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Der Büttnerbauer

Schloß Ober-Cunewalde
Vom 1. April 1894 bis 31. März 1895.
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Der Büttnerbauer


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BerlinW:
F. Fontane \& Co.
1895
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Dem deutſchen Nährſtande
gewidmet

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Erſtes Buch.

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I.

Der Großbauer Traugott Büttner ging mit ſeinen zwei
Söhnen zur Kirche.


Die drei Männer konnten ſich ſehen laſſen. Der Büttner¬
bauer ſelbſt war ein Sechziger, groß, hager, bartlos, rotbraun
im Geſicht, mit graugelbem Haupthaar, das er nach alt¬
modiſcher Weiſe lang ins Genick hinab wachſen ließ. Breit¬
ſpurig und wuchtig trat er mit ſchwerem Stiefel auf, wie
es ihm, dem Beſitzer des größten Gutes im Dorfe, zu¬
kam. Seine ſtarken, etwas eckigen Gliedmaßen, die ſich aus¬
nahmen wie knorrige Eichenäſte, waren in einen Rock von
dunkelblauer Farbe, mit langen Schößen, gezwängt. Die
engen Ärmel behinderten ihn offenbar in der Freiheit der
Bewegung. Dafür war das auch der nämliche Rock, in
welchem der Büttnerbauer vor mehr als dreißig Jahren
getraut worden war. Daß der Rock inzwiſchen etwas knapp
geworden in den Schultern und über die Bruſt, ſtörte
den Alten nicht, im Gegenteil! dieſe Gebundenheit und enge
Verſchnürung des Leibes ſtimmte ſo recht zu der Weihe und
feierlichen Gemeſſenheit, die nun einmal zum Sonntagmorgen
gehört. — Auf dem langen ſtraffen Haar trug er einen
Cylinder, den das Alter nicht glatter, ſondern recht wider¬
haarig gemacht hatte.


Der Bauer ſchritt zwiſchen ſeinen beiden Söhnen: Karl
und Guſtav.


W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 1[2]

Karl, der ältere, war in gleicher Größe mit dem Vater,
aber beleibter und fleiſchiger, als dieſer. Auch er raſierte ſich,
nach guter Bauernweiſe, den ganzen Bart. Seine großen,
etwas verſchlafenen Augen und die vollen roten Wangen
gaben ihm das Ausſehen eines großen gutgearteten Jungen.
Aber, wer ſich die Fäuſte des Mannes näher betrachtete, dem
verging wohl die Luſt, mit ſolchem Burſchen anzubinden. Heute
trug er, wie der Alte, ein dickleibiges Geſangbuch in der Hand.
Auch er war in einen langſchößigen Kirchenrock gekleidet, und
trug einen breitkrämpigen Cylinder auf dem runden Kopfe.
Im ganzen war Karl Büttner die wohlgenährtere und um
dreißig Jahre jüngere Ausgabe von Traugott Büttner.


Verſchieden von den beiden zeigte ſich der jüngere Sohn,
Guſtav, Unteroffizier in einem Küraſſierregiment. Vielleicht
war es die ſchmucke Uniform, die ſeine Figur hob, ihm etwas
Gewandtes und Nettes gab, daß er ſich von den beiden plumpen
Bauerngeſtalten vorteilhaft abhob. Er war etwas kleiner, als
Vater und Bruder, ſehnig, gut gewachſen, mit offenem ein¬
nehmendem Geſichtsausdruck. Guſtav wiegte ſeinen ſchlanken
Oberkörper erſichtlich in dem Bewußtſein, ein hübſcher Kerl
zu ſein, auf den heute die Augen der geſamten Kirchfahrt von
Halbenau gerichtet waren. Nicht ſelten fuhr ſeine behand¬
ſchuhte Rechte nach dem blonden Schnurrbart, wie um ſich zu
vergewiſſern, daß dieſe wichtigſte aller Manneszierden noch an
ihrem Platze ſei. Im Heimatdorfe hatte man ihn noch nicht
mit den Treffen geſehen. Zum heurigen Oſterurlaub zeigte
er ſich der Gemeinde zum erſtenmale in der Unteroffiziers¬
würde.


Geſprochen wurde ſo gut wie nichts während des Kirch¬
ganges. Hin und wieder grüßte mal ein Bekannter durch
Kopfnicken. Zum Oſterſonntage war ganz Halbenau auf den
Beinen. In den kleinen Vorgärten rechts und links der
Dorfſtraße blühten die erſten Primeln, Narziſſen und Leber¬
blümchen.


In der Kirche nahm der Büttnerbauer mit den Söhnen
die der Familie angeſtammten Kirchenplätze ein, auf der erſten
[3] Empore, nahe der Kanzel. Die Büttners gehörten zu der
alteingeſeſſenen Bauernſchaft von Halbenau.


Guſtav ſah ſich während des Geſanges, der mit ſeinem
ausgiebigen Zwiſchenſpiel der Beſchaulichkeit reichlichen Spiel¬
raum gab, in der kleinen Kirche um. Die Geſichter waren
ihm alle bekannt. Hie und da vermißte er unter den älteren
Leuten einen oder den anderen, den der Tod wohl abgerufen
haben mochte.


Sein Blick ſchweifte auch gelegentlich nach dem Schiffe
hinab, wo die Frauen ſaßen. Die bunten Kopftücher, Hauben
und Hüte erſchwerten es, das einzelne Geſicht ſofort heraus¬
zuerkennen. Unter den Mädchen und jungen Frauen war
manch eine, mit der er zur Schule gegangen, andere kannte er
vom Tanzboden her.


Guſtav Büttner hatte es bisher gefliſſentlich vermieden,
nach einer beſtimmten Stelle im Schiffe zu blicken. Er wußte,
daß dort eine ſaß, die, wenn ſie überhaupt in der Kirche war,
ihn jetzt ganz ſicher beobachtete. Und er wollte ſich doch um
keinen Preis den Anſchein geben, als kümmere ihn das nur
im geringſten. — Wenn er dorthin blicken wollte, wo ſie
ihren Kirchenſtand hatte, mußte er den Kopf ſcharf nach
links wenden, denn ſie ſaß ſeitlings von ihm, beinahe unter
der Empore. Bis zum Kanzelvers that er ſich Zwang an,
dann aber hielt er es doch nicht länger aus, er mußte wiſſen,
ob Katſchners Pauline da ſei.


Er beugte ſich ein wenig vor, ſo unauffällig wie möglich.
Richtig, dort ſaß ſie! Und natürlich hatte ſie gerade auch
nach ihm hinaufblicken müſſen.


Guſtav war errötet. Das ärgerte ihn erſt recht. Zu
einfältig! Warum mußte er ſich auch um das Mädel kümmern!
Was ging die ihn jetzt noch an! Wenn man ſich um jedes
Frauenzimmer kümmern wollte, mit dem man mal was ge¬
habt, da konnte man weit kommen. Überhaupt, Katſchners Pau¬
line! — In der Stadt konnte man ſich mit ſo einer gar nicht
ſehen laſſen. In der Kaſerne würden ſie ihn ſchön auslachen,
wenn er mit der angezogen käme. Nicht viel beſſer, als eine
1*[4] Magd war ſie! wochentags womöglich barfuß und mit kurzen
Röcken! —


Er nahm eine hochmütige Miene an, im Geiſte die ehe¬
malige Geliebte mit den „Fräuleins“ vergleichend, deren Be¬
kanntſchaft er in den Kneipen und Promenaden der Provinzial¬
hauptſtadt gemacht hatte. In der Stadt hatte, weiß Gott, das
einfachſte Dienſtmädel mehr Lebensart, als hier draußen auf
dem Dorfe die Frauenzimmer allezuſammen. Er verachtete
Katſchners Pauline ſo recht aus Herzensgrunde.


Und einſtmals war die dort unten doch ſein Einund¬
alles geweſen! —


Auf einmal zog durch ſeinen Kopf die Erinnerung an das
Abſchiednehmen damals, als er mit den Rekruten weggezogen in
die Garniſon. Da hatten ſie gedacht, das Herz müſſe ihnen
brechen beim letzten Kuſſe. Und dann, als er wiederkam, zum
erſten Urlaub, nach einjähriger Trennung. — Was er da ange¬
ſtellt hatte vor Glückſeligkeit! Und das Mädel! Sie waren
ja wie verrückt geweſen, beide. Was er ihr da alles ver¬
ſprochen und zugeſagt hatte!


Er verſuchte die Gedanken daran zu verſcheuchen. Da¬
mals war er ja ſo dumm geweſen, ſo fürchterlich dumm!
Was er da verſprochen hatte, konnte gar nicht gelten. Und
außerdem hatte ſie ihm ja ſelbſt auch nicht die Treue gehalten. —
Was ging ihn der Junge an! Überhaupt, wer ſtand ihm denn
dafür, daß das ſein Kind ſei! Er war ja ſo lange weg ge¬
weſen.


Na, mit der war er fertig! Mochten die Leute ſagen,
was ſie wollten! Mochte ſie ſelbſt ſich beklagen, und Briefe
ſchreiben und ihm zu ſeinem Geburtstage und zu Neujahr
Glückwunſchkarten ſchicken — das ſollte ihn alles nicht rühren.
So dumm! Er hatte ganz andere Damen in der Stadt, feine
Damen, die gebildet ſprachen und „Hochwalzer“ tanzen konnten.
Was ging ihn Katſchners Pauline an, deren Vater armſeliger
Stellenbeſitzer geweſen war.


Inzwiſchen hatte der Paſtor zu predigen begonnen. Guſtav
verſuchte nun, ſeine Gedanken auf das Gotteswort zu richten.
[5] Er war in der Garniſon noch nicht gänzlich verdorben worden.
Immer hatte er eine rühmliche Ausnahme vor den Kameraden
gemacht, welche das Kirchenkommando meiſt zu Schlaf, oder aller¬
hand Unfug benutzten. Er war vom Elternhauſe her an gute
Zucht gewöhnt, auch in dieſen Dingen. Der alte Bauer ging den
Seinen mit gutem Beiſpiele voran; er fehlte kaum einen Sonntag
auf ſeinem Platze und verpaßte kein Wort der Predigt. Auch
im Singen ſtand er noch ſeinen Mann; freilich mit einer
Stimme, die durch das Alter etwas krähend geworden. Karl
allerdings, der etwas zur Trägheit neigte, war von einem
Kirchenſchläfchen nicht abzuhalten. Bald nach dem erſten der
drei angekündigten Teile der Predigt, ſah ihn Guſtav bereits
ſanft vor ſich hin nicken.


Nachdem der Gottesdienſt vorüber, ſtand man noch eine
geraume Weile vor der Kirchthür. Der Büttnerbauer ſah
mit Behagen, daß ſein Guſtav der Gegenſtand allgemeiner
Aufmerkſamkeit war. Alte und junge Männer umſtanden den
Unteroffizier. Der Anblick der Uniform erweckte die Erinne¬
rung an die eigene Dienſtzeit, oder auch bei den Älteren, an
die Kriegsjahre. Der Büttnerbauer ſelbſt führte die Denk¬
münzen der beiden letzten Feldzüge. Auch Karl Büttner hatte
ſeine drei Jahre „weggemacht“, aber, bis zur „Charge“ hatte
es bisher noch kein Büttner gebracht.


Guſtav mußte auf viele Fragen Rede und Antwort ſtehen.
Ob er's nicht bald dicke habe, und wann er nach Halbenau zu¬
rückkehre, fragte man ihn. Der junge Mann meinte mit dem
Selbſtbewußtſein, das die Uniform den gewöhnlichen Leuten
giebt, vorläufig gefalle es ihm noch ſo gut bei der Truppe,
daß er nicht daran denke, den Pallaſch mit der Miſtgabel zu
vertauſchen.


Zwei Frauen kamen auf die Männer zu, eine Ältere, im
bunten Kopftuch und eine Jüngere, mit einem ſchwarzen Hut,
auf dem roſa Blumen leuchteten. Guſtav hatte den Hut ſchon
von der Empore aus wiedererkannt. Vor Jahren, als er noch
mit Pauline Katſchner gut war, hatte er ihr den Hut in
der Garniſon gekauft und, als er auf Urlaub nach Hauſe ging,
[6] mitgebracht. — Die ältere Frau war die Witwe Katſchner,
Paulinens Mutter.


„Gutentag och, Guſtav!“ ſagte Frau Katſchner. „Guten¬
tag!“ erwiederte er ſtirnrunzelnd, ohne ihr die Hand zu geben.
Das Mädchen hatte den Kopf geſenkt und blickte errötend auf
ihr Geſangbuch. „No, biſt De och wiedermal in Halbenau,
Guſtav!“ meinte die Witwe und lachte dabei, um ihre Ver¬
legenheit zu verbergen. „Ja!“ ſagte Guſtav kühl, und fragte
einen der jungen Männer irgend etwas Gleichgültiges.


Die Frauen zögerten noch eine Weile, wohl eine Anrede
von ihm erwartend. Dann zog das Mädchen, dem das Weinen
nahe ſchien, die Mutter am Rocke, „Kumm ack Mutter, mir
wollen gihn!“ — Darauf entfernten ſich die beiden Frauen.


„Die kennſt Du wohl garnich mehr Guſtav?“ fragte einer
der jungen Leute mit ſpöttiſchem Lächeln den Unteroffizier.
Der zuckte die Achſeln, wiegte ſich in den Hüften, und gab ſich
Mühe, ſo gleichgültig auszuſehen, wie nur möglich.


Nun ſetzte man ſich langſam in Bewegung, ein Trupp
von zehn, zwölf jungen Männern, meiſt Schulkameraden
Guſtavs. Im Kretſcham wurde ein Stehbier getrunken, und
die Cigarren in Brand geſetzt. Dann gings wieder auf die
Dorfſtraße hinaus. Einer nach dem anderen ſuchte nun ſein
Haus auf, denn die Mittagsſtunde war herangekommen. Abends
wollte man ſich auf dem Tanzboden wieder treffen.


Das Büttnerſche Bauerngut lag am oberſten Ende des
Dorfes. Der Bauer und Karl waren bereits vorausgegangen.
Guſtav wollte in einen Feldweg einbiegen, der ihn in kürzeſter
Friſt nach Haus geführt hätte, da hörte er ſeinen Namen
rufen.


Er wandte ſich. Katſchners Pauline war nur wenige
Schritte hinter ihm. Sie keuchte, beinahe atemlos vom ſchnellen
Laufen.


Er nahm eine finſtere Miene an, und fragte in barſchem
Tone, was ſie von ihm wolle. „Guſtav!“ rief ſie, und ſtreckte
ihm die Hand entgegen. „Bis doch nicht ſo! Du thuſt ja ge¬
rade, als kennt'ſt De mich am Ende garnich.“

[7]

„Ich hab' keine Zeit!“ ſagte er, wandte ſich und wollte
an ihr vorbei.


Aber, ſie vertrat ihm den Weg. „Ne Guſtav! Aber,
Guſtav, bis doch nicht ſo mit mir!“ Sie ſtand da mit fliegendem
Buſen und ſah ihm voll in die Augen. Er hielt ihren Blick
nicht aus, mußte wegſehen.


Sie griff nach ſeiner Hand und meinte: „Ene Hand
hätt'ſt De mir immer geben kennen, Guſtav!“


Das ſei gar keine Manier, ihm ſo nachzulaufen und ihn
am hellen lichten Tage anzureden, ſagte er, und ſie ſolle ſich
wegſcheren. Er gab ſich alle Mühe, entrüſtet zu erſcheinen.


Pauline ſchien keine Furcht vor ihm zu haben. Sie ſtand
dicht vor ihm. Eine Bewegung ſeines Armes hätte genügt,
ſie bei Seite zu ſchieben. Aber, er hob die Hand nicht.


„Iber Iohr und Tog is es nu ſchon, Guſtav, daß mer
uns niche geſehn haben! Und geontwortet haſt Du och nich,
ſuviel ich Dir och geſchrieben habe. Du thuſt doch gerade,
als wär'ch a ſchlechtes Madel, Guſtav!“ — die Augen ſtanden
ihr auf einmal ganz voll Thränen.


Heulen! das hatte grade noch gefehlt! Weiberthränen
waren für ihn etwas Entſetzliches. Er war ja ſowieſo ſchon
halb gewonnen durch ihren bloßen Anblick, durch den ver¬
trauten Klang ihrer Stimme. Was für Erinnerungen rief
ihm dieſes Geſicht zurück! Er hatte ſo glücklich mit ihr
gelebt, wie noch mit keiner anderen. Sie war doch ſeine
Erſte geweſen. Es lag in dem Gefühle ſo etwas ganz Be¬
ſonderes, ſo etwas wie Heimweh, wie Dankbarkeit für ihre
Güte gegen ihn.— Daß ſie jetzt weinte, war ſchlimm! Er
kam ſich ſchlecht vor und grauſam. Das verdroß ihn. Nun
würde er das Mädel ſchwer wieder los werden, fürchtete er.


Sie wiſchte ſich die Thränen mit einer Ecke ihrer ſchwarzen
Schürze ab, und fragte: „Was haſt De denn egentlich gegen
mich Guſtav? Sag merſch nur a enzigſtes mal, was De haſt,
daß De ſo biſt! —“


Er kaute an ſeinem Schnurrbarte mit verdüſterter
Miene. Es wäre ein leichtes geweſen, ihr auf den Kopf zu¬
[8] zuſagen, ſie habe es inzwiſchen mit einem anderen getrieben.
Aber, in dieſem Augenblick, unter den Blicken ihrer treuen
Augen, fühlte er mit einemmale, auf wie ſchwachen Füßen
dieſer Verdacht eigentlich ſtehe. Er hatte ja die ganze Geſchichte,
die ihm von anderen hinterbracht worden war, nie recht ge¬
glaubt. Das war ja nur ein willkommener Vorwand für ihn
geweſen, auf gute Art von ihr los zu kommen.


Als ſie nun jetzt ſo vor ihm ſtand, einen Kopf kleiner
als er, friſch und geſund, wie ein Apfel, mit ihren guten
großen Augen, und den leuchtenden Zähnchen, da befand er
ſich wieder ganz unter ihrem Banne.


„Ich habe mich ſu ärgern miſſen über Dich!“ ſagte ſie
leiſe, und ſchluchzte auf einmal auf. Die Thränen ſaßen ſehr
locker bei ihr. Zwiſchen dem Weinen durch konnte ſie ſo lieb
und ſchmeichelnd dreinblicken, wie eine zahme Taube. Niemand
hatte dem Mädchen dieſe Künſte gelehrt, aber, die raffinierteſte
Kokette hatte keine wirkſameren Mittel, das Herz eines Mannes
zu beſtricken, als dieſes ſchlichte Naturkind.


Plötzlich ſenkte ſie den Kopf, errötend und noch leiſer als
vorher, meinte ſie: „Willſt De Dir nich Deinen Jungen an¬
ſehn, Guſtav? Er is nu bald een Jahr!“ —


Der junge Mann ſtand unſchlüſſig, im Innerſten beſtürzt.
Er fühlte ſehr deutlich, daß dieſer Augenblick für ihn die Ent¬
ſcheidung bedeute. Wenn er ihr jetzt den Willen that, mit ihr
ging und ſich den Jungen anſah, dann bekannte er ſich zur
Vaterſchaft. Bisher hatte er das Kind nicht als das ſeine
anerkannt, ſich hinter der Ausflucht verſchanzend, daß man ja
gar nicht wiſſen könne, von wem es ſei.


Pauline hatte den Kopf wieder aufgerichtet und bat ihn
mit den Augen. Dann mit ihrer weichen Mädchenſtimme: „Ich
ha' dem Jungen nu ſchun ſu viel vun Dir vorderzahlt. Er
kann noch ne raden. Aber „Papa!“ das kann er duch
ſchun ſagen. — Komm ack, Guſtav, ſieh der'n wen'gſtens a
mal an! —


Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn nach der Rich¬
tung, wohin ſie ihn haben wollte. „Komm ack, Guſtav,
[9] komm ack mitte!“ ſo ermunterte ſie den immer noch Zau¬
dernden.


Er folgte ihr ſchließlich. Dabei ärgerte er ſich über ſich
ſelbſt, daß er ſo nachgiebig war. Er verſtand ſich darin ſelbſt
nicht. Es gab in der ganzen Unteroffiziersabteilung keinen
ſchneidigeren Reiter als ihn. „Remonte dreſſieren“ das war
ſeine Luſt. Und dabei konnte er ſo weich ſein, daß ihn der
Wachtmeiſter ſchon mal einen „naſſen Waſchlappen“ genannt
hatte. Das war damals geweſen, als ſeine Charge die
„Kaſtanie“ den Spat bekommen und zum Roßſchlächter ge¬
mußt. Da hatte er geweint wie ein kleines Kind.


Pauline ſchien ſich darauf zu verſtehen, ihm beizu¬
kommen. Sie konnte, wenn ſie wollte, ſowas recht „Be¬
thuliches“ haben. Sie that, als habe es niemals eine Ab¬
kühlung zwiſchen ihnen gegeben. Kein weiteres Wort des
Vorwurfes kam über ihre Lippen. Um keinen Preis wollte
ſie ihn in ſchlechte Laune verſetzen. Ihr Beſtreben war, ihn
gar nicht erſt zur Beſinnung kommen zu laſſen. Sie erzählte
von der Mutter, von ihrem Jungen, allerhand Luſtiges und
Gutes, brachte ihn ſo mit kleinen Liſten, deren ſie ſich kaum
bewußt wurde, bis vor ihre Thür.


Pauline wohnte mit ihrer Mutter, der Witfrau Katſchner,
in einer ſtrohgedeckten Fachwerkhütte, einem der kleinſten und
unanſehnlichſten Anweſen des Ortes. Es war nur eine Garten¬
nahrung, nicht genug zum Leben und zuviel zum Sterben.
Die beiden Frauen verdienten ſich etwas durch Handweberei.
Früher war Pauline zur Arbeit auf das Rittergut gegangen,
aber in letzter Zeit hatte ſie das aufgegeben.


Pauline hatte ihr eigenes Stübchen nach hinten hinaus.
In Guſtav rief hier jeder Schritt, den er that, Erinne¬
rungen wach. Durch dieſes niedere Thürchen, das er nur
gebückt durchſchreiten konnte, war er getreten, als ſie ihn in
einer warmen Julinacht zum erſtenmale in ihre Kammer ein¬
gelaſſen. Und wie oft war er ſeitdem hier aus und ein gegangen!
Zu Tag- und Nachtzeiten, ehe er zu den Soldaten ging und
auch nachher, wenn er auf Urlaub daheim geweſen war.


[10]

In dem kleinen Raume hatte ſich wenig verändert, während
des letzten Jahres. Sauberkeit und peinlichſte Ordnung herrſchten
hier. Er kannte genau den Platz eines jeden Stückes. Dort
ſtand ihr Bett, da das Spind, daneben die Lade. Der Spiegel
mit dem Sprung in der Ecke unten links, über den eine Neu¬
jahrskarte geſteckt war, hing auch an ſeinem alten Platze.


Unwillkürlich ſuchte Guſtavs Blick das Zimmer ſpürend
ab. Aber er fand nicht, was er ſuchte. Pauline folgte
ſeinen Augen und lächelte. Sie wußte ſchon, wonach er ſich
umſah. —


Sie ging auf das Bett zu und drückte die bauſchigen
Kiſſen etwas nieder. Ganz am oberen Ende, tief verſenkt in
den Betten, lag etwas Rundliches, Dunkles.


Sie gab ihm ein Zeichen mit den Augen, daß er heran¬
treten ſolle. Er begriff, daß der Junge ſchlafe und bemühte
ſich infolgedeſſen leiſe aufzutreten, den Pallaſch ſorgſam hoch¬
haltend. „Das is er!“ flüſterte ſie und zupfte glückſelig
lächelnd an dem Kiſſen, auf dem der Kopf des Kleinen lag.


Der junge Mann ſtand mit verlegener Miene vor ſeinem
Jungen. Der Anblick benahm ihn ganz; nicht einmal den
Helm abzuſetzen, hatte er Zeit gefunden. Hinzublicken wagte
er kaum. Das ſollte ſein Sohn ſein! Er hatte ein Kind! —
Der Gedanke hatte etwas eigentümlich Bedrückendes, etwas
Dumpfes und Beengendes legte ſich auf ihn, wie eine große
noch unüberſehbare Verantwortung.


Sie half ihm, nahm ihm zunächſt den Helm ab, rückte
das Kind etwas aus den Betten heraus, daß er es beſſer
ſehen ſolle, führte ſelbſt ſeine große Hand, daß er ſein eigenes
Fleiſch und Blut betaſten möchte. Dann fragte ſie, ſich an
ihn ſchmiegend, wie es ihm gefalle.


Er erwiederte nichts, ſtand immer noch ratlos, beſtürzt
vor ſeinem Sprößling.


Jetzt ging ein Lächeln über die Züge des Kleinen, er
bewegte im Schlafe ein paar Finger des winzigen Händchens.
Nun erſt begriff der Vater, daß es wirklich ein lebendiges
Weſen ſei, was da lag. Der Gedanke rührte ihn auf einmal
[11] in tiefſter Seele. — So ein kleines Ding, mit ſolch winzigen
Gliedmaßen, und das lebte doch und war ein zukünftiger
Menſch, würde ein Mann ſein — ſein Sohn! Pauline und
er hatten es hervorgebracht; aus ſeinem und ihrem Gebein
ſtammte dieſes neue Weſen. Das ewige Wunder des Werdens
trat vor ihn in ſeiner ganzen unheimlichen Größe. —


Guſtav merkte, wie ihm die Thränen in die Augen traten,
es würgte ihn im Halſe, es kitzelte ihn an der Naſe. Er biß
die Zähne feſt aufeinander und ſchluckte die Rührung hin¬
unter; weinen wollte er um keinen Preis.


Pauline eilte derweilen geſchäftig auf und ab im Zimmer.
Sie hatte den ſchwarzen Hut mit den roſa Blumen abgelegt,
die Ärmel ihres Kleides aufgeknöpft und bis an die Ellebogen
zurückgeſchlagen und eine weiße Schürze vorgeſteckt. Ohne Hut
ſah ſie noch hübſcher aus. Ihr blondes Haar, von ſelten ſchöner
Färbung, kam jetzt erſt zur Geltung, ſie trug es nach Art der
Landmädchen, ſchlicht in der Mitte geſcheitelt und hinten zu
einem Neſt von vielen kleinen Flechten verſchlungen. Das
ſchwarze Kleid war ihr Konfirmationskleid. Nur durch Aus¬
laſſen und Anſetzen hatte ſie es zu Wege gebracht, daß es ihre
frauenhaft entwickelte Fülle auch jetzt noch faßte.


Jetzt eilte ſie wieder an das Bett. Sie meinte, der Junge
habe nun genug geſchlafen, er müſſe die Flaſche bekommen.
Sie weckte den Kleinen, indem ſie ihn ſanft aus den Kiſſen
hob und ihn auf die Stirn küßte. Das Kind ſchlug ein Paar
große dunkle Augen auf, ſah ſich verwundert um, und be¬
gann ſofort zu ſchreien. Der Vater, der an ſolche Töne noch
nicht gewöhnt war, machte ein ziemlich verdutztes Geſicht
hierzu.


Pauline meinte, das ſei nicht ſo ſchlimm, das Kind habe
nur Hunger. Sie nahm eine Blechkanne aus der Röhre. Das
Zimmerchen hatte keinen eigenen Ofen, ſondern nur eine Kachel¬
wand, mit einer Röhre, die vom Nebenzimmer aus erwärmt
wurde. In der Blechkanne befand ſich ein Fläſchchen Milch.
Pauline, auf dem einen Arm das Kind, führte die Flaſche zum
Munde, koſtete ſchnell, ſtülpte einen Gummizulp über den
[12] Flaſchenhals. Dann legte ſie den Kleinen wieder aufs Bett
deſſen Blicke und Hände begierig nach der wohlbekannten
Flaſche ſtrebten. Nun endlich ſteckte ſie dem Schreihals den
Zulp zwiſchen die Lippen. Sofort verſtummte das Gezeter
und machte behaglich glurkſenden Lauten Platz.


Guſtav atmete erleichtert auf. Der ganze Vorgang hatte
etwas Beklemmendes für ihn gehabt. Während Pauline voll
Wonne und Stolz war, konnte er ſich einer gewiſſen Gedrückt¬
heit nicht erwehren. Mit dem Ausdrucke einer Zärtlichkeit, wie
ſie nur eine Mutter hat, beugte ſich das Mädchen über
das kleine Weſen, deſſen ganze Kraft und Aufmerkſamkeit jetzt
auf den Nahrungsquell gerichtet war, und richtete ihm die
Kiſſen.


Erſt nachdem der Kleine völlig glücklich zu ſein ſchien,
kam Guſtav wieder an die Reihe für Pauline. Sie wiſchte
ihm einen Stuhl ab mit ihrer Schürze und bat ihn, ſich zu
ſetzen. Er hatte noch immer kein Wort über den Jungen ge¬
äußert; jetzt nötigte ſie ihn geradezu, ſich auszuſprechen.


Er meinte, das Kind ſehe ja ſoweit ganz geſund und
kräftig aus. Aber das genügte ihrem mütterlichen Stolze nicht.
Sie begann, ihrerſeits das Lob des Jungen zu ſingen, wie
wohlgebildet er ſei und ſtark. Ja, ſie behauptete ſogar, er ſei
ein Wunder an Klugheit, und führte dafür einige ſeiner kleinen
Streiche an. Groß ſei er für ſein Alter, wie kein anderes
Kind, ſchon bei der Geburt ſei er ſolch ein Rieſe geweſen. Und
ſehr viel Not habe er ihr gemacht, beim Kommen, ſetzte ſie
etwas leiſer mit geſenktem Blicke hinzu. Dann erzählte ſie, daß
ſie ihn bis zum ſechſten Monate ſelbſt genährt habe.


Er hörte dieſem Berichte von Dingen, die für ſie von
größter Bedeutung und Wichtigkeit waren, nur mit halbem
Ohre zu. Er hatte ſeine eignen Gedanken bei alledem.
Was ſollte nun eigentlich werden, fragte er ſich. Er hatte
ſich zu dieſem Kinde bekannt. Als anſtändiger Menſch
mußte er nun auch dafür ſorgen. Burſchen, die ein Kind
in die Welt ſetzen, und dann Mädel und Kind im Stiche
ließen, hatte er immer für Lumpe gehalten. Einſtmals hatte
[13] er Paulinen ja auch die Ehe verſprochen. Und wenn er ſie
ſo anſah, wie ſie hier ſchaltete und waltete, ſauber und nett,
geſchickt, ſorgſam und dabei immer freundlich und voll guten
Mutes, da konnte ihm der Gedanke einer Heirat ſchon gefallen.
Daß ſie ein durch und durch braves Mädel ſei, das wußte er ja.


Aber, überhaupt heiraten! Er dachte an das Elend der
meiſten Unteroffiziersehen. Da hätte man ſich ja ſchütteln
mögen bei dem bloßen Gedanken.


Und dann gab es da noch eins: er hätte mit verſchie¬
denen Frauenzimmern in der Garniſon brechen müſſen. —
Das alles machte ihm den Kopf ſchwer. —


Pauline fing jetzt an, von ihren eigenen Angelegenheiten
zu ſprechen, ſie erzählte, wie einſam und traurig der letzte
Winter für ſie geweſen ſei, die Mutter wochenlang bettlägerig,
dazu kein Geld im Hauſe, kein Mann in der Nähe, der ihnen
geholfen hätte. Sie ſelbſt durch die Pflege des Kindes abge¬
halten, viel zu ſchaffen. Und zu alledem habe er nichts mehr
von ſich hören laſſen. Was er denn eigentlich gehabt habe
gegen ſie, verlangte das Mädchen von neuem zu wiſſen. Er
wich der Antwort aus, fragte ſeinerſeits, warum ſie denn gar
nicht mehr aufs Rittergut zur Arbeit gegangen ſei.


Das habe ſeinen guten Grund, erklärte ſie, und ſprach
auf einmal mit gedämpfter Stimme, als fürchte ſie, das
Kind könne etwas verſtehen. Der Eleve dort, habe ſich Unan¬
ſtändigkeiten gegen ſie erlaubt, deshalb ſei ſie lieber aus der
Arbeit fortgeblieben, obgleich ſie den Verdienſt ſchwer ver¬
mißt hätte.


Guſtav horchte auf. Das war ja gerade die Geſchichte,
über die er gern etwas Genaueres erfahren hätte. Mit dieſen Ele¬
ven nämlich hatte man ihm das Mädchen verdächtigt. Er forſchte
weiter: Was hatte ſie mit dem Menſchen gehabt, wie weit war
er gegangen?


Pauline zeigte ſich im Innerſten erregt, als dieſe Dinge
zur Sprache kamen. Sie ſprach in den ſchärfſten Ausdrücken
über den jungen Herrn, der ſeine Stellung ausgenutzt hatte, ihr
in zudringlicher Weiſe Anträge zu machen. Mehr noch als
[14] ihre Worte, ſagten es ihm ihre Mienen, und die ganze Art,
in der ſie ſich äußerte, daß ſie ihm treu geblieben ſei.


Guſtav ließ ihr ſeine Befriedigung durchblicken, daß nichts
an dem Gerede ſei. Nun erfuhr ſie erſt, daß er darum gewußt
habe. Deshalb alſo hatte er mit ihr gegrollt! Wer hatte ſie
denn nur ihm gegenüber ſo angeſchwärzt?


Er ſagte ihr nur, daß er's gehört hätte von „den Leuten“.
Daß die Verdächtigung aus ſeiner eigenen Familie gekommen,
welche ſein Verhältnis mit Pauline niemals gern geſehen
hatte, verſchwieg er.


Pauline nahm die Sache ernſt. Daß er ſie in ſolch einem
Verdachte gehabt und noch dazu ſo lange und ohne ihr ein
Wort davon zu ſagen, daß kränkte ſie. Das Mädchen wurde
auf einmal ganz ſtill. Sie empfand die Ungerechtigkeit und
Erniedrigung, die in ſeiner Auffaſſung lag, wie Frauen ſolche
Dinge empfinden, jäh und leidenſchaftlich. Sie machte ſich im
Hintergründe des Zimmers zu ſchaffen, ohne ihn anzuſehen.


Ihm war nicht wohl dabei zu Mute. Er wußte zu gut,
wieviel er ſich ihr gegenüber vorzuwerfen hatte. — Er blickte
verlegen auf ſeine Stiefelſpitzen.


Es entſtand eine Pauſe, während der man nur die leich¬
ten Atemzüge des Kindes, das inzwiſchen mit ſeiner Flaſche
fertig geworden war, vernahm.


Plötzlich ging Pauline nach dem Bette. Sie nahm den
Kleinen aus den Kiſſen. „Du haſt den Jungen noch gar
niche uf'n Arm gehat, Guſtav!“ ſagte ſie, unter Thränen
lächelnd, und hielt ihm den Kleinen hin.


Er nahm das Kind in Empfang, wie man ein Paket
nimmt. Der Junge blickte mit dem ſtarren leeren Blicke der
kleinen Kinder auf die blanken Treſſen am Halſe des Vaters.


„Getoft is er och ſchon,“ ſagte Pauline. „Ich ha derſch
ja damals geſchrieben, aber Du haſt niſcht geſchickt dazu. Der
Paſter war erſcht böſe und hat tichtig gebiſſen uf mich, daß
mer ſowas paſſiert wor.“


Guſtav war inzwiſchen ins Reine mit ſich gekommen, daß
er Kind und Mutter anerkennen wolle.


[15]

Der Junge ſtreckte die kleine Hand nach dem Schnurrbart
des Vaters, Pauline wehrte dem Händchen ſanft. „Se ſprechen
alle, daß er Dir ſu ähnlich [ſähe], Guſtav! Wie aus'n Geſichte
geſchnitten, ſprechen de Leite.“ —


Der junge Vater lächelte zum erſtenmale ſein Ebenbild
an. Pauline hatte ſich bei ihm eingehängt, ihre Blicke gingen
liebend von Guſtav zu dem Kleinen. Der Bengel hatte end¬
lich den Schnurrbart des Vaters erwiſcht und ſtieß einen
ſchrillen Freudenſchrei aus.


So gewährten ſie das Bild einer glücklichen Familie.

[[16]]

II.

Guſtav Büttner kam heute viel zu ſpät nach Haus zum
Mittagbrot. Die Familie hatte bereits vor einer Weile ab¬
gegeſſen. Der alte Bauer ſaß in Hemdsärmeln in ſeiner Ecke
und ſchlummerte. Karl hielt die Tabakspfeife, die er eigentlich
nur während des Eſſens ausgehen ließ, ſchon wieder im Munde.
Die Frauen waren mit Abräumen und Reinigen des Geſchirrs
beſchäftigt.


Die Bäuerin ſprach ihre Verwunderung darüber aus,
daß Guſtav ſo lange ausgeblieben. In der Schenke ſitzen am
Sonntag Vormittag, das ſei doch ſonſt nicht ſeine Art ge¬
weſen. — Guſtav ließ den Vorwurf ruhig auf ſich ſitzen. Er
wußte wohl warum; ſeine Leute brauchten gar nicht zu erfahren,
was ſich inzwiſchen begeben hatte.


Schweigend nahm er auf der Holzbank, am großen vier¬
eckigen Familientiſche Platz. Dann heftelte er ſeinen Waffen¬
rock auf, wie um ſich Platz zu machen für das Eſſen. Die
Mutter brachte ihm das Aufgewärmte aus der Röhre.


Die Büttnerbäuerin war eine wohlhäbige Fünfzigerin.
Ihr Geſicht mochte einſtmals recht hübſch geweſen ſein, jetzt
war es entſtellt durch Unterkinn und Zahnlücken. Sie ſah
freundlich und gutmütig aus. Guſtav ſah ihr von den Kindern
am ähnlichſten. In ihren Bewegungen war ſie nicht beſonders
flink, eher ſteif und ſchwerfällig. Der ſchlimmſte Feind der
Landleute, das Reißen, ſuchte ſie oftmals heim.


[17]

Eine der Töchter wollte ihr behülflich ſein, aber ſie ließ
es ſich nicht nehmen, den Sohn ſelbſt zu bedienen. Der
Unteroffizier war ihr Lieblingskind. Sie ſetzte die Schüſſel,
die noch verdeckt war, vor Guſtav hin und ſtützte die Hände
auf die Hüften. „Nu paß aber mal uf Guſt!“ rief ſie, und
ſah ihm ſchmunzelnd zu, wie er den ſchützenden Teller abhob.
Es war Schweinefleiſch mit Speckklößen und Birnen im Grunde
des Topfes zu erblicken. „Gelt, Dei Leibfraſſen Guſt!“ ſagte
ſie und lachte den Sohn an. Sie ließ die Blicke nicht von
ihm, während er zulangte und einhieb. Jeden Biſſen ſchien
die liebevolle Mutter für ihn mitzuſchmecken. Geſprochen
wurde nichts. Man hörte das Klappern des Blechlöffels gegen
die irdene Schüſſel; denn der Unteroffizier erſparte ſich den
Teller. — In der Ecke ſchnarchte der alte Bauer, ſein Älteſter
war auf dem beſten Wege ihm nachzufolgen, trotz der Pfeife. Am
Ofen, der eine ganze Ecke des Zimmers einnahm, mit ſeiner Hölle
und der breiten Bank, hantierten die jüngeren Frauen an dem
dampfenden Aufwaſchfaß mit Tellern, Schüſſeln und Tüchern.


Der Büttnerbauer beſaß zwei Töchter. Die dritte Frauens¬
perſon war Karls, des älteſten Sohnes, Frau.


Die Büttnerſchen Töchter zeigten ſich ſehr verſchieden in
der Erſcheinung. Man würde ſie kaum für Schweſtern an¬
geſprochen haben. Toni, die Ältere war ein mittelgroßes
ſtarkes Frauenzimmer, mit breitem Rücken. Das runde Geſicht,
mit roten Lippen und Wangen, erſchien wohl hauptſächlich
durch ſeine Geſundheit und Friſche hübſch. Sie ſtellte mit
ihrem drallen Buſen und kräftigen Gliedmaßen das Urbild
einer Bauernſchönheit dar.


Erneſtine, die jüngere Schweſter, war erſt vor kurzem
konfirmiert worden. Sie ſtand noch kaum im Anfange weib¬
licher Entwickelung. Sie war ſchlank gewachſen und ihre
Glieder zeigten eine bei der ländlichen Bevölkerung ſeltene Fein¬
heit. Dabei war ſie ſehnig und keineswegs kraftlos. Ihren
geſchmeidigen, flinken Bewegungen nach zu ſchließen mußte ſie
äußerſt geſchickt ſein. Die Arbeit flog ihr weit ſchneller von
der Hand, als der älteren Schweſter.


W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 2[18]

Der Schlummer des Vaters wurde reſpektiert; man ver¬
mied das allzulaute Klappern mit dem Geſchirr. Am wenigſten
beſorgt um den Schlaf des Alten ſchien Thereſe, die Schwieger¬
tochter, zu ſein. Sie ſprach mit tiefer, rauher, etwas gurgelnder
Stimme, wie ſie Leuten eigen iſt, die Kropfanſatz haben.
Thereſe war eine große, hagere Perſon, mit langer ſpitzer Naſe,
ziemlich blaß, aber von knochig derbem Wuchſe, mit ſtarkem
Halſe.


Sie ging jetzt daran, die abgewaſchenen Teller in das
Tellerbrett zu ſtellen. Als ſie an ihrem Gatten vorbeikam,
dem der Kopf bereits tief auf die Bruſt herabgeſunken war,
während ihm die Tabakspfeife zwiſchen den Schenkeln lag, ſtieß
ſie ihn unſanft an. „Ihr Mannſen braucht o ne en halben
Tog zu verſchlofa; weil mir Weibſen uns abrackern miſſen.
Das wär' ane verkehrte Welt. Wach uf, Karle! —“


Karl fuhr auf, ſah ſich verdutzt um, nahm ſeine Pfeife
auf, die er langſam wieder in Brand ſetzte, und blinzelte bald
wieder von neuem mit den Augenlidern. Seine Ehehälfte ging
inzwiſchen brummend und murrend auf und ab.


Thereſens Wut wurde gar nicht durch die Schlafſucht des
Gatten erregt worden an die ſie ſchon gewohnt war. Vielmehr
ärgerte ſie ſich darüber, daß Guſtav von der Bäuerin mit den
beſten Biſſen bewirtet wurde. Sie war ihrem Schwager überhaupt
nicht grün. Der jüngere Sohn werde dem älteren gegenüber
von den Alten bevorzugt, fand ſie. Sie fühlte wohl auch, daß
Guſtav ihrem Gatten in vielen Stücken überlegen ſei, und das
mochte ihre Eiferſucht erregen. Ganz erbotzt flüſterte ſie den
Schwägerinnen zu — ſoweit bei ihr von einem Flüſtern die
Rede ſein konnte — „de Mutter ſtackt's Guſtaven wieder zu,
vurna und hinta!“


Endlich war Guſtav fertig mit Eſſen. Zur Freude ſeiner
Mutter hatte er reine Wirtſchaft gemacht. Sich ſtreckend und
gähnend, meinte er, daß es in der Kaſerne ſo was freilich
nicht gäbe.


Inzwiſchen war der alte Bauer erwacht. „War Guſtav
doe?“ fragte er, ſich mit leeren Augen umſehend. Als er ge¬
[19] hört hatte, daß Guſtav bereits abgegeſſen habe, ſtand er auf
und erklärte, mit ihm hinausgehen zu wollen, auf die Felder.


Der junge Mann war gern bereit dazu. Er wußte ſo¬
wieſo nicht, wie er den langen Sonntagnachmittag verbringen
ſolle.


Karl ging mit Vater und Bruder aus dem Zimmer, ſchein¬
bar, um mit aufs Feld zu gehen. Aber, er verſchwand bald. Er
hatte nur die Gelegenheit benutzt, herauszukommen, um auf dem
Heuboden, ungeſtört von ſeiner Frau, weiter ſchlafen zu können.


Der Bauernhof beſtand aus drei Gebäuden, die ein nach
der Südſeite zu offenes Viereck bildeten. Das Wohnhaus, ein
geräumiger Lehmfachwerkbau, mit eingebauter Holzſtube, ehe¬
mals mit Stroh gedeckt, war von dem jetzigen Beſitzer mit
Ziegeldach verſehen worden. Mit dem ſchwarz geſtrichenen
Gebälk und den weiß abgeputzten Lehmvierecken zwiſchen den
Balken, den unter erhabenen Bogen, wie menſchliche Augen,
verſteckten Dachfenſtern, blickte es ſauber, freundlich, altmodiſch
und gediegen drein. Die Winterverpackung aus Moos, Laub
und Waldſtreu war noch nicht entfernt worden. Das Haus war
wohl verſorgt, die Leute, die hier wohnten, das ſah man, liebten
und ſchützten ihren Herd.


Unter einem langen und hohen Dache waren Schuppen,
Banſe und zwei Tennen untergebracht. Ein drittes Gebäude
enthielt Pferde-, Kuh- und Schweineſtälle. Scheune wie Stall
wieſen noch die althergebrachte Strohbedachung auf.


Die Gebäude waren alt, aber gut erhalten. Man ſah,
daß hier Generationen von tüchtigen und fleißigen Wirten ge¬
hauſt hatten. Jeder Ritz war zugemacht, jedes Loch bei Zeiten
verſtopft worden.


In der Mitte des Hofes lag die Düngerſtätte, mit der
Jauchenpumpe daneben. Am Scheunengiebel war ein Tauben¬
haus eingebaut, welches eine Art von Schlößchen darſtellte; die
Thüren und Fenſter des Gebäudes bildeten die Ein- und Aus¬
fluglöcher für die Tauben. Ein Kranz von ſcharfen, eiſernen
Stacheln wehrte dem Raubgetier den Zugang. In dem offenen
Schuppen ſah man Brettwagen, Leiterwagen und andere Fuhr¬
2*[20] werke ſtehen, die Deichſeln nach dem Hofe gerichtet. Unter
dem vorſpringenden Scheundach waren die Leitern untergebracht.
Im Holzſtall lag geſpaltenes Holz für die Küche, Reiſig zum
Anfeuern, und Scheitholz. Das Kalkloch, der Sandhaufen und
der Stein zum Dengeln der Senſen, fehlten nicht.


Der Sinn für das Nützliche und Notwendige herrſchte
hier, wie in jedem rechten Bauernhofe, vor. Aber auch der Ge¬
mütlichkeit und dem Behagen war Rechnung getragen. Ein
ſchmales Gärtchen von einem Holzſtacket eingehegt, lief um die
Süd- und Morgenſeite des Wohnhauſes. Hier zog die Bäuerin
neben Gemüſen und nützlichen Kräutern, verſchiedene Blumen¬
ſorten, vor allem ſolche, die ſich durch ſtarken Geruch und auf¬
fällige Farben auszeichnen. Und um die Pracht voll zu
machen, hatte man auf bunten Stäben leuchtende Glaskugeln
angebracht. In der Ecke des Gärtchens ſtand eine aus Brettern
zuſammengeſtellte Holzlaube, die ſich im Sommer mit bunt
blühenden Bohnenranken bezog. Im Grasgarten ſtanden Obſt¬
bäume, von denen einzelne ihrem Umfange nach zu ſchließen,
an hundert Jahr alt ſein mochten.


Die Thür des Wohnhauſes war beſonders ſchön hergeſtellt.
Drei glatt behauene ſteinerne Stufen führten hinauf. Die
Pfoſten und der Träger waren ebenfalls von Granit. Auf
einer Platte, die über der Thür angebracht war, ſtand folgen¬
der Spruch eingegraben:


„Wir bauen alle feſte,

„und ſind doch fremde Gäſte,

„und wo wir ſollen ewig ſein,

„da bauen wir gar wenig ein!“

Guſtav und der Bauer ſchritten vom Hauſe, ohne daß
einer dem anderen ein Wort geſagt, oder einen Wink gegeben
hätte, geraden Weges nach dem Pferdeſtalle; denn hier war
der Gegenſtand des allgemeinen Intereſſes untergebracht: eine
zweijährige braune Stute, die der Bauer vor kurzem gekauft
hatte. Zum dritten oder vierten Male ſchon beſuchte der Unter¬
offizier, der erſt am Abend vorher in der Heimat eingetroffen
[21] war, das neue Pferd. Er hatte ſich die Stute auch ſchon ins
Freie hinausführen laſſen, um ihre Gänge zu beobachten; aber
ein Urteil über das Pferd hatte er noch immer nicht abgegeben,
obgleich er ganz genau wußte, daß der Alte darauf wartete.
Guſtav ſagte auch jetzt noch nichts, obgleich er prüfend mit
der Hand über die Sehnen und Flechſen aller vier Beine ge¬
fahren war.


Die Büttners waren darin eigentümliche Käuze. Nichts
wurde ihnen ſchwerer, als ſich gegen ihresgleichen offen auszu¬
ſprechen. Oft wurden ſo die wichtigſten Dinge wochenlang
ſchweigend herumgetragen. Jeder empfand das als eine Laſt,
aber der Mund blieb verſiegelt; bis endlich die eherne Not¬
wendigkeit, oder irgend ein Zufall, die Zungen löſte. — Es
war faſt, als ſchämten ſich die Familienmitglieder unter ein¬
ander Dinge zu beſprechen, die ſie jedem Fremden gegenüber
offener und leichteren Herzens geäußert haben würden. Viel¬
leicht, weil jedes die innerſten Regungen und Stimmungen des
Blutsverwandten zu genau kannte, und ſeine eigenen Gefühle
wiederum von ihm gekannt wußte.


Vater und Sohn traten, nachdem man das Pferd genügend
geklopft und geſtreichelt und ihm die Streu friſch aufgeſchüttelt
hatte, wieder auf den Hof hinaus. Hier verweilte ſich Guſtav
nicht erſt lange. Es hatte ſich in der Wirtſchaft ſonſt nichts
weiter verändert, ſeit er das letzte Mal auf Urlaub geweſen
war. Die neu aufgeſtellten Ferkel und die angebundenen Kälber
hatte er ſchon vor der Kirche mit der Bäuerin beſehen. Man
ſchritt nunmehr unverweilt zum Hofe hinaus.


Das Gut beſtand aus einem langen ſchmalen Streifen,
der vom Dorfe nach dem Walde hinauslief. Am unteren Ende
lag das Gehöft. Im Walde, der zu dem Bauerngute gehörte,
entſprang ein Wäſſerchen, das mit ziemlich ſtarkem Gefälle zum
Dorfbach hinabeilte. An dieſem Bächlein lagen die Wieſen
des Büttnerſchen Grundſtückes. Zwiſchen den Feldern zog ſich
der breite Wirtſchaftsweg des Bauerngutes, mit alten, tief ein¬
gefahrenen Gleiſen, holperig und an vielen Stellen von Raſen
überwachſen, vom Gehöft nach dem Walde hinauf.


[22]

Vater und Sohn gingen langſam, jeder auf einer Seite
des Weges, für ſich. Heute konnte man ſich Zeit nehmen,
heute gab es keine Arbeit. Geſprochen wurde nichts, weil
einer vom andern erwartete, daß er zuerſt etwas ſagen ſolle.
Bei den einzelnen Schlägen blieb der alte Bauer ſtehen und
blickte den Sohn von der Seite an, das Urteil des jungen
Mannes herausfordend.


Guſtav war nicht etwa gleichgültig gegen das, was er ſah.
Er war auf dem Lande geboren und aufgewachſen. Er liebte
den väterlichen Beſitz, von dem er jeden Fußbreit kannte.
Der Bauer hatte die Hilfe des jüngeren Sohnes in der Wirt¬
ſchaft all die Zeit über, wo Guſtav bei der Truppe war, aufs
empfindlichſte vermißt.


Karl, der eigentliche Anerbe des Gutes und Hofes, war
nicht halb ſoviel wert, als Arbeiter und Landwirt, wie der
jüngere Sohn.


Sie hatten bereits mehrere Stücke betrachtet, da blieb der
Bauer vor einem Kleeſchlage ſtehen. Er wies auf das Stück,
das mit dichtem, dunkelgrünem Rotklee beſtanden war.


„Sicken Klee hat's weit und breit kenen. — Haa! — In
Halbenau hoat noch kee Bauer ſu an Klee gebrocht. Und der
hoat in Haber geſtanda. — Haa! — Do kann ſich in April
ſchun der Hoaſe drine verſtacken, in dan Klee!“ —


Er ſtand da, breitbeinig, die Hände auf dem Rücken, und
ſein altes, ehrliches, rotes Bauerngeſicht ſtrahlte vor Stolz.
Der Sohn that ihm den Gefallen, zu erklären, daß er beſſeren
Klee zu Oſtern auch noch nicht geſehen habe.


Nachdem man ſich genügſam an dieſer Pracht geweidet,
gings langſam auf dem Wirtſchaftswege weiter. Nun war das
Schweigen einmal gebrochen, und Guſtav fing an zu erzählen.
Im Manöver und bei Felddienſtübungen war er viel herum¬
gekommen im Lande. Er hatte die Augen offen gehalten und
ſich gut gemerkt, was er anderwärts geſehen, und kennen ge¬
lernt von neuen Dingen. Der alte Bauer bekam von aller¬
hand zweckmäßigen Maſchinen und Einrichtungen zu hören,
die ihm der Sohn zu beſchreiben verſuchte. „Bei Leiba, bei
[23] Leiba!“ rief er, ein über das andere Mal, erſtaunt aus. Die
Berichte des Sohnes klangen ihm geradezu unglaublich. Be¬
ſonders, daß es jetzt eine Maſchine geben ſolle, welche die
Garben bände, das wollte ihm nicht in den Sinn. Sämaſchinen,
Dreſchmaſchinen, das konnte er ja glauben, die hatte er auch
ſchon ſelbſt wohl geſehen, aber eine Maſchine, welche die
Garben raffte und band! „Da mechte am Ende ener och a
Ding erfinden, das de Apern ſtackt, oder de Kihe vun ſelber
melken thut. Ne, das glob'ch ne! — dernoa, wenn's ſuweit
käma, da kennten mir Pauern glei gonz eipacken. Si's ſu
ſchun ſchlimm genuche mit a Pauern beſtellt. Dar Edelmann
ſchind uns, und dar Händler zwickt uns; wenn och noch de
Maſchinen, und ſe wullen alles beſurgen, dernoa ſein mir
Pauern glei ganz hin!“ —


Guſtav lächelte dazu. Er hatte in den letzten Jahren
doch manchem bäuriſche Vorurteil abgeſtreift. Er verſuchte es,
den Vater zu überzeugen, daß das mit den neuen Erfindungen
doch nicht ganz ſo ſchlimm ſei; im Gegenteil, man müſſe der¬
gleichen anwenden und nutzbar zu machen ſuchen. Der Alte
blieb bei ſeiner Rede. Zwar hörte er dem Jungen ganz gern
zu; Guſtavs lebhafte und gewandte Art, ſich auszudrücken, die
er ſich in der Stadt angeeignet, machte ihm, der ſelbſt nie die
Worte ſetzen gelernt hatte, im Stillen Freude und ſchmeichelte
ſeinem väterlichen Stolze, aber von ſeiner urſprünglichen Anſicht
ging er nicht ab. Das war alles nichts für den Bauern.
Solche Neuerungen waren höchſtens dazu erfunden, den Land¬
mann zu verderben. —


Sie waren unter ſolchen Geſprächen an den Wald gelangt.
Hier lief die Flur in eine ſumpfige Wieſe aus, die in un¬
ordentlichen Niederwald überging. Dahinter erhoben ſich
einzelne Kiefern, untermengt mit Wachholderſträuchern, Ginſter
und Brombeergeſtrüpp. Der Boden, durch die jährliche Streu¬
nutzung völlig entwertet, war nicht mehr imſtande, einen ge¬
ſunden Baumwuchs hervorzubringen. Der Büttnerbauer war,
wie die meiſten ſeines Standes, ein ſchlechter Waldheger.


Der alte Mann wollte nunmehr umkehren. Aber Guſtav
[24] verlangte noch das „Büſchelgewände“ zu ſehen, da ſie einmal
ſoweit draußen ſeien. Dieſe Parzelle hatte der Vater des
jetzigen Beſitzers angekauft und dem Gute einverleibt.


Der Bauer zeigte wenig Luſt, den Sohn dieſes Stück
ſehen zu laſſen, und mit gutem Grunde. Das Stück lag
brach, allerhand Unkraut machte ſich darauf breit. Der Bauer
ſchämte ſich deſſen.


„Was habt Ihr denn dort ſtehen heuer?“ fragte Guſtav
völlig arglos.


„Ne viel Geſcheits! Dar Buſch dämmt's Feld zu ſihre,
und a Zeter-Rehe ſan och allendchen druffe; da kann duch
niſcht ne gruß warn.“


Er verſchwieg dabei, daß dieſes Gewände ſeit anderthalb
Jahren nicht Pflug und nicht Egge geſehen hatte.


„Will denn der Graf immer noch unſern Wald kofen?“
fragte Guſtav.


Der Büttnerbauer bekam einen roten Kopf bei dieſer
Frage.


„Ich ſullte an Buuſch verkofen!“ rief er. „Ne, bei meinen
Labzeiten wird ſuwas ne! 's Gutt bleibt zuſommde!“ Die
Zornader war ihm geſchwollen, er ſprach heiſer.


„Ich meente ock, Vater!“ ſagte Guſtav beſchwichtigend.
„Uns nutzt der Buſch doch nich viel.“


Der Büttnerbauer machte Halt und wandte ſich nach dem
Walde zu. „Ich verkofe och nich an Fußbreit von Gutte, ich
ne! Macht Ihr hernachen, wos der wullt, wenn'ch war tud
ſein. Vun mir kriegt dar Graf dan Buuſch ne! Und wenn
er mir nuch ſu vill läßt bietan. Meenen Buuſch kriegt ar
ne!“ Der Alte ballte die Fäuſte, ſpuckte aus und wandte dem
Walde den Rücken zu.


Guſtav ſchwieg wohlweislich. Er hatte den Vater da an
einer wunden Stelle berührt. Der Beſitzer der benachbarten
Herrſchaft hatte dem alten Bauer bereits mehr als einmal
nahe legen laſſen, ihm ſeinen Wald zu verkaufen. Solche
Ankäufe waren in Halbenau und Umgegend nichts Seltenes.
Die Herrſchaft Saland, die größte weit und breit, urſprünglich
[25] nur ein Rittergut, war durch die Regulierung und die Ge¬
meinheitsteilung und ſpäter durch Ankauf von Bauerland zu
ihrer jetzigen Größe angewachſen. Das Büttnerſche Bauerngut
lag bereits von drei Seiten umklammert von herrſchaftlichem
Beſitz. Der Büttnerbauer ſah mit wachſender Beſorgnis dem
immer weiteren Vordringen des mächtigen Nachbars zu. Seine
Ohnmacht hatte allmählich eine grimmige Wut in ihm erzeugt
gegen alles, was mit der Herrſchaft Saland in Zuſammen¬
hang ſtand. Verſchärft war ſeine Gehäſſigkeit noch worden,
ſeit er bei einem Konflikte, den er mit der Herrſchaft wegen
Übertritts des Dammwildes auf ſeine Felder gehabt, in der
Wildſchadenerſatzklage abſchlägig beſchieden worden war.


Man ſchritt den Wieſenpfad hinab, am Bache entlang.
Von rechts und links, von den höher gelegenen Feldſtücken,
drückte das Waſſer nach der Bachmulde zu. Das dunkle,
allzu üppige Grün verriet die Feuchtigkeit einzelner Flecken.
Es gab Stellen, wo der Boden unter dem Tritt des Fußes
erzitterte und nachzugeben ſchien. Der ganze Wieſengrund
war verſumpft.


Guſtav meinte, daß hier Drainage angezeigt ſei.


„Wu ſullt ak daderzut 's Geld rauskumma, un de Zeit!“
rief der Büttnerbauer. „Mir warn a ſu och ſchunſten ne
fertg! Unſerens kann'ch mit ſu was duch ne abgahn. Drainir¬
chen, das is ganz ſcheen und ganz gutt for an Ritterguts¬
beſitzer, oder anen Ökonomen; aber a Pauer . . . .“


Er vollendete ſeine Rede nicht, verfiel in Nachdenken.
Die ganze Zeit über hatte er etwas auf dem Herzen, dem
Sohne gegenüber, aber er ſcheute das unumwundene Geſtändnis.


„Es mechten eben a poar Fauſten mehr ſein, für's Gutt!“
ſagte er ſchließlich. „Mir ſein zu wing Mannſen, Karle und
ich, mir zwee alleene. Die Weibſen thäten ſchun zulanga; aber
dos federt ne ſu: Weiberarbeit. Mir zwee, Karle und ich,
mir wern de Arbeit ne Herre. A dritter mechte hier ſein!“ —


Guſtav wußte nun ſchon, worauf der Alte hinaus wollte.
Es war die alte Geſchichte. Daß er dem Vater fehle bei der
Arbeit, wollte er ſchon glauben. Denn Karl war ja doch nicht
[26] zu vergleichen mit ihm, in keiner Weiſe, das wußte der ſelbſt¬
bewußte junge Mann recht gut. — Der Vater klagte ja nicht
zum erſtenmale, daß die Wirtſchaft zurückgehe, ſeit Guſtav
bei der Truppe ſei. Aber, das konnte nichts helfen, Guſtav
war nicht geſonnen, die Treſſen aufzugeben für die Stellung
eines Knechtes auf dem väterlichen Hofe. Ja, wenn's noch für
eigene Rechnung geweſen wäre! Aber für die Familie ſich ab¬
ſchinden, für Eltern, Bruder und Schweſtern. Für ihn ſelbſt
ſprang ja dabei gar nichts heraus. Das Gut erbte ja einſt¬
mals nicht er, ſondern Karl. —


Er erwiederte daher auf die Klage des Vaters in kühlem
Tone: „Nehmt Euch doch einen Knecht an, Vater!“


Der Alte blieb ſtehen und rief mit heftigen Armbewegungen:
„An Knacht! Ich ſull mer an Knacht onnahma? Ich mecht
ock wiſſen, wu dar rauswachſen ſillte. Achzig Tholer kriegt a
ſu a Knacht jetzt im Juhre, und's Fraſſen obendrein. Und do
mechte och noch a Weihnachten ſen, und a Ernteſcheffel. Mir
hon a ſu ſchun zu vills Mäuler zu ſtopfa, hon mir! Wuſu
kann ich denne, und ich kennte mer an Knacht halen! — Ne,
hier mechte ener har, dar zur Familie geherte, dan wer keenen
Lohn ne brauchten zahla. So ener mechte hier ſen!“


Der Unteroffizier zuckte die Achſeln, und der Vater ſagte
nichts weiter. Der Rückweg wurde ſchweigend zurückgelegt.
In dem Geſichte des Alten zuckte und witterte es, als führe
er das Geſpräch innerlich weiter. Ehe ſie das Haus betraten,
hielt er den Sohn am Arme feſt und ſagte ihm ins Ohr:
„Ich will der amal a Briefel weiſen, Guſtav, das'ch gekriegt
ha'. Komm mit mer ei de Stube!“ —


Der Büttnerbauer ging voraus in die Wohnſtube. Außer
der alten Bäuerin war hier nur die Schwiegertochter an¬
weſend. Thereſe ſchaukelte ihr Jüngſtes, das an einem durch
zwei Stricke am Mittelbalken der Holzdecke befeſtigten Korbe
lag, hin und her. Der Bauer begann in einem Schubfache
zu kramen. „Woas ſuchſt De denne, Büttner?“ fragte die
Bäuerin. „'s Briefel von Karl Leberechten.“


„Dos ha'ch verſtackt!“ rief die alte Frau, und kam aus
[27] ihrer Ecke hervorgehumpelt. „Wart ack, wart!“ Sie ſuchte
auf der Komode, dort lag in einem Schächtelchen ein Schlüſſel,
mit dieſem Schlüſſel ging ſie zum Spind, ſchloß es auf und
entnahm dem oberſten Brett ein altes Buch mit vielen Ein¬
lagen und Buchzeichen. In dem Buche blätterte ſie eine
Weile, bis ſie endlich auf das geſuchte Schreiben kam. „Doe
is er!“


Der Büttnerbauer berührte den Brief wie alles Geſchriebene
mit beſonderer Vorſicht, ja mit einer Art von Scheu. Dann
ſchob er ihn dem Sohne hin: „Laſe a mal dos, Guſtav!“


Der Briefbogen hatte großes Quartformat und trug
rechts oben eine Firma: „C. G. Büttner, Materialwarenhand¬
lung en gros \& en detail.“ Folgte die Ortsbezeichnung.


Guſtav ſah nach der Unterſchrift. Sein eigener Name
ſtand darunter: Guſtav Büttner. Der Briefſchreiber war dem¬
nach ſein ihm gleichaltriger Vetter, Kompagnon im Geſchäfte
des alten Karl Leberecht Büttner. Guſtav hatte Onkel und
Vetter ein einziges Mal geſehen in ſeinem Leben, als ſie vor
Jahren dem Heimatdorfe einen flüchtigen Beſuch von der
Stadt aus abgeſtattet.


Dieſer Karl Leberecht war ein um wenige Jahre jüngerer
Bruder des Büttnerbauern. Er hatte Halbenau frühzeitig ver¬
laſſen, als ein großer Thunichtgut. Jahrelang war nichts von
ihm verlautet. Dann tauchte er plötzlich als verheirateter
Mann und Inhaber eines Grünwarengeſchäftes in einer mittel¬
großen Stadt der Provinz auf. Inzwiſchen hatte ſich ſein Ge¬
ſchäft zur „Materialwarenhandlung en gros \& en detail
ausgewachſen.


Die beiden Familien, die eine in der Stadt, die andere
auf dem Dorfe, hatten ſo gut wie gar keine Berührungspunkte
mehr. Nur bei der Erbſchaftsregulierung, vor nunmehr dreißig
Jahren, war man einander auf kurze Friſt wieder einmal näher
getreten. In den letzten Jahrzehnten hatte man nur ganz ge¬
legentlich etwas von einander geſehen oder gehört.


G. Büttner jun. alſo, ſchrieb im Namen ſeines Vaters,
daß man die Hypothek, welche von der Erbteilung her noch
[28] auf dem Büttnerſchen Bauerngute in Halbenau ſtand, hiermit
kündige, und daß man den Eigentümer beſagten Bauerngutes
erſuche, Zahlung zum Johannitermine zu leiſten. Als Grund
der Kündigung war Erweiterung des Geſchäftes angegeben.


Der Brief war durchaus in geſchäftlichem Stile gehalten,
und enthielt nichts, was darauf hindeutete, daß Schreiber und
Empfänger in naher Blutsverwandtſchaft ſtanden.


Vater und Mutter hielten ſich hinter dem Sohne, während
er las, und blickten ihm über die Schulter.


„Habt Ihr ſchon was derzu gethan, Vater?“ meinte
Guſtav, als er fertig war mit leſen.


„Wie meenſt De?“ fragte der Alte und ſah ihn verſtänd¬
nislos an.


„Ob Ihr ſchon derzu gethan habt, wegen an Gelde? Am
erſten Juli müßt Ihr zahlen.“


„Siehſt De Moann!“ rief die Bäuerin. „Ich ho Derſch
immer geſeut, De mechteſt federn und nach an Galde ſahn.“


„Ich bin o ſchun, und ich ha mich befrogt im a Gald.
Bei Kaſchelernſten bi'ch gewaſt; der ſpricht, ar wullt merſch
ack gahn, wenn'ch 'n ſechsdehalb Prozent verſprechen thäte.“


„Das ſieht dem Kujon ähnlich!“ rief Guſtav. Sein Onkel
Kaſchel war der Inhaber des Kretſchams von Halbenau. Er
war Witwer, ehemals mit einer Schweſter des Büttnerbauern
verheiratet. Er galt in Halbenau, wo Bargeld ziemlich rar
war, für den erſten Kapitaliſten.


„Da mechte aber bald Rat werden,“ ſagte Guſtav nach¬
denklich. „Sonſt werdet Ihr verklagt, Vater!“


„Mei Heiland! Siehſte's Moann!“ rief die Bäuerin. „Ich
ho's ſchun immer geſeut iber den Pauer: mir wern noch ge¬
pfändt ho'ch ibern geſeut, De werſcht's derlaben Traugott!“


„Nu dos gleb 'ch do ne von Karl Leberechten!“ meinte
der Alte; aber ſein unſicherer Blick zeigte, daß ihm nicht ganz
geheuer zu Mute ſei.


„Die werden wohl nich lange fackeln!“ meinte Guſtav.


„Siehſte Traugott, ſiehſte! Guſtav meent och ſu!“ rief die
Bäuerin. „Su is er aber nu der Vater. Er bedenkt ſich,
[29] und er bedenkt ſich, und er thut niſcht derzu. Er werd's nuch
ſuweit bringa, daß ſe 'n 's Gut wagnahmen kumma.“


Der Büttnerbauer warf ſeiner Ehehälfte einen finſteren
Blick zu. Das Wort hatte ihn getroffen. „Halt de Freſſe,
Frau!“ rief er ihr zu. „Was verſtiehſt denn Du vun a Ge¬
ſchäften!“


Die Bäuerin ſchien mehr betrübt, als beleidigt, über dieſe
Worte des Gatten. Sie zog ſich ſchweigend in ihre Ecke zu¬
rück. Guſtav überlegte eine Weile, welchen Rat er ſeinem
Vater geben ſolle. Einen Augenblick dachte er daran, dem
Vater abermals vorzuſchlagen, daß er ſeinen Wald an die
Herrſchaft verkaufen möchte. Aber, dann fiel ihm ein, wie
dieſer Vorſchlag den Alten vorhin erboßt hatte. Er kannte
ſeinen Vater, den hatte noch niemals jemand von ſeiner An¬
ſicht abgebracht.


„Ich weiß keenen andern Rat, Vater,“ ſagte er ſchließlich.
„Ihr müßt in de Stadt. Hier weit und breit is doch keen
Menſch mit Gelde, außer Kaſchelernſten. In der Stadt, dächt'ch
müßte doch Geld zu bekommen ſein.“


„Das ho'ch och ſchun gedacht!“ meinte der Büttnerbauer
mit nachdenklicher Miene.


Es trat ein langes Schweigen ein. Man hörte nur das
leichte Knarren der Stricke in den Haken und das Kniſtern
des Korbes, in welchem Thereſe den Säugling hin und her
ſchaukelte. —


Jetzt traten die beiden Mädchen ins Zimmer. Toni war
im vollen Staate. Ihre üppigen Formen waren in ein Kleid
von greller, blauer Farbe gezwängt, das vorn etwas zu kurz
geraten war, und ſo die plumpen, ſchwarzen Schuhe ſehen
ließ. An ihrem Halſe blitzte eine Broche von buntem Glaſe.
Ihr blondes Haar hatte ſie ſtark pomadiſiert, ſo daß es
ſtreifenweiſe ganz braun ausſah. Offenbar war ſie ſehr ſtolz
über den Erfolg ihrer Toilettenkünſte. Steif und gezwungen,
als ſei ſie von Holz, bewegte ſie ſich. Denn die Zugſchuhe
der Halskragen und das Korſet waren ihr ungewohnte Dinge.
Sie ging einher wie eine Puppe.


[30]

Guſtav, der in der Stadt ſeinen Geſchmack gebildet hatte,
belächelte die Schweſter. Heute Abend ſei Tanz im Kretſcham
berichtete Toni dem Bruder. Sie hoffte, daß er ſie dahin
begleiten würde, darum hatte ſie ſich auch ſo beſonders heraus¬
geputzt, um vor ſeinem verwöhnten Auge zu beſtehen. — Der
alte Bauer, der allen Putz und unnützen Tand nicht leiden
mochte, brummte etwas von „Pfingſtuchſe“! Aber, die Bäuerin
nahm die Tochter in Schutz. Am Sonntage wolle ſolch
ein Mädel auch einmal einen Spaß haben, wenn ſie ſich
Wochentags abgerackert habe im Stalle, Hauſe und auf dem
Felde.


Das Abendbrot wurde zeitiger anberaumt, damit die
Kinder nichts von dem Vergnügen verſäumen ſollten.


Guſtav begleitete die Schweſter zum Kretſcham. Unter¬
wegs erzählte ihm Toni, daß Ottilie, die Tochter Kaſchelernſts,
des Kretſchamwirtes, in den letzten Tagen wiederholt und
zuletzt heute früh in der Kirche, gefragt habe, ob Guſtav nicht
zum Tanze in den Kretſcham kommen werde. Der Unter¬
offizier konnte ſich eines Lachens nicht enthalten, ſobald er nur
die Kouſine erwähnen hörte. Ottilie Kaſchel war um einige
Jahre älter als er, aber, als die Tochter Kaſchelernſts, wohl
die beſte Partie von Halbenau. Guſtav hatte ſich in früheren
Zeiten gelegentlich ſein Späßchen mit ihr erlaubt; er wußte
ganz gut, daß ſie ihn gern mochte, aber der Gedanke an ihre
Erſcheinung machte ihn lachen. Sie hatten ein Pferd bei der
Schwadron, einen alten Schimmel: die „Harmonika“, dürr,
überbaut, mit Senkrücken; an den erinnerte ihn ſeine Kouſine
Ottilie.


Guſtav ließ die Schweſter allein in den Kretſcham treten.
Er ſagte, er werde nachkommen. Oben im Saale glänzten
ſchon die Fenſter, das Schmettern der Blechmuſik, untermiſcht
mit dem dumpfen Stampfen und Schleifen der Tänzer, drang
auf die Straße hinaus.


Guſtav lockte das nicht; ihn erwarteten heute Abend ganz
andere Freuden.


Auf Seitenpfaden, zwiſchen Gärten und Häuſern hin,
[31] ſchlich er ſich durch die Nacht. Um nicht angeſprochen zu
werden, ſtieg er, als ihm ein Trupp junger Leute entgegenkam,
über einen Zaun.


Bei Katſchners Pauline brannte ein Lämpchen. Sie wartete
auf ihn. Sie hatten nichts verabredet heute früh, und doch
wußten beide, was der Abend bringen würde.


Er klopfte vorſichtig an ihr Fenſter. Da wurde auch
ſchon der Vorhang zurückgeſchoben. Eine weiße Geſtalt erſchien
für einen Augenblick hinter den Scheiben. Ein kleines Schiebe¬
fenſterchen öffnete ſich. „De Thiere is uff, Guſtav! Mach
keenen Lärm, de Mutter is derheme.“


Der Unteroffizier zog ſich die Stiefeln aus und reichte
ſie wortlos dem Mädchen zum Fenſter hinein. Dann ſchlich
er ſich, mit den Bewegungen einer Katze, durch die niedere Thür
in das Häuschen. Gleich darauf verlöſchte das Licht in
Paulinens Zimmer.

[[32]]

III.

Einige Tage ſpäter fuhr der Büttnerbauer im korb¬
geflochtenen Kälberwägelchen durchs Dorf. Er ſaß ganz vorn
im Wagen, ſo daß er den Pferdeſchwanz beinahe mit den
Füßen berührte, auf einem Gebund Heu, hinter ihm lagen
eine Anzahl gefüllter Säcke.


Er hatte ſich raſiert, was er ſonſt nur am Sonnabend
Abend that, er trug ein reines Hemd, den ſchwarzen Rock und
einen flachen Filzhut — ſichere Wahrzeichen, daß es nach der
Stadt ging.


Als er am Kretſcham von Halbenau vorbeikam, ſtand
dort ſein Schwager, Ernſt Kaſchel, in der Thür, Zipfelmütze
auf dem Kopfe, die Hände unter der Schürze, in der echten
Gaſtwirtspoſitur.


Der Bauer ſtellte ſich, als ſähe er den Gatten ſeiner
verſtorbenen Schweſter nicht, blickte vielmehr ſteif gradeaus auf
die Landſtraße, während er ſich dem Kretſcham näherte, und
gab dem Rappen die Peitſchenſchmitze zu fühlen, damit er ſich
in Trab ſetzen ſolle.


Der Büttnerbauer war ſeinem Schwager Kaſchel niemals
grün geweſen. Das geſpannte Verhältnis zwiſchen den
Verwandten ſtammte von der Erbauseinanderſetzung her, die
der Bauer nach dem Tode des Vaters mit ſeinen Geſchwiſtern
gehabt hatte.


Aber der Gaſtwirt ließ den Schwager nicht unangeredet
vorüberfahren. „Guntago Traugott!“ rief er dem Bauer zu.
[33] Und als dieſer auf den Gruß nicht zeichnete, ſprang der kleine
Mann behende die Stufen vom Kretſcham auf die Straße
hinab, trotz ſeiner Holzpantoffeln und lief auf das Gefährt zu.
„Holt a mal Traugott! Ich ha mit Dir zu raden. —“


Der Bauer brachte das alte Tier, das, wenn einmal im
Schuſſe, ſchwer zu parieren war, durch ein paarmaliges kräftiges
Anziehen der Zügel endlich zum ſtehen, und fragte mit wenig
erfreuter Miene, was „zum Schwerenſchock“ jener von ihm wolle.


Der Kretſchamwirt lachte; es war dies eine von Ernſt
Kaſchels Eigentümlichkeiten, in allen Lebenslagen zu grinſen.
Es gab ihm das etwas Verlegenes, ja geradezu Thörichtes und
Tölpelhaftes — jedenfalls, hatte es der Mann, trotz dieſer
Eigenheit, in ſeinem Leben zu einer gewiſſen Macht über ſeine
Mitmenſchen gebracht. —


Kaſchelernſt, wie er meiſt genannt wurde, verzog alſo ſein
kleines bartloſes Geſicht zu einem Grinſen und fragte, ſtatt zu
antworten: „Haſt De's denne ſo eilig, Traugott! Ich wollt'
ack freun, wu De ſu frih an Tage ſchun hin wollteſt?“


„Ei de Stadt, Hafer verkofen,“ erwiderte Büttner,
ärgerlich über den Aufenthalt, und über das verhaßte Lächeln
des Schwagers, deſſen wahren Sinn er am eigenen Leibe
oft genug erfahren hatte. Schon hob er die Peitſche, um den
Rappen von neuem anzutreiben. Aber der Wirt hatte das
Pferd inzwiſchen am Kehlriemen gefaßt und kraute es in den
Nüſtern, ſo daß der Bauer, wäre er jetzt losgefahren, den
Schwager höchſt wahrſcheinlich über den Haufen gerannt hätte.


Kaſchelernſt war ein kleines hiefriches Männchen, mit
rötlich glänzendem, dabei magerem Geſicht. Den feuchten ſchwim¬
menden Augen konnte man die Liebhaberei des Wirtes für
die Getränke anſehen, die er ſelbſt verſchänkte. Mit dem kahlen
ſpitzen Kopfe, dem fliehenden Kinn und dem Reſt von vor¬
ſpringenden Zähnen in dem bartloſen Munde, ſah er einer
alten Ratte nicht unähnlich. Seine Glatze deckte Tag ein Tag
aus eine gewirkte Zipfelmütze, der Leib war in die Wirts¬
ſchürze eingeſchnallt, an den Füßen trug er blaue Strümpfe,
in denen die Beinkleider verſchwanden.


W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 3[34]

Er ließ ein „Ho, Alter, ho!“ vernehmen — was dem
Pferde galt — dann wandte er ſich mit blödem Lachen an ſeinen
Schwager: „Wo in drei Teifels Namen nimmſt denn Du dan
Hafer her, zum verkefen, jetzt im Frühjuhre?“


„Mir hon gelt allens zuſommde gekroatzt uf'n Schittboden,
's is'n immer nuch ane Handvell ibrig fir de Pferde. Ich
dachte ock und ich meente, weil er jetzt on Preis hat, dacht'ch,
De verkefſt'n, ehbs daß er wieder billig wird, dar Hafer.“


„Ich kennte grode a Zentner a zahne gebrauchen,“ meinte
der Gaſtwirt, „wenn er nich zu huch käme.“


„Der Marktpreis ſticht ja im Blattel.“


„An Marktpreis mecht'ch nu grode ne zahlen, wenn'ch 'n
vun Dir nahme, den Hafer. Du wirſt duch an nahen Ver¬
wandten ne iberteuern wullen, Traugott.“ — Kaſchelernſt
verſtand es, ungemein treuherzig dreinzublicken, wenn er wollte.


„Vun wegen der Verwandtſchaft!“ rief der Büttner¬
bauer erregt. „Sechsdeholb Prozent von an nahen Verwandten
furdern, wenn erſch's Geld nötig hat, das kannſt Du! —
Gih mer aus 'n Wege, ich will furt!“


Kaſchelernſt ließ den Kopf des Pferdes nicht los, trotz des
drohend erhobenen Peitſchenſtils. „Ich will der wos ſagen,
Traugott!“ meinte er, „ich ha' merſch iberlegt ſeit neilich, wegen
der Hypothek von Karl Leberechten. Ich will derſch Geld
mit finf Prozent burgen. Ich will's machen, ock weil Du's
biſt, Traugott! Du brauchſt's am Ende netig. Ich ha' merſch
iberlegt; ich will Derſch gahn, mit finf Prozent.“


Der Bauer blickte ſeinen Schwager mißtrauiſch an. Was
hatte denn den auf einmal ſo umgeſtimmt? Neulich hatte er
noch ſechs und ein halb Prozent verlangt, und keinen Pfennig
darunter, wenn er die Hypothek, die dem Büttnerbauer von
ſeinem Bruder Karl Leberecht gekündigt worden war, übernehmen
ſolle. Daß Kaſchelernſt ihm nichts zu Liebe thun werde,
wußte der Bauer nur zu genau. Andererſeits lockte das An¬
erbieten. Fünf Prozent für die Hypothek. — Es war immer
noch Geld genug! Vielleicht bekam man's doch noch um ein
halb Prozent billiger in der Stadt. Überhaupt war es viel¬
[35] leicht beſſer, ſich mit Kaſchel nicht weiter einzulaſſen; er beſaß
ja ſowieſo weiter oben noch eine Hypothek auf dem Bauern¬
gute eingetragen, und leider hatte er ja auch überdies Forde¬
rungen.


„No, wie is!“ mahnte Kaſchelernſt den Überlegenden.
„Sein mir eenig? Finf Prozent!“


„Mir worſch aben racht, wenn'ch 's Geld glei kriegen kennte.“


„'s Geld is da! Ich ha's huben liegen. Da kannſt's glei
mitnahmen, Traugott, uf de Poſt, wenn De Karl Leberechten
auszahlen willſt. Alſo, wie is, ſein mer eenig?


Der Bauer ſimulierte noch eine ganze Weile. Er mi߬
traute der Sache. Irgendwo war da eine Hinterthür, die er
noch nicht ſah. Wenn Kaſchelernſt die Miene des Bieder¬
manns aufſetzte, da konnte man ſicher ſein, daß er einen be¬
gaunern wollte. „Du ſoiſt, Du hätt'ſt's Geld da liegen;
ſoiſt Du?“


„Tauſend Thaler und drüber! ſe liegen bei mer im feuer¬
ſicheren Schranke. Willſt ſe ſahn, Traugott?“


„Alſo finf Prozent! Kannſt De 's ne drunger macha?“


„Ne, drunger gar ne! Und ees wollt'ch der glei noch ſagen,
Traugott, bei der Gelegenheit: für meine eegne Hypothek, die'ch
von Deiner Schweſter geerbt ha', dos wullt'ch der glei noch
ſagen: da mecht'ch von Michaelis an och finf Prozent han,
viere dos is mer zu wing, verſtiehſt De!“


„Du biſt wuhl verrikt!“


„Finf Prozent für beide Hypotheken! hernachen ſollſt
Du's Geld han. Anderſcher wird keen Geſchäft ne, Traugott!“


Jetzt riß dem Büttnerbauer die Geduld.


Er hob die Peitſche und ſchlug auf das Pferd. Der Gaſt¬
wirt, erkennend, daß es diesmal Ernſt ſei, hatte gerade noch
Zeit, bei Seite zu ſpringen. Der Rappe bockte erſt ein paar
mal, ob der unerwarteten Schläge, dann zog er an. Kirſchrot
im Geſicht wandte ſich der Bauer nach ſeinem Schwager um
und drohte unter wilden Schimpfreden. Dabei ging das Ge¬
ſchirr in Bogenlinien von einer Seite der Straße auf die
andere, und drohte in den Graben zu ſtürzen, weil der Bauer
3*[36] in ſeiner Wut abwechſelnd an der Hotte- und an der Hüſte¬
leine riß.


Der Kretſchamwirt ſtand mitten auf der Straße und ſah
dem davoneilenden Gefährte nach, ſich die Seiten vor Lachen
haltend. Er ſprang vor Vergnügen von einem Bein auf das
andre, kicherte und ſchnappte nach Luft. Sein Sohn Richard,
ein ſechzehnjähriger Schlacks, hatte die Verhandlungen zwiſchen
Vater und Onkel vom Gaſtſtubenfenſter aus neugierig verfolgt.
Jetzt, da er den Büttnerbauer erregt abfahren ſah, kam er
heraus zum Vater, um zu erfahren, was eigentlich vorgegangen
ſei. Kaſchelernſt, dem die Augen übergingen, konnte ſeinem
Sohn vor Lachen kaum etwas erzählen.


Der Büttnerbauer machte ſeinem Ärger noch eine geraume
Weile durch Flüche Luft. Am meiſten ärgerte er ſich über ſich
ſelbſt, daß er ſich abermals hatte verführen laſſen, mit ſeinem
Schwager Kaſchel zu ſprechen. Als ob jemals ein Menſch mit
dieſem „Würgebund“ etwas zu thun gehabt hätte, ohne von
ihm über's Ohr gehauen worden zu ſein. Der war ja ſo ein
„geriſſener Hund,“ mit ſeinem blöden Lachen. Als ob er nicht
bis drei zählen könne, ſo konnte dieſer Lump ſich anſtellen, und
gerade damit fing er die meiſten Gimpel.


Als Kaſchelernſt ins Dorf gekommen war, vor Jahren,
hatte er nicht einen roten Heller ſein eigen genannt, und jetzt
war er der anerkannt reichſte Mann in Halbenau. Der Kret¬
ſcham, zu welchem ein nicht unbedeutendes Feldgrundſtück ge¬
hörte, war ſein eigen. Er hatte einen Tanzſaal mit großen
Fenſtern eingebaut, zwei Kegelbahnen und einen Schießſtand
angelegt. Außer dem Schnaps- und Bierausſchank betrieb er
den Kleinkram, gelegentlich auch Fleiſcherei und Getreidehandel.
Alles gedieh ihm. Auch Landverkäufe vermittelte er. Man
munkelte allerhand, daß er ſeine Hand im Spiele gehabt, bei
Güterzerſchlagungen, wie ſie in der letzten Zeit nicht ſelten in
und um Halbenau ſtattgefunden hatten. Mit den Händlern,
Mäklern und Agenten der Stadt ſtand er in regem Verkehr;
kaum eine Woche verging, wo nicht einer von dieſer Zunft im
Kretſcham von Halbenau abgeſtiegen wäre.


[37]

Und zu denken, daß dieſer Menſch alles das nur dadurch
erreicht hatte, daß er eine Tochter aus dem Büttnerſchen Gute
geheiratet! —


Der alte Bauer gab ſich trüben Gedanken hin, nachdem
der erſte Ärger verflogen war. Wie war das alles nur ſo
über ihn und ſeine Familie gekommen! — Es war doch keine
Gerechtigkeit in der Welt! Der Paſtor mochte von der Kanzel
herab ſagen, was er wollte: die ſchlechten Menſchen fänden
ſchon hier auf Erden ihre Strafe, und die guten ihren Lohn;
für ihn und die Seinen ſtimmte das nicht. Da war es eher
umgekehrt. — Es gab keine Gerechtigkeit auf der Welt!


Das Büttnerſche Gut war eine der älteſten ſpannfähigen
Stellen im Orte. Es war, wie die Kirchenbuchnachrichten aus¬
wieſen, ſtets mit Leuten dieſes Namens beſetzt geweſen. Lange
vor dem großen Kriege ſchon hatten die Büttners dem Dorfe
mehrere Schulzen geſchenkt. Und unter den alten Grabſteinen
auf dem Kirchhofe war mancher, der dieſen Namen aufwies.


Während des dreißigjährigen Krieges, wo Halbenau und
Umgegend mehrfach arg mitgenommen wurden, war mit dem
„großen Sterben“ auch die Büttnerſche Familie bis auf vier
Augen ausgeſtorben. Seitdem gab es nur noch dieſen einen
Zweig in Halbenau. Nicht, daß es der Familie an Nachwuchs
gefehlt hätte! aber, entweder heirateten die jüngeren Söhne
nicht, oder wenn ſie eigene Familien begründet hatten, blieben
ſie doch mit Frau und Kind auf dem Hofe ihrer Väter, halfen
bei der Beſtellung und arbeiteten die Frondienſte für den
Grundherrn ab. Die Kinder mußten, wie üblich, der Guts¬
herrſchaft zum Zwangsgeſindedienſt angeboten werden. Man
befand ſich ja nicht auf eigenem Grund und Boden; der
Gutsherr hatte die Obrigkeit und beſaß Verfügungsrecht über
Land und Leib ſeiner Unterthanen. Aber, die beſondere Stellung
der Büttnerſchen Familie, ihre Tüchtigkeit und Nützlichkeit, war
auch von Seiten der Gutsherrſchaft reſpektiert worden. Niemals
war einer aus dieſem Gute, wie es in der Zeit der Erbunter¬
[38] thänigkeit den Bauern nicht ſelten zu geſchehen pflegte, in eine
geringere Stelle verſetzt worden. Man leiſtete durch Spann¬
dienſte und Handdienſte der Herrſchaft ab, was man ihr
ſchuldig war. Großen Wohlſtand hatte man dabei nicht ſam¬
meln können; dazu war auch die Kopfzahl der Familie meiſt
zu ſtark geweſen und der Boden zu ärmlich. Aber, man hatte
nichts eingebüßt an Land und Kraft in den Zeiten der Hörigkeit,
die nur zu viele Bauern herabgedrückt hat zur Unſelbſtändigkeit
und Stumpfheit des abhängigen Subjekts. Und der Hausverband,
die Zuſammengehörigkeit der Familie war gewahrt worden.


Unter dem Großvater des jetzigen Beſitzers trat die Bauern¬
befreiung in Kraft. Die Erbunterthänigkeit wurde aufge¬
hoben, alle Fronden abgelöſt. Bei der Regulierung ver¬
lor das Bauerngut ein volles Dritteil ſeiner Fläche an die
Herrſchaft.


In dem Vater des jetzigen Büttnerbauern erreichte die
Familie einen gewiſſen Gipfelpunkt. Er war ein rühriger Mann,
und es gelang ihm, ſich durch Fleiß und Umſicht, begünſtigt
durch gute Jahre, zu einiger Wohlhabenheit emporzuarbeiten.
Durch einen günſtigen Kauf verſtand er es ſogar, den Umfang
des Gutes wieder zu vergrößern. Vor allem aber legte er das
erworbene Geld in praktiſchen und bleibenden Verbeſſerungen
des Grund und Bodens an.


Es war kein kleines Stück für den Mann, ſich dem Vor¬
dringen des benachbarten Rittergutes gegenüber, das ſich durch
Ankauf von kleineren und größeren Parzellen im Laufe der
Jahre zu einer Herrſchaft von ſtattlichem Umfange erweitert
hatte, als ſelbſtändiger Bauer, zu erhalten. Unter dieſem
Beſitzer war die Familie, dem Zuge der Zeit folgend, in alle
Windrichtungen auseinandergeflogen. Nur der älteſte Sohn,
Traugott, war, als zukünftiger Erbe, auf dem väterlichen Hofe
geblieben. Als der alte Mann ziemlich plötzlich durch Schlag¬
fluß ſtarb, fand ſich kein Teſtament vor. Als echtem Bauern,
war ihm alles Schreibweſen von Grund der Seele verhaßt
geweſen. Gegen Gerichte und Advokaten hatte er ein tiefein¬
gefleiſchtes Mißtrauen gehegt. Zudem war der Alte einer von
[39] denen, die ſich nicht gern daran erinnern ließen, daß ſie
dieſer Welt einmal Valet ſagen müſſen. Auch ſchien jede
Erbbeſtimmung unnötig, weil als ſelbſtverſtändlich an¬
genommen wurde, daß, wie ſeit Menſchengedenken, auch
diesmal wieder, der Älteſte das Gut erben werde, und
daß ſich die übrigen Geſchwiſter murrlos darein finden
würden.


Das kam nun doch etwas anders, als der Verſtorbene
angenommen hatte.


Es waren fünf Kinder vorhanden und die Witwe des
Dahingeſchiedenen. Traugott, der Älteſte, war durch den Tod
des Vaters Familienoberhaupt und Bauer geworden. Der
zweite Sohn hatte vor Jahren das Dorf mit der Stadt ver¬
tauſcht. Ein dritter war auf der Wanderſchaft nach Öſterreich
gekommen und dort ſitzen geblieben. Außer dieſen drei Söhnen
waren zwei Töchter da. Die eine war mit dem Kretſcham¬
wirt von Halbenau verehelicht, die andere hatte einen Mühl¬
knappen geheiratet, mit dem ſie ſpäter von Halbenau fortge¬
zogen war.


Im Erbe befand ſich nur das Bauerngut mit Gebäuden,
Vorräten und Inventar. Das bare Geld war zu Ausſtattungen
der Töchter und zu Meliorationen verwendet worden.


Der älteſte Sohn erklärte ſich bereit, das Erbe anzutreten,
und die übrigen Erben mit einer geringfügigen Auszahlung
abzufinden, wie es der oftmals ausgeſprochene Wunſch des Ver¬
ſtorbenen geweſen war. Aber der Alte hatte da mit einer
Geſinnung gerechnet, die wohl in ſeiner Jugend noch die Familie
beherrſcht hatte: der Gemeinſinn, der aber dem neuen Geſchlechte
abhanden gekommen war. Zu Gunſten der Einheitlichkeit des
Familienbeſitzes wollte keiner der Erben ein Opfer bringen.


Es wurde Taxe verlangt zum Zwecke der Erbregulierung.
Als dieſe nach Anſicht der Pflichtteilsberechtigten zu niedrig
ausfiel, focht man die Erbſchaftstaxe an, und forderte Ver¬
ſteigerung des Gutes.


Der älteſte Sohn, der ſein ganzes Leben auf dereinſtige
Übernahme des väterlichen Gutes zugeſchnitten hatte, wollte den
[40] Beſitz um keinen Preis fahren laſſen. Er erſtand ſchließlich
das Gut zu einem von ſeinen Geſchwiſtern künſtlich in die
Höhe geſchraubten Preiſe.


Natürlich war er außer Stande, die Erben auszuzahlen.
Ihre Erbteile wurden auf das Gut eingetragen; Traugott
mußte froh ſein, daß man ihm das Geld zu vier Prozent
ſtehen ließ. So ſaß denn der neue Büttnerbauer auf dem
väterlichen Grundſtücke, das mit einem Schlage aus einem
unbelaſteten in ein über und über verſchuldetes verwandelt
worden war.


Es kamen Kriege, an denen Traugott Büttner teilnahm.
Die ſchlechten und die guten Zeiten wechſelten wie Regen und
Sonnenſchein. Aber, die guten Jahre kamen dem Braven
nicht recht zu ſtatten, da er nicht kapitalkräftig genug war,
um den allgemeinen Aufſchwung und die Gunſt der Ver¬
hältniſſe auszubeuten. Die ſchlechten Jahre dagegen drückten
auf ihn, wie ein Panzerkleid auf einem ſchwachen und
wunden Leib.


Der Büttnerbauer war freilich nicht der Mann, der ſich
leicht werfen ließ.


Sein Gut war ausgedehnt, die äußerſten Feldmarken lagen
in beträchtlicher Entfernung von dem am unterſten Ende
eines ſchmalen Landſtreifens gelegenen Hofe. Der Boden war
leicht und die Ackerkrume von geringer Mächtigkeit. Dazu
waren die Witterungsverhältniſſe nicht einmal günſtige; denn
nach Norden und Oſten lag das Land offen da, vom Süden
und Weſten her aber wirkten Höhenzüge ein, Kälte und Feuchtig¬
keit befördernd, und die warme Jahreszeit abkürzend. Der Acker
trug daher nur ſpärlich zu, der Emſigkeit und der raſtloſen An¬
ſtrengung des Bauern zum Trotze. Die Zinſen verſchlangen
die Ernten. Die Schulden mehrten ſich langſam aber ſicher.
An Meliorationen konnte man nicht mehr denken. Wenn der
Bauer auch hie und da einen Anfang machte, ſtärker zu düngen,
Abzugsgräben baute, an den Gebäuden beſſerte und flickte,
oder auch neues Gerät anſchaffte, ſo warfen ihn unvorher¬
geſehne Unglücksfälle: Hagelſchlag, Viehſeuchen, Erkrankungen,
[41] Tod und ſonſtiges Elend, immer wieder zurück und verdarben
ihm ſeine Arbeit.


Es war der Verzweiflungskampf eines zähen Schwimmers
in den Wellen, der ſich mit aller Anſtrengung gerade nur über
Waſſer zu erhalten vermag.


In dieſem Kampfe war der Büttnerbauer ein Sechziger
geworden.

[[42]]

IV.

Der Büttnerbauer fuhr in der Kreisſtadt ein. Er ſpannte,
wie immer, im Gaſthofe „Zum mutigen Ritter“ aus. Nach¬
dem er ſeinen Rappen in den Stall geführt und ſelbſt verſorgt
hatte, begab er ſich auf den Markt.


Es war heute der Hauptwochenmarkt. Die Stadt wimmelte
daher von Fuhrwerken und Leuten, die vom Lande hereinge¬
kommen waren. Der Büttnerbauer war nicht unbekannt; viel¬
fach wurde er von den Kleinhändlern und Handwerkern, die
bei offenen Ladenthüren in ihren Geſchäften ſtanden, angerufen
und gebeten, einzutreten. Aber, er wollte ſich heute nicht be¬
ſchwatzen laſſen zu irgendwelchen Einkäufen. Erſt wollte er
mit Profit verkaufen, dann würde man weiterſehen, ob ein
Groſchen zu dergleichen übrig ſei.


Auf dem Marktplatze gab es eine jedem Eingeweihten
wohlbekannte Ecke, wo die Käufe und Verkäufe in Getreide ab¬
geſchloſſen zu werden pflegten. Als ſich der Bauer dieſem
Flecke näherte, kam ihm einer der Händler ſofort mit ausge¬
ſtreckter Hand entgegen, und erkundigte ſich nach ſeinen Wünſchen.
Dann wurde er in den Kreis der dort verſammelten Männer
gezogen, man klopfte ihm auf die Schulter, und meinte, er
habe ſich recht lange nicht mehr blicken laſſen.


Aber, dieſes auffällige Entgegenkommen von Leuten, die
er kaum kannte, machte den alten Mann ſtutzig. Wollte man
ihn hier etwa dumm machen? Als man ihn fragte, ob er
[43] was zu verkaufen habe, antwortete er vorſichtig und zurück¬
haltend. Dann ging er von dieſer Gruppe weg zu einer
anderen. Er wollte ſich die Sache ſcheinbar nur mit anſehen.
Die Hände auf dem Rücken hörte er überall ein wenig zu. Die
Kaufluſt war groß, beſonders Hafer wurde ſtark gefragt.
Es ward auch manches Geſchäft abgeſchloſſen, nach den Hand¬
ſchlägen zu ſchließen, die zur Beſiegelung jedesmal gegeben
wurden.


Nachdem ſich der Büttnerbauer eine Weile hier aufgehalten,
verließ er den Marktplatz wieder. Es waren ihm allerhand
Bedenken gekommen. Bei dieſer Art zu handeln, wie ſie hier
in ſo lauter und nachläſſiger Weiſe von den Händlern betrieben
wurde, ſchien es ihm auf ein Betrügen des Landmannes
herauszukommen.


Heute lag ihm daran, einen möglichſt hohen Preis zu
erzielen aus ſeinem Hafer; denn er hatte vor, mit dem Erlös
eine Kuh anzukaufen zum Erſatz für eine, die er im Laufe
des Winters hatte ſtechen laſſen müſſen.


Nun entſann er ſich, daß er vorm Jahre in einem Ge¬
treidegeſchäfte der inneren Stadt für Roggen einen guten
Preis bezahlt erhalten hatte. Das Geſchäft ſchickte ihm ſeitdem
vierteljährlich ſeinen Katalog zu. Erſt vor ein Paar Tagen
noch war ihm ein ſolcher Proſpekt in die Hände gefallen. Die
Zahlung der „höchſtmöglichen Preiſe“ und die „koulanteſten
Bedingungen“ wurden darin verſprochen.


Der Bauer meinte, er könne es mit Samuel Harraſſowitz
wieder einmal verſuchen. War dort nichts zu machen, dann
konnte man den Hafer ja immer noch auf dem Markte los¬
ſchlagen.


Das Geſchäft von Harraſſowitz lag in einer ziemlich
engen Gaſſe, zu ebener Erde. Man trat zunächſt in eine
tonnenartige Einfahrt, die in einen gepflaſterten Hof aus¬
mündete. Eine Seitenthür führte von der Einfahrt aus in
das Comptoir.


Der Büttnerbauer trat, ſeinen Hut ſchon vor der Thür
abnehmend, nachdem er angeklopft hatte, ein. Es war
[44] ein langer, ſchmaler Raum, in der Mitte durch einen Laden¬
tiſch geteilt, hinter dem mehrere Schreiber auf Drehſchemeln
an hohen Pulten ſaßen. Ein junger Mann mit einer
Brille ſprang von ſeinem Schemel herab, kam auf den Bauer
zu und fragte, was er wünſche. Der Alte meinte, er habe
etwas Hafer zu verkaufen. Wieviel es ſei, fragte der junge
Menſch, die Feder an ſeinem Ärmel auswiſchend.


„Sacke a Sticker zahne kennten's ſchun ſein,“ gab der
Büttnerbauer zurück.


Der Jüngling lächelte darauf überlegen und meinte, daß
ſein Haus ſich mit „Detail-Einkäufen“ nicht abgebe.


Für den Bauer war die Ausdrucksweiſe des jungen
Herrn unverſtändlich. Es gab Frage und Antwort und aber¬
maliges Fragen. Die Schreiber drehten ſich auf ihren Seſſeln
um und betrachteten ſich den alten Mann im altväteriſchen
Rocke mit ſpöttiſchen Mienen.


Darüber war ein mittelgroßer, zur Korpulenz neigender
Mann mit kahlem Kopfe, gebogener Naſe und brandrotem
Backenbart von einem Nebenraume aus ins Comptoir getreten.
Sofort fuhren alle Drehſchemel wieder herum und die jungen
Leute ſteckten, mit gebeugtem Rücken, die Naſen eifrig in ihre
Schreiberei.


Samuel Harraſſowitz — denn er war es ſelbſt — maß
die Geſtalt des Bauern mit ſpähendem Blicke. Dann trat
er auf ihn zu, ſtreckte die Hand aus, lächelte verbindlich,
und ſagte: „Grüß Sie Gott, mein lieber Herr Büttner! Was
ſteht zu Ihren Dienſten?“


Der Bauer war völlig überraſcht. Woher kannte ihn dieſer
Herr? Er konnte ſich nicht entſinnen, dieſes Geſicht jemals
geſehen zu haben.


„Ich werde Sie doch wahrhaftig kennen, Herr Büttner!“
meinte der Händler. „Sie ſind eine bekannte Perſönlichkeit bei uns,
Beſitzen Sie nicht ein ſchönes Gut in Halbenau — nicht wahr?“


Der Bauer ſtand da mit offenem Munde, ſtarrte jenen
an, der ihm die Allwiſſenheit in Perſon ſchien, und konnte
ſich von ſeinem Staunen gar nicht wieder erholen.


[45]

„Kenne Sie! Kenne Sie ganz gut, Herr Büttner! Alſo,
womit können wir dienen?“


Der junge Mann raunte inzwiſchen ſeinem Chef mit halb¬
lauter Stimme etwas zu. „Nun und ich hoffe ſtark, daß
Sie Herrn Büttner den Hafer abgenommen haben, Herr Bell¬
witz!“ rief der Händler. „Ich dachte . . .“ meinte der ſo An¬
geredete. — „Ach was, dachte! Sie denken immer! Ver¬
ſcherzen mir darüber womöglich eine ſolche Kundſchaft. —
Natürlich nehmen wir den Hafer, Herr Büttner! Unbeſehen
nehmen wir alles, was Sie uns bringen. Haben Sie den
Hafer mit in der Stadt?“


Der Büttnerbauer brachte mit Rucken und Zerren ein
Säckchen von grauer Leinwand aus ſeiner hinteren Rocktaſche
hervor.


„Ach ſo, eine Probe! Iſt eigentlich gar nicht nötig, Herr
Büttner. Kennen Ihre Ware ſchon. Prima, natürlich!“


Er öffnete das Säckchen aber dennoch und ließ die Körner
prüfend durch die Finger gleiten. „Kaufen wir! Geben den
höchſten Marktpreis. Herr Bellwitz, gleich einen Mann nach
dem „Mutigen Ritter“ ſchicken! Der Hafer ſoll her. — In¬
zwiſchen kommen Sie mal auf ein Augenblickchen hier herein,
mein guter Herr Büttner. Sie müſſen mir was über den
Saatenſtand bei Ihnen da draußen erzählen.“


Der Bauer befand ſich, ehe er ſich deſſen recht verſehen,
im Nebenzimmer, einem kleinen Gemache, deſſen einziges
Fenſter nach dem Hofe hinausführte. Dort wurde er aufs
Sofa genötigt; der rotbärtige Händler nahm ihm gegenüber
am Tiſche Platz.


„Nun, mein Lieber, wie ſtehts denn, wie gehts denn in
Halbenau? Ich kenne dort verſchiedene Ökonomen. Mittlerer
Boden — was! Liegt auch ſchon ein bißchen hoch — was?
Sie leiden an ſpäten Fröſten. Nachher will das Korn nicht
recht ſchütten, wenns vorher noch ſo ſchön geſtanden hat.
Kenne das, kenne die ganze Geſchichte. — Alſo nun erzählen
Sie mir mal. Wie weit iſt's mit der Sommerung?“


„Mei Suhn und de Madel ſtacken heite de latzten Apern.
[46] Hernachen is nur noch 's Kraut. In a Wochen a zwee noch
hin, denk'ch, ſein mer fertig.“


„Gratuliere, gratuliere! — Sie haben wohl eine ſtarke
Familie, Herr Büttner?“


„'s langt zu, Herr Harraſſowitz, 's langt Se gerade zu,“
meinte der Bauer und lachte in ſich hinein. „Mit de Enkel
ſein's 'r immer a Mäuler achte, die gefittert ſein wullen —
ju, ju!“


„Nun, um ſo mehr Hände ſind dann auch da zur Be¬
ſtellung und in der Erntezeit — nicht wahr, Herr Büttner?
Eine zahlreiche Familie iſt ein Segen Gottes, beſonders für
den Landmann. Ich kenne die ländlichen Verhältniſſe, ich
kenne ſie! Sie mögen mir das glauben, lieber Büttner. —
Und wie ſteht's denn mit der Winterung?“


Der Bauer berichtete, daß der Roggen gut durch den
Winter gekommen und nur wenig ausgewintert ſei. „Ene
wohre Pracht! Wie ene Bürſchte, weeß der Hohle, wie ene
Bürſchte ſteht Sie das Korn!“


„Nun, das iſt ja hocherfreulich zu hören! Da hätten wir
alſo die ſchönſten Ausſichten für eine gute Ernte. Da wird
wiedermal ſchönes Geld unter die Leute kommen! Und hat
der Bauer Geld, dann hat's die ganze Welt.“


„Das mechte och ſein — das mechte freilich ſein, Herr
Harraſſowitz!“ meinte der Büttnerbauer und kratzte ſich hinter
den Ohren. „'s Geld is ſihre rar geweſt. Ne ach Gott, zu
rare iſt dos geweſt in der letzten Zeit, Herr Harraſſowitz!“


„Nun, Sie werden doch nicht etwa klagen wollen, Herr
Büttner! Sie, mit Ihrer ſchönen Beſitzung! — Wie groß iſt
denn das Gut, wenn ich fragen darf?“


„Zweemalhundert und a paaren dreißig Morgen, alles
in allen, mit an Buuſche.“


„Das wäre ja bald ein kleines Rittergut! Und da wollen
Sie lamentieren! Ich bitte Sie, guter Herr Büttner, was
ſollen denn dann die kleinen Leute machen!“


„Ju, wenn ock de vielen Abgaben ne wären, und de
Gemeenelaſten und de Schulden.“

[47]

„Ich weiß, ich weiß, es laſtet vielerlei auf dem Ökonomen
heutzutage. Sind denn die Abgaben und Laſten ſo bedeutend
in Halbenau?“


Der Büttnerbauer ſchüttete darüber ſein Herz gründlich
aus. Harraſſowitz ließ ihn reden; nur manchmal warf er eine
Bemerkung ein, die den einmal warm Gewordenen veranlaßte,
mehr und mehr von ſeinen Verhältniſſen aufzudecken.


Jetzt war der Büttnerbauer bei ſeinem Hauptbeſchwernis
angelangt: ſeinem mächtigen Nachbarn, der Herrſchaft Saland.


„Ja, ja, das glaube ich Ihnen gerne, Herr Büttner!“ rief
der Händler, „ſolch einen Großgrundbeſitzer zum Nachbarn zu
haben, iſt kein Spaß! Die Leute ſind landgierig, die möchten
die Bauern am liebſten alle legen. Das iſt ein wahrer Krebs¬
ſchaden für unſer Volk, die Latifundienwirtſchaft. Ein freier,
ſelbſtändiger Bauernſtand wird immer eine Grundbedingung
für das Gedeihen des ganzen Staates bilden. Wer ſoll uns
denn die Soldaten liefern — was, he? Die ſtrammen Sol¬
daten für unſer Heer, wenn nicht der Bauernſtand! — Grenzen
Sie an einer oder an mehreren Seiten mit der Herrſchaft Saland?“


Der Bauer erzählte, daß er ſo gut wie eingeſchloſſen ſei
durch das Dominium. Dann ereiferte er ſich über den Wild¬
ſchaden.


„Schrecklich! aber dafür hat natürlich ſo ein Graf gar
keinen Sinn!“ rief der Händler mit dem Ausdrucke höchſter
Entrüſtung, „wenn ſichs nur um Bauernflur handelt. Trau¬
rige Zuſtände ſind das! Hat Ihnen der Graf denn ſchon mal
ein Angebot machen laſſen wegen Ihres Gutes?“


Der Büttnerbauer berichtete, daß der Graf ſchon ſeit
Jahren um ſeinen Wald handle, aber, daß er ihm nicht einen
Fußbreit abzulaſſen geſonnen ſei. Haraſſowitz horchte ſcharf
hin auf dieſe Angaben. Dann nahm er auf einmal wieder eine
nachdenkliche Miene an.


„Ja, das ſind traurige Verhältniſſe! Das zehrt am Ver¬
mögen, das will ich ſchon glauben. Da haben Sie doch aller¬
hand Sorgen, mein guter Herr Büttner. — Haben Sie denn
etwa auch Hypothekenſchulden auf Ihrem Gute?“

[48]

„O Jerum!“ rief der Bauer bei dieſer Frage, die mit der
unbefangenſten Miene der Welt geſtellt wurde. „O Jerum!“
Er fuhr empor von ſeinem Sitze. „Hypothekenſchulden! die
thun freilich zulangen, thun die! Wenn's wos winger warn,
kinnt's och baſſer ſein.“


„Nun, was haben Sie denn ſo ungefähr drauf ſtehen?
Ich frage aus wirklichem Intereſſe.“


Der Bauer rechnete eine Weile. Dann ſagte er, die Stimme
dämpfend, mit bedrückter Miene. „A Märker a zweeund¬
zwanzigtauſend kennen's ſchu ſein, die druffe ſtiehn, Herr
Harraſſowitz.“


Der Händler ließ ein leiſes Pfeifen ertönen, zog die
Brauen in die Höhe und wiegte den Kopf hin und her.
„Das iſt ein bißchen ſtark!“


„Newuhr, 's is vill?“ meinte der Alte, ganz in ſich zu¬
ſammenſinkend, und troſtlos zur Erde blickend.


„Wie in aller Welt wollen Sie denn da die Zinſen heraus¬
wirtſchaften, Herr Büttner?“ — Harraſſowitz nahm ein Stück
Papier zur Hand und begann zu rechnen. „Ja, mein Lieber
das iſt ja ein Mißverhältnis! Und da wollen Sie auch noch
davon leben, Sie und Ihre Familie! Das iſt ja rein unmöglich.
Da lügen Sie ſich einfach in den Beutel, mein Beſter!“


„Ja 's is ſchwer, 's is aben ſchwer!“ meinte der Büttner¬
bauer ſeufzend. „Man mechte manchmal ſalber zum Thaler
wern, um da Zinſen ock immer richtig zu bezahla. Ees muß
ſich abrackern und abſchinden muß mer ſich, vun Frih bis
Abend. Ne a mal ſatt eſſen mechtn man, weil's hinten und
vurne ne zulangen thut. Ne, 's is a Luderlaben, wenn ees
ſuvills Schulden hat, wie der Hund Flöhe.“


„Und das ertragen Sie ſo ruhig? Das verdenke ich Ihnen
offen herausgeſagt, ſehr, daß ſie ſich für Ihre Gläubiger ſo
abquälen.“


„Ju, wos ſoll unſerees denne angohn? Ich ha's Gutt
duch glei ſu verſchuldt übernumma. Billiger wullten de Ge¬
ſchwiſter mir's duch ne iberlaſſen.“


„Da giebts eben nur ein Mittel, mein Lieber: ſchmeißen
[49] Sie den Gläubigern die ganze Geſchichte hin. Sagen Sie ein¬
fach: ich thue nicht weiter mit. Mag's doch ein anderer ver¬
ſuchen, die Zinſen herauszuwirtſchaften, ich kanns nicht, ich
hab's ſatt! — Paſſen Sie mal auf, was für Geſichter die dann
machen werden. Von denen übernimmt's keiner, verlaſſen Sie
ſich darauf! Die werden dann ſchon kommen und Sie bitten,
daß Sie doch nur um Gotteswillen weiter auf dem Gute
bleiben möchten, damit ihre Hypotheken nicht ausfallen. So¬
was iſt ſchon öfters mit Erfolg gemacht worden. Tragen Sie
ſelbſt auf Subhaſtation an wegen Überſchuldung, dann wollen
wir mal ſehen, was für Seiten die Gläubiger aufziehen
werden. Vielleicht erſtehen Sie's dann ſelbſt, oder einer Ihrer
Kinder, aus der Zwangsverſteigerung zurück, dann ſind Sie
einen ganzen Poſten Schulden los. Nur nicht ängſtlich ſein
in ſolchen Dingen! Das iſt ja nur ein Mittel, ſich wieder zu
rangieren, wenn man nicht reüſſiert hat. Gott ſei Dank,
möchte ich ſagen, daß ſo etwas möglich iſt!“


Der Büttnerbauer ſchüttelte den Kopf. Den eigentlichen
Sinn des Vorſchlages hatte er wohl gar nicht erfaßt. Sein
Redlichkeitsgefühl ſagte ihm jedoch, daß hier etwas nicht in
Ordnung ſei.


Er wolle auf ſeinem Gute bleiben, erklärte er. Er hoffe
auch durchzukommen und ſeine Zinſen richtig bezahlen zu
können, wenn nur beſſere Zeiten kämen, und wenn ihm in¬
zwiſchen jemand helfend unter die Arme greifen wolle.


Inzwiſchen waren die Haferſäcke vom „Mutigen Ritter“
herangeſchafft worden, und wurden im Hofe abgeladen. Der
junge Mann aus dem Comptoir trat ein und machte Mel¬
dung davon. „Da wollen Sie alſo Ihr Geld gefälligſt in
Empfang nehmen, Herr Büttner,“ ſagte der Händler. „Vorn
an der Kaſſe. Ich komme mit Ihnen.“


Der Bauer empfing am Kaſſenpult das Geld und mußte
über den Empfang quittieren. Das nahm einige Zeit in
Anſpruch, da ſeiner Hand das Schreiben nicht mehr recht ge¬
läufig war. Endlich war er mit der ſchwierigen Prozedur
zu ſtande gekommen. Trotzdem er ſein Geld längſt durch¬
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 4[50] gezählt und eingeſackt hatte, blieb er noch ſtehen, zaudernd,
ſeinen Hut in den Händen drehend, als habe er noch etwas
auf dem Herzen.


Dem ſcharfen Auge des Händlers war das auffällige
Benehmen des Alten nicht entgangen. Er kam hinter dem
Ladentiſche vor, wo er mit einem der Comptoiriſten verhandelt
hatte. „Nun, Herr Büttner, kann ich Ihnen vielleicht noch
mit etwas dienen? Wir haben auch künſtlichen Dünger, ein
reichhaltiges Lager. Haben Sie da keinen Bedarf?“


„Ne, ne!“ meinte der Bauer. „Da mag'ch niſcht darvon.
Aber was andres wollt'ch Se noch derzahlen; wenn Se da
vielleicht an Rat wißten. — Mir is ane Hipetheke gekindgt
wurden. Uf Gohanni muß'ch zahlen.“


„Sehen Sie einmal an!“ rief der Händler und ſtellte
ſich erſtaunt. „Da werde ich Ihnen wohl nicht helfen können.
Hypotheken, das gehört nicht in meine Branche.“ — Aber, er
nahm den Bauern doch wieder mit in das Hinterzimmer.


„Alſo eine Hypothek iſt Ihnen gekündigt auf den Johan¬
niſtermin. An welcher Stelle ſteht ſie? wie iſt der Zinsfuß?
wie läuft ſie aus?“


Harraſſowitz ſtellte die verſchiedenſten Kreuz- und Quer¬
fragen. Dann rechnete er für ſich. Der alte Bauer beobachtete
während deſſen das Mienenſpiel des Händlers ſorgenvoll. Er
ſah mit Schrecken, daß Harraſſowitz in einem fort bedenklich
den Kopf ſchüttelte und die Brauen in die Höhe zog.


Endlich erhob ſich der Mann und trat dicht vor den
Bauern hin, ihm in die Augen blickend, mit ernſter
Miene. Er könne das Geld nicht beſchaffen, erklärte er.
Er ſei Kaufmann und nichts als Kaufmann, und es gehöre
nicht zu ſeinen Gepflogenheiten, Güter zu beleihen. Aber da
er gemerkt habe, daß der Büttnerbauer ein redlicher und ſolider
Mann ſei, wolle er ihm helfen. Er habe einen Geſchäfts¬
freund, einen durchaus feinen Mann, zu dem wolle er den
Bauern führen, der werde ihm die Hypothek möglicherweiſe decken.
Aber nur dem Bauern zu Gefallen wolle er es thun, rein zum
Gefallen. Denn er bemenge ſich ſonſt nicht mit dergleichen. —


[51]

Darauf ging Samuel Harraſſowitz an's Telephon und
klingelte an. „Guten Morgen! Iſt Herr Schönberger im
Comptoir? — Möchte ihn auf einen Augenblick ſprechen . . . .
Danke!“


Der Bauer ſah mit Staunen dem Beginnen des anderen
zu. In ſeinem Leben hatte er noch nichts von einem Fern¬
ſprecher gehört, geſchweige denn, eine ſolche Vorrichtung geſehen.


Harraſſowitz ſtand neben dem Apparate und lachte über
den komiſchen Schrecken des Alten. „Nehmen Sie mal das
andere Ding an's Ohr, Herr Büttner!“ rief er und hielt ihm
den Hörer hin. „Machen Sie nur! Es beißt nicht.“ Der
Bauer war nicht zu bewegen, den Hörer anzufaſſen.


Inzwiſchen kam Antwort.


„Hier Harraſſowitz! . . . Ja! . . . 'n Morgen, Schön¬
berger! Herr Gutsbeſitzer Büttner aus Halbenau iſt hier bei
mir, wünſcht gekündigte Hypothek belegt zu haben. Kann ich
mit ihm zu Ihnen kommen?“


Eine längere Pauſe entſtand, während der Harraſſowitz
geſpannt horchte. Dann lachte er auf einmal laut auf, und den
Bauern höhniſch von der Seite anblickend, immer den Hörer
am Ohr, rief er in den Fernſprecher:


„Der Kaffer braucht ehn, dringend. Feines Maſſe¬
matten. . . . . Ach was! Biſt meſchuke! — Wie? . . . . Is
beſoll. Wir machens in Kippe, natürlich. . . . Verſteh nicht!
Der Kaffer iſt halb mechulleh. Geb Dir Rebuſſim. . . . . .
Schön! Bringe ihn. Auf Wiederſehen. Schluß!“


„Das nennt man Telephon oder Fernſprecher, mein
Lieber!“ ſagte Haraſſowitz und klopfte dem Alten mit ſpöt¬
tiſchem Grinſen auf den Rücken. „Sehen Sie, da haben Sie
wieder was Neues kennen gelernt, und können Ihren Leuten
da draußen was erzählen.“


Man wolle nun zu Herrn Schönberger gehn, meinte er,
und nötigte den Bauern zur Thür.


Das Kredit- und Vermittelungsbüreau von Iſidor Schön¬
berger lag am anderen Ende der Stadt, ebenfalls in einem
engen Winkelgäßchen. Harraſſowitz trat aber nicht in das
4 *[52] Comptoir, führte den Bauern vielmehr durch den Hausgang in
eine Hinterſtube.


Hier ſaß in einem abgeſchabten Lederfauteuil vor ſeinem
Schreibtiſche ein fetter Mann, kahlköpfig, mit dunklen großen
Augen, die ihm, aus tiefen Höhlen über die gebogene Naſe
hinwegſpähend, etwas von einer großen Eule gaben.


„Morgen Schönberger!“


„Morgen Sam!“ Der fette Mann rührte ſich nicht auf
ſeinem Stuhle, mit dem er verwachſen zu ſein ſchien. Haraſſo¬
witz, unter dem Namen „Sam“ weit und breit in der Handels¬
welt bekannt, ſchien die Gewohnheiten ſeines Freundes zu
kennen. Er rückte ſelbſt Stühle heran, forderte den Bauern
auf, Platz zu nehmen und ſetzte ſich.


„Hier bringe ich Ihnen alſo meinen Geſchäftsfreund, den
Herrn Gutsbeſitzer Büttner. Ich kenne den Mann. Er iſt
gut. Sie können ihm unbedenklich Kredit eröffnen.“


Schönberger zuckte die Achſeln mit verdrießlicher Miene.
Dann begann er mit belegter Stimme, etwas anſtoßend
ſprechend: In gegenwärtiger Zeit auf Grund und Boden Geld
zu borgen, ſei bedenklich. Jetzt, wo Subhaſtationen an der
Tagesordnung ſeien, und die Bauern noch öfter pleite mach¬
ten, als die Induſtriellen.


„Für den hier garantiere ich!“ rief Harraſſowitz. „Das
iſt einer vom alten Schrot und Korn. Der iſt durch und
durch ſolid!“ Dabei tätſchelte er den Bauern. „Was? der
macht uns nicht bankerott, nicht wahr?“


Aber Iſidor Schönberger blieb bei ſeiner Ablehnung. Er
habe zu viele ſchlechte Erfahrungen gemacht in der letzten Zeit.
Habe ſeine Zinſen nicht erhalten, ſei bei Zwangsverſteigerungen
ausgefallen und um ſein Geld betrogen worden.


