: Verlag von Carl B. Lorck
1846.
Seinen Freunden in Berlin
gewidmet
von dem Verfaſſer.
Inhalt.
- Seite.
- 1. Armuth und Verbrechen.1
- 2. Polizeiliche Eheſcheidung.47
- 3. Die Suͤnderin.67
- 4. Die Rechtsfrage.95
- 5. Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.117
- 6. Vom heimathloſen Vaterland.141
- 7. Das Unvermeidliche.153
Armuth undVerbrechen.
„Unter den Verbrechern ſelbſt giebt es Angeber von
Profeſſion, die ſogenannten Vigilanten. Dieſe Vigi¬
lanten ſind faſt ohne Ausnahme fruͤher beſtrafte Ver¬
brecher, welche gewoͤhnlich gar keine oder nur eine
ſcheinbare Beſchaͤftigung haben und als Spione im
Dienſt der Polizei ſtehen.“ —
(Der (Berliner) Publiziſt, Juni 1845,
Nr. 6, S. 179.
)[[2]][[3]]
In dem Kriminalgefaͤngniß zu B. erhaͤngte ſich vor
einiger Zeit ein Gefangner, der nach den Ausſagen
des Arztes und des Gefaͤngniß-Inſpektors an Schwer¬
muth gelitten hatte. Die Geſchichte dieſes Ungluͤckli¬
chen, welche wir dem Leſer hier erzaͤhlen, iſt ein voll¬
kommen wahres Ereigniß, und die folgenden Einzel¬
heiten, wobei wir nur die Namen verſchweigen, werden
vielleicht bei Manchem die Erinnerung an die handeln¬
den Perſonen erwecken.
Fritz Schenk war ein Tiſchler.
Er hatte als Geſelle lange Zeit bei einem der groͤ¬
ßern Meiſter in B. gearbeitet, und ſtand im Rufe
eines ordentlichen Menſchen und fleißigen und geſchick¬
ten Arbeiters. Da er fuͤr Niemand weiter zu ſorgen
hatte, ſo reichte ſein Verdienſt eben zu ſeinen nothwen¬
digen Beduͤrfniſſen aus, und nicht minder wie bei dem
Meiſter wegen ſeiner Brauchbarkeit, ſtand er bei den
andern Geſellen wegen ſeines Frohſinns in Gunſt.
1 *[4]Armuth und Verbrechen.
Eines Abends war Fritz aus der Werkſtatt auf die
dunkle Straße getreten, als eine Karoſſe, die an einem
andern Wagen voruͤberfuhr, ihn ſtreifte und zu Boden
warf. Er erhob ſich zwar alſogleich wieder, fuͤhlte aber,
daß ſein rechter Arm ploͤtzlich erſchlafft war. Der Herr
in der Karoſſe ließ bei dem Schrei, den der Handwer¬
ker unwillkuͤhrlich ausgeſtoßen hatte, halten und erkun¬
digte ſich, ob er Schaden genommen. Auch der Mei¬
ſter und die uͤbrigen Geſellen kamen herzu, und als
ſie den Verwundeten in die Werkſtatt fuͤhrten, ergab
ſich, daß er den Arm zweimal gebrochen hatte. Der
vornehme Beſitzer der Karoſſe ließ ſeine Boͤrſe zuruͤck,
um die erſten Koſten der Heilung zu decken, und auf
die Bemerkung des Meiſters, daß Schenk der tuͤchtigſte
ſeiner Arbeiter ſei, verſprach er noch weitere Sorge fuͤr
ihn zu tragen.
Schenk wurde in das Stadt-Krankenhaus gebracht,
wo die langwierige Behandlung den an Thaͤtigkeit ge¬
woͤhnten Arbeiter geiſtig und koͤrperlich ziemlich bedruͤckte.
Der Verurſacher ſeines Ungluͤcks bezahlte die Koſten
[5]Armuth und Verbrechen. ſeiner Pflege, bekuͤmmerte ſich aber nicht weiter um
ihn, und nachdem Schenk endlich als geheilt entlaſſen
worden war, glaubte er ſeiner Verpflichtung gaͤnzlich
quitt zu ſein. — Als Schenk zu ſeinem Meiſter zu¬
ruͤckkehrte, fand ſich, daß es mit der Arbeit keineswegs
mehr ſo wie fruͤher fortging. In dem Arm war eine
große Schwaͤche zuruͤckgeblieben, und war er auch nicht
gerade gelaͤhmt und arbeitsunfaͤhig geworden, ſo ver¬
mochte er doch nicht ſo anhaltend und ſchnell zu arbei¬
ten, wie ehedem. Er ſah, daß die Mitgeſellen ihn,
der ſonſt ſtolz auf ſeine Arbeit war, uͤberfluͤgelten. Er
wurde mißgeſtimmt und ſein Fleiß und ſeine Sorgſam¬
keit erlahmten mit der Luſt zur Arbeit. Dazu kam,
daß auch ſeine Verhaͤltniſſe eine neue Geſtaltung be¬
kommen hatten.
In dem Stadt-Krankenhaus hatte Schenk ein jun¬
ges Maͤdchen, das ſeine Erziehung im Waiſenhaus
genoſſen, zur Waͤrterin gehabt. In der leeren Ein¬
ſamkeit dieſer Stunden war ſie ſein troͤſtender Engel
geweſen, ſie hatte ihn mit frommem, ſchweſterlichem
Eifer gepflegt, und der junge Arbeiter fuͤhlte ſich durch
ihr ſittſames Weſen maͤchtig zu ihr hingezogen. Als
er die Anſtalt verließ, war ihm der Umgang bereits
[6]Armuth und Verbrechen.zur nothwendigen Gewohnheit geworden. Er benutzte
Sonntags ſeine freien Stunden regelmaͤßig, um ſie zu
beſuchen, und die junge Waͤrterin verhehlte nicht, daß
ſie ihn mit Vergnuͤgen kommen ſah. Die Theilnahme,
welche ſie Anfangs fuͤr den Kranken gefuͤhlt hatte,
machte einem innigeren Gefuͤhl Platz, und als Fritz
ſeinen Heirathsantrag vorbrachte, hatte ihr Herz ihm
laͤngſt ſchon das Verſprechen der Treue gegeben.
Schenk hoffte dazumal noch, daß die Schwaͤche
des Armes ſich allmaͤhlig durch Wiedergewoͤhnung an
die Arbeit verlieren wuͤrde, und dann haͤtten ihn ja
ſeine Erſparniſſe, ſeine Geſchicklichkeit und ſein zu dem
Ziel verdoppelter Eifer vielleicht bald in den Stand
ſetzen koͤnnen, eine eigne Werkſtatt anzulegen. Aber
das Uebel verzog ſich nicht, und eine duͤſtere Niederge¬
ſchlagenheit bemaͤchtigte ſich des Ungluͤcklichen. Seine
treue Verlobte verbarg ihren eignen Kummer uͤber ſein
Mißgeſchick und ſuchte ihn zu troͤſten und ſo viel als
moͤglich mit Hoffnungen zu troͤſten, an die ſie ſelbſt
nicht glaubte. Schenk konnte nicht anders glauben,
als daß ihm unter ſolchen Verhaͤltniſſen eine truͤbe
Zukunft bevorſtand.
Der Meiſter mußte jedesmal in den ſtillen Mona¬
[7]Armuth und Verbrechen. ten, wo es weniger Arbeit gab, einige ſeiner Arbeiter
entlaſſen. So lange Schenk im Beſitz ſeiner vollen
Kraft und Thaͤtigkeit war, hatte er nicht noͤthig gehabt,
um ſein Unterkommen beſorgt zu ſein, jetzt machten
ihn tuͤchtigere Arbeiter ſeinem Meiſter entbehrlich. Der
Mann war nicht hart gegen ihn geweſen. Er hatte
Schenk von fruͤher als einen brauchbaren, ordentlichen
und willigen Arbeiter ſchaͤtzen gelernt und wollte ihn
wegen ſeines Ungluͤckes nicht von ſich ſtoßen. So lange
er noch die Hoffnung hatte, daß der ſchwache Arm des
Geſellen ſich an die Arbeit gewoͤhnen wuͤrde, hatte er
Nachſicht und Geduld mit ihm gehabt. Als ſich jedoch
dieſe Hoffnung verlor, vermochte er nichts mehr fuͤr
Schenks Zukunft zu thun. Er ſtellte ihn in die zweite
Klaſſe der Arbeiter, gab ihm nur geringere Arbeit,
welche weniger Sorgfalt und Kraft erforderte, und be¬
ſchraͤnkte demgemaͤß ſeinen fruͤhern Lohn. Schenk ver¬
lor dabei die Luſt und Liebe zur Arbeit, denn er fuͤhlte
ſich unverſchuldeter Weiſe gedruͤckt. Der Meiſter machte
ihm jetzt zum erſtenmal Vorwuͤrfe wegen Nachlaͤſſigkeit
und wies ihn zu groͤßerem Eifer an. Allein Schenk
war uͤberhaupt nicht mehr der alte. Seine Lage hatte
ihn finſter und muͤrriſch gemacht, und die Ermahnun¬
[8]Armuth und Verbrechen. gen des Meiſters fanden ſtatt der gehofften Willfaͤhrig¬
keit einen verſchloſſenen, widerſpenſtigen Trotz. So
kam es denn, daß bei der naͤchſten ſtillen Zeit der
Tiſchler unter andern Geſellen auch Schenk von dem
Meiſter entlaſſen und arbeitslos wurde.
Nach mehreren vergeblichen Verſuchen, bei andern
Meiſtern ein Unterkommen zu finden, entſchloß ſich
Schenk, ſeine Lage jenem reichen Manne zu offenbaren,
der die erſte Urſache ſeines Ungluͤcks war. Er hoffte
im Stillen, daß ihm jener den Grundſtein zu einem
ſelbſtſtaͤndigen Erwerb legen wuͤrde. Eine mittelmaͤßige
Summe reichte hin, ihm eine Werkſtatt zu gruͤnden.
Dann wollte er ſich Geſellen halten, und wenn er auch
ſelbſt nicht viel zu arbeiten vermochte, ſo konnte er doch
durch ſein Geſchick und ſeine Erfahrung die Arbeit lei¬
ten. Damit, ſo hoffte er, waͤre ihm eine ertraͤgliche
Exiſtenz geſchafft geweſen, auf die hin er alsdann zu
heirathen gedachte.
Der vornehme Herr hoͤrte ihn gelaſſen an. Er
ſchien wohl zu fuͤhlen, daß er allein der eigentliche
[9]Armuth und Verbrechen. Quell des Mißgeſchicks des Arbeiters war, betrachtete
aber ſeine Vermittlung als eine Sache der bloßen Mild¬
thaͤtigkeit. Schenk wurde auf den folgenden Tag zu¬
ruͤckbeſtellt, und als er ſich zur beſtimmten Stunde
einfand, haͤndigte ihm der Kaſſirer im Namen ſeines
Herrn eine kleine Summe Geldes ein. Als Geſchenk
zur augenblicklichen Unterſtuͤtzung war die Summe nicht
unbedeutend, allein um Schenk, wie er gehofft hatte,
in Stand zu ſetzen, ſich eine Zukunft zu gruͤnden, haͤtte
es vielleicht des Doppelten bedurft. Schenk war daher
angewieſen, das Geld allmaͤhlig zu verzehren.
Der Arme, der nach qualvollem vergeblichem Muͤhen
rettungslos im Jammer ſeines Elends ſitzt und taͤglich
die Gluͤcklichen im Glanz ihres ererbten Reichthums
ſieht, giebt ſich gewoͤhnlich den thoͤrichten Hoffnungen
auf den unwahrſcheinlichſten, entfernteſt liegenden Zufall
hin, welche die kaltbluͤtigen reichen Spekulanten wahn¬
ſinnig nennen werden. Wenn der Arme ſeine letzte Hoff¬
nung auf eine Nummer des Bankhalters ſetzt, ſo ſchilt
ihn die geſunde Vernunft einen veraͤchtlichen Thoren,
indem ſie ihm das Betruͤgeriſche und Unmoraliſche des
Spiels auseinanderſetzt. Der reiche Kaufmann, der in
einer Handelskriſe ſeinen ganzen Beſitz verliert, wird ge¬
[10]Armuth und Verbrechen.woͤhnlich nur bedauert. Im Grunde aber laͤuft Alles
auf daſſelbe hinaus. In einer Welt, wo der Beſitz das
Hoͤchſte iſt, ſpekulirt und ſpielt Jeder, je nach ſeinem
Vermoͤgen, und die geſunde Vernunft deſſen, was man
ehrlichen Handel nennt, iſt nicht minder auf Betrug und
Immoralitaͤt gebaut, als die Thorheit des Hazardſpiels.
Als Schenk ſein Geld allmaͤhlig verſchwinden ſah,
gab er ſich den unbeſtimmteſten Hoffnungen hin. Die
Hoffnung verließ ihn nicht, aber er wußte eigentlich nicht,
worauf er hoffte. Einmal wollte er ſein Gluͤck im Spiel
verſuchen, aber der Gedanke, daß er von dem Reſt ſeines
Geldes noch ſo und ſo viel Tage leben koͤnne, waͤhrend
er hier vielleicht das Ganze auf einmal einbuͤßen wuͤrde,
hielt ihn wieder zuruͤck. Es war ihm immer, als wiſſe
er feſt, daß ſich dieſe Lage doch noch aͤndern werde.
Wenn er uͤber die Straße ging, ſo blickte er immer
rechts und links auf das Pflaſter, als ob er etwas Ver¬
lorenes ſuche. Dieſe Hoffnung war unſinnig, nicht wahr?
Es war auch keine Hoffnung mehr, es war eine bewußt¬
loſe Traͤumerei, da ihm die Wirklichkeit nichts mehr bot.
Bei einem beſtimmten Lebensziel haͤtte er auch nicht
noͤthig gehabt, auf einen unbeſtimmten Zufall zu war¬
ten. Der Anblick der vornehmen ſorgenloſen Vergnuͤg¬
[11]Armuth und Verbrechen. linge verurſachte ihm ein Gefuͤhl zorniger Bitterkeit, und
er fragte ſich jedesmal, was er denn gethan, daß er im
Elend ſchmachten muͤſſe, und was wohl jene gethan,
daß ſie aufgeſpeicherte Reichthuͤmer verſchwelgen duͤrften?
Wenn ein Reicher ſeine goldgeſpickte Boͤrſe zog, blieb er
unwillkuͤhrlich ſtehn, und ſein Blick haftete begierig auf
den glaͤnzenden Muͤnzen. Er dachte, daß dieſe Summe
vielleicht hinreichen wuͤrde, ihm eine zufriedene Zukunft
zu begruͤnden, und eine leiſe Stimme fuͤgte in ſeinem
Innern hinzu: ein vorſichtiger Griff in ſolch eines Man¬
nes Taſche, und du biſt gerettet. Als er ſich zum
erſtenmal auf dieſem Gedanken ertappte, rannte er er¬
ſchrocken, gleichſam um dem eignen Innern zu entflie¬
hen, von dannen. Aber die Verſuchung begann bald
darauf wieder damit, daß ſie ihm einredete: wenn Einer
jener Leute ſolch eine Boͤrſe verliert, ſo wirſt du ſie doch
aufheben und behalten; Jenen ruinirt ſie nicht und dich
rettet ſie. Dann durchwogten und kreuzten ſich die Ge¬
danken weiter; der Begriff des fremden Gutes verlor
ſich allmaͤhlig in ihm, und wenn er darauf zuruͤckkam,
ſo wußte er ihn mit der Antwort zu bekaͤmpfen, daß er
eben ſo viel Recht zum Leben wie jeder Andere habe,
und daß ſein Elend eben ſo unverſchuldet, wie der er¬
[12]Armuth und Verbrechen. erbte Reichthum der Vornehmen unverdient ſei. Zuletzt
kam immer jener erſte Gedanke zuruͤck, und wenn er
ihn noch nicht ausfuͤhrte, ſo geſchah es aus Furcht vor
der Entdeckung und — weil er im Augenblick noch
einen ganz kleinen Reſt der erhaltenen Unterſtuͤtzung
beſaß, weil die Noth ihn noch nicht gewaltſam dazu
trieb. In ſeinem Innern war Schenk laͤngſt zum Ver¬
brecher geworden, bevor und ohne daß er ſelbſt wußte.
Eines Tages wurde Schenk in dem Hauſe, wo er
in Schlafſtelle lag, zu einem Manne beſchieden, um
eine Unebenheit am Fußboden auszuhobeln. Als er ſeine
Arbeit beendigt hatte und ſich vom Boden erhob, war
der Beſitzer des Zimmers auf einen Augenblick hinaus¬
gegangen. Schenk ſah mit einer Art aͤngſtlicher Neu¬
gierde umher, waͤhrend er die Ruͤckkehr des Mannes
erwartete. Da bemerkte er dicht am Ofen auf dem
Boden eine Brieftaſche. Daneben ſtand ein Stuhl,
uͤber den einige Kleider gebreitet lagen; augenſcheinlich
war die Brieftaſche aus einem der Kleidungsſtuͤcke ge¬
fallen. Schenk lauſchte einen Moment mit bangem
[13]Armuth und Verbrechen. Zoͤgern, ob Niemand komme. Es war Alles ſtill, und
aͤngſtlich vorſichtig hob er die Brieftaſche auf. Als er
ſie eben geoͤffnet hatte, und nur den Rand einiges Pa¬
piergeldes ſah, nahte ſich von Außen der Schritt des
Herrn. Schenk wollte die Brieftaſche raſch wieder zu¬
ſammenklappen, aber die zitternde Haſt ließ ihn im
Augenblick das kleine Schloͤßchen nicht finden, und mit
einem ploͤtzlichen Entſchluß ſchob er ſie unter ſeinen Rock
auf die Bruſt. Als der Mann eintrat, klopfte ſein
Herz heftig gegen das lederne Etui; es war, als woll¬
ten die Schlaͤge das geraubte Gut von dort wegdraͤn¬
gen. Waͤhrend ihm der Eigenthuͤmer den Lohn fuͤr die
Tiſchlerarbeit auf den Tiſch zaͤhlte, ſtand er in fiebern¬
der Angſt vor Entdeckung und die Sohlen brannten
ihm, den Ort ſeines Vergehens endlich verlaſſen zu
koͤnnen.
Zu Hauſe fand er, daß die Brieftaſche nur eine
Kleinigkeit an Geld enthielt. Er vermochte jedoch nicht,
daruͤber zu rechnen, ſeine Gedanken waren einzig mit
ſeiner boͤſen That beſchaͤftigt. Die Folgen blieben auch
nicht aus.
Als der Beſitzer den Verluſt ſeiner Brieftaſche be¬
merkte, ſtieg in ihm ſogleich der Verdacht gegen den
[14]Armuth und Verbrechen. Handwerker auf, da er ſich des verlegnen und zweideu¬
tigen Benehmens deſſelben erinnerte. Der Polizei-
Kommiſſair, der alsbald herbeigeholt wurde, begab ſich
nach der Kammer Schenks, und ſein erſter Blick traf
gleich den Gegenſtand der Nachforſchung. Der Ungluͤck¬
liche hatte, von ſeinem Gewiſſen gefoltert, gar nicht
daran gedacht, ſeinen Raub zu verbergen.
Schenk wurde alsbald verhaftet und ſpaͤter zu ſechs¬
woͤchentlicher Einſperrung verurtheilt.
Hatte in ihm ſchon das boͤſe Bewußtſein ſeiner
That die bitterſten Gefuͤhle erweckt, ſo wurde er waͤh¬
rend ſeiner Haft vollends von tiefſter Beſchaͤmung und
Reue ergriffen. Die Genoſſen, welche er hier fand,
waren meiſt alte, mit Verbrechen vertrautere Gefangene,
die den ſcheuen, in ſich gekehrten Neuling mit der
Jauche ihres Spottes uͤbergoſſen. Schenk fuͤhlte, wie
ſein Herz bei den rohen Spaͤßen ſeiner in Suͤnde er¬
zogenen Gefaͤhrten ſich zuſammenzog. Er gedachte mit
Entſetzen, wie doch er auch denſelben Weg dieſer Un¬
gluͤcklichen bereits betreten habe, und die Zukunft, die
er hier vor ſich ſah, erfuͤllte ihn mit verzweifelnder Angſt.
Der einzige Troſt, der ihn noch aufrecht hielt, war ſeine
Geliebte. Dies arme Weſen hing mit ruͤhrender Treue
[15]Armuth und Verbrechen. an ihm, und ſtatt ihn in ſeinem Elend zu verlaſſen,
hatte ſie ſich mit doppelter Hingebung an ihn ange¬
ſchloſſen. Ihr Herz blutete uͤber das Vergehen und die
beſchaͤmende Lage ihres Geliebten, aber ſie duldete ſchwei¬
gend, ohne einen Laut der Klage zu aͤußern. Sie machte
ihm keine Vorwuͤrfe, ſie redete ihm nie von ihrem Kum¬
mer, ſie hoffte nur durch ihre Liebe ihn auf eine andere
Bahn zu fuͤhren. Schenk wurde tief ergriffen von dem
ſtummen Leiden dieſer treuen Seele, und in ſtillen
Stunden ſagte er ſich oft, daß er noch einmal Alles
aufbieten wolle, um ſich ein ehrliches Leben zu ſichern,
und wenn ihm dies nicht gelaͤnge, lieber vom Leben
als von der Ehrlichkeit zu laſſen.
Die Sonne des Gluͤcks ſchien noch einmal uͤber den
beiden Liebenden aufgehen zu wollen.
Schenk erhielt unmittelbar nach ſeiner Freilaſſung
die Nachricht, daß eine alte Verwandte, deren er ſich
kaum erinnerte, geſtorben ſei und ihm ein paar Hundert
Thaler hinterlaſſen habe. In dem befriedigenden Stolz
des Gefuͤhls, ſeine Vorſaͤtze nun ausfuͤhren zu koͤnnen,
[16]Armuth und Verbrechen. eilte er zu ſeiner Verlobten, und mit Thraͤnen freudiger
Hoffnung verſprach er ihr jetzt, das Gluͤck ihres Lebens
durch kein Vergehen mehr zu truͤben.
Schenk hatte kurz vorher, ehe ihn der Unfall mit
ſeinem Arme traf, den Meiſterbrief erhalten, und war
Anfangs, weil ihm die Mittel zu einem ſelbſtſtaͤndigen
Geſchaͤft fehlten, ſpaͤter, weil ihn auch ſein Gebrechen
hinderte, noch bei ſeinem erſten Meiſter geblieben. Jetzt
wurde eine Werkſtatt eingerichtet, mehrere Geſellen wur¬
den geworben, und als die Arbeit in Schwung gekom¬
men war, fand endlich auch die Vereinigung der beiden
Liebesleute ſtatt.
Eine Zeit lang ging das Geſchaͤft ganz gut. Die
Geſellen waren tuͤchtige Arbeiter, Schenk verſtand dem
Gewerk wohl vorzuſtehen, und da es im Ganzen genug
zu thun gab, ſo war auch der Verdienſt leidlich vor¬
theilhaft. Schenks Frau fuͤhlte ſich Mutter, und dies
neue Band der Vereinigten erhoͤhte das friedliche Gluͤck
ihres Heerdes.
Allmaͤhlig aber ſtellten ſich einzelne Sorgen ein.
Die Leute, welche bei Schenk arbeiten ließen, be¬
zahlten nicht immer ſogleich, und Schenk konnte ſich
die Kundſchaft bei den vornehmen Leuten nicht dadurch
[17]Armuth und Verbrechen.verderben, daß er alſogleich ſein Geld verlangte. Doch
mußte er ſelbſt ſeine Geſellen und das Material zur
Arbeit regelmaͤßig bezahlen. Schenk war daher genoͤ¬
thigt, hin und wieder Schulden zu machen. Die un¬
regelmaͤßigen Einnahmen ließen ihn nicht zur ordentli¬
chen Einrichtung kommen, und es kam oͤfters vor, daß
er das Geld, ſtatt damit die kleinen Schulden zu be¬
zahlen, in die Wirthſchaft verwenden mußte. So wurde
er allmaͤhlig immer verſchuldeter, ohne es eigentlich ſelbſt
ganz zu bemerken.
Als ſeine Frau in die Wochen kam, war eben wie¬
der ſtille Zeit unter den Tiſchlern eingetreten, und Schenk
haͤtte bei den geringen Beſtellungen zwei ſeiner Geſellen
entlaſſen koͤnnen. Aber die geſteigerten Beduͤrfniſſe
zwangen ihn zu verdoppelter Anſtrengung, und ſtatt die
Arbeit der Zeit gemaͤß beſchraͤnken zu koͤnnen, war er
genoͤthigt, dieſelbe auf eigne Gefahr fortzufuͤhren und
zu erweitern. Schenk arbeitete, was ſonſt nie geſchehen
war, oͤfters bis in die ſpaͤte Nacht. Jeden Sonnabend
Abend fuhr er dann mit den verfertigten Moͤbeln zu
den Haͤndlern, um ihnen ſeine Waaren zum ſchnellen
Verkauf anzubieten. Sonnabends war die Zeit, wo er
durchaus Geld einnehmen mußte. An dieſem Tage
2[18]Armuth und Verbrechen.erhielten die Geſellen ihren Lohn, ohne den ſie die Ar¬
beit eingeſtellt haben wuͤrden, und gleichzeitig mußten
auch die Bretterhaͤndler bezahlt werden, da ſie ebenfalls
mit der Bezahlung nicht laͤnger als eine Woche warte¬
ten und Schenk ohne ſie kein Material zur Arbeit ge¬
funden haben wuͤrde. So hatte er die doppelte Sorge,
einmal ſeine Waaren regelmaͤßig bis zum Ende der
Woche zu vollenden, und dann ſie auch noch an den
Mann zu bringen. Die Moͤbelhaͤndler, welche die Lage
der kleinen Meiſter ſehr wohl kennen, nahmen die An¬
erbietungen Schenks gewoͤhnlich nicht ſehr freundlich auf.
Sie zeigten ihm ihre reichgefuͤllten Magazine, klagten
uͤber ſchlechten Abſatz und Verdienſt, und meinten, daß
ſie, ohne ſich zu ruiniren, nicht noch mehr Kapital in
ihr Geſchaͤft verwenden koͤnnten. Zuletzt boten ſie ihm
auf ſeine Waare einen ſo geringen Preis, daß Schenk
trotz der draͤngenden Noth weiter ging. Aber je laͤnger
er umherzog, deſto mehr ſchwanden ſeine Hoffnungen.
Die anderen Haͤndler beobachteten daſſelbe Verfahren,
Manche boten ihm noch geringere Summen, und Schenk
war zuletzt genoͤthigt, ſeine Waare fuͤr einen Spottpreis
wegzugeben. Bezahlte er dann ſeine Geſellen und die
Bretterhaͤndler, ſo blieb ihm kaum ſo viel, um das
[19]Armuth und Verbrechen.unumgaͤnglich Nothwendige fuͤr die Wirthſchaft zu be¬
ſchaffen.
Auf dieſe Weiſe kam das Hausweſen immer mehr
zuruͤck. Die Frau kraͤnkelte und vermochte ihres Zu¬
ſtandes wegen nicht mehr auf Ordnung zu ſehen, die
Geſellen wurden laß oder arbeiteten wenigſtens nicht
wie fruͤher mit Eifer und Liebe, der Hausmann, Baͤcker,
Schuhmacher und andere kleine Glaͤubiger draͤngten all¬
maͤhlig ernſtlicher, und Schenk ſelbſt verfiel durch all
dieſen Jammer in duͤſtere Stumpfheit. Seine Seele
erlag nach dem kurzen Traum des Gluͤckes nur um ſo
ſchneller dem Druck der hoffnungsloſen Armuth, es ward
wuͤſt und leer in ihm, und ſelbſt ſein Aeußeres fiel ab
in Elend.
In einer ſtillen Nacht kniete der Mann vor einem
aͤrmlichen Bett, und ſeine heißen Thraͤnen rollten auf
die abgemagerte Hand ſeines bleichen Weibes. Neben
ihr regte es ſich, und ein hinfaͤlliges neugebornes Kind
erwachte eben aus ſeinem erſten Schlafe. Der Hand¬
werker ſah mit einem ſtarren Blick der Verzweiflung
durch ſeine Thraͤnen auf das kleine welke Geſchoͤpf.
„Was wird dein Schickſal ſein, du unſchuldig
Weſen!“ grollte er bitter in ſich hinein. „Was haſt
2 *[20]Armuth und Verbrechen.du gethan, daß du geſchaffen werden mußteſt? In
Armuth geboren, in Noth und Elend zu leben, in
Suͤnde vielleicht zu ſterben! Was willſt Du in der
Welt? Wahrlich, es waͤre beſſer, ich toͤdtete Dich in
Deinem friedlichen Schlummer, bevor ihn das Bewußt¬
ſein Deines verfluchten Lebens zerſtoͤrt!“ —
Als die Arbeit dergeſtalt zu erlahmen begann, daß
Schenk von dem Erloͤs kaum noch die Geſellen bezah¬
len konnte, mußte er ſich endlich dazu entſchließen, einen
derſelben zu entlaſſen. Es war dies der Anfang eines
immer groͤßeren Verfalls. Die Arbeit wurde jetzt ge¬
ringer und demgemaͤß auch der Verdienſt des Meiſters
ſchmaͤler. Die Kraͤnklichkeit der Woͤchnerin, die ſtaͤr¬
kender Nahrung bedurfte, verlangte groͤßere Ausgaben,
und da Schenk Alles auf ſie verwendete, oft ohne daß
ſie das Opfer ſelbſt bemerkte, ſo mußten die uͤbrigen
Verpflichtungen zuruͤckſtehen. Demzufolge kuͤndigte ihm
zunaͤchſt der Hausmann, der ſeit laͤngerer Zeit keine
Miethe erhalten hatte, die Wohnung auf, und Schenk
[21]Armuth und Verbrechen.mußte noch zufrieden ſein, daß ihm nicht ſein kleines
Beſitzthum an Zahlungs Statt zuruͤckgehalten wurde.
Sie bezogen jetzt eine aͤrmlich kleine Wohnung.
Schenk arbeitete nur noch mit einem einzigen Geſellen
und die Werkſtatt bildete zugleich Wohn- und Schlaf¬
ſtube. Die kraͤnkliche Frau und das hinfaͤllige Kind
litten indeß nicht lange unter dem Geraͤuſch der Arbeit,
denn ein halbes Jahr darauf ſtand dieſelbe ganz ſtill.
Schenks Verdienſt bei der angeſtrengteſten Thaͤtigkeit
war jetzt ſo gering geworden, daß er damit nicht einmal
die nothwendigſten Exiſtenzmittel beſtreiten konnte. Einige
Vorſchuͤſſe bei dem Bretterhaͤndler und der Ruͤckſtand
des Geſellenlohnes ſetzten ihn bald außer Brot.
Eine Zeitlang lief Schenk umher, um bei Andern
Arbeit zu ſuchen, aber wie er auch flehte und ſeine
verzweiflungsvolle Noth ſchilderte, ſein Bemuͤhen blieb
ohne Erfolg. Sein fruͤherer Meiſter, an den er ſich
mit der Bitte wendete, ihm nur irgend eine geringe
und grobe Arbeit zu geben, ließ ihn am haͤrteſten an.
„Wenn es blos auf Euren ſchwachen Arm an¬
kaͤme,“ ſagte er, „da wollte ich ſchon Nachſicht ha¬
ben. Aber Ihr habt bereits einen Diebſtahl began¬
[22]Armuth und Verbrechen.gen und einen ſolchen Menſchen, der mir vielleicht meine
Geſellen noch verfuͤhrt, kann ich nicht brauchen.“ —
Schenk trieb ſich in duͤſterer Verzweiflung umher.
Zuweilen erhielt er irgend eine zufaͤllige Beſchaͤftigung,
einen Auftrag zum Laſttragen oder auch auf Tagelohn.
Den kleinen Verdienſt brachte er dann ſeinem Weib
und Kinde, fuͤr ſich ſelbſt — erbettelte er das Brot.
Er ſank moraliſch und phyſiſch tiefer und tiefer in's
Elend. Und dennoch, bei all dieſem Jammer, den ihm
das ſtumme Leid ſeines abgezehrten, zerlumpten Weibes
und ſeines ſiechenden Kindes verurſachte, bei all der
graͤßlichen Verzweiflung und all dem heißen, bittern Groll
gegen die Gerechtigkeit der menſchlichen Geſellſchaft, die
ihn zu dieſem unverſchuldeten Loos verfluchte, dennoch
lebte er dies Leben drei lange Jahre lang. Drei Jahre!
Wie iſt doch die Zeit ein ſchlechtes Maaß fuͤr ein Men¬
ſchenleben! Dem Reichen verfliegt in Luſt und Freuden
die Zeit ſo ſchnell, daß er am Sterbebett nicht weiß,
wo ſie geblieben iſt; aber dem Ungluͤcklichen war ſie
eine qualvolle Ewigkeit.
[23]Armuth und Verbrechen.
Eines Tages ging Schenk langſam in ſtumpfem
Bruͤten durch die Gaſſen. Seine Frau, das arme lie¬
bende, duldende Geſchoͤpf, die nie uͤber ihr Loos murrte
oder nur ſeufzte, hatte ihm am Tage vorher ſagen muͤſ¬
ſen, daß ſie nicht das Geringſte mehr zum Eſſen im
Hauſe habe. Das Kind war lange krank geweſen und
hatte jetzt vom Arzt eine Pflege verordnet bekommen,
die die Armen ſeit Langem nicht mehr kannten. End¬
lich aber hatte der Hausmann Schenk beim Ausgehen
angehalten, und ihm barſch ins Geſicht geſagt: daß er
mit der ruͤckſtaͤndigen Miethe fuͤr die letzten drei Viertel¬
jahre nicht laͤnger warten koͤnne; wenn er daher am
folgenden Tage das Geld nicht erhalte, ſo muͤſſe er die
Familie aus dem Hauſe weiſen und ſich an ihrem Ge¬
raͤth bezahlt zu machen ſuchen. Das letztere war fuͤr
den Ungluͤcklichen die graͤßlichſte Drohung. Er hatte
nach und nach die einigermaßen entbehrlichen Stuͤcke
aus ſeiner Wirthſchaft in den Zeiten der hoͤchſten Noth
verſetzt, und beſaß nur noch ebenſoviel, um mit Weib
und Kind nicht auf dem harten Boden ſchlafen zu muͤſ¬
ſen. Wurde ihm auch das noch entriſſen, ſo konnten
ſie zuſammen elend in der Straße ſterben.
Schenk ging aus, ohne zu wiſſen, wohin, und ohne
[24]Armuth und Verbrechen. Gedanken, wie er diesmal die augenblickliche Noth ab¬
wenden koͤnne. Wer ihn jetzt ſah, erkannte in ihm
den fruͤher fleißigen und ordentlichen Arbeiter nicht mehr.
Sein Aeußeres trug den Stempel der ſchauderhafteſten
Verwahrloſung, die Kleider ſchlotterten ihm ſchmutzig
und zerlumpt am Leibe herab, ſeine tiefliegenden Augen
waren glanzlos und ſtumpf, ſein Haar wirr und ſtrup¬
pig, und ſein Geſicht zeugte von Entbehrungen und
graͤßlichem Elend. An der Ecke zweier Straßen blieb
er einige Augenblicke vor der Ladenthuͤr eines eleganten
Fleiſcherladens ſtehen. Waͤhrend er mit heimlicher Luͤ¬
ſternheit die verlockenden, reinlichen Fleiſchwaaren be¬
trachtete und an ſeine Armen daheim dachte, ſtieg eine
ploͤtzliche Verſuchung in ihm auf. Die Thuͤr war offen
und der Laden leer. Sein Herz pochte in Unentſchloſ¬
ſenheit, aber er wandte ſich weg, und ſchritt langſam
die Straße weiter.
In dieſem Augenblick war ein Mann fluͤchtig an
ihm voruͤber geſtreift. Einige Schritte weiter blieb der¬
ſelbe ploͤtzlich ſtehen, gleich als ob Schenks Geſicht eine
Erinnerung in ihm hervorgerufen, und blickte ihm nach.
Als er uͤber die Perſon Schenks im Reinen zu ſein
ſchien, kehrte er um, und Schenk ward durch einen
[25]Armuth und Verbrechen.Schlag auf ſeine Schulter aus ſeinen truͤbſinnigen Ge¬
danken aufgeſchreckt.
