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Novellen aus Oesterreich.
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Innocens.


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Novellen aus Oeſterreich



Innocens.
Marianne.
Die Steinklopfer.
Die Geigerin.
Das Haus Reichegg.


Heidelberg.:
Verlag von G. Weiß.
1877.

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Seiner Excellenz
dem k. k. österreichiſchen Miniſter
Leopold Freiherrn von Hofmann


zugeeignet.

[][[1]]

Am ſüdlichen Ende Prags, auf einem gegen die Moldau
felſig abſtürzenden Hügel, erhebt ſich ernſt und düſter die
Wyſchehrader Citadelle. Es läßt ſich im Umkreiſe einer großen, volk¬
reichen Stadt nichts einſam Abgeſchiedeneres denken, als dieſes alte,
ziemlich ausgedehnte Fort. Denn die Beſatzung beſchränkt ſich
in Friedenszeiten auf eine Officierswache von geringer Stärke,
die nur den allernöthigſten Sicherheitsdienſt an den Thoren
und auf den Wällen verſieht. Die Caſematten und Block¬
häuſer im Innern ſtehen leer und verödet, und die ſpärlich
gefüllten Pulvermagazine ſcheinen wie die Belagerungsgeſchütze
nur da zu ſein, um einem invaliden Unteroffizier der Artillerie
zur Sinecure eines Zeugwartes zu verhelfen. Auch die Poſt¬
ſtraße, welche durch die Citadelle über den Rücken des Hügels
nach Budweis führt, wird nur wenig benützt. Harmloſe Spa¬
ziergänger nach dem nahen anmuthigen Dorfe Podol, Landleute
aus der Umgegend, welche Lebensmittel zum Prager Markt brin¬
gen, und hin und wieder ein beſtäubter Wanderburſche ſind faſt
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 1[2] die einzigen Paſſanten der Feſtungsthore. So herrſcht innerhalb
der Wälle gewöhnlich die tiefſte Stille, die nur ſelten durch das
Rollen eines Wagens, regelmäßig aber früh, Mittags und
Abends durch den Wachetambour mit raſſelnden Trommelſig¬
nalen unterbrochen wird.


Zumal im Winter iſt es hier oben traurig und ausge¬
ſtorben. Kalt und ſchneidend ſauſ't der Wind um die ver¬
laſſene Höhe, und mißmuthig, dicht in ihre Mäntel gehüllt,
gehen die Schildwachen auf den eingeſchneiten, von krächzenden
Dohlen beflogenen Wällen auf und nieder. Aber wenn der
Schnee in's Schmelzen kommt und die Moldau unten wieder
blau und ſchimmernd vorüberwallt, da entfaltet ſich in dieſer
Abgeſchiedenheit ein wunderbarer Lenz. Dichter, glänzender
Graswuchs überkleidet alle Gräben und Böſchungen, und um
die eingeſunkenen Kanonenlafetten ſprießen Veilchen und Pri¬
meln. Immer bunter ſchmückt ſich der Raſen, und manche
Schießſcharte wird durch einen wilden, in voller Blüthe ſtehen¬
den Roſenbuſch verdeckt, den ein langjähriger Friede hart am
Gemäuer wachſen ließ. Selbſt aus den Kugelpyramiden, die
der Zeugwart ſo zierlich zu errichten verſteht, ſprießt und
blüht es: denn der Wind hat Erdreich und Samen in den
Fugen abgelagert, und nun duften und ſchwanken über den
furchtbaren Geſchoſſen die blaßgelbe Reſeda, der dunkelblaue
Ritterſporn und die röthliche, langgeſtielte Steinnelke. Bienen
und gepanzerte Käfer ſummen und ſchwirren durch die heiße,
[3] zitternde Luft; zutraulich zwitſchernd laſſen ſich Hänfling und
Rothkehlchen auf die wuchtigen Feuerrohre nieder, und an den
Mauerabhängen der Wällen klettert und ſonnt ſich die gold¬
grüne, funkelnde Eidechſe. —


In ſolcher Zeit war es, als ich in der Citadelle die
Wache bezog. Erſt vor Kurzem mit meinem Regimente in
Prag eingerückt und mit der Oertlichkeit noch nicht vertraut,
betrat ich, neugierig und befangen zugleich, an der Spitze mei¬
ner Abtheilung die weite ſchattige Thorhalle, wo die Mann¬
ſchaft der alten Wache bereits unter Gewehr ſtand. Ihr
Commandant, ein mir unbekannter Officier von junkerhaftem
Ausſehen, kam, als die Förmlichkeiten der dienſtlichen Begrüßung
abgethan waren, nachläſſig auf mich zugeſchritten. „Oberlieu¬
tenant Baron Hohenblum,“ ſagte er, den Schirm ſeines Tſcha¬
kos flüchtig berührend. Er ſchien meinen Namen, den ich nun
auch nannte, zu überhören, und fuhr mit leichtem Gähnen
fort: „die vier und zwanzig Stunden werden Einem rein zur
Ewigkeit in dieſer alten, unnützen Kanonenbewahranſtalt. Es
kann keine langweiligere Wache mehr geben.“


Ich warf hin, daß man eben auf keiner beſondere Unter¬
haltung fände.


„Je nun, nach Umſtänden,“ erwiederte er, indem er den
feinen blonden Schnurrbart leicht emporſtrich. „Zum Beiſpiel
die Hauptwache am Ring iſt ganz amüſant. Man ſetzt ſich
mit ſeiner Cigarre vor die Thür und muſtert die Vorüber¬
1*[4] gehenden. Es gibt ganz nette Geſichter unter den hieſigen
Mädchen. Auch fehlt es nicht an Beſuch von Cameraden,
und nach der Retraite wird gewöhnlich ein kleines Spiel arran¬
girt. Hier oben aber iſt man von aller Welt abgeſchnitten,
wie auf einer wüſten Inſel. Du haſt es übrigens,“ ſetzte er
nach kurzem Beſinnen hinzu, „doch etwas beſſer getroffen, als
ich. Denn morgen iſt Sonntag, und da kommen wenigſtens
Leute in die Meſſe herauf.“


„In die Meſſe? Iſt denn hier eine Kirche?“ fragte ich
überraſcht.


„Allerdings. Etwa tauſend Schritte von hier, gegen die
Moldau zu,“ ſagte er, während ich unwillkürlich nach dem
Innern des Forts blickte. Aber die Ausſicht war durch eine
nahe, ziemlich hohe Schanze benommen, hinter welcher nur die
Wetterſtangen und ſpitzen Bedachungen der Pulvermagazine
hervorragten. „Um ſie zu ſehen,“ fuhr der Baron fort, „müßteſt
Du dort auf die Schauze hinauf. Dazu haſt Du ſpäter Muße
genug. Ein kleiner Friedhof iſt auch dabei, wo ich mich gleich
würde begraben laſſen, wenn ich beſtändig hier oben leben
ſollte, wie der Pfaff', der ganz allein in einer Art Kloſter
neben der Kirche wohnt. Ein ſeltſamer Kauz! Man muß
lachen, wenn man ihn mit ſeinen langen Beinen und der
ſchlenkernden Kutte, beſtändig ein Buch unter dem Arm, ein¬
herſteigen ſieht. Dabei ſchaut er immer in's Blaue, und thut, als
bemerke er Einen gar nicht, wenn man an ihm vorüber kommt.“

[5]

„Ein ſo abgeſchiedenes, ſtilles Leben mag auch ſeinen
eigenen Reiz haben,“ ſagte ich nachdenklich, während wir in
das düſtere Officierswachtzimmer traten, wo mich mein Vor¬
gänger mit den üblichen Dienſtvorſchriften bekannt machte.
Dann zog er ſich den etwas zerknitterten Uniformrock an den
Hüften glatt, ſchnallte die Feldbinde feſter und reichte mir mit
kühler Freundlichkeit die Hand zum Abſchied. Ich verließ mit
ihm das Zimmer und trat, während er flüchtig ſeine Leute
muſterte und unter luſtigem Trommelſchall abmarſchirte, in
die ſonnige Stille hinaus, die über dem Fort lagerte. Als
ich die Schanze erſtiegen hatte, that ſich hinter den Pulver¬
magazinen ein freier Wieſengrund meinen Blicken auf. Dort
erhob ſich, ziemlich zurückgezogen, die Kirche, das blinkende
Meſſingkreuz auf dem Giebel von weißen Tauben umflattert.
Den Friedhof konnte ich nicht gewahr werden; er mußte durch
das angrenzende Prieſterhaus verdeckt ſein, das ziemlich düſter
aus einer niederen Lindenumpflanzung hervorſah. In einiger
Entfernung ſchräg gegenüber ſtand ein ebenerdiges Häuschen.
Die gelb angeſtrichenen Thüren und Fenſterrahmen kennzeich¬
neten es als militäriſches Gebäude; im Uebrigen ſah es ganz
wie eine kleine Bauernwirthſchaft aus. Schiebkarren, Hauen
und Schaufeln lehnten in der Nähe einer Ciſterne an der
Mauer, und rückwärts war, kunſtlos umzäunt, ein Gärtchen
angelegt, in welchem roth und weiß die Apfelblüthen ſchim¬
merten. Zwiſchen dieſem Häuschen und der Kirche ſchlängelte
[6] ſich ein breiter Fußpfad hin. Er ſchien zu den äußerſten
Werken des Forts zu führen, über welchen, verhüllend, tief¬
gelber Sonnenduft lag.


Ich verließ die Schanze und ging dem Wieſengrunde zu.
Als ich an dem kleinen Hauſe vorüber kam, ſtand ein junges
Weib in der offenen Thüre. Sie hielt ein Kind ſäugend an
der Bruſt und ſah einem kleinen, etwa ſechsjährigen Mädchen
zu, wie es draußen mit einem munteren Zicklein ſpielte, deſſen
Sprünge eine ſcharrende Hühnerfamilie in Angſt und Ver¬
wirrung ſetzten. Bei dem Geräuſch meiner Schritte blickte ſie
auf und eine dunkle Röthe ſchoß in ihr Antlitz. Dann wandte
ſie ſich raſch und ging hinein, wobei ſie mir eine reiche Fülle
blonden Haares wies, das ihr in ungekünſtelten Flechten weit
über den Nacken hinabhing.


Drüben um das Prieſterhaus wehte eine melancholiſche
Ruhe. Das Thor mit dem geiſtlichen Wappen darüber war
zu, und man hätte das ziemlich weitläufige Gebäude für
gänzlich unbewohnt gehalten, wären nicht einige Fenſter im
erſten Stockwerke offen und mit Blumentöpfen beſtellt geweſen.


Als ich um die Kirche bog, die gleichfalls geſchloſſen war,
hatte ich den Friedhof voll ſchattender Weiden und Sebenbäume
zur Seite. Die Hügel waren dicht gereiht, aber ſorglich ge¬
halten und auf das ſchönſte bepflanzt. Da die Thüre des
Eiſengitters halb offen ſtand, ſo trat ich in die duftige Kühle
hinein und ſchritt langſam auf dem ſchmalen, mit feinem Sande
[7] beſtreuten Wege zwiſchen den Gräbern hin. Ein einſamer
Falter flatterte mir ſtill über den Blumen voran, während ich
hier und dort die Inſchriften und Namen auf den ſchlichten
Kreuzen las. Unter den Monumenten, deren es hier nur
wenige gab, zog mich eines durch edle und ergreifende Ein¬
fachheit beſonders an. Es war ein kleiner Obelisk von weißem
Marmor und ſtand, etwas abſeits von den übrigen, unter
einer herrlichen breitäſtigen Thränenweide. Die Inſchrift war
in römiſchen Lettern, deren Vergoldung ſchon etwas gelitten
hatte, eingehauen und lautete: Friederike Friedheim. geb:
16ten Januar 1829, gest: 30ten Mai 1846
. Vor dieſem
Grabe ſtand ich lange. Wer war dieſes Mädchen, das der
Tod ſo früh gebrochen, das man vor mehr als einem Jahr¬
zehend hier beſtattet hatte? Lebte ihr Andenken fort im Her¬
zen trauernder Eltern, im Geiſte eines Mannes, deſſen Jüng¬
lingsideal ſie geweſen? Oder war ſie verweht, wie ein Duft,
ein Klang im Gewühl und im Lärm des raſtlos vorwärts
drängenden Lebens, und nannte nurmehr der Marmor ihren
Namen?


Solche Gedanken und Empfindungen klangen noch in mir
nach, als ich ſchon wieder draußen auf dem Pfade hinſchritt
und mich einer Baſtei näherte, die als äußerſter Punkt des
Forts in einem ſtumpfen Winkel gegen den Fluß zu ausſprang.
Still und verlaſſen lag ſie da, faſt ganz von Schleh- und
Hagedorn überwuchert. Ein verfallenes Blockhaus erhob ſich
[8] darin, an deſſen röthlich-grauem Mauerwerke einige hohe Flie¬
derbüſche in voller Blüthe ſtanden, was ſich ebenſo lieblich
als überraſchend ausnahm. Selbſt zwei verkrüppelte Obſt¬
bäume hatten ſich in dieſes entlegene Werk verirrt. Sie wur¬
zelten dicht an der Bruſtwehr und ſtreckten ihre knorrigen
Aeſte über eine Kanone, die wie vergeſſen zwiſchen ihnen ſtand
und die Mündung harmlos in die ſonnige Gegend hinaus¬
richtete. Tief unten, an den freundlichen Häuſern von Podol
und an den bröckelnden Mauerreſten der Libuſſaburg vorüber,
zog die Moldau ſchimmernd nach dem braunen, rauchaufwir¬
belnden Häuſermeere der alten böhmiſchen Königsſtadt. Von
dort her grüßte mit funkelnden Zinnen der Hradſchin, wäh¬
rend ſtromaufwärts, über die anſteigenden, wohlbebauten Ufer
hinweg, ſich eine weite Landſchaft aufthat und endlich in dem
fernen Dufte der Königſaaler Berge verſchwamm.


Ich war von dieſer reizenden Einſamkeit zu ſehr ange¬
muthet, als daß ich ſobald daran gedacht hätte, ſie wieder zu
verlaſſen; ich ſah mich vielmehr nach einer ſchattigen Stelle
um, wo ich mich, bequem hingeſtreckt, ganz in den eigenthüm¬
lichen Zauber des Ortes und der Fernſicht verſenken konnte.
Eine ſolche bot ſich mir alsbald in der Nähe des Blockhauſes
dar, wo ſich die Zweige zweier nachbarlichen Fliederbüſche zu
einer Art Laube wölbten. Auch kam mir dort, als ich mich
niederließ, eine muldenförmige Vertiefung im Erdreiche, wel¬
ches mit kurzem, aber dichtem Graſe bewachſen war, vortrefflich
[9] zu Statten. So lag ich in der ſtillen Kühle, ſog den Duft
des Flieders ein und lauſchte dem Zwitſchern eines Vogels
über meinem Haupte, als ich plötzlich in einiger Entfernung
hinter mir nahende Schritte vernahm, und bald ging eine
hohe Geſtalt in geiſtlicher Ordenstracht ohne mich zu bemerken
an mir vorüber. Es mußte, wie mein Vorgänger geſagt hatte,
der Pfaffe ſein, der neben der Kirche wohnte. Das waren
ja die langen Beine und die ſchlenkernde Soutane, welche dem
Baron ſo lächerlich erſchienen; ſelbſt das Buch unter dem
Arme fehlte nicht.


Der Prieſter war an die Bruſtwehr getreten. Dort
nahm er ſein ſchwarzes Sammtkäppchen ab; man wußte nicht,
that er es aus Andacht vor der Natur, in die er hinausblickte,
oder um ſein Haupt der Luft preiszugeben, die über die Baſtei
ſtrich und mit ſeinen leicht ergrauten Haaren ſpielte.


Nach einer Weile wandte er ſich und ſchlug die Richtung
gegen das Blockhaus ein. Er ſchien mich noch immer nicht
zu bemerken, obgleich er gerade auf die Stelle losging, wo
ich lag. Ich erinnerte mich unwillkürlich an die Aeußerung
des Barons, daß der Prieſter beſtändig in's Blaue ſähe, ob¬
gleich er gegenwärtig mehr in ſich hineinzublicken ſchien. End¬
lich gewahrte er mich. Er ſchrack leicht zuſammen und eine
feine Röthe flog über ſein ſchmales, blaſſes Geſicht. Aber
dieſe Verwirrung dauerte nur einen Augenblick. Gleichgültig,
ohne mich mehr mit einem Blicke zu ſtreifen, ging er an mir
[10] vorüber, brach ſich ein Zweiglein vom Flieder und verließ,
ſtill wie er gekommen, die Baſtei.


Mich aber überkam jetzt eine eigenthümliche Unruhe. Es
war mir, als hätte ich den Prieſter durch meine Anweſenheit
von hier vertrieben. Er pflegte gewiß täglich um dieſe Zeit
einige Stunden leſend in der Fliederlaube zuzubringen; de߬
halb war er auch ſo unbekümmert und in ſich verſunken dar¬
auf zugegangen. Und nun nahm ich den traulichen Platz ein,
der ihm ſchon aus Gewohnheit lieb ſein mußte. Mit einem
Male erſchien mir auch alles Bequeme daran, das ich früher
für ein Zuſammentreffen günſtiger Umſtände gehalten hatte,
als ein Werk anordnender Abſichtlichkeit. Die Laube, das ſah
man, war durch Beſchneiden der Zweige hergeſtellt, und der
Raſenſitz wäre ohne Nachhilfe eines Spatens gewiß nicht zu
Stande gekommen. Raſch ſprang ich auf. Der Pater konnte
noch nicht weit ſein; ich wollte ihn einholen, auf daß er ſähe,
er könne ungeſtört wieder nach der Baſtei zurückkehren. Bald
gewahrte ich ihn auch in einiger Entfernung von mir auf dem
Pfade hinſchreiten. Ich fürchtete, er würde, eh' er mich noch
bemerken konnte, ſein Haus erreichen, und verdoppelte meine
Schritte. Da kam von drüben das kleine Mädchen mit freu¬
digen Geberden auf ihn zugelaufen. Er ging dem Kinde ent¬
gegen, beugte ſich zu ihm nieder und küßte es auf die Stirn.
Hierauf ließ er ſich von der Kleinen zur Mutter führen, die
ihm von der Schwelle aus entgegen kam. Ihr folgte ein
[11] Mann, der eben noch im Gärtchen mußte gearbeitet haben;
denn er hatte eine Haue in der Hand, auf welche er ſich,
wie es ſchien mehr aus Bedürfniß als aus Bequemlichkeit,
im Gehen ſtützte. Drei weiße Tuchſternchen auf den rothen
Kragenvorſtößen einer leinenen, über der Bruſt offenen Mi¬
litärjacke ließen in ihm den Zeugwart erkennen, mit welcher
Eigenſchaft ſeine noch jugendlich kräftige Geſtalt einigermaßen
im Widerſpruche ſtand. Als ich näher kam, gewahrte ich in
ſeinem Antlitz eine tiefe Narbe, die von einem Säbelhiebe
herrühren mochte und ſich von der Schläfe bis zum Kinn er¬
ſtreckte.


Der Pater ſprach freundlich mit den Leuten und reichte
dem Jüngſten auf dem Arme der Mutter, da es mit den
kleinen Händchen begehrlich darnach langte, die duftige Flieder¬
blüthe. Er wandte ſich nicht um, als ich vorüberging und
der Zeugwart, militäriſch grüßend, die Hand an die Mütze
brachte.


Es koſtete mir einige Ueberwindung, wieder in das un¬
erquickliche Wachtzimmer zurückzukehren. Dort ließ ich mich
auf das alte, harte Lederſopha nieder und nahm ein Buch zur
Hand. Aber meine Gedanken wollten nicht an den Zeilen
haften; denn die Eindrücke, die ich auf meiner kleinen Wande¬
rung empfangen, wirkten zu mächtig in mir nach. Vor allem
war es das Weſen des Paters, was mich mit tiefer, geheim¬
nißvoller Macht anzog. Wie glücklich erſchien mir ſein ſtilles
[12] Daſein auf dieſem wallumſchloſſenen Fleck Erde. Abgeſchieden
von dem Treiben der Welt, konnte er hier ganz ſich ſelbſt
angehören, und war nur den milden Pflichten ſeines Standes
unterthänig, die ihm nichts auferlegten, was er nicht gerne er¬
füllte, die ihm nichts verwehrten, was er, das ſah man ihm
an, nicht freudig entbehrte. Und die Menſchen in dem kleinen
Hauſe! Welch' ein reizendes Gegenbild boten ſie dar in ihrem
heiteren Familienglücke! Dann aber dachte ich wieder an den
weißen Obelisk auf dem Friedhof und murmelte unwillkürlich
den Namen der Todten vor mich hin.


Ueber ſolchem Denken und Sinnen war der Abend herein¬
gebrochen. Bald erklang draußen der Zapfenſtreich und die
wuchtigen Feſtungsthore fielen mit dumpfen Gepolter in's
Schloß. Ich aber ging noch einmal auf die Schanze hinaus.
Dort ſtand ich, während die Sterne auf den tiefen Frieden
niederfunkelten, der ſich über das Fort breitete, und hier und
dort, bald näher, bald entfernter, in den dunklen Büſchen eine
Nachtigall ſchlug. —


Es war noch ziemlich früh am andern Vormittage, als
ſchon eine Schaar Landleute im Sonntagsſtaat durch das ſüd¬
liche Thor der Citadelle gegen die Kirche ſtrömte. Nach und
nach erſchienen Andächtige aus den nächſten Stadttheilen;
meiſt geſetzte Männer und Frauen, in reinlicher, altbürgerlicher
Kleidung. Aber auch ſchmucke Mädchengeſtalten waren dar¬
unter, deren roſige Geſichter in der heiterſten Feiertagsſtimmung
[13] erglänzten. So bewegte ſich, während von der Kirche aus
ſchon verſprengte Orgeltöne durch die Luft irrten, eine bunte
Menge in den Räumen des Forts, was ihm einen fremdarti¬
gen, feierlichen Anſtrich gab.


Das Verlangen, den Pater in der Ausübung ſeines Am¬
tes wiederzuſehen, trieb auch mich der Kirche zu. Als ich
eintrat, verſtummte eben die Orgel, die einen Choral begleitet
hatte. Alle Anweſenden wandten jetzt ihre Blicke nach der
Kanzel, wo der Prediger erſcheinen ſollte. Ich betrachtete
unterdeſſen, an einen Pfeiler gelehnt, den Bau und ſeine
freundliche Ausſchmückung, die ſich durch geſchmackvolle Ein¬
fachheit wohlthuend von dem üblichen ſchwerfälligen Prunk
und Aufputz unterſchied. Als ich wieder nach der Kanzel
ſah, ſtand der Prieſter ſchon oben. Sein Auge begegnete dem
meinen und blieb eine Zeit lang auf mir ruhen, ſo daß ich
faſt erröthend den Blick ſenkte. Jetzt ſchlug er das Buch auf,
das er in der Hand hatte, und begann das Evangelium zu
leſen. Bei den erſten Worten, die ich vernahm, war ich faſt
unangenehm enttäuſcht; er las in czechiſcher Sprache. Ich
hatte ganz vergeſſen, daß ich mich in Prag befand, und den
vertrauten Klang der Mutterſprache von ihm zu hören er¬
wartet. Bald aber verſöhnte mich der Wohllaut ſeiner Stimme
mit dem fremden Idiome, ſo daß ich ſeinem Vortrage, trotz¬
dem ich nichts davon verſtand, mit regem Intereſſe folgte.
Er begann, als er zur Predigt ſelbſt überging, ruhig und ganz
[14] ohne alles Pathos, das die meiſten Prediger ſo unleidlich
macht; es war, als ſpräche er in vernünftig belehrendem Tone
zu Kindern. Nach und nach wurde er wärmer. Ohne daß
er dabei nach der Schauſpielerart mit den Händen in der
Luft gefochten hätte, ſchwoll ſeine Stimme zu einer mächtigen
Fülle an und ging endlich, während er ſich liebreich zu den
Hörern herabneigte, in den tiefen, zitternden Ton einer weh¬
müthigen Klage über. Es mußten erſchütternde Worte gewe¬
ſen ſein; denn ich ſah in mehr als einem Auge Thränen, und
als er jetzt ſchwieg, ſchimmerte auch ſeines in feuchtem Glanze.
Ich ſelbſt war bewegt, wie von den Klängen einer räthſel¬
haften Muſik. Nach dem üblichen kurzen Gebete verließ er
die Kanzel. Die Orgel ertönte wieder und kurz darauf trat
er im Meßgewande an den Hochaltar, wo ſchon früher
ein alter, weißhaariger Kirchendiener die Lichter angezündet
hatte. Nach beendetem Gottesdienſte ſtrömten die Andächtigen
aus der Kirche und bald herrſchte im Fort wieder die gewohnte
Einſamkeit und Stille.


Als ich ſpäter abgelöſ't wurde und mich wieder den
menſchenvollen Gaſſen der Hauptſtadt näherte, war es mir,
als kehrte ich aus einem reineren Elemente zu dem ganzen
beengenden Qualm und Dunſt der Erde zurück.


Einige Zeit darauf erſuchte mich ein befreundeter Offizier,
für ihn die Wache auf dem Wyſchehrad zu beziehen. Er
[15] wollte ein Feſt, zu dem er geladen war, nicht gerne
verſäumen und verſprach, den Dienſt in meiner Tour nach¬
zutragen. Ich enthob ihn dieſer Verpflichtung und ſagte
freudig zu.


Es heimelte mich wohlthuend an, als ich mich wieder
innerhalb der Wälle befand. Während der erſten ſchwülen
Nachmittagsſtunden verblieb ich im Wachtzimmer; dann aber
nahm ich ein Buch und ging in's Freie. Die heißen Strah¬
len der Juniſonne hatten das ſchwellende Grün der Schanzen
ſchon etwas ausgetrocknet, und der würzige Geruch des Thy¬
mians, der überall in dichten Büſcheln wucherte, ſchwamm in
der Luft. Ohne es eigentlich zu wollen, ſchritt ich der Baſtei
zu. Etwas in meinem Innern ſagte mir, ich würde jetzt den
Pater dort treffen; und der Wunſch, mit dieſem eigenthüm¬
lichen Manne bekannt zu werden, überwand in mir nach und
nach die Bedentlichkeit, ihm durch mein Erſcheinen eine un¬
willkommene Störung zu bereiten. Ich nahm mir ſogar vor,
ihn zu grüßen, eine Höflichkeitsbezeugung, die, ſeinem Stande
gegenüber, eben nichts Befremdendes oder Auffallendes haben
konnte. Vielleicht erwiederte er meinen Gruß mit einigen
freundlichen Worten und der erſte Schritt zur gegenſeitigen
Annäherung war gethan.


Mein Herz ſchlug erwartungsvoll, als ich die Baſtei be¬
trat. Ich hatte mich nicht getäuſcht; dort lag er, in ein Buch
vertieft, unter den abgeblühten Fliederbüſchen. Nun aber
[16] überkam mich eine Art Blödigkeit, jener eines Verliebten nicht
unähnlich, der, mit dem feſten Vorſatze, ſich heute oder nie
mehr zu erklären, ſcheu und verwirrt an dem Gegenſtande
ſeiner Sehnſucht vorüberſchleicht. Ich trat unwillkürlich ſo
leiſe auf, daß mich der Prieſter gar nicht hören konnte, und
als er jetzt doch aufſah und mich, wie es ſchien, mit wohl¬
wollender Ueberraſchung betrachtete, hatte ich ſchon den rechten
Moment, ihn zu grüßen, verſäumt. Ich trat an die Bruſt¬
wehr, um meine Verlegenheit hinter dem Bewundern der Aus¬
ſicht zu verbergen. Als ich ſo daſtand, wurde es mir immer
klarer, wie wenig es mir ziemen mochte, meine Perſon dem
ſtillen, in ſich abgeſchloſſenen Manne aufzudringen; und mit
dem beſchämenden Gefühle, bald eine Taktloſigkeit begangen
zu haben, ſchickte ich mich wieder zum Fortgehen an. Da
hörte ich mich plötzlich von dem Pater im reinſten, nur etwas
hart klingenden Deutſch angeſprochen. „Herr Officier,“ ſagte
er, indem er aufſtand, „beliebt es Ihnen nicht, den Platz hier
im Schatten einzunehmen. Die Sonne verweilt bis zum Unter¬
gange über dieſem Theil des Forts; Sie würden nirgend eine
Stelle finden, die Ihnen, gleich dieſer, den behaglichen Genuß,
der Ausſicht auf die Dauer geſtattet.“


„Sie ſind ſehr gütig, geiſtlicher Herr,“ erwiederte ich, noch
immer befangen, „daß Sie meinetwegen auf dieſen Genuß
verzichten wollen.“


„Er ſteht mir ja jederzeit zu Gebote. Ein um ſo größeres
[17] Vergnügen muß es für mich ſein, Jemandem, der ſich, wie
ich ſchon unlängſt zu bemerken Gelegenheit hatte, in dieſer
Einſamkeit wohl fühlt, mein gewöhnliches Leſeplätzchen über¬
laſſen zu können.“


„Von welchem ich Sie ſchon damals, freilich ohne es zu
wollen, vertrieben habe,“ ſagte ich, im Innerſten erfreut, daß
er ſich meiner erinnerte.


„Oder ich Sie,“ entgegnete er lächelnd. „Sie ſind ja
gleich nach mir weggegangen.“


„Um Ihnen zu zeigen, daß ich meinen Mißgriff ein¬
geſehen.“


„Ich weiß es; und Sie haben mir Ihres Zartgefühles
wegen herzlich leid gethan. Aber ich denke, wir ſollten uns
nicht länger mit der Erörterung mühen, wer von uns Beiden
eigentlich den Andern aus dieſer Laube vertrieben, ſondern
uns vielmehr einträchtig in der unſchuldigen Urheberin unſeres
kleinen freundſchaftlichen Streites niederlaſſen, die wohl Raum
genug dazu bietet. Zwei Leſende,“ ſetzte er mit einem Blicke
auf das Buch unter meinem Arme hinzu, „vertragen ſich ja
leicht und ſtören einander nicht.“ Mit einer Handbewegung,
die mich zu folgen einlud, lagerte er ſich wieder in den Schat¬
ten und nahm ſein Buch vor. Ich that ein Gleiches; aber
mein Blick ſchweifte beſtändig über die Seiten nach meinem
Nachbar hinüber, in deſſen Geſichtsbildung etwas wunderbar
Anziehendes lag. Die Stirn war gerade nicht hoch zu nennen,
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 2[18] trat jedoch über der ſchmalen Naſenwurzel frei und ſchön ge¬
wölbt aus den Haaren hervor. Um den etwas großen, leicht
eingekniffenen Mund lag ein feiner Schmerzenszug, der eigen¬
thümlich von der milden Heiterkeit der graublauen Augen ab¬
ſtach. Mit Ausnahme einer tiefen Furche zwiſchen den Brauen,
war noch keine Falte in dieſem edlen Antlitze zu ſehen, das
den Pater bei näherer Betrachtung jünger erſcheinen ließ, als
man ſonſt denken mochte. Er konnte das vierzigſte Lebens¬
jahr noch nicht lange überſchritten haben.


Es war, als ob auch ſein Auge von einem gleichen
Beobachtungsdrange gelenkt würde; denn plötzlich begegneten
ſich unſere Blicke.


„Wir ſtören uns doch,“ ſagte er mit einem flüchtigen Lächeln.
„Es iſt aber auch unverantwortlich, daß wir uns an das ge¬
druckte Wort halten und das lebendige, das uns doch eigent¬
lich zunächſt geboten iſt, verſchmähen.“ Dabei klappte er ſein
Buch zu und legte es neben ſich hin. Mein Blick ſtreifte den
Titel auf dem Umſchlage; es war eine zu jener Zeit vieler¬
wähnte materialiſtiſche Schrift.


Er mußte in meinen Zügen ein gewiſſes Befremden
darüber wahrnehmen, denn er fragte: „Kennen Sie dieſes
Buch?“


Ich bejahte es.


„Und Sie ſcheinen ſich zu wundern, daß ich es leſe,“
fuhr er fort. „Es mag ſich allerdings etwas ſeltſam bei mir
[19] ausnehmen; man müßte denn vorausſetzen, daß ich es mit
dem empörten Feuereifer eines Inquiſitors durchſtöbre. Ich
geſtehe, dies iſt nicht der Fall. Ich bin vielmehr dieſer Schrift
bis jetzt mit vielem Vergnügen gefolgt; denn ich intereſſire
mich für jede wiſſenſchaftliche Leiſtung, wiche ſie auch noch ſo
ſehr von meinen eigenen Anſichten und Ueberzeugungen ab.
Ich habe ſeit jeher dem Satze gehuldigt: Prüfe Alles und
behalte von Jedem das Beſte.“


„Und hiezu,“ ſagte ich von dem warmen und dabei
ſchlichten Ton ſeiner Worte hingeriſſen, „hiezu iſt auch die
glückliche Einſamkeit, in der Sie leben, wie geſchaffen. Hier
iſt es Ihnen vergönnt, in erhabener Ruhe an Alles, was im
Lärm des Tages hervorgebracht wird, und daher faſt ohne
Ausnahme mehr oder minder von Parteileidenſchaften gefärbt
und verfälſcht iſt, den Prüfſtein des reinen Erkennens zu
legen, und ſo recht eigentlich die Spreu vom Weizen zu
ſondern.“


Er ſah mich etwas überraſcht an. „Nun, dieſer Vorzug
erſcheint mir denn doch kein ſo beſonderer und wünſchens¬
werther. Er iſt das gewöhnliche Attribut müßiger Beſchaulichkeit.“


„Deren Sie ſich doch nicht ſelbſt anklagen werden?“ rief
ich aus.


„Muß es denn nicht Jeder, deſſen Leben ohne beſtimmtes,
in irgend einer Richtung förderliches Wirken oder Hervorbrin¬
gen verläuft?“ fragte er ruhig.


[20]

„Wirken Sie denn nicht, indem Sie die Pflichten Ihres
Amtes erfüllen?“


„Ich bin nichts als eine Art Guardian unſerer Kirche
auf dem Wyſchehrad, und meines Amtes iſt, jeden Sonntag
eine Meſſe zu leſen und dann und wann einen Todten zu
begraben.“


„Und Betrübte aufzurichten, Verirrte zu ermahnen, und
Schuldige zu beſſern,“ ſetzte ich hinzu.


„Ich wollte, daß ich es könnte,“ ſagte er ſtill vor
ſich hin.


„Sie haben keinen Grund, daran zu zweifeln,“ verſetzte
ich warm. „Ich habe letzthin nur zu gut wahrgenommen,
wie ſehr Ihre Predigten die Zuhörer ergreifen.“


„Auf wie lange? Die Luft vor der Kirche bläſ't wieder
Alles weg. Und ſo kommt Jeder am nächſten Sonntage ganz
als derſelbe herauf, der er vor acht Tagen geweſen. Es iſt
dies auch natürlich, denn was ſollen Worte dort ausrichten,
wo nur ein thätiges, liebevolles Eingreifen in die Verhältniſſe
des Einzelnen Hilfe und ſomit Troſt bringen könnte. Ich
habe, ſo lange ich Prieſter bin, blos ein einziges Mal Jemand
durch meine Worte wahrhaft getröſtet, und auch das nur, weil
ein eigenthümlicher Zufall dabei im Spiele war. Und dann,“
ſetzte er raſch, wie um eine Erinnerung zu verdrängen, hinzu,
„was vermögen leere Ermahnungen gegen den nun einmal
[21] in jeder Menſchenbruſt wurzelnden Hang zum Böſen! Man
ſollte dem Verirrten den Weg zum Guten nicht blos weiſen,
ſondern ihn auch darauf hinführen und ein ziemliches Stück
weit begleiten können. Dies wäre der eigentliche Zweck, die
wahre Aufgabe des Prieſters. Wie ſoll er aber dieſer Auf¬
gabe gerecht werden in einer Zeit, wo die Religion faſt ganz
zu einer politiſchen Formel herabgeſunken iſt, wo ihre Vertreter
in hartnäckiger Abgeſchloſſenheit einen Staat im Staate bilden.
Einen wahrhaft ſegensreichen Wirkungskreis kann der Prieſter
nur unter patriarchaliſchen Zuſtänden gewinnen. So kommt es,
daß noch hier und dort auf dem Lande ſich der Pfarrer einer
kleinen Gemeinde mit gerechtem Stolze einen Seelenhirten
nennen kann. Die Verhältniſſe der Gemeindemitglieder liegen
offen vor ihm da; er hat es nicht erſt nöthig, auf eine zwei¬
deutige Art in ſie eindringen zu müſſen. Er iſt in der Lage,
nach und nach jeden Einzelnen mit ſeinen Vorzügen und
Fehlern kennen zu lernen. Wie leicht wird es da einem ein¬
ſichtsvollen, von wahrer Menſchenliebe beſeelten Manne —
einem andern würde freilich eben dadurch Gelegenheit geboten,
Unheil zu ſtiften — durch milde Werkthätigkeit und durch die
Macht des Beiſpieles tröſtend, helfend, belehrend und anregend
Aufzutreten, und ſo das Wort Gottes nicht blos zu predigen,
ſondern auch darzuleben. Mir fällt bei dieſer Gelegenheit der
ehemalige Pfarrer meines heimathlichen Dorfes ein. Es war
ein Mann von energiſchem, faſt ſtrengem, aber keineswegs
[22] bigottem Charakter. Sein Latein reichte nicht weit, auch hatte
er nur wenig in den Kirchenvätern geleſen: aber er hielt oft
über einem Glaſe Wein den Bauern in der Schenke eindring¬
lichere Reden, als vielleicht jemals auf einer Kanzel geſprochen
wurden. Rechtshändel und Streitſachen ließ er ſelten vor
die Gerichte kommen, ſondern ſchlichtete das Meiſte ſelbſt auf
eine verſtändige und gütige Art. Sein Stück Feld bebaute er
mit eigenen Händen und war immer der Erſte bei der Arbeit;
denn er wußte, daß die Menſchen eine Ermahnung dazu nicht
gerne von Einem annehmen, der ſelbſt müßig geht. Oft er¬
ſchien er unvermuthet in der Schule, unterbrach den Vortrag
des Lehrers und ſtellte einige Fragen an die Kinder. War
er mit dem Examen zufrieden, ſo holte er Aepfel und Nüſſe
aus der Taſche ſeiner groben abgenützten Soutane hervor, be¬
ſchenkte die Kleinen damit und ließ ſie vor der Zeit auf den
Spielplatz hinaus. Dort ſah er ihnen eine Weile zu und
erhöhte den Jubel noch manchmal dadurch, daß er ſich ſelbſt
anordnend und belebend in's Spiel miſchte. So war er bei
Alt und Jung beliebt, ein wahrer Vater ſeiner Gemeinde,
die ihn nicht als einen Heiligen über ihr, ſondern als den
beſten und weiſeſten Menſchen in ihrer Mitte verehrte. —
Wie ganz anders, wie vereinſamt nimmt ſich dagegen der
Prieſter in größeren Städten aus. Von den wahrhaft Gebil¬
deten ob ſeiner falſchen Stellung bemitleidet, von den ſoge¬
nannten Aufgeklärten als Heuchler verſchrieen und an ſeinen
[23] menſchlichen Schwächen und Fehlern ſchonungslos controllirt,
erſcheint er der Mehrzahl der Bevölkerung nur als der zu¬
fällige Träger eines gedankenlos überkommenen und ausgeübten
Cultus.“


Ich glaubte zu träumen. Dieſe Worte klangen ſo außer¬
ordentlich, ſo überraſchend aus dem Munde eines katholiſchen
Prieſters; waren in einem ſo ruhigen Tone tiefer, im Inner¬
ſten wurzelnder Ueberzeugung geſprochen, daß ich in ſchweigende
Bewunderung verſank. So trat eine Pauſe ein, während
welcher wir Beide nach der Sonne blickten, die uns gegenüber,
in einem Meere von Glanz ſchwimmend, langſam hinter den
Höhen hinabtauchte.


„Ich denke, wir gehen, eh' es völlig Nacht wird,“ ſagte
endlich der Pater. Wir erhoben uns und ſchritten ſtill neben
einander hin. Als wir uns der Kirche näherten, ſuchten meine
Augen unwillkürlich den weißen Obelisk im Dämmerdunkel
des Friedhofes. Dabei erwähnte ich des tiefen Eindruckes, den
dieſer Grabſtein letzthin in mir hervorgebracht.


Etwas wie der Schatten einer Erinnerung legte ſich über
das Antlitz meines Begleiters; und als ich fragte, ob er mir
vielleicht Näheres über die Todte mittheilen könnte, ſagte er,
indem er gedankenvoll vor ſich hinſah: „Sie war das einzige
Kind eines Großhändlers und die erſte Leiche, die ich hier
oben beſtattete.“


Wir waren mittlerweile vor dem Prieſterhauſe angelangt.
[24] Drüben ſaß der Zeugwart zwiſchen Weib und Kind vor der
Thür und rauchte ſeine Abendpfeife.


„Ich bin daheim,“ ſagte der Pater. „Wenn es Ihnen
gefällt, bei mir einzutreten, ſo ſind Sie herzlich willkommen.“
Da ich mich verbindlich verneigte, öffnete er das Thor und
führte mich über den einſamen Flur eine breite, dunkelnde
Treppe hinan. Oben ſchloß er eine von den Thüren auf, die
in einer Reihe den Corridor hinliefen, und ließ mich in ein
ziemlich weitläufiges Gemach treten.


„Nehmen Sie indeſſen nur hier Platz,“ ſagte er und
wies auf ein bequemes Sopha. „Ich werde ſogleich Licht
machen.“


Während er an einer großen Kugellampe hanthierte, ſah
ich im dämmerigen Raume umher. Die Wände waren zum
Theil von oben bis unten durch dichtbeſtellte Bücherrepoſitorien
verdeckt; dazwiſchen erhoben ſich hohe Glasſchränke, welche
naturwiſſenſchaftliche Sammlungen zu enthalten ſchienen. Auf
einem geräumigen Tiſche in der Nähe der Fenſter ſtanden und
lagen chemiſche und phyſikaliſche Inſtrumente umher; ein zwei¬
ter Tiſch war ganz mit Papieren und Schriften bedeckt. Trotz¬
dem wehte mir von allen Seiten wohnliches Behagen entgegen
und gab ſich, als jetzt das milde Lampenlicht das weite Gemach
durchfluthete, immer deutlicher kund. Die Fenſtergardinen,
hinter welchen das dunkle Grün tropiſcher Gewächſe hervor¬
lugte, waren von tadelloſer Friſche, und an den Büchereinbänden,
[25] ſowie auf dem krausgeformten und wunderlich blinkenden Gläſer¬
werk war kein Stäubchen zu ſehen. An der rückwärtigen Wand
gewahrte ich ein großes, wohlgebautes Harmonium; eine Copie
der ſixtiniſchen Madonna, in Kupfer geſtochen, hing ſchlicht
eingerahmt darüber.


Der Pater verſah die Lampe mit einem Schirme, ſtellte
ſie auf den Tiſch vor dem Sopha und ließ ſich neben mir
nieder. „Es iſt eigenthümlich,“ begann er, „wie ſich Menſchen,
die unter ganz verſchiedenartigen Verhältniſſen leben, manchmal
raſch und unvermuthet zuſammenfinden. Wie hätt' ich mir's
jemals träumen laſſen, einen jungen Offizier in meiner ein¬
ſamen Behauſung zu empfangen.“


„Auch ich hatte nicht gehofft, als ich das erſte Mal an
dieſen ſtillen Mauern vorüberging, daß ich mir ſobald das
Wohlwollen des Mannes erwerben würde, der hier ſeine Tage,
wie ich jetzt ſehe, in nichts weniger als müßiger Beſchaulichkeit
verbringt.“


„Also in müßiger Thätigkeit, wenn Sie ſchon nicht anders
wollen,“ ſagte er lächelnd. „Ich treibe zu meinem Vergnügen
etwas Naturwiſſenſchaften; das iſt das Ganze.“


„Je nun, erwiederte ich, „wer weiß, ob Ihre Studien nicht
einem ernſteren Antriebe entſpringen, als Sie ſelbſt geſtehen
wollen. In den Heften und Convoluten dort,“ fuhr ich mit
einem Blick nach dem Schreibtiſche fort, „ſcheint bereits manches
Ergebniß einer tieferen Forſchung niedergelegt zu ſein.“

[26]

„Es ſind bloße Excerpte,“ ſagte er haſtig, indem er leicht
erröthete. „Aufzeichnungen, wichtig für mich, unbedeutend für
Andere. Ich fühle mich nicht berufen, die Wiſſenſchaft durch
Entdeckungen zu bereichern, oder auch nur die Zahl der ſchwe¬
benden Hypotheſen durch Aufſtellung einer neuen zu vermehren.
Ich bin, wie geſagt, ein bloßer Dilettant. Ich nehme Pflanzen
in meine Herbarien auf, wegen deren ſich ein Anderer ſchwerlich
mehr bücken möchte, und ergötze mich an Experimenten die
jeder Quartaner als längſt abgethanen Schulkram verächtlich
belächeln würde. Die mikroscopiſche Unterſuchung des Waſſers,
das einer in's Glas geſtellten harmloſen Blume einen Tag
lang das Leben gefriſtet, erfüllt mich mit derſelben Forſcher¬
freudigkeit und wiſſenſchaftlichen Ueberraſchung, mit welcher
irgend ein berühmter Mann die Infuſorienwelt des ſtillen
Oceans ergründet; und wenn ich zuweilen, mit Hammer und
Botaniſirkapſel ausgerüſtet, einen Ausflug längs der Flußufer
oder nach den umliegenden Höhen unternehme, ſo iſt mir dabei
zu Muthe, wie es Humboldt geweſen ſein mußte, als er das
Gebiet des Orinoco durchſtreifte und die Cordilleren beſtieg.
Und ſo wird mir das Stückchen Natur um mich her zum
Teiche Bethesda, in dem ich die Seele bade und erfriſche, um
ſie vor den Einflüſſen der Langweile zu ſchützen, die ſonſt
unfehlbar mein einfaches Leben beſchleichen müßte.“


„Was um ſo weniger der Fall ſein wird, als Sie, wie
ich ſehe, noch ein zweites Gegenmittel in Bereitſchaft haben.“

[27]

„Ja,“ ſagte er, „mein Harmonium.“


Ich hatte dieſes Inſtrumentes wohl ſchon öfter erwähnen,
aber noch nie darauf ſpielen hören, und bemerkte dies dem
Prieſter.


„Ich ſelbſt beſitze es noch nicht lange,“ erwiederte er, in¬
dem er den Schirm auf der einen Seite empor ſchob, ſo daß
der volle Lichtſtrom gegen die rückwärtige Wand fiel. „Ich
pflegte früher die Orgel zu ſpielen. Da ich aber dazu immer
erſt in die Kirche gehen und die Hilfe eines Zweiten in An¬
ſpruch nehmen mußte, ſo ſchaffte ich mir endlich dieſes Inſtru¬
ment an, das in Hinſicht auf Conſtruction und Klang der
Orgel am nächſten kommt und dabei eine größere Bequem¬
lichkeit geſtattet.“


Ich hatte inzwiſchen unverwandt nach dem Bilde geſehen,
deſſen ewig neuen Zauber ich hier wieder auf das tiefſte
empfand. Und je länger ich das Antlitz der Gottesmutter
betrachtete, die mit ihren großen, unergründlichen Augen wie
verwundert auf den fauſtiſchen Apparat im Zimmer zu blicken
ſchien, je mehr fiel mir die Aehnlichkeit deſſelben mit dem einer
Perſon auf, deren ich mich aber, wie dies oft der Fall zu ſein
pflegt, nicht gleich entſinnen konnte.


Der Prieſter war aufgeſtanden, hatte ſich an das Har¬
monium geſetzt und legte die Spitzen ſeiner langen weißen
Finger auf die Taſten. „Nicht wahr, ein wunderbares Bild?“
ſagte er. „Man kann ſich nicht ſatt ſchauen daran. Das
[28] kommt aber daher, weil man ſeine eigentliche Schönheit mit
den Blicken gleichſam erſt aus der Tiefe an die Oberfläche
ſaugen muß. Beim erſten Hinſehen erſcheint es faſt leer und
läßt kalt. Solchen, die kein geiſtiges Auge beſitzen, wird es
niemals ein rechtes Wohlgefallen abgewinnen. Ich möchte das
Original vor mir haben können.“


„Der Ausdruck im Geſichte der Madonna iſt einzig in
ſeiner Art,“ erwiderte ich nachdenklich. „Und doch findet man
zuweilen Köpfe, beſonders bei Frauen im Volke, die mehr
oder minder jenen kindlich erhabenen und, wenn ich ſo ſagen
darf, rührend unfertigen Zug aufweiſen, der uns hier ſo ſehr
entzückt. So iſt es mir, als hätte ich erſt unlängſt ein der¬
artiges Geſicht geſehen; ich weiß nur nicht wo.“


„Ich weiß es,“ ſagte er. „Hier in der Citadelle.“


Nun war ich darauf gebracht. „Richtig!“ rief ich aus,
„an das junge Weib Ihnen gegenüber hat mich das Bild
gemahnt.“


„Es freut mich, durch Sie meine eigene Anſicht beſtätigt
zu finden, die vielleicht eine rein ſubjective hätte ſein können.
Denn im Grunde genommen, ſind die Züge doch ganz ver¬
ſchieden, und die Aehnlichkeit liegt wohl nur in dem eigen¬
thümlichen Schnitt und Blick der Augen. Beweis deſſen, daß
der Zeugwart, als ich ihn einmal vor das Bild führte, an¬
fangs auch nicht die geringſte Aehnlichkeit mit ſeinem Weibe
finden wollte, und erſt nach und nach, und das nur, wie es
[29] mir ſchien, mehr aus pflichtſchuldiger Höflichkeit, als aus
Ueberzeugung miteinſtimmte.“


Er hatte ſchon während dieſer letzten Worte zu ſpielen,
begonnen. Es waren zuerſt leiſe Töne, die er anſchlug; aber
immer voller, immer mächtiger rauſchten ſie unter ſeinen Hän¬
den auf. Er ſchien kein beſtimmtes Muſikſtück vorzutragen,
ſondern ganz einer innern Eingebung zu folgen. Sein Haupt
war leicht zurückgebogen, den Blick halb durch die geſenkte
Wimper verſchleiert; auf ſeiner blaſſen Stirn lag der Reflex
des Lampenlichtes wie ein Glorienſchein.


In tiefes Lauſchen verſunken, ſaß ich da. Von draußen
drang der Duft der Lindenblüthen in's Gemach herein und
quoll mit den feierlichen Schwingungen der Töne zuſammen.


Als jetzt der Pater mit einer lang nachhallenden Cadenz
ſchloß, machte ich meinen Gefühlen in den Worten Luft:
„Wahrlich, Sie ſind beneidenswerth! Welch' ein herrliches,
reiches Daſein führen Sie in ihrer Abgeſchiedenheit. Geſtehen
Sie,“ fuhr ich, mich erhebend, fort, „daß Sie glücklich ſind,
ſo glücklich, als es nur irgend eine ſtillbegnügte Menſchenſeele
ſein kann!“


„Ja,“ ſagte er, indem er gleichfalls aufſtand und mich
mit leuchtenden Augen anſah, „ich bin glücklich. Aber auch ich
war es nicht immer. Denn das Kleid, das ich trage, iſt kein
dreifaches Erz und wappnet die Bruſt nicht immer gegen die
Gewalten des Lebens. Wenn wir, wie ich hoffe, näher mit
[30] einander bekannt werden,“ ſetzte er hinzu, da er ſah, daß ich
mich zum Fortgehen anſchickte, „ſo will ich Ihnen einmal bei
Gelegenheit Etwas aus früheren Tagen erzählen, zum Beweiſe,
daß auch mein ſtilles, unbeachtetes Daſein nicht ganz ohne
Prüfungen, ohne Kampf und Qual geweſen.“ Er geleitete
mich zum Thore hinab. „Leben Sie wohl,“ ſagte er, „auf
Wiederſehen!“


So entſpann ſich zwiſchen mir und dem Pater eine jener
Freundſchaften, wie ſie zuweilen unter Männern von ungleichem
Alter vorkommen, und welche dann mit zu den edelſten Ver¬
hältniſſen gehören, in denen ein Menſch zum andern ſtehen
kann. In gewöhnlichen Lebensbeziehungen durch die Verſchie¬
denheit des Standes auseinander gehalten, wurden wir deſto
feſter durch das geiſtige Intereſſe, das wir an einander fanden,
verbunden. Ich beſuchte ihn nun wöchentlich in ſeiner einſamen
Stube, wo wir den Nachmittag unter anregenden wiſſenſchaft¬
lichen Geſprächen, noch öfter aber über ſeinen Büchern und
Sammlungen oder am Experimentirtiſche zubrachten; denn er
hatte es unternommen, mich in die Naturwiſſenſchaften, darin
er eben ſo tiefe als ausgebreitete Kenntniſſe beſah, einzuführen.
Gegen Abend gingen wir gewöhnlich auf eine Stunde in's
Freie, und nahmen dann ein beſcheidenes Mahl ein, das uns
[31] der alte Kirchendiener nebſt einem Kruge leichten Landbieres
oder einer Flaſche Melniker auftrug. Der Pater machte dabei
mit ſtiller Zuvorkommenheit den Wirth; ihm ſelbſt merkte man
es beinahe nicht an, daß er aß oder trank, ſo flüchtig weg, ſo
ganz ohne alles Behagen that er es. Trotz dieſes vertrauten
Umganges wurden perſönliche Angelegenheiten oder Verhält¬
niſſe zwiſchen uns faſt niemals berührt. Ich wußte von ihm
nicht mehr, als daß er einem in der Stadt befindlichen Stifte
angehörte, mit ſeinem Ordensnamen Innocens heiße, und der
Sohn armer Landleute ſei, die ſchon lange geſtorben waren.
Er hingegen mochte in mir einen Menſchen erkennen, der ſich
in einer ihm wenig zuſagenden Lebensſtellung befand; aber er
vermied es, mich in dieſer Hinſicht irgendwie auszuforſchen.
Auch von dem, was er mir damals zu erzählen verſprochen
hatte, that er keine Erwähnung mehr. Vielleicht hatte er ſeine
Zuſage vergeſſen: vielleicht erwartete er, ich würde ihn daran
erinnern, was ich jedoch, um nicht zudringlich zu erſcheinen,
unterließ. Von Zeit zu Zeit traf ich bei ihm mit einem be¬
ſcheidenen, wohlgebildeten Jüngling zuſammen, in dem man
beim erſten Blick einen Bruder des jungen Weibes erkennen
mußte. Wie aus ſeinen Reden hervorging, hatte er erſt vor
kurzen, die ärztlichen Prüfungen abgelegt und ſtand an einer
öffentlichen Heilanſtalt in Verwendung. Gegen Innocens legte
er eine tiefe und, wie es ſchien, mit Dankbarkeit verbundene
Ehrerbietung an den Tag.


[32]

Inzwiſchen war der Sommer, war der Herbſt vergangen
und endlich der Winter gekommen, deſſen Stürme und Schnee¬
geſtöber mich nicht abhielten, nach wie vor das Prieſterhaus
auf dem Wyſchehrad aufzuſuchen. Aber der wieder erwachende
Lenz ſetzte eine ſchlimme Zeitung in die Welt: die Kriegser¬
klärung Piemonts. Dieſes Ereigniß überfiel mich um ſo un¬
vorbereiteter und gewaltſamer, als ich während der ſchönen
Zeit des Verkehrs mit Innocens die Politik ganz und gar ver¬
geſſen hatte, und mein Regiment die Weiſung erhielt, nach
Italien abzurücken. Da ſich bei ähnlicher Gelegenheit Befehle
und Anordnungen überſtürzen, ſo fand ich im Drange einer
haſtigen und verworrenen Dienſtesthätigkeit kaum noch Zeit,
meinen geiſtlichen Freund von unſerer ſo bald bevorſtehenden
Trennung perſönlich in Kenntniß zu ſetzen und noch einige
Stunden bei ihm zuzubringen.


Als ich mit beklommenem Herzen bei ihm eintrat, betrachtete
er eben mit erhabener, geiſtvollen Naturfreunden eigenthümlicher
Naivetät ein paar Schneeglöckchen, die er in der Hand hielt.
Er ſtand auf und ſchwenkte mir, gleichſam im ſtillen Triumphe,
dieſe erſten Boten des Frühlings entgegen. Als ich ihm aber
jetzt die Vorfallenheiten erzählte, da ſenkte ſich ſeine Hand all¬
mälig und ſein Mund kniff ſich immer tiefer und ſchmerzlicher
ein. „Das iſt raſch über uns hereingebrochen“, ſprach er ton¬
los vor ſich hin.


Wir blieben uns eine Zeit lang ſchweigend gegenüber.
[33] Endlich ſagte er: „Der Nachmittag iſt ſchön. Laſſen Sie uns
zum letzten Male miteinander einen Gang nach der Stelle
thun, wo wir uns kennen gelernt.“ So verließen wir das
Haus und begaben uns langſam und nachdenklich auf die
Baſtei. Kahl und öde lag noch die Gegend da; aber einige
frühblühende Obſtbäume ſtanden ſchon in ihrem weißen
Schmucke, die Luft roch nach Veilchen und in geheimnißvoller
Triebkraft ſchien die Erde leiſe zu beben. Hier und dort ſtieg
von den braunen Feldern ſchmetternd eine Lerche empor.


