Lage, wenn er nicht einmal verſuchte, mit
Hilfe jenes von ihm ſelber angezogenen Art. 54 der Schlußakte die Un-
trennbarkeit der Herzogthümer zu ſichern, ſondern den Bundesgeſandten
einfach beauftragte, für die Abweiſung der Klagenden zu ſtimmen! Und doch
wußte man in Berlin bereits aus den Berichten des Geſandten in Kopen-
hagen, daß König Friedrich VI. beabſichtigte, durch eine neue Verfaſſung
für Holſtein allein die Verbindung der beiden Herzogthümer aufzuheben
(altérer).***) Was die Einheit Schleswigholſteins für Deutſchlands Macht
im Norden bedeutete, war dem preußiſchen Hofe noch ganz dunkel. Man
wußte nicht, daß dieſer unſcheinbare neueſte Handel nur ein Glied war
aus einer Kette vielhundertjähriger nationaler Kämpfe. Unbedenklich er-
theilte Bernſtorff dem däniſchen Könige auf deſſen wiederholte Bitten die
Zuſage: Preußen werde mit Dänemark ſtimmen, da die Petenten den
Art. 56 mißverſtanden hätten.†)
Wenn Preußen für den Ernſt der Sache ſo wenig Verſtändniß zeigte,
[600]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ſo ließ ſich das Schickſal der Beſchwerde leicht vorherſehen. Dänemark
hatte mittlerweile bei den deutſchen Höfen ein Gutachten des berühmten
Kopenhagener Juriſten Schlegel umhergeſandt, das nicht nur die Unan-
wendbarkeit des Art. 56 darlegte, ſondern auch mit ſophiſtiſcher Meiſter-
ſchaft nachwies, ein Kläger ſei überhaupt nicht vorhanden: als Schles-
wigholſteiner könnten die Ritter nicht klagen, weil Schleswig nicht zum
Bunde gehöre; als Holſteiner aber auch nicht, weil ſie „ihrem eigenen
früheren Wunſche zufolge als ſolche keine beſondere Corporation aus-
machen.“*) Ganz im Sinne dieſer danica fides ſprach auch der Bun-
desgeſandte Graf Eyben, als im Juni 1823 die Beſchwerde endlich zur
Berathung kam. Er ſtellte die Ritter bald als aufſäſſige Unterthanen
dar, welche ihrem Landesherrn eine Verfaſſung aufdrängen wollten, ſtatt
ſie von ihm zu empfangen, bald als eine dünkelhafte privilegirte Kaſte,
die dem modernen Staate widerſtrebe. Höhniſch ſprach er von dieſer Ver-
faſſung, „welche die Petenten ſelbſt ſehr bezeichnend ihre nennen, welche
aber das Land gewiß nicht ſeine nennen möchte,“ und dreiſtweg erklärte
er: ſein König habe durch die Beſtätigung der ritterſchaftlichen Privilegien
keineswegs auch die alte Landesverfaſſung anerkannt, wie hätte er ſonſt
zwei Tage ſpäter eine Commiſſion zur Bearbeitung einer neuen Verfaſſung
berufen können?
Auch nachher blieb die Verhandlung gehaltlos und unerquicklich. Das
große politiſche Intereſſe, worauf Alles ankam, die Untheilbarkeit Trans-
albingiens, wurde von beiden Parteien kaum berührt. Man ſtritt nur
über die Auslegung der Schlußakte, und hier rächte ſich die Heimlichkeit
der Wiener Conferenzen: die Bundesgeſandten redeten wie die Blinden
von den Farben, da ſie faſt ſämmtlich jene Verhandlungen nicht kannten
Wangenheim zeigte ſich noch einmal, immer in ehrlicher Meinung, als
dialektiſcher Tauſendkünſtler. Derſelbe Mann, der vor Kurzem das gute
alte Recht der Württemberger ſo übermüthig verſpottet hatte, eiferte jetzt
für die altſtändiſche Verfaſſung Schleswigholſteins, die doch unleugbar
weniger tief im Volksbewußtſein wurzelte als die altwürttembergiſche,
und benutzte ſogar dieſen ſeltſamen Anlaß um den vielverkannten edlen
Charakter des erſten Schwabenkönigs, des Todfeindes der altſtändiſchen
Ordnung, zu verherrlichen. Sein Freund Lepel mahnte, man dürfe
nimmermehr „Rückſichten der Politik und Convenienz Gehör geben, wo
es ſich um Grundſätze handle“, was ihm eine ſcharfe Zurechtweiſung von
Seiten des Präſidialgeſandten zuzog. Zur allgemeinen Verwunderung
ſchloß ſich auch Hannover der Meinung Wangenheim’s an, daß Däne-
mark aufgefordert werden ſollte, binnen ſechs Monaten eine Erklärung
über die Beſchwerde abzugeben. Münſter’s Vorliebe für das alte Stände-
[601]Bundesbeſchluß über Holſtein.
weſen und der Widerſpruchsgeiſt des Bundesgeſandten Hammerſtein ſtimm-
ten diesmal überein. Der Hannoveraner äußerte ſich ſehr ſcharf und
ſagte dem Dänen gradezu: es ſcheint mir, daß es unmöglich iſt, die Wirk-
ſamkeit dieſer Verfaſſung mehr anzuerkennen als in der k. Beſtätigung
vom Jahre 1816 geſchehen iſt.“
Oeſterreich aber ſah in den Bittenden einfach Revolutionäre. Graf
Münch beantragte die Ritterſchaft abzuweiſen und ſie zu vertröſten auf
die von Dänemark verſprochene dereinſtige Verleihung einer neuen Ver-
faſſung: denn niemals werde der kaiſerliche Hof dulden, daß der Bund
den Souveränen Friſten ſetze für die Einführung von Landſtänden. „Der
bedächtige Deutſche, ſagte er ſalbungsvoll, wird um des umſichtigen und
Alles wohl erwägenden Vorgangs ſeines Fürſten willen nicht Mißtrauen
in die Reinheit des Willens der Regierung ſetzen, und der treue Deutſche
wird in dieſer, alle Rückſichten mit landesväterlichem Sinne wohl um-
faſſenden Sorgfalt ſich nur noch inniger an ſeinen Landesfürſten an-
ſchließen.“ In einem ruhiger gehaltenen Vortrage ſtimmte Goltz der An-
ſicht Oeſterreichs zu, wofür König Friedrich VI. dem Berliner Hofe ſeinen
gerührten Dank ausſprechen ließ;*) desgleichen die Mehrheit der übrigen
Geſandten.
Der Beſchluß wurde über die Ferien hinaus verſchoben. Während
der Ferien aber erfolgte die Epuration des Bundestags, die Vernichtung
der Wangenheimiſchen Partei, und als man endlich am 27. Nov. 1823
abſtimmte, wagte Niemand mehr dem Antrage Oeſterreichs zu widerſprechen;
ſelbſt Hammerſtein ſchwieg.**) Am Tage zuvor hatte Dahlmann eine
zweite Eingabe, zur Widerlegung der Behauptungen des däniſchen Ge-
ſandten, einreichen laſſen. Graf Münch aber belegte die tauſend Exem-
plare mit Beſchlag und unterſagte die Vertheilung an die Bundesgeſandten.
Erſt nachträglich, im Januar 1824, berichtete ſein getreuer Blittersdorff
über dieſe zweite Denkſchrift. Der hatte nach ſeiner frivolen Weiſe über
die Bemühungen der Freunde Wangenheim’s gewitzelt und ſeinem Hofe
rundheraus erklärt: mit ſolchen Leuten könne er auf keinen Fall zuſammen-
gehen, ſchon um nicht ſelber verdächtig zu werden.***) Nun bethätigte er
ſeine gute Geſinnung durch eine leidenſchaftliche Polemik wider Dahlmann,
da „die Ritterſchaft zu achtungswerth ſei als daß man ihr dergleichen zur
Laſt legen könnte.“ Er rügte, daß Dahlmann ſeine Stellung zum Bun-
destage durchaus verkannt habe. Kläger und Beklagter vor der Bundes-
verſammlung ſeien keineswegs „Parteien, die auf gleicher Stufe ſtünden“;
niemals dürften Privatleute die Erklärungen der Bundestagsgeſandten
einer unpaſſenden Kritik unterziehen. Damit war auch die zweite Denk-
[602]III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ſchrift der Ritterſchaft erledigt, und zum Ueberfluß beſchloß man noch, fortan
jede gedruckte Eingabe an den Bund der Cenſur zu unterwerfen. Nach
Jahren, als die Denkſchrift längſt werthlos geworden, ließ Münch dem
Secretär der Ritterſchaft ſchreiben, jene tauſend Exemplare ſtänden jetzt
zu ſeiner Verfügung.
Alſo klopfte die bedrängte Nordmark zum erſten male an die Pforten
des Bundestags. Niemand wollte ſie hören. Die Nation verſtand den
Sinn des Streites noch nicht, am Bunde herrſchten Willkür und ſubal-
terner Formalismus. Von Deutſchland verlaſſen mußte die Ritterſchaft
der Uebermacht weichen; denn das Einzige was noch übrig blieb, eine
Beſchwerde bei dem ruſſiſchen Hofe, der im Jahre 1773 die ſtändiſchen
Privilegien beſtätigt hatte, war für deutſche Patrioten unmöglich. Das
abſolute Regiment währte fort, von der verheißenen neuen Verfaſſung
hörte man bald nichts mehr. Das Land ſchien beruhigt, da ſein Wohl-
ſtand wuchs. Als Dr. Franzen im Jahre 1828 auf „das unumſchränkte
Dänemark, das Land der Freiheit“ eine prahleriſche Lobrede veröffentlichte,
fand ſich kein Deutſcher bemüßigt ihm zu antworten. Aber die Saat, welche
jene wackeren Kieler Gelehrten ausgeſtreut, trug in der Stille ihre Frucht.
Freudig wie nie zuvor ſchloß ſich das heranwachſende Geſchlecht dem großen
Deutſchland an; die Zeit der bewußtloſen politiſchen Unſchuld war für
Schleswigholſtein vorüber. —
So kläglich ſtand es mit den Kleinſtaaten des Nordens. Faſt überall
unhaltbare Verhältniſſe, überreif zum Untergange, und nirgends auch nur
ein Verſtändniß für das nächſte erreichbare Ziel der nationalen Politik,
für die wirthſchaftliche Einheit des Vaterlandes. —
[[603]]
Achter Abſchnitt.
Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Während die kleinen Staaten des Nordens in tiefer Stille gebunden
lagen, brach in Baiern geräuſchvoll ein hoffnungsreiches neues Leben an.
König Ludwig ſtand bereits in ſeinem vierzigſten Jahre, als er den Thron
beſtieg, und die Aerzte verſprachen ihm kein hohes Alter. Da war keine
Zeit zu verlieren. Längſt ſchon die Hoffnung der patriotiſchen Jugend des
Südens, hatte er ſich in den letzten Jahren dem väterlichen Hofe meiſt
mißmuthig fern gehalten; denn in geſellſchaftlicher Gewandtheit konnte
er weder mit ſeinem Schwager Eugen Beauharnais wetteifern, noch mit
ſeinem jüngeren Bruder Karl, dem erklärten Liebling der Eltern, und die
ſchwankende politiſche Haltung des Cabinets, die geheimen Hilferufe, die
von München aus an die Großmächte ergingen, verletzten ſeinen Stolz.
Nun endlich war er der Herr und konnte der Nation zeigen, was ein
König ſei, „teutſch, religiös, volksrechtlich geſinnt.“ Friedrich der Große
galt ihm als das Ideal des Herrſchers, obgleich er ſelbſt mit dem Vor-
bilde nicht viel mehr gemein hatte als die unermüdliche Arbeitsluſt, die
ſich nie genug that. Von der genialen Nüchternheit des hiſtoriſchen Helden
lag gar nichts in dieſer phantaſtiſch aufgeregten Natur, die mit unerſätt-
licher Empfänglichkeit alle die neuen politiſchen, kirchlichen, künſtleriſchen
Ideale, welche der gährenden Zeit entſtiegen, in ſich aufnahm.
Ein echtes Kind der Romantik ſtand König Ludwig ſeinem Schwager,
dem Kronprinzen von Preußen, ſehr nahe; aber glücklicher als Friedrich
Wilhelm blieb er vor dem Fluche des unfruchtbaren Dilettantismus be-
wahrt; denn unter den Gaben ſeines allſeitig erregbaren Geiſtes war doch
eine, die alle anderen beherrſchte, die ſeinem Leben Halt und Richtung
gab: der Kunſtſinn.
ſo ſchildert er einmal ſelber das Unſterbliche in ſeinem Wirken. Sein
Ehrgeiz war, den ſchlummernden Farben- und Formenſinn zu wecken, die
[604]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Welt des Schönen wieder einzuführen in die Lebensgewohnheiten eines
Volkes, das trotz der Meiſterwerke ſeiner Dichter und Tonſetzer noch ſo
dürftig, geſchmacklos, banauſiſch dahinkümmerte, und er lebte dieſem großen
Zwecke mit einer Opferfreudigkeit, wie ſie nur der echten Begeiſterung ent-
ſpringen kann. In ſcharfem Gegenſatze zu ſeinem Schwager Friedrich
Wilhelm beſaß er was den Enthuſiaſten gemeinhin zu fehlen pflegt, eine
eiſerne Willenskraft, eine Hartnäckigkeit, welche faſt an ſeinen Ahnherrn den
Schweden Karl XII. erinnerte; von den zahlloſen künſtleriſchen Plänen,
die ihn beſchäftigten, kam mancher nicht zur Reife und mancher mißrieth,
aber keiner, den er einmal in Angriff genommen, blieb halbvollendet liegen.
So ward er nach Karl Auguſt der größte Mäcenas der deutſchen Geſchichte,
und mit Recht ſtellt ihn heute die Nachwelt höher, als die Zeitgenoſſen
außerhalb Baierns zugeben wollten; denn vergeſſen ſind ſeine närriſchen
Schrullen, die den Mitlebenden bald lächerlich bald anſtößig erſchienen,
und verharſcht die Wunden, die er durch eine launiſch abſpringende Politik
dem bairiſchen Staate ſchlug; aber geblieben iſt als ein Beſitzthum der
Nation eine Fülle edler Werke, welche ohne die offene Hand und den raſtlos
planenden Kopf König Ludwig’s nie entſtanden wären, und auf allen Ge-
bieten der Kunſt wie des Kunſthandwerks neue Schaffensluſt erweckt haben.
Er erhob ſeine Hauptſtadt zu einer der großen Bildungsſtätten, deren das
deutſche Leben nicht mehr entbehren kann, und löſte fürſtlich ſeine Zuſage:
dahin müſſe es kommen, daß Niemand Deutſchland kennen könne, der
nicht auch München geſehen habe.
Selten hat eines Mannes Kopf ſo wunderliche Widerſprüche friedlos
neben einander beherbergt. Helleniſcher Schönheitsſinn und bigott katholiſche
Gläubigkeit; ehrliche Liebe zum Volke und eine Ueberſchätzung der könig-
lichen Würde, die der Selbſtvergötterung nahe kam; ſchwärmeriſches Teu-
tonenthum und wittelsbachiſcher Dynaſtenſtolz — das Alles trat grell und
unvermittelt zu Tage, da die Natur dem Könige von den ſchlichten Gaben
des Menſchenverſtandes, des Taktes, der Mäßigung nur wenig geſchenkt
hatte. Die Harmonie, die er an Kunſtwerken ſo wohl zu ſchätzen wußte,
war ſeiner Perſönlichkeit verſagt. Die ungeduldigen Bewegungen der hoch-
aufgeſchoſſenen Geſtalt, der ſchiefe Blick der feurigen Augen und die haſtige
ſtotternde Sprache verriethen eine ſeltſame innere Raſtloſigkeit. Derſelbe
Mann, der mit ſeinen Künſtlern auf den Malergerüſten ſtundenlang
menſchlich harmlos plauderte und ſcherzte, konnte im Zorne, in einem An-
fall herriſcher Laune die zarteſten Empfindungen ſeiner Freunde roh ver-
letzen oder unter dem Rufe „der König, der König!“ einem Vorübergehen-
den auf der Straße den Hut vom Kopfe ſchlagen. Dieſer geiſtvolle Kenner
des Schönen mißhandelte ſelber die deutſche Sprache durch Wortverren-
kungen und Participialconſtructionen ſonder gleichen und ſchmiedete ſeine
ſiebenfüßigen Hexameter mit vollkommener Geringſchätzung aller Geſetze des
Versbaues. Er arbeitete unabläſſig vom grauenden Morgen an und ver-
[605]König Ludwig von Baiern.
zichtete auf alle Genüſſe des Wohllebens um ſich die Koſten für ſeine
Kunſtwerke abzuſparen; aber wenn die Leidenſchaft für ein ſchönes Weib
ihn packte, dann vergaß er alle Selbſtbeherrſchung, alle Rückſicht auf ſeine
trotz alledem geliebte Gemahlin, die Königin Thereſe und zeigte ſeine Nei-
gung mit einer helleniſchen Unbefangenheit, die in der nüchternen modernen
Welt Aergerniß erregen mußte.
Freilich trugen die Baiern ſelber einige Mitſchuld an dieſer naiven
Rückſichtsloſigkeit ihres Königs, da ſie ihn ſchon bei ſeiner Thronbeſteigung
mit überſchwänglichen Huldigungen begrüßten, die auch einen kühleren Kopf
berauſchen konnten. Thierſch ſagte gradezu: „hier iſt mehr als Friedrich!“
Platen verkündete die künſtleriſchen und politiſchen Hoffnungen des jungen
Geſchlechts in einer ſchwungvollen Ode:
Politiſch bedeutſamer war eine hochpathetiſche Anſprache des Kurfürſten
Maximilian I. an den neuen König, welche Görres im „Katholiken“ er-
ſcheinen ließ: da mahnte der Stifter der katholiſchen Liga, der geſtrenge
Bändiger der altbairiſchen Ständefreiheit ſeinen Enkel zur Verfaſſungs-
treue, zur Wahrung des confeſſionellen Friedens, zum Kampfe wider die
Zeloten von zweierlei Art, welche Glauben und Geiſtesfreiheit für unver-
einbar halten. Der leitende Gedanke der Schrift lag nicht in dieſen ſchil-
lernden liberalen Schlagworten, ſondern in dem unzweideutigen Satze:
König Ludwig ſolle ein Schirmvogt des katholiſchen Glaubens ſein, „da-
mit Baiern wieder werde, was es zuvor geweſen ehe ſie das Gegentheil
ihm angelogen, ein Schild und Eckſtein der deutſchen Kirche.“ Der cleri-
cale Demagog meinte in dem gekrönten Romantiker den Mann gefunden
zu haben, der die vollſtändige Ausführung des Concordats nicht länger
durch „ſogenannte organiſche Edikte“ hemmen und „die böſe Sekte des
Verſtandesfanatism“ aus dem rechtgläubigen Baierlande austreiben werde.
An ſchwülſtigen Lobſprüchen ließ er es nicht fehlen.
Nun gar die kleinen bairiſchen Zeitungsſchreiber überboten einander
in Schmeicheleien, deren Plumpheit ſelbſt im diplomatiſchen Corps Ekel
erregte*): „Baierns Ludwig“ hieß der teutſcheſte der teutſchen Fürſten, der
Stern aller teutſchgeſinnten Männer, der Weiſe auf dem Throne; zum
Namenstage ſeiner Gemahlin erſchien der Mond am Himmel um unter-
thänig Glück zu wünſchen! Selbſt ſein militäriſches Genie, das unter ſeinen
mannichfachen Gaben unzweifelhaft die letzte Stelle einnahm, wurde ge-
prieſen; man nannte ihn „den lorbeergekrönten Sieger von Pultusk“, ob-
gleich die Veteranen alle wußten, wie unſchuldig der damals einunzwanzig-
[606]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
jährige Kronprinz an dem Ruhme jenes blutigen Schlachttags geweſen war.
Und dieſer byzantiniſche Ton hielt an. An jedem Ludwigstage feierte Schel-
ling als Präſident der Akademie den Ruhm des Königs mit einer Unter-
thänigkeit, welche von dem würdigen Freimuth der Feſtreden Böckh’s in
Berlin häßlich abſtach, und die dankbaren Künſtler geizten auch nicht mit
dem Weihrauch. Ein Steindruck, der in den Dorfwirthshäuſern des Ge-
birgs verbreitet wurde, ſtellte den König inmitten ſeiner Prachtbauten dar;
dazu die Aufſchrift: die Nachwelt wird ihn einſt den Großen nennen!
Alles an ihm ſollte genial ſein. Sogar ſeine Gedichte wurden bewundert,
nicht blos bei Hofe, ſondern auch von dem ehrlichen Liberalen Andreas
Schmeller, der in hellem Entzücken ausrief: „Konnten auf froſtigen Höh’n
ſolche Gewächſe gedeih’n?“ Jenſeits der blauweißen Grenzpfähle erweckte
das unerwartete Erſcheinen dieſer unglücklichen Gedichtſammlung allerdings
andere Betrachtungen. Die Conſervativen fragten erſtaunt, ob der bai-
riſche Monarch denn gar keinen ehrlichen Freund beſitze, der ihn hätte
warnen können. Der Oppoſition bot die barbariſche Formloſigkeit der
wittelsbachiſchen Vers-Ungethüme unerſchöpflichen Stoff für boshafte Witze,
die Citate aus König Ludwig’s Gedichten blieben viele Jahre hindurch,
zur Verzweiflung der Cenſoren, willkommene Leckerbiſſen für die liberalen
Zeitungsleſer, und man gewöhnte ſich auch die wirklichen Verdienſte des
Königs zu verſpotten. Nur Chamiſſo fand ein Wort des Mitgefühles für
die tragiſche Einſamkeit des gekrönten Freiheitsſängers, dem Niemand „in
ſeines Herzens Schattenreich“ geblickt hatte.
Die blinde Bewunderung ſeiner Baiern konnte den neuen Herrſcher,
nachdem er jahrelang unfreundliche Zurückſetzung ertragen, nur in ſeinem
despotiſchen Eigenwillen beſtärken. Er hatte ſeine Verfaſſungstreue bei der
Entſtehung des Grundgeſetzes und nachher im Kampfe wider die Karls-
bader Beſchlüſſe immer tapfer bethätigt; er rühmte ſich dem erſten conſtitu-
tionellen Fürſtenhauſe Deutſchlands anzugehören und ſang in ſeinem Ge-
dichte „Königsgefühl“:
Aber die neufranzöſiſche Lehre, daß der König nur herrſche, nicht regiere,
wollte er aus guten Gründen in ſeinem Baiern nicht zulaſſen, und mit
ſeiner unruhigen Vielgeſchäftigkeit übte er ſein Recht königlicher Selbſt-
regierung in ſolchem Umfange aus, daß in Wahrheit ſein Wille überall
allein entſchied, obgleich die Verfaſſung niemals abſichtlich verletzt wurde.
Das Größte wie das Kleinſte im Lande unterlag den ſeltſamen Einfällen
ſeines raſtloſen Kopfes: weil es ihm beliebte den Namen Baiern mit dem
altväteriſchen y zu ſchreiben, durfte kein bairiſcher Drucker mehr das ver-
botene i anwenden. Seine erſte Sorge galt den Finanzen, die unter dem
gutherzigen alten König niemals ganz ins Gleichgewicht gelangt waren; für
Penſionen allein wurden jährlich, das Heer ungerechnet, faſt 5 Millionen
[607]Die Erübrigungen.
Gulden ausgegeben. „Das Recht iſt mir heilig, ſchrieb König Ludwig an
Stein, um ſo ſchwerer der Einnahme und Ausgabe Gleichgewichtsſetzung,
aber mit Gottes Hilfe wird’s gehen.“ Und es ging, freilich nicht ohne
vielfache Härten. Den Nachlaß ſeines Vaters, ſogar den Degen und die
Gegenſtände des täglichen Gebrauchs, ließ er alsbald verſteigern, wie er
auch gegen ſeine Stiefmutter, Königin Karoline wenig Zartgefühl zeigte.
Die Ausgaben für den Hof wurden auf das Aeußerſte eingeſchränkt und
zur Prüfung des Staatshaushalts ſofort zwei Erſparungscommiſſionen
gebildet, denen der Monarch ſelber vorſaß.
Zur allgemeinen Ueberraſchung entließ der König außer ſeinem alten
Gegner Rechberg, deſſen Sturz Jedermann erwartet hatte, auch ſeinen lang-
jährigen Vertrauten, den Finanzminiſter Lerchenfeld, weil er ihm nicht rück-
ſichtslos genug durchzugreifen ſchien. Endlich fand er einen Finanzminiſter
nach ſeinem Herzen an dem Grafen Armansperg, einem geiſtreichen, beweg-
lichen jungen Weltmanne von liberalem Rufe. Der ging mit bureaukra-
tiſcher Schärfe vor und erwarb ſich bald im Volksmunde den Namen
Sparmansperg. Durch unnachſichtliche Streichungen gelang es ſchon im
Jahre 1827, den Kammern zum erſten male ein Jahresbudget ohne Deficit
vorzulegen. Aber die anfangs wohlthätige Sparſamkeit des neuen Regi-
ments wurde bald zur Plage. Kaum war das Gleichgewicht im Staats-
haushalte hergeſtellt, ſo verlangte der König, ſeine Behörden ſollten von
ihren geſetzmäßigen Ausgaben auch noch „Erübrigungen“ erzielen, und dieſe
Erübrigungen betrachtete er unbedenklich als einen freien Gewinnſt, mit
dem die Krone nach Belieben ſchalten dürfe. Daß eine feſt begrenzte Civil-
liſte „eine ſehr unangenehme Sache“ ſei, geſtand er bereits in den erſten
Monaten ſeines conſtitutionellen Feuereifers dem Herzog von Naſſau weh-
müthig zu;*) für ſeine grandioſen Kunſtpläne langte ſelbſt der Reichthum
der Wittelsbacher nicht aus. Da ſollten denn die Erübrigungen nachhelfen.
Die ſtrebſamen Beamten beeiferten ſich durch ſolche Erſparniſſe um
die Gunſt des Monarchen zu werben. Der Straßenbau, die Ablöſung der
Grundlaſten, die Pflege der Volksſchulen und manche andere wichtige, aber
unſcheinbare Aufgaben der Verwaltung wurden arg vernachläſſigt. Am
ſchwerſten litt das Heer unter dem ſonderbaren Sparſyſteme des königlichen
Kunſtfreundes. Unter dem jubelnden Beifall der liberalen Welt ſetzte
er die Heeresausgabe ſogleich um 1 Mill., dann noch weiter bis auf 5½ Mill.
Gulden herab, während der überſparſame Friedrich Wilhelm III. nach
Verhältniß der Bevölkerung doch mehr als das Doppelte, über 21 Mill.
Thaler, für das Kriegsweſen ausgab; man war ja in den Mittelſtaaten
gewohnt, die Sorge für die Vertheidigung des Vaterlandes gemächlich den
Preußen zu überlaſſen. Die Kopfzahl der Regimenter blieb unverändert,
da der König für ſeine bajuvariſche Großmachtspolitik eines ſtarken Heeres
[608]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
bedurfte; dafür wurden 16,000 Mann jährlich beurlaubt und den alten
Offizieren, ſelbſt wenn ſie nicht mehr reiten konnten, faſt niemals mehr
der Abſchied bewilligt. Feldmarſchall Wrede, der einſt dem Kronprinzen
ſo nahe geſtanden, verlor jetzt jeden Einfluß, weil der alte Soldat die
Gebrechen des Heerweſens erkannte und der unkriegeriſche Monarch keinen
Widerſpruch ertrug. Schon zur Zeit der Juli-Revolution befand ſich das
Heer in ſo ſchlechtem Zuſtande, daß der kriegserfahrene Nachbar, König
Wilhelm von Württemberg ſich ſchwer beſorgt äußerte*); aber erſt in dem
Main-Feldzuge vom Jahre 1866 wurden die langnachwirkenden üblen
Folgen dieſes Syſtems falſcher Sparſamkeit offenkundig.
Seinen erſten Landtag eröffnete der König mit einer Thronrede monu-
mentalen Stils: „Wie ich geſinnt bin, wie ich für geſetzliche Freiheit, des
Thrones Rechte und die eines Jeden ſchützende Verfaſſung bin, dieſes
jetzt zu verſichern wäre hoffentlich überflüſſig, desgleichen daß ich Religion
als das Weſentlichſte anſehe und jeden Theil bei dem ihm Zuſtändigen
zu behaupten wiſſen werde.“ Die langwierige Tagung führte zu einem
wichtigen Ergebniß: der im pfälziſchen Rheinkreiſe ſchon längſt beſtehende
Landrath wurde mit einigen Aenderungen auch in den übrigen Kreiſen
eingeführt und dadurch erſt der Verfaſſung ein feſterer Unterbau geſchaffen.
Wohl beſaßen dieſe den franzöſiſchen Generalräthen nachgebildeten Land-
rathsverſammlungen nur beſchränkte Befugniſſe, ſie führten keine eigenen
Verwaltungsgeſchäfte, ſondern hatten nur die Kreis-Umlagen und außer-
ordentlichen Ausgaben zu bewilligen; immerhin gewährten ſie den Regierten
die Möglichkeit, durch Bitten, Beſchwerden, Gutachten in den Gang der
Verwaltung einzugreifen und die Macht des Staatsbeamtenthums einiger-
maßen zu beſchränken. Im Uebrigen zeigte ſich die Krone den Kammern
gegenüber faſt ebenſo ſpröde wie vormals. Der alte Zentner, noch immer
der tüchtigſte Geſchäftsmann des Miniſteriums, behauptete nach wie vor,
mit ſehr anfechtbaren Gründen, daß die Regierung befugt ſei, auch den
Gemeindebeamten den Urlaub zum Landtage zu verweigern; darum konnte
ſelbſt Bürgermeiſter Behr ſchlechterdings nicht die Zulaſſung zur Kammer
erlangen, obgleich er ſeinen Rechts-Anſpruch in einer lebhaften Streit-
ſchrift verfocht und bis vor Kurzem noch in Würzburg mit dem Kron-
prinzen Ludwig freundſchaftlich verkehrt hatte. Manche romantiſche Ent-
würfe des Königs mußten liegen bleiben. Wie ſein Schwager in Berlin be-
ſchäftigte er ſich lebhaft mit der Zukunft des deutſchen Adels, und wie
jener glaubte er von außen her helfen zu können, durch Einführung des
engliſchen Erſtgeburtsrechts. Die Unzufriedenheit ſeiner Reichsräthe zeigte
ihm indeß, daß uralte Sitten ſich nicht durch einen Machtſpruch des Ge-
ſetzgebers beſeitigen laſſen; das geplante Adelsgeſetz wurde zurückgezogen,
und ſelbſt der neuerfundene rheinbündiſche Perſonal-Adel, der doch offen-
[609]Erſter Landtag. Kirchenpolitik.
bar beſtimmt war, das Anſehen des Geburtsadels herabzubringen, blieb
als bairiſche Eigenthümlichkeit erhalten.
Deutlicher als in den Ständeverhandlungen zeigten ſich die Folgen
des Thronwechſels in dem geiſtigen Leben des Landes. In der Welt der
Ideen und der Träume war dem neuen König am wohlſten, der von ſich
ſelber ſagte:
Er hob die Preßverordnung auf, die einſt nach den Karlsbader Beſchlüſſen
erſchienen war, und obwohl die Cenſur für politiſche Zeitſchriften fortbe-
ſtand, ſo wurde ſie doch in dieſen erſten vertrauensvollen Jahren mild
gehandhabt; freimüthige Urtheile über das Verfahren der einheimiſchen
Behörden ſollten Jedem unverwehrt ſein. Auch die Kirche ſollte fortan
größerer Freiheit genießen als unter der aufgeklärt-bureaukratiſchen Re-
gierung des Vaters. Der gläubige Sohn ſtellte die alten Hausbräuche
der Wittelsbacher wieder her, wuſch am Grünen Donnerſtag den Armen
die Füße, ſchritt andächtig mit in der Frohnleichnams-Proceſſion; er gab
der Hauptſtadt das alte Wappen wieder, das ihr Montgelas einſt ge-
nommen hatte, weil das Münchener Männlein leider ein unaufgeklärtes
Mönchlein war; er erlaubte den Ober-Ammergauer Bauern die bisher
ebenfalls verbotene Aufführung ihres ſchönen alten Paſſionsſpieles, und
beeilte ſich die noch unausgeführten Verſprechungen des Concordats einzu-
löſen. Sofort wurden acht Manns- und vier Nonnenklöſter wiederherge-
ſtellt, zuerſt Karl’s des Großen ehrwürdige Stiftung, die Benediktinerabtei
Metten an der Donau. Nach und nach mehrte ſich die Zahl. Mit Ver-
wunderung ſahen die Münchener wieder die Benediktiner, Kapuziner, Fran-
ziskaner, die lange ganz verſchollen geweſen, durch die Straßen ziehen.
Den Bauern aber gereichte es zur Beruhigung, daß ſie das Ignazi-Waſſer,
das Quirinus- und Walpurgis-Oel, die Lukaszettel, ſowie die anderen
landesüblichen Wundermittel nunmehr wieder aus der Hand geweihter
Gottesmänner kaufen konnten. Bald ging der König ſogar über die
Vorſchriften des Concordats hinaus, indem er außer dem verheißenen
Prieſterſeminar auch zwei Knabenſeminare einrichten ließ; er wollte fromme
Prieſter, die den letzten Bodenſatz des Illuminatenthums aus dem gläu-
bigen Baierlande hinausfegen ſollten, und bemerkte nicht, wie fremd der
Nachwuchs des Clerus dem Vaterlande werden mußte, wenn man ihn
ſchon in zarter Jugend von der bürgerlichen Geſellſchaft abſperrte.
An die Spitze des proteſtantiſchen Conſiſtoriums wurde der Schwabe
Roth geſtellt, ein ſtrenger Orthodoxer, der die Ultramontanen als willkom-
mene Bundesgenoſſen gegen den rationaliſtiſchen Unglauben anſah. Seit
die Königin Wittwe nach Würzburg ziehen mußte, verlor ihr Hofprediger,
der verſöhnliche Schmitt, ſeinen Einfluß, und das harte, der Union feind-
liche Lutherthum, das in Erlangen unter den jungen Theologen vorherrſchte,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 39
[610]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
wurde überall begünſtigt. Mit Alledem war der König keineswegs gemeint
die Freiheit der Proteſtanten zu beeinträchtigen oder gar den Staat der
römiſchen Kirche zu unterwerfen. Von der Zurückberufung der Jeſuiten
wollte er nichts hören, „weil ſie niemals teutſch geweſen“, und unter den
anderen Orden gab er den milden, gelehrten Benediktinern den Vorzug.
Sein Liebling unter den Prieſtern war der ehrwürdige Sailer, der jetzt,
vom Papſte wieder zu Gnaden angenommen, als Biſchof in Regensburg
lebte. Wie that es dem Könige wohl, ſeinem greiſen Lehrer, „dem deutſchen
Fenelon“ in dem nahen Schlößchen Barbing eine freundliche Sommer-
friſche zu bereiten; zuweilen erſchien er ſelber in dem geiſtlichen Kreiſe,
der ſich dort zuſammenfand, und erbaute ſich an den ernſten Geſprächen
des alten Domherrn Wittmann und des jungen Weſtphalen Diepenbrock.
Doch faſt ebenſo gern wie mit dieſen milden Regensburger Prieſtern ver-
kehrte er mit den Speyer’ſchen Domherren Geiſſel und Weis, den ſtreit-
baren Mitarbeitern des clericalen „Katholiken“. Zu ſeinen perſönlichen
Vertrauten gehörte auf der einen Seite der gemäßigt liberale Freiherr
Heinrich v. d. Tann, ein Franke aus altproteſtantiſchem Geſchlecht — auf
der anderen ſein lieber kleiner „Muckel“, der geiſtvolle Mediciner Nepo-
muk Ringseis, ein ſtrengkatholiſcher Altbaier, Myſtiker im Glauben wie
in der Naturwiſſenſchaft.
Seit dem Thronwechſel erhoben die Clericalen ihre Stimme immer
lauter; ſie pflegten in der Eos und anderen Zeitſchriften mit befliſſenem
Eifer das katholiſche Altbaiern als das Land wittelsbachiſcher Treue zu
verherrlichen, was wieder gereizte Entgegnungen aus Franken hervorrief.
Bald ſprach man in den neuen Provinzen und ſelbſt in der Diplomatie
allgemein von einer ultramontanen „Congregation“, die in München nach
bourboniſchem Muſter ihr geheimes Weſen treiben ſollte.*) Die meiſten
dieſer Gerüchte waren falſch oder übertrieben; jedoch bei dem unberechen-
baren Charakter des Königs ſchien ein Erfolg der Clericalen über lang
oder kurz nicht unmöglich. Der neue Miniſter des Innern, Eduard
v. Schenk, ein junger Rheinländer, der ſich die Gunſt des Monarchen
durch ſeine romantiſchen Dramen errungen hatte, war den Proteſtanten
ſchon als Convertit verdächtig und ſicherlich nicht kräftig genug um einem
plötzlichen Angriff zu widerſtehen. Solche Beſorgniſſe trübten den Libe-
ralen bereits in dieſen erſten Jahren die Freude an dem neuen Regiment.
Dagegen fand die Verlegung der altbairiſchen Hochſchule nach München
den Beifall aller Einſichtigen. Der glückliche Gedanke wurde zuerſt von
Ringseis angeregt und dann durch den König mit gewohnter Raſchheit
ſchon 1826 ausgeführt. Die Univerſität hatte ſich in Landshut etwas
freier entwickelt als vormals in der Jeſuitenburg Ingolſtadt, aber nicht
ſehr kräftig; die Gefahr der Verbauerung lag in dem Paradieſe der nieder-
[611]Univerſität München.
bairiſchen Weizengrafen den Gelehrten doch gar zu nahe, auch hemmte noch
überall der alte halbgeiſtliche Unterrichtszwang. Der König gewährte ihr
jetzt die unbeſchränkte norddeutſche Lehr- und Lernfreiheit, die er einſt als
Student in Göttingen ſchätzen gelernt hatte. Er hoffte, indem er ſie mit
der Münchener Akademie verband, die Bildung der Jugend durch eine an-
regende Umgebung zu fördern und zugleich die Hauptſtadt mit einer Fülle
geiſtiger Kräfte zu bereichern; ſein München ſollte für das wiſſenſchaft-
liche Leben des katholiſchen Deutſchlands ein Brennpunkt werden wie
Berlin für den proteſtantiſchen Norden.
Von den zahlreichen Neuberufenen lehnten Tieck, Thibaut, Raumer
und mehrere Andere ab, die Meiſten weil ſie die berüchtigte bajuvariſche
Ungaſtlichkeit fürchteten. Aber Schelling kam, und ſeine reiche Lehrthätig-
keit gab der umgeſtalteten Hochſchule auf lange hinaus das Gepräge. Er
lebte jetzt in dem geheimnißvollen Ideenkreiſe ſeiner längſt angekündigten
Theoſophie und gab die Loſung zum Kampfe gegen Hegel. Dieſer Gegen-
ſatz zu der Berliner Philoſophenſchule trat auch in den Vorleſungen des
Myſtikers Baader, des frommen Naturphiloſophen Schubert, der jungen
Docenten Stahl, Puchta, Döllinger überall hervor; am ſchärfſten aber
in den phantaſiereichen Vorträgen von Görres, deſſen Berufung auf die
ſeltſame katholiſch-liberale Geſinnung König Ludwig’s ein grelles Schlag-
licht warf. Jene ſalbungsvolle Anſprache des Kurfürſten Maximilian
empfing alſo ihren Lohn, und der dankbare Wittelsbacher ließ ſich auch
nicht beirren, als die preußiſche Regierung, auf ausdrücklichen Befehl
König Friedrich Wilhelm’s, die ängſtliche Anfrage ſtellte, ob dieſe Beru-
fung, ohne Rückſprache mit den preußiſchen Behörden, nach Bundesrecht
ſtatthaft ſei.*) Zum Lehrer war Görres verdorben. Die myſtiſche Bilder-
pracht ſeiner Rhetorik zog zwar Schaaren von Zuhörern an, aber ſie trugen
nur den Rauſch einer unbeſtimmten Begeiſterung davon; was ſollten ſie
auch lernen, wenn er ein ganzes Semeſter brauchte um den Gang der
Weltgeſchichte bis zur Sindfluth darzuſtellen? Um ſo mächtiger wirkte er
als Parteihaupt, als Vorkämpfer der ſtreitbaren Kirche; ſein Haß gegen
Preußen wurde allmählich durch die confeſſionelle und die perſönliche Er-
bitterung bis zum Fanatismus geſteigert. Der Heiligenſchein des politi-
ſchen Martyriums kam ihm zu ſtatten; die Clericalen ſprachen von dem
alten Görres mit derſelben Ehrfurcht wie die Liberalen von dem alten
Arndt und dem alten Jahn. Auch Oken erhielt einen Lehrſtuhl, gerieth
aber nach ſeiner Gewohnheit bald wieder in Händel; auch der biderbe
Maßmann, der Bücherverbrenner von der Wartburg, durfte zugleich ger-
maniſtiſche Vorleſungen halten und auf dem Turnplatze ſeine Teutonen
ſchulen.
Die Münchener Hochſchule beſaß an Thierſch einen trefflichen Er-
39*
[612]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
zieher für den Lehrerſtand, an Schmeller einen hochbegabten Germani-
ſten, der allzubeſcheiden und allzuwenig anerkannt durch ſein Bairiſches
Wörterbuch der deutſchen Dialektforſchung die Bahn brach. Sie wurde
bald nächſt Berlin die beſuchteſte der deutſchen Univerſitäten außerhalb
Oeſterreichs, und trug viel dazu bei, daß der Ton in der Hauptſtadt
ſich hob, das altbairiſche Leben ſich der nationalen Geſittung annäherte;
denn obwohl die neuen Straßen, wo die norddeutſchen Gelehrten wohnten,
bei den Bürgern noch lange das Proteſtantenviertel hießen, ſo begann man
doch allmählich einander zu ertragen und zu verſtehen. Auch das Stu-
dentenleben war in dieſen erſten Semeſtern, da die Jugend ſich der neu-
gewonnenen Lernfreiheit noch dankbar erfreute, geſund und friſch; in der
Geſellſchafts-Aula, wo der junge Philoſoph Beckers und ſeine Freunde
den Ton angaben, herrſchte ein fröhlicher wiſſenſchaftlicher Idealismus.
Gleichwohl entſprach der Erfolg den hochgeſpannten Erwartungen des
Königs keineswegs. Mit der erſten Hochſchule Preußens konnte die Uni-
verſität der bairiſchen Hauptſtadt ſich nicht von fern vergleichen; dazu war
der kaum erſt urbar gemachte Boden hier noch bei Weitem nicht ergiebig
genug. In Berlin war Hegel nur Einer unter Vielen; neben der reichen
Mannichfaltigkeit des wiſſenſchaftlichen Lebens dort erſchien die Münchener
Gelehrſamkeit mit ihrem vorherrſchenden katholiſch-naturphiloſophiſchen
Zuge dürftig, einſeitig, parteiiſch, und zuweilen mochte dem königlichen
Enthuſiaſten wohl das Epigramm einfallen, das er einſt in mißmuthiger
Stunde gedichtet hatte:
Unter den nicht-akademiſchen Gelehrten, welche der König nach Mün-
chen berief, erwies ſich der Tyroler Hiſtoriker Hormayr beſonders brauchbar.
Der hatte einſt den Oeſterreichiſchen Plutarch geſchrieben, bei dem Auf-
ſtande Andreas Hofer’s mitgeholfen und die bairiſchen „Rheinbundsſklaven“
gröblich beſchimpft. Von Metternich übel behandelt ſtellte er jetzt dem
liberalen Baiernkönige ſeine ſtachlige Feder bereitwillig zur Verfügung und
ſchrieb ſogleich über die hiſtoriſchen Fresken der Münchener Arkaden ein
Büchlein, das in bajuvariſcher Selbſtberäucherung und höfiſcher Liebe-
dienerei Unmögliches leiſtete: immer wieder hielt er den Baiern vor, wie
oft ſie ſchon einſt, da ihr Staat noch um das Dreifache kleiner war, in
der europäiſchen Politik den Ausſchlag gegeben hätten. Der plötzliche Ge-
ſinnungswechſel des beweglichen Mannes erweckte wenig Vertrauen; da er
jedoch die Blößen Metternich’s genau kannte, ſo war er als Wittels-
bachiſcher Hofpubliciſt nicht zu verachten. Auch Cotta, der Unermüdliche,
der ſoeben die Dampfſchifffahrt auf dem Bodenſee eingerichtet hatte, wurde
durch König Ludwig bewogen, in München eine Filiale ſeiner Buchhand-
lung zu gründen. Dort ſollte eine große liberale Zeitſchrift erſcheinen,
die Neuen Politiſchen Annalen, als Fortſetzung des Murhard’ſchen Unter-
[613]Thierſch und die Gymnaſien.
nehmens; Lindner, der Vertraute des Stuttgarter Hofes, und der junge
Heinrich Heine wurden mit der Leitung betraut. Aber die Zeitſchrift
ging ſchon nach wenigen Monaten ein, und Lindner fand nachher ein
ſtilles Unterkommen bei der Bairiſchen Staatszeitung, wo er dann ſein
altes Lied vom „reinen Deutſchland“ noch jahrelang, wenig beachtet und
mit gedämpfter Stimme ſang.
Mit lebhaftem Eifer betrieb der König die Reform ſeiner Gymnaſien.
Er wollte ſie nach dem Muſter der ſächſiſchen und württembergiſchen Ge-
lehrtenſchulen umgeſtalten und die Lyceen, die noch in unhaltbarer Mittel-
ſtellung zwiſchen der Univerſität und dem Gymnaſium ſtanden, ganz be-
ſeitigen. Von Schelling unterſtützt entwarf Thierſch einen tief durchdachten
Lehrplan, der die Abſicht verfolgte, durch die Einfachheit einer gründlichen
humaniſtiſchen Bildung die Jugend zum Können und dann erſt zum
Wiſſen zu erziehen: die Ueberbürdung der Schüler mit verſchiedenartigem
Unterrichtsſtoffe, die auf den preußiſchen Gymnaſien unter Joh. Schulze’s
Leitung ſchon bedenklich zunahm, ſollte vermieden, die geiſttödende Plage
der Examina eingeſchränkt, die Zahl der Lehrſtunden ſo weit herabgeſetzt
werden, daß der Klaſſenlehrer den Unterricht in allen Hauptfächern zu-
gleich ertheilen, durch die Kraft ſeiner Perſönlichkeit die Schüler geiſtig
beherrſchen könnte.
Als aber dieſe treffliche Schulordnung erſchien (1829), da regte ſich
von allen Seiten her ein Widerſtand, der nur zu deutlich zeigte, wie
ſchwer dies neue, von ſo mannichfachen Intereſſen bewegte Jahrhundert
ſich über die Lebensbedingungen aller Bildung zu verſtändigen vermochte.
Der Geiſtliche Rath Schrank und ſeine Parteigenoſſen wünſchten Rück-
kehr zu der Unterrichtsmethode der Jeſuiten, während Paulus’ Sophro-
nizon umgekehrt in der neuen Schulordnung hierarchiſche Hintergedanken
witterte. Das gewerbreiche Frankenland forderte Begünſtigung des natur-
wiſſenſchaftlichen Unterrichts, der allerdings in Thierſch’s Lehrplane über
Gebühr vernachläſſigt war, und als Wortführer dieſer Realiſten verlangte
Oken kurzweg, der Schüler müſſe in „die geſammte Cultur der Welt“
eingeführt, über Alles was er vielleicht einmal im Leben brauchen könne
zum Voraus unterrichtet werden. Die alten Beamten dagegen fanden
die Anforderungen des Schulplans überſpannt. Zentner namentlich, der
alte Profeſſor, ſprach — wie ſo viele Gelehrte, wenn ſie ins Geſchäfts-
leben übergetreten ſind — mit der äußerſten Geringſchätzung von der Wiſ-
ſenſchaft; er meinte, der Staat dürfe von der Schule nur verlangen,
daß ſie ſeine künftigen Beamten für die praktiſchen Bedürfniſſe des Staats-
dienſtes abrichte. Auch der einflußreiche Cabinetsſecretär Grandauer ſchloß
ſich dieſen Gegnern an, ein beſchränkter Kopf, der gleichwohl verſtand ſich
dem geiſtreichen Monarchen unentbehrlich zu machen. Alſo von allen
Seiten her beſtürmt entſchloß ſich der König ſchon nach Jahresfriſt, durch
eine neue Schulordnung den claſſiſchen Unterricht wieder etwas zu be-
[614]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
ſchneiden. Die unglücklichen Zwittergebilde der Lyceen blieben beſtehen,
und was das Schlimmſte war, die von Thierſch beantragte Erhöhung
der armſeligen Lehrergehalte unterblieb, ſo daß Theologen und bald auch
Mönche einen großen Theil der Lehrerſtellen einnahmen. Dergeſtalt brachte
die wohlgemeinte Reform dem bairiſchen Gymnaſialweſen allerdings einige
Verbeſſerungen, doch an das Vorbild der ſächſiſchen Gelehrtenſchulen kam
man nicht heran. —
Unvergleichlich glücklicher zeigte ſich des Königs Hand in ſeinen Kunſt-
ſchöpfungen. Die Kunſt wird von den Schwankungen des öffentlichen
Lebens nicht ſo unmittelbar berührt wie die Wiſſenſchaft, und ſie fand
auch in München einen keineswegs undankbaren Boden. Dieſe warm-
herzigen, von aller kritiſchen Ueberklugheit unberührten Altbaiern mit ihrer
friſchen Sinnlichkeit und ihren farbenfrohen Augen bedurften nur eines
Erweckers um wieder ebenſo tüchtig bauen und bilden zu lernen, wie vor
Zeiten als der ragende Thurm von St. Martin in Landshut und die
ſchweren Maſſen der Münchener Frauenkirche durch bairiſche Meiſter ge-
ſchaffen wurden. Die Künſtler wurden hier auch meiſt ſchneller heimiſch
als die Gelehrten; ſeit das Mißtrauen der eingeborenen Bevölkerung ſich
allmählich milderte, fühlten ſie ſich behaglich in den zwangloſen Sitten
der lebensluſtigen Stadt. Die Maler durchwanderten das nahe Hoch-
gebirge oder hielten fröhliche Sommerraſt auf dem Frauenwörth im Chiem-
ſee; auf ihren farbenprächtigen Künſtlerfeſten herrſchte ein derber Humor,
der den Deutſchen ſeit den Faſtnachtsſpielen des Hans Sachs faſt ab-
handen gekommen war.
König Ludwig hat bis zu ſeinem Tode allein aus ſeiner Cabinetskaſſe
an 18 Mill. Gulden für Bauten und Kunſtwerke ausgegeben — ungerechnet
die Ausgaben des Staates, der Corporationen, der Gemeinden — und
ſelbſt dieſe Summen hätten nicht genügt, wenn er ſie nicht im Einzelnen
mit peinlicher Genauigkeit verwendet hätte. Er ſcheute den ungerechten
Vorwurf des Geizes nicht und ſprach offen aus, die Künſtler ſollten ſich
nicht ſchämen nach Brot zu gehen; doch er verſtand ſie zu ehren, gab ihnen
in Staat und Geſellſchaft eine würdige Stellung. Schon als Prinz hatte
er ſich mit dem Plane getragen, in einer Villa auf dem Palatin für
Schiller ein trauliches Heim einzurichten; als König reiſte er zu Goethe’s
Geburtstag ſelber nach Weimar um dem Dichter zu huldigen, und mit
ſeiner Unterſtützung entſtand das erſte Denkmal, das in Deutſchland künſt-
leriſchem Verdienſte geweiht wurde, das Dürer-Standbild in Nürnberg.
Weil er groß dachte von der ſittigenden Macht der Kunſt, beſtimmte er
ihre Werke nicht für Kritiker und Kenner, ſondern für das ganze Volk.
Niemals erlaubte er, daß in den Sammlungen Eintrittsgelder erhoben
oder zum Schutze der koſtbaren Denkmäler Wachen aufgeſtellt wurden;
ſeine Baiern ſollten ſich gewöhnen das Schöne zu ertragen und endlich
zu lieben.
[615]Die Münchener Kunſt.
Was die Kunſt nur aus ſich ſelbſt heraus zu finden vermag, konnte
ihr der königliche Beſchützer freilich nicht ſchenken. Einheit des Stiles war
unmöglich in einer unruhigen Zeit, die das literariſche Schaffen der ge-
ſammten Vorwelt überſah, die unter der Laſt neuer und widerſpruchsvoller
Gedanken faſt erlag und doch erſt wieder lernen mußte aus proſaiſchem Un-
geſchmack ſich zum A B C des Formenſinnes zu erheben. Der Münchener
Malerei gab ihr „Peter der Große“, Cornelius, von Haus aus die Richtung
auf das Erhabene und Monumentale. Unter ſeinen Architekten dagegen
fand der König keinen, der durch die Uebermacht einer großen Perſönlich-
keit die Münchener Baukunſt ſo vollſtändig hätte beherrſchen können, wie
Schinkel die Berliner; und obwohl er ſelber der Antike den Vorzug gab, ſo
ſah er ſich doch faſt gezwungen, ſeine Baumeiſter auf die freie Nachbildung
verſchiedener Stile hinzuweiſen. Er verfuhr dabei mit feinem Geſchmack;
faſt immer entſprach der gewählte Stil dem Zwecke des Bauwerks. Aber
neben den maleriſchen engen Gaſſen der Altſtadt, in denen ſich das katho-
liſche Stillleben der beiden letzten Jahrhunderte noch ſo getreu widerſpie-
gelte, erſchienen die weiten Straßen und Plätze des neuen Münchens
wunderlich, buntſcheckig, charakterlos, zumal in dieſen erſten Jahren, ſo
lange der bürgerliche Verkehr den verwegenen Plänen des Königs noch nicht
zu folgen vermochte. Griechiſche Tempel, römiſche Triumphbogen, florenti-
niſche Paläſte ragten fremdartig aus dürftigen Häuſerzeilen empor oder ſie
ſtanden ganz einſam auf der öden Geröll-Ebene, und wer nur die Mängel
ſehen wollte, wie H. Heine, fand reichen Anlaß über die gekünſtelte Herr-
lichkeit des deutſchen „Bier-Athens“ zu ſpotten. Auch die brennende Un-
geduld des Bauherrn that ſeinen Werken Abbruch. Immer mit neuen
Plänen beſchäftigt, gönnte er den halbvollendeten ſelten die rechte Liebe
und drängte haſtig zum Abſchluß, obwohl die ungeſchulten Hände der
deutſchen Kunſthandwerker noch nachſichtiger Geduld bedurften. Er über-
nahm ſich in Entwürfen, ſo daß man ſchließlich kaum mehr wußte, welchem
großen Baiern noch ein Denkmal geſetzt werden ſollte, und ſtörte die Ar-
beit der Meiſter zuweilen durch ein willkürliches Machtwort, da er ſich
ſelber als den eigentlichen Schöpfer anſah. Unter der Maſſe von Künſt-
lern, die an der Iſar zuſammenſtrömten, wurde manche edle Kraft ungerecht
mißhandelt, ſelbſt das grandioſe Zeichner-Talent Bonaventura Genelli’s.
Die Eiferſucht, die in dieſem Gewühle nicht fehlen konnte, führte bald zu
widerwärtigen Händeln, da der König von der ſorgloſen Selbſtgewißheit
Karl Auguſt’s gar nichts beſaß, ſondern eiferſüchtig auf ſein Anſehen bedacht,
Jedem, der etwa „den Großvezier“ ſpielen wollte, ſogleich einen Neben-
buhler entgegenſtellte. Aber mit allen ihren menſchlichen Schwächen war es
doch eine reiche Zeit voll kühnen Schaffens und fröhlichen Hoffens, die der
deutſchen Kunſt jetzt tagte, als Cornelius, von ehrfürchtigen Schülern um-
geben, in der Glyptothek ſeine Malergerüſte aufſchlug; und mit Sehnſucht
dachte der Meiſter noch im hohen Alter an dieſen wonnevollen Lenz zurück.
[616]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Kaum auf dem Throne nahm der König den Walhalla-Plan wieder
auf, den er einſt in den Tagen der Fremdherrſchaft erſonnen hatte: hoch
über der Donau bei Regensburg ſollte der Tempel deutſcher Ehren ſich
erheben, ein ernſter doriſcher Bau auf mächtiger Terraſſe. Während
dieſer Entwurf noch in Berathung war, wurden faſt gleichzeitig die Grund-
ſteine gelegt für den Königsbau, die Allerheiligenkirche, die Pinakothek.
Das Alles leitete Leo Klenze, ein Niederſachſe vom Harz, ein Bewunderer
der helleniſchen Ideale, nicht ſo reich an eigenen Gedanken wie Schinkel,
aber überaus fruchtbar und geſchmeidig genug um den Launen des Bau-
herrn ſich zu fügen; die Augenweide des Baumeiſters, den echten Hau-
ſtein boten ihm in Fülle die Marmorbrüche, welche der König am Unters-
berge angekauft hatte. Der dem Palaſte Pitti nachgebildete Königsbau
trug allzu deutlich das Gepräge bewußter Nachahmung und reichte an
die überwältigende Erhabenheit der wie von Cyclopenhänden geſchichteten
Steinmaſſen Brunellesco’s nicht heran. Um ſo glücklicher gelang das
Innere der byzantiniſchen Hofkapelle, ein phantaſtiſcher und doch harmo-
niſcher Bau, in den der König ſeine liebſten Träume eingeſponnen hatte,
ſtrahlend von Gold und Marmor, faſt ebenſo ſchön wie ſein herrliches Vor-
bild, die Cappella Palatina der Normannenkönige im Schloſſe von Palermo;
in dem Dämmerſcheine, der droben an den Wölbungen um Heinrich Heß’s
ernſte Bilder ſpielte, überkam die Beſucher ein Gefühl weihevoller An-
dacht, wie es die froſtigen Kirchenbauten unſeres weltlichen Jahrhunderts
nur ſelten zu wecken verſtehen. In dem florentiniſchen Palaſt der Pina-
kothek wurde durch den umſichtigen Gallerie-Direktor Dillis außer der
Sammlung der Brüder Boiſſeree auch die neuerworbene Wallerſtein’ſche
Gallerie aufgeſtellt, ſo daß neben der rheiniſchen auch die oberdeutſche
Kunſt der alten Zeit glänzend vertreten war; dazu die großen Rubens-
ſchen Bilder aus Düſſeldorf, treffliche Murillos und Italiener — das
Ganze eine Sammlung, die in Deutſchland nur von der Dresdener über-
troffen wurde. Um ſie zu ſchmücken, hatte Nürnberg manches ſeiner
Kleinodien hergeben müſſen. Indeß war Ludwig nicht gemeint ſeine Pro-
vinzialſtädte zu berauben; vielmehr erließ er eine verſtändige Verordnung
zum Schutze der alten Denkmäler und wachte ſtreng darüber. Der Van-
dalismus der rheinbündiſchen Tage nahm ein Ende. Die Baiern wurden
ihrer ſchönen Städte wieder froh, ſeit der Schwabe Heideloff und eine
ganze Schule altdeutſch geſinnter Baumeiſter in Nürnberg, Bamberg,
Regensburg die verfallenden Kirchen und Prachtbauten, meiſt auf Geheiß
des Königs, ſtilgetreu wiederherſtellten.
Die Skulptur wollte anfangs in München nicht recht gedeihen, und
oft genug erinnerte ſich der König an den Ausſpruch Thorwaldſen’s, daß
der Proteſtantismus der Bildhauerkunſt, die katholiſche Bildung der Ma-
lerei günſtig ſei. Darum rief er Auswärtige zu Hilfe, ließ das Denkmal
ſeines Vaters durch Rauch, das Reiterſtandbild des katholiſchen Maximilian
[617]Klenze. Schwanthaler. Cornelius.
durch Thorwaldſen entwerfen. Dann fand ſich endlich in Ludwig Schwan-
thaler ein einheimiſcher Künſtler, wie ihn der ungeduldige Mäcenas eben
brauchte, ein Talent von wunderbarer Leichtigkeit der Erfindung, immer
anmuthig, immer der plaſtiſchen Wirkung ſicher, wenig geneigt das raſch
Entworfene im Einzelnen liebevoll auszugeſtalten. Bildwerke, die durch
ſich ſelber wirken ſollten, gelangen ihm ſelten ganz, aber Niemand ver-
ſtand wie er, die Giebelfelder der Kunſttempel, die Prunkſäle der Schlöſſer
durch Reliefs und Statuen glänzend und ſinnig zu zieren. Nun hob
ſich auch die Kunſt der Erzgießerei. Mochte der erſte Guß des Max-
Joſeph-Denkmals mißlingen, der König ruhte nicht, bis ſein neues, von
Stiglmayr geleitetes Gießhaus den beſten in Europa gleichkam.
Die Krone der Münchener Kunſt blieb doch die Malerei. Kaum
waren die Fresken in der Glyptothek vollendet, ſo begann Cornelius ſo-
fort einen neuen großen Gemälde-Cyclus, die Geſchichte der Malerei in
den Loggien der Pinakothek. Dem heroiſchen Schwunge dieſes epiſchen
Genius konnten ſich auch ſolche Künſtler nicht entziehen, die wie Schnorr,
der Maler der gewaltigen Nibelungen-Bilder, ihres eigenen Weges gingen.
Selbſt die Landſchaftsmalerei erhob ſich zum Gedankenreichthum des hiſto-
riſchen Stiles. Die italieniſchen Landſchaften, mit denen der Pfälzer
Rottmann die Arkaden neben dem Schloſſe ſchmückte, erregten nicht eine
unbeſtimmte lyriſche Stimmung, ſie erzählten von der Menſchengröße,
die über dieſe Fluren hingeſchritten war — und mit ſolcher Beredſamkeit,
daß der Beſchauer ſogar die entſetzlichen königlichen Diſtichen darunter
verſchmerzte. Die Münchener brauchten eine gute Weile, bis ſie ſich an
die emſige Künſtlergemeinde gewöhnten. Sie ſchalten über die tolle Ver-
ſchwendung; ſie ſpotteten über des Königs philhelleniſchen Rathgeber,
Thierſch, der ihnen zur Bibliothek nun auch noch die Glyptothek und die
Pinakothek geſchenkt hatte, und freuten ſich von Herzen, als eines Tages
an Thierſch’s Thür die Inſchrift: Nepiotheke, Thorenbehältniß zu leſen
ſtand. Nach und nach begannen ſie doch zu bemerken, daß ihre Re-
ſidenz erſt durch dies wunderliche Künſtlertreiben zur Großſtadt heran-
wuchs, und ſchließlich — ſehr ſpät freilich, da das Umhertaſten zwiſchen
verſchiedenen Bauſtilen der Ausbildung eines ſicheren Geſchmackes nicht
günſtig war — kam auch die Zeit, da die Kunſt auf das Handwerk zu-
rückwirkte und die Münchener Kunſtgewerbe kräftig aufblühten.
In dieſem künſtleriſchen Wirken bethätigte ſich die eigenſte Kraft
König Ludwig’s. „Jetzt kann ich meine Ketten ablegen und leben“ —
ſo ſagte er ſelber, wenn er faſt alljährlich einmal die Sorgen der Re-
gierung über Bord warf und ſich nach Rom flüchtete. Dort war ihm
wohl, in ſeiner Villa di Malta auf dem Monte Pincio, der Kuppel von
St. Peter grade gegenüber. Dort konnte er andächtig den Spuren Goethe’s
nachgehen, deſſen Lieblingsſtätte, den ſtillen Brunnen der Acqua acetosa,
er ſchon vor Jahren mit Bäumen und Bänken geſchmückt hatte; dort
[618]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
beſuchte er Thorwaldſen in der Werkſtatt und ſchmiedete neue Pläne für
die bairiſche Kunſt, die ihn zuweilen ſo hoch begeiſterten, daß er auf der
Straße Luftſprünge machte. Wer ihn ſo in ſeiner poetiſchen Glückſeligkeit
ſah, mußte den Eindruck gewinnen, daß dieſer Fürſt ein ganz unpoliti-
ſcher Kopf war. Er ſelber hätte das freilich nie zugegeben. Er meinte
auch zu großer That berufen zu ſein, und ganz wie einſt die Medi-
cäer verfolgte er bei ſeinen Kunſtſchöpfungen zugleich dynaſtiſche Zwecke:
durch den äſthetiſchen Ruhm dachte er dem Hauſe Wittelsbach eine glän-
zende Stellung in Europa zu erringen. Wohl liebte er ſein Deutſch-
land mit Inbrunſt, er hegte und pflegte die Erinnerungen an den Be-
freiungskrieg und taufte ſeine neuen Straßen nach den Schlachten bei
Arcis, Bar, Brienne, zum Befremden des franzöſiſchen Geſandten, der
noch immer nicht begreifen wollte, daß die bairiſchen Rheinbundszeiten
zu Ende waren. Aber das deutſche Vaterland mußte auch der europäi-
ſchen Politik der Krone Baiern freien Spielraum laſſen. Darum war
dem Könige die lockere Bundesverfaſſung willkommen; ich will keinen Bun-
desſtaat, ſagte er nachdrücklich, ſondern einen einträchtigen Staatenbund.
Ganz gegen ſeine ſparſamen Gewohnheiten berief er ſofort mehrere Diplo-
maten ab; er ſendete Lerchenfeld nach Frankfurt, Cetto nach London, ar-
beitete viel mit dem ehrgeizigen Grafen Bray zuſammen, und die frem-
den Geſandten erzählten Wunderdinge von den großen europäiſchen Plänen
des Münchener Hofes.
Außerhalb Deutſchlands bot ſich dem bairiſchen Thatendrange zu-
nächſt nur ein Ziel: das wiedererſtehende heißgeliebte Griechenland. Bald
nach der Thronbeſteigung brachten die bairiſchen Zeitungen einen philhel-
leniſchen Aufruf: „Wie auch verſchiedene Geſinnung im Uebrigen obwalten
möge, in werkthätiger Theilnahme werde übereingeſtimmt!“ Dieſen Satz
konnte nur Einer geſchrieben haben. In Wien wurde der erlauchte Ver-
faſſer denn auch alsbald errathen, und mit wachſendem Unwillen erfuhr
Metternich, daß Oberſt Heideck mit mehreren anderen bairiſchen Offizieren
den Aufſtändiſchen zu Hilfe zog und große Summen vom Münchener Hofe
nach Griechenland abgingen.*) Dann kam Thierſch im Rauſche ſeiner phil-
helleniſchen Begeiſterung auf den Einfall, die Griechen durch Baiern für
die Geſittung zu erziehen, des Königs Sohn, den jungen Prinzen Otto, an
die Spitze des werdenden helleniſchen Staates zu ſtellen. Wohl niemals
war eine ſeltſamere Schrulle im Haupte eines braven Gelehrten aufge-
ſtiegen; denn in ganz Europa gab es kaum zwei Stämme, die einander
ſo fremd waren, wie die ſchlauen, genügſamen Hellenen und die ehrlichen
ſinnlich kräftigen Bavareſi. König Ludwig aber ergriff den Gedanken
mit Leidenſchaft; er eröffnete in München ein Panhellenion, wo die Söhne
der griechiſchen Helden, die Botzaris, Miaulis, Kanaris erzogen wurden,
[619]Philhellenismus. Triasträume.
und beſtürmte die großen Mächte mit Vorſchlägen, welche dem Hauſe Wit-
telsbach den unſterblichen Ruhm des Wiederherſtellers helleniſcher Freiheit
ſichern ſollten.
In der deutſchen Politik dachte er ſein Baiern ſtolz neben die beiden
Großmächte zu ſtellen, als den größten der „rein deutſchen Staaten“,
als den geborenen Führer der kleinen Höfe. Er haßte Oeſterreich nach
der alten Ueberlieferung ſeines Geſchlechts und mehr noch um neuen
Unrechts willen; niemals konnte er der Wiener Politik verzeihen, daß ſie
ſein Haus um Salzburg und die Pfalz zugleich betrogen hatte. Zu
Preußens kriegeriſcher Größe blickte er mit warmer Bewunderung empor.
Dankbar gedachte er des Schutzes, den ſeine Vorfahren einſt in Berlin
gefunden hatten, und ſagte oft: „Ohne Friedrich den Großen ſtände ich
vielleicht nicht hier.“ Dabei kam er gleichwohl nicht los von jenem alten
Familienaberglauben, der ſo viele Wandlungen der neu-bairiſchen Politik
erklärt: „die hiſtoriſchen Parvenus“ im Norden waren ja doch nur durch
die blinde Laune des Zufalls hinaufgehoben zu einer Höhe, die von
Rechts wegen dem vornehmeren Hauſe Wittelsbach gebührte! Er dachte
mit Preußen im treuen Einvernehmen zu leben, nur in rein-deutſche
Fragen durfte der „halb-ſlawiſche Staat“ ſich nicht miſchen. Für ſeine
deutſchen Pläne rechnete er zunächſt auf den König von Württemberg,
der in der That ſeine perſönliche Abneigung überwand und mit dem
neuen Nachbarn in vertraulichen Verkehr trat.
Bernſtorff betrachtete dieſe plötzliche Freundſchaft mit Gelaſſenheit, da
er ſich über Ludwig’s Charakter nicht täuſchte, und wies den Geſandten an,
den Münchener Hof der freundlichen Geſinnungen Preußens zu verſichern,
aber ohne allzu große Lebhaftigkeit, damit der König nicht übermüthig
werde.*) Auch Metternich, der anfangs ſehr argwöhniſch war, beruhigte ſich
bald und beſchwichtigte die Beſorgniß der badiſchen Regierung in ſeinem
ſchwerfälligen Docententone alſo: „Wenn wir tiefer in die Sache ein-
dringen, uns auf einen hohen Standpunkt erheben und ſie vom ſelben
aus in ihrer Weſenheit und in ihren wahrſcheinlichen und möglichen
Folgen berechnen, ſo löſt ſich bald das Machwerk in ein leichtes und luf-
tiges Gewebe auf, dem es durchaus an innerem Gehalt und an jeder
Art von Gediegenheit fehlt. Sie kann ihren Stützpunkt nicht in dem
Charakter der beiden Fürſten finden, denn inſofern bei ihnen von Cha-
rakter die Rede iſt, bietet derſelbe die ſchroffſten Gegenſätze dar. In einem
einzigen Begriffe könnte ihr beiderſeitiger Geiſt vielleicht eine Aehnlich-
keit darbieten, in dem Drange nach zu ſpielenden Rollen. Die von dem
König von Baiern geträumte Selbſtändigkeit umfaßt ein zu weites Feld,
als daß die Selbſtändigkeit ſeiner mindermächtigen Nachbarn nicht aus
ſelbem verdrängt werden ſollte. Die beiden Fürſten geizen nach Popu-
[620]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
larität; die Verfolgung einer und derſelben Braut vereint die Menſchen
nicht“ — eine boshafte Anſpielung auf die längſt vergangenen Tage, da
Kronprinz Ludwig auf die Hand der ſpäteren Königin Katharina von
Württemberg gehofft hatte. „Man tröſte ſich, ſo ſchloß der Oeſterreicher,
und baue dort Schlöſſer auf Worte, wo man in der That ſich nicht eine
recht deutliche Rechenſchaft von dem zu geben weiß, was man eigent-
lich will, und wo man unbedingt mehr will als man kann. Die Zeit
wird eben auch dort ihre Rechte nicht verlieren.“*)
Die üble Laune, die unverkennbar aus dieſen Zeilen ſprach, war nicht
blos durch die conſtitutionellen Reden des bairiſchen Selbſtherrſchers oder
durch die Poſaunenſtöße ſeiner liberalen Verehrer veranlaßt. König Lud-
wig gab ſich wenig Mühe, ſeine Geſinnung gegen den Erbfeind Baierns
zu verbergen; er befahl die Befeſtigung von Ingolſtadt, obwohl er wußte
daß Kaiſer Franz dieſen Entſchluß als eine offenbare Feindſeligkeit be-
trachtete,**) und verletzte die Hofburg empfindlich, indem er den unglück-
lichen Streit um die badiſche Pfalz, der ſeit den Beſchlüſſen des Aachener
Congreſſes endlich begraben ſchien, ſogleich wieder auferweckte.***) In
Rohrbach und Mannheim erzogen, fühlte er ſich ganz als Pfälzer, und
wie er ſchon als Kronprinz die vorgeblichen Anſprüche ſeines Hauſes mit
der äußerſten Hartnäckigkeit vertheidigt hatte, ſo hielt er es jetzt für könig-
liche Ehrenpflicht, um jeden Preis ſeine Heimath wieder unter wittels-
bachiſche Herrſchaft zu bringen. Eine Fülle des Segens ſollte ſich über
das ſchöne Land ergießen: der Otto-Heinrichsbau in Heidelberg ſollte auf-
erſtehen aus ſeinen Trümmern, Mannheim die prunkende Reſidenz des
Bundestags werden, und wenn erſt die Feſtungsreihe Philippsburg-Ger-
mersheim-Landau gebaut war, dann wurde Baiern das Preußen des
Oberrheins!
Verſtändigerweiſe ließ ſich gar nicht erwarten, daß die großen Mächte
ihre dem badiſchen Hofe gegebenen Zuſagen ohne jeden Grund zurücknehmen
würden. Ludwig aber glaubte, daſſelbe Rußland, das in Aachen für Ba-
dens Recht eingetreten war, werde ſich jetzt mit einem male auf Baierns
Seite ſtellen. Nach der Thronbeſteigung des Kaiſers Nikolaus ſendete er
ſeinen Wrede um Glück zu wünſchen nach Petersburg und ſchrieb dem
Czaren eigenhändig, er betrachte es als ein gutes Zeichen, daß ſie Beide
faſt gleichzeitig die Krone erlangt hätten. Dann bat er um Rußlands Bei-
ſtand und vergaß in ſeiner Begehrlichkeit ſogar ſeinen gerühmten teutſchen
Stolz: „ich ſehe, ſo betheuerte er, in Rußland die ſtärkſte Stütze Baierns;
ich wiederhole es, das iſt mein politiſches Glaubensbekenntniß!“ Czar Niko-
laus gab, wie zu erwarten ſtand, eine höflich ausweichende Antwort, ver-
[621]Neuer Streit um die Pfalz.
geblich wurde ſein Geſandter in München mit Auszeichnungen überhäuft.
Nun ſchrieb Graf Bray eine große Denkſchrift Sur la réversibilité du
Palatinat, welche ſämmtlichen europäiſchen Höfen zuging. Dann ließ der
König auch die erloſchenen Sponheimer Erbanſprüche hervorholen und die
ſeltſame Forderung aufſtellen: bei der Thronbeſteigung der Grafen von
Hochberg, deren Erbrecht doch von allen Großmächten längſt anerkannt
war, müſſe Baden ſeinen Main-Tauberkreis als Entſchädigung für Spon-
heim an Baiern abtreten.
Und wie plump wurden dieſe nichtigen Anſprüche vertheidigt, wie
taktlos ſtellte der König ſeine perſönliche Würde bloß. Umſonſt ſuchten
gehäſſige Flugſchriften und Zeitungsartikel die öffentliche Meinung für
den rechtmäßigen Pfalzgrafen zu begeiſtern. Der badiſche Staatsrath
Winter fertigte die Angreifer durch eine gründliche Denkſchrift ſiegreich
ab. Auch Drohungen wurden laut; mehrmals befürchtete die gute Stadt
Heidelberg einen Handſtreich der Nachbarn, obſchon das bairiſche Heer
eben jetzt zu kühnen Kriegsthaten wenig befähigt war. Im Auguſt 1826
reiſte der König von Würzburg nach Aſchaffenburg und verweilte eine Zeit
lang dicht an der Grenze des badiſchen Mainlandes, das er ſich zur Beute
auserſehen hatte. Die Münchener politiſche Zeitung berichtete darüber:
„Berge und Thäler wetteiferten, dem erhabenen Reiſenden die unbegrenzte
Freude aller Bewohner über eine ſo beglückende Erſcheinung auf das Glän-
zendſte an den Tag zu legen. Himmel und Erde jauchzten freudetrunken
zuſammen. Aus dem badiſchen Wertheim kamen die Mütter mit ihren
Säuglingen auf den Armen, der Handwerker ſchloß ſeine Werkſtätte, ſogar
der Tagelöhner vergaß ſeine Arbeit und ſeinen Erwerb. Die Freude der
benachbarten Landbewohner glich ganz jener der Eingebornen und drückte
ſo recht deutlich ihren Wunſch aus, auch Angehörige eines Fürſten zu ſein,
deſſen Stolz die Liebe ſeines Volkes iſt.“ Als der badiſche Geſandte ſich
über dieſe wunderſame Sprache beſchwerte, erwiderte der Miniſter Graf
Thürheim achſelzuckend, der Herausgeber habe den Artikel genau ſo abge-
druckt, wie er ihm von gewiſſer Seite zugeſandt worden ſei!*)
Jahrelang wiederholten ſich dieſe kindiſchen Auftritte. Im Frühjahr
1829 bereiſte der König die bairiſche Pfalz, bog plötzlich von der graden
Straße ab und erſchien an einem Feiertage auf der Rheinſchanze, Mannheim
gegenüber. Auf dieſer Stelle, wo ſpäterhin unter Ludwig’s thatkräftiger
Fürſorge das gewerbfleißige Ludwigshafen aufblühte, ſtanden damals nur
einige verrufene Schmugglerhäuſer, ein Gaſthof und ein bairiſches Zahlen-
lottobureau, beſtimmt zur freundnachbarlichen Ausbeutung der Mann-
heimer Geldbeutel. Man hatte dafür geſorgt, daß des Königs Ankunft
bekannt wurde. Eine dichte Menſchenmenge ſtrömte in dem anrüchigen
Orte zuſammen; der Monarch empfing gute Bekannte, erſchien mehrmals
[622]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
am Fenſter des Gaſthofes, mit zärtlichen Blicken nach Mannheim hin-
überwinkend.*) Auch die königliche Muſe plauderte oftmals in ſtolpern-
den Verſen die ſtille Sehnſucht der Wittelsbacher aus; als die Hoff-
nungen zu ſchwinden begannen, hauchte ſie die ſchmelzende Klage:
Die Erwerbung der Pfalz wurde dem Könige zu einer fixen Idee,
die ihn ſein tagelang nicht mehr losließ. Die unerbetenen Wohlthaten,
die er als Greis noch den pfälziſchen Städten ſpendete, das Dalbergſtand-
bild in Mannheim, das traurige Wrededenkmal in Heidelberg, bezeich-
neten das letzte elegiſche Austönen der in den zwanziger Jahren ange-
ſchlagenen Sirenenklänge. Daß die Pfälzer ſelber ſeine Gefühle theilten,
ſchien dem Könige zweifellos, obwohl ſich in Wahrheit nur noch zu Mann-
heim vereinzelte Spuren pfalz-bairiſcher Geſinnung zeigten.
Der König von Preußen hatte das Erbfolgerecht der Hochberge feier-
lich anerkannt; er war nicht gewohnt, in Rechtsfragen mit ſich handeln
zu laſſen. Die bairiſchen Anſprüche galten ihm als frivoler Uebermuth;
nimmermehr wollte er ein deutſches Fürſtenhaus vergewaltigen, Baden
und Württemberg vom deutſchen Norden abſchneiden laſſen. Ebenſo gut,
ſagte General Witzleben zu dem badiſchen Geſandten Frankenberg, könnte
Preußen die ansbach-baireuthiſchen Lande zurückfordern. Der Kronprinz rief
in ſeiner aufbrauſenden Weiſe: „mein Herr Schwager iſt toll geworden,
rein toll; er will durchaus Palatin werden und bedient ſich dazu ſauberer
Mittel und Wege, die ganz unerhört ſind!“**) Der Wiener Hof war über
die Münchener Anſprüche ebenfalls ſehr ungehalten und befürwortete am
Bundestage den offenbar gegen Baiern gerichteten Vorſchlag, Mannheim
zur Bundesfeſtung zu machen; aber er fühlte ſich gebunden durch ſeine
eignen uneingelöſten Verſprechungen und gab beiden Theilen glatte Worte.
An den Höfen der Großmächte begannen die bairiſchen Beſchwerden,
unabläſſig und in dem zuverſichtlichen Tone gekränkten Rechtsgefühls vorge-
tragen, ſchließlich doch einigen Eindruck zu hinterlaſſen. Rußland hielt ſich
zurück, obgleich ſein Geſandter Anſtett in Frankfurt, Badens alter Gönner,
ſich unter der Hand rührig für ſeinen Schützling bemühte.***) Nur Preußen
ſtand feſt auf Badens Seite. Der König ermahnte den Großherzog,
durchaus keine Zugeſtändniſſe an Baiern zu machen. Berſtett dankte in
[623]Deutſche Politik König Ludwig’s.
überſtrömenden Worten: „der edle Monarch iſt unſer beſter Schützer;“
und Frankenberg ſchrieb: „die Politik der letzten Jahre Friedrich’s des
Großen lebt wieder auf, Preußen allein iſt der wahre Schirmherr der
kleinen deutſchen Staaten.“ Nach München erging die beſtimmte Er-
klärung, daß Preußen einen Gewaltſchritt nicht dulden werde; zugleich
ließ der König den großen Mächten in einer ausführlichen Denkſchrift
das gute Recht Badens darlegen (Januar 1828). So blieb Badens
Beſitzſtand geſichert. Die beharrlich wiederholten bairiſchen Beſchwerden
bewirkten nur, daß König Ludwig ſich aufregte und der unſterbliche Spon-
heimer Handel in der diplomatiſchen Welt einen ähnlichen Ruf erlangte
wie der Köthener Zollſtreit.
Bei ſeinem hochmüthigen Urtheil über die ehrgeizigen Pläne der
beiden ſüddeutſchen Könige überſah Metternich ganz, daß ſie beide doch
auch ein berechtigtes, erreichbares Ziel verfolgten. Beide hatten ein Herz
für Deutſchlands wirthſchaftliche Noth und waren ernſtlich gewillt, den
Jammer der Binnenmauthen zu beſeitigen, zunächſt freilich nur durch
einen Sonderbund des „reinen Deutſchlands“. Der Bund der Minder-
mächtigen zerfloß den Träumern bald unter den Händen. Aber was ſie für
die deutſche Volkswirthſchaft erſtrebten, enthielt einen geſunden Kern; ihn
herauszuſchälen aus der phantaſtiſchen Hülle blieb der Staatskunſt Preu-
ßens vorbehalten. Der Plan König Ludwig’s: „Unabhängigkeit von beiden
Großmächten und gute Freundſchaft mit Preußen“ war nicht ſelber der
rechte Weg, doch er führte zum rechten Wege. Baiern ging wie Preußen
von der richtigen Anſicht aus, daß die deutſche Handelseinheit nicht durch
den Bund, ſondern durch Verträge von Staat zu Staat zu erreichen
ſei; dieſe gemeinſchaftliche Ueberzeugung der beiden größten deutſchen
Staaten gewährte die Ausſicht auf volle Verſtändigung. Sobald das
Berliner Cabinet durch vollendete Thatſachen bewieſen hatte, daß die
deutſche Handelseinheit ohne Preußen unmöglich war, ließen die zwei ſüd-
deutſchen Könige nach heftigem Widerſtreben ihre Sonderbundsträume
fallen. Sie blieben dem Gedanken des Zollvereins auch dann noch treu,
als er unter Preußens Händen eine gänzlich veränderte Geſtalt empfangen
hatte; und der erneute Bund zwiſchen Preußen und Baiern ſollte dem
Vaterlande noch reichere Früchte bringen als einſt in den fridericianiſchen
Tagen. Bevor ſie zu dieſer hochherzigen Selbſtverleugnung gelangten,
mußten ſie allerdings erſt eine lange Schule ſchmerzlicher Erfahrungen
durchlaufen. —
Als die Darmſtädter Conferenzen im Sterben lagen*), gaben die
kleinen thüringiſchen Staaten die Erklärung ab: wenn man in Darmſtadt
[624]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
ſich nicht vereinige, ſo ſähen ſie ſich genöthigt einen bereits verabredeten
bedingten Vertrag auszuführen und „einen in ſich geſchloſſenen Handels-
ſtaat“ zu bilden — „eine Selbſthilfe, welche das Bild der Zwietracht,
das Deutſchlands Staaten darſtellen, zur höchſten Vollendung zu bringen
gemacht wäre.“ Und wahrlich, der Süden bot einen jammervollen An-
blick nach dem Abbruch der Darmſtädter Verhandlungen. Jedes Cabinet
ging trotzig und verſtimmt ſeines eigenen Wegs. Die Darmſtädtiſche Re-
gierung verſuchte noch einmal (Febr. 1824) die oberrheiniſchen Höfe zur
Annahme gleichförmiger Zollgeſetze zu bewegen; da dies mißlang, gab ſie
ihrem Lande eine ſelbſtändige Zollordnung, welche, dem Volke verhaßt,
kaum 80,000 Gulden jährlich einbrachte. Der kluge du Thil hatte dieſen
armſeligen Ertrag vorhergeſehen, er wollte ſich aber für künftige Zoll-
verträge ein Unterhandlungsmittel ſichern. Auch Württemberg führte im
ſelben Jahre ein neues Zollgeſetz ein, das dem bairiſchen nahe ſtand.
Das Schmuggelgeſchäft in Frankfurt und in Baden blühte wie nie zuvor.