„Guten Tag, Fritz Schenk! Kennſt Du mich nicht
mehr?“ —
Der Angeredete ſtarrte zu dem Andern in ſtumpfer
Gleichguͤltigkeit auf. Der Mann, der vor ihm ſtand,
war eine hohe breitſchulterige Figur, ziemlich fein und
modern gekleidet, und von einem auffallenden und er¬
zwungen vornehmen Weſen. Damit ſtand freilich der
Ausdruck ſeines Geſichts in keiner Uebereinſtimmung,
denn ſeine von einem dichten rothen Bart umzogenen
Zuͤge waren der Typus der niedrigſten Gemeinheit.
Dieſer Menſch hieß Wilhelm Fiſcher, hatte wegen Raub¬
anfalls auf offener Heerſtraße und verſchiedener Diebe¬
reien mehrere Jahre im Zuchthaus und Gefaͤngniß ge¬
ſeſſen, und kannte Schenk aus der Zeit ſeiner Haft.
Fiſcher hatte ſeitdem ſeinem fruͤhern Treiben Valet ge¬
ſagt, und einen Erwerbszweig ergriffen, bei dem er ſich
augenſcheinlich ganz wohl befand. Er war, nachdem
er zuletzt aus dem Gefaͤngniß entlaſſen worden, zu dem
Polizeichef gegangen, hatte ihm vorgeſtellt, daß er von
ſeinem bisherigen Leben abſtehen wolle, und gebeten, in
irgend einer Weiſe verwendet zu werden. Der Polizei¬
[26]Armuth und Verbrechen. rath, der in Fiſchers ausgebreiteter Diebsbekanntſchaft
ein treffliches Mittel zur Entdeckung manches Verbre¬
chens erblickte, hatte ihn in ſeine Dienſte genommen
und ihm den Auftrag gegeben, ſeine fruͤheren Bekannt¬
ſchaften fortzuſetzen, und wenn er einen Anſchlag er¬
fuͤhre, ihn davon in Kenntniß zu ſetzen. Das war ge¬
genwaͤrtig die eigentliche Stellung Fiſchers. Dieſer Elende
begnuͤgte ſich jedoch keineswegs damit, die Abſichten
und Thaten ſeiner ehemaligen Genoſſen zu belauſchen,
ſondern, um ſeinem Chef oͤftere Beweiſe ſeiner Thaͤtig¬
keit geben zu koͤnnen und ſich in den Augen deſſelben
hervorzuthun, ſpornte er auch ſelbſt die Unſchluͤſſigen
an und machte ihnen nicht ſelten ſogar die Anſchlaͤge,
um die er ſie nachher verrieth.
„Nun? Was ſtarrſt Du mich an?“ ſagte er
zu dem Handwerker. „Kennſt Du Will Fiſcher nicht
mehr? Thuſt ja, als haͤtten wir nicht zuſammen
da —“
„Nun, Will Fiſcher,“ erwiderte Schenk duͤſter,
„und was willſt Du von mir!“ —
„Was ich von Dir will, Du Tropf? Dich fragen,
wie es Dir geht, nichts weiter. Und ich habe ein
Recht dazu, denn ich bin ein alter Bekannter, und
[27]Armuth und Verbrechen.Du ſiehſt nicht aus, als ob Du einen Freundſchafts¬
dienſt zuruͤckſtoßen wuͤrdeſt.“
„Ja, es geht mir ſchlecht genug!“ murmelte
dumpf der Ungluͤckliche. „Keine Arbeit und kein Ver¬
dienſt mehr, Gott weiß, wie das enden wird. Ich
habe ſeit vorgeſtern nichts mehr gegeſſen!“ —
„Komm mit,“ ſagte der Andere mit rauhem Mit¬
leid. „Ich weiß da in der Naͤhe einen Ort fuͤr unſer
Einen, wo Du Dich fuͤttern kannſt.“ —
Schenk folgte ihm mechaniſch, ohne ein Wort zu
ſagen. Ploͤtzlich aber blieb er ſtehen, ſein Auge belebte
ſich, wie von einem gluͤcklichen Gedanken beſeelt, und
er hielt ſeinen Gefaͤhrten am Arm feſt, indem er ihn
aͤngſtlich forſchend betrachtete.
„Will Fiſcher,“ ſagte er mit bangem Ton, „es
geht Dir gut, ich ſehe Dir es an. Du meinſt es
auch gut mit mir, denn Du willſt mir eben zu eſſen
geben. Hilf mir daher ganz — wenn Du kannſt, leihe
mir zehn Thaler. Ich muß morgen meine ruͤckſtaͤndige
Miethe bezahlen, oder ich werde mit meiner Frau und
einem kranken Kinde nackt und bloß auf die Straße
geſtoßen. Ich bin verloren, Will, wenn Du mir nicht
hilfſt!“ —
[28]Armuth und Verbrechen.
Will Fiſcher verzog ſein Geſicht zu einem ſonderba¬
ren Laͤcheln und druͤckte ſeine Haͤnde feſt in die Taſchen.
„So,“ ſagte er, „Du brauchſt morgen zehn Thaler
— mußt ſie haben, wie man ſo ſagt — unter jeder
Bedingung.“ —
„Ja, ich muß ſie haben, unter jeder Bedingung.
Ich weiß nicht, was ich ſonſt thun wuͤrde, aber den
Jammer daheim wuͤrd' ich nicht erleben! Zehn Tha¬
ler, Will — es iſt ja nicht ſo viel, und uns kann es
jetzt retten. Gott wird es dir lohnen, Will!“ —
„Ja, Gott wird es mir lohnen und der Teufel
den Segen druͤber ſprechen. Ich koͤnnte nachher ſehen,
wie ich's wieder einbraͤchte, und fuͤr Dich waͤr's auch
nur auf ein paar Tage. Uebrigens laß uns jetzt nur
nach der Kneipe gehen, da koͤnnen wir weiter davon
ſprechen. Ich habe zwar ſelbſt das Geld nicht, viel¬
leicht laͤßt ſich aber noch anderer Rath ſchaffen.“ —
Sie ſchritten wieder fort. Will Fiſcher fuͤhrte den
Handwerker durch mehrere kleine Nebenſtraßen, bis ſie
zuletzt vor dem Schlußgebaͤude einer engen Sackgaſſe
ankamen.
„Das da iſt ein neues Bureau!“ ſagte er, auf
das Kneipenſchild uͤber einer Kellerwohnung zeigend. „Es
[29]Armuth und Verbrechen.kommen oft tuͤchtige Kerle hieher, weil der Wirth ehr¬
lich iſt und immer einen geheimen Weg hinten uͤber
das Waſſer bauen kann. Wenn Du mich einmal
ſuchſt, ſo komme nur Abends in dieſen Fuchsbau.“ —
Sie traten die Stufen hinunter in den Keller, wo
Fiſcher bekannt zu ſein ſchien. Waͤhrend er mit dem
Wirth, dem Hehler der hier verkehrenden Diebsbande,
im Winkel ein leiſes und angelegentliches Geſpraͤch
fuͤhrte, hatte ein Maͤdchen Brot, Kaͤſe und Brannt¬
wein gebracht. Schenk goß die beiden Glaͤſer mit jaͤher
Haſt hinunter und begann gierig das Eſſen zu ver¬
zehren.
„Nun, das muß ich ſagen,“ lachte Will Fiſcher,
wieder herantretend, „dein Appetit wenigſtens hat bei
Deinem Leben nicht gelitten.“ —
Schenk nahm ſchweigend den Reſt des Eſſens,
wickelte ihn in ein Stuͤck Papier und ſteckte das Ganze
ſorgfaͤltig in ſeine Taſche.
„Ich werde das meiner Frau bringen,“ ſagte er
dann halb vor ſich hin. „Sie wartet ſchon den gan¬
zen Morgen, und es iſt doch etwas.“ —
„Deine Frau! So, ſo. Sagteſt es ja auch zu¬
[30]Armuth und Verbrechen. vor ſchon. Kenn' ich ſie vielleicht? Etwa eine Be¬
kanntſchaft von damals, als wir zuſammen —“
Schenk warf einen zornigen Blick auf ſeinen Nach¬
bar und ſtieß das leere Glas heftig auf den Tiſch.
„Nun, ereifre Dich nicht!“ beguͤtigte der Andere
ſogleich. „War nur neugierig, wie es eigentlich mit
Dir ausſieht, ſeit wir auseinander gekommen ſind.“ —
„Wie im Himmel ſieht's bei uns aus, wie im
Himmel, Will,“ erwiderte Schenk mit wilder Bit¬
terkeit, „wir eſſen nicht und trinken nicht. Es iſt ein
herrliches Leben, man genießt die ganze Schoͤpfung,
man hoͤrt die Voͤgel ſingen, man hat im Sommer die
ſchoͤne Natur, im Winter das praͤchtige Eis, und braucht
fuͤr Alles das gar Nichts zu bezahlen. Ich erinnere
mich, daß der Pfaffe mir fruͤher ſagte, es ſei eine
Gnade Gottes, daß wir geſchaffen wuͤrden und leben
duͤrften. Ich wollte das lange nicht einſehen, aber es
iſt doch wahr, es liegt nur an dem Einzelnen ſelbſt,
wenn er ſich das Leben verkuͤmmert. Das Leben iſt
doch umſonſt, wozu ſich da plagen und Sorgen ma¬
chen? Es koͤmmt am Ende doch auf Eins heraus, ob
man auf ſeidenen Kiſſen oder allmaͤhlig Hungers ge¬
ſtorben iſt.“ —
[31]Armuth und Verbrechen.
„Ich verſtehe nicht, was Du da ſagſt,“ antwor¬
tete Will Fiſcher. „Aber wenn Du ſchon verzweifelſt,
ſo thuſt Du Unrecht. Ich weiß eben was fuͤr Dich,
was Dich auf lange Zeit herausreißen kann.“ —
„Will!“ rief der Handwerker ploͤtzlich erregt.
„Laß mich los und mach' keine Flauſen. Kennſt
Du das Landhaus druͤben in Ch ***?“
„Ich habe einmal darin gearbeitet.“ —
„Deſto beſſer. Es wollten ein paar tuͤchtige Kerle
heut Nacht Beſuch drin machen, aber der Wirth er¬
zaͤhlt mir, daß ſie's verſchieben muͤſſen, weil ihrer zu
wenig ſind. Wenn Du dabei ſein willſt, kannſt Du
Dein Schaͤfchen ſcheeren und Deine Familie ins Trockne
bringen.“ —
Schenk ſah ſeinen Nachbar mit einem feſten Blick
an und ſagte dann langſam:
„Stehlen alſo. Ich hatte noch nicht daran gedacht,
und es liegt doch ſo nahe. Ich glaube, ich habe nicht
einmal Muth dazu.“ —
Der Polizeiagent ſchenkte die Glaͤſer voll und erwi¬
derte veraͤchtlich:
„Es gehoͤrt freilich weniger Muth dazu, mit Frau
[32]Armuth und Verbrechen.und Kind zu verhungern. Uebrigens haͤtten ſie Dich
vielleicht nur zur Wache gebraucht.“ —
„Wenn ich ſagte, daß mir der Muth fehlte,“
verſetzte Schenk, „ſo meine ich, daß ich nicht die Kraft
hatte, den Gedanken zum Stehlen zu faſſen. Es iſt
wahrhaftig weit gekommen. Und doch iſt es wahr, das
Einzige bliebe mir noch uͤbrig. Ich werde mir's uͤber¬
legen, Will.“ —
Mit dieſen Worten erhob er ſich, fuͤhlte in die
Taſche, ob er das Eſſen auch noch habe, und wendete
ſich nach der Thuͤre.
„Wenn Du mir Beſcheid bringen willſt,“ rief
Fiſcher ihm nach, „ſo weißt Du, wo Du mich heut
Abend findeſt.“ —
Schenk wanderte in truͤbſinnigem Bruͤten durch die
engen und ſchmutzigen Gaſſen des „ſchlechten Viertels,“
jener Hoͤhlen des Elends und des Verbrechens, wo die
aus den Kreiſen der herrſchenden Geſellſchaft verſtoßene
Armuth den Fluch ihres Daſeins verbirgt.
[33]Armuth und Verbrechen.
In einer niedrigen, baufaͤlligen Huͤtte kletterte Schenk
eine Stiege hinauf, und befand ſich hier — unter dem
Dache — in der Behauſung der Seinen. Bei dem
Geraͤuſch, welches ſein Eintreten verurſachte, erhob in der
Ecke eine Frau ihren Kopf von dem Bettchen eines Kin¬
des, wo ſie deſſen fieberhaften Schlaf belauſcht hatte.
Die Kleidung dieſer Frau war mehr als aͤrmlich, und in
den leidenden von Gram entſtellten Zuͤgen ihres Geſichts
waren auch die letzten Spuren ihrer fruͤheren Anmuth
verloren. Das Ausſehen des Zimmers ſtimmte traurig
mit dem Ausdruck der Bewohner uͤberein. Die Moͤbel
beſtanden außer dem Bettchen des Kindes in einem Stuhl,
einer Kommode, welche zugleich die Stelle des Tiſches
verſah, einem alten Kaſten, welcher ſtatt eines zwei¬
ten Stuhls ebenfalls zum Sitz benutzt wurde, und
einer einzigen Lagerſtaͤtte: einem Strohſack, uͤber den
eine Decke gebreitet war. Auf dem Ofen des Zimmers
wurde gekocht, — wenn es etwas zu kochen gab, und
in dieſem gluͤcklichen Falle wurde die ohnedies dum¬
pfige Atmoſphaͤre des feuchten, an den Waͤnden ſchim¬
melnden Raumes vollends ſchwuͤl und ungeſund. Und
doch waͤren die Ungluͤcklichen auch in dieſen Raͤumen
zufrieden geweſen, haͤtten ſie nur ſich und ihr krankes
3[34]Armuth und Verbrechen.Kind vor der graͤßlichen Qual des Hungers ſchuͤtzen
koͤnnen:
Bei dem fragenden Blick, den das matte glanzloſe
Auge ſeiner Frau auf ihn heftete, zog der Handwerker
das Eſſen aus der Taſche und reichte ihr daſſelbe ſchwei¬
gend hin.
„Du haſt irgend eine Arbeit bekommen?“ ſagte ſie
lebhaft.
Schenk hatte ſich auf den alten Kaſten geſetzt und
die Haͤnde uͤber das Knie gekreuzt. Ohne nur aufzu¬
blicken, erwiederte er nachlaͤſſig:
„Nein. Ich habe das von einem Bekannten aus
meiner Gefaͤngnißzeit gekriegt.“ —
Die Frau hielt ploͤtzlich mit Eſſen inne, und blickte
erſchrocken bei dieſen Worten nach ihrem Manne hin.
„Fritz!“ rief ſie mit aͤngſtlichem Ausdruck, „Du haſt
doch nicht —“
„Geſtohlen, willſt Du ſagen?“ antwortete Schenk
mit erzwungenem Lachen, als die Frau inne hielt. „Noch
nicht, mein Schatz, noch nicht. Nur eine Gelegenheit
dazu hat er mir angegeben.“ —
„Gott ſteh' uns bei, Fritz! Wie kannſt Du nur
[35]Armuth und Verbrechen. ſolche Gedanken haben! Denkſt Du nicht an uns, an
das arme Kind —“
„Eben drum, eben drum! Grade weil ich an Euch
denke,“ ſagte der Mann ſich erhebend und durch's Zim¬
mer ſchreitend. „Ich weiß auch wahrhaftig nicht, wes¬
halb wir uns davor zu ſcheuen brauchten. Wir haben
ebenſoviel Recht zu leben, als die Andern, und wenn ſie
uns unſer Leben ſtehlen, ſo duͤrfen wir's doch wieder
ſtehlen!“ —
„Fritz, um Gotteswillen, fuͤhr' keine ſo laͤſterlichen
Reden im Mund! Es iſt eine Pruͤfung, die uns der
Herr aufgelegt, wir muͤſſen ausharren!“ —
„Ja, unſer ganzes Leben iſt eine Pruͤfung, und wir
ſind nur dazu geboren, daß ſich der Herrgott droben an
unſerm Todeskampf erluſtiren kann. Drum ſind auch
die reichen Faullenzer geſchaffen, fuͤr die die armen Leute
ſchaffen und rackern muͤſſen, ohne ſelber was davon zu
haben. Die Reichen betruͤgen die Armen, und betruͤgen
ſich dann im Handel und Wandel wieder untereinander.
Der Jammer muß ſich von oben recht komiſch an¬
ſehen.“ —
„Gott verzeih' Dir die Suͤnde, Mann!“ rief die
entſetzte Frau.
3 *[36]Armuth und Verbrechen.
Schenk, der fortwaͤhrend im Zimmer auf- und nie¬
derging, ſchlug eine grimmige Lache auf.
„Freilich, freilich! Die Suͤnde iſt nur fuͤr uns.
Wenn unſer Einer ſtiehlt oder betruͤgt, dann iſt's Suͤnde;
wenn Einem aber der Kaufmann ſchlechte Waare auf¬
luͤgt, wenn die Kinder der Reichen unſere Kinder um
das Gluͤck des Lebens beſtehlen, dann iſt's Recht und
Ordnung. Wir muͤſſen ſuchen reich zu werden, um nach
Recht und Ordnung ſtehlen und betruͤgen zu koͤnnen, ſo
lange aber muͤſſen wir's heimlich thun.“ —
„Keinen Biſſen eſſe ich von Deinem Suͤndenbrot!“
rief die Frau, indem ſie das Eſſen, welches ſie bis dahin
in der Hand gehalten, von ſich warf.
Schenk ging eine Zeitlang ſchweigend durch's Zimmer.
Als er endlich ſah, wie ſeine Frau das Geſicht in die
Haͤnde verborgen hatte und leiſe in ſich hineinweinte, trat
er an ſie heran, und ſagte milder:
„Sei ruhig, mein Weib! Achte nicht auf das, was
ich Dir geſagt habe, die Noth giebt Einem ſolch' ver¬
ruͤckte Gedanken ein.“ —
„Willſt Du mir verſprechen, Dir ſolch ſuͤndhaftes
Zeug aus dem Sinne zu ſchlagen, und Dich nicht wie¬
[37]Armuth und Verbrechen.der mir dem elenden Diebspack einzulaſſen?“ fragte die
Frau, indem ſie ihm ihre thraͤnenbenetzte Hand reichte.
„Ich will Dir verſprechen, immer nur an Dich und
unſer armes Kind zu denken,“ erwiederte Schenk, ihr die
dargebotene Hand druͤckend. „Ich will mich noch einmal
an jenen reichen Mann wenden, durch den wir eigentlich
ſo in's Ungluͤck gekommen ſind. Vielleicht erbarmt er
ſich, wenn ich ihm unſeren Jammer ſchildere. Du weißt,
daß wir morgen den Miethsmann bezahlen muͤſſen, wenn
wir das kranke Kind nicht einem elenden Ende ausſetzen
wollen.“ —
In dieſem Augenblick erwachte die arme Kleine.
Schenk, der ſchon ſeine Muͤtze aufgeſetzt hatte, naͤherte
ſich wieder dem Bettchen, und druͤckte einen Kuß auf
die fiebergluͤhenden Lippen des Kindes.
„Und doch wird Dein Ende Elend ſein!“ grollte er
in ſeinem Innern. „Warum hab' ich Dich nicht bei der
Geburt getoͤdtet, bevor mein Herz Dich lieben lernte?!“
Dann verſuchte er nochmals die geaͤngſtigte Frau zu
troͤſten, — hatte er ſelbſt wohl Troſt? Der Anblick
ihres wehmuͤthig reſignirten Leidens preßte ihm faſt das
Herz ab, und ſchon ſeit langer Zeit ſuchte er ſich, ſo oft
es ging, von den Seinen zu entfernen, die ihm nur das
[38]Armuth und Verbrechen.Bild ſeines Jammers waren. Aber er kuͤßte ſeine Frau
innig und ſagte beim Weggehn mit feſter Ruhe:
„Es wird wohl noch gut werden!“ —
Bei dem reichen Manne mußte Schenk diesmal ge¬
raume Zeit in der Hausflur ſtehen. Die gallonirten Be¬
dienten kamen mit ſilbernen Schuͤſſeln aus den Zimmern,
und ſtrichen an ihm voruͤber, indem ſie ihn aus dem
Wege gehn hießen oder gar veraͤchtlich zur Seite ſtießen.
Anfangs hatten ſie ihn, ſeines ſchmutzigen und zerſchliſſe¬
nen Aeußern wegen, fortjagen wollen, zumal der Herr
noch bei Tiſche ſaß, aber Schenk behauptete, dringlich
mit dem Herrn ſprechen zu muͤſſen, und wollte lieber
unter der beleidigenden Behandlung des Bedientenvolks
ausharren, als ſich ſeiner letzten Hoffnung begeben.
Nach Verlauf von anderthalb Stunden endlich ward
er in einen Vorſaal gewieſen, wo er abermals eine Vier¬
telſtunde wartete. Er betrachtete mit ausdrucksloſem
Blick ein Gemaͤlde, waͤhrend ſeine Gedanken, ermuͤdet
und abgeſpannt, fern von dem Ort und dem Zweck ſei¬
nes Beſuches waren. Als er aber im Nebenzimmer den
[39]Armuth und Verbrechen. Tritt des Herrn vernahm, ſchlug ſein Herz ploͤtzlich hoͤher,
und die Erinnerung an Frau und Kind richtete ſeine
Sinne wieder ganz auf den einen Punkt, die Entſchei¬
dung ſeiner naͤchſten Zukunft.
Der gnaͤdige Herr zeigte ein ziemlich geroͤthetes und
aufgeregtes Geſicht, und ſchien im Ganzen guter Laune
zu ſein. Schenk trug ihm ſeine Verhaͤltniſſe mit zager,
verlegener Stimme vor, und bat ihn ſchließlich um eine
Unterſtuͤtzung von fuͤnfzehn Thalern.
„Ihr ſeid ein Taugenichts, Schenk,“ ſagte der gnaͤ¬
dige Herr, ſich die Zaͤhne ſtochernd. „Ihr habt keine
Luſt zur Arbeit, ſonſt wuͤrde es Euch nicht ſo gehen,
wie Ihr ſagt. Euch Geld geben, hieße Euch im Muͤ¬
ßiggang beſtaͤrken, und man wuͤrde Euch zuletzt gar nicht
mehr loswerden.“ —
„Ach, gnaͤdiger Herr, wenn mir die Leute nur Ar¬
beit geben wollten, daß wir nothduͤrftig davon leben koͤnn¬
ten, wie gern wollt' ich ſchaffen von fruͤh bis in die
Nacht!“ erwiederte der Handwerker mit feuchtem Auge.
„Verſuchen Sie es mit mir, gnaͤdiger Herr! Geben
Sie mir Arbeit, wie Sie wollen, ſchicken Sie mich auf
Botengaͤnge, laſſen Sie mich Holz hacken und Waſſer
[40]Armuth und Verbrechen.tragen, ich will Ihnen das Geld wieder abarbeiten, und
gewiß, Sie ſollen mit meinem Fleiß zufrieden ſein!“ —
„Ja, ich kenne das! Als ich Euch damals das Geld
gab, damit Ihr Euch herausreißen koͤnntet, da habt Ihr,
ſtatt zu arbeiten, das Geld durchgebracht und ſeid nach¬
her wegen Diebſtahl eingeſperrt worden. Das waͤre das
Richtige, Euch in's Haus zu nehmen und Sachen von
Werth anzuvertrauen!“ —
„Gnaͤdiger Herr!“ ſagte der Handwerker verletzt.
„Ah, Ihr wollt den Gekraͤnkten ſpielen! Das ver¬
lohnte ſich der Muͤhe! Ihr werdet das wohl ſchon oͤf¬
ters gehoͤrt haben, und ich verdenke es den Leuten gar
nicht, wenn ſie einem Taugenichts, wie Ihr ſeid, keine
Arbeit geben.“ —
„Gnaͤdiger Herr,“ erwiederte Schenk, ſich aufrichtend,
„haͤtte ich immer den vollen Gebrauch meines geſunden
Armes gehabt, ſo waͤre ich vielleicht nicht in die Noth
verfallen, die mich zu dem Verbrechen verleitete!“ —
„So! Ihr glaubt wohl ein Recht auf meine Unter¬
ſtuͤtzung zu haben?“ rief der vornehme Mann. „Da
ſeid Ihr aber im Irrthum. Ich habe Euch pflegen und
kuriren laſſen, und noch Geld obendrein zu einem ehrli¬
chen Geſchaͤft gegeben. Damit Baſta! Eure Halunke¬
[41]Armuth und Verbrechen. reien zu unterſtuͤtzen, habe ich wahrlich nicht noͤthig. Jetzt
ſcheert Euch Eurer Wege!“ —
„Sie haben gar keine Verpflichtung gegen mich —
ich weiß das,“ ſagte Schenk ploͤtzlich, uͤber die Wendung
erſchreckt, „ich wollte ja nur ſagen, daß ich vor meinem
Ungluͤck zufrieden und ehrlich gelebt habe, und daß ich
gewiß wieder ſo leben wuͤrde, wenn ich ausreichende Ar¬
beit haͤtte. Ich wollte Sie ja nur bitten, gnaͤdiger
Herr —“
„Nichts da! Ich habe es ſchon einmal gethan und
es hat nichts bei Euch geholfen, ſo wuͤrde es auch jetzt
nichts helfen. In ein paar Tagen waͤret Ihr wieder ſo
weit, und wuͤrdet wieder mit Betteleien kommen. Es
iſt beſſer, daß Ihr Euch von vornherein daran gewoͤhnt,
ſelbſt zu ſorgen und zu arbeiten, ſtatt daß Ihr durch
Unterſtuͤtzungen, die doch einmal aufhoͤren muͤſſen, im
Faullenzen beſtaͤrkt und fuͤr die Zukunft verdorben wer¬
det!“ —
„Gnaͤdiger Herr, nur dies eine Mal noch! Haben
Sie Erbarmen mit meiner Familie!“—
„Ich gebe Euch mein Wort, daß ich nichts mehr
fuͤr Euch thue, macht, daß Ihr fortkommt!“ ſagte der
Gnaͤdige ſtreng.
[42]Armuth und Verbrechen.
„Meine Familie, Herr! Mein Weib und mein
krankes Kind!“ —
„Ich habe auch Familie und kann mich fuͤr Euch
nicht aufreiben! 's iſt auch zu Eurem eignen Beſten.
Ihr werdet arbeiten lernen! — Macht fort, macht fort!
Ich ſag' Euch, ich geb' Euch nichts!“ —
„Sie ſind Schuld, wenn wir elendiglich verderben,
gnaͤdiger Herr!“ rief der Handwerker in Verzweiflung.
„Wollt Ihr Euch gleich zum Henker ſcheeren, Ha¬
lunke, oder ſoll ich Euch hinauswerfen laſſen? — Wird's
noch nicht bald?“ —
Schenk ſtand wie eingewurzelt, den verzweiflungs¬
vollen Blick flehentlich auf den reichen Mann gerichtet,
die Haͤnde krampfhaft in einander gefaltet. Erſt als der
erbitterte Herr mit Heftigkeit an der Klingel riß, wendete
er ſich langſam nach der Thuͤr und ſchritt hinaus auf
die Straße.
„Daß Ihr mir dieſen Kerl nicht wieder hereinlaßt,
wenn er wieder kommt!“ ſagte der Gnaͤdige zu ſeinem
Bedienten.
Aber Schenk kam nicht wieder. Draußen vor dem
Hauſe des Reichen ſtand er einen Augenblick ſtill und
[43]Armuth und Verbrechen.murmelte in kochender Wuth, waͤhrend er drohend die
geballte Fauſt in die Hoͤhe reckte:
„Moͤge mein Blut uͤber Dich kommen, Du un¬
barmherziger Hund! Moͤge der Jammer meines Weibes
und meines unſchuldigen Kindes auf den Seelen der
Deinen brennen, und Dein verfluchtes Geſchlecht in der¬
ſelben Noth und Verzweiflung verderben laſſen!“ —
Dann wendete er ſich ab und ſchritt weiter, ſchnell
und entſchloſſen, nach der Schenke, wo, wie er wußte,
Will Fiſcher ihn erwartete.
Am andern Morgen erzaͤhlte man ſich allenthalben
von einer Diebsbande, die bei einem frechen, naͤchtlichen
Einbruch von der Polizei ertappt und aufgehoben worden
ſei. Schenks Frau aͤngſtigte ſich noch nicht daruͤber, daß
ihr Mann die Nacht uͤber ausgeblieben war, denn er
hatte ſich oͤfters, um ſein haͤusliches Leid nicht zu ſehn,
in einer Kneipe eine Streu geſucht. Am Nachmittag
aber kam der Hausmann, kuͤndigte ihr in brutalen Wor¬
ten das Schickſal ihres Mannes an und ſagte, daß ſie
[44]Armuth und Verbrechen.jetzt, wo ſie ihm allein gar keine Garantie mehr biete,
ungeſaͤumt ausziehen muͤſſe. Dann ließ er ſie mit ihrer
Verzweiflung allein.
Den Nachmittag uͤber blieb die Aermſte noch in die¬
ſer Staͤtte des Jammers zuruͤck. Sie ſaß vor dem Bett
ihres Kindes, ſtumm und in ſich gekehrt. Kein Laut
der Klage entſchluͤpfte ihren Lippen, ihre Augen waren
trocken, aber ihr Blick brannte auf die Zuͤge ihrer ſchlum¬
mernden Kleinen. Am Abend, als die Dunkelheit tiefer
hereingebrochen war, hing ſie ihren Mantel um, nahm
das Kind in den Arm und ſchritt durch die Gaſſen. Als
ſie am Quai angekommen war, machte ſie Halt und
zog ihr Kind noch einmal aus der Verhuͤllung des Man¬
tels hervor. Das ſchwankende Licht einer entfernten La¬
terne fiel auf die Zuͤge der ſchlummernden Kleinen, und
blitzte wieder in den perlenden Thraͤnen, die jetzt heiß aus
den Augen der Mutter rollten. Sie kuͤßte die kleinen
Zuͤge mehrmals feſt und innig, und ihre Lippen bewegten
ſich, wie zum Gebet. Als das Kind ſich dann leiſe zu
bewegen begann, machte ſie eine raſche Bewegung und
ſprang mit ihm in den Fluß. — —
Schenk vernahm von dem Ende der Seinen nichts.
Da ſein Inquirent ein ausfuͤhrliches Geſtaͤndniß, nament¬
[45]Armut und Verbrechen.lich in Bezug weiterer Mitſchuldigen, zu erlangen hoffte,
ſo wurde er in einſamem, ſtrengem Gewahrſam gehalten,
und ſo konnte ihn das Ausbleiben ſeiner Frau nicht wun¬
dern. Aber der Gedanke an ſie, die Huͤlfloſe, Verzwei¬
felnde, nagte graͤßlich in ſeinem Innern. Zuweilen ergriff
ihn eine ploͤtzliche Angſt, daß er haͤtte aufſchreien oder
weit, weit fortlaufen moͤgen, dann wieder verfiel er in
den tiefſten Truͤbſinn. In einer Nacht fuhr er aus einem
Traum auf. Die Angſt jagte ihn ruhelos im Zimmer
umher, und die hoffnungsloſe Verzweiflung ſeiner Lage
ließ ihn ſeinem Zuſtande ein Ende machen. Er ſtieg auf
einen Stuhl in der Naͤhe des Fenſters, band ſein Hals¬
tuch um den Hals, knuͤpfte dann die Enden feſt an die
Gitterſtaͤbe des Fenſters und ſtieß den Stuhl unter ſich
mit dem Fuße fort.
Als am Morgen der Gefangenwaͤrter eintrat, hatte
die gequaͤlte Seele Ruhe gefunden.
Nachdem in jener Nacht des Einbruchs die Diebe
gluͤcklich eingefangen waren, hatte ſich Will Fiſcher, im
[46]Armuth und Verbrechen.Voraus eines gnaͤdigen Empfanges gewiß, ſeinem Chef
praͤſentirt.
„Ihr ſeid ein brauchbarer Mann, Fiſcher,“ ſagte der
Polizeirath, indem er ihm den Lohn auszahlte. „Dient
mir ſo fort, und es ſoll Euer Schade nicht ſein.“ —
Polizeiliche Eheſcheidung.
„Schließlich wird darauf aufmerkſam gemacht, daß, wenn
ſich ein Inlaͤnder im Auslande ohne die, mit kreis¬
amtlicher Beglaubigung verſehene, Zuſtimmung des
Stadtrathes ſeiner Heimath verheirathet, die ihm
angetraute Auslaͤnderin und die mit ihr erzeugten
Kinder ein Heimathsrecht in hieſigen Landen nicht
anzuſprechen haben.“ —
(Aus den Kurfuͤrſtl. Heſſ. Heimathſcheinen.
)
„Die Eigenſchaft als Preuße geht verloren: — —4) bei
einer preußiſchen Unterthanin durch deren Verheira¬
thung an einen Auslaͤnder.“ —
(Preuß. Geſetzſammlung; Geſ. v. 31. Dez, 1842,
Nr. 2320, §.15.
)[[48]][[49]]
„Wie ich Euch ſage, Frau Gevatterin! Wie ich Euch
ſage. Hat die graͤulichſten, gotteslaͤſterlichſten Dinge dru¬
cken laſſen, glaubt weder an Gott, noch den Teufel,
noch den Koͤnig!“ —
„Gott ſteh' uns bei, Frau Gevatterin!“ —
„Wie ich Euch ſage. Und heute Morgen iſt der
Kommiſſair gekommen mit vier Gensd'armen, hat ihm
alle ſeine Briefſchaften verſiegelt, und ihn nach der Vogtei
gefuͤhrt.“ —
„Was man nicht erlebt in dieſen Zeiten! Dieſer
ſtille, magere Menſch mit dem Waſſerſuppengeſicht, —
ei, Du mein Gott, wer haͤtt's von dem gedacht, daß
er einmal mit der Polizei zu thun kriegte! —
„Hab's immer geſagt, Frau Gevatterin, ſind Heim¬
tuͤcker, die Kerle. Jetzt ſieht man's. Ein Kommiſſai
mit vier Gensd'armen, und am hellen Tage durch die
Stadt gefuͤhrt!“ —
4[50]Polizeiliche Eheſcheidung.
„Ach, und die arme junge Frau mit ihren drei
Kindern! Um die thut's mir leid, Gott verzeih mir's,
nicht um den Mann, nicht im Geringſten. Aber es
war ſo eine liebe, gute Frau, trug ſich immer ſo nett
und war ſo freundlich — Herr, mein Gott, was wird
das fuͤr ein Schlag fuͤr die arme Frau geweſen ſein!“—
„Iſt aber ſelbſt Schuld daran, Frau Gevatterin,
warum hat ſie ſich mit ſo Einem eingelaſſen. Das Li¬
teratenvolk iſt gar nichts werth. Aus aller Herren Laͤn¬
dern werden ſie weggejagt, laufen in der Fremde herum,
oder werden eingeſperrt. Alle Wochen ſteht ſo eine Ge¬
ſchichte in der Zeitung, und erſt neulich hab' ich geleſen,
daß ſie Einen auf ſieben Jahre nach Magdeburg auf
die Feſtung gebracht haben.“ —
„Ei Du mein Gott, Frau Gevatterin! Auf ſieben
Jahre, das iſt ja graͤulich!“ —
„Ja, und die Zeitungen ſind immer voll von ſolchen
Sachen. Die Polizei iſt ihnen immer auf den Hacken,
was kann da Gutes an den Leuten ſein? Nicht einen
Dreier geb' ich auf ſolch' einen Kerl.“ —
[51]Polizeiliche Eheſcheidung.