Innocens deutete über die Bruſtwehr hinaus: „Welch'
ein tiefer Gottesfriede liegt über der Gegend!“ ſagte er.
„Sehen Sie nur dort das läſſig ſchreitende Zwiegeſpann vor
dem Pfluge und hintendrein den arbeitsfrohen Landmann!
Und hier unten den ſchaukelnden Kahn und den Schiffer darin,
der das Ruder weggelegt hat, weil ihn die glatte Fluth ſchnell
und ſicher zum Ziele trägt! Wahrlich, wenn man die Welt
ſo vor ſich ſieht im Sonnenſchein, und die harmloſen Thier-
und Menſchengeſtalten darauf, man ſollte glauben, ſie ſei ein
Eden, deſſen heitere Ruhe niemals durch das wüſte Geſchrei
kämpfender Schaaren wäre geſtört, deſſen Fluren niemals mit
argvergoſſenem Blute wären getränkt worden.“


„Und unter ſolchen Umſtänden“, fuhr ich fort, „muß ich
Italien kennen lernen! Es war ſeit jeher mein ſchönſter
Traum, dieſes Land mit den heiligen Schauern, mit der ge¬
nießenden Freiheit und Ruhe eines fahrenden Schülers be¬
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 3[34] treten zu können. Und jetzt ſoll ich als ein rauher Kriegs¬
knecht, bereit zu morden und zu verwüſten, über die Alpen
ziehen!“


„Wie einſt unſere Vorfahren unter den Ottonen und
Heinrichen, und unter den Hohenſtaufen“, erwiederte er. „So
pflanzen ſich die Wellenkreiſe, die der Sturz des römiſchen
Koloſſes hervorgebracht, noch nach einem Jahrtauſende fort,
und wir ſind eigentlich auf unſerem Welttheile noch immer
Barbaren, ſo ſehr wir uns auch mit den Fortſchritten unſerer
Civiliſation brüſten mögen. Aber“, ſetzte er nach einem kurzen
Beſinnen hinzu, indem er mich raſch anſah, „der Zwang der
Lehenspflicht und Hörigkeit iſt glücklicher Weiſe, wenn auch
nur in ſeiner bindendſten Bedeutung vorüber. Ich weiß, daß
Sie ſich ſchon lange im Stillen mit dem Gedanken tragen,
den Militärdienſt zu verlaſſen. Thun Sie es jetzt; man kann,
glaub' ich, einem Offizier den Abſchied nicht verweigern, wenn
er darum anſucht.“


„Allerdings nicht. Allein man würde mich für einen
Feigling halten, dem um ſein Leben bangt. Gerade jetzt kann
und darf ich den Abſchied nicht fordern.“


„Sie haben Recht,“ ſagte er mit einem leichten Seufzer;
„es geht nicht. Man kann ſich über gewiſſe herrſchende Mei¬
nungen und Anſichten, ohne ſich oft ſein ganzes Leben zu ver¬
derben, nicht hinwegſetzen.“


Die Sonne war indeſſen tiefer geſunken, und vom Fluß
[35] herauf wehte es feucht und kühl; ſo kehrten wir wieder nach
Hauſe zurück. Die Lampe ward angezündet und wir ließen
uns auf das Sopha nieder. Dort ſaßen wir ſchweigend, die
Blicke auf einander geheftet, als wollte Jeder ſich noch einmal
das Bild des Andern ſo recht tief in's Herz prägen.


Um die gewohnte Stunde kam der Alte mit dem Abend¬
eſſen, an das wir einſylbig und gedankenvoll gingen. Zuletzt
ſchenkte Innocens die Gläſer voll und ſagte: „So müſſen wir
denn ſcheiden. Wer am meiſten dabei verliert, bin ich. Denn,“
fuhr er, meine Einwendung abſchneidend, fort, „ſo unangenehm
Ihnen die Ereigniſſe, denen Sie folgen müſſen, auch ſein
mögen; das Ungewohnte und Wechſelvolle daran wird Sie
doch gewaltſam über das Schmerzliche unſerer Trennung hin¬
wegreißen. Und wenn alles überwunden und abgethan iſt,
dann liegt das Leben wieder in einer neuen Bedeutung, mit
friſchen Hoffnungen vor Ihnen. Sie ſind noch jung; welche
Erlebniſſe, welche Eindrücke harren noch Ihrer, mit was für
Menſchen können Sie noch bekannt und befreundet werden!
Ich aber bleibe in meiner Einſamkeit zurück. Ich werde Sie
jeden Tag, zu jeder Stunde vermiſſen. Selbſt meine gewohnte
Thätigkeit wird mir verwaiſ't erſcheinen, da Sie ſchon ſo innig
damit verknüpft waren — und ſo bleibt mir kein anderer Troſt,
als der der Erinnerung.“ Er hielt mir bei dieſen Worten
ſein Glas entgegen, in welchem der flüſſige Rubin des Weines
wunderſam funkelte. Wir ſtießen an und tranken, worauf er
3*[36] fortfuhr: „Ich habe noch Etwas auf dem Herzen, das ich
Ihnen ſchon vor faſt einem Jahre einmal mitzutheilen ver¬
ſprochen. Ich will es jetzt thun, denn mir iſt,[] als ſollt' ich
Ihnen beim Scheiden das Bild ergänzen, welches Sie von mir,
ich weiß es, freundlich im Gedächtniſſe bewahren werden.“
Er ſtützte das Haupt auf die Hand und ſah einen Augenblick
nachdenklich vor ſich hin.


„Wie Sie wiſſen,“ begann er, „bin ich der Sohn armer
Landleute. Meine Kindheit war im Ganzen eine ziemlich freud¬
loſe. Ich mußte ſchon früh meinen Eltern bei der Feldarbeit
an die Hand gehen und überdieß fleißig die Schule beſuchen;
denn es hieß, ich ſollte einmal ſtudiren. Wirklich wurde ich
ſpäter, obwohl man mich zu Hauſe ſchwer entbehrte, nach der
Hauptſtadt gethan, um das Gymnaſium zu beſuchen. Dort
wurde ich bald das Stichblatt meiner Mitſchüler, die boshaft
genug waren, ſich über meine langen Beine, mein ſchüchternes,
linkiſches Benehmen, über meinen altväteriſchen Anzug luſtig
zu machen und mir allerlei muthwillige Streiche zu ſpielen.
Obgleich mir dies auch anfangs viele trübe Stunden bereitete,
ſo hatte es doch das Gute, daß ich mich nach und nach ganz
von ihrem Umgange zurückzog und ſomit nie in die Verſuchung
kam, an dem ſonſtigen Treiben dieſer frühreifen Knaben theil¬
zunehmen. Ich lebte damals in einer ärmlichen Dachſtube auf
der Kleinſeite, wo mich ein entfernter Anverwandter bereit¬
[37] willigſt aufgenommen hatte. Er war ſchon ziemlich bejahrt,
weib- und kinderlos und bekleidete die Stelle eines Aufſehers
am zoologiſchen Muſeum der Stadt. Er brachte öfter ſeltene
Thiere mit nach Hauſe; denn zu ſeinen Obliegenheiten gehörte
es, dieſelben auszubälgen oder in Weingeiſt zu ſetzen. Dabei
mußt' ich ihm nun helfen, und auf dieſe Art erwachte in mir
der Hang zum Studium der Natur und ſchlug immer tiefer
in meinem Gemüthe Wurzel. Da an unſeren Gymnaſien zu
jener Zeit ſelbſt die Anfangsgründe der Naturwiſſenſchaften
engherziger Rückſichten halber von den Lehrgegenſtänden noch
ausgeſchloſſen waren, ſo wendete ich meinen geringen Spar¬
pfennig daran, mir einige einſchlägige und leichtfaßliche Bücher
zu erwerben. Oft verweilte ich ſtundenlang in den lautloſen
Sälen des Muſeums, zu denen mein Pflegevater die Schlüſſel
hatte und wo mich die bunte Thierwelt in den verſchieden¬
artigſten Stellungen und Lagen regungslos, und doch wie
lebendig, mit ſeltſam ſtieren Blicken anzuſehen ſchien, ſo daß
ich mich anfangs eines leiſen Schauders nicht hatte erwehren
können. Bald aber war ich mit ihr ganz vertraut geworden
und meine kindliche Phantaſie brachte Athem und Bewegung
in die ſtarren Geſtalten. Ich ließ den breitmähnigen Löwen
und den ſchön gefleckten Königſtiger aus ihrem gläſernen Ge¬
fängniß heraustreten und majeſtätiſch einen hohen Palmenwald
durchſchreiten, wo die Abgottſchlange zwiſchen leuchtenden Blumen
den furchtbaren Leib emporringelte, zähnefletſchende Affen an
[38] den Stämmen auf- und abkletterten, krummſchnäblige Papageien
in den Wipfeln kreiſchten und Colibri gleich farbigen Funken
die Luft durchſchoſſen. Oder ich tauchte mit den plumpen,
abenteuerlichen Fiſchungethümen zu dem zahlloſen Gewimmel
in den Abgründen des Meeres hinunter, ſah über mir die
Kiele der Schiffe wegfahren, und die Polypen ſtill an den
Riffen bauen. An ſchönen Ferientagen aber verließ ich ſchon
mit dem Früheſten die Stadt und ging auf's Gerathewohl in's
Land hinein, nur gelenkt durch den Flug der Schmetterlinge
und Käfer, auf deren Jagd ich auszog. Dabei las ich in der
Eile auf, was mir gerade an Pflanzen oder Steinen in die
Augen fiel und belud mich damit. Wenn ich mich dann recht
warm und müde gelaufen hatte, ruhte ich irgendwo im Schatten
aus; am liebſten bei unbewegten, von Erlen und Weiden um¬
düſterten Waſſern, über deren Spiegel blitzende Libellen ſchwirr¬
ten, zartbeinige Spinnen hintanzten, während dann und wann
aus der Tiefe ein ſchnappender Froſch ausgluckſte. —


So wuchs ich allmälig zum Jüngling heran und trat
endlich, da mich meine Eltern zum geiſtlichen Stande beſtimmt
hatten, als Noviz in unſeren Orden, der mich nach vollendeten
Studien und zurückgelegter Probezeit als Pater aufnahm. Durch
beſcheidene Dienſtwilligkeit und eine gewiſſe Unverdroſſenheit
des Gemüthes, hatte ich mir bald bei meinen geiſtlichen Vor¬
geſetzten Liebe und Zutrauen erworben; aber plötzlich wurde
meinem Anſehen ein ſchwerer Stoß verſetzt: man begann meine
[39] Frömmigkeit in Zweifel zu ziehen. Neid und Mißgunſt waren,
wie überall in der Welt, ſo auch in unſerem Kloſter anzu¬
treffen, und hatten die Gelegenheit wahrgenommen, meine harm¬
loſen Naturſtudien zu verdächtigen und anzuſchwärzen. Es
verlautete nämlich, daß ich die Zeit, während welcher die an¬
dern Patres im ſchattigen Garten beſchaulicher Muße oblagen,
ein Spielchen machten oder Spaziergänge in der Stadt
unternahmen, mit verruchten, allen kirchlichen Dogmen
hohnſprechenden Experimenten hinbringe, zu welchem Zwecke
ich eine ganze Teufelsküche und die Werke aller alten
und modernen Atheiſten in einem Wandſchranke meines
Zimmers verborgen halte. Der damalige Abt, eine ängſtliche,
etwas beſchränkte Natur, fand ſich durch dieſes Gerede veran¬
laßt, mich eines Tages in Begleitung noch zweier Mitglieder
bei meinen einſamen Studien zu überraſchen, alles dazu Ge¬
hörige in Beſchlag zu nehmen und mir nach einem Verweiſe
anzurathen, meine Fähigkeiten künftighin einer beſſeren Sache
zuzuwenden. Es war ein tiefer Schmerz, den ich empfand,
als man mir meine Apparate und Bücher forttrug. Ein
bitteres, niederdrückendes Gefühl überkam mich; aber ich er¬
duldete Alles mit chriſtlicher Ergebung, wie es meinem Stande
ziemte. Die Unthätigkeit, zu welcher ich mich jetzt verurtheilt
ſah, laſtete in den erſten Tagen ſchwer auf mir. Aber ich
bedachte, wie Vieles, das mit den Anſchauungen meiner Vorge¬
ſetzten nicht im Widerſpruche ſtand, ich noch zu lernen hatte;
[40] und ſo fand ich bald in eifrigen philologiſchen Studien Troſt
und Beruhigung. Ich ging nach wie vor faſt niemals aus,
und meine Erholung war, hie und da eine Stunde auf der
Orgel unſerer Hauskapelle zu ſpielen. Ich hatte die erſte An¬
leitung dazu ſchon von meinem Schullehrer im Dorfe erhalten
und benützte nun die Gelegenheit, dieſe Vorkenntniſſe zu er¬
weitern und auszubilden. Wenn ich ſo in der verlaſſenen
Kapelle ſaß, und die Töne unter meinen Händen aufquollen,
da zog ein tiefer Friede, eine lichte Seligkeit in meine Bruſt,
und auch nicht ein Schatten dieſer Welt fiel hinein.


So war mir manches Jahr in ſanfter Gleichförmigkeit
vorübergegangen, als der Abt plötzlich ſtarb. Sein Nachfolger,
ein wohldenkender, vorurtheilsfreier Mann, der mich ſtets mit
vieler Nachſicht behandelt und warm vertheidigt hatte, ließ
mich eines Tages zu ſich beſcheiden. „Wiſſen Sie,“ ſagte er,
als ich bei ihm eintrat, „daß der Verweſer unſerer Kirche auf
dem Wyſcherad wegen andauernder Kränklichkeit um Amts¬
enthebung nachgeſucht hat?“ Ich bejahte es, da ich davon ge¬
hört hatte. „Möchten Sie wohl,“ fuhr er fort, indem er
mich forſchend anſah, „ſeine Stelle übernehmen?“ Er mußte
in meinen Zügen ſogleich eine freudige Zuſtimmung wahrge¬
nommen haben, denn er klopfte mir ſchnell auf die Schulter
und ſagte: „Nun, ſo gehen Sie mit Gott. Es wird Sie
Niemand darum beneiden; der Ort iſt gar zu einſam und
abgeſchieden, wenn auch das Amt eine gewiſſe Selbſtſtändig¬
[41] keit und Freiheit gewährt, die Sie, das weiß ich, nicht mi߬
bauchen werden.“


Mit welch' wohlthuenden Gefühlen ich das ſtille Haus
hier oben bezog, können Sie ſich vorſtellen. Ich war der hä¬
miſchen, ſpähenden, ziſchelnden Kloſtercameradſchaft los und
konnte wieder unbehelligt meine geliebten, langentbehrten Ar¬
beiten aufnehmen, wozu mir der neue Abt Bücher und Ap¬
parate von ſelbſt hatte zurückſtellen laſſen.


Als ich nach der erſten Nacht, die ich hier oben zuge¬
bracht hatte, am frühen Morgen an's Fenſter trat, fiel mein
Blick auf das kleine Haus gegenüber. Mit dem Einrichten
meiner neuen Wohnung beſchäftigt, hatte ich es Tags vorher
kaum beachtet; jetzt aber zog es meine ganze Aufmerkſamkeit
auf ſich. Thür und Fenſter waren geſchloſſen; Alles ſchien
drinnen noch im tiefen Schlaf zu liegen. Nur die Hühner
und Gänſe trieben ſchon vor der Schwelle ihr Weſen und die
Tauben trippelten unruhig auf dem Dachfirſte umher. Wie
ich ſo hinſah, überkam mich eine Art Heimweh. Es war
mir, als ſäh' ich das niedere, vom Dorfe etwas abgeſchiedene
Häuschen vor mir, in dem ich meine Kindheit verlebt hatte,
und als müſſe ſich jetzt und jetzt die Thüre öffnen und meine
Mutter ſelig heraustreten. Und die Thüre öffnete ſich auch,
aber die heraustrat, war ein junges Mädchen. Sie hatte ein
weißes Tüchlein um den Kopf geworfen, und ſtreute aus
der aufgenommenen Schürze Futter zu Boden. Ohne ſich wei¬
[42] ter um das raſch hinzuſtürzende Geflügel zu kümmern, ſchöpfte
ſie Waſſer aus der Ciſterne und begab ſich wieder in das
Haus zurück, aus deſſen Schornſtein alsbald ein leichter Rauch
in die heitere Morgenluft aufſtieg. Mittlerweile war auch
ein munter ausſehender Knabe über die Schwelle gehüpft,
der nun mit dem Muthwillen ſeines Alters die emſig pickende
Schaar von den reichlich zugemeſſenen Körnern zu verſcheuchen
begann, wobei er ſich an dem Geſchrei und an der verwor¬
renen Flucht der furchtſamen Thiere weidlich zu ergötzen ſchien.
Plötzlich aber wurde er von dem Mädchen, das raſch aus der
Thüre eilte, beim Arme gefaßt und hineingezogen.


Drüben hatten ſich die verſprengten Gäſte allmälig wieder
eingefunden, als es an meine Thüre klopfte. Es war der
Kirchendiener, um mich zur Meſſe abzuholen, mit welcher ich
mein Amt einweihen wollte. Bevor wir gingen, fragte ich
den Mann, wer dort drüben wohne. „Der Zeugwart,“ er¬
wiederte er, „mit Weib und Kindern. Ein alter Knaſterbart,
der die Franzoſenkriege mitgemacht und ſich den ruhigen Poſten
hier oben durch manche Bleſſur verdient hat.“


In der Kirche, welche gewöhnlich nur an Sonn- und
Feiertagen offen iſt, war kein Beter anweſend. Als ich mich
beim Evangelium umwandte, ſah ich das Mädchen herein¬
treten. Sie trug einen Korb am Arme und kniete in der
Nähe des Altares nieder, an welchem ich die Meſſe las. Nach
einem kurzen Gebete erhob und bekreuzte ſie ſich und ging wieder.


[43]

Als ich am nächſten Sonntage zum erſten Male die
Kanzel beſtieg, gewahrte ich ſie gleich beim erſten Hinſehen
auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den
Hals hinauf geſchloſſenes Kleid an, das ihr gar wohl zu den
goldenen, ſchlichtgeſcheitelten Haaren ließ. Neben ihr im Bet¬
ſtuhle ſaß eine ſchon ziemlich bejahrte Frau, die man ſogleich
für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich
beſtändig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich ge¬
richtet waren, und in dem Beſtreben, ihm auszuweichen, und
doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge ſcheu um
die liebliche Geſtalt herum, ohne daß ich den Muth gehabt
hätte, ſie anzuſehen. Deſto öfter jedoch blickte ich in den Tagen,
die nun folgten, nach dem kleinen Hauſe hinüber, und bald
paßte ich ſogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die
Jungfrau vor der Thüre erſchien. So trat ihr Bild unver¬
merkt immer tiefer in mein Leben hinein, und verwuchs da¬
mit, eine holde Nothwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte
keinen Wunſch in mir an; aber wie an trüben ſonnenloſen
Tagen ein dumpfer Druck auf Einem liegt, ſo überkam mich,
wenn ich ſie zur gewohnten Stunde nicht ſah, ein geheimes
Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis ſich die ſchlanke Ge¬
ſtalt, wenn auch noch ſo flüchtig, vor dem Hauſe, am Fenſter
oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als
ſei es erſt jetzt vollends Tag geworden, deſſen helles Licht mich
mit ſanfter Wärme und Heiterkeit durchſtröme. —


[44]

Eines Abends ſpät hatte ich eben die Lampe angezündet
und mich über ein Buch gebeugt, als die Klingel am Thore
ziemlich haſtig gezogen wurde. Ich erhob mich und trat an's
Fenſter. Unten im Dunkel der Bäume ſtand das Mädchen
Ein jäher, freudiger Schreck durchzuckte mich, und unwillkür¬
lich trat ich einen Schritt zurück.


Inzwiſchen hatte der Kirchendiener das Thor geöffnet
und fragte jetzt nach ihrem Begehren.


„Um Gottes willen,“ ſagte ſie mit ängſtlicher Haſt und
unterdrücktem Weinen, „meine Mutter iſt ſchwer krank; der
geiſtliche Herr möchte ſie verſehen kommen.“


Ich erbebte im Innerſten bei dem Klang dieſer Stimme,
die ich nun zum erſten Male hörte. Ich fühlte das tiefſte
Mitleid mit dem armen Kinde; eine fieberhafte Angſt und
Sorge um die Kranke überfiel mich, und dennoch hätte ich
zugleich aufjubeln können vor Freude. Raſch eilte ich die
Treppe hinunter und begab mich mit dem Kirchendiener, der
mir im Flure entgegen kam, in die Sakriſtei, um alles Noth¬
wendige zu holen. Als ich damit aus dem Hauſe trat, war
das Mädchen am Thore niedergekniet. Ich bewegte mit zit¬
ternden Händen den Kelch ſegnend über ihrem Haupte; dann
ſtand ſie auf und eilte mir raſch voran.


In einer ärmlichen, aber rein und ſorgſam gehaltenen
Stube kniete der Zeugwart am Krankenbette, eine breitſchul¬
terige alte Soldatengeſtalt mit dem Kanonenkreuze auf der
[45] Bruſt; ihm gegenüber der Knabe, das große Kindesauge
ängſtlich und verſchüchtert auf mich richtend. Ich ſegnete die
Anweſenden und trat dann zur Kranken, die, wie es ſchien,
bewußtlos, im heftigen Fieber lag. Sie bewegte unruhig
Kopf und Arme, und murmelte unverſtändliche Worte vor
ſich hin. Es fiel mir auf, daß man faſt gewaltſam eine Menge
Bettzeug auf ſie gehäuft hatte, was die verzehrende Fieber¬
gluth des Weibes nur noch ſteigern mußte. Auch waren die
Fenſter geſchloſſen und in der Stube lagerte die Luft ſchwül
und dunſtig. Ich wandte mich an den Zeugwart mit der
Frage, wann und unter welchen Umſtänden die Krankheit
ausgebrochen ſei, und ob man keinen Arzt zu Rathe gezogen?
Hierauf nahm aber gleich das Mädchen das Wort und ſagte
unter leiſem Schluchzen, daß die Mutter ſchon geſtern über
Mattigkeit und Kopfſchmerz geklagt und die Nacht ſehr un¬
ruhig zugebracht habe. Sie hätten einen Chirurgen holen
laſſen; dieſer habe ſchweißbringende Mittel und Verwahrung
vor Luftzug verordnet und ſchon für den nächſten Tag Beſſe¬
rung in Ausſicht geſtellt. Statt deſſen ſei jedoch die Mutter
von Stunde zu Stunde kränker geworden, und ſie hätten ſich
nicht zu rathen noch zu helfen gewußt.


Da ich in dem Zuſtande der Kranken typhöſe Erſchei¬
nungen erkannte, ſo machte ich Vater und Tochter auf das
Verkehrte dieſer Behandlungsweiſe aufmerkſam und erbot
mich, falls man mir Vertrauen ſchenkte, der Kranken Erleich¬
[46] terung zu verſchaffen. Zugleich verſprach ich, morgen mit
dem Früheſten aus der Stadt einen Arzt holen zu laſſen.
Ein Strahl freudiger Hoffnung flog bei meinen Worten über
das düſtere, gebräunte Antlitz des Alten und ſchimmerte um
ſo heller hinter den Thränen des Mädchens auf, als ich das
Verſehen mit den Sterbeſakramenten für unnöthig erklärte
und bat, mich nur als Arzt zu betrachten und alle meine An¬
ordnungen zu befolgen.


Das Mädchen faltete ſtill die Hände vor der Bruſt und
ſah mich fragend und erwartungsvoll an. Ich befahl für's
Erſte, die ſchweren, dicken Hüllen von dem Körper der Frau
zu entfernen, dann Thür und Fenſter zu öffnen, auf daß die
reine, friſche Nachtluft durch die Stube ſtreiche. Sie thaten
es ſchweigend und eilig; aber ein leiſer Zug ungläubiger
Aengſtlichkeit lag dabei in allen Geſichtern. Dieſe Anord¬
nungen waren ja ſo ganz jenen des Chirurgen entgegenge¬
ſetzt und die Menſchen ſind in Allem und Jedem zu ſehr an
langſame Uebergänge gewöhnt, als daß ſie zu einem plötzlichen
Wechſel unbedingtes Vertrauen faſſen ſollten.


Ich hatte inzwiſchen von dem Knaben ein Becken mit
friſchem Waſſer füllen laſſen. Dann begehrte ich Linnen,
tauchte es ein und legte es auf die brennende Stirn der
Kranken, die dabei, wie neubelebt, tief aufſeufzte. Hierauf
entfernte ich mich, um einiges aus meiner kleinen Handapo¬
theke herüberzuholen.


[47]

Als ich wieder in die Stube trat, hörte ich, wie eben der
Knabe ſagte: „Wie wohl der Mutter die kalten Umſchläge
thun! Der dumme Chirurg! Das hätte er auch wiſſen ſollen“.


„Siehſt du, Ludmilla“, ſagte jetzt der Zeugwart, „wie
gut es war, daß ich darauf beſtand, du ſollteſt den geiſtlichen
Herrn rufen.“


„Ach ja;“ erwiederte ſie indem ſie mich mit ihren großen
nußbraunen Augen tief anſah, „aber es that mir ſo weh,
daran zu glauben, daß es mit der Mutter ſchon ſo ſchlimm
ſtehe.“


Ich hatte kühlende Pflanzenſäfte mitgebracht und goß
davon in ein Glas Waſſer, das ich an den lechzenden Mund
der Kranken brachte. Kaum ſpürte dieſe das Naß an den
Lippen, als ſie es, obgleich noch immer bewußtlos, inſtinkt¬
mäßig mit gierigen Zügen einſchluckte.


Mittlerweile hatte der Zeugwart nach der Uhr geſehen,
zögernd ſeine Uniform zugeknöpft und den Säbel umgeſchnallt.
„Der Dienſt ruft mich,“ ſagte er, als ich ihm einen Blick
zuwarf. Ich muß die Nachtrunde um das Fort und die
Pulvermagazine machen. Es iſt mir noch nie ſo ſchwer ge¬
fallen wie heute.“


„Gehen Sie unbeſorgt“, erwiederte ich, „ich will ihre
Zurückkunft hier abwarten. Bis dahin ſoll ſich, wie ich hoffe,
Ihre Frau ſchon merklich beſſer befinden.“


Der alte Soldat beugte ſich über die Kranke und horchte
[48] auf ihren Athem. Dann zündete er das Licht einer Laterne
an und ging.


Wirklich wurde die Kranke von Minute zu Minute
ruhiger. Die Delirien hörten auf; das Bewegen und Zucken
der Arme wurde ſeltener, und die wüſte Bewußtloſigkeit ſchien
einem tiefen, wohlthätigen Schlummer zu weichen.


Ich hatte mich ihr zu Häupten geſetzt und hielt ihren
Puls leicht umfaßt. Ludmilla war hart am Bette niederge¬
kniet und ſchien mit aufgeſtützten Armen und gefalteten Hä¬
den zu einem Heiligenbilde an der Wand zu beten. Der
Knabe lag, von dem bleiernen Schlafe der frühen Jugend be¬
wältigt, mit überhangendem Haupte in einem alten Lehnſtuhl.
Still quoll die Nachtluft durch das geöffnete Fenſter herein
und ſpielte mit der gedämpften Flamme der Lampe, um welche,
vom trügeriſchen Schein in die Stube gelockt, ein ſchwerfäl¬
liger Falter in immer engeren Kreiſen ſchwirrte.


Da ward es mir, als neige ſich das Haupt des knieen¬
den Mädchens der Seite zu, wo ich ſaß. Und wie es jetzt
tiefer und tiefer ſank, löſten ſich langſam die gefalteten Hände,
die Arme fielen ſchlaff an den Hüften hinunter, und eh' ich
mich deſſen verſah, glitt der Oberleib der vom Schlafe Ueber¬
mannten ſanft in meinen Schooß herüber.


Eine nie gekannte Empfindung durchzuckte mich, als die
holde Laſt plötzlich auf meinen Knieen lag, All' mein Blut
ſchoß zum Herzen; ich fühlte, wie ich erblaßte. Was ſollte
[49] ich beginnen? Sollte ich ſie wecken? Und wenn ich es that,
mußte ſie nicht gewahren, daß ſie in meinem Schooße lag?
Ein tiefes Schaamgefühl überkam mich und trieb mir das
Blut, heiß zum Verſengen, in die Wangen zurück. Ich wagte
mich nicht zu rühren. Ich ſpürte, wie ſich die Bruſt der
Jungfrau im feſten Schlummer gleichmäßig hob und ſenkte,
und lauſchte auf ihre Athemzüge, die ſich mit den leiſen des
Knaben und den ſchnellen, ſtoßweiſen der Kranken vermiſch¬
ten. Mein Herz ſchlug hörbar; der Falter ſchwirrte noch immer
um's Licht; draußen zirpten die Grillen.


Plötzlich erloſch kniſternd die Lampe. Der Falter hatte
das Flämmchen, endlich hineinflatternd, erſtickt. Ludmilla
wachte im Schlafe eine Bewegung. Dabei berührte ihr war¬
mer Hauch meine Hand. Ein heißer Schauer durchrieſelte
mich, meine Pulſe flogen, und in der Verwirrung meiner
Sinne beugte ich mich nieder und mein Mund ſtreifte zitternd
das weiche, duftige Haar der Schläferin. Aber gleichzeitig,
wie von einer inneren Angſt getrieben, ſchob ich ſie ſanft von
mir und erhob mich.


Ludmilla erwachte und ſchien ſich lange nicht beſinnen
zu können, als ſie ſich am Boden und im Dunkeln befand.
Ich ſagte mit bebender Stimme, ſie möge die Lampe anzünden,
die eben erloſchen ſei. Sie that es ſchämig verwirrt und er¬
wiederte, indem ſie mit den Händen über das roſige Geſicht
fuhr: „Mein Gott, mir ſcheint, ich habe gar geſchlafen.“

Saar[50]

Ich ſchwieg und wechſelte den Umſchlag der Kranken.
Es that mir wohl, die fiebernden Hände in's Waſſer zu tau¬
chen; doch kühlte es nicht die Gluth, die mich noch immer
durchtobte.


Bald darauf trat der Zeugwart ein. Ich wies auf die
ruhig ſchlummernde Kranke und unterbrach erröthend die
ſchlichten Dankesworte des Mannes, indem ich mich mit dem
Bemerken verabſchiedete, daß für heute Nacht nichts mehr zu
befürchten ſei. Ludmilla hatte die Lampe ergriffen, um mir
hinaus zu leuchten. Ich winkte ihr zu bleiben, zog meine
Hand, die ſie ehrerbietig zum Kuſſe ergreifen wollte, zu¬
rück und eilte fort.


Draußen war eine herrliche Nacht. Die Sterne flim¬
merten und zuckten, und der Mond goß ſein feuchtes Licht
über die Erde. Ohne zu wiſſen, wie ich dahin gekommen,
ſtand ich plötzlich auf der Baſtei, deren Bruſtwehr meinen wahl¬
los ſtürmenden Schritten Einhalt that. Schwüle Fliederdüfte
umquollen mein Antlitz; in der Runde ſchmetterten die Nach¬
tigallen.


Horch! ferner Lärm, wie von verworrenen Stimmen, von
Scherzen und Gelächter. Ein Kahn kam den glitzernden
Strom herabgefahren, voll fröhlicher Menſchen, die gewiß bis
jetzt in Podol gezecht hatten und ſich in der ſtillen Mond¬
nacht auf der ſchaukelnden Fluth bis zur Prager Brücke ru¬
dern ließen.


[51]

Immer näher kam der Kahn; immer lauter ſcholl die
Luſtbarkeit der Menſchen, deren Geſtalten ich deutlich erkennen
konnte, wie ſie, Männer und Frauen, dichtgedrängt in dem
kleinen Fahrzeuge ſaßen und ſtanden.


Plötzlich verſtummte Plaudern und Lachen, und eine
weiche, ſchmelzende Tenorſtimme begann in die ſchimmernde
Nacht hinaus zu ſingen:


„Sei in Tönen, weich und linde,

Mir, o Frühlingsnacht, gegrüßt!

Glücklich, wer mit ſeinem Kinde,

Schlummerlos, dich ſtill verküßt!

Wie ein heimliches Gewittern

Geht's durch deine milde Pracht:

Es iſt rings der Herzen Zittern,

Hold bedrängt von Liebesmacht.“

Ein ſchneidendes Weh drängte ſich durch meine Seele
und athemlos, wie von einem Zauber berührt, lauſchte ich dem
Geſange.


„Es iſt rings der Herzen Zittern,

Hold bedrängt von Liebesmacht!“

ſcholl es, im lauten Chor wiederholt, herauf.


Jetzt glitt der Kahn gerade unterhalb des Forts vorüber
und mit kräftiger, raſch empor geſchnellter Stimme fuhr der
Sänger fort:


„Aber wecken alle Träumer,

Möcht' ich jetzt mit hellem Sang,

Treiben möcht' ich alle Säumer

Vor mir her mit Becherklang!
4*[52]
Denn mich wurmet das Genippe.

Wo ein Trunk nur kühlt und ſtillt,

Und mich wurmet jede Lippe,

Die nicht heißverlangend ſchwillt!“
„Und mich wurmet jede Lippe,

Die nicht heißverlangend ſchwillt'“

tönte es im Chor.


Ich beugte mich weit über die Bruſtwehr hinaus; denn
immer ferner und ſchwächer klang es:


„Und ſo wie der echte Zecher

Keinen Tropfen je vergißt,

So verſchmäh' ich raſcher Brecher

Keine Blüthe, die da ſprießt —“

ich hörte nur mehr die immer leiſer tönende Melodie des
Liedes; noch einmal den Chor fern aufrauſchen; dann war
alles ſtill.


Jetzt überkam mich eine tiefe, wilde Sehnſucht und drohte
mir die Bruſt zu zerſprengen. Es war mir, als wäre mein
Glück an mir vorübergezogen und rufe und winke durch die
Nacht nach mir zurück mit geheimnißvollen Stimmen und
leuchtenden Händen. In unſäglichem Drange breitete ich die
Arme in der Richtung aus, in welcher der Kahn meinen
Blicken entſchwunden war. Dann warf ich mich nieder auf
das feuchte Gras, und eine glühende Thräne rann aus meinem
Auge mit dem kühlen Thau des Himmels zuſammen.“


[53]

Er ſchwieg einen Augenblick, wie um eine innere Erre¬
gung auszittern zu laſſen und fuhr dann in etwas gedämpftem
Tone fort: „Am Horizont ſtand ſchon ein blaßgelber Streif,
als ich nach Hauſe zurückkehrte. Ich warf mich angekleidet
auf's Bett und verſank in einen kurzen, von wüſten Traum¬
bildern geängſtigten Schlummer. Beim Erwachen lag das
Daſein fremdartig vor mir, ein einziger großer Schmerz. Der
Arzt erſchien und ich ging zögernd mit ihm hinüber. Er er¬
klärte den Zuſtand der Kranken für keinen ſehr gefährlichen
und verordnete einiges, während ich mit bebender Seele abſeits
ſtand und den Blicken Ludmilla's auswich, die ſie, um die
Mutter beſchäftigt, voll innigen Dankes gegen mich aufſchlug.
Ich war froh, als ich mich mit dem Arzte wieder entfernen
konnte. Es litt mich aber nicht zu Hauſe, ſondern ich irrte
zeitvergeſſen in der Citadelle umher, warf mich hier und da
erſchöpft auf eine Schanze nieder und brütete vor mich hin.
In dieſer dumpfen, ruheloſen Unthätigkeit vergingen die näch¬
ſten Tage. Ein ſchleichendes, markverzehrendes Feuer war in
meinem Innern entglommen und lohte oft in ſo wilden, niege¬
kannten Wünſchen auf, daß ich vor mir ſelbſt erſchrack. In
meiner Seelenangſt ſchloß ich mich dann oft ſtundenlang in
der kühlen, dunklen Kirche ein, um durch reumüthiges Gebet
mein Inneres zu läutern und der ſchwülen Traumhaftigkeit
meiner Sinne Herr zu werden. Aber umſonſt: auf der Lippe
die das peccavi ſprach, zitterte die wonnige Berührung mit
[54] den blonden Haaren Ludmilla's nach, und wie geiſterhaft
fühlte ich mich von Sirenenklängen jenes Liedes umweht. Selbſt
an der Orgel, deren Töne mich ſonſt über alles Irdiſche hin¬
ausgehoben, fand ich keine Beruhigung, keinen Troſt. Ihr
feierlich-ernſtes, gleichmäßiges Rauſchen ſtimmte nicht zu dem
Zwieſpalte meiner Bruſt, der, das fühlte ich, nur auf einer
Geige in wildklagenden Accorden, grellen Läufen und ſchnei¬
denden Cadenzen hätte ausklingen können. Ein Opfer dieſes
Zwieſpaltes, nannte ich mich ſelbſt einen pflichtvergeſſenen
Prieſter, der mit unwürdiger Hand den Kelch erhebe, und
deſſen befleckte Lippe das Wort Gottes entheilige. Und dann
nahm ich mir vor, nie mehr die Schwelle des Zeugwartes
zu betreten, was ich doch ſchon der Kranken halber von Zeit zu
Zeit thun mußte, hätte mich auch nicht die Sehnſucht, Ludmilla zu
ſehen, hingetrieben. Gleich darauf aber beklagte ich mich wieder
als einen unglückſeligen Menſchen, der inmitten der holden
Freuden und Genüſſe dieſer Welt an einen düſteren Fels¬
block geſchmiedet ſei, und weinte heiße Thränen darüber, daß
ich das unauflösbare Gelübde abgelegt. — Faſt eine Woche
lang war es mir gelungen, die drängende Sehnſucht zurückzu¬
dämmen; länger aber ertrug ich's nicht. Ich umkreiſte, wie
damals der Falter die Lampe, immer enger das kleine Haus
und trat endlich hinein.


Ich fand die Kranke ſchon im Gärtchen. Man hatte ihr
den alten Lehnſtuhl unter einen breitäſtigen Apfelbaum getra¬
[55] gen, in deſſen Schatten ſie des herrlichen Nachmittags genoß.
Neben ihr auf einer in der Erde feſtgerammten Bank ſaß
Ludmilla. Dieſe ſprang, als ich eintrat, haſtig auf, wobei
ihrem Schooße ein buntes Chaos von Wieſenblumen entglitt.


Die Frau machte einen Verſuch, ſich zu erheben, ſank
aber alsbald wieder kraftlos in den Stuhl zurück. So be¬
gnügte ſie ſich, mir ihre welke, abgemagerte Hand entgegen zu
ſtrecken. „Wie ſchön, hochwürdiger Herr“, ſagte ſie, „daß
Sie heute herüberkommen, wo ich zum erſten Male wieder die
freie Gottesluft athme.“


„Es freuet mich, Sie ſchon ſo wohl zu ſehen‛“ erwiederte
ich mit gepreßter Stimme; denn ich bemerkte daß mich Lud¬
milla mit ängſtlicher Freude betrachtete.


„Gerade haben wir von Ihnen geſprochen, nicht wahr,
Mutter?“ ſagte ſie. „Wir fürchteten ſchon, Sie wären krank.
Sie ſahen, als ſie das letzte Mal bei uns waren, gar ſo
blaß und leidend aus.“


Ich fühlte, wie ich bei dieſen Worten noch bleicher wurde
als ich es vieleicht ſchon war.


„Und Sie waren auch gewiß krank,“ fuhr Ludmilla
fort, während ſie beſorgt die Hände faltete. „Man ſieht es
Ihnen an, daß Sie ſich ſelbſt jetzt noch nicht ganz wohl
fühlen“.


„Wahrlich“, bekräftigte die Mutter, „jetzt merk' ich es
[56] erſt, wie übel ſie ausſehen. Was fehlt Ihnen, geiſtlicher
Herr? Reden Sie, um Gotteswillen!“


Ich drohte umzuſinken. Bei dieſer ängſtlichen Muſterung
kam mir in den Sinn, wie verſtört ich ausſehen mußte; ich
empfand es deutlich, wie mir das Haar wirr um die Schläfen
hing, und meine Augen eine düſtere Fiebergluth ausſtrahlten.
Dennoch faßte ich mich und erwiederte, indem ich mich zu
lächeln zwang: „Mir fehlt nichts; ich fühle mich ganz wohl.“


„Wirklich? wirklich?“ forſchten die Frauen, „Sie wollen
es uns nur verheimlichen“, ſetzte Ludmilla hinzu.


„Warum ſollt ich das,“ ſagte ich, das Zittern meiner
Stimme gewaltſam unterdrückend. „Beruhigen Sie ſich, es iſt
nichts. Die Tage ſind jetzt nur ſo unerträglich ſchwül,“ ſetzte
ich hinzu, indem ich unwillkürlich meinen Empfindungen nach¬
gab und mit der Hand über die Stirn fuhr.


„So ſetzen Sie ſich doch hierher in den Schatten! rief
das Mädchen und zwang mich mit ſanfter Gewalt auf die
Bank nieder. „Prokop!“ rief ſie dann dem Knaben zu, der,
ohne mein Kommen bemerkt zu haben, weiter rückwärts im
Gärtchen herumſprang, „Prokop, ſiehſt du denn nicht, daß der
geiſtliche Herr da iſt?“ Alsbald kam der Kleine auf mich zuge¬
laufen. Froh, die Verwirrung meiner Seele hinter einem
Geſpräch mit dem Kinde verbergen zu können, ſtreichelte ich
ihm das erhitzte Geſicht und das lichtblonde, kurzgeſchnittene
Haar, während ich haſtig hintereinander eine Menge Fragen
[57] an ihn ſtellte, die er alle beſcheiden und aufgeweckt beant¬
wortete.


Ludmilla hatte inzwiſchen langſam die Blumen vom Boden
aufgeleſen und machte jetzt Miene, ſich neben mir auf der
Bank niederzulaſſen. Ich erhob mich unwillkürlich. „Wie
Sie wollen ſchon wieder fort?“ hieß es, „Ich muß“, ſtam¬
melte ich, obgleich es ſich wie unſichtbare Banden um mich
legte.


„O, nur einen Augenblick!“ bat Ludmilla, bis ich den
Strauß hier fertig habe. Sie können ſich ihn zu Hauſe in's
Waſſer ſtellen.“


Ich machte verwirrt eine ablehnende Geberde.


„Geh mit dieſen Blumen!“ ſagte die Mutter. „Da gibſt
Du dem geiſtlichen Herrn was Rechtes.“


„Alſo wollen Sie ſie nicht?“ fragte Ludmilla kleinlaut.
„Sie duften doch recht lieblich.“


Mir wollte das Herz darüber zerſpringen, daß ich ihr
weh gethan. „So war es nicht gemeint,“ ſagte ich. „Ich
liebe ja die Blumen, die draußen frei und ungepflegt ſprießen,
gar ſehr. Ich wollte nur nicht, daß Sie ſich meinetwegen mühten.“


„Mühten?“ fragte ſie. „Mein Gott, wie gerne thät ich's!
Aber was iſt es denn, einen Strauß zu binden.“ Und indem
ſie die Blumen auf die Bank legte, und raſch wieder eine
nach der andern aufnahm, fuhr ſie fort: „Die Schanzen ſehen
jetzt gar ſo ſchön aus. Alles ſteht bunt von Stern- und Glocken¬
[58] blumen, von Gelbveiglein und Hahnenfuß. Da pflück' ich nun,
ſo viel ich kann. Denn hier haben wir auch gar zu wenig
Raum, um Blumen zu halten. Mein Roſenbäumchen dort iſt
außer den Aepfeln und Bohnen das Einzige, was bei uns
blüht. Sie deutete darauf hin. Es war wirklich die alleinige
Zierde des Gärtchens, wo jedes Fleckchen Erde mit einem nütz¬
lichen Gewächſe bepflanzt war, und ſtand bis auf eine halb¬
aufgeblühte Roſe noch in Knospen.


Sie hatte den Strauß fertig und hielt ihn in der ge¬
bräunten, aber wohlgeformten Hand prüfend vor ſich hin. „Es
ſind doch gar zu unſcheinbare Blumen“, ſagte ſie nieder¬
geſchlagen, „ſie nehmen ſich im Raſen zerſtreut viel beſſer aus
als ſo. Aber warten Sie, ich will noch etwas hinzu thun!“
rief ſie, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, und eilte
auf das Bäumchen los. Dort pflückte ſie die Roſe und ſteckte
dieſelbe in die Mitte des Straußes, wo ſie, von weißzackigen
Sternblumen umgeben, gar lieblich ausſah. „So“, ſagte Lud¬
milla, indem ſie zurückkehrte und mir anmuthig den Strauß
überreichte. „Es war die Einzige. In ein paar Tagen aber
werden alle Knospen aufgegangen ſein, und dann ſollen ſie
die ſchönſten Roſen haben.“


Ich ſtammelte einige unzuſammenhängende Worte und
verabſchiedete mich; Ludmilla ging noch mit mir bis zu dem
Pförtchen im Zaune.


Draußen athmete ich tief auf. Ein ſchmerzlichſüßes Weh
[59] hatte mir drinnen das Herz zuſammengepreßt und eine dumpfe
Hitze in's Antlitz getrieben. Nun ſuchte ich Luft, Kühlung.
Aber die Sonne ſchien heiß auf meinen Scheitel nieder; kein
Blatt, kein Halm regte ſich. Unwillkürlich brachte ich den
Strauß, um mich zu erfriſchen, vor's Antlitz. Dadurch wurde
ich mir erſt des duftigen Geſchenkes bewußt und eine ſeltſame
Verwirrung und Beängſtigung überkam mich. Es war mir,
als hefteten ſich rings tauſend Augen auf mich und auf die
Blumen in meiner Hand. Und da fingen die Stengel zwiſchen
meinen Fingern zu glühen an und aus jedem Kelche ſchien
eine Flamme zu ſchlagen. Scheu blickte ich umher; es war
Niemand zu ſehen, außer einer Schildwache, die hoch oben auf
dem Wall, ohne mich zu beachten, träg auf und nieder ging.
Ich nahm den Strauß unter mein Scapulier und eilte zu mir
hinüber. Geräuſchlos, mit hochklopfendem Herzen, huſchte ich
über den Flur und die Treppe hinauf und ſchloß die Thüre
hinter mir ab. Hier im kühlen, einſamen Zimmer drückte ich
den Strauß an die Bruſt, an die Augen, an den Mund. Ich
gab ihm die zärtlichſten Schmeichelnamen, wühlte mit zitternden
Fingern darin und bedeckte die Stengel mit zahlloſen Küſſen.
Plötzlich aber zuckte wieder das ganze fürchterliche Bewußtſein
meiner Lage in mir auf; entſetzt ſchleuderte ich den Strauß
vor mich auf den Tiſch hin, ſchlug mir die Hände vor's Ge¬
ſicht und ſank laut ſtöhnend in einen Stuhl.


Ich weiß nicht, wie lange ich ſo, eine Beute der wider¬
[60] ſtreitendſten Gefühle, mochte dageſeſſen haben, als es an die
Thüre klopfte. Erſchreckt fuhr ich empor, warf ein Tuch über
den Strauß und öffnete.


Es war der Kirchendiener in Begleitung eines Mannes,
der einige Papiere in der Hand hatte. „Der Sakriſtan von
Sankt Carl wünſcht Euer Hochwürden im Auftrage ſeines
Herrn Pfarrers zu ſprechen“, ſagte der Kirchendiener. „Wir
haben morgen eine Leiche.“


„Eine Leiche?“ fragte ich mechaniſch.


„Eine vornehme Leiche“, bekräftigte der Kirchendiener mit
einem gewiſſen Behagen. „Die Tochter des reichen Gro߬
händlers Friedheim. Ich habe ſie gut gekannt; denn ſie kam
faſt jeden Sonntag in unſere Kirche herauf. Ein ſchönes
ſchlankes Fräulein mit blonden Haaren. Sie müſſen ſie ja
auch ſchon geſehen haben. Sie ſaß immer im erſten Betſtuhle
rechts, wo ich jedesmal für ſie und die alte Dame, die ſie be¬
gleitete, Plätze aufhob.“


„Ich entſinne mich nicht“, ſagte ich, ohne daß ich dabei
nur an etwas gedacht hätte, und wandte mich an den Sa¬
kriſtan mit der Frage, warum die Todte nicht bei Sankt
Carl, wohin ſie doch eigentlich zu gehören ſcheine, begraben
würde.


„Damit hat es ein eigenes Bewenden“, antwortete der
Mann. „Die ganze Stadt iſt voll davon. Das Fräulein
war mit einem jungen Rechtsgelehrten verlobt und die Trauung
[61] ſollte ſchon in der nächſten Zeit ſtattfinden. Wie es heißt,
hatte man ſich kein ungleicheres Paar denken können, als die
Beiden. Er — heiter, lebensluſtig, zuweilen ausgelaſſen, wenn
auch nicht mehr, als es jungen Leuten eben wohl anſteht. Sie
hingegen ſtill, nachdenklich, faſt ſchwermüthig. Dennoch ſollen
ſie ſterbensverliebt in einander geweſen ſein. Als das Fräu¬
lein zum letzten Mal die Kirche hier oben beſuchte, war auch
der Bräutigam mit. Nach der Meſſe kommt es ihr in den
Sinn, in den Friedhof hineinzugehen. Der Bräutigam will
anfangs nicht; endlich gibt er nach. Wie ſie ſo Arm in Arm
langſam zwiſchen den Hügeln und Kreuzen hingehen, ſagt ſie:
wie ſtill, wie ſchön es hier iſt! Wenn ich einmal ſterbe,
möcht' ich hier begraben ſein. Ei, erwiedert der Bräutigam
ſcherzend, bis dahin iſt hier kein Platz mehr. Siehſt du denn
nicht, wie jetzt ſchon die Gräber dicht aneinander gedrängt
ſind. Sie werden bald zu einem einzigen großen Blumen¬
hügel zuſammenwachſen. — Aber nach vierzehn Tagen war ſie
todt. Eine entzündliche Krankheit, die ſie ſich bei einem Aus¬
fluge geholt haben ſoll, raffte ſie ſo ſchnell dahin. Der junge
Rechtsgelehrte iſt aus Schmerz darüber faſt wahnſinnig. Nun
will man ſie, wie es ihr Wunſch war, hier oben begraben
laſſen.“ Er hatte mir bei dieſen letzten Worten die Papiere
überreicht und ſetzte hinzu, der Pfarrer von Sankt Carl ließe
mich bitten, ich möchte Alles Nöthige veranlaſſen und mich
morgen Nachmittags zur Begräbnißſtunde im Hauſe des Gro߬
[62] händlers einfinden. Er ſelbſt würde auch dort ſein, da die
Leiche vorher bei Sankt Carl eingeſegnet werden müſſe.


Als ich wieder allein war, legte ich die Hand auf die
Stirne. Es war mir, als erwache ich aus einem ſchweren
Traum. Wie Schatten löſte es ſich nach und nach von allen
Dingen im Zimmer, das mir ſchon ganz fremd geworden war.
Jeder Stuhl, jeder Schrank, jedes Buch auf den Geſtellen
ſchien mich vertraut anzulächeln, und über dem Tiſche dort am
Fenſter lag es wie ein Sonnenſtrahl aus früheren, glücklichen
Tagen.


Ich überlas aufmerkſam die Sterbedocumente und dachte,
während ich auf- und abſchritt, den Fall in ſeiner Beſonder¬
heit durch. Und je mehr mir die volle Bedeutung deſſelben
klar wurde, deſto leichter und freier fühlte ich mich, ich wußte
ſelbſt nicht warum. Ich bemühte mich jetzt, mich aus die Ver¬
ſtorbene zu beſinnen, mir nach den Andeutungen des Kirchen¬
dieners ein Bild von ihr zu entwerfen: aber ſeltſam, es floß
mir immer mit jenem Ludmilla's zuſammen. Ein leiſer Duft,
der ſich im Zimmer verbreitet hatte, mahnte mich endlich
wieder an den Strauß. Ich nahm das Tuch davon, füllte
ein Glas und ſtellte ihn hinein. Draußen lagerte eine dumpfe
Schwüle, die ſich ſtill zu ſchweren Wolken zuſammenballte.
Eine ſüße Müdigkeit überkam mich; ich hatte ſo viele Nächte
bloß im wüſten, entnervenden Halbſchlummer zugebracht. Nun
gab ich der Schläfrigkeit, die ſich wohlthuend auf meine Au¬
[63] genlider ſenkte, nach und ging zu Bette, während draußen die
Donner zu rollen anfingen und ein erquickender Regen über
die Erde niederging. —


Der folgende Tag ließ ſich recht unfreundlich an und
blieb es. Ich aber fühlte mich nach einem langen und tiefen
Schlafe wunderbar geſtärkt und ging in den Friedhof hinab,
wo ich dem Kirchendiener, der hier zugleich Todtengräber iſt,
zuſah, wie er für die Verſtorbene ein Grab aufwarf. Zur
beſtimmten Stunde fand ich mich in dem Hauſe des Gro߬
händlers ein. Dort wurde ich in einen ſchwarzausgeſchlagenen
Empfangsſaal geführt, wo bereits eine Menge von Leidtragen¬
den verſammelt war. In der Mitte des Saales, vom Scheine
leis flackernder Wachskerzen beleuchtet, lag die Todte in einem
offenen Sarge, weißgekleidet, den Brautkranz im Haar. Ein
junger Mann hatte ſich mit verſtörten Mienen über ſie ge¬
worfen und benetzte ihr bleiches Antlitz und ihre ſtarren Hände
mit heißen Thränen und Küſſen. Als man jetzt Anſtalten
traf, den Sarg zu ſchließen, wollte er dies durchaus nicht zu¬
geben. Er wehrte die Männer, die mit dem Deckel nahten,
ab und rief mit herzzerreißender Stimme: „Nein! Ich laſſe
ſie nicht forttragen! Ich laſſe ſie nicht in die kalte, finſtere
Erde verſenken!“ Umſonſt beſchworen ihn ſeine Angehörigen
und Freunde, ſich zu faſſen; umſonſt ſprach ihm der Pfarrer
von Sankt Carl, ein kleiner, wohlbeleibter Herr, in ſalbungs¬
vollen Worten Troſt zu: er wollte nichts hören und mußte
[64] endlich mit Gewalt von der Leiche entfernt werden. Während
dieſer erſchütternden Scene ſtand ich abſeits mit geſenktem
Haupte da. War es eine zufällige Aehnlichkeit, war es ein
Spiel meiner Phantaſie — ich glaubte Ludmilla dort im Sarge
zu ſehen. Das waren dieſelben fein geſchnittenen Züge, war
daſſelbe blonde, ſchlichtgeſcheitelte Haar, dieſelbe ſchlanke, zart¬
buſige Geſtalt; nur der entſtellende Hauch des Todes lag da¬
rüber und der fremdartige Prunk und Schimmer der koſtbaren
Sterbegewänder. Ich verſtand den Schmerz des Jünglings,
als wär' er mein eigener und doch war es wiederum nur eine
ſtille, ſüße Wehmuth, was mich durchzitterte.


Jetzt ertönten ſchaurig dumpf die Schläge des Hammers.
Die Träger hoben den Sarg und unter den Klängen eines
Chorals wurde die Leiche zur Einſegnung in die Carlskirche
gebracht. Von dort aus bewegte ſich der Zug, dem eine lange
Wagenreihe folgte, gegen den Wyſchehrad. Ein kalter Wind
jagte dabei graues, zerriſſenes Gewölk mit flüchtigen Regen¬
ſchauern am Himmel hin und her und löſchte faſt die qual¬
menden Leichenfackeln aus.


Endlich waren wir auf dem Friedhofe angelangt und die
nächſten Angehörigen traten laut ſchluchzend an den Rand des
Grabes. Nur der Bräutigam ſchien ſchon alle ſeine Thränen
verweint zu haben, denn er ſtarrte jetzt mit trockenem Auge
in die moderige Grube. Als man aber den Sarg hineinſenkte
da machte er eine Bewegung, als wollte er ſich mit den dumpf
[65] niederpolternden Schollen nachſtürzen, ſo daß ihn ein alter
Herr, augenſcheinlich ſein Vater, erſchreckt beim Arm faßte. Er
konnte ihn jedoch nicht daran verhindern, daß er ſich, als das
Grab geſchloſſen war, auf den friſchen Hügel niederwarf, wo
er ſich, ohne auf die Umſtehenden zu achten, ganz einem ſtum¬
men, verzweiflungsvollen Schmerze überließ. So verweilte er
lange. Allmälig entfernten ſich die Anweſenden, indem ſie ſich
noch öfter mit bedauernden Blicken nach ihm umwandten.
Nur ſein Vater und ein junger Mann blieben bei ihm zurück.


„Arthur“, ſagte endlich der Erſtere, „laß es jetzt genug
ſein. Bedenke, wie mir beim Anblick eines ſolchen, alles Maaß
überſchreitenden Schmerzes zu Muthe ſein muß. Ich bitte
dich, mein Kind, ſteh' auf!“


Der Jüngling hörte nicht, oder wollte nicht hören.


„Wahrlich, Arthur“, nahm jetzt der Andere das Wort,
indem er dem alten Herrn einen bedeutungsvollen Blick zu¬
warf, „wahrlich, ich hätte nicht gedacht, daß du ſo wenig See¬
lenſtärke beſäßeſt. Du ſchwelgſt in deinem Schmerze wie ein
nervöſes Weib. Ich kenne dich gar nicht mehr.“


Arthur ſchnellte mit halbem Leibe empor und ſah ihn mit
wilden Blicken an. „So ſprichſt du, Richard? Du, mein
Freund, von dem ich glaubte, er ſei der Einzige, der meinen
Verluſt in ſeiner ganzen Größe ermeſſen und mit empfinden
könnte!? Ich möchte dich an meiner Stelle ſehen! Aber
freilich“, fuhr er mit grellem Hohngelächter fort, „deine Eliſe
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 5[66] lebt ja noch! O pfui, über den Egoismus, über die Theil¬
nahmsloſigkeit der Welt!“ Und er warf ſich wieder auf's
Antlitz.


Betroffen über das Mißlingen ſeiner Liſt, ſchlug Richard
die Augen zu Boden.


„Ich bitte Sie, hochwürdiger Herr“, wandte ſich der Vater
an mich, „helfen Sie uns doch den Unſeligen tröſten, auf daß
er dieſen Ort verlaſſe, der ſeiner verzweiflungsvollen Stim¬
mung nur immer neue Nahrung gibt.“


Arthur erhob abwehrend die Hand. „Ich brauche keine
leeren Worte. Der geiſtliche Herr ſoll ſich keine Mühe geben.
Seine Vertröſtungen auf ein Wiederſehen im Jenſeits erinnern
mich nur daran, daß ich hier auf Erden Alles verloren und
daß mir nichts anderes übrig bleibt, als auf dieſem Grabe zu
ſterben!“


„Arthur, du verſündigſt dich!“ rief der alte Herr und
warf mir einen Blick zu, der für die Worte des Sohnes um
Entſchuldigung bat.


