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Das Leben
und
die Meinungen

des Herrn Magiſter
Sebaldus Nothanker.

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Erſter Band.


Mit Königl. Preuß. Churfürſtl. Brandenb. und Churfürſtl. Säch-
ſiſchen allergnädigſten Freiheiten.

Berlin und Stettin: ,
bey Friedrich Nicolai.
1773.

[][]

Vorrede.


Obgleich die leidigen Poeten, Komoͤ-
dien- und Romanenſchreiber zu glau-
ben pflegen, ſie haͤtten das Leben ihres Hel-
den weit genug beſchrieben, wenn ſie ihn bis
zur Heurath bringen: ſo ſind doch gruͤndliche
Gelehrten der Meinung, daß die Begeben-
heiten nach der Heurath oft viel merkwuͤrdiger
ſind, als die Liebesbegebenheiten vor derſelben.
Die Liebesbegebenheiten ſind zwar fuͤr junge
Herren und fuͤr junge Jungfern anmuthiger
zu leſen; aber gemeiniglich wird dieſe Anmuth
auf Koſten der Wahrheit verſchafft: denn die
verliebten Scenen werden nicht ſo wie ſie in
der Welt vorgehen erzaͤhlet; ſondern ſo wie es
das Beduͤrfniß des Dichters, ſeine Geiſtes-
gaben zu zeigen, oder die Leidenſchaften ſeiner
)( 2Leſer
[]
Leſer zu vergnuͤgen, mit ſich bringt. Jn die-
ſer wahrhaftigen Lebensbeſchreibung hinge-
gen, wollen wir nichts der Anmuth oder des
Wunderbaren wegen erdichten, ſondern al-
les ganz einfaͤltig erzaͤhlen, wie es vorgegan-
gen iſt. Es wird uns dazu nicht wenig be-
foͤrderlich ſeyn, daß wir das Leben unſers
Dorfpaſtors erſt nach ſeiner Heurath zu be-
ſchreiben anfangen duͤrfen, indem ſchon ein
anderer Verfaſſer die Liebesbegebenheiten deſ-
ſelben vor der Heurath, in dem bekannten
proſaiſch- komiſchen Gedichte Wilhel-
mine,
beſchrieben hat.


Freilich iſt dieſer Verfaſſer ein Poet, und
iſt daher nicht, wie es einem gruͤndlichen Ge-
ſchichtskundigen gebuͤhret, befliſſen geweſen,
eine richtige Chronologie zu beobachten und
ſeine Erzaͤhlungen von allen Erdichtungen
rein zu erhalten. Es ſind daher manche Um-
ſtaͤnde ſehr verdaͤchtig, und er ſcheint nicht
im Stande zu ſeyn, eine einzige von ſeinen
Erzaͤh-
[]
Erzaͤhlungen, mit ungedruckten Urkun-
den zu belegen. Daß er der Chronologie
nicht genugſam erfahren geweſen, iſt offenbar,
da er die Heurath des Sebaldus im Jahre
1762, und alſo, wie aus aͤchten brieflichen
Urkunden zu erweiſen, an zwanzig Jahre zu
ſpaͤt annimmt. Er iſt hierinn eben ſo un-
achtſam, wie ſein Mitbruder, der nachlaͤſſige
Virgil, in deſſen Aeneide die verpfuſchte Chro-
nologie, von den gelehrteſten Commenta-
toren, mit vieler Muͤhe kaum hat in Ord-
nung gebracht werden koͤnnen.


Jn dieſer wahrhaften Lebensbeſchreibung
hingegen, hat man die Zeitrechnung ſo genau be-
obachtet, daß man nicht allein das Jahr, ſondern
auch den Monath und den Tag angeben kann,
wenn eine jede Begebenheit vorgegangen iſt,
und an vollſtaͤndigen diplomatiſchen Bewei-
ſen wird dieſe Geſchichte keiner andern nach-
zuſetzen ſeyn. Wir haben die Vocation des
Sebaldus und ſeine Abſetzungsacte, die
)( 3Pre-
[]
Predigten des Doctor Stauzius, Saͤug-
lings
ſaͤmmtliche hieher gehoͤrige Gedichte,
Wilhelminens, und Sebaldus, Saͤug-
lings, Marianens, der Graͤfin von ***,
Rambolds
und anderer Perſonen Brief-
wechſel, mit ihren Siegeln und Unterſchriften,
ja ſelbſt einige ſonderbare tironiſche Zeichen
des Bauers, der den Sebaldus beherbergte,
in Haͤnden, mit welchen unverwerflichen un-
gedruckten Urkunden
wir jedes Wort das wir
geſagt, aufs glaubwuͤrdigſte belegen koͤnnen.


Sie wuͤrden im Drucke nur etwan ſieben bis
acht Quartbaͤnde betragen. Demohngeachtet
koͤnnen ſie bloß aus der Urſach nicht mit der Ge-
ſchichte zugleich bekannt gemacht werden, we-
gen deren ſchon ſo manche trefliche Urkunden-
ſammlung ungedruckt geblieben iſt; naͤmlich
wegen des wenigen Geſchmacks unſers Jahr-
hunderts an gruͤndlichen Studien. Es iſt
dies ſehr zu beklagen, aber es iſt ſchwerlich ein
Mittel vorhanden, die Bekanntmachung die-
ſer
[]
ſer nuͤtzlichen Urkunden zu befoͤrdern. Wir ha-
ben zwar noch einige ob gleich nur ſchwache Hof-
nung, auf den Herrn Generalſuperintendenten
Pratje in Stade und auf den Hrn. Profeſſor
Caſſel in Bremen geſetzt. Dieſe grundgelehrten
Maͤnner haben ſchon ſo viele tuͤchtige Baͤnde
voll Urkunden zu der Brem- und Verdiſchen
Staats-Schul- und Kirchengeſchichte ans Ta-
geslicht gebracht, daß ſich manche Leſer einbil-
den, man habe fuͤr ſo wenig intereſſante Wahr-
heit, ſchon viel zu viel unintereſſante Beweiſe
erhalten. Wir ſind aber dieſer Meinung gar
nicht, ſondern leben vielmehr noch der Hof-
nung, daß dieſe Herren, die beweiſenden
Urkunden zu unſerer Geſchichte, als ein
Supplement von Urkunden zur Bremi-
ſchen Kirchengeſchichte,
durch ihre heb-
ammliche Sorgfalt, ans Licht bringen koͤnten;
weil, wie aus der Folge erhellen wird, Se-
baldus,
in der Nachbarſchaft von Bremen
eine Zeitlang herumgewankt hat.


)( 4Sollte
[]

Sollte auch dieſe Hofnung fehl ſchlagen,
ſo waͤre der Vorſchlag zu thun, daß einmahl
irgend eine Geſellſchaft der Wiſſenſchafften,
einen kritiſchen Auszug daraus, in einigen
Baͤnden in Großoctav herausgebe, oder
wenn auch hiezu alle Hofnung verlohren waͤre,
ſo iſt kein anderer Rath, als daß die wenigen
gruͤndlichen Gelehrten, welche die diplomati-
ſchen Beweiſe zu unterſuchen pflegen, dem
Verfaſſer eben ſo gut auf ſein Wort glauben
muͤſſen, als die vielen leichtſinnigen Leſer, die
die Urkunden doch nicht anſehen, wenn ſie
gleich den Geſchichtbuͤchern des breitern bey-
gefuͤgt ſind.


Da wir uͤbrigens eine wahre Geſchichte
zu erzaͤhlen haben, ſo muß man in derſelben
weder den hohen Flug der Einbildungskraft
ſuchen, den ein Gedicht haben muͤßte, noch
den kuͤnſtlich verwickelten Plan, den die Kunſt-
richter, von Theorie und Einſicht erfuͤllt,
den Romanen vorſchreiben. Alle Bege-
benhei-
[]
benheiten ſind in unſerer Erzaͤhlung ſo unvor-
bereitet, ſo unwunderbar, als ſie in der wei-
ten Welt zu geſchehen pflegen. Die Perſo-
nen welche auftreten ſind weder an Stande
erhaben, noch durch Geſinnungen ausgezeich-
net, noch durch auſſerordentliche Gluͤcksfaͤlle
von gewoͤhnlichen Menſchen unterſchieden.
Sie ſind ganz gemeine ſchlechte und gerechte
Leute, ſie ſtrotzen nicht ſo wie die Romanen-
helden von hoher Jmagination, ſchoͤner Tu-
gend und feiner Lebensart, und die ihnen zu-
ſtoßenden Begegniſſe ſind ſo, wie ſie in dem
ordentlichen Laufe der Welt taͤglich vorgehen.
Solte bey allem dieſem unſere Erzaͤhlung
etwas langweilig werden, ſo troͤſten wir uns
damit, daß mehrere gruͤndliche deutſche Ge-
ſchichtſchreiber, die die unwiderſprechlichſten
Thatſachen in der beſten Ordnung erzaͤhlen,
das naͤmliche Schickſal gehabt haben.


Hingegen koͤnte der Leſer vielleicht, durch
die in dieſer Geſchichte bekannt gemachten Mei-
)( 5nungen,
[]
nungen, in etwas ſchadlos gehalten werden.
Denn da faſt jeder Menſch ſeine eigenen Mei-
nungen fuͤr ſich hat: ſo waͤre es moͤglich, daß
unter den hier vorgetragenen Meinungen et-
was neues und wenigſtens in ſo fern intereſ-
ſantes vorhanden waͤre. Der Titel verſpricht
zwar nur die Meinungen des Magiſters Se-
baldus,
aber man koͤnnte deshalb doch in
dieſem Werke vielleicht auch die Meinungen
einiger andern Leute, ja wohl ſelbſt einige
Meinungen des Verfaſſers finden; obgleich,
mehrerer Sicherheit halben, nicht gaͤnzlich
darauf zu rechnen ſeyn duͤrfte, daß alle Mei-
nungen die er erzaͤhlt, auch die ſeinigen waͤren.


Man beliebe nicht ſich zu wundern, wenn
es ſich etwan ergeben ſollte, daß, alles wohl
berechnet, in dieſem Werke mehr Meinun-
gen, als Geſchichte und Handlungen vorkaͤ-
men. Der ehrliche Sebaldus kannte die
groſſe Welt nicht, die die Englaͤnder high-
life
nennen. Speculation war die Welt in der
er
[]
er lebte, und jede Meinung war ihm ſo wich-
tig, als kaum manchem andern eine Hand-
lung. Daher iſt dieſes Werk auch gar nicht
fuͤr die große Welt, ſondern — deutſch her-
aus zu reden — nur fuͤr Gelehrten von Pro-
feſſion gefchrieben. Wir hoffen nicht von der
halbunangekleideten Schoͤne am Nachttiſche
geleſen zu werden, die indem ſie den Grazien
opfert, auf Tant mieux pour elle einen ſchraͤ-
gen Blick wirft; nicht von dem piruettiren-
den Petitmaiter, beym Aufſtehen oder Friſiren,
auch nicht wenn er en Chenille mit ungepu-
derten Haaren und hochaufgebundenem Ca-
dogan
von Toilette zu Toilette ſchwaͤrmt;
nicht von dem Hofmanne, der den Wink des
Fuͤrſten und des Miniſters zu ſtudieren ver-
ſteht und alle Galatage an den Fingern her-
beten kann; nicht von dem Spieler; nicht
von der Buhlſchweſter; nicht von —


Jſt aber irgendwo ein hagerer Magiſter,
der das ganze unermeſſliche Gebaͤude der Wiſ-
ſenſchaf-
[]
ſenſchaften aus einem Kapitel ſeines ontologi-
ſchen Compendiums uͤberſieht; ein feiſter Su-
perintendent, der alle Falten der Dogmatik
aufhebt, worinn eine Ketzerey verborgen ſeyn
koͤnnte; ein weiſer Schulmann, der uͤber
Handel Manufacturen und Lurus, Pro-
grammen geſchrieben hat; ein Student mit
der Kennermine, der auf Univerſitaͤten die
Kunſt aus dem Grunde ſtudiert; ein beleſener
Dorfpaſtor, der die Statiſtik verbeſſern will,
und uͤber die politiſche Regierungskunſt ge-
lehrte Rathſchlaͤge geben kann; — ſo moͤgen
ſie hinzutreten und ſich an dem Mahle weiden,
welches hier ihrem Geiſte aufgetiſcht wird.


Dies iſt wenigſtens die Gattung Leſer
die wir uns gewiß verſprechen, ob wir aber
auch Leſer anderer Art erhalten werden, iſt
eben ſo ungewiß, als das Schickſal uͤberhaupt,
welches dieſes Werk und deſſen Verfaſſer zu
erwarten haben. Freilich iſt zu vermuthen,
daß durch viele Erzaͤhlungen, Spaltungen in
der
[]
der Kirche erregt werden moͤchten, und daß
man in verſchiedenen Meinungen, Abwei-
chungen von den allgemeinen ſymboliſchen
Buͤchern, und von den beſondern formulis
committendi
einzelner Kirchen entdecken
koͤnnte. Man wird vielleicht daraus ſchlieſ-
ſen, daß der Verfaſſer das Staatsrecht nicht
verſtehe, und daß er im Kirchenrechte gefaͤhr-
liche Neuerungen einzufuͤhren zur Abſicht
habe. Man wird ſich vielleicht ins Ohr rau-
nen, daß er verſchiedene Gelehrſamkeit nicht
fuͤr Gelehrſamkeit, verſchiedene Gelehrten nicht
fuͤr gelehrt, und verſchledene beruͤhmte Leute
nicht fuͤr beruͤhmt halte u. ſ. w.


Man koͤnnte ihn ſonach etwa zum Schei-
terhaufen verdammen, in den Bann thun,
in eine Veſtung ſchicken, oder auch ein Buch
wider ihn ſchreiben, ein Paſquill wider ihn
machen, oder ihm in einer Recenſion bewei-
ſen, daß er kein gutes Herz habe, ſondern ein
haͤmiſcher und boshafter Menſch ſey.


Doch
[]

Doch vielleicht koͤnnte auch von allem die-
ſem nichts geſchehen. Vielleicht lieſet nie-
mand dieſes Buch, niemand findet etwas be-
ſonders darin, und es erregt vielleicht bloß
die voruͤbergehende Aufmerkſamkeit eines Ge-
wuͤrzkraͤmers, der ſchon bey ſich uͤberdenkt,
welche dauerhafte Caffeduͤten aus dem halt-
baren Papiere koͤnnten gemacht werden.


Es duͤrften ſich auch wohl einige wenige
Leſer finden, die ſich an dem Leben des Se-
baldus,
bloß weil er ein ehrlicher aufrichti-
ger Mann iſt, eine Viertelſtunde ergoͤtzen,
oder von ſeinen Meinungen Gelegenheit
nehmen moͤchten, uͤber gewiſſe Materien wei-
ter nachzudenken; da dies aber offenbar bey
weitem die kleinere Anzahl ſeyn kann, ſo
werden ſie eben nicht in Anſchlag kommen.



Erſtes
[[1]]

Erſtes Buch.


Erſter Abſchnitt.


Der Paſtor Sebaldus und die ſchoͤne Wilhel-
mine,
brachten die erſten Monate nach ih-
rer Verheirathung, welche ſonſt andern neuverehlich-
ten Paaren die Zeit einer girrenden Zaͤrtlichkeit zu
ſeyn pflegen, vielmehr in einer Art von Kaͤlte und
Verlegenheit zu. Sebaldus bemerkte einen Abſtand
zwiſchen ſeiner landmaͤnniſchen Treuherzigkeit, und
den feinen Hofmanieren ſeiner vornehmen jungen
Frau. Er konnte ſich noch nicht recht darinn ſchicken,
mit ihr als mit ſeines gleichen umzugehen. Wilhel-
mine,
auf ihrer Seite, konnte den wohlgeputzten
Hof, den ſie verlaſſen hatte, nicht ſo geſchwind ver-
geſſen. Das Andenken der Pracht der von der Fuͤr-
ſtinn abgelegten Kleider, in der ſie ſich oft der gaffen-
den Menge der Zofen und Kammerdiener gezeigt
hatte, verleidete ihr ihren laͤndlichen aber neugemach-
Erſter Theil. Aten
[2]
ten Anzug. Es war ihr ſogar verdruͤßlich, daß ſie
ferner nicht Aufwartung machen, und ſich vor hoͤhe-
ren Perſonen tief verneigen ſollte. Das Gluͤck un-
abhaͤngig zu ſeyn, ſchien ihr Erniedrigung. Die un-
gekuͤnſtelte Schoͤnheit der Natur, die ſie auf dem Lan-
de vor ſich hatte, konnte ſie noch nicht wegen des Flit-
terſtaats der Kunſt, den ſie nun nicht mehr erblickte,
ſchadlos halten. Sie erinnerte ſich mit Sehnſucht
der glaͤnzenden Scenen von Baͤllen, Concerten und
Schlittenfahrten, die ſie oſt — angeſehen hatte,
noch mehr des gnaͤdigen Kopfneigens der Fuͤrſtinn,
durch das ſie zuweilen unter der Menge gaffenden
Hofgeſindes war hervorgezogen worden. Sie that
bey jeder Gelegenheit kleine Reiſen in die Stadt, und
unterließ nicht, ihre Aufwartung bey Hofe zu machen.
Sie merkte aber gar bald, daß man ſich am Hofe
um die nicht bekuͤmmert, die man nicht braucht, und
daß ihre Stelle von andern eingenommen war. Dies
koſtete ihr zwar manche Thraͤne, war aber doch die
erſte Urſach, daß ihr ihr itziger Zuſtand ertraͤglicher
vorkam, und daß ſie anfieng, die guten Geſinnungen
ihres Sebaldus einzuſehen, welche zu bemerken, ſie
bisher durch ſein unmodiſches Kleid und durch ſeine
ungepuderte Pernke war verhindert worden. Sie er-
wiederte ſeine Liebkoſungen mit freundlichen Blicken, er
kam
[3]
kam ihr mit Freundſchaftsbezeugungen zuvor. Aus
dieſem Wechſel von Gefaͤlligkeiten, entſtanden bey
beiden Empfindungen einer Gluͤckſeligkeit, die ſie vor-
her noch gar nicht gefuͤhlt hatten.


Von dieſer Zeit an, vergaß die ſchoͤne Wilhelmine
voͤllig den Hof, und ward ganz eine Landwirthin.
Vorher hatte ſie nur zu gehorchen gewuſt, nun be-
gann ſie zu regieren. Es koſtete ihr einige kleine Lieb-
koſungen, ſo fieng Sebaldus, der bisher als ein hal-
ber Wilder gelebt hatte, an, ſich fleiſſiger den Bart zu
putzen, und nicht ſo viel Federn auf ſeinem ſchwarzen
Rocke zu leiden. Durch gleiche Freundlichkeit, er-
ſtreckte ſie bald ihre Herrſchaft auf ihre Nachbarin-
nen, die ſie bisher durch ein gnaͤdiges Hoflaͤcheln weg-
geſcheuchet hatte. Nun erwarb ſie bald derſelben
Vertraulichkeit, ertheilte den Wohlhabenden guten
Rath, den Armen Allmoſen, und ward in kurzer Zeit
im Kirchſpiele eben ſo beliebt, als ihr Mann ſchon
vorher geweſen war.


Dieſe Liebe hatte ſich Sebaldus durch die Sorg-
falt, die er fuͤr ſeine Gemeine trug, erworben. Er
war in den Haͤuſern ſeiner Bauern als ein Vater und
als ein Rathgeber willkommen. Nie ließ er es dem
Bekuͤmmerten an Troſt, nie dem Hungrigen an Lab-
ſal fehlen. Er war von allen haͤuslichen Vorfaͤllen
A 2unter-
[4]
unterrichtet, nicht, weil er in das Hausregiment der
Layen einen Einfluß zu haben ſuchte, ſondern weil
er von ihnen bey allen ihren Verlegenheiten um Rath,
bey allen ihren Zwiſtigkeiten um Vermittelung erſucht
ward. Er war gewohnt, in ſeinen Predigten nicht
auf die Laſter zu ſchelten, aber wenn ein Laſter in der
Gemeine veruͤbt wurde, pflegte er, ohne deſſelben zu
gedenken, die entgegengeſetzte Tugend einzuſchaͤrfen.
Daher richtete er ſeine Predigten auch mehr nach den
Beduͤrfniſſen ſeiner Gemeinde als nach der Folge der
Evangelien ein. Er hat wohl eher uͤber das Evan-
gelium vom Zinsgroſchen: von den Vortheilen
eines maͤſſigen und nuͤchternen Lebens
gepredigt,
bloß weil ſich kurz vorher ein paar Bauren in der
Schenke betrunken hatten. Als er einſt vergeblich
verſucht hatte, zween Bauern, die in offenbarer Feind-
ſeligkeit lebten, zu vergleichen, und von dem einen
hart mit Worten war angelaſſen worden, predigte er
am Tage St. Stephani des Maͤrtyrers: von
der erſten Pflicht wahrer Chriſten, ihren Naͤch-
ſten zu lieben,
und gedachte der empfangenen Schelt-
worte nicht, ob ihm gleich die Worte des Evangelium:
Jeruſalem, die du toͤdteſt die Propheten und
ſteinigeſt, die zu dir geſandt ſind,
die ſchoͤnſte Ge-
legenheit dazu gegeben haͤtten.


Zu
[5]

Zu beklagen war es freilich, daß dieſer ſonſt gut-
herzige Mann, und der beym Antritte ſeines Amtes
auf die ſymboliſchen Buͤcher gefchworen hatte, in ſei-
nem Herzen nichts weniger als orthodor war. Ueber
das athanaſiſche Glaubensbekenntniß hat er zwar ſich
niemals erklaͤrt, nur weil er anſtatt des Liedes:
Wir glaͤuben all an einen Gott ꝛc. welches ſonſt
alle Sonntage in ſeiner Kirche war geſungen worden,
oft ein geiſtliches Lied von Gellerten ſingen ließ, war
er bey einigen vielleicht allzubruͤnſtigorthodoren Land-
predigern in der Naͤhe, nicht in allzugutem Geruche.
Ueber die Lehre von der Genugthuung aber aͤußerte
er bey Gelegenheit viele Zweifel. Er verſchwendete
(ohne Eregeſe, von der er wenig hielt) viel philoſophi-
ſche Spitzfuͤndigkeit, um dieſer Lehre eine beſſere Form
zu geben; denn er war ein eifriger Anhaͤnger der
Cruſiusſchen Philoſophie, welche unter allen andern
Philoſophien am geſchickteſten ſcheinet, die Theologie
philoſophiſcher, und die Philoſophie theologiſcher zu
machen. Am meiſten aber ging er in der Lehre vom
tauſendjaͤhrigen Reiche und von der Ewigkeit der
Hoͤllenſtrafen von der Dogmatik ab. Er glaubte das
erſtere ſteif und feſt, und von der letztern hatte er
ſich nie uͤberzeugen koͤnnen. Er glaubte, daß in dem
himmliſchen Jeruſalem alle Gottloſen fromm werden
A 3wuͤrden.
[6]
wuͤrden. Dieſe troͤſtliche Hofnung hatte er aus ei-
nem fleiſſigen Studium der prophetiſchen Buͤcher der
Schrift, beſonders der Apocalypſe geſchoͤpft, welches
Studium er ſchon ſeit langen Jahren mit unablaͤſſi-
gem Eifer getrieben hatte. Er war auf eine ſehr
ſonderbare Weiſe darauf gekommen, dieſe Buͤcher
vorzuͤglich zu ſtudieren. Er hatte ſich ſchon in ſeinen
juͤngern Jahren, durch ſorgfaͤltiges Nachdenken uͤber-
zeugt, daß der Willen Gottes, der unſre itzige und
zukuͤnftige Gluͤckſeligkeit beſtimmt, wenn auch Gott
fuͤr gut befunden habe ihn beſonders zu offenbaren,
dennoch auch nothwendig durch Vernunft muͤſſe ein-
geſehen werden koͤnnen, und mit der Vernunft uͤber-
einſtimmen muͤſſe. Die einzige Offenbarung, die
uns etwas ganz unbekanntes entdecken koͤnnte, wor-
auf die bloſſe Vernunft nie gefallen ſeyn wuͤrde,
glaubte er, ſey die prophetiſche Offenbarung von zu-
kuͤnftigen Dingen, Nachdem er alſo bey ſich uͤber
den Werth aller dogmatiſchen und moraliſchen Wahr-
heiten einig war, indem er keine dogmatiſche Wahr-
heiten fuͤr noͤthig und nuͤtzlich hielt, als die auf das
Verhalten der Menſchen einen Einfluß haben, und
ſich mehr angelegen ſeyn ließ, alle moraliſche Geſetze
Gottes auszuuͤben, als ſie zu zergliedern oder zu
umſchreiben; ſo hatte er ſich ganz dem Studium der
prophe-
[7]
prophetiſchen Schriften gewidmet. Jeder Menſch
hat ſein Steckenpferd, und Sebaldus hatte die Apo-
calypſe dazu erwaͤhlet, welches er auch, ſeine ganze
Lebenszeit durch, vom Montage bis zum Freytage
fleißig ritt. Nur der Sonnabend, wenn er ſich zu
ſeiner Predigt vorbereitete, und der Sonntag, wenn
er ſie hielt, war moraliſchen Betrachtungen gewidmet.
Denn ſo ſehr er auch die Prophezeyungen der Unter-
ſuchung eines ſcharfſinnigen Kopfes wuͤrdig hielt, ſo
wenig glaubte er, wuͤrden ſeine Bauern davon ver-
ſtehen oder nuͤtzen koͤnnen, und es war ſein unwider-
ruflicher Willen, ſeinen Bauren nichts zu predigen,
als was ihnen ſowohl verſtaͤndlich, als nuͤtzlich
waͤre.


Er hatte mit vielen ſeiner wohlehrwuͤrdigen Amts-
bruͤder, denen er ſonſt in ſo vielen Stuͤcken unaͤhn-
lich war, dennoch eine beſondere Aehnlichkeit. Man
ſolte kaum glauben, daß viele Landprediger, die den
Sontag mit lauter Stimme das Geſetz predigen, und
die Unglaͤubigen und Ketzer, mit ſtarken Ausrufun-
gen und Citationen aus dem Grundterte, ſo ſein
zuſammenzutreiben wiſſen, eben die Maͤnner waͤren,
die man die ganze Woche uͤber, als dickſtaͤmmige
Paͤchter, wilde Pferdebaͤndiger, drolligte Trinkge-
ſellſchafter, und vorſichtige Wucherer geſehen hat.
A 4Eben
[8]
Eben alſo, wenn man, des Sontags den einfaͤlti-
gen, allen Bauern verſtaͤndlichen Vortrag des Paſtor
Sebaldus hoͤrte, ſo haͤtte man ſich kaum vorſtellen
ſollen, daß dis der grundgelehrte Mann ſey, der alle
Commentarien uͤber die prophetiſchen Buͤcher durch-
ſtudirt hatte, der alle alte und neue Prophezeyungen
nebſt ihren Erfuͤllungen und Nichterfuͤllungen auf ein
Haar wuſte, der Vorbilder und Gegenbilder, wie
Schachtel und Deckel zuſammenpaſſen konnte, dem
keine Meinung der Myſtiker und Gnoſtiker entgan-
gen war, der Buchſtabenziffern und Jahrwochen,
prophetiſche Zeitzirkel und abgekuͤrzte Abendmorgen,
bildliche Geſchichte und weiſſagende Traͤume, nebſt der
ganzen Kabbala und dem Buche Raja Mehemna
gaͤnzlich inne hatte, und aus dieſem reichen Stoffe
mit Huͤlfe der Cruſiusſchen Philoſophie, die feiner
als die feinſte Nadel zugeſpitzt, die einfachſten Be-
griffe zertheilen, und ſogar die beiden Seiten einer
Monade von einander ſpalten kan, eines der ſcharf-
ſinnigſten Gewebe von Prophezeyungen aus der Apo-
kalypſe gezogen hatte, dem, Cruſius unumſtoͤßliche
Hypomnemata der prophetiſchen Theologie, Ben-
gels
unwiderſprechliche Aufloͤſung der apocalyptiſchen
Weiſſagungen, Don Jſaak Abarbanels Maje-
neh Jeſchuah
und Michaelis unwiderlegliche
Erklaͤ-
[9]
Erklaͤrung der ſiebenzig Wochen, zwar vielleicht an
Richtigkeit und Wahrheit, aber gewiß nicht an Neu-
heit, Scharfſinn und ſinnreicher Aufklaͤrung der dun-
kelſten Bilder zu vergleichen ſind.


So wie die meiſten großen Begebenheiten, aus
ſehr geringfuͤgigen Urſachen zu entſpringen pflegen, ſo
ging es auch derjenigen Hypotheſe uͤber die Apokalypſe,
auf die ſich Sebaldus am meiſten zu gute that. Wil-
helmine
war, als ſie vom Hofe kam, ſehr franzoͤ-
ſiſch geſinnet, ſie ſprach und laß gern franzoͤſiſch, ſie
ließ ſich ſogar merken, daß ſie nichts eifriger wuͤnſchte,
als einmahl in ihrem Leben Paris zu ſehen, und warf
es ihrem Mann mehr als einmahl vor, daß er gar
nichts von franzoͤſiſcher Artigkeit an ſich haͤtte. Nun
fuͤgte es ſich ungluͤcklicher Weiſe, daß der ehrliche Se-
baldus
ſchon vorher an allem, was franzoͤſiſch war,
einen uͤberaus großen Misfallen hegte. Es war ihm
von Jugend auf in der Schule ein herzlicher deutſcher
Haß gegen die Krone Frankreich eingepraͤgt worden,
man hatte ihm oft wiederhohlt, daß ſie nebſt dem lei-
digen Tuͤrken der Erb- und Erzfeind von Deutſchland
ſey, daß ſie den Kaiſer und Reich ſo oft bekrieget,
und ganze Provinzen von dem deutſchen Reiche |abge-
zwackt habe. Da nun Frankreich auſſer dem vielen
und oͤftern Unheil, das es auf deutſchem Boden
A 5ange-
[10]
angerichtet hatte, ſich auch gar in des Sebaldus
Hausangelegenheiten mengte, (denn er ließ ſichs nicht
ausreden, daß bloß die Liebe zur Franzoͤſiſchen Sprache
Urſach ſey, daß ihn Wilhelmine nicht ſo herzlich liebte,
als ers wuͤnſchte), ſo verdoppelte ſich ſein Haß gegen
alles was franzoͤſiſch war. Weil er nun ſonſt kein Mittel
ſahe, ſeinen Unwillen auszulaßen, ſo wandte er ſich
mit Ernſt zu ſeiner allgemeinen Zuflucht, der Apoca-
lypſe,
und forſchte nach, ob denn in dieſem Maga-
zine von Weiſſagungen, nicht eine Weiſſagung wider
die Franzoſen enthalten ſeyn ſollte.


Es hat einer von den zweyhundert ſchwaͤbiſchen
Theologen, die die Offenbarung Johannes erklaͤ-
ret haben, es als einen ſichtbaren Beweis der
wirklichen goͤttlichen Jnſpiration dieſes Buchs an-
gegeben, daß man alles darin finde, was man mit
aufrichtigem Herzen darin ſuche. Dis erfuhr auch
Sebaldus. Denn da er die Apocalypſe mit einem
Seitenblicke auf Frankreich las, ſo glaubte er gewiſſe
bisher geheime Bilder in der unſtreitigſten Klarheit
zu ſehen, und er uͤberzeugte ſich gaͤnzlich, daß ein gro-
ßer Theil der Offenbarung Johannes, nichts als ein
Compendium der franzoͤſiſchen Geſchichte waͤre, das
vor dem Hainault und Mezeray nur den einzigen
Vortheil habe, daß es etwas uͤber tauſend Jahre eher
geſchrie-
[11]
geſchrieben worden, als die Begebenheiten ſich zuge-
tragen haͤtten. Er war feſt verſichert, daß die große
Babylon
im XVIIten Capitel, weder die Stadt Rom
noch die Freymaͤurerey, ſondern die Stadt Paris an-
deute. Die Bedeutung der beiden Thiere im XIIIten
und XVIIten Kapitel, konte er aus dem P. Daniel
erlaͤutern, den er deshalb ausdruͤcklich, nach der nuͤrn-
bergiſchen Ueberſetzung, durchgeleſen hatte. Die Ent-
deckung aber, worauf er ſich am meiſten einbildete,
war, daß die Zahl des erſten Thieres 666 oder [...],
die Jeſuiten bedeute, deren Verjagung aus Frank-
reich, er wirklich einige Jahre eher wuſte, als der
Herzog von Choiſeul daran gedacht hatte. Nebenher
war er auch verſichert, daß das Buͤchlein im Xten
Capitel, daß im Munde ſuͤß war wie Honig, und
hernach im Bauche grimmete, offenbar auf die viele
ſchluͤpfrige ſittenverderbende franzoͤſiſche Duodezbaͤnde
gedeutet werden muͤſſe, die wir Deutſchen mit ſo vie-
ler Begierde leſen. Alle dieſe und mehrere neue Ent-
deckungen uͤber die Apocalypſe, ſamlete er in einem
großen Werke, an dem er unablaͤßig arbeitete.


Freilich hatten, dieſe gelehrte Bemuͤhungen, nicht
ganz den Beifall der ſchoͤnen Wilhelmine. Sie
warf ſich zwar, nachdem ſie den Hof gaͤnzlich verlaſ-
ſen, in die Litteratur, ſo wie ſich die vom Hofe ver-
wieſene
[12]
wieſene franzoͤſiſche Damen in die Devotion werfen;
aber dieſe Litteratur war von der, die Sebaldus trieb,
himmelweit unterſchieden. Wilhelmine war eine
ſuͤſſe Verehrerin der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, wovon
Sebaldus ganz und gar nichts verſtand. Sie hatte
alle gute deutſche und franzoͤſiſche Dichter fleißig ge-
leſen, und fuͤhrte in der Converſation nicht ſelten
Stellen daraus an. Jm Urtheile uͤber den Werth
der Romanen, war ſie das Orakel der ganzen Gegend.
Sie war aber auch in der ganzen Gegend die einzige,
die alle unſre beſten neuern Dichter, ganz friſch von
der Preſſe, und die Bremiſchen Beitraͤge, die
Sammlung vermiſchter Schriften, und die
Briefe die neueſte Litteratur betreffend,
ſtuͤck-
weiſe kommen ließ. Von ihr erhielten ſie die wenigen
gnaͤdigen Fraͤulein, die Landvrediger und die Conrecto-
ren in den benachbarten kleinen Staͤdten, die noch in
der dortigen Gegend unſere ſchoͤnen Geiſter des Leſens
wuͤrdigten.


Jn der Philoſophie waren Sebaldus und ſeine
Wilhelmine noch weit mehr von einander unterſchie-
den. So ſehr er ein eifriger Cruſianer war, eben ſo
ſehr war ſie aus allen Kraͤften der Wolfiſchen Philo-
ſophie ergeben. Sie hatte Wolfs ſaͤmtliche deutſche
Schriften geleſen, beſonders aber wuſte ſie deſſelben
kleine
[13]
kleine Logik auswendig. Wenn eine von ihren
Freundinnen ſich den Geſchmack bilden wollte, ſo pries
ſie derſelben das zehnte Kapitel wie man von Schrif-
ten urtheilen ſoll,
nebſt dem eilften an, wie man
Buͤcher recht mit Nutzen leſen ſoll.
Der Cru-
ſiusſchen Philoſophie
war ſie von Herzen gramm,
welches auch kein Wunder war, weil ſie ſich niemals
hatte uͤberwinden koͤnnen, eine einzige von den Schrif-
ten des Hochwuͤrdigen Mannes zu leſen. Sebaldus
gab ſich oft alle moͤgliche Muͤhe, ſie dahin zu bringen,
daß ſie nur wenigſtens Wuͤſtemanns Compendium
der Cruſiusſchen Philoſophie
durchleſen ſolte,
welches er fuͤr eine nahrhafte Milch fuͤr unmuͤndige
Philoſophen hielt. Umſonſt! Sie legte es, nachdem
ſie ſechs Seiten durchgeleſen hatte, mit Verachtung
aus der Hand, und war und blieb eine Wolfianerin.


Es iſt leicht zu begreifen, wie die Philoſophie der
ſchoͤnen Wilhelmine zuweilen eine kleine Unordnung
im Hausweſen habe verurſachen koͤnnen, und wie
moͤglich es geweſen, daß ein neuangekommenes Stuͤck
der Litteraturbriefe der zureichende Grund ſeyn koͤn-
nen, daß der Reißbrey anbrennen muſte. Solche
kleine haͤusliche Widerwaͤrtigkeiten ſtoͤrten aber keines-
weges die beiderſeitige Zufriedenheit. Da Sebaldus
gemei-
[14]
gemeiniglich zu eben der Zeit uͤber ein Geſicht aus der
Apocalypſe geſchwitzt hatte, ſo ſchmeckte er entweder
den Fehler der Speiſe nicht, oder nahm ihn ganz gut-
herzig auf ſich, weil er glaubte, er habe auf ſich allzu-
lange warten laßen. So gebiert das Bewuſtſeyn
eigener Schwachheiten Toleranz, und Toleranz ge-
biert Liebe.


Jm Anfange freilich verurſachten, die ſich gerade
entgegen geſetzten gelehrten Meinungen beider Ehe-
leute, unter ihnen manchen heftigen Zwiſt, ſo bald aber
nur die beiderſeitige Zuneigung ſtaͤrker geworden war,
ſo konten die verſchiedenen Meinungen nicht mehr
den Wachsthum ihrer Liebe hindern. Auf die Phi-
loſophie, uͤber die ſie ſich ſo oft ohne Erfolg geſtritten
hatten, lieſſen ſie ſich ferner gar nicht ein. Hingegen
ließ ſich Sebaldus zuweilen gefallen, von Wilhel-
minen
ein Stuͤck aus einem neuen deutſchen Schrift-
ſteller vorleſen zu hoͤren, (denn wider die franzoͤſiſchen
Schriften hatte er ſich allzudeutlich erklaͤret, als
daß ſie ſich derſelben zu erwaͤhnen getrauet haͤtte,)
Wilhelmine war auch zuweilen ſo gefaͤllig, von ihrem
Manne ein Stuͤck ſeiner neuen Erklaͤrung der Apoca-
lypſe mit Parallelſtellen aus P. Daniels Geſchichte
beſtaͤrkt, ſich vorleſen zu laſſen. Sie rief wohl zuwei-
len aus: „ſinnreich! wirklich ſehr ſinnreich!‟ Mit
dieſem
[15]
dieſem Beifalle war er vergnuͤgt wie ein Koͤnig.
Er ließ ihn auch nicht unbelohnt. Er ſetzte ſich ans
Clavier, und ſpielte ungebeten einige der Oden mit
Melodien,
von denen er wuſte, daß ſie ſeiner Frau
am angenehmſten waren. Wilhelmine ſang mit
frohem Herzen dazu, und gewoͤhnlich war ein ſolcher
Auftritt eine reiche Quelle guter Laune fuͤr dieſen und
einige folgende Tage.


Gegen das Ende der erſtern neun Monate ihres
Eheſtandes, ward er mit einem Sohne geſegnet, deſſen
ſich der Hofmarſchall aus alter Bekanntſchaft beſon-
ders annahm. Er ließ ihn oft zu ſich in die Stadt
holen, beſchenkte ihn, und konnte lachen, daß ihm der
Bauch ſchuͤtterte, wenn der Junge, der von ſeiner erſten
Jugend an verſprach, einſt ein durchtriebener Kopf zu
werden, einen Umſtehenden in die Waden zwickte, oder
ſonſt jemand einen kleinen Schabernack anthat. Als
der Knabe ſechs Jahr alt war, ſo nahm er ihn ganz zu
ſich, ſo, daß er ſeitdem ſeine Aeltern nur ſelten zu ſehen
bekam. Jm vierzehnten Jahre war der Knabe ſo
weit gekommen, daß er die muthwillige Neckereyen,
die der Hofmarſchall ſo oft in ſeiner erſten Kindheit
an ihm bewundert hatte, auch an ſeinem Wohlthaͤter
ſelbſt auszuuͤben anfing. Dieſer machte ſich alſo nicht
ſo viel daraus, einen Knaben ferner um ſich zu haben,
deſſen
[16]
deſſen Witze er zwar Beifall gab, wenn er andere
hohnneckte, aber nicht, wenn er ſich auch an ihn, den
Hofmarſchall ſelbſt, wagte. Er beſann ſich, daß er
einen guten Freund hatte, der Curator uͤber eine etwa
25 Meilen entlegene Fuͤrſtenſchule war, in derſelben
verſchafte er dem jungen Nothanker eine Freyſtelle.
Als der Knabe in derſelben ſechs Jahre verharrt hatte,
und es nun Zeit ſchien, ihn auf Univerſitaͤten zu brin-
gen, verſchafte er demſelben durch gleiche Protection
zwey Stipendien auf einer beruͤhmten Univerſitaͤt.
Weil nun zwey Stipendien eintraͤglicher waren, als
eins, ſo konnte der junge Nothanker auch ſeine Stu-
dien mit viel gluͤcklicherm Erfolge fortſetzen, als ſonſt
ein armer einfacher Stipendiat haͤtte thun koͤnnen.
Er ſtudierte alſo nicht allein in den Collegien, ſondern
auch in den Caffehaͤuſern, bey den Jungemaͤdgen, in
den Dorfſchenken, und uͤberhaupt cavaliermaͤſſig in
der großen Welt. Er machte auch Verſe und Sati-
ren, wodurch er denn bald ein Mitglied der deutſchen
Geſellſchaft des Ortes ward. Von der Philoſophie
machte er Profeſſion, und ſetzte ſich ſchon in ſeinen
Studentenjahren vor, in derſelben einſt große Veraͤn-
derungen vorzunehmen, in der philoſophiſchen Kritik
aber war er ſo ſtark, daß er den Longin und Home,
immer beym dritten Worte citirte. Dieſe Nachrichten
erfrene-
[17]
erfreueten Wilhelminen ungemein, welche ihn als
ihren wuͤrdigen Erben anſahe, obgleich Sebaldus
ein wenig daruͤber deu Kopf ſchuͤttelte, und die Hof-
nung, die er ſich ſeit zehen Jahren gemacht hatte,
ihn zum Adjunkt ſeiner Pfarre zu bekommen, beinahe
aufzugeben anfing.


Etwa ſechs Jahre nach der Geburt des Sohnes,
eben als die Zuneigung zwiſchen Sebaldus und Wil-
helminon
zur waͤrmſten Zaͤrtlichkeit geſtiegen war,
wurden ſie mit einer Tochter erfreut, die den Namen
Mariane bekam. Sie war von ihrer erſten Jugend
an, der Gegenſtand der vaͤterlichen und muͤtterlichen
Zaͤrtlichkeit. Beſonders wendete Wilhelmine ihre
ganze Sorgfalt auf die Erziehung ihrer Tochter. Sie
unterwies ſie in allen weiblichen Arbeiten und in der
franzoͤſiſchen Sprache, ihr Vater war ihr Lehrer
in der Geſchichte und Erdbeſchreibung, und beide
vergaßen nichts um den Geiſt und das Herz dieſer gelieb-
ten Tochter zu bilden. Als Mariane ſechszehn Jahre
alt war, hatte ſie die beſten deutſchen und fran-
zoͤſiſchen Schriftſteller gelefen. Wenn ihre haͤus-
lichen Geſchaͤfte geendigt waren, ſo war ihr Amt
wechſelsweiſe ihrer Mutter vorzuleſen, oder auf dem
Claviere zu ſpielen, worauf ihr Vater ihr erſter Lehr-
meiſter geweſen war, und ihr eigner Fleiß ſie zu meh-
Erſter Theil. Brerer
[18]
rerer Vollkommenheit gebracht hatte. Eine ſanfte
Seele, ein mitleidiges Herz, kroͤnte ihre uͤbrige gute
Eigenſchaften, und gab ihnen in den Augen ihrer El-
tern noch einen viel groͤßern Werth.


Als dieſe aͤlteſte Tochter ſchon erwachſen war, wurde
das Haus mit noch einer kleinen Tochter vermehret,
die auch die beſten Hofnungen von ſich gab, da ſo-
wohl Wilhelmine als die junge Mariane wetteifer-
ten, der kleinen Charlotte die beſte Erziehung zu geben.


Zweyter Abſchnitt.


Die haͤusliche Zufriedenheit hatte auf ſolche Art in die-
ſer Familie viele Jahre ununterbrochen fortge-
dauret. Sebaldus verrichtete ſeine Amtsgeſchaͤfte in
der Kirche mit frohem Gemuͤthe eben ſo wie Wilhel-
mine
in der Kuͤche und in der Milchkammer. Die
willige Unterſtuͤtzung ihrer nothleidenden und bekuͤm-
merten Nachbaren war ihnen beiden ein gemeinſchaft-
liches Geſchaͤft. Wenn dieſe Geſchaͤfte vorbey waren,
ſo kehrten ſie mit Vergnuͤgen zu ihrer eigenen Geſell-
ſchaft, und zur Geſellſchaft ihrer herzlichgeliebten Kin-
der zuruͤck. Ein vergnuͤgtes Herz war die Wuͤrze jeder
laͤndlichen Mahlzeit, und verſchoͤnerte ihre ruhigen
Abendſpaziergaͤnge. Das Einfoͤrmige in ihrer Le-
bensart
[19]
bensart und in ihren Vergnuͤgen gewann mehrere
Veraͤnderung, ſo wie ihre Kinder zunahmen. Eine
richtige Anmerkung, oder ein witziger Einfall, den
Mariane hoͤren ließ, ein neues muſikaliſches Stuͤck
das ſie zum erſten mahl ſpielte, war der aͤlterlichen
Zaͤrtlichkeit ein Feſt, woran ihr Vergnuͤgen Tage
lang Nahrung hatte. Der Tag, da Charlottchen
zuerſt das ſuͤſſe Wort Mutter lallte, der, da ſie zu-
erſt auf ihren kleinen Fuͤſſen drittehalb Schritte von
dem Schooße der Mutter zum Vater allein forttau-
melte, der, da ſie ihm das erſte von ihr genaͤhte Saͤum-
chen vorzeigen konnte, oder der, da ſie, durch ihre
zaͤrtliche Schweſter gelehrt, beide Eltern durch Her-
ſagung der Gellertſchen Fabel vom Zeiſig uͤberraſchte,
waren in dieſer kleinen Familie Galatage, deren
Anmuth, wider die Art der hoͤfiſchen, auch noch
nachdem ſie vorbey waren genoſſen ward.


So vollkommen das Gluͤck dieſer Familie war, ſo
drohete es doch ein kleiner Vorfall zu unterbrechen.
Es erſchien in den letzten Jahren des vergangenen
Krieges eine Schrift: Vom Tode fuͤr das Vater-
land,
betittelt. Dieſe kleine Schrift wuͤrde in das
ruhige Fuͤrſtenthum, ſo leicht nicht eingedrungen ſeyn,
welches von neuen Schriften, ſonderlich von ſolchen,
die ſich mit dem Tande der weltlichen Weisheit, und
B 2mit
[20]
mit dem Spielwerke der ſchoͤnen Wiſſenſchaften be-
ſchaͤftigten, gar nicht beunruhigt wurde. Man hatte
darin gewoͤhnlicherweiſe auſſer dem fuͤrſtl. privile-
girten Geſangbuche,
welches jaͤhrlich in grobem
und feinem Drucke aufgelegt ward, und einigen aus-
waͤrtigen Calendern, als dem hinkenden Staats-
boten,
dem Nuͤrnbergiſchen Land- und Haus-
Calender,
Lachneauliciallgemeinen Haus- und
Wirthſchaftsregeln
u. ſ. w. nichts, als des Herrn
von Bogazky taͤgliches Hausbuch, den kleinen
Goͤrgel in Lebensgroͤße, Schabalie wandelnde
Seele, Foͤrſters erpediten Prediger in ſechs
Quartbaͤnden, die Grundriſſe von Predigten
der Hamburgiſchen Herren Paſtoren, nebſt der
Jnſel Felſenburg, dem im Jrrgarten der Liebe
taumelnden Cavalier, Eulenſpiegel dem juͤn-
gern,
und einigen Romanen des Dreßdner Thuͤr-
mers,
z. B. das Leben Peter Roberts, das wun-
derbare Schickſal Antoni, das Leben des
Maler Michaels,
und dergleichen Sachen mehr.


Wilhelmine aber, die auf alle neue Buͤcher neu-
gierig war, die in die ſchoͤnen Wiſſenſchaften, in
die Sittenlehre, Geſchichte u. ſ. w. einſchlugen,
hatte, wie wir ſchon erwaͤhnt haben, fuͤr ſich ſelbſt
eine kleine auserleſene Bibliothek ſolcher Buͤcher,
der-
[21]
dergleichen in dem ganzen Fuͤrſtenthume nicht an-
zutreffen war. Sie hatte dem Buchhaͤndler in
der fuͤrſtlichen Reſidenzſtadt, ihrem Gevatter, den
Auftrag gegeben, ihr alles was von ſolcher Art
Buͤchern wichtiges erſchien, in eben dem Pakete
zuzuſenden, worinn Sebaldus alle neue Schriften,
die uͤber die Apocalypſe herauskamen, empfing. So
naͤhrte der ehrliche Hieronymus den Geiſt beider
Eheleute, den einen mit Witz, und den andern mit
Prophezeiungen.


Dieſer Buchhaͤndler hatte in ſeiner Jugend einige
Schulſtudien gehabt, und hatte dadurch vor verſchie-
denen ſeiner Handlungsgenoſſen den kleinen Vorzug
erlanget, die Titel der Buͤcher, die er verkaufte, ganz
zu verſtehen. Er hatte in verſchiedenen anſehnlichen
Buchhandlungen in Holland, Frankreich und Jtalien,
als Handlungsdiener geſtanden. Er hatte dabei nicht
allein ſein eigenes Gewerbe in einem weit groͤßern
Umfange eingeſehen, ſondern er hatte auch Staͤdte
und Sitten der Menſchen kennen lernen, und daher
kam es, daß er zuweilen, vielleicht ohne es ſelbſt zu
wiſſen, ein vernuͤnftigeres Urtheil von verſchiedenen
Sachen faͤllete, als ſein Nachbar der Superinten-
dent, oder ſein anderer Nachbar der Rath in dem
fuͤrſtlichen Expeditionscollegium, die beide, auſſer ihren
B 3auf
[22]
auf einer benachbarten Univerſitaͤt verbrachten Uni-
verſitaͤtsjahren, niemals ihre Vaterſtadt verlaßen
hatten.


Hieronymus pflegte aber die Einſichten die er
beſaß, eben nicht unablaͤßig geltend zu machen, daher
hatten ſie ihm auch nicht Feinde zugezogen. Er war in
der kleinen Reſidenzſtadt, in der er ſich geſetzt hatte,
in Anſehen, ohne von jemand beneidet zu werden,
denn er war gegen jedermann dienſtfertig, und hatte
eine natuͤrliche Abneigung jemand ins Geſicht zu
widerſprechen, oder erlangte Vortheile von irgend
einer Art zur Schau zu tragen. Bey dieſen Grund-
ſaͤtzen und einer ſo gluͤcklichen Temperamentstugend
war er in ſeinem Staͤdtchen wohlhabend geworden,
ohne daß es bey ſeinen Nebenbuͤrgern eben ſonderli-
ches Aufſehen verurſacht haͤtte.