Das Geſpraͤch, welches wir die beiden Weiber auf
der Gaſſe in K. eben fuͤhren hoͤrten, bezog ſich auf einen
jungen Mann, Namens Paul. Derſelbe hatte fruͤher
dem Studium der Theologie obgelegen und ſeine Pruͤ¬
fungen mit glaͤnzendem Erfolg beſtanden. Von der
Kandidatur aber war er durch das Konſiſtorium in ſeiner
Heimath zuruͤckgewieſen worden, weil die in ſeiner Probe¬
predigt ausgeſprochenen Grundſaͤtze als der herrſchenden
Richtung zuwiderlaufend erachtet wurden. Paul hatte
von Haus aus nur ein kleines Vermoͤgen beſeſſen, und
dies war durch ſeine Studien faſt gaͤnzlich erſchoͤpft. Als
ihm daher durch das Konſiſtorium die Ausſicht auf eine
Anſtellung abgeſchnitten ward, mußte er ſich eine andere
Exiſtenz zu begruͤnden ſuchen. Er verließ zunaͤchſt ſeine
Heimath und begab ſich nach K., wo er Gelegenheit
fand, ſeine Thaͤtigkeit auf literariſche Arbeiten zu ver¬
wenden. Nach einem Jahre heirathete er hier ein jun¬
ges, liebenswuͤrdiges Maͤdchen aus den ſogenannten gebil¬
deten Staͤnden, der aus ihren einſt gluͤcklichen Verhaͤlt¬
niſſen nur ein geringes Kapital geblieben war. Indeß
verſchaffte dies und die Thaͤtigkeit Pauls den beiden Gat¬
ten eine hinlaͤnglich ruhige Exiſtenz und ihr beſcheidenes
Gluͤck ward lange durch nichts getruͤbt. Thereſe ſchenkte
4 *[52]Polizeiliche Eheſcheidung.ihrem Gatten im Laufe der Zeit drei Kinder. Sie war
eine ſchlanke huͤbſche Blondine, voll ſittſamer, natuͤrlicher
Liebenswuͤrdigkeit, die durch ihr einfaches Weſen Alle, die
ihr nahe kamen, feſſeln mußte. Ihren Gatten liebte ſie
mit unausſprechlicher Hingebung, und die Kinder, auf
welche Beide ihre ganze Sorgfalt wendeten, befeſtigten das
innige Band des Paares immer mehr. Um dieſe Zeit
erregte eine Arbeit Pauls — in welcher Art, iſt hier
gleichguͤltig — die Aufmerkſamkeit der Polizei. Ganz
wie oben die beiden Weiber erzaͤhlten, trat eines Morgens
ein Polizeibeamter mit vier Gensd'armen in Pauls Woh¬
nung, durchſtoͤberte, obgleich Paul ſich zu dem quaͤſtio¬
nirten Artikel bekannt hatte, alle Papiere deſſelben, ſteckte
Briefe und Manuſcripte ein und fuͤhrte Paul mit ſich
fort. Thereſe gerieth dabei in die entſetzlichſte Angſt.
Mit Thraͤnen der Verzweiflung fiel ſie dem Beamten zu
Fuͤßen und beſchwor ihn, jede Garantie zu verlangen
und ihr nur den Gatten zu laſſen. Der Kommiſſair
hob ſie artig auf und ſagte, daß er nur das Werkzeug
einer hoͤhern Macht ſei.
„Uebrigens,“ meinte er beruhigend, „wuͤrde die Sache
wohl nicht viel zu bedeuten haben.“ —
In der That wurden auch die Beſorgniſſe Thereſens
[53]Polizeiliche Eheſcheidung.— wenigſtens fuͤr den Augenblick — bald zerſtreut, denn
nach Verlauf von einigen Stunden kehrte Paul von der
Polizei zu ſeiner Gattin zuruͤck.
Paul war ein Auslaͤnder, ein Deutſcher naͤmlich. Als
er ſich in K. verheirathet hatte, war er um Ertheilung
des Buͤrgerrechts eingekommen, die Polizei aber hatte ihm
den Beſcheid gegeben, daß man gegen ſeinen Aufenthalt
in K. zwar nichts habe, ihm aber das Buͤrgerrecht vor¬
laͤufig nicht ertheilen koͤnne. Da die Gemeinden zur
Aufnahme von Auslaͤndern nicht verpflichtet ſind, ſo hatte
ſich Paul damals bei dieſem Beſcheide begnuͤgen muͤſſen.
Als er jetzt nach der Polizei gebracht wurde, nahm man
einfach ein Protokoll uͤber ſeine Verhaͤltniſſe auf; ſein
Antrag: wenn irgend etwas gegen ihn vorliege, ihn zur
gerichtlichen Verantwortung zu ziehen, ward nicht beach¬
tet. Das Warum ? mag der ſcharfſinnige Leſer ſelbſt
errathen. Statt deſſen aber erhielt Paul nach einigen
Tagen die polizeiliche Weiſung, Stadt und Land zu ver¬
laſſen.
[54]Polizeiliche Eheſcheidung.
Eine polizeiliche Ausweiſung hat viel fuͤr ſich. Es
bedarf dazu weder eines richterlichen Erkenntniſſes, noch
einer geſetzlichen Vorlage, und doch erreicht man ſeinen
Zweck zuweilen vollſtaͤndiger, als durch eine voruͤbergehende
Haft. Der Fluͤchtige, der nicht weiß, wohin er ſein
Haupt legen ſoll, gewinnt ſelten Zeit zu ſogenannten
Mißliebigkeiten. Faßt er dann auch in der Fremde Fuß,
ſo hat er doch bald den richtigen Blick fuͤr die Verhaͤlt¬
niſſe ſeiner Heimath verloren, und iſt mindeſtens fuͤr die
lokalen Ereigniſſe der Gegend unſchaͤdlich gemacht, aus
der man ihn vertrieben hat. In neueſter Zeit hat man
denn auch die mannigfachen Vorzuͤge ſolcher Maßnahmen
wohl eingeſehen, und in gewiſſen Laͤndern breitet man
dieſe Erfahrung auch dahin aus, daß man mißliebige
Beamte von einer Stadt zur andern verſetzt, ohne ſie zu
Athem kommen zu laſſen.
Als Paul die polizeiliche Ausweiſung aus Stadt und
Land erhielt, antwortete er in einem Anflug von Humor,
er wuͤrde binnen 5 Minuten dem Befehl nachgekommen
ſein. Er traf zu Hauſe noch einige Vorkehrungen, troͤ¬
ſtete ſeine weinende Frau mit der Hoffnung, daß ſie bald
wieder vereinigt ſein wuͤrden, und begab ſich uͤber die
Grenze nach der Reſidenzſtadt des benachbarten Landes.
[55]Polizeiliche Eheſcheidung. Aber der Empfang war hier nicht der erwartete. Wer
einmal von der Polizei gezeichnet worden iſt, kann einer
ſteten Aufmerkſamkeit von kleinlichen, berichtluſtigen Po¬
lizeiſeelen gewiß ſein, denn wenn man irgend in deutſchen
Verhaͤltniſſen Einigkeit ſuchen duͤrfte, ſo waͤre es in denen
der Polizei. Paul wurde abermals verwieſen, oder erhielt
vielmehr von vornherein keine Erlaubniß zum Aufenthalt.
Ein Grund wurde ihm fuͤr dieſe Maßnahme nicht ange¬
geben, aber man gab ihm zu verſtehen, daß es wegen ſeiner
Verweiſung in K. geſchehe; man wollte der Moͤglichkeit
vorbeugen, in eine aͤhnliche Nothwendigkeit verſetzt zu
werden. Das nennt man eine Praͤventivmaßregel. Paul
wollte zwar die Richtigkeit einer ſolchen nicht einſehen,
und meinte, daß man demgemaͤß auch Jeden auf die
bloße Moͤglichkeit hin, er koͤnne einmal wahnſinnig wer¬
den, in ein Irrenhaus ſperren duͤrfe, eine Sache, die
doch noch nicht erhoͤrt ſei: die Polizei aber geſtattete ihm,
auswaͤrts daruͤber nachzudenken, und transportirte ihn uͤber
die Grenze. Dieſe Geſchichte wiederholte ſich noch ein¬
mal, und wenn Paul nicht noch einige dreißig Mal aus¬
gewieſen wurde, ſo lag das einzig darin, daß er endlich
die Gelegenheit dazu vermied. Sein Gemuͤth wurde all¬
maͤhlig furchtbar erbittert, und es laͤßt ſich ſchwer be¬
[56]Polizeiliche Eheſcheidung.ſchreiben, was in der Bruſt des Fluͤchtlings vorging,
waͤhrend er ſo gehetzt von Stadt zu Stadt zog. Aber
er bedurfte der Ruhe, und wiewohl es ihm gar ſauer
erſchien, beſchloß er doch zuletzt, ſich wieder in ſeine Hei¬
math zu begeben, deren Verhaͤltniſſen er entfremdet wor¬
den war. Er begab ſich alſo nach — Kurheſſen.
Kurheſſen iſt ein ſchoͤnes, deutſches Land. Es ſind
viel brave Leute da geſtorben, wie z. B. der Buͤrger¬
meiſter Schomburg, viele auch nicht, wie die im vori¬
gen Jahrhundert nach Amerika verſendeten Soldaten. In
Kurheſſen iſt Herr von Haſſenpflug Miniſter geweſen, und
Sylveſter Jordan nicht geboren.
Als Paul in dieſem Lande angekommen war, miethete
er ſich eine Wohnung, und ſchrieb ſeiner Frau, daß ſie
ihre Sachen ordnen und ihm mit den Kindem nach¬
kommen moͤge. Thereſe wurde von ihren Einrichtungen
faſt zwei Monate zuruͤckgehalten, da der Verkauf ihrer
Moͤbeln, die Vermiethung der Wohnung und aͤhnliche
Anordnungen ihr viel zu ſchaffen machten. Als ſie bei
[57]Polizeiliche Eheſcheidung. ihrem Gatten eintraf, war der Herbſt eben angebrochen.
Hier wurden die Anſtalten indeß ſchneller beſorgt und die
wiedervereinigten Gatten begannen bald ihre Trennung in
der freudigen Zuverſicht auf eine ruhige Zukunft zu ver¬
ſchmerzen. Aber das Ungluͤck, wenn es einmal ein Opfer
erkoren, laͤßt ſich ſo leicht nicht von der Spur bringen.
In Pauls Vaterſtadt befand ſich unter den Ge¬
meindevorſtaͤnden ein Mann, mit dem Paul zuſammen
die Schule und Univerſitaͤt beſucht hatte. Die beiden
Geſpielen waren einander fruͤh entfremdet worden. Paul
hatte ſich von Anfang an mit ausſchließlichem Ernſt ſei¬
nen Studien zugewendet, waͤhrend der lebhafte Konrad
den Freudenbecher des ungebundenen Studentenlebens bis
auf die Hefe genoß. Sie ſahen ſich dazumal ſchon ſel¬
ten. Ein tieferes Mißverhaͤltniß entſtand aber, als Paul
in Folge eines Zuſammentreffens mit einem andern Stu¬
denten ſich weigerte, „loszugehen.“ Konrad hielt ihn von
da an fuͤr einen Feigling und Heimtuͤcker, und wenn ſich
die fruͤheren Jugendgeſpielen auf der Straße begegneten,
gingen ſie ſtumm an einander voruͤber. Spaͤter verloren
ſie ſich aus den Augen. Paul ſiedelte nach K., waͤhrend
Konrad in Staatsdienſte trat. Er hatte in der Reſidenz
einen maͤchtigen Verwandten, deſſen Protektion ihn eine
[58]Polizeiliche Eheſcheidung.ſchnelle Karriere machen ließ. Gegenwaͤrtig bekleidete er
das oberſte Gemeindeamt in ſeiner Vaterſtadt, und galt
hier ſeiner perſoͤnlichen Stellung, wie ſeines weitern Ein¬
fluſſes wegen fuͤr den angeſehenſten Mann. Als Paul
jetzt zuruͤckkehrte, war der alte Groll zwar im Laufe der
Zeit ziemlich verdampft, aber eine leiſe Mißachtung war
doch in Konrads Herzen gegen den „Heimtuͤcker“ geblie¬
ben. Da Paul keinen Schritt that, um ſich dem ehe¬
maligen Kameraden zu naͤhern, vielmehr als er Konrads
Stimmung erkannte, ſich in kalte, fremde Gleichguͤltig¬
keit zuruͤckzog, ſo ſtieg in Konrad bald auch eine gewiſſe
Eiferſucht auf ſein buͤrgerliches Anſehen auf, und er
wuͤnſchte im Stillen eine Gelegenheit herbei, den zwei¬
deutigen Kaltſinn Pauls durch einen Beweis ſeiner Macht
zu beugen. Dieſe Gelegenheit wurde ihm, Dank einigen
kleinen Beamtenſeelen, ganz unerwartet ſchnell gegeben.
Eines Morgens erhielt Paul eine Zuſchrift der ſtaͤdti¬
ſchen Polizei, worin er aufgefordert wurde, einen Hei¬
mathſchein fuͤr ſeine Frau und Kinder beizubringen, indem
man ihnen nur gegen einen ſolchen Nachweis den Auf¬
[59]Polizeiliche Eheſcheidung. enthalt geſtatten duͤrfe. Paul war ziemlich entruͤſtet uͤber
dieſe fortgeſetzte „Plackerei,“ wie er meinte. Er ſchrieb
an die Behoͤrde zuruͤck, daß er ſelbſt Heimathrechte am
Ort beſitze, und daß es fuͤr ſeine Frau und Kinder wohl
weiter keiner Nachweiſe beduͤrfe. Nach Verlauf einiger
Tage erhielt er eine neue Zuſchrift, die ihn belehrte, daß
ſeine im Auslande ihm angetraute Gattin und deren
Kinder kein Heimathrecht am Ort haͤtten; daß man ihnen
den Aufenthalt nicht verweigern wolle, aber zuvoͤrderſt
ihre Heimath kennen muͤſſe, damit ſie bei eintretender
Verarmung nicht der Gemeinde zur Laſt fielen. Paul
begann nun einzuſehen, von welcher Seite betrieben werde,
und wendete ſich mit einer ausfuͤhrlichen Beſchwerde an
das Miniſterium. Es waͤhrte einige Wochen, bevor er
von dieſem beſchieden wurde, und als er die Entſchließung
erhielt, erfuhr er, daß ſeine Beſchwerde fuͤr unbegruͤndet
befunden worden ſei.
„Seine Frau und Kinder,“ hieß es, „haͤtten geſetzlich
ein Heimathrecht in den kurheſſiſchen Landen nicht anzu¬
ſprechen, und da die Gemeinden zur Aufnahme von
Auslaͤndern nicht verpflichtet ſeien, ſo koͤnne ſich der Mi¬
niſter auch nicht fuͤr ermaͤchtigt halten, die Entſchließung
der ... Behoͤrde in irgend einer Weiſe abzuaͤndern.“
[60]Polizeiliche Eheſcheidung.
Gleichzeitig aber mit dieſer Beſcheidung Pauls traf
auch ein Schreiben an die Polizeibehoͤrde ein, wonach
dieſe angewieſen wurde, Pauls Gattin und Kinder, wel¬
chen von der Gemeinde die Aufnahme verſagt worden
ſei, ſofort nach ihrer Heimath zu verweiſen. Vielleicht
hatten die harten Worte in Pauls Beſchwerde dieſe ſchnelle
Maßnahme hervorgerufen, — wenigſtens meinte der Po¬
lizeibeamte, der den Befehl an Paul uͤberbrachte, daß es
wohl anders ausgefallen waͤre, wenn Paul, ſtatt ſich zu
beſchweren, bittend eingekommen waͤre. Selbſt Konrad
war von dieſer Wendung uͤberraſcht. Da er von Natur
nicht boshaft war, hatte er an einen ſolchen Ausgang
nicht gedacht. Seine Abſicht war vielmehr einzig die ge¬
weſen, Paul ſeine Macht fuͤhlen zu laſſen und ihm eine
Art Ergebenheit abzuzwingen. Paul empfing die Nach¬
richt ſtumm und ſchweigend. Er ließ Thereſen nur ihre
noͤthigſten Sachen ordnen, und geleitete ſie und die Kin¬
der noch bis zur Grenze.
So waren alſo die beiden Eheleute durch einen poli¬
zeilichen Machtſpruch geſchieden. Paul blieb zuruͤck, in
[61]Polizeiliche Eheſcheidung.ſeinem Innern voll tiefen, bitteren Grolles uͤber die Mi¬
ſere der deutſchen Heimathverhaͤltniſſe; Thereſe reiſte nach
K., bangen und geknickten Herzens uͤber ihr Schickſal und
die Trennung von ihrem Gatten. Ihr ahnte im Stil¬
len, daß ſie einander nicht wiederſehen wuͤrden. In K.
wurde ihre Stimmung truͤber und krankhafter. Ihr
ſcheues Herz zog ſich vor jeder Beruͤhrung mit Menſchen
zuſammen, der Gram nagte an ihrem Lebensmark, und
das junge bluͤhende Geſchoͤpf begann langſam und elend
hinzuſiechen. Zu allem Ungluͤck war durch die mehrfachen
Reiſen und Einrichtungen der groͤßte Theil ihres Vermoͤ¬
gens erſchoͤpft worden. Paul muͤhte und quaͤlte ſich
zwar, aber es wollte doch nichts recht gelingen. Die
ſtille, friedliche Ordnung war jetzt nicht herzuſtellen, wie
auch Paul mit neuen Hoffnungen auf eine gluͤcklichere
Zukunft in der Fremde ſie aufzurichten ſuchte; es erkrank¬
ten zudem zwei von den Kindern, und Thereſe, ſelbſt
leidend, konnte nun ihrem Hausweſen vollends nicht mehr,
wie fruͤher, ordnend und ſorgend vorſtehen. Da traf ſie
zerſchmetternd der letzte Schlag, die Trauerpoſt von Pauls
Tode.
In Pauls Gemuͤth hatte ſich ſeit der Trennung von
Thereſen und den Kindern immer mehr und mehr der
[62]Polizeiliche Eheſcheidung.verbiſſene Grimm gehaͤuft. Sein frommer, haͤuslicher
Friede war ihm geraubt, ſein ſtiller Heerd mit der heiligen,
abgeſchiedenen Ruhe der Liebe zerſtoͤrt, was Wunder, daß
da der Haß gegen ſeine Verfolger wie Unkraut aus den
Truͤmmern ſeines Gluͤcks emporwucherte? Eines Tages
ließ ſich Paul in Geſellſchaft einiger Freunde an einem
oͤffentlichen Ort ſehr heftig uͤber gewiſſe Verhaͤltniſſe aus.
An einem benachbarten Tiſch ſaß ein Lieutenant, deſſen
eben ausgezahlte Gage ihm eine beſondere Wuͤrde zu ver¬
leihen ſchien. Bei den Worten Pauls erhob er ſich, und
an die Geſellſchaft herantretend forderte er Paul auf, ſeine
Ausdruͤcke zuruͤckzunehmen, oder ihm dafuͤr Satisfaction
zu geben. Paul antwortete ihm, daß er gar nicht zu
ihm oder uͤber ihn geſprochen, alſo ihm gegenuͤber auch
nichts zuruͤckzunehmen habe; von Satisfaction koͤnne aus
demſelben Grunde keine Rede ſein, weshalb er ſich eine
andere Gelegenheit zur Auszeichnung ſuchen moͤge. Der
trunkene Lieutenant riß hierauf, in einem herzerhebenden
Anfall ritterlicher Treue gegen den Landesherrn, den De¬
gen aus der Scheide, und mit dem Ausruf: „Blut muß
es abwaſchen!“ verſetzte er Paul einen tiefen Stich in
den Oberſchenkel. Wie er ſpaͤter ausſagte, hatte er Paul
keineswegs zu toͤdten beabſichtigt, da er ihn in dieſem
[63]Polizeiliche Eheſcheidung. Fall wohl durch die Bruſt geſtoßen haben wuͤrde; viel¬
mehr ſei es nur ſeine Abſicht geweſen, ihn zu verwunden,
und durch das Blut ſeine verletzte Standesehre wieder
herzuſtellen. Der Degen aber hatte eine Roͤhre zerſchmet¬
tert, und Paul ſtarb unter großen Schmerzen und ge¬
foltert von dem Gedanken an Frau und Kinder noch in
der folgenden Nacht.
Den Eindruck ſchildern zu wollen, den dieſe Nach¬
richt auf Thereſen machte, iſt mir nicht moͤglich. Als
ſie aus ihrem beſinnungsloſen Zuſtand erwachte, erfuhr
ſie, daß ſie faſt zwei Monate krank, in fremder Pflege,
darniedergelegen hatte. Die Erinnerung an die Veranlaſ¬
ſung haͤtte ſie beinahe von Neuem auf's Krankenlager
geworfen, und ihre Auszehrung nahm ſeitdem einen ſchnel¬
leren Gang an. Nur der Gedanke an ihre Kinder hielt
ſie ſo weit noch aufrecht, daß ſie ſich muͤhſam in ihrem
Hausweſen dahinſchleppen konnte. Aber das Hausweſen
ſelbſt kam immer mehr zuruͤck. Es fehlte das Band des
zufriedenen, wenn auch noch ſo beſcheidenen Gluͤckes,
welches das Ganze in Ordnung und ſchaffender Luſt zu¬
ſammenhaͤlt, und allmaͤhlig ging auch der kleine Reſt
ihres fruͤheren Vermoͤgens, der durch die Krankheit noch
mehr geſchmaͤlert worden war, gaͤnzlich zur Neige. Thereſe
[64]Polizeiliche Eheſcheidung.duldete und zoͤgerte in ungewiſſer, zager Erwartung lange
Zeit; als ſie aber keinen anderen Ausweg ſah, wendete
ſie ſich, um Unterſtuͤtzung bittend, an — die Armendi¬
rektion. Hier ſtieß ſie auf neue Schwierigkeiten.
Der Gemeindevorſtand beſtritt ihre Heimathrechte am
Ort, da ſie nach den Geſetzen des Landes durch ihre
Verheirathung an einen Auslaͤnder derſelben verluſtig ge¬
gangen ſei. Es wurde daher erſt mit den Heimathbe¬
hoͤrden ihres verſtorbenen Mannes eine ausfuͤhrliche Kor¬
reſpondenz eroͤffnet, ihr ſelbſt aber, auf ihr wiederholtes
dringendes Erſuchen, einſtweilen und ein fuͤr alle Mal
eine ſo kleine Summe Geldes gereicht, daß die Familie
kaum zwei Wochen davon zu leben hatte.
Waͤhrend deſſen hatte ſich auch ein fruͤherer Bekann¬
ter Pauls der Frau angenommen und durch eine Kol¬
lekte fuͤr ſie eine neue Summe zuſammengebracht. Das
Geſchenk war als augenblicklicher Nothbehelf recht anſehn¬
lich, aber zur Sicherung eines beſſern zukuͤnftigen Looſes
reichte es entfernt nicht aus, und nach einigen Wochen
mußte die Lage der Ungluͤcklichen wieder dieſelbe ſein.
Thereſe ſcheute ſich ihre Wohlthaͤter abermals anzuſpre¬
chen, und nur ſpaͤt auf mehrfache Verſuche, nachdem
ihre bitterliche Noth erſt gepruͤft und konſtatirt worden
[65]Polizeiliche Eheſcheidung.war, erhielt ſie von der Armendirektion von Neuem eine
kleine, mehr als duͤrftige Unterſtuͤtzung.
Das iſt das ewige Geſchick des Armen. Die Wohl¬
thaͤtigkeit iſt nur eine Grauſamkeit, die ihn im Elend
erhaͤlt und durch das Gefuͤhl ſeiner huͤlfloſen, jedem Ver¬
ſuch eigner Erhebung trotzenden Abhaͤngigkeit entwuͤrdigt
und demoraliſirt.
Einige Zeit ſpaͤter treffen wir jene beiden Weiber wie¬
der, deren Geſpraͤch wir oben ſchon einmal belauſchten.
Sie ſtehen vor einer Hausthuͤr und ſchauen dem ſchwar¬
zen Leichenwagen nach, der einfach und ohne Geleit die
Straße hinabfaͤhrt.
„Gott habe ſie ſelig!“ ſagt die Eine. „Es war doch
eine brave Frau, und es thut mir wahrhaftig leid um
die armen Kinder. Sie haben eine gute und rechtſchaffene
Mutter verloren.“ —
„Ja, Gott verzeih' ihr. Sie hat den dummen
Streich, daß ſie den confiscirten Buͤchermacher geheirathet,
ſchwer genug gebuͤßt! Was aber die Kinder betrifft, nun
ſo iſt ja das eine ſchon verſorgt, und die beiden andern
werden wohl auch noch unterkommen.“
„Ja, das aͤlteſte hat der Schuhmacher im Keller
dort zu ſich genommen, die andern ſind in's Waiſenhaus
gebracht worden.“ —
„Das hat lange genug gedauert. Der Magiſtrat
wollte nichts davon wiſſen, weil der Mann ein herge¬
laufener Menſch war, und bei ihm zu Hauſe wollten ſie
auch nichts damit zu thun haben. Alſo jetzt ſind ſie
doch hier im Waiſenhaus untergebracht.“ —
„Ja, die Stadt hat zuletzt fuͤr Alles aufkommen
muͤſſen, auch fuͤr das Begraͤbniß der Frau. Nun, Gott
hab' ſie ſelig!“ —
So war es. Die Kinder im Waiſenhaus und in
fremder Pflege, die Mutter auf oͤffentliche Koſten begra¬
ben, und der Vater — nun, gute Nacht!
Das iſt ſo eine Geſchichte aus der deutſchen „Heimath“.
Die Sünderin.
„Fremde Geſellen oder Dienſtboten ſind, wenn ſie in drei
Tagen nach ihrer Ankunft keinen Dienſt finden oder
nach ihrer Entlaſſung aus dem Dienſt ſich drei Tage
arbeitslos umhertreiben, ſofort aus der Stadt zu
verweiſen.“ —
(Polizeireglement einer norddeutſchen Reſidenz.
)5 *[[68]][[69]]
Sie war noch immer ſehr ſchoͤn. In ihrem Antlitz
lag der Ausdruck jener madonnenhaften, jungfraͤulichen
Unſchuld, mit der die chriſtliche Mythe ihre Gottesmutter
ausmalt, jenes goͤttliche, erdenvergeſſende Gluͤck, das wir
zuweilen den jungen Muͤttern den Reiz der maͤdchenhaf¬
ten Reinheit bewahren ſehen. Ihr Auge, ihr ſchoͤnes,
großes, waſſerblaues Auge, war von einer himmliſchen
Sanftmuth. Die langen Wimpern hingen daruͤber, wie
Trauerweiden uͤber dem Bild der Himmelsſterne in dem
friedlichen, hellklaren Spiegel eines See's, und das weiche,
blonde Seidenhaar ſaͤumte mit ſeinen Wogen ihre ruhige
Stirn, wie ſilberne Wolken den verklaͤrten, traͤumenden
Himmel. Ihre Wangen, wie zwei Purpurbluͤthen, ſtrahl¬
ten den goldenen Glanz des friſchen Lenzhauches. Ihre
Geſtalt war ſchlank, ihre Bewegungen faſt ſchwebend,
ihr Haupt ſinnend, wie von wogenden Traͤumen gewiegt:
ſie glich einer Waſſerlilie, die auf den Wellen ſchaukelnd,
[70]Die Suͤnderin. vergeſſend dahingetrieben wird. Sie war noch immer
ſchoͤn, jungfraͤulich ſchoͤn, die ſiebzehnjaͤhrige, verlaſſene
Mutter.
Und ihre Mutterſchaft! Wie verklaͤrte dies ſuͤße
Gefuͤhl ihr ganzes Weſen! Wie ſtrahlte ihr Auge, wie
leuchtete der Ausdruck aller ihrer Zuͤge frohlockend in dem
Widerſcheine ihrer Mutterliebe! Wenn ſie daſtand, das
weiße, fromme Geſicht uͤber die Wiege ihres Kindes ge¬
beugt, und ihr klopfendes Herz den Athem des Schlum¬
mers belauſchte, eine weiße Statue im Ebenmaaß der
vollendeten reinen Schoͤnheit, Sorge und ſeliges Gluͤck
in ihren Mienen: welch koͤſtliches Bild gewaͤhrte ſie da!
Und wie liebte ſie auch ihr Kind! Es waͤre ihr Tod
geweſen, haͤtte ſie es verlieren ſollen.
„Aber wer ſollte es mir auch nehmen ?“ ſagte ſie
unſchuldig laͤchelnd. „Es giebt ja ſo Vielerlei auf der
Welt, warum gerade das, das Einzige, was ich habe?
Ja! Es waͤre mein Tod, wenn ich das verlieren
ſollte!“ —
[71]Die Suͤnderin.
Mathilde war aus einer kleinen Provinzialſtadt un¬
weit der Reſidenz. Ihr Vater, ein armer Handwerker,
mußte ſich ſein kuͤmmerlich Leben ſauer werden laſſen,
denn die Familie war ſtark und der Verdienſt von ſeiner
fleißigen Haͤnde Arbeit gering. Mathilde, als die Ael¬
teſte unter den Kindern, mußte zuerſt verſorgt werden,
— was man naͤmlich bei Armen ſo verſorgen heißt.
Sobald ſie in die Jahre kommen, wo ſie einigermaßen
Arbeit erhalten koͤnnen, werden ſie außer dem Hauſe bei
Fremden in Dienſt oder Lehre gegeben. Alsdann fallen
ſie den Aeltern nicht mehr zur „Laſt,“ und die Aeltern
glauben ſie hinlaͤnglich verſorgt zu wiſſen, wenn ſie keine
Nahrungsſorgen mehr um dieſelben haben. Mathilde
ſollte daher in Dienſt gehen. Aber in der kleinen Stadt
giebt es keinen bedeutenden Lohn; in der Reſidenz iſt es
beſſer, da wird ſie gut gehalten und kann ſich etwas er¬
ſparen, ja vielleicht ihr Gluͤck machen, — auch iſt ſie
da entfernter von Hauſe. Mathilde wurde alſo nach
der Reſidenz geſchickt.
Hier fand ſie denn bald einen Dienſt in einer
Schenkwirthſchaft. Sie war fleißig, willig und treu, und
erwarb ſich ſchnell die Zufriedenheit ihrer Dienſtherr¬
ſchaft. Die Gaͤſte waren nicht minder zufrieden mit der
[72]Die Suͤnderin.jungen, ſchmucken Kellnerin. Sie kamen oͤfter, und es
kamen auch Andere regelmaͤßiger, die ſonſt nur zufaͤllig
gekommen waren. Der Wirth wußte das zu ſchaͤtzen,
und hielt das Maͤdchen faſt wie ſein eigenes Kind. Sie
fuͤhlte ſich ſehr zufrieden und gluͤcklich.
Ihr Geſchaͤft machte es nothwendig, daß ſie ſich mit
den Gaͤſten hin und wieder unterhalten mußte. Wenn
ſie ihnen die Getraͤnke brachte, wurde ſie gewoͤhnlich in's
Geſpraͤch gezogen, und die jungen Leute fuͤllten ihr Ohr
mit luſtigen Geſchichten und einſchmeichelnden Reden.
Unter ihnen war Einer, auf den ſie vorzugsweiſe den
offenſten Eindruck machte. Er war ſtiller und geſetzter,
als die Andern, ſeine Worte klangen ſo einfach und na¬
tuͤrlich, und ſeine Augen blickten ſo treuherzig, er ſchien
eine reine bruͤderliche Theilnahme fuͤr ſie zu empfinden.
Er ſprach ihr nie von Liebe, und ſie ſelbſt dachte nicht
daran. Sie fand ein unſchuldiges, faſt unbewußtes Ge¬
fallen an ihm, ihre Seele traͤumte von keiner Gefahr.
Sie ſaß wohl oͤfter und laͤnger bei ihm, als bei den
Andern, aber geſchah es nicht unwillkuͤhrlich? Kam er
nicht meiſt gerade zu ſolchen Stunden, wo das Lokal
weniger beſucht, wo ſie geringer beſchaͤftigt war? Sie
hoͤrte ihm gern zu, aber ſprach er nicht ſo ruhig und
[73]Die Suͤnderin. unverfaͤnglich? Es ſchien das Verhaͤltniß von zwei reinen,
lange verbundenen Freundesſeelen.
Da kam der Fruͤhling. Die Luͤfte wurden wolluͤſtig
warm, die Baͤume ſchlugen aus, die ganze Natur war
in einer weichen, wallenden Gaͤhrung. Das ſechzehn¬
jaͤhrige Maͤdchen gerieth jetzt zum erſtenmal in eine ſelt¬
ſame Atmoſphaͤre. Es ging etwas in ihr vor, und ſie
wußte nicht, was. Sie hatte ein Sehnen, einen unbe¬
wußten Drang, den ſie nicht zu ſtillen wußte, ihre Glie¬
der dehnten ſich, ihre Augen ſahen mit ſtaunendem Be¬
gehren hinaus, es war ihr, als waͤre Alles anders, ver¬
aͤndert, doppelt geworden, gegen fruͤher. An einem Sonn¬
tage, wo ſie die Erlaubniß auszugehen bekommen hatte,
begleitete ſie ihr Freund hinaus in's Freie. Sie hoͤrte
ihm heute mit andern Empfindungen zu, wie ſonſt. Ihr
Herz war erfuͤllt von einem unerklaͤrlichen Gefuͤhl, es
war ihr ſo eng und ſo weit, ſie meinte faſt zu erſticken,
und ſie ſchloß ſich feſter an ihren Begleiter an. Auch
ſeine Worte waren anders, wie ehedem. Es klang ein
Ton durch, den ſie noch nicht gehoͤrt hatte, und der ſie
mit einer neuen Regung bis in's Herz durchbebte. Auf
dem Heimweg war es dunkel geworden. Als ſie den
Park vor dem Stadtthore erreicht hatten, ſetzten ſie ſich
[74]Die Suͤnderin.an dem Ufer eines See's unter das junge duftige Gruͤn
des Laubes. Die Nacht war ſo ſchoͤn. Am Himmel
funkelten die Sterne, und ihr Licht zitterte blitzend auf
dem ſtillen Spiegel des See's, die naͤchtigen Gebuͤſche
rauſchten, die Bluͤthen hauchten einen wolluͤſtigen Duft,
und eine Nachtigall ſchlug aus der Ferne leiſe, ſchmel¬
zende Liebeſtoͤne. Das Maͤdchen ſaß in verzehrender,
traͤumeriſcher Gluth, ihre Seele war ein flammendes,
ſchwelgeriſches Gebet. Der junge Mann ſchlug ſeinen
Arm um ihren Leib, ſeine Worte toͤnten weich und ver¬
lockend in ihr Ohr, und als er einen Kuß, den erſten
brennenden Kuß, auf ihre durſtigen Lippen druͤckte, durch¬
zuckte ein banges und doch ſo ſuͤßes, ſchwellendes Zagen
ihr ganzes Weſen. Sie ſchmiegte ſich inniger und
doch zitternd an ihn an. Das dunkle Laub rauſchte
maͤchtiger, die weißen Blaͤtter fielen feucht und tro¬
pfend auf ihre warmen Schultern, eine Sternſchnuppe
fuhr durch den naͤchtigen Himmel und ihr Widerſchein
ſpruͤhte funkelnd uͤber den leichtbewegten Spiegel des
See's.
Als die ſilberne Mondſcheibe am Himmel auftauchte,
ordnete das Maͤdchen bang und bewegt ihr feuchtes Haar.
Sie war gefallen, eine Suͤnderin, — und aus Liebe?
[75]Die Suͤnderin. Nein. Sie liebte ihn gar nicht. Es lag einmal in ihrer
Natur, wer kann was dafuͤr? —
Nach einigen Wochen fand ſie ſich allein. Er war
fortgezogen — nach ſeiner fernen Heimath. Nicht ein¬
mal Lebewohl hatte er ihr geſagt, — ob aus Schmerz
oder Scham, ich weiß es nicht. Aber er hatte ſie ver¬
laſſen, fuͤr immer verlaſſen, und — Andere haͤtten es
vielleicht ebenſo gemacht. Es iſt auch einerlei.
Sie hatte ihn nie geliebt, und ſeit ihrem Fall ſogar
verabſcheut. Daher vermißte ſie ihn jetzt nur wenig.
Sie hatte ihn zuletzt gleichguͤltig, ja mit mißtrauiſchem
Haß betrachtet, und als er, der dies veraͤnderte Beneh¬
men ihrem tiefen Schamgefuͤhl zuſchrieb, ſie zu troͤſten
verſuchte, hatte ſie ihm voll Ekel den Ruͤcken gedreht.
Jetzt war er fort, und die Zeit verrollte ihr wieder
im alten Gleis. Sie war ruhig und ſtill, ſie dachte
nicht mehr an ihn. Aber bald zeigten ſich die Folgen
ihres Fehltritts, und ein neues Gefuͤhl bemaͤchtigte ſich
ihres ganzen Weſens.
[76]Die Suͤnderin.