„Laſſen Sie ihn“, ſagte ich. „Ich fühle es ja nur zu
gut, daß ihm jeder Troſt leer und ungenügend erſcheinen
muß.“


Dieſe Worte, die mir aus der tiefſten Seele kamen, ſchien
der Jüngling nicht erwartet zu haben. Er hob das Haupt
empor und ſah mich lange und ſchweigend an. „Das ſagen
Sie“, ſprach er endlich, „Sie, der Sie nie geliebt?“

[67]

„Warum verneinen Sie dies ſo beſtimmt?“ erwiederte
ich mit bebender Stimme. „Ich bin ein Menſch wie Sie.
Aber“, fuhr ich fort, indem ich mir mit dieſen Worten gleich¬
ſam ſelber Muth zuſprach, „faſſen Sie ſich jetzt. Gedenken
Sie der Pflichten, die Ihnen das Leben noch auferlegt und es
wird Ihnen freier und leichter zu Muthe werden.“


„O nichts davon!“ entgegnete er haſtig. „Ich habe jetzt
keine Pflichten mehr. Und wenn auch, wie vermöcht' ich es,
ſie zu erfüllen! Die Thatkraft, die noch vor kurzem meine
Bruſt geſchwellt, iſt erloſchen, und der Flug meines Geiſtes
auf immer gelähmt.“


„Das ſcheint Ihnen jetzt ſo“, ſagte ich ruhig. „Ich bin
überzeugt, daß Alles, was an edlen Kräften in Ihrem Weſen
liegt, ſich über kurz oder lang wieder regen und ſich reiner
und herrlicher entfalten wird, als dies vielleicht bei dem Be¬
ſitze Ihrer Geliebten der Fall geweſen wäre. Denn“, ſetzte
ich hinzu und fühlte mich durch die Zuverſicht meiner Rede
ſelbſt wunderbar getröſtet und erhoben, „ein großer Schmerz
läutert, indem er die Seele zwingt, ihr Tiefſtes zu ſammeln.
Er reift in uns die Erkenntniß, daß nur jenes Glück, welches
wir ganz in uns ſelbſt finden, Dauer verſpricht und jedes
andere, ſo ſchön es auch ſei, vor einem Hauche in Nichts zer¬
ſtieben kann.“


Arthur blickte vor ſich hin. „Aus Ihnen ſpricht der Geiſt
der Entſagung“, erwiederte er endlich. „Es ward Ihnen ſchon
5*[68] von jeher nahegelegt, ſo zu denken und den Blick auf die Kehr¬
ſeiten aller irdiſchen Freuden zu richten. Wie hätten Sie
auch ſonſt ſtark genug ſein können, Ihr Gelübde zu tragen.“
Er bemerkte nicht, wie ich im Innerſten zuſammenzuckte und
fuhr fort: „Ich aber war ſtets ein Kind des Lebens. Ich
freute mich der Blüthen, ohne zu bedenken, wie raſch ſie welken
ſollen, und genoß in vollen Zügen die Gaben der Stunde,
ohne mich darum zu kümmern, was die nächſte mir rauben
könne. Und dann“, ſetzte er hinzu, indem er wieder haſtig
nach ſeinem Schmerze griff, „mich hatte, was auch finſtere
Asceten dawider ſagen mögen, ſchon die höchſte Erdenſeligkeit
verheißend geſtreift! O, Sie wiſſen nicht, was es iſt, eine
geliebte Braut an's Herz zu drücken!“ Er ſprang, von der
Erinnerung geſtachelt, auf. „Dieſen Boden, in dem ſie jetzt
modern ſoll, betrat ich noch vor kurzem an ihrer Seite. Wie
reizend erſchien ſie mir damals in ihrer milden Schönheit und
ſtill aufknospenden Lebensfülle! Wie weich lag ihr Arm in
dem meinen, wie lind ſchmiegte ſich ihr Haupt an meine Schul¬
ter, als ſie die verhängnißvollen, ahnungsreichen Worte ſprach!
— Sie werden vielleicht davon gehört haben?“


Ich bejahte es ſchweigend.


„Wie hätt' ich mir träumen laſſen, daß dieſe Worte ſich
ſo bald erfüllen würden!“ Und wild um ſich blickend, fragte
er plötzlich: „Von wo aus ſieht man hier auf die Moldau
hinab?“

[69]

„Gleich von jener Baſtei aus,“ erwiederte ich. „Aber
warum fragen Sie?“ fuhr ich fort, da ich bemerkte, daß der
alte Herr und Richard einander ängſtlich anſahen.


„Sie ſollen es erfahren. Kommen Sie!“ Und er ergriff
mich, da ich zögerte, beim Arme und eilte mit mir, während
die Andern uns auf dem Fuße folgten, nach der Baſtei. Dort
ſtützte er ſich mit beiden Händen auf die Bruſtwehr und ſah
ſchweigend hinab. „Wie trüb und ſchlammig heute der Fluß
vorüberzieht, als verſchmäh' er es, den grauen, unfreundlichen
Himmel zu ſpiegeln,“ ſagte er endlich tonlos. „Es iſt noch
nicht lange her, daß dort unten in einer duftigen Mondnacht
ein Kahn voll heiterer, lebensfroher Menſchen vorüber fuhr.
Mein Vater, mein Freund waren darunter — und ich und
meine Braut.“


„Wozu dieſes beſtändige Wühlen in deiner Wunde,“
fiel ihm der Vater in's Wort, während ich athemlos auf¬
horchte.


Arthur warf ihm einen beſchwichtigenden Blick zu und
fuhr fort: „Wir kehrten von Podol zurück, wo wir uns unter
Scherzen, anmuthigen Spielen und frohen Wechſelgeſängen bis
tief in die Nacht hinein aufgehalten hatten. Alles war vom
Geiſte der Laune und des Weines hold angeregt; ſelbſt meine
ſonſt ſo ſtille Friedrike war heiter, beinahe übermüthig. Als
wir in dieſe Nähe kamen und das alte Fort mit düſteren
Umriſſen ſtill im Mondlichte aufragen ſahen, rief Einer von
[70] der Geſellſchaft: laßt uns doch den alten Wyſchehrad mit
einem Lied begrüßen! Dieſer Vorſchlag fand lebhaften Anklang
und man drängte mich von allen Seiten, einen Geſang anzu¬
ſtimmen. Gut, erwiederte ich, wir wollen die Schläfer hinter
den Wällen wach ſingen. Und raſch mich beſinnend, hob ich
mit einem Lied an, deſſen Worte mir der Augenblick eingab,
und welche ich einer bekannten Melodie unterſchob.“


„Sie ſangen das Lied?“ fragte ich.


„Ja, ich;“ erwiederte er, mein Erſtaunen nicht in ſeiner
eigentlichen Bedeutung faſſend. „Jetzt iſt es mir, ich hätte
mich damit verſündigt. Es war ein echtes Lebenslied, begann
weich und ſchmelzend, ſchwoll aber raſch zum Ausdrucke des
froheſten Uebermuthes an. In welchem Vollgefühle des Glückes,
wie zukunftstrunken ſang ich es! Mir war, es müſſe durch
die Stille der Nacht über die ganze Erde erklingen und in
jeder Bruſt einen Wiederhall meiner Seligkeit wachrufen.“


„Ich habe Sie ſingen hören und den Kahn vorüberfahren
ſehen,“ ſagte ich.


Arthur ſah mich überraſcht an.


„Erinnerſt du dich nicht mehr,“ bemerkte Richard, „daß
uns Jemand auf eine dunkle Geſtalt aufmerkſam machte, die
er hinter dem äußerſten Mauervorſprung der Citadelle zu er¬
kennen glaubte. Vielleicht war es der geiſtliche Herr.“


„Ich war es,“ entgegnete ich. „Und vielleicht,“ fuhr
ich gegen Arthur fort, „kann es etwas zu Ihrem Troſte bei¬
[71] tragen, wenn ich Ihnen bekenne, daß mir damals Ihr Lied
ſehr weh gethan. Während Sie dort unten an der Seite Ihrer
Geliebten und von froher Geſellſchaft umringt, vorüberfuhren,
ſtand ich hier oben allein, einſam, die Bruſt voll namenloſer
Sehnſucht nach den Freuden, davon Sie ſangen, und die mir
verwehrt waren, ewig verwehrt bleiben müſſen. Wenn Sie
der Schmerz über Ihren Verluſt wieder mit ſeiner ganzen
Wucht befällt und Sie zu überwältigen droht, dann denken
Sie derer, die an den ſchönſten Verheißungen, an den holde¬
ſten Genüſſen dieſer Welt bebenden Herzens und mit dem
Entſagungsworte auf den Lippen vorübergehen müſſen.“ Ich
hatte bei dieſen Worten die Hand des Jünglings ergriffen, der
ſich willig und fügſam von mir fortführen ließ. Als wir an
dem Friedhofe vorbei kamen, wollte er nochmals hineingehen.
„Nicht doch,“ bat der alte Herr, der ſchon froh war, ſeinen
Sohn gefaßter zu ſehen, und ſtellte ſich ihm in den Weg.
„Nur noch den letzten Abſchied, Vater,“ ſagte Arthur, indem
er ihn ſanft bei Seite ſchob und durch das Gitter trat. Wir
Andern folgten. Er blickte eine Zeit lang mit geſenktem
Haupte ſchweigend auf den Hügel nieder, dann nahm er den
Arm ſeines Vaters und ging. Ich begleitete ſie noch bis an
ihren Wagen, der in der Nähe hielt. Beim Abſchiede ſagte
der Jüngling: „Leben Sie wohl, ich werde Sie und Ihre
Worte niemals vergeſſen.“ Die beiden Andern drückten mir
mit ſtummem Danke die Hand.


[72]

Ich ſah eine Weile dem fortrollenden Wagen nach; dann
kehrte ich langſam zurück. Eine geheimnißvolle Macht trieb
mich noch einmal in den Friedhof. Da ſtand ich nun allein
inmitten der Gräber. Wie ſtill war es um mich her! Nur
manchmal rauſchte ein kühler, feuchter Windſtoß in den Trauer¬
weiden und Cypreſſen und ſtrich mit leiſem Klingen durch die
metallenen Kreuze. Die Schauer der Vergänglichkeit quollen
und rieſelten durch die Luft und aus allen Hügeln ſchwieg
mich das große Räthſel des Todes an. Ein tiefes, wohl¬
thuendes Gefühl von der Nichtigkeit des Daſeins überkam mich
und eine hehre Freude zitterte in meiner Bruſt auf. „Ja,“
rief ich und breitete die Arme aus: „Zweifach wird die Welt
überwunden: entweder grauſam durch den Tod, der alles
Irdiſche des gleißenden Schimmers entkleidet und Moder und
Verweſung bloßlegt, oder ſchön und herrlich durch den Muth
der Entſagung, den Chriſtus gepredigt und auf Golgatha be¬
ſiegelt.“ Und immer freier, immer leichter wurde mir; wie
ſtückweis fiel es von mir ab, und gleich Flügeln fühlt' ich es
an den Schultern. Als ich mich ſpäter, einem innern Drange
folgend, an die Orgel ſetzte, da ſtimmten die rauſchenden,
langgezogenen Töne wieder ganz zu dem feierlichen Ernſte,
zu der tiefen Ruhe meiner Seele. —


„Und ſo,“ fuhr er fort, während ſich noch der Nach¬
glanz jener erhabenen Stunde in ſeinen Augen ſpiegelte, „ſo
lebte ich wieder, mit dem ſtärkenden Bewußtſein meiner Pflicht
[73] mein ſtilles Leben fort; mehr und mehr verblaßte und ver¬
flüchtigte in mir die Erinnerung an jene Nacht, und immer
ſeltener und ſchwächer zuckte mein Herz beim Anblicke des
Mädchens, deſſen blondes Haar ich einſt mit brennender Lippe
geſtreift.“


„Und welches nun ſchon lange eine glückliche Gattin und
Mutter iſt,“ ſagte ich leiſe.


„Ja,“ erwiederte er; „ich habe ſie getraut und ihre Kin¬
der getauft. Und da fällt mir ein, daß es gerade die Schrecken
des Krieges waren, was ihr Glück begründete oder doch be¬
ſchleunigte. Sie hatte ihr Herz einem jungen Soldaten ge¬
ſchenkt. Jedoch konnte, wie dies meiſtens unter ähnlichen
Umſtänden der Fall iſt, an eine Verbindung kaum gedacht wer¬
den. Beide waren arm, und der Geliebte hatte keine Ausſicht,
ſobald vom Militär loszukommen und ſich eine andere Lebens¬
ſtellung zu erwerben. Da geſchah es noch, daß er plötzlich
verſetzt wurde, und ſo brach nun auch über Ludmilla das Leid
des Lebens herein. Man ſah es, wie ſie ſich ſtill härmte und
die Tage ihrer ſchönſten Jugend in öder, hoffnungsloſer Sehn¬
ſucht verlebte. Ich hatte inzwiſchen angefangen, von meinen
geringen Ordensbezügen das Möglichſte zurückzulegen, um den
liebenden doch wenigſtens nach Jahren eine gewiſſe Summe
zur erſten Beſchaffung eines einfachen Hausweſens übergeben
zu können. Da kam das Jahr achtundvierzig mit ſeinen Re¬
volutionsſtürmen, und der Entfernte zeichnete ſich auf dem
[74] italieniſchen Schlachtfelde derart aus, daß er dekorirt und zu
einer Beförderung in Vorſchlag gebracht wurde. Da er aber
auch einige ſchwere Verwundungen erlitten hatte, die ihn, wie
ſich ſpäter erwies, zum activen Dienſte untauglich machten, ſo
willigte man um ſo eher in ſeine Bitte, ihn als Zeugwart
auf dem Wyſchehrad anzuſtellen, als der Vater Ludmilla's
mit zunehmenden Jahren zu kränkeln begonnen hatte. So be¬
durften die Beiden meiner Hilfe nicht mehr, und meine kleinen
Erſparniſſe kamen Prokop zu Gute, dem ſich damit unter
meiner Anleitung eine wiſſenſchaftliche Laufbahn erſchloß. Die
Alten lebten noch ein paar Jahre ſtill und zufrieden bei den
Neuvermählten; endlich ſtarb der Vater — und bald darauf
folgte die Mutter in's Grab.


„Und was iſt aus Arthur geworden?“ fragte ich.


„Errathen Sie es nicht?“ antwortete er lächelnd. „Er
iſt wieder im Beſitze einer vortrefflichen Gattin und einer gan¬
zen Reihe von allerliebſten Kindern. Und ſo bin nur ich,
weil ich es eben mußte, einſam geblieben und werde es ſein
bis an mein Ende.“ Er hatte bei dieſen Worten, in deren
ſtiller Heiterkeit ein leiſer, feiner Schmerzenston wunderbar
vibrirte, die Gläſer gefüllt. „Auf Ihr Glück!“ ſagte er und
trank. Dann legte er mir die Hand wie zum Segen auf's
Haupt: „Der Himmel ſchütze Sie vor den feindlichen Kugeln.“


Es war ſpät geworden und ich mußte fort. Er geleitete
mich zum Doppelthore der Citadelle, das mir der verſchlafene
[75] Wachegefreite aufſchloß. Wir umarmten uns und drückten ein¬
ander zum letzten Male die Hand. Dann riß ich mich los,
eilte durch die Halle und auf der Straße fort, die in einer
ſcharfen Krümmung die Höhe hinab und der Stadt zuführt.
Am Buge hielt ich an und blickte nach der Citadelle zurück.
Hoch oben auf der Plattform über dem Thore ſtand Innocens
und winkte noch einmal zum Abſchiede. Sein Antlitz ſchim¬
merte im Strahl des Mondes, der durch das leichte Gewölk
der Frühlingsnacht brach, wie verklärt.


[[76]][[77]]

Marianne.

[[78]][[79]]

Die folgenden Mittheilungen rühren von einem Poeten
her, welcher ſeinerzeit Einiges von ſich reden gemacht, nun¬
mehr aber, wie ſo mancher Andere, verſchollen und vergeſſen
iſt. Das Wenige, das er geſchrieben, mag noch hie und da
im Bücherſchranke eines Literaturfreundes oder in dem beſtäub¬
teſten Fache einer Leihbibliothek zu finden ſein, und der Zukunft
bleibt es anheim geſtellt, ob ſein Name noch einmal genannt
werden wird oder nicht.


Am 15. April ....


Oſtern iſt vorüber, theuerſter Fritz, und allmälig ſchließen
ſich die Salons der Reſidenz. Ach, wie oft hab' ich im Laufe
dieſes Winters Deiner und der ſtillen Univerſitätsſtadt gedacht,
wo Du mit einer kleinen Schaar begeiſterter Hörer ganz
Deiner Wiſſenſchaft lebteſt, während ich hier von Einladungen
und geſellſchaftlichen Verpflichtungen aller Art im Kreiſe herum¬
gejagt, zu keiner Ruhe und Sammlung des Geiſtes, zu keiner
[80] gleichmäßigen Thätigkeit gelangen konnte. Und dabei noch
das hohle äſthetiſche Gewäſch, die anſpruchsvolle Aufgeblaſen¬
heit der Mitſtrebenden und das drückende Gefühl, daß man
all' den Leuten, die Einem ihre ſchimmernden Prunkgemächer
öffnen, doch eigentlich nichts iſt — und auch nichts ſein kann!
Wenn ich ſo in ſpäter Nacht mißmuthig und abgeſpannt aus
irgend einer glänzenden Geſellſchaft in meine entlegene Vorſtadt
zurückkehrte, da fiel mir dieſer leidige Müßiggang ſtets ſchwer
auf's Herz, und mehr als einmal nahm ich mir vor, alle Be¬
ziehungen abzubrechen, in welche ich durch meine erſten
Erfolge ſo plötzlich hineingerathen war. Aber um dieſen Ent¬
ſchluß auszuführen, hätt' ich geradezu rückſichtslos ſein müſſen,
und da dies nicht in meinem Weſen liegt, ſo blieb mir nichts
übrig, als wohl oder übel bis an's Ende auszuharren. —
Doch nun will ich mit doppeltem Behagen wieder ganz mir
ſelbſt angehören und mich gleich einer Raupe in dem kleinen
Hauſe der guten Frau Heidrich einſpinnen, deren Sohn noch
immer als Ingenieur an der fernen Bahnſtrecke weilt, wohin
er ſich im vorigen Sommer mit ſeiner Gattin, der Tochter eines
hieſigen Kaufmannes, gleich nach der Hochzeit begeben hatte.
Alles um mich her ſieht mich wieder ſo bekannt und vertraut
an: die Bilder an den Wänden, die vergilbten Schiller- und
Göthe-Büſten, das alle treue Tintenfaß auf dem Schreibtiſche
— und es weht durch meine Stube wie ein Hauch aus jenen
Tagen, wo ich noch in ſeliger Verborgenheit über meinen
[81] Arbeiten ſaß. So hell und freundlich wie damals iſt es nun
allerdings bei mir nicht mehr. Denn man hat meinen Fen¬
ſtern gegenüber, an der Stelle des Holzplatzes mit den präch¬
tigen Nußbäumen, ein hohes palaſtähnliches Gebäude aufge¬
führt, das mir Luft und Sonne nimmt; wie denn überhaupt
die weitläufige Gaſſe, in der es, wie Du weißt, vor einigen
Jahren noch ganz ländlich ausſah, mehr und mehr durch gro߬
ſtädtiſche Wohnkaſernen verengt und verdüſtert wird. Doch
dafür entſchädigt mich ja unſer Hausgarten, welcher bis jetzt
— dem Himmel ſei Dank! — der allgemeinen Bauwuth ent¬
gangen iſt. Ich habe dort ſtets meine glücklichſten Schaffens¬
ſtunden gehabt, und ſchon beginnt der Lenz in dem kleinen
Stückchen Natur ſeine erſten Reize zu entfalten. In hellem
Grün ſchimmert der Raſen; das Aprikoſenſpalier iſt mit
weißen Blüthen bedeckt — ſelbſt der alte Apfelbaum, auf
deſſen Stamm ich heute einen goldbraunen Schmetterling ſitzen
ſah, treibt breite Knoſpen. Den Dir wohlbekannten verwit¬
terten Pavillon mit dem ſchmalen Rohrſopha und den gebrech¬
lichen Stühlen will ich auch diesmal wieder in Beſchlag nehmen,
und ſo hoff' ich bald alles Verſäumte nachholen und ſo man¬
chem mißgünſtigen Zweifler und Kopfſchüttler erweiſen zu
können, daß ich mein Tiefſtes und Beſtes noch lange nicht
gebracht!


Saar, Novellen aus Oeſterreich. 6[82]

Anfang Mai.


Nun bin ich wieder ſo recht in meinem Elemente! Rings
um mich her blühen Flieder und Goldregen, und faſt kein
Laut menſchlicher Nähe dringt in den Garten, der friſch und
duftig gleich einer weltvergeſſenen Oaſe zwiſchen ſtauberfüllten
Gaſſen und Gäßchen mitten inne liegt. Einige Baumwipfel
ſind während der letzten Jahre ſo mächtig geworden, daß ſie
den Horizont an vielen Stellen ganz abſchließen; nur die
allernächſten Dächer kommen hie und da zum Vorſchein, und
wie meilenweit entfernt ragt die Thurmſpitze des Stephans¬
domes in den blauen Himmel hinein. Zuweilen tönt das
dumpfe Rollen eines Wagens an mein Ohr, der helle Ruf
einer Kinderſtimme — dann wieder ſtundenlang nichts, als
das Summen wühlender Bienen und das Gezwitſcher der
Sperlinge, auf welche die Hauskatze in ihrer verſteckten Weiſe
Jagd macht. Wie wohl thut mir dieſe Ruhe, dieſe Ab¬
geſchiedenheit!


Einem Traume gleich verdämmert in mir die Er¬
innerung an all' die ungewohnten Zerſtreuungen und
Feſtlichkeiten, und ſchaffensfroh, in holder Gleichmäßig¬
keit fließen meine Tage dahin. Das unſelige Werk, das
mir ſchon ſo viele fruchtloſe Mühe, ſo viele herbe Qualen
und Zweifel bereitet, wächſt allmälig ſeiner Vollendung ent¬
[83] gegen; alte, längſt aufgegebene Entwürfe treten wieder mit
friſchem Reiz an mich heran und neue Ideen leuchten in mir
auf. Was brauch' ich mehr, um glücklich zu ſein?! Nur Du
fehlſt mir, Theuerſter, und ich möchte, wie einſt, die Abend¬
ſtunden mit Dir in der traulichen Weinlaube verplaudern
können. Statt deſſen unternehme ich nun hin und wieder nach
gethaner Arbeit einen einſamen Spaziergang; zumeiſt vor den
nahen Linienwall hinaus, wo die ſchweigenden Friedhöfe liegen
und das Arſenal in ernſter, düſterer Pracht aufragt. Dort
ſchreit' ich hinan zu dem alten Wahrzeichen, zur „Spinnerin
am Kreuz“, laſſe die Blicke über die weithin ausgedehnte
Stadt bis zu den grünen Höhen an der Donau ſchweifen;
ſehe die Sonne verſinken und vom Bahnhof aus lange Züge
dem ſchönen Süden zubrauſen. Wenn ich dann in der Däm¬
merung heimkehre und wieder die menſchenvollen Gaſſen be¬
trete; wenn ich die Kinder gewahre, die vor den Thüren
ſpielen oder mit ängſtlicher Vorſicht das Abendbrod aus den
nächſten Schenken und Kramläden nach Hauſe tragen, und
vorüberkomme an den dicht belagerten Brunnen, wo Burſche
und Mägde mit einander ſchäckern, während die Arbeiter aus
den Fabriken ſtrömen, Taglöhner mit Geſang den Bau ver¬
laſſen und von Zeit zu Zeit eine ſtolze Caroſſe mit geputzten
Herren und Frauen durch das abendliche Gewühl rollt: da
durchſchauert es mich wunderſam. Ich fühle mich mit Allem,
was da lebt und athmet, ſo innig verwachſen und Eins —
6*[84] und doch wieder ſo erdenfremd, ſo emporgehoben über das
Treiben und Trachten, über die Sorgen und Hoffnungen, über
die Leiden und Freuden dieſer Welt!


Ende Mai.


„Wer ſich der Einſamkeit ergiebt, iſt bald allein,“ ſingt
Göthe's Harfner. In gewiſſem Sinne iſt es wahr; aber
eigentlich hab' ich mein Leben lang gerade das Gegentheil er¬
fahren. Denn ſo oft ich jeden Verkehr abgebrochen hatte und
mich durch die Umſtände wohl verſchanzt und geborgen glaubte,
traten auch bald wieder Ereigniſſe ein, die mich, entweder
raſch und gewaltſam, oder leiſe und unmerklich zur Geſellig¬
keit zurückführten. So iſt auch jetzt mein ſtill vergnügtes
Daſein nicht mehr ganz ſo einſam und abgeſchieden, wie ich
es mir für dieſen Sommer erwarten durfte. Der Sohn des
Hauſes iſt nämlich mit ſeiner Frau, die eben erſt Mutter ge¬
worden, und dem ſechsjährigen Töchterchen eines verſtorbenen
Amtscollegen hier eingetroffen. Er hat ſeine Aufgabe an der
Strecke gelöſ't und wird nun wieder im Bureau verwendet.
Da ging es ſogleich lebhaft und geräuſchvoll in meiner Nähe
zu. Kiſten und Kaſten waren abgeladen worden; man brachte
a llerlei Möbel und Geräthſchaften zum Lüften und Scheuern
[85] in den Hof, und in den Garten kam die Kleine gelaufen, wo
ſie alsbald daran ging, den letzten Fliederſchmuck zu verwüſten.
Ich räumte ihr das Feld und begab mich hinauf in meine
Stube. Und je länger ich dort alle muthmaßlichen Folgen
dieſes Zwiſchenfalles erwog, deſto gewiſſer ſchien es mir, daß
nun meine ungeſtörten Tage gezählt ſeien. Aber meine Phan¬
taſie hatte wieder einmal zu ſchwarz geſehen. Denn ſobald
Alles unter Dach und Fach gebracht war, kehrte auch die frü¬
here Ruhe in's Haus zurück und man bemerkt jetzt kaum, daß
es einen Zuwachs an Bewohnern erhalten. Heidrich, deſſen
heiteres, offenes Weſen Dir noch in guter Erinnerung ſein
wird, geht ſchon des Morgens ſeinen Berufsgeſchäften nach,
und Frau Louiſe, eine hochgewachſene ſchmächtige Brünette,
wird ganz von der Wartung und Pflege ihres Knäbleins in
Anſpruch genommen, das ſeit ſeiner Geburt hoffnungslos dahin
kränkelt. Zuweilen bringt ſie den armen Wurm auf eine
Stunde in den Garten herab, damit er etwas Luft und Son¬
nenſchein genieße. Dann iſt es gar rührend mit anzuſehen,
wie die junge Mutter ſeinen Schlaf überwacht und ihm, wenn
er die Augen aufſchlägt, ein Zweiglein oder eine Blume ent¬
gegenhält, damit er nur ein wenig lächle und mit den abge¬
zehrten Händchen danach lange. Auch die kleine Erni, welche
im Hauſe erzogen wird, ſtört mich nicht. Sie beſucht eine
nahe Schule, und da ich die Kinder ſeit jeher geliebt, ſo mag
ich es gerne leiden, daß das muntere pausbäckige Geſchöpfchen
[86] in den Erholungsſtunden um mich herumſpringt und zutrau¬
lich in meinen Büchern und Schriften kramt. Des Abends
pflegt ſich die ganze Familie unter dem Vorſitze der alten Frau,
welche früher nur ſelten das Zimmer verlaſſen hatte, in der
Weinlaube zum Vesperbrode zu verſammeln. Manchmal ge¬
ſelle auch ich mich dem kleinen Kreiſe und erfreue mich am
Anblick eines Glückes, das ich ſo oft für mich ſelbſt erſehnt.
Unlängſt erſchien auch eine jüngere Schweſter der Frau Louiſe;
ein hübſches, ſchlankes, kaum den Kinderſchuhen entwachſenes
Mädchen. Ein ſtattlicher Jüngling, begleitete ſie; er ſoll be¬
reits ihr Verlobter und der Sohn eines wohlhabenden Fabrikherrn
aus der Umgegend ſein. Eine andere Schweſter iſt, wie ich höre,
in der Provinz verheirathet. — Und ſo bin ich, ſiehſt Du,
wieder ſchlichten Menſchen nahegerückt worden, wie ſie mich
ſtets am meiſten angezogen und bei denen mir das Herz auf¬
geht, während ich der literariſchen ſowohl, als auch der vor¬
nehmen Welt gegenüber, eine gewiſſe Scheu niemals habe los
werden können.


Am 18. Juni.


Ich wollte, Du könnteſt jetzt den Garten ſehen! Die
beiden alten Roſenbüſche am Eingang, die in den letzten Jah¬
ren nicht mehr hatten treiben wollen, ſcheinen plötzlich wieder
[87] jung geworden zu ſein: denn ſie ſtehen über und über in
Blüthen und Knoſpen und ſenden, von einem Heer goldgrüner
Käfer umſchwärmt, ganze Wolken von Wohlgeruch in die heiße
zitternde Luft. In den Beeten blüht es gelb, blau und roth;
Lilien haben ihre weißen Kelche erſchloſſen, und dabei blitzt
und funkelt der goldene Sonnenſchein mit den wunderbarſten
Lichtern und Reflexen auf dem Raſen und in dem üppigen
Grün der Wipfel, daß Einem vor ſeliger Sommerfreude das
Herz im Leibe lacht. Was aber dem Allem den letzten, ab¬
ſchließenden Zauber verleiht: das iſt ein holdes Weſen, das
nun, halb Frau, halb Jungfrau, faſt täglich im Garten er¬
ſcheint und ſich inmitten des traumhaften Blühens und Leuch¬
tens wie eine Märchengeſtalt ausnimmt. Du lächelſt, Lieber?
Ach, lies nur weiter und ſieh, welch' ein ſeltſamer Zuſtand
die Seele Deines Freundes überkommen hat. —


Pfingſten, das Weihefeſt des Sommers, war herangerückt.
Tags zuvor hatte ich mich nach Tiſch länger als ſonſt in mei¬
ner Stube verweilt; um es nur zu geſtehen: ich war über
dem Werke eines neu aufgetauchten Poeten ein wenig einge¬
dämmert. Als ich ſpäter hinabging und den Hof durchſchritt,
klang mir aus dem Garten eine fremde weibliche Stimme ent¬
gegen. Behutſam näherte ich mich dem Gitter und blickte durch
das dichte Laubwerk hinein. Welch' ein lieblicher Anblick bot
ſich mir dar! Auf dem mittleren Raſenplatze, unter dem alten
Apfelbaume, ſtand ein ſchlankes jugendliches Frauenbild und wiegte
[88] das Knäblein der Gattin Heidrichs, welche mit Erni auf einer
nahen Bank ſaß, in den Armen. Der Sonnenſtrahl, der
durch die Zweige brach, umſchimmerte ihr dunkelblondes Haar
und ihr roſiges Antlitz, das ſie mit ſchalkhafter Zärtlichkeit zu
dem blaſſen, verfallenen Geſichtchen des Kleinen hinabneigte.
Sie gab ihm die wunderlichſten Schmeichelnamen, küßte ihn,
und fing endlich, indem ſie ihn mit reizender Geberde gegen
die Bruſt drückte, ein leichtes Getänzel an, wobei zwei ſchmale,
längliche Füßchen unter dem Saume ihres hellfarbigen Kleides
zum Vorſchein kamen. Plötzlich blieb ſie wie angewurzelt
ſtehen und eine dunkle Röthe ſchoß ihr in's Geſicht. Sie
mußte offenbar den Späher bemerkt haben, und ſchon im näch¬
ſten Augenblick war ſie auf Frau Louiſe zugeeilt und hatte
ihr das Kind in den Schooß gelegt. Nun überkam mich eine
ſonderbare Verlegenheit; ich wußte nicht, ob ich mich zurückziehen,
ob ich eintreten ſollte. Endlich entſchloß ich mich zu letzterem
und ging raſch, wie um etwas zu holen, an den Frauen vor¬
über. Als ich mich gleich darauf mit einem Buche unter dem
Arme wieder entfernen wollte, hielt mich Frau Louiſe mit den
Worten an: „Wohin ſo eilig? Bleiben Sie doch ein wenig
bei uns.“ Und mit einer Handbewegung fügte ſie hinzu:
„Herr A. — meine Schweſter Marianne.“ Dieſe aber, nach¬
dem ſie ſich, noch immer flammend und verwirrt, ohne mich
anzuſehen, leicht verneigt hatte, langte ein rundes Hütlein
herab, das an einem Baumzweige hing, ſtülpte es auf den
[89] Kopf und zog die Handſchuhe an. „Wie, Du willſt ſchon
wieder fort?“ fragte Frau Louiſe erſtaunt. „Ja, mein Mann
erwartet mich —“ und ſchon hatte das anmuthige Geſchöpf
den Sonnenſchirm ergriffen und die Schweſter und die Kinder
zum Abſchied geküßt. „Alſo morgen, wie verabredet,“ rief
noch Frau Louiſe, während die Andere mit einem haſtigen
Zeichen des Einverſtändniſſes aus dem Garten eilte. Ich ſah
ihr nach wie im Traum. Frau Louiſe aber wandte ſich
lächelnd zu mir und ſagte: „Wie Sie meine Schweſter er¬
ſchreckt haben! Seltſam, ſie war doch ſonſt nicht ſo menſchen¬
ſcheu. Sollte ſie es in der Provinz geworden ſein?“


„Das iſt alſo die Schweſter, von der Sie mir ſagten,
daß ſie in der Provinz verheirathet ſei?“ fragte ich, noch immer
ganz verloren.


„Allerdings, dieſelbe. Ihr Mann will ſich jetzt, einer
induſtriellen Unternehmung wegen, hier anſäßig machen. Sie
ſind geſtern eingetroffen und im Gaſthof abgeſtiegen; ſpäter
werden ſie in unſerer Nähe eine Wohnung beziehen.“


„Und wie lange iſt Ihre Schweſter ſchon verheirathet?“


„Seit fünf Jahren. Aber ſie ſieht noch immer ſo jugend¬
lich und mädchenhaft aus, wie an dem Tage, wo ſie mit
Kranz und Schleier an den Altar trat. Wer würde denken,
daß ſie älter iſt als ich? Freilich hat ſie keine Kinder;“
und dabei ſah Frau Louiſe mit leichtem Erröthen auf das Knäblein
nieder, das inzwiſchen in ihrem Schooße eingeſchlummert war.


[90]

Ich erwiederte nichts und ſpielte ſinnend mit den krauſen
Locken Erni's, die ſich an mich geſchmiegt hatte.


„Wir haben uns beide, wie jetzt Emilie, raſch zur Ehe
entſchloſſen,“ fuhr Frau Louiſe fort; „denn wir bekamen eine
Stiefmutter in's Haus, die uns Mädchen das Leben recht
ſauer machte. Namentlich hatte Marianne viel von ihr zu
leiden, weil ſie durch ihr liebenswürdiges Weſen alle Herzen
anzog. Sie glauben gar nicht, wie heiter, wie erluſtigend ſie
ſein kann! Ich bin glücklich, ſie wieder hier zu haben, und
wir beabſichtigen, uns gleich morgen zur Feier ihrer Ankunft
einen fröhlichen Pfingſtſonntag zu machen. Wir wollen im
Garten zu Mittag eſſen und uns dann vergnügen, wie wir
können und mögen. Emilie und ihr Verlobter nehmen auch
Theil; wenn es Ihnen angenehm iſt, unſer Gaſt zu ſein, ſo
werden Sie uns Alle ſehr erfreuen und — wie ich hoffe —
meine Schweſter nicht mehr ſo verlegen und zurückhaltend
finden.“


Ich war immer nachdenklicher geworden und ein dumpfer
Schmerz hatte ſich um mein Herz gelegt. Aber bei dem Ge¬
danken, die junge Frau morgen wieder zu ſehen, drängte ſich
ein ſtiller Jubel durch die Beklommenheit meines Inneren.
Ich nahm die Einladung freudig an und verbrachte den Reſt
des Tages voll ſüßer Unruhe, die mich auch des Nachts in
halbwachen Träumen verfolgte, ſo daß ich erſt gegen Morgen
feſt einſchlief. Als ich erwachte und an's Fenſter trat, ſtand
[91] die Sonne ſchon hoch. Es war ein prachtvoller Pfingſttag.
Hell und blau ſpannte ſich der Himmel über den funkelnden
Dächern aus und luſtig zwitſchernd ſchoſſen die Schwalben
hin und her. In den Gaſſen herrſchte feierliche Stille; hier
und dort traten ſchmuck gekleidete Frauen und Mädchen mit
Gebetbüchern in der Hand aus den Häuſern, während wohl
ein großer Theil der Bevölkerung ſchon mit dem Früheſten
das Weichbild der Reſidenz hinter ſich gelaſſen und die grünen
Fluren und Höhen, die rauſchenden Wälder der Umgegend
aufgeſucht hatte. Auch ich nahm Hut und Stock und verließ
das Haus. Die Aquarelle und Zeichnungen Genelli's waren
eben zur öffentlichen Ausſtellung gelangt; ihnen wollt' ich den
langen Vormittag widmen. Aber die Geſtalten und Intentio¬
nen des genialen Künſtlers, welcher ſo eigenthümlich nach
Schönheit gerungen hatte, waren nicht im Stande, meinen
Geiſt zu feſſeln. Das Bild Mariannens ſtieg beſtändig vor
mir auf und verknüpfte ſich mit einer unſicheren Vorſtellung
von ihrem Gatten, welchen kennen zu lernen ich eine geheime
Scheu trug. So verließ ich, zerſtreut, wie ich gekommen, das
Ausſtellungsgebäude und ſchritt, da es noch immer nicht Mit¬
tag war, eine Zeit lang in der Ringſtraße auf und nieder.
Ich hatte die Stadt ſchon lange nicht mehr betreten, und
fremd und kalt mutheten mich die ſtolzen Palaſtreihen an;
fremd und kalt wie die Menſchen, die heute ſtiller und weni¬
ger zahlreich als ſonſt an mir vorüber kamen.


[92]

Als ich endlich wieder nach Hauſe zurückgekehrt war, fand
ich die kleine Geſellſchaft bereits im Garten verſammelt. Erni
ſprang mir ſogleich entgegen und ich näherte mich grüßend
der Mutter Heidrichs, welche unter den blühenden Alazien an
der Feuermauer des Nachbarhauſes ſaß, während die beiden
jungen Frauen in einiger Entfernung den Tiſch deckten. Frau
Louiſe lächelte mir freundlich zu; Marianne aber fuhr, ohne
aufzublicken, in ihrer Beſchäftigung fort. Nun trat das Lie¬
bespaar Hand in Hand aus der Laube und auch Heidrich
kam mit ſeinem Schwager heran, den er Dorner nannte. Es
war ein großer, hagerer Mann in den erſten Dreißigen mit regel¬
mäßigen, aber harten Geſichtszügen, bei deren Anblick ich eine
wohlthuende Erleichterung empfand. Ich wechſelte mit ihm
einige Worte und dann irrte mein Blick unwillkürlich nach
ſeiner Frau, die ſich jetzt, halb von uns abgewandt, mit einem
großen Blumenſtrauße zu ſchaffen machte, der für die Tafel
beſtimmt ſchien. Sie trug diesmal ein weißes, bis an den Hals
hinauf geſchloſſenes Kleid, das die jungfräuliche Zartheit ihrer
Formen reizvoll hervortreten ließ. Ein breites, hellgrünes
Seidenband umgürtete, nach rückwärts geknüpft, ihren ſchlanken
Leib; ein ſchmäleres von gleicher Farbe hielt die Fülle des
Haares zuſammen, das ihr, tief in die kleine Stirne hinein
geſcheitelt, amnuthig Haupt und Nacken umquoll. Als wir
zu Tiſch gingen, ſollte ich neben ihr meinen Platz erhalten;
aber Erni verlangte durchaus bei Tante Marianne zu ſitzen,
[93] und da ſich Heidrich bereits dieſer zur Linken niedergelaſſen
hatte, ſo kam ich dem Wunſche des Kindes entgegen, indem
ich mich raſch auf die andere Seite neben Frau Louiſe begab.
Nun hatte ich ſie mir gegenüber und ihr Antlitz vor Augen,
in welchen mir erſt jetzt die Aehnlichkeit mit dem ihrer Schwe¬
ſter Emilie auffiel. Aber die Züge dieſes jungen Mädchens
erſchienen in unangenehmer Deutlichkeit neben jenen Marian¬
nens, welche von einem weichen, vermittelnden Schmelz über¬
haucht waren, wie er die Frauenköpfe Greuze's kennzeichnet,
hier jedoch von einer faſt kindlichen Friſche des Colorits durch¬
leuchtet wurde. Ihr Blick wich dem meinen aus; ſchweigend,
aber mit inniger Sorgfalt legte ſie der Kleinen an ihrer Seite
von den Speiſen vor und lächelte, während ſie ſelbſt zierlich
und flüchtig aß, ſtill zu den heiteren Bemerkungen, welche ihr
Nachbar zur linken aufmunternd an ſie richtete. Nach und
nach wurde ſie geſprächiger, wozu wohl der feurige Ungarwein,
der in kleinen Gläſern gereicht worden war und von dem ſie
mehrmals genippt hatte, mochte beigetragen haben. Eine ſüße
Selbſtvergeſſenheit ſchien ſie allmälig zu überkommen; ihre
großen dunklen Augen begannen zu funkeln und mit heller
Stimme und fröhlichem Lachen erwiederte ſie die Scherze Heid¬
richs, deſſen Munterkeit ebenfalls mehr und mehr zunahm.
Und als der junge Mann nach beendeter Mahlzeit ſich plötz¬
lich erhob und ein gemeinſames Spiel vorſchlug, da ſprang
auch ſie auf und blickte, indem ſie zuſtimmend in die Hände
[94] klatſchte, erwartungsvoll vor ſich hin. Die Andern, ſelbſt die
alte Frau, folgten ihrem Beiſpiele; nur Dorner, der über
Tiſch ein faſt verletzendes Schweigen beobachtet hatte, blieb
ſitzen. „Ich bin kein Freund von ſolchen Dingen“, ſagte er
und blies den Rauch ſeiner Cigarre in die Luft. „Ich will
den Zuſchauer machen.“ Indeſſen war ſchon allerlei
in Vorſchlag gebracht worden; allein die erregte Geſellſchaft
fand nichts lebhaft, nichts erluſtigend genug. Endlich nannte
Jemand „blinde Kuh“, und unter allſeitigem Beifall entſchloß
man ſich raſch zu dieſem tollen Spiele. Ein Tuch wurde gebracht;
man verband den Verlobten Emilien's, als dem Erſten, den
das Loos getroffen, die Augen und das gegenſeitige Fliehen
und Haſchen begann. Mir war dabei ganz eigenthümlich zu
Muthe; Erinnerungen aus längſtvergangenen Zeiten tauchten
in mir auf, und während ich mich im Ganzen mehr betrachtend,
als theilnehmend verhielt, erfreute ich mich an den Bewegun¬
gen der jugendlichen Geſtalten, an dem Jubel des Kindes und
der erzwungenen Rührigkeit der Matrone. Ueberaus lieblich
aber war Marianne anzuſehen, wie ſie in ihrem weißen Ge¬
wande mit glühenden Wangen umherflatterte und die Geblen¬
deten mit holder Ausgelaſſenheit neckte, bis ſie endlich ſelbſt
gefangen wurde. Nachdem man ihr die Binde um die Augen
gelegt hatte, blieb ſie noch eine Weile, tief aufathmend, mit
ausgebreiteten Armen ſtehen; dann aber ſchoß ſie pfeilſchnell
gleich einer Libelle im Zick-Zack bald hiehin, bald dorthin.
[95] Bei dieſen anmuthigen Haſchverſuchen war ſie endlich auch mir
nahe gekommen; ſchon fühlte ich die Berührung ihrer Hände
— als ſie plötzlich, unter dem Tuche bis zum dunkeln Carmin
des Pfirſichs erröthend, von mir abließ und mit einer raſchen
Wendung ihren Schwager zu faſſen bekam, der ihr wohl nicht
ganz ohne Abſicht in die Arme lief. Während ihm die Augen
verbunden wurden, ſagte er, die Frauenzimmer möchten ſich
jetzt in Acht nehmen; denn er wäre geſonnen, keine von ihnen
ohne herzhaften Kuß wieder loszulaſſen. Marianne ſchien
ſogleich verſtanden zu haben, auf wen dieſe Rede eigentlich
gemünzt war; denn ſie legte bedeutſam den Finger an den
Mund und huſchte lautlos an das äußerſte Ende des Gartens.
Der Schalk aber, dem die Binde nicht allzu feſt ſitzen mochte,
bewegte ſich zum Schein noch ein wenig zwiſchen den Uebrigen
hin und her; dann eilte er ihr nach, und da er, wie man
bemerken konnte, recht wohl ſah, ſo hatte die junge Frau Mühe,
ſeinen Nachſtellungen zu entkommen. Aber es gelang ihr doch,
im entſcheidenden Momente auszubiegen und, indem ſie ein
paar Blumenbeete und eine niedere Hecke von Stachelbeerſtau¬
den überſprang, in den Kreis zurückzulaufen. Dort angelangt,
erblaßte ſie plötzlich, griff mit beiden Händen zum Herzen,
wankte und fiel wie leblos zu Boden. Alles ſtürzte erſchrocken
auf ſie zu; man löſte ihr den Gürtel und benetzte ihre Schlä¬
fen mit Waſſer. Sie kam auch alsbald wieder zu ſich, fuhr
mit der Hand über die Stirne und ließ ſich, matt und kraft¬
[96] los wie ſie war, nach dem Pavillon bringen, der ſich hinter
den Frauen und Dorner ſchloß; ſo daß nur ich, die beiden
jungen Männer und das vor Entſetzen noch immer ganz
ſprachloſe Kind draußen zurückblieben, Heidrich, der ſich als
Urheber dieſes peinlichen Vorfalles anſah, zeigte ſich ſehr ängſt¬
lich und aufgeregt; nach einer Weile jedoch trat ſeine Frau
mit beruhigendem Lächeln aus dem Pavillon. „Sie fühlt ſich
wieder ganz wohl“, ſagte ſie mit leiſer Stimme, „und will
jetzt nur ein Bischen ſchlummern.“ Auch die Anderen kamen
mit heiterer Miene heraus; nur Dorner, deſſen erſte Beſtür¬
zung ſich ſchon früher raſch in Aerger und Verdruß aufgelöſt
zu haben ſchien, zog ein finſteres Geſicht und murmelte unver¬
ſtändliche Worte in den Bart. Eine langſame, erwartungs¬
volle Stunde verſtrich. Endlich öffnete ſich die Thüre des
Pavillons und Marianne erſchien auf der Schwelle. Sie ſah
zwar noch immer etwas blaß aus; aber ſie verſicherte, daß
Alles vorüber ſei und ſchnitt jede beſorgte Frage, ſowie die
Entſchuldigungen ihres Schwagers mit ſcherzenden Worten ab.
Trotzdem wollte ſich die frühere Behaglichkeit nicht mehr in
dem kleinen Kreiſe einſtellen, und nachdem man bei heran¬
nahender Dämmerung einige Erfriſchungen genommen hatte,
ſah Dorner nach der Uhr und mahnte zum Aufbruch, da es
ſpät ſei und Emilie noch nach Hauſe gebracht werden müſſe.
Marianne ſtand auf, umarmte ihre Schweſter und nahm den
Arm ihres Gatten, worauf auch die Verlobten ſich empfahlen
[97] und beide Paare den Garten verließen. Wir Hausgenoſſen
verweilten noch kurze Zeit beiſammen; dann gingen die Frauen
mit Erni hinauf, Heidrich folgte ihnen bald und ich blieb allein
zurück. Eine laue, mondloſe Nacht breitete ſich allmälig über
die Wipfel. Geheimnißvoll ſchimmerten die Akazienblüthen;
eine Fledermaus huſchte mit leiſem Fluge durch den Garten;
von draußen herein ſcholl der Geſang fröhlich heimkehrender
Menſchen. Ich erhob mich und ſchritt langſam die verſchlun¬
genen Pfade auf und nieder. Die Eindrücke des durchlebten
Tages wirkten mit ſtiller Macht in mir nach, und es war mir,
als ſäh' ich das weiße Kleid Mariannen's durch die Büſche
leuchten und über den dunklen Raſen hinflattern. Endlich
ging ich in den Pavillon, deſſen Thüre nur wenig offen ſtand.
Ein leichter Duft war im Raume verbreitet. Ich trat an das
Sopha, wo die junge Frau geſchlummert haben mußte; als
ich mich darauf niederließ, faßte meine Hand etwas Glattes,
Kniſterndes: es war das Band, das ſie in den Haaren ge¬
tragen. Eine ſüße Müdigkeit überkam mich; ich ſtreckte mich
aus — und eh' ich mich deſſen verſehen hatte, war ich, die kühle,
duftende Seide zwiſchen Hand und Wange, eingeſchlafen. —


Am anderen Vormittage ſaß ich im Schatten der Laube.
Ich hatte ein Buch vor mir; aber ich las nicht, ſondern blickte
hinaus in den goldenen Sonnenſchein. Weiße Falter flatter¬
ten um die Blumen; ferne Glockenklänge zitterten durch die
Luft; in den Zweigen des Apfelbaumes ſang eine Meiſe, die
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 7[98] ſich vom Belvedere herüber verirrt haben mochte. Plötzlich
war es mir, als vernähme ich leichte, zögernde Tritte und das
Rauſchen eines Kleides. Ich erhob mich und ſtand Mariannen
gegenüber, die am Eingange der Laube erſchien und ihre rei¬
zende Verlegenheit bei meinem Anblick hinter dem aufgeſpannten
Sonnenſchirm zu verbergen trachtete. „Entſchuldigen Sie,“ ſagte ſie
mit unſicherer Stimme, „ich dachte — ich ſuche meine Schweſter — “


„Ihre Schweſter iſt heute noch nicht herabgekommen. —
Aber es ſcheint, Frau Dorner, ich habe Sie wieder erſchreckt“,
fuhr ich fort, da ich ſah, daß ſie noch immer nach Faſſung rang.


„Wieder?“ fragte ſie und ſah mich an.


Das Wort war mir unwillkürlich entſchlüpft. „Ich glaube
wenigſtens, es ſchon einmal gethan zu haben; vorgeſtern, als
Sie unter jenem Baume ſtanden —“


Ein Lächeln kräuſelte flüchtig ihre Lippen. „Ach ja!“
ſagte ſie leichthin. „Wie thöricht von mir, ſo plötzlich davon
zu laufen! Louiſe hatte mir ja ſchon von Ihnen geſprochen.
— Doch dafür hab' ich Sie geſtern auch erſchreckt.“


„Mehr als das. Sie glauben gar nicht, wie uns Allen
zu Muthe war, als Sie ſo plötzlich zu Boden ſtürzten. Aber
ich ſehe, dieſer Unfall hat keine weiteren Folgen gehabt;“ und dabei
blickte ich ihr in's Antlitz, das wieder ganz friſch und roſig ausſah.


„Es war ja nichts von Bedeutung, Ich hatte gegen
meine Gewohnheit Wein getrunken. — Auch war ich recht
ausgelaſſen,“ ſetzte ſie etwas kleinlaut hinzu.


[99]

„Vielleicht; aber nur wie es Kinder zu ſein pflegen.
Wahrlich, Frau Dorner, wenn man nicht wüßte, daß Sie
verheirathet ſind —“


„So würde man mich nicht dafür halten,“ vollendete ſie
ganz unbefangen, da ich mitten in der Rede abbrach. „Mir
iſt oft ſelbſt ſo zu Muthe!“ Und es klang wie ein leiſer
Seufzer durch dieſe Worte, die ſcherzhaft geſprochen waren.
„Aber,“ fuhr ſie mit plötzlichem Ernſte fort, „ich muß jetzt
meine Schweſter aufſuchen.“ Und mit einer Verneigung wollte
ſie ſich entfernen.


„Noch einen Augenblick!“ bat ich. „Sie haben geſtern
im Pavillon Etwas vergeſſen.“ Und ich reichte ihr das grüne
Band, das ich bei mir trug. Sie warf erröthend einen Blick
darauf, nahm es mit einem dankenden Kopfnicken an ſich und
verließ, raſch und anmuthig ſchreitend, den Garten. —


Und nun kommt ſie, wie geſagt, faſt täglich; zumeiſt in
den frühen Nachmittagsſtunden. Dann ſitzt ſie arbeitend in
der Laube oder ſpielt mit Erni, welche mit der Leidenſchaftlich¬
keit der Kinder an ihr hängt. Auch hilft ſie ihrer Schweſter
das Knäblein betreuen, wobei ſie faſt noch mehr Zärtlichkeit
und Sorgfalt an den Tag legt, als die Mutter ſelbſt. Eine
wahre Freude aber iſt es, wenn ſie auch beim Abendeſſen
bleibt; denn ſie weiß dann durch allerlei Scherz und eine köſt¬
liche Plaudergabe ſtets die heiterſte Stimmung hervorzurufen.
Nur in Gegenwart ihres Gatten, der meiſtens, um ſie abzu¬
7 *[100] holen, ziemlich ſpät erſcheint, iſt ſie ſtiller und ſchweigſamer.
Denn man kann deutlich merken, daß er nach Art trockener
und halbgebildeter Menſchen, ihr munteres und offenes Weſen
als etwas Unziemliches empfindet und dasſelbe, ſowie die
holde, echt weibliche Beſchränktheit, welche Marianne in ge¬
wiſſen Dingen verräth, für Thorheit und Mangel an Verſtand
anſieht. So hatte er unlängſt ein Kartenſpiel (die einzige
Unterhaltung nach ſeinem Geſchmacke) in Vorſchlag gebracht,
bei welchem Jeder die Augen ſeiner Karten zu zählen hatte.
Marianne konnte damit nie raſch genug zu Stande kommen
und mußte oft die Spitze ihres Zeigefingers zu Hilfe nehmen,
bis ihr endlich Dorner mit der Bemerkung: ſie ſolle doch we¬
nigſtens zählen lernen, die bemalten Blätter ziemlich unſanft
aus der Hand nahm und auf den Tiſch warf. Ich zuckte zu¬
ſammen; Marianne ſchwieg; nach und nach aber kam eine
glühende Schaamröthe in ihrem Antlitz zum Vorſchein. Auch
die Anderen waren betroffen und eine peinliche, unerquickliche
Stimmung blieb zurück. Ueberhaupt wirkt die Anweſenheit
Dorners ſtets lähmend und niederdrückend auf Alle: es wagt
ſich Niemand mit einem freien, fröhlichen Worte hervor.
Selbſt die Hauskatze, welche jeden Abend, um ein paar Biſſen
zu erhaſchen, ſchnurrend den Tiſch umkreiſt, ergreift bei ſeinem
Erſcheinen augenblicklich die Flucht, weil er gleich das erſte
Mal mit dem Stocke nach ihr geſchlagen hatte. — Wenn die
lebensfrohe junge Frau beim Abſchied den Arm des harten,
[101] finſteren Mannes nimmt und dabei manchmal mit ihren wun¬
derbaren Augen nach mir zurückblickt: da, Theuerſter, zieht
ſich mein Herz immer ſchmerzlich zuſammen und es iſt mir
oft, als ſollt' ich aufſpringen und ihm das ſüße Geſchöpf von
der Seite reißen, für deſſen Zauber ſeine ſchwungloſe Seele
ſo wenig Verſtändniß hat!


Ende Juni.


Du meinſt, ich ſei im beſten Zuge eine Thorheit zu begehen und
mich ernſtlich in die junge Frau zu verlieben. Und wenn dies der
Fall wäre? Wenn ich — aber fürchte nichts, Guter! Du ſollteſt doch
wiſſen, daß ich an Entſagung gewöhnt bin; ja noch mehr: ich
habe — ſo ſeltſam dies auch klingen mag — bereits gelernt, ent¬
ſagend zu genießen
. Und es iſt gut, daß es ſo iſt; denn
ſonſt — — Höre nur, was ſich zwiſchen uns Beiden ereignet hat.


Als ich geſtern nach Tiſch wie gewöhnlich in den Garten
kam, fand ich Marianne mit den Kindern allein. Sie hatte
ſich, da über der Laube noch die volle Juniſonne brannte, auf
der Bank bei dem dichten Hollundergebüſch niedergelaſſen,
welches mit dem nahen Pavillon im Schatten lag. Ihr zu
Füßen ſaß Erni, in eifrige Betrachtung einer zierlichen Stickerei
der Tante verſunken; auf der andern Seite ſchlummerte das
Knäblein im Wiegenkorbe, mit einem Fliegenſchleier bedeckt.
Marianne las in einem Büchlein, das ſie, kaum meiner an¬
[102] ſichtig geworden, bei Seite brachte und unter ein Tuch ſchob,
in welchem ich aber mit dem Scharfblicke des Autors ſogleich
eine kleine Erzählung erkannte, die ich vor Jahren geſchrieben.
Als ich grüßend an die junge Frau herantrat, ſagte ſie, daß
die Andern eines dringenden Beſuches wegen das Haus ver¬
laſſen und ſie gebeten hätten, einſtweilen über den Kindern
zu wachen. „Ich thu' es gern“, fuhr ſie fort, indem ſie die
Hand ſchmeichelnd auf das Haupt Erni's legte, „Erni iſt mein
gutes, braves Mädchen, und den armen Kleinen dort lieb' ich,
als wär' er mein eigenes Kind.“ Sie erröthete bei dieſen
Worten und hob vorſichtig ein Ende des grünen Schleiers
empor. „Sehen Sie nur, wie ſanft, wie ruhig er heute ſchläft,
wie lieblich er trotz ſeiner Bläſſe ausſieht! Aber ich fürchte,
Louiſe wird ihn nicht aufbringen.“ Und dabei ließ ſie traurig
wieder den Flor ſinken.


Ich hatte mich neben ihr auf die Bank geſetzt und wir
ſahen eine Zeit lang ſchweigend in das ſonnige Weben und
Wallen hinein.


„Ich habe bis jetzt geleſen,“ ſagte ſie endlich und zog in
holder Verſchämtheit das ſchlichte Bändchen hervor.


Was blieb mir übrig, als mich überraſcht zu ſtellen.
„Wie, Sie leſen mein Buch?“ fragte ich alſo.


„Ja, und nicht zum erſten Male. Es zieht mich immer
von Neuem an, — Sie verwundern ſich? Sie hätten mir
nicht zugetraut — “

[103]

„O nicht doch — nicht ſo, Frau Dorner! Ich meinte
nur — es iſt eine gar zu ſtille, traurige Geſchichte.“


„Eben deßhalb gefällt ſie mir. Ich bin nicht immer ſo
fröhlich, wie Sie mich zu ſehen pflegen. Ich habe auch meine
trüben Stunden, und mir iſt eigentlich ſtets am wohlſten, wenn
ich ſtill für mich allein ſein und meinen Gedanken nachhängen
kann. Nur unter Menſchen überkommt es mich. —“


„Dann iſt es doch nur die Heiterkeit Ihrer innerſten
Natur, was ſich da Bahn bricht.“


„Meinen Sie?“ ſagte ſie nachdenklich.


„Gewiß. Und die Menſchen ſollten ſich glücklich ſchätzen,
daß ſie ſo ſprühende Lebensfunken in Ihnen zu wecken ver¬
mögen.“


Sie ſchüttelte leicht das Haupt. „Nun, ich habe meiſtens
nur Tadel und Verweiſe zu hören bekommen. Von meinen
Eltern und Lehrern, von —“ ſie unterbrach ſich. „Ich glaube,
man hat mich ſeit jeher für leichtſinnig und einfältig gehalten“,
ſetzte ſie mit gedämpfter Stimme hinzu.


„O wer könnte, wer dürfte ſo urtheilen“, ſagte ich warm.