Gleichwol hatte er durch ſeinen Fleiß, ganz un-
vermerkt, in dem Laͤndchen wo er ſich befand, zween
ganz neue Handlungszweige eroͤfnet, an die vorher
noch niemand daſelbſt gedacht hatte. Es hatte das
kleine Fuͤrſtenthum einen fruchtbaren Boden, und
nicht wenig Viehzucht, es brachte alles hervor was die
Einwohner naͤhren konte. Sie naͤhrten ſich auch,
und zehrten richtig dasjenige auf, was ihnen zuwuchs.
Weil ſie aber auſſer ihrem maͤßig beſtellten Ackerbaue,
gar
[23]
gar keine einzige Art von Kunſtfleiß hatten, ſo war
freilich unter ihnen wenig Geld. Es reichte kaum zu,
die Roͤcke und die Struͤmpfe zu bezahlen, die die Hand-
werker eines benachbarten Herzogthums, aus der
Wolle die in dieſem kleinen Fuͤrſtenthum ſehr wohl-
feil verkauft ward, webten, und alsdenn in daſſelbe
wieder einfuͤhrten. Es war alſo kein Wunder, daß
bisher noch kein Buchhaͤndler in dieſem Laͤndchen
hatte Buͤcher verkaufen koͤnnen. Hieronymus, war
der erſte, der ſich unterſtand Buͤcher darin einzufuͤhren.
Er ſahe aber auch nicht ſo genau darauf, ob er eben
baar Geld erhielt. Er verkaufte mehrmahls Z. B.
das Juriſtiſche Oraculum in ſechzehn Foliobaͤnden
fuͤr einen fetten Ochſen, Leopolds Landwirth-
ſchaftsbuch
fuͤr ſechs Scheffel Roggen, und Rie-
gers Herzpoſtill,
oder Cardilucii Kunſt-Arzney-
Natur- und Nahrungspoſtill
fuͤr ein paar Schock
Eyer, ja er gab noch wohl Muͤrdelii ſuͤſſe Geiſtes-
erquickungen,
oder Meletaons Tugendſchul
in den Kauf.


Hierdurch machte er ſich beſonders bey den Pre-
digern in Staͤdten Flecken und Doͤrfern ſehr be-
liebt, die gern etwas von ihren Zehenden oder von
ihrem Naturaldeputat daran wagten, um ſich Krau-
ſens evangeliſchen und epiſtoliſchen Prediger-

B 4ſchatz,
[24]
ſchatz, Kleiners Hirtenſtimme, Schlichthabers
fuͤnffache Diſpoſitionen aller Evangelien,

oder Weihenmayrs epiſtoliſche Spruch-und
Kernpoſtill
anzuſchaffen, und ſich dadurch die ſchwere
Laſt des Predigtamts, die ſie ſo ſehr druͤckte, zu erleich-
tern. Die Buͤrger folgten bald dem Exempel ihrer
Seelenhirten, und ſchaften ſich von einem Theile des
Ertrags ihrer Erndte, und ihrer Kaͤlber- und Ham-
melzucht einige erbauliche und nuͤtzliche Buͤcher an,
z. B. Hollatzens Gnadenordnung und Pilger-
ſtraße, Staricii Heldenſchatz, die reine Waſſer-
quelle, den vom Engel Raphael begleiteten
Wandersmann, Goezens Betrachtungen uͤber
die Dinge die nach dem juͤngſten Gerichte vor-
gehen werden,
Hocuspocusoder die neuvermehrten
Taſchenſpielerkuͤnſte, die neueroͤfnete Kunſt-
pforte, Schnurrs Kunſt- und Wunderbuch,
der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes-
proben, Heußens bibliſche Seelenweide, Wid-
ders Krankenpoſtill
u. d. gl. Die fuͤrſtlichen Raͤ-
the und Secretarien aber kauften Bolzens Amts-und
Gerichts-Actuarium, deſſen Anweiſung zum
Ambthierungswerke,
Salanders aliasSieckels alle-
zeitfertigen Notarium, Heumanns rechtlichen
Catechiſmum,
beſonders aber des deutlichen Schwe-
ſers
[25]
ſers oder Philoparchiwohlunterrichteten Beam-
ten ꝛc.


Hieronymus erhielt alſo, als ein Laye, einen
Vortheil der ſonſt nur der Geiſtlichkeit eigen war,
nemlich er ſpeiſete den Geiſt ſeiner Mitbuͤrger, und
eignete ſich dafuͤr ihre Gluͤcksguͤter zu. Er ließ die
eingetauſchten Ochſen Haͤmmel und Schweine in
ſeine Staͤlle treiben, und das eingetauſchte Getraide
auf ſeine Boͤden ſchuͤtten, und verkaufte alles auf den
Maͤrkten des obengedachten Herzogthums fuͤr baares
Geld, weil daſelbſt die bluͤhendenden Manufacturen,
und die dadurch verurſachte Bevoͤlkerung einen etwas
hoͤhern Preiß der Nahrungsmittel verurſacht hatten.
Man kennete ihn daſelbſt nicht unter dem Namen des
Buchhaͤndlers Hieronymus, aber der Namen des
Korn- oder Viehhaͤndlers Hieronymus, war bey den
Muͤllern, Baͤckern und Schlaͤchtern daſelbſt, um deſto
bekannter.


Seine Nachbarn hatten ſelbſt Aecker und Wieſen,
aber zufrieden ſich ſelbſt zu naͤhren, baueten ſie nicht
mehr, als ſie brauchten, noch weniger dachten ſie
daran, den Ueberfluß ihren Nachbarn weiter, als
etwa bis in die naͤchſte kleine Landſtadt, zuzufuͤhren.
Es waͤhrete Jahre lang, bis durch die beladenen Wa-
gen und durch die Heerden Vieh, die ſie ſo oft aus
B 5Hie-
[26]
Hieronymus Hauſe, wegfahren und wegtreiben ſa-
hen, ihre Neugier rege gemacht ward.


Sie verſuchten bald eben dieſen Weg, und da ih-
nen ihr Unternehmen gelang, fingen ſie an ihre Vieh-
zucht zu vermehren, und ihre Aecker fleiſſiger zu bauen.
Sie nahmen dadurch ſelbſt an gutem Wohlſtande zu,
und das ganze Laͤndchen kam in wenig Jahren in ſo
gutes Aufnehmen, daß die Staatsklugen zu eroͤrtern
anfingen, warum das Land ſich ſo ſchnell verbeſſert
habe.


Eigentlich war freilich der Fleiß des Hierony-
mus
und das Beyſpiel, das er ſeinen Mitbuͤrgern
gegeben hatte, die Urſach davon. Es iſt aber allen
denen, die politiſche und Finanzvorfaͤlle unterſuchen,
ſchon laͤngſt zur Regel geworden, nicht die kleinen
Umſtaͤnde anzufuͤhren, welche gemeiniglich die wah-
ren Urſachen der Begebenheiten zu ſeyn pflegen, ſon-
dern große Umſtaͤnde, welche gemeiniglich nicht die
wahren Urſachen ſind. Daher ward in einer in das
fuͤrſtliche Jntelligenzblatt eingeruͤckten Abhandlung,
die ſchnelle Zun[a]hme des Wohlſtandes des Landes,
der landesvaͤterlichen Vorſorge des Fuͤrſten zugeſchrie-
ben, (der auf ſeinem Luſtſchloſſe, ſeine Zeit zwiſchen
der Jagd und ſeiner Maͤtreſſe theilte) und nach der-
ſelben den klugen Anſtalten ſeines erſten Geheimen-
raths,
[27]
raths, (der in der fuͤrſtlichen Reſidenzſtadt im Ca-
binet unermuͤdet arbeitete, alle Stellen im Lande mit
ſeinen Verwandten und Creaturen zu beſetzen) Der
Superintendent D. Stauzius hingegen, ein ſcharfer
Geſetzprediger, nahm dieſe Abhandlung in der Ein-
weihungspredigt der neugebauten St. Bartels Ka-
pelle ziemlich durch, und verſicherte, der zugenommene
Wohlſtand des Landes ſey ein ſichtbarer Segen des
Hoͤchſten, wegen der frommen Auffuͤhrung der Ein-
wohner.


Man muß nemlich wiſſen, daß in der fuͤrſtlichen
Reſidenzſtadt ein paar Jahre vorher, fuͤnf Straſſen
nebſt einer kleinen verfallenen Kapelle abgebrannt
waren. Die Einwohner trugen, auf die nachdruͤck-
liche Ermahnung des Superintendenten, zum Bau der
Kapelle, welche viel vergroͤßert und verſchoͤnert aufge-
bauet werden ſollte, ſo reichlich bey, daß ſie freilich
kein Geld uͤbrig behielten, zu einer Hauscollecte etwas
beyzutragen, die der Buͤrgermeiſter veranlaſſet hatte,
um von deren Ertrage einige gemeine Feuerſpritzen
anzuſchaffen, weil bloß aus Mangel derſelben, das
Feuer ſoweit um ſich gegriffen hatte. Noch weniger
kehrten ſie ſich an die leichtſinnigen Reden des Buͤr-
germeiſters, der oͤffentlich ſagte, daß man vor allen
Dingen den abgebrannten Einwohnern beyſpringen
muͤſſe,
[28]
muͤſſe, und daß es uͤberhaupt unnoͤthig ſey die Kapelle
wieder zu bauen, da andere Kirchen genug in der
Stadt waͤren, noch weniger zu vergroͤßern, ſo lange
die Haͤuſer der Einwohner zu deren Gebrauch die
Kapelle dienen ſollte, noch in der Aſche laͤgen. Dieſe
muſten ſich freilich, da ſie nirgend unterkommen kon-
ten, und gar keine Hofnung ſahen, ſich wieder auf-
zuhelfen, in wenig Wochen zu Coloniſten nach
Rußland anwerben laſſen. Sie bekamen alſo die
fuͤr Sie neuerbaute Kapelle nicht zu ſehen. Hinge-
gen hatten ſie doch den Troſt, daß ſie an dem Ufer
der Wolga die gedruckte Einweihungspredigt des D.
Stauzius
nebſt den beygefuͤgten Carminibus des
Stadtminiſterii und aller Primaner des fuͤrſtlichen
Lycei mit vieler Erbauung verleſen hoͤrten.


Sebaldus erhielt dieſe gedruckte Einweihungs-
predigt in eben dem Pakete, worin Wilhelmine die
Schrift vom Tode fuͤrs Vaterland erhielt. Sie
machte ihm aber nicht ſonderliches Vergnuͤgen.
D. Stauzius hatte in derſelben mehr als einmal, denen
die Kirchen und Kapellen verachten, und den Bau
oder Verſchoͤnerung derſelben hindern, mit der ewigen
Verdammniß gedrohet. Sebaldus aber konnte
dieſe Lehre niemals behauptet ſehen, ohne in eine Art
von Bekuͤmmerniß zu gerathen, die dem Mißvergnuͤ-
gen
[29]
gen nahe war. Der Tod fuͤrs Vaterland hinge-
gegen hatte auf Wilhelminen eine ganz entgegenge-
ſetzte Wirkung. Er ſetzte ihren ohnedis zum roman-
tiſchen geneigten Geiſt in ein neues Feuer. Sie fuͤhlte
Entzuͤckung uͤber die Gedanken, daß auch der Unter-
than einer Monarchie nicht eine bloſſe Maſchine ſey,
ſondern ſeinen eigenthuͤmlichen Werth als Menſch
habe, daß die Liebe fuͤrs Vaterland einer Nation eine
große und neue Denkungsart gebe, daß ſie eine Na-
tion als ein Muſter fuͤr andere darſtelle. Von dieſen
Jdeen erhitzt, ſann ſie nach, wie ſie in dem allgemei-
nen Kriege der damahls Deutſchland verheerte, ein
Beyſpiel ihrer Liebe fuͤrs Vaterland geben koͤnne.
Mitten unter dieſen Gedanken fiel ihr gleich auf der
erſten Seite folgende Stelle aufs Herz: „Sollte wohl
„ein Diener der Religion ſich entweihen, ſollte er wohl
„dadurch ſein Amt vernachlaͤſſigen, wenn er, nachdem
„er tauſendmal geſagt hat: Thut Buſſe; auch ein-
„mal rieffe: Sterbet freudig fuͤrs Vaterland?‟
Sie beſchloß, daß niemand ihrem Manne das Ver-
dienſt rauben ſollte, dieſer Aufforderung zuerſt ein
Genuͤge gethan, noch ihr das Verdienſt, ihn
dazu aufgemuntert zu haben. Von dieſem Vorſatze
voll, trat ſie, welches ſie ſonſt ſelten zu thun pflegte,
in Sebaldus Studierſtube. Sie las ihm aus der
Schrift,
[30]
Schrift, die ihr ſo ſehr gefiel, die ſtaͤrkſten Stellen
vor. Sie beſchloß mit der eben angefuͤhrten an die
Prediger gerichteten Stelle, und ſetzte alle Gruͤnde,
die ſie ſammlen konnte zuſammen, um ihn zu bewe-
gen, daß er den naͤchſten Sonntag ſeiner Gemeine
predigen ſollte: Sterbet freudig fuͤr das Vater-
land.


Sie fand bey Jhrem Manne einen ſtaͤrkern Wi-
derſtand, als ſie ſich vorgeſtellet hatte. Sebaldus,
deſſen Geiſt, ohne Prophezeiung nicht ſo leicht in En-
thuſiasmus gerieth, und der durch D. Stauzius Ein-
weihungspredigt noch weniger erwaͤrmt worden war,
hatte ihrer feurigen Deklamation hundert kalte Gruͤnde
entgegen zu ſetzen, auf die ſie ſich nicht gefaßt gemacht
hatte. Er ſagte ihr unter andern, daß ein Geiſtlicher,
wenn er glaubte, oft genug gerufen zu haben: Thut
Buſſe,
noch eine Menge Wahrheiten zu predigen
habe, die ihn alle noch nuͤtzlicher duͤnkten, als der
Tod fuͤr das Vaterland. „Und, ſetzte er hinzu,
„wo iſt in unſerm unter Krieg und Verheerung ſeuf-
„zenden Deutſchlande, jezt wohl das Vaterland zu
„finden? Deutſche fechten gegen Deutſche. Das
„Contingent unſers Fuͤrſten iſt bey dem einen Heere,
„und in unſerm Laͤndchen wirbt man fuͤr das andere.
„Zu welchem ſollen wir uns ſchlagen? Wen ſollen
„wir
[31]
„wir angreifen? Wen ſollen wir vertheidigen? Fuͤr
„wen ſollen wir ſterben?


Wilhelmine, die einmal beſchloſſen hatte, daß
vom Tode fuͤrs Vaterland gepredigt werden ſollte,
ſahe wohl ein, daß allgemeine Gruͤnde ihren Mann
nicht bewegen wuͤrden, ſie nahm alſo zu ſolchen ihre
Zuflucht, die ihn naͤher angiengen. Sie verſetzte:
„Wird denn nicht in dieſem Kriege wider die Franzoſen
„geſtritten? Jch glaube immer, die Deutſchen ſind
„aͤchte Deutſche, die auf Tuͤrken und Franzoſen los-
„gehen. Sie haben mir, mein Lieber! oft von Weiſſa-
„gungen vom nahen Untergange Frankreichs vorge-
„ſagt; ſollte in der Apocalypſe keine Weiſſagung ſeyn,
„die den itzigen Krieg angehet? Schlagen Sie doch
„nach. Wer weiß, ob in dieſem Kriege nicht Deutſche
„das ſtolze Frankreich erobern ſollen? Wie? Wenn
„es ihnen nun vorbehalten waͤre, durch Jhre Predigt
„zu dieſem großen Werke den erſten Anlaß zu geben?
„Welcher Ruhm fuͤr Sie, wenn auch auf Sie und
„auf Jhre Predigt mitgeweiſſagt waͤre! Koͤnnen Sie
„der Kraft ſo vieler Gruͤnde wohl widerſtehen? Jch
„daͤchte, Sie muͤſten dadurch determinirt werden!‟


Der arme Sebaldus war nun bey allen ſeinen
Schwaͤchen angegriffen, denn Wilhelmine pflegte
ſehr ſelten die Apocalypſe anzufuͤhren, noch weniger
pflegte
[32]
pflegte ſie der Franzoſen mit einem wiedrigen Seiten-
blicke zu gedenken, und uͤber den zureichenden und
determinirenden Grund, waren ihre Gedanken ihres
Mannes Gedanken ſo ſchnurſtracks zuwider, daß
weder Sebaldus das Wort zureichend, noch Wil-
helmine
das Wort determinirend jemals in den
Mund zu nehmen pflegte. Es geſchahe alſo hier,
was immer zu geſchehen pflegt, daß die gefaͤllige
Freundlichkeit eines Frauenzimmers die beſten Gruͤnde
einer Mannsperſon unkraͤftig machte.


Sebaldus waͤhlte einen ſchicklichen Text fuͤr den
naͤchſten Sonntag aus der Apocalypſe, und da die-
ſes das erſte mahl war, daß er uͤber einen Text aus
dieſem von ihm ſo geliebten Buche predigte, ſo hielt
er ſeine Predigt, vom Tode fuͤrs Vaterland, in
einem enthuſiaſtiſchen Feuer, das ſeine Gemeine ſonſt
an ihm nicht gewohnt war. Als er aus der Kirche
nach Hauſe gieng, bemerkte er ſogleich die Frucht ſei-
nes Eifers. Er ſahe auf dem Kirchhofe einen ziem-
lichen Anflauf, und hoͤrte jemand ſehr laut reden. Als
er naͤher hinzu kam, hoͤrte er, daß ein im Dorfe lie-
gender Unterofficier, der mit in der Kirche geweſen,
zu ſeiner Predigt einen epanorthotiſchen Uſum hinzu
that, und nicht ohne Frucht, denn zehn junge, ra-
ſche Bauerkerl, nahmen auf der Stelle Dienſte.


Den
[33]

Dem Sebaldus klopfte hiebey ein wenig das
Herz, aber Wilhelmine jubilirte uͤber den gluͤcklichen
Erfolg ihres Vorſchlags. Sie wendete auf dem Wege
aus der Kirche nach Hauſe alles an, um ihrem Mann
eben ſo freudige Geſinnungen mitzutheilen. Es wuͤr-
de ihr vielleicht gelungen ſeyn, wenn nicht zween Briefe,
die ſie bey ihrer Ankunft zu Hauſe fanden, ihre Freude
etwas niedergeſchlagen haͤtten. Der eine war von ei-
nem Profeſſor der Univerſitaͤt wo ihr aͤlteſter Sohn
ſtudierte. Er meldete ihnen ohne Umſchweife, daß
ihr Sohn, mit Hinterlaßung vieler Schulden davon
gelaufen ſey, und daß niemand wiſſe, wohin. Beide
Aeltern fuhren bei dieſer unvermutheten Nachricht zu-
ſammen, und zitterten fuͤr den zweyten Brief. Als
ſie auf der Aufſchrift ihres Sohnes Hand erblickten,
ſo riß ihn Wilhelmine aus Sebaldus Haͤnden, und
laß ihn. Der Sohn meldete darinn, ohne von ſeinen
Schulden etwas zu erwehnen, „daß er es fuͤr einen
„guten Buͤrger fuͤr ſchimpflich halte, ſtille zu ſitzen
„wenn das Vaterland in Noth ſey; daß die Roͤmer
„und Griechen in ihrer Jugend Kriegsdienſte gethan
„haͤtten, daß er dieſem glorreichen Exempel folgen
„wolte, und daher auch zur Armee gegangen ſey. Er
„meldete zu gleicher Zeit ſeinen Eltern, daß er vor der
„Hand einen fremden Namen angenommen habe,
Erſter Theil. C„und
[34]
„und ſo lange fuͤhren wolle, bis er ſeinem wahren Nah-
„men Ehre bringen koͤnnte.‟ Sebaldus ward bei
dieſer Nachricht ganz blaß, und Wilhelmine fiel mit
einem lauten Geſchrey ruͤcklings aufs Canape. Sie
beſann ſich aber bald, daß itzt die beſte Gelegenheit
ſey, ſpartaniſche Geſinnungen zu zeigen, ermannete
ſich, ſtand auf, und ſagte mit thraͤnenden Augen:
Jch habe ihn dazu gebohren!‟ Sie ſuchte auf
alle Weiſe ihre heldenmuͤthige Geſinnungen bey ſich
wieder hervor zu ziehen. Bald ſtellte ſie ſich die gro-
ßen Thaten vor, die ihr Sohn verrichten wuͤrde; bald
bedaurete ſie nur, daß er ſeinen Nahmen veraͤndert
hatte, weil ſie auf dieſe Art von ihr unbemerkt ge-
ſchehen koͤnnten. Bald hofte ſie wieder, daß er,
wenn er etwas großes verrichtet haͤtte, gewiß ſei-
nen Namen kund thun werde. Jnzwiſchen konnten
alle dieſe heroiſche Geſinnungen, mit denen ſie ſich
troͤſtete, und die dem Sebaldus gar keinen Troſt
gaben, weder ihre muͤtterliche Zaͤrtlichkeit noch des
Sebaldus weiſe Betrachtungen unterdruͤcken, die ſich
beſtaͤndig dazwiſchen miſchten. Nachdem ſie damit
den Nachmittag zugebracht hatten, legten ſie ſich bei-
derſeits in einer ſolchen Gemuͤthsverfaſſung ſchlafen,
daß, wenn ſie vier und zwanzig Stunden vorher darin
geweſen waͤren, Sebaldus ſchwerlich wuͤrde gepre-
digt
[35]
digt haben: Sterbet freudig fuͤr das Vaterland,
noch Wilhelmine ihn dazu wuͤrde haben ermuntern
wollen.


Dritter Abſchnitt.


Jndeſſen erſcholl die Nachricht von Sebaldus Pre-
digt und von ihren Folgen, bald bis in die fuͤrſtli-
che Reſidenzſtadt. Sebaldus hatte im Conſiſtorium
zwey ſehr maͤchtige Feinde. Der eine war der Praͤ-
ſident, der als ein Ehrenmitglied verſchiedener deut-
ſchen und lateiniſchen Geſellſchaften viele ſehr flieſſende
deutſche Reime, und viele ſehr deutliche lateiniſche
Chronodiſtichen verfertigte. Alle am fuͤrſtlichen Hofe
vorfallende Galatage, alle Landplagen, als Heu-
ſchrecken, Hagel, feindliche Einfaͤlle, alle Promo-
tionen der ihm untergebenen Conrectoren, und Landpre-
diger, beſang ſeine Muſe ungeſaͤumt. Wilhelmine
war eine viel zu feine Kennerin der ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften, als daß ſie ſich dem falſchen Geſchmacke, der
in ihrem Vaterlaͤndchen beſchuͤtzt ward, nicht haͤtte wider-
ſetzen ſollen. Sie ſprach bey jeder Gelegenheit von den
deutſchen Verſen des Praͤſidenten uͤberaus veraͤchtlich,
und ſeine lateiniſche Chronodiſtichen, wenn ſie ſie auch
C 2und
[36]
nicht verſtand, ſo wuſte ſie ſie doch aus dem Zuſchauer
mit einer Reihe Soldaten zu vergleichen, in welcher
einige Rieſen zwiſchen einer Anzahl Zwerge ſtaͤnden.
Nun iſt es bekannt, daß alle Dichter ſehr empfind-
lich, und die ſchlechten Dichter gemeiniglich die em-
pfindlichſten ſind. Es iſt alſo leicht zu erachten, daß
es der Praͤſident fuͤr einen unerhoͤrten Eingriff in die
Landesverfaſſung und gute Subordination hielt, daß
eine Landpfarrerfrau ſich uͤber die Verſe eines Man-
nes wie er, oͤffentlich aufhalten duͤrfte, und daß er
keine Gelegenheit wird verabſaͤumet haben, ihrem
Manne empfinden zu laßen, daß er ſein Oberer war.
Der zweyte Feind des Sebaldus, war der Generalſu-
perintendent D. Stauzius. Dis war eben der Pfar-
rer, der Sebaldus mit Wilhelminen getrauet hatte,
der wilde Mann, der ſo gern von dem Oberſten Men-
zel
und von dem luſtigen Treffen zu Roßbach ſprach.
Er hatte kurz nach Sebaldus Heirath die Ausgebe-
rin des Praͤſidenten geheirathet, die Sebaldus ver-
ſchmaͤhet hatte, und war dadurch Generalſuperinten-
dent worden. So wie er am Stande zunahm, wuchs
auch ſein Eifer fuͤr die Orthodoxie. Es lies ſich zum
Doctor der Theologie machen, damit er einen doppel-
ten Beruf habe, ſich der Orthodoxie alles Fleiſſes an-
zunehmen. Er erhielt im Lande eine ſolche Einfoͤr-
migkeit
[37]
foͤrmigkeit in der Lehre, wie ein Hauptmann bey einer
wohleingerichteten Compagnie Soldaten, bey der jeder
Rock ſo lang als der andere, jeder Zopf ſo dick als der
andere, jede Stiefelette ſo lang aufgeknuͤpft iſt als die
andere, und die ſich nie nach ihrem eigenen Willen,
ſondern blos nach dem Wink ihrer Obern beweget.
So bald ein Prediger nur den geringſten Geruch von
Ketzerey an ſich ſpuͤren ließ, ward er abgeſchaft.
Dadurch ward das Laͤndgen wirklich ſo rein gehalten,
daß Sebaldus der einzige war, der auf der ſchwar-
zen Liſte ſtand. Schon als D. Stauzius noch Dorf-
pfarrer war, hatte er ſich mit Sebaldus oft uͤber
die Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen geſtritten, die er mit
großem Eifer behauptete, und von der Sebaldus,
wie wir dem Leſer ſchon haben merken laſſen, Begriffe
hatte, die zwar ganz menſchenfreundlich, aber gar
nicht orthodox waren. Seitdem D. Stauzius Su-
perintendent worden war, hatte er die Lehre von der
Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen noch nothwendiger gefun-
den. Er merkte beim Antritt ſeines Amts bald, daß
er bey den Kammerjunkern und den fuͤrſtlichen Raͤthen,
mit dem florentiſchen Wetterglaſe, aus welchem er
vormahls ſeinen Bauern Wind und Wetter vorher-
ſagte,*) nicht viel ausrichten konnte. Er legte ſich
C 3alſo
[38]
alſo, um ſie in kirchlicher Zucht zu halten, auf ein recht
derbes Geſetzpredigen. Er mahlte ihnen den hoͤlli-
ſchen Schwefelpfuhl recht ſchrecklich, und die Mar-
tern der Verdammten recht graͤßlich vor, wobei er denn
mit einem holen klagenden Tone das Wort ewig!
ewig! ewig!
ſehr oft erſchallen ließ. So ſtreng und
unerbittlich er aber auf der Kanzel gegen die Suͤnder
war, ſo gefaͤllig und nachgebend war er gegen ſeine
Frau, die er aus ſo vornehmen Haͤnden empfangen
hatte. Sie regierte ihn ganz. Ungluͤcklicherweiſe aber
fuͤr Sebaldus war ſie auf denſelben und ſeine Frau
auch ſehr uͤbel zu ſprechen. Sie konnte es ihm noch
nicht vergeben, daß er ihre Hand und mit ihr das ein-
traͤgliche Amt ausgeſchlagen hatte, bloß um eine juͤn-
gere und ſchoͤnere Perſon zu heirathen. Wenn alſo
D. Stauzius gegen Sebaldus nur ein verdries-
liches Wort ſagte, ſo ſetzte ſie noch zwey oder drey
hinzu, und brachte ſowohl ihren itzigen Mann, als
ihren geweſenen Herrn wider ihn auf. Welch Wun-
der alſo, daß Sebaldus ſehr oft, auch bei den ge-
ringfuͤgigſten Vorfaͤllen nachdruͤckliche Verweiſe aus
dem Conſiſtorium bekam.


Die gegenwaͤrtige Sache hingegen war zu wichtig,
als daß ſie mit einem bloßen ſchriftlichen Verweiſe
konnte abgemacht werden. Sebaldus ward alſo in
Perſon
[39]
Perſon nach der fuͤrſtlichen Reſidenz, vor dem Conſiſto-
rium zu erſcheinen, gefordert. Als er erſchien, ſahe
ihn der Praͤſident von oben bis unten an, ſeufzte,
machte die Augen zu, hob das Angeſicht gen Himmel,
und hielt ihm in einem feinen etwas heiſern und lang-
gezogenen Ton ſeinen Unfug vor, daß er von etwas
anders, als von Buſſe und Zerknirſchung des Herzens
gepredigt haͤtte, welches den ſymboliſchen Buͤchern
ſchnurſtracks zuwider ſey. Kaum hatte er ausgeredet,
als der Superintendent aufſtand. Er ſchrie mehr,
als er ſprach, zitterte vor Eifer, ward feuerroth im
Geſichte, runzelte ſeine ſtarke halbgraue und halbrothe
Augenbraunen, konnte noch nicht ſprechen, und
ſchuͤttete als er anfieng, in einem holen bellenden Ton
ſo ſchnell daß ein Wort das andere jagte, ein geſtot-
tertes Anathema uͤber das andere auf den armen
Sebaldus aus. Er hielt ihm vor, daß die zehn an-
geworbenen Bauerkerl, vermuthlich haͤtten in den
Stand der Gnade kommen koͤnnen, daß ſie aber nun
in dem Lande wohin ſie gebracht wuͤrden, Atheiſten
werden, und alſo ewig verdammt werden muͤſten.
Auch Er, Sebaldus, haͤtte die ewige Verdammniß
dadurch verdient, daß er an dem ewigen Wehe von
zehn Seelen ſchuld waͤre, u. ſ. w.


C 4Sebal-
[40]

Sebaldus antwortete beſcheiden mit wenig Wor-
ten, und ließ am Ende ſeiner Rede einfließen, „daß
„Gott gnaͤdiger waͤre, als erbitterte Menſchen, daß
„er uns nach der reinen Abſicht unſers Herzens, nicht
„aber nach einem nicht |vorhergeſehenen Erfolge unſe-
„rer Handlungen, richten werde.‟ Stauzius fuhr
ihn mit unbeſchreiblicher Wuth an: „Ob er die Ewig-
„keit der Hoͤllenſtrafen glaube?‟ Sebaldus ant-
wortete ganz gelaſſen: „Er glaube nicht, daß es
„Menſchen gezieme, der Guͤte Gottes Maaß und Ziel
„zu ſetzen.‟ „Sie ſehen, meine Herren, redete der aͤuſ-
„ſerſt aufgebrachte Superintendent die anweſende an,
„daß dieſer gottloſe Mann in den Grundlehren des
„Glaubens irrig iſt, und ſchaͤndliche grundſtuͤrzende
„Jrrthuͤmer behauptet, ich trage alſo darauf an, daß
„er unverzuͤglich ſeines Amtes entſetzt werde, damit
„er die Seelen der ihm anvertrauten Heerde nicht fer-
„ner in Gefahr bringe.‟ Der Praͤſident antwortete
hierauf mit ſanftmuͤthiger Mine: „Es iſt zwar wahr,
„daß Ehrn Nothanker ſich eine ſchwere Verſchul-
„dung hat zur Laſt kommen laſſen, doch erfordert die
„chriſtliche Liebe, daß man in einer ſo wichtigen Sache,
„als die Abſetzung vom Amte iſt, ſich nicht uͤbereilen
„muͤſſe. Daher iſt meine Meynung, daß dem Fiscal
„aufgetragen werde, eine in gehoͤriger Form abgefaßte
„Klage
[41]
„Klage zu uͤberreichen, welche dem Beklagten mit dem
„Bedeuten, ſie in zween Tagen zu beantworten,
fub pœna præcluſi und daß alsdenn in conrumaciam
„wider ihn erkannt werde, zu communiciren ſey, deß-
„gleichen daß derſelbe auf naͤchſte Seſſion in vierzehn
„Tagen beſchieden werde, um die alsdenn abzufaſſende
„Sentenz anzuhoͤren.‟ Dieſer Meinung fielen alle
bey, und Sebaldus verfuͤgte ſich mit ſchwerem
Herzen nach Hauſe.


Die Klage des Fiscals lief in wenig Tagen ein, und
weil darin noch mehr auf die Ewigkeit der Hoͤllenſtra-
fen, als auf die gehaltene Predigt Ruͤckſicht genom-
men war, ſo glaubten Sebaldus und Wilhelmine,
darin die Feder des D. Stauzius zu erkennen. Se-
baldus
beantwortete ſie in den geſetzten zween Tagen
ausfuͤhrlich, und Wilhelmine fuͤgte noch einige An-
merkungen hinzu, die ihrer Meinung nach die Unſchuld
ihrer Mannes ſo treffend bewieſen, daß ſich auch nicht
das geringſte nur mit einigem Scheine, dawider ſa-
gen lieſſe. Die Verantwortung ward uͤbergeben, und
Sebaldus ſchwebte indeſſen zwiſchen Furcht und Hof-
nung. An dem angeſetzten Tage begab er ſich nach
der Reſidenz. Er muſte in dem Vorzimmer der Seſ-
ſionsſtube eine halbe Stunde warten, unterdeſſen daß
uͤber ſein Schickſal gerathſchlagt ward. Darauf ward
C 5er
[42]
er hineinbeſchieden, um die Sentenz anzuhoͤren, wel-
che, nach dem gewoͤhnlichen Eingange, folgenderma-
ßen lautete: „daß Beklagter wegen irriger Lehre und
„Abweichung von den ſo theuer beſchwornen ſymboli-
„ſchen Buͤchern, wobey er aller liebreichen Ermah-
„nungen ohnerachtet verharret, ſeines Predigt- und
„Lehramts zu entſetzen, und er bedeutet werde, ſich alles
„fernern Lehrens, Predigens und ſonſtiger Actuum mi-
„niſterialium
gaͤnzlich zu enthalten, ſo lieb als ihm die
„Vermeidung fuͤrſtl. Ungnade, und zweyjaͤhriger Zucht-
„hausſtrafe ſey. V. R. W.‟ Es fand keine Appella-
tion ſtatt. Es ward dem guten Sebaldus von dem
Conſiſtorialbothen unverzuͤglich Kragen und Mantel
abgenommen, zugleich ward er ernſtlich bedeutet,
die Pfarrwohnung zu raͤumen, indem die Pfarre
bereits vergeben ſey, und darauf ward er mit einer
vaͤterlichen Ermahnung in Frieden entlaſſen. Das
Conſiſtorium aber blieb noch verſammlet, um den
Praͤſidenten, ein lateiniſches Chronodiſtichon, auf die-
ſen merkwuͤrdigen zur Feſthaltung der reinen orthodo-
ren Lehre abzweckenden Actum, verleſen zu hoͤren, das
er in den vierzehn Tagen ſeit der letzten Seßion zu
Stande gebracht hatte.


Sebaldus war, als er auf die Straße kam, von
dem, was vorgegangen war, ſo betaͤubt, daß er
alle
[43]
alle Beſonnenheit verlohr. Seine Fuͤſſe trugen ihn
mechaniſcher Weiſe gerade nach Hanſe. Wilhelmine
hatte ſich, aus zureichenden Gruͤnden, von dem Aus-
gange des Proceſſes die beſte Hofnung gemacht. Sie
hatte daher, in der von ihr ſelbſt gepflanzten Laube,
neben dem Pfarrhauſe, eine laͤndliche Abendmahlzeit
zugerichtet. Als ſie damit fertig war, gieng ſie ihrem
Manne, mit ihren beiden Toͤchtern, entgegen. Er
kam endlich. Als er noch einige Schritte von ihr war,
ſahe ſie ſchon in ſeinen wilden ſtarr auf ſie gerichteten
Augen, einen Theil des uͤber ſie ſchwebenden Unfalls.
Er kam naͤher, und ſagte ihr in wenig Worten, wie
groß ihr Ungluͤck ſey. Wilhelmine ward blaß, die
Knie zitterten ihr, ſie fiel in ihrer Tochter Arme, und
die kleine Charlotte warf ſich auf ihre Mutter und
weinete. Wilhelmine ward erſt nach geraumer Zeit
ihrer Sinne wieder maͤchtig, und in großer Schwach-
heit nach Hauſe gebracht. Alle die Vergnuͤgungen,
die ſich dieſe kleine Familie, bey dem Abendmahl
in der Laube, nach der Zuruͤckkunft ihres Vaters ver-
ſprochen hatte, waren dahin. Wilhelmine war von
dem heftigen Schrecken ſo ſehr beweget worden, daß
ſie in wenig Stunden in einem ſtarken Fieber lag.
Mariane, ob ſie gleich ihr Herzeleid verbarg, konte
doch, indem ſie ihrer Mutter Handreichung leiſtete,
ihre
[44]
ihre naßen Augen nicht verbergen. Die kleine Char-
lotte
winſelte unaufhoͤrlich, weil ſie ihre Mutter
leiden ſahe. Sebaldus aber, uͤber ſein Ungluͤck
kaum ſo ſehr niedergeſchlagen, als uͤber die Haͤrte rach-
gieriger Menſchen beſtuͤrzt, ſaß ſtaunend, in der
ſtillen Schwermuth die aͤuſſerlich kalt ſcheint, aber
innerlich mit deſto groͤßerer Heftigkeit auf die Lebens-
geiſter wuͤtet.


Vierter Abſchnitt.


Des andern Morgens fruͤhe, erſchien vor Sebal-
dus
Thuͤre ein Wagen, in welchem Mag.
Tuffelius,
der Jnformator des Superintendenten
ſaß. Dieſe Perſon war fuͤnf Fuß vier Zoll lang, und
naͤherte ſich mehr der Magerkeit eines Candidaten, als
der Feiſtigkeit eines Pfruͤndenbeſitzers. Sein hageres
bleiches Geſicht war beſtaͤndig waſſerrecht gerichtet,
ohne ſich herauf oder herunter zu neigen. Seine Haͤn-
de die etwas laͤnger waren, als ſie haͤtten ſeyn ſollen,
hielt er mehrentheils gerade vor ſich weg, und bewegte
ſie wellenfoͤrmig, wie ein Schwimmender im Waſſer
Sein Gang war abgemeſſen und bedaͤchtlich, als wenn
er ſich fuͤrchtete auf etwas zu treten, und wenn er
ſprach, welches nie ohne Noth geſchah, war ſeine
Stimme
[45]
Stimme allezeit einen halben Ton hoͤher geſtimmet,
als anderer Leute Stimme, und hatte dabey etwas
quaͤckendes, daß man glaubte einen Staar zu hoͤren.
Er ließ ſich durch den Bauer der ihn gefahren hatte
aumelden, ſtieg nach empfangener Antwort langſam
aus dem Wagen, und ſchritte fort, bis er ins Zim-
mer kam, wo ihn Sebaldus und Mariane em-
pfiengen. Er legte ſeinen Hut vor ſeinen Bauch, und
beide Haͤnde in den Hut, gruͤßte die Aweſenden mit
einem halbtiefen Buͤcklinge ohne Haupt und Fuͤſſe zu
bewegen und ohne ein Wort zu ſprechen, ſetzte
ſich, und nach verſchiedenen Hem, Hem, ließ er ſich
folgendermaßen aus: „Da ich den goͤttlichen Beruf
„erhalten habe, die Seelen dieſes Dorfs als ein treuer
„Hirte zu weiden, ſo wird es dann wohl noͤthig ſeyn,
„daß mir dieſes Pfarrhaus als meine kuͤnftige Woh-
„nung ſogleich geraͤumet werde, ſintemahl ich in dem
„Herrn entſchloſſen bin, mein Amt unverzuͤglich anzu-
„treten, und zu dem Ende noch anheute, auf meine
„naͤchſtens zu haltende Antrittspredigt zu ſtudieren.‟
Sebaldus ſtellte ihm vor, daß es unmoͤglich ſeyn
wuͤrde, das Haus zu raͤumen, um ſo viel mehr, da
ſeine Frau dieſe Nacht krank worden waͤre. Tuffe-
lius
antwortete ſehr trocken: „Die Jhnen in Perſon
„vorgeleſene Sentenz enthaͤlt deutlich, daß ſie die
Pfarr-
[46]
„wohnung ſogleich raͤumen ſollen, und es muß jeder
„Chriſt der Obrigkeit unterthan ſeyn, die Gewalt
„uͤber ihn hat, ich rathe Jhnen alſo wohlmeinend an,
„ſich zu huͤten, daß Sie nicht einſt zu einem Beiſpiele
„angefuͤhet werden, wie die Abweichung von der rei-
„nen Lehre, auch zuletzt Rebellion wider die Obrigkeit
„hervorbringt.‟ Sebaldus war durch dieſe Rede ſo
ſehr zum Erſtaunen gebracht, daß er den Mag. Tuf-
felius
mit ſtarren Augen anſahe, und ſtillſchwieg.
Mariane aber nahm das Wort, und ſagte mit ſanf-
ter und zitternder Stimme zu Tuffelius: „Wir ſind
„nicht willens, uns zu widerſetzen, wir ſind auch dazu
„viel zu ſchwach, wir verlangen nur ſo viel Zeit, als
„noͤthig iſt, um eine andere Wohnung zu ſuchen, dazu
„iſt ein Tag zu kurz, zudem iſt meine Mutter gefaͤhr-
„lich krank worden. Ein Prediger iſt Bothe des Frie-
„dens, er ſoll Ruhe, Einigkeit und Wohlwollen be-
„foͤrdern. Wollen Sie alſo wohl den Anfang Jh-
„res Predigtamts damit machen, daß ſie eine aͤuſ-
„ſerſt ſchwache Kranke aus dem Hauſe werfen?‟
Tuffelius der mit ſeinen Augen bishero noch im-
mer unverwandt gerade vor ſich weggeſehen hatte,
richtete ſie in einer mit dem Horizonte parallelen Linie
gegen Marianens Antlitz, runzelte die Stirn, zog
den Mund ein wenig in die Breite, und ſagte mit
etwas
[47]
etwas lauterer Stimme und aufgehabener rechten
Hand: „Mulier taceat in rebus eccleſiaſticis! Meine
„liebe Jungfer, ich waͤre nicht werth, ein vieljaͤhriger
„Candidat des heiligen Predigtamts zu ſeyn, wenn
„ich die Pflichten dieſes hochwichtigen Amts nicht
„wuͤſte. Die erſte Pflicht deſſelben iſt wohl warlich,
„daß in Ruͤckſicht auf geiſtliche und goͤttliche Dinge
„alle irrdiſche und weltliche Dinge uns gar nicht be-
„wegen muͤſſen. Es wuͤrde unverantwortlich ſeyn,
„wenn man die arme verirrte Schafe einen Sontag
„uͤber ohne Hirten laſſen wollte, es iſt alſo meine
„hoͤchſte Pflicht, mich ihrer ohne Verzug anzuneh-
„men, und ſie bald wieder auf den rechten Weg
„und auf die gute geſunde Weide der reinen Lehre zu
„fuͤhren, wovon ſie vielleicht leider! (hier ſeufzete er,
„und that einen halben Blick auf Sebaldus) ab, und
„in den ſtinkenden Sumpf der Heterodoxie gefuͤhret
„worden.‟ Es ward hieruͤber noch vieles hin und
her geredet, und Tuffelius ließ ſich endlich mit Muͤhe
bereden, damit zufrieden zu ſeyn, daß ihm vor der Hand
eine Stube eingeraͤumet wuͤrde, begab ſich in dieſelbe
ſchrieb einen langen Brief, mit dem er den Bauer
der ihn gefahren hatte zuruͤckſendete, legte Lanki-
ſchens Concordanz,
die er im Kuffer mitgebracht
hatte, auf den Tiſch, und fing an den Faden ſeiner
Anzugspredigt zu ſpinnen.


Sebal-
[48]

Sebaldus, Wilhelmine und Mariane hatten
ſich immer blos auf ihre gute Sache verlaßen, und ſa-
hen nunmehr zu ſpaͤt ein, daß ſo gut eine Sache auch
iſt, dennoch eine maͤchtige Protection zu einem vor-
theilhaften Ausſchlage, nie uͤberfluͤſſig ſeyn werde.
Wilhelmine erinnerte ſich des Hofmarſchalls und
des Grafen von Nimmer, ſie glaubte, daß dieſe maͤch-
tige Patronen ſie gewiß nicht wuͤrden verlaßen haben,
wenn man ſie um Huͤlfe erſucht haͤtte. Da ſie bey
der Schwachheit ihres Koͤrpers nichts von der Leb-
haftigkeit ihres Geiſtes verlohren hatte, ſo fing ſie an,
muthige Hofnung zu hegen, daß durch maͤchtige Vor-
worte vielleicht ihr Schickſal noch koͤnnte geaͤndert
werden. Sie wendete alle Kraͤfte an, ihren Mann
zu bereden, daß er nach der Stadt gehen und bei ſei-
nen Goͤnnern Huͤlfe ſuchen ſollte, welches Sebaldus
endlich verſprach. Es ward ferner verabredet, daß
man die Pfarrwohnung nicht freiwillig raͤumen wollte,
und Wilhelmine wuſte viele zureichende Gruͤnde an-
zufuͤhren, warum Gewalt weder gebraucht werden
koͤnnte noch wuͤrde. So lange man nur im Beſitz waͤre,
glaubte ſie, koͤnnte noch wohl die Abſetzung widerru-
fen werden. Mit dieſen Ueberlegungen beſchaͤftigten
ſie ſich bis auf den Abend, da ſie ſich etwas beruhigt
niederlegten. Eben dis that auch Tuffelius, nach-
dem
[49]
dem er mit lauter Stimme ſeinen Abendſegen abgele-
ſen, und ein Abendlied von zehen Verſen geſungen
hatte, wir wiſſen aber nicht genau, ob es Der Tag
hat ſich geneiget,
oder Nun ſich der Tag geen-
det hat,
geweſen ſey.


Fuͤnfter Abſchnitt.


Den andern Morgen fruͤh ging Sebaldus bey
Sonnenaufgang nach der Stadt. Wilhel-
minen
hatten ihre ſuͤße Hofnungen eine ruhige Nacht
verſchaft, wodurch ſie merklich geſtaͤrkt ward. Sie
ließ ſich einige Stunden nachher in einem Großva-
terſtuhl ſetzen, trank Thee, und hielt den Kopf der
kleinen Charlotte, die ſelbſt die Nacht ſehr unruhig
zugebracht hatte, und uͤber Hitze und Bangigkeit
klagte. Sie wollte ſich eben von Marianen etwas
aus Wielands Sympathien vorleſen laßen, als
Tuffelius unangemeldet in ihr Schlafzimmer trat.
Er war im Schlafrocke, und hatte eine von ſeiner
eigenen Hand ſehr weiß gepuderte Perucke aufgeſetzt.
„Jch freue mich, ſagte er, (nachdem er ihr in dem
„Herrn Friede gewuͤnſcht hatte) Sie auſſer dem Bette
„und ſo geſund, ſtark und munter zu ſehen, welches ſehr
„gut iſt, indem Sie mir anheute ohne Widerrede das
Erſter Theil. D„ganze
[50]
„ganze Haus einraͤumen muͤſſen.‟ Wilhelmine,
ganz erſtaunt, ſtellte ihm die Unmoͤglichkeit vor. Tuf-
felius
erwiederte aber: „Es kan kein fernerer Aufſchub
„ſtatt finden. Auf naͤchſtkuͤnftigen Sonntag wird meine
„Jntroduction vor ſich gehen, daher wird der Herr
„Generalſuperintendent des Sonnabends bey mir
„abtreten, dazu muß ich in meinem Hauſe alle noͤthi-
„gen Anſtalten machen, zumahl da er die Jungfer
Urſula Stauziin mit ſich bringen wird, mit wel-
„cher ich mich in ein chriſtliches Eheverloͤbniß einge-
„laßen, ſo ich Jhnen aus nachbarlicher Freundſchaft
„hiemit will notificirt haben. Saͤumen Sie alſo nicht
„ferner. Es ſtehet geſchrieben: Bittet, daß eure
„Flucht nicht geſchehe im Winter,
itzt ſind wir mit-
„ten im Sommer, und Sie koͤnnen alſo wohl zufrieden
„ſeyn.‟ Hiebey blieb es. Wilhelminens Gruͤnde,
Marianens Bitten, Charlottchens Weinen und
Aechzen, ob ſie ſich gleich ihm zu Fuͤſſen warf, halfen
nichts. Er fuͤhrte ſie ſaͤuberlich, eine nach der andern
zur Thuͤre hinaus, wo ſie zu ihrem nicht geringen
Erſtaunen vier fuͤrſtliche Trabanten von einem Un-
terofficier befehligt, vorfanden, durch dieſelben ließ
Tuffelius, alles was im Hauſe befindlich, ſehr be-
hutſam auf die Straße ſetzen, und gab ſelbſt Achtung,
daß nicht das geringſte zerbrochen ward.


Es
[]
[figure]

[][51]

Es war heller Sonnenſchein, da dis geſchah, hin-
gegen war es freilich Tuffelius Schuld nicht, daß
eine Viertelſtunde darauf ein ſtarker Regen fiel.
Wilhelmine mit ihren Kindern ſuchte ſich unter
einen am Hauſe gelegenen Schuppen vorm Regen zu
verwahren. Alle Bauern waren zuſammengelaufen.
Sie haͤtten bey einer andern Gelegenheit ihrem Pfar-
rer freilich nachdruͤcklich Huͤlfe geleiſtet. Aber der An-
blick der fuͤrſtlichen Uniform und des blanken Palla-
ſches des Unterofficiers, erinnerte ſie ihrer treugehor-
ſamſten Pflicht. Einer kratzte ſich den Kopf, der an-
dere ſchuͤttelte den Kopf, und ſo gieng einer nach dem
andern weg, bis ſie der Regen vollends zerſtreute.


Nur ein Bauer, den Sebaldus bey einem gewiſ-
ſen Vergehen, wegen deſſen er ihn haͤtte zur Kirchen-
buße zwingen koͤnnen, mit einer bloßen liebreichen
Ermahnung beſtraft hatte, ließ ſich das Elend zu Her-
zen gehen. Er fuͤhrte Wilhelminen mit ihren Kin-
dern in ſein Haus, und holte mit ſeinem Knechte ihre
Sachen nach, die er bis auf weitere Anordnung we-
nigſtens vor dem Regen ſicher ſtellte.