Als die Wirthsleute den Zuſtand des Maͤdchens be¬
merkten, waren ſie bemuͤht, ihr denſelben ſo ertraͤglich
wie moͤglich zu machen. Sie erkannten ſehr wohl, wel¬
chen Schatz fuͤr ihre Wirthſchaft ſie in dem jungen,
ſchoͤnen und thaͤtigen Maͤdchen beſaßen, und ſie hofften
mit Zuverſicht, daß Mathilde nach ihrer Entbindung das
Kind in fremde Pflege geben und in die Wirthſchaft zu¬
ruͤckkehren werde. Sie behielten ſie daher ſo lange im
Hauſe, als es irgend anging, erließen ihr allmaͤhlig jeden
anſtrengenden Dienſt und pflegten ſie mit der groͤßten
Aufmerkſamkeit und Ruͤckſicht. Als die Zeit ſo weit
vorgeruͤckt war, wurde ſie einer alten Frau in Pflege ge¬
geben, um hier in Ruhe ihre Entbindung abzuwarten.
Bald darauf gebar ſie ein Maͤdchen. Das Kind
war ſtark und geſund, und auch die Mutter erholte ſich
ſchnell, ſo daß ihre fruͤhere Herrſchaft ſie bald wieder zu
beſitzen hoffen konnte. Aber Mathilde war gaͤnzlich um¬
gewandelt. Es war, als haͤtte in ihrem Innern eine
Gluth geſchlummert, die ſich jetzt in vollen Flammen
an einem einzigen Gegenſtand verzehrte. Ihr keuſches
Herz war ploͤtzlich und deſto maͤchtiger in heißer Liebe er¬
wacht, und mit aller Kraft und Leidenſchaft derſelben
umſchloß ſie ihr Kind. Sie betrachtete lachend und
[77]Die Suͤnderin. weinend in Freude die kleinen Zuͤge ihres Ebenbildes,
kaum wagte ſie aus liebender Beſorgniß daſſelbe zu kuͤſſen
und zu liebkoſen, ihre ſelige Luſt nahm all ihr Denken
und Sinnen gefangen. Umſonſt ſuchte ihre fruͤhere Herr¬
ſchaft ſie zur Ruͤckkehr zu bewegen, umſonſt ſtellten ſie
ihr vor, daß ſie ja nicht im Stande ſei, ihren Unterhalt
zu gewinnen: ſie wollte ſich nicht von ihrem Kinde tren¬
nen, und nichts vermochte ſie abzuhalten, ihm ſelbſt die
Bruſt zu reichen. Ihre Zukunft kuͤmmerte ſie nicht,—
was wuͤrde denn auch ihre Zukunft ohne ihr Kind ſein?
Als ſie zu der Frau gezogen war, hatte ſie eine
kleine Summe mitgebracht, die ſie ſich aus Erſparniſſen
und Weihnacht- und Neujahrgeſchenken geſammelt hatte.
Da außerdem die Koſten ihrer Entbindung von den
Wirthsleuten bezahlt worden waren, ſo war ſie fuͤr's
Erſte im Stande, bei der Frau noch eine Zeitlang ihren
Aufenthalt nehmen zu koͤnnen. So blieb ſie denn auch
volle drei Monate hier, einzig und allein fuͤr die Pflege
ihres Kindes beſorgt. Endlich aber ſchwand auch der
letzte Reſt ihres kleinen Beſitzes. Sie theilte dies offen
ihrer Wirthin mit, und dieſe, welche ſie nun nicht laͤn¬
ger behalten wollte, gab ihr den Rath, ſich zu einer ihrer
Nachbarinnen, einer alten Waͤſcherin, zu begeben, wel¬
[78]Die Suͤnderin.cher ſie dann Huͤlfe bei der Arbeit leiſten ſolle. Nach
einigen Unterhandlungen zeigte ſich die Waͤſcherin auch
dazu erboͤtig und Mathilde zog noch am ſelbigen Tage
mit ihren Habſeligkeiten in die Wohnung derſelben.
Ihre neue Wirthin war freundlich und zuvorkommend
gegen ſie. Es war eine kleine, aͤltliche Frau von eben
nicht einnehmenden Zuͤgen, aber Mathilde fuͤhlte den
mißtrauiſchen Widerwillen, den ihr die Alte beim erſten
Anblick einfloͤßte, bald wieder vor ihrem gutmuͤthigen Ge¬
ſchwaͤtz und ihrer hilfreichen Aufmerkſamkeit fuͤr das Kind
verſchwinden. Die Alte ſchaffte und ſorgte fuͤr ſie auf
die beſte Weiſe. Nur uͤber die Arbeit und den Verdienſt
klagte ſie beſtaͤndig, und allerdings bemerkte Mathilde,
daß die Alte eben keine Beſchaͤftigung hatte. Da ſuchte
ſie der Alten Troſt und Muth, zuzuſprechen, ſie, deren
eigne Lage doch ſelbſt der Huͤlfe ſo beduͤrftig war, —
allein fuͤr was hat ein gluͤckliches Mutterherz keinen
Troſt? Da ſie jung, geſchickt und arbeitſam war, ſo
erbot ſie ſich, um ſich der Wirthin ebenfalls huͤlfreich zu
zeigen, fuͤr fremde Leute Naͤh- oder Stickarbeit zu ma¬
[79]Die Suͤnderin. chen, falls ſie dergleichen Auftraͤge erhalten koͤnnte. Die
Alte war damit zufrieden, meinte aber doch gleich, daß
das auch ſehr ungewiß ſei.
Mittlerweile waren die erſten Tage dieſer neuen Ein¬
richtung verfloſſen. Da gegen Ende der Woche kam
eines Morgens die Alte ganz beſtuͤrzt in Mathildens
Kammer, und ſagte, der Polizeikommiſſair ſei unten und
verlange mit ihr zu ſprechen. Mathilde erſchrak, ohne
eigentlich zu wiſſen, warum, aber der bloße Name der
Polizei genuͤgt bei den Armen und Huͤlfloſen, um auch
dem unſchuldigſten, reinſten Gemuͤth Angſt und Entſetzen
einzujagen. Sie warf ein Tuch uͤber, bat die Alte bei
dem Kinde zu bleiben, und eilte mit einem in bebender
Ahnung klopfenden Herzen hinunter zu dem Mann, in
deſſen Haͤnden ihre ganze Zukunft lag.
Der Polizeikommiſſair ſchien beim erſten Anblick von
dem Ausdruck ihrer kindlichen Zuͤge, auf welchen ſich
Scham und ſpannende Beſorgniß malten, und von ihrem
ganzen ſittſamen Weſen uͤberraſcht zu ſein. Aber eine
lange Erfahrung hatte ihn mißtrauiſch gegen das guͤn¬
ſtige Vorurtheil eines ſolchen erſten Eindruckes gemacht,
und gleichſam um ſein Gefuͤhl zu bewaͤltigen, wurde ſeine
Stimme noch rauher und muͤrriſcher als ſonſt.
[80]Die Suͤnderin.
Er begann mit der Vorhaltung, daß ſie nun ſchon
laͤngere Zeit, als dies die Polizeivorſchriften geſtatteten,
hier bei der Alten wohne, ohne ſich einen neuen Dienſt
zu verſchaffen, und fragte dann ziemlich grob: was ſie
denn treibe? was ſie uͤberhaupt hier wolle?
Mathilde erzaͤhlte ihm mit befangener Stimme, auf
welche Weiſe ſie zu der Alten gekommen ſei, und wie
ſie ihr die Koſten ihres Aufenthalts durch haͤusliche Ar¬
beit und Huͤlfleiſtung beim Waſchen erſetzen wolle.
„Das ſind faule Fiſche!“ erwiderte der Polizeibeamte
barſch. „Die Alte hat ſelbſt nichts zu leben und die
Waͤſcherei iſt nur ſo ein fauler Vorwand. Die Vettel
hat ſchon zweimal im Arbeitshaus geſeſſen, und wenn
ſie nicht hier geboren und heimiſch waͤre, wuͤrden wir ſie
ſchon laͤngſt wegtransportirt haben.“ —
Mathilde erſchrak heftig uͤber dieſe Worte. Mit zit¬
ternder Stimme erzaͤhlte ſie nun, wie ſie fruͤher in Kon¬
dition geſtanden, und zeigte das Zeugniß ihrer Wirths¬
herrſchaft uͤber ihre tadelloſe, treue und redliche Fuͤhrung.
„Sie ſelbſt wollten mich gern wieder zu ſich nehmen,“
ſagte ſie feſter in ihrem Selbſtbewußtſein, „aber ich wollte
es nicht eingehen, weil ich mich dann haͤtte von meinem
Kinde trennen muͤſſen.“ —
[81]Die Suͤnderin.
Der Polizeibeamte ſchien allmaͤhlig doch von der ruͤh¬
renden, ſo ganz mit der Welt unbekannten Einfachheit
der jungen Mutter erweicht zu werden, und fragte
milder:
„Aber koͤnnen Sie denn von dem Vater des Kindes
keine Unterſtuͤtzung bekommen, denn Sie ſehen doch ein,
daß Sie irgend eine Unterhaltsquelle haben muͤſſen?“—
Daran hatte ſie nicht gedacht, ſie wußte gar nicht
einmal, wo der Vater war. Was konnte ſie das bisher
auch kuͤmmern?
„Das iſt ſchlimm, mein Kind!“ ſagte der Beamte
theilnehmend. „Wenn Sie keine Erwerbsquelle nachzu¬
weiſen vermoͤgen, ſo iſt anzunehmen, daß Sie und Ihr
Kind demnaͤchſt der Gemeinde zur Laſt fallen werden,
und meine Inſtruktionen lauten beſtimmt dahin, Sie
ſchon in drei Tagen, falls Sie bis dahin keinen Dienſt¬
ſchein beibringen, nach Ihrer Heimath zu verweiſen. Es
iſt daher das Beſte, was ich Ihnen nur rathen kann,
daß Sie Ihr Kind in Pflege geben und ſich wieder eine
Stelle ſuchen. — Kommen Sie dann zu mir, damit ich
Ihnen den Schein ausſtelle.“ —
Mit dieſen Worten begab er ſich fort, Mathilden in
der toͤdtlichſten Verzweiflung ihrer rathloſen Seele zuruͤck¬
6[82]Die Suͤnderin.laſſend. Sie ſollte ihr Kind fremden Leuten uͤberlaſſen,
— jetzt, wo ſie es taͤglich lieber gewonnen hatte — Leu¬
ten, die kein Intereſſe an ihm nehmen — die ſein zar¬
tes Leben vielleicht durch ſchlechte Behandlung einer un¬
gluͤcklichen Zukunft oder gar dem Tode ausſetzen wuͤrden!
Wie haͤtte ſie das uͤber ſich vermocht? Und doch —
wenn ſie ſich nicht dazu entſchloß, was hatte ſie ſelbſt
zu erwarten? Der Gedanke an ihre Eltern erfuͤllte ſie
zum erſtenmal, mit Entſetzen, — und wuͤrde ihr, der
verachteten, von der Welt verſtoßenen Suͤnderin nicht
auch das vaͤterliche Haus verſchloſſen ſein? Wer ver¬
mochte ihr einen Ausweg aus dieſer Bedraͤngniß zu
zeigen?
Sie machte der Alten die bitterſten Vorwuͤrfe und
gab ihr Schuld, ſie in dieſe Lage gebracht zu haben.
Die Waͤſcherin aber erwiederte ihr gelaſſen:
„Das iſt ein Ungluͤck, fuͤr das Niemand etwas kann,
und das Ihnen vielleicht ebenſowohl uͤberall anders paſ¬
ſirt waͤre. Aber nicht uͤberall ſonſt haͤtte man Sie auf¬
genommen, wie ich es gethan habe, und Sie ſollten nur
ſtill ſchweigen, und mir dankbar ſein.“ —
Das Maͤdchen mußte das wohl einſehen, denn ſie
ſchwieg und ſank truͤbſinnig auf einen Stuhl.
[83]Die Suͤnderin.
„Uebrigens nehmen Sie ſich das nicht ſo zu Herzen,
und beruhigen Sie ſich nur,“ troͤſtete die Alte weiter.
„Vorlaͤufig moͤgen Sie immer noch bei mir bleiben, es
wird ſich wohl noch ein Ausweg finden.“ —
Was fuͤr ein Ausweg? Mathilde blieb den Tag
uͤber duͤſter auf ihrer kleinen, einſamen Kammer, und
uͤberlegte und ſann hin und her, was ſie beginnen ſollte,
aber ihr Denken war all umſonſt. Von Zeit zu Zeit
nahm ſie ihr Kind auf, und kuͤßte und herzte es mit
der Heftigkeit ihrer ſchmerzlich aufgeregten Gefuͤhle. Es
war, als ob in dem Verſuch, ſie von ihm zu trennen,
ihre Mutterliebe nur feſtere Wurzeln geſchlagen haͤtte.
Dazwiſchen rollten ihre heißen Thraͤnen wie feurige Tro¬
pfen ihres gequaͤlten Herzens auf die Wangen der Klei¬
nen. Nur wenn das Kind ſchlief, ging ſie in ruheloſer
Angſt auf und nieder und rang ihre Haͤnde in rathloſer
Verzweiflung.
Am Abend kam die Alte wieder auf die Kammer des
Maͤdchens. Das Gemach war dunkel, nur von den Stra¬
ßenlaternen und den Lichtern der gegenuͤberliegenden Haͤuſer
ſchwamm ein weiches Daͤmmerlicht durch das Fenſter. Ma¬
thilde lag mit aufgeloͤſ'tem Haar, den Kopf in die Hand
geſtuͤtzt und halbaufgerichtet auf dem Bett, und bewachte
6 *[84]Die Suͤnderin.den Schlaf ihres Kindes. Die Alte ſetzte ſich vor das
Bett und ſprach lange mit fluͤſternder Stimme zu dem
Maͤdchen. Ploͤtzlich fuhr Mathilde in die Hoͤhe, als ob
ſie eine Viper geſtochen, und richtete einen funkelnden
Blick auf die Redende. Die Alte aber beruhigte ſie
wieder, und der fluͤſternde Ton ihrer Stimme, wie ihre
Geberden konnten von angelegentlicher Theilnahme zeugen.
Sie ſprach ſehr lange und augenſcheinlich uͤber ſehr wich¬
tige Gegenſtaͤnde mit ihr. Zuweilen ſchien es, als ob
von einem drohenden Geſpenſt der Zukunft die Rede
waͤre, denn Mathilde rang die Haͤnde und leiſe, nur
halbunterdruͤckte Seufzer drangen aus ihrer Bruſt; dann
wieder ſchien die Alte Verſprechungen und lockende Aus¬
ſichten fuͤr das Schickſal des Kindes auszumalen, Ma¬
thilde beugte ſich mit einem ſchmerzlichen Laͤcheln uͤber
die Wiege und bewegte die Lippen, wie in ſchwerem,
druͤckendem Traum. Die Alte ließ mit ihrer leiſen Zu¬
ſprache nicht nach, und es mußte ſich um einen entſchei¬
denden Entſchluß handeln, uͤber welchen die junge Mut¬
ter aber ſchwankend, mit ſteigender krampfhafter Erre¬
gung hin und her kaͤmpfte. Mehrmals hatte ſie die Alte
ſchon mit heftigen Bewegungen von ſich gewieſen, dann
wieder heftete ſich ihr Auge mit wehmuͤthigem Ausdruck
[85]Die Suͤnderin.auf die dunkle Wiege des Kindes. Zuletzt gab ſie der
Alten nickend ein bejahendes Zeichen, und ſank auf das
Lager zuruͤck, indem ſie wie verzweifelnd ihr Geſicht in
die Kiſſen vergrub.
Nunmehr verließ die Alte mit einem triumphirenden
Wohlbehagen die Kammer. Nach Verlauf von einiger
Zeit kehrte ſie zuruͤck, in jeder Hand ein brennendes Licht
haltend. Hinter ihr folgte ein Mann, in einen Mantel
gehuͤllt, den ſie alsdann mit Mathilden allein ließ.
Von dieſer Zeit an war die Alte noch weit aufmerk¬
ſamer gegen das Maͤdchen, und behandelte ſie faſt mit
Unterwuͤrfigkeit. Der Polizeikommiſſair ließ nichts von
ſich hoͤren; wie die Alte ſagte, weil ſie ihn herumgekriegt
haͤtte. Daß ſie aber Mathilden als weggezogen abgemeldet,
verſchwieg ſie derſelben. Bei alledem verduͤſterte ſich Ma¬
thildens Sinn von Tag zu Tage, und vergebens ſuchte
die Alte durch theilnehmende Pflege fuͤr das Kind und
Gefaͤlligkeiten und Zuvorkommenheiten aller Art ein Zei¬
chen der Zufriedenheit oder nur beifaͤlligen Gefuͤhls zu
entlocken. Sie ſchien von Allem nichts zu bemerken und
[86]Die Suͤnderin.blieb verſchloſſen und ſchweigſam in ſich gekehrt. Sie
widerſetzte ſich auch den Zumuthungen der Alten nicht
mehr, und wenn, wie es jetzt oͤfter geſchah, am Abend
fremde Maͤnner ins Haus kamen, ſo gehorchte ſie ihr
mit kalter, ſtumpfer Gleichguͤltigkeit. Faſt ſchien es ſo¬
gar, als ob ſelbſt die Gefuͤhle fuͤr das Kind in ihr nach¬
gelaſſen haͤtten. Sie ſelbſt war es geweſen, die zuerſt
vorgeſchlagen hatte, die Wiege in das Gemach der Alten
zu ſetzen, und ſie ſah nur eben ſo oft danach, als es
durchaus nothwendig war. Sie vermied es beinahe, ſich
demſelben zu naͤhern, wenn ſie es aber that, geſchah es
mit einer Art zagender Scheu; Ihre Hand zitterte, indem
ſie es aufnahm, ſie liebkoſ'te es nicht wie ehedem, und
ihr Auge haftete nur fluͤchtig und nie ohne eine ſchmerz¬
liche Wallung auf ihm. Dazu begann ihr Aeußeres leiſe
zu verfallen. Die Alte, welche dies mit Beſorgniß be¬
merkte, ſuchte ihr auf plumpe, faſt rohe Weiſe die zit¬
ternden Gefuͤhle ihrer zweifelnden Seele zu nehmen, aber
Mathilde wies ſie mit gleichguͤltiger, reſignirter Ruhe
zuruͤck. Ueber ihr ganzes Weſen lagerte ſich allmaͤhlig
eine krankhafte, toͤdtliche Erſtarrung, unter der nur ſelten,
wie das Leuchten eines todten Vulkans, die ſchmerzliche,
ſchneidende Bewegung ihres Herzens hervorbrach.
[87]Die Suͤnderin.
So waren ungefaͤhr ſechs Wochen verfloſſen, als es
eines Abends wieder an der Wohnung klingelte. Die
Alte oͤffnete und ſtatt eines vielleicht erwarteten Andern
trat der Polizeikommiſſair herein. Bei dieſem unerwar¬
teten Beſuch entſchluͤpfte der Alten ein Laut des Schre¬
ckens, den Mathilde drin im Zimmer vernahm, der Po¬
lizeibeamte aber ſchob ſie bei Seite und ſchritt raſch in
das Gemach.
Mathilde hatte in der Ecke des Sopha's geſeſſen,
allein, mit ihren duͤſtern Gedanken beſchaͤftigt, als ſie der
Ausruf der Alten daraus weckte. Als ſie jetzt empor¬
blickte und dieſen Mann vor ſich ſah, deſſen unheilver¬
kuͤndende Naͤhe ſie mehr noch fuͤrchtete, als die bittere
Selbſtverachtung ihrer eignen Seele, da ſtiegen ploͤtzlich
wie drohende Geſpenſter die Bilder ihrer muthmaßlichen
Zukunft vor ihren Augen auf. Sie haßte dieſen Mann,
ſie hatte ihm oft heimlich und gluͤhend geflucht, wenn
ihre Gedanken oder Traͤume ihr denſelben gezeigt hatten:
denn von ſeinem erſten Erſcheinen ſchrieb ſich ihr gegen¬
waͤrtiges, tiefes Elend her. Jetzt aber ſchwanden alle
andern Gefuͤhle, und ſie ſah in ihm nur den Vorboten
neuen Unheils fuͤr ihr eigenes und ihres Kindes Leben.
„Da ſieht man alſo die ſaubere Wirthſchaft!“ ſagte
[88]Die Suͤnderin. der Polizeibeamte. „Auf dieſe Weiſe alſo iſt das Juͤng¬
ferchen ausgezogen! Nun, ſie ſoll heut Abend noch ein
Quartier beziehen, wo ſie ſicherer aufgehoben iſt, als
hier!“ —
Mathilde zitterte bei dieſen Worten wie ein Espen¬
laub. Sie ſuchte ihm mit bangen, verzagten Worten
klar zu machen, daß die Alte ſie dadurch hierbehalten,
daß ſie den Beamten zur Nachſicht zu bewegen verſpro¬
chen habe. Der Kommiſſair aber erwiederte hohnlachend:
„Die waͤre die Rechte, die Polizei zu etwas zu be¬
wegen! Nein, mein Puͤppchen, ich kenne Sie jetzt.
Ich habe Ihr damals den Rath gegeben, ſich ehrliche
Arbeit zu ſuchen, habe Ihr auch, weil mich Ihr un¬
ſchuldiges Geſicht betrog, noch ein paar Tage dazu be¬
willigt, aber Sie hat nicht arbeiten wollen, und hat
ſich lieber auf ein bequemes, liederliches Leben geworfen.
Die Geſchichte hat jetzt ausgeſpielt. Im Korrektionshaus
wird Sie ſchon arbeiten lernen, wenn Sie auch nicht
will. Fuͤr's Erſte aber wird Sie eine Nacht oder zwei
im Polizeigefaͤngniß zubringen muͤſſen.“ —
Mathilde war wie vernichtet. Umſonſt flehte ſie ihn
um Erbarmen ihres unſchuldigen Kindes wegen an, um¬
[89]Die Suͤnderin. ſonſt verſprach ſie Alles zu thun, was er von ihr ver¬
langte; der Beamte blieb diesmal unerbittlich.
„Wenn es Ihr Ernſt mit ſolchen Verſprechen waͤre,“
ſagte er achſelzuckend, „ſo haͤtte Sie laͤngſt meine War¬
nung befolgt. Jetzt iſt es zu ſpaͤt; man kennt ja auch
ſolche Verſprechen der Angſt. — Alſo marſch! Raſch
zurechtgemacht, ich habe keine Zeit, laͤnger auf Ihr La¬
mentiren zu hoͤren. Nehm' Sie Ihren Mantel, damit
wir vorwaͤrts kommen!“ —
Als Mathilde zuletzt einſah, daß Nichts ſie mehr
von dieſem, fuͤr ſie entſetzlichen Loos retten koͤnne, riß
ſie ploͤtzlich in einer Art Wahnſinn das Kind aus der
Wiege und rief, indem ſie mit der einen Hand das Kind
in die Hoͤhe hielt und mit der andern auf den Polizei¬
beamten zeigte:
„Sieh, das iſt der Mann, der Dein und Deiner
Mutter Verderben zu verantworten hat!“ —
Einen Augenblick ſchien der Kommiſſair von dem
verzweiflungsvollen Ton dieſer Worte beſtuͤrzt und ergrif¬
fen zu ſein, dann aber ſchoß ihm die Gluth des Zornes
ins Geſicht und er gab der Tochter der Proſtitution eine
ſchallende Ohrfeige.
[90]Die Suͤnderin,
Als Mathilde nach einer graͤßlich durchwachten Nacht
in's Verhoͤr genommen und aus dem Polizeigefaͤngniß
nach dem Arbeitshaus transportirt worden war, wurde
ſie hier in einen großen Saal gewieſen, wo ſie in Ge¬
meinſchaft mit einer großen Menge von Frauen und
Maͤdchen arbeiten mußte. Das Bewußtſein ihrer ſchimpf¬
lichen Lage, die tiefe Niedergeſchlagenheit, welche ſich ihrer
ſchon waͤhrend ihres letzten, langen Elends bemaͤchtigt
hatte, die Gedanken an ihre troſtloſe Zukunft, die jetzt
auch durch den bittern Entſchluß der Trennung von ihrem
Kinde wohl ſchwerlich mehr zu beſſern ſein wuͤrde, Alles
das verſetzte ihr Gemuͤth nach der erſten Raſerei der
Verzweiflung in eine tiefe, ſtarre Stumpfheit. Die Ge¬
ſellſchaft, in die man ſie hier gewieſen, hatte ſie mit der
Theilnahme Gleichgeſinnter begruͤßt. Mathilde hatte ſich
Anfangs ihre Geſchichte entlocken laſſen; einige hatten ſie
daruͤber ausgelacht, andere ihr ein Mittel geſagt, durch
welches ſie einer polizeilichen Ausweiſung trotzen koͤnne.
Mathilde erſchrak bis in das Innerſte ihrer Seele. Sie
wandte ſich von da an mit um ſo groͤßerm Ekel von
ihren Genoſſinnen ab, als ſie ſich zu ihrem Entſetzen
geſtehen mußte, daß ſie ſelbſt bereits den Weg zu dieſem
Ende betreten habe. Schweigend und gleichguͤltig ließ ſie
[91]Die Suͤnderin. die Spottreden und gemeinen Spaͤße derſelben uͤber ſich
ergehn. Sie betete im Stillen heiß um ihren baldigen
Tod. Zu welchem Leben war ſie auch jetzt berufen ?
Der Tod war ihre einzige Rettung.
Nach ſechs Wochen wurde ſie aus der Anſtalt ent¬
laſſen, nachdem man ihr bemerkt, daß ſie ſich binnen
drei Tagen aus der Stadt zu entfernen habe.
Sie nahm ihr Kind in den Arm und rannte hinaus,
ohne zu wiſſen wohin. Draußen vor der Thuͤr ſtanden
mehrere Weiber, die ſie anredeten und ihr Anerbietungen
machten, aber ſie ſtieß ſie zuruͤck und eilte, wie von
Furien gepeitſcht, von dannen. Den Tag uͤber durchirrte
ſie ſo, ruhelos, ohne Zweck die Stadt, bis ſie am Abend
endlich erſchoͤpft und ermattet an einer Hausſchwelle nie¬
derſank.
Die Nacht war bitterlich kalt, die Sterne zitterten
in der ſcharfen Luft, und ein ſchneidender Wind fegte
uͤber die oͤden Gaſſen. Das Maͤdchen ſaß zuſammen¬
gekauert auf den kalten Steinen, ohne ſich zu ruͤhren.
Auch das Kind war merkwuͤrdig ſtill. Sie hielt es auf
dem Schooß und hatte wie zum Schutz ihre Arme dar¬
uͤber gebreitet, in die Arme wieder hatte ſie ihren Kopf
vergraben. Mehrere Voruͤbergehende, dicht in ihre Maͤn¬
[92]Die Suͤnderin.tel gehuͤllt, blieben vor ihr ſtehen. Da ſie aber auf ihre
Anrede keine Antwort erhielten, gingen ſie wieder weiter.
Endlich gegen Morgen wurde die Nachtwache auf die
ſtille, zuſammengekauerte Geſtalt aufmerkſam und richtete
ſie empor. Die Mutter lag halberſtarrt, in einer tiefen
Ohnmacht, und wurde ſogleich ins Krankenhaus geſchafft.
Das Kind war todt.
Am Abend des dritten Tages ſtand der Oberarzt
vor einem Bett in dem großen Krankenſaal. In einem
Lehnſeſſel ſaß ein Waͤrter, der in dem Augenblick, wo der
Arzt nicht mehr zu ihm ſprach, eingeſchlafen war. Es
war unheimlich ſtill in dieſer Wohnung des Jammers.
Von der Decke verbreitete eine Ampel ihr duͤſteres Licht
uͤber die lange Reihe von Krankenbetten, die ſich an bei¬
den Seiten des Saals hinzogen, die Uhr pickte einfoͤrmig
wie ein Todtenvogel die Minuten der Lebenden ab, und
dazwiſchen toͤnte zuweilen ein dumpfer Schmerzenslaut
oder ein aͤngſtliches Roͤcheln von den Lagerſtaͤtten.
Der Arzt ſtand noch vor Mathildens Bett, die hier
[93]Die Suͤnderin.eben im Verſcheiden lag. Sie hatte waͤhrend ihrem
Krankenlager nichts zu ſich genommen, und obwohl ſie
vollkommen bewußtlos war, immer mit großer Hartnaͤckig¬
keit die Zaͤhne zuſammengebiſſen, wenn man ihr Arznei
einfloͤßen wollte. Ihr Aeußeres war zum Erſchrecken
eingefallen, ihre Zuͤge kaum mehr zu erkennen. Jetzt
hatte ihre Erloͤſungsſtunde geſchlagen, ihr Roͤcheln wurde
unterbrochner, dann auf einmal war es ſtill. Sie war
todt. Der Arzt ſah nach der Uhr, ſchrieb dann einige
Worte auf einen Zettel und weckte den Waͤrter.
„Da liegt der Todtenſchein,“ ſagte er, indem er
haſtig den Mantel umwarf, „Ihr werdet ihn morgen
fruͤh beſorgen.“ —
Der Waͤrter war aufgeſtanden und horchte, bis drau¬
ßen auf dem Korridor die ſchnellen Schritte des forteilen¬
den Arztes verhallt waren. Dann reckte er ſich und
ſagte gaͤhnend:
„Nicht eine Stunde ruhigen Schlafs goͤnnen ſie
Einem, koͤnnten die Leute nicht ebenſowohl am Tag ſter¬
ben? — Ach, es iſt das Maͤdchen, welches ſie vor drei
Tagen erſt herbrachten,“ fuͤgte er hinzu, auf den Todten¬
ſchein blickend. „Nun, es iſt gut, daß ſie todt iſt, ſie
haͤtte doch kein ſelig Ende genommen. Fuͤr der Art
[94]Die Suͤnderin.Leute iſt der Tod das Beſte, denn im Leben nimmt ſich
Keiner ihrer an, und ſolch Leben, — nun, ſie hat's auch
ſelbſt wohl eingeſehen!“ —
Damit zog er die Decke uͤber die Leiche, und ſetzte
ſich wieder in den Lehnſtuhl, um weiter zu ſchlafen.
Die Rechtsfrage.
„Beſchwerden uͤber polizeiliche Verfuͤgungen jeder Art,
auch wenn ſie die Geſetzmaͤßigkeit derſelben betreffen,
gehoͤren vor die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.“ —
(Preuß. Geſetzſammlung, Geſ. v. 11. Mai 1842.
)[[96]][[97]]
„Das iſt ja eine empoͤrende Nichtswuͤrdigkeit!“ rief die
Dame vom Hauſe. „Und der Handwerker hatte wirklich
gar nicht einmal etwas begangen?“ —
„Ich habe ihn ſelbſt vor der Amputation befragt,“
ſagte der junge Arzt, „und mit ſeiner Erzaͤhlung ſtim¬
men auch die Ausſagen von Augenzeugen uͤberein. Er
war am Nachmittag mit ſeiner Geliebten in einem oͤf¬
fentlichen Garten geweſen, hatte ſie bei einbrechender Nacht
noch bis an ihre Hausthuͤr geleitet, und trat dann ſeinen
Heimweg an. Vielleicht aus Freude uͤber den frohen Tag
und in Gedanken an die Liebſte, von denen ſein Herz
voll war, ſuchte er ſchneller aus dem Gewuͤhl der Gaſ¬
ſen nach ſeiner ſtillen Kammer zu gelangen und fing an
zu laufen. In der Friedrichsſtraße iſt er eben an einem
Schenklokale voruͤber gekommen, als hinter ihm ein Menſch
aus dem Hauſe ſpringt, quer uͤber die Straße rennt,
und ohne daß der Handwerker ihn nur geſehen, in einer
7[98]Die Rechtsfrage.Nebengaſſe verſchwindet. Gleich darauf ſtuͤrzt ein Ande¬
rer, ein Gensd'arme, aus der Kneipe, ſieht eine Strecke
weiter unſern Handwerker laufen, und eilt ihm mit zor¬
nigem Eifer nach. Der Mann iſt nicht wenig beſtuͤrzt,
als er ſich ploͤtzlich durch eine brutale Fauſt aus ſeinen
Traͤumereien geſchreckt fuͤhlt. Er ſucht den Waͤchter der
oͤffentlichen Ruhe umſonſt zu belehren, daß er im Irr¬
thum iſt, die Fauſt deſſelben laͤßt ſeine Gurgel nicht los,
ſondern ſchuͤttelt ihn nur deſto derber, und Schimpfwoͤrter
und Drohungen, ihn auf das Stadtgefaͤngniß zu ſchlep¬
pen, ſchallen in ſein Ohr. Dem Handwerker wird das
zuletzt zu arg. Er ſtoͤßt den Arm des Gensd'armen
kraͤftig zuruͤck und ſeßt ſich zur Wehr. Da zieht dieſer
denn ſeine Waffe, und kaum hat der Handwerker Zeit,
ſeinen Kopf mit dem Arm zu ſchuͤtzen, ſo fallen auch
ſchon raſch nacheinander zwei ſcharfe Hiebe auf ihn her¬
ab. Der Arm iſt ihm geſtern abgenommen worden, aber
der Oberarzt in der Klinik meinte gleich, daß er die Am¬
putation ſchwerlich uͤberſtehen wuͤrde, und ſo wie ich ihn
heute bei der Inſpektion fand, wird er allem Voraus¬
ſehen nach den morgenden Tag nicht mehr erleben. Viel¬
leicht waͤhrend wir ſprechen, iſt er todt.“ —
„Abſcheulich! Entſetzlich!“ rief die Dame wieder.
[99]Die Rechtsfrage. „Wer iſt da noch ſicher, von einem Polizeidiener nicht
im eignen Hauſe umgebracht zu werden? Aber hoffent¬
lich giebt es noch Gerechtigkeit im Lande! Apropos,
Herr Kriminalrath, was wird wohl mit dem Gensd'armen
geſchehen?“ —
Der Kriminalrath hatte mit dem Loͤffel tiefſinnig den
Inhalt ſeiner Theetaſſe unterſucht, indem er den zergehen¬
den Zucker bald auf die Oberflaͤche brachte, bald wieder
in das Getraͤnk verſenkte. Jetzt erhob er halb das Haupt,
und ſah uͤber die Glaͤſer ſeiner Brille zu der Fragen¬
den auf.
„Wenig oder Nichts!“ antwortete er ruhig.
„Der Kriminalrath will damit nur ſagen,“ nahm
in dem allgemein entſtehenden Laͤrm ein junger Maler
das Wort, daß man hoͤheren Orts den Amtseifer immer
gern ſieht, und auch ſeine Uebertreibungen mit Ruͤckſicht
auf die veranlaſſende Pflichttreue ſtets gnaͤdig zu beur¬
theilen weiß. Es iſt ja bekannt, daß die uniformirten
Helden des dreißigjaͤhrigen Friedens, wenn ſie ihre Schutz¬
waffe gegen die beſchirmten Unterthanen in Anwendung
gebracht und pro forma ein Urtheil von einigen Mona¬
ten Feſtungshaft erhalten haben, ſpaͤter deſto ſicherer auf
Avancement rechnen koͤnnen. Auch weiß ich von einer
7 *[100]Die Rechtsfrage.ganz aͤhnlichen Polizeigeſchichte zu erzaͤhlen. In einer
kurheſſiſchen Stadt hatte ein Polizeidiener einem betrun¬
kenen Bauer das Rauchen auf der Straße unterſagt,
dieſer dagegen, dem ein ſolches Verbot wahrſcheinlich neu
und willkuͤhrlich erſchien, Gegeneroͤrterungen gemacht. Der
von Natur ſehr jaͤhzornige Beamte wurde durch den
Widerſtand und die vielleicht nicht ſehr hoͤflichen Ausdruͤcke
des betrunkenen Landmannes bald in die groͤßte Wuth
verſetzt, er zog ſeine Waffe vom Leder, und richtete den
wehrloſen Mann dergeſtalt zu, daß derſelbe nach einigen
Tagen elend aus dem Leben ſchied. Nach langer Unter¬
ſuchung wurde der Polizeidiener zu anderthalbjaͤhriger Ge¬
faͤngnißſtrafe verurtheilt. Als er aber ſeine Haft antreten
ſollte, erklaͤrte die Polizeidirektion, daß er einer der brauch¬
barſten Leute ſei, den man vorlaͤufig nicht entbehren
koͤnne. Die Strafe wurde auch ſuspendirt, und er hat
ſie bis auf den heutigen Tag noch nicht abgeſeſſen. Dafuͤr
wurde er jedoch einige Zeit ſpaͤter zum Polizeiſergeanten
erhoben, und erhielt die ausſchließliche Bewachung des
gefangenen Profeſſor Jordan, die er mit beſonderem Eifer
gefuͤhrt haben ſoll. Der Menſch heißt Schmidt und lebt
noch jetzt als Sergeant in Marburg.“ —
„Wenn ich ſagte, daß dem Gensd'armen, der den
[101]Die Rechtsfrage.Schneider verwundete, wenig oder nichts geſchehen wuͤrde,
mein junger Brauſekopf,“ bemerkte der Kriminalrath, „ſo
konnte dieſe Antwort nur der Rechtsfrage gelten. Der
Gensd'arme hat einen in ſeinen Augen ſchuldigen Men¬
ſchen verhaften wollen, dieſer ihm dagegen Widerſtand
geleiſtet und ihn vielleicht auch gereizt; er iſt daher im
vollen Rechte, wenn er von der Gewalt ſeiner Waffe
Gebrauch macht.“ —
„Aber der Gensd'arme hatte ja in dieſem Fall gar
nicht das Recht, den Handwerker zu verhaften!“ rief die
Frau vom Hauſe wieder. „Der Handwerker war ja gar
nicht der Schuldige!“ —
„Einerlei, meine Gnaͤdige,“ ſagte der Kriminalrath.