„Wenn ich Ihnen ſage, daß der Mann Ihnen ſicher iſt!
wenn ich mich mit meinem Ehrenwort für Herrn Büttner
verbürge! Sehen Sie ſich den Herrn doch blos mal an,
Schönberger! ſieht der aus, als ob er uns Schaden machen
wollte? Wenn ich ſage, er iſt gut, dann iſt er gut!“


„Wo ſteht die Hypothek?“ fragte Schönberger, der, im
[53] Gegenſatz zum lebhaften Weſen ſeines Geſchäftsfreundes, eine
gleichgiltige apathiſche Ruhe zur Schau trug.


„Darauf kommts hier gar nicht an!“ rief Harraſſowitz.
„Bei einem Gute von über zweihundert Morgen beſten Bodens!
Die Hypothek iſt todſicher.“


„Weshalb iſt ſie gekündigt?“ fragte Schönberger.


„Der Bruder hatte ſie,“ erklärte Harraſſowitz. „Der hat
gekündigt, weil er das Geld im Geſchäft braucht. Muß
auch verrückt ſein, der Herr, daß er ſo 'ne Hypothek weggiebt!
— Seien Sie vernünftig, Schönberger, geben Sie das Geld!“


Der fette Mann nahm ein Notizbuch zur Hand, befeuchtete
die Beiſtiftſpitze, dann forderte er den Bauern auf, ihm die
einzelnen Poſten der Reihe nach zu nennen.


Es bedurfte einiger Zeit, ehe der alte Mann die Zahlen
in ſeinem Gedächtnis gefunden hatte. Aber ſchließlich brachte
er doch alles richtig zuſammen.


Da war zuerſt die Landſchaft mit viertauſend Mark,
dann kamen die Geſchwiſter: Karl Leberecht und Gottlieb, die
verſtorbene Schweſter Karoline, an deren Stelle jetzt ihre Erben:
Ernſt Kaſchel und ſeine Kinder, ferner die Schweſter Erneſtine.
Sämtliche zu gleichen Teilen und mit gleichem Vorrecht. Da¬
hinter kamen immer noch neue Schuldpoſten, unter dieſen Ernſt
Kaſchel mit ſiebzehnhundert Mark.


Der Mann im Lehnſtuhle ſaß da mit der ihm eigenen
verdroſſenen Miene und notierte jede Ziffer, die ſich von den
zagenden Lippen des Alten losrang, mit kühler Ruhe. Weder
Staunen noch Erregung ſchien ſich in den Fleiſchmaſſen dieſes
gedunſenen Geſichtes ausdrücken zu können „Iſt das alles?“
fragte er, als der Bauer endlich ſchwieg. Der Büttnerbauer bejahte.


„Sie ſollen das Geld haben!“ war alles, was die belegte
Stimme darauf ſagte.


Harraſſowitz ſprang von ſeinem Sitze auf. „Was habe
ich Ihnen geſagt, Büttner! Mein Freund Schönberger iſt ein
edler Mann! Sehen Sie, er giebt das Geld!“


„Wieviel hat Ihr Bruder Prozent gegeben?“ fragte Schön¬
berger.


[54]

„Vier Prozent“, erwiederte der Bauer.


„Mein Satz iſt fünf, bei vierteljähriger Kündigung“ meinte
Schönberger.


Dem Büttnerbauer fiel ein Stein vom Herzen bei dieſen
Worten. Er hatte gefürchtet, man werde ganz andere Pro¬
zente von ihm fordern.


„Sehen Sie, was ich geſagt habe!“ rief Harraſſowitz,
„was für ein Mann Schönberger iſt! Fünf Prozent nimmt
er blos. Sie haben ein glänzendes Geſchäft gemacht, Büttner!“


Der Bauer fing an, das ſelbſt zu glauben. In ſeinem
ſchlichten Gemüte regte ſich Dankbarkeit für den Mann, der
ihm in ſo großer Not geholfen hatte. Er ſchritt unbeholfen
auf Herrn Iſidor Schönberger zu, und pflanzte ſich vor ihn
hin. Dann ergriff er die weiße, welke, mit vielen Ringen ge¬
ſchmückte Hand des Mannes und drückte ſie mit ſeiner derben
roten Bauernfauſt. „Ich bedank' mich och, Herr Schönberger,
ich ſog' meinen ſchienſten Dank! Und bezahl' Sie's der liebe
Gott! Sie hon mir ane gruße Surge abgenumma.“


Iſidor Schönberger betrachtete ihn mit demſelben mi߬
mutig verächtlichen Ausdruck, den er für alles auf der Welt
hatte, was ſich nicht in Zahlen ausdrücken ließ, und entließ ihn
dann mit kaum merklichen Nicken ſeines ſchweren Kopfes.


„Wir gehen jetzt zum Notar, und dann zum Grundbuch¬
führer, Herr Büttner!“ ſagte Harraſſowitz, als ſie in der Haus¬
flur ſtanden. „Gehen Sie nur immer hinaus auf die Straße. Mir
fällt eben ein, daß ich in einer anderen Sache noch ein paar
Worte mit Schönberger zu ſprechen habe. Ich komme in einer
Minute zu ihnen.“


Aus der Minute wurden ihrer mindeſtens zehn. Dann
erſchien der Händler und nahm den Bauern unter den Arm.
„Nun kommen Sie mein Lieber! Jetzt machen wir die Ge¬
ſchichte ſchriftlich, damit Sie Ihre Sicherheit haben und einen
Beleg in Händen halten. Ich führe ſie zu meinem Notar, der
macht's Ihnen billig.“


[55]

Nachdem man beim Advokaten und auf dem Gerichte ge¬
weſen war — wo Harraſſowitz, der in dieſen Dingen äußerſt
bewandert zu ſein ſchien, alles veranlaßt hatte, ſo daß der
Büttnerbauer nur zu unterſchreiben brauchte — ging man zum
„Mutigen Ritter“. Denn die Mittagszeit war inzwiſchen
herangekommen, und der Bauer wollte heimfahren.


Harraſſowitz verſicherte dem Alten, daß er ihn nächſtens
einmal in Halbenau beſuchen werde. Es intereſſiere ihn, das
Gut und die Wirtſchaft mal in Augenſchein zu nehmen.


„Kimma Se ack, Herr Harraſſowitz! Kimma Se ack!“
rief der alte Bauer, „'s ſull mir ane Freide ſein!“


Damit drückte er dem Händler treuherzig beide Hände
zum Abſchiede.


Der Büttnerbauer verließ die Stadt in beſter Laune. Er
hatte die Taſche voll Geld, das er für ſeinen Hafer einge¬
nommen. Und was noch weit mehr bedeuten wollte, ſeine
Hypothek hatte er untergebracht. Nun hing ihm auf ein¬
mal der Himmel voller Geigen. Es ſchien keine Sorgen und
Nöte mehr zu geben auf der Welt, die Zukunft lag vor ihm
im heiterſten Lichte. Nun würde er ſich die neue Kuh an¬
ſchaffen können! ſo recht eine nach ſeinem Herzen, mit langem
Rücken und ſtarkem Euter, womöglich ſchwarz und weiß ge¬
fleckt. Das waren ſeiner Erfahrung nach die beſten Milch¬
kühe. Und dann liebäugelte er über dieſen Plan hinaus mit
einem anderen, noch kühnerern: die Scheune umdecken! das
Strohdach koſtete zu viel Reparaturen. Noch vor ein paar
Tagen hatte er zu ſeinem Sohne Guſtav geſagt, daß das eine
Ausgabe ſei, die er in ſeinem Leben nicht mehr werde auf ſich
nehmen können. Heute ſtellte er im Geiſte ſchnell einen Koſten¬
anſchlag auf, der erſtaunlich günſtig ausfiel. Es würde ſchon
gehen! es mußte ja alles gut werden. —


Der Bauer ſchmunzelte in einem fort und pfiff auch gelegent¬
lich ſtill vergnügt vor ſich hin. Etwas wie ein langverhaltener
Jugendübermut kam über den alten Mann. Hätte er einen
Bummler überholt, er würde ihn aufgefordert haben, zu ihm
in den leeren Kälberwagen zu ſpringen, nur um jemanden bei ſich
[56] zu haben, dem er ſeine gute Laune mitteilen könne. Als er an
einem Gaſthofe vorüberfuhr, kam ihm der Gedanke, zu halten,
und einen Branntwein zu fordern; das war ein Genuß, den
ſich der Büttnerbauer nur alle Jubeljahre einmal leiſtete.


Er wollte ſchon das Pferd zum Stehen bringen, da fiel
ihm ein, daß er den Schnaps ja auch im Kretſcham von Hal¬
benau trinken könne. Nicht etwa, daß er ſeinem Schwager,
dem Kretſchamwirt, den Verdienſt hätte zuwenden wollen! Nein!
Er hatte bei ſich beſchloſſen, den Hallunken zu ärgern. Wie
würde ſich Kaſchelernſt erboßen, wenn er vernahm, daß der
Schwager das Geld doch noch bekommen hatte, und daß ihm,
Kaſchelernſt, die fünf Prozent auf dieſe Weiſe entgingen. —


Der Bauer trieb den Rappen an. Schadenfroh lachte er
in ſich hinein. Endlich konnte er den Menſchen, der ihm ſchon
ſo manchen Tort angethan hatte, doch auch einmal ärgern! —


Er hielt vor dem Kretſcham an, und machte ſich durch
Peitſchenknallen bemerkbar. Sein Neffe Richard Kaſchel kam
heraus. Der junge Menſch ſah ſeinem Vater bedenklich ähn¬
lich. Nur etwas länger war er geraten, und zeigte noch nicht
die rote Naſe und die ſchwimmenden Augen des Alten. Aber
daſſelbe Rattengeſicht war's, und auch daſſelbe Lächeln und
Kichern, das bei dem jungen Menſchen noch flegelhafter und
zudringlicher herauskam.


Der Büttnerbauer fragte den Neffen, ob der Wirt zu
Haus ſei. Der ſei gerade aufs Feld hinausgegangen, erwiderte
der Burſche und grinſte dazu.


Der Bauer beſtellte einen Kornſchnaps.


„En guten?“ fragte der Neffe mit unverſchämten Lächeln
den Onkel anzwinkernd.


„Verſtieht ſich, an guten! Was Schlecht's mog ich ne!
Wennt'r und er hat ſchlechten, den kennt'r ſalber ſaufen. Ver¬
ſtiehſt De!“ rief der Alte dem Neffen zu.


Der junge Mann, gleich ſeinem Vater, in Strümpfen und
Holzpantoffeln, verſchwand im Gaſthofe, um gleich darauf mit
einer Flaſche und einem Gläschen wieder zu erſcheinen.


Der Bauer goß den Schnaps hinter, machte „brrr!“
[57] und ſchüttelte ſich. „Wos koſt' dos?“ rief er und zog den
Geldſack.


Der Neffe meinte mit gönnerhafter Miene, das ſei um¬
ſonſt.


„Was macht 's?“ ſchrie ihn da der Alte an, mit zorniger
Miene. „Ich wer' Dich glei umſonſten! Ich will keenen
Menſchen niſcht ne ſchuldg bleiba, zu allerletzten Eich! Dei
Vater mechte mich am Ende glei verklogen! Dei Vater, wegen
dan paar Pfengen. — Wos macht der Schnaps?“


Der Neffe nannte den Preis. Mit wichtiger Miene öffnete
der Bauer den Geldſack, ſuchte eine ganze Weile unter den
Münzen herum, immer beobachtend, welche Wirkung ſoviel Geld
auf den Neffen hervorbringen würde, und ließ ein Goldſtück
wechſeln.


Nachdem er kleine Münzen zurückerhalten und den Beutel
wieder an ſeinen Ort gebracht hatte, ſagte er ſcheinbar bei¬
läufig: „De kannſt Deinem Alten och derzahlen, ich hätte menen
Hafer gut verkoft, und de Hipetheke hätt 'ch och ungergebracht.
Vun ihn braucht 'ch nu niſcht mih, und an Puckel kennt' ar
mir rungerrutſcha, kennt ar mir! —“


Damit trieb er den Rappen an und fuhr nach Hauſe, ſehr
mit ſich zufrieden. Seinem Schwager würde das brühwarm
berichtet werden; dafür war geſorgt. Dem Kaſchelernſt hatte
er's mal gründlich heimgegeben.

[[58]]

V.

Ein Reiter ritt in den Hof des Büttnerſchen Bauerngutes
ein. Das Pferd war ein alter engliſcher Vollblutgaul, der
beſſere Tage geſehen haben mochte. Sattel und Zäumung waren
armeemäßig. Der Reiter verleugnete in Haltung und Er¬
ſcheinung den ehemaligen Offizier nicht. Er war ein hagerer
Fünfziger. Seinem wettergebräunten Geſichte gab ein langer
graublonder Vollbart eine wirkſame Umrahmung.


Die Töchter des Büttnerbauern waren im Hofe, mit
Miſtaufladen beſchäftigt. Hochaufgeſchürzt, mit bloßen Füßen,
die Gabeln in den geröteten Händen, ſtanden ſie auf der Dünger¬
ſtätte, neben der ein halbbeladener Wagen unbeſpannt hielt.


„Bin ich hier im Büttnerſchen Bauerngute?“ fragte der
Reiter.


„Hier is Büttners!“ antwortete Toni, die Ältere.


„Iſt der Bauer zu Haus?“


„Der Vater is uf'n Felde mit Karlen. Se thun de Apern
igeln.“


„Ich möchte mit Ihrem Vater ſprechen, in einer An¬
gelegenheit. Am liebſten allerdings im Hauſe. Könnten Sie
ihn holen?“


Toni ſtand da mit offenem Munde und gaffte den Fremden
an. Sein großer Bart, die roten Lederhandſchuh, die Reit¬
gerte mit dem Silberknauf, alles an ihm kam ihr ungewöhnlich
[59] vor. Sie empfand eigentlich Luſt, zu lachen. Darüber vergaß
ſie ganz, zu antworten.


An ihrer Stelle übernahm die jüngere Schweſter die Ver¬
mittelung dem Fremden gegenüber. Erneſtine war die Gewecktere
und Lebhaftere von den beiden. Mit einigen kaum merklichen
Griffen hatte ſie es verſtanden, ihren allzuhoch aufgeſchürzten
Rock herabzulaſſen, ſo daß wenigſtens die von Miſt beſchmutz¬
ten Waden den Blicken des fremden Herrn entzogen waren.
Sie ſagte — und gab ſich dabei Mühe, Hochdeutſch zu ſprechen:


„Wenn Sie den Vater ſprechen wollen, wir können ihn
rufen; ſie ſein nicht ſehre weit.“


Damit ſprang ſie behende von der Düngerſtätte hinab
und lief zum oberen Thore. Dort blieb ſie ſtehen, bildete mit
beiden Händen ein Schallrohr und rief: „Karle, gieh, ſag's
ack den Vater, er mechte glei amal rei kimma. 's wäre ener
dohie, der mit'n raden wullte. . . . . Ich kann ne verſtiehn! . . .
In ju! A Reiter. Mit an Pauer wullt ar raden ſoit ar.“


Das Mädchen kam von ihrem Poſten zurück. „Der
Bruder wird's 'n Pauern ſagen“ erklärte ſie, „daß er rein¬
kommen ſoll.“ Darauf nahm ſie die Miſtgabel wieder zur
Hand.


Der Fremde dankte ihr. Er war inzwiſchen abgeſtiegen,
hatte dem Pferde die Zügel über den Kopf genommen, die
Bügel in die Steigriemen hinaufgezogen, und locker gegurtet,
mit Handgriffen, denen man die alte Übung und die Liebe für
das Tier anſehen konnte. Nun fragte er, ob er irgendwo
einſtellen könne. Die Mädchen ſahen ſich eine Weile unſchlüſſig
an, dann erklärte Erneſtine, im Kuhſtalle ſei noch ein Stand
frei. Sie lief auch ſofort zum Stallgebäude und öffnete die
Thür.


Der Fremde folgte ihr, das Pferd am Zügel. Jetzt wo
er ſich auf ebener Erde bewegte, kam erſt die Größe und
Schlankheit ſeiner Figur zur Geltung.


Der Vollblüter ſcheute vor der niederen Thür und
dem Geruche, der aus dem Kuhſtall drang. Mit fliegenden
Nüſtern und geſpitzten Ohren ſtand der Gaul da und ſchniefte
[60] in tiefen langgezogenen Tönen. Durch Klopfen und Zureden
brachte ſein Herr ihn endlich dazu, die verdächtige Schwelle zu
überſchreiten. „Das übrige beſorge ich mir ſchon ſelbſt; danke
Ihnen!“ rief er dann und verſchwand, ſeinem Tiere folgend,
in dem engen Pförtchen.


Bald darauf trat der alte Bauer in den Hof. Seine
Miene verriet Ärger. Er war ſchlechter Laune, daß man ihn
von der Arbeit abgerufen hatte. Erneſtine erklärte ihm, daß
ein Herr zu Pferde da ſei. Er ſähe aus, wie einer vom Ritter¬
gute, meinte das Mädchen, welches, wie es ſchien, ſeine Augen zu
gebrauchen verſtand. Die Laune des Alten verbeſſerte ſich durch
dieſe Vermutung nicht. Er fluchte und rief den Töchtern zu,
ein andermal ſollten ſie ſolche Leute wegſchicken.


Inzwiſchen kam der Fremde aus dem Stalle heraus, in
gebückter Haltung, um nicht an den Deckſtein anzuſtoßen. Er
begrüßte den Bauern, der die Hände nicht aus den Taſchen
nahm, mit Hutabnehmen und erklärte, er ſei der neue Güter¬
direktor des Grafen, Hauptmann Schroff.


Der Büttnerbauer ſah den Mann mit wenig freund¬
lichem Ausdruck an. Einer von der Herrſchaft! Von der Seite
war ihm bisher niemals was Gutes gekommen.


Da der Bauer ſich, wie es ſchien, nicht dazu herbeilaſſen
wollte, zu ſprechen, fragte Hauptmann Schroff, ob er ins Haus
treten dürfe, er habe mit Herrn Büttner ein Wort unter vier
Augen zu reden.


Der alte Mann ging, ſtatt zu antworten, auf ſein Haus
zu. Der Hauptmann folgte.


Im Zimmer trafen ſie die Bäuerin. „Frau gieh' naus!“
rief ihr der Bauer kurz angebunden zu. Der Fremde unter¬
ließ es nicht, ſich bei der Frau zu entſchuldigen, er habe Wich¬
tiges mit ihrem Eheherrn zu bereden.


Der Büttnerbauer hatte ſich in ſeine Ecke geſetzt, und ſah von
dieſen Verließ aus mit mürriſcher Miene, den Dingen entgegen,
die da kommen würden. Der Hauptmann holte ſich einen Stuhl
herbei und ſetzte ſich dem Alten gegenüber. Er ſchien das ab¬
lehnende Weſen des anderen abſichtlich überſehen zu wollen.


[61]

„Alſo, Herr Büttner!“ begann Hauptmann Schroff, und
ſchlug dabei mit der Reitgerte gegen ſeine geſpornten und ge¬
ſtiefelten Beine, die er lang ausgeſtreckt hatte, „die Sache iſt
nämlich folgende: Mein Chef, der Graf, möchte gern Ihren
Wald kaufen. Es iſt ja darüber bereits früher zwiſchen Ihnen
und meinem Vorgänger verhandelt worden, aber ohne Reſul¬
tat. Der Herr Graf wünſcht nun aber dringend, daß die
Sache endlich einmal vorwärts rückt. Der Erwerb Ihrer Wald¬
parzelle iſt uns von ziemlicher Wichtigkeit; ich ſage Ihnen das
ganz offen heraus. Das kleine Stück liegt gerade wie ein Keil
zwiſchen zwei von unſeren Hauptrevieren. Eine Verbindung
der beiden Reviere iſt aus wirtſchaftlichen Gründen dringend
erwünſcht. Uns bedeutet dieſer ſchmale Streifen die Möglich¬
keit, bei den Holzfuhren viele Kilometer zu erſparen. Ihnen
dagegen nützen dieſe fünfzig oder ſechzig Morgen ſo gut wie
gar nichts. Im Gegenteil, der Wald koſtet ihnen höchſtens
etwas. Das bißchen Holz was darauf ſteht, iſt kaum der
Rede wert. Der Boden iſt entwertet durch die Streu¬
nutzung. Und dabei liegen doch Abgaben darauf. Wenn wir
es in unſere Regie bekommen, würden wir ſofort Kahlſchlag
machen laſſen und neu aufforſten. Dabei werden die Arbeits¬
löhne natürlich nicht einmal herauskommen, ſo ſchlecht iſt
der jetzige Stand. Sie ſehen demnach, Herr Büttner, das
Intereſſe iſt eigentlich auf beiden Seiten. Für uns, die Par¬
zelle zu erwerben, für Sie, das Ding loszuwerden. — Alſo
werden wir wohl handelseinig werden, denke ich, diesmal.“


„Ich denk's ne!“ ſagte der Bauer aus ſeiner Ecke heraus.


„Aber, ich bitte Sie, beſter Herr Büttner!“ rief der Haupt¬
mann und kam dem Alten näher auf den Leib, ſich mit Hülfe
ſeiner langen Beine auf die Ecke zurückend. „Der Graf will
Sie natürlich gut bezahlen, jedenfalls weit über den eigent¬
lichen Wert des Grund und Bodens. Ich habe Vollmacht,
Ihnen einen Preis zu bieten, der in dieſer Gegend für Wald¬
boden noch nicht bezahlt worden iſt.“


„Ich ha 's an Vater vun Grofen ſchunſtens zweemal ſoin
laſſen, ich verkefe meenen Buſch ne; und dos gilt a heite noch!“

[62]

„Aber, bedenken Sie doch nur, Lieber, Sie bekommen da¬
durch Kapital in die Hand. Ich glaube Ihre Verhältniſſe ſind
derart, daß Sie das ganz gut gebrauchen können.“


„Wie's mir ergieht, oder ne ergieht, das geht niemanden
uf der Welt niſcht ne an!“ rief der Alte; das Zittern ſeiner
Stimme ließ die innere Erregung ahnen.


„Herr Gott! Mißverſtehen Sie mich nur nicht! Fällt
mir im Traume nicht ein, mich in Ihre Verhältniſſe zu miſchen.
Ich habe nur ſoviel ſagen wollen, daß Sie, wenn Sie erſt
mal Ihren Wald los ſind, alle Kraft auf die Verbeſſerung
der Felder und der Wieſen verwenden können. Ich glaube,
da ließe ſich noch manches thun. Ich bin neulich mal über
ihr Grundſtück geritten. Da draußen am Waldesrande liegt
ein ganzer Schlag, auf dem wächſt nichts als Unkraut.“


Der Bauer rückte in ſeiner Ecke unruhig hin und her,
da jener ihn, ohne es zu ahnen, an der verwundbarſten Stelle
traf. Das war ja ſein ärgſter Kummer, daß er das Büſchel¬
gewende ſchon zum zweiten Male mußte als Brache liegen
laſſen, weil es ihm an Arbeitskräften fehlte.


Hauptmann Schroff fuhr unbeirrt fort: „Da ließe ſich
ſicher noch vieles beſſern. Und vor allem! intenſivere Wirt¬
ſchaft mein Lieber, intenſiveres Düngen. Aber dazu iſt Bar¬
geld nötig. Ich meine, Sie ſollten mit beiden Händen zu¬
greifen, wenn Ihnen ein ſolches Gebot gemacht wird.“ Der
Sprecher merkte in ſeinem Eifer wohl nicht, wie es in dem
Geſichte des Alten wetterte und zuckte. Das waren ja alles
Dinge, die er nur zu gut wußte, die er ſich ſelbſt wie oft
geſagt, die aber im Munde des Fremden als beleidigende Vor¬
würfe wirkten.


„Und nun noch eins!“ fuhr der Hauptmann fort „etwas,
das auch wieder das gemeinſame Intereſſe illuſtriert, welches
Sie wie der Graf, an dem Handel haben. Aus dem gräf¬
lichen Forſte tritt nicht ſelten das Wild auf die Fluren hinaus,
wahrſcheinlich auch auf Ihre Felder . . .“


Jetzt riß dem Alten die Geduld. Die Erwähnung des
Wildes, das ihm ſeine Saaten zertrampelte und ſein Getreide
[63] abäſte, wirkte wie ein Peitſchenhieb auf ſein bereits hinläng¬
lich gereiztes Gemüt. Hochrot im Geſicht fuhr er auf und ſchrie
los: „Wullen Se mich etwan zum Narren halen! Kummen
Se und derzahlen mer vun a Wilde! Dos Ungeziefer frißt
unſereenen bale ganz uf. Geklogt ha'ch ſchun, aber hob 'ch
denn a Recht gekriegt? Fir uns Pauern giebt's ja keene Ge¬
rechtigkeit ne gegen de Grußen.“


Grollend ſetzte er ſich wieder auf ſeinen Platz, verſchränkte
die Arme und ſah den Fremden mit feindlichen Blicken an.


Der gräfliche Güterdirektor ſchien mit bäuerlichen Sitten
ſo weit vertraut zu ſein, um zu dieſem Zornesausbruch
lächeln zu können. Er meinte in beſchwichtigendem Tone:
„Nur nicht gleich ſo hitzig, mein guter Büttner! Laſſen Sie
mich Ihnen das mal in Ruhe erklären. Mein Graf will
einen Wildzaun anlegen längs der bäuerlichen Grenze, ſo
ein zwanzig Kilometer lang und mehr. Dadurch ſoll das
Übertreten des Wildes ganz verhindert werden. Aber, dazu
brauchen wir Ihren Wald, weil ſonſt eine Lücke entſtehen
würde in dem Zaun, verſtehen Sie! — Alſo wie ſtehts, ſind
wir handelseinig?“ Der Hauptmann ſtreckte bei dieſen Worten
dem Alten die Hand hin. „Wenn es hierbei einen Vorteil
giebt, ſo liegt er ganz unbedingt auf Ihrer Seite, ſollte ich
denken.“ —


Der Büttnerbauer preßte die Lippen auf einander, runzelte
die Stirn und blickte ſtarr geradeaus, er vermied den Blick
des anderen, wie einer, der ſich durch Überredungskünſte nicht
irre machen laſſen will. Gänzlich konnte er ſich der Einſicht
ja nicht verſchließen, daß ihm hier ein günſtiges Angebot ge¬
macht wurde; aber das alt eingewurzelte, bei den meiſten
Bauern tief eingefleiſchte Mißtrauen gegen alles, was von
Seiten der Herrſchaft kommt, verhinderte ihn, nüchtern und
vorurteilsfrei zu erwägen.


„Sie ſollten Ihren Frieden machen mit der Herrſchaft,“
ſagte Hauptmann Schroff, als ahne er, was in der Seele des
Alten vorgehe. „Vor allem da Sie es jetzt mit dem jungen
Grafen zu thun haben. Der Zwiſt, den Sie mit dem alten
[64] Herrn gehabt, könnte doch füglich mit ihm begraben ſein. Ich
glaube, es wäre kein Schade für Sie, wenn Sie ſich mit uns
ſtellten. Die Intereſſen von Bauer und Ritterſchaft gehen viel¬
fach Hand in Hand. Schließlich ſind es doch verwandte Stände:
Grundbeſitzer. Die Größe des Beſitzes bedeutet keinen ſo
enormen Unterſchied.“


Dieſer Verſuch, ihn mit der Gemeinſamkeit der Intereſſen
zu fangen, machte den Bauer nur aufſtützig. Der Mann da
entwickelte ihm viel zu viel Eifer. Nein, ſo beſchwatzen
ließ er ſich nicht! Daß der Graf nicht aus Liebe für die Bauern
den Wildzaun errichten wollte, war klar. Wozu das Gerede!
Nur um ſo feſter wurde der Alte in ſeiner Anſicht, daß er hier
wieder einmal betrogen werden ſolle.


„Nahmen Se ſich ack keene Mihe wetter!“ ſagte er in
mürriſchem Tone. „Ich verkefe niſcht vom Gutte weg. Een fir
allemal, nu ho'ch Se's geſoit!“


Der Hauptmann hatte die ausgeſtreckte Hand wieder zu¬
rückgezogen. Die Sache ging doch nicht ſo ſchnell, wie er ſich's
gedacht hatte, mit dieſem ſtarrköpfigen Alten. „Sie werden
ſich's noch überlegen, Herr Büttner!“ meinte er. „Ich kann's
ja begreifen, daß Sie an Ihrem Eigentum hängen. Voll¬
ſtändig vermag ich's zu verſtehen, glauben Sie mir das
nur! Man hängt an der eigenen Scholle, ich weiß das aus
eigener Erfahrung. Und das Herz blutet einem, lieber möchte
man ſich einen Finger von der Hand hacken laſſen, als einen
Acker weggeben vom ererbten Grund und Boden.“ Hauptmann
Schroff hielt einen Augenblick inne. Dem trüben Ausdrucke nach
zu ſchließen, den urplötzlich ſeine ſonſt heiteren und offenen
Züge annahmen, ſchien eine düſtere Erinnerung durch ſeine
Seele zu ziehen. Er ſchnipſte mit den Fingern, wie um das
zu vertreiben und fuhr fort: „Sehen Sie, man kann darin aber
auch zu weit gehen, ich meine, in jenem Feſthalten. Dann wird
eben Starrköpfigkeit und Vernarrtheit daraus. Lieber ein kleines
Gut, als ein großes, das man nicht voll bewirtſchaften kann.
Ich kenne Ihre Lage, Büttner! Ich ſage Ihnen ſoviel, aus
meiner eigenen Erfahrung heraus, wenn Sie ſich auf Ihren
[65] Willen verſteifen, wenn Sie auf dieſen Vorſchlag hier nicht
eingehen, werden Sie ſich nicht halten können auf Ihrem Gute.“


Jetzt hielt ſich der Bauer nicht länger. „Ich ho mich
gehalen dreißig Juhre lang, dar Herrſchaft zun Trotze! Mich
wardt er ne uffraſſen, wiet'r ringsrim alles ufgefraſſen hoat,
mich ne! Wenn der Pauer alle wird, wer is 'n dran ſchuld,
wenn ne die Rittergitter? Auf uns Pauern hackt a alles ei, de
Beamten wie der Edelmann. Nu ſolln mer och noch 's latzte
Biſſel hergahn, dos mer hoan. Vun Haus und Hof mechten
ſe uns rungertreiba, alles mechten ſe ſchlucken, bis mir gar
an Bettelſtabe ſein. Dazumal, als ſe teelten — regulieren
thaten ſe's heeßen — 's is nu ſchun an Hardel Jahre har,
mei Vater ſelch hot mer's derzahlt — do hat mei Grußvater an
dritten Teel vun Gutte hergahn miſſen, an's Rittergut. Und
hernachen wor's immer no nich genug. Do mußte mei Vater
ſelch no ane Rente abzahlen, wie viele Juhre durch! — Nu
ſollt ees denka, mer wär' frei gewurn, weil mer an Hofedienſt
und a Fronde los ſen. Aber ne! nu kimmt a Edelmann ſu
vun hinten rim und mechte unſereenem 's Gut abluchſen. Aber,
da giebt's niſcht! Mir Pauern ſein och nich mehr ſo tumm.
Mir ſein a nimmer de Unterthanen mih vun an gnädgen Herrn.
Wenn mir ne wullen, do brauchen mer ne! Zun verkefen kann
mich keener ne zwingen, och der Graf ne!“


Der Hauptmann hatte dieſen Ausbruch bäuerlichen Selbſt¬
bewußtſeins mit Verſtändnis und Teilnahme angehört. Sowie
ihn der alte Mann zu Worte kommen ließ, ſagte er: „Ich
kann das alles mit Ihnen fühlen, Büttner! Ich habe auch
einmal ein Gut beſeſſen, ein ſchönes großes, vom Vater er¬
erbtes Rittergut. Ich habe den Grund und Boden, auf dem
ich geboren war, lieb gehabt, ſo gut wie Sie Ihr Gut lieben.
Genau wie Sie dachte ich damals. Aber die Verhältniſſe ſind
oft ſtärker, als unſer Wille. Was will man machen! Ein
paar Mißernten und dann die Hypotheken, mein Lieber! die
Hypotheken! Das iſt der zehrende Fraß, der den Grundbeſitzer
vernichtet. Das iſt ſchlimmer als Feuersbrunſt, Hagel und
alle Ungewitter zuſammen. Auf überſchuldetem Grunde ſitzen,
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 5[66] das iſt, als ob Dir einer eine Schlinge um den Hals ge¬
worfen hätte, und wenn Du die Füße losläßt, hängſt Du
drinnen. Da giebt es keine Rettung. Der größte Fleiß, die
größte Sparſamkeit nützen da nichts, Du biſt kein freier Mann
mehr, Du hängſt von etwas ab, das Du nicht kontrolieren
kannſt, und das lähmt Dich. — Mit blutendem Herzen habe
ich meinen Beſitz fahren laſſen müſſen. Sequeſtration, Zwangs¬
verſteigerung, alles habe ich durchgemacht! Sie ſehen, mein
guter Büttner, ich kann hier mitreden.“


Der Hauptmann ſchwieg und ſtrich ſich mehrmals erregt
den Bart, ihn von oben nach unten durch die hohle Hand
gleiten laſſend. Er ſeufzte. „Gott ſchütze Sie, mein Lieber,
vor alle dem!“


Der alte Bauer war ſtille geworden in ſeiner Ecke. Die
Worte des anderen hatten Eindruck auf ihn gemacht.


Hauptmann Schroff fuhr fort: „Es iſt nicht leicht, als
älterer Mann, ein Stück hergeben von dem, was man durch
ein ganzes Leben ſich gewöhnt hat, als ſein Eigentum zu be¬
trachten. Sitzt da irgendwo in der Stadt ein Kerl, der
hat eine Hypothek auf Deinem Gute erworben. Und dieſer
Menſch, der mit dem Grund und Boden nicht das geringſte
zu thun hat, der nicht ackert, pflügt oder ſäet, der hat nun
Gewalt über Dein Gut. Der kann Dich runtertreiben, wenn
es ihm paßt. Wie eine Ware kommt Dein Eigentum unter
den Hammer. Und das, was Generationen gepflegt und kulti¬
viert und gehütet haben, wie ihren Augapfel, wird nun zer¬
ſchlagen und zerſchlachtet von Fremden. Und draußen ſitzen
wir! Als älterer Mann mit Familie, muß man ſich nach
Brot umſehen. Das iſt nicht leicht, mein Lieber, das iſt nicht
leicht!“


Der Hauptmann ſchwieg und blickte geſenkten Hauptes
zu Boden, als ſei dort irgend etwas Intereſſantes zwiſchen
ſeinen Stiefelſpitzen zu erblicken.


Auch der Büttnerbauer ſagte kein Wort. Der Mann
hatte Recht! ſo war es, genau ſo! Wie oft hatte er nicht
ebenſo empfunden, wenn er mit Angſtſchweiß die Zinſen für
[67] ſeine Gläubiger aufzubringen ſich mühte. Der Mann wußte,
wie es zuging, wahrhaftig, der durfte mitreden.


Der Hauptmann riß ſich aus ſeinem Nachdenken. „Nun
wollen wir aber mal von unſerer Sache reden, Büttner! Ich
weiß, wie's mit Ihnen ſteht. Ich gebe Ihnen den wohl¬
gemeinten Rat: verkaufen Sie Ihren Wald! Das iſt das
einzige Mittel, das Sie noch retten kann. Zahlen Sie von
dem Erlös einen Teil der Grundſchulden ab, ſonſt bricht Ihnen
eines Tages die Geſchichte über dem Kopfe zuſammen. Es geht
Ihnen dann wie mir, Sie kommen um alles. Das Angebot,
welches Ihnen der Graf machen läßt, iſt kein ſchlechtes.
Nehmen Sie's an! Ich ſpreche nicht etwa nur im Intereſſe
meines Brotherrn, ich ſpreche zu Ihnen geradezu als ein
Leidensgefährte.“


Der Bauer ſchwieg eine Weile. In ſeinem Geſichte
arbeitete es, als bewegten ihn die widerſprechendſten Gefühle.
Aber die Feindſeligkeit war aus ſeiner Miene gewichen.
Schließlich erklärte er mit gedämpfter Stimme, wenn er auch
wolle, die Hypothekengläubiger würden es gar nicht zulaſſen,
daß er das Gut verkleinere.


Auf dieſen Einwand war der Hauptmann gefaßt. „Natür¬
lich würden die Gläubiger Einſpruch erheben, wenn Sie das
Pfandobjekt vermindern wollten, ohne ihre Genehmigung. Mit
den Leuten muß ſelbſtverſtändlich verhandelt werden. Ich
denke, wenn man ihnen eine entſprechende Abzahlung zuſichert,
werden ſie ſich bereit finden, die Einwilligung zur Dismem¬
bration zu erteilen. Es ſind ja wohl lauter nahe Verwandte
von Ihnen, die Gläubiger? Die werden doch ſo viel Intereſſe
für die Erhaltung des Gutes beweiſen, daß ſie ſich in dieſe
notwendigen Maßregeln finden.“ —


Der Bauer ſchüttelte mit bitterem Lachen den Kopf.
„Han Se ne das Sprichwurt gehert: Blutsverwandte tut
mer heeßen, die Dich am erſchten werden beeßen.“


„Steht es ſo bei Ihnen? Ich kenne das Wort! es liegt
was Wahres darin. Aber in Ihrem Falle, dächte ich, müßten
die Verwandten ein Einſehen haben, wenn nicht aus Familien¬
5*[68] ſinn, ſo vielleicht aus Egoismus. Die ſind doch ſchließlich auch
daran intereſſiert, daß das Gut in Ihren Händen bleibt. Denn
können Sie ſich nicht darauf halten, dann ſind auch die
Hypotheken gefährdet. Auf überſchuldetem Beſitz arbeitet der
Eigentümer thatſächlich nur für die Gläubiger. Sie ſchinden
und plagen ſich, damit Ihre Verwandten den Zinsgenuß un¬
geſtört haben. So liegt die Sache doch in Wahrheit, mein
Beſter! Habe ich Recht?“


„Recht han Se! Aber ſoin Se mal ſuwos zu an Glei¬
biger. Die gahn mer de Einwilligung ne, ich glob's ne!“


„Ich will Ihnen mal was ſagen, Büttner!“ rief der
Hauptmann, rückte dem Alten ganz nahe, und legte ihm eine
Hand aufs Knie. „Überlaſſen Sie die ganze Sache mir! Ich
will mit den Leuten verhandeln. Erfahrung habe ich mir ja
gekauft in dieſer Art Sachen. Ich glaube, ich werde die Ge¬
ſellſchaft ſoweit bringen, daß ſie Konſens erteilen. Es iſt
ja thatſächlich nur eine Formenſache. Nennen Sie mir mal
Namen und Adreſſe der ſämtlichen Hypothekengläubiger.“


Der Alte kraute ſich den Kopf; er wollte ſichtlich nicht
mit der Sprache heraus. Schließlich gab er aber doch dem
Drängen des Hauptmanns nach.


Als der Bauer den Namen „Schönberger“ nannte,
ſtutzte der Hauptmann. „Mann! Wie kommen Sie zu ſo
einem?“


Der Büttnerbauer berichtete in umſtändlicher Weiſe die
ganze Angelegenheit. Die Kündigung der Hypothek von Seiten
des Bruders, wie er ſich dann umſonſt nach Geld umgethan,
bis er ſchließlich in der Stadt das notwendige erhalten habe.


Hauptmann Schroff nahm eine bedenkliche Miene an und
ſchüttelte unwillig den Kopf. „Die Sache will mir nicht ge¬
fallen, mein guter Büttner! — Schönberger! — Was mag
das für ein Menſchenfreund ſein?“


Der Büttnerbauer meinte, es habe ihm ja kein anderer
Menſch das Geld borgen wollen. Herr Schönberger ſei gleich
bereit dazu geweſen, und allzu hohe Zinſen habe er auch nicht
gefordert. —


[69]

„Trotzdem! trotzdem!“ meinte der andere. „Oder viel¬
mehr, gerade deshalb! Aus Menſchenliebe thut's dieſe Art
gewöhnlich nicht. — Na, das iſt nun nicht mehr zu ändern. —
Alſo, mal die übrigen Gläubiger!“


Der Bauer berichtete, was ſonſt noch auf dem Gute an
Schulden ſtehe.


„Der Hauptgläubiger iſt demnach Ihr Schwager Kaſchel.
Mit einer Hypothek ſteht er zudem an letzter Stelle. Der
wäre alſo der Wichtigſte. Was denken Sie, wenn ich mit dem
Manne zuerſt Rückſprache nähme? Er wohnt ja hier am Orte;
iſt Kretſchamwirt, wie Sie ſagen.“


„Da mechte aber eener Haare uf'n Zähnen han,“ meinte
der Bauer mit vielſagendem Lächeln, „wer Kaſchelernſten kirren
wollte. Dos is a Dreimalgenähter. Und a bieſer Hund is
a Lammel gegen dan, das ſag'ch Se glei!“


Der Hauptmann meinte, er ſei nicht furchtſam von Natur
und er wolle es auf den Verſuch ankommen laſſen. Er werde
gleich einmal nach dem Kretſcham hinüberreiten.


Der Büttnerbauer ſagte nichts weiter dagegen.


Sie verließen die Stube. Der Hauptmann zog ſich ſelbſt
ſein Pferd aus dem Stalle, brachte die Sattelung in Ordnung
und ſtieg auf.


„Ich bringe Ihnen Nachricht über den Erfolg, Büttner!“
rief er im Abreiten.


Der Büttnerbauer ſah dem Reiter eine Weile nach, bis
er die Dorfſtraße erreicht hatte und dort hinter Häuſern ſeinen
Blicken entſchwand. Es hatte etwas Tröſtliches für den alten
Mann, daß dieſer vornehme Herr alles das durchgemacht
hatte, wovon er ſoeben erzählt. Er war ihm dadurch näher
getreten.


Der Bauer ſtand da mitten in ſeinem Hofe, die Hand
am Kinn, und ſimulierte. Was das für eine Welt war! man
fand ſich bald nicht mehr ein noch aus.


Ein Hufnagel lag am Boden. Er beugte ſeinen alten
[70] ſteifen Rücken und hob das verroſtete Ding auf. Man durfte
nichts umkommen laſſen. — Er ſah ſich im Hofe um. Die
Holzverſchalung am Weſtgiebel der Scheune war an verſchie¬
denen Stellen brüchig, an einem anderen Flecke fiel der Putz
von der Wand. Koſtete wieder Geld, das herſtellen zu
laſſen! Die neue Kuh war auch noch nicht voll bezahlt. Zu
alledem rückte der Halbjahrstermin heran, wo wiedermal die
Zinſen fällig waren. Woher das Geld dazu nehmen! Hafer,
Roggen, Stroh, das vorjährige Heu, alles war ſchon verkauft,
Schüttboden und Banſe waren leer.


Auf den Feldern ſtanden ja ſchöne Früchte. Wenn das
Wetter weiterhin günſtig war, würde er ſogar eine ausgezeichnete
Ernte machen. — Der Bauer wandte ſeine Schritte unwill¬
kürlich dem oberen Hofthore zu, von wo aus man die Felder
des Gutes in ihrer ganzen Ausdehnung überblicken konnte.


Er deckte die Augen mit der Hand gegen die Sonnen¬
ſtrahlen. Im klaren Mittagslichte lagen die Fluren vor ihm.
Das Kornfeld wogte wie ein grünlicher See mit ſilbernen
Wogenkämmen. Unabſehbar ſchien die Menge der Ähren¬
häupter, die ſich da im Winde beugten und hoben in lang¬
gezogenen ſchwellenden und ſinkenden Wellen. Und der Hafer,
der eben die Schoßhalme treiben wollte, ſtand in dichen Beeten,
eine dunkelgrüne lebendige Matte, von ungezählten ſchlanken
ſpitzen Hälmchen. Und die Kartoffeln mit ſaftigem Kraut,
kraftſtrotzend, in langen geraden Reihen, ſorgſam gejätet und
angehäufelt, daß es eine wahre Luſt war für das Auge des
Landmanns.


Das war doch ſein Eigentum! Hundertfach hatte er es
dazu gemacht, durch die Arbeit. Da war nicht ein Fußbreit
Land, den er nicht gepflegt hatte mit ſeinen Händen. Sein
Acker war ihm vertraut, wie ein Freund. Er kannte alle ſeine
Eigenarten, ſeine Schwächen wie Vorzüge, bis ins Kleinſte
hinein. Er ſtand zu dieſem Boden, deſſen Sohn er war, doch
auch wieder wie die Mutter zum Kinde; er hatte ihm von dem
ſeinen gegeben: ſeine Sorge, ſeine Liebe, ſeinen Schweiß.


Und nun drohten ſich zwiſchen ihn und dieſes Stück Erde,
[71] aus dem er und die Seinen Kraft und Nahrung zogen,
nun drohten ſich Fremde zwiſchen ihn und ſein Eigentum
zu drängen. Seinem ſchlichten ungeſchulten Verſtande ſtellte
ſich die Gefahr dar, wie eine Verſchwörung teufliſcher Mächte,
gegen ihn und ſein gutes Recht. Von der Macht und Be¬
deutung des mobilen Kapitals, von jenen ehernen Geſetzen,
nach denen ganze Stände und Geſchlechter dem Untergange
verfallen, andere emporhebend durch ihren Sturz, ahnte er nichts.
Eines nur hatte er am eigenen Leibe erfahren: er kämpfte und
rang durch ein langes Leben gegen eine Laſt, die auf ihn ge¬
legt war, er wußte nicht von wem. Und je verzweifelter er
ſich aufbäumte gegen das unſichtbare Joch, deſto ſchwerer und
drückender wurde ſeine Wucht.


Konnte ein Menſch das ahnen, der dieſe lachenden Fluren
anſah?


Gottes Segen ſchien auf ihnen zu ruhen. Der Acker
wollte ſeinem Pfleger ſo gerne zurückerſtatten mit Zinſen, was
er an Liebe auf ihn verwendet. Der Boden wollte dem die
Treue halten, der ihm treu geweſen war.


Halm an Halm drängte ſich. Konnte der, dem ſolche
Ernte in die Scheuer lachte, nicht guten Mutes ſein? Durfte
es denn wirklich eine Macht geben auf der Welt, die ihm
dieſen Ernteſegen, den der liebe Gott doch für ihn hatte wachſen
laſſen, ſtreitig machte?


Es kam wie ein großes dunkles Geſpenſt über die Felder
gehuſcht, ohne Beine, und doch ſchnellfüßig — der Schatten
einer treibenden Wolke. Es löſchte allen Glanz von den
Ährenwellen, es wiſchte die Farbenpracht der bunten Fluren
aus, es legte ſich wie ein düſterer Ton über alles. Der Schatten
eilte über Haus und Hof, über die Feldmark in ihrer
ganzen Breite, dem Walde zu.


Der Bauer ließ die Hand von der Stirn ſinken; jetzt
brauchte er ſie vor den Sonnenſtrahlen nicht mehr zu
ſchützen. Er wiſchte mit dem Ärmel über die Augen hin und
ſchneuzte ſich.


Toni kam aus dem Hauſe und meldete dem Vater, das
[72] Eſſen ſtehe auf dem Tiſche. Vom Felde her zog Karl mit
den Pferden herein. Der alte Bauer meinte, ſie ſollten mit
dem Eſſen immer anfangen, ohne ihn, er habe noch mit dem
fremden Herrn zu ſprechen.


Hauptmann Schroff erſchien nach einiger Zeit, er blickte
mißmutig drein. „Es war nichts damit!“ rief er dem Alten
ſchon von Hofthore entgegen. „Sie haben Recht behalten
Büttner. Ihr Schwager Kaſchel — nun, ich will nichts weiter
ſagen. Ich bedaure Sie, Mann! — Aus dem Dismembrations¬
plane kann nun nichts werden. Da bleibt nur noch eins
übrig: mein Graf kauft Ihnen das ganze Gut ab, zahlt die
Gläubiger aus, behält ſich den Wald und läßt Sie als Pächter
Zeitlebens auf Hof und Felder ſitzen. Einen anderen Weg
ſehe ich nicht!“


Da verfärbte ſich das Geſicht des Alten. Er richtete ſich
zu ſeiner ganzen Höhe auf, und ſeinen knochigen Arm aus¬
ſtreckend rief er zornig:


„Sahn Se den Miſthaufen durte? Lieber durt druffe
verrecken, aber 's Gutt gah' ich nich har!“

[[73]]

VI.

Frau Katſchner und ihre Tochter, Pauline, hatten Scheuer¬
feſt. Frau Katſchner hielt auf Sauberkeit und Ordnung in
ihrem kleinen Hauſe. Sie war viele Jahre lang als Küchen¬
magd auf dem Rittergute geweſen. Von daher ſtammten ihre
Manieren, oder, wie man in Halbenau ſagte, die „Be¬
nehmiche“, durch die ſie ſich von den anderen Dorfleuten
günſtig abhob. Eine Photographie der Gräfin, ihrer ehe¬
maligen Herrin, hing an der Wand, an beſonders ſichtbarer
Stelle.


Ihre feinere Lebensart hinderte die Witwe jedoch nicht,
gewöhnliche Arbeit zu verrichten, wie jede andere brave Hal¬
benauerin. Es war Sonnabend, der Tag, an welchem in
einem ordentlichen Haushalte gereinigt wird. Frau Katſchner
hatte gleich ihrer Tochter die Röcke hoch aufgebunden, ſie
ſchweifte mit einem Hader die Diele. Pauline handhabte am
Boden knieend die Scheuerbürſte. In der Mitte des Zimmers
ſtand ein Holzfaß, deſſen Inhalt bereits eine graubraune Fär¬
bung angenommen hatte. Pauline wollte eben eine neue Fahrt
warmes Waſſer aus der Pfanne herbeiholen, als ihr Blick,
der ſich zufällig durch's Fenſter in den Garten gewandt hatte,
dort durch etwas Ungewöhnliches gefeſſelt wurde.


„Mutter! Ne, ſahn Se ack! Zu uns kimmt a Geſcherre
nuf, gerade ibern Garten. Ja, Himmel, ich glebe, das ſein de
Konteſſen, Mutter!“

[74]

Frau Katſchner ſprang ans Fenſter. „De Konteſſen, Herr
Fedelt! — Nu feder aber, Madel!“ Sie ließ ſofort ihre
Röcke herab, fuhr in die Holzpantoffeln, trieb das Waſſer, das
in einer großen Pfütze auf der Diele ſtand, mit einem Borſt¬
wiſch in die Ecke und ſchaffte das Waſchfaß hinter den Ofen.
Das alles war das Werk von kaum einer Minute.


Schon klopfte es an's Fenſter. Draußen hielt ein niedriger
Korbwagen, darin zwei junge Damen. Die eine hatte ſoeben
mit dem Peitſchenſtiel gegen die Fenſterſcheibe gepocht. „Iſt
wer zu Hauſe hier?“ hörte man eine helle Stimme rufen.


„Ich wer' naus gihn, Pauline!“ ſagte die Witwe. „Mach
Du Dich derweilen a Biſſel zurechte, hierſt De! Zieh Der
Strimpe an, und a friſches Halstichel, verſtiehſt De! Ich wer
ſe ſchun ſu lange hinhalen — gieh, feder ack!“


Pauline, die ſich merkwürdig befangen und unſchlüſſig ge¬
zeigt hatte, von dem Augenblicke an, wo die Komteſſen in
Sicht gekommen, folgte dem Winke der Mutter und verſchwand
in ihrer Kammer. Frau Katſchner ſchob das Schiebefenſter
zurück, das nach dem Garten hinaus führte. Sie brach in
freudige Rufe des Staunens aus: „Ne aber! Ne ſowas! De
gnädigen Konteſſen ſelber! Ich werde ſogleich herauskommen.“


Die Damen waren aus dem Wägelchen geſtiegen. Eine
von ihnen hatte die Zügel geführt, jetzt warf ſie die Leine
dem Groom zu, der hinter ihnen auf der Pritſche geſeſſen
hatte.


Die Komteſſen waren gleich gekleidet, in hellen Stoff, und
trugen breite Strohhüte mit bunten Bändern. Wanda, die
jüngere und größere von beiden, war brünett, mit raſſigem
Geſicht, in dem adeliges Selbſtbewußtſein ausgeſprochen lag.
Ida, die ältere, ein Mädchen von ſchmächtiger Geſtalt, mit
durchſichtiger Hautfarbe und hellem Haar, zeigte weichere Züge.
Ihre ſtillen großen Augen und der feine Mund klangen zu
eigenartig melancholiſcher Wirkung zuſammen.


Frau Katſchner erſchien in der Thür und machte ihren
ſchönſten Knix, wie ſie ihn ſich ehemals auf dem Schloſſe ab¬
geſehen hatte.


[75]

„Wir wollten ſie mal beſuchen, Bertha!“ rief Komteſſe
Wanda, welche eben darüber war, mit Hülfe des Grooms den
Pony auszuſträngen. „Iſt übrigens ein eklig ſchlechter Weg
hierherauf. Bei einem Haare hätten wir umgeſchmiſſen. —
Kann der Pony hier graſen, Bertha?“


Frau Katſchner beteuerte unter fortgeſetztem Knixen, daß
hier alles den gnädigen Komteſſen gehöre, und daß es ihr eine
Ehre ſei, wenn der Pony in ihrem Garten Futter annehme.
Nun trat ſie an die jungen Damen heran und verſuchte, ihnen
die Hand zu küſſen, was jene aber zu verhindern wußten.


„Iſt Pauline zu Haus?“ fragte die ältere Komteſſe.


„Jawohl, Konteſſe Ida! Wenn die Damen ſo gnädig ſein
wollen und eintreten . . . es ſieht freilich ein wenig unordent¬
lich aus bei uns.“


„Kennen wir ſchon, Bertha! Faule Ausreden!“ rief die
Jüngere. „Sie behaupten immer, daß es unordentlich aus¬
ſieht bei Ihnen; dabei iſt es das reine Schmuckkäſtchen. Ich
wünſchte blos, bei uns wäre es immer ſo ordentlich — was
Ida?“ —


„Ach, Du großer Gott, Konteſſe Wanda! Die gnädigen
Damen müſſen nur verzeihen, wenn man eben arm iſt! —
Ordnung und Reinlichkeit, das koſtet kein Geld, ſage ich immer.
Auf dem Schloſſe, bei der gnädigen Herrſchaft, da hatte ich's
freilich beſſer, als jetzt. Das war ein ander Ding — dazumal!“


„Ja, ſehen Sie, Bertha! Das kommt alles nur vom
Heiraten!“ meinte Wanda, die unter ihresgleichen berüchtigt
war für ihre kräftigen Bemerkungen, und die ſich etwas zu
gute that darauf, daß ſie alles heraus ſagte, was ihr gerade
in den Sinn kam.


„Ja, ja! die gnädige Konteſſe können ſchon Recht haben,
mit dem Heiraten is es manchmal nich immer was Geſcheits.
Obgleich ich mich nicht beklagen kann. Mein Mann is eben
tot, Gott hab ihn ſelig! Aber man hat viel Sorge davon und
Ärger noch obendrein. Ne, ne! Wer geſcheit is, gnädige Kon¬
teſſe, da haben Se ſehr Recht, der heirat' ſich keenen Mann!“


Unter ſolchen Reden war man ins Haus getreten. Hier
[76] ſprangen ein paar Kaninchen hinter einen Bretterverſchlag.
Wanda wollte eines der Tiere erhaſchen, aber das Tierchen
war flinker als ſie. Frau Katſchner, die Paulinens wegen jetzt
noch nicht das Zimmer betreten wollte, fand hierin eine günſtige
Gelegenheit, die jungen Damen noch länger im Hausflur zu
halten.


Sie öffnete das Ställchen. In einer dunklen Ecke unter
einer Heubucht erblickte man eine ganze Kaninchenhecke. Wanda
rief: „Pfui Deibel, wie ſtinkt 's hier!“ lief aber nichtsdeſto¬
weniger in den Verſchlag hinein, und zog einzelne Tiere an
den Löffeln heraus. Frau Katſchner mußte ihr ſagen, welches
Männchen und welches Weibchen ſeien.


Als das Intereſſe hierfür erſchöpft ſchien, hielt es Frau
Katſchner für angezeigt, die Damen in das Wohnzimmer zu
führen. Pauline kam jetzt zum Vorſchein aus ihrer Kammer,
mit geſenkten Augen, über und über errötend. Ihre Befangen¬
heit war womöglich noch größer, als zuvor.


Pauline war in früheren Zeiten ein gelegentlicher Gaſt
auf dem Schloſſe geweſen, als Spielgefährte für Komteſſe Ida,
mit der ſie ungefähr in gleichem Alter ſtand. Damals war
man vertraut geweſen mit einander, nach Weiſe von Kindern,
bei denen ſich der Standesunterſchied nicht ſo ſtark bemerk¬
bar macht. Frau Katſchner hatte der Tochter zwar immer
die größte Devotion gegen die herrſchaftlichen Kinder einge¬
ſchärft, aber beim Spiele war die künſtliche Schranke der
Etikette oft genug überſchritten worden. Inzwiſchen hatten die
beiden Komteſſen eine Penſion für freiadelige junge Mädchen
beſucht, aus der ſie vor einem Jahre als fertige junge Damen
entlaſſen worden waren. Sie hatten ihren erſten Winter in
der Berliner Geſellſchaft hinter ſich. Seit Jahren hatten ſich
alſo die ehemaligen Spielgefährten nicht mehr geſehen.


Auch Ida errötete bis unter das blonde Haar, als ſie
Pauline jetzt die Hand reichte. Einen Augenblick hatte ſie
erwogen, ob ſie das Mädchen umarmen ſolle. Aber dann
fürchtete ſie, es könne gemacht ausſehen und wie Herablaſſung
wirken, und ſo ließ ſie es lieber bei einem Händedruck bewenden.


[77]

Wanda hingegen ſtellte ſich vor Pauline hin und muſterte
ſie von oben bis unten. „Dieſe Pauline!“ rief ſie. „Was
das für ein Weib geworden iſt. Wie eine Frau ſieht ſie aus,
wie die reine Frau! Gar nichts vom Mädel mehr!“


Paulinens Hals, Wangen und Stirn färbten ſich purpurn.
Die Komteſſe ahnte nicht, welchen Sinn jene ihrer Bemerkung
unterlegen mußte.


Frau Katſchners Vermittlertalent half über dieſen kritiſchen
Moment hinweg. Sie ſprach und fragte, machte auf dieſes
und jenes aufmerkſam, forderte die Damen zum Sitzen auf.
Sie erzählte aus jetziger und früherer Zeit, wußte ihre devote
Geſinnung gegen die Herrſchaft in das rechte Licht zu rücken.
Mit ihrer Bewunderung für die Erſcheinung der Komteſſen
hielt ſie nicht zurück. Sie war eine Meiſterin in der Dienſt¬
botenſchmeichelei. Durch gelegentlich eingeworfene Fragen ver¬
ſtand ſie es übrigens auch, die jungen Damen zur Ausſprache
zu bringen, ſo daß ſie bald allerhand für ſie Wiſſenswertes in
Erfahrung gebracht hatte.


Pauline ſaß ſtumm dabei und rührte ſich kaum. Auf
dem Mädchen ſchien irgend etwas zu laſten.


„Famos iſt es hier!“ rief eben Wanda. „Überhaupt, die
ſogenannten armen Leuten haben es doch gar nicht ſchlecht!“
Da erhob ſich in der Kammer nebenan ein jämmerliches
Quiecken. Pauline wurde ſehr unruhig und ſelbſt Frau Katſchner
warf einen beſorgten Blick nach jener Thür.


„Was haben Sie denn da drinne? Junge Katzen?“ fragte
Wanda. Sie ſchien große Luſt zu verſpüren, dem Grunde des
Lärmes ſofort nachzuforſchen.


„Ach, das iſt ja das Kind!“ rief Frau Katſchner.
„Gnädige Konteſſen müſſen entſchuldigen!“


„Was! Habt Ihr hier kleine Kinder?“


Pauline ſaß wie mit Blut übergoſſen, die Augen in den
Schoß gerichtet.


„Wir wiſſen eigentlich ſelbſt nicht recht, wie wir zu dem
Kinde kommen,“ ſagte Frau Katſchner. „Da habe ich eine
Schweſter, von der is der Mann geſtorben, und da is eine
[78] Tochter, die hat geheiratet, und ſehen Sie, der is der Mann
davongelaufen. So ein Lump! nicht wahr? Na, ich hab's ja
vorher geſagt! Aber, wer nicht hören wollte . . . . . Alſo,
von der is das Kind. — Das arme Ding haben wir derweilen
hier bei uns aufgenommen, weil die ſich einen Dienſt ſucht.
Das is der ihr Kind, ja!“ —


Pauline ſah ihre Mutter erſchrocken an, ob der Lüge. Das
Mädchen war auf einmal ganz bleich geworden. Gut, daß
Wanda das Geſpräch ſofort an ſich riß und über durch¬
gebrannte Männer und kleine Kinder mit Kennermiene zu
ſprechen begann. Pauline ſchlich ſich derweilen aus dem
Zimmer. Gleich darauf hörte man ſie in der Kammer das
ſchreiende Kind beruhigen.


„Na, und ſehen Se!“ fuhr die Witwe voll Eifer fort,
„was meine Pauline is, die hat Sie das Kind doch nu ſo lieb
gewonnen, als wäre 's ihr eigenes. Wie eine zweite Mutter,
mechte man ſprechen, is das Mädel zu dem Kinde.“


„Darf man das Kleine einmal ſehen?“ fragte Ida.


Frau Katſchner lief ins Nebenzimmer und ſprach dort
halblaut ein paar Worte mit ihrer Tochter. Bald darauf
kamen beide Frauen ins Zimmer zurück. Pauline trug den
Jungen auf dem Arme.


Das Kind ſaß da, einen Finger im Munde, nur mit dem
Hemdchen bekleidet, das Ärmchen um den Nacken der Mutter
gelegt, und blickte die fremden Geſichter fragend und neugierig
an. Es war ein dicker geſunder Junge, mit ſchönen Farben
und kernigem Fleiſch. Wer Guſtav Büttner kannte, mußte
deſſen Augen wiedererkennen; im übrigen ſah das Kind Pau¬
linen unverkennbar ähnlich.


Die Komteſſen verhielten ſich ſehr verſchiedenartig dem
Kleinen gegenüber. Wanda war äußerſt wortreich, lobte und
kritiſierte, und gab ihrem Mißfallen Ausdruck, daß der
Junge keine geraden Beine habe. Das ſei ein ſicheres
Zeichen für „Engliſche Krankheit“ erklärte ſie kategoriſch. Frau
Katſchner hatte zwar noch nie in ihrem Leben von dieſem
Leiden gehört, der Komteſſe zu gefallen aber, that ſie, als
[79] halte ſie das für ſehr wahrſcheinlich und erkundigte ſich,
was man dagegen anwenden müſſe. Wanda war offenbar
nicht ganz vorbereitet auf dieſe Frage, nach einigem Überlegen
entſchied ſie: „Moorbäder ſind das beſte!“


Ida betrachtete inzwiſchen das Kind aufmerkſam mit nach
denklichen Augen. Sie lächelte es an, ergriff eines ſeiner
Händchen und verſuchte auf dieſe Weiſe, Freundſchaft mit dem
Kleinen zu ſchließen. Während ſich Wanda und Frau Katſchner
weiter über die Engliſche Krankheit unterhielten, erkundigte ſie
ſich nach dem Leben und Treiben des Kindes. Pauline taute
dabei ganz auf. Jetzt wo ſie von dem Wichtigſten ſprechen
konnte, was es für ſie auf der Welt gab, fand ſie ihre gewöhn¬
liche Lebhaftigkeit und Offenheit wieder. Das Eis war ge¬
brochen. Nicht mehr die Komteſſe ſtand vor ihr, ſondern eine
Frau wie ſie, der ſie ihr Herz rückhaltlos ausſchütten durfte.
Bald wußte Ida alles über das Kind, ſeine Angewohnheiten
und Liebhabereien. Der kleine Guſtav wurde aufgefordert, die
paar Worte, welche er angeblich ſprechen konnte, aufzuſagen;
wohl aus Ängſtlichkeit vor den Fremden verſagte er jedoch völlig
mit ſeinen Sprechkünſten.


Nach einiger Zeit wurde Wanda ungeduldig, ſie zog die
Schweſter an der Hand; man müſſe nun fort. Sie hätten ja
noch ein paar „andre Armenbeſuche“ im Dorfe zu machen.


Ida bat Pauline beim Abſchiednehmen, ſie bald einmal
auf dem Schloſſe zu beſuchen. Dem Kleinen küßte ſie die
Händchen mit einem innigen Ausdruck in ihren ſtillen Zügen,
wie er nur kinderliebenden Frauen eigen iſt.


Der Pony hatte ſich inzwiſchen das Gras des Katſchnerſchen
Gartens ſchmecken laſſen. Wanda legte ſelbſt mit Hand an
beim Anſchirren. Die Komteſſen nahmen im Wägelchen Platz.
Wanda ergriff Peitſche und Zügel, der Groom ſaß hinten auf,
und fort ging's den ſchmalen Weg zur Dorfſtraße hinab.


Pauline brachte das Kind in die Kammer zurück, dann
ſchürzte ſie ihr Kleid wieder auf und machte ſich ſchweigend
an's Scheuern. Frau Katſchner nahm die Arbeit nicht wieder
auf, ſie beſchäftigte ſich vielmehr mit dem Zurechtmachen der
[80] Vesper. Von Zeit zu Zeit warf ſie einen Blick nach der
Tochter, forſchend, ob die nicht endlich was ſagen würde. Pau¬
line bürſtete und rieb, als ob ihre Seligkeit davon abhinge, daß
die Diele rein würde.


Es ſchwebte etwas Ungelöſtes, Schwüles, ein Vorwurf,
zwiſchen Mutter und Tochter.


„Willſt De ne vaſpern, Pauline?“ fragte die Mutter end¬
lich. „Ich ha' der dohie wos zurechte gemacht.“


„Laßt ack Mutter! Ich ho' keenen Hunger ne!“ ſagte das
Mädchen und vermied es noch immer, die Mutter anzuſehen.


Frau Katſchner, die am Tiſche ſaß, hatte ſich ihr Brot mit
Quark geſtrichen, von Zeit zu Zeit führte ſie mit dem Meſſer
ein Stück zum Munde. Pauline war inzwiſchen aufgeſtanden,
ſie ſtand jetzt am Ofen, den Zuber vor ſich auf der Ofenbank.


„Was meenſt De wohl, Pauline!“ begann Frau Katſchner
von neuem das Geſpräch: „wenn mer's, und mir hätten's den
Konteſſen derzahlt von Deinen Kleenen, daß der von Dir is,
wos meenſt De wohl, wos die fir a Geſichte derzut gemacht
haben mechten — haa?“


„Ich weeß nich, Mutter!“ ſagte Pauline nur. Sie wandte
der Mutter den Rücken zu und rang mit Aufbietung aller
Kraft den Hader aus.


„Mit ſuwas darf man der Art garne kimma. Das ver¬
trogen ſe ne. Do is glei alle. Das kenn' ich. Die Gräfin,
ſu ne hibſche Frau, wie das war, aber wenn a Madel, und ſe
that ſich vergaſſen . . . ne! Da flog ſe glei naus. Do gab's niſcht
uf'n Schloſſe. Suwos darf man denen gar nich merken laſſen.“


„De Konteſſe Ida is immer ſu gutt gewaſt — gegen
mich . . .“ meinte Pauline mit ſtockender Stimme. Das Weinen
war ihr nahe. „Nu hon Sie er ſuwas vurgeradt Mutter!
Ich ho' mich ſu ſchämen miſſen. Su ane Liege! Ne, ich muß
mich ſu ſihre ſchämen, muß ich mich! Grade der Ida, die ſu
gutt is! — Ne, Mutter, das war ne recht vun Sie!“


Pauline ließ ihren Thränen freien Lauf. Sie hatte ſich
auf die Ofenbank geſetzt, die Ellbogen auf die Kniee geſtützt
und verbarg ihr Geſicht in den Händen.


[81]

Frau Katſchner war ärgerlich geworden. Sie ſei wohl
verrückt, warf ſie der Tochter vor; ſie hätt's wohl den Kom¬
teſſen gleich auf die Naſe binden ſollen, das mit dem Jungen?
Das ſei das richtige Mittel, um ſich bei ſolchen Damen beliebt
zu machen! Komteſſe Ida mit ihrer Zimperlichkeit ſähe gerade
danach aus, als ob ſie dem Jungen dann noch was ſchenken
würde. Und wenn Pauline nächſter Tage aufs Schloß gehe,
dann ſolle ſie ſich nur ja in acht nehmen mit ihren Reden,
daß ſie ſich nicht etwa verplappere.


Pauline hörte kaum mehr auf die Vermahnungen, die
ihr die Mutter mit keifender Stimme erteilte. Schließlich
wurde es dem Mädchen zuviel. Sie lief in ihre Kammer,
ſchloß hinter ſich zu, nahm den Jungen aus dem Korbe und
herzte und küßte ihn ab, unter Thränen.


W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 6
[[82]]

VII.

Vor dem Kretſcham in Halbenau hielt ein Einſpänner.
Die Kleidung des Kutſchers ließ darauf ſchließen, daß das
Fuhrwerk aus der Stadt komme. Ein rotbärtiger Mann im
grauen Überzieher und karrierten Hoſen ſtieg aus und befahl
auszuſpannen. Dann begab ſich der Fremde in den Gaſthof.


In der Schenkſtube befand ſich nur Ottilie, die Tochter
des Gaſtwirts. Harraſſowitz betrachtete das Mädchen mit jenem
ſpürenden Blicke, den er für alle Frauen hatte, mochten ſie
hübſch ſein, oder häßlich. „Iſt der Herr Papa zu Haus?“
fragte er. „Denn Sie ſind doch das Fräulein Tochter. Ich
bin Samuel Harraſſowitz aus der Stadt, Ihr Herr Vater
kennt mich.“


Ottilie zog einen ſchiefen Mund, was ſie immer that,
wenn ſie verlegen war, und meinte, ſie werde nach dem Vater
ſchicken. Sie begab ſich in's nebenan gelegene Schnapsgewölbe,
wo ihr Bruder Richard mit Umfüllen von Likören beſchäftigt
war, und ſagte ihm, wer da ſei. „Ach Sam!“ meinte Richard.
„Wer iſt denn das?“ fragte Ottilie neugierig. „Sam is
Sam!“ erklärte Richard. „Geh, ſag mir's doch!“ „Thun
doch ſelber fragen, dumme Gans!“ meinte der liebenswürdige
Bruder, ſtreckte dem Mädchen die Zunge heraus und ging,
den Vater zu rufen.


Ottilie kehrte in's Gaſtzimmer zurück. Sie war nun
doppelt neugierig geworden, wer der fremde Herr ſei. Das
[83] Mädchen hatte nicht viel Beſſeres vor auf der Welt, als ſich
um anderer Angelegenheiten zu kümmern. Sie war meiſt unbe¬
ſchäftigt, und hatte Zeit, allerhand Gedanken nachzuhängen,
von denen die meiſten thöricht waren.


Ottilie war groß und mager, mit unverhältnismäßig langem
Oberkörper, flacher Bruſt und herausſtehenden Hüftknochen.
Weibliche Fülle und Rundung war ihr verſagt. Aber aus ihrer
Art, verlegen zu lächeln, den Kopf beiſeite zu legen, und dabei
vielſagend dreinzublicken, ſprach Gefallſucht, die ihrem reizloſen
Körper zum Trotze, die Blicke auf ſich zu lenken trachtete.
Sie hatte wenig vom Büttnerſchen Blute in ſich. Mit ihrer
unreinen Hautfarbe, der birnenförmigen Kopfform und dem
fliehenden Kinn war ſie eine echte Kaſchel.


Ottilie machte ſich hinter dem Schenktiſch zu ſchaffen.
Vielleicht würde der Fremde ſie doch noch einmal anreden.


Harraſſowitz that ihr auch wirklich den Gefallen. „Fräu¬
lein, wollen Sie ſich nicht ein bißchen zu mir ſetzen; ich bin
hier ſo alleine.“


Linkiſch, mit ihrem ſcheuen Lächeln, kam Ottilie hinter
dem Schenktiſche vor. „Ich bin ſo frei!“ Damit ſetzte ſie ſich
an den Tiſch.


Sam ließ ſeine Blicke in unverfrorener Weiſe auf ihrer
Geſtalt herumkreuzen, während ſie mit ſcheinbar niederge¬
ſchlagenen Augen, ihn dabei von der Seite anſchielend, daſaß.
„Darf ich mir wohl die Frage erlauben,“ ſagte er, ihr ver¬
traulich zulächelnd: „Ihre Hand iſt noch nicht vergeben?“


„Aber ich bitte ſehr, mein Herr!“ rief ſie, von ihm
wegrückend, mit einer Miene, der man deutlich abſehen
konnte, daß ihr die Frage im Grunde gar nicht unange¬
nehm war.


„Das iſt mir eigentlich erſtaunlich!“ meinte er. „Ein
ſolches Fräulein: ledig! Die Tochter von Herrn Ernſt Kaſchel!
Da wüßte ich manchen jungen Herrn . . .“


Zu Ottiliens großem Leidweſen trat hier der Vater ein,
und die Unterhaltung wurde an der intereſſanteſten Stelle
unterbrochen.


6*[84]

„Guten Tag, Herr Harraſſowitz!“


„Guten Tag, mein lieber Herr Kaſchel!“


Die beiden Männer lachten ſich an, wie zwei, die
einander genau kennen, und ſchüttelten ſich kräftig die
Hände.


„Recht lange nicht mehr bei uns geweſen, Herr Har¬
raſſowitz!“


Der Händler blickte dem Gaſtwirt in die ſchlauen Augen
und meinte, er wolle ſich hier draußen nur mal ein bißchen
nach den „Ernteausſichten“ umſehen. — Kaſchelernſt lachte
über dieſe Bemerkung, als ſei das der beſte Witz, den er ſeit
langem gehört habe.


Der Wirt ſchickte Ottilie nach Gläſern, er ſelbſt holte eine
Flaſche herbei. Den Getreidekümmel müſſe Harraſſowitz mal
koſten, das ſei was Extrafeines. Er ſchenkte ein.


Man ſprach über die Feldfrüchte, über Wetter und Vieh¬
ſeuche. Aber das waren alles nur Plänkeleien. Die beiden
kannten und würdigten ſich. Kaſchelernſt wußte ganz genau,
daß der Händler nicht um Schnickſchnacks willen nach Halbenau
gekommen ſei. Einſtweilen gefiel es aber beiden, ſich mit
ſolchem Verſteckenſpiel zu unterhalten.


Sam begann endlich ernſthaft zu ſprechen, was er dadurch
andeutete, daß er näher an den Gaſtwirt heranrückte und die
Stimme ſenkte. Kaſchelernſt ſchickte die Tochter, die ſich hinter
den Schenktiſch zurückgezogen hatte, hinaus; nun konnte ein
„vernünftiges Wort“ unter Männern geſprochen werden.


Der Händler erkundigte ſich nach den Verhältniſſen der
verſchiedenſten Perſonen: Bauern, Gutsbeſitzer, Handwerker.
Kaſchelernſt kramte ſeine Kenntniſſe aus mit der Miene eines
ſchadenfrohen Menſchen. Man konnte ihm den Hochgenuß
anſehen, mit dem ihn Unglück, Fehltritte und Dummheit ſeiner
Mitmenſchen erfüllten.


Wenn er von einem Bauern erzählte, der vor dem Banke¬
rotte ſtand, lächelte er. Er lächelte auch, als er berichtete,
daß ein anderer Feuer an ſeine Scheune gelegt habe. Und
ausſchütten wollte er ſich geradezu vor Lachen, als er dem
[85] Händler hinterbringen konnte, ein Stellenbeſitzer habe ſich neulich
aufgehängt, weil ihm die Gläubiger die Kuh aus dem Stalle
weggepfändet hatten.


Kaſchelernſt ſchien alle Leute in der Runde zu kennen und
über die Verhältniſſe von allen Beſcheid zu wiſſen. Harraſſo¬
witz lauſchte mit größtem Intereſſe, ja mit einer gewiſſen
Andacht, als verkünde jener ein Evangelium, wenn er erklärte:
der Bauer Soundſo werde ſich nicht länger, als höchſtens noch
zwei Jahre halten, oder der und der ſei durchaus kreditfähig,
da er einer ſicheren Erbſchaft entgegenſehe.


Man hatte bereits mehrere Glas von dem Kümmel ver¬
tilgt, welcher dem Händler zu ſchmecken ſchien.


Endlich ſchien Harraſſowitz genug Weisheit eingeſogen zu
haben, er erhob ſich. Er habe noch einen kleinen Gang in's
Dorf vor, erklärte er.


„So, ſo!‟ meinte Kaſchelernſt. „Hier in Halbenau is
doch jetzt niſcht zu machen für Sie.‟


„Ach doch! — Ich will mir mal n anſehen.‟


Kaſchelernſt ſpitzte die Ohren. Aber beileibe wollte er
ſich keine Neugier anmerken laſſen. „Welches denne?‟ fragte
er ſcheinbar nebenhin.


Sam that, als habe er die Frage überhört. „Es ſoll ein
ſchönes Gut ſein,‟ meinte er, „Felder, Wieſen, alles prima!
Auch die Gebäude im Stande. Natürlich ſind tüchtige Schul¬
den drauf. Die Bauern ſind ja alle verſchuldet. Ich will
mir's mal beſehen,‟ damit wollte er gehen.


„Daß Sie ſich nur nicht verlaufen in Halbenau, Harraſſo¬
witz!“ ſagte Kaſchel, ihm folgend. „Hier giebt's viele Güter,
große und kleene. Zu wem wollen Se denne?‟


„Auf das Büttnerſche!‟


Kaſchelernſt zuckte mit keiner Wimper, als er den Namen
ſeines Schwagers hörte. Harraſſowitz fixierte ihn ſcharf. „Kennen
Sie das Gut? Ich intereſſiere mich dafür.‟


Der Wirt zuckte die Achſeln und nahm eine geheimnis¬
volle Miene an. Er dürfe nichts ſagen, meinte er, der Be¬
ſitzer ſei ſein Schwager.


[86]

„Ihr Schwager, Herr Kaſchel!“ rief der Händler, mit gut
geheucheltem Erſtaunen. „Das iſt mir ja hochintereſſant zu
hören! Ich habe dem Manne nämlich Geld verſchafft. Das
iſt mir ſehr lieb, daß Sie mit ihm verwandt ſind; ſehr lieb
iſt mir das! Nun iſt mir der Bauer noch einmal ſo viel
wert, denn Sie werden Ihren Schwager doch nicht ſitzen laſſen
in der Patſche — was?“


Kaſchelernſt machte ein ganz dummes Geſicht. Es war
ſo dumm, daß man die Pfiffigkeit, die ſich dahinter verbarg,
leicht merkte. Der Händler lachte hell heraus, und der Wirt
ſtimmte ein. Sie hatten einander wiedermal erkannt, die
beiden Biedermänner.


„Na, ich will mir's mal anſehen, das Gut Ihres Herrn
Schwagers,“ ſagte Harraſſowitz, ließ ſich den Weg beſchreiben
und ſchritt dann die Dorfſtraße hinab.


Sam näherte ſich dem Büttnerſchen Hofe. Mit prüfen¬
dem Blicke muſterte er zunächſt die Baulichkeiten. Wohnhaus:
Fachwerkbau mit Ziegeldach, konſtatierte er. Ställe und Scheune:
nur Strohbedachung. Übrigens ſchien alles recht gut in Schuß
und wohlgepflegt. Ganz heruntergekommen war der Bauer
alſo noch nicht.


Der Händler trat durch die offene Thür in den Hausflur
und klopfte an die Wohnſtubenthür. Er traf nur die Bäuerin
an, die am Wiegekorbe ſtand und ihr jüngſtes Enkelchen in
den Schlaf wiegte.


Die alte Frau ſah den Fremden mit offenſtehendem Munde
an. Sam trat mit leutſeliger Miene auf ſie zu und erklärte
ihr, er ſei ein Geſchäftsfreund des Herrn Gutsbeſitzers Büttner,
und er habe ſich immer ſchon die Beſitzung einmal anſehen
wollen.


Der Bäuerin imponierte der Aufzug des Fremden, vor
allem eine blitzende Nadel in der Kravatte ſtach ihr in die
Augen — von Similibrillanten ahnte die gute Frau freilich
nichts. — Was ihr Mann doch für vornehme Bekannte hatte
[87] in der Stadt! Sie lief nach einem Stuhle, trotz ihrer rheuma¬
tiſchen Lähme. Aber der Händler kam ihr zuvor. Sie ſolle
ſich nur um Gotteswillen nicht bemühen um ſeinetwillen, wenn
der Bauer auf dem Felde ſei, wolle er ihn dort aufſuchen, hier
im Hauſe möchte er um keinen Preis Störung verurſachen.
Es ſei alles draußen erklärte die Bäuerin, die Weibſen in den
Runkeln, Karl beim Kartoffelanfahren und der Bauer ganz
draußen am Walde beim Säen.


Der Fremde ſah ſich im Zimmer um. Er meinte, ſie
hätten es recht hübſch und gemütlich hier. Dann unterſuchte
er die Holzverkleidung der Wand, indem er daran klopfte. Holz¬
täfelung liebe er, das gäbe im Winter ein hübſch warmes
Zimmer. Auch den Wandſchrank mit den bunten Tellern
bewunderte er, von denen er einzelne herabnahm, um ſie näher
zu betrachten. Es gab nichts, wofür Sam nicht Intereſſe ge¬
zeigt hätte.


„Sehr nett, ganz rieſig nett, hier!“ ſagte er und lachte
die Bäuerin freundlich an. „So richtig ehrwürdige, patriarcha¬
liſche Verhältniſſe. Ich liebe das! Sowas hat man in der
Stadt nicht.“


Die Bäuerin war von ſolchem Lobe auf's angenehmſte
berührt. Sie hielt es aber für nötig, die Beſchämte zu ſpielen.
Es ſei durchaus nicht ſchön bei ihnen, behauptete ſie, und der
Herr ſei es gewiß ganz anders gewohnt. Harraſſowitz beteuerte
dagegen, daß es für ihn nichts Idealeres gäbe, als eine ge¬
mütliche Bauernſtube, das gehe ihm weit über ſein Comptoir.


Dann näherte er ſich dem Kinde im Korbe, ſchäkerte mit
dem Kleinen, indem er es unter dem Kinn kitzelte und „Kss,
Kss!“ dazu machte, bis das Würmchen vor Vergnügen lachte
und das dicke Oberbett von ſich ſtrampelte. Er lobte das ge¬
ſunde Ausſehen des Kindes, und erzählte, daß er kürzlich eine
Tochter verheiratet habe.


Die Bäuerin war völlig gefangen genommen durch das
vertrauliche Weſen des Fremden. Daß man ſo vornehm und
gleichzeitig ſo liebenswürdig ſein könne, war ihr unfaßlich.


Als Sam ſchließlich erklärte, nunmehr auf's Feld hinaus
[88] zu wollen, bat ſie ihn, doch ja wieder zu kommen, und ge¬
leitete ihn humpelnd bis vor's Hofthor, um ihm den Weg zu
weiſen.


Er traf zunächſt auf die Frauen in den Rüben. Sie
ſtanden in der Furche und behackten die Pflanzen. Die Hacken
flogen nur ſo in den ſteißigen Händen. Von hinten ſah man
die drei gebückten Rücken und unter den kurzen Röcken die
ſechs bloßen Waden. So ſtanden ſie in einer Reihe, wie aus¬
gerichtet, nebeneinander.


Sam war auf weichem Wieſenpfade, ungehört, bis dicht
an die Frauen heran gekommen. Jetzt blieb er ſtehen und ver¬
ſenkte ſich in den Anblick. Er nahm alles mit. —


Endlich räuſperte er ſich. Sofort ſtanden die drei Hacken ſtill,
die drei Köpfe wandten ſich nach ihm um. Sam ſtand lächelnd
vor den Frauen, breitbeinig, mit vorgeſtrecktem Leibe, auf ſeinen
kurzen krummen Beinen. „Guten Tag meine Damen!“ ſagte
er. Es ſei heute recht warm und ſie ſollten ſich nur nicht
überanſtrengen.


Thereſe, die älteſte und redefertigſte von den Dreien,
meinte, er ſolle lieber ſelber die Hacke zur Hand nehmen, dann
würde er vielleicht etwas von ſeinem Fette kommen; aber von
ordentlicher Arbeit verſtehe er wahrſcheinlich nichts. —


Die beiden Mädchen, Toni und Erneſtine, kicherten zu
der ſchlagfertigen Rede der Schwägerin. Sam nahm die Be¬
merkung ſcheinbar nicht krumm; lächelnd erwiederte er, er habe
einen anderen Beruf als Rübenhacken erwählt. Dann fragte
er nach dem Büttnerbauer.


Die Frauen muſterten den Aufzug des Fremden mit be¬
obachtenden Blicken. Im hellen Tageslichte beſehen, zeigte es
ſich, daß ſein Hemdkragen nicht vom reinſten, und daß auf
ſeiner hellen Weſte verſchiedene Fettflecke ſeien. Toni war
ein harmloſes Geſchöpf und viel zu phlegmatiſch, um ſich mit
Kritiſieren abzugeben. Aber Thereſe und die kleine Erneſtine
waren um ſo ſcharfäugiger. Kaum war er außer Hörweite,
ſo hielten ſie ſich über ſeinen häßlichen Mund, den der rote
Bart nicht genügend deckte, auf, über ſeine Dachsbeine, ja ſelbſt
[89] die verſteckte Lüſternheit ſeines Weſens war ihrem weiblichen
Scharfblicke nicht entgangen.


Inzwiſchen kam Karl Büttner, der nebenan die Kartoffeln
anfuhr, herbeigelaufen. Der Vater ſei draußen am Büſchel¬
gewende, erklärte er dem Fremden, und wies mit dem Peitſchen¬
ſtiele in die Richtung nach dem Walde. Sam betrachtete ſich
den hochgewachſenen jungen Mann, fragte, ob er der Sohn
ſei, und verlangte ſchließlich, über die Felder geführt zu werden.


Karl rief ſeiner Frau zu, ſie ſolle auf die Pferde auf¬
paſſen, dann folgte er dem Händler.


Sam umſchritt die einzelnen Schläge, hie und da unter¬
ſuchte er den Boden mit ſeinem Stocke, an deſſen Ende ſich
eine lange metallne Zwinge befand. Zwiſchendurch richtete
er Fragen an ſeinen Begleiter über die Grenzen des Gutes,
über benachbarte Grundſtücke, Wege, Fruchtfolge, Bewäſſerung,
Ausſaat und Erträge. Auch die Verhältniſſe in der Familie
ſchienen ihn zu intereſſieren. Karl wunderte ſich zwar über
die vielen Fragen des Fremden, aber, auf den Gedanken, etwas
zurückzuhalten, kam er nicht. Treuherzig gab er auf alle
Fragen Antwort, ſo gut er es eben wußte.


So kam man in die Nähe des Waldes. Schon von
weitem konnte man den alten Bauern erblicken, auf lehnan
gelegenem Feldſtücke, wie er, einen grauen, bauſchigen Sack
vorgebunden, den Samen mit gemeſſenem Wurfe ausſtreute,
den Acker hinab und hinauf ſchreitend.


Der verwilderte Zuſtand dieſes Schlages, der Nähe des
Waldes wegen, das Büſchelgewende benamſt, das zwei Jahre
lang brach gelegen, hatte dem alten Manne keine Ruhe mehr
gelaſſen. Sowie die Beſtellung des übrigen Gutes beendet,
war er daran gegangen, dieſes Stück wieder urbar zu machen.
Eigenhändig hatte er es umgepflügt und einen Teil davon für
die Ausſaat vorbereitet. Da es zu ſpät war im Jahre, um
hier noch etwas anderes zu erbauen, ſäete er jetzt wenigſtens
noch Gemenge aus.


Im erſten Augenblicke erkannte der Büttnerbauer den
Händler gar nicht. Harraſſowitz mußte ſich ihm in's Ge¬
[90] dächtnis rufen. Nun dämmerte es in den verdutzten Mienen
des Alten. Er ſchüttelte dem Händler kräftig die Hand.
„Herr Harraſſowitz, ich hätt' Se, weeß der Hole, bale ne der¬
kennt. Das is ſchene vun Sie, daß Sie och mal zu uns
nauskumma — das is racht!“


In der Freude des Bauern lag nichts Erheucheltes. Er
rechnete es dem Städter hoch an, daß er ihn auf dem Dorfe
aufſuchte, und war ſogar, bis zu einem gewiſſen Grade, ſtolz
auf dieſen Beſuch.


Der Bauer band ſich den Sack ab und gab ihn Karl
zum Tragen. Dann ſchritt man zu Dreien langſam auf dem
Wieſenpfade dem Gehöfte zu. Karl ging in reſpektvoller Ent¬
fernung hinter dem Vater und dem fremden Herrn drein.


Harraſſowitz lobte alles, was er ſah. Nach ſeinem Urteil
war der Boden ausgezeichnet, die Wieſen in beſter Kultur und
der Stand der Feldfrüchte ließ nichts zu wünſchen übrig.
Dem alten Bauern mundeten die Lobeserhebungen des Händlers
wie Honigſeim. Er ſchmunzelte vergnügt in ſich hinein.


„Sie werden eine glänzende Ernte machen, mein guter
Herr Büttner!“ ſagte Harraſſowitz. „Ich gönne es Ihnen von
Herzen; denn hier in dem Boden ſteckt Arbeit, das ſieht man.“


„Gab's Gott! Gab's dar liebe Gott!“ erwiderte der Alte
und bekreuzigte ſich dabei. Es war ihm eigentlich nicht recht,
daß der andere eine ſolche Prophezeiung ausgeſprochen hatte.
Man durfte nichts berufen. „Gebraucha kennten mer ſchun
ane gute Ernte. Aber, da kann Sie nuch mancherlei für ſich
giehn, bis dohie.“ Er ſeufzte.


Der Büttnerbauer hatte gerade in den letzten Tagen
wieder ſchwere Sorgen durchzumachen gehabt.


Sein Schwager Kaſchel hatte ihm, durch eingeſchriebenen
Brief, ſeine Hypothek von ſiebzehnhundert Mark gekündigt.
Das hatte wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewirkt.
Woher das Geld herbeiſchaffen für dieſe an letzter Stelle
eingetragene Hypothek! Mehr noch aber als die Kündigung
hatte den Büttnerbauer ihre Form geärgert, ja geradezu
in helle Wut verſetzt. Ein eingeſchriebener Brief! War
[91] ſo etwas erhört! Darin erblickte er eine ganz beſondere
Niederträchtigkeit von Seiten ſeines Schwagers. Ein einge¬
ſchriebener Brief! Er hatte da dem Poſtboten ſogar noch etwas
unterſchreiben müſſen. Und dabei wohnte ſein Schwager einige
hundert Schritte von ihm. Man konnte ſich vom Büttnerſchen
Gute zum Kretſcham mit einigermaßen lauter Stimme etwas
zurufen.


Wäre Kaſchelernſt an jenem Tage dem Schwager in den
Wurf gekommen, es hätte wohl ein Unglück gegeben.


Und das war noch nicht einmal alles. An verſchiedenen
Stellen drückte den Bauern der Schuh. Der Viehhändler,
dem die Kuh immer noch nicht ganz bezahlt war, hatte ge¬
mahnt. Die Gemeindeanlagen waren fällig für mehrere
Termine. Der Büttnerbauer hatte ſein Bargeld immer und
immer wieder überzählt und ſeinen Kopf angeſtrengt. Er
wußte keine Hilfsquellen mehr. Er würde ſchuldig bleiben
müſſen, und in der Ferne drohte das Schreckgeſpenſt der
Pfändung.


„Iſt es nicht ein wahrer Segen Gottes!“ rief Sam und
blieb vor dem großen Kornfelde ſtehen, dicht am Hofe. „Hier
wächſt doch wirklich das reine Gold aus dem Boden!“


Das Wort löſte dem Büttnerbauer die Zunge. Natürlich
fiel er nicht mit der Thür ins Haus. Nach ſeiner bäueriſch
verſchloſſenen, mißtrauiſchen Art fing er an ganz entlegener
Stelle an, und kam dann allmählich ſeinem Gegenſtande vor¬
ſichtig näher.


Der Händler ließ ſich erzählen. Mit teilnahmsvollem
Geſichte hörte er zu. Als der Bauer ſchließlich ſoweit war,
daß er ihm rückhaltslos ſeine mißliche Lage eröffnete, nahm
Sam eine ernſtlich betrübte Miene an. Das thue ihm von
Herzen leid, ſagte er. „Ja, was wird denn da werden, mein
guter Büttner? Die Gläubiger werden ſich mit bloßen
Verſprechungen wohl nicht beruhigen. Was wird denn da
werden?“


„Ja, wißten Sie nich an Rat, Herr Harraſſowitz?“


„Ich! — Ich bitte Sie mein Beſter, wie könnte ich Ihnen
[92] da einen Rat geben; ich bin Kaufmann. In dieſen ländlichen
Dingen weiß ich gar keinen Beſcheid.“


„Ich meente — ob Se nich vielleicht — wegen an
Gelde . . .“


„Aber mein verehrter Freund! Wofür halten Sie mich
denn?“


„Ich dachte ack — weil Sie mer duch ſchun eemal, und
Se han mir dunnemals ſu freindlich gehulfa!“


„Ach Sie meinen damals mit Schönberger! Ja, ſehen Sie,
da lag die Sache günſtiger. Da war einfach eine todſichere
Hypothek zu beſetzen — aber hier . . . nein, das ſind
Sachen, mit denen ſich ein reeller Geſchäftsmann nicht gern
abgiebt.“


Man ging fortan ſchweigend neben einander her. Der
alte Bauer in ſtummer Verzweiflung. Er hatte bei all den
Sorgen der letzten Tage im Stillen immer auf Harraſſowitz
gehofft. Wenn alle Stränge riſſen, wollte er ſich an den
wenden, der würde ſchon einſpringen. Nun war es damit
auch nichts!


Schon war man an das Gehöfte herangekommen und ging
an der hinteren Wand der Scheune entlang, da machte der
Händler plötzlich Halt. „Büttner!“ ſagte er, „ich habe mir
die Sache überlegt: Ihnen muß geholfen werden. Einen
Mann wie Sie, der ſich ſo redlich müht, in der Klemme ſitzen
zu laſſen, das bringe ein anderer übers Herz, ich nicht! Ich
werde Ihnen das Geld verſchaffen, obgleich ich ſelbſt noch
nicht weiß, wo hernehmen. Denn ich habe alles im Geſchäfte
feſtgelegt. Unſereiner kann auch nicht immer ſo, wie er gern
möchte. Aber geſchafft muß es werden. Erſt mal Ihre
laufenden Schulden! die müſſen Ihnen zunächſt vom Halſe
geſchafft werden. Später wird dann auch für die Hypothek
Rat werden. Sagen Sie mir, wieviel die Läpperſchulden
ausmachen.“


Dem alten Manne zitterten die Hände vor freudigem
Schreck. Das Glück kam ſo überraſchend, daß es ihm für
Augenblicke das Denkvermögen völlig benahm. Er rechnete,
[93] nannte einige Zahlen, widerſprach gleich darauf, faſelte unſicher
zwiſchen ſeinen eigenen Angaben hin und her.


Sam klopfte ihm beſchwichtigend auf den Rücken. „Nun,
nun, mein Guter! Nur keine Aufregung! Wir werden uns
das nachher in aller Ruhe berechnen. Jetzt will ich mir mal
Ihre Gebäude von innen anſehen.“


Man trat in die Ställe. Mit Kennerblick prüfte der
Händler den Viehſtand. Eine Kuh hatte die Trommelſucht.
Sam gab gute Ratſchläge für ihre Behandlung. Auch die
Scheune beſah er ſich, prüfte das Gebälk. Selbſt in den
Schuppen warf er einen Blick. Er unterſuchte, ob die Dünger¬
ſtätte auch die Jauche halte. Dann betrat er den Garten,
pflückte ſich im Vorbeigehen eine Narziſſe, die er in's Knopfloch
ſteckte, ließ ſich einen Augenblick auf der Holzbank nieder, die
um den alten großen Apfelbaum gegenüber dem Weſtgiebel
des Wohnhauſes angebracht war.


Nichts gehe ihm über die Traulichkeit des Landlebens,
erklärte er, und muſterte das alte, freundliche Haus mit
empfindſamen Blicken; am liebſten gäbe er ſein Geſchäft auf
und würde ſelbſt ein Bauer.


Inzwiſchen hatte die Bäuerin drinnen einen Kaffee zurecht
gemacht, wie er im Büttnerſchen Hauſe noch nicht getrunken
worden war. Die wohlbeleibte Frau erſchien dann ſelbſt im
Garten und bat mit ihrem ſchönſten Knix den Herrn zum Veſper.


Es gab Butter, Quark und Honig zum Schwarzbrot.
Sam koſtete von allem. Er ſchmeichelte ſich dadurch, daß er
ſo gar nicht wähleriſch war, nur noch mehr im Herzen der
Wirtin ein.


Nachdem er ſich ſatt gegeſſen und getrunken, lehnte er
ſich zurück und entnahm ſeiner Bruſttaſche ein Cigarrenetui.
„Es iſt doch geſtattet, zu rauchen?“ fragte er lächelnd. „Nach
einer guten Taſſe Kaffee gehört ſich eine Cigarre!“ Dann holte
er aus ſeinem Rocke eine gewichtige Brieftaſche hervor, die er
vor ſich auf den Tiſch legte.


„Nun vielleicht zum Geſchäftlichen, Herr Büttner, wenn's
recht iſt?“

[94]

Der Bauer hatte inzwiſchen in einer Ecke des Zimmers
ſein Weſen für ſich gehabt. Mit Hülfe eines Stückes Kreide
ſchrieb er dort Zahlen an die braune Wand. Jetzt wiſchte er
die Zahlenreihe mit dem Rockärmel aus, und trat zu dem
Händler. „A Märker dreihundert wer'ch brauchen,“ ſagte er
mit gedämpfter Stimme, „was blußig de Handſchulden ſen.“


Der Händler klappte die Brieftaſche auf und blätterte
darin.


„De Weibſen megen a mal nausgihn!“ ſagte der Bauer,
als er bemerkte, daß Erneſtine und Thereſe lange Hälſe
machten und die Köpfe zuſammenſteckten. „Mutter, Du kannſt
bleba und Karle och!“ Die drei jüngeren Frauen entfernten
ſich darauf ſchleunigſt.


Sam hatte der Taſche ein Paket blauer Scheine ent¬
nommen. „Ein glücklicher Zufall!“ ſagte er, „daß ich gerade
heute Geld einkaſſiert habe. Für gewöhnlich pflege ich nicht
ſoviel bei mir zu tragen.“ Er legte drei Hundertmarkſcheine
neben einander auf den Tiſch und behielt die übrigen in der
Hand. „Hier wäre das Gewünſchte, lieber Büttner! Soll ich
Ihnen vielleicht noch hundert Mark darüber geben, da ich's
einmal hier habe?“


Der Bauer ſtarrte mit großen Augen auf das Geld,
rührte aber keinen Finger und ſagte auch nichts.


„Ihnen gebe ich Kredit, ſoviel Sie wollen, Büttner. Ein
ſo tüchtiger Wirt wie Sie, mit ſolch einer Ernte auf dem
Felde! Ihre Unterſchrift iſt mir ſo gut wie bar Geld.“


Dem alten Manne drehte ſich alles vor den Augen. Er
ſah bald den Händler, bald ſeine Frau an, die neben ihm
ſtand. Durfte er denn ſeinen Sinnen trauen! war das nicht
etwa ein Spuk! Hier lag das Geld, das er brauchte, und noch
mehr, auf der Tiſchplatte, ſo viel, um ihn aus allen ſeinen
Nöten zu reißen. Hier ſaß einer, der ihm die Hilfe geradezu
aufnötigte. Was ſollte man davon denken?


In ſeiner Ratloſigkeit wollte er ſchon den älteſten Sohn
um ſeine Meinung befragen. Aber Karl ſah dem ganzen
Vorgange mit einer ſo völlig verſtändnisleeren Miene zu, daß
[95] der Alte dieſen Gedanken ſchnell wieder fallen ließ. Er blickte
fragend nach ſeiner Lebensgefährtin hinüber.


Die Bäuerin nickte ihm zu, ermutigte ihn: „Nimm's ack,
Mann! nimm's ack an! Der Herr meent's gutt mit uns —
newohr?“


Der Bauer ſtreckte die Hand aus und wollte nach dem
Gelde greifen.


„Halt! Noch eine kleine Formalität!“ meinte Harraſſowitz
lächelnd, und legte ſchnell ſein Taſchenbuch auf die Scheine.
„Nur der Ordnung wegen! Wir ſtehen allezeit in Gottes
Hand und wiſſen nicht, wie ſchnell wir abgerufen werden
können. Dann fehlt es nachher an einem Belege. Das wollen
wir doch nicht! Nichtwahr?“


Er hatte dem Taſchenbuche einen ſchmalen, bedruckten
Zettel entnommen. „Tinte und Feder iſt wohl im Hauſe?“
Karl wurde beauftragt, das Gewünſchte zu ſchaffen. „Ordnung
muß ſein in allem. Das iſt man ſich als reeller Geſchäfts¬
mann ſchuldig.“ Sam füllte das Formular mit einigen Feder¬
zügen aus. „Alſo, ich ſchreibe Mark vierhundert. Es iſt doch
recht ſo?“ Niemand antwortete; der Bauer atmete ſo ſchwer,
daß man es durch das ganze Zimmer vernahm. „Dann bitte
ich nur hier zu unterſchreiben,“ ſagte der Händler, ſtand auf
und reichte dem Alten die Feder.


Der Büttnerbauer ſtand eine Weile da, den Zettel
drehend und wendend; mit hülfloſen Blicken ſah er Frau,
Sohn und den Händler an. „Leſen Sie nur erſt, Herr
Büttner!“ mahnte Harraſſowitz. „Ungeleſen ſoll man nichts
unterſchreiben.“ Der Bauer hielt das Papier mit zitternden
Händen weit von ſich ab und ſtudierte lange. „Nur keine
Sorge, mein Guter; es iſt alles drin, was drin ſein muß,“
witzelte Sam. „Die ganze Geſchichte iſt in beſter Ordnung.
Bequemer kann ich's Ihnen nicht machen. Hier, das Geld!
Sie bekennen: Wert in Bar empfangen zu haben und mir
die Summe am erſten Oktober dieſes Jahres zurückerſtatten zu
wollen. Da fällt die Ernte dazwiſchen, bedenken Sie das!
Kulantere Bedingungen kann ich nicht ſtellen. Das Papier
[96] hier brauche ich zu meiner Sicherung. Eine leere Formalität
weiter nichts, aber ſie iſt nun mal nötig. Alſo, bitte!“
Der Alte überlegte noch immer. Seine arbeitenden Züge ließen
auf den ſchwerſten Seelenkampf ſchließen.


Sam nahm eine finſtere Miene an. „Ich glaube gar,
Herr Büttner traut mir nicht!“ ſagte er zu der Bäuerin.
„In dieſem Falle nehme ich mein Geld lieber zurück. Auf¬
drängen will ich mich nicht, nein! Ich dachte nur, ich könnte
dem Herrn eine Gefälligkeit erweiſen. Aber, wenn er nicht
will.“ . . . . Mit ſeiner rotbehaarten Hand griff er bereits nach
den Scheinen.


„Traugott!“ rief die Bäuerin und ſtieß ihren Mann in
die Seite. „Bis ne verrickt! Unterſchreib ack das Briefel!“
Dann zog ſie ihn am Ärmel, und raunte ihm zu: „Ar wird
glei bieſe warn, wenn De no lange machſt.“


Sie reichte ihm ſelbſt die Feder.


„Hier bitte, an dieſer Stelle, Herr Büttner! — Weiter
rechts! . . . . Hier! . . . . Bloß den Namen.“ Der Händler
wies mit dem Finger genau auf den Fleck.


Und ſo unterſchrieb der Büttnerbauer den Wechſel.

[[97]]

VIII.

Pauline ließ volle vierzehn Tage ins Land gehen, ehe
ſie der Aufforderung von Komteſſe Ida, ſie im Schloſſe auf¬
zuſuchen, nachkam. Sie wäre möglicherweiſe überhaupt nicht
dorthin gegangen, wenn nicht ihre Mutter ſie unausgeſetzt da¬
zu angetrieben hätte.


Eines Nachmittags alſo zog ſie ihr Kirchenkleid an, und
ſetzte den neuen Hut auf, den ſie ſich von Guſtavs Gelde an¬
geſchafft hatte. So ging ſie, in ihrem Feiertagsſtaat, nach dem
Schloſſe.


Die Herrſchaft Saland lag ungefähr eine halbe Stunde
Wegs von Halbenau entfernt. Ein eigentliches Dorf war nicht
vorhanden; aber das Schloß mit ſeinen Nebengebäuden bildete
an ſich einen ſtattlichen Häuſerkomplex. Ein ausgedehnter Park
mit Raſenplätzen, Teichen, Gebüſchen und Baumgruppen um¬
gab das Herrenhaus. Die eigentlichen Grenzen dieſes Parkes
waren kaum feſtzuſtellen, da er ſich in die ausgedehnten Wälder
der Herrſchaft verlief.


Pauline ging auf der großen Heerſtraße, die unfern
vom Schloſſe vorüberfühlte, hin. Sie bog nicht in den breiten
Fahrweg ein, der ſich in Schlangenlinien durch den Park zog,
und ſchließlich über einen jetzt trocken gelegten Wallgraben vor
das Portal des Schloſſes führte. Sie wählte vielmehr einen
ſchmalen Seitenpfad. Das Mädchen war mit den Gebräuchen
und Sitten des gräflichen Haushaltes bekannt. Sie wußte,
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 7[98] daß gewöhnliche Leute vom Kaſtellan garnicht erſt zum vorderen
Portal eingelaſſen wurden. Für ihresgleichen gab es einen
beſonderen Eingang durch das Hinterportal. Sie wollte auch
zunächſt nur die gräfliche Wirtſchafterin beſuchen, Mamſell Bu¬
mille, die mit ihrer Mutter gut bekannt war, und die ſie ſelbſt
auch kannte von jener Zeit her, wo ſie auf dem Hofe gearbeitet
hatte. Mit Mamſell Bumille wollte ſie erſt Rückſprache nehmen,
und hören, ob Komteſſe Ida überhaupt anweſend und ob ſie
allein ſei. Das Mädchen war ſich noch gar nicht im Reinen
darüber, ob ſie den Beſuch bei der Komteſſe nicht ſchließlich
doch unterbleiben laſſen ſolle.


So näherte ſie ſich auf Seitenpfaden dem Schloſſe, einem
mächtigen Steinviereck mit hohen, kahlen Wänden, kleinen
weißeingerahmten Fenſtern und einem klobigen Turm, der jäh
aus einer Ecke aufſprang, wie ein ſchützender Rieſe. Von ge¬
ſchmackvoller Gliederung war an dieſem Bau nichts zu ſpüren,
aber das Ganze wirkte durch ſeine Maſſe und Wucht im¬
ponierend.


Dem Mädchen klopfte das Herz gewaltig. Der Anblick
des Schloſſes hatte immer etwas Erdrückendes für ſie ge¬
habt. Daß es auch nur ein Bau ſei, von Menſchen auf¬
geführt, zur Behauſung für Menſchen beſtimmt, nur größer
und feſter als ihre armſelige Hütte, ein ſolcher Gedanke war
ihr noch nie gekommen. Das Schloß war eben das Schloß
für ſie. Seinesgleichen gab es nicht auf der Welt, und ſeine
Bewohner waren höhere Weſen, die, mit gewöhnlichen Sterb¬
lichen zu vergleichen, ihr nicht im Traume eingefallen wäre.


Der hintere Thorweg war offen. Pauline gelangte durch
eine gewölbte Einfahrt in den viereckigen Schloßhof, der mit
großen Steinplatten ausgelegt war. Die Innenwände des
Schloſſes waren von hundertjährigem Epheu bis zum dritten
Stockwerk dicht überzogen. Nur die Fenſter wurden frei¬
gelaſſen von dem dunkelgrünen Geranke. Dicht am Erdboden
zeigten dieſe Epheuſtöcke einen Durchmeſſer von Armesſtärke.
Über Thüren und Fenſtern waren Hirſchgeweihe von beträcht¬
licher Endenzahl angebracht. Ein Paar doriſche Säulen, die
[99] das Portal flankierten, trugen einen ſteinernen Löwen, der in
aufrechter Haltung dräuend das gräfliche Wappen in ſeinen
Vorderpranken hielt.


Pauline kreuzte dieſen Hof. Sie wagte nicht links noch
rechts zu blicken, ihr war zu Mute, als ſei ſie auf verbotenen
Wegen. — Gott ſei Dank, niemand begegnete ihr! Dann ſchlüpfte
ſie durch eine kleine Pforte in einer Ecke des Hofes, die, wie
ſie wußte, auf den Küchengang führte. Hier ſtand ſie nun
klopfenden Herzens und wartete, bis jemand von dem Geſinde
ſie bemerken würde.


Ein Mädchen, das aus der Küche kam, ſah ſie ſtehen
und forſchte, was ſie hier wolle. Pauline fragte in ſchüchternem
Tone nach Fräulein Bumille. Die Bedienſtete klopfte an die
nächſte Thür. „Mamſell, hier is jemand, der zu Sie will!“
Die Wirtſchafterin erſchien in der Thür, die Öffnung mit
ihrer ſtattlichen Figur nahezu ausfüllend.


„Katſchners Pauline!“ rief ſie. „Sieh eins an! Na
Mädel, läßt Du Dich auch mal wieder blicken. Ich ſagte noch
geſtern — oder war's vorgeſtern — ſagte ich: was nur mit
der Pauline ſein mag. Und Komteſſe Ida hat auch ſchon
befohlen, wenn Pauline Katſchner kommt, ſoll ſie gleich zu ihr
geführt werden, nämlich zur gnädigen Komteſſe. Na, da komm'
mal rein zu mir, Mädel!“


Die Dame faßte Pauline ohne weiteres an der Schulter
und ſchob ſie in das Zimmer, deſſen ſich Pauline von früher
her recht gut entſann; es war die „Mamſellſtube“. Pauline
mußte ſich ſetzen und erzählen. Für die Bumille war der
Klatſch Lebensbedürfnis. Sie intereſſierte ſich mit ſeltener
Weitherzigkeit für die intimen Verhältniſſe von jedermann;
am liebſten freilich hörte ſie Liebesgeſchichten.


In der herrſchaftlichen Küche ſtand tagein, tagaus eine
Kaffeekanne am Feuer. Die Mamſell wußte nur zu gut,
welch zungenlöſende Wirkung dieſer Trank beſonders auf ihr
Geſchlecht ausübt. Auch vor Pauline wurde heute eine Kanne
aufgeſetzt, nebſt Kuchen, der ebenfalls für ſolche Gelegenheiten
ſtets vorrätig war.


7 *[100]

Nun wurde das Mädchen ausgefragt. Vor allein mußte
ſie über ihren Guſtav berichten, ihren „Bräutigam“, wie die
Mamſell ſich gewählt ausdrückte. Was er treibe und ob er
viel an ſie ſchreibe. Die Bumille ging in ihrer Teilnahme ſo
weit, zu forſchen, ob Pauline etwa Briefe von ihm bei ſich
habe, und ſchien zu bedauern, als Pauline das verneinte. Ob
ſie denn auch ſicher ſei, daß er ſie heiraten werde, fragte ſie
ſchließlich. Pauline errötete und meinte mit geſenkter Stimme,
ſie glaube es.


Die Bumille war eine große, wohlbeleibte Frauensperſon.
Ihren grauen Scheitel deckte eine weiße Haube mit lila Bändern.
Das meiſte an ihr und um ſie, von dieſen Bändern anzufangen,
trug das Gepräge des Hängenden. Die Säcke unter den
runden Augen, die ſchlaffen Lippen zwiſchen bauſchigen Wangen,
das Unterkinn, der Buſen — kurz alles an dieſer Perſon
zeigte das Beſtreben, ſich in ſchlaffer Fülle bodenwärts zu
ſenken.


Übrigens wieſen ihre Züge den Ausdruck ungemachter
Gutmütigkeit auf. Sie ſprach mit etwas ſchwerer Junge, was
ihren Redeeifer aber keineswegs beeinträchtigte. Mit erſtaun¬
licher Gedächtnisſtärke, beſonders für unwichtige Dinge, ſchien
ſie begabt, und von ungewöhnlichem Intereſſe für die Ge¬
heimniſſe anderer erfüllt.


Nachdem ſie aus Pauline alles wiſſenswerte heraus¬
bekommen, rief ſie das Küchenmädchen herbei. „Von dem
Deſſert einpacken! Mandeln und Roſinen, Schokolade kann
auch dabei ſein!“ befahl ſie. „Für den kleinen Guſtav was
zum knabbern,“ fügte ſie in leutſeligem Tone hinzu.


Die Bumille war bekannt für ihre Freigebigkeit. Für
Bettler und Landſtreicher war Schloß Saland ein wahres
Eldorado, oder wie es in der Vagabundenſprache heißt: eine
„dufte Winde“, wo anſtändig „geſtochen“ wurde. Es war bei
Mamſell Bumille Geſetz, niemanden unbeſchenkt von dannen
ziehen zu laſſen, ſo erforderte es die Ehre eines herrſchaftlichen
Haushaltes. „Almoſengeben armet nicht!“ war ihr Lieblings¬
wort. Und da ſie die Freigebigkeit nur auf Koſten ihrer
[101] Herrſchaft ausübte, traf das Sprichwort bei ihr auch wört¬
lich ein.


Pauline wurde mit einer großen Düte. angefüllt mit
Süßigkeiten, die ſie in ihre Rocktaſche verſenken mußte — damit
„die Herrſchaften nichts merkten“ — entlaſſen. Sie bekam
auch Grüße für ihre Mutter mit, die ſollte die Wirt¬
ſchafterin doch bald einmal beſuchen. Eine Zofe, von denen es
in dieſem Hauſe eine Menge zu geben ſchien, wurde ange¬
wieſen, Pauline zur der Komteſſe zu führen, deren Zimmer
ſich im erſten Stockwerke befand.


Pauline folgte dem Mädchen. Zunächſt ging es durch
die geräumige Haushalle. Ein Raum, der mit Waffen,
Jagdtrophäen und allerhand fremdartigen bunten und blinkenden
Gegenſtänden ausgeſtattet war. Dann die Treppe hinauf!
Pauline fühlte ihren Fuß in weichen Teppichen verſinken.
Das rief ihr mit einemmale ihre früheren Beſuche mit wunder¬
barer Deutlichkeit ins Gedächtnis zurück: dieſes leichte, wohlige
Gefühl, das der unter den Füßen nachgebende Pfühl giebt,
das ſie ſeit der Kinderzeit nicht wieder gehabt hatte.


Sie ſtand ſchließlich im Zimmer der Komteſſe, ohne recht
zu wiſſen, wie ſie dahin gekommen.


Ida hatte an ihrem Schreibtiſch geſeſſen. Sowie Pauline
eintrat, erhob ſie ſich und kam auf das Mädchen zu. Heute,
wo ſie in ihrem eigenen Heim war, ohne Zeugen, umarmte die
Komteſſe die ehemalige Spielgefährtin. Dann rückte Ida einen
Rohrſeſſel heran, auf den ſich Pauline ſetzen mußte, ſie ſelbſt
nahm neben ihr Platz.


Pauline blieb ſcheu und fühlte ſich befangen, vielleicht
gerade wegen des freundlichen Entgegenkommens der Komteſſe.


Früher, als ſie beide noch kleine Dinger geweſen waren,
die mit einander getollt und in den Büſchen des Parkes
Verſtecken geſpielt hatten, war Pauline der anderen entſchieden
überlegen geweſen, nicht blos durch Körperkraft und Geſchick¬
lichkeit, auch durch Findigkeit und Mutterwitz. Das Dorfkind,
vor deſſen Augen kein Geheimnis der Natur künſtlich ver¬
borgen gehalten worden, war in tauſend Dinge eingeweiht, die
[102] der Komteſſe rätſelhaft waren. Das hatte ihr jene natürliche
Schärfe der Sinne und der Inſtinkte gegeben, wie ſie etwa der
Wilde vor dem ziviliſierten Menſchen voraus hat.


Dieſes Verhältnis hatte ſich nun freilich in den letzten
Jahren verſchoben.


Wer die beiden Mädchen jetzt neben einander ſah, Pauline,
in ihr Konfirmationskleid gezwängt, mit plumpen Schuhen,
unter ihrem neuen Hute, deſſen aufdringlicher Blütenſchmuck
ihre bräunliche Hautfarbe ſchändete, dazu die ſchlechte Haltung
des Oberkörpers, der an das, wahrſcheinlich viel zu enge,
Korſett nicht gewöhnt war, die Haltung der Arme, die wohl
zur Arbeit kräftig waren, die ſich aber hier im Boudoir ihrer
eigenen Kraft zu ſchämen ſchienen — und dieſer ländlichen
Schönheit gegenüber nun die andere, mit ihrem ſtolzen Ge¬
ſichtsſchnitt, der edlen Kopfform, den verfeinerten, wie ge¬
meißelten Zügen, dem unbewußten Ausdruck von Überlegen¬
heit in Blick und Lächeln, mit durchſichtigem Teint und
ſchlanken, weißen Händen, alles gepflegt und gleichſam von
Vornehmheit duftend, wie ſie ſich leicht und ſicher bewegte,
— wer dieſe beiden Geſtalten verglich, mußte die Über¬
legenheit erkennen, welche alte Kultur dem edel Geborenen,
von Geburtswegen, über den Menſchen der großen Maſſe
giebt.


Die Umgebung paßte zu Komteſſe Ida. Dieſes Zimmer
mit ſeiner diskreten Beſonderheit ſchien ein Abdruck ihres
Weſens zu ſein. Da war nichts Prunkhaftes, Kokettes oder
Flatterhaftes; und doch war es das Zimmer eines jungen
Mädchens. Dem Blumentiſche, den Wandbildern, den Photo¬
graphien auf dem Schreibtiſche ſah man den gewählten Ge¬
ſchmack und die wertende Liebe an, mit der die Beſitzerin
alles verſchönte, was zu ihr in Beziehung ſtand.


Allmählich wirkte auch auf Pauline der beruhigende, er¬
wärmende Einfluß dieſer Perſönlichkeit. Die teilnahmsvolle
Erkundigung der Komteſſe nach ihren Schickſalen löſte ihr die
Zunge. Ida ſchien mit ihren Worten, die durchaus einfach
und ohne jede Feierlichkeit waren, viel mehr zu ſagen, als
[103] andere Menſchen, weil ihre ernſten, milden Blicke jedem Worte
noch eine beſondere Bedeutung gaben. Pauline war es zu
Mute, als ſäße ſie vor dem alten Geiſtlichen, der ſie konfirmiert
hatte. Dem hatte man auch alles ſagen müſſen, man hatte
wollen mögen, oder nicht.


Sie hatten von der Kinderzeit geſprochen, von gemein¬
ſamen Erlebniſſen, von den anderen Geſpielen. Ida hatte
niemanden vergeſſen. Sie fragte eingehend nach den alten
Spielgefährten aus dem Dorfe. Faſt alle dieſe Mädchen hatten,
wie es ſich herausſtellte, ſchon geheiratet, waren Mütter.


Dann ſprang die Unterhaltung wieder zurück auf Paulinens
eigenſte Lebensweiſe. Ida meinte, es ſei doch ſolch ein Glück
für Pauline, daß ſie jetzt das kleine Kind ihrer Baſe zur
Pflege da habe. Ein Glück, erklärte die Komteſſe, um das ſie
Paulinen beneiden könne. Kleine Kinder zu pflegen, das müſſe
doch das ſchönſte ſein auf der Welt. Freilich, fügte ſie mit
dem Schatten eines melancholiſchen Zuges um die Augen
hinzu, dazu käme ein Mädchen ſelten.


Der anderen war das Herz ſchwer geworden, ſobald Ida
von dem Kinde zu ſprechen begann. Sie kam ſich auf einmal
ſo ſchlecht vor. Die Komteſſe ahnte ja nicht, wen ſie vor ſich
hatte. Würde ſie nicht aufſpringen und ſie aus dem Zimmer
jagen, ſowie ſie erfuhr, was aus ihrer Freundin inzwiſchen
geworden ſei. Denn dieſe reine, feine Perſönlichkeit konnte
doch kaum etwas ahnen von all dieſen Dingen und wie es in
der Welt da draußen zuging.


Und das Geheimnis brannte dem Mädchen doch auf der
Seele. War es denn nicht noch viel ſchlechter, vor jener, die
ſo gut zu ihr war, eine ſolche Lüge aufrecht zu erhalten.
Und ſchließlich war es doch das einfachſte Ding von der
Welt! Der Junge war ihr Kind, war denn darin ein Unrecht?
Konnte denn das, was aus Liebe geſchehen war, ſchlecht
ſein? Etwas, das ſo glücklich machte, durfte nicht böſe ſein!
Und die Komteſſe war eine Frau, wie ſie. Trotz aller
Vornehmheit mußte ſie das verſtehen! Sie hatte ſo liebe
Augen und eine ſo freundliche Stimme. Daß ſie böſe werden,
[104] oder gar zanken könne, war ganz unmöglich, ſich vorzu¬
ſtellen.


Aber es war ſo furchtbar ſchwer, den Anfang zu finden.
Es klang ſo entſetzlich, ein ſolches Geſtändnis. Pauline dachte
wie oft: jetzt wirſt Du's ſagen! ſobald Ida einen Satz zu
Ende geſprochen. Und ſie verſchob es doch wieder. So ging
es eine ganze Weile fort, das Mädchen begriff immer deut¬
licher, daß ſie fortgehen würde von hier, ohne ihr Herz er¬
leichtert zu haben.


Ida begann davon zu ſprechen, daß ſie es nicht zu be¬
greifen vermöge, wie eine Mutter ihr Kind von ſich laſſen
und einer Fremden zur Pflege übergeben könne. Sie fragte
Pauline, was denn die Mutter dieſes Kindes für eine Frau
ſei, daß ſie ſo etwas über's Herz gebracht habe.


Da fühlte Pauline, daß jetzt der Augenblick gekommen ſei,
zu ſprechen. Mit kaum vernehmlicher Stimme kamen die paar
Worte heraus, die der andern alles ſagten.


Ida verlor für einen Augenblick die Faſſung. Da merkte
man auf einmal, was für leidenſchaftlich jähes Frauengefühl
unter dieſer Decke von guter Erziehung und jahrelanger Ge¬
wöhnung verborgen lag. Sie war aufgeſprungen von ihrem
Sitze, ſtand da bis in die Lippen erblaßt, die Hand aufge¬
ſtemmt auf die Tiſchkante mit den Knöcheln, atmete ſchwer und
haſtig, und die weiße Hand zitterte.


Keines ſprach ein Wort. Pauline ſaß vor Ida, geſenkten
Hauptes und blickte in den Schoß. Ida betrachtete dieſe
Geſtalt mit eigenartig leuchtenden Augen. Einen Augenblick
kam es wie ein herber, ſelbſtgerechter Zug in ihr Geſicht.
Ihre Naſenflügel flogen, die Lippen ſchürzten ſich verächtlich.
Jetzt war ſie das hochfahrende Edelfräulein, das die ver¬
worfene Bauernmagd richten wollte.


Aber das war ſchnell verſchwunden. Thränen traten ihr
auf einmal in die Augen, um die Mundwinkel zuckte es.
Mitleid war es nun, was aus jedem Zuge ſprach, Mitleid
mit Pauline, Mitleid mit ſich ſelbſt, mit ihrem ganzen Ge¬
ſchlecht.