Sebaldus war unterdeſſen in der Stadt ange-
kommen. Sein erſter Gang war zum Hofmarſchall,
bey dem er ſich melden ließ, und auch nach einem halb-
ſtuͤndigen Warten vorgelaßen ward. Der Hofmar-
D 2ſchall
[52]
ſchall war nicht mehr eben derſelbe, der er vor einigen
zwanzig Jahren geweſen war, als er Wilhelminen
dem Paſtor zufuͤhrete. Er hatte ſich unterdeſſen mit
der ſchoͤnen Clariſſe vermaͤhlet. Dis war ein eitles,
verſchwenderiſches, cokettes Ding, bey der er wenig
vergnuͤgte Stunden hatte. Sie verſchwendete ſeine
Guͤter, putzte ſich den halben Tag, und brachte die an-
dere Haͤlfte mit ihren Liebhabern zu, die ſie alle vier
Wochen abwechſelte. Jhren Gemahl bekam ſie nicht
zu ſehen, als wenn ſie Geld zur Bezahlung ihrer
Spielſchulden von ihm zu fordern, oder ſonſt mit ihm
zu zanken hatte, und endlich nach einem zehnjaͤhrigen
Eheſtande ſtarb ſie im Wochenbette, woran, wie da-
malige Hofnachrichten bezeugen, der Hofmarſchall gar
nicht ſchuld zu ſeyn glaubte. Er auf ſeiner Seite hatte
mehr als fuͤnf und zwanzig Jahre lang, wie es einem
treugehorſamſten Hofmarſchall gebuͤhret, allen Hof-
feſten Ehre gemacht, und zur Ehre des Fuͤrſten deſſen
Wein nie geſparet, ſondern hatte alle durchreiſende hoch-
adeliche, freyherrliche und graͤfliche Layen, redlich unter
den Tiſch getrunken, hingegen war er auch freilich von
manchen geiſtlichen Herren, als Aebten, Domherren,
Moͤnchen, Capitularen, deutſchen Rittern und Malthe-
ſerrittern, wieder redlich unter dem Tiſch getrunken
worden. Er hatte auf dieſe Art in den Dienſten der
gnaͤdig-
[53]
gnaͤdigſten Landesherrſchaft, ſeine Geſundheit, und
den groͤßten Theil des Vermoͤgens, das ihm die ſchoͤne
Clarißa uͤbrig’ gelaßen hatte, zugeſetzt. Er glaubte
alſo ein Recht zu haben, fuͤr ſeine treugeleiſteten Dienſte
mit einer anſehnlichen Penſion anf Lebenszeit belohnt
zu werden. Er hatte damals vor einigen Wochen
darum angehalten, hatte aber ſtatt derſelben in ſehr
gnaͤdigen Ausdruͤcken ſeinen Abſchied, mit dem Pre-
dicat, als fuͤrſtl. Geheimderrath erhalten. Seit die-
ſer Zeit hatte er zum oͤſtern Anfaͤlle von Devotion,
die mit den Anfaͤllen vom Stein, vom Chiragra und
Podagra abwechſelten, und itzt da Sebaldus ihm
aufwarten wollte, hatte er eben einen Anfall von
Devotion, Chiragra und Podagra zugleich. Er lag
auf einer Bergere,*) beide Fuͤſſe in Flanell gewickelt,
und auf einer nebenſteheuden Servante**) von Ma-
hagoniholze lagen Goezens Todesbetrachtungen
auf alle Tage,
und der wohlgeruͤſtete Himmels-
wagen
nebſt den Frankfurter Reichs-Ober-Poſt-
Amts-Zeitungen.
Sobald der Schmerz in den
Haͤnden und Fuͤßen zu arg ward, ergrif er eins von
den Buͤchern, und laß uͤberlaut eine Betrachtung oder
D 3Gebet
[54]
Gebet uͤber das andere, und um deſto heftiger und
lauter je aͤrger der Schmerz war; ſo bald er aber nach-
ließ, ergriff er die Zeitungen, um ſich an den Berich-
ten von den grauſamen Metzelungen, die die Reichs-
executionsarmee
unter den Preußiſchen Heeren
zuletzt angerichtet hatte, in der Stille das Herz zu
laben. Eben beym Zeitungsleſen traf ihn Sebaldus
an, und dis war fuͤr ſein Anliegen eben nicht vortheil-
haft. Der Hofmarſchall fuhr ihn ziemlich daruͤber an,
daß er nicht Buſſe gepredigt haͤtte, anſtatt durch ſeine
Predigt eine Armee zu verſtaͤrken, von der, wenn
das verwuͤnſchte Reerutiren nicht waͤre, ſchon kein
Mann uͤbrig ſeyn muͤſte. Er hielt ihm dabey eine
lauge Predigt vom deutſchen Vaterlande, die der
beruͤhmte Verfaſſer des deutſchen Nationalgeiſtes
und der Reliquien, irgendwo auch einmal gehoͤret
haben muß, weil man in dieſen Buͤchern woͤrtlich
wieder findet, was damals der alte podagriſche Hof-
marſchall zum Paſtor Sebaldus ſagte. Nachdem
dieſe Lection eine halbe Stunde gewaͤhret hatte, kam
er auf Sebaldus Anliegen zuruͤck, wegen deßen er ihn
an den Conſiſtorjalpraͤſidenten verwies. Doch verſi-
cherte er ihn, als ein alter Hofmann, hoͤflich bey allen
Gelegenheiten ſeiner Protection. Sebaldus fuhr
nach dem Schlafrockzipfel, um ihn zu kuͤſſen, welches
er
[55]
er auch ruhig geſchehen ließ. Hingegen hob er ſeine
Hand auf, um an ſeine Schlafmuͤtze zu greifen, weil
er aber vermuthlich vergaß, daß er die Hand nicht
wohl beugen konnte, empfand er ploͤtzlich einen ſo
empfindlichen Schmerz, daß er ein Sacr ** ausrief,
ſogleich nach Goezens Todesbetrachtungen griff,
und laut an zu leſen fieng: Betrachtung am 15ten
Junius.


Sebaldus war durch dieſen Beſuch wenig getroͤ-
ſtet worden. Er ſuchte ſeinen Freund Hieronymus
auf, hoͤrte aber, daß derſelbe verreiſet waͤre. Er
ging daher nach einem Wirthshauſe, wo er den Reſt
des Tages blieb. Den andern Morgen fruͤhe machte
er ſich nach Rennsdorf, dem Sitze des Grafen von
Nimmer, auf, wo er gegen eilf Uhr ankam. Die-
ſe Zeit, die dem buͤrgerlichen Theile der menſchlichen
Geſellſchaft beinahe Mittag iſt, war fuͤr den Hoch-
graͤflichen Greis kaum Morgen. Seit einer halben
Stunde ohngefehr hatte er das Bette verlaßen, hat-
te das wichtige Geſchaͤfft des Kuͤchenzettels abgefer-
tigt, und war itzt beſchaͤftigt, auf einem weichen So-
fa ſeine Chocolate einzuſchluͤrfen, und auf die Ver-
dauung der geſtrigen Mahlzeiten zu warten. Sobald
ſich Sebaldus anmelden ließ, ward er ſogleich vor-
gelaßen. Er naͤherte ſich mit wenigſtens zwanzig
D 4Buͤck-
[56]
Buͤcklingen dem hochgraͤflichen Lager, und ſtamlete
etwas einem Complimente aͤhnliches, welches der
Graf, in eine Frage nach ſeinem Befinden verdol-
metſchte, und nach verſchiedentlichem Raͤuſpern ant-
wortete: „Nicht recht wohl mein lieber Herr Paſtor,
„mein boͤſer Morgenhuſten quaͤlet mich alle Tage
„mehr! Jch kaun nichts mehr eßen. Geſtern habe
„ichs nur einmal gewagt, eine Auerhahnpaſtete zu
„koſten, die liegt mir heute noch im Magen. Jch
„bin gar zu ſchwach. Selbſt die aſtrakanſchen Melo-
„nen wollen mir nicht bekommen, die Ananas ma-
„chen mir Blaͤhungen. Jch habe mir heute blos ein
„einziges Ragout fin beſtellt, ich muß heute faſten,
„um meinen Magen wieder herzuſtellen. Aber iſts
„nicht elend, mein lieber Herr Paſtor, wenn man
„nicht eßen kann.‟ Sebaldus antwortete mit ei-
nem tiefen Seufzer: „Ja wohl, Ew. Hochgraͤfl.
„Gnaden, beinahe eben ſo ſchlimm, als wenn man
„nichts zu eßen hat, ich befuͤrchte beinahe, daß ich in
„dieſem Fall—‟ der Graf fiel ihm ins Wort: „Sie
„haben Recht, lieber Herr Paſtor, bald wird man
„auch gar nichts zu eßen haben, der leidige Krieg ver-
„derbt alles. Jch habe vorigen Winter recht elend
„zugebracht. Die Auſtern kamen ſehr unrichtig an.
„Den ganzen Winter uͤber habe ich aus Preußen kein
„Birk-
[75[57]]
„Birkhuhn geſehen, auch Stoͤr bekomt man nicht.
„Sehen Sie, Herr Paſtor, ich bin ein deutſcher Pa-
„triot, ich kann das franzoͤſiſche Eßen nicht leiden.
„Jch kann ihre Conſommés à la Cardinale, ihre
C—les d’agneau frites nicht ausſtehen. Lieber Herr
„Paſtor, wir muͤßen bedenken, daß wir Deutſche ſind.
„Wir koͤnnen uns zwar die guten franzoͤſiſchen Bruͤ-
„hen gefallen laßen, aber unſere Speiſen ſelbſt muͤſ-
„ſen deutſch ſeyn. Jch weiß was in allen deutſchen
„Provinzen das Beſte iſt. Wenige Leute verſtehen
„Z. B. hier zu Lande, was eine pommeriſche große Mu-
„raͤhne ¾ Ellen lang, oder eine Flinder von der Jnſel
„Hela, oder ein berliniſcher Sander fuͤr Dinge ſind,
„die habe ich ſonſt poſttaͤglich bekommen. Aber izt
„Herr Paſtor, izt iſt alles aus. Jch habe mir im
„vorigen Maͤrz aus Hanau eine kalte Paſtete, und
„aus Frankfurt am Mayn einen gewuͤrzten Schwar-
„tenmagen kommen laßen, den haben die preußiſchen
„Huſaren bey Fulda aufgefangen, welcher Teufel ſoll
„denn auch denken, daß die Kerlen ſchon im Maͤrz
„aus den Winterquartieren ſeyn werden. Jm vori-
„gen October ſollte ich Krammetsvoͤgel vom Harze
„bekommen, die hatten die Luckneriſchen Huſaren ſich
„auch wohl ſchmecken laßen. Jm Februar habe ich
„Faſanen aus Boͤhmen verſchrieben, ja! wenn nicht
D 5„die
[58]
„die Graͤnitzer bei Wilsdruf geſtanden haͤtten! Die
„Franzoſen machens nicht beßer. Meine weſtphaͤli-
„ſche Schinken, und den Champagner, in dem ich ſie
„wollte kochen laßen, haben ſie im vorigen Monate
„in Bielefeld gepluͤndert. Da ſieht mans klar, daß
„es ihnen mehr um die weſtphaͤliſchen Schinken, als
„um den weſtphaͤliſchen Frieden zu thun iſt. Jch
„ließ mir Caviar aus Koͤnigsberg kommen, da ha-
„ben die Rußen die Poſt bey Coͤßlin angehalten,
„und bey Colberg auf die Flotte gebracht. Jch
„moͤgte nur wißen, was mein Caviar auf der Flotte
„zu thun haͤtte, ich habe niemals ein Korn davon zu
„koſten bekommen. Jzt habe ich aus Sonnenburg
„Krebſe verſchrieben, Herr Paſtor, dis ſind die ſchoͤn-
„ſten Krebſe an Groͤße und an Geſchmack, aber die
„werden wohl die Schwedeu ſpeiſen, denn die Erlan-
„giſche Kriegs- und Friedenszeitung ſchreibt, daß ſie
„naͤchſtens in Berlin ſeyn werden. So ſind wir al-
„lenthalben mit Feinden umgeben, die uns alles weg-
„nehmen. Kein Wunder wenn wir ſchon ganz aus-
„gehungert ſind.‟ Jndem er dis ſagte, kam der
Cammerdiener, und fragte, ob es Sr. Hochgraͤfli-
chen Gnaden gefaͤllig waͤre, das Fruͤhſtuͤck zu ſich zu
nehmen. „Ja,‟ ſagte der Graf, „und gebt noch
„ein Couvert fuͤr den Herrn Paſtor. Sie muͤßen
„wißen
[59]
„wißen, fuhr er fort, daß ich meinen Kuͤchenzettel
„zu Mittag und Abend ſelbſt mache, aber das Fruͤh-
„ſtuͤck zu waͤhlen uͤberlaße ich meinem Koche, der
„ſinnet denn mir jeden Tag etwas neues zu machen,
„das iſt mir unerwartet, und reizt ein wenig den Ap-
„vetit. Wir wollen einmal ſehen, was wir heute
„gutes zum beſten haben. Aha! einen Capaun, und
„mit Truͤffeln gefuͤllt, — nicht uͤbel, hier haben Sie
„Herr Paſtor — hiemit legte er dem Sebaldus ein
„Stuͤck vor und nun ging weiter kein Wort aus ſei-
„nem Munde, ſo daß Sebaldus, nachdem er ein
„paar Stuͤcken verzehret, Zeit genug hatte, ſeine und
„ſeiner Familie Noth vorzutragen. Der Graf ſchuͤt-
telte dabey den Kopf, ſagte mit vollem Munde man-
ches Hm, und brach endlich aus: „Herr Paſtor ich
„wuͤſte nicht, wie ich Jhnen helfen ſollte, die Zeiten
„ſind gar zu elend. Ja wenn die preußiſchen Ein-
„faͤlle nicht waͤren. Stellen Sie ſich nur vor, daß
„geſtern der Rittmeiſter, der eine Meile von hier auf
„Poſtierung ſtand, ſechszehn Stuͤck Rothwildpret in
„meinem Holze hat ſchießen laßen, und noch dazu mei-
„ſtens Riecken. Da moͤgte man vergehen, itzt in der
„Setzzeit.‟ Sebaldus verſicherte Se. Graͤfl. Gnaden,
daß er von Jhnen keine weitere Unterſtuͤtzung verlangte,
als nur Dero hohes Vorwort bey dem Conſiſtorialpraͤſi-
den-
[60]
denten, damit er nicht aus der Pfarre geworfen werde.
„Ja ſo, verſezte der Graf, „mein Vorwort wollen ſie
„haben, ich bedaure, daß ich Jhnen damit nicht dienen
„kann, denn ich komme izt gar nicht mehr nach der
„Stadt, ſehen Sie, man ißt da gar zu erbaͤrmlich,
„zumal bey dem Praͤſidenten, dem komme ich in mei-
„nem Leben nicht wieder. Er hat mir vor einem hal-
„ben Jahre eine Zwiebelſuppe und darin kleine nuͤrn-
„berger geraͤucherte Wuͤrſte vorgeſetzt, ich begreiſe gar
„nicht, wie eine menſchliche Creatur ſich mit ſo etwas
„naͤhren kann. Nein, Hr. Paſtor, bleiben Sie
„heute Mittag bei mir, nur auf ein Gericht Gern-
„geſehn, aber das doch beſſer ſeyn ſoll, als ein Tra-
„ctament beym Praͤſidenten.‟ Sebaldus ent-
ſchuldigte ſich damit, daß er heute noch zu Hauſe
ſeyn muͤße. „Nun, ſo bedaure ich, daß ich Sie
„nicht bey mir ſehen kann. Leben Sie wohl, Herr
„Paſtor, meinen Empfehl an Jhre Frau Liebſte.‟
Sebaldus ſtand nach alſo erhaltenem Abſchiede, vol-
ler Verwirrung auf, machte drey oder vier Buͤcklinge,
griff dem Grafen nach dem Schlafrockzipfel, der ihn
aber zuruͤck ſchlug, und dafuͤr den Paſtor umarmete,
der ganz verwirrt uͤber dieſe graͤfliche Gnade, wieder
Buͤcklinge vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts zu machen anfing,
ſo daß er nicht wußte, wie er zur Thuͤre herauskam,
und
[61]
und da er heraus war, nicht wußte, ob er frendig
oder betruͤbt ſeyn ſollte.


Jndeſſen da er eine kleine Strecke gegangen war,
fing die Betruͤbniß an, die Oberhand zu gewinnen.
Er ſahe nur allzuwohl ein, daß er nunmehr alle Hof-
nung verlohren haͤtte, von ſeinen Goͤnnern einige
Huͤlfe zu erlangen. Er kam mit traurigem Gemuͤ-
the nach Hauſe. Aber wie groß war ſein Entſetzen,
da er ſein Haus von einem andern eingenommen,
ſeine Familie in einer fremden Huͤtte, ſeine Frau und
ſeine juͤngſte Tochter auf dem Krankenbette, und ſeine
aͤlteſte Tochter ganz in Thraͤnen zerfließend antraf!
Er ſank troſtloß auf eine Bank nieder, ſtand nach
einigen Minuten auf, umarmte ſeine Frau und ſeine
Kinder. „Jch bin nicht ſo gluͤcklich geweſen, ſagte
„er, bey Menſchen einige Huͤlfe fuͤr uns zu finden,
„wir muͤßen alle Huͤlfe von dem allmaͤchtigen Gott
„erwarten, und der wird die ungluͤckliche Unſchuld
„nicht verlaſſen.‟


Sechster Abſchnitt.


Wilhelminens Krankheit nahm ſehr ſchnell zu,
und bey der kleinen Charlotte, die einige
Tage in der aͤuſſerſten Hitze lag, fingen ſich an die
Pocken
[62]
Pocken zu zeigen. Der ehrliche Bauer pflegte ſie ſo
ſehr, als es ſeine eigene nothduͤrftige Umſtaͤnde er-
laubten. Er gab ihnen ſeine einzige Stube ein, ſchlief
mit Sebaldus abwechſelnd in der Scheune, und
wachte mit ihm abwechſelnd bey den Kranken. Ma-
riane
aber kam ihrer kranken Mutter und Schwe-
ſter nie von der Seite. Alles was moͤglich war,
um ihnen Erleichterung zu verſchaffen, that ſie,
aber leider! war nur ſehr wenig moͤglich. Mit jedem
Tage vermehrte ſich das Elend. Wilhelmine in der
aͤuſſerſten Entkraͤftung, Charlottchen mit zuſam-
menflieſſenden Eiterbeulen uͤberdeckt, keine Arzney,
wenig Speiſe, keinen Freund auſſer dem ehrlichen
Bauer, keine Hofnung, daß dieſer Zuſtand verbeſ-
ſert werde, keine Ausſicht wie man in dieſem Zuſtande
fortleben koͤnne. Schon ſeit einigen Wochen hatte
die Familie von dem Verkaufe einiger Waͤſche und Mo-
bilien gelebt, die der Bauer, wenn er zu Markte
fuhr, in der Stadt verkauſte. Es war zu uͤberſehen,
daß dieſe kleine Huͤlfe nicht lange dauren koͤnnte. Her-
nach zeigte ſich der kommende Winter, keine Nah-
rung, kein Obdach, das bitterſte Elend. „O großer
„Gott, rief Sebaldus aus, verdienet eine Abwei-
„chung von den ſymboliſchen Buͤchern, daß eine Fa-
„milie, die beſtaͤndig nach deinen Geboten zu wan-
„deln
[63]
„deln beflißen geweſen, in den klaͤglichſten Mangel
„geſtuͤrzt werde!‟


Jnzwiſchen beſchaͤftigte das gegenwaͤrtige und ver-
gangene Elend den Geiſt viel zu ſehr, als daß oft
an das kuͤnftige gedacht werden konnte. Jeder Tag
ſezte zu der großen Maſſe des Kummers ſeinen reich-
lichen Antheil hinzu. Charlottgens Krankheit ſtieg
ſchnell bis auf den aͤußerſten Gipfel. Je mehr die
Saͤfte ihres Koͤrpers in die ſchreckliche Gaͤhrung ge-
riethen, durch die alle Theile aus der Miſchung, in
der ſie ſich einander zuſammenhalten und ernaͤhren,
in die verſezt werden, in der ſie ſich einander zerſtoͤren
und aufloͤſen, deſto mehr nahm ihr zarter Geiſt an
gezwungener Staͤrke, an tumultuariſcher Thaͤtigkeit
zu. Phantaſien traten an die Stelle der Empfindun-
gen, und ein taubes Hinbruͤten an die Stelle der
ſanften Ruhe, die Koͤrper und Geiſt erquickt. Sie
gerieth endlich einen Tag lang in einen betaͤubenden
Schlummer, aus dem ſie mit der Heiterkeit einer ge-
ſunden Perſon erwachte, ſie ſtreckte ihre kleine Haͤnde
mit einem zaͤrtlichen Lallen nach dem Bette ihrer ſchwa-
chen Mutter aus, redete ihren Vater und ihre Schwe-
ſter an, die ſie ſeit acht Tagen, bey aller zaͤrtlichen
Bemuͤhung derſelben ihr zu helfen, nicht gekannt
hatte, richtete ihr Haupt auf, forderte ihres Vaters
Segen,
[64]
Segen, aber indem er ein Schritt zu ihr trat, ſank
ſie zuruͤck in die Arme ihrer Schweſter, die ſie unter-
ſtuͤtzen wollte. Mariane that einen lauten Schrey,
Sebaldus fiel auf den todten Koͤrper, die ſchwache
Wilhelmine richtete ſich auf, als ob ſie ihrer Toch-
ter helfen wollte. Umſonſt! ſie war dahin. Nun
ſank Sebaldus in die tiefe Betaͤubung, die keinen
Theil des Elends einzeln empfindet, weil das Ganze
die Seele voͤllig eingenommen hat. Auch Maria-
nens
Kraͤfte reichten nicht zu, ſo viel Ungluͤck zu er-
tragen. Sie fiel unter einem Strome von Thraͤnen
auf ihr Lager, und blieb den ganzen Tag in einer be-
taͤubenden Mattigkeit, ohne daß ſie im Stande war,
ihrer kranken Mutter die gewoͤhnlichen zaͤrtlichen Lie-
besdienſte zu leiſten. Wilhelmine aber, die bisher
in der aͤußerſten Entkraͤftung gelegen hatte, rief
alle ihre Lebensgeiſter hervor, um ihr uͤberſchwengli-
ches Elend zu empfinden, denn bey großer Traurig-
keit iſt die Traurigkeit ſelbſt der einzige Genuß, und
daher der Seele angenehm. So ſchwach ſie war, ſo
wendete ſie Kraͤfte an, bald zu klagen, bald zu ſeuf-
zen, bald, weil ſelbſt der Anblick der Leiche ihre
Zaͤrtlichkeit ſtaͤrker auf die Lebendigen zog, um ihren
Mann und ihre Tochter zu troͤſten. Sie wollte ſo-
gar aufſtehen, um denen Handreichung zu leiſten,
deren
[65]
deren Handreichung ſie ſelbſt noͤthig hatte. Aber hier
merckte ſie, daß ihr Koͤrper ſchwaͤcher war, als ihr
Geiſt. Sie fiel ermattet nieder, und konnte nur
noch blos durch Zureden Troſt geben. So brachte
dieſe ungluͤckliche Familie eine Nacht und einen Tag
zu, ihr Elend ganz zu empfinden, und einen ſehr
kleinen Theil davon durch wechſelſeitigen Troſt zu
erleichtern. Am Ende dieſes Tages fuͤhlte Wilhel-
mine
ſchon, daß ſie mehr Kraͤfte hatte anwenden
wollen als ſie beſaß, ſie fiel Abends in eine außeror-
dentliche Ermattung, und in ein mit vieler Hitze ver-
knuͤpftes Fieber. Kaum konnte ſie gegen Mitternacht
einen unruhigen unerquickenden Schlaf genießen.
Sie brachte den folgenden Tag in einem ſchmachten-
den Zuſtande zu. Gegen Abend ergriff ſie das Fie-
ber mit viel ſtaͤrkerer Hitze, ſie erwachte des andern
Morgens bey Sonnenaufgang aͤuſſerſt entkraͤftet, und
empfand etwas, dergleichen ſie noch nie empfunden
hatte. Sie legte ihre Hand in die Hand ihres Man-
nes, der nebſt Marianen die ganze Nacht uͤber
nicht von ihrem Bette gewichen war, und ſagte mit
ſchwacher Stimme: „Jch ſterbe, ich fuͤhle es. Ver-
„geben Sie mir es, mein lieber Mann, daß mein
„unbedachtſamer Enthuſiasmus, den ich oft genug be-
„reuet habe, die unerwartete Folge gehabt hat, Sie
Erſter Theil. E„und
[66]
„und unſere ganze Familie ungluͤcklich zu machen.
Der Tod fuͤrs Vaterland iſt der Vorwand unſers
„Ungluͤcks; wollte Gott, ich koͤnnte ihn ſterben dieſen
„Tod! Doch ich wuͤrde achten, daß ich fuͤrs Vater-
„land geſtorben waͤre, wenn unſer Ungluͤck von einer
„empſindſamen Seele nacherzaͤhlt, unſere Geiſtlichen
„warnen, koͤnte, wegen Verſchiedenheit der Lehre
„nicht die bittere Feindſchafft aufeinander zu werfen,
„die die eigentliche Urſach unſers Ungluͤcks iſt. Mei-
„ne Abſicht war gut. Mich und unſere Feinde richte
„der allmaͤchtige Gott, der das innerſte der Herzen
„kennet. Lebe wohl, meine liebe Tochter, lebe ſo,
„wie dich deine Aeltern gelehret haben, tugendhaft und
„unſtraͤflich. Gott gebe, daß du deinen Bruder noch
„einmahl gluͤcklich wieder ſeheſt. Jſts moͤglich, ſo un-
„terſtuͤtze deinen alten Vater, ſo lange er lebt. Gott
„ſey dein Erhalter! Seiner Vorſorge empfele ich dich,
„denn leider von Menſchen biſt du verlaßen! Umar-
„me mich! — Hier entrannen zwo Thraͤnen ihren
ſich brechenden Augen, deren jedes nicht mehr Feuch-
tigkeit in ſich zu halten ſchien, als nur eine einzige
Thraͤne. Mariane kuͤßte ſie auf, und druͤkte ihren
Mund auf den Mund ihrer Mutter, deren Haupt
in dieſem Augenblick ſanft auf ihre linke Schulter
ſank, und die matten Haͤnde glitten ab, die ſie eben
um
[][]

[figure]


[67]
um ihre Mariane ſchlingen wollte. Sie entſchlief.
Mariane hatte nur noch Kraft, ein wimmerndes
Seufzen hoͤren zu laßen, indem ſie ihr nochmals den
kalten Mund kuͤßte, und hernach ſanft die Augen zu-
druͤckte. Sie fiel ſtumm in ihren Stuhl zuruͤck, oh-
ne Thraͤne, gleich einem unbeweglichen Bilde. Se-
baldus
in thraͤnenloſer Verzweifelung, ſtumm und
ſtaunend, ſaß ohne Bewegung, außer, daß er ſeinen
duͤſtern Blick von der Leiche ſeiner kleinen Tochter zu
der Leiche ſeiner Frau wendete. So ſaßen zwiſchen
zwo geliebten Leichen zween Lebende, todtenaͤhnlich,
in ſtummen Todeskummer. Der einzige Laut den
man hoͤrete, war von dem gutherzigen Bauer, der
auf der Bank am Ofen ſitzend, den Kopf an die
Wand gelehnt, innerlich ſchnuckte.


So ſaßen ſie, und der Mittag war vorbey, ohne
daß jemand ſich gereget, oder etwas zu ſich genom-
men haͤtte, als ein Mann in einem großen Reiſerocke
und in einer Reiſekappe vor der Thuͤr vom Pferde
abſtieg, und in die Stube trat. Es war Hierony-
mus,
der in ſeinen Geſchaͤften verreiſet geweſen war.
Weil ihn ſein Ruͤckweg durch dieſes Dorf fuͤhrte, ſo
wolte er ſeinen alten Freund den Paſtor beſuchen. Er
fand aber im Pfarrhauſe, anſtatt ſeines Freundes,
den Magiſter Tuffelius und den Superintendenten,
E 2die
[68]
die eben abgeſpeiſt hatten, und nach Tiſche noch
bey einem Glaſe Wein, von alten Geſchichten, von
der Convention von Cloſter-Seven und von dem
Atheismus der in den Brandenburgiſchen Landen,
ſtatt der ſymboliſchen Buͤcher eingefuͤhrt werden ſolte,
u. d. gl. ſich unterhielten. Sie noͤthigten ihn aufs freund-
lichſte hinein, ſo bald er aber von ihnen den ganzen
Vorgang erfahren hatte, ſetzte er ſich alles Noͤthigens
ohngeachtet wieder zu Pferde, und ritt nach dem ihm
bezeichneten Bauerhauſe.


Hier fand er den traurigſten Anblick. Das Kind
im Sarge, die Mutter erblaſſet, die Tochter halb ohn-
maͤchtig, den Vater vor Schmerz betaͤubt, den gut-
herzigen Bauer, der anfing ihnen Troſt zuzuſpre-
chen, da er ſelbſt Troſt noͤthig gehabt haͤtte. Beym
Anblicke des Hieronymus ergoß ſich das weiche Herz
der Mariane in einen Thraͤnenſtrom. Sie zeigte
auf die Leiche ihrer Mutter nnd Schweſter, ihre Blicke
ſagten mehr, als ihre geſtamleten Worte. Hierony-
mus
brachte auch Thraͤnen anſtatt Worte herfuͤr.
Mariane fiel vor Thraͤnen erſchoͤpft in ſeinen Armen
in Ohnmacht. Er brachte ſie mit Huͤlfe des guther-
zigen Bauers wieder zu ſich. Nun ging ſeine Sorge
auf Sebaldus, der, ſtarre Blicke auf beide geliebte
Leichen geheftet, ohne alle Empfindung deſſen, was
um
[69]
um ihn vorgieng, da ſaß. Auf alles Zureden des
Hieronymus, antwortete er nur durch abgebro-
chene Worte, tiefe Seufzer und ſtarre Blicke gen
Himmel. Endlich ſtand er auf, hob ſeine beiden
Haͤnde empor, faltete ſie, und brach in apocalypti-
ſcher Entzuͤckung folgendermaßen aus: ‚Ja, ich habe
„Unrecht, o meine verklaͤrte Wilhelmine, dich zu
„beklagen, daß du einer Welt voll Elend, voll Be-
„trug, voll Bosheit biſt entriſſen worden: wo das
„Laſter in guͤldenem Stuͤcke gehet, wo Tugend und
„Menſchenfreundſchaft betteln muß, wo fuͤhlloſe Prie-
„ſter noch jenſeits dieſes Lebens ihre Verdammungen
„ausſpenden. Wohl dir, daß du geſtorben biſt!
„Zwar betruͤbt mich dein Abſchied jetzt ſehr, aber o
„wie ſehr viel freudiger wird unſere Zuſammenkunft
„ſeyn, wenn wir uns in dem himmliſchen Jeruſalem
„wiederſehen werden, wo kein Verbannetes mehr ſeyn
„wird, wo wir ſehen werden den lautern Strom
„des lebendigen Waſſers, klar wie ein Cryſtall, wo
„die, die da ſiegeten an dem Thiere und ſeinem Bilde
„und an der Zahl ſeines Namens, ſtehen werden,
„und haben Gottes Harfen, und ſingen das Lied
„Moſis und das Lied des Laͤmmleins, und ſprechen:
„Groß und wunderſam ſind deine Werke, Herr Gott,
„Allmaͤchtiger, gerecht und wahrhaftig ſind deine
E 3„Wege
[70]
„Wege du Koͤnig der Nationen! Wer ſollte dich nicht
„fuͤrchten, Herr, und deinen Namen verherrlichen,
„weil du ſo gnaͤdig biſt!‟


Mit dieſen und andern Worten der Apoealypſe
troͤſtete ſich Sebaldus, und ſuchte Kraͤfte, ſein Leid
zu ertragen. Hieronymus ließ ihn in dieſer beruhi-
genden Extaſe, gieng zu ſeinem Mantelſacke, der noch
auf dem Pferde lag, holte daraus ein paar gebra-
tene Huͤner, und unter einem ſeiner Piſtolenhulf-
ter, eine geſchliffene Flaſche Rheinwein hervor, denn
er pflegte auf Reiſen, die Piſtolen fuͤr ſeine Feinde,
und den Wein fuͤr ſeine Freunde bey ſich zu fuͤhren.
Er zog ſeinen ſchweren Reiſerock aus, und bereitete in
der Scheune das Mahl, von dem er und der Bauer
ihrer Traurigkeit ungeachtet, dennoch herzlich aßen,
weil ſie beide hungrig waren. Sebaldus und Ma-
riane
aber, nahmen auf wiederhohltes Zureden, we-
nigſtens ſo viel zu ſich, daß der Koͤrper in den Stand
geſetzt ward, die Bekuͤmmerniſſe der Seele beſſer zu
ertragen.


Nach der Mahlzeit trug Hieronymus mit dem
Bauer, Wilhelminens erblaſſten Koͤrper, und den
Sarg der kleinen Tochter in die Scheune, die dem
Sebaldus bisher zum Nachtlager, und noch kuͤrz-
lich
[71]
lich zum Speiſezimmer gedient hatte. Er rieth Se-
baldus
und Marianen, nunmehr ihren Koͤrper zu
pflegen, da ſie die Todten nicht mehr pflegen konnten.
Er verſprach in zween Tagen wiederzukommen, und
fuͤr Wilhelminens und des Kindes Begraͤbniß zu
ſorgen. Zuletzt erbot er ſich, alsdenn Sebaldus
und Marianen mit ſich nach der Stadt zu nehmen,
wo ſie ihm in ſeinem Hauſe willkommen ſeyn ſolten.
Beide nahmen ein ſo freundſchaftliches Anerbieten mit
Dank an. Hieronymus bat Vater und Tochter
nochmals, ihre Traurigkeit zu maͤßigen, gab, als er
ſeinen Reiſerock aus der Scheune holte, dem Bauern
etwas Geld, um ſie beſſer pflegen zu koͤnnen, um-
armte ſie, und ritt nach Hauſe.


Siebenter Abſchnitt.


Nach zween Tagen erſchien Hieronymus, vor des
Bauers Huͤtte, abermals zu Pferde. Jhm
folgten zween von ſeinen Kornwagen, leer, nur daß
auf einem ein Sarg ſtand. Jn dieſen ward Wilhel-
minens
Leichnam geleget. Unterdeſſen daß der Bauer
mit ſeinen und Hieronymus Knechten des Sebal-
dus
ſaͤmtliche Mobilien auf die Wagen packte, ging
Hieronymus zum Mag. Tuffelius, um fuͤr die
E 4doppel-
[72]
doppelte Beerdigung die Gebuͤhren zu bezahlen. Tuf-
felius
bezeigte uͤber des Sebaldus Unfaͤlle ein chriſtli-
ches Mitleiden, verſicherte, daß er gegen denſelben
gar keine Feindſchaft hege, und um ſein vertraͤgliches
Gemuͤth zu zeigen, erbot er ſich ſogar, der ſel. Frau
Paſtorin eine oͤffentliche Leichenpredigt zu halten, wenn
es dem Herrn Hieronymus beliebte die Gebuͤhren
dafuͤr zu entrichten. Dieſer fand es aber eben nicht
noͤthig, und kehrte nach dem Bauerhauſe zuruͤck, wo
er mit Beyhuͤlfe des gutherzigen Bauern die Beer-
digung beider Leichen beſorgte, und unmittelbar dar-
auf Sebaldus und Marianen mit ſich nach der
Stadt nahm.


Sie hielten ſich einige Monate in Hieronymus
Hauſe auf, ohne daß ihnen der geringſte Unfall be-
gegnet waͤre. Zwar hielt D. Stauzius, den Sonn-
tag nach ihrer Ankunft, eine ſcharfe Geſetzpredigt uͤber
den Spruch: einen ketzeriſchen Menſchen meide,
worinn er ſehr deutlich zeigte, daß derjenige, der einen
ketzeriſchen Menſchen beherberget, ſich ſeiner Suͤnden
theilhaftig machet, welches er mit 2 Joh. v. 10. be-
ſtaͤtigte. Doch hatte er das Misvergnuͤgen, daß dieſe
Predigt gar nicht auf Sebaldus, ſondern auf einen
katholiſchen Zuckerbecker gedeutet ward, den der Fuͤrſt
hatte aus Wien kommen laſſen. Und da durch Ver-
anlaſ-
[73]
aulaßung dieſer Predigt, auf dem eben vorſeyenden
Landtage, die Ritterſchaft aus dieſem Zuckerbecker ein
Landesgravamen machte, und Sr. Durchl. in Unter-
thaͤnigkeit vorſtellte, daß das ſuͤße Confect dieſes Man-
nes die Bitterkeit der papiſtiſchen Lehre nimmermehr
verſuͤßen koͤnte, ſo bekam D. Stauzius noch dazu
aus dem Fuͤrſtl. Cabinette einen Verweis, den er zu den
Truͤbſalen rechnete, die der Satan frommen Lehrern
erwecket, und ihn in Geduld ertrug, bis er in der am
Ende des Landtages zu haltenden Predigt, ſich wider
diejenigen die den Waͤchtern Zions ihre Wachſam-
keit verweiſen, mit Nachdruck erklaͤren koͤnnte,


Sebaldus und Mariane, die die ihnen zuge-
dachte Abkanzelung nicht einmahl erfahren hatten,
lebten indeſſen ſehr ruhig und vergnuͤgt. Mariane
beſchaͤftigte ſich mit weiblichen Arbeiten und mit dem
Unterricht zweyer kleinen Toͤchter des Hieronymus.
Sebaldus
aber, brachte die meiſte Zeit in Hierony-
mus
Laden zu, um aus alten prophetiſchen Schriften
Collectaneen zu ſeinem apocalyptiſchen Commentar zu
zu ſammlen. Er durfte auch nicht befuͤrchten, daß ihn
hier etwa einer von ſeinen Feinden ſtoͤren moͤchte, denn
weder der Praͤſident, noch der Superintendent hatte
im Buchladen etwas zu thun. Der erſte war ein
Genie, und als ein ſolches hielt er es fuͤr ſich nicht
E 5anſtaͤn-
[74]
anſtaͤndig, viel zu leſen, der andere erwartete alle
Wirkung ſeiner Predigten von der ſeligmachenden
Gnade, und hielt alſo alle menſchliche Gelehrſamkeit
fuͤr ganz uͤberfluͤßig.


So zufrieden aber auch Sebaldus und Mariane
in dem Hauſe ihres freundſchaftlichen Wirthes waren,
ſo lagen ſie ihm doch beſtaͤndig an, fuͤr ſie Poſten zu
finden, in denen ſie ihren Unterhalt erwerben koͤnnten.
Kurz darauf fand ſich eine gewuͤnſchte Stelle fuͤr Ma-
rianen,
denn als Hieronymus wieder in Geſchaͤf-
ten verreiſet war, erſuhr er, daß eine adeliche Da-
me, eine franzoͤſiſche Demoiſelle zu Erziehung ihrer
beiden Fraͤulein verlangte. Hierzu ſchlug er Ma-
rianen
vor, die auch ſehr gern darin willigte. „Dieſe
„Stelle, ſagte Hieronymus, ſcheint fuͤr Sie ſehr
„vortheilhaft zu ſeyn, aber ich rathe Jhnen, nicht
„Jhren Namen zu fuͤhren. Dieſe Dame iſt eine weit-
„laͤuftige Verwandtin des D. Stauzius, und ich
„befuͤrchte, er moͤgte aus Rachgier Jhnen auch dort
„uͤble Dienſte leiſten. Und ob es gleich heißt, daß
„Sie zur Erziehung der jungen Fraͤulein berufen wer-
„den, ſo iſt doch, wie ich merke, die Uebung in der
„franzoͤſiſchen Sprache, das vornehmſte, das von
„Jhnen verlangt wird. Jch habe Sie alſo, als die
„Tochter eines von den Ruſſen vertriebenen franzoͤſi-
„ſchen
[75]
„ſchen Predigers aus einem Staͤdtgen der Neumark
„angekuͤndigt. Deſſen Namen muͤſſen Sie alſo fuͤh-
„ren, weil der Namen vielleicht nicht wenig beigetra-
„gen hat, daß Sie andern Competentinnen ſind vor-
„gezogen worden.‟


Mariane nahm alſo einen franzoͤſiſchen Namen
an, ob in en oder in ere, oder in on, oder in ac, ha-
ben wir nicht eigentlich erfahren koͤnnen, und reiſete
mit demſelben, und einem Empfelungsſchreiben des
Hieronymus verſehen, nach dem Gute der Frau von
Hohenauf ab, welches ſechszehn Meilen von der
fuͤrſtl. Reſidenzſtadt entlegen war.


Ende des erſten Buchs.


Zweytes
[76]

Zweytes Buch.


Erſter Abſchnitt.


Sebaldus hatte ſeine Mobilien groͤſtentheils ver-
kauft, und das daraus geloͤſete wenige Geld
Marianen zur noͤthigen Einrichtung mitgegeben.
Er hatte ſich in den Zuſtand jenes Philoſophen ver-
ſetzt, daß er alles das ſeinige bey ſich tragen
konnte.
Nunmehr beſtand er darauf, auf irgend
eine Art, und wo moͤglich, auſſer der Stadt, in der
ſeine Feinde wohnten, ſelbſt ſein Auskommen zu ver-
dienen. Nach einiger Ueberlegung, nahm ihn Hie-
ronymus
mit ſich, als er nach Leipzig zur Meſſe
reiſete, wo er ihm bald bey einigen großen Druckereyen
die Stelle eines Correctors verſchafte. Sebaldus
miethete eine kleine Dachſtube im ſechſten Stockwerke,
und war bey ſeinem obwohl duͤrftigen Auskommen
uͤberaus vergnuͤgt mit ſeinem Zuſtande, weil er nur
ein Drittel des Tages mit Correcturen zu thun hatte, und
die
[77]
die uͤbrige Zeit auf ſeine apocalyptiſche Erklaͤrung wen-
den konnte, die ihm, wie ein alter Freund, in ſeinen
Widerwaͤrtigkeiten nur noch lieber geworden war.


Ob uͤbrigens Sebaldus zuerſt den Herrn D. Er-
neſti
oder den Herrn D. Cruſius beſucht habe, wiſ-
ſen wir nicht. Vielleicht hat er bedacht, daß ein ar-
mer Corrector nicht ſo leicht zu einem vertraulichen
Umgang mit ſolchen Maͤnnern gelange, und daß es
unnuͤtz ſey, einen Gelehrten auf eine halbe Viertel-
ſtunde zu beſuchen, um ſein Geſicht zu begaffen, und
iſt alſo gar zu Hauſe geblieben. Ob er jemals Prof.
Gellerts moraliſchen Vorleſungen
beigewohnt,
oder jemals mit Mag. Froriep uͤber die ſymboli-
ſchen Buͤcher, oder uͤber die Nunnation der arabiſchen
Nennwoͤrter diſputirt habe, laͤßt ſich auch ſo genau nicht
ſagen. Ob er in der Nicolaikirche, des in Leipzig und
deſſen ſaͤmtlichen Vorſtaͤdten beruͤhmten Mag. Mat-
theſius
ſalbungsvolle Predigten wider die Schau-
buͤhne mit angehoͤrt, oder ob er zu eben der Zeit da
ſie gehalten worden, im Kuchengarten, des eben ſo
weit beruͤhmten Haͤndels von Butter triefende Maul-
ſchellen
und Wetzſteine verzehret habe, daruͤber ſind
gar keine Nachrichten vorhanden.


Es haben ſehr ernſthafte Gelehrten behauptet, daß
die Wahrheit das Weſen der Geſchichte ſey.

Wir
[78]
Wir ſind weit entfernt, Maͤnnern die ſo ſcharf de-
monſtrirte Theorien der Geſchichte zuſammenſetzen koͤn-
nen, im geringſten zu widerſprechen, nur haben wir
uns unterſtanden zu muthmaßen, daß ob man gleich
in der Geſchichte lauter wahre Begebenheiten erzeh-
len ſolle, man doch auch lieber den groͤſten Theil der
wahren Begebenheiten koͤnnen unerzaͤhlt laßen. Es
ſind funfzigtauſend Baͤnde voll Wahrheit uͤber die
Geſchichte Deutſchlands zuſammengetragen worden, ſo
daß der ſchon ein gelehrter Geſchichtskundiger heißet, der
nur den funfzigſten Theil dieſer Wahrheiten geleſen hat.
Dieſer Ueberfluß von Wahrheit, hat manchen braven
Deutſchen zu dem angenehmen Luͤgner Voltaire ge-
fuͤhret, der uns ein halbes Jahrhundert in wenigen
Blaͤttern uͤberſehen laͤßt, aber dafuͤr auch oft unver-
antwortlicherweiſe eine Hildegardis hinſetzt, wo eine
Mathildis ſtehen ſolte, oder die Jahrzahl funfzig
angiebt, wo die Jahrzahl ſechzig ſolte angegeben wer-
den. Der Unterſchied zwiſchen unſern deutſchen wahr-
haften Geſchichtſchreibern, und den oft luͤgenhaſten
Franzoſen, (woraus auch zu erklaͤren iſt, warum Haͤ-
berlins Auszug der deutſchen Geſchichte
un-
gleich corpulenter gerathen iſt, als Voltairens al-
gemeine Weltgeſchichte,
) beſteht darin: Der ge-
lehrte Deutſche verſchweigt dem Leſer nichts, was
er
[79]
er gewiß weiß, und das iſt denn ſehr viel, aber er
bedenkt oft nicht, was der Leſer zu wiſſen verlange,
welches gemeiniglich ſehr wenig iſt. Hingegen der
Franzoſe, der nur wenig weiß, thut ſich auch darauf
nichts zu gut, ſondern erzaͤhlet nur das, was er meint,
daß ſeine Leſer zu wiſſen verlangen koͤnnten, macht ſich
aber auch kein Bedenken, es ihnen zuweilen mit einer
kleinen Bruͤhe von Erdichtung ſchmackhafter zu machen.


Wir die wir dieſe Beyſpiele vor uns ſehen, ſpiegeln
uns an denſelben- Wir wiſſen von Sebaldus Auf-
enthalte in Leipzig ſehr viele Umſtaͤnde, die wir nicht
wie die deutſchen Geſchichtſchreiber, ſamt und ſonders
erzaͤhlen, ſondern ſie vielmehr mit einiger Verlaͤngnung
unterdruͤcken wollen, weil wir nach reifer Ueberle-
gung gefunden haben, daß unſere Leſer weder Nu-
tzen noch Vergnuͤgen daraus ſchoͤpfen koͤnnen. Hin-
gegen ſoll auch die Wahrheit das Weſen dieſer Ge-
ſchichte
bleiben, und wir werden daher keinesweges,
gleich dem leidigen Voltaire, Umſtaͤnde verſtellen oder
erdichten, um unſere Erzaͤhlung intereßanter zu ma-
chen. Damit man aber nicht etwa glaube, wir wuͤ-
ſten nichts, weil wir nichts ſagen, ſo wollen wir, um
das Gegentheil zu zeigen, aus der groſſen Menge der
vor uns liegenden Nachrichten, einige bey Sebaldus
Aufenthalt in Leipzig vorgefallenen Abendgeſpraͤche
mittheilen.


Neben
[80]

Neben der Dachſtube des Sebaldus, wohnete
auf einer andern Dachſtube ein alter Magiſter, mit
dem er bald Bekanntſchaft machte, und mit ihm in
kurzen vertraut wurde, weil es ſich aͤuſſerte, daß der-
ſelbe, ſo wie er, an der Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen zwei-
felte. Dieſer Mann hatte gruͤndliche Kenntniſſe der
alten Sprachen und alles deſſen, was zur Philologie
gehoͤrt. Er hatte die alten griechiſchen Philoſophen
fleißig geleſen, und ſie mit den Schriften neuerer Phi-
loſophen verglichen, wodurch er gute Einſichten in die
Philoſophie erlanget hatte. Aber weil ſeine Kennt-
niſſe nicht nach nach der Mode zugeſchnitten waren,
und weil er, ſobald er mit Menſchen reden ſolte, uͤber-
aus ſchuͤchtern und aͤngſtlich war, ſo hatte er ſich nie
getraut, um ein Amt, ſelbſt nicht um ein Schulamt
anzuhalten, man wuͤrde es ihm vielleicht auch nicht
gegeben haben. Er war daher als Corrector bey ver-
ſchiedenen Druckereyen, grau worden. Er kennte alle
Vorfaͤlle des Verleger- und Autorgewerbes. Denn
gleichwie ein Lichtputzer in der Comoͤdie, zuweilen einen
ſtummen Staatsminiſter oder einen redenden Lakayen
vorſtellen muß; ſo war auch er, obgleich eigentlich
nur ein Corrector, dennoch von ſeinem Verleger
oft zum Ueberſetzer, ja wohl gar zum Schreiber
einer zuverlaͤßigen Nachricht, oder ſchrift-
und
[81]
und vernunftmaͤßiger Gedanken, gebraucht
worden.


Einige Tage nach Sebaldus Ankunft, beſuchte
ihn der Magiſter, um den Abend bey einer ſehr fruga-
len Abendmahlzeit zu verplaudern. Der Magiſter
fragte, wie ihm Leipzig gefiele. Sebaldus der nichts
fuͤr merkwuͤrdig hielt, was nicht einem Buche aͤhnlich
ſahe, hatte auch in Leipzig nichts als die vielen Buch-
druckereyen und Buchlaͤden bemerkt. Jhm war
gar nicht in die Augen gefallen, ob die Einwohner den
Rang oder die Bequemlichkeit liebten, ob ſie geſellig
oder ſteif waͤren, ob die Damen lieber geputzt als
ſchoͤn zu ſeyn ſuchten, ob die Studenten ein gelehrtes
oder ein ſoldatiſches, ein galantes oder ein liederliches
Anſehen affectirten, ob die Jungemaͤdgen Niedlich-
keit und Artigkeit fuͤr den erſten Zweck ihres Da-
ſeyns hielten oder nicht. Jhm war es nie eingekom-
men zu unterſuchen, wie die Bauart der Haͤuſer, den
Zweck der Eigenthuͤmer bey wenigem Platze ihre
Wohnungen bequem zu machen, verriethe, welchen
Beweis des Wohlſtandes der Einwohner die ſchoͤnen
Gaͤrten und Gartenhaͤuſer in den Vorſtaͤdten darboͤ-
ten, und ob daſelbſt Reichthum und Kenntniß des
Schoͤnen mit gleichen Schritten fortgegangen ſey.
Er hatte ſich auf den Straßen nie umgeſehen, und
Erſter Theil. Fes
[82]
es war ihm nie eingefallen zu eroͤrtern, ob das Ho-
mannſche Haus oder die Wage ſchoͤner gebauet ſey,
ob am Erker des Romanusſchen Hauſes, mit Rechte,
drey uͤbereinanderſtehende Saͤulenordnungen auf einem
Kragſteine ruhen, oder ob im Großboſiſchen Garten
die fleißige Kunſt die ſchoͤnſten Anlagen der Natur
verderbt habe. Den ſchoͤnſten unter den Leipziger
Gaͤrten, den Richterſchen, hatte er eben ſo wenig,
als die reizende Ausſicht aus demſelben gegen das Zſcho-
cherſche Hoͤlzgen zu, geſehen. Die ſchoͤne Gegend hinter
Raſchwitz war ihm nicht zu Geſichte gekommen, und
vom Linkſchen, Winklerſchen und Richterſchen Ca-
binette, hatte er nicht einmahl reden hoͤren. Weil
die Rathsbibliothek und die Univerſitaͤtsbibliothek,
die einzigen Gegenſtaͤnde ſeiner Neugierde, in der
Meſſe nicht offen waren, ſo hatte er alle Tage ſeines
Aufenthalts in Leipzig damit zugebracht, von Dru-
ckerey zu Druckerey und von Buchladen zu Buchla-
den zu wandern. Noch ganz voll von dieſen Gegen-
ſtaͤnden, rief er aus:


Wie ſolte mir Leipzig nicht gefallen, der aͤchte
Sitz der Gelehrſamkeit, die wahre Stapelſtadt ge-
lehrter Kenntniſſe, welche aus Deutſchland hieher ein-
geſamlet, und von hieraus allen andern deutſchen Pro-
vinzen wieder mitgetheilet werden! Hier ſiehet man
in
[83]
in unzaͤhlbarer Menge die Fruͤchte der Nachtwachen
einer groſſen Anzahl gelehrter Maͤnner, die, nachdem
ſie beſchaͤftigt geweſen, ihren Geiſt mit allen nuͤtz-
lichen Kenntniſſen zu bereichern, dieſe Kenntniße,
durch unermuͤdetes Nachdenken vervollkommet, der
ganzen Welt mittheilen und ſie dadurch zu erleuchten
ſuchen. Wenn ich die hieſigen unermeßlichen Buͤ-
cherniederlagen betrachtet habe, iſt mir die unaus-
geſetzte Geſchaͤftigkeit der Gelehrten recht ehrwuͤrdig
vorgekommen. Jch haͤtte nie gedacht, daß ſo viele
Buͤcher in der Welt waͤren, als ich hier beiſammen
finde, und daß noch jaͤhrlich einige hundert oder tau-
ſend hinzukommen.