Thörichte Retorſionen beläſtigten den Verkehr. Als Württemberg mit der
Schweiz über einen Handelsvertrag verhandelte, ſendete Baden ſofort
einen Bevollmächtigten nach Zürich, um den Fortgang des Geſchäftes arg-
wöhniſch zu beobachten. In der Schweiz herrſchte daſſelbe Elend ger-
maniſcher Zerſplitterung; concordirende und nicht concordirende Can-
tone fanden des Haders kein Ende, die Verhandlungen rückten kaum von
der Stelle.
Nur der Stuttgarter Hof gab in dieſem Zeitraum allgemeiner Zer-
fahrenheit die Triasträume und Zollvereinspläne nicht auf. Der würt-
tembergiſche Geſandte in München, Freiherr von Schmitz-Grollenburg,
ein rühriger Liberaler, gleich ſeinem Gönner Wangenheim begeiſtert für
den Bund der Mindermächtigen, ließ nicht ab das bairiſche Cabinet um
Wiederaufnahme der Verhandlungen zu bitten. Eine geraume Zeit hin-
durch fand er keinen Anklang; ſein Freund Lerchenfeld konnte nicht auf-
kommen gegen Rechberg, der rundweg ausſprach, eine gemeinſchaftliche
Zollgrenze ſei entwürdigend für die rückwärtsliegenden Staaten.*) Auch
beſtand im altbairiſchen Volke wenig Neigung mehr für die Zollvereins-
pläne; die öffentliche Meinung verlor das Vertrauen zu den immerdar
vergeblichen Unterhandlungen.
Immerhin hatten die Darmſtädter Berathungen die Lage etwas ge-
klärt. Süddeutſchland zerfiel in zwei Gruppen. Die beiden Königreiche
auf der einen, die Rheinufer-Staaten auf der anderen Seite waren ſich
der Gemeinſchaft ihrer Intereſſen bewußt geworden. Eben dieſe Son-
derung zweier Gruppen führte dann zu neuen Einigungsverſuchen. Baden
ſchloß mit Darmſtadt (10. Septbr. 1824) einen Vertrag, der den eigenen
Producten der beiden Staaten einige Erleichterung gewährte, und ſendete
[625]Das Heidelberger Protokoll.
ſodann ſeinen Nebenius zu gleichem Zwecke nach Württemberg. Der ba-
diſche Bevollmächtigte ward in Stuttgart ſehr unfreundlich aufgenommen
und wochenlang hingehalten, da der württembergiſche Unterhändler ſtets
zur unpaſſenden Stunde unwohl wurde. Gekränkt und verſtimmt dachte
er ſchon heimzureiſen; da erfuhr er endlich, daß Württemberg inzwiſchen
ſchon eine neue geheime Verhandlung mit Baiern begonnen habe.*) Die
Nachricht von dem badiſch-heſſiſchen Vertrage hatte den Münchener Hof
mit ſchwerer Sorge erfüllt. Man fürchtete die Führerſchaft im Süden
zu verlieren und gerieth in Unruhe wegen der Rheinpfalz; dieſe unzufrie-
dene Provinz forderte dringend, faſt drohend eine Verſtändigung mit den
Rheinuferſtaaten, die für ihr Handelsintereſſe weit wichtiger ſeien als die
altbairiſchen Lande. Ueberdies hatte Blittersdorff den unſterblichen
Art. 19 und die Handelsſache ſoeben am Bundestage wieder zur Sprache
gebracht; und obwohl dies nur ein Zeichen der Rathloſigkeit war, ſo
wollte doch Baiern jede Einmiſchung des Bundes abſchneiden. So geſchah
es, daß Schmitz-Grollenburg’s Anträge jetzt in München einer günſtigeren
Stimmung begegneten. König Max Joſeph geſtattete, daß der württem-
bergiſche Geheimrath Herzog nach München kam. Während man Nebe-
nius in Stuttgart mit leeren Ausflüchten vertröſtete, ward an der Iſar
über einen ſüddeutſchen Zollverein verhandelt.
Schon am 4. Oktober 1824 kam dort ein vorläufiger Vertrag zu
Stande; im folgenden Monat traten die Bevollmächtigten der beiden König-
reiche in Stuttgart zuſammen, um die Vereinbarung endgiltig feſtzuſtellen.
Gewitzigt durch den zielloſen Meinungswirrwar der Darmſtädter Con-
ferenzen zogen Baiern und Württemberg diesmal vor, zunächſt unter ſich
ins Reine zu kommen, dann erſt die kleinen Nachbarn zum Beitritt auf-
zufordern. Ein richtiger Gedanke, ſicherlich, doch die Heimlichkeit des Ver-
fahrens verletzte die oberrheiniſchen Höfe. In Karlsruhe wie in Darm-
ſtadt prahlte man gern: wir können Baierns entbehren, Baiern nicht unſer,
da wir ſeine Verbindung mit der Rheinpfalz beherrſchen. Um ſo bitterer
empfand man das raſche Vorgehen des Münchener Hofes. Um „den Prä-
tenſionen der königlichen Höfe“ entgegenzutreten, eilte Berſtett nach Frank-
furt, beſprach ſich dort mit Marſchall. Gleich darauf (19. Novb. 1824)
hielten Berſtett, Nebenius, du Thil und Hoffmann in Heidelberg eine
geheime Zuſammenkunft, welche der badiſche Miniſter ſelber in einem ver-
trauten Briefe „ein Gegengift“ gegen die bairiſch-württembergiſchen Um-
triebe nannte.**)
Das hier vereinbarte Protokoll, dem nachher auch Marſchall beitrat,
wurde bedeutungsvoll für die Geſchichte der deutſchen Handelspolitik; denn
hier ſpielte der Partikularismus ſeinen höchſten Trumpf aus, er ſtellte
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 40
[626]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
ſeine letzte und ſchwerſte Bedingung auf. Die verbündeten Staaten ver-
pflichteten ſich, in feſter Gemeinſchaft vorzugehen und vornehmlich bei
dem Verlangen zu beharren, daß jeder Staat ſeine Zollverwaltung ſelb-
ſtändig führe; nur unter dieſer Bedingung ſei ein Zollverein möglich.
Baden, das doch in Wien und in Darmſtadt ſelber eine Centralverwal-
tung vorgeſchlagen hatte, hielt jetzt die entgegengeſetzte Forderung am
hartnäckigſten feſt. Die beiden Königreiche hatten ihr Mißtrauen gegen
die allzu nachſichtige badiſche Zollverwaltung oft und in verletzender Form
ausgeſprochen. Der Karlsruher Hof fühlte ſich dadurch tief gekränkt
und — er fürchtete die Anweſenheit bairiſcher Zollbeamten in ſeinem
bedrohten pfälziſchen Gebiete. Wir wollen, ſchrieb Berſtett an du Thil,
ſchlechterdings keinen status in statu, kein Funktioniren fremder Be-
amten in unſerem Gebiete; und Jener antwortete: auch keine Verpflichtung
der Zollbehörden für die Gemeinſchaft, denn ſonſt könnte der großherzog-
liche Zolldirector dem Miniſter ſich widerſetzen! Ebenſo nachdrücklich er-
klärte Nebenius: „Die Frage iſt ganz einfach dieſe, ob die Unterthanen
der einzelnen Staaten in einem unmittelbaren Verhältniß zu der Gemein-
ſchaft ſtehen ſollen;“ hege man kein Vertrauen zu der redlichen Verwal-
tung der Bundesgenoſſen, dann ſei ein Zollverein überhaupt undenkbar.*)
Es war einfach die Geſinnung des eiferſüchtigen Partikularismus, die
hier nackt heraustrat. Aber dieſer Partikularismus blieb die Lebensluft
des deutſchen Bundesrechts. Der badiſch-darmſtädtiſche Vorſchlag ergab
ſich folgerecht aus dem Weſen eines Staatenbundes. Eine Centralver-
waltung für das Zollweſen ließ ſich nur denken auf dem Boden eines
Bundesſtaates, eines Reiches.
Indeſſen hatten die beiden Königreiche ihren Entwurf feſtgeſtellt
und die oberrheiniſchen Cabinette zu Verhandlungen über das Beſchloſſene
eingeladen. Im Februar 1825 begannen die Stuttgarter Conferenzen
— eine kläglichere Wiederholung der Darmſtädter Verhandlungen, von
Haus aus verdorben durch Groll und Mißtrauen. Daß Naſſau keinen
redlichen Willen mitbrachte, erriethen die preußiſchen Diplomaten ſofort;
was ließ ſich auch von dieſem Bevollmächtigten, dem hartköpfigen Partiku-
lariſten Röntgen erwarten? Die Darmſtädtiſche Regierung begann ſchon
ſeit Langem zu bezweifeln, ob ein ſüddeutſcher Verein ihrem Staate
nützlich ſei. Wein und Getreide, für jetzt faſt die einzigen wichtigen
Ausfuhrartikel des Ländchens, fanden ihren Abſatz im Norden; und
auch wenn der Verein zu Stande kam, blieb Darmſtadt nach wie vor
ein Grenzland, überall von Mauthen umſtellt. Kurheſſen hielt ſich
den Conferenzen fern. Auch der badiſche Bevollmächtigte Nebenius kam
aus unluſtig hoffnungsloſer Stimmung nicht heraus, und erſchwerte die
[627]Die Stuttgarter Zoll-Conferenzen.
Verhandlungen durch ſeine Reizbarkeit. Der bairiſch-württembergiſche Ent-
wurf nahm das bairiſche Zollgeſetz zur Grundlage, gewährte den beiden
Königreichen eine überwiegende Stimmenzahl — was alsbald beſtritten
wurde — und vertheilte die Einnahmen nach der Kopfzahl der Bevöl-
kerung. Hier erhob ſich ein Streit, der wieder ein ſcharfes Licht warf auf
die Geſinnung der kleinen Höfe. Sollte die Bevölkerung berechnet werden
nach einer neuen Zählung oder auf Grund der proviſoriſchen Bundes-
matrikel? Die Matrikel diente zum Maßſtab für die militäriſchen Lei-
ſtungen der Bundesſtaaten; als man ſie zuſammen ſtellte, ergab ſich in
vielen Kleinſtaaten eine betrübende Entvölkerung, eine überraſchend niedrige
Kopfzahl. Jetzt, da die Zolleinnahmen nach der Stärke der Bevölkerung
vertheilt werden ſollten, betheuerten die kleinen Geſandten wie aus einem
Munde: die Matrikel genüge längſt nicht mehr, die Zahl der Einwohner ſei
inzwiſchen zur Freude aller Wohlmeinenden wunderbar ſchnell gewachſen!
Den wichtigſten Streitpunkt bildete doch die Frage nach den Formen
der Verwaltung. Die königlichen Höfe verlangten durchaus eine gemein-
ſchaftliche Centralverwaltung; ſie trauten den Beamten der kleineren
Staaten nicht. Dem württembergiſchen Finanzminiſter ſchien die getrennte
Verwaltung ſchon darum unzuläſſig, weil dann nur ſehr geringe Zoll-
einnahmen unmittelbar in ſeine Kaſſen fließen würden; wer bürgte dafür,
daß die Bundesgenoſſen ihre Ueberſchüſſe pünktlich herauszahlten? Gereizt
durch ſolches Mißtrauen hielten die Miniſter der Rheinuferſtaaten abermals
eine Zuſammenkunft in Mainz (Ende März 1825) und beſchloſſen, feſt
auf dem Heidelberger Protokolle zu beſtehen. Triumphirend erzählte Mar-
ſchall an Berſtett, wie überlegen ſein Herzog den Kronprinzen von Baiern
bei einem Beſuche in Bieberich abgefertigt habe. „Niemals, hatte der
ſtolze Naſſauer in heiligem Zorne gerufen, niemals werde ich mir von
Euch in meinem Lande Geſetze vorſchreiben laſſen. Meine 300,000 Unter-
thanen ſind mir grade ſo lieb, wie Euch Eure drei Millionen. Ich brauche
Euch nicht!“ — worauf der Baier den Austauſch freundnachbarlicher
Gefühle abſchloß mit der Betheuerung: „Wir brauchen Euch auch nicht!“*)
Zugleich ſetzte der Karlsruher Hof ſeinen ergebenen Landtag in Bewegung;
der geiſtreiche allezeit partikulariſtiſche Staatsrechtslehrer Karl Salomon
Zachariä kämpfte auf der Rednerbühne wider die Anmaßung der königlichen
Höfe: „wer iſt wohl Herr in ſeinem Hauſe, wenn er die Herrſchaft mit
anderen theilt?“ Da gaben Baiern und Württemberg endlich nach.
Doch alsbald erhob ſich ein neuer Zwiſt: um den Tarif — ein Streit,
der bei dem grundtiefen Gegenſatze der Meinungen zum Bruche führen
mußte. Baden gab als höchſten Zoll für Colonialwaaren 1½ Gulden
zu und hielt dies für ein großes Zugeſtändniß, während Baiern für Kaffee
15 Fl. forderte; Wollenwaaren dachte Baiern mit 60 Fl. zu belaſten,
40*
[628]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Baden bewilligte nur 8 Fl. als höchſten Satz für Fabrikate. Vergeblich
beſchwor Miller von Immenſtadt den Karlsruher Hof um Nachgiebigkeit;
das Prohibitivſyſtem herrſche in der weiten Welt, auch Huskiſſon könne
mit ſeinen freihändleriſchen Träumen nicht durchdringen. Berſtett blieb
feſt: „Baiern, ſchrieb er an Marſchall, verlangt, daß wir ohne Erſatz
alle Vortheile unſerer geographiſchen Lage mit ihm theilen. Der König
von Württemberg ſtimmt den bairiſchen Anſprüchen zu, um ſich die Ge-
wogenheit einer gewiſſen Partei zu erhalten“.*) Im Auguſt 1825 er-
klärte Baden ſeinen Austritt und verkündigte zugleich ein neues Zollge-
ſetz, deſſen niedrige Sätze allgemeine Freude im Lande erregten. Naſſau
trat ebenfalls zurück.
Auch diesmal ſpielten politiſche Bedenken mit; eine Reiſe des Königs
von Württemberg nach Paris erweckte die Beſorgniß, ob der Bund der
Mindermächtigen vielleicht mit franzöſiſcher Hilfe ins Leben treten ſolle.
Nebenius verſicherte ſpäterhin, ihm habe in Stuttgart immer der Gedanke
an Deutſchlands künftige Handelseinheit vorgeſchwebt; hohe Schutzzölle im
Süden hätten die ſpätere Vereinigung mit dem Norden erſchweren müſſen.
Und ſicherlich, wenn unter dem Schutze der bairiſchen Zölle eine jugend-
liche Induſtrie in Oder-Deutſchland emporwuchs, ſo blieb dem früher ent-
wickelten preußiſchen Gewerbfleiße wenig Hoffnung den ſüddeutſchen Markt
für ſich zu erobern; der preußiſche Staat verlor mithin den einzigen Vor-
theil, den ihm ein allgemeiner Zollverein, zur Entſchädigung für ſchwere
finanzielle Opfer, verſprach. Gleichwohl iſt unverkennbar, daß auch der
geiſtreiche badiſche Staatswirth ſich nicht frei hielt von jener allgemeinen
ſchwarzſichtigen Verſtimmung, welche die trübſeligen Stuttgarter Confe-
renzen beherrſchte. Von hohen Schutzzöllen war ja gar nicht die Rede. Die
von Baiern vorgeſchlagenen Zölle für Fabrikate ſtanden erheblich unter
den Sätzen des preußiſchen Tarifs; die Gefahr, welche Nebenius fürchtete,
lag zum mindeſten noch in der Ferne. Im nächſten Winter hat Baiern
noch einmal verſucht, den Verein ohne Baden und Naſſau in Gang zu
bringen. Freiherr v. Zu Rhein verhandelte in Stuttgart und Darm-
ſtadt. Aber die Darmſtädter Regierung erwiderte, ſie könne ohne Kur-
heſſen nicht beitreten.**) Da der Caſſeler Hof ſich weigerte, ſo war auch
dieſer letzte Verſuch geſcheitert.
So hoffnungslos war die Lage, als König Ludwig den Thron beſtieg.
Groll und Erbitterung überall. Selbſt der beſcheidene Handelsvertrag zwi-
ſchen Baden und Darmſtadt war ſchon nach Jahresfriſt wieder erloſchen,
weil die Behörden mit den Urſprungszeugniſſen freundnachbarlichen Miß-
brauch trieben. Nach dem bairiſchen Thronwechſel ſchöpfte König Wilhelm
von Württemberg wieder friſchen Muth. Er richtete im Dezember 1826
[629]Verſtändigung zwiſchen Baiern und Württemberg.
einen Brief an ſeinen erlauchten Nachbarn, ſchlug ihm vor, die abge-
brochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen und zunächſt einen bairiſch-
württembergiſchen Verein zu ſtiften. König Ludwig ging darauf ein. Da
die beiden Staaten ſchon in Darmſtadt und Stuttgart zuſammengehalten
hatten und ihre Zollgeſetze nur geringe Unterſchiede aufwieſen, ſo nahmen
die im folgenden Monat zu München begonnenen Verhandlungen günſtigen,
wenngleich ſehr langſamen Fortgang. Am 12. April 1827 wurde ein Präli-
minarvertrag unterzeichnet. Man beſchloß, „die angrenzenden Staaten“
zum Beitritt aufzufordern und ihnen zugleich die politiſche Bedeutung
dieſes rein deutſchen Bundes ans Herz zu legen. Der werdende Verein
war nicht gradezu gegen Preußen gerichtet; er wurde in Berlin mit ge-
laſſener Ruhe angeſehen. Freilich ging aus dem Wortlaut jener Verab-
redung wie aus dem ganzen Verhalten der Bundesgenoſſen unzweifelhaft
hervor, daß an Preußens Beitritt nicht entfernt gedacht wurde. Man
hoffte Macht gegen Macht mit Preußen über Handelserleichterungen zu
verhandeln und wollte im Nothfall ſelbſt Retorſionen gegen die preußiſchen
Zölle anwenden. Der Verein ſollte den Kern des „reinen Deutſchlands“
bilden, „ein immer engeres gegenſeitiges Anſchließen in allen politiſchen
Beziehungen zur unmittelbaren heilſamen Folge haben“, wie das bairiſche
Cabinet nach Stuttgart ſchrieb.*)
Indeß die angrenzenden Staaten hatten längſt verlernt auf einen
ſüddeutſchen Verein zu hoffen, und ſie fürchteten Baierns Führung. Am
15. Mai 1827 beſprachen ſich Berſtett und du Thil nochmals in Heidel-
berg; gleich darauf ſendeten die drei oberrheiniſchen Höfe ablehnende Ant-
worten nach München. Berſtett erwiderte ſchroff, Baden wolle nicht eine
künſtliche Induſtrie durch Schutzzölle groß ziehen. Der Naſſauer Hof
ließ in Stuttgart ſeine Verwunderung ausſprechen, wie nur Württem-
berg ein ſolches „Mercantilſyſtem“ annehmen und einem größeren Hofe ſich
unterwerfen könne.**) Heſſen-Darmſtadt aber, außer Stande ſein drücken-
des und doch unergiebiges Mauthweſen länger zu halten, verfeindet mit
Kurheſſen, voll Mißtrauens gegen die ſüddeutſchen Nachbarn, richtete end-
lich beſtimmte Anträge nach Berlin. Dergeſtalt haben jene Münchener
Verhandlungen die entſcheidende Wendung in der Geſchichte deutſcher Han-
delspolitik herbeigeführt — einen heilſamen Umſchwung, den weder König
Ludwig noch König Wilhelm beabſichtigte.
Miniſter du Thil, der jetzt die Finanzen und die auswärtigen Angelegen-
heiten ſeines Großherzogthums zugleich leitete, befand ſich, wie er ſelbſt
[630]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
erzählt, in verzweifelter Stimmung. Die Finanznoth ſtieg, das Volk
murrte. Die armen Leineweber auf dem Vogelsberge bei Alsfeld hatten
durch die ſpaniſche Revolution ihren Markt verloren, das Hinterland um
Biedenkopf fand, eingepreßt zwiſchen preußiſche Gebiete, keinen Abſatz
mehr für ſeine Teppiche und Wollwaaren, der Mainzer Handelsſtand konnte
die Laſt der nahen preußiſchen Zollſtellen kaum mehr ertragen. Im Land-
tage verlangten einzelne Stimmen, wie ſchon vor Jahren der Abgeordnete
Perrot, eine Verſtändigung mit Preußen, andere befürworteten den ſüd-
deutſchen Verein. Nur darin war man einig, daß der Staat in ſeiner
vereinſamten Stellung nicht bleiben könne; die Kammer ſprach die Er-
wartung aus, daß irgend ein Zollverein zu Stande komme, und gab der
Regierung freie Hand. Großen Eindruck machte auf den Miniſter eine
von dem Fabrikanten Bayer im Vogelsberge eingereichte, vom Pfarrer
Frank verfaßte gründliche Denkſchrift, die überzeugend nachwies, daß der
Waarenzug des Landes überwiegend durch Preußen gehe. Darum lehnte
du Thil die bairiſche Einladung ab, obgleich Lerchenfeld zweimal von
Frankfurt herüberkam und König Ludwig perſönlich im Bade Brückenau
den heſſiſchen Staatsrath Hofmann zu überreden ſuchte. Immer klarer
ward ihm die Erkenntniß, daß nur der Beitritt zum preußiſchen Zollſyſtem
noch retten könne. Es war ein kühner Entſchluß für den Miniſter eines
Mittelſtaates; denn im Grunde waren doch alle bisherigen ſüddeutſchen
Zollverhandlungen zur Abwehr gegen das preußiſche Zollweſen unter-
nommen worden, und ſeit dem Köthener Streite ſtand an ſämmtlichen
Höfen die Meinung feſt, daß durch eine Verſtändigung mit Preußen die
ſouveräne Würde ſchimpflich preisgegeben werde. Indeß der muthige Mi-
niſter war gewöhnt die Stimmungen des Tages geringzuſchätzen, er pflegte
in den Landtagsverhandlungen ſeine ſelbſtändige Geſinnung oft ſehr ſcharf
und nicht ohne verletzende Ironie auszuſprechen.
Aber würde Preußen auf den unerwarteten Antrag eingehen? Schon
im Sommer 1825 hatte der Darmſtädter Hof einmal in Berlin ange-
fragt, ob Preußen geneigt ſei einen Zollverein mit beiden Heſſen abzu-
ſchließen, und ſofort eine zuſtimmende Antwort erhalten. Nachher war
Preußen aber wieder zurückgetreten, weil Kurheſſen ſich dem Plane ver-
ſagte, und damals in Berlin noch die Meinung herrſchte, die Erweite-
rung des Zollſyſtems dürfe nur „von Grenze zu Grenze“, von dem näheren
Nachbarn zu dem entfernteren vorſchreiten.*) Aus dieſer Meinung er-
klärte es ſich auch, daß ein halbes Jahr darauf eine zweite, ſehr unbe-
ſtimmt gehaltene Anfrage aus Darmſtadt dahin beantwortet wurde: Ver-
handlungen mit Darmſtadt allein verſprächen keinen Erfolg, weil das
Großherzogthum nicht an Preußen angrenze.**)
[631]Heſſens erſte Anträge.
Von den freieren und kühneren Anſichten, welche Motz ſich inzwiſchen
gebildet hatte, ahnte du Thil nichts. Er fühlte ſich des Erfolges ſo wenig
ſicher, daß er nicht einmal ſeinen greiſen Großherzog zu unterrichten
wagte, ſondern zunächſt bei Bernſtorff, mit dem er von den Wiener
Conferenzen her befreundet war, vertraulich anfragte. Bernſtorff aber
kannte die Pläne des Finanzminiſters ebenſo wenig wie der Heſſe, da er
ſeit Jahren die Handelsſachen an Eichhorn zu überlaſſen pflegte, und gab
eine zaghafte Antwort: finanziellen Gewinn verſpreche der Vertrag für
Preußen nicht, und auf eine unbedingte Unterwerfung des Großherzog-
thums werde König Friedrich Wilhelm ſelbſt nicht eingehen wollen. Erſt
als du Thil erwiderte, an eine Mediatiſirung ſeines Großherzogs denke
er auch keineswegs, ſendete Bernſtorff einen zweiten, ermuthigenden Brief.*)
Nunmehr weihte der heſſiſche Miniſter ſeinen Großherzog in das
Geheimniß ein und ſtellte bei dem preußiſchen Geſandten v. Maltzan,
der trotz wiederholter Andeutungen nicht aus ſeiner Zurückhaltung her-
ausgegangen war, am 10. Auguſt 1827 die förmliche Anfrage, ob man
in Berlin geneigt ſei, einen geheimen Bevollmächtigten ſeines Hofes zu
empfangen.**) Die Frage lautete noch immer unbeſtimmt genug, du Thil
ſprach nur von gegenſeitigen Handelserleichterungen. Und ſelbſt wenn der
bedrängte Darmſtädter Hof, wie zu erwarten ſtand, weiter ging und zu
einem wirklichen Zollvereine die Hand bot, welchen Vortheil gewährte ein
ſolcher Bund den Finanzen und der Volkswirthſchaft Preußens? Der
kleine Staat beſaß kein zuſammenhängendes Gebiet, grenzte nur auf drei
Stellen, auf wenige Meilen, an preußiſches Land. Eben jetzt hoffte man
in Berlin, die Verträge mit den Enclaven endlich zum Abſchluß zu
bringen; gelang dies, ſo war ein klarer Gewinn erreicht, die Länge der
Zollgrenzen verminderte ſich von 1073 auf 992 Meilen. Trat Darm-
ſtadt hinzu, ſo waren wieder 1108 Grenzmeilen zu bewachen, während
das freie Marktgebiet ſich nur um 152 Geviertmeilen vergrößerte. Eine
ſehr beträchtliche Vermehrung des Abſatzes preußiſcher Fabrikwaaren ſtand
nicht in Ausſicht, da Darmſtadt nicht zu den ſtark conſumirenden Ländern
zählte. Nur die bergiſch-märkiſche Induſtrie durfte auf Erweiterung ihres
Verkehrs rechnen. Im Moſellande dagegen fürchtete man die Concurrenz
der rheinheſſiſchen Weine. Den Staatskaſſen drohte gradezu Verluſt,
wenn die Zolleinkünfte nach der Kopfzahl vertheilt wurden. Das kleine
Nachbarland verzehrte weit weniger Colonialwaaren, hatte bisher eine
zehnmal niedrigere Zolleinnahme bezogen als Preußen: Darmſtadt kaum
2½ Sgr., Preußen 24 Sgr. auf den Kopf der Bevölkerung.
[632]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Motz war grade auf einer Dienſtreiſe abweſend, als die Nachrichten
aus Heſſen einliefen. Maaſſen aber, der ihn vertrat, durfte als ſchlichter
Amtsverweſer nur wiederholen, was ſchon zweimal vom Finanzminiſterium
erklärt worden war: er wies die Verhandlungen über Handelserleichte-
rungen nicht ab, hielt jedoch einen Zollverein für unmöglich, da Heſſen
allzu ſehr zerſtückelt ſei und ein ſo weit abweichendes Steuerſyſtem be-
ſitze. Im Auswärtigen Amte dachte man muthiger. Eichhorn fand es
hochbedenklich, einen deutſchen Bundesgenoſſen zurückzuweiſen, der in ernſter
Verlegenheit ſich an Preußen wende; er rieth aus politiſchen Gründen
dringend, auf du Thil’s Wünſche einzugehen; nur ſolle nicht blos ein
Handelsvertrag, ſondern eine dauernde Verbindung geſchloſſen werden.
Zugleich ſchrieb Otterſtedt aus Karlsruhe: daß König Ludwig bei ſeinem
Zollvereine politiſche Nebenpläne verfolge, ſei offenkundig; jetzt gelte es,
Preußens Anſehen zu wahren. Er verbürgte ſich für du Thil’s Ehrlichkeit,
mahnte aber, das ſtrengſte Geheimniß bei den Verhandlungen zu bewahren,
damit nicht Oeſterreich und Baiern vereint in Darmſtadt entgegenarbeiteten.*)
Unterdeſſen war Motz heimgekehrt, und ſofort trat er mit den Plänen
heraus, die ihm während der letzten Jahre aufgeſtiegen waren. Der
kühne Mann erklärte ſich bereit, jetzt den unvortheilhaften Vertrag mit
Darmſtadt zu ſchließen, weil er hoffte, daß dies Beiſpiel die mitteldeut-
ſchen Nachbarn nachziehen werde; auf die niederdeutſchen Staaten war
ja doch nicht zu rechnen. Es iſt ſehr wichtig, ſchrieb er dem Miniſter
des Auswärtigen, beide Heſſen und alle ſächſiſchen Regierungen, auch das
Königreich, in unſer Steuerſyſtem aufzunehmen. „Ich bin auch nicht
beſorgt, daß dieſe einen anderen Steuerverband wählen werden, weil ihr
Finanzintereſſe nur in einer Verbindung mit uns bedeutend gewinnen
und ſie drückender Finanzſorgen entheben wird. Ich hoffe und wünſche,
daß Heſſen-Darmſtadt, deſſen Finanz-Verlegenheit bekannt iſt, und welches
hier die richtige Medicin findet, damit den Anfang machen, und die an-
dern genannten Regierungen dann bald nachfolgen werden.“**)
Während alſo die Berliner Behörden unter ſich beriethen, ſetzten
Baiern und Württemberg alle Hebel ein, um den Kurfürſten von Heſſen
für ihren werdenden Verein zu gewinnen. Drangen ſie durch, ſo ſchien die
Verbindung Darmſtadts mit Preußen kaum räthlich. Daher ſendete du
Thil den Prinzen Auguſt Wittgenſtein nach Caſſel, angeblich, wie er
Maltzan ſagte, um den Kurfürſten zu warnen, vielleicht auch um für
alle Fälle gedeckt zu bleiben.***) Am Caſſeler Hofe überwog der Wider-
wille gegen den conſtitutionellen Süden und die Furcht vor jeder Schmä-
lerung der Souveränität; Baierns Bemühungen ſcheiterten.
[633]Verhandlung zwiſchen Preußen und Heſſen.
Nun erſt war das Feld frei. Der König erlaubte den Beginn der
Verhandlungen, und am 6. Januar 1828 erſchien Staatsrath Hofmann
in Berlin, derſelbe, der einſt bei der Begründung der heſſiſchen Verfaſſung
ſo wirkſam mitgeholfen hatte, ein ſachkundiger Geſchäftsmann, von ſtar-
kem Ehrgeiz, keineswegs unempfindlich für die Vortheile, welche beim Ab-
ſchluß wichtiger Verträge dem Unterhändler zuzufallen pflegen. Der ge-
wandte Mann hatte verſtanden, zugleich mit den Liberalen ein gutes
Einvernehmen zu unterhalten und ſich im Vertrauen ſeines Fürſten
zu behaupten; mit Wangenheim in Freundſchaft zu leben, ohne den
Großmächten verdächtig zu werden. Die handelspolitiſche Verſtändigung
mit Preußen war ihm ſeit Jahren ein geläufiger Gedanke. In der
diplomatiſchen Welt ſtritt man ſich, ob Hofmann in Privatangelegenheiten
eines heſſiſchen Prinzen reiſe, oder den Verkauf der Kreuznacher Saline
in Berlin vermitteln ſolle. So durch die Hinterthür, wie der Dieb in
der Nacht, iſt dieſe folgenreiche Entſcheidung in unſere Geſchichte eingetreten.
Das Geheimniß war nur zu nöthig. In Darmſtadt wünſchten zwar
Miniſter Grolmann und Prinz Emil aufrichtig die Verſtändigung mit
Preußen; doch die öſterreichiſche Partei arbeitete in der Stille, ein vor-
eiliges Wort konnte Alles verderben.
Der heſſiſche Bevollmächtigte beantragte nur die gegenſeitige Herab-
ſetzung einer langen Reihe von Zöllen auf ein Zehntel der bisherigen
Sätze; als unerläßliche Bedingung ſtellte er den Kernſatz jenes Heidel-
berger Protokolles auf: ſelbſtändige Zollverwaltung für Darmſtadt. Als-
bald trat ihm Motz entgegen mit dem Bedenken: Zollerleichterungen ſeien
unfruchtbar, weitläuftig, gefährlich; Preußen müſſe die vollſtändige An-
nahme ſeines Zollgeſetzes verlangen.*) Unter ſolchen Umſtänden mußten die
Verhandlungen entweder ſcheitern oder zu einem Compromiſſe führen:
zur Bildung eines Zollvereins auf Grund des preußiſchen Zollgeſetzes,
aber mit ſelbſtändiger Zollverwaltung für beide Theile. Ueberraſchend
ſchnell, in wenigen Tagen wurde die Löſung gefunden, wonach die
ſüddeutſchen Cabinette in jahrelangen Verhandlungen getrachtet hatten.
Am 11. Januar 1828 fand die erſte förmliche Conferenz im Finanz-
miniſterium ſtatt, und hier wurde bereits von allen Seiten anerkannt,
daß nur eine vollſtändige Vereinigung möglich ſei: Darmſtadt trat in
das preußiſche Zollſyſtem ein; Preußen, längſt bereit „über Formalitäten
[634]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
leicht hinwegzugehen“, gewährte dem Verbündeten gleiches Stimmrecht bei
Abänderungen der Zollgeſetze und eine ſelbſtändige Zollverwaltung, die
aber ſtreng nach preußiſchem Muſter eingerichtet werden ſollte. Mit
dieſem Entſchluſſe war alles Weſentliche entſchieden. Die nächſte Con-
ferenz vom 17. Januar behandelte nur noch Detailfragen. Am 24. Ja-
nuar berichtete Eichhorn dem Könige: der Vertrag verſpreche allein für
Heſſen finanzielle und volkswirthſchaftliche Vortheile, für Preußen dagegen
einen großen politiſchen Gewinn, da die kleinen Staaten auf dieſem Wege
dauernd an uns gefeſſelt werden. Am 3. Februar genehmigte der König
den Abſchluß der Verhandlungen; in ſeiner ſtreng rechtlichen Geſinnung
fügte er ausdrücklich die Bedingung hinzu: „die deutſchen Nachbarſtaaten,
beſonders Baden, dürfen dadurch nicht in ihrem Intereſſe gekränkt werden.“
So kam denn am 14. Februar 1828 jener denkwürdige Vertrag
zu Stande, der in Wahrheit die Verfaſſung des deutſchen Zollvereins feſt-
ſtellte. Er verhält ſich zu den ſpäteren Zollvereinsverträgen genau ſo,
wie die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes zu der heutigen Reichs-
verfaſſung ſich verhält. Durch den Zutritt anderer, größerer Mittelſtaaten
haben ſich ſpäterhin die centrifugalen Kräfte des Zollvereins erheblich
verſtärkt; einzelne Beſtimmungen des Vertrags wurden im föderaliſtiſchen
Sinne abgeſchwächt; doch die Fundamente des preußiſch-heſſiſchen Ver-
trags blieben unerſchüttert. Darmſtadt nahm die preußiſchen Zölle an
und gab überdies die vertrauliche Zuſage, daß auch die wichtigſten preu-
ßiſchen Conſumtionsſteuern eingeführt werden ſollten. Der Kreis Wetz-
lar tritt unter die darmſtädtiſchen, das heſſiſche Hinterland unter die
weſtphäliſchen Zollbehörden. Preußen ernennt einen Rath bei der Zoll-
direction in Darmſtadt, Heſſen desgleichen bei der Steuerdirection zu
Köln. Beide Staaten beaufſichtigen wechſelſeitig ihre Hauptzollämter
durch Controleure; eine Conferenz von Bevollmächtigten vertheilt all-
jährlich die gemeinſchaftlichen Einnahmen nach Verhältniß der Kopf-
zahl. Dergeſtalt war die Rechtsgleichheit der Verbündeten, die ſouveräne
Würde des darmſtädtiſchen Reiches mit peinlicher Sorgfalt gewahrt.
Die milde Controle änderte wenig an der Selbſtändigkeit der heſſiſchen
Zollverwaltung; der Verein beruhte im Grunde nur auf gegenſeitigem
Vertrauen. Nach den bisherigen Leiſtungen kleinſtaatlicher Zollverwal-
tung konnten die preußiſchen Geſchäftsmänner einen ſolchen Vertrag nicht
ohne ernſte Bedenken unterſchreiben. Die heſſiſche Regierung aber hat
das gute Zutrauen gerechtfertigt, ſie ließ das neue Zollweſen unter der
einſichtigen Leitung des Finanzraths Bierſack feſt und redlich durchführen.
Dieſe deutſche Treue, dieſe ehrenhafte Erfüllung der eingegangenen Ver-
bindlichkeiten bildet überhaupt das beſte Verdienſt, das die Mittelſtaaten
um den Zollverein ſich erworben haben; der Abſchluß der Verträge
ſelbſt war nicht eine freie patriotiſche That der kleinen Höfe, ſondern
ein Ergebniß der bitteren Noth.
[635]Der preußiſch-heſſiſche Zollverein.
Ebenſo ſtreng wurde die Gleichberechtigung der Verbündeten in
Sachen der Zollgeſetzgebung aufrecht erhalten. Der Artikel 4 lautete ur-
ſprünglich: Abänderungen der Zollgeſetze ſollen nur in „gegenſeitigem
Einvernehmen“ erfolgen, „und es ſollen alle dieſe Veränderungen im
Großherzogthum Heſſen im Namen S. K. H. des Großherzogs ver-
kündigt werden.“ Dieſe Faſſung erregte in Darmſtadt ſchmerzliches Auf-
ſehen. Prinz Emil ſelbſt eilte zu Maltzan, ſtellte ihm vor: „der Groß-
herzog weiß, daß man in Berlin ſelbſt nicht wünſcht, daß die großher-
zogliche Regierung in den Augen des übrigen Deutſchlands erniedrigt
werde.“*) Eichhorn, der längſt verlernt hatte, ſich über die Weltanſchau-
ung deutſcher Kleinfürſten zu verwundern, ging auf die Bitte ein; er ſtrich
jene erniedrigenden Worte, erſetzte ſie nachträglich durch die Wendung:
„und ſollen von jeder der beiden Regierungen ihrerſeits verkündigt werden.“
Damit war das europäiſche Gleichgewicht zwiſchen Preußen und Darm-
ſtadt wieder hergeſtellt.
So bereitwillig die preußiſchen Staatsmänner in dieſen lächerlichen
Formfragen nachgaben, ebenſo ſchwer fiel ihnen der Entſchluß, den In-
halt des Art. 4 ſelbſt anzunehmen. Wann hatte denn jemals eine
Großmacht ihre Zollgeſetzgebung dem guten Willen eines Staates vom
dritten Range unterworfen? Es war vorauszuſehen, daß dieſer darm-
ſtädtiſche Vertrag allen ſpäteren Zollvereinsverträgen ebenſo zum Vorbilde
dienen würde, wie der Sondershauſener Vertrag das Muſter geweſen
war für alle nachfolgenden Enclavenverträge. In jenem Augenblicke
freilich ſtanden die kleinen Cabinette den Ideen des Freihandels ſogar
noch näher als Preußen. Doch konnte dem Scharfblick Motz’s und
Maaſſen’s nicht entgehen, daß dieſe Parteiſtellung in einer nahen Zu-
kunft ſich gänzlich verſchieben würde, ſobald in Oberdeutſchland eine junge
Großinduſtrie entſtand. Der preußiſchen Zollgeſetzgebung drohte viel-
leicht Stillſtand und Verkümmerung, wenn die Mittelſtaaten ein Veto
erhielten.
Alle dieſe ſtaatswirthſchaftlichen Bedenken mußten verſtummen vor
den glänzenden Ausſichten, welche ſich der nationalen Politik Preußens
eröffneten. Darmſtadt — ſo berichtete Eichhorn dem Könige — empfängt
durch den Vertrag erſt die Möglichkeit eines haltbaren Zollſyſtems. Preu-
ßen gewinnt die wichtige Poſition in Mainz, verhindert den ſüddeutſchen
Sonderbund in den Norden hinein vorzudringen, und darf mit Sicher-
heit darauf rechnen, daß Heſſens Beiſpiel Nachfolge finden, eine große
handelspolitiſche Vereinigung entſtehen wird. Nochmals wird ſodann
dem Könige verſichert, daß jede Feindſeligkeit gegen deutſche Staaten
vermieden werden ſolle. „Die Vereinigung iſt von Ew. Maj. Behörden
weder geſucht, noch weniger durch verführeriſche Lockungen veranlaßt
[636]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
worden; man hat nur Anträge und Vorſchläge, welche von der groß-
herzoglichen Regierung ausgingen, entgegengenommen.“*)
Der neue Zollverein ſollte bis zum 31. Decbr. 1834 dauern und
dann, ſofern keine Kündigung erfolge, auf weitere ſechs Jahre verlängert
werden. Das Recht der Kündigung blieb, wie ſchon die Sotzmann’ſche
Denkſchrift vorausgeſagt, die einzige Waffe, um Preußen ſicherzuſtellen
gegen den Mißbrauch des gleichen Stimmrechts. Handelsverträge ſchloß
Preußen allein — denn der Zuſatz „unter Mitwirkung und Zuſtimmung
Darmſtadts“ war praktiſch werthlos. In allem Uebrigen beſtand voll-
ſtändige Gleichheit der Rechte.
Auch um dieſen Vertrag hat ſich ein zielloſer Prioritätsſtreit erhoben.
Der partikulariſtiſche Neid will die Thatſache nicht zugeben, daß die Ver-
faſſung des Zollvereins in Berlin erſonnen wurde. Man behauptet, der
preußiſch-heſſiſche Verein ſei lediglich dem bairiſch-württembergiſchen Ver-
eine nachgebildet worden, welcher einige Wochen vorher, am 18. Jan. 1828,
zu Stande kam und ebenfalls das gleiche Stimmrecht, die ſelbſtändige Zoll-
verwaltung der Bundesgenoſſen anerkannte. Ein Blick auf die Tages-
und Jahreszahlen genügt, um dies Märchen zu widerlegen. Der Fun-
damentalſatz der Zollvereinsverfaſſung, die Parität und Unabhängigkeit
der Bundesgenoſſen, wurde in der Conferenz vom 11. Januar zwiſchen
Preußen und Darmſtadt vereinbart, acht Tage bevor der bairiſch-würt-
tembergiſche Vertrag abgeſchloſſen wurde — in einem Augenblicke, da man
zu Berlin den Gang der Münchener Verhandlungen noch nicht näher
kannte. Die neueſte aus München eingelaufene Nachricht ſagte nur: noch
bleibe zweifelhaft, ob der ſüddeutſche Verein gemeinſame oder getrennte
Zollverwaltung haben ſolle, das Letztere ſei allerdings wahrſcheinlicher.**)
Der Gedanke lag eben in der Luft, er ergab ſich mit Nothwendigkeit aus den
fruchtloſen Zollverhandlungen der jüngſten Jahre, er wurde von den nord-
deutſchen und von den ſüddeutſchen Zollverbündeten gleichzeitig angenom-
men, ohne daß ſie von einander wußten. Im Grunde iſt der ganze Streit
müßig. Der Entſchluß, von dem die Zukunft deutſcher Handelspolitik
abhing, konnte nur in Berlin gefaßt werden. Ob Baiern und Würt-
temberg einander die Parität zugeſtanden, war gleichgiltig. Doch ob die
norddeutſche Großmacht die unerhörte Selbſtverleugnung finden würde,
mit einem Staate dritten Ranges ſich beſcheiden auf eine Linie zu ſtellen —
an dieſer Frage hing Alles. Sobald Preußen dieſen Entſchluß faßte, war
dem Souveränitätsdünkel der kleinen Höfe der letzte Vorwand genommen
und die Bahn gebrochen für Deutſchlands Handelseinheit. Dem gewiſſen-
haften Notizenſammler ſoll unvergeſſen bleiben, daß Baiern und Würt-
temberg den „erſten“ Zollverein in Deutſchland gründeten, ihre Verhand-
[637]Wirkungen des Zollvereins.
lungen etwas früher beendigten als Preußen und Darmſtadt. Für den
Hiſtoriker hat die Thatſache geringen Werth. Denn der ſüddeutſche Verein
erwies ſich als ein verfehlter Verſuch und ging bald zu Grunde; der
preußiſch-heſſiſche Verein bewährte ſich und wuchs. Aus dieſem, nicht
aus jenem, iſt der große deutſche Zollverein hervorgegangen.
Eichhorn fühlte, daß die Dinge endlich in Fluß kamen. Voll froher
Zuverſicht richtete er im März an die Geſandtſchaften in Deutſchland eine
eingehende Inſtruction. Er ſchildert darin den Gang der preußiſchen Han-
delspolitik, das Syſtem des bewußten, berechneten Abwartens, das ſo gute
Früchte getragen habe. Er zeigt ſodann, wie mit dem Darmſtädter Ver-
trage die entſcheidende Wendung eingetreten ſei: dieſe Verhandlungen
waren beſonders darum nützlich, weil ſie „die Möglichkeit eines gemein-
ſchaftlichen Zollſyſtems für Staaten, die geographiſch unabhängig ſind,
erwieſen. An die Stelle eines dunklen Gefühls, welches früherhin eine
Vereinigung in einer unbeſtimmten Richtung ſuchte, iſt eine klare Erkenntniß
getreten.“ Man ſieht heute in der Aufnahme der ſtaatswirthſchaftlichen
Grundſätze eines anderen Staats nicht mehr eine Verleugnung der Sou-
veränität. Nichtsdeſtoweniger ſoll die Diplomatie nach wie vor eine
ruhig zuwartende Haltung behaupten. Ebenſo zuverſichtlich ſchrieb Eich-
horn an Motz: Unſere Handelspolitik hat ſich bewährt und wird noch
größere Erfolge erringen, wenn wir die Anfragen anderer Staaten ge-
duldig abwarten. Der bairiſch-württembergiſche Verein iſt loſe und wird
noch lockerer werden, wenn er wider Erwarten neue Bundesgenoſſen finden
ſollte.*)
In der That erwies ſich in Heſſen wie einſt in den Enclaven ſehr
raſch der Segen der preußiſchen Geſetze. Im erſten Augenblicke war die
Stimmung im Lande noch getheilt. Das Starkenburger Land ſah den
gewohnten kleinen Verkehr mit dem Frankfurter Markte mannichfach be-
läſtigt, und in der Kammer klagten nach deutſchem Brauche einzelne Pa-
trioten beweglich über den „Löwenvertrag“, welchen Preußens Schlauheit
der heſſiſchen Unſchuld auferlegte. Der Handelsſtand in Mainz und Offen-
bach dagegen ſprach der Regierung ſeinen Dank aus, und bald regte ſich
überall im Lande ein neues Leben. Vor Kurzem noch hatte man in Berlin
geplant, eine Meſſe in Köln zu errichten, die dem Mainzer und Frank-
furter Verkehre das Gegengewicht halten ſollte: jetzt entſtand in Offen-
bach ein ſchwunghafter Meßverkehr, der namentlich im Ledergeſchäfte das
reiche Frankfurt zu überflügeln begann. Die beiden Verbündeten bauten
eine große Straße von Paderborn über Biedenkopf nach Gießen und weiter
ſüdwärts, ſo daß ein faſt zollfreier Straßenzug den Neckar mit der Oſtſee
verband. Nach zwei Jahren war die handelspolitiſche Oppoſition in den
[638]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Kammern faſt völlig verſtummt. Graf Lehrbach, der den Miniſter wegen
Landesverraths verklagen wollte, ſtand vereinſamt; der Abgeordnete Schenk
aber dankte der Regierung und ſchloß gemüthlich: Das einzige Mittel
gegen den Wunſch nach politiſcher Einheit iſt die Zolleinigung! Mit
Selbſtgefühl verwies Hofmann auf die günſtigen Rechnungsabſchlüſſe und
ſagte „mit voller Zuverſicht dieſer auf gegenſeitige Vortheile gegründeten
Verbündung Beſtand und Dauer voraus: ſo werden Sie hoffentlich
bald dasjenige verwirklicht ſehen, was noch vor wenigen Jahren zwar
Gegenſtand Ihrer angelegentlichſten Wünſche war, aber nach ſo vielen ver-
geblichen Verhandlungen kaum in dem Reiche der Möglichkeit zu liegen
ſchien.“*) Auch in Preußen hielten die Klagen der Geſchäftswelt, die
ſich anfangs laut genug erhoben, nicht lange vor. Unterdeſſen hatte
der König ſein geſammtes thüringiſches Gebiet in die Zolllinie aufgenom-
men; die Lage der erneſtiniſchen Fürſtenthümer ward faſt unerträglich.
Es ſchien undenkbar, daß Kurheſſen und Thüringen, alſo von allen Seiten
umklammert, ihren thörichten Widerſtand fortſetzen ſollten.
Und doch ſollte das Undenkbare geſchehen. Auf das erſte Gerücht
hin verſuchten allerdings einige Kleinſtaaten ſich den Verbündeten zu nähern
— lediglich in der Abſicht den Inhalt des Vertrags, der noch ſtreng ge-
heim gehalten wurde, zu erfahren. Präſident Krafft in Meiningen ſchrieb
an Hofmann, bat um Aufklärung, deutete gewichtig an, daß Meiningen
vielleicht dem heſſiſchen Beiſpiele folgen werde, wenn man nur die Macht-
ſtellung dieſes Reiches nach Gebühr würdige: „Die Lage des Landes Mei-
ningen läßt ſeinen Werth den geographiſchen Umfang deſſelben überſchreiten,
indem mehrere der frequenteſten Landſtraßen die Handelsplätze an den
Küſten der Nordſee mit einem bedeutenden Theile des ſüdlichen Deutſch-
lands, der Schweiz und Italiens verbinden, und Preußen, Baiern und
Kurheſſen zu ſeinen wichtigeren Grenznachbarn gehören.“**) Die Mei-
ninger Welthandelsſtraßen boten unleugbar auf der Landkarte einen ſehr
ſtattlichen Anblick; gebaut waren ſie freilich noch nicht, auch beſaß das
Ländchen durchaus nicht die Mittel ſie jemals zu bauen. Motz, dem die
Naturgeſchichte des deutſchen Kleinſtaats einen unerſchöpflichen Quell der
Ergötzung bot, ſendete das Meininger Schreiben an Hofmann zurück und
verſicherte, die geographiſche Bedeutung des Herzogthums ſei ihm ganz
neu; dann ſchloß er wehmüthig: „es iſt betrübt, wenn ſolche überſpannte
Diener dazu beitragen, daß dem Souveränitätsdünkel ihrer Fürſten auch
noch ein Straßendünkel hinzugefügt wird.“ Der Vorfall blieb dem klugen
Manne unvergeſſen; der Meininger Straßendünkel ſollte zur rechten
Stunde noch eine Rolle ſpielen in der deutſchen Geſchichte. Noch durch-
ſichtiger war ein diplomatiſches Kunſtſtück der freien Stadt Frankfurt.
[639]Meininger Straßendünkel. Die Kleinſtaaten.
Der alte Rothſchild erſchien bei Otterſtedt um verbindlich anzufragen, ob
nicht auch Frankfurt mit Preußen einen ähnlichen Vertrag ſchließen könne.
Nun wußte alle Welt, daß die Handelspolitik dieſer Republik lediglich in
einer ſyſtematiſchen Pflege des Schmuggels beſtand. Der Fühler hatte
alſo nur den Zweck, den Senat über die Bedingungen des preußiſch-heſ-
ſiſchen Vertrags zu unterrichten, damit die Frankfurter Schmuggler ſich
darauf einrichten konnten. Selbſtverſtändlich wurde der diplomatiſche Bör-
ſenfürſt mit einigen allgemeinen Redensarten heimgeſchickt.*)
Unter den deutſchen Höfen war nur einer, der den preußiſch-heſſi-
ſchen Verein mit Freude begrüßte: der badiſche Hof. Allein durch Preu-
ßens Beiſtand konnte Großherzog Ludwig hoffen, ſeine Pfalz gegen Baiern
zu behaupten; daher ſchrieb er an Blittersdorff: „ich freue mich, einen
Einfluß vermehrt zu ſehen, dem ich, beſonders im gegenwärtigen Augen-
blicke, ſo viel verdanke.“ Zugleich hoffte man in Karlsruhe, die Abſichten
der badiſchen Handelspolitik nunmehr in Süddeutſchland durchzuſetzen,
denn ſeit Darmſtadt zu Preußen übergetreten, bildete Baden allein die
für Baiern unentbehrliche Verbindung zwiſchen Franken und der Pfalz.
Alle anderen Höfe vernahmen die erſte unſichere Kunde aus Berlin
mit unbeſchreiblichem Schrecken; die Nachricht fiel wie eine Bombe in die
diplomatiſche Welt. Selbſt Blittersdorff, der doch die entgegengeſetzten
Anſichten ſeines Souveräns kannte, enthielt ſich nicht zu jammern über
„dies Unglück, dieſen neuen Beweis preußiſcher Selbſtſucht“: es ſei ja
klar, Preußen wolle nur den heſſiſchen Markt für ſeine Fabrikate aus-
beuten, und glaube ſelber nicht an die Dauer der Verbindung. Was der
Heißſporn alſo herauspolterte, war nur der Wiederhall der erregten Reden
der öſterreichiſchen Partei am Bundestage. Münch und Langenau ver-
ſicherten entrüſtet: jetzt endlich ſei Preußens maßloſe Herrſchſucht entlarvt.
Vor Kurzem noch hatten ſie auf den preußiſchen Hochmuth geſcholten, der
jede Verſtändigung mit den Nachbarn abweiſe. Am Lauteſten lärmte
Marſchall über dieſen „Unterwerfungsvertrag“, den er ebenſo wenig ge-
leſen hatte wie die Anderen aus der öſterreichiſchen Sippe. Er traf ſo-
gleich Anſtalten zur Begünſtigung des Schmuggels in Bieberich und den
anderen Rheinhäfen. Der Gedanke, daß Naſſau jetzt wie Anhalt zur preu-
ßiſchen Enclave werden ſolle, war ſeinem Nationalſtolze ſchrecklich. Dann
ließ er durch die getreue Oberpoſtamtszeitung die Lüge verbreiten, Preußen
habe auch Naſſau zum Beitritt eingeladen, ſei aber ſtolz zurückgewieſen
worden. Der unterthänige Landtag ſtimmte der Anſicht des Miniſters
zu, als dieſer erklärte: eine Erhöhung der Staatseinnahmen ſei überflüſſig;
für Naſſaus europäiſche Politik wie für ſeine Volkswirthſchaft könne der
Anſchluß an Preußen nur gefährlich werden.
Daß Münch und Langenau nicht ohne geheime Weiſungen handelten,
[640]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
ließ ſich leicht errathen. Zum Ueberfluß ſprach Fürſt Metternich ſelbſt
ſeine Beſtürzung in ſauerſüßen Worten aus. Der preußiſche Geſandte
theilte dem öſterreichiſchen Staatskanzler eine Denkſchrift mit, die ſich aus-
führlich über Preußens bisherige Handelspolitik verbreitete. Darauf er-
widerte der Fürſt: „Der Darmſtädter Vertrag hat großes Aufſehen erregt,
wie ja Alles in Deutſchland mißdeutet wird. Doch iſt uns lieb, daß
Preußen ſich ſo offen ausſpricht; mit der Denkſchrift bin ich im Weſent-
lichen einverſtanden. Baiern hat uns kürzlich aufgefordert den preußiſch-
heſſiſchen Vertrag zu hintertreiben. Wir lehnten ab, da ſolche Verträge
eine Conſequenz der Souveränität ſind. Ich kann aber nicht verhehlen,
daß, ſobald dergleichen Verbindungen aufhören blos aus dem adminiſtra-
tiven Geſichtspunkte betrachtet zu werden und ihnen eine politiſche Tendenz
zu Grunde gelegt wird, die Grundgeſetze des Bundes ihnen entgegen-
ſtehen.“ Darauf empfahl er dem preußiſchen Hofe abermals, wie einſt
auf dem Aachener Congreſſe, die Vorzüge der k. k. Provinzialmauthen:
wenn man in Preußen Provinzialzölle einführte, ſo würde man der läſtigen
Zollverträge nicht bedürfen! Mit Entzücken vernahm Motz dieſe Orakel-
ſprüche und ſchrieb an Eichhorn: „Von den Finanzanſichten des Fürſten
v. Metternich werden wir wohl keinen Gebrauch machen können. Da-
gegen wollen wir nicht beſtreiten, daß es in vieler Beziehung für uns
ohne Nachtheil ſein wird, wenn er für Oeſterreich bei ſeinen erleuchteten
Anſichten beharrt.“*) Zudem wußte Eichhorn, wie eifrig der k. k. Ge-
ſandte in Darmſtadt der Ratification des Vertrags entgegengewirkt hatte;
noch im Februar war Otterſtedt von Karlsruhe hinübergeeilt, um dem
öſterreichiſchen Einfluß die Wage zu halten.
Auch jenes deutſche Cabinet, das damals dem Berliner Hofe am
nächſten ſtand, auch Hannover, überraſchte durch auffällige Ungezogenheit.
Der König wollte nicht, daß das befreundete Nachbarland aus dem neuen
Vereine Beſorgniß ſchöpfe. Er befahl daher eine Ausnahme zu machen
von der Regel, wonach Preußen ſich aller handelspolitiſchen Anerbietungen
enthalten ſollte, und ließ in Hannover einige neue Straßenzüge und be-
deutende Zollerleichterungen vorſchlagen, da nach den Grundſätzen der han-
noverſchen Politik ein wirklicher Zollverein doch nicht zu erwarten ſtand.
Aber dieſe Eröffnungen blieben unerwidert. Das war mehr als Ver-
ſtimmung; das deutete auf feindſelige Pläne, die im Dunkeln ſich vor-
bereiteten.
Die öffentliche Meinung zeigte ſich, wie immer in der Geſchichte des
Zollvereins, noch verblendeter als die Cabinette, und die Hofburg ver-
ſtand, trotz ihres Haſſes gegen den Liberalismus, den liberalen Unverſtand
vortrefflich auszubeuten. In Frankfurt arbeitete unter Münch’s Augen
eine k. k. Correſpondenzenfabrik: mit merkwürdiger Uebereinſtimmung er-
[641]Der bairiſch-württembergiſche Zollverein.
zählten der Nürnbergiſche Correſpondent, die Elberfelder Zeitung, das
Frankfurter Journal von unſeligen Darmſtädter Induſtriellen, die Haus
und Hof verließen um den preußiſchen Zöllen zu entgehen. Die Augs-
burger Allgemeine Zeitung ließ ſich aus Darmſtadt ſchreiben: man muß
heute einundzwanzigmal preußiſch reden, ehe man einmal heſſiſch reden
darf; das unglückliche Land trägt zweifache Laſten, die neuen Mauthen
und die alten, da ja für Wein und Tabak Ausgleichungsabgaben erhoben
werden. Auch unabhängige Blätter, wie der Altonaer Mercur und die
Neue Mainzer Zeitung, erzählten die Fabel vom Fuchs, der im Stalle
zum Pferde ſagte: tritt mich nicht, ich will dich auch nicht treten!
Die preußiſche Regierung konnte ſich in den Künſten des literariſchen
Minenkriegs niemals mit Oeſterreich meſſen; ſie begnügte ſich, den öſter-
reichiſchen Tendenzlügen lehrhafte Berichtigungen in der Staatszeitung
entgegenzuſtellen; das unglückliche Blatt krankte aber an der Erbſünde
aller officiöſen Blätter, der Trockenheit. Auf allgemeine Zuſtimmung
konnte in dieſem Lande der Kritik kein Schritt der Regierung rechnen.
Nicht blos unter den Induſtriellen zitterten Viele vor der drohenden Ver-
mehrung der Concurrenz. Auch eine Schule innerhalb des Beamtenthums,
Schön mit ſeinen oſtpreußiſchen Freunden, ſchalt auf dieſe Bummler in
Berlin, die daheim nicht Ruhe fänden und auswärts unnütze Händel an-
zettelten.
Am gefährlichſten unter allen Kräften des Widerſtandes erſchien vor
der Hand die feindſelige Haltung des Münchener Hofes. Im October
1827 waren in München die Verhandlungen zwiſchen den beiden ſüd-
deutſchen Königskronen wieder aufgenommen worden. Schmitz-Grollen-
burg und Armansperg betrieben Beide das Geſchäft mit feurigem Eifer.
So kam am 18. Januar 1828 jener erſte deutſche Zollverein zu Stande.
Es erfüllte ſich, was in Berlin ſo oft vorausgeſagt worden: Tarif und
Verwaltungsordnung des neuen Vereins kamen den Grundſätzen der
preußiſchen Zollgeſetzgebung ſehr nahe, weil ſich den ſüddeutſchen Kronen
dieſelben Fragen aufdrängten, welche Preußen ſchon durch das Geſetz von
1818 gelöſt hatte. Die Zölle auf Fabrikwaaren ſtanden niedriger als in
Preußen, die auf Colonialwaaren etwas höher: vom Kaffee erhob Preußen
6 Thlr. 20 Sgr. für den Centner, Baiern-Württemberg 15 Gulden für den
um etwa 9 Proc. ſchwereren bairiſchen Centner. Im Uebrigen faſt die-
ſelben Regeln wie im preußiſch-heſſiſchen Vereine: getrennte Zollverwal-
tung unter gegenſeitiger Controle, Vertheilung der Einkünfte nach der
Kopfzahl, Grenzzölle und Packhöfe.
Indeß die verſtändige Verfaſſung konnte den Grundſchaden dieſes
Bundes nicht heilen: er war zu klein und darum, wie Eichhorn voraus-
ſagte, nicht lebensfähig. Wohl ſtiegen die Zolleinnahmen Württembergs
im erſten Jahre um 220,000 Fl.; der kleinere Bundesgenoſſe zog ſelbſt-
verſtändlich den größeren Vortheil aus der Erweiterung des Marktgebiets.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 41
[642]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Doch betrugen die Zolleinnahmen nur 9½ Sgr. auf den Kopf der Be-
völkerung, während Preußen das Zweiundeinhalbfache, 24 Sgr., einnahm.
Die Koſten der Zollverwaltung verſchlangen mindeſtens 44 Proc. der Ein-
künfte; in Baiern war der Rohertrag für das Rechnungsjahr 1828—1829:
2,842 Mill. Fl., der Reinertrag nur 1,582 Mill. Fl. Die geringen Zölle
genügten nicht die heimiſche Induſtrie wirkſam zu ſchützen, und doch blieb
jede Erhöhung unmöglich, wenn nicht der geſammte Reingewinn den
Staatskaſſen verloren gehen ſollte. Am Kläglichſten befand ſich die bai-
riſche Pfalz. Die entlegene Provinz ſollte vor der Hand außerhalb der
Mauthlinien bleiben und ihre eigenen Erzeugniſſe zollfrei in das Vereins-
land einführen, was denn ſofort franzöſiſche, badiſche, rheinpreußiſche,
heſſiſche Fabrikanten zu großartigem Schmuggel veranlaßte. Gewichtige
Stimmen in der Pfalz forderten laut den Anſchluß an Preußen; einer
der erſten Induſtriellen der Provinz, Geh. Rath Camuzzi, ſchrieb in dieſem
Sinne an die Allgemeine Zeitung, ward aber von der Firma Cotta ab-
gewieſen.
König Ludwig wollte die Gebrechen des Vereines lange nicht bemerken.
Wie war er ſtolz auf ſeiner Hände Werk, den erſten deutſchen Zollverein;
wie ſchwelgte er in erhabenen Träumen von hiſtoriſcher Unſterblichkeit.
Er wollte fortleben im Munde ſpäter Geſchlechter als der Vollender der
fossa Carolina, jenes Canales zwiſchen der Nordſee und dem ſchwarzen
Meer, den Karl der Große erſonnen doch nicht ausgeführt hatte, und be-
ſchäftigte ſich auch mit großen Eiſenbahnplänen, ſeit Franz Baader im
Nymphenburger Park einen Dampfwagen fahren ließ. „Jetzt ſind die
Zollſyſteme der beiden Großmächte nicht mehr furchtbar“ — hieß es bei
Hofe. Schon war ein Unterhändler nach Zürich geſendet, um die Schweiz
zum Eintritt in den ſüddeutſchen Verein oder doch zu einem Handels-
vertrage zu bewegen. Niemals hatte Baierns Geſtirn glänzender geleuchtet
als im Januar 1828; niemals zuvor hatte der König eine ſo ſtolze
Sprache gegen den Bundestag geführt. „Die antiſocialen, antiföderaliſtiſchen
Tendenzen der bairiſchen Politik“ traten, wie Blittersdorff klagte, dem
Präſidialgeſandten ſchroff entgegen. Sofort nach der Unterzeichnung des
ſüddeutſchen Zollvertrages ging Frhr. v. Zu Rhein nach Darmſtadt um
das Großherzogthum zum Beitritt einzuladen und ihm die Parität, welche
ihm die beiden Königreiche bisher verweigert hatten, bedingungslos zu-
zugeſtehen.*) War Heſſen gewonnen, ſo mußte das widerhaarige Baden
auf Gnade oder Ungnade ſich ergeben.
Mitten in dieſe holden Träume fiel niederſchmetternd die Kunde von
dem preußiſch-heſſiſchen Vertrage. Durch dieſen Verein, das ſprang in
die Augen, verlor der ſüddeutſche Verein ſofort Sinn und Bedeutung.
König Ludwig ſah ſeine theuerſten Hoffnungen zerſtört, blieb mehrere
[643]Spannung zwiſchen Baiern und Preußen.
Wochen hindurch völlig faſſungslos. „Nunmehr hab’ ich alle Schritte ge-
than, um meine armen Unterthanen zu retten!“ ſagte er verzweifelnd zu
Schmitz-Grollenburg. In groben Schimpfworten entlud ſich ſein Groll;
er ſchalt laut auf den Verräther Hofmann, erzählte an offener Tafel,
Preußen habe den Prinzen Emil von Heſſen mit 400,000 Fl. beſtochen.
In ſeinem Zorne vergaß er auch wieder ſeinen teutſchen Stolz. So lange
dieſe kleinen Höfe noch europäiſche Politik treiben durften, waren auch
patriotiſche Fürſten nicht vor argen Verirrungen ſicher. Wie Ludwig einſt
als Kronprinz, trotz ſeines Abſcheus gegen Napoleon, mehrmals unter-
thänige Briefe an den Schöpfer der bairiſchen Königskrone gerichtet und
ſogar die Hoffnung ausgeſprochen hatte, ſein Sohn Max werde dereinſt
dem König von Rom ſeine Anhänglichkeit widmen,*) ſo hatte er neuerdings
um Sponheims willen die Hilfe Rußlands angerufen und wendete ſich
jetzt wieder an das gehaßte Frankreich. Den Winter über hatte der Her-
zog von Dalberg in München ſein Weſen getrieben; nun fanden ſeine
Einflüſterungen Gehör. König Ludwig warnte den franzöſiſchen Hof vor
dem Ehrgeiz Preußens, das bereits in Süddeutſchland ſich feſtzuſetzen ſuche.
Im ſelben Sinne bearbeitete Lerchenfeld zu Frankfurt den alten Reinhard.
Alsbald befahl Miniſter La Ferronays dem Geſchäftsträger in München
rührige Wachſamkeit gegen die von Preußen her drohende Gefahr; er
ſtellte zugleich einige Handelserleichterungen in Ausſicht zu Gunſten der
troisième Allemagne.
Da König Ludwig ſchon nach wenigen Monaten von ſeinen leiden-
ſchaftlichen Verirrungen zurückkam, ſo wurden dieſe häßlichen Zettelungen
mit dem Auslande nachher ganz in Abrede geſtellt. Der Hergang iſt
gleichwohl verbürgt durch die übereinſtimmenden Zeugniſſe von Freund
und Feind. Nicht allein der preußiſche Geſandte Küſter berichtete darüber
ausführlich ſeinem Hofe; der badiſche Geſandte Fahnenberg meldete ganz
daſſelbe nach Karlsruhe. Der öſterreichiſche Geſandte Graf Spiegel warf
dem bairiſchen Miniſter des Auswärtigen die Anklage ins Geſicht, daß er
Frankreich in die deutſche Handelspolitik hineinzuziehen ſuche. Ueber Ler-
chenfeld’s Verhalten berichtete Blittersdorff, der ja ſelber ſehr geneigt war,
jedes Mittel zu gebrauchen zur Vernichtung des preußiſch-heſſiſchen Ver-
eins.**) Die Schwenkung der bairiſchen Politik nach Frankreich hinüber
war bald eine der geſammten diplomatiſchen Welt bekannte Thatſache.
König Ludwig überließ ſich eine Zeit lang blindlings dem ſtürmiſchen
Unwillen der verletzten Eitelkeit. Sein Cabinetsrath Grandauer übte
ſchlechten Einfluß; auch Freiherr v. d. Tann träumte bairiſche Großmachts-
träume. Nur der alte welterfahrene Miniſter Zentner ſah die Dinge
41*
[644]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
ruhiger an. Selbſt König Wilhelm von Württemberg blieb nüchtern und
gleichmüthig. Sein Geſchäftsverſtand war doch ſtärker als ſein Groll
gegen Preußen; auch mochten ihm die bitteren Erfahrungen der Tage von
Verona noch unvergeſſen ſein. In einem Geſpräche mit du Thil ver-
barg er zwar ſeine Enttäuſchung nicht, geſtand aber zu: „früher oder
ſpäter werden wir noch gezwungen ſein Euerem Beiſpiele zu folgen.“ Im
ſelben Sinne erklärte ſein Miniſter Beroldingen dem preußiſchen Ge-
ſandten, „daß Württemberg in die deutſch-patriotiſchen Geſinnungen der
preußiſchen Regierung niemals auch nur den geringſten Zweifel geſetzt
hat und die beſtehenden beſonderen Vereine zugleich als Mittel betrachtet,
zu dereinſtiger Erreichung des gemeinſchaftlichen Zweckes in einer allge-
meinen Ausdehnung den Weg zu bahnen.“*)
Wie der preußiſche Staat Alles, was er für die Macht und Einheit
unſeres Vaterlandes that, erkämpfen mußte gegen den Widerſtand des
Auslandes, ſo ward auch der preußiſch-heſſiſche Bund ſofort von den
Ränken der fremden Mächte umſponnen. Im Verein mit Frankreich ver-
ſuchte Holland Unfrieden zu ſäen zwiſchen Süd und Nord. Der Miniſter
Verſtolck van Soelen machte den württembergiſchen Geſchäftsträger auf-
merkſam auf die Gefahren, welche der deutſchen Handelsfreiheit und der
Unabhängigkeit der Kleinſtaaten drohten. Der Württemberger, ein ver-
ſtändiger Mann, der ſeinem preußiſchen Collegen, dem Grafen Truchſeß-
Waldburg, Alles mittheilte, antwortete treffend: die Zölle der fremden
Mächte, und nicht zuletzt Hollands, zwingen uns Deutſche, uns zu einigen
und neue Handelswege zu ſuchen — worauf Verſtolck heilig verſicherte:
die Herabſetzung der niederländiſchen Zölle ſtehe nahe bevor; für jetzt aber
dürfe man nur an den Widerſtand gegen den gemeinſamen Feind, gegen
Preußen denken.**) Eichhorn, der die holländiſchen Kaufherren aus den
endloſen Rheinſchifffahrtsverhandlungen genugſam kannte, ſchrieb an den
Rand der Depeſche: Die Niederlande verfolgen gar keinen poſitiven Zweck,
ſie wollen nur die weitere Einigung Deutſchlands in Zollſachen verhin-
dern. In der That lud der niederländiſche Geſchäftsträger Mollerus den
Münchener Hof ein, für den ſüddeutſchen Verein einen Handelsvertrag
mit Holland abzuſchließen, und betheuerte zugleich die gute Abſicht ſeines
Hofes, ſich mit den oberländiſchen Staaten über Preußen hinweg wegen
der Rheinzölle zu verſtändigen. Beſtimmte, greifbare Vorſchläge übergab
er nicht; die Abſicht war lediglich, Baiern und Württemberg von Preußen
fernzuhalten.***) Auch England bezeigte ſeine Unzufriedenheit. Der Prä-
ſident des Handelsamts, Charles Grant, beſchwerte ſich bei dem preußi-
ſchen Geſandten Bülow heftig über die hohen Zölle des preußiſch-heſſiſchen
[645]Das Ausland gegen den preußiſchen Zollverein.
Vereines und erhielt die kühle Antwort: der Verein habe an den preu-
ßiſchen Zöllen gar nichts geändert; doch wiſſe Jedermann, daß Preußen
freieren handelspolitiſchen Grundſätzen huldige als England.*)
Mit dieſen Ränken des Auslands, die bald einen ſehr bedrohlichen
Charakter annahmen, verkettete ſich der unſelige Sponheimer Handel.
König Ludwig war, da er ſich allerdings auf Oeſterreichs unerfüllte Ver-
ſprechungen berufen konnte, von ſeinem Rechte auf den Heimfall der Pfalz
tief überzeugt und fühlte ſich ſchwer beleidigt, als Preußen ſeinen An-
ſprüchen entgegentrat. Der preußiſche Geſandte merkte dem Könige bald
an, daß er etwas auf dem Herzen habe. Da trafen ſich die Beiden eines
Tags auf der Straße. Der König trat auf den Diplomaten zu, ging
eine Strecke Weges mit ihm und ſchüttete ſeinen Zorn aus: „Ich kann
nicht genug ſagen, wie tief es mich geſchmerzt, daß gerade Preußen in der
badiſchen Sache ſich voran und mir gegenübergeſtellt hat. Anders kann
ich das Memoire nicht bezeichnen, womit Preußen, ohne mich zu hören,
die Initiative gegen mich bei den übrigen Höfen ergriffen hat. Bernſtorff
denkt immer noch an das alte Baiern; es iſt aber heute ein neues Baiern,
ein neuer König. Preußen hat nie einen größeren Enthuſiaſten gehabt
als mich. Um ſo mehr hat mich’s gekränkt, daß man ſich aus meiner
Freundſchaft gar nichts macht. Will man mich denn nur zum Gegner
haben?“ Der König ereiferte ſich, erhob die Stimme, die Vorübergehen-
den blieben ſtehen und horchten auf. Der Geſandte konnte ſich dem
ſchwerhörigen Fürſten nicht verſtändlich machen, gerieth in peinliche Ver-
legenheit, gab ſeinem Hofe den Rath, man möge den Erzürnten beſchwich-
tigen.**) Augenblicklich ließ ſich wenig thun, da König Friedrich Wilhelm
das gute Recht Badens ſchlechterdings nicht preisgeben wollte. Für die
Zukunft war noch nichts verloren. Der heißblütige Wittelsbacher blieb
auch als Gegner offen und ehrlich; ſobald ſein Zorn verrauchte, konnte
man vielleicht wieder anknüpfen, da ihm Deutſchlands Handelseinheit wirk-
lich am Herzen lag. Vor der Hand freilich wirkte der Münchener Hof
dem preußiſch-heſſiſchen Vereine offen entgegen; er verſuchte, durch unent-
geltlichen Vorſpann und ähnliche kleine Mittel den Verkehr von Gießen
und Vilbel auf die Linie Hersfeld-Fulda hinüberzulocken, verlangte von
dem Hauſe Thurn und Taxis, daß die Frankfurt-Aſchaffenburger Poſt über
Hanau, nicht mehr durch das darmſtädtiſche Gebiet geführt werde u. ſ. w.
Der entſcheidende Kampf entſpann ſich am Kaſſeler Hofe; noch ein-
mal wurde die kurheſſiſche Handelspolitik verhängnißvoll für das ganze
Deutſchland. Der Großherzog von Heſſen hatte die Berliner Verhand-
lungen nur gutgeheißen in der beſtimmten Erwartung, daß der Caſſeler
Vetter ſeinem Beiſpiele folgen würde. Deshalb blieb der preußiſch-heſ-
[646]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
ſiſche Vertrag bis zum Mai geheim; denn niemals hätte der Stolz des
Caſſeler Despoten ſich entſchloſſen, einem bereits veröffentlichten Vertrage
nachträglich beizutreten und alſo vor der Welt zuzugeſtehen, daß das min-
dermächtige Darmſtadt ihm vorangegangen ſei. Hofmann ging noch im
Februar, auf der Rückreiſe von Berlin, nach Caſſel und meinte die Lage
ziemlich günſtig zu finden. Freiherr v. Meyſenbug und andere hohe Be-
amte, mit denen er vertraulich ſprach, gaben ihm bereitwillig zu, daß
Kurheſſen nach Darmſtadts Beitritt nicht mehr zögern dürfe: nur der
Anſchluß an Preußen könne die zerrüttete Volkswirthſchaft retten. Gleich-
wohl war Hofmann im Irrthum; ſchon nach vierundzwanzig Stunden
mußte er unverrichteter Dinge abziehen. „An dieſem Hofe, ſchrieb du
Thil, ſind rationelle Berechnungen nicht ſtatthaft.“ Hinter und über den
Beamten trieb die Reichenbach ihr Weſen, die noch immer auf eine öſter-
reichiſche Fürſtenkrone hoffte.
Auf ſolchem Boden war den armſeligen Künſten der kleinen Höfe
die Stätte bereitet. Ein Heerlager von amtlichen und geheimen Unter-
händlern ſtrömte im Frühjahr 1828 zu Caſſel zuſammen, um den Kur-
fürſten von Preußen fernzuhalten. Aus Baiern erſchienen die Geheimen
Räthe Oberkamp und Siebein, der Erſtere wohlgeſchult in dem Ränkeſpiele
der Eſchenheimer Gaſſe; auch ſeinen Freund v. d. Tann ſchickte König
Ludwig hinüber. Für Württemberg arbeitete der alte Agitator Miller von
Immenſtadt, jetzt württembergiſcher Steuerrath. Aus Sachſen kam Frhr.
v. Lützerode, aus Hannover Kammerrath Lüder, auch Coburg und Mei-
ningen ſendeten Unterhändler. Dann erſchien „zum allgemeinen Schrecken“
Präſident v. Porbeck aus Arnsberg, um dem Berliner Cabinet über das
verworrene Treiben zu berichten. Die Darmſtädter Regierung erneuerte
im März ihren Verſuch und ſendete den Prinzen Wittgenſtein, um dem
Kurfürſten mitzutheilen: Preußen habe eingewilligt, daß der Zutritt Kur-
heſſens zu dem Vertrage vorbehalten bleibe, und Darmſtadt den Antrag
ſtelle; der Großherzog erlaube ſich daher anzufragen, ob der Kurfürſt die
Abſendung eines Bevollmächtigten genehmige. Am 12. März ſprach der
Kurfürſt dem Prinzen ſeinen verbindlichen Dank aus. Doch ſchon nach
drei Tagen ſchlug der Wind um. Sei es, daß Wittgenſtein allzu zuver-
ſichtlich aufgetreten war, ſei es daß Oberkamp und die Reichenbach dem
Kurfürſten die Schmach einer Unterwerfung unter Preußens Befehle ge-
ſchildert hatten — genug, am 15. März ließ der Finanzminiſter Schminke
ein Schreiben an du Thil abgehen, in jener Tonart, die nur in Caſſel
oder Köthen möglich war: „S. K. Hoheit können nicht ohne große Em-
pfindlichkeit wahrnehmen, daß in einem Allerhöchſtdemſelben und Aller-
höchſtdero Kurſtaate durchaus fremden Vertrage von Seiten des großh.
Hofes Stipulationen in Beziehung auf das Kurfürſtenthum eingegangen
ſind und eine Initiative ergriffen worden iſt, welche das Kurhaus in An-
ſehung des großherzoglichen Hauſes ſich nicht einmal geſtattet hat. Aller-
[647]Kurheſſen verweigert den Beitritt.
höchſtdieſelben ſind nicht davon überzeugt, daß es dem Intereſſe des Kur-
ſtaats entſprechend ſei, einer ſolchen Uebereinkunft das bisherige Syſtem
aufzuopfern.“*) Die gröbſten Wendungen hatte der Kurfürſt eigenhändig
in das Schreiben hineingebracht. Bei einer neuen Audienz donnerte er
Wittgenſtein an: „Ich bin Chef des heſſiſchen Hauſes; Anmaßungen wie
der Großherzog ſie ſich erlaubt hat, werde ich nicht dulden; ich kann die
Bitte des Großherzogs nicht gewähren.“ Auch Wittgenſtein’s Sendung
war geſcheitert.
Eichhorn ahnte, daß die ſüddeutſchen Kronen die Hände im Spiele
gehabt, empfahl dem Bundestagsgeſandten Nagler und allen Geſandten
im Oberlande ſcharfe Aufmerkſamkeit auf die Handelspolitik der kleinen
Höfe. Zwei Tendenzen, ſchrieb er, wirken uns in Caſſel entgegen. Der
bairiſch-württembergiſche Verein ſucht Kurheſſen für ſich zu gewinnen; er
krankt an verkehrten politiſchen Nebengedanken und ruht auf dem falſchen
Grundſatze, daß die Binnenſtaaten von den Küſtenländern ſich unabhängig
machen ſollen; „mit jeder Ausdehnung verliert das Syſtem ſelbſt an
innerem Halt und Zuſammenhang.“ Gefährlicher ſcheint der von einigen
thüringiſchen Staaten gehegte Plan, unter Kurheſſens Führung einen heſ-
ſiſch-thüringiſchen Zollverein zu bilden, der nach Belieben mit Preußen
oder mit dem Süden verhandeln könnte — eine Träumerei „ſo einladend
für den Stolz des Kurfürſten, daß er kaum widerſtehen wird.“**)
Nach Wittgenſtein’s Abreiſe meinten die bairiſch-württembergiſchen
Unterhändler ihr Spiel gewonnen. Baiern verſprach dem Kurfürſten ſeine
bisherigen Zolleinnahmen zu verbürgen, wenn er dem ſüddeutſchen Ver-
eine beitrete. Der Kurfürſt, als ein geriebener Handelsmann, holte ſofort
eine alte Schuldforderung an das fürſtliche Haus Oettingen hervor, welche
einſt Napoleon für Baiern eingezogen hatte; auch dieſe Sache zu berei-
nigen war Baiern erbötig. Schon bereiſte Oberkamp mit einem kurheſ-
ſiſchen Finanzbeamten die bairiſchen Grenzen, um dieſem die Einrichtung
der Mauthen zu zeigen. Da griff eine gewandtere Hand ein und betrog
die ſüddeutſchen Höfe um den Sieg.
Daß Oeſterreich die Erweiterung des preußiſch-heſſiſchen Vereines un-
gern ſah, war allbekannt. Wenn der öſterreichiſche Geſchäftsträger in
Caſſel dem Prinzen Wittgenſtein zuvorkommend ſeine Inſtructionen zeigte,
und dort zu leſen ſtand, er ſolle ſeinen preußiſchen Collegen überall ge-
treulich unterſtützen, ſo wußte man in Berlin längſt, was von ſolchen
k. k. Scherzen zu halten ſei. Aber auch der Zollverein der conſtitutionellen
Südſtaaten erſchien zu Wien hochgefährlich. Sobald das diplomatiſche
Getriebe in Caſſel begann, wurde Frhr. v. Hruby, einer der eifrigſten
und gefährlichſten Feinde Preußens, ſo recht ein Vertreter des alten fer-
[648]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
dinandeiſchen Hochmuths, von Karlsruhe abberufen, in Hannover und
Caſſel als Geſandter beglaubigt. Ihm gelang es, den Kurfürſten zu über-
zeugen, daß auch der Anſchluß an Baiern die kurheſſiſche Nationalehre
gefährde; „die bairiſchen Mauthritter“, wie der Kurfürſt höhnte, empfingen
im Mai abſchlägige Antwort. Und bald erfüllte ſich, was ein feiner Kenner
der heſſiſchen Dinge dem preußiſchen Geſandten Hänlein vorausgeſagt hatte:
„Kurheſſen wird ſeine ergiebigen Tranſitzölle zu behalten ſuchen und am
Liebſten gar nichts an dem Beſtehenden ändern. Nur wenn keine Ver-
ſtändigung mit der Kurfürſtin zu Stande kommt, wird unſer Staat, wel-
cher bekanntlich nur aus einer Perſon beſteht, ſich aus Aerger vielleicht auf
die Seite der Gegner Preußens ſchlagen.“
Dahin war es wirklich gekommen, daß die Zukunft der deutſchen
Handelspolitik zunächſt von dem ehelichen Frieden des kurheſſiſchen Hauſes
abhing. Um den Kurfürſten mit ſeiner Gemahlin zu verſöhnen und dann
den beſänftigten Despoten für den Zollverein zu gewinnen ſendete König
Friedrich Wilhelm den General Natzmer nach Caſſel. Motz gab dem
Unterhändler eine Weiſung mit, deren fridericianiſcher Ton von der matten
Diplomatenſprache jener Zeit gar ſeltſam abſtach. Es war, als hätte der
tapfere Heſſe ſchon das Jahr 1866 vorausgeſehen. Er bemerkt zunächſt,
die Verbindung mit Preußen liege im eigenen Intereſſe Kurheſſens; mit
600,000 Köpfen könne man kein eigenes Zollſyſtem bilden. Der Anſchluß
an den finanziell unfruchtbaren bairiſch-württembergiſchen Verein ſei für
Heſſen unnatürlich. Dagegen bringt der Anſchluß an Preußen: eine be-
deutende Einnahme von 20—24 Sgr. auf den Kopf; ſodann einen großen
Markt von 13 Mill. Einwohnern — denn nicht Verbote, ſondern die
Freiheit eines großen inneren Marktes fördern die Induſtrie, wie Preußens
Beiſpiel zeigt — endlich den Beſitz der großen Handelsſtraßen. Schließt
Kurheſſen ſich nicht an, ſo muß Preußen eine Straße durch Hannover
ſuchen und den Bremer Verkehr nach Süddeutſchland von Minden aus
zum Rheine leiten. Manche Höfe, und namentlich Miniſter Marſchall
in Wiesbaden, behaupten zwar, ein Zollverein ſei eine Verletzung der
Souveränität. Aber der Großherzog von Heſſen iſt ſouverän geblieben,
der Vertrag gewährt beiden Theilen gleiche Rechte. „In die neueren
Ideen von Souveränität iſt überhaupt viel Schwindel gekommen. Ich
frage beſonders: iſt Kurheſſen ſouveräner in einem auf gleiche Souve-
ränität baſirten Vertrage mit ſeinem mächtigſten unmittelbaren Nachbarn,
oder iſt es ſouveräner ohne ſolche Verbindung, in einer unfreundlichen
Stellung dieſem mächtigſten unmittelbaren Nachbarn gegenüber? Es giebt
Verhältniſſe, mögen ſie auch noch in der Zukunft liegen, in welchem
Preußen ein feindlich geſinnter Nachbar nützlicher ſein kann als ein durch
feſte Verträge verbundener.“*) Die furchtbare Offenheit dieſer Sprache
[649]Motz über die kurheſſiſche Handelspolitik.
war nicht geeignet den Kurfürſten zu gewinnen. Natzmer wurde mit un-
geſchliffener Grobheit heimgeſchickt, und auch Leopold Kühne, der zur Un-
terſtützung des Generals nach Caſſel und nebenbei nach Braunſchweig
ging, richtete an beiden Orten nichts aus. In ſolcher Laune, tobend gegen
ſeine Gemahlin wie gegen Alles, was den preußiſchen Namen trug, war
der heſſiſche Despot bereit, den Weiſungen Oeſterreichs blindlings zu folgen.