[105]

Ida ſtand noch eine Weile ſchweigend, mit wogendem
Buſen. Allmählich aber fand ſie ihre Gemeſſenheit wieder.
Sie ſetzte ſich, legte ihre ſchlanke Hand auf Paulinens braun¬
rote derbe. „Da haſt Du wohl rechte Freude an Deinem
Jungen, Pauline?“


Pauline konnte nichts ſagen, ſie nickte ſtumm.


Ein Brief von Guſtav Büttner aus der Garniſon war
bei Pauline Katſchner eingetroffen. Der Unteroffizier ſchrieb,
daß er die Abſicht habe, nicht weiter zu kapitulieren; ſo ſehr
ihm ſeine Vorgeſetzten auch zuredeten, bei der Truppe zu
bleiben. Die ganze Soldatenſpielerei hänge ihm zum Halſe
heraus. Nach dem Manöver werde er abgehen und nach
Halbenau kommen. Pauline möchte zu ſeinen Eltern gehen
und ihnen ſeinen Entſchluß mitteilen.


Pauline war überglücklich. Wie gut Guſtav war!


Das Mädchen trug den Brief Tag und Nacht bei ſich.
In unbewachten Augenblicken nahm ſie ihn vor und las darin.
Jedes ſeiner Worte war ihr teuer.


Sie hatte ſich doch nicht in Guſtav getäuſcht. Wie oft
hatte ihr die eigene Mutter abgeredet, ſich weiter mit ihm
abzugeben, er ſei ein Leichtfuß und werde ſie ganz ſicher ſitzen
laſſen. Auch andere hatten ſie gewarnt.


Guſtavs eigenes Benehmen ſchien eine Zeitlang jenen
Warnern Recht zu geben. Die häßlichſten Dinge waren ihr
von Guſtav Büttner hinterbracht worden. Sie hatte an ihm
feſtgehalten. Sie konnte ja nicht von ihm laſſen. Er war ja
der Vater ihres Kindes!


Nun war ihr Vertrauen doch nicht umſonſt geweſen.


In dieſem Briefe war es ausgeſprochen, zwar nicht mit
Worten — das Heiraten war mit keiner Silbe erwähnt —
aber zwiſchen den Zeilen lag es. Und Pauline wußte in den
Briefen ihres Geliebten zu leſen. Das einfache Mädchen hatte
von Natur jene weibliche Gabe mitbekommen, dort ahnend zu
wiſſen, wo ihr Verſtehen aufhörte.


[106]

Guſtav verließ im Herbſt die Truppe, kam nach Halbenau
zurück. Das hieß ſoviel wie: ſie wurde ſeine Frau. Sie
wußte es. Alles Nachdenken darüber war unnötig. Es
war ſo!


Und ſie ſollte zu den alten Büttners gehen und ihnen
ſeinen Entſchluß mitteilen. Sie hatte er zu ſeinem Boten
auserſehen für dieſe Botſchaft. Darin allein ſchon lag alles
ausgeſprochen. Die Familie ſollte erkennen, daß ſie ihm die
Wichtigſte ſei, der er, zuerſt von allen, ſeine Pläne mit¬
teilte. —


Am nächſten Sonntag Nachmittag begab ſich Pauline auf
das Büttnerſche Bauerngut.


Sie traf die Frauen allein. Der Bauer und Karl waren
ausgegangen. Die Bäuerin hatte die Gelegenheit benutzt, wo
ihr Eheherr abweſend war, um für ſich und die Töchter einen
Sonntagsnachmittags - Kaffee zu brauen. Der Büttnerbauer
ſah nämlich den Kaffeegenuß als Verſchwendung an und hatte
ein für allemal ein Verbot gegen ſolchen Aufwand ergehen
laſſen. Selbſt zum Frühſtück geſtattete er nur Milch und
Mehlſuppe, wie ſie ſeit Urgedenken ſeine Vorfahren genoſſen
hatten.


Die Frauen waren im Bewußtſein des verbotenen Thuns
auf dem Lugaus. Pauline wurde daher ſchon von weitem
erkannt. Vier Köpfe waren hinter den Fenſtern des Wohn¬
zimmers, als ſie das Gehöft betrat. „Katſchners Pauline!“
hörte ſie rufen, und darauf ein Getuſchel von weiblichen
Stimmen.


Jetzt wurde ſie auf einmal zaghaft, beim Anblick dieſer
neugierigen Frauengeſichter. Bis dahin hatte ſie ſich tragen
laſſen von der Begeiſterung ihres Entſchluſſes. Erſt in dieſem
Augenblicke fiel es ihr auf's Herz, daß ſie hier ja mit Feinden
und Nebenbuhlern zu thun haben werde.


Trotzdem pochte ſie an, wenn auch zaghaft; denn jetzt
war an eine Umkehr nicht mehr zu denken.


Thereſe öffnete ihr. Mit bloßen Armen und Halſe ſtand
die unſchöne, hagere Frau auf der Schwelle und muſterte
[107] Pauline mit mißgünſtigen Blicken. „Willſt De zu uns?“
fragte ſie in barſchem Tone. Pauline erklärte ſchüchtern, daß
ſie zur Bäuerin wolle. „Se ſpricht, ſe wollte zu Sie, Mutter!“
erklärte Thereſe, ihren kropfigen Hals nach rückwärts ins
Zimmer drehend.


„Nu kimm ack rei, Pauline, kimm ack rei!“ rief die
Bäuerin, bei der die Gutmütigkeit die weibliche Ränkeſucht
um ein Gutes überwog.


Pauline trat mit niedergeſchlagenen Augen und unſicheren
Bewegungen ein. Daß auch gerade Thereſe ſie hatte einlaſſen
müſſen! Die beiden waren ungefähr gleichalterig und hatten
derſelben Klaſſe angehört. Katſchners Pauline hatte immer
eine beſondere Stellung gehabt, ſchon auf der Schule, ihrer
Geſchicklichkeit und ihres ſauberen Ausſehens wegen. Vor
allem aber war ſie beneidet worden von den andern um
ihren vertrauten Umgang mit der Komteſſe. Thereſe aber,
die mit Hilfe anderer Eigenſchaften, durch: Härte, Kraft
und ein frühzeitig entwickeltes ſcharfes Mundwerk, eine Rolle
unter den Gleichalterigen geſpielt hatte, war ſtets Paulinens
ärgſte Widerſacherin geweſen. Das Verhältnis zwiſchen den
beiden hatte ſich eher verſchlechtert als gebeſſert, ſeit Thereſe
den älteſten Sohn aus dem Büttnerſchen Bauerngut geheiratet,
und Pauline die Geliebte des jüngeren Sohnes geworden
war. Thereſe hatte nicht wenig dazu beigetragen, die übrige
Familie gegen dieſe Liebſchaft einzunehmen und Paulinen
jede Annäherung an Guſtavs Verwandte bisher unmöglich zu
machen.


Das Mädchen ſchritt zunächſt auf die Bäuerin zu, die vor
ihrer Taſſe am Tiſche ſaß, und reichte ihr die Hand. „Guntag,
Bäuern!“


„Guntag, Pauline, guntag!“


Darauf ging Pauline zu den beiden Mädchen, denen ſie
gleichfalls die Hand reichte. „Guntag Toni! — Guntag
Ernſtinel!“ Die beiden ſahen ſie befremdet an, ohne etwas
zu ſagen. Toni war ohne Arg. Das ſchwerfällige, harmloſe
Geſchöpf hatte keinerlei Stellung zu dieſer Familienangelegen¬
[108] heit genommen. Die kleine Erneſtine dagegen betrachtete die Ge¬
liebte des Bruders halb mit Spott, halb mit frühreifer Neugier.


Trotz ihrer Befangenheit hatte Pauline, mit dem jeder
wiſſenden Frau in ſolchen Dingen eigenen ſchnellen Begriffs¬
vermögen, ſofort feſtgeſtellt, daß das Dorfgerücht wahr ſei,
welches behauptete, Büttners Älteſte ſei guter Hoffnung. Pauline
kümmerte ſich eigentlich wenig um den Dorfklatſch — ſie ging
nicht mehr zum Tanz, ſeit ſie den Jungen hatte — aber Nach¬
barn und Freunde hinterbrachten ihr doch dieſes und jenes.
So war ſchließlich auch dieſe Neuigkeit zu ihr gedrungen.


Da niemand ſie aufforderte, ſich zu ſetzen, blieb Pauline
ſtehen. Man wartete darauf, daß ſie etwas ſagen ſolle, denn,
daß ſie ohne beſtimmten Zweck hierher gekommen ſei, wurde
nicht angenommen.


Das Mädchen hatte die ganze Zeit über die linke Hand
unter der Schürze gehalten. Sie hatte dort Guſtavs Brief,
den ſie vorlegen wollte, falls man ihr etwa nicht glauben ſollte.
Schließlich mußte ſie ſich entſchließen, zu ſprechen. Sie begann
mit gedämpfter Stimme, ohne jemanden dabei anzuſehen: „Ich
komme, und ich ſoll och einen ſchönen Gruß ausrichten von
Guſtaven an Euch alle.“


Die Einleitung wurde mit Kühle aufgenommen von den
andern Frauen.


„Und er würde och bald nach Hauſe kommen,“ fuhr
Pauline fort.


„Uf de Kirmeß! Wenn ſe'n Urlaub gahn!“ meinte die
Bäuerin.


„Ne, ne! Er wird ganz nach Halbenau kommen.“


„Guſtav! derhemde?“


„Er ſchreibt mir's dohie!“ Damit zog ſie die Hand
unter der Schürze vor und hielt triumphierend den Brief in
die Höhe. „Er hat mer's geſchrieben.“


„Dos wäre. Guſtav vun Suldaten wag!“


„Er hat ſich zu ſehre ärgern miſſen mit ſeinem Wacht¬
meiſter. Er will niſcht nichmehr wiſſen vom Soldatenleben.
Nach'n Manöver will 'r nach Halbenau kommen.“

[109]

Die Nachricht verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Bäuerin
vergaß auf einmal ganz, daß Pauline eigentlich als eine Ver¬
fehmte betrachtet wurde in der Familie. Sie holte das
Mädchen heran und räumte ihr einen Platz neben ſich ein.
Guſtav, ihr Lieblingsſohn, würde nach Hauſe zurückkehren!
Sie wollte darüber Näheres hören. Pauline mußte erzählen,
was ſie wußte.


Thereſe ſtand inzwiſchen bei den Schwägerinnen in einer
anderen Ecke. Sie betrachtete Pauline mit wenig freundlichen
Blicken, und murrte. Die Ausſicht, daß Guſtav auf den
väterlichen Hof zurückkehren werde, war gar nicht nach ihrem
Geſchmacke. Sie war dieſem Schwager niemals grün geweſen.
Sie konnte ihm ſeine Überlegenheit über ihren Karl nicht
verzeihen.


Pauline war jetzt darüber, der Bäuerin eine Stelle aus
dem Guſtavſchen Briefe vorzuleſen. Der Unteroffizier ſchrieb,
daß es dem Vater wohl auch recht ſein würde, wenn er zur
Herbſtbeſtellung ein paar Hände mehr auf dem Gute habe.


Da hielt ſich Thereſe nicht länger. „Woas!“ ſchrie ſie
dazwiſchen und trat an den Tiſch, „Guſtav ſoit und er will
hier bei uns nei! dan grußen Herrn ſpiel'n, hier uf'n Gutte
rimkummandieren! das mir andern uns glei verkriechen mechten!
das kennte uns grade paſſen! Da mechten mir am Ende glei
ganz verziehn, Karle und ich. — Und hier ſei Menſch . . .“
damit wandte ſie ſich gegen Pauline, der ſie mit den Fäuſten
vor dem Geſicht herumfuchtelte, „die denkt am Ende, weil ſe
a Kind vun'n hat, daß ſe ſchunſten zur Familie zahlte. Su
ſchnell gieht das ne! Wenn mer dan ſene Frauenzimmer
alle ufnahmen wollten, dohie, da langte's Haus am Ende ne
zu. Froit ack in der Stadt a mal nach, mit woas für welchen
dar Imgang hoat. Oder denkſt De etwan, daß der D'ch
heiraten werd. Bis ack ne ſu tumm! Der wird a Madel mit
an Kinde nahmen. Lehr' Du mich Guſtaven kennen! — Ihr
zwee kimmt ne hier nei, ſovill ſag'ch . . . vor mir ne!“ . . .


Der wütenden Perſon ging vor Erregung der Atem aus.
Das letzte war nur noch heiſeres Gegurgel geweſen.


[110]

Pauline ſaß da, gänzlich erblaßt, mit weit offenen Augen
ſtarrte ſie Thereſe an. Zu erwidern wußte ſie nichts. Sie
war immer ſo geweſen. Der Rohheit und Ungerechtigkeit
ſtand ſie waffenlos gegenüber.


Übrigens ſollte ihr von anderer Seite Hilfe kommen.
Der Bäuerin war die Geduld geriſſen; beſonders daß Thereſe
es gewagt, Guſtav ſchlecht zu machen, hatte ihren mütterlichen
Stolz gekränkt. Sowie die Schwiegertochter ſie zu Worte
kommen ließ, wetterte ſie los: Thereſe ſolle ſich nur ja nicht
einbilden, daß ſie hier etwas zu ſagen habe. Dem Bauern
gehöre Gut und Haus und nicht den Kindern. Sie ſollten
gefälligſt warten, bis die Alten geſtorben wären, oder ſich
auf's Ausgedinge zurückgezogen hätten, ehe ſie zu komman¬
dieren anfingen.


Thereſe ließ ſich den Mund nicht verbieten und redete
dagegen. Die Bäuerin war, wenn einmal aus ihrer gewöhn¬
lichen Ruhſeligkeit aufgereizt, auch nicht die Sanfteſte. So
gab es denn ein Keifen und Zetern zwiſchen der alten und
der zukünftigen Büttnerbäuerin, daß man es bis weit über das
Gehöft hinaus hören konnte. Dabei hatte man ganz die
Vorſicht außer acht gelaſſen, Ausſchau nach dem Vater zu
halten. Auf einmal ertönten ſchwere Fußtritte vom Hausflur
her. Mit erſchreckten Geſichtern ſahen ſich die Frauen an.
Es war zu ſpät, das Kaffeezeug noch zu beſeitigen; ſchon er¬
ſchien der Bauer in der Thür, gefolgt von Karl.


Der Büttnerbauer war ſowieſo nicht in der beſten Laune.
Es hatte ärgerliche Verhandlungen gegeben mit dem Gemeinde¬
vorſteher wegen eines Geländers, das der Bauer an ſeiner
Kiesgrube anbringen ſollte. Heute war ihm nun von Seiten
der Behörde Strafe angedroht worden, wenn er den Bau
noch länger unterlaſſe. Das hatte den Alten in ſeiner
Anſicht beſtärkt, daß die Behörden nur dazu da ſeien, den
Bauern das Leben ſauer zu machen. In hellem Zorn war er
zum Ortsvorſteher gelaufen und hatte dort eine halbe Stunde
lang gewettert und getobt. Sein Groll war noch keineswegs
verraucht, als er jetzt bei ſeinen Leuten eintrat.


[111]

Nach einigen Schritten ins Zimmer erblickte er die
Kaffeekanne auf dem Tiſche. In den betretenen Mienen der
Frauen las er das übrige.


Dann fiel ſein Blick auf Pauline Katſchner. Er ſtutzte.
Was wollte das Frauenzimmer hier? Er zog die Augenbrauen
zuſammen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, an die Lieb¬
ſchaft ſeines Sohnes erinnert zu werden!


Die Bäuerin ſah, daß die Lage bedenklich wurde. Erſt
wenige Tage war es her, da hatte der Bauer erfahren, daß
ſeine älteſte Tochter ein Kind erwarte. Der Auftritt, den
es darüber gegeben hatte, lag den Frauen noch allen in
den Gliedern. Die Bäuerin kannte ihren Eheherrn. Die
Adern an der Stirn ſchwollen ihm; ein ſchwerer Sturm war
im Anzuge. Es galt, den Ausbruch zu verhindern.


Sie kam zu ihm herangehumpelt und legte ihm die Hand
auf die Schulter. „Traugott!“ ſagte ſie, und gab ihrer
Stimme den ſanfteſten Klang, der ihr zu Gebote ſtand. „Mir
han'ch ane Neege Kaffee gekucht; bis ack ne bieſe! Zu aner
Taſſe Kaffee an Sunntch Namittage langt's ſchun noche!“


Der Bauer räuſperte ſich. Sie kannte ſeine Gewohnheiten
genau. Das war eine Art von Ausholen; wenn man ihn
erſt einmal losbrechen ließ, dann wurde es furchtbar. Die
erfahrene Frau ſah ein, daß ſie jetzt einen Trumpf ausſpielen
müſſe.


„Vater!“ ſagte ſie. „Mir han och ene gutte Nachricht fir
Dich, ane ſihre gutte Nachricht von Guſtaven. Denk' der ack,
ar hat geſchrieben, und ar will vun die Suldaten furt. Schun
uf'n kinftgen Herbſt will er nach Halbenau zuricke kimma, dar
Guſtav! Was ſagſt De denn anu, Mann! Freiſt De Dich ne?
Nu warn mer unſern Jung'n bale wieder ganz in Hauſe han.“


Die Bäuerin hatte ſich nicht verrechnet. Dieſe Nachricht
wirkte bei dem Alten wie ein Tropfen Öl auf erregte
Wogen. Guſtav nach Halbenau zurück! Die Hoffnung, die
er ſolange im Stillen gehegt hatte und die ſich doch nicht er¬
füllen wollte bisher, weil der Junge zu ſehr am bunten Rocke
hing — und nun wurde es doch endlich! Einen ſolchen Arbeiter
[112] auf das Gut und einen ſo anſchlägigen Kopf obendrein, wie
ſein Guſtav war, da mußte doch alles wieder gut werden!
Die tief geſunkenen Hoffnungen des alten Mannes ſtiegen mit
einemmale luſtig in die Höhe, als er dieſe Kunde vernahm.


Der Büttnerbauer machte zwar ein mißmutiges Geſicht,
und brummte etwas, was gar nicht nach Freude klang. Aber
das war nur zum Scheine. Vor der Familie wollte er ſich
ſeine Gefühle nicht anmerken laſſen. Darum blieb er auch
nicht lange im Zimmer. Nur zum Vorwande ſtöberte er in
einer Ecke, als habe er dort etwas zu ſuchen, dann ging
er zur Stube und zum Hauſe hinaus. Unter Gottes freiem
Himmel, wo niemand ihn beobachtete, wollte er ſich ſeiner
Freude hingeben.

[[113]]

IX.

Der Sommer hatte nicht gehalten, was das Frühjahr
verſprochen. Die Herbſtſaaten waren zwar gut durch den
Winter gekommen und hatten ſich während eines milden Früh¬
lings kräftig beſtockt. Auch die Sommerung war prächtig auf¬
gegangen, daß es im Mai eine Luſt war, über die Haferfelder
und die Kartoffelbeete hinwegzublicken. Regen und Sonnen¬
ſchein folgten ſich in gedeihlicher Abwechſelung. Das Korn
trieb zeitig ſeine Schoßhalme. Anfang Juni ſah es aus, als
ob es eine ausgezeichnete Ernte geben müſſe.


In der Seele manches Landwirtes, der über die ſchlechten
Erträge der letzten Jahre ſchier hatte verzweifeln wollen, ſtieg
die tiefgeſunkene Hoffnung auf's neue. Kein Stand iſt ja ſo
auf das Hoffen angewieſen, wie dieſer. Von dem Auswerfen
des Samens bis zum Bergen der Frucht ſchwebt der Land¬
mann zwiſchen Furcht und Hoffnung; jeder Tag iſt von Be¬
deutung für das Gedeihen, und jede Stunde kann alles
zerſtören.


Auf das vielverſprechende Frühjahr folgte im Sommer
Kälte und anhaltende Näſſe. Die ſchnell aufgeſchoſſenen
Halme ſtockten plötzlich im Wachstum. An vielen Stellen
lagerte ſich das Getreide. Die Kornfelder ſahen aus, als ſei
eine Rieſenwalze über ſie dahingefahren. Licht und Luft fehlte
der Ähre, eine mangelhafte Beſtäubung fand ſtatt, von unten
wuchſen Diſteln und allerhand Unkraut durch das Getreide
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 8[114] hindurch. Nur hier und da richtete der Wind die Geknickten
wieder auf. Die Ähren ſtanden nicht in freier Luft aufrecht,
dem Lichte zugekehrt, wie es nötig iſt für die Entwickelung
jeglicher Kreatur und jeglicher Pflanze; ſie ſenkten ſich dem
dunklen, feuchten Erdreiche zu, das ihren Wurzeln wohl
Nahrung zum Sprießen, ihren Häuptern aber nicht Wärme,
Licht und Bewegung zu gewähren vermochte. So kränkelten
die Körner, das Wachstum war ohne Saft und Kern. Da
gab es viele leere Hülſen und leichte Früchte, nnd ſchädlicher
Roſt fraß die welken Körner an.


Auf den Wieſen hatte prächtiges Gras geſtanden. Selbſt
auf den feuchten und ſumpfigen Flecken wuchſen heuer, be¬
günſtigt durch das trockene Frühjahr, beſſere Kräuter, als
ſonſt; die ſauren Gräſer hatten nicht die Oberhand gewinnen
können. Infolge der häufigen Regenſchauer war überall ein
dichtes Bodengras gewachſen. Zu Beginn der Heuernte regnete
es anhaltend. Nach alt bewährter Bauernregel ließ man
ſich jedoch durch den Regen nicht vom Hauen abhalten. Ein¬
mal mußte es ja doch mit Gießen aufhören; der liebe Gott
konnte doch unmöglich wollen, daß der Segen, den er hatte
wachſen laſſen, ſo in Grund und Boden verdürbe.


Aber die himmliſchen Schleuſen ſchloſſen ſich nicht. In
der Kirche wurde eifrig für gutes Erntewetter gebetet — es
regnete unbekümmert weiter. Sieben Wochen lang mußte
ſchlechte Witterung bleiben; es hatte ja am Siebenſchläfer
geregnet.


Als es endlich doch aufhörte, da war es gerade um acht
Tage zu ſpät. Das Heu war zwar aus weiſer Vorſicht in
große Schober geſetzt worden; aber die Näſſe war doch durch¬
gedrungen. Als man die Haufen öffnete, dampfte und ſtank
es. Dumpfe Gährung hatte ſich darin entwickelt. Manches Heu
war wie verbrannt. Kein Vieh wollte das verdorbene Futter
mehr anrühren. Statt auf den Heuboden, wanderte es auf die
Düngerſtätte, oder in den Stall zum Einſtreuen.


Nun ſchien die Sonne durch volle vierzehn Tage herrlich.
„Der alte Gott lebt noch!“ ſagte der Pfarrer von der Kanzel,
[115] „ſeht, wie hat Er es ſo herrlich hinausgeführet!“ Die Bauern
hörten ſich das mit an; dem Herrn Paſtor durfte man ja
nicht widerſprechen. Aber in ihren geheimſten Gedanken war
nicht viel von Ergebenheit in die Ratſchlüſſe des Höchſten zu
finden. „Wenn die Not am größten, iſt Gottes Hilfe am
nächſten“ und „Wer Gott dem Allerhöchſten traut, der hat auf
keinen Sand gebaut“. Das waren ja alles ſehr ſchöne Sprüche,
aber manchmal ſah es wirklich danach aus, als ob man
im himmliſchen Rate — ebenſo wie bei der irdiſchen Obrigkeit
— recht wenig Verſtändnis für das beſäße, was dem Land¬
manne frommt. Wie konnte es ſonſt geſchehen, daß jetzt un¬
unterbrochen ſchönes Wetter war, wo ein ſolcher Tag, vierzehn
Tage früher, alles gerettet hätte. Nun war das ſchöne Heu
zu Miſt geworden. Mancher ſchüttelte den Kopf; wirklich, es
ging zu verkehrt zu in der Welt! Man wußte nicht mehr,
was man denken ſollte.


Die Kornernte begann. Stroh war viel da, ſoviel ſtand
feſt. Und wo kein Lager geweſen, konnte man auch mit den
Ähren leidlich zufrieden ſein. Aber wo ſich das Getreide
zeitig gelegt hatte und nicht wieder aufgeſtanden war, da ſah
es troſtlos aus. Jetzt erſt beim Mähen merkte man, was das
für ein Fitz und Filz geworden war. Kaum daß die Senſe
durchdringen konnte. Noch einmal ſoviel Zeit, als ſonſt,
brauchten die Schnitter. Allerhand Übelſtände zeigten ſich.
An manchen Stellen war das Getreide zweiwüchſig geworden
durch die anhaltende Näſſe. An den Ähren fand ſich reich¬
liches Mutterkorn. Der Roſt und andere Krankheiten hatten
vieles verdorben.


Den Auguſt hindurch blieb trockene, milde Witterung. So¬
viel Einſehen hatte der liebe Gott doch, daß er die Roggenernte
wenigſtens nicht auch noch verregnen ließ. Den Läſterzungen und
Nörglern war dadurch einigermaßen der Mund geſtopft, und
mancher, der durch die frühere Heimſuchung vor den Kopf
geſtoßen worden, machte wieder ſeinen Frieden mit dem lieben
Gott. Ja, der Herr Paſtor durfte von der Kanzel herab ſagen:
ſoviel der Güte und Treue hätten wir gar nicht verdient. —


8*[116]

Es war nicht alles verloren. Die Grummeternte ſtand
noch aus, vielleicht mochte ſie ein wenig die Lücke ausfüllen,
welche das Verderben des Heues in die Futtervorräte geriſſen
hatte. Der Hafer ſtand nicht ſchlecht. Streifenweiſe hatte ihn
freilich die Zwergcikade arg mitgenommen. Die Kartoffel
ſtand üppig, die Knollen waren zahlreich und gut entwickelt.
Wenn der September ſie nicht verdarb, mußte es eine gute
Kartoffelernte geben.


Der Büttnerbauer hatte angefangen, ſein Korn zu ſchneiden.
In dieſem Jahre bildete Roggen ſeine Hauptfrucht. Ein
Schlag, wo er beſonders dick geſäet hatte, war ihm gänzlich
durch Lager verdorben; an anderen Stellen, wo das Getreide
weniger dicht geſtanden, hatte es der Wind zum Teil wieder
aufgerichtet.


Es war eine große Sache darum, wenn der erſte Senſen¬
hieb ins Korn gethan wurde. Schon mehrfach in den letzten
Tagen hatte der Büttnerbauer die Felder umgangen, oder war
auch in der Waſſerfurche ein Stück hineingeſchritten, um die
Ähren auf ihre Reife hin zu prüfen. Farbe des Strohes und
Löslichkeit der Körner wollte ihm noch immer nicht gefallen.
Endlich, eines Abends, gab der Alte die Loſung: morgen be¬
ginnt die Kornernte!


Karl dengelte die Senſen bis in die ſinkende Nacht
hinein. Am nächſten Morgen bei Tagesgrauen ging es hin¬
aus. Das große Stück dicht am Hofe, welches ſeiner ge¬
ſchützen Lage wegen zuerſt gereift war, kam zunächſt daran.


In einer Reihe traten ſie an, ohne beſonderen Befehl.
Ein jedes kannte ſeinen Platz von früheren Jahren her. Der
Vater an erſter Stelle, hinter ihm zum Abraffen der Ähren
Toni. Darauf Karl, dem ſeine Frau beigegeben war. Erneſtine
hatte die Strohſeile zu drehen für die Garben. Die Bäuerin
blieb ihres Leidens wegen im Hauſe.


Die Senſen ſirrten. Bald lag eine ganze Ecke des Feldes
in Schwaden. Als arbeite eine Maſchine, ſo regelmäßig flog
[117] die Senſe in der Hand des alten Bauern, in weitem Bogen.
Ganz unten am Boden faßte ſein kräftiger Hieb das Korn und
legte es in breiten Schwaden hinter die Senſe. Karl konnte
es nicht beſſer, als der Alte, trotz der dreißig Jahre, die er
weniger auf dem Rücken hatte. Der Abſtand zwiſchen den
beiden Männern blieb der gleiche. Der Sohn trat dem Vater
nicht auf die Abſätze, wie es wohl ſonſt geſchieht, wenn ein
junger und kräftiger Schnitter einem alten folgt. Die Frauen
hatten genug zu thun, die Ähren hinter den Senſen abzuraffen
und auf Schwad zu legen.


So hatte man bereits eine halbe Stunde gearbeitet und
der alte Mann hatte noch nicht den Wink zu einer Ruhe¬
pauſe gegeben. Toni fing an, Zeichen von Müdigkeit an den
Tag zu legen. Die Arbeit war dem Mädchen nie beſonders
von der Hand geflogen; in ihrem jetzigen Zuſtande wurde ihr
jede Anſtrengung doppelt ſchwer. „Tritt ack aus, Toni!“
raunte ihr der Bruder zu, „ich wer's Erneſtinel ruffen. Mach
Du ack Strohſeele.“ Toni hielt inne. Es war die höchſte
Zeit; ſie war in Schweiß gebadet, blaurot im Geſicht.
Karl winkte Erneſtine heran, die an Stelle der Schweſter
eintrat. Die Reihe hatte ſich geſchloſſen, ohne daß der
alte Bauer, der mit allem Sinnen und Denken bei der
Arbeit war, etwas von dem Wechſel gemerkt hätte. Erneſtine
war eine rührige Arbeiterin. Man ſah es den ſchlanken Glie¬
dern der Sechzehnjährigen nicht an, was für Zähigkeit und aus¬
dauernde Kraft darin ſteckte.


Als der Büttnerbauer Halt machte im Hauen, weil ſeine
Senſe gegen einen Stein geſchlagen, und er die Scharte
auswetzen mußte, bemerkte er, daß ſeine älteſte Tochter nicht
mehr in der Linie war. Sie ſaß im Hintergrunde und drehte
an Erneſtinens Stelle Strohſeile. Das Geſicht des Alten ver¬
finſterte ſich; er begriff ſofort den Grund ihrer Entfernung
— aber er ſagte nichts. Die andern benutzten die Gelegenheit,
um ſich zu verpuſten, während der Vater die Senſe ſchärfte.
Dann gings von neuem ans Werk.


Noch war es nicht acht Uhr des Morgens und ſchon
[118] brannte die Sonne verſengend auf die Schnitter hernieder.
Die Bäuerin kam vom Gute her, ſich mühſam mit einem
Korbe ſchleppend. Sie brachte einen Krug dünnes Bier und
Butterſchnitten. Bald ſaß die Familie auf dem Feldraine,
zum Frühſtück vereinigt. —


Nicht immer in neueſter Zeit bot die Büttnerſche Familie
einen ſo friedlichen Anblick. Öfters gab es jetzt Zwiſt und
Streit. Mit Sammetpfötchen hatte der Bauer die Seinen
niemals angefaßt. Er war ſtets Herr in ſeinen vier Pfählen
geweſen und hatte von den Rechten des Familienoberhauptes,
nach der Väter Sitte, Gebrauch gemacht. Wenn ſeine Art
auch rauh und ſchroff war, ein willkürlicher und grauſamer
Herrſcher war er nie geweſen. Schlichte Gerechtigkeit hatte er
walten laſſen in allem. Neuerdings war das anders geworden.


Nie hätte er ſich's früher beikommen laſſen, ſeiner Ehe¬
hälfte aus ihrem Leiden einen Vorwurf zu machen, jetzt hielt
er ihr gelegentlich ihre Gebrechlichkeit vor, wie eine Schuld.
Er zeigte ſich hart und ungerecht gegen die Kinder. Die
Bäuerin hatte bereits einer Nachbarin geklagt, daß man ihr
den Bauer ausgetauſcht habe, daß am Ende gar ein Feind
ihn beſprochen haben müſſe.


Mit ſeinem Älteſten konnte der Büttnerbauer gar nicht
mehr auskommen. Karl war langſam im Denken, wie im
Zugreifen. Das war immer offenkundig geweſen; aber der
Alte ſchien es jetzt erſt zu bemerken. Er fluchte und verſchwor
ſich, die Wirtſchaft gehe rückwärts, und daran ſei Karl mit ſeiner
Faulheit ſchuld. Er drohte ihn zu enterben, wenn das nicht
anders werde. Karl ließ dergleichen ziemlich ruhig über ſich er¬
gehen; Ehrgefühl und Stolz waren nicht gerade ſtark bei ihm ent¬
wickelt. Aber Thereſe nahm die Sache des, Gatten um ſo eifriger
auf, verfocht ſie mit der Leidenſchaft des gekränkten Weibes.
Es gab Szenen, wie ſie das Haus noch nicht geſehen hatte.
Eines Tages kam die Bäuerin bleich und an allen Gliedern
zitternd, zu Karl aufs Feld hinausgehumpelt, er ſolle ſo¬
gleich hereinkommen, der Bauer und Thereſe rauften in der
Familienſtube.


[119]

Auch dem Gange der Wirtſchaft war anzumerken, daß ver¬
hängnisvolle Wandlungen vor ſich gegangen waren.


Ein unſtätes Weſen machte ſich in allem geltend. Über
Gebühr zeitig mußte aufgeſtanden werden, ſo daß die überan¬
ſtrengten Menſchen des Abends todmüde waren, und ohne Luſt
und Liebe am nächſten Tage ſich zur Arbeit erhoben. Am
unrechten Flecke wurde geſpart. Der Bäuerin warf der Bauer
Verſchwendung vor, wenn ſie reichlich und gut kochte; die
Folge war, daß fortan mageres Eſſen auf den Tiſch kam,
und daß ſich die Seinen hinter ſeinem Rücken ſatt aßen. Auch
dem Vieh wollte er vom Futter abknapſen. Die Pferde,
welche Hafer kaum mehr zu ſehen bekamen, ſollten doch
doppelte Arbeit leiſten. Er, der früher bekannt geweſen war,
als Heger und Pfleger ſeines Viehes, mußte es erleben, daß
ihm, als er mit den abgetriebenen Mähren durchs Dorf
fuhr, das verfängliche Wort: „Pferdeſchinder!“ nachgerufen
wurde.


Dabei gönnte er ſich ſelbſt am wenigſten Ruhe von allen,
plagte und ſchand ſich in gottserbärmlicher Weiſe. Hohläugig
und ausgemergelt lief er einher, daß es ein Jammer war,
anzuſehen. Manchmal überfiel ihn, beſonders bei der Mahl¬
zeit, eine Schlafſucht, der er nachgeben mußte, er mochte wollen
oder nicht. In der Kirche, wo er früher ſtets zu den Auf¬
merkſamſten gehört hatte, ſchlief er jetzt ſchon im erſten
Teile der Predigt ein. Des Nachts dagegen wachte er oft,
erſchreckte die Bäuerin durch Selbſtgeſpräche und wildes Auf¬
ſchreien.


Jemehr er ſeine Kräfte nachgeben fühlte, deſto ver¬
zweifelter verſteifte er ſich darauf, ſeinen Willen durchzu¬
ſetzen. Plötzlich überkam ihn eine Art von Zwangsvorſtellung.
Da warf er ſich mit allen Arbeitskräften, die ihm zur
Verfügung ſtanden, auf die Urbarmachung einer Halde,
die von einem eingegangenen Steinbruch zurückgeblieben
war. Die Seinigen hielten ihm vor, daß man ja genug
Ackerland beſitze und daß die Arbeit zur Zeit an anderen
Stellen brennend notwendig ſei. Aber, mit ſolchen Einwänden

[120] durfte man ihm nicht kommen. Wutentbrannt wies er jede
Widerrede zurück. Eine ganze wichtige Woche im September
wurde ſo auf das Wegräumen von Schutt und Sprengen von
Steinen verſchwendet. Und erreicht war damit nichts weiter,
als daß ein Stück Land mehr da war, das unbrauchbar blieb
für die Beſtellung.


Mit aller Welt geriet der Büttnerbauer neuerdings in
Zwiſt. Ein einziges Wort konnte ihn derartig aufbringen,
daß er alle Beſinnung verlor und den Streit vom Zaune
brach. Eines Tages ritt Hauptmann Schroff über das Büttnerſche
Gut. Er traf den Bauern bei der Feldarbeit, hielt ſein Pferd
an, und redete den Alten in freundſchaftlicher Weiſe an. Der
Alte that, als habe er den Mann noch nie in ſeinem Leben
geſehen, geſchweige denn in vertraulicher Weiſe mit ihm verkehrt.
Als der Hauptmann ſich nach der Lage des Bauern erkundigte,
ihn dabei an das Geſpräch erinnernd, das ſie im Frühjahr ge¬
habt, da brach gänzlich unerwartet und unvermittelt aus dem
Munde des Alten ein Schimpfen und Wettern los, Verwün¬
ſchungen und Beſchuldigungen gegen die Herrſchaft, die ihm den
Garaus machen wolle, ſo beleidigend und verletzend, daß der
gräfliche Güterdirektor ſeinem Renner die Sporen gab, machend
daß er von dem alten Iſegrimm wegkam.


Mit Gemeinde und Behörde war der Büttnerbauer neuer¬
dings ebenfalls zuſammengeraten, und auch nicht zu ſeinem
Vorteil. Der Dorfweg führte ein Stück entlang der Büttner¬
ſchen Grenze. Der Bauer hatte nahe am Wege eine Kiesgrube
angelegt, aus der er ſeinen Bedarf an Sand zu Bauten und
Wegebeſſerungen entnahm. Im Laufe der Zeit hatte ſich
durch Sandholen und Nachſtürzen vom Rande das Loch ver¬
größert. Es drohte Gefahr, daß Fußgänger und Geſchirre,
namentlich bei Dunkelheit oder Schneeverwehung, in die Grube
ſtürzen und Schaden nehmen möchten. Die Gemeinde hatte
daher das ſehr begreifliche Verlangen an den Beſitzer der
Kiesgrube geſtellt, er möge zwiſchen Weg und Grube ein Ge¬
länder errichten. Der Büttnerbauer kehrte ſich überhaupt nicht
an dieſes Anſinnen, das er als einen Eingriff in ſein gutes

[121] Recht auffaßte. Darauf Beſchwerde von Seiten der Gemeinde
beim Landrat. Das Amt dekretierte, der Bauer habe das
Geländer bis zu einem beſtimmten Zeitpunkte herzuſtellen. Der
Bauer ließ den Zeitraum verſtreichen, ohne einen Finger zu
rühren. Hierauf Strafverfügung von Seiten der Behörde. Der
Bauer ſchimpfte und tobte; aber hier half all ſein Sperren
nichts. Er hatte ſich ſelbſt ins Unrecht geſetzt. Das Anbe¬
fohlene mußte ſchließlich ausgeführt werden, und Strafe hatte
er obendrein zu zahlen.


So that er in allem gerade das, was ihn am meiſten
ſchädigen mußte. Es war als ob der Teufel den alten
Mann geblendet hätte. Die Bäuerin hatte nicht ſo ganz
Unrecht mit ihrer Klage, daß ihr Bauer behext worden ſein
müſſe.


Es gab in der That ein Schreckgeſpenſt, das dem Bauern
im Rücken ſaß, ein Währwolf, der ihn ritt, daß er halb wahn¬
ſinnig, nicht mehr wußte, wo ein und aus.


Seit er dem Händler den Wechſel unterſchrieben, hatte
der Büttnerbauer keine ruhige Stunde mehr gehabt. Kaum
war Harraſſowitz zum Hauſe hinaus geweſen, hätte er ihn zu¬
rückrufen mögen, ihm ſein Geld zurückzugeben.


Dabei hegte er keinerlei beſtimmten Verdacht gegen
Harraſſowitz. Er hatte den Händler nicht anders als freund¬
lich und zuvorkommend kennen gelernt. Aber das Bewußſein, daß
es einen Menſchen auf der Welt gab, von dem er abhängig
war, der einen Zettel beſaß, auf dem ſein Name ſtand, und
der durch dieſen Fetzen Papier ſein Schickſal in Händen hielt,
das war der Alp, der auf dem Manne laſtete, das war das
unheimliche Geſpenſt, das des Tages plötzlich vor ihm auf¬
tauchte, ihn beſaß, wo er ging und ſtand, und ihn des Nachts
vom Lager aufſcheuchte.


In der erſten Zeit, als der Verfallstermin noch in weitem
Felde ſtand, hatte er ſich der Hoffnung auf einen guten Aus¬
gang nicht verſchloſſen. Wenn die Ernte gut ausfiel, wenn
hohe Preiſe wurden! Er hatte doch in anderen Jahren manchmal
aus dem Roggen allein an zweitauſend Mark erzielt. Warum
[122] ſollte denn das nicht auch in dieſem Jahre eintreten, wo Korn
ſeine Hauptfrucht war. Stroh konnte auch verkauft werden,
und vielleicht auch einige Fuder Heu. Auf die Weiſe konnte
hübſches Geld zuſammenkommen, allein aus der Winterung.
Und die Sommerfrüchte behielt er dann zur Deckung des
Winterbedarfes und zum ſpäteren Verkauf.


So rechnete der Bauer im Frühjahre. Dann kam der
erſte Rückſchlag durch die verregnete Heuernte. Mit dem
Heuverkauf war alſo nichts; man mußte ja das Wenige, was
man gerettet hatte vor dem Verderben, aufheben für den
Winter. Die Kornernte war inzwiſchen beendet. Der Büttner¬
bauer hatte eine Menge Puppen ſetzen können; ſein Feld hatte
voll ausgeſehen. Das Getreide war trocken in die Scheune
gekommen.


Der Bauer beſaß eine kleine Dreſchmaſchine und eine
Göpel auf ſeinem Hofe. Das meiſte ließ er freilich im
Winter mit dem Handflegel ausdreſchen, nach alter Sitte; das
Stroh blieb beim Handdruſch beſſer, und dann liebte er auch
nicht die Neuerungen. — Maſchine blieb Maſchine, wenn es auch
nur ein einfaches Göpelwert war. In dieſem Jahre aber ließ
er gleich mehrere Tage hintereinander mit dem Göpel dreſchen.
Er mußte ja Korn haben zum ſchleunigen Verkauf.


Der alte Bauer ſtand am Siebe, während Karl die
Garben hineinſchob und Thereſe draußen das Pferd antrieb.
Der Bauer nahm ſelbſt das Getreide ab und maß es nach.


Seine Miene wurde düſterer und düſterer. „'s ſchüttet
ne, 's will ne ſchütten!“ erklang ſein verzweifelter Ruf. Was
nutzte ihm das viele Stroh, wenn der Körnerertrag ſo gering
war! Und dabei hatte er das Hauptkorn in dieſem Jahre auf
vorjährigem Kartoffellande gebaut, das noch reich an Dünger
geweſen. Er hatte es an Sorge und Fleiß nicht fehlen laſſen,
und trotzdem kein Erfolg! Es waren die kalten Tage und
Nächte im Anfange des Sommers geweſen, die den Landwirt
um den Ertrag ſeiner Mühen betrogen hatten. —


Schließlich lag das geſamte Ergebnis der Kornernte in
einem ſtattlichen Könerhaufen, durchgeſiebt und durchgeworfen,
[123] von Spreu und Unkrautſamen ſorgfältig befreit, auf dem
Schüttboden.


„Wenn's nu ack an Preis hätte!“ ſagte der Büttnerbauer
und ſchickte den Sohn in den Kretſcham. Karl ſollte dort ein
Glas Bier trinken und bei der Gelegenheit im Kreisblatte
nachſehen, was der Roggen jetzt gelte.


Karl kam mit der Nachricht zurück, daß Roggen pro erſte
Septemberwoche neunzig ſtehe. Kaſchelernſt habe gemeint, der
Preis werde in nächſter Zeit noch viel tiefer ſinken an der
Börſe, „von wegen der ausländiſchen Einfuhr,“ ſo berichtete
Karl wörtlich, ohne zu verſtehen, was das eigentlich heiße.
„Wer klug handeln wolle, der hielte ſein Korn bis zum Früh¬
jahr, da werde es ſchon Preis bekommen,“ habe Kaſchelernft
geſagt.


Der Büttnerbauer konnte ſich ſchon denken, mit welch
treuherziger Miene ſein Schwager das geſagt haben mochte.
„Halten bis zum Frühjahr!“ Der Schuft! Als ob der nicht
ganz genau wiſſe, daß der Bauer verkaufen mußte, unter allen
Umſtänden und zu jedem Preiſe. Und derſelbe Mann, der
ihm hier ſo freundlichen Rat erteilen ließ, war es, der ihm
die letzte Hypothek Knall und Fall gekündigt hatte. Der alte
Bauer griff ſich an den Hals und ſchluckte, als ſäße da etwas,
was nicht hinunter wollte.


Der Büttnerbauer machte ſich darauf an's Rechnen.
Das war ſtets als eine geheimnisvolle Sache von ihm be¬
handelt worden. Eine eigentliche Buchführung kannte er
nicht. Das Wichtigſte behielt er im Gedächtnis. Er wußte
Ausgaben und Einnahmen, die er gemacht, von vielen Jahren
her auf Heller und Pfennig anzugeben. Aber obgleich er für
gewöhnlich nichts buchte, ſo machte er von Zeit zu Zeit doch
einmal einen Abſchluß. Dann gab es ein höchſt umſtändliches
Rechnen mit Kreide auf einer Tiſchplatte, oder einer Thür. Die
Sache nahm Stunden in Anſpruch. Lange Zahlenreihen wurden
aufgeſchrieben, alle vier Spezies bemüht. Den eigentlichen
Sinn aber dieſer ganzen Rechnerei verſtand nur der Büttner¬
bauer allein. Es war ein Vorgang, der auch äußerlich wie
[124] ein Geheimnis behandelt wurde, denn er duldete nicht, daß
jemand während der Zeit ſich im Zimmer aufhielt. Die Seinen
wußten das. Wenn es hieß: „Der Vater rechnet!“ hielt man
ſich wohlweislich fern, denn dann war nicht gut Kirſchen eſſen
mit dem Alten.


Auch diesmal hatte er eine verzwickte Rechnung angeſtellt.
Das Ergebnis war ein ſehr einfaches und in ſeiner Einfachheit
beſtürzendes: Achthundert Mark! Auf mehr kam er nicht.
Das war nicht annähernd genug zur Deckung des Wechſels
und zur Bezahlung der Michaeliszinſen.


Der alte Mann ballte die Fauſt. Er wußte ſelbſt nicht
gegen wen. Wer war es denn, der die Schuld daran trug,
daß ihm nicht der Lohn ſeiner Arbeit wurde? Sollte er den
lieben Gott dafür verantwortlich machen, oder ſollte er die
Menſchen bei dem lieben Gott verklagen? Wer war der Feind,
wo die Macht, die ihn um das Seine gebracht hatte? —


Der Bauer drohte in die leere Luft hinaus. Das war
nicht zu faſſen, für ſeinen Arm nicht zu erreichen: die Mächte,
die Einrichtungen, die Menſchen, welche Schuld hatten, daß
ſein Schweiß umſonſt gefloſſen war. Irgendwo da draußen,
unfaßlich für ſeinen ungelehrten Verſtand, gab es ungeſchriebene
Geſetze, die mit eherner Notwendigkeit auf ihn und ſeines¬
gleichen laſteten, ihn in unſichtbaren Ketten hielten, unter
deren Druck er ſich wand und zu Tode quälte.


Das Exempel ſtimmte mit fürchterlicher Genauigkeit. Wenn
er den Wechſel bezahlte, langte es nicht zu den Zinſen, be¬
zahlte er die Zinſen, langte es nicht zum Wechſel.


Die einzige Hoffnung blieb jetzt, daß Harraſſowitz Stun¬
dung gewährte. —


Noch ehe der Verfalltag eintrat, fuhr der Büttnerbauer
in die Stadt, er wollte mit dem Händler ſprechen.


Als der Bauer das Produktengeſchäft von Samuel Har¬
raſſowitz betrat, wurde ihm geſagt, der Chef ſei noch nicht im
Comptoir. Er ging daher fort und kam nach Verlauf von einigen
Stunden wieder. Diesmal wurde ihm mitgeteilt, Herr Har¬
raſſowitz ſei zu ſehr beſchäftigt, um ihn anzunehmen. Der
[125] Büttnerbauer ließ ſich nicht ſo leicht abweiſen diesmal. Es ſei
etwas ſehr Wichtiges, „ane gruße Sache“, wie er ſich ausdrückte,
wegen der er mit Herrn Harraſſowitz zu ſprechen habe. Der
Comptoiriſt, mit dem er bis dahin verhandelt hatte, rief einen
andern herbei, den er „Herr Schmeiß“ benannte.


Der junge Schmeiß ſchien bereits eingeweiht in die An¬
gelegenheit, denn er fragte den Bauern, ſowie er deſſen Namen
gehört, ob er etwa wegen Stundung ſeines Accepts komme.
Der alte Mann bejahte, etwas verwundert über die hochfahrende
Art dieſes Jünglings. Man ſolle doch ein paar Monate
Geduld haben, bat er, bis er ſeinen Hafer rein habe und ſein
Korn vorteilhaft verkauft haben werde.


„Harraſſowitz wird ſich ſchwer hüten,“ meinte Schmeiß
darauf. „Nichtwahr! damit ſie inzwiſchen Zeit gewinnen, die
einzigen pfändbaren Objekte zu Geld zu machen, daß er
dann das Nachſehen hat. Wir kennen das! Stundung giebt's
nicht. Wenn Sie nicht rechtzeitig zahlen, müſſen Sie die
Konſequenzen auf ſich nehmen, mein Lieber!“ —


Mit dieſem Beſcheide ließ er den verdutzten Alten ſtehen.


Der Büttnerbauer blieb den ganzen Reſt des Tages in
der Stadt. Er hoffte Harraſſowitz noch perſönlich zu treffen.
Er konnte nicht glauben, daß dieſe Antwort von dem Händler
ausgehe, auf deſſen gutes Herz er baute. Aber Sam blieb
heute unſichtbar für ihn.


Dann kam er auf den Gedanken, zu dem Bankier zu
gehen, der ihm neulich das Geld für die Hypothek gegeben
hatte. Aber auch Herr Iſidor Schönberger ließ bedauern,
ihn nicht annehmen zu können.


Unverrichteter Sache, ſchwerer denn je mit Sorgen belaſtet,
fuhr der Büttnerbauer am Abend nach Halbenau zurück.

[[126]]

X.

Ein paar Tage darauf erſchien derſelbe Herr Schmeiß,
welcher den alten Bauern im Comptoir von Harraſſowitz abge¬
fertigt hatte, in Halbenau. Er kam mit Lohngeſchirr. Neben
ihm auf den Rückſitz ſaß eine junge Dame. Während er ſich
in das Büttnerſche Gehöft begab, ſchwänzelte die auffällig ge¬
kleidete Perſon im Dorfe umher, zum Gaudium der Dorf¬
jugend und der Frauenwelt von Halbenau, die ſo hohe Ab¬
ſätze, eine ſolche Taille und derartig weite Puffärmel noch
nicht geſehen hatten.


Edmund Schmeiß, ein mittelgroßer junger Mann mit
flottem Schnurbärtchen und Lockenfriſur, rümpfte die Naſe über
den Miſthaufen, den er im Büttnerſchen Hofe vorfand. „Echte
Bauernwirtſchaft!“ ſagte er zu ſich ſelbſt, mit verächtlichſter
Miene. Sein tadellos gearbeiteter Anzug von hechtgrauer
Farbe, ſein ganzes Auftreten, waren „prima“, um ſeinen
eigenen Lieblingsausdruck zu gebrauchen. Kenner hätten viel¬
leicht finden können, daß nicht einmal die äußere Etikette der
Ware beſonders fein ſei. Seine Manieren waren irgend¬
woher, wahrſcheinlich vom Offiziers- oder jüngeren Beamten¬
ſtande erborgt und nicht immer glücklich kopiert.


Die Lebensſtellung des jungen Schmeiß genauer zu um¬
ſchreiben, war nicht leicht. Harraſſowitz bezeichnete ihn, wenn
er von ihm ſprach, als einen: ‚mir ergebenen jungen
Mann‘. Aber auch für Iſidor Schönberger ‚arbeitete‘ er,
[127] ohne daß man genau feſtſtellen konnte, worin ſeine ‚Arbeit‘
eigentlich beſtand. Man pflegte ihn bei Häuſer- und Güter¬
ankäufen als Strohmann zu verwenden, bei Zwangsverſteige¬
rungen trat er als Bieter auf. Wenn ein Kleinkaufmann, oder
Handwerker in ‚momentaner Verlegenheit‘ war, erſchien er als
Helfer in der Not. Er war jederzeit bereit, Wechſel zu dis¬
kontieren, und Geldſuchenden Darlehen von Dritten zu ver¬
ſchaffen, vorausgeſetzt, daß der Darlehnsſuchende etwas ‚opferte‘
womit er ſeine Proviſion meinte, die niemals gering bemeſſen
war. Er reiſte für allerhand Häuſer, deren Firma nicht einge¬
tragen war, und trat als Generalbevollmächtigter von Konſortien
auf, die nicht genannt werden durften, weil ſie ſich noch im
‚Entwickelungsſtadium‘ befanden. Er hatte jederzeit mindeſtens
ein halbes Dutzend ‚feiner Geſchäfte‘ an der Hand; kurz, er war
alles in allem ein äußerſt brauchbarer, praktiſcher, ‚ſmarter‘,
junger Mann, in vielen Sätteln gerecht, mit den Geſetzen und
der Gerichtspraxis vertraut. Mit Vorliebe legte er ſich den
Titel „Kommiſſionär“ bei.


Edmund Schmeiß alſo trat um die Mittagsſtunde in
die Büttnerſche Wohnſtube. Er fand die Familie bei Tiſch.
Er meinte im Eintreten, man möge um ſeinetwillen keine Um¬
ſtände machen. Er ſelbſt machte allerdings auch keine, das
mußte man ſagen! Ohne Umſchweife auf ſein Ziel losgehend,
fragte er den alten Bauern, in Gegenwart der Seinen, ob er
gewillt ſei, das heute fällig gewordene Accept zu decken.


Sie waren alle aufgeſtanden. Erſtaunt und beſtürzt
blickten ſie auf den fremden Eindringling, der ſich ſo unbe¬
fangen geberdete. Der alte Mann brauchte einige Zeit, ehe er
die Antwort fand: er habe in dieſer Sache doch nur mit Herrn
Harraſſowitz zu thun.


„Ach was, Harraſſowitz!“ rief Edmund Schmeiß. „Ich bin
jetzt derjenige welcher! an mich haben Sie zu zahlen. Bitte ſich
überzeugen zu wollen! Hier das Indoſſement!“


Der junge Mann hielt dem Bauern das Papier hin, und
hieß ihn, die Rückſeite beachten.


Der Bauer ſah, daß dort was geſchrieben ſtand, ein Name,
[128] wie es ſchien. Aber was ſollte ihm das! Wie kam dieſer
junge Menſch, der ihm niemals einen Pfennig gegeben hatte,
auf einmal dazu, ſein Gläubiger zu ſein?


Er ſchüttelte den Kopf und erklärte, nur an Harraſſowitz
zu ſchulden.


Edmund Schmeiß wurde ungeduldig. „Herr Gott! kapieren
Sie denn nicht!“ rief er. „Sie haben acceptiert. Hier iſt
Ihre Unterſchrift, nicht wahr?“


Der Bauer bejahte, nicht ohne ſich ſeine Unterſchrift noch
einmal ſorgfältig betrachtet zu haben.


„Bekennen Sie, Valuta richtig empfangen zu haben? —
Ich meine, ob Sie zugeben, das Geld, vierhundert Mark, ſeiner
Zeit von Harraſſowitz per Kaſſa bekommen zu haben?“


„Ju, ju! 's Geld ha'ch richt'g erhalen vun Herrn Har¬
raſſowitz, dohie an dieſem ſalbgen Tiſche. — Du weeßt's duch
noch, Frau?“ Die Bäuerin nickte. „Ju, ju, lieber Herr!“


„Nun ſehen Sie alſo! Harraſſowitz hat Ihr Accept dis¬
kontiert. — Man nennt das ein Dreimonatsaccept. — Dann
hat Harraſſowitz remittiert an mich. Folglich bin ich jetzt der
Inhaber des Wechſels. Die Sache iſt ſo klar wie etwas!
Sie müßten denn behaupten wollen, daß ich auf ungeſetzliche
Weiſe in Beſitz des Accepts gekommen wäre. Wollen Sie das
behaupten?“


Der Bauer ſtand da mit äußerſt verdutzter Miene. Er
verſtand kein Wort von der ganzen Sache. Da aber der
Andere ſo ſicher auftrat und ſo beleidigt dreinblickte, ließ er
ſchließlich ein zauderndes „Nein!“ hören.


„Darum möchte ich allerdings gebeten haben!“ ſagte
Edmund Schmeiß, machte große Augen und runzelte die Stirn.
„Hiermit präſentiere ich Ihnen alſo den Wechſel. Heute iſt
Verfalltag. Ich frage Sie, ob Sie annehmen?“


Der Bauer blickte noch unverſtändiger drein, als zuvor.
Auf den Geſichtern der Seinen malten ſich ſehr verſchieden¬
artige Gefühle; aber Schreck und Furcht herrſchten vor, dieſem
Fremden gegenüber, der durch jenes Stück Papier Gewalt
über den Vater und über ſie alle erhalten zu haben ſchien.


[129]

„Ob Sie mich auszahlen wollen, Herr Büttner? Ich
dächte, die Sache wäre doch nicht ſo ſchwer zu verſtehen!“


Der alte Mann bat ſich den Wechſel noch einmal aus.
Er drehte ihn um und um in den zitternden Händen, und
blickte ratlos drein, die Buchſtaben verſchwammen ihm vor den
Augen. Er mußte ſich ſetzen.


Die Bäuerin trieb jetzt die Kinder aus der Stube, ſie
ſollten den Vater nicht in ſeiner Schwäche ſehen. Nun trat
ſie zu ihrem Gatten. „Bis ack ruh'g, Alter! bis ack ruh'g!“
redete ſie ihrem Eheherrn zu.


„Jo, Du mei Heiland!“ rief der Bauer in heller Ver¬
zweiflung, mit hoher, weinerlich klingender Stimme. „Wos ſull
ich denne? Wos wullen Se denne von mir, dohie!“


„Zahlung! Weiter gar nichts! Zahlen Sie mich aus,
Herr Büttner, dann iſt alles in Ordnung,“ erklang die trockene
Antwort.


„Und 's Gald! Wu ſull ich denn's Gald harnahmen?
Ich ho's do ne!“


Edmund Schmeiß zuckte die Achſeln. Den neueſten Berliner
Gaſſenhauer vor ſich hin pfeifend und mit dem Fuß den Takt
dazu tretend, ſah er ſich im Zimmer um.


Die beiden Alten berieten ſich inzwiſchen halblaut. Einen
Reſt Geld hatte der Bauer noch im Kaſten liegen. Es ſtammte
von dem Korn, das er nun doch vor ein paar Tagen ver¬
kauft. Da er aber die Michaelis-Zinſen und Abgaben davon
bezahlt hatte, war nicht viel übrig geblieben. Es langte in
keinem Falle zur Deckung des Wechſels.


Kalter Schweiß ſtand dem alten Manne auf der Stirn.
Starren Blickes, mit bebendem Unterkiefer, auf dem Stuhle
zuſammengebrochen hockend, bot er einen kläglichen Anblick.


Die Bäuerin redete ihm zu. „No, Alter, no! ha ack
Karraſche! Dar Herr werd ſchun, und ar werd a Brinkel
Geduld han.“


Dann wandte ſie ſich an den jungen Mann. Mit
ſchmeichleriſch unterthänigen Blicken und Mienen, ſtreichelte ſie
inm ehrfurchtsvoll die Hand: „Newohr, lieber Herr, Se wern
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 9[130] meenen Mann a Brinkel Zeit lan. Mir verſprachen och und
mir wern uns Mihe gahn, mir wern alles abzahlen — mit
dar Zeet.“


Edmund Schmeiß erwiderte in kühlem Tone: Das kenne
er ſchon. Darauf könne er ſich nicht einlaſſen. Er habe den
Wechſel als einen ‚feinen‘ gekauft. Harraſſowitz habe ihm geſagt,
Herr Büttner ſei ein ſolider Mann. Er habe ſicher darauf
gerechnet, heute ſein Geld zu erhalten; habe ſich mit anderen
Geſchäften ſchon darauf eingerichtet. Er müſſe daher Deckung
verlangen. Falls er ſie nicht erlange, ſehe er ſich genötigt, den
Rechtsweg zu beſchreiten.


„Se wern uns doch ne verklag'n wulln?“ rief die
Bäuerin entſetzt aus.


Das ſei ſein gutes Recht, erwiderte der junge Mann.


„Herr Gutt, in Deinen Himmel droben!“ rief die Frau.
Sie griff ſich an den Mund mit zitternden Fingern, jammerte,
leiſe vor ſich hin weinend: „Moan, Moan, was ſull denne
anu aus uns warn!“ Der Bauer ſtöhnte.


Eine namenloſe Angſt hatte ſich der beiden alten Leute
bemächtigt. Ihre Begriffe vom Rechte waren äußerſt verwirrte.
Hinter jeder Klage drohte ihnen gleich das Gefängnis. Dem
Richter wie dem Advokaten ſtand man gleichmäßig ſchutzlos
gegenüber. Sie ſahen bereits im Geiſte den Gerichtsvollzieher
ihre letzte Kuh aus dem Stalle führen. Wenn jener es zur
Klage trieb, dann war alles verloren.


Der wackere Büttnerbauer, der in zwei Feldzügen manche
Probe von Beherztheit abgelegt hatte, zitterte wie Eſpenlaub.
Aller Witz ſchien den ſonſt beſonnenen Mann verlaſſen zu haben.
Mit angſtvergrößerten Augen, haltlos, jeder Würde vergeſſend,
hing er, der Sechziger, an den Mienen und Blicken dieſes
jungen Menſchen, in deſſen Wohlgefallen er ſein Geſchick be¬
ſchloſſen glaubte.


Edmund Schmeiß zog eine umfangreiche goldene Cylinder¬
uhr, deren Deckel er aufſpringen ließ. „Ich muß fort!“
rief er, „draußen wartet eine Dame auf mich. Adjeu, Herr¬
ſchaften!“

[131]

Er wollte zur Thür. Die Bäuerin lief ihm nach, hielt
ihn, beſchwor ihn, flehte, er möge bleiben.


„Aber, bitte, dann etwas plötzlich! Wenn Sie noch was
wollen. Zeit iſt Geld.“


Das Ehepaar beriet von neuem. Der alte Mann erſchien
wie ſchwachſinnig. Er ſagte zu allem, was ihm die Frau
vorſchlug, ein klägliches „Ich weeß niſcht, ich weeß niſcht!“


„Ich will Ihnen mal was vorſchlagen!“ meinte der junge
Schmeiß, „damit wir mit dieſer Sache endlich zu einem
Reſultate kommen; denn es fängt nachgerade an, mich zu
ennuyieren! — Geben Sie mir, was Sie an barem Gelde im
Hauſe haben. Für den Reſt ſchreiben Sie mir ein neues
Accept, verſtehen Sie. Der Wechſel mag laufen bis Ultimo
Dezember. Dafür nehme ich natürlich Zinſen. Zehn Prozent
iſt mein Satz bei Dreimonatsaccepten und drei Prozent Pro¬
viſion. Das iſt noch ſehr koulant, in Anbetracht deſſen, daß
Ihre Bonität zweifelhaft iſt. — Alſo, einverſtanden?“


Der Bauer hatte nichts begriffen; nur ſoviel glaubte er
zu verſtehen, daß er von der Gefahr einer Klage befreit
werden ſollte. Er eilte nach ſeinem geheimen Kaſten, ſchloß
auf und zählte mit zitternden Händen auf den Tiſch, was er
an Geld dort vorgefunden hatte. Es kam um eine Kleinigkeit
mehr als hundertundzwanzig Mark zuſammen. Edmund
Schmeiß zählte die Reihen blanker Thaler noch einmal durch.
Den Reſt von kleinerer Münze ſchob er dem Bauern hin.
„Nickel nehme ich nicht!“ Dann nahm er einen goldenen Blei¬
ſtift zur Hand, der an ſeiner Uhrkette befeſtigt war, und be¬
gann Zahlen niederzuſchreiben. „Alſo hundertundzwanzig
Mark per Kaſſa erhalten. Bleiben zweihundertundachtzig Mark
in Schuld. Nicht wahr, Herr Büttner?“ Der Bauer bejahte
nach einigem Überlegen. „Mit Zinſen und Koſten, Sie ver¬
ſtehen: Proviſion und Depotzinſen für Harraſſowitz und mich,
alles in allem dreihundertundſechzig Mark. Soviel ſind Sie
mir alſo nach Zahlung der hundertundzwanzig noch ſchuldig.
Dreihundertundſechzig. Bitte, ſich die Zahl zu merken! Nun¬
mehr geben Sie mir ein neues Accept über die eben genannte
9 *[132] Summe — verſtanden! Den alten Wechſel vernichte ich dann
vor ihren Augen. So, das iſt ein klares Geſchäft.“


Er entnahm ſeinem Taſchenbuche ein Formular. „Übrigens,“
ſagte er, ſich ſcheinbar unterbrechend, „dreihundertundſechzig
Mark, das iſt gar keine Summe. Mir fällt da gerade etwas
ein. Künſtlichen Dünger können Sie ja in der Landwirtſchaft
immer gebrauchen. Auch Kraftfutter könnte ich Ihnen preis¬
wert beſorgen; bei der ſchlechten Heuernte in dieſem Jahre
werden Sie das ja ſowieſo nötig haben. Ich kann Ihnen
gerade noch etwas Erdnußkuchen abgeben. — Schreiben wir
ſechshundert Mark, alſo! Für die reſtierenden Mark zwei¬
hundertundzwanzig — nicht wahr — liefre ich Ihnen künſt¬
lichen Dünger und Kraftfutter. Dann iſt die Affaire glatt —
nicht wahr?“


Der Bauer ſah den jungen Menſchen mit leeren Augen an.


„Verſtehen ſie nicht, Herr Büttner? Die Sache iſt näm¬
lich furchtbar einfach.“ Er rechnete dem Alten das Ganze noch
einmal vor. „Einverſtanden?“


Der Bauer bedachte ſich eine Weile, dann meinte er klein¬
laut, von künſtlichem Dünger habe er in ſeinem Leben nie
etwas wiſſen mögen und Kraftfutter könne er auch nicht brauchen,
da er ſich mit Hülfe des Grummets durch den Winter zu
ſchlagen hoffe. Er bäte, ihn mit ſolchen fremden Sachen zu
verſchonen.


„Schön!“ ſagte Edmund Schmeiß. „Wie Sie wollen,
Herr Büttner!“ Er erhob ſich und knöpfte ſeinen Rock zu.
„Ich glaubte, Ihnen ſehr weit entgegengekommen zu ſein. Aber,
wenn Sie freilich nicht wollen . . . . . .“


Von neuem ſchritt er zum Ausgang, wieder holte ihn die
Bäuerin ein, und erreichte mit ihren Bitten, daß er blieb.
„Moan, Pauer, bis ack verninft'g!“ redete ſie dem Gatten zu.
„Wenn der Herr und ar kimmt Der ſu entgegen. Nimm ack Ver¬
ſtand an und greif zu, was er Der gahn werd.“


Der Büttnerbauer ſaß mit geſenktem Haupte da, keine
Widerrede kam mehr von ſeinen Lippen. Die Bäuerin eilte
geſchäftig, das Tintenfaß herbeizuholen. „Werd Sie och die
[133] Feder racht ſein,“ fragte ſie in einſchmeichelndem Tone den
jungen Mann, um ſeine Gunſt und Huld mit dem Lächeln
ihres alten zahnloſen Mundes buhlend. „Se miſſen entſchul¬
d'gen, bei uns werd ne ofte wos geſchrieb'n.“


Edmund Schmeiß füllte eines der Formulare aus. Sowie
der Büttnerbauer ſeinen Namen darauf geſchrieben hatte, zer¬
riß er das alte Accept und reichte dem Bauern die Stücken;
das ſei nunmehr erledigt.


Dann ging er. In der Thür noch rief er. „Die Waren
erhalten Sie in der nächſten Zeit in Natura geliefert, Herr
Büttner. Natürlich prima! — Empfehle mich.“


Draußen auf der Dorfſtraße erwartete ihn ſeine Freundin
mit Sehnſucht. Sie hatte inzwiſchen die Sehenswürdigkeiten
von Halbenau in Augenſchein genommen: Kirche, Pfarre, Schule,
das Armenhaus, das Spritzenhaus. Weiter gab es nichts zu
ſehen hier draußen. Die Gemeindepfütze war ſchmutzig von den
Gänſen, die dort Tag ein Tag aus ihr Weſen trieben, die
Häuſer meiſt klein und ärmlich, die meiſten nur mit Stroh
gedeckt. Und die Kinder, welche dort im Straßenſtaube
ſpielten, ungekämmt und ungewaſchen, mit laufenden Naſen,
waren nach Anſicht der Dame höchſtens ekelhaft zu nennen.


Ein Paar Frauen kamen vom Felde herein. Breithacken
auf den Schultern, Henkelkörbe darüber. Junge Burſchen
folgten. Schon von weitem faßte man die fremdartige Er¬
ſcheinung auf der Dorfgaſſe ins Auge. Die Mädchen ſteckten
tuſchelnd die Köpfe zuſammen, die Burſchen lachten und ſtießen
jene an.


Die Städterin war entrüſtet über die dörfiſche Zudring¬
lichkeit, und ließ den Schleier herab.


Nun kam der Trupp heran. Die jungen Männer blickten
der Fremden ins Geſicht, die Mädchen gingen mit unterdrücktem
Kichern vorbei. „Saht ack! Die hat a Mickennetze!“ rief
jemand. Darauf allgemeines Gelächter.


Als Edmund Schmeiß die Freundin einholte, fand er ſie
außer ſich vor Empörung über die Rohheit des Dorfpacks.

[[134]]

XI.

Guſtav Büttner hatte zum letztenmale Dienſt gethan.
Ein ſchwermütiges Gefühl überfiel den jungen Mann, als
er ſeine „Kaſtanie“, die braune Stute, die er als Remonte zu¬
geritten hatte, in ihren Stand zurückführte. Er wies den Stall¬
dienſt zurück, der dem Herrn Unteroffizier das Pferd abnehmen
wollte, ſattelte und zäumte die Stute ſelbſt ab und legte
ihr die Stalldecke mit beſonderer Sorgfalt auf. Während er
das Pferd verſorgte, ſuchte das Thier an ſeinen Rocktaſchen
ſchnuppernd nach dem Zucker, den er ihr jeden Morgen aus
der Kantine mitzubringen pflegte. Sie ſtieß ihn ordentlich an
mit dem Maule, als wolle ſie ihn mahnen, daß er ihr die
fälligen drei Stückchen Zucker endlich herausgeben ſolle. Heute
war es eine ganze Düte voll. Er verfütterte den Zucker lang¬
ſam, Stück für Stück. Die Braune ſchniefte vor Wonne in
langgezogenen tiefen Tönen, blähte die Nüſtern und trat vor
Vergnügen und gieriger Wonne von einem Beine auf das
andere, während er daneben ſtand und ihr den Hals klopfte,
mannhaft gegen die Thränen ankämpfend.


Der Abſchied von dem Pferde war das Schwerſte. Auch
von einzelnen Kameraden trennte ſich Guſtav ungern. Aber,
im großen und ganzen — das merkte der junge Mann zu
ſeinem eigenen Befremden beim Abſchiednehmen — waren die
Bande doch ſehr lockere und leichte geweſen, die ihn an die
Truppe und das Soldatenleben geknüpft hatten.


[135]

Der Herr Rittmeiſter war auf Urlaub. Das that dem
Unteroffizier von Heizen leid. Vor dieſem Manne, der für
ihn das Ideal eines Vorgeſetzten geweſen war, für den er
willig ſein Leben gelaſſen hätte, würde Guſtav gern noch ein¬
mal ſtramm geſtanden haben. Der würde auch ſicher zu Herzen
gehendere Worte beim Abſchied gefunden haben, als der Pre¬
mierleutnant, welcher erſt vor kurzem zur Eſkadron gekommen
und ohne jene vertrautere Beziehung war, wie ſie bei längerem
gemeinſamen Dienen ſich wohl auch zwiſchen Vorgeſetzten und
Untergebenen entwickeln.


Seine Extrauniform hatte Guſtav an einen neugebackenen
Unteroffizier verkauft; er behielt ſich nichts zurück, als die
Mütze, ein paar Knöpfe und einen Fauſtriemen zur Erinnerung
an die Dienſtzeit.


„Mit dem Reſerviſtenſtocke,“ wie es im Liede heißt, trat
er „die Heimatreiſe an“. Die Nacht durch lag er auf den ver¬
ſchiedenen kleinen Bahnſtrecken, die er benutzen mußte, um von
der Provinzialhauptſtadt in dieſen entlegenen Winkel zu ge¬
langen. Dann wanderte er ein Stück zu Fuß und traf am
Morgen in Halbenau ein.


Das Dorf trat ihm allmählich aus den Herbſtnebeln ent¬
gegen, welche die Flur umfangen hielten: Dach um Dach,
Zaun um Zaun, Baum um Baum. Er kannte ſie alle. Ein
wunderliches, ihm ſelbſt unbekanntes, wehmütiges Behagen
überkam den jungen Menſchen. Fünf Jahre hatte er in der
Kaſerne gelebt, hatte ein Heim nicht mehr gekannt. Frei¬
lich, mit der Stadt ließ ſich das hier ja nicht vergleichen!
aber dieſe Strohdächer, dieſe Lehmwände, die bretterverſchlage¬
nen Giebel hatten doch etwas in ſich, das keine Pracht
ſtädtiſcher Häuſerfronten zu erſetzen vermochte: es war die
Heimat!


Nun bog er in den Weg ein, der nach dem väterlichen
Gute führte. Schon von weitem blickten ihn die Dachfenſter
des Wohnhauſes, wie große ſchwermütige Augen an. Aus
der Kücheneſſe wirbelte gelblicher Rauch in den grauen Herbſt¬
himmel hinaus. Die Mutter kochte alſo bereits das Mittag¬
[136] brot, womöglich ſein Lieblingsgericht ihm zu Ehren. Hier
kannte er nun jedes Steinchen, jedes Äſtchen, jeden Riß
und Fleck im Mauerwerk. Eine geringfügige Reparatur, die
der Vater am Dachfirſten hatte vornehmen laſſen, fiel ihm
ſofort als eine Veränderung auf. Je näher er kam, deſto mehr
beſchleunigte er ſeine Schritte, bis er ſchließlich faſt im Trabe in
das Gehöft einlief.


Er fand die Frauen im Hauſe. Vater und Bruder
wurden aus dem Schuppen herbeigeholt. Übertriebene Zärt¬
lichkeit herrſchte nicht beim Wiederſehen. Nur die Mutter ließ
ſich etwas von der Freude anmerken, welche ſie empfand, ihren
Liebling wieder ganz im Hauſe zu haben.


Guſtav frühſtückte, zog ſeine guten Kleider aus und machte
ſich dann, trotz der überſtandenen Reiſe, gemeinſam mit Vater
und Bruder an die Arbeit.


Geſprochen wurde dabei nichts zwiſchen den Männern.
Guſtav hatte zwar manche Frage auf dem Herzen über den
Stand der Guts- und Geldangelegenheiten, über die er ſeit
ſeinem letzten Urlaub zu Oſtern nichts wieder vernommen
hatte — denn Briefeſchreiben war nicht gebräuchlich unter den
Büttners — aber er bezähmte ſeine Neugier einſtweilen. Er
kannte den Vater zu genau, der das Gefragtwerden nicht liebte.
Wenn ſich etwas Wichtiges inzwiſchen ereignet hatte, würde er
es ſchon noch erfahren.


Beim Mittageſſen fiel dem eben Zurückgekehrten die ge¬
drückte Stimmung der Seinen auf. Kaum, daß geſprochen
wurde über Tiſch. Halblaut flüſternd, mit ſcheuen Blicken
nach dem Vater hinüber, der finſter und wortkarg in ſeiner
Ecke ſaß, langten die Kinder von den Speiſen zu. Die Mutter
ſah bekümmert drein. Karl machte ſein dümmſtes Geſicht, ließ
es ſich aber wie gewöhnlich ausgezeichnet ſchmecken. Thereſe
ſah noch gelber und verärgerter aus, als früher. Bei ihr
konnte Guſtav es darauf ſchieben, daß er zurückgekommen
war. Er kannte die Geſinnung der Schwägerin nur zu
gut. — Toni gefiel dem Bruder gar nicht. Es fiel ihm
auf, daß ſie ihm nicht gerade in die Augen blicken konnte.
[137] Erneſtine allein ſchien nicht angeſteckt von der allgemeinen
Niedergeſchlagenheit. Das Mädel blickte dreiſt und keck drein
mit ihrem ſpitzen Näschen und den pfiffigen Augen.


Irgend etwas war hier nicht in Ordnung, das mußte ſich
Guſtav ſagen. Nach dem Eſſen erklärte er dem Vater, er
wolle ſich Stall und Scheune beſehen. Er meinte im Stillen,
dem Alten würde es Freude machen, ihm die Tiere und Vor¬
räte perſönlich zu zeigen, wie er es bisher nur zu gern
gethan hatte, wenn der Sohn aus der Fremde zurückkam.
Aber der alte Mann brummte etwas Unverſtändliches zur
Antwort und blieb in ſeiner Ecke ſitzen. Guſtav ging alſo
allein.


Späterhin kam ihm Karl nach. Guſtav fragte den
Bruder, was eigentlich los ſei mit dem Alten. Karl machte
den Mund zwar ziemlich weit auf, brachte aber nicht viel
Geſcheites heraus. Guſtav verſtand nur ſoviel aus den un¬
zuſammenhängenden Reden des Bruders, daß in der letzten
Zeit Herren aus der Stadt beim Vater geweſen ſeien, von
denen er viel Geld bekommen habe, und über Kaſchelernſten habe
der Bauer geſagt, er ſolle ſich in acht nehmen, wenn er ihn
mal unter die Fäuſte bekäme. —


Guſtav nahm die erſte Gelegenheit wahr, wo er ſich mit
ſeiner Mutter unter vier Augen ſah, um ſie zu befragen. Da
erfuhr er denn das Unglück in ſeiner ganzen Größe.


Ihm war im erſten Augenblicke zu Mute wie einem, der
einen Schlag vor den Kopf bekommen hat. Daß die Ver¬
mögenslage des Vaters eine mißliche ſei, hatte Guſtav ja ge¬
wußt, aber daß er geradezu vor dem Zuſammenbruche ſtehe,
das war eine Nachricht, die ihn wie ein Blitzſtrahl aus
heiterem Himmel traf.


Auch daß ein Unglück ſelten allein kommt, mußte der
junge Mann an ſich erfahren. Die Mutter verhehlte ihm
nicht, in welchem Zuſtande ſich Toni befinde. Guſtav geriet
außer ſich vor Zorn. Was ihn am meiſten erglimmte, war,
daß die Seinen es verabſäumt hatten, den Menſchen, von dem
ſie das Kind unter dem Herzen trug, zur Rechenſchaft zu ziehen.
[138] Nun war der Lump nicht mehr im Dorfe. Man wußte nicht
einmal genau, wohin er gezogen ſei. Die Ausſicht, ihn zu
belangen, war gering.


Und in ſolche Verhältniſſe hinein ſollte er eine junge
Frau bringen! Er hatte ja in der letzten Zeit von nichts
anderem geträumt, als von dem Plane, ſeine Jugendliebe,
Pauline Katſchner, heimzuführen. Er hatte ſich gedacht, für's
erſte könnten ſie auf dem väterlichen Hofe wohnen, bis ſich für
ihn ein ſelbſtſtändiger Lebenserwerb gefunden haben würde.
Und nun drohte hier alles, was eben noch ſo ſicher geſchienen,
zuſammenzubrechen.


Pauline erwartete Guſtav. Er hatte ihr geſchrieben, daß
er in den erſten Tagen des Oktober in Halbenau eintreffen
werde.


Das Mädchen ließ ſich nicht anmerken, daß ſie vor Sehn¬
ſucht nach ihm vergehen wollte. Sie verrichtete ihre Ge¬
ſchäfte und Arbeiten mit der gewohnten Sauberkeit, aber
während ſie die Nadel führte, am Scheuerfaſſe ſtand, oder am
Webſtuhle ſaß, ſchwärmten ihre Gedanken hinaus in die Zu¬
kunft. In der Phantaſie hatte ſie ſich bereits ein trauliches
Heim zurecht gemacht, für ſich und Guſtav, den Jungen, und
— wer weiß, was mit der Zeit noch dazu kommen mochte.


Sie war nicht mehr das unbedacht liebende Mädchen, das
ſich kopflos mit ſtarken Trieben dem Geliebten in die Arme
geworfen hatte; die Mutter hatte in ihr die Oberhand ge¬
wonnen. Sie liebte Guſtav, den Vater ihres Sohnes, den
zukünftigen Gatten und Beſchützer ihres Kindes, mit tief¬
gewurzelter, warmer, gleichmäßiger Innigkeit.


Sie war ſo glücklich, daß ſie ihn nun ganz wieder
haben ſollte. Die letzten Jahre waren ſchrecklich geweſen, mit
ihren einſamen Nächten, den Zweifeln an ſeiner Treue und der
quälenden Sorge, daß ſie ihn ganz verlieren möchte.


Nun kam er! da mußte ja alles gut werden. Allerdings
waren ſie beide arm, und Guſtav hatte noch keinen Beruf.
[139] Man würde einen ſchweren Kampf zu kämpfen haben; aber,
für Pauline bedeutete das nichts. Ihr lag die Zukunft im
roſigen Lichte. Wenn ſie nur ihn hatte, den Vater ihres Jungen.
Darin war für ſie das Wohl und Wehe des Daſeins beſchloſſen.


Daß ſie ihn halten würde für immer, als den Ihren,
ihr allein Gehörigen, bezweifelte ſie keinen Augenblick. Sie
war ſich des Schatzes von anziehenden Reizen und erwärmen¬
der Liebenswürdigkeit, womit die Natur ſie ausgeſtattet hatte,
in naiver Weiſe bewußt. Ganz umſtricken wollte ſie den Geliebten
mit ihrer großen Weibesliebe, daß er gar nie auf den Gedanken
kommen könnte, ſich ein beſſeres Los zu wünſchen, oder je wieder
nach einer anderen Frau zu blicken.


Der Mutter hatte ſie erſt ganz zuletzt und nur mit einer
kurzen Bemerkung angedeutet, daß ſie Guſtav erwarte. Das
Mädchen ließ der Mutter überhaupt nicht viel von ihren Ge¬
fühlen blicken. Frau Katſchner hatte der Tochter in jener
Zeit, wo Guſtav nichts von ſich hören ließ, und das Verhältnis
ſo gut wie aufgehoben ſchien, zugeredet, von dieſer Liebſchaft
zu laſſen; ja, ſie hatte es Paulinen nahegelegt, ſich nach einem
anderen Manne umzuſehen. Das hatte Pauline der Mutter
nie vergeſſen. Dieſe Zumutung hatte ſie an der Stelle verletzt,
wo ſie am tiefſten und zarteſten empfand. Jedem anderen
Menſchen hätte ſie das vielleicht vergeben, nur nicht der
Mutter; denn die hätte es verſtehen müſſen, daß es für ſie
nur eine Liebe gab, in der ſie lebte, mit der ſie ſterben
würde.


Seitdem war eine Entfremdung eingetreten zwiſchen Mutter
und Tochter. Die beiden Frauen lebten zwar äußerlich in
Frieden; es gab keine Zankerei und keinen Hader. Mit
Pauline ſich zu ſtreiten, war überhaupt ſchwer, da ſie
alles innerlich abmachte und nur mit Blicken Widerſpruch zu
erheben pflegte. Aber die Tochter verſchloß ſich in ihren
wichtigſten Regungen und Gefühlen der Mutter gegenüber,
mit der ſie doch ſcheinbar im vertrauteſten Umgang lebte. —


Gegen Vormittag kam Frau Katſchner aus dem Dorfe
zurück. Sie hatte eine Leinewand zum Faktor geſchafft und
[140] brachte Garn zu neuer Verarbeitung zurück. Sie ver¬
kündete die Nachricht, Büttners Guſtav ſei heute früh in
Halbenau eingetroffen. Pauline erzitterten die Kniee; der
Mutter gegenüber ſtellte ſie ſich jedoch an, als ob die Nach¬
richt ihr ziemlich gleichgiltig ſei. „So!“ meinte ſie, „da wird
er wohl och hierruf kommen in den nächſten Tagen.“


Mit dieſer äußeren Kühle ſtimmte der Eifer nicht ganz
überein, mit welchem ſie Vorbereitungen traf für den Empfang
des Gaſtes. Da wurde gekocht und geſchmort. Frau
Katſchner, welche von der herrſchaftlichen Küche her allerhand
beſondere Künſte mitgebracht hatte, mußte auf Bitten der
Tochter einen feinen Kuchen backen, zu welchem Pauline ſelbſt
die Zuthaten beim Krämer holte. Dann kam das Kind an die
Reihe. Es wurde mit dem wollenen Kleidchen angeputzt, das
Komteſſe Ida der jungen Mutter kürzlich zugeſchickt hatte.
Schließlich machte auch Pauline ſich ſelbſt zurecht, ordnete ihr
Haar und ſteckte die Granatbroche an, die Guſtav ihr früher
einmal vom Jahrmarkt mitgebracht hatte.


Der Nachmittag zog ſich hin in Erwartung des Bräuti¬
gams. Zum Kaffee wird er wohl kommen, dachte Pauline bei
ſich; daß er zu Hauſe bei ſeiner Mutter eſſen würde, war an¬
zunehmen. Die Veſperzeit verging, er war noch nicht gekommen.
Frau Katſchner hatte den Kaffee ſelbſt getrunken, damit er
nicht umkomme, und den Kuchen weggeſchloſſen. Es wurde
dunkel in der kleinen Stube.


Pauline, die ſich den ganzen Tag über lebhafter ge¬
zeigt hatte als gewöhnlich, war ſtill geworden. Sie ent¬
kleidete den kleinen Guſtav ſeiner Feſtſachen und brachte
ihn zur Ruhe in die Kammer. Frau Katſchner hatte die
Lampe bereits angezündet, als Pauline wieder ins Wohn¬
zimmer trat. „Nu war ar duch ne gekummen, Pauline!“
ſagte die Mutter, halb mitleidig, halb neugierig, was
die Tochter nun anſtellen werde; jedenfalls war ſie nicht
ganz frei von Schadenfreude. Pauline erwiderte nichts; in
ihrer geſpannten, troſtloſen Miene lag alles ausgeſprochen.
Jetzt hielt ſie es nicht mehr der Mühe für wert, der
[141] Mutter gegenüber den Schein der Gleichgiltigkeit aufrecht
zu halten.


Nichtsdeſtoweniger beſorgte ſie alles, ſchaffte und ordnete,
wie ſie es jeden Abend zu thun gewohnt war. Aber als ſie
allein war in der Kammer bei dem ſchlafenden Kinde, brach
der zurückgehaltene Jammer aus.


Sie ſaß auf der Kante ihres Bettes. Die Thränen liefen
ihr über die Wangen, unaufhörlich. Daß er ihr das anthun
konnte! Er war im Dorfe! Seit dem frühen Morgen ſchon war
er da, und zu ihr hatte er den Weg noch nicht gefunden. So
wenig hielt er auf ſie, ſo wenig bedeutete ſie für ihn. Das
hatte ſie nicht verdient um ihn! —


So ſaß ſie ſtundenlang. Das Kind ſtörte ſie nicht.
Ruhig lag der Junge in ſeinem Korbe, mit den gleichmäßig
leichten Atemzügen des geſunden Kinderſchlummers. Die Kälte,
welche von allen Seiten eindrang in die Kammer, ſeit im
Nebenraum das Feuer ausgegangen war, fühlte ſie kaum.
Ihr Blick war durch die kleinen Scheiben des Schiebefenſterchens
hinaus gerichtet in den Garten, der in hellem Mondſchein
lag, wie ein Tuch. Die alten Obſtbäume zeichneten mit
ihren krüppeligen Äſten verzwickte Schattenbilder darauf. Wie
oft in früheren Zeiten hatte ſie hier ſo geſeſſen, klopfenden
Herzens in die Nacht hinein wartend, ob er wohl kommen
werde. Sie dachte an jenes erſte Mal, wo er vor ihrem
Fenſter geſtanden. In einer warmen Juninacht war es ge¬
weſen; nur ſeinen Kuß hatte ſie bis dahin gekannt. Wie er ſie
da um Einlaß gebeten! welche Worte er da gehabt hatte! welche
Gebete und Schwüre! —


Und jetzt, nachdem ſie ihm alles geſtattet, alles gegeben,
was ſie hatte, nachdem ſie ihm ein Kind geboren und ihm
durch ſchwere Zeiten hindurch die Treue gehalten, jetzt brachte
er es über ſich, nach langer Trennung, einen ganzen Tag im
Dorfe zu ſein und nicht zu ihr zu kommen.


Die Uhr ſchlug zehn Uhr vom Kirchturme. Sie ſtarrte
noch immer in den Garten. Ihre Thränen waren verſiegt.
Eine Art von Kälte war auch über ihre Seele gekommen.
[142] Mochte es ſein, wie es war; es war gerade recht ſo! Sie wollte
den bitteren, feindlichen Gefühlen nicht wehren. Er lag ein Ge¬
nuß darin, das Unrecht, das einem wiederfuhr, auszukoſten und
den in Gedanken ſchlecht zu machen, der es einem zugefügt.


So alſo hielt er ſeine Schwüre! Das war wahrſcheinlich
die Art, wie er ſie von jetzt ab behandeln wollte. Jetzt, wo
ſie das Kind von ihm hatte, wo ſie ihm ſicher war, hielt er's
wohl nicht mehr für nötig, lieb mit ihr zu ſein.


Oder, ob er ſeine Pläne inzwiſchen geändert hatte? —
Vielleicht dachte er daran, eine ganz andere heimzuführen. Er
plante wohl gar eine reiche Heirat! — Da war Ottilie Kaſchel,
die Tochter aus dem Kretſcham, ſeine Couſine. Die hätte ihn
nur gar zu gern gehabt. Dieſe alte widerliche Perſon! —
Aber hieran glaubte Pauline ſelber nicht recht. So ſchlecht
konnte Guſtav nicht ſein! Und außerdem war ſie ſich ihrer
eigenen Vorzüge doch zu ſehr bewußt, die im Wettſtreite mit
der häßlichen Kretſchamtochter den Sieg davontragen mußten.


Ob ſie ihm etwa zu Haus abgeredet hatten. Mit den
alten Büttners ſtand ſie ſich ja neuerdings beſſer; aber da war
dieſe böſe Sieben: Thereſe. Vielleicht hatte die irgend eine
Verläumdung erſonnen, der Guſtav Glauben geſchenkt.


Er war ja überhaupt ſo mißtrauiſch! Alles glaubte er,
was ihm von böſen Menſchen Schlechtes von ihr geſagt wurde.
‚Übelnehmſch‘ war er auch. Tagelang konnte er wegen einer
Kleinigkeit ‚mukſchen‘. Und ſeine Eiferſucht! Wenn ein anderer
ſie nur mit einem Blicke anſah, war er ſofort außer dem
Häuschen. Pauline mußte lächeln, als ſie an einen Vorgang
dachte, beim Kirchweihfeſt, vor einigen Jahren. Da hatte er
ſie einem Tänzer aus den Armen geriſſen, und ſie vom Tanz¬
ſaale weggeführt, weil er gefunden, daß ihr Partner den Arm
zu feſt um ſie gelegt hatte.


Wie thöricht er ſich bei ſo etwas anſtellen konnte! Aber,
ein lieber Kerl war er doch! Sie hatte gut, ihn mit ihren
Gedanken anklagen und ſich einreden, daß ſie ihn haſſe, und
daß ſie nichts mehr von ihm wiſſen wolle; das glaubte ſie ja
alles ſelber nicht. Er war und blieb ihr Guſtav, ihr Einziger,
[143] ihr Herzallerliebſter. Morgen würde ſie ſich aufmachen, ihn
aufzuſuchen und ihn zur Rede ſtellen, ſei es wo es ſei. So
ſcheu und zurückhaltend das Mädchen ſonſt war, davor hatte
ſie keine Angſt. Es war nicht das erſte Mal, daß ſie ihn zu
ſich zurückgeführt hatte.


Nachdem dieſer Entſchluß in ihr gereift war, fühlte ſie
ſich ſehr ruhig, glücklich geradezu. Sie erhob ſich, nahm das
Kind aus dem Korbe, hielt es ab, und machte ſich dann an's
Auskleiden. Schnell in die Federn! Die Glieder waren ihr
ſteif geworden vom langen Aufſitzen in der Kälte.


Sie hatte ſich das Deckbett bis an den Hals gezogen
und die Augen geſchloſſen zum Schlummer, als ein leichtes
Geräuſch an ihr Ohr ſchlug, draußen von der Hauswand kam
es her. Sie fuhr im Bette in die Höhe; den Ton kannte ſie.
Alles Blut war ihr in einer ſtarken Welle zum Herzen ge¬
drungen. Noch einmal dasſelbe Klopfen an der Lehmwand!
Sie war ſchon am Fenſter und ſchob den Schieber beiſeite.
Richtig! da draußen ſtand eine dunkle Geſtalt. „Guſtav?“ —
„Ja!“ — „Ich kumme!“ Schnell ein Tuch über die bloßen Arme
geworfen! etwas an die Füße zu ziehen, nahm ſie ſich nicht erſt
die Zeit. Dann die Kammerthür nach dem Hausgang geöffnet!
ſo leiſe wie möglich die hintere Hausthür aufgeriegelt und
aufgeklinkt!


Im Rahmen des Thürſtocks erſchien jetzt ſeine Geſtalt.
Sie griff nach Guſtavs Hand, leitete ihn, damit er in der
Dunkelheit nicht zu Falle komme. Erſt als ſie ihn drinnen
hatte bei ſich, in der Kammer, den Geliebten, warf ſie ſich ihm
um den Hals, wie ſie war, nichtachtend der Kälte und Näſſe,
die er aus der Nacht mit hereinbrachte.

[[144]]

XII.

Die von Edmund Schmeiß verſprochenen Dünge- und
Kraftfuttermittel trafen in einem großen Brettwagen auf dem
Büttnerſchen Gehöfte ein. Der Fuhrmann übergab einen
Lieferſchein, der am Kopfe die Firma: Samuel Harraſſowitz
trug. Der Büttnerbauer begriff nicht, was das heißen ſolle.
Er hatte doch mit Edmund Schmeiß gehandelt und nicht mit
Harraſſowitz. Der Kutſcher, den der Bauer darüber ausfragen
wollte, wußte auch keinen Beſcheid zu geben. Er ſei von der
Firma S. Harraſſowitz beauftragt, ſeine Fracht hier abzuladen.
Es waren Säcke mit Chiliſalpeter und Knochenmehl, und ein
Haufen Erdnußkuchen. Der Fuhrmann ließ ſich Empfang¬
nahme vom Bauern quittieren, und übergab dann einen Brief.
Darin bekannte Samuel Harraſſowitz, Bezahlung für gelieferte
Dünge- und Kraftfuttermittel durch ein von Herrn Edmund
Schmeiß an ſeine Ordre remittiertes Accept des Bauernguts¬
beſitzers Traugott Büttner in Halbenau empfangen zu haben.


Der Büttnerbauer ſtand ratlos vor dem Papiere. Was
bedeutete nun das wieder! Wieviel ſchuldete er nun eigentlich
und für was? Und weſſen Schuldner war er?


Der künſtliche Dünger wurde vom Wagen genommen und
in einer Ecke des Schuppens untergebracht. Der alte Bauer
empfand nichts als Verachtung dieſen Säcken gegenüber mit
ihrem ſalzartigen Inhalte. Was ſollte dieſes Zeug ſeinen
Feldern nützen! Das war ja auch nur ſo neumodiſcher Unſinn.
Wie konnten einige Handvoll ſolchen Pulvers ein Fuder Miſt
[145] erſetzen, wie neuerdings gelehrte Leute aus der Stadt be¬
haupteten. Mit Ingrimm betrachtete er ſich dieſe Säcke, in
denen ſein gutes Geld ſteckte.


Guſtav dachte anders darüber, als der Vater. Er war
während ſeiner Dienſtzeit in vorgeſchrittnere Wirtſchaften ge¬
kommen, als die väterliche war, und hatte die Vorzüge der
künſtlichen Düngung mit eigenen Augen wahrgenommen. Er
wußte auch, zu welcher Jahreszeit und auf welche Böden
man die verſchiedenen Düngerarten anzuwenden hatte. Der
Vater überließ es ihm, mit dem „Zeugs“ anzufangen,
was er wollte. Über dreißig Jahre hatte er gewirtſchaftet,
ohne dergleichen. Er war zu alt, um darin noch umzu¬
lernen.


Auch in anderer Beziehung machte ſich Guſtavs Einfluß
geltend. Die Kartoffelernte hatte inzwiſchen ihren Anfang ge¬
nommen. Der Büttnerbauer wollte, wie in den Jahren bisher,
das Ausmachen der „Apern“ mit den Seinigen bezwingen.
Guſtav redete ihm zu, er ſolle Tagelöhner aus dem Dorfe an¬
nehmen, wie die anderen Bauern es thaten. Aber der Alte
ſträubte ſich dagegen, er ſcheute die Ausgabe; außerdem, be¬
hauptete er, würden ihm Kartoffeln geſtohlen. Die Ernte zog
ſich dadurch endlos in die Länge, denn außer dem Alten, der
die Furchen anfuhr, ſtanden nur acht Hände für das Leſen
der Früchte zur Verfügung. Dabei konnte man Toni, die
nicht mehr allzuweit von der Entbindung ſtand, kaum mehr als
volle Arbeitskraft rechnen. Der alte Bauer zankte und wet¬
terte, daß es nicht vorwärts rücke. Nächſtens werde es frieren
und die Hälfte der Kartoffeln ſtecke noch im Acker. Dabei
war doch ſein eigener kurzſichtiger Geiz und Starrſinn der
Hauptgrund der Verzögerung.


Da kam Guſtav auf einen Gedanken; er ſchlug vor,
Kinder von armen Leuten, Häuslern, Einliegern, Handwerkern,
die ſelbſt kein Land hatten, zum Kartoffelleſen anzunehmen
und ſie mit einem beſtimmten Maß von Kartoffeln zu be¬
zahlen.


Der Gedanke leuchtete dem Alten ein. Auf dieſe Weiſe
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 10[146] brauchte kein bar Geld ausgegeben zu werden, mit dem er in
letzter Zeit karger umging, denn je zuvor. Die paar „Apern“,
welche die Kinder mit fortnahmen, fehlten kaum am Ertrage, und
am Stehlen wurden die Kinder auch verhindert, denn ſie hatten
genug zu ſchleppen an dem ihnen Zuerteilten. Guſtavs Plan
kam zur Ausführung. Eine ganze Rotte von Kindern armer
Leute wurde angenommen und in wenigen Tagen war die
Ernte beendigt.


Der Büttnerbauer konnte mit dem Ertrage zufrieden ſein.
Die Kartoffel war in dieſem Jahre gut gediehen. Die Näſſe
im frühen Sommer hatte das Wachstum des Kräutichs be¬
fördert und die Wärme und Trockenheit des ſpäteren Sommers
war der Entwickelung der Knollen zugute gekommen. Die
Früchte waren zahlreich, groß und geſund. Ein wahrer Segen
für die Armen, deren Hauptnahrung für den Winter geſichert
war. Der Keller unter der Büttnerſchen Scheune reichte in
dieſem Jahre nicht annähernd, um die Hackfrüchte ſämtlich auf¬
zunehmen. Guſtav gab daher ſeinem Vater den Rat, nur
Kraut und Rüben in den Keller zu nehmen, und an Kartoffeln
ſoviel, wie man für Haus- und Viehſtand im Winter voraus¬
ſichtlich brauchen würde, das übrige aber auf freiem Felde
einzumieten. Der Bauer folgte auch darin dem Rate des
Sohnes. Der plötzliche Preisſturz, den die Kartoffel gleich
darauf erlitt — welcher mit der allgemein gut ausgefallenen
Ernte zuſammenhing — konnte ihn belehren, daß er recht daran
gethan habe. Für das Frühjahr durfte man mit Wahrſchein¬
lichkeit auf ein Anziehen des Preiſes rechnen.


Die Herbſtbeſtellung verlief unter günſtiger Witterung.
Zeitig bedeckten ſich die Felder mit dem zarten Grün des auf¬
gehenden Winterkorns. Ein milder Spätherbſt geſtattete es,
bis tief in den November hinein zu pflügen. Als die erſten
Flocken niedergingen, konnte der Landmann dem mit Ruhe
zuſehen; es war Zeit für den Schnee. Die Ernte war ge¬
borgen, der Acker vorbereitet für die Frühjahrsbeſtellung, und
die Winterung gut aufgegangen.


Mit dem Büttnerbauer war eine Wandlung vor ſich ge¬
[147] gangen in der letzten Zeit. Er war milder geworden und
friedfertiger gegen die Seinen. Die wilde Haſt hatte auf¬
gehört, mit der er während des Sommers die Arbeiten be¬
trieben hatte. Er ließ Frau und Kindern größere Freiheit,
die Weiber durften im Hausweſen wieder ſchalten. Bis auf
das Vieh herab erſtreckte ſich ſeine freundliche Stimmung. Die
Pferde erhielten wieder das ihnen gebührende Maß Hafer
und dankten ihrem Herrn bald dafür durch beſſeres Ausſehen.
Sich ſelbſt gönnte der Bauer jetzt auch wieder Schlaf und
Nahrung. Die guten Folgen davon bekam zunächſt die Bäuerin
zu ſpüren; er erſchreckte ſie nachts nicht mehr durch Selbſt¬
geſpräche und unheimliches Umgehen. In der Kirche war er
bald wieder der Aufmerkſamſten einer, und der Paſtor bekam
ein freundlicheres Geſicht zu ſehen, als den Sommer über.


Das waren die ſegensreichen Folgen von Guſtavs Rück¬
kehr in's Vaterhaus. Seit er ſeinen zweiten Sohn wieder bei
ſich hatte, ſchien der Büttnerbauer wie umgetauſcht. Dabei
ließ er es dem Jungen gar nicht mal merken, wie große Stücke
er auf ihn hielt, und was ſein Rat und ſeine Hilfe in der
Wirtſchaft ihm bedeuteten. Über den Kopf wollte er ſich den
jungen Menſchen auch nicht wachſen laſſen. Die natürliche
Eiferſucht des Alters, das ſich von der Jugend überflügelt
ſieht, ſpielte dem Vater mit. Außerdem war Guſtav nicht der
Älteſte. Karl blieb auch in den geheimſten Gedanken und
Plänen des alten Mannes der Anerbe des Hofes. An dem
in ſeiner Gegend und ſeiner Familie eingebürgerten Gebrauche,
dem älteſten Sohne das Gut zu überlaſſen, hätte er nie und
nimmer rütteln mögen. Karl ſollte der zukünftige Büttner¬
bauer ſein und bleiben, wenn ihn auch Guſtav jetzt häufig wie
einen Knecht anſtellte und behandelte.


Guſtav hatte auch die Ordnung der Geldverhältniſſe in
die Hand genommen. Davon verſtand er nur ſoviel, wie der
geſunde Menſchenverſtand einem lehrt. Denn Erfahrung in
dieſer Art Dingen zu ſammeln, hatte er bei der Truppe kaum
Gelegenheit gehabt.


Er that, vom richtigen Naturtrieb geleitet, das Vernünf¬
10*[148] tigſte, was bei der Lage ſeines Vaters gethan werden konnte,
er zählte zunächſt einmal die ſämtlichen Schulden zuſammen
und ſtellte ihnen gegenüber die Einnahmen auf, die man als
ſicher erwarten durfte. Dann entwarf er eine Art von Schulden¬
tilgungsplan. Die Weihnachtszinſen hoffte er mit Hilfe des
noch unverkauften Hafers zu decken, für den Oſtertermin ſollten
die Kartoffeln bleiben. Wenn Hafer und Kartoffeln nur
einigermaßen Preis bekamen, hoffte er auf Überſchüſſe. Freilich,
ſoviel, wie nötig war, um den Wechſel bei Samuel Harraſſo¬
witz zu decken, würde auf keinen Fall übrig bleiben. Da
mußten eben noch andere Quellen aufgethan werden. Viel¬
leicht ließ ſich in dieſem Winter etwas mehr aus dem Walde
nehmen, als ſonſt. Dann mußten allerdings die letzten Bäume,
die dort noch ſtanden, dran glauben. Auch daran dachte er,
die zwei Schweine, welche die Bäuerin gewöhnlich um Weih¬
nachten herum ſchlachtete, die Speck und Schinken für das
ganze Jahr hergeben mußten, zu verkaufen, ſtatt ſie in's
Haus zu ſchlachten. Sowie die Schweine nicht mehr im Stalle
wären, würde ja auch Milch übrig ſein, und dann konnte mehr
gebuttert werden. Das Stroh, welches von der Kornernte her
reichlich vorhanden war, mußte auch in Rechnung gezogen
werden. So gab es ſchließlich eine ganze Anzahl Dinge, die,
wenn richtig verwertet, Einnahmen abwerfen konnten.


Bei dieſer Aufſtellung war allerdings nicht in Rechnung
gezogen die gekündigte und in naher Zeit fällige Hypothek von
Guſtavs Onkel, Kaſchelernſt. Woher das Geld zur Deckung
dieſer Forderung beſchafft werden ſollte, wußte Guſtav ebenſo
wenig, wie der alte Bauer ſelbſt. Als der junge Mann zum
Haferverkauf nach der Stadt gefahren war, hatte er ſich dort
unter der Hand erkundigt, ob und unter welchen Bedingungen
die Hypothek unterzubringen ſei. Dabei hatte er ſich überzeugen
müſſen, daß ſolide Geſchäftsleute mit Hypotheken an ſo ge¬
fährdeter Stelle nichts zu thun haben wollten. Von einer
Seite zwar wurde ihm das Geld geboten, aber unter ſo über¬
triebenen Zinsbedingungen, daß er Halsabſchneiderei witterte,
und von dem Geſchäfte abſah.


[149]

Guſtav gab ſich jedoch dieſer Forderung wegen nicht allzu
ſchweren Beſorgniſſen hin. Er konnte ſich nicht denken, daß
ſein Onkel Ernſt machen würde mit dem Ausklagen. Nicht
etwa, daß er Kaſchelernſt eine ſolche Härte gegen den eigenen
Schwager nicht zugetraut hätte; er kannte den Kretſchamwirt
nur zu gut. Nein, er glaubte, daß der es nicht wagen würde,
den Bauern zum äußerſten zu treiben. Er mußte doch am
beſten wiſſen, daß bei dem Schwager nichts zu holen war.
Klagte er, ſo kam es zum Zuſammenbruch, und Kaſchelernſt
verlor dann ſeine Hypothek, für die er bisher die Zinſen ſtets
richtig erhalten hatte. Daß der Kretſchamwirt daran denken
könne, auf Erwerb des Bauerngutes ſelbſt zu ſpekulieren, nahm
Guſtav nicht an. Weder Kaſchelernſt, noch der Sohn, waren
Landwirte, und ſein ſchlauer Onkel würde ſich wohl hüten, zu
dem, was er ſchon hatte, ſich noch die Laſt eines größeren
Beſitzes aufzubürden.


Er nahm daher die Kündigung der Kaſchelſchen Hypothek,
die dem alten Bauern ſo ſchweres Ärgernis bereitet hatte, gar
nicht ernſt. Das war wohl nur ein Schreckſchuß oder ein
ſchlechter Witz, den ſich der ſchadenfrohe Kretſchamwirt zu
ſeinem beſonderen Ergötzen gemacht hatte.


Guſtav ging hin und wieder in den Kretſcham, um die
Stimmung dort zu ergründen. Der Onkel behandelte ihn ſtets
mit ausgeſuchter Zuvorkommenheit. Er lächelte und zwinkerte,
ſobald er des Neffen anſichtig wurde, in ſeiner närriſchen
Weiſe. Aber aus ihm herauszubekommen war nichts. Sowie
Guſtav ernſthaft von Geſchäften zu ſprechen anfing, begann
er zu lachen, daß ihm manchmal die wirklichen Thränen aus den
Augen liefen; ſo verſtand er es, die Sache ins Lächerliche zu
ziehen und den Neffen hinzuhalten.


Wenn nicht die ſtete Sorge um die Vermögenslage ſeiner
Familie geweſen wäre, hätte Guſtav in jener Zeit ein glück¬
liches und gemächliches Leben führen können.


Wintersanfang iſt eine der ruhigſten Zeiten für den
Landmann. Sobald die weiße Decke die Fluren bedeckt, kann
er von ſeinen Werken ausruhen und dem lieben Gott die
[150] Sorge um die Saaten überlaſſen. In dieſer Zeit, wo die
ganze Natur auszuruhen ſcheint vom Schaffen und Hervor¬
bringen, wo alle jene treibenden, nährenden, in Saft und
Frucht ſchießenden Triebe gleichſam eingefroren ſind, hält auch
der Bauer eine Art von Winterſchlaf. Mehr als andere iſt
er ja verwandt mit der Erde, die er bebaut. Er hängt mit ihr
zuſammen, wie das Kind mit der Mutter, vor der Trennung.
Er empfängt von ihr geheimnisvolle Lebenskräfte, und ihre
Wärme iſt auch die ſeine.


Ohne Arbeit war freilich auch der Winter nicht. Da gab
es Schnee auszuwerfen, auf den Wegen. Dann war die
Holzarbeit. Der Büttnerbauer machte ſich mit Hilfe ſeiner
beiden Söhne daran, die einzelnen übergehaltenen Kiefern und
Fichten zu fällen, die gefällten zu Klötzern zu ſchneiden, die
Wipfel und Äſte zu Reiſighaufen aufzuſchichten. Was an ver¬
krüppeltem Holze da war, das nicht zu Nutzſtücken verwertet
werden konnte, wurde in den Schuppen gebracht, und dort in
Scheite geſpalten und zu Brennholz zerkleinert.


Es gab einen harten Winter. Das Feuer im Kochherde,
der gleichzeitig Ofen für die Wohnſtube war, durfte nicht aus¬
gehen. Kohlen zu verwenden, betrachtete der Bauer als Ver¬
ſchwendung; wozu wuchſen denn auch die Bäume im Walde!
So wurde denn tüchtig Holz verkachelt. Zu lüften hütete
man ſich wohl, damit ja nicht etwas von der koſtbaren Wärme
entfliehe. Gegen Öffnen durch vermeſſene Hände waren die
Fenſter übrigens wohl verwahrt. Im Herbſt ſchon hatte man
die Fenſterſtöcke und Rahmen mit Moos, Laub, Stroh und
Nadelzweigen ſorgſam verſetzt. So war das ganze Haus in
einen ſchützenden Mantel gekleidet, welcher der Winterkälte
den Zugang verwehrte, zugleich aber auch die friſche Luft
ausſchloß.


Der Tag begann ſpät, erſt gegen ſieben Uhr dämmerte
es ja, und der Büttnerbauer drückte jetzt ein Auge zu wegen
des ſpäteren Aufſtehens. Wenn das Vieh um ſechs Uhr früh
ſein erſtes Futter hatte, war er zufrieden. Um vier Uhr
nachmittags fing der Abend ſchon an. Lampen wurden nicht
[151] gebrannt, der Erſparnis halber, nur Laternen und Unſchlitt¬
kerzen. Wozu brauchte man auch Helligkeit! Das Kochen,
Aufwaſchen und Buttern konnte in den paar Tagesſtunden
vorgenommen werden. Zum Eſſen ſah man auch im Halb¬
dunkel genug. Geleſen oder geſchrieben wurde nicht. Andere
Bedürfniſſe kannte man kaum. Mit den Hühnern wurde zu
Bett gegangen. Man dämmerte ſo dahin, ſchläfrig und
ſchweigſam.


Thereſe war die einzige, die manchmal mit ihrem ſcharfen
Mundwerke, das auch im Winter nicht eingefroren zu ſein
ſchien, etwas Erregung in dieſes dämmerige Daſein brachte.
Vor allem an ihrem Gatten zankte ſie herum, der meiſt mit
der Tabakspfeife im Munde hinter dem Ofen zu finden war.
Karl war im Winter ſchlimm daran, da konnte er ſich, der
Kälte wegen, nicht auf den Heuboden oder ins Freie retten.
Die Ofenhölle war nur eine ſchlechte Zufluchtsſtätte vor der
Galle ſeiner Ehehälfte.


Guſtav wohnte zwar daheim, war aber auch viel in der
Behauſung der Witwe Katſchner zu finden. Für dieſen Haus¬
halt mußte er den fehlenden Mann erſetzen. Holzhacken, Waſſer¬
holen, all die ſchweren Arbeiten nahm er auf ſich. Pauline
hatte für den Winter wieder das Weben aufgenommen. Sie
ging mit geheimer Freude an die Arbeit; ſie wußte ja, wem
das zugute kam, was ſie jetzt webte.


So teilte Guſtav ſeine Zeit und ſeine Kräfte zwiſchen den
beiden Familien. Die Seinigen hatten ſich darein gefunden,
in Katſchners Pauline Guſtavs Auserwählte zu erblicken.
Trotzdem fand ein Verkehr zwiſchen den Bauersleuten und dem
Mädchen nicht ſtatt. Man fragte nicht danach, wann Hochzeit
ſein ſollte. Das war Sache der beiden; nicht einmal mit den
eigenen Eltern ſprach Guſtav darüber.


Der Büttnerbauer war kein Träumer. Seine Intereſſen
waren der ſtrengen und nüchternen Wirklichkeit zugewandt, und
zum Spintiſieren und Phantaſieren ließ ihm ſein angeſtrengtes
[152] Tagewerk keine Zeit übrig. Aber eines ſteckte tief in ſeinem
Weſen: er lebte viel mit ſeinen Gedanken in der Vergangenheit,
ſie war ihm ein ſteter Begleiter der Gegenwart, der mit be¬
redtem Munde zu ihm ſprach. Dieſer Hang zum Rückwärts¬
blicken und Beſchauen des Vergangenen wurde in ihm beſtärkt
durch die Vereinſamung, in der er ſich befand. Denn obgleich
er eine zahlreiche Familie um ſich heranwachſen ſah, war dieſer
Mann doch allein, wollte es ſein. Er ſcheute jede Mit¬
teilung ſeines Innerſten anderen gegenüber, auch wenn ſie von
ſeinem Fleiſch und Blute waren. Aber mit den Dahin¬
geſchiedenen ſtand er in lebendiger Beziehung.


Sein erſtaunlich friſches Gedächtnis unterſtützte ihn darin.
Er vermochte ſich Erlebniſſe und Perſonen aus der früheſten
Jugend vor die Seele zu ſtellen, als ſeien ſie geſtern ge¬
weſen. Ausſprüche der Eltern, ja ſelbſt des Großvaters,
konnte er mit wörtlicher Treue wiedergeben, obgleich der Alte
vor nahezu fünfzig Jahren das Zeitliche geſegnet hatte. Er
war imſtande, mit untrüglicher Gewißheit anzugeben, an
welchem Tage in einem beſtimmten Jahre man das erſte Heu
eingefahren hatte, oder was ihm damals für eine Kuh bezahlt
worden war, oder auch, wieviel der Roggen in dem und dem
Monate gegolten hatte.


Die Vergangenheit bildete aber nicht blos den vielbe¬
trachteten Hintergrund ſeines Daſeins, ſie wirkte geradezu
entſcheidend auf ſeine Entſchließungen ein. Er war gebunden
in ſeinem Willen an Thaten und Abſichten ſeiner Vor¬
fahren. Ohne ſich deſſen ſelbſt recht bewußt zu werden,
ließ er ſich leiten von frommer Rückſicht auf Wunſch und
Willen jener Entſchlafenen, die für ihn eben Gegenwärtige
waren.


Dabei ſprach er faſt nie von der Vergangenheit. Das
Sprechen, ſoweit es nicht einem beſtimmten praktiſchen Zwecke
diente, erſchien ihm überhaupt müßig. Das Reden um der
Ausſprache willen, die ſüße Erleichterung des Gemütes
durch Mitteilung, kannte er, nicht, verachtete dergleichen, als
weibiſch.


[153]

Am eheſten ließ er noch etwas von ſeinen Gefühlen
ſeinem Sohne Guſtav blicken, der von der ganzen Familie
ſeinem Herzen am nächſten ſtand. Das hatte ſeinen beſonderen
Grund. Der alte Mann glaubte in dieſem Sohne etwas von
dem Weſen des eigenen Vaters wieder lebendig werden zu
ſehen. Die Ähnlichkeit beſtand in der That zwiſchen Enkel
und Großvater. Aber auch ſonſt gab es verwandte Züge
zwiſchen den beiden. Wenn der Bauer dieſen Sohn auf Feld
und Hof ſchalten und walten ſah, mit energiſchen Befehlen die
Geſchwiſter anſtellend überall ſelbſt mit Hand anlegend, voll
Eifer und Luſt an der Arbeit, dann wurde der alte Mann
an den Vater erinnert, der für ihn noch jetzt das Muſter
eines tüchtigen Wirtes bedeutete. Und ſo verband ſich mit
dem Gefühle des Vaterſtolzes für den Büttnerbauer die ge¬
heime Hoffnung, daß durch dieſen Sohn der Familie wieder
eingebracht werden möchte, was ſie durch ſchlechte Jahre und
Unglücksfälle mancherlei Art in letzter Zeit eingebüßt hatte an
Vermögen und Bedeutung.


Jetzt im Winter, wo die Arbeit nicht auf die Nägel
brannte, war mehr Zeit als ſonſt, ſeinen Gedanken nachzu¬
hängen. Was für Erinnerungen wurden da in der Seele des
Alten wach! was für Geſtalten ſtanden da vor ſeinem rück¬
ſchauenden Blicke auf und gewannen Leben! —


Da war ſein Vater: mittelgroß, breitſchulterig, bartlos,
wie alle Büttners vordem, blondhaarig. Er gedachte des
Vaters immer, wie er ihn aus der früheſten Kindheit in Er¬
innerung hatte, als eines im beſten Lebensalter ſtehenden
blühenden Mannes. Was war das für ein Arbeiter geweſen!
Mit einem Finger hatte der den Pflug ausgehoben und um¬
gewendet. Und dabei war er ein Grundgeſcheiter geweſen.
Dem hatte niemand ein X für ein U machen dürfen. Deshalb
war es ihm auch gelungen, das Seine zuſammenzuhalten und
zu mehren.


Der Großvater des jetzigen Büttnerbauern hatte dieſem
Sohne das Gut noch bei Lebzeiten überlaſſen, und ſich auf
das Altenteil zurückgezogen. Der alte Mann fand ſich in der
[154] neuen Ordnung der Dinge, welche durch die Bauernbefreiung
und die Gemeinheitsteilung in den bäuerlichen Verhältniſſen
entſtanden war, nicht mehr zu recht. Er hatte die Zeiten der
Erbunterthänigkeit unter die Gutsherrſchaft und die Fronden
durchgemacht. Als junger Menſch hatte er drei Jahre lang
im Zwangsgeſindedienſt auf dem Gutshofe geſcharwerkt. Später
waren von ihm die fälligen Spanndienſte für die Herrſchaft
abgeleiſtet worden. Er lebte ganz und gar in den Anſchauungen
der Hörigkeit. Der Hofedienſt ging allem anderen voraus.
Der Graf, ſein gnädiger Herr, konnte ihm ſein Gut weg¬
nehmen, wenn er wollte, und einen anderen an ſeine Stelle
ſetzen, wie es ihm gerade paßte. Der Herr hatte die oberſte
Polizei und Strafgewalt und verfügte über Leib und Ver¬
mögen ſeines Unterthanen.


Das wurde nun mit einemmale alles anders. Der Bauer
ſollte fortan ein freier Herr ſein, auf eigenem Grund und
Boden. Dabei fiel mit den Pflichten auch der Schutz weg.
den die Gutsherrſchaft den Unterthanen gewährt hatte. Viele
Leute, beſonders die alten, in der Erbunterthänigkeit groß
gewordenen, konnten ſich in dieſe Änderung der Dinge nicht
finden. Sie hatten gar kein Bedürfnis nach Freiheit empfunden.
Seit Menſchengedenken hatten ihre Familien Hofedienſte ge¬
than, hatten unter Obhut und Leitung des Edelmannes ihr
Leben zugebracht; Selbſtändigkeit und Freiheit waren für ſie
Worte ohne Sinn. Sie wollten es nicht anders haben, als
ihre Väter es gehabt. Der Gutsherr hatte ihre Kräfte benutzt,
hatte ſie vielleicht über Gebühr angeſtrengt, aber er hatte auch
für ſie gedacht, und ſie in ſchlimmen Zeiten geſchützt. Das
gebot ihm das eigenſte Intereſſe; ſie gehörten ihm ja, waren
ſeine Leute, ohn deren kräftige Hände ſein Beſitz wertlos war.
Nun ſollten ſie auf einmal für ſich ſelber denken und ſorgen.
Sie ſtanden auf eigene Füße geſtellt, verantwortlich für ihre
Thaten. Gar manchen fröſtelte da in der neugeſchenkten
Freiheit, und er wünſchte ſich in das Joch der Hörigkeit
zurück.


So ging es auch dem alten Büttner. Schwere Zeiten
[155] hatte der Mann geſehen. Zweimal waren die Franzoſen durch
Halbenau gekommen und hatten geplündert. Was ſie übrig
gelaſſen, nahmen die Koſacken mit, die als Verbündete kamen,
aber ärger hauſten als die Feinde. Von dieſer Einquartierung
ſollte man ſich noch lange in der Gegend erzählen. Dann
kam gleich nach dem Feinde ein furchtbares Notjahr mit Mi߬
ernte und Hungersnot im Gefolge. Mancher Bauer verließ
in jenen Tagen ſeinen Hof und ging auf das Rittergut, oder
in die Stadt, um Anſtellung zu finden, da er als eigner Wirt
dem ſicheren Verhungern entgegenſah. Da wurde vielfach
lediges Bauernland von der Herrſchaft eingezogen. Der da¬
malige Büttnerbauer ſah es daher als eine Erleichterung an,
als bei der Regulierung ein Drittteil ſeines Gutes der Herr¬
ſchaft Saland zugeſchlagen wurde. Ja, er hätte ſich vielleicht
von dem mächtigen Nachbarn, der ſich aus einem Beſchützer
über Nacht in einen Nebenbuhler verwandelt hatte, ganz aus
ſeinem Beſitze verdrängen laſſen, wenn nicht ſein Sohn ge¬
weſen wäre.


Leberecht Büttner war, im Gegenſatze zu ſeinem Vater,
ein Sohn der neuen Zeit. Er hatte die Freiheitskriege mit
gemacht, als Grenadier. Zweimal war er in Frankreich ge¬
weſen, war mit Erfahrungen und voll Selbſtbewußtſein aus
der weiten Welt in das Heimatsdorf zurückgekehrt.


Zu Hauſe nahm er ſehr bald das Heft in die Hand. Der
Vater beſaß ſoviel Vernunft, um einzuſehen, daß er nichts
beſſeres thun könne, als der jüngeren Kraft Platz zu machen;
er ging in's Ausgedinge und lebte noch manches Jahr. Aus
alter Gewohnheit nahm er an der Feldarbeit Teil, und ward
eine Art von Tagelöhner bei dem eigenen Sohne. Der jetzige
Büttnerbauer konnte ſich noch ganz gut auf ihn beſinnen. Ein
kleines gebücktes Männchen mit ſchiefer Naſe und rotgerän¬
derten Augen war er geweſen. Sein gelbgraues Haar hatte
ihm in langen Strähnen um den Kopf geſtanden. Sonntags
pflegte er einen blauen Rock zu tragen, der ihm bis an die
Knöchel reichte und eine braun und grün gewürfelte Weſte
mit blanken Perlmutterknöpfen. Er wußte den Enkeln mit
[156] hoher, dünner Greiſenſtimme ſchauerliche Geſchichten zu erzählen,
von der Franzoſenzeit und der Koſackeneinquartierung.