Mag. Und daruͤber freuen Sie ſich? Jch nicht.
Sie kommen mir vor, wie ein hungriger Ankoͤmm-
ling an einer reichbeſetzten Tafel, der den groſſen Vor-
rath von Speiſen ſiehet, und ſchon uͤberſchlaͤgt, wie
gut er ſich mit dieſen herrlich ausſehenden Nahrungs-
mitteln fuͤttern wolle. Jch bin einer von den Gaͤſten,
die ſchon oft an dieſer Tafel geſeßen haben, und ſchon
oft hungrig aufgeſtanden ſind. Einige Speiſen hat-
ten einen ſehr wiedrigen haut-gout, andere ſchmeck-
ten angenehm aber waren aͤußerſt unverdaulich, an-
dere waren nicht gahr gekocht, und andere waren
bloße Schaueßen. Endlich blieb ich zu Hauſe,
F 2aß
[84]
aß mein Stuͤck Kaͤſe und Brodt, und verwuͤnſchte
alle Koͤche.


Seb. Aber iſt es nicht ein herrliches Schauſpiel,
eine ſo große Menge gelehrter Werke zuſammen zu ſe-
hen, die doch alle, jedes in ſeiner Art, die Menſchen kluͤ-
ger, gelehrter, weiſer, tugendhafter, kurz beßer machen?


Mag. Ein Schauſpiel wie manches andere, von
dem uns die Einbildungskraft, ehe wir es ſehen, die
angenehmſte Vorſtellungen macht. Wer wie Sie
vom Lande, aus der Einſamkeit kommt, iſt ſehr ge-
neigt ſich durch jeden erſten Glanz blenden zu laßen,
und alles fuͤr ſchoͤner anzuſehen als es iſt. Mein lie-
ber Freund! Wenn die Gelehrten durch ihre Buͤcher
ſonſt nichts zu erlangen ſuchten, als was ſie da ſagen,
ſo wuͤrden neun Zehentheile der Buͤcher gar nicht ge-
ſchrieben werden. Wie die Menſchen kluͤger weiſer
und beßer werden ſollen? Jch wette daran haben neun
Zehentheile der Schriftſteller, deren Werke die Meße
zur Meße machen, gar nicht gedacht. Sie haben
ganz andere Abſichten zu erlangen und ganz andere
Beduͤrfniße zu befriedigen.


Seb. Welche koͤnten die ſeyn? Ein Gelehrter hat
freilich viele Abſichten und Beduͤrfniße, als Menſch
mit andern Menſchen gemein. Was koͤnte er aber
als Gelehrter fuͤr ein anderes. Beduͤrfniß haben, als
ſeinen
[85]
ſeinen Geiſt durch alle nuͤtzliche Kenntniße aufzuklaͤ-
ren, und wenn er findet, daß er erleuchteter iſt als
andere, was folget natuͤrlicher darauf, als die Ab-
ſicht, andern ſeine Kenntniße mitzutheilen, das heiſt-
ein Schriftſteller zu werden.


Mag. Dieſe Folge ſcheint ſo natuͤrlich, gleich-
wohl muß ſie nicht nothwendig ſeyn, denn gewiß ſehr
viel Schriftſteller haben nicht daran gedacht ob ihr
Geiſt aufgeklaͤrt gnug ſey, noch weniger ob er aufge-
klaͤrter ſey, als der Geiſt anderer Leute, und gleich-
wohl ſind ſie Schriftſteller in beſter Form, und wenn
Zeitungslob und eigen Lob etwas gilt, große beruͤhm-
te Schriftſteller. Hingegen haben wir beide, Sie mein
Freund und ich, von Jugend auf gearbeitet unſere
Kenntniße zu erweitern und volkommner zu machen,
und ich darf ſagen, wir wißen es auch, daß wir man-
che Sachen beßer einſehen, als manche andere Leute,
und gleichwohl duͤrften wir beide vielleicht nie Schrift-
ſteller werden.


Seb. Jch weiß nicht, was Sie zu thun willens
ſind. Jch aber, ich muß es mit einiger Schuͤchtern-
heit geſtehen — ich arbeite ſchon ſeit vielen Jahren, an
einem Commentar uͤber die Apocalypſe.


Mag. Ueber die Apocalypſe? Da ſind Sie mehr
als jemand bey mir im Verdacht, daß nicht allein
F 3die
[86]
die von Jhnen vorher angefuͤhrten ſchoͤnen Abſichten,
ſondern einige kleine Nebenabſichten Sie zum Schrift-
ſteller machen.


Seb. Jch bin mir keiner Nebenabſichten bewuſt.
Walche koͤnte ich auch haben?


Mag. Jch weiß nicht. Vielleicht ein wenig
Ruhmſucht. Sie wollen der Welt gern etwas
neues und ſcharſfinniges ſagen, denn etwas fuͤr das
menſchliche Geſchlecht nuͤtzliches werden Sie doch
ſchwerlich ſagen koͤnnen. Die Apocalypſe iſt eine dick-
ſchaͤligte Citrone, aus der ſo viele hundert Commenta-
toren, den wenigen Saft der in ihr war, ſchon laͤngſt
ausgepreßt haben.


Seb. Wenn ſie nicht mehr Saft in ſich hat, ſo
koͤnte ſie doch vielleicht noch Oel enthalten. Glauben
Sie nicht, daß es dem menſchlichen Geſchlechte wich-
tig waͤre, wenn ich zeigte, daß alles was man bisher,
uͤber dis ſeit vielen Jahrhunderten vielen Menſchen
ſo wichtig ſcheinende Buch, geſchrieben hat, alberne
Fratzen ſind, voller Unſinn, auf Koſten des geſun-
den Menſchenverſtandes, der Religion und der Ge-
ſchichte geſagt. Waͤre es nicht ein Verdienſt ſo viel
Luͤgen um ihr Anſehen zu bringen, wenn ich auch nur
wenig Wahrheit an die Stelle ſetzen koͤnte. Und
gleichwohl, ohne ruhmredig zu ſeyn, verſichere ich, daß
ich
[87]
ich die erfuͤllten hiſtoriſchen Weiſſagungen, aus der Ge-
ſchichte anzeigen und von einigen wenigen noch uner-
fuͤllten, ſolche Muthmaßungen an die Hand geben
will, die ſelbſt Koͤnigen und Fuͤrſten nicht gleichguͤl-
tig ſeyn duͤrften. Dennoch ſchaͤtze ich dieſe meine hi-
ſtoriſche Entdekungen ſehr gering gegen diejenigen,
die etwas beitragen koͤnnen den moraliſchen Zuſtand
des Menſchen zu verbeßern. Wie, wann ich aus die-
ſem Buche, von dem kuͤnftigen Zuſtande der Auser-
waͤhlten die ſicherſten Schluͤße ziehen, wenn ich (hier
funkelten dem ehrlichen Sebaldus die Augen)
aus demſelben die Lehre, die Sie wie ich verab-
ſcheuen, die Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen, gaͤnzlich
wiederlegen, und deutlich zeigen koͤnte, wie in Got-
tes Haushaltung alle Beſtrafung auf Beßerung
abzielen muß und wird — koͤnte dis dem menſchlichen
Geſchlechte gleichguͤltig ſeyn?


Mag. Mein Freund, Sie haben wirklich eine
gute Anlage zum Schriftſteller, Sie kommen in Feuer
wenn Sie von Jhrem Buche reden. Doch ſcheint
es mir, indem Sie mir beweiſen wollen, daß die
Ruhmſucht nicht der Bewegungsgrund Jhres Schrei-
bens iſt, ſo ruͤhmen Sie ſich ſo ſehr als man ſich ruͤh-
men kann.


F 4Seb.
[88]

Seb. Den Ruhm, der aus einer wohlgelunge-
nen Ausfuͤhrung eines nuͤtzlichen Unternehmens ent-
ſpringt, verachte ich gar nicht. Er iſt jedem rechtſchaf-
fenen Manne angenehm, und kann mit der Begierde
der Welt zu nuͤtzen, ſehr wohl beſtehen, und ſo wird
es vermuthlich auch wohl mit den Nebenabſichten
ſeyn, die Sie den Schriftſtellern ſchuld geben.


Mag. Nicht voͤllig eben ſo. Die meiſten Schrift-
ſteller ſchreiben, um bekannt zu werden, ein Amt zu
erſchreiben, einem Patron ein Buch zu dediciren, ei-
nen Freund zu erheben, oder einen Feind zu erniedri-
gen, und ſie denken mehrentheils nicht daran, ob die
Welt von ihren Buͤchern Nutzen oder Schaden habe,
wenn ſie nur ihren Privatendzweck erreichen.


Seb. Den koͤnnen ſie aber nicht erreichen, wenn
ſie nicht zugleich etwas nuͤtzliches ſchreiben. Denn es
kann doch niemand ſo unverſchaͤmt ſeyn, ein Buch her-
auszugeben, um etwas bekanntes oder langweiliges oder
nichtsbedeutendes zu ſagen.


Mag. Das ſollte freilich nicht ſeyn, wie will es
aber ein armer Schriftſteller machen, wenn er nichts
neues intereßantes und wichtiges zu ſagen hat, und
doch ein Buch ſchreiben ſoll. Meinen ſie nicht, daß ein
wichtiges und nuͤtzliches Buch viel Geſchicklichkeit er-
fodere, daß man ſehr viel mehr wißen muͤße, als was
man
[89]
man ſagt, daß man vorher alles nachleſen muͤße, was
andere bekannte Schriftſteller uͤber dieſe Materie ge-
ſchrieben haben, daß man ſich aber doch nicht muͤße
merken laßen, wie viel man geleſen habe, daß man
ſeine ganze Materie wohl uͤberlegen und anordnen
muͤße, und daß zu allem dieſen ſehr viel Zeit und Ar-
beit gehoͤre?


Seb. Allerdings!


Mag. Meinen Sie aber, daß der, der bekannt
werden, ein Amt erſchreiben, ſeinem Patron ein
Buch dediciren, ſeinen Freund erheben oder ſeinen
Feind erniedrigen will, allemahl Geſchicklichkeit ha-
ben werde, oder viel Zeit und Arbeit werde anwen-
den koͤnnen?


Seb. Nein! Wenn aber dis nicht iſt, ſo muß er
auch gar kein Buch ſchreiben, denn den wahren
Hauptzweck des Schriftſtellens unwichtigen Neben-
zwecken aufopfern, iſt eines wahren Gelehrten ganz
unwuͤrdig.


Mag. Ja freilich eines Gelehrten! Aber ein
Schriftſteller, kann es im Laufe ſeines Gewerbes nicht
ſo genau nehmen.


Seb. Jch weiß nicht wie Sie ſprechen. Ein
Buchdrucker oder ein Buchhaͤndler, mag ein Gewer-
be mit Buͤchern haben, aber ein Schriftſteller iſt ein
F 5Gelehrter
[90]
Gelehrter, der der Welt nuͤtzliche Kenntniße mitzuthei-
len ſucht, der Wahrheit und Weisheit befoͤrdern will.


Mag. Jhre Einbildungskraft, mein liebſter
Freund, fliegt noch ziemlich hoch, laßen Sie ſich her-
unter, und kommen Sie der Erde naͤher. Der groͤ-
ſte Haufen der Schriftſteller von Profeßion, treibt
ein Gewerbe, ſo gut als die Tapetenmaler oder die
Kunſtpfeifer, und ſieht die wenigen wahren Gelehr-
ten, faſt eben ſo, fuͤr zudringliche unzuͤnftige Pfuſcher
an, als jene Handwerker einen Mengs oder Bach.
Durch dis Gewerbe, und nicht durch die Begierde
das menſchliche Geſchlecht zu erleuchten, entſteht die
unſaͤgliche Menge von Buͤchern die Sie ſo bewun-
dert haben; denn Leipzig iſt freilich ſeit mehr als hun-
dert Jahren die Stapelſtadt der Waaren, die dieſe
gelehrten Handwerker zu jeder Meße verfertigen.


Seb. Sie haben ein ſonderbares Vergnuͤgen da-
ran, Woͤrter zuſammenzuſetzen, deren Begriffe of-
fenbar miteinander zu ſtreiten ſcheinen. Gelehr-
ſamkeit
ein Handwerk? Buͤcherſchreiben ein Ge-
werbe?


Mag. Allerdings, und zwar ein ſolches Gewer-
be,
worin jeder den Nutzen ſo ſehr auf ſeine Seite zu
ziehen ſucht, als es nur moͤglich iſt. Der Autor will
gern dem Verleger ſo wenig Bogen Manuſcript als
moͤglich,
[91]
moͤglich, fuͤr ſo viel Geld als moͤglich iſt, uͤberliefern.
Der Verleger will gern ſo viele Alphabete als moͤg-
lich, ſo wohlfeil als moͤglich einhandeln, und ſo theuer
als moͤglich verkaufen. Der Autor will gern ſo we-
nig Zeit, Muͤhe, Ueberlegung und Geſchicklichkeit an
ſein Buch wenden, und doch ſo viel Ruhm, Beloh-
nung, Befoͤrderung, von der Welt einaͤrndten, als
moͤglich. Zu dem letzten ſind leider nur allzuviel Mit-
tel vorhanden.


Seb. Sie ſagen mir da ſo unerhoͤrte Sachen,
daß ich vor großem Erſtaunen mich faſt nicht ge-
traue, ein Wort dagegen zu ſagen, und doch begreife
ich alles ganz und gar nicht. Was fuͤr Mittel koͤn-
nen vorhanden ſeyn, durch ein Buch Ruhm und Be-
lohnung zu erlangen, in dem man nicht Talente zeigt
und auf das man wenig Zeit gewendet hat?


Mag. Ey ſehr viele. Z. B. ein Profeßor muß
Amtswegen ein Collegium leſen, dazu ſchreibt er ein
beſonderes Compendium der ganzen Wiſſenſchaft. Dis
koſtet wenig Zeit und Muͤhe, erfordert auch wenig
Talente, und doch giebt es bey den Studenten das
Anſehen, als ob man die Sachen beſſer verſtehe als
ſeine Vorgaͤnger, und bey der Welt das Anſehen,
als ob man ein Buch ſchreiben koͤnne.


Seb.
[92]

Seb. Aber die Welt kan doch unmoͤglich ein blo-
ßes Compendium einer bekannten Wiſſenſchaft fuͤr ein
Buch anſehen.


Mag. Die deutſche Welt iſt gutwillig, ſie hat
ſich ſchon ſehr viele Compendienſchreiber fuͤr Schrift-
ſteller anfdringen laßen. Und denn weiß mancher
Lehrer noch wirthſchaftlicher mit ſeinem Pfunde zu
wuchern. Will das Compendium nicht Ruhm gnug
bringen, ſo laͤſt man einen Theil des Diſcurſes oder
der Amplification des Compendiums unter einem
Modetitel drucken, und denn iſt man ein Schriftſteller
in beſter Form.


Seb. Ja! aber doch ſind meines Erachtens, Stu-
denten und Leſer ſehr unterſchieden.


Mag. Ja freilich, darum werden auch die Stadt-
hiſtoͤrchen, die Anſpielungen auf die Herren Colle-
gen, die Schwaͤnke die die Benevolenz der Herren
Commilitonen captiviren ſollen, weggelaſſen, wenig-
ſtens von denen, die Keuntniß der Welt und Lebens-
art im Munde fuͤhren.


Seb. Das iſt ganz gut! Aber ich daͤchte doch, der
ganze Ton muͤſte veraͤndert werden. Ein Lehrer kann
vorausſetzen, daß er mehr Einſichten habe als
ſeine Zuhoͤrer, deshalb kann er ihnen manches ſagen,
daß er den Leſern mit Anſtand nicht ſagen darf, weil
er
[93]
er vermuthen kan, daß darunter viel ſeyn moͤchten,
die eben ſo viel, und mehr Einſicht haben als er.


Mag. Sehr wenige Profeßoren denken ſo deli-
cat als Sie, ich kenne mehr als einen, der ſeine Le-
ſern voͤllig eben ſo anredet und unterrichtet, als ob ſie
lanter junge Studenten waͤren.


Seb. Das befremdet mich ſehr. Jch wenigſtens
wenn in dem Falle waͤre, wuͤrde mir immer vorſtel-
len, daß die erleuchteteſten Leute meiner Zeit meine Le-
ſer ſeyn koͤnnten, und welche armſelige Figur ich gegen
ſie machen muͤſte, wenn ich ihnen ganz bekannte Sa-
chen vordociren wolte, die ſie viel beſſer wuͤſten. Ue-
berhaupt daͤchte ich, ein Lehrer in einem Collegium fuͤr
junge Leute, muͤſſe ſich nach dem Verſtaͤndniſſe des
Geringſten unter ſeinen Zuhoͤrern bequemen, hin-
gegen ein Schriftſteller, ſuche hauptſaͤchlich den Ver-
ſtaͤndigſten
unter ſeinen Leſern zu gefallen, daher
koͤnne ein gutes Collegium, doch ſchwerlich ein gutes
Buch werden.


Mag. Ey ſie machen ſich feine Schwierigkeiten!
Wiſſen Sie hiemit, was gedruckt werden kann, kann
ein Buch werden. Eine Dißertation, eine Proluſion,
eine Oration, ein Programma, ein Oſter- oder Pfingſt-
anſchlag den ein Schulmann oder Profeßor amts-
halber ſchreiben muß iſt ja wohl noch weniger ein Buch.


Seb.
[94]

Seb. Jch wenigſtens halte die Verfertigung ſol-
cher Aufſaͤtze fuͤr ein Opus operatum, bei dem gewoͤhn-
licherweiſe mehr die Hand als der Kopf noͤthig iſt.


Mag. O man kann ein Schriftſteller von vielen
Baͤnden werden, ohne den Kopf ſonderlich anzuſtren-
gen. Was denken Sie wohl Z. B. von einem Pre-
diger der ſeine gehaltene Predigten drucken laͤſt?


Seb. Wenn meine Gemeinde meine Predigten
verlangte, ſo wuͤrde ich ſie ſehr gern zu ihrem Ge-
brauche drucken laſſen, denn warum folte ich ihr nicht
ſchriftlich ſagen, was ich ihr muͤndlich geſagt habe?
Aber auch bloß fuͤr meine Gemeine ſolten meine Pre-
digten gedruckt werden. Jch habe meine Predigten
immer beſonders nach den Umſtaͤnden meiner Gemeine
eingerichtet. Nun wuͤrde ich immer denken, die Welt
wuͤrde nicht weiter nutzen koͤnnen, was ich blos mei-
ner Gemeine, geſagt habe, als das, was ich als Vater
meinen Kindern zu ihrem beſſern Verhalten einge-
ſchaͤrft habe.


Mag. Vielleicht wuͤrde doch die Welt, das was
Sie ſo beſcheiden ankuͤndigen, mit mehrerm Nutzen
leſen, als die Predigten der Herren, welche die ganze
Welt fuͤr ihre Dioͤceſe halten.


Seb. Es kan ſeyn, daß auch in meinen Predig-
ten etwas gemeinnuͤtziges iſt, aber doch wuͤrde das
Baͤnd-
[95]
Baͤndgen, das ich mir der Welt vorzulegen getraute,
immer ſehr klein ſeyn.


Mag. Das Baͤndgen? Wer ſich recht auf Pre-
digtſchreiben legt, hoͤrt vor dem dreyzehnten oder
vierzehnten Bande nicht auf.


Seb. Wie? dreyzehn oder vierzehn Baͤnde Pre-
digten? dazu gehoͤrt mehr Herz als ich habe!


Mag. Freilich Sie haben viel Bedenklichkeiten.
Wenn Sie eine Dedication an einen Patron zu ma-
chen haͤtten, und ſie koͤnnten kein Buch ſchreiben, ſo
daͤchten Sie auch wohl nicht daran, das erſte beſte
Buch wieder drucken zu laßen, und es ihrem Goͤnner
zuzueignen?


Seb. Jch daͤchte wenigſtens, der Patron wuͤrde
mir nur wenig dauken, wenn ich ihm auſtatt etwas
neues, nur etwas aufgewaͤrmtes vorſetzte.


Mag. Als wenn der Patron nicht zufrieden ſeyn
muͤſte, daß ſein Namen vor dem Buche ſtehet, und
als wenn er es auch noch wuͤrde leſen wollen! Gnug
daß Jhnen mancher Journaliſt danken wird, daß
Sie durch die neue Herausgabe, unſerer Litteratur einen
ſo großen Dienſt geleiſtet haben. Und ſie werden noch
dazu als ein wichtiger Mann erſcheinen, wenn Sie
dem Buche eine Vorrede vorſetzen, um es durch ihren
Namen der Welt anzupreiſen.


Seb.
[96]

Seb. Aber wenn man nicht wirklich ſehr beruͤhmt
iſt, ſo gehoͤrt viel Charletanerie dazu, ſo eine vor-
nehme Mine zu affectiren.


Mag. Ja! wenn Sie ihren Namen ſelbſt nicht
fuͤr beruͤhmt halten, ſo ſind ſie auf gutem Wege, ihn
nie beruͤhmt zu machen. Jch merke wohl Sie wollen
incognito arbeiten; damit iſt Jhnen auch zu dienen.
Da iſt mehr als ein Verleger, der ſeinen Autoren auf-
traͤgt was er zu brauchen denkt: Geſchichte, Ro-
manen, Mordgeſchichte, zuverlaͤßige Nach-
richten,
von Dingen die man nicht geſehen hat, Be-
weiſe,
von Dingen die man nicht glaubt, Gedanken,
von Sachen die man nicht verſteht. Jch kenne einen
der in ſeinem Hauſe an einem langen Tiſche zehn bis
zwoͤlf Autoren ſitzen hat, und jedem ſein Penſum fuͤrs
Tagelohn abzuarbeiten gibt. Jch laͤugne es nicht —
denn warum ſolte ich Armuth fuͤr Schande halten —
ich habe auch an dieſem langen Tiſche geſeſſen. Aber
ich merkte bald, daß ich zu dieſem Gewerbe nichts
taugte, denn ich kann zwar ohne Gedanken eine Cor-
rectur leſen, aber nicht ohne Gedanken Buͤcher ſchrei-
ben, und bey ſolchen Buͤchern iſt immer der am an-
genehmſten, der nur am geſchwindeſten ſchreibt, wenn
er auch gleich am ſchlechteſten ſchreiben ſolte.


Seb.
[97]

Seb. Am ſchlechteſten? da handelt ja der Verle-
ger wider ſeinen eigenen Vortheil; denn was kan die
Welt mit den ſchlechten Buͤchern machen.


Mag. Was gehet den Verleger die Welt an? er
bringt ſein Buch auf die Meſſe.


Seb. Nun — und durch die Meſſe kommen die
Buͤcher in die Welt.


Mag. Freilich, nur mit dem Unterſchiede, daß
ſie vorher vertauſcht werden, und daß alſo der Ver-
leger am beſten daran iſt, der die ſchlechteſten Buͤcher
hat, weil er gewiß iſt, etwas beſſers zu bekommen.


Seb. Aber denn muͤſſen doch einige Buchhaͤndler
die ſchlechteſten Buͤcher bekommen, und die bedaure ich.


Mag. Weswegen? Es iſt ihnen ja unbenommen,
Narren zu ſuchen, die aus dem ſchlechteſten Buche
klug zu werden denken, oder die es um Gotteswil-
len leſen, wie mein alter Conrector wolte, daß ich die
ſchlechten Prediger hoͤren ſolte.


Seb. Nun faͤngt mir an ein Licht aufzugehen.
So koͤnnte es ja wohl der Vortheil der Buchhaͤndler
erfordern, zuweilen ſchlechte Buͤcher zu verlegen.


Mag. Dis koͤnnte wohl ſeyn, wenigſtens ſcheint
es nicht, als ob ſie ſich ſonderlich darum zu bekuͤm-
mern haͤtten, ob die Buͤcher gut ſind, oder nicht.


Erſter Theil. GSeb.
[98]

Seb. Ja, wenn dis wahr iſt, was Sie ſagen,
ſo muͤſte ich freilich von der Menge der nuͤtzlichen Buͤ-
cher, uͤber deren Daſeyn ich mich gefreuet habe, alle
diejenigen abziehen die die Convenienz der Schrift-
ſteller und die Laune der Buchhaͤndler zur Welt bringt.


Mag. Und rechnen Sie immer auch den groͤſten
Theil der ungeheuer großen Anzahl von Buͤchern ab,
mit denen vermittelſt unſerer Ueberſetzungsfabriken
Deutſchland uͤberſchwemmt wird.


Seb. Habe ich recht gehoͤrt? Ueberſetzungsfa-
briken?
Was ſoll denn das bedeuten?


Mag. Fabriken, in welchen Ueberfetzungen
fabricirt
werden, das iſt ja deutlich.


Seb. Aber Ueberſetzungen ſind ja keine Leinwand
oder keine Struͤmpfe, daß ſie auf einem Stuhle
gewebt werden koͤnnten.


Mag. Und doch werden ſie beinahe eben ſo ver-
fertigt, nur, daß man wie bey Struͤmpfen, bloß die
Haͤnde dazu noͤthig hat, und nicht, wie bey der Lein-
wand, auch die Fuͤße. Auch verſichre ich Sie, daß
keine Lieferung von Hemden und Struͤmpfen fuͤr die
Armee genauer bedungen wird, und richtiger auf
den Tag muß abgeliefert werden, als eine Ueberſe-
tzung aus dem franzoͤſiſchen, denn dies wird fuͤr die
ſchlechteſte, aber auch fuͤr die gangbarſte Waare, in
dieſer Fabrik geachtet.


Seb.
[99]

Seb. Alles was Sie mir ſagen, iſt mir unerhoͤrt.
Alſo giebt es unter den Ueberſetzungen, und unter den
Ueberſetzern auch wohl einen Rang oder Unterſchied.


Mag. Allerdings! Ein Ueberſetzer aus dem eng-
laͤndiſchen iſt vornehmer, als ein Ueberſetzer aus dem
franzoͤſiſchen, weil er ſeltener iſt. Ein Ueberſetzer aus
dem italiaͤniſchen laͤßt ſich ſchon bitten, ehe er zu ar-
beiten anfaͤngt, und laͤßt ſich nicht allemahl den Tag
vorſchreiben, an dem er abliefern ſoll. Einen Ueberſetzer
aus dem ſpaniſchen aber, findet man faſt gar nicht,
daher koͤmmt es auch, daß zuweilen Leute aus dieſer
Sprache uͤberſetzen, wenn ſie ſie gleich nicht verſtehen.
Ueberſetzer aus dem lateiniſchen und griechiſchen ſind
haͤufig, werden aber gar nicht geſucht, daher bieten ſie
ſich mehrentheils ſelbſt an. Außerdem giebt es auch
Ueberſetzer, die zeitlebens gar nichts anders thun als
uͤberſetzen; Ueberſetzer, die ihre Ueberſetzungen in Ne-
benſtunden zur Erholung machen, wie die Frauen-
zimmer die Knoͤtchenarbeit, Marly und Filet; Vor-
nehme Ueberſetzer, dieſe begleiten ihre Ueberſetzungen
mit einer Vorrede, und verſichern die Welt, daß das
Original ſehr gut ſey; Gelehrte Ueberſetzer, dieſe verbeſ-
ſern ihre Ueberſetzungen, begleiten ſie mit Anmerkungen
und verſichern, daß es ſehr ſchlecht ſey, daß Sie es
aber doch leidlich gemacht haͤtten; Ueberſetzer, die
G 2durch
[100]
durch Ueberſetzungen Originalſchriftſteller werden, dieſe
nehmen ein franzoͤſiſches oder englaͤndiſches Buch, laſſen
Anfang und Ende weg, aͤndern und verbeſſern das
uͤbrige nach Gutduͤnken, ſetzen ihren Namen keck auf
den Titel, und geben das Buch fuͤr ihre eigene Ar-
beit aus. Endlich giebt es Ueberſetzer, die ihre Ue-
berſetzungen ſelbſt machen, und ſolche die ſie von an-
dern machen laſſen.


Seb. Sie vergeßen, duͤnkt mich, noch einen wich-
tigen Unterſchied, unter den Ueberſetzern, die die Sache
und beide Sprachen verſtehen, und denen, die nichts
davon verſtehen. Jch glaube dieſen Unterſchied bey
den wenigen Ueberſetzern gemerkt zu haben, die neue
Ueberſetzungen der Apocalypſe verſuchten.


Mag. Vielleicht mag dis bey der Apocalypſe einen
merklichen Unterſchied machen, aber bey unſern ge-
woͤhnlichen Ueberſetzungen aus dem franzoͤſiſchen und
dem englaͤndiſchen wird ſo genau darauf nicht geachtet.


Seb. Aber ich daͤchte dis waͤre das vornehmſte,
worauf beſonders der Verleger, ſeines eigenen Nutzens
wegen, Acht haben muͤſte.


Mag. Keinesweges! Hieran denkt er gemeinig-
lich gar nicht, oder ſehr wenig. Wenn er drey Al-
phabete in groß Octav oder in groß Quart zu Com-
pletirung ſeiner Meße noch noͤthig hat, ſo ſucht er
unter
[101]
unter allen neuen noch unuͤberſetzten Buͤchern von drey
Alphabeten dasjenige aus, deſſen Titel ihm am beſten
gefaͤllt. Hat er einen Ueberſetzer gefunden (welches
eben nicht ſchwer iſt), der noch drey Alphabete bis zur
naͤchſten Meſſe zu uͤberſetzen Zeit hat, ſo handeln ſie
uͤber den armen Franzoſen oder Englaͤnder, wie zween
Schlaͤchter uͤber einen Ochſen oder Hammel, nach
dem Anſehen, oder auch nach dem Gewichte. Wer
am theureſten verkauft, oder am wohlfeilſten einge-
kauft hat, glaubt, er habe den beſten Handel gemacht.
Nun ſchleppt der Ueberſetzer das Schlachtopfer nach
Hauſe, und toͤdtet es entweder ſelbſt, oder laͤſt es
durch den zweyten oder dritten Mann toͤdten.


Seb. Durch den zweyten oder dritten Mann?
Wie iſt das zu verſtehen?


Mag. Dis iſt eben das fabrikenmaͤßige beym Ue-
berſetzen. Sie muͤſſen wiſſen, daß es beruͤhmte Leute
giebt, die die Ueberſetzungen im Großen entrepreni-
ren, wie ein irrlaͤndiſcher Lieferant das Poͤckelfleiſch
fuͤr ein ſpaniſches Geſchwader, und ſie hernach wieder an
ihre Unteruͤberſetzer austheilen. Dieſe Leute haben
von allen neuen uͤberſetzbaren Buͤchern in Frankreich,
Jtalien und England die erſte Nachricht, wie ein
Maͤckler in Amſterdam Nachricht von Ankunft der
oſtindiſchen Schiffe im Texel hat. An dieſe wenden
G 3ſich
[102]
ſich alle Buchhaͤndler, die Ueberſetzungen haben wollen,
und ſie kennen wieder jeden ihrer Arbeiter, wozu er
zu gebrauchen iſt, und wie hoch er im Preiſe ſtehet.
Sie wenden ihnen Arbeit zu, beſtrafen ſie wenn ſie
ſaͤumig ſind mit Entziehung ihrer Protection, merzen
die Fehler ihrer Ueberſetzungen aus, oder bemaͤnteln ſie
mit ihrem vornehmen Namen, denn mehrentheils ſind
Entrepreneure von dieſer Art ſtark im Vorredenſchrei-
ben. Sie wiſſen auch genau, wie viel Fleiß an jede
Art der Ueberſetzung zu wenden noͤthig iſt, und wel-
che Mittel anzuwenden ſind, damit ihre Ueberſetzun-
gen allenthalben angeprieſen, und dem beruͤhmten
Manne oͤffentlich gedanket werde, der die deutſche ge-
lehrte Welt damit begluͤckt hat.


Seb. Sie wiſſen, wie viel Fleiß an eine jede Art
der Ueberſetzung zu wenden noͤthig iſt? Gehoͤrt denn
nicht einerley Grad von Fleiße zu jeder Ueberſetzung,
wenn ſie in ihrer Art gut ſeyn ſoll?


Mag. Keinesweges! Dis kann nach den Um-
ſtaͤnden ſehr verſchieden ſeyn. Z. B. Zu theologiſchen
Buͤchern thut gemeiniglich ein Hochwuͤrdiger Herr ei-
nem Buchhaͤndler den Vorſchlag, ſie unter ſeinem
Namen und mit ſeiner Vorrede uͤberſetzen zu laſſen,
es verſteht ſich aber, daß er das Buch nicht ſelbſt uͤber-
ſetzt, ſondern er giebt es gegen zwey Drittheile der mit
dem
[103]
dem Verleger abgeredeten Bezahlung, an einen ſei-
ner Arbeiter ab. Dieſer verdingt es gemeiniglich ge-
gen drey Viertheil deſſen was ihm der Hochwuͤrdige
Herr goͤnnen will, an einen dritten, der es zuweilen,
wenn die Fabrik ſtark gehet, an einen vierten gegen
funfzehen Sechzehntheile deßen was er bekomt, ab-
laͤßt. Dieſer uͤberſetzt es wirklich, ſo gut oder ſchlecht
er kann. Bey dicken Beweiſen daß der Meßias ſchon
gekommen iſt, bey bibliſchen Geſchichten in zwoͤlf Baͤn-
den, bey voluminoͤſen Dogmatiken, bey Predigten
aus dem franzoͤſiſchen oder englaͤndiſchen uͤberſetzt,
kann dis ohne Bedenken gewagt werden, denn die
Leſer, die ſolche Buͤcher leſen, merken nicht, ob ir-
gendwo etwas falſch ſey, und die theologiſche Kunſt-
richter ſind nicht ſo ſchlimm, daß ſie durch den Na-
men eines beruͤhmten Vorredners oder durch ein hoͤfli-
ches Schreiben eines Bruders im Herrn, nicht ſolten
zur Duldung und Schonung einer ſchlechten Ueber-
ſetzung bewegt werden koͤnnen. Die Ausgaben der
Ueberſetzungen hiſtoriſcher Werke, Reiſebeſchreibungen
u. d. gl. ſind meiſtens das Werk der Buchhaͤndler,
die ſich dazu einen Wohlgebohrnen oder Hochedelge-
bohrnen Herrn ausſuchen, weil in dieſem Fache die
Ueberſetzungsentrepreneure nicht ſo haͤufig ſind,
als im theologiſchen Fache. Doch werden ſolche Ue-
G 4berſe-
[104]
berſetzungen gemeiniglich auch an Unterarbeiter aus-
getheilt. Dieſe muͤßen ſich aber ſchon mehr in Acht
nehmen, daß ſie wenigſtens die eigenen Namen rich-
tig uͤberſetzen und die Jahrzahlen recht abſchreiben,
denn auf ſolche Sachen lauren unſere hiſtoriſche Re-
cenſenten wie Falken. Dagegen iſt auch nicht ſo viel
daran gelegen, wenn ſie die Vorſtellungen der Bege-
benheiten und die eingeſtreute Reflexionen etwas fluͤch-
tig und ſchielend uͤberſetzen, denn ſie werden auf die
Art der Schreibart einiger deutſchen Geſchichtſchrei-
ber deſto aͤhnlicher, die in ihrer Freunde gelehrten Zei-
tungen und Journalen gewohnt ſind am lautſten ge-
lobt zu werden. Aber neue Komoͤdien und neue
Romanen muß meiſtens der ſelbſt uͤberſetzen, der
als Ueberſetzer bekannt ſeyn will, denn dieſe Buͤcher
kommen alzuvielen Leſern in die Haͤnde, und die
Kunſtrichter ſind hier gleich bey der Hand, und laſſen
ſich ſelten durch einen beruͤhmten Namen vom Tadel
abſchrecken.


Seb. Jch erſtaune immer mehr uͤber das was
Sie mir ſagen. Es iſt mir, als ob Sie von einer
andern Welt redeten. Sie koͤnnen auch unmoͤglich
Deutſchland im Sinne haben.


Mag. Sie vielmehr kommen aus einer andern
Welt, aus der ſchoͤnen Welt der Jmagination, wo
jeder
[105]
jeder beruͤhmte Mann viele Verdienſte hat, wo jeder
Schriftſteller zu Unterſuchung der Wahrheit ſchreibt,
wo die Vorreden wahre Nachrichten vom Buche ent-
halten, wo niemals ein Journaliſt den Schriftſteller
dem er nicht wohl will anſchwaͤrzt, wo kein beleidig-
ter Schriftſteller Cabalen macht, wo ein Lehrer der
Tugend auch allemahl tugendhaft, und ein Lehrer der
Weisheit weiſe iſt. Mein lieber Freund! traͤumen
Sie nicht fort, ſo angenehm Sie auch traͤumen moͤgen,
ſehen Sie um ſich herum, was in Deutſchland vor-
geht, ſo werden Sie finden, daß das, was ich Jhnen
ſage, keine Erdichtung iſt.


Seb. Nun wenn auch jemand einmahl ſo etwas
unternaͤhme, ſo kann doch das Publicum nicht lange
in der Verblendung bleiben, und denn wird es aus
mit der Fabrik ſeyn.


Mag. Unſer Publicum iſt ſehr nachſehend, zu-
mahl bey dicken Buͤchern, welches diejenigen ſind, die
die Ueberſetzer von Profeſſion am liebſten waͤhlen. Jch
verſichere Sie, daß wenigſtens der dritte Theil der
deutſchen Buͤcher auf dieſe Art fabricirt wird. Denn
ich ſage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß beina-
he die Haͤlfte der neuen deutſchen Buͤcher Ueberſetzun-
gen ſind, und ich ſage gewiß zu wenig, wenn ich nur
zwey Drittel der Ueberſetzungen als Fabrikenar-
beit anſehe.


G 5Seb.
[106]

Seb. Gott behuͤte! Die Haͤlfte unſerer neuen
Buͤcher ſind Ueberſetzungen? Was wird denn alles
uͤberſetzt.


Mag. Was? Bogen und Alphabete! Was da-
rauf ſteht, darum bekuͤmmert ſich weder Verleger noch
Ueberſetzer, zum hoͤchſten der Leſer, wenn er will
und kann.


Seb. Allein da wird denn auch der Leſer gemei-
niglich ſehr unzufrieden ſeyn.


Mag. Ach nicht doch! Die Leſer der Ueberſetzun-
gen ſind gutwillige Seelen. Sie haben gegen alles was
ſchwarz auf weiß gedruckt iſt, eine große Ehrerbie-
tung. Und wenn ihnen auch etwas nicht recht ge-
faͤllt, ſo nehmen ſie die Schuld ſelbſt auf ſich, und
zaͤhlen Ueberſetzer und Verfaſſer los. Kein deutſcher
Leſer wird das Ungluͤck einer neuen Ueberſetzung ma-
chen, ſo wenig als noch ein deutſches Parterre jemals
eine neue uͤberſetzte Komoͤdie ausgepfiffen hat.


Seb. Aber wenn auch niemand es merket, ſo iſt
es doch allemahl einem Gelehrten unanſtaͤndig, die
Gelehrſamkeit bloß zu einem ſchimpflichen Gewerbe zu
machen, und die Fortpflanzung der Wahrheit und
Tugend ganz aus den Augen zu ſetzen.


Mag. Seyn Sie aus alzugroßer Gerechtigkeit
nicht ungerecht. Unſer Vaterland kann von den Ge-
lehrten
[107]
lehrten nicht mehr fodern, als es um ſie verdient.
Wo iſt das deutſche Land, wo ein deutſcher Gelehrter
als Gelehrter leben kann? Wo iſt es moͤglich, ohne
beſonders gluͤkliche Umſtaͤnde, die Muße zu finden,
die ein Schriftſteller braucht, wenn er in ſeiner Kunſt
groß werden will. Unſer beſtes wuͤnſchenswuͤrdigſtes
Schickſal iſt ein Amt, in deſſen Erwartung wir ver-
hungern muͤſſen, wenn wir kein Erbtheil zuzuſetzen
haben, und bey dem wir, wenn wir es erhalten ha-
ben, vor vieler Amtsarbeit, alle Gelehrſamkeit ver-
geſſen. Unſere beſte Schriftſteller haben zuweilen,
die Muße, die ſie zu ihren vortreflichſten eigenen Wer-
ken noͤthig gehabt haben, durch fabrikenmaͤßige Ue-
berſetzungen, kuͤmmerlich verdienen muͤſſen. Es iſt
leider faſt gar kein anderes Mittel da, um einen Ge-
lehrten der kein Amt hat und kein Amt bekommen
kann, vor dem Hunger zu verwahren. — Verlangen
Sie nicht mehr, als wir leiſten koͤnnen.


Seb. Das Bild das Sie machen iſt ſehr traurig.
Aber ich bleibe dennoch dabey, daß Entwicklung und
Verbreitung der Wahrheit die Hauptpflicht eines Au-
tors ſey. Jch wuͤrde niemals daran gedacht haben,
einen Commentar uͤber die Apocalypſe zu ſchreiben,
wenn ich nicht geglaubt haͤtte, unbekannte nuͤtzliche
Wahrheiten entdeckt zu haben.


Mag.
[108]

Mag. Die auch trotz ihrem Commentar unbe-
kannt bleiben werden. Denn glauben Sie mir, Ben-
gel iſt im Beſitze des apocalyptiſchen Reichs, aus dem
Sie ihn nicht vertreiben werden. Wir haben in
Deutſchland noch kein Beyſpiel, daß einem abgeſetz-
ten Dorfpfarrer mehr waͤre geglaubt worden, als einem
Praͤlaten.


Seb. Jch kan uͤber das Schickſal meines Com-
mentars ruhig ſeyn. Genug wenn ich die Wahrheit
ſage, wie ich ſie erkenne, und weil es Wahrheit iſt,
und nicht deswegen, weil ich mit einem Buchhaͤndler
einen Contract gemacht habe ihm funfzig Bogen zu
liefern. Wohin ſoll es mit der deutſchen Gelehrſam-
keit kommen, wenn der groͤſte Theil der Schriftſteller
nicht die Befoͤrderung der Gelehrſamkeit, ſondern die
Befoͤrderung ihres Ruhms und Nutzens ſucht.


Mag. Und wohin ſoll es mit der deutſchen Ge-
lehrſamkeit kommen, wenn deutſche Gelehrſamkeit in
unſerm eigenen Vaterlande ein Schimpf iſt, wenn
das ſicherſte Mittel zu darben iſt, ſich auf Kenntniſſe
zu legen, die die Seelen unſerer Mitbuͤrger erleuch-
ten, aber nicht ihren Wolluͤſten dienen, oder ihren
Beutel fuͤllen koͤnnen, wenn kein einziges Mittel uͤbrig
bleibt, dem Gelehrten, der weder Kuppler noch Plusma-
cher ſeyn will, in der Welt ſein Auskommen zu geben,
wenn
[109]
wenn man uns recht zu belohnen denkt, ſobald man
uns auf eine Univerſitaͤt ſchickt, wo wir unſere noͤthige
Einkuͤnfte von dem Wohlwollen einer unwiſſenden
und ungezaͤhmten Jugend ſuchen muͤſſen, oder uns in
ein Amt verſtoͤßt, wo uns alles was wir gelernt ha-
ben, unnuͤtz iſt, und wo uns die edle Empfindſamkeit,
welche durch die Wiſſenſchaften in unſern Seelen ver-
breitet worden, die Ausuͤbung dieſes Amts weit be-
ſchwerlicher macht, als einem rohen Diener der Ab-
ſichten jedes Gewaltigen im Lande.


Seb. Jch bin ganz außer mir, uͤber alles ich
hoͤren muß. So ſchlecht ſiehet es mit der Gelehr-
ſamkeit in Deutſchland aus? Wohin ſoll es mit Wahr-
heit und Tugend kommen, wenn die Gelehrten, die
derſelben Herolde ſeyn ſolten, nur Eigennutz und Eigen-
lob ſuchen? Wie ſoll unſer Vaterland durch die Wiſ-
ſenſchaften erleuchtet werden, wenn man ſie zu einem
niedrigen Gewerbe misbraucht? Nein! dis iſt mir
ein unertraͤglicher Gedanke.


Mag. Geben Sie ſich zufrieden! Was iſt der
deutſchen Gelehrſamkeit damit geholfen, wenn ein paar
arme Correctoren eine unruhige Nacht haben. Wir
wollen uns die Fehler unſerer Litteratur und unſerer
Gelehrten nicht verhelen, aber wir wollen auch das
entſchuldigen, was, ohne die Schuld unſerer Ge-
lehrten, nicht anders ſeyn kann.


Hier-
[110]

Hiermit gab der Magiſter dem Sebaldus die
Hand, und wuͤnſchte ihm eine gute Nacht.


Zweyter Abſchnitt.


Sebaldus brachte der Ermahnung des Magiſters
ungeachtet, die Nacht ſehr unruhig zu, und
beſeufzete noch den folgenden Tag den unvollkommnen
Zuſtand der deutſchen Gelehrſamkeit und das Schick-
ſal der deutſchen Gelehrten. Nachmittag ging er zu
ſeinem Freunde Hieronymus, um ihm ſein geſtri-
ges Geſpraͤch mit dem Magiſter zu erzaͤhlen, und ihn
zu fragen, ob deſſelben Nachrichten zuverlaͤßig waͤren.


Jch finde ſagte Hieronymus, daß der Hr. Ma-
giſter von allen dieſen Dingen ſehr wohl unterrichtet
iſt, aber warum beunruhigt Sie dieſe Erzaͤhlung, die
freilich nur allzu wahr iſt, ſo gar ſehr.


Seb. Es kraͤnket mich, daß ich von der Hochach-
tung, die ich fuͤr die deutſche Gelehrſamkeit und fuͤr die
deutſche Gelehrten hege, ſo viel ablaſſen muß. Jch
habe beſtaͤndig, einen Mann der ein Buch ſchreiben
kann, mit Ehrfurcht angeſehen, und den ganzen Hau-
ſen der Schriftſteller habe ich mir als eine Anzahl
einſichtsvoller und menſchenfreundlicher Leute vorge-
ſiellt, die beſtaͤndig beſchaͤftigt waͤren, alles was der
menſch-
[111]
menſchliche Verſtand edles ſchoͤnes und wiſſenswuͤr-
diges hervorbringen kann, zu erforſchen, und es zur
Aufklaͤrung des menſchlichen Geſchlechts in ihren
Buͤchern oͤffentlich bekannt zu machen. Nun-thut
es mir weh, daß ich ſie als einen Haufen ge-
ſchaͤftiger Schmierer anſehen ſoll, die Wahrheit und
Einſicht zu einem ſchimpflichen Gewerbe machen, das
blos ihren eigenen Ruhm, Nutzen oder Nahrung zum
Zwecke hat.


Hier. Und es thut ihnen um deſto weher, weil
ſie ſelbſt in die Zahl der Schriftſteller zu treten geden-
ken! — Nicht wahr? — Aber troͤſten ſie ſich, alle Schrift-
ſteller und Ueberſetzer ſind nicht ſo beſchaffen, wie ſie
Jhr Magiſter beſchrieben hat. Er hat nur von neun
Zehentheilen geredet. Es iſt noch das zehnte Zehen-
theil uͤbrig, wuͤrdige gelehrte Maͤnner, die es wirk-
lich mit dem Fortgange der Wiſſenſchaften gut
meinen, welche der Eitelkeit und den Vergnuͤ-
gungen der Jugend entſagen, um ſich gruͤndliche
Kenntniſſe zu erwerben, und welche Naͤchte durchwa-
chen um ihre Nebenmenſchen, kluͤger, weiſer, erleuch-
teter und geſitteter zu machen. Jn deren Geſellſchaft
zu treten, duͤrfen Sie ſich nicht ſchaͤmen.


Seb. Und dieſer waͤre nur eine ſo geringe Anzahl?
Wenn Sie die Anzahl der nuͤtzlichen Buͤcher ſo gering
machen,
[112]
machen, wiſſen Sie wohl, daß Sie ſich ſelbſt ernie-
drigen.


Hier. Wie ſo?


Seb. Jch habe immer der Buchhandlung vor
allen Arten der Handlung den Vorzug gegeben, weil
ich glaube, daß durch ihre Vermittelung die gelehrten
Kenntniſſe unter die Menſchen gebracht werden, weil
ſie nicht bluͤhen kan, als wenn eine gruͤndliche und nuͤtz-
liche Gelehrſamkeit bluͤhet.


Hier. Da haben ſie einen ſehr falſchen Begriff von
der Buchhandlung. Sie ſtehet nur in rechtem Flore,
wenn die Leute ſehr dumm ſind.


Seb. Wenn die Leute ſehr dumm ſind? Das kann
ich nicht begreifen. Dumme Leute werden ja keine
Buͤcher kaufen.


Hier. Weßwegen nicht? Sie kaufen dumme Buͤ-
cher, und die ſind in groͤßerer Anzahl und machen
groͤßere Baͤnde aus. Es iſt auch viel leichter und be-
quemer fuͤr dumme Leute zu ſchreiben und zu verlegen,
als fuͤr kluge. Sehen Sie nur meine Collegen die Buch-
haͤndler in den katholiſchen Provinzen an, die zum Theile
reicher ſind, als alle proteſtantiſche Buchhaͤndler, die jetzt
die Meſſe beſuchen. Sie finden in ihren Verzeich-
niſſen ſchoͤne Folianten uͤber das Jus canonicum, herr-
liche Faſten- und Fronleichnamspredigten, derbe Con-
tro-
[113]
troverspredigten wider alle Ketzer, troͤſtliche Legenden
der Heiligen, Gebetbuͤcher und Breviarien in Menge,
aber oft kein einziges vernuͤnftiges Buch, das ich, ſo
einfaͤltig auch meine liebe Vaterſtadt iſt, in meinen
Buchladen legen, oder Sie, wenn Sie noch ſo reich
waͤren, in Jhre Bibliothek wuͤrden ſetzen wollen.
Oder haben Sie wider Vermuthen (hier ergriff er
ein auf ſeinem Pulte liegendes Buͤcherverzeichniß)
Luſt Z. B. folgende Buͤcher zu kaufen: Laurentii
von Schnuͤffis mirantiſche Mayenpfeife, mit
Kupf.
P.Sennenzwickels ernſtliche Kurzweil
fuͤr die zenoniſche Geſellſchaft der machiavelli-
ſchen Staatskluͤgler, worin das edle Paar Ge-
bruͤdrichen
AtheiſinusundNaturaliſmus,ſamt den
halleriſchen Gedichten dem
Silenoals Rieſenſchroͤ-
cker aufgeopfert werden.
P. Dionyſiivon Luͤ-
tzenburg verbeſſerte Legend der Heiligen von
P.
Martin
von Cochem. Der himmliſche Gnaden-
brunn St. Walburgaͤ. Die geiſtliche Sonnen-
blum d. i. kurze taͤgliche Beſuchungen des aller-
heil. Sacraments des Altars.
P.Biners Mucken-
Tanz der Herren Praͤdicenten zu Zuͤrch um
das Licht der katholiſchen Wahrheit. Alexii
Riederers Geiſtliches Seelennetz oder 150 geiſt-
reiche Betrachtungen. Bulffers mit kurzen

Erſter Theil. HWaaren
[114]
Waaren handelnder evangel. Kaufmann, oder
kurze Sonn- und Feyertagspredigten. Der
chriſtkatholiſche goldne Schluͤſſel, mit welchem
die Schatzkammer der zeitlich- und ewigen Guͤ-
ter kann aufgeſperrt werden. Hauſingers geiſt-
liches Fruͤhſtuͤck, oder auserleſene Sittenlehren,

wollen Sie dieſe und andere dergleichen ſchoͤne Saͤchel-
gen mehr, kaufen?