Sie ſchien dieſen Einwurf nicht zu beachten und fuhr, an
ihre letzten Worte anknüpfend, mit geſenktem Haupte fort.
„Vielleicht bin ich's auch. Kinder- und Mädchenjahre ſind
mir wie im Traume vergangen; ſelbſt der Tod unſerer Mut¬
ter, die uns freilich ſchon ſehr früh entriſſen wurde, hat mich
nicht beſonders ſchmerzlich ergriffen; es war mehr ein geheimes
[104] Grauen, was ich dabei empfand. Jedes Spielzeug, das ich
erhielt, jedes neue Kleid, jeder Ausflug auf's Land, ein jedes
Feſt, bei welchem ich getanzt hatte, ließ mich noch lange nachher
alles Andere vergeſſen, ſo daß ich gar nicht darauf achtete,
was um mich her in der Welt vorging. Und auch jetzt iſt es
noch ſo. Wenn ich oft andere Frauen von Dingen reden höre,
die mir ganz fremd ſind, da fühle ich immer, wie weit ich
zurückgeblieben bin und ſchäme mich meiner Unwiſſenheit,“


„Mit Unrecht“, rief ich aus, überwältigt von der ſchlich¬
ten Erhabenheit dieſes Geſtändniſſes, „mit Unrecht, Frau Dor¬
ner! Denn es iſt Ihnen dafür jene Urſprünglichkeit bewahrt
geblieben, die an Ihrem Geſchlechte mehr entzückt als alle
Kenntniſſe der Erde.“


Sie ſah mich zweifelnd an „Wie? das ſagen Sie, ein
Gelehrter — ein Dichter?“


„Warum nicht? Gerade wir, deren Daſein ganz in gei¬
ſtiger Thätigkeit aufgeht, werden von den Kundgebungen einer
unbewußten Natur im Tiefſten erquickt. Glauben Sie mir,
alles Wiſſen iſt werthlos, wenn es nicht von einer mächtigen,
eigenthümlichen Empfindungsweiſe getragen und durchdrungen
wird, während ein tiefes Gemüth, ein warmes Herz jeder
Formel entrathen kann: denn es überzeugt und gewinnt, indem
es ſich einfach im Thun und Laſſen ausſpricht. — Und
Sie beſitzen ein ſolches Gemüth, ein ſolches Herz, Frau Ma¬
rianne!“

[105]

Sie erwiederte nichts und brachte nur langſam die Hand
vor die Bruſt.


„Und auch Gefühl und Verſtändniß für ſo Manches, das
unbeachtet und ungekannt an Ihnen vorüber zieht, liegt in
Ihrem Weſen“, fuhr ich fort. „Aber es hat noch Niemand
das löſende Wort zu ſprechen gewußt, und ſo blieb Ihrem
Sinne bis jetzt die Bedeutung des Lebens verſchloſſen und all
Ihr innerer Reichthum Ihnen ſelbſt ein Geheimniß.“


„Es iſt wahr“, ſagte ſie, kaum vernehmlich, „ich fühle
mich oft ſo beengt und ringe nach Etwas, das ich nicht nennen
kann — —“ Ach Freund, es war wunderbar, wie ſie da¬
ſaß, die ſchmale Hand am Herzen, den Blick zu Boden ge¬
richtet. Sie war ganz bleich geworden und ihr zarter Buſen
hob und ſenkte ſich leiſe. Und mich überkam's, ihr zu ſagen,
daß es die Liebe ſei, nach der ſie ringe und die allein dem
Weibe die Welt in ihrer Unendlichkeit erſchließt — aber ein
Blick auf das lauſchende Kind zu ihren Füßen dämmte meine
wogende Seele zurück und ich ſchwieg. So entſtand eine tiefe
Stille; Erni ſah mit klugen braunen Augen forſchend zu uns
empor und man konnte das Summen einer Wespe vernehmen,
die uns in immer engeren Kreiſen umflog. Plötzlich ſtieß
Marianne einen leichten Schrei aus und fuhr mit der Hand
nach der Wange. Das geflügelte Thierchen war ihr nahe ge¬
kommen und hatte ſie unterhalb des rechten Auges geſtochen;
ein kleines, rothumrändertes Bläschen zeigte ſich. Ich eilte
[106] an das nächſte Blumenbeet und grub etwas Erde auf. Ma¬
rianne wollte damit die ſchmerzende Stelle bedecken; aber die
feuchte Maſſe zerbröckelte unter ihren bebenden Fingern und
fiel zu Boden.


„Laſſen Sie es mich verſuchen“, ſagte ich und holte friſche
Erde herbei. Sie zog den ſchlanken Leib ſchaamhaft zurück und
ich drückte ihr, während ſie in holder Verwirrung die Augen
ſchloß, das kühlende Element ſanft gegen die Wange. Sie
athmete tief auf und ſchien eine wohlthuende Linderung zu
empfinden. So weilten wir; Beide, das fühlt' ich, ſüß und
leiſe durchſchauert. Da regte ſich das Knäblein unter dem
Schleier und fing nach Art erwachender Kinder laut zu weinen
an. Marianne wurde immer unruhiger; endlich machte ſie
ſich von mir los, ſprang auf und nahm den Kleinen in die
Arme, wo er auch alsbald ſtill ward und zu lächeln begann.
Nun ſchickte ſie, von mir abgewendet, Erni um Waſſer. Das
Kind, welches Allem beſorgt zugeſehen hatte, eilte fort; wir
aber ſprachen nichts mehr; unſere Blicke mieden ſich, und als
Erni mit dem gefüllten Becken erſchien, zog ich mich in den
Pavillon zurück. Ich hörte, wie ſich Marianne draußen wuſch,
dann einige Male durch den Garten ging und ſich endlich
wieder bei den Hollunderbüſchen niederließ, wo ſie von Zeit
zu Zeit ſanfte Worte an die Kinder richtete. So wurde es
Abend und die Andern kamen nach Hauſe. Erni lief ihnen
entgegen, und erzählte ſogleich mit lauter Stimme den ganzen
[107] Vorfall. Ich vernahm, wie man darüber ſcherzte und lachte;
als ich jedoch ſpäter hinaustrat, fand ich Marianne nicht mehr
unter den Anweſenden. Es hieß, ſie ſei nach Hauſe ge¬
gangen, weil ſie noch immer heftige Schmerzen empfunden habe.


20. Juli.


Erſpare Dir doch Deine langen Epiſteln, Theuerſter, voll
von Zweifeln an meiner gerühmten Entſagungskraft und ſon¬
ſtigen Beſorgniſſen! Die Gefahr, von der Du mich und die
junge Frau bedroht ſiehſt, iſt im Vorüberziehen. Und zwar
hat das Schickſal ſelbſt Deine Rolle übernommen und, immer
mächtiger als wir armen Menſchenkinder, ſich nicht bloß auf
Ermahnungen und weiſe Rathſchläge beſchränkt, ſondern gleich
— nicht etwa mit rauher, nein: mit liebender Hand einge¬
griffen.


Du erinnerſt Dich, daß ich vor zwei Jahren den Sommer
im ſüdlichen Böhmen bei meinem Jugendfreunde Robert zu¬
gebracht habe, der ſeit dem letzten Feldzuge mit durchſchoſſener
Bruſt in fremder Erde vermodert. Wenn Du Dir die Mühe
nehmen und meine Briefe aus jener Zeit hervorſuchen willſt,
ſo wird Dir daraus das grüne, freundliche Moldauthal, die
herrliche Birken- und Tannenpracht des Böhmerwaldes ent¬
gegentreten und das alte Stammſchloß der Roſenberge, auf
[108] ſtolzer Höhe gelegen, mit weit ausblickenden Zinnen vor Dir
aufſteigen. Auch eines Mannes wirſt Du erwähnt finden,
der in dieſem einſamen, jetzt dem Fürſten S . . . . gehörenden
Prachtbau der Vergangenheit als Archivar lebt. Ich hatte
ihn eines Tages mit der Bitte aufgeſucht, mich in dem hiſto¬
riſch merkwürdigen Archive und in der reichhaltigen Bibliothek
ein wenig umſehen zu dürfen, und entſinne mich deutlich, daß
ich Dir damals geſchrieben habe, wie ſehr ich ihn um ſein
ſtilles, abgeſchiedenes Daſein beneide. Als ich aber näher mit
ihm bekannt wurde, da merkte ich bald, daß ihm, was mir
wünſchenswerth erſchien, Unmuth und Unzufriedenheit bereite.
Er hatte früher ein öffentliches Lehramt bekleidet; war aber,
mißliebiger Anſchauungen wegen, von der Regierung entfernt
und durch die Noth gezwungen worden, dieſe Stelle anzuneh¬
men, welche ſeinem lebhaften, auf erfolgreiches Wirken gerich¬
teten Geiſt ebenſo wenig zuſagen konnte, als ſie ihm in ihrer
geringen Anſehnlichkeit ſeiner Kenntniſſe und Fähigkeiten wür¬
dig erſchien. Er geſtand mir offen, daß er Alles aufbiete,
wieder los zu kommen; und da ich ihm hingegen meine Nei¬
gung zu einem ſolchen Poſten mittheilte, ſo verſprach er mir, mich
dem Fürſten vorzuſchlagen, ſobald er eine paſſende Lebensſtel¬
lung würde gefunden haben. Nun bekam ich dieſer Tage (ich
hatte ſeiner Zuſage längſt nicht mehr gedacht) von ihm einen
Brief, worin er mir ſchreibt, daß er endlich einen ehrenvollen
Ruf in's Ausland erhalten, und mich fragt, ob ich noch ge¬
[109] ſonnen wäre, ſein Nachfolger zu werden. Er habe mit dem
Fürſten bereits geſprochen; dieſer ſei ganz einverſtanden und
ſo hinge jetzt Alles nur von meinem raſchen Entſchluſſe ab.
Daß ich mit beiden Händen zugriff, kannſt Du Dir denken!
Wollte ſich doch jetzt erfüllen, wonach ich mich ſo lange ge¬
ſehnt: unbekümmert um literariſchen Erwerb in gänzlicher
Zurückgezogenheit meiner Kunſt leben zu können. Gewiſſe
Leute werden freilich die Köpfe ſchütteln. „Wie man nur daran
denken könne, fern von aller Welt in einem alten Schloſſe zu
verſauern“, hör' ich ſie ſagen; „daß der Dichter Anregung
brauche —“ und was ſonſt noch an ähnlichen Gemeinplätzen
vorzubringen ſein wird. Als ob ich bis jetzt nicht gelebt
hätte! An meinen Schläfen ſchimmern ſchon die erſten grauen
Haare und ich müßte wirklich unſterblich ſein, um auch nur
die Hälfte meiner Erfahrungen künſtleriſch zu verwerthen. Und
ſo will ich nur noch meine Angelegenheiten ordnen, mich von
einigen guten und edlen Menſchen, denen ich ſo Manches zu
danken habe, verabſchieden und dann der Reſidenz Lebewohl
ſagen. Jetzt aber kann ich Dir auch geſtehen: es iſt hohe
Zeit, daß ich fortkomme. Aus Folgendem magſt Du es ent¬
nehmen. —


Seit jenem denkwürdigen Nachmittage war Marianne
nicht mehr ſo oft, wie ſonſt, und zumeiſt nur auf kürzere Zeit
in den Garten gekommen. Dabei hatte es mir geſchienen, als
wiche ſie einer Begegnung mit mir aus, ſo daß ich ſelbſt ver¬
[110] mied, mit ihr zuſammen zu treffen und wieder häufiger meine
Spaziergänge vor dem Linienwall aufnahm. Eines Tages war
ich aber doch in dem unbeſtimmten Drange, die junge Frau
wieder zu ſehen, daheim geblieben. Es wurde Abend, ſie er¬
ſchien nicht. Endlich geſellte ich mich zu meinen Hausgenoſſen,
die ich ziemlich einſylbig in der Laube verſammelt fand. Nach
einer Weile ſagte Heidrich: „Warum doch Marianne gar nicht
mehr kommt! Es iſt heute ſchon der vierte Tag, daß wir ſie
nicht geſehen haben.“


„Du weißt doch,“ erwiederte ſeine Frau mit einer gewiſſen
Haſt, „daß das Unternehmen Dorners bereits in vollem Gang
iſt; das macht auch ihr im Hausweſen viel zu ſchaffen.“


„Allerdings; das weiß ich. Aber ſie iſt auch ſonſt ſelt¬
ſam verändert.“


„Findeſt Du?“ warf ſie nachläſſig hin, während mich
ihr Blick unſicher ſtreifte.


„Ja; und ich glaube, ſie iſt nicht glücklich.“


„Und warum ſoll ſie nicht glücklich ſein?“ fragte Louiſe
ſcharf und bedeutungsvoll.


„Ach laß das!“ entgegnete er, offen und unbefangen wie
immer. „Vor unſerem Freunde kenn' ich keine Geheimniſſe.
Er wird ſich ſchon ſelber ſeine Gedanken gemacht haben. Ich
ſage: Dorner iſt kein Mann für Marianne.“


„Und weßhalb nicht?“ fuhr ſie gereizt fort. „Er iſt ein
Ehrenmann, wenn auch ein wenig trocken und barſch im Um¬
[111] gange. Aber gerade ſein ſtrenger Ernſt paſſt für ſie; denn er
hält ihrem doch oft allzu kindiſchen Weſen das Gleichgewicht.“
„Aber ich bin überzeugt, daß ſie ihn nicht liebt!“ ſtieß
Heidrich hervor.


„Ei was!“ rief die alte Frau in ihrer reſoluten Weiſe
dazwiſchen. „Ihr Männer habt es beſtändig nur mit
der Liebe! Die entſteht und vergeht. Was den Beiden fehlt
iſt ein Kind; eine kinderloſe Ehe iſt keine Ehe!“


Ich ſchwieg; aber was in meinem Innern vorging, kannſt
Du Dir denken. —


Um dieſe Zeit ſtarb das Knäblein. Heftige, ſich raſch
wiederholende Krämpfe, hatten ſeinem kurzen Daſein ein Ende
gemacht. Man nahm dieſes traurige Ereigniß im Hauſe mit
ſtiller Ergebung auf. War es doch längſt vorauszuſehen, ja
bei dem hoffnungsloſen Zuſtande des Kindes herbeizuwünſchen
geweſen; auch trägt Frau Louiſe ſchon ein neues Leben unter
dem Herzen. So ſtanden die jungen Eltern zwar bleich, aber
ohne Klage an dem Särglein, in welchem der Kleine lag, von
ſeinen Leiden befreit, wie lächelnd im Tode. Deſto faſſungs¬
loſer klang das Schluchzen Mariannens, die ſich mit noch
anderen Verwandten eingefunden hatte. Ich ſah zum erſten
Male den Vater der Schweſtern, einen bejahrten Mann mit
einem ſcheuen kummervollen Zug im Antlitz; dann die Stief¬
mutter, eine ſtattliche, geputzte Frau im beſten Alter. Auch
die beiden Liebenden, deren Vermählung nahe bevorſtand, waren
[112] zugegen. Man merkte, wie ſie ihrem Glücke Gewalt anthun
mußten, um die Trauer der Andern mitempfinden zu können.
Dorner war nicht erſchienen. Als man die Leiche forttrug, folgte
ich auch zur Kirche. Nach der Einſegnung ſtiegen die Eltern
mit dem Manne, der den Sarg trug, in einen bereit ſtehenden
Wagen; Marianne leiſe in ihr Tuch weinend, ſetzte ſich zu
ihnen; die Uebrigen entfernten ſich. Ich aber kehrte wieder
nach Hauſe zurück und ſchritt einſam im Garten auf und nieder.
Ein leichter Strichregen war gefallen und an den Blättern
funkelten helle Tropfen im Strahl der ſpäten Nachmittagsſonne.
Ein Nelkenbeet duftete ſcharf; am Himmel ſtanden dunkle,
feurig umſäumte Wolken; von Zeit zu Zeit ging ein leiſes Rauſchen
durch die Wipfel. Ueber eine Stunde mochte ich ſo in weh¬
müthigen Empfindungen verſunken geweſen ſein und hatte mich
endlich im Pavillon niedergelaſſen, als der Wagen am Thore
hielt, der die Leidtragenden vom Friedhof brachte. Ich ver¬
muthete, ſie würden in den Garten kommen; aber ſie gingen
alle miteinander hinauf. Nach einer Weile jedoch wurde das
Gitter geöffnet; Marianne trat ein, Erni an der Hand
führend, und bewegte ſich mit dem Kinde, das während des
Begräbniſſes oben bei der alten Frau geblieben war, langſam
auf dem mittleren Pfade fort. Sie blickte nicht nach dem
Pavillon; aber Erni that es und hatte mich auch gleich be¬
merkt. „Tante Marianne, Herr A. iſt hier!“ rief ſie und
wiederholte dieſe Worte, da die junge Frau nicht darauf zu
[113] achten ſchien, ſondern mit geſenktem Haupte vorwärts ſchritt,
mehrere Male nach einander; ſo daß mir alſo nichts er¬
übrigte, als hinauszutreten und mich ihnen zu nähern. Das
Kind wollte, um mich zu erwarten, ſtehen bleiben; aber Mari¬
anne ließ ſeine Hand los und ging immer weiter; erſt als
ich dicht hinter ihr war, hielt ſie an und wandte mir ihr
Antlitz zu. „Ich habe ſie oben allein gelaſſen,“ begann ſie
langſam; „ich glaube, ſie fühlen jetzt das Bedürfniß, ſich un¬
geſtört auszuweinen.“ Sie ſah nach einer kleinen Uhr, die
ſie im Gürtel trug, „Es iſt ſchon ſpät; mein Mann ſoll noch
kommen. Er war heute Nachmittag ſehr beſchäftigt.“


„Wie ich höre, werden auch Sie jetzt von häuslichen Geſchäften
ſehr in Anſpruch genommen, Frau Dorner,“ ſagte ich, um
etwas zu ſagen.


Sie erröthete flüchtig. „Allerdings; und ich kann mich noch
nicht ganz zurecht finden. Aber es iſt gut; man vergißt ſo
Manches darüber.“


Ich ſchwieg, und ſo gingen wir eine Zeit lang, ohne zu
ſprechen, neben einander hin. Es war ſchon dunkel geworden
und durch die Bäume wehte es feucht und kühl.


„Welch' eine rauhe Abendluft“, ſagte ſie endlich und zog
ihr Tuch fröſtelnd um die Schultern. „Man merkt, daß der
Herbſt bereits im Anzug iſt. — Das arme Kind; heute liegt es
in der kalten Erde.“

Saar, Novellen aus Oeſterreich. 8[114]

„Gönnen Sie dem Kinde die ſelige Ruhe, Frau Dorner“,
ſagte ich bewegt. „Sein Tod war ſeine Erlöſung.“


Sie ſchauderte leicht. „Es iſt wahr,“ ſagte ſie tonlos;
„das Leben iſt für die Glücklichen.“


Erni war indeſſen ſtill hinter uns hergegangen; jetzt rief
ſie: „Tante, Du hätteſt Herrn A. heirathen ſollen; dann
wäreſt Du auch glücklich geworden.“


Ich ſah wie ſie erbleichend zuſammenzuckte. Aber ſie
zwang ſich zu einem Lächeln und ſagte: „was doch das thörichte
Mädchen ſpricht.“


Ich konnte nichts erwiedern; es lag mir wie Blei auf
der Zunge, auf dem Herzen. So gingen wir wieder ſchweigend
neben einander. Als wir uns dem Eingänge näherten, erblickten
wir Dorner, der über das Gitter ſah und ein befremdetes
Geſicht machte, als er uns gewahr wurde. Er trat ein, und
nachdem wir einige Worte getauſcht, begab er ſich mit ſeiner
Frau und dem Kinde hinauf. Ich aber blieb zurück in der
ſinkenden Nacht, allein mit meinen Gefühlen, in welchen ſich
Schmerz und Seligkeit wunderbar verwoben.


Schloß K . . . . in Böhmen, Mitte September.


Warum ich ſo lange ſchweige, fragſt Du? Und ob ich
mich ſchon an den Ufern der Moldau befände? Ja, Theuerſter,
[115] ſeit vier Wochen bin ich hier — doch in welchem Zuſtande!
Ach Freund, was ſind die Entſchlüſſe des Menſchen! Vorüber¬
gehen wollt' ich an dem geliebten Weibe, das mir beſtimmt
ſchien, zugefallen durch einen holden Ausgleich der Natur —
und nun! — — Aber ich will mich faſſen, will Dir Alles
niederſchreiben und dieſe Blätter wie ein letztes Vermächtniß
in deine Hände legen. —


Der Tag, den ich mir zur Abreiſe feſtgeſetzt, war immer
näher gekommen. Ich hatte es, ohne zu wiſſen warum, ſtets
hinausgeſchoben, meinen Hausgenoſſen unſere bevorſtehende
Trennung mitzutheilen, und nun zeigte ſich die alte Frau, die
mir im Laufe der Jahre eine faſt mütterliche Theilnahme und
Fürſorge erwieſen, ſehr ergriffen. Sie wiſchte ſich die Augen,
und ſagte, ſie wolle meine Stube gar nicht weiter vermiethen;
denn ſie würde keinen Fremden darin ſehen können. Ihr
Sohn bekräftigte dies, indem er mir wiederholt die Hände
ſchüttelte und hinzufügte, ſie hätten gehofft, mich nicht früher
zu verlieren, als bis ich einmal des Hageſtolzenlebens müde
und Willens geworden ſei, einen eigenen Heerd zu gründen.
Und das ſollt' ich auch: denn ich ſei ganz der Mann, ein
Weib glücklich zu machen. Nur Frau Louiſe, die gegen mich
in letzter Zeit etwas zurückhaltend geweſen, ſchien wie erleich¬
tert aufzuathmen. Sie ward mit einem Male wieder herzlich
und freundlich, und ermunterte mich ſogar, die Hochzeit Emi¬
liens abzuwarten, zu deren Feier, wie ich nun hörte, der fünf¬
8*[116] zehnte Auguſt beſtimmt war. Ich ließ mich bereit finden, von
dem Gedanken verlockt, bei dieſer feſtlichen Gelegenheit mit
Mariannen zuſammenzutreffen, welche ich ſeit jenem traurigen
Abend nicht wieder geſehen hatte. Denn es war inzwiſchen
trübes, regneriſches Wetter eingefallen, das den Garten verö¬
dete; auch hatte ich im Drange meiner Geſchäfte und Abſchieds¬
beſuche, die meiſte Zeit außer Hauſe zugebracht. Dadurch war
ſie mir etwas ferner gerückt worden, und wenn ich an ſie
dachte, geſchah es mit einer Art ſüß-ſchmerzlicher Genugthuung
und mit dem Gefühl, daß die Erinnerung an ſie mein ganzes
künftiges Daſein begleiten und verſchönen würde. Ihre Zu¬
kunft — ſo eigenſüchtig iſt das menſchliche Herz — erwog ich
nicht; vielleicht war es eine geheime Angſt, was mich davon
abhielt. — Nun aber wollte ich noch einmal den Zauber ihres
Weſens ganz und voll in mich aufnehmen — und dann ſchei¬
den für immer. —


Der fünfzehnte Auguſt war da und mit ihm hatte ſich
der Himmel wieder aufgehellt. In den erſten Stunden des
Nachmittags erſchien ein Wagen, um mich zur Trauung zu
fahren; die Andern hatten ſich ſchon früher nach dem Hauſe
der Braut begeben. Als ich vor der Kirche hielt, war dieſe
bereits von vielen Neugierigen belagert und gleich darauf kam
eine lange Reihe offener Wagen in Sicht, die auf raſchen
Rädern Brautleute und Hochzeitsgäſte heranbrachten. Alles
ſtrahlte in Freude und Heiterkeit; beim Ausſteigen gab es ein
[117] helles Gewirr von ſchimmernden Gewändern, wehenden Schleiern
und duftenden Blumen; ſelbſt die eintönige ſchwarze Tracht der
Männer war durch farbige Sträußchen belebt. Das ganze hatte einen
kräftigen, altbürgerlichen Anſtrich, und mahnte an jene Zeit,
wo man noch keine ſtillen, verſchwiegenen Hochzeiten kannte,
ſondern ſein Glück in ſeligem Uebermuthe offen zur Schau
trug. Mein Blick ſuchte Marianne, die eigenthümlich bleich
ausſah und zu fröſteln ſchien, trotz des kurzen, mit Schwan
beſetzten Mäntelchens, das ſie um die entblößten Schultern ge¬
worfen hatte. Sie trug ein Kleid von perlgrauer Seide; ihr
Haar war mit weißen Roſen geſchmückt; in der Hand hielt
ſie einen Strauß von denſelben Blumen. So ſchritt ſie, meinen
Gruß ſtumm erwiedernd, an mir vorüber in die Kirche.
Während der Trauung, als der Prieſter über die Bedeutung
und vom Glücke der Ehe ſprach, arbeitete es heftig in ihrer
Bruſt, und ich ſah zwei große Thränen unter ihren Wimpern
hervortreten und langſam über die Wangen hinabrollen. Nach
beendeter Feierlichkeit ſtieg Alles wieder in die Gefährte, und
im Fluge ging es, von den Blicken der Vorübergehenden ge¬
folgt, durch die belebten Straßen dem nahen, am Fuße des
Kahlenberges gelegenen Orte G . . . zu. Ich fuhr mit Hei¬
drich und Dorner; im Wagen vor uns ſaßen die beiden
jungen Frauen. Marianne wandte kein einziges Mal den
Kopf, nur ihr goldig angehauchtes Haar und die weißen Ro¬
ſen leuchteten vor meinen Augen. Endlich hatten wir das
[118] ſtattliche Fabriksgebäude erreicht, in welchem, wie es der Va¬
ter des Bräutigams gewünſcht, das eigentliche Hochzeitsfeſt
ſtattfinden ſollte. Eine fröhliche Arbeiterſchaar empfing uns,
dann traten wir in einen großen, mit Laub- und Blumenge¬
winden reich ausgeſchmückten Saal, wo uns ein wohlbeſetztes
Orcheſter mit einem lebhaften Tuſch bewillkommte. Hierauf
gingen wir zur Tafel, welche für die zahlreichen Gäſte in
einem weitläufigen Nebenraume gedeckt war. Ich hatte meinen
Platz zwiſchen zwei jungen Frauenzimmern erhalten, welchen
ich mich nun artig erweiſen mußte; aber ich ſah doch beſtändig
zu Mariannen hinüber, die in ſich verſunken an der Seite
Dorners neben der Braut ſaß. Sie berührte faſt nichts und
nippte nur manchmal von dem perlenden Schaumweine, den
man credenzt hatte. Als auf das Wohl der Vermählten ein
Toaſt ausgebracht wurde, fiel ſie Emilien convulſiviſch weinend
an die Bruſt, und ſie hörte es nicht, daß man nun auch das
Ehepaar Dorner leben ließ. Darauf aufmerkſam gemacht,
ſchrack ſie empor und es war, als durchbebe ſie ein leiſer
Schauder, als ſie ihr Glas mit dem ihres Gatten zuſammen¬
klingen ließ. Inzwiſchen war es bereits ziemlich dunkel geworden.
Im Saale wurden die Lichter angezündet und plötzlich erließ
das Orcheſter mit einigen raſchen Takten die Aufforderung zum
Tanze. Dieſe Klänge wirkten elektriſch; Stühle wurden ge¬
rückt, Gewänder rauſchten — und im Nu tanzte ein Paar
nach dem andern in den Saal hinaus, wo ſchon ein beſchwin¬
[119] gender Walzer ertönte. Auch Dorner hatte zu meinem Erſtau¬
nen den ſchlanken Leib ſeiner Frau umfaßt und die halb Wider¬
ſtrebende mit ſich fortgezogen. Ich folgte langſam nach und
ſetzte mich in eine Fenſterniſche. Und wie ich ſo daſaß, vor
mir das bunte, ſchimmernde Gewühl der Tanzenden; hinter
mir die ſchweigende, dunkelnde Landſchaft: da wurde mir eigen¬
thümlich traumhaft zu Muth. Ein Heer von Erinnerungen
ſtieg vor mir auf; die ſchönen leuchteten immer reiner und
verklärter; die böſen vergingen und zerrannen und die ganze
Wehmuth des Scheidens zog in mein Herz. Und es war mir,
als könnt' ich nun nicht mehr die Stadt verlaſſen, in der ich
gelebt, geſtrebt, gerungen mit allen Leiden und Freuden einer
Menſchenſeele; als könnt' ich mich nicht trennen von dem klei¬
nen Hauſe und ſeinen Bewohnern, von dem traulichen Garten
— und von der jungen Frau, welche dort, ſchon mit andern
Tänzern, zwiſchen den hin und her wogenden Paaren auf¬
tauchte und wieder verſchwand. Aber der Würfel war ge¬
fallen, und ich mußte fort.


Dem Walzer folgten raſch nach einander neue Tänze.
Der ſüße Taumel des Vergeſſens, welcher im Tanze liegt und
dieſen für ihr Geſchlecht ſo verlockend macht, ſchien dabei Ma¬
rianne mehr und mehr zu überkommen. Ihre Wangen glühten,
ihr Haar hatte ſich gelöſt, ihre dunkel leuchtenden Augen
ſchienen mich aus der Ferne zu ſuchen. Endlich trat eine
Pauſe ein und die Paare machten Arm in Arm plaudernd
[120] und ſcherzend die Runde durch den Saal. Marianne jedoch
hatte ſich mit allen Zeichen der Ermüdung auf einen Stuhl
niedergelaſſen; vor ihr, ſichtlich bemüht, ſie für ſich einzunehmen,
ſtand ein junger Mann mit lebhaften Blicken und Geberden,
welchen ich mehrmals mit ihr hatte durch den Saal fliegen
ſehen. Sie aber achtete nicht auf das, was er ſprach, ſondern
blickte, während ſie manchmal gezwungen lächelte, mit wogen¬
der Bruſt zerſtreut vor ſich hin und nach der Fenſterniſche, in
der ich noch immer ſaß. Endlich zog ſich der Enttäuſchte
zurück. Ich ſtand auf und trat vor ſie hin. „Ich muß noch
von Ihnen Abſchied nehmen, Frau Dorner“, ſprach ich mit
zitternder Stimme. „Ich verlaſſe morgen die Reſidenz.“


Sie athmete ſchwer und brachte, wie um ſich zu erquicken,
ihren Strauß vor's Antlitz. „Ich weiß es; meine Schweſter
hat es mir mitgetheilt. — Und Sie kehren nie wieder?“ fragte
ſie nach einer Pauſe kaum hörbar.


„Nein, Frau Dorner.“


Sie erwiederte nichts. „Leben Sie wohl“, ſagte ſie end¬
lich und reichte mir langſam die Hand.


Im ſelben Augenblick begann die Muſik wieder, einen
Galopp intonirend. Ich war des Tanzens längſt entwöhnt;
aber dieſe Klänge durchzuckten mich ſeltſam. „Frau Marianne“,
ſagte ich, von einem plötzlichen Verlangen unwiderſtehlich er¬
griffen, und hielt ihre bebende Hand feſt, „Frau Marianne,
laſſen Sie uns, bevor ich ſcheide, noch mit einander tanzen —
[121] zum erſten und letzten Male!“ Sie ſah mich wie erſchreckt
an; dann aber ſtand ſie auf und ſank mir in die Arme. — Ach,
welche Wonne war es, mit ihr in dem beginnenden Wirbel
hinzutreiben, der uns immer raſcher, immer ſtürmiſcher mit
ſich fortriß! Wie ein Kind lag ſie an meiner Bruſt: weich,
hingebend, die Lippen leicht geöffnet, die Augen halb durch die
geſenkten Wimpern verſchleiert. Ihr Herz pochte neben meinem;
die Roſen in ihrem Haar umdufteten mein Antlitz. Und es
war mir, als müſſe es ewig ſo dauern — ewig! Aber die
Muſik verſtummte. Ich reichte dem ſüßen Weibe den Arm.
Sie nahm ihn und lehnte ſich innig an mich. „Marianne!“
rief ich leiſe und bebend. Sie verſtand mich; denn ſie ſchwieg
und blickte zu Boden. Inzwiſchen hatten mehrere Ungenüg¬
ſame mit lautem Rufen und Händeklatſchen eine Wiederholung
des Galopps verlangt und das Orcheſter fiel von neuem ein.
„Noch einmal!“ flüſterte ich und umfaßte ſie. Und als wir
uns jetzt bei den raſenden Klängen zum zweiten Mal in den
Armen lagen, da brach in mir die lang niedergehaltene Leiden¬
ſchaft gleich einer entfeſſelten Naturgewalt hervor. Ich zog
Marianne an mich; ich beugte mein Haupt zu ihr nieder;
mein Mund ſtreifte ihre Haare, ihre Stirn. Sie ließ es ge¬
ſchehen und ſah mich lächelnd an. Und feſter und feſter um¬
ſchlangen wir uns; unſere Wangen, unſere Lippen berührten
ſich; unſer Odem floß in einen Hauch zuſammen. So flogen
wir hin, in ſeliger Trunkenheit, weltentrückt, zwiſchen Himmel
[122] und Erde! — Plötzlich war es mir, als ſtrauchelte ſie; mein
Arm wollte ſie halten; aber ich ſchwankte ſelbſt — und ſchon
ſank ſie mit nach rückwärts überhangendem Haupte und ſtierem
Blick ſchwer an mir nieder. Ein jähes Entſetzen riß an mei¬
nem Herzen; ich hörte noch, wie man rings aufſchrie, wie die
Muſik mit einem grellen Mißklang abbrach; ſah, wie man
von allen Seiten auf uns zuſtürzte — dann drehte ſich Alles
um mich und meine Sinne vergingen. — —


Als ich wieder zu mir ſelber kam, lag ich auf einem
Sopha in dem matt erhellten Nebenzimmer. Ein alter Herr,
die Uhr in der Hand, ſaß vor mir. „Sie waren ziemlich lange
bewußtlos“, ſagte er.


Ich ſtarrte ihn an.


„Ich bin der Arzt des Ortes“, ſetzte er leiſe hinzu.


Ich ſah um mich wie im Traum. Draußen ſtrahlte der
Saal in vollem Lichterglanz; aber es war Alles ſtill, ganz
ſtill. —


Er merkte, daß ich mich nicht zurecht fand und nahm
meine Frage vorweg. „Die Geſellſchaft hat ſich bereits nach
der Stadt begeben. Der Dame, mit der Sie getanzt haben,
iſt ein ſchwerer Unfall zugeſtoßen.“


Ich wollte aufſpringen; aber meine Glieder waren erſtarrt
und das Herz lag mir wie Eis in der Bruſt.


Er faßte meinen Arm. „Sie kommen zu ſpät. Ich weiß
nicht, ob ich es Ihnen ſagen ſoll — — Die Dame iſt —“

[123]

„Todt“, ſagte ich; denn ich wußte es längſt.


„Eine plötzliche Herzlähmung —“


„Eine plötzliche Herzlähmung“, wiederholte ich dumpf,
und erhob mich.


Er trat mir in den Weg. „Faſſen Sie ſich, mein Herr.
Sie können ſich ja keine Schuld beimeſſen; es war ein bekla¬
genswerther Zufall. Wie ich höre, haben Sie vor, abzureiſen;
thun Sie es, ohne zu zögern. Erſparen Sie ſich und An¬
dern —“


Ich verſtand ihn. „Ich werde reiſen“, ſagte ich und
wandte mich, um zu gehen.


Er zuckte wie rathlos die Achſeln und hielt mich nicht
länger zurück. Draußen im Saal lag eine weiſe Roſe auf
dem Eſtrich; ich nahm ſie auf, ohne etwas dabei zu denken,
aber ich wußte, daß ſie von Marianne war. Dann ſchritt
ich hinaus in die Nacht. Der Mond war aufgegangen; über
Buſch und Wieſen ſchimmerten feine Nebel; die Gebäude auf
dem Kahlen- und Leopoldsberge waren wie taghell beleuch¬
tet. Ich ſchritt immer weiter, ohne zu wiſſen wohin,
die Roſe in der Hand. Der Pfad führte mich an Gärten und
dichten Weinpflanzungen vorüber; nach und nach wurde er
ſteiler und endlich hatte ich ein freies Plateau erreicht, das
eine weite Fernſicht über einen Theil des Marchfeldes, über
die Auen der Donau und das Häuſermeer der Stadt eröff¬
nete. Dort hielt ich an, ſetzte mich unter einen Baum, und
[124] blickte, die Bruſt noch immer leer und ſtumm, hinaus in die
ſchweigende Unendlichkeit. Unten zog der glitzernde Strom
mit leiſem Rauſchen durch die Nacht; von der Stadt her
glänzten und flimmerten unzählige Lichter. Eine Grille zirpte
in meiner Nähe; von Zeit zu Zeit ſchoß am Himmel eine
Sternſchnuppe vorüber. Die Stunden verrannen; ich merkte
es nicht. Der Mond ging unter; die Lichter erloſchen allmä¬
lig, und eine fahle, trübe Dämmerung hüllte Alles ein.
Plötzlich ward ich durch einen gräßlichen Schrei aufgeſchreckt,
den ich ſelbſt ausgeſtoßen; das volle Bewußtſein des Geſchehe¬
nen hatte mich angefallen. In wildem Schmerz eilte ich den
Abhang hinunter und der Stadt zu. Eine Stunde ſpäter fuhr
ich hinter der brauſenden Locomotive durch graue Morgennebel
in's Land hinein. —


Ich bin zu Ende. Du ſiehſt, das Verhängniß hat uns
erreicht. Leb' wohl! Leb' wohl!

[[125]]

Die Steinklopfer.

[[126]][[127]]

Eine der merkwürdigſten Eiſenbahnbauten iſt der Schienen¬
weg über den Semmering, einen Theil der noriſchen Alpen,
welcher die Grenzſcheide zwiſchen dem Erzherzogthum Oeſter¬
reich und der grünen Steiermark bildet. Wer in früherer
Zeit — heutzutage iſt der Eindruck nicht mehr ſo gewaltig —
dieſe Bahn, die ſich längs gähnender Abgründe und ſchroffer
Felswände empor windet, zum erſten Male befahren hat: der
wird, wenn der Zug über ſchwindelerregende Viaducte donnerte
oder plötzlich mit ſchrillem Pfeifen in die Nacht endlos ſchei¬
nender Tunnels hinein brauſ'te, jene mit erhabenem Grauen
gemiſchte Bewunderung empfunden haben, welche uns ſtets
überkommt, wenn wir Etwas, das wir bisher für unmöglich
gehalten, verwirklicht vor uns ſehen. Und wenn dann die
gekoppelte Wagenreihe, allmälig ebenen Boden erreichend, wie¬
der gefahrlos zwiſchen lachenden Triften forteilte, dann wird
er ſich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu ſein, das
ſolche Wunderwerke hervorbringt, in ſeinen Sitz zurückgelehnt
und ſich mit halb geſchloſſenen Augen hinüber geträumt haben
in die Errungenſchaften der Zukunft, welche in der Eröffnung
[128] des Suezcanals und dem Durchſtich des Mont Cenis noch
immer nicht ihre kühnſte Bethätigung gefunden. An Eines
aber, das kann man zuverſichtlich annehmen, werden die We¬
nigſten gedacht haben: an die Tauſende und aber Tauſende
von Menſchen, welche im Schweiße ihres Angeſichtes, allen
Fährlichkeiten preisgegeben, Felſen geſprengt, Steinblöcke ge¬
wälzt, Abgründe überbrückt und ſo recht eigentlich jene geprie¬
ſene Verkehrsſtraße geſchaffen, auf welcher Du, freundlicher
Leſer, wenn Du gleich mir in der unruhvollen, ſtaubdurch¬
wirbelten Hauptſtadt an der Donau lebſt, faſt ſo raſch wie
Dein Gedanke an den Strand der blauen Adria verſetzt wer¬
den kannſt. Von zweien ſolcher armer Menſchen, welche ſeit
jeher, ohne daß ihnen ſelbſt bis jetzt die Segnungen des Fort¬
ſchrittes zu Theil geworden wären, treulich mitgeholfen bei der
großen Culturarbeit der Völker, will ich nun eine kleine Ge¬
ſchichte erzählen. Nicht etwa, um das harte Loos dieſer Parias
der Geſellſchaft, die unſere Dome und Paläſte, unſere Unter¬
richtsanſtalten und Kunſtinſtitute bauen, in grellen Farben zu
ſchildern oder darzuthun, welche Rolle der ſogenannte fünfte
Stand dereinſt noch im Laufe der Begebenheiten zu ſpielen
berufen ſein dürfte; ein Unternehmen, das der Dichter, wie
billig, dem Socialpolitiker überläßt: ſondern nur, um ein
ſchlichtes Lebensbild aus der großen Maſſe Derjenigen feſtzu¬
halten, deren Daſein, von ſchweren körperlichen Mühen über¬
bürdet, im Kampfe um das tägliche Stück Brod meiſt ungekannt
[129] und unbeachtet dahingeht, bis es zuletzt in irgend einem dum¬
pfen Winkel der Erde ſpurlos endet; — nur um zu zeigen,
wie Leid und Luſt jedes Menſchenherz bewegen und daß ſich
überall im Kleinen abſpielt die große Tragödie der Welt. —


Die Bahn über den Semmering war hergeſtellt. Der
cyklopiſche Lärm der Arbeit, das Donnern der Sprengſchüſſe
war verhallt, und das zahl- und raſtloſe Menſchengewirr, das
ſich aus dem entlegenen Böhmen, den mähriſch-ungariſchen
Niederungen, aus dem ſteinigen Karſt und dem geſegneten
Friaul hier zuſammen gefunden hatte, war weiter ſüdwärts
gezogen, um dort ſein mühevolles Tagwerk fortzuſetzen. Das
tief in die Wälder hinein verſcheuchte Wild kehrte allmälig
wieder zurück und wagte ſich, wie neugierig, auf den rieſigen
Höhenpfad, der, noch unbefahren, gleich einer vergeſſenen Spur
menſchlicher Thatkraft in dem ſtillen Frieden des Hochgebirges
lag. Nur hier und dort, etwa zwei Wegſtunden von einander
entfernt, ſtand noch eine jener geräumigen Bretterhütten, welche
die Nomaden der Arbeit in Schaaren bewohnt und bei ihrem
Aufbruche wieder niedergeriſſen hatten. Sie beherbergten eine
Anzahl von Zurückgebliebenen und ſpäteren Nachzüglern, welche
beſtimmt waren, den Oberbau gänzlich zu vollenden. Denn
noch galt es, an mancher Stelle Schienen zu legen, Geleiſe
zu beſchottern, Telegraphenſtangen aufzurichten und Wächter¬
häuschen auszumauern, an deren Geſimſe die zierlichen
Schwalben, welche ſich tagüber oft in langen Reihen auf
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 9[130] den elektriſchen Drähten niederließen, bereits ihre Neſter ge¬
klebt hatten.


Eines Nachmittags, es war Sonntag, ſaß vor einer ſol¬
chen Hütte, welche ſich, etwas abſeits von der Bahn, mit ihrer
Rückwand an ſchroffe Felſen lehnte, eine weibliche Geſtalt
auf der Schwelle. Sie war baarfuß, hatte um das Hinter¬
haupt ein grobes dunkles Tuch gebunden, und das Antlitz,
das daraus hervorſah, war welk und von jener bräunlich fah¬
len Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blaſſen Geſichtern
zu erzeugen pflegt. Die Stirne wies tiefe Furchen auf, und
um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende
älter erſcheinen ließ, als ſie ſein mochte, und die verkümmerte
Mädchenhaftigkeit ihres Leibes ſeltſam hervor hob. Die Sonne
ſtand nicht mehr hoch; über die meiſten Kuppen und Abhänge
hatten ſich bereits dunkle, ſchweigende Schatten gelagert. Aber
auf dem Wieſengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln
des ſeitwärts anſteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der
helle Strahl, in welchem ſich eine Schaar von Faltern, Bienen
und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Ein¬
ſame jedoch achtete nicht der lieblichen Sommerpracht, die ſich
vor ihr ausbreitete, ſondern hielt den Blick unverwandt auf
eine ſchadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherſtel¬
lung ſie eifrig beſchäftigt war. Dieſe Arbeit ſchien ihr recht
ſauer zu werden; denn ihre rauhe, ſchwielige Hand, welche
die Nadel mühſam und ungelenk führte, hatte wohl ſonſt nur
[131] Haue und Schaufel anzufaſſen. Jetzt wurde ſie durch nahende
Schritte aufgeſtört, und als ſie das Haupt hob, gewahrte ſie,
wie vom Bahngeleiſe her ein Mann auf die Hütte zuſchritt,
deſſen Erſcheinung einen kläglichen Anblick darbot. Klein und
unanſehnlich von Wuchs, trug er einen alten, zerſchliſſenen
Soldatenkittel, welcher, zu lang und zu weit, ſeinen Körper
wunderlich umſchlotterte, während ihm eine blaue, abgegriffene
Feldmütze tief über die Stirne herabfiel. Er wankte im Gehen,
obgleich er ſich auf einen knorrigen Baumaſt ſtützte und der
kleine Sack von fadenſcheinigem Zwillich, den er über die
Schultern gehängt trug, ziemlich inhaltslos ausſah. So nä¬
herte er ſich, ſcheu und verlegen aus matten, farbloſen Augen
blickend, der Erwartungsvollen. „Iſt das die Hütte Nummer
ſieben?“ fragte er mit unſicherer Stimme.


„Ja, das iſt ſie;“ erwiederte die Andere in jenem eigen¬
thümlichen, hart klingenden Deutſch, wie es im ſüdlichen Böh¬
men geſprochen wird, „Was willſt Du?“


„Man hat mich zur Arbeit heraufgeſchickt.“ Und dabei
wies er einen Zettel vor, den er in der Hand hielt.


Sie betrachtete noch immer ſeinen ſeltſamen Aufzug und
ſein dünnbärtiges Antlitz, das jämmerlich bleich und abgemagert
ausſah. „Der Aufſeher iſt nicht zu Hauſe“, ſagte ſie endlich.
„Er iſt mit den Andern nach Schottwien hinunter gegangen
zum Wein. Setz' Dich einſtweilen dort nieder, wenn Du müd
biſt.“ Und mit einem letzten Blick auf ſein hinfälliges Weſen,
9*[132] nahm ſie, ihrer unterbrochenen Arbeit ſich beſinnend, raſch
wieder Nadel und Faden auf.


Der Ankömmling erwiederte nichts, ſondern ſchleppte ſich
blos ein paar Schritte ſeitwärts, wo er ſich mit allen Zeichen
der Erſchöpfung im Graſe niederließ. Dort lag er, während
die Sonne tiefer und tiefer ſank, ihr letztes Gold verſchüttend.
Lautloſe Stille herrſchte ringsum; nur hoch im lichten Azur
des Abendhimmels kreiſ'te mit lang gedehntem Schrei ein
Geier.


Plötzlich erklang in der Ferne ein wüſter Männerchor.
Die Emſige ſchrack auf. „Jeſus, da ſind ſie ſchon“, ſagte
ſie halblaut zu ſich ſelbſt, „und ich habe die Jacke noch nicht
fertig.“


Immer näher, immer ſtärker ſcholl der Geſang, und es
dauerte nicht lange, ſo kam eine Schaar verwildert ausſehender
Geſellen heran, aus deren Mitte, beſſer als die Andern geklei¬
det, ein Mann von herkuliſchem Wuchſe empor ragte. Er
mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; ſein breites, aufgedun¬
ſenes Geſicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der
ihm tief im kurzen Genick ſaß, ließ graue, verworrene Haare
ſehen. Er hatte ſeinen Rock ausgezogen und über die linke
Achſel geworfen; in der rechten Hand, die feiſt und ſtämmig
aus dem loſen Hemdärmel hervorſah, trug er einen großen
Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den
Uebrigen trugen ſchwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf
[133] dem Rücken. Tertſchka!” rief der Mann mit dem
Korbe in heiſerem Tone, „mach' Licht drinnen, daß wir den
Proviant in den Keller ſchaffen können!“ Und da er jetzt
vor ihr ſtand und ihm die Jacke, die ſie ängſtlich an ſich drückte,
in die Augen fiel, fragte er barſch: „nun, iſt ſie fertig?“


„Noch nicht ganz;“ war die zaghafte Antwort.


„Was? Nicht?“ kreiſchte er und ſein Geſicht wurde blau¬
roth. „Hab' ich Dir nicht geſagt, daß ich ſie morgen brauche?“


„Ich hab' mich den ganzen Nachmittag damit geplagt.
Aber ich kann's nicht ſo ſchnell machen, wie Eine, die das
Nähen gelernt hat.“


Der ſtille Vorwurf, der in dieſen Worten lag, ſchien ihn
noch mehr zu reizen. „Du weißt immer etwas zu erwiedern!“
ſchrie er. „Aber ich ſage Dir nur, wenn ich die Jacke morgen
früh nicht habe, ſo gieb Acht, was Dir geſchieht!“ Und er
drang, den Korb zu Boden ſtellend, auf die Zurückweichende
ein, als wollte er ſchon jetzt ſeine Drohung zur Wahrheit
werden laſſen. Dabei fiel ſein Blick auf die Geſtalt im Sol¬
datenkittel, die ſich inzwiſchen furchtſam genähert hatte. „Wer
iſt der da?“ fragte der Wüthende, indem er die erhobene
Hand ſinken ließ.


„Er iſt zur Arbeit her gewieſen“, ſagte Tertſchka, ſchwer
athmend.


Der Aufſeher — denn er war es — trat mit der gan¬
zen Wucht ſeines vierſchrötigen Weſens vor den Kleinen hin
[134] und muſterte ihn von oben bis unten. „Zur Arbeit? Der
Kerl kann ja kaum auf den Füßen ſtehen!“


„Ich hab' einen weiten Weg gemacht“, ſagte der Andere
ſchüchtern. „Vom Otterthal herüber.“


„Das iſt auch was!“ höhnte der Aufſeher, indem er beim
Schein des Zwielichtes in den Zettel ſah, der ihm mit beben¬
der Hand überreicht wurde. „Huber nennſt Du Dich?“ fragte
er nach einer Pauſe, aufblickend.


„Ja; Georg Huber.“


„Wie kommſt Du zu dem Soldatengewand?“


„Ich bin Urlauber.“


„Was? Du haſt beim Militär gedient?“


„Sieben Jahre; im zwölften Regiment. Jetzt aber haben
ſie mich heimgeſchickt, weil ich das böſe Fieber nicht loskriegen
kann, das ich mir bei der Belagerung von Venedig geholt.“


„So, das Fieber haſt Du auch? Was die in der Bau¬
kanzlei für Leute aufnehmen! Lauter Krüppel, die man nur
zum Steineklopfen verwenden kann; und da wundern ſie ſich,
daß es nicht vorwärts geht. Aber merk' Dir's, Du“, fügte
er mit einer drohenden Handbewegung bei, „wenn Du nicht
täglich Deine zwei Fuhren Schotter zu Wege bringſt, ſo jag'
ich Dich fort! Hier iſt kein Spital.“ Und damit langte er
wieder nach dem Korbe, und ging, während die Andern folg¬
ten, in die Hütte, wo er an der Hinterwand eine mit Eiſen
[135] beſchlagene Thüre aufſchloß. Dieſe führte in eine Höhlung,
welche mehrere Stufen tief in den Felſen geſprengt war und
als Keller benützt wurde. Tertſchka leuchtete mit dem Kien¬
ſpane, den ſie von einem weitläufigen Herde genommen und
angezündet hatte, voran und die Lebensmittel wurden unter¬
gebracht. Hierauf ſchloß der Aufſeher die Thüre wieder hinter
ſich ab und zog ſich in eine Art Verſchlag zurück; die Uebri¬
gen aber ſtreckten ſich, unter einander kauderwälſchend und
ohne ihren neuen Kameraden zu beachten, längs der Seiten¬
wand auf eine Schütte alten Strohes zur Nachtruhe hin.
Georg ſtand noch immer ſcheu und verlegen unweit des Ein¬
ganges; endlich trat Tertſchka an ihn heran. „Geh' ſchlafen“,
ſagte ſie und deutete mit der Hand nach einer leeren Stelle
des gemeinſchaftlichen Lagers. Er folgte ihrem Winke, ängſt¬
lich bedacht, ſo wenig Raum als möglich einzunehmen; ſchob er
ſeinen Querſack unter den Kopf, breitete den abgelegten Kittel
gleich einer Decke über ſich und ſchlief mit einem tiefen Seuf¬
zer ein. Tertſchka aber zündete noch eine kleine Oellampe an
und begann, am Herde niedergekauert, wieder emſig zu nähen.
Endlich ließ ſie die Nadel ſinken und unterzog die Jacke einer
genauen Prüfung. Dann blies ſie, mit der vollbrachten Arbeit
zufrieden, das qualmende Flämmchen aus und legte ſich, an¬
gekleidet, wie ſie war, in einem Winkel neben dem Herde
nieder. —


[136]

Draußen duftete die blaue Sommernacht, und zur Dach¬
lucke der Hütte herein in den dunklen, vom Athemgeräuſch der
Schlafenden durchzogenen Raum ſahen die zitternden Sterne.


Der Morgen dämmerte kaum, als es in der Hütte leben¬
dig wurde und Georg aus dem Schlafe erwachte. Er ſah,
wie die Männer nach und nach das dürflige Lager verließen,
allerlei Werkzeug ergriffen, das rings an den Wänden lehnte,
und damit aus der Thüre gingen. Er hatte ſich gleichfalls
erhoben, war in ſeinen Kittel geſchlüpft und ſtand unſchlüſſig
und erwartungsvoll da, als ſich Tertſchka, einen ſchweren
Hammer mit langem Stiel auf der Schulter, ihm näherte.
„Der Aufſeher ſchläft noch“, ſagte ſie. „Aber ich weiß, was
Du zu thun haſt. Nimm den Hammer dort; wenn Du willſt,
kannſt Du mit mir an die Arbeit gehen.“ Er that, wie ſie
ihn hieß und trat mit ihr hinaus in die Frühe. Draußen
war es kühl und ſtill; nur hier und dort zwitſcherte ein Vogel
und auf der Wieſe lag der helle Thau. Sie gingen ſchwei¬
gend an das Bahngeleiſe und längs deſſelben noch eine Strecke
hinauf bis zu einem verödeten Steinbruch, wo ſich bereits
einige andere Arbeiter eingefunden hatten, während die Uebri¬
gen, mit Karren und Schaufeln ausgerüſtet, an der Bahn ver¬
theilt waren. Tertſchka ſchritt mit Georg an den Männern
[137] vorüber zu einer höher gelegenen flachen Mulde hinan. „Das
iſt mein Platz,“ ſagte ſie, indem ſie ſich mitten unter Bruch¬
ſteinen und Geröll auf den Boden niederließ. „Ich bin nicht
gern bei denen dort. Sie ſind ein wüſtes, hämiſches Volk.
Aber Du kannſt bei mir bleiben, wenn es Dir recht iſt.“ Er
erwiederte nichts und ſetzte ſich ſtill neben ſie. „Siehſt Du,
dieſe Trümmer müſſen in kleine Stücke zerſchlagen werden.
Das dort,“ ſetzte ſie hinzu und deutete mit der Hand auf
einen kleinen Berg von angehäuftem Schotter, „das hab' ich
in dieſer Woche zu Stande gebracht.“ Er zog einen größeren
Kalkſtein an ſich heran und ſchlug mit dem Hammer darauf.
Der Stein blieb ganz. „Stärker!“ rief Tertſchka und führte
nun ſelbſt einen Streich, daß die Stücke umherflogen. Er
ſah ſie verwundert an und erprobte noch einmal ſeine Kraft.
Diesmal mit beſſerem Erfolg, und ſo begannen die Beiden,
ohne mehr ein Wort zu wechſeln, ihr Tagwerk. Der Ort,
wo ſie ſaßen, erſchloß eine prachtvolle Fernſicht über die mäch¬
tigen Hebungen und Senkungen der weithin ausgebreiteten
Gebirgsnatur. Hart an der Bahn und in gleicher Höhe mit
ihr klebte die Burgruine Klamm wie ein Geierneſt an einer
bewaldeten Felſenzacke; tief unten in einer engen Thalſchlucht,
lang geſtreckt und mit röthlichen Dächern, lag der Markt
Schottwien. Dahinter ragte dunkel der Sonnwendſtein auf
und von den grünen Matten an ſeinem Fuße herüber ſchim¬
merte, mit Bäumen umpflanzt, die freundliche Kirche,
[138] „Maria Schutz“ genannt. Aber die Emſigen hatten kein Auge
für das herrliche Bild; ſie hämmerten und klopften, in dum¬
pfem Eifer tief zur Erde hinab gebeugt. Höher und höher
ſtieg die Sonne und brannte ſchon heiß und ſengend auf ihre
Scheitel nieder. Die Schläge Georgs wurden immer ſchwächer,
immer langſamer; endlich ließ er den Hammer ſinken, lüftete
die Mütze und trocknete ſich den Schweiß ab, der in hellen
Tropfen über ſein Antlitz rann. Auch Tertſchka hielt inne.
„Biſt Du ſchon müd?“ fragte ſie, indem ſie ihn theilnehmend
anſah.


„Weiß Gott, das bin ich“, antwortete er mit tonloſer
Stimme. „Jetzt ſpür' ich erſt, wie arg mich das Fieber
herunter gebracht hat.“


„Wie haſt Du auch da herauf kommen können, krank und
hinfällig, wie Du biſt?“ fuhr ſie fort.


„Was hätt' ich Anderes thun ſollen? Betteln vielleicht?
Das vermag ich nicht. Handwerk hab' ich kein's gelernt.
Vater und Mutter ſind nur früh geſtorben, und da hab' ich
im Ort die Gänſe hüten müſſen und ſpäter die Kühe — bis
in mein achtzehntes Jahr. Denn ich war immer an Kraft
zurück und kein Bauer hat mich als Knecht nehmen mögen.
Aber den Herren von der Aſſentirung war ich doch recht.
„Im zweiten Glied kann er mitlaufen“, meinten ſie und haben
mir den weißen Rock angezogen. Und nun hat man mich
krank und elend nach Hauſe geſchickt. Eine Zeit lang wurd'
[139] ich von der Gemeinde erhalten; dann hieß es; ich ſolle gehen
und Steine klopfen. Nun — und jetzt klopf' ich ſie,“ ſchloß
er mit bitterem Lächeln, während er wieder nach dem Ham¬
mer griff.


Sie hatte ſchweigend das Haupt geſenkt. „Aber Du
wirſt es nicht aushalten“, ſagte ſie ſtill.


„Vielleicht doch; wenn ich nur wieder zu eſſen habe. Es
iſt mir recht ſchlecht gegangen in den letzten Tagen, und ſeit
geſtern früh hab' ich nicht einen Biſſen über die Lippen ge¬
bracht.“


Sie antwortete nichts und zog langſam ein Stück ſchwar¬
zen Brodes hervor, das in ihre Schürze gewickelt war, brach
es in zwei ungleiche Theile und reichte ihm den größeren hin.
„Iß“, ſagte ſie.


Er warf einen ſcheuen Blick auf das Gebotene. „Das
iſt Dein Brod“, erwiederte er leiſe und ablehnend.


„Das thut nichts; ich hab' an dem da genug.“ Und da
er noch immer keine Miene machte, es zu nehmen, ſo legte ſie
es dicht an ſeiner Seite auf den Boden nieder. „Du wirſt
auch durſtig ſein“, fuhr ſie fort. „Ich will Dir einen Trunk
Waſſer holen; dort oben fließt eine Quelle.“ Und damit
ſtand ſie auf, bückte ſich nach einem Krüglein, das halb zer¬
ſcherbt zwiſchen dem Geröll lag, und ſtieg bis zum Tannicht
oberhalb des Steinbruchs hinauf, wo ein dünner Waſſerſtrahl
unter dunklem Mooſe hervorrieſelte. Sie füllte das Krüglein,
[140] trank, füllte es wieder und kehrte zurück. Das Brod lag
noch immer unberührt neben Georg. Aber das Waſſer nahm
er. „Ich danke Dir“, ſagte er innig, nachdem er getrunken
hatte.