Leberecht Büttner verſtand es, die neugewonnene Unab¬
hängigkeit, mit der ſein Vater nichts anzufangen gewußt hatte,
vortrefflich auszunutzen. Der Aufſchwung, den die Landwirt¬
ſchaft zu Anfang des Jahrhunderts genommen, die Erkennt¬
nis der Bodenpflege, die veränderte Fruchtfolge, die Bekannt¬
ſchaft mit neuen Kulturgewächſen, begann langſam durch¬
zuſickern und verdrängte allmählich auch in dieſem entlegenen
Winkel die veraltete Wirtſchaftsweiſe der Väter. Durch die
Aufteilung der Gemeindeweide und die Einſchränkung des Vieh¬
treibens und der Streunutzung im Walde wurde der Bauer,
ſelbſt wenn er widerwillig war, zu vernünftigerem Wirtſchaften
gezwungen.


An Stelle der Weide trat der Stall, dadurch wurde der
bisher verſchleppte Miſt für die Felddüngung gewonnen. Man
mußte Futterkräuter anbauen und mit der Brachenwirtſchaft
brechen. Hand in Hand damit ging die beſſere Wieſenpflege
und die Tiefkultur.


Leberecht Büttner war der erſte Bauer in Halbenau,
welcher mit der Dreifelderwirtſchaft brach. Er baute eine
maſſive Düngergrube auf ſeinem Hofe und führte regelmäßige
Stallfütterung ein für das Vieh; trotzdem konnte man ihm
nicht vorwerfen, daß er neuerungsſüchtig ſei. Von dem zäh¬
konſervativen Bauernſinne hatte er ſich den beſten Teil be¬
wahrt: wohlüberlegtes Maßhalten. Er überſtürzte nichts, auch
nicht das Gute. Seine Bauernſchlauheit riet ihm, zu beobachten
und abzuwarten, andere die Kaſtanien aus dem Feuer holen
zu laſſen, nichts bei ſich einzuführen, was nicht bereits erprobt
war, vorſichtig ein Stück hinter der Reihe der Pioniere zu
marſchieren. Behutſam und mit Vorbedacht ging dieſer Neuerer
zu Werke. Er begnügte ſich mit dem Sperling in der Hand
und überließ es anderen, nach der Taube auf dem Dache Jagd
zu machen.


Dabei war ihm das Glück günſtig. Die jahrzehntelang
gedrückten Getreidepreiſe begannen auf einmal zu ſteigen. Der
[157] Abſatz erleichterte ſich durch die neugefundenen Verkehrsmittel.
Von dem anſteigenden Strome wachſender Lebenskraft und ge¬
ſteigerten Selbſtbewußtſeins im ganzen Volke, wurde auch der
kleine Mann emporgetragen. Leberecht Büttner war im rechten
Augenblicke geboren, das war ſein Glück; daß er den Augen¬
blick zu nützen verſtand, war ſein Verdienſt. Er durfte zu
einer Zeit wirken und ſchaffen, wo der Landmann, wenn er
ſeinen Beruf verſtand, Gold im Acker finden konnte.


So arbeitete ſich dieſer Mann im Laufe der Jahre aus
der Verarmung zu einer gewiſſen Wohlhabenheit empor. Es
gelang ihm, einen günſtigen Landkauf zu machen, bei welchem
er der benachbarten Herrſchaft, die ihr Areal nach Möglichkeit
durch Auskaufen kleiner Leute zu vermehren trachtete, zuvor¬
zukommen verſtand. Durch dieſen Ankauf brachte er das Gut
auf den nämlichen Umfang, wie es vor der Ablöſung geweſen
war. Aber während das Bauerngut zur Zeit der Hörigkeit
nicht viel beſſer als eine Wüſtenei geweſen war, hatte er es
durch Fleiß und Einſicht in eines der beſtgepflegteſten Grund¬
ſtücke weit und breit verwandelt.


Leberecht Büttner ſtarb an der Schwelle des Greiſen¬
alters eines plötzlichen Todes. Leute, deren ganzes Sinnen
und Trachten aufs Schaffen gerichtet iſt, denken meiſt nicht
gern an's Sterben. Beim Tode dieſes ſorgſamen, vorbedachten
Mannes fand ſich ein letzter Wille nicht.


Traugott Büttner, ſein älteſter Sohn, war in vieler Be¬
ziehung nach dem Vater geraten. Vor allen Dingen hatte er
deſſen Zähigkeit, Thatkraft und Emſigkeit geerbt. Aber das
Geſchick ſolcher Söhne, welche eigenartige Väter haben, traf
auch ihn: durch die ausgeprägte Perſönlichkeit des Vaters hatte
die des Sohnes gelitten. Jener hatte ſich voll ausgelebt, und
im Egoismus der ſtarken Natur nie daran gedacht, daß in dem
Schatten, welchen er verbreite, ein kräftiges Gedeihen für den
Nachwuchs nicht möglich ſei. Er war in ſeinem Bereiche alles
in allem geweſen. Seine Umgebung hatte ſich daran gewöhnt,
bei allen wichtigen Entſcheidungen auf den Vater zu blicken,
ihn denken und ſorgen zu laſſen. Leberecht führte das Regi¬
[158] ment im Hauſe, zunächſt über den eigenen Vater, der freiwillig
vor ihm zurückgetreten war, ſpäter über die Söhne, auch nach¬
dem ſie längſt zu Jahren gekommen. Unter ſolchem Drucke
hatte ſich Traugotts Charakter nicht frei und nicht glücklich
entwickelt. Er hatte von den Tugenden ſeines Vaters die Fehler.
Was bei Leberecht Vorſicht war, erſchien bei Traugott als
Mißtrauen, während jener ſparſam war und haushälteriſch,
war dieſer zum Geize geneigt und kleinlich. Der konſervative
Sinn des Alten war bei dem Sohne in Engigkeit, die Energie
in Trotz und Eigenſinn ausgeartet.


Und eines war vom Vater auf den Sohn nicht überge¬
gangen: das Glück.


Leberecht Büttner war ein echtes Glückskind geweſen. Er
trat als junger Menſch zur rechten Zeit auf den Schauplatz,
um das väterliche Gut vor Annexion durch Fremde zu retten,
er kam als reifer Mann in Zeiten, wo Thatkraft und Fleiß
nicht umſonſt vergeudet wurden. Sein Sohn war in anderer
Zeit und in veränderter Lage geboren. Er übernahm zwar
ein großes Anweſen im beſten Stande, aber unter erſchwerten
Bedingungen. Die Vermögenslage, in welche Traugott Büttner
durch die Erbauseinanderſetzung mit ſeinen Geſchwiſtern ge¬
kommen, trug den Keim einer großen Gefahr in ſich. Alles
kam jetzt auf den neuen Wirt an und auf ſein Glück. Es
kamen ſchwere Zeiten, denen er ſich nicht gewachſen zeigte.
Fallende Getreidepreiſe, ſinkende Grundrente, dazu ſteigende
Löhne und wachſende Ausgaben. Ein ſchnelleres Getriebe im
Geſchäftsleben und erſchwerte Kreditbedingungen. Alles ver¬
wickelte und verſchob ſich. Mit dem ſchlichten Verſtande allein
kam man da nicht mehr durch. Die Anſprüche waren ge¬
ſteigert auf allen Gebieten. Die alte Wirtſchaftsweiſe, wo man
ſeine Erzeugniſſe auf den Markt brachte, mit dem Erlös die
Zinſen und Abgaben deckte, und was übrig blieb mit ſeiner
Familie verzehrte; dieſe einfache Art, aus der Hand in den
Mund zu leben, war gänzlich aus der Mode gekommen. Der
neumodiſche Bauer hielt ſich womöglich Zeitungen, las Bücher
über Landwirtſchaft, ſtudierte die Börſenkurſe und die Wetter¬
[159] berichte. Solche Leute nannten ſich dann freilich auch nicht
mehr Bauern, ſondern „Ökonomen“ und ließen ihre Söhne
freiwillig dienen.


Traugott Büttner hielt am Alten feſt, wie es ſein Vater
bis zu gewiſſem Grade auch gethan hatte. Leberecht Büttner
aber hatte ſich dem, was gut und nützlich im Neuen war, nie
verſchloſſen, und das that Traugott. Er verſtand ſeine Zeit
nicht, wollte ſie nicht verſtehen. Er haßte jede Neuerung von
Grund der Seele, und brachte es darum niemals zu einer
Verbeſſerung. Er glaubte die neue Zeit mit Verachtung zu
ſtrafen, und merkte nicht, daß ſie achtlos über ihn hinwegſchritt,
und ihm den Rücken wandte. Mürriſch hatte er ſich auf ſich
ſelbſt zurückgezogen, zehrte von ſeinem Trotze und lebte ein
glückliches Leben nur in der Erinnerung an die „gute alte
Zeit“, die doch ihrerzeit auch mal neu geweſen war.


Manchmal freilich ſah er ſich doch gezwungen, in das
Licht, von dem er ſich grollend abgewandt hatte, zu blicken.
Um ſo ſchmerzhafter blendete ihn dann die grelle Tageshelle
der Wirklichkeit. Dann fuhr er auf aus ſeiner weltentfremde¬
ten Zurückgezogenheit und beging in heftiger Übereilung ver¬
hängnisvolle Irrtümer. Sah er dann durch den Erfolg ſeines
Thuns, daß er verfehlt gehandelt hatte, ſo verſteifte er ſich
gegen beſſeres Wiſſen auf ſein gutes Recht. Aber, im Inneren
war ihm nicht wohl dabei zu Mute, und leicht focht ihn
dann Unſicherheit und Verzagen an. Denn wenn er auch
nach außen hin nicht um eines Haares Breite nachgab und
lieber einen Finger eingebüßt hätte, als ein Zugeſtändnis zu
machen, ſo ſtand er doch vor dem Richter in der eigenen
Bruſt häufig als ein Fehlender da. Reue und Zerknirſchung
war es nicht, was er da empfand. Zum Beugen war ſein
Bauernnacken zu ſteif. Weder vor Menſchen noch vor Gott
liebte er es, ſich als Sünder hinzuſtellen.


Des Büttnerbauern Chriſtentum war ein eigenartiges
Gemächte, das vor den Augen orthodoxer Theologen wohl als
eine Art von Heidentum erfunden worden wäre. Sein Ver¬
hältnis zu Gott beſtand in einem nüchternen Vertrage, der
[160] auf Nützlichkeit gegründet war. Der himmliſche Vater hatte
nach Anſicht des Bauern für gute Ordnung in der Welt, für
regelmäßige Wiederkehr der Jahreszeiten, gut Wetter und Ge¬
deihen der Feldfrüchte zu ſorgen. Kirchgang, Abendmahl,
Kollekte, Gebet und Geſang, das waren Opfer, die der Menſch
Gott darbrachte, um ihn günſtig zu ſtimmen. War das Wetter
andauernd ſchlecht, oder die Ernte war mißraten, dann grollte
der Bauer ſeinem Schöpfer, bis wieder beſſere Zeit kam. Von
der Buße hielt er nicht viel. Um das Fortleben nach dem
Tode kümmerte er ſich wenig, ſein Denken und Sorgen war
ganz auf das Diesſeits gerichtet. Was der Herr Paſtor ſonſt
noch ſagte, von der Aneignung der göttlichen Gnade, dem
ſtellvertretenden Opfertode Chriſti und der Wiedergeburt im
Geiſte, das hörte er ſich wohl mit an, aber es lief an ſeinem
Gewiſſen ab, ohne Eindruck zu hinterlaſſen. Dergleichen war
ihm viel zu weit hergeholt und verwickelt. Das hatten ſich
wahrſcheinlich die Gelehrten ausgedacht: die Studenten und
die Profeſſoren, oder wie ſie ſonſt hießen. Er trug ein deut¬
liches, höchſt perſönliches Bild von ſeinem Gotte in der Seele.
Er wußte ganz genau, wie er zu dem da oben ſtand; es be¬
durfte keines Vermittlers, um ihn zu Gott zu führen. Manch¬
mal in früher Morgenſtunde, wenn er auf dem Felde ſtand,
allein, und die Welt erſtrahlte plötzlich in überirdiſchem Glanze,
dann fühlte er Gottes Nähe, da nahm er die Mütze vom
Haupte und ſammelte ſich zu kurzem Gebet. Oder ein Wetter
brauſte daher über ſein Haus und Land mit Blitzſchlag und
Donnergrollen, dann ſpürte er Gottes Allmacht. Oder nach
langer Dürre ging ein befruchtender Regen nieder, dann kam
der Allmächtige ſelbſt hernieder auf ſeine Erde. In ſolchen
Augenblicken ließ der Alte etwas wie eine Weiheſtimmung
in ſich aufkommen. Sonſt liebte er das Hingeben an Ge¬
fühle nicht. Er war kein Beter. Des Abends beim Abend¬
läuten nahm er aus alter Gewohnheit die Mütze ab, ſobald
die Glocke anſchlug, und ſprach ſein Vaterunſer; das war aber
auch alles. Im übrigen mußte der ſonntägliche Gottesdienſt
für die Woche aushalten.


[161]

Je älter der Bauer wurde, deſto mehr zog er ſich auf ſich
ſelbſt zurück, umgab ſich mit einem Mantel von Welthaß und
Menſchenverachtung. Und je einſamer er ſich ſo machte, deſto
ſtärker wurde doch in ihm das Bedürfnis, welches tief in der
Bruſt eines jeden Menſchen lebt: ſein Leben über den Tod
hinaus fortzuſetzen, ſeine Perſönlichkeit nicht untergehen zu
ſehen, ſeinen Werken die Fortdauer zu ſichern, daß er nicht
der Vergeſſenheit anheimfalle, die Erinnerung an ihn nicht
ausgelöſcht werde, wie die Fußſpur im Sande. Wäre er eine
myſtiſch angelegte Natur geweſen, ſo hätte er ſein Heil in
der Gläubigkeit geſucht. Aber er war derb und nüchtern,
ein Bauer; alle ſeine Triebe waren der lebendigen Wirklich¬
keit zugewandt. Darum konnte ihm die Seligkeit, wie
ſie das Chriſtentum verſprach, wenig Troſt gewähren. Ein
Himmel mit rein geiſtigen Freuden bot ihm keine An¬
ziehung. Er wollte nicht Verklärung, er wollte Fortſetzung
der Wirklichkeit, an der ſein Ich mit allen Faſern hing. Er
war ein Sohn der Erde. Was er hier geweſen, was er
auf dieſer Welt geſchaffen und gewollt, ſollte ewigen Beſtand
haben.


Es konnte darum keine bitterere Erfahrung für den alten
Mann geben, als mit anſehen zu müſſen, wie ſein Lebenswerk
mehr und mehr dem Untergange entgegenſteuerte. Von allen
Seiten ſah er feindliche Mächte vordringen, die ihm das ent¬
reißen wollten, was er aus der Hand ſeines Vaters als
das köſtlichſte Erbteil empfangen hatte: ſein Gut. Und in
ſeinem Kummer war ein Stachel verborgen; ein Tropfen gab
dem Kelche den bitterſten Beigeſchmack: der Selbſtvorwurf.
Er wollte es ſich nicht eingeſtehen, aber er mußte es doch
fühlen, das wurmende und brennende Bewußtſein, daß er ſelbſt
die Schuld trug. Solche Erkenntnis kam nur blitzartig über
ihn. Er wußte die ſelbſtanklägeriſche Stimmung wohl zu
verſcheuchen. Andere waren ſchuld, nicht er! die ſchlechten
Zeiten, die Verhältniſſe. Haß gegen die Welt, das war der
beſte Troſt, Ingrimm das beſte Schutzmittel des Trotzigen
gegen die gefürchtete Reue.


W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 11[162]

Einen wirklichen Troſt hatte er und an dieſen klammerte
er ſich mehr und mehr mit der verzweiflungsvollen Kraft des
Sinkenden: ſeinen Sohn Guſtav. Wenn jemand ihn retten
konnte, ſo war der es. Das Zeug hatte der Junge dazu. In
Guſtav ſah er ein Stück vom Großvater, Leberecht, wieder
lebendig werden.


Ende des erſten Buches.

[[163]]

Zweites Buch.

11*[[164]][[165]]

I.

Eines Tages wurde dem Büttnerbauer ein Schreiben vom
Amtsgericht zugeſtellt. Es war ein Zahlungsbefehl. Das
Geſuch dazu war von Ernſt Kaſchel geſtellt, welcher Zahlung
ſeiner ſiebzehnhundert Mark nebſt Zinſen und Koſten verlangte,
widrigenfalls er mit Zwangsvollſtreckung drohte.


Die Nachricht ſchlug wie ein Blitzſtrahl ein. Trotz ſeiner
mangelhaften Kenntnis von der Rechtspflege, begriff der alte
Mann doch ſofort, was das zu bedeuten habe. Nun ſtand es
feſt, daß Kaſchelernſt ſeinen Untergang wollte; dies hier war
die Waffe, mit der er ihm auf den Leib rückte. Zwangsvoll¬
ſtreckung und in letzter Linie Zwangsverſteigerung des Gutes,
darauf hatte der Kretſchamwirt es abgeſehen.


Der Büttnerbauer hatte in ſeinem Leben mehr als ein
Gut der Nachbarſchaft unter dem Hammer weggehen ſehen.
Manchen Bauern hatte er gekannt, der als wohlhabender
Mann angefangen, und ſchließlich mit dem weißen Stabe in
der Hand aus dem Hofe geſchritten war. Zwangsverſteigerung!
Der Gedanke daran konnte einem das Blut in den Adern ge¬
rinnen machen. Das war das Ende von allem! Der Bauer,
dem das geſchah, war geſtrichen aus der Liſte der Lebenden,
losgeriſſen von ſeinem Gute, ausgerodet, hinausgeworfen auf
die Landſtraße, wie man ein Unkraut aus dem Acker rauft
und über den Zaun wirft. —


Guſtav war der einzige von der ganzen Familie, mit dem
der Bauer von dieſem neueſten Unglück ſprach. Guſtav ſah
[166] ſofort die Gefährlichkeit der Lage ein. Er ſagte ſich, daß et¬
was geſchehen müſſe, um die angedrohte Maßregel zu ver¬
hindern. Zunächſt ſchien es immer noch das vernünftigſte,
mit Kaſchelernſt ſelbſt Rückſprache zu nehmen. Am Ende ließ
er ſich doch dazu bringen, Stundung zu gewähren, vor allem
wenn man ihm vorſtellte, daß er ſein Geld bei einer Zwangs¬
vollſtreckung kaum herausbekommen und im Falle der Ver¬
ſteigerung ſogar gänzlich einbüßen werde. Dadurch gewann
man Friſt, und währenddeſſen gelang es vielleicht, von anderer
Seite Hülfe zu ſchaffen.


Guſtav ging alſo noch am ſelben Morgen, als die Ur¬
kunde vom Gericht eingetroffen war, nach dem Kretſcham.
Leicht wurde ihm der Gang nicht. Er würde bitten müſſen,
auf alle Fälle ſich demütigen vor den Verwandten. Dabei
war ihm die ganze Familie widerlich. Seinen Onkel Kaſchel
hatte er nie ausſtehen mögen. Wenn er an ſeine Kouſine
Ottilie dachte, hätte ihm übel werden können. Und auch mit
ſeinem Vetter Richard ſtand er auf geſpanntem Fuße, ſeit er
ihn, als Jungen, einmal windelweich geprügelt. Guſtav hatte
den Vetter nämlich dabei überraſcht, wie er mit dem Puſtrohre
nach einem Huhn ſchoß, das er an einen Baum angebunden
hatte, als lebendige Zielſcheibe. Dieſe Züchtigung hatte Richard
Kaſchel wohl nicht ſo leicht vergeſſen.


Guſtav traf in der Schenkſtube ſeine Kouſine Ottilie.
Er fragte ſie, ohne Umſchweife, nach dem Vater. Der ſei im
Keller mit Richard und ziehe Bier ab, erklärte das Mädchen,
verlegen kichernd. Dann bat ſie den Vetter, doch ins gute
Zimmer zu treten. Dieſer Raum lag neben der großen Gaſt¬
ſtube, und unterſchied ſich von ihr in ſeiner Ausſtattung eigen¬
lich nur durch ein Paar ſchlechte Öldrucke, welche den Kaiſer
und die Kaiſerin darſtellten.


Hier mußte Guſtav Platz nehmen. Ottilie war über¬
geſchäftig um ihn bemüht, ihm einen Stuhl zurechtzurücken
und den Tiſch vor ihm mit einem Tuche abzuwiſchen. Dabei
blinzelte ſie den Vetter mit vielſagendem Lächeln von der Seite
an. Er ſei von der Stadt her verwöhnt, zirpte ſie mit er¬
[167] künſtelt hoher Stimme, aber er müſſe eben hier vorlieb nehmen,
mit dem, was er vorfände. Es ſei doch recht langweilig in
Halbenau. Warum ſich denn der Vetter nicht öfter mal blicken
laſſe. Und zum Tanze ſei er noch gar nicht geſehen worden
im Kretſcham. Die Mädchen hier ſeien ihm wohl nicht fein
genug? —


Guſtav antwortete kaum auf ihre Bemerkungen. Er
witterte etwas von Eiferſucht in dem Weſen der Kouſine.
Hübſch war ſie nicht, mit ihrem Kropfanſatz, der langen über¬
bauten Figur und dem ſchiefen Munde, der neuerdings eine Zahn¬
lücke aufwies. Doch dafür konnte ſie ſchließlich nichts. Aber,
was für eine Schlumpe ſie war! So herumzulaufen! Mit
zerriſſenen Strümpfen, zerſchliſſener Taille, und ungemachtem
Haar. Und ſowas wollte die reichſte Erbin in Halbenau
ſein! Guſtav ſtellte unwillkürlich Vergleiche an, zwiſchen
ihrer Schmuddelei und der Sauberkeit, die ſtets um Pauline
herrſchte.


Ottilie lief plötzlich hinaus. Er glaubte es ſei, um den
Vater herbeizuholen. Eine ganze Weile hatte er zu warten.
Dann kam das Mädchen zurück, aber ohne den Wirt. Sie
brachte vielmehr ein Brett, mit Frühſtück darauf. Da waren
verſchiedene Flaſchen und Schüſſeln. Freundlich lächelnd ſetzte
ſie das vor den Vetter hin.


Guſtav war ärgerlich. Zwar ein Koſtverächter war er
nie geweſen, und bei den Eltern ging es neuerdings ſchmal
genug her; ein Frühſtück nahm er immer gern an. Aber von
der hier bewirtet zu werden, das paßte ihm ganz und gar
nicht. Ihr Anblick konnte ihm jeden Appetit verderben.


Ottilie ſchien den Widerwillen nicht zu bemerken, den ſie
einflößte. Sie ſchenkte ein, zunächſt ein Glas Bier, neben das
ſie noch, zur Auswahl, ein kleineres Glas mit rötlichem In¬
halt ſtellte. Dann ſetzte ſie ſich ihm gegenüber an den Tiſch,
und ſah ihm zu, wie er aß und trank, mit dem Ausdrucke
innigſter Befriedigung in ihren Zügen.


Es entging ihm nicht, daß ſie ſich inzwiſchen eine andere
Taille angezogen hatte. Er mußte unwillkürlich lächeln über
[168] ſoviel verlorene Mühe. Schöner ſah ſie in dem rot und gelb
gemuſterten Zeuge auch nicht aus, mit ihrer flachen Bruſt und
der gilblichen Hautfarbe. Das Mädchen that ſein Möglichſtes,
um den Vetter zum zulangen zu bringen. Nach jedem Schlucke,
den er nahm, ſchenkte ſie nach, ſo daß der Inhalt des Glaſes
niemals abnahm.


Guſtavs geſunder Appetit hatte bald den anfänglichen
Widerwillen überwunden. Zudem fragte er ſich, warum er
die Thorheit dieſes Frauenzimmers nicht ausnutzen ſolle.
Er ließ ſich ſeines Onkels Bier, Schnaps und Schinken gut
ſchmecken.


Als er ſich ſoweit geſättigt hatte, daß er nicht mehr
imſtande war, noch einen Biſſen herunterzubringen, ſchob er
den Teller von ſich. Ottilie ſprang auf, holte Zigarren und
brannte ihm eigenhändig eine an.


Er bat ſie, daß ſie nun den Vater aus dem Keller holen
möge. Sie meinte darauf, das habe ja noch Zeit. Man
habe ſich doch ſo mancherlei zu erzählen, wenn man ſich ſo
lange nicht geſehen. Dabei wechſelte ſie den Platz, ſetzte ſich
an ſeine Seite. Das wurde ihm doch zuviel des Guten.
Es bedurfte einer ſehr energiſchen Aufforderung von ſeiner
Seite, daß ſie ſich bewogen fühlte, endlich den Vater herbei¬
zurufen.


Der Wirt erſchien, wie gewöhnlich, in Pantoffeln, die Zipfel¬
mütze auf dem Kopfe, die Hände unter der blauen Schürze.
Hinter ihm ſein Sohn wußte die Haltung des Vaters vortreff¬
lich nachzuahmen. Nach Kaſchelſcher Art begrüßten ſie Guſtav
mit Kichern und Grinſen, das ſich bei jedem Worte, das ge¬
ſprochen wurde, erneuerte.


„Ottilie! Ich nahm o eenen!“ rief der Wirt. „Vun an
Bierabziehn kann ens ſchon warm warn. Newohr Richard?“


Der Sohn feixte dummdreiſt, und ſchielte falſch verlegen
nach dem Vetter hin. Er mochte an die Lektion denken, die
er von dem einſtmals empfangen hatte.


Guſtav, um etwas zu ſagen, fragte, ob Richard nicht bald
zu den Soldaten müſſe. Da erhellten ſich die Geſichter von
[169] Vater und Sohn gleichzeitig. Der Alte meinte ſchmunzelnd:
„Ar is frei gekummen. Ju ju! Richard is militärfrei!“
Guſtav ſprach ſeine Verwunderung darüber aus, Richard habe
doch ſeines Wiſſens kein Gebrechen. „Nu, mir wußten och
niſcht dervon, ſulange. Aber, der Herr Oberſtabsarzt meente,
er hätte Krampfadern an linken Beene. Ju ju! Krampfadern
thaten ſe's heeßen. Newohr Richard? Und da wurd' 'r
zuricke geſtellt. Nu ich ha' natirlich niſcht ne dadergegen,
und der Junge erſcht recht ne. Newohr Richard?“ Der alte
Kaſchel ſchüttelte ſich vor Lachen. Er ſchien es für einen be¬
ſonders genialen Streich ſeines Sohnes anzuſehen, daß er in
Folge ſeiner Krampfadern militäruntüchtig war. Guſtav hätte
gern offen heraus geſagt, was ihm auf der Zunge lag, daß
dem Bengel die militäriſche Zucht gewiß recht gut gethan
haben würde, aber er unterdrückte die Bemerkung. Er hütete
ſich, in dieſem Augenblicke, etwas zu äußern, was den Onkel
hätte verdrießen können. Er war ja als Bittſteller hierher¬
gekommen.


Er begann nunmehr mit ſeinem Anliegen herauszurücken.
Sobald der Onkel merkte, daß von Geſchäften geſprochen werden
ſolle, ſchickte er Ottilien aus dem Zimmer. Zu Guſtavs Ver¬
druſſe blieb aber Richard anweſend. Guſtav ſaß an der breiten
Seite des Tiſches, die beiden Kaſchels ihm gegenüber. In den
Angeſichtern von Vater und Sohn, deren Ähnlichkeit hier, wo
ſie ſo dicht bei einander waren, in unangenehmſter Weiſe ſich
aufdrängte, lauerte die nämliche, unter blöder Miene verborgene,
dreiſte Schlauheit.


Sie ließen den Vetter reden. Lächelnd, hin und wieder
mit den Augen zwinkernd, hörten ſie ſich ſeinen Bericht
mit an. Guſtav ſprach mit Offenheit. Die mißliche Lage
ſeines Vaters war ja doch nicht mehr zu verbergen. Er er¬
klärte, daß, beſtünde der Onkel auf ſeiner Forderung, der
Bankrott des Bauern ſicher wäre. Dann bat er den Onkel,
ſich noch zu gedulden. Die Zinſen ſeiner Forderung ſollten
pünktlich gezahlt werden, dafür wolle er ſich perſönlich ver¬
bürgen. Mit der Zeit würde man auch an ein Abzahlen des
[170] Kapitals gehen. Wenn der Onkel es aber zum äußerſten
treibe, dann ſei das Gut verloren und damit auch ſeine For¬
derung.


Guſtav hatte ſich das, was er ſagen wollte, vorher wohl
überlegt. Aber, wie das ſo geht, er ſagte ſchließlich ganz
andere Dinge und brauchte ganz andere Wendung, als er be¬
abſichtigt. Die Ruhe der beiden, die ihn nicht mit einem
Worte unterbrachen, warf ihm ſeinen ganzen Entwurf über
den Haufen. Er hatte ſich vorgenommen, mit Begeiſterung
zu ſprechen, hatte den Onkel mit warmen Worten an das
Familienintereſſe mahnen wollen. Sollte denn dieſes Gut,
das ſo lange im Beſitze der Familie geweſen, unter dem
Hammer weggehen? Sollte der Bauer, als alter Mann, von
Haus und Hof getrieben werden, und mit ſeinem grauen Haar
auf das Almoſen der Gemeinde angewieſen ſein? Das könne
doch der Onkel nie und nimmer verantworten! Das werde
er doch nicht mit anſehen wollen! Das ſei man doch der
Familie ſchuldig, ſolche Schmach zu verhindern! er habe ja
doch eine Tochter aus dem Büttnerſchen Gute zur Frau ge¬
habt; um des Andenkens der Verſtorbenen willen, möge er
doch ſeine Hülfe nicht verſagen! — So etwa hatte der junge
Mann zu ſeinem Verwandten ſprechen wollen.


Aber, er fühlte es, dieſen Rattengeſichtern gegenüber, mit
ihrer lauernden Bosheit, war jede Begeiſterung weggeworfen.
Durch jedes wärmere Wort mußte er ſich lächerlich machen.
Er merkte, wie er immer unſicherer wurde, und wie der Wider¬
willen gegen das was er ſagte, ihm zum Halſe ſtieg. Was
hatten denn dieſe beiden da in einem fort zu nicken, zu winken
und mit den Augen zu zwinkern. Einer genau, wie der andere,
als beſtände eine geheime Verbindung zwiſchen Vater und Sohn,
als verſtänden ſie ihre Gedanken, ohne einander anzuſehen.
Sie beluſtigten ſich wohl gar über ihn? Alles was er hier
vorbrachte, diente am Ende nur ihrer anmaßenden Schaden¬
freude zur willkommenen Nahrung!


Ziemlich unvermittelt fragte Guſtav auf einmal: was der
Onkel eigentlich bezwecke mit ſeiner Kündigung? Ob er es
[171] etwa zur Subhaſtation des Bauerngutes treiben wolle, um
das Gut dann ſelbſt zu erſtehen?


Kaſchelernſt wich dieſer Frage aus, ſich nach ſeiner Art
hinter ein Lachen verſteckend. Aber der Neffe ließ nicht locker,
diesmal. Weshalb er das Geld gekündigt und den Zahlungs¬
befehl veranlaßt habe, wolle er wiſſen. Das müſſe ſeinen
ganz beſonderen Grund haben, denn der Onkel wiſſe recht gut,
daß der Bauer im gegenwärtigen Augenblick nicht im Stande
ſei, ihn zu befriedigen.


Der Onkel fragte dagegen: ob das nicht ſein gutes Recht
ſei? Kaſchelernſt war jetzt ſelbſt etwas aus ſeinem gewohnten
Gleichmut gekommen. Guſtav ſah ihn zum erſtenmale aus
der Rolle des harmloſen Biedermannes fallen.


Man war inzwiſchen auf beiden Seiten aufgeſtanden.
Der Tiſch befand ſich noch immer zwiſchen Guſtav und den
Kaſchels.


Guſtav wiederholte noch einmal ſeine Frage, ob der Onkel
den Zahlungsantrag zurückziehen wolle.


„Ich war an Teifel tun!“ rief Kaſchelernſt protzig. Der
Sohn kicherte dazu.


Guſtav fühlte, daß er ſeine Wut nicht länger bändigen
könne. Er mußte irgendetwas thun, ſich Luft zu verſchaffen:
die beiden beleidigen, die Kränkung vergelten.


Er preßte die Stuhllehne vor ſich zwiſchen ſeinen Fäuſten.
Jetzt hatte es keinen Sinn mehr, dieſen hier ſeinen Haß zu
verbergen. Mit bleichen Wangen und der keuchenden Stimme
des aufſteigenden Zornes ſagte er: „'s is ſchon gut ſo! Ich
hätt' mer's eegentlich denken können. Nu weeß ich's aber,
wie's ſteht! Ihr ſteckt mit dem Harraſſowitz unter eener Decke.
Na, Ihr ſeid ene ſchöne Sorte Verwandte. Ich komme über
Eure Schwelle nich mehr, davor ſeid'r ſicher! Pfui Luder
über ſolches Pack. — Schamt Eich!“ — Damit ging er, auf
ſeinem Wege durch das Zimmer an verſchiedene Stühle und
Tiſchkanten anrennend.


Der Kretſchamwirt lief dem Neffen nach. Von der Thür
aus rief er hinter ihm drein: „Warte mal! Wart ack Kleener!
[172] Ich ha' noch a Wörtel mit D'r. Wenn d'r und 'r denkt, Ihr
kennt mich lapp'g machen, da ſeit'r an Falſchen geraten.
Dei Vater is immer a Uchſe gewaſt, ar hat keenen größern
in ſeinen eegnen Stalle ſtiehn. Sicke dumme Karlen, die brauchen
gar kee Bauerngutt. Ob ſei Gutt ungern Hammer kimmt, ob's
d' Ihr alle zuſammde betteln gihn mißt, das is mir ganz
egal! Verreckt Ihr meintswegen! Mit Eich ha'ch kee Mitleed
— ich ne!“


Guſtav war ſchon außer Hörweite und vernahm die wei¬
teren Schimpfreden nicht, die ihm der Onkel noch auf die Gaſſe
nachrief.


Guſtav wollte, da er bei dem Kretſchamwirt nichts aus¬
gerichtet hatte, ſeinen Onkel Karl Leberecht Büttner aufſuchen,
und deſſen Hülfe anrufen. Freilich war dazu eine Eiſenbahn¬
fahrt von mehreren Stunden nötig. Aber er meinte dieſe
Ausgabe nicht ſcheuen zu dürfen, denn es blieb thatſächlich
die letzte Hoffnung. Der Onkel war wohlhabend; vielleicht
konnte man ihn dazu bringen, etwas für ſeinen leiblichen Bru¬
der zu thun.


Ehe Guſtav die Garniſon verlaſſen, hatte er ſich noch
einen Anzug von dunkelblauem Stoff anfertigen laſſen. Pau¬
line fand, daß ihm die neuen Kleider ausgezeichnet ſtünden.
Auch einen ziemlich neuen Hut beſaß er, und ein Paar Stiefeln,
die noch nirgends geflickt waren. So konnte er denn die
Reiſe guten Mutes wagen. Er wollte bei den Verwandten
in der Stadt nicht den Eindruck eines Bettlers machen. Sie
ſollten ſehen, daß ſie ſich der in der Heimat zurückgebliebenen
Familienglieder nicht zu ſchämen brauchten.


So trat er die Fahrt an. Angemeldet hatte er ſich nicht
bei den Verwandten, damit ſie ihm nicht abſchreiben konnten.
Denn Guſtav war ſich deſſen wohl bewußt, daß man ihm und
den Seinen nicht allzu günſtig geſinnt ſei, von jener Seite.
Das hatte ſich ja auch in der plötzlichen Kündigung der
Hypothek, im Frühjahre, ausgeſprochen.


[173]

Der alte Bauer hegte nicht die geringſte Hoffnung, daß
die Reiſe ſeines Sohnes irgendwelchen Erfolg haben könne.
Er hielt nicht viel von Karl Leberecht. Der Bruder war ihm
im Alter am nächſten geweſen, von den Geſchwiſtern. Sie
hatten ſich als Jungens ſtets in den Haaren gelegen. Karl
Leberecht war lebhaft geweſen und geweckt, zu allerhand
Streichen aufgelegt, ein „Sauſewind und Würgebund“, wie
ihn der Bauer noch jetzt zu bezeichnen pflegte, wenn er von
dem jüngeren Bruder ſprach. Guſtav ließ ſich jedoch durch
das Abreden des Vaters nicht irre machen. Karl Leberecht
mochte in der Jugend geweſen ſein wie er wollte, er hatte es
jedenfalls zu etwas gebracht im Leben. Und er war und
blieb auf alle Fälle der Bruder des Vaters. Vielleicht
ſchlummerte der Familienſinn doch noch in ihm, und es be¬
durfte nur der richtigen Anſprache, um ihn zu wecken.


Aus dem Briefe, welchen damals der Vetter — der, wie
er, den Namen Guſtav trug — geſchrieben hatte, erſah er,
daß das Materialwarengeſchäft von Karl Leberecht Büttner
und Sohn am Marktplatze gelegen war. Dorthin richtete
Guſtav alſo ſeine Schritte. Nach einigem Suchen fand er die
Firma, die in goldenen Lettern auf ſchwarzem Untergrunde
weithin leuchtend prangte.


Es war ein eigenes Gefühl für den jungen Menſchen,
ſeinen eigenen Namen auf dem prächtigen Schilde zu leſen.
Guſtav ging nicht ſofort in den Laden hinein, eine geraume
Weile betrachtete er ſich erſt das Geſchäft von außen mit ehr¬
furchtsvoller Scheu. Das war ja viel größer und glänzender,
als er ſich’s vorgeſtellt hatte.


Das Büttner’ſche Geſchäft beſtand aus einem geräumigen
Eckladen, der mit zwei Schaufenſtern nach dem Markte hinaus
blickte und außerdem noch mehrere kleinere Fenſter nach einer
Seitengaſſe hatte. Eine reiche Auswahl von Verkaufsartikeln
lag da ausgeſtellt: Kaffee und Thee in Glasbüchſen, Seifen,
Bisquits in Käſten, Lichte in Paketen, Südfrüchte, Tabak,
Viktualien aller Art, Spezereien, Droguen. In dem einen
der vorderen Schaufenſter ſaß ein Chineſe, der mit dem Kopfe
[174] wackelte. Auf einem Plakate, welches Karawanenthee an¬
pries, war ein Kamel abgebildet, von einem Araber geführt,
auf dem Rücken einen mächtigen Berg von Käſten und Ballen
tragend.


Guſtav ſtand da, ſtaunend. Obgleich er als Soldat
mehrere Jahre in einer größeren Stadt kaſerniert geweſen,
war doch das Landkind lebendig in ihm geblieben. Alles
Fremde, beſonders wenn es unverſtändlich war, imponierte
ihm gewaltig. Dieſe Schaufenſter mit den vielen fremdartigen
Dingen, beſtärkten ihn in der Vermutung, daß der Onkel
doch ſehr reich ſein müſſe. Und wenn man bedachte: der
Mann ſtammte aus Halbenau! Hatte das Vieh gehütet und
Miſt aufgeladen, wie jeder andere Bauernjunge. Dann war
er davongelaufen, weil er's daheim nicht mehr ausgehalten; wohl
hauptſächlich, weil ſein Vater, der alte Leberecht, ihn nicht auf¬
kommen laſſen wollte, neben dem älteren Bruder und Erben
des Hofes. So war er denn in die Fremde gegangen, hatte
alles Mögliche erlebt und erfahren, hatte die verſchiedenſten
Lebensſtellungen innegehabt. Markthelfer war er unter anderem
geweſen. Als ſolcher hatte er in ein Grünwarengeſchäft ge¬
heiratet und damit den Grund zu ſeinem Vermögen gelegt.


Ja, in der Stadt da konnte man es noch zu etwas
bringen! In Guſtav ſtieg ein bitteres Gefühl auf, als er ſich
hier umſah, und das Leben und Treiben ringsum betrachtete:
den Marktverkehr, die Häuſerreihen, die glänzenden Läden. —
Wenn man damit die Öde der dörfiſchen Heimat verglich!
Er fühlte ſich etwas herabgeſtimmt in ſeinem Selbſtbewußtſein,
und ſeiner Zuverſicht, trotz des neuen Anzugs. Die Verwandten
würden ihn doch am Ende nicht als voll anſehen. — Nach¬
dem er eine Weile vor dem Laden auf- und abgegangen,
entſchloß er ſich ſchließlich doch, hineinzugehen.


Eine ganze Anzahl junger Leute war dort thätig. Der
eine von ihnen, ein langer ſchmächtiger mit einer Brille, fragte
den Eintretenden, was zu Dienſten ſtünde. Guſtav nannte
ſeinen Namen und ſagte, daß er mit dem Onkel zu ſprechen
wünſche. Der junge Herr ſah ſich den Fremden daraufhin
[175] genauer mit forſchenden Blicken durch ſeine Brillengläſer an.
Der Vater ſei leider nicht im Laden, erklärte er.


Alſo, das war der Vetter! Guſtav maß den Mann, der
ſeinen Namen trug, mit neugierigen Blicken. Ein ziemlich
großer hagerer Menſch von gebückter Haltung ſtand vor ihm.
Dem Manne ſah man es nicht an, daß ſein Vater auf dem
Lande geboren, daß alle ſeine Vatersvorfahren durch Jahr¬
hunderte hinter dem Pfluge hergeſchritten waren. Und doch
war in dieſer Schulmeiſtererſcheinung eine gewiſſe Ähnlichkeit
mit den Verwandten nicht zu verkennen. Die Kopfform, die
großen Hände und Füße, der Haarwuchs erinnerte an die
Büttners von Halbenau.


Zwiſchen den beiden Vettern gab es eine Verlegenheits¬
pauſe. Sie waren durch das Gefühl bedrückt, in naher Bluts¬
verbindung zu ſtehen und einander doch unendlich fremd zu
ſein. Man maß ſich mit ſpähenden, mißtrauiſchen Blicken
und wußte einander nichts zu ſagen. Guſtav, der Bauernſohn,
verachtete im geheimen dieſen dürren Bläßling, der Tag ein
Tag aus hinter dem Ladentiſch ſtehen und die Kunden be¬
dienen mußte. Aber ſeine Verachtung war dabei nicht ganz
frei von einem gewiſſen Neid, den das Landkind der Über¬
legenheit des Städters gegenüber ſelten verwindet. Und Guſtav,
der Mitinhaber der Firma : Karl Leberecht Büttner und Sohn,
belächelte ſeinen Vetter vom Dorfe, mit den unbeholfenen
Manieren.


Ein Paar Leute vom Markt kamen herein, die bedient
ſein wollten. Nachdem die Kunden abgefertigt waren, ſchlug
der Kaufmann ſeinem Vetter vor, in die Wohnung des Vaters
zu gehen; der „Alte“ werde wohl zu Haus ſein. Er gab ihm
einen Lehrling mit, damit er den Weg finde. Unter Führung
eines halbwüchſigen Bürſchchens gelangte Guſtav ſo zur Woh¬
nung der Verwandten.


Mit dem Onkel fand ſich Guſtav ſchneller zurecht, als
mit dem Vetter. Der Mann war wirklich ſein Blutsver¬
wandter. Der große derbknochige Alte mit bartloſem ge¬
röteten Geſicht, und buſchigem grauen Haar ſah dem Büttner¬
[176] bauer nicht unähnlich. Wäre nicht das geſtickte Käppchen auf
dem Kopfe, die Safianpantoffeln und die Kleider von ſtädtiſchem
Schnitt geweſen, hätte man Karl Leberecht Büttner wohl für
einen Halbenauer anſprechen können. In ſeinem Augenblinzeln
und dem verſchmitzten Lächeln kam die Bauernpfiffigkeit zum
Ausdruck. Auch in ſeiner Ausſprache waren noch heimatliche
Anklänge zu finden. Mit derber Herzlichkeit empfing er den
Sohn ſeines Bruders.


Der Neffe wurde zum niederſitzen aufgefordert, bekam ein
Glas Wein vorgeſetzt, und mußte erzählen, zunächſt über die
Familie, ſodann von anderen Leuten aus Halbenau, auf die
ſich der alte Mann noch beſann. Freilich über viele, nach
denen der Onkel fragte, vermochte Guſtav keine Auskunft zu
geben; ſie waren geſtorben, weggezogen, verſchollen.


Die Teilnahme, welche der Alte an den Tag legte für
dieſe Dinge, ſtärkte Guſtavs Zuverſicht. Der Onkel hatte noch
nicht allen Sinn verloren für die Heimat; ſoviel ſtand feſt!
Als der alte Mann ſich nach der Lage des Gutes und der
Wirtſchaft erkundigte, benutzte Guſtav die Gelegenheit, ihm die
Not zu eröffnen, in welcher ſich ſein Vater befand.


Karl Leberecht Büttner war ſichtlich überraſcht Er
ſchüttelte wiederholt den Kopf. „Na ſowas! Na ſolche
Sachen!“ war ſeine Rede. Daß es mit ſeinem Bruder
nicht glänzend ſtehe, hatte er ſich ja gedacht, aber daß es ſo
ſchlimm ſei! . . . . Er ſeufzte; ſein Geſicht nahm einen trüben
Ausdruck an.


Durch dieſe Anzeichen ermutigt, rückte Guſtav mit ſeinem
Anſinnen heraus: der Onkel ſolle die eingeklagten ſiebzehn¬
hundert Mark an Kaſchelernſt auszahlen, und dafür deſſen
Hypothek übernehmen.


Karl Leberecht runzelte die Stirn, zog die Augenbrauen
in die Höhe, und blickte ſtarr vor ſich hin, die Backen auf¬
blaſend — genau wie es der Büttnerbauer machte, wenn ihm
etwas überraſchend kam — dann rückte er ſich auf ſeinem
Sitze zurecht, meinte die Sache ſei bös; ließ ſich Guſtavs Plan
aber doch noch einmal auseinanderſetzen.


[177]

Guſtav ſprach mit Lebhaftigkeit und Wärme. Er redete
alles, was er auf dem Herzen hatte, herunter. Dem Onkel
gegenüber wurde es ihm leicht, da ſtockte ihm nicht das Wort
auf der Zunge, wie neulich vor den Kaſchels. Er beſtürmte
den alten Mann, er ſtellte ihm die Sache im günſtigſten Lichte
dar, und wunderte ſich beim Sprechen ſelbſt über die eindring¬
lichen Worte, die er fand.


Der Alte kratzte ſich hinter dem Ohre, ſprach von den
ſchlechten Zeiten und meinte, er habe alles Geld im Geſchäfte
ſtecken; aber er lehnte nicht völlig ab. Seine Einwendungen
wurden immer ſchwächer. Halb und halb ſchien er der Sache
gewonnen.


Guſtav frohlockte in ſeinem Inneren; nun glaubte er ge¬
wonnenes Spiel zu haben. Er beſchloß, die Gunſt der Lage
auszunutzen, und bat den Onkel, auch die Zinſen und Koſten
mit zu belegen.


Der Alte ſagte nicht ja und nicht nein. Die Sache ſchien
ihm Unruhe zu bereiten. Er lief im Zimmer umher, kraute
ſich den Kopf, rieb die großen Bauernfäuſte gegen einander,
fiel beim Sprechen unwillkürlich in den Dialekt ſeiner Jugend
zurück; der deutlichſte Beweis, daß er innerlich erregt war.
„Ne ne! Su ſchnell gieht das ne! Ihr denkt wohl uf'n
Dorfe, wir hier in der Stadt, wir hätten's Geld, wie Hei.
Wenn's Eich ſchlacht gieht, mit uns ſtieht's erſcht recht ſchlacht
mit'n Geſchäften. Wenn de Bauern, und ſe kommen nich in
de Stadt zum Einkaufen, das merken mir gar ſehre im Handel.
Geld is gar keens da. Und nu gar ich! Wenn ich auch gerne
mechte, und ich wollte Traugotten helfen, kann ich denn, wie
ich mechte! Unſer Geſchäft! — Nu ja, die Firma Büttner
und Sohn kann ſich ſehen laſſen.“


Hier machte er in ſeinem Rundgange Halt und fragte
den Neffen, ob er ſich den Laden angeſehen habe. Guſtav
bejahte und gab ſeiner Bewunderung unverhohlenen Aus¬
druck. Dem Alten that das ſichtlich wohl, er ſchmunzelte
über das ganze Geſicht. „Und da ſollt'ſt De erſcht mal unſer
Lager ſahn!“ rief er. „Hernachen da wird'ſt De Maul und
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 12[178] Naſe ufreißen. Na Guſtav mag Dr's mal zeigen 's Lager.
Sowas giebt's in Halbenau freilich nich!“ —


Karl Leberecht hegte noch die naive Freude des Empor¬
kömmlings an ſeinem Glücke. Es war ihm ein Genuß, ſich
dem armen Verwandten gegenüber in ſeinem Wohlſtande und
Ueberfluſſe zu zeigen. Er ſprach von dem Umſatze, den er
jährlich habe, von den Leuten, die er beſchäftige und den
Löhnen, welche er zahle, er brüſtete ſich mit ſeinen Geſchäfts¬
verbindungen. Dann erzählte er, wie er von ganz klein ange¬
fangen, mit nichts. Er rühmte ſich ſeiner armſeligen Herkunft,
und kargte nicht mit Selbſtlob. Seiner Tüchtigkeit allein ver¬
danke er es, daß er jetzt ſo daſtehe. Er wolle dem Neffen
mal auseinanderſetzen, warum der Büttnerbauer und der ganze
in Halbenau zurückgebliebene Teil der Familie es zu nichts
gebracht habe. Dabei ſtellte er ſich protzig vor Guſtav hin,
nnd legte ihm die Hände auf die Schultern: „Siehſte! Ihr
Pauern megt noch ſo ſehr ſchuften und würgen, Ihr megt
frih ufſtehn und den ganzen Tag uf'n Flecke ſein, Ihr megt
ſparen und jeden Pfeng umdrehn, wie Dei Vater 's macht, das
nutzt Eich alles niſcht! Ihr bringt's doch zu niſcht, Ihr
Pauern! Vorwärts kommt Ihr im Leben nich, eher rück¬
wärts! Und das will ich Dir ſagen, woran das liegt: das liegt
daran, daß Ihr nich rechnen kennt. Was a richtger Pauer
is, der kann nich rechnen. Und wer nich rechnen kann, der
verſteht och von Gelde niſcht, und zu'n Geſchäfte taugt er dann
ſchon gar niſcht. Heitzutage muß eener rechnen kennen; das is
die Hauptſache. Sieh mich a mal an! Ich bi in Halbenau
uf de Schule gegangen. Ich ha' och nich mehr gelernt, als dei
Vater. Ich war a rechter Nichtsnutz als Junge, das kannſt
De globen! Aber, ſiehſt De, rechnen hab' ich immer gekunnt.
Da war ich immer a Lumich! Siehſt De! Und dadermit ha
ich's gemacht. Damit ha' ich mich durch de Welt gefunden.
Und wer bin ich jetzt, und was ſeid Ihr! — Darum werd't
Ihr Pauern 's och nie nich zu was bringen, weil, daß Ihr
nich ordentlich rechnen kennt.“ —


Guſtav, für den dieſe Auseinanderſetzung nicht gerade
[179] ſchmeichelhaft war, fühlte doch keine Veranlaſſung, dem Onkel
zu widerſprechen. Er kannte nur einen Wunſch, die Zuſage
von dem Alten zu erlangen; darum mußte man ihn bei guter
Laune zu erhalten ſuchen. Er kam wieder auf ſein Verlangen
zurück.


Der Onkel klopfte ihm auf die Schulter, und lächelte ihn
freundlich an. Er wolle ſehen, was ſich thun laſſe, meinte er,
und er ſei nicht ſo einer, der ſeine Blutsverwandten im Stiche
laſſe; aber eine bindende Zuſage gab er nicht. Er könne nichts
Beſtimmtes verſprechen, erklärte er ſchließlich, von Guſtav ge¬
drängt; da hätten noch andere ein Wort mitzuſprechen.


Im Nebenzimmer hatte Guſtav zwiſchendurch Stimmen
gehört; wie es ihm klang: weibliche Stimmen. Und zwar
ſchien ſich eine ältere mit einer jüngeren Frauensperſon zu
unterhalten. Schließlich that ſich die Thür auf, und in's Zimmer
trat eine alte Frau, die Tante, wie Guſtav richtig vermutete.


Sie war um einige Jahre älter als ihr Gatte. Die
grauen Haare trug ſie unter einer Morgenhaube mit lila
Bändern. Sie muſterte den fremden jungen Mann aus klei¬
nen Maulwurfsaugen neugierig ſpähend. Ihr altes verwelk¬
tes Geſicht nahm ſofort einen beleidigten Ausdruck an, als
ſie vernahm, daß er ein Büttner aus Halbenau ſei. Mit
dieſen Bauersleuten hatte ſie nie etwas zu thun haben wollen.
Sie würdigte den Neffen keiner Anrede, nahm den Gatten
bei Seite und redete in ihn hinein, wiſpernd und haſtig, mit
einer Stimme, welche durch die Zahnloſigkeit ſo gut wie
unverſtändlich wurde. Guſtav konnte nicht verſtehen, was ſie
ſagte, er merkte nur an ihrem ganzen Benehmen, daß die
Tante wenig zufrieden mit ſeiner Anweſenheit ſei. Der Onkel
ſchien ſich vor ihr zu entſchuldigen. Sein Weſen machte nicht
mehr den zuverſichtlichen Eindruck, wie zuvor. In ihrer Gegen¬
wart erſchien er minder ſelbſtbewußt, ja geradezu kleinlaut.


‚Pfeift der Wind aus der Ecke!‛ dachte Guſtav bei ſich.
Alſo, der Onkel war nicht Herr im eigenen Hauſe! Da mußte
er freilich für das Gelingen ſeiner Pläne zittern.


Bald kamen auch noch die anderen Mitglieder der Fa¬
12 *[180] milie herbei: der Vetter, welchen Guſtav vom Laden her
kannte, und eine Couſine. Eine Anzahl anderer Kinder hatte
geheiratet und befand ſich außer dem Hauſe. Die Couſine war
das jüngſte Kind der Ehe, und ſtand im Anfang der zwanzig.
Sie hätte können hübſch ſein, wenn ſie nicht die kleinen ver¬
ſteckten Augen der Mutter geerbt hätte. Auch ſie hatte kaum
einen Gruß für den Vetter übrig. Das war die richtige Stadt¬
dame! Mit ihrer engen Taille, der hohen Friſur, und den
wohlgepflegten Händen. Wenn Guſtav damit ſeine Schweſter
verglich — und das war doch Geſchwiſterkind!


Es wurde ihm plötzlich ſehr unbehaglich zu Mute. Mit
dieſen Leuten hatte er kaum etwas mehr gemein, als den
Namen. Die ganze Umgebung mutete ihn fremd an: die
polierten Tiſche, die Spiegel, die Sammetpolſter. Überall Decken
und Teppiche, als ſchäme man ſich des einfachen Holzes. Dort
ſtand ſogar ein Piano, und auf einem Tiſchchen lagen Bücher
in bunten Einbänden. Wie konnten ſich die Leute nur wohl¬
fühlen, umgeben von ſolchem Krimskrams! Man mußte ſich
ja fürchten, hier einen Schritt zu thun, oder ſich zu ſetzen, aus
Angſt, etwas dabei zu verderben. Das war doch ganz etwas
anderes, daheim, in der Familienſtube. Da hatte jedes Ding
ſeinen Zweck. Und auch mit den Leuten war man da beſſer
daran, ſo wollte es Guſtav ſcheinen; weniger fein waren ſie
allerdings als dieſe, aber ſie waren offen und einfach, und
nicht geziert und heimlich, wie die Sippe hier!


Es wurde zu Tiſch gegangen. Guſtav ſaß neben dem
Onkel. Das war ſein Glück; denn der hatte doch hin und
wieder ein freundliches Wort für ihn. Die Tante ließ es bei
mißgünſtigen Blicken bewenden. Vetter und Couſine unter¬
hielten ſich die meiſte Zeit über mit einem Eifer, als bekämen
ſie ſich ſonſt niemals zu ſehen. Dem Tone ihrer Unter¬
haltung merkte man die Schadenfreude an, darüber, daß der
dumme Bauer doch nichts von dem verſtehen könne, wovon ſie
ſprachen.


Guſtav dachte im Stillen, daß die Teller wohl nicht ſo
oft gewechſelt zu werden brauchten, aber, daß es dafür lieber
[181] etwas Handfeſteres zu beißen geben möchte. Ein Mädchen ging
herum, mit weißen Zwirnhandſchuhen und einer Schürze ange¬
than. Sie trug die Speiſen vor ſich auf einem Brette. So
oft ſie anbot, ſagte ſie: „Bitte ſchön!“ Guſtav fand alles das
äußerſt ſinnlos. Von der Kaſerne und dem Elternhauſe her,
war er gewöhnt, daß man, ohne viele Umſtände zu machen,
aus einem Napfe aß, und ſich ſetzte und aufſtand nach Belieben.
Aber hier war man an ſeinen Stuhl gebannt, mußte warten
und ſchließlich mit kleinen, zugemeſſenen Portionen ſeinen
Hunger ſtillen. Die Couſine rümpfte überlegen die Naſe, als
er während des Eſſens um ein Stück Brod bat, und zwar
um ein großes, weil das ſeine ſchon alle geworden ſei.


Nach Tiſch, als man beim ‚Stippkaffee‘ beiſammen ſaß,
kam noch ein junger Mann hinzu, der Bräutigam der Couſine.
Ein geſchniegeltes Herrchen, um einen Kopf kleiner als die
Braut, welcher die Büttnerſche Körperlänge eigen war. Der
wohlpomadiſierte junge Mann, mit einer bunten Weſte über
dem Schmerbauche, riß äußerſt verwunderte Augen auf, als er
einen Fremden in der Familie vorfand. Er beruhigte ſich
jedoch, nachdem er in einer Fenſterniſche von ſeiner Braut
genügende Aufklärung über Guſtavs Perſönlichkeit erhalten
hatte.


Später zogen ſich die Frauen zurück, damit die Männer
von Geſchäften ſprechen könnten. Frau Büttner hatte zuvor
noch ihrem Gatten mit wiſpernder Stimme Verhaltungsma߬
regeln gegeben.


Guſtav befand ſich allein mit Onkel, Vetter und dem kor¬
pulenten Bräutigam. Man ſchien zu erwarten, daß er ſprechen
ſolle. Er merkte ſehr bald, daß es ganz etwas anderes ſei,
vor dieſen hier ſein Anliegen vorzutragen, als am Morgen,
wo er den Onkel allein hatte. Er fing einen Blick auf, den
ſich Vetter und Bräutigam zuwarfen.


Nachdem Guſtav eine Weile geſprochen, nahm der Vetter
das Wort. Guſtav möge ſich nur nicht weiter bemühen, ſagte
er, man werde auf ſeinen Plan nicht eingehen. Dann ſetzte
er auseinander, warum das Geld nicht gegeben werden könne,
[182] ja, daß es ein „ſträflicher Leichtſinn‟ ſein würde, wenn man
es geben wolle. Er ſprach in Ausdrücken, die der Bauernſohn
kaum verſtehen konnte. Das Geld würde „à fond perdu‟ ge¬
geben ſein; von „non valeurs‟ und „Damnen Hypotheken“
ſprach er; man dürfe nicht „Lebendiges auf Totes legen,‟ er¬
klärte er mit wichtiger Miene.


Der fette Bräutigam nickte Beiſtimmung, und Karl Lebe¬
recht lauſchte mit einer gewiſſen Bewunderung den Ausein¬
anderſetzungen ſeines Sohnes. Er war ſtolz auf den Jungen,
der ſo gelehrt ſprechen konnte. Der war freilich auch auf der
Handelsſchule geweſen; von dort ſtammten ſeine ſchlechten
Augen und die fremden Ausdrücke.


Das Ende war, daß Guſtavs Anliegen im Familienrate
abgeſchlagen wurde. „Wir können es nicht verantworten, ſo¬
viel Geld aus dem Geſchäfte zu ziehen und in einer verlorenen
Sache anzulegen,‟ ſo redete Karl Leberecht ſchließlich ſeinem
Sohne nach.


Guſtav zog unverrichteter Sache ab. Im letzten Augen¬
blicke, als er ſich ſchon verabſchiedet hatte, im Halbdunkel
des Flurs, ſteckte ihm der Onkel noch haſtig etwas zu, ohne
daß es die anderen bemerkt hätten. Es war, wie ſich ſpäter,
bei näherer Beſichtigung, ergab: ein Kiſtchen extrafeiner Havanna¬
cigarren.


Nach ſolchen Erfahrungen ſagte ſich Guſtav, daß an eine
Erhaltung des Bauerngutes nicht mehr zu denken ſei. Er war
auf den väterlichen Hof zurückgekehrt, und half dem alten
Manne nach wie vor in der Wirtſchaft, aber im Stillen war
er mit ſich ſelbſt ins reine gekommen, daß er ſein Geſchick von
dem der Familie trennen müſſe. Er ſtand nicht allein da,
es gab Perſonen, die ihm noch näher ſtanden als Eltern, Bru¬
der und Schweſtern; er mußte vor allen Dingen für die ſor¬
gen, die auf ihn als ihren alleinigen Ernährer blicken durften: für
Pauline und den Jungen. Er war bereits beim Standesbeamten
[183] und beim Paſtor geweſen und hatte gemeldet, daß er im Früh¬
jahr ſeine Braut zu ehelichen beabſichtige.


Aber als Eheleute brauchten ſie ein Heim. Auf dem Bauern¬
gute konnte er mit Frau und Kind nicht leben, das war klar.
Der Verſorger einer Familie mußte einen feſten Beruf haben.
Das Gefühl wachſender Verantwortung laſtete ſchwer auf dem
jungen Mann, machte ihn unſicher in ſeinen Gefühlen und
unſtät in ſeinen Handlungen. Er ging viel in der Nachbar¬
ſchaft umher, fragte, horchte hierhin und dahin, blickte auch in
die Zeitungen, immer in der Erwartung, daß er etwas finden
möchte, was ihm zuſagte. Er wollte einen Dienſt annehmen;
welcher Art, das wußte er nicht einmal beſtimmt. Mit aller¬
hand abenteuerlichen Plänen trug er ſich; ſogar an's Aus¬
wandern dachte er.


Pauline hörte ihm ruhig zu, wennn er ſeine Zukunfts¬
pläne entwickelte. Sie wußte ihn zu tröſten und aufzu¬
heitern, durch die nie verſiegende Güte ihres Weſens. Das
Mädchen ließ ſich von ſeinen Sorgen nicht anſtecken. Seit ſie
ſeiner ſicher geworden, war große Ruhe über ihr Gemüt ge¬
kommen. Als echte Frau vergaß ſie in unſicherer Zeit nicht
die Beſorgung des Nächſtliegenden. Jetzt galt ihr ganzes Sin¬
nen und Trachten der Beſchaffung ihrer Ausſtattung. Wo ſie
wohnen und leben würde, das wußte noch niemand; aber, das
war auch beinahe nebenſächlich! Das eine ſtand feſt, — das
war das große Ereignis ihres Lebens, der köſtliche Preis ihrer
Liebe und Treue durch ſoviele Jahre — daß ſie ein Paar wur¬
den. Sie war ihm von ganzem Herzen dankbar dafür, daß er
ihr doch die Treue gehalten. Wenn er jetzt auch manchmal
unwirſch war und ſchlechte Laune zeigte, das beachtete ſie kaum;
dergleichen konnte ſie nicht einen Augenblick an ihm irre machen.
Sie liebte nicht mehr mit jener jungen, heiß aufwallenden und
leicht gekränkten erſten Leidenſchaft; ihre Liebe war die ge¬
ſättigte, bewährte des befriedigten Weibes, das nur noch eine
Sorge kennt, den Vater ihres Kindes dauernd als ihr Eigen¬
tum zu halten. Sie hatte ihren geheimen Ehrgeiz. Sie wollte
nicht, daß Guſtav ſie ganz ohne Ausſteuer nehmen ſolle. Wenn
[184] bei ihrer Armut das Brautfuder auch nur klein ſein konnte,
ganz mit leeren Händen wollte ſie nicht kommen. Man ſah
ſie in jener Zeit viel mit Schere, Zwirn und Elle beſchäftigt,
und Leinwand und bunte Stoffe lagen in ihrer beſcheidenen
Kammer ausgebreitet. —


Die Kunde war zu Guſtav gedrungen, daß auf dem Ritter¬
gute die Stelle eines erſten Kutſchers frei geworden ſei. Er
ging ſofort hinüber, um ſich darum zu bewerben. Die Nach¬
richt erwies ſich als ein falſches Gerücht. Der jetzige Kutſcher
dachte nicht daran, ſeinen gut bezahlten Poſten aufzugeben. Bei
dieſer Gelegenheit lernte Guſtav den gräflichen Güterdirektor,
Hauptmann Schroff, kennen.


Guſtav hatte den Namen dieſes Mannes mehr als einmal
nennen hören. Der alte Bauer pflegte ſeine grimmigſte Miene
aufzuſetzen, wenn er von ihm ſprach. Der treibe ſeinem Herrn
die kleinen Leute vor's Gewehr, wie die Hafen, behauptete
er. Von anderer Seite wieder hatte Guſtav günſtigere Urteile
über den Hauptmann gehört. Er ſei menſchenfreundlich und
vertrete ſeine Arbeiter der Herrſchaft gegenüber, hieß es. Eine
Anzahl neuer Arbeiterwohnungen, die erſt kürzlich an Stelle
der bisherigen elenden Baracken errichtet worden waren, redeten
das Lob des Güterdirektors.


„Sind Sie etwa ein Sohn des alten Büttnerbauern?“
fragte der Hauptmann.


„Zu Befehl Herr Hauptmann!“


„Giebt es denn auf dem Gute Ihres Vaters nichts für
Sie zu thun?“


Das läge ſo in den Familienverhältniſſen, gab Guſtav
ausweichend zur Antwort. Er ſchämte ſich nämlich, daß er, der
Sohn des Büttnerbauern, ſich um einen Dienſt bewerben mußte.


Hauptmann Schroff betrachtete ſich den jungen Menſchen
genauer. Seine geweckten Züge und die ſtramme Haltung be¬
ſtachen den ehemaligen Offizier.


„Von Ihnen könnte man am Ende mal was Genaueres
erfahren, wie es mit der Büttnerſchen Sache eigentlich ſteht —
was?“

[185]

Guſtav meinte: mit ſeinem Vater ſtehe es ſchlecht, und
wenn ihm niemand zu Hilfe käme, würde er ſich wohl nicht
halten können.


„Genau, was ich Ihrem Vater vor einem halben Jahre
geſagt habe! Aber, wer nicht hören wollte, war er,“ rief der
Hauptmann.


Die Unterhaltung hatte bis dahin auf dem Wirtſchaftshofe
des Rittergutes ſtattgefunden. Der Hauptmann hatte zwiſchen¬
durch einige jüngere Gutsbeamte abgefertigt. Jetzt meinte er,
Guſtav möge ihn in ſeine Wohnung begleiten, es liege ihm
daran, Näheres über die Angelegenheit zu erfahren.


Man ging auf einem gepflaſterten Gange am Stalle ent¬
lang. Der Hof beſtand aus einem länglichen Viereck. Auf
der einen Langſeite ſtanden die Stallungen für Kühe und Zug¬
vieh, gegenüber waren Schweine und Schafe untergebracht.
Quer vor ſtand die mächtige Scheune mit vielen Tennen. In
der Mitte des Hofes lag die Düngerſtätte, von einem Ziegel¬
wall umgeben, eine Schwemme für das Vieh daneben. Ein
eingezäunter Raum war zum Fohlengarten beſtimmt. Das ge¬
räumige Viereck wurde abgeſchloſſen durch ein ſtattliches Haus
mit Valmdach, die Meierei, in welcher ſich das gräfliche Rent¬
amt befand. Hier wohnte auch der Güterdirektor. Die neuen
Arbeiterwohnungen bildeten eine Kolonie für ſich, umgeben von
Deputatland, das durch den Fleiß der angeſetzten Leute bereits
in freundliche Gärten umgewandelt worden war. Vom Schloſſe
ſah man von hier aus ſo gut wie gar nichts. Das lag hinter
den dichten Kronen ſeines Parkes verborgen, als wolle es von
dieſer Stätte der Arbeit nichts ſehen.


Hauptmann Schroff bewohnte im erſten Stockwerk des
Meiereigebäudes zwei Zimmer. Die Einrichtung war einfach:
lederbezogene Möbel, einige Rohrſtühle, ein Bücherbrett, ein
Sekretär. Alles was zum Rauchen gehört, war reichlich ver¬
treten. Die Luft ſchon verriet, daß hier ein leidenſchaftlicher
Raucher ſein Quartier aufgeſchlagen habe. An den Wänden
waren militäriſche Enbleme zwiſchen Jagdtrophäen zu erblicken.
Über dem Schreibtiſch hing das einzige Bild, welches das
[186] Zimmer ſchmückte. Es war ein ſorgfältig gemaltes Ölbild,
und ſtellte einen Landſitz dar. Ein wohnliches Haus, mit einer
Verranda davor. In dem bärtigen Manne, der dort inmitten
ſeiner Familie ſaß, war der Hauptmann leicht wieder zu er¬
kennen. Eine Frau in hellem Sommerkleide ſchien die Mutter
der drei Blondköpfe zu ſein. Das Bild hing wohl nicht ohne
Grund an dieſer Stelle. Vom Sofa aus, vom Sorgenſtuhl,
vom Schreibſeſſel — wo immer der Bewohner dieſes Zimmers
ſitzen mochte der Ruhe pflegend, oder bei der Arbeit, — wenn
er den Blick erhob, mußte er auf dieſes Bild fallen.


Hauptmann Schroff war Witwer, ſchon ſeit einigen
Jahren. Die Blondköpfe des Bildes waren jetzt erwachſene
Menſchen, und mußten gleich ihm die Füße unter fremder
Leute Tiſchen wärmen.


Der Hauptmann bot Guſtav Platz an. Dann holte er ſich
eine Pfeife aus der Ecke, die bereits geſtopft war, und auf ihn
dort gewartet zu haben ſchien. Mit Hilfe von Streichholz und
Fidibus zündete er ſie an und begann mächtige Dampfwolken
zu entwickeln. Darauf warf er ſeine lange Geſtalt in den
Sorgenſtuhl, ſchlug die Beine übereinander und meinte: „Na,
nu erzählen Sie mir mal, Büttner! Ihr Vater iſt ein alter
Brummbär. Wenn man dem Manne was Gutes thun will,
ſchnappt er womöglich noch nach einem. Sie ſehen mir aus,
als ob Sie vernünftiger wären — he!“


„Zu Befehl, Herr Hauptmann!“


Der Mann hatte ſofort Guſtavs ganzes Herz gewonnen.
Er nahm kein Blatt vor den Mund, berichtete das Familien¬
unglück, wie es gekommen war, von Anfang an, ſoviel er davon
wußte: die Erbteilungsangelegenheit, die Überſchuldung des
Gutes, der Kampf des Vaters mit der Ungunſt der Ver¬
hältniſſe, Unglücksfälle, notwendige Anſchaffungen, wachſende
Ausgaben, ſchließlich völlige Verſtrickung in die Netze der
Gläubiger.


Hauptmann Schroff ſtrich ſich mit der Hand über den
Bart, rückte unruhig in ſeinem Stuhle hin und her, wechſelte
die Beine, und ſtieß Wolke auf Wolke in die Luft, zwiſchendurch
[187] ſeufzte er; es ſchien, als ob ihn der Bericht keineswegs gleich¬
gültig laſſe.


Schließlich warf er die Pfeife weg und ſprang auf. Fluchend
lief er im Zimmer auf und ab. „Hatte ich mir's doch ge¬
dacht! Heiliges Kreuzdonner . . . . . . Einem ehrlichen


Menſchen, der ihm helfen will, traut der Bauer ja nie¬
mals! Aber, wenn die Sorte kommt: Harraſſowitz, Samuel
Harraſſowitz! Wo hat denn Ihr Vater ſeinen Verſtand ge¬
laſſen, als er dem Teufel den kleinen Finger gab! Weiß
denn Ihr Alter nicht, daß dieſer Jude drüben in Wörms¬
bach das halbe Dorf beſitzt. Alles aufgekauft und in Parzellen
zerſchlachtet! Nun haben wir den Blutigel glücklich auch in
Halbenau! der Marder im Hühnerſtall iſt nichts dagegen!
Binnen Jahresfriſt iſt ſo einem alles tributpflichtig. Es iſt
um . . . . . Was ſoll denn nun werden, was ſoll geſchehen?“
Er blieb vor Guſtav ſtehen; der zuckte mit trüber Miene die
Achſeln.


„Da ſeht Ihrs mal, Ihr Bauern, daß Ihr an Eurem
Elend allein ſchuld ſeid! Euch iſt nicht zu helfen! Wie die
Schafe rennen ſie ins Feuer hinein. — Ihr Vater iſt nun
ein Graukopf; man ſollte denken, er hätte ſich Weisheit kaufen
können, bei allem, was er erlebt hat. Und ſo einer geht hin auf
ſeine alten Tage und unterſchreibt einen Wechſel beim Juden.
Es iſt um toll zu werden! Immer wieder die alte Geſchichte!
Bei Großen wie bei Kleinen. Daß einer mal vom Unglücke
des anderen lernte — nein! Jeder muß die Erfahrung von
vorn an wieder durchmachen, ehe er klug wird. Dann wenn's
zu ſpät iſt, kommen die Thränen — die Selbſtanklagen —
wenn's zu ſpät iſt.“


Der Hauptmann war während der letzten Worte ſtehen
geblieben, ſeinem Schreibtiſche gegenüber. Sein Blick war auf
das Bild darüber gerichtet. Die verwitterten Züge des Mannes
nahmen für einen Augenblick einen tief ſchmerzlichen Ausdruck
an. Mit einer Handbewegung ſchien er das alles von ſich
ſchleudern zu wollen. Dann ſetzte er ſeinen Rundgang fort.


„Ja, was ſoll denn nun werden, Büttner?“

[188]

„Wenn der Herr Hauptmann keinen Rat wiſſen“ . . . .


„Wenn Ihr Vater damals vernünftig geweſen wäre, als
ich ihn aufſuchte; damals war er noch frei, da hätten wir einen
Handel abſchließen können. Aber jetzt, wo ihn der Jude be¬
reits im Sacke hat! — Mein Graf würde mich ſchön aus¬
lachen, wenn ich ihm mit dem Anſinnen käme, das Büttnerſche
Gut freihändig zu erſtehen. Es iſt ja nicht die Schulden
wert, die drauf ſind. Wir brauchen ja nur die Subhaſtation
abzuwarten; denn dazu kommt's ja doch ſchließlich. Wollen
wir's haben, dann bieten wir eben mit. Ihr Vater hat unter
allen Umſtänden das Nachſehen. Wir wollen nur den Wald,
das ſagte ich ihm ſchon damals. Uns mit einem Bauernhofe
belaſten, dazu liegt gar kein Anlaß vor. So ſteht die Sache.
Sie ſehen, Büttner, ich kann ihnen nicht helfen.“


„Ich habe gehört, daß Harraſſowitz eine Dampfziegelei
anlegen will, auf unſerem Gute“ ſagte Guſtav. „So eine
gute Gelegenheit, hat Harraſſowitz geſagt, zu einer Ziegelei,
wie bei uns, gäbe es bald gar keine wieder.“


Guſtav hatte das ohne Hintergedanken geſagt. Der Haupt¬
mann ſtutzte bei dieſer Bemerkung. „Eine Ziegelei!“ rief er.
„Habt Ihr denn Lehm?“


„Freilich, is Lehm da! Das haben die Leute ſchon oft
über meinen Vater geſagt, er wäre ein Eſel, daß er keine
Ziegeln brennen thäte.“


„Und das hat mein Harraſſowitz natürlich ſofort heraus¬
gefunden!“ rief der Hauptmann in unverkennbarem Ärger
über die Entdeckung. „Setzt uns da womöglich eine Dampf¬
ziegelei direkt vor die Naſe hin. Das fehlte wirklich noch zu
allem!“


Jetzt fiel es Guſtav auf einmal ein, daß die Herrſchaft
vor kurzem eine Ziegelei angelegt hatte. Nun begriff er den
Ärger des Hauptmanns. Er war klug genug zu erfaſſen, daß
dieſer Umſtand günſtig ſei, und daß man ihn ausnutzen könne.
Plötzlich leuchteten neue Möglichkeiten vor ihm auf, an die er
nie zuvor gedacht hatte.


Die Laune des gräflichen Güterdirektors hatte ſich in den
[189] letzten Minuten weſentlich verſchlechtert. Er verſetzte einem
Stuhle, der ihm in den Weg kam, einen Fußtritt, daß er in
die äußerſte Ecke flog. „Nun haben wir die Beſcherung!
Alles wittert ſo einer aus! alles unterbietet ſo ein Schuft!
verdirbt uns die Preiſe, zieht uns die Leute ab, und macht
uns die Kunden abſpenſtig — verdirbt die ganze Bevölkerung!
Mit der Ziegelei fängt es an, dann kommt eine Stärkemühle,
oder chemiſche Bleiche — was weiß ich! Schließlich iſt die
Fabrik am Orte. Und dann Proſit Mahlzeit! Dann können
wir mit der Landwirtſchaft einpacken. Wie iſt's denn drüben
in Heigelsdorf! Eſſe an Eſſe! Die Wäſſer verdorben, kein
Menſch mehr als Feldarbeiter zu haben; alles läuft in die
Fabrik. So wird's hier auch noch kommen. Ich ſehe ſchon
die infamen Induſtrieſpargel am Horizonte. Alles Rauch und
Kohlendunſt dann! Na, da kann ſich der Graf ja gratulieren,
dann hat er einen Landſitz gehabt!“ —


Guſtav ſagte zu alledem nichts. Im Stillen war er nicht
unzufrieden mit dem Gange der Dinge. Beſſer konnte es ja
gar nicht kommen. Wenn Herrſchaft und Händler ſich ſchlie߬
lich noch um das Bauerngut riſſen, dann konnte ja nur ſein
Vater dabei gewinnen.


Der Hauptmann blieb abermals vor dem jungen Menſchen
ſtehen, legte ihm vertraulich eine Hand auf die Schulter.
„Nun, ſagen Sie mal Büttner! Sie ſind doch Unteroffizier
geweſen, und wie mir ſcheint, ein anſtändiger Kerl. Soll
denn nun wirklich Ihr alter Vater vom Gute runter, und
der Jude rein?“ —


Guſtav meinte, mit ſeinem Willen geſchehe das gewiß
nicht. Er fing an, jenen zu durchſchauen. Ganz ſo ſelbſtlos
und großmütig, wie der Herr ſich anſtellte, war er wohl auch
nicht. Es war ſchon ſo, wie der alte Bauer neulich in ſeinem
Ärger geſagt hatte: den Bauern liebten die Großen, wie die
Katze die Maus. —


„Das darf nicht zugelaſſen werden!“ rief der Hauptmann.
„Das Gut iſt ſchon lange in den Händen Ihrer Familie, wie
ich höre — nicht wahr? — Was ſoll denn werden, wenn ſo
[190] unter dem alten bäuerlichen Grundbeſitze aufgeräumt wird!
Und wenn erſt ſo einer, wie Harraſſowitz einen Fuß drinne
hat, dann iſt er bald Alleinherrſcher. — Was Sie mir da
von der Ziegelei erzählt haben, Büttner, gefällt mir gar nicht.“


Guſtav hatte bei ſich beſchloſſen, den Mann, der ſo eifrige
Beſorgnis für ſeinen Vater an den Tag legte, beim Worte
zu nehmen. Er erklärte, mit einigen tauſend Mark ſei alles
gut zu machen. Dann ſetzte er denſelben Plan auseinander,
den er neulich ſeinem Onkel, Karl Leberecht, vorgetragen
hatte. Der Herr Hauptmann möge doch die vom Kretſcham¬
wirt, Ernſt Kaſchel, eingeklagte Hypothek übernehmen, bat er
ſchließlich.


„Ich, mein Lieber!“ rief Hauptmann Schroff. „Ich bin
ein armer Teufel, wie Sie. Nur noch ſchlimmer dran, weil
ich beſſere Tage geſehen habe, — Na, laſſen wir das! . . .
Jeder hat ſo ſein Teil zu tragen. Nein, von mir erwarten
Sie, um Gotteswillen, nichts! Ich bin nur der Vertreter mei¬
ner Herrſchaft; darf nichts anderes ſein.“


Aber, vielleicht könne ſich der Hauptmann beim Herrn
Grafen verwenden, meinte Guſtav. Hauptmann Schroff runzelte
die Stirn und ſtrich ſich mißmutig den Bart. „Der Graf!
Der iſt in Berlin. Der nimmt auch lieber bar Geld ein,
als daß er es ausleiht. Wir haben's auch nicht zum Weg¬
werfen, wie Ihr Leute Euch einbilden mögt. Die Anſprüche
an ſo einen Herrn wachſen jährlich, und die Einnahmen ver¬
ringern ſich. In jetziger Zeit eine ſchlechte Hypothek über¬
nehmen . . . Ich kann meinem Herrn mit gutem Gewiſſen
nicht zureden.“


Er hatte ſich wieder in ſeinen Stuhl geworfen und ſann.


„Ihr Vater hängt wohl ſehr an ſeinem Beſitze — was?“
fragte er nach einiger Zeit.


Guſtav meinte, der Alte würde den Verluſt ſchwerlich
überleben.


„Ja, ja, das kann ich begreifen!“ ſagte der Hauptmann.


Schließlich ſprang er auf von ſeinem Sitze. „Ich will
Ihnen mal was ſagen, Büttner! Ich werde die Sache machen!
[191] Ich will dem Grafen ſchreiben. Verſprechen kann ich nichts,
aber ich kann wohl ſagen, der Graf thut im allgemeinen, was
ich ihm empfehle. Die Verantwortung iſt nicht klein, die ich
auf mich nehme; aber ich will's thun, weil . . . Um der Sache
willen will ich's thun.“ —


Guſtav ging vom Rittergutshofe mit viel leichterem Her¬
zen, als er gekommen.

[[192]]

II.

Samuel Harraſſowitz ſaß in ſeinem halbverdeckten Wägel¬
chen, in welchem er über Land zu fahren pflegte. Auf dem
Bocke der Kutſcher mit einer goldbetreſſten Livree angethan, die
Sam bei irgend einer Zwangsverſteigerung billig erſtanden
hatte. Er war auf der Fahrt nach Wörmsbach begriffen, ein
Dorf, in dem er verſchiedene Häuſer und Landparzellen beſaß.
Sein Weg führte ihn über Halbenau. Eigentlich hatte es
nicht in ſeinem Plane gelegen, ſich hier aufzuhalten, aber, als
er von weitem den Giebel des Büttnerſchen Hauſes winken ſah,
konnte er der Verſuchung nicht widerſtehen, einen Abſtecher
dorthin zu unternehmen. 'mal ſehen, wie die Dinge dort
ſtanden. Auf ein Stündchen kam es ja nicht an. Und ‚ſtets
auf dem Platze ſein‘, das war eines von Sams Geſchäftsge¬
heimniſſen.


Außerdem hatte er den Bauernhof und ſeine Bewohner
nicht ungern, Harraſſowitz war einer gewiſſen Gutmütigkeit
fähig. Er haßte die nicht, welche er ſchädigte. Auch beſaß er
Sinn für die Gemütlichkeit. Er vertilgte nicht gierig; das
war nicht klug, und man verdarb ſich den Genuß. Er nahm
ſich Zeit, und machte ſich öfters das Vergnügen, um ſeinen
Baum herumzugehen, mit den Früchten zu liebäugeln, ehe er
ſie ſchüttelte.


Er gab dem Kutſcher Weiſung, von der großen Straße
abzubiegen, und hielt bald darauf im Büttnerſchen Hofe.


[193]

Die alte Bäuerin erſchien in der Hausthür. Sie erſchrak,
als ſie den Händler erkannte, und vergaß darüber ganz, ihn
zu begrüßen.


„Iſt denn mein braver Büttner zu Haus?“ fragte Sam.


Die Bäuerin erklärte, er ſei mit Karl im Walde, und
Guſtav ſei auf's Rittergut gegangen. „Ich bi ack ganz alleene
mit den Madeln,“ meinte ſie ſchüchtern.


„Recht ſo, Frau Büttner, recht ſo!“ ſagte der Händler
im Ausſteigen. „Ihr Mann iſt ein fleißiger Mann, immer
bei der Arbeit, trotz ſeiner Jahre. Das iſt brav! Mein
Kutſcher kann wohl etwas Hafer bekommen für das Pferd —
nicht wahr?“


Die Bäuerin beeilte ſich, zu verſichern, daß hier alles zu
ſeinen Dienſten ſtünde. Sie ſchickte ſofort Erneſtinen in den
Stall, um Hafer und Heu für das Pferd des Herrn Harraſſo¬
witz zu beſorgen.


„Leg' die Decke auf!“ befahl der Händler. „Und laß Dir
überſchlagenes Waſſer geben — hörſt Du! daß er mir nicht
etwa Huſten kriegt!“


Nachdem er ſo für das Wohlergehen ſeines Tieres geſorgt
hatte, wandte ſich Sam wieder an die Bäuerin. „Und mir
machen Sie wohl eine kleine Taſſe Kaffee zurecht, beſte Frau
Büttner! Ich bin ganz ausgekältet von der Fahrt, und Sie
kochen ja ſolch ausgezeichneten Kaffee; das weiß ich von neu¬
lich.“ Damit trat er ins Haus und klopfte der alten Frau
wohlwollend auf den Rücken.


Die Bäuerin war nur zu froh, Herrn Harraſſowitz eine
Aufmerkſamkeit erweiſen zu dürfen. Der Mann ſpielte keine
geringe Rolle in den Hoffnungen und Befürchtungen der Fa¬
milie. Sein Name wurde nur mit gedämpfter Stimme aus¬
geſprochen. Die alte Frau wußte, daß ihrer aller Wohl und
Wehe in dieſer Hand lag. Nach Weiberart glaubte ſie, daß
man einen Feind dadurch entwaffnen könne, wenn man ihm
ſchmeichle. Trotz ihrer Lähme, die ſich im Laufe des Winters
verſchlimmert hatte, lief ſie auf und ab, rief den Töchtern
zu, ſie ſollten ſich ſputen, ließ das Feuer ſchüren, ſetzte ſelbſt
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 13[194] das Waſſer an, und ſchaffte heran, was nur irgend im Hauſe
an Leckerbiſſen aufzutreiben war.


Sam entledigte ſich inzwiſchen ſeines Nerzpelzes, der nach
ſeiner Angabe von den Mädchen breit am Kachelofen aufge¬
hangen wurde, damit er nicht auskühle. Dann ließ er ſich
ſelbſt in der Nähe des Ofens nieder. „Ein hübſches warmes
Zimmer haben Sie hier, Mama Büttnern!“ ſagte er in ge¬
mütlich ſcherzendem Tone. „Es geht nichts über die Tem¬
peratur in den Bauernſtuben. Ich wollte eigentlich erſt durch¬
fahren, durch Halbenau; dann dachte ich: mußt doch mal ſehen,
was Büttners machen.“


Die Bäuerin wußte kaum, wie ſie ihren Dank für ſoviel
Ehre in Worte kleiden ſollte.


„Jetzt im Winter iſt ruhige Zeit auf dem Lande,“ fuhr
er fort. „Keine Arbeit auf dem Felde, was? Im Frühjahre
da geht's dann wieder ordentlich los, mit allen Kräften. Sie
haben ja jetzt auch Ihren zweiten Sohn hier, wie ich höre.“


„Se meenen Guſtaven?“


„Der bei den Soldaten war bis vor Kurzem; der wird
dem Vater nun wohl tüchtig in der Wirtſchaft helfen?“


„Freil'ch! Das mechte aben ſein! Aber, er thutt ſich ſei
Madel heiraten. Und hernachen da will er furt von uns. Ar
ſpricht, er wullte ſei eegner Herre ſein. 's gefällt 'n ni mih
zu Hauſe. Ar gieht, und ar ſieht ſ'ch nach an Dienſte im.
Vurden gerade, eh' Se kamen, is er uf'n Huf geganga,
wegen aner Kutſcherſtelle. Ar ſpricht, er mechte als Kutſcher
giehn bein Grafen, ſpricht 'r.“


„So ſo! Zum Grafen will er. Sagen Sie Ihrem Sohn
mal von mir, das ſoll er lieber bleiben laſſen. Herrſchaftlicher
Dienſt, das iſt ſchlimmer, als Sklaverei. Er mag lieber zu
mir kommen. Ich werde ihm ſchon was verſchaffen. Drüben
in Wörmsbach zum Beiſpiel, da habe ich gerade eine Stelle,
die wäre für einen tüchtigen jungen Landwirt wie geſchaffen.
Haus, Garten, einige zwanzig Morgen Feld dazu. Ich würde
ihm die Pacht billig laſſen. Dort könnte er ſein Glück machen.
Sagen Sie ihm das von mir!“

[195]

Die Bäuerin beknixte jeden ſeiner Sätze. Inzwiſchen hatte
ſich der Tiſch vor dem Fremden mit allerhand Eßbarem be¬
deckt. Die alte Frau trat zu ihm: „Entſchuld'gen Se ack, Herr
Harraſſowitz, mir han's emal ne baſſer. Was mer han, das
gahn mer Se gerne. Nu war'ch den Kutſcher ane Bemme
ſchmieren giehn. Und an Branntwein wird er wuhl och
annahmen. Oder ſull'ch 'n ane Neege Kaffee gahn, dem
Kutſcher?“


„Thun Sie das, Frau Büttner,“ ſagte Haſſarowitz lachend,
und kniff dabei die alte Frau in den bloßen Arm. „Man
wird bei Ihnen wirklich verwöhnt.“ Dann hieb er ein, und
ließ es ſich ſchmecken.


Toni brachte die Kaffeekanne herbei und ſetzte ſie auf
den Tiſch. Erneſtine mußte die beſte Taſſe aus dem Glas¬
ſchranke holen. Die Bäuerin ſchenkte ſelbſt ein. Es war alles
um den Gaſt bemüht. Dem ſchien es offenbar Freude zu
machen, ſich ſo aufmerkſam bedient zu ſehen. Er ſchlürfte ſei¬
nen Kaffee, blickte die Frauen vergnügt ſchmunzelnd durch
ſeinen goldenen Zwicker an, und richtete hin und wieder eine
Frage an ſie. Die Frauen wagten kaum zu antworten, ver¬
legen ſtanden ſie im Hintergrunde, und ſahen ihm mit ehr¬
furchtsvollem Schweigen zu, wie er aß und trank.


Sam betrachtete ſich die Taſſe, aus der er trank. „Dem
Jubelpaare!“ ſtand darauf in Goldſchrift. Die Bäuerin er¬
klärte, das ſei ein Geſchenk geweſen zur ſilbernen Hochzeit, die
ſie vor etwa fünf Jahren gefeiert hätten. „Dreißig Jahre ver¬
heiratet!“ rief Sam. „Eine ſchöne Zeit! Und je glücklicher
man geweſen, je kürzer kommt es einem vor. — Nicht wahr?
— Ich werde nun auch bald meine ſilberne feiern. Mein
Älteſter iſt ſchon auf Univerſität. Er ſtudiert Jurisprudenz,
verſtehen Sie. Zu Oſtern wird er fertig. Ein feiner Kopf,
ſage ich Ihnen! Habe mir's aber auch was koſten laſſen.
Dem Jungen iſt nichts abgegangen.“


Sams Geſicht ſtrahlte, als er von ſeinem begabten Sprö߬
linge ſprach. Er ſah ſich ſelbſtzufrieden im Kreiſe um, und
weidete ſich an der ſtummen Bewunderung, die hier jedem
13[196] ſeiner Worte entgegengebracht wurde. Sein Blick fiel auch auf
Toni. Seine zudringlichen, alles Zweideutige ausſpürenden
und aufſtöbernden Blicke ruhten ſo lange auf der Figur des
Mädchens, bis Toni ſich errötend abwandte, um ſich in einer
dunkleren Ecke etwas zu ſchaffen zu machen.


Der Händler winkte ſich die alte Bäuerin heran. „Wie ſteht
denn das mit Ihrer Tochter dort, Frau Büttner?“ fragte er,
und gab ſich kaum die Mühe, ſeine Stimme zu dämpfen.
„Verheiratet iſt ſie meines Wiſſens doch nicht — he!“ Mit
ſchnüffelnder Miene ſpähte er dabei immer nach dem Mädchen
hinüber.


„Ach, Se meenen und Se denken, weil daß ſe . . . . .“


Und nun folgte eine lange Auseinanderſetzung von Tonis
Liebesgeſchichte. Es war weniger Entrüſtung oder Trauer, was
in den Worten der Mutter zum Ausdruck kam, als Ärger,
daß dem Mädchen eine ſolche Dummheit paſſiert war. Beide
Töchter waren im Zimmer und hörten jedes Wort, das die
Bäuerin über den Fall ſagte.


Harraſſowitz hörte mit einem gewiſſen Behagen zu, und
nickte hin und wieder mit dem Kopfe. „Ja, ja, ſo geht's! Die
jungen Dinger ſind immer nicht vorſichtig genug. Und ehe
man ſich's verſieht, iſt ein neuer Weltbürger da. Na, man
muß immer noch das Beſte daraus zu machen ſuchen. Haben
Sie denn noch gar nicht daran gedacht, Ihre Tochter als Amme
gehen zu laſſen, Mama Büttnern?“


Die Bäuerin verſtand nicht, was er damit meinte.


„Nun ja, als Amme! Verſtehen Sie nicht? Da kann
ſich ſo ein Mädchen heut zu Tage ein ſchönes Stück Geld
mit verdienen. Wenn ein Mädel geſund iſt und ſtark, —
verſtehen Sie. In den Städten wird das ſehr geſucht. Laſſen
Sie Ihre Tochter mal dort aus der Ecke herauskommen.“


Das Mädchen zögerte, dem Anſinnen des Händlers Folge
zu leiſten. „Toni!“ rief die willfährige Mutter, „De ſollſt
kommen, herſt De ne! Zu Herrn Harraſſowitz. Er will
D'ch ſahn.“ Toni kam ſchließlich zum Vorſchein; ſie wußte
nicht, wohin blicken vor Verlegenheit. Sie lachte krampf¬
[197] haft, hielt ſich den Arm vor's Geſicht und war dem Weinen
nahe.


„So ſtellen Sie ſich doch nur nicht ſo ſchrecklich an!“ meinte
er, und muſterte das Mädchen, wie etwa der Viehhändler
ſich ein Stück betrachtet. „Das ſieht ja famos aus! In beſter
Ordnung alles, wie's ſcheint. Spreewälderkoſtüm wird Ihrer
Tochter ausgezeichnet ſtehen, Frau Büttner. Das tragen
dieſe Art Mädchen nämlich meiſt in Berlin. Weiße Hauben,
kurze grüne, oder rote Röcke, Sammetmieder, ſchwarze Strümpfe.
Alles hochpatent! Wird dem Fräulein ausgezeichnet kleiden.
— Na, wie ſteht's, Mama Büttnern?“


Die Bäuerin war in großer Beſtürzung über den Vor¬
ſchlag des Händlers. Erzürnen wollte ſie den Mann um keinen
Preis durch eine abſchlägige Antwort; dazu war ihre Furcht
vor ihm zu groß. Auf der anderen Seite hatte ſie das ſichere
Gefühl, daß das, was er da vorſchlug, nicht recht und ſchicklich
ſein könne. Sie hätte auch ihr Kind nur ſchweren Herzens
von ſich gelaſſen.


Harraſſowitz verfolgte ſeinen Plan weiter. „Ich wüßte
eine ausgezeichnete Stelle“, ſagte er. „Meine eigene Tochter,
die in Berlin verheiratet iſt, erwartet im zeitigen Sommer.
Die Sache iſt eigentlich wie gegeben. Da käme Ihre Tochter
in ein hochherrſchaftliches Haus, Berlin W Tiergartenviertel,
das Feinſte was es giebt! Na, kurz das Mädel könnte ſich
gratulieren, wenn ſie dorthin käme. — Wie ſteht's Frau
Büttner, wollen wir die Sache abmachen?“


Der Händler hielt die Hand ausgeſtreckt, zum Zuſchlag.
Da die Bäuerin zögerte, griff er in ſeine Taſche. „Ich will
auch gleich ein Aufgeld geben, damit Sie ſehen, daß mir der
Handel ernſt iſt.“ — Er ließ ein Geldſtück blicken.


Die Bäuerin hatte ſich die Sache inzwiſchen überlegen können.
Die Mutter in ihr war rege geworden. „Nee nee! Herr Harraſſo¬
witz!“ rief ſie. „Su gieht das ne! Su jählings! Das muß
ſich eens duch erſcht urdentlich mit ſeine Leite beraden. Und
das Madel ſalber mechte duch och gehert wern, ob ſe und ſe
mechte.“

[198]

„Nu ja! Beredt Euch untereinander!“ meinte Sam und
ſteckte ſein Geldſtück wieder ein. „Ich werde gelegentlich mal
wieder nachfragen, dieſerhalb.“ —


In dieſem Augenblicke hörte man kräftige Tritte draußen
am Thürpfoſten, wie von einem, der ſich den Schnee von den
Füßen tritt. Die Thür öffnete ſich und Guſtav trat ein.


Er kam vom Rittergutshofe, wo er mit Hauptmann Schroff
geſprochen hatte. Vor der Thür ſah er das Gefährt des
Händlers ſtehen und erfuhr vom Kutſcher, wer im Hauſe ſei.
Sofort ſchoß ihm das Blut in den Kopf. Erregt trat er in's
Zimmer, er hatte den Feind noch nie von Angeſicht zu An¬
geſicht geſehen.


Seine Überraſchung war groß, als er den Händler er¬
blickte. Den Burſchen hatte er ſich ganz anders vorgeſtellt.
Unwillkürlich wollte er etwas von der teufliſchen Bosheit, die
er dem Menſchen zutraute, auch in ſeiner Erſcheinung wieder¬
finden. Dort, dieſer kleine fette Mann, kahlköpfig, mit rotem
Kotelettenbart, das ſollte der berüchtigte Samuel Harraſſowitz
ſein, von dem man erzählte, daß er viele Menſchen zu Grunde
gerichtet habe! —


Guſtav fühlte auf einmal das Bedürfnis, dem Manne
ſeine ganze Verachtung zu zeigen. Der ſollte ſich um keinen
Preis einbilden, daß er ſich vor ihm fürchte. Er wußte ſelbſt
nicht, woher ihm der Übermut kam. Als ob der Fremde gar
nicht im Zimmer ſei, feuerte er ſeinen Hut in die Ecke und
rief: „Wo iſt der Vater?“


Haraſſowitz betrachtete ſich den jungen Menſchen. „Das
iſt alſo Nummro zwei, der geweſene Unteroffizier. Gratuliere
Mama Büttnern, Sie haben einer geſunden Raſſe das Leben
geſchenkt. Solche Leute können wir brauchen.“


Die Bäuerin war auf ihren Sohn zugeſchritten, und
machte ihm verſtohlene Zeichen, daß er den Gaſt begrüßen
ſolle. Als Guſtav das nicht zu verſtehen ſchien, ſagte ſie ihm
halblaut, wer es ſei.


„Wie alt ſind Sie denn junger Mann — he?“ fragte
Sam.


[199]

Guſtav hielt es nicht der Mühe für wert, zu antworten.
Jetzt erkannte die Mutter, daß mit Guſtav nicht alles in Ord¬
nung ſei. Sie glaubte, er ſei angetrunken. Außerdem wußte
ſie, daß Guſtav dem Händler nicht grün ſei. Sie fürchtete das
Schlimmſte. In der Wut war er unberechenbar, gerade wie
der Vater.


Sie trat daher zu dem Händler und antwortete, ſtatt
des Sohnes: „Siebenundzwanzig is er, Herr Haraſſowitz —
ju ju, ſiebenundzwanzig. A ſtrammer Kerle nich wahr, Herr
Harraſſowitz?“ Dazu lachte ſie gänzlich ſinnlos, aus Angſt.
„Und ſu a gutter Sohn wie der is, Herr Harraſſowitz!“ fuhr
ſie fort. Abwechſelnd lächelte ſie den Händler an, um ihn bei
guter Laune zu erhalten und warf dann wieder dem Sohne
flehende Blicke zu, daß er nichts Unbeſonnenes unternehmen
möge.


Guſtav hatte inzwiſchen an den Speiſen auf dem Tiſch,
dem kriechenden Weſen der Mutter und den verängſtigten
Mienen der Schweſtern erkannt, wie tief ſich die Seinen vor
dem Fremden gedemütigt hatten. Eine dumpfe Wut erfaßte
ihn plötzlich, gegen dieſes fette Geſicht. Wie der Burſche da¬
ſaß, protzig und ſicher, ſich die guten Sachen ſeiner Mutter
ſchmecken ließ! Den würde er mal auf den Trab bringen. Auf
Unterhandlungen wollte er ſich gar nicht erſt einlaſſen; denn
mit der Zunge war einem ſo einer ja natürlich über. Hier
konnte nur ‚ungebrannte Aſche‘ helfen.


„Ich höre Sie ſind auf dem Rittergute geweſen“, ſagte
Harraſſowitz, ſich im Kauen nicht unterbrechend. „Um ſich nach
einer Kutſcherſtelle beim Grafen umzuthun — war denn
da was?“


„Guſtav! Herr Harraſſowitz fragt Dich, ob's De . . . Was
ſuchſt De denne Junge?“


„Ich ſuche meinen Stock, Mutter!“ ſagte Guſtav mit be¬
deutungsvollem Blicke nach dem Fremden hinüber. „Wo habe
ich denn meinen Stock gleich . . . . Ach, hier is 'r!“


Sam war während des Letzten rege geworden. Er hatte
ein ſchnelles Begriffsvermögen. Guſtavs Mienen- und Ge¬
[200] bärdenſpiel war auch äußerſt ſprechend in dieſem Augenblicke.
Der Händler ſprang auf die Füße, riß ſeinen Pelz vom Ofen
und ſuchte die Thür zu gewinnen, ſo ſchnell wie möglich. Die
Mutter war dem Sohne in den Arm gefallen, der holte aus,
konnte aber nicht zuſchlagen, weil er ſonſt unfehlbar die alte
Frau getroffen hätte.


So gelang es Sam, unverſehrt in's Freie zu gelangen.
Die Frauen ſtanden jetzt um Guſtav und beſchworen ihn, Ver¬
nunft anzunehmen. Er ließ den Stock ſinken. Seine Wut
hatte ſich ſchnell gelegt, ſowie er den Feind in ſeiner ganzen
Erbärmlichkeit geſehen. Der Anblick dieſes Männchens, wie
es mit erhobenen Händen, kläglich ſchreiend, ſich ein paar¬
mal um ſich ſelbſt gedreht hatte, war zu drollig geweſen.
Guſtav brach noch nachträglich in ein unbändiges Gelächter
aus. Er mußte ſich die Seiten halten vor Lachen. Und an¬
ſteckend wie die Luſtigkeit nun einmal wirkt, lachten die Mädchen
ſchließlich auch mit.


Die Bäuerin humpelte hinaus, um des Händlers womög¬
lich noch habhaft zu werden, und ihn um Verzeihung für die
Unthat des Sohnes zu bitten. Aber, es war zu ſpät; der
Wagen fuhr bereits in ſchneller Gangart aus dem Hofe.

[[201]]

III.

Kaſchelernſt war in die Stadt gefahren. Der Hauptzweck
ſeiner Fahrt war, Beſorgungen und Beſtellungen für die Gaſt¬
wirtſchaft zu machen. Da er bei dieſer Gelegenheit hauptſäch¬
lich mit Bierbrauern, Cigarren-, Wein- und Likörhändlern zu
thun hatte, die bei Geſchäftsabſchlüſſen gern etwas ſpringen
laſſen, befand er ſich bereits am frühen Nachmittage in ſtark
angeheiterter Stimmung. Kaſchelernſt pflegte ſich jedoch nie
bis zu voller Beſinnungsloſigkeit zu betrinken. Auch heute
ſchwankte er zwar bedenklich auf ſeinen kurzen Beinen, und ſein
Rattengeſicht hatte eine bläuliche Färbung angenommen, aber
im übrigen hatte er ſeine fünf Sinne völlig beiſammen,
und vor allem war ſeine Durchtriebenheit nicht im gering¬
ſten geſchwächt, durch die ſelige Stimmung.


In ſolcher Laune machte er ſich auf, ſeinem Geſchäfts¬
freunde Sam einen Beſuch abzuſtatten.


Herr Kaſchel aus Halbenau war ein gern geſehener Gaſt
in der Getreidehandlung von Samuel Harraſſowitz. Wenn er
angemeldet wurde, ließ ihn Sam ſtets ohne weiteres in das
kleine Hinterzimmer führen. Der Kretſchamwirt pflegte meiſt
wichtige Nachrichten vom Lande zu bringen.


Auch hier wieder bekam Kaſchelernſt ſein Gläschen vor¬
geſetzt. Man ſprach von dieſem und jenem. Der Kretſcham¬
wirt hatte ſchon mancherlei Intereſſantes ausgekramt. In
ſeiner Stellung, als Wirt eines vielbeſuchten Gaſthauſes, er¬
[202] fuhr er vielerlei, was anderen verborgen blieb. Heute hatte
er ſich etwas Beſonderes bis zuletzt aufgeſpart. Eine Nach¬
richt, die, wie er mit verſchmitztem Augenzwinkern ſagte, ſie
beide angehe: der Saländer Graf wolle dem Büttnerbauer auf
die Beine helfen.


Der Händler ſchnellte von ſeinem Sitze empor. „Das wäre
doch ein ſtarkes Stück!“


„Es is genau ſu, wie ich's ſage!“ meinte Kaſchelernſt.
„Der Graf will mich auszahlen. Büttnertraugott ſoll drinne
bleiben im Gute. Su is es!“


Harraſſowitz ſtieß eine Verwünſchung aus. Dann fragte
er, ob Kaſchel das genau wiſſe; es beruhe vielleicht auf einem
falſchen Gerüchte. Der Gaſtwirt erklärte dagegen, der Graf
laſſe mit ihm unterhandeln, wegen Übernahme ſeiner Hypo¬
thek. „Mir kann's ja ſchließlich recht ſein,“ meinte Kaſchel¬
ernſt mit pfiffiger Miene. „Mir kann's ſchon ganz recht ſein,
wenn der Graf mich auszahlt; auf die Weiſe komme ich doch
zu Gelde.“


„Sie wären auch ohnedem zu Ihrem Gelde gekommen,
wenn wir das Geſchäft zuſammen gemacht hätten!“ rief der
Händler wütend. „Und was Schönes zu verdienen hätte ich
Ihnen außerdem gegeben, Kaſchel! Das wiſſen Sie ganz gut!
Das hier iſt vollſtändig gegen die Verabredung. Nun kommt
der Bauer wieder auf die Füße. Verfluchte Gauner, die Ariſto¬
kraten. Überall müſſen ſie ſich einmiſchen. Wie kommt der
Graf dazu, ſich um dergleichen zu bekümmern! Verdirbt ehr¬
lichen Leute die Preiſe!“


Harraſſowitz war in dieſem Augenblicke ehrlich entrüſtet.
Er empfand die Hülfe, die der Graf leiſten wollte, als ein per¬
ſöhnliches Unrecht, als unerlaubtes Eingreifen eines Unbe¬
fugten in ſeine Domäne.


Kaſchelernſt lächelte ſtillvergnügt und rieb ſich die Hände.
Er freute ſich an Sams Ärger. Dann trank er ſein Glas
aus und meinte: „Ja, da wird's am Ende diesmal doch niſcht
werden.“ Damit erhob er ſich zum Gehen.


Sam blieb in ärgerlichſter Stimmung zurück. Der Ge¬
[203] danke, daß ihm das Büttnerſche Bauerngut entgehen ſollte,
war äußerſt ſchmerzlich. Er hatte im Geiſte bereits über
dieſes Gut verfügt, als ſei es ſein Eigentum. Unter ande¬
rem waren Unterhandlungen angeknüpft, wegen einer Dampf¬
ziegelei, welche er auf dem neuen Beſitz anzulegen gedachte.
Ferner hatte er ſich überlegt, welche Stücke er abtrennen
und veräußern und welche er behalten wolle. Das Haupt¬
geſchäft aber hatte er mit dem Walde vor. Den ſollte ihm
die Herrſchaft Saland für teueres Geld abnehmen. Alle
dieſe bereits eingefädelten Pläne drohten nun in Nichts zu
zerfallen, durch das, was er ſoeben von Kaſchelernſt erfahren
hatte. Denn wenn der Graf wirklich für die Schulden des
Bauern eintrat, dann wurde nichts mit der Subhaſtation,
auf die es der Händler in erſter Linie abgeſehen hatte. Er
hatte ſchon eine Menge Arbeit in dieſe Sache geſteckt und
nun ſollte alles das auf einmal verloren ſein. Das war ſehr
ärgerlich!


Aber, Sam pflegte ſich niemals lange zu ärgern. Ärger
koſtete Zeit, und ‚Zeit iſt Geld.‛ Er ſchätzte das Geld viel
zu hoch, um es auf etwas Verlorenes zu ſetzen. Lieber ſtrengte
er ſeinen Verſtand an, überlegte, ob ſich hier nicht doch
noch etwas machen laſſe, und bald hatte er das Richtige ge¬
funden.


Wozu war denn Edmund Schmeiß da! Von der Ge¬
wandtheit und dem Schneid dieſes jungen Mannes hatte er
mehr als eine Probe erhalten. Edmund Schmeiß war auch
hierfür der richtige Mann.


Der Plan des Händlers war folgender: Der Beſitzer
der Herrſchaft Saland war Rittmeiſter und ſtand in Berlin.
Sam kannte den jungen Grafen zwar nicht perſönlich, aber
er wußte, daß er ein vornehmer Herr ſei, der ſich nicht
ſonderlich viel um die Gutsangelegenheiten kümmerte. Im
Sommer und Herbſt lebte der Graf ein paar Wochen mit ſeiner
jungen Frau auf der Herrſchaft, die übrige Zeit hielten ihn Dienſt
und Geſelligkeit in der Reichshauptſtadt feſt. Mit den Einzel¬
heiten der Landwirtſchaft ſeines großen Beſitzes konnte der junge
[204] Herr ſich wohl kaum befaſſen; dazu waren die Beamten da. Ihm
war jedenfalls die Rente die Hauptſache, und er war ſchon
zufrieden, wenn er nur möglichſt wenig Arbeit und Sorgen
durch den Beſitz hatte. Es war ferner anzunehmen, daß der
Graf über die Verhältniſſe bei den kleinen Leuten und Bauern
mit denen er grenzte, nur ſehr unvollkommen unterrichtet ſei.
Was er etwa darüber wußte, wurde ihm jedenfalls durch
ſeine Leute zugetragen. Überhaupt ſah er alle Verhält¬
niſſe wahrſcheinlich durch die Augen der Angeſtellten. Was
konnte er eigentlich für ein Intereſſe an dem Büttnerbauer
haben? Dem Grafen irgendwelche Teilnahme an der Er¬
haltung eines kräftigen Bauernſtandes zuzutrauen, ſo naiv
war Samuel Haraſſowitz nicht. Er kannte doch die Kava¬
liere! Wahrſcheinlich ſpekulierte der Graf auf den Wald des
Bauerngutes, der Jagd wegen. Jedenfalls war hier irgend ein
ganz realer, egoiſtiſcher Zweck im Hintergrunde, welcher dieſen
großen Herrn veranlaßte, dem Bauern anſcheinend hülfreich
unter die Arme zu greifen.


Wie nun den Grafen daran verhindern? Die Sache war
äußerst brenzlich, und mußte mit größter Vorſicht angefaßt werden.


Solche Ariſtokraten waren hochfahrend, ſtark von ſich ein¬
genommen, und liebten nicht, daß man ſich ihnen aufdränge. Auf
der anderen Seite waren ſie leichtlebig und raſch in ihren Ent¬
ſchließungen; ließen ſich leicht bereden und fortreißen. Vor
allem aber kam es ihnen bei jedem Geſchäfte darauf an, daß
es ſich in netter gefälliger Form darbot, daß die Etikette ge¬
wahrt wurde.


Sam beſaß ſoviel Selbſterkenntnis, um ſich zu ſagen,
daß, wenn er ſelbſt nach Berlin führe, um mit dem Grafen
zu verhandeln, dabei ſchwerlich etwas herauskommen werde.
Er hielt ſich zwar durchaus nicht für unfein; aber, er
wußte, daß Leute wie der Graf, beſonders, wenn ſie Offi¬
ziere ſind, einen ſchwierigen Geſchmack haben; kurz und gut,
es ſchien ihm beſſer, ſeine Perſon im Hintergrunde zu halten.
Edmund Schmeiß — das war ganz etwas anderes! Das war ein
‚proper‘ ausſehender junger Mann, immer ‚patent‘ angezogen,
[205] und mit ‚noblen‘ Manieren, überhaupt ‚prima!‘ Sam hatte
immer ſeine geheime Freude gehabt an dem forſchen Auftreten
ſeines Günſtlings. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß
der Kommiſſionär auch das Wohlgefallen des Grafen, ſchon
durch ſeine Erſcheinung, gewinnen werde.


Edmund Schmeiß wurde alſo auserſehen, nach Berlin zu
reiſen. Zuvor natürlich einigte man ſich über die Proviſion,
wie das unter vorſichtigen Geſchäftsleuten üblich iſt.


Sam vereinigte immer gern mehrere Geſchäfte, wenn es
ſich machen ließ. Da er ſich nun einmal in die Koſten ge¬
ſtürzt hatte, ſeinen Kommiſſionär nach Berlin zu ſchicken, gab
er dieſem gleich noch ein paar andere Aufträge mit. Man
hatte Geſchäftsverbindungen mit Berlin. Schmeiß bekam Order,
verſchiedene Freunde von der Produktenbörſe aufzuſuchen, und
ein wenig auszuhorchen, über dieſes und jenes. Überhaupt
hätte Sam gern etwas über die Stimmung im Kreiſe der Ein¬
geweihten erfahren. Beſonders für Weizen intereſſierte ſich
der Händler gegenwärtig lebhaft. Die Berliner Berichte
lauteten ſeit etwa acht Tagen ſtehend: „Weizen ruhig, bei ziem¬
lich behauptetem Preiſe.“ Aber, Sam traute nicht. Das war
wohl nur die Stille vor dem Sturm. Der Markt litt nicht
unter ſtarkem Angebot, und trotzdem kein Anziehen der Preiſe!
Roggen litt unter Glattſtellungen, Gerſte war ſtill. Wahr¬
ſcheinlich dachte eine Anzahl großer Firmen, im Trüben fiſchen
zu können; etwa die niedrigen Notierungen zu benutzen, um im
Stillen Deckungen auszuführen, und dann mit einem Male,
wenn ſie genug hatten, die Preiſe zu ſchnellen. Es wäre recht
intereſſant geweſen, hinter die eigentlichen Abſichten der ma߬
gebenden Leute im Weizengeſchäft zu kommen. Wenn man
das Ziel des Manövers rechtzeitig erfuhr, konnte man ſich in
ſeinen Manipulationen danach richten.


Edmund Schmeiß reiſte alſo nach Berlin ab.

Zunächſt verſah er ſich in einem Modemagazin mit einem
neuen Cylinder, rotbraunen Handſchuhen und einer Kravatte
[206] von prächtiger Farbe. Er meldete ſich nicht an; denn da
riskierte man eine Ablehnung. Er wollte überraſchen, wenn
es ſein mußte, überrumpeln! Die Mittagsſtunde ſchien ihm
die beſte Zeit für ſeinen Beſuch. Er nahm eine Droſchke
erſter Klaſſe, der Kutſcher ſollte vor der Thür auf ihn warten —
man durfte nichts verſäumen, was guten Eindruck machen
konnte — und fuhr nach „den Zelten“, wo, wie er durch das
Adreßbuch erſehen hatte, der Graf ſeine Wohnung hatte.


Faſt gleichzeitig mit ihm fuhr ein Coupé vor. Der
Diener ſprang vom Bock und öffnete den Schlag. Ein
Ulanenoffizier ſtieg aus und eine Dame. Der Herr gab dem
Kutſcher noch Weiſungen und ſchritt dann der Dame nach,
in's Haus.


Edmund Schmeiß hatte die Szene mit Neugier verfolgt
und ſich die Phyſiognomien genau eingeprägt. Er trat an
den Wagen heran, nahm den Hut ab und fragte den Kutſcher,
wer das geweſen ſei. Der Kutſcher nannte den Namen ſeiner
Herrſchaft.


Der Kommiſſionär war zufrieden, nun wußte er doch,
daß der Graf zu Haus ſei. Er ſah ſich noch einmal Wagen
und Pferde an. Die Geſchirre, die Livreen, bis herab auf
die Bockdecke und die Handſchuhe von Kutſcher und Diener,
alles vom Beſten, geſchmackvoll und gediegen.


Edmund Schmeiß ließ ein paar Minuten verſtreichen,
während der er auf dem Trottoir auf und ab ging, und begab
ſich dann in's Haus. Ein Kammerdiener öffnete auf ſein
Klingeln. Der Kommiſſionär hatte eine gleichgültig überlegene
Miene vorbereitet, von der er annahm, ſie müſſe auf einen
Bedienſteten Eindruck machen. Der Diener, ein großer bart¬
loſer Graukopf, mit der gemeſſenen Haltung eines Lords, warf
einen einzigen prüfenden Blick auf den Fremden, und erklärte
darauf, der Herr Graf ſeien nicht zu Haus. Damit wollte er
die Thür ſchließen, aber der Kommiſſionär, fix im Auffaſſen,
wie im Handeln, hatte ſich zwiſchen Thür und Angel geſtellt,
ſo daß jener nicht zumachen konnte. „Sagen Sie dem Herrn
Grafen,“ rief er mit einer Stimme, die berechnet war, auch
[207] in den Zimmern gehört zu werden, „ich hätte dem Herrn
Grafen wichtige Nachrichten von der Herrſchaft Saland zu
bringen. Hier iſt meine Karte.“


Der Kammerdiener las die Karte, betrachtete ſich den
Mann noch einmal, zuckte die Achſeln und verſchwand
darauf.


Nachdem man den Agenten eine geraume Zeit hatte
warten laſſen, erſchien der alte Diener wieder. Sein Benehmen
hatte an Geringſchätzung zugenommen. Die Herrſchaften wären
jetzt beim Luncheon, erklärte er, der Graf ließe dem Herrn
aber ſagen, wenn er mit ihm ſprechen wolle, möchte er in
einiger Zeit wiederkommen.


Edmund Schmeiß überlegte. Sollte er gehn und in einer
Stunde wiederkommen? Vielleicht war man da wieder nicht zu
Haus für ihn. Das war wohl nur eine Finte, um ihn auf
gute Manier los zu werden! Nein, er blieb! Nun hatte er
ſich einmal den Eintritt erzwungen in das Quartier; dieſen
Vorteil wollte er nicht wieder fahren laſſen.


Er erklärte dem Kammerdiener, daß er hier warten wolle,
bis das Luncheon vorüber ſei. Der Diener maß ihn mit
einem verächtlichen Blicke. „Wenn Sie wollen — hier, bitte!“
Er öffnete eine Thür. „Hier können Sie warten.“


Der Kommiſſionär ſah ſich in einem ſchmalen, einfenſtrigen
Zimmer, einer Art Garderobe. Es hingen Pelzmäntel und
andere Kleidungsſtücke an einem Rechen, unter einem Regal
ſtand Schuhwerk. Ein Schlafſofa war aufgeſtellt, an den
Wänden hingen Bilder und Photographien, die offenbar aus¬
gemuſtert waren. Geheizt war der Raum nicht.


Obgleich das Ehrgefühl bei Edmund Schmeiß nicht ſonder¬
lich entwickelt war, fühlte er ſich doch für den Augenblick nicht
angenehm berührt, als er bemerkte, wohin man ihn gewieſen
hatte. Seine Eitelkeit war gekränkt. Trotz des neuen Cylinders
und des pickfeinen Aufzuges hatte ihn dieser großbrodige Schuft
von einem Kammerdiener nicht für voll angeſehen. Er beſah
ſich in einem Stehſpiegel, der in einer Ecke des Zimmers
ſtand, und wohl eines Sprunges wegen hierher verbannt
[208] worden war. Seiner Anſicht nach war alles ‚prima‘ an
ihm. Er hätte ebenſogut ein Offizier in Civil, ein Baron, ein
Graf ſein können. Was ſolche Lakaien doch für eine Witterung
haben mußten! —


Aber, Schmeiß war nicht der Mann, der ſich durch pein¬
liche Empfindungen für längere Zeit niederdrücken ließ. Die
Behandlung, die ihm zu Teil geworden, war ſicher nicht freund¬
lich zu nennen, aber, das mußte man ſchließlich aufs Geſchäft
ſchlagen; er ſah auf das Reſultat, und da war der unzweifel¬
hafte Erfolg zu verzeichnen, daß es ihm gelungen war, in die
Nähe des Grafen zu gelangen, der ihn nun doch nicht mehr
abweiſen laſſen konnte. Den Leuten auf den Leib rücken, das
war beim Geſchäfte immer das Schwierigſte und das Wichtigſte.
Nun er einmal hier war, ſchien ihm der Erfolg ſo gut wie
ſicher.


Er hatte ſich auf das Schlafſofa geſetzt, und ſah ſich
im Zimmer um. Dort auf dem Tiſche ſtanden verſchiedene
Lampen von Bronce, Majolika, ein paar von Berliner Por¬
zellan, Prachtſtücke aus der Königlichen Manufaktur. So ein
Winter in Berlin mußte dem Grafen eine Menge Geld koſten,
mit Familie, Dienerſchaft, Equipage und dazu erſte Etage in
„den Zelten.“ Schmeiß machte einen Überſchlag.


Seine Aufmerkſamkeit wurde abgelenkt, durch Geräuſche
aus dem Nebenzimmer. Er hörte Tellerklappern und Stimmen¬
durcheinander. Aha, das Eßzimmer! Er konnte weibliche
Stimmen unterſcheiden. Man ſchien ſich gut zu unterhalten,
es wurde viel gelacht. Der Kommiſſionär wechſelte den Platz,
um beſſer zu hören. Mit Grafen und Komteſſen hatte er
noch niemals zu Tiſche geſeſſen; es intereſſierte ihn doch,
etwas davon aufzuſchnappen, wie dieſe Art ſich eigentlich unter¬
halten mochte, wenn ſie unter ſich war.


Schmeiß hatte ein ſcharfes Gehör, trotzdem konnte er an¬
fangs kaum mehr verſtehen, als einzelne Worte und Sätze,
die aus dem Zuſammenhange geriſſen, keinen Sinn ergaben.
Man ſchien abgeſpeiſt zu haben, er hörte wenigſtens kein
Tellerklappern mehr. Die Unterhaltung wurde in lebhafteſter
[209] Weiſe geführt. Er konnte jetzt einzelnes verſtehen, weil er in¬
zwiſchen gelernt hatte, die Stimmen zu unterſcheiden.