Seb. Nein! was ſollte ich mit dem unſinnigen
Zeuge machen!


Hier. Nicht? deſto ſchlimmer fuͤr den Buchhaͤnd-
ler, daß Sie ſo klug ſind, er wird ſich dumme Kaͤufer
ſchaffen muͤſſen, oder ſein ganzer Laden wird voll bleiben.


Seb. Aber der Buchhaͤndler ſollte der Gelehr-
ſamkeit aufhelfen, und keine andere als gute Buͤcher
drucken und verkaufen.


Hier. Das heißt von dem Buchhaͤndler zu viel ge-
fordert, der ſich nie nach dem Geſchmack der beſten
Gelehrten, ja ſelbſt nicht nach ſeinem eigenen, ſon-
dern nach dem Geſchmacke des großen Haufens rich-
ten kan, und dieſer macht es ihm nur allzuleicht, die
guten Schriftſteller beynahe ganz zu entbehren.


Seb. Dies thun die Buchhaͤndler freilich, aber ſie
ſolten es nicht thun, ſondern ſolten ſich billig nach dem
Geſchmacke der groͤſten Gelehrten richten, und ich habe
mich
[115]
mich ſchon oft uͤber Sie gewundert, da Sie wiſſen was
große Gelehrten von Buͤchern urtheilen, und doch
ſchlechte Buͤcher drucken und verkaufen.


Hier. Mein Freund! der Geſchmack der großen
Gelehrten iſt der Geſchmack ſehr weniger Leute. Der
Buchhaͤndler aber braucht ſehr viele Kaͤufer, wenn er
ſein Geſchaͤft treiben ſoll. Daher kommt es, daß ſo
oft Autor und Verleger bey dem beſten beiderſeitigen
Willen, ſich nicht vereinigen koͤnnen. Jener will
den innern Werth ſeines Buchs verkaufen, dieſer will
bloß eine Wahrſcheinlichkeit des Abſatzes kaufen. Je-
ner ſchaͤtzt ſeinen und ſeines Buches Werth nach dem
Beifalle einiger wenigen Edlen. Dieſer uͤberlegt,
ob es moͤglich oder wahrſcheinlich ſey, daß viele nach
dem Buche luͤſtern ſeyn werden, ohne in Anſchlag zu
bringen, ob ſie gelehrt oder ungelehrt, weiſe oder ein-
faͤltig, nach Unterricht oder nach Zeitvertreib begierig
ſind. Sehen Sie den Tyroler der dort geſchliffne optiſche
Glaͤſer zum Verkauffe herumtraͤgt. Er hat kein Flint-
glaß
und keine Dollondſche Tuben. Fragen ſie
ihn, warum er nicht vorzuͤglich ſich erkundigt, was
fuͤr Glaͤſer die groͤſten Aſtronomen verlangen? Er
wird antworten: Jch verkaufe meine Glaͤſer, ich be-
kuͤmmre mich nicht, ob man ſie in Teleſcope ſetzt, um
unbekannte Sterne zu obſerviren, oder in Perſpective,
H 2um
[116]
um einen entfernten Feind zu entdecken, oder den
Freund der uns beſuchen will fruͤher zu erblicken, oder
in Microſcope, um im Saamenthiergen zu unter-
ſcheiden, ob der erſte Keim des Menſchen ein Fiſch
oder eine Faſer iſt, oder in Brennglaͤſer, um Flotten
oder Tabackspfeifen anzuzuͤnden, oder in Brillen um
feine Schrift zu leſen. Soviel iſt gewiß, irgendwozu
muß die Waare brauchbar ſeyn, ſonſt fuͤhre ich ſie
nicht. Doch hat mich die Erfahrung ſo viel gelehret,
daß Brillen ſtaͤrker abgehen als Teleſcopien*), zumahl
in meinem Lande, wo viele Leute ein bloͤdes Geſicht
haben, und ſich kein Menſch auf die Aſtronomie legt.


Seb. Aber es iſt dennoch unrichtig, daß die Buch-
handlung durch dumme Buͤcher in Flor kommt, denn
ſie
[117]
ſie koͤnnen doch nicht laͤugnen, daß ſeitdem die Lectur
in Deutſchland mehr Mode geworden, die Buchhand-
lung mehr florire.


Hier. Das laͤugne ich geradezu. Zur Zeit der
ſchoͤnen dicken Poſtillen, der centnerſchweren Conſul-
tationen, der Arzneibuͤcher in Folio, der Opera omnia,
der claſſiſchen Autoren und Kirchenvaͤter in vielen Fo-
lianten, der theologiſchen Bedenken, der Leichenpre-
digten in vielen Baͤnden, der Labirynthe der Zeit,
der Schaubuͤhnen der Welt, war die Buchhand-
lung im Flor. Was gibt man uns jetzt anſtatt dieſer
wichtigen Werke? Kleine Buͤchelgen von wenig Bo-
gen, die aus Hand in Hand gehen, viel geleſen und
wenig gekauft werden, wodurch denn endlich die Leſer
ſo klug werden, daß ihnen die alten Kernbuͤcher an-
ſtinken. Sehen Sie, das iſt der Vortheil, den wir
Buchhaͤndler vom Leſen der Buͤcher haben.


Seb. Aber das iſt doch zu arg. Wenn man die
Buͤcher nicht leſen ſoll, was ſoll man denn damit thun?


Hier. Sie zerreißen oder Waͤnde damit tapezieren.


Seb. Gott behuͤte, was ſagen Sie da!


Hier. Was alle Tage geſchiehet. Meine beſten
Kunden ſind Schulknaben, Handwerksburſchen, Bau-
ern, gute Muͤtterchen, die beten und ſingen und die
die Knaͤblein und Maͤgdlein oft mit ſich in die Wo-
H 3chenpre-
[118]
chenpredigten nehmen, die denn aus langer Weile flei-
ßig die Gebetbuͤcher und Geſangbuͤcher zerreißen. Die
Gewuͤrzkraͤmer machen auch eine wichtige Conſumtion
von Buͤchern, und in dieſem Kriege ſind viele Streit-
ſchriften wider die Ketzer, die mir zur Laſt lagen, in
Patronen verſchoſſen worden. Waͤnde mit Buͤchern ta-
pezieren, oder um gelehrter zu reden, große Biblio-
theken errichten, war zu der Zeit Mode als die vor-
hergenannten großen Buͤcher noch verkauft wurden.
Jtzt hat die leidige Sucht, Gedichte und kleine Modebuͤ-
cher zu leſen, die großen Bibliotheken und die ſchwer-
faͤllige Art zu ſtudiren wozu große Bibliotheken noͤthig
waren, ganz aus der Mode gebracht, und ſeitdem iſt
eine ſehr ergiebige Quelle des Reichthums der Buch-
haͤndeler verſtopft. Wenn auch irgend eine tuͤchtige
Feuersbrunſt einem Buchhaͤndler aufhelfen koͤnte, ſo
wird ſelten eine verbrannte Bibliothek wieder angeſchaft.


Seb. So iſt dies das Schickſal der Buͤcher, der
Fruͤchte des Fleißes ſo vieler verdienſtvollen wuͤrdigen
Gelehrten? Zerriſſen, zu Duͤten verbraucht, oder ver-
geſſen, oder verbrannt zu werden? Daruͤber moͤchte
man Blut weinen.


Hier. Geben Sie ſich zufrieden. Wir reden von
zwey ganz verſchiedenen Dingen. Erinnern Sie ſich
nur aus ihrem Geſpraͤche mit dem Hrn. Magiſter,
auf
[119]
auf welche Art die Buͤcher, die marktgaͤngige Waare
ſind, verfertigt werden, ſo werden ſie finden, daß
ſehr viele davon eigentlich noch ein ſchlechter Schick-
ſal verdienten.


Seb. Wenn auch alles wahr waͤre was Sie da
ſagen, ſo wuͤnſchte ich doch, daß es nicht wahr waͤre.


Hier. Jch auch nicht.


Seb. Und doch ſagen Sie ſelbſt, daß es Jhr
Vortheil erfodere, daß die Welt dumm bleibe.


Hier. Wenn ich als Kaufmann rede, ſo muß ich
freilich wißen, was eigentlich mein Vortheil iſt; aber
ich liebe meinen Vortheil nicht ſo ſehr, daß ich ihn
mit dem Schaden der ganzen Welt erkaufen wolte.
Jch liebe die Aufklaͤrung des menſchlichen Geſchlechts,
ſie faͤngt auch an, ſich bey uns zu zeigen; allein ſie ge-
het noch mit ſehr langſamen Schritten fort. Jch
habe den Wirkungen derſelben oft mit Vergnuͤgen bis in
die Winkel nachgeſpuͤrt, wohin keine gelehrte Nachricht
reicht. Jch merke ſeit einiger Zeit, daß in meiner
Vaterſtadt, verſchiedene ſchlechte Buͤcher, die ich
ſonſt oft verkauft habe, liegen bleiben, und freue
mich daruͤber.


Seb. Jch frage Sie aufs Gewiſſen, mein lieber
Freund, iſt nicht ein wenig Selbſtlob bey dieſer
Großmuth, deren Sie ſich ruͤhmen?


H 4Hier.
[120]

Hier. Mit nichten! denn es iſt gar keine Groß-
muth. Jch habe Correſpondenz nach dummeren
Staͤdten und Provinzen, wo dieſe ſchlechte Buͤcher
begierig gekauft werden.


Seb. Aber wenn dieſe auch einmahl klug werden?


Hier. Sehr wohl. Alsdenn bin ich ganz gefaſt,
den Buchhandel niederzulegen, und bloß beym Korn-
handel zu bleiben. Seitdem die oͤkonomiſchen Prin-
cipien aus Frankreich bey uns Mode worden ſind,
und alles ruft: fahrt nur viel Korn weg, ſo
werdet ihr viel haben,
iſt in meinem Vaterlande
und in den benachtbarten Gegenden ſo oft Kornman-
gel, daß es ſich der Muͤhe belohnt, ein Kornhaͤndler
zu ſeyn. Auf allen Fall werden in meinem Vater-
lande noch keine Zeuge zu Schlafroͤcken, noch keine
Muͤtzen Huͤte und Struͤmpfe gemacht; ich kann alſo
noch Manufacturen anlegen. Aber wehe den Buch-
haͤndlern in dummen Laͤndern, wo ſchon viel Manu-
facturen ſind und wo die Handlung uͤberhaͤuft iſt.
Wenn ein ſolch Land einmahl erleuchtet wird, ſo iſt
fuͤr ſie kein Mittel zur Nahrung weiter uͤbrig.


Seb. Aber ich habe doch gehoͤrt, daß in England
und in Frankreich ſich die Buchhaͤndler bey guten Buͤ-
chern ſehr wohl ſtehen ſollen.


Hier.
[121]

Hier. Das komt daher, weil in Frankreich und
in England, die Claſſe der Schriftſteller der Claſſe der
Leſer entſpricht; weil jene ſchreiben was dieſe zu leſen
noͤthig haben und leſen koͤnnen.


Seb. Jſt es denn in Deutſchland nicht eben ſo?


Hier. Sehr ſelten. Der Stand der Schriftſtel-
ler beziehet ſich in Deutſchland beinahe bloß auf ſich
ſelber, oder auf den gelehrten Stand. Sehr ſelten
iſt bey uns ein Gelehrter ein Homme de Lettres. Ein
Gelehrter iſt bey uns ein Theologe, ein Juriſt, ein
Mediciner, ein Philoſoph, ein Profeſſor, ein Ma-
giſter, ein Director, ein Rector, ein Conrector, ein
Subrector, ein Baccalaureus, ein Collega infimus,
und er ſchreibt auch nur fuͤr ſeine Zuhoͤrer und ſeine
Untergebnen. Dieſes gelehrte Voͤlkchen von Lehrern
und Lernenden, das etwa 20000 Menſchen ſtark iſt,
verachtet die uͤbrigen 20 Millionen Menſchen, die
außer ihnen deutſch reden, ſo herzlich, daß es ſich nicht
die Muͤhe nimmt fuͤr ſie zu ſchreiben, und wenn es
zuweilen geſchiehet, ſo riecht das Werk gemeiniglich
dermaßen nach der Lampe,*) daß es niemand
H 5an-
[122]
anruͤhren will. Die zwanzig Millionen Ungelehrten,
vergelten den 20000 Gelehrten Verachtung mit Ver-
geſſenheit, ſie wiſſen kaum daß die Gelehrten in der
Welt ſind. Weil nun kein Gelehrter fuͤr Ungelehrte
ſchreiben will, und da doch die ungelehrte Welt ſo
gut ihr Beduͤrfniß zu leſen hat, als die gelehrte, ſo
bleibt das Amt fuͤr Ungelehrte zu ſchreiben, endlich den
Verfaſſern der Jnſeln Felſenburg, den Poſtillen-
ſchreibern,
und den moraliſchen Wochenblaͤt-
tern,
deren Faͤhigkeiten den Faͤhigkeiten der Leſer, die
ſie ſich gewaͤhlt haben, viel genauer entſprechen, als die
Faͤhigkeiten der groͤſten Gelehrten ihren Leſern, die
daher weit mehr geleſen werden, als die groͤſten Ge-
nien, die aber auch ihre Leſer nicht um einen Daum-
breit hoͤher hinaufheben, die vielmehr ſehr oft nicht
wenig beytragen, daß das Licht der wahren Gelehr-
ten ſich nicht auf die Ungelehrten ausbreitet. Daher
ſind einige Staͤdte bey uns ſo helle, und ganze Laͤnder
ſind in der groͤſten Finſterniß.


Seb. Aber die Wiſſenſchaften koͤnnen nicht alle-
mahl ſo faßlich vorgetragen werden, daß ſie der große
Haufen begreifen kan, ſie wuͤrden ſonſt nicht allein
nicht erweitert werden, ſondern ſie wuͤrden endlich in
ein ſeichtes Geſchwaͤtz ausarten, das man bey halbem
Hin-
[123]
Hinhoͤren begreifen kan, aber ihre wichtigſte Wahr-
heiten wuͤrden ſie entbehren muͤſſen, weil ſie nicht durch
eine fluͤchtige Lectur, ſondern nur durch ein gruͤndli-
ches Studium begriffen werden koͤnnen. Jch erin-
nere mich gehoͤrt zu haben, daß die Franzoſen auf dieſe
Art verſchiedenen Wiſſenſchaften geſchadet haben, weil
ſie popular vortragen wolten, was ſich nicht popular
vortragen laͤſt. Man wuͤrde auch den Gelehrten alle
Begierde nach neuen Entdeckungen nehmen, wenn er
nie fuͤr die Gelehrten, ſondern nur fuͤr die Unwiſſen-
den ſchreiben ſollte. Es muͤſſen alſo gelehrte Buͤcher,
bloß fuͤr Gelehrte
geſchrieben werden.


Hier. Ganz recht! Nur wenn die Nation durch
die Schriften der Gelehrten ſoll erleuchtet werden, ſo
muß ſich die Anzahl der bloß fuͤr Gelehrten geſchrie-
benen Buͤcher, zu den fuͤr das ganze menſchliche Ge-
ſchlecht geſchriebenen Buͤchern verhalten, wie die An-
zahl der Gelehrten zu dem uͤbrigen menſchlichen Ge-
ſchlechte, vielleicht wie 1 zu 1000, vielleicht wie 1 zu
2000. Jch befuͤrchte aber, es wird in Deutſchland ge-
rade umgekehrt ſeyn.


Seb. Aber wenn nun bey uns in Deutſchland die
Anzahl der Gelehrten groͤßer iſt, die ſich faͤhig finden,
durch neue Erfindungen die Graͤnzen der Wiſſenſchaf-
ten
[124]
ten zu erweitern, als derer die ſich faͤhig finden, die
ſchon erfundenen Wahrheiten fuͤr das Publicum faß-
lich zu machen?


Hier. Jch zweifle, daß deshalb die deutſchen Ge-
lehrten bloß fuͤr Gelehrten ſchreiben, weil ſie viel neue
Entdeckungen zu machen haͤtten. Es ſind in Deutſch-
land nach einer gewiß nicht zu ſtarken Berechnung ſeit
hundert Jahren 400 bis 500 Logiken geſchrieben
worden; vielleicht in dreyen oder vieren mag dieſe
Wiſſenſchaft durch neue Entdeckungen ſeyn bereichert
worden, die uͤbrigen ſchreiben ſich aus, und auf hoͤchſte
haben ſie einige Definitionen veraͤndert, und einige
Lehrſaͤtze anders eingekleidet, und dies ſind die neuen
Erfindungen worauf ſie ſtolz thun. Sind ſolche Ent-
deckungen wohl der Muͤhe werth? und waͤre es nicht
beſſer geweſen, wenn die, die ſo wenig entdecken konn-
ten, ſich lieber befliſſen haͤtten, das ſchon entdeckte ge-
meinnuͤtzig zu machen? Es kommt mir vor, als ob
in Deutſchland in den beiden vorigen Jahrhunderten
Materialien zu dem großen Gebaͤude der Wiſſenſchaf-
ten waͤren geſammlet worden, die aber in ziemlicher
Unordnung untereinander herumlagen, Quaderſteine,
Backſteine, Dachziegel, Balken, Bretter, Eiſenwerk
u. ſ. w. Jm vorigen Jahrhunderte war die Beſchaͤf-
tigung der Gelehrten, die Materialien abzuſondern,
und
[125]
und jede Art in zierliche Schichten uͤbereinander zu ſe-
tzen. Jn dieſem Jahrhunderte haͤtten Baumeiſter
kommen ſollen, die aus dieſen Materialien, dem menſch-
lichen Geſchlechte zum beſten, Gebaͤude gebauet haͤtten.
Aber jeder Gelehrte faͤhrt fort, ſein Schichtchen Back-
ſteine vor ſich her dicht aufeinander zu legen, und
nennt es ein Lehrgebaͤude. Jſt jemand ſo gluͤcklich
auf ſeinem Spaziergange ein paar einzelne Steine zu
finden, und ſie in guter Ordnung zu ſeinem Haͤufchen
hinzuzulegen, ſo heißt er ein Erfinder. Derjenige der
große Quaderſteine in Graben neben einander waͤlzt,
daß ſie einmahl kuͤnftig einem Gebaͤude zum Grunde
dienen koͤnnten, heißt ein tiefſinniger gruͤndlicher Mann.
So thun unſere ſaͤmtliche Gelehrten nichts, als Mate-
rialien in Ordnung bringen und einen Grund legen.
Faͤngt aber jemand an, aus den verſchiedenen großen
Haufen Materialien die Jahrhunderte lang dicht auf-
einander gelegen haben, auf den ſchon gelegten Grund
ein Gebaͤude zu bauen, ſo verſpottet man ihn als einen
ſeichten Kopf, der Materialien und Grund von an-
dern nimmt, und deſſen Ordnung voller Luͤcken iſt.
Man bedenkt nicht, daß durch dieſe Luͤcken das Licht
in das Gebaͤude faͤllt, und daß durch dieſelben, Men-
ſchen in das Gebaͤude hineingehen koͤnnen, dahinge-
gen in den dichten Haufen weder Licht noch Waͤrme
dringen
[126]
dringen und keine menſchliche Creatur darin wohnen
konnte. Man ſollte nicht zufrieden ſeyn, jede Wiſſen-
ſchaft vor ſich in ein Lehrgebaͤude zu ordnen, ſon-
dern eine jede Wiſſenſchaft ſollte billig auf alle andere,
und alle zum Beſten der menſchlichen Geſellſchaft
angewendet werden.


Seb. Aber ich wiederhole noch einmahl, die Wiſ-
ſenſchaften wuͤrden ſeicht werden, wenn man nicht
fortfuͤhre ihre Theorien zu unterſuchen. Wohin
ſoll es endlich mit ihnen kommen, wenn man bloß
das, was davon dem gemeinen Haufen faßlich iſt, bear-
beiten will?


Hier. Und wohin ſoll es endlich mit der Befoͤr-
derung der Entwicklung aller Kraͤfte des Geiſtes, mit
der Erleuchtung des ganzen menſchlichen Geſchlechts
kommen, die der vorzuͤglichſte Zweck der Wiſſenſchaf-
ten iſt, wenn die Gelehrten bloß fuͤr ſich, und jede
Art von Gelehrten beſonders fuͤr ſich, in ihrem klei-
nem Zirkel bleiben, und den großen Zirkel der uͤbrigen
ganzen Nation ihrer Achtſamkeit unwuͤrdig halten
wollen. Es koͤnnen zwar immer einige Gelehrten
von Profeſſion bleiben, davon jeder uͤber ſeine Wiſſen-
ſchaft einzeln nachdenkt, und ſeine Bemerkungen den
Gelehrten mittheilet. Aber haben denn die Gelehrten
gar keine Pflichten gegen das uͤbrige menſchliche Ge-
ſchlecht?
[127]
ſchlecht? Der Bauer der das Feld beſaͤet, der Weber
der Zeuge bereitet, der Maurer der Haͤuſer bauet,
der Kaufmann, der die zur Nothwendigkeit und Be-
quemlichkeit gereichenden Dinge zuſammenbringt, tra-
gen jeder durch ihren Fleiß das ihrige zum gemeinen
Beſten bey, und auch die Gelehrten werden durch ſie
genaͤhret, bekleidet, vor den Ungemaͤchlichkeiten des
Wetters bewahrt, und mit Bequemlichkeiten verſehen;
ſollten die Gelehrten nun ein Recht haben, ihre Einſich-
ten beſtaͤndig nur unter ſich zu behalten, und ſie nie dieſem
geſchaͤftigen Theile der Nation, fuͤr die Wohlthaten, die
ſie taͤglich von ihm empfangen, mitzutheilen. Sie
koͤnnen dieſes nicht allein dadurch thun, wenn ſie ge-
wiſſe gemeinnuͤtzige Wahrheiten faßlich vortragen, wel-
che Beſchaͤftigung viele Gelehrten deshalb verachten,
weil ſie glauben, daß nur maͤßige Geſchicklichkeit dazu
gehoͤre. Es giebt vielmehr noch eine hoͤhere Art der
Gemeinnuͤtzigkeit, die Genie, Gelehrſamkeit, An-
ſtrengung aller Geiſteskraͤfte erfodert, und die man
dadurch erreicht, wenn man, wie ich ſchon geſagt habe,
nicht allein jede Wiſſenſchaft vor ſich ſelbſt, ſondern
auch in Abſicht auf alle andere, und alle in Abſicht
auf die menſchliche Geſellſchaft betrachtet. Hierin
fehlen die meiſten deutſchen Schriftſteller, die ihre
Wiſſenſchaft zwar aus dem Grunde verſtehen, aber
ſie
[128]
ſie bloß allein fuͤr ſich, und nie in dem Zuſammen-
hange der uͤbrigen Wiſſenſchaften, und nie in Abſicht
auf den Nutzen des menſchlichen Geſchlechts, betrach-
ten. Ein Criminaliſt iſt ein grundgelehrter Mann,
wenn er alle Ausgaben der peinlichen Halsgerichts-
ordnung mit ihren Commentarien durchgeleſen und
verglichen hat, und genau zu beſtimmen weiß, in
welchem Falle, und im wie vielſtem Grade man
zur Tortur ſchreiten ſoll. Er haͤlt den fuͤr einen
ſchwachen Kopf, der noch erſt unterſuchen will, ob
ein Erforſchungsmittel der Wahrheit, das im Heil.
Roͤmiſchen Reiche ſchon vor mehr als zweyhundert
Jahren durch Geſetze vorgeſchrieben worden, un-
zulaͤnglich ja gar unmenſchlich ſeyn koͤnne. Ein
Lehrer des deutſchen Kirchenrechts wird mit groͤſ-
ſeſter Gruͤndlichkeit und Beleſenheit beweiſen, daß im
Heil. Roͤmiſchen Reiche nur zwey Religionen exiſtiren
duͤrfen, und daß es reichsgeſetzwidrig ſey, wenn der-
jenige, der keiner dieſer beiden Religionen beyfaͤllt, nicht
ſogleich des deutſchen Vaterlandes verwieſen werde.
Laß den friedfertigen Gottesgelehrten, laß den men-
ſchenfreundlichen Philoſophen, laß den einſichtsvollen
Politiker dawider auftreten, und verſichern, wahre
Neligion, Wohl des Menſchen, und Wohl des
Staats erfodere, daß man niemand dogmatiſcher
Lehren
[129]
Lehren wegen verdamme, und keinen Ketzer, ſobald
er ein guter Buͤrger iſt, aus dem Lande jage, er
wird ſie bloß bedauren, daß ſie in der Kenntniß des
deutſchen Kirchenrechts ſo unwiſſend ſind; laß ſie ſich
auf die geſunde Vernunft berufen, er wird voll Ver-
achtung antworten, daß man ſo wenig das deutſche
Kirchenrecht als das deutſche Staatsrecht, nach der
Vernunft, ſondern nach dem Herkommen beurtheilen
muͤſſe. Eben ſo ſamlet der Geſchichtſchreiber eine
Menge Facten, ohne Wahl und Abſicht, ohne da-
raus Philoſophie, Politik oder Kenntniß des Men-
ſchen zu erlaͤutern, und der Philologe giebt klaſſiſche
Autoren heraus, ſamlet Leſearten und berichtigt Va-
rianten, ohne ein einzigmahl ſeine Leſer auf den Geiſt
der alten Schriftſteller, auf den Zweck warum ſie ge-
ſchrieben haben, zu fuͤhren. Wenn ich nicht gewohnt
waͤre, weder im Guten noch im Boͤſen von Gottes-
gelehrten zu reden, ſo wuͤrde ich die anfuͤhren, die
mit ihren Nebengottesgelehrten beſtaͤndig Dogma-
tik, Exegeſe und Polemik wechſeln, ohne jemals zu
uͤberlegen, welchen Einfluß Dogmatik, Exegeſe und
Polemik auf die Verbeſſerung des menſchlichen Gei-
ſtes haben koͤnne, und wie ſie ſich gegen Geſchichte,
Philoſophie und Politik verhalten. Wenn jemals die
deutſchen Schriftſteller anfangen, die Wiſſenſchaften
Erſter Theil. Jaus
[130]
aus ſolchen Augenpunkten zu betrachten, ſo werden
ſie ſie mit weit gluͤcklicherm Erfolge erweitern,
als durch trockne Compendien, leere Speculatio-
nen und abſichtloſe Compilationen, ſie werden
fuͤr Kenner ſchreiben, und doch den Leſern aus allen
Staͤnden intereſſant werden. Selbſt durch dieſes
Jntereſſe, werden ſie alle Arten von Leſern zum Stu-
diren wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe ermuntern, ſo wer-
den ſich die Wiſſenſchaften in mehrere Staͤnde aus-
breiten, und gelehrte Schriftſteller werden den mehr
erleuchteten Leſern faſſlich ſchreiben koͤnnen, ohne der
ſeichten Denkungsart des großen Haufens zugefallen,
eine unrechtverſtandene Popularitaͤt zu affectiren.


Seb. Jch finde, daß Sie vollkommen Recht haben.
Jch kenne keinen hoͤhern Nutzen der Wiſſenſchaften, als
die Erleuchtung des menſchlichen Geſchlechts. Aber
hiezu haben gewiß vortrefliche deutſche Schriftſteller
auch das Jhrige beygetragen, ich darf ihnen nur aus
dem Fache, das ich kenne, die wuͤrdigen Gottesgelehrten
unſers Vaterlandes ins Gemuͤth bringen, die ſich mit
gluͤcklichem Erfolge bemuͤhet haben, Dogmatik, Exe-
geſe und Polemik, nach dem Nutzen und dem Scha-
den, den ſie dem menſchlichen Geſchlechte bringen koͤn-
nen, zu betrachten.


Hier
[131]

Hier. Jch habe Jhnen ſchon geſagt, daß ich von
keinem Gottesgelehrten urtheilen will: aber ich ver-
ehre die großen Schriftſteller in allen Wiſſenſchaf-
ten, die von philoſophiſchen und menſchenfreundlichen
Abſichten belebt, mehrere Wiſſenſchaften zugleich uͤber-
ſchauen, und das wahre Verhaͤltniß einer jeden zur
allgemeinen Erkenntniß zu beſtimmen ſuchen. Deutſch-
land hat einige, und ſie ſind vortreflich, aber ſie ſind
in ſehr geringer Anzahl. Die meiſten deutſchen
Schriftſteller, ſind voll pedantiſchen Stolzes, nur
bemuͤhet, den Theil der Wiſſenſchaften den ſie
lehren, er mag nun klein, unbetraͤchtlich, ja wohl
ſchaͤdlich ſeyn, als den wichtigſten auszugeben, und
ihm duͤnkt, um zu meinem vorigen Gleichniſſe zuruͤck
zu kommen, daß der kleine Haufen Steine den ſie
ſammlen und Stein uͤber Stein aufſtapeln, wich-
tiger und nuͤtzlicher ſey, als das groͤſte Gebaͤude.


Seb. Mein Freund! Sie ſind wirklich gegen die
deutſchen Gelehrten ungerecht, und nehmen Sie es
mir nicht uͤbel, faſt muß ich glauben, dis komme von
ihrem Stande her. Sie ſelbſt haben die Tiefen der
Gelehrſamkeit nicht erforſchet, und wiſſen alſo auch
nicht, wie ein wahrer Gelehrter eigentlich beſchaffen
iſt. Ein wahrer Gelehrter ſiehet alle Gegenſtaͤnde
der menſchlichen Erkenntniß in einem weit hellern
J 2Lichte
[132]
Lichte, als ein Ungelehrter, und kan daher von ihrem
Werthe und Unwerthe beſſer urtheilen; er wird nie
die Wiſſenſchaft in der er arbeitet hoͤher achten,
als ſie es werth iſt, oder deshalb die andern Wiſ-
ſenſchaften, wenn ſie wichtiger ſind, vernachlaͤßi-
gen. Die Wiſſenſchaften, mein lieber Herr Hiero-
nymus,
ſind durch ein algemeines Band verbunden,
und wer bloß ſeine Wiſſenſchaft ſchaͤtzen wollte und die
andern nicht, handelte ſo thoͤricht, daß ſich dies von kei-
nem wahren Gelehrten vermuthen laͤßt. Lernen Sie
die Gelehrten beſſer kennen.


Hier. Haben ſie den Meſſcatalogus von dieſer
Meſſe ſchon geleſen.


Seb. Wie kommen Sie darauf? Nein noch nicht.


Hier. Wir wollen einmahl die Beſchaffenheit der
neuen deutſchen Buͤcher aus dieſem Catalogus beur-
theilen. Laſſen Sie uns einmahl zuſammenrechnen,
wie viel von jeder Art der Wiſſenſchaften Buͤcher her-
ausgekommen ſind, und hernach daruͤber Betrachtun-
gen anſtellen.


Seb. Sehr gern. Dis wird Sie am beſten wi-
derlegen. Wahre Gelehrten ſehen allemahl, das laſſe
ich mir nicht ausreden, auf dasjenige was dem Gan-
zen vortheilhaft iſt, nicht, was ihnen insbeſondere
gefaͤllt.


Sie
[133]

Sie fingen alſo an den Meßkatalogus durchzuge-
hen, und fanden 350 Ueberſetzungen*) aus verſchie-
denen Sprachen, 65 neue Stuͤcke von Journalen, 40
Compendien und Leſebuͤcher, 74 Diſſertationen und
Programmen, 53 Baͤnde Predigten, 67 theologi-
ſche Buͤcher von allerhand Art, aber nur 9 Juriſtiſche,
weil die Anweiſungen zum Reichsproceß und zum Cri-
minalproceß ſchon oben unter den Compendien gerech-
net worden, 23 mediciniſche Buͤcher, 16 Wochen-
blaͤtter, 5 Geſchichtbuͤcher, 37 diplomatiſche Buͤcher,
17 Romanen, meiſtens in Erfurt, Dresden und Re-
genſpurg gedruckt, 31 Gedichte, 3 mathematiſche Buͤ-
cher, 1 phyſicaliſch Buch und 15 aus der Naturhi-
ſtorie. Hingegen fanden ſie nur zwey einige Wochen vor
der Meſſe erſchienene Buͤcher, worin die Wiſſen-
ſchaften in ihrer Verbindung und in Verhaͤltniß
auf die Menſchheit betrachtet wurden, und von dieſen
verſicherten verſchiedene gelehrte Zeitungen, voller Ver-
achtung, daß ihre Verfaſſer ſeichte Koͤpfe waͤren, die
keine gruͤndliche Einſichten in die Wiſſenſchaften haͤt-
J 3ten,
[134]
ten, und bloß durch das geringe Verdienſt einer guten
Schreibart, bey dem gelehrten Poͤbel Beyfall er-
ſchlichen.


Hieronymus ging in ein Nebenzimmer, um
dieſe Zeitungsſtuͤcke zu ſuchen, weil er aber dabey
etwas verweilte, hatte Sebaldus indeſſen eiligſt 13
Titel von neuen Buͤchern uͤber die Apocalypſe, die er
ſich beym Durchſehen des Catalogus heimlich mit dem
Nagel gezeichnet hatte, auf einen Zettel ausgezogen,
mit dem er dem Hieronymus entgegen kam, und
ihn ſehr angelegentlich bat, ihm dieſe Buͤcher zu lei-
hen. Der gefaͤllige Hieroymus fing gleich an zu ſu-
chen, und kaum hatte er ſie herbey geholt, als Se-
baldus,
des bisherigen Geſpraͤchs ganz uneingedenk,
ſie unter den Arm nahm und damit nach Hauſe eilte,
wo er nicht ruhete, bis er eins nach dem andern durch-
gelaufen hatte.


Den dritten Tag brachte er dem Hieronymus
die Buͤcher zuruͤck, und nahm ſich unterweges vor,
ſeinem Freunde zwar fuͤr die Buͤcher zu danken, aber
ihm doch wegen ſeiner irrigen Meinung, von der par-
theyiſchen Achtung der Gelehrten fuͤr ihre Lieblingswiſ-
ſenſchaft, den Kopf zurechte zu ſetzen; allein er fand zu ſei-
nem Misvergnuͤgen, daß der gute Hieronymus be-
reits abgereiſet war; daher er ſowohl ſeinen Dank als
ſeine Ermahnung bey ſich behalten mußte.


Drit-
[135]

Dritter Abſchnitt.


Jnzwiſchen konnte Sebaldus die Geſpraͤche, die er
mit dem Magiſter und mit dem Hieronymus
gehalten halte, gar nicht vergeſſen. Er ſollte die ganze
Jdee, die er ſich von dem Zwecke des gelehrten Lebens,
und von dem Zuſtande der deutſchen Schriftſtellerey
gemacht hatte, aͤndern. Er ſolte glauben, daß der
groͤſte Theil der Schriftſteller von Profeſſion, nicht
ſo uneigennuͤtzig als er ſelbſt, bloß um die Ausbreitung
der Wahrheit beſorgt waͤren. Dies war ihm uner-
traͤglich. Er redete alſo mit jedem von dieſer Sache,
der ihm vorkam. Beſonders war er an einen ſeiner
Nebencorrectoren gerathen, der es als eine Verſorgung
anſahe, wenn er bis zu dem Poſten eines Ueberſetzers
fortſchreiten koͤnte. Er war auch ſo gluͤcklich geweſen,
wir wiſſen nicht, ob von einer Paraphraſe uͤbers
neue Teſtament
in einigen Foliobaͤnden, oder von
einer Antideiſtiſchen Bibel in einigen Quartbaͤn-
den, die einem Ueberſetzungsunternehmer in Pauſch
und Bogen war verdungen worden, durch die vierte
Hand, ein halbes Alphabet zum Ueberſetzen zu erhal-
ten. Er hatte das Vergnuͤgen ſeine Handſchrift ge-
druckt zu ſehen, und fand ſich um einen Zoll groͤßer
als ein gemeiner Corrector. Er konnte nicht umhin,
J 4ſei-
[136]
ſeinen Nebencorrector Sebaldus ſeine Groͤße fuͤhlen
zu laßen. Er war nicht wenig erſtaunt, daß dieſer,
anſtatt das Geſchaͤft eines Ueberſetzers, wie er, zu ver-
ehren, vielmehr davon mit der aͤußerſten Verachtung
ſprach. Es entſtand daher ein ziemlich lebhafter Wort-
wechſel zwiſchen ihnen, welcher endlich heftig ward, da
ſie, ich weiß nicht wie, auch auf die Apocalypſe geriethen,
wovon der Corrector die richtigen bengeliſchcruſianiſchen
Begriffe hatte. Er erſtaunte nicht wenig daruͤber, daß
Sebaldus, anſtatt die Apocalypſe von der chriſtlichen
Kirche erklaͤren zu wollen, ſie fuͤr eine Wiederholung der
Geſchichte Frankreichs ausgab; aber er gerieth in Wuth
da er vernahm, daß Sebaldus aus der Einrichtung des
himmliſchen Jeruſalems die Endlichkeit der Hoͤllen-
ſtrafen behaupten wolte. Er kreuzte und ſegnete
ſich uͤber ſolche Ketzerey, und lief ſogleich zu ver-
ſchiedenen Buchdruckern, die ihm und Sebaldus
die meiſten Bogen zu corrigiren gaben. Er klagte
ihnen, nicht etwa Sebaldus unrichtige Erklaͤrungen
der Apocalypſe, welches vielleicht nicht viel Eindruck
gemacht haben wuͤrde, ſondern daß Sebaldus gegen
jedermann die Ueberſetzungsfabriken, als einen der
Gelehrſamkeit nachtheiligen Mißbrauch verdammte,
und daß er bey dieſer Gelegenheit von den Buchdru-
ckern und Verlegern, die mit Ueberſetzungen ein nuͤtz-
liches
[137]
liches Gewerbe treiben, nicht mit der gebuͤhrenden
Ehrfurcht geſprochen habe. Sebaldus fand, als er
wieder bey ſeinen gebietenden Herren erſchien, die
Mienen kalt, die Stirnen gerunzelt, darauf folgten
Klagen uͤber die ſchlechten Zeiten, welche machten
daß itzt weniger gedruckt wuͤrde, und daß man ihm
daher weniger Correcturen geben koͤnnte. Er bekam
in kurzem in der That gar keine mehr, und weil ſein
rachſuͤchtiger College ihn, als einen Menſchen der die
Endlichkeit der Hoͤllenſtrafen glaubte, an ſolchen Oer-
tern abgemahlt hatte, wo dieſer Vorwurf mehr Ein-
druck machte als bey Buchdruckern, ſo merkte er bald,
daß jedermann ſich fuͤr ihn ſcheuete. Jm kurzem ward
er genoͤthigt, die Dachſtube, wo er vor kurzem ſo ver-
gnuͤgt geweſen, mit einem Keller in der Vorſtadt zu
vertauſchen, worinn ihn ein armer Mann aufnahm,
den er zur Zeit ſeines Wohlſtandes, als Markthelfer
bey einem Buchhaͤndler angebracht hatte. Dieſer
Mann, und ſein geweſener Nachbar der Magiſter,
waren nun ſeine einzige Freunde, deren Gutthaten
gerade hinreichend waren, ihm das Leben zu erhalten.


Eines Tages, den er ungegeſſen zugebracht hatte,
war er er gegen Abend zu ſeinem Freunde dem Ma-
giſter gegangen, der ſehr gern ſein duͤrftiges Ein-
kommen mit ihm theilte, und durch freundſchaftliche
J 5und
[138]
und lehrreiche Geſpraͤche ſeinem Geiſte die Thaͤtigkeit
wieder gab, die das Elend zu vernichten pflegt. Er
kam, zwar als es ſchon dunkel ward, doch beyzeiten,
nach ſeinem Keller zuruͤck, weil der Thorgroſchen ein
Capital war, das er zu ſparen noͤthig hatte. Er war
ſchon in den finſtern Gang hineingetreten, der zu ſei-
ner Schlafſtaͤte fuͤhrte, als er in einiger Entfernung
ſich etwas regen ſahe, und bey naͤherer Unterſuchung
einen Menſchen in einem Winkel ſitzend fand. Se-
baldus
hielt ihn fuͤr einen Dieb, und ob er ſich gleich
etwas entſetzte, ſo ſagte er doch ganz kalt: „Freund
„wenn du etwas zu ſtehlen ſuchſt, ſo biſt du hier an
„den unrechten Ort gekommen.‟ „Ach mein lieber
„Herr,‟ antwortete eine unbekannte Stimme,„ ich bin
„kein Raͤuber, verrathen Sie einen Ungluͤcklichen
„nicht.‟ „Nein Freund, ſagte Sebaldus, ein Menſch
„der ſelbſt elend iſt, iſt nicht grauſam,‟ und hiemit
ging er in die ſchon geoͤfnete Kellerſtube, ſchlug
Licht an, (denn ſein Wirth, der Markthelfer, war noch
nicht zu Hauſe,) und erblickte einen jungen Menſchen
wohlgeſtalret, aber todtenblaß. Sebaldus bot ihm
die Hand, fuͤhrte ihn hinein, hieß ihn gutes Muthes ſeyn,
und fragte wie er hieher kaͤme. „Jch habe, ſagte der
„Juͤngling, ſtudiert, aber ich habe mich, bey einer ungluͤck-
„lichen Schwaͤrmerey auf einem Dorfe, welche die Ju-
„gend
[]

[figure]


[][139]
„gend Luſtbarkeit heiſt, in einer Stunde wo ich meiner
„Sinne nicht maͤchtig war, zum Soldaten anwerben
„laſſen. Die Reue folgte auf dieſen Schritt nur alzu-
„bald. Jch wuſte, daß mein Vater Vermoͤgen hat,
„meine Loßkaufung zu bezahlen. Er iſt Generalſupe-
„rintendent in **—‟


„Wie? in **? und er heiſt? —‟


Stauzius.


„Jch kenne Jhren Vater, ſagte Sebaldus ſehr ge-
„laſſen, und Sie ſollen hier einen ſichern Aufenthalt
„haben, bis Sie an Jhren Vater ihren Zuſtand melden
„koͤnnen.‟


„Jch habe bereits an meinem Vater geſchrieben
„und habe ihn um Beyſtand erſucht. Er antwortete
„mir, daß er mit der Landkutſche, die morgen Vor-
„mittag hier ankommt, eintreffen werde. Jch ſolte
„aber ſchon, durch einen unwiederruflichen Befehl,
„morgen fruͤhe mit einem Recrutentransporte abge-
„hen. Jch befuͤrchtete, daß alsdenn meines Vaters
„Huͤlfe zu ſpaͤt ſeyn moͤchte, ich war außer mir,
„und da die Schildwacht auf einen Augenblick nicht
„aufmerkſam war, entſprang ich im Dunkeln, und
„dachte in dieſem Winkel unentdeckt zu bleiben. Was
„ich morgen thun ſolte, wuſte ich nicht, und faſt
„weiß ich es noch nicht, denn mein Vater iſt ein ſtren-
„ger
[140]
„ger und harter Mann, und ich fuͤrchte mich beynahe
„ſo ſehr, ihm unter die Augen zu treten als meinen
„Werbern.‟ —


„Fuͤrchten Sie ſich nicht, er wird vaͤterliche Ge-
„ſinnungen haben; ich bin auch Vater, und weiß nur
„allzu gut, daß den, den auch fremdes Ungluͤck nicht
„ruͤhrt, das Ungluͤck eines Sohnes ruͤhren wird. Jch
„will Jhren Vater aufſuchen, wenn es moͤglich ſeyn
„wird, ihn zu finden.‟


„Er iſt leicht zu finden, er wird im blauen Hechte
„abtreten, wo Sie nur nach dem Paſſagier fragen duͤr-
„fen, der mit der Jenaiſchen Landkutſche angekom-
„men iſt.‟


Jndem ſie ſo redeten, kam der Hauswirth, der
ehrliche Markthelfer, nach Hauſe. Ob er ſich gleich
vor den Soldaten ſehr fuͤrchtete, ſo ließ er ſich doch,
durch natuͤrliches Mitleid und durch Sebaldus Zu-
reden, bewegen den Fremden aufzunehmen, und ſtand
ihm einen Antheil an dem gemeinſchaftlichen Stroh-
lager zu.


Des andern Morgens ging Sebaldus beyzeiten
nach dem blauen Hechte, und ward ſogleich in das
Zimmer des Fremden den er ſuchte, gefuͤhret. Die
Kleidung des Sebaldus, und die Hagerkeit ſeines
Geſichts zeigte, daß er ein Sohn des Elendes war,
und
[141]
und Stauzlus, den das Bewuſtſeyn ſeiner eigenen
Wichtigkeit niemals verließ, konte, als er ihn erblickte,
ſich nichts anders vorſtellen, als daß er, vom Elende
daniedergedruͤckt, eine reinere Orthodoxie angeloben,
und ſich zu anderweiter Befoͤrderung empfehlen wollte.
Weil er aber noch nicht geneigt war, einem alten
Gegner ſeiner Meinungen ſo geſchwind zu vergeben,
daß deſſen Grundſaͤtze vernuͤnftiger geweſen als die
ſeinigen, ſo fuhr er ihn beym erſten Anblick an: „Jſt
„es nicht entſetzlich, daß einen die Bettler uͤberlaufen,
„wenn man kaum aus dem Wagen geſtiegen iſt! Was
„will er Freund? Denke er nur nicht, daß ich ihm
„glauben werde, wenn er mir etwas vom Verlaßen
„ſeiner Jrrthuͤmer vorſchwatzen will; das ſind lauter
„leere Worte. Er iſt viel zu lange bey ſeinen grund-
„ſtuͤrzenden Jrrthuͤmern verharret, als daß man von
„ihm eine aufrichtige Beßerung hoffen koͤnte. Wir wol-
„len bey uns keine Woͤlfe in Schaafskleidern haben; ich
„moͤchte einem Menſchen, der einmahl ſo verdammliche
„Grundſaͤtze gehabt hat, nicht einmahl einen Kuͤſter-
„dienſt anvertrauen. Was will er alſo von mir?
„ich kann ihm nicht helfen.‟ — Sebaldus antwor-
tete ſehr gelaſſen: „Jch komme nicht meinetwegen;
„ich kenne Sie und mich zu genau, als daß ich von
„Jhnen Huͤlfe erwarten ſolte.‟ — „Und doch,‟ —
„ſagte
[142]
ſagte Stauzius, (der den Sebaldus von oben bis
unten anſahe, und in dieſem Angenblicke auf ſeine
Leibesgeſtalt ein Project bauete,) „und doch koͤnte
„ich ihm vielleicht einige Huͤlfe angedeihen laßen; er
„iſt in elenden Umſtaͤnden, das ſehe ich, im geiſtlichen
„Stande iſt nichts fuͤr ihn zu thun, was will er alſo
„anfangen. Hoͤre er an, er iſt beinahe ſechs Fuß
„hoch, werde er Soldat; zwar iſt er nicht mehr jung,
„aber die Groͤße wird machen daß mans nicht ſo ge-
„nau mit dem Alter nehmen wird. Kann er ja die
„Strapatzen nicht ausſtehen, ſo wird er ins Lazaret
„gebracht, und da iſt er verſorgt. Laſſe er ſich alſo
„anwerben, es werden ſich Leute finden, die ihm ein
„gutes Handgeld geben werden.‟


Sebaldus ſagte laͤchelnd: „Es war eine Zeit, wo
„es mir ſehr uͤbel genommen ward, daß ich Leuten ge-
„rathen hatte in den Krieg zu gehen.


„Ja, das war etwas anders, an heiliger Staͤte
„ſchickte ſich dies nicht. Aber itzt‟ —


„Soll ich an Jhres Sohnes Stelle vielleicht
„Soldat werden?‟ —


„An meines Sohnes Stelle? was weiß er von
„meinem Sohne?‟


„Jch weiß daß Jhr Sohn ſich hat anwerben laſſen,
„daß er geſtern Abend aus der Wache entſprungen iſt,
„daß
[143]
„ich ihn bey miraufgenommen habe, und daß ich bloß zu
„Jhnen gekommen bin, um ihnen zu melden, daß er
„bey mir in ſicherer Verwahrung bleiben ſoll, bis Sie
„ſein Schickſal werden koͤnnen zu verbeſſern ſuchen. Jch
„verlange von Jhnen keinen Dank dafuͤr, weil ich
„gegen einen Menſchen Mitleiden empfunden habe,
„und es ihm bloß deshalb nicht habe verſagen wollen,
„weil ich erfuhr, daß er Jhr Sohn war. Wollen
„Sie noch, daß ich mich fuͤr ihn anwerben laſſen ſoll?
„Wenn dis das einzige Mittel waͤre, Sie und Jhren
„Sohn gluͤcklich zu machen, ſo waͤre es in dem Elende
„in dem ich ſchmachte, doch nur ein geringes
„Opfer. —‟


Stauzius war ganz erſtaunt und verſetzte ſtamm-
„lend, daß Sebaldus — wirklich ſehr guͤtig waͤre; und
„nun folgte eine Unterredung, deren Schluß war, daß
„der junge Stauzius ſo lange beym Sebaldus blei-
„ben ſolte, bis der Vater ſeine Loßlaſſung bewirkt haͤtte.


Nun ging Sebaldus nach Hauſe, den Juͤngling
zu troͤſten. Aber er hatte kaum Zeit, das vorgegang-
ne zu erzaͤhlen, als ein Commando Soldaten in die
Stube ſtuͤrzte, und beide auf die Hauptwache ſchleppte,
wo ſie den ehrlichen Markthelfer ſchon fanden.


Stauzius erfuhr dieſen Vorfall ſehr bald, und
dachte ihn auch zu ſeinem Vortheile anzuwenden. Es
war
[144]
war ihm rechter Ernſt geweſen, Sebaldus an ſeines
Sohnes Stelle zu ſetzen, und er glaubte nun deſſelben
Loslaßung nur einen deſto wohlfeileren Preis zu be-
wirken, da er zwey Perſonen an ſeine Stelle geben
konte. Er fand aber ſehr bald, daß der Hauptmann
gar nicht geneigt war, zween Recruten die er ſchon in
ſeiner Gewalt hatte, an die Stelle eines den er los-
geben ſolte, ſich vorſchlagen zu laſſen, und daß die
Loslaßung des jungen Stauzius izt weit mehr
Schwierigkeiten habe, als vorher.