Die Hofburg wollte nicht blos die Erweiterung des preußiſchen Zoll-
ſyſtems verhindern, ſie dachte das Syſtem ſelber zu zerſtören, den müh-
ſam errungenen erſten Anfang deutſcher Handelseinheit zu vernichten; und
grade bei den norddeutſchen Höfen, welche durch alle ihre natürlichen In-
tereſſen auf Preußen angewieſen waren, fand dieſe Abſicht Anklang. Der
dynaſtiſche Haß des ſächſiſchen Hofes, der Welfenſtolz Hannovers, der
Grimm des Kurfürſten gegen ſeinen königlichen Schwager, die Großmanns-
ſucht des Naſſauer Herzogs, die gedankenloſe Aengſtlichkeit der kleinſten
Höfe — alle niederträchtigen und alle ſchwächlichen Elemente des nord-
deutſchen Kleinfürſtenthums vereinigten ſich in tiefſter Stille zum Kampfe
gegen Preußen. Geſtützt auf Oeſterreich, begünſtigt durch den Handels-
neid Englands, Frankreichs und Hollands, kam der mitteldeutſche Handels-
verein zu Stande — eine der bösartigſten und unnatürlichſten Verſchwö-
rungen gegen das Vaterland — gleich dem Rheinbunde ein Zeugniß, weſſen
das deutſche Kleinfürſtenthum fähig war.
Nirgends erweckte der preußiſch-heſſiſche Vertrag ſchwerere Beſorg-
niſſe als am Dresdner Hofe. Wie hatte man ſich dort ſo behaglich ein-
gelebt in den alten Privilegienwuſt, wie war es ſo ſüß, am Bundestage
über die deutſche Handelseinheit und die Bundeszölle ſalbungsvoll zu
reden — in der frohen Erwartung, daß gar nichts zu Stande komme,
daß man jedes ernſten Entſchluſſes, jeder heilſamen Reform allezeit über-
hoben bleibe! Jetzt erſtanden plötzlich dicht an Sachſens Grenzen zwei
Zollverbände. Wie nun, wenn die augenblickliche Verſtimmung des Königs
von Baiern verflog, wenn die beiden Vereine, die in ihren handelspoli-
tiſchen Grundſätzen einander ſo nahe ſtanden, ſich zu einem verſchmolzen:
wenn ſie auch Thüringen gewannen, und alſo dem Leipziger Handel der
Weg zur See ringsum durch Zollſtellen verſperrt wurde? Lauter und
lauter erklangen die Klagen der Fabrikanten des Erzgebirges; zweimal im
Jahre 1828 liefen Petitionen ein, die den König beſchworen: der Anſchluß
an Preußen, oder auch an den ſüddeutſchen Verein, irgend ein Entſchluß,
der aus der vereinſamten Stellung hinausführe, ſei unvermeidlich. Der
Miniſter Graf Einſiedel, der als Eiſenwerksbeſitzer der Großinduſtrie näher
ſtand, begann irre zu werden an dem alten Syſteme. Einer der tüch-
tigſten jüngeren Beamten, Wietersheim, ſchilderte in einer beredten Denk-
[650]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
ſchrift den Nothſtand der Induſtrie, die Unterlaſſungsſünden der Regie-
rung. König Anton aber hielt, wie ſein Miniſter Manteuffel, einen Han-
delsbund mit Preußen für unmöglich. Eben in jenen Jahren ſtand ein
alter Lieblingsgedanke der albertiniſchen Politik in voller Blüthe. Vor
Kurzem erſt, nach dem Ausſterben des Hauſes Gotha, hatte der König
von Sachſen den Schiedsrichter und väterlichen Vermittler geſpielt zwi-
ſchen den erneſtiniſchen Vettern. Man hoffte in Dresden, eine dauernde
Hegemonie über die thüringiſchen Lande zu erlangen. Um ſo ſchmerzlicher
empfand man die Gefahr, daß Thüringen dem preußiſchen oder dem ſüd-
deutſchen Vereine ſich anſchließen könnte.
Aus ſolchen Berechnungen entſprang der Plan, einen Gegen-Zoll-
verein zu bilden, der, ohne ſelbſt ein poſitives handelspolitiſches Ziel zu
verfolgen, nur als ein Keil zwiſchen die beiden Zollvereine hineindringen,
ihre Verbindung hindern ſollte. Es galt, die erſten Anfänge der Handels-
einheit zu zerſtören, den ſchmachvollen Zuſtand deutſcher Zerriſſenheit zu
verewigen. Die Träger dieſer Politik waren zwei Gebrüder Carlowitz, aus
einem der ehrenwertheſten Häuſer des oberſächſiſchen Adels. Der Aeltere,
königlich ſächſiſcher Miniſter, war bis zum vorigen Jahre noch Bundes-
tagsgeſandter geweſen und ſtand in der Eſchenheimer Gaſſe in lebhaftem
Andenken als ein wohlmeinender Geſchäftsmann der alten Schule, ein
pedantiſcher Vertreter der bekannten kurſächſiſchen Formelſeligkeit. Der
Jüngere, jetzt Miniſter in Gotha, perſönlich ebenfalls ſehr achtungswerth,
hatte alle die unausrottbaren Vorurtheile des kurſächſiſchen Adels mit
aus der Heimath hinübergenommen. Vergeblich ſtellten ihm gothaiſche
Beamte vor, ihr Ländchen ſei auf Preußen angewieſen; der verſtändige
Kammerrath Braun rief ihm zu: „Sie handeln als königlich ſächſiſcher,
nicht als herzoglich ſächſiſcher Staatsmann.“ Er blieb dabei, „ein neu-
traler Verein“ ſei nothwendig, „eine achtunggebietende Maſſe zwiſchen den
beiden Zollvereinen, ſtark genug, um beiden Bedingungen zu dictiren.“
Der Herzog von Gotha ward für die Pläne ſeines ſächſiſchen Rathgebers
leicht gewonnen. Er ſtand mit dem Berliner Hofe auf ſchlechtem Fuße,
weil er ſein entlegenes Saarland Lichtenberg gegen ein Stück des preußi-
ſchen Thüringens auszutauſchen wünſchte und König Friedrich Wilhelm
dieſe Zumuthung noch immer beharrlich abwies. In ihren Mitteln war
die Coburgiſche Handelspolitik wenig wähleriſch. Aller drei Wochen ging
von Coburg eine Sendung neu geprägter unterwerthiger Münzen nach Lich-
tenberg; von dort überflutheten die unter dünner Silberhülle röthlich ſchim-
mernden Coburger Sechſer das benachbarte ſüddeutſche Guldenland, und
dieſe gewerbmäßige Falſchmünzerei währte jahrelang fort trotz den Be-
ſchwerden der Nachbarn. Auch am Weimariſchen Hofe herrſchte augen-
blicklich eine gegen Preußen leidenſchaftlich eingenommene Partei, an ihrer
Spitze der geſcheidte Miniſter Schweitzer.
So wurde denn ein hochgefährliches Unternehmen gegen Deutſchlands
[651]Die Oberſchönaer Punctation.
Handelseinheit in aller Stille eingefädelt, harmlos gemüthlich wie eine
Carlowitz’ſche Familienangelegenheit. In den letzten Tagen des März 1828
trafen ſich der Herzog von Gotha, die beiden Carlowitze und Schweitzer
auf dem Carlowitz’ſchen Familiengute Oberſchöna — ſie Alle noch ohne
eine klare Vorſtellung von den ſchweren Folgen ihres Beginnens. Wir
Deutſchen ſind Gott ſei Dank durch unabweisbare Intereſſen, durch alle
Lebensgewohnheiten auf einander angewieſen; jeder Verſuch offener Feind-
ſeligkeit von Deutſchen gegen Deutſche erſcheint als eine Sünde wider
die Natur und bietet darum neben der Entrüſtung auch der Lachluſt ein
breites Ziel. In denſelben Tagen, da in Oberſchöna der Zollkrieg gegen
Preußen beſchloſſen wurde, verhandelte in Berlin der Weimariſche Bevoll-
mächtigte Thon wegen freundnachbarlicher Aufhebung der Geleitsgelder.
Mochte man den preußiſchen Staat bis in der Hölle tiefſte Gründe ver-
wünſchen, entbehren konnte man ihn nicht. Die in Oberſchöna abge-
ſchloſſene Punctation beſagte: Es ſoll ein Handelsverein geſchloſſen werden
zwiſchen Sachſen, Kurheſſen und Thüringen. Die Theilnehmer „werden
ſich bemühen den Beitritt der übrigen zwiſchen der preußiſchen und bairi-
ſchen Zolllinie gelegenen Lande zu erlangen.“ Sie verpflichten ſich „ein-
ſeitig keinem auswärtigen Zollſyſteme beizutreten, noch, ohne Zuſtimmung
des Vereins, mit einem Staate, in welchem ein ſolches Syſtem beſteht,
einen Handels- oder Zoll-Vertrag zu ſchließen.“ Sie wollen ihre gegen-
ſeitigen Unterthanen auf gleichem Fuß behandeln und (Art. 7) die Tran-
ſitabgaben im Verkehre zwiſchen den Vereinsſtaaten nicht über das Maß
der ſächſiſchen Tranſitzölle erhöhen. Sechs Monate nach der Conſtituirung
des Vereins ſoll über gemeinſame Handelsverträge und Retorſionen be-
rathen werden.
Es war ein pactum de paciscendo, ein Vertrag ohne poſitiven In-
halt, eine Verpflichtung, vorläufig nichts zu thun, den beſtehenden Zuſtand
nur nach gemeinſamer Abrede zu verändern. Von einer Zollgemeinſchaft
zwiſchen den Vereinsſtaaten, von irgend welchen ernſten Reformen war
gar nicht die Rede. Gleichwohl konnte der „neutrale“ Verein dem preu-
ßiſchen Zollſyſteme verderblich werden; er ſuchte der Handelspolitik Preu-
ßens ihre ſchärfſte Angriffswaffe, die Durchfuhrzölle, aus der Hand zu
winden. Wenn es gelang, alle zwiſchen den preußiſchen Provinzen ein-
geklammerten Länder, insbeſondere die Küſtenſtaaten, für den Verein zu
gewinnen, ſo nahm die geſammte Einfuhr von der See nach dem innern
Deutſchland ihren Weg durch die Vereinslande, da die ſächſiſchen Tran-
ſitzölle weit niedriger ſtanden als die preußiſchen. Schritt man darauf
zu den verabredeten „Retorſionen“, wurde die Durchfuhr von Baiern nach
Preußen und von einer preußiſchen Provinz zur anderen mit hohen Zöllen
belaſtet, dann war Preußen einer reichen Einnahmequelle und ſeines wirk-
ſamſten Unterhandlungsmittels zugleich beraubt; nicht blos die Erweite-
rung des preußiſchen Zollſyſtems wurde verhindert, der Beſtand des
[652]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Syſtems ſelber ward in Frage geſtellt. Unter der Maske der Neutralität
beſchloß man den Zollkrieg. Um nur Preußen zu ſchädigen verpflichtete
ſich die ſächſiſche Regierung, ihre eigenen Fabriken in wehrloſem Zuſtande
zu laſſen, die Induſtrie des Erzgebirges der engliſchen Concurrenz völlig
preiszugeben. Wahrhaftig, nicht patriotiſche Geſinnung war es, was die
kleinen Staaten unſeres Nordens endlich in den preußiſch-deutſchen Zoll-
verein führte; kein Mittel, auch das verwerflichſte nicht, blieb unverſucht
das preußiſche Zollſyſtem zu ſprengen; erſt nachdem alle Angriffe geſcheitert
waren, unterwarf man ſich nothgedrungen der deutſchen Handelseinheit.
Die Oberſchönaer Punctation wurde dem ſächſiſchen Bundestagsge-
ſandten Bernhard von Lindenau zugeſendet; dort in der Eſchenheimer
Gaſſe ſollten dem „ſächſiſchen Anti-Zollvereine“, wie man in Berlin ſagte,
neue Anhänger geworben werden. Eine edle, hochſinnige Gelehrtennatur,
ehrlich liberal und begeiſtert für Deutſchlands Größe, hatte Lindenau bis
vor Kurzem im gothaiſchen Miniſterium mit Einſicht gewirkt. Er wünſchte
aufrichtig die deutſche Handelseinheit und geſtand ſeinem Darmſtädter
Amtsgenoſſen in Frankfurt: wäre Kurheſſen dem preußiſchen Vereine bei-
getreten, ſo hätte ich auch für den Beitritt Sachſens und Thüringens ge-
ſtimmt. Nun Kurheſſen ſich weigerte, hoffte er ſein Ziel auf anderem
Wege zu erreichen: durch einen Bund der norddeutſchen Lande, welcher den
preußiſchen Staat zur Milderung ſeines Zollſyſtems zwingen ſollte. Auch er
krankte an dem Erbfehler der kleinen Diplomatie, er überſchätzte die Macht
ſeines Staates und ſah nicht, daß die preußiſche Regierung den Verſuch,
ihr Geſetze vorzuſchreiben, als offene Feindſeligkeit betrachten und ſich zur
Wehre ſetzen mußte. Alſo hat der treffliche Mann ſeinen lauteren Idea-
lismus, ſeine lebhafte, ruheloſe Thätigkeit eingeſetzt für Pläne, die der
dynaſtiſchen Scheelſucht entſprangen, und zwei Jahre lang an einem Ver-
eine gearbeitet, welchen Stein verächtlich als einen Afterbund verdammte.
Selbſt die Sippſchaft höchſt unzweideutiger politiſcher Charaktere, welche ſich
ſofort des Oberſchönaer Planes bemächtigte, öffnete dem ſächſiſchen Staats-
manne nicht die Augen. Münch und Langenau, Marſchall und Roth-
ſchild, alle Stützen der öſterreichiſchen Partei warben für den Handels-
verein. Mehrmals in der Woche kam der Herzog von Naſſau zu Langenau
hinüber, um neue Bundesgenoſſen zu gewinnen.
Dergeſtalt war wieder einmal eines jener anmuthigen Ränkeſpiele
eingeleitet, welche von Zeit zu Zeit die troſtloſe Langeweile der Bundes-
tagsgeſchäfte wohlthätig unterbrachen. Daß Oeſterreich alle Fäden der
Verſchwörung in ſeiner Hand hielt, war bald am Bundestage offenkundig.
Mit gewohnter Treuherzigkeit ſtellte die Hofburg jede Parteinahme in Ab-
rede. Der k. k. Hofrath v. Kreß, der Leiter der öſterreichiſchen Handels-
ſachen, betheuerte dem preußiſchen Geſchäftsträger feierlich: mit keinem
Worte habe Oeſterreich den Anſchluß Darmſtadts zu verhindern geſucht;
er ſelber habe die Correſpondenz geführt und nach Darmſtadt geſchrieben,
[653]Engliſch-hannoverſche Handelspolitik.
ſein Hof werde ſich freuen, wenn Heſſen bei dem preußiſchen Bündniß
ſeinen Vortheil finde.*) Nach den Enthüllungen, die man in Berlin vom
Darmſtädter Hofe ſelbſt erhalten, konnten ſolche Betheuerungen nur Heiter-
keit erregen. Wie Oeſterreich zu dem neuen Gegenzollvereine ſtand, das
erhellte, wenn anders die Frankfurter Geſandtſchaftsberichte noch einer
Beſtätigung bedurften, aus einem Briefe Lindenau’s, der in Berlin be-
kannt wurde. „Ich verhandle mit Holſtein und den Niederlanden, ſchrieb
der ſächſiſche Diplomat an den Bundestagsgeſandten Leonhardi, ſowie
wir nicht minder der Unterſtützung des gemeinnützigen, vielverſprechenden
Unternehmens von Seiten der öſterreichiſchen Regierung, welche deſſen
Förderung wünſcht, verſichert ſein können.“**) Auch die anderen auslän-
diſchen Feinde der preußiſchen Handelspolitik liehen dem Vereine ihren
Beiſtand. Graf Reinhard verſicherte die Vereinsmitglieder der warmen
Unterſtützung des Pariſer Cabinets. Um die Niederlande zu gewinnen,
ging Lindenau im Herbſt ſelber nach Brüſſel und ſtellte dort vor — er,
der Vertreter des Elbuferſtaates Sachſen: — es ſei nothwendig, den Rhein
und Main wieder zu beleben, die durch den Elb- und Weſerhandel ſo
ſchwere Einbuße erlitten hätten, und den rheiniſchen Colonialwaarenhandel
Hollands wieder zu der Höhe zu erheben, die er im achtzehnten Jahr-
hundert behauptet. Selber mit ſeiner deutſchen Provinz beizutreten lag
freilich nicht ins Hollands Abſicht; doch warben ſeine Diplomaten in Frank-
furt eifrig für den Verein.
Entſcheidend wurde die Haltung von England-Hannover. Noch war
man in London gewohnt, mit dreiſter Sicherheit auf Deutſchlands Zwie-
tracht zu rechnen; jede Regung ſelbſtändigen Willens in der deutſchen
Handelspolitik galt den Briten als ein Schlag ins eigene Angeſicht. Welch’
eine köſtliche Ausſicht, wenn jetzt durch den Gegenzollverein nicht nur die
machtloſe Anarchie des deutſchen Zollweſens verewigt, ſondern auch den
engliſchen Waaren gegen mäßige Tranſitzölle der Weg bis ins Herz von
Deutſchland eröffnet wurde; von dort mochten ſie dann durch die Schmuggler
nach Preußen und Baiern hinübergeſchafft werden. Mit Feuereifer ging
der Geſandte am Bundestage, Addington, auf Lindenau’s Ideen ein. Um-
ſonſt warnte der nüchterne Milbanke, Geſchäftsträger bei der Stadt Frank-
furt: der Verein entbehre jedes poſitiven Zwecks, könne und werde nicht
dauern, der deutſche Handel bedürfe ſchlechterdings einer Reform. Adding-
ton’s Meinung drang in London durch; allzu verlockend war der Gedanke,
den offenen hannoverſchen Markt, der bisher den engliſchen Fabriken ſo
unſchätzbar geweſen, bis an den Main zu erweitern. Die engliſche Scha-
luppe Hannover folgte wie immer ihrem Schiffe. Graf Münſter ſchalt
hinterrücks den preußiſchen Zollverein „eine preußiſche Reunionskammer“,
[654]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
mußte ſich von dem preußiſchen Geſandten Bülow „ſein wenig gerades
Benehmen“ vorwerfen laſſen. Zugleich bat, wie Bülow von dem Miniſter
Fitzgerald ſelbſt erfuhr, der ſächſiſche Geſandte in London um durchgrei-
fende Maßregeln gegen das preußiſche Zollſyſtem, das dem engliſchen Handel
und der Unabhängigkeit der deutſchen Staaten gleich verderblich ſei.*) So
trat denn Hannover dem Vereine bei; das Induſtrieland Sachſen unter-
warf ſich dem engliſchen Handelsintereſſe. Frhr. v. Grote, ein fähiger han-
noverſcher Beamter, Preußens geſchworener Feind, wurde neben Lindenau
die Seele des Bundes.
Auch Bremen trat hinzu. Der treffliche Smidt hatte ſich allzu tief
eingelebt in die Träume Wangenheim’s, der auch jetzt wieder aus ſeinem
Coburger Stillleben heraus gegen Preußen arbeitete; er konnte ein krank-
haftes Mißtrauen gegen den norddeutſchen Großſtaat nicht überwinden,
und jetzt da die rein-deutſchen Sonderbundspläne ſogar von Oeſterreich
insgeheim unterſtützt wurden, gab er ſich ihnen unvorſichtiger hin als
ſonſt ſeine Art war. Er wünſchte, wie er am Bundestage mehrmals
ausſprach, deutſche Conſulate und eine deutſche Flagge. Doch ſo lange
Deutſchland noch nicht ein nationales Handelsgebiet bildete, war das lockere
hannoverſche Zollweſen für den bremiſchen Freihandel bequemer als das
ſtrenge preußiſche Syſtem. Die von dem „neutralen“ Vereine verſprochene
Erleichterung des Tranſitverkehrs konnte auf den erſten Blick einen han-
ſeatiſchen Staatsmann allerdings beſtechen. Aber auch nur auf den erſten
Blick. Voreingenommen gegen Preußens Zollſyſtem bemerkte Smidt nicht,
daß die Theilnahme an dem neuen Handelsbunde der überlieferten han-
ſeatiſchen Handelspolitik ſchnurſtracks widerſprach; der Verein war in Wahr-
heit nicht neutral, ſondern durchaus parteiiſch, antipreußiſch. Smidt dachte
ſo hoch von dem Werthe dieſer todtgebornen Vereinigung, daß er ihrem
Urheber, dem Sachſen Carlowitz, das bremiſche Ehrenbürgerrecht verſchaffte
— eine ſeltene Auszeichnung, welche ſeit dem Freiherrn vom Stein kein
deutſcher Staatsmann mehr erlangt hatte. Ruhiger urtheilte der Ham-
burger Senat; er lehnte jede Mitwirkung ab, weil Hamburgs Freihafen
den Intereſſen des geſammten deutſchen Verkehrs zu dienen habe. Die
Frankfurter großen Firmen dagegen begrüßten mit Jubel die in Aus-
ſicht geſtellte Erleichterung des Durchfuhrhandels, die den landesüblichen
Schmuggel mächtig fördern mußte; auch waren die Patricier der ſtolzen
Republik längſt gewöhnt, den unterthänigen Schweif des k. k. Bundes-
geſandten zu bilden. Bürgermeiſter Thomas und Senator Guaita zu-
ſammt dem öſterreichiſchen Anhang ſetzten den Beitritt durch, gegen den
heftigen Widerſpruch einer preußiſchen Partei.
Territorialen Zuſammenhang konnte der Verein nur durch Kurheſſen
[655]Der mitteldeutſche Handelsverein.
erlangen; daher wurden dort die ſtärkſten Hebel eingeſetzt. Der jüngere
Carlowitz ſelbſt erſchien im April zu Caſſel, bald darauf kam Lindenau.
Beide, unterſtützt durch Hruby, ſtellten dem Kurfürſten vor, was er am
liebſten hörte: der neutrale Verein verlange gar keine Aenderung in den
beſtehenden Geſetzen Kurheſſens; man betrachte dies Land als den Kern
des Bundes, könne der Sachkenntniß des Kurfürſten nicht entbehren, darum
ſollten die Berathungen über das Grundgeſetz unter ſeinen Augen, in
Caſſel erfolgen. Den Ausſchlag gab jedoch die ſtaatsmänniſche Abſicht,
dem Schwager in Berlin einen derben Poſſen zu ſpielen. Durch Kur-
heſſens Beitritt wurde Badens Ablehnung mehr als aufgewogen. Lindenau
ſchrieb an Berſtett: er hoffe auf die Mitwirkung des Karlsruher Hofes
um ſo ſicherer, da durch den Verein „weder die Selbſtändigkeit der eigenen
Landesverwaltung, noch auch deren finanzielle Verhältniſſe die mindeſte
Störung erleiden, ſondern nur die unveränderte Aufrechterhaltung des
status quo verſichert und bezweckt wird.“*) Der Antrag ward abgelehnt.
Mit Baiern verfeindet, von ſüddeutſchen und preußiſchen Vereinslanden
rings umſchloſſen, hatte Baden von dem neutralen Vereine nichts zu
hoffen, von Preußens Zorn Alles zu fürchten. Bei allen anderen kleinen
Höfen fanden Lindenau’s Werbungen günſtiges Gehör. Einige ängſtliche
thüringiſche Cabinette wurden gewonnen durch die vertrauliche Verſiche-
rung, Preußen ſei mit der Gründung des Vereins einverſtanden, eine
plumpe Erfindung, die doch Eingang fand, weil die preußiſche Diplomatie
ſich wie bisher ruhig zurückhielt. Selbſt Herzog Karl von Braunſchweig
ging diesmal Hand in Hand mit dem gehaßten jüngeren Welfenhauſe;
eine Weiſung Metternich’s bewog ihn, beizutreten.
Alſo waren im Laufe des Sommers die ſämmtlichen zwiſchen den
beiden Hälften der preußiſchen Monarchie eingepreßten Kleinſtaaten an-
geworben für den Neutralitätsbund, der ſich den Namen „Mitteldeutſcher
Handelsverein“ beilegte. Nach jahrelangen vergeblichen Unterhandlungen
ſah Deutſchland plötzlich in einem Jahre drei handelspolitiſche Vereine
auftauchen. Nur Baden und die niederdeutſchen Kleinſtaaten öſtlich der
Elbe blieben noch iſolirt. Triumphirend verkündete ein Artikel der Frank-
furter Oberpoſtamtszeitung, der aus Lindenau’s Feder ſtammte, am
25. Juni: Sachſen, Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Frankfurt ſind die
Schöpfer des neuen Vereins, der den Art. 19 der Bundesacte zur Wahr-
heit macht und, ſtatt neue Zolllinien zu ſchaffen, vielmehr die Handels-
freiheit auf ſein Banner ſchreibt. „Daß Waare gegen Waare vertauſcht,
Freiheit mit Freiheit, Gleiches mit Gleichem erwidert werde, das iſt For-
derung des natürlichen Rechts, bei deſſen Verkennung und Verweigerung
es dem Vereine wohl nicht an Mitteln fehlen dürfte, das was recht und
billig iſt, mit feierlicher Kraft geltend zu machen, da er helfen und hemmen,
[656]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Vortheil und Nachtheil zu gewähren vermag.“ Ein Gebiet von ſechs
Millionen Seelen gehört ihm, die ganze weite Nordſeeküſte, die größten
Stapel- und Handelsplätze Deutſchlands; die Elbe, den Rhein, den
Main, die Weſer von allen Zöllen zu befreien, liegt allein in ſeiner
Hand!
Wohl mochte man prahlen! Eine ſo krankhaft unnatürliche Mißbil-
dung war dem Particularismus noch nie zuvor gelungen. In einem
weiten Widerhaken reichte das Vereinsgebiet von Bremen nach Fulda,
dann weſtwärts zum Rheine, gen Oſten bis zur ſchleſiſchen Grenze, von
dem engliſchen Markte Hannover bis zu dem gewerbreichen Sachſen, über
einen bunten Länderhaufen, welchen, Preußen gegenüber, nur ein gemein-
ſames Intereſſe zuſammenhielt: Angſt und Neid. Eben jene norddeut-
ſchen Kleinſtaaten, welche bisher den handelspolitiſchen Anſtrengungen
Preußens und Baiern-Württembergs einen trägen ablehnenden Wider-
ſtand entgegengeſtellt, redeten plötzlich von deutſcher Handelsfreiheit. In-
deß ſie den Art. 19 der Bundesacte im Munde führten, verſchworen ſie
ſich die beſtehende Zerſplitterung aufrecht zu halten und den preußiſchen
Durchfuhrhandel zu vernichten. Und hinter dieſem Bunde ſtanden ſchir-
mend Oeſterreich, England, Holland, Frankreich! Wenn man in Berlin
noch der Belehrung bedurft hätte über die feindſelige Geſinnung des
mitteldeutſchen Vereins, ſo mußte die hinterhaltige Sprache der verbün-
deten Cabinette jeden Zweifel zerſtören. In tiefſter Stille, ohne die ge-
ringſte Mittheilung an die preußiſche Geſandtſchaft, hatte der Dresdner
Hof ſein Werk begonnen. Als am preußiſchen Hofe Einiges ruchbar wurde,
ſchrieb Graf Einſiedel dem Geſandten v. Watzdorf in Berlin, verſicherte
heilig, Baden ſei nicht zum Beitritt aufgefordert worden. Doch leider
hatte der Karlsruher Hof jenes Einladungsſchreiben Lindenau’s an Berſtett
dem Berliner Cabinet ſogleich mitgetheilt. Der Abtheilungschef im Aus-
wärtigen Amte bemerkte an den Rand der ſächſiſchen Depeſche: „Das
Gegentheil ſteht in unſeren Acten. Graf Bernſtorff wird Herrn v. Watz-
dorf eines Beſſeren belehren.“ Nicht minder verdächtig erſchien, daß der
hannoverſche Geſandte in Dresden, v. Reden, plötzlich ohne jede Veran-
laſſung ein Schreiben an Bernſtorff richtete, um inbrünſtig zu betheuern,
Hannover hege durchaus keine feindſeligen Abſichten gegen Preußen, miß-
billige entſchieden jenes gehäſſige Programm der Oberpoſtamtszeitung.*)
Warum ſolche unerbetene Entſchuldigung, wenn man ſich nicht ſchuldig
fühlte? Späterhin, in einer Denkſchrift vom Jahre 1832 nannte Met-
ternich ſelbſt den mitteldeutſchen Handelsverein „verſuchsweiſe zum Schutze
gegen das preußiſche Zollſyſtem geſchaffen“.
Und abermals zeigte die öffentliche Meinung ihre alte unbelehrbare
Verblendung. In Arnſtadt rottete ſich das Volk zuſammen vor dem
[657]Die Mitteldeutſchen in Caſſel.
Hauſe des Erbprinzen; die Leute drohten auszuwandern, wenn der Fürſt
nicht feſt zu dem mitteldeutſchen Vereine ſtehe. Das ſächſiſche Oppoſitions-
blatt „die Biene“ vertheidigte warm die hochherzige Abſicht der ſächſiſchen
Krone, die Unabhängigkeit „unſeres Vaterlandes“ zu retten; das Erz-
gebirge müſſe ja unfehlbar zu Grunde gehen, wenn die preußiſchen
Zölle die Getreideeinfuhr aus Böhmen verhinderten — dieſe preußiſchen
Zölle, die den Getreideverkehr faſt gar nicht belaſteten! Weithin erklang
der Jubelruf der Liberalen über die ſchmachvolle Niederlage des preußiſchen
Abſolutismus: Preußens Herrſchſucht iſt gedemüthigt, das Gleichgewicht
der Mächte in Deutſchland wiederhergeſtellt! Selbſt in Baiern und
Württemberg, deren eigenes Zollſyſtem doch durch den mitteldeutſchen
Verein bedroht wurde, vertheidigte die Preſſe den neuen Handelsbund.
Der bairiſche Hesperus donnerte gegen Darmſtadt, das einen induſtriellen
Selbſtmord begangen, den Schwaben und Baiern „einen Theil des
Segens edler Fürſten“ geraubt habe. Die Neckarzeitung begrüßte den
Verein als ein Zeugniß der Bundestreue, als einen letzten Verſuch die
Verheißungen der Bundesacte ins Leben zu führen. Sogar innerhalb
der bairiſchen Regierung fand ſich eine Partei bereit die ſächſiſch-engliſchen
Entwürfe zu unterſtützen; Lerchenfeld und Oberkamp, die geſammte Bun-
destagsgeſandtſchaft König Ludwig’s, blieben mit Lindenau in vertrautem
Verkehr. Nur Wenige verſtanden den feſten patriotiſchen Stolz des Frei-
herrn vom Stein, der voll Verachtung auf die Vaſallen der engliſchen
Handelspolitik niederſchaute und an Gagern ſchrieb: „es iſt den erbärm-
lichen, neidiſchen, antinationalen Abſichten unſerer kleinen Cabinette an-
gemeſſen, ſich an das Ausland zu ſchließen, ſich lieber von Fremden
peitſchen zu laſſen, als dem allgemeinen Nationalintereſſe die Befriedigung
kleinlichen Neides aufzuopfern.“
Am 21. Mai 1828 hatten die Verbündeten zu Frankfurt einen Prä-
liminarvertrag geſchloſſen. Am 22. Auguſt, nachdem unterdeſſen der Ver-
ein vollzählig geworden, verſammelten ſich die Bevollmächtigten in Caſſel,
und ſchon am 24. September kam der endgiltige Vertrag zu Stande.
Solche Schnelligkeit der Berathung ſtach von den Gewohnheiten der Staats-
männer des Bundestags auffällig ab; ſie bewies deutlich, daß man Ge-
fahr im Verzuge glaubte und mehr einen diplomatiſchen Schachzug als ein
dauerhaftes Werk beabſichtigte. Der Vertrag, in Dresden entworfen,
ſprach die feindſelige, aggreſſive Richtung gegen Preußen noch weit offener
aus als die Oberſchönaer Punctation. Der Verein iſt beſtimmt, den
freien Verkehr im Sinne des Art. 19 der Bundesacte zu befördern und
„die Vortheile, welche in dieſer Hinſicht dem einzelnen Staate durch ſeine
geographiſche Lage und ſonſt gewährt ſind, auf das Ganze zu übertragen,
auch daneben ſich jene Vortheile zu erhalten und ſicher zu ſtellen.“ Die
Verbündeten verpflichten ſich, bis zum 31. Decbr. 1834 — d. h. bis zu
dem Zeitpunkt, wo der preußiſch-heſſiſche Vertrag ablief — keinem aus-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 42
[658]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
wärtigen Zollvereine einſeitig beizutreten. Die Straßen ſollen in gutem
Stande erhalten, neue Straßenzüge verabredet werden. Die beſtehenden
Durchfuhrzölle auf Waaren, welche für einen Vereinsſtaat beſtimmt ſind,
dürfen nicht erhöht werden; dagegen ſteht dem Vereine wie jedem Ver-
einsſtaate frei, Waaren, die aus dem Auslande in das Ausland gehen,
mit höheren Tranſitgebühren zu belaſten. England-Hannover war es, das
dieſen unzweideutigen Art. 7 durchgeſetzt hatte. Es lag darin die Drohung,
den Handel zwiſchen den beiden Hälften der preußiſchen Monarchie zu zer-
ſtören, und zugleich eine ſyſtematiſche Begünſtigung der engliſchen Einfuhr.
Denn da auf Hannovers ausdrückliches Verlangen jedem Vereinsſtaate
die Befugniß eingeräumt wurde, Handelsverträge mit dem Auslande zu
ſchließen, ſo eröffnete ſich den engliſchen Waaren über Bremen und Han-
nover ein faſt zollfreier Weg nach den Binnenſtaaten, welche, wie Sachſen,
Thüringen, Naſſau, Frankfurt, noch kein geordnetes Grenzzollſyſtem be-
ſaßen. Noch deutlicher ſprach der neunte Artikel, der jedem Vereinsſtaate
das Recht zu einſeitigen Retorſionen vorbehielt; Kurheſſen hatte dieſe Be-
ſtimmung gefordert, und der Kurfürſt verſtand unter Retorſionen jede ge-
häſſige Gewaltthat wider die Nachbarn. Die einzige weſentliche Wohlthat,
welche der Verein dem Handel brachte, war die Erleichterung des Tran-
ſits, und ſie ward erkauft durch ſchwere Schädigung der heimiſchen, vor-
nehmlich der erzgebirgiſchen Induſtrie. Im Uebrigen dauerten alle be-
ſtehenden Acciſen und Zölle fort; nur Waarenverbote zwiſchen den Ver-
einsſtaaten waren unſtatthaft, auch ſollten die gewöhnlichen Erzeugniſſe
des Landbaus nicht verzollt werden.
Der Kern des Vertrages blieb die Abſicht, auf ſechs Jahre hinaus
die Erweiterung des preußiſchen Zollſyſtems zu verhindern und inzwiſchen
vielleicht durch Ableitung des Durchfuhrhandels dem Zollweſen Preußens
die Wurzeln abzugraben. Eine von Marſchall und Röntgen verfaßte
naſſauiſche Denkſchrift über das Verhältniß des Vereines zu Preußen
und Baiern*) giebt über dieſe freundnachbarlichen Abſichten ſicheren Auf-
ſchluß. Sie ſchildert beweglich, wie Darmſtadt ſich „an ein nicht aus
ſeiner Autonomie hervorgegangenes Syſtem“ angeſchloſſen habe. Aller-
dings wurden dabei „die äußeren Formen der Selbſtändigkeit gewahrt“,
aber das Großherzogthum „hat ſich während der Dauer des Vertrags
jeder materiellen Autonomie begeben, kann nur noch eine großmüthige Be-
rückſichtigung ſeiner Wünſche in billigen Anſpruch nehmen und iſt deshalb
ſeiner endlichen Mediatiſirung um einen bedeutenden Schritt näher ge-
rückt.“ Solcher Schwäche gegenüber ſind die Verbündeten entſchloſſen,
„keine willenloſe Hingebung zu zeigen, keine nicht aus dem eigenen Be-
dürfniß hervorgegangene Handelsgeſetzgebung“ anzunehmen. „Das Weſent-
[659]Der Zollkrieg.
liche des Caſſeler Vertrags liegt in der Vereinigung ſelbſt, in dem für
ſechs Jahre begründeten non plus ultra. Das Weſentliche liegt ferner
in dem durch dieſe ſechsjährige engere Verbindung begründeten Ablehnungs-
motive von Anſinnungen mancher Art, denen, wenn ſie von übermächtiger
Seite ausgehen, der Einzelne und Schwächere nicht viel mehr als die
Bitte um Schonung entgegenzuſetzen hat.“ Das Weſentliche liegt endlich
in der Ausſicht, zu einer Verbindung mit anderen Staaten „mit Ehren
gelangen zu können“. Baiern und Preußen haben daſſelbe, ja ein größeres
Bedürfniß nach einer Annäherung an die Vereinsſtaaten als dieſe ſelbſt;
daher muß der Verein die Verbindungsſtraßen zwiſchen Baiern und Preu-
ßen feſt in der Hand halten, ihre freie Benutzung nur kraft gemeinſamen
Beſchluſſes bewilligen. So wird er eine geſetzliche Ordnung mit verhält-
nißmäßig gleichen Rechten für ganz Deutſchland begründen.
Die Denkſchrift ſchließt mit der pathetiſchen Frage: „Kann man denn
aus irgend einem Grunde auch nur vermuthen, daß Preußen die fieberhaften
Träume, in welchen eine übermüthige Partei das ganze nördliche Deutſch-
land nur als eine mit Unrecht noch länger vorenthaltene Beute des preu-
ßiſchen Adlers erſcheinen laſſen möchte, irgend theilen oder begünſtigen
werde?“ Naiver ließ ſich die Seelenangſt der Kleinen nicht ausſprechen.
Nicht irgend ein poſitiver Gedanke, ſondern allein die Furcht vor Preußens
und Baierns Uebermacht, der ohnmächtige Wunſch ein tertium aliquid
zu bilden, wie der alte Gagern ſagte, hatte den mitteldeutſchen Verein
geſchaffen. Aber je rathloſer man ſich fühlte, um ſo lauter ward gelärmt;
„es war ein Gegacker, ſchreibt du Thil, als ſei ein großes Werk vollendet
worden.“ Zahlloſe Orden belohnten alle Theilnehmer der Caſſeler Be-
rathung, bis zum Kanzliſten herab.
Selbſt die einzige Waffe, die man gegen Preußen ſchwingen konnte,
erwies ſich als unwirkſam; den preußiſchen Durchfuhrhandel zu lähmen
war unmöglich, ſo lange die Handelsſtraßen, welche das preußiſche Gebiet
umgehen ſollten, noch nicht gebaut waren. Mannichfache Entwürfe wur-
den zu Caſſel beſprochen; man träumte von neuen Handelswegen dicht
neben Darmſtadts Grenzen, von einem langen Straßenzuge aus Sachſen
über Altenburg und Gotha nach Kurheſſen, der den Verkehr hinwegleiten
ſollte von der großen preußiſchen Chauſſee über Köſen und Eckartsberge.
Aber wer ſollte die Straße bauen? Die verarmten kleinen erneſtiniſchen
Staaten beſaßen nicht die Mittel, die größeren Bundesgenoſſen wollten
kein Geld vorſchießen. Zudem ſtieß man überall auf preußiſches Gebiet;
wie ſollte die Erfurter Gegend umgangen werden, wo Preußen bereits
eine gute Chauſſee gebaut hatte? Unabläſſig arbeitete die Diplomatie der
Bundesgenoſſen, um Baiern und Württemberg von Preußen fern zu halten;
der hannoverſche Geſandte Stralenheim in Stuttgart ward nicht müde
den König Wilhelm vor Preußens Fallſtricken zu warnen. Beharrlich
wiederholte der Dresdner Hof, der die Führung des Vereins behielt, er
42*
[660]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
ſei bereit Anträge und Vorſchläge zur Ausbildung des Bundes entgegen-
zunehmen. Niemand wußte einen möglichen Vorſchlag. Schon vor der
Caſſeler Zuſammenkunft geſtand Lindenau einem Frankfurter Amtsgenoſſen:
„die Mehrzahl der Theilnehmer betrachtet den Verein als ein Ruhekiſſen,
ſie iſt froh, daß Alles beim Alten bleibt.“ Nun klagten die Thüringer über
Sachſens hegemoniſchen Ehrgeiz, Frankfurt über die erdrückenden kur-
heſſiſchen Mauthen. Der Kurfürſt, um ſeinen Holzmagazinen höhere Preiſe
zu ſchaffen, verbot den altgewohnten Holzhandel, der aus den hannoverſchen
Waldgebirgen nach Heſſen hinübergeführt ward. Die Unmöglichkeit, mit
einem ſolchen Fürſten freundnachbarlich auszukommen, lag vor Augen.
Faſt ein Jahr währten die Verhandlungen zwiſchen den beiden heſſiſchen
Häuſern wegen der Erleichterung einiger Enclaven; da erklärte der Kur-
fürſt: die gegenſeitige Verpflichtung, die Durchfuhrzölle auf gewiſſen Stra-
ßen nicht zu erhöhen, ſolle allein für Darmſtadt, nicht für Kurheſſen gelten!
Seine Weiſungen an die Unterhändler fand Maltzan „ausgezeichnet durch
naive Unwiſſenheit und despotiſchen Ton, der Feder eines Rabener würdig.“
Immer ſchärfer trat der tiefe Gegenſatz der handelspolitiſchen An-
ſchauungen innerhalb des Vereins hervor. Die Kaufherren von Frank-
furt und Bremen forderten unbeſchränkten Freihandel, Hannover die Be-
günſtigung der engliſchen Waaren. Andere Staaten träumten von neuen
Zolllinien; wieder andere hofften die Milderung des preußiſchen Zollſyſtems
und dann den Eintritt in dies Syſtem zu erzwingen. Kein einziger Kopf
an allen dieſen kleinen Höfen, der einen klaren Gedanken mit Ausdauer
verfolgte; Karl Auguſt von Weimar war im Juni 1828 geſtorben. Bald
ſonderten ſich die Küſtenlande und die Binnenſtaaten in zwei Gruppen.
Thüringen und Sachſen ſchloſſen einen Separatvertrag, desgleichen Han-
nover und Oldenburg. Sie verſprachen ihre gegenſeitigen Unterthanen
im Handelsverkehre auf gleichem Fuße zu behandeln u. ſ. w. — gering-
fügige Erleichterungen, die in Preußen gar nicht nöthig waren, da das
freiere preußiſche Zollgeſetz zwiſchen In- und Ausländern nicht unterſchied.
Die einfache in Berlin längſt feſtſtehende Erkenntniß, daß nur die Beſei-
tigung der Binnenmauthen dem deutſchen Handel aufhelfen könne, war
dieſen Cabinetten noch nicht aufgegangen. Die gedankenloſe Trägheit der
öſterreichiſchen Staatsmänner fühlte ſich befriedigt von dem Erfolge des
Augenblicks. Dem preußiſchen Zollſyſteme war ein Riegel vorgeſchoben,
der einige Jahre halten mochte; eine poſitive Ausbildung des Handels-
vereins wünſchte man in Wien nicht, da jeder Bund im Bunde gefährlich
ſchien. Selbſtgefällig ſagte Münch-Bellinghauſen zu Blittersdorff: „wie
klug hat Oeſterreich gehandelt, die Colliſionen zu vermeiden, denen Preußen
nicht entgehen wird!“ Der weiterblickende Badener aber ſchrieb: Ich war
erſtaunt über ſolche Verblendung. Als ob ein Stillſtand im Völkerleben
möglich ſei! Als ob der preußiſch-heſſiſche Verein ſich jemals wieder auf-
löſen würde! Oeſterreich allein hat all dies Unheil verſchuldet, hat nichts
[661]Preußen nimmt den Kampf auf.
gethan, um den Art. 19 der Bundesakte auszuführen und uns alſo den
Preußen in die Hände geliefert.*)
Nunmehr nahm Preußen den Handſchuh auf. Der Berliner Hof
hatte den erſten Verhandlungen der mitteldeutſchen Staaten mit der ge-
wohnten ruhigen Zurückhaltung zugeſehen. Ein ſächſiſch-thüringiſcher Ver-
ein war unſchädlich; erſt durch Hannovers Zutritt gewann der Verein
eine gefährliche Ausdehnung. Man wollte in Berlin nicht glauben, daß
dies nahe befreundete Cabinet, dem Preußen ſoeben jene neuen Straßenzüge
und Handelserleichterungen angeboten hatte, einem gegen Preußen gerich-
teten Bunde ſich anſchließen werde. Da trat Hannover zu den Verbün-
deten über, während Bernſtorff noch eine freundliche Antwort auf ſein
Anerbieten erwartete. Sofort verſchwand jeder Zweifel über den Cha-
rakter des Vereins. Motz in ſeiner feurig kühnen Weiſe forderte ſogleich,
daß man die Gegner als Gegner behandle, und erklärte: „Sollte dieſer
Verein zu Stande kommen, ſo iſt Preußen in der Lage, ſein Zollſyſtem
für abgeſchloſſen zu halten, und keineswegs in der Lage, dieſen neutralen
Verein ſeiner Abſicht gemäß unter imponirenden Bedingungen aufzu-
nehmen.“**)
Obgleich bisher nur dürftige Nachrichten über die Pläne des Vereins
eingelaufen waren, ſo errieth der Finanzminiſter doch auf den erſten Blick,
daß die Zerſtörung des preußiſchen Durchfuhrhandels in der Abſicht der
Verbündeten liege. Deshalb, fuhr er fort, muß der Tranſit fortan mehr
als bisher im Lande gehalten, der Straßenbau rüſtig gefördert, nament-
lich die Chauſſirung der wichtigen Straße von Magdeburg nach Zeitz
raſch vollendet werden. Die nach Hannover gerichteten Anerbietungen
ſind als nicht geſchehen zu betrachten. Noch entſchiedener ſpricht er in
einem Schreiben an Bernſtorff „Es iſt gewiß ein bemerkenswerthes Zeichen
der Zeit, daß in der Mitte und vorzugsweiſe im Norden Deutſchlands,
im Schooße des Deutſchen Bundes und dennoch unter der Fahne Oeſter-
reichs, für den oſtenſibeln Zweck einer angeblichen Vervollkommnung der
Verhältniſſe dieſes Bundes eine Coalition ſich bildet, welche Preußen von
ihren Plänen und Berathungen ausſchließt und auf alle Weiſe zu er-
kennen giebt, nicht nur, daß ſie eine Ausführung und Erweiterung all-
gemeiner Bundesmaximen auch ohne Preußens Theilnahme für möglich
hält, ſondern auch, daß Preußen eben als ſtörendes Princip jener Aus-
führung und Erweiterung zu betrachten, und deshalb die Aufſtellung einer
förmlichen Oppoſitionsmaſſe gegen daſſelbe anräthlich ſei.“ Darum dürfen
[662]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
wir den Verein nicht ignoriren; wir müſſen unſer gerechtes Befremden
ausſprechen und den Entſchluß „jeder uns auf irgend eine Art compro-
mittirenden weiteren Entwicklung dieſes ſonderbaren Syſtems auf ange-
meſſene Weiſe entgegenzutreten.“*)
Ueber Oeſterreichs Abſichten war der entſchloſſene Mann längſt im
Klaren. Er wußte, daß die k. k. Verpflegungsbeamten in Mainz, um den
preußiſch-heſſiſchen Verein zu ſchädigen, die vertragsmäßige Steuerfreiheit
der öſterreichiſchen Garniſon gröblich mißbrauchten, für Tabak, Zucker, Bier
maſſenhaft Steuerfreiſcheine ausgaben, mehr als ganz Rheinheſſen ver-
zehren konnte.**) Er forderte, der Geſandte in Wien ſolle rund heraus
erklären: wir laſſen uns nicht täuſchen durch das Blendwerk, das mit
dem Art. 19 getrieben wird, wir laſſen uns weder imponiren, noch uns
mißbrauchen. Am 8. November ſchrieb er dem Miniſter des Auswärtigen
gradezu: „Ob und inwieweit überhaupt auf wahre freundſchaftliche Ver-
hältniſſe von Oeſterreich gegen uns zu rechnen ſei, vermag ich nicht zu
beurtheilen. So viel ſcheint mir aber ſicher zu ſein, daß Oeſterreich dem
übereilt organiſirten Deutſchen Bunde den Charakter des ehemaligen deut-
ſchen Fürſtenbundes beizulegen und darin die Rolle Friedrich’s des Großen
zu übernehmen denkt.“ Oeſterreichs Haltung gegen uns in dem Köthener
Zollſtreit war entſchieden feindſelig, ohne Oeſterreichs Beiſtand wäre der
mitteldeutſche Verein nie zu Stande gekommen.***)
Ein Blick auf dieſe Aktenſtücke genügt, um das Räthſel zu löſen,
warum das Berliner Cabinet über die geheime Geſchichte ſeiner Handels-
politik beharrlich geſchwiegen, auch die windigſten Prahlereien der zahl-
reichen geiſtigen und leiblichen Väter des Zollvereins gelaſſen ertragen hat.
Das Bündniß der Oſtmächte war nach wie vor der leitende Gedanke der
auswärtigen Politik des Königs. Brach man mit Oeſterreich, ſo wurde
der Deutſche Bund unhaltbar und auch der werdende Zollverein ſelber in
Frage geſtellt. Für Preußens Diplomatie ergab ſich mithin die Aufgabe,
durch ruhige feſte Haltung den Wiener Hof dahin zu bringen, daß er der
preußiſchen Handelspolitik nicht gradezu widerſtrebte. Preußen räumte der
Hofburg die Führerſtelle ein in dem Schattenſpiele des Bundestags und
verlangte für ſich die Leitung der wirklichen Geſchäfte deutſcher Staats-
kunft. Dies blieb der einzig mögliche Weg nationaler Politik, ſo lange
man weder den Willen noch die Macht beſaß, die kriegeriſche Action der
fridericianiſchen Tage zu erneuern. Den deutſchen Dualismus zu beſei-
tigen, kam dem Könige nicht zu Sinn; die Abſicht war nur, dem preu-
ßiſchen Staate im Bereiche der deutſchen Politik ein Gebiet ſelbſtändigen,
[663]Motz gegen den mitteldeutſchen Handelsverein.
ungeſtörten Wirkens zu erobern. Ein ſolches Syſtem ſetzte behutſame
Vorſicht und unverbrüchliche Verſchwiegenheit voraus; es fiel dahin, ſo-
bald die Welt erfuhr, wie planmäßig Preußens Handelspolitik arbeitete
und wie deutlich die beſten Köpfe des Cabinets den Gegenſatz der Inter-
eſſen erkannten, der die beiden großen Bundesmächte trennte.
Das Auswärtige Amt ging nicht ſofort auf die kampfluſtige Geſin-
nung des Finanzminiſters ein. Der König verlangte ruhige, ſorgfältige
Prüfung, damit nicht durch vorſchnelles Urtheil deutſchen Bundesſtaaten
Unrecht geſchehe. Sobald nähere Nachrichten einliefen, ſtimmte Eichhorn
der Anſicht Motz’s bei und erließ eine Inſtruction an ſämmtliche Ge-
ſandten in Deutſchland, welche ausführlich darſtellte, wie unberechtigt und
hoffnungslos das Unternehmen der Mitteldeutſchen ſei: die Verbündeten
mögen ſich die Frage vorlegen, was ein Verein von ſechs Millionen Ein-
wohnern, der faſt nur Binnenländer umfaßt, bei einem Conflicte mit uns
gewinnen dürfte, „ob der innere Verkehr nicht ertödet ſtatt belebt, und
der Handel mit dem Auslande nicht beſchränkt ſtatt ausgebreitet werden
würde.“ Außerdem erhielt die Wiener Geſandtſchaft die Weiſung ſich zu be-
ſchweren über die feindſelige Haltung der öſterreichiſchen Diplomaten und
dem Staatskanzler die auf Metternich’s Demagogenfurcht berechnete Frage
ans Herz zu legen: „Sind es nicht hauptſächlich die Abſonderungen und
Trennungen, welche im Handel und Verkehr ſtattfinden, wodurch eine
Stimmung des Mißbehagens, der Unzufriedenheit und der Sehnſucht nach
einer Veränderung unterhalten wird?“ Der Geſandte in London ward
befehligt entſchieden auszuſprechen, daß an Verhandlungen mit Hannover
vorerſt nicht mehr zu denken ſei: „wir müſſen offen geſtehen, daß unſer
Vertrauen von hannoverſcher Seite ſchlecht erwidert worden iſt.“ Jordan
in Dresden ſollte ſein Befremden über die mißtrauiſche Heimlichkeit der
ſächſiſchen Politik kundgeben; Grote in Hamburg dem Senate „die An-
erkennung ſeines weiſen und angemeſſenen Betragens ausſprechen und
dabei erklären, man hoffe, daß er bei demſelben auch verharren werde.“*)
Zugleich erging an die Regierungen der Grenzbezirke der Befehl, die
handelspolitiſchen Maßregeln der Verbündeten, die ſich noch immer in
räthſelhaftes Dunkel hüllten, ſcharf zu beobachten. Hier zeigte ſich die
ganze Unnatur des Mitteldeutſchen Vereins. Das Vereinsgebiet lag im
Bereiche der preußiſchen Macht, war überall von eingeſprengten preußiſchen
Gebietsſtücken unterbrochen, durch tauſend Bande des nachbarlichen Ver-
kehrs an Preußen gekettet. Eine Schaar von preußiſchen Poſtbeamten,
Floßinſpektoren, Schifffahrtsaufſehern lebte in Feindesland, gab ſichere
Nachricht über Alles, was auf den Flüſſen und Straßen der Verbündeten
vorging. Die Staatszeitung und Buchholz’s Neue Monatsſchrift begannen
[664]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
den Federkrieg gegen den Handelsverein. „Eine Souveränität, die ſich
durch bloße Oppoſition geltend machen will — rief Buchholz warnend —
ſteht im Widerſpruch mit ſich ſelbſt und kann nur Niederlagen erfahren.“
Auch durch Retorſionen wollte Motz den Gegnern zu Leibe gehen; er
dachte den ſächſiſchen Fabrikanten den Meßrabatt zu entziehen und in
Magdeburg eine Meſſe zu errichten. Hier aber widerſprach der König;
er wollte ſein Wort halten, auch jetzt noch jede Feindſeligkeit gegen deutſche
Bundesſtaaten unterlaſſen, und ließ den kampfluſtigen Finanzminiſter an
die Rückſichten erinnern, die man dem Deutſchen Bunde ſchulde.*)
Die offene Sprache der preußiſchen Diplomatie erweckte allerdings
Angſt und Reue an einigen der kleinſten Höfe. Der Fürſt von Sonders-
hauſen, deſſen Unterherrſchaft unter dem Schutze des preußiſchen Zoll-
ſyſtems aufblühte, war mit ſeiner Oberherrſchaft dem Handelsvereine bei-
getreten und ließ durch ſein Geheimes Conſilium das Berliner Cabinet
bitten, „dieſe abgedrungene Maßregel nicht übel zu deuten.“ Darauf er-
widerte das Auswärtige Amt: man hoffe, „daß ein pp. Conſilium keinen
Augenblick darüber im Zweifel ſein werde, was in der Wahl zwiſchen der
Feſthaltung an dem bisher beſtehenden Verhältniß mit Preußen und zwi-
ſchen der Theilnahme an einer neuen Verbindung zu thun oder zu laſſen
ſei.“ Nun bat der Fürſt in einem eigenhändigen Briefe den König um
Verzeihung und flehte, ihn „mit allergnädigſter Nachſicht zu beurtheilen
und der unſchätzbaren hohen Gnade nicht für unwerth zu halten.“**) Auch
der Herzog von Gotha ſchrieb an Wittgenſtein (16. Decbr.): er erfahre
„zu ſeiner größten Verwunderung“, daß Preußen mit dem Handelsver-
eine nicht einverſtanden ſei; nimmermehr ſei ihm in den Sinn gekommen,
den preußiſchen Hof, deſſen Gunſt ſo werthvoll, zu verletzen.
Gegen die größeren Staaten des Vereins war mit ſo ſanften Mitteln
nichts auszurichten. Motz behielt doch Recht, da er an Bernſtorff ſchrieb:
„Ich bin der Meinung, daß andere Rückſichten, welche nicht durch die be-
ſtehenden Verträge geboten werden, gegen die betreffenden, uns in finan-
zieller Hinſicht nur feindlich gegenüberſtehenden Bundesſtaaten wohl aus
den Augen geſetzt werden können, indem der preußiſche Staat die Macht
und die Kraft hat, ſeinen hohen und höchſten Intereſſen die der Bundes-
ſtaaten unterzuordnen, und nach den ſeit dreizehn Jahren gemachten Er-
fahrungen die Liebe für uns in den Bundesſtaaten erſt dann zu gewinnen
ſein dürfte, wenn ſie mit Furcht und Beachtung der beſtehenden Verhält-
niſſe vereinigt bleibt.“***) Der feurige Mann war entſchloſſen, den Han-
delsverein zu ſprengen: gegen offenbare Feindſeligkeit reiche die Politik des
Zuwartens nicht mehr aus. „Wir werden es noch dahin bringen, rief
[665]Verſöhnung zwiſchen Preußen und Baiern.
er zuverſichtlich, daß einzelne Mitglieder des mitteldeutſchen Vereins drin-
gend um Aufnahme in den preußiſchen Verein bitten werden!“ Er hatte
noch im Januar bezweifelt, ob eine Verbindung mit dem ſo weit abge-
legenen bairiſch-württembergiſchen Vereine räthlich ſei; jetzt faßte er den
glücklichen Gedanken, über den Handelsverein hinweg den ſüddeutſchen Kö-
nigskronen die Hand zu reichen und dergeſtalt durch einen Bund des
Nordens mit dem Süden den mitteldeutſchen Sonderbund zu zerſtören. —
Zum Heil für Deutſchland erwachten um dieſelbe Zeit ähnliche Wünſche
in München und Stuttgart. Wie laut auch König Ludwig im erſten
Zorne wider Preußens und Darmſtadts Verrätherei geſcholten hatte, auf
die Dauer konnte er ſich doch nicht verbergen, daß ſeine eigenen kühnen
Pläne geſcheitert waren. Nachdem Kurheſſen zu den Mitteldeutſchen über-
getreten, war an eine Vergrößerung des ſüddeutſchen Vereins nicht mehr
zu denken; der rein deutſche Bund unter Wittelsbachs Fahnen blieb ein
Traum. Ebenſo wenig konnte der Verein in ſeiner vereinſamten Stel-
lung verharren. Auch trat, wie Metternich vorhergeſehen, die alte Ab-
neigung zwiſchen den beiden Königen bald wieder hervor. Die Hoffnung
auf einen Handelsverein mit der Schweiz ward zu nichte an der Zwie-
tracht der Eidgenoſſen. So blieb den oberdeutſchen Königen nur die Wahl
entweder mit Preußen oder mit dem ſächſiſch-engliſchen Vereine eine Ver-
bindung zu ſuchen. Hinter Sachſen und Hannover aber ſtand Oeſter-
reich; dies allein genügte um den König von Württemberg gegen die mittel-
deutſchen Verbündeten einzunehmen. Sein neuer Finanzminiſter, Frhr.
Karl Varnbüler, derſelbe, der einſt in den Vorderreihen der Altrechtler
geſtanden, bewährte ſich als ausgezeichneter Geſchäftsmann und rieth drin-
gend zur Verſtändigung mit Preußen. Welchen nennenswerthen han-
delspolitiſchen Vortheil, außer der Herabſetzung der Durchfuhrzölle, hatten
die Mitteldeutſchen zu bieten? Wie ſollte der patriotiſche König von Baiern
ſich einlaſſen in jene unſauberen Zettelungen mit Frankreich, England,
Holland, welche der Mitteldeutſche Verein mit unbeſchämter Stirn betrieb?
In der erſten Aufwallung des Zornes hatte König Ludwig wohl einen
Schritt nach Frankreich hinüber gethan; ein Bündniß mit dem Auslande
einzugehen, den deutſchen Verkehr dem engliſchen Handelsintereſſe zu
unterwerfen lag dem bei all ſeiner Wunderlichkeit grunddeutſchen Mon-
archen ebenſo fern wie ſeinem vertrauten Miniſter Armansperg.
Sobald man in München kaltblütig überlegte, erſchien doch ſelbſt
Preußens Verhalten in dem Sponheimer Handel erklärlich. Die Ber-
liner Regierung war ja durch europäiſche Verträge verpflichtet Badens Recht
zu ſchützen; ſie verfuhr, wie König Ludwig ſelbſt zugeben mußte, mit rück-
haltloſer Offenheit; ihr Geſandter ſuchte durch verſöhnliche Sprache den
erzürnten Fürſten zu beſchwichtigen. Preußen ſchlug jetzt vor, Baiern und
Baden ſollten beiderſeits auf ihr Sponheimer Erbrecht verzichten, damit
der leidige Handel für immer aus der Welt geſchafft würde. König Lud-
[666]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
wig ſträubte ſich lange, doch fing er an zu begreifen, daß dies der ein-
zige Weg ſei, um ſich mit Anſtand aus dem verlorenen Spiele zurückzu-
ziehen. Gegen den Spätſommer 1828 begannen der Miniſter und ſein
königlicher Freund bereits die Frage zu erwägen, ob nicht eine Annähe-
rung an den preußiſch-heſſiſchen Verein unvermeidlich ſei. Daß die öffent-
liche Meinung in Baiern dieſer Annäherung entſchieden widerſtrebte, war
für die Freunde eher ein Stachel als ein Hemmniß. Voll hochfliegender
Begeiſterung, empfänglich für alles Außerordentliche, liebten Beide die
Welt durch unerwartete Entſchlüſſe zu überraſchen. Um ſo ſchwerer fiel
ihnen, die Demüthigung ihres Ehrgeizes, den Schiffbruch ihrer rein-deut-
ſchen Pläne zu verwinden. Aber ſie vermochten es über ſich, das Opfer
zu bringen. Unabweisbar drängten dieſe trocknen Geſchäftsverhandlungen
den näher Betheiligten die Einſicht [auf], daß die Deutſchen doch zu ein-
ander gehörten, nur durch Mißtrauen, durch Unkenntniß und durch die
Selbſtſucht, die immer der ſchlimmſte Feind des eigenen Vortheils iſt, ein-
ander verfeindet wurden.
Ganz unerwartet fand ſich ein Helfer, der die beginnende Umſtim-
mung am Münchener Hofe zu fördern und für Deutſchlands große Sache
zu verwerthen verſtand. Der Buchhändler Freiherr v. Cotta war als
großer Geſchäftsmann mit Perſonen und Zuſtänden des deutſchen Nordens
näher vertraut als das ſchwäbiſch-bairiſche Beamtenthum, und blickte,
wie er ſchon in dem württembergiſchen Verfaſſungskampfe bewieſen hatte,
auch in der Handelsſache über die landläufigen ſüddeutſchen Vorurtheile
weit hinaus. Unternehmend und beweglich, befreundet mit Nebenius
und anderen namhaften Volkswirthen in allen Theilen Deutſchlands,
erkannte er längſt, daß der ſüddeutſche Verkehr ohne Preußens freund-
nachbarlichen Beiſtand niemals geſunden könne, und obgleich ihm viel
daran lag, die Gunſt Metternich’s für ſeine Allgemeine Zeitung nicht zu
verlieren, ſo faßte er doch den tapferen Entſchluß als Vermittler auf-
zutreten. Er beſprach ſich insgeheim mit Armansperg, reiſte dann im
September 1828 nach Berlin zu dem großen Naturforſchertage, der alſo
auch für unſere Politik bedeutſam werden ſollte. Cotta wurde durch Hum-
boldt bei Witzleben und Motz eingeführt, ſprach dort den Gedanken aus,
ob nicht eine Verſtändigung zwiſchen Baiern und Preußen möglich ſei,
und fand den günſtigſten Empfang. Eine überraſchende Verwandtſchaft
der Anſchauungen ſtellte ſich heraus. Motz bekannte, daß er ſich längſt
mit ähnlichen Abſichten getragen habe; im Grunde ſeien es ja doch nur
Mißverſtändniſſe, welche bisher zwiſchen den beiden Staaten geſtanden.
Cotta kehrte heim und ſchrieb am 20. Oktober aus München: er habe des
Miniſters „gnädige Eröffnungen“ den Monarchen in München und Stutt-
gart mitgetheilt; Beide ſeien von der Nothwendigkeit des Planes über-
zeugt und hätten bereits die Einladung, dem Mitteldeutſchen Vereine bei-
zutreten, zurückgewieſen. Nunmehr zog Motz das Auswärtige Amt in
[667]Cotta in Berlin.
das Geheimniß und erklärte: „Jetzt iſt es wünſchenswerth, einen Handels-
verein mit Baiern, Württemberg und Baden zu bilden:“ der Süden muß
für eigene Rechnung unſere Zollgrundſätze annehmen, namentlich unſere
höheren Tarifſätze auf ausländiſche Waaren, alſo auch auf die Waaren
des Mitteldeutſchen Vereins. So lange dieſer Verein die vollſtändige Ver-
ſchmelzung mit dem Süden hindert, müſſen Preußen-Heſſen und Baiern-
Württemberg mindeſtens ihre eigenen Producte und Fabrikate gegenſeitig
vom Zolle befreien.*)
Im November eilte der Unterhändler wieder nach Berlin, diesmal mit
einer förmlichen Beglaubigung verſehen, und wurde von dem Könige aufs
freundlichſte aufgenommen. Die Berliner erzählten ſich mit unterthänigem
Erſtaunen, der einfache Buchhändler ſei zur Tafel gezogen worden. Motz
gab ihm nach längeren Verhandlungen die Punctation des Vertrags mit
auf den Weg. Triumphirend meldete Cotta am 17. December aus Mün-
chen: „Alles was ich mitbrachte war hier höchſt erfreulich und willkommen,“
bei König Ludwig wie bei dem Miniſter Armansperg. „Beide ſind von
den großartigen Ideen ergriffen, die einer Verbindung Preußens mit
Baiern und Württemberg nach den von Hochdenſelben entwickelten Grund-
ſätzen als Leitſtern vorgehen und zur Richtſchnur dienen. Ich ſehe ſchon
im Geiſte Ihre herrliche Idee in kurzer Friſt realiſirt.“ Und am 20. Dec.
nochmals: Wird auch Baden gewonnen, „ſo wäre der Grundſtein im
Süden Deutſchlands zu dem Gebäude gelegt, das Ihr verehrter König
und Sie zum Wohle und Gedeihen Deutſchlands im Auge haben.“
Motz erwiderte: er hoffe „ein Werk zu begründen, an welchem nicht
nur wir und unſere Zeitgenoſſen, ſondern auch unſere Nachkommen Freude
haben werden.“ Der Mitteldeutſche Verein müſſe offen bekämpft werden,
„denn was wir gemeinſchaftlich ſuchen, ein ſo viel möglich allgemeiner
Markt in Deutſchland, wird für Baiern, Württemberg und Preußen durch
die Grundſätze dieſes neutralen Vereins nicht nur nicht befördert, ſon-
dern viele dieſem Verlangen entgegenſtehende Hinderniſſe nur noch mehr
ſtabilirt.“**) Gleichzeitig ſchrieb er an den Kronprinzen von Preußen, der
ſich gerade am Münchener Hofe aufhielt, enthüllte ihm das Geheimniß
der Miſſion Cotta’s, bat dringend um Unterſtützung: der Vertrag ſei poli-
tiſch und volkswirthſchaftlich hochwichtig, wenngleich die Zolleinnahmen wohl
zunächſt einige Einbußen erleiden würden. Der Prinz, der dem geiſt-
reichen Miniſter längſt wohl wollte, nahm ſich denn auch der Verhand-
lungen eifrig an.
Am 9. Januar 1829 konnte Cotta aus Stuttgart berichten, daß auch
König Wilhelm die Hauptgrundſätze der preußiſchen Punctation gebilligt
habe, und gegen Ende des Monats erſchien der Unermüdliche zum dritten
[668]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
male in Berlin. Der preußiſche Miniſter verlor zuweilen faſt die Geduld
bei allen den ängſtlichen Vorbehalten, welche der ſüddeutſche Unterhändler
ſtellen mußte, und klagte bitterlich über dieſen „Hökerkram“.*) Gegen
die vollſtändige Zollbefreiung der eigenen Produkte erhob Baiern Bedenken;
man fürchtete in München die überlegene rheiniſche Induſtrie. Auch mit
ſeinem Vorſchlage, daß die bairiſche Pfalz ſofort dem preußiſchen Zollver-
eine beitreten ſolle, drang Motz nicht durch; der Stolz der bairiſchen Krone
widerſtrebte, auch der Münchener Landtag hätte der unerläßlichen Abän-
derung des pfälziſchen Steuerweſens niemals zugeſtimmt. Noch weniger
war auf Badens Beitritt zu hoffen. Der kleine Staat wollte die gün-
ſtige Gelegenheit benutzen, um ſeinen Länderbeſtand für alle Zukunft ſicher-
zuſtellen; er forderte, daß vor den Zollverhandlungen der Sponheimer
Streit beigelegt werde. Da König Ludwig darauf nicht einging, ſo er-
kannte das Berliner Cabinet im Laufe des Winters ſelbſt, daß man nicht
wohl thue die Verhandlungen noch mehr zu verwickeln, und ließ Baden
vorläufig aus dem Spiele.
Am 6. März 1829 begannen endlich die amtlichen Verhandlungen in
Berlin. Die ſüddeutſchen Kronen waren durch ihre Geſandten Luxburg
und Blomberg vertreten, den Ausſchlag gab Cotta, der von beiden Königen
Vollmacht hatte. Für Preußen erſchienen Eichhorn und Schönberg, dazu
Motz, Maaſſen und Finanzrath Windhorn. Auch Hofmann kam aus
Darmſtadt herüber. Die erſten Kräfte der Regierung waren aufgeboten;
es galt die Brücke über den Main zu ſchlagen. Am 27. Mai 1829 wurde
der Vertrag unterzeichnet. Preußen-Heſſen und Baiern-Württemberg ver-
ſprachen einander bis zum Jahre 1841 Zollfreiheit für alle inländiſchen
Erzeugniſſe der Natur, des Gewerbfleißes und der Kunſt; nur für eine
Reihe wichtiger Fabrikwaaren ſollte, auf Baierns Andringen, zunächſt bloß
eine Zollerleichterung um 25 Proc. eintreten, bis allmählich die völlige
Befreiung erfolgen könne. Beide Theile verpflichteten ſich, ihre Zollſyſteme
mehr und mehr in Uebereinſtimmung zu bringen; alljährlich ſollten Be-
vollmächtigte zuſammentreten „zur Befeſtigung und Erweiterung dieſes
Vertrags“. Auch ein Zollcartell wurde für die Zukunft verabredet. Der
Vertrag trug in Allem den Charakter eines Proviſoriums; er begründete
die engſte Form handelspolitiſcher Vereinigung, die ſich erreichen ließ, ſo
lange die Länder der Verbündeten nicht in feſtem geographiſchem Zuſam-
menhange ſtanden. Alle Betheiligten fühlten, daß ſie erſt im Beginne
einer Zeit gemeinſamer handelspolitiſcher Action ſtanden; ſie verpflichteten
ſich zu Protocoll, Handelsverträge mit ſolchen Ländern, die an mehrere
Vereinsſtaaten zugleich angrenzten, alſo vornehmlich mit Baden, nur im
gemeinſamen Einverſtändniß abzuſchließen.
Unbeirrt durch die Peinlichkeit der Einzelverhandlungen hielt Motz
[669]Der preußiſch-bairiſche Handelsvertrag.
ſeinen Blick feſt auf die großen Verhältniſſe des Vaterlandes gerichtet; er
wußte, daß er ſeinem Staate die Bahn zu einer ſtolzen Zukunft geöffnet
hatte. Im Juni ſprach er ſich gegen den König über die politiſche Be-
deutung der geſchloſſenen Verträge offen aus.*) Seine Denkſchrift wirft
zuerſt einen Rückblick auf die vollendete Unfähigkeit des Bundestags, der
niemals in förmliche Berathung über die Handelseinheit getreten ſei; ſelbſt
während der Noth von 1817 habe man in Frankfurt nur genau ſo viel
gethan, „um den föderativen Nachbar, im buchſtäblichen Sinne des Worts,
nicht verhungern zu laſſen. Wie konnte dies auch anders ſein, da dem
Deutſchen Bunde ein großer Staat an der Spitze ſteht, der das ihm eigen-
thümliche, ſeit fünfzig Jahren ſchon beſtehende, ſeinem privaten Intereſſe
bis daher vermeintlich zuſagende, mit den Intereſſen der übrigen Staaten
des Deutſchen Bundes aber nicht vereinbarliche Zoll- und Prohibitiv-Syſtem
aufzugeben nicht gewillt iſt; da andere Bundesglieder die Handels-Inter-
eſſen ihrer Haupt-Staaten denen ihrer Bundeslande unterzuordnen nicht
gemeint ſind, vielmehr letztere, natur- und ſachgemäß, an die erſteren feſt-
geknüpft haben; und da wieder andere den Gegenſtand mehr nur aus
fiskaliſchem wie aus ſtaatswirthſchaftlichem Geſichtspunkte betrachtet wiſſen
wollen? Der Deutſche Bund gab damit ein Beiſpiel, wie die allgemeine
Staatengeſchichte bis dahin noch keines aufzuweiſen hat;“ es entſtand ein
Handelskrieg Aller gegen Alle, „der weit ſchlimmer war als ein innerer
Krieg der Waffen nur je hätte ſein können.“ Dann erinnert Motz an
die patriotiſchen Beſtrebungen des deutſchen Handelsſtandes, an die per-
ſönlichen Bemühungen der Souveräne von Baiern und Württemberg. Als
gleichzeitig der bairiſch-württembergiſche und der preußiſch-heſſiſche Verein
ſich bildeten, lag die Möglichkeit zweier großen Zollvereine für ganz Deutſch-
land vor. Da erhob ſich unter Oeſterreichs Führung der neutrale Ver-
ein, der den status quo, d. h. das Unerträgliche aufrecht erhalten will;
er zwang uns ſogleich weiter zu gehen und das große Handels-Syſtem
zu begründen.
Dies Syſtem, fährt die Denkſchrift fort, bietet erſtens commercielle
Vortheile. Die Verbindung umſchließt ſchon jetzt 20 Mill. Einwohner,
behauptet alſo den dritten Platz unter den europäiſchen Staaten, da
Oeſterreich kein einiges Machtgebiet bildet; ſie wird auf 25 Mill. ſteigen,
ſobald der Mitteldeutſche Verein wahrnimmt, „daß er ganz und gar einen
eitlen Zweck verfolgt“, und die ſüd- und mitteldeutſchen Staaten nebſt
Mecklenburg uns beitreten; ſie wird auf 27 Mill. ſteigen, wenn auch die
anderen Staaten (ſoweit ſie nicht Nebenlande ſind), alſo Hannover, Braun-
ſchweig, Oldenburg und die Hanſeſtädte eintreten. Der innere Verkehr
[670]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
iſt wichtiger als der auswärtige Handel, jener ſchlägt dreimal, dieſer ein-
mal im Jahre das Capital um. Manche deutſche Staaten erhalten durch
das Handelsſyſtem einen zwanzig- bis zweihundertmal größeren Markt
für ihre Produkte. Dazu kommen zweitens die finanziellen Vortheile. Der
Satz: „je billiger die Abgabe, deſto größer der Ertrag“ wird ſich auch
diesmal bewähren, wenngleich vielleicht die erſte Uebergangszeit einige Aus-
fälle bringen mag. Wichtiger iſt drittens der politiſche Gewinn. „Wenn
es ſtaatswiſſenſchaftliche Wahrheit iſt, daß Zölle nur die Folge politiſcher
Trennung verſchiedener Staaten ſind, ſo muß es auch Wahrheit ſein, daß
Einigung dieſer Staaten zu einem Zoll- und Handels-Verbande zugleich
auch Einigung zu einem und demſelben politiſchen Syſteme mit ſich führt.“
Nun wird in großen Zügen die fridericianiſche Politik den Wittels-
bachern gegenüber geſchildert: wie Friedrich den erſten Nicht-Oeſterreicher,
Karl VII. auf den Kaiſerthron erhoben, dann durch den bairiſchen Erb-
folgekrieg und den Fürſtenbund Baiern dreimal vom Untergange gerettet
habe. Preußen hat bisher von alledem noch keine Frucht geerntet. Baierns
feindſelige Haltung zur Zeit des Rheinbundes und der ansbach-baireuther
Händel erklärt ſich nur aus „der totalen Verwirrung und Verirrung der
Staatenpolitik“ jener revolutionären Tage. Heute aber kann Preußen
kein Mißtrauen mehr einflößen, ſondern muß wünſchen „mit allen den
Staaten, die nur von wahrhaft deutſchem Intereſſe geleitet und Preußen
mit offenem Vertrauen ergeben ſind, nicht aber etwa den Beſitz deutſcher
Provinzen blos als Vehikel für Förderung der Intereſſen ihrer größeren
auswärtigen, Deutſchlands Intereſſen fremden Staatenkörper zu benutzen
ſtreben, in jeder Beziehung, politiſch und commerciell, ſich recht innig und
recht enge zu verbinden.“ Möglich bleibt doch der für jetzt allerdings
„nicht leicht gedenkbare“ Fall, daß entweder ein allgemeiner Krieg aus-
bräche, oder „daß der Deutſche Bund in ſeiner jetzigen Geſtalt ſich einmal
auflöſte und mit Ausſchluß aller heterogenen Theile ſich neu geſtaltete“;
dann würde unſer Handelsſyſtem ungeheuer wichtig werden. Viertens bringt
uns das Handelsſyſtem eine militäriſche Verſtärkung um 92,000 Mann.
Baierns Zutritt entſchied die Kriege von 1805 und 1806 zu Napoleon’s
Gunſten, desgleichen der Rheinbund den Krieg von 1809. Gegen Frank-
reich können wir unſer Rheinland nur decken, wenn wir der bairiſchen
Pfalz ſicher ſind; Oeſterreich aber wird durch den Handelsbund in einem
weiten Bogen umfaßt, kann von Schleſien und Altbaiern her zugleich be-
droht werden. Die Denkſchrift ſchließt: „In dieſer, auf gleichem Inter-
eſſe und natürlicher Grundlage ruhenden und ſich nothwendig in der
Mitte von Deutſchland erweiternden Verbindung wird erſt wieder ein in
Wahrheit verbündetes, von innen und von außen feſtes und freies Deutſch-
land unter dem Schutz und Schirm von Preußen beſtehen. Möge nur
das noch Fehlende weiter ergänzt und das ſchon Erworbene mit umſich-
tiger Sorgfalt noch weiter ausgebildet und feſtgehalten werden!“
[671]Motz’s große Denkſchrift.
So der preußiſche Finanzminiſter, ein Jahr vor der Julirevolution,
zwei Jahre bevor Paul Pfizer den Briefwechſel zweier Deutſchen erſcheinen
ließ! Unter allen Aeußerungen deutſcher Staatsmänner aus jener Zeit
iſt keine, die ſo entſchieden mit der Politik des friedlichen Dualismus
bricht, die ſo rund herausſagt: los von Oeſterreich! Und welche Sicherheit
des Blicks in Allem und Jedem! Der Mann wußte ſchon 1829 bis auf
einen geringfügigen Irrthum ganz genau, in welcher Reihenfolge bis zum
Jahre 1866 die deutſchen Staaten dem Zollvereine beigetreten ſind.
In einem Rundſchreiben an ihre Geſandten ſprach die preußiſche Re-
gierung offen aus: der Vertrag mit Baiern ſtelle eine noch engere Ver-
einigung und die allmähliche Verwirklichung der deutſchen Handelseinheit
in Ansſicht. Noch blieben am bairiſchen Hofe tauſend Bedenken zu über-
winden. König Ludwig, gewöhnt an unbedingte Selbſtherrſchaft, zürnte
heftig, weil ſeine Unterhändler in einigen Punkten ihre Inſtructionen über-
ſchritten hatten; er konnte das alte ſüddeutſche Mißtrauen gegen die preu-
ßiſchen Kniffe nicht überwinden, mäkelte an jedem Worte, fürchtete überall
doppelte Auslegung. Auch der berühmte Streit über das Alternat, der
in jenen Tagen die Mußeſtunden der Bundestagsgeſandten würdig aus-
füllte, wirkte ſtörend. Die königlichen Höfe wollten den großherzoglichen
wohl die Gleichberechtigung beim Vortritt doch nicht bei den Unterſchriften
zugeſtehen; nach vielem Herzeleid behalf man ſich endlich, fertigte nur zwei
Haupturkunden aus, die eine für Preußen-Heſſen, die andere für Baiern-
Württemberg gemeinſam. Dazu die begreifliche Furcht des Münchener
Hofes vor der Kleinmeiſterei ſeines Landtags. Cotta bat inſtändig: „nicht
zu vergeſſen, daß wir ſelbſt Vorurtheilen fröhnen müſſen, um die höheren
großen Zwecke zu erreichen, beſonders den Verein.“ In gleichem Sinne
ſchrieb Armansperg an Motz: „das gewiß ſegensreiche Werk, welches durch
den Handelsvertrag nunmehr in das Leben treten wird, verdankt Deutſch-
land größtentheils der Großartigkeit Ihrer Ideen und der thätigen Sorg-
falt, womit Ew. Excellenz die Unterhandlungen leiteten und jede Einſei-
tigkeit zu entfernen ſtrebten. Wenn dem Geiſte Ew. Excellenz Manches,
wonach unſere Wünſche zielen, kleinlich erſcheinen wird, ſo mögen Sie in
Erwägung ziehen, daß in den Hallen der Stände manch Kleinliches hauſet
und nicht immer durch die Waffe der Vernunft bekämpft und beſiegt wer-
den kann“ — worauf dann im Intereſſe der oberpfälziſchen Hammer-
werke gebeten ward, die groben Eiſenwaaren unter die Ausnahmeartikel
zu ſtellen.*) Im Laufe des Sommers hat Cotta ſelbſt in Brückenau und
Friedrichshafen die letzten Bedenken der beiden ſüddeutſchen Könige be-
ſchwichtigt; ſie ratificirten, überhäuften den gewandten Unterhändler mit
Gunſt. König Wilhelm zeigte ſich ebenſo unbefangen wie ſein Miniſter
Varnbüler; von den alten cäſariſchen Träumen war keine Rede mehr.
[672]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Dann ſchickte Preußen zwei ſeiner beſten Finanzmänner, Sotzmann und
Pochhammer, nach München, um die neuen Zolleinrichtungen einführen zu
helfen. Die bairiſchen Beamten erſtaunten, ſo viel Geduld und Schonung
bei den verrufenen Preußen zu finden; in gemeinſamer ernſthafter Arbeit
trat man einander näher.