Es ſchienen recht gleichgiltige Dinge, von denen ſie ſprachen.
Ein paar Namen hatte der Lauſcher auch ſchon herausgehört.
Eine „Wanda“ ſchien da zu ſein und eine „Ida“; jedenfalls
alſo der Graf mit ſeinen nächſten Angehörigen.


Jetzt rückte man mit den Stühlen, man erhob ſich. Es
klang dem Kommiſſionär faſt, als würde ein Tiſchgebet ge¬
ſprochen, worüber er ſich nicht wenig wunderte. Gleich darauf
hörte er eine männliche Stimme ſagen: „Herr Graf, der Herr
iſt auch noch da!“ — „Welcher Herr!“ fragte jemand. Darauf
hörte der Kommiſſionär ſeinen eignen Namen nennen. „Was
will der Menſch nur!“ hieß es. Gleichzeitig ertönte über¬
mütiges Frauenlachen. „Schmeiß“! haſt Du gehört? „Schmeiß“
heißt der Menſch!“ Ein Kichern und dann: „Möchteſt Du
Frau Schmeiß heißen, Ida?“ — Das übrige verlor ſich in
Gelächter.


Edmund Schmeiß war errötet, was ihm ſelten begegnete.
Die Kränkung hatte geſeſſen. Er knirſchte mit den Zähnen.
Wer ihn jetzt geſehen hätte, würde haben ahnen können,
weſſen dieſer Menſch fähig, wenn er beleidigt war.


Die Thür vom Korridor wurde gleich darauf geöffnet,
der grauköpfige Kammerdiener trat ein und teilte mit, der Herr
Graf wolle Herrn Schmeiß jetzt annehmen. Der Kommiſſionär
fuhr ſich ſchnell noch einmal mit der Hand über den Schnurr¬
bart zog die Manſchetten unter den Ärmeln vor und folgte
dem Diener.


Der Graf empfing ihn in ſeinem Zimmer. Er war ein
großer, ſchlanker Herr. Sein Kopf ſchien älter, als ſeine Figur.
Das blonde Haar lichtete ſich bereits ſtark. Die Naſe war
lang und etwas zu ſpitz, um ſchön zu ſein. Die Augen
leuchteten groß und freundlich; ſie waren das einzig Leb¬
hafte in dem bleichen etwas verlebten Geſichte, dem auch der
Schnurrbart nichts martialiſches gab. Der Graf trug den
Interimsrock.


Edmund Schmeiß hatte zunächſt das unangenehme, ihn
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 14[210] bedrückende Gefühl niederzukämpfen, einem vornehmen Manne
gegenüber zu ſtehen. Aber das war nur vorübergehend, er be¬
ſchloß, ſich durch nichts imponieren zu laſſen. Vornehmheit,
gut! die wollte er jenem laſſen; aber ob der Mann ſo klug
ſei, wie er, das würde ſich erſt noch ausweiſen.


Der Graf erwiederte die tiefe Verbeugung des Fremden
mit einem Kopfnicken, wies auf einen Stuhl, zum Zeichen,
daß er Platz nehmen möge, und ſetzte ſich ſelbſt. „Nun, alſo
Herr“. . . . . . Der Graf dehnte das „Herr“, nach dem
Namen ſuchend. „Schmeiß iſt mein Name,“ ergänzte der
Kommiſſionär. „Ganz recht, Herr Schmeiß! alſo was führt
Sie zu mir?“


Edmund Schmeiß hatte einen Fuß vorgeſetzt und ſtemmte
den Cylinder auf das Knie. Dann begann er mit Manieren,
die zwiſchen Unterwürfigkeit, ſchnüffelnder Neugier und dreiſter
Zudringlichkeit unausgeſetzt wechſelten, den Zweck ſeines Kommens
in ſeichter, dabei glatt fließender Rede, wie ſie den Handlungs¬
reiſenden eigen iſt, auseinanderzuſetzen.


Der Graf hörte ihm eine Weile mit gelangweilter Miene
zu; er feilte inzwiſchen an ſeinen Fingernägeln. Als er mit
allen zehn Fingern durch war, blickte er auf und meinte, in
leicht näſelndem Tone: „Ja, mein Beſter — ich weiß nicht —
Sie haben behauptet, Sie brächten mir Nachrichten von Saland
— unter dieſer Vorausſetzung allein habe ich Sie angenommen.
Ich ſehe wirklich nicht ein, was das hier eigentlich ſoll!“


„Doch Herr Graf! der Herr Graf wollen wir nur gütigſt
geſtatten, auszureden. Ich meine nämlich, daß die Intereſſen
der Herrſchaft Saland mit meinem Vorſchlage ſehr eng ver¬
knüpft ſind. Der Wald des Büttnerſchen Bauerngutes grenzt
mit dem der Herrſchaft, liegt wie ein Keil in dem Forſt des
Herrn Grafen eingeſprengt . . . .“


„Das weiß ich ſelbſt, wahrſcheinlich genauer als Sie!“
meinte der Graf, welcher ungeduldig zu werden anfing. „Um
dieſen Wald handle ich ſchon ſeit Jahren. Ich werde wohl
nun endlich mal dazu kommen. Um lumpige fünfzig oder
ſechzig Morgen handelt es ſich, glaube ich.“

[211]

„Der Herr Graf werden aber viel zu hoch bezahlen. Wir
würden dem Herrn Grafen den Wald billiger verſchaffen.“


Der Graf muſterte den Sprecher mit erſtaunter Miene.
Erſt jetzt ſah er ſich den Menſchen richtig an, der ſich mit
ſolcher Unverfrorenheit an ihn herandrängte. Das ſchien ja
ein poſſierlicher Burſche zu ſein! Der Graf lachte. „Wer
ſind Sie denn eigentlich, Verehrter! Ich wollte Ihnen blos
bemerken, daß ich keine Zwiſchenhändler brauche, wenn ich mit
einem meiner Bauern handeln will.“


„Herr Graf! Ich komme nicht im eignen Namen, das
würde ich mir nicht erlauben. Ich bin Kommiſſionär. Ich
komme im Auftrage der Firma Samuel Harraſſowitz. Der
Name iſt Ihnen gewiß bekannt Herr Graf. Eine große Ge¬
treidehandlung, der Inhaber iſt ein feiner und durch und durch
reeller Geſchäftsmann.“


Bei Nennung des Namens „Harraſſowitz“ ſtutzte der Graf.
Er war aufgeſtanden und ſuchte etwas auf der Schreib¬
tiſchplatte. „Mir ſchreibt hier mein Güterdirektor“ . . . . . Er
wühlte in einem Berge von Papieren, die einen etwas unge¬
ordneten Eindruck machten. „Ich kann den Brief gerade nicht
finden.“ Den Späheraugen des Kommiſſionärs entging die
Nachläſſigkeit, mit der der Graf in den Papieren ſtöberte, nicht.
„Na, egal! Hauptmann Schroff ſchreibt mir, daß dieſer —
dieſer . . . . den Sie eben nannten . . . .“


„Harraſſowitz!“ beeilte ſich Schmeiß zu ergänzen, der ſchon
bemerkt hatte, daß das Namensgedächtnis des Grafen ziemlich
mangelhaft war.


„Ganz recht! Dieſer Haraſſowitz ſoll ſich ja mit Güter¬
ſchlächterei befaſſen.“


Jetzt hielt es Edmund Schmeiß für zeitgemäß, einen
Trumpf auszuſpielen. Er erhob ſich mit gekränkter Miene, und
ſagte: „Ich bedaure, daß der Herr Graf ſo falſch berichtet
ſind. Harraſſowitz iſt ein Ehrenmann durch und durch. Er
iſt mein Freund!“ Er knöpfte ſeinen Rock zu, wie er es auf
dem Theater von beleidigten Helden geſehen hatte, und machte
ernſthaft Miene, zu gehen.


14 *[212]

Menſchenkenntnis war gerade nicht die ſtarke Seite des
Grafen. Er war arglos und gutmütig von Natur. Der Ge¬
danke, jemanden gekränkt zu haben, war ihm peinlich. Er
meinte in beſchwichtigendem Tone: „Na, bleiben Sie nur,
bleiben Sie! Die Sache wird wohl nicht ſo gefährlich ſein.“


„Ja, aber „Güterſchlächterei“ iſt ein ſchwerwiegendes Wort,
Herr Graf! Wenn ich mir meinen Freund Harraſſowitz dazu
denke. — Ich will ihm die Bemerkung des Herrn Grafen lieber
nicht hinterbringen.“


Der Graf merkte die verſteckte Drohung nicht, die in
dieſen Worten liegen ſollte. Völlig arglos ſagte er: „Die
Sache iſt nun gut! Setzen Sie ſich wieder, und echauffieren
Sie ſich nicht unnötig!“


„Wollen der Herr Graf mich weiter anhören?“ fragte
Schmeiß, mit gut geheuchelter Miene eines Verletzten, der ſich
zur Verſöhnung bereit finden laſſen will. Im Innern trium¬
phierte er.


„Ja, bitte, fahren Sie fort! Was wollen Sie denn eigent¬
lich, oder was will Ihr Harraſſowitz von mir? Das verſtehe
ich immer noch nicht. Da iſt dieſer Bauer, dieſer. . . . dieſer
. . . . in Halbenau.“


„Büttner! meinen der Herr Graf, jedenfalls.“


„Jawohl, Büttner! Ein alter, ehrlicher Kerl, wie mir
ſcheint, dem die Zwangsverſteigerung droht, wie Hauptmann
Schroff ſchreibt. Der Mann ſoll mit ein paar tauſend Mark
zu retten ſein.“


„Geſtatten der Herr Graf, daß ich hier unterbreche! Die
Erfahrungen, die wir mit dem alten Büttner gemacht haben,
ſind etwas anders geartet. Wir ſind der Anſicht, daß der Herr
Graf verlockt werden ſollen, einen Unwürdigen zu unterſtützen.
Der Herr Graf ſollen Ihr gutes Geld hergeben für eine Sache,
die, gelinde ausgedrückt, ſehr zweifelhaft iſt. Das iſt der
Plan, hinter den wir gekommen ſind. Und um das zu ver¬
hindern, Herr Graf, bin ich nach Berlin gereiſt.“


Schmeiß beobachtete, während er mit der Miene des mora¬
liſch entrüſteten Biedermannes ſprach, die Züge des Grafen mit
[213] einer Aufmerkſamkeit, der nichts entging. Wenn dem Herrn
das hier glatt einging, dann konnte er noch eine ganze Portion
mehr vertragen. Der Graf ließ ſeine Augen mit dem Aus¬
drucke höchſter Überraſchung auf dem Sprecher ruhen, er hatte
den Mund halb offen, und ſah in dieſem Augenblicke nicht be¬
ſonders geiſtreich aus. „Kennen Sie denn dieſen — dieſen
Büttner ſo genau?“ fragte er nach einigem Beſinnen.


„Wir haben genügende Erfahrung mit dem Manne, ich
kann ſagen, mit der ganzen Familie gemacht, um erklären zu
dürfen, wir kennen die Sippſchaft gründlich.“


„Mein Güterdirektor lobt mir die Leute in ſeinem Briefe.“


„Das Urteil des Herrn Hauptmann Schroff ſcheint mir —
nun, ich will nichts geſagt haben, weil der Herr Graf etwas auf
den Herrn zu halten ſcheinen. Aber, nachdem er über meinen
Freund Harraſſowitz derartig geurteilt hat, kann mir ſein
Urteil nichts mehr gelten! Der Herr Graf werden das ver¬
ſtehen!“


„Der alte Bauer ſoll durch Familienunglück in Be¬
drängnis geraten ſein, glaube ich.“


„Durch ſchlechte Wirtſchaft und weiter nichts, Herr Graf!
Der alte Mann iſt ein liederlicher Wirt und leider auch ein Trinker.
Die Söhne ſind noch ſchlimmer, und bei den Töchtern jagt ein
uneheliches Kind das andere. Wollen ſich der Herr Graf nur
erkundigen, dann werden Sie ſchon erfahren, daß ich nicht
übertreibe. Ich bin ſelbſt in dem Hauſe geweſen, ich kenne
die Leute. Auf dieſe Weiſe iſt die Wirtſchaft natürlich immer
tiefer heruntergekommen. Jetzt ſitzt der Mann in Schulden
bis über die Ohren. Harraſſowitz iſt er Geld ſchuldig, auch
ich habe an ihn verloren. Wir ſind mit dem Manne gründ¬
lich betrogen worden, weil wir ihn für reell hielten. Wir
werden unſer Geld einbüßen. Und ſo geht es verſchiedenen
ehrlichen Geſchäftsleuten. Auch mit ſeiner eigenen Familie hat
er ſich überworfen. Der eigene Schwager hat ihn ausgeklagt.
Der Herr Graf wollen nur mal nachfragen laſſen. Die ganze
Sache iſt oberfaul!“


Der Graf ſchüttelte den Kopf. „Wenn das ſo iſt — dann
[214] läge die Sache ja in der That etwas anders. Aber, warum
iſt mir denn das ſo dargeſtellt worden?“


„Die bekannte Großmut des Herrn Grafen ſoll ausgenutzt
werden. Man denkt vielleicht: der Herr Graf iſt weit weg, in Ber¬
lin, und auf ein Paar tauſend Mark kommt's ihm nicht an. Man
rechnet mit der Menſchenfreundlichkeit des Herrn Grafen. Aber,
hier wäre Generoſität, ſo ſchön ſie auch ſonſt iſt, nicht am
Platze. Geſetzt den Fall, der Herr Graf reißen den Mann jetzt
heraus — übrigens iſt das mit ein paar tauſend Mark keines¬
wegs gethan; ich weiß, daß der alte Büttner namhafte Poſten
ſchuldet, bei Leuten, die ſich noch gar nicht gemeldet haben —
alſo, wenn der Herr Graf jetzt auch bezahlen, werden immer noch
Forderungen nachkommen. Das iſt wie ein Sieb, wo das Waſſer,
das man hereingießt, durchläuft. Und wenn der Bauer jetzt auch
noch ſoviel verſpricht, in Jahresfriſt iſt doch wieder alles beim
Alten. Dann iſt neuer Bankerott da. Der Herr Graf werden nichts
als Ärger und Verdruß gehabt haben und Ihr Geld einbüßen.“


„Das iſt doch wirklich traurig!“ ſagte der Graf, und dem
Tone, in welchem er das ſagte, war abzuhören, daß es ihm
von Herzen kam.


„Ja, es iſt tieftraurig!“ echote Schmeiß.


„Solchen Menſchen iſt dann allerdings nicht zu helfen.“


„Ganz ſicher iſt ſolchen Leuten nicht zu helfen, Herr
Graf,“ ſagte Edmund Schmeiß mit wichtiger Miene und
ernſten Blicken. „Ganz ſicher nicht! Da wird ſoviel geſchrie¬
ben in den Blättern über die traurige Lage des Bauernſtandes.
Beſonders die Blätter einer freieren Richtung, die demokratiſchen
Organe, ſind da immer ſchnell bereit, dem Großgrundbeſitz die
Schuld in die Schuhe zu ſchieben. Die Magnaten werden
angeklagt, den Bauern zu ruinieren, „aufſaugen,“ wie es da
heißt. Von „Bauernlegen“ wird geſprochen. Aber, daß die
Bauern meiſtens ſelbſt an ihrem Untergänge Schuld ſind, das
ſagt niemand. Die Leute treiben's danach! Der Bauernſtand
geht an ſich ſelbſt zu Grunde, Herr Graf, nicht durch den Gro߬
grundbeſitz. Hier an dem alten Büttnerbauern haben wir einen
ſchlagenden Beleg dafür!“

[215]

Edmund Schmeiß hatte die letzten Sätze mit einer gewiſſen
Feierlichkeit in Ton und Gebärde geſprochen, als decke er ſeine
innerſte Geſinnung auf. Bei dem Grafen waren ſolche Worte
nicht verloren. Auch an ihn waren Klagen und Forderungen,
welche die Neuzeit gegen den Großgrundbeſitz erhebt, heran¬
geklungen, und hatten ihn verdroſſen. Dieſe Verteidigung der
Magnaten klang ihm angenehm in den Ohren.


„Was dieſe demokratiſchen Blätter ſagen, iſt alles Ge¬
wäſch!“ erklärte er. „Was verſtehen denn dieſe Leute von der
Bauernfrage! Die mögen nur erſt mal auf's Land hinausgehen
und ſehen, wie's dort zugeht, ehe ſie ihre roten Artikel ſchreiben.
Ja, wirklich ſolche Leute, Redakteure und überhaupt Zeitungs¬
ſchreiber, die müßten alle mal zur Strafe ein paar Wochen
das Feld beſtellen — was? Die Art Leute hinter dem Pfluge,
oder beim Düngerladen, wie denken Sie ſich das?“


Der Graf geruhte zu lachen über ſeine eigene heitere Be¬
merkung, und Edmund Schmeiß verfehlte nicht, mitzulachen;
auch er fand den Gedanken hochkomiſch. Die Unterhaltung hatte
entſchieden einen wärmeren Ton angenommen, und der Graf
war nicht mehr ſo unnahbar und von oben herab, wie zu
Anfang.


„Nicht wahr? Da kann einem doch niemand einen Vor¬
wurf daraus machen, wenn man ſolch einen Mann ſeinem
wohlverdienten Schickſale überläßt?“ fragte der Graf ſchließlich.


„Im Gegenteil, Herr Graf!“ rief der Kommiſſionär.
„Ich meine, es wäre unverantwortlich, wenn man hier einen
Finger zur Hilfe rühren wollte. Dieſen Leuten iſt eben nicht
zu helfen, und kein vernünftiger Menſch wird wagen, dies von
dem Herrn Grafen zu verlangen.“


Schmeiß hatte nun keine große Mühe weiter, den Grafen zu
überreden. Leute von geringem Urteil, und großer Gutmütig¬
keit, wie der Graf, ſind leicht zur Härte zu verführen. Der
Graf ärgerte ſich bereits, daß ſeine Güte wieder mal hatte
mißbraucht werden ſollen, und er gedachte, ſeinem Güterdirektor
dieſen Verſuch nicht zu vergeſſen.


Der Kommiſſionär ging von ihm, mit dem Bewußtſein,
[216] ſeine Aufgabe in glänzender Weiſe gelöſt zu haben. Und außer¬
dem kam noch die angenehme Genugthuung befriedigter Eitelkeit
hinzu. Der Graf hatte ihn ſchließlich gar nicht mehr ſchlecht
behandelt. Sogar eine Cigarre war ihm vor dem Weggehen
angeboten worden.


Mit gehobenem Selbſtgefühl verließ Edmund Schmeiß
das Haus, und dem prickelnden Gedanken, daß dieſe Ariſto¬
kraten zwar äußerlich recht vornehm, im Grunde aber doch
fürchterlich dumm ſeien.

[[217]]

IV.

Eines Tages, als Guſtav die Dorfgaſſe hinabging, be¬
gegnete ihm Hauptmann Schroff zu Pferde.


„Gut, daß ich Sie treffe, Büttner!“ ſagte der Hauptmann.
„Ich wollte eben zu Ihnen. Ich habe Nachrichten in unſerer
Sache. Leider keine guten! Kommen Sie ein paar Schritte
mit mir. Die Stute ſteht nicht gerne.“


Guſtav ſchritt neben dem Reiter her, welcher weiter be¬
richtete:


„Der Graf will nicht! Rundweg abgelehnt meinen Vor¬
ſchlag, nachdem er erſt Luſt gezeigt, und ich in Folge deſſen
unſerem Rechtsanwalt ſchon Auftrag gegeben hatte, mit dem
Kretſchamwirt zu verhandeln. Nun iſt auf einmal Kontre¬
ordre gekommen von Berlin, ſogar auf telegraphiſchem Wege.
Was da vorgegangen ſein mag, ſoll der Teufel wiſſen! Auf
lumpige zweitauſend Mark kommt's dem Grafen doch ſonſt
nicht an! Können Sie ſich denken, was paſſiert ſein kann,
Büttner?“


Guſtav vermochte auch keine Erklärung zu geben.


„Ich habe ſofort noch einmal an den Grafen geſchrieben,
weil mir die Sache am Herzen lag. Er hat mir äußerſt kurz
geantwortet, und mich bedeutet, daß, wenn er „nein“ ſage, das
nicht „ja“ heiße. Dadurch iſt die Sache für mich natürlich
erledigt. Ich habe mich zu fügen. Traurig iſt das allerdings,
tieftraurig!“

[218]

Der Hauptmann blickte mit düſterem Geſicht in die Ferne,
ſeine Miene war voll Gram. „Der Teufel verblendet den
großen Herren die Augen!“ ſagte er, mehr für ſich, und biß
die Zähne aufeinander.


Die Stute begann unter ihm nervös hin und her zu
tänzeln; er hatte ſie in Gedanken zu feſt gehalten. Er ließ,
als er den Grund erkannte, ganz mechaniſch die Kandaren¬
zügel locker und zog die Trenſe etwas an. „Hoo, hoo!“ rief er,
dem Pferde zuredend, und klopfte es am Widerriſt. „Ja, da
iſt nun nichts weiter zu machen, mein guter Büttner!“ ſagte
er nach längerem Schweigen. „Ich wenigſtens kann nichts
mehr thun, mir ſind die Hände gebunden. Nahe geht mir die
Sache, das kann ich wohl ſagen! Auf dem Laufenden können
Sie mich immerhin erhalten, verſtehen Sie, Büttner. — Nun,
Gott befohlen!“


Damit gab er der Stute einen unmerklichen Schenkeldruck.
Die krümmte den Hals, ſchob das Hinterteil unter und trug
den Reiter in gleichmäßig wiegenden Galoppſprüngen die Dorf¬
ſtraße hinab.


Guſtav blickte ihm mit Wehmut nach. Er war ſo ſehr
Kavalleriſt geblieben, daß er ſelbſt in dieſem Augenblicke, wo
ganz andere Sorgen und Kümmerniſſe ihm näher lagen, doch
noch Raum fand für das Gefühl des Neides dem Manne
gegenüber, der ein ſolches Pferd reiten durfte. Er verfolgte
den Reiter mit ſeinen Blicken, bis er ihm hinter den Häuſern
verſchwunden war. Dann wandte er ſich ſeufzend, um nach Hauſe
zu gehen, und dem Vater die ſchlechten Nachrichten zu überbringen.


Der junge Mann fühlte ſich ſehr niedergedrückt. Die Aus¬
ſicht, die ihm Hauptmann Schroff eröffnet, war ſo wunder¬
bar geweſen, daß er wirklich geglaubt hatte, es werde nun
alles gut werden. Er hatte ſeine Pläne für die Zukunft ganz
auf das Gelingen dieſes Planes geſtellt, und nun war in
elfter Stunde alles geſcheitert!


Auf den alten Bauern machte die Nachricht keinen tieferen
Eindruck. Er hatte ja nicht an eine Wendung zum Beſſeren
geglaubt.


[219]

Der alte Mann hatte ſich wieder ganz in ſich ſelbſt
zurückgezogen. Niemand, ſelbſt Guſtav nicht, wußte, ob er
überhaupt noch etwas hoffe. Scheinbar ließ er die Dinge
gehen, wie ſie gehen wollten. Selbſt die Nachricht vom Gericht,
daß Termin zur Zwangsverſteigerung angeſetzt ſei, ſchien ihn
nicht merklich zu erregen.


In der Wirtſchaft ging alles ſeinen gewohnten Gang
weiter. Hier merkte man gar nicht, welches Verhängnis
drohend über dem Gute hing. Die Frühjahrsbeſtellung wurde
wie alljährlich vorbereitet. Karl fuhr Dünger auf den Kartoffel¬
acker und Jauche auf die Wieſen. Die Frage, wer die Früchte
ernten werde, ſtellte man nicht. Man that ſeine Arbeit und
ſchwieg. Die Maſchine ſchnurrte weiter, weil ſie einmal im
Gange war. Wenn nun plötzlich eine fremde Hand eingriff
und ſie zum Stillſtand brachte, was dann? —


Der alte Bauer ſchien mit einem gewiſſen Trotz dieſer
Frage aus dem Wege zu gehen. Reden ließ er auch nicht
mit ſich darüber. Guſtav bekam zu hören, daß er ein „grüner
Junge“ ſei, als er einmal davon zu ſprechen anfing, was
eigentlich nach der Subhaſtation werden ſolle.


Und dabei lag die Notwendigkeit, daran zu denken, ſo
nahe. Wer konnte denn wiſſen, wer der Erſteher des Gutes
ſein und was er mit Haus und Hof anfangen werde. Sie
mußten gewärtig ſein, ihr Heim auf dem Flecke zu verlaſſen;
dann würden ſie obdachlos auf der Straße liegen, wohl gar
der Armenfürſorge anheimfallen.


Guſtav geriet auch in Anderem mit dem Alten in
Widerſpruch. Der Büttnerbauer ſteckte noch immer Geld in
das Gut, obgleich es bereits an allen Ecken und Enden zu
mangeln begann. Der junge Mann war der Anſicht, daß
jetzt keine Verbeſſerungen mehr vorgenommen werden dürften,
da es doch feſtſtand, daß der Beſitz nicht mehr der Familie
erhalten werden könne. Aber der Bauer ſchien es ſich in den
Kopf geſetzt zu haben, der verlorenen Sache noch möglichſt
viel nachzuwerfen. Er ſchaffte einen neuen Pflug an, beſſerte
an den Wegen, ſtopfte Löcher im Fachwerk des Scheunen¬
[220] giebels und ſprach ſogar davon, den Kuhſtall umdecken zu
laſſen. Darüber kam es zwiſchen Vater und Sohn zu einem
heftigen Auftritt.


Die Folge war, daß der junge Mann ſich mehr denn
je von zu Hauſe wegſehnte. Jeder Tag vermehrte ſeine Ein¬
ſicht, daß hier alles unhaltbar geworden ſei. Wozu ſein Ge¬
ſchick noch länger an das ſeines Vaters knüpfen, der zu alt
zu ſein ſchien, um noch Vernunft anzunehmen. Im Eltern¬
hauſe wurde es immer öder und trauriger. Der alte Bauer
lebte ein Leben völlig für ſich. Wie ein böſer Hund fuhr
er aus ſeiner Hütte, bereit, jeden zu beißen, der ihn in
ſeiner Verdroſſenheit ſtörte. Die Bäuerin weinte viel und
hatte an ihrem Leiden zu tragen. Thereſe zankte mit Karl.
Toni ſah in ſchwüler Gleichgültigkeit ihrer Entbindung ent¬
gegen. Bei Erneſtine begannen ſich unter dem Einfluſſe all
des Widrigen, deſſen das junge Ding Zeuge geworden, Eigen¬
ſucht und Vorwitz in nicht gewöhnlichem Grade zu entwickeln.


Guſtav hielt ſich infolgedeſſen dem Elternhauſe, das ihm
die Hölle auf Erden zu werden drohte, ſo viel wie möglich
fern. Um ſo mehr war er bei Pauline Katſchner zu finden.
Sie und der Junge mußten ihm jetzt Eltern und Geſchwiſter
erſetzen.


Der Termin der Hochzeit rückte näher und näher, und
Guſtav hatte noch immer keine Stellung gefunden. Er dachte
manchmal daran, ob es nicht das beſte ſei, auszuwandern.
Man ſah es ja: die Verwandten alle, die von Halbenau weg¬
gegangen waren, hatten es zu Vermögen und Anſehen ge¬
bracht. Im Dorfe konnte man nie und nimmer zu etwas
kommen. Die Heimat war ihm vergällt und verekelt durch ſo viel
traurige Erlebniſſe. Alſo, nur fort! Den Staub von Halbenau
von den Füßen geſchüttelt und anderwärts ſein Glück verſucht!
Aber, das war leichter gedacht als ausgeführt. Zunächſt ein¬
mal: wo ſollte er hingehen? In die Stadt! Wer ſtand ihm
dafür, daß er dort Arbeit fand. Und dann mit Weib und
Kind wanderte es ſich nicht ſo leicht, als wenn einer nur den
Ranzen zu ſchnüren und den Stab in die Hand zu nehmen
[221] brauchte. Und ſchließlich war Guſtav auch ein zu guter Sohn,
um trotz ſeines augenblicklichen Zerwürfniſſes mit dem Vater,
ſeine alten Eltern leichten Herzens im Stiche zu laſſen. Die
kränkelnde Mutter, den alten Mann, der bei ſeinen Jahren vom
Großbauern zum obdachloſen Bettler herabſteigen ſollte! Es
war ein Jammer! Und Guſtav erſchien es oft wie Feigheit,
daß er gerade jetzt die Seinen verlaſſen wollte.


In dieſer Zeit thaten ſich plötzlich für den jungen Mann
ganz neue Ausſichten auf.


Schon ſeit einiger Zeit hatte Guſtav, der die Zeitungen
jetzt eifrig nach Stellen angeboten durchforſchte, geleſen, daß ein
gewiſſer Zittwitz, der ſich „Aufſeheragent“ nannte, ſeine Ver¬
mittelung anbot für junge Leute, welche nach dem Weſten auf
Sommerarbeit gehen wollten. Durch Bekannte hatte er weiter
gehört, daß derſelbe Agent eine Art Arbeitsvermittelungsbureau
in der Stadt aufgethan habe, daß er auch die Dörfer in der
Runde beſuche, um Mädchen und junge Männer zu mieten.


In dieſer Gegend war die Sachſengängerei noch unbekannt.
Es war das erſte Mal, daß ein Agent aus den weſtlichen
Zuckerrübendiſtrikten hier geſehen wurde. Die fabelhafteſten
Gerüchte gingen dem Manne voraus. Man verſprach ſich
goldene Berge. Die Leute, welche nach Sachſen zur Rüben¬
arbeit gingen, hieß es, könnten ſich im Laufe eines Sommers
dort ein Vermögen erwerben. Andere wieder ſagten, dieſe
Agenten ſeien nicht beſſer als Sklavenhändler, und die Mädchen
und Burſchen, welche ihrem Lockrufe folgten, ſähen einem
ſchrecklichen Loſe entgegen.


Guſtav hatte, als er noch bei der Truppe war, die Sachſen¬
gänger alljährlich, im Frühjahr, durch die Stadt ziehen ſehen,
von einem Bahnhof zum anderen, auf Möbelwagen: Weiber
und Männer zuſammengepfercht mit ihren Ballen und Laden,
oder auch herdenweiſe durch die Straßen getrieben, wie Vieh.
Fremdartige Geſtalten waren das geweſen, Polacken, ſchmutzig,
zerlumpt. Er hatte die Geſellſchaft aus tiefſter Seele verachtet,
[222] und nie bisher war ihm der Gedanke gekommen, ſich dieſen
zuzugeſellen.


Eines Tages nun fand er am Spritzenhauſe in Halbenau
einen Anſchlag, auf welchem der Aufſeheragent Zittwitz mit¬
teilte, daß er im Kretſcham angekommen ſei und Anmeldungen
von Mädchen ſowohl, wie jungen Männern, zur Sommerarbeit
in Sachſen annehme.


Guſtav, der eigentlich auf dem Wege zu ſeiner Braut be¬
griffen war, las den Anſchlag ein paarmal aufmerkſam durch.
Sich anbieten! Nein, das wollte er nicht. Er hätte den ſchön
geführt, der ihm, dem geweſenen Unteroffizier, hätte zumuten
wollen, unter die Runkelweiber zu gehen. Aber, anhören
konnte man ſich ſchließlich doch mal, was der Agent zu ſagen
hatte; das verpflichte ja zu nichts.


Vor dem Kretſcham ſchon merkte man, daß hier etwas
Beſonderes heute vor ſich gehe. Leute gingen und kamen. An
der Thür ſtand ein Haufe junger Burſchen, Hände in den
Taſchen, Cigarren im Munde, welche die Mädchen, die zahl¬
reich in den Gaſthof ſtrömten, bekrittelten und verhöhnten.
Guſtav ſchloß ſich dieſer Gruppe an. Jetzt hineinzugehen,
ſchämte er ſich doch.


Er ſtellte ſich alſo zu den Burſchen. Es wurde viel ge¬
ſpuckt, bramabaſiert und geflucht. Der Kerl da drinnen mache
die Mädel ganz verrückt, hieß es. Das Blaue vom Himmel
löge er herunter, und einige habe er auch ſchon bald ſo weit,
daß ſie unterſchreiben wollten. Er ſuche ſich die jungen und
hübſchen aus. Verheiratete wolle er gar nicht haben. Da
könne man ſich ja ungefähr vorſtellen, was er im Schilde
führe. Es folgten düſtere Andeutungen. Einer wollte in
einer Zeitung geleſen haben, wohin derartige Mädchen ver¬
ſchwänden.


Guſtav hörte ſich das Gerede eine Weile mit an, dann
meinte er, man ſolle doch lieber hineingehen und dem Burſchen
auf die Finger ſehen bei ſeinem Geſchäfte. Sie würden wohl
noch Mannes genug ſein, ihn, falls er im Trüben fiſche, aus
dem Orte hinaus zu beſorgen.


[223]

Einige von den jungen Leuten folgten ihm in den Kret¬
ſcham.


Die große Gaſtſtube war gedrängt voll Menſchen. Dem
Eingange gegenüber ſaß der Agent an ſeinem Tiſche mit Schreib¬
zeug und Papieren. Um ihn her ſtanden und ſaßen alte und
junge Männer. Die Mädchen hielten ſich mehr an der
Wand, ſie ſchienen verſchüchtert und wollten ſich nicht recht
herantrauen.


Der Aufſeheragent war ein Mann von behäbigem Äußeren,
mit braunem Vollbart, in einem Anzug von brauner ‚Jäger‘¬
wolle, der ihn wie ein Sack einſchloß und nichts von weißer Wäſche
ſehen ließ. Auffällig an ihm waren die großen lebhaften ſchwar¬
zen Augen.


Er war ſoeben im Wortwechſel mit ein paar jungen
Männern begriffen, welche Soldatenmützen trugen, und die,
wie Guſtav ſchnell erkannte, nicht aus Halbenau waren. Die
jungen Leute behaupteten, das ſeien Schundlöhne, die jener
anböte, dafür brauchte niemand die weite Reiſe zu machen.
Verhungern könne man hier ſo gut wie anderwärts, umſonſt.


Der Agent ließ die beiden eine Weile reden. Er ſaß an
ſeinem Tiſche mit gelaſſener Miene, er ſchien ſeiner Sache ſehr
ſicher zu ſein. Er gebrauchte ſeine Augen, indem er die ein¬
zelnen Geſichter um ſich her ſcharf beobachtete.


Jetzt ſchloſſen ſich auch Einheimiſche den beiden auswärtigen
Schimpfern an. Für ſolche Löhne könne man kaum ſein Leben
friſten, hieß es, geſchweige denn etwas verdienen, oder zurück¬
legen. Da wolle man doch lieber daheim bleiben bei ſicherem
Brod.


Nun erhob ſich der Agent von ſeinem Platze, er ging
unter die Leute. Vor einem der Haupt-Klugredner blieb er
ſtehen. Er ſolle ihm doch einmal erzählen, was er verdiene,
ſagte er in vertraulichem Tone. Der junge Menſch war etwas
verblüfft, und wollte nicht recht mit der Sprache heraus, dann
nannte er einen Satz; andere widerſprachen, ſoviel verdiene
der nicht, hieß es. Es gab darüber ein Hin und Her. Der
Agent ließ die Leute ausreden, und blickte mit überlegenem
[224] Lächeln drein. Dann griff er wieder ein, den Widerſpruch, in
den ſich der junge Mann verwickelt hatte, geſchickt benutzend,
machte er ihn lächerlich, ſo daß er bald die Lacher auf ſeiner
Seite hatte.


Eine ernſtere Miene aufſetzend, hielt er darauf eine kleine
Anſprache. Die Leute ſollten nur Vertrauen zu ihm faſſen,
ſagte er. Er ſei als Freund zu ihnen gekommen. Er wiſſe,
wie es dem kleinen Manne um's Herz ſei in dieſen ſchweren
Zeiten. Sei er doch ſelbſt aus dem Arbeiterſtande hervorge¬
gangen, habe ſich durch ſeiner Hände Werk emporgearbeitet.
Aber, ſtolz ſei er nicht geworden.


Der Mann beſaß eine gewiſſe breite Gemütlichkeit, etwas
volkstümlich Biedermänniſches in Worten und Gebärden, das
zum Herzen des kleinen Mannes ſprach, und ihm auch hier
ſchnell die Gemüter eroberte.


Unter den Anweſenden waren viele Tagelöhner, Dienſt¬
leute, kleine Stellenbeſitzer, lauter armes Volk, das um ſeine
Exiſtenz rang. Auch ein paar Armenhäusler waren zur Stelle.
Die meiſten hatten ſich wohl nur des Zeitvertreibs wegen
hierher begeben, um mal zu ſehen, was ein ‚Aufſeheragent‛
eigentlich für ein Ding ſei, und „ob der Karle wos lus hatte.“


Getrunken wurde viel. Hinter dem Schenktiſch ſtand
Kaſchelernſt, der die Pfennige eben ſo gern von den Armen
nahm, wie von den Reichen. „Kleinvieh macht och Miſt,“
pflegte er philoſophiſch zu ſagen. Richard ging umher an den
Tiſchen und nahm die leeren Gläſer in Empfang, ſetzte volle
auf und kaſſierte. An den erhitzten Geſichtern und den lauten
Stimmen konnte man merken, daß einzelne ſchon zu viel des
Guten gethan hatten.


Agent Zittwitz hatte ſich inzwiſchen in eine abgelegenere
Ecke des Raumes begeben, wo mehrere Mädchen beiſammen
ſaßen, ängſtlich und ratlos, wie ein Völkchen junger Hühner.
Der Aufſeheragent pflanzte ſich vor ſie hin und ſuchte ſie
durch freundliche Blicke und Worte zu kirren. Er pries ihnen
die Vorzüge ſeines Kontraktes. Seine Anpreiſung war geſchickt
auf den weiblichen Sparſamkeits- und Ordnungsſinn berechnet.
[225] Sie könnten ihren ganzen Lohn zurücklegen, da ſie alles gelie¬
fert bekämen und keinerlei Ausgaben hätten. Die meiſten
Mädchen brächten im Herbſt ihre dreihundert Mark zurück,
er kenne auch welche, die es bis zu fünfhundert gebracht
hätten. Viele Mädchen verdienten ſich auf dieſe Weiſe ihre
Ausſtattung.


Die Mädchen ſagten nicht viel, aber ihren Mienen war
es leicht abzuſehen, daß ſie große Luſt hatten, der Lockpfeife
des Fremden zu folgen.


Guſtav hatte ſich anfangs nicht viel darum gekümmert,
was in jener Ecke vorgehe. Er war darüber, den Kontrakt
durchzuleſen, welchen der Agent ausgelegt hatte. Es befanden
ſich noch keine Unterſchriften darunter. Als er dann nach der
Mädchenecke hinüberblickte, erkannte er zu ſeiner nicht geringen
Verwunderung ſeine eigene Schweſter, Erneſtine, die ſich in
der Gruppe befand. Sie ſaß unter den Vorderſten und folgte
den Reden des Werbers mit geſpannter Aufmerkſamkeit. Wollte
die ſich etwa gar verdingen? Er trat hinter den Agenten; er
wollte doch einmal genauer feſtſtellen, was der den Mädeln
eigentlich vorſchwatze.


Der Werber war gerade dabei, auseinanderzuſetzen,
welche Lebensweiſe ihrer in Sachſen harre. Sie wohnten
gemeinſam in beſonderen Häuſern, auch Kaſernen genannt.
Ihre Betten und Kleider könnten ſie ſich mitbringen, für
alles andere ſei geſorgt. Die Lebensmittel bekämen ſie ge¬
liefert. Früh, ehe es zur Arbeit ging, ſetze man ſich ſeinen
Topf an. Ein Mädchen bleibe zurück, um nach dem Feuer zu
ſehen und die Töpfe zu rücken. Den Abend hätten ſie ganz
für ſich, ebenſo den Sonntag.


Der Mann verſtand es, das Leben der Sommerarbeiter in
der angenehmſten Weiſe zu ſchildern. — Dann begann er von der
Arbeit zu ſprechen, für die ſie gemietet würden. Er meinte, die
ſei leicht, jedenfalls ein Kinderſpiel im Vergleich zu dem, was man
in dieſer Gegend von den Frauen verlange. Rüben hacken und
verziehen, zur Erntezeit Getreide abraffen und binden, und im
Herbſte Kartoffeln ausmachen und Rüben roden. All' die
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 15[226] ſchweren und unappetitlichen Verrichtungen, die ſie zu Haus
thun müßten, wie: miſten, jauchen, graben, dreſchen, melken,
karren und die Egge ziehen, fielen da weg. Auch würde meiſt
in Akkord gearbeitet, ohne Aufſicht von Seiten der Dienſt¬
herrſchaft. Ganz frei ſei man und ungebunden. Könne es
etwas Schöneres geben! Und im Herbſte kehre man dann mit
dem ganzen reichen Lohne des Sommers, frohen Mutes in
die Heimat zurück.


Der Werber machte eine Pauſe. Er hatte die Stimmung
ſo gut vorzubereiten verſtanden, daß er nur noch die Hand
auszuſtrecken brauchte, und er hatte die Mädchen alle.


Da trat Guſtav vor und ſagte er wolle mal ein paar
Fragen ſtellen. „Bitte ſchön!“ meinte der Agent. „Dazu bin
ich hier, um Rede und Antwort zu ſtehen. Jemehr Sie fragen,
deſto angenehmer iſt es mir.“ Er ſagte das mit größter Zu¬
vorkommenheit, betrachtete ſich den jungen Mann jedoch gleich¬
zeitig mit forſchenden Blicken, die nicht frei von Argwohn waren.


„Wir haben ja hier alle gehört“ begann Guſtav und
wandte ſich mehr an die anweſenden Männer, als an die
Frauen, „wie ſchön dort alles iſt, wo der Herr uns hinbringen
möchte, und wie dort alles gut iſt, viel beſſer als hier bei
uns.“ Er ſtockte. Das freie Sprechen war ihm etwas völlig
Ungewohntes. Einen Augenblick lang gingen ihm die Gedanken
aus. ‚Du bleibſt ſtecken!‘ Dachte er bei ſich. Dann nahm er
alle Willenskraft zuſammen und fand das verlorene Gedanken¬
ende wieder. „Solch ein Land möchten wir wohl alle kennen
lernen, wie es der Herr da beſchreibt. Aber ehe ich den
Kontrakt unterſchreibe und mit dem Herrn Aufſeheragenten
dorthin gehe, da möchte ich doch vorher von ihm noch eins
wiſſen: nämlich, warum denn die Leute dort, die Burſchen und
die Mädel aus dem Lande, von dem uns der Herr erzählt,
warum die denn nicht auf Arbeit gehen wollen, und ſich das
Verdienſt mitnehmen? Oder giebt's dort etwa keine Arbeiter
nicht? Das glaub ich doch nicht!“ —


Die Anweſenden waren dieſen Worten mit Spannung ge¬
folgt. Die Männer gaben ihren Beifall zu erkennen. Das
[227] war einleuchtend! Büttner hatte recht! Es war doch auf¬
fällig, daß die Leute in jener Gegend ſich den Vorteil ent¬
gehen laſſen ſollten, der ihnen hier angeprieſen wurde. Man
war neugierig, was der Agent hierauf zu antworten haben würde.


Der zuckte die Achſeln und lachte. Er ſchien der Sache
einen harmloſen Anſtrich geben zu wollen, indem er ſie auf
die leichte Schulter nahm. „Ihr Leute!“ rief er: „Ihr müßt
Euch das nicht ſo vorſtellen, wie hier! Bei uns im Weſten,
das iſt eben eine ganz andere Sache.“ . . . . Dann erzählte
er von der Fruchtbarkeit des Bodens und der intenſiveren
Wirtſchaftsweiſe in jenen Diſtrikten, welche eine große Menge
von Menſchenkräften erfordere, mehr als meiſt zur Hand ſeien.


Die Erklärung verfing nicht bei den Leuten. Der Mann
mochte noch ſo ſchön und gelehrt ſprechen, die klare Frage,
welche ihm vorgelegt worden war, hatte er nicht beant¬
worten können. Irgend einen Haken hatte die Geſchichte
alſo doch!


Guſtav gab dieſer Stimmung Ausdruck, indem er fragte,
ob etwa die jungen Leute dort ſich zu fein dünkten zur Feld¬
arbeit, daß man ſo weit hinausſchicken müſſe, bis zu ihnen,
nach Arbeitern. —


Der Agent erklärte, die Leute dort ſeien durchſchnittlich
wohlhabender als hier im Oſten. Viele gingen auch in die
Städte und widmeten ſich anderen Berufen, als gerade der
Landwirtſchaft.


„Da haben wir's!“ rief Guſtav, welcher den Mann nicht
ausreden ließ. „Da hört Ihr's! Wie ich geſagt habe! Die
Sache iſt genau ſo: wir ſollen eben das machen, was denen
dort nicht paßt. Wozu die ſich zu gut vorkommen, dazu wer¬
den wir geholt. Ne, das paßt uns auch nich — nichwahr?
Wir ſind nich ſchlechter, hier, als irgend wer anderſch!“


Guſtav ſah ſich fragend im Kreiſe um. Die Männer
riefen ihm zu, daß er recht habe. Der Werber, welcher
merkte, daß die Dinge eine ungünſtige Wendung für ihn
zu nehmen begannen, rief mit erhobener Stimme: man
ſolle ihn nur anhören, er werde alles haarklein erklären.
15*[228] Aber ſchon hatte er die Aufmerkſamkeit verloren. Man
ſchwatzte laut durcheinander und murrte. Für dumm ſolle
man die Halbenauer nicht halten, hieß es. Im Sacke wollten
ſie die Katze nicht kaufen. Das ſei der reine Menſchenfang,
der hier getrieben würde, rief einer von den jungen Leuten
mit Militärmütze.


So flogen die Redensarten hin und her. Jetzt redete
mancher von der Leber weg, der ſich's zuvor nicht getraut
hatte. Der Agent gab das Spiel noch nicht verloren, er trat
an einzelne heran, ſetzte ihnen zu, eiferte, widerſprach, wollte
berichtigen. Er hatte gut ſich abmühen, er fand keinen Glauben
mehr. In dieſen einfachen Köpfen war das Mißtrauen rege
geworden, und mit Engelszungen ließ ſich ihnen der Argwohn
nicht wieder ausreden.


Wer jetzt noch Luſt hatte, den Kontrakt zu unterſchreiben,
wagte es nicht mehr, aus Angſt, ſich vor den Dorfgenoſſen
lächerlich zu machen. Die Mädchen gingen eine nach der
anderen hinaus, beſorgend, es möge hier wohl noch gar zur
Rauferei kommen.


Agent Zittwitz packte ſchließlich mit ärgerlicher Miene ſeine
Papiere zuſammen, und verſchwand.


Die Männer blieben noch beiſammen. Guſtav Büttner
war der Held des Tages. Das war etwas ganz Neues
für ihn. Das Bewußtſein, von ſeinesgleichen anerkannt zu
werden, hob ſein Selbſtgefühl. Er war ſo ganz unvorbedacht
dazu gekommen; er wußte ſelbſt nicht, wie ihm geſchehen. Der
blaue Dunſt, den dieſer Agent den Leuten vorgemacht, hatte
ihn verdroſſen, und da hatte er frei herausgeſagt, was er für
recht hielt, ohne Haſchen nach Bewunderung. Der Erfolg, den
er gehabt, ſetzte ihn ſelbſt in Erſtaunen. Die Aufmerkſamkeit,
deren Gegenſtand er gegen ſeinen Willen geworden, that ihm
aber doch wohl, bekam ſchließlich etwas Prickelndes, Berauſchen¬
des für ſeine wenig verwöhnte Eitelkeit.


Und die Umgebung ſorgte dafür, daß dieſes Gefühl ſich
[229] ſteigerte. Man feierte den Sieg, brüſtete ſich damit, dem Auf¬
ſeheragenten das Geſchäft gründlich gelegt zu haben. „Ja,
wir Halbenauer!“ . . . hieß es. Die Begebenheit wurde noch
einmal durcherlebt, breitgetreten, ausgeſchmückt. Die Schnaps¬
flaſche machte die Runde. Bier wurde beſtellt; bald gab
dieſer, bald jener eine neue Auflage zum beſten.


Auch Guſtav durfte ſich nicht lumpen laſſen, er ließ an¬
fahren. Dabei machte er ſich's zum beſonderen Scherz, jedes
Glas einzeln heranbringen zu laſſen, nur um das Vergnügen
zu haben, ſeinen Vetter Richard Kaſchel auf ſeinen Wink
ſpringen zu ſehen. Hinter dem Schenktiſch erſchien jetzt auch
Ottilie. Sie ſchielte nach dem Vetter hinüber und lächelte ihm
mit ſchiefem Munde zu. Er hob das Glas, und ihr zutrinkend,
rief er: „Auf Deine Schönheit!“ Ein ſchallendes Gelächter
der Burſchen antwortete. Ottilie zog ſich, ſcheinbar gekränkt,
von der Bierausgabe zurück.


Während man noch den ſchlechten Witz bejubelte, trat ein
Fremder in's Zimmer. Seinem Aufzuge nach war er ein
wandernder Handwerksburſche, auf dem Rücken den ‚Berliner‘,
den ‚Stenz‘ in der Hand.


„Kenn Kunde!“ begrüßte ihn einer von den jungen Leuten,
der auch einmal auf der Walze geweſen war, und die Kunden¬
ſprache beherrſchte.


„Kenn Kunde!“ kam es aus dem Munde des Wanders¬
manns zurück.


„Na, Kunde, wie is der Talf geweſen?“


„Denkſt De, ich wer' Klinken putzen! Ne, dazu is meinen
Ollen ſei Sohn zu nobel.“


„Na, Kunde, nobel ſiehſt De grade nich aus. Du wirſt
wohl ſchmal gemacht han! Oder biſt De gar verſchütt ge¬
gangen?“


„Ich und verſchütt gehn! Nich mal Knaſt gemacht ha'
'ch. Mei Lebtag nich! Ich hab' freilich meine' Flebben in
Ordnung. Willſt ſe ſehn?“


„Ich bin keen Teckel nich! Laß Deine Flebben, wo ſe
ſind. Willſt' en Soruff, Kunde?“

[230]

„Freilich mecht'ch ä Nordlicht putzen. Hier is aber, weeß
der Hole, ene dufte Winde.“


„Haſt wohl lange Leg' um kauen müſſen?“


„Pikus machen kann mer nich alle Tage auf der Walze.
Meine Kluft is och mieß, die Trittchen hier ſind ganz ver¬
riſſen und ne reine Staude hab' ich vor drei Wochen an¬
gehabt.“


„Na, laß Dich vom Bruder ſchmieren, Kunde!“


„Wenn ich man Meſſume hätte.“


„Hier, trink mal!“


„Proſt, edler Menſchenfreund!“


Guſtav hatte ſich den Mann, der eben das Glas zum
Munde führte, inzwiſchen mit Aufmerkſamkeit betrachtet. Den
mußte er doch kennen. Himmeldonnerwetter! war das nicht . . . . .
Wenn das nicht Häſchke war, wollte er ſich hängen laſſen!
Häſchke, mit dem er zuſammen eingetreten war bei der zweiten
Schwadron. Freilich, der Vollbart veränderte ihn, und die
Vagabundenkleidung. Aber, an den lebhaften Augen, der
Stimme und den Bewegungen, erkannte er den ehemaligen
Kameraden wieder.


„Häſchkekorl!“ rief Guſtav und unterbrach damit die
Unterhaltung der beiden Kunden.


Der Handwerksburſche fuhr herum. „Büttner! Hol' mich
der Teufel. Büttnerguſt!“


„Gleich, noch ein Bier für meinen Kameraden!“ rief
Guſtav nach dem Schenktiſch hinüber.


Nun ging ein eifriges Fragen los von beiden Seiten.
Drei Jahre und ein halbes war es jetzt her, daß ſie einander
nicht geſehen hatten. Denn Häſchke war nach beendeter Dienſt¬
zeit herausgegangen, während Büttner kapituliert hatte.


Häſchke hatte ſich neben Guſtav ſetzen müſſen. Nun
mußte er von ſeinen Erlebniſſen berichten. Er war von der
Truppe aus zunächſt in ſeine Heimat, das Königreich Sachſen,
zurückgekehrt. Von Profeſſion war er Schloſſer und hatte
für's erſte bei einem Meiſter ſeines Handwerks Arbeit ge¬
nommen. Dort war ſeines Bleibens aber nicht lange geweſen.
[231] Er hatte Krach bekommen mit dem Meiſter. Nun war er ge¬
wandert, hatte dabei einen guten Teil Deutſchlands geſehen.
Im Weſtfäliſchen war er hängen geblieben, eines Mädels
wegen, ſagte er. Dort hatte er ſich in eine Maſchinenwerk¬
zeugfabrik verdungen. Bald darauf war Strike ausgebrochen,
und er hatte ſeinen Stab weiterſetzen müſſen. Einige Monate
lang hatte er beim Nordoſtſeekanalbau Arbeit gefunden. Nach¬
dem er den Winter über in einer poſenſchen Zuckerfabrik als
Heizer Verwendung und Unterſchlupf gefunden, lag er jetzt
wieder auf der Landſtraße.


Guſtav Büttner war mit dieſem Häſchke beſonders
befreundet geweſen. Sie hatten zuſammen die Leiden der
Rekrutenzeit durchgemacht. Waren auf derſelben Stube
und in dem nämlichen Beritt geweſen. Daß Büttner bald
zum Gefreiten befördert wurde, während Häſchke Gemeiner
blieb, hatte keine eigentliche Scheidewand zwiſchen ihnen auf¬
gerichtet. Häſchke war und blieb einer der beliebteſten und
angeſehenſten Kameraden, obgleich ihm die Vorgeſetzten nicht
wohl wollten, ſeines loſen Maules und ſeiner Leichtfertigkeit
wegen. Mutterwitz und Gewandtheit brachten ihn bei ſeines¬
gleichen deſto mehr zur Geltung.


Jetzt wurden alle dieſe Erinnerungen wieder aufgefriſcht.
Vom ſchnauzigen Wachtmeiſter und vom ſchneidigen Herrn
Rittmeiſter erzählte man ſich, und mancher luſtige Streich aus
dem Manöver und dem Garniſonsleben wurde an's Tageslicht
gezogen.


Häſchke war natürlich Guſtavs Gaſt. Als er erfahren
hatte, daß der Weitgereiſte heute noch nichts Ordentliches in
den Magen bekommen, beſtellte Guſtav Butterbrot und Wurſt
für ihn.


Auf dieſe Weiſe war der Nachmittag vergangen. Die
hereinbrechende Dunkelheit mahnte zum Aufbruch. Guſtav
dachte mit geheimer Beſorgnis an die hohe Zeche, die er ge¬
macht hatte. Aber er hütete ſich wohl, davon etwas merken
zu laſſen. Im Gegenteil! Den Kaſchels wollte er grade mal
zeigen, daß es ihm auf ein paar Mark nicht ankomme. Und
[232] er beſtellte für die ganze Geſellſchaft noch einen Korn zum
„Rachenputzen!“


Als man den Kretſcham verließ, ſchloß Häſchke ſich Guſtav
an. Sobald ſie ohne Zeugen waren, begann der Handwerks¬
burſche zu klagen, wie ſchlecht es ihm gehe. Seit vierzehn
Tagen ſei er in kein vernünftiges Bett gekommen. Die letzten
Sparpfennige waren in den Pennen draufgegangen. Die
Kleider fingen an zu zerreißen und die Füße ſchmerzten in
dem elenden Schuhwerk. Er ſah in der That abgeriſſen genug
aus. Er fragte Guſtav, ob er ihm nicht aus alter Kamerad¬
ſchaft etwas vorſchießen könne. Dann wolle er die Eiſenbahn
benutzen oder — wie er ſich in der Kundenſprache ausdrückte —
„mit dem Feurigen walzen“, und ihm von ſeiner Heimat aus
das Erborgte zurückerſtatten.


Guſtav hatte das Gewiſſen bereits gepeinigt wegen der
heutigen Zeche. Das war von den Erſparniſſen gegangen, die
er für die Hochzeit beſtimmt hatte. Es wurde ihm ſchwer,
dem alten Kameraden die Bitte abzuſchlagen, aber, es ging
nicht anders! Er war nicht mehr ganz nüchtern, wie er jetzt
erſt merkte, wo er ſich in freier Luft befand, aber er fand
noch ſoviel Überlegung, dem anderen zu erklären, daß er nichts
ausleihen könne, er ſei ſelbſt nicht in der beſten Lage und
wolle nächſtens heiraten.


Häſchke bat, daß er ihm dann wenigſtens Unterkunft für
ein paar Tage verſchaffen möge. Er wolle ſich ſeine Sachen
in Stand ſetzen und ſeine Füße ausheilen laſſen. Wenn er
ſich wieder etwas herausgemacht haben würde, werde er ſeine
Straße weiterziehen.


Dieſe Bitte konnte Guſtav unmöglich abſchlagen. Er
überlegte: bei den Eltern war ja Platz. Häſchke behauptete,
mit jedem Fleckchen, und ſei es auf dem Boden oder im
Schuppen, zufrieden zu ſein, und wenn es nur eine Bucht wäre
von Heu. Guſtav erklärte, es werde ſich wohl noch ein Bett
für ihn finden.


Er brachte alſo den Fremden mit nach Haus. Dort ſaß
die Familie bereits beim Abendbrot. Die Angetrunkenheit
[233] löſte Guſtavs Zunge. Mit größerem Wortreichtum, als man
ſonſt an ihm gewohnt war, ſtellte er den Fremdling als einen
ehemaligen Kameraden und Freund vor, dem man Obdach ge¬
währen müſſe.


Die Frauen blickten verdutzt auf den bärtigen Wander¬
burſchen, der in der trüben Beleuchtung des ſchwachen Öl¬
lämpchens nicht grade vertrauenerweckend ſich ausnahm. Der
alte Bauer ſagte nichts; ihn brachte jetzt nicht ſo leicht mehr
etwas aus ſeiner verſtockten Gelaſſenheit. In früheren Zeiten
würde er dem ſchön gekommen ſein, der ihm ſolch' einen Strolch
in's Haus gebracht hätte. Aber, jetzt nahm er auch das mit
in den Kauf zu dem übrigen. Die Bäuerin war gewiß nicht
erbaut über den Gaſt; doch wagte ſie nichts zu äußern, aus
Furcht, Guſtav zu reizen. Thereſe war die erſte, welche Worte
fand. Als Guſtav fragte, wo ein Lager für den Fremden zu
finden ſei, meinte ſie trocken, drüben bei den Schweinen ſtehe
noch ein Koben leer. Eine Bemerkung, welche ihr Gatte Karl,
nachdem er den Sinn erſt begriffen, ſo ausgezeichnet fand,
daß er in ein Gelächter ausbrach, welches an dieſem Abende
nicht mehr enden zu wollen ſchien.


Guſtav erbleichte vor Zorn. „Dann wird Häſchke eben
in meinem Bette ſchlafen!“ ſagte er. „Mir ſoll keiner nach¬
ſagen, daß ich einen Kameraden auf der Straße hätte liegen
laſſen. Komm, mei Häſchke!“


„Und wu wirſt Du denne ſchlafen alsdann, Guſtav?“
fragte die Mutter beſorgt, da ſie ſah, daß der Sohn ernſt
machen wollte mit ſeinem Vorhaben.


„Mutter, ich weeß ſchon an Fleck für mich!“ ſagte Guſtav.


Und in der That, es gab in Halbenau einen Platz für
ihn, wo er freudige Aufnahme fand, zu Tages- und Nachtzeit.

[[234]]

V.

Obgleich gerade Guſtav es geweſen war, der dem Auf¬
ſeheragenten das Geſchäft in Halbenau gelegt hatte, ließ
ihm doch der Gedanke an den Mann und was er geſagt hatte,
keine Ruhe. Er hatte neulich die ganze Sache als Schwindel
und Menſchenfang bezeichnet, aber im Stillen gedachte er jetzt
mit heimlich zehrender Sehnſucht der goldenen Berge, die jener
in Ausſicht geſtellt hatte. Wenn nun doch etwas an der Sache
war! — Gänzlich aus der Luft gegriffen konnte das alles
unmöglich ſein. Guſtav entſann ſich der gedruckten Formulare,
die der Mann vorgezeigt hatte; ſogar Stempel von Behörden
waren darauf zu ſehen geweſen.


Der junge Mann befand ſich in eigentümlicher Lage.
Seine Seelenſtimmung war geteilt. Die Anerbietungen des
Agenten lockten; auf der anderen Seite ſcheute er ſich, wieder
in den Bannkreis des Mannes zu geraten, den er ſoeben mit
Erfolg bekämpft hatte. Und ſchließlich ſchämte er ſich auch
vor den Dorfgenoſſen, die ſein Auftreten im Kretſcham mit
erlebt und Beifall geklatſcht hatten.


Er hielt ſich dem Werber vorläufig ferne, aber in den
Blättern verfolgte er die weiteren Schritte des Mannes mit
Spannung.


In allen Ortſchaften ringsum rührte Zittwitz die Werbe¬
trommel, und wie es den Anſchein hatte, mit großem Erfolge.
Seine Kontrakte bedeckten ſich allmählich mit Hunderten von
Unterſchriften.


[235]

Es lag etwas Anſteckendes in dieſer Bewegung. Man
wollte ſich einmal verändern, wollte ſein Glück in der Ferne
verſuchen. Der Agent ſchilderte die Verhältniſſe da draußen
im Weſten in verlockenden Farben. Und wenn der Mann
vielleicht auch Schönfärberei trieb, ſeines Geſchäftes wegen,
ſchließlich ſchlimmer als daheim konnte es dort wohl auch nicht
ſein. Und der Gedanke, zu wandern, ein Stück Welt zu
ſehen, packte die Gemüter mächtig. Die Fremde lockte mit
ihren unklaren, dem Auge im bläulichen Dunſt der Ferne
verſchwimmenden Dingen. Das Frühjahr ſtand vor der Thür;
da ſind die Hoffnungen leicht erregbar in der Menſchen¬
bruſt. Da wachſen und quellen heimliche Wünſche, ein unver¬
ſtändlicher Drang treibt, ein ſüßes und beunruhigendes Ge¬
fühl quält den jungen Menſchen und reizt ihn zu Neuem,
Unentdecktem. Der tief in die Menſchennatur geſenkte Trieb,
ſich zu verändern, der Wandertrieb, regte ſich.


Wie die Zugvögel kamen ſie zuſammen. Einer ſagte es
dem anderen; überall in den Schenkſtuben, des Sonntags vor
der Kirche, bei gemeinſamer Arbeit, wo immer Menſchen zu¬
ſammenkamen, wurde das Für und Wider eifrig beſprochen.
Die Hoffnungsfreudigen ſteckten die Verzagten an; wer bereits
unterſchrieben hatte, ſuchte Gefährten zu werben. Wie der
Schneeball im Rollen wuchs die Bewegung.


Schon reute es manchen jungen Mann und manches
Mädchen in Halbenau, daß ſie neulich die Anträge des Auf¬
ſeheragenten abgelehnt hatten. Heimlich gingen ſie dorthin, wo
er neuerdings ſein Quartier aufgeſchlagen hatte, um ſich ſeine
Worte doch noch einmal mit anzuhören.


Eines Abens befand ſich denn auch Guſtav Büttner auf
dem Wege nach dem benachbarten Wörmsbach, wo, wie er aus
den Zeitungen erſehen hatte, Zittwitz heute ſprechen wollte.
Guſtav hatte daheim keinem Menſchen etwas geſagt, von ſei¬
nem Vorhaben. Niemand in Halbenau ſollte etwas davon
wiſſen, er wollte ſich gänzlich im Hintergrunde halten; wenn
irgendmöglich, wollte er vermeiden, von dem Agenten ſelbſt
geſehen zu werden.


[236]

Im Gaſthof zu Wörmsbach bot ſich dem Eintretenden ein
ganz anderes Bild dar, als neulich in Halbenau. Der Auf¬
ſeheragent ſaß auf einem erhöhten Podium, neben ihm ein
junger Mann, welcher ſchrieb. Seinen Vortrag ſchien Zittwitz
bereits gehalten zu haben. Hin und wieder richtete er noch
ein Wort der Erläuterung an die Menge, oder beantwortete
Fragen einzelner, die an ihn herantraten. Er ſchien von
Männern aus der Verſammlung unterſtützt zu werden, die von
Tiſch zu Tiſch, und von Gruppe zu Gruppe mit Zetteln gingen,
und den Leuten zuſetzten, ſie ſollten unterſchreiben. Beſonders
rührig darin zeigte ſich ein gewiſſer Wenzelsguſt, der für ge¬
wöhnlich als arbeitsſcheues Individuum bekannt war. Dieſer
Menſch lief hier mit wichtiger Miene geſchäftig umher, und redete
den Leuten zu, ſie dürften ſich eine ſolche Gelegenheit zur Ar¬
beit um keinen Preis entgehen laſſen.


Hin und wieder trat ein Burſche, oder ein Mädchen
an das Podium und ſprach mit dem Agenten. Waren ſie
handelseinig geworden, dann ließ ſich der Schreiber die Per¬
ſonalien angeben, füllte ein Formular aus, und der Neu¬
geworbene ſetzte ſeinen Namen unter den Kontrakt. Von Zeit
zu Zeit verlas der Agent dann mit lauter Stimme die Namen
und knüpfte daran Worte der Ermunterung an die, welche noch
zauderten.


Doch ſpielte ſich nicht alles ſo ruhig und geſchäftsmäßig
ab. Starke Gefühle, Leidenſchaften und Triebe arbeiteten
verſteckt unter anſcheinender Ruhe und Stumpfheit, in dieſer
Menge.


In Guſtavs Nähe ſtand eine alte Frau und ein junges
Mädchen. Wie aus ihren Worten zu merken, war die Greiſin
die Großmutter des kaum ſechzehnjährigen bildhübſchen Dinges.
Die Alte hatte Thränen in den Augen und redete voll Eifer
auf die Enkelin ein. Die blieb ſtumm, und blickte mit einem
gewiſſen verinnerlichten Trotz in ihren kindlichen Zügen nach
dem Podium hinüber, wo eben neue Sachſengänger ſich
meldeten.


„Ne, Guſte!“ ſagte die alte Frau mit zitternder Stimme,
[237] das Mädchen mit ihrer runzeligen Hand liebevoll tätſchelnd,
„De werſt uns duch ſu was ne oanthun wellen. Was ſillte
denn aus dan kleenen Kingern warn, dernoa? Gieh! Bleib
ack bei uns, Guſte! Weeß mer denne, wie's da draußen ſen
mag.“


Dann ſah ſich die Greiſin hilfeſuchend im Kreiſe um:
„'s is ane Sinde und ane Schande, ſu a Madel, mit¬
nahmen!“ Und ſich dem Mädchen wieder zuwendend: „Gleb
mirſch, Guſte, Dir wird's ei der Fremde bange wer'n nach
der Heemde.“


In geſchwätziger Greiſenart erzählte ſie jedem, der es
hören wollte, von ihrer Not. Ihre Tochter, die Mutter des
Mädchens, lag ſchon im ſiebenten Monat, an's Bett gefeſſelt.
Der Schwiegerſohn war als Steinmetzger im Gebirge, hatte
einen Haufen kleiner Kinder. Und nun wollte die Guſte
auch noch fort, welche bisher die Stütze des ganzen Haushalts
geweſen war. „Raden Sie er ack zu!“ bat ſie die Umſtehen¬
den. „Uf mich Altes thut ſe ne hieren. Se ſoit, ſe will ſich
a Sticke Geld verdienen mit a Riebenhacka. Ich ha' geſoit,
iber ſe geſoit ha' ich: Guſte, 's is duch ane Sinde und ane
Schande, ſu a Madel, ſu a jung's Madel alleene ei de Fremde
lofa. Was ſull denne aus uns warn hernach'n.“


Die Greiſin blickte in hilfloſer Verzweifelung von einem
zum anderen. Während ſie noch ihr Leid klagte, war die
Enkelin unvermerkt von ihrer Seite gewichen. Bald darauf
ſah man ihr rotes Kopftuch in der Nähe des Podiums, und
nach einiger Zeit verlas der Agent ihren Namen unter den
Angeworbenen.


Guſtav erlebte mit Staunen, wie flott hier das Geſchäft
des Werbers ging. Freilich, in Wörmsbach lagen die Verhält¬
niſſe auch anders, als bei ihnen in Halbenau. Wörmsbach und
ſeine Bewohner genoſſen nicht gerade den beſten Ruf in der
Nachbarſchaft. Hier hatte es urſprünglich viele wohlhabende
und ſelbſtändige Bauern gegeben. Eine Zeit lang nahm der
Ort einen Aufſchwung, der die Nachbardörfer in Schatten
ſtellte. Aber die junge Generation hatte angefangen, auf
[238] dem ererbten Wohlſtande auszuruhen. Das Spiel, der ärgſte
Verderber des Bauern, war aufgekommen, und der Trunk
hatte ſich dazu geſellt. An Stelle des Reichtums trat die Über¬
ſchuldung. Die Güter der Bankrottierer kamen unter den
Hammer und wurden zerkleinert. In keinem Orte der ganzen
Umgegend ſpielte die Güterſchlächterei und der Bodenſchacher
eine ſolche Rolle, wie in Wörmsbach. Samuel Harraſſowitz
aus der Kreisſtadt war hier kein Unbekannter.


An einem Tiſche für ſich ſaß eine Anzahl Männer, die
ſich durch ihre Kleidung von den Dorfleuten abhoben. Der
Gensdarm mit einem graden ſchwarzen Schnurrbart, neben
ihm ein dicker Mann mit rotem Vollbart im braunen Loden¬
rock — in dem Guſtav einen der Inſpektoren der Herrſchaft
Saland wiedererkannte — dazu zwei Leute in Jägertracht, gräf¬
liche Revierförſter.


Guſtav erfuhr von einem neben ihm ſtehenden jungen
Manne, weshalb die Beamten hier ſeien. „Zum uffpaſſen!“
Neulich habe es bereits einen großen „Spektakel“ gegeben,
da ſeien ein paar Mägde und ein Holzarbeiter von der
Herrſchaft davongelaufen und hätten ſich dem Agenten ver¬
dungen.


Die Augen des Berichterſtatters leuchteten vor Schaden¬
freude, als er erzählte: „Da ſull nu der Schandarm und
er ſull helfen uffpaſſen. In hellen Haufen lofen ſe weg
vun der Herrſchaft und och von den Pauern. Is denen
ſchun recht, ſag 'ch, was zahlt 'r ſicke Hungerlöhne, daß
unſerener ne laben kann dermitte und ne ſtarben.“


Guſtav ſah ſich den kleinen verwachſenen Burſchen etwas
näher an. Das war wohl ein ‚Sozialer‘, wie es hier auch
ſchon welche gab. Er fragte jenen, wer er ſei, und was er hier
wolle. Er ſei Ochſenknecht auf dem Rittergute, ſagte der Kleine.
„Ich ginge och glei. Ich ha' das Luderlaben ſatt. Glei macht
'ch mitte nach Sachſen. Wenn 'ch ack ne verheirat' wäre! Und
Zittwitz ſpricht: Frau und Kinder dirfte ees ne mitnahmen,
ſpricht er.“


Inzwiſchen ſchien ſich die Zahl der Arbeitſuchenden er¬
[239] ſchöpft zu haben. Der Aufſeheragent erhob ſich und fragte,
ob ſich weiter niemand melde, ſonſt werde er für heute Abend
die Liſte ſchließen. Dann verließ er das Podium und miſchte
ſich unter die Menge. Hier und da blieb er ſtehen an den
Tiſchen, redete einzelne Leute an: er habe gerade noch eine
Stelle frei auf einem ausgezeichneten Gute, ſie ſollten ſich nur dazu
halten, jetzt noch vor Thoresſchluß ihr Glück zu machen. So
ſchritt er von Tiſch zu Tiſch.


Als er Guſtavs anſichtig wurde, ſtutzte er. Einen Augen¬
blick ſchien er zu überlegen, wo er dieſes Geſicht wohl ſchon
geſehen hätte. Er warf dem jungen Manne einen mißtrauiſchen
Blick aus ſeinen dunklen Augen zu. Dann aber, als habe er
ſich eines anderen beſonnen, hellten ſich ſeine Züge plötzlich
auf. Wohlwollend reichte er dem erſtaunten Guſtav die Hand,
und meinte in vertraulichem Tone, wie zu einem alten Be¬
kannten: „Recht ſo, daß Sie auch hier ſind! Haben ſich's
alſo doch überlegt! Kommen Sie nur mit mir nach vorn,
mein Beſter! Von Ihrer Art kann ich gerade noch einen ge¬
brauchen.“


Guſtav erwiderte dem Agenten, daß er ſich irre, wenn er
ihn für einen Arbeitſuchenden halte.


„Wer ſpricht denn von Arbeit! Leute Ihres Schlages,
ſtellt man doch nicht zum Rübenhacken an. Für Sie habe ich
ganz was anderes in petto. Sie ſind Unteroffizier geweſen —
nicht wahr?“


Guſtav bejahte verdutzt. Woher wußte der Menſch das
bereits?


„Ihnen würde ich einen meiner Kontrakte verkaufen,
verſtehen Sie!“ ſagte der Agent, näher an den jungen
Mann herantretend, mit geſenkter Stimme, andeutend, daß
die anderen das nicht mit anzuhören brauchten. „Das
heißt ſoviel: ich übergebe Ihnen einen Auftrag, den ich
von einem kleineren Gute erhalten habe, in eigene Enter¬
priſe, verſtehen Sie wohl! Sie beſorgen ſich die Leute ſelbſt,
und gehen dann als Vorarbeiter, oder Aufſeher, mit ihnen
hinaus.“

[240]

Guſtav ſchüttelte den Kopf. Er verſtand durchaus nicht,
was jener meinte.


„Die ganze Sache bedeutet nämlich für Sie ein glänzendes
Geſchäft, mein Lieber! Sie verdienen pro Kopf drei bis vier
Mark Proviſion, je nachdem! Außerdem bekommen Sie Ihren
Vorarbeiterlohn, und im Herbſt eine ſchöne Gratifikation, wenn
die Arbeit zur Zufriedenheit ausgeführt iſt. Ich dächte, ſo
etwas ſollte man nicht ohne weiteres von der Hand weiſen.
Alſo, wie ſteht's, ſind wir einig?“


Der Händler hielt die Hand ausgeſtreckt. Guſtav ſah
ihn nur verwundert an. Das kam alles ſo Hals über
Kopf! —


„Hier! leſen Sie ſich mal das Ding hier durch! Das iſt
ein Vorarbeiter-Kontrakt. Die Wirtſchaft, für die Sie Leute
zu engagieren haben würden, iſt ein Vorwerk. Vier bis fünf
Männer und eine Mandel Mädchen etwa würden genügen.
Leſen Sie ſich das mal durch! Ich komme nachher wieder
zu Ihnen. Dann wollen wir weiter ſprechen. Wir werden
ſchon handelseinig werden. — Sie ſind ja ein heller Kopf!
Das habe ich neulich in Halbenau gemerkt.“ Damit klopfte
er Guſtav auf die Schulter, blickte ihn verſchmitzt lächelnd von
der Seite an, als wolle er ſagen ‚wir verſtehen uns!‘ und
ging dann zu anderen.


Guſtav blickte in das Papier, welches er ihm gelaſſen
hatte. Darin ſtand, daß der Vorarbeiter N. N. ſich verpflichte,
mit einer Anzahl kräftiger Männer und Mädchen auf das Gut
X. zu kommen, um dort gewiſſe Arbeiten auszuführen. Es
folgten die einzelnen Arbeiten und die Lohnbedingungen. Guſtav
las die lange Reihe von Paragraphen nicht durch. Sollte er
ſich mit dieſer Sache auch nur von Ferne einlaſſen? Er und
Leute anwerben im Auftrage eines Fremden, für ein Gut, das
er gar nicht einmal kannte, ja, noch ſchlimmer, für Verhältniſſe,
die ihm gänzlich neu waren.


Und wenn der Gewinn noch ſo hoch ſein mochte, der da¬
bei herausſprang, mit ſolchen unſicheren Dingen wollte er ſich
nicht bemengen. Es war etwas in ihm, eine warnende Stimme
[241] — mit Worten hätte er dem gar nicht Ausdruck geben können —
ihm war es, als müſſe dem Handel etwas Unrechtes zu Grunde
liegen, und als begehe er eine Leichtfertigkeit, wenn er ſich
dazu hergebe.


Als der Agent zu ihm zurückkam, gab Guſtav ihm den Kon¬
trakt zurück, ſagte, er habe ſich überzeugt, daß das nichts für
ihn ſei, und wollte gehen.


Zittwitz faßte den jungen Mann am Ärmel, um ſein
Forteilen zu verhindern. „Sie haben die Sache noch nicht
richtig verſtanden; daran liegt's, mein Guter! Setzen wir uns
dorthin, ich werde Ihnen die Geſchichte mal beim Glaſe Bier
haarklein auseinanderſetzen. Und wenn Sie dann nicht mit
beiden Händen zugreifen, dann ſoll Sie und mich der Teufel
frikaſſieren!“ Er führte Guſtav in eine ruhige Ecke. Dort
ſetzte er ſich und beſtellte zwei Glas Bier.


„Alſo, was wollen Sie! Was gefällt Ihnen nicht an dem
Kontrakt?“ fragte der Agent in ſeiner eindringlichen Weiſe.
Er hatte ſich dicht vor Guſtav hingeſetzt, deſſen Aufmerkſam¬
keit gewiſſermaßen durch ſeine Körpernähe erzwingend. „Was
haben Sie auszuſetzen? Welche Punkte wünſchen Sie anders?“


Guſtav, welcher ſich ſchämte, einzugeſtehen, daß er den Kon¬
trakt gar nicht durchgeleſen hatte, gab als Entſchuldigung an,
daß er heiraten wolle.


„Das paßt ja ausgezeichnet!“ rief der Agent, „dann
bringen wir die junge Frau mit!“ und als errate er
Guſtavs nähere Verhältniſſe: „und auch die Kinder, wenn
ſchon Familie da iſt. Das läßt ſich alles einrichten, beim Auf¬
ſeher heißt das! Bei dem gewöhnlichen Arbeiter, verſteht ſich,
wird dergleichen nicht geduldet. — Sehen Sie, mein Lieber,
Sie haben ja keine Ahnung, wie ſchön und angenehm Sie dort
alles vorfinden. Ein Haus ganz für ſich, für Sie und
die Arbeiter. Sie führen die Oberaufſicht. Kein Menſch
hat Ihnen da was 'reinzureden in Ihren Kram. Natürlich
auf Ordnung müſſen Sie halten. Nun, das ſind Sie ja vom
Militär her gewöhnt. Ihre Frau verſorgt den Herd, während
die Mädel auf Arbeit gehen. Iſt das nicht ein herrliches
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 16[242] Leben? Kann man ſich was Selbſtändigeres, Freieres denken,
für einen unternehmenden, ſtrebſamen jungen Mann wie Sie,
— he!“


Dabei klopfte er Guſtav freundſchaftlich auf die Schenkel.
Der wandte ein, daß er die Arbeiten vielleicht gar nicht ver¬
ſtehe, zu denen er die Leute anſtellen ſolle.


„Verſtehen Sie das Mähen?“


„Ja!“


„Verſtehen Sie das Binden?“


„Ja!“


„Und das Setzen?“


Abermals „ja!“


„Nun und das bißchen Rüben verhacken, verziehen und
roden, iſt ja ein Kinderſpiel. Außerdem iſt dort natürlich auch
ein Inſpektor, der Sie in dem Notwendigſten unterweiſen
wird. Ihre Pflicht iſt vor allem, das Zuſammenhalten und
Beaufſichtigen der Leute; verſtehen Sie! Sie ſind gewiſſer¬
maßen der Korporalſchaftsführer.“


Die Worte des Agenten verfehlten nicht einen gewiſſen
Eindruck auf Guſtav hervorzubringen. Was der da ſagte, be¬
rührte ſich mit ſeinen eigenen geheimſten Wünſchen. Schon
wußte er nicht mehr, was für Einwände er jenem noch entgegen¬
ſetzen ſollte.


„Die Sache iſt Ihnen noch fremd, mein Lieber!“ fuhr der
Agent fort. „Ich will Ihnen mal was im Vertrauen ſagen!
dieſe Art des Arbeitskontraktes und der Arbeiteranwerbung
überhaupt, das iſt die moderne Wirtſchaftsweiſe. So wird's
in Amerika gemacht, auf den Plantagen und Farmen. Und in
Zukunft wird's bei uns überall ſo werden. Das iſt die moderne
rationelle Wirtſchaftsweiſe.“ — Der Mann ſchien beſonders ſtolz
auf dieſen Ausdruck zu ſein, denn er wiederholte ihn noch einige¬
male. — „Das iſt überhaupt das einzig Rationelle ſo! Beide
Teile kommen dabei auf ihre Rechnung. Der Arbeitgeber
macht ſich ſeinen Anſchlag, beſtellt ſich dann, was er braucht
an Arbeitskräften; der Agent beſorgt ihm die Leute, ſo viel
wie er braucht, auf den Kopf. Und der Arbeiter — nun
[243] der fährt auch nicht ſchlechter dabei. Der bekommt ſeine
Leiſtungen auf Heller und Pfennig in bar ausbezahlt. Beide
Teile wiſſen ganz genau, was ſie von einander zu fordern
haben; dafür iſt der Kontrakt da. Der eine giebt das Geld,
der andere ſeine Kräfte. Das Geſchäft iſt klipp und klar, wie
ein Rechenexempel. Alles wird auf Geld zurückgeführt, gerade
wie in Amerika! Iſt das nicht viel praktiſcher und rationeller
ſo? Früher da bekam das Geſinde Geld überhaupt nicht zu
ſehen. Da gab's freie Wohnung und Verpflegung und höchſtens
noch Deputat. Das waren die ſogenannten patriarchaliſchen
Zuſtände. Unter uns geſagt die reine Sklaverei! Jetzt giebt's
das nicht mehr. Jetzt wird alles nach amerikaniſchem Muſter
gemacht. Das nennt man das moderne Wirtſchaftsſyſtem, ver¬
ſtehen Sie! Aber, alles das ſage ich Ihnen nur ganz im
Vertrauen.“ —


Dem jungen Mann brummte der Kopf von dem, was er
gehört hatte. Ihm wurde bange zu Mute dieſem Menſchen
gegenüber, mit ſeiner aufdringlichen Beredſamkeit.


Zittwitz hatte ſich, nachdem er dieſen Trumpf ausgeſpielt,
erhoben. Er habe noch mit jemandem zu ſprechen, ſagte er,
wolle aber bald zurückkommen.


Guſtav wartete nur, bis er den Agenten in eifrigem Ge¬
ſpräch mit ein paar jungen Leuten am anderen Ende des
Saales vertieft ſah, dann entfernte er ſich ſo ſchnell wie
möglich. Den Kontrakt des Agenten hatte er aber doch zu ſich
geſteckt.


Inzwiſchen waren aus den zwei bis drei Tagen, die
Häſchke hatte auf dem Bauerngute bleiben wollen, um ſeine
Sachen in Stand zu ſetzen und ſeine Füße auszuheilen, volle vier¬
zehn Tage geworden. Der Wanderburſche hatte es ausgezeichnet
verſtanden, ſich bei den Bauersleuten wohlgelitten zu machen.
Selbſt die Gunſt des alten Bauern hatte er ſich zu erobern
gewußt, indem er ſich unentbehrlich machte. „Wozu bin ich
denn Flammer von Religion?“ ſagte er, womit er meinte, daß
16*[244] er ſich auf Schmiedearbeit verſtehe, und er müſſe doch ab¬
arbeiten, daß er hier „treife wohne.“ —


Und ſo machte er ſich über die Ackergerätſchaften, die
Pflüge, Eggen, und die Handwerkszeuge, ſah nach den Schrau¬
ben, ſchweißte, hämmerte, nietete und ſchärfte. Kurz, er brachte
alles in Schuß für die nahe Frühjahrsbeſtellung.


Die Herzen der Frauen gewann Häſchke durch ſeine
gute Laune und ſeine ſchnodderigen Witze. Im Büttnerſchen
Hauſe war die Fröhlichkeit lange Zeit ein unbekannter Gaſt
geweſen. Jetzt wurde ſogar geſungen — allerdings nur wenn
der Bauer außer Hörweite war. Es ſtellte ſich heraus, daß
Häſchke ſangeskundig war, und Erneſtine hatte eine hübſche
Stimme. Da ſangen ſie manchmal zweiſtimmig, allerhand neue
und luſtige Lieder, die der Wandersmann von der Walze mit¬
gebracht hatte. Am ſchönſten aber war es, wenn er von ſei¬
nen Reiſeerlebniſſen erzählte. Vielleicht nahm er es mit der
Wahrheit nicht immer genau. Er wußte von wunderlichen
Fahrten, Glücksfällen und Abenteuern zu berichten. Jedenfalls
verſtand er, ſpannend zu erzählen und ſeine Lügen geſchickt
auszuſchmücken. Die Frauen glaubten ihm auf's Wort; mit
offenem Munde und leuchtenden Augen hörte ihm Erneſtine
zu, wenn er von den Wundern der Fremde berichtete. Häſchke¬
karl hatte wohl ſchwerlich etwas vom ‚Mohren von Venedig‘
vernommen. Aber auch er wußte, belehrt durch die Schlau¬
heit des Inſtinktes, daß man, durch Erwecken ihrer Teilnahme
an Gefahren und außerordentlichen Erlebniſſen, das Wohlgefallen
der Frau am ſicherſten erregt.


Erſtaunlich ſchnell hatte Häſchke es auch verſtanden, ſich
aus einem zerlumpten Bummler in einen ſchmucken und leid¬
lich anſtändig ausſehenden Menſchen zu verwandeln. Viel
trug zu dieſer Mauſerung bei, daß er ſich ſeinen ſtruppi¬
gen Vagabundenbart hatte abnehmen laſſen. Faden, Nadel
und Schere borgte er ſich, und für ihn fand ſich auch
unter den Vorräten der Frauen dieſes und jenes Stück
Zeug. Karl Büttner mußte eine ‚Staude‘ hergeben, wie
Häſchke das dem Leibe zunächſt gelegene Kleidungsſtück be¬
[245] nannte, der Schuſter mußte ihm die ‚Trittchen‘ neu be¬
ſetzen; den ‚Wallmuſch‘ die ‚Kreuzſpanne‘ und die ‚Weitchen‘
flickte er ſich ſelbſt mit den Tuchreſten, welche er von den
Frauen erhalten hatte. Der Erfolg war, daß er mit einer
etwas ſcheckigen, aber, nach ſeiner eigenen Auffaſſung ‚duften
Kluft‘ umherging.


Als der Büttnerbauer zum erſten Male mit der Egge
auf's Feld hinausfuhr, ging Häſchke mit. An einzelnen Stellen
war der Froſt noch im Boden und erſchwerte die Arbeit. Der
zugereiſte Handwerksburſche wußte ſich auch hier nützlich zu
machen. „Nehmt mich als Knecht an, Vater Büttner!“ meinte
Häſchke in dem vertrauten Tone, deſſen er ſich ſeinem Wirt
gegenüber zu bedienen Pflegte. Und der alte Bauer ſagte
nicht „nein!“


Guſtav kam in dieſer Zeit nicht mehr auf den väter¬
lichen Hof. Er ging dem Alten aus dem Wege. Neuerdings
brauchten Vater und Sohn nur drei Worte zu wechſeln, und
der Streit war fertig. Guſtav meinte, das könne er ſich er¬
ſparen; ändern würde er ja zu Haus doch nichts mehr an dem
Gange der Dinge.


Er hatte ganz genug mit ſeinen eigenen Angelegenheiten
zu ſchaffen. Die Trauung war nunmehr feſtgeſetzt, auf den
nächſten Sonntag. Das Paar ſelbſt wollte von jeder Feier¬
lichkeit, mit Ausnahme der kirchlichen, abſehen. Aber, Pau¬
linens Mutter blieb darauf beſtehen, daß man den Hochzeits¬
gäſten etwas vorſetzen müſſe. Frau Katſchner verſtand, von
ihrer Dienſtzeit in der herrſchaftlichen Küche her, einiges vom
feineren Braten und Kochen. Sie wollte ſich die Gelegenheit,
ihre Künſte einmal im hellſten Lichte zu zeigen, nicht entgehen
laſſen. Nach der Trauung in der Kirche ſollte es alſo einen
Schmaus bei ihr im Hauſe geben.


Am Morgen, nachdem Guſtav in Wörmsbach geweſen
war, kam Erneſtine zu ihm. Sie wolle mit nach Sachſen
auf Rübenarbeit gehen, erklärte ſie dem Bruder, ohne viele
Umſchweife.


Guſtav lachte die kleine Schweſter aus, ſie ſei wohl när¬
[246] riſch geworden, meinte er; der Vater werde ſie jetzt gerade
fortlaſſen, wo er alle Hände nötig brauche.


Das Mädchen erklärte dagegen mit einer Redefertigkeit,
die man ihrer Jugend ſchwerlich zugetraut hätte: Die Eltern
hätten kein Recht, ſie zurückzuhalten, wenn ſie gehen wolle.
Hier halte ſie es nicht mehr aus! Sie wolle ſich ſelbſt etwas
verdienen. Sich nur immer für andere abzuquälen, ohne je
einen Pfennig Verdienſt zu beſehen, habe ſie ſatt. Sie ſei nun
erwachſen und wolle ſich nicht länger als Schulkind behandeln
laſſen. Kurz, ſie werde mit den anderen fort auf Sommer¬
arbeit gehen.


Guſtav ſah ſich das kleine ſchmächtige Perſönchen mit
Staunen an. Man hatte ſich in der Büttnerſchen Familie
daran gewöhnt, Erneſtine immer noch als ein halbes Kind an¬
zuſehen, weil ſie eben das Neſthäkchen war. Aber heute merkte
er, daß ſie den Kinderſchuhen in der That entwachſen ſei.


Er hielt es trotzdem für ſeine Pflicht, ihr abzureden. Sie
könne doch gar nicht wiſſen, wie es da draußen ſei, und was
ihrer dort warte, ſagte er. Aber da lachte das Mädchen den
großen Bruder einfach aus. Das dürfe er doch zu allerletzt
ſagen, meinte ſie, mit altklug-ſchnippiſcher Miene. Er habe ſich
ja ſelber dem Agenten verpflichtet, und er wolle ihm ja ſogar
Arbeiter verſchaffen.


Der Bruder faßte das Mädchen am Arme. Woher ſie das
habe, wollte er wiſſen. Einige Freundinnen von ihr waren
am Abend zuvor in Wörmsbach geweſen, die hatten die
Nachricht mitgebracht: Büttnerguſtav habe ſich dem Agenten
Zittwitz verpflichtet, und wolle mit Arbeitern nach Sachſen
gehen.


Guſtav war im höchſten Grade aufgebracht. Er ſchimpfte
auf den Agenten und verſchwor ſich, die ganze Sache ſei
dummes Gerede. Erneſtine ſchrie er an, ſie ſolle ſich auf
der Stelle packen, er werde den Teufel thun! Überhaupt
wolle er mit der ganzen Geſchichte nichts zu ſchaffen
haben.


Erneſtine ſchien gerade keine allzugroße Angſt vor dem
[247] Zorne des Bruders zu haben. Sie war von zu Hauſe her
gegen das Wüten der Männer abgebrüht. Sie ließ ihn aus¬
toben. Dann meinte ſie mit ruhiger Miene, ſie wiſſe auch noch
im Dorfe eine Anzahl anderer Mädchen, die gern mitgehen
würden, beſonders wenn ſie wüßten, daß ſie unter Guſtavs
Aufſicht kämen. Der Bruder erwiderte ihr, es falle ihm gar
nicht ein, mit einer Herde Gänſe in's Land zu ziehen; da
möchten ſie ſich einen anderen dazu ausſuchen.


Aber, die kleine Erneſtine ließ ſich nicht ſo leicht werfen.
Ein Plan, der ſich einmal in dieſem Köpfchen feſtgeſetzt hatte,
wurde auch zu Ende geführt. Der Bruder möge ihr nur den
Kontrakt geben, den er von dem Agenten bekommen habe,
das Übrige ſolle er ihre Sache ſein laſſen. Sie werde ſchon
für die Unterſchriften ſorgen.


Guſtav hatte ſich die Sache in der vorigen Nacht hin und
her überlegt. Pauline hörte ſein Seufzen und unruhiges
Wälzen neben ſich. Der Agent hatte ihn mit ſeinem Vor¬
ſchlage einen wahren Feuerbrand in die Seele geworfen. Viel¬
leicht war hier eine Gelegenheit, ſein Glück zu machen! Und
auf der anderen Seite: war nicht die Verantwortung eine all¬
zugroße? Würde er ſich der Aufgabe gewachſen zeigen? —
Das waren Fragen, die er allein nur entſcheiden durfte; er
konnte Pauline keine Erklärung geben.


Als ſeine junge Schweſter jetzt vor ihn trat mit ihrer un¬
befangenen Sicherheit, da kam es ihm vor, als ſei das der
Anſtoß, auf den er nur gewartet habe, um ſich über ſeine
eigene Verzagtheit hinwegzuſetzen. Es war vielleicht das Beſte
ſo! Er übergab dem Mädchen den Kontrakt des Agenten.
Mochte die Sache nun gehen, wie ſie gehen wollte! —


Schon am Tage darauf erſchien Erneſtine wieder vor
dem Bruder. Sie hatte nicht weniger als elf Mädchen ge¬
wonnen. Und wenn man ihr ein paar Tage Zeit laſſe,
meinte ſie, mache ſie ſich anheiſchig, noch ein halbes Dutzend
anzuwerben.


Guſtav wußte anfangs nicht recht, ob er ſich über dieſen
Erfolg freuen ſolle. Jedenfalls ſtand jetzt feſt, daß er das be¬
[248] gonnene Unternehmen weiterführen mußte. Er befand ſich,
ohne ſich des Sprunges recht verſehen zu haben, auf einmal
jenſeits des Grabens.


Die Mädchen waren ihm alſo ſicher. Es galt nun, die
Männer, welche der Kontrakt verlangte, zu ſchaffen. Es
ſollten, den Vorarbeiter eingeſchloſſen, ihrer vier bis fünf ſein.
Guſtav ſann hin und her. Er überſchlug alles, was er von
jungen Leuten im Dorfe kannte. Kaum einer war da, dem
er Luſt und Befähigung für ſeine Zwecke zutraute.


Aber, es war merkwürdig! Als ob ſich ſo etwas durch
die Luft, wie ein Anſteckungsſtoff mitteilen könne! Kaum
zeigte ſich Guſtav heute auf der Gaſſe, da redeten ihn die
Leute auch ſchon auf ſein Unternehmen an. Das Gerücht
hatte bereits vergrößert. Er ſuche dreißig Mädchen — einer
ſprach ſogar von fünfzig — mit denen er nach Sachſen gehen
wolle.


Auch einzelne ſpöttiſche Mienen bekam er zu ſehen. Es
war noch in zu friſchem Gedächtnis, wie er neulich dem
Agenten entgegengetreten war. Und nun war er zu einem
Helfer eben dieſes Mannes geworden! Das mußte man mit
in den Kauf nehmen! Aber, es wurmte ihn im Geheimen,
daß mancher ihn nun für wankelmütig oder doppelzüngig
halten mochte.


Nun boten ſich ihm auch, ganz ohne ſein Dazuthun, zwei
junge Leute an. Der eine war auf einem der benachbarten
Rittergüter Stallburſche geweſen und jetzt ohne Stellung,
der andere wies ſich als geweſener Schmiedegeſelle aus,
ebenfalls arbeitslos. Bei dem Stallburſchen war Guſtav
zweifelhaft, ob er ihn mieten ſolle. Der junge, kaum
ſiebzehnjährige Menſch, mit ſeinen langen, knabenhaft mage¬
ren Gliedmaßen ſah nicht gerade wie ein ſtrammer Feld¬
arbeiter aus. Aber er bat ſo inſtändig, angenommen zu
werden, verſprach, ſein Möglichſtes an Fleiß zu leiſten,
daß Guſtav ihm ſchließlich den Willen that. Der Schmiede¬
geſelle machte den Eindruck eines kräftigen, handfeſten
Burſchen.


[249]

Zu Guſtavs nicht geringer Überraſchung trat auch Häſchke
an ihn heran und wollte angeworben ſein. Seit jenem Abende,
wo er den ehemaligen Kameraden auf den Bauernhof gebracht,
hatte Guſtav nicht mehr viel von ihm geſehen. Er hatte ſich
ſchon gewundert, daß dieſer Sauſewind ſoviel Seßhaftigkeit an
den Tag legte; denn über zwei Wochen war er jetzt ſchon in
Halbenau. Und als er Häſchkes Fleiß und Betriebſamkeit von
den Seinen rühmen hörte, wollte er ſeinen Ohren kaum trauen.
Was war denn auf einmal in dieſen Menſchen gefahren, daß
er ſo gänzlich umgetauſcht erſchien!


Als Häſchke jetzt mit dieſem Anſinnen kam, lachte ihn
Guſtav anfangs aus. Das war wohl gar ein ſchlechter Witz
dieſes Tauſendſaſas! Aber Häſchke drang allen Ernſtes da¬
rauf, angeworben zu werden. Guſtav hielt ihm vor, daß Feld¬
arbeit gar nicht ſein Beruf ſei. Häſchke erwiderte, er verändere
ſeine ‚Religion‘ ganz gerne einmal, und er wolle mit Guſtav
„mang die Zuckerrüben“ gehen.


Guſtav wollte den ehemaligen Kameraden nicht abweiſen.
Schließlich war Häſchke ein fixer Kerl und offener Kopf. Er
hatte ſchon mancherlei geſehen von der Welt und mochte ſich
in ſchwierigen Verhältniſſen wertvoll erweiſen.


Guſtav begab ſich mit dem Kontrakte, unter dem nun
ſchon eine ganz ſtattliche Anzahl von Unterſchriften prangte,
zu dem Agenten, der jetzt, nachdem er die Dörfer der Um¬
gegend zur Genüge bereiſt, ſein Hauptquartier wieder in der
Kreisſtadt aufgeſchlagen hatte.


Als er das Büreau betrat, empfing ihn Zittwitz mit
dem Ausrufe: „Sehen Sie, ich habe es Ihnen ja geſagt, daß
wir handelseinig werden würden. Nun zeigen Sie mal her!“
Damit ließ er ſich den Kontrakt reichen.


Der Agent nickte zufrieden. Daß ein paar Mädchen mehr
darauf ſtanden, als verlangt — durch Erneſtinens eifriges
Werben — war ihm nicht unlieb; denn, meinte der erfahrene
Mann: ein oder das andere Frauenzimmer bleibe im letzten
Augenblicke doch noch weg, oder laufe auch während des
Sommers aus der Arbeit. Da ſei es vorſichtiger gehandelt,
[250] wenn man von Anfang an ein paar mehr mitbringe, als un¬
bedingt verlangt ſeien.


„Jetzt wollen wir mal die Reiſeroute feſtſtellen!“ ſagte
Zittwitz und nahm das Kursbuch zur Hand. „Sie reiſen am
Montag früh. Die Gutsverwaltung hat ſchon geſchrieben, daß
ſie ſehnlichſt auf die Leute warte. Natürlich mit dem erſten
Zuge! Da können Sie Abends bereits in Welzleben ſein. Ich
werde Sie anmelden, dann finden Sie jedenfalls Geſchirr vom
Vorwerke auf dem Bahnhof. Sorgen Sie dafür, daß die
Mädel nicht zu viel Gepäck mitſchleppen. Die möchten wo¬
möglich am liebſten das ganze Bett, Töpfe, Stühle, was weiß
ich alles, mitnehmen. Eine Lade und ein Federbett, das iſt
das Äußerſte, was geſtattet wird. Überhaupt, den Frauen¬
zimmern halten Sie den Daumen aufs Auge, den Rat gebe
ich Ihnen. Ich bin früher ſelbſt als Vorarbeiter gegangen.
Da muß man ein eiſernes Regiment führen, am beſten mit
dem Stocke, ſonſt hat man verſpielt mit der Geſellſchaft. Lumpen¬
pack iſt es ja doch meiſtens, was ſo von zu Hauſe wegläuft!“


Was der Mann heute ſagte, klang ganz anders, als was
Guſtav bisher aus dieſem Munde vernommen hatte. Über¬
haupt ſchien er an Freundlichkeit und Entgegenkommen be¬
deutend nachgelaſſen zu haben, ſeit er den Kontrakt mit den
Unterſchriften in Händen hielt.


Guſtav hatte kaum Zeit, über die Wandlung in dem
Weſen des Agenten nachzudenken, ihm ging im Kopfe herum,
was jener über den Termin der Abreiſe geſagt. So kurz hatte
er ſich die Friſt nicht gedacht. Auf den Sonntag war ſeine
Hochzeit angeſetzt, am Tage darauf ſchon ſollte es alſo fort
gehen! Das ſchien ſehr kurz anberaumt, aber es war viel¬
leicht das Beſte ſo. Ein raſcher Abſchied hatte auch ſein
Gutes. Wozu das lange Hängen und Haften an den alten
Verhältniſſen, die doch einmal aufgegeben werden mußten! —


Der Agent zeigte ihm die Reiſelinie auf der Karte. Guſtav
bat um Angabe der Zugverbindungen, die er ſich aufſchreiben
wollte.


„Und nun wollen wir mal das Reiſegeld berechnen. Hin¬
[251] und Rückfahrt haben Sie nämlich frei mit Ihren Leuten,
natürlich vierter Klaſſe! Das iſt ein weiteres gutes Geſchäft
das Sie machen.“ Guſtav dachte bei ſich, daß das eigentlich
ſelbſtverſtändlich ſei; ſagte aber nichts. — Der Agent be¬
rechnete die Billetpreiſe, und händigte Guſtav das Geld gegen
Quittung aus.


„Nun wären wir eigentlich fertig!“ ſagte der Mann.
„Halt! noch eins! Was haben Sie ſich denn an Bindegeld
von den Leuten geben laſſen?“


Guſtav erwiederte mit einigem Befremden, daß er ſich
nichts habe geben laſſen; die Leute, die er angeworben hätte,
beſäßen ja nichts, oder ſo gut, wie nichts.


Es ſei üblich, meinte Zittwitz, mit überlegenem Lächeln,
ſich für das Anwerben ein Handgeld geben zu laſſen. Umſonſt
ſei auf der Welt nichts und für ſeine Bemühungen wolle
man doch auch einen Lohn haben. Dann ſagte er — und be¬
beobachtete dabei Guſtavs Mienenſpiel ſcharf — das Kauf¬
geld für den Kontrakt wolle er ihm bis zum nächſten Monate
ſtunden, wo er es ihm von ſeinem Vorarbeitergehalte abzahlen
möge.


Guſtav ſah den Agenten verdutzt an, ob dieſer Rede. Der
erwiederte den Blick des jungen Mannes mit Kälte. Er ver¬
ſtehe wohl nicht recht, meinte Guſtav; von irgend einer Be¬
zahlung, die er zu leiſten habe, ſei doch vorher nicht die Rede
geweſen.


„Weil das ganz ſelbſtverſtändlich iſt, mein Lieber!“ rief
Zittwitz mit einer ungeduldigen Bewegung. „Denken Sie denn
ich ſchinde mich für nichts und wieder nichts ab! fahre auf
den Dörfern herum! laſſe mich von den Leuten ärgern, und
ſtecke alle mögliche dummen Redensarten ein.“ Dabei warf er
Guſtav einen feindlichen, nicht mißzuverſtehenden Seitenblick zu.
Er hatte den Vorfall im Kretſcham von Halbenau alſo doch
nicht vergeſſen, vielweniger vergeben. — „Nein, mein Lieber!
Ich verlange meine Proviſion. Das iſt Geſchäftsuſance; ſo
nennt man das. Daran iſt gebunden, wer mit uns handeln
will. Da muß man ſich eben vorher erkundigen. In's Maul
[252] ſchmieren können wir's nicht jedem einzeln. Da hätte man
viel zu thun! — Oder, dachten Sie vielleicht, daß ich Ihnen
ſo einen Kontrakt, wie den hier, umſonſt ablaſſen würde? —
Schenken, vielleicht, aus Freundſchaft? — he! Dann ſind Sie
ſehr naiv, mein Beſter! Heutzutage iſt alles Geldgeſchäft.
Pro Kopf des Arbeiters — ob Mädel oder Kerl iſt eins —
bekomme ich von Ihnen fünf Mark. Das iſt die Taxe. Davon
zahlen Sie mir die Hälfte zu Johanni, die andere zum Schluß
der Arbeitsperiode. Sie werden ſchon wiſſen, wie Sie den
Leuten gegenüber auf Ihre Koſten kommen.“


Guſtav begriff nun endlich, daß er über's Ohr gehauen
ſei. Im erſten Augenblicke überkam ihn das Gelüſte, dieſem
Spitzbuben die ganze Geſchichte vor die Füße zu werfen. Zitt¬
witz hatte ſich auf ſeinem Stuhle umgedreht und war in
irgendwelche Schriftlichkeiten vertieft. Guſtav ſah nur ſeinen
breiten Rücken. Wenn der Mann ihm nur wenigſtens offen
als Feind entgegengetreten wäre! Aber dieſer kalten Gering¬
ſchätzung, dieſem überlegenen Hohn gegenüber, fühlte er ſich
gänzlich ohnmächtig.


Der junge Mann würgte und ſchluckte an ſeinem Ärger,
dann bat er um Gehör. „Ach Gott, Sie ſind noch hier!“
ſagte der andere und wandte ſich um, mit gut geheucheltem
Staunen. „Alſo, was wollen Sie noch? Aber bitte ſchnell!
ich habe nicht viel Zeit, wie Sie ſehen.“


Guſtav begann mit einer von Ärger und innerer Er¬
regung rauhen Stimme, in abgehackten Sätzen auseinander
zu ſetzen, er habe nichts davon gewußt, daß er den Kon¬
trakt bezahlen müſſe; man habe ihm die ganze Sache gegen
ſeinen Willen aufgenötigt, und er wolle von dem Geſchäfte
abſehen.


Der Agent unterbrach ihn. „Das dürfte Ihnen wohl
übel bekommen, mein Lieber!“ fagte er in trockenſtem Tone.
„Hier ſteht Ihre Unterſchrift. An die halte ich mich. Wer
etwas unterſchreibt, was er nicht kennt, iſt ein Narr! Außer¬
dem haben Sie eine ganze Anzahl Leute zum Unterſchreiben
veranlaßt; an die ſind Sie ebenfalls gebunden. Man wird
[253] ſich an Sie halten von beiden Seiten. Es giebt in unſerem
Geſetz ein Wörtchen das heißt: ‚Kontraktbruch‛; das wird be¬
kanntlich ſtreng geahndet.“


Guſtav war nicht im Stande, dieſe Behauptung zu wider¬
legen. Er fühlte, ohne es beweiſen zu können, daß er im
Recht und jener im Unrecht ſei. Aber, bei dem, was in letzter
Zeit ſeinem eigenen Vater widerfahren, lag das Recht ſo
deutlich auf Seite des Unterliegenden, und das Unrecht auf
Seite des Siegers — und trotzdem nahmen Samuel Harraſſowitz
und Ernſt Kaſchel das Geſetz für ſich in Anſpruch, während
es den Bauern im Stiche zu laſſen ſchien — daß ſich bei dem
jungen Manne alle Begriffe von Geſetzlichkeit und Gerechtig¬
keit zu verwirren drohten. Das Recht war wohl nur denen
etwas nütze, die es zu verdrehen verſtanden!


Der Agent hatte ſich wieder ſeiner Arbeit zugewandt. Er
ließ Guſtav in den bitterſten Gedanken ſtehen und warten.
Sollte er's darauf ankommen laſſen, ob jener es wirklich ſo
weit treiben würde, ihn wegen Kontraktbruchs zu belangen?
Die Sorge, ſich vor dem Geſetze ſchuldig zu machen, war
es weniger, die ihn bedrückte, als das Gefühl der Ver¬
pflichtung denen gegenüber, die ſich ihm verdungen hatten.
Wie ſollte er vor dieſen beſtehen? Was wäre das für eine
Schande geweſen vor dem ganzen Dorfe, wenn er jetzt die
Flinte ins Korn warf Und zu alledem, war er denn
dann nicht wieder brotlos, ohne Stellung und Beſchäftigung.
Traurig genug! Aber, es war ſo! es blieb ihm keine Wahl;
er mußte ſich den Bedingungen fügen, die ihm der Agent
vorſchrieb.


„Wie ſteht's, Büttner?“ fragte Zittwitz, gelegentlich von
ſeiner Korreſpondenz aufblickend, nicht ohne Spott im Ton.
„Sind Sie noch nicht im Reinen mit ſich? Die Sache wird
durch's Überlegen nicht anders.“


Guſtav drehte ſeine Mütze in der Hand und blickte vor
ſich, zu Boden.


„Fünf Mark pro Kopf! Die Hälfte zu Johanni, die
andere zu Martini. Billiger kann ich's nicht machen. Alſo,
[254] wie ſteht's? Soll ich den Kontrakt mitſamt den Unterſchriften
an einen andern verkaufen? — he! Das kann ich nämlich auch,
wenn mir's Spaß macht. Oder, wollen Sie Vernunft an¬
nehmen?“


Guſtav nagte die Lippen geſenkten Blickes, und druckſte noch
ein wenig. Dann ſagte er mit einer verlorenen Handbewegung,
ohne aufzublicken: „Wenn's ſein muß! Aber, recht is es nich!“

[[255]]

VI.

Der Sonntag war herangekommen, an welchem Guſtavs
und Paulinens Hochzeit begangen werden ſollte.


Es war eine kleine und einfache Hochzeitsgeſellſchaft, die
ſich in der Kirche zu Halbenau um den Altar verſammelt hatte.
Die Eltern des Bräutigams fehlten. Es war ein ſchwerer
Tag für die Büttnerſche Familie. Tonis Stündlein war da.
Die Wehen hatten bereits eingeſetzt. Die Bäuerin wollte ihr
Kind in ſchwerer Stunde nicht allein laſſen. Der alte Bauer
war, ohne ein Wort zu ſagen, in früher Stunde aus dem Hof
gegangen, dem Walde zu. Sein Feſtſtaat, den ihm die Frauen
für die Trauung zurechtgelegt hatten, war unberührt in der
Kammer liegen geblieben. Aber Karl, Thereſe und Erneſtine
waren zur Stelle.


Unter den Freunden des Bräutigams fiel Häſchkekarl
auf. Er war wie ein feiner Herr angezogen, in ſchwarzen
Sachen, mit weißem Vorhemdchen und Manſchetten. Sogar
einen ſchwarzen Hut, wenn auch nicht den neueſten, hielt er in
der Hand. Woher der Vagabund ſich dieſe Pracht verſchafft
hatte, wußte nur er allein.


Die Braut war in weißen Mull gekleidet. Das Kleid
hatte ſie ſich mit Hilfe einer Freundin, die in der Stadt das
Zuſchneiden erlernt hatte, ſelbſt angefertigt. Städtiſche Blaſiert¬
heit würde vielleicht die Naſe gerümpft haben über den Staat
dieſer ländlichen Braut. Von Zierlichkeit und Anmut war
da keine Rede. Das helle Kleid verſtärkte noch die Derbheit
[256] ihrer entwickelten Geſtalt. Und doch war es eine Freude,
dieſes Paar zu ſehen. Geſund waren ſie und ſchlicht; echte
Bauernkinder!


Pauline trug keinen Brautkranz im Haar. Der alte
Pfarrer hielt ſtreng darauf, daß kein Mädchen, der es
nicht zukam, mit dieſer Auszeichnung vor den Altar trete. Die
kranzloſen Bräute waren nicht ſelten in Halbenau, denn der
Leichtſinn der jungen Leute war groß. Der Paſtor pflegte an
die Paare, welche die Freuden der ehelichen Verbindung
vorausgenoſſen hatten, ernſte Worte des Tadels zu richten.
Aber heute unterließ er das; zur Verwunderung vieler, denen
dieſe Art der öffentlichen Vermahnung immer einen angenehmen
Kitzel bereitete. Der Geiſtliche kannte Pauline gut. Sie war
einſt ſein Liebling geweſen unter den Konfirmanden. Er
wußte, daß ſie nicht leichtfertig war. Auch kannte er ihre
Verſchämtheit und erſparte ihr darum die öffentliche Blos¬
ſtellung ihres Fehltritts.


Frau Katſchner hatte auf ihre Erſcheinung ſo viel Putz
verwendet, als es ihr bei ihren ärmlichen Verhältniſſen
möglich war. Sie hatte heute ganz beſonderen Grund, ſtolz
und voll Befriedigung dreinzublicken. Befand ſich doch in der
Hochzeitsgeſellſchaft niemand Geringeres, als Fräulein Bumille,
die Wirtſchaftsmamſell vom Schloß.


Die Bumille glich mit ihrem hochgeröteten Geſicht, dem
bauſchigen Seidenkleide und dem hängenden Unterkinn einem
aufgeblähten Puter. Bei jeder ihrer ſchwerfälligen Bewegungen
krachte und knitterte die umfangreiche Maſchine ihrer Toi¬
lette. Auf dem wogenden Felde ihres Buſens hatte eine
Goldbroche in Form eines Rades Platz gefunden. Zwiſchen
den hellen Handſchuhen und den allzu eng anſchließenden
Ärmeln drängte ſich eine Wulſt roſalichen, gepreßten Fleiſches
hervor. So ſaß dieſe prächtige Dame, als ein rechtes Reno¬
mierſtück, unter den einfachen Dorfleuten. Durch Blicke, Hal¬
tung und jene eigenartigen Geräuſche, die von ihr ausgingen,
ſchien ſie jedermann einſchärfen zu wollen, daß ſie Fräulein
Bumille, die Mamſell vom Schloſſe ſei, und daß der ganzen
[257] Geſellſchaft durch ihre Nähe eine nicht geringe Ehre wider¬
fahre.


Es wurde viel geweint von Seiten der Frauen; wie meiſt
bei Trauungen. Der alte Pfarrer machte es aber heute auch
ganz beſonders ſchön. Auf das Schneuztuch, welches Pau¬
line über dem Gebetbuch gebreitet hielt, fiel manche Thräne.
Auch Guſtav war ergriffen, und, weil er dieſe weiche Stim¬
mung eigentlich verächtlich fand, ſchließlich mehr ärgerlich, als
erhoben.


Nach der Trauung ging man zu Fuße nach Frau Katſch¬
ners kleinem Hauſe. Wie immer auf dem Lande, wurde viel
Zeit vertrödelt mit Herumſtehen und Schwatzen. Einzelne junge
Leute gingen wohl auch noch in den Kretſcham, ehe ſie ſich in
das Hochzeitshaus begaben.


Dort gab es den ganzen Nachmittag über zu eſſen und
zu trinken für die Hochzeitsgäſte, die Freunde und Nachbarn,
welche aus Neugier und auch um der guten Biſſen willen auf
ein Stündchen eintraten.


Da das Häuschen die Fülle der Gevattern nicht zu faſſen
vermochte, traten viele hinaus in den Garten. Die bevor¬
zugten Gäſte ſaßen drinnen im Zimmer um den runden Tiſch.


Hier war es, wo Fräulein Bumille den andachtsvoll
lauſchenden Dorfweibern von dem neueſten freudigen Ereig¬
niſſe im gräflichen Hauſe berichtete: Komteſſe Wanda hatte
ſich in Berlin verlobt, im Sommer ſollte die Hochzeit ſein.
Da würde die Gegend etwas zu ſehen bekommen! Denn der
Graf wollte der Schweſter die Hochzeit ausrichten. Der
Bräutigam ſei Offizier und Prinz und noch dazu ein ſchwer
reicher. „Ja, unſere Wanda!“ ſagte Fräulein Bumille und
ließ ihre geheimnisvolle Maſchinerie krachen und kniſtern,
„unſere Wanda! die hat's inwendig! Die macht's garnich
unter'n Prinzen, habe ich immer geſagt. Die Wanda, die
war ſchon als Kind was ganz Appart's. Wie ſie noch ganz
klein war, da kam ſie immer zu mir in die Küche ge¬
laufen. „Mamdell“, ſagte ſie, „Mamdell!“ ſo ſprach ſie näm¬
lich. „Gieb mir ein Stückchen Kuchen; aber groß muß es
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 17[258] ſein.“ Das ſagte ſie, und da war ſie noch ein ganz kleines
Ding. Paßt ä mal auf, habe ich da gleich geſagt, die macht's
nich unter'n Prinzen.“


Frau Katſchner beſtätigte jedes Wort durch ein Kopfnicken,
und die Frauen von Halbenau lauſchten offenen Mundes den
mancherlei Heimlichkeiten, welche die Mamſell aus dem Leben
ihrer Herrſchaft mitzuteilen, ſich herabließ.


Gegen Abend ging Fräulein Bumille. Damit verlor das
Feſt ſeine eigentliche Weiheſtimmung. Die Luſtigkeit trat un¬
gehindert in ihre Rechte.


Häſchkekarl hatte nun freies Feld. Wo er auftrat, gab
es Ausgelaſſenheit und Gelächter. Er hatte ſich bereits den
ganzen Nachmittag über mit einem Schwarm Burſchen und
Mädchen in Haus und Garten umhergetrieben. Jetzt ſaß er
draußen im Apfelbaume, eine alte Militärmütze ſchief auf dem
Kopfe, mit einer falſchen Naſe im Geſichte, ſang Lieder und
gab Schnurren zum beſten. Mancher derbe Witz mochte da
mit unterlaufen, nach dem Wiehern und Gröhlen der Burſchen
und dem unterdrückten Gekicher der Mädchen zu ſchließen.


Bei anbrechender Dunkelheit hatte ſich Pauline aus der
Hochzeitsgeſellſchaft zurückgezogen. Flink ward in der Kammer
das Kleid gewechſelt und nach dem Jungen geſehen. Dann
lief ſie, ohne jemandem ein Wort davon zu ſagen, nach dem
Büttnerſchen Hofe.


Die Alten waren nicht zur Hochzeit gekommen, darum
wollte ſich die junge Frau ihnen ſelbſt vorſtellen, als ihre
Tochter.


Sie trat in die große Stube. Niemand ſchien zu Haus
zu ſein, alles war dunkel. Schon wollte ſie wieder hinaus¬
gehen, als ſie gegen das lichte Fenſter einen Kopf und ein
paar Schultern erblickte. Sie erkannte an den Umriſſen den
alten Bauern.


Pauline war heute in erregter und gerührter Stimmung,
darum wagte ſie etwas für ihre ſonſtige Scheu Außerordent¬
liches. Sie ging auf den alten Mann zu und ſagte ihm, daß
ſie nun mit Guſtav getraut ſei. Dabei umarmte und küßte
[259] ſie ihn. Im Augenblicke ſelbſt, wo ſie das that, erſchrak ſie
über ihre Kühnheit.


Als ſie die Wange des Alten berührt, hatte ſie dort ganz
deutlich etwas Feuchtes gefühlt. Der Büttnerbauer weinte! —


Pauline fühlte es wie einen Stich in der Bruſt. Hier
ſaß der alte Mann, von allen verlaſſen, in ſeinem Kummer.
Wie lange mochte er ſchon ſo geſeſſen haben!


Sie hätte ihm ſo gern etwas Liebes geſagt; denn ſie liebte
und verehrte ihn wirklich, wenn auch bisher nur aus der
Ferne. Aber, es fiel ihr nichts ein, womit ſie ſein Herz hätte
erfreuen können.


Schließlich fragte ſie mit ſtockender Stimme nach der
Bäuerin. Im rauhen Tone erwiderte ihr der Bauer, das
Weibsvolk ſei oben in der Kammer.


Pauline zündete erſt noch die Lampe an, damit er doch
wenigſtens nicht im Dunklen ſitzen ſolle, und lief dann die
Treppe hinauf zum zweiten Stock, um die Bäuerin und Toni
zu begrüßen.


Auf der oberſten Stufe der Holzſtiege angelangt, hörte
ſie Töne, die der jungen Frau alles Blut zum Herzen trieben.
Sie blieb mit zitternden Knieen ſtehen und lauſchte atemlos:
dünnes, quäkendes Geſchrei.


Tonis Kind war angekommen.


Es war ein feuchtwarmer Aprilmorgen, an welchem die
Sachſengänger aus Halbenau aufbrachen, zur Reiſe nach dem
Weſten. Ein Himmel wie Wolle. Hin und wieder matte
Sonnenblicke, wie verſchlafen, durch grämliche Nebel.


Auf einem Leiterwagen kauerten ſie bei einander, Männer
und Weiber, mit ihren Habſeligkeiten. Die Mädchen ſaßen auf
Laden und Federbetten, die Burſchen hatten leichtere Bündel
zwiſchen den Knieen. Vorn beim Kutſcher, auf einem bevorzugten
Platze, ſaß Pauline, ihren Jungen im Schoße, neben ihr Erneſtine.


Guſtav ging umher, die Uhr in der Hand, und hielt be¬
ſorgt Umſchau. Drei von ſeinen Mädchen fehlten ihm; ſie
17*[260] waren in ihren Wohnungen nicht aufzufinden, wahrſcheinlich
hielten ſie ſich verſteckt. Der Entſchluß, in die Fremde zu
gehen, mochte ſie nachträglich gereut haben. Von einer hieß
es, daß ſie ſich einem anderen Trupp angeſchloſſen habe, der
bereits zeitiger die Fahrt nach den Rübengütern angetreten
hatte. Der Aufſeheragent hatte alſo Recht behalten: es brannten
immer einige durch.


Gut, daß Guſtav noch den fünften Mann gefunden hatte
in der Perſon eines polniſchen Arbeiters. Rogalla, ſo hieß
er, ſaß jetzt mit unzufriedener Polenmiene in einen Schafpelz
gehüllt, mit langem, ſchwarzem Haupthaar und Schnurrbart,
wie ein fremder Vogel unter den blonden Halbenauerinnen, und
kaute Tabak.


Der frühen Stunde zum Trotze, hatte ſich doch eine ganze
Anzahl Leute aus dem Dorfe zuſammengefunden, um Abſchied
von den Wanderern zu nehmen. Da wurde im letzten Augen¬
blicke noch alles mögliche herbeigeſchleppt: Kleidungsſtücke, Bett¬
zeug, Eßwaren. Auch einige junge Burſchen hatten ſich ein¬
funden, wohl ihrer Mädchen wegen, die in die Fremde gingen.


Den meiſten wurde der Abſchied ſchwerer, als ſie es ſich
anmerken laſſen wollten. Wer konnte wiſſen, was ihrer da
draußen wartete! Und auch den Zurückbleibenden war das
Herz ſchwer. Mancher junge Mann zagte, daß ihm die Ge¬
liebte, die er widerwillig ziehen ließ, in der Fremde die Treue
brechen möchte. Manche Mahnung und Warnung wurde da
noch durch Blick und Händedruck mit auf die Reiſe gegeben,
ohne Worte, zu denen es keine Zeit mehr gab.


Der einzige von der ganzen Geſellſchaft, dem es leicht
um's Herz zu ſein ſchien, war Häſchkekarl. Heute hatte er
wieder ſeinen buntſcheckigen Vagabundenanzug angelegt. Den
Hut verwegen auf einem Ohre, ein rotes Halstuch ſtatt eines
Kragens, ſah er einem Stromer verzweifelt ähnlich. Jetzt wo
es auf die Reiſe ging, fühlte er ſich erſt wieder wohl, und
behaglich. Und diesmal ſollte er noch dazu in guter Geſellſchaft
walzen. Eine ganze Mandel „Schickſen“ waren mit — ſo
nannte er die Mädchen — da würde ſich's ſchon leben laſſen.
[261] Er ſummte ein Wanderlied vor ſich hin. Als der kleine Guſtav
auf Paulinens Schoß unruhig wurde, und zu ſchreien anfing,
brachte er die ,Quarre‘ durch eine ſeiner drolligen Grimaſſen
ſchnell wieder zur Ruhe.