Jn dieſem Zuſtande blieben die Sachen einige
Tage, in denen Sebaldus, alles was Elend und
Kummer ſchreckliches haben kann, ausſtehen muſte.
Ohne Nahrung, ohne Lager, war er den ganzen Tag
dem Laͤrmen und dem Spotte roher Soldaten ausgeſetzt,
und innerlich nagte ihn der Kummer, daß er ſeinen
Wohlthaͤter den Markthelfer mit ſich ungluͤcklich ge-
macht hatte. Es war nicht abzuſehen, in welches tiefe
Eleud dieſer Vorfall beide ſtuͤrzen konnte, und er kannte
keinen Freund der ihm helfen wollte, oder wenn er ge-
wollt haͤtte, konnte. Mit dieſen traurigen Gedanken be-
ſchaͤftigte er ſich eines Tages, als der Unterofficier
der ehemahls durch ſeine Predigt zehen Recruten
erhalten hatte, in die Wache trat, um ſich nach einem
Arreſtanten zu erkundigen. Er erblickte unter andern
den
[145]
den Sebaldus, lief auf ihn zu, druͤckte ihm treuher-
zig die Hand, und fragte wie er hieher kaͤme. Se-
baldus
erzaͤhlte es kuͤrzlich. Der Unterofficier ſchwor
mit einem kraͤftigem Fluche, daß ein ſo rechtſchaffener
Mann nicht laͤnger im Gefaͤngniſſe bleiben ſollte,
gieng ſtehendes Fußes zu ſeinem Major, der das Ba-
taillon commandirte, und in weniger als einer
Stunde kam er zuruͤck, befreyete ſowohl Sebaldus
als den Markthelfer, und fuͤhrte den erſtern ſogleich
mit ſich zu ſeinem Major.


Der Major war ein Mann in ſeinem ſieben und
funfzigſten Jahre, der von ſeinem funfzehnten Jahre
an, Soldat geweſen und von untenauf gedienet hatte.
Er war brav wie ſein Degen, aber ſeine moraliſchen
Grundſaͤtze wuͤrden, wenn man ſie nach Millers
Einleitung in die Mosheimiſche Sittenlehre

haͤtte pruͤfen wollen, freilich ſehr unzuſammenhaͤn-
gend und widerſprechend erfunden worden ſeyn. Er
glaubte die Unſterblichkeit der Seele nicht; und be-
kuͤmmerte ſich doch ſehr wenig um die Fortdauer ſei-
nes Lebens, ſondern ſetzte es ſehr oft, ohne die aͤuſ-
ſerſte Nothwendigkeit, in Gefahr. Er war eben nicht
ſehr religioͤs, und war auch eben nicht ein Lobredner
des geiſtlichen Standes; dennoch aber ehrte und be-
ſchuͤtzte er ihn vor allen andern. Er ging ſelten in die
Erſter Theil. KKirche
[146]
Kirche; aber ſeine Soldaten hielt er ſehr ſtreng dazu
an. Er ſchwor und fluchte ſehr oft; aber kein Subal-
tern durfte fluchen wenn ers hoͤrte. Er war aus
Temperament keuſch; aber auf einen jungen Solda-
ten, von dem er wußte daß er ſich niemals in ein
Maͤdchen verliebt hatte, ließ er beſtaͤndig Acht geben,
weil er ſich nicht viel gutes zu ihm verſahe. Sein
Verſprechen, wenn er es einmahl gegeben hatte, war
unwiderruflich; gleichwohl widerſprach er ſeiner
eignen Meinung ſchnell, ſo bald er merkte, daß er
moͤchte geirret haben. Er beleidigte kein Kind; aber
beleidigt, war er aͤußerſt rachgierig; aus dem Grund-
ſatze: Ein braver Mann muͤße nichts auf ſich
ſitzen laßen.


Als Sebaldus vor ihm erſchien, nahm er ihn
bey der Hand, und dankte ihm fuͤr die zehen ſchoͤne
Rekruten, die er durch ſeine geiſtreiche Predigt,
dem Bataillon verſchaft haͤtte. Als ihm aber Se-
baldus
erzaͤhlte, welche traurige Folgen dieſe Pre-
digt fuͤr ihn und ſeine Familie gehabt habe; ge-
rieth er in ein tiefes Nachſinnen, worin er den Se-
baldus
von Zeit zu Zeit anblickte, und als dieſer fort-
fuhr zu erzaͤhlen, daß der Superintendent Stauzius
die eigentliche Urſach ſeines Ungluͤcks, und daß eben
dieſer Stauzius der Vater des arretirten Rekruten
ſey,
[147]
ſey, ſprang er auf, und rief mit einem kraͤftigen
Schwur aus: „Wohl mir, daß ich den alten Schur-
„ken in meiner Gewalt habe! So lange ich in
„Feindes Land bin, habe ich noch keinen Menſchen
„gepeinigt, aber Herr! den Boͤſewicht will ich peini-
„gen. Sein Sohn ſoll ewig Soldat bleiben, und
„den alten Baͤrenhaͤuter will ich krumm ſchließen laſſen
„bis er alles Unrecht erſetzt, daß er einem ſo braven
„Mann wie Er, Herr Magiſter! gethan hat! Hier
rief er den Unterofficier herein: „Hoͤr’, ſagte er, den
„Augenblick, arretire den fremden Superintendenten
„im blauen Hechte, der Kerl iſt ein Spion, er iſt — ‟
Hier ſchloß ihm der Zorn den Mund. Der Unterof-
ficier, der einen Theil des Unrechts wußte, deſſen
Stauzius ſchuldig war, ſtrich ſich den Bart, und
ſagte laͤchelnd, daß er eben unten im Hauſe waͤre, und
daß er ihn ſchon ſeit einer Stunde nicht aus den Au-
gen gelaſſen haͤtte. „Gut! ſo laß den Schurken gleich
„heraufkommen‟, rief der Major.


Sebaldus bat gehoͤrt zu werden, und ließ nicht
ab zu bitten, daß er den Superintendenten wenig-
ſtens nur itzt, in dieſer Gemuͤthsverfaſſung, nicht ſehen
moͤchte. Der Major ließ ſich bewegen, und rief zur
Thuͤr hinaus, der Gefangene ſolte warten.


K 2Sebal-
[148]

Sebaldus fing nun an dem Major weitlaͤuftig
vorzuſtellen, daß ihm mit dem Ungluͤcke der beiden
Stauze gar nicht gedient ſey, daß ſeine Abſicht ge-
weſen ſey die Rettung des Sohnes zu bewirken, daß
er dem Vater von Herzen vergebe, daß Religion und
Moral ihm verboͤten Rache zu hegen.‟ —


„Zum Tauſend Element, Herr! rief der Major;
„laſſe er ſich von der Religion verbieten, was er will,
„mir ſoll ſie nimmer verbieten, daß ich einen Schurken
„beſtrafe, und einem ehrlichen Manne Recht verſchaffe,
„wenn ich zu beiden die Gewalt in Haͤnden habe.‟—


„Sie wollen gerecht gegen meinen Feind ſeyn,
„Herr Major, ſeyn Sie es auch gegen mich, was
„ſollen tngendhafte Leute von mir denken, wenn ich
„eine ſo grauſame Rache an meinem Feinde neh-
„me? —‟


„Was ſie denken werden? Herr! daß er Recht
„hat! Der alte Boͤſewicht hat ihn nicht allein von
„Haus und Hof gebracht, er iſt auch am Tode ſeiner
„Frau ſchuld, er hat ſeine Kinder ungluͤklich gemacht.
„Herr! ich habe nie Frau oder Kinder gehabt, aber
„ſtraf mich Gott! haͤtt ich ſie, ſo wuͤrde ich ſie lieben
„wie meine Seele, und wer mich darum braͤchte, den
„haßte ich bis in den Tod, und wolte ihm den Degen
„durch die Rippen jagen, ſobald ich ihn vor mir
„haͤtte — ‟


„Aber
[149]

„Aber wollten ihm doch nicht durch einen andern
„hinterruͤcks einen Dolch in die Seite ſtoßen laßen?—


„Herr! Herr! — Wofuͤr ſieht er mich an? das
„Weiße im Auge ſehe ich ſelbſt meinem Feinde, und
„laß ihn denn ſich vertheidigen wenn er kann.‟


„Mein Feind, Herr Major, kann ſich nicht ver-
„theidigen. Jſt es Jhnen anſtaͤndig, einem verthei-
„digungsloſen Manne den Dolch ins Herz zu ſtoßen?
„Wuͤrde es mir anſtaͤndig ſeyn? Mein Stand verbie-
„tet mir, Unrecht mit dem Schwerdte zu raͤchen,
„meine Religion gebietet mir, es zu vergeben und
„Boͤſes mit Gutem zu vergelten. Jch waͤre nicht werth
„Friede und Verſoͤhnung gepredigt zu haben, wenn
„ich durch Sie, an meinem Feinde, der ohne Verthei-
„digung in Jhrer Gewalt iſt, mich raͤchen, wenn
„ich dieſe ſchreckliche Rache, bis auf einen unſchuldi-
„gen Juͤngling erſtrecken wolte, der mich nie beleidigt
„hat, noch mehr, der mein Gaſtfreund iſt, der in
„meiner elenden Schlafſtelle Schutz und Zuflucht ge-
„ſucht hat. — Nein Herr Major erniedrigen Sie
„mich nicht ſo ſehr — Laſſen Sie den jungen Menſchen
„frey. Laſſen Sie mich an dem Vater eine viel edlere
„Rache nehmen, die Rache, zu empfinden daß der, den
„er beleidigt hat, ſein wahrer Freund iſt. Seine Be-
„ſtrafung uͤberlaſſen Sie ſeinem eigenen Gewiſſen,
K 3„das
[150]
„das in niemand ſchlaͤft, der eine boͤſe That gethan
„hat.‟


„Blitz und Hagel! daß ein Pfaffe nobler denken ſoll
„als ein Soldat! — Herr er hat Recht! —‟ (hier wiſchte
er ein Paar Thraͤnen ab, die ihm uͤber ſeine grauen Au-
genwimmern troͤpfelten) „Der junge Kerl ſoll los. Aber
„kein Capitain wuͤrde ihn umſonſt losgeben, das will
„ich auch nicht. Jch will ihn dem Hauptmanne bezah-
„len, aber Jhm Herr Magiſter ſoll der Vater das
„Loͤſegeld geben; ich ſchenke ihm den Rekruten zwar,
„aber ich will das Loͤſegeld beſtimmen.‟


Sebaldus mochte einwenden was er wolte, der
Major ſchritt nach der Thuͤre zu, und rief den Su-
perintendenten hinein.


Stauzius, der mit Schrecken die Wendung
geſehen hatte, die dieſe Sache nahm, war vor Angſt
halb außer ſich, und trat in der Stellung eines armen
Suͤnders hinein. Der Major ſahe ihn von oben bis
unten an, und ſagte: „Sein Sohn Herr! iſt ein
„Deſerteur und muß haͤugen, oder 36 mahl Spieß-
„ruthen laufen. Einen ſo ſchlechten Kerl, wie er iſt,
„Herr Superintendent, oder was er ſonſt ſeyn mag,
„zu gefallen, wuͤrde ich ihm zwar nimmermehr losge-
„ben, aber hier ſteht ein ehrlicher Mann, auf deſſen
„Fuͤrbitte ſoll ihm nicht allein die Strafe erlaſſen
„ſeyn,
[151]
„ſeyn, ſondern er ſoll ſeinen Sohn auch loshaben,
„wenn er tauſend Thaler fuͤr ihn zahlt. —


Stauzius halb erfreut halb beſtuͤrzt ſtellte ſtam-
melnd vor, „daß eine ſo ſtarke Summe nicht moͤglich
„waͤre. —


„Herr! raiſonnire er nicht. Der Kerl hat 11 Zoll,
„er ſoll 1000 Thaler geben, und zwar keine Bern-
„burger, oder ſein Sohn ſoll Gaſſen laufen, und ihn
„will ich hinſtecken laſſen, wo ihn Sonne und Mond
„nicht beſcheint, weil er ein Schurke iſt, und dieſer
„Herr Magiſter hier ein ehrlicher Mann iſt, den er
„ums Amt gebracht hat, und raiſonnire er kein Wort
„weiter.


Stauzius wuſte ſich vor Schrecken nicht zu faſ-
ſen, ſeine Frau hatte ihm eingebunden, ihr nicht eher
vor die Augen zu kommen, bis er ihren einzigen Sohn
mitbraͤchte, und der Praͤſident, der fuͤr den jungen
Menſchen beſtaͤndig eine beynahe vaͤterliche Zaͤrtlichkeit
hegte, hatte ihm zu deſſen Befreyung eine anſehnli-
liche Summe in Golde mitgegeben, wodurch ſeinem
eigenen Geize die Ranzion ſehr erleichtert ward. Er
bequemte ſich alſo und zahlte in 77 Stuͤck alten Louis-
doren, das Stuͤck zu 13 Rthlr. gerechnet, das ganze
Loͤſegeld auf den Tiſch.


K 4Der
[152]

Der Major nahm es an, und uͤberreichte es dem
Sebaldus, der waͤhrend der ganzen Unterhandlung,
ob er gleich einigemahl zu reden verſucht hatte, von
dem Major nie war zum Worte gelaſſen worden.
„Dies ſoll, ſagte er, eine kleine Erſetzung des Scha-
„dens ſeyn, den der Kerl ihm zugefuͤgt hat.‟


„Herr Major, ſagte Sebaldus, Sie haben mir
„den jungen Menſchen geſchenkt. Schenken Sie mir
„ihn ganz, nehmlich mit der Freiheit ihn wieder zu
„verſchenken. Er hat Schutz in meiner Wohnſtaͤte
„geſucht, dieſen Schutz kan ich ihm nicht verkaufen,
„ohne geradezu wider meine Denkungsart zu handeln.
„Was mir dieſer Herr kann zuwider gethan haben, habe
„ich ihm laͤngſt vergeben. Er hat geſucht fuͤr die Rei-
„nigkeit der Lehre zu wachen, ich muß noch weit mehr
„bemuͤht ſeyn fuͤr die Reinigkeit meiner Handlungen zu
„ſorgen. Hier, Herr Generalſuperintendent, neh-
„men ſie das Geld zuruͤck.


Stauzius ſtand da, wie ein Knabe, dem ein
Gaſt einen Leckerbiſſen in den Mund ſtecken will; der
Mund laͤuft voll Waſſer, aber er trauet ſich nicht ihn
aufzuthun, aus Furcht vor dem Praͤceptor, der es
verboten hat. Er ſahe den Major mit furchtſamen
Augen an, der ihn mit einem grimmigen Blicke ab-
ſchreckte.


Sebal-
[153]

Sebaldus hoͤrte indeſſen nicht auf, bey dem Ma-
jor ernſtlich anzuhalten, der endlich den Sebaldus
auf die Achſel ſchlug, und ſagte: „Nun thue er was
„er will. Jch moͤchte gern boͤſe ſeyn, wenn ich nur
„koͤnnte.‟


Sebaldus gab dem Stauzius das Geld, der es
begierig in die Taſche ſchob, und den Sebaldus, mit
einem Eiſer umarmte, der genugſam zeigte, daß ihm
ſein Geld nicht weniger lieb war, als ſein Sohn. Er
nennte ihn ſeinen Erretter, er bat ihn ſehr demuͤthig
um Verzeihung, er verſicherte, daß er auf ewig dank-
bar ſeyn werde, daß er erkenne, wie großmuͤthig er
gehandelt, da er ihm, ohne Rache, die er gaͤnzlich in
ſeiner Gewalt gehabt haͤtte, vergeben wolle, da er nicht
einmahl die Ranzion ſeines Sohnes annehmen wolle —


„Genug hievon; fiel ihm Sebaldus in die Rede:
„Gott vergiebt ohne Suͤhnopfer und Loͤſegeld —
„und wer Gott fuͤrchtet, wird ihm nachzuahmen
„ſuchen. Wenn Sie erkennen, daß Sie mir unrecht
„gethan haben, ſo bin ich gaͤnzlich befriedigt.‟


Stauzius verſicherte aufs heiligſte, er erkenne dies,
aber es ſey nicht genug, er wolle ſeinen Schaden aufs
thaͤtigſte zu erſetzen ſuchen, er verſpreche ihm, wenn er
wieder nach Hauſe zuruͤckkommen wolle, daß er die erſte
gute Verſorgung, die in ſeiner Macht ſtuͤnde, haben ſolle.


Sebal-
[154]

Sebaldus dankte fuͤr ſeinen guten Willen, aber
verbat ihn.


Der Major ſagte, es ſey unnoͤthig, denn er wolle
dem Sebaldus die erſte vacante Feldpredigerſtelle,
und wo moͤglich bey ſeinem eignen Bataillon verſchaf-
fen, bis dahin nehme er die Sorge fuͤr deſſen Unter-
halt auf ſich.


Unter dieſen Geſpraͤchen trat der junge Stauz in
das Zimmer, den der Major frey erklaͤrte, und ihn
ſeinem Vater uͤbergab, der nicht eher nachließ, als
bis ihm Sebaldus, in den blauen Hecht, zum
Mittagsmahle, nachfolgte.


Vierter Abſchnitt.


Hier genoß Sebaldus das ſuͤße Vergnuͤgen, von
ſeinem Feinde verdienten Dank einzuaͤrndten.
Vater und Sohn uͤberhaͤuften ihn mit Liebkoſungen.
Der Vater wiederholte mit Eifer den Vorſchlag zu
einer guten Verſorgung, und betheuerte, daß er al-
les Anſehen, das er in dem Fuͤrſtenthume haͤtte, da-
zu anwenden wollte. Der Sohn unterſtuͤtzte dieſen
Vorſchlag, ſo daß Sebaldus endlich anfieng zu wan-
ken und ſich eine ruhige Befoͤrderung in ſeinem Vater-
lande, als eine wuͤnſchenswuͤrdige Sache vorzuſtellen.


Er
[155]

Er befragte den Major uͤber dieſen Vorſchlag, und
wunderte ſich nicht wenig, daß dieſer gar nicht dazu
ſtimmen wollte. Da er die Ehrlichkeit aller Menſchen
nach ſeiner eignen beurtheilte, ſo konnte er ſich gar
nicht darin finden, daß der Major ſo viel Argwohn
gegen die Aufrichtigkeit des Stauzius merken ließ.
Er hielt dies fuͤr ein allzuweit getriebenes Mißtrauen,
und befeſtigte ſich immer mehr in ſeinem Vorhaben,
durch eine Landpredigerſtelle in ſeiner Vaterſtadt Ruhe
zu ſuchen.


Als der Major ſahe, daß ſein Entſchluß, der Ein-
ladung des Stauzius zu folgen, feſt gefaſſet war, ſo
wolte er ihm nicht ferner hinderlich ſeyn. Er ließ den
alten Stauzius zu ſich kommen, und band ihn aufs
allerernſtlichſte ein, ſein Verſprechen zu halten. Er
benachrichtigte ihn, daß er dem Sebaldus an den
Oberſten, der die Truppen commandirte, die die fuͤrſtl.
Reſidenz beſetzt hlelten, einen Brief mitgegeben haͤtte;
daß er dieſen Officier, der ſein vertrauter Freund
ſey, baͤte, den Sebaldus zu beſchuͤtzen, und jeden,
der ſich unterſtehen wuͤrde, ihn zu verfolgen, auf das
empfindlichſte zu beſtrafen. Stauzius verſprach mehr,
als er vorher verſprochen hatte, und verſicherte noch
mehr zu leiſten.


Als
[156]

Als Sebaldus von dem Major Abſchied nahm,
gab er ihm außer dem obengedachten Schreiben an
den Oberſten, noch ein Empfehlungsſchreiben an einen
ſeiner vertrauten Freunde in Berlin mit. Er verſi-
cherte ihn, daß, wenn er nach Berlin reiſete, dieſer
Freund ihn, auf Vorzeigung dieſes Briefes, aufs
freundſchaftlichſte aufnehmen werde, und daß er bey
demſelben beſtaͤndig Nachricht, wo er, der Major, ſich
aufhielte, wuͤrde erhalten koͤnnen. Er gebot ihm,
von dieſem Briefe Gebrauch zu machen, wenn, wie
er noch immer befuͤrchtete, Stauzius ſein Verſpre-
chen nicht halten ſolte. Er betheuerte mit den hef-
tigſten Schwuͤren, das Sebaldus ſeines Beyſtan-
des niemals entbehren ſolte, ſobald er nur Nachricht
erhielte, daß er deſſelben benoͤthigt ſey.


Was den Major gegen den guten Generalſupe-
rintendenten ſo gar ſehr mißtrauiſch gemacht habe,
iſt ſchwer zu ſagen. Vermuthlich war es deſſen Phy-
ſiognomie. Ob aber insbeſondere ein weit gegen
das Ende der Naſe vor ſich gehendes Naslaͤp-
chen
*), oder eine eingekerbte Oberlefze, oder
gruͤnlichte Zaͤhne, oder ein hoͤrbarer Athem,
oder nur uͤberhaupt ſein ſuperintendentenmaͤßiges
Anſe-
[157]
Anſehen*) daran ſchuld geweſen, wuͤrde Herr
Caſpar Lavater am ſicherſten berichten koͤnnen, wenn
er den Generalſuperintendenten Stauzius geſehen
haͤtte.


Der Erfolg ſchien indeſſen, wenigſtens anfaͤnglich,
das Mißtrauen des Majors gar nicht zu rechtfertigen.
Stauzius nahm den Sebaldus mit ſich in die
fuͤrſtliche Reſidenzſtadt zuruͤck. Er haͤtte ihn in ſein
Haus aufgenommen, aber Sebaldus wolte nirgend,
als bey ſeinem Freunde Hieronymus, abtreten. Jn-
zwiſchen erwies ihm Stauzius alle moͤgliche Hoͤf-
lichkeiten und er ward von demſelben ſowohl, als von
dem Praͤſidenten nicht ſelten zu Gaſte geladen; ſon-
derlich nachdem der fremde Oberſte, dem er ſein Em-
pfelungsſchreiben uͤberreicht hatte, ſich oͤffentlich fuͤr
ſeinen Beſchuͤtzer erklaͤrt, und ihn dem Praͤſidenten
ausdruͤcklich zu einer baldigen Wiederbefoͤrderung em-
pfolen hatte. Er ward auch wirklich in den naͤchſten
drey Monaten, zu den zweyen im Lande vacant ge-
wordenen Pfarren vorgeſchlagen. Nur war ungluͤck-
licher Weiſe, auf die eine ſchon vorher einem andern
die Anwartſchaft gegeben worden, und die andere hielt
der Praͤſident zu wenig eintraͤglich, obgleich Se-
baldus
meinte, ſie ſey eintraͤglicher als ſeine verlaſſene
Pfarre.
[158]
Pfarre. Der Generalſuperintendent wiederlegte ihm
dies, und gab ihm zu verſtehen, daß man einem Man-
ne wie Jhm, eine Specialſuperintendentur zu geben
gedaͤchte. Nun waren zwar alle Specialſuperinten-
denten des Fuͤrſtenthums in der Bluͤthe ihrer Jahre,
befanden ſich wohl an Fleiſch und Knochen, aßen und
tranken gut, und ſtudirten ſehr wenig, ſo daß man
freilich keine Vacanz in kurzem gewiß vorausprophe-
zeien konte. Da aber doch ein Schlagfluß den Geſun-
deſten befallen kann, und ein hitziges Fieber auch kei-
nen Specialſuperintendenten verſchont; ſo war es
nicht offenbar unmoͤglich, daß Sebaldus, der
freilich nahe an ſechzig Jahre alt, und vom Mangel
und Kummer etwas gebeugt ſchien, bey dem aber
uͤbrigens alle Actus naturales ſehr gut von ſtatten
gingen, eine ſolche Stelle vor ſeinem Ende noch er-
halten koͤnte.


Sebaldus ließ ſich indeſſen, bis zur Erfuͤllung die-
ſer Hofnung, die Zeit gar nicht lang werden. Er
war bey ſeinem Freunde Hieronymus aufs freund-
ſchaftlichſte aufgenommen. Weil er in deſſelben La-
den immer bekannter ward, ſo fing er an, ſich der Ge-
ſchaͤfte deſſelben, wenn er verreiſte, anzunehmen. Wenn
hingegen ſein Freund zugegen war, hatte er voͤllige
Muße
[159]
Muße, an ſeinen Commentar uͤber die Apocalypſe zu
arbeiten, welches ihm ſo angenehm war, daß er die
Hofnung zu einer Pfarre vielleicht ganz vergeſſen
haben wuͤrde, wenn ſie Stauzius nicht, ſo oft er
ihn zu Gaſte bat, erneuert haͤtte.


Jnzwiſchen war in den erſten Monaten des fol-
genden Jahres der allgemeine Frieden geſchloſſen wor-
den. Der fremde Oberſte ruͤckte demſelben zufolge mit
ſeinen Truppen aus. Dieſe Veraͤnderung brachte eine
große Veraͤnderung in den Herzen und auf den Ge-
ſichtern vieler Leute in dem kleinen Fuͤrſtenthume her-
vor. Jnsbeſondere ſchienen der Praͤſident und der
Generalſuperintendent, den ehrlichen Sebaldus nicht
mehr ſo genau zu kennen als vorher. Sie lieſſen ihn
nicht mehr zu ſich bitten. Wenn er ſich bey dem erſtern
anmeldete, ſo ſagte der Bediente ſchon an der Thuͤr,
daß Se. Excellenz Mittagsruhe hielten, oder daß
Sie eben Geſchaͤfte haͤtten, oder daß Sie heute nie-
mand ſpraͤchen. Wenn er den letztern zu ſprechen ver-
langte, ſo kamen, nachdem er eine halbe Stunde in
dem Viſitenzimmer gewartet hatte, Se. Hochwuͤr-
dige Magnificenz zwar im Schlafrocke, mit oder ohne
Peruke zum Vorſcheine, und vergaßen auch niemals
beym Weggehen ihn Jhrer Gewogenheit zu verſi-
chern; aber, obgleich verſchiedene Vacanzen vorfielen,
ſo
[160]
ſo dachte doch niemand mehr daran, den Sebaldus
vorzuſchlagen.


Endlich ward nach ein paar Monaten eine Pre-
digerſtelle in einem benachbarten kleinen Staͤdtchen
offen, die Sebaldus unter andern deshalb gern ge-
habt haͤtte, weil Hieronymus den daſigen Vieh-
markt zu beſuchen pflegte, und er ſich ein großes Ver-
gnuͤgen dabey vorſtellte, ſeinen einzigen Freund jaͤhrlich
zweymahl zu ſehen, und in ſeinem Hauſe aufzuneh-
men. Er wagte es alſo, dem Generalſuperintendenten
abermals aufzuwarten, und zum erſtenmahle ſich ſelbſt
um dieſe Stelle zu melden.


Stauzius warf die Sache nicht ganz weg; aber
nach einigem Ha und Hem, fieng er an dem Sebal-
dus
vorzuſtellen: „Wie er ſelbſt einſehen wuͤrde wie
„noͤthig es waͤre, wenn von ſeiner wirklichen Befoͤr-
„derung die Rede ſeyn ſolte, daß er das gegebene Aer-
„gerniß hoͤbe, vor dem Conſiſtorium ſeine irrige Mei-
„nungen, beſonders von der Ewigkeit der Hoͤllenſtra-
„fen widerriefe, auch wegen der hoͤchſtwichtigen Lehre
„von der Genungthung, dem Sinne der reinen ſymboli-
„ſchen Buͤcher gemaͤß, ſich erklaͤre; indem er ſich mit
„Betruͤbniß erinnere, in Leipzig daruͤber von ihm eine
„hoͤchſtbedenkliche Aeuſſerung gehoͤrt zu haben.‟


Seb-
[161]

Sebaldus ſtand ganz erſtaunt da, und ſagte
kurz: „daß er ſich uͤber dieſe Zumuthung wundere, daß
„er aber, um keines zeitlichen Vortheils willen, die
„Wahrheit die er erkenne, verlaͤugnen wuͤrde.‟


Stauzius verwies ihm, in nicht ganz voͤllig ſanſ-
tem Tone, ſeine Hartnaͤckigkeit, gebot ihm von ſei-
ner ketzeriſchen Lehre abzuſtehen, und erinnerte ihn
zulezt, indem er durch einen Griff an ſeine violette
Muͤtze das Zeichen zum Abſchiede gab, mit einem
trocknen Amtsgeſichte: „daß itzt die Zeit nicht mehr
„waͤre, da man, durch feindliche Gewalt, in den
„Weinberg des Herrn einzudringen ſuchen muͤſſe. Es
„ſey itzt, Gottlob! Frieden.‟


Als Sebaldus ſeinem Freunde Hieronymus
dieſen Vorgang erzaͤhlte, fand dieſer beſtaͤtigt, was
er ſchon laͤngſt befuͤrchtet hatte, naͤmlich daß fuͤr den
Sebaldus in dem Fuͤrſtenthume weiter keine Beſoͤr-
derung zu hoffen ſey. Nach einigen Tagen erfuhr
man, daß der Praͤſident einen Fiſkal veranlaſſet habe,
den Sebaldus fiskaliſch anzuklagen, weil er im Kriege
fuͤr fremde Truppen Recruten geworben, zehen wirk-
lich aus dem Lande geſchaft, und den Sohn des Ge-
neralſuperintendenten fuͤr Geld habe loslaſſen wollen.
Sebaldus lachte uͤber eine ſo ungereimte Anklage, und
brannte vor Begierde ſich vor Gerichte zu ſtellen, um
Erſter Theil. Ldurch
[162]
durch bloße Erzaͤhlung der Wahrheit ſeine Feinde zu
beſchaͤmen.


Hieronymus aber, der einige mehrere Erfah-
rung in Welthaͤndeln hatte, verſicherte ihn: „daß der-
„jenige, der wiſſentlich eine falſche Anklage thue,
„nicht durch die Wahrheit beſchaͤmet werde; daß man
„einen maͤchtigen Mann alsdenn am meiſten fuͤrch-
„ten muͤſſe, wenn er offenbar ungerecht anklage, und daß
„bey einem fiskaliſchen Proceſſe nie etwas zu gewin-
„nen, ſehr oft aber viel zu verlieren ſey.‟


Nachdem beide den wahren Zuſtand der Sachen
reiflicher uͤberlegt hatten, ſo kamen ſie uͤberein, daß
den maͤchtigen Feinden des Sebaldus ſeine Gegen-
wart im Lande zuwider waͤre, und daß es fuͤr ihn
ſicherer ſeyn moͤchte, itzt abzuziehen, als ſich mit Ge-
walt wegtreiben zu laſſen.


Das Empfehlungsſchreiben des Majors nach Ber-
lin ward alſo hervorgeſucht. Hieronymus ſchrieb
auch eins, an einen ſeiner dortigen Handlungsgenoſ-
ſen, das, wenn ſich nichts beſſers faͤnde den Se-
baldus,
wenigſtens wieder zu der Wuͤrde eines Cor-
rectors erheben ſollte, zugleich ſtellte er demſelben eine
Summe Geldes zu, welche er aus den bey ihm zu-
ruͤckgelaſſenen Mobilien geloͤſet zu haben verſicherte,
die aber Sebaldus Erwartung ſo ſehr uͤbertraf, daß
er
[163]
er vermuthete und es |ſich merken ließ, ſein Freund
habe auch hier als Freund gehandelt.


Die Poſt nach Berlin war beſtellt. Sebaldus,
weil er noch nicht wußte, wie lang ſein Aufenthalt
in Berlin dauern koͤnnte, nahm nur in einem kleinen
Kuffer das allernothwendigſte zu ſich. Das uͤbrige,
worunter auch ſein Commentar uͤber die Apoca-
lypſe war, der ſchon zu ein paar hundert Heften an-
gewachſen ſeyn mochte, ließ er bey ſeinem Freunde
Hieronymus ſtehen.


Nun ſetzte er ſich, nach zaͤrtlichem Abſchiede von
ſeinem Freunde, auf den Poſtwagen, und trat ſeine
Reiſe an.


Jn der zweyten Nacht ward der Poſtwagen,
ohnweit der Brandenburgiſchen Graͤnze, in einem
Walde unvermuthet von Raͤubern uͤberfallen; ſie ſchlu-
gen den Poſtillion auf der Stelle tod, und Sebal-
dus,
der der einzige Paſſagier war, empfing einen
Schlag auf den Kopf, davon er betaͤubt zur Erden fiel.
Als er wieder zu ſich kam, war die Sonne aufgegan-
gen, der Poſtillion lag todt ausgeſtreckt, der Poſtwa-
gen war beraubt, und ſein eigner Kuffer war gaͤnz-
lich ausgeleert. Als er ſich ſelbſt beſah, fand er, daß
die Raͤuber ihm ſeine Kleider, deren ſchlechtes Anſe-
hen ſie vermuthlich nicht in Verſuchung fuͤhren konte,
L 2gelaſ-
[164]
gelaſſen hatten. Er fand auch noch etwas kleines Geld
in einer Taſche. Seine beiden Recommendationsbriefe
waren aber weg, welches ihn zwar beſtuͤrzt machte,
doch, indem er ſich erinnerte, daß er ſo klug geweſen, ſei-
nen Commentar uͤber die Apocalypſe zuruͤckzulaſſen,
welcher ſonſt auch der groͤßten Gefahr verlohren zu
gehen, wuͤrde ausgeſetzt geweſen ſeyn: ſo war er in
etwas getroͤſtet. Er ſuchte aus dem Walde herauszu-
kommen, und folgte der erſten Landſtraße, die er
fand, ohne zu wiſſen, wohin ſie ihn fuͤhrte.


Ende des zweyten Buchs.


Drit-
[165]

Drittes Buch.


Erſter Abſchnitt.


Sobald Mariane nebſt ihrem franzoͤſiſchen Na-
men auf dem Wohnſitze des Herrn von Ho-
henauf
angelangt war, war die gute franzoͤſiſche Aus-
ſprache die erſte Sache wonach gefragt ward. Die
gnaͤdige Frau, die ſehr fuͤglich daruͤber urtheilen konnte,
weil ſie ſelbſt mit einem angenehm gemiſchten halb thuͤ-
ringiſchen halb wetterauiſchen Accente franzoͤſiſch ſprach,
erklaͤrte nach einer viertelſtuͤndigen Unterredung, daß
Marianens Ausſprache ohne Tadel ſey, und fragte
ihren neben ihr ſitzenden Gemahl „ob ſich nicht gleich
„die Ausſprache einer gebohrnen Franzoͤſinn, von der
„Ausſprache einer Deutſchen durch ein gewiſſes je ne
„ſai quoi
unterſcheide?‟ welches dieſer, den ſeine Ge-
mahlinn ſchon ſeit den erſten Tagen ihrer Vermaͤhlung
gewoͤhnt hatte, alles was ſie mit einem gewiſſen Tone
fragte, zu bejahen, mit einem deutlichen: „Aller-
„dings!‟ bekraͤftigte.


L 3Nun
[166]

Nun ſchritt die gnaͤdige Frau zur Jnſtruction der
kuͤnftigen Hofmeiſterinn ihrer Kinder. Der Haupt-
punkt war, daß ſie beſtaͤndig franzoͤſiſch und niemals
deutſch mit ihnen ſprechen, und daß ſie die Kinder an-
weiſen ſollte, ſich als Perſonen von Stande zu betra-
gen, und jederzeit artige Manieren zu haben.
Hierauf ward gefragt, ob ſie Gelegenheit gehabt habe,
oͤfters Perſonen von Stande zu ſehen und ihr Betra-
gen zu beobachten. Mariane ob ſie gleich hier eine
Franzoͤſinn vorſtellte, hatte doch das zuverſichtliche Be-
jahen noch nicht gelernt, welches ſchon oft, ſowohl man-
cher franzoͤſiſchen Hofmeiſterinn und Kammerjungfer,
als manchem franzoͤſiſchen Kammerdiener und Pro-
jektmacher, aus der Noth geholfen hat; ſie bekannte
daher mit Erroͤthen, daß ſie ſelten in dem Falle gewe-
ſen waͤre.


„Deſto ſchlimmer, ſagte der Hr. von Hohenauf,
„denn bey der Erziehung vornehmer Kinder iſt das
„nothwendigſte, ihnen ſtandesmaͤßige Manieren
„beyzubringen. Zum Gluͤck kann ſie ihren Mangel
„abhelfen, Mamſell, wenn ſie fleißig auf meine Ge-
„mahlinn Acht hat, dann die iſt ein vollkommnes Mu-
„ſter ſtandesmaͤßiger Auffuͤhrung.‟


Die Frau von Hohenauf neigte ihr mit ſtarken
Knochen verſehenes Vorderhanpt nachlaͤßig auf die
rechte
[167]
rechte Schulter, laͤchelte uͤber ein paar vorwaͤrts ge-
worfene Lippen, blinzelte mit ihren grauen roth unter-
laufenen Augen, und ſagte:


„Sie ſind ſehr guͤtig Hr. von Hohenauf, aber
„wahr iſts, daß ich eine gewiſſe Decence in meinem Be-
„tragen zu beobachten ſuche, die Perſonen vom Stande
„eigen iſt. Hiernach, Mamſell, muß ſie meine Fraͤu-
„lein auch bilden, daß ſie ſich niemals vergeſſen, ſondern
„beſtaͤndig vor Augen haben wer ſie ſind. Dies, Mam-
„ſell, muß Sie auch niemals aus den Augen laſſen, ſon-
„dern bedenken, daß ſie in meinen Fraͤulein, Perſonen
„von Stande vor ſich hat. Sie muß ihnen beſtaͤndig
„mit Nachſicht begegnen, ihnen niemals befehlen, noch
„weniger gegen ſie ſtrenge oder unfreundlich ſeyn, wenn
„ſie auch ein wenig Lebhaftigkeit zeigen; denn Jugend
„hat keine Tugend. Es iſt genug, wenn ſie nur die
Decence und ihre Geburt nie vergeſſen. Naͤchſtdem
„kann ſie ihnen oft gute franzoͤſiſche Buͤcher geben,
„daß ſich der Geiſt aufklaͤrt. Wir laſſen deshalb mo-
„nathlich den Mercure de France kommen, darin ſte-
„hen die neueſten Enigmes und Logogryphes, wie ſie
„am Hofe zu Verſailles eben gaͤnge und gaͤbe ſind,
„auch ſchoͤne Poeſies fugitives, davon muͤſſen die Fraͤu-
„lein urtheilen lernen, damit ſie, wenn kuͤnftig ihr
Amant ihnen ein Madrigal à Silvie mit einem galanten
L 4„Envoy
[168]
Envoy zuſenden wird, die Fineſſe davon einſehen,
„und mit Eſprit anworten koͤnnen. Auch ſind in dem
Mercure Nachrichten von den neueſten Opera comi-
„ques
und von den neueſten Almanacs, Modes und
Chanſons, dadurch lernen ſie, was izt in Paris du
„b[o]n ton
iſt, zu loben. Hauptſaͤchlich aber muß ſie gute
„Romanen mit ihnen leſen, als Hippolyte Comte de
„Douglas,
die Memoires d’une Dame de qualité qui
„ne s’eſt point retirée du Monde,
die Lettres d’une Re-
„gieuſe portugaiſe,
u.ſ.w. damit die Fraͤnlein beyzeiten ler-
„nen, wie eine Affaire de Coeur gefuͤhret wird, und
„damit ſie die grace plus belle que la beauté lernen,
„durch die unſer Geſchlecht uͤber das maͤnnliche einen
„ſo ſichern Sieg zu erhalten weiß.‟


Hier minaudirte ſie aus dem rechten Augenwin-
kel, in Ermangelung einer andern Mannsperſon, auf
ihren Gemahl, der dadurch beherzt gemacht, ſein Wort
„auch dazu geben wolte, und ſagte: Jmgleichen Gel-
„lerts Fabeln
koͤnnten auch wohl mit den Kindern
„geleſen werden.‟


„Ja‟ verſetzte die gnaͤdige Frau, mit truͤbem Blicke,
und etwas geruͤmpfter Naſe: „Gellerts Fabeln gehen
„allenfalls an, aber andere deutſche Buͤcher muß ſie
„ſie nicht leſen laſſen, denn das deutſche Zeug nuͤtzt
„den Fraͤulein nichts, wenn ſie nach Hofe kommen,
Picard
[169]
Picard mein Homme de Chambre ſagt immer, es iſt
„kein brin von bon ton darin, und das iſt auch wirk-
„lich wahr, Es klingt alles ſo deutſch, wahrhaftig ich
„bekomme Vapeurs, wenn ich nur die gothiſchen Buch-
„ſtaben von ferne ſehe.


Marianen war alles unerhoͤrt, was ihr geſagt
ward. Sie duͤnkte ſich in einer ganz neuen Welt zu
ſeyn. Sie verſtand von dieſer Rede, die noch dazu
von einer etwas ſtaͤmmigen deutſchen Dame, in dem
nachlaͤſſigen Tone einer Petite-Maitreſſe dahingelallt
ward, nicht den dritten Theil; verſprach aber doch
mehrere Gelehrigkeit, als ſie ſich vor der Hand noch
ſelbſt zutraute. Eben ſo hoͤrte ſie, ohne ein Wort
dawider einzuwenden, die Anordnung ihres haͤus-
lichen Lebens an, welche ihr bekannt gemacht
wurde. Man ſagte ihr naͤmlich, daß ſie in Neben-
ſtunden fuͤr die gnaͤdige Frau und die beiden Fraͤulein
Putz machen, und der Cammerjungfer helfen muͤſſe
Kieider garnieren. Man gab ihr zu verſtehen, daß
man erwarte, ſie werde, wenn große Geſellſchaft da
waͤre, helfen den Tiſch anordnen, und wenn die Jun-
gemagd viel zu thun haͤtte, auch darnach ſehen,
daß die Schraͤnke gebohnt, und der Staub von den
porcellanenen Aufſaͤtzen abgewiſcht werde. Zuletzt
erfuhr ſie, daß ſie zwar, wenn die Herrſchaft allein
L 5waͤre,
[170]
waͤre, der Fraͤulein wegen, die Gnade haben ſolte
an die hochadeliche Tafel gezogen zu werden, wenn aber
Geſellſchaft da waͤre, ſo wuͤrde ſie ſich ſelbſt beſcheiden,
mit den uͤbrigen Domeſtiken hoͤhern Raugs zu eſſen.


Dies waren ſaͤmtlich Perſonen, die nuͤtzliche Ta-
lente beſaßen, feine Sitten hatten, und die Welt
kannten. Sie beſtanden in dem franzoͤſiſchen Fri-
ſeur der gnaͤdigen Frau, in dem Gerichtsactuar,
der zu gleicher Zeit das Amt eines Tafelde-
ckers wahrnahm, in der Kammerjungfer der gnaͤ-
digen Frau, die in den Kohlgaͤrten vor Leipzig in der
Schule der artigen Lebensart geweſen war, in der
Ausgeberin, die bey einem Hauptmanne, dem ſie
drey Campagnen durch als Koͤchin gefolgt war, die
Oekonomie gelernet hatte, in einem ausgedienten
Fahnenſchmiede, der im Hauſe ehrenhalber der Stall-
meiſter des gnaͤdigen Herrn titulirt ward, und in
einem armen vater- und mutterloſen Verwandten,
welcher von einem Regimente, unter das man ihn als
Fahnjunker gebracht, bloß deswegen war weggejagt
worden, weil er in der Schlacht bey Roßbach zuerſt
ſich umgekehrt hatte. Freilich war dieſem loͤblichen
Beyſpiele hernach das ganze Regiment gefolgt, doch
ohne ſeine Schuld, indem er in der That ſchon uͤber
funfzig Schritte entfernt war, als es geſchahe.


Dieſer
[171]

Dieſer Herr Vetter ward auch, wie Mariane,
wenn keine Geſellſchaft vorhanden war, zur Tafel
gezogen. Dagegen ließ er ſich gefallen, allerhand
kleine Dienſte zu leiſten, Z. B. den Stuhl wegzuruͤ-
cken, wenn ſeine gnaͤdige Tante aufſtand, den Pfropf-
zieher zu holen, wenn ſein gnaͤdiger Oheim trinken,
oder die Pfeife zu ſtopfen, wenn er nach Tiſche rau-
chen wollte, laut zu lachen, wenn er einen Schwank
erzaͤhlte, und den Augenblick ſtille zu ſchweigen, ſo
bald ſie durch eine gerunzelte Stirne zu erkennen gab,
daß ſie keinen Gefallen daran haͤtte. Er muſte auf
jede Frage ſogleich eine Antwort bereit haben, und wenn
die Antwort mißfiel, ſich nicht verdrießen laſſen, daß
ihm ſtillzuſchweigen geboten, oder er vom Tiſche auf-
zuſtehen befehliget ward, und muſte nicht ſauer ausſe-
hen, wenn er wieder erſchien. Kurz, er hatte den Poſten
manches Kammerjunkers an manchen fuͤrſtlichen Hoͤfen,
einen Poſten, der ſeines aͤuſſerlichen Glanzes wegen,
von denen die ihnen nicht haben koͤnnen, ſo oft ge-
wuͤnſcht, und von denen die ihn bekleiden, ſo oft ver-
maledeyet wird. Einen Poſten, fuͤr den, ob ihn gleich
ſo viele Deutſche beſitzen, dennoch in der an Con-
verſationsausdruͤcken armen deutſchen Sprache noch
keine beſondere Benennung zu finden iſt, und fuͤr den
die in der Converſationsſprache ſo reichen und ſcharf-
ſinni-
[172]
ſinnigen Franzoſen und Englaͤnder, noch keine beſſere
Benennung haben finden koͤnnen, als daß ſie die Jn-
haber eines ſolchen Poſtens, Schlangen- und Kroͤ-
teneſſer
*) nennen.


Zweyter Abſchnitt.


Es iſt leicht zu erachten, daß, da der Herr Vetter,
der doch von guter Familie war, ſich gegen das
hochadeliche Paar ſo gefaͤllig bezeigte, man von Ma-
rianen,
eben ſo viel, wo nicht mehr Gefaͤlligkeit wer-
de verlangt haben, und wie hart dies anfaͤnglich einer
Perſon vorgekommen ſeyn muͤſſe, die in der gluͤckli-
chen Unabhaͤngigkeit erzogen worden war, daß ſie ſeit
ihrer erſten Kindheit an, von nichts als von ihrer eigenen
Vernunft, und von der Vernunft und der Liebe zaͤrt-
licher Eltern abhaͤngig geweſen war. Das unſchaͤtz-
bare Gluͤck der Unabhaͤngigkeit iſt durch keine an-
dere Vortheile zu erſetzen. Man mag von dem maͤch-
tigſten, von dem reichſten Manne, ja, ſelbſt von ſei-
nem eigenen Freunde abhaͤngen, ſo fuͤhlt man die Feſ-
ſeln, ſie moͤgen noch ſo weit losgelaſſen, und noch
ſo ſchoͤn geſchmuͤckt ſeyn. Wem das Schickſal die Un-
abhaͤngigkeit verſagt, der mache ſich gefaßt, einigen
der
[173]
der Rechte eines freygebohrnen Menſchen zu entſagen:
Er lerne vergeſſen, was er am eifrigſten wuͤnſcht, nach
dem trachten, was ihm veraͤchtlich iſt, Froͤlichkeit
ſeines Herzens verbeißen, und bey nagendem Kum-
mer ein heiteres Geſicht annehmen. Jſt ſeine Seele
zu ſtark und ſein Herz zu empfindlich, als daß er,
ſo oft es verlangt wird, fremden Jrrthum eigener
Ueberzeugung vorziehen koͤnne, ſo kaͤmpfe er den bit-
tern Kampf, und lerne uͤber ſeinen eigenen Verſtand
ſiegen.


Dieſen Kampf hatte Mariane mit allem, was
er herbes und fuͤr den menſchlichen Geiſt erniedrigen-
des hat, auszuſtehen. Sie ſahe freylich nur allzuleb-
haft ein, daß ſie in einem Zuſtande war, den bloß
das Wohlwollen ihren Obern ertraͤglich machen konnte,
und nahm ſich ernſtlich vor, ſo lange es hoͤhere Pflich-
ten erlaubten, ſich in allen Dingen ohne Widerrede
nach dem Willen der Frau von Hohenauf zu richten,
und ſo gar, wenn es moͤglich waͤre, ihren Wuͤnſchen
zuvorzukommen. Dies war nun freilich ein ſchwer-
auszufuͤhrendes Unternehmen; denn die Frau von
Hohenauf war ſehr auffahrend, ſehr eigenſinnig
und ſehr ungleich in ihrem Betragen. Auf ihren
Adel aͤuſſerſt ſtolz, ſchien ſie alle Perſonen buͤrger-
lichen Standes fuͤr Geſchoͤpfe von einer andern Gat-
tung
[174]
tung zu halten, denen ſie beſtaͤndig den großen Ab-
ſtand, der zwiſchen ihr und ihnen bleiben muſte,
fuͤhlen ließ.


Und dennoch ſtammte ſie ſelbſt aus buͤrgerlichem
Stande. Jhr Vater Namens Saͤugling, war ein
reicher Pachter geweſen, und ihr Bruder war ein Tuch-
haͤndler in einer großen Handelsſtadt, der im Kriege
durch Lieferungen an die Armeen ein groſſes Vermoͤ-
gen erworben hatte. Dieſes buͤrgerlichen Urſprungs
aber war ſie nie eingedenk. Vielmehr ging ihr gan-
zes Thun und Laſſen dahin, das Anſehen einer Dame
von Stande zu haben, und der Familie ihres Gemahls,
die ſeit laͤnger als hundert Jahren auf ihren angeerb-
ten Guͤtern Kohl gepflanzt hatte, einen neuen Glanz
zu geben. Wenn es nur irgend wahrſcheinlich gewe-
ſen waͤre, daß ſie an einem der deutſchen fuͤrſtlichen Hoͤfe
die, wie es billig iſt, alle Perſonen, die nicht wenig-
ſtens acht Ahnen haben, aus ihrer Athmoſphaͤre aus-
ſchließen, wuͤrde zur Cour zugelaſſen worden ſeyn,
und wenn ihr Gemahl nur irgend zu etwas anders ge-
ſchickt geweſen waͤre, als auf die Jagd zu gehen, zu
trinken, und alle Anordnungen ſeiner Gemahlinn zu
bewundern: ſo haͤtte ſie nicht eher geruhet, bis er ſich
mit ihr nach Hofe begeben haͤtte. Haͤtte ſie einen
Sohn gehabt: ſo wuͤrde ſie ihn zu einem adelichen
Amte
[175]
Amte erzogen haben, und ſolte es auch nur eine Faͤhn-
richsſtelle geweſen ſeyn; da ſie aber bloß Toͤchter hatte,
ſo ging ſie damit um, ihnen eine ſo galante Erziehung
zu geben, daß ſie Hofdamen werden und durch ihr
Vermoͤgen und ihre Reize, Grafen, Miniſter oder Ge-
nerale feſſeln koͤnnten; durch welche vortheilhafte Ver-
maͤhlungen ſie noch hofte am Hofe und vielleicht
im ganzen Lande in großes Anſehen zu kommen. Die
groͤßte Gluͤckſeligkeit, die ſie ſich in ihrer Einbildung
vorſtellen konnte!