Nun der ſchwere Entſchluß gefaßt war, ſegelte König Ludwig ſogleich
mit raſtloſem Ungeſtüm in dem neuen Fahrwaſſer dahin. Er pries in
überſchwänglichen Worten die Redlichkeit, die Mäßigung, die Größe der
Anſichten des Berliner Cabinets, verſicherte dem Bildhauer Rauch, wie
ſtolz er ſei mit dem Staate Friedrich’s Hand in Hand zu gehen, wie
rechtſchaffen und weiſe König Friedrich Wilhelm ſich gehalten habe. Die
öffentliche Meinung im Süden nahm den Vertrag voll Mißtrauens auf;
eine Deputation, die dem Könige den Dank der guten Stadt Nördlingen
ausſprach, blieb eine vereinzelte Erſcheinung. In den höheren Kreiſen des
bairiſchen Beamtenthums fühlte man doch, daß endlich nach langen Irr-
fahrten feſter Ankergrund gefunden ſei. Der Bundestagsgeſandte Lerchen-
feld erhielt ſtrenge Weiſung, ſich der mitteldeutſchen Zettelungen zu ent-
halten, und wirkte fortan zu Frankfurt und Caſſel redlich mit ſeinen preu-
ßiſchen Genoſſen zuſammen. Die freieren Köpfe ahnten von vornherein,
daß dies geſunde naturgemäße Bündniß zwiſchen den beiden größten deut-
ſchen Staaten weiter führen mußte. Schon bei den Berliner Verhand-
lungen hatte Hofmann die Frage aufgeworfen, ob nicht Preußens weſt-
liche Provinzen mit dem Süden ſogleich einen wirklichen Zollverein bilden
ſollten. In dieſer unreifen Form war der Gedanke für Preußen unan-
nehmbar. Sobald man den Vertrag ausführte, zeigte ſich jedoch raſch,
daß man nicht auf halbem Wege ſtehen bleiben konnte. Die bairiſche
Rheinpfalz erhielt bairiſche Mauthen, da man ſich in München nicht hatte
entſchließen können, ſie dem preußiſchen Zollſyſtem einzufügen. Das Er-
gebniß war troſtlos: die Provinz brachte im Jahre 1830 nur 165,000 fl.
an Zöllen auf, während die Grenzbewachung 248,000 fl. verſchlang. Der
Landrath der Pfalz bat und klagte; der Zuſtand konnte nicht dauern.
Schon im Februar 1830 fragte der unermüdliche Cotta bei Hofmann ver-
traulich an, wie man denn bei vollſtändiger Zollgemeinſchaft mit den preu-
ßiſchen Behörden auskomme. Hofmann antwortete mit einem warmen
Lobe für die preußiſchen Beamten, die ſich zwar anfangs ſehr mißtrauiſch
zeigten, nachher aber, ſobald ſie die Zuverläſſigkeit der heſſiſchen Verwal-
tung kennen lernten, ganz umgänglich wurden.*)
Das Ausland und ſeine Geſellen, die Mitteldeutſchen, ſahen mit
wachſendem Schrecken, wie Preußens Handelspolitik binnen Jahresfriſt
einen zweiten großen Erfolg errang. Vergeblich hatte das ſächſiſche Ca-
binet noch während der Berliner Verhandlungen den Münchener Hof
[673]Abfall von Meiningen und Gotha.
für den mitteldeutſchen Bund geworben; vergeblich war der Naſſauer
Röntgen, jener alte vielgeſchäftige Feind Preußens, nach Stuttgart gereiſt,
um dort vorzuſtellen: Motz, der ruchlos ehrgeizige Kraftmenſch, wolle
Preußen durch die Entfeſſelung der induſtriellen Kräfte zur leitenden deut-
ſchen Macht erheben. In Berlin ſelbſt arbeiteten einige Agenten des
mitteldeutſchen Vereins, ſo der Frankfurter Senator Guaita. Oeſterreich
ſendete den Hofrath Eichhof nach München um Baiern durch das Ange-
bot einiger geringfügigen Handelserleichterungen von Preußen hinwegzu-
locken und zugleich den König Ludwig zu erinnern, wie feindſelig Preußen
in der Sponheimer Sache gehandelt habe. Münch in Frankfurt ver-
ſuchte wieder einmal, den Darmſtädter Hof gegen Hofmann, „dies Werk-
zeug Preußens“, einzunehmen. Die Diplomatie Englands, Frankreichs,
Hollands — voran Lord Erskine und Graf Rumigny in München —
ward nicht müde vor Preußen zu warnen. Von allen fremden Mächten
zeigte ſich wieder nur Rußland als ein treuer Freund Preußens; Anſtett
in Frankfurt ſprach offen und nachdrücklich für die Berliner Handelspolitik.
Nach und nach begann doch die vollendete Thatſache ihren Zauber
zu üben. Wie lange ſollte man noch die Klagen der mißhandelten Nation
ertragen? Wie lange noch ſich abquälen an allezeit vergeblichen Sonder-
bünden, während Preußen jede handelspolitiſche Verhandlung regelmäßig
erfolgreich hinausführte? Selbſt Blittersdorff, der raſtloſe Parteigänger
Oeſterreichs, gab nunmehr die Sache Habsburgs faſt verloren. Wenn
Preußen, ſo ſchrieb er, alle deutſchen Staaten unter ſeinem Handelsſyſteme
vereinigt, dann iſt Oeſterreich faktiſch aus dem deutſchen Bunde hinaus-
gedrängt! Der Verkehr wird dadurch nicht centraliſirt, ſondern, bei der
großen Anzahl unſerer kleinen Mittelpunkte, überall gleichmäßig belebt
werden. Die Gefahren für die Souveränität ſind geringer in einem großen
Zollvereine, als wenn man verſucht der Zeit in den Weg zu treten.*) —
Die preußiſch-bairiſchen Verhandlungen blieben ein Schlag ins Waſſer,
ſo lange der Verkehr zwiſchen den beiden Staaten den willkürlichen „Re-
torſionen“ des mitteldeutſchen Vereines unterlag. Die neue Straße von
Weſtphalen durch das darmſtädtiſche Gebiet verband nur die weſtlichen
Provinzen Preußens mit den Ländern der ſüddeutſchen Bundesgenoſſen
und führte überdies in der Frankfurter Gegend einige Stunden lang
durch mitteldeutſches Vereinsland. Sollte der preußiſch-bairiſche Bund
Lebenskraft gewinnen, ſo war eine zollfreie Straße zwiſchen den Haupt-
maſſen der beiden verbündeten Zollvereine unentbehrlich. Da erinnerte
ſich Motz zur guten Stunde an den Straßendünkel des Meininger Reichs
und an jenen unterthänigen Entſchuldigungsbrief des Gothaer Herzogs.
Wie nun, wenn Preußen dem Meininger Lande die Mittel bot, jene Welt-
handelsſtraße zwiſchen Italien und der Nordſee wirklich zu bauen? Der
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 43
[674]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Wunſch, den Verkehr im Lande zu halten, blieb ja der höchſte Gedanke,
deſſen die Handelspolitik der Kleinſtaaten jener Tage fähig war. Wie oft
ſind die Staatsmänner der Erneſtiner nach München oder Berlin geeilt
um durch dringende Bitten den Bau einer Umgehungsſtraße zu verhindern;
wie jammerte Frankfurt, da im Frühjahr 1829 ein Spediteur Waaren
aus der Schweiz nach Leipzig über Nürnberg ſendete und billigere Fracht
berechnete als ſeine Frankfurter Concurrenten. Dieſe Straßenpolitik war
das beſte Rüſtzeug des mitteldeutſchen Vereins, und Motz beſchloß die
Verbündeten mit ihren eigenen Waffen zu ſchlagen. Er eröffnete Ver-
handlungen mit Meiningen und Gotha, noch bevor der bairiſche Vertrag
abgeſchloſſen war. Der Herzog von Coburg kam ſelbſt nach Berlin. Am
3. Juli 1829 wurde mit Meiningen, Tags darauf mit Gotha ein Ver-
trag geſchloſſen „um die Hinderniſſe zu beſeitigen, die vorzüglich durch
örtliche Verhältniſſe dem Handel und gewerblichen Verkehr entgegenſtehen.“
Die drei Staaten verpflichteten ſich gemeinſam einen großen Straßenzug
zu bauen von Langenſalza über Gotha nach Zelle, von da über Meinin-
gen nach Würzburg und über Suhl, Hildburghauſen, Lichtenfels nach
Bamberg. Preußen ſchoß den kleinen Herren die Gelder vor. Der Durch-
fuhrhandel auf den neuen Straßen wurde völlig freigegeben. Dazu mehr-
fache Zollerleichterungen und freier nachbarlicher Verkehr zwiſchen Mei-
ningen, Gotha und Preußens thüringiſchen Enclaven. Es war dieſelbe
Straße quer über den Kamm des Thüringer Waldes, die nachher in der
Eiſenbahnpolitik des Deutſchen Reiches noch einmal eine bedeutſame Rolle
ſpielen ſollte.
Dieſe beiden unſcheinbaren Verträge haben in Wahrheit den mittel-
deutſchen Verein vernichtet. Denn jetzt erſt erhielt der preußiſch-bairiſche
Vertrag praktiſchen Werth. Motz eilte ſelbſt nach Thüringen, um den raſchen
Ausbau der Straßen zu fördern. Sobald dieſer zollfreie Straßenzug
vollendet war, ſtanden die beiden verbündeten Zollvereine in geſicherter
geographiſcher Verbindung, ihre völlige Verſchmelzung blieb nur noch eine
Frage der Zeit. Zugleich hatte das Berliner Cabinet mit Mecklenburg
den Bau einer neuen Straße von Hamburg nach Magdeburg verabredet.
Der mächtige Waarenzug zwiſchen der Nordſee und der Schweiz ward von
Hannover, Caſſel und Frankfurt hinweggelenkt auf die Straße Magdeburg-
Nürnberg. Der mitteldeutſche Verein, der Baiern und Preußen ausein-
ander halten ſollte, wurde durch einen Meiſterſtreich der preußiſchen Diplomatie
ſelber in der Mitte zerſpalten. Immer wieder drängt ſich der Gedanke
auf, wie viel langſamer der Knoten ſich hätte entwirren laſſen, wenn ein
Reichstag die diplomatiſche Action des Berliner Hofes lähmte. Wer dieſe
unterirdiſche Arbeit auf ihren verſchlungenen Wegen verfolgt, der muß
wo nicht billigen ſo doch verſtehen, daß ein freier Geiſt wie Trendelen-
burg damals den preußiſchen Abſolutismus als einen Segen für Deutſch-
land pries.
[675]Preußens Sieg.
Preußen vollzog mit jenen zwei Verträgen nur eine That erlaubter
Kriegsliſt wider erklärte Gegner, und doch keinen feindſeligen Schritt,
keine gehäſſige Retorſion. Die Niederlage des mitteldeutſchen Vereins
war um ſo vollſtändiger, da Niemand das Recht hatte ſich über Preußen
zu beklagen. Während ſonſt die Handelspolitik den Feind durch Handels-
erſchwerungen zu ſchlagen ſucht, entwaffneten Motz und Eichhorn den
Caſſeler Sonderbund durch die Erleichterung des deutſchen Verkehrs; ſie
konnten ſogar den Dank der Mitteldeutſchen beanſpruchen für die Eröffnung
einer zollfreien Straße. Den beiden thüringiſchen Fürſten freilich ge-
reichte der Hergang nicht zur Ehre. Verlockt durch die Ausſicht auf den
Beſitz einer großen Handelsſtraße wurden die Herzöge zu Verräthern an
ihren mitteldeutſchen Verbündeten. Sie verletzten zwar nicht den Wort-
laut, doch den Sinn des Caſſeler Vertrags, der den Bundesgenoſſen
allerdings den Abſchluß von Handelsverträgen geſtattete, aber unzweifel-
haft den Zweck verfolgte, die Erweiterung des preußiſchen Zollſyſtems
zu verhindern. Das böſe Beipiel weckte bald Nachahmung. Der mittel-
deutſche Verein, gegründet durch particulariſtiſche Selbſtſucht, ſollte ein
würdiges Ende finden; er ſollte nach und nach zerbröckeln durch ein fri-
voles Spiel mit Treu’ und Glauben.
Zugleich bereitete Motz in dieſem thatenreichen Sommer den Mittel-
deutſchen noch eine Ueberraſchung, die ihrem Handel Segen, ihrem Sonder-
bunde Verderben brachte. Er verſtändigte ſich mit den Niederlanden über
die Rheinſchiffahrt und eröffnete alſo ſeinen ſüddeutſchen Verbündeten die
Ausſicht auf freien Verkehr mit der Nordſee.*) Sobald der britiſche
Kaufmann ſeine Waaren zollfrei rheinaufwärts bis nach Frankfurt und
Mannheim ſenden konnte, mußte England das Intereſſe an dem mittel-
deutſchen Vereine verlieren und dem Sonderbunde war eine mächtige
Stütze entzogen. —
Nach ſo gründlichen Niederlagen hätten ernſthafte Staatsmänner
den Sonderbund als einen verunglückten Verſuch ſofort aufgeben und
eine Verſtändigung mit den überlegenen Zollvereinen des Südens und
des Nordens ſuchen müſſen. Doch die unverwüſtliche Zankſucht dieſer
kleinen Höfe wollte nicht Frieden halten, ihr Dünkel ſträubte ſich gegen ein
beſchämendes Geſtändniß. Der ſächſiſche Geſandte in Wien Graf Schulen-
burg wußte Wunder zu berichten von den Handelserleichterungen, die Metter-
nich in allgemeinen Andeutungen dem Vereine verſprach; ähnliche Zuſagen,
ebenſo unbeſtimmt gehalten, gab der franzöſiſche Geſandte Graf Fenelon
dem Naſſauer Hofe. In Hannover lebte ungebrochen der alte Welfen-
ſtolz; Graf Münſter bot alle kleinen Künſte auf, um den Meininger Her-
zog durch ſeine Schweſter, die Herzogin von Clarence, von Preußen ab-
zuziehen. Im Februar 1829 war Varnhagen von Enſe von der preußiſchen
43*
[676]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
Regierung nach Caſſel und Bonn geſendet worden, um nochmals eine
Beilegung des ehelichen Zwiſtes im kurfürſtlichen Hauſe zu verſuchen.
Er hatte ſich des undankbaren Auftrags mit erſtaunlichem Ungeſchick ent-
ledigt, bei Hruby, dem grimmigen Feinde Preußens, ſich belehren laſſen
über die Lage. Das Ende war, daß die beiden Gatten unverſöhnlicher
denn je einander gegenüberſtanden, und der Kurfürſt in ſchäumender Wuth
ſeinem königlichen Schwager Rache ſchwur. So geſchah es, daß das längſt
verlorene Spiel der Mitteldeutſchen noch durch einige Jahre fortgeſetzt
wurde, bis Preußen den Gegnern auch den letzten Stein aus dem Brette
geſchlagen hatte.
Seit dem Juni 1829 tagte in Caſſel abermals der Congreß der Mittel-
deutſchen — ein Bild vollendeter Rathloſigkeit, ohnmächtigen Grolles.
Alles tobte wider die Verräther in Meiningen und Gotha, die dem Ver-
eine „ein wichtiges Objekt“ geraubt hatten; man ſendete Commiſſäre hin-
über, um die beiden Herzöge zu verwarnen. Alles zitterte vor der freien
preußiſchen Handelsſtraße Hamburg-Nürnberg. Selbſt die patriotiſche Hoff-
nung, daß Dänemark vielleicht den Bau jener Straße hindern werde, bot
keinen Troſt; denn das kleine Stück holſteiniſchen Gebiets zwiſchen Hamburg
und der mecklenburgiſchen Grenze konnte leider auf der Elbe umgangen wer-
den! Der naſſauiſche Bevollmächtigte Röntgen pflegte auch dem befreundeten
badiſchen Hofe Bericht zu erſtatten über den Gang der Verhandlungen.
Dieſe Berichte wurden von Karlsruhe getreulich der preußiſchen Regierung
mitgetheilt; man kannte alſo in Berlin aus erſter Quelle die rettungs-
loſe Verwirrung des feindlichen Lagers. Schon in einer der erſten Sitzun-
gen warf ein Bevollmächtigter die wohlberechtigte naive Frage auf: „worin
denn eigentlich das materielle Weſen des Vereins beſtehe?“*) Man fühlte,
daß man „eine Geſammt-Autonomie gründen müſſe, um die eigene Auto-
nomie zu bewahren.“ Man verlangte nach einem „Gemeingute“, das als
Unterhandlungsmittel gegen Preußen dienen ſolle. Die Lächerlichkeit eines
Zollvereins ohne gemeinſame Zölle begann zwar Einzelnen einzuleuchten;
ſelbſt Naſſau meinte, die Vortheile des freien Binnenhandels überwögen
unendlich jede Erleichterung des ausländiſchen Verkehrs. Aber, hieß es
dawider, „würde der Verein ein wirklicher Mauthverband, ſo müßten wir
ſchließlich doch preußiſche Farbe annehmen!“ Sechs Commiſſionen wurden
gebildet, um im Stile des Bundestags über alle erdenklichen Fragen der
Verkehrspolitik hin und her zu reden. Abſonderliche patriotiſche Freude
erregte der Vorſchlag, den 21 Guldenfuß anzunehmen und alſo „das preu-
ßiſche Geld zu verdrängen“.
Von Neuem tauchte der Gedanke auf, mehrere Bünde im Bunde zu
bilden — zwei, drei oder vier, was verſchlug es? Dieſe politiſchen Mol-
lusken ließen ſich doch in jede beliebige Form preſſen. Hannover wünſchte
[677]Neuer Congreß in Kaſſel.
einen Sonderbund der Küſtenſtaaten. In lehrhafter Denkſchrift bewies
Smidt von Bremen, daß die Vereinsſtaaten theils in horizontaler, theils
in verticaler Richtung zu den großen deutſchen Handelsſtraßen lägen; ſie
möchten alſo zwei oder drei Gruppen bilden. Die freie Stadt Bremen,
verſteht ſich, müſſe unabhängig bleiben, denn ſie „qualificirt ſich von ſelbſt
als eine Ausnahme von der Regel des Handelsvereins.“ Indeß begann
dem gewiegten Handelspolitiker doch unheimlich zu werden; er rieth drin-
gend zu Verhandlungen mit den beiden anderen Zollvereinen.
Unverhohlen ſprach ſich die ängſtliche Unluſt der thüringiſchen Staaten
aus. Reuß beantragte ſofort Verhandlungen mit Preußen zu eröffnen;
Meiningen und Gotha drohten, ihres eigenen Weges zu gehen, wenn
der Verein nicht mit Preußen ſich verſtändige. Geſchäftig trugen die
Bevollmächtigten der kleinen Thüringer dem preußiſchen Geſandten Hänlein
die Geheimniſſe des Vereins zu. Doch die größeren Staaten Hannover,
Sachſen, Heſſen, Weimar bleiben hartnäckig. Die raſtloſen Treiber
Carlowitz, Grote, Conta brachten endlich am 11. Octbr. 1829 einen neuen
Bundesvertrag zu Stande. Die Verpflichtung, einſeitig keinem auswär-
tigen Zollvereine beizutreten, wurde verlängert bis zum Jahre 1841, weil
der preußiſch-bairiſche Vertrag bis zu dieſem Jahre währte. Die Durch-
fuhrzölle auf den großen das Ausland mit dem Auslande verbindenden
Straßen ſollten nur nach gemeinſamer Verabredung verändert werden.
Es lag auf der Hand, daß dieſer Artikel allein beſtimmt war, den Verkehr
zwiſchen Preußen und Baiern zu erſchweren, die Wiederholung der Go-
thaer und Meininger Vorgänge zu verhindern. Preußen verſuchte auch
ſofort den Beſchluß zu hintertreiben. Eichhorn ſchrieb an Bülow in
London: „von der kurheſſiſchen Regierung iſt man ſchon lange gewohnt, daß
ſie das Verkehrte thut und keine Verhältniſſe achtet;“ unbegreiflich aber
ſei Hannovers Verhalten; der Geſandte ſolle daher in London nach-
drückliche Beſchwerden erheben.*) Trotzdem ging der Beſchluß durch, und
nach dieſer unzweideutigen Feindſeligkeit beſtimmte man in Caſſel noch,
daß Sachſen, Hannover und Kurheſſen im Namen des Vereines Ver-
handlungen mit Preußen eröffnen ſollten — jenes Kurheſſen, das ſich
in den gröbſten Beleidigungen gegen den Berliner Hof erging!
Im Uebrigen blieb auch dieſer zweite Vertrag nahezu inhaltlos;
keine irgend erhebliche Verkehrserleichterung war vereinbart. Daher erhob
ſich ſofort nach dem Abſchluſſe des Vertrags überall heftiger Widerſtand.
Die Ratification konnte erſt im April 1830 erfolgen. Meiningen und
Gotha verſagten ihre Zuſtimmung. Die reußiſchen Länder folgten am 9. Dec.
1829 dem Beiſpiel ihrer Nachbarn, ſie vereinbarten mit Preußen Han-
delserleichterungen und Straßenbauten und verſprachen dem preußiſchen
oder dem bairiſchen Vereine beizutreten, ſobald ſie ihrer Pflichten gegen
[678]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
die Mitteldeutſchen ledig ſeien. Im Frankfurter geſetzgebenden Körper
fragte man murrend: warum verſtändige Kaufleute ſich verpflichten ſollten,
zwölf Jahre lang nichts zu thun? Einflußreiche Firmen forderten den
Anſchluß an Preußen, ſelbſtverſtändlich nicht zu gleichem Rechte: das
mächtige Frankfurt ſollte nur „einen Freihafen des preußiſchen Vereins“
bilden. Die Stadt litt ſchwer; Spedition und Fabriken begannen nach
Offenbach überzuſiedeln. Dennoch behauptete die öſterreichiſche Partei die
Oberhand. Sachſen und Weimar, erſchreckt durch den ſchwunghaften
bairiſch-preußiſchen Verkehr dicht neben ihren Grenzen, knüpften ihre
Ratification an den Vorbehalt: vom Jahre 1835 müſſe ihnen der Aus-
tritt freiſtehen, falls bis dahin Preußen und Baiern zu einem Zollvereine
ſich verſchmolzen hätten. Der raſtloſe Röntgen reiſte von einer preußiſchen
Geſandtſchaft zur anderen, verſuchte ſich zu entſchuldigen: wer hätte denn
vor einem Jahre ahnen können, daß Preußen in der orientaliſchen Frage
und in den Zollſachen eine ſo glückliche Rolle ſpielen würde? Als Mal-
tzan allen Anzapfungen nur ein diplomatiſches Schweigen entgegenſetzte,
fuhr der beleidigte Naſſauer heraus: „Es iſt unrecht auch den kleinſten
Feind zu mißachten“ — worauf Jener verbindlich erwiderte: „Alſo Ihr
ſeid unſere Feinde?“ Endlich genehmigte Naſſau den Vertrag nur mit
der Erklärung: als unbedingt verpflichtend könne er nicht gelten. So
drohten Abfall und Verrath von allen Seiten her.
Bei der verblendeten Selbſtüberſchätzung dieſer Cabinette läßt ſich’s
nicht leicht entſcheiden, ob die drei führenden Mittelſtaaten ernſtlich hofften
Zugeſtändniſſe von Preußen zu erlangen, oder ob ſie die Verhandlungen
mit dem Berliner Hofe lediglich begannen um ihre unzufriedenen thürin-
giſchen Bundesgenoſſen zu beſchwichtigen. Genug, das hannöverſche Cabi-
netsminiſterium richtete ſchon am 14. Auguſt an Bernſtorff die Frage, ob
Preußen mit den Verbündeten unterhandeln wolle, und fügte in der üb-
lichen hochtrabenden Weiſe hinzu: „Der Verein ſei wohl im Stande,
ſolche Vortheile anzubieten, welche die Zugeſtändniſſe aufwiegen dürften.“
In Berlin ergriff man die Gelegenheit, den Mitteldeutſchen unumwunden
die Meinung zu ſagen und zugleich den nationalen Sinn der preußiſchen
Handelspolitik ausführlicher als je zuvor darzulegen. Ein Miniſterial-
ſchreiben vom 31. Octbr. 1829 hielt der hannoverſchen Regierung ihr
gehäſſiges unaufrichtiges Verfahren vor, ſchilderte draſtiſch den Handels-
verein, der „nichts Gemeinſames habe als das Motiv, woraus er ent-
ſprang; im Uebrigen findet man nur ein Aggregat beſonderer Intereſſen.“
Weſentliche Vortheile hat der Verein uns nicht zu bieten, es müßte denn
ſein, daß er den Verkehr zwiſchen unſeren Provinzen erſchweren wollte.
„Vor dergleichen feindſeligen Maßregeln hegt die preußiſche Regierung
überhaupt keine Beſorgniß.“ Mit Hannover allein ſind wir bereit zu
verhandeln, nicht mit einer Mehrzahl grundverſchiedener Staaten. Preußen
hat jetzt, nach den neueſten vortheilhaften Verträgen, noch weniger als
[679]Auflockerung des mitteldeutſchen Handelsvereins.
ſonſt ein unmittelbares Intereſſe an ſolchen Verhandlungen, ſondern nur
das eine Intereſſe, „daß dadurch eine engere Verbindung zwiſchen den
deutſchen Völkern begründet und durch dieſe ein neuer Segen über Deutſch-
land und deſſen einzelne Staaten verbreitet werde. Wird dabei der
Grundſatz befolgt, ſolche gemeinſchaftliche Maßregeln zu verabreden, wo-
durch nur in dem eigenen Gebiet bisher beſtandene Hemmungen im
gegenſeitigen Verhältniß zu einander aufgehoben und keine neuen zur
Störung des Verkehrs mit anderen Staaten angeordnet werden, ſo kann
ſich Niemand über eine Vereinigung, welche auf einer ſolchen Grundlage
errichtet wird, beſchweren. Jede ſolche Vereinigung bildet vielmehr den
Uebergang zu einer neuen; und in einer ſolchen praktiſch fortſchreitenden
Entwicklung, welche keinem feindſeligen Prinzip Raum giebt, läßt ſich
hoffen, daß allmählich das Problem einer gegenſeitigen Freiheit des Ver-
kehrs zwiſchen den deutſchen Staaten in dem größtmöglichen Umfange,
welchen überhaupt die Natur der Verhältniſſe geſtattet, gelöſt werde.“*)
Hannover ſuchte noch einige unwahre Entſchuldigungen vorzubringen, doch
allein mit dem Berliner Hofe zu verhandeln war dem Welfenſtolze un-
möglich.
Sachſen und Kurheſſen unterließen nunmehr jede Anfrage; indeß
konnte ſich der Dresdener Hof eine Rechtfertigung ſeiner Handelspolitik
nicht verſagen. Geh. Rath v. Könneritz — in ſpäteren Jahren als Mi-
niſter eine Säule der hochconſervativen Partei — verfaßte eine Denk-
ſchrift im kurſächſiſchen Curialſtile und wiederholte darin die alten hundert-
mal wiederlegten Anklagen gegen das preußiſche Zollſyſtem. Dann ver-
ſicherte „Man annoch forderſamſt“: der mitteldeutſche Verein ſei „eine
völkerrechtlich vollkommen ſtatthafte und in der Staatengeſchichte gar nicht
ungewöhnliche Uebereinkunft mehrerer ſouveräner Staaten, eine zur Rettung
der dem hieſigen Lande unentbehrlichen Nahrungszweige, des Fabrikweſens
und des Handels, nothwendig bedungene Maßregel“ — und ſprach ſein
Befremden aus, daß Preußen dieſer unſchuldigen Verbindung entgegen-
arbeite. Motz, von Eichhorn befragt, ob eine Verhandlung mit Sachſen
räthlich ſei, erwiderte: „Sachſen gewinnt durch eine Zollvereinigung mit
Preußen in allen Beziehungen vorzugsweiſe, und Preußen kann dieſelbe
mehr nur in politiſcher, weniger in finanzieller Beziehung wünſchen. Auch
die politiſchen Vortheile ſind mehr in der hierdurch geförderten Einigung
von Deutſchland als in dem beſonderen Anſchluß von Sachſen an Preu-
ßen zu ſuchen. Sachſen kann freundlicher, rückſichsvoller Verhandlungen
gewärtig ſein, wenn es ſeine mitteldeutſchen Verpflichtungen aufgiebt, deren
Dauer den Anſchluß an das preußiſche Zollſyſtem geradezu verhindert.
Herr v. Könneritz gehört zu den beſchränkten einſeitigen Köpfen, deren
Belehrung, wenn man auch Zeit daran wenden wollte, ebenſo unfruchtbar
[680]III. 8. Der Zollkrieg und die erſten Zollvereine.
bleiben würde als die ganze Idee des Mitteldeutſchen Vereins.“*) Darauf
verwies das Auswärtige Amt dem Geſandten in Dresden, daß er das
anmaßende ſächſiſche Schriftſtück angenommen habe, und begnügte ſich die
Beſchuldigungen der Denkſchrift kurz zu widerlegen.
Unterdeſſen arbeitete Hannover heimlich an einem Vereine der Küſten-
ſtaaten. Am 27. März 1830 kam zu allgemeiner Ueberraſchung der
Eimbecker Vertrag zu Stande, ein Werk Grote’s, die Grundlage des ſpä-
teren norddeutſchen Steuervereins. Hannover, Oldenburg, Braunſchweig
und Kurheſſen verpflichteten ſich, innerhalb des mitteldeutſchen Vereins
einen Zollverein mit gemeinſchaftlichen niedrigen Zöllen zu bilden. Vor-
derhand war Alles freilich noch Entwurf. Daß die Küſtenſtaaten ſich
zuſammenthaten, erſchien nicht ganz unnatürlich; Motz ſelbſt urtheilte
mild über den Eimbecker Vertrag. Hannover war nun einmal unfrei
der engliſchen Handelspolitik gegenüber; auch beſtand damals weit ver-
breitet und feſtgewurzelt die Meinung, daß die Volkswirthſchaft der Nord-
ſeeküſte von den preußiſchen Zuſtänden ſehr weit abweiche — ein Vor-
urtheil, das erſt nach zwei Jahrzehnten überwunden wurde. Um ſo mehr
mußte die Theilnahme des Binnenlandes Kurheſſen befremden. Die
Luft ward ſchwül in dem unglücklichen Lande. Die Reichenbach befürchtete
einen Aufſtand; irgend etwas, ſtellte ſie dem Kurfürſten vor, müſſe ge-
ſchehen, um das mißhandelte Volk zu beſchwichtigen.**) Da nun der
Kurfürſt nicht mit Preußen gehen wollte, ſo ſchloß er den Eimbecker Ver-
trag, der mindeſtens an der hannoverſchen Grenze Erleichterungen ver-
ſprach. —
Das war die Lage der deutſchen Volkswirthſchaft, als die Juli-
revolution herein brach, das alte Syſtem in den Hauptſtaaten des Mittel-
deutſchen Handelsvereins über den Haufen warf und alſo dem Vereine
den letzten Stoß gab.
Motz ſelber ſollte den vollſtändigen Sieg ſeiner Ideen nicht erleben;
er ſtarb, erſt vierundfünfzigjährig, am 30. Juni 1830. Er nahm ins
Grab die feſte Zuverſicht, daß Preußens Handelspolitik die eingeſchlagenen
Bahnen nicht mehr verlaſſen könne; „mein eigenes Departement macht
mir am wenigſten Sorge,“ ſagte er oft in ſeinen letzten Tagen. Wie
gänzlich hatte ſich Preußens deutſche Machtſtellung verändert in den fünf
Jahren, ſeit dieſer Mann den Staatshaushalt leitete! Die ausländiſche
Preſſe ſelbſt, die ſonſt ſo gleichgiltig an den deutſchen Dingen vorüber-
ging, fing ſchon an aufzumerken. Wenn dieſe Staaten, ſchrieb der Con-
ſtitutionel, ſchon die Einheit ihrer Handelsintereſſen erkennen, ſo werden
ſie auch bald entdecken, daß ſie dieſelben politiſchen Intereſſen haben, und
[681]Motz’s Tod.
das wird ein Sieg ſein über Oeſterreich. Die Edinburgh Review aber
ſagte mit jener engliſchen Beſcheidenheit, die ſich auch im Lobe nie ver-
leugnet: „Die preußiſche Handelspolitik, die vielleicht der jedes anderen
Staates in der Welt überlegen iſt, verdankt ihren Urſprung wahrſchein-
lich dem Selbſtbereicherungstriebe eines abſoluten Herrſchers.“ Vor Kurzem
noch verhaßt und gemieden, war Preußen jetzt mit den bekehrten Kernlanden
des Rheinbundes zu einem großen nationalen Zwecke verbündet. Das
vor zehn Jahren von ganz Deutſchland bekämpfte preußiſche Zollgeſetz be-
gann bereits ſiegreich vorzudringen, und ſchon ließ ſich vorausſehen, daß
es ſeine Herrſchaft bis zum Bodenſee erſtrecken würde. In Berlin, nicht
mehr in Frankfurt und Wien, wurden die großen Geſchäfte der Nation
erledigt.
Motz hatte in einem kurzen diplomatiſchen Kriege, der mit ſeinen feſt
und ſicher geleiteten weitverzweigten Verhandlungen an die Entſtehung des
fridericianiſchen Fürſtenbundes erinnert, nicht blos den Gegenzollverein nahe-
zu geſprengt, ſondern auch durch geiſtige Waffen die Gegner geſchlagen, den
Unſinn des feindlichen Unternehmens dargethan und vor aller Welt er-
wieſen, daß Oeſterreich für die Nöthe der Nation nur leere Worte hatte,
Preußen die heilende That. Nicht eine zufällige Verkettung der Umſtände
führte den Süden auf kurze Zeit mit dem Norden zuſammen, wie einſt
die Genoſſen des Fürſtenbundes. Die Gemeinſchaft, die jetzt ſich bildete,
war unzerſtörbar. Sie entſprang den Lebensbedürfniſſen eines arbeiten-
den Jahrhunderts, und über ihren unſcheinbaren erſten Anfängen waltete
der freie Geiſt eines Mannes, der faſt allein in müder, verdroſſener Zeit
ſchon hellen Auges die ſchlummernden Kräfte des germaniſchen Rieſen er-
kannte, die große Zukunft des „in Wahrheit verbündeten Deutſchlands“
ahnte. —
[[682]]
Neunter Abſchnitt.
Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
Der Vertrag zwiſchen den beiden Zollvereinen des Südens und des
Nordens eröffnete den Deutſchen die Ausſicht auf ein nationales Markt-
gebiet, das ihnen ſeit Jahrhunderten gefehlt hatte, und alſo auf einen
unerhörten Aufſchwung ihrer wirthſchaftlichen Kräfte. Aber Jahre ver-
liefen noch bis aus jener erſten Verſtändigung ein dauernder Verein her-
vorging, und dann nochmals Jahre, bis unter dem Schutze der neuen
Zolllinien eine mächtige Großinduſtrie emporblühte. Erſt um das Jahr
1840 begannen mit den Fabriken und den Börſen, den Eiſenbahnen und
den Zeitungen auch die Klaſſenkämpfe, die unſtete Haſt und das wage-
luſtige Selbſtgefühl der modernen Volkswirthſchaft in das deutſche Leben
einzudringen. Bis dahin verharrte die Mehrheit des Volkes noch in den
kleinſtädtiſchen Gewohnheiten der erſten Friedenszeiten, ſeßhaft auf der
väterlichen Scholle, im hergebrachten Handwerk ſtill geſchäftig, zufrieden
mit den beſcheidenen Genüſſen des ungeſchmückten Hauſes. Schon gegen
das Ende der zwanziger Jahre verriethen jedoch manche Anzeichen, daß
eine große Wandelung der nationalen Geſittung im Anzuge war. Wie
auf die goldenen Tage der Dichtung unſeres Mittelalters, ſo ſollte auch
auf die Zeiten von Jena und Weimar eine proſaiſche Epoche folgen, die
ihre Thatkraft zumeiſt nach außen, auf die Kämpfe des Staates, der
Kirche, der Volkswirtſchaft richtete.
Die Vorboten dieſes Umſchwungs wurden in der Literatur, die ſo
lange der treue Spiegel aller deutſchen Herzensgeheimniſſe geweſen war,
früher bemerkbar als im praktiſchen Leben. Die Dichtung behauptete nicht
mehr den Herrſcherſitz im Reiche der Geiſter. Wie einſt der Verfall der
italieniſchen Architektur ſich grade in der maſſenhaften und doch un-
fruchtbaren Bauthätigkeit des achtzehnten Jahrhunderts bekundet hatte,
ſo bewies jetzt die unüberſehbare Menge der gehaltloſen Unterhaltungs-
romane und Taſchenbuchsgedichte, welche den deutſchen Büchermarkt über-
füllten, daß unſere Poeſie ins Kraut ſchoß und nur noch ſelten ſüße
Trauben trug. Ein ſchlimmes Zeichen der Zeit war die zunehmende
Schreibluſt der Frauen. Gleich allen großen Epochen der Kunſt war auch
[683]Proſaiſcher Zug der Zeit.
die Blüthezeit der deutſchen Dichtung nicht ohne die belebende Theilnahme
der Frauen möglich geworden. Aber ſo lange der Ehrgeiz der erſten
Männer der Nation nach dem ſchwellenden Kranze des Dichters rang,
galt noch die natürliche Regel, daß künſtleriſches Schaffen, wie alles
Schaffen, Männerarbeit iſt. Unter den herrlichen Frauen, welche ver-
ſtehend und empfangend den claſſiſchen und den älteren romantiſchen
Dichtern das Leben verſchönten, waren nur wenige Schriftſtellerinnen.
Nun erſt, ſeit die Dichtkunſt zum eleganten Zeitvertreibe wurde, und jeder
empfängliche Dilettant ſich die literariſchen Handgriffe leicht aneignen konnte,
begann die Schaar der Blauſtrümpfe, wie der neue engliſche Name lautete,
bedenklich anzuwachſen. Karoline Pichler, Johanna Schopenhauer, Hel-
mine v. Chezy, Karoline v. Fouqué ſchwangen die Feder ſtatt der Nadel,
manche der modiſchen Taſchenbücher wurden nur für Frauen und großen-
theils von Frauen geſchrieben. Mit Beſorgniß betrachtete Goethe dieſe
neue ſociale Krankheit. Er wollte weder die heiligen Schranken der Natur
zerſtört noch den Tiefſinn der Kunſt durch leere Niedlichkeit verdrängt
ſehen und äußerte ſich über die unfruchtbare weibliche Dichtung bald mit
gutmüthigem Spott, bald mit einer göttlichen Grobheit, wie ſie nur der
Sänger der Frauenliebe ſich erlauben durfte:
Viele ernſte Männer begannen ſchon die Poeſie nur noch einer bei-
läufigen Theilnahme zu würdigen. Wie tief war einſt die gebildete deutſche
Welt durch den Xenienſtreit aufgeregt worden, und wie gleichmüthig blieb
ſie jetzt, als Platen wider die Schickſalstragödien und die Neuromantiker
zu Felde zog. Solche äſthetiſche Kämpfe berührten nicht mehr den Lebens-
nerv der Nation. Nur die einſame Geſtalt des Altmeiſters in Weimar,
die immer wieder die Blicke von Freund und Feind dämoniſch anzog,
erinnerte das neue Geſchlecht noch an die Tage, da die Dichtung den
Deutſchen Eines und Alles geweſen war. Die kräftigen jungen Talente,
und darunter auch manche künſtleriſch angelegte Naturen, wurden durch
den Drang der Zeit meiſt der Gelehrſamkeit zugeführt. Die Wiſſenſchaft
aber warf ſich mit wachſendem Eifer und Verſtändniß auf die großen
Probleme des öffentlichen, des handelnden Lebens. In der Theologie bil-
deten ſich geſchloſſene Parteien mit beſtimmten kirchenpolitiſchen Zielen.
Nachdem Philoſophen, Juriſten, Sprach- und Alterthumsforſcher der Hi-
ſtorie den Geſichtskreis erweitert und den Stoff bereitet, begann endlich
auch die Krone der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften, die darſtellende politiſche
Geſchichtſchreibung ſich kräftig zu entfalten, und in der wiſſenſchaftlichen
Parteiung der Hiſtoriker kündigten ſich ſchon die politiſchen Gegenſätze des
kommenden Jahrzehnts vernehmlich an. Die Philoſophie lernte durch
[684]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
Hegel die Geſchichte als den Tempel des allgegenwärtigen Gottes ver-
ſtehen und vergötterte den Staat, den ſie einſt mißachtet hatte. Zugleich
erklangen die erſten Lärmſtöße einer radikalen Literatur, welche durch und
durch tendentiös, allein auf die augenblickliche Wirkung rechnend, an Allem
was beſtand mit übermüthigem Hohne rüttelte und dem Traumleben der
Romantik die Fehde anſagte. Das Alles war erſt im Werden, aber un-
verkennbar ſtand die Nation im Begriff, mit der äſthetiſchen Weltan-
ſchauung, die ihre unvergeßliche Zeit gehabt hatte, gänzlich zu brechen.
Goethe ſelbſt, der in ſeiner Einſamkeit doch immer die Hand am
Pulſe des nationalen Lebens hielt, erkannte dieſen realiſtiſchen Zug der
Zeit und förderte ihn, indem er in Wilhelm Meiſter’s Wanderjahren den
Gedanken ausführte, welchen ſchon die Lehrjahre angedeutet hatten: der
Menſch iſt nicht eher glücklich, als bis ſein unbedingtes Streben ſich ſelbſt
ſeine Begrenzung beſtimmt. Die Odyſſee der allgemein menſchlichen Bil-
dung endete alſo mit der modernen Lehre der Arbeitstheilung: daß ein
Jeder Eines recht wiſſen und ausüben, in ſich ſelber einen Mittelpunkt,
um den Alles kreiſe, finden ſolle:
Anfang und Schluß des Romans verhielten ſich zu einander wie Jugend
und Alter, wie Poeſie und Proſa. Aber weil der Dichter fühlte, daß die
nützliche Thätigkeit für die bürgerliche Geſellſchaft an ſich noch nicht poetiſch
iſt, und weil er ſelber mit allen Faſern ſeines Weſens in der allſeitigen Bil-
dung des alten Jahrhunderts wurzelte, darum wollte und konnte er den
Grundgedanken der Wanderjahre nicht künſtleriſch ausgeſtalten, ſondern nur
ſymboliſch andeuten; er ſchilderte nicht, wie der thatenfrohe Mann im ein-
ſeitigen Schaffen ſich ſelber zugleich beſchränkt und kräftig auslebt, ſondern
ließ ſeinen Helden in bewußter Entſagung die freie Lebensluſt überwinden
und ſein Ich vergeſſen in einem nüchternen Berufe. Für einen Roman
der bürgerlichen Arbeit war in Deutſchland die Zeit noch nicht gekommen.
Die heitere Anmuth der eingeſtreuten Novellen, die plaſtiſche Anſchaulich-
keit des Bildes der heiligen Familie und vieler anderen Schilderungen
erinnerten an die ſchönſten Zeiten der Goethiſchen Muſe. Auch die lehr-
haften Abſchnitte enthielten neben manchem ſeltſamen Gedankenſpiele eine
Fülle reifer und tiefer Wahrheiten. Wie fühlte ſich der junge Ludwig
Richter in tiefſter Seele gepackt, als er hier die Mahnung las: große
Gedanken und ein reines Herz, das iſts was wir uns von Gott erbitten
ſollten. Wie ſcharf durchſchaute der Dichter die ſchwerſte ſittliche Gefahr,
welche dem heranwachſenden Geſchlechte drohte, wenn er die Erziehung
zur Ehrfurcht ſeiner pädagogiſchen Provinz zur Aufgabe ſtellte. Aber ein
abgerundetes Kunſtwerk gab er nicht; ſeine alte Neigung zum fragmen-
tariſchen Schaffen überwältigte ihn wieder, faſt planlos reihte er Alles
[685]Meiſters Wanderjahre.
aneinander, was er ſo viele Jahre hindurch über das Problem der Men-
ſchenbildung gedichtet und gedacht hatte. Die Leſer vermochten ſich in dem
Irrgarten nicht zurechtzufinden.
Zum erſten male rief eine Dichtung Goethe’s allgemeine Enttäu-
ſchung hervor, und nun kamen gute Tage für alle die kleinen Leute, die
dem Dichter ſeine Größe nicht verzeihen konnten. Während der letzten
Jahre, ſo lange die Nation noch unter dem friſchen Eindruck von Dich-
tung und Wahrheit ſtand, hatten ſich die Neider ſelten herausgewagt.
Jetzt fanden die falſchen Wanderjahre, welche der weſtphäliſche Pfarrer
Puſtkuchen gleichzeitig mit dem Anfang der echten (1821) in der berüch-
tigten Baſſe’ſchen Buchhandlung zu Quedlinburg erſchienen ließ, ſtarken
Abſatz und ſelbſt in geachteten Zeitſchriften ernſthafte Beſprechung. Das
boshafte Machwerk ahmte den umſtändlichen Stil des alten Herrn nicht
ohne Geſchick nach, und bekämpfte ſeine Unſittlichkeit mit den Gemeinplätzen
der platten Moral. Dann ließ auch Hengſtenberg’s Kirchenzeitung die Kar-
thaunen ihres allein wahren Chriſtenthums gegen den großen Heiden ſpielen,
und in gleichem Sinne ſchrieb Wolfgang Menzel, der Herausgeber des mit
dem Cotta’ſchen Morgenblatte verbundenen Literaturblattes. Der blieb
ſein Lebelang der alte chriſtlich-germaniſche Burſchenſchafter und rügte
mit achtungswerthem Muthe die Verirrungen des weltbürgerlichen, glau-
benloſen Radicalismus. Aber die Grazien hatten nicht an der Wiege
des unliebenswürdigen Mannes geſtanden; das claſſiſche Alterthum war
ihm nur eine Welt der Sünde, und niemals wollte er den Päpſten ver-
zeihen, daß ſie den Vatikan mit der ſchönſten Skulpturenſammlung der
Welt geſchmückt hatten. So hielt er es denn für Chriſtenpflicht, den
Deutſchen ihren erſten Dichter zu verleiden und ließ auch nicht ab in
ſeinem puritaniſchen Eifer, als ſeine Todfeinde, die Radicalen in daſſelbe
Horn ſtießen und den geadelten Fürſtenknecht in Weimar mit geſinnungs-
tüchtiger Entrüſtung brandmarkten.
Wie vormals Luther und Friedrich, ſo ſah auch Goethe ſeine letzten
Jahre durch die häßlichſte aller deutſchen Sünden, durch die ungeheuere
Undankbarkeit der Nation getrübt — eben jetzt, da das Ausland den
Dichter erſt zu würdigen begann, da die jungen Schriftſteller des Pariſer
Globe die franzöſiſche Kunſt auf die Naturwahrheit Goethe’s und Shake-
ſpeare’s hinwieſen, und der einzige Brite der Deutſchland ganz verſtanden
hat, Thomas Carlyle ſeinen Landsleuten den Sinn des Fauſt erklärte.
Die radicale deutſche Jugend hörte nur zu willig auf die Stimmen der
Verleumder. Ein Liebling der jungen Männer war Goethe nur zwei-
mal geweſen, in den Tagen des Werther und wieder als der erſte Theil
des Fauſt erſchien; was er jetzt noch ſchrieb, konnte einem grollenden
Geſchlechte nicht genügen, das ſich nach politiſchen Kämpfen ſehnte und
in ſeiner Ungeduld den Adel der Form kaum noch zu ſchätzen wußte.
In der neuen Burſchenſchaft, unter den Freunden Arnold Ruge’s galt
[686]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
der arbeitſamſte Mann des Zeitalters allgemein für einen bequemen,
ſelbſtiſchen Epikureer — ein Märchen, das in den Kreiſen der Halb-
bildung noch durch Jahrzehnte lebendig blieb; wer ſich zeitgemäßen
Freiſinns rühmen wollte, mußte den Ariſtokraten Goethe geringſchätzen.
Für dieſe Entfremdung der Jugend bot es keinen Erſatz, daß die Höchſt-
gebildeten und die Frauen in ihrer Dankbarkeit nicht irr wurden, und
manche äſthetiſche Kreiſe den Cultus des Dichters wie einen Geheimdienſt
betrieben. Die Berliner Goethe-Gemeinde gewann jetzt an Hegel einen
mächtigen Bundesgenoſſen; in der Verehrung des abſoluten Philoſophen
und des abſoluten Dichters genoß der Hegelianer ſtrenger Obſervanz
ſeine eigene Ueberlegenheit, und zum Glück fielen die Geburtstage der
beiden Heroen im Kalender dicht hinter einander. Da ſaßen denn am
Abend des 27. Auguſt die Eingeweihten beim Feſtmahl und gedachten
ernſt des nächtlichen Fluges der Eule der Minerva; ſobald aber die
Mitternachtsſtunde ausgeſchlagen hatte erhob ſich ein Redner um fröhlich
anzukündigen, daß jetzt Apoll der Gott der Lieder auf ſeinem Sonnen-
wagen den heiteren Tag des 28. heraufführe.
Nicht ohne Bitterkeit bemerkte Goethe, wie die Mittelmäßigkeit, die
Philiſterei und die rohe Tendenz ſich abermals, und mächtiger als zu
Kotzebue’s Zeiten, gegen ihn aufbäumten. Er tadelte in ſcharfen Epi-
grammen die unglückliche Neigung der Deutſchen, ſich ſelber die Freude
am Schönen und Großen zu verderben, und ſeufzte zuweilen „ein deutſcher
Schriftſteller, ein deutſcher Märtyrer“ — denn jene ſtoiſche Unempfind-
lichkeit, wovon die Sittenprediger fabeln, iſt dem Schaffenden, der doch
für Andere ſchafft, unmöglich. Aber lange konnte ſeine fröhliche Lebens-
kraft ſich dem Aerger nicht hingeben; mit einigen Kernflüchen ſchüttelte
er ſich die Kläffer von den Ferſen: „hat doch der Walfiſch ſeine Laus,
muß ich auch meine haben.“ Den Namen des Meiſters wies er ab,
nur der Befreier der deutſchen Dichtung wollte er heißen, und ebendes-
halb hatte er ſeine Freude an den Kritikern des Globe, weil ſie ihn als
den Ueberwinder des falſchen Regelzwanges anerkannten. Mochten ſie ihn
dann immerhin nach franzöſiſchem Sprachgebrauch einen Romantiker
nennen — „was will all der Lärm über claſſiſch und romantiſch! Es
kommt darauf an, daß ein Werk durch und durch gut und tüchtig ſei,
und es wird auch wohl claſſiſch ſein“. Als vierundſiebzigjähriger Greis
ward er noch einmal von einer mächtigen Leidenſchaft ergriffen. Er über-
wand ſich und fand wie immer Troſt im Liede. In der Trilogie der
Leidenſchaft nahm er Abſchied von dem Glück und Leid der Liebe, das
kein anderer Dichter je ſo tief empfunden. Durch die Liebeslieder ſeiner
Jugend war er einſt der Liebling aller Weiberherzen geworden; die ge-
heimnißvolle Gluth dieſes Scheidegedichts konnte nur der leiderfahrene,
gedankenreiche Mann ganz verſtehen. Noch einmal beſchwor er die viel-
beweinten Schatten aus ſeinen ſeligen Wetzlarer Tagen wieder herauf
[687]Trilogie der Leidenſchaft.
und geſtand, im Innerſten erſchüttert, wie ihn die Götter ſein Leben lang
durch das Geſchenk der Pandora geprüft hätten:
Die Sprüche und Gedichte, die ſich wie eine [Perlenſchnur] durch ſeine
alten Tage ſchlangen, wurden der Größe wie der Kleinheit, dem Ewigen
wie dem Vergänglichen des Menſchenlebens gerecht. Er mahnte die
Brüder der Loge, ſich der langen Folge der Jahrhunderte bewußt zu
bleiben, weil das Beſtändige der irdiſchen Tage uns ewigen Beſtand ver-
bürge; aber er wußte auch, daß der ſchwache Menſch doch nur am Tage
den Tag lebt, und gab ihm jenen herzhaften Troſt, der ſo vielen redlich
Schaffenden die Augen trocknen und die ermatteten Arme ſtählen ſollte:
Goethe hatte die Genoſſen ſeiner Jugend ſchon alle begraben und ſtand
längſt in dem Alter, das den Tod gelaſſen als eine gemeine Schickung
hinnimmt; gleichwohl fühlte er ſich tief ergriffen und konnte nur in der
gewohnten Einſamkeit auf den Dornburger Schlöſſern den Frieden des
Gemüthes wiederfinden, als auch ſein großer fürſtlicher Freund vor ihm
dahinging. Karl Auguſt ſtarb am 28. Juni 1828 auf der Rückreiſe von
Berlin, wo er mit jugendlicher Wißbegierde alles Neue und Schöne was
die letzten Jahre geſchaffen betrachtet hatte. Die letzten Tage über mußte
Humboldt beſtändig um ihn ſein; der greiſe Fürſt ward nicht müde den
Gelehrten auszuforſchen über die ſchwierigſten Fragen der Naturwiſſen-
ſchaft; hell und lauter ſchlugen die Flammen ſeiner großen Seele noch
einmal aus dem gebrechlichen Körper auf; mit Verachtung ſprach er von
der erkünſtelten Frömmelei dieſer Tage, aber auch mit Ehrfurcht von der
menſchenfreundlichen Lehre des urſprünglichen Chriſtenthums. Dann ver-
ſchied er im Schloſſe Graditz, die Augen der Abendſonne zugewendet.
Das alte Weimar war nicht mehr. Auch Goethe fühlte das Bedürfniß
des Alters, mit dem Vergangenen abzuſchließen, und veröffentlichte ſeinen
Briefwechſel mit Schiller. Bald nachher, im Frühjahr 1830, ließ Wil-
helm Humboldt die Briefe erſcheinen, welche er einſt mit Schiller ge-
wechſelt hatte, und ſchilderte im Vorwort die Natur des Dichters mit
congenialem Verſtändniß. Das junge Geſchlecht war aber in neuen Sor-
gen und Kämpfen zu tief befangen um das Vermächtniß einer großen
Zeit dankbar aufzunehmen; erſt in ſpäteren, ruhigeren Tagen erkannte
die Nation, welch ein Schatz künſtleriſcher Weisheit in dieſen Briefen lag.
Durch den Zauber der alten Erinnerungen wurde Goethe dem leben-
digen Schaffen der Gegenwart nicht entfremdet. Grillparzer und andere
junge Dichter erfreuten ſich ſeines ermunternden Zuſpruchs, und mit
[688]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
ſtrahlenden Augen folgte der Alte den kühnen Flügen Byron’s. Die
revolutionäre Macht der Byroniſchen Muſe erinnerte ihn an die Zeiten,
da er ſelber als ein Himmelsſtürmer in den zahmen Frieden der deut-
ſchen Dichtung eingebrochen war. Er überſchätzte ſogar den engliſchen
Dichter; denn ſeine kerngeſunde Natur konnte ſich die Empfindung des
leeren Weltſchmerzes an einem großen Künſtler nicht vorſtellen. Er wußte
nicht, wie ſtark der Spleen des blaſirten Weltmannes bei der finſteren
Menſchenverachtung des Briten mitwirkte, und wenn er Byron nannte
„ſtark angewohnt das tiefſte Weh zu tragen“, ſo glaubte er wirklich, das
Gewiſſen des Lords ſei mit einer ſchweren Blutſchuld belaſtet. Mit den
Malern und Bildhauern, die er unter ſeine Flügel nahm, hatte er bis-
her wenig Ehre eingelegt, da führte ihm ein gütiger Stern den jungen
Friedrich Preller zu. Mit väterlicher Sorgfalt nahm er ſich des Jüng-
lings an, erwirkte ihm die Gunſt Karl Auguſt’s und verwies ihn auf die
Meiſter des großen Stiles der Landſchaftsmalerei, auf Claude Lorrain
und Pouſſin. So fiel noch ein letzter warmer Sonnenſtrahl aus Weimars
goldener Zeit auf die Jugend des Künſtlers, der nach langen Jahren wieder
einen ſchönen Nachſommer über die kleine Muſenſtadt heraufführen ſollte.
Mittlerweile legte Goethe die letzte Hand an ſeinen Fauſt. Während die
vorlauten jungen Leute ihn bereits zu den Todten warfen, ſah er, jugend-
licher als ſie alle, ſchon das thatkräftige Zeitalter nahen, das die Elemente
bändigen und ſeinen Ruhm finden ſollte in dem Gedanken: auf freiem
Grund mit freiem Volk zu ſtehn. —
Die deutſche Lyrik war in ihrer techniſchen Fertigkeit längſt ſo ſicher,
daß ſie ſich in allen Weiſen, den kunſtvollen wie den kunſtloſen frei er-
gehen konnte. Hatte ſie einſt, bevor Goethe auftrat, oft ſtammelnd nach
einem mächtigen Ausdruck für ihre tiefe Empfindung geſucht, ſo lief ſie
jetzt ſchon Gefahr, in zierlichem Formenſpiele den lebendigen Inhalt zu
verlieren. Noch ganz unverbildet, ein echter Sohn des munter fabuliren-
den Schleſiens, ſang Joſeph v. Eichendorff ſeine friſchen Lieder wie der
Vogel auf den Zweigen. Er hatte ſeine entſcheidenden Jahre unter den
Heidelberger Romantikern verlebt und gleich den namenloſen Sängern
des Wunderhorns beherrſchte er nur einen engen Kreis von Bildern und
Gefühlen; doch wenn er in guten Stunden das fröhliche Wandern über
Thäler weit und Höhen beſang, oder Freud’ und Leid des frommen Hauſes
oder den träumeriſchen Zauber der deutſchen Gebirgslandſchaft mit dem
Mühlenrad im kühlen Grunde, dann fand er Worte, die ſich der Muſik
von ſelber fügten. Von den Poeten der ſtrengkatholiſchen Romantik wußte
keiner das einfach Menſchliche ſo unmittelbar, ſo liebenswürdig auszu-
ſprechen. Was bei Anderen Doktrin war bei ihm Natur. Er lebte mit
ſeinem warmen Herzen in der Welt der Ritter, der Mönche, der fahren-
den Schüler, er half bei dem Wiederaufbau der Marienburg ſo freudig
mit als gälte es ſeinem eigenen Hauſe, und wenn er in ſeinen literar-
[689]Eichendorff. Rückert.
hiſtoriſchen Schriften ganz nach clericaler Weiſe die Reformation als den
Quell alles Uebels, die claſſiſche Literatur als eine ſchöne Verirrung, die
Romantik als die Blüthe deutſcher Dichtung darſtellte, ſo klang das Alles
ſo ritterlich treuherzig, daß ſelbſt die Gegner ihm nicht zürnen konnten.
Unvergleichlich reicher war die Gedankenwelt, welche Friedrich Rückert
als „König eines ſtillen Reichs von Träumen“ beherrſchte.
ſo ſchildert er ſich ſelbſt. Selten iſt ein Dichter ſo ganz aufgegangen in
poetiſcher Beſchaulichkeit. Wenn er Stunden und Tage lang unter den
Blumen ſeines Gartens umherging oder dem Geſange der Vögel lauſchte
oder ſinnend auf der Bank am Weinbergshäuschen ſaß, dann wurde ihm
alles Erlebte zum Gedichte, die kleinen Vorfälle im Hauſe ſo gut wie
die großen Kämpfe des Vaterlandes und die Ergebniſſe ſeiner gelehrten
orientaliſchen Sprachforſchung. Unter der Fülle von Tönen, die alſo un-
aufhörlich der „ſtets geſtimmten Leier“ des Improviſators entrauſchten,
war manches leere Reimgetändel und auch die Plattheiten des hausbackenen
Meiſterſangs fehlten nicht; erfreulich blieb es doch, wie hier die Welt
verklärt wurde durch die Weisheit eines lauteren Dichtergeiſtes, der für
die Natur nicht gefühlsſelig ſchwärmte, ſondern andächtig in und mit
ihr lebte. In den lachenden Thälern des fränkiſchen Haßberglandes, ſo
recht in Deutſchlands warmer Mitte war er aufgewachſen, ein Sohn des
Dorfs „der unter Kraut und Rube nicht gelernt hat Stadtverſtand“.
Zwei ländliche Patriarchen, der Theolog Hohnbaum und der Freiherr
von Truchſeß auf der Bettenburg führten ihn zuerſt auf die Höhen deut-
ſcher Bildung. Der gewaltige Recke mit dem ſtarkknochigen ernſten Geſicht
und der flatternden Mähne fühlte ſich nie wohler, als wenn er in der
Mütze und dem langen groben Rocke des fränkiſchen Bauersmannes, den
Knotenſtock in der Hand, die geliebte Heimath durchwanderte; ſo treu wie
Uhland an Schwaben hing er an ſeinem Franken. Er hörte wirklich was
die Schwalbe ſang und was die Blätter der Bäume flüſterten; er fühlte
mit der ſterbenden Blume, die am ewigen Flammenherzen der Welt ver-
glimmt. In ihm lebte noch etwas von dem urkräftigen Naturſinne jener
grauen Vorzeit, da die Germanen einſt die Thiere des Waldes in ihren
Kämpfen und Liſten belauſchten, und er vergeiſtigte dies Naturgefühl zu einer
poetiſchen Weltanſchauung, die man mit Recht als chriſtlichen Pantheismus
bezeichnete. In allem Geſchaffenen ſah er die Offenbarung des liebenden
All-Einen, und jedes Danklied, das aus der Lebenswonne dieſer glänzenden,
duftenden, klingenden Welt emporſtieg, war ſeinem Herzen vernehmlich:
Nachdem Byron’s farbenglühende Schilderungen und Goethe’s Divan
den Deutſchen die Sehnſucht nach dem Orient geweckt hatten, gab Rückert
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 44
[690]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
ſeine Oeſtlichen Roſen heraus. Dieſer Liederſtrauß und die zahlreichen
Nachbildungen indiſcher, perſiſcher, arabiſcher Gedichte, welche der Uner-
müdliche folgen ließ, machten unſere gebildete Welt mit dem Leben des
Oſtens vertraut, und jeder junge Lyriker meinte ſich fortan verpflichtet,
zuweilen einmal in einem Ghaſel die flötende Bülbül zu beſingen. Die
deutſche Sprache hatte jetzt das Ziel erreicht, das ihr einſt die Ueberſetzungs-
künſtler der Romantik gewieſen hatten, ſie war zur poetiſchen Weltſprache
geworden; ſelbſt die ungeheuerlichen Wort- und Buchſtabenſpiele der Ma-
kamen des Hariri wußte der kunſtfertige Nachdichter zu überwinden. Der
dauernde Gewinn aus dieſen morgenländiſchen Weltfahrten blieb freilich
ſehr weit zurück hinter jenem Schatze lebendiger Formen und Stoffe, welchen
die älteren Romantiker einſt aus der Dichtung der blutsverwandten Eng-
länder und Romanen heimgebracht hatten. In das Traumleben des
Oſtens konnte ſich der thatkräftige Weltſinn der Germanen doch nur mit
gewaltſamer Anſtrengung verſenken, und der künſtliche Parallelismus des
orientaliſchen Versbaues mit ſeinen eintönigen Wiederholungen wider-
ſprach geradezu der leidenſchaftlichen Natur unſerer Sprache, die überall
nach einem kräftigen Abſchluß verlangt. Reine Freude vermochten die
weſt-öſtlichen Dichter nur dann zu erwecken, wenn ſie, wie Goethe im
Divan, die orientaliſche Form lediglich als eine leichte Hülle zur Umkleidung
deutſcher Gefühle brauchten. Rückert ſelbſt kehrte aus dem Roſenhain
von Schiras immer wieder zu ſeinen fränkiſchen Blumenbeeten, von Fa-
time und Suleika zur Agnes und Anne Marie zurück; und wie er vor-
mals den Krieg gegen Napoleon mit ſeinen geharniſchten Sonetten be-
gleitet hatte, ſo warf er auch ſpäterhin noch manches Zeitgedicht in die
Kämpfe des Tages — auch er ein Herold von Kaiſer und Reich und
ein bürgerlicher Proteſtant, der den Idealen des Befreiungskrieges ſich
niemals entfremdete.
Schwerer, langſamer reifte Adelbert von Chamiſſo zum Dichter heran,
weil er zuvor erſt ein Deutſcher werden mußte. Als er im Sommer 1813
das ſchelmiſche Märchen von Peter Schlemihl ſchrieb, folgte er unbefangen
einer heiteren Eingebung ſeiner Phantaſie, und hegte nicht die Abſicht,
in dem Bilde ſeines tragikomiſchen Helden ſich ſelber, den vaterlandsloſen
Emigrantenſohn darzuſtellen. Gleichwohl fühlte er ſich während des deutſch-
franzöſiſchen Krieges wirklich noch ſo rathlos wie der Mann ohne Schatten;
erſt fünf Jahre ſpäter, da er von ſeiner Weltumſegelung heimkehrte,
waren die Zweifel ganz überwunden, und er wußte, daß ſein Staub nur
in deutſcher Erde ruhen dürfe. Als er dann eine heißgeliebte deutſche Frau
heimgeführt und unter den Berliner Naturforſchern eine geachtete Stellung
gefunden hatte, da erblühte ihm auf der Höhe der Mannesjahre noch
eine zweite ſchönere Jugend, und er bewies noch deutlicher als die vielen
tüchtigen Männer der hugenottiſchen Kolonie, was aus dem edlen fran-
zöſiſchen Blute in deutſcher Umgebung werden kann. Selige Stunden,
[691]Chamiſſo.
wenn er jetzt, der Heimath froh, in ſeinem beſcheidenen Hauſe am ein-
ſamen äußerſten Ende der Großen Friedrichsſtraße oder draußen unter
den alten Bäumen des Botaniſchen Gartens ſaß und in den Wolken
der nie verlöſchenden Tabakspfeife die Geſtalten ſeiner Dichtung ihn um-
ſchwebten. Ohne jede Abſicht trug er eine Erinnerung aus ſeinen Wan-
derfahrten, ein häusliches Erlebniß, ein bedeutſames Wort, eine Zeitungs-
anekdote lange im Herzen umher, und was ihn ſelber „im Leibe von
der Seite der linken Pfote bewegte“ — ſo ſagt er ſelbſt mit unverkennbar
franzöſiſcher Redewendung — das drängte ſich ihm endlich auf die Lippen.
Aber ſo naiv er im Empfangen war, ſo bewußt und künſtleriſch verfuhr
er beim Geſtalten. Seiner franzöſiſchen Abſtammung verdankte er den
Sinn für packende Wirkung, ſeine neckiſche Laune und die glückliche Be-
ſtimmtheit ſeiner immer knappen, wohlabgerundeten Schilderungen, die zu
Rückert’s breiter Wortfülle in ſcharfem Gegenſatze ſtanden. In ſeiner
Empfindung war er ganz deutſch, ſo mild und liebevoll, daß er ſogar
den Bauern, die über das frevelhaft zerſtörte Schloß ſeiner Väter ihren
Pflug führten, ſeinen Segen zurufen konnte.
Und wunderbar, dieſer Fremdling, der im Geſpräche den Fran-
zoſen nie verleugnete, beherrſchte in ſeinen Gedichten das Deutſche als
ein Meiſter und verdankte einen guten Theil ſeiner Erfolge der geheim-
nißvollen Macht ſeiner gedrungenen Sprache. Auch der kräftige Erdge-
ruch landſchaftlicher Eigenart, der allen unſeren bedeutenden Schriftſtellern
anhaftet, war ſeinen Gedichten nicht fremd. Wie er in ſeiner Jugend
ſich den Nordſtern zum Sinnbild gewählt hatte, ſo ward er im Alter
ein Liebling der Norddeutſchen, weil er die wortkarge Weiſe ihrer ſtarken
Empfindung zu treffen wußte; ſogar ein Zug des guten alten Berliner-
thumes, das ſelber ſo reich mit franzöſiſcher Bildung verſetzt war, ließ
ſich in ſeinen Gedichten erkennen. Von der Romantik ausgegangen ſuchte
er ſich ſeine Stoffe an allen Enden der Welt und beſang bald in ſchlich-
ten, tief empfundenen Liedern das Allereinfachſte, der Frauen Liebe und
Leben, bald in kunſtvollen Terzinen die Blutrache der Rothhäute und
die Meereseinſamkeit der Südſeeinſeln. Seine ſchönſten Gedichte gehörten
dem modernen Leben an, das immer gebieteriſcher ſein Recht von der
Kunſt verlangte, und wenn das Gewoge der Parteiung die Grundlagen
der Geſittung bedrohte, dann ſchrak Chamiſſo’s friedfertige Natur auch
vor einem ſcharfen Kampfgedichte nicht zurück. Als die Jeſuiten in Paris
wieder ihr Haupt erhoben, ſang er, ſeinen Beranger noch übertreffend,
das Nachtwächterlied „und der König abſolut, wenn er unſern Willen
thut!“ Auch das Elend der Maſſen hörte er ſchon an das Thor der
alten Geſellſchaft klopfen und ſchilderte die Noth der kleinen Leute in dem
furchtbar bitteren Gedichte vom Hunde des Bettlers, wie ſpäterhin milder
in den Liedern von der alten Waſchfrau.
Alle dieſe Dichter lebten mit ſich ſelbſt im Reinen, glücklich in dem
44*
[692]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
Bewußtſein gottbegnadeter Künſtlerſchaft. In der ſchwermüthigen Er-
ſcheinung des Grafen Auguſt Platen bekundete ſich dagegen ſchon die Zer-
riſſenheit eines neuen Geſchlechts, ein düſterer Weltſchmerz, „dem Leben
Leiden iſt und Leiden Leben.“ Ein ſtolzer, hochſtrebender Dichtergeiſt,
dem nur die reichſten Kränze genügten, bildete Platen durch unabläſſigen
Künſtlerfleiß ſeinen angeborenen Sinn für Wohllaut und Formenreinheit
zur Meiſterſchaft aus und brachte die Technik unſerer lyriſchen Dichtung
auf ihre höchſte Stufe. In Ghaſelen und Sonetten, in den ſchwierigſten
lyriſchen Formen aller Zeiten und Völker bewegte er ſich mit der gleichen
Sicherheit, am natürlichſten doch in den rythmiſch bewegten Versmaßen
der Alten; Niemand verſtand wie er, ernſte, würdige Gedanken in die
langhinwallenden Falten einer feierlichen Ode zu ſchlagen. Aber es lag
ein Hauch der Kälte über dieſem kunſtvollen Tongefüge. Dem Dichter
fehlte die Liebe, wie Goethe ihm vorwarf: nicht blos die Frauenliebe, die
doch allezeit der Nerv der lyriſchen Dichtung bleibt, ſondern die Fähig-
keit ſich hinzugeben, ganz hinauszugehen aus ſeinem anſpruchsvollen Ich.
Er dichtete mehr für Künſtler und Kenner als für die Maſſe der unbe-
fangen Genießenden und liebte darum Stoffe, die von Hiſtorikern und
Malern ſchon fertig geſtaltet waren. Wenn er im Dogenpalaſte an das
Prachtgeländer der Rieſentreppe gelehnt, des Volks von Königen gedachte,
das dieſe Marmorhallen durfte bauen, dann zauberte er dem Kundigen
mit wenigen majeſtätiſchen Worten eine Welt großer Erinnerungen, die
ganze Farbenpracht der Bilder Paolo Veroneſe’s vor die Seele; doch wenn
er verſuchte ſelber ins volle Menſchenleben hineinzugreifen und zu er-
zählen, wie dem alten Gondolier der Lagune zu Muthe war, dann ſprach
er kühl und matt.
Seine Wirkſamkeit reichte weit hinaus über die kleine Gemeinde
fanatiſcher Verehrer, die ſich bald um ſeinen Namen ſammelte, ſie iſt nur
dem ganz verſtändlich, der in die Werkſtätten der Schaffenden geblickt hat.
Unzähligen Bildhauern, Malern, Dichtern wurde Platen ein ſtiller Lebens-
begleiter, ein Tröſter in den äſthetiſchen Verſuchungen des Künſtlerlebens,
grade weil der Inhalt ſeiner Gedichte das Herz kalt ließ. An der ab-
ſtrakten Schönheit ſeiner Rhythmen lernte manche überreizte Phantaſie die
Geſetze des Maßes wieder verſtehen, an dem Marmor dieſer reinen Formen
kühlte ſich manche fiebernde Stirn. Solche Erfolge befriedigten den Ehr-
geiz des Dichters nicht. Nur im Selbſtlob geſchmacklos, ward er nicht
müde, ſein eigenes Verdienſt oder, was noch eitler klang, „den Genius,
welcher beſucht mich“ ſeinen Leſern anzupreiſen. Der Mißmuth, der dieſen
Unbefriedigten verzehrte, entſprang nicht blos dem Schmerz über die
Widerſprüche des Lebens und die dunklen Räthſel der Weltordnung, ſon-
dern auch dem Gefühle innerer Unſicherheit. Platen empfand, daß ſeine
Dichterkraft dem großen Wollen nicht entſprach.
Verſtimmt über den Kaltſinn ſeiner Landsleute und zudem gefeſſelt
[693]Platen.
durch die Schönheit des Südens, verlebte er ſeine letzten Jahre in Italien
und ſagte was kein Deutſcher ſagen darf: „Wie bin ich ſatt von meinem
Vaterlande!“ Mit ihm begann eine neue, wenig erfreuliche Spielart des
deutſchen Kosmopolitismus. Die deutſchen Weltfahrer der guten alten Zeit
hatten ſich, wenn ſie nicht heimkehrten, zumeiſt wenig um die Heimath be-
kümmert. Der erleichterte Reiſeverkehr und das regere politiſche Leben des
neuen Jahrhunderts bewirkten, daß ſich bald überall in der Welt deutſche
Männer fanden, die aus mannichfachen Gründen, viele nur aus Aerger
oder aus Bequemlichkeit, ihr Leben im Auslande verbrachten und gleichwohl,
da ſie ihr Volksthum treu bewahrten, ſich berufen glaubten in den Hän-
deln des Vaterlandes ohne nähere Kenntniß mitzureden. Die Zahl dieſer
heimathloſen Patrioten wuchs nachher durch die politiſchen Verfolgungen
beträchtlich an, und allmählich ward es zur Regel, daß jedes vaterländiſche
Ereigniß von einem vollen Chor deutſcher Stimmen aus der Fremde
begleitet wurde. Einzelne der Ausgewanderten gewannen zwar in großen
Verhältniſſen freieren Weltſinn und ein Verſtändniß für die letzten Gründe
unſerer politiſchen Schwäche; die meiſten aber verfielen der natürlichen
Erbitterung der Emigranten. Ihre gellenden Klagen über das deutſche
Elend vergifteten nur die öffentliche Meinung daheim und beſtärkten das
Ausland in ſeiner ungerechten Geringſchätzung.
In Platen’s Seele lebte ein kräftiger Nationalſtolz, und oftmals
gab er dem unbeſtimmten Freiheitsdrange der Zeit erhabenen Ausdruck:
Nach der Julirevolution trat er gradezu als politiſcher Dichter auf. In
den ſtillen Jahren vorher pflegte er ſeine politiſchen Gedanken meiſt in
die Parabaſen ſeiner Literaturdramen einzuflechten. Da ſeine drama-
tiſchen Verſuche gänzlich mißlangen, ſo beſchied er ſich „ſtatt des Welten-
bildes nur ein Bild des Bilds der Welt zu geben.“ Er ſelber ſagte zwar,
daß er dieſe Zwittergattung nur wähle, weil der Sonnenſchein der Frei-
heit ſeine Tage nicht erhelle. In Wahrheit folgte er dem Drange ſeines
ſtarken ſatiriſchen Talents; in keinem ſeiner Werke offenbarte ſich neben
vollendeter Kunſt ſo viel Naturkraft wie in den beiden ariſtophaniſchen
Luſtſpielen: die verhängnißvolle Gabel und der romantiſche Oedipus.
Literariſcher Streit veraltet ſchnell und erſcheint den Nachlebenden bald
widerwärtig; der ſchweflige Geruch des Pulvers beläſtigt noch, wenn der
gewaltige Donner des Geſchützes ſchon verhallt iſt. Die Erſcheinung
dieſer Literaturdramen bewies allerdings, daß unſere Dichtung ſchon in
den Zuſtand der Überreife einzutreten begann, doch in einer büchervollen
Welt war die dramatiſch ausgeſtaltete literariſche Satire, die von der
Bühne ganz abſah, nicht unberechtigt, beſſer berechtigt zum mindeſten als
[694]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
das Leſedrama, das nur aus Unvermögen den Anſprüchen der Bühne
nicht genügte. Und wie kräftig ſchwang der Satiriker ſeine Geißel.
Manche Witze klangen gezwungen, und mancher Schlag fiel auf edle
Häupter, ſo auf den jungen Immermann, der allerdings den Dichter des
Münchhauſen noch nicht ahnen ließ; im Ganzen war es doch ein guter
Kampf gegen das Platte und Leere, gegen geſpreizte Unnatur und gemeine
Betriebſamkeit. Prachtvoll hoben ſich dann von dem Spiele des ſcharfen
Witzes die gedankenſchweren Parabaſen ab. Hier verkündete der Dichter
mit ungewohntem Feuer, wie tief er ſelber in das Weltgeheimniß der
Schönheit eingedrungen war. Stolzer hatte ſeit Schiller’s „Künſtlern“
Niemand mehr über den Beruf des Dichters geſprochen; wie ein Nachhall
aus Weimars ſchönheitsfrohen Tagen klang jene herrliche Weiſſagung, die
ihr Recht behalten wird ſo lange die Deutſchen ſich ſelber treu bleiben:
Neben dieſen bedeutenden lyriſchen Talenten erſchien die epiſche Dich-
tung arm. Auch ſie wurde bereits von dem realiſtiſchen Zuge der Zeit
ergriffen. Seit 1821 ſchrieb Tieck ſociale Novellen, die alles Märchen-
hafte abweiſend, ihren Stoff dem wirklichen Leben, zumeiſt der Gegenwart,
entnahmen. So führte derſelbe Dichter, der ſich einſt am weiteſten im
Zaubergarten der Romantik verloren hatte, jetzt eine neue, ganz moderne
Kunſtgattung in Deutſchland ein — denn Kleiſt’s Erzählungen wurden noch
wenig beachtet und die Novellen aus den Wanderjahren beanſpruchten
nicht als ſelbſtändige Dichtungen zu gelten. Er wollte, wie die alten ita-
lieniſchen Novellendichter, ein überraſchendes, außerordentliches Ereigniß
aus der Wirklichkeit in ſpannender, raſch anſteigender Erzählung dar-
ſtellen. Seinem eigenartigen Talente, dem das Einfache ſtets am fern-
ſten lag, bot die Novelle mit ihren erlaubten Seltſamkeiten, ihren ver-
wickelten pſychologiſchen Problemen einen dankbareren Boden als vormals
das Drama, das, demokratiſch von Haus aus, nur durch große gemein-
verſtändliche Motive wirken kann. Aber zur claſſiſchen Vollendung ge-
langte er auch hier nicht. Die Goetheſche Ehrfurcht vor dem Wirklichen,
die epiſche Ruhe blieb ihm fremd; er konnte es nicht laſſen, beſtändig
ſelber aus dem Rahmen der Erzählung hervorzuſchauen, ſo daß dem
Leſer die geiſtreichen Bemerkungen des Dichters über Kunſt, Religion,
Geſellſchaft oft wichtiger ſchienen als die Novelle ſelbſt. Von der gläu-
bigen Phantaſterei ſeiner Jugend hatte er ſich längſt befreit; ja in ſeiner
Novelle: „Die Verlobung“ kämpfte er gegen die frömmelnde Mode des
Tages mit ſolcher Schärfe, daß ſeine ſtreng katholiſche Tochter Dorothea
und andere fromme Freunde ſich entſetzten, Goethe aber dem Dichter Glück
wünſchte, der endlich einmal „einen klaren blauen Himmel des Menſchen-
verſtandes und reiner Sitte eröffnet habe“. Aller ſeiner Schrullen war
der alte Romantiker doch nicht Herr geworden. Immer wieder ſtörte er
[695]Tieck’s Novellen. Raumer’s Hohenſtaufen.
den Leſern ihren Glauben durch willkürliche Einfälle und unmögliche Er-
findungen oder gar durch den ſchlechthin unpoetiſchen Spuk des Tollhauſes.
Gleichwohl errangen dieſe Novellen, die uns heute ſo fremd anmuthen,
einen großen und berechtigten Erfolg; denn ſie wieſen unſerer erzählenden
Dichtung ein neues Ziel, das der nationalen Empfindung zuſagte. Der
behagliche, breit ausgeſponnene Roman gelang den leidenſchaftlichen deut-
ſchen Naturen ſelten, die raſchere Bewegung der Novelle war ihnen ver-
ſtändlicher, und bald fand Tieck auf ſeinem neugebahnten Wege zahlreiche
begabte Gefährten.
Zugleich begann der Realismus der Geſchichtswiſſenſchaft auf die
Dichtung einzuwirken. Die Maſſe der hiſtoriſchen Romane ſchwoll an,
und neben vielen verfehlten Verſuchen erſchien doch auch ein Werk von
geſunder Lebenskraft, der Lichtenſtein des Schwaben Hauff, eine Geſchichte
aus der ſchwäbiſchen Reformationszeit, nicht reich an Gedanken, aber an-
heimelnd durch gemüthliche Wärme und den ſeltenen Liebreiz der Erzäh-
lung. Noch ſtärker wurden die Dramatiker von der hiſtoriſchen Welt an-
gezogen, ſogar Grillparzer, der ſonſt ſo gerne einſam ſeines Weges ging.
Die dumpfe Luft des alten Oeſterreichs war freilich der hiſtoriſchen Dich-
tung nicht günſtig. Bancbanus, „der treue Diener ſeines Herrn“, ließ
deutſche Hörer kalt, weil ihnen die naturgetreu geſchilderte unerſchütter-
liche Bedientenhaftigkeit des k. k. Beamten wie eine tolle Erfindung vor-
kam, und als Grillparzer dann in ſeinem König Ottokar freiere Töne an-
ſchlug, ſchritt die Wiener Cenſur ein, weil ſie den Unwillen der Czechen
fürchtete. Immermann, Grabbe und viele andere junge Poeten verſuchten
ſich als hiſtoriſche Dramatiker, und der betriebſame Raupach in Berlin,
der immer genau wußte, woher der Wind im Publikum wehte, ſchickte ſich
bereits an, die geſammte Geſchichte der ſtaufiſchen Zeiten in fünffüßige
Jamben zu zerſchneiden, die dann wieder kunſtvoll zu fünfaktigen Tragödien
zuſammengenäht wurden. —
Als Fundgrube diente der Mehrzahl dieſer Dichter die Geſchichte der
Hohenſtaufen von Friedrich v. Raumer, der erſte glückliche Verſuch um-
faſſender politiſcher Geſchichtserzählung, der ſeit dem Wiederaufleben der
hiſtoriſch-philologiſchen Forſchung gewagt wurde (1823). Schon der mäch-
tige Stoff, das hiſtoriſche Ideal des Zeitalters der Romantik, gewann dem
Werke die Herzen der Leſer. Raumer’s Geſinnung war ganz modern,
obwohl er mit Tieck, Eichendorff und anderen romantiſchen Dichtern
freundſchaftlich verkehrte. Er urtheilte mit dem weltmänniſchen Wohl-
wollen eines verſtändigen Beamten der Hardenbergiſchen Schule; weder
die Myſtik des Chriſtenthums, noch die aus Unbeſtändigkeit und Treue ſo
ſeltſam gemiſchte Empfindungsweiſe der mittelalterlichen Menſchen war
ihm recht vertraut. Der friſchen, klaren, lebendigen Darſtellung fehlten
Macht und Tiefe, und den Streitfragen der hiſtoriſchen Kritik ging Rau-
mer meiſt behutſam vermittelnd aus dem Wege. Immer blieb dem Buche
[696]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
das große Verdienſt des erſten Wurfs, die hohen Geſtalten unſerer alten
Kaiſer traten den gebildeten Deutſchen wieder menſchlich näher, am deut-
lichſten wohl das Charakterbild Kaiſer Friedrich’s II. Nun das Eis ge-
brochen war, fanden auch andere Werke politiſcher Geſchichtsdarſtellung
freundliche Aufnahme, ſo Stenzel’s Geſchichte der oſtfränkiſchen Kaiſer und
Johannes Voigt’s Geſchichte des Ordenslandes Preußen.
Als ob er ahnte, daß der große Tag der deutſchen hiſtoriſchen Kunſt
herannahte, ſchrieb Wilhelm Humboldt um dieſe Zeit (1822) ſeine Ab-
handlung über die Aufgabe des Geſchichtsſchreibers, eine geiſtvolle Schrift,
die in Form und Inhalt den Uebergang von der philoſophiſchen zur
hiſtoriſchen Weltanſchauung darſtellte. Den geheimnißvollen Dualismus,
der in dem ſittlichen Leben unſeres ſtaubgeborenen und gottverwandten
Geſchlechts unverkennbar waltet, ſuchte er dadurch zu erklären, daß er
eine hinter den Erſcheinungen der Geſchichte ſtehende Ideenwelt annahm.
Geſchichte war mithin Darſtellung des Strebens einer Idee, Daſein in
der Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Hiſtoriker fiel die zweifache Aufgabe
zu, das Geſchehene thatſächlich zu ergründen und das Erforſchte dergeſtalt
zu verbinden, daß die Nothwendigkeit der Ereigniſſe erwieſen und die Rath-
ſchlüſſe der göttlichen Weltregierung erkannt würden. Es war eine groß-
artige Anſicht, die zugleich mit Zartheit das perſönliche Leben, mit Freiheit
die allgemeinen Mächte der Geſchichte zu verſtehen ſuchte; ſie ſicherte der
Geſchichtſchreibung großen Stiles ihre gebührende Stelle auf der Grenze
zwiſchen Wiſſenſchaft und Kunſt. Die Frage, wie ſich die Welt der Ideen
zu der bewußten Thatkraft der wollenden Menſchen eigentlich verhalte
— dieſe entſcheidende Frage blieb freilich unerörtert. Humboldt’s Bruder
Alexander erhob daher den Einwand: dieſe Ideen kämen ihm vor wie
jene unerweisbaren Lebenskräfte, welche der Phyſiolog annehme ſobald
er mit ſeinen Beobachtungen nicht mehr weiter könne. Wilhelm aber ließ
ſich nicht beirren; er wußte, daß die Geiſteswiſſenſchaft nicht wie die Natur-
wiſſenſchaft allein den Geſetzen der Logik folgen darf, daß ſie ihre letzten
und höchſten Gedanken nur ahnen, nicht ganz erweiſen kann.