„Weßhalb? Ich thu's ja gern. — Aber jetzt iß“, fuhr
ſie, ſich wieder ſetzend, mit ſanftem Drängen fort. „Von mir
kannſt Du's ſchon nehmen.“


Er langte verſchämt nach dem Brode. „Du haſt gewiß
im Leben auch ſchon viel Noth gelitten, weil Du ſo gut biſt“,
ſagte er, indem er, ohne ſie anzuſehen, ein Stückchen weg¬
brach. —


„Ja, das hab' ich. Und ich ſpür' auch jetzt noch oft
genug, wie weh der Hunger thut.“


Es war, als blieb' ihm der Biſſen im Halſe ſtecken.
„Auch jetzt noch?“ fragte er endlich. „Wird denn die Arbeit
gar ſo ſchlecht bezahlt?“


„Mir wird ſie gar nicht bezahlt.“


„Was? Du bekommſt keinen Taglohn?“


„Nein; den behält der Aufſeher.“


„Der Aufſeher?“


„Er iſt mein Stiefvater.“


„Dein Stiefvater —“ wiederholte er, noch immer ganz
gedankenlos vor Erſtaunen.


„Ja; mein rechter iſt bei der Arbeit verunglückt, als ich
noch ganz klein war; abſtürzende Erde hat ihn verſchüttet.
[141] Dann iſt die Mutter bei dem Aufſeher geblieben, der damals,
wie mein Vater, Teichgräber war und mit ihm in Böhmen
umherzog.“


„Alſo aus Böhmen biſt Du? Darum red'ſt Du auch
ſo fremd und haſt einen ſo ſeltſamen Namen. Ter — ich
kann ihn gar nicht nachſagen.“


„Tertſchka“, ergänzte ſie. „Deutſch heißt es Thereſe.“


„Hier zu Lande würden ſie Dich Reſi nennen. — Aber“,
fuhr er fort, „wenn Dein Stiefvater Deinen Lohn behält, ſo
muß er Dir doch zu eſſen geben.“


„Gerade ſo viel, daß ich nicht verhungere. Du glaubſt
nicht, wie geizig er iſt. Sich ſelber läßt er's freilich wohl
geſchehen, und es vergeht faſt kein Tag, an dem er ſich nicht
betrinkt. Aber den Andern gönnt er das Waſſer nicht, wenn
ſie es ihm nicht bezahlen, und um ihn her könnt' Alles ver¬
hungern, eh' er aus freien Stücken die Hand aufthät'. So
muß ich mich mit dem begnügen, was am Herd abfällt, und
dabei behält er, wie geſagt, meinen Lohn und obendrein die
vierzig Gulden in Silberſtücken, die mir meine Mutter hinter¬
laſſen hat. Das wäre jedoch Alles das Schlimmſte nicht.
Aber er iſt auch ein boshafter Menſch, der mich oft ſchlägt.
Du haſt geſtern geſehen, wie er mich wegen der Jacke
anließ.“


„Ja, das hab' ich geſehen.“


„Und ſo war er auch ſtets mit meiner armen Mutter.
[142] Ich laß' mir's nicht nehmen, daß ſie die Schwindſucht, an der
ſie geſtorben iſt, von einem Schlage bekam, den er ihr einſt
im Zorn und Rauſch vor die Bruſt verſetzt hat.“


Sie ſchwieg, in traurige Erinnerungen verloren. Endlich
ſagte Georg: „Wenn Dich Dein Stiefvater gar ſo übel be¬
handelt, warum bleibſt Du bei ihm?“


„Weil ich weiß, daß er mich nicht fort ließe“, antwortete
ſie nach einer Pauſe. „Er braucht ein ſo armes, hilfloſes
Ding um ſich, das er ungeſtraft quälen und martern kann.
Denn er iſt im Innerſten feig, wenn er auch oft grimmig
und wüthend wird. — Und wohin ſollt' ich gehen?“ ſetzte ſie
mit einem Seufzer hinzu. „Es iſt überall nicht gut in der
Welt.“ Sie hatte bei dieſen Worten wieder ihren Hammer
ergriffen; Georg, etwas geſtärkt, that desgleichen, und bald
waren ſie neuerdings in ihre harte Arbeit vertieft.


So verrann Stunde um Stunde und die Mittagshitze
lagerte ſich glühend über Berg und Thal. Weithin regte ſich
nichts; nur der eintönige Fall der Hämmer war in der Stille
zu hören und der Ruf des Spechtes. Von Zeit zu Zeit
ſtimmten die Männer längs der Bahn einen kurzen rauhen
Geſang an.


Plötzlich ertönte der ſchrille Laut einer Glocke. „Was
iſt das?“ fragte Georg, der ſah, daß die Andern ihre Werk¬
zeuge hinlegten und auf die Hütte zuſchritten.


„Der Aufſeher hat zum Eſſen geläutet,“ erwiderte Tertſchka.


[143]

„Zum Eſſen —“ wiederholte er matt. „Und was giebt
es denn bei Euch?“


„Heidegrütze und Kartoffeln. Heute wird auch Schweine¬
fleiſch ſein; denn das haben ſie geſtern mitgebracht.“


„Es iſt ſchon lange, daß ich kein Fleiſch mehr gegeſſen
habe“, ſagte er nachdenklich.


„Iß auch heute keins, Du haſt das Fieber; es könnte
Dir ſchaden. Denn der Aufſeher hat kein Gewiſſen und
nimmt dem Metzger in Schottwien die ſchlechte, verdorbene
Waare ab, und da er's bei der Bauleitung durchgeſetzt hat,
daß Jeder, was er zum Leben braucht, bei ihm kaufen muß,
ſo ſchlägt er Alles theuer genug los und hat ſeinen ſündhaf¬
ten Gewinn dabei. Drum kocht er auch ſelbſt; denn er traut
Keinem von uns.“


„Er kocht?“


„Ja. Um die Arbeit kümmert er ſich wenig und läßt
es gehen, wie's geht. Nur zuweilen einmal kommt er nach¬
ſehen, und dann flucht und wettert er; freilich am meiſten mit
Solchen, die nicht den Muth haben, etwas zu erwiedern.“


„Seltſam; aber mit dem Fleiſch hat es mir keine Ge¬
fahr“, ſagte Georg bitter. „Denn da ich kein Geld habe,
kann ich mir auch keines kaufen.“


„Je nun, er würde Dir ſchon borgen bis Samſtag, wo
der Lohn ausbezahlt wird. Aber weh' Dir, wenn er Dich
einmal auf der Kreide hat! Nicht allein, daß er Dir Alles
[144] doppelt anrechnet: er zwingt Dich auch, mit ihm zu zechen
und Karten zu ſpielen, damit er Dich ganz in die Klauen
bekommt. Dann ſiehſt Du von dem Deinigen keinen Kreuzer
mehr und bleibſt ihm verfallen wie die arme Seele dem
Teufel.“


Er hatte ängſtlich zugehört. „Aber wie ſtell' ich es an,
bis Samſtag zu leben“, ſagte er kleinlaut. „Heut' iſt erſt
Mittwoch. Wenn ich nichts von ihm auf Borg nehmen darf,
ſo muß ich verhungern.“


Sie hatte ſich ſchon früher am Saume ihres Rockes zu
ſchaffen gemacht und einen kleinen Theil der Naht aufgetrennt.
Jetzt zog ſie ein zuſammengewickeltes Stückchen Papier daraus
hervor und entfaltete daſſelbe. Es war eines jener Bank¬
notenfragmente, welche damals in Oeſterreich unter dem Namen
„Viertel“ im Umlaufe waren und die mangelnde Scheidemünze
erſetzen mußten. Sie reichte es Georg hin. „Nimm“, ſagte
ſie; „das langt bis Samſtag, wenn Du recht ſparſam biſt.
Du kannſt es mir allwöchentlich kleinweiſe von Deinem Lohn
zurückgeben.“


Er blickte ſprachlos auf das abgegriffene Zettelchen in
ihrer Hand. Überraſchung, Rührung und verſchämte Freude
malten ſich wunderſam in ſeinem Antlitz. Er war wie betäubt
und regte ſich nicht.


„Es iſt mein Einziges“, fuhr ſie treuherzig fort. „Unſer
Ingenieur hat mir's geſchenkt, als er im vorigen Monate hier
[145] war. Er hatte ſeinen Mantel in der nächſten Hütte liegen
laſſen, und den mußt' ich ihm holen. Aber Du thuſt mir
einen Gefallen, wenn Du das Geld nimmſt. Ich fürcht' im¬
mer, ich könnt' es verlieren; deshalb hab' ich's auch in meinen
Rock eingenäht. Wenn der Aufſeher darum wüßte, hätt' er
mir's längſt abgefordert.“ Und damit legte ſie es in ſeine
Hand. „Aber jetzt komm', und laß uns zum Eſſen gehen.
Vergiß nicht, was ich Dir wegen des Fleiſches geſagt habe,
und begnüg' Dich mit dem Uebrigen. Das Mehl iſt zwar
auch meiſtens dumpfig; aber geſtern haben ſie friſche Kartoffeln
gebracht. Und Abends kannſt Du Dir ein Glas Branntwein
gönnen; das wird Dir gut thun.“ Er ſtand auf und folgte
ihr ſchweigend. Nach einigen Schritten blieb er ſtehen und
blickte ihr tief in die ſanften braunen Augen. „Wie ſoll ich
Dir's vergelten, Tertſchka“, ſprach er mit zitternder Stimme.
„So gut und lieb, wie Du, war noch kein Menſch mit mir.“


„Ach was“, erwiederte ſie; „man muß ſich gegenſeitig
helfen in der Welt. Und dann — Du biſt ja auch gut.
Das hab' ich Dir gleich geſtern angeſehen, als Du kamſt.“


Sie hatten die Hütte erreicht. Drinnen umlagerten die
Andern, aus ſchadhaften Näpfen eſſend, bereits den Herd, an
welchem der Aufſeher ſtand, die Aermel aufgekrämpelt und
mit vorgebundener Schürze. Er war eben im Begriffe, ein
mächtiges Bratenſtück anzuſchneiden, deſſen brenzlicher Duft
den Eintretenden entgegenſchlug und Georg einen unwillkürlichen
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 10[146] Seufzer entlockte. Auch die Uebrigen blickten gierig nach dem
fetttriefenden Fleiſche und nahmen der Reihe nach ein Stück
davon in Empfang, das ſie von der Fauſt weg verzehrten.
Einige legten Geld dafür nieder; bei den Meiſten jedoch machte
der Aufſeher ein Zeichen in ein kleines Büchlein. Georg hatte
von Tertſchka einen Napf erhalten; damit näherte er ſich nun
dem Herde. Der Aufſeher ſah ihn befremdet an. Endlich
entſann er ſich. „Aha, der Knirps von geſtern!“ rief er.
„Nun, haſt Du etwas gearbeitet?“


„Ja; Steine hab' ich zerſchlagen.“


„Und nun haſt Du Luſt, zu eſſen. Was willſt Du?“


„Ich möcht' Euch um Grütze und Kartoffeln bitten.“


Der Aufſeher that ihm das Verlangte in den Napf und
nahm das Papier in Empfang, das ihm Georg hinreichte.
„Du wirſt doch auch ein Stück Braten wollen“, ſagte er
dann.


Das war nun eine gewaltige Verſuchung für den Armen.
Aber er gedachte der Warnung Tertſchka's und erwiederte,
während der Andere ſchon das Meſſer anſetzte: „Nein; ich
eſſe kein Fleiſch.“


„Was? Biſt Du ein Knicker? Bei Deinem verhungerten
Ausſehen ſollteſt Du froh ſein, etwas Ordentliches in den
Leib zu kriegen.“


„Er hat das Fieber; das fette Fleiſch könnt' ihm übel
bekommen“, ſagte Tertſchka hinzutretend; denn ſie fühlte, daß
[147] es dieſer barſchen Aufdringlichkeit gegenüber die Willenskraft
Georgs zu ſtützen galt.


„Halt Dein Maul!“ ſchrie der Mann. „Wer hat Dir
geſagt, was ihm wohl oder übel bekommt? Miſch' Dich nicht
in Dinge, die Dich nichts angehen!“ Und zu Georg gewen¬
det, fuhr er fort: „Alſo willſt Du, oder willſt Du nicht?“


Dieſe Worte klangen wie ein Befehl, das lockende Ge¬
richt nicht zurückzuweiſen. Aber der Schüchterne nahm all'
ſeinen Muth zuſammen und erwiederte: „Sie hat Recht; ich
darf das Fleiſch nicht eſſen.“


„Nun, ſo laß es ſein!“ ſchrie der Andere giftig, indem
er das Meſſer bei Seite warf. „Bitten werd' ich Dich nicht.“
Und da Georg vor ihm ſtehen blieb, fragte er: „Auf was
warteſt Du noch?“


„Ihr ſollt mir herausgeben“, antwortete Jener ſtockend.


„Ja, ja, ja!“ rief der Aufſeher. „Glaubſt Du, ich werde
die lumpigen paar Kreuzer behalten?“ Und damit warf er
ihm den Reſt in Kupfermünze hin und drehte ihm verächtlich
den Rücken. Georg, den Napf in der einen Hand, las mit
der anderen mühſam die umher rollenden Geldſtücke auf; dann
ſetzte er ſich in einen Winkel und begann ſein karges Mahl
zu verzehren, das mittlerweile ſchon ziemlich kalt geworden
war. Er ſah dabei, wie der Aufſeher eine grünliche Flaſche
ergriff und einigen Verlangenden Branntwein in ein kleines
Glas goß, welches, geleert und wieder gefüllt, von Mund zu
10*[148] Mund wanderte. Er aber vertröſtete ſich auf den Abend, den
Worten Tertſchka's gemäß, welche inzwiſchen, dürftig genug,
ebenfalls Mittag gehalten hatte und nun auf einen Wink des
Stiefvaters daran ging, das Kochgeſchirr zu ſcheuern. Die
Andern lagerten ſich draußen im Schatten der Hütte, um den
Reſt der Ruheſtunde zu verſchlafen. Der Aufſeher jedoch
nahm eine kleine Pfanne vom Herde, in welcher ſich ein lecker
zubereitetes Huhn befand, und ſtellte ſie nebſt Teller und
Eßzeug und einer Flaſche Wein auf den nahen Tiſch. Als
er ſich eben anſchicken wollte, behaglich zu ſchmauſen, fiel ſein
Blick auf Georg, welcher, den leeren Napf zwiſchen den Knieen,
ſtill überlegte, ob er nicht Tertſchka beim Scheuern helfen
ſollte, wovon ihn aber eine geheime Scheu vor dem grimmigen
Manne abhielt. „Was ſitz'ſt Du da und gaffſt?“ ſchrie jetzt
dieſer. „Pack' Dich hinaus zu den Andern! Ich brauch hier
keinen Spion, der mir den Biſſen vom Maul wegguckt!“
Georg ſchrack empor, ſchlich aus der Hütte und legte ſich
draußen auf den ſonnigen Boden nieder, da er im Schatten
keinen Platz mehr fand. Nach einer Weile ließ der Aufſeher
wieder die Glocke zur Arbeit erſchallen; er ſelbſt begab ſich in
ſeinen Verſchlag, um nun auch Sieſta zu halten. Die Männer
reckten und dehnten ſich und folgten nur zögernd dem Rufe;
einige drehten ſich ſogar auf die andere Seite und ſchliefen
fort. Georg aber ſchritt mit Tertſchka wieder zum Steinbruch
hinan, wo ſie, bis der Abend ſank, ihrer harten Pflicht oblagen.
[149] Und auch in den Tagen, die nun folgten, ſaßen ſie nebenein¬
ander. Denn die Kräfte Georgs hoben ſich wirklich; die bitterſte
Noth war ja vorüber, zudem ſchien der friſche Hauch der Ge¬
birgsluft heilend auf ſeinen fieberſiechen Körper zu wirken.
Er ſchwang den Hammer ſchon ganz rüſtig und erzählte dabei
der armen Genoſſin allerlei aus ſeinen Militärjahren. Es
waren freilich keine munteren Abenteuer und kecken Soldaten¬
ſtreiche, was er vorbrachte; bei ſeinem ſcheuen und in ſich
ſelbſt gedrückten Weſen hatte er ja nur die Schattenſeiten
eines Standes kennen gelernt, der ſo manchem Anderen den
heiterſten Genuß des Daſeins eröffnet. So konnte er nur
berichten von den Leiden der Rekrutenzeit, welche ihm die un¬
erbittliche Corporalsfauſt zur Hölle gemacht; von langem
Schildwachſtehen im Schnee; von beſchwerlichen Märſchen und
nächtlichen Campirungen im Regen und Sturm — und vor Allem,
wie er bei der Belagerung Venedigs mit ſeinem Regimente
vor dem Fort Malghera geſtanden und dort ihrer Hunderte
in der faulen Sumpfluft vom Typhus und von der Cholera
hinweg gerafft wurden. Tertſchka hörte ſtill zu. Vieles faßte
ſie nur halb oder gar nicht; denn die Dinge, von denen er
ſprach, hatten ja ſtets ſo fremd, ſo fern ab von ihr gelegen, und
vollends von einer Stadt, die mitten im Waſſer erbaut ſei,
konnte ſie ſich keinen Begriff machen; wie ihr denn auch bei
dem Worte „Meer“ nichts als eine undeutlich ſchimmernde
Wolke vorſchwebte. Aber ſie fühlte heraus, wie ſchlecht es
[150] Georg all' ſeiner Tage ergangen ſei, und erzählte hinwieder
auch, was ihr Trübes und Trauriges aus ihrem trüben, ein¬
förmigen Daſein in der Erinnerung geblieben war. So trö¬
ſteten ſie ſich unbewußt gegenſeitig und es that ihnen wohl,
daß ſie jeden Morgen, die Hämmer auf der Schulter, zum
Steinbruch hinanſteigen und die langen ſonnigen Tage neben
einander verbringen konnten, wobei ſie oft den Ruf der Glocke
überhörten oder darob erſchracken, weil er ſie aus ihrer weh¬
müthig trauten Einſamkeit in die wüſte Gemeinſchaft der Hütte
zurück trieb. —


Aber nicht lange ſollte die Zeit dauern, wo ſich die Bei¬
den in lang erduldeter Noth und ſtill entſagendem Kummer,
wie Andere in Luſt und Fröhlichkeit und drängender Lebens¬
fülle, immer inniger zuſammenfanden. Sei es, daß der Auf¬
ſeher durch die anderen Arbeiter von ihrem Einvernehmen
übelwollende Kunde erhalten; ſei es, daß er es mit dem In¬
ſtinkte der Bosheit von ſelbſt errathen hatte — genug: er
ſtand eines Tages hinter ihnen. „Was hockt Ihr da bei
einander wie die Kröten?“ ſchrie er, während ſie erſchrocken
aufſahen. „Marſch, Du Hungerleider, zu Deinen Kameraden,
wo Du hingehörſt!“ Und damit ſtreckte er gebieteriſch die
Hand gegen den unteren Theil des Steinbruches aus. „Und
Du, heimtückiſches Aas“, wandte er ſich zu Tertſchka, während
Georg betroffen und ſprachlos dem Befehl Folge leiſtete, „mir
ſcheint, Du hältſt es mit dem elenden Krüppel da? Wart',
[151] das will ich Dir austreiben! Wenn ich Euch noch einmal
beiſammen ſeh', ſo iſt der Kerl die längſte Zeit hier geweſen,
und Du erblickſt mir kein Tageslicht mehr!“ —


So wurden ſie rauh und plötzlich aus einander geriſſen.
Georg mußte in den nächſten Tagen unten am Bahngeleiſe
arbeiten, und wenn ſie um die Mittagsſtunde oder nach Son¬
nenuntergang in der Hütte zuſammen trafen, ſo wagten ſie
kaum ſich anzuſehen, geſchweige nur ein Wort mit einander
zu reden. Denn der Aufſeher behielt ſie ſcharf im Auge und
auch die Andern ſchienen mit ſtumpfer Schadenfreude über
ihnen zu wachen.


Eines Abends jedoch — es war Samſtag — hatte ſich
der Aufſeher mit einigen Zechgenoſſen in die Schenke einer
nahen Ortſchaft begeben, indeß die Zurückgebliebenen, wie ge¬
wöhnlich, den eben erhaltenen Wochenlohn an ein Spiel Kar¬
ten wagten, deſſen beſchmutzte Blätter in ihren Händen die
Runde machten. Während es dabei immer wüſter und lär¬
mender herging, faßte Georg Muth, ſich verſtohlen Tertſchka
zu nähern, die in ihrem Schlafwinkel auf einer alten Kiſte
ſaß, das Haupt auf die Hände geſtützt. „Tertſchka“, ſagte
er leiſe, indem er ein kleines ledernes Beutelchen aus der
Taſche zog, „hier iſt das Letzte von dem Gelde, das ich Dir
ſchuldig bin.“ Und dabei legte er ſachte einige Kreuzer in
ihren Schooß.


„Ach, laß' es“, erwiederte ſie; „Du wirſt es noch brauchen.“

[152]

„Wozu ſollt' ich's brauchen?“ fuhr er niedergeſchlagen
fort. „Ich habe keine Freude mehr auf der Welt, ſeit ich
nicht mehr mit Dir arbeiten kann.“


„Ich auch nicht“, ſagte ſie leiſe.


„Weßhalb er uns nur auseinander gejagt hat?“ begann
er nach einer Weile. „Ihm könnt' es doch Eins ſein, ob wir
beiſammen ſitzen oder nicht; wenn wir nur unſer Tagwerk
ordentlich verrichten.“


Sie blickte vor ſich hin. „Er iſt ein böſer Menſch“,
ſagte ſie endlich, „der nicht ſehen kann, daß es einem Anderen
wohl iſt, und Jeden gern um ſein Liebſtes bringt.“


Tertſchka war bei dieſen Worten aufgeſtanden, hatte den
Deckel der Kiſte zurückgeſchlagen und holte jetzt langſam eine
wollene Jacke, einen Rock von Kattun und ein Paar ſchwerer
Schuhe hervor. Dann noch ein verſchoſſenes rothes Halstuch
und einen alten Roſenkranz mit einem Kreuzlein von Meſſing
daran, welche Gegenſtände ſie ſammt und ſonders auf dem
wieder herabgelaſſenen Deckel der Kiſte ſorglich zurecht legte.


„Was thuſt Du denn da?“ fragte Georg, der ihr zuſah.


„Ich will morgen nach Schottwien hinunter in die Kirche
gehen“, erwiederte ſie. „Er kann's freilich nicht leiden, denn
er kennt keinen Herrgott, und hat ſchon die Mutter immer
geſcholten, weil ſie Sonntags niemals die Meſſe verſäumen
wollte und mich immer mit ſich nahm. Er weiß mir immer
etwas in den Weg zu legen, und ich bin ſchon zwei Monate
[153] nicht mehr von der Hütte weggekommen. Aber morgen geh'
ich; er ſoll ſich anſtellen, wie er will. Ich mag nicht das
Beten ganz verlernen unter dem Volk, das nur an's Trinken
und Kartenſpielen denkt.“


Georg ſah vor ſich hin. „Ich bin auch ſchon lang' in
keiner Kirche mehr geweſen“, ſagte er. „Wie ſchön wär' es,
wenn ich morgen mit Dir gehen könnte.“


„Ja, es wär' ſchön; aber es kann nicht ſein.“


„Je nun“, fuhr er fort, „der Aufſeher müßt' es gerade
nicht merken. Wir gingen ein Jedes für ſich allein fort und
wir fänden uns erſt unten wo zuſammen.“


Sie dachte nach. „Du haſt Recht; ſo wär' es möglich.
Aber Du müßteſt lange vor mir aufbrechen. Gleich links von
der Hütte führt ein ſchmaler verſteckter Steig in's Thal hinab;
unten ſteht ein hölzernes Kreuz — dort könnteſt Du mich er¬
warten. Aber jetzt geh',“ ſetzte ſie ängſtlich drängend hinzu,
„damit die Andern nicht merken, daß wir mit einander ge¬
ſprochen haben.“


Und ſo ging er und ſuchte das harte Lager auf, wo er
mitten unter dem lauten Gezänk der Spielenden in froher
Erwartung des kommenden Tages ſanft einſchlief. —


Am andern Morgen funkelte die Welt in hellem Sonnen¬
glanze, als Georg den ſteilen Fußpfad hinabſtieg, welchen ihm
Tertſchka bezeichnet hatte. Er lugte dabei nach dem Kreuz
im Thale aus und gewahrte bald, wie es morſch und windſchief
[154] aus jungen Fichtenſchößlingen hervorſah. Nun hatte er es
erreicht und ſetzte ſich, da es noch früh war, auf den be¬
mooſ'ten Steinblock, der gleichſam als Betſchemel davor lag.
Tiefes, ſonntägliches Schweigen umgab ihn; ſelbſt die Bienen
über den Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen
Kelche erſchloſſen, ſchienen nicht zu ſummen. Georg kam ein
unwillkürliches Lauſchen an, und wie er ſo recht in die Stille
hinein horchte, da ward es ihm, als vernähm' er ein leiſes,
feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und
nach aber ſtellte ſich die Ungeduld des Erwartens ein. Er
erhob ſich, ſchritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen;
auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten.
„Die will ich der Tertſchka geben, wenn ſie kommt“, ſagte er
zu ſich ſelbſt, indem er auf den unbeabſichtigten Strauß ſah,
den er nun in der Hand hielt. Dann brach er noch ein lan¬
ges Farrenkraut ab und ſteckte es an ſeine Mütze, wo es ſich,
hin- und herſchwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm.
Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand
und bald war Tertſchka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte
des Steiges hinauf entgegen geeilt war. „Da bin ich“, ſagte
ſie raſch athmend. „Er hat mich diesmal ohne viel Worte
gehen laſſen.“ Georg ſtand vor ihr und ſah ſie an. Sie hatte
heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das ſchlichte Haar frei ge¬
ſcheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Roth des
Halstuches ſanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich
[155] viel zu weit war, und der helle Kattunrock ließen ihr ſo übel
nicht. „Wie ſchön Du heut' ausſiehſt!“ ſagte er endlich. Sie
ſchlug erglühend die Augen nieder. „Ich hab' das Alles
noch von meiner ſeligen Mutter“, erwiederte ſie, indem ſie
den bauſchenden Rock zurecht drückte. „Ich trag' es ſo ſelten
und da hält es ſich.“ „Da haſt Du Blumen“, fuhr Georg
fort; „ich hab' ſie unterdeſſen gepflückt.“ Sie nahm den
Strauß, den er früher halb hinter ſich verborgen hatte, und
wollte ihn vor die Bruſt ſtecken. Aber er war zu groß und
ſie behielt ihn in der Hand, um welche ſie den Roſenkranz
gewunden hatte. So ſchritten die Beiden durch die grünen
Gefilde und an ſchmalen Aeckern vorüber, wo das Korn be¬
reits geſchnitten und aufgehäuft lag, bis ſie den Markt Schott¬
wien erreicht hatten. Dort trafen ſie Alles in Bewegung.
Denn es war eben Kirchtag, und die lange breite Gaſſe, aus
welcher der Ort beſteht, wimmelte von feſtlich gekleideten
Menſchen und leichtem Fuhrwerk. Vor der Kirche aber hatte
man Bretterbuden aufgeſchlagen und dort war eine Menge
der verſchiedenartigſten Dinge bunt neben einander zum Ver¬
kauf ausgelegt. Tücher, Tabakpfeifen, Meſſer, Glasperlen und
Wachskorallen; allerlei Kochgeſchirr, Pfefferkuchen und Spiel¬
zeug für Kinder. Sie blieben eine Weile bewundernd vor all
dieſen Herrlichkeiten ſtehen und Georg bekam Luſt, eine Pfeife
zu kaufen. Als er noch Soldat war, hatte er geraucht; ſpä¬
ter, in ſeinem Elend, hatte er's aufgeben müſſen: nun aber,
[156] da er ſein Brod erwarb und weder trank noch ſpielte, wie
die Andern, konnte er ſich dieſen Genuß wohl wieder gönnen.
Er theilte ſeine Abſicht Tertſchka mit und dieſe ſprach ihm zu,
er möge nur Handel eins werden; ſie ſelbſt würde unterdeſſen
langſam vorausgehen. „In der Ortskirche ſind zu viele Men¬
ſchen“, ſagte ſie. „Eine halbe Wegſtunde außerhalb des Mark¬
tes liegt eine einſame Kirche; in der bin ich ſchon ein¬
mal geweſen, und will auch heute wieder hineingehen.“ Sie
meinte damit „Maria Schutz“ am Fuße des Sonnwendſteins.
Georg drängte ſich durch eine Gruppe von Gaffern und Feil¬
ſchenden und erſtand eine hübſche Porcellanpfeife mit bunten
Troddeln. Dabei fiel ihm ein funkelnder Schmuck von gelben
Glasperlen in die Augen, und er dachte, wie ſchön ſich der
am Halſe Tertſchka's ausnehmen würde. Da der Preis, wel¬
chen der Händler forderte, nicht allzu hoch war, ſo ließ er ſich
das Geſchmeide in Papier wickeln und ſteckte es zu ſich. Mit
den paar Kreuzern, die er auf eine Guldennote herausbekam,
kaufte er in der anſtoßenden Bude ein großes Herz aus
Pfefferkuchen; dann ſprang er noch um ein bischen Tabak in
den nächſten Kramladen und eilte mit ſeinen Schätzen der
Vorangegangenen nach. Er zeigte ihr zuerſt die Pfeife, die
ihr wohl gefiel. „Das iſt für Dich“, ſagte er hierauf und
gab ihr das Herz. Es war mit einem farbigen Bildchen ge¬
ſchmückt, das ein zweites kleines Herz vorſtellte, von einem
Pfeile durchbohrt; ein Blumengewinde faßte das Ganze ein.
[157] Sie betrachtete es ſtill und ſchob es mit dankendem Lächeln
zwiſchen den Strauß und den Roſenkranz ein. „Ich habe
noch etwas für Dich gekauft“, fuhr er nach einer Weile fort,
indem er das kleine Päckchen langſam aus der Taſche zog und
die Perlen durch die geöffnete Papierhülle blitzen ließ. Sie
warf einen Blick darauf. „Wie kannſt Du nur ſo viel Geld
für mich ausgeben!“ ſagte ſie; aber ihre Miene ſtrahlte von
froher Ueberraſchung und reinſter Freude. „Für Dich möcht'
ich Alles hingeben“, erwiederte er innig. „Aber nimm es
gleich um; es wird Dir gut ſtehen!“ Sie reichte ihm, was
ſie in der Hand hatte, und legte dann den Schmuck um ihren
Hals. Da er aber etwas eng und rückwärts feſt zu machen
war, ſo konnte ſie damit nicht recht zu Stande kommen. „Laß
das mich thun!“ rief er, gab ihr wieder Alles zurück, drückte,
nachdem ſie ſich umgewendet, ihre braunen Haarflechten ſanft
empor und ſchob die beiden Theile der kleinen Schließe in
einander. „So!“ ſagte er, indem er mit zufrieden prüfendem
Blick vor ſie hin trat. Dann gingen ſie fröhlich weiter und
hatten bald die Kirche erreicht, die aus ſchattigen Linden her¬
vorſah. Sie trafen nur ſehr wenige Beter an; ein alter Prie¬
ſter mit grämlichen Geſichtszügen war eben zum Altar getreten
und begann gleichgültig die Meſſe zu leſen. Tertſchka kniete
in der letzten Reihe der Bänke nieder, legte den Strauß und
das Herz vor ſich hin und faltete die Hände. Georg blieb
hinter ihr ſtehen. Es wurde ihm ganz eigenthümlich zu Muth
[158] in dem ſtillen Raume. Durch die hohen ſchmalen Bogenfen¬
ſter fiel das Licht ſanft und mild herein; er hörte das Ge¬
murmel des Prieſters, das Klingen des Miniſtrantenglöckleins
und Andacht durchſchauerte ihn. Aber beten konnte er nicht:
er blickte nur unverwandt auf Tertſchka, die vor ihm kniete
und mit geſenktem Haupte leicht die Lippen bewegte. Die
Meſſe war bald zu Ende; der Prieſter gab den Segen und
die Anweſenden entfernten ſich. Nur Tertſchka verweilte noch.
Endlich bekreuzte ſie ſich, ſtand auf und ſchritt, während Georg
folgte, nach der Thür, wo der Küſter bereits ungeduldig die
Schlüſſel klirren ließ. Draußen leuchtete der goldene Vor¬
mittag und nicht weit von der Kirche entfernt, ſtreckte ein
ſtattliches Wirthshaus einen Buſch von Tannenreiſern gar ein¬
ladend aus. „Willſt Du Dich ſchon auf den Heimweg machen?“
ſagte Georg, da Tertſchka wieder ſchweigend den Weg nach
dem Markte einſchlug.


„Wohin ſollten wir denn?“ erwiederte ſie und ſah
empor.


„Dort drüben iſt ein Wirthshaus. Ich glaube, wir könn¬
ten uns heut' etwas zu Gute thun, Tertſchka. Wer weiß, ob
wir wieder einmal mit einander gehen.“


„Nun, wenn Du Luſt haſt“, ſagte ſie und blieb ſtehen.
„Der Aufſeher wird freilich ſchelten, wenn ich ſo ſpät zurück¬
komme. Aber Du haſt Recht: wer weiß, ob wir wieder ein¬
mal mit einander gehen.“

[159]

Sie ſchritten alſo auf das Haus zu, vor welchem ſich
ein ſanfter Hügel erhob. Dort wurzelte eine alte, rieſige
Buche und breitete ihre Aeſte über einer Anzahl roh behauener
Tiſche und Bänke aus. Aber Niemand ſaß daran. Es war
ganz ſtill und einſam hier; nur drinnen ſchien ſich geſchäftiges
Leben zu regen. Endlich ſah der Wirth aus der Thüre, in
ſchneeweißen Hemdärmeln, ein grünes Sammtmützchen auf dem
Kopfe. Er trat, die ungewohnten Gäſte von der Seite an¬
blickend, heraus und brachte auf das Begehren Georgs Wein
in einem großen Henkelglaſe, Brod und Fleiſch. Das ſetzte
er ihnen auf den Tiſch, an welchem ſie ſich niedergelaſſen
hatten, verlangte gleich die Bezahlung und eilte wieder in's
Haus zurück. Georg ſchob Tertſchka den Teller zu und dieſe
zerlegte nun das Fleiſch in kleine Stücke. Dann brachen ſie
das Brod und begannen gemeinſchaftlich zu eſſen, wobei ſich
Tertſchka, da der Wirth nur für Einen geſorgt hatte, des
Meſſers als Gabel bediente. Auch den Wein genoſſen ſie zu¬
ſammen, nach einander das Glas zum Munde führend. Nach
beendetem Mahle brannte Georg ſeine Pfeife an und ſah
wohlgemuth dem Rauche nach, der ſich leicht und bläulich in
die ſonnige Luft hinein kräuſelte. „Schau, Tertſchka“, ſagte
er, indem er ſeine Hand auf die ihre legte, „das hätten wir
uns geſtern früh nicht träumen laſſen, daß wir heute ſo fröh¬
lich bei einander ſitzen würden.“


„Ja“, erwiederte ſie; „ich hätt' es nicht verhofft.“

[160]

Inzwiſchen war der Mittag heran gerückt und mit einem
Male ertönten in der Ferne luſtige Klänge von Hörnern und
Clarinetten. Gleich darauf ſtürzte der Wirth aus der Thüre.
„Die Hochzeiter ſind da!“ rief er dem nachfolgenden Geſinde
zu. „Sputet euch! die Tiſche ſollten ſchon gedeckt ſein.“ Der
Befehl wurde raſch ausgeführt, und es war auch hohe Zeit;
denn ſchon kam, von der lärmenden Ortsjugend umſprungen,
ein ſtattlicher Zug in Sicht. Spielleute voran; dann ein
jugendliches Brautpaar; hintendrein die ganze Sippſchaft, zahl¬
reiche Hochzeitsgäſte und ein Rudel Neugieriger. Im Nu
waren die Tiſche beſetzt und umlagert, und nun ging es an
ein Schmauſen, Trinken und Jubiliren, und die Muſikanten,
die auch Streichinſtrumente mitgebracht hatten, fiedelten und
blieſen dazu, daß ihnen faſt der Odem ausging. Es waren
ſeltſam wechſelnde Empfindungen, die unſer Paar inmitten die¬
ſer lauten Luſtbarkeit überkamen. Zuerſt hatten ſie erſtaunt
in das bunte Gewirr hineingeblickt; dann aber konnte Tertſchka
das Auge nicht mehr von der Braut abwenden. Die ſah auch
gar ſchön aus und mußte eine reiche Bauerstochter geweſen
ſein. Sie trug ein knappes Mieder von ſchwarzem Sammt,
das ihren ſchlanken Wuchs deutlich hervortreten ließ; ein Kett¬
lein von eitel Gold war fünf- oder ſechsmal um ihren Hals
geſchlungen und das hohe Myrtenkränzlein in dem blonden, hinten
in zwei langen Zöpfen herabfallenden Haar ſtand ihr zu dem
etwas ſtolzen und ſtrengen Geſichte wie eine kleine Krone.
[161] Auch der Bräutigam war ein ſtattlicher Junge, dem gegen
Bauernſitte ein Bärtchen auf der Oberlippe dunkelte und deſſen
ſchmucker, mit Gemsbart und Feder gezierter Jägerhut wohl
im Stande war, die Bewunderung Georgs auf ſich zu lenken.
Nach und nach aber beſchlich die Beiden ein banges, drücken¬
des Gefühl der Verlaſſenheit unter den vielen Menſchen, davon
gar Manche ſie mit ſcheelen Blicken muſterten, als wollten ſie
fragen: „was haben die hier zu ſchaffen?“


Endlich wandte ſich Tertſchka an Georg. „Komm, laß
uns fortgehen. Wir taugen nicht unter die Leute. Wir wollen
uns drüben am Waldrand niederſetzen. Dort können wir
Alles von Weitem mit anſehen und der Muſik zuhören.“


Er war es zufrieden und ſo ſchritten ſie dem dunklen
Fichtenwald entgegen, deſſen Saum die helle Wieſe begrenzte.
Auf einem kleinen Abhange ließen ſie ſich nieder und lauſchten
den Klängen, die, lieblich gedämpft, zu ihnen hinüberzogen.
Mit einem Male ward es ſtill; ſie ſahen, wie drüben Alles
von den Tiſchen aufſtand und einen Halbkreis bildete. Gleich
darauf begannen wieder die Geigen zu ſchwirren.


„Die Brautleute tanzen!“ rief Tertſchka. Und wirklich
war es ſo. In gehaltenem Tempo und mit zierlichen Wen¬
dungen bewegten ſich die hohen ſchlanken Geſtalten auf dem
grünen Plan. „Wie luſtig ſie ſich dreh'n!“ fuhr Tertſchka
fort, indem ſie ſich unbewußt an die Schulter Georgs lehnte.
„Schau nur!“

Saar, Novellen aus Oeſterreich. 11[162]

„Ja, es ſind glückliche Leute“, ſprach er, ohne hin zu
ſehen, wie im Traum. — „Wenn wir nur auch einmal Hoch¬
zeit haben könnten.“


„Ach geh',“ ſagte ſie leiſe und langte nach einer rothen
Blume, die zu ihren Füßen blühte.


„Reſi“, fuhr er fort — es war das erſte Mal, daß er
ſie ſo nannte — und legte ſeinen Arm ſcheu und bebend um
ihren Leib, „Reſi — ich hab' Dich ſo lieb!“


Sie erwiederte nichts; aber in dem Blicke, den ſie zu
ihm aufſchlug, lag es für ihn wie ein wogendes Meer von
Glück. Und als jetzt drüben die Geigen lauter jubelten und
das Brautpaar, durch allſeitiges Rufen und Händeklatſchen
angefeuert, ſich im ſtürmiſchen Wirbel dahin ſchwang: da zog
er ſie feſt an's Herz und ihre Lippen ſchloſſen ſich zu einem
langen, tiefen Kuſſe zuſammen. —


Soll ich, der ich dieſe einfache Geſchichte wahrheitsgetreu
zu erzählen mir vorgeſetzt, nun auch die Seligkeit zu ſchildern
verſuchen, welche die Beiden von jetzt an überkommen hatte?
Ich glaube, daß ich darauf verzichten darf; und zwar nicht
blos deshalb, weil keine Worte zu dem Gefühl hinanreichen,
das ihnen mit einem Male den vollen Lichtglanz, den über¬
ſchwänglichen Reichthum des Daſeins erſchloſſen hatte; ſondern
[163] auch, weil wohl Jeder den Zauber der Liebe an ſich ſelbſt
erfahren hat und ſo im Stande iſt, ſich das Glück Georgs
und Tertſchkas nach ſeinem eigenen Herzen auszumalen. Frei¬
lich mußten ſie dieſes Glück ſcheu und ängſtlich geheim halten
wie ein Verbrechen; aber es lebte und blühte deſto ſchöner in
der Tiefe ihres Inneren fort und bei der angeborenen und lang
geübten Begnügſamkeit ihres Weſens waren ſie zufrieden, wenn
ſie ſich des Morgens, Mittags und Abends verſtohlen entgegen
lächeln oder zu einem flüchtigen Händedruck an einander vor¬
überſtreifen konnten. Auch ſchien es, als ob der Aufſeher
immer weniger auf ſie achte, daher ſich ihre Beſorgniß, er
könnte vielleicht doch von ihrem gemeinſamen Gange nach
Schottwien Kenntniß oder Vermuthung haben, mehr und mehr
verlor. Ja, Georg wagte ſich ſogar, wenn er, um Schotter
zu holen, mit ſeinem Schiebkarren nach dem Steinbruch mußte,
manchmal raſch zu Tertſchka hinauf, wo dann den Liebenden
in einer kurzen Umarmung die Welt verſank. In einem ſol¬
chen Augenblick jedoch erſchallten plötzlich nahende Tritte und
als ſie erſchrocken aus einander fuhren, ſahen ſie den Aufſeher,
der mit hohn- und wuthverzerrtem Antlitz hinter ihnen ſtand.
„Hab' ich Euch, Ihr Racker!“ ſchrie er. „So befolgt Ihr
mein Gebot und meint, ich merke Euer Treiben nicht! Ich
wußte recht gut, daß Ihr letzthin den ganzen Sonntag mit
einander herumgezogen ſeid; aber ich wollt' Euch auf friſcher
That ertappen, und jetzt ſollt Ihr mir's büßen!“ Und damit
11*[164] ergriff er Georg rückwärts beim Halſe und ſchleuderte ihn
ein paar Schritte weit zu Boden, daß Sand und Geröll auf¬
ſtob. „Fahr' Deinen Schotter hinab, Du Galgenſtrick, und
dann ſchnürſt Du Deinen Bündel und gehſt! Wenn Du mir
noch einmal unter die Augen kommſt, ſo ſchlag' ich Dich krumm
und lahm!‛ Bei dieſen Worten ſtieß er den mühſam ſich
Aufrichtenden zu dem Schiebkarren und trieb ihn mit drohend
geſchwungener Fauſt den Abhang hinunter. Hierauf kehrte er
zu Tertſchka zurück und betrachtete ſie lange mit einem böſen,
grauſamen Blicke. „Mit Dir“, ſagte er endlich, „werd' ich
ſpäter reden.“ Und er ging, unverſtändliche Worte in ſich
hinein murmelnd.


Betäubt, ſeiner Sinne beraubt, war Georg bei ſeinen
Genoſſen angelangt. Er hatte mechaniſch den Schiebkarren
ausgeleert; dann ſetzte er ſich auf einen Stein und blickte ge¬
dankenlos in's Weite hinaus. Der Himmel war am Morgen ſchon
leicht umwölkt geweſen; nun hatte ſich ein trüber, grauer Tag zu¬
ſammen gezogen. Herbſtlicher Windhauch ſtrich leiſe durch die
Wipfel der Tannen und ein feiner kalter Regen fiel auf die
Erde. Aber Georg empfand die Tropfen nicht, die ſcharf in
ſein Antlitz ſchlugen. Feurige Funken tanzten vor ſeinen Augen
und ein heißer Schauer durchrieſelte die Leere ſeiner Bruſt.
Nach und nach jedoch drängte ſich das Bewußtſein der erlitte¬
nen Schmach immer mächtiger in ihm hervor und miſchte ſich
mit dem brennenden Gefühl des Unrechtes, das man an ihm
[165] und Tertſchka zu begehrn im Begriffe ſtand. Fortjagen wollte
man ihn und ſie auseinander reißen, die ſo tief und innig
verbunden waren? Wer durfte das? Niemand! Und je
länger er darüber nachdachte, deſto mehr empörte ſich ſeine
ſonſt ſo verſchüchterte und duldende Seele und eine hehre Kraft,
ein heiliger Muth loh'ten darin auf, jeder Macht der Erde
entgegen zu treten, die ſich ſolcher Gewaltthat unterfinge.
Seine unſcheinbaren Züge nahmen allmälig den Ausdruck feſter
Entſchloſſenheit an und ſeine lichten Augen funkelten wunder¬
ſam. Endlich erhob er ſich und ſchritt, während ihm die An¬
dern verwundert nachſahen, zu Tertſchka empor. Die ſaß
da und weinte.


„Weine nicht, Reſi“, ſagte er und ſeine Stimme klang
ernſt und tief.


Sie antwortete nicht.


Er hob ihr ſanft das Haupt empor. Sie ſchluchzte noch
lauter.


„Weine nicht“, wiederholte er. „Es hat Alles ſo kom¬
men müſſen. Aber es iſt gut; wir wiſſen nun, was wir zu
thun haben.“


Sie ſah vor ſich hin.


„Er hat mich fortgejagt; ich muß gehen — und Du
gehſt mit mir.“


Es war, als hörte ſie ihn nicht.


[166]

„Unten in Krain bauen ſie die Eiſenbahn weiter“, fuhr
er fort. „Dort finden wir Arbeit.“


Sie ſchüttelte langſam das Haupt.


„Du willſt nicht Reſi? Und ſieh', noch Eins. Ich hab'
einmal gehört, daß ausgediente Soldaten, die im Krieg waren,
Bahnwächter werden können. Ich laß' mir ein Geſuch ſchrei¬
ben; vielleicht glückt es mir und wir bekommen dann eines
von den kleinen Häuſern, wie ſie unten am Geleiſe ſtehen,
und können darin leben als Mann und Frau. — Und wenn
es damit nichts iſt“, ſetzte er raſch hinzu, da ſie noch immer
kein Zeichen der Beiſtimmung gab, ſondern nur heftiger weinte,
„wenn es damit nichts iſt, ſo muß es auch recht ſein. Wir
wollen ein paar Jahre fleißig arbeiten und ſparen, ſo viel
wir können — Aber ſo ſprich doch ein Wort, Reſi!“


„Ach“, jammerte ſie, „was Du da ſagſt, iſt Alles ſchön
und gut; aber Du bedenkſt Ein's nicht: daß mich der Auf¬
ſeher nicht fortläßt.“


„Er muß Dich fortlaſſen. Du biſt kein Kind mehr.
Auch hat er ſonſt nichts mit Dir zu ſchaffen. Du biſt eine
Arbeiterin, wie jede andere, und kannſt gehen, wann und wo¬
hin Du willſt.“


„Glaub' mir, er läßt mich nicht gehen — und mit
Dir ſchon gar nicht! — Ich hab' Dir's bis jetzt verſchwie¬
gen“, fuhr ſie nach einer Pauſe fort, während ſich ihr Antlitz
mit dunkler Röthe überzog, „aber nun muß ich Dir's ſagen.
[167] Schon zur Zeit, da die Mutter noch lebte, wollte er oft zärt¬
lich mit mir thun; aber ich wich ihm aus und drohte, ich
würd' es der Mutter klagen. Im vorigen Somrner jedoch
kam er eines Abends allein aus dem Wirthshaus zurück und
fing wieder an und ſagte, er würde mich heirathen. Und da
ich ihm kein Gehör gab, wollt' er Gewalt brauchen. Ich
aber hab' mich ſeiner erwehrt und hab' ihm geſagt, was ich
von ihm denke. Seitdem haßt er mich bis auf's Blut und
rächt ſich, wie er kann.“


Georg war bis in die Lippen hinein bleich geworden und
ſeine Bruſt rang mühſam nach Athem. „Der Elende!“ ſtieß
er endlich hervor. „Und bei dem ſollteſt Du bleiben? Jetzt,
da ich das weiß, noch weniger! Du ziehſt mit mir, und er
ſoll ſehen, wie er's verhindern kann.“


„Trau' ihm nicht“, rief ſie ängſtlich. „Er iſt im Stande
Einen zu morden, der ſchwächer iſt, als er,“


„Ich fürcht' ihn nicht“, erwiederte Georg und ſeine kleine
Geſtalt reckte ſich ſcheinbar weit über ihr Maaß hinaus. „Er
hat mich früher von hinten angefallen und ich war nicht dar¬
auf gefaßt. Aber er ſoll mir noch einmal kommen!“


„Jeſus!“ klagte ſie und rang die Hände; „ich könnt' es
nicht ſehen, daß Ihr aneinander geriethet.“


„Nun, es wird ſo arg nicht werden“, verſetzte er, ſeine
Erregung niederkämpfend. „Wir wollen zu ihm — jetzt gleich
— und ihm ruhig und gemeſſen unſeren Entſchluß mittheilen.
[168] Du wirſt ſehen, daß er nichts erwiedert. Denn ſo ſchlecht, ſo
niederträchtig er auch iſt: erkennen muß er, daß er kein Recht
und keine Macht hat, Dich zu halten.“


Sie rang noch immer verzweifelt die Hände.


„Faſſe Muth, Reſi“, ſagte er ernſt. „Willſt Du mich
allein ziehen laſſen?“


Sie flog ihm an die Bruſt und klammerte ſich an ſeinem
Halſe feſt.


„Nun alſo“ fuhr er fort und ſtrich ihr ſanft das Haar
aus der Stirne, „gehen wir.“ Und ſie ſchritten langſam auf
die Hütte zu: ſie die Bruſt voll Bangen und Zagen vor den
Dingen, die ſie kommen ſah; er unerſchütterliche Kraft und
Zuverſicht im Herzen. —


Als ſie über die Schwelle traten, ſaß der Aufſeher mit
einem Meſſer in der Hand am Tiſche und ſchälte Kartoffeln.
Er blickte etwas betroffen auf das Paar; aber ſeine Ueber¬
raſchung ſchlug allſogleich in Zorn und Wuth um. „Was
wollt Ihr Zwei da?“ ſchrie er, indem er ſich halb erhob und
den Griff des Meſſers wie kampfbereit auf den Tiſch ſtützte.


„Ihr habt mir die Arbeit gekündigt“, erwiederte Georg
in ruhigem Tone. „Ich komme, um meine Sachen zu holen
und Euch zu ſagen, daß die Tertſchka mit mir geht.“


Der Aufſeher machte eine Bewegung, als wollte er auf
ihn zuſtürzen; jedoch er fühlte ſich durch die ernſte, ſichere Miene,
mit welcher Georg vor ihm ſtand, wider Willen eingeſchüchtert.


[169]

„Darauf geb' ich gar keine Antwort“, knirſchte er
endlich.


„Ihr braucht auch keine zu geben. Tertſchka iſt frei und
ledig, und kann thun was ſie will.“


Der Aufſeher keuchte.


„Nimm, was Dir gehört, Reſi;“ fuhr Georg fort, indem
er ſich wandte, um ſeinen Querſack zu ſuchen, „und dann
komm'.“


In der Bruſt des Anderen arbeitete es heftig. Er wußte
augenſcheinlich nicht, was er beginnen ſollte. Aber in dieſer
Unentſchloſſenheit warf er einen Blick nach Tertſchka, welche
ihre Seelenangſt nicht verbergen konnte. Und als ſie jetzt auf
die Kiſte zuſchritt, ſprang er auf ſie los und ſtieß die Ent¬
ſetzte in den Keller hinab, deſſen Thüre halb offen ſtand.
Dann ſchloß er dieſelbe und ſteckte den Schlüſſel in die Taſche.
„So, das iſt meine Antwort“, ſtammelte er, vor Aufregung
am ganzen Leibe zitternd, während er ſich wieder am Tiſche
niederließ und mit erzwungener Ruhe ſeine Beſchäftigung fort¬
zuſetzen begann.


Das war ſo raſch, ſo unvermuthet geſchehen, daß es Georg
nicht hatte verhindern können. Er faßte ſich daher, hängte
ohne jedes Zeichen der Eile ſeinen Sack über die Schulter
und näherte ſich mit langſamen Schritten dem Aufſeher. „Laßt
die Tertſchka heraus“, ſagte er ruhig.


Der Aufſeher ſchälte Kartoffeln.

[170]

„Laßt die Tertſchka heraus.“


Die Hände des Aufſehers zitterten. Und als Georg
zum dritten Male, jedoch eindringlicher, ſeine Forderung wie¬
derholte, ſprang er auf und ballte die Fauſt. „Geh' jetzt —
geh'!“ rief er, „ſonſt — —“


„Was — ſonſt?“ erwiederte Georg gelaſſen. „Ich fürcht'
Euch nicht, wenn Ihr auch ſtärker ſeid. Vorhin hattet Ihr
leichtes Spiel mit mir; denn ich war wehrlos, wie jetzt die
Tertſchka. Aber Aug' in Aug' ſteh' ich Euch!“ Das Antlitz
des Aufſehers war gräßlich anzuſehen. Haß, Rachſucht und
lähmende Feigheit wogten darin auf und nieder. Er rang
nach Luft und ſeine Hände griffen unſicher vor ſich hin. Georg
gewahrte das Alles und ſeine Bruſt ſtählte ſich mehr und mehr.
„Drum rath' ich Euch“, fuhr er fort, „gebt gutwillig heraus,
was mein iſt; ſonſt nehm' ich mir's mit Gewalt.“


Während dieſer Worte hatten ſich einige Männer in der
Hütte eingefunden; denn die Mittagsſtunde nahte heran. Viel¬
leicht wollten ſie auch, getrieben von dem Inſtinkte der Men¬
ſchen, derlei Vorgänge zu ahnen, Zeugen dieſes Auftrittes ſein.
Ihre Anweſenheit wirkte ſtachelnd auf den Aufſeher. Er
fühlte ſich ſicherer, und ſeine Feigheit, die er ſelbſt mit Wuth
empfand, bäumte ſich aus Furcht, von Anderen bemerkt zu
werden, zu frecher Verwegenheit empor. „Habt Ihr gehört?“
rief er, gegen die Männer gewendet, „der Kerl wagt es, mir
[171] zu drohen, weil ich das ſchlechte Weibsbild, die Tertſchka, ein¬
geſperrt hab', daß ſie nicht mit ihm davon läuft.“


„Beſchimpft uns nicht!“ rief Georg, deſſen Blut unwill¬
kürlich höher aufwallte. „Wir ſind zwei ehrliche Leute. Ihr
habt kein Recht, die Tertſchka einzuſperren, wenn ſie auch
ſchlecht wär'.“


„Was? kein Recht hätt' ich?! Sie iſt mein Stiefkind
und bei mir aufgewachſen!“


„Leider Gottes! Mehr ſag' ich nicht; ich will Euch
ſchonen vor dieſen da.“ Und dabei deutete er nach den Män¬
nern, die mit ſtumpfem Behagen dem wachſenden Streite
zuſahen.


„Hört ihr den Hund? Schonen will er mich! Packt
ihn und werft ihn hinaus!“


Die Männer blickten einander unſchlüſſig an; aber ſie
regten ſich nicht. Hinter der Kellerthüre war lautes Aechzen
vernehmbar.


„Seht Ihr?“ fuhr Georg in ſteigender Erregung fort;
„es fällt Keinem ein, mich anzurühren. Drum ſag' ich Euch
zum letzten Male: gebt die Tertſchka frei, — oder ich nehm'
den Hammer dort. Zwei Schläge damit, und die Thür' geht
in Trümmer!“


„Was? die Thür' willſt Du mir einſchlagen? Du Räu¬
ber! Du Dieb! Hinaus! Sonſt laß' ich die Gendarmen
holen!“

[172]

„Laßt ſie holen!“ rief Georg flammend. „Dann wird
ſich zeigen, wer im Recht iſt! Dann wird ſich zeigen, warum
Ihr die Tertſchka eingeſchloſſen habt! Dann wird zu Tage
kommen, wie Ihr ſie von klein auf mißhandelt, wie Ihr der
Armen ſchändlich nachgeſtellt und ihr den ſauer verdienten
Taglohn und das Erbtheil der Mutter, deren Tod Euch auf
dem Gewiſſen brennt, vorenthalten habt! Dann wird zu Tage
kommen, wie Ihr hier oben mit den Schwachen und Wehr¬
loſen umgeht und wie Ihr Euch mäſtet mit dem Schweiß und
Blut der Arbeiter, die man Euch anvertraut!“ — Georg hielt
unwillkürlich inne. Die Wucht und die Wahrheit dieſer An¬
klagen hatten bei dem Aufſeher das Maaß zu Rande und ihn
ſelbſt um alle Beſinnung gebracht. Sein Antlitz war bläulich
fahl geworden; aufbrüllend wie ein verwundeter Stier, ſchäu¬
menden Mundes, die Augen weit vorgequollen — ſo ſtürzte
er ſich mit hochgeſchwungenem Meſſer auf Georg. Dieſer
aber hatte den Hammer erfaßt und ſchwang ihn gegen den
Angreifer. Ein dumpfer Schlag erdröhnte; der Aufſeher, vor
die Bruſt getroffen, wankte — und taumelte, während ſich
ein Schwall dunklen Blutes aus ſeinem Munde ergoß, röchelnd
zu Boden.


Einen Augenblick herrſchte lautloſe Stille; ſtummes, ödes
Grauſen hatte die Anweſenden ergriffen, Georg aber ſtand
da, wie David an der Leiche Goliaths. „Reſi! Reſi!“ rief
er jetzt, indem er mit raſchen Schlägen das Thürſchloß auf¬
[173] ſprengte, „komm heraus, Reſi! Du biſt frei; unſer Peiniger
liegt zu Boden!“


„Jeſus Maria!“ ſchrie ſie, hervoreilend, und ſchlug mit
einem Blick auf den Getroffenen die Hände zuſammen. „Er
iſt todt! Georg! Georg! Was haſt Du gethan! Jetzt wird
man Dich fortführen und als Mörder vor's Gericht ſtellen!“


„Das ſoll man! Ich werde Red' und Antwort geben.
Die dort müſſen es bezeugen, daß er mir mit dem Meſſer
an's Leben wollte. — Geht hinunter“, wandte er ſich an die
Männer, „und meldet, daß der Arbeiter Georg Huber den
Aufſeher erſchlagen hat.“


Es dauerte lange, bis ſich Einer dazu entſchloß. Georg
aber ſetzte ſich mit Tertſchka draußen vor der Hütte nieder.
Sie weinte in einem fort; er, noch immer gehoben von dem
Vollgefühle ſeiner That, die ihm ein vollſtrecktes Richteramt
erſchien, ſtreichelte ihr von Zeit zu Zeit ſanft tröſtend die
Wangen. Endlich erſchienen zwei Herren von der Bauleitung
und ein Gendarm. Sie ließen ſich Alles erzählen und ſprachen
dann eifrig unter einander. „Eingeliefert muß er werden“,
ſagte der Gendarm. „Er iſt Urlauber und gehört vor das
Militärgericht in Wiener-Neuſtadt.“ Da ſich Georg willig
und fügſam erwies, ſo wurde ihm mitgetheilt, daß man ihm
keine Feſſeln anlegen wolle; zu der jammernden Tertſchka aber
ſprach der Gendarm, ſie möge ſich tröſten; nach Allem, was
er gehört, dürfte es ſo ſchlimm nicht werden. Ja, er geſtattete
[174] ihr ſogar, ſich mit auf den Vorſpannswagen zu ſetzen, der ihn
und Georg ſpäter nach Wiener-Neuſtadt brachte — und ſo
fuhren ſie in den ſinkenden Abend hinein und in die dunkelnde
Nacht, während man oben die Leiche fortſchaffte und ein end¬
loſer Regen vom Himmel niederſtrömte.