„Er iſt in jedem Fall der adminiſtrativen Gewalt zu
Gehorſam verpflichtet. War er wirklich unſchuldig, ſo
konnte er deſto eher in der ſichern Erwartung, alsbald
wieder in Freiheit geſetzt zu werden, dem Gensd'armen
folgen.“ —
„Ja, nachdem er unter dem Jauchzen der verſam¬
melten Menge verhaftet worden, haͤtte man ihn ſpaͤter
ganz im Stillen wieder freigelaſſen!“ warf der Arzt mit
einem geringſchaͤtzigen Seitenblick ein. „Welche Satis¬
faktion wird dem unſchuldigen, rechtlichen Mann, dem
[102]Die Rechtsfrage.durch die oͤffentliche Verhaftung ein Brandmal aufgedruͤckt
iſt, wohl je zu Theil? Kann ihm eine Klage, ſelbſt
wenn er ſie gewinnt, die Schmach, vor den Augen
des Publikums ſo behandelt worden zu ſein, vergeſſen
machen?“ —
„Und — und — erlauben Sie mir noch den Ein¬
wurf auf Ihre Behauptung,“ ſagte die Dame ungedul¬
dig, indem ſie mit dem Zeigefinger ihrer kleinen Hand
befehlend auf den Tiſch klopfte und ihren Lockenkopf zu¬
ruͤckwarf. „Sie bemerkten, daß man in jedem Falle der
adminiſtrativen Gewalt zu Gehorſam verpflichtet ſei; mei¬
nen Sie das auch fuͤr den Fall, daß ein Polizeibeamter
etwas durchaus Ungehoͤriges verlangt, z. B. Jemanden
ins Waſſer zu ſpringen befiehlt? Wie dann, Herr
Kriminalrath?“ —
Der Kriminalrath legte den Theeloͤffel zur Seite und
ſchob ſeine Brille hoͤher unter die Augen.
„Der Staatsbuͤrger,“ begann er bedaͤchtig, „iſt ſeiner
Obrigkeit und jedem ihrer vollſtreckenden Werkzeuge Ge¬
horſam ſchuldig, und es ſteht ihm ein Urtheil, ob der
Befehl vielleicht ungehoͤrig ſei, gar nicht zu. Sie werden
mir wenigſtens einraͤumen, daß es der Polizei im entge¬
gengeſetzten Falle gar nicht moͤglich ſein wuͤrde, einen in
[103]Die Rechtsfrage.der That dringend Verdaͤchtigen oder in ihren Augen
uͤberfuͤhrten Verbrecher zu verhaften, indem alsdann jeder
auf ſeine Unſchuld oder die Ungehoͤrigkeit der Maßregel
hin ſich widerſetzen wuͤrde.“ —
„Aber, Herr Kriminalrath —“
„Erlauben Sie, meine Gnaͤdige, daß ich das geſetz¬
liche Verhaͤltniß erſt auseinanderſetze, dann werden ſich
Einwuͤrfe und Fragen am einfachſten erledigen laſſen. Es
kommt hier doch nur auf die Rechtsfrage an, wieweit
die geſetzliche Macht der Polizei reicht, und welche ge¬
ſetzlichen Mittel Ihnen dawider zuſtehen. Ob Sie gegen
die Geſetze ſelbſt Einwendungen zu haben glauben, iſt
eine andere Sache. — Ich ſagte, daß Jeder der exekuti¬
ven Gewalt Folge leiſten muͤſſe. Die Unterſuchung, ob
die einzelnen Maßregeln ungehoͤrig waren, faͤllt der vor¬
geſetzten Behoͤrde anheim, an welche ſich der in ſeinem
Recht vermeintlich Gekraͤnkte oder Unſchuldige mit einer
Beſchwerde zu wenden hat. Ihre Bemerkung daher,
mein junger Brauſekopf,“ wendete er ſich an den jungen
Maler, „daß naͤmlich eine Klage, ſelbſt wenn er ſie ge¬
winne, dem unſchuldig Verletzten keine Satiſfaktion ge¬
waͤhren koͤnne, war diesmal nicht am Ort, denn eine
Klage ſteht demſelben gar nicht zu, wuͤrde vielmehr von
[104]Die Rechtsfrage.jedem Gericht zuruͤckgewieſen worden ſein. Sein Rechts¬
weg iſt der der Beſchwerde an die vorgeſetzte Behoͤrde des
veranlaſſenden Beamten —“
„Die alsdann die Beſchwerde dem Angeklagten ſelbſt
zuſtellt, damit er ſage, ob ſich die Sache auch ganz ſo
verhalte,“ rief der Arzt lachend, „und das Reſultat iſt
bei der natuͤrlichen, unpartheiiſchen Darſtellung des Be¬
klagten, dem ſeine Vorgeſetzten ja vollen Glauben ſchen¬
ken, leicht vorauszuſehen!“ —
„Da in unſerm Falle eine bloße Verwechſelung vor¬
lag,“ fuhr der Kriminalrath fort, „indem der Gensd'arme
den Schneider fuͤr den entlaufenen Schuldigen hielt, ſo
zweifle ich allerdings nicht, daß der Schneider, wenn er
ſich haͤtte verhaften laſſen, mit einer Beſchwerde gar
nichts, auch nicht einen Verweis an den Gensd’armen
erreicht haben wuͤrde. Haͤtte der Gensd'arme den Hand¬
werker bei einem perſoͤnlichen Zuſammentreffen und nicht
bei Ausuͤbung ſeines Amtes verletzt, ſo haͤtte dem Hand¬
werker der ordentliche Rechtsweg gegen ihn als Privat¬
beleidiger offen geſtanden. Hier aber ſchuͤtzt denſelben ſeine
amtliche Funktion.“ —
„Eine ſchoͤne Unterſcheidung!“ bemerkte der neben
ihm ſitzende rheiniſche Maler.
[105]Die Rechtsfrage.
„Eine Klage gegen die exekutiven Behoͤrden iſt nur
in dem einzigen Fall ſtatthaft, daß Jemand einen Scha¬
den an Beſitz und Eigenthum nachweiſen kann, der ihm
durch eine außerordentliche Maßnahme erwachſen iſt.“ —
„Eine außerordentliche, d. h. geſetzlich nicht zu recht¬
fertigende,“ ſagte der Arzt zu der Dame des Hauſes ge¬
wendet halblaut. Dieſe aber gab ihm ein Zeichen, an
ſich zu halten, und ſah auf den Kriminalrath, der immer
unbeirrt fortfuhr.
„Dieſen Fall naͤmlich hat das Geſetz beſonders vor¬
geſehen, indem es dem Benachtheiligten ausdruͤcklich eine
Entſchaͤdigungsklage gegen die Polizeibehoͤrde zugeſteht;
doch iſt dabei von einer Rehabilitation in die fruͤhern
Rechte nicht die Rede. Wenn es daher z. B. vorkommt,
daß die Polizeibehoͤrde Leute aus Orten, wo ſie geſetzlich
ein Heimathsrecht beſitzen, dennoch fortweiſt, wie dies
zuweilen hoͤherer Ruͤckſichten halber in Univerſitaͤtsſtaͤdten
geſchieht: ſo haben dieſe Leute allerdings eine Entſchaͤdi¬
gungsklage auf den ihnen dadurch zugefuͤgten Nachtheil
am Eigenthum, nicht aber auf Wiedereinſetzung in ihre
Rechte. Dieſe letztere waͤre wiederum nur der Gegen¬
ſtand einer Beſchwerde an die vorgeſetzte adminiſtrative
Behoͤrde, die dann nach Berichterſtattung der Unterbehoͤrde
[106]Die Rechtsfrage.entſcheidet, ob zu jener außerordentlichen Maßregel Ver¬
anlaſſung war, oder nicht.“ —
„Das iſt aber doch mindeſtens eine Inkonſequenz der
Geſetze,“ bemerkte eine Dame aus der Geſellſchaft. „Das
richterliche Erkenntniß erkennt den von einer ſolchen außer¬
ordentlichen Maßregel Betroffenen den Rechtsanſpruch auf
Entſchaͤdigung zu, ſpricht alſo damit ihre Schuldloſigkeit
aus, denn Verbrechern wuͤrde man keinen Anſpruch we¬
gen des durch ihre Strafe erlittenen Schadens zuerken¬
nen: gleichzeitig aber geſtatten die Geſetze der Polizeibe¬
hoͤrde, die Leute trotzdem als Verbrecher zu behandeln
und trotz der richterlichen Ehrenerklaͤrung doch die Ma߬
regel gegen ſie durchzufuͤhren.“ —
„Dies betrifft wieder die Frage, ob die Geſetze aus¬
reichend ſind, mein Fraͤulein,“ erwiederte der Kriminal¬
rath unbeirrt, „waͤhrend es hier nur auf die Feſtſtellung
deſſen ankommt, was die Polizei und ihre Beamten
ohne Verletzung der Geſetze ausuͤben koͤnnen. — Ich
ſagte, daß jeder Staatsbuͤrger der adminiſtrativen Gewalt
Folge zu leiſten habe, daß ihm wegen vermeintlich ihm
zugefuͤgten Unrechts der Weg der Beſchwerde, und nur
wegen erlittenen Verluſtes die Entſchaͤdigungsklage gegen
die Polizei zuſtehe. Widerſetzt er ſich aber, ſo hat die
[107]Die Rechtsfrage. Behoͤrde ſowie der exekutive Beamte das Recht, gewalt¬
ſam gegen ihn zu verfahren, und er ſelbſt hat ſich durch
ſeine Widerſetzlichkeit jedenfalls einer ſtrafbaren Handlung
ſchuldig gemacht. Daruͤber, ob die Maßregel der Be¬
hoͤrde oder des Beamten, welche die Widerſetzlichkeit her¬
vorrief, gerechtfertigt oder ungerecht war, hat nur die
vorgeſetzte Behoͤrde zu entſcheiden, und die Beamten ſind
Niemanden ſonſt daruͤber verantwortlich, als eben nur
ihrer vorgeſetzten Behoͤrde. Die Widerſetzlichkeit bleibt in
jedem Fall ſtrafbar.“ —
„So werden Sie uns demgemaͤß jetzt wohl ausein¬
anderſetzen,“ bemerkte die Frau vom Hauſe wieder, „wie
das Verhaͤltniß in dem von mir gedachten Falle ſein
wuͤrde, wenn naͤmlich ein Polizeibeamter von Jemanden
verlangte, daß er ins Waſſer ſpringen ſolle?“ —
„Ich wollte ſoeben darauf kommen, gnaͤdige Frau,“
antwortete der Kriminalrath nach einigem Nachdenken.
„Der einzelne Beamte hat unzweifelhaft das Recht, ge¬
gen Jedermann, weß Standes er auch immer iſt, einzu¬
ſchreiten. Er kann den Niedrigſten, wie den Hoͤchſten
Nachts aus ſeinem Bette holen und ins Gefaͤngniß
transportiren.“ —
„Bei uns nicht!“ rief hier der Rheinlaͤnder.
[108]Die Rechtsfrage.
„Es iſt wahr, bei Ihnen kann er es nur am Tage,“
fuͤgte der Kriminalrath laͤchelnd hinzu, „uͤberall aber iſt
er von ſeinem Schritt nur ſeinen Vorgeſetzten Rechen¬
ſchaft ſchuldig und bis dahin kann er, wie geſagt, von
Jedermann Folgſamkeit verlangen.“ —
Hier machte der Redner eine kleine Pauſe, waͤhrend
welcher ihn die ganze Geſellſchaft erwartungsvoll an¬
blickte.
„Ich glaube daher,“ fuhr er wieder fort, „ja, —
da das Geſetz keine Ausnahme ſtatuirt, ſo muß man als
gewiß annehmen, daß der Unterthan jedem Organ der
adminiſtrativen Gewalt Folge leiſten muß, ſelbſt wenn es
von ihm verlangt, ins Waſſer zu ſpringen. Das iſt
nach Wortlaut des Geſetzes ganz gewiß. Ertrinkt er bei
dieſem Experiment, ſo haben ſeine Erben nur alsdann
ein Klagerecht, wenn ſie erweislich durch den Tod ihres
Erblaſſers einen Schaden erlitten haben; im Uebrigen iſt
der Polizeibeamte uͤber ſeinen Befehl an den Ertrunkenen
geſetzlich nur ſeinen Vorgeſetzten Erklaͤrung ſchuldig. Es
iſt in dieſem Fall nicht zu bezweifeln, daß der Beamte,
der ſo eigenmaͤchtig und unverantwortlich handelte, von
ſeinen Vorgeſetzten fallen gelaſſen wuͤrde, wahrſcheinlich
ſogar, daß man ihn den Gerichten uͤbergaͤbe; auch be¬
[109]Die Rechtsfrage. zweifle ich nicht, daß man Ihnen im vorkommenden
Falle die Weigerung, ſolchem Befehl Folge zu leiſten,
gewiß ungeahndet hingehen ließe: allein ſtreng geſetzlich
betrachtet, muͤſſen Sie ihm gehorchen.“ —
Die Geſellſchaft ſprach nunmehr uͤber dieſen Gegen¬
ſtand mit großer Lebhaftigkeit hin und wieder. Die
Meiſten kamen darin uͤberein, daß ſolchergeſtalt der Po¬
lizei die Ausuͤbung großer Willkuͤhr zuſtehe; daß es gar
nicht darauf ankomme, ob ſie vielleicht in Wirklichkeit
keinen ſo ſchreienden Mißbrauch davon mache, wie das
letzte Beiſpiel meine, daß es aber ſchlimm genug ſei,
daß ſolch ein Mißbrauch uͤberhaupt nur Statt finden
koͤnne.
Der Kriminalrath hatte an dieſer Diſkuſſion keinen
Antheil genommen, als ihn jetzt die Wirthin durch eine
Frage ins Geſpraͤch zog.
„Es laͤßt ſich nicht leugnen,“ ſagte er am Schluß
einer ſehr gelehrten Erklaͤrung uͤber das Weſen der Po¬
lizei, „daß bei den gegenwaͤrtigen Verhaͤltniſſen dem ein¬
zelnen Beamten ſehr viel Eigenmaͤchtigkeit und willkuͤhr¬
liche Handhabung ſeiner Gewalt uͤberlaſſen iſt. Auch
geſtehe ich, daß es ſchlimm und mit den Rechtsbegriffen
[110]Die Rechtsfrage. nicht ganz vereinbar erſcheint, wenn dieſe Gewalt der
Polizeibehoͤrde ſo wenig normirt iſt, daß ſich ein Mi߬
brauch oder eine Ueberſchreitung derſelben, und alſo auch
eine geſetzliche Verantwortung, faſt gar nicht beſtimmen
laſſen. Allein bei den gegebenen Verhaͤltniſſen muß man
ſich nun einmal mit dem Vertrauen behelfen, daß die
Polizeibehoͤrde außerordentliche, oder wenn Sie ſo wol¬
len: willkuͤhrliche und eigenmaͤchtige Maßregeln nicht ohne
dringende Veranlaſſung ausuͤben wird, dagegen wenn
ſolche vielleicht von ihren Beamten ausgeuͤbt werden ſoll¬
ten, dies zu ahnden weiß. Die Polizei iſt eine Sicher¬
heitsbehoͤrde, und als ſolcher muß man ihr das Recht zu
außerordentlichen Maßregeln einraͤumen, die vielleicht den
ſtrengen Rechtsbegriffen nicht gemaͤß, aber zur Aufrecht¬
haltung der oͤffentlichen Ordnung nothwendig ſind. Das
iſt jedoch keine Willkuͤhr, ſondern eben Nothwendigkeit der
Sicherheitsbehoͤrde.“ —
„Was man ſo oͤffentliche Ordnung heißt!“ erwiederte
der junge Arzt. „In einer Geſellſchaft freilich, welche
die Ungleichheit und die Gegenſaͤtze zur Bedingung ihres
harmoniſchen Ganzen macht, ſind Sicherheitsbehoͤrden zur
Aufrechthaltung dieſer Ordnung nothwendig; es koͤnnte
ja ſonſt den privilegirten Unterdruͤckten und Verhungernden
[111]Die Rechtsfrage. einmal einfallen, das Privilegium der Herren und Eigen¬
thuͤmer unſicher zu machen und die Unordnung der
Gleichheit einzufuͤhren. So lange Sie von der heutigen
Geſellſchaft ausgehen, haben Sie hierin vollkommen Recht,
Herr Kriminalrath, und Sie werden dann gewiß auch ſo
konſequent ſein, die groͤßte Despotie als die groͤßte Ga¬
rantie der Sicherheit der oͤffentlichen Ordnung anzuerken¬
nen. — Wenn Sie aber der Polizei durchaus den Be¬
griff der Willkuͤhr nicht zugeſtehen wollen, ſo thun Sie
doch Unrecht. Sie ſagen, die Behoͤrden ſelbſt wuͤrden
nur bei dringenden Veranlaſſungen, alſo zur Sicherung
der bekannten oͤffentlichen Ordnung, ſogenannte außeror¬
dentliche, mit den menſchlichen und richterlichen Rechts¬
begriffen nicht ganz uͤbereinſtimmende Maßregeln in An¬
wendung bringen. Allein wer entſcheidet denn uͤber die
Veranlaſſung und ihre Dringlichkeit? Giebt es beſtim¬
mende Geſetze hieruͤber? Oder iſt die Berufung der drin¬
genden Veranlaſſung und hoͤherer Ruͤckſichten nicht viel¬
mehr der Willkuͤhr der Polizei uͤberlaſſen, welche eben
nur ſich ſelbſt verantwortlich iſt? Sie vertrauen ferner,
daß die Polizeibehoͤrde dagegen wohl außerordentliche Ma߬
regeln, die ein einzelner Beamter eigenmaͤchtig ausgeuͤbt,
ahnden werde. Wer aber entſcheidet uͤber die Eigen¬
[112]Die Rechtsfrage.maͤchtigkeit, die Unbefugtheit ſeiner Maßnahme? Der
Beamte iſt nur ſeiner Behoͤrde gegenuͤber, alſo den Po¬
lizeibegriffen gemaͤß, die ihn ſelbſt leiten, verantwortlich;
es faͤllt daher auch hier wieder den unbegrenzten Polizei¬
begriffen und der Willkuͤhr der Polizei die Beſtimmung
anheim, ob der Beamte ſeine außerordentliche Maßregel
aus unbefugter Eigenmaͤchtigkeit oder aus dringender Ver¬
anlaſſung ausgeuͤbt hat. — Uebrigens weiß ich auch nicht,
warum die Polizei nicht willkuͤhrlich handeln ſollte.
Sie iſt, wie Sie ſelbſt ſagten, eine Sicherheitsbe¬
hoͤrde, ſie ſteht nicht auf dem Rechts- oder Geſetzes-
Boden; darum kann man ihr keinen Vorwurf aus der
Handhabung ihrer Unrechtmaͤßigkeit und Ungeſetzlichkeit
machen.“ —
„So vertheidigen Sie alſo die Einrichtung der Po¬
lizei?“ ſagte die Frau vom Hauſe.
„Da ſchieben Sie mir, weil ich mit dem Einen
nicht einverſtanden bin, die entgegengeſetzte, kontradikto¬
riſche Meinung unter, gnaͤdige Frau. Ich tadelte, daß
man der Polizei aus ihrer Willkuͤhr einen Vorwurf
machte, deshalb aber bin ich noch kein Freund des Po¬
lizeiverfahrens.“ —
„Unſer Aller Ziel muß ein geordneter Rechtszuſtand
[113]Die Rechtsfrage.ſein, worin die Rechte des Einzelnen moͤglichſt ge¬
ſchuͤtzt ſind,“ ſagte der Kriminalrath. „Mag man nun
auch zugeben, daß in unſern Verhaͤltniſſen der Willkuͤhr
ein allerdings großer Spielraum gegoͤnnt iſt, was ſich
aber durch Feſtſtellung engerer Geſetze z. B. nach Art
der engliſchen Habeas-corpus-Akte aͤndern ließe: ſo
muß man andererſeits bedenken, daß ein ganz vollkom¬
mener Schutz doch nie zu erreichen iſt. Die Polizei iſt
ein nothwendiges Uebel. Ohne ſie waͤre es nicht moͤg¬
lich, einen Verbrecher vor das Geſetz und zur Strafe zu
ziehen, und wenn auch einmal, was ſich ſelbſt durch den
geordnetſten Rechtszuſtand nicht ganz vermeiden laͤßt, aus
Irrthum oder Verſehen einem Unſchuldigen zu nahe ge¬
treten wird, ſo muß er ſich dann mit der gerichtlichen
Anerkennung ſeiner Unſchuld und dem Gedanken troͤſten,
daß er ohne die Wachſamkeit dieſer Behoͤrde ſelbſt keinen
Schutz ſeiner Rechte haben wuͤrde.“ —
„Sie wollen das Huͤhnerauge beſchneiden, waͤhrend
es darauf ankommt, das brandige Bein abzunehmen,“
ſagte der Arzt. „Die Polizei iſt ein nothwendiges Uebel,
aber nothwendig nur in unſerer heutigen Geſellſchaft.
Statt daher die Nothwendigkeit aufzuheben, indem Sie
die Bedingung der heutigen Geſellſchaft aufheben, wollen
8[114]Die Rechtsfrage. Sie nur das Uebel verkleinern, indem Sie ſeiner Wirkung
engere Grenzen ſetzen. Suchen Sie die Vorausſetzung
der Polizei: das Verbrechen, und die Vorausſetzung des
Verbrechens: die Ungleichheit der Erziehung und aͤußeren
Verhaͤltniſſe in Ihrer unebenen Geſellſchaft, mit Einem
Wort heben Sie die Armuth auf, und Sie brauchen
keine Willkuͤhr der Polizei laͤnger zu fuͤrchten. — Ueber¬
haupt verſtehe ich die Ausdruͤcke Geſetz und Strafe
nicht. Beide ſetzen Unordnung und Unnatur in der Ge¬
ſellſchaft voraus; in einem harmoniſch organiſirten Ganzen
ſind Geſetz und Strafe uͤberfluͤſſig.“ —
Hier wurde die Unterhaltung durch den Eintritt eines
Neuankommenden unterbrochen. Es war der Oberarzt
der Klinik. Als er Platz genommen hatte und die Haus¬
frau ihm Vorwuͤrfe uͤber die Verzoͤgerung ſeines Kom¬
mens machte, ſagte er:
„Ich bitte um Verzeihung, allein ich mußte mich
nothwendig noch nach der Klinik begeben, um nach dem
Schneidergeſellen zu ſehen, den der Gensd'arme verwundet
hatte. Es iſt des Zeugniſſes wegen.“ —
„Und wie haben Sie ihn gefunden? — Wir ſpra¬
chen ſoeben davon,“ ſagte die Dame.
[115]Die Rechtsfrage.
„Er iſt todt,“ erwiderte der Doktor ruhig.
In der Geſellſchaft entſtand eine tiefe, ſtille Pauſe,
nur einigen Damen entſchluͤpfte ein leiſer Ausruf mitlei¬
diger Theilnahme. Der Oberarzt ruͤhrte gleichguͤltig mit
dem Loͤffel in ſeiner Theetaſſe.
„Das Maͤdel, ſeine Geliebte, war da und weinte,
weil ſie nicht zu ihm gelaſſen wurde. Es ging aber
auch nicht an. Er hatte ſein Bewußtſein bis zum
letzten Augenblick. Der arme Teufel! Er iſt recht
muthig geſtorben, nur das Schickſal ſeiner alten blin¬
den Mutter und ſeiner Liebſten lag ihm ſehr im
Sinn!“ —
Die
vorgeſetzte Dienſtbehörde.
[[118]][[119]]In dem Salon war wieder der gewoͤhnliche Kreis von
Hausfreunden verſammelt. Der Kriminalrath ſaß auf
ſeinem alten Platz und wiegte ſich in dem gemaͤchlichen
Lehnſeſſel, der ſtets fuͤr ihn beſonders hingeruͤckt wurde.
Mehrmals ſchon hatte er ſich in Erwartung der kom¬
menden Dinge forſchend umgeſehen; da es ihm indeß zu
lange zu wahren ſchien, nahm er jetzt wie in der Zer¬
ſtreuung ein Stuͤck Kuchen vom Tiſch, und verzehrte es
mit gedankenvoller Miene. Die Hausfrau ſtand ſeit¬
waͤrts an einem Nebentiſch und war eben mit Eingießen
des Thees beſchaͤftigt, waͤhrend die Maͤdchen die Taſſen
herumreichten. Nur der junge Arzt fehlte.
„Es iſt recht Schade, daß unſer Doktor nun an
unſern kleinen Zuſammenkuͤnften keinen Theil mehr neh¬
men kann,“ ſagte die Hausfrau zu den Gaͤſten gewen¬
det. „Er war ein vielſeitig gebildeter junger Mann, und
wußte der Unterhaltung durch ſeine eigenthuͤmlichen, aber
[120]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.gruͤndlichen Anſichten ein doppeltes Intereſſe zu ver¬
leihen.“ —
Der Kriminalrath tauchte eben ein Stuͤck Kuchen in
ſeine Taſſe und ſagte achſelzuckend:
„In der That, ſeine Anſichten waren zuweilen ſehr
eigenthuͤmlich. Sie haben ihm auch ſein jetziges Geſchick
zugezogen.“ —
„Es mag immer noch Vielen eigenthuͤmlich ſcheinen,“
ſagte der Maler, „wenn Jemand mit den herrſchenden
Grundſaͤtzen im Widerſpruch ſteht. Aber die Geſchichte
kann uns uͤberall zeigen, daß der ſogenannte beſchraͤnkte
Unterthanenverſtand doch zuletzt immer uͤber die privilegirte
Weisheit den Siegespreis davongetragen hat, ſowohl den
Preis der Vernunft als den des thatſaͤchlichen Kampfes.“—
„Daß Jemand im Widerſpruch mit den herrſchenden
Anſichten ſteht, kann kein Vorwurf fuͤr ihn ſein, zumal
wenn ſeine Ueberzeugung aus wahrer Kritik der Verhaͤlt¬
niſſe hervorgegangen iſt,“ bemerkte der Angegriffene.
„Wenn er aber als Einzelner auch aͤußerlich in offenen,
ſchroffen Widerſpruch und Kampf mit ihnen tritt, ſo
kann man das wohl eine Thorheit nennen.“ —
„Wenn es ſeine wahre Ueberzeugung iſt, ſo muß er
auch damit ans Licht treten und ſie vertheidigen duͤrfen.
[121]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde. Der Muth einer Meinung iſt immer achtungswerth, und
das Biſchen Verfolgung trifft ſeine Sache nicht. —
Wenn Sie es aber fuͤr Thorheit erachten, daß er allein
mit der Wahrheit beim Volke durchzudringen hofft, ſo
moͤgen Sie Recht haben. Die Wahrheit ſelbſt iſt den
Leuten gleichguͤltig, ja ſie fuͤrchten ſich ſogar davor. Bei
der Erziehung ſchon ſuchen die Aeltern ihre Kinder aͤngſt¬
lich vor ſolchen Meinungen zu huͤten, die ſie doch in
ihrem Innern als die einzig auf Wahrheit beruhenden
erkennen, blos weil dieſelben mit den herrſchenden An¬
ſichten in Widerſpruch ſtehen. Dieſe Feigheit iſt die noth¬
wendige Folge gewiſſer demoraliſirenden Einrichtungen.
Wo die Wahrheit aber wirklich mit den Maſſen durch¬
gedrungen iſt, waren es immer nur andere aͤußere Ver¬
haͤltniſſe, die den Kampf veranlaßten. Fuͤr die bloße
Wahrheit tritt ſelten ein Volk, am wenigſten das unſre,
thaͤtlich in die Schranken.“ —
„Da ſieht man die echten Politiker,“ ſagte die
Hausfrau, ſich an den Tiſch ſetzend. „Kaum hat man
den Ruͤcken gewendet, ſo liegen ſie auch ſchon in
Hader.“
„Und wir Andern haben noch gar nicht einmal er¬
fahren, was denn dem Doktor geſchehen iſt, und wes¬
[122]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde. halb er an der Geſellſchaft keinen Theil mehr nehmen
koͤnnte?“ bemerkte eine junge Dame.
„Der Doktor,“ ſagte die Hausfrau, „war mit eini¬
gen ſeiner Bekannten an einem oͤffentlichen Ort, und
man ſprach daruͤber, daß der Gensd'arme ohne Strafe
ausgegangen ſei, der juͤngſt den Schneider in der Fried¬
richsſtraße auf den Tod verwundet hatte. Die Aeußerun¬
gen des Doktors muͤſſen nicht eben ſehr vorſichtig gewe¬
ſen ſein, denn in Folge einer Denunciation wurde er zur
polizeilichen Unterſuchung gezogen und aus der Stadt
verwieſen.“ —
„Da man ihm Form Rechtens nichts anhaben konnte,“
ſagte der Maler.
„Alſo der Gensd'arme iſt wirklich leer ausgegangen?“
fragte der Referendar, ein Verwandter der Hausfrau,
welcher auf Beſuch in der Reſidenz war.
„Und der arme Doktor hat wirklich die Stadt ver¬
laſſen muͤſſen?“ fuͤgte theilnehmend die junge Dame
hinzu.
„Der Gensd'arme iſt leer ausgegangen, wenigſtens
ohne Strafe, wie es vielleicht Manche erwartet h[at]ten;
denn das Polizei-Praͤſidium war der Anſicht, daß ihm
gegen einen Verhafteten, der ihm thaͤtlichen Widerſtand
[123]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde. leiſtete und ihn inſultirte, die Anwendung ſeiner Gewalt
zugeſtanden habe, alſo ein Vergehen von ſeiner Seite
nicht vorliege,“ erwiderte der Kriminalrath wohlgefaͤllig,
„ganz wie ich die Sache von vornherein betrachtete. Und
der Doktor hat vorgeſtern die Stadt verlaſſen muͤſſen,
obwohl er ſich ſehr auf ſein Indigenat und ſeine Rechte
als Landeskind berief. Indeß eine polizeiliche Ver¬
fuͤgung — “
„Hat mit Rechten nichts zu ſchaffen,“ bemerkte der
Maler.
„Die Polizeibehoͤrde muß jedoch diesmal wohl ganz
beſtimmte Gruͤnde gehabt haben,“ ſagte der Kriminal¬
rath, „denn der Doktor hat auf ſeine Beſchwerde beim
Miniſterium den Beſcheid bekommen, daß es bei der
Verfuͤgung der Polizeibehoͤrde ſein Bewenden haben
muͤſſe.“ —
„Man weiß ja, was eine Beſchwerde in dem Laby¬
rinth unſerer Bureau-Wege erreichen kann, wo ein Drit¬
ter bei einem Beamten gegen einen Beamten, bei der
Polizei gegen die Polizei Schutz ſucht,“ warf der Maler
ein“ „Ueberdies ſcheinen die Gruͤnde bei des Doktors
Ausweiſung nicht ſehr dringend geweſen zu ſein, denn
der Polizeidirektor ſagte ihm, daß man das Dekret, wohl
[124]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.zuruͤckgenommen haͤtte, wenn er ſtatt auf ſein Recht als
Landeskind zu pochen, beſcheiden um Ruͤcknahme der
Verfuͤgung nachgeſucht haͤtte: ſo aber haͤtte man zeigen
muͤſſen, daß man die einmal erlaſſene Verfuͤgung auch
durchzufuͤhren vermoͤge. Was aber den Gensd'armen
betrifft, ſo weiß ich aus zuverlaͤſſiger Quelle, daß derſelbe
von ſeiner vorgeſetzten Dienſtbehoͤrde einen Verweis erhal¬
ten, ſich kuͤnftighin vorzuſehen. Man muß alſo doch
ſein Verhalten nicht ſo ganz in der Ordnung gefunden
haben.“ —
„Bei dem Weg der Beſchwerde moͤgen die Bethei¬
ligten allerdings oft zu keinem genuͤgenden Ziel kommen,“
ſagte der Referendar aus der Provinz, „aber die vorge¬
ſetzten Behoͤrden ſind auch oft, ohne ihr Wiſſen, bloß
durch die beſtehenden Einrichtungen der Gefahr ausgeſetzt,
Partei fuͤr ihre Unterbeamten nehmen zu muͤſſen. Ich
habe erſt kuͤrzlich in meiner Heimath einen ſehr eklatan¬
ten Fall dieſer Art erfahren.“ —
Der Kriminalrath ſah den Sprechenden mit einem
ſonderbar fragenden Blick an, die Geſellſchaft aber ver¬
langte neugierig die Geſchichte zu hoͤren. Die Stuͤhle
wurden naͤher um den Tiſch geruͤckt, die Hausfrau fuͤllte
[125]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.noch einmal Thee nach, und der Referendar begann nun¬
mehr ſeine Erzaͤhlung.
„In dem Hauſe, wo ich ſeit meiner Beſchaͤftigung
beim *** Gericht wohne, lebte unten im Erdgeſchoß auch
ein armer Schuſter, eigentlich wohl nur ein Flickſchuſter
zu nennen, denn er hatte wenig anderes als Flickarbeit
fuͤr ſeine Kunden zu beſorgen. Ich war beim Ein- und
A[us]gehen ſchon auf ihn aufmerkſam geworden, da ich
ihn bei ſeinem hoͤchſt kuͤmmerlichen Verdienſt immer ſin¬
gend und guter Dinge fand; ſpaͤter erbot er ſich mir zur
Aufwartung, und ſo wurde ich genauer mit ihm bekannt.
Es war eine drollige humoriſtiſche Figur, mit einem
uͤberraſchend ſchlagenden Witz begabt, und dabei von un¬
gemeiner Lernbegierde. Ich unterhielt mich gewoͤhnlich
jeden Morgen laͤngere Zeit mit ihm, eigentlich um mich
an ſeinen Spaͤßen und ſeiner ganzen drolligen Weiſe zu
ergetzen, aber ich mußte bald auch ſeinen wißbegierigen
Ernſt bewundern, und geſtehe, daß mich dieſer arme
Teufel aus dem Volk manchmal durch ſeine Fragen in
Verlegenheit geſetzt hat. Dabei hatte er einen ſo richti¬
[126]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.gen Urtheilsſinn, wie ich ihn ſelten unter ſolchen Leuten
gefunden habe. Ich bin uͤberzeugt, daß der Menſch zu
hoͤchſt Bedeutendem berufen war, aber ſeine Armuth
feſſelte ihn in den Koth der Geſellſchaft und ließ ſeine
Gaben unbenutzt verderben.
Eines Morgens trat Schwind, ſo hieß der Schuſter,
mit ſehr verlegener Miene in mein Zimmer, nachdem er
den Tag vorher ausgeblieben war. Statt wie ſonſt mir
ſogleich ſeine Neuigkeiten aufzutiſchen, nahm er nach kur¬
zem Gruß die Kleider, und begab ſich mit auffallender
Schweigſamkeit auf den Korridor, von wo ich bald das
Geraͤuſch ſeiner eifrigen Buͤrſte vernahm. Als er wieder
hereinkam, hing er die Sachen an ihren gewoͤhnlichen
Ort, und machte ſich, da ich von meiner Arbeit nicht
aufblickte, noch einen Vorwand der Beſchaͤftigung.