Die Büttnerbäuerin war auch herausgehumpelt, ihrer
Lähme zum Trotze. Zwei von ihren Kindern gingen ja mit
hinaus in die Fremde. Guſtav, ihr beſter Sohn, und Ernſtinel,
ihre Jüngſtgeborene.


Die alte Frau hatte es bisher gar nicht recht glauben
wollen, daß aus dieſem abenteuerlichen Plane etwas werden
ſolle. Zu ſo vielen Sorgen und Kümmerniſſen der letzten
Zeit kam nun auch noch die Zerſplitterung der Familie! Das
war zu viel! Als ſie den Wagen ſah mit den Wanderern
und dem Gepäck, drohten ſie die Kräfte zu verlaſſen. Zum
Abſchied hatte ſie nur ein ſinnloſes Geſtammel: „Ne, ach Gutt!
Guſtav! Ne, ach Gutt, Pauline! Paßt ack auf's Ernſtinel
uff. Ne, ach Gutt — ach Du lieber Herr Gutt! — Nene —
was wern mer ack alles noch derlaben!“


Guſtav mußte es den Frauen überlaſſen, von der Mutter
zärtlichen Abſchied zu nehmen. Er war ganz von der neuen
Pflicht in Anſpruch genommen, die ſchon wie eine ſchwere
Verantwortung auf ihm laſtete, und ihn hart und ungeſellig
erſcheinen ließ.


Er glaubte, daß ſie nun nicht länger warten dürften,
wenn ſie den Zug nicht verſäumen wollten. Er ſchwang ſich
auf den Wagen und gab den Befehl zur Abfahrt.


Die Peitſche des Kutſchers hob ſich, die Pferde zogen an.
Noch ein Händedruck, ein Schluchzen, ein Winken, ein Mützen¬
ſchwenken. Im Trabe ging's durch's Dorf. Vor den Häuſern
ſtanden Leute, welche den Wanderern ein freundliches Wort
zuriefen. Dann zeigte das letzte Gehöft des Dorfes, der
Büttnerſche Hof, ſeine Giebelſeite. Guſtav blickte noch einmal
dort hinüber. Er hatte den Vater nicht geſehen vor der Ab¬
reiſe. Ganz in der Frühe heute wollte er noch zu ihm gehen;
aber, dann hatte er's doch gelaſſen. Als Vorwand, war ihm
die Geburt von Tonis Kind gerade recht.


[262]

Er trieb den Kutſcher zur Eile an. Jetzt auf einmal war
es ihm, als könne er nicht ſchnell genug von der Heimat weg¬
kommen.


An bekannten Feldern ging's vorbei, an Bäumen, Steinen
und Waſſerläufen. Nun zog ſich der Weg ein Stück durch
den gräflichen Wald. Dann hatte man die Halbenauer Flur
verlaſſen.


Eine Stunde darauf ſaßen ſie eng zuſammengepfercht in
einem Wagen vierter Klaſſe, mit fremdem Volk, Sachſengänger
gleich ihnen, die ſchon weither kamen aus dem Oſten. Un¬
heimliches Geſindel mit braunen Geſichtern, das unter einander
eine unverſtändliche Sprache redete.


Als Pauline mit einem dieſer ſchmutzſtarrenden, kraus¬
haarigen Frauenzimmer den ſchmalen Sitz teilen mußte, verlor
ſie alle Faſſung, nachdem ſie vorher tapfer mit dem Heimweh
gekämpft hatte. Sie nahm ihren Jungen dicht an ſich, und
haſchte nach Guſtavs Hand.


Das war fürwahr eine traurige Nachfeier ihrer Hochzeit!

[[263]]

VII.

Der Termin zur Zwangsverſteigerung war herangekommen.
Subhaſtationen waren im Bezirke dieſes Amtsgerichts nichts
ſeltenes geweſen in der letzten Zeit. „In dieſen Zeitläufen
fallen die Bauern wie Fliegen von der Decke, wenn es Winter
wird,“ hatte erſt kürzlich ein Kenner geäußert. Man war im
allgemeinen ziemlich abgeſtumpft gegen bäuerlichen Bankerott.


Immerhin machte es einiges Aufſehen, als bekannt wurde,
daß das Büttnerſche Bauerngut unter den Hammer kommen
ſolle. Einmal weil es ein großes Grundſtück war, das nicht,
wie die meiſten anderen ſeiner Art, heruntergewirtſchaftet und
ausgeraubt war. Dann gab es aber auch noch Nebenumſtände,
die den Fall intereſſant machten. Man wußte, daß die Herr¬
ſchaft Saland um das Bauerngut gehandelt hatte, und nach¬
dem der Handel ſo gut wie abgeſchloſſen geweſen, davon zurück¬
getreten war. Das gab zu allerhand Vermutungen Anlaß.
Die Herrſchaft hatte ſich bisher noch nie einen Bauern, der
‚wackelig‘ wurde, entgehen laſſen, und hatte, nach der Behauptung
kleinerer Güterhändler, die Preiſe des Grund und Bodens
auf dieſe Weiſe nicht wenig in die Höhe geſchraubt. Es
war auffällig, daß ſich die Herrſchaft bei dieſem Bauerngute,
welches ihr geradezu vor der Naſe lag, ſo zurückhaltend be¬
nahm. — Ungewöhnlich wurde der Fall auch dadurch, daß der
betreibende Gläubiger kein anderer war, als der eigene Schwager
des bankerotten Bauern. Was konnte der Mann für ein In¬
[264] tereſſe an dem Untergange ſeines Schwagers haben, fragte
man ſich unwillkürlich. Wollte er das Gut aus der Subhaſta¬
tion billig erſtehen? Und wozu ſollte er, als Beſitzer einer
großen Gaſtwirtſchaft, ſich mit ſo bedeutendem Grundbeſitz be¬
laſten? —


In der Gerichtsſtube begannen ſich von früh neun Uhr
ab einzelne Leute einzufinden. Meiſt waren es Neugierige,
Gerichtsbummler, die ſelten bei ſolchen Anläſſen fehlen.


Die eigentlichen Intereſſenten ſaßen drüben im Löwen.
Der Gaſthof lebte geradezu von den Gerichtsverhandlungen.
Denn dort pflegten vor und nach den Terminen Freund und
Feind einzukehren. Dort ſtärkten ſich die Parteien zu ſchwerem
Gange. Dort tranken Richter, Staatsanwalt, Verteidiger,
Zeugen und Schöffen ihren Schoppen in derſelben Stube und
vom nämlichen Faſſe, nachdem ſie ſich drüben vielleicht im
Rechtsſtreite bis auf's Meſſer befehdet hatten.


Auch Samuel Harraſſowitz trank hier ſein Bier. Er ſaß,
wie gewöhnlich, auf ſeinem Platze am Fenſter, von dem aus
er den ſchmalen Platz zwiſchen Gaſthof und Gerichtsgebäude
überblicken konnte.


Edmund Schmeiß ſaß neben dem Händler. Er trug einen
neuen Anzug von hauptſtädtiſchem Schnitt zur Schau, den er
ſich bei ſeinem letzten Aufenthalt in Berlin hatte anfertigen
laſſen. Er beſtellte ſich einen Cognac, „aber fine champagne,
garçon!“ fügte er näſelnd hinzu.


Jetzt traten zwei Herren ein. Der Bankier Iſidor Schön¬
berger, fett, mit weißem Geſicht und um ſo ſchwärzerem Haar.
Bei ihm war Bruno Rieſenthal, der junge Advokat, der ſich
kürzlich in dem Städtchen niedergelaſſen und ſeiner Fixigkeit
wegen hier bereits eine nahmhafte Praxis gefunden hatte. Die
Herren ſchienen einander ſämtlich gut zu kennen. Zum Gruße
zwinkerten ſie einander nur mit den ſchlauen Augen zu. Schön¬
berger ſetzte ſich mit verdroſſenem Geſicht. Rieſenthal kramte
in ſeiner Advokatenmappe. Die Unterhaltung wurde halblaut
geführt, denn an den Nebentiſchen ſaßen Leute, deren man
nicht ſicher war.


[265]

„Heute is der Kaphroh dran!“ ſagte Schönberger.


Harraſſowitz nickte.


„Machſt Du de Maſſematten?“


„Kairouſche!“


„Bis jetzt iſt keine Konkurrenz da,“ damit miſchte ſich
Edmund Schmeiß in das Zwiegeſpräch.


„Konkurrenz!“ meinte Sam und nahm eine verächtliche
Miene an. „Konkurrenz giebt's nich!“


„Wird der Graf ſich ganz fern halten?“ fragte der Advokat,
halblaut.


„Der Graf is beſorgt!“ flüſterte Schmeiß. „Dafür ſteh'
ich! Und das andere ſind alles Schnorrer!“


In dieſem Augenblicke ertönte vom Pflaſter draußen
Pferdegeklapper und Wagenraſſeln. Ein offener Jagdwagen
mit zwei guten Pferden davor hielt vor dem Löwen. Die
vier Männer machten lange Hälſe. Sam ſtieß einen Fluch
aus. Er erkannte in dem langen bärtigen Manne, der ſelbſt
die Zügel geführt hatte, den Güterdirektor des Grafen, Haupt¬
mann Schroff. Der kleine Grauhaarige war wohl ebenfalls ein
Beamter der Herrſchaft Saland.


Die ‚Konkurrenz‘ war alſo dennoch gekommen!


Sam ſtand auf, ohne ſein Glas geleert zu haben. Jetzt
galt's die Ohren ſteif halten! So leichten Kaufes, wie er
ſpekuliert hatte, würde er nun doch nicht zu dem Gute kommen.
Aber, Sam gab nichts verloren. Wann wäre er jemals in
ſchwieriger Lage verzagt, oder um Mittel und Wege verloren
geweſen! Er beſaß den ganzen rückſichtsloſen, katzenzähen Opti¬
mismus ſeiner Raſſe.


Er hatte den Kretſchamwirt von Halbenau vor einiger
Zeit mit ſeinem Wägelchen einfahren ſehen; den ſuchte er
jetzt auf.


Kaſchelernſt und Harraſſowitz hatten ein längeres Geſpräch
im Flur des Gerichtsgebäudes. Die Unterhaltung endete damit,
daß Sam die Hand ausſtreckte, und Kaſchelernſt grinſend ein¬
ſchlug und „abgemacht!“ ſagte.


Die Gerichtsuhr hatte zehn geſchlagen. Wer ſich bis da¬
[266] hin noch im Löwen aufgehalten hatte, kam nunmehr herüber,
nicht allzu eilig, falls er mit dem Gerichtsgebrauche ver¬
traut war.


Aus Halbenau waren eine Anzahl Leute eingetroffen,
Freunde der Büttnerſchen Familie. Der alte Bauer ſelbſt
hatte ſich fern gehalten, aber Karl Büttner war gekommen.
Er blickte unverſtändig drein, wie gewöhnlich. Die Bedeutung
dieſes Tages für ihn und ſeine Familie war dem Denkfaulen
ſchwerlich klar geworden.


Hinter den Schranken erſchien jetzt der Amtsrichter mit
dem Kalkulator. Sie nahmen am grünen Tiſche Platz.


Nun nahm der Termin ſeinen üblichen Verlauf. Zunächſt
wurden die Intereſſenten feſtgeſtellt. Harraſſowitz, der in
dieſen Dingen zu Hauſe war, wie der Fiſch im Waſſer, ver¬
langte Vorweiſen der Kaution. Da würde man ja gleich ſehen,
wer als ernſthafter Bieter in Betracht komme. Vor allem
intereſſierte es den Schlaukopf zu wiſſen, ob jene beiden,
der Güterdirektor und der Rendant des Grafen, mit Geld¬
mitteln verſehen ſeien. Er hatte bereits ſeinen Geſchäftsfreund,
den Kommiſſionär Schmeiß, vorgeſchickt, der ſollte ſich den
Herren in möglichſt harmloſer Form nähern, und ſie zum
Lüften ihrer Maske bringen. Aber die beiden hatten ſich
zugeknöpft und den diplomatiſchen Künſten des jungen Schmeiß
gegenüber unzugänglich verhalten. Sam paßte genau auf.
was der Hauptmann zeigen würde, als er daran kam, Kau¬
tion vorzuleben. Staatspapiere, ein ganzes Paket! Der
Mann war alſo gewappnet und nicht etwa aus bloßer Neu¬
gier hier erſchienen.


Nachdem Namen und Perſonalien der Intereſſenten mit
gerichtsüblicher Umſtändlichkeit erfragt und aufgeſchrieben waren,
wurde zur Feſtſtellung des geringſten Gebotes übergegangen.
Dann forderte der Richter zur Abgabe von Geboten auf. Er
hatte eine zweiſtündige Pauſe angeſetzt, innerhalb deren geboten
werden konnte.


Der Gerichtsſaal leerte ſich wieder; nur einige wenige
Leute blieben zurück, die hier eben ſo gut wie anderwärts ihre
[267] Zeit mit Nichtsthun verbringen zu können, meinten. Der
Richter arbeitete an ſeinen Akten. Der Kalkulator ſchrieb
das Protokoll aus, in der Ecke nickte der Gerichtsdiener. Der
Geiſt der Langeweile und der Schläfrigkeit hatte ſich über den
Raum geſenkt.


Der Richter war ein älterer Beamter. Wie viele Grund¬
ſtücke waren nicht ſchon im Laufe der langen Praxis unter
ſeinem Hammer weggegangen! Die Verhandlung pflegte unter
ſeinem Vorſitz glatt, ohne Stocken, wie eine gut geölte Ma¬
ſchine, zu laufen. Nüchtern, geſchäftsmäßig und trocken er¬
klangen ſeine Fragen.


Was kümmerte es ihn, wer ſchließlich der Erſteher wurde!
Sache des Juriſten war es nicht, Mitgefühl zu empfinden; das
hätte ja höchſtens ſeine ‚ſtrickte Objektivität‘ trüben können. Für
ihn exiſtierte das Stück Erde, welches zufälligerweiſe einem ge¬
wiſſen Traugott Büttner gehörte, nur inſofern, als es durch ein
in ,legaler Weiſe‘ herbeigeführtes Zwangsverſteigerungsverfahren
in ,forenſiſchen Konnex‘ getreten war zum Geſetz und damit
zu ihm, dem Diener des Geſetzes. Dadurch war für den
Juriſten ein Zaun abgeſteckt, innerhalb deſſen er ſich von rechts¬
wegen bewegen durfte. Wenn er ſich's hätte einfallen laſſen,
den Zaun zu überſchreiten, tiefer zu blicken, als ſeines Amtes
war, dann würde er vielleicht entdeckt haben, daß dieſes Stück
Erde, welches heute unter den Hammer kam, doch noch etwas
mehr als ein bloßes Subhaſtationsaktenſtück ſei. Er würde
gefunden haben, wenn er das ,legale‘ Gewand der Sache zu
lüften ſich die Mühe gegeben hätte, daß er nichts Geringeres
als das Wohl und Wehe einer Familie, daß er Menſchen¬
ſchweiß und Menſchenblut zu ,meiſtbietender Verſteigerung‘
brachte. Und daß ſo das ,von Rechtswegen‘ eine eigentüm¬
liche Bedeutung gewann.


Der Saal füllte ſich allmählich wieder, als die zweiſtün¬
dige Pauſe ſich ihrem Ende zuzuneigen begann, und das Bieten
nahm ſeinen Anfang. Zunächſt erfolgten einzelne Gebote,
gleichſam tropfenweiſe; denn keiner der Intereſſenten wollte dem
anderen ſeinen Eifer merken laſſen. Bankier Schönberger hatte
[268] angeboten mit einer Summe, welche gerade die Höhe ſeiner
Hypothek erreichte. Dann überbot ihn Harraſſowitz.


Jetzt begann ſich der gräfliche Rendant an der Bietung
zu beteiligen. Zuerſt langſam, dann in immer ſchnellerer
Folge überboten ſich Sam und der Rendant mit Beträgen
von geringem Umfang. Der Händler legte kühlſte Ruhe an
den Tag; die Hände in den Taſchen, wiegte er ſich auf den
Abſätzen und ſuchte den Gegner durch ſeine überlegen ſpöttiſche
Miene in Verwirrung zu ſetzen. Der gräfliche Beamte, ein
Graukopf, mit glatt raſiertem Geſicht, war unruhig. Die
Gebote kamen zaghaft und haſtig von ſeinen Lippen. Mehr¬
fach ſah er ſich nach Hauptmann Schroff um, der weiter
hinten unter den Zuſchauern mit ſichtlicher Spannung dem
Gange der Verſteigerung folgte.


Auf dieſe Weiſe hatten ſich die beiden bis an die letzte
Hypothek herangetrieben, welche Ernſt Kaſchel gehörte. Der
Gaſtwirt war im Saale anweſend, bot aber nicht mit. Haraſſo¬
witz hatte ſoeben geboten. Der Rendant bat um eine kurze
Hinausſchiebung des Zuſchlags, lief nach hinten und beſprach
ſich mit dem Güterdirektor. „Bis zur Höhe der Schulden,
nicht wahr, ging der Limit?“ fragte er. Der Hauptmann
ſtand mit gerunzelter Stirn und überlegte. „Hundert Mark
darüber,“ ſagte er dann. „So viel will ich noch zulegen;
mehr kann ich nicht!“


Der Rendant ging wieder an die Schranken und machte
ſein Gebot. Sam überbot ihn, lächelnd.


Die Spannung unter den Zuſchauern hatte einen hohen
Grad erreicht. Die Sympathien der meiſten waren auf Seiten
der gräflichen Beamten. Der Rendant bot noch einmal mit
zitternder Stimme. Die Schulden waren mit ſeinem Gebote
um hundert Mark überſchritten.


„Noch Fünfzig!“ rief Harraſſowitz und ſah den Gegner
herausfordernd an.


Es entſtand eine Pauſe. Der Richter ſah nach der Uhr.
„Wenn keine weiteren Gebote abgegeben werden, ſchließe ich
die Subhaſtation.“

[269]

Kein weiteres Gebot erfolgte.


„Demnach iſt Herr Samuel Harraſſowitz Meiſtbietender
geblieben. Ich frage, ob Einwendungen gegen Erteilung des
Zuſchlages an Harraſſowitz, erhoben werden? — Einwen¬
dungen werden nicht erhoben! — Die Erteilung des Zu¬
ſchlages wird morgen um elf Uhr verkündet werden.“

[[270]]

VIII.

Während in der Stadt ſein Gut verſteigert wurde, pflügte
der Büttnerbauer ſeinen Acker. Schon bei früheſtem Morgen¬
grauen hatte er die Ochſen aus dem Stalle gezogen, hatte ſie
vor den Pflug geſpannt und war hinausgefahren bis dorthin,
wo Wald und Felder grenzten.


Die Bäuerin war ſeit einer Woche bettlägerig. Toni hatte
mit dem Säugling zu thun. Auf Thereſens Schultern laſtete,
ſeitdem die Sachſengänger das Dorf verlaſſen hatten, ganz
allein die Sorge um das Hausweſen.


Der Bauer wollte heute das Büſchelgewende beackern.
Dem verwilderten Schlage — gleichſam das Stiefkind des
Gutes — galt doch im Grunde ſeine eifrigſte Sorge. Der Ge¬
danke, daß ein Teil ſeines Beſitzes vernachläſſigt und unbenutzt
daliege, ließ ihm keine Ruhe, quälte ihn wie einem Kranken
die offene Wunde. Den Schlag mußte er wieder urbar machen,
noch in dieſem Sommer. Hafer wollte er darauf ſäen, als
die wenigſt anſpruchsvolle Frucht. Vor der Ausſaat aber
ſollte der Boden noch einigemale mit Pflug und Egge um
und um gewendet werden.


Es wollte ein wundervoller Frühjahrſtag werden. Der
Boden dampfte von dem warmen Regen, der in der Nacht nieder¬
gegangen war. Laue Fruchtbarkeit ſchwebte greifbar über der
Scholle. Überall drängte und ſproßte junges Leben zum Tage
empor. Die Wieſen waren bereits mit dem erſten verſchämten
[271] Grün beſchlagen. Die Winterſaaten ſtanden dicht und üppig,
in vielverheißendem, ſaftigem Dunkelgrün.


Mit dem Pflügen ging es langſam genug vorwärts in
dem zähen Lehm, der ſeit Jahren keine Pflugſchar gefühlt
hatte. Brombeerranken und andere Schmarotzer des verwilderten
Landes bedeckten die magere Ackerkrume, und wichen nur
ungern dem Pfluge. Kieſel und Feldſteine ſtemmten ſich gegen
die Schar. Und dazu ein Paar träge Ochſen vorgeſpannt!
Die Zeiten, wo er Pferde im Stalle gehabt, waren für den
Büttnerbauer vorbei.


Der alte Mann fluchte nicht, trotz der Langſamkeit der
Tiere. Sein Trotz war ſtumm. Mit zuſammengebiſſenen
Zähnen blickte er ſtarr geradeaus über die Rücken der Ochſen
Die Hand am Sterz, in der Linken Leine und Peitſche, ſo
ſchritt er hinter dem Pfluge. Wenn er die Lippen öffnete,
dann war es höchſtens zu einem „Hüü“ oder „Hoo.“ An
der Anewand angelangt, hielt er die Ochſen durch einen
Ruck der Leine an, hob den Pflug aus, wendete ihn und
fuhr eine neue Furche an, genaue Richtung haltend. Er
pflügte noch, wie ein Jüngling, mit ſtarker Hand und ſcharfem
Augenmaße.


Die Sonne rückte höher. Der Dampf über den Auen
hatte ſich verflüchtigt. Klar lag jetzt Halbenau unter ihm,
das er von ſeinem erhöhten Stande überblicken konnte. Haus
für Haus, bis hinab zur Kirche. Schon begannen ſich die
Fruchtbäume hie und da zu ſchmücken mit weißen Perrücken.
In langen, ſchmalen Streifen zogen ſich die Güter der Bauern,
Halbhufner und Gärtner vom Dorfe nach dem Walde zu, vielfach
durch Raine und Gräben in viereckige Stücken und Streifen zer¬
legt, in vielen Farben leuchtend, bald braun, bald grün, bald gelb¬
lich oder gräulich, je nach der Frucht und der Bodenart. Ein
ſcheckiges Bild, wie ein Stück Zeug mit vielen Flicken darauf.
Und am Feldrande ein Kranz von Niederwald, der lichtgrün
und lila ſchimmerte, mit ſeinen hellen Stämmchen von
Birke und Erle. Dahinter der Kiefernwald, im männlichen
Ernſte ſeines dunklen Nadelkleides. Und darüber hin der
[272] Frühjahrshimmel, mit einzelnen ſchwimmenden Wolken von
milchweißer Farbe.


Der Bütterbauer ſah nichts von der Schönheit, die ſich
rings um ihn breitete. Sechzigmal war er Zeuge geworden
des Frühjahrswunders. Sechzigmal hatte ſich für ihn die
Flur geſchmückt mit gleicher Pracht. Er war kein emfind¬
ſamer Naturſchwärmer; dafür gab es in ſeiner trocknen Bauern¬
natur keinen Raum.


Frühjahr, das bedeutete für ihn: Erwachen aus der kalten,
finſteren, öden Winterszeit, zum ſonnigen, klaren milden Sommer;
wo man nicht länger gezwungen war, mit müßigen Händen
im Zimmer zu hocken, wo man hinaus durfte auf den ge¬
liebten Acker, die Zeit, da man die Glieder in emſiger Arbeit
rührte, wo man aber auch die Früchte ſeiner Arbeit ſehen
durfte, wie ſie heranwuchſen und gediehen, der Ernte entgegen.


Auch in dieſem Frühjahr ſchien die Sonne warm und
belebend. Sie wärmte auch die Glieder des Alten und brachte
ſein Blut in ſchnellere Strömung. Das Neuwerden in der
Natur rief ſelbſt in ſeinem verbrauchten Körper eine Steige¬
rung aller Kräfte, eine unbewußte Spannung der Lebensenergie
hervor. Aber, es war diesmal anders als ſonſt. Etwas war
erſtorben in dem alten Manne, lag wie mit Eis und Schnee
des Winters zugedeckt, war nicht grün geworden mit dem
Erwachen des Frühlings ringsum: die Hoffnung.


Es hatte ſeinen guten Grund, warum er die Zähne ſo
feſt zuſammengepreßt hatte, und die Augen ſo ſtarr geradeaus
gerichtet hielt, zwiſchen die Köpfe ſeiner Tiere. Hätte er die
Blicke hinabſchweifen laſſen über Felder und Wieſen, hinab
nach ſeinem Hauſe und Hofe, ſie wären wohl übergegangen
von ſalzigen Thränen. Und der Trotz, der Grimm, die
Menſchenverachtung, die allein ihm die Kraft gaben, dieſen
Tag zu ertragen, möchte dahingeſchmolzen ſein vor der Über¬
gewalt des Schmerzes, den ihm der Anblick ſeines Eigentums
heute bereiten mußte.


Sein Eigentum!


In dieſen Stunden entſchied es ſich, wer künftighin Herr
[273] dieſer Wieſen und Felder, dieſes Hauſes und Hofes, ſein würde.
Drüben in der Stadt, vor Gericht, unter Leuten, die ſeinen
Acker nicht kannten, von Fremden, kalten, gleichgültigen Juriſten,
wurde der Würfel über ſein Eigentum geworfen. Heute noch
war er hier Herr, und morgen konnte einer kommen, der ihn
hinaustrieb aus ſeinem Hofe, ihn auf die Straße ſetzte, mit¬
ſamt den Seinen, und das alles kraft eines Stückes Papier.


Das war alſo der Erfolg ſeines Lebens! Jetzt, wo er
ſich dem Greiſenalter näherte, wo man ſich nach Ausruhen auf
vollendetem Lebenswerk ſehnte, wo man Recht und Beſitz und
Gewalt gern hätte übergehen ſehen in die Hände der Nach¬
kommen, wo man als Lohn und Dank für ſorgliche Verwal¬
tung des Familiengutes nichts weiter verlangte, als Pflege
und Achtung und ein ruhiges Eckchen im Heim, von dem
aus man das Weiterblühen und Wachſen noch ein Weilchen
mit anſehen konnte — jetzt mußte der Büttnerbauer, ſtatt
dieſes wohlverdiente Altenteil zu erwerben, erleben, daß
alles, was er von den Vätern übernommen, was er verwaltet,
woran er an ſeinem Teile geſchaffen hatte, ihm aus den
Händen geriſſen, unwiederbringlich an Fremde dahingegeben
wurde.


Wenn der Vater das geahnt hätte! Er, der recht eigent¬
lich den Beſitz zu dem gemacht hatte, was er war, zu einem
ſelbſtändigen, freien Bauerngute. Wenn Leberecht Büttner
hätte ahnen können, was jetzt, dreißig Jahre nach ſeinem Tode,
aus ſeinem Werke werden ſollte! Dieſer Mann, der den
Familienbeſitz in ſchwerer Zeit angetreten, der die Nachwehen
der Kriegszeiten und der jüngſt überwundenen Hörigkeit durch¬
zukoſten hatte, der Zeit ſeines Lebens mit einem mächtigen
und beuteluſtigen Nachbar zu ringen gehabt, und der, all
dieſen Gefahren und Nöten zum Trotze, ſich ſelbſt zu einem
wohlhabenden, unabhängigen Wirte emporgearbeitet und ſein
Gut zum beſtgepflegteſten der ganzen Gegend gemacht hatte;
wenn der Mann hätte vorausſehen können, was aus der Erb¬
ſchaft, die er den Seinen hinterließ, ſich für Unſegen entwickeln
würde! —


W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 18[274]

Traf den Büttnerbauern die Schuld, daß alles ſo ge¬
kommen, wie es gekommen war?


Traugott Büttner hatte ſicher viele Verſehen begangen,
mancherlei verdorben durch Eigenſinn und beſchränkten Trotz.
Viel Schaden hätte abgewendet werden können, wenn ihm Beweg¬
lichkeit des Geiſtes, höhere Bildung und beſſeres Verſtehen der
Zeit und ihrer Bedürfniſſe eigen geweſen wäre. Aber, größere
Fehler, als die ſeinem Stande eigentümlichen, durften ihm mit
Recht nicht vorgeworfen werden.


Er war Zeit ſeines Lebens ein nüchterner, ordentlicher
Menſch geweſen, ein thätiger Wirt und ſorgſamer Haushalter.
Sein Benehmen war bäuerlich derb, oft bis zur Rauhheit
derb, aber ſeine Sitten waren rein geblieben. Was hatte er
ſich vorzuwerfen! War er etwa ein Trinker geweſen? —
Hatte er Haus und Hof verſpielt, wie ſo mancher Bauer es
that? Hatte er durch liederliche Wirtſchaft, oder durch Zank
und Streit mit den Nachbarn, durch Prozeſſe, das Seine ver¬
geudet? — Dem Staate, der Gemeinde, der Kirche hatte er ge¬
leiſtet, was er ihnen ſchuldig war. Seine Knochen hatte er
in zwei Kriegen für das Vaterland zu Markte getragen. Sonn¬
täglich war er zur Predigt gegangen und viermal im Jahre
hatte er den Tiſch des Herrn aufgeſucht. Die ſchlechten Jahre
waren von ihm hingenommen worden, und für die guten hatte
er Gott gedankt. Mit ſeiner Ehefrau hatte er ſich vertragen;
nie war es zu mehr als zu Scheltworten gekommen zwiſchen
ihnen, was bei Bauersleuten etwas heißen will. Die Kinder
hatten ſie ſchlicht und recht aufgezogen, nach dem Worte:
„Wer ſein Kind lieb hat, der züchtigt es.“


Überhaupt, das war die Summe dieſes Lebens: der
Bauer hatte das Seine gethan, ſo gut oder ſo ſchlecht er
es vermochte, in den Grenzen ſeines Standes, gemäß der
Weltanſchauung, mit der er geboren und in der er aufge¬
wachſen war.


Und nun war es wie ein Strafgericht, wie eine Vergel¬
tung furchtbaren Unrechts über ihn und die Seinen gekommen,
ohne daß er doch gewußt hätte, von wannen und wodurch.
[275] Wofür büßte er, welche Sünde hatte er zu ſühnen, mit ſoviel
Elend? Wo lag der Anfang des Unglücks? Wann und
wo hatte er den Schritt gethan, der unvermeidlich das Ver¬
derben nach ſich ziehen mußte? War es nicht vielmehr eine
Kette von tauſend winzigen Gliedern, ein ganzes Netz von un¬
ſichtbaren Maſchen, an dem er Zeit ſeines Lebens unbewußt ge¬
arbeitet, und das ihn jetzt verſtrickte zu unrettbarem Untergange?


Oder, lag die Schuld nicht tiefer und ferner? Reichte ſie
nicht zurück, über die ſechzig Jahre dieſes Lebens, in die Zeiten
der Väter und Vorväter?


Hatte Traugott Büttner nicht das Gut aus dem väter¬
lichen Erbe erſtanden unter Bedingungen, die für ihn den Er¬
folg von vornherein unterbanden! War das nicht der an¬
fangs kaum beachtete Riß, welcher am Ende zum Zuſammen¬
bruch des Gebäudes führte; der ſcheinbar unbedeutende Rechen¬
fehler, der, von Jahr zu Jahr weiter geführt, ſchließlich das
Ergebnis der ganzen Rechnung falſch ausfallen ließ! Oder
hatte Leberecht Büttner, dieſer vorſichtige Wirt und Mehrer
des Vermögens, etwa ſelbſt den Grund zum Untergange des
Familiengutes gelegt, als er deſſen Grenzen erweiterte, neues
Land zum ererbten hinzuerwarb? Hatte er damit vielleicht
dem Ganzen eine ungeſunde Entwickelung, einen allzu großartigen
Zuſchnitt, gegeben; hätte er nicht, ſtatt auf Erweiterung des
Beſitzes zu ſinnen, lieber das einmal Beſeſſene ſo ertragreich
wie möglich geſtalten ſollen? Hatte er nicht durch dieſe Ver¬
rückung der Verhältniſſe ſeinem Nachfolger eine gefahrvolle
Erbſchaft hinterlaſſen, doppelt gefahrvoll, wenn dieſer Nach¬
folger ihm nicht gleichkam an Einſicht und Rührigkeit?!


Oder, lag das Verſehen nicht außerhalb der Familien¬
geſchichte überhaupt! Waren es nicht vielmehr die Verhältniſſe,
die Entwickelung, der Gang der Weltereigniſſe, die auch auf
dieſes winzige Zweiglein am großen Baum des Volkes gewirkt
hatten? Stand nicht auch dieſer kleine Ausſchnitt aus dem
Menſchheitsganzen unter den Geſetzen des Prozeſſes von Wer¬
den und Vergehen, dem das Völkerleben wie die Geſchichte der
Familien und des einzelnen unterworfen ſind! —


18*[276]

War vielleicht jenes große Ereignis der Bauernbefreiung
im Anfange des Jahrhunderts, deſſen Zeuge noch Leberecht
Büttner als junger Menſch geweſen, zu ſpät eingetreten? War
dieſer mächtige Ruck nach vorwärts nicht mehr im Stande ge¬
weſen, das Bauernvolk aus der Jahrhunderte alten Gewöhnung
an Unſelbſtändigkeit und Knechtsſeeligkeit herauszureißen?
Oder war die Aufhebung der Frone zu ſchnell, zu unmittelbar
gekommen? Hatte ſie den Bauern nur äußerlich ſelbſtändig
gemacht, ohne ihm die zum Genuſſe der Freiheit nötige Er¬
leuchtung und Vernunft gleichzeitig geben zu können? Waren
die, durch viele Geſchlechter großgezogenen Laſter: des Mi߬
trauens, der Stumpfheit, der Beſchränktheit und der tieriſchen
Rohheit, doch ſo tief in Fleiſch und Blut der Kaſte übergegangen,
daß ſie unausrottbar immer von neuem durchbrechen mußten,
und ſo den Untergang des ganzen Standes herbeiführen
würden? —


Oder ſpannen ſich die Fäden jenes Gewebes von Unrecht,
Irrtum und Unglück, die den einzelnen mit dem Ganzen eben¬
ſogut verweben, wie Rüſtigkeit, Aufſchwung und Gedeihen
eines Volkes ſegensreich das Einzelgeſchick befruchten und
fördern — reichten dieſe unſichtbaren Wurzeln, die uns mit
dem tiefſten Grunde der Vergangenheit unſeres Geſchlechts ver¬
binden, nicht noch viel viel tiefer hinab in die Vorzeit? War
der große Krieg daran ſchuld, der das deutſche Volk zum
Bettelmann gemacht, und ſeinen Boden zu einer Einöde? Aber,
war nicht ſchon vor dem großen Kriege ſchweres Unrecht am
deutſchen Bauern begangen worden? Drangſal und Verge¬
waltigung, die ihm zu Luthers Zeiten den Kolben und den
Dreſchflegel in die Hand nehmen ließen, zum Aufruhr gegen
die Großen der Welt, in denen er die Macht verkörpert ſah,
die ihn am meiſten bedrückte: der Feudalismus.


Und lag der letzte und tiefſte Grund der Unbilden, die
dem Bauern durch alle Stände widerfahren, mochten ſie ſich
Fürſten, Ritterſchaft, Geiſtlichkeit, Kaufmanns- Richter- und
Gelehrtenſtand nennen, nicht noch viel weiter zurück in der
Entwickelung? War da nicht in unſer Volksleben ein Feind
[277] eingedrungen, der für Kolben und Flegel unerreichbar war,
der mit noch ſo derben Fäuſten nicht aus dem Vaterlande
getrieben werden konnte, weil er körperlos war, ein Prinzip,
eine Lehre, ein Syſtem, aus der Fremde eingeſchleppt, einer
Seuche gleich: der Romanismus!


War denn nicht der deutſche Bauer frei geweſen ehemals?
Frei, wie der Baum, der Halm, ein Gewächs des freien
Grund und Bodens, verantwortlich nur vor ſeinesgleichen, ge¬
bunden nur durch die Geſetze der Markgenoſſenſchaft. Nur
die Gemeinde und ihre Rechte hatte er über ſich, deren Lehns¬
mann er war, die ihm ein Stück der freien Wildnis zuwies,
damit er es urbar mache, und ſich darauf ernähre.


In jenen natürlichen, urwüchſigen Zeiten, die noch nichts
von den knifflichen Definitionen der Gelehrten, vom pedantiſchen
Schreibwerk der Juriſten, ahnten, war Beſitz und Eigentum
noch eins; Thatſache und Recht fielen da zuſammen. Wer
den Boden dem Urwalde abrang, der erwarb ihn, machte ihn
zu ſeinem Eigen. Die Ernte gehörte dem, der den Acker be¬
ſtellt und die Ausſaat gemacht. Arbeit war der einzige Rechts¬
titel, welcher galt. Jeder Nachfolger mußte ſich die Hufe und
die Frucht von neuem erwerben durch ſeiner Hände Werk.


Und nun drang ein fremder Geiſt von jenſeits der Alpen
ein und verwirrte und verkehrte dieſe einfachen erdgewachſenen
Verhältniſſe. Abgezogene Begriffe, aus einer toten Kultur
geſogen, wurden an Stelle des ſelbſtgeſchaffenen gut erprobten
deutſchen Rechtes geſetzt.


Dieſer fremde römiſche Geiſt war der Verderber. Über¬
all drang er ein, wie eine Krankheit. Bald beherrſchte er
Staat, Kirche, Schule und Gerichte. Formalismus und Scholaſtik
waren ſeine übelgeratenen Kinder.


Am ſchwerſten aber ſollte unter dem fremden Produkt
der leiden, welcher von allen am wenigſten davon wußte und
verſtand: der Bauer.


Alle anderen Stände verſtanden es, ſich das fremde
Syſtem zu Nutze zu machen. Ritter und Kaufmann wußten
ſeine Maximen zu verwerten, ſich nur zu gut dem praktiſchen
[278] Egoismus anzupaſſen, der das Grundprinzip des römiſchen
Rechtes iſt. Und ſeit den Zeiten der Scholaſtik ward Haar¬
ſpalterei und wirklichkeitsfremdes Definieren und Konſtruieren
die Lieblingsbeſchäftigung der deutſchen Gelehrtenzunft.


Dem freien deutſchen Bauernſtande aber grub das fremde
Recht die Lebenswurzeln ab.


Denn der Begriff des römiſchen Eigentums lief dem
ſchnurſtracks zuwider, was für den deutſchen Anſiedler gegolten
hatte. Nun wurden in trocken formaliſtiſcher Weiſe Recht
und Thatſache getrennt. Fortan konnte einem ein Stück Land
gehören, der nie ſeinen Fuß darauf geſetzt, geſchweige denn,
eine Hand gerührt, um es durch Arbeit zu ſeinem Eigen zu
machen. Jetzt gab es gar viele Rechtstitel mit fremdklingenden
Namen, kraft deren einer Eigentum erwerben und veräußern
konnte. Den Ausſchlag gab nicht mehr die lebendige Kraft
des Armes, ſondern erklügelte, in Büchern niedergeſchriebene,
tote Satzung. Am Grund und Boden konnte fortan Eigen¬
tum entſtehen durch Eintragung in Bücher. Es konnte
ernten, wer nie geackert und geſäet hatte. Es gab Rechte an
fremden Sachen, Einſchränkungen des Eigentumsrechtes durch
Dritte, die ſich ſo drehen, deuten, nutzen und ausdehnen ließen,
daß der Eigentümer bald wie ein Mann war, der ſein Feld
auf der öffentlichen Landſtraße liegen hat. Das Verpfänden
und Belaſten des Grund und Bodens ward in ein Syſtem
gebracht, das den Urgrund aller menſchlichen Verhältniſſe, die
Scholle, einem Handelsartikel gleichſtellte. Es wurde möglich,
daß einer durch Beleihung ſtiller Mitbeſitzer eines Stück
Landes ward. Dann mußte ihm der Eigentümer einen Teil
der Erträge abgeben, die er durch ſeine Arbeit dem Boden
abgerungen hatte, und jener genoß in der Ferne ohne Mühe
die Früchte fremden Bodens und fremden Schaffens.


So hatte ſich das undeutſche Recht, mit ſeinem egoiſtiſch¬
kalten, verſtandesmäßigen Formalismus wie ein Lavaſtrom
über die heimiſchen Einrichtungen ergoſſen, alles mit ſtarrer
Kruſte überdeckend, und auch die grünende Freiheit des bäuer¬
lichen Anſiedlers auf Nimmerwiederkehr vernichtend.


[279]

Der Büttnerbauer wußte von der Geſchichte und Ent¬
wickelung ſeines Standes nichts. Kenntnis und Intereſſe für
das Vergangene ſind gering beim Bauern; auch hat er
wenig Standesbewußtſein, keinen Zuſammenhalt mit Seines¬
gleichen. Ihn kümmern nur die Nöte und Bedürfniſſe, die
ihm gerade im Augenblicke auf den Nägeln brennen. Er weiß
von der Welt und ihrem Gange meiſt nur das notdürftige,
was er in der Schule erlernt, was er ſelbſt erlebt und er¬
fahren hat, und zur Not das Wenige von der Vergangenheit,
was ihm die Eltern mitgeteilt haben.


Traugott Büttner hatte nur ein dumpfes Gefühl, eine
dunkle Ahnung, daß ihm großes Unrecht widerfahre. Aber,
wer wußte denn zu ſagen: wie und von wem! Wen ſollte
er anklagen? Das war ja gerade das Unheimliche, daß es
eine Erklärung nicht gab. Das Verderben war gekommen
über Nacht, er wußte nicht von wannen. Menſchen hatten
Rechte über ihn und ſein Eigentum gewonnen, Fremde, die
ihm vor zwei Jahren noch nicht einmal dem Namen nach
bekannt waren. Er hatte dieſen Leuten nichts Böſes ange¬
than, nur ihre Hülfe, die ſie ihm aufgenötigt hatten, in An¬
ſpruch genommen. Und daraus waren, durch Vorgänge und
Wendungen, die er nicht verſtand, Rechte erwachſen, durch
die er dieſen Menſchen hülflos in die Hände gegeben war.
Er mochte ſich den Kopf zermartern, er konnte das Ganze nicht
begreifen.


Eines blieb als Untergrund aller ſeiner Gedanken und
Gefühle: ein dumpfer ſchwelender Ingrimm. Ihm war un¬
ſagbares Unrecht geſchehen. Sein Mund verſtummte; hätte
er ihn aufgethan, es wäre eine Klage erſchollen, die kein
Richter dieſer Welt angenommen hätte.


Ende des zweiten Buches.

[[280]][[281]]

Drittes Buch.

[[282]][[283]]

I.

Die Sachſengänger waren an ihrem Beſtimmungsorte ein¬
getroffen. Leiterwagen vom Rittergute Welzleben hatten ſie
an der Station abgeholt und nach dem Vorwerke Habeldamm
gebracht. Hier waren ſie vom Inſpektor in ihre Kaſerne ein¬
gewieſen worden.


Am nächſten Morgen bereits ging's mit der Feldarbeit
los.


Die Rüben waren eben erſt aufgegangen; an ihnen gab
es alſo noch keine Arbeit. Die Mädchen wurden daher mit
Behacken des Wintergetreides beſchäftigt, während die Männer
bei der Frühjahrsbeſtellung zu helfen hatten.


Es waren völlig neue Verhältniſſe hier im Weſten, in
welche dieſe Oſtländer ganz unvermittelt verſetzt wurden. Weit
und breit fruchttragende ebene Fluren. Feld an Feld, Schlag
an Schlag, die das Auge kaum zu überſehen vermochte, durch¬
quert von gradlinigen Kunſtſtraßen und Obſtalleen. Jede Hand¬
breit Land war hier ausgenutzt. So koſtbar ſchien dieſer
Boden, daß man keinem wilden Baum, keinem Strauch in der
Feldmark das Leben gönnte. Nirgends fiel der Blick auf Un¬
land. Sorgfältig waren die Steine aus dem Acker entfernt.
Am Horizonte fehlte der Kiefernbuſch, der im Oſten faſt über¬
all das landſchaftliche Bild einrahmt. Kein Wald, kein Ge¬
büſch, keine Hutung zu erblicken. Wenig Wieſe; die Acker¬
ſcholle beherrſchte hier alles. An Stelle des buntſcheckigen
[284] Planes von winzigen Fleckchen und Streifchen, wie es die
Sachſengänger von ihrer Heimat her gewöhnt waren, breitete
ſich hier das Zuckerrübenfeld mit den endloſen Reihen der
gedrillten Rübenpflänzchen; giftgrüne Streifen auf dunkel¬
braunem Untergrunde.


Und nun erſt die Beſtellung! Spatenarbeit kannte man
hier nicht, der Handpflug war an vielen Stellen vom Dampf¬
pfluge verdrängt. Das Getreide wurde mit der Dampfmaſchine
ausgedroſchen, die Saaten mit der Drillmaſchine beſtellt. Und
in der Wirtſchaft war auch alles nach neueſtem Zuſchnitt.
Das Rindvieh bekam Rübenſchnitzel als Futter. Trotz der
vielen Kühe und großartigen Ställe, war die Milchwirtſchaft
doch nur unbedeutend. Das Vieh kam von auswärts in großen
Transporten herein und ſtand nur zur Maſt da. Kälber
wurden nicht angebunden. Nur des Düngers wegen ſchien
man Rindvieh zu halten.


Und die Dörfer! Da kam man ſich vor, wie in der Stadt.
Die Häuſer eng bei einander, den Nachbarn gleichend, wie
ein Ei dem anderen, weißgetüncht, kahl, mit Ziegeln abge¬
deckt. Kein Fachwerk, keine Holzgallerie, kein Strohdach.
Hin und wieder war einmal der Anſatz zu einem Gärtchen
zu erblicken, hinter ſteifem Staketenzaune. Der Grasgarten,
die Obſtbäume, die der ärmſte Häusler des Oſtens gern
um ſein Anweſen hat, fehlten ganz. Und wo waren die
Düngerſtätten, das Göpelwerk, der Taubenſchlag, die Enten¬
pfütze? Dieſe Menſchen hier nannten keine Kuh, kein Schwein,
kein Federvieh ihr eigen.


Dabei ſchien es hier eigentliche Armut nicht zu geben.
Die Leute ließen ſich nichts abgehen. Sie gingen einher in
ſtädtiſcher Kleidung. Bloße Waden gab's hier freilich nicht
zu ſehen; ſelbſt die Kinder liefen nicht barfuß.


Die wenigen Bauern waren große Herren. Sie ritten
und fuhren einher, wie die Rittergutsbeſitzer, wohnten in großen
ſtattlichen Häuſern und ſchickten ihre Kinder zur Schule in
die Stadt. Wenn ſie untereinander waren, redeten ſie ſich
mit „Sie“ an, und an einem Tiſche mit ſeinem Geſinde
[285] wollte von dieſen großen Herren auch keiner mehr zum Eſſen
niederſitzen.


Da es keine Berge hier zu Lande gab, die Bäume in
der Landſchaft ſelten und die Kirchtürme klein und unan¬
ſehnlich waren, ſo hätte es eigentlich nichts in die Augen
Fallendes gegeben, wären nicht die Eſſen geweſen, die ſich
allerorten neugierig und gleichſam waghalſig emporreckten.
Hier eine von einer Zuckerfabrik, dort von einer Ziegelei oder
Brennerei.


Auch auf dem Vorwerke Habeldamm gab es ſolch eine
Eſſe, die zur Brennerei gehörte. Der Wirtſchaftshof wurde
von lauter neuen einſtöckigen Gebäuden gebildet. Wie auf dem
Präſentierbrett lag das ganze da, mit ſeinen blitzblanken ge¬
kalkten Wänden, hellroten Ziegeldächern, mitten in den grünen
Rübenfeldern, die ſich bis dicht an die Gebäude zogen. Eine
Feldbahn verband das Vorwerk mit dem Hauptgute Welz¬
leben. Eine größere Bahn ging in weiter Kurve über andere
Rübengüter nach der Zuckerfabrik. Dieſe Fabrik war ein
Aktienunternehmen der umliegenden Grundbeſitzer.


Etwas abſeits vom eigentlichen Wirtſchaftshofe lag die
Wohnung der Wanderarbeiter, die „Kaſerne“, wie ſie kurzweg
bezeichnet wurde. Es war ein mäßig großes, einſtöckiges Haus,
„genau nach der polizeilichen Vorſchrift erbaut“, wie der In¬
ſpektor nicht zu bemerken verfehlte, als er Guſtav mit ſeinen
Leuten einwies. Zu ebener Erde befanden ſich zwei ſaal¬
artige Räume, der größere für die Mädchen zum Wohnen
und Speiſen, der andere für die Männer beſtimmt, ferner eine
Küche mit neumodiſchem Herd und eine Waſch- und Spül¬
einrichtung. Im erſten Stock waren die Schlafräume unter¬
gebracht, die Mädchenkammer getrennt von der der Männer,
durch die Wohnung des „Aufſehers“, wie Guſtav jetzt tituliert
wurde.


Der Inſpektor, ein jüngerer Herr, deſſen Schnurrbart
und ſchneidiger Ton keinen Zweifel darüber aufkommen ließ,
daß er Reſerveoffizier ſei, führte Guſtav in ſämtlichen Räumen
umher, übergab ihm den Hauptſchlüſſel, und machte den Auf¬
[286] ſeher darauf aufmerkſam, daß man ſich von Seiten der Guts¬
verwaltung für jede „Schweinerei“, die hier etwa vorkommen
würde, an ihn halten werde.


Guſtav fand die Einrichtung, in der ſie fortan hauſen
ſollten, weit beſſer, als er's erwartet hatte. Die kaſernen¬
artige Einteilung des Hauſes heimelte ihn, wie eine Erinnerung
an die Soldatenzeit, an. Pauline hätte ſich freilich mehr
Traulichkeit gewünſcht in ihrer Stube, die außer Bett, Schrank,
Tiſch und Stühlen nichts enthielt. Aber man mußte ſchlie߬
lich froh ſein! Hatte man doch ein Dach über ſich, und eine
Diele unter den Füßen. —


Mit dem Küchenherde konnte ſie auch zufrieden ſein.
Gut, daß ihr die neumodiſchen Kochvorrichtungen vom Ritter¬
gute daheim einigermaßen bekannt waren. Der Inſpektor hatte
ſie darauf hingewieſen, daß hier das zukünftige Feld ihrer
Thätigkeit ſein werde. Die Kartoffeln werde ſie wöchentlich
zugemeſſen erhalten für die „ganze Geſellſchaft“. Was ſie da¬
mit anfange, ſei ihre Sache. „Darum können wir uns nicht
auch noch ſcheren; da hätten wir viel zu thun!“ hieß es in
kurzer ſchneidiger Anſprache.


Von den Arbeitern fanden ſich nicht alle ſofort in die
neuen Verhältniſſe.


Der Pole Rogalla räſonnierte laut, allerdings auf polniſch,
was niemandem etwas that, weil niemand es verſtand. Be¬
denklicher war, daß er ſich weigerte, in dem gemeinſamen
Männerſchlafſaale zu übernachten. Häſchke ſprach die Ver¬
mutung aus, daß dem Pollacken die gewohnte „Bucht mit den
Reichskäfern“ fehle. Guſtav redete ein Wörtlein deutſch mit
dem Polen. Rogalla ſuchte daraufhin zwar die gemeinſame
Bettſtatt auf, in der Nacht aber ſtahl er ſich hinweg. Er
mußte irgendwo eine ſeinem Geſchmacke mehr zuſagende Schlaf¬
ſtätte ausfindig gemacht haben.


Auch einige von den Mädchen ſtellten ſich äußerſt ge¬
fährlich an. Vor allem ein Schweſternpaar Helfner. Sie
ſtammten aus dem Armenhauſe. Helfners waren eine be¬
rüchtigte Familie in Halbenau. Guſtav hatte ſich daher
[287] längere Zeit bedacht, ob er das Schweſternpaar mitnehmen
ſolle. Aber ſie hatten die heiligſten Verſprechungen gegeben,
ſich gut aufführen zu wollen. Jetzt fanden ſie alles ſchlecht:
die Wohnung, das Eſſen. Die Arbeit war ihnen zu viel.
Als Guſtav ſie etwas ſcharf 'rannahm, verſchwanden ſie in
einer Kammer und ſchloſſen die Thür hinter ſich zu. Da
blieben ſie und kamen nicht zur Arbeit. Guſtav war ratlos.
Männer zu kommandieren, das hatte er als Unteroffizier
gelernt, aber mit widerſpenſtigen Frauenzimmern fertig wer¬
den, das war noch ein ander Ding. Pauline konnte ihm
dabei nicht helfen, ſie war zu weich, um ihresgleichen zu be¬
herrſchen.


Da fand der Aufſeher unerwartete Hilfe und Unter¬
ſtützung in ſeiner kleinen Schweſter. Schon auf der Reiſe
hatte es ſich gezeigt, daß Erneſtine unter den Mädchen die
Führerrolle an ſich geriſſen habe, obgleich ſie eine der jüngſten
war. Die anderen, unter denen manches bärenſtarke Frauen¬
zimmer ſich befand, beugten ſich doch der Energie und Klug¬
heit dieſer kleinen Perſon. Jetzt war Erneſtine die einzige,
die ſich Eingang zu den aufſäßigen Schweſternpaare zu ver¬
ſchaffen wußte, ja die Helfners ſchließlich dazu bewog, die
Arbeit aufzunehmen.


Eine äußerſt brauchbare Zugabe für den Aufſeher bildete
auch Häſchke. Das war ein hartgeſottener Sünder, der ſchon
durch manches enge Loch in ſeinem Leben hindurchgekrochen
ſein mochte, der mit allen Hunden gehetzt war. So einen
konnte man hier gebrauchen. Dabei war Häſchkekarl ein
grundgutmütiger Geſelle und ſeinesgleichen gegenüber ſtets zur
Hilfe bereit. Aber Häſchkes freundſchaftliche Geſinnung ver¬
wandelte ſich ſofort in's Gegenteil, wenn er es mit einem
Höhergeſtellten zu thun hatte. Da wurde aus dieſem luſtigen
Bruder ein mißtrauiſch hämiſcher Geſelle.


Auf den Inſpektor hatte Häſchkekarl ſofort ſeinen ganzen
Haß geworfen. Er lag Guſtav in den Ohren, daß er ſich von
dem „Affen“ ja nichts gefallen laſſe. „Der großſchnäuzige
Kerl“ werde ſie noch lange nicht „dumm machen“.


[288]

Sehr ſchnell hatte es Häſchke hingegen verſtanden, ſich
drüben im Vorwerk beim Geſinde gute Freunde zu machen.
Von dort brachte er allerhand intereſſante Nachrichten mit:
Herr Hallſtädt, der Beſitzer von Welzleben, ſei mehrfacher
Millionär. Sein Vermögen habe er durch Rübenwirtſchaft und
Zuckerfabrikation gemacht. Er ſelbſt ſei ein Geizhalz, aber
ſeine Söhne, die Offiziere waren, ſorgten dafür, daß das Geld
ihres Alten unter die Leute komme. —


Auch über den Herrn Inſpektor wußte Häſchkekarl aller¬
hand zu berichten. Den Knechten gegenüber ſei der ein
Wüterich, gegen die Mägde hingegen oftmals nur allzu freund¬
lich. Im vorigen Jahre ſei der Mann aber mal an den
Richtigen gekommen. Ein Knecht, der nicht mit ſich hatte
ſpaßen laſſen, habe hinter dem Pferdeſtalle eine Unterredung
unter vier Augen mit dem Inſpektor gehabt. Danach hätte
der junge Herr acht Tage lang das Zimmer gehütet, während
der Knecht auf Nimmerwiederſehen vom Hofe verſchwunden
ſei. Die Großmagd aber, die den Inſpektor gepflegt, habe
ganz eigenartige Dinge über den Körperzuſtand des Kranken
zu berichten gehabt.


Die Wanderarbeiter kamen übrigens nur wenig mit dem
Beamten in Berührung, mit Ausnahme von Guſtav, der ſich
täglich bei ihm den Dienſt zu holen hatte. Die Arbeiten wurden
meiſt in Akkord gegeben. Der Stücklohn ſpornte ſelbſt die
Trägeren an, ſoviel wie möglich zu leiſten. Beſonders die
Mädchen waren groß in ihrer Emſigkeit. Selbſt das Schweſtern¬
paar Helfner wußten die Mitarbeiterinnen, welche aus der
Trägheit einzelner Mitglieder keine Einbuße erleiden woll¬
ten, zur Thätigkeit anzuhalten. Von den Männern drückte
ſich nur der Pole Rogalla ſoviel wie möglich um die Arbeit
herum.


Eines Tages kam ein offener Wagen von Welzleben her
auf das Vorwerk zu gefahren. Das ſei Herr Hallſtädt, hieß
es. Guſtav gab gerade mit ſeinen Leuten auf einem großen
Rübenſchlage den jungen Planzen die erſte Hacke. Herr Hall¬
ſtädt ließ auf dem Wege halten, und betrachtete ſich das Arbeiten
[289] eine Weile. Soviel man auf die Entfernung erkennen konnte,
war er ein älterer Herr mit grauem Backenbart, der eine
Brille trug. Das war alſo der reiche Herr Hallſtädt-Welz¬
leben, ihr Brotherr!


Guſtav erwartete beſtimmt, der Herr werde ihn rufen
laſſen, oder werde ſelbſt zu ihm und den Leuten herankommen.
Sie ſtanden doch bei ihm in Brot und Arbeit, ſie beſtellten
doch ſeinen Grund und Boden. Auf ſein Geheiß waren ſie ſo
viele Meilen weit hierher gekommen. —


Aber Herr Hallſtädt-Welzleben ließ nach einer Weile
weiterfahren, ohne Gruß, ohne ein Wort mit ſeinen Arbeitern
gewechſelt zu haben.


Häſchkekarl ſpuckte aus. Das war Waſſer auf ſeine
Mühle. Die Großen taugten alle nichts; überall war es die¬
ſelbe Geſchichte! Und Guſtav mußte an die Worte des Agenten
Zittwitz denken: ,Der eine gibt die Goldſtücke, der andere ſeine
Kräfte. Das iſt ein Geſchäft, klar und einfach. Alles wird
auf Geld zurückgeführt. Das nennt man das moderne Wirt¬
ſchaftsſyſtem‘. So ungefähr hatte der ſich geäußert, und er
ſchien Recht behalten zu ſollen.


Jeden Sonnabend erhielt Guſtav den Lohn für die Arbeit
der Woche ausgezahlt. Ein Bruchteil des Geldes wurde zu¬
rückgehalten, als Deckung für den Fall, daß ein Arbeiter
den Dienſt vorzeitig verließ. Auch Strafgelder waren vor¬
geſehen, und im Kontrakte fehlte die Klauſel nicht, daß jeder
Arbeiter ohne weiteres entlaſſen werden könne, ohne Anſpruch
auf Lohn, falls er ſich den Anordnungen des Arbeitgebers
und ſeiner Beamten nicht füge. Kurz, man war, wie Häſchke
ſich ausdrückte: „in ſeinem Felle lebendig verkauft“.


Mit der Ernährung der Leute gab es im Anfange
Schwierigkeiten. Die Feuerung war frei, Kartoffeln lieferte
das Gut. Um alles Übrige ſollten ſich die Wanderarbeiter
ſelbſt kümmern. Auf den, Vorwerke war ein Wächter ange¬
ſtellt, der gleichzeitig Kramhandel betrieb. Von dieſem Manne
hätten die fremden Arbeiter von jeher genommen, hieß es.
Die Waren dieſes Kleinhändlers waren ſchlecht, ſeine Preiſe
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 19[290] aber um ſo höher. Der Mann wußte nur zu gut, daß er
weit und breit keinen Konkurrenten hatte. Auf dieſe Weiſe
gingen die Sparpfennige der Sachſengänger für Nahrungsmittel
drauf. Guſtav ſah das voll Verdruß, aber was wollte man
machen!


Da war es Häſchkekarl, der Vielerfahrene, welcher Rat
zu ſchaffen wußte. Eines Nachmittags bat er ſich ein paar
Stunden Urlaub aus, borgte etwas Geld von Guſtav, und
erklärte, er wolle ſich mal ein bißchen in der Gegend umſehen.
Spät Abends erſchien er wieder in der Kaſerne, einen vollge¬
packten Sack auf dem Rücken ſchleppend.


Er hatte Einkäufe gemacht. Nun legte er eine Vorrats¬
kammer an, und verkaufte den Arbeitsgenoſſen die Waren zum
Einkaufspreiſe. Für ſeine Mühe nahm er keinen Verdienſt;
er erklärte, der Ärger jenes gauneriſchen Krämers ſei ihm
Lohnes genug.


Das Kochen beſorgte Pauline, die nicht mit auf's Feld
ging. Sie hatte Arbeit genug. Den Jungen, der jetzt in's
dritte Jahr ging, und ſchon ganz hübſch laufen konnte, hatte
ſie ſtets um ſich. Das Kind mußte ihr viel erſetzen.


Die junge Frau ſah trübe Tage. Ein wirkliches Heim
fehlte ihr. Die Arbeit zwar war nicht ſchlimm, daran war ſie
gewohnt; aber das Zuſammenleben mit ſo vielen Fremden
ſtörte das Glück der jungen Ehe. Von Guſtav hatte ſie ſo
gut wie nichts. Früh um vier ſchon ſtand er auf und trieb
die Leute hinaus. Den Tag über war man getrennt, er auf
dem Felde, ſie in der Kaſerne. Oftmals kamen ſie nicht
einmal zum Mittageſſen herein, ließen ſich's hinaustragen
auf's Feld. Abends kam er dann nach Haus, abgehetzt,
ſorgenvoll, mürriſch. Frau und Kind ſah er nicht an, riß ſich
die Kleider vom Leibe, warf ſich ins Bett und ſchlief wie ein
Toter. Es gab Tage, wo man kaum ein Wort mit einander
wechſelte.


Ganz anders hatte ſie ſich das Leben an ſeiner Seite
gedacht in der Ehe. Denn wenn ſie auch vorher einander
nicht fremd geweſen waren, ſo legte Pauline, als echtes Land¬
[291] kind am Althergebrachten, Frommen und Ehrwürdigen feſt¬
haltend, der kirchlichen Trauung doch noch ganz beſondere
Wirkungen bei. Das Ehegelübde vor dem Altare, meinte ſie,
mache den begangenen Fehltritt gut, beglaubige ihren Bund,
trage die Gewähr eines ganz beſonderen Segens in ſich. Nun
durften ſie ſich mit gutem Gewiſſen lieb haben; während der
Genuß bisher, ſo ſüß er auch geweſen, doch immer den Nach¬
geſchmack eines Vorwurfs gehabt hatte.


In dieſen Erwartungen ſchien ſich die gute Seele ge¬
täuſcht zu haben. Guſtav war ihr fremder geworden, als
er ihr zuvor geweſen. Wann wäre es früher jemals vorgekommen,
daß er für ihre liebevolle Annäherung nur eine kurze un¬
freundliche Abfertigung gehabt hätte!


Sie weinte oft heimlich. Auch zur Nachtzeit, wenn er
mit einer, ſelbſt noch im Schlafe düſter verdroſſenen Miene, in
ſeinem Bette lag. Zu wecken wagte ſie ihn nicht. Durch
ihren Kummer wäre ſie ihm nur läſtig gefallen. Er war ja
ſelbſt nicht glücklich. Daß er ſo häßlich gegen ſie war, kam
nur davon her, daß er ſo viel Sorgen hatte. Ihm zu Liebe
wollte ſie ja alles ertragen, ſelbſt die Entfremdung von ihm.


Pauline verſchloß ihren Kummer ganz in ſich, verſteckte
ihre Thränen vor ihm und war darauf bedacht, ihm nur ein
lächelndes Angeſicht zu zeigen. Aber er, in jenem Egoismus,
den die Vielgeſchäftigkeit und Arbeitsüberbürdung groß zieht, ſah
weder ihr Lächeln noch die Thränen, die darunter verborgen
waren.


Sie ſorgte dafür, daß er alles ſo gut finden möchte, wie
ſie es herzurichten im ſtande war: das Bett, die Kleider, das
Eſſen. All ihre große zurückgewieſene Frauenliebe wandte ſie,
in Ermangelung eines beſſeren, den Dingen zu, die ihn umgaben.


So vergingen die erſten Wochen in der Fremde.


Eines Tages gab es eine unangenehme Überraſchung für
den Aufſeher: Rogalla, der Pole, war verſchwunden. Seinen
Arbeitsgenoſſen fehlten verſchiedene Kleidungsſtücke, und Häſchke
machte die Entdeckung, daß ſeine Vorratskammer um eine
Wurſt und zwei Speckſeiten ärmer war.


19*[292]

Wo mochte der Vogel hin ſein? Das Gerücht behauptete,
er habe auf einem anderen Rübengute, wo nur polniſche
Arbeiter in Sold waren, Arbeit angenommen. Man ſtellte
keine Nachforſchungen nach ihm an, denn er war ein lieder¬
licher, läſtiger und fauler Burſche geweſen. Mochte er bei
ſeinesgleichen bleiben!


[[293]]

II.

Zwei Monate waren vergangen, ſeit das Büttnerſche Gut
unter den Hammer gekommen war. Samuel Harraſſowitz
ſchaltete und waltete jetzt hier als unumſchränkter Herr und
Gebieter. Er hatte den alten Bauern vorläufig auf ſeinem
ehemaligen Hofe gelaſſen. Er nahm auch keine Miete von den
Leuten, aus dem einfachen Grunde, weil ſie nichts mehr hatten,
wovon ſie ihm hätten Quartiergeld zahlen können. Außer¬
dem waren die Büttners, wie er es ſelbſt zugab: „alte brave
Leute“, denen er das „Almoſen gern gönnte“. — Er ließ die
Felder von dem alten Manne beſtellen; auf dieſe Weiſe konnte
der etwas von dem Gelde, was er noch auf Wechſel ſchuldete,
abarbeiten.


Mancherlei Veränderungen nahm der Händler in der
Wirtſchaft vor. Zunächſt führte er die Ochſen weg; die konnte
er gerade an einer anderen Stelle gut gebrauchen. „Sie
kommen ſchließlich auch mit Kühen aus; was, mein guter
Büttner?“ ſagte er in ſeiner biedermänniſch aufgeknöpften
Weiſe zu dem Alten.


Der Büttnerbauer erwiderte nichts hierauf. Er nahm
überhaupt jeden Befehl des neuen Herrn ſchweigend und mit
undurchdringlicher Miene hin.


Nun war er alſo ſoweit gekommen, daß er mit Kühen
aufs Feld fahren mußte, wie die Kleingärtner und Stellen¬
beſitzer. Als Knecht eines Fremden beſtellte er jetzt den
[294] Acker, der einſtmals ſein geweſen. Wenn man Grimm und
hölliſche Schmerzen ausſäen könnte, was wäre da für eine
Saat aufgegangen auf dieſen Fluren! —


Im Obſtgarten, der das Haus umgab, ließ Sam tüchtig
aufräumen. Die alten Krüppel von Apfelbäumen machten zu
viel Schatten, und trügen ja doch nur ſaures Zeug, das man
nicht los würde, hieß es. Die Bäume hatte der Großvater
zu Anfang des Jahrhunderts gepflanzt, er war ein Obſtheger
geweſen, und die ſpäteren Generationen hatten den Segen
ſeiner Fürſorge geerntet. Jahr ein Jahr aus pflegten die
,alten Krüppel‘ zu tragen, ihre harten kernigen Sorten, wie
ſie dem Klima angepaßt waren. Die Bäuerin hatte davon
abzubacken gepflegt; Weihnachtsäpfel hatte man gehabt, und
mancher ſpäte Apfel hielt ſich bis tief in's Frühjahr hinein,
als angenehme Beigabe zur Alltagskoſt.


Nun ſollten die alten treuen Stämme dran glauben.
Der Bauer und Karl mußten ſelbſt Hand anlegen, die Bäume
umzuſägen und die Stöcke zu roden. Der Büttnerbauer ver¬
richtete auch dieſes Werk ſchweigend, aber in ſeiner Hand die
Säge ſchien zu knirſchen, als ſie ſich in das ſpröde Holz
einfraß.


Toni hatte inzwiſchen das väterliche Haus verlaſſen müſſen,
denn Sam erklärte: ſoviel Mäuler dürften auf ſeine Koſten
nicht gefüttert werden. Zudem paßte es jetzt mit der Ammen¬
ſtelle. Frau Achenheim, ſeine Tochter in Berlin, hatte Sam
zum Großvater gemacht. Toni ſollte den Sprößling ernähren,
und wurde zu dieſem Behufe eines Tages nach Berlin be¬
fördert. Und diesmal war kein Guſtav zur Stelle, die
Schweſter zu ſchützen. Tonis eigenes Kind wurde Thereſen
übergeben, welche dieſen Familienzuwachs mit geringer Freude
begrüßte.


Man mußte es Sam laſſen, es hatte alles Art, was er
unternahm. Er verſtand es, im großen Stile zu verfügen.
Das Kleinſte, was er anordnete, ſchien von langer Hand vor¬
bereitet und ordnete ſich vortrefflich in das Gefüge ſeiner
Operationen ein.


[295]

Auch mit Karl Büttner hatte er ſeine beſonderen Ab¬
ſichten. Zunächſt ließ er es zu, daß der junge kräftige Mann
dem Vater bei der Frühjahrsbeſtellung half. Sobald dieſe be¬
ſorgt war, erklärte der Händler dem Bauernſohne, daß er ſeine
Dienſte nunmehr entbehren könne, und daß er mit ſamt ſeiner
Familie auszuziehen habe.


Karl war alſo vom väterlichen Hauſe und Hofe ver¬
trieben ! Was nun beginnen? Karl Büttner ſtand der Zukunft
ratlos gegenüber. Er hatte nichts gelernt; nur in der Soldaten¬
zeit war er von der Heimat weggekommen. Einen anderen Be¬
ruf als den bäuerlichen zu betreiben, daran hatte er, als des
Büttnerbauern Älteſter, nie gedacht.


Der Ärmſte hatte es ſchwer. Er war um das väter¬
liche Erbe gekommen, er wußte nicht wie! Seine Frau machte
ihm das Leben auch nicht leichter, ſeit er ein Bettler geworden
war. Täglich bekam er jetzt von ihr zu hören, daß ſie be¬
trogen ſei mit ihm. Daß er ein „dummer Karle“ ſei, das
habe ſie freilich immer gewußt, aber ſie habe doch wenigſtens
geglaubt, einmal Bäuerin zu werden durch ihn. Nun mußte
der Unglückliche ihr für dieſe Enttäuſchung herhalten.


Karl ſuchte eine Zeitlang nach einer Thätigkeit. Sein
Suchen beſtand darin, daß er ratlos umherlief und ſich als
Kutſcher anbot. Aber man ſtieß ſich meiſt an ſeiner ſtarken
Familie, und ſein ungeſchicktes Auftreten hatte auch wenig
Beſtechendes. Bald gab er das jedoch auf und ſaß nur noch,
unter dem Vorgeben in den Blättern zu ſuchen, in den
Schenken umher. Thereſe, die ihm alsbald anmerkte, daß er
Bier und Schnaps genieße, wurde durch dieſe Entdeckung
auch nicht freundlicher geſtimmt.


In dieſer Not trat wiederum Sam als Helfer auf. Er
wolle ihm eine von ſeinen Wirtſchaften in Wörmsbach ver¬
pachten, ſagte er zu Karl.


Karl Büttner ging nach Wörmsbach, um ſich die Stelle
anzuſehen. Es war ein kleines Anweſen, ein elendes Über¬
bleibſel von einem Bauerngute, welches Harraſſowitz bis auf
dieſen Reſt vereinzelt hatte. Die Gebäude waren gänzlich ver¬
[296] fallen und drohten jeden Augenblick Einſturz. Nur noch die
kahlen Lehmwände ſtanden da, und durch dieſe blickte an
manchen Stellen ſchon das Tageslicht hindurch. Was an
Möbelſtücken und Gerätſchaften früher etwa da geweſen ſein
mochte, war längſt herausgeſchleppt. Faſt ebenſo ſchlimm, wie
auf dem Hofe, ſah es auf den Feldern aus. Das Meiſte
war Schwarzbrache. Jahrelang hatte niemand hier beſtellt.


„Ein ſchönes Feld der Thätigkeit für einen jungen Mann“,
ſagte Sam. „Sie werden das ſchon in die Höhe bringen,
Büttner, da ſind Sie ganz der Mann dazu!“ — Den Pacht¬
ſchilling für den erſten Termin wollte Sam gütigſt ſtunden,
und zur Anſchaffung von Vieh, Saatgut und Inventar Geld
vorſchießen.


Karl Büttner war leicht zu bereden, beſonders von einem
wie Samuel Harraſſowitz, der ſchon klügere ſeinem Willen
unterthan gemacht hatte; ſo wurden die beiden handelseinig.


Karl ſiedelte alſo mit Weib und Kind und den wenigen
Habſeligkeiten, die er ſein nannte, nach Wörmsbach über.
Thereſe, die ſonſt nicht zu weichen Stimmungen neigte, weinte,
als ſie das neue Heim erblickte. Der windſchiefe Giebel, die
zerbrochenen, hie und da mit Papier verklebten Scheiben, das
Strohdach, welches ausſah, wie ein ſtruppiger Pelz, in dem
die Motten ſich niedergelaſſen! Und erſt drinnen in den Stuben:
die verſchimmelten Wände, die morſchen Dielen, ein Herd,
zwiſchen deſſen Kacheln das Feuer durchleuchtete!


So ſahen die Räume aus, in denen ſie in Zukunft
hauſen ſollten! —


Eines Tages kam ein kleiner Herr nach Halbenau, be¬
gleitet von einem halbwüchſigen Bürſchchen. Sie trugen ſich
mit Rollen, Holzkäſtchen, Mappen und einer langen Kette.
Wo das „ehemalig Büttnerſche Bauerngut“ gelegen ſei, fragten
ſie. Man wies ihnen den Weg. Sie begannen die Felder
zu umſchreiten, der Knabe mußte kleine Pflöckchen einſchlagen
[297] und hatte die Maßkette zu ziehen. Drei Tage lang arbeiteten
ſie in dieſer Weiſe, ſchrieben Zahlen an die Pflöckchen, und
machten Einzeichnungen in eine Karte.


Der Mann verſchwand wieder, aber, ſeine Pfähle blieben
ſtehen.


Am Sonntag Nachmittag gab es dann eine wahre Völker¬
wanderung nach dem Bauerngute. Die Halbenauer kamen,
ſich das abgeſteckte Land zu beſehen. Einzeln und in Gruppen
ſchritten ſie auf den Rainen und Feldwegen auf und ab.


Der Büttnerbauer ſah das vom Hofe aus. Die Zorn¬
ader ſchwoll ihm. Was wollte das Volk denn hier! Die zer¬
trampelten das Gras und liefen womöglich über die Saaten.
Er ging vor den Hof, und rief den erſten beſten, der ihm in
den Wurf kam, an, was er hier zu ſuchen habe.


„Ich will a Morgen a zweee kefen, morne!“ ſagte der, und
ging ſeines Weges weiter.


Hier ſei kein öffentlicher Weg, ſchrie ihn der alte
Mann an.


„Nu, Traugott, ſtell D'ch doch ne ſu an!“ meinte der
andere, einer ſeiner Nachbarn. „Morne wollen ſe duch Deine
Felder eenzeln verſteigern. 's hat ja im Blattel geſtanda!“


Alſo, das war es: Vereinzelung des Gutes! — Der alte
Mann ſtand eine ganze Weile, wie erſtarrt. Dann ſetzte er
ſich langſam in Bewegung, mit ſchleppenden Schritten, als ziehe
er eine ſchwere unſichtbare Bürde hinter ſich drein.


Ein Trupp Dorfleute kam ihm entgegen, vom Felde. Sie
ſprachen laut; offenbar unterhielten ſie ſich über die bevor¬
ſtehende Landauktion. Als ſie des Alten anſichtig wurden, ver¬
ſtummte ihr Lärmen; ſchweigend, mit verlegenen Mienen eilten
ſie an ihm vorüber.


Dann kamen wieder zwei, ein alter und ein junger:
Kaſchelernſt und Richard.


Der Kretſchamwirt blieb ſtehen, als er in gleicher Höhe
mit ſeinem Schwager war. „Gu'n Tag Traugott!“ Kein
Gegengruß erfolgte. „Du, Traugott!“ meinte Kaſchelernſt,
ſcheinbar harmlos plaudernd, „Dei Korn ſtieht aber heuer gutt.
[298] Kreiterwetter! das is a Staatskorn, da warn a hibſch Paar
Schock uf'n Morgen kimma. Was meenſt De? nich!“


Der Büttnerbauer ſagte nichts, warf aber dem Schwager
einen ſo ſprechenden Blick zu, daß der ihm unwillkürlich den Weg
frei machte und ihn weiter gehen ließ. Dann rief er dem Alten
nach: „Du Traugott! zur Ernte kannſt De mir helfen kimma.
Ich will D'ch och bezahl'n. Ich mechte 's Korn ſinſten am
Ende ne Herre warn, ſuviel ſtieht's 'n druffe. Willſt De uf
Erntearbeit kimma — hee?“


Der Bauer ging weiter, ohne ſich umzuſehen.


„Nu ja, ich meene ock, Traugott! Du weeßt am Ende
noch gar niche, daß 'ch das Kornſticke dahie von Harraſſowitzen
gekeft ha'. 's is a hibſches Sticke, a Schaffel a zehne gruß.
Ju, ju, das ha' ich mer genumm'n! Na, dacht'ch wenn ſe's
Büttnerſche Gut eemal verſteigern tun, da wirſcht De Dir och
e Sticke nahmen kennen — warum denn ne! Da bleibt's duch
wenigſtens in der Familie.“


Nun war der Alte doch ſtehen geblieben, mitten auf dem
Wege, ſtarr und ſteif, mit offenem Munde. Kaſchelernſt
hatte das Kornſtück gekauft! — Kaſchelernſt im Beſitze ſeines
beſten Ackers! —


„Ju ju, Traugott, das Korn is meine!“ ſagte der
Kretſchamwirt näher zu ſeinem Schwager herankommend.
„Ich bedank' mich och ſchienſtens bei Dir', daß Du den
Acker ſo ſchiene beſtellt haſt. Schienes Korn, ſehr ſchienes
Korn!“


Richard, der ſich bis dahin die Hand vor den Mund ge¬
halten hatte, platzte jetzt auf einmal heraus.


Der Bauer ſtand da, ſteif wie ein Stock.


Kaſchelernſt im Beſitze dieſes Kornſtückes! — Das erſchien
von allem, was ihm bisher wiederfahren, das Ungeheuerlichſte.
Sein Geſicht begann ſich zu verändern. Die Augen leuchteten
in dunklen Lichtern, die Nüſtern blähten ſich auf, die Lippen
hoben ſich, wie bei einem wilden Tiere, das ſich auf den Feind
ſtürzen will. Aus ſeinem Munde kam ein knurrender Laut:
„Hund — Huund .. . . . . .“


[299]

Das Lachen des Neffen verſtummte vor der Miene des
Alten, der mit geballten Fäuſten auf ſie zukam.


„Huund — Hunde! Ich zerſchlag' Eich de Knuchen —
Ich zerſchlag' . . . . .“


Der Sohn ſuchte Deckung hinter dem Rücken des Vaters.
Da aber Kaſchelernſt es vorzog, ſich in ſchnellſter Gangart vor
ſeinem Schwager zurückzuziehen, ſo war bald ein Zwiſchen¬
raum zwiſchen Traugott Büttner und den Kaſchels entſtan¬
den. Nach einiger Zeit wagten es die Braven wieder, Halt
zu machen.


Büttner war gleichfalls ſtehen geblieben, und drohte
keuchend mit der Fauſt nach jenen hinüber. „Wenn 'ch, und
ich find' D'ch Kaſchel! De Knuchen zerſchlag' 'ch D'r. Hund
Du!“


Der Kretſchamwirt rief eine höhniſche Bemerkung dagegen.
Der Bauer kam ihnen von neuem nach. Worauf ſich das
tapfere Paar abermals zurückzuziehen begann.


Da bückte ſich der Alte und hob Steine auf, lief ein paar
Schritte, ausholend, ſchleuderte nach jenen. Er traf nicht, denn
er war viel zu erregt, um zu zielen. Kaſchelernſt und Richard
machten ſich aus dem Staube und waren bald hinter den erſten
Dorfhäuſern verſchwunden.


Inzwiſchen waren die Leute auf den Vorgang aufmerk¬
ſam geworden, kamen von allen Seiten herbei, um ſich an dem
intereſſanten Streit zwiſchen den Verwandten zu weiden. Man
umſtand den alten Mann.


Traugott Büttner ſtand da mit dunkelrotem Kopfe, wirrem
Haar, ohne Mütze, die er beim Laufen eingebüßt hatte, am
ganzen Leibe bebend vor Wut. Er ſchüttelte die Fäuſte noch
immer nach jener Richtung, wo die Kaſchels verſchwunden
waren. Allmählich löſte ſich ſeine Zunge. Zwiſchen rauhen
und ſchrillen Tönen wechſelnd, dumpf knurrend und ſich über¬
ſchreiend, brachte er wilde Flüche und Verwünſchungen vor.


Einige jüngere wollten ſich ſchlechte Scherze erlauben
mit dem alten Manne, der ganz außer Rand und Band ge¬
raten ſchien. Aber ein paar von ſeinen Altersgenoſſen beſaßen
[300] Anſtandsgefühl genug, das nicht zuzulaſſen. Sie ſuchten den
Tobenden zu beruhigen, der ſich inzwiſchen ſchon ganz heiſer
geſchrieen hatte, und den nur noch die Wut vor dem Zu¬
ſammenbrechen bewahrte. Er wiederholte dieſelben Schimpf¬
worte immer und immer wieder, ſchien kaum mehr zu wiſſen,
was er ſchrie. Die älteren Leute nahmen ſich ſeiner an, führ¬
ten ihn nach ſeinem Hauſe. —


Die Bäuerin, die noch immer das Bett hütete, merkte
wohl, daß der Bauer unwirſch und einſilbig ſei, noch mehr
als ſonſt. Aber das Unglück der letzten Zeiten war ſo groß
geweſen, ein Schickſalsſchlag hatte den anderen übertroffen,
daß ſie ſchon gar nicht mehr nach Neuem fragte.


Die alte Frau war ſchwer mit Elend geſchlagen. Ihr
Mann hatte doch wenigſtens ſeine Arbeit; er konnte den
Kummer da draußen im Acker vergraben. Aber ſie lag hier
oben allein, ohne ein Glied rühren zu können. Die Kinder
waren nun alle aus dem Hauſe, in der Fremde. Keine
Menſchenſeele hatte ſie zur Pflege. Hin und wieder kam ein¬
mal eine mitleidige Nachbarsfrau, nach ihr zu ſehen. Dann
hatte ſie wenigſtens für kurze Zeit jemanden, mit dem ſie
weinen konnte; das war ihr einziges Labſal. Zu ihrer Gicht
war noch Waſſerſucht getreten, die ſie gänzlich bewegungslos
machte. Sie ſehnte ſich aufrichtig nach dem Tode.


Die Bäuerin, welche des Nachts nur wenig ſchlief, traute
ihren Sinnen kaum, als ſie in der auf dieſen Sonntag folgen¬
den Nacht plötzlich den Bauern aufſtehen und ſich ankleiden
ſah. Wo er zu dieſer Stunde hin wolle, fragte ſie ihn. Eine
Kuh ſei krank, erwiderte er, und ging.


Sie verfolgte ſeine Schritte und vernahm mit ihrem,
durch das lange Stilleliegen geſchärften Gehör, in der tiefen
Nachtſtille, daß er ſich unten mit den Geſchirren zu ſchaffen
machte. Und nach einiger Zeit war es ihr, als höre ſie ihn
mit einem Geſpanne den Hof verlaſſen.


Was ſollte alles das vorſtellen? Mitten in der Nacht
aufzuſtehen und zur Feldarbeit zu gehen! War der Bauer
am Ende gar übergeſchnappt?


[301]

Früh beim Morgengrauen erſt kam er zurück, ſchmutzbe¬
deckt und erhitzt, wie von angeſtrengter Arbeit. Er kleidete
ſich aus, legte ſich noch einmal zu Bett und ſchlief bis tief
in den Tag hinein. Die Bäuerin konnte ſich nicht entſinnen,
je zuvor etwas Ähnliches an ihrem Eheherrn erlebt zu haben. —


Im Kretſcham ſammelten ſich inzwiſchen die Bieter. Heute
ſollte ja, laut Zeitungsanzeige, die Vereinzelung des ehemalig
Büttnerſchern Bauerngutes ſtattfinden. Halbenau machte Feier¬
tag an dieſem Montage. Denn wenn auch nicht jeder bieten
konnte, ſo wollte doch jeder zum mindeſtens dabei geweſen ſein.


Es kamen etwa ſechzig Morgen in kleineren Parzellen
zur Verſteigerung. Den Bauernhof mit einem Areal von
etwa vierzig Morgen nahm der Beſitzer von der Auktion aus,
ebenſo den Wald. Ein Stück von zehn Morgen hatte der
Kretſchamwirt bereits vorher erſtanden; zu einem auffällig
niedrigen Preiſe, wie gemunkelt wurde. Nun, er war ja gut
Freund mit Samuel Harraſſowitz! —


Die Stimmung war eine angeregte, es ſchien Kaufluſt
vorhanden. Der Händler kannte ſeine Leute, wußte womit man
den kleinen Mann ködert. Der Landhunger war auch bei den
Halbenauern ausgeprägt. Die ärmſten Schlucker, die ſich das
Geld womöglich hatten zuſammenborgen müſſen zur Anzahlung,
wollten dieſe Gelegenheit, zu eigenem Grund und Boden zu
gelangen, nicht ungenützt vorübergehen laſſen; die Erwägung,
ob ſie jemals im ſtande ſein würden, nur die Zinſen des Kauf¬
geldes herauszuwirtſchaften, bewegte dieſe Köpfe nicht. Kauf¬
männiſch zu verfahren, oder auch nur ihren Vorteil im voraus
zu bedenken, war nicht die Sache von Leuten, die aus der Hand
in den Mund lebten und nichts zu verlieren hatten.


Mit Spannung ſah man der Ankunft des Händlers ent¬
gegen, ohne den die Auktion nicht beginnen konnte. Endlich
kam das Wägelchen, auf dem Bocke der Kutſcher, mit dem
blauen Rocke und der ſilbernen Treſſe am Hute, die in Halbenau
nicht mehr unbekannt waren. Harraſſowitz hatte den jungen
Advokaten Rieſenthal mitgebracht, der ihm die Kontrakte mit
den Käufern gleich fix und fertig machen ſollte.


[302]

Mit freudigem Blicke überſchaute Sam die Schar der
Kaufluſtigen. „Die Kerle ſein wie verrickt!“ raunte ihm
Kaſchelernſt zu, als er den Geſchäftsfreund am Wagen be¬
grüßte.


„Recht ſo!“ meinte Sam. „Wir wollen ja auch nichts
verſchleudern.“ —


Nach einiger Zeit begab man ſich hinaus auf's Bauern¬
gut. Die Verſteigerung ſollte an Ort und Stelle vorgenom¬
men werden. Der Anblick des Feldes und der Früchte, die
darauf ſtanden, würde die Kaufluſt noch erhöhen, taxierte Sam.
Der Händler und der Gaſtwirt gingen etwas hinter dem all¬
gemeinen Troß drein.


Auf einmal gab es ein Recken der Hälſe und Zuſammen¬
ſtecken der Köpfe, Rufe des Staunens, untermiſcht mit Ge¬
lächter! „Was giebt's denn?“ fragte Harraſſowitz. Die Leute
wieſen auf ein Stück friſch gepflügten Ackerlandes.


Kaſchelernſt ſtieß einen Ruf des Schreckens aus, lief ein
paar Schritte vorwärts, blieb dann ſtehen, mit rotem Kopfe
und weit geöffnetem Munde, ähnlich wie am Tage zuvor ſein
Schwager, Traugott Büttner. Von dem pfiffigen Lächeln, das
er ſonſt zur Schau zu tragen pflegte, war in dieſem Augenblicke
keine Spur zu entdecken.


Die Leute kicherten und nickten einander ſchadenfroh zu.
Das war Kaſchelernſten einmal geſund!


Wo geſtern Abend noch eine dunkelgrüne Kornſaat ge¬
prangt hatte, lag jetzt braune Stürze.


Das hatte der alte Büttner in einer Nacht mit dem Pfluge
umgeackert.

[]

III.

Die Sachſengänger waren mit ihren Arbeiten rüſtig vor¬
wärts geſchritten. Den Rüben war bereits die dritte Hand¬
hacke gegeben worden. Der trockene Sommer hatte die Reife
des Getreides ſtark gefördert; bereits Ende Juni verkündete
die weißgelbe Farbe der Kornähren die herannahende Ernte.


Die Erntezeit bedeutete für die Wanderarbeiter eine Änderung
ihrer ganzen Arbeitsweiſe. Bis dahin hatten ſie hauptſächlich
in Stücklohn gearbeitet. Es war ihnen überlaſſen worden, ſich
Beginn und Dauer der Arbeitszeit ſelbſt zu legen. Erwerbs¬
befliſſen wie ſie waren, hatten ſie bei grauendem Tage die
Arbeit aufgenommen und niemals vor ſinkender Nacht aufge¬
hört, nur mit kurzen Unterbrechungen für Frühſtück, Mittag¬
brot und Veſper. So hatten ſie durch große Emſigkeit ſchöne
Einnahmen erzielt. Und die Güte der Arbeit hatte doch nicht
unter dem Eifer, möglichſt viel vor ſich zu bringen, zu leiden
gehabt, denn Guſtav Büttner ſtand als ſtrenger Aufſeher hinter
ihnen. Guſtav ſetzte ſeinen Ehrgeiz darein, daß bei ſeiner
Gruppe nicht über Schleuderarbeit geklagt werden durfte.
Das Auge des ſchneidigen Herrn Inſpektors ſchien oft genug
nach einer Gelegenheit zu Tadel, oder gar zu Lohnabzügen,
zu ſuchen, wenn er plötzlich an die rübenhackenden Leute heran¬
geſprengt kam; aber bis dahin hatte er keine Möglichkeit ge¬
funden, ſeine wohlwollende Abſicht auszuführen.


Anders geſtaltete ſich die Sache, als die Erntezeit heran¬
kam. An Stelle des Stücklohnes ſollte nun, laut Kontrakt,
[304] Tagelohn treten. Die Arbeiter, die ſich ausgerechnet hatten,
daß ſie nun nicht mehr den guten Verdienſt haben würden, den
ſie bei der Akkordarbeit erzielen konnten, ſahen der Änderung
des Lohnſatzes mit Unluſt entgegen. Es war darüber ſchon
viel hin und her geſprochen worden unter den Leuten. Man
hatte es dem Aufſeher nahe gelegt, wegen Aufhebung dieſes
Vertragspunktes mit dem Arbeitgeber zu verhandeln. Aber,
Guſtav hatte erklärt, was geſchrieben ſei, ſei geſchrieben, und
an dem Kontrakte dürfe nicht gerüttelt werden. Darüber er¬
hob ſich Murren unter den Leuten, einzelne erklärten, im Tage¬
lohn würden ſie faulenzen.


Häſchke gab das Gelegenheit, ſeinem Herzen gründ¬
lich Luft zu machen. Er ſchimpfte auf den Arbeitsherrn und
ſeine Beamten, gebrauchte Worte wie „Lohnſklaverei“ und
„Ausbeutung des Arbeiters,“ — Guſtav warf ihm daraufhin
vor, er ſei ein „Roter“. Häſchke nahm den Vorwurf pfiffig
lächelnd hin; die „Roten“ ſeien noch nicht ſo ſchlimm wie die
„Goldnen“, meinte er. —


Eines Tages kam der Inſpektor an die Arbeiter-Gruppe
herangeritten und teilte ihnen in protzig barſchem Tone mit,
daß morgen, mit beginnender Roggenernte, der Tagelohn in
Kraft trete. Er erwarte pünktlichſten Beginn der Arbeit bei
Sonnenaufgang und größten Fleiß; Bummelei werde er nicht
dulden. Schließlich drohte er mit Lohnabzügen und Fortjagen
auf der Stelle. Damit ſprengte er an der Reihe entlang, daß
den Leuten Sand und Erdklöße in's Geſicht flogen.


Häſchke blickte dem jungen Beamten mit einem eigentüm¬
lichen Lächeln nach. „Daß De Dich nur nich geſchnitten haſt,
Kleener!“ meinte er. „Wenn wir früh vor fünfen antreten,
ſo is das freiwillig. Sollen wir Überſtunden machen, dann
megt Ihr uns hübſch drum bitten. So ſteht de Sache, Freundchen!“


Am nächſten Morgen war ein Teil der Arbeiter nicht
dazu zu bewegen, vor fünf Uhr zur Arbeit zu gehen, trotz
Guſtavs bald drohendem, bald gütlichem Zureden. Der Stimm¬
führer dieſer Aufſäßigen war Häſchkekarl. Im Kontrakte ſtehe
nichts davon, daß ſie zu Überſtunden verpflichtet ſeien. Der
[305] Arbeitstag laufe von fünf Uhr früh bis ſieben Uhr Abends.
Ungebeten würden ſie nicht eine Minute länger arbeiten, als
ſie es nötig hätten.


Guſtav war in übler Lage. Er konnte Häſchke nicht wider¬
legen, und wiederum durfte er, als Aufſeher, eine Auflehnung
gegen die Brotherrſchaft nicht dulden. Was aus alledem ent¬
ſtehen konnte, war nicht abzuſehen. Schwerer denn je drückte
die Verantwortung, die er für ſoviele Köpfe übernommen, auf
ihn. Er verſprach ſchließlich, die Wünſche der Leute dem In¬
ſpektor vortragen zu wollen. Dadurch beruhigten ſich die er¬
regten Gemüter etwas.


Während der Mittagspauſe ging er auf's Vorwerk, zum
Inſpektor. Der Beamte riß erſtaunte Auge auf, als er den
Aufſeher zu ungewohnter Zeit bei ſich eintreten ſah. Als er
vernommen hatte, um was es ſich handle, geriet er in ma߬
loſe Wut.


„Was! Ihr wollt Forderungen ſtellen? Das iſt Betrügerei!
Was ſteht im Kontrakte? Ich kann Euch allezuſammen ent¬
laſſen — ohne weiteres! Überſtunden! Nicht einen Pfennig
zahle ich mehr. Wer Morgen früh nicht Punkt vier Uhr auf
dem Poſten iſt, dem ziehe ich drei Mark ab. Raſſelbande!
Mit Euch wird man wohl noch fertig werden! —“


Guſtav hörte ſich das Schimpfen des erboſten Menſchen
nicht bis zum Ende an, machte kurz Kehrt und verließ das
Zimmer.


Guſtav war Anfangs im Zweifel geweſen, ob die Forde¬
rungen, welche er im Namen ſeiner Leute geſtellt, auch wirklich
berechtigt ſeien; nunmehr war er feſt entſchloſſen, der Über¬
hebung des Beamten ſeinen Trotz entgegenzuſetzen. Als er
zu den Arbeitern zurückkehrte und ihnen brühwarm berichtete,
wie er behandelt worden ſei, brach das Gefühl langverhaltener
Erbitterung bei allen durch. Häſchke ſprach die Anſicht der
Mehrzahl aus, als er erklärte, daß die gebührende Antwort
hierauf nur Niederlegen der Arbeit ſein könne.


Obgleich Guſtav die ihm und ſeinen Leuten widerfahrene
Ungerechtigkeit tief empfand, erſchien ihm der Gedanke einer
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 20[306] Arbeitseinſtellung doch bedenklich. Häſchke hatte nicht Unrecht,
wenn er ihm hohnlachend vorwarf, ihm ſäße noch die „Vorge¬
geſetztenangſt“ vom Militär her in den Gliedern. Der Plan,
die Arbeit niederzulegen, kam Guſtav ungeheuerlich vor; das
grenzte an Deſertieren, an Meuterei. Er wollte und konnte
ſo etwas nicht gutheißen.


Aber, Häſchke ſtellte ihm die Sache mit beredtem Munde
noch einmal vor: man war in ſeinem guten Rechte. Der
Inſpektor war es, welcher den Kontrakt brechen wollte, nicht
ſie. Wenn ſie ſich hierin nachgiebig zeigten, würden bald
noch andere ärgere Übergriffe von Seiten des Arbeitsgebers und
ſeiner Beamtenſchaft erfolgen. Es handele ſich hier nicht blos
um die paar Groſchen, um deretwillen der Streit entbrannt
war, ſondern um die Sache. Sie dürften der Ehre halber nicht
klein beigeben, denn das könnte ausſehen, als hätten ſie Furcht.
Der Aufſeher aber müßte in erſter Linie für ſeine Leute und
ihre Rechte eintreten, denn nur in dieſem Vertrauen wären ſie
ihm hierher gefolgt. Im Stiche dürfe er ſie nicht laſſen. —


Mit ſolchen, aus Guſtavs Ehrgefühl berechneten Gründen,
kam Häſchke zu ſeinem Ziele. Im Stiche laſſen, wolle er ſie
nimmermehr, erklärte der Aufſeher. Und Ungerechtigkeit würde
er nicht dulden.


„Hurra, jetzt machen wir ‚Strikke‘!“ rief Häſchkekarl.


Er wiſſe genau, wie dergleichen gemacht werden müſſe,
behauptete er. Wenn die Arbeiter nur wüßten, was ſie woll¬
ten, und unter einander feſt hielten, dann könne es gar
nicht fehlen, dann müßten ſchließlich die Ausſauger, die Brot¬
herren, klein beigeben. Dann diktiere der Arbeitnehmer ſeine
Forderungen. Häſchke nannte das mit geheimnisvoller Miene:
„Boykott“!


Er hielt eine Art von Anſprache an die Leute, die geſpickt war
mit hochtrabenden Redensarten aus unverdauten Zeitungsartikeln.
Seiner Zuhörerſchaft imponierte er mit dieſen dunklen Wendungen
gewaltig. Je weniger ſie verſtanden, deſto ſtärker fühlten ſie
ſich überzeugt. Die Mädchen hatte er ſowieſo auf ſeiner Seite,
denn die waren dem Schwerenöter alle zugethan. Selbſt die
[307] nüchterne, überlegte Erneſtine zeigte ſich für den Plan, die
Arbeit niederzulegen, begeiſtert.


Das Ende war, daß die Sachſengänger vom Felde abzogen,
und das bereits gemähte Getreide unaufgeſtellt liegen ließen.
Sie begaben ſich in die Kaſerne.


Es herrſchte jene gehobene Stimmung unter ihnen, wie
ſie in der Schule nach einem gelungenen Streiche zu folgen
pflegt.


Die Männer legten ſich in's Gras vor das Haus und
zündeten ihre Cigarren an. Die Mädchen hatten ſich in ihren
Schlafſaal im erſten Stock zurückgezogen, zu Näh- und Flick¬
arbeit. Bald ertönte Geſang von hellen Frauenſtimmen durch
die geöffneten Fenſter. Erneſtine war die Chorführerin. Nach
einiger Zeit antworteten unten vom Raſen her tiefere Töne;
Häſchkekarl leitete den Männergeſang. Und ſo löſte ein Lied
das andere ab; die Mädchen ſtimmten an, die Burſchen
fielen ein.


Auf einmal erſchienen Köpfe von außen an den Fenſtern
des Schlafſaales. Die Burſchen waren es, die mit Hülfe der
Dachrinne und eines Simſes dahinauf geklettert waren. Die
Mädchen ſtoben ſchreiend auseinander. Nur Erneſtine fand
Geiſtesgegenwart genug, die Fenſter ſchnell zu ſchließen und
zu verriegeln. Häſchke und ſeine Kumpanen ſtiegen, nach¬
dem ſie genugſam Grimaſſen geſchnitten und ſich an dem
Schrecken, den ſie eingejagt, geweidet hatten, wieder zum Erd¬
boden hinab.


Nach dieſer Heldenthat legten ſie ſich von neuem auf den
Raſen, rauchten ihre Pfeifen, die Hände unter dem Kopf, die
Beine übereinander geſchlagen, und ließen ſich von der Sonne
beſcheinen, deren Strahlen an der kalkgetünchten Wand ab¬
prallten. Auf einmal wurden die Faulenzer von wohlgezielten
Waſſerſtrahlen getroffen. Schreiend und ſprudelnd ſprangen
ſie auf und konnten über ſich gerade noch die lachenden Mädchen
verſchwinden ſehen.


So gab es noch mancherlei Kurzweil und Schabernack an
dieſem Nachmittage. Man hatte ſich nun einmal in ein Unter¬
20 *[308] nehmen eingelaſſen, deſſen Ausgang zweifelhaft war, und in
verwegenem Galgenhumor meinte man, daß es auf ein paar
Dummheiten mehr oder weniger nicht ankomme.


Einer war, dem ſehr wenig nach Lachen und Scherzen
zu Mute war: Guſtav. Das junge Volk hatte nichts zu ver¬
lieren; die waren ohne Verantwortung. Was bedeutete es
ihnen, wenn ſie brotlos wurden? Aber er, der für Weib und
Kind zu denken und zu ſorgen hatte! —


Gegen Abend ließ der Inſpektor ſagen, er wünſche mit
dem Aufſeher zu ſprechen. Guſtav begab ſich hinüber. Häſchke
legte ihm noch ans Herz, er ſolle „die Ohren ſteif halten“ und
„auf keinen Fall klein beigeben“.


Der Inſpektor empfing den Aufſeher auf ganz andere
Weiſe, als zu Mittag. Von der hochfahrenden Miene war
nichts mehr zu ſehen, ſein Ton war weſentlich freundlicher, er
bot Guſtav ſogar einen Stuhl an, was noch nie bisher vor¬
gekommen war.


Kein Zweifel, der Ausſtand der Wanderarbeiter kam ihm
äußerſt ungelegen. Man hatte auf den ausgedehnten Beſitz¬
ungen des Herrn Hallſtädt noch mehrere Abteilungen von
Sachſengängern in Lohn; wenn nun der Ausſtand zu den
anderen Gruppen überſprang! Jetzt, wo gerade die Ernte auf
dem Felde ſtand und geborgen ſein wollte! Wo ſollte er
denn jetzt andere Leute herbekommen? Ringsum herrſchte Ar¬
beiternot.


Der Inſpektor verlangte von Guſtav, er möge noch einmal
auseinanderſetzen, was die Leute eigentlich wollten; Mittags
habe er es nicht ganz verſtanden.


Der Aufſeher wiederholte ſeine Forderungen.


Der Inſpektor kratzte ſich hinter dem Ohr. Wenn's nach
ihm gehe, ſagte er, würden die Arbeiter alles bewilligt be¬
kommen, was ſie verlangten, aber Herr Hallſtädt habe ſehr
beſtimmte Anſichten und auf eine Bezahlung der Überſtunden
im Tagelohn werde er niemals eingehen.


Guſtav meinte, dann könne er ja mal zu Herrn Hallſtädt
nach Welzleben gehen.


[309]

Aber davon wollte der Beamte durchaus nichts wiſſen.
Er riet dringend davon ab, ja, er warnte davor. Der Auf¬
ſeher würde damit gar nichts erreichen. Herr Hallſtädt ſei
völlig unzugänglich und habe ein für alle Mal verboten, daß
die Arbeiter direkt mit ihm verhandelten.


„Sie ſind ja ein vernünftiger Mann, Büttner!“ ſagte der
Inſpektor. „Treiben Sie die Sache nicht auf die Spitze!
Reden Sie mal mit Ihren Leuten. Sie haben ja auch noch
andere Mittel in der Hand. — Ich meine, als Aufſeher haben
Sie ja ſchließlich großen Einfluß. — Ich denke, wenn wir
zweie einig ſind, werden wir mit der Geſellſchaft ſchon fertig
werden. Herrn Hallſtädt wollen wir lieber nicht erſt ein¬
miſchen, das hätte keinen Zweck. — Alſo ich denke, wir ſind
einig! — Ich werde auch dafür Sorge tragen, daß Sie am
Schluſſe der Arbeitszeit eine anſtändige Gratifikation erhalten,
Büttner!“ —


Aber Guſtav ließ ſich nicht ſo leicht kirren. Wenn er
auch nicht ſo viel Scharfblick beſaß, um ſofort herauszufinden,
wie ſchwach in Wahrheit die Poſition des Gegners war, ſo
bewahrte ihn doch ſeine Redlichkeit davor, auf Vorſchläge ein¬
zugehen, die ihm nützten, aber ſeine Leute ſchädigten.


Mit trotziger Zähigkeit, ein Erbteil ſeines Vaters, hielt
er, ohne ſich auf die Redensarten des anderen einzulaſſen, an
ſeiner Forderung feſt. Alle Ungeduld nutzte dem Inſpektor
nichts, ſeine Vorſtellungen drangen in dieſen harten Bauern¬
ſchädel nicht ein.


So ging man auseinander, ohne daß es zu einer Einigung
gekommen wäre.


Am nächſten Morgen ſchliefen die Streikenden aus.
Während die Geſpanne des Vorwerks an der Kaſerne vor¬
überratterten, legten ſie ſich noch einmal gemütlich auf's
andere Ohr.


Häſchkekarl war in übermütigſter Laune. Die Sache ging
ausgezeichnet. Drüben auf dem Hofe hatte er in Erfahrung
gebracht, daß der Inſpektor in größter Schwulität ſei. Wer
ſollte ihm die Ernte einbringen? Das Getreide mußte ja auf
[310] dem Halme faulen, wenn die Hände der Sachſengänger feierten.
Häſchke hätte am liebſten die Gelegenheit benutzt, um noch ganz
andere Forderungen zu ſtellen. Nur um Gotteswillen nicht
beſcheiden ſein! Den Arbeitgebern ſeine Bedingungen diktieren!
Der großbrodigen Geſellſchaft mal zeigen, daß der Arbeiter am
Ende des neunzehnten Jahrhunderts kein Fronknecht mehr
ſei. Es war Zeit, daß der kleine Mann ſeinen Vorteil wahr¬
nahm; bisher hatten die Großen, die ,Lerchenfreſſer‘, nur
immer von allem das Fett abgeſchöpft.


Aber derartige Anſinnen ſcheiterten an Guſtavs maßvollem
Sinn. Er wollte nichts haben, als was ſie mit gutem Rechte
fordern durften. Die politiſchen Prinzipien, die ſein Freund
Häſchke bei dieſer Gelegenheit durchſetzen wollte, ließen ihn
kalt. Das waren gefährliche Ideen, die jener auf der Land¬
ſtraße aufgeleſen; von denen hielt man ſich beſſer fern. Ohne
es zu wiſſen, vertrat der Bauernſohn die angeborene konſer¬
vative Geſinnung des Landmannes, dem vagierenden Kinde der
Straße gegenüber, das in Pennen, Fabrikſälen und Verſamm¬
lungen ſich mit einer auf Umſturz gerichteten Anſchauung
erfüllt hatte. —


Noch im Laufe des Morgens erſchien der Inſpektor per¬
ſönlich in der Kaſerne. Er verlangte den Aufſeher nochmals
zu ſprechen.


Die Verhandlung währte diesmal nur kurze Zeit. Die
Forderungen der Arbeiter wurden bewilligt. Eine Stunde
darauf ſchon hatten die Leute ihre Arbeit wieder aufge¬
nommen.

[[311]]

IV.

Die Wanderarbeiter waren in der Weizenernte beſchäftigt.
Das Feldſtück gehörte zu den Außenſchlägen des Vorwerks
und lag ziemlich weit von der Kaſerne entfernt. Der Auf¬
ſeher hatte daher angeordnet, daß Mittags nicht heimgegangen
werde. Um das Eſſen für die Leute auf's Feld zu bringen,
wurde meiſt eines der Mädchen entſandt. Heute war Erneſtine
daran.


Als die Turmuhren der Nachbarſchaft ihre zwölf Schläge
thaten, warf man die Senſen hin. Jeder ſuchte ſich ein Fleck¬
chen im Straßengraben. Dort ruhten ſie, die Männer, mit
den Jacken unter dem Kopfe, die Mützen über dem Geſichte,
zum Schutze gegen die Auguſtſonne. Die Frauen mit bloßen
Armen und Füßen, in ihren bunten Kopftüchern. So lagen
ſie im grellen Mittagslicht und warteten auf das Mittagsbrot.


Zum Reden hatte niemand Luſt. Bleierne Schläfrigkeit
laſtete auf den Ermatteten. Es war nichts Kleines, von früh
um vier Uhr bis Mittags, mit einer Unterbrechung von nur
einer halben Stunde, Getreide mähen, abraffen, binden und
aufſtellen.


Häſchke hatte ſich nicht mit in den Graben gelegt zu den
anderen; unbemerkt war er bei Seite getreten. Erſt lang¬
ſamer, ſo lange er im Geſichtsfelde der Genoſſen war, dann
mit weitausgreifenden Schritten, wie einer, der mit Eifer einem
erſehnten Ziele zuſtrebt, eilte er in der Richtung nach der
Kaſerne hinab.


[312]

Nach einiger Zeit erblickte er die Geſtalt, nach der er
ſchon lange ausgeſchaut hatte: Erneſtine, die in zwei Henkel¬
körben das Eſſen herantrug.


Häſchkekarl ſtieß einen Freudenſchrei aus und eilte ihr in
langen Sätzen auf dem Feldwege entgegen.


Sie hatte die Körbe niedergeſetzt, ſobald ſie den bärtigen
Burſchen auf ſich zukommen ſah, erwartete ihn, die Hände auf
die Hüften geſtemmt. Erſchreckt ſchien ſie nicht. Im Gegen¬
teil! Sie lachte über das ganze Geſichte, zeigte ihre Perlen¬
zähnchen. Er umfaßte ſie, hob ſie, drehte ſie ein paar mal
um und um und raubte ihr einen Kuß, ohne daß ſie, wie
es den Anſchein hatte, in ſolchem Verfahren etwas Unge¬
wohntes erblickt hätte.


Sie zupfte ſich das rote Kopftuch zurecht, das ihr zurück¬
gerutſcht war und meinte dann, er ſolle ihr die Körbe tragen
ſie habe ſich nun genug damit geſchleppt. Häſchkekarl war der
Letzte, um ſolch eine Bitte zu verweigern; aber eigentlich hätte
er die Hände lieber frei behalten.


Sie ſetzten ſich in Bewegung. Das Mädchen ging mit
leichten Schritten vor ihm her.


Seine Augen verſchlangen ihre Geſtalt. Was machte es
ihm, daß ihre Füße beſtaubt waren, daß ihr einfaches Kleid
die Spuren der Feldarbeit an ſich trug. Sein Blick durch¬
drang die Hüllen, erkannte das Weib, das er begehrte, ſo wie
ſie war.


Häſchke, der Leichtfertige, hatte ſeine Meiſterin gefunden.


Um Erneſtines willen war er in Halbenau geblieben, um
ihretwillen hatte er ſich den Sachſengängern angeſchloſſen; nur
um dieſes Mädchens willen hatte er es ſo lange bei einer Be¬
ſchäftigung ausgehalten.


Die kleine Erneſtine war ſich der Macht vollkommen be¬
wußt, die ſie über den Mann ausübte. Trotz ihrer ſiebzehn,
verſtand ſie es, ſeine Wünſche im Zügel zu halten. Er hatte
das Ziel ſeines Verlangens noch nicht erreicht.


Erneſtine hatte ſtets ihren Kopf für ſich gehabt. Eine
gewiſſe Selbſtachtung war ihr eigen, die ſonſt nicht ein her¬
[313] vorſtechender Zug bei Landmädchen iſt. So, wie Toni, ſich
wegwerfen, an den erſten beſten, das ſollte ihr nicht paſſieren!
— Sie hatte ihn gern, ganz gewiß! Aber das äußerte ſich
nur in einer Art munteren Kameradſchaftlichkeit. Auch in ihr
ſteckte ein jungenhafter Zug, wie in vielen Mädchen, ehe die
Frau zur Entfaltung gelangt iſt. — Sie hatte bisher ſeinen
Anträgen gegenüber die Beſonnenheit nicht verloren.


So gingen die beiden auf dem Feldwege hin. Sie kehrte
ſich gelegentlich lachend nach ihm um. Es machte ihr Spaß,
ihn unter der unwillkommenen Laſt der Körbe einherſchreiten
zu ſehen.


Erneſtine hatte eine Gerſtenähre aus dem Felde gerauft
und kitzelte ihn damit an der Naſe, bis er nieſen mußte. Ehe
er die Körbe niedergeſetzt, war ſie ſchon zehn Schritte und
mehr von ihm entfernt. Die Hitze war groß; er verſpürte
keine Luſt zu einem Wettlaufe mit der Leichtfüßigen.


Häſchke machte gute Miene zum böſen Spiel und ver¬
ſuchte, während ſie ſo dahinſchritten, ein Geſpräch im Gange
zu halten. Aber ſie lachte nur zu allem, was er ſagte.


So war ſie nun! Wie ein Fiſch: wenn er ſie zu halten
glaubte, entſchlüpfte ſie ihm glatt und geſchmeidig. Eine harte
Probe für den Erfolggewöhnten! —


Schon einige Male hatte er ſie eingeladen, Sonntags mit
ihm nach Haderbaum hinüber zu gehen, zum Tanze. Ein
Tänzchen in Ehren, was war da weiter dabei! Er hatte den
Vorſchlag ſo harmlos, wie nur möglich, vorgebracht. Doch
Erneſtine war nicht auf den Kopf gefallen. Sie tanzte für
ihr Leben gern; aber man wußte ſchon, daß ſich das Manns¬
volk damit nicht begnügte.


Auch heute war all die Beredſamkeit, mit der Häſchke ihr
das Parkett, die Militärmuſik, die Getränke und die ſonſtigen Ge¬
nüſſe des Feſtes ſchilderte, an ſie verſchwendet. Sie ſagte nicht
ja und nicht nein, kicherte nur und ſummte ſich ein Liedchen.


Der Burſche kochte vor Wut. Er hätte das Frauen¬
zimmer auffreſſen mögen. Wenn ſie nur nicht ſo verdammt
niedlich ausgeſehen hätte!


[314]

Nicht weit vom Wege ſtanden ein paar große Roggen¬
ſtrohfeimen, weit und breit in der baumloſen Gegend ſichtbar.
In Häſchkes Kopfe blitzte beim Anblick der mächtigen Stroh¬
haufen ein Gedanke auf.


Stehen bleibend, meinte er, hier könne man ſich ein wenig
im Schatten verſchnaufen. Mit dem Mittagsbrot habe es
keine ſolche Eile, die anderen würden ihnen nicht davonlaufen.


Sie traten in den Schatten der Feimen. Er ſtellte die
Körbe bei Seite und ſagte: „Hier is gut ſein, Mädel!“
Damit umfaßte und küßte er ſie nach Herzensluſt.


Sie ließ ſich das eine Weile lachend gefallen, dann aber
ſetzte ſie ſich zur Wehr. Er ſollte ſich mal ſeinen kratzigen
Bart abnehmen laſſen, meinte ſie.


„Ich thu 's glei, Ernſtinel!“ ſagte er, ſie immer noch
feſthaltend und ihr verliebt in die Augen blickend. „Aber, Du
mußt mir och was zu Gefallen thun!“ —


„Was denne?“


„Du weeßt ſchon!“ —


„Du biſt ein ſchlechter Kerl!“


„'s is nich ſchlecht, wenn man ſich lieb hat.“


„Laß mich!“


„'s ſieht uns ja keen Menſch hier — Ernſtinel!“ —


Sie wehrte ihn mehr mit ihrem kühlen Blicke ab, als mit
ihren Händen. Der ſtarke Burſche konnte nichts gegen das
Mädchen ausrichten. Sie hatte keine Spur von Furcht vor
ihm. Er mußte die Hände von ihr laſſen.


Sie lachte ihn aus. Wie ein Strahl Waſſer in eine heiß
lodernde Flamme wirkte das auf ſeine Leidenſchaft.


Er warf ſich ins Stroh, verzweifelnd, das Geſicht gegen
den Boden, als wolle er nichts mehr ſehen.


Das Mädchen ſtand neben dem Liegenden. Er ſollte keine
Faxen machen, meinte ſie; die anderen würden ſich wundern,
wo ſie blieben.


Er ſagte, zu den anderen werde er nicht mehr zurück¬
kehren; er wolle fortlaufen, ſie ſei zu ſchlecht gegen ihn. Er
fand Töne echter Verzweifelung.


[315]

Sie kniete neben ihn nieder und ſtreichelte ihm den
ſtruppigen Kopf. Er drehte ihr ſein rotes Geſicht halb zu und
ſchlang die Arme um ſie.


Er werde ſich ein Leid anthun, ſchwor er, wenn ſie ihn
nicht erhöre.


„Was willſt De denne?“ fragte ſie, während er ſie mit
ſtarkem Arme ſchon halb zu ſich herabgezogen hatte,


„Red' nich ſo dumm, Ernſtinel!“ flüſterte er ihr in's Ohr.


Und damit lag ſie nur noch halb widerſtrebend neben ihm
im Schatten der Strohfeime.


Es gab unter den Wanderarbeitern mancherlei Streitig¬
keiten und Ränke, aber auch Zuneigung und Eiferſucht.


Guſtav, in ſeiner Stellung als Aufſeher, bekam davon
wenig zu merken. Die Liebeleien, die es etwa unter den jungen
Leuten geben mochte, wurden vor ihm nach Möglichkeit ver¬
borgen.


Die drei männlichen Arbeiter, die nach der Flucht des
Polen noch da waren, vertrugen ſich untereinander leidlich.
Häſchke hatte durch Anlagen und Erfahrung ſo ſehr die Ober¬
hand, daß ein Aufkommen gegen ihn ausgeſchloſſen war. Welke,
der geweſene Stallburſche, war eine harmlos ehrliche Haut.
Von den Mädchen wurde er vielfach gehänſelt. Er that ihnen
den Gefallen, verlegen zu werden und ſich zu ärgern, was
man bei ſeiner hellen Hautfarbe leicht am Rotwerden erkennen
konnte. Fumfack, der ehemalige Schmiedegeſelle, war ein großer
ungeſchlachter Geſelle, ſtark wie ein Bär, ſchwerfällig, wortkarg.
Er war im ſtande einen geſchlagenen Tag zuzubringen, ohne
ſeinen Mund zu öffnen, außer zum Eſſen und Gähnen. Des
Nachts wußte er ſich um ſo entſchiedener durch furchtbares
Schnarchen Gehör zu verſchaffen. Fumfack hatte eine Liebſchaft.
Die Sache war ſchon älteren Datums. Wahrſcheinlich hatte
er ſich den Sachſengängern nur angeſchloſſen, um die Geliebte
zu bewachen. Eine Vorſicht, die in Anbetracht der außerge¬
[316] wöhnlichen Häßlichkeit ſeines Schatzes, beinahe überflüſſig er¬
ſcheinen konnte. Übrigens machte ſich dieſes Verhältnis ſehr
wenig bemerkbar. Sie flickte ihm ſeine Sachen und hob die
Hälfte ihrer Lebensmittel für den ſtarken Eſſer auf. Darauf
ſchienen ſich in der Woche die Beziehungen dieſes Liebespaares
zu beſchränken. Am Sonntage führte er ſie aus. Aber auch
da ſchien der Verkehr nicht beſonders lebhaft. Man ſah die
Beiden, wie ſie hintereinander, er voran, dann ſie auf ſeiner
Spur, langſam und wortlos durch die Getreidefelder zogen.


Sonſt ſchien es weiter keine Liebespaare zu geben. Welke
hatte wohl hie und da einen Verſuch gemacht, ſich ein Herz
zu erobern. Aber er war nur ausgelacht worden. Den
Mädchen erſchien er zu jung; noch keine Spur von Bart war
bei dieſem Kieckindiewelt zu entdecken.


Der weitaus Beliebteſte und Begehrteſte bei den Mädchen
war Häſchke. Aber er ließ ſie zappeln, ſchien keiner ſeine be¬
ſondere Aufmerkſamkeit zuwenden zu wollen.


Der Aufſeher war damit ſehr zufrieden. Er kannte Häſchken
von der Garniſon her. Wenn einer Glück bei den Frauenzimmern
gehabt, ſo war es dieſer Schwerenöter geweſen. Daß ihm die
Rübenmädel nicht gut genug waren, wie es ſchien, war ein
Glück: man hätte ſonſt nur Abenteuer erlebt.


Übrigens ſchien ſich Häſchkekarl anderwärts ſchadlos zu
halten. Der Aufſeher fand eines Nachts beim Revidieren des
Männerſchlafſaales Häſchkes Bett leer. Er that, als habe er
nichts geſehen. Recht gut, daß dieſer glänzende Kater außer
dem Hauſe auf Liebespfaden ſchweifte! —


Guſtav Büttner, der ſich für gewöhnlich eines geſunden
und feſten Schlafes erfreute, lag während einer hellen Mond¬
nacht ausnahmsweiſe wach im Bette. Der Junge war laut
geweſen, und der Vater hatte Paulinen helfen müſſen, das
Kind zu beruhigen; darüber hatte er nicht wieder einſchlafen
können.


Während er ſo dalag, vernahm er an der Hauswand ein
Geräuſch, das ihn ſtutzen machte. Er ſetzte ſich im Bette auf
und lauſchte hinaus. Es klang wie ein Hinabſchürfen an der
[317] Mauer, dann ein Stapfen auf dem Erdboden; aber alles nur
gedämpft, kaum vernehmbar.


Guſtav dachte ſofort an Häſchke. Der Vagabund ſtieg wohl
aus! Dann war es vielleicht beſſer, man unterſuchte die Sache
gar nicht erſt, um nicht eingreifen zu müſſen.


Jetzt, neues undeutliches Geräuſch! Leichtes Rütteln und
Knarren! Aber, diesmal kam es von einer anderen Stelle,
mehr aus der Richtung, wo die Mädchen ſchliefen.


Die Wohnung des Aufſehers war ſo gelegen, daß ſie die
Schlafzimmer der Burſchen und Mädchen trennte. Eine Ver¬
bindung mit dem übrigen Hauſe fand für die Mädchen nur
durch die Aufſeherwohnung ſtatt. Das war alles von dem
Erbauer ſehr klug erdacht. —


Guſtav erhob ſich, ſchlich in gebückter Haltung an's Fenſter.
Draußen lag die Landſchaft wie am Tage, im Vollmondlicht.
Trotzdem konnte er zunächſt nichts Verdächtiges erkennen. Erſt
als er ſich ſoweit aufgerichtet hatte, daß er durch das Fenſter,
den Streifen Raſen dicht am Hauſe zu überblicken vermochte,
ſah er dort eine männliche Geſtalt. Der Burſche arbeitete mit
gebeugtem Rücken, wuchtete, ſchien etwas im Boden zu be¬
feſtigen. Dann erhob er ſich plötzlich und blickte am Hauſe in
die Höhe.


Jetzt wo das Mondlicht hell auf ſeinem Geſichte lag, er¬
kannte ihn Guſtav deutlich: es war Häſchke.


Er ſchien mit jemandem im erſten Stock in Unterhandlung
zu ſtehen; denn er machte Zeichen mit der Hand nach aufwärts.


Der Aufſeher war im höchſten Grade geſpannt, was nun
weiter erfolgen werde. Er drückte ſein Geſicht ganz an die
Scheiben. Jetzt erkannte er, an der Mauer hängend, einen
Gegenſtand, wie einen Strick, deſſen unteres Ende Häſchke in
der Hand hielt.