Ein ſogenanntes Garniſons-Stockhaus, freundlicher Leſer,
iſt ein Gefängniß wie jedes andere, nur mit dem Unterſchiede,
daß Diejenigen, welche ſich darin befinden, alte, ſchadhafte
Uniformen auf dem Leibe tragen. Man findet dort Soldaten
von allen Farben und Abzeichen, und da ſie ſich ſammt und
ſonders als Glieder eines Standes fühlen, ſo herrſcht unter
ihnen mehr Eintracht, als dies anders wo der Fall zu ſein
pflegt; wie denn auch bei dem Völklein eine gewiſſe, durch
Aufrechthaltung der verſchiedenen Rangsunterſchiede bedingte
Zucht und Ordnung nicht zu verkennen iſt. Trotzdem bleibt
ein ſolches Stockhaus immerhin ein gar wüſter, trübſeliger Ort,
und es darf uns nicht Wunder nehmen, daß es Georg in
jenem zu Wiener-Neuſtadt nicht allzu wohl um's Herz ward.
Ein mürriſcher Profoß, von einer Wache begleitet, hatte ihn
bei ſpäter Nacht in dem dunklen, ſtark bevölkerten Raum ein¬
geſchloſſen, wo er ſich, da für ihn noch kein Strohſack in
Bereitſchaft war, neben geräuſchvoll athmenden Schläfern auf
[175] das blanke Holzlager hinſtreckte. Aber ſchlafen konnte er nicht.
Der gehobene Muth, die beſchwingende Zuverſicht, welche ihn
erfüllt hatten, waren ſchon während der langen traurigen Fahrt
einigermaßen in's Sinken gerathen; nun ſchlichen bange Zwei¬
fel und ſcheue Vorwürfe an ihn heran. Und als endlich ein
bleicher Lichtſchein durch die verſchalten Fenſter dämmerte, nach
und nach die kahlen, ſchmutzigen Wände und die unerfreulichen
Geſichter ſeiner Mitgefangenen beleuchtend: da fiel ihm die
Erkenntniß ſeiner Lage immer deutlicher, immer ſchwerer auf
die Seele. Nicht, daß er etwa die Folgen ſeiner That allzuſehr
gefürchtet hätte; war er doch angegriffen worden und hatte
ſich ſeines Lebens wehren müſſen; aber er ſah im Geiſte das
Bild des Erſchlagenen vor ſich, ſah ihn bleich und regungslos
im Blute liegen, und in ſeinem weichen, wohlempfindenden
Gemüthe miſchten ſich jetzt mit dem ſchaudernden Bewußtſein,
einen Menſchen getödtet zu haben, Reue und Mitleid und
ließen ihn tief beklagen, das Alles ſo habe kommen müſſen.
Dieſer unfreie und gedankenvolle Zuſtand wurde noch dadurch
geſteigert, daß Tage um Tage, Wochen um Wochen vergingen,
ohne daß man Georg in's Verhör genommen oder ſonſt ſich
um ihn gekümmert hätte. Denn nun ſtellte ſich auch die Sorge
ein, wie ſich die nächſte Zukunft geſtalten würde, und quälte
ihn umſomehr, als er über das Schickſal Tertſchka's, nach
welcher er eine ſchmerzliche Sehnſucht empfand, in völliger
Ungewißheit war. Das arme Geſchöpf hatte wohl durch
[176] Vermittlung des wackeren Gendarmen ein Nachtlager und
gleich in den nächſten Tagen beim Neubau eines Hauſes Ar¬
beit gefunden; aber in ihrem Inneren ſah es troſtlos aus.
Keiner von Denen, die an dem Baugerüſte vorübergingen,
und zufällig bemerkten, wie ſie Backſteine oder mit Mörtel
gefüllte Kübel hinanſchleppte, hätte gedacht, mit welch' tiefem
Gram und Herzeleid ſie das Alles verrichtete. Abends jedoch,
wenn die Arbeit eingeſtellt wurde, und an Sonn- und Feier¬
tagen umkreiſ'te ſie ſcheu die Kaſerne, in welcher ſich das
Stockhaus befand, und ſpähte zu jedem vergitterten und ge¬
blendeten Fenſter empor, ob ſie nicht irgendwo das Antlitz
Georgs entdecken könne; ſo zwar, daß ſie mehrmals von den
Schildwachen hart angelaſſen und fortgeſcheucht wurde. In
ihrer Noth wandte ſie ſich endlich an die Soldaten der Thor¬
wache, und bat ſie, ihr zu ſagen, wo ſich der Gefangene
Georg Huber befände; ſie möchte gern mit ihm reden. Da
bekam ſie denn freilich nur rohes Gelächter und unziemliche
Späße zu hören, bis ſich endlich ein gutmüthig ausſehender
Unteroffizier ihrer erbarmte, indem er ſich bereit erklärte, be¬
ſagten Gefangenen ausfindig zu machen und demſelben ihre Grüße
zu beſtellen; ihn zu ſehen und mit ihm zu reden, könne ihr
jedoch nicht verſtattet werden; es wäre denn, daß ſie vom Au¬
ditor hiezu die Erlaubniß bekäme. Den ſolle ſie aufſuchen;
aber ſie müſſe ſchon am Morgen zu ihm gehen; denn tagüber
ſei der Herr ſelten zu Hauſe anzutreffen. So ſuchte ſie denn
[177] früh am nächſten Sonntage ihre wollene Jacke und den Kattun¬
rock hervor und begab ſich, damit angethan, nach dem Hauſe,
welches ihr der Unteroffizier bezeichnet hatte. Dort mußte ſie
eine lange Zeit im Flur warten; denn ſie erhielt den Beſcheid,
der Herr Auditor ſchlafe noch. Endlich trat dieſer, bereits
völlig angekleidet, aus der Thüre und fragte ſehr eilig, was
ſie wolle. Er ließ ſie nicht ausreden und ſagte, die Erlaubniß,
mit den Arreſtanten zu ſprechen, könne nur in den ſeltenſten
Ausnahmsfällen ertheilt werden; ſie ſolle ſich übrigens beru¬
higen, denn die ganze Angelegenheit würde in Bälde ausge¬
tragen ſein. Wenig getröſtet ging ſie wieder; und wirklich
verſtrich abermals Woche um Woche, ohne daß über Georg
irgend eine Entſcheidung erfolgt wäre. Denn, um es nur zu
ſagen, der Auditor war ein lebensluſtiger junger Mann, dem die
Schönen der Stadt näher am Herzen lagen, als ſeine Gerichts¬
acten, zumal Verhandlungen, welche beurlaubte Soldaten be¬
trafen und alſo in dienſtlicher Hinſicht nicht ſo dringend waren,
ſchob er gerne auf die lange Bank. In ihrer nunmehr ge¬
ſteigerten Sorge trachtete Tertſchka wieder ihren Vertrauten
aufzufinden, und dieſer meinte, daß ihr jetzt nichts Anderes
übrig bliebe, als ſich an den Oberſten des Platzkommandos
zu wenden. Der ſei zwar ein etwas ernſter und ſtrenger
Herr; aber er habe ſchon vielen Menſchen geholfen. Sie ent¬
ſchloß ſich alſo auch dazu und mußte, ehe ſie vorkam, wieder
lange warten. Jedoch diesmal nicht im Flur, ſondern in einem
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 12[178] warmen Vorgemach; was ihr um ſo wohler that, als der
Winter bereits in's Land gerückt war, Endlich hörte ſie ein
Geklirr von Säbeln; einige Offiziere traten aus den Ge¬
mächern des Oberſten und gingen, wie es ſchien, etwas nieder¬
geſchlagen fort. Nach einer Weile öffnete ſich wieder die
Thüre; ein ſtattlicher Herr mit leicht ergrautem Schnurrbart
blickte heraus und fragte ziemlich barſch nach ihrem Begehren.
Da ſie aber gleich zu weinen anfing, wurde ſein Antlitz mil¬
der; er hieß ſie eintreten und hörte, nachdem er ſich geſetzt
hatte, ſchweigend an, was ſie vorbrachte. Dann ſtellte er
einige Fragen an ſie und forderte ſie endlich auf, den ganzen
Hergang zu erzählen. Das that ſie nun; freilich gar ſchlicht
und unbeholfen; aber dabei ſo wahr, warm und innig, daß
der Oberſt, der dabei öfter ſeinen Schnurrbart leicht empor
ſtrich, ſichtlich ergriffen wurde. Nachdem ſie geendet hatte,
ſtand er auf, legte ihr ſanft die Hand auf die Schulter und
ſagte, ſie möge getroſt von hinnen gehen. Er gäbe ihr ſein
Wort, daß nunmehr die ganze Angelegenheit in kürzeſter Friſt
und, wie er hoffe, zu Georgs Gunſten erledigt ſein werde.
Freien und gehobenen Herzens entfernte ſie ſich; der Oberſt
jedoch ging noch eine Weile ſinnend im Gemache auf und nie¬
der, wobei er von Zeit zu Zeit die Sporen leiſe an einander
ſchlug. Endlich ließ er durch eine Ordonnanz den Auditor
zu ſich beſcheiden. Er mußte ziemlich lange warten, bis der junge
Mann, ganz erhitzt, mit einer raſchen Verbeugung herein trat.


[179]

„Herr Auditor“, begann der Oberſt, „es iſt vor ungefähr
vier Monaten ein Urlauber, Namens Georg Huber, behufs
kriegsrechtlicher Unterſuchung hier eingeliefert worden.“


Der Auditor fuhr unwillkürlich mit der Hand nach der
Stirne. „Georg Huber — ja, ja, ganz recht. Es handelt
ſich, wie ich glaube, um einen Todtſchlag —“


„Allerdings; darum handelt es ſich. Und ich wünſchte,
die Unterſuchung beendet zu ſehen.“


„O nichts leichter, als das“, fuhr der Andere aufath¬
mend fort. „Es iſt eine ganz gewöhnliche Geſchichte, wie ſie
unter ſolchen Leuten nur zu oft vorkommt. Man läßt den
Mann ein paarmal durch die Gaſſe laufen, und die Sache
iſt abgethan.“


„Nicht doch, Verehrteſter“, erwiederte der Oberſt. „Das
wäre ein höchſt oberflächliches, gewaltſames Verfahren. Es
liegt mir im Gegentheile daran, daß dieſe Angelegenheit, wenn
gleich möglichſt raſch, ſo doch ohne jede Ueberſtürzung mit
größter Umſicht und Sorgfalt geprüft und verhandelt werde.
Denn ich erlaube mir, ohne damit Ihrer richterlichen Einſicht vor¬
greifen zu wollen, die Bemerkung, daß hier, wie ich mich über¬
zeugt habe, ſehr eigenthümliche Verhältniſſe mit im Spiele ſind.“
Der Oberſt hatte bei dieſen Worten ernſt die Brauen zuſam¬
men gezogen; der Auditor wußte, was das zu bedeuten habe,
machte eine ſtramme Verbeugung und ging. Dann eilte er
geraden Wegs in ſeine Kanzlei, und da es ihm keineswegs
12*[180] an Scharfblick und Fertigkeit gebrach, ſo dauerte es wirklich
nicht allzu lange, daß Georg und die Zeugen, unter welch'
letzteren ſich auch Tertſchka befand, vernommen waren, und
vor einem verſammelten Kriegsrathe folgendes Urtheil geſchöpft
wurde: „Georg Huber, Urlauber des zwölften Regimentes,
ſei des verübten Todtſchlages ſchuldig erkannt und zu einem
Jahre ſchweren Kerker verurtheilt; in Erwägung des Umſtan¬
des jedoch, daß er ſich theilweiſe im Falle der Nothwehr be¬
funden, ſo wie anderer erheblicher Milderungsgründe und mit
Hinblick auf ſeine tadelloſe Dienſtzeit: ſei ihm die ausgeſtan¬
dene längere Unterſuchungshaft als Strafe anzurechnen.“ Der
Auditor erröthete ein wenig vor ſich ſelbſt, als er dieſe letzten
Zeilen niederſchrieb; aber weit höher färbte ſich ſein Antlitz
am nächſten Tage, als er dem Oberſten das Urtheil zur Be¬
ſtätigung überbracht hatte, und dieſer, nachdem er das Blatt
geleſen, ihm lächelnd auf die Achſel klopfte und ſagte: „Da
ſieht man, daß eine kleine Saumſeligkeit im Dienſte auch hin
und wieder ihr Gutes haben kann.“ Aber er reichte ihm die
Hand und verabſchiedete ihn freundlich.


Zwei Tage darauf ließ der Oberſt Georg und Tertſchka
zu ſich rufen. Er betrachtete ſie lange und ſchweigend; dann
fragte er nach dieſem und jenem und ſchloß damit, daß er
ihnen den Rath ertheilte, vor der Hand in der Stadt zu
bleiben. Für ihren Unterhalt durch angemeſſene Arbeit wolle
er Sorge tragen und ſie würden noch ſpäter von ihm hören.
[181] Nachdem die Beiden mit ſcheuen Dankesworten das Zimmer
verlaſſen hatten, ging der Oberſt wieder mit leiſem Sporen¬
geklirr auf und ab. Es waren ſeltſame Gedanken, die ihn
bewegten. Er hatte vor vielen Jahren ein ſchlankes blondes
Fräulein geliebt, und war ſehr unglücklich geweſen. Nicht
etwa, daß die Schöne ſeine Neigung zurückgewieſen hätte;
darüber würde ſich ſeine ſtolze, kräftige Jünglingsſeele wohl
bald getröſtet haben: aber er war in ſeinen reinſten Empfin¬
dungen betrogen und mißbraucht worden, und das hatte ihn
mit dauernder Bitterkeit und einer krankhaften Verachtung des
weiblichen Geſchlechtes erfüllt, die er gern offen zur Schau
trug; wie er denn auch das Weſen der Liebe überhaupt an¬
griff und behauptete, dieſelbe wäre zwar in den Romanen
hirnverbrannter Poeten, niemals aber im wirklichen Leben zu
finden. Und nun, nachdem er dieſe Meinung, einem leiſen
Widerſpruche ſeines Innern zu Trotz, ſo lange und leiden¬
ſchaftlich vor ſich ſelbſt und Anderen aufrecht erhalten hatte:
nun war ihm mit einem Male in dieſem armen, verkümmer¬
ten Menſchenpaare die Liebe mit all' ihrer Tiefe, Hingebung,
Treue und Zärtlichkeit, in ihrer ganzen heiligen Kraft ent¬
gegengetreten — und ſtille Beſchämung und unſägliche Rührung
zogen in ſeine Bruſt. Auch ein klein wenig Neid miſchte ſich
mit hinein; aber er beſchloß, ſo weit dies von ihm abhinge,
die Beiden glücklich zu machen für's ganze Leben. — —


[182]

Dort, wo die ſchwärzlichen Schienen längs der rauſchen¬
den Mur, an grünen Wieſen und anmuthigen Auen vorüber,
ſich hinziehen; im Umkreiſe des Schloſſes Ehrenhauſen, das
von einem bewaldeten Hügel freundlich auf den Ort gleichen
Namens hinab ſchaut: ſteht ein einſames Bahnwächterhaus.
Ein winziges Stückchen Feld, mit Mais und Gemüſe bepflanzt,
liegt dahinter, und vor der Thüre, umfriedet von einer dichten
Bohnenhecke, blühen röthliche Malven und großhäuptige Son¬
nenblumen. In dieſem Häuschen, das den Vorüberfahrenden
gar ſtill und friedlich anmuthet, leben, wie ſie es einſt kaum
zu hoffen gewagt, Georg und Tertſchka ſeit mehr als fünfzehn
Jahren als Mann und Frau, und es braucht wohl nicht
eigens bemerkt zu werden, daß ihnen der gute Oberſt zu dem
kleinen Anweſen verholfen hatte. Man merkt kaum, daß ſie
älter geworden, und ſie verrichten gemeinſam den Dienſt,
der ihnen bei Tag und Nacht ſchwere Verantwortlichkeit auf¬
erlegt. Aber ſie finden dennoch nebenher Zeit und Gelegen¬
heit, ihr Streifchen Feld zu bebauen, eine Ziege ſammt einigen
gackernden Hühnern zu halten — und zwei flachshaarige Kin¬
der aufzuziehen, die ſich als willkommene Spätlinge eingeſtellt
haben und ganz munter hinter dem Bohnenzaune heranwachſen.
Auch trauliche Abendſtunden ſind ihnen vergönnt, wo ſie Hand
in Hand vor der Thüre ſitzen, der untergehenden Sonne nach¬
ſchauen und noch immer den Tag preiſen, an welchem ſie ſich
zum erſten Male auf der Höhe des Semmerings begegnet.
[183] Und dann zieht die Vergangenheit mit allen Leiden und Freu¬
den an ihnen vorüber — bis zu jenem Augenblicke, wo das
Verhängniß ſchwer und furchtbar über ſie hereingebrochen war
— und doch ihr Glück begründet hatte. Und wenn dann in
die Helle ihrer Bruſt ein trüber, dunkler Schatten fallen will
— dann ziehen ſie raſch die Kleinen heran, die ſich liebkoſend
in die Arme der Eltern ſchmiegen und mit den großen Kinder¬
augen ſo harmlos in die Welt hinein blicken, als lebten ſie
nicht den wechſelvollen Schickſalen entgegen, die ſich forterben
von Geſchlecht zu Geſchlecht, ſo lange noch Menſchen athmen
auf der alternden Erde.

[[184]][[185]]

Die Geigerin.

[[186]][[187]]

Ich bin ein Freund der Vergangenheit. Nicht daß ich
etwa romantiſche Neigungen hätte und für das Ritter- und
Minneweſen ſchwärmte — oder für die ſogenannte gute alte
Zeit, die es niemals gegeben hat: nur jene Vergangenheit will
ich gemeint wiſſen, die mit ihren Ausläufern in die Gegen¬
wart hineinreicht und welcher ich, da der Menſch nun einmal
ſeine Jugendeindrücke nicht loswerden kann, noch dem Herzen
nach angehöre. So kann ich niemals die prachtvolle Wiener-
Ringſtraße betreten, ohne die alten Baſteien, den lauſchigen
Stadtgraben und das mit Kindern bevölkert geweſene Glacis
zu vermiſſen, und es ergreift mich immer ganz ſeltſam, wenn
irgend eine alte Baulichkeit, die ſich hier und dort als Merk¬
zeichen meiner Knaben- und Jünglingszeit erhalten hat, nieder¬
geriſſen wird. Daher bin ich noch zuweilen in jenen öffent¬
lichen Gärten zu finden, die in Folge neuerer Anlagen ihr
Publikum verloren haben und nur mehr von verblühten Gou¬
vernanten, brodloſen Schreibern und ähnlichen Jammergeſtalten
in lichtſcheuer Kleidung tagüber als Verſteck benützt werden;
[188] wie ich denn auch mit einer gewiſſen Vorliebe Gaſt- und
Kaffeehäuſer beſuche, welche ſich einſt eines beſonderen Rufes
erfreuten, jetzt aber durch moderne Reſtaurationen in den
Schatten geſtellt und bloß von einer kleinen Schaar treuer
Anhänger in Ehren gehalten werden. Mit den Menſchen er¬
geht es mir ebenſo. Ich fühle mich zu allen Denen hinge¬
zogen, deren eigentliches Leben und Wirken in frühere Tage
fällt und die ſich nun nicht mehr in neue Verhältniſſe zu
ſchicken wiſſen. Ich rede gern mit Handwerkern und Kauf¬
leuten, welche der Gewerbefreiheit und dem haſtenden Wett¬
kampfe der Induſtrie zum Opfer gefallen; mit Beamten und
Militärs, die unter den Trümmern geſtürzter Syſteme begra¬
ben wurden; mit Ariſtokraten, welche, kümmerlich genug, von
dem letzten Schimmer eines erlauchten Namens zehren: durch¬
weg typiſche Perſönlichkeiten, denen ich eine gewiſſe Theilnahme
nicht verſagen kann. Denn alles Das, was ſie zurückwünſchen
oder mühſam aufrecht erhalten wollen, hat doch einmal beſtan¬
den und war eine Macht des Lebens, wie ſo Manches, was
heutzutage beſteht, wirkt und trägt. Auch allerlei ſeltſame
Ingenia und ruheloſe Feuerſeelen, in denen es vulkaniſch gährt
und zuckt, finden ſich darunter. Wiſſenſchaftliche Forſcher, Er¬
finder, Philoſophen und Künſtler, die um ein halbes Jahr¬
hundert zu ſpät geboren wurden und der Welt ein Lächeln
des Mitleids entlocken: tragikomiſche Widerſpiele jener hohen,
ſeltenen Menſchen, die in der Gegenwart keinen Platz finden,
[189] weil ſie bereits der Zukunft angehören und Vorläufer Derer
ſind, die da kommen werden. —


Einen ſolchen, der aber jetzt nicht mehr unter den Leben¬
den weilt, hatte ich vor Jahren kennen gelernt; und zwar in
einem Speiſehauſe der inneren Stadt, das inzwiſchen ebenfalls
verſchwunden iſt, und wo er, gleich mir, zu ziemlich ſpäter
Stunde ſein Mahl einzunehmen pflegte. Es war ein Mann
in mittleren Jahren und von ſtattlichem Wuchſe. Leicht zu
körperlicher Fülle neigend, das Haar über der hohen, ſchim¬
mernden Stirne bereits gelichtet, ſaß er gewöhnlich in einer
Ecke des Zimmers am Tiſche, aß und blickte dann, nachdem
er mechaniſch ein Zeitungsblatt zur Hand genommen, dem
Rauche ſeiner Cigarre nach, wobei ſeine grauen Augen oft
wunderſam aufleuchteten, während um den fein geſchnittenen
Mund ein ſelbſtvergeſſenes Lächeln ſpielte. Wochen um Wochen
hatten wir uns ſo in einiger Entfernung ſchweigend gegenüber
geſeſſen und nur beim Kommen und Gehen den üblichen kur¬
zen Gruß getauſcht. Eines Tages jedoch waren wir plötzlich
in ein Geſpräch verwickelt, ohne daß Einer von uns hätte be¬
ſtimmen können, wer eigentlich den erſten Anſtoß dazu gegeben.
Nun wurden wir raſch mit einander bekannt, und es zeigte
ſich, daß er mir eigentlich nicht mehr ganz fremd geweſen.
Es waren nämlich damals, unter offenbar fingirtem Namen,
in einem großen Blatte mehrere Aufſätze erſchienen, die mich
durch die philoſophiſche Tiefe ihres Inhaltes ſehr überraſchten.
[190] Ein reifer, außerordentlicher Geiſt hatte es hier unternommen,
politiſche und ſociale Verhältniſſe in einer Weiſe zu beleuchten,
welche mit den allgemeinen Anſchauungen in directem Wider¬
ſpruche ſtanden, und hatte Perſpectiven in die Zukunft eröff¬
net, deren paradoxe Faſſung das Befremden, ja den Unwillen
der meiſten Leſer erregen mußte; ſo zwar, daß ich mich wun¬
derte, wie ein den augenblicklichen Tagesintereſſen dienendes
Organ derlei in ſeine Spalten habe aufnehmen können. In
der That brachen auch jene Artikel plötzlich ab; tauchten noch
hin und wieder in anderen Journalen auf, bis ſie endlich
ganz verſchwanden. Es ging hervor, daß er der Verfaſſer
ſei, und ich fand durch ihn ſelbſt meine Vermuthung beſtätigt,
daß ſich die Zeitungen nicht länger mit ihm hatten compro¬
mittiren wollen. „Ich bin übrigens froh“, ſetzte er hinzu,
„daß man mich der Mühe des Schreibens überhoben hat.
Denn es bleibt doch immer eine Qual, ſeine Gedanken zu
Papier zu bringen. Und wozu den Leuten Wahrheiten ſagen,
die ſie doch nicht hören wollen und an welchen ſich dereinſt
ihre Enkel die Stirne blutig ſtoßen werden.“ Ich erfuhr auch,
daß er ſeiner Zeit eine nicht unbedeutende öffentliche Stellung
innegehabt. Leitende Perſönlichkeiten waren auf ſeine Kennt¬
niſſe und Fähigkeiten aufmerkſam geworden und hatten dieſel¬
ben in der redlichſten Abſicht für ihre Zwecke ausnützen wollen.
Aber es erwies ſich gar bald, daß dieſe eigenthümliche Natur
nicht geſchaffen war, ſich fremden Abſichten unterzuordnen, und
[191] man ließ es ſich gerne gefallen, daß er, nachgerade erſt ſelbſt
zu dieſer Erkenntniß gelangend, ſeine Entlaſſung nahm. In
der großen Welt war er ebenfalls nicht fremd geblieben. Er
hatte ſich in den hervorragendſten Kreiſen bewegt, wo er eine
Zeit lang als liebenswürdiger Sonderling geſucht und wohl
aufgenommen war; endlich aber, da ſich weder innere noch
äußere Anknüpfungspunkte ergeben wollten, überſah man, daß
er wegblieb. Nun war er ganz in ſich ſelbſt zurückgeſunken
und hatte erreicht, was ſein tief innerſtes Weſen verlangte:
Freiheit und Muße zu einſamen Studien und beſchaulichem
Denken, eine Beſtimmung, welcher er ſich um ſo getroſter hin¬
geben konnte, als ihm eine kleine Rente beſcheidene Unabhän¬
gigkeit ſicherte. Und wie ſo ganz, wie erhaben erfüllte er
dieſe Beſtimmung! Scheinbar unthätig, war er vom Morgen
bis tief in die Nacht hinein bemüht, alles Gewordene und
Werdende in ſich aufzunehmen. Kein Zweig der Wiſſenſchaft,
der Kunſt und des öffentlichen Lebens lag ihm zu ferne; all
überall ſuchte und fand er Material zu einem großen Werke,
deſſen Vorarbeiten ihn, wie er mir geſtand, ſchon ſeit Jahren
in Anſpruch nahmen, und deſſen Ausführung er den Reſt ſei¬
nes Lebens zu widmen gedachte. Er hatte nämlich im Sinne,
eine Geſchichte der Menſchheit vom Standpunkte der Ethik
aus zu ſchreiben, welche gewiſſermaßen die Kehrſeite des be¬
rühmten Buches von Thomas Buckle werden ſollte. Von einer
glühenden Wahrheitsliebe beſeelt, mit einem Blicke begabt,
[192] welcher bis zum geheimſten Innerſten der Menſchen und zum
tiefſten Kernpunkte alles Beſtehenden drang, haßte er nichts
ſo ſehr, wie die Lüge, den Schein und die Halbheit, und er
konnte ſich in dieſer Hinſicht über Perſonen und Dinge mit
einer zerſchmetternden Rückhaltsloſigkeit äußern, welche ſelbſt
Jene, die im Allgemeinen ſeine Anſicht theilten, befrem¬
den mußte und mit der man ſich nur verſöhnen konnte,
wenn man vernahm, mit welcher Begeiſterung er von
allem Aechten, Guten und Schönen ſprach und wie ſo ganz
ohne Schonung er gegen ſeine eigenen Fehler und
Schwächen zu Felde zog. Dabei war er harmlos wie ein
Kind, nur fähig, in der Idee zu haſſen und zu ver¬
folgen; in Wirklichkeit jedoch konnte es jeder menſchlichen Ver¬
irrung gegenüber keinen einſichtsvolleren Beurtheiler, keinen
milderen Richter geben, als ihn. Am deutlichſten trat dieſe
Eigenthümlichkeit hervor, wenn er auf das andere Geſchlecht
zu ſprechen kam. Ich habe Niemanden gekannt, der die weib¬
liche Natur tief, gleich ihm, erfaßt hätte. Wie er ein Auge
beſaß, das für die feinſten Reize und Abſtufungen der Schön¬
heit empfänglich war, ſo entging ihm auch nicht der verbor¬
genſte Zug des Herzens und der Seele, und wenn er ſich auch
hin und wieder über die Frauen im Allgemeinen zu einem
Worte hinreißen ließ, das an die Ausſprüche des Frankfurter
Weltweiſen erinnerte, ſo war er hinterher doch gleich bemüht,
alles, was er an ihnen zu tadeln fand, auf die ſociale Stellung
[193] zuſchieben, welche ſie ſeit jeher eingenommen. Wahrlich, wenn
man ihn ſo von ihren Vorzügen und Tugenden, von ihren Kräften
und Fähigkeiten reden hörte, man hätte glauben ſollen, daß
ihm die Herzen Aller zufliegen müßten. Aber ſeltſam, er war,
wie er mit ſchmerzlichem Humor geſtand, niemals geliebt wor¬
den, obgleich er ſeiner Zeit viel mit Frauen verkehrt hatte.
„Um dieſe, ſo weit dies überhaupt möglich iſt, kennen zu ler¬
nen“, pflegte er zu ſagen, „darf man von ihnen nicht geliebt
werden; denn man iſt dann leicht geneigt, ihre Gunſt als
etwas Selbſtverſtändliches hinzunehmen, und in Folge deſſen
geringer anzuſchlagen. Man muß vielmehr durch ſie ſchmerz¬
lich gelitten und geſehen haben, welchen Schatz von Treue,
Hingebung und Opferwilligkeit ſie anderen Männern, ja ſogar
ſolchen, die wir tief unter uns erblicken, entgegenbringen, um
zu erkennen, welch' ein Geſchenk des Himmels es ſei, das
Herz eines Weibes ganz und voll zu beſitzen.“ — Trotz dieſes
lebhaften und unumwundenen Austauſches von Gedanken und
Empfindungen kam es zwiſchen mir und Walberg — wie ich
den eigenthümlichen Mann, deſſen Name in Wirklichkeit viel
weniger ſtolz und anſpruchsvoll klang, hier nennen will —
zu keiner Freundſchaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Wir
hatten hiezu Beide bereits die Geſchmeidigkeit und Spannkraft
der Jugend verloren, welche allein im Stande iſt, ſolche Bünd¬
niſſe für's Leben zu ſchließen. Unſer Verkehr beſchränkte ſich
auf anregende Tiſchgeſpräche und auf kürzere oder längere
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 13[194] Beſuche, die wir uns hin und wieder abſtatteten, Zuweilen
machten wir auch einen kleinen Ausflug in's Freie, wo ihm
dann, von der Natur angeregt, das Herz vollends aufging
und ſein Geiſt geradezu Offenbarungen ausſtrahlte. —


So hatten wir auch einmal nach Tiſch einen Gang in
den Prater unternommen. Es war ein milder, ſonniger Oc¬
tobertag und in der endloſen Hauptallee mit ihren alten, ſich
eben leiſe entblätternden Kaſtanienbäumen wogte ein mächtiger
Menſchenſtrom. Eine Zeitlang ſchlenderten wir ſo im Ge¬
wühle hin und ließen die ſchönen ſtolzen Frauen zu Roß und
Wagen an uns vorüberfliegen. Nach und nach aber fühlten
wir uns beengt und gedrückt und ſchlugen, quer über die Wieſen
ſchreitend, den Weg nach den einſameren Partien der ſtimmungs¬
vollen Aulandſchaft ein. Man hatte damals bereits begonnen,
hier und dort einige jener herrlichen Baumgruppen zu fällen,
welche in der nächſten Nähe einer großen Reſidenz ihres Glei¬
chen ſuchen dürften, und hatte ſo den Anfang zu den Verwü¬
ſtungen gemacht, die ſpäter zur Zeit der Weltausſtellung ſo
große Ausdehnung gewannen. Vor zwei rieſigen Buchen, welche
mit ihren herbſtlich gefärbten Wipfeln auf dem Boden lagen,
blieben wir ſtehen. „Wie ſchade um die prachtvollen Bäume“,
ſagte ich.


„Eine wahre Sünde“, erwiederte er, „das friſche, blühende
Leben zu verwüſten. Ich ſehe ſchon im Geiſte die ganze lieb¬
liche Wildniß ausgerodet, das letzte Stückchen Grün vertilgt
[195] und auf der troſtloſen Ebene eine Maſſe nüchterner Häuſer
ſtehen, zwiſchen welchen ein qualmender Eiſenbahnzug dahin¬
brauſt. — Aber“, fuhr er nach einer Weile fort, „das iſt im
Grunde doch nur Sentimentalität. Alles vollzieht ſich nach
dem eiſernen Geſetze der Nothwendigkeit. Der Prater wird
ſo lange erhalten bleiben, als er ein Bedürfniß iſt. Eine
Reit- und Fahrbahn wird ſich überall finden laſſen und das
Volk kann ſich auch anderswo beim Biere vergnügen!“


Wir waren wieder ſchweigend weiter geſchritten. Rings¬
um herrſchte tiefe Stille; nur ein kühler Windhauch ſchauerte
leiſe durch die Zeitloſen, mit welchen der Grund wie überſät
war. Endlich ſtanden wir vor einem weitläufigen Sumpfe,
aus deſſen Schilf, von unſeren Schritten aufgeſchreckt, ein
ſpäter Reiher in die ſinkende Dämmerung emporrauſchte. Wir
machten uns auf den Heimweg. Als wir die Brücke über den
Donaukanal betraten, gewahrte ich, wie unter den Jochen
hervor ein dunkler Gegenſtand auf den Fluthen trieb, in
welchem ich die Umriſſe einer weiblichen Geſtalt zu erkennen
glaubte. Gleichzeitig mit mir mußten ihn Andere bemerkt ha¬
ben; es entſtand ein Zuſammenlauf am Geländer; Rufe nach
Rettung wurden laut, und wirklich ſtieß in einiger Entfernung
ein Kahn ab, deſſen Bemannung die Verunglückte mittelſt
langer Enterhaken an's Ufer zog und am Fuße eines Gas¬
candelabers niederlegte. Dorthin ſtrömte jetzt eine zahlreiche
Menſchenmenge; ich und mein Begleiter wurden unwillkürlich
13*[196] mit fortgeriſſen. Kaum aber hatte Walberg einen Blick in
das bleiche Antlitz des Weibes gethan, als er mich mit einem
unterdrückten Aufſchrei beim Arm ergriff und fortziehen wollte.
Er faßte ſich aber gleich wieder, trat auf die Sicherheitswache
zu, die ſich eingefunden hatte und wechſelte mit dem Manne
einige Worte. Mittlerweile hatte man Vorkehrungen getrof¬
fen, die, wie es ſchien, bereits Entſeelte in die nächſte Ret¬
tungsanſtalt zu bringen. Wir ſchloßen uns dem traurigen
Zuge an und traten, indeß die Menge draußen zurückgehalten
wurde, bei dem Wundarzte ein. Während dieſer mit ſeinen
Gehilfen im Nebenzimmer Belebungsverſuche anſtellte, ſank
Walberg erſchöpft in einen Stuhl und ſchrieb einige Worte
auf ein Blatt Papier, welches er aus ſeinem Notizbuche los¬
getrennt hatte. Der Arzt erſchien bald und erklärte achſel¬
zuckend, daß Alles vergebens und das Frauenzimmer todt ſei.
Walberg erhob ſich und trat, während ich folgte, noch einmal
an die Leiche, welche im grellen Lichte einer von der Decke
niederhängenden Lampe auf dem Sopha des Zimmers lag.
Es war eine ſchlanke, zartbuſige Geſtalt; bereits über die
eigentliche Jugend hinaus, aber ſelbſt noch im Tode von jener
Anmuth umfloſſen, welche nie altert. Die naſſen, an den
Formen klebenden Gewänder erſchienen ziemlich abgetragen und
auch die Handſchuhe, ſowie die knappen Stiefelchen wieſen
leicht erkennbare Schäden auf. Der Arzt hatte das Hütchen,
welches früher noch unter dem Kinne der Todten feſtgeknüpft
[197] war, entfernt, und ſo hing ihr lichtbraunes Haar in feuchten
Locken und Strähnen gelöſt, über die Schultern hinab. Die
bläulichen Lippen waren weit geöffnet und große dunkle Au¬
gen ſtarrten gebrochen unter den Wimpern hervor. Der An¬
blick war zu ergreifend, als daß wir ihn hätten ertragen
können. „Die Unſelige!“ murmelte Walberg, indem er ſich,
gleich mir, ſchaudernd abwandte; „ſo weit iſt es mit ihr ge¬
kommen.“ Dann übergab er dem Wachmanne das beſchriebene
Blatt und wir traten auf die Gaſſe hinaus, wo wir ſtumm
neben einander hergingen. Walberg ſchien ein Vorhaben zu
überlegen; endlich winkte er einen Miethwagen heran und er¬
ſuchte mich, ihn zu begleiten. Wir fuhren in eine der nächſten
und belebteſten Vorſtädte. Bei einem ſtattlichen, hell erleuch¬
teten Kaufmannsladen ließ er halten und trat hinein. Ge¬
raume Zeit verſtrich, bis er zurückkam. „Es iſt Alles ſo, wie
ich es mir gedacht habe“, ſagte er beim Einſteigen mehr zu
ſich ſelbſt, nachdem er dem Kutſcher ſeine Wohnung bezeichnet
hatte. Wir legten eine ſchweigſame Fahrt zurück und als der
Wagen hielt, ſchrak Walberg aus trübem Sinnen empor. —
„Kommen Sie mit mir hinauf“, bat er; „ich will jetzt nicht
allein ſein.“ In ſeinem einfachen Zimmer machte er Licht,
zündete die Spirituslampe unter dem Theekeſſel an und reichte
mir ſchweigend ein Kiſtchen mit Cigarren. Dann ſetzte er ſich
in einen Lehnſtuhl und blickte nachdenklich vor ſich hin. Es
war mir, als hätte ich eine Mittheilung zu erwarten; aber
[198] ich wollte nicht drängen und nahm eines der vielen Bücher
zur Hand, die überall umher lagen. Es wurde ganz ſtill im
Gemache; nur das Waſſer im Keſſel begann leiſe zu ſummen.
Endlich wandte ſich Walberg zu mir: „Soll ich Ihnen die
Geſchichte des armen Weibes erzählen, das ſich heute in den
Wellen der Donau den Tod gegeben?“ Und meine Zuſtim¬
mung vorweg nehmend, fuhr er fort: „Es iſt eine traurige,
ja vielleicht eine häßliche Geſchichte. Es kommt auf den Ge¬
ſichtspunkt an, von welchem aus man ſie betrachtet. Sie ken¬
nen meine Art und Weiſe, die Dinge aufzufaſſen; ſie ſtimmt
mit der Ihrigen überein und ſo bin ich überzeugt, daß ſie dem
unglücklichen Geſchöpfe, trotz Allem, was Ihnen jetzt zu hören
bevorſteht, eine ſtille Thräne in Ihrem Herzen nicht werden
verſagen können.“ Er war aufgeſtanden, hatte mir eine Taſſe
gefüllt und ſich dann wieder geſetzt.


Sie wiſſen, begann er, wie zurückgezogen, wie einförmig
ich lebe. Seit einer Reihe von Jahren verzichte ich auf Freu¬
den und Vergnügungen, welche Männern in unſerem Alter,
in unſeren Verhältniſſen, natürlich und angemeſſen ſind. Ich
ſage abſichtlich: daß ich verzichte; denn von Natur bin ich
eigentlich volllebig und eher zur Ausſchreitung, als zur Be¬
ſchränkung geneigt. Aber das geiſtige Bewußtſein iſt in mir
[199] doch zu vorherrſchend, als daß ich dieſen Hang nicht als etwas
Störendes, ja geradezu Feindſeliges empfinden und nicht in
jeder Weiſe bemüht ſein ſollte, ihn abzulenken und zu erſticken.
Und ſo kann ich mich mit weit mehr Recht einen Asketen
nennen, als die Meiſten, welche vor der Welt die Abzeichen
der Entſagung zur Schau tragen. Von Zeit zu Zeit jedoch
bricht dieſes niedergehaltene Element plötzlich mit aller Macht
hervor und ich werde dann, wie ich überhaupt zu Extremen
neige, unaufhaltſam getrieben, mich aus meiner ſtillen Einſam¬
keit heraus in den vollſten Strom, ja vielleicht auch ein wenig
in den Pfuhl des Lebens zu ſtürzen; freilich nur, um allſo¬
gleich wieder, ernüchtert und vor mir ſelbſt beſchämt, in den
reinen Aether meiner Arbeiten zurückzukehren. So geſchah es
auch einmal im Carneval. Ich hatte mich an einigen halb¬
wahren Büchern, die eben großes Aufſehen erregten, müd und
ärgerlich geleſen. Ich war geiſtig verſtimmt und ſehnte mich
ordentlich nach Menſchen, die nichts Höheres in's Auge faſſen
und, nur auf das Nächſte beſchränkt, gedankenlos in den Tag
hineinleben. Es waren damals gerade die Maskenbälle bei
uns in Schwung gekommen und ich hatte Manches von dem
tollen Treiben gehört, das dabei herrſche. Namentlich ſollten
jene, die in einem großen, außerhalb der Linie gelegenen Ver¬
gnügungslocale ſtattfanden, in dieſer Hinſicht alles Dageweſene
überbieten. Dorthin wollte ich nun wollte mich unter die
ausgelaſſene Menge miſchen und, wenn es ſich fügte, auch ein
[200] bischen ausgelaſſen ſein. In einer ſternhellen Februarnacht
machte ich mich auf den Weg. Kaum aber hatte ich die er¬
leuchteten Säle einige Male durchſchritten, als ich mich voll¬
ſtändig enttäuſcht fühlte. Sprudelnde, entfeſſelte Lebensfreu¬
digkeit hatte ich erwartet und fand nichts als öde Stumpfheit,
die ſich zur Aufmunterung bisweilen ſelbſt mit den Fäuſten
der Gemeinheit in die Rippen ſtieß. Nicht einmal die Strauß'¬
ſchen Walzer waren im Stande, die Tanzenden zu befeuern,
deren größtentheils plumpe und ungelenke Bewegungen Lächeln
und Mitleid erregten. Reizloſe Weiber in verſchoſſenen Mas¬
kenanzügen zwangen ſich zu lahmen Späſſen und wenn hier
und dort ein feinerer Wuchs, ein geſchmackvolleres Coſtüm im
Gewühl auftauchte, ſo gehörten ſie Frauen an, die ſich, in
männlicher Begleitung, mehr zuſehend, als theilnehmend ver¬
hielten. Zudem war es unerträglich heiß und ſo ſuchte ich
bald jene Nebenräume auf, welche theils als Speiſezimmer,
theils als Schauplätze für kleine dramatiſche Vorſtellungen und
ſonſtige Erluſtigungen benutzt wurden. In einem derſelben
ließ ſich vor nicht ſehr zahlreichem, aber gewählterem Publicum
ohne Maske ein ſogenanntes Damentrio hören. Ich ſetzte
mich an einen der Tiſche, die vor der niederen Bühne ange¬
bracht waren, beſtellte eine Erfriſchung und ließ mich, mi߬
muthig wie ich war, von den Klängen umrauſchen, ohne ihnen
Aufmerkſamkeit zu ſchenken. Nach und nach aber wurde ich
unwillkürlich gefeſſelt. Es waren Muſikſtücke edlerer Art, die
[201] hier mit ſo viel Ausdruck und Präciſion vorgetragen wurden,
daß ſich der allgemeine Beifall oft und laut kundgab. Auch
die Spielenden waren ganz geeignet, die Blicke auf ſich zu
ziehen. Sie trugen alle drei weiße Kleider mit Gürteln und
Achſelbändern von ſchwarzem Taft, welche einfache Tracht ihre
jugendlichen Erſcheinungen anmuthig hervorhob. Obgleich ſie
einander gar nicht ähnlich ſahen, ſo konnte man ſich doch des
Eindruckes nicht erwehren, man habe drei Schweſtern vor ſich.
Die Jüngſte, welche am Claviere ſaß, war faſt noch ein Kind.
Aber die Kraft und Sicherheit, mit welcher ſie trotz der zucken¬
den Unruhe ihres ſchmächtigen, halbwüchſigen Körpers ſpielte;
die herausfordernde Art und Weiſe, wie ſie, die krauſen, blon¬
den Locken ſchüttelnd, ihr mehr reizendes als ſchönes Geſicht
dem Publikum zukehrte, gab ihr etwas Frühreifes und Be¬
wußtes, das gleichzeitig anzog und abſtieß. Die Mittlere mit
dem Cello war ihr gerader Gegenſatz. In voll entwickelter
Jugendblüthe, die Wangen roſig, das glänzende ſchwarze Haar
ſchlicht aus der Stirne geſtrichen, ſaß ſie gelaſſen da und
wandte ihre ganze Aufmerkſamkeit dem ungelenken Inſtrumente
zu, das ſie handhabte. Einen wunderbaren Anblick aber bot
die Aelteſte dar, welche mit der Geige im Vordergrund der
Bühne ſtand. Sie mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre
zählen und war bereits von jenem ſchwermüthigem Reiz des
Verblühens umhaucht, welcher manche Frauen ſo anziehend
macht. Die zarte Wange leicht an das bräunliche Holz ge¬
[202] ſchmiegt, das matt ſchimmernde Haar nachläſſig gelockt, und
mit dem ſchlanken, biegſamen Leibe den Bogenſtrichen folgend,
glich ſie einer Camöne. Es entging mir nicht, daß ſie bei
ausdrucksvollen Stellen, zarten ſowohl als leidenſchaftlichen,
ihre großen, etwas umſchatteten Augen auf einen jungen Mann
heftete, der in einiger Entfernung von mir ſaß, und den ich
früher nicht beachtet hatte. Von hohem und ſchlankem Wuchſe,
ſorgfältig, aber ohne Ziererei gekleidet, war er in ſeinen Stuhl
zurückgeſunken und ſchien die Aufmerkſamkeit, welche ihm die
Geigerin ſchenkte, gänzlich zu überſehen. Seine Blicke ſchweif¬
ten vielmehr, während er langſam ein Glas Punſch trank,
nach dem Kinde am Claviere hin, welches ihm auch von Zeit
zu Zeit wie verſtohlen zulächelte. Sein Antlitz wies ein kühn
geſchnittenes, fremdländiſches Profil, und die hohe, gerade Stirn
leuchtete aus dunklen Haaren hervor; eine längliche Narbe
auf der rechten Wange zierte ihn mehr, als ſie ihn entſtellte.
Er war im eigentlichen Sinne des Wortes ſchön zu nennen.
Das Geiſtige herrſchte in ſeinen Zügen nicht vor; aber Alles
war voll Leben und Ausdruck, und die hellen braunen Augen
blickten ſtolz und einnehmend zugleich, wie die des Hirſches.
Die Geigerin hatte inzwiſchen begonnen, ein Solo vorzutragen,
das nur hin und wieder von dem Clavier begleitet wurde.
Sie ſpielte mit ſo zartem Schmelze, mit ſo hinreißendem Feuer,
daß, als ſie geendet hatte, ſtürmiſcher Beifall losbrach. Sie
verneigte ſich leicht, aber ihr Blick ruhte, während die Töne
[203] noch immer in ihr nachzuzittern ſchienen, auf dem jungen
Manne, der nun auch, wie aus einem Traume aufgeſchreckt,
durch leichtes Kopfnicken ſeine Anerkennung kund gab. Es
ſchien jetzt eine längere Pauſe eintreten zu wollen; denn die
Spielenden verließen ihre Plätze und zogen ſich in den Hin¬
tergrund der Bühne zurück. Mein Nachbar war gleichfalls
aufgeſtanden und begab ſich mit vertraulichen Geberden zu den
Frauen. Die Geigerin ging ihm mit erwartungsvollem Lächeln
entgegen; er aber ſah zerſtreut über ſie hinweg und reichte
dem Kinde die Hand, welches, wiederum das Haar ſchüttelnd,
auf ihn zuſprang. Ich ſah das Alles und fühlte mein Herz
von einem ſeltſamen Schmerze zuſammengepreßt. Ich beſitze
die unglückſelige Gabe, ohne es eigentlich zu wollen, aus ge¬
ringfügigen Anzeichen, aus einem Blicke, einem Worte ganze
Verhältniſſe zu errathen und mir dieſelben zurecht zu legen.
So brachte ich denn gleich auch dieſe vier Perſonen in eine
eigenthümliche Stellung zu einander, die mich bedrückte. Ich
verlor alle Luſt, weiter zuzuhören und entfernte mich, während
die Celliſtin langſam die Noten zu einem neuen Stücke auf¬
legte. Zu Hauſe angekommen, lag ich noch eine Zeitlang wach
im Bette; endlich ſchlief ich ein und die drei Geſtalten in
weißen Kleidern und der junge Mann mit der Narbe auf der
Wange zogen, wirr und phantaſtiſch verſchlungen, durch meine
Träume. Auch in den folgenden Tagen wirkten dieſe Eindrücke
nach, dann aber war Alles vergeſſen. —


[204]

So kam der Frühling heran. An einem herrlichen April¬
morgen hatte ich ein entlegenes Maleratelier beſucht und mich
dort mehrere Stunden verweilt. Da ich den weiten Weg
nach der Stadt zurück nicht zu Fuße machen wollte, ſtieg ich
in einen gemeinſchaftlichen Wagen und — befand mich der
Geigerin gegenüber. Ich hatte ſie auf den erſten Blick wieder
erkannt, obgleich ihr das Licht des Tages und die veränderte
Kleidung viel von dem idealen Schimmer jener Nacht nahm.
Eine etwas fahle Geſichtsfarbe und leichte Fältchen um den
blaſſen Mund traten deutlich hervor, aber ſie ſah noch immer
ſchön und einnehmend genug aus, und ein Frühlingshütchen
von weißem Mull, das friſch wie der gefallene Schnee von
der übrigen, noch etwas winterlichen Tracht abſtach, ſtand ihr
reizend zu Geſicht. Mit aufrechtem Oberkörper ſaß ſie da
und hatte die ſchmalen Hände über einem Päckchen gekreuzt,
das in ihrem Schooße lag. Zuweilen rückte ſie unruhig auf
ihrem Sitze hin und her und blickte durch die Scheiben, als
dauerte ihr die Fahrt zu lange. Als wir endlich bei der
Stadt angelangt waren, ließ ſie halten und ſprang aus dem
Wagen. Ich that unwillkürlich daſſelbe, aber ich konnte ihr
nicht folgen; denn ſie ging ſo raſch, daß ich, um nicht aufzu¬
fallen, nur mit den Blicken hinter ihr her bleiben konnte. Jetzt
bog ſie in die Gaſſe ein, in welcher ſich die öffentliche Pfand¬
leihanſtalt befindet, und als ich meinen Schritt beſchleunigte,
konnte ich noch gewahren, wie ſie in dem Thore dieſes Ge¬
[205] bäudes verſchwand. Ein tiefes Weh fiel mir auf's Herz.
Alſo auch ſie hatte mit der Noth des Lebens zu kämpfen, die
mir hier wieder einmal als unzertrennliche Begleiterin der
Kunſt erſchien, und mußte vielleicht irgend ein theures Ange¬
denken, einen liebgewordenen Schmuck verpfänden, um nicht
unterzugehen! In ſolch' trübe Gedanken verſunken, war ich
halb unbewußt ebenfalls vor der Anſtalt eingetroffen, als ſie
plötzlich, das Päckchen krampfhaft umklammernd, mit dem Aus¬
drucke tiefſter Verzweiflung im Antlitz, wieder unter dem Thore
erſchien. Sie war offenbar zu ſpät gekommen oder man hatte
ſie auf morgen vertröſtet; und nun ſtand ſie da und blickte
ſtumpfſinnig in das goldene Sonnenlicht hinein, das die gegen¬
über liegenden Häuſer umfunkelte. Fröhliche Menſchen ſchritten
an ihr vorüber; ein kleines Mädchen bot ihr Veilchen zum
Kaufe, aber ſie ſah und hörte nichts. Endlich ging ſie und
irrte, wie es mir ſchien, ohne Wahl und Ziel in den nächſten
Gaſſen umher. Ich konnte es nicht länger mit anſehen und
trat an ihre Seite. „Erlauben Sie, mein Fräulein“, — ſagte ich,
indem ich höflich den Hut abzog.


Sie ſah mich ausdruckslos an und eilte weiter.


Ich hielt mich neben ihr. „Bemühen Sie ſich nicht, mein
Herr“, ſagte ſie endlich. „Ich wünſche keine Begleitung —
ich muß Sie bitten —“


„Halten Sie mich für keinen Unverſchämten, keinen Zu¬
dringlichen“, erwiederte ich feſt. „Ich habe Ihnen eine wich¬
tige Mittheilung zu machen.“

[206]

Sie zuckte zuſammen. „Eine wichtige Mittheilung —“
wiederholte ſie tonlos und mußte ſich, um nicht zu ſinken, an
die nächſte Mauer lehnen.


Ich war auf's Aeußerſte beſtürzt. „Erſchrecken Sie nicht“,
fuhr ich fort, „es handelt ſich um etwas ſehr Angenehmes —
ſehr Erfreuliches.“


Sie athmete auf. „Und was könnte das ſein?“ fragte
ſie ungläubig.


„Folgen Sie mir in jenes Durchhaus, wir können dort
ungeſtörter ſprechen.“


Sie betrachtete mich zögernd und mißtrauiſch; aber ſie
folgte mir.


„Mein Fräulein“, begann ich, „Sie befinden ſich in die¬
ſem Augenblicke in einer höchſt peinlichen Verlegenheit.“


„Woher wiſſen Sie —?“ ſtammelte ſie überraſcht.


„Ich ſah Sie vorhin — doch das thut jetzt nichts zur
Sache; genug, daß ich es weiß.“


Sie blickte zu Boden. „Nun, es iſt wahr“, ſagte ſie und
fuhr mit zitternder Hand über die Stirne, „ich bin in der
größten Verzweiflung. Es gilt, eine mir ſehr werthe und
naheſtehende Perſönlichkeit aus einer drohenden Gefahr zu
retten. Seit geſtern müh' ich mich in jeder Weiſe, zu dieſem Zwecke
ein Darlehen aufzutreiben. Endlich habe ich von einer ehemaligen
Freundin nach vielem Bitten und Flehen — nach vielfachen
Erniedrigungen dieſe Diamanten erhalten, aber nur gegen das
[207] heilige Verſprechen, dieſelben blos in der öffentlichen Anſtalt,
um keinen Preis jedoch in einem jener Winkelämter zu ver¬
pfänden, die nicht genug Sicherheit bieten. Und nun —“


„Kamen Sie nicht mehr zur rechten Zeit —“


„Kam um fünf Minuten zu ſpät! das Bureau wird erſt
morgen wieder geöffnet — und wenn bis drei Uhr das Geld
nicht beſchafft wird, ſo iſt Alles verloren!“


„Beruhigen Sie ſich. Es ſoll Alles gut werden. Ich bin
bereit, Ihnen das Nöthige ohne Pfand vorzuſtrecken.“


„O mein Herr“, ſagte ſie in einem Kampfe zwiſchen Freude
und Schaam — „wie kann ich — wie darf ich — von einem
ganz Unbekannten —“


„Hier iſt meine Karte. Und wenn auch ich Ihnen unbe¬
kannt bin — Sie ſind es mir nicht. Ich habe Sie ſpielen
hören.“ Und während ſie erröthend auf die Karte niederſah,
fuhr ich dringend fort: „Beſinnen Sie ſich nicht länger! Wei¬
ſen Sie die Hülfe nicht zurück, die ich Ihnen aus vollem
Herzen anbiete. Nennen Sie mir den Betrag —“


„O“, ſagte ſie, wieder hoffnungslos, „es iſt viel Geld.“
Und ſie nannte eine Summe, über deren Höhe ich allerdings
erſchrak. Aber ich beſaß dieſe Summe und konnte nicht zurück.
„Sie begreifen“, ſagte ich, „daß ich ſo viel nicht bei mir
trage. Erwarten Sie mich in zehn Minuten vor dem Ste¬
phansdome; ich werde Ihnen das Gewünſchte einhändigen.“
[208] Und nach einem raſchen Gruße eilte ich in meine Wohnung,
das Geld zu holen.


Als ich mich ſpäter am bezeichneten Orte einfand, ging
ſie unruhig auf und nieder. Sie mußte ſchwere Zweifel in
die Wahrheit meiner Verſprechung geſetzt haben; denn bei
meinem Anblick ſchien es ihr wie eine Laſt von der Seele zu
fallen. Ich lenkte ſie in die dunkle, menſchenleere Kirche hin¬
ein und überreichte ihr die erforderliche Summe. Sie zögerte
noch einen Augenblick, dieſelbe anzunehmen. Dann aber drückte
ſie mit ihren beiden Händen warm die meine. „O, mein
Herr“, ſagte ſie, „wie ſoll ich Ihnen danken! Sie wiſſen
nicht, welchen Dienſt Sie mir erweiſen. Sie ſollen alsbald
wieder im Beſitze des Ihrigen ſein — gleich morgen will ich
den Schmuck verpfänden.“


„Thun Sie das nicht“, ſagte ich. „Sie haben mir ja
geſtanden, daß Sie ihn nur gegen ſchwere Demüthigungen er¬
halten. Sie kämen vielleicht in eine unwürdige Abhängigkeit
zu der Perſon, die Ihnen denſelben anvertraut. Geben Sie
die Juwelen ſogleich wieder zurück. Mit meinem Gelde hat
es keine Eile. Ich will zufrieden ſein, wenn ich in Folge
dieſes Darlehens das Glück habe, Sie einmal wiederzuſehen.“


Sie war durch dieſe letzten Worte offenbar peinlich be¬
rührt worden und hatte Mühe, eine ablehnende Geberde zu
unterdrücken. Aber wie von einem plötzlichen Gedanken durch¬
zuckt, ſagte ſie raſch: „Allerdings; es wird mich unendlich
[209] freuen, meinen Retter näher kennen zu lernen. Hier iſt meine
Adreſſe, damit Sie mich zu finden wiſſen. Sie ſollen übri¬
gens ſchon in den nächſten Tagen von mir hören.“ Und da
ich ſie nun ſelbſt aufforderte, ſich auf den Weg zu machen,
ſo eilte ſie, flüchtig wie ein Vogel, von dannen und verſchwand
im Menſchengewühle.