„Der Herr Doktor haben ſich wohl gewundert,“
ſagte er endlich, daß ich geſtern morgen nicht zur Auf¬
wartung gekommen bin. Aber wahrhaftig, ich war nicht
Schuld daran, daß ich die Nacht auf der Polizei geſeſſen
habe.“ —
Dieſe Einleitung ſetzte mich in neugierige Verwunde¬
rung, denn ich kannte Schwind als einen ordentlichen
ruhigen Menſchen. Ich ſchob meine Akten zur Seite
[127]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde. und fragte, indem ich mich im Stuhl zu ihm hin¬
kehrte:
„Was, Schwind! Ihr habt auf der Polizei ge¬
ſeſſen? Alſo trinkt Ihr auch, das hab' ich fruͤher noch
nicht an Euch gekannt, denn wahrſcheinlich habt Ihr in
der Trunkenheit Skandal oder Schlaͤgerei angefangen, daß
man Euch ſo untergebracht hat?“ —
„Gott bewahre, Herr Doktor!“ ſagte der arme
Teufel erſchreckt. „Sie werden gewiß ſelbſt ſagen, daß
ich gar nichts Beſonderes gethan habe. — Sehen Sie,
vorgeſtern Morgen bekomme ich einen Brief aus der
naͤchſten Ortſchaft, worin mir mein Bruder ſchreibt, daß
ich ihm entgegenkommen ſolle, und auch drei Thaler in
die Taſche ſtecken moͤge, damit er die am Stadtthor vor¬
zeigen koͤnne. Nun muͤſſen Sie wiſſen, Herr Doktor,
daß mein Bruder ſeit zwei und einem halben Jahr auf
der Wanderſchaft iſt und wir uns in der Zeit nicht ge¬
ſehen haben. Ich nehme alſo drei Thaler und gehe
meinem Bruder entgegen. Auf dem Ruͤckweg gebe ich
ihm nun das Geld, welches er am Thor vorzeigt, und
als wir ſo in die Stadt gekommen ſind, giebt er mir
das Geld wieder, denn er iſt ein tuͤchtiger gelernter Geſelle
und braucht um ein Unterkommen nicht beſorgt zu ſein.“—
[128]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
„Wozu muß er denn am Thor drei Thaler vorzei¬
gen,“ fragte ich den Schuſter, „das iſt eine Beſtim¬
mung, die ich noch nicht kenne.“ —
„Das iſt ſo eine Vorſchrift in unſerm Lande,“ ant¬
wortete mir Schwind. „Jeder wandernde Handwerks¬
burſch muß am Thor drei Thaler vorzeigen, oder er wird
gar nicht in die Stadt gelaſſen und muß wieder um¬
kehren.“ —
„Wahrſcheinlich um zu verhuͤten, daß ein Geſelle,
der keine Arbeit findet, der Gemeinde zur Laſt faͤllt.“ —
„Ich glaube wohl,“ ſagte der Schuſter. „Aber es
iſt doch eine ſchlechte Einrichtung. Wenn ein armer
Handwerksburſch, der keine drei Thaler beſitzt, an eine
Stadt kommt, wo er ſicherlich ein Verdienſt finden kann,
ſo wird er zuruͤckgewieſen. Heißt das nicht den Armen
auf Koſten der Reichen das Brod verkuͤrzen? Und wenn
ſie ihm ſo ſein Unterkommen verwehren, wie ſorgen ſie
wohl weiter fuͤr ihn? Er muß denſelben Weg, auf dem
er gekommen iſt, zuruͤck machen, ohne Geld, ohne Ver¬
dienſt, und das Betteln iſt ihm auch verboten. Nir¬
gends nehmm ſie ihn auf. Auf dieſe Art kann er zehn¬
mal verhungem, ehe er es einmal zu etwas bringt, oder
[129]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.er muß ſich durch Luͤgen und Kniffe zu helfen ſuchen;
er wird ja dazu gezwungen. Die meiſten thun das denn
auch. Entweder geben ſie einem Bauer, der in die
Stadt faͤhrt, ihren Ranzen, Stock und Hut in Ver¬
wahrung, und gehen wie Tageloͤhner hinein; oder wenn
mehrere zuſammen ſind, ſo geben ſie Einem ihr geſamm¬
tes Geld, damit dieſer zuerſt in die Stadt geht, auf der
Herberge ſeine Sachen ablegt, und den draußen War¬
tenden das Geld zuruͤckbringt. So koͤmmt denn Einer
nach dem Andern hinein.“ —
„Und die Leute ſind immer ſo ehrlich, und bringen
das Geld zuruͤck?“ fragte ich den Handwerker. „Es
macht ſich nie Einer mit dem Geld fort, und laͤßt die
Andern ſitzen?“ —
„Das kommt wohl nie vor,“ antwortete Schwind
mit dem Ausdruck ehrlicher Ueberraſchtheit. „Die Leute
ſind durch die Gleichheit ihres Looſes faſt an Gemeinleben
gewoͤhnt, und da betruͤgt nie Einer den Andern. Ich
habe wenigſtens nie davon gehoͤrt.“ —
„Aber wie haͤngt das nun mit Eurer Verhaftung
zuſammen?“ —
„Ja, ſehen Sie alſo, Herr Doktor, nachdem wir
in die Stadt gekommen waren, begleitete ich meinen
9[130]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.Bruder auf die Herberge: denn wenn man einander ſo
lange nicht geſehen hat, ſo will man auch wieder einmal
ein Glas zuſammen trinken. In der Herberge waren
nun mehrere andere Handwerksburſchen zugegen, die ſich
ebenfalls in die Stadt hatten ſchmuggeln muͤſſen, und
als wir uns zu ihnen ſetzten, erzaͤhlte mein Bruder ihnen
ſeine Einfahrt, und wie das ſo iſt, wurde daruͤber wei¬
ter geſprochen.“ —
„Das heißt, es wurde daruͤber weidlich losgezogen?“—
„Nicht viel, Herr Doktor. Mein Bruder und ich
hatten uns auch mehr uͤber andere Sachen zu unterhal¬
ten. Nun ſaß da aber auch ein Kerl, dem ich von
vornherein nicht traute, ein Fleiſchergeſell hier aus unſerer
Gaſſe, ein grundliederlicher Menſch, den ich mir dadurch
verfeindet habe, daß ich ihm einmal abſchlug, ohne Be¬
zahlung ein Paar Stiefel zu beſohlen. Der hat nun
wahrſcheinlich die Geſchichte mit meinem Bruder, ſo wie
er ſie gehoͤrt hatte, auf der Polizei angezeigt, denn ich
kriegte am Nachmittag eine Vorladung vor den Revier¬
kommiſſarius, zu dem ſie auch ſchon meinen Bruder ge¬
holt hatte. Der Kommiſſarius fuhr mich gleich mit
groben Worten an, wie ich mich unterſtehen koͤnne, den
Leuten bei Umgehung der Polizei-Vorſchriften behuͤlflich
[131]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde. zu ſein? Ob ich nicht wiſſe, daß ein Handwerksburſch,
der ohne Geld herumvagabondire, die Stadt nicht be¬
treten duͤrfe? Ich wußte nun nicht, daß mein Bruder,
der die drei Thaler nicht mehr ausweiſen konnte, die
Sache ſchon eingeſtanden hatte, und ſagte: daß das
nicht wahr ſei, ich haͤtte ihm kein Geld geliehen. Da
zog mich der Kommiſſarius beim Rockkragen vor meinen
Bruder hin, und rief dieſem zu, er ſolle doch dem Luͤg¬
ner noch einmal die Wahrheit erzaͤhlen. Wie ich das
hoͤrte, geſtand ich denn, daß ich meinem Bruder aller¬
dings drei Thaler geliehen, daß mir das aber meiner An¬
ſicht nach Niemand verwehren koͤnne, und daß es mich
nichts angehe, wozu er das Geld brauche. Nun fuhr
der Kommiſſarius erſt recht auf mich ein, und ſagte
zuletzt:
„„Solches Lumpengeſindel glaubt auch noch die Po¬
lizei an der Naſe herumfuͤhren zu koͤnnen.““
„Da lief mir denn auch die Galle uͤber. Ich ſagte,
daß ich mir ſolche Ausdruͤcke verbitte, oder mir ſchon auf
andere Weiſe Recht verſchaffen wolle. Das machte ihn
noch groͤber, und wie das ſo geht, gab ein Wort das
andere. Zuletzt ließ er uns Beide durch ſeinen Sergean¬
ten nach dem Polizeigefaͤngniß bringen. Sehen Sie,
9 *[132]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.Herr Doktor, das iſt in Wahrheit die ganze Geſchichte,
um derentwillen ich geſtern nicht gekommen bin, und
Sie werden gewiß ſelbſt ſagen, daß ich unſchuldig daran
war. Aber ich werde mir das auch nicht gefallen
laſſen.“ —
„Wahrſcheinlich wird Euch jedoch nichts Anderes
uͤbrig bleiben!“ ſagte ich dem Schuſter auf dieſen zornigen
Epilog ſeiner Erzaͤhlung. „Die Nacht auf dem Ge¬
faͤngniß wird Euch Niemand abnehmen.“ —
„Aber ich will doch ſehen, ob ich dafuͤr eingeſperrt
werden kann, weil ich meinem Bruder drei Thaler leihe!“
eiferte er weiter. „Und wiſſen will ich, ob der Kom¬
miſſarius das Recht hat, ehrliche Arbeiter Lumpengeſindel
zu tituliren! Geſtern Mittag erſt ließen ſie uns aus
dem Loch und nahmen im Polizeihaus ein Protokoll
uͤber uns auf. Dann brachten ſie meinen Bruder aus
der Stadt, — das mag vielleicht in der Ordnung ſein, aber
mich mußten ſie freilaſſen; ich lief gleich zu Ihnen, um
Sie zu bitten, mir eine Klagſchrift aufzuſehen. Da
Sie nicht zu Hauſe waren, ging ich zu dem Studenten
im Hintergebaͤude, den ich auch bediene, und der hat
mir denn eine Beſchwerdeſchrift an das Polizeidirektorium
aufgeſetzt.“ —
[133]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
Ich war der Anſicht, daß er ſeine Beſchwerde beſſer
bei ſich behalten haͤtte, aber Schwind antwortete, er
wolle ſich ſein Recht nicht nehmen laſſen, und brauche
ſich darin vor Niemanden zu fuͤrchten. Ueberdies war
die Vorſtellung auch bereits abgegangen.
Da mich die Sache intereſſirte, ſo erkundigte ich mich
nach einigen Tagen bei einem meiner Bekannten danach,
welcher auf der Polizei arbeitete. Hier vernahm ich
ſchon, daß der Kommiſſarius bei ſeinem Vorgeſetzten in
ſehr gutem Anſehen ſtehe, und daß bisher gegen denſelben
noch keine Beſchwerde laut geworden ſei. Es war daher
mit Gewißheit anzunehmen, daß ſich der Polizeidirektor
in dieſer erſten Beſchwerde, wenn ſie nicht auf gar zu
graͤuliche Veranlaſſung gegruͤndet war, ſeines Unterbeam¬
ten annehmen werde.
Und das geſchah denn auch.
Der Polizeidirektor gab dem Kommiſſarius ſelbſt die
Beſchwerde, und befragte ihn bloß uͤber die Veranlaſſung
der Sache. Der Kommiſſarius erklaͤrte darauf, daß er
die beiden Handwerker zur Vernehmung nach der Polizei
transportirt habe, weil der Eine die polizeilichen Vor¬
ſchriften beim Eintritt in die Stadt umgangen, und der
Andere ihm dabei behuͤlflich geweſen ſei. Ob er den
[134]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.Ausdruck „Lumpengeſindel“ gebraucht, wiſſe er nicht;
indeß ſei es gar nicht anders moͤglich, als daß Einem bei
ſolchen Leuten, die in uͤberwieſenen und theilweiſe geſtaͤn¬
digen Vergehen noch die duͤmmſten Luͤgen und Kniffe
verſuchten und freche Reden fuͤhrten, endlich auch einmal
das Maaß der Geduld uͤberlaufe.
Mit dieſer Erklaͤrung war die Sache fuͤr den Poli¬
zeidirektor hinlaͤnglich eroͤrtert. Schwind wurde nach eini¬
gen Tagen auf das Polizeiamt geladen, und erhielt hier
einen Verweis uͤber die Frechheit, mit der er nach ſeinem
ungeſetzlichen Betragen noch Beſchwerde fuͤhren wollte.
Als er darauf zu repliciren verſuchte, warf ihn der Po¬
lizeiaktuar zur Thuͤr hinaus.
Dies war das foͤrmliche Reſultat ſeiner Beſchwerde.
Nebenbei aber hatte er ſich auch den Polizei-Kommiſſa¬
rius perſoͤnlich verfeindet, und dieſer wartete nur auf
eine Gelegenheit, um den Schuſter fuͤr ſeine Reſpektlo¬
ſigkeit buͤßen zu laſſen.
Mittlerweile hatte ſich Schwind's Bruder im Lande
herum von Ort zu Ort gewendet. Ein paar Mal war
er auch von Meiſtern in Arbeit genommen worden, allein
der Verdienſt war im Ganzen ſehr gering, und es gefiel
ihm daſelbſt uͤberhaupt nicht. Er ſchrieb daher wiederum
[135]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.an ſeinen Bruder, und bat ihn um das noͤthige Geld,
damit er jetzt zuruͤckkehren koͤnne. Schwind ſchickte ihm
drei Thaler und ſchrieb ihm dabei, daß er ihm dieſelben
ſchenke.
Somit zog der Handwerksburſch wieder nach der
Stadt, in der ſichern Vorausſetzung, daß man ihm nun¬
mehr nichts weiter anhaben werde. Er war jedoch kaum
zwei Tage am Ort, als der Kommiſſarius, der davon
Nachricht erhielt, ihn verhaftete und als einen Widerſetz¬
lichen, der trotz polizeilicher Ausweiſung wieder zuruͤckge¬
kehrt ſei, nach dem Polizeigefaͤngniß ablieferte. Hier blieb
er acht Tage. Dann aber wurde er trotz ſeiner Vor¬
ſtellung, daß er jetzt den vorſchriftmaͤßigen Anforderungen
genuͤgen koͤnne, aus der Stadt geſchafft und zugleich bei ge¬
ſchaͤrfter Gefaͤngnißſtrafe verwarnt, je wieder zuruͤckzukehren.
Schwind erzaͤhlte mir dieſe neue Wendung der Dinge
mit eben nicht gelinden Ausdruͤcken gegen den Polizei-
Kommiſſarius, und bat mich im Namen ſeines Bruders,
eine Beſchwerde an das Polizeidirektorium zu entwerfen.
Obwohl ich mir von ſolchem Beſchwerdeweg gleich zu An¬
fang wenig Erfolg verſprach, ſo erfuͤllte ich doch Schwinds
Bitte um ſo mehr, als meiner Anſicht nach die ſchon
beſtehenden Verhaͤltniſſe nicht wohl verſchlimmert werden
[136]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde. konnten. Die neue Eingabe ging ab, und kam in erſter
Inſtanz an den Polizeidirektor. Dieſer aber hatte bereits
das erſte Verfahren des Kommiſſarius gegen Schwinds
Bruder gutgeheißen, und war daher hier gewiſſermaßen
zur Parteinahme gezwungen.
Ich vernahm ſpaͤter, daß der Polizeidirektor den
Kommiſſarius habe zu ſich kommen laſſen und ihm uͤber
ſein Verfahren einen Verweis gegeben habe. Die Be¬
ſchwerde Schwinds aber wurde nichtsdeſtoweniger als
unbegruͤndet zuruͤckgewieſen und das Verfahren gegen den
Handwerksburſchen beſtaͤtigt. Das iſt nicht ſelten der
Verlauf des Beſchwerdeganges. Das erſte Mal wird
die vorgeſetzte Behoͤrde regelmaͤßig ihren Unterbeamten in
Schutz nehmen, indem der Beſchwerdefuͤhrer ihr ferner
ſteht; beim zweitenmal iſt ſie dann ſchon ſelbſt als Par¬
tei betheiligt.
Schwind remonſtrirte diesmal nach der Reſidenz an
das Miniſterium. Nachdem ſeine Beſchwerde hier einige
Zeit gelegen, wurde ſie der Polizeidirektion unſerer Stadt
zur Berichterſtattung eingeſchickt. Der Polizeidirektor ließ
nun wieder den Bericht des Kommiſſarius zu Protokoll
nehmen, um darauf ſeinen eignen letzten Beſcheid zu er¬
gaͤnzen. Daß hierbei die Angelegenheit Schwinds in kein
[137]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.eben guͤnſtiges Licht treten konnte, war wohl natuͤrlich,
denn jetzt war nicht mehr der Kommiſſarius allein der
Beklagte, ſondern der Polizeidirektor hatte ſelbſt ſeine
letzterlaſſene Entſcheidung zu juſtificiren. Als die Ent¬
ſchließung des Miniſteriums endlich einlief, war ſie denn
auch, wie dies nur zu erwarten ſtand, eine abweiſende.
Von nun an ſaß der Kommiſſarius dem armen
Schuſter mehr als je auf dem Nacken. Sei es, daß
er wirklich einzelne Veranlaſſungen dazu fand, ſei es,
daß er nach der letzten Wendung die Stimmung ſeines
Vorgeſetzten nicht mehr fuͤrchten zu muͤſſen glaubte,
kurz, die kleinen Quaͤlereien nahmen kein Ende. Die
ſchoͤnſte Gelegenheit aber bot ihm in kurzer Zeit eine
Veraͤnderung in Schwinds Verhaͤltniſſen.
Schwind hatte bis vor einem halben Jahre ſeine
alte Mutter bei ſich ernaͤhrt, die ihm dafuͤr das Haus¬
weſen beſorgte. Als die alte Frau dann geſtorben war,
hatte er ein halbes Jahr lang allein gewohnt, aber ſeine
Junggeſellen-Wirthſchaft behagte ihm nicht mehr, und er
wollte ſich nun eine Hausfrau nehmen. Hierzu mußte
er den Anforderungen genuͤgen, welche bei Geſtattung
der Niederlaſſung gemacht werden. Schwind war in
unſerem Lande geboren, ſein Heimathsort lag nur wenige
[138]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde. Meilen von der Stadt entfernt, und er hatte daher nur
noch den Nachweis ſelbſtſtaͤndigen Erwerbes zu fuͤhren.
Der Kommiſſarius, welchem die Aufnahme dieſer Ver¬
haͤltniſſe oblag, ließ auch die Angaben des Schuſters zu
Protokoll nehmen, und ſchickte die Papiere an die Poli¬
zeidirektion. Nach Verlauf von drei Wochen lief von
hier der Beſcheid ein.
Schwind war nur Flickſchuſter, das heißt, er durfte,
da er nicht Meiſter geworden, keine neuen vollſtaͤndigen
Arbeiten uͤbernehmen, es ſei denn im Dienſt anderer
Meiſter. Indem in dem Beſcheid der Polizeidirektion
dies Verhaͤltniß hervorgehoben wurde, hieß es unter An¬
ziehung eines Geſetzes, wonach zur Niederlaſſung der
Nachweis ſelbſtſtaͤndigen Lebenserwerbes erforderlich,
und einer Polizeiverordnung, wonach der Nachweis von
bloßen Arbeitskraͤften in dieſer Beziehung nicht ausrei¬
chend ſein ſollte, alsdann weiter:
daß demgemaͤß im vorliegenden Falle der Nachweis
ſelbſtſtaͤndigen Erwerbes nicht als gefuͤhrt angenom¬
men werden koͤnne, vielmehr der Vermuthung
Raum gegeben ſei, Supplikant werde mit ſeiner
Familie fruͤher oder ſpaͤter der Gemeinde zur Laſt
fallen, und es muͤſſe ſeinem Geſuch um Geſtattung
[139]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
der Niederlaſſung behufs Begruͤndung eines Haus¬
haltes die Genehmigung verweigert werden.
Schwind war durch den Ausgang ſeiner erſten Be¬
ſchwerde von jedem neuen derartigen Verſuch zuruͤckge¬
kommen, und nahm dieſen Beſcheid ſtillſchweigend hin.
Um allen weiteren Plackereien zu entgehen, wendete er
ſich nach ſeiner Vaterſtadt, begann hier wieder ſein Ge¬
ſchaͤft, und verheirathete ſich bald darauf. Aber es wollte
hier mit dem Auskommen nicht recht gehn, ſei es nun,
daß in dem kleinen Orte uͤberhaupt zu wenig zu verdienen
war, ſei es, daß die Vergroͤßerung ſeines Haushaltes durch
Frau und Kinder allmaͤhlig zu bedeutende Koſten erheiſchte.
Als ich mich nach ein paar Jahren zufaͤllig nach ihm er¬
kundigte, hoͤrte ich, daß der ſonſt ſo aufgeweckte, joviale
Menſch durch ſein Ungluͤck gaͤnzlich veraͤndert und herab¬
gekommen ſei. Zuletzt, als er ſich gar nicht mehr zu
helfen wußte, verkaufte er den Reſt ſeiner Habe, ſchloß ſich
einer Auswanderungs-Geſellſchaft an, und iſt jetzt vor eini¬
gen Wochen mit Frau und Kindern nach Amerika geſegelt.“
„Und in Amerika wird der arme Teufel auch keine
Seide ſpinnen!“ ſagte die Hausfrau, als der Referendar
ſeine Erzaͤhlung beendigt hatte.
[140]Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
„Schwerlich, gnaͤdige Frau!“ fuͤgte der Erzaͤhler hin¬
zu, „Es wird dem Einzelnen ſchon ſo ſchwer, ſich in
der Fremde eine Stellung zu erringen, eine arme Familie
aber geht dem traurigſten Loos entgegen. Und doch ha¬
ben ſie dort noch mehr Hoffnung, als hier, von wo ſie
nur die Verzweiflung vertreibt. Man kann das Aus¬
wandern nie abſolut verdammen, denn man weiß nicht,
gegen welche ungluͤcklichen Verhaͤltniſſe die Armen in ihrer
Heimath vergebens angekaͤmpft haben koͤnnen, und der
ungluͤcklichen demoraliſirenden Verhaͤltniſſe haben wir in
der ſchoͤnen Heimath ſo viele.“ —
„Ja, dieſer arme Schuſter iſt auch ein Opfer ſolcher
Verhaͤltniſſe geworden,“ ſagte die Hausfrau. „Was
meinen Sie, Herr Kriminalrath?“ —
Der Kriminalrath zuckte die Achſeln.
„Die Geſchichte mag ſich ſo verhalten,“ ſagte er
gleichguͤltig. „Es laͤßt ſich aber wohl auch nicht ver¬
meiden, daß hin und wieder vielleicht Jemanden Unrecht
geſchieht, und ſelbſt die vorgeſetzten Behoͤrden nicht im
Stande ſind, die Verhaͤltniſſe richtig zu erkennen. Das
iſt weiter nichts Außerordentliches, und mag wohl oͤfter
vorfallen, als man es ſo erfaͤhrt.“ —
Vom
heimathloſen Vaterland.
[[142]][[143]]Johann Heinrich Ludwig Hanemann wurde im Jahre
1803 in Hoya geboren, ſiedelte in einem Alter von
5 Jahren nach dem hannoͤverſchen Staͤdtchen Wunſtorf
im Amt Blumenau, wo er bis zu ſeiner Konfirmation
verblieb, und begab ſich dann, als er das Baͤckergeſchaͤft
erlernt, im Jahre 1819 nach Hamburg.
In Hamburg diente Hanemann im Ganzen zwei
Meiſtern, dem einen 9 3/4 Jahre, dem andern 3 Jahre,
hatte zwar inzwiſchen auch ſeiner Militairpflicht in Han¬
nover zu genuͤgen, kehrte aber bei jeder Beurlaubung
nach Hamburg zu ſeinem Geſchaͤft zuruͤck. Im Jahre
1832, nach mehr als zehnjaͤhrigem Aufenthalt in Ham¬
burg, welcher Zeitraum nach den damaligen Geſetzen
zur Heimathsberechtigung genuͤgte, verließ er ſeinen zwei¬
ten Meiſter, weil er ſich verheirathen und, zu unbemit¬
telt, um Baͤckermeiſter zu werden, ein Kommiſſionsge¬
ſchaͤft anfangen wollte.
[144]Vom heimathloſen Vaterland.
Hierzu mußte er das Hamburger Buͤrgerrecht ge¬
winnen.
Da er die noͤthigen Legitimationen nicht zur Hand
hatte und wahrſcheinlich die Koſten der Herbeiſchaffung
ſcheute, ſo ließ er ſich von einem Freunde bereden, die
Papiere ſeines ſo eben verſtorbenen Bruders als die ſei¬
nigen auszugeben.
Auf dieſe Papiere hin erhielt er das Hamburger
Buͤrgerrecht.
Die Sache aber wurde verrathen, Hanemann zur
Unterſuchung gezogen und auf Befehl des Senats poli¬
zeilich verhoͤrt, jedoch von der Wedde wie von der Poli¬
zei geſchont. Dagegen erkannte der Senat unterm
29. Auguſt 1832 gegen ihn: daß ihm der Buͤrgerbrief
abzunehmen, er des Buͤrgerrechts verluſtig, des Gebiets
verwieſen, im Fall der Ruͤckkehr mit ſchaͤrfſter Strafe
zu belegen, und ſofort von der Polizei aus der Stadt
zu ſchaffen ſei.
Hanemann begab ſich hierauf nach Hameln, holte
ſeinen Militairfreiſchein, beſorgte ſich ſeinen Geburtſchein
und erhielt auch ein Wanderbuch als Baͤckergeſelle. Dann
kehrte er in der Hoffnung, daß ihm auf dieſe ſeine,
[145]Vom heimathloſen Vaterland. richtigen Papiere das Buͤrgerrecht nicht verweigert werden
koͤnne, nach Hamburg zuruͤck.
In Hamburg angekommen wurde er ſofort arretirt
und
geſchloſſen
nach Hannover transportirt.
In Hannover verbot man ihm ebenfalls den Auf¬
enthalt, und zwar weil er durch Erlangung des Ham¬
burger Buͤrgerrechts ſeiner Heimathsangehoͤrigkeit in Han¬
nover verluſtig gegangen war.
Hanemann begab ſich nunmehr nach Altona und
gewann hier auf ſeine richtigen Papiere das Buͤrgerrecht.
Zur Betreibung ſeines nunmehrigen Geſchaͤfts mußte
er ſich zuweilen nach Hamburg begeben. Auf einer die¬
ſer Touren wurde er, am 6. Maͤrz 1833, von der Ham¬
burger Polizei arretirt und beſtraft; das zweite Mal, am
26. Maͤrz, arretirt, beſtraft und nach Altona transpor¬
tirt. Bei dieſer Gelegenheit erfuhr die Altonaer Behoͤrde
ſeine Faͤlſchung in Hamburg, und Hanemann wurde in
Folge deſſen von dem Oberpraͤſidenten wegen unzeitigen
Verſchweigens fruͤherer Verhaͤltniſſe mit Ohrfeigen rega¬
lirt. Spaͤter indeſſen erhielt er auf Verwendung deſſel¬
ben die Erlaubniß, Hamburg bei Tage beſuchen zu
10[146]Vom heimathloſen Vaterland. duͤrfen, ohne daß man ihm dabei naͤchtliche Raſt be¬
willigte.
Vom 7. Mai 1833 bis zum 19. Februar 1839
lebte er nunmehr unbehelligt in Altona vom Weinkom¬
miſſionsgeſchaͤft, machte dann eine Reiſe nach Oporto
und verlobte ſich bei ſeiner Ruͤckkehr mit einer Hambur¬
gerin, welche eine Schenkwirthſchaft fuͤhrte. Zwei Mo¬
nate lang lebte er mit ihr in freiem Verhaͤltniß. Er
wohnte bei ihr, half ihr in der Wirthſchaft und benahm
ſich uͤberhaupt ſo, wie es ſein Verhaͤltniß zu rechtfertigen
ſchien. Eines Tages, als er ſie fuͤr untreu hielt, mi߬
handelte er ſie in ihrer Schenkwirthſchaft betrunkener
Weiſe ſo ſehr, daß ſie ihr Lokal verließ. Hanemann
blieb, wie er es bei ſonſtigem Ausgehen ſeiner Braut ge¬
wohnt war, in der Wirthſchaft zuruͤck, und als einige
Gaͤſte Geld gewechſelt verlangten, erbrach er die verſchloſ¬
ſene Kaſſe. Darauf wurde er auf Veranlaſſung des
Kurators ſeiner Braut arretirt und zur Unterſuchung ge¬
zogen. Die Hamburger Polizei lieferte ihn nach Altona
ab, indem ſie ihn dem dortigen Oberpraͤſidium zur Ab¬
nahme ſeines Buͤrgerrechts empfahl, und das Altonaer
Oberpraͤſidium
nahm ihm ſein Altonaer Buͤrgerrecht ab,
[147]Vom heimathloſen Vaterland.unter dem Vorgeben, daß er daſſelbe (vor ſieben Jahren)
durch Verſchweigen ſeiner fruͤhern Hamburger Erlebniſſe
erſchlichen habe, und verwies ihn des Gebietes.
Obwohl er von Altona aus in dem Zeitraum von
1832–1840 wiederholt nach Hamburg gekommen und
wegen uͤbertretener Verweiſung verſchiedentlich und mit
geſchaͤrfter Gefaͤngnißſtrafe beſtraft worden war, wußte ſich
Hanemann doch, als er jetzt Altona verlaſſen mußte,
nirgends anders hin als nach Hamburg zu wenden. Allein
ſchon am 28. April 1840 ward er arretirt und in
achttaͤgige Zuchthausſtrafe
verurtheilt. Dann blieb er bis zum 21. Juli 1841
uͤberſehen in Hamburg, wurde wieder arretirt, zu ſechs¬
woͤchiger Zuchthausſtrafe
abwechſelnd mit Tretmuͤhle
verurtheilt und nach uͤberſtandener Strafe am 3. Sep¬
tember 1841 nach Altona abgeliefert. Die Altonaer
Behoͤrde transportirte ihn wieder nach Hamburg zuruͤck,
wo er ſogleich ins Gefaͤngniß geſetzt wurde. Darauf
unterhandelte die Hamburgiſche Behoͤrde wegen Aufnahme
Hanemanns mit der zu Hoya und Wunſtorf im Han¬
noͤverſchen, aber vergeblich, dann transportirte ſie ihn am
12. Januar 1842 uͤber die Grenze nach Altona. Von
10 *[148]Vom heimathloſen Vaterland.Altona wurde er auf dieſelbe Weiſe wieder nach Hamburg
zuruͤckgebracht, hier auf acht Tage
abwechſelnd mit Tretmuͤhle
ins Zuchthaus geſetzt und am 22. Januar 1842 aus
dem Gebiete gejagt. Da man ihn durchaus nirgends
aufnehmen wollte, kehrte er nothgedrungen nach Ham¬
burg zuruͤck, ward am 3. Februar abermals arretirt und
ins Detentionshaus geſperrt. Hier blieb er bis zum
19. Maͤrz, wo er entlaſſen und diesmal nach der Han¬
noͤverſchen Grenze transportirt wurde. In Stade ange¬
kommen wurde er ebenfalls arretirt und auf Unterhand¬
lungen und Anfragen der Stader und Hamburgiſchen
Behoͤrden erging von dem koͤniglichen Miniſterium in
Hannover unterm 29. Maͤrz der Befehl, den Hanemann
auf demſelben Wege, worauf er gekommen, zuruͤckzu¬
ſchaffen. Hanemann wandte ſich nun nach Altona, wurde
aber daſelbſt am 25. April arretirt, mit
fuͤnfundzwanzig Stockſchlaͤgen
beſtraft und nach dem Hamburgiſchen Gebiet tranſpor¬
tirt. Hier wurde er ſofort wieder arretirt, worauf der
Senat am 27. April beſchloß, ihn uͤber See zu ſchaffen,
ſonſt aber die fruͤhere Verfuͤgung vom 12. Januar 1842
[149]Vom heimathloſen Vaterland. ferner in Ausuͤbung zu bringen, naͤmlich die Ruͤckkehr
Hanemanns immer ſchaͤrfer zu beſtrafen.
Da aber trat die große Hamburgiſche Brandkata¬
ſtrophe ein. Hanemann wurde aus dem Gefaͤngniß ent¬
laſſen und wirkte mehrere Tage und Naͤchte mit der aͤu¬
ßerſten Anſtrengung beim Loͤſchen des Feuers. Aber
ſchon am 12. Mai ward er wieder eingeſperrt und trotz
der Fuͤrſprache des Polizeichefs mit Zuchthausſtrafe be¬
legt, dann aber am 22. Juni nach der oͤſtlichen Grenze
des Koͤnigreiches Hannover transportirt. Von hier kehrte
er wieder nach Hamburg zuruͤck und lebte daſelbſt einige
Zeit unbemerkt, bis er Krankheitshalber am 19. Sep¬
tember 1842 ins allgemeine Krankenhaus kam. In
demſelben blieb er bis zum 13. Maͤrz 1843. Zwei
Tage nach ſeiner Entlaſſung wurde er arretirt und dann
wieder nach der oͤſtlichen Grenze des Koͤnigreichs Hanno¬
ver transportirt. Die Behoͤrde in Winſen ſchaffte ihn
jedoch unter Bezugnahme auf den Beſchluß des koͤniglich
Hannoͤverſchen Miniſterii vom 29. Maͤrz wieder nach
Hamburg zuruͤck. Hier wurde er ſofort wieder einge¬
ſperrt, und
bis zum 1. Juli 1844 ununterbrochen
in Arreſt gehalten. Dann ſetzte man ihn unter der
[150]Vom heimathloſen Vaterland.Verpflichtung, daß er Hamburg binnen 8 Tagen ver¬
laſſe, endlich in Freiheit.
Allein Hanemann, ohne zu wiſſen, wohin er ſich
wenden ſolle, blieb nochmals uͤber die geſtattete Friſt in
Hamburg. Am 14. Auguſt wurde er wieder arretirt,
zu vierzehntaͤgigem Gefaͤngniß
abwechſelnd bei Waſſer und Brod
verurteilt und Ende Septembers uͤber die Grenze trans¬
portirt.
Waͤhrend ſeiner letzten Haft hatte ſich Hanemanns
ein bekannter, geachteter Advokat in Hamburg angenom¬
men, und ihm eine Supplik an die „hohe deutſche Bun¬
desverſammlung“ in Betreff unterthaͤnigſt nachgeſuchter
Ermittelung einer Heimath in ſeinem deutſchen Vaterland
concipirt. Aus dieſer Supplik, welche das Kieler Korre¬
ſpondenzblatt in ſeiner Nummer 74 vom Jahre 1845
im Auszuge mittheilte, haben wir die Erlebniſſe Hane¬
manns hieraus wahrheits- und faſt wortgetreu entnommen.
Hanemann, der ohnedies nicht wußte, wo er ſein
Haupt derweile niederlegen ſolle, wollte nunmehr ſeine
Angelegenheit perſoͤnlich vor der deutſchen Bundesverſamm¬
lung fuͤhren. Die Hamburgiſchen Behoͤrden verweigerten
ihm aber zu dieſem Zweck den Reiſepaß, worauf ihm
[151]Vom heimathloſen Vaterland. denn der Koncipient jener Supplik eine Privat-Legitimation
ausfertigte, und fuͤr ſeine eigne Perſon die deutſchen
Behoͤrden erſuchte, den Inhaber der betreffenden Supplik
aus den in ihr enthaltenen Gruͤnden ſchuͤtzen und frei
und ungehindert gen Frankfurt an den deutſchen Bun¬
destag reiſen laſſen zu wollen.
Auf dieſe Weiſe kam der heimathloſe Deutſche auch
wirklich bis an ſein Ziel, und fand auf Verwendung in
Frankfurt ein vorlaͤufiges Domizil.
Dagegen fand ſeine Angelegenheit in Frankfurt ſchlech¬
tes Gedeihen. Man ſchickte ihn von Einem zum An¬
dern, Keiner aber wußte ihm mehr als eine unbeſtimmte
Ausſicht zu geben. Hanemann kehrte daher endlich nach
Hamburg zuruͤck.
Hier wurde er abermals arretirt.
Der Verwendung ſeines Advokaten gelang es, ihm
unter der Verpflichtung, daß er Hamburg ſofort verlaſſe,
ſeine „Freiheit“ zu verſchaffen, und mit einer neuen Le¬
gitimation deſſelben begab ſich Hanemann wiederum nach
Frankfurt, um noch einmal den deutſchen Bundestag um
Ermittelung eines Stuͤckchens Heimath in ſeinem großen
deutſchen „Vaterland“ zu erſuchen.