Inzwiſchen traten ſchon die beiden Gelehrten auf die Bühne, welche
in der nächſten Zukunft die deutſche Geſchichtſchreibung beherrſchen ſollten,
Schloſſer und Ranke. F. C. Schloſſer zählt zu den erſtaunlichſten Er-
ſcheinungen unſerer Literatur-Geſchichte; denn ſelten geſchieht es, daß ein
Mann, der innerlich einer ganz anderen Zeit angehört, dennoch auf die
Mitwelt mächtig einwirkt. Er war ein Sohn des achtzehnten Jahrhun-
derts, ganz und gar erfüllt von dem ſtrengen Pflichtbegriffe Kant’s. In
ſcharfem Gegenſatze zu Rotteck, der immer nur den Bürgersleuten das
Wort von den Lippen nahm, betrachtete er die Parteikämpfe des Tages
mit unverhohlener Verachtung. Selbſt die patriotiſche Erregung der Be-
freiungskriege berührte ihn wenig; war er doch im Jeverlande daheim,
draußen unter den Frieſen, die ſich kaum recht zu Deutſchland rechneten.
[697]W. Humboldt. Schloſſer.
Hinter ſchroffen, rauhen Formen verbarg er ſchamhaft ein zartes, reiches
Gemüth. Erſt in reifen Jahren gelangte er durch den Einfluß ſanfter,
edler Frauen zum inneren Frieden und führte fortan in Heidelberg viele
Jahre lang ein ſtilles Gelehrtenleben: die Selbſtbeſchauung und Selbſt-
vollendung der freien Perſönlichkeit blieb ihm des Daſeins höchſter Zweck.
Der ſtarke myſtiſche Zug, der in ſeiner Seele dicht neben dem philoſophi-
ſchen Erkenntnißdrange lag, fand ſeine Befriedigung in Dante’s Werken.
Mit dieſem Dichter lebte er in allen guten Stunden, und weil er wußte,
daß die Thatſachen der Geſchichte erſt vor dem Richterſtuhle des Gewiſſens
Sinn und Bedeutung erhalten, ſo meinte er ſich berufen, gleich ſeinem
Dante ein hiſtoriſches Weltgericht zu halten, über den ſittlichen Werth und
Unwerth alles Geſchehenen nach dem ſtrengen Geſetze Kantiſcher Pflichten-
lehre abzuurtheilen. Seine wiſſenſchaftliche Stärke lag in der umfaſſenden
Kenntniß der Literaturgeſchichte; er zuerſt in Deutſchland verſuchte die
Entwicklung der Dichtung und Wiſſenſchaft in ihrem Zuſammenhange
mit dem geſammten Schickſal der Völker darzuſtellen.
Und dieſer durchaus unpolitiſche Gelehrte wurde gleichwohl ein Wort-
führer der öffentlichen Meinung, weil er der erſte rein bürgerliche Hiſto-
riker Deutſchlands war. Einem freien Bauernlande entſproſſen hatte er
einſt an dem kleinen Hofe von Varel das wüſte Treiben der Emigranten
mit angeſehen, das ſeinen angeborenen Adelshaß bis zum Abſcheu ſteigerte.
Unter den Rechtsſätzen ſeines Kant ſtand ihm keiner ſo feſt wie der Grund-
ſatz der Rechtsgleichheit für alle Theilnehmer am Staatsvertrage. Das
Selbſtgefühl des Bürgerthums, das ſo mächtig anwuchs ſeit die neue
überwiegend bürgerliche Literatur die Nation beherrſchte, fand in Schloſſer’s
Schriften den lauteſten und trotzigſten Ausdruck. Darum galt er für
liberal, obwohl er ſich den conſtitutionellen Ideen nie befreunden konnte;
darum wurde er trotz ſeiner ausgeprägten niederdeutſchen Eigenart den
Süddeutſchen faſt ebenſo lieb wie ihr Rotteck, denn dort im Oberlande
war die bürgerliche Geſinnung zur Zeit noch am ſtärkſten. Schloſſer be-
trachtete den Staat grundſätzlich nur von unten her, vom Standpunkte
der Regierten; niemals verſuchte er ſich in die Lage der Regierenden
hineinzudenken, den Zwang der Umſtände, der ihre Entſchlüſſe beſtimmte,
billig zu würdigen. Da er, wie alle Gemüthsmenſchen, jede Verletzung
ſeines ſittlichen Gefühls mit leidenſchaftlicher Bitterkeit empfand, ſo zeigte
das ſittliche Weltgericht, das er halten wollte, ſehr wenig von der Erhaben-
heit der Göttlichen Komödie. Ungeſchlacht wie er war, ohne Sinn für
den Adel der Form, gerieth er in ein heftiges Poltern und Schelten, die
Freude an der hiſtoriſchen Größe ging ihm verloren, und den Leſern blieb
der troſtloſe Eindruck, als ob die vielgeſtaltige Herrlichkeit der Geſchichte
nur ein ödes Einerlei glücklicher Schurkenſtreiche wäre. Eben dieſe un-
gerechte und unpolitiſche Härte des moraliſchen Urtheils gewann ihm die
Herzen der Mittelſtände; denn die ſtrenge Kantiſche Pflichtenlehre war,
[698]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
verdünnt und verflacht, längſt in das Bürgerthum eingedrungen, und in
dem gedrückten politiſchen Leben dieſer Tage fühlte ſich Jeder im Herzen
erleichtert, wenn die Sünden der Mächtigen der Erde von einem rückſichts-
los ehrlichen Manne gründlich abgeſtraft wurden. Durch die Geſchichte
des achtzehnten Jahrhunderts errang dieſe moraliſirende Geſchichtſchreibung
ihren erſten großen Erfolg, aber erſt im folgenden Jahrzehnt, als Schloſſer
den erſten Entwurf dieſes Buches breiter ausführte, wurde er eine an-
erkannte Macht im deutſchen Bürgerthum.
Beſcheiden und feſt, einer großen Zukunft ſicher, erklärte Leopold Ranke
ſchon in ſeiner Erſtlingsſchrift, den Geſchichten der romaniſchen und ger-
maniſchen Völker (1824), daß er ſich des Amtes, die Vergangenheit zu
richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, nicht
unterwinde. Er wolle „blos zeigen, wie es eigentlich geweſen“. Ver-
traut mit der Philoſophie Fichter’s und Hegel’s, beabſichtigte er durch dies
tiefſinnige Wort keineswegs, dem Hiſtoriker die Darſtellung des Ideen-
gehaltes der Geſchichte zu verbieten, aber in der genauen Ergründung
des Thatbeſtandes ſah er das Nächſte, was der noch ganz verwahrloſten
neuen Geſchichte noth that; und der Quellenkritik dieſes Zeitraums brach
der junge Meiſter ſogleich ſelbſt die Bahn, indem er in einer claſſiſchen
Unterſuchung die Unglaubwürdigkeit der berühmten Hiſtoriker des Cin-
quecento darlegte, die Berichte, die Briefe, die Tagebücher der unmittelbar
Betheiligten als die allein probehaltigen Zeugniſſe empfahl. In dem
Werke über die Fürſten und Völker Südeuropas, das großentheils aus
den unvergleichlichen Geſandtſchaftsberichten der Venetianer geſchöpft war,
trat der Charakter dieſer neuen diplomatiſchen Geſchichtſchreibung bereits
ſchärfer hervor. Weſentlich politiſch, betrachtete ſie den Staat ſtets von
oben. Sie ſuchte die Beweggründe und Abſichten der Handelnden, der
Herrſchenden zu verſtehen und gelangte alſo zu einer vornehmen Zurück-
haltung, welche die Thatſachen meiſt für ſich ſelber reden ließ; durch die
vollſtändige Beherrſchung des Stoffs gewann die Erzählung die ruhige
Schönheit des Kunſtwerks. Wohl lag die Gefahr nahe, daß die Stimme
des Gewiſſens, die in Schloſſer’s Schriften nur zu oft und lärmend ſprach,
in den Werken der diplomatiſchen Hiſtoriker ganz verſtummte, daß der
breite Unterbau der Geſellſchaft, die Maſſe des Volks mit ihrer Noth
und Sorge, mit ihrer Tapferkeit und ihren dunklen Inſtinkten nicht
genugſam beachtet würde, und auch die Kräfte des Gemüths, deren jede
lebenswahre Schilderung des Menſchendaſeins bedarf, die Liebe und der
Humor nicht ganz zu ihrem Rechte kämen. Aber der feſte Grund war
gelegt, auf dem ſich die deutſche Geſchichtsforſchung zur Höhe einer ge-
ſicherten Fachwiſſenſchaft erheben konnte, und die Zeit ſollte noch kommen,
da die anfangs nur von kleinen Kreiſen beachtete Schule Ranke’s die
volksbeliebten Schloſſer’ſchen Werke gänzlich aus dem Felde ſchlug.
Nach allen Seiten hin entfaltete ſich friſch und kerngeſund das
[699]Ranke. Die Germaniſten.
neue Leben der hiſtoriſch-philologiſchen Wiſſenſchaften. Als Karl Ritter
nach Berlin kam, wollten ſich zuerſt keine Zuhörer finden für das unbe-
kannte Fach der Geographie; nach wenigen Jahren ſtand er ſchon als
anerkannter Meiſter da. Unter den claſſiſchen Philologen erforſchte F. G.
Welcker zuerſt mit feinſinnigem Verſtändniß den trilogiſchen Bau der
Tragödien des Aeſchylus, während Lobeck’s Aglaophamus mit ſcharfer,
zuweilen allzu nüchterner Kritik die Wahngebilde der Symboliker zer-
ſtörte und Otfried Müller, den Spuren Niebuhr’s folgend, die Verfaſ-
ſungsgebilde der Dorier aus den ſocialen Zuſtänden des Zeitalters der
peloponneſiſchen Eroberung erklärte. Im Kreiſe der Germaniſten ver-
loren v. d. Hagen und die anderen Dilettanten der erſten Lehrjahre all-
mählich alles Anſehen. Die ſtrengen Forſcher aber hielten zuſammen wie
eine gläubige Gemeinde; ſie genoſſen noch die Seligkeit jugendlicher Er-
kenntniß und empfanden dankbar, daß die Wiſſenſchaft mehr als die Kunſt,
die den Schaffenden ſo leicht vereinzelt, die Herzen zu verbinden vermag.
Der arme Wilhelm Wackernagel ſpürte kaum den Froſt, wenn er in
ſeiner ungeheizten Kegelbahn die langen Winternächte hindurch über den
alten Handſchriften ſaß. Freudig arbeitete Einer dem Anderen in die
Hände. Als Uhland das Leben Walther’s von der Vogelweide geſchildert
und nach Künſtlerart die Dichtung aus der Perſönlichkeit des Dichters
erklärt hatte, ließ Lachmann bald nachher ſeine kritiſche Ausgabe der
Werke Walther’s erſcheinen und widmete das Buch dem Schwaben. Auch
zwei reiche Sammler halfen mit durch ihre Bücherſchätze. Wer die Bi-
bliothek des Frhrn. v. Meuſebach in Berlin benutzen wollte, wurde von
dem witzigen Sonderling unbarmherzig im Leſezimmer eingeſchloſſen, nur
die Gebrüder Grimm, die unwiderſtehlichen hatten freien Zutritt ins Hei-
ligthum. Behaglicher lebte und forſchte ſich’s bei dem Frhrn. v. Laßberg
auf dem alten Schloſſe Meersburg am Bodenſee; dort walteten noch die
Gaſtfreundſchaft und der ritterliche Sinn des Mittelalters.
Im Jahre 1828 ließ Jakob Grimm wieder eines ſeiner grundlegen-
den Werke erſcheinen, die Rechtsalterthümer. Hier lehrte er die Deut-
ſchen das ſinnliche Element ihrer alten Rechtsgeſchichte kennen und zeigte
ihnen, wie Uhland dankbar ſagte, über dem ſteinernen Richterſtuhl die
blühende Linde. Der Sammlerfleiß, der dieſe Maſſe alter Rechtsformeln
und Symbole zuſammengetragen, war ebenſo erſtaunlich, wie die ſtarke
und doch maßvolle Phantaſie, welche ein ſeit Jahrhunderten vergeſſenes
Recht wieder zu beleben, ſeine zerriſſenen Fäden wieder anzuknüpfen ver-
mochte. Ueberall verrieth ſich die Freude an dem frohen, beſeelten Leben
des Mittelalters. Wie Grimm der gemeinen Volksſprache und den Volks-
liedern ſtets den Vorzug gab, ſo entnahm er auch ſeine Kenntniß der
alten Rechtsbräuche mit Vorliebe den Weisthümern, jenen Rechtweiſungen
aus dem Munde des Landvolkes ſelber, welche nur den Germanen eigen-
thümlich, ihm als „ein herrliches Zeugniß der freien und edlen Art unſeres
[700]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
eingeborenen Rechtes“ galten. Obwohl er nur als Alterthumsforſcher,
nicht als Staats- und Rechtslehrer ſchreiben wollte, ſo warfen doch ſeine
Unterſuchungen über die Mark und den Hammerwurf ein erklärendes
Licht auf weite, noch unerforſchte Epochen deutſcher Staats- und Wirth-
ſchaftsgeſchichte, auf jene Zeiten namentlich, da die Germanen von der
Viehzucht zum ſeßhaften Ackerbau übergingen und die tragende Habe die
treibende zurückdrängte. Er zuerſt entdeckte, daß bei der Vermiſchung ver-
ſchiedener Nationen der Kern des Rechtes wie der Sprache noch lange
unverändert bleibt, während die Proceßformen und die Formen der Wörter
ſich raſcher verwandeln.
Einige Ergebniſſe der germaniſchen Forſchung wurden allmählich zum
Gemeingut der Gebildeten, ſeit Karl Simrock die Nibelungen und dann auch
andere mittelhochdeutſche Dichtungen überſetzte — ein geiſtvoller, liebens-
würdiger Rheinländer, dem der Schelm im Nacken ſaß, zugleich Dichter
und Gelehrter, hochbegeiſtert für Deutſchlands alte Größe und die Schönheit
ſeines ſagenreichen heimiſchen Stromes. Als Nachdichter wollte er nicht,
wie die Ueberſetzer aus fremden Sprachen, Alles in blankes, neues Deutſch
übertragen; er begnügte ſich, die dem heutigen Sprachgefühle ganz unver-
ſtändlichen Worte ſchonend zu erſetzen und wahrte alſo jenen alterthüm-
lichen Hauch, der an vaterländiſchen Dichtungen nicht befremdet, ſondern
anheimelt.
Nicht minder fruchtbar wurde dies Jahrzehnt für die Theologie.
In ſeiner Glaubenslehre (1821) führte Schleiermacher die Grundgedanken
der Reden über die Religion mit methodiſcher Strenge durch. Er zeigte,
wie die Religion in der Einheit unſeres inneren Lebens wurzelt, in dem
unmittelbaren Selbſtbewußtſein des Menſchen, das alles Wollen und Denken
beherrſcht und durchdringt. Nicht in dem Führwahrhalten beſtimmter
Dogmen fand er das Weſen des Glaubens, ſondern in der inneren Er-
fahrung von der Erlöſung. Dies innerlich Erlebte wollte er den Denkenden
darlegen und alſo die wiſſenſchaftliche Bildung des Jahrhunderts mit
dem Glauben verſöhnen. Das Unternehmen konnte nicht völlig ge-
lingen; mehr denn einmal überſchritt der große Dialektiker die Schranken
des Erkennens und ſuchte zu erweiſen was jenſeits aller Beweiſe liegt.
Aber ein mächtiger Geiſt ſprach aus dieſer ſeelenvollen Auffaſſung des
Chriſtenthums, eine weitherzige Liebe, die ſelbſt den Gedanken der ewigen
Verdammniß nicht faſſen, an einer allgemeinen Wiederherſtellung aller
Seelen nicht verzweifeln wollte. Bald darauf (1828) eröffneten Ullmann
und Umbreit in ihren „Studien und Kritiken“ einen Sprechſaal für die
Vermittlungstheologie, die ſich von Paulus ebenſo beſtimmt abſchied wie
von Hengſtenberg; die drei großen Richtungen der evangeliſchen Theologie
erſchienen nunmehr ſämmtlich als feſt geordnete Parteien.
Welch eine Wandlung ſeit jenen Tagen kirchlicher Stille, da Schleier-
macher zuerſt wieder die längſt vergeſſene Wahrheit verkündigte, daß die
[701]Schleiermacher’s Glaubenslehre.
Religion die Einſamkeit haſſe. Jetzt war längſt erfüllt, was damals
Arnim unter dem Eindruck der Reden über die Religion geſungen hatte:
In ungewohnter Kraft regte ſich wieder das kirchliche Leben, und mit ihm
eine Fülle des Haſſes. Die unverſöhnlichen Gegenſätze, welche Deutſch-
land barg, traten häßlich zu Tage, als Voß ſtarb (1826) und über dem
Grabe des alten Kämpfers die Parteien ihre Schwerter kreuzten. Pau-
lus, Tiedemann, Schloſſer verherrlichten den ſtreitbaren Rationaliſten, als
ob ihm ein Platz dicht neben Luther und Leſſing gebührte. Görres aber
machte ſich den Hochmuth der Rationaliſten zu nutze und ſchilderte in
einer gewandten Streitſchrift den Verſtorbenen als den geiſtigen König
von Niederdeutſchland: in ihm, wie einſt in der Reformation, hätte ſich
der hausbackene Bauernverſtand der ſaſſiſchen Niederungen verkörpert.
Dieſer nordiſchen Welt des platten Verſtandes ſtehe aber ein anderes,
ſchöneres Deutſchland gegenüber: der reiche Süden mit ſeiner Phantaſie,
ſeiner Kunſt, ſeiner katholiſchen Kirche! — Wo war die Brücke, welche
über dieſe ungeheuere Kluft hinüberführte?
Unterdeſſen begannen die radicalen Ideen, welche ſeit den Revolu-
tionen Südeuropas den Welttheil wieder erfüllten, auch in die deutſche
Literatur einzudringen. Die prahleriſche Selbſtgefälligkeit des Teutonen-
thums konnte nach ſo vielen getäuſchten Hoffnungen nicht mehr dauern,
ein Umſchwung war nothwendig, und in der Geſchichte unſeres ſchwer
lebenden Volkes pflegen ſolche Rückſchläge meiſt heftig, gewaltſam, mit
elementariſcher Macht einzutreten. Immer blieb es ein Zeichen politiſcher
Unreife und verſchrobener Zuſtände, daß die Umſtimmung diesmal ſo
ganz unvermittelt erfolgte. Der neue Radicalismus, der jetzt, ohne die
Spitzen unſerer Bildung zu berühren, in der Jugend und den Mittel-
klaſſen überhandnahm, war undeutſch vom Wirbel bis zur Sohle; er ver-
höhnte ſchlechthin Alles was den Helden von Leipzig und Belle-Alliance
heilig geweſen, unſere Dichtung und Wiſſenſchaft, unſeren chriſtlichen
Glauben, ſelbſt die Thaten des Befreiungskrieges, und ſuchte ſeine Ideale
in demſelben Lande, das jene Aelteren mit glühendem Haſſe verfolgt
hatten. Es war ein Unheil für die beiden Nachbarvölker, und leider eine
nothwendige Folge der vielen zwiſchen ihnen noch ſchwebenden ungelöſten
Machtfragen, daß ſie niemals in ein ruhiges Verhältniß gegenſeitiger
Achtung gelangten; das Urtheil der Deutſchen über die Franzoſen ſchwankte
unſicher zwiſchen Haß und Ueberſchätzung. In Frankreich wuchs ein junges
Geſchlecht heran, die blutigen Gräuel der Revolution waren vergeſſen, alle
[702]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
Welt ſprach wieder von der Glorie der Baſtilleſtürmer, und in dies Selbſt-
lob der Franzoſen ſtimmte eine Schaar von Deutſchen, die mit jedem Jahre
wuchs, begeiſtert ein. Unwiderſtehlich drangen ſeit der Mitte der zwan-
ziger Jahre Frankreichs politiſche Ideen über den Rhein hinüber.
Niemals in aller Geſchichte hat ſich der Sieger ſo freiwillig unter
das Joch des Beſiegten gebeugt. Als Frankreich im Zeitalter Lud-
wig’s XIV. unſere Bildung beherrſchte, da konnte das entvölkerte und ver-
ſtümmelte Deutſchland von dem galliſchen Sieger faſt nur empfangen.
Jetzt behaupteten die Franzoſen nur noch in den exakten Wiſſenſchaften
den Vorrang, auf allen anderen Gebieten der Literatur und Kunſt waren
die Deutſchen ihnen ebenbürtig oder überlegen. Mochte der Deutſche ſeinen
Nachbarn um die früher errungene Staatseinheit mit Recht beneiden,
Preußen zum mindeſten beſaß in ſeiner nationalen Krone, ſeiner Wehr-
pflicht, ſeinem Schulweſen, ſeiner Selbſtverwaltung, ſeinem redlichen Be-
amtenthum alle die Grundlagen eines geordneten und freien politiſchen
Lebens, welche dem franzöſiſchen Staate fehlten. Aber der laute, von
den Pariſer Kammerrednern und Zeitungsſchreibern mit ſo glänzendem
Talent geführte Parteikampf erſchien der radicalen Jugend Deutſch-
lands nicht als ein Beweis hoffnungsloſen inneren Unfriedens, ſondern
als ein Zeichen hochausgebildeter Freiheit; denn in weiten Kreiſen der
Halbgebildeten herrſchte noch von den erſten Zeiten der Revolution her,
wie Niebuhr mit Trauer bemerkte, die ſtaatsfeindliche Anſicht: „daß die
ganze Aeußerung der Freiheit im Conflict beſteht: im Conflict der Depu-
tirten und der Regierung, im Conflict des Einzelnen gegen den Souverän.“
In Wahrheit hatten die Deutſchen nur wenig zu lernen von der unnatür-
lichen Verquickung engliſcher Parlamentsbräuche mit napoleoniſchem Ver-
waltungsdespotismus, welche die Franzoſen als conſtitutionelle Monarchie
rühmten. Was jetzt als neueſte politiſche Weisheit aus Frankreich herüber-
kam, war für uns im Grunde nur ein Anachronismus, ein friſcher Aufguß
jener durch Niebuhr und Savigny längſt wiſſenſchaftlich überwundenen
formaliſtiſchen Staatslehre, welche das Weſen der Freiheit allein in der
Verfaſſung ſuchte. Die Bewunderung des franzöſiſchen Weſens wirkte jetzt
nur verwirrend und bethörend; ſie entfremdete unſere Jugend dem Vater-
lande, ſie raubte ihr die Ehrfurcht vor den Helden der Nation, ſie verdarb
ihr das Verſtändniß für die vorhandenen Anfänge einer geſunden natio-
nalen Politik, ſie vergiftete die ohnehin mächtige Mißſtimmung noch künſt-
lich durch die revolutionären Schlagworte und den maßloſen Parteihaß der
Nachbarn. Die jungen Deutſchen, die in dem Bannkreiſe dieſer franzöſiſchen
Anſchauungen aufwuchſen, wußten kaum, daß Gneiſenau noch in voller
Manneskraft unter uns lebte, und von Motz hatten ſie nie ein Wort
gehört; den General Foy, der in der Pariſer Kammer die Tricolore, das
Banner der Marſeillaiſe, für Frankreich zurückforderte, kannten und be-
wunderten ſie alle.
[703]Einbruch des Judenthums.
Ein rühriger Bundesgenoſſe erwuchs dem neuen Radicalismus in
der jungen Macht des literariſchen Judenthums. Die moderne Juden-
ſchaft beſaß ſchon längſt nicht mehr die geiſtige Kraft um aus ſich heraus
eine geſunde eigenartige Bildung zu erzeugen, wie vor Zeiten inmitten der
orientaliſchen Cultur des ſpaniſchen Maurenreichs. In den alten Cultur-
völkern Weſteuropas ſtand die nationale Geſittung ſo feſt, daß die Juden
dort gar nicht wagen durften, in Politik und Literatur als eine ſelbſtändige
Macht aufzutreten. Auch der erſte deutſche Jude, der in unſerer Lite-
ratur Anſehen errang, Moſes Mendelsſohn, folgte dem Strome unſeres
nationalen Lebens, half redlich mit an der Gedankenarbeit der deutſchen
Aufklärungsphiloſophie; wenn er den Glauben ſeiner Väter, wie ſein gutes
Recht war, gegen Lavater vertheidigte, ſo war er doch keineswegs gemeint,
die deutſche Welt mit jüdiſchen Ideen zu durchtränken, er bemühte ſich
vielmehr ſeine Stammgenoſſen für die deutſche Bildung zu gewinnen.
Mittlerweile war ſeine Saat aufgegangen, ein Theil der Judenſchaft hatte
ſich mehr oder minder germaniſirt, in der Preſſe wirkten ſchon mehrere
jüdiſche Schriftſteller, aber bald regte ſich in dieſen Kreiſen ein gefähr-
licher Geiſt der Abſonderung und der Anmaßung. Die Judenſchaft war
in Deutſchland weit zahlreicher als in den weſtlichen Nachbarlanden, und
da der deutſch-polniſche Judenſtamm ſich von jeher ſchwerer an das abend-
ländiſche Weſen gewöhnt hatte als die ſpaniſchen Juden, die in England
und Frankreich damals noch überwogen, ſo geſchah es, daß in Deutſch-
land — und hier allein — eine eigenthümliche halb-jüdiſche Literatur auf-
kam, welche ihre orientaliſche Weltanſchauung, ihren ererbten Chriſtenhaß
in abendländiſche Formen hüllte. Ein durchgebildeter Nationalſtolz, der
ſolche Verſuche von Haus aus verhindert hätte, war hier nicht vorhanden;
dieſer geduldige deutſche Boden hatte ſchon allen Nationen Europas zum
Tummelplatze gedient, hier durfte auch das Judenthum noch ſein Glück
verſuchen.
Die edleren und ernſteren Männer der deutſchen Judenſchaft hatten
längſt eingeſehen, daß ihr Stamm nur dann die bürgerliche Gleichberech-
tigung beanſpruchen durfte, wenn er ſelber ſeine Sonderſtellung aufgab
und ohne Vorbehalt im deutſchen Leben aufging. Wenige Jahrzehnte nach-
dem Moſes Mendelsſohn ſeinen Weckruf hatte erſcheinen laſſen, wirkten
ſchon überall in Kunſt und Wiſſenſchaft begabte Männer jüdiſcher Ab-
ſtammung, getaufte und ungetaufte, die ſich ganz als Deutſche fühlten
und in ihren Werken durchaus deutſche Züge zeigten: in der Muſik Felix
Mendelsſohn-Bartholdy, in der Malerei Veit, in der Theologie der kind-
lich gläubige Neander. Die ſchnellfertigen jüdiſchen Talente dagegen, welche
in der Tagespreſſe das Wort führten, trugen ihre jüdiſche Sonderart hoch-
müthig zur Schau und verlangten gleichwohl als Wortführer der deut-
ſchen öffentlichen Meinung geachtet zu werden. Dies vaterlandsloſe Juden-
thum, das ſich als Nation innerhalb der Nation gebärdete, wirkte auf
[704]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
das noch unfertige nationale Selbſtgefühl der Deutſchen ebenſo zerſtörend
und zerſetzend, wie vormals auf die verſinkenden Völker des römiſchen
Kaiſerreichs.
So weit der jüdiſche Kosmopolitismus abendländiſche Völker verſtehen
konnte, fühlte er ſich zunächſt zu den Franzoſen hingezogen, nicht blos durch
eine berechtigte Dankbarkeit, ſondern auch durch das Bewußtſein innerer
Verwandtſchaft. Einer Nation, die ſeit Jahrhunderten keine politiſche Ge-
ſchichte mehr beſaß, war nichts ſo fremd wie der hiſtoriſche Sinn. Die
Pietät der Germanen erſchien ihr lächerlich, das moderne Frankreich aber
hatte mit ſeiner Geſchichte gebrochen, hier fand ſie ſich leichter zurecht,
denn hier war der Staat blank und neu, ſcheinbar rein aus dem Verſtande
heraus erſchaffen. Das jüdiſche Literatenthum beſtärkte daher den deut-
ſchen Radicalismus in ſeiner urtheilsloſen Vorliebe für Frankreich. Auch
das gellende Zetergeſchrei, das die jüdiſchen Publiciſten nach ihrer natio-
nalen Gewohnheit anzuſtimmen liebten, diente nicht zur Veredlung unſerer
politiſchen Sitten, zumal da die Deutſchen ſelber im Streite leicht ge-
ſchmacklos werden. Der berechtigte politiſche Groll der Zeit verfiel in maß-
loſe Uebertreibungen ſeit der jüdiſche Chriſtenhaß die Flammen ſchüren half.
Am verderblichſten aber wurde dem deutſchen Radicalismus die ſon-
derbare jüdiſche Unart der Selbſtverhöhnung. Dies Volk ohne Staat,
das weithin durch die Welt zerſtreut, Sprache und Sitten anderer Völker
annahm ohne doch ſich ſelber aufzugeben, lebte in einem ewigen Wider-
ſpruche, der, je nachdem man ſich ſtellte, bald tragiſch bald komiſch erſchien.
Dem behenden jüdiſchen Witze konnte die Lächerlichkeit des Contraſtes
morgenländiſcher Natur und abendländiſcher Form nicht entgehen. Seit
Langem waren die europäiſchen Juden gewohnt, ſich ſelber mit der äußerſten
Rückſichtsloſigkeit zu verſpotten; das Grauſamſte was jemals über die Juden
geſagt wurde, ſtammt aus jüdiſchem Munde. Der Raſſenſtolz des aus-
erwählten Volkes gegenüber den Gojim war freilich ſo tief eingewurzelt,
daß er ſelbſt durch die frechſte Selbſtverſpottung nicht erſchüttert werden
konnte. Jetzt drang dieſe jüdiſche Unſitte auch in die deutſche Literatur
ein, wo ihr durch die ſpielende Ironie der Romantiker und die politiſche
Verbitterung der Liberalen der Boden ſchon bereitet war; es galt für
geiſtreich, über das Vaterland ſchamlos, ohne jede Ehrfurcht, ſo von außen
her abzuſprechen, als gehörte man ſelber gar nicht mit dazu, als ſchnitte
der Hohn gegen Deutſchland nicht jedem einzelnen Deutſchen ins tiefſte
Herz. Die Deutſchen verſtanden ſich aber wenig auf den Scherz, am
wenigſten auf dieſe orientaliſche Witzelei, ſie nahmen manche Schmähung,
die gar nicht bös gemeint war, in vollem Ernſt. Die radicale Jugend
begann die freche Verunglimpfung des Vaterlandes bald für das ſichere
Kennzeichen der Geſinnungstüchtigkeit zu halten, weil der durch tauſend
Hemmniſſe beengte deutſche Staat ihren ungeduldigen Wünſchen ſo ſchnell
nicht zu folgen vermochte; ſie ſchimpfte ſo lange auf deutſche Hundedemuth
[705]Jüdiſche Selbſtverhöhnung.
und Schafsgeduld, bis ſie ſelber an dies alberne Zerrbild deutſchen Weſens
glaubte und ſich wirklich einbildete, das leidenſchaftlichſte Volk Europas,
das Volk der furia tedesca ſei phlegmatiſch.
In dieſen Jahren der Beſudelung alles deutſchen Weſens erhielt
auch das nationale Scherzbild des deutſchen Michels eine neue widerliche
Geſtalt. Der deutſche Michel der alten Zeit war, ſeinem kriegeriſchen
Namen gemäß, ein gewaltiger Schlagetodt, grob und plump, aber tapfer
und gradezu, ein lebensfroher Geſell, wie John Bull oder Robert Macaire,
nicht unwürdig eines großen Volkes, das an ſich ſelber glaubte und darum
auch einmal über ſich ſelber lachen durfte. Neuerdings wurde in Bild
und Wort unter dem alten Namen ein feiger und fauler Philiſter dar-
geſtellt, der von aller Welt mißhandelt ſich die Schlafmütze über die Ohren
zog. Dies Spottbild war während der Kämpfe der Romantiker gegen
die Philiſter aufgekommen, zuerſt auf dem Titelblatte der Heidelberger
Einſiedlerzeitung, aber Achim v. Arnim hatte dabei feierlich erklärt, mit
dieſem Faulpelz ſei nur das wohlhabende leſende Publicum gemeint,
„nicht mein Volk, das ich ehre, mit dem ich nimmermehr zu ſcherzen
wage.“ Das junge radicale Geſchlecht kannte ſolche Scheu nicht mehr
und fand es nicht unehrenhaft, die Nation, welche ſoeben mit ihrem ſieg-
reichen Degen das napoleoniſche Weltreich geſtürzt hatte, unter dem ekel-
haften Bilde eines trägen Feiglings zu verhöhnen.
Die zerreibende und verhetzende Wirkſamkeit des radicalen Judenthums
war um ſo gefährlicher, da die Deutſchen ſich über den Charakter dieſer
neuen literariſchen Macht lange täuſchten. Sie hielten arglos für deutſche
Aufklärung und deutſchen Freiſinn was in Wahrheit jüdiſcher Chriſten-
haß und jüdiſches Weltbürgerthum war. Nur Wolfgang Menzel und
wenige andere Publiciſten erkannten die Gefahr, doch da ſie ſämmtlich
der hochkirchlichen Richtung angehörten, ſo wurden ihre Warnungen miß-
achtet. Erſt in einer weit ſpäteren Zeit erkannte die Nation, daß ſeit
dem Ende der zwanziger Jahre ein fremder Tropfen in ihr Blut gerathen
war. Es war der Ruhm der Deutſchen geweſen, daß ſie niemals auf der
Bank der Spötter geſeſſen hatten, daß ihre freien Köpfe mit Kühnheit, aber
ſtets mit Ehrfurcht an das Heilige herangetreten waren. Jetzt ging dieſer
Ruhm verloren; auch Deutſchland ſollte Schriften ſehen, die ſich mit
Voltaire’s Frechheit, freilich nicht mit ſeinem Geiſte meſſen konnten.
Der Ahnherr dieſer jüdiſch-deutſchen Zwitter-Literatur war der Frank-
furter Ludwig Börne, ein im Grunde ehrlicher, weicher, warmherziger
Mann, der durch Schuld und Verhängniß niemals über die geſchmackloſe
Vermiſchung deutſcher Sentimentalität und jüdiſcher Witzelei hinauskam,
der zwiſchen Vaterlandsliebe und Kosmopolitismus haltlos hin und her-
geſchleudert, weder einen beſtimmten Glauben noch ein wirkliches Volks-
thum zu finden vermochte und ſchließlich der Roheit eines wüſten, poltern-
den Radicalismus anheimfiel. In einer Zeit einfacher, kräftiger Geſittung
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 45
[706]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
hätte ein ſo unharmoniſcher Charakter nur pathologiſche Theilnahme er-
weckt; in der Verwirrung und Verbitterung der deutſchen Parteikämpfe
konnte er eine Weile die Rolle des Volkstribunen ſpielen. Die Größen
unſerer claſſiſchen Literatur ſtanden dieſem Kopfe zu hoch; er hielt ſich
an Jean Paul und verſank in ſeiner Jugend ſo tief in weinerliche Selbſt-
beſpiegelung, daß er ſich, als er in die ſchöne Henriette Hertz verliebt
war, die Stunden und Minuten ſeiner „Seelenhypochondrie“ und ihrer
erhabenen Gefühle ſorgfältig im Tagebuch aufzeichnete. Nachher raffte
er ſich zuſammen und errang ſich zuerſt als Theaterkritiker einen Ruf,
der allerdings durch die Befliſſenheit ſeiner Stammgenoſſen ungebührlich
vergrößert wurde, aber nicht ganz unverdient war; ohne durchgebildeten
Schönheitsſinn, beſaß er doch den geſunden Naturalismus des Menſchen-
verſtandes. Er geißelte nicht nur mit treffendem Spott den Aberwitz der
Schickſalstragödie und andere grobe Geſchmacksverirrungen, ſondern fand
auch mit richtigem Blick einzelne verkannte Talente, wie Kleiſt und Immer-
mann aus dem Haufen heraus.
Zugleich begann er in der Wage, den Zeitſchwingen und anderen
Blättern über Politik und Geſellſchaft zu ſchreiben. Dieſe Thätigkeit nahm
ihn bald ganz in Anſpruch, als Politiker entfaltete er alle Künſte ſeines
Hohnes. Der Hohn iſt aber nur dann berechtigt, wenn er dem edlen
Zorne eines überlegenen Geiſtes entſpringt, und dieſem Manne fehlte
ſchlechterdings Alles, was den Publiciſten macht: der Sinn für das Wirk-
liche, das Machtgefühl, die Vorausſicht und ſogar die gewöhnliche Sach-
kenntniß. Den Fleiß, der ſeine Stammgenoſſen ſonſt auszeichnet, hielt er
in der Politik für überflüſſig. Seine politiſchen Aufſätze ſind ſammt und
ſonders leichte Feuilleton-Artikel, kein einziger darunter, der eine ernſt-
hafte Beſchäftigung mit dem Stoffe verriethe. Durch Börne kam bei uns
„das ſouveräne Feuilleton“ in Schwang, das der unfertigen politiſchen
Bildung der Deutſchen unſäglich ſchadete: der vorwitzige Dilettantismus
erdreiſtete ſich, mit einigen Späßen, Wortſpielen, Bildern und Entrüſtungs-
rufen über alle ernſten Fragen der Staatskunſt abzuſprechen.
Wo der Witz allein ausreichte da war Börne in ſeinem Element.
Die Abderitenſtreiche der deutſchen Kleinſtädter verhöhnte er mit guter
Laune, freilich auch mit einem ungeheueren Lärm, der zu der Winzigkeit
des Gegenſtandes wenig ſtimmte. Der Witz iſt ein Kind des Augenblicks,
und die Nachwelt wird dem ſchnell Veralteten ſelten ganz gerecht. Indeß
wußte Börne über Allerhöchſtdieſelben, über Hof- und Commerzienräthe,
über die Geheimraths-Waiſen, über die Taxisſche Poſt und den Eßkünſtler
an der Wirthstafel wirklich luſtig zu reden; dieſe Späße ſind das Un-
ſterbliche in ſeinen Werken, das Einzige, was noch heute eine flüchtige
Aufmerkſamkeit erregen kann. Sobald er aber verſuchte ſich aus dieſem
Philiſterjammer in die Politik zu erheben, dann zeigte ſich die erſchreckende
Gedankenarmuth eines dürren Verſtandes, der bei jedem verwickelten poli-
[707]Börne.
tiſchen Probleme nur ein kahles Entweder — oder aufzufinden vermochte.
„Iſt der Staat Zweck oder der Menſch in ihm?“ — dies ſchien ihm die
große Frage der Zukunft; den Unſinn dieſer Fragſtellung, den ſchon Kant
erwieſen hatte, vermochte er nicht zu durchſchauen. So erging er ſich
denn, ohne je ein beſtimmtes, greifbares Ziel zu weiſen, in hohlen Lob-
preiſungen der Anarchie, der Mutter aller Freiheit, und in ebenſo gehalt-
loſen Zornreden wider das unabänderliche deutſche Elend: „wir ſind eiſer-
nes Vieh, das die Vergangenheit der Gegenwart zugezählt, und das die
Gegenwart, wie ſie es erhalten, der Zukunft überliefern muß.“
Der einzige klare politiſche Zweck, den er im Auge behielt, war die
Emancipation ſeiner Stammverwandten. Er ſelber war zum Chriſten-
thum übergetreten, nicht aus religiöſer Ueberzeugung, auch nicht um ganz
ein Deutſcher zu werden, ſondern lediglich um des leichteren Fortkommens
willen. Doch er kannte die Scham nicht und hielt es nicht für unan-
ſtändig, als Renegat noch den Anwalt ſeiner verlaſſenen Glaubensgenoſſen
zu ſpielen. Trotz ſeines Uebertritts bewahrte er ſich den Raſſendünkel
des auserwählten Volks und verhehlte kaum, daß er die Juden für das
Salz der deutſchen Erde anſah — was ihn freilich nicht hinderte, gele-
gentlich mit roher Selbſtverhöhnung über Juden und Deutſche zugleich
herzufallen und die deutſchen Juden als Haſen mit acht Füßen zu
verſpotten. „Ich weiß, ſchrieb er einmal, das unverdiente Glück zu
ſchätzen, zugleich ein Deutſcher und ein Jude geboren zu ſein, nach
allen Tugenden der Deutſchen ſtreben zu können und doch keinen ihrer
Fehler zu theilen!“ Gleichwohl wollte er nicht dulden, daß die Chriſten
auch nur den Namen „Juden“ in den Mund nahmen, und ſchrie über
empörende Unduldſamkeit, wenn die Zeitungen der Wahrheit gemäß ein-
fach berichteten, daß der jüdiſche Kaufmann Levi Bankrott gemacht habe.
Unter den Beſchwerden, die er unermüdlich vorbrachte, waren manche wohl
begründet, aber auch viele nur durch die Empfindlichkeit krankhafter Selbſt-
überhebung eingegeben. Als die Stadt Frankfurt am hundertſten Jahres-
tage einer großen Feuersbrunſt eine Erinnerungsfeier veranſtalten wollte,
verfügte der Rath: „Zu dem Ende wird Sonntags den 27. in allen chriſt-
lichen Kirchen feierlicher Gottesdienſt gehalten werden, ſowie in der jüdi-
ſchen Synagoge Gebete verordnet ſind.“ Die Bekanntmachung war nach
Form und Inhalt ganz harmlos, doch da ſie für die Juden etwas andere
Worte gebrauchte als für die Chriſten, ſo ſchleuderte Börne einen grim-
migen Artikel dawider und rief verzweifelnd: „O armes Vaterland, in
dem ſolche Dinge geſchehen!“ Trotz ſolcher Uebertreibungen machten die
beharrlich wiederholten Klagen doch Eindruck; die radicale Jugend begann
die vor Kurzem noch ſo grimmig gehaßten Juden als edle Freiheitskämpfer
zu ſchätzen.
Im Jahre 1822 reiſte Börne nach Paris, und ſchon in Straßburg
rief er glückſelig: ich fühle mich frei! Wie weit ab lag ſchon die Zeit,
45*
[708]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
da Rückert den Deutſchen geweiſſagt hatte, hier in der alten Reichsſtadt
werde und müſſe dereinſt ein deutſches Fürſtenſchloß ſich erheben! Dieſer
neue Prediger deutſcher Freiheit ſchrieb aus Paris: „mich fröſtelte nicht
mehr unter Fiſchen, ich war nicht mehr in Deutſchland!“ Er war nicht
ganz ohne Sinn für die Größe ſeines Vaterlandes, in guten Stunden
fühlte er wohl die Nichtigkeit der „koketten Gloire“, die Ueberlegenheit der
deutſchen Sprache, ja ſelbſt der deutſchen Gedankenfreiheit. Aber nach
ſolchen Aufwallungen deutſchen Gefühles fiel er ſtets wieder in jüdiſch-
franzöſiſche Phraſen zurück, deren Bombaſt nur Victor Hugo übertroffen
hat: „Paris iſt der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroſkop der Ge-
genwart und das Fernrohr der Zukunft!“ Er ward nicht müde den
deutſchen „Stückmenſchen“ das leuchtende Bild der franzöſiſchen „Total-
menſchen“ vorzuhalten; ohne den lächerlichen Widerſpruch zu bemerken
empfahl er uns dann insbeſondere die harte Einſeitigkeit franzöſiſcher Partei-
geſinnung: „Der Franzoſe lobt und begünſtigt Jeden, der auf ſeiner Seite,
und tadelt und beſchädigt Jeden, der ihm gegenüberſteht; darum erreichen
die Franzoſen Alles, und wir bringen es zu nichts“. Als er von der
Vendomeſäule auf Paris hinabſchaute, meinte er: „Dieſer Anblick würde
einem Deutſchen wohlthun, wenn es die Binſe größer und ſtärker machte,
daß der Sturm die Eiche niederwarf.“ Nur ſieben Jahre nach dem
zweiten Einzuge der deutſchen Heere in Paris hatte er alſo ſchon ver-
geſſen, daß wir ſelber der Sturm waren, der die Eiche niederwarf. Die
franzöſiſche Eitelkeit gefiel ſich ſchon längſt in dem Wahne, die Ueber-
macht der großen Nation ſei nur durch eine räthſelhafte Schickſalstücke,
ohne Zuthun der Deutſchen gebrochen worden; jetzt begannen die Sieger
ſchon die Märchen der Geſchlagenen gläubig nachzuſprechen.
Durch Börne’s Bücher wurden die Blicke der deutſchen Jugend wieder
nach Paris gelenkt. Wie vormals die höfiſche Geſelligkeit ſo lockte jetzt
der parlamentariſche Kampf nach der Seine. Bald ward es zur Regel,
daß jeder junge radicale Schriftſteller eine Pilgerfahrt nach dem Mekka
der Freiheit unternehmen mußte um ſich den wahren politiſchen Glauben
anzueignen. Auf Börne folgte Eduard Gans, ein ungleich ſchärferer poli-
tiſcher Kopf, dem die Gebrechen des franzöſiſchen Staatslebens nicht ent-
gingen. Aber auch er ließ ſich von dem theatraliſchen Lärm dieſer Partei-
kämpfe bezaubern; er meinte „den Herzſchlag Frankreichs“ zu hören, als
bei einem Preßprozeſſe die Beifallsſalven des liberalen Publicums durch
den Saal dröhnten; neben der politiſch erregten Pariſer Jugend erſchien
ihm die deutſche äußerlich und frivol. So ging es fort: immer wieder
zogen deutſche Literaten über den Rhein, denen ſchon auf der Kehler Brücke
das Herz höher zu ſchlagen begann; ſie brachten ſämmtlich ſchon den Vor-
ſatz mit, alles Wälſche zu bewundern, und da ſie nur Paris kennen lernten,
und auch dort nur einen kleinen Kreis radicaler Journaliſten, ſo verſorgten
ſie die deutſchen Zeitungen mit völlig falſchen Berichten. Die preußiſchen
[709]Die Pilgerfahrten nach Paris.
Offiziere, die während des Krieges in Frankreich in Quartier lagen, hatten
wohl bemerkt, daß die große Mehrheit dieſer Nation aus ſparſamen, fleißi-
gen, furchtſamen Geſchäftsleuten beſtand und der militäriſche Geiſt dort
ungleich ſchwächer war als in Preußen. Dieſe richtige Erkenntniß ging
den Deutſchen jetzt wieder verloren, ſeit die Schüler Börne’s ihnen be-
harrlich erzählten: die ritterliche franzöſiſche Nation kümmere ſich wenig
um die niederen, wirthſchaftlichen Sorgen, ſie glühe vor Begierde ſich
ſelber die Freiheit zu ſichern um ſie dann anderen Völkern großmüthig
mitzutheilen. Der Cultus der ſogenannten Ideen von 89, der ſich während
der Revolutionsjahre doch nur auf kleine Kreiſe der deutſchen Gelehrten-
welt beſchränkt hatte, wurde erſt durch dieſe deutſch-franzöſiſche Publiciſtik
in die breiten Maſſen unſerer Mittelſtände hineingetragen. Es war die
denkbar ſchlechteſte politiſche Schule für ein Volk, das ſich ohnehin zum
Doktrinarismus neigte.
Nach ſeiner Rückkehr aus Paris zeigte ſich Börne fieberiſch aufgeregt.
Er erſehnte die Revolution. Woher ſie kommen und was ſie bringen ſollte,
das wußte er ſelber nicht. Da die Deutſchen ruhig blieben, ſo ſchimpfte
er ſie aus, ebenſo unfläthig wie einſt Saul Aſcher. In den Jahren nach
dem Freiheitskriege hatte die Nation noch ihr Hausrecht gebraucht und
Aſcher’s jüdiſcher Frechheit die Thüre gewieſen. Jetzt war die Stimmung
umgeſchlagen. Die geſinnungstüchtigen Radicalen ſchauten einander mit
verſtändnißinnigem Lächeln an, wenn Börne mit immer neuen Schimpf-
worten denſelben Gedanken wiederholte: die Deutſchen ſeien ein Volk von
Bedienten und brächten auf den Ruf Apporte! ſchweifwedelnd ihren Herren
die verlorenen Kronen zurück. Sie fanden es witzig, wenn er die Ver-
brennung der Göttinger Bibliothek anempfahl und den Vorſatz ausſprach
die Deutſchen durch Schimpfen zum National-Aerger zu ſtacheln. Sie
riefen ihm Beifall als er mit einer Gehäſſigkeit, die dem Eifer der Dema-
gogenverfolger nichts nachgab, der politiſchen Geſinnung der namhaften
Zeitgenoſſen nachſpürte, jeden Vertreter gemäßigter Grundſätze kurzerhand
der Knechtsgeſinnung beſchuldigte und vornehmlich die erſten Geiſter der
Nation, weil er ſie nicht begriff, mit niedrigen Verdächtigungen ver-
folgte. Goethe nannte er den gereimten Knecht, Hegel den ungereimten.
Wer durfte es der jungen Generation verargen, wenn ſie gegen den
Schiller-Göethe’ſchen Briefwechſel das Recht der Lebendigen gebraucht und
ſchroff, ſelbſt ungerecht herausgeſagt hätte, dieſe Welt der Schönheit ſei
geweſen? Börne that mehr. Er eiferte nicht nur gegen die volksfeind-
liche Geſinnung Goethe’s und ſelbſt Schiller’s, der ſogar ein noch ärgerer
Ariſtokrat geweſen ſein ſollte; er zog auch den Freundſchaftsbund der beiden
Dichter in den Koth und beſudelte ihre menſchliche Größe, die gerade aus
dieſen Briefen ſo überwältigend zu allen deutſchen Herzen ſprach. Traurig,
rief er aus, „daß unſere zwei größten Geiſter in ihrem Hauſe ſo nichts
ſind, nein weniger als nichts, ſo wenig!“ Sein Urtheil über Goethe faßte
[710]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
er dahin zuſammen, dies Talent habe, begünſtigt durch ein beiſpielloſes
Glück, ſechzig Jahre lang die Handſchrift des Genies nachgeahmt ohne
entdeckt zu werden. Der beleidigenden Ruhe des Goethiſchen Stiles hielt
er das Beiſpiel Voltaire’s entgegen: „Wie ganz anders Voltaire! Seine
Eitelkeit macht uns ihm gewogen. Wir freuen uns, daß ein Mann von ſo
hohem Geiſte um unſer Urtheil zittert, uns ſchmeichelt, zu gewinnen ſucht!“
Das Gepolter war ſo ſinnlos, daß man kaum noch wußte, was
eigentlich ernſt gemeint ſei, und eben hierin lag die Gefahr. Börne
blieb, derweil er alle Größen Deutſchlands ſchmähte, auf ſeine Weiſe noch
ein Patriot. Die deutſche Jugend aber, die ſich, wider die Natur, an
dieſer jüdiſchen Selbſtverhöhnung berauſchte, verlor alle Ehrfurcht vor dem
Vaterlande, und ſo ward Börne’s Wirkſamkeit, obgleich ſie aus den ge-
gebenen Zuſtänden mit einer gewiſſen Nothwendigkeit hervorging, durch-
aus unheilvoll für das heranwachſende Geſchlecht. Er tränkte die Jugend
mit Galle; einen neuen Gedanken wußte er ihr nicht zu bieten. Auch
an unſerer Sprache hat er ſich ſchwer verſündigt. Zu Anfang des Jahr-
hunderts ſchrieben die Deutſchen meiſtens gut, nur zuweilen etwas ſchwer-
fällig, da mancher die langen Perioden der claſſiſchen Sprachen von der
Schulbank mit ins Leben nahm. Börne aber hatte ſich erſt an Jean
Paul’s überladenem Stile, dann an franzöſiſchen Muſtern gebildet; das
feinere Sprachgefühl, das dem hiſtoriſchen Sinne verwandt iſt, blieb ihm
verſagt. Seine abſtrakte journaliſtiſche Bildungsſprache war brillant, pikant,
elegant, Alles, nur nicht deutſch; ſie konnte wohl zanken, doch nicht zürnen,
wohl ſtechen, doch nicht zerſchmettern, ſie ſpielte mit geſuchten Bildern
und wurde doch niemals ſinnlich warm, ihr fehlte die Seele, die Macht
der Natur. „Die Geſchichte zählt große Menſchen, die ſind Regiſter der
Vergangenheit, ſo Goethe und Schiller; ſie zählt wieder andere, die ſind
Inhaltsverzeichniß der Zukunft: ſo Voltaire und Leſſing.“ An ſolchen
Sätzen war alles undeutſch, die Gedanken, der Satzbau, die Wörter; aber
ſie glitzerten und blendeten. Bald fanden ſich betriebſame Nachahmer.
Die Journaliſten wetteiferten miteinander in unſinnlichen Bildern, ver-
renkten Wörtern, überfeinen Anſpielungen, ſie verliebten ſich in ihre eigene
Unnatur und freuten ſich ihrer Künſteleien ebenſo herzlich, wie einſt Lohen-
ſtein und Hoffmannswaldau. Noch bei Goethe’s Lebzeiten begann die deutſche
Sprache zu verwildern; nur die Männer der Wiſſenſchaft und einige rein
geſtimmte Dichterſeelen widerſtanden den Verſuchungen der Ueberbildung.
In der deutſchen Dichtung erweckten zwar die Griechenlieder des
großen radicalen Dichters der Epoche frühzeitig lauten Widerhall; der
Weltſchmerz Lord Byron’s hingegen, der Trotz des revolutionären Ich,
das ſich bald grollend, bald verzweifelnd wider die Ordnung der Welt
auflehnte, fand in den zwanziger Jahren bei den Deutſchen unter vielen
Bewunderern nur vereinzelte Nachahmer. Die romantiſche Ironie ge-
nügte noch dem Uebermuthe des Subjects, auch mochte mancher junge
[711]Byron.
Poet fühlen, daß der Byroniſche Weltſchmerz keine Nachahmung zuließ.
Neben den großen ſittlichen Mächten, welche das hiſtoriſche Leben zuſam-
menhalten, erſcheint der Einzelne ſo klein, daß nur ein gottbegnadeter
Dichter, der ſelber eine Welt im Herzen trug, ſich ihnen entgegenſtemmen
durfte, ohne der Lächerlichkeit eitler Selbſtbeſpiegelung zu verfallen. Byron
hatte, ſo ſagte ſein Freund Shelley, die Schönheit nackt geſehen und wurde
dann wie Aktäon von ihren Hunden zerriſſen. In ſeinem ſchönſten und
frechſten Werke, dem Don Juan, offenbarte ſich neben einer Fülle frivolen
Spottes eine ſo wunderbare Kenntniß der ſüßen Geheimniſſe des Herzens,
neben einem Radicalismus, der alles Heilige in Frage zu ſtellen ſchien,
eine ſo lautere Begeiſterung für echte Menſchengröße, daß die Dichtung
wohl unreife junge Köpfe verwirren konnte, aber alle tiefen und freien
Geiſter bezaubern mußte. Ueber allen ſeinen Werken lag jener Zauber
des eigenen Erlebniſſes, dem die Dichtung ihre Macht verdankt. Er war
was er ſchrieb; er durfte aller alten Ordnung den Frieden aufſagen, der
kühne Heimathsloſe. Geächtet von der heuchleriſchen Sitte ſeines Vater-
landes, ſtand er ganz auf ſich ſelbſt allein und fand im Kampfe für die
Freiheit der Völker einen glorreichen Tod.
Mit allen ſeinen Sünden ein großer und wahrhaftiger Menſch,
ragte er hoch empor über den deutſchen Dichter, der zuerſt verſuchte unſere
Poeſie mit einem Hauche Byroniſchen Weltſchmerzes zu erfüllen. Hein-
rich Heine war in Düſſeldorf aufgewachſen, mitten in der Herrlichkeit
der rheiniſchen Sagen und hatte ſich, wie alle die jüngeren Romantiker,
an den Liedern des Wunderhorns begeiſtert; doch er vermochte an dieſe
Wunderwelt nicht ſo naiv zu glauben, wie der Schwärmer Eichendorff.
Sein ſcharfer, in der Schule Hegel’s durchgebildeter jüdiſcher Verſtand
und die frühreife cyniſche Welterfahrung, die er unter den ſittenloſen
Millionären Hamburgs angeſammelt hatte, lehnten ſich beſtändig auf
wider die romantiſchen Träume. Aus dieſen Widerſprüchen kam er nie
heraus. Von der menſchliſchen Größe unſerer claſſiſchen Dichter beſaß er
nichts. Geiſtreich ohne Tiefe, witzig ohne Ueberzeugung, ſelbſtiſch, lüſtern,
verlogen und doch zuweilen unwiderſtehlich liebenswürdig, war er auch als
Dichter charakterlos und darum merkwürdig ungleich in ſeinem Schaffen.
Er erlebte Augenblicke wahrer Begeiſterung, wo die Muſe ſeine Lippen
weihte, wo er den Naturlaut ſtarker Empfindung traf und mit bewun-
derungswürdiger plaſtiſcher Kraft anſchauliche Bilder geſtaltete. Oft aber
mißbrauchte er ſein virtuoſes Formtalent um ſeelenlos das Anempfundene
nachzudichten. Noch öfter überwältigte ihn der Drang der Selbſtverhöh-
nung alſo, daß er ſich von der Höhe des idealen Gefühles plötzlich mit
einem Bockſprunge in die Plattheit der Zote oder des ſchlechten Witzes
hinabſtürzte und den Leſern grinſend die Unwahrheit ſeiner eigenen Em-
pfindung eingeſtand.
An ſeinen Verſen, die ſo leicht hingeworfen ſchienen, feilte er unab-
[712]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
läſſig bis ſie ſeinem feinen und ſicheren Sprachgefühle genügten; jener
höchſte Künſtlerfleiß aber, der ſich jahrelang mit geſammelter Kraft in
einen mächtigen Stoff zu verſenken vermag, war ihm unerreichbar. Ihm
fehlte die Gabe der Architektonik, die den Meiſter macht; von allen ſeinen
geplanten größeren Werken kam keines zu Ende, nicht einmal der viel-
verheißende Anfang der Geſchichte des Rabbi von Bacharach. Weil er
dies Unvermögen insgeheim fühlte, ſo trug er ſeine Zerriſſenheit prahleriſch
zur Schau. Er nannte ſich ſelber einen aufopfernden Schwärmer, im
Gegenſatze zu Goethe’s Selbſtſucht; indeß war er doch zu weltklug und
auch zu ſehr ein Künſtler, um, wie Börne, den Altmeiſter öffentlich zu
läſtern. Seine befliſſenen journaliſtiſchen Kameraden prieſen ihn als den
Dichter mit der lachenden Thräne im Wappen, der das Geheimniß ent-
deckt habe, zugleich durchnäßt und verbrannt zu ſein, und nannten es er-
habenen Weltſchmerz, wenn er zwiſchen Spott und Sehnſucht haltlos
ſchwankte. Dieſer Weltſchmerz aber entſtammte nicht der Verzweiflung eines
ſtarken und trotzigen Geiſtes, ſondern der Unfähigkeit die poetiſche Stim-
mung ausdauernd feſtzuhalten.
Heine begann mit weichlichen Minneliedern auf wunnevolle Magedein
und mit allerhand ſüßlich witzelnden Feuilleton-Artikeln. Erſt ſeine Harz-
reiſe (1826) erregte einen Sturm des Beifalls, dem ſich ſelbſt die höfiſche
Geſellſchaft nicht entzog. Der burſchikoſe Humor, der hier ſein aus-
gelaſſenes Weſen trieb, Alles von der lächerlichen Seite nahm, Hoch und
Niedrig mit ſeinen Pritſchenſchlägen traf, erſchien in dem dumpfen und
gedrückten Leben dieſer Tage faſt wie eine befreiende That. In den
Nordſeegedichten bewährte er ſodann ſein Talent der Naturſchilderung auf
einem noch ganz unbebauten Gebiete. Alle unſere Dichter bisher waren
Binnenländer, Heine zuerſt ſchilderte den Deutſchen die Majeſtät des
Weltmeeres. Aber die Fortſetzung der Reiſebilder entſprach dem glänzen-
den Anfang nicht. Die Geſtaltungskraft des Dichters erlahmte ſichtlich.
Er reihte nur noch ſentimentale Nachklänge aus Yorick’s empfindſamer
Reiſe, novelliſtiſche Bruchſtücke, politiſche und philoſophiſche Betrachtungen
locker aneinander; und dieſe geſchmackloſe Vermiſchung von Poeſie und
Proſa behagte, weil ſie gar ſo bequem war, der Trägheit der Schrift-
ſteller wie der Leſer, ſo daß die deutſche Poeſie des nächſten Jahrzehnts
ſich faſt ganz in pikante Feuilleton-Plauderei verflüchtigte. Eigenthümlich
war in den letzten Bänden der Reiſebilder nur die Frechheit der Unzucht;
ſodomitiſche Schmutzereien, wie ſie Heine in ſeiner niederträchtigen Polemik
gegen Platen vorbrachte, hatten den Tempel der deutſchen Dichtung bisher
noch niemals geſchändet. Mit dem Schatten Napoleon’s trieb er einen
Götzendienſt, der ſelbſt die Schmeichelreden des napoleoniſchen Senats noch
überbot, und dieſe Bedientengeſinnung erſchien um ſo ekelhafter, da ſie
offenbar gutentheils der Gefallſucht entſprang: durch die Verherrlichung
des Genius wollte der eitle Dichter zugleich ſeine eigene Größe verklären.
[713]H. Heine.
Sein Buch der Lieder brachte neben vielen leeren Nachahmungen auch
einige Gedichte, welche den beſten Werken der deutſchen Romantik nicht
nachſtanden. Denn Heine war nicht nur ein unvergleichlich reicherer
Geiſt als Börne, der allen Wein des Lebens in die Schläuche der Politik
füllte, ſondern auch weit mehr ein Deutſcher als ſein Frankfurter Stamm-
genoſſe. In den Stunden, da er ein Dichter war, empfand er ganz
deutſch. Deutſches Gemüth ſprach aus der kleinen Zahl ſeiner wirklich
erlebten Liebesgedichte, aus ſeinen Frühlingsliedern, auch aus dem Liede
vom Fichtenbaum und der Palme, das für die Wanderſehnſucht der
Germanen ſinnige Worte fand und nur durch die übermäßige Wieder-
holung ſeinen Zauber verloren hat. Und wenn er als ein geſchickter
Macher das Lied von der Loreley, die glückliche Erfindung Clemens
Brentano’s, neu geſtaltete, ſo durfte er ſich doch rühmen, daß er einem
ſchönen Stoffe die der nationalen Empfindung entſprechende Form gegeben
und ſein Eigenthum genommen habe wo er es gefunden.
Jenes unwillkürliche, freudige Verſtändniß, das große Dichter bei
ihrem Volke zu erwecken wiſſen, hat Heine nie gefunden. Die Deutſchen
kamen mit ihm niemals recht ins Reine, ſie nahmen ihn ſtets zu ernſt.
Der loſe Schalk wollte unterhalten, rühren, verblüffen und vor Allem
gefallen; auf den Inhalt ſeiner Worte gab er nichts. Er ſpielte von
früh auf den politiſchen Märtyrer, obgleich ihm noch Niemand ein Haar
krümmte und die vereinzelten Verbote ſeiner Schriften nur die gewöhn-
liche Wirkung hatten, den Abſatz der Bücher zu vermehren. In Wahr-
heit betrachtete er, nach dem guten Rechte des Humoriſten, alle Politik nur
als ein Mittel für ſeine literariſchen Zwecke; das hohle politiſche Ge-
ſchwätz, das er in ſeine Schriften einflocht, ſollte blos blenden und kitzeln,
während Börne im ganzen Ernſt politiſche Zwecke zu verfolgen glaubte
und nur nicht fähig war einen politiſchen Gedanken zu finden. Seine
Schuld war es nicht, daß die Leſer in den Witzen einen tiefen Sinn
ſuchten. Der einzige politiſche Gedanke, den er ſein Lebelang treulich feſt-
hielt, war der Todhaß gegen Preußen, und dieſer Haß war nicht ganz
frivol, nicht ohne naturwüchſige Kraft; in ihm verrieth ſich der Rheinländer.
Wenn Heine über die preußiſchen Soldaten ſpottete: „der Zopf, der eh-
mals hinten hing, der hängt jetzt unter der Naſe“, ſo meinte man einen
Düſſeldorfer Gaſſenbuben oder einen Kölniſchen Carnevals-Gecken zu hören
und erkannte beruhigt, daß dieſer Deutſch-Jude doch eine Heimath hatte.
Im Uebrigen ward ſein politiſches Urtheil lediglich durch die Launen des
Augenblicks und durch äſthetiſche Neigungen beſtimmt. Nach Byron’s
Vorbild ſuchte er die Blüthe der Menſchheit auf den Höhen oder in den
Tiefen der Geſellſchaft; das Bürgerthum, in dem die neue deutſche Literatur
ihre Wurzeln hatte, war ihm lächerlich und langweilig, unter bürgerlicher
Tugend verſtand er die zahlungsfähige Moral ſeiner Hamburger Börſen-
männer. Auch er liebte Deutſchland auf ſeine Weiſe, ebenſo aufrichtig
[714]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
wie Börne und mit feinerem Verſtändniß, und auch er überhäufte das
Land ſeiner Liebe unaufhörlich mit den Schmähreden jüdiſchen Hohnes.
Die radicale Jugend fand es witzig, wenn er ihr die freche Albernheit
ins Geſicht warf: der Engländer liebe die Freiheit wie ſein rechtmäßiges
Weib, der Franzoſe wie ſeine Braut, der Deutſche wie ſeine alte Groß-
mutter.
Wie Börne ließ auch Heine ſich taufen, aus verächtlichen Gründen
und ohne jeden Erfolg; die duldſame öffentliche Meinung aber ließ es ſich
wohl gefallen, daß dieſe beiden abtrünnigen Juden mit ihrem „großen
Judenſchmerze“ prunkten. Heine haßte das Chriſtenthum noch weit ingrim-
miger als Börne. „Es giebt ſchmutzige Ideenfamilien — ſchrieb er einmal.
Zertritt man eine dieſer Ideenwanzen, ſo läßt ſie einen Geſtank zurück,
der jahrtauſendelang riechbar iſt. Eine ſolche iſt das Chriſtenthum, das
ſchon vor achtzehnhundert Jahren zertreten worden und das uns armen
Juden ſeit der Zeit noch immer die Luft verpeſtet.“ Und doch empfand
er zuweilen die Macht der chriſtlichen Liebe und den künſtleriſchen Reiz
des katholiſchen Cultus; das himmliſche Lächeln eines Madonnenbildes
konnte ihn ebenſo entzücken wie das geheimnißvolle Licht der Sabbath-
lampe. Während große Künſtler mit den Jahren ſich läutern, ſank er,
haltlos und friedlos, immer tiefer herab zur gemeinen Spötterei. Sein
Evangelium der Lebensluſt, das er in ſeiner Jugend noch durch den Cultus
der Schönheit geadelt hatte, verflachte und vergröberte ſich zu einer
ſchmutzigen und proſaiſchen Religion des Fleiſches, und bald ſetzte er
ſeiner Selbſtverhöhnung die Krone auf durch das behagliche Geſtändniß
Mit Börne und Heine, mit dem Einbruch des Judenthums, kündigte
ſich eine neue literariſche Epoche an, die zum Glück nicht lange währen
ſollte, die häßlichſte und unfruchtbarſte Zeit unſerer neuen Literaturge-
ſchichte. Seit Leſſing’s Tagen hat keine deutſche Dichterſchule ſo viel Un-
frieden geſät und ſo wenig Dauerndes geſchaffen wie die radicale Feuil-
leton-Poeſie der dreißiger Jahre. —
Auf dieſe Welt der Kämpfe und der Gegenſätze fiel noch der prächtige
Abendſonnenſchein unſerer alten Philoſophie. Durch anderthalb Jahr-
zehnte, vom Ende der zwanziger bis zum Anfang der vierziger Jahre,
behauptete die Schule Hegel’s im deutſchen Leben eine Macht wie nur die
Sophiſten in Athen; bis zum Uebermaße erfüllte ſich was Stein vor
Jahren als die nothwendige Folge der politiſchen Unfreiheit vorausgeſagt:
die ſpeculativen Wiſſenſchaften erlangten einen uſurpirten Werth. Aber
[715]Hegel’s Syſtem.
ebenſo erſtaunlich wie einſt Hegel’s Anſehen war nachher der Undank der
Nation; ſie hatte ſich an dem Feuertranke dieſes Idealismus dermaßen
berauſcht, daß ſie dann ernüchtert auf lange hinaus einen tiefen Ekel gegen
alle Speculation faßte und mit dem Sturze dieſes Syſtems auch die
Philoſophie ſelber gerichtet und vernichtet wähnte. Der einſt vergötterte
Meiſter verfiel der Mißachtung; noch heutzutage wird er unter allen
unſeren großen Philoſophen am wenigſten geleſen und am gröblichſten
verkannt.
Mit der gleichen heldenhaften Zuverſicht wie vormals der junge Kant
war Hegel in ſeine Laufbahn eingetreten. Der große Schwabe fühlte in
ſich alle die Kräfte, welche die ſpeculative Begabung ſeines Stammes aus-
machen: tiefen, grübleriſchen Forſcherſinn, glühende Phantaſie und eine
vielſeitige Empfänglichkeit, der nichts Menſchliches fremd blieb. Schon als
junger Mann (1802) erklärte er rund heraus, die Reflexionsphiloſophie
von Kant, Fichte, Jacobi hätte ſich nur zum Begriffe, nicht zur Idee er-
hoben. Er traute ſich’s zu dies Höchſte zu wagen, und als ſein Syſtem
ſich ausgeſtaltete ſprach er in der That für lange Zeit das letzte Wort.
Ein höheres Ziel konnte die deutſche Philoſophie auf dem ſeit Kant ein-
geſchlagenen Wege nicht mehr erreichen. Das Räthſel des Daſeins ſchien
gelöſt, die Einheit von Sein und Denken nachgewieſen, ſeit Hegel das
Leben der Welt als den unendlichen dialektiſchen Proceß des ſich ſelber
denkenden abſoluten Geiſtes darſtellte. In dieſem Syſteme war Alles Geiſt
und Alles Werden. Es war der folgerichtigſte Monismus, der je gedacht
worden: die Idee durchläuft zuerſt die Reihe der nothwendigen Denkformen,
dann entläßt ſie ſich in die Natur, ſetzt ſich als ein anderes gegenſtänd-
liches Leben ſich ſelber gegenüber und kehrt endlich aus dem Abfall von
der Unendlichkeit wieder frei in ſich zurück, in das Reich des Geiſtes.
So iſt denn Alles was da war und iſt und ſein wird von Ewigkeit zu
Ewigkeit nur die göttliche Vernunft in ihrer Selbſtentfaltung. In den
mächtigen Rahmen dieſes Syſtems trug Hegel nun — ein anderer Ariſto-
teles, wie ſeine Schüler rühmten — mit ungeheuerem Fleiße die Ergeb-
niſſe der geſammten Erfahrungswiſſenſchaften ſeiner Zeit hinein, dergeſtalt
daß die ganze Welt der Natur und Geſchichte ihre Stelle und Stufe an-
gewieſen erhielt in dem unendlichen Entwicklungsgange des abſoluten
Geiſtes.
In dieſer Zeit vermochte eine neue philoſophiſche Erkenntniß deutſche
Gemüther noch mit dem ganzen Zauber einer religiöſen Offenbarung zu
ergreifen; ſelbſt grobe Widerſprüche zwiſchen dem Syſteme und der Er-
fahrung ſtörten den Gläubigen nicht, weil er wußte, daß die Philoſophie
unmöglich warten kann bis zu dem Tage, der niemals tagt, bis zur Voll-
endung der empiriſchen Wiſſenſchaften. Dies Hegel’ſche Syſtem aber be-
ſaß vor allen anderen die Kraft, ſeine Schüler durch das Bewußtſein
einer untrüglichen Gewißheit zu beſeligen; denn war das Leben der Welt
[716]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
ſelbſt ein großer Denkproceß, ſo blieb dem Denker nichts mehr unergründ-
lich. Das Denken war mithin das Denken des Denkens, wie ein Schüler
Hegel’s begeiſtert ſagte. Methode und Inhalt des Syſtems ſchienen iden-
tiſch zu ſein. Daſſelbe Geſetz der Dreigliederung, dem die dialektiſche Me-
thode der Philoſophie folgte, beherrſchte auch die Entwicklung der göttlichen
Vernunft ſelber, die in ewiger Wiederholung die drei Stufen des An-
ſich-ſeins, des Anders-ſeins, des An-und-für-ſich-ſeins durchmaß. Wer ſich
in dieſe Wunderwelt verlor, der fühlte ſich wie durch eine dämoniſche
Macht emporgehoben über den gemeinen Menſchenverſtand; ihm war zu
Muthe, als ob in ſeinem Geiſte die Weltſchöpfung aus dem Nichts ſich
wiederhole, als ob der Begriff ſelber ſich bewege, durch ein ſchöpferiſches
Vermögen eine gegenſtändliche Welt aus ſich herausgeſtalte und dann
wieder in ſich zurückkehre.
Gepanzert, unermeßlich überlegen trat dieſer ſtolze Idealismus der
platten Verſtändigkeit und Nützlichkeitsmoral der Aufklärung entgegen,
aber nicht minder entſchieden auch den Phantaſieſpielen der Romantik.
Dieſe Philoſophie, die überall nur Geiſt ſah, erſchien wie ein letzter Nach-
klang aus jenem rein literariſchen Zeitalter, da faſt die ganze Kraft
unſerer Nation in der geiſtigen Arbeit aufgegangen war; und doch war
ſie zugleich ſtreng realiſtiſch. Nur in der wirklichen Welt erkannte ſie die
Offenbarung Gottes; unerbittlich wies ſie alle jene Flattergeiſter zurück,
welche ſich erdenken was nicht iſt und nicht ſein kann oder beklagen was
iſt und nicht anders ſein kann. Selbſtverſtändlich wie eine Tautologie
ergab ſich ihr der große, alle Zweifel niederſchmetternde Satz: das Wirkliche
iſt vernünftig und das Vernünftige iſt wirklich.
Und doch war dies grandioſe Syſtem nur ein Werk genialer Will-
kür. Wie unſere Philoſophen alleſammt, mit der einzigen Ausnahme
Kant’s, ſich mehr durch Kühnheit und Tiefſinn als durch Schärfe und
Beſtimmtheit des Denkens ausgezeichnet hatten, ſo war auch Hegel un-
klar, am unklarſten in der Darſtellung der Grundbegriffe. Grade der
Hauptſatz, der das ganze Syſtem trug, war lediglich eine unerwieſene Be-
hauptung. Die hochtönenden Worte, der Geiſt entlaſſe ſich in die Natur,
er ſetze ſich ſich ſelber gegenüber, ſagten in Wahrheit gar nichts. Das
große Räthſel, wie aus der Idee die wirkliche Welt hervorgehe, war und
blieb ein Geheimniß, weil es das Geheimniß des weltſchaffenden Gottes iſt.
Damals ſchon wies Schelling nach, das menſchliche Denkvermögen ſei
völlig außer Stande die Natur aus dem Begriffe abzuleiten. Man hörte
ihn noch nicht. Als aber dieſer Grundirrthum des Syſtems erkannt wurde,
da brach der ganze prächtige Gedankenbau zuſammen; das verwegene Un-
ternehmen, die Einheit von Sein und Denken aufzuweiſen, war endgiltig
mißlungen, und um nur wieder feſten Boden zu gewinnen, mußte die
Philoſophie dann wieder zurückkehren zu Kant und zu der beſcheidenen
Frage, wie ein wiſſenſchaftliches Erkennen der Natur überhaupt möglich ſei.
[717]Hegel’s Religionsphiloſophie.
Das Syſtem gab ſich für unangreifbar aus, ſeine Sätze ſollten einan-
der wechſelſeitig tragen und halten. Aber die Geſtaltung der Welt, wie
Hegel ſie darſtellte, ergab ſich in Wahrheit nicht mit logiſcher Nothwen-
digkeit aus den oberſten Grundſätzen, ſie war erdacht und erdichtet durch
die ſubjektive Willkür des Philoſophen ſelber. Darum zeigte ſich in der
Ausführung des Syſtems überall eine auffällige Ungleichheit; einzelne
Theile waren völlig mißlungen, andere enthielten den Keim einer frucht-
baren, weit in die Zukunft hinauswirkenden Weltanſicht. Gänzlich ver-
fehlt war Hegel’s Naturphiloſophie; denn die greifbare Wirklichkeit der
Natur ſetzt jedem Verſuche, ſie aus dem Begriffe heraus zu conſtruiren,
einen harten, faſt ſpöttiſchen Widerſtand entgegen, und eben hier fehlte
dem Philoſophen alle Sachkenntniß. Die jungen Meiſter der exakten
Forſchung, die ſich in Berlin um Alexander Humboldt ſchaarten, hatten
guten Grund über dieſe Träume zu ſpotten, denn was Humboldt eben jetzt
von ſeiner ſibiriſchen Reiſe an wirklicher Naturerkenntniß heimbrachte, wog
allein ſchon ſchwerer als Hegel’s geſammte naturphilophiſche Conſtructionen.
Ebenſo unglücklich zeigte ſich Hegel in der Religionsphiloſophie; auf
dieſem ihrem eigenſten Gebiete war ihm Schleiermacher’s religiöſe Natur
weit überlegen. Er begann mit der, aller Erfahrung widerſprechenden Be-
hauptung, daß Philoſophie und Religion denſelben Inhalt hätten, jene
aber das Abſolute darſtelle in der Form des Denkens, dieſe in der Form
der Vorſtellung. Der religöſe Glaube war ihm alſo nicht eine urſprüng-
liche, den ganzen Menſchen, ſein Denken und ſein Wollen beſtimmende
Macht des Gemüths, ſondern nur eine unreife Form der Wiſſenſchaft.
Daraus ergab ſich — wie geſchickt man das auch durch dialektiſche Künſte
zu verhüllen ſuchte — unwiderſprechlich die Nothwendigkeit des Cäſaro-
papismus; denn der denkende Staat muß einer Kirche, die ſich nur in
der Welt der Einbildungskraft bewegt, unbedingt übergeordnet ſein. Wenn
Hegel’s gelehriger Schüler Altenſtein das innere Leben der Kirchen beſtän-
dig zu meiſtern verſuchte, ſo trugen die Lehren des Meiſters an dieſer
verfehlten Kirchenpolitik unzweifelhaft einige Mitſchuld. Die Idee der Er-
löſung, der Mittelpunkt von Schleiermacher’s Glaubenslehre, trat in Hegel’s
Syſtem ganz zurück. Ihm lag vielmehr daran, die Dogmen wiſſenſchaft-
lich zu erweiſen, ſelbſt die harten, der Vernunft ewig unzugänglichen, ſelbſt
das Dogma der Dreieinigkeit; und dieſe gewaltſame Künſtelei erſchien um
ſo unfruchtbarer, da der pantheiſtiſche Grundgedanke des Syſtems der
chriſtlichen Dogmatik offenbar widerſprach.
Um ſo mächtiger entfaltete ſich Hegel’s Genius auf dem Gebiete der
Aeſthetik. Was er hier ſagte über die Einheit von Idee und Bild im
Kunſtwerk, war groß, tief, neu und ſo lebensvoll, daß noch heute alle
ernſten äſthetiſchen Urtheile der Deutſchen ſich bewußt oder unbewußt an
Hegel anlehnen. Den zeitgenöſſiſchen Dichtern wurde er gerecht mit der
Sicherheit einer großen Seele; er verſtand nicht nur Goethe, ſondern auch
[718]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
Schiller’s Pathos, das ſeinem eigenen Weſen ferner lag, aber den ge-
machten Ruhm Jean Paul’s ließ er, unbekümmert um die Stimmung des
Tages, nicht gelten.
Noch fruchtbarer wirkte ſeine Rechtsphiloſophie. Hegel war der erſte
politiſche Kopf unter unſeren Philoſophen. Wohl hatte ſchon Kant die
vollkommene bürgerliche Ordnung für das letzte Ziel der Cultur erklärt
und Fichte am Abend ſeines Lebens den Staat als den Erzieher des Men-
ſchengeſchlechts verherrlicht; auch in Schelling’s Schriften ſtand manches
geiſtvolle Wort über die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in
dem Kunſtwerke des Staates. Aber ſie alle waren nicht über den Vor-
hof der Politik hinausgekommen. Erſt Hegel drang in das Heiligthum
ſelber ein. Er verſtand den Staat als die Wirklichkeit der ſittlichen Idee,
als den verwirklichten ſittlichen Willen, und ſtürzte mit einem Schlage
alle die Doktrinen des Naturrechts und der politiſchen Romantik, welche
den Staat aus dem Urvertrage der Einzelmenſchen oder aus göttlicher
Stiftung herleiteten. Alſo wurde der überſpannte Staatsbegriff des claſſi-
ſchen Alterthums neu belebt und dem Staate eine Allmacht zugeſtanden,
die ihm nicht mehr gebührt, ſeit die chriſtliche Welt das Recht des Ge-
wiſſens anerkannt hat. Aber die Vergötterung des Staates ſtiftete in
dieſem Volke, das ſo lange in der ſtaatloſen Freiheit ſein Ideal ge-
ſucht hatte, wenig Unheil. Nur durch die Ueberſchätzung des Staats konn-
ten die Deutſchen zur kräftigen Staatsgeſinnung gelangen. Erſt Hegel
hat die reiche culturfördernde Thätigkeit, welche der preußiſche Staat längſt
ſchon übte, die Energie des deutſchen Staatsgedankens wiſſenſchaftlich ge-
rechtfertigt, die dürre Rechtsſtaats-Doktrin ganz überwunden und dem Ge-
ſchichtsſchreiber einen Maßſtab in die Hand gegeben, an dem er die politiſche
Moral der hiſtoriſchen Helden ohne ſpießbürgerlichen Kleinſinn meſſen
konnte. Die jungen Hiſtoriker und die Schüler Savigny’s wußten zwar
längſt, daß der Staat eine uranfängliche, nothwendige Ordnung iſt und
nur in ihm die Sittlichkeit der Völker ſich vollendet; doch erſt durch Hegel
wurde dieſe große Erkenntniß philoſophiſch begründet und den Gebildeten
der Nation verſtändlich gemacht. Auch in den Einzelheiten ſeiner Staats-
lehre bewährte ſich überall der ſcharfe politiſche Blick des Philoſophen: er
zuerſt in Deutſchland erkannte, allerdings nur ahnend und andeutend, daß
zwiſchen dem Einzelnen und dem Staate noch eine eigene Welt wirth-
ſchaftlicher Intereſſen und Abhängigkeitsverhältniſſe liegt, und nannte ſie
die bürgerliche Geſellſchaft. Und welch ein Verdienſt war es doch, daß ein
Schwabe, ein Gelehrter, der an der nationalen Bewegung der Befreiungs-
kriege kaum theilgenommen, den Deutſchen nachdrücklich zeigte, was ſie an
Preußen beſaßen, warum dieſer Staat nicht nur der mächtigſte, ſondern
auch der edelſte und vernünftigſte der deutſchen Staaten war und ſeine
ſtrenge Ordnung ſittlich höher ſtand als die gerühmte alte deutſche Frei-
heit, die nur „für ſich bleiben“ wollte. Mochte auch manche Uebertrei-
[719]Hegel’s Rechts- und Geſchichtsphiloſophie.
bung mit unterlaufen, aus dem Allen ſprach ein Ernſt der Staatsgeſin-
nung, der den älteren deutſchen Philoſophen fremd war.
Dies Verſtändniß für das Weſen des Staates ergab ſich nothwendig
aus Hegel’s durchgebildetem hiſtoriſchen Sinne. Ein Denker, der in allem
Leben der Welt nur Werden ſah, mußte von dem Drange nach geſchicht-
lichem Verſtändniß, der die ganze Zeit beherrſchte, noch ſtärker ſogar als
Schelling ergriffen werden. Er ſah, daß die göttliche Vernunft nur ge-
brochen in tauſend Strahlen dem Sterblichen erkennbar wird, daß die
Idee der Menſchheit nur in der Geſammtheit der Geſchichte ſich vollendet.
Darum grübelte er nicht, wie ſo viele Philoſophen vor ihm, über die dunklen
Räthſel des Anfangs und des Endes der Geſchichte; er wollte weder ſehn-
ſüchtig zurückblicken nach der verlorenen Unſchuld eines goldenen Zeitalters,
noch die Welt vertröſten auf ein beſſeres Jenſeits, ſondern ſtellte ſich herz-
haft auf den Boden der hiſtoriſchen Wirklichkeit und fand in ihr, in der unend-
lichen Mannichfaltigkeit der menſchlichen Geſittung die Entfaltung des
göttlichen Gedankens. Hegel’s Philoſophie der Geſchichte war ſeine größte
wiſſenſchaftliche That, faſt ebenſo folgenreich wie einſt Kant’s Pflichtenlehre.
Auch ſie war, wie alle fruchtbaren Ideen, nicht ſchlechthin neu, ſondern
von langer Hand her, ſchon durch Kant und Herder vorbereitet. Aus
Kant’s Abhandlung über den Anfang des Menſchengeſchlechts entnahm
Hegel die Idee des Fortſchritts der Menſchheit, jedoch er vertiefte und
belebte ſie, indem er nicht ein gradliniges Aufſteigen annahm, ſondern,
wie Herder, in jedem Volke einen eigenen Gedanken Gottes fand, jeder
Zeit ihr eigenes Maß der Sittlichkeit zugeſtand. In jedem Weltalter er-
kannte er ein führendes Volk, das die Leuchte des Lebens eine Zeit lang
trug um ſie dann anderen Händen zu übergeben. Der hiſtoriſche Menſch
erſchien in dieſer Darſtellung zugleich unermeßlich groß als Träger der
Idee und verſchwindend klein neben den weltbauenden Geſetzen der gött-
lichen Vernunft.