Ich hatte ihr eine Weile nachgeſehen; dann ſenkte ich
den Blick auf die Adreſſe und las: „Ludovica Mensfeld.“
Und wie ich jetzt ſo da ſtand, das kleine Kärtchen in der
Hand, fühlte ich mich fremd und kühl berührt. Es war mir,
als hätt' ich eine Thorheit begangen. Ich hatte mich nahezu
von Allem entblößt, was ich augenblicklich beſaß und war
nun ſelbſt für die nächſte Zukunft der Sorge preisgegeben.
Und für wen hatte ich Alles geopfert? Für ein Weib, das mir
ferne ſtand. Und nicht einmal für ſie ſelbſt; ſie wollte ja mit
dem Gelde einen Anderen retten, und dieſer Andere, darüber
konnte kein Zweifel ſein, war der junge Mann, welchen ich
damals in ihrer Nähe geſehen — und den ſie liebte! Aber
kümmerte mich das? War es nicht ein beglückendes, erheben¬
des Gefühl, eine arme, zitternde Menſchenſeele aus der Nacht
der Verzweiflung zu befreien? Hatte ich nicht Hilfsquellen
genug? Konnte ich nicht arbeiten? — So trat ich meinen
Egoismus ſiegreich mit Füßen und bald ſtand es bei mir feſt,
daß ich Recht gethan und keine weiteren Anſprüche mehr er¬
heben würde; ſelbſt der Wunſch, die Geigerin wiederzuſehen,
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 14[210] war erloſchen. So ging ich, mit mir ſelbſt im Reinen, freien
und fröhlichen Herzens zu Tiſche. —


Nach kurzer Zeit erhielt ich durch die Poſt einen Brief
mit gefälligen, etwas flüchtigen Schriftzügen. Er lautete:


„Verehrter Herr! Wenn Sie morgen Abend nichts Beſſe¬
res vorhaben, ſo ſchenken Sie uns das Vergnügen Ihres Be¬
ſuches. Sie werden blos in einem Familienkreiſe ſein. Ihre
dankſchuldigſte Ludovica.“


Ich legte das Schreiben ruhig bei Seite, denn ich dachte
gar nicht daran, der Einladung nachzukommen. Am andern
Morgen jedoch fiel mir ein, daß es doch geradezu unartig
wäre, dieſelbe gänzlich zu ignoriren. Ich mußte mich mit
einigen Zeilen entſchuldigen und ſetzte mich an den Schreibtiſch.
Wie ich nun ſo nach einer landläufigen Ausflucht ſuchte, kam
mir meine Wahrheitsliebe in die Quere, die es mir ſelbſt in
unbedeutenden Dingen ſchwer macht, eine Lüge zu erſinnen,
und ich entſchloß mich kurz und gut, hinzugehen. So ſuchte
ich denn gegen Abend den Stadttheil auf, in welchem die Gei¬
gerin wohnte. Im dritten Stockwerk eines dichtbevölkerten
Hauſes ſchellte ich an der bezeichneten Thüre. Eine Magd
öffnete und wies mich nach dem Empfangszimmer, wo mir
Ludovica in ſchwarzem Seidenkleide, eine dunkelrothe Blume
in's Haar geſteckt, mit graziöſem Anſtand entgegen kam und
mich mit der verſammelten Geſellſchaft bekannt machte. Ich
[211] ſah die zwei andern Spielerinnen und fand meine Vermuthung
von damals beſtätigt; denn Ludovica ſagte: „Meine Schwe¬
ſtern Anna und Mimi.“ Dann vor einem jungen Manne
mit klugen, offenen Geſichtszügen: „Herr Berger, Kaufmann.“
Zuletzt warf ſie einen Blick auf den, welchen ich hier zu fin¬
den gewiß war, und fügte etwas undeutlich hinzu: „Herr
Alexis.“ Dieſer hatte ſich bei meinem Eintritt vom Sitze er¬
hoben und kam jetzt, während er mir die Hand entgegen
ſtreckte, mit großer Freundlichkeit auf mich zu, wobei er jedoch
eine gewiſſe Befangenheit nicht verbergen konnte. Man wies
mir neben ihm einen Platz auf dem Sopha an und ich blickte
nun, wie man dies an fremden Orten unwillkürlich zu thun
pflegt, im Gemache umher. Es ſah ziemlich kahl aus und in
der Einrichtung gab ſich eine gewiſſe Sorgloſigkeit kund. Ein
älteres, aber wohlgebautes Clavier, auf welchem die Geigen
Ludovica's ruhten, fiel zuerſt in die Augen, und an den Wän¬
den hingen die Bildniſſe Mozart's und Beethoven's, ſowie
verſchiedener anderer Tonkünſtler und Virtuoſen. In einem
kleinem Nebenzimmer jedoch, deſſen Thüre offen ſtand, ſchien
eine bürgerliche, arbeitſame Hand zu walten, und den größten
Raum nahm ein ausgedehnter Tiſch ein, der mit angefangenen
weiblichen Kleidungsſtücken bedeckt war. Mimi, welche, wie
ich bemerkte, meinen Blicken folgte, rief lachend: „Der Herr
verwundert ſich über Anna's Zimmer. Es ſieht auch darin
aus, wie in einer Schneiderwerkſtätte.“

14*[212]

Anna erröthete.


„Nicht doch“, ſagte ich; „es iſt ein anſprechendes Bild
häuslichen Fleißes.“


„Ja, fleißig iſt ſie, das muß man ihr laſſen“, fuhr
Mimi fort. „Sie iſt unſere Mama; beſorgt den Haushalt,
fertigt uns Kleider und Hüte an —“


„Und ihr dankt es mir nicht“, ſagte Anna ernſt.


„Nicht böſe werden!“ lachte die Kleine, indem ſie auf¬
ſprang und die Schweſter mehr muthwillig als herzlich umfing.
„Du Grauſame verläſſeſt uns ohnehin bald — um Herrn
Berger zu heirathen.“


Anna und der junge Kaufmann errötheten jetzt gemeinſam.


„Nun, ſchämt euch nicht! Ich gebe euch meinen Segen!“
rief Mimi mit komiſchem Pathos und ausgebreiteten Armen.
„Aber bedenkt, was wir und das Damentrio verlieren.“


„Ich bedenke nur, was ich gewinne“, ſagte Berger, in¬
dem er die etwas große Hand ſeiner Verlobten zart an die
Lippen führte.


Das Geſpräch nahm nun eine allgemeinere Wendung und
gab Alexis Gelegenheit, ſich als gebildeten und geiſtvollen
Mann darzuſtellen. Obgleich er kaum über dreißig Jahre
zählen konnte, ſchien er bereits doch ſo manche Lebenserfahrung hin¬
ter ſich zu haben und viel in der Welt herumgekommen zu
ſein. Wie aus ſeinen Reden hervorging, hatte er ſich in den
verſchiedenartigſten Berufszweigen, zuletzt auch in der Kunſt
[213] verſucht, und ſomit würde man ganz angenehm mit ihm haben
verkehren können, wenn nicht einige cyniſche Bemerkungen, die
er hin und wieder that, auf eine gewiſſe ſittliche Verwilderung
ſeines Charakters gedeutet hätten, welche neben den übrigen
glänzenden Eigenſchaften doppelt bedauerlich erſchien. Man
zog natürlich auch die Tonkunſt in's Geſpräch und ich ließ
die Hoffnung auf einen muſikaliſchen Genuß durchblicken. „Ich
bin mit Vergnügen bereit, zu ſpielen“, ſagte Ludovica zuvor¬
kommend, indem ſie aufſtand und ſich ihren Geigen näherte.
„Mimi wird mich begleiten.“


„Ludovica kann ſich ſpäter hören laſſen“, ſagte Alexis
abwehrend. „Jetzt ſoll uns Mimi ein paar ihrer reizenden
Lieder zum Beſten geben. — Sie glauben gar nicht, mein
Herr“, wandte er ſich an mich, „welch' ein Genie in der klei¬
nen Perſon ſteckt! Sie dichtet und componirt allerliebſte
Strophen, wie man ſie ſonſt nur in Paris zu hören bekommt,
Laß Dich nicht bitten, Mimchen, und ſinge!“ fuhr er fort, in¬
dem er ihre beiden Hände ergriff.


Die Kleine warf einen lauernden Blick auf Ludovica.
Dieſe war etwas bleich geworden; aber ſie ſtreichelte die
Wange der Schweſter und ſagte: „Singe nur, mein Engel,
Du machſt Alexis eine Freude — und gewiß auch Herrn
Walberg.“


Mimi hatte ſich, wie gewöhnlich die Locken ſchüttelnd, an
das Clavier geſetzt und begann, indem ſie dazu leicht die
[214] Taſten berührte, mit biegſamer Stimme eine Reihe kleiner
Couplets zu ſingen, welche zwar eben nichts Anſtößiges ent¬
hielten, aber doch mit ihrem parodirenden Inhalt und ſarkaſti¬
ſchen Witz in dem Munde eines ſo jungen Geſchöpfes um ſo
befremdender klangen, als ſie nebenher von allerlei vielſagenden
Kopf- und Körperbewegungen begleitet waren. Alexis ſchwamm
in Entzücken. „Herrlich! Göttlich!“ rief er ein über das an¬
dere Mal. „Nun, was ſagen Sie, mein Herr? Hatt' ich
nicht Recht?“ Durch dieſen Beifall angefeuert, geberdete ſich
die Kleine immer toller und begann endlich, ihren Geſang
abbrechend, einen Walzer zu ſpielen, ſo rauſchend, ſo mächtig,
mit einer ſolchen Fülle von Tönen, daß man ein ganzes
Orcheſter zu hören meinte und ſelbſt mir Tanzluſt in die Glie¬
der ſchoß. Der junge Kaufmann aber konnte ſich nicht halten.
Er umfaßte ſeine Braut und walzte mit ihr durch das Zimmer.


„Wie ſchade, daß man nicht zugleich ſpielen und tanzen
kann!“ rief Mimi aus dem Gewoge heraus.


„Das geht allerdings nicht“, ſagte Alexis, indem er
aufſprang. „Aber nicht wahr“ — und er legte dabei ſeine
Hand ſchmeichelnd auf die Schulter Ludovica's — „Deine
Schweſter wird für Dich ſpielen? Und ich will mit Dir
tanzen.“


Ludovica zuckte zuſammen; aber ſie ſetzte ſich an den
Platz Mimi's. Ihr Spiel klang nach dem früheren lahm und
farblos. „Schneller! Stärker!“ ſchrie Alexis, der mit der
[215] Kleinen wie raſend im Zimmer umherflog. Ludovica preßte
die Lippen zuſammen und ſchlug mit aller Macht in die Taſten.
Plötzlich jedoch hielt ſie inne und drückte, in ein lautes Schluch¬
zen ausbrechend, die Hände vor das Antlitz. Alexis ſtampfte
den Boden und blickte mit ſchlecht verhehltem Aerger nach ihr
hin. Die Kleine zog die Brauen empor; Anna ging hinaus.
Es war ein peinlicher, häßlicher Moment und ich hätte am
liebſten nach meinem Hute gegriffen und mich ſtill entfernt.
Ludovica ſchien es zu bemerken. Sie ſtand auf und trat mir
entgegen. „Stoßen Sie ſich nicht daran, ich bitte“, ſagte ſie.
„Es iſt nichts; ein plötzlicher Weinkrampf. Das Geigenſpielen
greift die Nerven fürchterlich an. Ich habe oft ſolche Zufälle.“


Inzwiſchen war unter der Obſorge Anna's ein einfaches
Mahl aufgetragen worden, an das wir verſtimmt und einſilbig
gingen. Berger und Alexis verſuchten hin und wieder ein
ſcherzhaftes Wort; aber es ſchlug nicht durch. Endlich war
es Zeit, mich zu empfehlen. Ludovica zeigte ſich beim Abſchied
zurückhaltend und zerſtreut; Alexis jedoch überbot ſich an Herz¬
lichkeit. „Es freut mich außerordentlich, Sie kennen gelernt
zu haben“, ſagte er. „Ich hoffe“, fuhr er mit einem raſchen
Blicke auf Ludovica fort, „Sie recht oft hier zu treffen.“ Un¬
ten am Thore athmete ich auf und trank in langen Zügen
die klare Frühlingsnachtluft ein. Es ſtand bei mir feſt, dieſe
Schwelle nie mehr zu betreten. —


Aber der Menſch iſt ein ſeltſames Geſchöpf. Nachdem
[216] eine gewiſſe Zeit verfloſſen war, erſchien es mir unwürdig,
ſo geradezu wegzubleiben. Mußte Ludovica nicht denken, ich
ſei verletzt, beleidigt, oder es geſchähe in Folge jener Scene,
bei welcher ſie eine ſo ergreifende Rolle geſpielt? War es
nun wirklich dieſe Rückſicht oder eine geheime Sehnſucht, ſie
wiederzuſehen — genug: ich ging an einem Vormittage zu ihr.
Ich traf ſie eben im Begriffe auszugehen, das Hütchen auf
dem Kopfe.— „Ah, Sie, mein Herr?“ ſagte ſie, ſichtlich über¬
raſcht und befremdet. „Gut, daß Sie kommen. Ich habe
ſoeben einen Brief für Sie zur Poſt geben wollen. Nehmen
Sie Platz! Ich bin nämlich“, fuhr ſie fort, „in der angeneh¬
men Lage, Ihnen jene Summe, die Sie mir ſo großmüthig
vorgeſtreckt, zurück zu erſtatten. Hier iſt ſie.“ Und ſie öffnete
eine Lade und reichte mir die bereits zurechtgelegten Banknoten.
Ich nahm das Päckchen und ſteckte es in die Taſche. „Sehen
Sie doch nach“, ſagte ſie.


„O ich bin überzeugt. Aber“, ſetzte ich hinzu, da ich
ſah, daß ſie ſich unruhig hin und her bewegte, „ich ſtöre
vielleicht. Sie waren eben im Begriffe, das Haus zu ver¬
laſſen.“


„Allerdings; ein wichtiger Gang — allein —“


„Ich bitte“, ſagte ich und ſtand auf.


„Nun denn“, erwiederte ſie, „ſo leben Sie wohl. Noch
einmal meinen innigſten Dank!“ Aber es klang wie ein un¬
geduldiges Drängen. Kein Wort, keine Andeutung, ich möchte
[217] wieder kommen. Mein Herz zog ſich zuſammen: ich war ent¬
lohnt. Als ich diesmal beim Thore anlangte, durchſchauerte
es mich heiß und ſchmerzlich; ich glaube ſogar, daß meine
Augen feucht geworden waren.


Er ſchwieg, in Erinnerungen verloren. Nach einer Weile
fuhr er fort: „Faſt ein halbes Jahr war darüber hingegan¬
gen und alle dieſe Erlebniſſe lagen bereits vergeſſen hinter
mir. Nur zuweilen dämmerte noch wie im Traum die ſchlanke
Geſtalt der Geigerin vor mir auf, um alsbald wieder in
Nichts zu zerfließen. Da wurde eines Tages ziemlich früh
die Klingel meines Vorzimmers gezogen. Ich halte keinen
Bedienten, und ſomit mußte ich ſelbſt öffnen gehen. Nachdem
ich es gethan, ſtand Ludovica vor mir. Ich war über ihren
Anblick derart betroffen, daß ich alle Geiſtesgegenwart einbüßte
und die Verlegene eine Zeit lang zwiſchen Thür und Angel
ſtehen ließ. Endlich hatte ich mich gefaßt und führte ſie raſch
herein — nach jenem Sopha, auf welchem Sie jetzt ſitzen.


„Verzeihen Sie“, ſagte ſie mit einiger Anſtrengung, „daß
ich Sie ſtöre. Sie haben mir einſt einen ſolchen Beweis von
Theilnahme gegeben, daß ich den Muth finde, noch einmal um
ihre Hilfe zu bitten.“


„Verfügen Sie ganz über mich“, entgegnete ich erwar¬
tungsvoll.


[218]

„Es handelt ſich diesmal um etwas ganz Anderes“,
fuhr ſie raſch fort. „Es iſt eine Angelegenheit, bei welcher
mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele ſteht.“


„Sie erſchrecken mich —“


„Um Ihnen meine Bitte vorzutragen, bin ich gezwun¬
gen, weiter auszuholen und erſuche Sie um freundliches
Gehör.“


Ich nahm einen Stuhl und ſetzte mich ihr gegenüber.


Sie that einen langen Athemzug, dann begann ſie: „Wir
ſind die hinterlaſſenen Töchter eines Muſiklehrers, der ſich
ſeiner Zeit eines beſonderen Rufes erfreute und eine große
Anzahl von Schülern aus den hervorragendſten Kreiſen bei
ſich verſammelte. Unter dieſen befand ſich auch ein junger
Mann, Namens Alexis, der eine tiefe, wohlklingende Stimme
beſaß und zu ſeinem Vergnügen Unterricht im Singen nahm.
Seine Familie, eigentlich ruſſiſchen Urſprungs und in den
Donaufürſtenthümern zu Reichthum und Anſehen gelangt, war
ſchon ſeit einigen Generationen hier anſäſſig, wo ſie eine der
bedeutendſten Großhandlungsfirmen vertrat. Als Jüngling,
nach Paris geſchickt, um ſich dort unter der Aufſicht eines
Geſchäftsfreundes dem Handelsſtande zu widmen, war er vor
Kurzem zurückberufen worden; denn es hatte ſich herausgeſtellt,
daß er zu jenem Berufe durchaus keine Neigung beſaß und
ſich vielmehr ſorglos den Vergnügungen der Weltſtadt über¬
laſſen habe. Es ſollte ihm nun eine andere Bahn eröffnet
[219] werden — und in dieſer Zwiſchenzeit kam er in unſer Haus.
Ich zählte damals kaum ſechszehn Jahre; meine Schweſter Anna
war bedeutend jünger; Mimi noch ganz klein. Seine außer¬
ordentliche Schönheit, ſein ſtolzes und doch geſchmeidiges Weſen,
das Feuer ſeiner Blicke und Worte, mit welchen er mir als¬
bald eine lebhafte Neigung verrieth, nahmen mein eben auf¬
keimendes Herz derart gefangen, daß ich in kürzeſter Zeit mit
Leib und Seele ſein eigen war. Weit entfernt, das Verderb¬
liche eines ſolchen Verhältniſſes damals auch nur zu ahnen,
konnte ich mich um ſo mehr ganz dieſem ſüßen Rauſche über¬
laſſen, als unſere Mutter früh geſtorben war und mein Vater,
welcher in ſolchen Dingen, wie ich jetzt erkenne, eine unglaub¬
liche Kurzſichtigkeit beſaß, mich gar nicht überwachte. Eines
Tages erſchien Alexis plötzlich in glänzender Uniform und
theilte mir mit, daß ihn ſeine Eltern beſtimmt hätten, in den
Militärſtand zu treten. Er habe denn auch gleich eine Offi¬
ziersſtelle in der Kavallerie erhalten und müſſe nun zu ſeinem
Regimente nach Ungarn abgehen. Das war unſere erſte
Trennung. Da wir aber täglich die glühendſten Briefe wech¬
ſelten und mein Geliebter, ſo oft es nur anging, hieher kam,
ſo empfand ich dieſelbe keineswegs ſchmerzlich; ja ſie erhöhte
vielleicht noch den Reiz unſerer Liebe. Sogar als die Briefe,
die ich von Alexis erhielt, kürzer und ſeltener wurden und er
ſelbſt nicht mehr ſo oft erſchien, wurde das Gleichgewicht mei¬
ner Seele nicht erſchüttert. Ich war gewiß, daß nur äußere
[220] Umſtände daran Schuld trügen und erwartete ruhig den Tag,
an welchem er wieder bei uns eintreten würde. Und das ge¬
ſchah auch. Er war wieder in bürgerlicher Kleidung gekommen
und ſagte, er ſei des Militärdienſtes ſatt und nunmehr geſon¬
nen, ſich der Künſtlerlaufbahn zu widmen. Der wirkliche
Sachverhalt war, daß er bei ſeinem Hange zur Verſchwendung,
den ich wohl an ihm bemerkt, aber auch nicht zu tadeln ge¬
funden, eine Schuldenlaſt aufgehäuft hatte, welche ſeine Ent¬
laſſung nach ſich zog. Ich wußte das nicht; aber wenn ich
es auch gewußt hätte: es würde doch nichts an meiner Nei¬
gung zu ihm geändert haben. In der That bildete er ſich
nun unter der Leitung meines Vaters, welchem gegenüber er
ſich ohne weiteres als mein Verlobter benahm, für die Oper
aus. Es gelang ihm bald, an einer kleineren Bühne Engage¬
ment zu finden, nach und nach auch in bedeutenderen Städten
mit Glück aufzutreten; ja er wurde ſogar einmal nach London
berufen. Inzwiſchen hatte ich von mehreren Seiten Winke er¬
halten, mein Verhältniß zu Alexis abzubrechen. Er ſei ein
leichtſinniger, gewiſſenloſer Menſch, hieß es, der ſeine Familie
an den Bettelſtab bringe, an jedem Orte Beziehungen zu
Mädchen und Frauen unterhalte und überhaupt ein Leben
führe, welches für ſeine Zukunft das Schlimmſte befürchten
laſſe. Ich erkannte in all' dieſen Warnungen bloße Verläum¬
dungen und niedrige Umtriebe einiger Bewerber um meine
Hand, welche ich zwar nicht übermüthig, aber mit ruhigem
[221] Stolze abgewieſen hatte. Ich war von der Liebe des Ent¬
fernten, welcher zuweilen ſelbſt in ſcherzhaften Briefen ſeiner
Erfolge beim weiblichen Geſchlechte erwähnte, um ſo mehr
überzeugt, als er ſtets durchblicken ließ, wie er nur den Zeit¬
punkt einer ſicheren und dauernden Stellung erwarte, um mich
zu ſich zu rufen. Da trat er, nachdem ich lange nichts von
ihm gehört, plötzlich bei uns ein. Aber in welchem Zuſtande!
Krank, gebrochen, herabgekommen — ein Bild männlichen
Elends. Er hatte ſeine Stimme verloren, Gläubiger verfolg¬
ten ihn und da ſeine Eltern, welche ihm ihr ganzes Vermögen
zum Opfer gebracht, geſtorben waren, wußte er nicht, wohin
er ſein Haupt legen ſollte. Ich liebte und liebe ihn ſo“, ſetzte
ſie mit zitternder Stimme hinzu, „daß ich auf all' das kein
Gewicht legte und ſelig war, ihn wieder bei mir zu haben.
Auch mein Vater hatte inzwiſchen das Zeitliche geſegnet und
Jeder von uns Einiges hinterlaſſen. So wenig es war, mein
Theil genügte, ihn von den drückendſten Sorgen zu befreien.
Er bezog eine Wohnung in unſerer Nähe; ich pflegte ihn, ich
ſorgte für ſeine Bedürfniſſe und legte auf ſeine abenteuerlichen
Pläne, ſich eine neue Exiſtenz zu gründen, gar kein Gewicht.
Durch meine Kunſt, die ich nun mit den Schweſtern öffentlich
auszuüben begann, erſchloſſen ſich mir neue Einnahmsquellen,
und ſomit wäre Alles gut geweſen, wenn nicht, nachdem er
geneſen war, ſein unvertilgbarer Leichtſinn wieder die Ober¬
hand gewonnen hätte. Er ſtürzte ſich neuerdings in Schulden¬
[222] die er mir anfänglich geheim hielt, welche ich aber im entſchei¬
denden Augenblicke ſo lange bezahlte, bis ich es nicht mehr im
Stande und er auf dem Punkte war, vor Gericht gezogen zu
werden. In dieſen entſetzlichen Tagen“, ſchloß ſie aufathmend,
„waren es Sie, mein Herr, der ihn gerettet.“


Es entſtand eine Pauſe; dann fuhr ſie in ſchmerzlich ge¬
dämpftem Tone fort: „Schon früher glaubte ich zu bemerken,
daß ſich zwiſchen Alexis und meiner jüngſten Schweſter eine
Neigung entſpinne. Aber ich wollte es mir nicht eingeſtehen,
und in meiner gewaltſamen Selbſtverblendung begünſtigte ich
dieſe Umwandlung noch inſofern, als ich Vieles abſichtlich
überſah, um dem Vorwurfe thörichter Eiferſucht zu entgehen.
Es wäre auch vielleicht nicht zum Aeußerſten gekommen, wenn
ſich Alexis' Verhältniſſe nicht plötzlich wie mit einem Schlage
verändert hätten. Er war nämlich in Folge früherer Bekannt¬
ſchaften wieder in die Geſellſchaft vornehmer junger Leute
gerathen, die ihn nun als Vermittler hoher Darlehen zu be¬
nützen ſuchten. Da er mit der Zahlungsfähigkeit jedes Ein¬
zelnen ſo ziemlich vertraut war, fiel es ihm nicht ſchwer, Geld¬
ſpeculanten zu finden, die ſich gegen rieſigen Gewinn auf
derlei Unternehmungen einließen. Einige ſolcher Geſchäfte
hatten ſich bald glänzend abgewickelt — und ſeit dieſer Zeit
iſt Alexis ein von beiden Seiten geſuchter Mann. Sein Zim¬
mer wird nicht leer von Beſuchern, die zu Roß und Wagen
vor dem Hauſe anlangen; überraſchend hohe Summen fliegen
[223] ihm zu, und wenn ſein Hang zur Verſchwendung nicht wäre,
ſo müßte er ſich bereits jetzt ein Vermögen erworben haben.
Das Erſte, was er that, war jedoch, ſich in einem vornehmen
Stadtviertel einzumiethen; im Intereſſe ſeiner Wirkſamkeit,
wie er ſagte. Dabei vernachläſſigte er mich auffallend, zog
aber im Geheimen Mimi, mit welcher ich nun, da meine an¬
dere Schweſter mittlerweile geheirathet hatte, allein lebte, mehr
und mehr an ſich. Eines Tages erklärte ſie mir, ſie werde
mich verlaſſen; Alexis habe die Sorge für ihren Unterhalt
übernommen. Vernichtet, außer mir vor Schmerz und Ver¬
zweiflung, eile ich zu ihm. Er empfängt mich kalt und ge¬
meſſen, erklärt mir, daß er mich nicht mehr liebe, mich längſt
nicht mehr geliebt habe und daß von einem innigeren Ver¬
hältniſſe zwiſchen uns Beiden keine Rede mehr ſein könne.
Mein Freund wolle er bleiben und Alles für mich thun, was
ich ſonſt von ihm verlangen würde. Und als ich mich, gelöſt
in Schmerz und Thränen, zu ſeinen Füßen werfe, ſeine Kniee
umklammere und ihn beſchwöre, mir ſein Herz wieder zuzu¬
wenden und jenen ſchmählichen Erwerb, der ihn unfehlbar
in's Verderben führen müſſe, aufzugeben —: ſtößt er mich
rauh von ſich und droht endlich, mir die Thüre weiſen zu
laſſen!“ Sie brach in ein faſt ſchreiendes Weinen aus und
ſank in das Sopha zurück.


„Das iſt ſehr traurig“, ſagte ich nach einer Pauſe. „Aber
was ſoll — was kann ich dabei thun?“

[224]

„O, Alles!“ rief ſie, indem ſie ſich mit ihrem Tuche
haſtig Augen und Wangen trocknete, „Alles, wenn Sie nur
wollen!“ Und da ich ungläubig vor mich hinblickte, fuhr ſie
warm fort: „Sehen Sie, trotz ſeiner ſcheinbaren Härte iſt
er doch eine weiche, lenkſame Natur; trotz ſeines Leichtſinnes,
ſeiner Verirrungen einer edleren Regung fähig, und ich bin
überzeugt, daß ihn nur das Berauſchende ſeiner neuen Lage
und“ — fügte ſie leiſer hinzu — „die Verführungskünſte
meiner Schweſter ſo weit gebracht. Wenn ſich ein Mann
findet, den er achtet, auf deſſen Stimme er Gewicht legt, und
dieſer ihm das Unwürdige ſeiner Stellung, das Grauſame ſei¬
nes Handelns vorhält: ſo zweifle ich nicht, daß er in ſich
geht und zu mir zurückkehrt.“


„Glauben Sie? — Und wenn dem ſo wäre: woraus
ſchließen Sie, daß ich der Mann ſei, der ſo viel Gewalt über
ihn hätte?“


„O ich weiß es! Ich habe ihn noch von Niemand mit
ſo viel Wärme, Anerkennung — ja Bewunderung reden hören,
wie von Ihnen. Er hat“, fuhr ſie erröthend fort, „bei Ihnen
ſogleich Eigenſchaften wahrgenommen, die ich damals in der
Verwirrung meiner Seele nicht zu erkennen — nicht völlig zu
würdigen im Stande war. — Und jetzt bin ich gezwungen,
Ihnen ein Bekenntniß abzulegen, das für mich beſchämend iſt,
welches ich aber in dieſem Augenblicke nicht zurückhalten kann.
Sie werden ſich erinnern, daß ich damals, als Sie — ich
[225] will nicht ſagen den Wunſch, ſo doch die Andeutung aus¬
ſprachen, mich wieder ſehen zu wollen, einigermaßen betroffen
war. Ich durfte keine Hoffnungen erregen, die ich nicht er¬
füllen konnte. Aber im ſelben Momente zuckte in mir der
Gedanke auf, Alexis durch Sie meinen Werth fühlen zu laſſen,
ihn — um es gerade heraus zu ſagen, eiferſüchtig zu machen.
Als ich aber erkannte, daß gerade das Gegentheil eintrat, ver¬
wünſchte ich im tiefſten Herzen dieſen Winkelzug und faßte
eine Art Abneigung gegen Sie, die um ſo ſtärker wurde, je
aufrichtiger, je unberechneter ſeine Verehrung für Sie hervor¬
brach.“ Sie hatte, innehaltend, Haupt und Blick geſenkt, als
erwartete ſie das Urtheil eines Richters.


Ich ſchwieg.


„Sie verachten mich jetzt“, ſagte ſie kaum hörbar.


„Nein“, erwiederte ich. „Im Gegentheile: ich achte Sie
höher, als ich je vermocht.“ Es war keine bloße Phraſe, was
ich da ausſprach. Man iſt bei den Frauen im Allgemeinen ſo
wenig Aufrichtigkeit zu finden gewohnt, daß ich mich durch
die Wahrheit ihres Geſtändniſſes, ſo unerfreulich daſſelbe für
meine Perſon war, im Tiefſten überraſcht und ergriffen fühlte.
„Ja, Ludovica“, fuhr ich fort, „ich achte Sie hoch und
damit ich es Ihnen beweiſe, will ich mit Alexis reden.“


Sie machte eine Bewegung, als wollte ſie mir dankend
zu Füßen fallen.


Ich ſprang auf. „Erwarten Sie nicht zu viel! Sie
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 15[226] begreifen, daß ich mich nicht ohne weiteres in fremde Verhält¬
niſſe einmiſchen, daß ich nicht den Liebesvermittler ſpielen kann.
Aber nach dem, was Sie mir geſagt haben, wird es mir mög¬
lich, Alexis als ernſter Mahner und Warner zu nahen. Und
das will ich thun.“


„O, jetzt iſt Alles gut!“ rief ſie in überquellender Freude,
„jetzt bin ich gerettet! Aber noch Eins. Ich ſagte vorhin,
daß Alexis den Verführungskünſten meiner Schweſter erlegen
ſei. Wenn ich gewiß wäre, daß ſie ihn liebt, ihn treu, wahr
und aufrichtig liebt — vielleicht — aber auch nur vielleicht
— wäre ich im Stande, zurückzutreten. Ich ſage Ihnen jedoch:
ſie liebt ihn nicht!“


„Ich glaub' es“, erwiederte ich.


„Es wird mir ſchwer, es auszuſprechen — aber ſo jung
ſie iſt — ſo gefallſüchtig und herzlos, ſo falſch und tückiſch
iſt ſie auch. Sie wird ihn unglücklich machen, wird ihn auf
der gefährlichen Bahn weiter und weiter treiben —“


„Ich bin davon überzeugt. Aber wird er ſich überzeugen
laſſen?“


„Ich hab' es verſucht; doch es hat ihn noch mehr gegen
mich gereizt.“


„Das war unklug von Ihnen und deßhalb darf ich dieſen
Punkt nur mit äußerſter Vorſicht berühren.“


„Reden Sie, handeln Sie, wie es Ihnen gut dünkt.
Ich weiß, Sie werden Alles zum Beſten lenken. Und —
[227] nicht wahr — Sie gehen gleich morgen zu ihm? Nicht zu
ſpät, daß Sie ihn ſicher zu Hauſe treffen — und dann geben
Sie mir ſogleich Nachricht.“ Sie hatte ſich bei dieſen Worten
erhoben.


„Ich werde es; aber noch einmal: erwarten Sie nicht zu
viel!“ Und damit geleitete ich ſie hinaus.


Als ich wieder allein war, trat allmälig die Reaction bei
mir ein. Ich ſah mich da in einen Handel verſtrickt, bei dem
ich möglicher Weiſe in zweideutigem Lichte erſcheinen konnte
und welcher, das erkannte ich mehr und mehr, zu keinem guten
Ende zu bringen war. Angenommen ſelbſt, daß die früheren
Verhältniſſe wieder hergeſtellt wurden: wie lange konnten ſie
zwiſchen dieſen Menſchen vorhalten? — Aber ich hatte dem
armen, verzweifelten Weibe meine Hilfe zugeſagt und ging
am nächſten Morgen zu Alexis. —


Ich traf ihn, nachdem mich ein Diener angekündigt hatte,
eben am Frühſtückstiſche, eine türkiſche Pfeife mit langem Rohr
in der Hand. Er ſprang auf und kam mir, flammend vor
Verlegenheit, entgegen. „Ah, mein Herr“, rief er, „was ver¬
ſchafft mir das Vergnügen, die beſondere Ehre Ihres Beſuches?
— Sie ſehen mich noch beim Frühſtück — kann ich Ihnen
eine Taſſe Kaffee anbieten? Oder Thee — Chocolade —“


Ich dankte.


„Alſo doch wenigſtens eine Cigarre“, und er öffnete eine
15*[228] prächtige Ledercaſſette. „Directer Bezug von Havannah“, fuhr
er fort, mehr aus Faſſungsloſigkeit, als um zu prahlen.


Ich wollte ihn nicht verletzen und nahm von dem koſt¬
baren Kraute, während er mir dienſtbefliſſen Feuer reichte.


„Mein Herr“, begann ich, nachdem wir uns Beide geſetzt
hatten, „ich glaube, mich nicht zu irren, wenn ich annehme,
daß Sie über den Grund meines Erſcheinens ſo ziemlich im
Klaren ſind.“


„Nun — allerdings“; erwiederte er unruhig. „Ich ver¬
muthe, Sie kommen als Abgeſandter —“


„Ja denn, wenn Sie es ſo nennen wollen. Doch beſſer
geſagt: ich komme über Erſuchen des Fräuleins Ludovica Mens¬
feld. Sie iſt ſehr unglücklich.“


„Durch ihre eigene Schuld“, fuhr er auf. „Ich habe
ihr Alles ruhig auseinander geſetzt, habe ihr die vernünftigſten
Vorſchläge gemacht. Aber ſie will nichts hören, will nicht be¬
greifen, daß Gefühle vergänglich ſind, daß neue Eindrücke
ebenfalls ihre Rechte fordern —“


„Mein Herr“, warf ich ein, „Sie gehen zu weit. Einem
liebenden Weibe zumuthen, daß es natürlich und begreiflich
finden ſoll, was Ihnen und vielleicht auch mir ſo erſcheint,
heißt Uebermenſchliches verlangen. Und Ludovica liebt Sie.“


„Ja, ja“, ſagte er unwillig, „ſie liebt mich, ich weiß
es — und ich habe ſie auch geliebt, heiß und glühend geliebt.
O“, fuhr er, in Erinnerungen verſinkend, fort, „Sie können
[229] ſich gar nicht vorſtellen, wie ſchön, wie bezaubernd ſie war.
Ihre Augen, ihr Wuchs, ihre Hände und Füße — und ſie
iſt jetzt noch ſchön und dabei ein gutes, vortreffliches Weſen
— keine ihrer Schweſtern kann eigentlich nur im entfernteſten
mit ihr verglichen werden —“


„Nun alſo —“ ſagte ich.


„Und dennoch — dennoch liebe ich ſie nicht mehr, kann
ſie nicht mehr lieben! Sie iſt immer dieſelbe; immer die
gleiche Hingebung, die gleiche Zärtlichkeit; immer die näm¬
lichen ſanften Anſprüche. Dieſe Monotonie wirkt nachgerade
erdrückend. Sehen Sie, da iſt ihre Schweſter Mimi — ein
launenhaftes, bizarres Geſchöpf. Aber voll Geiſt, voll Witz,
voll Leben — ein reizender kleiner Teufel.“


„Dieſe Bezeichnung iſt vielleicht nicht übel gewählt“, er¬
wiederte ich ruhig. — „Aber gibt Ihnen das ein Recht, ein
Weib zu verlaſſen, das mit inniger Liebe und Treue an Ihnen
hängt — das Ihnen Alles geopfert?“


Er ſchnellte, wie an einer Wunde berührt, vom Sitze
empor. „Ja“, rief er, im Zimmer auf und ab eilend, „ja,
ſie hat mir viel, hat mir Alles geopfert. Ich weiß, was Sie
meinen. Aber warum that ſie es?! Ich hab' es nicht gefor¬
dert. Sie hätte mich meinem Schickſale überlaſſen ſollen.
Und dann — ich habe Alles geordnet, Alles beglichen, was
ſie von jener Zeit her noch bedrücken, noch beunruhigen könnte.
Ich habe ihr die glänzendſten Anerbietungen gemacht. Aber
[230] ſie weiſt Alles zurück und zieht es vor, von Muſikſtunden zu
leben. Was ſie fordert, iſt Liebe und wieder Liebe — und
die kann ich ihr nicht geben.“


„Nun, dann wäre es Ihre Pflicht, Ludovica zart und
ſchonungsvoll nach und nach mit ihrer Lage vertraut zu machen,
in welcher ſie ſich, von Schmerz und Leidenſchaft verwirrt,
nicht allſogleich zurecht finden kann. Keineswegs aber durften
Sie die Aermſte ungeduldig und grauſam von ſich ſtoßen und
ihr auf's unwürdigſte drohen.“


„Das that ich, weil ſie nach unwürdigen Mitteln griff,
mich wieder zu gewinnen. Sie hat ihre Schweſter vor mir
herabgeſetzt, hat den Verdacht in mir erwecken wollen, daß
mich Mimi nicht liebt.“


„Und wenn ſie Recht hätte“, ſagte ich ernſt.


Er zuckte zuſammen und blieb ſtehen. „Sie ſprechen in
Ludovica's Intereſſe!“ rief er.


„Mein Herr“, ſagte ich, indem ich mich jetzt gleichfalls
erhob und auf ihn zutrat, „es mag ſein, daß der Schritt, den
ich unternommen, Sie einigermaßen berechtigt, Zweifel in die
völlige Aufrichtigkeit meiner Worte zu ſetzen. Allein, wenn
Sie in meiner Seele leſen könnten, ſo würden Sie die Ueber¬
zeugung gewinnen, wie ehrlich, wie wahr ich es, nicht blos
mit Ludovica, ſondern auch mit Ihnen meine. Ich wieder¬
hole es: Marie Mensfeld liebt Sie nicht.“ Und da er
ſchmerzlich betroffen zu Boden ſah, fuhr ich raſch fort: „Nicht
[231] Sie — und auch keinen Anderen. Mimi gehört zu den Frauen,
die erſt dann lieben, wenn ſie ſelbſt nicht mehr fähig ſind,
Liebe zu erwecken.“


Er ſchritt langſam zu ſeinem Stuhl und ſetzte ſich wieder.
Schweigend, mit geſenktem Haupte ſchien er einem geheimni߬
vollen Echo zu lauſchen, das meine Worte in ſeinem Innern
wachgerufen. Er mußte bereits ſelbſt ſchwer und oft gezwei¬
felt haben und kämpfte jetzt mit ſeinen Gedanken.


„Ich bin nicht in der Abſicht hiehergekommen“, fuhr ich,
mich ihm nähernd, fort, „Gluthen anzufachen, die erloſchen
ſind: das vermag keine Macht der Erde. Aber laſſen Sie
uns offen mit einander reden. Was Sie an Mimi feſſelt, iſt
die Macht ihrer jugendlichen Reize. Sie finden bei ihr Freu¬
den und Genüſſe, die Ihnen Ludovica nicht mehr zu bieten
vermag. Allein bedenken Sie, daß das Daſein nicht blos im
Genießen beſteht, daß wir auch zu entbehren und ſo manches
Opfer uns ſelbſt und Anderen zu bringen haben. Bedenken
Sie, daß es Pflichten gibt, die, ſofern ſie nicht mit unſerem
beſſeren Ich im Widerſpruche ſtehen, unter allen Umſtänden
erfüllt werden müſſen. Erkennen Sie, daß man eine Ver¬
gangenheit nicht ſo leicht abſchüttelt wie ein Kleid, das man
wechſelt. Und welchen Tauſch wollen Sie treffen? Hier
ein Weib, ſanft und zärtlich, voll Hingebung und Treue; zu¬
frieden, mit Ihnen in ein und derſelben Luft athmen zu kön¬
nen; dort ein Geſchöpf, mehr ſtachelnd als anziehend; zwar
[232] voll Witz und Beweglichkeit, aber auch ohne Herz und Seele.
Ein Geſchöpf, das nur zur Maitreſſe geſchaffen iſt und Sie
mit kaltem Blute verlaſſen wird, wenn Sie nicht mehr im
Stande ſind, jede ihrer Launen zu befriedigen. Wie lange
aber — und um welchen Preis wird Ihnen dies möglich
ſein? Es ſteht mir vielleicht nicht zu, Sie auf das zum min¬
deſten Unpaſſende Ihrer gegenwärtigen Verhältniſſe aufmerk¬
ſam zu machen, und ich maße mir nicht an, mit unerbetenen
Rathſchlägen in Ihr Leben eingreifen zu wollen — aber ſagen
Sie ſelbſt: wohin ſoll das führen?“


Er hatte den Blick geſenkt; er war beſchämt; aber auch
bewegt und ergriffen. „Ja, es iſt wahr“, rief er aus und
faßte meine Hand, „Sie haben Recht! Allein, was ſoll ich
thun? Der Ertrinkende greift nach Allem, was ſich ihm dar¬
bietet. Mein Leben iſt nun einmal ein verfehltes —“


„Nicht doch! Sie ſtehen in der Blüthe Ihrer Jahre.
Einem Manne von Ihren Anlagen und Fähigkeiten wird und
muß es bei redlichem Wollen gelingen, ſich eine geſicherte,
wohlanſtändige Stellung zu ſchaffen. Und gerade hiezu bietet
Ihnen eine Vereinigung mit Ludovica die beſte Ausſicht. Sie
ſelbſt hat bereits erwerben gelernt; Sie werden ſich gegenſeitig
ſtützen und fördern und nach allen Stürmen und Kämpfen in
einer beſcheidenen Häuslichkeit die höchſten Güter der Erde:
Ruhe und Zufriedenheit finden.“


Er blickte vor ſich hin. Rührung und Unentſchloſſenheit
[233] malten ſich in ſeinen Zügen; es war, als wollte ſich in ſeiner
Bruſt ein Umſchwung vorbereiten. „Und was ſollte mit Mimi
geſchehen?“ fragte er dumpf.


„Ueberlaſſen Sie ſie ihrem Schickſale! Sie wird ihren
Weg zu finden wiſſen!“


Kaum hatte ich dieſe Worte geſprochen, als draußen hef¬
tig an der Klingel geriſſen wurde und faſt gleichzeitig, mit
Sammt und Seide angethan, ein ſchmuckes Federhütlein unter¬
nehmend auf die krauſen Locken geſtülpt, Mimi zur Thüre
herein rauſchte. Sie ſtand bei meinem Anblick betroffen ſtill
und ihre Oberlippe zog ſich gehäſſig empor. Ihr Aeußeres
hatte ſich, ſeitdem ich ſie nicht mehr geſehen, bedeutend verän¬
dert. Sie war mächtig aufgeſchoſſen und ihre Geſichtszüge
hatten eine ſcharfe Deutlichkeit angenommen.


Alexis flog ihr wie verwandelt entgegen und ich erkannte,
daß nun Alles verloren ſei. „Du ſiehſt, mein Engel“, ſtam¬
melte er, „ich habe Beſuch; tritt einſtweilen hier in's Neben¬
zimmer.“ Er geleitete ſie und ich vernahm, wie ſie drinnen
miteinander flüſterten. Nach einer Weile kam er zurück. „Sie
verzeihen“, ſagte er mit einiger Verlegenheit, „daß ich nicht
länger das Vergnügen haben kann — eine wichtige Angelegen¬
heit —“ Und während ich nach meinem Hute griff, fuhr er
fort: „Seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Bemerkungen, Ihre
Rathſchläge zu würdigen weiß — daß ich ſie auch zum Theile
vollkommen anerkenne und Ihnen gewiß dankbar bin — es
[234] läßt ſich jedoch in dieſer Hinſicht ſo raſch kein Entſchluß faſſen.
Was nun Ludovica betrifft, ſo bitte ich, ihr zu ſagen, daß ich
ſchon früher Alles wohl erwogen und überlegt habe, daß ich
begreife, wie ſchmerzlich es für ſie ſein muß — aber ich kann
nichts an den Beziehungen ändern, in welchen wir gegenwärtig
zu einander ſtehen. Durchaus nichts!“ fügte er, die verletzende
Hartnäckigkeit ſchwacher Naturen hervorkehrend, hinzu.


Ich betrachtete ihn ſchweigend. „Ich werde es ihr ſagen“,
ſprach ich endlich und ging.


Ich begab mich geraden Weges zu Ludovica, die, ſeit ſie
von ihren Schweſtern getrennt lebte, eine einfache Miethſtube
bewohnte und mir in höchſter Spannung entgegenkam. „Nun,
nun?“ fragte ſie mit erwartungsvollen Blicken.


„Es iſt gekommen, wie ich es vorhergeſehen.“ Und ich
erzählte ihr Alles.


Mir blutete das Herz, wie ſie ſo vor mir ſaß und athem¬
los an meinem Munde hing, während jedes Wort wie ge¬
ſchmolzenes Blei in ihre Seele fiel. Wie ſie ſchmerzlich auf¬
zuckte, wie ſie nach Faſſung rang, wie ſich allmälig Rührung,
Freude und Hoffnung in ihren Zügen malten — bis ſie end¬
lich enttäuſcht und verzweifelt unter einem Strome von Thränen
zuſammenbrach. Und doch, wenn es ein Mittel gab, ſie aus
dieſen Wirrſalen zu befreien, ihr den Frieden der Seele wieder¬
zugeben: ſo konnte es nur geſchehen, indem man ſie zum kla¬
ren Bewußtſein ihrer Lage und zur Ueberzeugung brachte, daß
[235] ſie nichts mehr erwarten, nichts mehr hoffen dürfe. Aber ſie
hoffte noch. Denn nachdem ſie eine Zeitlang, von ihren wo¬
genden Gedanken und Gefühlen umbrauſt, geſchwiegen hatte,
verſuchte ſie es inſtinktmäßig, ſich an den erfreulicheren Theil
meiner Mittheilungen zu klammern. „Alſo er hat doch lieb
und gut von mir geſprochen“, begann ſie leiſe. „Sie ſahen
ihn gerührt, ergriffen. Er war auf dem Punkte —“


„Sich aus einer Schwachheit in die andere zu ſtürzen!“
fiel ich ihr in's Wort. „Er war auf dem Punkte einen Ent¬
ſchluß zu faſſen, den er morgen oder übermorgen wieder bereut
und rückgängig gemacht hätte. Er iſt nicht der Mann, nach
Grundſätzen zu handeln und ich habe geſehen, wie das bloße
Erſcheinen Ihrer Schweſter auf ihn gewirkt hat. Mit einem
Worte: Er liebt Sie nicht mehr und iſt für Sie verloren!“


„O! o!“ jammerte ſie und rang die Hände.


„Faſſen Sie ſich, Ludovica“, fuhr ich fort. „Blicken Sie
den Ereigniſſen feſt und klar in's Auge und vergeſſen Sie
einen Menſchen, der nicht würdig iſt, von Ihnen geliebt zu
werden.“


„Nie! Nie!“ rief ſie, ſich verzweifelt hin und her wer¬
fend. „Ich kann — ich will ihn nicht vergeſſen; ich kann
und will ihn nicht verlieren. Er iſt mir Alles!“


„Alles?! Haben Sie nicht ſich ſelbſt? Haben Sie nicht
Ihre Kunſt?“


„O, ſprechen Sie mir nicht von meiner Kunſt! Dort
[236] liegen meine Geigen verſtimmt und beſtäubt; ſeit Monden
ſpiel' ich nicht mehr. Ja früher — da gab es keine größere
Seligkeit für mich, als die ſtille Sehnſucht, die jubelnde Freude,
die ſüßen Schmerzen meiner Bruſt in den mitempfindenden
Saiten austönen zu laſſen. Aber jetzt haſſ' ich ſie, und nur
manchmal überkommt es mich, darin zu wüthen, daß ſie zer¬
ſpringen wie mein Herz!“


„Freveln Sie nicht“, ſagte ich ernſt und ſtreng. „Wer¬
fen Sie nicht thöricht das göttliche Geſchenk von ſich, womit
Sie das Schickſal vor Tauſenden begnadet hat! Erwägen
Sie, wie viele Menſchen um Sie her unter der Laſt des
Elends, des Kummers und der Verzweiflung ſeufzen und nichts
beſitzen, woran ſie ſich aufrecht halten, woran ſie ſich in eine
freiere Atmoſphäre emporringen könnten. Erwägen Sie, wie
viele berechtigte Hoffnungen in dieſem Leben ſcheitern, und ver¬
zichten Sie auf das, was Sie verloren haben.“


„O, Sie ſind ein Mann!“ rief ſie, „und wiſſen nicht,
was dem Weibe die Liebe iſt!“


„Ich weiß es. Die Liebe iſt der Lebensinhalt des Wei¬
bes. Allein die ewigen Ideen, der Fortſchritt im Ganzen und
Großen, die Sorge für das allgemeine Wohl ſind und waren
bis jetzt der Lebensinhalt des Mannes. Und wie oft muß
er, woran er den Schweiß und die ganze Kraft ſeines Daſeins
gewandt, über Nacht zuſammenbrechen und ſich mit Undank,
Hohn und Spott, mit der öffentlichen Verachtung belohnt ſehen.
[237] Und in dieſer Welt der Enttäuſchung und des Schmerzes, in
dieſer Welt, wo Nichts Beſtand hat: will das Weib allein
ſein Glück dauernd und ungefährdet erhalten wiſſen?!“ —


Und da ſie nachdenklich vor ſich hin ſah, fuhr ich fort:
„Und iſt denn auch Ihr Loos ein ſo entſetzliches? Haben
Sie nicht geliebt? Sind Sie nicht wieder geliebt worden?
Können Sie nicht ſagen: ich habe gelebt und genoſſen, wäh¬
rend andere Frauen niemals die Knoſpe ihres Herzens ſpren¬
gen durften und mit verhaltenen Gluthen zu Grabe gingen!“


Sie war in ein ſanftes Weinen ausgebrochen. Ich erhob
mich und trat vor ſie hin. „Ludovica, laſſen Sie mich Ihr
Freund ſein!“ Und da ſie mir raſch abwehrend beide Hände
entgegen ſtreckte, ſagte ich eindringlich: „Mißverſtehen Sie
mich nicht! Ich bin nicht der Mann, Ihnen in dieſem
Augenblicke mit Liebesanträgen zu nahen. — Noch einmal:
laſſen Sie mich Ihr Freund ſein! Ich bin es gewohnt,
den einſamen Pfad der Entſagung zu ſchreiten. Ich will Sie
ſtützen, führen und lenken; ich will über Ihnen wachen, wie
über einem kranken Kinde — bis Sie endlich, mit Ihrem
Geſchicke und Ihrer Kunſt wieder verſöhnt, jene Höhe des
Daſeins erreicht haben, von welcher aus Sie lächelnd auf die
Vergangenheit zurück — und vielleicht einer ſchöneren Zukunft
entgegenblicken können.“


Sie ſchien die Macht meiner Worte in tiefſter Seele zu
empfinden und darüber nachzuſinnen. Plötzlich aber ſchauderte
[238] ſie auf und rief, die Hände vor das Antlitz ſchlagend: „Nein!
Nein! Ich kann ihm nicht entſagen! Und wenn er mich
auch nicht mehr liebt — ich laſſe ihn nicht! Seine Leiden¬
ſchaft für Mimi kann nicht dauern; er wird und muß wieder
zu mir zurückkehren. Ich will Alles dulden, Alles ertragen.
Er ſoll mich ſchelten, ſoll mir drohen, ſoll mich von ſich ſtoßen:
ich will ſelig ſein, von ſeinen Füßen getreten zu werden, denn
ich kann nicht leben ohne ihn!“


Ich trat einen Schritt zurück. Dieſer wilde, raſende
Ausbruch, dieſer blinde Drang, auf dem kein Strahl der Er¬
kenntniß haften wollte, erkältete mich bis in's Herz hinein.
„Nun denn“, ſagte ich endlich, „ſo leben Sie wohl! Der
Himmel ſei Ihnen Allen gnädig!“ —


Was nun die Ereigniſſe ſpäter mit ſich brachten, kann
ich Ihnen raſch und kurz erzählen. Ich habe es erfahren, wie
man nachgerade Alles über Menſchen erfährt, die man kennt.
— Alexis' glänzende Verhältniſſe waren, wie vorauszuſehen,
unhaltbar. Nach kurzer Zeit ſchon ſtockten einige bedeutende
Zahlungen. Die Speculanten wurden mißtrauiſch und ſchwie¬
rig und forderten die unglaublichſten Erſtreckungsſummen.
Neue Termine wurden nicht eingehalten, Wucheranzeigen er¬
ſtattet und ſo kam das ganze Unternehmen, bei welchem ſich
auch einige arge Unredlichkeiten nachweiſen ließen, in's Schwan¬
ken und Stürzen und brach endlich zuſammen. Nur der Um¬
ſtand, daß ſelbſt Perſönlichkeiten höchſten Ranges mit verwickelt
[239] waren, rettete Alexis, der nun wieder in's tiefſte Elend zurück¬
ſank, vor gerichtlicher Verfolgung. In der Aufregung dieſer
Tage — Mimi war inzwiſchen mit einem Attaché der fran¬
zöſiſchen Geſandtſchaft nach Paris gereiſt — zog ſich der Un¬
glückliche eine raſche Krankheit zu, die ihn auf's Todtenbett
warf. Ludovica hat ihn in ihrer ärmlichen Stube gepflegt
und mit dem Erlöſe ihrer letzten Habſeligteiten begraben laſſen.
Er iſt in ihren Armen geſtorben. —


Es war wieder ganz ſtill im Gemache; mir von der
Straße herauf klang das dumpfe Rollen [eines] verſpäteten
Wagens.


„Die Geſchichte iſt noch nicht zu Ende“, ſagte ich.


„Nein; aber was jetzt folgt, iſt nur ein kurzes Nachſpiel
oder vielmehr ein häßliches Seitenſtück zu dem, was Sie bis
jetzt gehört haben. Es müßte unbegreiflich erſcheinen, wenn
nicht gerade das Unbegreifliche die Natur des Weibes wäre.
Und dennoch werden Sie darin das unerbittlich und gleich¬
mäßig waltende Geſchick erkennen, welches Ludovica dem Ab¬
grunde zutrieb. —


Drei Jahre waren vergangen und ich hatte ſie nicht
wieder geſehen. Da begegnete ich ihr eines Tages auf der
Straße, wie ſie am Arme eines Mannes einherſchritt. Es
[240] war wohl nur gegenſeitige Faſſungsloſigkeit, daß wir mit
einem Gruße vor einander ſtehen blieben. Wir ſtammelten
einige Worte, die freudig klingen ſollten; endlich wies ſie auf
ihren Begleiter und ſagte: „Mein Mann, Baron —“ ſie
nannte einen Namen, der nichts zur Sache thut. Ich warf,
während er ſich nachläſſig verbeugte, einen Blick auf ihn.
Er war nicht mehr jung, von hohem Wuchſe und wohlbeleibt.
Sein Antlitz mußte einſt ſchön geweſen ſein, jetzt aber zeigte
es ſich aufgedunſen und der Ausdruck niedriger Leidenſchaften
lag darin. Sein Anzug war eine Miſchung von Sorgfalt
und Verlotterung; auch Ludovica ſah in ihrem Aeußern ziem¬
lich herabgekommen aus. Ich ſchützte Eile vor und empfahl
mich. „Freut mich ſehr, einen alten Freund meiner Frau
kennen gelernt zu haben“, ſagte der Baron in einem ſingenden
mitteldeutſchen Dialekte; „machen Sie uns einmal das Ver¬
gnügen — wir wohnen —“ Das Weitere vernahm ich nicht
mehr. Ich konnte mich nicht enthalten, in einiger Entfernung
ſtehen zu bleiben und dem Paare nachzublicken. Ein eigen¬
thümliches Gefühl überkam mich, als ich das Weib, das ich
zwar nicht geliebt hatte, welches ich aber, wie ich noch jetzt
fühlte, unſäglich hätte lieben können, mit dieſem Manne vereint,
dahin gehen ſah. —


Nach Verlauf einiger Wochen trat ich Abends in ein
Kaffeehaus, um die Zeitungen zu durchblättern. Da gewahrte
ich den Baron, der in einer Fenſterniſche ſaß und mich offenbar
[241] nicht wieder erkannte. Er hatte ein geleertes Liqueurglas vor
ſich ſtehen und blickte von Zeit zu Zeit, wie Jemanden er¬
wartend, durch die Scheiben auf die Straße. Endlich zeigten
ſich vor dem Fenſter die Umriſſe einer weiblichen Geſtalt.
Der Baron erhob ſich raſch, warf kleine Münze auf die Un¬
tertaſſe und eilte hinaus. Es trieb mich, ihm zu folgen und
ich konnte noch gewahren, wie ihm Ludovica — denn ſie war
es — Etwas überreichte, womit er nicht zufrieden zu ſein ſchien.
Er geſticulirte heftig und ſeine Stimme klang laut und drohend.
Endlich mußte ſie ihn beſchwichtigt haben, denn er gab ihr den
Arm. Zuletzt bogen ſie in eine Seitengaſſe ein, wo ich ſie
aus den Augen verlor. —


Ich habe Ludovica erſt heute wieder geſehen. Ich ahnte
ſogleich, wie Alles gekommen ſei; denn ſeit jenem Abend hegte
ich die traurigſten Vorſtellungen. Aber ich wollte Gewißheit
und fuhr mit Ihnen nach dem Laden des Kaufmanns Berger.
Dort wurde mir Alles beſtätigt. Sie hatte, weiß Gott, wie
und wo, den Baron kennen gelernt, der ſich unter dem Vor¬
wande, einen Erbſchaftsprozeß durchzuführen, hier herumtrieb.
Er drang in Ludovica, ihn zu heirathen — und ſie that es,
wie ich überzeugt bin, nicht aus Neigung — ſondern nur von
jenem beklagenswerthen Drang beſtimmt, der endlich faſt jedes
Weib überkommt, wohl oder übel einem Manne dauernd an¬
zugehören. Sie unterhielt einſtweilen ſich — und ihn durch
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 16[242] Muſiklectionen, deren ſie viele hatte; an die Ausübung ihrer
Kunſt dachte ſie nicht mehr. Aber die Erbſchaftshoffnungen
zerfloſſen in nichts und der Baron, der dem Laſter des Trunkes
und des Spieles ergeben iſt, brauchte Geld. Ludovica mußte
es ſchaffen: durch Darlehen, die ſie auftrieb, durch Geſchenke,
die ſie erbettelte, und als es ihr nicht immer gelingen wollte,
mißhandelte er ſie — ja ging in ſeiner Niederträchtigkeit ſo
weit, ſie zwingen zu wollen, die letzten Reſte ihrer Schönheit
zu verkaufen. Das ertrug ſie nicht. Heute morgens hatte er
ſie wieder fortgeſchickt, eine Summe herbei zu ſchaffen — eine
verſchwindend kleine Summe: aber ſelbſt ihre Schweſter und
ihr Schwager, welche der Unglücklichen bis jetzt, zwar ungern
und mit Vorwürfen aller Art, aber dennoch in den äußerſten
Fällen ſtets geholfen hatten — verweigerten ſie ihr diesmal.
Sie mußte ſich nicht nach Hauſe gewagt haben, mußte lange
umhergeirrt ſein und — das Uebrige wiſſen Sie.“


Wir ſchwiegen Beide.