Ob der heimathloſe, gemißhandelte Deutſche diesmal
[152]Vom heimathloſen Vaterland.bis an den Bundestag gedrungen, ob der Bundestag
einen Staat ermittelt hat, dem dieſer deutſche Unter¬
than angehoͤrt, ob endlich ein ſolchermaßen ermittelter
Staat ihn auch wirklich aufgenommen — wir wiſſen es
nicht. Das aber wiſſen wir, daß der adminiſtrative
Krieg, den drei deutſche Bundesſtaaten auf ſolche Weiſe
gegen einen „beſchirmten deutſchen Unterthan“ gefuͤhrt
haben, dieſer hartnaͤckige nicht geſchlichtete Krieg uͤber einen
ſo leicht beizulegenden Streitpunkt einen merkwuͤrdigen
Maaßſtab fuͤr die groͤßeren Verhaͤltniſſe des deutſchen
„Vaterlandes“ abgeben koͤnnte, — wenn es uͤberhaupt
eines ſolchen beduͤrfte.
Das Unvermeidliche.
[[154]][[155]]„Nein, da magſt Du Einwuͤrfe und Entſchuldigungen
vorſuchen, ſo viele Du willſt,“ ſagte Arthur zu ſeinem
Kommilitonen und Stubenkameraden Eduard, „das laͤßt
ſich weder rechtfertigen, noch entſchuldigen. Wenn ſich
Jemand an Mitgliedern der Behoͤrde, weil ſie ihn be¬
ſtrafen mußten, eigenmaͤchtig vergreift, ſo iſt das nichts
weiter, als Rache, und jede Rache iſt gemein und ver¬
aͤchtlich.“ —
„Ich habe das auch keineswegs zu rechtfertigen ge¬
ſucht,“ erwiederte Eduard. „Ich behaupte nur, daß er¬
littenes Unrecht in jedem Menſchen, ſei er auch der
ſanftmuͤthigſte der Welt, Haß gegen den erregt, von dem
ihm das Unrecht zugefuͤgt worden. Widerfaͤhrt es ihm
jedoch oͤfter, oder leidet er nachhaltig unter dem einen
Schlag, ſo wird ſich ſein erbittertes, von Haß erfuͤlltes
Gemuͤth zuletzt in einer Rachethat Luft machen. Das
iſt nur zu ſehr erklaͤrlich, und die, welche ihn dazu trie¬
ben, haben ſich allein die Folgen zuzuſchreiben.“ —
[156]Das Unvermeidliche.
„Wenn ihm wirklich Unrecht widerfahren iſt,“ ver¬
ſetzte Arthur, „ſo kann er ſich deſto eher in dem Be¬
wußtſein ſeiner Unſchuld troͤſten. Durch einen eigenmaͤch¬
tigen Racheakt aber wird er ſeine Sache nur in ein
zweifelhaftes Licht ſtellen.“ —
„Das ſind Phraſen, mein Lieber!“ ſagte der Andere.
„Erlittenes Unrecht kraͤnkt am tiefſten, es verwindet das
kein Menſch ſo leicht. Im Gegentheil moͤchte ein Rache¬
akt weit eher auf die Unſchuld des fruͤher Verletzten
ſchließen laſſen; denn im Bewußtſein ſeiner ſelbſtverſchul¬
deten Strafe wird er gewiß in ſeinem Innern weniger
Veranlaſſung zu Haß und Rache gegen den Vollſtrecker
finden, er wird vielmehr Beſchaͤmung oder im ſchlimm¬
ſten Fall Zorn uͤber ſein Mißgeſchick fuͤhlen. Deine
Moralbegriffe oder die Strafbeſtimmungen des Geſetzes
koͤnnen keinen Maßſtab fuͤr eine ſolche pſychologiſch be¬
gruͤndete That abgeben. Sie laͤßt ſich dagegen auch
ebenſo wenig entſchuldigen; aber der Trieb liegt nun ein¬
mal in der Menſchennatur.“ —
„Wenn Du die Sache nicht zu vertheidigen ver¬
magſt,“ rief Arthur, „ſo iſt das ein ſchlechter Einwurf
mit dem Suͤndenbock der Menſchennatur. Es muß jeder
ſo viel Kraft in ſich haben, den Trieb, den er nicht
[157]Das Unvermeidliche. rechtfertigen kann, zu unterdruͤcken, oder er iſt ein feiger
Schwaͤchling.“ —
„Das nimmt ſich im Prinzip recht ſchoͤn aus,“
meinte Eduard, „aber ich bin uͤberzeugt, daß Dich ſelbſt
fortgeſetztes Unrecht erbittert machen und Deine Moral¬
geſetze vergeſſen laſſen wuͤrde.“ —
„Nimmermehr!“ rief Arthur unmuthig. „Nie
wuͤrde ich aus Leichtſinn mir ſelbſt den Troſt der Ge¬
wiſſensreinheit zu nichte machen! Ich halte das unter
allen Umſtaͤnden fuͤr ſchwach und veraͤchtlich!“ —
Arthur war der Sohn eines Univerſitaͤtslehrers in ***,
ſtudirte aber ſeit einem Jahre ungefaͤhr Theologie in B.,
weil die Fakultaͤt hier renommirtere Lehrer als in ***
zaͤhlte. Arthur war ſo zu ſagen ein Prinzips-Menſch.
Er hatte ſich ſeinem Studium mit einem, in dieſen
Jahren ſeltenen Eifer hingegeben, und von Natur ſchon
ernſt und tieferem Denken zugeneigt, war auch ſein aͤuße¬
res Leben von dem Einfluß ſeiner geiſtigen Thaͤtigkeit er¬
griffen worden. Er hatte ſich nach ſeiner Philoſophie
[158]Das Unvermeidliche.vollkommen ein Syſtem, eine genaue Bahn ſeines Wan¬
dels konſtruirt und unterwarf engherzig jede, auch die
kleinſte ſeiner Handlungen der Analogie dieſes Prinzips.
Im Laufe der Zeit wurde ihm dieſe Pedanterie zur an¬
dern Natur. Es ging ihm nichts uͤber ein Prinzip und
er trieb die Konſequenz ſo weit, daß er lieber prinzipielle
Schlechtigkeit gelten laſſen, als den Leichtſinn und Wan¬
kelmuth jugendlicher Sorgloſigkeit entſchuldigen wollte.
„Hat Jemand den Muth und die Konſequenz, aus
Prinzip ſchlecht zu ſein,“ ſagte er, „ſo kann ich ihn
noch achten, wenn ich auch ſeine Gruͤnde vielleicht ver¬
werfen muß. Die Schwaͤche aber, die ſich von jedem
aͤußeren Hauche ihre Richtung geben laͤßt, darf ich nur
verachten.“ —
Mit dieſen Grundſaͤtzen mußte Arthur auf der Uni¬
verſitaͤt natuͤrlich ſehr vereinſamt ſtehen. Seine Kommi¬
litonen kuͤmmerten ſich nicht um ihn, oder verſpotteten
ihn als einen verruͤckten Pedanten. Nur Eduard hielt
es mit ihm, weniger jedoch aus Uebereinſtimmung, als
vielmehr durch langjaͤhrige Gewohnheit mit ihm vertraut.
Sie hatten ſich ſchon auf der Schule, welche ſie zuſam¬
men beſuchten, feſt an einander angeſchloſſen, und ſo
verſchieden ſie auch im Grunde von einander waren, ſo
[159]Das Unvermeidliche. hatte doch die Gewohnheit, taͤglich beiſammen zu ſein,
zu tiefe Wurzeln in ihnen Beiden geſchlagen, als daß
Eduard nicht Arthurs Entſchluß haͤtte folgen und mit
ihm die Univerſitaͤt B. beziehen ſollen. Bei der immer
beſtimmteren Richtung Arthurs und dem leichten Sinn
Eduards kam es denn oͤfters zwiſchen den beiden Freun¬
den zu Debatten, aber dabei blieb es auch. Jeder that
nach wie vor das Seine, und ihr Verhaͤltniß litt nicht
im Mindeſten darunter.
So waren ſie einſt auf das obige Geſpraͤch gekom¬
men, als Eduard eben mit großem Gelaͤchter einen an
einem Nachtwaͤchter veruͤbten Streich erzaͤhlt hatte. Der
Nachtwaͤchter naͤmlich hatte einige Tage zuvor die An¬
zeige gemacht, daß an dem Schilderhaͤuschen, in welchem
er nach jedesmaliger Runde ſich aufhielt, mehrmals und
immer nur, wenn er eben drinnen ſtand, auf eine furcht¬
bare Weiſe gepoltert und geruͤttelt worden ſei, ohne daß
er der Ruheſtoͤrer habe habhaft werden koͤnnen. Das
letzte Mal jedoch habe er drei Studenten davon laufen
und in ein beſtimmtes Haus einkehren ſehen, aus wel¬
chem dann in der Nacht Niemand mehr herausgekom¬
men ſei. In Folge deſſen waren die drei, in jenem
Hauſe wohnhaften Studenten auf das Univerſitaͤtsgericht
[160]Das Unvermeidliche. citirt, und da ſie ein Alibi zur Zeit des Schabernacks
nicht nachweiſen konnten, wegen ruheſtoͤrenden Laͤrmens
in zweitaͤgige Karzerſtrafe verurtheilt worden. Dieſe in¬
deß hatten das Ungluͤck in der That gar nicht angerich¬
tet und beſchloſſen daher, ſich an dem unvorſichtigen
Nachtwaͤchter gebuͤhrend zu raͤchen. Mitten in der Nacht,
als die Gaſſen oͤde und ruhig lagen und der Nachtwaͤch¬
ter aller Berechnung nach von ſeiner Runde wieder zuruͤck
ſein mußte, oͤffnete ſich die Hausthuͤr und die drei Stu¬
denten mit noch einem vierten, den ſie ins Geheimniß
gezogen, traten auf die Straße. Sie trugen ein großes
Bret, welches genau auf den Eingang des Schilderhaͤus¬
chens gepaßt war, und deſſen vier Ecken bereits Loͤcher
zum Einſchlagen von Naͤgeln enthielten. Einige Schritte
vor dem Stand des Nachtwaͤchters machten ſie Halt,
und Einer unterſuchte zuerſt vorſichtig das Terrain. Bald
kehrte er mit der Botſchaft zuruͤck, daß der Nachtwaͤch¬
ter in ſeinem Wachthaͤuschen ſchlafe. Darauf zogen ſie
leiſe heran, lehnten das Bret an den Eingang der hoͤl¬
zernen Bude, und — eins, zwei, drei! — ſchlugen ſie
mit ein paar Hammerſchlaͤgen die Naͤgel ein. Der
Nachtwaͤchter war eingenagelt und wurde trotz ſeines
Polterns und dumpfen Murrens erſt am Morgen und
[161]Das Unvermeidliche. nicht ohne große Umſtaͤnde von den Nachbarn erloͤſt.
Die Studenten aber hatten ſich mit ſtolzer Genugthuung
und ungefaͤhrdet nach Hauſe begeben.
Mit dieſer Erzaͤhlung hatte Eduard denn einen hef¬
tigen Ausfall von Arthurs prinzipieller Kritik hervorgeru¬
fen. Arthur ließ ſich, wie gewoͤhnlich, weniger uͤber den
Vorfall ſelbſt aus, er betrachtete nicht den muthwilligen
Streich, ſondern ſprach mit großem Ernſt uͤber die Mo¬
tive und verdammte ſie als Rachethat. Im Laufe des
Geſpraͤchs wurde denn auch bald die eigentliche Sache
vergeſſen, und Beide fuͤhrten nun den Streit uͤber das
Prinzip der perſoͤnlichen Rache, wobei, wie wir geſehen
haben, Arthur zuletzt auf das konſequente Reſultat kam,
daß er nie, auch bei ſyſtematiſch fortgeſetzter Unbill, dem
Gekraͤnkten die Rache zugeſtehe.
Es ſchien aber faſt, als wolle das Schickſal an ihm
erproben, wie weit ein Prinzip Macht uͤber die Men¬
ſchennatur ausuͤben koͤnne, denn jenes Thema ſollte ver¬
haͤngnißvoll in ſein Leben eingreifen.
11[162]Das Unvermeidliche.
Es hatten zu dieſer Zeit eben die demagogiſchen Un¬
terſuchungen begonnen, und wie man weiß, kam dazumal
mancher angeſehene, hochgeachtete Mann heute in poli¬
zeilichen Geruch, der geſtern noch in Amt und Wuͤrden
ſtand. Viele hatten geſtern noch ihre Angehoͤrigen unbe¬
fangen und heiter verlaſſen, um ſie erſt nach Jahren
ergraut und morſch aus den Gefaͤngniſſen ſteigen zu ſehen.
Auf aͤhnliche Weiſe wurde Arthur bald nach jener
Unterredung durch einen Brief ſeiner Mutter furchtbar
uͤberraſcht, die ihm tiefergriffen die Gefangennahme ſeines
Vaters mittheilte. Der junge Mann ordnete ſogleich
ſeine Angelegenheiten und eilte in duͤſtern Ahnungen nach
Hauſe. Hier fand er ſeine Mutter auf dem Kranken¬
lager. Sie war von Natur ſchon ſchwaͤchlich und ner¬
voͤſen Anfaͤllen unterworfen geweſen, und die Aerzte wa¬
ren in letzter Zeit mehrmals fuͤr ihr Leben beſorgt; jetzt
hatte die Gemuͤthsbewegung bei ihres Gatten Schickſal
ſie niedergeworfen und ein ſchleichendes Fieber untergrub
ihr Daſein. Arthur widmete ihrer Pflege ſeine ganze
Aufmerkſamkeit, aber er konnte doch den geknickten Le¬
benstrieb nicht wieder aufrichten. Die Kranke wurde
allmaͤhlig immer hinfaͤlliger und ſchwaͤcher und fuͤhlte
zuletzt ſelbſt ihre Aufloͤſung nahen. Da richteten ſich
[163]Das Unvermeidliche. denn ihre letzten Gedanken und Kraͤfte mit der ganzen
gluͤhenden Sehnſucht einer ſchmerzlich ſcheidenden Seele
auf den Mann, an deſſen Seite ihre fluͤchtige Lebens¬
bluͤthe gerankt hatte. Sie rang in verzweifelnder An¬
ſtrengung mit dem Weh eines qualvollen Scheidens, und
ihr brechendes Herz wollte ſich wenigſtens in einem Ab¬
ſchied noch von dem, der ihr Schutz und Stuͤtze gewe¬
ſen, den letzten ſtaͤrkenden Troſt ſuchen. Arthur that
alle Schritte, ihren heißen Wunſch zu erfuͤllen, aber —
es war die erſte Pruͤfung ſeiner Menſchennatur! — ſeine
Bemuͤhungen blieben fruchtlos.
Beim Beginn der demagogiſchen Unterſuchungen hatte
man einen neuen Inſtruktions-Richter nach *** geſandt,
dem ein ſeltſamer Ruf vorangegangen war. Herr W.
war Juſtizbeamter in einem kleinen Provinzialſtaͤdtchen
geweſen und ſollte als ſolcher ſich einer Aktenfaͤlſchung
ſchuldig gemacht haben. Gewiß iſt, daß auf Grund der
daruͤber umlaufenden Geruͤchte eine Unterſuchung gegen
ihn eingeleitet wurde, im Lauf welcher einer ſeiner Unter¬
beamten ſich das Leben nahm. Kurz darauf begann
die Jagd auf die ſogenannten Demagogen und es wur¬
den in dieſe Angelegenheiten mehrere bedeutende, zur
Oppoſition gehoͤrige Maͤnner verwickelt. Zur ſelben Zeit
11 *[164]Das Unvermeidliche. begab ſich Herr W. nach der Reſidenz, angeblich um
wegen des gegen ihn verhaͤngten Verfahrens perſoͤnlich
eine Vorſtellung zu machen, wie das Geruͤcht jedoch
ſagte: um uͤber die Demagogen-Unterſuchung Winke
und Mittheilungen zu geben. Das Reſultat ſeines Be¬
ſuchs in der Reſidenz war, daß die Unterſuchung gegen
ihn niedergeſchlagen, er ſelbſt als Inſtruktions-Richter
und Polizeidirektor nach *** geſendet und ihm die Un¬
terſuchung in Sachen der demagogiſchen Umtriebe daſelbſt
uͤbertragen wurde. In dieſer Funktion bewies er denn
bald den thaͤtigſten Eifer. Die Gefangenen wurden mit
der groͤßten Strenge behandelt, abwechſelnd bald in haͤu¬
fige, lang anhaltende Verhoͤre genommen, bald wieder
erſt nach unendlichen Zwiſchenraͤumen; es wurden ihnen
die gleichguͤltigſten, harmloſeſten Briefe zur Erlaͤuterung
und Rechtfertigung von einzelnen, unbezuͤglichen Stellen
vorgelegt, andere Papiere dagegen, auf welche ſie ſich
beriefen, vorenthalten, und die peinliche Bewachung ihrer
Perſon ging ſo weit, daß ein Offiziant zugegen ſein
mußte, wenn der Barbier ſie bediente. Dabei ſprach
ſich die oͤffentliche Meinung dahin aus, daß es gerade
die der Regierung mißliebigen fruͤheren Opponenten ſeien,
gegen welche W. am ſtrengſten verfahre.
[165]Das Unvermeidliche.
An dieſen Mann wendete ſich Arthur zuerſt mit der
Bitte, ſeinen Vater auf einige Zeit zu der ſterbenden
Mutter zu laſſen. W. war ein großer hagerer Mann
mit einem langen, ſcharf markirten Geſicht. In ſeinen
Zuͤgen lag eine todtenaͤhnliche kalte Starrheit, welche
durch die graue Geſichtsfarbe, die ſeltſamen Falten um
Augen und Mund und den faſt glaͤſernen Blick noch
erhoͤht wurde. Als ihm Arthur ſein Anliegen vorbrachte,
betrachtete er ihn mit ſeinem eiſigen glanzloſen Blick, daß
dem jungen Mann faſt vor ihm graute, und ſagte ruhig
und ohne Ausdruck, daß er dem Gefangenen eine ſolche
Verguͤnſtigung waͤhrend der Unterſuchung nicht geſtatten
koͤnne. Umſonſt bat nun Arthur, daß man den Vater
wenigſtens auf kurze Stunden zu der Kranken laſſen
und jedesmal unter Bewachung bis ins Haus und wie¬
der zuruͤck geleiten moͤge. Der Beamte erhob ſich wie
verabſchiedend von ſeinem Stuhl und antwortete mit der¬
ſelben langſamen Eintoͤnigkeit, daß er das weder geſtatten
koͤnne noch wolle.
Arthur fuͤhlte unter dem kalten, ſtarr auf ihm ru¬
henden Blick einen gaͤhrenden Zorn in ſich wach werden,
aber der Gedanke an ſeine Mutter bewaͤltigte ihn wieder,
[166]Das Unvermeidliche.und er ſagte mit groͤßerer Lebhaftigkeit, indem er bewegt
einen Schritt naͤher trat:
„Sie haben auch Kinder! Sie wiſſen, welches Leid
in dem Gedanken iſt, aus dem Kreis der Seinen zu
ſcheiden! Um Ihrer Kinder willen denn: goͤnnen Sie
einem Vater den Troſt, die Seinen noch einmal, bevor
er zu ſpaͤt kommt, wiederſehn zu duͤrfen! Goͤnnen Sie
einer Mutter, wenigſtens im Kreis der Ihren zu ſterben,
damit Sie nicht ſelbſt in der Todesſtunde verlaſſen ſein
moͤgen!“ —
Ueber die Zuͤge des Beamten zuckte eine ſeltſame
Regung. Die Welt ſagte, daß dieſer ſtarre, egoiſtiſche
Mann dennoch einen Reſt menſchlicher Gefuͤhle habe,
daß er an ſeinen Kindern mit einer Liebe haͤnge, die man
in dieſem hartherzigen, verſchloſſenen Sinn nicht ahne.
Man wollte zuweilen ein Bild haͤuslicher Gluͤckſeligkeit
hier geſehen haben, in welchem der tyranniſche, freund¬
loſe Beamte mit dem Ausdruck weiblicher Innigkeit im
Kreis ſeiner Kinder geſeſſen, — und doch gab ihm wie¬
derum das Geruͤcht Schuld an dem Tod ſeiner Frau.
Sei es nun wirklich, daß die bewegten Worte Arthurs
eine Saite in ſeinem Innern beruͤhrt hatten, ſei es, daß
er den Bittenden nur eine kurze Hoffnung faſſen laſſen
[167]Das Unvermeidliche. wollte, um ſie deſto grauſamer vernichten zu koͤnnen:
einen Augenblick ſchien es, als ob er bewegt werde. Aber
ſein Auge nahm ſogleich wieder ſeine ausdrucksloſe Kaͤlte
an und er ſagte einfoͤrmig ruhig:
„Ich bedaure, Ihnen keine andere Antwort geben
zu koͤnnen, und will Sie nicht Ihrer Zeit berauben, die
Sie vielleicht zu weiteren Schritten benutzen werden.“—
Arthur ging. Er wendete ſich zunaͤchſt mit ſeinem
Geſuch an das Obergericht, erhielt aber zur Antwort,
daß daſſelbe in dieſem Falle, bevor nicht die Unterſu¬
chungsakten geſchloſſen waren, inkompetent ſei; man
muͤſſe es ihm uͤberlaſſen, ſich an das Miniſterium zu
wenden. Ehe er aber von dieſem einen Entſcheid ein¬
holen konnte, war ſeine Mutter bereits verſchieden.
Ihre letzten Augenblicke waren voll bitterer Schmer¬
zen geweſen und Arthur litt unausſprechlich dabei. Die
Kranke hatte bis zum Todeskampf ihre volle Beſinnung
behalten, und in der Qual des Sterbens rief ſie umſonſt
den Namen ihres Gatten. Bei jedem Geraͤuſch wende¬
ten ſich ihre brechenden Augen nach der Thuͤr, ihre zit¬
ternden Haͤnde taſteten zuletzt noch ſuchend auf der Decke,
um die Hand des Erſehnten zu druͤcken, und aus ihrem
[168]Das Unvermeidliche. Roͤcheln noch klang wehmuͤthig klagend ſein Name. Sie
ſtarb, ohne ihn wiedergeſehn zu haben.
Vor ihrer Beerdigung ſchrieb Arthur an ſeinen Va¬
ter. Er wußte zwar wohl, daß derſelbe nicht zum Grab¬
geleite kommen werde, aber er hoffte, daß er vielleicht
aus dem Fenſter ſeines Kerkers herabſchauen werde. Als
der Trauerzug an den grauen Mauern des Gefaͤngniſſes
voruͤberkam, ſah Arthur hinauf nach dem kleinen vergit¬
terten Loch, hinter dem, wie er wußte, ſein Vater ſaß.
Aber es ließ ſich nichts blicken. Die Fenſter in ſolchen
Kerkern ſind ſehr hoch, faſt an der Decke; und wenn
auch der Gefangene bis dahinan ſpringen koͤnnte, ſo ver¬
mag er doch an dem abſchuͤſſigen Fenſterbret keinen An¬
halt zu finden.
Spaͤter erfuhr Arthur, daß ſein Vater den Brief zu
jener Zeit noch gar nicht empfangen, daß der Unterſu¬
chungs-Richter denſelben vielmehr im Verhoͤr zu dem
Verſuch benutzt habe, dem Gefangnen ein Geſtaͤndniß
abzulocken.
[169]Das Unvermeidliche.
In Arthurs Seele war tief und unvergeßlich das
Bild ſeiner ſterbenden Mutter eingegraben, und bei allen
Schritten, in allen Traͤumen ſtand vor ſeinem Geiſte
jener erſchuͤtternde Anblick, wo ſie ringend, im Tode
noch nach ihrem Gatten geſeufzt hatte. Aber auch eben
ſo tief und unvergeßlich ſtand daneben das Andenken an
den Mann, der ihr den letzten, ſtillen Troſt ihrer Sterbe¬
ſtunde mit boshaftem Frevelmuth geraubt hatte. Er
ſuchte umſonſt dies geiſterhafte, ſtarre Bild mit den ge¬
ſpenſtiſchen Augen und den unheimlichen Falten aus ſei¬
nem Innern zu verwiſchen, immer wieder glaubte er den
grauenhaften, glanzloſen Blick auf ſich gerichtet zu ſehen
und die Dolchſtiche der langſamen eintoͤnigen Worte zu
vernehmen. Der Haß gegen dieſen Mann ſtieg in ihm,
je mehr er ſich von ihm losreißen wollte.
„Wenn ich ihn ſterben ſehen koͤnnte, einſam, verlaſ¬
ſen, verflucht ſterben, in wilder Qual, tauſendfach groͤ¬
ßer als die meiner ungluͤcklichen Mutter!“ ſagte er oͤfter
bei ſich. „Wenn ich ihn ſehen koͤnnte im Todeskampf, wie
er vergebens wimmernd die Haͤnde ausſtreckte, wie ihn
kein liebender Mund troͤſtete, keine zitternde Hand auf¬
richtete, und er im Angſtſchweiß ſeiner verzweifelnden
Seele allein, in wahnſinniger Einſamkeit daniederſaͤnke.
[170]Das Unvermeidliche.das koͤnnte mich troͤſten, ja, ich glaube, dann koͤnnte ich
wieder lachen, aus Herzensgrund lachen, daß ihm im
Tode die Ohren gellen ſollten!“ —
Mit dieſen Gedanken ſteigerte er ſelbſt ſeinen lodern¬
den Ingrimm bis zum heißen Rachedurſt.
„Aber nein,“ ſagte er dann weiter, „wie koͤnnte ich
noch auf eine ſolche Gerechtigkeit des Schickſals hoffen,
das meine Mutter ſo enden ließ! Ich muß ſie ſelbſt
raͤchen! Ich muß ſinnen und denken, wie ich ihn am
empfindlichſten treffen kann, wie ich ihm das Liebſte ent¬
reißen kann, damit er einſam und verzweifelnd unter¬
gehe!“ —
Das waren ſeine Gedanken. Die Leute, welche ihn
ſo ſahen, wie er bleich und tiefſinnig in den Daͤmmer¬
ſtunden die Stadt durchſtrich und nur zuweilen vor dem
Gefaͤngniß ſtehen blieb, um ſtarren Blicks nach einem
kleinen, vergitterten Fenſter da droben zu ſchauen, ſchuͤt¬
telten mitleidig die Koͤpfe und meinten, daß das Schick¬
ſal des Vaters außer der Mutter noch ein anderes Opfer
getroffen habe.
[171]Das Unvermeidliche.
Der Inquiſitionsrichter W. hatte vier Kinder.
Die beiden aͤlteſten Soͤhne ſtudirten eben auf der Univer¬
ſitaͤt, die ſich am Orte befand, der dritte beſuchte noch
die Schule, und das juͤngſte Kind, ein Maͤdchen Na¬
mens Charlotte, ſollte in Kuͤrze nach einer Penſionsan¬
ſtalt gegeben werden. Die beiden Studenten galten in
der Stadt als flotte Geſellen. Sie waren in eine Ver¬
bindung eingetreten, machten allen in ſolchem Fall noth¬
wendigen Luxus und „Ulk“ mit, und renommirten auf
Menſur, Kneipe und ſonſtigen Gelegenheiten beſtens fuͤr
ihr Corps. Sie waren, was man ſo ein paar „Haͤhne“
nennt, und ſtanden bei Philiſtern, Weibern und Kom¬
militonen wohl angeſchrieben.
Eines Abends kamen ſie in trunkenem Zuſtande von
ihrer Kneipe und ſtießen dicht vor der Thuͤr taumelnd
auf eine in einen Mantel gehuͤllte Geſtalt. Mit bar¬
ſchen Worten forderte der Fremde ſie auf, ihm aus dem
Wege zu gehen, die beiden Studenten aber lachten und
hielten ihn feſt, um ihm ins Geſicht zu ſehen. Der
Unbekannte ſtieß ſie heftig zuruͤck, es fielen Beleidigungen
und die Studenten begannen zu Thaͤtlichkeiten zu greifen.
Der Fremde trat nun einen Schritt zuruͤck und ver¬
langte Genugthuung fuͤr dieſen Schimpf, die Beleidiger
[172]Das Unvermeidliche. gaben ihm ihre Namen und Arthur — denn er war es
— ihnen den ſeinigen.
Am andern Morgen ging Arthur zu ſeinem Freunde
Eduard, der ſeit einigen Tagen in die Ferien gekommen
war, ihn aber aus Schonung fuͤr ſeine Lage nicht gleich
hatte beſuchen wollen. Eduard erſchrak uͤber das bleiche
Ausſehen ſeines Freundes, aber wie wurde er erſt in
Erſtaunen geſetzt, als Arthur ihm den Zweck ſeines Be¬
ſuchs erzaͤhlte!
„Du hatteſt in unſerm Streit uͤber Konſequenz und
Prinzip vollkommen Recht, mein Freund,“ erwiderte
Arthur auf den Ausruf der Verwunderung. „Ja, das
abſolute Prinzip iſt ſchlecht wie jeder Abſolutismus. Die
Menſchennatur ſchuͤttelt ihr Joch doch zuletzt ab, —
wenn ſie erſt bis zum Erſticken darunter gelitten hat,“
fuͤgte er langſam hinzu.
„Aber wenn Du Dich auch zum Duell entſchloſſen
haſt, weshalb waͤhleſt Du nicht gewoͤhnliche Waffen?
Mir ſcheint wenigſtens, daß kein beſonderer Grund zur
Ausnahme vorliegt.“ —
„Ich kann nicht ſchlagen,“ erwiederte Arthur. „Es
waͤre Thorheit gegen dieſe Leute.“ —
„Und kannſt Du denn ſchießen?“ fragte Eduard
[173]Das Unvermeidliche. noch immer erſtaunt. Arthur laͤchelte mit beſondrem
Ausdruck und ſagte:
„Ich habe es in letzter Zeit einigermaßen geuͤbt.“ —
Die Studenten waren ebenfalls erſtaunt uͤber die
Art der Forderung, nahmen dieſelbe aber doch an. Es
wurde verabredet, am folgenden Morgen nach einem ge¬
eigneten Platz zu fahren, und — falls Arthur nicht
ſchon in dem erſten Duell verwundet wuͤrde — beide
nach einander abzumachen.
Am andern Morgen trafen ſich die Parteien zur
beſtimmten Stunde. Beide gruͤßten ſich mit hoͤflicher
Gleichguͤltigkeit und nach kurzer Verhandlung uͤber die
uͤblichen Foͤrmlichkeiten und Bedingungen maßen die Se¬
kundanten die Diſtanzen ab. Arthur erſchien an dieſem
Tage aufgeraͤumter als ſonſt. Er hatte ſich auf der
Hinfahrt ſehr lebhaft und heiter mit Eduard und ſeinem
Arzt unterhalten, ſo daß Eduard, der von Arthurs Ge¬
muͤthsſtimmung nichts wußte, die beſte Hoffnung fuͤr
die Wiederkehr ſeiner Ruhe und Geſundheit faßte. Die
beiden Studenten waren gleichguͤltig und ruhig, ſie ord¬
neten ſelbſt einige Vorbereitungen an, und benahmen
ſich uͤberhaupt wie Leute, denen dergleichen nichts Neues
mehr iſt. Zuerſt trat der aͤltere Bruder auf die Menſur.
[174]Das Unvermeidliche.Die Sekundanten fragten noch einmal, ob die Parteien
ihre Sache nicht auf friedliche Weiſe beilegen wollten,
als ſie aber von keiner Seite Antwort erhielten, wieder¬
holten ſie ihnen die Bedingungen des Duells: nach dem
gegebenen Zeichen konnte Jeder im Kommando ſchritt¬
weiſe vorruͤcken bis an die Barriere des in der Mitte
abgeſteckten Raumes, dazwiſchen aber blieb es ihm uͤber¬
laſſen, ſtehen zu bleiben und zu ſchießen, wann er wollte.
Darauf wurde das Zeichen gegeben.
Beide ruͤckten vor. Nach dem erſten Schritt blieb
der Student ſtehen, zielte und ſchoß. Arthur ruͤckte un¬
geſtoͤrt weiter, ſein Gegner hatte gefehlt. Der Unpar¬
teiiſche ſah die beiden Sekundanten an, und zaͤhlte
langſamer, und die Sekundanten blickten in banger Neu¬
gierde auf Arthur. Es war Jedem, als muͤßte derſelbe
nun doch auch ſtill ſtehen und ſchießen. Aber Arthur
ſchritt im Takt des Zaͤhlens ruhig weiter — bis an die
Barrière. Dann erhob er erſt die Piſtole und zielte.
Der aufwirbelnde Rauch ließ ihn im erſten Augen¬
blick das Reſultat ſeines Schuſſes nicht erkennen, aber
die herbeiſpringenden Zeugen ließen ihn nicht lange daruͤ¬
ber in Zweifel. Die Kugel war in den Unterleib ge¬
drungen und hatte wahrſcheinlich die Eingeweide verletzt.
[175]Das Unvermeidliche. Auch ließ das geringe Blut, welches aus der Wunde
floß, auf eine gefaͤhrliche innere Blutung ſchließen. Der
Arzt legte ſogleich einen erſten Verband an, deutete aber
zugleich an, daß dem Anſcheine nach wenig Hoffnung
vorhanden ſei.
Der juͤngere Bruder erklaͤrte jetzt, bleich und entſetzt
uͤber dieſen Ausgang, daß er ſeine Sache ein anderes
Mal ausmachen wolle. Arthur hatte waͤhrend der
Anſtalten um den Verwundeten, ſeine Piſtole in der
Hand, ſtill und ruhig an einem Baum geſtanden. Bei
dieſer Erklaͤrung trat er vor und ſagte ſpoͤttiſch:
„Ein ander Mal? Da werde ich nach gegenwaͤrti¬
gem Vorfall wohl auf der Feſtung ſitzen. Wenn Sie
jedoch heute die verſprochene Satisfaktion nicht geben
wollen, ſo mag es auch gut ſein.“ —
Der Andere ergriff jetzt krampfhaft die Piſtole des
Verwundeten und forderte ſeinen Sekundanten mit auf¬
geregter Stimme auf, zu laden. Dann traten die Beiden
unter denſelben Bedingungen auf die Menſur, Arthur
kaltbluͤtig und gefaßt, ſein Gegner bleich, mit geſchloſſe¬
nen Lippen und vor Wuth zitternder Hand. Beide Geg¬
ner ſchritten diesmal im Kommando auf einander los,
langſam, bis an die Barrière. Hier ſtanden ſie nur
[176]Das Unvermeidliche.fuͤnf Schritte von einander entfernt. Jeder richtete den
Blick forſchend auf den Andern, und die Waffen ſenkten
ſich gleichzeitig in die Schlußlage. Einen Moment lang
ſahen die Zeugen mit aͤngſtlicher Spannung ſie alſo ver¬
derblich ſich gegenuͤber ſtehen, den Einen kalt, mit feſtem,
ſicherem Blick, den Andern blaß, mit loderndem Auge;
— dann ſpruͤhten die Blitze zwiſchen ihnen, und Beide
wankten getroffen zuruͤck. Arthur hatte den Schuß in
den Oberarm erhalten, von wo ſich die Kugel, ohne einen
Knochen zu verletzen, in den Ruͤcken gedraͤngt hatte.
Bei W. war die Kugel mitten durch die Bruſt ge¬
gangen.
Eine Stunde darauf lief die Nachricht von dieſem
Vorfall durch die ganze Stadt. Der juͤngere W. war
bereits auf dem Platze verſchieden, der aͤltere ſtarb noch
in der folgenden Nacht in den Armen ſeines verzweifeln¬
den Vaters. Gegen Arthur wurde eine Kriminalunter¬
ſuchung eingeleitet, deren Ergebniß war, daß er nach
ſeiner vollſtaͤndigen Geneſung auf fuͤnf Jahre nach der
Feſtung kam.
[177]Das Unvermeidliche.
In einem Verlauf von fuͤnf Jahren aͤndert ſich
Vieles, und derjenige, welcher nach einem ſolchen Zeit¬
raum, ohne Verbindungen unterhalten zu haben, in ſeine
Heimath zuruͤckkehrt, ſucht Manches vergebens, was er
einſt bluͤhend und hoffnungsvoll verlaſſen, und findet
eben ſo viel Neues, dem er fremd iſt.