Wohl trat die conſtruirende Willkür des Philoſophen auch hier überall
zu Tage. Er hegte, obwohl er von der Vernünftigkeit des Wirklichen
ſprach, wenig Ehrfurcht vor den Thatſachen und rückte ſich das Geſchehene,
oft nur der heiligen Dreizahl zu Liebe, gewaltſam zurecht. Eine Geſchichts-
philoſophie, die ihre Blicke immer nur auf die Zukunft gerichtet hielt,
mußte zu weitſichtig werden; ſie gab ſtets dem Sieger Recht und hatte
kein Herz für das Heldenthum der Unterliegenden, für das heilige Pflicht-
gefühl, das einen Hannibal, einen Demoſthenes trieb ein verſinkendes
Volksthum zu retten; ſie verſtand nicht die hohe Tragik der welthiſtoriſchen
Kämpfe. Befangen in ihrem glücklichen Optimismus fand ſie vollends
keine Antwort auf die ſchwere Gewiſſensfrage: warum der einzelne Menſch
bei dem ewigen Fortſchreiten ſeines Geſchlechts ſo ſchwach und ſündhaft
bleibt wie er immer war? Gleichwohl blieb aus einer Fülle von Irr-
thümern ein unvergänglicher Gewinn zurück. Hegel zuerſt erkannte mit
[720]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
wiſſenſchaftlicher Schärfe den Begriff der hiſtoriſchen Entwicklung, des Fort-
ſchreitens von niederen Geſittungsformen zu höheren, welche die niederen
in ſich enthalten, und er zeigte zugleich wie dieſer neue Gedanke zu hand-
haben ſei, indem er mit wenigen Meiſterſtrichen den inneren Zuſammen-
hang der Epochen unbewußten Schaffens und bewußter Reflexion darſtellte.
Darum wirkten ſeine Ideen mittelbar oder unmittelbar auch auf
ſolche Hiſtoriker, welche die Geſchichtsconſtructionen des Philoſophen ver-
abſcheuten. Was unvergänglich war in Hegel’s Geſchichtsphiloſophie, lebte
in Ranke’s Werken fort, auch Droyſen und viele andere der jüngeren
Hiſtoriker erweiterten ihren Geſichtskreis in Hegel’s Schule. Die viel-
jährige Herrſchaft der Hegelianer auf den Lehranſtalten Preußens und
Württembergs beförderte die Vielſeitigkeit der Bildung und die Zucht des
Denkens; ſelbſt wer den Formeln des Syſtems ſich nicht beugte, lernte
doch verſtehen, daß formloſes Wiſſen gar kein Wiſſen iſt.
Aber ebenſo deutlich zeigten ſich auch die gefährlichen Folgen der
neuen Lehre in dem maßloſen ſophiſtiſchen Dünkel, den ſie ihren Jüngern
einflößte. Der rechtgläubige Hegelianer vermochte Alles was je geſchehen,
gedacht oder gethan war, als aufgehobenes Moment, als überwundenen
Standpunkt in irgend einem Paragraphen ſeines allumfaſſenden Syſtems
nachzuweiſen. Ihm blieb eigentlich nur noch die eine Frage unlösbar, welche
ein vorwitziger Schüler in der That aufwarf: was denn der Weltgeiſt jetzt
noch beginnen ſolle, nachdem er in der abſoluten Philoſophie ſeine Vollen-
dung gefunden habe? In ſolcher Ueberhebung wurden die Philoſophen be-
ſtärkt durch ihre allen Nichteingeweihten unverſtändliche Schulſprache. Der
Meiſter ſelbſt bewährte, wenn er ſich in den Anmerkungen und Excurſen
frei gehen ließ, immer die natürliche Sprachgewalt des Genius; manches
ſchöne alterthümliche Wort hat er dem modernen Sprachſchatze wiederge-
geben, ſo das bezeichnende „von Haus aus“. In den Paragraphen hin-
gegen befliß er ſich barbariſcher Kunſtausdrücke, welche das Klare verdunkel-
ten, das Einfache verwirrten, und die Jünger ſäumten nicht, die Unart des
Lehrers noch zu überbieten. Da die Grundlagen des Syſtems in der Luft
ſtanden, ſo gelangten ſeine Bekenner mit Hilfe der Alles beweiſenden dia-
lektiſchen Methode zu Folgerungen, die nach allen Richtungen der Wind-
roſe auseinandergingen; und dieſe Philoſophie, die ſich mit ihrer Objekti-
vität brüſtete, entfeſſelte ſchließlich einen Schwall wirr durcheinander wo-
gender ſubjektiver Meinungen.
Der Satz „das Vernünftige iſt wirklich“ enthielt eine tiefe Wahrheit,
aber nicht die ganze Wahrheit. Er ſagte nicht, daß in dieſer wirklichen
und vernünftigen Welt auch das Unvernünftige und das nur ſcheinbar
Wirkliche beſteht; er ſagte noch weniger, daß der ſchaffende Geiſt berufen
iſt, in dem Werdenden das Vollendete zu ahnen, in den Keimen neuen
Lebens ſchon die Wirklichkeit der Zukunft voraus zu erkennen. Nackt hin-
geſtellt konnte er alſo leicht im Sinne einer gedankenloſen Ruheſeligkeit
[721]Die Hegelianer.
mißverſtanden werden. Hegel ſelber verdiente zwar keineswegs den Vorwurf
knechtiſcher Geſinnung, den ihm ſeine Neider zuſchleuderten; er ging in
ſeiner Staatslehre über die Wirklichkeit der preußiſchen Zuſtände ſehr
weit hinaus, er forderte Kammern und Schwurgerichte, gewährte dem
Monarchen nur das Recht, den Punkt aufs i zu ſetzen. Doch er war
eine conſervative Natur. In ſeinen letzten Jahren ſchloß er ſich eng an
die Regierung an und benutzte unbedenklich die Gunſt Altenſtein’s und
Johannes Schulze’s, um ſeine wiſſenſchaftlichen Gegner zu beſeitigen; ſeine
Berliner Jahrbücher hätte er am liebſten, gleich dem Journal des savans,
zu einem Staatsunternehmen umgeſtaltet. Wenn er das Wirkliche ver-
nünftig nannte, ſo wollte er ſicherlich nicht den Stillſtand preiſen, ſondern
eine beſonnene Staatskunſt, die ihre Reformen aus dem Gegebenen heraus
geſtaltete.
Aber ſchon erhoben ſich — voran der Juriſt Göſchen — einige über-
eifrige, hochconſervative Schüler, welche im Namen Hegel’s Alles, was in
Staat und Kirche augenblicklich beſtand, für vernünftig erklärten. Und zu-
gleich ward offenbar, daß jenes vieldeutige Wort auch im Sinne des wüſten
Radicalismus mißbraucht werden konnte. Wenn nur das Vernünftige
wirklich war, ſo durfte ein unreifer Kopf ſich wohl berechtigt glauben, die
Welt nach ſeiner Vernunft umzugeſtalten, das nur ſcheinbar Wirkliche
durch die Wahrheit der Philoſophie kurzerhand zu verdrängen. Und dieſer
dreiſte Schluß — unzweifelhaft das genaue Gegentheil der Meinung
Hegel’s — wurde in der That ſchon von einzelnen Heißſpornen gewagt;
das junge Volk glaubte den Meiſter beſſer zu verſtehen, als er ſich ſelber
verſtand.
Die erſten Anfänge dieſes junghegel’ſchen Radicalismus ließen ſich
bereits erkennen, als Ed. Gans gegen die hiſtoriſche Rechtsſchule zu Felde
zog — ein bewegliches jüdiſches Talent, mehr ſcharfſinnig als geiſtvoll,
wohlbewandert in jener Kunſt der Reproduction, welche auf dem Katheder
ſo leicht Erfolge erzielt. Gans durchſchaute die Schwächen der Schüler
Savigny’s, die ſich nur zu oft in ideenloſe Mikrologie verloren, und er-
neuerte, ungleich geſchickter als Rotteck, den alten ſinnloſen Kampf des
Vernunftrechts wider das hiſtoriſche Recht, obgleich die Grundgedanken
der Hegel’ſchen Geſchichtsphiloſophie den Ideen der hiſtoriſchen Rechtsſchule
in Wahrheit ſehr nahe ſtanden. Der unerquickliche Streit erinnerte
ſtark an die leidigen Mißverſtändniſſe zwiſchen Kant und Herder; er hatte
nur die eine gute Folge, daß Gans ſich ſammelte und in ſeinem „Erbrecht“
einen Verſuch vergleichender Rechtsgeſchichte unternahm, der die Lehre Sa-
vigny’s glücklich ergänzte. Die Schwärmgeiſter der Hegel’ſchen Schule aber
hatten nunmehr gefunden, was jeder werdenden Partei unentbehrlich iſt:
einen gemeinſamen Feind. Kampf gegen die Hiſtoriſchen — hieß jetzt die
Loſung. Unter dieſem Banner ſammelte ſich eine Schaar radicaler Köpfe,
welche, weit hinausſchreitend über Gans’ liberale Anſichten, Alles bekämpften,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 46
[722]III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
was dem Meiſter heilig war, vornehmlich ſein Preußenthum und ſeinen
hohen Ordnungsſinn, und gleichwohl ſich nach ſeinem Namen nannten.
Die Rechte und die Linke der Hegel’ſchen Schule begannen ſich zu ſcheiden.
In Hegel’s großem Wirken lag ein tragiſcher Widerſpruch. Er weckte
in der deutſchen Wiſſenſchaft die bewußte Staatsgeſinnung, aber durch
die Sophiſtenkünſte ſeiner dialektiſchen Methode beförderte er zugleich jenen
zuchtloſen Geiſt der Ueberhebung, der bereits die überlieferte Ordnung des
Staates wie der Kirche zu verrücken und zu unterwühlen begann. —
[[723]]
Zehnter Abſchnitt.
Preußen und die orientaliſche Frage.
Wenn die Flammen des Radicalismus, die ſchon da und dort in
der Literatur emporzüngelten, dereinſt mit Macht aus dem Boden auf-
ſchlugen, dann mußten ſie an der verabſcheuten Bundesverfaſſung und
der Nichtigkeit der meiſten Bundesſtaaten überreichen Zündſtoff finden.
Die einzige widerſtandsfähige Macht in dieſem deutſchen Chaos war der
preußiſche Staat. Während er die wirthſchaftlichen Kräfte der Nation
entſchloſſen um ſich verſammelte, trennte er ſich zugleich von der euro-
päiſchen Politik des Wiener Hofes und bewies, daß er auch gegen Oeſter-
reichs Willen die deutſchen Intereſſen zu wahren verſtand.
Die europäiſche Lage wurde zunächſt durch zwei Thronwechſel ver-
ändert. In Frankreich beſtieg Karl X. den Thron (September 1824), der
jüngſte Bruder des enthaupteten Königs, jener verrufene Graf von Artois,
der ſeit mehr als einem Menſchenalter faſt alle die thörichten Anſchläge
der Emigranten und der Ultras geleitet hatte. Durch die Jahre war er
nicht weiſer geworden. Entzückt begrüßten die Prieſter der Congregation
und die Hofleute des Pavillons Marſan das neue Regiment; ſie erwar-
teten zuverſichtlich, mit der wunderlichen altfränkiſchen Krönungspracht,
die ſich im Dome zu Rheims entfaltete, würde die ganze Herrlichkeit des
alten feudalen Frankreichs wieder aufleben. Indeß die Zeit der Staats-
ſtreiche war noch nicht gekommen. Die Charte ſtand noch feſt; die kluge
Mäßigung, welche Ludwig XVIII. und ſein Miniſter Villele während der
letzten Jahre gezeigt, begann doch ihre Früchte zu tragen. Für eine Politik
der Verſöhnung lagen alle Anzeichen günſtig. König Karl gefiel den
Franzoſen durch ſeine ritterliche Liebenswürdigkeit; er vergrub ſich nicht,
wie ſein kranker Bruder, in der Einſamkeit der Tuilerien, ſondern zeigte
ſich gern vor dem Volke, und das neugierige Paris hatte ſeine Luſt an
dem Glanze des Hofes. In den Kammern gebot das Miniſterium über
eine zuverläſſige conſervative Mehrheit, und ihr Beſtand ſchien auf lange
hinaus geſichert, da Villele ſoeben die ſiebenjährige Dauer der Wahl-
kammer durchgeſetzt hatte. Von den Verſchwörungen und den politiſchen
Verfolgungen, welche das Land vor Kurzem noch aufgeregt hatten, hörte
man nichts mehr. Selbſt die Armee ſchien, froh der neuen wohlfeilen
46*
[724]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ſpaniſchen Erfolge, ihre napoleoniſchen Erinnerungen allmählich zu ver-
geſſen.
Dieſe Gunſt der Umſtände ward denn auch von Villele geſchickt aus-
gebeutet, und noch im erſten Regierungsjahre des neuen Königs kam das
Geſetz zu Stande, das den Emigranten eine Milliarde zur Entſchädigung
für ihre geraubten Güter gewährte — das folgenreichſte und wohlthätigſte
Geſetz der Reſtauration; denn nun erſt wurden die Grundlagen der neuen
Geſellſchaft, die veränderten Beſitzverhältniſſe, von allen Parteien ohne Rück-
ſicht anerkannt, nun erſt war die Möglichkeit gegeben, daß die Parteien, die
ſich conſervativ nannten, auch conſervativ denken konnten. Aber Villele
fühlte ſich der Gunſt des Königs nicht ſicher; er wußte, daß Karls Herz nach
wie vor den Ultras angehörte. Um ſich zu behaupten, näherte er ſich,
wider ſeine beſſere Einſicht, dieſer verblendeten Partei und ließ ſich durch
ſie von einem Mißgriff zum andern verleiten. Die Kluft zwiſchen dem
alten und dem neuen Frankreich that ſich wieder auf. Das Geſetz über
die Kirchenſchändung widerſprach den Anſchauungen der modernen Geſell-
ſchaft ſo gänzlich, daß Niemand an ſeine Ausführung zu denken wagte;
ſelbſt wohlgemeinte Geſetzentwürfe ſtießen auf Widerſtand, weil tauſend
unheimliche Gerüchte von der geplanten Wiederherſtellung der feudalen
Geſellſchaftsordnung erzählten. Zugleich warnte Graf Montloſier in einer
feurigen Flugſchrift vor der drohenden Herrſchaft der Jeſuiten.
Endlich (1827) erreichten die Ultras ſogar einen Pärſchub und die
Auflöſung des Abgeordnetenhauſes, das trotz ſeiner royaliſtiſchen Mehrheit
ihnen noch nicht gefügig genug ſchien. Ein großer Wahlſieg der Oppoſition
war die Antwort des Landes. Villele trat zurück, König Karl aber fügte ſich
den Thatſachen und berief das gemäßigt-conſervative Miniſterium Martignac
(Jan. 1828). Allgemein war die Freude. Zum zweiten male, wie ſchon
im Jahre 1819, gab ſich Frankreich der Hoffnung hin, ſeine alte Krone
werde ſich mit dem neuen Staatsrechte endgiltig ausſöhnen. Die neue
Regierung beſtand, obwohl ſie kein Talent von Villele’s Feinheit beſaß,
durchweg aus wohlmeinenden, gemäßigten Männern, und als ſie das alte,
niemals ausgeführte Verbot des Jeſuitenordens erneuert hatte, ſchien ſie
in der Gunſt der öffentlichen Meinung feſtzuſtehen. Aber das Vertrauen
des Königs gewann ſie niemals. König Karl konnte ſich zu dieſen Ge-
mäßigten kein Herz faſſen, er bereute bitterlich die Vertreibung der Jeſuiten.
Der alte Emigrantenführer, Graf Blacas, der päpſtliche Nuntius und
der öſterreichiſche Geſandte Graf Apponyi ſetzten alle Hebel ein um Mar-
tignac zu ſtürzen. Schon im Spätjahr 1828 kam des Königs Vertrauter,
der Blindeſte aller Ultras, Fürſt Polignac von ſeinem Londoner Bot-
ſchafterpoſten herüber und verſuchte unter der Hand ein neues Cabinet
zu bilden. Diesmal noch vergeblich.*)
[725]Karl X.
Von König Karls europäiſcher Politik erwartete Metternich Anfangs
das Beſte. Bald nach der Thronbeſteigung ging er ſelbſt nach Paris,
wo er von der „reinen Partei“ mit offenen Armen empfangen und auch
bei Hofe vielfach ausgezeichnet wurde. Aber ſeine Hoffnungen erfüllten
ſich nicht. Der greiſe König hegte gegen den Oeſterreicher ein Mißtrauen,
das durch die Zweizüngigkeit der Hofburg von Jahr zu Jahr geſteigert
wurde; er ſah nach alt-bourboniſcher Ueberlieferung in dem Wiener Hofe
den natürlichen Nebenbuhler des Hauſes Frankreich und theilte mit der
großen Mehrheit ſeiner Nation die philhelleniſche Geſinnung, da er die
Griechen als die Vorkämpfer des Kreuzes wider den Halbmond bewun-
derte. So geſchah es, daß Metternich’s perſönlicher und politiſcher Feind
Pozzo di Borgo in den Tuilerien bald wieder faſt ebenſo mächtig wurde,
wie in den erſten Jahren der Reſtauration. Auch das Verhältniß zu
Preußen geſtaltete ſich über alle Erwartung freundlich, zumal unter dem
Miniſterium Martignac. Der Berliner Hof erſchrak zwar über „die Nie-
derlage des Thrones“, welche der Bildung dieſes Cabinets vorherging, und
äußerte ſich zuweilen beſorgt über die Schwäche der Regierung;*) aber
der neue Miniſter des Auswärtigen Graf La Ferronays beſaß ſeit dem
Troppauer Congreſſe das perſönliche Vertrauen König Friedrich Wilhelms,
und der Geſandte Frhr. v. Werther, ein feiner, kluger Beobachter, der ſich
über Metternich’s Charakter nicht täuſchte, that das Seine, um die Freund-
ſchaft zwiſchen Preußen, Frankreich und Rußland zu befeſtigen. In allen
den kleinen deutſchen Händeln, welche für Frankreich keinen Werth hatten,
ſuchte ſich der Tuilerienhof dem preußiſchen Cabinet gefällig zu erweiſen.
Als Karl von Braunſchweig um die Hilfe der Bourbonen bat, wurde er
zur Nachgiebigkeit ermahnt. Markgraf Wilhelm von Baden dagegen erhielt
die beſten Zuſagen, da er wegen des Sponheimer Streites nach Paris
kam; denn das gute Recht und das befreundete Preußen ſtänden auf
Badens Seite.**)
Noch ſchneller und ſtärker veränderte ſich die ruſſiſche Politik. Czar
Alexander ſtarb am 1. December 1825, in der Blüthe der Jahre ſchon
lebensmatt und faſt erdrückt von der Laſt ſeines hohen Amtes. Seine
Sterbeſtunden wurden verklärt durch die Liebe ſeiner Gemahlin, die er
nach langer Entfremdung endlich wieder fand, aber auch verdüſtert durch
die Entdeckung einer großen Soldatenverſchwörung. Nach ſeinem Tode
brachte die ſeltſame Halbheit, welche faſt allen Thaten ſeiner letzten Jahre
anhaftete, noch einmal arge Verwirrung über das Reich. Schon vor zwei
Jahren hatte der Thronfolger Großfürſt Conſtantin ſeine Abdankung in
die Hände des Kaiſers niedergelegt, Alexander aber hatte dieſe Urkunde
geheim gehalten, obgleich die Erbfolgeordnung der Dynaſtie erſt ſeit wenigen
[726]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
Jahrzehnten geſetzlich geordnet war, und ſelbſt den Großfürſten Nikolaus,
dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert ſah nun
die Welt das unerhörte Schauſpiel, wie zwei fürſtliche Brüder nicht um
den Beſitz, ſondern um die Zurückweiſung einer mächtigen Krone mitein-
ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptſtadt dem
älteren Bruder, der fern in Warſchau weilte; drei Wochen lang blieb das
ungeheuere Reich ohne anerkannten Herrſcher. Da erſt, auf Conſtantins
wiederholten Befehl, entſchloß ſich Nikolaus, die Krone zu übernehmen,
aber der neue Thronwechſel bewog jene Verſchworenen, deren Anſchläge
der ſterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen.
Der lange Aufenthalt des ruſſiſchen Heeres in Frankreich trug jetzt ſeine
Früchte. Oberſt Peſtel und viele andere der begabteſten und vornehmſten
Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, dieſem
Reiche eine republikaniſche Verfaſſung aufzuerlegen — durch meuteriſche
Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Conſtantin und ſeine Frau,
die Conſtitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward
niedergeworfen, die Verſchworenen in den Südprovinzen, noch ehe ſie los-
ſchlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die
unglücklichen Dekabriſten.
So über Leichen hinweg ſtieg Czar Nikolaus auf den Thron, der
härteſte Selbſtherrſcher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, ſtreng,
nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensſtark, ein beſchränkter Kopf, der
gerade durch ſeine Gedankenarmuth, durch die zweifelloſe Beſtimmtheit
ſeiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels
ſicher, furchtbar, groß erſchien. Für das Heer erzogen, hatte der junge
Großfürſt von ſeinem kaiſerlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn be-
vormundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen
erlangen und darum auch nicht durch den Augenſchein lernen können, wie
ſchwach in Wahrheit die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß-
land nach Weſteuropa ſendete. Erſt nach dem Frieden bereiſte er die
Schlachtfelder und folgte im Geiſte dem Siegesfluge des Doppeladlers
von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm
unterthänige Begleiter von den Wundern moskowitiſcher Tapferkeit er-
zählten und kehrte heim mit der feſten Ueberzeugung, daß Rußland allein
die Welt befreit habe. Unbegrenzt erſchien ihm jetzt die Gewalt des weißen
Czaren. Die überſpannten Vorſtellungen von Rußlands Macht, welche
er überall an den Höfen des Weſtens verbreitet fand, mußten ihn in
ſolcher Anſicht beſtärken; und wenn er nachher durch ein Menſchenalter
im Beſitze dieſer göttergleichen Macht ſchwelgen konnte, ohne dem Wahn-
ſinn der Cäſaren zu verfallen, ſo verdankte er dies Glück lediglich ſeinem
ſtählernen Körper und der ſchwungloſen Mittelmäßigkeit ſeines Geiſtes.
Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele
verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz ſeinem militäriſchen
[727]Czar Nikolaus.
Berufe, ein unbeliebter, pedantiſcher Heerführer, im Grunde nur ein Unter-
officier großen Stiles, unvergleichlich in allen Künſten des Parademarſches,
aber weder ein Feldherr noch ein Organiſator.
Als er den Thron beſtieg, übertrug er die Weltanſchauung der Kaſerne
unbefangen auf den Staat. Keine Rede mehr von den liberalen Schwach-
heiten des verſtorbenen Czaren; ſchweigender Gehorſam allüberall; uner-
bittliche Grenzſperre, um das heilige Rußland von den Waaren und den
Gedanken des revolutionären Weſtens abzuſchließen; und überall dieſelbe
militäriſche Ordnung, Alles gleichmäßig wie die Haufen der Chauſſeeſteine,
die, gleich geformt, gleich angeſtrichen und in gleichem Abſtande von den
Werſtzeichen, ſämmtliche Landſtraßen von Warſchau bis Tobolsk ſchmück-
ten. Durch ſolche Herrſchergrundſätze glaubte Nikolaus wirklich ſein Volk
zu beglücken, da er ſelber von der Welt der Ideen nichts ahnte und nichts
Höheres kannte, als die Ordnung des Exercierplatzes; darum verfolgte er
Alles, was von dieſer Regel nur um eines Haares Breite abwich, mit der
Unverſöhnlichkeit ehrlichen Haſſes. Wenn er in ſeiner prächtigen rothen
Gala-Uniform einherſchritt, feſtgeſchnürt, mit engen weißen Beinkleidern
und hohen Reitſtiefeln, erhobenen Hauptes, die längſten Grenadiere noch
überragend, dann bewunderten alle Weiber dies Bild vollkommener männ-
licher Schönheit, und nur ſehr ſelten wagte eine unehrerbietige Schelmin
flüſternd zu bemerken: der ſchöne Czar ſcheine doch den bekannten preußi-
ſchen Ladeſtock verſchluckt zu haben. Dem eigenthümlichen bleiernen Blicke
ſeiner großen, harten, grauen Augen hielt Niemand ſo leicht Stand, und
mit unverkennbarer Befriedigung weidete ſich der Selbſtherrſcher an der
Angſt der kleinen Sterblichen, die das Zucken ſeiner herriſchen Augen-
brauen nicht ertragen konnten. Der Zauber einer ſo ſtattlichen perſön-
lichen Erſcheinung erwies ſich ſelbſt in dieſem proſaiſchen Jahrhundert
noch als ein wirkſames Machtmittel; Freund und Feind überſchätzte den
Czaren. In den erſten anderthalb Jahrzehnten ſeiner Regierung haben
von den namhaften Beſuchern des Petersburger Hofes wohl nur zwei
hinter der Außenſeite des großen Mannes den gewöhnlichen Menſchen er-
kannt: Wellington und der Deutſche Friedrich v. Gagern. Am richtigſten
beurtheilten ihn vielleicht die preußiſchen Officiere: wenn er in Berlin
ſtundenlang mit ihnen nur über Kamaſchen und Knöpfe, über Wiſcher
und Laffetten redete, ohne jemals einen bedeutenden militäriſchen Gedanken
auszuſprechen, dann ſchüttelten die Einſichtigeren verwundert den Kopf,
aber wer hätte ſeine Meinung laut zu äußern gewagt?
Was Nikolaus von gemüthlicher Wärme beſaß, zeigte ſich faſt nur
im Verkehre mit ſeiner edlen preußiſchen Gemahlin, mit ſeinem Schwieger-
vater und dem Prinzen Wilhelm. Mit ſeinem verſtorbenen Bruder hatte
er nichts gemein als jenen Zug der Falſchheit, der alle Kinder des
Hauſes Gottorp auszeichnete, und eine große ſchauſpieleriſche Begabung.
Jedes ſeiner Worte und jede ſeiner Mienen war berechnet. Mitten in
[728]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ſeinen gewaltigen Zornreden wider die Revolution vergaß er doch nicht,
daß die Empörung gegen den türkiſchen Erbfeind dem heiligen Rußland
Vortheil bringen konnte; und wenn er vor allem Volke in Berlin ſeinem
Schwiegervater mit ritterlicher Demuth die Hand küßte, ſo heuchelte er
nicht ſchlechthin — denn der welterfahrene alte König war vielleicht der
einzige Menſch, der dem Czaren ein Gefühl der Ehrfurcht einflößte —,
aber er wußte auch ſehr genau, wie ſolche Schauſpiele kindlicher Zärtlichkeit
auf deutſche Gemüther wirken mußten.
Durch die Bändigung des Petersburger Aufſtandes hatte er ſich überall
in der Welt den Ruf unbeugſamer [Willenskraft] erworben. Der unge-
heuere Haß, der ihn ſpäterhin, nach der polniſchen Revolution, traf, laſtete
jetzt noch nicht auf ihm; ſelbſt die Liberalen erkannten die Thorheit der
Dekabriſtenbewegung und verdachten dem Czaren ſeine Gegenwehr nicht.
Aber Jedermann fühlte, daß die unruſſiſche Politik der letzten Jahre Alexan-
ders nunmehr enden mußte. Das Volk murrte über die Bevorzugung der
Deutſchen und der Polen. Der neue Czar that nur das Nothwendige,
als er die moskowitiſche Sitte wieder begünſtigte, und nicht minder noth-
wendig war ſein entſchloſſenes Auftreten gegenüber dem türkiſchen Nachbarn.
Er durfte bei den Kämpfen der griechiſchen Glaubensgenoſſen nicht thatlos
bleiben, ſchon weil ſein von Parteien unterwühltes Heer der Beſchäf-
tigung bedurfte.
Niemand durchſchaute die veränderte Lage früher als Canning.
Der engliſche Staatsmann ſtand jetzt auf der Höhe ſeines Ruhmes.
Die Liberalen aller Länder jubelten auf bei ſeinem Trinkſpruche: Freiheit,
politiſche und religiöſe, in der ganzen Welt! — und bald kam die Zeit,
da er in drohender Rede an den Schlauch des Aeolus erinnerte, an die
Mächte der Revolution, welche das freie England nach Belieben ent-
feſſeln könne. Gehoben durch die Gunſt der Nation meinte er ſich ſtark
genug, die alten Ueberlieferungen der orientaliſchen Politik ſeines Landes
über Bord zu werfen und eine Verſtändigung mit Rußland zu wagen.
Wenn es gelang, dem jungen Czaren durch einen freundſchaftlichen Ver-
trag die Hände zu binden, dann wurde das gräßliche Gemetzel der Aegypter
im Peloponnes beendigt und den Griechen eine bedingte Unabhängigkeit
errungen, aber auch der Beſtand des unantaſtbaren Osmanenreichs ge-
ſichert und die Erweiterung der ruſſiſchen Macht im Orient verhindert.
Darum nahm Canning die geheimen Verhandlungen mit dem ruſſiſchen
Geſandten, dem Fürſten Lieven, welche ſchon unter Czar Alexander be-
gonnen hatten, wieder auf und ſendete dann den Herzog von Wellington
nach Petersburg, der als ſtrenger Tory dem Selbſtherrſcher willkommen
ſein mußte. Am 4. April 1826 unterzeichnete Wellington mit Neſſelrode
ein geheimes Protokoll, wodurch ſich die beiden Mächte verpflichteten, in
Griechenland, nach dem Vorbilde Serbiens und der Donaufürſtenthümer,
einen halbſouveränen Schutz-Staat des Sultans zu errichten. Canning
[729]Das Petersburger Protokoll.
frohlockte, denn nunmehr ſchien es unmöglich, daß die Ruſſen einſeitig
gegen die Türken vorgingen. Als das Protokoll bekannt wurde, ſpendete die
liberale Welt ihrem Liebling überſchwänglichen Beifall. Canning erſchien
als der glorreiche Befreier der Hellenen; er allein hatte bewirkt, daß die
beiden alten Gegner England und Rußland ſich zuſammenthaten zur Rettung
der Griechen, die ſonſt unzweifelhaft den überlegenen Waffen der Aegypter
unterliegen mußten. In allen Ländern Europas nahm der Philhellenis-
mus einen neuen Aufſchwung; ſelbſt in Berlin wagte Hufeland jetzt ſeine
Sammlungen für die Griechen öffentlich anzukündigen.
Bald zeigte ſich jedoch, daß Canning’s kühne Schlauheit an dem
jungen Czaren ihren Meiſter gefunden hatte. Nicht Rußland war durch
das Londoner Protokoll gebunden, ſondern England. Ohne die Zu-
ſtimmung ſeiner ruſſiſchen Freunde durfte Canning fortan in den griechi-
ſchen Händeln keinen Schritt mehr unternehmen. Der Petersburger Hof
dagegen behielt die Hände frei; er hatte zwei Sehnen am Bogen, denn
da im Oriente niemals ein Vertrag ehrlich gehalten wird, ſo kann es
dort auch niemals an Kriegsvorwänden fehlen, und Czar Nikolaus ſäumte
nicht gegen den Divan drohende Beſchwerden zu erheben wegen der noch
unerfüllten Verheißungen des Bukareſter Friedens vom Jahre 1812.
Schon im März, noch bevor die Vereinbarung mit England zu Stande
kam, zeigte er den großen Mächten an, „die beſondere Stellung“ Ruß-
lands gegenüber der Türkei müſſe ungeſäumt geordnet werden. England
konnte ihn daran nicht hindern, da ſich das Petersburger Protokoll nur
auf die griechiſche Frage bezog.
Metternich aber, verblendet durch den Doktrinarismus ſeiner Revo-
lutionsfurcht, arbeitete dem Czaren arglos in die Hände. Er wollte auf
der Welt nichts mehr ſehen als die beiden großen Heerlager der Revo-
lution und der Legitimität; befangen in dieſem Ideenkreiſe vermochte
er die harte Intereſſenpolitik, welche der Czar ſo gut wie Canning im
Oriente befolgte, nicht zu verſtehen. Weil Canning von der liberalen
Welt vergöttert wurde, darum blieb er in Metternich’s Augen die Welt-
geißel, das blendende Meteor des Unheils, das vor der dauernden
Größe der Wiener Staatskunſt bald erbleichen mußte — und wie die
freundlichen Ergüſſe Metternich’ſcher Selbſtberäucherung ſonſt lauteten;
nur vor Canning’s revolutionären Umtrieben mußte der Sultan behütet
werden, obgleich der engliſche Staatsmann die Erhaltung des türkiſchen
Reichs ganz ebenſo aufrichtig wünſchte wie die Hofburg ſelber. Der
junge Czar hatte bei ſeiner Thronbeſteigung die Revolution niedergewor-
fen und ſeinen Abſcheu gegen die Griechen, dieſe Rebellen und unver-
beſſerlichen Barbaren, wiederholt und nachdrücklich ausgeſprochen; folg-
lich war er nach Metternich’s Urtheil der Mann des Friedens und der
Ordnung, Alles was er that und redete war parfait, unmöglich konnte
er daran denken, mit einem Heere, das ſelbſt von revolutionären Ideen
[730]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
angefreſſen war, die griechiſchen Empörer zu unterſtützen*). Daher rieth
Metternich der Pforte dringend zur Nachgiebigkeit gegen Rußlands An-
ſprüche; denn wurde der Czar zufriedengeſtellt, ſo konnte er nicht mehr
in Canning’s Fallſtricke ſtürzen, der Sultan aber durfte ſeine ganze Macht
zur Unterdrückung der Griechen verwenden.
Mit gerechtem Befremden vernahm Sultan Machmud die gänzlich
veränderte Sprache ſeiner öſterreichiſchen Freunde; derſelbe Gentz, der in
ſeinen Depeſchen an die wallachiſchen Hoſpodare ſo oft vor Rußlands
ehrgeizigen Plänen gewarnt hatte, befürwortete jetzt die Forderungen des
Czaren. Dem Padiſchah blieb in ſeiner Bedrängniß keine Wahl. Gegen
die griechiſchen Rebellen hatte er ſchon die Hilfe ſeines ägyptiſchen Vaſallen
anrufen müſſen, deſſen Macht ihm ſelber leicht über den Kopf wachſen
konnte, und das ruhmreiche Heer der Janitſcharen, vor Zeiten der Kern
der osmaniſchen Kriegsmacht, war jetzt in zuchtloſem Prätorianerſtolz der-
maßen verwildert, daß die Leibwächter dem Herrſcher ſelbſt gefährlich wur-
den. Da flammte die Willenskraft der alten großen Sultane noch einmal
ſchrecklich auf in dem letzten begabten Sohne des Hauſes Osman. Mach-
mud beſchloß die Janitſcharen aufzulöſen, durch ein entſetzliches Blutbad
wurde die Heerſchaar vernichtet, die einſt der Schrecken der Chriſtenheit ge-
weſen. Ein dem Verderben verfallenes Reich vermag aber ſelbſt nothwen-
dige Reformen nicht mehr zu ertragen. Die Vernichtung der Janitſcharen
traf den alten orientaliſchen Kriegsſtaat in den Wurzeln ſeiner Verfaſ-
ſung, ſie zwang ihn fortan, ſeinem Charakter zuwider, abendländiſche Ein-
richtungen nachzuahmen. Alte Kraft war zerſtört, neue nicht gewonnen.
Die gläubigen Moslemin grollten, ihre Flüche wider den Giaur Padiſchah
drangen bis zu Machmud’s Ohr; die neugebildeten, europäiſch geſchulten
Linientruppen gehorchten zwar dem Kriegsherrn, aber zum Kriege war
dies werdende Heer noch nicht gerüſtet. In ſolcher Lage mußte der ſtolze
Sultan nach langem Sträuben den friedlichen Mahnungen der Groß-
mächte endlich nachgeben. Im Vertrage von Akkerman (Okt. 1826) be-
willigte er alle Forderungen Rußlands: vollſtändige Erfüllung des Buka-
reſter Friedens, Herausgabe einiger tſcherkeſſiſchen Grenzplätze, geſicherte
Halbſouveränität für Serbien und die Donaufürſtenthümer.
Unterdeſſen ward das Petersburger Protokoll bekannt. Der über-
liſtete öſterreichiſche Staatsmann ſtürzte aus allen ſeinen Himmeln. Nie-
mals hatte er für denkbar gehalten, daß die alten Feinde England und
Rußland ſich je vertragen, der wohlgeſinnte Czar für die griechiſchen
Rebellen je einen Finger rühren würde; und da er ſelber niemals Un-
recht haben konnte, ſo meinte er jetzt, der Czar ſei ſchwach geworden, der
unerfahrene junge Fürſt habe ſich durch Canning’s ſchlechte Künſte ver-
führen laſſen. An die Dauer, an irgend eine Wirkung dieſes unnatür-
[731]Der Londoner Vertrag.
lichen Bundes wollte er ſchlechterdings nicht glauben. Nach mannich-
fachen diplomatiſchen Wendungen erklärte er ſich bereit, die Unterhand-
lungen der beiden Mächte bei der Pforte zu unterſtützen und begann nun
ein durchſichtiges Doppelſpiel, das um ſo thörichter war, da er wußte,
daß der junge Czar ihn ſelber ebenſo argwöhniſch beobachtete wie der greiſe
König von Frankreich. Während er die beiden verbündeten Höfe mit leeren
Verſprechungen hinhielt, ließ er den Sultan durch Gentz’s Hospodaren-
briefe und durch den Internuntius Ottenfels insgeheim zur Ausdauer
ermahnen. Der ſiegreiche Ibrahim Paſcha hauſte auf Morea wie der
Schnitter Tod; gewann der Sultan nur noch ein Jahr, ſo gelang es
vielleicht den Krummſäbeln der Aegypter, das meuteriſche kleine Griechen-
volk mit Kind und Kegel auszurotten, und dann hatte die griechiſche Frage
eine Löſung gefunden, welche ſchon durch ihre Einfachheit dem weichen
Herzen des Kaiſers Franz wohlthun mußte.
England und Rußland aber ließen ſich durch Metternich’s Zauder-
künſte nicht aufhalten. Um den Tuilerienhof für die Petersburger Ver-
abredung zu gewinnen ging Canning ſelbſt nach Paris, und am 6. Juli
1827 ſchloſſen die drei Mächte zu London einen förmlichen Vertrag. Sie
verpflichteten ſich, den griechiſch-türkiſchen Krieg durch gemeinſame Ver-
mittlung zu beendigen, zunächſt einen Waffenſtillſtand herbeizuführen und
im Frieden die Errichtung eines autonomen griechiſchen Staates, der dem
Sultan nur Tribut zu zahlen hätte, durchzuſetzen; beſondere Vortheile
ſollten keinem der drei Verbündeten aus dieſem Vertrage erwachſen. Wurde
der Waffenſtillſtand nicht binnen Monatsfriſt angenommen, ſo behielten
ſich die drei Mächte weitere angemeſſene Mittel vor; für alle Fälle ſen-
deten ſie ſogleich gemeinſam eine Flotte in das ioniſche Meer und gaben
den drei Admiralen ſehr unbeſtimmte, dehnbare Vollmachten mit auf die
Reiſe. So hatte denn Metternich abermals falſch gerechnet; die Wir-
kungen des Petersburger Protokolls, das er ſo abſchätzig beurtheilt, ließen
ſich jetzt mit Händen greifen. In hochmüthigen Schmähreden gab er ſeine
Enttäuſchung kund: dies kindiſche Werk ging von Menſchen aus, die noch
im ABC der Begriffe ſteckten; „was zu viel iſt iſt zu viel, der Vertrags-
entwurf überbietet noch die Dummheit“. Noch ausgiebiger verwerthete
der leidenſchaftliche Gentz die reichen Vorräthe des deutſchen Schimpf-
wörterbuchs; er donnerte wider dieſen Gipfel der Verkehrtheit, der Un-
gereimtheit und Unverſchämtheit, wider dieſe Treuloſigkeit, Bosheit,
Schwäche, Blindheit, Sinnloſigkeit, und als ſein getreues Echo erklärte
Prokeſch den Londoner Vertrag für die Pandorabüchſe, welche der Teufel
der Unordnung, Liberalismus genannt, in die Welt gebracht habe.
Alle Unbefangenen, weit über die Kreiſe des Liberalismus hinaus,
empfingen die Kunde von dem Londoner Vertrage mit gerechter Befrie-
digung: es war die höchſte Zeit, daß das Ehrgefühl der Chriſtenheit endlich
ſich regte, daß einer Rotte afrikaniſcher Bluthunde nicht länger mehr ge-
[732]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ſtattet wurde, auf europäiſchem Boden ein chriſtliches Volk niederzumetzeln.
Die beſſer Unterrichteten konnten freilich nicht verkennen, welche Gefahren
dieſer Vertrag in ſeinem Schooße barg. Seine Urheber waren keines-
wegs einig. Ganz ohne Hintergedanken verfuhr nur Frankreich: König
Karl empfand die ehrliche Begeiſterung des Kreuzfahrers und wollte zu-
gleich das geſunkene Anſehen ſeines Landes durch eine großartige Macht-
entfaltung im Oſten heben. Canning dagegen hatte kürzlich durch den
Commodore Hamilton unter der Hand bei den Griechen anfragen laſſen,
ob ſie eine Republik unter engliſchem Schutze bilden wollten. Da die Hel-
lenen, gewitzigt durch das abſchreckende Beiſpiel der ioniſchen Inſeln,
den Vorſchlag mit Schaudern zurückgewieſen hatten, ſo verfolgte die eng-
liſche Politik jetzt zunächſt den Zweck, keinen anderen Einfluß im Orient
aufkommen zu laſſen und durch die Beſchützung des osmaniſchen Reichs
der britiſchen Flagge ihr altes Marktgebiet zu erhalten; die Sache der
Griechen ſtand ihr erſt in zweiter Linie. Czar Nikolaus endlich bereitete
längſt den Krieg vor, fort und fort ward in ſeinem Heere gerüſtet. Er
verabſcheute die Hellenen, weil ſie Empörer waren und weil ein ſelbſt-
ſtändiges Griechenland den byzantiniſchen Träumen der Moskowiter leicht
hinderlich werden konnte; doch er betrachtete die griechiſchen Händel als
ein Mittel, um ſeinem Reiche die Vorherrſchaft am Bosporus zu er-
ringen. Wie die Dinge lagen durfte der Czar wohl auf die Erfüllung
ſeiner Hoffnungen rechnen. Denn von der Hartnäckigkeit des Sultans
war die Bewilligung eines Waffenſtillſtandes nicht zu erwarten. Griffen
die Verbündeten darauf zu den angedrohten „geeigneten Mitteln“, ſo ließ
ſich ein Zuſammenſtoß kaum vermeiden; dann war ein Kriegsgrund für
Rußland leicht gefunden, und dann mußte ſich zeigen, daß die Weſtmächte
nur für den Czaren gearbeitet hatten. Ein gnädiges Schickſal erſparte
dem leitenden Staatsmanne Englands dieſe große Enttäuſchung noch zu
erleben. Canning ſtarb wenige Wochen nach dem Londoner Vertrage,
zur rechten Zeit für ſeinen Ruhm, noch bevor die Welt den Mißerfolg
ſeines letzten diplomatiſchen Feldzugs durchſchaute; ſo blieb dem kalt rech-
nenden Handelspolitiker der unverdiente Name des Befreiers der Hellenen.
Nach der Meinung der öſterreichiſchen Staatsmänner konnte der Drei-
bund nur in Nichtigkeit verſinken oder den Krieg herbeiführen. Wollte
die Hofburg dieſe Kriegsgefahr abwenden, ſo mußte ſie ihren ganzen Ein-
fluß aufbieten, um den befreundeten Sultan zur Nachgiebigkeit zu be-
ſtimmen. Metternich rechnete aber auf den Zerfall des Dreibundes; er
fuhr daher fort in ſeinem Doppelſpiele, gab den drei Mächten glatte
Worte und ermuthigte unter der Hand die Pforte zum Widerſtande. Im
Oriente bleibt indeß nichts geheim. Der Hospodar der Wallachei ſendete
Abſchriften der aus Wien erhaltenen Weiſungen nach Petersburg, ſein
Sohn ſchickte ſogar einige Originalbriefe von Gentz, die er dem Vater
geſtohlen hatte. Durch dieſe und andere unzweideutige Beweiſe ſah Czar
[733]Preußens Haltung.
Nikolaus ſeinen längſt gehegten Verdacht gegen Metternich vollauf be-
ſtätigt. In hellem Zorne ſchrieb er ſeinem Schwiegervater (16. Auguſt):
„Ich ſchulde Ihnen das Geſtändniß, Sire, daß ich leider die thatſächlichen
Beweiſe dafür in der Hand habe, daß wir, ich ſage wir, Sire, auf die
ſchändlichſte Weiſe von dem Wiener Miniſterium verrathen ſind. Der
Kaiſer iſt der Sache fremd, ich will es gern glauben und bin deſſen faſt
ſicher; aber was will das heißen, wenn ein Miniſter ſeinen Fürſten bis
zu dieſem Grade zu betrügen wagt?“ Darauf ſprach er die Abſicht aus:
werde der Krieg im Süden unvermeidlich, dann wolle er ſeine Oſtgrenze
ganz entblößen und alle verfügbaren Truppen zur Beobachtung von Ga-
lizien verwenden.*) Kaum minder unfreundlich äußerte ſich Kaiſer Franz
über den Czaren. „Wenn Kaiſer Alexander noch lebte, ſagte er dem preu-
ßiſchen Geſandten, dann wäre es nie ſo weit gekommen; ein junger Fürſt,
der gleich im Anfang ſo große Schwierigkeiten glücklich überwindet, will
nachher keinen Rath mehr hören.“**) Die Kluft zwiſchen den beiden Kaiſer-
höfen erweiterte ſich von Monat zu Monat. Bald hörte man, daß nun-
mehr auch Oeſterreich ſein Heer zu verſtärken beginne. Endlich mußte der
ruſſiſche Geſandte gar den Kaiſer Franz perſönlich zur Rede ſtellen wegen
der geheimen Rathſchläge in Konſtantinopel; Franz aber leugnete mit
ſeinem biederſten Geſichte Alles ab. —
Der Friedenspolitik des Berliner Cabinets kamen dieſe für Preußen
ganz unfruchtbaren und doch ſo gefährlichen Verwicklungen ſehr ungelegen.
Schon im Sommer 1825 hatte der König als leitenden Grundſatz ſeiner
orientaliſchen Politik ausgeſprochen: der Zeitpunkt für entſcheidende Schritte
der Großmächte trete erſt dann ein, wenn entweder die völlige Unter-
drückung der Griechen oder ein Unterliegen der Pforte zu beſorgen ſei.***)
Dieſer Zeitpunkt war jetzt offenbar gekommen, da die Griechen den Aegyp-
tern faſt erlagen. Die Abſicht des Dreibundes, dem Völkermord im Orient
endlich ein Ziel zu ſetzen, entſprach den Wünſchen des Königs: auch die
gemäßigten Friedensbedingungen, welche die Verbündeten zunächſt auf-
ſtellten, konnten in Berlin keinen Anſtoß geben. Gleichwohl wollte Friedrich
Wilhelm dem Londoner Vertrage nur dann zuſtimmen, wenn alle fünf
Großmächte ſich anſchlöſſen; und da Oeſterreich ſich verſagte, ſo verwei-
gerte auch er ſeinen Beitritt. Er ſah mit Beſorgniß, daß die drei Mächte
in ihren letzten Abſichten keineswegs einig waren,†) und hielt es nicht für
rathſam, wegen eines Handels, der Preußens Intereſſen nicht unmittelbar
berührte, die Freundſchaft Oeſterreichs zu verſcherzen. Darum bemühte
er ſich noch lange, die beiden Kaiſerhöfe zu verſöhnen, empfing im Tep-
litzer Bade den öſterreichiſchen Staatskanzler ſehr gnädig und ermahnte
[734]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
den Czaren, als dieſer ſich über Oeſterreichs Treuloſigkeit beſchwerte, väter-
lich: er möge die Nothwendigkeit der Eintracht zwiſchen den drei Oſt-
mächten bedenken und die Nothwendigkeit des Friedens nach ſo vielen
Kriegen.*)
An ſeinem Hofe ſtritten ſich zwei Parteien. Die Hochconſervativen
Wittgenſtein, Karl von Mecklenburg, Schuckmann, Ancillon ſchworen,
wie immer, auf die Worte ihres Wiener Meiſters; die freieren Köpfe,
Witzleben, Motz, Bernſtorff, Eichhorn neigten ſich der Politik des Drei-
bundes zu, die Einen, weil ſie die philhelleniſche Geſinnung der Zeit
theilten, die Andern, weil ſie den Staat der Vormundſchaft Oeſterreichs
ganz entledigen wollten. Auch Prinz Wilhelm und die anderen jüngeren
Prinzen des königlichen Hauſes verhehlten nicht, daß ſie die Politik des
ruſſiſchen Schwagers mit ihren guten Wünſchen begleiteten. Selbſt in
der Armee wagten ſich die Philhellenen jetzt offen heraus; Gneiſenau’s
Schwiegerſohn, der Sohn Scharnhorſt’s, meldete ſich zum Eintritt in das
griechiſche Heer. Nur der Kronprinz zeigte ſich unſicher, er ſchwankte
zwiſchen Metternich und Nikolaus. Der Parteikampf ward bald ſo lebhaft,
daß Ancillon ſeine Entlaſſung forderte, weil Bernſtorff ihn nicht mehr
beſchäftigte. Durch einige freundliche Worte des Königs ließ er ſich freilich
beſchwichtigen;**) aber der Streit währte fort, bis im Herbſt 1827 die öſter-
reichiſche Partei allen Einfluß verlor.
Den Anlaß zu dieſer glücklichen Entſcheidung gaben die Wiener Ge-
ſandtſchaftsberichte; denn jetzt endlich, ſeit dem Tode des Fürſten Hatzfeldt,
erhielt der König wieder unbefangene Mittheilungen über die Zuſtände
und Stimmungen in Oeſterreich. Der junge Legationsrath Frhr. v.
Maltzahn, der bis zur Ankunft ſeines zum Geſandten ernannten älteren
Bruders die Geſchäfte führte, bekleidete ſeinen Poſten noch nicht acht
Wochen, da durchſchaute er ſchon die Verlogenheit Metternich’s, die der
verblendete alte Fürſt in vielen Jahren nicht bemerkt hatte. „Es iſt
meine Pflicht, meldete er ſchon im April, offen zu geſtehen, daß Fürſt
Metternich keineswegs in gutem Glauben iſt,“ wenn er der feindlichen
Geſinnungen der Pforte ſicher zu ſein behauptet; er wünſcht dies auch
gar nicht, ſondern will nur dem Sultan freie Hand verſchaffen um die
Griechen zu bändigen, und er iſt überzeugt, daß England, wenn auch mit
andern Mitteln und aus anderen Gründen, denſelben Zweck verfolgt.***)
Als dann der neue Geſandte ſelbſt in Wien eingetroffen war, ein ſtolzer
Preuße, der ſich durch ſeine conſervative Geſinnung das nüchterne Urtheil
nicht trüben ließ, da folgten Woche für Woche Berichte ähnlichen Inhalts.
[735]Schlacht von Navarin.
Sie ſtellten außer Zweifel, daß Kaiſer Franz, Metternich, Gentz durchaus
türkiſch geſinnt und ihre Vermittlungsverſuche in Konſtantinopel nimmer-
mehr ehrlich gemeint waren. Noch werthvoller waren Maltzahn’s Mit-
theilungen über Oeſterreichs Staatshaushalt und Heerweſen; hier lag
der Schlüſſel zum Verſtändniß der haltloſen Wiener Politik. Dieſer
Staat, der ſo lange den Schiedsrichter Europas geſpielt, befand ſich ganz
außer Stande einen ernſthaften Krieg zu führen. Um die ungeheuren
Koſten der geheimen Polizei zu erſchwingen, hatte man das Heer arg ver-
nachläſſigt; in Wien ſelbſt fehlten einzelnen Reiterregimentern 300 Pferde
und mehr, viele Compagnien, die man für vollzählig ausgab, zählten nur
60 Mann. Dazu die Verwirrung in den Finanzen und der Charakter
des Kaiſers Franz, der in ſeinen jungen Jahren manchen leichtſinnigen
Krieg geführt hatte, jetzt aber zu keinem kühnen Enſchluſſe mehr zu brin-
gen war.*)
Mit einem ſo unzuverläſſigen und zugleich ſo ſchwachen Hofe konnte
eine rechtſchaffene Regierung nicht gemeinſame Sache machen. Der preu-
ßiſche Geſandte in Konſtantinopel ward daher angewieſen, unbekümmert
um den k. k. Internuntius die Friedensvorſchläge des Dreibundes nach-
drücklich zu unterſtützen, und im Spätjahr hatte ſich Bernſtorff den drei
verbündeten Mächten ſchon ſoweit angenähert, daß er den Geſandtſchaften
kurzweg ſchreiben konnte: „Obgleich unſer Hof weder bei dem Londoner
Vertrage mitgewirkt hat, noch ihm beigetreten iſt, ſo billigt er doch ohne
Rückhalt deſſen Grundſätze und Ziele.“**) Das Verhältniß zu Oſterreich
ward ſichtlich kühler, um ſo freundlicher das Einvernehmen mit Frankreich
und Rußland. Metternich aber konnte ſich Preußens ſelbſtſtändige Hal-
tung nur aus der baaren Thorheit erklären und ſchmähte hinterrücks auf
die Unfähigkeit des Commis Bernſtorff.
Mittlerweile erwieſen ſich die Berechnungen des öſtereichiſchen Staats-
mannes nochmals als irrig. Der Dreibund, deſſen Zerfall man in Wien
erwartete, hielt vorerſt noch zuſammen. Da der Sultan den Waffenſtill-
ſtand ablehnte, ſo erhielten die drei Admirale Befehl, die Einſtellung der
Feindſeligkeiten auf Morea nöthigenfalls zu erzwingen. Sie verſtanden
die Weiſung nach handfeſter Seemannsart. Als Ibrahim Paſcha der
Aufforderung nicht unzweideutig nachkam, wurde die prächtige Flotte des
Sultans am 20. Okt. 1827 in der Bucht von Navarin vernichtet. Froh-
lockend begrüßte die öffentliche Meinung des Feſtlandes die gänzlich uner-
wartete Nachricht; es ſchien wie eine Naturnothwendigkeit, daß die ſeit Jahren
ſchon geballte Fauſt der empörten Chriſtenheit nun doch endlich ſchmetternd
niedergefallen war, und nicht ohne Grund ſchrieben ſich die Philhellenen
einigen Antheil an dieſem Siege zu, der von den Cabinetten nicht gewollt,
[736]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ohne den lang genährten Abſcheu gegen den Halbmond ſchwerlich erfolgt
wäre. Der Tag von Navarin begründete Griechenlands Unabhängig-
keit, er begründete zugleich Rußlands Herrſchaft auf dem Schwarzen
Meere; der Sultan beſaß fortan keine Flotte mehr, die dem Czaren den
Marſch nach dem Balkan erſchweren konnte. Die Ruſſen fühlten auch,
daß ſie in Wahrheit dieſen Sieg erfochten hatten. In der erſten Freude
ſchrieb Neſſelrode dem Geſandten in Wien: „was wird unſer Freund
Metternich ſagen zu dieſem Triumphe der Gewalt über die Vorurtheile
der Grundſätze?“ Metternich fand kaum Worte genug, um dieſe empörende
Verhöhnung des Völkerrechts zu brandmarken. Sein Kaiſer ſprach von
Meuchelmord, von Entweihung des heiligen Wortes: Mediation;*) er
fürchtete ſchon, die Liberalen hätten vielleicht den Krieg, der jetzt drohe,
angezettelt, um inzwiſchen etwa in Frankreich loszubrechen. Auch in Eng-
land herrſchte, nachdem der Jubel über den Sieg der nationalen Lieblings-
waffe verhallt war, allgemeine Beſtürzung. Das alte Mißtrauen gegen
Rußland erwachte wieder. Im Einverſtändniß mit der Stimmung der
Nation bildete Wellington ein Tory-Cabinet, das ſich dem Wiener Hofe zu
nähern begann, und ſchon im Januar 1828 durfte König Georg in ſeiner
Thronrede die Schlacht von Navarin ein unwillkommenes Ereigniß (unto-
ward event) nennen.
Nach Allem, was geſchehen, mußten die drei Mächte ſofort weiter gehen
und nöthigenfalls durch einen zweiten Schlag die Pforte zum Frieden mit
den Griechen zwingen; ſo ließen ſich Rußlands Kriegspläne vielleicht noch
vereiteln. Aber der Einmuth fehlte, da England immer bedenklicher wurde.
Die Vertreter der Weſtmächte erneuerten in Konſtantinopel ihre Friedens-
anträge, kräftig unterſtützt von dem preußiſchen Geſandten, und als ſie eine
ſchnöde Antwort empfingen, reiſten ſie unverrichteter Dinge ab. Nun brach
der Zorn des tödlich beleidigten Sultans, der alte Hochmuth des Islam
furchtbar aus. Die Chriſten der Hauptſtadt wurden verhöhnt, mißhandelt,
ausgewieſen; ein Ferman des Padiſchah verkündete den Gläubigen: „das Hei-
denthum bildet nur eine Nation“, überſchüttete die europäiſchen Mächte mit
Schmähungen, insbeſondere Rußland, den Erzfeind des Reichs Muhamed’s.
Auf die Vorſtellungen des preußiſchen Geſandten erwiderte der Reis Effendi
Pertew hochmüthig: jetzt ſei es Zeit auch den Vertrag von Akkerman abzu-
ſchütteln. Durch dieſe Beleidigungen erhielt der Czar den längſt geſuchten
Vorwand zum Kriege. Die Weſtmächte konnten ihm nicht entgegentreten, denn
ſie ſelbſt waren durch die überlegene ruſſiſche Diplomatie gebunden. Nach
dem Londoner Vertrage, der noch immer beſtand, durften die drei Mächte
nur in der griechiſchen Sache nicht einſeitig vorgehen; der Krieg aber,
der jetzt hereinbrach, erſchien als ein Kampf für Rußlands gekränkte Ehre. —
[737]Ruſſiſch-türkiſcher Krieg.
Im April 1828 erklärte Rußland den Krieg. In ſeinem Kriegs-
manifeſt forderte der Czar Genugthuung für die türkiſchen Rüſtungen und
die Beleidigung ſeiner Ehre, für die Mißhandlung ſeiner Unterthanen
und die Beläſtigung des Handels im Bosporus, endlich genaue Erfüllung
der älteren Verträge. Feierlich verwahrte er ſich gegen den Verdacht der
Eroberungsluſt; nur vollen Erſatz der Kriegskoſten müſſe er verlangen.
Den großen Mächten gegenüber ſpielte er den Gekränkten, den ſchuldlos
Herausgeforderten. „Ich werde nicht der Angreifer ſein, Sire, ſchrieb er im
Januar dem König von Preußen, aber wehe denen, die ſich an Rußland
vergreifen wollen“; und dem engliſchen Hofe ließ er mittheilen: da der
Sultan die Geſammtheit der Muhamedaner wider ihn aufrufe, ſo müſſe
er den Kampf aufnehmen.*) Der wahre Grund des Krieges lag in
der ſchwierigen Stimmung des Heeres und in dem Selbſtgefühle der
Nation, die ſo lange der Mißhandlung ihrer Glaubensgenoſſen grollend
zugeſehen und nun Rache nehmen wollte an dem hochmüthigen und, wie
es ſchien, ohnmächtigen Erbfeinde. Rußland fühlte ſich als die führende
Macht im Oriente; eben jetzt wurde ein zweijähriger Krieg gegen Perſien
durch einen glücklichen Friedensſchluß, durch die Erwerbung wichtiger Ge-
biete ſüdlich des Kaukaſus beendigt. Die anſpruchsloſen Verſprechungen
des Kriegsmanifeſtes waren nicht ſchlechthin unehrlich, da die Lage der
Welt einen Vernichtungskrieg nicht begünſtigte, aber auch nicht frei von
Hintergedanken. Blieb das Kriegsglück dem Czaren hold, ſo verloren ſie
jeden Werth. Czar Nikolaus war der Enkel jener Katharina, die einſt
gehofft hatte, den byzantiniſchen Doppeladler von Moskau wieder in ſeinen
alten Herrſcherſitz zurückzuführen. Am Berliner Hofe kannte man eine
geheime ruſſiſche Denkſchrift, worin die hochmüthige Aeußerung ſtand:
ſollte das Schickſal den Untergang der Türkei herbeiführen, ſo würden
die großen Mächte ſich auch darüber leicht einigen.**) Daher war der
friedfertige König mit dem Verfahren ſeines Schwiegerſohnes keineswegs
einverſtanden. Er fand es ſehr leichtſinnig dieſe Saite zu berühren, er
ſprach dem Czaren offen aus, man hätte den Krieg vermeiden können und
ſollen, und verweigerte dem Prinzen Wilhelm die Erlaubniß zur Theil-
nahme an dem Feldzuge der Ruſſen.
Eine thatkräftige öſterreichiſche Staatskunſt hätte die Dinge nie ſo
weit kommen laſſen, dem ruſſiſchen Hofe nimmermehr den Vortritt ein-
geräumt bei der unvermeidlichen Zerſtörung des türkiſchen Reichs. Im-
merhin bot ſich der Hofburg auch jetzt noch zum letzten male die ſo oft
ſchon verſcherzte Gelegenheit, die kühnen Pläne des Prinzen Eugen zu ver-
wirklichen. Wenn ſie ihre günſtige Flankenſtellung entſchloſſen benutzte, den
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 47
[738]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
Ruſſen zuvorkam und die Donaufürſtenthümer raſch beſetzte, ſo mußte Ruß-
land mit ihr wohl oder übel ſich verſtändigen und dem Donaureiche ward
ſein natürliches Machtgebiet bis zur Mündung ſeines Stromes geſichert;
denn noch war das rumäniſche Nationalgefühl nicht erwacht, noch war es
möglich, alle Rumänier in Ungarn, Siebenbürgen, der Moldau und der
Wallachei mittelbar oder unmittelbar unter dem öſterreichiſchen Scepter
zu vereinigen. Czar Nikolaus fürchtete in der That ſolche Verſuche; er
gab ſeinem Oberfeldherrn Wittgenſtein die Weiſung, ſich mit den Waffen
den Weg zu bahnen, falls die Oeſterreicher in den Donaufürſtenthümern
ſich dem Marſche der Ruſſen widerſetzen ſollten. Aber die unwiederbring-
liche große Stunde verging unbenutzt. Der elende Zuſtand des öſter-
reichiſchen Heeres verbot einen raſchen Vorſtoß, und Metternich hatte ſich
in die Doktrin von der Unantaſtbarkeit der Türkei längſt ſo tief ein-
gelebt, daß er die Intereſſen ſeines Staates im Oriente nicht mehr
unbefangen wahren konnte. Er vergeudete die koſtbare Zeit mit müßigen
diplomatiſchen Verhandlungen, empfahl in London und Paris dringend
die Aufrechterhaltung des Londoner Vertrags, den er vor Kurzem noch
für dümmer als dumm erklärt hatte. Im December hatte er noch ge-
prahlt: könnte ich nur wenige Tage in Konſtantinopel weilen, „ſo würde
ich den Rummel bald beendigen“; jetzt verlor er auch bei der Pforte jedes
Anſehen, da keine ſeiner Vorherſagungen eingetroffen war, und ſein Gentz
jammerte: der Autokrat wird am Bosporus thronen!
Unbeläſtigt von Oeſterreich überſchwemmte das ruſſiſche Heer die
Donaufürſtenthümer. Dann aber zeigte ſich, wie unmäßig die Welt die
Angriffskraft Rußlands überſchätzt hatte. Nach langjährigen Vorbe-
reitungen konnte der Czar den Krieg erſt ſehr ſpät, erſt im Juni begin-
nen und nur mit etwa 100000 Mann. Auch der Heldenmuth der grie-
chiſchen Rebellen erſchien jetzt erſt in ſeinem vollen Glanze. Dies türkiſche
Heer, das die verachteten helleniſchen Klephten niemals hatte ganz bezwingen
können, hielt den Ruſſen Stand — nur zwei Jahre nach ſeiner Neubil-
dung, nach der Vernichtung der Janitſcharen — und vertheidigte die Bal-
kanfeſtungen mit einem Löwenmuthe, der an die großen Tage Suleiman’s
erinnerte. Die Ruſſen errangen, trotz oder wegen der Anweſenheit des
Czaren, keinen erheblichen Vortheil; nur Varna wurde erobert, und
in Kleinaſien drang Feldmarſchall Paskiewitſch vom Kaukaſus her ſieg-
reich vor. Ein zweiter Feldzug ward unvermeidlich, und er verſprach
ſicheren Erfolg; denn das gelichtete ruſſiſche Heer erhielt beträchtliche Ver-
ſtärkungen, und Czar Nikolaus ſah ein, daß er kein Feldherr war, er
legte den Oberbefehl in die kräftigen Hände des Preußen Diebitſch.
Um ſo bedrohlicher geſtaltete ſich die diplomatiſche Lage. Metternich
hatte nach den geringen Erfolgen der Ruſſen friſchen Muth geſchöpft,
und bemühte ſich, einen Bund aller vier Großmächte gegen Rußland zu
Stande zu bringen. Preußen und Frankreich verweigerten ihren Beitritt,
[739]Preußen und die Großmächte.
Wellington aber ging auf Oeſterreichs Abſichten willig ein, und zu An-
fang des Jahres 1829 ſchien ein europäiſcher Krieg nicht mehr unmöglich:
England und Oeſterreich auf der einen, Rußland, Frankreich und vielleicht
auch Preußen auf der anderen Seite. Radetzky erörterte ſchon in einer
Denkſchrift den Fall eines Krieges gegen Rußland und Preußen; er nannte
Preußen „den unförmlichſten Staat, den es je auf dem Erdenrund ge-
geben hat“; aber ſelbſt der fähigſte General der k. k. Armee verfiel nicht
auf die Frage, ob es nicht klug ſei, dieſem unförmlichen Staate die un-
entbehrliche Abrundung zu gönnen, ſondern erklärte kurzab, mit dem alten
ferdinandeiſchen Uebermuthe: „wir dürfen Preußen keine Vergrößerung
geſtatten“. Unterdeſſen wüthete Gentz in ſeinen Zeitungen gegen Ruß-
land und den ruſſiſch geſinnten Berliner Hof; zu gleicher Zeit flehte er den
König von Preußen brieflich um ein Geldgeſchenk an. Zur Begutach-
tung aufgefordert rieth Bernſtorff das erbauliche Geſuch zu bewilligen,
da der mächttge Publiciſt der Geſandtſchaft in Wien nützlich ſein könne;
aber, fügte er hinzu, „Herr v. Gentz iſt ein ſehr vornehmer, vielfach ver-
wöhnter und bedürfnißreicher Bettler“; weniger als vier- bis ſechstauſend
Thaler dürfe man ihm alſo nicht geben.*)
Ganz unerwartet war Preußen in eine hochwichtige, freilich auch ge-
fahrvolle diplomatiſche Stellung gelangt. Kam es zum Bruch zwiſchen
den beiden Kaiſermächten, ſo konnte der Berliner Hof, da er ſich noch nach
keiner Seite hin gebunden hatte, leicht den Ausſchlag geben. In Kon-
ſtantinopel war er augenblicklich die einzige Macht, deren Meinung von
den erbitterten Türken noch angehört wurde. Im vergangenen Frühjahr
war der Geſandte, Frhr. v. Miltitz, auf Befehl des Königs wegen grober
Pflichtverletzung abgeſetzt worden, weil er, tief verſchuldet, von einer frem-
den Macht — wahrſcheinlich von Oeſterreich — Geſchenke angenommen
und einmal einen unwahren Bericht eingeſendet hatte.**) Dieſer wider-
wärtige, politiſch unerhebliche Zwiſchenfall wurde indeß ſchnell vergeſſen;
Miltitz’s Nachfolger Royer ſtand mit der Pforte auf gutem Fuße. Aber
welche Ausſichten, wenn der europäiſche Krieg ausbrach! Sollte Preußen,
mit dem ungerüſteten Oeſterreich verbündet, ſich in einem Kampfe gegen
Rußland und Frankreich zugleich verbluten, lediglich um Oeſterreichs
orientaliſche Intereſſen, die man in der Hofburg ſelber nicht verſtand, zu
wahren? Oder ſollte der König mit Rußland und Frankreich vereint gegen
Oeſterreich kämpfen? Das hieß den deutſchen Bund zerſprengen, ehe
noch irgend ein Erſatz für ihn gefunden war.
Und wie verdächtig blieb doch Frankreichs Bundesgenoſſenſchaft.
Trotz der kleinen Freundlichkeiten, die zur Zeit zwiſchen den beiden Höfen
47*
[740]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ausgetauſcht wurden, hatte man in den Tuilerien den alten Wahn, daß
Frankreich ein ſtarkes Deutſchland nicht ertragen könne, noch mit nichten
überwunden; dies lehrte das verdeckte Spiel der franzöſiſchen Diplo-
matie gegen Preußens Handelspolitik. Sobald ſich die Gefahr des Krieges
zeigte, erſcholl in der franzöſiſchen Preſſe ſofort wieder der alte Ruf
nach der Rheingrenze. In der Kammer ſprach General Sebaſtiani,
der Vertraute des Herzogs von Orleans den begehrlichen Gedanken offen
aus, ähnlich redete Chateaubriand vor aller Welt in ſeinen Salons
zu Rom. General Richemont predigte in einer prahleriſchen Flugſchrift
„über die politiſche Lage Europas“ den Krieg gegen Frankreichs wahre
Feinde, England und Oeſterreich; dann ſollte der Czar in Konſtantinopel
einziehen, Holland durch Hannover vergrößert werden, Preußen aber, das
mit der äußerſten Geringſchätzung behandelt wurde, „unſeren Rhein„
herausgeben und dafür auf Oeſterreichs Koſten irgendwo eine Entſchädi-
gung erhalten. Auch die diplomatiſche Welt war ſolchen Gedanken nicht
ganz fremd. Als Bernſtorff im Sommer 1828 ſeinen alten Congreß-
genoſſen Caraman in Teplitz traf, deutete ihm der Franzoſe leiſe an,
im Falle der Theilung der Türkei müſſe ſich Frankreich ſeinen Antheil
in der Nähe ſuchen; noch unzweideutiger äußerte ſich Fürſt Polignac
in London zu dem Geſandten v. Bülow. Das Alles waren nur Privat-
anſichten; aber auch der Geſandte Graf Montemart in Petersburg erör-
terte vor dem Czaren ausführlich die Nothwendigkeit eines großen Län-
dertauſches, und Pozzo di Borgo ſchrieb aus Paris, man müſſe Preußen
an den Gedanken gewöhnen, daß Frankreich eine mäßige Entſchädigung
zu fordern habe, falls Preußen ſich vergrößere. Czar Nikolaus fühlte
jedoch, daß Offenheit hier die höchſte Klugheit war; er hatte gerade jetzt
dringende Gründe, ſich die Freundſchaft ſeines Schwiegervaters zu er-
halten und fragte in Berlin ehrlich an, wie denn der König ſelber über
ſolche Tauſchpläne denke. Die Antwort lautete unbedingt ablehnend:
der König halte ſeinen gegenwärtigen Beſitzſtand für eine Gewähr des
europäiſchen Friedens und fühle ſich mit ſeinen Rheinländern durch
gegenſeitige Gefühle der Liebe und des Vertrauens von Jahr zu Jahr
enger verbunden. Von Seiten des franzöſiſchen Cabinets wurde nie-
mals auch nur eine Andeutung beim Berliner Hofe gewagt. Der vor-
ſichtige Werther blieb noch nach Jahren feſt davon überzeugt, daß die
franzöſiſchen Miniſter an dieſen Zettelungen nie theilgenommen hätten,
und für die Zeit des Miniſteriums Martignac mochte ſeine Vermuthung
vielleicht zutreffen.*) Fuhr aber das Schwert aus der Scheide, dann
war vorausſichtlich ſelbſt ein gemäßigtes Cabinet nicht mehr im Stande,
[741]Czar Nikolaus in Berlin.
dem leidenſchaftlichen Verlangen der Nation nach der Rheingrenze zu
widerſtehen. Wie ſich die Dinge auch wenden mochten, ein Krieg in
ſolcher Lage, um einer Frage willen, welche den deutſchen Intereſſen fern-
ablag, konnte dem preußiſchen Staate nur Opfer und Verlegenheit be-
reiten ohne jede Wahrſcheinlichkeit großer Erfolge. Friedrich Wilhelm’s
Friedenspolitik hatte in den napoleoniſchen Zeiten viel Unheil verſchuldet;
diesmal war ſie vollberechtigt.
Auch Czar Nikolaus wünſchte jetzt aufrichtig den Frieden. Ernüchtert
durch die beſcheidenen Erfolge des erſten Feldzugs verzichtete er vorläufig
auf die ehrgeizigen Pläne, mit denen er ſich früher wohl getragen hatte,
und ſuchte nur noch auf ehrenvolle Weiſe aus dem Handel herauszu-
kommen. Einem europäiſchen Kriege ſah er mit Beſorgniß entgegen, denn
auf Preußens Waffenhilfe konnte er noch nicht rechnen, und ſein einziger
ſicherer Bundesgenoſſe König Karl X. ſtand am Rande des Grabes. Schon
im December betheuerte er dem König von Preußen, wie lebhaft er nach
Frieden verlange, und beſchwerte ſich zugleich heftig über England und
das „infame“ Betragen Oeſterreichs.*) Als der Krieg im Frühjahr unter
günſtigen Anzeichen von Neuem begann, reiſte Nikolaus nach Warſchau
und empfing dort unheimliche Eindrücke, die ihn in ſeiner Friedensſehn-
ſucht nur beſtärken konnten. Den Polen war es ein Gräuel, daß ihr
König nicht in ihrer alten Johannskathedrale, ſondern im Thronſaale des
Schloſſes und nach griechiſch-orthodoxem Ritus die Krönung vollziehen
ließ. Die Landboten verharrten in eiſigem Schweigen, als der vorge-
ſchriebene Hochruf angeſtimmt wurde; auch das Volk verhielt ſich kalt,
faſt drohend; Jedermann fühlte, welche Leidenſchaften hier gährten.
Von Warſchau aus wollte der Czar nach Sibyllenort reiſen, um ſeinen
Schwiegervater zu ſprechen; Friedrich Wilhelm wünſchte auch den Kaiſer von
Oeſterreich zuzuziehen, der aber ſagte auf Maltzahn’s Andeutungen kein
Wort, ſo bitter war ſchon der Haß zwiſchen den beiden Kaiſerhöfen.**)
Inzwiſchen wurde der König unwohl und mußte die Reiſe aufgeben.
Da erſchien Nikolaus am 6. Juni ſelber in Berlin, mit ſeiner Gemahlin
und dem kleinen Thronfolger. Es war die erſte jener theatraliſchen Ueber-
raſchungen, welche ſich ſeitdem noch oft wiederholten; der Czar liebte wie
der Donnerer Zeus plötzlich aus dem Gewölk herauszutreten. Die Ber-
liner empfingen ihre erlauchten Gäſte mit überſchwänglichen Huldigungen,
ſie konnten ſich nicht ſatt ſehen an ihrer Charlotte und dem älteſten Enkel
ihres Königs. Die Univerſität begrüßte den Befreier der Hellenen mit
einer griechiſchen Ode; denn die philhelleniſche Begeiſterung beherrſchte die
liberale Welt ſo gänzlich, daß ſelbſt H. Heine und ſeine radicalen Freunde
ſich über die Waffenerfolge des griechenfreundlichen Czaren freuten. Niko-
[742]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
laus wohnte noch der Hochzeit des Prinzen Wilhelm bei und reiſte be-
reits am ſiebenten Tage heim. Mit ſchlecht verhehlter Angſt ſagte Metter-
nich dem preußiſchen Geſchäftsträger, dieſer Familienbeſuch werde doch
ſicherlich keine politiſchen Folgen haben.*)
Er täuſchte ſich abermals. Die beiden Monarchen hatten die kurzen
Tage des Wiederſehens ernſtlich benutzt. Friedrich Wilhelm erklärte dem
Czaren ſehr beſtimmt: wenn er den Frieden wolle, ſo müſſe er ſeine Be-
reitwilligkeit bethätigen.**) Nikolaus betheuerte darauf in einer eigenhän-
digen Aufzeichnung, er verlange ſchlechterdings nichts weiter als die ſchon
in ſeinem Kriegsmanifeſt aufgeſtellten Bedingungen. „Ich kann verſichern,
daß ſich darin Alles genau angegeben findet, gegen den gewöhnlichen Ge-
brauch in ſolchen Fällen, wohl aber in der Abſicht, jeden Verdacht zu
vermeiden hinſichtlich angeblicher ehrgeiziger Abſichten und Hintergedanken,
welche meinen Grundſätzen ebenſo fremd ſind wie meinem Herzen.“ Seine
Hauptforderung war alſo der Erſatz der Kriegskoſten, die er ſchon jetzt auf
150 Mill. Rubel Papier ſchätzte; er wollte aber nicht die ganze Summe
baar fordern, ſondern auch Schiffbauholz, Kriegsſchiffe und einige Grenz-
plätze am Kaukaſus an Zahlungsſtatt annehmen.***) So blieb freilich
nach ruſſiſcher Gewohnheit noch eine Hinterthür offen. Noch niemals war
der Pforte von einem Sieger eine Geldzahlung zugemuthet worden; orien-
taliſche Staaten vermögen auch ſolchen Anforderungen nicht zu genügen,
der verlangte Erſatz konnte daher ſehr beträchtlich werden.
Immerhin klangen die Bedingungen nicht unbillig, da das Kriegsglück
die ruſſiſchen Waffen überall begünſtigte. Während Paskiewitſch abermals
in Kleinaſien vordrang und ſchon die Straße nach Trapezunt einſchlug,
wurde das türkiſche Hauptheer von Diebitſch bei Kulektſcha aufs Haupt ge-
ſchlagen (11. Juni); das feſte Siliſtria fiel, der Weg über den Balkan lag
offen vor dem ruſſiſchen Feldherrn. Aber wie ſollte die Pforte zu Unterhand-
lungen bewogen werden? Daß der Sieger ſelber Anerbietungen ſtellte,
war nach orientaliſchem Brauche unmöglich und hätte im Divan nur Ver-
dacht erweckt. Auf die Fürſprache der anderen Mächte gab der ergrimmte
Sultan ſeit dem Tage von Navarin nichts mehr. Nur Preußen vermochte
die Vermittlung zu übernehmen, aber auch nicht in den gewöhnlichen diplo-
matiſchen Formen, die auf den türkiſchen Hochmuth keinen Eindruck mehr
machten. Ein Erfolg ſchien nur möglich, wenn ein ſachkundiger preußi-
ſcher General nach Stambul ging, um den Sultan womöglich perſönlich
über die bedenkliche militäriſche Lage der Türkei aufzuklären, ihm im Auf-
trage des Königs zu verſichern, daß der Sieger bereit ſei, auf billige Be-
[743]Müffling’s Sendung.
dingungen Frieden zu ſchließen und ihn alſo zur Abſendung von Bevoll-
mächtigten zu bewegen. So konnte die Rechtſchaffenheit des Königs ſich
wieder als eine Macht erweiſen; ihr Ruf war auch bis zum Bosporus
gedrungen. Wenn dieſer Fürſt im Namen ſeines Schwiegerſohnes eine
feierliche Erklärung abgab, ſo ließ ſich vielleicht ſelbſt das finſtere Miß-
trauen Sultan Machmud’s überwinden.
General Müffling, der gelehrte Chef des Generalſtabs, wurde mit
dem ſchwierigen Auftrage betraut. Erſt am 5. Juli, als er ſchon unter-
wegs war und die fremden Mächte ihm am Bosporus nicht mehr zuvor-
kommen konnten, erging an die Geſandtſchaften der Befehl, die Höfe von
Wien, London und Paris über den Zweck der Sendung zu unterrichten:
Preußen wolle nicht Friedensvorſchläge überreichen — das würde die bald
mißtrauiſche bald hochmüthige Pforte mißverſtehen — ſondern nur den
Sultan von den friedlichen Abſichten des Czaren überzeugen. Noch be-
ſtimmter ſagte eine ſpätere Weiſung: man kann die Pforte nur retten,
wenn man ſie vor ſich ſelber rettet.*) Als Müffling am 4. Auguſt in
Konſtantinopel eintraf, fand er die Stadt in fieberiſcher Aufregung.
Diebitſch hatte erreicht was noch keinem Feinde der Osmanen gelungen
war, er hatte den Balkan überſchritten. Unaufhaltſam wälzten ſich ſeine
Heerſäulen durch Bulgarien ſüdwärts, die Trümmer des türkiſchen Heeres
flohen in wilder Auflöſung, am 22. Auguſt kam gar die Nachricht von
Diebitſch’s Einzug in Adrianopel. Der Sultan war ohne Heer, denn
die Wuth der rechtgläubigen Osmanen in der Hauptſtadt richtete ſich zu-
nächſt gegen ihn, der durch ſeine frevelhaften neuen Geſetze die Strafen
Allahs auf das Reich herabgerufen habe; der mächtige Anhang der auf-
gelöſten Janitſcharen murrte laut. Umſonſt ließ Machmud die grüne
Fahne des Propheten durch die Straßen tragen, Niemand wollte dem
heiligen Feldzeichen zum Glaubenskriege folgen; die Rekruten aus Aſien
wurden an Kameele gebunden zur Hauptſtadt geſchleppt. Die inzwiſchen
zurückgekehrten Geſandten der Weſtmächte Gordon und Guilleminot hielten
Alles für verloren, nicht anders dachten Royer und der Internuntius
Ottenfels; man fürchtete vornehmlich einen Pöbelaufſtand. Eine engliſche
Fregatte lag an der Serailſpitze, um den Großherrn nach Aſien hinüber-
zuführen, und draußen vor dem Eingang des Hellesponts ſammelte ſich
ſchon eine engliſche Flotte, bereit zur Einfahrt, falls die Ruſſen gegen die
alten Mauern der Komnenen heranrückten. Die Gefahr war furchtbar,
das diplomatiſche Corps begrüßte den preußiſchen General wie einen Retter.
Müffling verfuhr nicht ohne Gewandtheit — bedauerlich nur, daß er
nachher dies Verdienſt durch übertriebenes Selbſtlob geſchmälert hat. Er
ſtieß zuerſt hart zuſammen mit dem Dünkel des Reis Effendi, der die
Belehrungen des Preußen über die militäriſche Lage übel aufnahm; dann
[744]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
erreichte er doch, daß der Sultan ſeinen Verſicherungen Glauben ſchenkte
und ſich entſchloß, zwei Friedens-Bevollmächtigte, die ihm Müffling vor-
ſchlug, an den ruſſiſchen Feldmarſchall zu ſenden.*).
Der zeigte jetzt, daß er ſeinem Czaren als Diplomat noch beſſer denn
als Feldherr zu dienen vermochte. Seine Lage war mit nichten ſo glän-
zend wie ſie ſchien. Für einen Marſch gegen Konſtantinopel hatte er
kaum noch 20,000 Mann zur Verfügung, und dieſe ganz ungenügende
Macht ſchmolz vor ſeinen Augen durch verheerende Krankheiten zuſammen.
Bei längerem Verweilen konnte das Heer des Siegers vielleicht ganz auf-
gerieben werden, wenn eine kleine türkiſche Armee, die ſich im Norden bei
Sofia zuſammenzog, rechtzeitig herankam. Diebitſch aber verſtand die
Stärke und den Zuſtand ſeiner Truppen geſchickt zu verbergen, nicht blos
vor den Türken, ſondern auch vor den beiden preußiſchen Offizieren,
welche Müffling zur vorläufigen Beſprechung nach Adrianopel ſendete;
und es gelang ihm, Jedermann zu täuſchen, den Sultan, Müffling, das
diplomatiſche Corps in Pera und alle europäiſchen Höfe. Selbſt Metternich,
der ſo lange als möglich auf den Sieg ſeiner türkiſchen Freunde gehofft,
hatte keine Ahnung von der Bedrängniß der Ruſſen. Die Pforte war
anfangs harmlos genug zu glauben, daß man ihr die Kriegskoſten erlaſſen
würde. Auf eine Anfrage Müffling’s erwiderte jedoch Diebitſch ſeinem
alten Kriegskameraden in aller Freundſchaft ſehr beſtimmt: „Heute mehr
denn je wird der Divan die Strafe ſeiner blinden Hartnäckigkeit tragen
müſſen. Es lag in ſeiner Hand den Frieden vor zwei Monaten zu er-
langen; er hat vorgezogen den Krieg fortzuſetzen und uns zu dem Zuge
über den Balkan gezwungen. Die hochherzige Großmuth S. M. des
Kaiſers Nikolaus wird der Pforte die Laſt der Kriegskoſten zu erleichtern
wiſſen, vorausgeſetzt freilich, daß ſie ſich Anſprüche auf ſo viel Nachgiebig-
keit zu erwerben verſteht.“**) Dieſen Ton erhabener Zuverſicht hielt der
Feldmarſchall beharrlich inne, und bis zum Abſchluß des Friedens blieb
die geſammte Diplomatie am Bosporus feſt davon überzeugt, daß er eine
ſeltene Mäßigung zeige, während er in Wahrheit ſein Heer zu retten
ſuchte.