„Und nun ſagen Sie mir“, fuhr er fort, „wie es kam,
daß dieſes holde Geſchöpf, ausgeſtattet mit allen Vorzügen ihres
Geſchlechtes, welche Andere ſo vortrefflich zu verwerthen wiſſen,
ſich an Unwürdige weggeworfen; wie es kam, daß ſie in thö¬
richter Umkehrung der Verhältniſſe für Diejenigen zu ſorgen
bemüht war, welche für ſie zu ſorgen die Verpflichtung hatten
— bis ſie, noch in jungen Jahren, ein ſo trauriges Ende nahm?
[243] Warum war ſie nicht ſo klug und brav wie ihre Schweſter
Anna, die nun eine glückliche Gattin und Mutter iſt? Warum
war ſie nicht ſo klug und ſchlecht wie ihre Schweſter Mimi,
die gegenwärtig als Chanſonettenſängerin die Welt durchreiſt
und mit Gold und Diamanten überſchüttet wird? Warum!
Das iſt die große Frage, auf welche weder unſere Philoſophen
und Moraliſten, noch die ſtelzbeinigen Theaterfiguren unſerer
modernen Dramatiker eine Antwort zu geben wiſſen — und
die ſelbſt dann nicht gelöſt ſein wird, wenn die Phyſiologen
jeden Gedanken, jedes Wort, jede That auf die entſprechende
Faſer des Gehirns, auf dieſen oder jenen zuckenden Nerv und
auf die mehr oder minder vollkommene Funktion eines beſtimm¬
ten Organs zurückzuführen im Stande ſein werden. Dann
aber, wenn man erkennen wird, daß der Menſch nichts anderes
iſt, als eine Miſchung geheimnißvoll wirkender Atome, die ihm
ſchon im Keime ſein Schickſal vorausbeſtimmen: dann wird
man, glaube ich, auch dahinter gekommen ſein, daß es, trotz
aller geiſtigen Errungenſchaften, beſſer iſt, nicht zu leben! —“


Er war bei dieſen Worten aufgeſtanden und reichte mir jetzt
die Hand zum Abſchied. Ich ging. Draußen ſchwieg die ausge¬
dehnte Reſidenz in tiefem Schlafe. Die Gasflammen waren ſchon
zur Hälfte ausgelöſcht; düſtere Schatten umhüllten die Häuſer
und nur hier und dort ſchimmerte durch ein Fenſter mattes Licht.
Wie viele Herzen mochten in dieſer Stille voll Kummer und Ver¬
16*[244] zweiflung ſchlagen! Wie vieles Elend lag unter der flüchtigen
Hülle des Schlummers verborgen! Ich ſchauderte. Das ganze
Weh der Erde ſtieg vor mir empor; es wogte wie ein dunkles
Meer und obenauf ſchwamm mit blaſſem Antlitz und feuchten
Locken die Leiche der Geigerin. —

[[245]]

Das Haus Reichegg.

[[246]][[247]]

I.

Es war um die Mitte der Fünfziger-Jahre, im Hoch¬
ſommer, als ich, damals noch in Militärdienſten ſtehend, mit
einer Abtheilung meines Regimentes in dem mähriſchen Städt¬
chen K . . . einrückte. Wir waren ſchon vor Tag aufgebrochen;
hatten, während die Sonne immer heißer niederbrannte, über
vier Meilen auf der ſtaubigen Heerſtraße zurückgelegt, und ſo
begrüßten wir den freundlichen Ort, wo uns nach mehrtägigen
Eilmärſchen ein Ruhetag geſtattet war, auf's freudigſte. Ein
Theil der Einwohnerſchaft war uns ſchon ein gutes Stück
entgegen gekommen und ſchritt uns jetzt bei den luſtigen Klän¬
gen unſerer Muſik voran. Reinlich und einladend lagen die
Gaſſen da, viele Häuſer von Bäumen beſchattet oder mit netten
Vorgärtchen verſehen. Hier und dort lugte noch, halb verſteckt,
ein roſiges Mädchenantlitz hinter weißen Fenſtergardinen her¬
vor, und auf dem Marktplatze, wo wir hielten, zeigten ſich
ſtattliche Gaſtwirthſchaften, unſeren ermatteten Leibern und
verlechzten Kehlen Stärkung und Erquickung verheißend. Ich
fühlte mich daher nicht ſehr angenehm überraſcht, als ich be¬
deutet wurde, daß mir und meiner Mannſchaft zur Unterkunft
[248] ein Dorf angewieſen ſei, welches noch eine Wegſtunde entfernt
lag. Selbſt der Beiſatz, der verheißend klingen ſollte: daß
ich für meine Perſon in einem freiherrlichen Schloſſe Aufnahme
finden würde, hatte eben nichts Tröſtliches. War ich doch ge¬
wohnt, die Marſchtage als ein willkommenes Aufathmen aus
der Zwangsjacke des Garniſonsdienſtes zu betrachten, wo ich
mich in fröhlicher Ungebundenheit meinen Neigungen überlaſſen
konnte — und nun drohte mir eine vornehme Gaſtfreundſchaft,
die mich vielleicht zu einem ſteifen geſellſchaftlichen Verkehr
mit unbekannten, mir gänzlich ferne ſtehenden Menſchen ver¬
pflichtete. Indeſſen galt es, ſich in das Unvermeidliche zu
fügen, und ſo befahl ich meine Leute, die gleich mir verdroſſen
vor ſich hinſahen, zum Abmarſch, indem ich die Trommel
rühren ließ. Eine ziemlich breite Seitenſtraße führte uns an¬
fänglich in einen ſcharf abgegrenzten Fichtenbeſtand, und nach¬
dem wir denſelben durchſchritten hatten, zog ſie ſich in mehr¬
fachen Krümmungen zwiſchen weit ausgebreiteten Kornfeldern
hin. Still brütete die Mittagshitze über der ſchnittreifen Frucht,
und am Ende der ſonnigen Fläche ragte aus verfallenen Stroh¬
dächern der Kirchthurm des Dorfes empor, während uns das
Schloß, auf einer mäßigen, dicht bewaldeten Höhe gelegen, hell
und glänzend entgegenſchimmerte.


Endlich hatten wir das Dorf erreicht und ich war eben
daran, einige letzte Befehle zu ertheilen und die Mannſchaft
in ihre Quartiere zu entlaſſen, als ein wohl gekleideter, behäbig
[249] ausſehender Mann auf mich zu kam. Er gab ſich, höflich
grüßend, als Verwalter des Schloſſes zu erkennen und hatte
ein leichtes, mit kräftigen Braunen beſpanntes Gefährt mitge¬
bracht, welches ich auf ſeine Einladung mit ihm und meinem
Diener beſtieg. Während er nun, an meiner Seite ſitzend,
den Pferden die Zügel ſchießen ließ, und wir auf einem be¬
quemen Parkwege die Höhe hinanrollten, fragte ich ihn, wer
denn eigentlich der Herr des Schloſſes ſei.


„Seine Excellenz, der Freiherr von Reichegg“, antwortete
er mit einer gewiſſen beſcheidenen Wichtigkeit.


Der Staatsrath Reichegg?“ fuhr ich überraſcht
fort. —


„Ja wohl. Seine Excellenz ſind auch gegenwärtig mit
Gemahlin und Tochter hier anweſend.“


Ich verſank in ein eigenthümlich bewegtes Schweigen;
auf eine ſolche Begegnung war ich nicht vorbereitet geweſen.
Der Freiherr gehörte zu den bekannteſten und genannteſten
politiſchen Perſönlichkeiten jener Zeit. Im Staatsdienſte und
in der Schule Metternich's ergraut, ſtand er mit an der Spitze
aller rückläufigen Beſtrebungen, welche in Oeſterreich nach dem
Jahre Achtundvierzig mehr und mehr Platz griffen. Seine ſtreng
ariſtokratiſchen und feudalen Grundſätze, ſo wie ſeine unter¬
würfige Hinneigung zu den Gewalten der Kirche waren ſprich¬
wörtlich geworden und er wurde allgemein als einer der
Haupturheber des Concordates bezeichnet, das man vor Kurzem
[250] mit dem päpſtlichen Stuhle abgeſchloſſen hatte. Dabei war er
ob ſeines verletzend ſtolzen und finſteren Weſens, das er wie
abſichtlich zur Schau trug, auch perſönlich ſehr unbeliebt; ſelbſt
bei Solchen, die ſeine Anſchauungen theilten, und wenn er
ſich bei gewiſſen feierlichen Gelegenheiten öffentlich zeigte, ſo
rief ſein Erſcheinen, da man ſich damals nicht laut zu äußern
wagte, ſtets das dumpfe Schweigen des Grolles und Mi߬
muthes hervor. Nicht minder als er — freilich in ganz an¬
derer Weiſe — war ſeine Gemahlin bekannt und berüchtigt.
Einem alten Grafengeſchlechte entſtammend und von einer
Schönheit, die in Folge höchſt eigenthümlicher Verſchmelzung
des Hoheitsvollen mit dem Reizenden geradezu einzig genannt
werden konnte: ſtand ſie in dem Ruf, eine Art Meſſalina zu
ſein. Das Tagesgeſpräch wurde nicht müde, von ihren Aben¬
teuern das Unglaublichſte in Umlauf zu bringen; ja man be¬
zeichnete ſogar die Männer, welche ſich, allen Schichten der
Geſellſchaft angehörend, ihrer Gunſt ſollten erfreut haben.
Trotzdem war ſie nicht etwa der Gegenſtand ſittlicher Ent¬
rüſtung; ſie zählte vielmehr zu den bewundertſten Frauen der
Reſidenz. Wenn ſie, und zwar in der Regel allein, oder doch
nur an der Seite ihres Gatten, der ſich mit ſeinen weißen
Haaren und den harten, unfreundlichen Zügen ſeltſam genug
neben ihr ausnahm, im offenen Wagen durch die Alleen des
Praters fuhr: da bildeten die Fußgänger, wie gebannt, nur eine
dichtgedrängte Reihe, um ſich an dem unvergleichlichen Adel
[251] und Liebreiz ihrer Erſcheinung, an ihrer ebenſo geſchmackvollen
als koſtbaren Kleiderpracht zu entzücken, und vorwiegend war
es gerade das weibliche Geſchlecht, das mit ihr einen faſt
ſchwärmeriſchen Cultus betrieb. Auch in der Oper und im
Schauſpiel waren Aller Augen auf ſie gerichtet, und ein deut¬
lich vernehmbares Ah! befriedigter Erwartung ging durch das
Haus, wenn ſie, nachdem ihre Loge länger als ſonſt leer ge¬
blieben war, plötzlich an der Brüſtung erſchien. — Und
dieſer Frau, dieſem Manne ſollte ich nun als junger, kaum
flügge gewordener Offizier, der ſich niemals in der großen
Welt bewegt hatte, entgegen treten! Es war ein in jeder
Hinſicht beklemmender Gedanke, und ich ſchöpfte noch einigen
Troſt aus der naheliegenden Annahme, daß man mich vielleicht
bloß der Sorge des Schloßverwalters überantworten und gar
nicht an ſich heranziehen würde. —


Inzwiſchen hatten wir die Avenue erreicht, wo ein mäch¬
tiger Springbrunnen im Sonnenſchein ſtäubte und glitzerte.
Der Verwalter lenkte den Wagen rückwärts um das Schloß
herum, hielt vor einem niederen Seitenthore und geleitete mich
über eine vereinſamte Treppe in den Halbſtock empor. Dort
ſchloß er ein kühles, weitläufiges Gemach auf, wo ich ſchon
Alles zu meinem Empfange vorgerichtet fand. „Ich bitte, es
ſich hier bequem zu machen“, ſagte er. „Wenn Etwas fehlen
ſollte — dieſe Klingelſchnur geht nach meiner Wohnung. Um
fünf Uhr wird geſpeiſt. Die Herrſchaften erwarten Sie zu
[252] Tiſche. Dürfte ich einſtweilen um Ihre Karte bitten, um die¬
ſelbe Seiner Excellenz überbringen zu laſſen.“ Ich war alſo
dem Geſchicke verfallen. Widerſtandslos übergab ich dem
Manne die Karte und ſchritt, nachdem er ſich entfernt hatte,
im Zimmer auf und nieder, wobei ich gedankenlos die Land¬
ſchafts- und Schlachtenbilder im Geſchmacke Salvator Roſa's
betrachtete, die an den Wänden hingen. Dann trat ich an's
nächſte Fenſter. Es ging auf das wohlgepflegte Parterre des
Schloßparkes hinaus, in deſſen Mitte ein hochſtämmiger Roſen¬
flor ſeine duftige Pracht entfaltete. Nachdem ich eine Zeit
lang in das funkelnde Farbengemiſch von Blumen und Raſen,
von Himmel und Baumwipfeln hinein geblickt hatte, nahm ich
etwas von den bereitſtehenden Erfriſchungen und ſtreckte mich
endlich auf ein bequemes Sopha hin, zuvor noch meinem Die¬
ner auftragend, ſich in einer Stunde wieder bei mir einzufin¬
den. Ich gedachte, ein wenig zu ſchlummern; aber war es
nun Uebermüdung oder innere Erregung — es wollte mir
nicht gelingen. Während ich mich ſo eine Weile unruhig hin
und her bewegte, vernahm ich, wie über mir ein Flügel ange¬
ſchlagen wurde. Nach einem kurzen, ernſten Präludium begann
eine klangvolle Altſtimme ein Lied zu ſingen, in welchem ich
alsbald, der Melodie und dem deutlich vernehmbaren lateini¬
ſchen Texte nach, ein geiſtliches erkannte. Mit jener tiefen,
leidenſchaftlichen Inbrunſt, welche die katholiſche Kirchenmuſik
kennzeichnet, drangen die Töne in den Park hinaus und
[253] verzitterten mit leiſem Wiederhall in der lautloſen Luft des
Nachmittags. Das Lied war zu Ende; noch einige Accorde
auf dem Clavier, dann wie ein nachzuckendes Gefühl die
Wiederholung des Schluſſes — und es herrſchte wieder die
frühere Ruhe. Seltſam ergriffen lag ich da und lauſchte noch
immer. Endlich ſah ich nach der Uhr; die Stunde war faſt
abgelaufen. Ich ſprang auf, und als ich einen Blick durch
das Fenſter that, gewahrte ich, wie unten eine hochgewachſene
ſchlanke Mädchengeſtalt langſam um den kleinen Roſenwald
herum ſchritt. Sie trug ein weißes Kleid, dem ein dunkles
Band als Gürtel diente; ihre Geſichtszüge konnte ich nicht
erſpähen; aber ihr blondes Haar ſchimmerte mir wie helles
Gold entgegen. Jetzt blieb ſie vor einem Bäumchen mit
weißen Roſen ſtehen, und nachdem ſie eine davon gepflückt
hatte, ſchlug ſie langſam, das Haupt zur Blume in ihrer
Hand niederneigend, einen Seitenpfad ein, der ſie bald meinen
Blicken entzog. Während ſie verſchwand, war es mir, als
hätte ſie die Roſe an die Lippen gedrückt. —


Mittlerweile hatte ſich mein Diener eingefunden und da
bereits die vierte Stunde heranrückte, ſo galt es, mit raſchem
Entſchluſſe den Dingen entgegen zu gehen, die da kommen
ſollten. Ich kleidete mich um und ließ anfragen, ob mich
Seine Excellenz empfangen wolle. Eine bejahende Antwort
erfolgte bald, und ſo begab ich mich, von einem Diener des
Hauſes geführt, in das obere Stockwerk und über einen langen,
[254] mit Jagdtrophäen geſchmückten Gang nach dem Zimmer des
Freiherrn. Dieſer erhob ſich bei meinem Eintritt am Schreib¬
tiſche, wo er gearbeitet zu haben ſchien, und trat mir in auf¬
rechter Haltung einen Schritt, aber nicht mehr entgegen. „Es
freut mich“, ſagte er mit feſter, jedoch etwas bedeckter Stimme,
nachdem ich einige paſſende Worte geſprochen und mich auf
einen Wink von ihm niedergelaſſen hatte, „es freut mich immer,
wenn ich einen kaiſerlichen Offizier in meinem Schloſſe beher¬
bergen kann. Umſomehr aber heute, als mir“ — er warf
dabei einen Blick auf meine Karte, die neben zerſtreuten Pa¬
pieren auf dem Tiſche lag — „der Name, den Sie führen,
ſeit Langem bekannt iſt. Ich entſinne mich nämlich“, fuhr er
fort, indem er mich aufmerkſam und forſchend anſah, „aus der
Zeit, wo ich als ganz junger Mann unter der Regierung des
Kaiſers Franz in Staatsdienſte trat, mit Vergnügen eines
höheren Vorgeſetzten gleichen Namens.“


„Das dürfte mein Großvater geweſen ſein.“


„Gewiß; und ich gebe mich wohl keiner Täuſchung hin,
wenn ich in Ihren Zügen eine gewiſſe Aehnlichkeit mit den
ſeinen zu erblicken glaube. Der lebhafte alte Herr ſteht mir
noch ganz deutlich vor Augen. Ein wahres Muſter eines
loyalen, pflichtgetreuen Staatsdieners, wenn auch ſein Wirken
über ein bloß bureaukratiſches nicht weit hinaus ging. Es
war damals“, ſetzte er nach kurzem Schweigen nachdenklich
hinzu, „eine Zeit voll unerhörter, erſchütternder Bewegungen.
[255] Die franzöſiſche Revolution hatte die ganze Weltordnung um¬
zukehren gedroht, und nun machte der Corſe Europa zittern.
Vor Allem war es Oeſterreich, auf deſſen Erniedrigung, auf
deſſen Untergang er es abgeſehen hatte. Aber im Rathe der
Vorſehung war es anders beſchloſſen. Dynaſtie und Staat
ſind aus all dieſen äußeren Gefahren nicht minder ſiegreich
und glänzend hervorgegangen, als aus den fluchwürdigen Um¬
ſturzbeſtrebungen, die man jüngſter Zeit im Inneren zu be¬
kämpfen und — zu vernichten hatte. Und ſo wird ſich der
Spruch bewahrheiten: Austria erit in orbe ultima — durch
den Schutz des Allmächtigen, ſeiner heiligen Kirche — und
kraft unſerer ruhmvollen Armee!“


Mir wurde ganz unheimlich zu Muthe. In das eherne
Antlitz des Freiherrn war bei dieſen Worten ein erſchreckend
finſterer und grauſamer Zug getreten, und es ſchien, als
wollte er jetzt und jetzt ſeine hagere, aber kräftig gebaute Ge¬
ſtalt wie zum Angriff emporrichten. Unwillkürlich kehrte ſich
mein Blick von ihm ab und den Gegenſtänden zu, womit das
Gemach ſchlicht und bezeichnend ausgeſtattet war. Zwiſchen
zahlreichen Bücherſchränken ſtand ein einfacher Betſchemel mit
einem kleinen Cruzifix aus Ebenholz. An den Wänden ſah
man, ſorgfältig gruppirt, in Lithographien die Bildniſſe des
Herrſcherpaares, der Marſchälle Windiſch-Grätz und Radetzky;
dann der Fürſten Metternich und Schwarzenberg, ſo wie an¬
derer hervorragender weltlicher und geiſtlicher Würdenträger.
[256] Auf dem Schreibtiſche aber, ſeltſam genug, hatte der Freiherr
neben einem Miniaturportrait ſeiner Gemahlin und dem etwas
verblaßten eines helllockigen Kindes den Büſten Schiller's und
Göthe's einen Platz eingeräumt. Er bemerkte es, daß ich jetzt
nach meiner flüchtigen Rundſchau das Auge auf ihnen haften
ließ, und ſagte etwas milder; „Das waren zwei große, gewal¬
tige Geiſter, und ich bin ſtets in Geſellſchaft ihrer Werke.“
Dabei wies er auf einen der Bücherſchränke, die ihm zunächſt
ſtanden. „Aber man darf ſich von ihren Ideen nicht fortreißen
laſſen; denn Phantaſie und Wirklichkeit ſind zweierlei.“


Er hatte ſeine Rede noch nicht beendet, als ſich leiſe eine
Seitenthüre öffnete und jene hohe Mädchengeſtalt, die ich früher
vom Fenſter aus geſehen, auf der Schwelle erſchien. Sie blieb,
als ſie meiner anſichtig ward, einen Augenblick betroffen ſtehen,
faßte ſich jedoch allſogleich und ſchritt mit würdiger Haltung
auf den Freiherrn zu, deſſen Antlitz ſich plötzlich wunderſam
erhellte und den Ausdruck tiefſter Zärtlichkeit annahm. Ich
hatte mich erhoben. „Meine Tochter Raphaela“, ſagte der
Freiherr, indem er mit ſeiner vertrockneten Hand koſend über
das Haar der Eingetretenen ſtrich, das jetzt in ſeiner reichen,
blendenden Fülle fremdartig von den ernſten, faſt ſchroffen
Geſichtszügen abſtach. Sie ſah ganz ihrem Vater ähnlich.
Das war dieſelbe eckige Stirne, dieſelbe weit und ſcharf ge¬
ſchwungene Naſe; auch ihr Kinn war ſtark vorgeſchoben; nur
[257] der Mund erſchien voller und weicher, und die Augen ſtrahlten
im reinſten Blau des Himmels.


„Wo iſt Mama, mein Kind?“ fuhr der Freiherr ſchmei¬
chelnd fort.


„Ich glaube, ſie iſt mit Egon im Salon“, antwortete ſie
mit tiefer, wohlklingender Stimme, die mich überzeugte, daß
ich auch die Sängerin des Liedes vor mir hatte.


Die Brauen des Freiherrn zogen ſich leicht zuſammen.
Dann wandte er ſich an mich und ſagte förmlich: „Wenn
es Ihnen gefällig iſt, will ich Sie jetzt meiner Gemahlin vor¬
ſtellen.“


Er öffnete eine zweite Seitenthüre, und während ſeine
Tochter voranging, durchſchritten wir eine Flucht von reich
ausgeſtatteten Gemächern, bis wir endlich in den Salon ge¬
langten. Mein Athem ſtockte ein wenig, als ich den weiten,
dämmerigen Raum betrat, hinter deſſen herabgelaſſenen Por¬
tièren der Altan des Schloſſes lag. Auf einer niederen Otto¬
mane, weit zurückgelehnt und in leichte, ſchimmernde Gewänder
gehüllt, ſaß die Dame des Hauſes; neben ihr, in einem Fau¬
teuil, ein junger Mann, der ſich bei unſerem Erſcheinen erhob
und dabei durch ſeinen auffallend hohen Wuchs überraſchte.
Die Freifrau empfing mich, ohne ihre Lage zu verändern,
freundlich vornehm, und half mir ſogleich mit einigen aufmun¬
ternden Worten über die erſte Befangenheit hinweg. Dann
Saar, Novellen aus Oſterreich. 17[258] wies ſie flüchtig auf den jungen Mann und ſagte: „Unſer
Vetter, Graf Rödern.“


„Attaché — einſtweilen noch ohne Attachement“, ſetzte
der Freiherr, während der Erwähnte und ich uns gegenſeitig
verneigten, wie ſcherzend hinzu; aber ſeine Stimme klang ſcharf.


„Deſto beſſer!“ lachte der Graf, indem er eine zierliche
Reitgerte, die er in der Hand hielt, nachläſſig hin und her¬
ſchwenkte. „Man kommt noch immer früh genug in's Joch
— und ich liebe die Ungebundenheit.“


Die Freifrau warf einen raſchen Blick auf ihn; dann
zog ſie mich angelegentlich in ein Geſpräch, Dieſes und Jenes,
das eben nahe lag, ergreifend und eine Zeit lang feſthaltend.
Dabei hatte ich nun Gelegenheit, mich mehr und mehr in den
Zauber ihrer Schönheit zu verſenken. Was ich ſchon einſt
aus der Ferne an ihr hatte bewundern können: der volle und
doch geſchmeidige Wuchs; das lichte, von dunklen Haaren,
wie von einer nächtigen Wolke umfloſſene Antlitz; die großen,
langbewimperten Sammetaugen — das Alles trat mir jetzt in
ſeiner ganzen Pracht entgegen, während zugleich die feinſten
und individuellſten Reize ſichtbar wurden. Um den zarten,
roſigen Mund ſpielte, während ſie ſprach, ein berauſchendes
Lächeln, und dabei zuckten und zitterten ihre weiten Naſen¬
flügel manchmal ganz eigenthümlich, was ihren Zügen bei
aller Weichheit einen höchſt energiſchen Ausdruck verlieh. Wie
ſie ſo in nachläſſiger Haltung vor mir ſaß und mit der perl¬
[259] mutterartig ſchimmernden Hand den Fächer gegen den wogenden
Schnee ihrer Bruſt bewegte: da fühlte ich, welch' verführeriſche,
bezwingende Macht in dem Weſen dieſer Frau lag, die über
die eigentliche Jugend längſt hinaus war und, wie ich bemer¬
ken konnte, ſchon zu allerlei kleinen Verſchönerungskünſten
griff. Im Vergleich mit ihrer von farbigſter Lebensfülle ge¬
ſättigten und durchleuchteten Erſcheinung, wie ſie nur Rubens
und Murillo vereint hätten darſtellen können, erſchien die
aufgeſchoſſene, ſchmalſchulterige Raphaela mit ihrem herben
eintönigen Antlitz wie eine Geſtalt von Lukas Cranach.


Dieſe aber war inzwiſchen an ihren Vetter herangetreten
und ſtand jetzt mit ihm in leiſer Unterredung begriffen, wobei
ſich jedoch der junge Mann ſehr zerſtreut und innerlich ab¬
weſend zeigte. Endlich überreichte ſie ihm mit einem vollen,
innigen Blick die Roſe, die ſie im Parke gepflückt und ſpäter
im Gürtel getragen hatte. Er nahm die weiße Blüthe gleich¬
giltig in Empfang, beroch ſie flüchtig und befeſtigte ſie dann
an der Bruſtſeite ſeines Rockes.


Ein Kammerdiener trat leiſen Schrittes ein und meldete,
daß das Diner ſervirt ſei. Ich bot der Freifrau den Arm;
Rödern führte Raphaela und wir gingen zu Tiſche, wo auch
eine franzöſiſche Gouvernante mit blutloſen Zügen und geſenk¬
ten Augen erſchien. Das Mahl ging raſch von ſtatten. Rö¬
dern war ſehr heiter und geſprächig, faſt ausgelaſſen. Er
neigte ſich oft und vertraulich zur Freifrau, ſcherzte in unge¬
17*[260] zwungener, gleichſam überlegener Weiſe mit ihrem Gatten, der
dabei ernſt vor ſich hinſah, wohl auch manchmal die Brauen
runzelte, wenn der junge Mann mit leichtfertiger Ironie
öffentliche Perſönlichkeiten oder politiſche Ereigniſſe berührte.
Selbſt an die Gouvernante richtete Egon in nicht allzu reinem
Franzöſiſch einige Stichelreden, die mit leicht abwehrendem
Schweigen hingenommen wurden. Nur Raphaela beachtete er
wenig, obgleich ihm dieſe ihre volle Aufmerkſamkeit zuwandte
und ſogar zweimal ſein Glas mit Bordeaux füllte, davon er
reichlich und mit Behagen trank, ſo zwar, daß ſich ſein hüb¬
ſches, faſt mädchenhaftes Geſicht höher und höher färbte.


Die Tafel war aufgehoben; die Franzöſin hatte ſich laut¬
los entfernt, und man nahm nun den Kaffee auf dem Altane,
wo ſich eine prachtvolle Fernſicht über die weite Ebene bis zu
den duftverſchwommenen Höhen der Sudeten aufthat. Nach
einer Weile ſagte Rödern, man ſolle doch jetzt einen Gang
durch den Park unternehmen. Dieſer Vorſchlag fand allge¬
meinen Beifall; wir ſchritten alſo die breite Freitreppe hin¬
unter und immer tiefer in die ſtillen, wechſelvollen Anlagen
hinein. Die Sonne war bereits im Sinken. Goldig lagen
ihre letzten Streiflichter über den Wipfeln; große Amſeln flo¬
gen vor uns auf und durch die Luft quoll der ſüße Geruch
des Jasmins. Nach und nach wurden die Pfade ſteiler und
endlich ſtanden wir vor einem großen Teiche, hinter welchem
ſchweigend und dunkel der Wald aufragte. Zahlloſe Waſſer¬
[261] pflanzen ſchwammen auf der blaugrünen Fläche; zwei Schwäne
zogen dazwiſchen ihre ſtillen Kreiſe; am Ufer war ein wohl¬
gebauter Kahn befeſtigt.


„Wer hat Luſt, mit mir auf dem Teiche zu fahren?“
rief Rödern, der mit der Freifrau Arm in Arm vorausgegan¬
gen war.


„Ich nicht;“ ſagte dieſe, indem ſie ſich von ihm los
machte. „Sie treiben es zu toll, lieber Vetter. Es hat das
letzte Mal wenig gefehlt, ſo wären wir Beide in's Waſſer
gefallen.“


„Kann ich nicht ſchwimmen?“ erwiederte er übermüthig.
„Ich hätte Sie auf meinen Armen an's Land getragen.“


„Schön; aber ich pflege um dieſe Zeit nicht zu baden.“


Inzwiſchen hatte ſich ihm Raphaela leiſe genähert.


„Wenn es Dir recht iſt, Egon“, ſagte ſie, „ſo will ich
mit Dir fahren.“


„Was? Du?“ rief er halb erſtaunt, halb ſpöttiſch. „Du
änderſt Dich ja gewaltig und wirſt zuletzt Deinem Thomas
a Kempis noch ganz und gar untreu werden. — Nun, wenn
Du willſt — ich bin bereit.“


Die Freifrau hatte ihre Tochter mit einem eigenthümlichen
Blicke betrachtet. „Wenn Raphaela mit Ihnen fährt“, warf
ſie jetzt raſch ein, „kann ich nicht zurückbleiben; hoffe aber,
Sie werden vernünftig ſein, Egon.“


So begaben ſich die Drei in das zierliche Fahrzeug,
[262] welches alsbald, von Rödern kräftig gerudert, auf der Mitte
des Teiches trieb.


„Da ſehen Sie unſere ländlichen Vergnügungen“, ſagte
der Freiherr, mit dem ich jetzt langſam am Rande hinging.
„Wir führen hier ein ſehr zurückgezogenes, gleichförmiges Da¬
ſein; Graf Rödern allein bringt etwas Leben und Bewegung
in unſeren kleinen Kreis. Denn meine Tochter iſt trotz ihrer
Jugend ſehr ernſt und ſtill, und ſitzt am liebſten bei ihren
Büchern oder am Clavier.“


Ich bemerkte hierauf, daß ich, allem Anſcheine nach, die
Baroneſſe kurz nach meinem Eintreffen ſingen gehört.


„Haben Sie?“ erwiederte er mit väterlichem Stolz. „Nicht
wahr, eine prachtvolle Stimme, wenn auch noch nicht völlig
entwickelt. — Sie iſt überhaupt ein einziges Kind!“ fuhr er
fort, indem er mit jenem Ausdruck tiefſter Zärtlichkeit, der
mich früher ſo überraſcht hatte, nach dem Kahne blickte. „Der
Himmel hat mir einen Sohn verſagt, aber mit dieſer Toch¬
ter reichen Erſatz gewährt. Sie war bis jetzt“, wandte er
ſich mit herablaſſender Vertraulichkeit an mich, „in dem Er¬
ziehungsinſtitute für adelige Fräulein in L . . . . Eine ausge¬
zeichnete Anſtalt, die ſie als vorzüglichſte Schülerin verlaſſen
hat. Es iſt erſtaunlich, welche ausgebreiteten Kenntniſſe ſie
beſitzt; offen geſtanden: ich fühle mich ihr gegenüber oft un¬
wiſſend. Freilich verdankt ſie Vieles, ja das Meiſte nur ſich
ſelbſt und ihrem unermüdlichen Fleiße. Und dabei — welch'
[263] ein Gemüth! Die Hingebung und Zärtlichkeit, die Güte und
Frömmigkeit ſelbſt! Wie geſagt: ein einziges Kind! Möge
ſie glücklich werden!“ fügte er, vor ſich hinblickend, mit einem
leiſen Seufzer bei. Doch ſo, als hätte er mich zu tief in ſein
Herz blicken laſſen, rückte er ſich plötzlich in ſeiner ſtolzen
Haltung zurecht und der gewöhnliche harte, finſtere Zug trat
allmälig wieder in ſein Antlitz.


Inzwiſchen aber hatte es Rödern nicht über ſich gebracht,
„vernünftig“ zu bleiben. Nachdem er eine Zeit lang den
Kahn zu Aller Zufriedenheit gelenkt, dann eine Waſſerlilie
gepflückt und den ſchimmernden Kelch in das dunkle Haar der
Freifrau geſteckt hatte, begann er allerlei gewagte Ruderkünſte
zu verſuchen, wobei das Schifflein mehr als einmal in ein
höchſt bedenkliches Schwanken gerieth. Und als er endlich ſei¬
ner Ausgelaſſenheit völlig die Zügel ſchießen ließ und, trotz
der Bitten und Abmahnungen Raphaela's, trotz der Angſtrufe
ihrer Mutter, in raſchen, immer engeren Kreiſen einen Schwan
verfolgte, der mit zornigen Flügelſchlägen pfauchend vor dem
Kiele herſchoß: da war es in der That Zeit, daß ſich der
Freiherr in's Mittel legte und mit herriſchem Tone befahl,
an's Land zu ſtoßen. So erreichte man zuletzt doch wohlbe¬
halten das Ufer und trat nun vereint, jedoch ziemlich einſylbig
beim röthlichen Scheine des Abends den Rückweg an.


Vor dem Schloſſe kehrte ſich der Freiherr zu mir und
ſagte gemeſſen: „Sie dürften ſich ermüdet fühlen und es
[264] vielleicht vorziehen, den Thee in Ihrem Zimmer zu nehmen.
Wir wollen Sie nicht länger halten.“


Ich verneigte mich ſchweigend. Dann nahm ich von den
Uebrigen Abſchied und zog mich zurück. Obgleich ich in der
That der Ruhe bedürftig war und auch alsbald zu Bette ging,
ſann ich doch unwillkürlich den Erlebniſſen des Tages nach,
und ſo hielten mich fragende Gedanken und leiſe Schauer der
Seele noch lange wach. Endlich ſchlief ich ein. —


Die Sonne ſtand ſchon hoch am Himmel, als ich er¬
wachte. Friſch und würzig drang der Duft des Morgens
mit dem Gezwitſcher der Vögel durch die geöffneten Fenſter
herein, und ich machte mich fertig, meinen dienſtlichen Verrich¬
tungen im Dorfe nachzukommen. Ueber dieſen ging ein Theil
des Vormittages hin; nunmehr aber ſollte ich mich nach dem
Städtchen begeben, wo ich weitere Befehle und Anordnungen
für morgen entgegen zu nehmen hatte. Da ich vorausſah,
daß man mich dort an den Offizierſtiſch ziehen und ſo bald
nicht wieder loslaſſen würde, ſo erſchien es mir gerathen, mich
ſchon jetzt bei dem Herrn des Schloſſes zu verabſchieden. Ich
fand ihn diesmal ſichtlich zerſtreut und verſtimmt; vielleicht
durch den Inhalt mehrerer Briefe, die eben mit der Poſt ge¬
kommen zu ſein ſchienen und erbrochen auf dem Schreibtiſche
[265] lagen. „Ich bedauere“, ſagte er obenhin, „daß Sie heute
nicht mehr unſer Gaſt ſein können. Setzen Sie Ihren Marſch
glücklich und wohlbehalten fort. — Es wird auch den Andern
leid thun, Sie nicht mehr zu ſehen. Meine Frau iſt mit dem
Grafen Rödern ausgeritten — und meine Tochter weilt jetzt
bei ihren Studien.“ Dabei machte er eine leichte Bewegung,
als wollte er ſagen: Sie ſind entlaſſen. Aber nach kurzem
Bedenken blickte er mich freundlicher an und fuhr mit einer
gewiſſen Wärme fort: „Es war mir in der That eine Freude,
Sie kennen gelernt zu haben. Leben Sie wohl!“ Und er
reichte mir die Hand, die ich, unwillkürlich zögernd, mit der
meinen berührte.


Es war mir eine Erleichterung, als ich die Thüre hinter
mir hatte, und wohlgemuth wanderte ich dem Städtchen zu,
wo ich Alles in fröhlicher Bewegung fand. Denn man hatte
uns zu Ehren die Anſtalten zu einem Feſte getroffen, welches
ſchon früh am Nachmittage mit einem lärmenden Preisſchießen
begann und ſpäter in einen ländlichen Ball überging.


Auch ich hatte mit allen Offizieren daran Theil genommen,
hatte mit mancher Schönen des Ortes getanzt, und ſchon ſank
die Nacht ſchwül und dunkel auf die Gefilde nieder, als ich
den Saal der Schießſtätte verließ und mit pochenden Schläfen
den Rückweg antrat. Kein Laut regte ſich in den Fichten;
ſchwer und betäubend ſchlug mir der Duft des Kornes ent¬
gegen, das jetzt die aufgeſogene Gluth des Tages ausſtrahlte;
[266] am Horizont zuckte von Zeit zu Zeit ein fahles Wetter¬
leuchten.


Schweigend, in nächtlicher Ruhe lag endlich das Schloß
vor mir; nur einige wenige Fenſter waren noch erleuchtet.
Ich fand das kleine Thor unverſchloſſen und begab mich in
mein Zimmer. Da der Abmarſch um drei Uhr Morgens
ſtattfinden ſollte, ſo warf ich mich halb entkleidet auf das
Sopha, wo ich mich einem leichten Schlummer überließ. Plötz¬
lich erwachte ich; es war wie taghell im Zimmer. Erſchreckt
richtete ich mich empor; ich glaubte ſchon weit in den Morgen
hinein geſchlafen zu haben. Aber es war nur der Mond, der
ſich inzwiſchen am Himmel erhoben hatte und mit ſeinem mil¬
den Lichte das Gemach durchfluthete. Ich blickte nach der
Uhr; ſie wies eine Stunde nach Mitternacht. Was ſollte ich
nun beginnen? An Schlaf und Ruhe war nicht mehr zu den¬
ken; ich beſchloß daher, die Zeit bis zum Aufbruche im Parke
zu verbringen, deſſen mondbeglänzte Wipfel mich wunderſam
anlockten. Raſch kleidete ich mich völlig an, warf einen leichten
Mantel über — und bald kniſterte der feine Kies der Wege
unter meinen Tritten. In hellem Thau ſchimmerte der Raſen,
geiſterhaft leuchteten die Blumen auf, und eh' ich es dachte, war
ich bei dem Teiche angelangt, der mir glitzernd und flimmernd
entgegenſah. Mit weitgeöffneten Kelchen lagen die Waſſer¬
lilien im feuchten Glanze, kaum unterſcheidbar von dem Ge¬
fieder der Schwäne, die auf einer kleinen Inſel ſchliefen und
[267] träumeriſch die Flügel regten, während hin und wieder aus
der Tiefe kurze, geheimnißvolle Laute heraufdrangen.


Nachdem ich das ſchlummernde Waſſerreich langſam um¬
ſchritten hatte, trat ich in ein nahes Bosquet, in welchem ich
eine Bank vermuthete und auch wirklich am Sockel einer Na¬
jade aus Sandſtein antraf. Und wie ich jetzt unter den
ſchweigenden Wipfeln ſaß und dem leiſen Weben der Nacht
lauſchte, da wurde, was ich vorgeſtern hier erlebt, wieder in
meinem Geiſte lebendig. Ich ſah die Geſtalten der Schlo߬
bewohner vor mir bis auf den kleinſten, feinſten Zug: den
ſtolzen, finſteren Freiherrn; das ſchöne, blühende Weib mit
den dunklen Sammetaugen; das ernſte blonde Mädchen —
und den jungen Grafen, der den Kahn dort auf der ſtillen
Waſſerfläche gelenkt hatte . . . . .


Da glaubte ich mit einmal ferne Tritte zu hören. Ich hatte
mich nicht getäuſcht; ſie kamen näher und näher — und ſchon
klangen bekannte Stimmen an mein Ohr, zwar gedämpft, doch
deutlich vernehmbar in der Stille der Nacht.


„Ich ſage Dir nur, daß ſie Dich liebt!“


„Wenn auch. Meine Schuld iſt es nicht; Du weißt
doch, daß ich ſie ſtets mit der größten Gleichgiltigkeit behan¬
delt habe.“


„Das iſt wahr; aber mich dauert das arme Kind. Sie
hat viel von ihrem Vater, nimmt Alles ernſt und ſchwer;
[268] ſelbſt kleine, unbedeutende Dinge. Sie kann nicht vergeſſen;
ich fürchte, dieſer Eindruck wird ihr für's Leben bleiben.“


„Ah pah! Mädchenträume! Sie wird ſich ſchon zurecht
finden; ihr Sinn iſt ohnedies mehr auf's Ueberirdiſche gerich¬
tet. Ich jedoch halte mich an die volle, blühende Wirk¬
lichkeit!“


„Du liebſt mich alſo?“ Und die Stimme der Freifrau
klang weich und zärtlich.


Es erfolgte keine Antwort; aber eine Stille trat ein,
durchweht von den ſtürmiſchen Hauchen und Küſſen einer lan¬
gen, leidenſchaftlichen Umarmung.


Zitternden Herzens preßte ich die Lippen zuſammen. Ich
hatte den günſtigen Augenblick, mich zu entfernen verſäumt —
und nun ſtand die Freifrau mit Rödern in der Nähe des
Bosquets; die leiſeſte Bewegung, ein Odemzug mußte meine
Anweſenheit verrathen.


„Und wie lange wirſt Du mich lieben, Flatterſinn?“
klang es endlich.


„So lange ich athme!“ klang es berauſcht entgegen.


„Gedenke Deiner Worte!“ ſtieß jetzt die Freifrau mit
wildem, faſt unheimlichem Flüſtern hervor. „Ich laſſe Dich
auch nicht mehr: Du biſt mir verfallen mit Leib und Seele!“


Es war zu vernehmen, wie ſie ihn umſchlang; dann
ſetzten ſich die Schritte der Beiden wieder in Bewegung. Ich
[269] erſtarrte. Wenn ſie jetzt in das ſilberberieſelte Dunkel traten
— die Folgen waren undenkbar! Aber ſie lenkten rechts ab
und kehrten in einem Bogen langſam und ſchweigend nach dem
Schloſſe zurück. Je ferner, je ſchwächer ihre Tritte klangen,
deſto leichter, deſto freier fühlte ich mich; als es jedoch wieder
ganz ſtill geworden war, da griff mir ein ſcharfes, eiſiges
Weh an's Herz. Was ich ſchon vordem über den Wandel
der Freifrau vernommen, das floß jetzt mit den Eindrücken
dieſer Stunde zuſammen, und obgleich ich, was jetzt plötzlich
enthüllt vor mir lag, ſchon halb errathen hatte, ſo war es
mir doch, als hätte ich in einen Abgrund geblickt.


Endlich entriß ich mich der Stelle, ſuchte meinen ſchlafen¬
den Diener auf und begab mich in das Dorf hinunter, wo
ich noch vor der Zeit Reveille ſchlagen ließ. Und fort zog ich
in den grauenden Tag hinein, das Schloß, ſeine Menſchen
und ihre Schickſale hinter mir zurücklaſſend. — —

II.

Jahre waren dahin gegangen. Das Leben, immer ern¬
ſter und vielgeſtaltiger mit ſtrengen Forderungen an mich
herantretend, hatte alle dieſe Eindrücke verwiſcht, und ich
dachte kaum mehr meines kurzen Aufenthaltes im Schloſſe
Reichegg. In den öffentlichen Blättern hatte ich zwar geleſen,
[270] daß der Freiherr mit dem Tode abgegangen ſei. Durch die
Zeitereigniſſe geſtürzt; den Untergang alles deſſen erlebend,
was er begründen half: war ihm bei dem großen Wandel
der Dinge nichts übrig geblieben, als zu ſterben. Von ſeiner
Gemahlin und Raphaela jedoch vernahm ich nichts mehr.
Neue Verhältniſſe hatten neue Erſcheinungen in den Vorder¬
grund geſtellt; die ſchöne, einſt ſo gefeierte Frau war ver¬
geſſen und blieb mit ihrer Tochter verſchollen — für Die¬
jenigen wenigſtens, die mit ihren Kreiſen nicht in Berührung
kamen. — —


Da traf es ſich, daß ich bei einem kurzen Aufenthalte in
der Lagunenſtadt vor einem Kaffeehauſe des Marcusplatzes
ſaß. Es war noch ziemlich früh am Tage und nur wenige
Menſchen beſchritten die prächtigen Quadern, auf welche die
Sonne hell und glänzend niederſchien. Plötzlich zeigten ſich,
von der Stadtſeite kommend, zwei hohe vornehme Geſtalten in
Reiſekleidern; ein Herr und eine Dame, die Arm in Arm einher
gingen und, da ſie mich bekannt anmutheten, meine Aufmerk¬
ſamkeit feſſelten. Als ſie mir näher gekommen waren, trat
ein Blumenmädchen mit erhobenem Korbe auf ſie zu. Die
Dame blieb ſtehen, hielt ihren Begleiter, der vorbeiſchreiten
wollte, am Arme feſt — und nun zuckte ich faſt erſchreckt zu¬
ſammen: ich hatte endlich in dem Paare Rödern und die
Freifrau erkannt! Die Letztere hatte ſich zwar in ihrem
[271] Aeußeren nicht ſonderlich verändert. Der tadelloſe Wuchs,
die eigenthümlich ſtolzen und doch geſchmeidigen Gliederbewe¬
gungen waren ihr geblieben; aber aus ihrem Antlitz, das trotz
der weißen Schminke noch immer ſchön genannt werden konnte,
war alles Milde und Liebliche verſchwunden, und ein herrſch¬
ſüchtiger, rückſichtsloſer, durch das herannahende Alter gereizter
und erbitterter Wille hatte ſich mit faſt verletzender Schärfe
in jedem einzelnen Theile ausgeprägt. Einen noch traurigern
Anblick bot Rödern. Er war vor der Zeit grau geworden;
ſeine Haltung erſchien nachläſſig und gebückt, während in
ſeinen ſchlaffen Zügen ein unſäglich öder, troſtloſer Ausdruck
von ſtummer Duldung und verbiſſenen Qualen lag, den der
ſorgfältig gepflegte dünne Bart und das kunſtvoll geſcheitelte
Haar nur noch deutlicher hervorhoben. Mit ſcheuer, ver¬
droſſener Lüſternheit blickte er von der Seite nach dem jungen
großäugigen Geſchöpfe, das, ein dünnes Korallenſchnürchen
um den bräunlichen Hals, vor ſeiner Begleiterin ſtand. Er
ſchien froh zu ſein, als dieſe endlich eine Anzahl kleiner
Sträuße ausgewählt und mit unangenehmem Lächeln mehrere
Silbermünzen in den Korb des Mädchens geworfen hatte. —


Der Ausſpruch von damals hatte ſich alſo erfüllt: „er
war ihr verfallen mit Leib und Seele!“ Wie ernſt, wie
furchtbar ſind doch die Verkettungen des Lebens! So dacht'
ich, während die Erinnerungen jener Mondnacht in mir auf¬
leuchteten, und konnte mich nicht enthalten, den Beiden bis
[272] auf die Riva zu folgen, wo ſie eine Gondel heran winkten.
Sie ſtiegen ein und ließen ſich hinaus rudern in die blaue,
ſchimmernde Waſſerfläche, wie von einem dunklen Sarge um¬
ſchloſſen. Es waren zwei Todte. — —


Langſam kehrte ich über die Piazzetta wieder zurück.
Düſter und ſchweigend lagen die alten Paläſte da und wehten
mich in ihrer verfallenden Pracht mit den Schauern der Ver¬
gänglichkeit an. — Wie lange war es her, da umflatterte
noch das ſchwarzgelbe Banner Oeſterreichs den weit aus¬
blickenden Thurm, und unter den mächtigen Säulenhallen
wogte das bewegte, glänzende Leben verhaßter Fremdherrſchaft
auf und nieder. Nun war Venedig frei — aber auch ſtiller,
einſamer, öder geworden. Und wie hatte ſich dieſer Wandel
vollzogen! Langſam, ſchrittweiſe; doch unaufhaltſam, trotz aller
Gegenbeſtrebungen. Erſchien es nicht wie tragiſche Ironie des
Schickſals, als man zuletzt rathlos die Erfüllung in die Hand
des Mannes legte, der damals an der Seine über das Loos
der Völker entſchied!? Unwillkürlich mußte ich des todten
Freiherrn und ſeiner ſtolzen Ueberzeugungen gedenken; es war
mir, als ginge ſein Schatten neben mir her, ſcheu und finſter.
— Und ſeine Tochter? Wo weilte ſie? Hatte ſie ſich, wie
Rödern damals vorausgeſetzt, zurechtgefunden, oder war
ſie ein einſamer Fremdling geblieben in dieſer Welt voll Irr¬
thum und Schuld; in dieſer Welt, wo nichts Beſtand hat, als
[273] der Schmerz, und wo ſelbſt das Höchſte und Bedeutſamſte
allmälig vergeht und verweht, als wäre es nie geweſen!? —


Auch dieſe Frage ſollte mir endlich die Zeit, die Alles
enthüllt und das Getrennteſte nach und nach zuſammenführt,
beantworten. — Es war erſt vor Kurzem, daß ich mich in
eine größere, ob ihrer landſchaftlichen Umgebung viel¬
gerühmte Provinzſtadt begab, um eine ſchmerzliche Pflicht
zu erfüllen. Einer meiner vertrauteſten Freunde, welcher dort
ſeinem wiſſenſchaftlichen Berufe nachlebte, war nämlich von
einem körperlichen Leiden befallen worden, das, anfänglich
nicht beachtet, immer heftiger und gefährlicher hervortrat.
Jeder häuslichen Pflege und Fürſorge entbehrend, ſah er ſich
endlich gezwungen, in dem öffentlichen Krankenhauſe der Stadt
Aufnahme zu ſuchen, wo man ihm ein abgeſondertes, für
ſolche Fälle bereit gehaltenes Zimmer zur Verfügung ſtellte.
Auf die Nachricht hievon war ich alſo herbeigeeilt, um dem
Einſamen in dieſen ſchweren Tagen tröſtend und vielleicht
auch hilfreich zur Seite zu ſtehen; verweilte daher oft und
lange in dem düſteren, ſchwermüthigen Gebäude, das, wie
faſt alle ähnlichen Anſtalten, auf einem großen, verödeten
Platze liegt, wo eine Kirche, eine Kaſerne und ein altes, wüſt
ausſehendes Gefangenhaus ſeine nächſte Umgebung bilden.
Das Zimmer des Kranken war klein und ſchmal und ging
mit ſeinem einzigen Fenſter auf einen ſtillen Nebenhof hinaus,
in welchem ein bemooster Steinbrunnen leiſe plätſcherte. In
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 18[274] den Nachmittagsſtunden vergoldete auf kurze Zeit ein herein¬
fallender Sonnenſtrahl die kahlen Wände und umſchimmerte
einige Blumen, die in ſchlichten Töpfen auf dem Fenſterbrette
ſtanden. Außer mir kamen nur wenige Beſuche. Deſto häu¬
figer aber fand ſich der Arzt ein, der meinen Freund behan¬
delte. Es war ein älterer, behaglicher Junggeſelle. Seine
vollen Wangen zeigten das Roth der Geſundheit, und um die
Lippen ſpielte ein feinſinnlicher Zug; aber ſeine Stirne war
frei und hoch, und aus ſeinen hellen Augen ſtrahlten Geiſt
und Erkenntniß. Auf der Höhe des heutigen Wiſſens ſtehend
und in ſeinem Fache ſelbſt ein leidenſchaftlicher Forſcher, hatte
er ſich doch jene tieferen Gemüthslaute bewahrt, die bei einem
Arzte dem Kranken gegenüber ſo wohlthuend wirken. Vor
Allem aber war es ſein köſtlicher Humor, der ein Geſpräch
mit ihm als wahren Genuß empfinden ließ; wie denn auch
mein armer Freund während ſeiner Anweſenheit ſtets ganz
und gar des quälenden Leidens vergaß — freilich nur, um
es ſpäter deſto ſchmerzlicher zu empfinden. —


So hatte ich denn eines Morgens wieder Himmel und
Sonnenſchein draußen zurückgelaſſen, um die düſtere Treppe
des Krankenhauſes hinanzuſteigen, in welchem ich ein außergewöhn¬
liches, ſtillbewegtes Treiben wahrnahm. In das bekannte.
Zimmer tretend, fand ich den Doctor am Bette; jedoch eben
im Begriffe, ſich zu verabſchieden.


[275]

„Eilen Sie doch nicht ſo, beſter Doctor“, ſagte mein
Freund; „bleiben Sie noch ein wenig bei uns.“


„Geht nicht. Wir haben heute große Viſite. Die Oberin
der Schweſtern, die hier im Hauſe den Dienſt der Kranken¬
pflege verſehen — und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen
muß. Denn dazu iſt vor Allem Disciplin nothwendig, und
dieſe läßt ſich dem geiſtlichen Völklein nicht abſprechen. Schwei¬
gen und gehorchen, das heißt, ſeinen Vorgeſetzten gegenüber,
hat es gelernt. Zudem iſt die Oberin eine vortreffliche, ja
geradezu wundervolle Perſönlichkeit; ſie hat ſich ſchon im
Directionszimmer eingefunden und ich laſſe mir das Vergnü¬
gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankenſäle
anzuſchließen. Wiſſen Sie“, fuhr der Doctor nach einer klei¬
nen Pauſe fort, „wer ſie eigentlich iſt? Eine Tochter des
alten Erzariſtokraten und Finſterlings Reichegg, der ein ſo
trauriges Andenken hinterlaſſen hat. Aber auf ſie iſt das
Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme
fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldſamkeit; eine
ächte Frauenſeele, voll Nachſicht und Menſchenliebe — und
jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man ſie
ſelbſt nicht mehr beſitzen kann. Und auch da oben“ — er
deutete mit dem Finger nach der Stirn — „ſieht es ſehr
reſpectabel aus. So Mancher, der ſich auf den Gelehrten
hinaus ſpielt und Bücher ſchreibt, müßte ſich vor ihr verkrie¬
chen. Schade, ewig ſchade, daß ſie Nonne geworden. Es
18*[276] heißt zwar, ihr Vater habe ſie von Kind auf dazu erzogen;
aber ich glaub's nicht. Wenn die Weiber in's Kloſter gehen,
ſteckt immer eine unglückliche Herzensgeſchichte dahinter. Na,
warten Sie: ſobald der Cölibat aufgehoben iſt, mach' ich es
wett und halte um ihre Hand an. Vielleicht nimmt ſie mich
noch!“ Und damit eilte er lachend zur Thüre hinaus. —


Was ich bei den Worten des Doctors empfunden hatte,
läßt ſich denken. Aber meine Ueberraſchung ging ſogleich in
das wohlthuende Gefühl innerſter Befriedigung über. Das
war ja der nothwendige Ausgleich, der verſöhnende Abſchluß
in dem Leben des ernſten blonden Mädchens, das ich einſt in
ſeiner ahnungsloſen Hoheit ſo tief beklagt hatte. Und ſo war
es auch mehr als bloße Neugierde, wenn mich ein unwider¬
ſtehliches Verlangen faßte, die Oberin zu ſehen. In Folge
deſſen trat ich nach einiger Zeit aus dem Zimmer, um Er¬
kundigungen einzuziehen, wann ſie die Anſtalt verlaſſen würde;
ich wollte ſie unten in dem großen, mit Bäumen bepflanzten
Hofe erwarten, den ſie beim Weggehen durchſchreiten mußte.
Als ich mich ſpäter dorthin begab, traf ich viele Kranke und
Geneſende, die ſich wohl in gleicher Abſicht eingefunden hatten.
Wir mußten lange warten. Endlich kam ſie, von einer jün¬
geren Schweſter, dem Director der Anſtalt und unſerem Doc¬
tor begleitet, langſam die Treppe herunter. Ruhig und wür¬
devoll, die ernſten blauen Augen vor ſich hin gerichtet, durch¬
ſchritt ſie den Hof, hier und dort mit leiſem Senken des
[277] Hauptes dargebrachte Grüße erwiedernd. Die Flucht der
Jahre hatte ihrem Antlitz, bis auf einige feine Fältchen um
den Mund, keinerlei Spuren aufgedrückt; vielmehr erſchien
ſie jetzt in erhabener, vergeiſtigter Schönheit, mit welcher
die weiße Beguine, der dunkle Faltenwurf der Gewänder
und das goldene Kreuz vor der Bruſt in ergreifendem Ein¬
klange ſtanden. Draußen am Thore harrte eine große ſchwer¬
fällige Kutſche; der ſchwarz gekleidete Diener öffnete den
Schlag — und die Oberin fuhr an der Seite der Schweſter
in das fröhliche Menſchengewühl belebter Gaſſen hinein — ihrem
Kloſter zu, das, wie ich ſpäter ſehen konnte, am äußerſten
Ende der Stadt auf einer ſanften, wipfelbeſchatteten An¬
höhe lag.

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Appendix A Inhalts-Verzeichniß.


Seite
Innocens1.
Marianne77.
Die Steinklopfer125.
Die Geigerin185.
Das Haus Reichegg245.
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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Novellen aus Österreich. Novellen aus Österreich. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp09.0