Auch Arthur empfand die ganze Bitterkeit dieſes
Eindrucks, als er ſich einſam und fremd nach fuͤnf Jah¬
ren in ſeiner Heimathſtadt wiederfand. Sein Vater war
im Gefaͤngniß geſtorben. Sein und der Seinigen Schick¬
ſal hatte die geiſtige Kraft des ſonſt ſo ſtarken Mannes
gebrochen, und die Krankheit ſeiner Seele ſowie der
Aufenthalt in dem feuchten, dumpfigen Kerker auch den
Nerv ſeines Lebens zernagt. Die Aerzte, die er ganz
zuletzt erſt erhalten, hatten aufs Eindringlichſte freie Be¬
wegung und Veraͤnderung ſeines Aufenthalts verordnet,
aber der Inſtruktions-Richter wollte davon nichts wiſſen.
Als es den Bemuͤhungen der Aerzte dennoch gelang, vom
Obergericht den Befehl zu erwirken, daß der Gefangene
in ſeinem eigenen Hauſe bewacht werden ſolle: mußte der
Unterſuchungs-Richter zwar der Weiſung fuͤr den Augen¬
blick Folge leiſten, allein er ſendete ſogleich einen Bericht
an das Miniſterium, in Folge deſſen der Direktor des
12[178]Das Unvermeidliche. Obergerichts aus *** verſetzt wurde und der Gefangene
wieder ſeinen Kerker beziehen mußte. Hier ſtarb er bald
darauf, ohne daß es in ſeiner Sache zu einem Urtheil
gekommen waͤre, und Arthur war eine Waiſe. Auch
ſeinen Freund Eduard fand er nicht mehr. Der bluͤ¬
hende Juͤngling war das Opfer eines hitzigen Nervenfie¬
bers geworden, als er eben ſein Staatsexamen in glaͤn¬
zender Auszeichnung beſtanden hatte. Arthur fuͤhlte ſich
einſam und unſaͤglich verlaſſen, und heimathlos in dem
lebendigen veraͤnderten Treiben dieſer Todtenſtadt ſeines
Gluͤcks; — aber in ſeinem Innern lebte noch Ein Ge¬
danke mit ungebrochner Kraft, Ein Gedanke, der in der
Zeit ſeiner langen Truͤbſal eher geſtaͤrkt worden war.
An einem der erſten Tage nach ſeiner Heimath be¬
ſuchte er das Grab ſeiner Mutter. Die Daͤmmerung
war hereingebrochen, als er auf den Kirchhof kam, und
er hatte einige Zeit zu thun, bis er unter den vielen
alten und neuen Graͤbern das geſuchte fand. Lange,
lange ſaß er hier auf dem Huͤgel, die Stunden verflogen
ihm in ſeinen Traͤumen und Erinnerungen, ohne daß er
es bemerkte. Endlich erhob er ſich und pfluͤckte eine
wilde Blume; dann wollte er ſich entfernen. Es war
aber noch Jemand zugegen, augenſcheinlich in aͤhnlichen
[179]Das Unvermeidliche. Gefuͤhlen, denn wenige Schritte weiter erhob ſich jetzt von
einem andern Huͤgel ebenfalls eine Geſtalt. Beide hatten
einander in ihren Trauergedanken nicht wahrgenommen,
obwohl nur ein einziger Grabhuͤgel ſie trennte. Arthur
bog um das Grab ſeiner Mutter, der Andere um [den]
Huͤgel, an dem er geſeſſen, und ſo gewahrte jetzt Jeder
in der Dunkelheit die fremde Geſtalt. In dieſem Au¬
genblick trat ploͤtzlich der Mond aus einer Wolke und
beleuchtete ihre Geſichter, — Beide fuhren vor einander
zuruͤck. Der zweite war der Polizeidirektor W.
Arthur betrachtete ihn mit einem lodernden Blick,
der aus dem bleichen, abgezehrten Geſicht geſpenſtiſch
funkelte, und ſein Herz pochte und kochte in gaͤhrender
Aufregung.
„Moͤgeſt Du in der Sterbeſtunde einſam und ver¬
laſſen, in der Angſt des Wahnſinns verenden!“ rief er
mit gellendem Ton.
Der Polizeidirektor hatte ihn mit ſtarrem ent¬
ſetztem Ausdruck, als ob er ein Geſpenſt ſehe, betrach¬
tet. Seine Hand zeigte auf das eben verlaſſene Grab,
waͤhrend ſein Auge wie gebannt auf das funkelnde Auge
des Gegners ſchaute, und er ſtieß mit zitternder Stimme
das Wort der Verzweiflung aus:
12 *[180]Das Unvermeidliche.
„Moͤrder!“ —
Arthur lachte in gellendem, haͤßlichem Ton. Dann
trat er einen Schritt auf ihn zu und murmelte duͤſter
in das verzerrte Geſicht des Mannes:
„Mein Vater und meine Mutter ſind in Fluch und
Elend geſtorben, Du haſt mich zur Waiſe gemacht!
Dein Ende wird im Fluch der Menſchen und im Elend
der wahnſinnigen Verzweiflung ſein!“ —
Der Mann wich zuruͤck, wie vor dem Hauch eines
Peſtkranken, und er ſtuͤtzte ſich auf das Kreuz ſeines
aͤlteſten Sohnes.
„Noch haſt Du zwei Kinder, noch wankſt Du nicht
wie ich als freudloſes Geſpenſt durch das Leben, aber—“
fuͤgte Arthur mit drohend erhobenem Arm hinzu, „wir
ſehen uns wieder, und Du wirſt noch einſamer, noch
verlaſſener ſterben, als meine Mutter — verſtehſt Du,
als meine Mutter — einſam, ganz einſam, verlaſſen
in Deinem Fluch!“ —
Mit dieſen Worten ſtrich Arthur an ihm voruͤber,
und der Mann ſank bleich und entſetzt auf den Grab¬
huͤgel ſeiner Kinder. Als er ſich wieder erhob, war er
allein, aber in ſeinen Ohren gellten die Worte:
„Wir ſehen uns wieder!“ —
[181]Das Unvermeidliche.
Der dritte Sohn des Polizeidirektors hatte waͤhrend
Arthurs Gefangenſchaft ſeine Studien angetreten und
vollendet, und ſtand als Praktikant beim Landgericht
in ***. Er war uͤberdies ſeit Kurzem mit einem lie¬
benswuͤrdigen Maͤdchen aus einer der angeſehenſten und
reichſten Familien der Univerſitaͤtsſtadt verlobt, und ar¬
beitete mit um ſo groͤßerer Energie zu ſeinem letzten
Examen.
Eines Tages kam Heinrich, ſo hieß der junge W.,
in einer ungewoͤhnlichen Stimmung zu Tiſch. Er war
zerſtreut und nachdenkend, und antwortete mehrmals auf
die Fragen ſeines Vaters in ganz verkehrter Weiſe. Als
der letztere ihn darauf aufmerkſam machte, nahm er ſich
zwar zuſammen und ſprach eine Zeitlang mit großer
Lebendigkeit uͤber gleichguͤltige Dinge, aber man konnte
doch das Gewaltſame, Gezwungene ſeiner Weiſe wohl
bemerken, und bald verſank er auch wieder in ſeine fruͤ¬
here Starrheit. Auf das eindringliche Befragen ſeines
Vaters erzaͤhlte er denn, daß er am geſtrigen Abend, als
er ſeine Braut ins Theater gefuͤhrt, im Gedraͤnge mit
dem jungen Arthur zuſammengetroffen und von dieſem
im Beiſein mehrerer Offiziere und juͤngeren Beamten
beleidigt worden ſei. Die geſellſchaftlichen Anſichten er¬
[182]Das Unvermeidliche.warteten in dieſem Fall eine Ausgleichung durch Waffen,
aber nach dem Vorfall mit ſeinen aͤlteren Bruͤdern habe
er nicht nur einen Abſcheu vor jedem Duell, ſondern es
graue ihm namentlich auch vor Arthur, und er wiſſe
nicht, was er thun ſolle.
Der Vater erſchrak bei dieſer Erzaͤhlung und ver¬
langte mit beſorgten, aͤngſtlichen Worten ſeinem Sohn
das Ehrenwort ab, daß er ſich mit Arthur unter keiner
Bedingung in ein Duell einlaſſen wolle. Heinrich ſuchte
ihn uͤber ſein Benehmen zu beruhigen, aber der Vater
beſtand auf einem foͤrmlichen Verſprechen, und bewegt
von der zitternden Beſorgniß deſſelben gab Heinrich zuletzt
das verlangte Ehrenwort.
Aber der Vater war deſſenungeachtet noch nicht voͤl¬
lig beruhigt, und machte hinter dem Ruͤcken des Soh¬
nes von dem Vorfall Anzeige. In Folge deſſen erhielt
Heinrich von ſeinem Vorgeſetzten die Verwarnung, ſich
von dem kontrahirten Duell zuruͤckzuziehen oder ſeiner
Entfernung vom Gericht entgegenzuſehen. Arthur aber
erhielt 8 Tage Gefaͤngniß.
Heinrich war zwar mit dieſem Verfahren ſeines Va¬
ters, das er einen Mißbrauch des Vertrauens nannte,
nicht einverſtanden, aber er mußte doch die Veranlaſſung
[183]Das Unvermeidliche. liebender Bekuͤmmerniß entſchuldigen und war eigentlich
auch im Grunde froh, den unheimlichen Gegner los zu
ſein. Er beſuchte mit ungetheilter Freude wieder ſeine
Braut, und als ihn dieſelbe mit zaͤrtlicher Beſorgniß um
den Ausgang jenes Zuſammentreffens im Theater be¬
fragte, ſagte er, ihr die Hand druͤckend und doch
halb verlegen:
„Es iſt abgemacht!“ —
Das junge Maͤdchen laͤchelte und kuͤßte ihn in freu¬
digerem Stolz. Sie hatte die Worte ihres Geliebten in
anderer Weiſe aufgefaßt, und — in den Augen junger
Maͤdchen erhaͤlt ja ein Mann durch das Anſehen der
Tapferkeit hoͤheren Reiz.
Aber ſie wurde bald in ihren Traͤumen enttaͤuſcht.
Nach einiger Zeit bemerkte ſie, daß ihr Braͤutigam
von ſeinen Bekannten augenſcheinlich gemieden wurde.
Man wich ihm an allen oͤffentlichen Orten aus, gruͤßte
ihn foͤrmlich kalt oder auch gar nicht, es wurde geziſchelt,
wenn ſie kamen, und ſie ſelbſt, fruͤher die geſuchteſte
Taͤnzerin, blieb jetzt auf den Baͤllen ſitzen. Sie ſuchte
vergebens den Grund dieſes Benehmens zu erforſchen,
endlich aber belehrte ſie eine ihrer Freundinnen daruͤber.
„Dein Verlobter hat ſich geweigert, ſich zu ſchlagen,
[184]Das Unvermeidliche.und den Forderer — angezeigt!“ ſagte ihr dieſelbe. „Seine
Freunde halten das fuͤr infam und haben beſchloſſen,
nicht mehr mit ihm umzugehen.“ —
Darunter mußte ſie nun auch leiden! Sie fuͤhlte
ſich doppelt verletzt, um ihrer ſelbſt willen und um ihres
Verlobten willen, um den ſie ſich ja ſo gern und lange
beneidet geſehen hatte. Sie ſagte ihm nichts davon, aber
ihr Benehmen wurde allmaͤhlig kuͤhler, und ſie ſchlug es
mehrmals aus, mit ihm oͤffentliche Orte zu beſuchen.
Auch Heinrich litt unter dieſen Verhaͤltniſſen entſetz¬
lich. Er ſuchte ſich vergebens bei ſeinen Bekannten zu
rechtfertigen. Einige nahmen ihn kalt, andere gar nicht
auf, die mildeſten ſagten:
„So etwas theilt man ſeinem Vater nicht mit, —
wenigſtens nicht ohne eine Abſicht.“ —
Als er ſah, daß er auf dieſe Weiſe nichts ausrich¬
tete, ſuchte er ſein Anſehen gewaltſam wieder zu gewin¬
nen. Er ſetzte ſich an einem oͤffentlichen Ort zu mehre¬
ren, ihm fruͤher befreundeten Offizieren, und als ſich
dieſelben ſogleich erhoben und an einem andern Tiſche
Platz nahmen, forderte er ſie ſaͤmmtlich. Dieſe aber
verweigerten ihm die Satisfaktion: „weil ſie ſich keiner
Denunciation ausſetzen wollten.“ — Heinrich ſah ſich,
[185]Das Unvermeidliche. ausgeſtoßen von aller Geſellſchaft, in der peinlichſten Lage
und machte nunmehr ſeinem Vater die bitterlichſten Vor¬
wuͤrfe. Der alte W., ſelbſt bedruͤckt und beſorgt durch
den duͤſteren Unmuth ſeines Sohnes, ſuchte ihn mit
ſchwachen Worten zu troͤſten, und kam, ohne ihm davon
Mittheilung zu machen, um Heinrichs Verſetzung zu
einem andern Gericht ein. Dort, ſo dachte er, wiſſe
man nichts davon, und mittlerweile werde in *** wohl
Gras uͤber die Geſchichte wachſen, daß er ſpaͤter doch
zuruͤckkehren koͤnne.
Aber es war bereits zu ſpaͤt damit.
Heinrichs Braut hatte dieſen Zuſtand auf die Laͤnge
nicht ertragen koͤnnen. Sie liebte ihren Verlobten wohl,
ſie hatte ſelbſt bei jenem Auftritt im Theater fuͤr ihn
gezittert, und ihn am Abend beſorgt gefragt: ob er ſich
doch nicht etwa ſchlagen wolle. Aber im Geheimen hatte
ſie doch gewuͤnſcht, daß er ihr eine ſiegreiche Probe ſei¬
ner Tapferkeit geben moͤge. Sie hatte in der Univerſi¬
taͤtsſtadt taͤglich von Duellen gehoͤrt, und Intereſſe an
den benarbten, immer froͤhlichen Studenten genommen:
mußte ihr nicht die Handlungsweiſe ihres Verlobten wie
ein Akt ſeltener, vereinzelter Feigheit erſcheinen? Und
wenn ſie ſich auch ſelbſt daruͤber hinwegſetzte, welche
[186]Das Unvermeidliche.Rolle ſpielte ſie an der Seite dieſes Mannes, der ſeine
eigne Ehre nicht einmal zu wahren wußte? War ſie
nicht zugleich mit ihm geflohen und verſtoßen von Allen?
Das Verhaͤltniß wurde immer lockerer, bis ſie es zu¬
letzt ganz loͤſte. Sie verließ ihn.
Dieſer Schlag ſtuͤrzte Heinrich vollends in die tiefſte
Verzweiflung. Verachtet von ſeinen Freunden, verſtoßen
aus der Geſellſchaft, verlaſſen von ſeiner Geliebten, —
was blieb da noch vom Leben? Mehrere Tage lang
verſchloß er ſich in ſein Zimmer und kaͤmpfte mit duͤ¬
ſtern, verzweiflungsvollen Gedanken. In der Nacht vom
dritten auf den vierten Tag nach Empfang des Scheide¬
briefs hallte ein Schuß in ſeinem Zimmer und ſchreckte
die Hausbewohner aus dem Schlaf. Als ſie ſeine Thuͤr
erbrachen, fanden ſie ihn im Blut ſchwimmend. Er
hatte ſich eine Kugel durchs Herz geſchoſſen.
Der Polizeidirektor W. war nach dieſem neuen
Ungluͤcksfall in ſeiner Familie von einer heftigen Krank¬
heit ergriffen worden, uͤber deren Verlauf in der Stadt
ſehr ſeltſame Geruͤchte umliefen. Daß er bei ſeiner
[187]Das Unvermeidliche. Rekonvalescenz um Entlaſſung von ſeinem Amte nach¬
ſuchte, diente gerade dazu, dieſen Geruͤchten noch einen
beſondern Halt zu leihen. Arthur war kurz nach dem
Vorfall abgereiſt, Niemand wußte wohin. Da er we¬
nige Bekannte beſaß und ſich auch von dieſen Wenigen
in der letzten Zeit ferner gehalten hatte, ſo kuͤmmerte
ſich auch Keiner darum und bald war er vergeſſen.
Von ſeinen vier Kindern war dem Polizeidirektor
W. jetzt nur eines, ſeine Tochter Charlotte geblieben,
welche ſich zur Zeit in einer rheiniſchen Penſionsanſtalt
befand. Als er wieder ſo weit hergeſtellt und auch auf
ſein wiederholtes Verlangen aus dem Staatsdienſt ent¬
laſſen worden war, reiſte er zuerſt dorthin.
Er traf ſein letztes Kind wohlbehalten und zur reifen
bluͤhenden Jungfrau entfaltet. Mit der ganzen heißen
Liebe ſeines verwundeten Vaterherzens umſchloß er das
ſchlanke, ſchoͤne Maͤdchen, und waͤhrend die Thraͤnen des
freudigen Wiederſehens mit denen einer ſchmerzlichen Er¬
innerung ſich miſchten, rief er in ſeinem bangen Sinn:
„Nein! dieſen einzigen, letzten Troſt kann Er mir
nicht rauben wollen!“ —
Er fuͤhlte, wie er dies liebliche Weſen jetzt mehr
liebe, als er je geliebt, aber immer tauchte dazwiſchen
[188]Das Unvermeidliche. ein truͤber, aͤngſtlicher Gedanke auf. Er konnte dieſe
haͤßliche Ahnung nicht los werden.
Nach nochmaliger Ruͤckſprache mit den Vorſtehern
der Anſtalt, die des Lobes uͤber Charlotten voll waren,
beſchloß er nach dem Bade zu reiſen, welches ihm die
Aerzte verordnet hatten. Spaͤter, wenn die Saiſon vor¬
uͤber war, wollte er zuruͤckkehren und ſeine Tochter mit
ſich nehmen.
Als er in den Wagen ſtieg, war eben vor dem
Gaſthof eine große Menge Volks verſammelt, welche
der Einzug einer Truppe Kunſtreiter in das Staͤdtchen
aus ihren Haͤuſern gelockt hatte. Der Wagen mußte
des Gedraͤnges wegen noch einige Augenblicke halten,
und der Reiſende betrachtete mit neugieriger Theilnahme
den bunten Zug. Vor allen lenkte ein junger Reiter
die Augen der Menge auf ſich. Er tummelte ſein Pferd
mit ungewoͤhnlicher Grazie und Kraft, ſein ſchlanker,
wohlgebauter Koͤrper ſchien mit dem ſchnaubenden Schim¬
mel, den er faſt ohne Zuͤgel beherrſchte, in Eins ver¬
wachſen zu ſein, und ſein glaͤnzendes ſchwarzes Auge
uͤberflog ſtolz die bewundernde Menge. Auch der Reiſende
ſchien aus ſeinem Wagen die maͤnnliche Schoͤnheit des
Reiterjuͤnglings mit ſichtlichem Wohlgefallen zu betrachten.
[189]Das Unvermeidliche.
Ploͤtzlich aber fuhr er zuruͤck.
Es war ihm, als habe er unter der Volksmenge
zwei funkelnde Augen auf ſich gerichtet geſehen, einen
Blick, der ihm grauenvoll in ewiger Erinnerung ſtand.
Als er aber wieder hinſah, bemerkte er nur einige Wei¬
ber, welche dem eben um die Ecke biegenden Zug noch
nachblickten.
„Es iſt Nichts!“ ſagte er bei ſich. „Wie ſollte Er
auch hieherkommen? Es war ein Traum meines un¬
ruhigen Herzens!“ —
In dieſem Augenblick zogen auch die Pferde an, und
der Wagen rollte fort.
In einem kleinen Provinzialſtaͤdtchen iſt die Ankunft
einer Reitertruppe wohl geeignet, das ganze Intereſſe des
Publikums in Anſpruch zu nehmen. Gewiß war dies
wenigſtens in A. der Fall, und in den erſten Tagen
hoͤrte man an allen Orten von keinem andem Gegen¬
ſtande mehr ſprechen. Namentlich aber gab der junge Rei¬
ter, der ſchon beim Einzug Aller Augen ſo gefeſſelt hatte,
die meiſte Veranlaſſung zu ſchwaͤrmeriſcher Theilnahme.
[190]Das Unvermeidliche.
Auch die Penſionsanſtalt, in der Charlotte ſich be¬
fand, ſah ſich durch das allgemeine Intereſſe bald genoͤ¬
thigt, ihre Zoͤglinge jene Vorſtellungen beſuchen zu laſſen.
Das ſchoͤne, junge Maͤdchen hatte laͤngſt in dem Staͤdt¬
chen die Aufmerkſamkeit der jungen Leute erregt, und
wenn ſie ſich an oͤffentlichen Orten zeigte, ſo war man
gewohnt, die Blicke und Lorgnetten vorzugsweiſe nach ihr
gerichtet zu ſehen. Aber ſie ſchien das nie zu bemerken,
und auch diesmal war ſie einzig mit der Vorſtellung be¬
ſchaͤftigt.
Als der junge Aurelio, wie der Kunſtreiter genannt
wurde, den Circus betrat, begruͤßte ihn der laute Bei¬
fall als das beſte Mitglied der Geſellſchaft. Charlotte
betrachtete den ſchoͤnen kraͤftigen Juͤngling mit ſtiller
Theilnahme, ihre Augen folgten ihm in erhoͤhter Bewun¬
derung, als er ſo leicht, ſo keck auf ſeinem praͤchtigen
Schimmel ſtehend dahinflog, und ihr Herz ſchlug hoͤher
in aͤngſtlicher Spannung, wenn er ſeine verwegne Kunſt
in tollkuͤhnem Stolz auf eine allzugefaͤhrliche Probe zu
ſtellen ſchien. Auch Aurelio ſchien bald in dem Kreis
der Zuſchauer die ſchoͤnſte Blume herausgefunden zu ha¬
ben. Sein ſchwarzes, glaͤnzendes Auge haftete zuweilen
brennend auf dem lieblichen Geſicht des Maͤdchens, und
[191]Das Unvermeidliche. ſein Pferd hielt wie zufaͤllig faſt immer in der Gegend,
wo ſie ſaß. Er ritt an dieſem Abend noch ausgezeich¬
neter, als zuvor, und erntete den reichlichſten Beifall,
der faſt nicht enden wollte. Charlotte hatte kein Zeichen
der Befriedigung gegeben, doch verbeugte er ſich zuerſt
nach ihrer Gegend hin und ſie bemerkte wohl, wie ſein
Auge unter den dunklen Locken groß und leuchtend auf
ſie gerichtet war.
Bei der folgenden Vorſtellung der Truppe war ſie
nicht zugegen, aber zum Beſuch der zweiten hatte ſie die
Erlaubniß der Vorſteher zu erhalten gewußt. Als Au¬
relio vortrat, uͤberflog ſein Auge die Verſammlung, als
ob er etwas ſuche, dann, als ſeine Augen denen Char¬
lottens begegneten, verbeugte er ſich noch einmal wie
zum Dank. Mit einem raſchen Sprung ſtand er auf
ſeinem Pferd. Seine Augen ſpruͤhten von gluͤhender
Luſt, immer gewaltiger trieb er ſein Pferd mit Zurufen
an, und der Triumph ſeiner Kunſt erreichte heute ſeinen
Gipfel. So verwegen und doch ſo ſchoͤn und ſo ge¬
wandt hatte man ihn noch nicht reiten ſehen. Es war
als ob ein inneres Gluͤck ihn zu den tollkuͤhnſten Lau¬
nen treibe. Auch ſein Aeußeres erſchien heute ſchoͤner
und glaͤnzender als ſonſt. Ein reiches, geſchmackvolles
[192]Das Unvermeidliche. Kleid lag ſchwellend um den ſchlanken Wuchs der Huͤf¬
ten und die elaſtiſchen Tricots auf Armen und Beinen
ließen das Spiel der kraͤftigen Muskeln erkennen. Der
Hals war entbloͤßt, die glaͤnzenden Locken umſchloß ein
praͤchtiges Stirnband, das im Widerſchein der Lichter ſich
tauſendfach brach und blitzte. So ſtand er auf ſeinem
Pferde wie ein junger Siegesgott, die Siegesfreude lachte
aus ſeinen bluͤhenden Zuͤgen und ſein dunkles Auge leuch¬
tete dahinter hervor wie der Stolz des Herrſchers. Char¬
lotte zitterte, wenn ſie dies ſtolze Auge in den ihrigen
brennen fuͤhlte.
Bei einem der letzten Manoͤvres ſtuͤrzte Aurelio ganz
in der Naͤhe Charlottens vom Pferde. Charlotten ent¬
fuhr ein leichter Schrei. Der Reiter aber hatte ſich im
Augenblick wieder erhoben, und ſchwang ſich im vollen
Lauf auf das Pferd. Die Luft erzitterte nun von
Beifallsruf. Waͤhrend er ſich verbeugte, warf er einen
Blick auf Charlotten, als er an ihr vorbeiritt, und legte
die Hand aufs Herz, als ob er ihr fuͤr die Angſt ihrer
verrathenen Theilnahme danken wolle. Das Maͤdchen
aber erroͤthete bis an die Schlaͤfe.
Beim Hinausgehen aus dem Circus draͤngte ſich ein
Menſch zwiſchen ihr und den Begleitern hindurch, und
[193]Das Unvermeidliche. druͤckte ihr leiſe die Hand. Charlotte glaubte den Ba¬
jazzo der Truppe erkannt zu haben. Zugleich fuͤhlte ſie,
daß ſie etwas in der Hand halte, — als ſie hinſah, be¬
merkte ſie ein zuſammengefaltetes Papier darin. Ihr
Herz ſchlug hoͤher und erroͤthend und heimlich verbarg
ſie das Briefchen auf ihrem Buſen.
Am folgenden Abend ſtand bei der Gartenmauer des
Penſionats, welches außerhalb der Stadtthore gelegen
war, ein Mann an den Nacken ſeines Pferdes gelehnt,
und ſprach mit einem Maͤdchen, welches aus dem Gar¬
ten uͤber die Mauer blickte.
Dieſe Zuſammenkuͤnfte dauerten fort, ſtill und heim¬
lich, Abend fuͤr Abend. Es wußte aber außer den Bei¬
den noch Einer davon.
Der Kunſtreiter war in der Stadt mit einem jun¬
gen Mann bekannt geworden, von dem er eigentlich nicht
wußte, was er war, woher er war, oder was er wolle;
ja er wußte eigentlich gar nicht einmal, wie er mit ihm
bekannt geworden, viel weniger, wie derſelbe hinter ſein
und Charlottens Geheimniß gekommen ſei. Der neue
Freund Aurelio's war ein bleicher junger Mann, von
leidendem Ausſehen und ſtillem Weſen. Er mochte
wohl juͤnger ſein, als ſein Aeußeres ſchließen ließ, aber
13[194]Das Unvermeidliche.Leiden und harte Erfahrungen hatten ihn, wie er ſelbſt
ſagte, fruͤh muͤrbe gemacht. Er hatte ſich an Aurelio
ſo angeſchloſſen, wie das in gewiſſen Jahren zu geſche¬
hen pflegt, und der Kunſtreiter nahm die Zuneigung des
Fremden ebenſo, oder wie einen Tribut auf. Der
Fremde hatte ihn bald auch auf ſeinem abendlichen Gange
begleitet, und ſtand waͤhrend des Zuſammenſeins der bei¬
den Verliebten auf Wache. Allmaͤhlig hatten Aurelio
und der Fremde ausfuͤhrlicher und ernſter uͤber dies Ver¬
haͤltniß geſprochen. Als nach einem ſolchen Geſpraͤch
der Fremde geſagt hatte: „Ein Mann wie Sie findet
uͤberall ſeine Stellung“, und Aurelio darauf erwiederte:
„Ja, aber wie ſoll ich von hier dahin kommen?“ ſagte
der Erſtere, daß er zu jeder Zeit Paͤſſe verſchaffen koͤnne,
und fuͤgte dann hinzu:
„Uebrigens waͤre es dann hohe Zeit, denn wer weiß,
wenn der Alte uns uͤber den Hals kommt!“ —
Eines Abends ſtanden die beiden Liebenden wieder
an der Gartenmauer und Aurelio mußte von Scheiden
geſprochen und dem Maͤdchen Vorwuͤrfe gemacht haben,
denn als der Mond eben aufging, beleuchtete er ihr
th[r]aͤnenfeuchtes Antlitz. Darauf hatte ſie angefangen,
von ſeinem Pferde zu ſprechen. Aurelio klopfte dem
[195]Das Unvermeidliche. ſchoͤnen Thiere den Hals und ſagte, daß es ganz ſanft
ſei: ob ſie nicht einmal verſuchen wolle darauf zu reiten?
Das Maͤdchen zoͤgerte einen Augenblick, ſtieg aber
dann vollends uͤber die Mauer. Aurelio hob ſie auf's
Pferd, und fuͤhrte daſſelbe im langſamen Schritt umher.
Ganz am Ende der Mauer hatte der Fremde wie¬
der Wache geſtanden. Als er das Maͤdchen jetzt auf dem
Pferde des Kunſtreiters ſitzen ſah, verließ er ſeinen Poſten,
ging nach der entgegengeſetzten Seite der Mauer und
horchte an der Hausthuͤr des Penſionats. Der Haus¬
mann oͤffnete, und der Fremde erzaͤhlte ihm etwas, wor¬
uͤber der Mann ſehr erſchrack und ſogleich die Treppe
hinauf zu den Vorſtehern lief.
Das Maͤdchen ritt unter den Baͤumen an der Gar¬
tenmauer noch auf und ab, als ploͤtzlich die Hinterthuͤr
des Penſionatgebaͤudes aufgeriſſen wurde und mehrere
Leute in den Garten ſtuͤrzten. Das Maͤdchen faßte
angſtvoll den Arm ihres Geliebten, und fluͤſterte ihm et¬
was zu, indem ſie uͤber die Mauer zeigte. Der Kunſt¬
reiter ſchwang ſich hinter ihr in den Sattel und ritt
raſch und leiſe um die Mauer nach dem Haupteingang
des Gebaͤudes. Hier traten eben der Hausmann und
mehrere andere Leute in lautem Geſpraͤch aus der Thuͤr,
13 *[196]Das Unvermeidliche. und Charlotte hoͤrte ihren Namen in den Reden derſel¬
ben nennen. Sie ſtieß einen leiſen Schrei aus und
ſchmiegte ſich feſt an Aurelio an. Das volle verraͤthe¬
riſche Mondlicht fiel auf die Geſtalt des Reiters und
der ihn umſchlingenden Geliebten, und die Leute fuhren
uͤberraſcht zuruͤck. Aurelio beugte ſich mit einem heißen
Kuß uͤber das Maͤdchen, und gab ſeinem Pferde einen
Druck in die Seiten. —
— Ob es auch ihr Wille war? Und waͤre ſie wirk¬
lich noch nicht dazu entſchloſſen geweſen, ſo konnte ſie
doch jetzt nicht mehr zuruͤck, nachdem man ſie ſo uͤber¬
raſcht hatte. —
Das Pferd des Kunſtreiters jagte mit den Beiden
in raſender Eile von dannen, und in wenigen Augen¬
blicken war auch der letzte Hufſchlag des edlen Thieres
in der ſtillen Nacht verhallt.
Der Polizeidirektor W. gebrauchte noch das Bad.
Das Aeußere dieſes Mannes war durch ſeine letzten Schick¬
ſale furchtbar zerfallen, und er glich dem unheimlichen
[197]Das Unvermeidliche.Geiſterbild eines gequaͤlten Gewiſſens. Das ſtarre, glanz¬
loſe Auge mit ſeinem ausdrucksloſen Glasblick lag tiefer
in den Hoͤhlen, die Falten um den Mund, die auf ei¬
nen Rouè oder Spieler haͤtten ſchließen laſſen koͤnnen,
hatten ſich breiter gefurcht, und die Farbe ſeines Geſichts
war faſt bleiern geworden. Dennoch glaubte er zu fuͤh¬
len, daß das Bad ſeiner Geſundheit wohl thue. Es
war aber nur eine geiſtige Ruhe, die Ruhe einer gluͤck¬
lichen Hoffnung, die ihn aufrichtete, und keineswegs das
Bad. Es war die Hoffnung auf das Gluͤck, nun bald
ſeine Tochter an ſeiner Seite haben zu koͤnnen.
An einem Nachmittag ſaß der Polizeidirektor allein
noch an der Wirthstafel, als der Kellner ihm meldete,
daß ein Mann draußen ſei, der ihn ſprechen wolle. Da
Niemand weiter in dem Speiſeſaal ſaß, ſo befahl der
Polizeidirektor den Fremden hereinzufuͤhren. Der Kell¬
ner rief nun den Wartenden herbei und begann dann
die Speiſetiſche abzudecken.
Der Fremde, der jetzt eintrat, trug einen großen Rei¬
termantel, deſſen Kragen in die Hoͤhe geſchlagen war, die
Haare hingen ihn verwirrt uͤber das Geſicht, und ſein
beſpritzter, unordentlicher Anzug deutete darauf, daß er
eine lange, anhaltende Reiſe gemacht. Der Polizeidirek¬
[198]Das Unvermeidliche. tor betrachtete ihn unruhig und ſagte, als der Fremde
ſchweigend einige Schritte von ihm ſtehen blieb:
„Wer ſeid Ihr? Was wollt Ihr von mir?“ —
„Ich bin ein alter Bekannter, Herr Direktor, der
jetzt ſeine Schuld abtragen will!“ — ſagte der Andere
mit ſchneidender, kranker Stimme, indem er den Kragen
zuruͤckſchlug. Ich komme Ihnen nur zu ſagen, daß
Sie jetzt kein Kind mehr haben, daß Sie allein ſind,
ganz allein!“ —
Bei dem Ton dieſer Stimme, obwohl ſie entſtellt
wie in der nahen Aufloͤſung eines Auszehrenden klang,
war der Polizeidirektor entſetzt zuruͤckgewichen; als er aber
jetzt das bleiche, todesmatte Geſicht Arthurs erblickte und
ſeine Worte vernahm, ſtuͤrzte er in raſender Wildheit
auf ihn los und ſchrie, indem er ihn feſt erfaßte:
„Moͤrder! Moͤrder! Zu Huͤlfe!“ —
Die Kellner ſprangen herzu und konnten nur mit
Muͤhe den Fremden von dem wuͤthenden Griff ſeines
Gegners befreien. Dann brach der kinderloſe Mann
mit einem Schrei zuſammen.
„Er iſt verruͤckt!“ — ſagte Arthur, ebenfalls
auf einen Stuhl ſinkend, zu den verwunderten
[199]Das Unvermeidliche. Dienern. „Hebt ihn auf, und ſchafft ihn auf ſein
Zimmer!“ —
Seine Worte waren prophetiſch. Als der Polizei¬
rath erwachte, war das Licht der Vernunft fuͤr immer
in ihm erloſchen. Er ſtarb erſt nach langen Leiden im
Irrenhaus zu ***, und ſein trauriger Zuſtand wurde
durch die graͤßlichſten Viſionen und Beaͤngſtigungen noch
furchtbarer gemacht. Er ſah fortwaͤhrend geſpenſtiſche
Schaaren von Gefangenen und Todten, die ihn und
ſeine Kinder verfolgten; er kaͤmpfte ſtundenlang in wuͤ¬
thendſter Aufregung gegen die leere Luft, bis er endlich
erſchoͤpft niederſank, und oft in ſtiller Nacht fuhren die
uͤbrigen Irren zitternd vor ſeinem gellenden, durchdrin¬
genden Angſtſchrei in ihren Zellen empor. Der Tod er¬
loͤſte ihn zuletzt von ſeinen Leiden.
Arthur ſtarb ſchon nach Verlauf einiger Monate
und wurde neben ſeiner Mutter begraben.
Von den beiden Entflohenen hat man nie wieder
gehoͤrt; ſie ſind in der Fremde „geſtorben, verdorben.“
Nur ein dunkles Geruͤcht wurde einſt dahin laut, daß
Aurelio Charlotten in Frankreich, wohin ſich beide ge¬
wendet, verlaſſen habe; Charlotte habe ſich nun eine
Zeitlang kuͤmmerlich durch ihrer Haͤnde Arbeit zu ernaͤh¬
[200]Das Unvermeidliche.ren geſucht, dann aber, als es ihr immer ſchlechter ge¬
gangen, ſei auch ſie dem ewigen Fluch der Armuth
zum Opfer gefallen und zuletzt in einer Strafanſtalt
geſtorben.
Das war das Ende.
Appendix A
Druck von Friedrich Ries in Leipzig.
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CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Dronke, Ernst. Polizei-Geschichten. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp17.0