Am 27. Auguſt fanden ſich in Adrianopel die türkiſchen Bevollmäch-
tigten zur erſten Beſprechung bei dem Feldmarſchall ein. Damit war
Müffling’s Sendung erledigt. Zum Abſchied gewährte ihm der dankbare
Sultan noch die Gnade einer Audienz, was ſeit Menſchengedenken keinem
Franken widerfahren war, und hielt dabei durch den Dolmetſcher eine
nach orientaliſchen Begriffen wunderbar freundliche Anſprache. Er er-
kundigte ſich zuerſt nach der Geſundheit des Königs, erklärte ſodann,
[745]Friede von Adrianopel.
daß er den Verſicherungen des General Bey Glauben geſchenkt habe und
nunmehr auf Frieden hoffe. Dann ſchloß er: „in dieſem Sinne wird
der General Bey die Gefälligkeit haben, meinen alten und großherzigen
Freund den König von Preußen zu benachrichtigen und ihm zugleich mit-
theilen, daß ich mich ausdrücklich nach dem Zuſtande ſeiner koſtbaren Ge-
ſundheit erkundigt habe.“*)
In Adrianopel geriethen die Verhandlungen, als ſie faſt dem Ab-
ſchluß nahe ſchienen, nach orientaliſchem Herkommen plötzlich ins Stocken.
Da ließ Diebitſch ſeine Truppen einige Bewegungen unternehmen und
drohte gegen Stambul aufzubrechen, falls man bis zum 13. September
nicht im Reinen ſei. Die Pforte erſchrak und lud die Geſandten von
England, Frankreich, Preußen zu einer Berathung ein; der k. k. Inter-
nuntius wurde kaum noch beachtet, ihm hatte Müffling ins Geſicht ge-
ſagt, Oeſterreich habe durch ſeine doppelte Sprache jedes Vertrauen in
Petersburg verloren. Auf die Bitte des Sultans entſchloß ſich dann
Royer „als Nachfolger Müffling’s“, wie Machmud ſagte, ſelber nach
Adrianopel zu gehen; dort bewog er am 14. Sept. die türkiſchen Bevoll-
mächtigten zur Unterzeichnung des Friedens.**) Die ruſſiſchen Offiziere
umringten den Preußen im Lager, ſprachen dem Könige ihre Dankbarkeit
und Ehrfurcht aus. Mit gutem Grunde; die älteren mindeſtens wußten,
daß Preußen ſie aus einer peinlichen Verlegenheit errettet hatte.
Die Bedingungen des Friedens entſprachen dem dauernden Macht-
verhältniß der Kriegführenden; denn hätte man die Waffen wieder auf-
genommen, ſo wäre zwar Diebitſch’s Heer vielleicht zu Grunde gegangen,
aber der Czar verfügte noch über eine Reſerve-Armee, der Sultan nicht,
ein dritter Waffengang konnte alſo nach menſchlichem Ermeſſen den Türken
nur neue Niederlagen und einen härteren Frieden bringen. Ueber das
Maß der wirklichen militäriſchen Vortheile, welche der Sieger augenblick-
lich errungen hatte, gingen die Beſtimmungen des Vertrags von Adria-
nopel allerdings weit hinaus. Rußland erlangte die vollſtändige Erfül-
lung der Verträge von Bukareſt und Akkerman mit einigen weſentlichen
Verſchärfungen, ſodann mehrere Grenzplätze am Kaukaſus und die freie
Schifffahrt durch die Dardanellenſtraße, endlich eine Kriegsentſchädigung,
die, obwohl nachher auf 7 Mill. Ducaten herabgeſetzt, noch immer ſchwer
genug blieb, um die Pforte vom Petersburger Hofe abhängig zu machen.
Es war ein großer Schritt vorwärts zu der unausbleiblichen Vernichtung
der Türkenherrſchaft in Europa. Die Donaufürſtenthümer erhielten lebens-
längliche Hospodare und eigene Truppen, ſie wurden von den Türken gänzlich
geräumt und ſtanden, da ſie nur noch einen Tribut an die Pforte zu zahlen
[746]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
hatten, fortan mehr unter ruſſiſchem als unter türkiſchem Einfluß. Zudem
erlangten die Ruſſen für das Stück der Moldau bis zum Pruth, das ſie
ſchon im Bukareſter Frieden gewonnen hatten, eine kleine, aber ſehr werth-
volle Abrundung; nicht der nördliche, ſondern der ſüdlichſte Arm der Donau
ſollte nunmehr die Grenze bilden, das Donau-Delta war in Rußlands
Händen. Hochwichtig und für ganz Europa ſegensreich ward der ſiebente
Artikel, der den Handelsſchiffen aller Nationen die freie Fahrt durch den
Bosporus geſtattete. Das Schwarze Meer trat nun erſt wieder in den
Weltverkehr ein; die unnatürliche Mißhandlung, welche ſich die hadernde
Chriſtenheit ſo lange von dem Halbmond hatte bieten laſſen, hatte ein
Ende. Zum Aerger der Weſtmächte verfügte der zehnte Artikel, daß die
Pforte dem Londoner Vertrage beitreten ſolle; damit gab ſich der Czar
den Anſchein, als ob er die Chriſten befreit hätte. In Wahrheit war
dieſe Befreiung bereits vollzogen. Schon im vorigen Jahre hatte Ibra-
him Paſcha vor einem einrückenden franzöſiſchen Corps den Peloponnes
ohne Schwertſtreich geräumt; ſchon im März 1829 waren die drei Lon-
doner Vertragsmächte, obgleich das Cabinet Wellington ſich wenig will-
fährig zeigte, dahin übereingekommen, daß Griechenland einen türkiſchen
Tribut-Staat unter einem chriſtlichen Fürſten bilden ſollte. Thatſächlich
genoß das tapfere kleine Volk ſchon der ehrlich verdienten Unabhängigkeit,
vorläufig unter der Präſidentſchaft des den Engländern hochverdächtigen
Kapodiſtrias, und die Frage war nur noch, ob Englands Kleinſinn dieſem
werdenden Staate genügende Grenzen gönnen würde.
Mit gerechtem Selbſtgefühl ſchrieb Bernſtorff in dieſen Tagen: wir
hegen nicht die Pläne des Ehrgeizes, die man uns zutraut, aber wir be-
anſpruchen das Recht, eine offene, gerade, ſelbſtſtändige Politik zu verfolgen.
Ueberall in der Welt hob ſich Preußens Anſehen, ſeit das Einſchreiten des
Königs den drohenden Weltkrieg abgewendet hatte. Alle unbefangenen
Zeitgenoſſen erkannten dies Verdienſt an, die meiſten Höfe ſendeten Dank-
und Glückwunſchſchreiben nach Berlin. Erſt in weit ſpäterer Zeit, als
der Ruſſenhaß der Polen und die Ruſſenfurcht David Urquhart’s das Ge-
ſchichtsurtheil des Liberalismus verfälſchten, bildete ſich das Parteimärchen,
der König von Preußen habe lediglich ſeinen Schwiegerſohn vor der ſiche-
ren Niederlage retten wollen. Friedrich Wilhelm faßte aber ſeinen Ent-
ſchluß ſchon im Juni, in einem Augenblicke, da die militäriſche Lage des
ruſſiſchen Heeres ſehr günſtig war, und nicht um Rußlands willen ſchritt
er ein, ſondern weil er ſein Deutſchland vor einem unfruchtbaren und
unheilvollen Kriege bewahren wollte.
Unmittelbar nach dem Frieden zeigten ſich nur zwei Mächte ver-
ſtimmt: der franzöſiſche Radikalismus und der Wiener Hof. Die Pariſer
Blätter beklagten laut, daß der Weltkrieg und die Eroberung der natür-
lichen Grenzen nunmehr vereitelt ſei; ſie bewieſen damit nur, wie richtig
Preußen gehandelt hatte. Die Hofburg aber erntete jetzt, was ſie in
[747]Drohende Revolution in Frankreich.
einem neunjährigen treuloſen Ränkeſpiele mit kurzſichtiger Schlauheit ge-
ſäet hatte: die Donaumündung war in Rußlands Händen, in Bukareſt
und Jaſſy entſchied der Czar, in Griechenland triumphirte die Revolution
und der geliebte türkiſche Freund ſchien ſeinem letzten Stündlein nahe.
Zur Zeit des Laibacher Congreſſes hatte ganz Europa bewundernd zu
dem großen öſterreichiſchen Staatsmanne aufgeblickt; jetzt war in Berlin,
Petersburg, Paris, Konſtantinopel, ſelbſt in London nur eine Stimme der
Verachtung über die unbegreiflichen Mißgriffe und die vollendete Verlogen-
heit der Wiener Politik. Kaiſer Franz empfand die Niederlage ſehr leb-
haft, obwohl auch er an König Friedrich Wilhelm ein Glückwunſchſchreiben
ſendete. Gentz wehklagte über den allgemeinen politiſchen Bankrott, der
uns Alle erwarte, nachdem er vor Kurzem noch über die preußiſche Frie-
densvermittlung unverſchämte Witze geriſſen hatte. Metternich aber ge-
ſtand in einer wehmüthigen Denkſchrift dem Kaiſer ein (Oct. 1829): der
Grund des Mißerfolges liege in Oeſterreichs inneren Zuſtänden. Er em-
pfahl auch Reformen in der Verwaltung, im Finanz- und Heerweſen;
da er aber von alledem nichts verſtand, ſo begnügte er ſich mit einigen
allgemeinen Redensarten. Franz malte wie gewöhnlich ſein Placet dar-
unter, und wie gewöhnlich in dieſem glücklichen Staate, blieb Alles beim
Alten. —
Die Augen der Welt wurden aber bald von den orientaliſchen Dingen
abgelenkt, da ſich in Frankreich eine gewaltige Erſchütterung vorbereitete.
Im April 1829 war das Miniſterium Martignac zurückgetreken. Die
gemäßigten Parteien beſaßen nicht den Einmuth und nicht die Selbſt-
beherrſchung, um den letzten ehrlichen Verſuch der Verſöhnung zwiſchen
dem alten und dem neuen Frankreich rückhaltslos zu unterſtützen. Ein
geringfügiger, faſt zufälliger Streit über die Einzelheiten der neuen Ge-
meinde- und Departemental-Ordnung brachte das Cabinet zu Falle; mit
Schadenfreude ſahen die Ultras, wie die Linke, die Doktrinäre, die Or-
leaniſten ihnen in blinder Leidenſchaft folgten. Kaum war der Schlag
gefallen, ſo griffen ſich die beſonnenen Männer erſchrocken an die Stirn:
ſeit der Rückkehr Napoleon’s aus Elba war Frankreichs friedliche Ent-
wicklung nicht mehr ſo furchtbar geſtört worden. Nun kam was kommen
mußte. König Karl bildete ſich eine Regierung nach ſeinem Herzen. Im
Auguſt übernahm Fürſt Polignac die Leitung der Geſchäfte, der Führer
der Ultras, ein fanatiſcher Schwärmer, der in ſeinen Träumen die
Rathſchläge der Mutter Gottes zu hören glaubte. Nur eine Krone, die
über den Parteien ſtand, konnte dieſem zerriſſenen Lande eine friedliche
Zukunft ſichern, und jetzt warf ſich das Königthum ſelber in die Arme
einer raſenden Partei. Nach wenigen Wochen ſchon befürchteten alle Höfe,
daß dieſe thörichte Regierung auf einen Verfaſſungsbruch losſteuere. Metter-
nich hatte die Bildung des neuen Cabinets durch ſeine Bevollmächtigten
Apponyi und Binder unter der Hand begünſtigt; auch Wellington be-
[748]III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
grüßte das Ultra-Miniſterium mit Freuden, weil Polignac ein erklärter
Freund Englands war. Von einem Staatsſtreich jedoch wollte keine der
großen Mächte etwas hören, ſie alle ohne Ausnahme warnten den Tuilerien-
hof vor unbeſonnenen Gewaltthaten. Aber wann hätte der Fanatismus
die Stimme der Vernunft gehört? Der Staatsſtreich kam und mit ihm
die Revolution. Sie erſchütterte das Syſtem der Wiener Verträge in
ſeinen Grundfeſten, denn auf der Reſtauration der Bourbonen ruhte der
ganze kunſtvolle Bau; aber ſie hob auch wieder das tief geſunkene An-
ſehen Oeſterreichs. Die gemeinſame Gefahr führte die drei Oſtmächte
nach langer Entfremdung wieder zum feſten Bunde zuſammen.
Glücklicher als die fünf erſten Friedensjahre endete dies Jahrzehnt
deutſcher Geſchichte. Die Tage der Seelenangſt und der blinden Partei-
politik gingen zu Ende. Die Monarchie der Hohenzollern ſtand wieder
auf eigenen Füßen. Sie wahrte feſt und umſichtig dem Vaterlande den
Frieden, ſie begann der wirthſchaftlichen Macht und Selbſtſtändigkeit der
Nation eine neue Laufbahn zu eröffnen, und ſchon ließ ſich die Zeit
ahnen, da aus dem Chaos deutſcher Staaten endlich der deutſche Staat
emporſteigen mußte.
[[749]]
Beilagen.
[[750]][[751]]
VI. Schmalz und ſein Rother Adlerorden.
Zu Bd. II S. 117.
Eine Schmähſchrift, welche Prof. H. Baumgarten in Straßburg unter dem Titel
„Treitſchke’s Deutſche Geſchichte“ veröffentlicht hat, enthält in einem Wuſte ganz allge-
mein gehaltener Beſchimpfungen und Verdächtigungen, deren Würdigung ich Anderen
überlaſſe, auch einige vereinzelte Verſuche thatſächlicher Widerlegung. Unter dieſen Be-
richtigungen iſt keine, die mich veranlaſſen kann, ein Wort in meinem Buche zu ändern,
obwohl ich gern bereit bin, ſelbſt von einem ſchmähenden Gegner zu lernen.
Baumgarten beſchuldigt mich der unterthänigen Schmeichelei gegen König Friedrich
Wilhelm III. (das iſt doch wohl der langen Rede kurzer Sinn?), weil ich über den welt-
berühmten Rothen Adlerorden, welcher im Jahre 1815 dem Profeſſor Schmalz verliehen
wurde, nichts Stärkeres geſagt habe als die nachſtehenden Worte: „Nun verſtummte der
Lärm; aber Jedermann fühlte, daß die arge Saat des Anklägers, der eben jetzt durch
einen preußiſchen und einen württembergiſchen Orden ausgezeichnet wurde, doch nicht auf
ganz unfruchtbaren Boden gefallen war.“ Es fällt mir ſchwer, ernſthaft zu bleiben bei
einem Vorwurfe, der ſo deutlich zeigt, daß Baumgarten ſich mit dieſer Epoche nur bei-
läufig beſchäftigt hat. Jeder über dieſe preußiſchen Dinge näher unterrichtete Hiſtoriker
muß ſogleich bemerken, daß meine Worte das Ergebniß einer langen und langweiligen
Unterſuchung ſind. Ich habe mich abſichtlich mit einiger Zurückhaltung ausgeſprochen,
nicht blos weil ich meine, daß ein Hiſtoriker, der nicht auf das Niveau Vehſiſcher Skan-
dalgeſchichten herabſinken will, bei einem Rothen Adlerorden dritter Claſſe nicht allzu lange
verweilen darf, ſondern auch, weil ich hier auf ein kritiſches Bedenken ſtieß, das dem
Scharfſinne Baumgarten’s ganz entgangen iſt.
Jener Rothe Adlerorden darf doch nur dann irgend welche hiſtoriſche Bedeutung be-
anſpruchen, wenn Schmalz ihn wirklich zur Belohnung für ſeine Denunciation erhalten
hat. Iſt dies erwieſen? Baumgarten freilich nimmt es ohne Weiteres an; ihm ſchenkte
die Natur das glückliche Talent, die hiſtoriſchen Dinge a priori zu erkennen. Da ich
mich einer ſolchen Begabung nicht rühmen kann, ſo ſuchte ich nach Beweiſen und fand
als feſtſtehend nur die Thatſache, daß Schmalz zu der Zeit, da der literariſche Streit
über ſeine Schrift noch ſchwebte, einen preußiſchen und einen württembergiſchen Orden
erhalten hat. Alles Weitere iſt Klatſcherei aus Briefen und Zeitungen. Nun darf man
wohl ohne Leichtfertigkeit behaupten, daß der württembergiſche Orden den Denuncianten
für die Schrift, welche er dem Schwabenkönig geſendet, belohnen ſollte; denn Schmalz
hat ſich früherhin, ſo viel man weiß, niemals ein Verdienſt um den Stuttgarter Hof
erworben, und der bonapartiſtiſchen Geſinnung des Königs Friedrich konnte ein Libell,
das wider die angeblichen Geheimbünde der Boruſſomanen zu Felde zog, nur Freude be-
reiten. Gewiß war es nur menſchlich, daß die aufgeregte öffentliche Meinung kurzerhand
verſicherte, auch der preußiſche Orden ſei eine Belohnung für die Denunciation. Aber
darf der Hiſtoriker heute alle die häßlichen Gerüchte einer tief verſtimmten Zeit unbeſehen
hinnehmen?
[752]Schmalz und ſein Rother Adlerorden.
Wer ruhig prüft, wird leicht finden, daß der Sachverhalt hinſichtlich des preußiſchen
Ordens gar nicht ſo einfach liegt. Der Denunciant war ja leider kein nichtiger Menſch,
ſondern ein brauchbarer, namentlich um die Begründung der Univerſität Berlin ver-
dienter Beamter, ein angeſehener Gelehrter, von dem ſein Schwager Scharnhorſt nie
anders als mit Hochachtung ſprach, ein bewährter Patriot, der während der franzöſiſchen
Occupation für die preußiſche Sache gelitten hatte, der während der Befreiungskriege
große Geldopfer brachte, gemeinnützige Vorleſungen hielt u. ſ. w. Zudem verſtand er
trefflich, ſein Licht nicht hinter den Scheffel zu ſtellen. Einem ſo tüchtigen und ſtreb-
ſamen Beamten konnte ſchon damals der Rothe Adler kaum entgehen, obgleich dieſe Aus-
zeichnung noch nicht ganz ſo häufig vorkam, wie heutzutage. So tief mich dieſer Klein-
kram anwiderte, ſo habe ich doch alle Winkel der Literatur durchſtöbert, um über die
Gründe der Ordensverleihung ins Klare zu kommen; ich habe neuerdings auch im Geh.
Staatsarchiv, endlich ſogar in den Perſonalakten der General-Ordenscommiſſion Nach-
forſchungen anſtellen laſſen. Alles Suchen blieb vergeblich, da die Ordens-Akten jener Zeit
bereits caſſirt ſind. Bisher hat ſich nur ein Aktenſtück auffinden laſſen, das über die
perſönlichen Beziehungen zwiſchen dem König und dem Geh.-Rath Schmalz einigen Auf-
ſchluß giebt: eine an Schmalz gerichtete Cabinetsordre vom 16. Auguſt 1814. Sie lautet:
„Ihre … Mir angezeigte Abſicht, durch Ertrag öffentlicher Vorleſungen zur Er-
leichterung ſolcher Invaliden, welche das Eiſerne Kreuz erworben haben, fortdauernd wir-
ken zu wollen, ſchätze Ich nach Ihrem ganzen Werthe.“
Die Ordre iſt charakteriſtiſch für Schmalz’s Strebſamkeit, und wer da weiß, wie
langſam und gründlich man im preußiſchen Beamtenthum die Ordensverleihungen vor-
bereitet, wird ſich der Vermuthung kaum enthalten können, daß der an Schmalz im Oc-
tober 1815 verliehene Orden vielleicht die Belohnung für jene patriotiſchen Vorleſungen
war. Möglicherweiſe aber auch die Anerkennung für andere amtliche Verdienſte. Wenige
Wochen nach ihm erhielten noch zwei ſeiner Collegen von der Academie der Wiſſenſchaften,
Bode und Hermbſtädt, zwei ganz unpolitiſche Männer, den nämlichen Orden. Darauf
hieß es im Publikum ſogleich, dies ſei nur geſchehen, um den wahren Grund der dem
Prof. Schmalz gewährten Auszeichnung zu verbergen — und ſo weiter in dulce infi-
nitum. Soll ich mich in das Meer dieſer Klatſchereien noch länger vertiefen? Nein,
Alles hat ein Ende, alſo auch meine Unterſuchung über dieſen nichtswürdigen rothen
Vogel. Mag er immerhin in Baumgarten’s Geſchichtsphiloſophie dieſelbe Rolle ſpielen,
wie die verhängnißvolle Gabel in der Schickſalstragödie: mir hat er ſchon genug edler
Zeit geſtohlen. Ich gebe ihm hiermit förmlich den Abſchied und erkläre beſcheiden: Ich
weiß wirklich nicht, warum Schmalz den Rothen Adlerorden dritter Claſſe bekommen hat.
Und weil ich es nicht weiß, darum habe ich mich über dieſe widerliche Sache mit wohl
überlegter Behutſamkeit geäußert.
Daß die Auszeichnung grade in dieſem Augenblicke erfolgte, war unter allen Um-
ſtänden ein Fehler; dagegen weiß ich ſicher, daß der König nicht beabſichtigt hat, durch jene
Ordensverleihung die Gegner Schmalz’s irgendwie zu kränken. Denn in den nämlichen
Tagen, da Schmalz decorirt wurde, empfing der namhafteſte ſeiner Widerſacher, Niebuhr,
die amtliche Mittheilung, daß der König ihn für den Vertrauenspoſten in Rom beſtimmt
habe; und bald nachher ernannte der König den edlen Mann, welchen Schmalz am Aerg-
ſten verleumdet hatte, E. M. Arndt zum Profeſſor in Bonn. Noch klarer erhellt die
Unparteilichkeit des Königs aus der Verordnung, welche dem Zanke ein Ende machte.
Ich habe geſagt, dieſe Verordnung ſei „würdig und freundlich gehalten“. Da Baum-
garten auch dies Urtheil bemängelt, ſo muß ich ernſtlich bezweifeln, ob er den ganzen
Wortlaut der Verordnung gekannt hat. Sie liegt vergraben im Jahrgang 1816 der
Preußiſchen Geſetzſammlung, der heute nur ſelten aufgeſchlagen wird, und lautet,
wie folgt:
„Verordnung wegen der angeblichen geheimen Geſellſchaften. Vom 6. Januar 1816.
Wir Friedrich Wilhelm, u. ſ. w. haben den Partheigeiſt mit gerechtem Mißfallen
[753]Schmalz und ſein Rother Adlerorden.
bemerkt, welcher ſich bei dem Streit der Meinungen über die Exiſtenz geheimer Verbin-
dungen in Unſeren Staaten äußert. Als das Vaterland durch Unglücksfälle hart be-
troffen, in großer Gefahr war, haben Wir Selbſt den ſittlich-wiſſenſchaftlichen Verein
genehmigt, weil Wir ihn als ein Beförderungsmittel des Patriotismus und derjenigen
Eigenſchaften anſahen, welche die Gemüther im Unglück erheben und ihnen Muth geben
konnten, es zu überwinden. Wir fanden aber in den Uns zur Beſtätigung vorgelegten
Entwürfen einer Verfaſſungsurkunde jenes Vereins, ſo wie in der damaligen politiſchen
Lage des Staates Gründe, ihn aufzuheben und den Druck aller Discuſſionen über den-
ſelben zu unterſagen. Seitdem haben dieſelben Grundſätze und Geſinnungen, welche die
erſte Stiftung deſſelben veranlaßten, nicht blos eine Anzahl der vorigen Mitglieder des-
ſelben, ſondern die Mehrheit Unſeres Volkes beſeelt, woraus unter der Hülfe des Höch-
ſten die Rettung des Vaterlandes und die großen und ſchönen Thaten hervorgegangen
ſind, durch welche ſie bewirkt wurde, und jetzt, — wo der Frieden allenthalben hergeſtellt
iſt und jeden Staatsbürger nur ein Geiſt beleben, jeder nur einen Zweck haben muß:
durch einträchtiges pflichtmäßiges Beſtreben den ſich ſo herrlich bewährten Nationalſinn
zu bewahren und den Geſetzen gemäß zu leben, damit die Wohlthat des Friedens Allen
geſichert bleibe, und der Wohlſtand Aller, welcher Unſer unverrücktes Ziel iſt, bis zur
möglichſten Vollkommenheit gebracht werde — jetzt können geheime Verbindungen nur
ſchädlich und dieſem Ziele entgegenwirken.“
Hierauf werden die bekannten Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts (Th. 2,
Tit. 20) und des Edicts vom 20. October 1798 über die geheimen Verbindungen wie-
der in Erinnerung gebracht. Zum Schluß heißt es: „Bei dieſen geſetzlichen Verfügungen
wird der in öffentlichen Druckſchriften geführte Streit über die Exiſtenz geheimer Geſell-
ſchaften und über ihre Zwecke, unnütz, beunruhigt Unſere getreuen Unterthanen und nährt
einen ſchädlichen Parteigeiſt. Wir wollen und verordnen alſo:
daß von nun an, bei namhafter Geld- oder Leibesſtrafe von Niemand in Unſeren
Staaten etwas darüber gedruckt oder verlegt werde.“
Nun frage ich: iſt das die Sprache eines Monarchen, der für den Denuncianten
Partei nimmt? Wer ſich in die patriarchaliſchen Anſchauungen der abſoluten Monar-
chie zurückverſetzt, wird zugeſtehen, daß der König nicht anders handeln durfte. Er mußte
einen Streit beendigen, der den öffentlichen Frieden ſtörte, der auf der einen Seite gif-
tige Verleumdungen hervorrief, auf der anderen die ebenſo unwahre Behauptung, daß
die Preußen ſich für die künftige Verfaſſung geſchlagen hätten. Irgend eine Verfolgung
oder Unterſuchung iſt aus jener königlichen Verordnung bis zum Jahre 1819 nicht her-
vorgegangen. Die Politik des Königs war bis zu dieſem Jahre nicht reactionär; in
allen den großen Geſchäften, welche damals an ihn herantraten, entſchied er ſich regel-
mäßig für die Sache der Reform, und bei der Beſitzergreifung der neuen Provinzen ſprach
er mehrmals feierlich aus, daß er, ausſchließlich mit der Zukunft des Staates beſchäftigt,
alles Vergangene als abgethan betrachte. Im Stillen hegte er einen Argwohn, der
durch Metternich und Wittgenſtein einerſeits, durch die Burſchen und die Preſſe anderer-
ſeits genährt wurde; aber erſt nach Kotzebue’s Ermordung erfolgte der Umſchwung.
Neuerdings habe ich noch einige Aktenſtücke aufgefunden, welche das oben Geſagte
beſtätigen. Im Auguſt 1815 ſtellten die Berliner Stadtverordneten den allerdings un-
gehörigen Antrag, daß die Bürger- und Schützencompagnien, welche während der Ab-
weſenheit des Heeres den Wachdienſt in der Hauptſtadt beſorgten, nicht mehr, wie die
Verordnung vom 17. Juli 1813 vorſchrieb, von ihrem Commandanten und dem Polizei-
präſidenten allein befehligt, ſondern der Auſſicht des Magiſtrats unterſtellt werden ſollten.
Der Polizeipräſident v. Le Coq berichtete darüber nach Paris (Polizeirapport vom 12.
bis 18. Auguſt) und äußerte ſich ſehr ſcharf über den durch dreiſte Schriften geſteigerten
Geiſt der Oppoſition. Darauf befahl der König dem Staatskanzler (C.-O. v. 1. Sept.
1815) Aufmerkſamkeit auf den um ſich greifenden Parteigeiſt und ſchloß: „Ich vertraue
Ihnen, daß Sie, bekannt mit den dem Wohl der Unterthanen nachtheiligen Einflüſſen,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 48
[754]Schmalz und ſein Rother Adlerorden. Die Burſchenſchaft und die Unbedingten.
ihnen den Eingang bei einem Volke wehren werden, deſſen Charakter ſich bisher von der
Annahme fremdartiger Grundſätze ſo rein erhalten und eben dadurch daſſelbe in dem
Kampfe gegen fremden Druck ſo ſehr erhoben hat.“ Dieſe Cabinetsordre blieb vorläufig
ohne Folge, da die erforderlichen Maßregeln, wie eine Randbemerkung Hardenberg’s ſagt,
„in jedem Falle beſonders ergriffen werden ſollten“. Aber ſie beweiſt, daß der König
ſich in einer mißtrauiſchen Stimmung befand, welche durch den Anblick der Pariſer Par-
teikämpfe erſichtlich verſchärft wurde.
Andererſeits zeigt ein vertrauliches Schreiben des Königs aus derſelben Zeit, wie
dankbar er die patriotiſche Haltung ſeines treuen Volkes anerkannte. Als die beiden
Freunde ſich getrennt hatten, ſendete zunächſt Kaiſer Alexander (15./27. Jan. 1816) einen
von Betheuerungen „heiliger Freundſchaft“ überſtrömenden Brief: die Aufgabe ſei jetzt,
die Frucht unſerer Arbeiten, den Frieden zu erhalten. Darum dankte er dem König
warm für die gegen die geheimen Geſellſchaften ergriffenen energiſchen Maßregeln. (Dieſe
Maßregeln beſtanden aber nur in der Wiedereinſchärfung eines Verbotes, das, wie in
allen geſitteten Staaten, ſo auch in Preußen längſt galt.) Friedrich Wilhelm ſchickte im
März ein Antwortſchreiben, das ſich über die Schmalz’ſche Sache folgendermaßen äußert:
Il ne faut aujourdhui que calmer l’effervescence des esprits, suite naturelle des
agitations politiques. Je me félicite de l’approbation que V. M. veut bien ac-
corder aux mesures que j’ai cru devoir prendre dans cette occasion. Mon uni-
que ambition est comme la votre, Sire, d’assurer le bonheur de mes peuples.
C’est une dette sacrée que notre coeur se plaira d’acquitter après tant de preu-
ves de leur amour et de leur dévouement. Vous voyez, Sire, que le désir de
m’épancher avec V. M. est devenu un besoin pour moi.
Iſt es wahrſcheinlich, daß ein Fürſt, der im tiefſten Vertrauen alſo über ſein Volk
ſprach, den Verunglimpfer des Befreiungskrieges für ſeine Verleumdungen hätte belohnen
wollen? Denkbar bleibt es, daß die umlaufenden Gerüchte begründet waren und der
König ſich erſt nachträglich wieder beruhigt hat; aber ebenſo möglich iſt auch, daß die
Auszeichnung nur zufällig mit der Denunciation zuſammentraf.
Nach alledem glaube ich über das Verfahren des Königs genau das geſagt zu haben,
was ein gewiſſenhafter Hiſtoriker ſagen durfte.
VII.Die Burſchenſchaft und die Unbedingten.
Zu Bd. II S. 411.
Die Darſtellung des Treibens der Unbedingten bietet, wie begreiflich, große Schwie-
rigkeiten, da ſich aus parteiiſch geleiteten Unterſuchungen und grundſätzlich unwahren
Ausſagen nicht leicht ein klares Bild gewinnen läßt. Ich halte es aber für eine Pflicht
der hiſtoriſchen Gewiſſenhaftigkeit, den politiſchen Meuchelmord nicht zu beſchönigen. Wer
das Weſen des Fanatismus kennt, darf ſein Urtheil nicht beſtechen laſſen durch die
achtungswerthen Eigenſchaften, welche manchen der jungen Schwärmgeiſter auszeichneten.
Der Fanatiker kann in allem Uebrigen ein unſchuldiges Kind ſein; nur für den einen
Gedanken, der ihn wie eine fixe Idee beherrſcht, tritt er gleichmüthig jedes ſittliche Ge-
bot mit Füßen. So war Sand, unter den Freunden ehrlich, harmlos, gutmüthig, den
Tyrannenknechten gegenüber ein gewiſſenloſer Lügner und Mörder. So war auch Karl
Follen, nur unvergleichlich begabter und darum gefährlicher.
Mein Urtheil über die Unbedingten habe ich nicht, wie Baumgarten andeutet, allein
aus Leo und Münch geſchöpft. Beiläufig, Leo’s Jugendgeſchichte iſt keineswegs ſo ten-
denziös, wie Baumgarten behauptet, ſondern die lebendigſte und geiſtreichſte Schilderung
des Jenenſer Burſchenlebens, welche unſere Literatur beſitzt; nur muß man das Buch
[755]Die Burſchenſchaft und die Unbedingten.
vorſichtig benutzen, da der heißblütige Mann über die Jugendideale, mit denen er ſo
gänzlich gebrochen hatte, zwar mit cyniſcher Aufrichtigkeit, aber nicht immer unbefangen
ſpricht. Mindeſtens ebenſo lehrreich wie dieſe und die übrigen hier einſchlagenden neueren
Schriften von Menzel, Henke, Simon, Clöter u. A. war mir die längſt verſchollene ältere
Literatur, welche Baumgarten nicht näher zu kennen ſcheint, ſo Jarcke’s Schrift über Sand
— eine ſcharfſinnige und ſtoffreiche criminaliſtiſche Unterſuchung, deren auch R. v. Mohl,
ein politiſcher Gegner Jarcke’s, mit gerechtem Lobe gedenkt, ſo Hohnhorſt’s Bericht über
Sand’s Proceß, ſo vor Allem die eigenen Schriftſtücke der Unbedingten, namentlich das
Große Lied von Karl Follen.
Zu den Bruchſtücken dieſes Liedes, welche ich bereits im 2. Bande mitgetheilt, füge
ich hier noch einige weitere Proben hinzu, damit der Leſer ſelber urtheile. Da heißt es:
Und weiter:
Und ſo fort, mehr als einen Druckbogen lang.
Wenn das nicht heißt Mord und Aufruhr predigen, dann hat die deutſche Sprache
keinen Sinn mehr. Und dieſe Verſe ſtammen nicht aus der Feder eines thörichten Pol-
terers; ſie rühren her von einem Manne, der, nach der übereinſtimmenden Ausſage von
Freund und Feind, frühreif und kalt verſtändig, jedes ſeiner Worte beſonnen abwog.
Es iſt nicht anders, die erſten Keime jenes wüſten Radicalismus, der ein Menſchenalter
ſpäter über unſere Fluren dahinraſte, zeigen ſich leider ſchon in der Burſchenſchaft, nicht
in ihrer ehrenwerthen Geſammtheit, aber in einer kleinen extremen Sekte. Und das
Haupt dieſer Sekte war Karl Follen. Das lehrt, neben ſo vielen anderen Zeugniſſen,
die Haltung Sand’s in ſeinen Verhören; wenn es galt Karl Follen zu decken, dann
ſcheute Sand kein Mittel der Lüge, dann klagte er ſogar ſeinen Herzensfreund Asmis
fälſchlich an.
48*
[756]Die Burſchenſchaft und die Unbedingten. Metternich und die preußiſche Verfaſſung.
Eine Schrift von K. v. L., Adolf Lützow’s Freicorps (Berlin 1884) richtet ſich gegen
einen in den Preuß. Jahrbüchern enthaltenen Aufſatz von A. Koberſtein über Lützow’s wilde
verwegene Jagd und bezeichnet mehrmals meinen zweiten Band als die eigentliche Quelle von
Koberſtein’s Anſicht. Ich finde mich nicht veranlaßt, auf eine Polemik dieſes Schlages näher
einzugehen; denn unter Koberſtein’s Aufſatz ſteht das Datum „Dresden, im März 1881“,
mein zweiter Band aber erſchien erſt im November 1882. Die einzige nennenswerthe
thatſächliche Berichtigung, welche der Verfaſſer gegen mich vorbringt, bezieht ſich auf die
Uniform-Farben der Lützower und beſtätigt lediglich was ich geſagt habe. Der Verfaſſer
geſteht zu, daß die Lützower ſchwarze Montirung trugen mit rothem Vorſtoß und gol-
denen Knöpfen. In dieſen Farben — ſchwarz mit roth und goldenem Zierrath — er-
ſcheint „die ſchwarze Freiſchaar“ auf allen Bildern aus dem Jahre 1813. Da zwei von
den drei Stiftern der Burſchenſchaft alte Lützower waren, ſo halte ich noch immer für wahr-
ſcheinlich, daß die alte Tradition, welche die Farben der Burſchenſchaft aus den Uniform-
farben der Lützower herleitet, richtig iſt. Als ich den zweiten Band ſchrieb, war mir eine
beſſer begründete Erklärung noch nicht bekannt. Neuerdings habe ich jedoch im Dres-
dener Körner-Muſeum eine Aufzeichnung des alten Lützowers Anton Probſthain aus
Mecklenburg († 1882) gefunden, worin er erzählt, ſeine Verwandte Frl. Nitſchke in Jena
habe der Burſchenſchaft bei ihrer Stiftung eine Fahne geſchenkt und dazu die ſchwarz-
rothgoldenen Farben der untergegangenen Verbindung Vandalia gewählt. Dieſe Erklä-
rung klingt einfacher, natürlicher als die Erzählung von den Lützower Farben; es iſt
mir aber bisher nicht gelungen, ihre Richtigkeit nachzuweiſen. —
Noch einige kleine Berichtigungen und Ergänzungen. Der junge Juriſt v. Buri
in Gießen gehörte, wie ſeine Familie verſichert, nicht der extremen Partei der Burſchen-
ſchaft an. Man fand unter ſeinen Papieren den Reichsverfaſſungsplan der Schwarzen
(Geſch. der geh. Verbindungen II. 81), ſonſt ließ ſich ihm nichts nachweiſen. Sein Ge-
dicht Scharnhorſt’s Gebet (nachher Koscinszko’s Gebet genannt) lautete in ſeiner urſprüng-
lichen Faſſung harmlos patriotiſch und hat erſt durch die Bearbeitung der Gebrüder
Follen ſeine radicale Färbung erhalten. Von H. K. Hofmann glaubt ſeine Familie
ebenfalls beſtimmt zu wiſſen, daß er zu K. Follen nie in naher Beziehung geſtanden hat.
Beide Männer waren in ſpäteren Jahren verſtändige Patrioten von gemäßigten Anſichten.
Die Poſſe „Unſer Verkehr“, welche ums Jahr 1819 ſo viel Zorn unter den Juden
erregte, trug den Autornamen K. B. Seſſa. Alle Welt ſuchte zu errathen, wer ſich
hinter dieſem Pſeudonym verberge; man rieth ſogar auf Goethe und erzählte allgemein,
das Haus Rothſchild habe einen Preis auf die Entdeckung des Miſſethäters geſetzt. Die
Nachforſchungen blieben vergeblich. Auf Grund wohlbeglaubigter Mittheilungen der
Familie kann ich jetzt den Namen des Verfaſſers angeben. Es war der Superintendent
Carl Andreas Maertens in Halberſtadt. —
VIII.Metternich und die preußiſche Verfaſſung.
Zu Bd. II S. 550 f., Bd. III S. 172 f.
Bei der Beſprechung der Teplitzer Zuſammenkunft ſpielt H. Baumgarten unter
einer Fluth von Schmähungen, die ich nicht beantworte, ſeine höchſten Trümpfe aus.
Gleichwohl iſt er gerade hier ſo gänzlich im Unrecht, daß ich mich verwundert gefragt
habe: wie konnte ein ſonſt ſo beſonnener Gelehrter ſich ſo blindlings übereilen? — und
eilig genug iſt er mit ſeiner Kritik allerdings geweſen.
Ich habe im achten und neunten Abſchnitte des 2. Bandes nachgewieſen, wie die
Verfaſſungsgrundſätze des Wiener Hofes ſich ſeit dem Jahre 1818 zu der Formel zu-
ſpitzten: „keine Volksvertretung, ſondern Stände.“ Das Repräſentativſyſtem, wie es in
[757]Metternich und die preußiſche Verfaſſung.
Baiern und Baden verkündigt war, ſollte der Idee der Volksſouveränität entſprungen
ſein und wurde von Metternich bald demokratiſch, bald revolutionär, bald demagogiſch
geſcholten; nur altdeutſche oder auch deutſchrechtliche Landſtände, wo möglich blos Pro-
vinzialſtände, galten noch als vereinbar mit der monarchiſchen Ordnung. In dieſem
Sinne äußerte ſich Metternich ſchon zur Zeit des Aachener Congreſſes, als er dem
König von Preußen rieth, Provinzialſtände mit einem Centralausſchuß einzuführen.
Seitdem kommen alle Denkſchriften und Briefe der Wiener Staatsmänner in mannich-
fachen Wendungen immer wieder auf denſelben Gedanken zurück: keine demokratiſche
Volksvertretung, ſondern Landſtände. So war die Geſinnung des öſterreichiſchen Hofes,
als Metternich am 29. Juli 1819 in Teplitz mit König Friedrich Wilhelm zuſammentraf.
Ueber dieſes Geſpräch liegt nichts vor als zwei Berichte Metternich’s an Kaiſer
Franz vom 30. Juli und 1. Auguſt. Nun läßt ſich für den Hiſtoriker kaum eine pein-
lichere Pflicht denken, als die Aufgabe, auf Grund einer Erzählung Metternich’s den
wirklichen Thatbeſtand einer unter vier Augen abgehaltenen Unterredung feſtzuſtellen.
Seit dem Erſcheinen von Metternich’s „Nachgelaſſenen Papieren“ ſind alle freimüthigen
Hiſtoriker einig in dem Urtheil, daß Metternich und Napoleon I. die beiden größten
— oder doch beinah die größten — Lügner des neunzehnten Jahrhunderts waren; daher
wird auch, beiläufig bemerkt, jene berühmte Unterredung, welche die Beiden im Marco-
liniſchen Palaſte ſelbander hielten, wohl immer ein Lieblingsthema für unlösbare
hiſtoriſche Controverſen bleiben. Metternich konnte es nicht laſſen, in ſeinen Briefen
ſeine eigene Größe und die Jämmerlichkeit aller anderen Sterblichen wohlgefällig aus-
zumalen; die Preußen vollends betrachtete er ſtets durch die trübe Brille vom Jahre 1804.
Auch in Teplitz blieb er dieſer üblen Gewohnheit treu. Ueber den preußiſchen Staats-
kanzler berichtete er am 30. Juli ſeinem Kaiſer: „er iſt übrigens, nicht im Geiſte aber
im Gemüth, der Kindheit nahe;“ und dies iſt nachweislich eine boshafte Uebertreibung.
Die Schwächen von Hardenberg’s Alter kennt Jedermann; aber dieſer „der Kindheit
nahe“ Greis fand wenige Tage nach der Teplitzer Unterredung den Muth, in Berlin
einen groß und frei gedachten Verfaſſungsplan vorzulegen; dieſer ſelbe Mann hob einige
Monate ſpäter mit ſchneidiger Thatkraft und durchtriebener Schlauheit ſeinen Gegner
Humboldt aus dem Sattel und erzwang ſodann nach ſchweren Kämpfen im Staats-
rathe die Annahme jener Staatsſchulden- und Steuergeſetze, welche zu den gediegenſten
geſetzgeberiſchen Thaten der Epoche zählen. Ein Staatsmann, der Solches vollbringt,
mag an vielen Fehlern leiden, der Kindheit nahe iſt er nicht.
Metternich hat mithin den preußiſchen Staatskanzler in Teplitz verleumdet, und
ich nehme mir die Freiheit zu behaupten, daß er auch gegen den König, den er ohnehin
niemals gerecht beurtheilte, nicht gewiſſenhafter verfahren iſt. Sein Bericht vom
30. Juli iſt unverkennbar theatraliſch aufgeputzt, Wort für Wort darauf berechnet, die
überwältigende Größe des Briefſchreibers ins rechte Licht zu ſtellen. Hätte König Friedrich
Wilhelm am 29. Juli genau ſo geſprochen, wie Metternich erzählt, ſo müßte man ihn
einen elenden Schwächling nennen, und dies war Friedrich Wilhelm ebenſo wenig wie
Hardenberg der Kindheit nahe war. Ich habe mich daher bemüht, durch forgfältige
Vergleichung der beiden Berichte Metternich’s den Thatbeſtand herauszufinden und bin
dabei von dem bewährten Grundſatze ausgegangen, daß man einem verdächtigen Zeugen
nur das glauben darf, was durch andere Umſtände beſtätigt oder doch wahrſcheinlich
gemacht wird. Baumgarten aber iſt naiv genug, dem Fürſten Metternich jedes Wort
zu glauben, und da er ſein wohlwollendes Urtheil über mein Buch keine Stunde länger
dem Publicum vorenthalten durfte, ſo gönnte er ſich nicht einmal die Zeit, die hier in
Betracht kommenden Quellen vollſtändig zu leſen. Er las in ſeiner freundſchaftlichen
Haſt nur den erſten Bericht Metternich’s vom 30. Juli (Nachgel. Papiere III. 258) und
bemerkte nicht, daß dicht dahinter (III. 261) noch ein zweiter Bericht vom 1. Auguſt
ſteht, welcher den erſten, fragmentariſchen [ergänzt] und erläutert. Kein Wunder alſo,
daß der eilfertige Kritiker den Sinn der Unterredung vom 29. Juli gründlich mißverſteht.
[758]Metternich und die preußiſche Verfaſſung.
Metternich erzählt in dem Berichte vom 30. Juli, er habe dem Könige geſagt:
„Sind Ew. Majeſtät entſchloſſen, keine Volksvertretung in Ihrem Staate einzuführen,
der ſich weniger als irgend ein anderer hiezu eignet, ſo iſt die Möglichkeit der Hilfe vor-
handen.“ Angenommen, dieſe Aeußerung ſei wortgetreu berichtet, ſo fragt ſich: was
wollte Metternich damit ſagen? Den Sinn ſeiner Worte hat er ja erſt im Verlaufe
„einer langen Unterredung“, welche wir nicht kennen, näher dargelegt. Die Antwort
auf dieſe Frage iſt im Grunde ſchon enthalten in der oben angedeuteten damaligen
Verfaſſungsdoktrin des Wiener Hofes. Glücklicherweiſe giebt aber Metternich ſelbſt
eine beſtimmte Antwort in ſeinem zweiten Berichte vom 1. Auguſt. Da ſagt er
(III. 265): hier in Teplitz habe er dem Könige eine Denkſchrift übergeben, „die den
wahren Unterſchied zwiſchen landſtändiſchen Verfaſſungen und einem ſogenannten Re-
präſentativſyſtem deutlich bezeichnet“. Dies muß wahr ſein, da Metternich ſeinem Kaiſer
eine Copie der Denkſchrift beilegte. Dann fährt er fort: er habe dies gethan, weil er
wiſſe, welchen Werth der König ſchon auf ſeine „weit oberflächlichere“ Aachener Denk-
ſchrift gelegt habe. Daraus folgt unwiderſprechlich: die Teplitzer Denkſchrift muß un-
gefähr die nämlichen Grundſätze entwickelt haben, wie die Aachener, nur klarer, beſtimmter,
eindringlicher. Der Herausgeber der „Nachgelaſſenen Papiere“ bemerkt auch ſelbſt ganz
richtig in einer Note: die Teplitzer Denkſchrift „liegt nicht vor, dürfte aber ziemlich
analog mit Nr. 305 (d. h. mit der Aachener Denkſchrift) ſein“. Nun verſteht ſich’s
von ſelbſt, Metternich konnte in dem Geſpräche dem Könige nicht das Gegentheil deſſen
anrathen, was er ihm gleichzeitig in ſeiner Denkſchrift empfahl. Folglich hat Metternich
zu dem Könige nicht geſagt: Sire, führen Sie das Verſprechen vom Mai 1815 gar
nicht aus; ſondern er warnte ihn — wie ſchon in Aachen, nur noch eindringlicher —
vor einer Volksvertretung nach bairiſch-badiſcher Art: dergleichen ſei demokratiſch,
revolutionär, demagogiſch u. ſ. w.; und er beſchwor ihn, wie ſchon in Aachen, ſtatt
einer Volksvertretung vielmehr Landſtände einzuführen. Ich habe mich mithin ganz
correct und nach allen Regeln der hiſtoriſchen Kritik ausgedrückt, wenn ich den Inhalt
des Geſprächs dahin zuſammenfaßte: Metternich habe den König gebeten „keine Volks-
vertretung in dem modernen demokratiſchen Sinne zu geben, ſondern ſich mit Ständen
zu begnügen“. Wenn Baumgarten ſich nunmehr den von ihm überſehenen zweiten
Bericht Metternich’s ernſtlich anſieht, ſo wird er ſelbſt erkennen, wie nachläſſig und
oberflächlich er bei ſeiner Kritik zu Werke gegangen iſt. Eingeſtehen wird er ſein Un-
recht freilich nicht. Das thut der echte und gerechte deutſche Zunft-Profeſſor niemals.
Das Alles iſt für Unbefangene klar wie der Tag. Zum Ueberfluß bringe ich noch
einen zweiten, ebenſo durchſchlagenden Beweis. Die nächſte Folge jener [Unterredung]
vom 29. Juli war die Punctation vom 1. Auguſt, und dieſe ſagt ausdrücklich, Preußen
werde keine allgemeine Volksvertretung einführen, ſondern landſtändiſche Verfaſſungen in
den Provinzen und aus dieſen einen Centralausſchuß von Landesrepräſentanten bilden.
Noch ein dritter Beweis. Dreizehn Tage nach jener Teplitzer Unterredung legte Harden-
berg dem Könige ſeinen Verfaſſungsplan vor, der ſodann auf Befehl des Monarchen
der Verfaſſungscommiſſion übergeben wurde, und dieſer Plan beruhte ebenfalls [auf] dem
Grundſatze: keine Volksvertretung nach bairiſch-badiſchem Muſter, ſondern eine ſtändiſch
gegliederte Verfaſſung.
Auch dieſe Teplitzer Händel kann Baumgarten nicht vorübergehen laſſen, ohne mir
nochmals meine Parteilichkeit zu Gunſten des Königs vorzuwerfen, weil ich den Staats-
kanzler in erſter Linie für die Schande der Teplitzer Punctation verantwortlich gemacht
habe. Ich halte dies Urtheil durchaus aufrecht. Die jedem Preußen unvergeßliche
Schmach jener Punctation liegt nicht in ihrem Inhalt; denn über die Nothwendigkeit
der Karlsbader Ausnahmegeſetze waren beide Mächte von vorn herein einverſtanden,
und auch der Artikel VII. über die preußiſche Verfaſſung ſagte ſtreng genommen nichts
Neues. Das Anſtößige des Vertrages lag in ſeiner Form; es lag darin, daß Preußen
ohne jede Gegenleiſtung dem Hauſe Oeſterreich eine einſeitige Zuſage über preußiſche
[759]Metternich und die preußiſche Verfaſſung.
Angelegenheiten gab. Dieſen unerhörten Formfehler durfte Hardenberg als gewiegter
alter Diplomat ſich nicht zu Schulden kommen laſſen. Hätte die Punctation einen
Artikel enthalten etwa des Inhalts: „Oeſterreich iſt entſchloſſen an den beſtehenden
provincialſtändiſchen Verfaſſungen ſeiner deutſchen Kronländer nichts zu ändern“ —
einen Artikel, welchen Metternich kaum ablehnen konnte — ſo war mindeſtens die Form
gewahrt, und der preußiſche Staat vermied den üblen Schein, als ob er ſich dem Wiener
Hofe unterordnete. Daß Hardenberg dies verſäumt hat, iſt ſeine ſchwere hiſtoriſche Ver-
ſchuldung; und die Verantwortung trifft zunächſt ihn, denn er allein hat die Punctation
mit Metternich abgeſchloſſen, der König war gar nicht zugegen.
Die ſchwere Mitſchuld des Monarchen verkenne ich nicht. Unleugbar ſpielte Fried-
rich Wilhelm in jener Teplitzer Unterredung eine traurige Rolle, ſelbſt wenn man alle
die Knalleffecte der Metternich’ſchen Erzählung als zweifelhaft oder unmöglich hinweg-
läßt. Jener 29. Juli zählt zu den häßlichſten Tagen ſeines Lebens. Ich habe mich
darüber auch ganz unumwunden ausgeſprochen, indem ich ſagte: „faſt ſo ergeben wie
einſt der ſchwache Joachim II. ſtand jetzt wieder ein Hohenzoller neben dem öſterreichiſchen
Herrſcher.“ Ein loyaler Preuße bemerkte mir daraufhin: „Dieſe Vergleichung mit
Joachim II. iſt das Bitterſte, was ſich über einen Preußenkönig des neunzehnten Jahr-
hunderts irgend ſagen läßt.“
Nur Eines kann und will ich nicht thun — hier trete ich meinem Kritiker als
unverſöhnlicher Gegner gegenüber — ich kann nicht, nach dem ſchlechten Beiſpiel von
Gervinus und Baumgarten, dem König Friedrich Wilhelm und ſeinen Staatskanzler
mit einem Metternich auf eine Linie ſtellen. Die Geſchichte, der dauernde hiſtoriſche
Erfolg hat bereits entſchieden. Metternich’s Werke ſind todt und abgethan. Die Herr-
ſchaft Oeſterreichs in Deutſchland und Italien iſt ſpurlos vernichtet, und auch in ſeinem
inneren Leben wandelt das neue Oeſterreich auf Bahnen, welche mit der Staatskunſt
jenes ideenloſen Diplomaten nichts mehr gemein haben. Die Politik Friedrich Wil-
helm’s III. hingegen zeigt einen Januskopf. Sie hat Manches geſündigt, in Teplitz, in
Karlsbad und ſpäterhin noch oftmals; doch ſie hat auch das Wehrgeſetz geſchaffen und
das Zollgeſetz, die Organiſation der Verwaltung und die Steuergeſetzgebung, faſt alle
die Fundamente des heutigen deutſchen Reichs. Ihre Werke dauern; wir bauen an
ihnen fort, aber wir haben ſie noch heute, nach zwei Menſchenaltern nicht zerſtört. Das
ſagt Alles.
Dieſen Gegenſatz der deutſchen Politik Oeſterreichs und Preußens ſcharf zu be-
leuchten erſcheint mir nicht nur als eine wiſſenſchaftliche Pflicht der hiſtoriſchen Gerechtigkeit,
ſondern auch als eine politiſche Pflicht gegen die Nation. Rieſengroß wie nie zuvor
ſind heute die alten deutſchen Todſünden der Zank-, Scheel- und Tadelſucht wieder ins
Kraut geſchoſſen. Ich aber meine, wir werden nicht eher zu freier menſchlicher Bildung
noch zu einem kräftigen Nationalſtolz gelangen, als bis wir begriffen haben, daß beim
liebevollen Verſtehen und Erklären der vaterländiſchen Vergangenheit ſchließlich mehr
herauskommt, als beim Bemängeln, Bequängeln und Benörgeln. Wenn mein Buch
irgend etwas dazu beiträgt die hypochondriſchen Geſchichtsphantaſien der liberaliſirenden
Gervinus’ſchen Schule zu zerſtören, die Deutſchen für eine dankbarere und darum
freiere Auffaſſung ihrer herrlichen Geſchichte zu gewinnen, dann habe ich nicht umſonſt
gearbeitet. —
Inzwiſchen hat P. Bailleu in der Hiſtoriſchen Zeitſchrift (L. 190. Jahrg. 1883)
die Teplitzer Denkſchrift Metternich’s veröffentlicht. Dieſelbe empfiehlt in der That die
Berufung von Provinzialſtänden und einer aus ihnen hervorgehenden Centralvertretung.
Das Aktenſtück trägt, wie ich nach eigenem Augenſchein beſtätigen kann, am Kopfe die
Bemerkung von Bernſtorff’s Hand: „Nach den Angaben des Fſt. Metternich vom Hof-
rath Gentz verfaßt. Troppau 1820.“ Bailleu hält aber aus inneren Gründen für unzwei-
felhaft, daß dies Memoire die Teplitzer Denkſchrift iſt, wenngleich Bernſtorff vielleicht
erſt in Troppau davon Kenntniß erhalten habe; und ich meine, jeder Unverblendete muß
[760]Metternich und die preußiſche Verfaſſung.
Bailleu’s Anſicht zuſtimmen. Denn dieſe Denkſchrift beruft ſich ausdrücklich auf das
Aachener Memoire und ſchließt ſich eng an daſſelbe an. Läge alſo zwiſchen dieſen beiden
Denkſchriften noch eine dritte von abweichendem oder gar entgegengeſetztem Inhalt, ſo
müßte ſich nothwendig eine Bemerkung darüber vorfinden, da alle dieſe Arbeiten an die
gleiche Adreſſe, an die Adreſſe des Königs von Preußen gerichtet waren.
Im Uebrigen thuen dieſe Zweifel nichts zur Sache. Niemand beſtreitet, daß Met-
ternich eine preußiſche Verfaſſung nicht wünſchte, auch nicht in der beſcheidenen Form
eines Vereinigten Landtags. Die Frage iſt nur: ob er wirklich ſo thöricht war ſeine
Karten vor der Zeit aufzudecken? Und dieſe Frage muß verneint werden. Denn es
ſteht feſt, daß Metternich noch in Troppau nicht wagte, von einer Centralvertretung ab-
zurathen, obgleich der König damals bereits mit der mißrathenen Communalordnung
unzufrieden und an den Verfaſſungsplänen irre geworden war. Folglich kann der Oeſter-
reicher in Teplitz, wo die Ausſichten für ihn noch weit weniger günſtig lagen, unmög-
lich eine kühnere Sprache geführt haben als in Troppau. Eine ſachliche Schwierigkeit
liegt überhaupt nicht vor. Der ganze Streit iſt nur dadurch entſtanden, daß Baum-
garten den Worten Metternich’s „keine Volksvertretung einführen“ willkürlich einen Sinn
untergeſchoben hat, welchen ſie vielleicht im Jahre 1882 haben konnten, aber nicht im
Jahre 1819 und nicht in Metternich’s Munde.
Bailleu’s Anſicht wird beſtätigt durch die abgeriſſenen Bemerkungen über Metter-
nich’s Antheil an dem preußiſchen Verfaſſungswerke, welche ſich in Hardenberg’s Tage-
buch vorfinden. Dieſelben lauten:
Troppau 15. Nov. 1820. Mit Metternich wegen unſerer Verfaſſungsſache ge-
ſprochen. Er will dem König auch ſagen, daß wir nicht ſtill ſtehen können. Etwas muß
geſchehen. Es wäre beſſer gerade herauszuſagen: ich will keine Conſtitution — als dieſe
Ungewißheit.
20. Nov. Metternich hat an den König wegen der Verfaſſung geſchrieben und ihm
das Memoire überſchickt, was er 1818 in Aachen mir zuſtellte. Wittgenſtein brachte es
mir mit der Aeußerung, der König wünſche erſt in Berlin mit mir darüber zu ſprechen.
Wien 31. Dec. Metternich theilte mir ein Promemoria mit, welches er dem König
entweder perſönlich oder ſchriftlich mitzutheilen Willens iſt, über die ſtändiſche Verfaſſung,
wenn ich es genehmige. Ich bin mit den Grundlagen einverſtanden.
Daraus ergiebt ſich: Metternich hat alle dieſe Jahre hindurch hinter Hardenberg’s
Rücken gearbeitet. Der preußiſche Staatskanzler wußte noch im November 1820 nicht,
daß Metternich’s Aachener Denkſchrift ausdrücklich für den König geſchrieben und ſchon
ſeit zwei Jahren in deſſen Händen war. Ganz unabweisbar drängt ſich alſo die Vermu-
thung auf, daß dies unredliche Spiel fortgedauert hat und unter dem, am 31. Dec. er-
wähnten Promemoria die alte, dem Könige längſt bekannte Teplitzer Denkſchrift zu ver-
ſtehen iſt. —
Zum Glück bin ich aber jetzt in der Lage, allen Schlüſſen und Vermuthungen durch
eine einfache thatſächliche Mittheilung ein Ende zu machen. Im Herbſt 1884 wurden die
ſeit langer Zeit vermißten Akten des Geh. Cabinets K. Friedrich Wilhelm’s III. in das
Geh. Staatsarchiv übergeführt. Darunter befinden ſich auch die Berichte über das Ver-
faſſungswerk, welche Hardenberg im Sommer 1819 dem Monarchen erſtattete. Hier der
weſentliche Inhalt.
Am 2. Mai überreicht Hardenberg dem Könige den erſten Entwurf ſeines Ver-
faſſungsplanes. Es iſt im Weſentlichen derſelbe Entwurf, der am 12. Oktober dem
Verfaſſungs-Ausſchuß vorgelegt wurde, nur viel kürzer gefaßt und in einzelnen un-
weſentlichen Punkten abweichend. Am 30. Juni bittet er ſodann nochmals um baldige
Entſcheidung.
Darauf befiehlt der König (C.-O. v. 3. Juli 1819), daß nach Hardenberg’s Vor-
ſchlägen das Abgaben-Syſtem und das Staatsſchuldenweſen geordnet, „aber unterdeſſen
die Arbeiten zu dieſer landſtändiſchen Verfaſſung, welche längſt ſchon hätten vorgenommen
[761]Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe.
werden ſollen, vollendet werden.“ Zu dieſem Zwecke wird die Bildung eines kleinen Ver-
faſſungs-Ausſchuſſes angeordnet.
Dann berichtet der Staatskanzler am 16. Auguſt: „Bei meiner Anweſenheit in
Teplitz habe ich Gelegenheit gehabt, auch dieſen wichtigen Gegenſtand mit dem Fſt. Met-
ternich in Erwägung zu ziehen. Er theilt mit mir die Ueberzeugung, daß, indem die
genommenen Maßregeln gegen die demagogiſchen Umtriebe ſtrenge und conſequent ver-
folgt werden, auf der andern Seite höchſt räthlich ſei, ſobald wie möglich in der Ver-
faſſungsſache wohlüberlegte Vorſchritte zu machen.“ Hierauf habe ihn Metternich um
Mittheilung ſeines Verfaſſungsplanes gebeten, da „der öſterreichiſche Hof Preußens Bei-
ſpiele zu folgen wünſche, damit die Verfaſſung der beiden größeren Staaten Deutſch-
lands möglichſt gleich werde.“ Er habe dieſer Bitte entſprochen und dem Fürſten die
in der Anlage A enthaltenen „Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen“
vorgelegt. „Dieſe Ideen, ſo heißt es wörtlich weiter, haben den vollkommenſten Beifall
des Fürſten Metternich gefunden.“ Die Anlage A aber enthält nichts Anderes, als
den von mir (oben II. 635) mitgetheilten Hardenbergiſchen Verfaſſungsplan, nur in kürzerer
Faſſung. Ueber den Allgemeinen Landtag iſt darin Folgendes geſagt:
„Die Provinzial-Verſammlungen wählen, jeder Stand aus ſeiner Mitte, die De-
putirten zum
Allgemeinen Landtag,
welcher aber nie mit den Provinzial-Verſammlungen zugleich, ſondern — außer dem
erſten male — vorher zuſammenkommen muß. Dieſer hat gar keine Verwaltung und
beſchäftigt ſich mit allgemeinen, für die ganze Monarchie bindenden Gegenſtänden. Die
Deputirten zum Allgemeinen Landtage ſind in möglichſt geringer Anzahl zu beſtimmen;
desgleichen wäre noch zu erwägen, ob es räthlich ſei, ſie in einer Verſammlung oder in
zwei Kammern zuſammenleben zu laſſen, welches Letztere vielleicht eine zu große Anzahl
veranlaſſen und überhaupt den Geſchäftsgang erſchweren würde.“
Man ſieht, dieſe Sätze ſtimmen faſt buchſtäblich überein mit dem ſpäter der Com-
miſſion vorgelegten Verfaſſungsplane (II. 636).
Damit iſt die Sache erledigt. Metternich hat in Teplitz dem Verfaſſungsplane
Hardenberg’s und dem darin vorgeſchlagenen Allgemeinen Landtage für Preußen aus-
drücklich zugeſtimmt; er hat mithin, als er mit dem König ſprach, nicht vor einer ſtän-
diſchen Verfaſſung gewarnt, ſondern nur vor dem Repräſentativſyſtem neufranzöſiſchen
Stiles. Meine Darſtellung des Teplitzer Geſprächs iſt alſo vollkommen richtig. Auf
den Gang der preußiſchen Verfaſſungsberathung übten die Teplitzer Geſpräche unmittel-
bar gar keinen Einfluß; vielmehr hielt Hardenberg vom Mai 1819 bis zu ſeiner ſchließ-
lichen Niederlage im Sommer 1821 unwandelbar denſelben Verfaſſungsplan feſt. Und
auch dieſe letzte Niederlage wurde nicht durch Metternich bewirkt, ſondern durch die Partei-
kämpfe in Preußen ſelbſt und vornehmlich durch das Mißlingen der Communalordnung. —
IX.Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe.
Zu Bd. II S. 580 f.
Unter dem Titel „Die bairiſche Verfaſſung und die Karlsbader Beſchlüſſe“ hat
Freiherr Max von Lerchenfeld eine Schrift veröffentlicht, die ich als einen dankenswerthen
Beitrag zur neuen deutſchen Geſchichte willkommen heißen würde, wenn mich nicht ein
der Erzählung vorangeſtelltes Capitel „Treitſchke’s Deutſche Geſchichte“ zu einer Er-
widerung nöthigte.
Im Verlaufe meiner Forſchungen über die erſten Friedensjahre ſeit 1815 bin ich
zu einem Ergebniß gelangt, das von der landläufigen Anſicht ziemlich weit abweicht:
[762]Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe.
es iſt nicht richtig, daß Preußen damals lediglich eine Macht des Beharrens war und
die politiſche Bewegung der deutſchen Nation ſich allein auf die conſtitutionellen Mittel-
ſtaaten beſchränkte; vielmehr hat die preußiſche Krone gerade in dieſen verrufenen Jahren
den feſten Grund gelegt für die militäriſche und die wirthſchaftliche Einheit unſeres
Vaterlandes, während die conſtitutionellen Staaten ihrerſeits an den Karlsbader Be-
ſchlüſſen und den anderen verhängnißvollen Mißgriffen der beiden Großmächte mitſchuldig
ſind. Dies Urtheil ergab ſich mir ungeſucht, zu meiner eigenen Ueberraſchung — habe
ich doch ſelbſt vor zwanzig Jahren, als ich den Thatbeſtand noch nicht genau kannte,
die allgemeine Anſicht im Weſentlichen getheilt — und da politiſche Legenden eine ſehr
zähe Lebenskraft zu beſitzen pflegen, ſo mußte ich auf lebhaften Widerſpruch gefaßt ſein.
Das konnte ich freilich nicht erwarten, daß einige norddeutſche Liberale, geärgert durch
die Zerſtörung tief eingewurzelter Parteimärchen, die landsmannſchaftliche Empfindlich-
keit der Oberdeutſchen gegen mein Buch aufzuſtacheln ſuchen würden. Weil die Pflicht
der hiſtoriſchen Wahrhaftigkeit mich zu dem Nachweiſe zwang, daß die vielverläumdete
preußiſche Politik jener Tage weit beſſer war als ihr Ruf und die conſtitutionellen Höfe
manchen der ihnen von liberalen Hiſtorikern geſpendeten Lobſprüche nicht verdienen,
darum beſchuldigt man mich der Gehäſſigkeit gegen die Süd- und Mitteldeutſchen, denen
ich ſelber durch Geburt und Erziehung angehöre.
Zu meinem Bedauern iſt Herr v. Lerchenfeld dieſen Einflüſterungen nicht ganz
unzugänglich geblieben. Er ſpricht zwar maßvoll und würdig, wie ich das von ihm
nicht anders erwarten konnte, und der ruhige Ton ſeiner Rede beweiſt mir zu meiner
Freude abermals, daß meine oberdeutſchen Landsleute meine Arbeit ungleich freundlicher
aufgenommen haben als ihre unberufenen norddeutſchen Anwälte. Doch hätte er das
Buch ganz unbefangen mit ſeinen geſunden bairiſchen Augen, nicht durch die trübe Brille
der norddeutſchen Gelehrten der Allgemeinen Zeitung betrachtet, ſo würde er weder Ge-
danken herausleſen, die nicht drin ſtehen, noch Urtheile bekämpfen, die mit ſeinen eigenen
vollkommen zuſammen ſtimmen. Er zeiht mich der Unbilligkeit gegenüber der bairiſchen
Rheinbundspolitik und hält mir zu meiner Beſſerung das Beiſpiel Hardenberg’s vor,
der gerechtermaßen anerkannt habe, daß Baierns Verbindung mit Frankreich gutentheils
durch Preußens Schwäche verſchuldet war. Wer mein Buch nicht geleſen hat, muß alſo
annehmen, daß mein Urtheil dieſem Ausſpruche Hardenberg’s gradeswegs zuwiderlaufe.
Wie ſteht es damit in Wahrheit? Ich kann es mir nicht verſagen, die beiden Stellen
hier neben einander abzudrucken, weil dieſe Zuſammenſtellung den Leſern, die ſich in
unſeren grilligen Tagen noch ein wenig gute Laune bewahrt haben, vielleicht eine kleine
Ergötzung bereiten wird.
Hardenberg ſagt (bei Lerchenfeld S. 6):
„Es iſt wahr, Baiern verdankte Preußen
ſeine Erhaltung, und der Kurfürſt ins-
beſondere dem König perſönlich Freund-
ſchaft, Schutz und Zuflucht im Unglück;
aber es war zu entſchuldigen, daß es ſeine
Politik nicht an die preußiſche kettete, weil
dieſe ſo ſchwach war und ſo wenig Schutz
gewährte.“
Ich ſage (Deutſche Geſch. II. 334):
„Nicht aus Vorliebe für Frankreich
hatte Montgelas einſt das Bündniß mit
Preußen aufgegeben, ſondern weil er einſah,
daß die bairiſche Vergrößerungsluſt vor-
läufig von Preußens Schwäche nichts, von
Bonaparte’s Thatkraft Alles erwarten
konnte.“
Ich meine, dieſe beiden Aeußerungen ſtimmen beinah wörtlich überein, und bei dem
Wohlwollen, das mir die liberale Preſſe widmet, muß ich faſt befürchten, es werde noch
einmal ein geſinnungstüchtiger Recenſent auftreten und mich des Plagiats an Harden-
berg beſchuldigen. Einen ehrlichen Kritiker wie Herrn v. Lerchenfeld darf ich aber wohl
fragen: redet er eigentlich im Ernſt oder im Scherz, wenn er mir alſo meine eigenen
Urtheile mahnend entgegenhält als ob ich ſie beſtritten hätte?
Nicht beſſer ſteht es um die anderen Vorwürfe, die er in ſeinem einleitenden Capitel
auf meine Deutſche Geſchichte herabſchüttet; trotz der höflichen Form läuft doch Alles
[763]Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe.
auf den Satz hinaus: Treitſchke iſt gut preußiſch geſinnt und folglich ungerecht gegen
alle Nichtpreußen. Wenn Herr v. Lerchenfeld mir vorwirft, ich tadle Jeden, der nicht
damals ſchon Preußens deutſchen Beruf erkannt habe, ſo kann ich nur erwidern: von
Alledem ſteht in meinem zweiten Bande kein Wort, aus dem einfachen Grunde, weil
Preußen in jener Zeit an die Beherrſchung Deutſchlands weder dachte noch denken
konnte. Das Einzige, was ſich damals zur Befeſtigung unſerer politiſchen Einheit viel-
leicht erreichen ließ, war eine leidliche Ordnung des Bundesheerweſens. Für dieſen
nationalen Zweck hat Preußen in immer neuen Anläufen ſeine Kraft eingeſetzt, aber
jeder Verſuch ſcheiterte an dem Widerſtande Baierns und der meiſten anderen Bundes-
ſtaaten. Finde ich einen ſolchen Partikularismus unerfreulich, ſo kann ein ſo guter
Patriot wie Herr v. Lerchenfeld dawider doch nichts einzuwenden haben. Desgleichen,
wenn ich den Kampf der Kleinſtaaten wider das preußiſche Enclavenſyſtem ſchildere, ſo
denke ich nicht daran, die Kleinen darum zu tadeln, weil ſie „dem deutſchen Berufe“
Preußens widerſtrebt oder gar die Pläne deutſcher Zollpolitik, welche damals dem Ber-
liner Hofe ſelber noch unklar waren, nicht durchſchaut hätten; ich weiſe vielmehr nur
nach, daß ſie, verblendet durch Mißtrauen und durch die Ueberſchätzung einer unhaltbaren
Souveränität, ihren eigenen handgreiflichen Vortheil verkannten, indem ſie das An-
erbieten einer Zollgemeinſchaft zurückwieſen, die ſich ſeitdem in der Erfahrung eines halben
Jahrhunderts als gerecht und ſegensreich bewährt hat. Was in aller Welt läßt ſich
gegen dieſen Nachweis vorbringen? Uns Deutſchen fehlt noch ein gemeinſames natio-
nales Urtheil über die entſcheidenden Thatſachen unſerer neuen Geſchichte. Die Ver-
ſtändigung darüber iſt nicht leicht, und ich fürchte, ſie wird nicht gefördert, wenn unſere
Kritiker ſich befugt halten, jedem Hiſtoriker, der etwas weiter rechts oder links ſteht als
der Recenſent, kurzweg die Gerechtigkeit abzuſprechen. Was würde mein Kritiker dazu
ſagen, wenn ich ihn mit der gleichen Münze bezahlte und meine Leſer von vornherein
wider ihn aufſtachelte durch die naheliegende Bemerkung: „Herr v. Lerchenfeld iſt der
Enkel des bairiſchen Finanzminiſters von 1819, folglich ſucht er die Münchener Politik
jener Zeit ſo viel als möglich zu beſchönigen!“ —?“
Nichts liegt mir ferner als der Gebrauch ſolcher Waffen. Ich halte für ganz un-
zweifelhaft, daß Herr v. Lerchenfeld mit ſeiner Schrift durchaus nichts anderes beab-
ſichtigt als die Feſtſtellung des hiſtoriſchen Thatbeſtandes, und begrüße es mit Dank,
daß er uns durch die Mittheilungen aus den Papieren ſeines Großvaters endlich eine
werthvolle bairiſche Quelle erſchloſſen hat, da die Archive der meiſten Mittelſtaaten wohl
noch lange unzugänglich bleiben werden. Ich finde in dieſen Papieren, wie ſich von
ſelbſt verſteht, Manches, was meine Darſtellung ergänzt, aber die Widerlegung, die ich
nach dem gehäuften Tadel der Einleitung wohl erwarten durfte, ſuche ich vergeblich.
Nach ſorgfältiger Vergleichung der Lerchenfeld’ſchen Schrift kann ich von Allem, was
ich geſagt, nichts Weſentliches zurücknehmen als eine beiläufige Notiz, die keine prin-
cipielle Bedeutung hat. Eine irrthümliche Nachricht in einem Geſandtſchaftsberichte hat
mich zu der Annahme verführt, daß Kronprinz Ludwig, deſſen untadelhafte Verfaſſungs-
treue ich übrigens mehrfach anerkannt habe, im Herbſt 1819 in Italien geweſen ſei.
Dies iſt falſch. Die hier abgedruckten Briefe beweiſen, daß der Kronprinz nicht nur
in Baiern war, ſondern auch den Karlsbader Beſchlüſſen eifrig entgegengewirkt hat.
Es ſoll mir eine Freude ſein, dieſe Briefe, die dem Herzen des Prinzen zur Ehre ge-
reichen, für die nächſte Auflage des zweiten Bandes zu benutzen. Mit dieſer einen Aus-
nahme muß ich alle meine Urtheile und thatſächlichen Angaben aufrechthalten.
Zunächſt die Urtheile. Wenn ich Baierns ſtaatsbildende Kraft in jener Zeit
„ſchwach“ finde, ſo verweiſe ich zur Begründung, um nicht bitter zu werden, nur auf
eine Thatſache: in welchem Zuſtande befand ſich die linksrheiniſche Pfalz nach einem
Menſchenalter bairiſcher Herrſchaft, als die Preußen im Jahre 1849 dort einrückten!
Wenn ich von der unruhigen Vergrößerungsluſt des Münchener Hofes ſpreche, ſo kann
ich leider die Thatſache nicht aus der Welt ſchaffen, daß Baiern allein durch ſeine An-
[764]Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe.
ſchläge auf die badiſche Pfalz noch bis in die dreißiger Jahre hinein immer wieder den
Bundesfrieden ſtörte, während alle anderen Bundesſtaaten ſich längſt bei ihrem neuen
Beſitzſtande beruhigt hatten; über die Unhaltbarkeit der ſogenannten Sponheimer Erb-
anſprüche ſind außerhalb Baierns alle deutſchen Staatsrechtslehrer einig. Daß Mont-
gelas ſich in ſeiner bairiſchen Heimath nicht heimiſch fühlte, ſollte ein geborener Baier
doch am wenigſten beſtreiten. Von Pietät für das heimiſche Weſen iſt in Montgelas’
Briefen keine Spur zu finden. Er redet über ſeine Landsleute mit einer Härte, die
ſelbſt den Nichtbaiern verletzen muß, und hierauf beruht ja zum Theil die hiſtoriſche
Bedeutung des Mannes. Wäre er dem altbairiſchen Volke nicht innerlich ſo fremd
geweſen, ſo würde er den radicalen Umſturz, der doch nöthig war, ſchwerlich gewagt
haben. Wenn ich endlich geſagt habe, daß München damals neben Karlsruhe die ſitten-
loſeſte der deutſchen Reſidenzen war, ſo habe ich damit nur eine allbekannte Thatſache
erwähnt, die ſelbſt von Gervinus, dem Gönner der Mittelſtaaten anerkannt wird. Herr
v. Lerchenfeld fragt, ob dieſe Sittenloſigkeit etwa von dem ſchlichten Hofe Max Joſeph’s
herſtammen ſolle? Gewiß nicht, aber von der unglaublichen Frivolität ſeines Vor-
gängers Karl Theodor. Das Treiben eines ſolchen Hofes wirkt lange nach. Karl
Theodor hat, wie jeder Pfälzer weiß, die Sitten des Mannheimer Hofadels auf eine
Generation hinaus verdorben, und in München vermochte der gutmüthige Max Joſeph
mit ſeinen allezeit offenen Händen ebenſo wenig wie die Weltkinder Montgelas, Ritter
Lang und Genoſſen den Bodenſatz der alten Zeit ſogleich hinauszufegen. Auch Preußen
hat Aehnliches erfahren. Der frivole Ton, der unter Friedrich Wilhelm II. in die
Berliner Geſellſchaft eingedrungen war, verſchlimmerte ſich noch in den erſten Regierungs-
jahren ſeines Nachfolgers, obgleich die Königin Luiſe ein muſterhaftes häusliches Leben
führte; erſt das Unwetter von 1806 reinigte die Luft. Da München vor ſolchen Schick-
ſalsſchlägen bewahrt blieb, ſo iſt es nur natürlich, daß dort die Nachwehen des alten
Hofweſens langſamer verſchwanden.
Nun zu der Erzählung der Thatſachen. Ueber Montgelas’ Sturz und das Con-
cordat ſagt Herr v. Lerchenfeld mit anderen Worten ungefähr das Nämliche wie ich,
und gegen meine Darſtellung der Entſtehung der Conſtitution erhebt er nur einen Ein-
wand; er bezweifelt die Zuverläſſigkeit eines Blittersdorffiſchen Berichtes, der ausdrück-
lich verſichert, daß der Münchener Hof ſeine geplanten Verfaſſungsgeſetze in Petersburg
vorgelegt habe. Dieſe Zweifel vermag ich nicht zu theilen. Blittersdorff war ein aus-
gezeichneter Diplomat, wie man auch ſeinen Charakter beurtheilen möge, ſeine Depeſchen
gehören zu den beſten, die ich aus dieſer Zeit kenne, und ſein Bericht vom 17. Auguſt 1818
lautet ſehr beſtimmt und ausführlich. Als badiſcher Beamter war er freilich ein Gegner
der bairiſchen Regierung, indeß ſein Zeugniß würde ſich doch nur dann anfechten laſſen,
wenn er den Münchener Hof verdächtigen wollte. Dies iſt aber keineswegs ſeine Ab-
ſicht; er findet vielmehr das Verfahren der bairiſchen Regierung ganz begreiflich und
wünſcht ſeinerſeits lebhaft, daß auch der Karlsruher Hof durch baldige Vorlegung eines
Verfaſſungsplanes ſich den Beifall des liberalen Czaren erwerben möge. Eine phyſiſche
Unmöglichkeit liegt auch nicht vor, da die Berathung der bairiſchen Verfaſſungsgeſetze
doch mehrere Monate in Anſpruch nahm — und noch weniger, leider, eine moraliſche
Unmöglichkeit. Baiern und Baden bewarben ſich damals wetteifernd um Rußlands
Gunſt mit einer Unterwürfigkeit, die uns Söhnen einer beſſeren Zeit faſt unbegreiflich
erſcheint. Wenn König Max Joſeph im December 1815 dem Kaiſer Alexander dafür dankte,
daß er das Elſaß bei Frankreich erhalten habe, ſo ſehe ich nicht ein, warum er den Czaren
nicht zwei Jahre ſpäter bei den Verfaſſungsverhandlungen um Rath gefragt haben ſoll.
Sodann giebt Herr v. Lerchenfeld zu, daß König Max Joſeph ſich im Früh-
jahr 1819 eine Zeit lang mit Staatsſtreichsplänen trug und daß ſein nach Wien und
Berlin ergangener Hilferuf die Karlsbader Beſchlüſſe mit veranlaßt hat. Dieſe That-
ſache wird aufs Neue beſtätigt durch einen Brief des bairiſchen Bevollmächtigten Zentner,
der am 28. December 1819 von den Wiener Conferenzen ſchrieb: „Uebrigens macht
[765]Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe.
man kein Geheimniß daraus, daß die Karlsbader Beſchlüſſe von unſerer Seite vorzüg-
lich provocirt worden ſeien.“ (Lerchenfeld, S. 132.) Ich kann es keineswegs unnatürlich
finden, daß der König einen Augenblick an die Zurücknahme eines Grundgeſetzes, das
ſich nicht zu bewähren ſchien, gedacht hat. Das Häßliche dieſer Vorgänge liegt nur
darin, daß die Krone, während der Briefwechſel über den Staatsſtreich noch ſchwebte,
ſich in ihren Hofblättern beſtändig wegen ihrer Verfaſſungstreue preiſen ließ. Ueber
dieſen wunden Punkt geht Herr v. Lerchenfeld ſtillſchweigend hinweg.
Nachdem die Karlsbader Verſammlung mit Zuſtimmung des bairiſchen Bevoll-
mächtigten Rechberg die Ausnahmegeſetze vereinbart und der Bundestag dieſelben, aber-
mals mit unbedingter Zuſtimmung des bairiſchen Geſandten, genehmigt hatte, war
Baiern nach Bundesrecht verpflichtet dieſe Beſchlüſſe bekannt zu machen, und ein nach-
träglicher Widerſtandsverſuch verſprach geringen Erfolg. Im Miniſterium beſtanden
zwei Parteien: auf der einen Seite Graf Rechberg, auf der anderen der Finanzminiſter
Freiherr v. Lerchenfeld, der an den Karlsbader Umtrieben ganz unbetheiligt war; der
König aber ſtand dem Miniſter des Auswärtigen näher als dem liberalen Finanzminiſter.
Am 15. Oktober berieth das Miniſterium über die Veröffentlichung der Karlsbader Be-
ſchlüſſe. Herr v. Lerchenfeld betrachtet das Ergebniß dieſer Berathung als eine Nieder-
lage Rechberg’s; ich ſehe darin ein Compromiß und vermag dies Urtheil nicht zu ändern.
Herr v. Lerchenfeld übergeht nämlich ganz, daß der Berathung über die Publication
eine andere, höchſt erregte Debatte vorausging. Ueber dieſe berichtet General Zaſtrow
am 20. Oktober, nach Rechberg’s vertraulichen Mittheilungen, Folgendes: „Die In-
ſtruktionen, welche dem Miniſter Rechberg nach Karlsbad zugeſchickt worden und die ich
beim Fürſten Wrede ſelbſt zu leſen Gelegenheit gehabt, haben die ausdrückliche Vorſchrift
enthalten, auf nichts einzugehen, was die Conſtitution oder die Souveränität verletzen
könne. Demungeachtet hat der Miniſter, im Gefühl ſeiner Ueberzeugung, daß die da-
ſelbſt genommenen Beſchlüſſe das allgemeine Beſte ſämmtlicher deutſchen Staaten be-
zwecken, ſich an jene Vorſchrift nicht gebunden und geglaubt, daß man ſeinen gut-
gemeinten Gründen auch hier bei ſeiner Zurückkunft Gehör geben würde. Es hat
derſelbe indeſſen die Gemüther im höchſten Grade aufgeregt gefunden, und haben be-
ſonders die Miniſter v. Lerchenfeld und Graf Reigersberg ihm ſeine Nachgiebigkeit als
ein Verbrechen vorgeworfen. In der letzten Miniſter-Conferenz haben ſie ihm Solches
aus den Akten beweiſen wollen. Der Fürſt Wrede hat aber die Hand darauf gelegt
und den Miniſtern erklärt, wie der ausdrückliche Wille des Königs dahin gehe, zu be-
rathen was fernerhin geſchehen ſolle, ohne auf dasjenige zurückzugehen, was bereits
geſchehen wäre, wodurch die Gemüther beſänftigt wurden und eine Art von Ausſöhnung
mit dem Grafen Rechberg ſtattgefunden hat.“ Ich halte dieſe Erzählung für durchaus
zuverläſſig. Denn die Briefe, welche der Enkel mittheilt, beweiſen, daß der Miniſter
Lerchenfeld allerdings, und mit Recht, das Verhalten ſeines Amtsgenoſſen in Karlsbad
als eine Pflichtverletzung betrachtete. An Rechberg’s perſönlicher Ehrenhaftigkeit aber
iſt nicht zu zweifeln, wie unerfreulich auch ſeine politiſche Haltung erſcheinen mag; alle
die vertraulichen Mittheilungen, die er dem preußiſchen Geſandten mit großer Offen-
herzigkeit zu geben pflegte, habe ich als wahrheitsgemäß erprobt, ſo weit ich ſie contro-
liren konnte.