Eine Strickleiter! Der Halunke wollte einſteigen! — Dem
Aufſeher ſchoß das Blut zu Kopfe. Das waren Streiche, wie
man ſie wohl im Manöver ausgeführt hatte. Bei Nacht in
die Mägdekammer, wenn der Bauer am Abend zuvor den
Schlüſſel dazu abgezogen hatte. Guſtav hatte mal mit Häſchke
[318] zuſammen auf einem Gutshofe gelegen, wo der Inſpektor be¬
ſonders ſtreng war. Wie zu den Mägden kommen? Da hatte
Häſchke, der nie um ein Mittel verlegen war, die Kühe im
Stall losgebunden, daß mitten in der Nacht alles brüllend
im Hofe herumlief. Der Inſpektor, in ſeiner Not, holte
ſelbſt die Mägde herbei, zum Anbinden des Viehes. Während
deſſen waren Häſchke und Guſtav in die Kammer gelangt,
hatten ſich da gut verſteckt. Nun waren ſie da, wo ſie ſein
wollten. —


Während Guſtav an dieſen wohlgelungenen Streich aus
einer vergangenen Zeit zurückdachte, ſtieg ihm gleichzeitig der
Ärger auf, daß Häſchke es nun verſuchte, ihn zu hinter¬
gehen. Das ging doch wirklich zu weit! Der Aufſeher beſchloß,
dem Burſchen einmal gründlich auf's Dach zu ſteigen.


Er wollte nur warten und zuſehen, was jener noch weiter
angeben werde. Bei der Gelegenheit würde man vielleicht auch
herausbekommen, wer die eigentlich ſei, der ſeine Zeichen galten.


Da auf einmal erſchien in Guſtavs Geſichtsfelde eine
neue Geſtalt. Gegen die helle Hauswand hob ſich ein ſchmaler
Schattenriß ab. Erſt ſah es aus, als ſchwebe die Geſtalt
in der Luſt, dann erkannte man, daß ſie ſich vorſichtig an
den Stricken zum Boden hinabließ.


Der Aufſeher wollte ſeinen Augen nicht trauen. Das
war . . . . ja, wahrhaftiger Gott! das war: ſeine eigene
Schweſter! —


Guſtav war ſo beſtürzt, daß er zunächſt gar nichts that.
Wie feſtgebannt harrte er auf ſeinem Platze aus. Erneſtine
und Häſchke! — War denn das zu glauben! Erneſtine, die er
kaum als etwas anderes angeſehen, als ein Kind. — Und
Häſchke! —


Er ſah ſie behende an der Strickleiter hinabklettern. Jetzt
ſchwebte ſie frei über dem Boden, ließ los, der Mann fing ſie
auf, in ſeine ausgebreiteten Arme, trug ſie ein paar Schritte
fort, ehe er ſie frei gab. Guſtav konnte deutlich ein Kichern
von unten vernehmen.


Der Bruder ſtarrte regunglos auf die beiden. Daß er
[319] das nicht zeitiger gemerkt hatte! Merkwürdigerweiſe bildete das
zunächſt ſein größtes Ärgernis. Höchſtwahrſcheinlich war es
eine alte Geſchichte, ſtammte womöglich ſchon von Halbenau
her. Die beiden trieben es ſchon lange hinter ſeinem Rücken.
Und er hatte nichts gemerkt! Das erboſte ihn geradezu. — Denen
wollte er den Spaß verſalzen und das gehörig!


Und nun mußte er ſehen, wie ſie ſich im Mondſchein um¬
armten und küßten. Erneſtine warf dem bärtigen Häſchke die
Arme um den Nacken und drückte ſich an ihn. Das kleine
Ding ſchien ſich auf die Kunſt zu verſtehen! Wie ſie ſchnäbel¬
ten. — Hol ſie der Teufel! —


Guſtavs Gefühle waren äußerſt geteilte und verwirrte.
So etwas, wie Eiferſucht, regte ſich bei ihm. Dann ſtiegen aus
der Ferne Erinnerungen an verbotenes Liebesglück auf. Was
die da unten thaten, war ja ſo begreiflich!


Aber, auch der Bruder regte ſich in Guſtav. Hatte er nicht
für ſeine Schweſter einzuſtehen? — Sie war kaum ſiebzehn Jahre
alt, und Häſchke war ein alter Sünder! Hol ſie der Teufel
alle beide! Sie hatten ihn ſchön an der Naſe herumgeführt!
Lachten wohl gar da unten über ſeine Dummheit und machten
ihm lange Naſen, womöglich!


Er ſah die beiden jetzt Arm in Arm den Weg nach den
Feldern einſchlagen.


Jetzt war es höchſte Zeit, etwas zu thun! Guſtav erwachte
aus ſeiner Erſtarrung. Er warf ſich ſchnell ein Paar Sachen
über und fuhr in die Stiefeln. Darüber erwachte Pauline.


Sie fragte ihn, wohin er wolle, jetzt, mitten in der Nacht?
Guſtav antwortete ihr in barſchem Tone, daß jemand ausge¬
ſtiegen ſei. Mit erſchreckter Miene, fragte ſie: wer?


Er wollte ihr nicht ſagen, daß es Erneſtine ſei, aus einer
Art von Schamgefühl für ſeine Schweſter. Er habe das
Mädchen nicht genau erkennen können, ſagte er, aber Häſchke
ſei dabei geweſen.


Pauline hatte Licht gemacht. Sie ſtand vor ihm. In ihren
Zügen ſpiegelten ſich Beſtürzung und Angſt. Sie bat ihn zu
bleiben, verſuchte es ſogar, ihn zu halten. Er ſtieß ſie von ſich.
[320] Es ſei ſeine Pflicht, als Aufſeher, ſo etwas nicht durchzulaſſen,
ſagte er rauh. Damit ging er. Sie lief ihm nach bis zur
Thür. „Thu ock 'n Ernſtinel niſcht ne!“ das waren die
letzten Worte, die er hörte.


Er lief die Treppe hinab. Die Hausthür war nur ange¬
lehnt. Dabei war der Aufſeher der einzige, der einen Haus¬
ſchlüſſel führte, und er hatte am Abend abgeſchloſſen. Aber,
natürlich Häſchke hatte da mit dem Nachſchlüſſel gearbeitet!
Alle hintergingen ihn. Seine eigene Frau wußte von der
Liebſchaft. —


Namenloſe Wut überkam ihn. Wenn er die beiden jetzt
traf! . . . Er ſtürmte blindlinks in der Richtung vorwärts, wo
er ſie hatte verſchwinden ſehen. Aber er hatte zuviel Zeit
vertrödelt; ſie waren bereits verſchwunden. Trotz der tages¬
hellen Beleuchtung konnnte er das Paar nirgends entdecken.
Er nahm, auf gut Glück einen Feldweg an, auf dem er ſie ver¬
mutete.


Er hätte es ſehen müſſen, längſt! Sogar Pauline wußte
ja darum, ſchien ſogar unter einer Decke mit den beiden
zu ſtecken; das wurmte ihn am meiſten. Wer weiß, wer
da alles noch eingeweiht war! Er war der einzige, der
nichts gemerkt hatte, er war der Dumme! — Ein ſchöner Auf¬
ſeher war er! — Wo hatte er denn ſeine Augen gehabt?


Er ſtürmte auf dem Feldwege immer weiter. Bei einer
Wegekreuzung wurde er zum Stillſtehen und Überlegen ge¬
zwungen. Er mußte ſich ſagen, daß er der beiden auf dieſe
Weiſe ſchwerlich habhaft werden würde. Wo konnten ſie hin ſein?
Er ſann nach. Wo gab es denn in dieſer Gegend ein paſſendes
Verſteck? — Halt, das war's: Der Schuppen! — Dort waren
ſie und nirgends anders! Daß ihm das nicht gleich einge¬
fallen war!


Der Schuppen war ein alter baufälliger Kaſten, mitten
im Felde gelegen. Er diente dazu, allerhand Ackergeräte zu
bergen, und den Feldarbeitern, wenn ſie plötzlich von Unwetter
überraſcht wurden, Obdach zu gewähren.


Guſtav war ſeiner Sache ſicher. Er glaubte beſtimmt,
[321] die beiden dort anzutreffen, und ſpornte ſeine Schritte zur
größten Eile an. Bald lag der Schuppen vor ihm, hell vom
Mondlicht beleuchtet; ungeſehen heranzukommen, war unmöglich.


Er war nur noch wenige Schritte von dem Gebäude ent¬
fernt, als ſich die Thür öffnete. Ein bärtiger Kopf erſchien
für einen Augenblick und fuhr blitzſchnell zurück.


Mit einem Satze war der Aufſeher an der Thür, und
wollte ſie aufreißen. Er ſtieß auf Widerſtand. Von drinnen
wurde zugehalten. Guſtav legte ſich gegen die Thür. Um¬
ſonſt! Er rief: man ſolle ihm aufmachen. Drinnen wurde
geflüſtert, aber eine Antwort kam nicht, und geöffnet wurde
auch nicht.


Da überkam ihn der Zorn. Er trat einige Schritte zu¬
rück, nahm Anlauf, warf ſich mit der ganzen Wucht ſeines
Körpers gegen die Thür. Die Haspen ſprangen aus dem
dünnen Mauerwerk, das morſche Holz barſt, die ganze Thür
fiel in Stücken zuſammen. Der Aufſeher war im Schuppen.


Die drei Menſchen ſtanden einander gegenüber, keuchend,
die Männer kampfbereit, jeder den Angriff des anderen er¬
wartend, das Mädchen erſchrocken ſich an den Geliebten
klammernd.


Es kam auf eine Kleinigkeit an, und hier wäre Blut ge¬
floſſen. Guſtav befand ſich in wilder Erregung. Eine drohende
Bewegung des Gegners, ein Wort des Widerſpruchs, und er
hätte zugeſchlagen.


Aber Häſchke, der die Lage ſchnell erkannte, hütete ſich
wohl, den anderen zu reizen. Mit Erneſtinens Bruder in Frieden
auszukommen, war jedenfalls rätlicher, als es auf einen Kampf
ankommen zu laſſen. Er ließ Kopf und Arme ſinken, ſtand
vor dem Aufſeher mit der Miene des ertappten Sünders.


Der Schlaukopf hatte richtig gerechnet; Guſtav war durch
die nachgiebige Haltung entwaffnet.


Aber, irgend etwas mußte geſchehen, das fühlte Guſtav
deutlich. Er fing an zu fluchen; die beiden ſtanden wie
unter einem Hagel. Der Geiſt ſeines Vaters war über den
jungen Menſchen gekommen; er ſtieß Schimpfreden und Flüche
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 21[322] aus, die er als Kind, wie oft, aus dem Munde des Alten
vernommen hatte.


Das Mädchen fand zuerſt Worte der Erwiderung. Sie
wären nicht ſchlecht, und ſie hätten nichts Böſes gethan; ſie
ſeien „ordentliche Liebesleute“. — Die Worte floſſen dem kleinen
Dinge auf einmal äußerſt beredt von den Lippen. Häſchke
brauchte gar nichts zu ſagen; er hörte mit Staunen, wie ſie ſeine
eigenen Gründe, die ſie noch vor kurzem beſtritten, jetzt mit
Eifer gegen den Bruder ins Feld führte. Wie ſchnell dieſe
Frauenzimmer lernten! —


Guſtav rief ihr zu, ſie ſei ein dummes Mädel! und die
Liebesgedanken werde er ihr ſchon austreiben.


Die Schweſter lachte ihm in's Geſicht. Kein Menſch
könne ihnen verbieten, ſich lieb zu haben, am wenigſten er;
er habe es ihnen ja vorgemacht.


Guſtav war ſtarr über die Unverfrorenheit des ſiebzehn¬
jährigen Dinges. Er fühlte, daß er mit ſolchem Mundwerke
ſchwerlich fertig werden würde. Ohne ſich auf eine Wider¬
legung einzulaſſen ſchrie er ſie an: „Jetzt kommſt Du mit mir!
Marſch! Ich wer' Dich“ . . . Damit nahm er ſie am Arme
und führte ſie zur Thür, wie eine Gefangene. Häſchke folgte.
So ſchlugen ſie den Heimweg ein.


„Laß mich ack gihn, Guſtav!“ ſagte Erneſtine nach einiger
Zeit; der Bruder hielt ihr Handgelenk in ſeine Fauſt ge¬
preßt, wie in einen Schraubſtock. „Ich lof' Der nich dervon.
Ich ha' ja niſcht Unrecht's nich gethan!“


Er ließ ihren Arm fahren. Sie ſchritten weiter neben
einander her. Geſprochen wurde lange Zeit nichts zwiſchen den
dreien.


Guſtavs Zorn war längſt verraucht. Die natürliche Gut¬
mütigkeit hatte die Oberhand gewonnen. War es denn wirklich
ſo ſchlimm, was die beiden gethan hatten? —


Häſchke mochte etwas von der Wandlung ahnen, die in
dem Sinne des anderen vor ſich gegangen. Er nahm das
Wort, erkärte, daß er Erneſtinens Bräutigam ſei und daß ſie
ſich heiraten wollten.


[323]

Guſtav meinte darauf nur: Das kenne er ſchon! Wer
weiß, wie vielen Mädeln Häſchke bereits die Ehe verſprochen
habe. Er müſſe doch verrückt ſein, wenn er ſeine Schweſter
einem ſolchen Vagabunden zum Weibe gebe.


Man war inzwiſchen in die Nähe der Kaſerne gekommen.
Möglichſt geräuſchlos ſtiegen ſie die Treppe hinauf. Häſchke
ſchlich ſich in die Männerkammer. Guſtav nahm die Schweſter
mit ſich in die Aufſeherwohnung. Dort wartete ihrer Pauline,
mit beſorgter Miene.


Der Aufſeher war unwirſch, er gab ſeiner Frau keine Ant¬
wort auf ihre Fragen.


Die beiden Frauen wechſelten einen Blick des Einverſtänd¬
niſſes, den der Mann nicht bemerkte.


Die Verſtimmung dauerte ein paar Tage; Guſtav ſprach
nicht mit Häſchke, die Schweſter behandelte er wie die ſchlechteſte
ſeiner Arbeiterinnen. Des Nachts ſtand er zwei- dreimal auf,
unterſuchte den Männerſchlafſaal, horchte an der Thür der
Mädchen.


Am meiſten hatte Pauline unter ſeiner Laune zu leiden.
Sie ſei mit den beiden im Bunde, behauptete er. Von irgend
welchen Erklärungen und Entſchuldigungen wollte er nichts
wiſſen. Wenn man ihm ſagte, Häſchke meine es ehrlich und
werde Erneſtinen heiraten, bekam er einen roten Kopf und
ſchrie die Leute an: er kenne Häſchkekarln, er habe drei Jahre
mit ihm gedient; auf weiteres ließ er ſich nicht ein.


Mitten in dieſe Erregung fiel ein Brief aus der Heimat,
von Frau Katſchner an Pauline.


Die Witwe ſchrieb:


„Liebe Tochter!


Ich ergreife die Feder, um Dir zu ſchreiben. Hier
iſt es jetzt ſehr einſam ohne Euch und gehen allerhand
Dinge vor ſich. Die gnädige Herrſchaft aus Berlin
21*[324] ſind wieder auf dem Schloſſe mit den gnädigen Kon¬
teſſen und Fräulein Bumille habe ich auch beſucht und
läßt Dich ſchön grüßen. Konteſſe Wanda iſt nun richtig
verſprochen mit ihrem Bräutigam neulich iſt er auch ſchon
in Saland geweſen bei ihr. Er iſt ein kleiner Mann der
Bräutigam, die Wanda iſt nicht hübſch mit ihm, ſagt Fräu¬
lein Bumille, wir freuen uns aber ſehr daß es ein Prinz
iſtt Die Hochzeit ſoll allerdings großartig und ſehr fein
werden, ſagt Fräulein Bumille, mit Eſſen und Trinken
natürlich da ſoll nichts abgehen und Herrſchaften aus Berlin
und die hohen prinzlichen Verwandten und Freundſchaft.
Wir werden da etwas zu ſehen bekommen und das ganze
Dorf wartet ſchon darauf im Herbst ſoll es ſein. Nun
muß ich Dir noch etwas anderes ſagen, nämlich dem Trau¬
gott Büttner haben ſie doch den Hof weggenommen und
das ganze Gut, was die Gläubiger ſind. Und die alten
Leute ſind nun ganz alleine, weil daß doch die Toni weg is,
nach Berlin ſagen ſie, aber kein Menſch weiß was von der
Toni ſchreiben thut ſe nich. Die Leute reden alles Mögliche!
Ihren kleinen Jungen hat ſie zur Thereſe gegeben was auch
nich ſchön is die Leute haben ſich alle gewundert. Karl
und Thereſe ſind nämlich jetzt in Wörmsbach, die haben's
doch auch nicht dazu. Den alten Leuten natürlich geht es
gar nicht gut Traugott Büttner is ſo ſtille und ſimeliert
in einer Dur die Leute ſagen es wäre nicht richtig mit
ihm, ſprechen ſie. Allerdings hat er viel Kummer und
Herzeleid erlebt und ärgern hat er ſich auch ſehr müſſen.
Die Bäuerin iſt ſehr geringe geworden, ſo geringe, wie die
Frau is! Ich ſagte über Buſchlobeln am Sonntag ſagte ich:
Die löſcht aus wie ein Licht, habe ich geſagt. Sie hat
ſchon das Waſſer in den Beinen und zu beißen und zu
brechen haben ſie allerdings auch nichts auf dem Bauern¬
gute, weil ihnen doch Herr Harraſſowitz alles weggepfändt
hat. Überhaupt die Ochſen hat der auch weggenommen, das
kannſt Du Guſtaven ſagen. Die Not iſt groß wenn nicht gute
Menſchen helfen, wiſſen wir nicht was der liebe Gott noch
[325] verhängen mag über die armen Menſchenkinder. Die Büttners
was die alten Leute ſind waren doch immer ſo fleißige und
ordentliche Leute, das ſagt ein jeds und nu ſowas zu erleben!
Die Leute ſagen auch hier im Dorfe, daß ſich Kaſchelernſt
ſchämen müßte denn der ſoll doch bloß den Bauern rein¬
gebracht haben und kein anderer. Ich ſchließe hiermit und
wünſche daß es Euch immerdar gut gehen möge und alle
geſund bleiben wie es mir auch geht Deine liebe Mutter.


Clementine Katſchner.“


Der Brief machte Eindruck auf alle, die ihn laſen. Die
Nachrichten aus der Heimat waren ſpärlich gefloſſen. Der
Büttnerbauer nahm die Feder ungern zur Hand, zu allerletzt
gewiß zu einem Briefe.


So hatte man denn von den wichtigen Ereigniſſen der
letzten Zeit höchſtens von weitem etwas vernommen, durch
Briefe, die an andere Sachſengänger aus der gemeinſamen
Heimat kamen.


Guſtav hatte ſich viel mit geheimen Sorgen um den
Vater und ſeine Angelegenheiten getragen. Die letzten Er¬
eigniſſe waren von ihm ja vorausgeſehen worden. Aber nun
kam die ſchwere Erkrankung der Mutter noch zu allem Jammer
hinzu.


Der Vater um Haus und Hof gebracht! Die alten
Leute gänzlich allein in ihrer Not! — Es war ein Elend, wie
es größer nicht ſein konnte!


Frau Katſchners beredter Brief machte die Runde bei
den Familienmitgliedern. Man ſprach über die Vorgänge in
der Heimat und beriet, was geſchehen ſolle. So wurden die
Zwiſtigkeiten, die eben noch geherrſcht hatten, in den Hinter¬
grund gerückt.


Man kam zu dem Schluſſe, daß es das Beſte ſei, den
Eltern eine Summe Geldes zu ſchicken. Sie legten zuſammen
von ihren Erſparniſſen. Auch Häſchkekarl bat, beiſteuern zu
dürfen. Sein Geldſtück wurde nicht abgewieſen.


Guſtav erlebte noch eine beſondere Genugthuung: als
[326] unter den Mädchen bekannt geworden war, wie ſchlecht es den
Eltern ihres Aufſehers gehe, ſammelten auch ſie, ganz im
Stillen, unter ſich und brachten ihm eines Tages ein ganz
ſtattliches Sümmchen, das er mit nach Halbenau an die alten
Leute ſchicken möge.


Eine Verſöhnung fand nicht ſtatt zwiſchen Guſtav und
Häſchke. Aber mit der Zeit ſprach der Aufſeher doch wieder
mit dem Geliebten ſeiner Schweſter.

[[327]]

V.

Die Büttnerbäuerin war geſtorben. In den letzten Tagen
hatte ſie über unerträglichen Froſt geklagt; der Bauer mußte
des Nachts bei ihr liegen, um die Erkaltende zu wärmen.


Eines Mittags, als der Bauer vom Felde zurückkehrte,
fand er ſie auf dem Geſichte liegend, mit ausgebreiteten Armen.
Er faßte ſie an; ſie war kalt. Mehrere Stunden mochte ſie
wohl ſchon ſo gelegen haben. Keine Spur von Lebenswärme
war mehr an dem ſteifen Körper zu entdecken. Die eine Ge¬
ſichtsſeite hatte ſich bläulich verfärbt.


Der alte Mann ſtand wie erſtarrt vor der Leiche ſeiner
Lebensgefährtin. Er warf ſich nicht über die Tode, liebkoſte
nicht die lebloſe Hülle. Und doch hatte er ſie geliebt, mit echter
ſtarker Liebe. Wie im Leben, hielt ſich auch dem Tode gegenüber
ſein Gefühl fern von Überſchwang. Es hatte Tage gegeben,
wo die Gatten kaum ein Wort mit einander gewechſelt. Wochen
und Monde waren vergangen ohne Kuß und Umarmung.
Harte Worte von Seiten des Mannes, Thränen auf Seiten der
Frau waren nichts Seltenes geweſen. Und doch hatte innige
Treue die beiden Menſchen verbunden, wie ein unſichtbares
Band. Unter rauhen Formen wurde dieſe Liebe gewahrt, als
etwas Stilles und Keuſches, von dem man nicht viel Auf¬
hebens macht, weil es ſo ſelbſtverſtändlich war.


Der Bauer blieb ſich treu in ſeiner ſchlichten Geſinnung
für die Lebensgefährtin, bis zum letzten. Keine Klage, kein
[328] Haarausraufen, als er jetzt vor ihrer Leiche ſtand. Ein tiefer
Seufzer und ein paar Thränen, die ihm über die Wangen
liefen, ohne daß er es recht wußte; das war alles.


Dann machte er ſich daran, für die Entſchlafene zu thun,
was noch für ſie gethan werden konnte. Er drückte ihr die
Augenlider herab, hob den ſchweren Körper aus dem Bette,
reinigte die Leiche, und kleidete ſie in ein friſches Hemd. —
Alles, ohne eine Spur von Grauen vor der greifbaren Nähe des
Todes zu empfinden. Dann ging er in's Dorf, meldete den
Tod beim Standesbeamten an, beſtellte den Sarg und beſprach
im Pfarrhaus den Tag der Beerdigung mit dem Geiſtlichen.


Der Leichenzug fiel über Erwarten ſtattlich aus, Jung
und Alt beteiligte ſich, Kränze waren geſpendet worden, aus
freien Stücken trug ein Geſangverein eine Arie am offenen
Grabe vor.


Es zeigte ſich, daß die Büttnerſche Familie doch noch manchen
Freund beſaß in Halbenau. Es kam in dieſer auffälligen Teil¬
nahme etwas, wie Demonſtration, zum Ausdruck. Das Schick¬
ſal des Büttnerſchen Bauerngutes hatte Aufſehen erregt, und
Manchen, der auf überſchuldetem Grund und Boden ſaß, mit
Bangen erfüllt, daß es ihm früher oder ſpäter auch ſo ergeben
möge. Am Bieten hatte man ſich zwar eifrig beteiligt, als
das Bauerngut zerkleinert wurde; aber es gab doch nur wenig
Leute in Halbenau, die nicht in ihrem Herzen für den banke¬
rotten Bauern geweſen wären, gegen ſeine Ausbeuter. Dieſes
Gefühl, das ſich offen nicht hervorwagte, machte ſich in Ehren¬
erweiſungen für die verſtorbene Bäuerin Luft.


Man war geſpannt, ob Kaſchelernſt zur Beerdigung er¬
ſcheinen werde. Aber der ſchlaue Kretſchamwirt mochte etwas
von der Stimmung, welche im Dorfe herrſchte, gewittert haben,
er kam nicht. Er hatte Ottilie entſendet, die einen Kranz auf
den Sarg legen mußte.


Hinter dem Sarge ſchritt der Witwer, neben ihm Thereſe
und Karl. Das war alles, was von der ehemals zahlreichen
und angeſehenen Büttnerſchen Familie jetzt noch in dieſer Gegend
übrig war.


[329]

Der Pfarrer ließ ſich die Gelegenheit nicht entgehen, die
Herzen zu rühren. Er war ein alter Praktikus, und wußte,
daß außergewöhnliche Unglücksfälle nahezu die einzige Ge¬
legenheit ſind, wo man den harten Bauerngemütern bei¬
kommen kann.


Karl Büttner ſchluchzte wie ein kleines Kind. Bei dem
alten Manne ſchien der Thränenquell verſiegt zu ſein. Der
Geiſtliche ſprach von ihm, als von einem, mit dem Gott der
Herr beſondere Dinge vorhaben müſſe, da er ihm ſo harte
Prüfung auferlege, wie einſtmals dem Hiob. Wenn er aber
dem unerforſchlichen Ratſchluſſe des Herrn ſtille halte, werde er
auch wieder zu Ehren gebracht werden, wie dieſer Knecht
Gottes. —


Die letzten Tage der Bäuerin waren nicht ohne jeden Sonnen¬
blick geweſen; von den Kindern aus der Fremde war Geld
gekommen und Briefe. Faſt zur nämlichen Zeit hatte auch
Toni, die bisher wie verſchollen geweſen, wieder einmal ge¬
ſchrieben und gleichfalls Geld geſchickt.


Was Toni ſchrieb, war zum Teil nicht recht verſtänd¬
lich; die Schreibkunſt war nie dieſes Mädchens ſtarke Seite
geweſen. Sie wäre nicht mehr Amme, teilte ſie mit. Welcher
Art ihre Lebensſtellung ſei, war nicht geſagt. Aber ſie mußte
doch wohl ihr Auskommen haben, ſonſt würde ſie nicht haben
ſoviel abgeben können. Für ihr Kind, das bei Thereſen
untergebracht war, ſchickte ſie auch etwas mit.


Nachdem das Begräbnis vorüber war, kehrte alles ſchnell
in die alten Geleiſe zurück. Äußerlich merkte man kaum, daß
eine Lücke entſtanden war.


Der Bauer ging Tag für Tag ſeiner gewohnten Arbeit
nach. Er mußte alles in allem ſein; zur Feldbeſtellung kam
jetzt auch noch die häusliche Arbeit. Der Erſparniſſe halber,
machte er nur noch einmal am Tage Feuer. Er nährte ſich
ſchlechter, als das Vieh, lebte von altem Brot, das er trocken
verzehrte, und kalten Kartoffeln. Faſt nie kam ein herzhafter
Biſſen auf ſeinen Tiſch.


Dabei arbeitete der alte Mann angeſtrengter denn je. Es
[330] war, als ob er irgend etwas in ſich betäuben wolle, durch die
Anſtrengung.


Mitten in der Nacht ſtand er manchmal auf, wenn man
kaum die Hand vor den Augen ſehen konnte, zog ſich an,
nahm Hacke, Senſe, oder ein anderes Werkzeug auf die Schulter
und ging damit auf's Feld hinaus.


Es litt ihn nicht daheim; ohne Menſchen war das Haus
wie eine Totenkammer. Er war gewiß nicht furchtſam von
Natur, hatte ſich niemals vor Geſpenſtern gefürchtet; aber jetzt
überkam es ihn manchmal wie Grauen. Die Erinnerung an
vergangene beſſere Zeiten ſprach aus jedem Winkel. Die Ge¬
danken an das, was geweſen, was nie wiederkehren konnte,
waren die Geſpenſter, die hier umgingen. Vor dem, was
ſein eigenes Hirn ausbrütete: den Vorwürfen, den betroge¬
nen Hoffnungen, den Selbſtanklagen, floh der alte Mann.
Er rannte hinaus auf den Acker, wie ein Beſeſſener, hackte,
wühlte dort, als wolle er etwas einſcharren, etwas, das er
verbergen mußte, vor den eigenen Augen.


Bei ſolchem Hundeleben verfiel der Körper des Greiſes
mehr und mehr; er war nur noch ein Skelett. Das Haar
ſtand ihm in langen grauen Strähnen um den Kopf. Sich
den Bart abzunehmen, lohnte nicht mehr. Die nächſte Folge
davon war, daß er Sonntags nicht mehr in die Kirche kam.
Denn unraſiert ſich in der Kirchfahrt blicken laſſen, war für
einen Halbenauer undenkbar.


Bald führte er ein vollſtändiges Einſiedlerleben. Die ein¬
zigen lebenden Weſen, mit denen er noch etwas zu thun hatte,
waren die beiden Kühe, die Harraſſowitz auf dem Hofe ge¬
laſſen hatte. Menſchliche Geſichter wollte er ſo wenig wie
möglich ſehen. Er hatte wohl das dumpfe Gefühl, hervor¬
gewachſen aus der eigenſten Erfahrung, daß die größte
Unbill, das ſchwerſte Unrecht, dem Menſchen nur vom
Menſchen zugefügt wird. — Er haßte ſeinesgleichen, und hielt
ſich von jeder Berührung mit dem feindlichen Geſchlechte
fern. Bot ihm jemand einen Gruß, dann ſtellte er ſich
taub. Und wer ihn etwa anredete, konnte erleben, daß er,
[331] ſtatt Antwort zu erhalten, den Rücken des Alten zu ſehen
bekam.


Was eigentlich in der Seele dieſes Mannes vorgehe, wußte
niemand. Der Paſtor machte ihm einige Zeit nach dem Be¬
gräbnis der Bäuerin ſeinen Beſuch, an einem Sonntag Nach¬
mittage. Er fand den Bauern im Werkeltagskleide im Hofe,
mit einer Arbeit beſchäftigt. Das wäre in früheren Zeiten
auch nicht paſſiert! — Der Pfarrer drückte ein Auge zu, über
die Sonntagsarbeit, und betrat mit dem Alten die Wohnſtube.


Der Hirt verſtand es, das Geſpräch gar bald auf geiſt¬
liches Gebiet hinüberzuleiten. Das Elend, in dem ſich der ehe¬
malige Gutsbeſitzer jetzt befand, gab dem Seelſorger Anlaß,
auf die Nichtigkeit alles Irdiſchen hinzuweiſen, und den Sinn
auf die ewigen Güter zu richten. Der Geiſtliche erinnerte
den Bauern auch an ſein Alter, und daß er vielleicht bald vor
einem Höheren werde Rechnung ablegen müſſen. Er fand be¬
wegliche Worte, der Herr Paſtor. —


Der alte Mann ſagte nicht ja und nicht nein dazu. Mit
verdroſſener Miene ſaß er in ſeiner Ecke. Er ſchien das ſeel¬
ſorgeriſche Bemühen des Pfarrers als eine Beläſtigung zu em¬
pfinden, in die man ſich wohl oder übel ſchicken mußte.


Seine Religioſität war niemals über eine äußerliche Kirch¬
lichkeit hinausgekommen. Nun er nicht mehr zur Kirche ging,
kam das Heidentum zum Vorſchein, das tief in der Natur des
deutſchen Bauern ſteckt. Was kümmerten ihn die überirdiſchen
Dinge; von denen wußte man nichts! Der Boden, auf dem er
ſtand, die Pflanzen, die er hervorbrachte, die Tiere, die er nährte,
der Himmel über ihm mit ſeinen Geſtirnen, Wolken und Winden,
das waren ſeine Götter. Jene anderen, morgenländiſchen,
hatten doch etwas mehr oder weniger Fremdartiges für ihn.


Als der Geiſtliche ſchließlich von dem Bauern wegging,
wußte er nicht, ob er Eindruck auf das Gemüt des Mannes
gemacht habe, oder nicht.


Einer anderen Perſönlichkeit, die ſich dem Alten nähern
wollte, um ihn in ſeiner Verlaſſenheit zu tröſten, ging es nicht
viel beſſer. Frau Katſchner erſchien eines Tages auf dem Büttner¬
[332] ſchen Hofe, ging in's Haus und guckte in alle Zimmer. Da
ſie niemanden antraf, that ſie ſich ein Gütchen im Durchſchnüffeln
der verwaiſten Räumlichkeiten. Dann begab ſie ſich hinaus auf's
Feld, wo ſie den Bauern alsbald beim Kleehauen traf.


Er ſchien völlig vertieft in ſeine Arbeit. Ehe ſie an ihn
herantrat, betrachtete ſie ihn ſich eine Weile voll Mitgefühl,
das nicht frei war von ſelbſtiſchem Behagen. — Der Ärmſte!
man ſah ihm den Witwer recht an. In ſeinen Beinkleidern
war ein Loch, das man auf zwanzig Schritt leuchten ſah. Er
war gewiß recht unglücklich! Keine ſorgende Pflege! Nun erfuhr
er, was es hieß: ledig ſein. —


Die Witwe räuſperte ſich und ſuchte in ihr: „Guntagoch,
Büttnerbauer!“ ſoviel Freundlichkeit und Teilnahmegefühl zu
legen, wie nur möglich. Kein Gegengruß kam, er ſah nicht
einmal auf von ſeiner Arbeit. Aber die Witwe Katſchner war
nicht ſo leicht abzuſchrecken — ſie war ſich ja ihres guten
Zweckes bewußt. — daher that ſie, als bemerke ſie ſeine ab¬
weiſende Haltung gar nicht.


Sie begann damit, zu berichten, daß ſie kürzlich einen
Brief von Paulinen bekommen habe. Der Alte handhabte die
Senſe in gleichmäßig abgerundetem Schwunge, als gäbe es
auf der Welt nichts, als den Klee und ihn. Die Witwe, die
ſich zu dieſem Gange eine gute Schürze vorgebunden und ein
neues Kopftuch angelegt hatte, ſah ihm zu. Das mußte man
ſagen, er war immer noch ein kräftiger Mann, trotz ſeiner
Sechzig, aber fürchterlich anzuſehen, mit ſeinem langen Haar
und den zolllangen Stoppeln um den Mund. Ganz abge¬
magert war er und hohläugig. Er härmte ſich gewiß, ſehnte
ſich nach einer mitleidigen Seele. Wahrſcheinlich hatte er
nichts Ordentliches zu eſſen, und keine Abwartung. Wahrlich,
hier war es die höchſte Zeit, daß eine Frau eingriff! —


Sie entfaltete den Brief und fragte, ob er nichts von ſeinen
Kindern in der Fremde wiſſen wolle. Darauf hielt der Bauer
im Hauen inne. Frau Katſchner entnahm daraus die Erlaub¬
nis, vorzuleſen.


Der Brief enthielt Nachrichten über das Ergehen der
[333] Sachſengänger. Am Schluſſe ſchrieb Pauline, daß ſie im
Herbſt alle nach Halbenau zurückkehren wollten.


Die Witwe faltete den Brief ſorgfältig zuſammen und
ſteckte ihn ein. Dann ſeufzte ſie und wiſchte ſich die Augen
mit einem Zipfel ihrer blau und weiß gedruckten Schürze.
„Ju Ju!“ ſagte ſie, 's is och gutt ſu! Wenn ſe ack bale zu¬
ricke kimma wellten! 's is ne ſchiene uf der Welt ſo alleene —
nee 's is och ne ſchiene!“ Hier ließ ſie eine Pauſe eintreten; wohl
für jenen, zum Überlegen des Gehörten. Dann mit beſonderem
Blicke auf den Mann: „Ich ha' ſchon manch a lieb's Mal bei mer
gedacht, der Büttnerpauer muß es duch firchterlich eenſam han,
ha'ch gedacht. Den muß duch ordentlich bange ſen, ha'ch gedacht!
— So alleene, wie der is uf der Welt. — Is ne a ſu, Pauer?“


Statt der Antwort nahm der Alte die Senſe wieder auf
und fuhr fort, Klee zu hauen, als ſei niemand da.


Frau Katſchner mußte endlich abziehen.


Sie war ziemlich kleinlaut, und im Innerſten gekränkt,
daß ihre gute Abſicht, den Einſamen zu tröſten, auf ſo undank¬
baren Boden gefallen war.


Inzwiſchen neigte ſich der Sommer ſeinem Ende zu. Die
Ernte war eine ungewöhnlich reiche geweſen. Der Roggen
hatte volle Ähren mit vielen und ſchweren Körnern getragen,
das Stroh war lang und reichlich, auch Hafer und Kartoffeln
verſprachen guten Ertrag.


Bittere Gefühle waren es, mit denen der alte Mann in
dieſem Jahre den Ernteſegen betrachtete. Wo er beſtellt und ge¬
ſäet hatte, ernteten andere. Täglich fuhren jetzt die Wagen der
kleinen Leute, die ſich ein paar Morgen vom Büttnerſchen Gute er¬
ſtanden hatten, durch den Bauernhof. Für die vielen Parzellen, die
bei der Vereinzelung entſtanden, war dies der einzige Abfuhrweg.


Auch auf den Feldern, die ſich Haraſſowitz für ſich ſelbſt
zurückbehalten hatte, ſtanden ſchöne Früchte. Es war von vorn¬
herein klar, daß der ehemalige Büttnerbauer die Ernte allein nicht
werde bewältigen können. Eines Tages erſchienen denn auch Helfer.


[334]

Sam hatte Leute aus dem Dorfe angenommen, als Ernte¬
arbeiter. Darauf kamen Leiterwagen, in denen die Garben
abgefahren wurden, nach Wörmsbach, hieß es, wo der Händler
ja noch mehr Land beſaß. Dort ſtand eine Dreſchmaſchine,
die ihm das Korn ausdraſch. Das gedroſchene Getreide wurde
nach der Stadt gefahren in die Speicher des Händlers, das
Stroh auf dem Felde in Feimen geſetzt.


Das Haferhauen gab Sam in Akkord. Aber den Hafer ließ
er nicht wegſchaffen, der wurde in die Scheune gebanſt. Der
alte Büttner ſollte ihn mit dem Göpel ausdreſchen; da war
gleich für eine Winterarbeit geſorgt.


Mit den Hackfrüchten verfuhr der Händler noch einfacher.
Das Hacken, Leſen und Einmieten machte ihm viel zu viel
Umſtände. Er verkaufte die einzelnen Furchen meiſtbietend an
die Dorfleute. Nur ſoviel Kraut. Rüben und Kartoffeln be¬
hielt er, wie für das Vieh während des Winters unentbehr¬
lich war.


Dieſem Manne ſchien jedes Unternehmen zu glücken. So¬
etwas hätte nur ein Bauer verſuchen ſollen, der wäre ſicher
zu Schaden und darüber noch zu Spott gekommen.


Wenn Samuel Harraſſowitz im Gaſthof bekannt machen
ließ, daß Auktion ſei, dann kamen alle gelaufen. Die bloße
Thatſache, daß Sam im Orte war, ſchien das Geld in den
Taſchen locker zu machen.


Er machte es den Leuten aber auch leicht; er war wirk¬
lich ein ‚kulanter‘ Geſchäftsmann. Jede Art von Bezahlung
nahm er an. War es nicht in Geld, dann in Naturalien,
oder auch durch Abarbeiten. Unter Umſtänden fand er ſich auch
bereit, ein Stück Vieh an Zahlungsſtatt anzunehmen. Das
gab er dann womöglich wieder einem anderen, mit dem er
in Geſchäftsverbindung ſtand, in den Stall. Und Kredit ge¬
währte er auch jederzeit. Dieſe Eigenſchaft wurde von den
Landleuten beſonders an ihm geſchätzt. Nur im äußerſten
Notfalle klagte er einen Schuldner aus, und dann ſicher nur
einen, bei dem noch etwas zu holen war. Die Leute, die nichts
mehr beſaßen, ließ er mit Zwangsvollſtreckungen in Frieden.
[335] Die mußten ihre Schuld abarbeiten, und er ſorgte dafür, daß
der Poſten niemals gänzlich getilgt wurde.


Auch den alten Büttner behandelte der Händler jetzt ganz
wie ſeinen Arbeiter. Er ſchalt ihn gelegentlich, nannte ihn
faul und dumm, ein andermal wieder lobte er ihn, je nach¬
dem ſeine Herrenlaune gerade war.


Der alte Mann nahm das mit jener mürriſchen Ge¬
laſſenheit hin, die ihm neuerdings zur zweiten Natur ge¬
worden zu ſein ſchien. In ſeinem Weſen war etwas ge¬
knickt, ausgelöſcht für immer; es war, als habe er kein Ehr¬
gefühl mehr im Leibe.


Dergleichen Behandlung hätte ihm früher einmal jemand
bieten ſollen! Heiler Haut wäre der nicht vom Hofe gekommen.
Und jetzt ließ er ſich ſchmähen von dem Fremdling! —


In ſein Daſein, in ſein ganzes Treiben und Thun war
etwas Zweckloſes, Widerſinniges gekommen: er arbeitete für
ſeinen Peiniger, ernährte mit ſeiner Händewerk nur das ſtarke
Raubtier, das ihm das Blut ausſaugte.


Es gab kein Entrinnen! Harraſſowitz hielt ihn an vielen
Ketten. Er war der Schuldner des Händlers geblieben, auch
nachdem er ſein Gut an ihn verloren. Es war ein Akt der
Gnade, wenn der neue Herr den Alten im Hauſe ließ. Fiel
es dem Beſitzer ein, ihn hinauszuwerfen, dann brauchte er
nicht einmal zu kündigen. Gelegentlich damit zu drohen, ver¬
fehlte Sam nicht. Er war, in ſeiner Art, ein Kenner des
deutſchen Bauern. Er wußte, wie zähe dieſe Sorte an der
Scholle klebt, wie ihr zur Erde gewandter Blick ſie dumpf
und blöde macht, unfähig, Vorteil von Nachteil zu unter¬
ſcheiden.


Sam wußte nur zu gut, daß der alte Büttner ſich lieber
das Herz aus dem Leibe würde reißen laſſen, als daß er die
Stelle verlaſſen hätte, die ſeine Vorfahren beſeſſen, die er
ſelbſt durch ein Leben innegehabt. Die Angſt, vom Hofe ge¬
trieben zu werden, band den Alten, wie ein ungeſchriebener,
aber darum nicht minder wirkſamer Kontrakt, an den neuen
Beſitzer des Bauerngutes.


[336]

Es war eine Art von Leibeigenſchaft. Und gegen dieſes
Joch waren die alten Fronden, der Zwangsgeſindedienſt, die
Hofegängerei und alle Spann- und Handdienſte der Hörig¬
keit, unter denen die Vorfahren des Büttnerbauern geſeufzt hatten,
federleicht geweſen. Damals ſorgte der gnädige Herr immerhin
für ſeine Unterthanen, mit jener Liebe, die ein kluger Haus¬
halter für jedes Geſchöpf hat, das ihm Nutzen ſchafft, und es
gab manches Band gemeinſamen Intereſſes, das den Hörigen
mit der Herrſchaft verband. Bei dieſer modernen Form der
Hörigkeit aber fehlte der ausgleichende und verſöhnende Kitt
der Tradition. Hier herrſchte die parvenuhafte Macht von
geſtern protzig und frivol, die herzloſe Unterjochung unter die
kalte Hand des Kapitals. —


Man mußte dem Händler eines laſſen, er arbeitete ge¬
ſchickt, mit ‚Diskretion‛, ja, mit einer gewiſſen Eleganz. Sam
beſaß das Talent ſeiner Raſſe in hohem Maße, anderer Ar¬
beit zu verwerten, ſich in Neſtern, welche fleißige Vögel mit
emſiger Sorgfalt zuſammengetragen, wohnlich einzurichten. Und
die Natur hatte ihm eine Gemütsverfaſſung verliehen, die es
ihm leicht machte, ſich um das Geſchick der fremden Eier nicht
ſonderlich zu grämen.


Man rechnete Sam nach, daß er bereits jetzt, durch den
Verkauf einzelner Parzellen, für den Preis gedeckt ſei, den er
bei der Subhaſtation geboten hatte.


Eines Tages im Frühſommer waren eine Anzahl fremder
Arbeiter und ein Geometer nach Halbenau gekommen. Sie
hatten ſich auf die große Wieſe, die zwiſchen dem Büttnerſchen
Hofe und dem Walde, ungefähr in der Mitte des Grundſtückes
lag, begeben. Hier, an der dachartig abfallenden Lehne, fingen
ſie an, abzuſtecken. Dann wurde der Raſen abgeſchält, der
Humus, der zunächſt unter der Grasnarbe lag, auf beſondere
Haufen geworfen, und ſchließlich in der tiefer gelegenen
zähen Thonerde ein umfangreiches Viereck von Metertiefe
ausgegraben.


Hier ſollte die Dampfziegelei hin, die Harraſſowitz zu
gründen gedachte.


[337]

Es ſei ein allgemeines Bedürfnis für die Gegend, hatte
Sam erklärt; weit und breit bekäme man keine vernünftigen
Ziegeln zu kaufen. Er halte es für ſeine Pflicht, etwas für
die Hebung des Ortes zu thun, durch Einführung der Induſtrie.
Nun ſollten die Halbenauer einmal ſehen, was jetzt für Geld
unter die Leute kommen werde! —


Die Grundmauern zum Ringofen ſchoſſen ſchnell aus dem
Boden empor, das Gebälk zum Trockenſchuppen wurde ge¬
rüſtet, die Schlämmbaſſins angelegt, und ſchließlich die ein¬
zelnen Teile der weitläufigen Anlage mittelſt ſchmaler Schie¬
nenſtränge verbunden. Über dem Ganzen reckte ſich bald die
Ziegeleieſſe höher und höher empor; ein ungewohnter An¬
blick, der die Halbenauer ſtaunen machte. Nun bekamen ſie
doch auch eine Dampfeſſe in den Ort.


Täglich gab es jetzt Veränderungen auf dem Grundſtücke.
Eines Tages, im Herbſt, erſchien ein gräflicher Revierförſter
mit ſeinen Leuten auf der zum Büttnerſchen Gute gehörigen
Waldparzelle. In wenigen Tagen ward mit den verkrüppelten
Kiefern, Wachholderbüſchen und Stockausſchlägen aufgeräumt
und Kahlſchlag hergeſtellt.


Die Herrſchaft Saland hatte nun doch den Wald des Bauern¬
gutes angekauft für ein Geld, das dem Bauern, hätte er es zur
rechten Zeit gehabt, über alle Nöte hinweggeholfen haben würde.
Gleichzeitig war auch das ,Büſchelgewende‛, deſſen Urbar¬
machung dem alten Manne ſo viel ſauren Schweiß gekoſtet hatte,
an den mächtigen Nachbarn gekommen. Nun war das Loch zu¬
gemacht, das bisher die beiden gräflichen Reviere: Halbenau
und Saland, getrennt hatte. Im Frühjahr ſollte die ganze
Fläche zugepflanzt werden.


Traugott Büttner ſah alle dieſe Dinge. Keine Klage
kam über ſeine Lippen. Es war, als habe er ſich ſelbſt Schwei¬
gen auferlegt. Was in ſeinem Inneren vor ſich ging, erfuhr
kein Menſch.


Er glich einer Pflanze, die man ſchlecht verſetzt hat,
und die nun in verwahrloſtem Zuſtande dahinſiecht; ſie ve¬
gitiert noch, aber in ihren Säften geht ſie zurück. Er glich
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 22[338] auch einer Maſchine, die ohne treibende Kraft doch weiter
arbeitet, weil der Schwung von früher her noch ein Weilchen
vorhält, ehe ſie ausſetzt.


Für Schmerz war er ſcheinbar unempfindlich geworden,
abgeſtumpft durch das Zuviel, gleich dem Boden, der allzu¬
ſtark getränkt, keine Näſſe mehr in ſich aufnimmt.


Die da meinten, er ſei gefühllos, irrten ſich. Er fühlte
gar wohl das Unrecht, das ihm widerfuhr. Die Demut und
Schmerzensſeligkeit eines Hiob war ſeiner halsſtarrigen Bauern¬
natur nicht eigen. Weit davon entfernt war er, mit dem
Knechte Gottes aus dem alten Teſtamente zu ſagen:


„Ich bin nackend von meiner Mutter Leibe gekommen,
nackend werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat es ge¬
geben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn ſei
gelobet!“


Wenn er auch ſcheinbar zum ſtumpfen Laſttier herab¬
geſunken war, das die Schläge gleichgültig hinnimmt, ſo blieb
ſein innerer Trotz doch ungebrochen. Menſchenhaß und Verachtung
waren ſeine Tröſter, Groll ſeine Nahrung; die einzige die ihn
noch in Kraft erhielt. Aber die Qualen, die er ertrug, waren
um ſo brennender, weil er nicht den Schrei der Wut fand,
ſich von ihnen zu entlaſten.

[[339]]

VI.

Nachdem das Manöver vorüber, hatte der Graf Urlaub
genommen, um die Hochzeit ſeiner Schweſter Wanda auszu¬
richten. Große Vorbereitungen wurden in Schloß Saland zu
dieſem Feſte getroffen. Der Adel der Nachbarſchaft, die Magna¬
ten der Provinz waren geladen. Aus Berlin waren Freunde
des Bräutigams und Kameraden des Wirtes eingetroffen, und
immer noch erſchienen neue Gäſte.


Es war ein Feſt für die ganze Gegend. Die kleinen
Leute nahmen die Gelegenheit wahr, einmal gründlich blauen
Montag zu machen. Täglich gab es in Saland jetzt etwas zu
ſehen. Einmal hieß es, ein Wagen ſei angekommen, mit ſechs
Pferden davor, Kutſcher und Diener dazu mit feuerroten Röcken.
Natürlich lief man da von der Arbeit fort, um das Wunder
zu begaffen. Dann wieder gab es ein Feuerwerk. Leute in
einem entfernten Dorfe ſahen davon den Schein gegen den
nächtlichen Himmel und glaubten, es müſſe ein Schadenfeuer
ſein. Die Sturmglocke wurde angeſchlagen, die Feuerwehr
allarmiert. Die Feuerwehren der Ortſchaften, durch die man
kam, ſchloſſen ſich an. Und ſo erſchien ſchließlich eine ganze
Anzahl Spritzen vor Schloß Saland. Als man wahrnahm,
daß es gar kein Feuer gab, ſchimpfte man weidlich.


Der Graf erfuhr von dem falſchen Alarm und ließ den
Leuten Bier geben aus der Schloßbrauerei, damit ſie, ſtatt
des Feuers, wenigſtens ihren Durſt löſchen möchten. —


22 *[340]

Die fabelhafteſten Gerüchte durchſchwirrten die Luft; es
hieß: am Hochzeitstage ſolle Geld unter die Menge geworfen
werden, im Schloßhofe werde am Vorabend der Trauung
ein gebratener Ochſe und ganze Schweine und Kälber zur all¬
gemeinen Speiſung ausgelegt werden, und dazu würde aus
einem Rieſenfaſſe Wein fließen.


Eine Art von Fieber hatte ſich der Bevölkerung bemächtigt.
Die Arbeit ſchmeckte den Entnüchterten nicht mehr; man er¬
wartete voll Spannung außergewöhnliche Dinge.


Auch Karl Büttner war von Wörmsbach herübergelaufen,
um ſich das Feuerwerk mit anzuſehen. Er kannte einige von
der [Feuerwehrmannſchaft] von der Truppe her. Man nahm
ihn mit, als es zur Bierverteilung kam. So gelangte er zu
Bier und Cigarren, er wußte nicht wie! —


Das hatte ihm gefallen! Am nächſten Vormittage lief er
ſchon wieder nach Saland, gegen Thereſens Willen. Er
hoffte im Stillen auf einen ähnlich glücklichen Zufall, wie
ihn der vorige Abend gebracht.


Diesmal fiel zwar nichts für ihn ab, aber er wurde Zeuge
eines merkwürdigen Schauſpiels.


Im gräflichen Park befand ſich eine Wieſe, beſchattet von
prächtigen Eichen und Linden. Hier auf ebener Raſenfläche
überraſchte Karl eine wunderliche Geſellſchaft. Eine Anzahl
Burſchen ſprang da herum, wie die Müller anzuſehen, von oben
bis unten weiß. Auf den Köpfen trugen ſie bunte Mützen,
um die Hüften farbige Gürtel. Sie hielten in ihren Händen
Dinger, großen Fliegenklatſchen nicht unähnlich, damit warfen
ſie ſich kleine Bälle zu, über ein Netz weg, das quer über
den Raſenplatz geſpannt war. Dazu ſchrieen ſie unverſtändliche
Worte, geſtikulierten eifrig, und liefen manchmal wie beſeſſen
hin und her.


Das war ſehr poſſierlich mit anzuſehen. Die Burſchen
ſelber aber ſchienen die Sache mit großem Ernſt und Eifer
zu betreiben.


Karl hatte die Spielenden von weitem für Knaben ge¬
halten, die ſich mit dergleichen Narreteien die Zeit vertrieben.
[341] Als er näher kam, erkannte er jedoch, daß es erwachſene
Männer ſeien. Er ſchloß ſich einer Gruppe von Dorfleuten
an, die, hinter einem Boskett ſtehend, dem Treiben der Vor¬
nehmen zuſahen.


Auf der Parkwieſe war eine größere Geſellſchaft ver¬
ſammelt: Herren und Damen. Man ſaß und lag umher auf
Korbſtühlen und Baſtmatten. Zwiſchen den Bäumen waren
Hängematten geſpannt. Eine Dame, die ſich in einer ſolchen
hin und her ſchaukelte, nahm ſich wie ein roter Farbenklecks
aus, gegen das Grün des Raſens. Man trank, rauchte,
nahm Erfriſchungen zu ſich, ſtand in Gruppen bei einander,
lachte und ſchwatzte, in nachläſſiger Weiſe. Ein Konzert
fremdartiger Formen und Farben: die Damen in hellen
Toiletten, wie exotiſche Blumen! Ein üppiges, farbenſchillern¬
des Bild, von niegeſehener Eigenart entrollte ſich vor den
Augen des Landsvolkes. Karl ſtand da und riß große unver¬
ſtändige Augen auf.


Eine Frau, die gelegentlich auf Scheuerarbeit in's Schloß
kam, machte die Erklärerin. Sie wußte, welcher der Bräu¬
tigam ſei: dort der kleine, mit dem ſchwarzen Schnurrbärtchen.
— Karl hatte ſich einen Prinzen bis dahin auch ganz anders
vorgeſtellt.


Jetzt hörten ſie auf zu ſpielen. Großes Durcheinander
herrſchte auf dem Platze. „Nu hat eene Parte gewunnen!
Desderwegen thun ſe ſu brillen,“ erklärte die Frau, ſichtlich
ſtolz, daß ſie ſo gut über die Sitten der Großen unterrichtet
ſei. „Itze wern de Frauensmenſcher och glei losmachen, paßt
a mal uff!“


Richtig! es traten zwei Damen mit auf den Plan. „Saht
ack, das is ſe! das is unſe Wanda — das is de Braut!“


Nun ſah man auch die Damen voll Eifer auf dem Raſen
hüpfen. Es wurde viel gelacht und gejubelt. Das Braut¬
paar ſpielte auf einer Seite; ſie verloren. Wanda tadelte den
prinzlichen Partner oft genug und ließ ihn nach den ver¬
lorenen Bällen ſpringen.


Ein kleiner Alter, mit einem Leinewandſack auf den Rücken,
[342] hatte lange wortlos dem Spiele zugeſehen, aus matten rot¬
umränderten Augen. Dann ſagte er plötzlich: „die ſein verrickt
in Koppe!“ damit ging er kopfſchüttelnd von dannen.


„Racht hat 'r!“ ſagte ein anderer. „De Grußen ſen alle
verrickt, alle mitenander ſen die verrickt, de Grußen! Hot ees
ſuwas geſahn! Die mechten wos Geſcheitres macha, als dohie
ſu rimkalbern, und an lieben Herrngutt de Zeet ſtahlen.“


Die Frau, welche vorher Erklärungen gemacht hatte, wider¬
ſprach. „Nu is 's etwan nich aſu?“ hieß es da. „Gabt der
Art eene urndtliche Arbeet ei de Hand und 'r ſollt ſahn, wie ſe
ſich daderzut aſtellen warn!“


Karl blieb noch eine ganze Weile dort ſtehen. Das Treiben
gefiel ihm, wenn er den Sinn auch nicht verſtand.


Auf dem Rückwege kehrte er ein. Bei dieſer Gelegenheit
traf er einen Bekannten, der ihm erzählte: morgen ſei Jagd auf
dem Herrſchaftlichen, da gebe es gute Bezahlung und gewöhnlich
auch Anteil am Jagdfrühſtück für die Treiber; es würden
noch Treiber geſucht. Karl, den beſonders das Jagdfrühſtück
lockte, ging auf die nahe Oberförſterei und meldete ſich als
Treiber.


Am nächſten Morgen fand bei klarem Frühherbſtwetter die
Jagd ſtatt. Es galt vor allem den Faſanen, aber auch Birk¬
wild, Rebhühner, Rehböcke und Haſen ſollten zum Abſchuß
kommen.


Karl Büttner ging in einer langen Reihe von Treibern,
mit einem Stocke bewaffnet. Der Faſane wegen, die ſich gern
übergehen laſſen, gingen die Treiber ſo eng, daß ſie ſich faſt
die Hände reichen konnten. Sie waren angewieſen, ganz lang¬
ſam, ſchrittweiſe, vorzugehen, wenig Lärm zu machen und mit
ihren Stöcken auf die Büſche und jungen Bäumchen zu klopfen,
um das Wild locker zu machen. Von Zeit zu Zeit ertönten,
von einem am Flügel marſchierenden Forſtbeamten geblaſen,
Signale; dann machte die ganze Kette Halt, um auf ein neues
Signal wieder loszuſchreiten.


Die Faſane waren zahlreich, da im Herbſt zuvor wenig
abgeſchoſſen worden war. Bei dem warmen Wetter lagen die
[343] Vögel feſt, oft flogen ſie den Treibern unter den Füßen auf.
In einem fort ertönte das Gackern der Hähne. Dann, ſobald
die Vögel über die Schützenkette ſtrichen, Schüſſe, oft ganze
Kanonaden! Es war ein herzerquickendes Schauſpiel für das
Auge des Waidmanns, wenn der Faſanhahn in die Luft
ſtieg, dann in gerader Linie abſtrich, im Glanze ſeines
prächtigen Gefieders, mit dem langen Stoße. Darauf ein
wohlgezielter Schuß, gut vorgehalten; der königliche Vogel
klappte zuſammen, die ganze Pracht hatte ein jähes Ende ge¬
funden! —


Auch der Treiber bemächtigte ſich gar bald das Jagdfieber.
Aller Mahnungen des Forſtperſonals, ſich ſtille zu verhalten,
ungeachtet, ſchrien ſie laut, jeden Treffſchuß bejubelnd.


Nach dem fünften Treiben fand Frühſtückspauſe ſtatt.
Tiſche und Bänke waren herbeigefahren worden. Am Feuer,
das auf einem Waldwege angezündet worden war, wurden
große eiſerne Töpfe und kupferne Keſſel mit Speiſen und Ge¬
tränken gewärmt. Die Schützen ließen ſich nieder, einige Diener
vom Schloſſe bedienten.


Karl hatte unter den Jagdgäſten einen ehemaligen Vor¬
geſetzten wiedererkannt, der ſein Rekrutenoffizier geweſen war.
Inzwiſchen war der damalige Leutnant zum Major vor¬
gerückt und nach Berlin zur Garde verſetzt worden.


Karl konnte den Entſchluß nicht recht finden, den Herrn
anzureden. Wer weiß, ob der ihn kennen würde? Und dann
wurde er womöglich ausgelacht! — Aber nach dem Früh¬
ſtück wuchs ſein Mut. Die Speiſereſte waren unter die Treiber
verteilt worden; Karl hatte gierig geſchlungen. Auf irgend
eine Weiſe war auch eine Flaſche ſtarken Likörs vom Tiſche
der Schützen unter die Treiber geraten. Karl hatte einige
Schlucke von dem ungewohnten Getränk genoſſen; er befand
ſich infolgedeſſen in gehobener Stimmung.


Mit mehr Freimut, als ihm für gewöhnlich eigen war, trat
er vor ſeinen ehemaligen Vorgeſetzten hin, ſchlug die Hacken zu¬
ſammen, legte die Hand an die Kopfbedeckung, ſagte ſeinen Namen
und erzählte, daß er Rekrut beim Herrn Major geweſen ſei.


[344]

Der Offizier betrachtete ſich den großen ungeſchlachten
Burſchen eine Weile, dann ſchien ihm die Erinnerung zu kommen.


„Waren Sie nicht anfangs rechter Flügelmann der Ab¬
teilung?“ fragte er. Karl bejahte. „Aber nachher mußte ich
Sie in's zweite Glied ſtecken, weil Sie mir die ganze Geſell¬
ſchaft umſchmiſſen. Denn Sie waren doch der Rekrut, der immer
rechts und links verwechſelte — nichtwahr?“ Karl antwortete
durch ein verlegenes Grinſen auf dieſe verfängliche Frage.


Der Major erzählte nun den anderen Schützen allerhand
Streiche von dem Rekruten Büttner. Er that ſich auf ſein
ausgezeichnetes Gedächtnis etwas zu gute. Dann erkundigte
er ſich nach Karls jetziger Beſchäftigung, ob er verheiratet ſei,
Kinder habe, und ſo weiter.


Während des nächſten Treibens hatte Hauptmann Schroff,
welcher Zeuge der Unterhaltung geweſen war, dem Major die
Geſchichte der Büttnerſchen Familie berichtet. Andere Herren
traten hinzu, der Fall wurde hin und her beſprochen. Über
den ländlichen Wucher ward manch kräftiges Wörtlein ge¬
ſagt. Karl Büttner, als der älteſte Sohn des ausgewucherten
Bauern, wurde, ohne es zu wiſſen, zum Märtyrer geſtempelt;
auf einmal ſtand er im Mittelpunkte des Mitleids und der
Sympathie.


Der Major veranſtaltete ſchließlich eine Geldſammlung
für ſeinen ehemaligen Rekruten. Es gingen ebenſoviele Gold¬
ſtücke ein, wie Herren da waren. Der Major drückte dem er¬
ſtaunten Karl die Summe von hundert und vierzig Mark in
die Hand, mit dem Wunſche, daß er ſich damit ein wenig
„aufrappeln“ ſolle.


Karl vergaß das Danken, ſo überraſcht war er.


Die anderen Treiber ſteckten die Köpfe zuſammen. Schon
regte ſich der Neid. So viel Geld verdiente man auf recht¬
mähige Weiſe ja nicht in vielen Monaten.


Hauptmann Schroff war ungehalten, daß man dem Manne
das Geld ſo ohne weiteres ausgehändigt hatte; doch konnte
er nichts mehr daran ändern. Er ermahnte Karl wenigſtens,
er möge keinen Unfug damit anſtellen.


[345]

Aber der hörte und ſah nichts mehr, ſtarrte nur immer
die Goldſtücke in ſeiner Hand an. — War das ein Glück! Er
vermochte es kaum zu faſſen.


Die Jagd ging weiter. Karl Büttner wurde jetzt auch
von den Treibern ganz beſonders beachtet. Er hatte ſelbſt
keine Schnapsflaſche mitgebracht; dafür beeilten ſich die an¬
deren ihm ihre ‚Neegen‘ anzubieten. Es war gut für Karl, daß
die Dämmerung herankam und damit das Ende der Jagd,
denn er war ſo berauſcht, daß er ſich kaum noch auf den
Füßen zu erhalten vermochte.


Es gehörte nicht viel dazu, um Karl betrunken zu machen.
Heute hatte das ungewöhnliche Glück, das ihm ſo unverſehens
in den Schoß gefallen war, dazu beigetragen, ihn zu be¬
rauſchen. In der ſeligſten Laune trat er mit den anderen
Treibern den Heimweg an.


Als man an einem Gaſthof vorüber kam, hieß es: Büttner¬
karl müſſe etwas zum beſten geben. Karl zögerte. Eine
Stimme warnte ihn, die Gaſtſtube zu betreten. Er ſehnte ſich
eigentlich nach Haus, um ſeiner Frau das Geld auf den Tiſch
zu legen. Was die für Augen machen würde!


Thereſe hatte ihn zwar in der letzten Zeit ſchlechter denn
je behandelt; dumm und faul und einen Freßſack hatte ſie ihn
genannt, der nichts weiter könne, als freſſen, ſaufen, und ſie
beläſtigen. — Nun wollte er ihr's mal zeigen! Er konnte doch
noch was anderes! Soviel Geld, wie er heute mitbrachte,
hatte ſie wahrſcheinlich noch niemals beiſammen geſehen. Es
drängte ihn, zu Thereſen zurückzukehren, an deren Über¬
raſchung er ſich weiden wollte.


Aber die anderen ſetzten ihm zu. Da waren verſchiedene
luſtige Brüder darunter, die er gut leiden mochte. Man warf
ihm vor, er ſei ein Geizkragen. Mit einer ganzen Taſche voll
Gold wolle er nicht mal ein paar Groſchen für Branntwein
ſpringen laſſen, das ſei einfach ruppig. Karl glaubte, dieſen
Vorwurf nicht auf ſich ſitzen laſſen zu dürfen; er trat in die
Schenkſtube, ſchlug auf den Tiſch und verlangte Korn für die
ganze Geſellſchaft.


[346]

Als er nach einigen Stunden die Schenke verließ, war
Karl zwölf Mark losgeworden. Er war ſchwer betrunken,
lallte und heulte wie ein Kind. Von zwei Leuten mußte er
geführt werden, die ihn bis nach Wörmsbach, vor ſein Haus,
brachten. Die beiden Führer klopften an die Hausthür, bis
Thereſe den Kopf zum Fenſter hinausſteckte und ärgerlich fragte:
wer da ſei. Die Männer ſetzten den Beſinnungsloſen auf die
Thürſchwelle und entfernten ſich ſchnell. Sie verſpürten nicht die
geringſte Luſt nach einem Zuſammentreffen mit der böſen Sieben.


Thereſe ſchleifte den Betrunkenen in's Zimmer. Sie war
außer ſich. Nun fing Karl noch an, zu ſaufen. Das hatte
wirklich gefehlt zu allem Unglück!


Sie entkleidete ihn, um ihn in's Bett zu ſchaffen. Als
ſie ihm die Beinkleider herunterzog, hörte ſie ein Klirren und
Klappern. Sie unterſuchte die Taſchen. Dabei fiel ihr das
Geld in die Hände. Sie ſuchte alles zuſammen, legte es auf
den Tiſch, und zählte: hundert und achtundzwanzig Mark.


Zunächſt war Thereſe erſchrocken. Wie kam Karl zu
dem Gelde? —


Sie ſchrie ihn an, er ſolle ihr antworten. Er hatte nur
ein unverſtändliches Grunzen. Noch einmal zählte ſie das
Geld durch; es blieb dabei.


Einſtweilen mußte ſie ſich damit beruhigen, bis er nüchtern
ſein würde.


Ob er's gefunden hatte? — Daß er es verdient habe,
war nicht anzunehmen. Oder war es geſchenkt? — ge¬
borgt? — oder . . . . . Nein! Das war undenkbar! Anders,
als ehrlich, hatte ſie ihn nie gekannt.


Auf alle Fälle mußte ſoviel Geld gut aufgehoben werden!
Thereſe dachte lange nach, über einen ſicheren Ort. Dann
fiel ihr etwas ein: am Ofen war eine Kachel locker geworden,
man konnte ſie herausnehmen und wieder hineinſetzen; das
hatte ſie neulich entdeckt. Dort würde ſchwerlich jemand
ſuchen. — Sie ſtieg auf einen Stuhl, hob die Kachel aus,
legte das Geld ſorgfältig eingewickelt in das Loch und ſetzte
die Kachel wieder an ihre Stelle.


[347]

Karl erwachte erſt im Laufe des Vormittags von ſeinem
ſchweren Rauſche. Noch länger als gewöhnlich brauchte er
heute zum Überlegen. Wo war er geſtern geweſen? was war
ihm zugeſtoßen? wie war er nach Haus gekommen? — Er ſann
und ſann. Die letzte feſtſtehende Thatſache, die aus dem
Nebel auftauchte, war die Jagd. Nach und nach kamen ihm
einzelne Momente ins Gedächtnis zurück: das Frühſtück, als
ein beſonderer Lichtpunkt, der Major, und damit das Geld¬
geſchenk.


Hatte er das alles etwa geträumt? — Aber er glaubte ſich
noch ganz genau der einzelnen Geldſtücke zu entſinnen; er
hatte ſie ja in ſeiner Hand gefühlt. Es fiel ihm auch ein,
daß er ſie in ſeinen Tabaksbeutel gethan und in die Taſche
geſteckt habe.


Er griff nach ſeinen Hoſen, ſie lagen mit ſeinen übrigen
Sachen am Bette. Der Beutel war da, auch ein Reſt von
Tabak darin, aber das Geld fehlte!


Thereſe war inzwiſchen in Haus und Stall thätig ge¬
weſen. Sie that die Arbeit für zweie. Erſt hatte ſie Karls
Kleider gereinigt, die Kinder verſorgt, und ſchließlich das Vieh
gefüttert.


Sie beſaßen zwei Ziegen, außerdem ſtanden ein paar
Kühe im Stalle. Harraſſowitz hatte ſie eingeſtellt, damit ſie
für den Fleiſcher fett gemacht werden ſollten. Wahrſcheinlich
hatte Sam die Tiere zum Pfande für eine Schuld angenommen;
nun ließ er ſie hier mäſten.


Nachdem Thereſe noch eine Karre mit Krautblättern für
das Vieh hereingebracht, wollte ſie daran gehen, das Mittag¬
brot anzuſetzen. Als ſie in das große Zimmer trat, hörte ſie
nebenan in der Kammer ſchluchzen. Sie riß die Thür auf;
da ſaß Karl auf ſeinem Bette, halbangezogen und heulte.


Thereſe ſtemmte die Hände auf die Hüften und wollte
eben anfangen, loszuwettern. War der Menſch denn verrückt
geworden? Da ſaß er und plärrte wie ein kleiner Junge! —


Auf einmal aber mußte ſie lachen. Er ſah zu dumm aus
mit ſeinem roten Kopfe, dem offenen Hemde, aus dem die
[348] haarige Bruſt hervorſah, wie er ſo auf der Bettkante ſaß, der
große Kerl, und mit ſchief verzogenem Munde die Thränen
laufen ließ. Dazu barmte er: „Mei Geld! mei Geld! Se
han merſch geſtohlen!“


Thereſe trat an ihn heran, ſtieß ihn nicht gerade ſanft
gegen die Schulter. „Dummer Kerl! her uff, zu natſchen!“


Karl ſah ſie unverſtändig an. „Ich hatt' ſe dohie in
Tobaksbeitel, ane ganze Hanfel Goldſticke. Nu ſen ſe weg! Die
ſchlachten Karlen han's genummen!“ Er wollte von neuem auf¬
heulen.


„Halt's Maul! Dei Geld is gutt uffgehoben.“


„Soi mer ack, wu's is?“


Thereſe antwortete nicht auf ſeine Frage. Nach einiger
Zeit meinte ſie: „Soi Du mer lieber, wie's Du zu ſuvills Geld
gekummen biſt?“


Karl erzählte ihr darauf mit vielen Wiederholungen und
Unterbrechungen den Verlauf des geſtrigen Tages. Von dem
Augenblicke an freilich, wo er zum zweiten Male Schnaps für
die ganze Geſellſchaft beſtellt hatte, konnte er ſich auf nichts
mehr beſinnen.


Thereſe ärgerte ſich, daß ſo viel von der Summe bereits
draufgegangen war. Nun war ſie erſt recht entſchloſſen, ihn
nicht wiſſen zu laſſen, wo das übrige ſich befinde; ſonſt
würde das am Ende auch deſſelben Weges gehen.


Sie war längſt mit ſich im Reinen, was von dem Gelde
angeſchafft werden ſolle: Ein paar Ferkel zur Maſt, für die
Kinder neue Kleider; die liefen in Lumpen herum, daß es eine
Schande war. Dieſer Goldſegen kam ihr wie gerufen in's
Haus.


Als Karl in Erfahrung gebracht hatte, daß ſie das Geld
an ſich genommen, verlangte er Herausgabe. Sie fuhr ihn an,
er ſollte aufſtehen und machen, daß er zur Arbeit komme, alles
andere werde ſich ſpäter finden.


Karl war zu ſchwach, um ſeinem Willen Geltung zu ver¬
ſchaffen. Hände und Kniee zitterten ihm. Er mußte froh ſein,
daß Thereſe ihm etwas zu eſſen vorſetzte. Nachdem er gegeſſen,
[349] ſaß er am Tiſche und brütete. Sein Geld wollte er wieder
haben! Ihm war es geſchenkt, folglich war es ſein, und ſie
hatte kein Recht darauf! —


Sie veranlaßte ihn, aufzuſtehen, drückte ihm eine Hacke
in die Hand und gab ihm einen Schubkarren mit; er
ſolle Kartoffeln graben gehen auf dem Felde. Karl gehorchte
ſtumm.


Er begann zu hacken, aber bald wurde ihm die Arbeit
ſauer. Der Rücken ſchmerzte. Seine Gliedmaßen waren ſchwer
von der nächtlichen Schlemmerei. Ihm war gar nicht wie
Arbeiten zu Mute heute. An dem Bummelleben der letzten
Tage hatte er Gefallen gefunden; er wollte heute nochmal
blau machen. Wozu nutzte das ſchlechte Leben! Beſaß er denn
nicht außerdem jetzt einen ganzen Haufen Geld, wenn Thereſe
's ihm auch nicht herausrücken wollte. Sein war's doch! Mochte
die ſich ihre Kartoffeln ſelber ausmachen!


Er warf die Hacke in den Karren, wandte dem Felde den
Rücken und ging querfeldein auf Saland zu. Dort war heute
gewiß wieder was Extraes los.


Als er an den herrſchaftlichen Parke kam, traf er eine
Anzahl Leute, die gleich ihm das Hochzeitsfeſt der Komteſſe
zum Vorwande nahmen, nichts zu thun, und auf Außer¬
gewöhnliches erpicht, in der Nähe des Schloſſes umher¬
lungerten. Auch einige von Karls Saufbrüdern von der vori¬
gen Nacht waren darunter. Sie begrüßten ihn mit Hallo,
ſchloſſen ſich ihm an, in der Annahme, daß er Geld bei
ſich habe.


Dann traten Männer mit Soldatenmützen und Denk¬
münzen auf. Einer von ihnen fragte Karl Büttner, ob er ſich
nicht am Fackelzuge beteiligen werde. Karl hatte davon noch
nichts gehört. Man erklärte ihm, die Militärvereine der Um¬
gegend würden dem Brautpaare Abends einen Fackelzug bringen.
Karl, aufgefordert, mitzumachen, ſagte nicht: nein!


Die Fackelträger ſtellten ſich in einer entlegenen Ecke des
Parkes auf. Der Ehrenvorſitzende des Kriegerbundes, Haupt¬
mann Schroff, ordnete den Zug. Karl bekam eine Fackel in
[350] die Hand gedrückt. Es ſolle am Schloſſe vorübergezogen
werden, hieß es.


Der ganze Bau war bis zum dritten Stockwerk hinauf
taghell erleuchtet. Mächtige Holzſtöße brannten zu beiden
Seiten. In Pfannen und Becken loderte Pech. Die mächtige
Faſſade, der klobige Eckturm, die Fenſterreihen und Erker lagen
in rote Glut getaucht. Das Ganze ſchien eine große Feuers¬
brunſt und war doch nur ein Freudenſpiel. Nun brach der
Fackelzug aus den Gebüſchen und Baumgruppen des Parkes
hervor; wie eine feurige Schlange näherte ſich's dem Schloſſe.


Von der breiten ſteinernen Freitreppe, die vom erhöhten
Parterre des Schloſſes in den Park hinabführte, ſah die Hoch¬
zeitsgeſellſchaft dem Schauſpiele zu. Herren mit Epauletten und
Ordensſternen, Damen mit Spitzen, Brillanten, weißen Pelz¬
kragen und Mantillen. Greiſe Häupter, liebliche Mädchenge¬
ſichter! Ein Flor von hellen duftigen Toiletten! Dazwiſchen
der Ernſt des Frackes, und das Blitzen der Uniformen. —


Karl war es, als träume er. Wie eine Erſcheinung aus
anderer Welt, ein Wunder, nie geſehen, von ungeahntem, un¬
begreiflichem Glanz, ſtand dieſes Bild auf einmal vor den er¬
ſtaunten Augen des Dorfkindes. Als wär ein Vorhang weg¬
geriſſen und er dürfe einen Blick thun in den Himmel, war ihm
zu Mute. Er konnte nur ſtarren und ſtarren. Das Bild ſtand
da, lebendig, in tagheller Beleuchtung; ringsherum war Nacht.


Der Zug machte Halt. Jemand ſprach. Der Bräutigam
verneigte ſich und ſchüttelte einigen Deputierten die Hände.
Die Braut winkte mit ihrem weißen Arme. Dann ſchrie
eine Stimme: „Hoch!“ Hunderte fielen ein und ſchwenkten
die Hüte. Karl ſchrie aus Leibeskräften mit. Ihn hatte es
auf einmal wie Begeiſterung erfaßt. Feierlich war ihm zu
Mute; er mußte gegen das Weinen ankämpfen. Kommando¬
ruf! Die Spitze ſetzte ſich in Bewegung. Die einzelnen Rotten
marſchierten im Gleichtritt vorüber, den Kopf ſtramm nach
rechts gewandt, wie bei der Parade. Noch einmal ſah Karl
das Bild, jetzt zum Greifen nahe. Die einzelnen Geſichter
ganz deutlich, den bloßen Arm einer Dame, die Bärte der
[351] Männer. Wie ſie da ſtanden, lächelten, ſich unterhielten, kaum
zu ihnen hinabblickten.


Dann war der Traum vorüber, der Vorhang wieder ge¬
fallen. —


Der Zug marſchierte um das Schloß herum, über die
ſteinerne Brücke, bog von hinten in den Schloßhof ein. Die
Fackeln wurden in den Wallgraben zuſammengeworfen.


Auch in dem ſteingepflaſterten Schloßhofe brannten Pech¬
pfannen und Holzſtöße. Tiſche und Bänke waren hier in
langen Reihen aufgeſtellt. Der Graf ließ die Fackelträger
bewirten.


Karl war bereits berauſcht, nur vom Sehen. Nun hätten
die größten Wunder geſchehen können, es hätte ihn nicht ſonder¬
lich in Erſtaunen geſetzt.


Sie bekamen zu eſſen: Braten, dazu wurde Wein kre¬
denzt. Karl dachte bei ſich, ſo ungefähr müſſe es im Himmel
zugehen. —


Ein Mann mit einem Jägerhute auf dem Kopfe und einer
breiten farbigen Schärpe um den Leib, hielt eine Anſprache,
an die „Kameraden“. Andere Reden, Hochs und Hurras
folgten. Später erſchien der Graf, gefolgt von Offizieren und
Herren mit Ordensſternen. Der Schloßherr ſprach einige
Worte des Dankes. Wiederum Hochs und Hurras und noch
mehr Wein.


Karl hatte nur noch das Gefühl unausſprechlich ſeligen
Wohlbehagens. So etwas hatte er noch nie erlebt und würde
er nie wieder erleben.


Von da ab kam er nur noch augenblicksweiſe zum Be¬
wußtſein. Auf einmal ſtand er mit anderen Leuten zuſammen
im Parke, vor der ſteinernen Freitreppe, die jetzt leer war.
Die hohen Fenſter des erſten Stockes waren erleuchtet. Man
hörte Muſik von drinnen. An den Fenſtern vorüber huſchten
Schatten; ſie tanzten.


Nun ſaß er auf einmal in einem rauchigen Zimmer. Vor
Tabaksqualm vermochte er ſeinen Nachbar kaum zu erkennen.
Auf dem Holztiſche vor ihm ſtand ein Schnapsglas, da¬
[352] neben ein Fläſchchen. Rings um ihn her Geſichter, und vor
jedem eben ſolch ein Gläschen und Fläſchchen. „Büttner be¬
zahlt de Zeche, der hat's gruße Gald,“ hieß es. „Ich —
ich — ha niſcht ne mih, de Frau hat's!“ Ein lautes Gelächter
erſcholl.


Karl ſtand auf, ſchlug auf den Tiſch, und wollte den
Freunden erzählen, wie ihn Thereſe um ſein Geld gebracht
hätte; da ſchwanden ihm die Sinne, er ſtürzte hin.


Als er erwachte, lag er im Straßengraben, über und
über mit Tau bedeckt. Am Himmel zeigten ſich rötliche Streifen.
War es Abend oder Morgen? Er befühlte ſeine Glieder.
Der Kopf ſchmerzte ihm.


Einige Zeit darauf befand ſich Karl Büttner auf dem
Wege nach Haus. Die Mütze fehlte ihm, er hinkte, über die
Backe lief ihm eine blutunterlaufene Strieme. So humpelte
er weiter, die Zähne auf einander gebiſſen, die Fäuſte ge¬
ballt. Sein Hirn war noch umnebelt; kaum daß er begriff,
wo er ſei.


Aber er hatte einen Gedanken, der ſich ſeines geſamten
Sinnens und Denkens bemächtigt hatte, ein Ziel auf das er
mit der ſtieren Wut des Betrunkenen losging: ſein Geld!


Er wollte das Geld zurück haben. Seine Frau hatte es
ihm weggenommen. Es gehörte ihm. Heraus damit! —


So kam er mit blutunterlaufenen Augen heran. Er
ſchwankte und turkelte, aber er näherte ſich ſeinem Ziele.


Es war bereits heller Tag, als er vor das Haus
kam. Die Thür war verſchloſſen. Er donnerte mit ſchwerer
Fauſt dagegen. Thereſe ſteckte den Kopf zum Fenſter hinaus.
„Biſt De's? — Schwein!“ Damit warf ſie den Flügel wieder
zu. Er lehnte da eine ganze Weile, rüttelte an der Thür,
brüllte um Einlaß.


Endlich öffnete ſie. Er ſtürzte ihr halb in die Arme.
Sie fing ſeine ſchwere Laſt auf, bewahrte ihn ſo vor ſiche¬
rem Sturze. „Wo haſt De geſteckt, de ganze Nacht? —
De ſtinkſt nach Schnapſe!“ Damit ſtieß ſie ihn durch den
Gang, vor ſich her. Er ſtrebte, die Thür zum großen Zimmer
[353] zu gewinnen. „Nich hiernei giehſt De! Daß D'ch de Kinder
ſahn, beſuffen wie's De biſt!“


Sie wollte ihn in die Kammer ſtoßen, aber er ſtemmte
ſich zwiſchen die Thürpfoſten. Es entſtand ein Ringen
zwiſchen den Ehegatten. Sie glaubte, ſeiner leicht Herr wer¬
den zu können, wie bereits manch liebes Mal, in früherer Zeit
ſich zur Wehr zu ſetzen, hatte er noch nie gewagt.


Aber ſie fand einen ganz anderen in ihm, heute. Er
drang auf ſie ein. Den wuchtigen Hieben ſeiner ſchweren
Fäuſte vermochte ſie nicht Stand zu halten. Sie verſuchte
loszukommen von ihm, er hielt ſie wie in eiſerner Umklam¬
merung. Sie ſchrie und wehrte ſich, wie eine Verzweifelte.
Aber, es gab kein Entkommen. Er hielt ſie mit einer Hand
und gebrauchte die andere wie einen Hammer. „Mei Geld!“
gröhlte er, zwiſchen den einzelnen Schlägen: „Mei Geld! Gieb
mei Geld raus?“


„'s Geld kriegſt De ne!“ ſagte ſie mit weißem Geſicht.


Der Kampf ging weiter. Thereſe war keine ſchwächliche
Frau; ſie brachte ihn mehrfach zum Wanken. Aber gegen
ſeine ungeſchlachten Kräfte konnte ſie auf die Dauer doch nichts
ausrichten.


Karl Büttner glich einem wilden Tiere in ſeiner Wut.
Niemand hatte ihn je ſo geſehen: das Geſicht gänzlich ver¬
zerrt, mit geiferndem Munde, und funkelnden Augen. Das
war nicht mehr der vom Vater ererbte trotzige Bauerngrimm
— zum Tiere war der alte Traugott Büttner nie geworden,
auch im Zorne nicht. — Das mußte von weiter her kommen.
Zurückgedämmte Wildheit brach hier durch, niedere Triebe
ſtiegen aus einem dunklen lang verdeckten Abgrunde urſprüng¬
licher Verwilderung auf. —


Thereſe hielt ſich tapfer. Bleich wie Leinewand, ſtöhnte
ſie mit verſagender Stimme: „s Geld kriegſt De ne! Und
wenn De mich tutſchlägſt!“


Er raufte ihr das Haar, riß ihr die Kleider in Stücke.
Dann faßte er ſie plötzlich mit beiden Armen um den Leib,
hob ſie aus und warf ſie zu Boden, wie ein Bündel. Er
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 23[354] ſtolperte dabei, fiel über ſie hin, lag auf ihr und ſchrie ihr
in's Ohr: „Mei Geld! giebſt De mei Geld raus?“


Sie lag da mit geſchloſſenen Augen. Schon griff er
nach ihrem Hals, um die Ohnmächtige zu würgen, als er ſah,
daß Blut unter dem Haar hervordrang: ein dünner roter
Faden, der über die Stirn, an der Naſe hin, nach dem Munde
zu eilte.


Da hielt er inne; hiervor erſchrak ſelbſt die beſtialiſche
Wut. Er erhob ſich, betrachtete ſie. Die Frau ſah ſchreck¬
lich aus, mit ihrem zerfetzten Haar und dem entblößten
Buſen.


Er zog ſich unwillkürlich vor dem zurück, was er an¬
gerichtet hatte. Ihm ward ſchwül; die Beine verſagten ihm
plötzlich den Dienſt. Er ſchlug auf das Bett hin. In
wenigen Minuten ſchnarchte er, die Glieder weit von ſich
ſtreckend.


Nach einer Weile fing Thereſe an, ſich zu regen. Sie
öffnete die Augen, bewegte die Arme, richtete ſich mühſam
auf. Nach dem Kopfe taſtend, entdeckte ſie das Blut. Sie
wiſchte es ab, ſo gut ſie konnte.


Dann erhob ſie ſich ganz, befühlte ihre Gliedmaßen.
Sie konnte noch ſtehen und gehen, wenn auch mit argen
Schmerzen.


Nebenan heulten die Kinder. Thereſe öffnete die Thür
zur Hälfte und rief ihnen zu: ſie ſollten ſtille ſein, gleich würde
ſie kommen.


Dann fiel ihr Blick auf den ſchlafenden Karl. Der Kopf
war ihm über die Bettlehne geſunken. Sein Geſicht war be¬
reits blaurot. Er röchelte.


Sie betrachtete ihn einen Augenblick, dann griff ſie
unwillkürlich zu, um ihn aus der gefährlichen Lage zu be¬
freien. Sie hob ſeinen ſchweren Kopf und ſchob ihm ein
Kiſſen unter. Nicht gerade mit zarter Hand, aber doch in
ſorgender Frauenweiſe, that ſie das.


Dann unterſuchte ſie ihren Leib und ihre Kleidung.
Beſchunden war ſie und zerfetzt, ein ganzes Büſchel Haare
[355] hatte er ihr ausgerauft, aber totgeſchlagen hatte er ſie doch
nicht.


Und das Geld hatte er auch nicht, und ſollte es auch
nicht bekommen; nun erſt recht nicht!


Ein Lächeln des Triumphes flog über das Geſicht des
tapferen Weibes.


23 *
[[356]]

VII.

Die Herbſtarbeiten hatten für die Sachſengänger angefangen:
Kartoffelhacken und Rübenroden. Der Oktober war feucht ge¬
weſen. Der ſchwere Boden hatte ſich vollgeſogen mit Näſſe,
die Ackerſcholle war zäh und klebrig.


Rübenroden iſt ſchwere Arbeit. Sie hatten ſich dazu in Grup¬
pen geteilt. Ein Mann ging an der Spitze, um die Erde mit
dem Spaten zu lockern. Das ihm zunächſt folgende Mädchen zog
mit jeder Hand eine Rübe aus und klopfte ſie gegeneinander, bis
ſie von Erde befreit waren. Die nachfolgenden Mädchen ſchlugen
dann den Rüben mit dem Hackmeſſer die Blätter ab.


Dieſe Arbeit mußte äußerſt ſauber geliefert werden. Der
Inſpektor kam häufig und kontrollierte. Guſtav hatte ſeine
liebe Not mit den Mädchen, die oft genug Erdreſte an den
Runkeln ſitzen ließen, und zu viel, oder auch zu wenig, von
dem grünen Kopfe der Rübe abſchlugen.


Im Hintergrunde drohte die Fabrik, die nur allzuſchnell
mit der Klage über mangelhafte Lieferung da war. Der Be¬
ſitzer machte dann dem Inſpektor Vorwürfe, der nahm den
Aufſeher vor, der Aufſeher ſchließlich ſchalt die Arbeiter. Und
ſo kam das Ungewitter im Inſtanzenwege endlich bis zu den
armen Runkelmädchen, über deren Häuptern es ſich grollend
entlud.


Abends kehrte man todmünde von der anſtrengenden Arbeit
in die Kaſernen zurück, durchnäßt, mit beſchmutzten Kleidern.
[357] An den Stiefeln und Röcken klebte das Erdreich. Selbſt die
ordentlichſten Mädchen konnten jetzt nicht mehr reinlich zur
Arbeit antreten.


Es hatte ſich der geplagten Menſchenkinder eine große
Sehnſucht nach der Heimat bemächtigt. Man ſetzte dem Auf¬
ſeher zu, daß er um baldige Entlaſſung aus dem Dienſt ein¬
kommen ſolle.


Im Kontrakte war ein Termin nicht genannt; es ſtand
darin nur, daß die Wanderarbeiter bis zur Beendigung der
Rübenernte zu bleiben hätten.


Die Ausbeute war in dieſem Jahre reichlich geweſen: die
Köpfe groß und ſchwer; die Pflanzen hatten nur wenig durch
Auswachſen und Faulwerden gelitten. Das Gut mußte, laut
Kontrakt, ein beſtimmtes Quantum Rüben an die Fabrik liefern.
Dieſe Bedingung war erfüllt. Der Reſt der Rübenernte ſollte
eingemietet werden. Hierzu waren die Weiber nicht nötig;
das Bewerfen der Rübenmieten mit Erde beſorgten beſſer ſtarke
Männerhände.


Der Inſpektor erklärte, auf Guſtavs Anſuchen, ſie zu ent¬
laſſen: Herr Hallſtädt geſtatte den Mädchen heimzukehren, die
Männer jedoch müßten bleiben, bis die letzte Rübe einge¬
mietet ſei.


Gleichzeitig wurde von Seiten der Gutsverwaltung der
Verſuch gemacht, Guſtav mit ſeinen Leuten für den nächſten
Sommer anzuwerben. Der Inſpektor ließ ſich zu leutſeligem
Weſen herab, als er mit dieſem Anſinnen kam. Statt des
hochfahrenden Vorgeſetztentones, den er bisher den Wander¬
arbeitern gegenüber gehabt, ſchlug er auf einmal mildere Weiſen
an, ſuchte ſich dem Aufſeher gegenüber als Kamerad auf¬
zuſpielen.


Aber bei Guſtav verfingen dieſe Künſte nicht. Er hatte
das zweideutige Verhalten des Mannes, der ſich jetzt als
Arbeiterfreund gab, von der Ausſtandszeit her noch zu gut
im Gedächtnis; auch wünſchte er ſich keinen zweiten Sommer,
wie dieſen. Er lehnte daher das Anerbieten rundweg ab.


So reiſten denn die Mädchen in ihre Heimat zurück.
[358] Guſtav ließ ſeine Frau und den Jungen mit ihnen fahren.
Pauline hatte ſich in der letzten Zeit totunglücklich gefühlt.
Die Häuslichkeit fehlte ihrem Ordnung und Ruhe bedürftigen
Sinn. Sie ſehnte ſich nach der Mutter und ihrem kleinen
Häuschen in Halbenau zurück. Manche Thräne hatte ſie heim¬
lich verſchluckt, um Guſtav nicht durch ihr Leid noch trüber zu
ſtimmen.


Erneſtine war leichten Herzens. Unter allen Mädchen
hatte ſie am meiſten zurückgelegt vom Verdienſt. Was ſie
mit Häſchke verabredet habe, erfuhr niemand, aber es war
anzunehmen, daß ſie einig ſeien. Er hatte ihr ſeine Erſpar¬
niſſe übergeben, als eine Art von Unterpfand, daß er ſie nicht
ſitzen laſſen werde. Man munkelte, er wolle zunächſt in ſeine
Heimat zurückkehren, um ſich dort nach feſtem Erwerb umzu¬
ſehen, dann würde er Erneſtinen nachholen und Hochzeit mit
ihr machen.


Das andere Liebespaar machte es ähnlich. Fumfack wollte
nach beendeter Rübenarbeit wieder zu ſeinem Schmiedegewerbe
zurückkehren. Mit dem von ihm und ſeiner Braut verdienten
Gelde hatte er vor, ſich ſelbſtändig zu machen. Dann ſollte
geheiratet werden.


Von der ganzen Geſellſchaft blieb nur einer im Weſten
zurück, das war Welke, der ehemalige Stallburſche. Der hatte
eine Stelle als Kutſcher bei einem Fabrikanten der Nachbarſchaft
angenommen.


Die vier Männer arbeiteten noch ihre Aufgabe ab. End¬
lich war die letzte Schaufel Erde auf die große Rübenmiete
geworfen. Nun konnten auch ſie reiſen.


Guſtav hatte zum Schluß noch eine häßliche Auseinander¬
ſetzung mit dem Inſpektor. Die Gratifikation, welche ihm im
Frühjahr in Ausſicht geſtellt worden war, ſollte ihm jetzt vor¬
enthalten werden. Und in ſeinem Kontrakte ſtand doch, er
ſolle eine Extravergütung erhalten, falls man mit den Leiſtungen
ſeiner Leute zufrieden ſein würde! — Nun war es außer allem
Zweifel, daß dieſe Gruppe mehr und beſſer gearbeitet hatte,
als irgend eine andere. Aber jetzt, wo Guſtav erklärt hatte,
[359] daß er im nächſten Jahre nicht wiederkommen würde, gab man
ihm zu verſtehen: man habe keinen Anlaß, ihm die Gratifika¬
tion auszuzahlen.


Guſtav war empört über dieſe Ungerechtigkeit. Er ver¬
langte, mit Herrn Hallſtädt perſönlich zu ſprechen. Aber auch
jetzt noch wurde der Gutsherr wie ein Gott hinter Wolken
gehalten; Herr Hallſtädt ſei nach dem Süden verreiſt,
hieß es.


Das war Waſſer auf Häſchkes Mühle. Längſt hatte er
gewarnt, Guſtav ſolle ſich vorſehen. Aber der war natürlich
wieder der Dumme geweſen in ſeinem Vertrauen auf die Großen.
Nun hatten ſie ihn doch übers Ohr gehauen. So waren die
Reichen ja alle! Wenn ſie einem armen Luder das Fell über
die Ohren ziehen konnten, das war ihnen ein wahrer Hoch¬
genuß! —


Guſtav hatte früher auf Häſchkes Brandreden nichts ge¬
geben. Wenn er ihn dergleichen in Gegenwart der anderen
äußern hörte, hatte er ihm wohl das Maul verboten. Jetzt
ſagte er nichts. Der Gedanke kam ihm, daß Häſchkekarl
vielleicht nicht ſo unrecht habe.


Häſchke hatte ſchon immer auf Guſtav eingeredet, er
müſſe ihn auf der Heimatreiſe begleiten. Vielleicht gefalle
es ihm dort und ſie fänden ein gemeinſames Unterkommen
für die Zukunft. Häſchke hatte ſich, ſeit Guſtav um ſein Ver¬
hältnis zu Erneſtine wußte, unwillkürlich vertraulicher zu ihm
geſtellt; er nannte Guſtav neuerdings „Schwager“, und der
hatte ſich nicht dagegen geſträubt.


Guſtav ging ſchließlich auf Häſchkes Plan ein. Warum
ſollte er den Umweg nicht machen? Er bekam auf dieſe
Weiſe ein Stück Welt zu ſehen, vielleicht fand er ſein Glück
dabei. Die Zukunft war ja immer noch ungewiß für ihn.


Er ſchickte ſein Geld und die überflüſſigen Kleidungsſtücke
an Pauline nach Halbenau, behielt ſich nur ſoviel, daß er un¬
[360] gefähr vierzehn Tage lang damit auskommen konnte. Dann
verſchafften ſich die beiden ihre Arbeitszeugniſſe, und ließen
ſich ihre ſonſtigen Papiere von der Behörde abſtempeln. Denn
die Hauptſache beim Reiſen ſei, daß man die „Flebben“ in
Ordnung habe, erklärte der in ſolchen Dingen erfahrene
Häſchke.


So machten ſie ſich eines Tages im Anfang November
auf die Reiſe, den ‚Berliner‘ auf dem Rücken und den ‚Stenz‘
in der Hand, als echte und rechte Wanderburſchen. Ein paar
Tage marſchierten ſie auf der großen Landſtraße. Des Nachts
ſchliefen ſie in der ‚Katſchemne‛, die Häſchke, der dieſe Fahrt
ſchon einmal ‚abgetippelt‘ hatte, genau kannte. Da ſie ‚Aſche‘
hatten, gab der ‚Penne-Poos‘ auch gerne eine ‚Hulke‘, daß
ſie nicht ‚Bankarbeit machen‘ mußten, wie die Kunden das
Schlafen auf der Diele bezeichnen. Die Herbergen zur Hei¬
mat vermied Häſchke, denn dort war es langweilig, da wurde
des morgens und abends gebetet, und ‚Soruff‘ bekam man
nicht einmal, wenn man ihn bezahlte. Da zog er ſich die
Katſchemnen, oder wilden Pennen vor, dort gab es immer
was zu ſehen und zu hören und Schnaps ſo viel man
wollte.


Dann trat ſchlechtes Wetter ein. Häſchke ſchlug daher
vor: „mit dem Feurigen zu walzen“, um ſeine Kleider zu
ſchonen. Sie wandten ſich der nächſten Eiſenbahnſtation zu
und löſten ſich Billets; dritter Klaſſe, auf Häſchkes Rat. In
der vierten reiſte jetzt wieder allerhand Geſindel: Polacken
und Ruſſen, nach der Heimat zurück, und da konnte man am
Ende gar ‚Barach‘ aufleſen.


Häſchkekarl war in prächtiger Laune. Die Erinnerung
an die alte Stromerherrlichkeit war neu in ihm erwacht.
„Fremd machen“, wie er das Feiern von der Arbeit nannte,
und ſo dritter Güte durch die Welt kutſchieren, das war
etwas für ſeinen leichten Sinn. Und dazu noch das Be¬
wußtſein, einen ganzen Sommer durch bei einer Arbeit und
bei einem Mädel ausgehalten zu haben, das hob ſein Selbſt¬
bewußtſein mächtig. Sie waren ein Paar rechte Kerle, er und
[361] Guſtav. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn ſie zu¬
ſammen ſich nicht durch die Welt finden ſollten!


Das nächſte Ziel ihrer Reiſe war eine große Handels-
und Induſtrieſtadt im Königreich Sachſen. Mit einer ge¬
wiſſen Wichtigthuerei deutete Häſchke ſeinem Wandergenoſſen
an, daß er dort Freunde habe. Guſtav irrte nicht in der An¬
nahme, daß er damit Parteigenoſſen meine.


Häſchkes politiſche Geſinnung war Guſtav ſchon lange
verdächtig geweſen. Einmal hatte er ihn direkt zur Rede ge¬
ſtellt: er ſei doch nicht etwa ein „Roter“? Häſchkekarl hatte
darauf vielſagend gelächelt und vor ſich hingepfiffen. Die
Roten ſeien gar nicht ſo ſchlecht, war ſeine endliche Erklärung,
die wollten nur das Beſte der Menſchen. Und gelegentlich
hatte er verſucht, dem Freunde ein kleines gelbes Büchlein in
die Hand zu drücken; da werde er alles drinnen finden, was
man wiſſen müſſe, meinte er, das ſei beſſer, als der Kate¬
chismus.


Aber Guſtav hatte dieſen Verſuch, ſeine Geſinnung zu
verderben, mit Entrüſtung zurückgewieſen. Von der Kanzel
herab und von den Vorgeſetzten war ihm eingeprägt worden,
daß es nichts Gefährlicheres gebe auf der Welt, und nichts
Verabſcheuungswürdigeres, als jene Partei, die alle göttliche
und menſchliche Ordnung umſtürzen wolle. Vom Elternhauſe
her brachte er zudem einen Abſcheu mit gegen alles, was Politik
hieß. Der alte Büttnerbauer hielt keine Zeitung und war nie
in ſeinem Leben zur Wahlurne gegangen. Guſtav war darin
echter Bauer geblieben, daß er alles Parteiweſen verachtete und
verabſcheute.


Seit er im vorigen Frühjahr die Heimat verlaſſen, hatte
ſich ſeine Anſchauung auch hierin verändert.


Im Weſten hatte er eine gänzlich neue Wirtſchaftsweiſe
kennen gelernt, leichtere bequemere Lebensführung, ganz andere
Arbeitsbedingungen, als daheim in dem abgelegenen Dörfchen.
Das Verhältnis des Geſindes zur Herrſchaft, des Arbeiters
zum Arbeitgeber, war hier ein viel loſeres. Die Arbeitskraft
ſchien eine Ware. Das Geld bildete die einzige Beziehung
[362] zwiſchen Herr und Knecht. Die Maſchine beſorgte vieles,
wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbeſitzer
ſtand kaum noch in einem perſönlichen Verhältnis zu ſeinem
Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war
mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen;
vom wirklichen Ackerbau verſtand er vielleicht gar nichts. Die
Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Be¬
amten bewacht wurden. Der Grundbeſitzer ſchien hier kaum
noch eine Perſon; hinter ihm ſtanden andere Mächte: die
Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwiſchen den Beſitzer und
ſein Stück Erde traten.


Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Guſtav
Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häſchke auf
der Walze geweſen. Da hatte er den fünften Stand kennen
gelernt, das unheimliche Heer der Obdachloſen, der Aus¬
geſtoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Ge¬
ſellſchaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigen¬
artige Welt hatte er da geblickt. Dieſe Menſchenklaſſe, auf die
der Bauernſohn als auf Landſtreicher und Verbrecher herab¬
geblickt hatte, waren eine Zunft für ſich, beſaßen ihre eigene
Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre ſogar.


Und wo ſtammten die meiſten von ihnen her? Von
bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege geweſen.
Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutſchen
Bauern die Freiheit ſchenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß
die Enkel des ſeßhafteſten Standes nach wenigen Generationen
die Landſtraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit
war für viele das geweſen, was ein ſtarker Luftzug für einen
ſchwächlichen Körper iſt. Freiheit hatten dieſe Unglücklichen
nur allzuviel; ſie waren vogelfrei. Losgeriſſenen Blättern
glichen ſie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmer¬
ſtücke der modernen Geſellſchaft! Treibendes Holz auf den
Wogen des Wirtſchaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem
Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu
treiben.


Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand
[363] hatte ſeinen Tribut an die Landſtraße gezahlt. Brotloſe
Fabrikarbeiter, heruntergekommene Kaufleute, ſtellenloſe Beamte,
entlaſſene Sträflinge, Bettler von Profeſſion, Arbeitsſcheue,
Invaliden, fahrende Künſtler. — Die wenigſten waren zünftige
Handwerksburſchen, wie ſie in früherer Zeit durch das Land
reiſten von Meiſter zu Meiſter, um ein Stück Welt zu ſehen
und ihre Fertigkeit zu vermehren. Nicht die Arbeitsluſt, die
Not, hatte dieſe hier auf die Straße getrieben.


Allen war das eine gemeinſam: die Heimatloſigkeit. Von
der Scholle waren ſie getrennt, deren mütterlich nährende
Kraft nichts erſetzen kann. Das waren die wirklich Enterbten,
denn ſie hatten nicht, worauf jeder von Geburtswegen Anſpruch
hat, ein Stück Erde, darauf er ſeine Füße ausruhen, auf dem
er leben und ſterben darf. —


In den Pennen hatte Guſtav Reden mit angehört und
Dinge geſehen, die ihm die Haut erſchaudern machten, obgleich er
vom Dorfe und der Kaſerne her doch nicht gerade verwöhnt war.


Unter dieſen hier, galt kein Geſetz, als das der Gaunerei,
keine Ehre, außer der Vagabundenpfiffigkeit, Genuß und Vor¬
teil waren die einzigen Autoritäten, die anerkannt wurden,
Rechtlichkeit und Frömmigkeit wurden verlacht. Wie konnte der
auch rechtlich ſein, der nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren
hatte, wie konnte fromm und gut ſein, der, dem Tiere gleich,
ohne Gerechtigkeit, ohne Achtung, ohne Liebe, war. Die Be¬
griffe von Gut und Böſe, von Eigentum, Recht und Ordnung
mußten ſich verſchieben und in ihr Gegenteil verkehren für
Exiſtenzen, die in der Luft ſchwebten, die den Zuſammen¬
hang mit ihresgleichen den Boden unter den Füßen, den Unter¬
grund aller Geſellſchaft, verloren hatten.


In Guſtavs Gemüt hatten die Erlebniſſe der letzten Zeit
einen unklaren Bodenſatz zurückgelaſſen. Es ging doch ganz
anders zu in der Welt, als er ſich's früher vorgeſtellt hatte,
ganz anders, als es ihm ſeine Lehrer und Inſtruktoren
geſagt. Viel Ungerechtigkeit gab es, von der man ſich nichts
hatte träumen laſſen. Die Güter waren ſehr ungleich verteilt
unter den Menſchen.


[364]

Wenn ſie auf ihrer Wanderung an prächtigen Ritter¬
gütern, ſtattlichen Kirchen, prunkhaften Fabrikantenvillen vorüber¬
kamen, da hatte Häſchke wohl mit der Fauſt hinübergedroht
nach jenen ſtolzen Gebäuden, einen Fluch hervorgeſtoßen und
ausgeſpuckt.


Guſtav hatte ihm darin nicht nachgeahmt. So ſchnell
wollte er nicht den Glauben an jene Autoritäten aufgeben, die
ſein ganzes bisheriges Leben beherrſcht hatten. Aber der
Kinderglaube an die weiſe Einteilung und gerechte Ordnung
aller Dinge hatte einen Stoß erlitten. In ſein Blut war ein
Stoff getragen worden, der, wenn einmal aufgenommen, nicht
mehr zu tilgen iſt.


Die neuen Ideen hatten noch keine feſte Geſtalt ange¬
nommen bei ihm; er fürchtete ſich vor dieſer Weltanſchauung.
Aber er konnte es nicht verhindern, daß ſich ihm die Dinge in
die Augen drängten, und daß er ſich ſelbſt neuerdings auf
Gedanken ertappte, die ihm noch vor kurzem verbrecheriſch er¬
ſchienen wären.


Guſtav und Häſchke fuhren in die Stadt ein. Schon
lange hatte man an den vereinzelten Häuſern mitten im Felde,
den Bauplätzen und halbfertigen Straßenreihen, den Feuer¬
mauern, Eſſen und Etabliſſements aller Art, die Stadt gemerkt.
Aus dem Kohlendunſt, der, einer düſteren Wolke gleich, am
Horizonte ſtand, konnte man ſchließen, daß es ein induſtrielles
Centrum ſei. Sobald man in den mächtigen Bahnhof mit
ſeiner glasbedachten Halle eingefahren war, übernahm Häſchke
die Führung; er war auf dieſem Pflaſter wohlbekannt.


Das erſte, was er that, war, ſich an einer Straßenecke eine
Zeitung mit Wohnungsanzeiger zu kaufen; darin hatte er bald
gefunden, was er ſuchte: „Schlafſtellen für Handwerksburſchen
und Zugereiſte noch zu haben bei Müller auf der Feld¬
ſtraße“.


Häſchke kannte die Feldſtraße nicht. Aber es war erſtaun¬
[365] lich, wie er ſich durch die große Stadt zum Ziele fand. Ein¬
zweimal wurde gefragt — nicht der Poliziſt, „denn der wird
Dir bloß grob, wenn Du keinen guten Rock anhaſt!“ — er¬
läuterte Häſchkekarl.


Bei Müller auf der Feldſtraße mußten ſie vier Treppen
ſteigen. Der Mann war in der Fabrik, die Frau zeigte die
Schlafſtellen.


In einer Dachkammer, deren Decke ſchräg abfiel, ſtanden
fünf Betten, ſo eng nebeneinander, daß die hinteren Schlaf¬
burſchen über die Betten der vorderen ſteigen mußten. Zwei
Betten waren beſetzt, „an junge Leute, die auch Arbeit ſuchen“,
wie die Frau mit einem Blicke auf die Berliner der beiden
ſagte; ſie hatte die Fremden mit Kennerblick ſofort richtig
eingeſchätzt.


Man mußte, um zu der Dachkammer zu gelangen, durch
das Familienzimmer der Vermieter gehen. Zwei nicht gerade
ſaubere Kinder krochen auf der Diele umher, ein anderes
lag im Schlafkorb. Die Frau ſah leidend aus und abge¬
härmt.


Häſchke fragte nach dem Preis des Bettes. „Zwei Mark
die Woche!“ lautete die zaghafte Antwort. Häſchke meinte, das
ſei viel, handelte aber nicht. Den gutmütigen Geſellen dauerte
die Frau. Man wurde handelseinig.


Die Wanderburſchen legten die ‚Berliner‛ ab und ſuch¬
ten, ſich fein zu machen; man war ja in der Stadt! Die
Wirtin gab dazu ihr eigenes Waſchbecken her; auch ein Stück
Seife und ein Handtuch fand ſich herzu. Man war ſchnell
in gutes Einvernehmen mit der Frau gekommen. Häſchke hatte
das Wohlgefallen der Mutter durch kleine Späßchen mit den
Kindern zu erobern verſtanden.


Die beiden verſpürten Hunger. Häſchke entſann ſich
einer Kneipe, in der er früher, als er hier als Schloſſerlehr¬
ling gearbeitet, oft verkehrt hatte. Dort würde man auch
allerhand erfahren, was in der Welt vorgehe.


Man befand ſich im Fabrik- und Arbeiterviertel der
Stadt. Auch jene Kneipe entſprach der Umgebung: nüchtern
[366] einfach, für die Verhältniſſe des kleinen Mannes berechnet.
Häſchke rekognoszierte, ehe man eintrat, das Schild. Es war
noch der alte Name; alſo würde wohl auch der alte Geiſt hier
walten.


Man betrat das Lokal. Häſchke gab ſich als ein alter
Kunde der Wirtſchaft zu erkennen. Der Wirt ſchmunzelte ver¬
ſtändnisvoll und erklärte, ſich ſeiner noch ganz gut zu ent¬
ſinnen.


Während der beſtellte Imbiß für die beiden zubereitet
wurde, ſetzte ſich der Wirt zu ihnen an den Tiſch. Er ſchien
ein geiſtig reger, gut unterrichteter Mann zu ſein. Häſchke
erfuhr von ihm, im Laufe einer Viertelſtunde, alles, was er
wiſſen wollte.


Die Lage des Arbeitsmarktes war eine gedrückte, zur Zeit.
Für Zugereiſte gab es ſo gut wie gar keine Anſtellungsaus¬
ſichten. Beſonders in der Maſchinenbranche, nach der ſich
Häſchke erkundigt hatte, gingen die Geſchäfte ganz flau. Die
Fabriken arbeiteten nur, um nicht ſchließen zu müſſen. Die
großen Unternehmer wollten die Kriſis benutzen, ſich einer An¬
zahl Arbeiter zu entledigen, und dann die Löhne der übrigen zu
drücken. Dazu gab es eine Menge Arbeitsloſer, die ſich von
Tag zu Tag durch Zuzug aus den Kohlenrevieren vermehrten,
wo ſeit einem Monat Strike herrſchte. Große Demonſtrationen
der Arbeitsloſen hatten bereits ſtattgefunden, faſt jeden Abend
gab es Volksverſammlungen, die Polizei hatte zu thun.


Kurz, es ging allerhand Intereſſantes vor! Der Wirt
ſchmunzelte wiederholt bei ſeinem Berichte. Ihn erregten
dieſe Dinge durchaus nicht; er fuhr unter allen Umſtänden
gut. Je mehr Unzufriedene, deſto ſtärker der Beſuch ſeines
Lokales. —


Alles war hier darauf berechnet, dem Proletarier zu
ſchmeicheln; kein Bourgeoisblatt war zu erblicken, nur Zei¬
tungen einer beſtimmten politiſchen Richtung. Hier bekam
Guſtav zum erſtenmale in ſeinen Leben Blätter in die Hand,
welche er nur aus Verwarnungen der Vorgeſetzten dem Namen
nach kannte, die er nie anders als mit Abſcheu und Entrüſtung hatte
[367] nennen hören. In einem Kaſten, unter Glas, lagen Partei¬
ſchriften.


Der Wirt war vertraulicher geworden, ſobald er gemerkt,
daß er in Häſchke einen ſicheren Genoſſen vor ſich habe.
Guſtav hörte mit Staunen der Unterhaltung zu. Noch nie¬
mals hatte er ſo freie Reden gehört. Die urteilten über
Perſonen, Behörden, Einrichtungen, die er für unantaſtbar
gehalten hatte, mit einer Geringſchätzung, daß ihm eine
Gänſehaut nach der anderen über den Rücken lief. Er ver¬
ſtand nicht alles, was ſie ſagten, denn ſie brauchten Aus¬
drücke und Wendungen, die ihm nicht geläufig waren. Noch
war ihm alles das neu und unheimlich, und doch zog es
ihn an.


Abends ging es in eine Volksverſammlung. Guſtav
hatte noch nie einen ſo mächtigen Saal geſehen. Der war
höchſtens zu vergleichen mit der verdeckten Reitbahn in der
Kaſerne. Der Raum wurde erleuchtet durch einzelne runde
Lampen, die in der Höhe ſchwebend, das ganze mit mildem
weißlichen Licht übergoſſen, ſo hell, daß man jedes einzelne
Geſicht bis in die entfernteſte Ecke des rieſenhaften Raumes
erkennen konnte. Tauſende waren da verſammelt. Man ſaß
an Tiſchen, hatte ſein Glas Bier vor ſich ſtehen. Viele, die
keinen Platz zum Sitzen gefunden hatten, ſtauten ſich unter
den Gallerien, die ebenfalls, bis zur dritten Empore, mit
Menſchen gefüllt waren.


Und am unteren Ende des Saales auf einem erhöhten
Platze, wie auf einer freien Bühne, ſaßen einige Männer,
die Einberufer der Verſammlung, neben ihnen ein Poliziſt; die
einzige Uniform in der großen ſchwarzen Menge.


Guſtav verſtand nichts von den Vorgängen. Häſchke er¬
klärte ihm, daß ſie „ein Komitee bildeten“. — Es ſchienen alles
Männer aus dem Volke zu ſein, ihrer Sprache und Kleidung
nach zu urteilen. Auch der Mann, der jetzt ſich zum Worte
meldete, war ein Arbeiter, ein „Entlaſſener und Arbeitsloſer“,
wie er ſelbſt ſagte. Er ſprach wohl eine Stunde lang. Die
Tauſende lauſchten ſeinen Worten mit atemloſer Spannung;
[368] man konnte nicht andächtiger einer Predigt zuhören. Guſtav
ward es zu Mute, als befände er ſich in der Kirche.


Da brach die Menge auf einmal in ein Gelächter aus,
über eine Bemerkung des Redners; darauf Beifallsrufe aus
Hunderten von Kehlen. Von da ab wurde der Vortrag
häufig unterbrochen, durch Zuſtimmung. Hin und wieder
hörte man auch ein Ziſchen, aber das wurde ſogleich durch
verſtärktes Bravorufen, Trampeln und Händeklatſchen über¬
täubt. Als der Redner endlich geſchloſſen hatte, brach ein
ſolcher Lärm los, das Guſtav Schlimmes zu fürchten be¬
gann.


Das Toſen legte ſich im Nu, als der Vorſitzende ſich er¬
hob, zu ein paar Worten. „Jetzt hat er die Diskuſſion er¬
öffnet“ erklärte Häſchke dem Neuling.


Verſchiedene aus der Verſammlung traten auf das Po¬
dium. Wieder waren es nur ganz einfache Leute. Mancher
unter ihnen ſah ärmlich aus und herabgekommen. Die meiſten
erklärten ſich als „arbeitslos.“


Und wie ſprachen dieſe Männer! — Guſtav konnte es
gar nicht begreifen. Bettler und Stromer ſchienen es zu ſein,
wie er manchen von ſeines Vaters Thür gewieſen hatte. Und
nun mußte er mit Beſchämung erkennen, wie ihm dieſe ein¬
fachen Männer überlegen waren. Wie wußten ſie die Worte
zu ſetzen, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen!


Sie ſchilderten ihr Elend, berichteten von den Erfahrungen,
die ſie in der Fabrik, im Bergwerk, auf der Straße, geſammelt
hatten. Von der Unbarmherzigkeit der Reichen ſprachen ſie
und der Härte der Arbeitgeber. Dann ſchilderten ſie den
Jammer in ihren Familien. Und von dieſem düſteren Hinter¬
grund hob ſich um ſo leuchtender ab das Bild der Zukunft:
ihre Forderungen, die kühnen Hoffnungen und Erwartungen
deſſen, was da kommen ſollte, der Ausgleich, die Vergeltung,
das Glück, das irdiſche Paradies, welches ihnen prophezeit
worden war, von ihren Lehrern, deſſen Glanz ſich in ihren
glühenden Augen ſpiegelte.


Die Worte dieſer Männer griffen Guſtav an's Herz. Er
[369] fühlte die Not, die ſie ſchilderten, als ſei es ſeine eigene. Er
war ganz auf ihrer Seite. Eine Ahnung ging ihm auf von
dem, was ſie beſeelte.


Es war die gemeinſame Sache. Ein Geiſt, eine Hoffnung,
eine Idee ſprach aus ihren Blicken, beherrſchte ihre Mienen,
Bewegungen und Zungen. Eine Idee erfüllte ſie, ſtärkte ihren
Mut, entflammte ihre Begeiſterung, ihr Hoffen, erhob ſie
über ſich ſelbſt, ließ jeden einzelnen mehr erſcheinen, als
er war.


Es lag etwas Anſteckendes in dem gleichen Fühlen ſo
vieler; als habe ſich der Luft etwas mitgeteilt von dem
Empfinden eines jeden Kopfes, das vereinigt wieder zurück¬
wirkte auf den einzelnen. Auch Guſtav verſpürte dieſe ge¬
heimnisvolle Wirkung des Maſſengeiſtes auf ſich. Es lebte
Großes und Erhebendes in dem Bewußtſein, ſich eins zu
wiſſen, in Hoffen und Wollen, mit Tauſenden.


Auch ihn erfaßte die Sehnſucht nach dem, was jene
erſtrebten, das ſich mit Worten kaum ausdrücken ließ, und
das doch unausgeſprochen aus jedem Auge hier leuchtete.
Sie tappten unſicher umher, ihre Worte widerſprachen ſich;
ſie widerſprachen auch einander gegenſeitig in ihren Reden,
ſtammelnd ſuchten ſie nach Ausdrücken, um das zu ſagen,
was in ihrem Herzen lebte, unklar und verworren, was in
jedem dieſer Köpfe eine andere Geſtalt angenommen. Und
doch war etwas Gemeinſames da, das in der Tiefe der Ge¬
müter ſchlummerte: die Sehnſucht nach dem Glück.


Elend waren ſie und verkommen. Die Gegenwart war
für ſie eine dunkle Höhle, weit abgelegen von aller Schönheit
der Oberwelt. Ihre Augen waren ſtarr auf jenes kleine ferne
Loch in der Höhe gerichtet, durch welches Licht und Sonnen¬
wärme zu ihnen drang; dort hinauf wollten ſie. —


Guſtav überſah die Verſammlung. So viel ernſte Männer¬
köpfe! Die meiſten bleich, ſorgenvoll, ſchmerzgeprüft. Konnte
man ſich vorſtellen, daß dieſen nicht ihr Recht werden
ſollte? —


Eines war ihm an dieſem Abende klar geworden: ſchlecht
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 24[370] waren dieſe Menſchen nicht. Nicht Bosheit und Niedertracht
beherrſchte ſie; ſie trieb ein Streben, das auch ihn beſeelte,
wie jeden anderen Sterblichen: das Verlangen nach Beſſerung.


Inzwiſchen hatte ein neuer Redner das Wort erhalten.
Es war ein kleiner kränklich ausſehender Mann. Er ſprach
mit heiſerer Stimme, die dort, wo Guſtav ſaß, kaum zu ver¬
nehmen war. Er ſchien erregt und leidenſchaftlich, mit ein
und derſelben, immer wiederholten hämmernden Handbewegung
ſtieß er ſeine abgeriſſene rauhe Rede hervor. Etwas von „Kapi¬
talismus“ und „Bourgeoisregierung“ drang an Guſtavs Ohr.


An den hinteren Tiſchen wurde man unruhig. „Lauter!“
rief jemand dem Redner zu. Der Mann erhob die Stimme
und ſagte nunmehr deutlich vernehmbar: „Wie kann man von
Behörden, oder Regierung, Abſtellung unſeres Notſtandes er¬
warten, wenn die auf's engſte verbunden ſind mit der blut¬
ſaugeriſchen Unternehmerclique, ja, wenn die nur die Hand¬
langer ſind des Kapitalismus . . .“


Während er dieſe Worte in die Verſammlung rief, hatte
ſich der Polizeioffizier erhoben. Er ſetzte den Helm auf und
erklärte die Verſammlung für aufgelöſt.


Die meiſten Anweſenden waren gleichzeitig von ihren
Plätzen aufgeſprungen. Das Rufen von tauſend entrüſteten
Männern ertönte wie ein einziger Schrei des Zornes. Ein
Sturm, ein Toſen, erhob ſich, in dem die einzelne Stimme ver¬
ſchlungen wurde, wie die kleinen Wellen von der zur Flut¬
welle aufgepeitſchten Brandung.


Guſtav erbebte. Was würde jetzt werden! In den Ge¬
ſichtern umher las er Ingrimm und trotzige Entſchloſſenheit.
Was konnte der entfeſſelten Wut dieſer Tauſende wider¬
ſtehen?


Der Polizeioffizier ſtand unbeweglich vorn auf dem
Podium, er muſterte das tobende Meer zu ſeinen Füßen,
ſcheinbar unerſchrocken. Der Vorſitzende verſchaffte ſich durch
Winke und Zeichen ſoviel Ruhe, daß ſeine Aufforderung, ruhig
auseinander zu gehen, gehört ward.


Zwar wurden Fäuſte geſchüttelt, manch haßerfüllter Blick
[371] traf den Vertreter des Geſetzes da oben, manch halbunter¬
drücktes giftiges Wort erklang; aber dabei blieb es. All¬
mählich, in größerer Ruhe und Ordnung, als man es bei
einer ſolchen Menſchenfülle für möglich gehalten hätte, ſetzte
ſich die Menge in Bewegung und räumte den Saal.


Draußen auf der Straße freilich war erſt zu erkennen,
wie gut die Verſammlung all die Zeit über bewacht geweſen
war. Im Lichte der Gaslaternen blitzten Pickelhauben. Ein¬
zelne Berittene ſprengten auf und ab und hielten den abſtrö¬
menden Zug in ſteter Bewegung.