Mariane war das Werkzeug, durch welches die
beiden jungen Fraͤulein ſolten zu ſo wichtigen Abſichten
geſchickt gemacht werden. Hiezu war es noͤthig, daß ſie
mit fertigen Lippen von nichts und uͤber nichts franzoͤſiſch
plappern koͤnnten; daß ſie alle Vortheile des Putzes, ih-
rem Koͤrper gemaͤß, ſo zu gebrauchen wuͤſten, damit er,
es ſey im nachlaͤßigen Nachtkleide, oder in der ſittſamen
Roberonde, oder in der praͤchtigen Galarobe mit aus-
geſpreitetem Panier und ſchwimmender Schleppe,
Augen und Herzen der Cavaliere an ſich ziehen muͤßte;
daß ſie den Verſtand hauptſaͤchlich zu der wichtigen
Unterſuchung gebrauchten, ob die eroberten Herzen
behalten, oder ob ſie, nachdem damit eine Zeitlang
wie mit einem Ball geſpielet worden, in den Win-
kel geworfen werden ſolten. Sobald ſie dies verſtanden,
ſo
[176]
ſo hatten ſie die hauptſaͤchlichſten Wiſſenſchaften gelernt,
die die Frau von Hohenauf einer jungen Dame, die
am Hofe glaͤnzen will, fuͤr noͤthig hielt.


Jm Grunde ſchien Mariane zur Lehrerin ſo wich-
tiger Wiſſenſchaften nicht eben geſchickt zu ſeyn. Jhr
ſchlichter geſunder Verſtand hatte ihr eingebildet, daß
der Vorzug eines Frauenzimmers vielmehr darin be-
ſtehe, daß ſie gut, als daß ſie ſchoͤn ſey. Ob ſie gleich
ſelbſt ſehr wohl gebildet war, hatte ſie ſich doch, viel-
leicht weil es ihr noch nie eine Mannsperſon geſagt
hatte, niemals etwas darauf zu gute gethan. Zum
Putze hatte ſie zwar, ohne es zu wiſſen, eine natuͤr-
liche Geſchicklichkeit, indem alles ſehr wohl anſtand,
was ſie ſelbſt anlegte, oder fuͤr andre waͤhlte, welches
den Friſeur Picard bewog, ſie fuͤr eine wirkliche Fran-
zoͤſinn zu halten; aber ſie hatte den Putz noch niemals
gebraucht, Abſichten damit zu erreichen. Sie kannte
die Reize der großer Welt nicht, und verlangte auch
nicht ſie zu kennen, denn ihre Wuͤnſche waren bisher
immer ſehr maͤßig geweſen, und waren ſehr leicht be-
ſriediget worden. Jhr hoͤchſter Wunſch war vorher,
die Liebe ihrer Aeltern zu verdienen, itzt aber ihre
Pflicht zu erfuͤllen.


Wenn Mariane eine ſchlechte Lehrerin war, ſo
waren die beiden Fraͤulein eben ſo ſchlechte Schuͤle-
rinnen
[177]
rinnen. Sie hatten gar keine Anlage zum Hofleben.
Sie waren ein paar gute Landmaͤdchen mit rothen Ba-
cken, die vor Geſundheit ſtrotzten. Auf dem Hofe
herum zu ſpringen, oder des Abends die bloͤkenden
Heerden eintreiben zu ſehen, war ein Feſt fuͤr ſie.
Jm leichten Roͤckchen und im glatten Nachthaͤubchen
mit himmelblauem Bande umſteckt, gefielen ſie ſich
beſſer, als in dem reichen Anzuge eines ſtoffenen
Schnuͤrkleides mit Pompons beſetzt. Wenn Picard
ſeine ganze Kunſt an ihren Koͤpfen beweiſen wollte,
ward ihnen die Zeit lang, ſie gaͤhnten, oder ſprangen
auf und liefen ein paar mahl in der Stube herum,
oder haſchten einen Schmetterling, der eben zum Fen-
ſter hineingeflogen war. Wenn ihre Mutter, wie
es oft geſchah, Aſſembleen hielt, wo in dem ſchoͤn er-
leuchteten groſſen Saale, der wohlgeputzte benach-
barte Adel, an zwanzig Spieltiſchen mit dem ernſten
Geſchaͤft, die Zeit zu toͤdten, beſchaͤftigt war, ſchlich
ſich die aͤlteſte Fraͤulein, Adelheid, oft in den Gar-
ten, die untergehende Abendſonne zu betrachten, den
Nachtigallen zuzuhoͤren, oder den Duft der Nacht-
violen und des Jeſmins einzuziehen. Sie hatten
beide keinen glaͤnzenden Verſtand, wenn man es
glaͤnzenden Verſtand heißt, uͤber alle Gegenſtaͤnde vor-
ſchnell und mit Selbſtgenuͤgſamkeit ein Redeſpiel zu
Erſter Theil. Mhalten;
[178]
halten; noch einen lebhaften Witz, wenn man es leb-
haften Witz heißt, Gruͤnde mit Einfaͤllen beantwor-
ten, und mit Hohngelaͤchter diejenigen aufziehen, die
verſtaͤndiger ſind als wir: Aber ſie hatten den geſun-
den Verſtand, der ſich mit Beſcheidenheit und mit
Lehrbegierde wohl vertraͤgt, und ſo viel Antheil an
Witz und Scharſſinn, als noͤthig iſt, die Gegenſtaͤnde
geſchwinder vors Anſchauen zu bringen. Von dem
Stolze ihrer Mutter, der ſich auf Verachtung ande-
rer gruͤndete, hatten ſie gar nichts. Sie empfanden
die Vorzuͤge ihres Standes bloß alsdenn, wenn ſie
dadurch Gelegenheit hatten, wohlzuthun, Almoſen
auszutheilen, oder einem Bedienten der etwas verſe-
hen hatte, bey ihren Aeltern Vergebung zu erbitten.


Eine aͤhnliche Gemuͤthsart, brachte bey der Lehrerinn
und den Schuͤlerinnen ſehr bald eine wechſelſeitige Zu-
neigung hervor. Eben dieſe Uebereinſtimmung machte
zwar das muͤtterliche Verbot, daß den Fraͤulein nicht
ſtrenge begegnet werden ſollte, ganz unnoͤthig,
aber ſonſt ſchien ihre Erziehung eine Wendung
zu nehmen, die den Abſichten der Frau von Ho-
henauf
nicht voͤllig gemaͤß war. Jn den Lehr-
ſtunden war ſehr oft, an ſtatt vom adelichen
Stande,
von der Decence, und von artigen Ma-
nieren,
[179]
nieren, vielmehr von ihren Pflichten gegen
Gott und ihren Nebenmenſchen,
die Rede.
Anſtatt zu lehren, wie ein Schminkpflaͤſterchen mit
Coketterie zu legen, oder wie eine Affaire de Cœur am
rechten Ende einzuſaͤdeln ſey, worin die gute Mariane
ohnedies ſehr unwiſſend war, ſuchte ſie ihnen viel-
mehr einzupraͤgen, daß ſie ihren Geiſt mit nuͤtzlichen
Kenntniſſen auszieren, und ihr Herz der Wohlthaͤ-
tigkeit und der Menſchenliebe beſtaͤndig offen erhalten
muͤßten. Die Lettres d’une Religieuſe portugaiſe wur-
den daher ſehr bald von Steelens Frauenzimmer-
bibliothek
und Hippolyte Comte de Douglas von der
ganzen Pflicht des Menſchen verdrungen.


Hieraus iſt leicht abzunehmen, daß uͤberhaupt an-
ſtatt der gebotenen franzoͤſiſchen, ſehr oft die conter-
bande deutſche Lectur, insgeheim werde uͤberhand ge-
nommen haben. Mariane hatte freylich zu wenig
monde, um einzuſehen, daß jungen deutſchen Damen
die deutſche Sprache ganz unnoͤthig ſey. Sie hatte
noch keinen Begriff davon, daß man, um ſtandes-
maͤßig zu leben, in ſeinem eigenen Vaterlande fremde
werden muͤſſe. Wie konnte es auch anders ſeyn? Sie
kannte die große Welt ſo wenig, als die junge Fraͤu-
lein, die ſie unterrichten ſollte, und glaubte treuher-
zigerweiſe, man lebe nur, um ſelbſt beſſer zu werden,
M 2und
[180]
und um andere Menſchen gluͤcklicher zu machen. Jn ſol-
chen ſpießbuͤrgeriſchen Grillen wollte ſie auch ihre Fraͤu-
lein erziehen; daher war der Schaden eben ſo groß
nicht, wenn ſie auch deutſch mit denſelben las, indem
ſie doch die franzoͤſiſche Lectur nicht avec goût zu waͤh-
len wußte. Sie laß l’ Ami de cèux qui n’en ont point
lieber, als les Egarémens de l’Eſprit \& du Cœur und
Memnon Hiſtoire orientale, lieber als die Lettres de
Ninon Lenclos
oder den Almanac de Toilette. Mit die-
ſem Geſchmacke ſtimmte der Geſchmack der jungen
Fraͤulein nur allzuſehr uͤberein, denn, wenn dieſe im
Mercure de France blaͤtterten, ſo uͤberſchlugen ſie mei-
ſtens alle Pièces fugitives, Chanſons, Enigmes, Logo-
gryphes
und Préſentations, und verweilten ſich bey ei-
nem Conte moral von Marmontel oder la Dixme-
rie,
die dazumal einzeln im Mercure zu erſcheinen pfleg-
ten, oder ſuchten einen Trait de bienfaiſance auf, der
zuweilen eingeruͤckt wird.


Jn allem dieſem war noch ſehr wenig du bon ton,
welches doch die hauptſaͤchlichſte Sache war, wozu die
Frau von Hohenauf ihre Fraͤulein wollte angefuͤhrt
wiſſen. Es iſt alſo leicht zu erachten, daß ſie ſchwer-
lich mit einer ſo buͤrgerlichen Erziehung werde zufrie-
den geweſen ſeyn. Schon in den erſten vier Wochen
ſchien es beinahe, daß ſie ihre neue franzoͤſiſche Mam-
ſell
[181]
ſell ſehr bald wieder abſchaffen wuͤrde; denn ſie gab
derſelben bey aller Gelegenheit bittere Verweiſe, und
tadelte alle ihre Anordnungen. Die Fraͤulein ſchienen ihr,
ſeit ſie bey Marianen waren, bloͤder, hatten gar keine
bonne grace, hatten gar keinen Eſprit, antworteten
zu langſam und zu kurz wenn man ſie fragte, unge-
fragt plauderten ſie ſehr ſelten, wuſten ihre Reveren-
ze nicht abzumeſſen, und beugten die Knie tief gegen
einen Verwalter oder Homme d’Affaires, wo ein Kopf-
neigen, oder ein nachlaͤſſiger Knix im Vorbeygehen,
hinlaͤnglich geweſen waͤre.


Marianen ſehlte es ſreilich, außer andern Er-
forderniſſen, die ihr, um eine gute franzoͤſiſche Mam-
ſell zu ſeyn, mangelten, an der den franzoͤſiſchen Hof-
meiſterinnen ſo gewoͤhnlichen Politik, allen Leiden
ſchaften der hochadelichen Mutter zu ſchmeicheln, alles
dreyfach zu loben, was die Mutter an den Kindern
lobt, ihren eignen oder fremden Witz die Kinder
heimlich auswendig lernen zu laſſen, und ſie zu ge-
woͤhnen, denſelben mit dreiſter Naſeweisheit in Ge-
ſellſchafft an den Mann zu bringen; wodurch denn je-
derman, der zu leben weiß, uͤber die fruͤhzeitigen Ga-
ben der Kinder erſtaunt, der Mutter uͤber das kleine
Wunderwerk, das ſie unter ihrem Herzen getragen
M 3hat,
[182]
hat, ein verbindliches Compliment macht, und auch
nicht vergißt, der Mamſell im beſten zu gedenken.


Hievon wußte Mariane gar nichts. Sie war
vielmehr beym Antritte ihres Amts ſo unerfahren, daß
ſie ihren Fraͤulein eine anſtaͤndige Beſcheidenheit an-
pries; eine Eigenſchaft, die gar nicht glaͤnzend iſt,
und die die Frau von Hohenauf aufs hoͤchſte an
ihren Bedienten lobte. Sie wuͤrde alſo Ma-
rianen
ſehr bald uͤberdruͤßig geworden ſeyn, wenn
nicht ein kleiner Umſtand, davon in keinem der Sy-
ſteme der Paͤdagogik*), worin noch ein Kapitel
von franzoͤſiſchen Mamſellen befindlich iſt, ein
einziges Woͤrtchen angetroffen wird.


Mariane hatte von Jugend auf eine große Sorg-
ſalt fuͤr ihre eigene Perſon getragen. Sie hielt ſich
uͤberaus reinlich in Kleidung und Waͤſche. Sie hatte
die natuͤrliche Gabe, allen weiblichen Putz ſogleich
nach deſſen Beſtandtheilen zu uͤberſehen, alſo auch ihn
nachzumachen, nach ihrem Geſchmacke zu verbeſſern,
und
[183]
und neuen zu erfinden. Sie gebrauchte ſich dieſes
Talents auch jetzt. Wenn ihre Fraͤulein beſonders
fleißig und gehorſam waren, ſo belohnte ſie ihren Fleiß
mit einem nach neuer Mode geſtecktem Kopfzeuge,
oder anderm Frauenzimmerputz, den ſie ſo zu waͤhlen
wuſte, daß dadurch derſelben natuͤrliche gute Leibesge-
ſtalt mehr erhoben ward. Jn kurzer Zeit war ihr
ganzer alter Putz mit neuem nach dem beſten Geſchma-
cke verwechſelt. Den ſcharfſinnigen Augen der Frau
von Hohenauf konnte dieſe Veraͤnderung nicht ent-
gehen, und ſie bemerkte ſie mit ſo großem Wohlgefal-
len, daß ſie es Marianen, wegen ihrer Geſchicklich-
keit im Putzmachen zu vergeben anfing, daß ſie
die Seelen ihrer Fraͤulein bilden wolte. Noch
groͤſſer ward die Gunſt, als Mariane, durch
ſo gluͤcklichen Erfolg aufgemuntert, es wagte, fuͤr die
Frau von Hohenauf ſelbſt zu arbeiten, die bisher
ihren ſaͤmtlichen Putz aus der erſten Quelle, aus Pa-
ris,
verſchrieben hatte. Sie brachte eine Comete aux
Zephyrs
*) zuſtande, die in der naͤchſten Aſſemblee ein
M 4großes
[184]
großes Aufſehen unter den Damen machte, und in
der ihre Goͤnnerin wenigſtens um ſechs Jahr juͤnger
ausſahe. Man kan leicht denken, daß dieſes wichtige
Verdienſt, Marianens Talente zur Erziehungskunſt
in ein neues Licht werde geſetzt haben. Man ſetze
hinzu, daß Mariane die Fraͤulein, die vorher in ihrer
Kleidung ſehr nachlaͤſſig ja wohl gar unreinlich gewe-
ſen waren, durch ihr eigenes Beyſpiel, zu der Frauen-
zimmern ſo anſtaͤndigen Nettigkeit im Anzuge ge-
woͤhnte. Man ſetze hinzu, daß ſie die jugendliche
Wildheit der Fraͤulein, die an das was wohl anſtaͤn-
dig iſt, noch nie einen Augenblick gedacht hatten, durch
kleine leutſelige Erinnerungen bis zu der kindlichen
Freymuͤthigkeit maͤßigte, die mit Beſcheidenheit und
Sanftmuth ſehr wohl beſtehen kann. Man ſetze end-
lich auch hinzu, daß die Fraͤulein, wenigſtens in ihrer
Mutter Gegenwart, beſtaͤndig franzoͤſiſch redeten,
und in ihrer Fertigkeit in dieſer Sprache ſichtlich zu-
nahmen; und man wird begreifeu, daß die Frau von
Hohen-
*)
[185]
Hohenauf im zweyten Monate, mit ihrer franzoͤſi-
ſchen Mamſell, weit mehr zufrieden war, als im er-
ſten. Wenn ſie ja an den Fraͤulein etwas fand, das
ſie fuͤr bas und fuͤr bourgeois hielt, ſo nahm ſie ſich die
Muͤhe, ihnen ſelbſt daruͤber einen Verweis zu geben.
Sie ſetzte zuweilen die nachſichtsvolle Anmerkung hinzu,
daß man freilich von ihrer Mamſell nicht alles fodern
koͤnnte, weil ſie nicht de qualité ſey, wodurch ſie in
gedrungener Kuͤrze, zugleich Marianen tadelte, und
ihren eigenen Vorzuͤgen ein verbindliches Compliment
machte.


Dritter Abſchnitt.


Jn dem dritten Monate von Marianens Aufent-
halte bey der Frau von Hohenauf, traf derſel-
ben Neffe, der Sohn des Tuchhaͤndlers Saͤugling,
bey ihr ein. Die Bedienten wurden befehligt, ihn
Ew. Gnaden zu nennen, und ſie ſtellte ihn allem
benachbarten Adel, unter dem Nahmen des Hrn.
von Saͤugling vor. Dieſer junge Menſch war mit
ſeinen Univerſitaͤtsſtudien halb fertig, denn er hatte
ſchon zwey Jahre auf einer Univerſitaͤt zugebracht,
und es kam nur noch darauf an, daß er ein oder zwey
Jahre auf einer andern zubraͤchte, wohin ihn ſein
M 5Vater
[186]
Vater den kuͤnftigen Fruͤhling mit einem neuen Hof-
meiſter ſenden wollte, den er ihm ſelbſt ausgeſucht
hatte. Jndeſſen wollte er ſich mit Genehmhaltung
ſeines Vaters, den Winter uͤber auf ſeiner Schweſter
Gute aufhalten. Weil ſie von Adel war, und mit
dem benachbarten Adel viel Umgang hielt, welchem
ſie den Ton gegeben hatte, den Aufenthalt auf dem
Lande, nicht mit laͤndlichen Vergnuͤgungen, ſondern
nach ſtaͤdtiſcher Etikette, mit Beſuchen, Gaſtmahlen,
Aſſembleen, Spielpartien und Baͤllen, zuzubringen;
ſo glaubte er, bey ihr Kenntniß der großen Welt zu
erlangen und alles was ſich noch etwa von Schulſtaube
an ihm finden moͤchte, rein abzuſchuͤtteln.


Dieſes Schulſtaubes konnte an ihm auch nicht ſo
gar viel ſeyn, denn er hatte als ein reicher Juͤngling
ſich nicht auf Brodſtudien gelegt, und noch weni-
ger ſich mit den alten Sprachen und mit den trocknen
Lehrgebaͤuden der ſpeculativen Wiſſenſchaften beſchaͤf-
tigt; ſondern ſeine Studien waren lachend und reizend
und beſtanden in Collegien uͤber die ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften, und in fleißigem Leſen aller deutſchen Poeten
ſonderlich derjenigen, die Freude, Wein und Liebe be-
ſungen haben. Er hatte uͤberdies franzoͤſiſch, englaͤn-
diſch und italiaͤniſch gelernt, und hatte in dieſen Spra-
chen alle Poeten und die beſten Kritiker geleſen.


Er
[187]

Er hatte ſehr viele Gedichte an Phillis und Doris
gemacht, und dies blieb noch beſtaͤndig, nebſt der Sor-
ge fuͤr ſeinen Anzug, ſeine vornehmſte Beſchaͤftigung.
Er hielt ſehr viel von ſeiner eignen kleinen Perſon, die
daher auch beſtaͤndig geputzt, geſchniegelt, und auf
vier Nadeln
gezogen war. Er gefiel ſich ſelbſt ſehr
wohl, naͤchſt dieſem aber war ſein hauptſaͤchlichſtes
Augenmerk, dem Frauenzimmer zu gefallen. Er
vermied moͤglichſt alle Geſellſchaften, worin bloß
Mannsperſonen waren. Jn vermiſchten Geſellſchaf-
ten ſaß er allemahl einem Frauenzimmer zur Seite,
und wenn er waͤhlen konnte, allemahl bey der, die
den ſanfteſten Blick hatte. Er bewunderte, um Be-
kanntſchaft zu machen, ihre Arbeit, die ſie eben ver-
fertigte, lobte ihr wohl geſtecktes Demi-ajuſté,*)
und ſagte ihr uͤber einen Aſſaſſin tauſend ar-
tige Sachen. Von da gieng er unvermerkt zum
Erforſchen ihres Verſtandes uͤber. Er ſagte ihr mit
ſanftliſpelnder Stimme, er ſehe die kleinen Amorn
und
[188]
und Amoretten auf ihrem Poſtillion auf und nieder-
ſteigen, und ſich unter den Falten ihrer Reſpectueuſe
verbergen, oder andere dergleichen niedliche Jmagi-
natioͤnchen. Wenn er nun merkte, daß ſie Verſtand
und Geſchmack genug hatte, mit ſeinen lieblichen Em-
pfindungen zu ſympathiſiren, ſo fing er gemeiniglich
an zu ſtammlen, ſahe etwas ſchaafmaͤßig aus, und
langte aus ſeiner Taſche einige von ſeinen Gedichten,
die er ihr vorlas, und von Zeit zu Zeit mit ſeitwaͤrts
ſchielenden Augen, die Wirkung ſeiner Geiſtesfrucht,
zu erforſchen ſuchte. Erhielt er ein ruhiges Gehoͤr,
und durch einen laͤchelnden Mund und ſanftes Kopf-
neigen einen guͤtigen Beyfall, ſo hatte er ein ver-
gnuͤgtes Tagewerk gehabt. Empfing er aber eine
laute Bewunderung, bat man ſich eine Abſchrift des
Gedichts aus, oder bemerkte er gar, daß der Buſen
ſeiner Zuhoͤrerin ſich zu einem Seufzer empor hob,
oder daß ſie aus blauen Augen, (denen er, als ſei-
nem eigenen ſchmachtenden Charakter am gemaͤßeſten,
vor
*)
[189]
vor allen andern den Vorzug gab,) einen empfin-
denden Blick auf ihn ſchießen ließ, ſo zerfloß er in
ſanften Empfindungen, uͤberließ ſich ganz einer zer-
ſchmelzenden Zaͤrtlichkeit, und war von dem Augen-
blicke an, der Sclave der Schoͤnheit, die, was er ge-
dacht hatte, ſo gut zu empfinden wuſte. Er holte
aus der Begeiſterung ihrer Augen, Stoff zu neuen
Gedichten, und je mehr ihm dieſe gefielen, deſto mehr
gefiel ihm die Schoͤne die ſie veranlaßt hatte und an
die ſie gemeiniglich gerichtet waren.


Doch ſo zaͤrtlich ſeine Liebe war, ſo pflegte ſie doch
nicht allzulange zu dauren; nicht als ob er unbeſtaͤn-
dig geweſen waͤre, ſondern weil der Gegenſtand ſeiner
Zaͤrtlichkeit gemeiniglich, nach einiger Zeit, ſeine Ge-
dichte nicht mehr ſo feurig verlangte, und wohl gar
unvermerkt ſeine Geſellſchaft zu vermeiden ſuchte.
So bald er dies merkte, ward er ſehr traurig, klagte
den Waͤldern und den Fluren ſein Leiden, troͤſtete ſich
aber, wenn ihm ein zaͤrtliches Liedchen uͤber die Un-
treue ſeiner Chloris gelang, und fand gemeiniglich um
dieſe Zeit eine andere Zuhoͤrerin, mit der er eben den-
ſelben Roman von vorn an ſpielte.


Dieſer kleine Mann ſchien freilich denjenigen, die
nicht ganz ſeine zuckerſuͤßen Empfindungen nach em-
pfinden
[190]
pfinden konnten, etwas ungeſchmackt, aber er war
ſonſt das unſchaͤdlichſte Geſchoͤpfchen unter der Sonne.
Er that nie etwas boͤſes, war nachgebend, gefaͤllig,
mitleidig und gutherzig, beleidigte kein Kind, und
beleidigt, war er nie geneigt ſich zu raͤchen, kurz er war
aller guten Eigenſchaften faͤhig, zu denen nicht noth-
wendig Staͤrke des Geiſtes erfordert wird. Wenn es
wahr iſt, daß die ſchoͤnen Wiſſenſchaften, die Herzen
ihrer Liebhaber erweichen, ſo waren ſie es vermuthlich,
die ſeine Seele ſo breyweich gemacht hatten, daß ſie
einer herzhaften That, oder einer lebhaften Entſchlie-
ßung, ſo wenig im Guten als im Boͤſen faͤhig war.
Die lebhafteſte Empfindung in ſeiner Seele, war im-
mer die Begierde, ſeine Gedichte und beſonders vom
Frauenzimmer gelobt zu ſehen. Dieſer Abſicht
wegen war ſein Kleid immer nach der neueſten
Mode geſchnitten, ſein ſeidner Strumpf milchweiß,
und ſeine Spitzenmanſchetten caffebraun gewaſchen,
dieſer Abſicht wegen ſagte er zuerſt ſeinen Nach-
barn und Nachbarinnen verbindliche Dinge vor, war
gefaͤllig, nachgebend, kam jedermann mit Hoͤflichkeit
zuvor, und pries mit gleicher Behendigkeit, bey den
modiſchen Schoͤnen das Putzwerk, bey den tugend-
haften die Tugend, und bey den witzigen den Witz.
War er aber gleichwohl ſo ungluͤcklich, ſeine Abſicht
nicht
[191]
nicht zu erlangen, ſo war er viel zu beſcheiden, als
daß er daruͤber jemand anders, als den ſtillen Waͤn-
den ſein Leid geklagt haͤtte, und zu gutherzig, als
daß er diejenigen, denen ſeine Gedichte nicht gefielen,
gehaſſet haͤtte. So bald er nur wirklich merkte,
daß jemand ſeine Gedichte beſchwerlich waren, ſo drang
er ſie ihm nie auf, ſo daß, wenn er jemand zur Laſt
fiel, es ſicherlich ohne ſein Wiſſen geſchah, denn ſeine
Abſicht war allemahl, Vergnuͤgen und Zufriedenheit,
die er in ſo großem Maaße in ſich ſelbſt fand, durch
ſeine Gedichte auch um ſich herum zu verbreiten.


Vierter Abſchnitt.


Ein Mann, der ſich ſo wie Saͤugling auf die Ver-
dienſte des ſchoͤnen Geſchlechts verſtand, mußte
Marianen unter dem uͤbrigen im Hauſe vorhande-
nen Frauenzimmer, ſehr bald vortheilhaſt unterſchei-
den, zumahl da ſie, gleich ihrer Mutter Wilhelmi-
ne,
bey ſchwarzen Haaren, die ſchoͤnſten hellblauen
Augen hatte. Es konnte ein ſolcher Kenner, keine
von den uͤbrigen Frauenzimmern mit ihr nur in Ver-
gleichung ſtellen; denn die Frau von Hohenauf hatte
große graue Augen mit langhaarigten Augenbramen,
das Kammermaͤdchen beſaß ein paar flachgeſchlitzte Au-
gen
[192]
gen, aus deren Winkeln beſtaͤndig ein paar matte
rothgelbe Augaͤpfel liebaͤugelten, die kleinen Fraͤulein
waren noch allzu jung, und die uͤbrigen weiblichen Ge-
ſchoͤpfe waren unter der Notiz eines feinen Mannes
wie Saͤugling. Hiezu kam, daß bey der erſten Un-
terredung Mariane untruͤgliche Kennzeichen ihres
guten Geſchmacks merken ließ, wodurch Saͤugling
Herz bekam, ihr ein Gedicht vorzuleſen, welches Ma-
riane
mit ſo großem Beyfalle anhoͤrte, und deſſen
Schoͤnheiten ſo fein hervorzuſuchen wußte, daß das
kleine Maͤnnchen vor Entzuͤcken auſſer ſich war.


Dies veranlaßte eine naͤhere Bekanntſchaft, in der
Saͤugling bald Marianens, vor der Frau von Ho-
henauf
bisher ſo geheim gehaltene, Bibliothek von
guten deutſchen Buͤchern entdeckte. Er erſtaunte nicht
wenig, eine Franzoͤſinn ſo aufmerkſam auf die deutſche
Litteratur zu finden. Da er gewohnt war, alles was
er ſahe auf ſeine kleine Perſon zuruͤck zu fuͤhren, ſo
fiel er ſchnell darauf, wie moͤglich es ſey, (wenn er, wie er
zuverlaͤßig hoffte, unter den guten Dichtern Deutſch-
lands einen Platz verdienen wuͤrde,) daß ſein Ruhm
auch auſſer Deutſchland ſich ausbreiten, daß ſeine Ge-
dichte ins franzoͤſiſche uͤberſetzt, und von den Damen
an allen Hoͤfen Europens geleſen werden koͤnnten. Er
wußte es Marianen Dank, daß ſie zuerſt eine ſo
ſchmei-
[193]
ſchmeichelhafte Hofnung in ſeiner Seele erreget hatte,
und dies zog das Band der angefangenen Bekannt-
ſchaft noch feſter zuſammen.


Mariane, auf ihrer Seite ſahe ihn auch gern;
denn er war ein feiner und beſcheidener junger Menſch,
der ſie mit den ſchoͤnen Wiſſenſchaften, zu denen ihr
die Neigung mit der Muttermilch war eingefloͤßt wor-
den, angenehm unterhielt; auſſerdem war er die erſte
Mannsperſon, der ihr geſagt hatte daß ſie ſchoͤn ſey, und
daß ihre blauen Augen mit ſanfter herzruͤhrender Kraft
wirkten, und auch das ſittſamſte und philoſophiſchſte
Frauenzimmer pflegt eine ſolche Nachricht, aufs
hoͤchſte mit einem kleinen Verweiſe zu beſtrafen.


Die Kenner wollen bemerkt haben, daß
die Vereinigung zwiſchen zwey jungen Perſonen
zweyerley Geſchlechts ſelten ganz ſtille ſtehen bleibe,
und nicht allein beſtaͤndig unvermerkt fortzuruͤcken
pflege, ſondern auch zuweilen, durch einen ganz klei-
nen Umſtand, mit einem ſo ſtarken Sprunge fort-
ſchreite, daß diejenigen, denen das verborgene Ding,
das menſchliche Herz, nicht genau bekannt iſt, glau-
ben, es geſchehe durch eine Art von Zauberey. Dies
war der Fall mit Saͤuglingen und Marianen, die
bey einer unvermutheten, und dem Anſcheine nach,
ganz geringen Veranlaſſung, von einer bloßen Be-
Erſter Theil. Nkannt-
[194]
kanntſchaft und wechſelſeitigen Hochachtung zur
Freundſchaft uͤbergiengen.


Es fiel in den Wintermonaten der Geburtstag
der Frau von Hohenauf ein. Mariane hatte im
Sinne, eine gewiſſe Abſicht durchzuſetzen, wo-
mit einige Schwierigkeiten verknuͤpft waren; dies
brachte ſie, zum erſtenmahl in ihrem Leben, auf den
Gedanken, ihren Zweck durch einen Umweg zu errei-
chen, und in dieſer Abſicht ſann ſie ein kleines Feſt
aus, mit dem dieſer Geburtstag ſolte gefeyert wer-
den. Sie theilte ihre Gedanken Saͤuglingen als
einem Poeten mit, der ganz entzuͤckt daruͤber war,
einen Anlaß zu haben, ſeine Talente im Dramati-
ſchen zu zeigen, da er bisher nichts als kleine Lieder-
chen gemacht hatte. Er machte einen Plan zu einem
mythologiſch-hiſtoriſchen Schaͤferſpiele von dreyen
Perſonen, der Marianens Beyfall erhielt. Hier-
auf waren alle insgeheim ſehr geſchaͤftig, Saͤugling,
ſein Spiel in Verſe zu bringen, die Kinder, ſie zu
lernen, und Mariane, fuͤr Fraͤulein Adelheid die
Tracht einer Nymphe, und fuͤr die juͤngſte Fraͤulein
und den kleinen Sohn des Predigers im Dorfe, Schaͤ-
ferkleider zu verfertigen.


Als der Tag erſchien, und die zu dieſem Geburts-
feſte aus der ganzen umliegenden Gegend zuſammen-
gebete-
[195]
gebetenen Standesperſonen von der Mittagstafel auf-
geſtanden waren, wurden ſie unter einem andern
Vorwande in das Orangeriehaus gefuͤhret. Hier
wurden ſie durch eine Symphonie uͤberraſcht, und der
Schauplatz oͤfnete ſich. Er ſtellte entweder die eli-
ſaͤiſchen Felder oder die heſperiſchen Gaͤrten vor, und
beſtand aus acht großen bluͤhenden und Fruͤchtetragen-
den Pomeranzenbaͤumen, die Hinterwand aber war
von dem Gaͤrtner mit Wintergruͤn und Blumenkraͤn-
zen zuſammengeſetzt. Die Kinder traten auf, an de-
ren Putze Mariane ihren ganzen Geſchmack, und an
deren Koͤpfen Picard ſeine ganze Kunſt erſchoͤpft hatte.
Dies machte, daß das Spiel den Beyfall der Frau
von Hohenauf erhielt, wozu auch nicht wenig bey-
tragen mochte, daß ſie darin als eine Goͤttin, und
ihr Geburtstag als ein Goͤtterfeſt vorgeſtellt war.


Die ganze Geſellſchaft ertheilte einen lauten Bey-
fall, und da die Kinder nach Endigung des Spiels in
ihrem Anzuge vom Theater herabſtiegen, wurden ſie
von jedermann mit Liebkoſungen uͤberhaͤuft. Die Frau
von Hohenauf that desgleichen. So wie ſie alle
Dinge aus ihrem eigenen Geſichtspunkte betrachtete,
ſo konnte ſie nicht genug bewundern, wie natuͤrlich
der Schaͤferhabit dem kleinen Paſtorſohne ſtaͤnde, aber
ſie fand, daß eben dieſe Art von Kleidung ihr juͤng-
N 2ſtes
[196]
ſtes Fraͤulein verſtellte, ob ſie gleich, mit einem
gnaͤdigen Kopfneigen gegen Marianen, bemerkte,
daß die Arbeit daran ſehr artig waͤre. Fraͤulein
Adelheid hingegen in ihrer von Zindel und Flit-
tern glaͤnzenden Nymphentracht hatte ihren gan-
zen Beyfall. Sie umarmte ſie, und ſpielte mit ih-
ren langgezogenen uͤber den Buſen gelegten falſchen
Locken, die ihr prinzeſſinnenmaͤßig vorkamen.


„Dieſer majeſtaͤtiſche Anzug ſchickt ſich beſſer fuͤr
„ein Fraͤulein deines Standes, ſagte ſie, als das
„Schaͤferkleid deiner Schweſter.‟


Die kleine Adelheid, die ihrer Schweſter den leich-
ten fliegenden Anzug und die in halb geflochtenen Zoͤ-
pfen hinterwerts herabfallende Locken beneidet hatte,
ſchlug die Augen nieder, und durfte nicht widerſprechen.


„Nicht wahr mein Kind, fuhr die Mutter fort,
„nicht wahr, ein Schmuck von Juwelen, wuͤrde dir
„beſſer ſtehen, als dieſer ſchlechte Blumenkranz?‟


„Ach nein gnaͤdige Mama, er wuͤrde doch nicht
„ſo ſchoͤn riechen als die Blumen.‟


„Einfaͤltiges Kind! was iſt Geruch gegen Glanz?
„Du haſt geſpielt wie ein Engel, ich muß dich dafuͤr
„belohnen; — eine Zitternadel. —‟


Hier erinnerte ſich die kleine Adelheid einer
Rolle, die ihr, auſſer der von Saͤuglingen aufge-
ſchriebe-
[197]
ſchriebenen, von Marianen muͤndlich aufgetragen
war.


Es hatte ein armer Pachter eines Bauerguts auf
des gnaͤdigen Herrn Wildbahn geſchoſſen. Der Jaͤ-
ger hatte ihm das Gewehr weggenommen. Seit
ſechs Wochen lag er im Gefaͤngniſſe, und man machte
ihm den Proceß, um ihn an die Karre ſchmieden zu
laſſen. Jndeſſen da der Wirth und Verſorger des
Hauſes fehlte, ſchmachteten ſeine Frau und fuͤnf Kin-
der im Elende. Die gutherzige Mariane hatre ih-
nen ſo gut ſie konnte beygeſtanden. Sie haͤtte auch
gern fuͤr den armen Gefangenen eine Vorbitte einge-
legt, aber ſie empfand, mit wie weniger Hofnung
des Erfolgs ſie dieſes wagen duͤrfte. Sie hatte daher
zuerſt darauf gedacht, dieſes Feſt anzuſtellen, um da-
bey Gelegenheit zu haben, durch Fraͤulein Adelheid,
die der Liebling ihrer Mutter war, die Loslaſſung des
Gefangenen zu bewirken. Sie hatte ihr die Worte
in den Mund gelegt, die ſie ſagen ſollte, wenn ihre
Aeltern, durch das Vergnuͤgen des Feſtes in gute
Laune gebracht, das Herz dem Mitleid zu oͤfnen ge-
neigter ſeyn moͤchten.


Fraͤulein Adelheid hatte alſo kaum gehoͤrt, daß
ſie fuͤr ihr Spielen belohnt werden ſolte, ſo ergriff
ſie dieſe Gelegenheit begierig, fiel ihrer Mutter zu Fuͤßen
und rief aus:


N 3„Ach
[198]

„Ach gnaͤdige Mame! wenn ſie mich belohnen
„wollen, ſo laſſen Sie mich ſelbſt die Belohnung waͤh-
„len; Geruhen Sie, mir eine einzige Bitte zu gewaͤh-
„ren; ſchlagen Sie mir nicht ab, was ich Sie bitten
„will.‟


„Was verlangſt du, mein Kind? Jch kan dir
„nichts abſchlagen.‟


„O meine gnaͤdige Mama! ſo erbarmen Sie ſich
„einer armen Frau und fuͤnf Kinder, alle noch viel
„kleiner, viel unerzogener als ich, und die die Huͤlfe
„ihres Vaters ſo noͤthig haben. Bitten Sie den gnaͤ-
„digen Papa, daß er den armen Jacob loslaſſe, der
„im Gefaͤngniſſe liegt; geben Sie das Geld fuͤr die
„Zitternadel die Sie mir zugedacht haben, ſeiner ar-
„men Frau und Kindern.‟


„Fraͤulein,‟ ſagte die Frau von Hohenauf, mit
einem Angeſicht voll kalter Wuͤrde, — „was geht mich
„und dich das Diebsgeſindel an?‟


„Ach gnaͤdige Mama! wenn Sie ſehen ſollten,
„wie elend die Leute ſind; wie ſie an allem Mangel
„leiden was wir im Ueberfluſſe haben, wie ſie frie-
„ren, wie ſie hungern, wie drey von den Kindern auf
„elendem Strohe krank liegen.‟


„Maͤdchen, woher kanſt du dies wiſſen?


„Ach, ich habe es geſehen, liebſte beſte Mama,
„ich habe es ſelbſt geſehen.‟


„Ge-
[199]

„Geſehen? Jch erſtaune ganz; wie kommſt du
„mit dem Lumpenpacke zuſammen, gleich geſtehe es
„mir, ich will es wiſſen.‟


Fraͤulein Adelheid ſtamlete, und blickte Maria-
nen
an, die die Augen niederſchlug; die Frau von
Hohenauf
wiederhohlte ihren Befehl, und das
Fraͤulein beichtete:


„Ach meine Mamſell hat mich hingefuͤhrt. Sie
„glauben nicht, gnaͤdige Mama, wie gut ſie iſt; ſie
„hat die armen Leute ſchon ſeit ſechs Wochen erhalten,
„daß ſie nicht vor Hunger und Froſt umgekommen
„ſind. Ach ich habe auch gern mein ganzes Spar-
„geld hingegeben, mehr konnte ich nicht, aber Sie
„gnaͤdige Mama, koͤnnen mehr; Sie koͤnnen die Kin-
„der gluͤcklich machen, wenn Sie den Vater loslaſſen.‟


„So, Mademoiſelle‟ ſagte die Frau von Hohen-
auf,
indem ſie Marianen mit unbeſchreiblicher
Wuͤrde uͤber die linke Achſel anſahe, „ſie fuͤhrt meine
„Fraͤulein in ſchoͤne Geſellſchaft, um Lebensart und
Monde zu lernen.‟


„Ach gnaͤdige Mama —‟


„Schweig ſtill, das verſtehſt du nicht. Dies
„ſind Diebe, die deines Vaters Forſten beſtohlen ha-
„ben, ſie muͤſſen hart geſtraft werden, damit ſich das
„andere Geſindel daran ſpiegele.‟


N 4„Ach
[200]

„Ach der arme Jacob verſpricht Beſſerung, er
„will kuͤnftig lieber hungern, als Wild ſchießen. Aber
„gnaͤdige Mama, die Kinder, die armen kleinen Kin-
„der hatten nichts zu eſſen.


„Schweig! um ſolch Lumpengeſindel muſt du dich
„nicht bekuͤmmern.


„Ach liebſte Mama! rief Fraͤulein Adelheid
„ſchluchzend, es ſind Gottes Geſchoͤpfe, Menſchen
„wie wir, — und ungluͤcklich! —‟


„Fi Fraͤulein! Jſt das auch eine von den ſchoͤ-
„nen Lehren, die dir deine Mamſell giebt? Menſchen
„wie du? Du biſt von Stande, die Bauern ſind
„weit unter dir; ſage mir nicht ein Wort mehr hievon.‟


„Ach gnaͤdige Mama! Sie bauen ja das Getraide,
„das wir eſſen. — Mein Großpapa iſt ja auch ein
„Pachter geweſen, erbarmen Sie ſich — Großpapa
„iſt ja auch wohl arm geweſen, ehe er reich ward.‟ — —


Eine derbe Ohrfeige von der Hand der in aͤußerſte
Wuth geſetzten Mutter, unterbrach das gute Kind.
Die Frau von Hohenauf kannte ſich beynahe ſelbſt
nicht vor Zorn. Sie hatte bisher dies wichtige genealo-
giſche Geheimniß jedermann ſo viel wie immer moͤglich
verborgen, und hier ward es oͤffentlich, in einer groſ-
ſen Geſellſchaft von thurnier- und ſtiftsfaͤhigem Adel
beiderley Geſchlechts, ausgeplaudert. Dis war frei-
lich
[201]
lich ein niederſchlagender Vorfall, zumahl da in dem
Geſichte mancher Umſtehenden, denen das Bewuſt-
ſeyn von ſechszehn reinen Quartieren ein gutes Ge-
wiſſen gab, einige Mienen zu ſpuͤren waren, die ein
wenig Schadenfreude uͤber dieſe Demuͤthigung einer
mesalliirten Familie zu erkennen gaben.


Die Frau von Hohenauf wollte noch eine Mi-
nute Contenance halten, und fragte das Fraͤulein
mit zorniger Miene, „wer ihr ſolch dummes Zeug in
„den Kopf geſetzt haͤtte?‟ Das Kind konnte auf wie-
derholtes Befragen nicht laͤugnen, daß ihr ihre Mam-
ſell dieſe Nachricht gegeben. Dies brachte die Frau
von Hohenauf aufs neue in Wuth. Sie befahl
Marianen, ihr den Augenblick aus den Augen zu
gehen, ſtieß das Fraͤulein von ſich, und wuͤrde ihr
vielleicht nochmahls uͤbel begegnet haben, wenn ſie
nicht die umſtehende Damen in Schutz genommen,
und der Frau von Hohenauf durch allerhand Gruͤnde
zugeredet haͤtten, dem Kinde ein unbedachtſames Wort
zu vergeben, und einem ſo vergnuͤgten Tage zu ge-
fallen, vielmehr ihre Bitte zu gewaͤhren. Aber die
Frau von Hohenauf ward durch dieſe Vorſtellungen
ſehr wenig beſaͤnftigt, ob ſie gleich ſich zwingen und
mit verbißnen Lippen hoͤfliche Antworten geben
mußte.


End-
[202]

Endlich wendete ſich die Graͤfinn von * * * die un-
ter den Vorbitterinnen ſich am geſchaͤftigſten erwieſen
hatte, an den Herrn von Hohenauf, der bey der
ganzen Scene noch nicht ein Wort zu aͤußern ſich ge-
trauet hatte: Sie bat ihn, dem Geburtsfeſte ſeiner
Gemahlinn zu Ehren, den |Gefangenen loszulaſſen.


Der Herr von Hohenauf, mit eiskaltem
Schweiße vor der Stirne, konte mehr nicht, als ein
geſtammeltes „Jn der That — — meine gnaͤdige
„Graͤfinn‟ — — hervor bringen. Es war ihm wirk-
lich gleich unmoͤglich, einer Dame von ſolchem Stande
eine ſo kleine Bitte abzuſchlagen, als wider den ſo
ausdruͤcklich erklaͤrten Willen ſeiner Gemahlin etwas
zu thun.


Die Graͤfin, die ihren Mann ſogleich uͤberſahe,
wendete ſich abermahl an die Frau von Hohenauf,
nahm ſie bey der Hand, und ſagte mit liebreizender
Miene: „Die Goͤttinnen koͤnnen nicht Rache halten,
„ſondern lieben die Vergebung. Kein Goͤtterfeſt kan
„ohne Wohlthun vollbracht werden. Jch fodere den
„Gefangenen von Jhnen als ein Deſert bey der
„Abendtafel, wollen Sie uns ohne Deſert laſſen nach
„Hauſe fahren?‟


Die Frau von Hohenauf hatte unter dieſen Re-
den Zeit gehabt, ſich zu beſinnen, was der Anſtand
erfo-
[203]
erfoderte. Sie ſagte alſo mit einer etwas gezwun-
genen verbindlichen Miene: „Sie| verlangen von mir
„eine Sache, wider die ich gar nichts einzuwenden habe,
„ſondern die bloß von dem Herrn von Hohenauf ab-
„haͤngt. Der iſt Erb- Lehns- und Gerichts-Herr‟ —


„Nun mein gnaͤdiger Herr von Hohenauf‟ —
ſagte die Graͤfinn, indem ſie ſich zu ihm wendete, „habe
„ich eine Fehlbitte gethan?‟


Dieſer, der mit einemmahl wieder tief friſche
Luſt ſchoͤpfte, welches er in einer halben Viertelſtunde
nicht gethan hatte, machte einen ſehr tiefen Reverenz,
und murmelte einige Worte her, die ob ſie gleich un-
verſtaͤndlich waren, doch nichts anders als ſeine Ein-
willigung bedeuten konnten.


Sobald die Graͤfinn davon gewiß war, ſo riß ſie
Saͤuglingen, der uͤber den großen Laͤrmen voll To-
desangſt da geſtanden hatte, den Hut aus den Haͤn-
den, warf einige Carolinen hinein, und gab ihn ihm
zuruͤck. Dieſer, erfreut uͤber den Wink ahmte ihr
nach, und ging mit dem Hute in der Hand zu allen an-
weſenden Gaͤſten, in der ehrenvollen Beſchaͤftigung
fuͤr beduͤrftige Ungluͤckliche eine Beyſteuer zu ſamm-
len, ſchaͤmte ſich auch nicht, aus Freuden uͤber den
gluͤcklichen Ausgang einer Sache, uͤber die ihm von An-
fang an das Herz geklopft hatte, manche Thraͤne
fließen
[204]
fließen zu laſſen, worin ihm die Graͤfinn und noch meh-
rere ſchoͤne Augen Geſellſchaft leiſteten. Jndem die-
ſes geſchahe, fuͤhrte die Graͤfinn die zitternde Fraͤulein
Adelheid zur voͤlligen Verſoͤhnung in ihrer Mutter
Umarmung, und erhielt auch mit einiger Muͤhe, fuͤr
Marianen die Erlaubniß, daß ſie wieder erſcheinen,
und durch Kuͤſſung des Rocks die Frau von Hohen-
auf
um Vergebung bitten durfte, daß ſie menſchlich
gedacht hatte.


Die Geſellſchaft gieng darauf in den großen Saal,
um ſich zum Spiele zu ſetzen. Saͤugling aber, der
ſich ein viel ſuͤßeres Vergnuͤgen vorbehalten hatte,
ſchlich nach dem Hinterhofe, ließ einen Wagen an-
ſpannen, erloͤſete den ganz betaͤubten Jacob aus dem
Gefaͤngniſſe, fuͤhrte ihn ſelbſt wieder zu ſeiner bisher
verlaſſenen Familie, und ſchuͤttete die anſehnliche
Summe, die er fuͤr ſie geſammlet hatte, in den Schooß
der Hausmutter aus, die bey ſo vielem Gluͤcke das
auf ſo viel Ungluͤck ſo ſchnell folgte, vor Freuden ſtumm
war. Er genoß das Gluͤck, das Haus des Elends
und des Klagens, in ein Haus der Freude verwan-
delt zu ſehen, genoß den ſtammlenden Dank des Haus-
vaters und der Hausmutter, empfand den Druck der
kleinen Haͤnde der beiden Kinder, die ſich an ſeine
beiden Seiten hiengen und ſeine Haͤnde mit ihren
Thraͤ-
[205]
nen netzten, und neigte ſich liebreich zu den lallenden
kleinen Kranken, die von ihren Aeltern ermuntert,
von ihrem Strohlager ihre matten Haͤnde empor
zu heben ſuchten, um ihrem Wohlthaͤter zu danken.


Er haͤtte ſehr gern Marianen mitgenommen,
um ſie dieſe ſuͤße Scene, die Frucht ihrer menſchen-
freundlichen Anlage mitgenieſſen zu laßen, wenn er
nicht die Denkunsart ſeiner Tante zu genau gekannt
haͤtte. Er hatte ein fuͤr ſchoͤne Handlungen empfind-
liches Herz, und obgleich ſeine kleine Eigenliebe nicht
ermangelte, ihm daruͤber ein Compliment zu machen,
daß durch ſein Drama dieſer Endzweck erreichet wor-
den: ſo war er doch durch Marianens großmuͤthige
Geſinnungen, deren ganzes Verdienſt um die ungluͤck-
liche Familie er itzt erſt in in ſeinem ganzen Umfange
erfahren hatte, mit ſo großer Hochachtung gegen ſie
erfuͤllet; daß er bey ſeiner Zuruͤckkunft ſogleich in ihr
Zimmer ſtieg, und ihr, nachdem er ihr von ſeiner kur-
zen Fahrt Bericht erſtattet hatte, alle Lobſpruͤche ſagte
die die warme Empfindung einer guten That einge-
ben kann, daß er ſie als die ſchoͤnſte Seele pries,
als die Ehre ihres Geſchlechts, die ihrer Tugend we-
gen das gluͤcklichſte Schickſal verdiente.


Mariane, von allem Eigenduͤnkel weit entfernt,
aber voll von dem heitern Vergnuͤgen, welches ein
edel-
[206]
edelgeſinntes Gemuͤth beym Wohlthun empfindet,
ſagte: „Loben Sie mich einer Kleinigkeit wegen nicht
„allzuſehr. Jch habe nur eine ſehr gemeine Pflicht
„beobachtet. Oder glauben Sie, daß eine weibliche
„Seele nicht ſo leicht ſolcher Empfindungen faͤhig ſey,
„die billig ein jeder Menſch haben ſollte.


Jndem ſie dieſes ſagte, warf ſie, ohne es ſelbſt zu
wiſſen, auf Saͤuglingen einen Blick, der ſeine ganze
Seele traf. Diejenigen, auf die jemals ein ſolcher
Blick geworfen worden, verſichern, daß er tief em-
pfunden werde, aber daß ſich ſeine Wirkung nicht
beſchreiben laſſe. Der ſel. Profeſſor Stiebritz wuͤrde
ihn vielleicht folgendermaßen definirt haben: „Es ſey
„ein Blick geweſen, durch welchen auf einmahl Saͤug-
„lings
ſymboliſche Kenntniß von Marianens Voll-
„kommenheiten, anſchauend geworden ſey.‟ So
viel iſt gewiß, daß von dieſem Augenblicke an, mit
ſeiner Hochachtung fuͤr Marianen, eine wahre
Freundſchaft verknuͤpft ward. Wann nun, wie man
ſagt, die Freundſchaft zwiſchen Perſonen zweyerley
Geſchlechts, ſehr bald einen viel zaͤrtlichern Namen
zu verdienen pflegt, ſo ging in dieſem Augenblicke in
Saͤuglings Herzen eine Veraͤnderung vor, deren
ganze Wichtigkeit er erſt in der Folge ſpuͤrte.