Der unmittelbare Angriff auf Rechberg war alſo geſcheitert. Nun erſt begann die
Verhandlung über die Karlsbader Beſchlüſſe ſelbſt. Miniſter Lerchenfeld und ſeine Freunde
hoben hervor, wieder mit Recht, daß die neuen Bundesgeſetze ſämmtlich — mit Aus-
nahme des Geſetzes über die Univerſitäten — der bairiſchen Verfaſſung zuwider liefen.
Gleichwohl beſchloß der Miniſterrath, die Karlsbader Beſchlüſſe zu veröffentlichen, nur
mit Auslaſſung der Executionsordnung und mit Hinzufügung des bekannten Vorbehalts:
„mit Rückſicht auf die Souveränität und nach der Verfaſſung“ u. ſ. w. Dies war doch
ſicherlich ein Compromiß. Beide Parteien hatten einen Theil ihrer Abſichten durchge-
ſetzt. Rechberg erreichte, daß er wegen der Ueberſchreitung ſeiner Inſtructionen nicht zur
[766]Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe.
Verantwortung gezogen und daß die Karlsbader Beſchlüſſe im Weſentlichen veröffentlicht
wurden. Die Verfaſſungspartei dagegen bewirkte jene Auslaſſung und jenen Vorbehalt;
ſie erreichte außerdem noch, daß in Baiern die Cenſur nur für politiſche Zeitſchriften ein-
geführt wurde.
Was bedeutete nun die Weglaſſung der Executionsordnung? Sie war merkwür-
dig als ein Symptom der Verſtimmung, die im bairiſchen Miniſterrath herrſchte, und
verſtieß gegen die in Karlsbad und Frankfurt gegebenen Zuſagen, doch ſie hatte keinen
praktiſchen Werth. Denn die Executionsordnung war nicht ein Geſetz, das durch die
bairiſche Regierung ausgeführt werden ſollte; ſie gab nur dem Bundestage eine Waffe,
die er möglicherweiſe gegen Baiern oder gegen einen andern Bundesſtaat anwenden konnte
aber bekanntlich in jener Zeit niemals angewendet hat; ſie beſtand zu Recht, ſobald der
Bundestag ſie veröffentlicht hatte, und es war rechtlich vollkommen gleichgültig, ob ein
Bundesſtaat die Bekanntmachung des Geſetzes unterließ. Daher hat auch die preußiſche
Regierung, die ſich ſo lebhaft über den bairiſchen Verfaſſungsvorbehalt beſchwerte, über
die Weglaſſung der Executionsordnung kein Wort verloren. Jener Vorbehalt freilich
konnte ſehr viel bedeuten, wenn man den verzweifelten Entſchluß faßte ihn in vollem
Ernſt auszuführen. Aber ein ſolcher Entſchluß war offenbar unmöglich, nachdem Baiern
den Karlsbader Beſchlüſſen bereits zweimal zugeſtimmt hatte. Obgleich der Beſtand der
neuen Central-Unterſuchungscommiſſion den Vorſchriften der bairiſchen Verfaſſung un-
zweifelhaft widerſprach, ſendete die Münchener Regierung doch ſogleich ihren Bevollmäch-
tigten nach Mainz, und dieſer Hörmann wurde, wie Jedermann weiß, der eigentliche
Leiter der deutſchen Demagogenverfolgung. Desgleichen die Beſchränkung der Cenſur auf
politiſche Zeitſchriften mag immerhin als ein ehrenwerther Beweis bairiſcher Verfaſſungs-
treue gelten. Aber praktiſchen Werth hatte auch dieſe Beſchränkung nicht. Denn Zentner
ſelbſt geſtand nachher in ſeiner Denkſchrift über die Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe
(28. Mai 1824): „Alle übrigen Schriften und ſämmtliche Buchhandlungen unterliegen
einer ſtrengen Auſſicht der Polizeibehörden, welche in der That eine Cenſur ſurrogirt.
Es geſchieht deßhalb in Baiern gewöhnlich, daß Schriften, welche gefährliche Lehren oder
Grundſätze enthalten, ſogleich in Beſchlag genommen und außer Curs geſetzt werden.
Auf jede Anzeige, welche vom Ausland oder andern Bundesſtaaten über verdächtige
Schriften gemacht wird, geſchieht ſogleich die ſorgfältigſte Nachforſchung und es wird
die Verbreitung einer ſolchen Schrift gehindert. Der durch das proviſoriſche Preßgeſetz
bezielte Zweck wird durch dieſe Maßregel ebenſo gut und oft noch beſſer erreicht als durch
eine Cenſur.“ — Naiver ließ ſich doch nicht eingeſtehen, daß Baiern nur den Buchſtaben,
nicht den Geiſt ſeiner Verfaſſung wahren wollte.
Noch in einem Falle weicht Herrn v. Lerchenfeld’s Darſtellung von der meinigen
ab. Er erzählt, die Verfaſſungspartei im Miniſterium habe durchgeſetzt, daß Zentner,
nicht Rechberg auf die Wiener Miniſterconferenzen geſendet wurde. Zaſtrow dagegen be-
richtet, wieder nach Rechberg’s Mittheilungen: Graf Rechberg will nicht nach Wien gehen,
weil es gegen ſeine Ehre wäre dort anders zu ſprechen als in Karlsbad; auch glaubt
er von hier aus mehr Gutes ſtiften zu können, indem er ſich dann im Stande befinden
würde, perſönlich auf den König zu wirken und dem Bevollmächtigten in Wien die er-
forderliche Direktion zu geben, wogegen er, wenn er ſich dort befände, dieſe Direktion an-
nehmen und hier demokratiſch geſinnten Perſonen Einfluß einräumen müßte.“ Dieſem
Berichte bin ich in meiner Darſtellung gefolgt, da ich die andere Quelle nicht kannte.
Indem ich jetzt die beiden Erzählungen vergleiche, gelange ich zu dem Schluß, daß beide
wahr ſind; ſie ergänzen einander, doch ſie widerſprechen ſich nicht. Wenn zwei feind-
liche Parteien in einem Cabinet zuſammengedrängt ſind, dann geſchieht es zuweilen, daß
ſie ſich über einen gemeinſamen Beſchluß einigen, während jede dabei ihre eigenen Ab-
ſichten verfolgt. So auch hier. Die Verfaſſungspartei wollte den Grafen Rechberg nicht
nach Wien ziehen laſſen, damit er nicht wieder ſeine Inſtruktionen überſchritte; er ſelber
aber hoffte von München aus ſicherer für ſeine Zwecke wirken zu können. Daß es wirk-
[767]Baiern und die Karlsbader Beſchlüſſe.
lich ſo ſtand, wird durch den Erfolg bewieſen. Die deutſchen Großmächte nahmen die
Sendung Zentner’s ſehr freundlich auf, und die Haltung dieſes klugen Staatsmannes
in Wien entſprach in der That den Wünſchen beider Parteien. Er vertheidigte einer-
ſeits die bairiſche Verfaſſung gegen die Anfechtungen, welche dort in Wien nicht mehr
von Metternich und Bernſtorff, ſondern von Marſchall und Berſtett, den Miniſtern der
conſtitutionellen Staaten Naſſau und Baden, verſucht wurden; er trat andererſeits zu
Metternich in ein gutes Verhältniß, zu Bernſtorff in ein vertrautes, freundſchaftliches
Einvernehmen, das für Deutſchlands Zukunft ſegensreich wurde, denn aus dieſer Ver-
ſtändigung zwiſchen Preußen und Baiern ging ſpäterhin unſere Zolleinheit hervor. Er
ſchlug mithin eine mittlere Richtung ein, die, wie die Dinge lagen, für Baiern die ein-
zig richtige Politik war. Genau derſelbe Fall wiederholte ſich bei den Wiener Miniſter-
Conferenzen v. Jahre 1823. Auch damals wünſchte Rechberg wieder, daß Zentner nach
Wien gehen ſolle, damit ſein eigener Einfluß in München nicht geſchwächt würde. (Za-
ſtrow’s Bericht, 31. Dec. 1822.)
Das Intriguenſtück hatte aber noch einen wichtigen letzten Akt, deſſen Herr v. Ler-
chenfeld nur beiläufig gedenkt. Die beiden Großmächte beſchwerten ſich über den bai-
riſchen Verfaſſungsvorbehalt, und ſie hatten von ihrem Standpunkt aus guten Grund
dazu; denn mit dem Bundesrechte ſtand es doch ſicherlich nicht im Einklang, daß der
Münchener Hof den Beſchlüſſen, die er ſelber mit bewirkt und ſchon zweimal genehmigt
hatte, nachträglich noch eine vieldeutige Clauſel anhing. Bernſtorff fragte in einem
ſcharfen Miniſterialſchreiben an Zaſtrow gradezu, ob „dieſes erſte Abweichen von den
Bundesbeſchlüſſen“ etwa eine Losſagung Baierns vom Bunde bedeuten ſolle. Als Za-
ſtrow dies Schreiben dem Grafen Rechberg vorlas, da bat ihn der bairiſche Miniſter,
er möge ihm eine förmliche Note überreichen. Der preußiſche Geſandte entſprach dieſem
Wunſche am 8. November (Zaſtrow’s Bericht vom 17. November), und nunmehr über-
gab Rechberg am 13. November ein ſehr beſcheidenes Antwortſchreiben. Er dankte darin
für den neuen Beweis preußiſcher Freundſchaft und verſicherte, daß Baiern die Bundes-
beſchlüſſe gewiſſenhaft befolgt habe. Zum Beweiſe zählte er alle die Maßregeln auf, die
zur Ausführung der Karlsbader Beſchlüſſe bereits angeordnet ſeien, und legte die neuen
Verordnungen über die Cenſur, die Univerſitäten u. A. bei, welche dieſen Beweis aller-
dings führten. Darauf betheuert er, ſein Hof erkenne den Bund als heilbringend an:
„S. Maj. haben nie dem Gedanken Raum gegeben, Sich von dieſem Bunde zu trennen
oder Sich außer demſelben zu ſtellen.“ Die Form der Veröffentlichung „hatte blos die
Beruhigung der königlichen Unterthanen zum Zweck, die einen Augenblick befürchten konn-
ten, durch die gedachten Beſchlüſſe oder vielmehr durch die ſolche motivirende Präſidial-
propoſition gewohnte vaterländiſche Geſetze und eine ſeit ihrer auch nur kurzen Dauer
ihnen werth gewordene Verfaſſung beeinträchtigt zu ſehen.“ Da Herr v. Lerchenfeld
dies merkwürdige Schreiben nicht erwähnt, ſo iſt es wohl möglich, daß Rechberg auch
diesmal wieder ohne Vorwiſſen des Miniſterrathes, aber ſchwerlich ohne Genehmigung
des Königs, gehandelt habe. Nichtsdeſtoweniger bleibt dieſe Note eine amtliche Erklärung
der bairiſchen Regierung, und ſie wurde auch als ſolche in Berlin aufgenommen. Die
preußiſche Regierung erklärte ſich befriedigt, da das Schreiben Rechberg’s unzweideutig
ausſprach, daß Baiern den Karlsbader Beſchlüſſen treu bleibe und der Berfaſſungsvor-
behalt nicht ſo ſchlimm gemeint ſei. Es war nur die natürliche Folge dieſer Politik, daß
der Münchener Hof fünf Jahre ſpäter die Erneuerung der Karlsbader Beſchlüſſe ſelber
auf das Wärmſte befürwortete.
Faſſen wir das Ergebniß zuſammen. Der bairiſche Hof hat durch ſeine Staats-
ſtreichspläne und durch ſeinen Hilferuf an die Großmächte die Karlsbader Conferenzen
mit veranlaßt; er hat die dort gefaßten Beſchlüſſe durch ſeinen Bevollmächtigten ange-
nommen und ſie ſodann durch ſeine Abſtimmung am Bundestage nochmals förmlich ge-
nehmigt; er hat ſie darauf veröffentlicht mit zwei unweſentlichen Aenderungen und mit
einem Vorbehalt zu Gunſten der Souveränität und der Verfaſſung; er hat nachher die-
[768]Die Communalordnung vom Jahre 1820.
ſem unklaren Vorbehalt ſelber die Spitze abgebrochen durch eine beſchwichtigende Erklä-
rung an die Großmächte und ſchließlich bei der Erneuerung der Beſchlüſſe den Vorbehalt
gänzlich fallen laſſen. Dies ſind die Thatſachen. Das Urtheil überlaſſe ich den Leſern.
Meinen bairiſchen Kritiker aber bitte ich zu bemerken, daß der Hiſtoriker ſeinen
Stoff nicht ſchafft, ſondern vorfindet. Eine Freude war es mir nicht, die ſchwarze Wäſche
des alten Bundestages zu waſchen und jene Karlsbader Händel zu ſchildern, bei denen
alle deutſchen Höfe, alle ohne Ausnahme, eine ſo traurige Rolle ſpielten. Doch wenn
ich darſtellen ſoll, wie unſer Vaterland zu ſeiner alten Herrlichkeit wieder aufgeſtiegen
iſt, ſo muß ich zuvor ſchonungslos und unumwunden zeigen, in welchen Sumpf wir
verſunken waren. In dieſem dritten Bande habe ich erzählt, wie Preußen und Baiern
ihren alten heilſamen Bund von Neuem geſchloſſen und dadurch dem Vaterlande ſeine
wirthſchaftliche Einheit geſichert haben. Vielleicht wird Herr v. Lerchenfeld jetzt ſelber
zugeſtehen, daß er eine Geſinnung, die mir fremd iſt, in meinen Worten geſucht hat.
X.Die Communalordnung vom Jahre 1820.
Zu Bd. III S. 106.
Die Entwürfe der Landgemeinde-, Städte- und Kreisordnung vom 7. Aug. 1820
waren lange ganz verſchollen. König Friedrich Wilhelm IV. ließ in verſchiedenen Bureaus
vergeblich darnach ſuchen. Durch einen glücklichen Zufall entdeckte ich ſie vor einigen
Jahren in dem Nachlaß des Miniſters v. Schuckmann.
In den allgemeinen Erörterungen wird vor Allem die Frage erwogen, ob eine
Communalordnung für die ganze Monarchie möglich ſei. Die Commiſſion verkennt nicht
die große Verſchiedenheit der Gemeindeverhältniſſe: im Weſten Sammtgemeinden bei völlig
freiem Eigenthum und gleichem Rechte für Perſonen und Sachen; im Oſten Einzelge-
meinden und privilegirte Gutsherren; in den nichtdeutſchen Provinzen vorherrſchende
Pacht und kaum eine Spur von Communaleinrichtungen; dazu der Unterſchied der Bil-
dung zwiſchen Berlin und den kleinen polniſchen Judenſtädten. Gleichwohl erſcheint die
Einheit nothwendig, weil die Gemeinde der Mikrokosmos des Staates und die Grund-
lage ſeiner Verfaſſung iſt.
Hinſichtlich der Landgemeinden wird zugeſtanden: „Das gutsherrliche Verhältniß
macht eine vollſtändige Gemeindeordnung unmöglich.“ Das Ziel bleibt aber, nach voll-
zogener Auseinanderſetzung die gänzliche Vereinigung der Gutsherren mit den Landge-
meinden zu erleichtern; „denn es iſt zu glauben, daß dann auch die Patrimonial-Juris-
diktion und die Polizeigewalt allen Werth für die Grundherren verloren haben wird;
ja beide dürften als eine unnütze Laſt betrachtet werden, wenn ſie nicht mehr dazu ge-
braucht werden können, den Gutsherren deſto ſchneller und rückſichtsloſer die Befriedigung
derjenigen Anſprüche zu ſichern, die ſie nach den jetzigen Verhältniſſen an ihre Einge-
ſeſſenen zu machen haben.“
Bei der Berathung der Kreisordnung kommt die Commiſſion nach langer Prüfung
zu dem Ergebniß, daß kein weſentlicher Unterſchied zwiſchen den öſtlichen und den weſt-
lichen Provinzen beſtehe, da die Auseinanderſetzung ſchon im Gange ſei.
Zur Beruhigung der Gemüther wird vorgeſchlagen, in das Einführungsgeſetz fol-
genden Paragraphen aufzunehmen: „Ob und in welche Beziehung die Verſammlungen
der Kreisverordneten zu den künftigen Ständen Unſeres Staates zu ſetzen, behalten Wir
Uns zur näheren Beſtimmung in der Urkunde über die Verfaſſung vor.“ —
[769]Zur Geſchichte d. preuß. Verfaſſungskampfes. Die Verlänger. d. Karlsbader Beſchlüſſe.
XI.Zur Geſchichte des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
Zu Bd. III S. 230.
Das nachſtehende Concept aus der Feder des Fürſten Wittgenſtein, niedergeſchrieben
im Mai 1821, unmittelbar vor der Entſcheidung des Verfaſſungsſtreites, giebt in Kürze
ein treues Bild von den Anſichten der Gegner Hardenberg’s.
Hauptpunkte,
in welchen von einander abweichen die Vorſchläge
der Commiſſion und des Staatskanzlers.
1. Sie beſchränkt ſich auf die Einrichtung
der Landſtände und erſtreckt ſich auf keine
Verfaſſung im engeren und gewöhnlichen
Sinne und ſchlägt daher
2. noch weniger eine ſchriftliche Urkunde
vor.
3. Sie beſchränkt ſich auf Provinzial-
ſtände und berührt den Gegenſtand der Reichs-
ſtände noch nicht.
4. Nach ihren Vorſchlägen ſoll das nieder-
zuſetzende Comité mit den einzuberufenden
Provinzial-Einſaſſen nur über die Zuſam-
menſetzung der Provinzialſtände deliberiren,
nicht aber über den Umfang der Rechte der
letzteren, indem deren Feſtſtellung der Be-
ſtimmung S. Maj. vorzubehalten.
5. Das Reſultat der Vorſchläge der Com-
miſſion iſt zeitgemäße Wiederherſtellung
der landſtändiſchen, d. h. der älteren und
früheren Verfaſſung in den verſchiedenen
Provinzen.
1. Es wird eine Verfaſſung — „Bewil-
ligung billiger freiwilliger Bedingungen“ —
als königliche Gabe vorgeſchlagen, ſowie
2. eine Verfaſſungsurkunde, eine Urkunde
über die ganze Verfaſſung, die das Ganze
der königlichen Gabe ausſpricht.
3. Es wird vorgeſchlagen, die Einführung
allgemeiner Reichsſtände ſchon gegenwärtig
in der gedachten Urkunde auszuſprechen.
4. Das Comité ſoll mit den Notabeln
auch über andere Gegenſtände deliberiren.
5. Hiernach iſt das Reſultat nicht blos
die Wiederherſtellung der älteren und früheren
landſtändiſchen Verfaſſungen, ſondern zugleich
die Einführung einer reichſtändiſchen
Verfaſſung, mithin einer neuen Verfaſſung
und Begründung einer conſtitutionellen
Monarchie.
XII.Die Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe.
Zu Bd. III S. 335.
In Metternich’s nachgelaſſenen Papieren IV. 120 iſt eine „Arbeit des Frhrn.
v. Zentner“ über die Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe abgedruckt, mit dem Zu-
ſatze: „Auf dem Umſchlagbogen des Manuſcripts hat Fürſt Metternich eigenhändig
angemerkt: In der Conferenz mit Graf Rechberg, Fürſt Wrede und Frhr. v. Zentner,
von Letzterem dem Fürſten Metternich vorgelegt. Tegernſee, 28. Mai 1824.“
Da an der Wahrheit dieſer Verſicherung nicht gezweifelt werden kann, ſo ſind nur
zwei Fälle möglich: entweder haben ſich die Papiere im Laufe der Jahre verſchoben, oder
es befanden ſich mehrere Aktenſtücke in dem Umſchlagbogen, und Herr v. Klinckowſtröm
hat mit jenem kritiſchen Scharfſinne, den er in der Ausgabe der Metternich’ſchen
Papiere ſo oft bewährt, das unrichtige ausgewählt.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 49
[770]Schön’s Denkſchrift über die Provinzialminiſterien. Motz an Kurfürſt Wilhelm I.
Die wirkliche Denkſchrift Zentner’s ſteht bei Ilſe, Geſch. d. d. Bundesverſammlung
II. 341. Für die Echtheit dieſes Aktenſtücks kann ich einſtehen, da Nagler ſeinem Be-
richte vom 19. Juli eine völlig gleichlautende Abſchrift, die ich eingeſehen habe, beilegte,
und Fürſt Hatzfeldt ebenfalls eine gleichlautende Abſchrift, die er von Metternich erhalten
hatte, dem Könige einreichte.
Auch wer das handſchriftliche Material nicht kennt, kann ſich leicht von der Echt-
heit der bei Ilſe abgedruckten Denkſchrift überzeugen. Denn Metternich erzählt ſelbſt
(a. a. O. IV. 104), er habe den Grafen Münch eigens verpflichtet, in ſeiner Präſidial-
propoſition „ſo viel Zentner’ſche Worte als möglich beizubehalten“, und in der That
enthält die in den Bundesprotokollen mitgetheilte Präſidialpropoſition vom 16. Aug.
ganze Sätze aus der echten Zentner’ſchen Denkſchrift, aber kein Wort aus dem bei
Klinckowſtröm abgedruckten Aktenſtücke.
Dieſes letztere iſt ein Promemoria über die geſchäftliche Behandlung der Frage,
das von Münch-Bellinghauſen am 6. Jan. dem Staatskanzler eingeſendet und von
dieſem, etwas umgearbeitet, am 12. Mai dem Fürſten Hatzfeldt mitgetheilt wurde.
Beide Aktenſtücke ſtehen ebenfalls bei Ilſe II. 325 ff. Die Echtheit des an Hatzfeldt ge-
richteten Schreibens kann ich auch beſtätigen, da ich das von Metternich eigenhändig
unterzeichnete Aktenſtück im Berliner Geh. Staatsarchiv vorgefunden habe.
XIII.Schön’s Denkſchrift über die Provinzialminiſterien.
Zu Bd. III S. 419 f. 455.
Die „Weiteren Beiträge zu den Papieren des Miniſters v. Schön“ (Berlin 1881)
erzählen S. 111 ff. von einer großen Reactionsgefahr, welche im Jahre 1824/25 den
preußiſchen Staat bedroht habe und durch Schön bekämpft worden ſei. Der Verfaſſer
iſt jedoch für ſeine gänzlich aus der Luft gegriffene und lediglich zur Verherrlichung
Schön’s erfundene Behauptung jeden Beweis ſchuldig geblieben. Nachdem die Verfaſ-
ſungsfrage bereits im Jahre 1821 entſchieden war, handelte es ſich im Jahre 1824 nur
noch um die Frage: Fachminiſter oder Provinzialminiſter? Und in dieſem Streite ſtand
Schön unleugbar auf Seiten der Reaction; er wirkte wie Marwitz und Herzog Karl v.
Mecklenburg für die Wiedereinführung der Provinzialminiſterien, obgleich er dabei von
anderen Beweggründen geleitet wurde, als die Feudalpartei. Unter den mannichfachen
Plänen zur Vereinfachung der Verwaltung tauchte allerdings auch einmal der Vorſchlag
der Einführung des Präfecturſyſtems auf; er wurde aber bald wieder verworfen, und
in dem Hauptberichte der Erſparungscommiſſion vom 4. Juli 1824 war davon mit
keinem Worte mehr die Rede. Der König befahl am 31. Auguſt 1824, nach den Vor-
ſchlägen der Commiſſion, die Fachminiſterien und die geſammte neue Verwaltungsord-
nung im Weſentlichen aufrecht zu halten. Die Entſcheidung war alſo längſt gefallen,
als Schön ſeine Denkſchrift vom 22. December ſchrieb.
XIV.Motz an Kurfürſt Wilhelm I.
Zu Bd. III S. 530.
Durchlauchtigſter Kurfürſt, Gnädigſter Kurfürſt und Großherzog!
Ew. Königl. Hoheit haben in Gnaden geruhet, mich auf mein unterthänigſtes
Schreiben, die Penſionsforderung meines Oheims, des Generals v. Motz zu Bodenhauſen
[771]Motz an Kurfürſt Wilhelm I.
betreffend, unterm 14. d. M. zu beſcheiden, daß dieſer Forderung deſſelben: 1. alle
Rechtsgründe und 2. alle Billigkeitsgründe entgegenſtehen und ſolche daher nicht gewährt
werden könne.
Was die in Höchſtdero gnädigſtem Schreiben angeführten Rechtsgründe betrifft,
ſo halte ich es, der Ew. Königl. Hoheit ſchuldigen Devotion entgegen, meiner-
ſeits die Gerechtigkeit der fraglichen Forderung hier wiederholt auszuführen, bin viel-
mehr der gewiſſen Ueberzeugung, daß es, bei dieſer ſehr verſchiedenen Anſicht von den
obwaltenden Rechtsverhältniſſen, Höchſtdero Gerechtigkeitsliebe am meiſten entſprechen
würde, wenn dieſe Angelegenheit dem Beſchluſſe der, von den Allerhöchſten und
Höchſten Souverainen niedergeſetzten Commiſſion oder der Entſcheidung des
Bundestages nunmehr überlaſſen bleibt.
Ew. K. H. werden es mir nicht verdenken, wenn mich Verwandtenliebe zu einem
ſehr würdigen Oheim beſtimmt, bei Ueberzeugung von der Gerechtigkeit dieſer Forderung,
deſſen Auftrage hierunter bereitwillig zu genügen. Was aber:
die dieſerhalb obwaltenden Billigkeitsgründe betrifft, ſo haben Ew. K. H. in Höchſt-
dero gnädigſten Zuſchrift meinem gedachten Oheim folgendes zur Laſt gelegt:
- a. daß das Benehmen deſſelben während ſeiner Militärdienſtzeit im Bienenwald
nicht tadelfrei geweſen, - b. daß derſelbe ſich ſeiner Schuldigkeit gemäß nicht an Ew. K. Hoheit angeſchloſſen
habe, als Höchſtdieſelben Kaſſel verlaſſen müſſen.
Mein Oheim behauptet dagegen, daß ſein Benehmen im Bienenwalde, ſowie im
ganzen damaligen franz. Kriege nicht nur tadelfrei, ſondern zu noch ganz beſonderen
Ehre Höchſtdero Waffen geweſen ſei und kann ſolches, wenn es nöthig wäre, hinlänglich
erweiſen; er findet zugleich Beweis für dieſe ſeine Ueberzeugung darin, daß er für ſein
Benehmen in dieſem Kriege, ſowohl von Sr. Majeſtät dem Höchſtſeligen Könige von
Preußen, als von Ew. Königl. Hoheit mit dem Militärverdienſtorden belohnt und nach-
dem er nach beendigtem Kriege es wider die Wünſche Ew. K. H. der Convenienz an-
gemeſſen gefunden, ſeinen Abſchied zu nehmen, auch während dieſer Zeit, die ihm
angebotenen Preußiſchen Dienſte abgelehnt hatte, nur auf den dringendſten Wunſch
Ew. K. H. wieder in Allerhöchſtdero Militärdienſte zurückgetreten iſt.
Was aber den ad b unterthänigſt hier angeführten Umſtand betrifft, ſo iſt der-
ſelbe, auf Ew. K. H. eigenen höchſten Befehl dei dem Einrücken des Feindes, mit Rettung
der Gelder der Kriegskaſſe beſchäftigt geweſen, hat von Höchſtdenſelben keinen Befehl
erhalten zu folgen, ja er iſt ohne alle weitere und nähere Ordre und Nachricht
von Ew. K. H. geblieben, von Seiten Höchſtdero Miniſter iſt ihm aufgetragen worden,
in ſeiner Stellung bei Ew. K. H. Kriegskollegio die Verpflegung der feindlichen Truppen
zum Vortheil des Landes zu leiten, wie ich dieſes ſchon in meinem unterthänigſten
Schreiben vom .... näher angeführt habe; er hat erſt dann Dienſte in dem erloſchenen
Königreich Weſtphalen genommen, nachdem daſſelbe von allen Europäiſchen Mächten
anerkannt worden und ſeine perſönliche Sicherheit dies nach ſeinen beſondern Verhält-
niſſen und nach ſeiner Ueberzeugung für den Augenblick nöthig machte.
Ew. K. H. geruhen in Ihrem gnädigſten Schreiben zu erwähnen, daß von
Höchſtdenſelben alles nicht anerkannt werde, was während der weſtphäliſchen Herrſchaft
in Höchſt Ihren Staaten in der Zeit von 7 Jahren geſchehen iſt und daß dieſer
Grundſatz auch auf Höchſtdero Diener Anwendung fände. Ew. K. H. bitte
ich unterthänigſt mir die freimüthige Bemerkung zu erlauben, daß Höchſtdero ſämmt-
liche Unterthanen ſehr glücklich zu preiſen wären, wenn ſie daſſelbe von ſich ſagen könnten,
daß dieſes beſonders bei Höchſtdero getreuen Dienern der Fall ſein würde, wenn ſie mit
Frau und Kindern in einen ſiebenjährigen Schlaf verfallen und auf dieſe Weiſe nur zu
neuen Dienſtleiſtungen für Ew. K. H. erſtarkt, unter den veränderten Verhältniſſen
hätten wieder erwachen können.
49*
[772]Motz an Kurfürſt Wilhelm I.
Leider iſt es meinen braven Landsleuten in dieſer Zeit ſo gut nicht geworden, ſie
haben in der unglücklichen Zwiſchenherrſchaft das höchſte Ungemach, viele Noth und
Kummer ertragen müſſen.
Der Stand der Diener in Heſſen iſt, nach dem von Ew. K. H. angenommenen
Syſtem ſehr gering beſoldet, in der Regel hat ein ſolcher Staatsdiener, bis er zu einem
mäßigen zum Unterhalt ſeiner Familie, ſelbſt bei gewohnter Entſagung nur in ſeltenen
Fällen zureichenden Gehalt gelangt, ſein eigenes Vermögen, wenn er ſo glücklich
war dergleichen zu beſitzen, rein zugeſetzt, er lebt alsdann ganz abhängig von ſeiner
Stelle und iſt es dann wohl für ein großes Unglück zu erkennen, wenn
Ew. K. Hoheit Diener in der erwähnten unglücklichen Zeit, ſelbſt aus dieſen Ver-
hältniſſen herausgeriſſen, bei einer fremden, ihnen aufgedrungenen, dem herrlichen Ge-
müthe der Heſſen höchſt verhaßten Regierung Dienſte ſuchen und annehmen mußten,
um mit ihrer Familie nicht zu verhungern. Ich bin während der weſtphäliſchen Herr-
ſchaft als Mitglied der weſtphäliſchen Reichsſtände mehrmals längere Zeit ſelbſt in
Kaſſel anweſend geweſen und habe mich nur an den biedern herrlichen Geſinnungen
meiner braven Landsleute erfreuen können. Bei Ew. Hoheit Einzug in Kaſſel nach der
Schlacht von Leipzig haben Höchſt Ihnen dieſe braven Geſinnungen der Heſſen offen
dargelegen.
Ew. K. Hoheit ſind reich, Ihre Diener und Unterthanen arm; möchten Ew. K.
Hoheit doch geruhen dieſe herrlichen Geſinnungen Höchſt Ihrer Unterthanen und ins-
beſondere auch Höchſt Ihrer Diener bei letzteren durch Gnadenbewilligungen und Be-
ſoldungen, welche für billige Bedürfniſſe angemeſſen berechnet ſind, baldigſt zu lohnen
und ſo vielen Kummer und Trübſinn zu verſcheuchen, welcher leider in den meiſten
dieſer Familien ſichtbar iſt. Welchen herrlichen Gebrauch würden alsdann Ew. K. H.
noch am Abend Ihres Lebens von den großen Glücksgütern machen, in deren Beſitze
Sie ſich befinden und wenn Ew. K. Hoheit dereinſt nach hier überſtandener Prüfungs-
zeit vor dem Herrn über uns alle, der auch den Mächtigen der Erde den Stuhl be-
reitet, erſcheinen müſſen, wie viel Thränen der Liebe und des Dankes würden Sie dann
begleiten.
Geruhen E. K. H. mir dieſe Abſchweifung in dieſem unterthänigſten Schreiben,
welche ich im Vertrauen auf Höchſtdero mir ſtets bezeigte Gnade und Höchſtes Wohl-
wollen gewagt habe, gnädigſt zu verzeihen, geruhen Höchſt Sie dieſen Herzenserguß
eines ſein Vaterland treu liebenden, von den Verhältniſſen deſſelben unterrichteten,
E. K. H. treu ergebenen ehemaligen Heſſen in Heſſiſcher Treue und Biederkeit dargeſtellt,
aufzunehmen.
Ich trenne von dem, bei dieſer Gelegenheit vorgelegten Wunſch ganz die An-
gelegenheit meines Oheims, welche auf dem gewählten Wege zur Ent-
ſcheidung kommen mag.
Nur ſchließlich erlaube ich mir noch Ew. K. H. Gnade folgendes unterthänigſt zu
bemerken. Es iſt hart, einen alten 80 jährigen geehrten und geachteten Diener, welcher
50 Jahre ſeines Lebens dem Dienſte des Staates und ſeines Regenten, nach ſeiner
Ueberzeugung und nach der öffentlichen Meinung, treu und nützlich verwendet hat, ſo
kurz vor ſeinem Abgange aus dieſer irdiſchen Welt den früherunberührtenVor-
wurf der Dienſtuntreue zu machen, es liegt in jedem rechtlichen Gemüthe einen
ſolchen Vorwurf tief zu fühlen.
Ew. K. H. haben ſchon vor langer Zeit ähnliches über meinen Oheim gegen einen
Verwandten, den Forſtmeiſter v. Motz zu Hanau erwähnt.
Wir ſind in unſerer Familie, welche Ew. K. Hoheit und Ihren hohen Vor-
fahren ſeit 2 Jahrhunderten in hohen Stellen des Landes mit erſprießlichem Nutzen,
beſonders aber treu und bieder gedient hat, an dergleichen Vorwürfe nicht gewöhnt und
ein Mitglied unſerer Familie, welchem ſolche Vorwürfe mit Recht gemacht werden könnten,
würde unter uns ſelbſt nicht geachtet werden. In dieſen Geſinnungen erzogen, hielt es
[773]Nebenius und der deutſche Zollverein.
der Forſtmeiſter v. Motz für ſeine Pflicht meinem Oheim dieſe Aeußerung Ew. K. H.
ſchon damals zu berichten. Mein Oheim hat ſich hierauf ſogleich ſchriftlich an Höchſt-
dieſelben gewendet und um ſtrengſte Unterſuchung gebeten. Ew. K. Hoheit haben ihm
dieſe nicht gewährt.
Ich bitte hiermit Namens meines Oheims nochmals um eine Unterſuchung, ich
bitte im Beſonderen, daß Ew. K. H. in Gnaden geruhen wollen, dieſelbe zu beſchleunigen,
damit der 80jährige Greis nicht ſeine Klagen und ſeinen Kummer über ſolche Vorwürfe
mit hinüber nehmen möge.
Es iſt die größte Devotion, mit welcher ich erſterbe:
Ew. K. H. ꝛc.
T. Ch. A. von Motz,
Königl. Preuß. Reg.-Präſident.
XV.Uebenius und der deutſche Zollverein.
Zu Bd. III S. 614 f., Bd. III S. 623 f.
„Wer hat das deutſche Reich gegründet? König Wilhelm und Bismarck oder
Fichte und Paul Pfizer? — Wer iſt der Schöpfer des einigen Italiens? Cavour oder
Gioberti?“ — Dieſe luſtigen Fragen drängen ſich unwillkürlich auf, ſobald wir hören,
wie die deutſchen Staatsgelehrten noch heute mit feierlichem Ernſte über die Frage ſtrei-
ten, ob König Friedrich Wilhelm III. und ſeine Räthe oder Nebenius und Liſt als die
Schöpfer des deutſchen Zollvereins zu betrachten ſeien. Während ſonſt der materialiſtiſche
Sinn unſerer Tage nur allzu geneigt iſt, die Arbeit des Denkers zu mißachten, herrſcht
in der Staatswiſſenſchaft, die ſich doch gänzlich auf dem Gebiete des nach außen gerich-
teten Willens bewegen ſoll, noch die doctrinäre Ueberſchätzung der Theorie, ein ſchwäch-
liches Erbſtück aus den Tagen der einſeitig literariſchen Bildung unſeres Volkes. Wie
dürr und leblos erſcheint doch die Geſchichte der Politik in den meiſten deutſchen Büchern
und Kathedervorträgen. In einem großen und freien Sinne behandelt könnte ſie die
tiefſinnigſte der Staatswiſſenſchaften werden. Sie ſoll nachweiſen, wie die Entwickelung
der Ideen in Wechſelwirkung ſteht mit den politiſchen Zuſtänden, wie die ſcheinbar freie
Arbeit des Gedankens, wie ſelbſt das willkürliche Phantaſieſpiel der Utopia des Thomas
Morus bedingt wird durch die Inſtitutionen, die Parteikämpfe, die Intereſſen des Zeit-
alters, und wiederum, wie die Ideale weiſſagender Denker auf weiten Umwegen den
Eingang finden in das Gefühl der Maſſen und die Geſetze der Staaten. Nur ſo wird
die Nothwendigkeit, der Zuſammenhang, der ſtetige Fortſchritt der politiſchen Ideen er-
klärt; nur ſo erfüllt die Geſchichte der Politik auf ihrem Gebiete die Aufgabe, welche
Hegel der Geſchichte der Philoſophie geſtellt hat, da er ſagte: Die Philoſophie iſt ihre
Zeit in Gedanken erfaßt. Statt deſſen bieten manche hochgelehrte Werke über die Ge-
ſchichte der Politik lediglich ein Repertorium für fleißige Bibliothekare. In unendlicher
Reihe marſchiren die Büchertitel auf, durch zahlloſe Excerpte wird belegt, was A und B
und X über den Staat gedacht haben; kaum ein verlorenes Wort gedenkt jener großen
Acte der Geſetzgebung, welche die Lebensgewohnheiten und Anſchauungen der Völker oft
auf Jahrhunderte hinaus beſtimmt haben; und dem Leſer, wenn er nicht jeden Zuſam-
menhang in dem Durcheinander verliert, bleibt ſchließlich der Eindruck, als ob die Klä-
rung und Vertiefung der politiſchen Ideen der Menſchheit allein dem ſtillen Fleiße der
Gelehrtenſtuben, und nicht weit mehr den lauten Kämpfen der Schlachtfelder, der Cabi-
nette und Parlamente zu danken ſei.
Solcher Ueberſchätzung der Theorie entſtammt auch der immer wiederkehrende un-
fruchtbare Streit über die müßige Frage, wer als „der geiſtige Vater“ einer großen
[774]Nebenius und der deutſche Zollverein.
politiſchen Wandlung zu gelten habe. Alle Politik iſt Kunſt, Ausführung, Einbilden
der Idee in den ſpröden Stoff. So gewiß Raphael die Schule von Athen geſchaffen hat
und nicht Papſt Julius oder jene römiſchen Gelehrten, die dem Künſtler vielleicht die Idee
zu ſeinem Werke dargeboten haben, ebenſo gewiß iſt der Schöpfer einer großen politiſchen
Reform nicht der Denker, der ihre Möglichkeit zuerſt ahnte, ſondern der Staatsmann,
der dem neuen Gedanken die lebendige Geſtalt zu geben, den Widerſtand feindlicher Mächte
zu beſiegen wußte. In der Politik bedeutet die Ausführung ſogar noch mehr als in der
Kunſt. Denn faſt niemals ſieht ſich der Staatsmann in der Lage einen feſten Plan
unbeirrt zu verfolgen; jede Idee iſt ihm nur ein Entwurf, den er immer bereit ſein
muß mit einem anderen zu vertauſchen. Es iſt der Ruhm des großen politiſchen Denkers
die Zeichen der Zeit als ein Seher zu deuten, die Geiſter vorzubereiten für die Erkennt-
niß des Nothwendigen. Gelingt ihm dies, ſo dauert ſein Name im Gedächtniß der
Menſchen; ſo lange die Welt reden wird von der Einheitsbewegung der Italiener, bleibt
auch Gioberti’s Rinnovamento unvergeſſen. Nur ſoll man nicht in urtheilsloſer Be-
wunderung den Denker hinabziehen aus dem idealen Gebiete, das er beherrſcht, nicht
ſeinen Ahnungen die unmittelbare Wirkſamkeit der That andichten.
Dieſer Doctrinarismus, der den ungeheuren Abſtand von Gedanken und That nicht
zu würdigen weiß, hat das Seine gethan, den preußiſchen Staatsmännern, welche Deutſch-
lands wirthſchaftliche Einheit gründeten, die verdiente Ehre vorzuenthalten, und parti-
culariſtiſcher Kleinſinn arbeitete ihm getreulich in die Hände. Alle Welt weiß, der deutſche
Zollverein kam dadurch zu Stande, daß das preußiſche Geſetz vom 26. Mai 1818 mit
einigen Aenderungen von anderen deutſchen Staaten angenommen wurde; die vieljährigen
Verhandlungen, welche dieſe Einigung bewirkten, wurden alleſammt zu Berlin geführt.
Und Angeſichts dieſer offenkundigen Thatſachen ſtimmte die deutſche Staatsgelehrſamkeit
ein lautes Hohngelächter an, als einſt der Miniſter v. Mühler die unwiderlegliche Be-
hauptung ausſprach, der Zollverein ſei der eigenſte Gedanke König Friedrich Wilhelm’s III.
Nicht dem königlichen Geſetzgeber, der das grundlegende Geſetz deutſcher Handelspolitik
erlaſſen hat, nicht ſeinen unermüdlichen Staatsmännern, die durch Jahrzehnte daran ar-
beiteten, dies Geſetz durchzubilden und über das geſammte Deutſchland auszubreiten —
nicht dieſen Männern durfte der Name der Stifter des Zollvereins gebühren. Um nur
Preußen nicht das Lob zu gönnen, griff man lieber zu den willkürlichſten Vermuthungen.
Bald ſprach man gläubig die naive Prahlerei Ludwig’s I. von Baiern nach: „Der Zoll-
verein! Ich habe ihn geſchaffen.“ Bald ſollte Wilhelm von Württemberg, bald irgend
ein Theoretiker oder ein Staatsmann der Mittelſtaaten das Hauptverdienſt haben an
einem Werke, das doch, wie Jedermann weiß, in der preußiſchen Hauptſtadt begonnen
und vollendet wurde. In der reichen Literatur über den Zollverein fanden ſich während
langer Jahre nur zwei größere Schriften, welche dem Verdienſte Preußens völlig gerecht
wurden: Ranke’s bekannter Aufſatz in der hiſtoriſch-politiſchen Zeitſchrift und Aegidi’s
Programm über die Vorzeit des Zollvereins. Erſt in jüngſter Zeit beginnt die über-
zeugende Beweisführung der letzteren Schrift Anklang zu finden in weiteren Kreiſen.
Leider ſind aber die alten Legenden neuerdings wiederholt worden in einem vortreff-
lichen Werke, das ſich im Uebrigen gerade durch die Bekämpfung des falſchen Doctrina-
rismus auszeichnet. In Roſcher’s Geſchichte der Nationalökonomie wird Nebenius wieder
als „der eigentliche Erfinder des Zollvereins“ geprieſen, weil ſeine Denkſchrift von 1819
einige Gedanken ausſprach, welche mit der ſpäteren Verfaſſung des Zollvereins eine ge-
wiſſe Aehnlichkeit haben. So ungern ich mit meinem verehrten Lehrer in Widerſpruch
trete, ſo dürfen wir Hiſtoriker es doch nicht ſchweigend hinnehmen, wenn ein vielgeleſenes
einflußreiches Buch das Capitel über die Gründung des Zollvereins mit dem Satze ſchließt:
„Was für die Befreiungskriege der Hannoveraner Scharnhorſt, der Rheinländer Stein,
der Mecklenburger Blücher, der Sachſe Gneiſenau, das bedeutet für den Zollverein der
Badenſer Nebenius.“ Will man den Badener neben jene Helden ſtellen, deren Verdienſt
doch ſicherlich nicht blos in dem Ausſprechen einiger guten Gedanken beſtand, ſo muß man
[775]Nebenius und der deutſche Zollverein.
mindeſtens beweiſen, daß jene Denkſchrift auf die Entſtehung des Zollvereins mittelbar oder
unmittelbar irgend einen Einfluß gehabt hätte. Will man behaupten, „der preußiſche
Grundſatz der Separatverhandlungen mit den einzelnen Staaten habe ſich mit dem Ne-
benius’ſchen Gedanken des Zollvereins gleichſam vermählt“, ſo muß man den Nachweis
führen, wo und wann denn beſagte Vermählung vollzogen worden ſei. Dieſer Nachweis
iſt aber von Roſcher und ſeinen Meinungsgenoſſen nicht einmal verſucht worden, und
er kann auch gar nicht geführt werden.
Nebenius war, als er jene Denkſchrift ſchrieb, ein Gegner der preußiſchen Zollpo-
litik; er wähnte, „kein deutſcher Staat außer Oeſterreich vermöge ſein Gebiet gegen fremde
Concurrenz wirkſam zu ſchützen“, während Maaſſen umgekehrt von der richtigen Anſicht
ausging, das preußiſche Zollgeſetz werde dieſen Schutz bewirken. Der Badener wollte
Beſeitigung aller beſtehenden deutſchen Zollgeſetze, auch des preußiſchen, und dafür ein
vereinbartes Syſtem von Bundeszöllen; die preußiſche Regierung dagegen verwarf das
Bundeszollweſen mit Recht als eine Utopie, ſie wollte zunächſt ihr eigenes Zollgeſetz durch-
führen. Die Nebenius’ſche Denkſchrift wurde daher auf den Wiener Conferenzen von
dem Grafen Bernſtorff nachdrücklich bekämpft, weil ſie den Grundgedanken der preußi-
ſchen Handelspolitik zuwiderlief, und blieb nachher vierzehn Jahre lang völlig vergeſſen
in den Akten liegen. Kein einziges unter den tauſenden von Schriftſtücken, die ich im
Geh. Staatsarchiv zur Geſchichte des Zollvereins durchſucht, erwähnt jener Arbeit, auch
in Motz’s nachgelaſſenem Briefwechſel kommt Nebenius’ Name gar nicht vor. Bei den
entſcheidenden Verhandlungen von 1828—1833 war Nebenius weder ſelbſt betheiligt,
noch empfing einer der dabei thätigen Staatsmänner von ihm Belehrungen.
Erſt im Jahre 1833 erwies Nebenius der preußiſchen Handelspolitik einen wich-
tigen Dienſt. Die Zollverträge zwiſchen dem preußiſch-heſſiſchen und dem bairiſch-würt-
tembergiſchen Verbande, wurden ſoeben den Kammern in Stuttgart zur Genehmigung
vorgelegt; die Verhandlungen mit Baden ſchwebten noch. Da warf Nebenius ſeine
Schrift „über den Eintritt Badens in den Zollverein“ auf den Markt hinaus. Er hatte
inzwiſchen ſeine früheren Irrthümer längſt aufgegeben und empfahl nunmehr mit zwingenden
Gründen den Anſchluß Süddeutſchlands an das preußiſche Syſtem; er wollte durch ſeine
Flugſchrift zugleich auf den württemberiſchen Landtag und auf die Stimmung in ſeiner
eigenen Heimath wirken. Als Anhang der neuen Denkſchrift war jene längſt vergeſſene
ältere von 1819 abgedruckt. Die badiſche Regierung wünſchte ihrem trefflichen Geheimen
Rathe eine wohlverdiente Anerkennung zu verſchaffen, ſie gab die Schrift dem preußiſchen
Geſandten zur Mittheilung an ſeinen Hof. Es war was man in England fishing for
compliment nennt. Das Berliner Kabinet mußte dem Verfaſſer einige freundliche Worte
ſagen; man war ihm zu Danke verpflichtet und ſeine Stimme fiel bei der ernſten Ent-
ſcheidung, die in Karlsruhe bevorſtand, ſchwer ins Gewicht. Eichhorn ſchrieb daher
(28. Novbr. 1833) an den Geſandten Otterſtedt: die neue Denkſchrift über Badens Bei-
tritt ſei ihm „ſehr intereſſant“ geweſen. „Gewiß hat der Herr Verfaſſer durch dieſe
Schrift ſich ein großes Verdienſt für das richtige Verſtändniß der wichtigen Angelegen-
heit der Zollvereinigung in ſeinem Vaterlande und vielleicht auch in deutſchen Nachbar-
ſtaaten erworben. Zur gerechten Genugthuung wird es demſelben gereichen, wenn er
aus den Verträgen der jetzt zu einem gemeinſamen Zoll- und Handelsſyſteme verbun-
denen Staaten erſehen wird, wie vollſtändig nunmehr die Ideen ins Leben getreten ſind,
welche, nach dem Anhange ſeiner Denkſchrift, von ihm ſchon im Jahre 1819 über die
Bedingungen eines deutſchen Zollvereins gehegt und bekannt gemacht worden ſind.“ Und
aus dieſer fein berechneten Artigkeit zieht Nebenius’ Biograph, Joſeph Beck den Schluß,
Preußen ſelber habe den badiſchen Staatsmann als den Meiſter des Werkes anerkannt!
Iſt es denn ſo ganz unbekannt, in welchem Tone gewandte Diplomaten zu reden pflegen,
wenn ſie einen einflußreichen Mann bei guter Stimmung halten wollen? Oder ſollte
Eichhorn etwa bei ſolchem Anlaß zu dem ſtark aufgetragenen Lobe noch die unhöfliche
Wahrheit hinzufügen, daß die Dinge doch anders gekommen ſeien als Nebenius gedacht?
[776]Nebenius und der deutſche Zollverein.
Und wo ſagt Eichhorn, daß die Ideen des badiſchen Staatsmannes der preußiſchen Re-
gierung irgendwie zur Richtſchnur gedient hätten? Geht nicht vielmehr aus der ganzen
Faſſung ſeines Schreibens hervor, daß er ſelber die Denkſchrift von 1819 erſt im Herbſt
1833 kennen gelernt hat? Auf die Entſtehung jener grundlegenden Verträge haben die
Nebenius’ſchen Gedanken in keiner Weiſe eingewirkt. Der badiſche Staatsmann könnte
beſten Falls nur in demſelben Sinne als „Erfinder des Zollverein“ genannt werden,
wie man den Normannen Erik den Rothen als den Entdecker von Amerika bezeichnen
kann, weil er lange vor Columbus zuerſt das Weinland des fernen Weſtens erblickte; er
hätte eine Erfindung gemacht, die aber erſt hiſtoriſch wirkſam wurde, als Andere ſie
ſelbſtändig wieder auffanden.
[Doch] ſelbſt dieſer beſcheidnere Ruhm gebührt Nebenius nicht. Es iſt nicht richtig,
daß jene Denkſchrift die Grundgedanken des ſpäteren Zollvereins zuerſt aufgeſtellt hätte.
Zerlegen wir die Frage, da der Ausdruck „Erfinder des Zollvereins“ ſo gar vieldeutig
iſt, und prüfen wir im Einzelnen. Alſo —
Wer hat die Forderung, daß Deutſchland ein handelspolitiſches Ganzes bilden ſolle,
zuerſt ausgeſprochen? Nicht Nebenius. Sondern dieſer Gedanke war ſeit dem Wiener
Congreß das Gemeingut von Patrioten aller Parteien; ihn in weiten Kreiſen verbreitet
zu haben iſt vor Allen das Werk von F. Liſt und ſeiner unermüdlichen Agitation.
Wer hat den Widerſtand, der ſich dieſem Gedanken entgegenſtemmte, am letzten
Ende überwunden? Nicht Nebenius, noch irgend ein einzelner Mann, auch nicht die
Macht der öffentlichen Meinung, die vielmehr hartnäckig verblendet blieb, ſondern allein
die bittere Noth. Nur die äußerſte Bedrängniß der Finanzen und des Verkehrs zwang
die widerſtrebenden kleinen Höfe, die Verſtändigung mit dem beargwöhnten Preußen zu
ſuchen.
Wer hat das Zollgeſetz und den Tarif erdacht, welche ſo vielen ſtreitenden In-
tereſſen eine leidliche Ausgleichung brachten? Nicht Nebenius, ſondern Maaſſen. Deſſen
Werk, das Zollgeſetz, iſt älter als Nebenius’ Denkſchrift, und es bezeichnet die allgemeine
Verwirrung jener Tage, daß der geiſtreiche Badener, ſtatt ſich an dies Beſtehende anzu-
ſchließen, vielmehr auf eigene Fauſt ſich einen deutſchen Zolltarif erſann, der von den
preußiſchen Grundſätzen nicht ſehr weit abwich.
Wer hat den Gedanken erſonnen, daß die Zolleinnahmen nach der Kopfzahl unter
die Verbündeten vertheilt werden ſollten? Nicht Nebenius, ſondern Maaſſen und
J. G. Hoffmann, die unter der Mitwirkung von Motz den Vertrag mit Sonders-
hauſen ſchloſſen, ehe die Denkſchrift des Badeners den Wiener Conferenzen vorgelegt
wurde. Aus dieſem preußiſchen Vertrage iſt dann jener Vertheilungsmaßſtab, weil er
der einfachſte und für die Kleinſtaaten vortheilhafteſte war, in alle Enclaven- und Zoll-
vereinsverträge hinübergenommen worden.
Wer hat den Gedanken erſonnen, daß die verbündeten Staaten neben gemeinſamer
Zollgeſetzgebung ſelbſtändige Zollverwaltung haben müßten? Nicht Nebenius — denn
ſeine Denkſchrift wollte gemeinſame Zollverwaltung — ſondern im Verlaufe der ſüd-
deutſchen Sonderbundsverhandlungen vereinigten ſich die ſüdweſtdeutſchen Höfe durch das
Heidelberger Protokoll über dieſen Grundſatz; die preußiſche Regierung, die von ihren
kleinen Nachbarn die Unterordnung unter ihre Zollhoheit verlangt hatte, erkannte nach
und nach, daß ſie den größeren Höfen ſolche Zumuthungen nicht bieten durfte, und Motz
war es, der ſich zuerſt auf den Boden des Heidelberger Protokolles ſtellte.
Wer hat die Wahrheit gefunden, daß bei der unendlichen Mannichfaltigkeit der In-
tereſſen nur Einzelverhandlungen zum Ziele führen konnten? Nicht Nebenius, denn er
wollte Ordnung des Zollweſens von Bundeswegen, ſondern die preußiſche Regierung,
die unter den ſchwerſten Anfechtungen dieſen Grundſatz feſthielt.
Wer hat den einfachen, aber neuen Gedanken zuerſt ausgeſprochen, daß Verkehrs-
freiheit nur bei Zollgemeinſchaft möglich ſei? Nicht Nebenius, ſondern vor ihm Maaſſen;
[777]Nebenius und der deutſche Zollverein.
denn Preußen bot ſogleich nach Erlaß des Zollgeſetzes nur jenen Staaten Verkehrsfreiheit
an, welche in Zollgemeinſchaft mit ihm treten wollten.
Wer hat die Bedeutung der Zollgemeinſchaft für unſere politiſche Zukunft zuerſt
erkannt? Nicht Nebenius, der über Deutſchlands Verhältniß zu Oeſterreich nie ins Klare
kam, ſondern Motz.
Was bleibt demnach von Nebenius’ Vaterrechten übrig? Nur dies Eine: er hat
im Jahre 1819, gleich vielen anderen wackeren Patrioten, an die Utopie eines Bundes-
zollweſens geglaubt, aber dieſen im Ganzen verkehrten Plan im Einzelnen mit einigen
guten Gedanken ausgeſtattet, welche den preußiſchen Staatsmännern bereits bekannt
waren. Soll der Badener deshalb der Vater des Zollvereins heißen, ſo begeht man
eine hiſtoriſche Ungerechtigkeit, in erſter Linie gegen den Märker König Friedrich Wilhelm,
den Rheinländer Maaſſen, den Franken Eichhorn und den Heſſen Motz: in zweiter
Linie gegen die Heſſen du Thil und Hofmann, die Baiern König Ludwig, Armanſperg
und Mieg, die Schwaben König Wilhelm und Cotta, die Sachſen Lindenau und
Zeſchau. Dies ſind die wirklichen Väter des Zollvereins; Nebenius war nur bei den
unfruchtbaren ſüddeutſchen Sonderbundsverhandlungen, mit geringem Glücke, thätig und
griff in die Geſchichte des großen Zollvereins erſt ein als das Werk ſchon unter Dach
war. Man ſieht es handelt ſich hier durchaus nicht, wie Roſcher andeutet, um eine
Vertheidigung preußiſchen Ruhmes, ſondern um die Wahrung der Verdienſte von
Männern aus allen deutſchen Stämmen und vor Allem um die nüchterne Feſtſtellung des
hiſtoriſchen Thatbeſtandes. Was der preußiſche Staat für den Zollverein geweſen, iſt
ja über allen Streit erhaben; davon beißt keine Maus einen Faden ab.
Roſcher hält für denkbar, wenngleich für unwahrſcheinlich, daß ſich in Maaſſen’s
oder Eichhorn’s Nachlaß noch ein Zollvereinsplan finden könnte, der älter wäre als Ne-
benius’ Denkſchrift. Ich geſtehe, daß ich eine ſolche Entdeckung für undenkbar halte. Sie
würde auch den ſtaatsmänniſchen Ruf der beiden Männer keineswegs erhöhen. Die
Ueberlegenheit Eichhorn’s und Maaſſen’s, gegenüber den ſchwärmenden Patrioten draußen
im Reich, liegt ja gerade darin, daß ſie verſchmähten mit Unmöglichkeiten zu ſpielen.
Sie begnügten ſich die Hälfte des nicht-öſterreichiſchen Deutſchlands zu einem einigen
Marktgebiete zuſammenzufaſſen und erklärten ſich bereit auch andere Staaten in dieſe
Gemeinſchaft aufzunehmen; mehr konnte ein praktiſcher Staatsmann ſchlechterdings nicht
thun in jenem Augenblick, da ganz Deutſchland gegen das preußiſche Zollgeſetz tobte,
und keiner der Mittelſtaaten gewillt oder fähig war ſeine Verwaltung nach den Anfor-
derungen des preußiſchen Zollgeſetzes umzugeſtalten. Wer im Jahre 1819 den Plan eines
deutſchen Zollvereins entwarf, der mußte in Phantaſien verfallen, und dieſem Schickſale
iſt ſelbſt das Talent eines Nebenius nicht entgangen. Der Badener ging, wie alle
Wortführer der erregten öffentlichen Meinung, von einer tabula rasa aus, während die
preußiſchen Staatsmänner ihr beſtehendes Zollgeſetz erhalten und auf dieſem Grunde
weiter bauen wollten. Zehn Jahre darauf war die Lage geklärt; da war es möglich,
unmittelbar auf die Handelseinheit des ganzen Deutſchlands loszuſchreiten, damals ent-
warf Motz ſeinen Plan, der in der That Hörner und Zähne hatte.
Die übertriebene Bewunderung, welche der Denkſchrift von 1819 nachträglich zu
Theil geworden, erklärt ſich allein aus dem Umſtande, daß Nebenius unter den Staats-
männern des Zollvereins der einzige Schriftſteller war. Bei dem Mangel an archiva-
liſchen Aufſchlüſſen ſahen ſich die Hiſtoriker weſentlich auf ſeine Ausſagen angewieſen.
Nebenius’ Schriften über den Zollverein, ſo hochverdienſtlich ſie ſind, leiden doch an zwei
Schwächen: an einiger Selbſtüberſchätzung und an großer Zaghaftigkeit des Urtheils. Mein
alter Freund Karl Mathy, der freilich ſolche vermittelnde Naturen wenig liebte, nannte
den Mann gradezu „weich wie Wachs“, und erbaulich iſt es nicht, wie glatt und leiſe
er über alle die empörende Nichtswürdigkeit der kleinen Höfe, die ſich in jenen ſchmach-
vollen Handelskriegen entlud, hinweggeht und immer nur von den wohlmeinenden Ab-
[778]Nebenius und der deutſche Zollverein.
ſichten der Cabinette zu reden weiß. Jedenfalls kann heute, da die archivaliſchen Quellen
reichlicher fließen, ein αὐτὸς ἔφα nicht mehr entſcheiden.
Wie man in den Kreiſen der Mitbegründer des Zollvereins über die Leiter des großen
Werkes dachte, das bezeugt ein Aufſatz, den ein freundlicher Zufall unter die Motz’ſchen
Papiere verſchlagen hat. L. Kühne, der nächſte Vertraute von Motz und Maaſſen wäh-
rend der ſchweren Jahre 1825 — 34, begann im Jahre 1841 eine kleine Abhandlung:
„wer iſt der Stifter des Zollvereins?“, als ſich die Berliner Zeitungen grade über die
Frage ſtritten, ob Motz oder Maaſſen ein Denkmal verdiene. Die Arbeit blieb unvol-
lendet liegen, und der Verfaſſer hat ſpäterhin das Bruchſtück mit einem freundſchaftlichen
Briefe an die Familie des Miniſters Motz geſendet. Kühne hält von vornherein für aus-
gemacht, daß neben Motz und Maaſſen kein Dritter in Betracht komme. Er erinnert
an Goethe’s Wort über Schiller, die Deutſchen ſollten ſich freuen zwei ſolche Kerle zu
haben, betont aber nachher ſtark, daß kein einzelner Mann das Werk geſchaffen: „die
Gewalt der Sachen iſt es, die den Verein gegründet hat.“ Nun erzählt er kurz von
dem Bundestagsjammer, von Liſt’s Agitationen, von den ſüddeutſchen Sonderbundsver-
ſuchen, von Preußens zuwartender Haltung und ſeinen Enclavenverträgen. Dann hebt
ſich der Ton, und es wird geſchildert, wie mit Motz ein friſches Leben in die Finanz-
verwaltung kam, wie an ihm das audaces fortuna juvat ſich erfüllte, während Maaſſen
als der Bedenklichere erſcheint. Nach einer ausführlicheren Darſtellung der Finanzreform
und der preußiſch-heſſiſchen Verhandlungen bricht der Auſſatz ab, und man trägt den
Eindruck davon, daß der Verfaſſer in Motz den kühnen Bahnbrecher des Unternehmens
ſah. Die Abhandlung iſt nicht frei von Irrthümern; namentlich ſcheint der Finanz-
mann von der Thätigkeit Eichhorn’s und des Auswärtigen Amtes wenig oder nichts
gewußt zu haben. Aber die im Jahre 1833 neu gedruckte und dem preußiſchen Mini-
ſterium überſendete Nebenius’ſche Denkſchrift mußte er kennen. Und doch gedenkt er ihrer
und ihres Verfaſſers mit keiner Silbe, während er Liſt, Emil Hoffmann und die anderen
Wortführer des Vereins deutſcher Kaufleute mit Anerkennung nennt! Der praktiſche
Staatsmann hielt es offenbar für undenkbar, daß man jemals auf den Einfall kommen
würde, den Verfaſſer einer Denkſchrift, die ein unmögliches Bundeszollweſen empfahl
und ohne jede politiſche Wirkung blieb, für „den Erfinder des Zollvereins“ auszugeben.
Ich denke, die realiſtiſche Anſchauung des alten Kühne wird auch in der hiſtoriſchen
Wiſſenſchaft durchdringen, ſobald unſere Gelehrten in der Schule eines freien Staats-
lebens lernen, den bedingten Werth der Theorie in der politiſchen Welt beſcheiden anzu-
erkennen. Nochmals, ich wäre froh mich von einem Manne wie Roſcher überzeugen zu
laſſen. Aber dieſer unglückſelige Nebenius-Mythus iſt und bleibt ein Mythus, und es
wird hohe Zeit, ihn gelaſſen zu den beiden Eiern des braven Schweppermann und ähn-
lichen Kleinodien particular-hiſtoriſcher Sagenbildung zu legen.
Appendix A
Druck von J. B. Hirſchfeld in Leipzig.
[][][][][]
herzöge von Heſſen u. ſ. w.
Goltz, 25. März 1820.
II. 62.
Correſpondenzen S. 34 f.
1819, veröffentlicht von Aegidi in ſeiner Zeitſchrift für deutſches Staatsrecht I. 149.
ſtorff’s Eingaben an den König, 18. Juli, 2. Aug.; Hardenberg an den König, 5. Aug.;
Cab.-Rath Albrecht an Bernſtorff, 27. Sept. 1820.
4. März; Kruſemark’s Bericht, 5. März 1820.
destags, 19. Febr. 1820.
9. April 1820.
berg, 27. März 1820.
4. Juli 1820.
Bericht, Stuttgart, 20. Juni, 3. Juli 1820.
Bernſtorff’s Inſtruktionen (in ſeiner Schrift „Aus der Vorzeit des Zollvereins“) zuerſt
zu veröffentlichen, da war die wirkliche Geſchichte des Zollvereins durch Parteimärchen
bereits gänzlich verdunkelt, und die Mittheilung wurde allgemein als eine überraſchende
Enthüllung angeſehen. Und doch enthielt die Inſtruktion durchaus kein Geheimniß, ſon-
dern lediglich die nämlichen Worte, welche, als amtliche Antwort Hardenberg’s an F. Liſt
und Gen., bereits im Jahre 1819 in den meiſten deutſchen Zeitungen geſtanden hatten.
Vergl. o. II. 622.
den, dem Geſandten v. Jordan (Jordan’s Bericht, 18. Okt. 1819).
mahnt. (Marſchall an Metternich, 10. Sept. 1820.)
6. Febr. 1820.
Meininger Präſidenten Krafft, Darmſtadt, 20. März 1828.
Marſchall’s, 3. Aug. 1820.
Berichte des badiſchen Geſchäftsträgers v. Meyern, Berlin 5., 19. Januar, 19. Februar,
18. Mai, 22. Okt. 1822.
Gutachten, 21. April 1824. Weiſung an die Geſandtſchaften, 25. März 1828.
ſtimmt — bis auf mehrere, offenbar verleſene oder verſchriebene Wörter — vollſtändig
überein mit dem Originale, das ſich zu Karlsruhe im Archiv des Min. d. a. A. befindet.
Die im Wortlaute ſtark abweichende Denkſchrift, welche in Metternich’s hinterlaſſenen
Papieren III. 372 abgedruckt iſt, kann mithin, gleich vielen anderen Aktenſtücken dieſer
Sammlung, nur ein Concept ſein.
mon travail. Metternich an Berſtett, 4. Mai 1820.
1820.
ſchreiben an Leg.-Rath v. Schoultz-Aſcheraden, 10. März 1820.
trägers Frhr. v. Senden an Ancillon, 29. März 1820.
29. Okt. 1820.
Berlin, 11. Nov. 1820.
du Baron de Gagern, 29. Okt. 1820.
den Großherzog, Nov. 1820.
Präſident des Staatsraths aufſtellte (Denkſchrift über den Staatsrath, 8. März 1827).
ſchichte der Steuer-Reform in Preußen, Berlin 1875, theilt (S. 235) Einiges aus dieſer
Denkſchrift mit, bezeichnet ſie aber irrthümlich als eine dem Staatskanzler zugegangene
königliche Inſtruktion.
berg’s Tagebuch, 16., 17. Jan. 1820.
30. Mai 1828.
1821, an den Schatzminiſter, Februar 1821 u. ſ. w.
Königs, 27. Febr. 1820.
Witzleben, Denkſchrift über den Zuſtand der Finanzen, December 1819.
Hardenberg’s Tagebuch 29. April ff. 1820.
a. a. O. S. 432 f.
an den Kronprinzen 8. Juni, Bericht an den König 12. Juni 1820.
Reg.-Präſ. Wißmann vom 28. Nov. 1815.
Begleitſchreiben vom 7. Aug. 1820. S. Beilage 10.
munalordnungs-Entwürfe nicht zu vollziehen ſind“ (Mai 1821).
findet ſich noch im G. St. Archiv.
1820.
5. Nov. 1820.
licher Inhalt aber iſt bekannt, da Hardenberg die Hauptſätze derſelben, deutſch überſetzt,
in ſeinem Berichte vom 2. Mai 1821 wörtlich wieder anführte.
monarchie, Okt. 1819. Observations dazu, aus Oeſterreich geſendet, Okt. 1819. Rc-
der unzweifelhaft dem Pavillon Marſan nahe ſtand, vermag ich nicht anzugeben.
u. ſ. w. u. ſ. w.
1819, 1. Mai 1822 u. ſ. w.
Bernſtorff an Ancillon, 20. Mai 1820.
war wahrſcheinlich der König von Dänemark.
moire de la Cour de Prusse, 7. Okt. 1820.
mit Fürſt Cimitille, für die verbündeten Mächte lithographirt, Sept. 1820.
25. Nov. Kapodiſtrias an den ruſſiſchen Geſandten v. Phull in Brüſſel, Okt. 1820.
1820.
Bericht, 27. Okt. 1820.
Neapel 28. Sept. 1820.
und Bernſtorff’s Bericht, 4. Nov.; Bernſtorff an Ancillon, 8. Nov.; Hardenberg’s Tage-
buch, 7., 10. Nov. 1820.
gende behauptet, Metternich hätte die Nachricht aus Petersburg zuerſt erhalten und als-
dann durch gewandte Benutzung derſelben den überraſchten Czaren für die Pläne Oeſter-
reichs gewonnen. Seit Metternich’s hinterlaſſene Papiere erſchienen ſind, muß dieſe
Erzählung als märchenhaft angeſehen werden. Denn Metternich erzählt ſelbſt (III, 355),
daß Kaiſer Alexander ihm den Vorfall zuerſt mitgetheilt habe, und legt auf die ganze
Sache wenig Werth. Ueberdies war die Verſtändigung zwiſchen den Kaiſerhöfen im
Weſentlichen ſchon vorher, am 6. und 7. Nov. erfolgt.
Ramdohr in Neapel, 22. Nov.; Hardenberg’s Tagebuch, 19. Nov. 1820.
Caraman, Erklärung zum Protokoll, 7. Dec. Briefe der beiden Kaiſer an Papſt Pius,
12. Dec.; Bernſtorff an Niebuhr, 13. Dec. an Graf Truchſeß in Turin, 24. Dec.; Har-
denberg’s und Bernſtorff’s Berichte, 1., 6. Dec. 1820.
1820. Viele dieſer Troppauer und Laibacher Aktenſtücke ſind ſchon von Gervinus (Geſch.
des neunzehnten Jahrh. VII. 783 f.) benutzt.
20. Dec. 1820.
1820.
Okt. 1820.
Ueber die wahrſcheinlichen Ergebniſſe des Congreſſes von Troppau, 24. Nov. 1820.
Einige Bemerkungen über die gegenwärtige Politik Württembergs (ohne Datum, aber
unverkennbar aus derſelben Zeit). Betrachtungen über den gegenwärtigen politiſchen
Zuſtand Europas, 27. Febr. 1821.
Näheres über die Entſtehungszeit dieſer Denkſchrift ſ. in Beilage 8.
ein Brief Witzleben’s an Hardenberg aus dem Jahre 1821, worin es heißt: „Nament-
lich ſind Sie in Troppau bei mir geweſen, gerade zu der Zeit, wo der Entwurf der
Communalordnung eingerichtet war und ſich die Idee einer beſonderen Commiſſion für das
ſtändiſche Weſen vielleicht zuerſt entwickelte.“ (Abgedruckt bei Dorow, Erlebtes III. 303).
4. Jan. 1821.
Hardenberg an den König, 6., 8. Febr. 1821.
Küſter’s Bericht, Stuttgart 26. Febr. 1821.
Berichte, 19. Dec. 1820, 27. Febr., 6. März 1821.
cillon, 30. Januar 1821.
17. Febr. 1821.
20., 21. Febr. Bernſtorff an Gf. Goltz in Paris, 28. Febr. 1821.
5. März 1821.
heimes Protokoll über Bernſtorff’s Erklärung, 15. März 1821.
28. Juli. Metternich an den k. k. Geſandten v. Schraut in Bern, 18. April 1821.
cillon, Miniſterialſchreiben an Kruſemark, 28. Mai 1821.
v. Graben, Osnabrück 3. März 1820. Dieſe und die in den folgenden Anmerkungen
erwähnten Schriftſtücke habe ich in den Akten des Bonner Curatoriums, mit Erlaubniß
des Herrn Geh.-Rath Beſeler, eingeſehen.
Curator v. Rehfues, 26. Febr.; Dekan Gratz an Rehfues, 16. März 1820.
18. April 1820.
Plettenberg und Gen. an den Staatskanzler, 21. April 1821.
über Provinzial-Ständeverfaſſungen, Febr. 1821.
an Hardenberg, 4. Mai; Hardenberg an Koreff, 6. Mai; Koreff’s Antwort, 10. Mai;
Schöll an Benzenberg, 6. Mai, an Hardenberg, 8. Mai; Benzenberg’s Antwort, 7. Mai 1821.
der Commiſſion und des Staatskanzlers, ſ. Beilage 11.
4. Juli; Antwort des Königs, 13. Juli 1821.
(ohne Namen, wahrſcheinlich von Schön).
29. April, Schuckmann, Voß 10. Mai, Wittgenſtein 18. Mai, Albrecht 18. Mai 1822.
bein an den Kronprinzen, 15. Nov.; der Dramburger Kreisſtände an den Kronprinzen,
12. Dec.; der altmärkiſchen Stände an den König, 6. Jan. 1822.
zialſtände im Allgem. und die brandenb. Stände insbeſ. 2. Nov. 1822.
Ancillon 8. Sept. 1822.
zu ziehenden Gegenſtände. Wien, Sept. 1822. Berſtett’s Aufzeichnung: die Ueberein-
kunft der Mächte in Wien über die Gegenſtände des Congreſſes von Verona.
tember 1822.
richt, 22. Jan. 1822.
vember 1822.
1822 an Bernſtorff übergeben).
22. Oktober 1822.
Madrid, 22. Nov. 1822.
28. Nov., ruſſiſche 24. Nov., franzöſiſche o. D. Bernſtorff’s Bericht 30. Nov. 1822.
wort, o. D.; preußiſche, 28. Nov. 1822.
Protokoll der Conferenz vom 26. Nov.; Tatiſtſcheff’s Antwort 27. Nov.; Bernſtorff’s
Bericht 17. Nov. 1822.
2. Nov. 1822.
cember 1822.
18. Jan. 1823.
von Blittersdorff, 15. Jan. 1823.
ſandten v. Benckendorff, einen Ohrenzeugen der Mittenwalder Zuſammenkunft, nachdrücklich
erinnern. (Neſſelrode, Weiſung an Benckendorff, Petersburg Febr. 1823.)
Politik vom 18. Febr. 1822.
auf Deutſchland — im Weſentlichen richtig abgedruckt in (Kombſt) Authentiſche Akten-
ſtücke aus den Archiven des D. Bundes (Straßburg 1835) S. 1, in Welcker’s Wichtigen
Urkunden S. 356 u. ſ. w. Die Denkſchrift wurde nachher von Küpfer breiter ausge-
arbeitet und am 18. Dec. 1824 nochmals an Bernſtorff überſendet.
landwirthſchaftlichen Verein zu Ettenheim an Berſtett, 1. Sept. 1820, von Ludw. Baſſer-
mann Frohn in Mannheim, Okt. 1820 u. ſ. w.
Karlsruhe, 12. Aug. 1822.
an Metternich, 10. Sept. 1820.
3. Jan. 1822.
18. Febr. 1822.
geſetze.
an Beroldingen in Petersburg, 18. März. Küſter’s Bericht, 4. März 1823.
23. März 1823.
König, 17. April. König Friedrich Wilhelm an den König v. Württemberg, 27. April.
Neſſelrode an Alopeus 1823.
wort, 3. Jan.; Küſter’s Bericht, 7. Febr. 1824.
Bernſtorff’s Bericht an den König, 30. Sept.; Weiſungen an Hatzfeldt, 28. September,
4. Oktober 1824.
ſtett an Metternich, 30. April; Blittersdorff’s Bericht, 18. April 1823.
von Blittersdorff, 21. März, von Hatzfeldt, 15. Sept. 1823.
Otterſtedt, 20. Febr., 5. Mai 1825.
24. Sept. 1825.
Wien, Stuttgart, 22. Mai 1825, nebſt Beilage: Denkſchrift über die Bundesfeſtungen.
an Jordan und Küſter, 18. Juni, an Goltz, 22. Juni; Nagler’s Bericht, 24. Juli 1824.
verſammlung II, 341. Das Schriftſtück hingegen, welches in Metternich’s hinterlaſſenen
Papieren IV, 120 fälſchlich für Zentner’s Arbeit ausgegeben wird, iſt in Wahrheit — das
Promemoria Münch-Bellinghauſen’s vom 6. Jan. 1824. Näheres in Beilage 12.
2. Sept. 1820.
dorff’s Berichte, 6. Febr., 21. März; Metternich an Hatzfeld, 24. Juni 1825.
Hruby’s Bericht an Metternich, 26. März; Hatzfeldt’s Bericht, 5. April 1823.
Wilhelm an K. Ferdinand v. Neapel, 10. Juni 1823.
20. Aug.; Antwort des Königs, 24. Aug. 1823.
im Namen des Königs, 24. Juni 1825.
lung bei Dorow, Erlebtes III. 328.
Altenſtein 19. Mai 1826, an Lottum 30. Juli, 30. Okt. 1827; Cabinetsordres an Herzog
Karl 31. Aug. 1825, 28. Juni 1826; an das Staatsminiſterium 9. Dec. 1827.
in Berlin 9. Aug., Bunſen 30. Aug.; Denkſchrift von Reinhard, an Küſter übergeben
Auguſt 1823.
29. April, an den König, 30. April 1827.
v. Maſſow, Promemoria über die Immediatcommiſſion, 20. Okt. 1847.
Wittgenſtein, Beyme, 23., 26., 29. Dec. 1815. — Hardenberg an Boyen, 1. Dec. 1817;
Boyen’s Antwort 7. Febr. 1817. — Hardenberg an das Staatsminiſterium, 20. Juli;
Bericht des Staatsminiſteriums an den Staatskanzler, 18. Nov. 1818.
1831 u. ſ. w.
3. Aug.; Kobbe an Hardenberg, 18. Juli 1822.
provinzen betr. 1825.
dorf 27. Dec. 1826.
Herzog Karl: von Frieſe 19. Febr., von Müffling 19. März, von Kamptz 7. Oct. 1827.
mit der Erzählung von Thierſch (F. Thierſch’s Leben I. 259).
horn, Schmelzer u. A. Witzleben’s Tagebuch, 10. Jan., 4. April 1825, 23., 24. Juni
1826; Prinz Wilhelm an König Friedrich Wilhelm, 23. Juni 1826.
(Berlin 1884) bringt zwar manche dankenswerthe neue Mittheilungen; ich kann aber
nicht finden, daß dem Verfaſſer die Rechtfertigung des Verfahrens der Regierung ge-
lungen wäre.
1825; an Profeſſor Hüllmann, 4., 13. Dec. 1826, 26. Sept. 1827; an Bunſen 12. Dec.
1828, 6. Juli 1829.
1828, 8. Juli 1829, von Caspar Max Droſte, Biſchof von Münſter, 27. Dec. 1827.
11. Juni; Altenſtein an Lottum, 16. Juli; Lottum an Albrecht, 23. Juli 1827. Die
übrigen Aktenſtücke in Schön’s Papieren, V. 156 f.
und April bis Juni 1824 (nach Aktenauszügen, die mir C. Varrentrapp mitgetheilt hat).
ſterien und Provinzialbehörden. Sept. 1822.
1823, der Immediat-Commiſſion eingereicht.
ſungen des Königs an Klewiz, Schuckmann, Altenſtein, 31. Aug. 1824.
406) aufmerkſam gemacht. Inzwiſchen iſt ſie vollſtändig veröffentlicht in den „Weiteren
Beiträgen und Nachträgen zu den Papieren des Miniſters von Schön.“ Berlin 1881.
S. 187. Vgl. Beilage 13.
kanzler überreicht 12. Juli 1821.
Berichte, 24. Aug., 14. Sept.; Cabinetsordres an das Staatsminiſterium, 23. Juli,
16. Sept. 1819.
richte, 6., 9. Aug.; Cabinetsordre an Kircheiſen, 21. Aug. 1819.
13. Okt. 1827.
an den König, 8. Mai 1823.
breck, 30. April, vom Ober-Cenſurcollegium, 8. Sept. 1824. Abgedruckt in den Preu-
ßiſchen Jahrbüchern XLIV. 1 ff. (1879).
Brockhaus, F. A Brockhaus. III 183 f.
Bundesverſammlung vom 3. Juli 1823.
ſchen Schriftſteller u. ſ. w.
Vincke 18. Dec., Schön 22. Dec. Motz an Lottum über den Etat, 21. Dec. 1824.
Motz, Denkſchrift über die Provinzialminiſter (ohne Datum, offenbar aus derſelben Zeit).
Witzleben’s Tagebuch, 3., 31. Dec. 1824, 10. Jan. 1825. Vgl. Beilage 13.
Cabinetsordre an das Staatsminiſterium, 11. April 1822.
Lottum, Cabinetsſchreiben an Schön, 2. Juli 1825. Stägemann an Schulz, 13. Okt.
1809; deſſen Promemoria über die oſtpreußiſchen Grundbeſitzer, Juni 1825.
5., 10. Dec. 1825, 2. März 1826. Cabinetsordre an Lottum, 8. April. Ladenberg’s
Eingabe an den König, 3. Mai 1826.
Begleitſchreiben v. 30. Mai 1828.
geſtellt im k. Geh. Cabinet 1835.
an A. Müller, 2. Okt. 1824.
burg, 5. März, 6. Mai 1826.
1826). Antwort, Teplitz, Juli 1826.
und Köthen. 16. Febr. 1827.
Bernſtorff an Trauttmansdorff, 21. Febr. 1828.
28. Juli 1827.
Friedrich Auguſt’s an Napoleon überbrachte, erklärt. (Gersdorff, Denkſchrift über das
Jahr 1813. Juni 1814.)
Juli 1825. Wangenheim an Hartmann, 30. April 1828.
des witzigen, aber unmittheilbaren Gedichts war vermuthlich der Frhr. v. Meuſebach.
29. März und Adreſſe vom 1. April 1816.
ſchreiben an Nagler, 13. Sept. 1828.
Brande des Braunſchweiger Schloſſes 1830 aufgefunden und von dem Bevollmächtigten
der Stände, Frhr. v. Veltheim nach Berlin gebracht. Einige Abſchriften daraus theilte
Blittersdorff (Sept. 1830) dem badiſchen Hofe mit.
habe, iſt meines Wiſſens zuerſt von Droyſen und Samwer (die Herzogthümer Schleswig-
holſtein und das Königreich Dänemark, S. 63) behauptet worden, aber ohne jeden Beweis.
Ich halte für wahrſcheinlich, daß er nur duldete was er nicht hindern konnte; denn aus
Riſt’s Denkwürdigkeiten erhellt, daß er von der däniſchen Nationalpartei bekämpft wurde.
Auch ſein ſpäteres Verhalten gegenüber den Herzogthümern bekundet zwar wenig ſtaats-
männiſche Einſicht, aber durchaus keine Feindſeligkeit.
und polit. Auffätze I. 363).
Bernſtorff’s Bericht an den König, 22. April 1823.
Schloſſer.
v. Hruby in Karlsruhe, 31. März 1826.
benius’ Denkſchrift über die Zollverwaltung, 20. März 1825.
Vorſicht, da ſie erſt faſt ein Menſchenalter ſpäter (1854) diktirt und nachweislich von
Gedächtnißfehlern nicht frei ſind.
Otterſtedt’s Berichte, 17. Sept. 1827.
hat, geſtand du Thil nachher ſelber zu, indem er (28. Febr. 1828) an Motz ſchrieb:
„Als Ew. Exellenz gegen den dieſſeitigen Bevollmächtigten äußerten, daß der Zweck,
den man ſich vorſetze, nur durch eine Zollvereinigung, nicht durch einen Handelsvertrag
erreicht werden könne, ſprachen Sie nur meine innerſte Ueberzeugung aus; auch haben
Sie uns nicht unvorbereitet für einen Gedanken gefunden, mit dem wir längſt vertraut
waren, und ich bekenne Ihnen mit aller Offenheit, daß wir nur deßwegen nicht den
erſten Vorſchlag machten, weil wir fürchteten auf Bedingungen zu ſtoßen, die S. K. H.
der Großherzog ohne Aufopferung Seiner Selbſtändigkeit nicht hätte eingehen können.“
30. März 1828.
Preußiſchen Jahrbüchern, November 1885.
tersdorff 24., 26. März 1828.
aus Frankfurt.
lautenden Abſchriften in den Karlsruher und den Berliner Acten tragen kein Datum.
21. Mai 1828.
Motz an Bülow in London, 2., 24. Mai 1828.
geſchloſſenen Zoll- und Handelsverträge, Juni 1829. Entworfen von Geh. Rath Mentz,
von Motz eigenhändig ſtark umgearbeitet.
richten.
Mai 1827.
14. Febr. 1828.
Jordan, 21. Aug. 1828.
welche Bernſtorff und Werther im Jahre 1830 mit einander austauſchten. (Bernſtorff
an Werther, 3. Jan., 5. April. Werther’s Bericht, 23. Jan. 1830.) —
niedergeſchrieben.
11/23. Auguſt 1829.
gezeichnet.
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CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Treitschke, Heinrich von. Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp4b.0