Guſtav hatte das Bewußtſein, etwas Großes erlebt zu
haben. Eine Ahnung war ihm aufgegangen, daß es Kämpfe
gab in der Welt, von denen er daheim, wenn er hinter den
Pferden einhergeſchritten war, ſich nichts hatte träumen laſſen.
Ein Vorhang war weggeriſſen worden vor ſeinen Augen,
der ihm eine ganze Welt verborgen gehalten hatte.
Die nächſten Tage brachten neue Erlebniſſe.
Er ging mit Häſchke in die Arbeitsnachweisbüreaus und
in die Fabriken. Da ſah er in langen Reihen die Arbeit¬
ſuchenden ſtehen: Männer, die ihre Fertigkeiten, ihre Kräfte,
anboten, wie eine Ware. Er hörte die geſchäftsmäßigen kalten
Fragen der Büreauchefs, er ſah die verzweifelten Mienen der
Abgewieſenen, vernahm unterdrückte Seufzer und wilde
Flüche.


Dann wohnte er noch anderen Volksverſammlungen bei.
Er hörte die Rede eines berühmten Reichstagsabgeordneten
der Arbeiterpartei. Durch Häſchke lernte er einzelne Genoſſen
kennen. Er bekam einen Begriff von dem Daſein einer weit¬
verzweigten mächtigen Verbindung, einer Macht, die weit hinein
reichte, in alle Verhältniſſe.


Und je mehr er ſah, je mehr zog ihn an, was er kennen
lernte. Es war, als ſei er an den Rand eines Strudels ge¬
raten. Er fühlte, daß er da hinabgeriſſen werden ſollte,
widerſtrebte und wurde doch in den verfänglichen Kreis hinein¬
getrieben.


Als Soldat hatte er mehr als vier Jahre in der Stadt
24*[372] zugebracht; aber wo hatte er ſeine Augen damals gehabt! Jetzt
erſt, ſchien es ihm, wiſſe er, wozu er überhaupt lebe. Bis da¬
hin hatte er hingedämmert ohne Sinn und Verſtand. Er
ſah auf einmal die Welt mit ganz anderen Augen an. Hier
allein in der großen Stadt war das Leben des Lebens wert,
wo jeder Augenblick neue Erlebniſſe, neue Erfahrungen, brachte.


Aber dieſes ſchöne Leben fand ſein Ende. Eines Tages
beim Überzählen ſeiner Barſchaft entdeckte Guſtav, daß er kaum
noch ſo viel habe, um nach Hauſe reiſen zu können. Die letzten
Tage hatten viel gekoſtet. Da war mancher Groſchen für die
arbeitsloſen Genoſſen draufgegangen.


Häſchke hatte auch nichts mehr, aber er nahm Vorſchuß
und konnte ſo Guſtav aushelfen.


Eines Tages trennten ſie ſich. „Mach's gut, Schwager!“
ſagte Häſchkekarl zum Abſchiede. „Und wenn Dir's in Hal¬
benau nich gefallen will, dann denk' an Häſchken. Ich wer'
Dir 'n Platz hier warmhalten.“

[[373]]

VIII.

Auch nachdem er ſeinen ſchweren Rauſch ausgeſchlafen,
verlangte Karl Büttner mit hartnäckigem Eigenſinn von The¬
reſe, ſie ſolle ihm ſein Geld herausgeben. Die Behandlung,
die ihr von ſeiner Seite wiederfahren, hatte die ſtandhafte Frau
ſo wenig entmutigt, daß ſie ſich nach wie vor weigerte, ihm
zu ſagen, wo ſie das Geld verſteckt halte.


Unter der Hand erkundigte ſich Thereſe nach ein paar
Ziegen. Neuerdings hatte ſie beſchloſſen, Ziegen von dem Gelde
zu kaufen. Jetzt noch Schweine aufzuſtellen, war zu ſpät im
Jahre, damit wollte ſie bis zum nächſten Frühjahr warten.


Karl war wie umgewandelt. Ein neuer Zug ſchien in
ſein Weſen gekommen zu ſein, der ihm früher gänzlich fremd
geweſen: Tücke. Man hielt ihm ſein Geld bevor — gut! Seine
Antwort darauf war, daß er ſich auf die faule Haut legte.


Ein Freund von angeſtrengtem Arbeiten war er niemals
geweſen, aber jetzt ſtellte er ſich an wie ein ſtätiſcher Gaul.
Bis in den Vormittag hinein wälzte er ſich im Bette, dann
verlangte er zu eſſen. Wenn das Gewünſchte nicht gleich
kam, oder nicht nach ſeinem Sinne war, fluchte und ſchimpfte
er. Thereſe war nur noch ſeine Magd.


Früher, wo Karl die Gutmütigkeit in Perſon geweſen,
hatte Thereſe ihn oft geplagt mit ihrer Streitſucht; immer hatte
ſie den Ruhſeligen unter ihren energiſchen Willen zu ducken
[374] verſtanden. Jetzt wendete ſich das Blättchen. Jetzt wollte er ihr
zeigen, daß es auch umgekehrt gehe; er hatte Wohlgefallen
am Schlechtſein gefunden.


In Karl hatte all die Zeit über etwas geſchlummert,
etwas wie die verſteckte Wildheit des Stieres, die nur aus¬
bricht, wenn die Gelegenheit ſie hervorlockt. In dieſem Bauern¬
ſohne lag eine Summe von tieriſcher Kraft angeſammelt, wie
ſie ſeine Vorfahren im harten Ringen mit der Natur wohl
gebraucht; aber ihm waren alle jene edleren und feineren
Gaben verſagt geblieben, die den Landmann zu einem guten
Wirt und Hausvater, zu einem Pfleger und damit in höhe¬
rem Sinne zu einem Überwinder der Natur machen. Solange
er in guter Obhut geweſen, unter der ſtrengen Fuchtel des
alten Bauern, auf dem väterlichen Gute wie ein Knecht ge¬
halten, waren die wilden Seiten ſeines Weſens nicht hervor¬
gebrochen, aber jetzt, wo er losgeriſſen von der Heimat, den
Boden unter den Füßen verloren hatte, in Verhältniſſe geworfen
war, denen er mit ſeiner gering entwickelten Intelligenz nicht
gewachſen, fiel er, mit Notwendigkeit, in jene angeborene Roh¬
heit zurück.


Geſchlagen hatte er ſeine Frau noch nicht wieder ſeit dem
Zweikampfe, an jenem Morgen. Er hatte ſich, als er die
Folgen ſeiner That gewahr geworden, doch vor ſich ſelbſt ent¬
ſetzt. Dann kamen wieder Augenblicke, wo ſie ihn durch
ihre ſpitzen Redensarten, denen ſeine plumpe Zunge nicht ge¬
wachſen war, zum Grimm reizte. Da juckte es ihm in den
Fingern, loszuſchlagen. Aber das Bewußtſein, daß er neulich
haarſcharf daran vorbeigegangen war, zum Gattenmörder zu
werden, hielt ihn immer wieder zurück.


Es ging wenig erquicklich zu in dem Haushalte der beiden;
zum häuslichen Unfrieden kam auch noch Krankheit. Die
Kinder legten ſich der Reihe nach. Das Achtmonatskind,
welches Thereſe von Toni zu Pflege überkommen hatte, ſiechte
von dem Augenblicke an, wo die Mutter es verlaſſen hatte.
Thereſe ſagte wie oft: „Wenn ack der Racker blußig ſtarben
wullte, daß Ruhe wirde!“ — Aber, ihre Thaten waren beſſer,
[375] als ihre Worte. Manchmal trug ſie das elende Würmchen
eine halbe Nacht lang im Zimmer umher, und ſuchte es in
Schlaf zu wiegen.


Karl fing jetzt an, des Abends regelmäßig auszugehen.
Es hatte ſich herumgeredet, daß Büttnerkarl im Beſitze einer
größeren Summe Geldes ſei. Wie immer hatte das Gerücht
vergrößert. Karl fand daher in den Schenken Kredit.


Thereſe war außer ſich. Sie lief bei den Leuten umher
und verbreitete, Karl beſitze von dem Gelde keinen Pfennig
mehr. Aber der Eifer, mit dem ſie das erzählte, machte ihre
Behauptung unglaubwürdig. Ihr Mann bekam nach wie
vor Schnaps geſchenkt, ſoviel er nur wollte.


Auch den Kretſcham von Halbenau beſuchte Karl öfters.
Kaſchelernſt kicherte vergnügt, ſobald er des Neffen anſichtig
wurde. Mit der Miene des teilnehmenden Verwandten erzählte
er ihm auch gelegentlich, was „der Alte“ mache. Seinen
Vater hatte Karl noch nicht wieder geſehen, ſeit er im Früh¬
jahr nach Wörmsbach gezogen war.


Natürlich war Kaſchelernſt äußerſt neugierig, zu erfahren,
wie es mit des Neffen Gelde ſtehe. Bald hatte er auch heraus¬
bekommen, daß Karl da nicht 'ran dürfe. Die Geſchichte ergötzte
den alten Gauner auf's Höchſte; dergleichen Angelegenheiten
waren ganz nach ſeinem Sinne.


Eines Tages kam er mit geheimnisvoller Miene an Karl
heran, tuſchelte ihm in's Ohr: wenn er noch etwas von
ſeinem Gelde ſehen wolle, möge er ſich dazuhalten; Thereſe ſei
drauf und dran, ein paar Ziegen davon zu kaufen.


Karl lief ſpornſtreichs nach Haus. Dieſe Nachricht hatte
den Trägen in Aufruhr gebracht. Thereſe Ziegen kaufen,
von ſeinem Gelde! — Jetzt wollte er's heraushaben von ihr!


Aber auf dem Wege von Halbenau nach Wörmsbach hatte
er Zeit, ſich die Sache zu überlegen. — Wenn er was ſagte,
würde ſie's merken, und er hatte wieder das Nachſehen. Dies¬
mal wollte er's ſchlauer anfangen. Sie hielt ihn zwar für
dumm; zehnmal am Tage bekam er einen „Uchſen“ an den
Kopf geworfen, aber nun wollte er ſie grade mal über¬
[376] liſten. Er beſchloß, zunächſt den Mund zu halten und zu
warten.


Am nächſten Morgen zog Thereſe die Sonntagskleider an,
band eine friſche Schürze darüber und legte ein buntes Kopf¬
tuch an. Sie wolle mal zum „Duchter“ gehn, wegen der Kinder,
erklärte ſie. Er möchte die Töpfe auf dem Herde beobachten
und gelegentlich rücken, damit's nicht überkoche. Der freundliche
Ton, in dem ſie das ſagte, war verdächtig.


Er paßte genau auf jede ihrer Bewegungen auf. Ob ſie
das Geld ſchon bei ſich hatte? — Sie ging in die Kammer
nebenan. Er lauſchte. Faſt klang es, als ſteige ſie auf einen
Stuhl. Sie rückte etwas. Dann konnte er ein ſchwaches
Klimpern vernehmen. Das war das Geld!


Nach einiger Zeit kam ſie wieder in's Zimmer. Nun wolle ſie
aber gehen, ſagte ſie, ſie habe ſich nur noch ihr Sacktuch geholt.


Er ließ ſie durch die Thüre ſchreiten; aber dann war er
auch ſofort hinter ihr drein. Noch ehe ſie in's Freie gelangt,
hielt er ſie am Arme. Auf der anderen Seite des Hausflurs
war ein leerer Stall; eben der Ort, den ſich Thereſe für ihre
Ziegen auserſehen hatte. Dahinein riß er ſie, ſchob den
hölzernen Riegel vor, ſobald er ſie drin hatte.


„Giebſt De's Geld raus!“ knurrte er. „De haſt's ei der
Taſche ſtacken. Ich weeß 's!“


Sie leugnete ihm in's Geſicht.


„Mach kee Gefitze nich! Ich ha's gehiert, wie De's eigeſteckt
haſt.“


Sie wollte an ihm vorbei, dem Ausgange zu. Aber er
umfaßte ſie rechtzeitig, ſchleppte ſie nach dem Hintergrund des
Stalles.


„Giebſt De's har!“


„Ne, Dir ne!“


Er ſuchte ihr mit einer Hand die Arme feſtzuhalten und
mit der anderen in ihre Kleidtaſche zu gelangen. Sie ſetzte
ſich zur Wehr, biß und kratzte. In der Dunkelheit des Stalles
funkelten ihre Augen, wie die einer Katze. Karl brüllte
auf, ihre Nägel in ſeinem Halſe brannten wie Feuer. Er
[377] ſchüttelte ſie ab. Dann warf er ſich mit der ganzen Wucht
ſeines ſchweren Körpers auf ſie, daß ſie ſtöhnend zuſammen¬
brach.


„Giebſt De's raus?“


„Ne, im Leben ne!“


Nun kniete er auf ihr, ihren Leib mit dem Knie nieder¬
ſtemmend. Ihre Hände drückte er mit ſeiner Rieſenfauſt zu¬
ſammen, daß ſie gänzlich wehrlos dalag. Mit der freien
Hand ſuchte er in ihren Kleidern. Aber Thereſe lag auf dem
Geldtäſchchen; noch in dieſer verzweifelten Lage wußte ſie
den Schatz mit ihrem Leibe zu decken. Er konnte nicht dazu
gelangen, ſo ſehr er ſich auch mühte.


Darüber wurde er toll vor Wut. Blindlings griff er in
die Kleider, zerfetzte alles, was ihm zwiſchen die Finger kam.
Thereſe wand und bäumte ſich, aber was vermochte ſie gegen
die entfeſſelte Raſerei dieſes Wilden!


„Giebſt De's nu?“


Sie konnte nicht mehr ſprechen, ſpuckte ihm ſtatt der Ant¬
wort ihren Geifer in's Geſicht.


Da griff er mit einer Tatze zu, vor der alles wich. Ein
Ratz — das Sonntagskleid in Fetzen!


Jetzt fühlte er's; hier im Futter ſaß es. Die Nähte
ſprangen. Das Ledertäſchchen mit dem Stahlbügel kam zum
Vorſchein. Nun hielt er's in Händen. Er ſtand auf.


Aus der Ecke kam eine Jammergeſtalt hervor: halb nackt,
blutend, mit hängendem zerfetzten Haar. Seine Frau! —


Er ſchob das Geldtäſchchen ſchnell in die Taſche, ſprang
nach der Thür und lief aus dem Hauſe.


Eine Stunde darauf ſaß er im Kretſcham von Halbenau.


Inzwiſchen waren die Frauen von der Wanderarbeit
im Rübenlande nach der Heimat zurückgekehrt. Pauline war
mit ihrem Jungen zur Mutter gezogen, wartete hier auf
[378] Guſtavs Rückkehr. Erneſtine wohnte wieder auf dem Bauern¬
hofe beim alten Vater.


Erneſtine war ſehr verändert zurückgekehrt aus der Fremde.
Sie hatte ſich im Laufe des Sommers ein gewiſſes hochnäſiges
Herabblicken auf ihre Umgebung angewöhnt. Den heimiſchen
Verhältniſſen brachte ſie ganz unverhohlene Verachtung ent¬
gegen. Sie ſagte es auch jedermann, der es hören wollte,
daß ſie es in Halbenau nicht lange aushalten werde.


Sie war im Beſitz größerer Geldmittel als irgend ein
anderes Mitglied ihrer Familie. Und ſie hielt gut Haus damit.
Die anderen Rübenmädchen brachten ihr Erſpartes ſchnell unter
die Leute; Kleider, Schmuck und allerhand unnützer Tand wurde
gekauft. Manch eine ließ ſich auch ihre mühſam erworbenen
Groſchen von einem Burſchen abſchwatzen, oder man ver¬
jubelte die Erſparniſſe gemeinſam. Die Tanzereien und Ge¬
lage gingen in dieſem Winter beſonders flott im Kretſcham
von Halbenau; die ,Runkelweiber‘ hatten Geld in's Dorf
gebracht.


Erneſtine Büttner war viel zu vernünftig und zu berech¬
nend, um ſich an ſolchem Treiben zu beteiligen. Sie machte
ſich daran, mit ihrem und Häſchkekarls Gelde, eine Aus¬
ſtattung zu beſorgen. Das Mädchen kaufte Stoffe ein und
Leinwand. Mit Pauline ſaß ſie oft bis ſpät in die Nächte
hinein in Frau Katſchners Behauſung über die Nadel ge¬
bückt. Schwerlich ahnte ihr Bräutigam Häſchke, wie energiſch,
praktiſch und ſparſam das Regiment ſein würde, unter das er
kommen ſollte.


Auch dem Vater gegenüber wollte Erneſtine ihre Selbſt¬
ſtändigkeit zur Geltung bringen. Der alte Bauer hatte
ſich noch nicht darein gefunden, in ihr etwas anderes zu
ſehen, als das jüngſte Kind. Sie ſollte ſich ſeinem Willen in
allen Stücken fügen, wie er es von jeher von ſeinen Kindern,
ganz beſonders aber von den Töchtern, verlangt hatte.


Er nahm als ſelbſtverſtändlich an, daß Erneſtine die
häuslichen Arbeiten übernehmen würde, welche ſeit dem Tode
der Mutter arg vernachläſſigt waren.


[379]

Aber Erneſtine, die von ihrem Bräutigam gelernt hatte,
daß Kinder den Eltern nicht mehr zu gehorchen brauchten,
that nur, was ihr paßte. Den Befehlen des Vaters antwortete
ſie mit Achſelzucken, ſpitzen Worten, oder auch Vorwürfen.
Der alte Mann bekam von der Tochter zu hören: er ſei ja
ſelbſt daran ſchuld, daß ſie nichts mehr hätten, nicht einmal ſo
viel, um ſich eine Magd zu halten. Er habe ja das Vermögen
durchgebracht mit liederlicher Wirtſchaft. Nun ſei Haus und
Hof in fremde Hände geraten durch ſeine Schuld, und ſie, die
Kinder, könnten betteln gehen.


Der Büttnerbauer mußte das mit anhören, und ſeinen
Kummer in ſich hineinſchlucken. Jetzt warf ihm ſein eigenes
Kind das ſchwere Unglück, das ihn getroffen hatte, auch noch
als Vorwurf in's Geſicht.


Erneſtine wußte nicht, was ſie that! — Jene naive Grauſam¬
keit der Jugend war ihr eigen, die in dem alten Menſchen
etwas Unangenehmes, Unnützes, Läſtiges ſieht. Was wußte ſie
denn von dem, was in der Seele des Vaters vorging, der
am Abende des Lebens ſein ganzes Lebenswerk: Arbeit, Sorge,
Hoffnung, in nichts zerrinnen ſah! —


Sie ſetzte den väterlichen Befehlen ihr ſchnippiſches Beſſer¬
wiſſen entgegen. Wiederholt betonte ſie, es ſei nur ihr
guter Wille, nicht ihre Pflicht, wenn ſie für den Vater
etwas beſorge; ſeine Magd ſei ſie nicht! Sie habe es in
der Fremde beſſer kennen gelernt. Und wenn er ſie etwa
zwingen wolle, dann werde ſie auf der Stelle gehen; ſie habe
keine Pflicht, ihm zu gehorchen, da er ihr das Erbteil verthan
habe.


Der Büttnerbauer hatte in den letzten Monaten gelernt,
vieles zu ertragen. Es ſchien faſt, als wolle er auch den
Rutenſtreichen, die ihm ſeine Jüngſtgeborene erteilte, geduldig
den Rücken hinhalten.


Eines Tages aber beſann er ſich auf ſeine Mannes-
und Vaterwürde. Erneſtine hatte ſich geweigert, die Grube
hinter dem Hauſe auszuſchöpfen; dieſe Art Beſchäftigung ſei
unter ihrer Würde erklärte ſie. Das brachte bei dem Alten
[380] das Maß zum Überlaufen. Seit Menſchengedenken hatten im
Büttnerſchen Hauſe die Frauen dieſe Arbeit verſehen. Nun
wollte das junge Ding hier ſich auf einmal gegen die altherge¬
brachte gute Sitte auflehnen! — Diesmal machte der Bauer
von ſeinem hausväterlichen Rechte Gebrauch. Er holte den
Haſelſtock aus der Ecke hervor, den Erneſtine aus der Jugend¬
zeit gar wohl kannte; der hatte auf ihrem und der Geſchwiſter
Rücken gar manchen Tanz aufgeführt. Das Mädchen war
klug genug, es nicht zum Äußerſten kommen zu laſſen. Sie
kannte den Vater in der Wut. Schleunigſt machte ſie ſich
an die ekelhafte Arbeit; der Alte ſtand mit dem Stocke da¬
neben, als Wache, bis ſie die ganze Grube ausgetragen
hatte.


Erneſtinens Antwort auf dieſe Demütigung war, daß
ſie, ohne ein Wort zu ſagen, aus dem väterlichen Hauſe
wegzog; ihre ſieben Sachen nahm ſie mit ſich. Sie wohnte
fortan im Dorfe zur Miete. Der Vater dürfe ſie nicht zwingen,
bei ihm zu leben, erklärte ſie, da er ihr nichts zum Leben
gebe. —


So fand Guſtav die Verhältniſſe, als er nach Halbenau
zurückkehrte.


Er wohnte einſtweilen mit bei Frau Katſchner. Sein erſter
Gang, nachdem er Frau und Kind begrüßt hatte, galt dem
Bauerngute.


Was hatte ſich da alles verändert ſeit dem Frühjahre, wo
er in die Fremde gegangen war: Das Gut in fremde Hände
übergegangen, zerſtückelt, ausgeraubt! Scheune, Keller, Stall
leer! Im Hauſe alles verwahrloſt und verwildert! Die Mutter
geſtorben! Dazu die Kinder alle fortgezogen! Karl mit ſeiner
Familie in ein anderes Dorf, Toni in die Stadt. Und nun
zum letzten noch Erneſtinens Auflehnung!


Guſtav, der den Vater ſeit einem halben Jahr nicht ge¬
ſehen, fand ihn furchtbar verändert. Der Alte war teilnahms¬
los und ſtumpf geworden. Selbſt die Rückkehr ſeines
Lieblingsſohnes riß ihn nicht aus ſeinem dumpfen Hinbrüten.


Sein Leben war ſchlechter, als das eines Hundes. Seit
[381] Erneſtine das Haus verlaſſen, war nicht mehr gekocht wor¬
den. Kohlenvorräte und Holz fehlten. An Eßwaren gab
es nur halberfrorene Kartoffeln und faulendes Kraut im
Keller. Der alte Mann lebte von Milch, in die er ſich etwas
Brod ſchnitt. Sein Bart war ihm langgewachſen, umgab,
als gelbgraue ſtruppige Krauſe, das ausgemergelte Geſicht.
Die Augen lagen in tiefen dunklen Höhlen. Seine Kleider
ſtarrten von Schmutz. Er ging nicht mehr aus dem Hofe.
In der Kirche hatte man ihn ſeit Monaten nicht geſehen.
Wenn er Menſchen auf den Hof zukommen ſah, rannte er
hinauf in die Dachkammer, ſchloß ſich dort ein und gab auf
noch ſo lautes Klopfen und Rufen keine Antwort.


Dem Sohne fiel das Herz vor die Füße, als er dieſe
Dinge wahrnahm. Viel zu helfen war hier nicht! Das Gut
konnte er dem Vater ja doch nicht zurückerobern. —


Guſtav ſorgte dafür, daß wenigſtens Vorräte in's Haus
kamen. Dann machte er einen Verſuch, Erneſtine zum Vater
zurückzuführen; aber der ſcheiterte an dem Eigenſinn des
Mädchens.


Guſtav veranlaßte infolgedeſſen Paulinen, täglich einige
Stunden auf das Bauerngut zu gehen, dem Vater das
Eſſen zu bereiten und auch ſonſt für ſeine Notdurft zu
ſorgen.


Weihnachten war herangekommen. Eine Woche vor dem
Chriſtfeſte kam ein Brief an mit dem Poſtſtempel: Berlin. Toni
ſchrieb an Erneſtine, ſie werde zum Heiligenchriſt nach Halbe¬
nau kommen. Ihr ‚Chef‘ habe ihr Urlaub gegeben, damit ſie
ſich zu Hauſe auskurieren ſolle. Sie habe nämlich vom vielen
Stehen geſchwollene Beine bekommen, daß ſie kaum noch Schuhe
über die Füße ziehen könne.


Erneſtine ließ Tonis Brief unter den Freunden und Ver¬
wandten herum gehen. Es war auf feinſtem roſa Papier ge¬
ſchrieben und duftete ſüß; der Inhalt war Kauderwelſch.
[382] Schreiben ſchien Toni auch in Berlin nicht gelernt zu
haben.


Niemand freute ſich ſonderlich auf Tonis Kommen. Die
Geſchwiſter hatten ſie ſchon ſo gut wie vergeſſen. Man wun¬
derte ſich höchſtens, wo ſie das Geld zu der weiten Reiſe
hernehme.


Eines Tages, in der letzten Woche vor dem Feſte, kam
Thereſe von Wörmsbach nach Halbenau herüber. Sie ſuchte
Guſtav und Pauline auf, und erzählte, Tonis Kind ſei am
Tage zuvor geſtorben. Sie war hauptſächlich nach Halbenau
gekommen, um bei den Familienmitgliedern eine Beiſteuer für
das Begräbnis zu erbitten.


Man empfand es allgemein als Segen, daß das Würm¬
chen geſtorben.


Erneſtine und Pauline gingen mit zum Begräbnis. Sie
waren beide noch nicht bei den Geſchwiſtern in Wörmsbach
geweſen. Als ſie zurückkamen, konnten ſie nicht genug davon
erzählen, wie traurig es dort ſei. Das Haus: eine Hütte
die jeden Augenblick einzuſtürzen drohte, die Kinder, elend
und zerlumpt, Karl dem Trunke ergeben und ſchlecht gegen
ſeine Frau, Thereſe völlig herunter von dem Jammer¬
leben!


Die Schwägerin war nie beliebt geweſen bei den Büttners,
ihres ſtreitbar zufahrenden Weſens wegen. Aber jetzt beklagte
man ſie allgemein. Was war aus der rüſtigen, thatkräftigen
Frau geworden! —


Toni kam kurz vor dem Feſte mit dem Poſtwagen an.
Sie begab ſich ohne weiteres nach dem Elternhauſe.


Aber der alte Bauer, der eine Frauensperſon in ſtädti¬
ſcher Kleidung, gefolgt von einem Burſchen, welcher den Koffer
trug, auf den Hof zuſchreiten ſah, ſchloß die Hausthür ab, und
zog ſich in die Dachkammer zurück, aus der er ſo bald nicht
wieder zum Vorſchein kam. Er hatte in dem ‚Fräulein‘ die
Tochter nicht wieder erkannt.


Toni war darauf zu Frau Katſchner gegangen, wo ſie
Pauline und Erneſtine traf.


[383]

Das Erſtaunen der beiden über Tonis Aufzug war nicht
gering. Wenn jemand bäueriſch ausgeſehen hatte, ſo war es
Toni geweſen; jetzt kam ſie als Stadtdame wieder.


Dick ſchien ſie immer noch zu ſein, aber die rotbraune
Farbe war von ihren Wangen gewichen. Das Haar war ge¬
pflegt und zu einer hohen Friſur aufgeſteckt, über die Stirne
fiel es in vereinzelten Franſen, faſt bis auf die Augenbrauen herab.
Ihr Mieder mußte ziemlich eng ſein, nach der Art zu ſchließen,
wie ſie ſich ſteif bewegte. Sie hatte den mit Seide gefütterten
Mantel, den Hut mit Straußenfeder, Muff, Handſchuhe und
Schirm abgelegt, und ließ dieſe Pracht nun von den Frauen
bewundern. Von jedem Stücke nannte ſie bereitwilligſt den
Preis.


Frau Katſchner war auch hinzugekommen. Es wurde
Kaffee gekocht. Toni bildete den Mittelpunkt des Intereſſes.


Man erzählte ihr, daß ihr Kindchen geſtorben ſei. Zeichen
allzu großer Beſtürzung gab ſie nicht zu erkennen. Einige
Thränen hatte ſie wohl dafür übrig. Dann meinte ſie: die
Kinderkleidchen, die ſie aus Berlin mitgebracht, für das Kleine,
wolle ſie nun Paulinen ſchenken.


Die Witwe Katſchner wollte dafür, daß ſie den Kaffee
ſchenkte, auch etwas zu hören bekommen. Toni wurde aufge¬
fordert, von ihren Erlebniſſen zu erzählen. Sie that es in der
Weiſe beſchränkter Menſchen, die ſich einbilden, daß gerade
ihnen Dinge paſſiert ſeien, die keinem anderen Menſchen
wiederfahren könnten. Halb und halb ſprach ſie noch den
heimiſchen Dialekt; in der altgewohnten Umgebung legte
ſie ſchnell ab, was ſie ſich etwa an großſtädtiſchen Rede¬
wendungen angewöhnt hatte. Sie ſchwatzte alles durchein¬
ander.


Zuerſt war ſie Amme geweſen, in jener von Samuel
Harraſſowitz ihr verſchafften Stelle. Das wäre wunderſchön
geweſen, erzählte Toni. Sie machte eine Beſchreibung von
ihrem Spreewälder Koſtüm. Täglich ſei ſie mit dem Kinde
im Tiergarten geweſen, bei gutem Wetter zu Fuß, bei ſchlechtem
im Wagen.


[384]

Erneſtine fragte, warum ſie denn nicht in der Stellung
geblieben ſei, wenn ſie es da ſo gut gehabt.


Toni meinte, ſie hätte da nicht eſſen und trinken dürfen,
was ſie gewollt, vom Arzte hätte ſie ſich auch in einem fort
unterſuchen laſſen müſſen, und als das Kind eines Tages
Brechdurchfall bekommen habe, ſei die Herrſchaft ſehr böſe ge¬
worden und habe ſie entlaſſen.


Dann ſei ſie eine Zeit lang ohne Stellung geweſen, habe
„als privat“ gelebt, wie ſie ſich ausdrückte, bis ihr Freund ihr
endlich die jetzige Stellung verſchafft habe.


Was denn das für eine Art Verdienſt ſei, forſchte die
wißbegierige Frau Katſchner.


Toni wußte Wunderdinge darüber zu berichten. Sie ſei
in einem ſehr „feinen Lokale“. In der Mitte des Lokales
befinde ſich ein Ding, ganz aus Glas, wie ein Häuschen —
ſie gab ſich vergebliche Mühe einen Kioſk zu beſchreiben — da
drinnen ſtehe ſie und verkaufe Würſtchen an die Gäſte; das
Paar koſte zwanzig Pfennige. An einem Abende verkaufe ſie
manchmal tauſend und mehr. Dazu habe ſie ein Koſtüm an;
ſie beſchrieb es: Sammetmieder, roten Rock, bloße Arme und
eine dreifache Kette von ſilbernen Münzen um den Hals. Sie
ſei auch ſchon ſo photographiert worden; die Photographie
habe ſie im Koffer mit.


Erneſtine, die ſchon lange mit verhaltenem Spotte den
Erzählungen der älteren Schweſter zugehört hatte, meinte jetzt
in wegwerfendem Tone: Würſtchen verkaufen, das ſei was
Rechtes, dazu brauche man nicht nach Berlin gehen!


Aber Toni erklärte voll Eifer, ihre Stellung ſei eine ſehr
feine, ſie bekomme viel Trinkgelder, die Herren unterhielten
ſich oft mit ihr und machten viel Spaß. Zweimal in der
Woche habe ſie Ausgehtag. Dann erzählte ſie von Cirkus,
Theater, Bierkonzerten, Bällen.


Die Wunder der Großſtadt hatten außergewöhnliche Bilder
in die Phantaſie dieſes Landkindes geworfen. Der neuen
Eindrücke waren zuviel geweſen; alles hatte ſich in dem Kopfe
der Thörin verzerrt und verſchoben. Nun, wo ſie verſuchte
[385] eine Beſchreibung von ihren Eindrücken und Erlebniſſen zu
geben, wußte ſie nicht, wo anfangen, fand keine Ausdrücke für
Dinge, die ſie niemals begriffen, nur, wie der Wilde die
Wunder der Civiliſation, erſtaunt angeſtarrt hatte.


Dann fing ſie an von ihren Kleidern zu erzählen. Drei
hatte ſie zum Ausgehen, dazu zwei Hüte, und Strümpfe und
Hemden, dutzendweiſe.


Erneſtine rückte unruhig auf ihrem Platze hin und her;
daß Toni, der ſie ſich ſtets überlegen gefühlt hatte, jetzt als
große Dame auftrat, verdroß ſie. Wovon Toni denn all' den
Aufwand beſtreite, verlangte ſie zu wiſſen.


Ihr Freund bezahlte ihr alles, erklärte Toni, mit Selbſt¬
gefühl.


„Mag 'n ſchener Freind ſen das!“ höhnte Erneſtine.


Voll Eifer ſetzte Toni auseinander: „Er is ſehre gutt mit
mer. 's Reiſegeld hat er mer och geſchenkt. Weil 'ch, und de
Fiſſe thaten mer duch ſu ſchwellen; da is 'r ſelber zum Chef,
und hat 'n um Urlaub gebaten für mich. Su gutt is dar mit
mer.“


Sie blieb bis über das Neujahr in Halbenau. Wohnung
hatte ſie ſchließlich doch beim Vater genommen.


Mit jedem Tage, den ſie in der Heimat zubrachte, fiel
von dem großſtädiſchen Weſen, das ſie anfangs aufrecht zu
erhalten verſuchte, etwas mehr ab. Der Putz war nur
oberflächlich aufgeworfen, wollte nicht recht haften bei dieſem
echten Bauernkinde. Ein paar Tage lang lief ſie völlig
ſcheckig umher: halb Bauernmagd, halb Stadtfräulein. Ihr
modiſches Kleid hochaufgebunden, daß man die ſchwarzen
Strümpfe ſah, war ſie im Stalle anzutreffen, ſaß ſie auf
dem Melkſchemel, die Milchgelte zwiſchen den Knieen.


Dann fand ſie in einer Lade auf dem Boden einige ihrer
alten Kleider, die dort geblieben waren aus früherer Zeit; die
legte ſie an. Nun war ſie wieder ganz die alte Toni.
Höchſtens, daß ihre Wangen und Arme noch nicht die ehe¬
malige braunrote Färbung angenommen hatten.


Jetzt fühlte ſich Toni wieder ganz in ihrem Elemente
W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 25[386] Längſt war es ihr ein Dorn im Auge geweſen, zu ſehen, wie
die Kühe bis an die Euter im Miſte ſtanden; da mußte mal
ordentlich ausgeräumt werden! — Eines ſchönen Vormittags
machte ſie ſich daran, miſtete den Stall, karrte den Miſt auf
die Düngerſtätte, und ſtreute dem Vieh neu ein.


Des Sonntags ging ſie in den Kretſcham zum Tanze. Dort
war ſie mit ihrem Seidenkleide und durch den Ruf des außer¬
gewöhnlichen Glückes, das ſie gemacht, die gefeiertſte und be¬
gehrteſte Tänzerin. Und Toni war harmlos genug geblieben,
ſich über dieſen Erfolg von Herzen zu freuen.


Erneſtine rümpfte die Naſe über die Aufführung ihrer
Schweſter. Auch für Guſtav war das Wiederſehen mit
Toni peinlich. Er hatte genug vom Leben kennen gelernt, um
zu wiſſen, daß ſich ein Mädchen auf anſtändige Weiſe nicht
ſoviel Geld verdient, wie Toni verthat.


Toni ſelbſt begriff nicht, warum die Geſchwiſter ihr ſo
kühl begegneten. Sie hatte erwartet, daß die Ihrigen ſie mit
Jubel aufnehmen und ſich an ihrem Glücke freuen würden,
und war nun erſtaunt, als ſie auf Zurückhaltung ſtieß. Aber
ſie war nicht dazu veranlagt, ſich Skrupel zu machen.


Aus Berlin kam ein Geldbrief an Toni an. Sie lief
damit bei den Verwandten umher, zeigte ihnen, in naiver
Freude, wie ihr Freund ſie bedacht habe. Sie beſchenkte
Thereſen für ihre Mühe um das verſtorbene Kind, und
ſprach davon, dem Vater etwas zuwenden zu wollen. Kurz,
ſie gefiel ſich der Familie gegenüber in der Rolle einer
Gönnerin.


Am Morgen vor Tonis Abreiſe, rief der alte Bauer
ſeinen Sohn Guſtav beiſeite; er hatte offenbar etwas auf
dem Herzen. Nach einigem Druckſen, wie es ſeine Art war,
fing er an, den Sohn auszuforſchen: woher Toni die ſchönen
Kleider habe und wie ſie zu ſoviel Geld käme.


Guſtav merkte bald, worauf der Vater hinauswollte. Er
hielt mit ſeiner Anſicht über Tonis Erwerbsquellen nicht hinter
dem Berge.


Der alte Mann griff in die Taſche, holte etwas in Pa¬
[387] pier Gewickeltes hervor, packte es ſorgfältig aus; es waren:
zwei blanke Goldſtücke.


„Dos hoat ſe mer gegahn, de Toni. Iche mog's ne be¬
halen, ich ne! Gieb's Du's er zuricke! Ich mog ſickes Gald ne!“


Damit ging er von dannen.


Toni weinte, als Guſtav ihr das Geld zurückgab; ſie
hatte es doch ſo gut gemeint! —


25*
[[388]]

IX.

Karl kam neuerdings nur noch nach Haus, um ſeine
Räuſche auszuſchlafen.


Thereſe hoffte anfangs, es werde ihr gelingen, ihm im
bewußtloſen Zuſtande das Geld abermals abzunehmen. Aber
Karl war durch die früheren Erfahrungen gewitzigt. So oft
ſie auch ſeine Taſchen durchſtöberte, ſie fand nichts darin.
Jedenfalls hielt er das Geld außerhalb des Hauſes ver¬
borgen.


Wenn der Trunkenbold erwachte, ſchwankte er zwiſchen
Stumpfſinn und Tobſucht hin und her. Sobald er ſeinen
Anfall bekam, mußte Thereſe die Kinder vor ihm verbergen,
für deren Leben ſie zitterte.


Im Kretſcham zu Halbenau war Karl jetzt ein häufiger
Gaſt. Richard Kaſchel, ſein Vetter, war neuerdings Karls
Vertrauter geworden.


Richard übertraf ſeinen Vater wohl noch an boshafter
Verſchlagenheit. Den Büttners den Garaus zu machen, das
war, ohne daß ſie ſich dazu verabredet hätten, die geheime
Wolluſt dieſer beiden.


Der alte Kaſchel hatte, obgleich er eine Büttner geheiratet,
ja, obgleich er ſeinen Wohlſtand Büttnerſchem Gelde verdankte,
doch immer einen tiefeingewurzelten Haß gegen dieſe Familie
gehegt. In ſeiner guten Zeit war Traugott Büttner dem
Schwager durch jene Kraft und Würde überlegen geweſen,
die den ehrlichen Mann vor dem Ränkeſchmied auszeichnet.


[389]

Inzwiſchen war der ehemalige Büttnerbauer ruiniert
worden. Nur noch eine Frage der Zeit ſchien es, wann der
Erbe des größten Bauerngutes im Orte der Armenverſorgung
anheimfallen werde. An ihm noch ſein Mütchen zu kühlen, war
unmöglich. Ihm konnte ja nichts mehr genommen werden;
er war von allem entblößt, was einem Menſchen Anſehen und
Bedeutung verleiht auf der Welt.


Aber auch das gute Gedeihen der Büttnerſchen Kinder war
ſtets ein Stachel in der Seele des Kretſchamwirts geweſen. Er
haßte vor allem Guſtav. Der Menſch ſchien ſich, allem Unglück
zum Trotze, das ſeine Familie betroffen, wacker durch die Welt
zu ſchlagen.


Guſtav bildete auch den Gegenſtand ſtummer Wut für
Richard Kaſchel. Die Prügel, die er einſtmals von dem Vetter
erhalten, waren unvergeſſen.


Aber an Guſtav konnte man nicht heran; der verkehrte
nicht im Kretſcham. Auch von Erneſtine bekam man nicht viel
zu ſehen; es hieß, ſie habe einen Bräutigam in der Fremde und
werde bald heiraten. Toni war wieder nach Berlin zurückgekehrt,
nachdem ſie den Ort durch ihr Auftreten in Aufregung verſetzt
hatte.


Nun blieb noch Karl. Der ſchien allerdings die ſchiefe
Ebene ganz von ſelbſt hinabzugleiten. An den reißenden Fort¬
ſchritten, die Karls Verlotterung machte, hatte das edle Paar:
Vater und Sohn Kaſchel, ſeine helle Freude.


Richard Kaſchel hatte außerdem noch einen beſonderen
Grund, ſich für Karl zu intereſſieren.


In Halbenau wurde trotz der Armut ſeiner Bewohner
viel und verhältnismäßig hoch geſpielt. Ein nach dem Hofe
hinaus gelegenes Hinterzimmer im Kretſcham bot willkommene
Gelegenheit zu jeder Art lichtſcheuem Treiben. Dort flogen die
bunten Blätter oft ganze Nächte hindurch. Es war bekannt, daß
ein Halbenauer Bauer dort Haus und Hof und alles Hab
und Gut, im Laufe weniger Jahre verſpielt hatte.


Richard Kaſchel gehörte zu der Spielerzunft. Der Vater
wußte um das Treiben des Sohnes Beſcheid. Er hatte ver¬
[390] ſucht ihn abzuhalten vom Spiel. Aber das Bürſchchen, das
dem Alten längſt über den Kopf gewachſen war, hatte geant¬
wortet: der Vater habe ja ſeine Kümmelpulle; da möge er ihm
gefälligſt die Karten laſſen.


Eines Abends, als Karl in den Kretſcham kam, ſetzte ſich
Richard wie gewöhnlich zu dem Vetter an den Tiſch. Nach¬
dem Karl bereits ſein zweites Fläſchchen Korn geleert, fragte
ihn Richard, ob er Luſt habe, ein Viertel Schwein zu ge¬
winnen.


Karl begriff zunächſt nicht, was jener damit meine.
Der Vetter erklärte ihm, im Hinterzimmer ſäßen zwei fremde
Herren, die Luſt hätten, ein Spielchen zu machen. Der eine
habe eine Gans mitgebracht, der andere ein Paar Magenwürſte,
er ſelbſt, Richard, wolle ein Viertel von dem eben geſchlachteten
Schweine ſetzen; es fehle ihnen aber der vierte Mann. Wenn
Karl nichts anderes bei ſich habe, könne er auch Geld ſetzen;
die Herren würden das ſchon erlauben. Dann ſchilderte er
die Herrlichkeiten, die man gewinnen könne, ließ Speckſeiten
und Würſte vor den Sinnen des bereits Halbberauſchten auf¬
marſchieren.


Karl hatte beim Militär hin und wieder Karten in Hän¬
den gehabt, ſeitdem nicht mehr. Aber Richard verſprach zu
helfen; ſie zwei wollten die beiden anderen tüchtig ausnehmen,
raunte er dem Vetter ins Ohr.


Der Gedanke an den fetten Einſatz erſchien verlockend.
Karl taumelte in's Hinterzimmer. Die beiden Fremden ſaßen
bereits da. Über dem ganzen Zimmer, das von einer Hänge¬
lampe beleuchtet wurde, ſchwebte es wie bläulicher Dunſt.


Karl wußte, daß er betrunken ſei. Aber er befand ſich
in jenem Stadium des Rauſches, wo alles ſelbſtverſtändlich
erſcheint, wo alle Bedenken leicht wie Rauch verfliegen. ,Du
wirſt dieſen Kerlen mal zeigen! Du wirſt ihnen mal zeigen . . .‘
dachte er bei ſich.


Dann ſaß er am Tiſch, die Fauſt voll Karten; das war
der Schellenkönig und das die rote Zehne! — O, er kannte
ſie noch ganz genau die Karten, wußte auch ihre Namen! —


[391]

Ihm gegenüber der Fremde hatte einen ſchwarzen Bart,
in den ſich, auf der einen Geſichtsſeite, ein dunkelrotes Mutter¬
mal verlief. Karl wurde ganz zerſtreut durch dieſes Abzeichen;
er mußte unausgeſetzt darauf ſtarren.


„Karle, Du biſt am Ausſpielen!“ mahnte der Vetter.


„Gegen ſolche Karten iſt nicht aufzukommen,“ ſagte der
andere Fremde, ein kleiner bartloſer Mann, deſſen Kopf, wie
mit Mehlſtaub beſtreut erſchien. ‚Das iſt alſo ein Müller!‘
dachte Karl. Aber als der Mann ſeinen Kopf in's Licht vor¬
beugte, ſah man, daß ſein Haar von Natur ſo grau ſei.


„Herr Büttner hat die Partie gewonnen,“ hieß es.


Richard zeigte eine Magenwurſt vor, die hatte Karl ge¬
wonnen. Der lachte vor Vergnügen über das ganze Geſicht.
Er hatte es ja gleich geſagt, daß er die Kerle reinlegen würde.


„Jetzt woll'n mer um de Knöppe ſpielen!“ rief Richard.


Der mit dem Muttermale griff in die Taſche und legte
eine Hand voll Silber auf den Tiſch. Ein gleiches that der
Graukopf. „Ich bin auch verſehen“ erklärte Richard Kaſchel
und klopfte protzig auf ſeine Taſche.


Karl brachte das Ledertäſchchen mit dem Stahlbügel her¬
vor. Er lächelte verächtlich. Jetzt ſollten die Fremden mal
ſehen, was er für ein Kerl war! Mit ungeſchickten Fingern
holte er die einzelnen Goldſtücke heraus. Es waren noch
fünfzig Mark; das übrige war vergeudet.


„Noch'nen Nordhäuſer vorher!“ ſagte Richard, „den gebe
ich.“ Er holte aus dem Wandſchranke ein Flaſche hervor,
ſchenke die Gläſer voll und ſtellte die Flaſche auf den Tiſch.


Das Spiel begann von neuem. „Der guckt durch a Aſt¬
loch!“ ſagte jemand. Karl lachte über die Bemerkung, weil
er die anderen lachen ſah. Diesmal hatte er verloren.


„Immer glei bezahlen! Da giebt's nich lange Qualen!“
meinte der Gewinner. Fünf Mark hieß es, habe Karl auszu¬
zahlen. Richard wechſelte ihm ein Goldſtück gegen Silber¬
geld ein.


Nachdem Karl mehrere Male hintereinander verloren
hatte, kam eine Art Beſinnung über ihn. Er erhob ſich,
[392] wollte nichts von weiterem Spielen wiſſen. Aber Richard
ließ ihn nicht fort. „Die lachen iber Dich, wenn De weg¬
lefſt. Bleib ack hier, Karle! Ich werd' D'r ſchon helfen.
Diesmal ſchmier'n mer ſe an; paß a mal uff!“


Karl ließ ſich bereden und blieb. „Noch einen Nord¬
häuſer, meine Herren?“ fragte Richard. „Auf einem Beine
ſteht nur der Storch!“ Karl wollte zeigen, daß er ſich nicht
lumpen laſſe und rief dem Vetter zu: „Schenk ei! Eemal
rim! Den gab' ich!“ —


„Aber richtig bedienen müſſen Sie, Herr Büttner! Sonſt
is es keen Spiel nich!“ meinte der Graukopf.


„Ihr wart mich wuhl 's Kartenſpielen lahren, Rotzleffel,
die d' 'r ſeid!“ rief Karl den Mitſpielern zu.


Die beiden Fremden wollten etwas erwidern, aber Richard
winkte ihnen mit den Augen ab.


Wiederum hatte Karl verloren. Da ſchlug er auf den
Tiſch und brüllte: „Betrogne Karlen ſeid 'r, daß d' 'r 's wißt!
Betrogen hat 'r mich! Gaht mer mei Gald raus, Hunde!“


Die Fremden waren aufgeſtanden. Karl fuhr fort, auf
den Tiſch zu hämmern und ſein Geld zu fordern. Sein Vetter
trat auf ihn zu. „Halt 's Maul! Schrei nich ſu laut! Se
hieren's ſunſt vorne.“


„Du haſt mer an Dreck zu befehlen!“ Damit hatte Richard
auch ſchon einen Schlag von Karls Rieſenhand in's Geſicht,
daß er ſich aufheulend die Backe hielt.


Die beiden anderen Männer ſprangen auf Karl zu, ihm
in den Arm zu fallen. Er ſchleuderte ſie gegen die Wand,
ergriff einen Stuhl und ſchlug blindlings drauf los. Die
Hängelampe, von einem Stuhlbeine getroffen, riß vom Flaſchen¬
zuge ab, fiel auf den Tiſch, wo ſie zerbrach.


Inzwiſchen waren Leute durch den Lärm herbeigerufen
in's Zimmer gedrungen: der Hausknecht, Gäſte, der alte Kaſchel.
Man umringte Karl, der noch immer um ſich ſchlug, wie ein
Wilder.


Die neu hinzugekommenen hatten keine Ahnung, um was
es ſich eigentlich handle. Man ſah nur, daß es eine Rauferei
[393] gab; das erweckte ſofort die Luſt, mitzuthun. Richard hatte
ſich aus Karls gefährlicher Nähe zu retten gewußt und ſpornte
nun die anderen vom Hintergrunde aus an, zuzugreifen und es
,dem Hunde‘ mal ordentlich zu geben.


Es wurde gerungen. Der Tiſch fiel um, Gläſer zer¬
brachen. Plötzlich dröhnte und krachte es. Karl hatte ſich
Platz geſchafft, drang durch den ſchmalen Gang in die Haus¬
flur. Dort ſtanden auch ſchon Leute, die ſich ihm entgegen¬
warfen. So von allen Seiten umringt, an Armen und Beinen
von einem Dutzend Fäuſten gepackt, ward er endlich wehrlos
gemacht.


Man wußte nicht recht, was mit ihm anfangen! Die
meiſten ahnten nicht, was eigentlich der Anlaß zu dem Krakeel
geweſen ſei. Jemand riet, ihn vor die Thür zu ſchaffen. Der
Vorſchlag fand Beifall. Karl wurde zur vorderen Thür ge¬
ſchleppt. Hier gelang es ihm, ein Bein frei zu bekommen, das
er gegen den Thürflügel einſtemmte. Man drängte und drückte,
aber der große Körper war nicht freizubekommen.


Richard Kaſchel wußte Rat. Der Thürflügel wurde durch
eine eiſerne Stange abgehalten, die hob Richard aus; ſofort
gab die Thür nach. Karl ſtürzte mit ſamt ſeinen An¬
greifern die Stufen hinab auf die Straße.


In dem allgemeinen Durcheinander, das nun in der
Dunkelheit entſtand, wurde ein Schlag und der Fall eines
ſchweren Körpers ſo gut wie überhört.


Man lief in's Gaſtzimmer zurück, erzählte ſich gegen¬
ſeitig, unter Geſchrei und Gelächter, die Heldenthat, die
man verübt. Kaſchelernſt lief umher zetternd und klagend,
über den Schaden, der ihm am Mobiliar angerichtet worden
ſei. Um das Schickſal des Hinausgeworfenen kümmerte ſich
niemand.


Nach einiger Zeit brannte einer der Gäſte ſeine Laterne
an und machte ſich auf den Heimweg. Gleich darauf kam er
mit verſtörtem Geſichte wieder in's Zimmer zurück. Draußen
liege einer in einer Pfütze Blut, berichtete der Mann.


Man eilte hinaus. Karl Büttner lag da einige Schritte
[394] von den Stufen. Der Schnee um ihn her war dunkel ge¬
färbt.


Man unterſuchte ihn; er war bewußtlos. Das Blut
floß aus einer Wunde am Kopfe.


Ein Meſſerſtich war es nicht. Es ſah mehr aus, als
habe ihn ein Hieb mit einem ſtumpfen Inſtrumente über
den Schädel getroffen.

[[395]]

X.

Eines Tages im Februar erſchien Harraſſowitz auf dem
ehemahligen Büttnerſchen Bauernhofe. Er war in Geſellſchaft
eines ſtädtiſch gekleideten jungen Mannes.


Der Händler fand die vordere Hausthür verſchloſſen.
Er ging daher um das Haus herum, durch den Schnee, nach
dem hinteren Eingang, aber auch dort war die Thür, ver¬
riegelt. Harraſſowitz pochte und rüttelte an Thür und Fenſter¬
laden; als das nichts nützte, legte er ſich aufs Pfeifen und
Rufen. Jemand mußte doch im Gehöft ſein; es führte ja
keine Spur in dem friſch gefallenen Schnee zum Hofthor
hinaus. —


Endlich erſchien der graue Bart des alten Büttner, oben
in der Dachluke. Er hatte ſich, ſeiner Gewohnheit gemäß,
eingeſchloſſen. Jetzt freilich, wo er den Eigentümer des
Hauſes und Gutes ſelbſt vor der Thür ſah, mußte er wohl
oder übel aufmachen.


Sam war wütend über das lange Warten. Bei ihm
ſei es wohl nicht ganz richtig im Kopfe, ſchrie er den alten
Mann an, als der barhäuptig in der Thür erſchien. Er ſolle
mal gefälligſt ſofort alles öffnen; hier ſei jemand, der ſich das
Haus anſehen wolle.


Nun ging es an eine eingehende Beſichtigung des Ganzen.
Vom Keller bis hinauf auf den Boden wurde jeder einzelne
Raum beſchritten und beſehen.


[396]

Der Fremde nahm es ſehr genau. Er klopfte an die
Wände, unterſuchte das Holzwerk, blickte in die Eſſen und
Öfen. Vielerlei fand er auszuſetzen.


Im Keller ſtand Waſſer. Sam, der ſelbſt niemals
drin geweſen war, erklärte unverfroren: den Keller habe er
immer trocken gefunden, bisher; das müſſe zufällig einge¬
drungenes Schneewaſſer ſein. Er wandte ſich an den alten
Büttner mit der Aufforderung, ihm das zu beſtätigen. Trau¬
gott Büttner erklärte in mürriſchem Tone: ſo lange er lebe,
habe in dieſem Keller im Frühjahre ſtets Waſſer geſtanden. —
Der Händler biß ſich auf die Lippen und warf dem Alten ge¬
rade keinen freundlichen Blick zu.


Auch ſonſt wurde mancherlei mangelhaft befunden. Die
Öfen taugten nach Anſicht des fremden Herrn nichts, während
Harraſſowitz beſchwor, ſie heizten ausgezeichnet. Die Dielen
ſollten an vielen Stellen ſchadhaft ſein. Das Dach ſei repa¬
raturbedürftig, die Treppe wackelig. Von der Holzſtube wollte
der Herr gar nichts wiſſen, die müſſe er herausreißen laſſen
und durch Ziegelwände erſetzen.


Kurz das Haus war, wenn man den Worten des Mannes
trauen durfte: „ein Loch“, in das man eine junge Frau un¬
möglich führen konnte.


Harraſſowitz meinte, mit einigen hundert Mark mache er
ſich anheiſchig, aus dieſem Hauſe ein wahres Eldorado zu
ſchaffen, „komfortabel und hochherrſchaftlich“.


„Eine Hundehütte iſt das Ding!“ rief der Fremde, der
die ſtarken Ausdrücke zu bevorzugen ſchien. „Fünftauſend
Mark muß ich hier gleich reinſchmeißen; bloß was das aus¬
miſten koſtet. Natürlich geht das vom Kaufpreiſe ab!“


Der Händler ſchwor dagegen, beide Hände zur Beteue¬
rung erhebend, dann könne kein Handel zu Stande kommen;
er dürfe nicht eine Mark vom Preiſe ablaſſen.


So wurde hin und her gefeilſcht zwiſchen den beiden.
Auf den alten Büttner, der geſenkten Hauptes dabeiſtand,
Rückſicht zu nehmen, ſchien man für überflüſſig zu halten.


Nachdem man Haus und Hof gründlich beſichtigt, wo¬
[397] bei der Fremde alles ſo ſchlecht wie möglich machte, während
Harraſſowitz ſeinen Beſitz nach Möglichkeit herausſtrich, ging
es hinaus, zur neu angelegten Ziegelei. Büttner wurde nicht
aufgefordert, mit dorthin zu kommen.


Nach Verlauf von einer Stunde etwa kamen die Herren
in das Gehöft zurück. Sie begaben ſich in die ehemalige Wohn¬
ſtube der Büttnerſchen Familie. Sam verlangte Tinte und
Papier, und ſchimpfte, als das nicht zu haben war.


„Sie können derweilen raus gehen!“ ſagte er zu dem alten
Manne. „Aber, halten Sie ſich in der Nähe auf, bis ich Sie
rufen werde.“


Traugott Büttner ging in den Stall. Die Geſellſchaft
der Tiere war ihm lieber, als die der Menſchen. Die Tiere
waren unverſtändig, ſtumpf und gutmütig. Die kaltblütig-
grauſame Art, ſeinesgleichen zu martern, hatte der Menſch vor
der Kreatur voraus. —


Der alte Mann ſaß bei den Kühen auf einem Melk¬
ſchemel. Er hatte den Tieren neues Futter vorgeworfen.
Gemächlich kauend ſtanden ſie da, blickten ihn während des
Freſſens hin und wieder an, furchtlos; ſie kannten ihn ja.


Durch die offene Stallthür konnte man, über den Hof
her, vernehmen, wie jene drüben in der Stube ſprachen.
Sie ſchienen noch nicht einig. Es ging lebhaft zu beim
Handeln.


Der Bauer verſank tiefer und tiefer in Brüten. Eine
„Hundehütte“ hatte der Herr ſein Haus genannt! Daß der
Menſch nicht ſtumm geworden war, für ſolche Läſterung!


Er, der Büttnerbauer, mußte doch wohl ſein Haus kennen und
wiſſen, was es wert war; es gab kein beſſeres im ganzen Dorfe.


Die Grundmauern mußten uralt ſein. Der Vater hatte
einmal gehört von einem, der es verſtand: die Mauern
ſtammten aus Zeiten, die noch lange lange vor dem großen
Kriege lagen. Die Holzſtube, welche der Fremde herausreißen
wollte, war von Traugotts Großvater aus ſtarken trockenen
Tannenbrettern und lärchenen Pfoſten eingebaut worden, und
mochte noch manches liebe Jahr über dauern. Den Dachſtuhl
[398] hatte Leberecht Büttner neu zimmern laſſen; da war kein
Balken der ſich geſenkt oder gebogen hätte.


Er ſelbſt, Traugott Büttner, hatte viel Arbeit, Sorge und
Koſten auf das Wohnhaus verwendet. Es war ſtets ſein Stolz
geweſen, daß es ſo ſtattlich ſei; er hatte ſeinen Ehrgeiz darein
geſetzt, das von den Vätern überkommene Heim in Ordnung
und Stand zu halten.


Er hatte dieſes Haus lieb, wie man ein lebendes Weſen
liebt. Wenn er vom Felde hereinkam, blickte es ihn ſchon von
weitem an, freundlich und vertraut, wie eine Mutter. — Es war
ja auch die Mutter von vielen Generationen, die in ihm ge¬
boren und groß geworden, denen es Obdach und Behauſung
gewährt hatte.


Er kannte dieſes Haus, wie er ſeine Ehefrau gekannt hatte.
Er liebte es nicht nur in ſeinen Vorzügen und guten Seiten,
er liebte es in allen ſeinen Eigenheiten und Heimlichkeiten, die
nur ihm offenbar waren. Er liebte es nicht zum mindeſten
der ſchweren und bangen Stunden wegen, die er unter ſeinem
Dache durchlebt hatte.


Und nun kam da einer her, ein Fremder, und nannte es
eine: „Hundehütte“!


Es war nicht Zorn, was der Alte empfand, auch nicht
Ärger. All' die jäh aufwallenden, heißen Gefühle waren aus¬
gelöſcht in ihm. Mehr ein Staunen war es, ein Verwundern
über das, was ihm wiederfuhr. Der Geiſt der ſtreitbaren
Auflehnung, der ihn früher oft zu ſeinem Schaden beſeelt,
hatte einer dumpfen Verdroſſenheit Platz gemacht.


Er war ſtill und nachdenklich geworden. Den Leuten im
Dorfe wurde er dadurch unheimlich. Wenn er in ſeinem
Kummer geraſt, oder zur Schnapsflaſche gegriffen hätte, würden
ſie ſich weniger gewundert haben, als über dieſes ſtille „Sime¬
lieren“ des Bauern.


Er konnte neuerdings über einem Worte, einem Erleb¬
niſſe, ſtundenlang grübeln. Es war, als ginge er im Kreiſe,
wie ein Tier, das den Göpel drehen muß. Sein Geiſt
klebte feſt und zäh an den Dingen, konnte ſich nicht auf¬
[399] ſchwingen zu Gedanken, ſein Wille ſich nicht mehr aufraffen zu
Thaten. Der ehemals ſo thätige Mann war im ſtande, halbe
Tage in völligem Nichtsthun zu verbringen.


Dann hielt er Selbſtgeſpräche. Zu ſtarkem Fluchen und
Schimpfen, wie ehemals, brachte er es nicht mehr. Aber er
bekam es fertig, ein und denſelben Satz zehnmal und mehr vor
ſich hin zu ſagen, immer ſchneller, immer lauter; bis er über
ſein eigenes Sprechen erſchrack, ſich ſcheu umſah, ob jemand
da ſei, und nach einiger Zeit in ſeine gewöhnliche Stumpfheit
zurückverſank.


Auch jetzt wieder hatte er ſich in einen Gedanken ver¬
biſſen: jener fremde Herr, deſſen Namen er nicht einmal
kannte, hatte ſein Haus eine Hundehütte genannt. Und
nun ſagte er das Wort vor ſich hin, mit rauher Stimme:
„Hundehütte, Hundehütte, Hundehütte . . .,“ daß die Kühe
im Freſſen innehielten und ſich umſahen nach dem närriſchen
Alten.


Vom Hauſe her ertönte jetzt lautes erregtes Sprechen,
als ob ſie ſich dort ſtritten. In der Hausthür erſchien der
Fremde. Er war im Begriffe ſeinen Pelz anzuziehen, hinter
ihm kam Sam, ſuchte den Mann feſtzuhalten.


„Zwanzigtauſend Mark für ſo eine Hitſche iſt Unver¬
ſchämtheit!“ ſchrie der Fremde. „Ich weiß ganz genau, was
Sie in der Subhaſtation gegeben haben dafür.“


„Aber was ich inzwiſchen hineingeſteckt habe, Herr Berger!
wollen Sie das, bitte, nicht vergeſſen.“


Der Fremde ſtand immer noch in der Thür, er hatte
inzwiſchen den Ärmel gefunden, ſchien auf dem Sprunge, fort¬
zugehen.


„Schön: reingeſteckt! Rausgenommen haben Sie, dreimal
ſo viel als Sie gegeben haben! Und nun ſoll ich Ihnen für
den Hof und das bißchen Ziegelei zwanzigtauſend Mark geben!
— Verrückt müßte ich ſein! Viertauſend Thaler gebe ich!
Nicht einen Pfennig mehr!“


„Kommen Sie nur ins Haus, Herr Berger!“ mahnte der
Händler und ſuchte den erregten Mann hereinzuziehen. „Wir
[400] werden ſchon handelseinig werden!“ dabei klopfte er ihm auf
die Schulter.


„Sie ſind ein Halsabſchneider!“ ſchrie Berger, folgte aber
dem Händler doch ins Haus.


Es dauerte wiederum eine geraume Weile, dann erſchien
Harraſſowitz in der Hausthür und rief den Bauern herein.


Er ſtellte ihn dem Fremden vor. „Das iſt hier der
alte Büttner, der frühere Beſitzer. Ein braver Mann! Ich
kann ihn nur empfehlen. Wir ſind ſtets gut mit einander
ausgekommen, nicht wahr, Büttner?“ Dabei ſtieß er den
alten Mann vertraulich an.


Büttner ſagte nichts. Er ſtand da geſenkten Hauptes und
blickte auf die Diele.


„Ich habe nämlich an dieſen Herrn hier ſoeben verkauft,“
fuhr Harraſſowitz fort; er ſchien in beſter Laune, rieb ſich
vergnügt ſchmunzelnd die Hände. „Das iſt alſo hier Ihr neuer
Herr, Büttner! Herr Berger wird die Ziegelei in Betrieb
nehmen, und gedenkt, hier zu wohnen. — Es wird gut ſein
für Sie, Büttner, wenn Sie ſich mit ihm ſtellen.“


„Das Haus entſpricht durchaus nicht meinen Anſprüchen,“
meinte der neue Herr, ſich mißmutig umblickend. „Meine
Frau kommt von der Stadt und iſt's ganz anders gewöhnt.“


„Es wird der jungen Frau mit der Zeit ganz gut hier
gefallen in Halbenau; paſſen Sie mal auf, Herr Berger!
Hier iſt's ganz nett, man verſteht hier auch zu leben. Und
geſund iſt's! Die Leute werden alt hier zu Lande! Wie zum
Beiſpiel Herr Büttner hier!“


Der Fremde zuckte die Achſeln, dann meinte er, ſich an
den Alten wendend: „Ich würde Sie unter gewiſſen Be¬
dingungen im Hauſe behalten. Eine Kammer können Sie
meintswegen haben, obgleich eigentlich viel zu wenig Platz iſt.“


„Büttner nimmt mit allem vorlieb,“ ſagte Harraſſowitz,
ſich einmiſchend. „Sie müſſen nur wiſſen, der Mann hat
Zeit ſeines Lebens hier gewirtſchaftet, da wäre es immerhin
hart, wenn er Knall und Fall fort müßte. Ich habe auch
Erbarmen gehabt mit ihm, obgleich ich's nicht eigentlich nötig
[401] hatte. Das iſt eben ſchließlich eine Art von Anſtandspflicht —
gewiſſermaßen.“


Der neue Beſitzer machte eine ungeduldige Bewegung.
„Zwingen dazu kann Sie ja niemand!“ rief der Händler.
„Wenn Sie den Alten drin laſſen, ſo iſt das eben ein Akt
der Barmherzigkeit, und Herr Büttner muß Ihnen zeitlebens
dankbar dafür ſein — nicht wahr, Büttner?“


„Meinetswegen!“ ſagte Berger und erhob ſich. „Ich will
geſtatten, daß der Menſch hier wohnen bleibt, in einer Dach¬
kammer. — In die Hausordnung haben Sie ſich natürlich zu
fügen, Büttner! und ich darf erwarten, daß Sie keinerlei
Störung verurſachen. Die Wohnung ſollen Sie frei haben; ich
verlange als Entgelt, daß er den Garten verſorgt, und die
häuslichen Arbeiten übernimmt: Holzſpalten, Austragen der
Grube, Kohlenklopfen und ſo weiter. Eventuell werde ich ihn
auch in der Ziegelei beſchäftigen, wenn er dazu nicht ſchon zu
alt iſt. Natürlich iſt dieſes Verhältnis meinerſeits jeder Zeit
kündbar.“


„Das ſcheint mir nur billig und gerecht!“ rief Harraſſo¬
witz. „Sie können lachen, Büttner! Machen Sie nur nicht
ein ſo finſteres Geſicht, Mann! So trifft's nicht jeder!“


„Das ſcheint ein alter verſtockter Burſche zu ſein!“ ſagte
Berger zu dem Händler, als ſie das Haus verließen.


„Was wollen Sie,“ meinte Sam. „Er iſt halt 'n
Bauer!“


W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 26
[[402]]

XI.

Erneſtine überbrachte eines Tages ihrem Bruder Guſtav
einen Brief von Häſchke. Dabei erzählte ſie, daß ſie in der
nächſten Zeit Halbenau verlaſſen werde, ihr Bräutigam habe
eine Wohnung gemietet und wolle ſie nun heiraten.


Eigentlich hatte Erneſtine gewünſcht, daß die Hochzeit in
Halbenau ſtattfinden ſolle; aber Häſchke hatte gemeint, da müſſe
man ſich womöglich kirchlich einſegnen laſſen, und „den Mum¬
pitz“ mache er nicht mit. Erneſtine fand ſich ſchließlich darein.
Sie war ſchon ſo weit von der fortgeſchrittenen Weltanſchauung
ihres Bräutigams angeſteckt, daß ſie ſich aus ſolchen alt¬
modiſchen Gebräuchen, wie kirchliche Trauung und Taufe, nichts
mehr machte. Da ſie außerdem praktiſch war, ſagte ſie ſich,
daß man durch Weglaſſen dieſer Ceremonien Geld erſparen
könne, welches anderweit beſſer zu verwenden ſei.


Häſchke berichtete in ſeinem Briefe an Guſtav, daß er in
einer Maſchinenfabrik Anſtellung als Schloſſer gefunden habe.
Er ſetzte dem Freunde zu, daß er's ihm nachmachen ſolle.
In der Stadt ſei doch ein ganz anderes Leben, als in dem lang¬
weiligen Dorfe. Auf einen grünen Zweig werde er in Hal¬
benau doch niemals kommen. Wenn Guſtav ihm Auftrag gebe,
wolle er ſich für ihn um einen Dienſt bemühen. Guſtav ſolle
ihm ſofort ſeine Papiere einſenden. Er werde ihm ſchon etwas
Paſſendes ausfindig machen. Gediente Unteroffiziere hätten
immer Ausſicht, genommen zu werden.


[403]

In Guſtav rief dieſer Brief geradezu eine Gährung hervor.


Seit er neulich auf dem Rückwege aus der Rübengegend
das Leben der großen Stadt wieder einmal gekoſtet hatte, war
ihm die geheime Sehnſucht danach nicht wieder aus der Seele
gewichen.


Es bedurfte nicht viel Zuredens von Seiten Häſchke¬
karls, um dieſe Träume und Wünſche, beunruhigend und ver¬
führeriſch, wie ſie nun einmal für das Landkind waren, lebendig
zu machen.


Der Abend vor allem, wo er in Häſchkes Geſellſchaft jener
großen Volksverſammlungen beigewohnt, hatten ſich unauslöſch¬
lich ſeinem Gedächtniſſe eingeprägt. Die Tauſende, welche in
atemloſer Spannung den Worten ihrer Führer gelauſcht, die
eindringlichen Worte, welche die ſchlichten Arbeiter geſprochen,
der mächtige ſinnberauſchende Applaus, wenn einer das rechte
Wort gefunden, die Disziplin, die Opferwilligkeit, der Korps¬
geiſt — nichts von den tiefen Eindrücken, die er in jenen
Tagen in ſich aufgenommen, war dem jungen Manne ab¬
handen gekommen.


Was er da geſammelt hatte an neuen Erfahrungen und
Gedanken, was er damals, weil es zu viel auf einmal geweſen,
nicht hatte verarbeiten können, war doch in ihm geblieben,
hatte ſich geſetzt und verdichtet, zu einer neuen Weltanſchauung.
So wie er geweſen war, konnte er nie wieder werden; er
hatte in geiſtigem Sinne ſeine Unſchuld verloren. Er fühlte
es ſelbſt, bei den unbedeutendſten Anläſſen, daß er mit anderen
Augen in die Welt ſehe.


Vor allem aber war eine tiefe Sehnſucht in ihn gekommen,
die ihm keine Ruhe mehr ließ, die Sehnſucht, heraus zu ge¬
langen aus der Enge ſeiner bisherigen Umgebung, Neues zu
ſehen und zu erleben, ſeinen Geſichtskreis zu erweitern, teilzu¬
nehmen an dem Leben der großen Welt.


Dieſe Sehnſucht trieb ihn aus ſeiner Heimat weg, in
die Stadt. Dort war das wahrhaftige Leben allein! In
der Stadt fand man Anregung und Geſellſchaft. Dort erfuhr
man, was vorging in der weiten Welt. Da ging einem eine
26*[404] Ahnung auf von dem, was man ſelbſt wollte und ſollte. Da
war man unter Tauſenden und Abertauſenden, und doch ein
ſelbſtſtändiger, freier Menſch.


Auf dem Lande glichen die Arbeiter dem Laſttiere, das
ſeine Arbeit verrichtet, ſein Futter vertilgt und nur er¬
wacht, um von neuem zur Arbeit getrieben zu werden. So
dämmerten die meiſten Leute auf dem Dorfe dahin, ſtumpf
und gelangweilt, ohne viel mehr nachzudenken, als das
liebe Vieh.


Nein! ſolch ein Leben wollte er nicht weiter führen! Wenn
man einmal ſtarb, wollte man doch wenigſtens ſich ſagen können,
daß man gelebt habe.


Er hatte ja früher die Heimat geliebt — er liebte ſie
noch — aber, es war zu vieles vorgefallen, in den letz¬
ten Jahren, was ihm die Freude an dem Heim vergällt
hatte.


Ja, wenn er's ſo hätte haben können, wie ſein Großvater
Leberecht — dem er, wie die Menſchen behaupteten, in vielen
Stücken ähnelte — wenn er auf freiem Gute hätte ſelbſtändig
ſchalten und walten dürfen, als ſein eigner Herr, da hätte
er wohl jede Arbeit auf ſich nehmen wollen, wäre ſicher
geweſen, etwas Rechtes vor ſich zu bringen. Aber ſo, wo
das Glück der Familie vernichtet war! Wo einer hätte wieder
ganz von vorn anfangen müſſen! wo ihm, dem Bauernſohne,
nichts übrig blieb, als ſich als Tagelöhner oder Knecht zu
verdingen! —


Nein! da wollte er doch lieber ganz von dem Orte weg
gehen, wo er und ſeine Vorfahren einſtmals beſſere Tage ge¬
ſehen hatten. In der Stadt kannte ihn wenigſtens keiner!
Da konnte ihn niemand verhöhnen, daß er hatte herabſteigen
müſſen, daß er, der einſtmals kommandiert hatte, nun ſelbſt
dienen mußte.


Was er früher nicht für möglich gehalten haben würde, der
Abſchied von der Heimat, wurde ihm jetzt nicht einmal ſchwer.
Die Wurzeln, die ihn einſtmals ſo feſt mit dieſem Boden ver¬
bunden hatten, waren eben eine nach der anderen durchſchnitten
[405] worden; er war jetzt auch ſo ein loſer Baum, den man leicht
ausheben und verpflanzen kann.


Mehr und mehr fing er an, ſeiner dörfiſchen Umgebung
überdrüſſig zu werden, ja ſie im Grunde ſeines Herzens zu
verachten. Auf dem Dorfe war man wie in einem dunklen,
engen, dumpfen Zimmer, in welches das Licht höchſtens durch
Ritzen und Klinzen eindringt. Da draußen, in der Welt, in
der Stadt, da winkte das große rauſchende Glück, das Ver¬
gnügen, die Freiheit, die Selbſtändigkeit! —


So gab er denn ſeiner Schweſter Erneſtine, als ſie Hal¬
benau verließ, ſeine Papiere mit, die ſie Häſchke übergeben
ſollte.


Das Mädchen ging der Zukunft leichten Herzens ent¬
gegen. Sie hatte bereits der vorige Sommer der Heimat
entfremdet. Sie lebte längſt mit ihren Gedanken und Plä¬
nen in einer neuen Welt, die mit dem ländlichen Heim wenig
gemein hatte. Ein Vaterhaus, von dem ſie hätten Ab¬
ſchied nehmen müſſen, gab es ja für die Büttnerſchen Kinder
nicht mehr.


Um die Zukunft machte ſich die leichtherzige Erneſtine
wenig Sorge. Häſchke verdiente jetzt zwanzig Mark in der
Woche. Mit der Zeit hatte er Ausſicht, Monteur zu werden,
ſo ſchrieb er ſelbſt. Außerdem konnte man zur Verbeſſerung
des Einkommens ja auch Koſtgänger und Schlafburſchen auf¬
nehmen. Ein größeres Quartier war darauflos ſchon gemietet
worden.


Das Mädchen würde vielleicht nicht einmal vom Vater
Abſchied genommen haben, wenn nicht Guſtav es ausdrücklich
von ihr verlangt hätte.


Der Abſchied war kühl und ſteif. Erneſtine, die doch
ſonſt nicht gerade auf den Mund gefallen war, wußte dem
Vater kein liebes Wort zu ſagen.


Der alte Mann brachte es auch zu keiner herzlichen Äuße¬
rung dem letzten Kinde gegenüber, das nun von ihm ging.


[406]

Karl war, nachdem man ſeine Wunde im Kretſcham not¬
dürftig gewaſchen und verbunden hatte, in ſeine Behauſung
nach Wörmsbach geſchafft worden.


Nachdem ihm der Arzt das dichte Haar rings um die
Wunde abgeſchnitten hatte, fand ſich, daß die Schädeldecke ſtark
verletzt war. Es mußte geradezu ein Wunder genannt werden,
daß er mit dem Leben davon gekommen war. Die Heilung
ging langſam von ſtatten.


Seine Frau leiſtete in dieſer Zeit Übermenſchliches. Der
Kranke war trotz ſeine Schwäche nicht leicht zu pflegen, er
delirierte ſtark. Die Nahrung mußte ihm auf künſtlichem Wege
zugeführt werden.


Thereſe hatte ſich bis dahin nie ſonderlich um die Kran¬
kenpflege gekümmert; jetzt ließ die Not ſie auch dieſe Dienſte
erlernen.


Sie mußte dazu die Kinder verſorgen, das Hausweſen im
Gange erhalten, dabei kein Geld im Hauſe! Denn Karl hatte
in der Periode ſeiner Liederlichkeit alles bis auf einen kleinen
Reſt verthan.


Und nun kam das Frühjahr heran; da hätte das Feld
beſtellt werden mögen. Wovon ſollte man denn die Pacht an
Harraſſowitz bezahlen?


Sam war ſchon einmal dageweſen. Er zeigte ſich ſehr
ungehalten. Wenn es nicht beſſer werde, müſſe er ſie heraus¬
ſetzen. Säufer und Nichtsthuer könne er nicht gebrauchen.


Was blieb für Thereſe da anderes übrig, als ſelbſt das
Feld zu beſtellen! Die Kühe hatte Harraſſowitz inzwiſchen
weggenommen. Sie ſpannte ſich alſo vor die Egge. Der
älteſte Junge, kaum ſechs Jahre alt, mußte mit Hacke und
Schaufel hantieren.


Es galt die größten Anſtrengungen, denn wenn Harraſſo¬
witz ſein Wort wahrmachte, dann blieb ihnen nichts, als das
Armenhaus.


Daß Karl jemals wieder zu vollen Kräften kommen werde,
war unwahrſcheinlich. Auch nachdem die Kopfwunde verheilt
war und das Fieber nachgelaſſen hatte, blieb ein allgemeiner
[407] Schwächezuſtand zurück. Die Sprache hatte gelitten; beſtimmte
Laute vermochte die Zunge überhaupt nicht mehr zu bilden.
Das Gedächtnis war geſchwächt. Karl, der ſich niemals durch
beſondere Geiſtesgaben ausgezeichnet hatte, war völlig zum
Trottel geworden.


Eines Tages, als Thereſe vom Felde heimkehrte, fand ſie
den Kretſchamwirt von Halbenau bei Karl ſitzen. Kaſchelernſt
ſchien bereits eine ganze Weile mit ihm geweſen zu ſein. Was
die beiden zuſammen geſprochen, erfuhr Thereſe nicht.


Der alte Kaſchel machte einen durchaus vergnügten Ein¬
druck.


Er ſpielte ſich ganz auf den Unbefangenen; meinte, er
ſei nur im Vorübergehen mal eingetreten, um zu ſehen, wie
ſie eigentlich lebten. Was zu eſſen hatte er mitgebracht —
auch ganz zufällig, wie er behauptete — einige Würſte und
einen Schinken. Die ließ er da, damit Karl davon eſſe und
wieder zu Kräften kommen möge.


„Er is wie a Biſſel dumm in Koppe!“ ſagte Kaſchelernſt
zu Thereſen, als er in ſein Korbwägelchen geſtiegen war. „Er
meent, er kann ſich uf niſcht nich mehr beſinnen, meent er.“
Dabei beobachtete er, durch ſein verſchmitztes Lächeln hindurch,
Thereſens Miene genau. „Weeß er denne gar niſcht mehr, wie
er damals hingefallen is, in der Beſoffenheet und ſich das
Luch in Kupp geſchlagen hat? — he!“


„Ar is ne gefallen!“ erwiderte Thereſe. „Ibern Kupp
ha'n ſe'n gehaun.“


„Soit Karl ſu?“


„Ne! ar ſoit's ne, weil daß er vun niſcht ne mih was
weeß.“


„Wer ſoit's denne?“


„Nu, was de Leite ſen, die ſoin's alle, 's hätt' 'n eener
ibern Kupp gehaun.“


Kaſchelernſt ſchnalzte mit der Zunge. „De Leute raden
vill, was ne wahr is. — Desderwegen!“ . . . . Vergnügt
ſchmunzelnd fuhr er von dannen.


Wenige Tage darauf erſchienen zwei Herren vom Gericht
[408] bei Karl Büttner. Es handelte ſich um die Vorunterſuchung
gegen Richard Kaſchel.


Karl wurde auf's eingehendſte vernommen. Viel war
freilich nicht aus ihm herauszubekommen. Er wußte nur noch
wenig von jenem für ihn ſo verhängnisvollen Abend im
Kretſcham zu Halbenau. Darüber, wie er zu der Wunde
am Kopfe gekommen, vermochte er nichts Stichhaltiges an¬
zugeben.


Immerhin belaſteten die Ausſagen anderer Zeugen den
jungen Kaſchel ſoweit, daß es zur Verhandlung kam.


Es ward feſtgeſtellt, daß es Streit gegeben habe, zwiſchen
Karl und ſeinem Vetter. Ferner wurde ausgeſagt, daß Richard
Kaſchel es geweſen, der die Leute aufgefordert habe, den Be¬
trunkenen hinauszuwerfen. Das Gravierendſte aber war, daß
mehrere Zeugen ſich [beſinnen] konnten, die eiſerne Stange,
die zum Feſthalten der Thür diente, in der Hand des Ange¬
klagten geſehen zu haben. Daß aber Richard den Schlag ge¬
führt habe, der Karl verletzt haben ſollte, wollte niemand be¬
ſchwören.


Der Angeklagte ſelbſt behauptete, er ſei nicht mit draußen
geweſen vor dem Kretſcham, habe vielmehr die eiſerne Stange,
auf Befehl ſeines Vaters, ſofort wieder eingelegt.


Der alte Kaſchel, der unbeeidigt vernommen wurde, be¬
ſtätigte die Ausſagen ſeines Sohnes.


Der Angeklagte wurde freigeſprochen.


Die öffentliche Meinung ſchrieb trotzdem dem Gaſtwirtsſohne
die That zu.


Man ſchimpfte weidlich auf die Kaſchels, und verwünſchte
ſie. Erſt hatten ſie den alten Büttner ruiniert, ihn von Haus
und Hof gebracht, und nun hatten ſie ihm auch noch den
Sohn für Lebzeiten elend gemacht.


Aber ſolche Worte fielen nur hinter dem Rücken der Kaſchels.
Ihnen etwas in's Geſicht zu ſagen, wagte niemand; ſie waren
zu gefährlich.


Richard Kaſchel zeigte ſich, nachdem er hier mit einem blauen
Auge davon gekommen, anmaßender und übermütiger denn je.
[409] Das Spielen ſetzte er fort. Er ging oft weit über Land, oder
fuhr in die Stadt, um ſeiner Leidenſchaft zu fröhnen.


Dem alten Kaſchel wurde unheimlich zu Mute dabei.
Mehr als einmal ſchon hatte er ein Loch zuſtopfen müſſen für
den hoffnungsvollen Sprößling.

[[410]]

XII.

Nun begannen große Umwälzungen im Bauernhofe.
Baumeiſter und Zimmermann erſchienen. Im Wohnzimmer
wurden die Dielen aufgeriſſen, die alten erblindeten Fenſter¬
ſcheiben durch neue große und glänzende erſetzt. Dann kamen
die Ofenſetzer. Der alte Kachelherd mit Backröhre und Pfanne,
der zwei Zimmer geheizt hatte, auf dem die verſtorbene Bäuerin
das Eſſen für die Familie, zugleich mit dem Angemenge für das
Vieh, zubereitet hatte, wurde weggeriſſen und an ſeine Stelle ein
ſtädtiſcher Porzellanofen geſetzt. Die Küche kam in den Neben¬
raum. Maler nnd Tapezierer erſchienen. Die Holzverkleidung
ward von den Wänden geriſſen, gemalt und geweißt wurde, und
in die Zimmer für die zukünftige junge Frau kamen ſogar
Tapeten.


Der neue Herr kam öfters von der Stadt heraus, und
trieb die Handwerksleute zur Eile an; er wollte bald ein¬
ziehen.


Der Büttnerbauer wurde von einem Winkel in den anderen
getrieben. Er war wie ein altes Tier, dem aus Gnade das
Leben gelaſſen wird.


Überall im Hauſe herrſchten die Handwerker. Schlie߬
lich zog ſich der Alte mit einem Bündel Sachen in einen
Bretterverſchlag auf den Boden zurück, um dort zu hauſen.


Auf dem Felde war's ein Gleiches. Überall Neue¬
rungen! —


[411]

Die Ziegelei wuchs und dehnte ſich aus. Jetzt hatten
ſie ein neues Lehmlager entdeckt, das noch beſſeres Material
enthalten ſollte, als das erſte. Dort wurde abgegraben. Herr
Berger, der neue Beſitzer, ließ einen Schienenſtrang von der
Grube nach der Ziegelei legen.


Das ganze Gut ward verbitzelt. Die großen Schläge, einſt¬
mals des alten Bauern Stolz und Freude, waren in lauter
ſchmale Streifen zerteilt, auf denen kleine Wirte ihre vier,
fünf verſchiedenen Früchte bauten.


Auch im Walde gab es Veränderungen. Schon im Herbſte
hatte der gräfliche Oberförſter Kahlſchlag machen und Hügel
zur Kultur auswerfen laſſen. Kaum war der Schnee gewichen,
wurde mit der Anpflanzung begonnen.


Der alte Mann haßte all das Neue, das vor ſeinen
Augen entſtand. Es lag ſo etwas Aufdringliches, Vorwitziges
in dem, was dieſe jungen Leute anſtellten.


Vierzig Jahre hatte er nach der Väter Weiſe gewirt¬
ſchaftet, und nun über Nacht, plötzlich, ward alles umgeſtürzt,
das Oberſte zu unterſt gelehrt, ſeine Arbeit verwüſtet, als ſei
ſie nichts wert.


Sein Lebenswerk wurde für nichts geachtet. Die Spuren
ſeiner Thätigkeit waren ausgewiſcht. Das, was jeder Menſch
als mächtigſten Trieb und Sporn zum Handeln iu ſich trägt,
der eigentliche Erreger alles menſchlichen Strebens und Schaffens,
das Verlangen nach irdiſcher Unſterblichkeit, der Wunſch, in
ſeinen Werken das ewige Leben zu haben — dieſes Denkmal,
das jeder Tüchtige ſich zu errichten ſtrebt, damit Kinder und
Kindeskinder ſeiner gedenken, auf daß ſein Weſen und Wollen
nicht von der Vergeſſenheit Nacht verſchlungen werde —
dieſer Abdruck ſeiner Perſönlichkeit, der in dieſem Grundſtück:
Haus, Hof, Feldern, Wieſen und Wald, eingeſchloſſen lag, war
zerſtört; fremde Hände hatten in wenigen Monaten das zur
Unkenntlichkeit verändert, was er und ſeine Vorfahren im
Laufe eines Zeitraumes, der nach Generationen gerechnet wer¬
den mußte, in Treue und Liebe und Frömmigkeit aufgerichtet
hatten.


[412]

Die Zeit war über ihn hinweggeſchritten.


Nun wurde er in die Ecke geſtellt, ein verbrauchtes alt¬
modiſches Gerät. Er war ein Baumſtumpf, der mit ſamt
den Wurzeln ausgerodet iſt; ſo lag er auf dem Boden, dem
er, als er in voller Kraft und Blüte geſtanden, ſeinen Schatten
geſpendet hatte. Die tauſendfältigen Beziehungen, die jeden
mit der Mitwelt verbinden, die unzähligen Würzelchen, mit
denen wir jeden Augenblick Kräfte ſaugen und Kräfte zurück¬
geben, waren durchſchnitten. Er war unnütz geworden für ſich
und die anderen. Er konnte aus der Welt gehen, und nirgens
würde eine Lücke klaffen.


Zweck- und ziellos ging er umher, im Dorfe, über die
Felder, durch den Wald. Wann wäre das früher jemals
vorgekommen! Da hatte jeder Gang ſein Ziel, da wurde er,
außer Feiertags, niemals unbeſchäftigt angetroffen. Aber, was
ſollte er jetzt anfangen? wofür ſeine Hände rühren?


Die Leute redeten ihn an, einzelne aus Mitleid, die meiſten
aus Neugier; ſein Weſen war allen ein Rätſel.


Aber, da man faſt nie eine Antwort von ihm erhielt,
unterblieb das Anreden mit der Zeit. Die Kinder lachten
wohl über die ſtruppige Erſcheinung des Alten, liefen ihm
nach; auch Erwachſene wagten hie und da eine Spottrede
hinter ſeinem Rücken. Aber in's Geſicht ihn zu höhnen,
wagte niemand; das Elend hatte noch nicht ganz die Ehr¬
furcht gebietende Würde aus der Erſcheinung des Greiſes
gelöſcht.


Der Pfarrer ſtellte den alten Mann auf der Straße und
ging eine Strecke mit ihm. Da gab es zarte Vorwürfe zu
hören, daß Büttner nicht mehr zur Predigt und zum Tiſche
des Herrn komme. Der Bauer zuckte verdroſſen die Achſeln,
blieb dem Seelſorger die Antwort ſchuldig.


Ein andermal traf Büttner mit dem Güterdirektor des
Grafen zuſammen. Hauptmann Schroff hielt ſein Pferd an
und begrüßte den alten Mann. Der Hauptmann beklagte, daß
alles ſo gekommen wäre. Nun das Bauerngut nicht mehr
für ihn zu haben ſei, habe der Graf ſeinen Sinn geändert.
[413] Er bereue jetzt, den Juden hineingelaſſen zu haben. Die neue
Nachbarſchaft ſei dem Herrn Grafen ein Greuel. —


Der Hauptmann ſah wohl ſelbſt ein, daß ſolche Reden zu
ſpät kamen und niemanden etwas nützen konnten. Er drückte
dem Alten die Hand, überließ ihn ſeiner Einſamkeit.


Was wollten die Leute von ihm? Der Alte verachtete ſie
im Grunde ſeiner Seele alle. Alles Reden war ſinnlos, alles
Mitleid verſchwendet! Jedes Wort der Teilnahme bedeutete
eine Erniedrigung für ihn. Nur in Ruhe ſollten ſie ihn
laſſen, das war das einzige, was er noch von ihnen ver¬
langte.


Auch dem Sohne eröffnete ſich der alte Mann nicht. Der
gehörte ja auch zu den Jungen, zu dieſer neuen Generation,
die keck über ihn hinweggewachſen war.


Guſtav war ja auch dieſem Boden entſtammt, aber er
war nicht ſo feſt mit ihm verwachſen, daß er das Verpflanzt¬
werden nicht überſtanden hätte. Er ſtand jetzt im Begriffe,
ſich in neuen Verhältniſſen ein neues Heim aufzurichten für ſich
und die Seinen.


Soeben war von Häſchke eine Antwort eingetroffen. Er
hatte eine Stelle für den Freund gefunden. Guſtav ſollte in
einem großen Hauſe der inneren Stadt die Vizewirtsſtelle
übernehmen.


Es war ein verantwortungsreicher Poſten. Im Hinter¬
hauſe befand ſich eine Kartonagenfabrik, die über hundert
Leute beſchäftigte. Im Parterre des Vorderhauſes war ein
Bankgeſchäft, im erſten Stock eine Verſicherungsgeſellſchaft;
alles in allem wohnten in dem weitläufigen Gebäude einige
zwanzig verſchiedene Parteien.


Guſtavs ausgezeichnete Militärpapiere hatten den Ausſchlag
gegeben, als er zu dieſer Stellung gewählt wurde. Häſchke
riet, daß er ſofort annehmen ſolle; es gäbe eine ganze Anzahl
anderer Bewerber für den Poſten.


Für Guſtav war es nichts Kleines, ſich hier zu entſcheiden.
[414] Vieles daran war verlockend: die feſte Anſtellung, das aus¬
kömmliche Gehalt; übergroße Anſtrengung war mit einem
ſolchen Poſten auch nicht verbunden und man behielt Zeit
übrig für ſich und die Seinen.


Auf der anderen Seite gab es mancherlei Unerquickliches
an einer ſolchen Stellung. Man brachte mit ſeiner Arbeit
nichts Bleibendes vor ſich, woran man ſeine Freude hätte haben
können. Die Ausſicht, Höheres zu erreichen, ſich ſelbſt vor¬
wärts zu bringen, war ausgeſchloſſen. Man war der Diener
von tauſend beliebigen Leuten. Und was Guſtav als das
Schwerſte erſchien: er wurde herausgeriſſen aus dem von
Jugend auf gewohnten Leben. Vom Acker weg wurde er in
ein ſtädtiſches Souterrain verpflanzt, in das vielleicht die Sonne
nicht einmal am Tage drang. Wie würde er, wie würde Pau¬
line, das ertragen?


Erſt jetzt, wo er vor die Entſcheidung geſtellt war, merkte
er, was er vorhatte: daß er einen Strich mache unter ſeine
eigene Vergangenheit, daß er mit der vielhundertjährigen Über¬
lieferung ſeiner Familie breche, daß er im Begriff ſtehe, aus
einem Landmann ein Städter zu werden.


Er beſprach die Sache mit Pauline. Sie überließ ihm,
wie in allen wichtigen Fragen, auch diesmal die Entſcheidung.
Ihr genügte, bei ihm bleiben zu dürfen, alles andere ſolle ihr
recht ſein.


Schließlich erkannte Guſtav, daß es eine Wahl für ihn
gar nicht mehr gebe; er mußte annehmen. Der Winter hatte
die Erſparniſſe des vorigen Sommers verſchlungen. Als Auf¬
ſeher wieder in die Rübengegend zu gehen, hatte er verſchworen.
In der Heimat gab es keine Beſchäftigung für ihn, wenn er
nicht tagelöhnern wollte. Er mußte alſo nach dem greifen,
was ſich ihm bot, um ſich und die Seinen vor Mangel zu
bewahren.


Die Stelle war durch Todesfall erledigt, und Häſchke
hatte geſchrieben, daß Guſtav ſo bald wie möglich antreten
müſſe. Es hieß alſo, in wenigen Tagen packen und Abſchied
nehmen.


[415]

Ein Plan war in Guſtav gereift: er wollte den Vater
auffordern, mit ihnen in die Stadt zu ziehen.


Guſtav war ſich nicht im Unklaren, was er damit
auf ſich nehme. Es würde nichts Leichtes ſein für alle
Teile; der alte Mann war ſchwierig, würde kein bequemer
Hausgaſt ſein. Beſonders in der Stadt war das nichts Kleines,
wo man enge aufeinander ſaß, wo alle die mannigfaltigen
Abziehungen des ländlichen Berufes fehlten.


Aber es mußte ſein! Pauline ſowohl, wie Guſtav, waren
ſich klar darüber, daß ſie den Vater nicht in ſeinem Elend
allein laſſen durften. Was ſollte aus ihm werden in Hal¬
benau, wenn ſie nun auch fortgingen? Wenn es niemanden
mehr gab, der ſich um die Notdurft des Alten kümmerte!
Das Armenhaus war der wahrſcheinliche Abſchluß.


Eine ſolche Schande wollte man nicht auf ſich laden. Der
Familienſinn, der bei Guſtav nicht völlig untergegangen war,
ſprach mit. Soweit war es mit den Büttners doch noch nicht
gekommen, daß man das Familienoberhaupt hätte in Schmutz
und Armut verkommen laſſen mögen, ohne eine Hand zu
rühren. Die Leute würden mit Fingern auf ſolch' unnatürliche
Kinder gewieſen haben. Dieſe Schmach wollte Guſtav ſeinem
Namen nicht anthun.


Als ſie jedoch mit dem Vater davon ſprachen, ſtießen ſie
auf Widerſtand. Er wolle nicht in die Stadt, erklärte er.


Sie hielten ihm vor, was ſeiner in Zukunft in Halbenau
warte: das Einliegerelend, die Abhängigkeit von wildfremden
Menſchen, die ihn als ihren Knecht behandeln und ihm, wenn
es ihnen paßte, den Stuhl vor die Thür ſetzen würden. Und
was, wenn er krank würde! Wer würde ihn pflegen?


All das hielten ſie ihm vor. Ob es Eindruck auf ihn
mache, oder nicht, war nicht zu erſehen. Er ſagte nicht: ja und
nicht: nein, trug ſeine gewöhnliche mürriſch verſchloſſene Miene
zur Schau.


Guſtav machte einen Verſuch, ihn beim Ehrgefühl zu
packen. Sollte er ſich bei ſeinen Jahren noch als Tagelöhner
verdingen? Wollte er wirklich in die Ziegelei gehen auf
[416] Arbeit? Er der ehemalige Großbauer: Ziegelſtreicher! Oder
wollte er gar der Gemeinde zur Laſt fallen? —


Aber auch hierauf zeichnete er nicht. Er ſchüttelte nur
den Kopf und murmelte etwas Unverſtändliches vor ſich hin.
Es ſchien faſt, als hege er einen wohlüberlegten Plan, einen
Entſchluß in ſeinem Innern, den er niemandem verraten wollte.


Seine Kinder drangen noch einmal in ihn. Sie ſtellten
ihm dar, wie ſchön er es bei ihnen haben werde. Man wolle
ihm ein Stübchen ganz für ſich laſſen. Häſchke habe von
einem Gärtchen geſchrieben, das Guſtav mit im Stand zu halten
hätte; dieſe Arbeit ſolle er übernehmen, damit er doch ſeine
Beſchäftigung habe. — Es verſchlug alles nichts. Man
konnte zweifelhaft werden, ob er überhaupt die Worte höre;
ſeine Züge waren leer, ſeine Augen ſchienen auf etwas ge¬
richtet: weit, weit in der Ferne, das nur er ſah.


Guſtav gab es ſchließlich auf, dem Vater noch länger zu¬
zureden. Wenn der nicht wollte, dann brachten ihn zehn
Pferde nicht von der Stelle. Er war eben ein Büttner! —


Aber Pauline ließ die Hoffnung noch nicht fahren, den alten
Mann zu überreden. Sie war, ſeit ſie Guſtav geheiratet, der
beſondere Liebling des Alten geworden. Ihr gegenüber hatte
er hie und da ſogar etwas von ſeinem Kummer blicken laſſen.


Die junge Frau ſprach den Schwiegervater noch einmal
unter vier Augen, mit jener innigen, ſchlichten Herzlichkeit, die
ihr zu Gebote ſtand, meinte ſie: ſie wollten's ihm auch ſo
gut machen, als er ſich's nur denken könne.


Sie hoffte, ihn vielleicht mit der Koſt locken zu können.
Sie wolle ihm ſo kochen, wie er's gewohnt ſei, von der Mutter
her, und wie ſie wiſſe, daß er's gern habe.


Da traten dem Alten plötzlich die Thränen in die Augen;
mit einer Weichheit, die man ſonſt nicht an ihm gewohnt war,
ſagte er: „Ne, ne! Pauline, laß ack! Du biſt gutt! — Ich
weeß, Ihr meent's gutt mit mir alen Manne. Aber, laß
ack!“ . . . .


Dann verſank er in Nachdenken.


Sie wagte es, ſeine Hände zu ergreifen und ſie zu
[417] ſtreicheln. Noch einmal ſtellte ſie ihm dann vor, wie viel
beſſer er's haben könne, wenn er bei ſeinen eigenen Leuten
bliebe, als unter Fremden.


„'s is alles eens, Pauline!“ war ſeine Antwort. „Mit
mir is eemal niſcht nich! Mir nutzt niſcht nich mih! Ich were
bale ganz alle ſen!“


Sie meinte dagegen: er werde noch manches Jahr er¬
leben; er ſei ja rüſtig und nehme es noch mit manchem
Jungen auf.


„Ne, ne! ich ha's 'n dicke! Ich ha's 'n ſchun ganz dicke!
— De Mutter is nu och tut. 's is ne ſchiene ſu alleene ei
der Welt.“


Er ſchnäuzte ſich und wiſchte die Augen; beides mit der
Hand. Dann fuhr er fort: „Gieht Ihr ack! und laßt mich
Ales in Frieden. Ihr ſed jung! Ihr wißt ne, wie's unſereenem
zu Mute is. Ihr kennt's ne wiſſen. Das kann niemand nich
verſtiehn, wie's unſereenem um's Harze is. — Su manchmal,
Nächtens — ſu alleene — und an Tage och, ſu verlaſſen!
Mer mechte ſich winſchen, daß de Sunne gar ne nich ſcheinen
thate. Alles is eenem zuwider! Ne, ne! das verſtieht niemand
ne, der's ne derlabt hat! — Laßt mich ack! Ich wer' ſchun a
Platzel finden; is ne ei der Welt, dann is am Ende, kann
ſen, haußen.“


Pauline ſchluchzte laut auf, als ſie den alten Mann ſo
ſprechen hörte.


„Ju, ju! Su is! Ich glob', ich wer mich ne lange mih zu
ſchinden han. — Ich will Der och noch was mitgahn, Pau¬
line, zum Adenken, eh' daß 'r gieht.“


Damit ging er nach ſeinem Bretterverſchlag auf den Boden
und kam nach einiger Zeit, den Arm voll Kleidungsſtücken,
zurück.


Da war eine wattierte Puffjacke der Bäuerin, eine ſeidene
Schürze, die er mal ſeiner Braut zum Geſchenk gemacht hatte,
etwas Leibwäſche der Verſtorbenen und noch Kleinigkeiten
aus dem Nachlaſſe der Bäuerin, mit denen er Paulinen be¬
ſchenkte.


W. v. Polenz, Der Büttnerbauer. 27[418]

Auch Guſtav ſollte bedacht werden. Der Alte ſchleppte
ſeinen Schafwollpelz herbei, den er ſeit dreißig und mehr
Jahren führte.


Pauline weigerte ſich, den Pelz für ihren Mann anzu¬
nehmen; den müſſe der Vater behalten, damit er im Winter
was Warmes habe.


„Ich wer' keenen Winter mehr ſahn!“ ſagte der Bauer.


Da er böſe zu werden drohte über ihre Weigerung,
nahm ſie den Pelz ſchließlich an, zum Schein. Sie wollte
ihn der eigenen Mutter übergeben, die ihn einſtweilen aufbe¬
wahren und dem Alten bei beginnender Winterszeit zurück¬
ſtellen ſollte. —


An einem Sonntag Morgen in der Frühe nahmen Guſtav
und Pauline Abſchied von Halbenau. Ihre Abreiſe hatte
manchen Freund und manche Freundin herbeigelockt. Frau
Katſchner ſchwamm in Thränen. Sie mußte der Tochter
heilig verſprechen, daß ſie nach dem alten Büttner ſehen
werde.


Die Witwe hatte im Stillen noch nicht alle Hoffnung
aufgegeben, daß ihr noch ein zweites Mal die Freuden des
Eheſtandes zu teil werden möchten. Im geheimſten Käm¬
merchen ihres Herzens regierte kein anderer, als Traugott
Büttner allein.


Der alte Mann war nicht erſchienen, um von ſeinen
Kindern Abſchied zu nehmen. Die Leute ſagten, er ſei auf
dem Wege nach der Kirche geſehen worden.

[[419]]

XIII.

Am Sonnabend Abend war der alte Büttner zum Dorf¬
bader gegangen und hatte ſich ſeinen Bart abnehmen laſſen.
Sonntags, beim Morgengrauen, nahm er ſeine Feiertagskleider
aus der Lade, den langſchößigen Tuchrock, der zur Hochzeit
neu geweſen war, die Weſte mit den Perlmutterknöpfen, den
Cylinder, der ihm nun auch ſchon an dreißig Jahre Dienſte
gethan hatte, und der trotz alles Streichens mit dem Rockärmel
nur immer widerhaariger wurde.


Traugott Büttner ging zum Tiſch des Herrn.


In ſeinem Feiertagsſtaat, das Geſangbuch in der Hand,
ſchritt er die Dorfſtraße hinab. Er blickte nicht rechts noch
links, nur auf ſeinen Weg.


Andere Altarleute, die ihn überholten, blickten ihm erſtaunt
in's Geſicht.


Ja, war denn das wirklich der Büttnerbauer! Oder war
es ſein Geiſt? Die bleichen Wangen, nicht mehr vom Bart
verſteckt, zeigten jetzt erſt ihre ganze hohle Magerkeit.


Er erwiderte keinen der vielen Morgengrüße, die ihm von
allen Seiten geboten wurden. Sein Gang war langſam,
aber feſt, die Blicke hielt er ſtarr geradeaus gerichtet.


Man ſteckte die Köpfe zuſammen. „Saht ack! Büttner¬
traugott gieht beichten!“ — Er war eine ungewohnte Er¬
ſcheinung geworden in der Kirchfahrt.


Beim Hauptgottesdienſte, der der Kommunion folgt, nahm
27*[420] Büttner ſeinen altgewohnten Kirchenplatz ein. Vieler Augen
waren auf ihn gerichtet; es war, als ob nach langem Kranken¬
lager einer wiederum unter Menſchen geht. Selbſt der Geiſt¬
liche ſchien unter dem Eindrucke zu ſtehen, daß heute ein be¬
ſonderer Gaſt in ihrer Mitte weile; er ſprach einige Male
mit Betonung nach jener Richtung hin, wo der alte Mann ſaß.


Der hörte der Predigt vom erſten bis zum letzten Worte
mit Aufmerkſamkeit zu. Beim Schluſſe des Gottesdienſtes
opferte er ſeinen Groſchen, wie er es von jeher gethan, ſo
oft er das Abendmahl genoſſen.


Man wollte ihn anreden, als er aus der Kirche trat.
Alte Freunde drängten ſich an ihn heran. „Nu Traugott!“
hieß es: „wu haſt denn Du ſu lange geſtackt?“


Er ſchien für die Frager keine Zeit zu haben. Mit
eigenartig ernſtem Blicke ſah er die Leute an, ſchüttelte den
Kopf, wandte ſich und ging. — Mancher, der jetzt kaum darauf
geachtet, ſollte ſich ſpäter daran erinnern. — „Grade als ob 'r
D'ch durch und durch buhren wullte; und duch als ob 'r ganz
wu anderſch hin ſäke,“ ſchilderte ein Zeuge nachmals dieſen
Blick. Dann ſei er auf einmal verſchwunden, aus der Menge
der Kirchgänger; keiner wollte wiſſen, wie das geſchehen. —


Traugott Büttner ſchritt auf ſeinen ehemaligen Hof zu.
Heute war das Haus menſchenleer; des Feiertags wegen
arbeiteten die Handwerker nicht.


Er ging in die Kammer, legte die Feiertagskleidung ab
und zog die Werkeltagskleider wieder an. Dann legte er die
guten Sachen ſorgfältig zuſammengefaltet auf einen Stuhl,
das Geſangbuch zu oberſt auf das Bündel.


Nachdem er das beſorgt, begab er ſich in den Stall. Er
ſteckte den Kühen Futter auf, reichlich, für zwei Mahlzeiten. Den
Schweinen ſchüttete er Trebern vor und goß einen Reſt von
Milch darüber, zu einer rechten Feiertagsmahlzeit. Darauf ſah er
ſich noch einmal um, wie um ſich zu überzeugen, daß alles beſchickt
und in Ordnung ſei. Dann machte er die Thüre hinter ſich zu
und ſchritt zum Hofe hinaus, auf dem Wege hin, der nach
dem Walde führt.


[421]

Nach einer Weile machte er Halt, wandte ſich um.
Hatte er etwas vergeſſen? — Er wollte nur das Dach
noch einmal ſehen, unter dem er Zeit ſeines Lebens gehauſt
hatte. Dort ragte der freundliche Giebel über die Scheune
hinweg.


Der alte Mann hielt die Hand über die Augen, um ſie
vor den blendenden Strahlen der Frühjahrsſonne zu ſchützen.
Er ſtand da eine Zeit lang, betrachtete alles noch einmal ganz
genau; das würde er nicht wieder ſehen! —


Dort auf den Scheunenfirſten war ſchon wieder mal das
Stroh loſe geworden; es ſträubte ſich wie unordentliches
Haar nach allen Richtungen. Daß er das gar nicht bemerkt
hatte, bisher! — Nun, der Neue würde das ſchon in Ordnung
bringen!


Ihn fröſtelte auf einmal.


Warum ſtand er denn hier eigentlich? Was wollte er
denn? — Ja richtig! Nur ſchnell! Je eher, je beſſer! Wozu
hier ſtehen und gaffen? Das nützte ja doch nichts! Aber das
Strohdach . . . . Er hätte gar nicht gedacht, daß der Wind ſo
ſtark geweſen wäre, neulich! — Er war ſelten hier heraus
gekommen in der letzten Zeit, weil ihn die Ziegelei ärgerte.
Ach, dieſe Ziegelei! Das ganze Gut war ſchimpfiert. Dort
blickte die Eſſe vor; er mochte gar nicht hinblicken!


In weitem Bogen umging er das Bauwerk; bis er hinter
der Ziegelei wieder auf den Hauptweg des Gutes kam.


Wie viel tauſend und abertauſendmal in ſeinem Leben
war er dieſen Weg hinausgeſchritten! Zu allen Jahreszeiten,
ledig und mit Bürde, allein, oder in Geſellſchaft der Frau,
der Kinder, mit den Geſpannen. Vom Büttnerſchen Hofe kam
der Weg, führte durch Büttnerſche Felder und Wieſen, lief in
den Büttnerſchen Wald aus. Eine halbe Stunde und mehr
konnte der Bauer geradeaus ſchreiten, ohne von ſeinem Grund
und Boden herunter zu kommen.


Hier war er umgeben von den Zeugen ſeines Lebens und
Wirkens. Jener klobige Steinblock erinnerte ihn an die tage¬
lange ſchwere Arbeit, mittelſt der er ihn aus dem Acker gehoben.
[422] An dieſer Ecke war er in früher Jugend bewahrt worden vor
Unfall, wie durch ein Wunder: die Pferde waren ſcheu ge¬
worden, hatten den Knaben geſchleift; als der Vater desſelben
Weges kam, ſich den Tieren entgegenwarf und ſo des Kindes
Leben rettete. Dort jenen wilden Roſenſtrauch hatte er ſtehen
laſſen, während rings alles Gebüſch gerodet wurde, der Hage¬
butten wegen, aus denen die Bäuerin ein ſchmackhaftes Mus
zu bereiten verſtand. — Hier hatte jeder Fußbreit Landes Be¬
deutung für ihn, jedes Hälmchen erzählte ihm eine Geſchichte.


Jetzt verließ er den Hauptweg, ſchlug einen ſchmalen Gang
zwiſchen zwei Feldern ein. Dabei ſtieß er auf einen friſch ge¬
ſetzten Grenzſtein. Das war die neue Einteilung! — Alles hatten
ſie ihm durcheinander geworfen: die Grenzen, die Schläge, die
Fruchtfolge.


Da war ein Stück mit junger grüner Saat. Hafer konnte
das nicht ſein. Ja, zum Tenfel, was war denn das? — Der
Bauer blieb ſtehen, bückte ſich, betrachtete ſich die Hälmchen
genau. Das war ja Gerſte! — War der Menſch verrückt,
hier Gerſte zu bauen, auf dieſem naſſen Zipfel! Der würde
ſich mal wundern im Herbſt, was er hiervon ernten mochte!
Er mußte doch ſeinen Acker kennen. Hier gerade war un¬
durchläſſiger Tonboden, und immer Näſſe. Da wollte ſolch
ein Eſel Gerſte bauen! — Der Alte lachte grimmig in ſich hinein.


Aber er hatte ja noch was vor heute. Richtig! —


Ein kleiner Schauer lief ihm den Rücken hinab. Nur die
Furcht nicht Herr werden laſſen! Die Sache war ſchnell vorüber,
wenn man's richtig anfing. Er überzeugte ſich durch einen
Griff in die Bruſttaſche, daß das, was er brauchte, auch da ſei.


Was ſie wohl ſagen würden, wenn ſie ihn erſt gefunden
haben würden! — Was ſeine Peiniger da ſagen würden!
— Kaſchelernſt, der Hund! Dort lag ſein Feld. Sein Korn
ſchien gut zu ſtehen heuer. Wie er ihm im vorigen Jahre
die Saat umgeſtürzt hatte, das war doch mal ein gelungener
Streich geweſen! — Der Schimmer eines Lächelns flog über
die verbiſſenen Züge des alten Mannes.


Jetzt mußte er Halt machen; er war zu ſchnell gegangen.
[423] Nur Ruhe! Er kam noch zeitig genug! Er warf einen Blick
auf das Dorf, das man von hier aus in ſeiner ganzen Länge
überſehen konnte, bis zur Kirche hinab. Eben begannen ſie
dort zu läuten; es war wohl zum zweiten Gottesdienſte.
Büttner nahm unwillkürlich die Mütze vom Kopfe, faltete die
Hände, betete ein Vaterunſer. Dann ſeufzte er tief und wandte
ſich wieder zum Gehen.


Ob ſie ihm wohl ein chriſtliches Begräbnis geſtatten würden?


Daß er als Chriſt geſtorben und nicht wie ein Heiden¬
menſch, das mußten ſie doch einſehen! Die ganze Gemeinde
und der Paſtor hatten ihn ja in der Kirche und am Altar
geſehen. Das mußte doch gelten!


Es war ja am Ende nicht recht in den Augen der
Menſchen, was er that, und eine Sünde vor Gott dem Herrn
war es auch. Aber, konnte er denn anders? Tauſendmal
hatte er's erwogen. Wie viele ſchlafloſe Nächte waren darüber
hingegangen ſeit jener, wo ihm der Gedanke zum erſten Male
gekommen! Es war damals geweſen, als ſeine Frau unbe¬
erdigt im Hauſe lag. Er ſelbſt hatte die Tote gewaſchen und
angekleidet. Still hatte ſie dagelegen und zufrieden, im Leichen¬
hemde. Da war ihm beim Anblicke des friedlichen Angeſichts
ſeiner Lebensgefährtin zum erſten Male der Gedanke gekom¬
men, wie viel beſſer es doch die Toten hätten, als die Lebenden.
Gar nicht ſchrecklich war der Tod; er hatte etwas ſo Natür¬
liches und Gutes. Seitdem ließ ihn die geheime Sehnſucht
nach der Ruhe nicht wieder los.


Anfangs hatte ihn oft gegrauſt bei dem Gedanken, wie
doch ein ſolches Ende wider Natur und Sitte ſei. Er
ſcheute vor der Ausführung zurück. Allmählich aber hatte
er ſich an die Vorſtellung des Grauenhaften ſo gewöhnt,
daß ſeine Pulſe kaum ſchneller gingen, ſo oft er daran
dachte.


Es gab ja keinen anderen Weg! Sie hatten ihm alles
zerſtört, was den Menſchen an's Leben feſſelt. Richtig hinaus¬
gedrängt war er worden ans ſeinem Hauſe, aus ſeinem Beſitz,
aus allen ſeinen Rechten. Den Boden hatten ſie ihm unter
[424] den Füßen weggeriſſen. Wenn ſie's gekonnt hätten, ſie hätten
ihm gewiß auch Licht und Luft genommen.


Ein Bettler war er. Aber in's Armenhaus ſollten ſie
ihn doch nicht bekommen. Die Freude wollte er ihnen nicht
machen, den ehemaligen Büttnerbauer im Armenhauſe zu
ſehen. Nun würde er 's ihnen gerade mal zeigen, daß er
ſeinen Kopf für ſich hatte. Mit guten Lehren und Ratſchlägen
waren ſie immer ſchnell bei der Hand geweſen, aber ihn zu
retten, hatte keiner den Finger gerührt. Er verachtete ſie alle,
die ganze Sippe! Daß er nun endlich keine Geſichter mehr zu
ſehen brauchte, war ihm ein langerſehntes Glück. Sie ließen
einen ja doch nicht in Frieden, wie tief man ſich auch verkroch,
ſie kamen einem nach, überallhin, die geſchwätzige neugierige Art.
Man mußte ſchon ganz aus der Welt gehen, um Ruhe zu
haben. Und nach ſeinem Tode würden ſie wahrſcheinlich erſt recht
klug reden. Das hätte er nicht thun ſollen, würden ſie ſagen.
Ein großes Gezeter würden ſie anheben. Er kannte ſie ja,
wie ſie waren, kaltherzig und gleichgültig, ſo lange einer zappelt,
und dann, wenn ihm der Atem ausgegangen, wenn er ver¬
röchelt war, dann kamen ſie herbeigelaufen, umſtanden das
Opfer mit Thränen und Seufzern und Redensarten.


Aber das ſollte ihn nicht bekümmern, das hörte er ja
alles nicht mehr! — Er that, was er für recht hielt. Hier durfte
ihm keiner mehr was 'rein reden. Mit ſich ſelber konnte man
anfangen, was man wollte. Wer einem nichts gab, hatte
einem auch nichts zu befehlen! —


Jetzt war er ſeinem Ziele ſchon ganz nahe. Dort am
äußerſten Feldrande ſtand der Baum; ein wilder Kirſchbaum,
ſchlank gewachſen. Ein Haufen Steine, aus dem Felde zu¬
ſammengeleſen, lag darunter. Die Krone ſtand in voller
Blütenpracht, leuchtete weithin, wie eine weiße Haube. Da¬
hinter lag das Büſchelgewende.


Der Alte machte Halt. Was war denn hier vorgegangen?
Erdhäufchen an Erdhäufchen, in langen ſchnurgerade ausge¬
richteten Reihen! und die grünen Quirle, die aus den Haufen
hervorlugten: junge Fichtenpflanzen!


[425]

Hatten ſie ihm das Büſchelgewende alſo doch zugepflanzt! —
Wie viele Tage und Stunden mühevoller Arbeit, mit Pflug
und Egge, ſteckten in dem Boden! Und dieſe Arbeit war für
nichts und wieder nichts geweſen. Was er im Laufe eines
Lebens der Wildnis entriſſen, hatte die gräfliche Forſtver¬
waltung in wenigen Tagen zupflanzen laſſen.


Alſo auch dieſes Zeugnis ſeines Schaffens war vernichtet;
ſo hatten ſie ihm denn alle Maſchen ſeines Lebenswerkes auf¬
gelöſt.


Er ſtand und ſtarrte die grünen Spitzen der Fichten¬
pflänzchen an. Eine dumpfe Wut ſtieg in ihm auf.


Da fiel ihm noch zur rechten Zeit ein, wie ſinnlos ſein
Ärger ſei; er brauchte ſich ja nicht mehr zu ärgern. Nichts auf
der Welt ging ihm mehr was an, wie er keinem mehr was anging.


Noch einmal empfand er die ganze Wonne des wirklich
Einſamen, den Stolz, die Verachtung des Bedürfnisloſen, der
im Begriffe iſt, das letzte abgetragene Gewand von ſich zu
werfen.


Er war mit haſtigen Schritten an ſein Ziel gelangt.
Hier ſtand der Kirſchbaum, mit dunklem, glänzendem, wie
poliertem Schafte, bis in's kleinſte Äſtchen von zierlichen Blüten¬
kelchen bedeckt. Die erſten Bienen ſchwärmten bereits in der
Krone.


Traugott Büttner achtete nicht auf das Summen und
den Duft. Er maß den Baum mit prüfendem Blicke. Hier
der unterſte Aſt war ſtark genug. Wenn er auf den Stein¬
haufen ſtieg, konnte er ihn erreichen. Eine Schlinge — dann
die Füße losgelaſſen, und dann . . . . . .


Wieder lief ihm ein Fröſteln durch alle Glieder. Ein
Druck am Halſe, als würde er ihm zugeſchnürt, ein würgendes
Gefühl im Unterleibe; die Beine drohten, ihm den Dienſt zu
verſagen.


Er mußte ſich, von Schwäche übermannt, an den Stamm
lehnen. Vor den Augen flimmerte es ihm. Er ſtand da mit
offenem Munde, ſtieren Blickes. Es war zu fürchterlich, was
er thun wollte: Hand an ſich ſelbſt legen! Fürchterlich! —
[426] Wenn ihm das einer in der Jugend geſagt hätte, daß er
ſo enden werde!


Er betete ein Vaterunſer, das erleichterte ihn. Dann
richtete er ſich auf; der Furchtanfall war vorüber.


Er wollte ſterben; tauſendmal hatte er ſich's überlegt. Es
war nicht das erſte Mal, daß er mit dem Stricke in der Taſche
hier draußen ſtand. Bisher hatte ihn immer noch der Ge¬
danke an ſeine Kinder abgehalten, das Letzte zu thun. Sie
ſollten ihn nicht ſo hängen ſehen. —


Nun waren ſie fort. Was die anderen ſagen würden, die
Fremden, war ihm gleichgültig.


Heute wollte er's mal zu Ende führen. Er war ja gut
zum Sterben vorbereitet: war zur Beichte geweſen, hatte das
heilige Abendmahl genoſſen; Gott mußte ihm ſeine Sünde
vergeben. —


Jetzt ſtand er auf dem Steinhaufen, der Strick ſaß feſt
am Aſte, er brauchte nur den Kopf durch die Schlinge zu
ſtecken. —


Noch einmal hielt er inne. Sein Blick flog über die
Felder und Wieſen zu ſeinen Füßen. Das war ſein Land, er
ſtarb auf ſeinem Grund und Boden. Sein Auge ſuchte das
Vaterhaus; da unten lag es, winkte zu ihm herüber aus blühen¬
den Baumkronen.


Faſt unbewußt ſtreifte er die Schlinge über den Kopf.
Wenn er ſich nun mit den Füßen abſtieß, war's geſchehen.


Noch ein Vaterunſer!


Der Strick würgte ihn ſchon am Halſe. Er fühlte die
Steine unter ſich rollen. Unwillkürlich ſuchte er eine Stütze
mit den Füßen. Umſonſt! Er hatte den Grund verloren,
ſein Körper wurde lang.


Was war denn das an ſeinem Halſe? Ein Band mit
eiſernen Stacheln! — Sie riſſen ihm den Körper in Stücke!
Hing er denn? Er ſah ja noch alles, ganz deutlich: dort,
die beiden Leute, zehn Schritt von ihm. —


So helft mir doch! Schneidet mich ab! Seht Ihr's denn
nicht! —


[427]

Nichts! Sie rühren ſich nicht.


Der Wind ſpielt mit ihren Haaren, ſie haben große, ſtille
Augen. Der eine iſt ſein Vater, er erkennt ihn ganz genau,
der Vater mit dem langen, gelben Haar, bartlos. Und das
kleine gebückte Männchen daneben iſt der Großvater. Ein
uralter Mann, mit ſchiefer Naſe und rotumränderten Augen.
So ſtehen ſie da und ſehen ihm ernſt und ſchweigend zu.


Er will mit ihnen reden. Wenn nur das Band am
Halſe nicht wäre. — Hülfe! Helft mir! —


Jetzt kommt der Vater heran. Vater! — So jetzt wirds
leichter. — Was ſind das für große, ſchwarze Vögel . . . . . . .


Der Wind ſchaukelt den Körper hin und her. Die Bienen
im Kirſchbaum laſſen ſich deshalb in ihrem Geſchäfte nicht
ſtören. Der Kopf mit dem grauen Haar hängt tief auf die
Bruſt herab. Die weit aus ihren Höhlen hervorquellenden
Augen ſtarren die Scholle an; die Scholle, der ſein Leben ge¬
golten, der er Leib und Seele verſchrieben hatte.


Ende.

[]

Appendix A

Druck von Lippert \& Co. (G. Pätz'ſche Buchdr.), Naumburg a. S.

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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). Polenz, Wilhelm von. Der Büttnerbauer. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp2g.0