Fuͤnf-
[207]

Fuͤnfter Abſchnitt.


Wenige Tage darauf, brachte Saͤugling ein Ge-
dicht auf die Errettung des armen Pachters
zu Stande, welches an Marianen gerichtet war,
und worin er ihr Lob ſehr kluͤglich mit dem ſeinigen
verbunden hatte. Mariane las dieſes Gedicht mit
Wohlgefallen. Es war mit einer Saͤuglings Lie-
dern ſonſt ungewohnten Waͤrme des Herzens geſchrie-
ben, womit ihr Herz ſo ſehr ſympathiſirte. Auch ihr
Lob las ſie mit einem geheimen Vergnuͤgen. Wenn
es einem jungen Frauenzimmer uͤberhaupt leicht zu
vergeben war, daß ſie ſich von einem artigen und
witzigen jungen Menſchen nicht ungern loben ließ;
wie viel eher war ihr dies zu verzeihen, wenn ſie
fuͤhlte, daß ſie mit Wahrheit, und uͤber eine aus der
unbeſcholtenſten Neigung fließende That gelobt wurde.


Dies war der Anfang einer naͤhern Bekanntſchaft
zwiſchen beiden. Sie gingen oft, bey den erſten
Blicken der Sonne nach dem Winter, im Garten zu-
ſammen ſpazieren. Jhre Lectur war ihnen gemein-
ſchaftlich. Saͤugling las ihr ſeine Gedichte vor,
hoͤrte mit innerer Zufriedenheit ihren Beifall, und
ließ ſich auch ihre Verbeſſerungen, die ſie ihm mit groſ-
ſer Beſcheidenheit, aber aus der feinſten Empfin-
dung
[208]
dung gezogen, zuweilen an die Hand gab, ſehr wohl
gefallen. Kurz er betrachtete ſie als eine Muſe, die
ihn zu neuem Schwunge ſeiner Gedichte begei-
ſtern konnte, ſie ihn aber, als einen angenehmen Ge-
ſellſchafter, der ſie mit Lectur und mit Geſpraͤchen
unterhielt, die ihrer Neigung gemaͤß waren.


Von Anfange an hatten beide bey ihrem vertrau-
ten Umgange, keine andere als dieſe Abſicht. Jn
kurzem aber verlohr ſich Saͤugling, der Marianen
beſtaͤndig mit großer Jnbrunſt angaffte, und taͤglich
an ihr neue Schoͤnheiten des Koͤrpers und des Gei-
ſtes entdeckte, ganz in ihre Vollkommenheiten. Er
empfand, er wuſte nicht was, und betrug ſich dabey,
er wuſte nicht wie. Sein Geiſt erblickte Maria-
nens
Schoͤnheit, Tugend und Vollkommenheit, im
herrlichſten Glanze, und mitten in dieſem Anſchauen,
entdeckte er neue Schoͤnheit, Tugend und Vollkom-
menheit; ſo daß er endlich davon ganz geblendet ward.
Er ward truͤbſinnig und aͤngſtlich in ſeinem Betragen,
und weil Mariane, der wahren Urſach unwiſſend,
ihn zuweilen in einem Anfalle von luſtiger Laune
daruͤber ein wenig aufzuziehen pflegte, ſo gerieth er
in noch groͤßere Verlegenheit, und trauete ſich nicht,
von ſeinen Empfindungen nur ein Woͤrtchen zu ſagen.
Er nahm ſeine Zuflucht zur Dichtkunſt, und ließ in
die
[209]
die Gedichte, die er Marianen vorlas, oder ſie ſelbſt
leſen ließ, unvermerkt ganz kleine Zuͤge ſeiner
Empfindung einflieſſen, aber mit ſo vieler Zuruͤckhal-
tung, als ein ſo furchtſamer Menſch, furchtſamer
Poet, und furchtſamer Liebhaber, wie er war, nur
haben konnte. Mariane las uͤber alle dieſe feinen
Zuͤge mit groͤßter Freymuͤthigkeit weg, entweder weil ſie
ſie nicht bemerkte, oder nicht zu bemerken Luſt hatte.
Saͤugling wuſte nicht, was er beginnen ſollte, ward
noch aͤngſtlicher in ſeinem Betragen, verehrte Maria-
nen
ſtillſchweigend mit doppelter Ehrerbietung, kam
allem ihrem Begehren aufs dienſtwilligſte zuvor, hielt
ſich ſehr belohnt, wenn er einen laͤchelnden Blick von
ihr erhielt, oder in Ermangelung deſſen, war es ſchon
Seligkeit, wenn er ſie nur ſehen, und mit ſchweigen-
der Zaͤrtlichkeit aus ihren Augen die Nahrung ſeines
Daſeyns ziehen konnte.


Es iſt leicht zu erachten, daß er alle Gelegenhei-
ten, in Marianens Geſellſchaft zu ſeyn, werde mit
Sorgfalt aufgeſucht haben, aber er muſte hiebey ſehr
behutſam zu Werke gehen. Er war mit den Geſin-
nungen der Frau von Hohenauf ſo genau bekannt,
daß er ſchon zitterte, wenn er nur daran gedachte, daß
ſie von ſeiner Zuneigung zu Marianen etwas mer-
ken koͤnnte.


Erſter Theil. OMa-
[210]

Mariane war ohnedies ſeit dem ungluͤcklichen Ge-
burtsfeſte, ob ihr gleich die Frau von Hohenauf,
dem Anſcheine nach vergeben hatte, noch in Ungnade.
Es halfen keine reichen Garnituren, mit denen ſie die
Kleider der gnaͤdigen Frau ſchmuͤckte, kein neuer Kopf-
putz nach dem letzten Geſchmacke geſteckt, nicht drey-
fache Manſchetten von den feinſten Netzchen, die ihre
kunſtreiche Hand, mit Blumen von Kammertuch un-
terlegt, und mit fuͤnferley Pointſtichen durchbrochen
hatte. So angenehm auch dieſe Opfer waren, mit
denen Mariane den Zorn der Frau von Hohenauf
verſoͤhnen wollte; ſo ſchienen doch die Suͤnden, daß
ſie den Fraͤulein die buͤrgerliche Herkunft ihrer Mutter
entdeckt hatte, und daß ſie dieſelben zu guten Men-
ſchen hatte erziehen wollen, ehe ſie zu Hofdamen er-
zogen wuͤrden, aus der Claſſe der unvergeblichen
zu ſeyn.


Die Frau von Hohenauf beobachtete wenigſtens
ſeit der Zeit, gegen Marianen eine mehr als ge-
woͤhnliche Zuruͤckhaltung, ſie wiederhohlte die weiſen
Lehren, fleißig gute Romanen zu leſen und den
Fraͤulein das Air allemand abzugewoͤhnen, noch oͤfter
als vorher. Daß Mariane ſich unterſtehen koͤnnte,
mit den Fraͤulein deutſche Buͤcher zu leſen, kam der
Frau von Hohenauf ſo wenig in den Sinn, daß ſie
nicht
[211]
nicht daran dachte, das im Anfange ergangene allge-
meine Verbot, abermahls zu wiederholen. Ungluͤck-
licherweiſe aber traf ſie einſt Fraͤulein Adelheid mit
der Beſtimmung des Menſchen in der Hand an,
die daraus ihrer Hofmeiſterinn die menſchlichen Er-
wartungen
*) vorlas. Die Frau von Hohenauf,
die durchaus nicht wollte, daß ihre Fraͤulein andere
Erwartungen haben ſollten, als geputzt, bewun-
dert, angebetet, Hofdamen, reiche und galante Frauen
zu werden, confiscirte das Buch, als deutſch, augen-
blicklich, und nachdem ſie eine halbe Viertelſtunde lang
den Jnhalt unterſucht hatte, warf ſie es mit großem
Ungeſtuͤm in den Camin, als fuͤr alle Fraͤulein,
die ihr Gluͤck am Hofe machen wollen, hoͤchſt ver-
derblich.


Von dieſem Augenblicke an, war das Vertrauen
der Frau von Hohenauf zu Marianen ſo ſehr ver-
mindert, daß es jedermann im Hauſe wahrnahm.
Da nun dieſes Schloß vollkommen einem Hofe glich,
wo dem, der in Ungnade iſt, von allen Hofbedien-
ten der Ruͤcken zugekehret ward, ſo vermieden auch
hier alle Hausgenoſſen Marianen, und Saͤugling,
ſo ſehr ſein kleines Herz dadurch gemartert ward,
muſte aus Furcht Aufſehen zu erwecken oft die be-
O 2ſten
[212]
ſten Gelegenheiten, ſich mit Marianen zu unterhal-
ten, vorbeygehen laſſen.


Dieſer Zwang war ihm ſo peinlich, daß wenn
er ſich nicht noch durch Versmachen haͤtte Luft ſchaf-
fen koͤnnen, ſeine Seele, die ohnedis nicht die ſtaͤrkſte
war, unter der Laſt des Stillſchweigens wuͤrde un-
terdruͤckt worden ſeyn. Dies Stillſchweigen ward ihm
taͤglich unertraͤglicher, daher nahm er ſich vor, es
bey der erſten Gelegenheit zu brechen.


An einem der erſten heitern Maytage gieng Ma-
riane
Mittags nach Tiſche in den Garten. Saͤug-
ling
folgte ihr von weitem nach, und als er vom Hauſe
ſo weit entfernt war, daß er nicht bemerkt zu werden
glaubte, eilte er ihr nach, um ſie einzuholen. Er
ſahe dies fuͤr die beſte Gelegenheit an, ſeine ſo lange
verſchwiegene Liebe zu offenbaren. Sein Herz klopfte
ihm uͤber dieſem muthigen Vorhaben; je naͤher er zu
ihr kam, deſto mehr goß ſich ein zaͤrtliches Schau-
dern durch alle ſeine Glieder, und da er ſie endlich er-
reichte, und ſie ſtehen blieb um ihn zu bewillkom-
men, ſahe er ſtarr in ihre hellblauen Augen, die
Zunge ſtammlete, der Athem fehlte ihm, und nach-
dem er anderthalb Minuten ſtillgeſchwiegen hatte,
ſagte er:


„Es iſt heute wirklich recht ſehr ſchoͤnes Wetter!‟


„Die
[213]

„Die Bemerkung iſt eines ſo witzigen Kopfes
„recht ſehr wuͤrdig! ſagte Mariane laͤchelnd, Sie
„hatten in der That das Anſehen, als ob Sie mir
„etwas wichtigers ſagen wollten.


Saͤugling durch dieſe Antwort niedergeſchlagen,
ſahe ſie abermahls ſtarr an, und ſchwieg einige Minu-
ten lang ſtille.


„Aber wie kommt es, fuhr Mariane fort, daß
„Sie eine ſo tragiſche Phyſiognomie annehmen? Se-
„hen Sie, wie alles um Sie herum erfreut iſt. Se-
„hen Sie dieſe blaue Veilchen, wie ſie hervorſproſſen
„und angenehmen Duft verbreiten.‟ Hier pfluͤckte ſie
einige Veilchen und uͤberreichte ſie ihm.


Saͤugling nahm den Strauß an, betrachtete ihn,
und ſeufzete.


„Wie ſind doch die ſchoͤnen Geiſter ſo nachſinnend?
„Mich duͤnkt ich ſehe es an ihren Augen, daß Sie denken:


„Jch ſahe den jungen May

„Seine Silberglocken

„Hiengen um den Schlaf

„Als er vom Himmel fuhr,

„Bluͤhten alle Wipfel,

„Als er den Boden trat,

„Ließ er Violen und Hyacinten im Fußtritt zuruͤck.‟*)

O 3Saͤug-
[214]

Saͤugling ſchlug die Augen auf, und antwortete:
„Ach nein! meine Seele iſt zu voll, als daß ich die
„Schoͤnheiten der Natur empfinden koͤnnte.‟


„Ausgenommen die Schoͤnheit des Wetters? —‟


„Spotten Sie meiner nicht. Bloß weil ich meine
„innigſte Gedanken mich nicht zu ſagen getrauete,
„ſagte ich etwas ganz gemeines. — Ach Mariane
„Sie haben recht, ich haͤtte Jhnen etwas viel wichti-
„gers zu ſagen. —‟


„Nun ſo ſagen Sie doch an an! —‟


Sehen Sie dieſe Veilchen, ſie ſind klein, aber
„verbreiten ſuͤßen Duft, die allgewaltige Kraft der
„Sonne lockt ſie aus der Erde hervor, ohne ſie wuͤr-
„den ſie weder bluͤhen noch duften. Ach meine Ma-
„riane!
Jch bin dieſes Veilchen, Sie ſind meine
„Sonne.‟ —


Mariane erroͤthete, und nachdem ſie eine halbe
Minute Luft geſchoͤpft hatte, ſagte ſie, mit niederge-
ſchlagenen Augen: „Sie haben mich fuͤr meinen
„kleinen Scherz doppelt bezahlt; Jch werde mich huͤ-
„ten muͤſſen, wieder zu ſcherzen.‟


„O ſchoͤnſte Mariane, ſuchen Sie nicht Scherz
„aus einer Sache zu machen, die mir ſo ernſthaft
„iſt. Schon lange hat Sie mein Herz ſtillſchweigend
„angebetet, aber nun kann ich nicht mehr ſchweigen.
Jch
[215]
„Jch muß Jhnen ſagen, was ich fuͤr Sie empfinde,
„daß ich Jhre Schoͤnheit, ihre Tugend verehre, —
„darf ich es ſagen, — daß ich Sie liebe, daß ich nie
„aufhoͤren werde, Sie zu lieben, daß ich —


„Was hoͤre ich! Sie machen, daß ich mich weg-
„begeben muß. —‟ ſie trat einen Schritt zuruͤck.


„Grauſame! wie koͤnnen Sie mich verlaſſen!
„Nein! zu ihren Fuͤſſen, wiederhole ich Jhnen, daß
„Sie meine ganze Seele liebt, daß ich ewig —


„Jch bitte Sie, ſtehen Sie auf — — —‟


„Nein! Jch ſtehe nicht auf, bis Sie mein Schick-
„ſal beſtimmen, bis Sie mir ſagen, ob ich hoffen
„darf von ihnen wieder geliebt zu werden. —‟


„Jch bitte Sie nochmahls, ſtehen Sie auf, was
„ſoll man von uns denken, wenn jemand dieſes We-
„ges kommt. Sie wiſſen, daß ich Sie beſtaͤndig ge-
„ſchaͤtzt habe, ſo wie Sie es auch verdienen — aber
„Sie wiſſen auch ſelbſt, unſere beyderſeitige Lage iſt
„ſo beſchaffen, daß zwiſchen uns keine naͤhere Verbin-
„dung ſtatt finden kann.‟


„Warum nicht? Warum nicht? Laſſen Sie mich
„nur in Jhr Herz ſehen, laſſen Sie mich erfahren,
„ob es mich wieder liebt, und alle Schwierigkeiten
„verſchwinden — Sagen Sie, ſchoͤnſte Mariane,
„ich beſchwoͤre Sie, ob Sie mich haſſen koͤnnen? —


O 4Stehen
[216]

„Stehen Sie doch nur auf — Jch habe Sie nie
„gehaſſet. —‟


„Wie koͤnnten Sie auch ihren zaͤrtlichſten, ihren
„treuſten Liebhaber haſſen! Aber darf ich fuͤr die
„reinſte, fuͤr die zaͤrtlichſte Liebe, von ihnen Gegen-
„liebe hoffen‟? — Hier kuͤßte er ihr voll Jnbrunſt
die Hand —


Mariane erroͤthete abermals — „Jch bitte Sie,
„dringen Sie nicht ferner in mich —


„Schoͤnſte Mariane! Laſſen Sie mich mein
„Schickſal erfahren. Darf ich hoffen, ſo bin ich der
„gluͤcklichſte Sterbliche. Fragen Sie ihr Herz, laſſen
„Sie mich deſſen Empfindungen wiſſen. Sie ſeufzen?
„Wie gluͤcklich waͤre ich —


„Dringen Sie nicht ferner in mich — Mein Herz
„hat Sie beſtaͤndig geſchaͤzt aber —


„O wie gluͤcklich bin ich. Sie lieben mich, Schoͤn-
„ſte‟ — Hier kuͤßte er abermahl Jhre Hand. Ma-
riane
zog die Hand zuruͤck und richtete ihn auf: —


„Jch bitte Sie, ſtehen Sie auf, und geben Sie
„nicht einer wilden Leidenſchaft Gehoͤr. Jn der Hitze
„derſelben denken Sie, was Sie vielleicht bey kaͤl-
„terer Ueberlegung‟ —


„Wie! Jch ſollte untreu, ich ſolte unbeſtaͤndig
„ſeyn? Nein, meine Schoͤnſte, beſtaͤtigen Sie mir
„nur
[217]
„nur, daß ich Jhre Liebe hoffen darf, und Sie ſollen
„ſehen, daß meine Liebe nicht wanken wird, es mag
„auch geſchehen, was da wolle. Die Liebe wird mich
„den aͤuſſerſten Gefahren trotzen lehren.‟


„Warum wollen Sie aber ſich und mich den aͤu-
„ßerſten Gefahren bloß geben. Unterdruͤcken Sie
„lieber eine Leidenſchaft, die Sie und mich nicht gluͤck-
„lich machen kann. Jch will aufrichtig mit Jhnen
„reden. Mein Herz hat Sie nie gehaſſet. Sie ha-
„ben viel liebenswuͤrdige Eigenſchaften, die ich hoch-
„ſchaͤtzen muß; aber ich wiederhole es nochmals, ge-
„ben Sie der Vernunft Gehoͤr, und bedenken Sie,
„daß unuͤberwindliche Schwierigkeiten‟ — —


„O meine Schoͤnſte, der Liebe ſind keine Schwie-
„rigkeiten unuͤberwindlich. Lieben Sie mich nur‟ — —


„Wir wollen lieber die Schwierigkeiten vermei-
„den, als ſie zu uͤberwinden ſuchen. Jch ſchaͤtze Sie
„aufrichtig hoch; ſeyn Sie damit zufrieden. Jch
„werde beſtaͤndig Jhre wahre Freundin ſeyn, aber —


Jndem ſie dieſes ſagte, trat wieder alles Vermu-
then hinter einer geſchnittenen Hecke die Frau von Ho-
henauf
hervor, die ſeit der letzten Entdeckung von
Marianens deutſcher Lectur mißtrauiſch, beſtaͤndig
alle ihre Schritte beobachtet hatte. Sie ſchalt ihren
Neffen heftig aus, wegen ſeiner niedertraͤchtigen Nei-
O 5gung
[218]
gung gegen ein gemeines Maͤdchen. Der armen
Mariane aber machte ſie die bitterſten Vorwuͤrfe,
daß ſie einen jungen Menſchen von Stande ver-
fuͤhren wollte, welchen Ausdruck ſie oft wiederholte.
Sie verbot ihr aufs nachdruͤcklichſte, ihren Neffen je
wieder allein zu ſehen, und ließ ſie auch von der Zeit
an nicht einen Augenblick aus den Augen.


Jndeßen wuͤrde ihr freilich dieſe genaue Aufſicht
auf zwey Liebende bald ſehr beſchwerlich geworden ſeyn,
wenn nicht zween Tage darauf Hr. Rambold, der
Hofmeiſter den der alte Saͤugling ſeinem Sohn
ſendete, angelanget waͤre. Sie ſaͤumte alſo nicht, ſon-
dern ſchickte beide nach ein paar Tagen, auf die Uni-
verſitaͤt wohin ſie beſtimmt waren, und empfahl
dem Hofmeiſter, auf Saͤuglings Auffuͤhrung ein
wachſames Auge zu haben.


Der verliebte Saͤugling war troſtlos. Seine
Seele ſchmolz von Zaͤrtlichkeit, aber war auch von
Zaͤrtlichkeit ſo voll, daß kein einziger Gedanken, wie
es moͤglich ſeyn ſollte, ſie zu ſehen, darin Platz fin-
den konnte. Je mehr er daran dachte, deſto unmoͤg-
licher ſchien es ihm. Jhm fiel keines von den ſinn-
reichen Mitteln ein, die die Romanenſchreiber unſe-
rer lehrbegierigen Jugend ſo freigebig an die Hand
geben. Z. B. auf einer Strickleiter ins Fenſter zu
kriechen;
[219]
kriechen; ſich in einen Kaſten ſperren und zu ihr brin-
gen zu laſſen; einen doppelten Schluͤßel machen zu
laßen, um ihre Thuͤre zu oͤfnen; ja nicht einmahl die
einfaͤltigen auch außer Romanen ſo oft ausgeuͤbten
Mittel, das Kammermaͤdchen zu beſtechen, oder unter
dem Fenſter der Schoͤnen hin und her zu ſpazieren,
und ſo lange zu huſten oder zu pfeifen, bis ſie am Fen-
ſter erſcheine. Da ihm alſo gar kein Mittel in den
Sinn kommen wollte, ſo muſte er mit ſchwerem Her-
zen abreiſen, ohne ſeine Geliebte zu ſehen und von ihr
Abſchied zu nehmen.


Als er an den Ort ſeiner Beſtimmung ankam,
nahm ſeine Traurigkeit ſehr zu. Er wendete ſich zu
ſeiner gewoͤhnlichen Zuflucht, der Dichtkunſt, und ſchrieb
eine Heroide unter dem Namen des Leander an die
Hero, in welcher er ſeinen ganzen zaͤrtlichen Schmerz
uͤber die Abweſenheit ſeiner Geliebten auszudruͤcken
ſuchte. Nachdem er damit meiſt fertig war, fiel ihm
ploͤtzlich der Gedanken ein, daß er nicht die geringſte
Hofnung habe, dieſe Epiſtel ſeiner Geliebten in die
Haͤnde zu bringen. Er ging mit dem Papier in der
Hand in ſeinem Zimmer ſo tiefſinnig auf und nieder
ſpatzieren, daß er ſeinen Hofmeiſter nicht eher erblickte,
als bis er vor ihm ſtand, ihm das Papier aus der
Hand uahm, und es laͤchelnd durchlas.


Saͤug-
[220]

Saͤugling ſank vor Schrecken beynahe nieder,
weil er fuͤr ſich und ſeine Geliebte aus dieſer Entdeckung
des Hofmeiſters die ſchlimmſten Folgen befuͤrchtete.
Gluͤcklicherweiſe fuͤr ihn, gehoͤrte Rambold nicht zu
den muͤrriſchen Hofmeiſtern die ihrer untergebenen
Jugend alles Vergnuͤgen verſagen, vielmehr hatte
er ſehr politiſch berechnet, daß ein junger reicher Pa-
tricier nur ein oder zwey Jahre auf Univerſitaͤten von
ſeiner Aufſicht abhaͤnge, hingegen hernach viel laͤn-
ger, — weil Vaͤter ſterblich ſind u. ſ. w, — ſeines
Vermoͤgens genießen, und ſeinem Hofmeiſter eine
kleine bewieſene Gefaͤlligkeit reichlich vergelten koͤnnte.
Anſtatt alſo Saͤuglingen zu ſchelten, zog er ihn bloß
wegen ſeiner zuckerſuͤßen Empfindungen ein wenig auf;
denn er war ein witziger Kopf, der in den verſchiede-
nen Stationen ſeines Lebens, die Seele aller Cotte-
rien, Schmaͤuſe und Trinkgeſellſchaften geweſen war.
Endlich um Saͤuglingen, der noch immer in großer
Verlegenheit da ſtand, gaͤnzlich zu beruhigen, ver-
ſprach er ihm treuherzig, daß er es ſelbſt ſeine Sorge
ſeyn laſſen wolle, die zaͤrtliche Epiſtel in Maria-
nens
Haͤnde zu bringen. Er ſagte ihm auch, wie;
naͤmlich durch Huͤlfe des Kammermaͤdchens der Frau
von Hohenauf, mit der er, waͤhrend ſeines zweytaͤ-
gigen Aufenthalts auf dem Gute des Hrn. von Ho-
henauf
[221]
henauf, eine ſo vertraute Bekanntſchaft gemacht hatte,
daß er ihr eine ſolche Verrichtung gar wohl auftragen
zu koͤnnen glaubte.


Unterdeßen, befand ſich Mariane in großer
Unruhe. Saͤuglings Zuneigung zu ihr hatte
ſchon lange vorher ehe er ſie geſtand, ihrer weib-
lichen Scharfſichtigkeit nicht entgehen koͤnnen. Sie
hatte Wohlgefallen daran gehegt, weil ſie ſie fuͤr
die bloße Hoͤfllichkeitsbezeugung eines artigen jun-
gen Menſchen anſahe, ohne zu denken, daß ſie ſich
jemals in eine feurige Liebe verwandeln, oder daß
dieſe Liebe einen tiefen Eindruck auf ihr Herz machen
koͤnnte. Als er ſeine Liebe endlich erklaͤrte, und er zu-
gleich in demſelben Augenblicke von ihr getrennet ward,
fand ſie zwar ihr Herz tief verwundet, glaubte aber,
daß dies von ihrer beleidigten Empfindlichkeit, und
vom Wiederwillen gegen die Haͤrte der Frau von Ho-
henauf
herruͤhre. Nachdem aber Saͤugling abge-
reiſet war, und ſie in der Heftigkeit ihrer Leidenſchafft
glaubte, daß ſie ihn nie wiederſehen wuͤrde, merkte
ſie erſtlich, vor ſich ſelbſt erroͤthend, wie ſehr ſie ihn
liebte. Bald war ſie ſehr zornig, daß er nicht von
ihr Abſchied genommen hatte, bald entſchuldigte ſie
ihn, und ſtellte ſich vor, wie untroͤſtlich er ſelber ſeyn
muͤſte
[222]
muͤſte, und dieſes Bild ihrer Einbildungskraft ſelbſt
machte ihn ihrem Herzen liebenswuͤrdiger. Jeden
Ort wo ſie ihn geſehen hatte beſuchte ſie mit einer
zaͤrtlichen Schwermuth, und des Nachts ſtand ſein
geliebtes Bild beſtaͤndig vor ihren Augen.


Einſt ergriff ſie von ohngefehr die Lettres d’une
Religieuſe portugaiſe,
die ſie, auf Befehl, ſo oft ih-
ren Fraͤulein ganz ruhig vorgeleſen hatte. Sie er-
ſtaunte daruͤber, daß ihr ſo viel Bilder belebt, ſo viel
Klagen herzruͤhrend, ſo viel Empfindniſſe aus der
Seele herausgezogen ſchienen, uͤber die ſie vorher weg-
geleſen hatte. So ſehr wahr iſt es, daß Buͤcher voll
verliebter Empfindungen, die auf den Weiſen und
Gleichguͤltigen wenig Eindruck machen, in ein junges
unerfahrnes Herz, das den erſten Eindruͤcken dieſer
gefaͤhrlichen Leidenſchaft offen ſteht, den ſuͤßen Gift
weit tiefer hineinfloͤßen als ſelbſt die Reden des Ge-
liebten: weil die erhitzte Einbildungskraft, mit ihren
eigenen Geſchoͤpfen nach Belieben ſpielend, die Em-
pfindungen viel reiner inniger und heftiger vorſtellt,
als ſie in der wirklichen Welt ſeyn koͤnnen, in der ſie
durch hundert ganz gemeine gleichguͤltige Umſtaͤnde
vermiſcht, ſeichter gemacht und gemildert werden.


Nun ward dieſes Buch Marianens taͤgliche Le-
ctur. Sie wuͤnſchte, daß ihr Saͤugling ſolche Briefe
voll
[223]
voll Liebe und Beſtaͤndigkeit ſchreiben moͤchte, als der
Ritter v. C. und ſie verſprach ſich, daß ſie ihm mit
eben ſo viel Jnbrunſt und Sehnſucht antworten
wollte, als die zaͤrtliche Nonne. Sie ſahe in die-
ſem Briefwechſel eine ſo anmuthige Beſchaͤftigung vor-
aus, daß ſie die Zeit nicht erwarten konnte bis er
ſeinen Anfang nehmen wuͤrde. Es waren ſchon einige
Wochen verlaufen, und ſie hatte ſchon alle zaͤrtliche
Gruͤnde erſchoͤpft, um das Stillſchweigen ihres Ge-
liebten zu entſchuldigen, als ihr das Kammermaͤdchen
Saͤuglings Heroide, mit einem proſaiſchen Briefe
begleitet, uͤbergab, worin er alles was er bey ihrer
beyderſeitigen Trennung empfand, ausgedruͤckt hatte,
und ſie beſchwor, ihm wenigſtens ſchriftlich zu ſagen,
daß ſie gegen ſeine Zaͤrtlichkeit nicht unempfindlich
ſey, wozu er ihr das Kammermaͤdgen als ein ſicheres
Werkzeug empfahl.


Die verliebte Mariane las beide Sendſchreiben
mit heftiger Begierde, und uͤberlas ſie fuͤnf oder
ſechsmahl mit noch innigerm Vergnuͤgen. Als ſie ſich
aber niederſetzen wollte, um ſie zu beantworten, empfand
ſie die unausſprechliche Empfindung eines wohlgezoge-
nen Frauenzimmers, die immer mit gewiſſenhafter
Strenge ihre Pflichten beobachtet, und noch noch nie
einen Schritt gethan gethan hat den ſie haͤtte ver-
heelen
[224]
heelen duͤrfen. Sie erroͤthete und erſchrack vor ſich
ſelbſt. Je mehr ſie, in den ſuͤßen Vorſtellungen ihrer
Einbildungskraft, eine Gelegenheit gewuͤnſcht hatte
die Feder anſetzen zu koͤnnen, um ihre innerſte Nei-
gungen auszudruͤcken, deſto mehr ſank ſie ihr nieder
ſo bald ſie ſie wirklich anſetzen wolte, und je oͤfter ſie
es verſuchte, deſto mehr verlohr ſie den Muth es zu
wagen. Auch half es nichts, daß das Kammermaͤd-
gen ihr oͤfters zuredete, ihr auf den Brief eine Ant-
wort zu geben. Vielmehr da das dienſtwillige Maͤd-
chen, der die feinen Scrupel die Marianens Ge-
muͤth beunruhigten in ihrem Leben nie in den Sinn
gekommen waren, die ganze Sache ſehr auf die leichte
Achſel nahm; ſo konnte dies vielleicht einige widrige
Wirkung thun, indem Marianens Delicateſſe be-
wogen ward dieſe Sache von einer Seite zu betrach-
ten, von der ſie bald den Blick wegwandte, aus Furcht
allzuſehr daruͤber nachzudenken.


Sechster Abſchnitt.


Saͤugling war von allem Troſte verlaſſen, als er
erfuhr, daß Mariane weder ſeine Poeſie noch
ſeine Proſe einer Antwort wuͤrdigen wollte. Er hielt
ſich fuͤr den ungluͤcklichſten unter allen Menſchen, und
wuſte
[225]
wuſte, da ſeine Dichtkunſt die erwartete Huͤlfe nicht
leiſtete, nur bloß zu bittern Thraͤnen ſeine Zuflucht
nehmen. Rambold aber, der zwar weniger Zaͤrt-
lichkeit, aber etwas mehr Erfahrung beſaß, und dem
uͤberdies das Kammermaͤdchen in ihrem Antwortsſchrei-
ben einen gewiſſen Wink gegeben hatte, that keck den
Vorſchlag, daß Saͤugling in ſeiner Geſellſchaft, ins-
geheim nach dem Gute der Frau von Hohenauf rei-
ten, und Marianen beſuchen ſollte. Saͤugling
erſchrak vor dieſem Vorſchlage, ſowohl wegen deſſen
Folgen, als wegen der Beſchwerlichkeit eines Ritts
von fuͤnf Meilen. Rambold aber wuſte dieſe Be-
denklichkeiten mit ſeinem gewoͤhnlichen Witze laͤcher-
lich zu machen, ſo daß Saͤugling anfing, dieſen
Vorſchlag nur von der angenehmen Seite zu betrach-
ten, und darin willigte.


Sie ritten alſo an einem ſchoͤnen Sommermorgen
aus, und Saͤugling, uͤber ſeinen eigenen Muth
erſtaunt, kam ſich, nachdem er eine Meile gerit-
ten hatte, und die Beſchwerlichkeiten der Reiſe zu
empfinden anfieng, als ein anderer Leander vor,
der durch die Gefahr der wilden Wellen zu ſeiner Ge-
liebten Hero eilte. Sie kamen des Abends ſehr er-
muͤdet auf einem Vorwerke an, das etwa zweyhun-
dert Schritte von dem Dorfe entlegen war. Des
Erſter Theil. Pandern
[226]
andern Morgens ſehr fruͤh, ermunterte und ermannte
ſich Saͤugling, ſeiner Muͤdigkeit ohnerachtet, und
wanderte nach dem herrſchaftlichen Garten, in den
ſie durch eine von dem ſchlauen Kammermaͤdchen ge-
oͤfnete Hinterthuͤr traten. Sie fuͤhrte Saͤuglingen
ferner nach einer etwas abgelegenen gruͤnen Laube,
wo Mariane, in der Meynung ganz allein zu ſeyn,
mit ſuͤßer Schwermuth Saͤuglings Heroide las.


Sie that einen lauten Schrey, als ſie ihn erblickte,
und wollte forteilen. Es war aber ein Gluͤck, daß
ihr ihre Fuͤße dieſen Dienſt verſagten, denn der zittern-
de Saͤugling war ſelbſt in ſo großer Verlegenheit,
daß er ſchwerlich ſo viel Beſonnenheit gehabt haben
wuͤrde, ſie zuruͤck zu halten. Er ſtand mit herunter-
hangenden Haͤnden, wie ein ſtummes Bild da, und
es waͤhrte einige Minuten, ehe er mit ſtamlender
Zunge eine Entſchuldigung ſeiner Verwegenheit vor-
brachte. Da er in Marianens Augen, auf die er
ſeinen Blick unverwendet heftete, keinen Zorn wahr-
nahm, ſo faßte er das Herz, ſich ihr zu Fuͤßen zu
werfen, ihr nochmals die ganze Jnnigkeit ſeiner Liebe
zu entdecken, und ſie um Gegenliebe anzuflehen.
Mariane wolte noch zuruͤckhalten, aber ſie konnte
ihrer innern Zaͤrtlichkeit ſelbſt nicht Wiederſtand thun,
und entdeckte, unter ſanftem Erroͤthen, alles was ſie
fuͤr
[][]

[figure]


[227]
fuͤr ihn fuͤhlte. Saͤugling glaubte in den dritten
Himmel verſetzt zu ſeyn, dankte ihr mit den herz-
ruͤhrendſten Ausdruͤcken, und beide ſchworen ſich eine
unverbruͤchliche Treue und Zaͤrtlichkeit.


Sie hatten ſich ſo viel zu ſagen, daß einige Stun-
den vergiengen, ehe ſie voneinander ſchieden. Die
Wolluſt dieſer Unterredung war zu groß, als daß
nicht noch mehrere gleich geheime Zuſammenkuͤnfte
auf dieſe haͤtten folgen ſollen, in denen beide Liebenden
ihre Herzen aufs genaueſte mit einander vereinigten,
und den ſuͤßeſten Reiz darin fanden, daß ſie alles
Widerſtandes ohngeachtet, ſich ewig lieben wollten.


Jndeſſen hatte die Frau von Hohenauf insge-
heim erfahren, daß Mariane taͤglich ſehr fruͤh auf-
ſtaͤnde, in den Garten gienge, und ſich daſelbſt einige
Stunden aufhielte. Sie gieng ihr eines Tages, ohne
die wahre Urſach nur im geringſten zu vermuthen,
nach, und behorchte das verliebte Paar, als ſie eben
in der zaͤrtlichſten Unterredung waren. Sie kannte
ſich ſelbſt nicht, vor heftiger Wuth. Sie fuhr wie
eine Furie auf die arme Mariane los, belegte ſie mit
den ſchimpflichſten Namen, ſtieß ſie aus der Laube
heraus, und indem ſie dem ganz erſchrockenen Saͤug-
ling,
der wie eine unbewegliche Bildſaͤule da ſtand,
zuſchrie, daß ſie ſeinem Vater ſeine abſcheuliche Bos-
P 2heit
[228]
heit melden werde, und daß er ihr nimmermehr wie-
der vor die Augen kommen ſollte, ſo ſchleppte ſie die
halbtodte Mariane nach dem Hauſe zu.


Saͤugling ſtand noch einige Zeit in zitternder Un-
thaͤtigkeit, bis er ſich endlich beſann, daß es am be-
ſten ſeyn werde, wegzugehen. Er fand aber zu ſei-
nem groſſen Erſchrecken die Hinterthuͤr des Gartens
verſchloſſen. Rambold, der ſich mit dem Kammer-
maͤdchen, in einem dreißig Schritte hinter der Laube
belegenen ziemlich dichten Gebuͤſche befand, vielleicht
um ihr ein Kapitel aus dem vierten Bande der Jn-
ſel Felſenburg
zu erklaͤren, war bey dem erſten Laͤr-
men davongelauſen, und hatte in der Eil die Thuͤre
hinter ſich zugeſchlagen, und das Kammermaͤdchen
war, durch ihr wohlbekannte Nebengaͤnge, nach dem
Hauſe zu gelaufen. Der arme Saͤugling, der ſich
alſo allein und eingeſchloſſen ſahe, wußte nicht, was
er vor Angſt beginnen ſollte. Er ſahe fuͤr ſich gar
keinen Ausgang; denn uͤber die Mauer zu ſteigen, ob
ſie gleich nicht ſehr hoch war, war fuͤr ihn eine un-
moͤgliche Sache, er fieng alſo an, fuͤr ſein Leben zu
zittern, als wenn er in der Gewalt ſeines aͤrgſten
Feindes geweſen waͤre. Nachdem er aber eine Vier-
telſtunde im Garten in der Jrre gelaufen war, fiel
ihm endlich ein, daß die große Gartenthuͤre offen
ſeyn
[229]
ſeyn werde. Sie war es auch wirklich, und er gieng,
obgleich mit Zittern und Zagen, dennoch ohne von
jemand bemerkt zu werden, durch den Hof und durch
das Haus, auf die freye Straſſe des Dorfs.


Er eilte nun mit verdoppelten Schritten nach dem
Vorwerke, wo er die Pferde ſchon geſattelt und
Rambolden ſeiner erwartend antraf. Sie ſetzten
ſich ſogleich zu Pferde, Saͤugling in der groͤßten
Traurigkeit, die ihn Rambolds Luſtigkeit weder zu
wildern, noch deſſen Schrauberey zu verbergen bewe-
gen konnte. Sie brachten auf der Zuruͤckreiſe zween
Tage zu, demohnerachtet legte ſich Saͤugling ſo-
gleich bey der Ankunft ins Bette, um ſich theils von
einem Fieber, welches die Gemuͤthsbewegung, theils
ron einigen andern kleinen Beſchwerlichkeiten, welche
die Strapazen der Reiſe, ſeinem zarten Koͤrper zuge-
zogen hatten, heilen zu laſſen.


Der ungluͤcklichen Mariane, ward von der Frau von
Hohenauf mit der aͤußerſten Haͤrte begegnet. Keine
Entſchuldigung ward angenommen, die ſchimpflichſten
Vorwuͤrfe wurden nicht geſparet. Sie waͤre ſogleich
auf die Straſſe geworfen worden, wenn nicht zu be-
fuͤrchten geweſen waͤre, daß Saͤugling, durch ihr Un-
gluͤck, noch naͤher mit ihr verbunden werden moͤchte.
Sie ward alſo eingeſperret, bis ſich eine Gelegenheit
faͤnde, ſie gaͤnzlich wegzuſchaffen.


Die Fr. von Hohenauf beſann ſich, daß die Graͤfinn
von *** bey ihrer Anweſenheit, im Discurſe beylaͤufig ge-
aͤußert hatte, ſie wuͤnſchte eine Perſon von guter Auffuͤh-
rung und von Talenten um ſich zu haben, die ihr Ge-
P 3ſellſchaft
[230]
ſellſchaft leiſten, und ihr vorleſen koͤnnte. Die Graͤfinn,
obgleich aus einem der aͤlteſten Geſchlechte, und unter
der Procht und den Luſtbarkeiten des Hofes erzogen,
ſchaͤtzte Verdienſt mehr als Adel, und die Schoͤnheiten
der Natur und eine in der Stille wohlverbrachte Zeit
mehr, als den glaͤnzendeſten Pomp. Dieſe Neigun-
gen der Graͤfinn von *** waren den Neigungen der
Frau von Hohenauf, ſo ſchnurgerade zuwieder, daß
zwiſchen ihnen mancher Wortwechſel daruͤber entſtan-
den war, und daß die letztere die erſtere — wie es
immer zu geſchehen pflegt, wenn ein Thor gegen einen
Klugen Unrecht hat — herzlich zu haßen anfieng, ob
ſie gleich freilich, dem Wohlſtande gemaͤß, eine Dame
von dieſem Range aͤußerlich mit den groͤßten Freund-
ſchaftsbezeugungen uͤberhaͤufte.


„Ha! ſagte die Frau von Hohenauf fuͤr dieſen
„Zieraffen wird die ſchoͤne Mariane eine wuͤrdige Ge-
„ſellſchaft ſeyn.‟ Hiezu kam, daß die Guͤter der
Graͤfinn an fuͤnf und zwanzig Meilen entlegen waren,
indem ſie zur Zeit des Geburtsfeſtes, nur um eine
Verwandtinn zu beſuchen, in dieſe Gegend gekommen
war. Die Frau von Hohenauf ſchrieb alſo an die
Graͤfinn, und ſchlug ihr Marianen zur Geſellſchaf-
terin vor, doch ohne die wahre Urſach dieſes Vor-
ſchlags im geringſten zu erwaͤhnen. Die Graͤfinn,
welche ſich Marianens Betragen gegen den armen
Pachter noch mit Vergnuͤgen erinnerte, antwortete
nach Wunſch.


Nun trat die Frau von Hohenauf in Maria-
nens
Gefaͤngniß, zwang ſich zu einer Freundlichkeit,
die
[231]
die ihr gar nicht von Herzen gieng, ſtellte ihr |die un-
verdiente Gnade vor, daß ſie ihr, anſtatt ſie zu ſtra-
fen, einen ſo guten Platz verſchaft habe, verſicherte,
daß ſie alles vergangene vergeſſen wolle, verlangte
aber auch, daß Mariane alle Verbindung mit
Saͤuglingen aufheben, ja ihm nie ihren Aufent-
halt melden ſollte.


Mariane, die einige Wochen, in großer Ver-
legenheit uͤber ihr itziges und kuͤnftiges Schickſal, zuge-
bracht hatte, war ſehr erfreut, daß es eine ſo gluͤck-
liche Wendung nahm. Sie hatte die vortreflichen
Geſinnungen der Graͤfinn, bey derſelben Anweſenheit,
kennen lernen, und ſahe alſo ſehr wohl ein, daß der
Vorfall mit Saͤuglingen, derſelben Zutrauen zu ihr
mindern koͤnnte. Sie verſprach alſo mehr als ver-
langt wurde, naͤmlich niemand, wer es auch ſey,
das geringſte von der Sache zu entdecken, ja ſie ver-
ſprach ſich ſelbſt, wenn ſie von Saͤuglingen nichts
mehr hoͤrte, ihn ganz zu vergeſſen, und hofte da-
durch wieder in den ruhigen ſelbſtgenuͤgſamen Zuſtand
zuruͤck zu kommen, in dem ſie war, ehe ſie die Wir-
kungen dieſer ungluͤcklichen Liebe erfuhr.


Um jedermann den Ort ihres kuͤnftigen Aufent-
halts zu verbergen, ließ ſie die Frau von Hohenauf
des Nachts, mit Poſtpferden, nach einer nicht weit
von den Guͤtern der Graͤſinn gelegenen Stadt bringen,
von dannen ſie die Graͤfinn in einem Wagen
abholen ließ.


Ende des dritten Buchs.


[[232]]

Appendix A Druckfehler.


  • S. 7. Z. 12. Banren lies Bauern.
  • — 11. — 16. die viele, l. viele.
  • — 12. — 1. verwieſene franzoͤſiſche, l. verwieſenen franzoͤſiſchen.
  • — 15. — 21. muthwillige, l. muthwilligen.
  • — 17. — 12. nach Amt, ein Comma.
  • — 19. — 1. ihren, l. ihrem.
  • — 2. Kinder, l. Kinder an Alter.
  • — 25. — 11. bluͤhendenden, l. bluͤhenden.
  • — 28. — 3. weniger, l. weniger ſie.
  • — 33. — 14. fuͤr den, l. vor dem.
  • — 34. — 12. bedanrete, l. bedauerte.
  • — 37. — 3. von unten: florentiſchen, l. florentiniſchen.
  • — 39. — 14. nach Ton, ein Comma.
  • — 40. — 12. anweſende, l. anweſenden.
  • — 44. — 4. von unten: nach Waſſer, ein Punkt.
  • — 45. — 9. Aweſenden, l. Anweſenden.
  • — 47. — 10. arme verirrte, l. armen verirrten.
  • — 48. — 8. maͤchtige Patronen, l maͤchtigen Patrone.
  • — 68. — 5. von unten: vor, l. von.
  • — 71. — 12. Bauern, l. Bauer.
  • — 86. — 11. dickſchaͤligte, l. dickſchaͤlige.
  • — 93. — 8. wenn, l. wenn ich.
  • — 103. — 14. theologiſche, l. theologiſchen.
  • — 123. — 8. den, l. dem.
  • — 12. Gelehrte, l. Gelehrten.
  • — 156. — 13. das, l. daß.
  • — 184. — 11. wohl anſtaͤndig, l. wohlanſtaͤndig.
  • — 224. — 9. zuredete, ihr auf, l. zuredete, auf.


[[233]][[234]][[235]][[236]][[237]]
Notes
*)
S. Wilhelmine S. 105.
*)
Ein Lehnſtuhl mit vorſtehendem Seſſel, um darauf die Fuͤſſ-
zu legen.
**)
Eine Art von kleinem Tiſche.
*)
Daß dieſe Erfahrung des Tyrolers, auch ſchon im vorigen
Jahrhunderte richtig befunden worden, zeigt die weiſe
Frau Verlegerin
eines hoͤchſt wichtigen durkiſch geſchrie-
benen Geſchlechtregiſters, mit deſſen Ueberſetzung und
Commentirung Wilhelm Schickard Profeſſor zu Tuͤbingen
im Jahre 1628. die orientaliſche Geſchichte aufklaͤren wolte.
Schickard glaubte gewiß, ſein Buch wuͤrde viel Kaͤuſer
haben, weil es nicht zu den gemeinen alle Tage vorkom-
menden Buͤchern gehoͤrte, ſondern er darin den Gekehrten
von einer neuen und fremden Materie, ſo viel neues und
fremdes berichten konnte. Aber aus dieſer Urſache befuͤrch-
tete die Frau Verlegerin das Gegentheil. Sie verſicherte,
aus der Erfahrung zu wiſſen, daß die Bauerkalender viel
haͤufiger verkauft wuͤrden, als die aſtronomiſchen Epheme-
riden, aus denen ſie gemacht ſind. S. Leßings Beytraͤge
zur Geſchichte und Litteratur. Erſter Beytrag S.
91.
*)
Der Verfaſſer, der als ein Deutſcher, ſich in nichts deſ-
ſen was deutſch iſt ſchaͤmet, bekennet gern, daß auch
dieſes Werk von dieſem Geruche nicht wenig an ſich hat.
Er warnet alle Weltleute, nicht zu wagen es zu leſen.
*)
Diejenigen, denen etwa die Anzahl der Ueberſetzungen
und Journale, nach Proportion allzuſtark duͤnken ſollte,
muͤſſen bedenken, daß es eine Michgelmeſſe war. Denn
wenn auch einige Schriſtſteller im Sommer ſpazieren
gehen, ſo arbeiten doch Ueberſetzer und Journaliſten, im
Sommer und Winder, mit gleicher Thaͤtigkeit fort.
*)
Man ſ. Lavaters Phyflognomik 2ter Theil. S.| 117. u. folg.
*)
S. Ehendaſ. S. 36.
*)
Avaleurs de Coleuvres — Toad-eaters
*)
Ungelehrten Vaͤtern und Muͤttern zu gute, ſey hier ange-
merkt, daß die Gelehrten mit dieſem griechiſchen Worte
die Kunſt der Erziehung andeuten. Dieſe feyerliche Be-
nennung wird gebraucht, ſeitdem die Gelehrten dieſe
Kunſt in verſchiedene Syſteme gebracht haben, deren
jedes fuͤr ſich ſehr genau zuſammenhaͤngt, nur daß eines
dem andern ſchnurſtracks widerſpricht.
*)
Unmodiſchen Leſern und Leſerinnen ſey kund, daß dies eine Art
eines kleinen Kopfzeuges iſt, das, glaubwuͤrdigen Nachrichten
zufolge, im Winter {1772}{1773} wieder ſehr ſtark getragen wird.
Es iſt zu hoffen, niemand in Deutſchland werde ſo
barbariſch-unwiſſend ſeyn, nicht zu wiſſen, daß ein Comet
ein
*)
ein kleiner Kopfputz iſt, unter welchem ganz friſirte Haare
getragen werden. Aux Zephyrs aber | heißt dieſer Comet,
weil daran hinterwaͤrts gewiſſe haarigte Zierrathen,
(denen die in der Putzmacherſprache Chenilles oder Rau-
ven heiſſen, etwas aͤhnlich) frey herunter hangen, mit
denen die angenehmen Zephiren, ſehr leicht ſpielen koͤnn-
ten, wenn ſie nur im Winter weheten.
*)
Weil zu vermuthen iſt, daß eher Buchgelehrte, als Gens
du bon ton
dieſes Werk leſen werden, ſo muͤſſen, der
beklagenswuͤrdigen Unwiſſenheit der erſtern zu Liebe, hier
ſchon einige Woͤrter erklaͤrt werden, die ſonſt jedermann
verſteht, dès qu’il entre dans le monde. Ein Bonnet à demi
ajuſté
iſt ein Kopfzeug, unter dem eine Dame halb friſirt
ſeyn muß. Ein Aſſaſſin iſt nichts als ein Schoͤnpflaͤſter-
chen,
*)
chen, das aber ſeiner Groͤße wegen, wenn ein gemeines
Schoͤnfleckgen verwundet, gar wohl todtſchlagen kann.
Ein Poſtillion d’Amour iſt eine große Bruſtſchleife von
Band, welche weder Pferd noch Horn hat. Eine Re-
ſpectueuſe
iſt eine Bedeckung des Buſens, mit Spitzen,
Filet und anderm durchſichtigen Zeuge, die vermuthlich
den! Namen davon fuͤhrt, weil ſie nicht Ehrfurcht vert
anlaßt.
*)
Nach der Auogabe Leipzig 1768. S. 119.
*)
Ramlers lyriſche Gedichte, Berlin 1772. S. 266.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Nicolai, Friedrich. Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp0q.0