[][][][[1]]
Die Erziehung
des
Menſchengeſchlechts.

omnia inde eſſe in quibusdam vera, unde in
quibusdam falſa ſunt.

Auguſtinus.


Berlin,: 1780.
Bey Chriſtian Friedrich Voß und Sohn.
[[2]][[3]]

Vorbericht
des Herausgebers.

Ich habe die erſte Haͤlfte dieſes
Aufſatzes in meinen Beytraͤ¬
gen
bekannt gemacht. Itzt bin ich
im Stande, das Uebrige nachfolgen
zu laſſen.


A 2Der[[4]]

Der Verfaſſer hat ſich darinn auf
einen Huͤgel geſtellt‚ von welchem er
etwas mehr, als den vorgeſchriebenen
Weg ſeines heutigen Tages zu uͤber¬
ſehen glaubt.


Aber er ruft keinen eilfertigen Wan¬
derer, der nur das Nachtlager bald
zu erreichen wuͤnſcht‚ von ſeinem Pfa¬
de. Er verlangt nicht‚ daß die Aus¬
ſicht‚ die ihn entzuͤcket, auch jedes an¬
dere Auge entzuͤcken muͤſſe.


Und ſo‚ daͤchte ich‚ koͤnnte man
ihn ja wohl ſtehen und ſtaunen laſſen‚
wo er ſteht und ſtaunt!


Wenn[[5]]

Wenn er aus der unermeßlichen
Ferne, die ein ſanftes Abendroth ſei¬
nem Blicke weder ganz verhuͤllt noch
ganz entdeckt, nun gar einen Finger¬
zeig mitbraͤchte, um den ich oft ver¬
legen geweſen!


Ich meyne dieſen. — Warum
wollen wir in allen poſitiven Religio¬
nen nicht lieber weiter nichts, als den
Gang erblicken, nach welchem ſich
der menſchliche Verſtand jedes Orts
einzig und allein entwickeln koͤnnen,
und noch ferner entwickeln ſoll; als
uͤber eine derſelben entweder laͤ¬
cheln,A 3[[6]] cheln‚ oder zuͤrnen? Dieſen unſern
Hohn‚ dieſen unſern Unwillen‚ ver¬
diente in der beſten Welt nichts: und
nur die Religionen ſollten ihn verdie¬
nen? Gott haͤtte ſeine Hand bey al¬
lem im Spiele: nur bey unſern Irr¬
thuͤmern nicht?


Die
[[7]]

Die Erziehung
des
Menſchengeſchlechts.

A 4[[8]][9]

§. 1.

Was die Erziehung bey dem einzeln
Menſchen iſt, iſt die Offenbarung
bey dem ganzen Menſchengeſchlechte.

§. 2.

Erziehung iſt Offenbarung, die dem ein¬
zeln Menſchen geſchieht: und Offenbarung
iſt Erziehung, die dem Menſchengeſchlechte
geſchehen iſt, und noch geſchieht.

§. 3.

Ob die Erziehung aus dieſem Geſichts¬
punkte zu betrachten, in der Paͤdagogik
Nutzen haben kann, will ich hier nicht un¬
ter¬A 5[10] terſuchen. Aber in der Theologie kann es
gewiß ſehr großen Nutzen haben, und viele
Schwierigkeiten heben, wenn man ſich die
Offenbarung als eine Erziehung des Men¬
ſchengeſchlechts vorſtellet.

§. 4.

Erziehung giebt dem Menſchen nichts,
was er nicht auch aus ſich ſelbſt haben
koͤnnte: ſie giebt ihm das, was er aus
ſich ſelber haben koͤnnte, nur geſchwinder
und leichter. Alſo giebt auch die Offen¬
barung dem Menſchengeſchlechte nichts,
worauf die menſchliche Vernunft, ſich
ſelbſt uͤberlaſſen, nicht auch kommen wuͤr¬
de:[11] de: ſondern ſie gab und giebt ihm die
wichtigſten dieſer Dinge nur fruͤher.

§. 5.

Und ſo wie es der Erziehung nicht
gleichguͤltig iſt, in welcher Ordnung ſie die
Kraͤfte des Menſchen entwickelt; wie ſie
dem Menſchen nicht alles auf einmal bey¬
bringen kann: eben ſo hat auch Gott bey
ſeiner Offenbarung eine gewiſſe Ordnung,
ein gewiſſes Maaß halten muͤſſen.

§. 6.

Wenn auch der erſte Menſch mit einem
Begriffe von einem Einigen Gotte ſofort
ausgeſtattet wurde: ſo konnte doch dieſer
mit¬[12] mitgetheilte, und nicht erworbene Begriff,
unmoͤglich lange in ſeiner Lauterkeit beſte¬
hen. Sobald ihn die ſich ſelbſt uͤberlaſſene
menſchliche Vernunft zu bearbeiten anfing,
zerlegte ſie den Einzigen Unermeßlichen in
mehrere Ermeßlichere, und gab jedem die¬
ſer Theile ein Merkzeichen.

§. 7.

So entſtand natuͤrlicher Weiſe Vielgoͤt¬
terey und Abgoͤtterey. Und wer weiß,
wie viele Millionen Jahre ſich die menſch¬
liche Vernunft noch in dieſen Irrwegen
wuͤrde herumgetrieben haben; ohngeachtet
uͤberall und zu allen Zeiten einzelne Men¬
ſchen[13] ſchen erkannten, daß es Irrwege waren:
wenn es Gott nicht gefallen haͤtte, ihr
durch einen neuen Stoß eine beſſere Rich¬
tung zu geben.

§. 8.

Da er aber einem jeden einzeln Men¬
ſchen
ſich nicht mehr offenbaren konnte,
noch wollte: ſo waͤhlte er ſich ein einzel¬
nes Volk
zu ſeiner beſondern Erziehung;
und eben das ungeſchliffenſte, das verwil¬
dertſte, um mit ihm ganz von vorne an¬
fangen zu koͤnnen.


§. 9.[14]

§. 9.

Dieß war das Iſraelitiſche Volk, von
welchem man gar nicht einmal weiß, was
es fuͤr einen Gottesdienſt in Aegypten
hatte. Denn an dem Gottesdienſte der
Aegyptier durften ſo verachtete Sklaven
nicht Theil nehmen: und der Gott ſeiner
Vaͤter war ihm gaͤnzlich unbekannt ge¬
worden.

§. 10.

Vielleicht, daß ihm die Aegyptier allen
Gott, alle Goͤtter ausdruͤcklich unterſagt
hatten; es in den Glauben geſtuͤrzt hatten,
es habe gar keinen Gott, gar keine Goͤt¬
ter;[15] ter; Gott, Goͤtter haben, ſey nur ein
Vorrecht der beſſern Aegyptier: und das,
um es mit ſo viel groͤßerm Anſcheine von
Billigkeit tyranniſiren zu duͤrfen. — Ma¬
chen Chriſten es mit ihren Sklaven noch
itzt viel anders? —

§. 11.

Dieſem rohen Volke alſo ließ ſich Gott
anfangs blos als den Gott ſeiner Vaͤter an¬
kuͤndigen, um es nur erſt mit der Idee
eines auch ihm zuſtehenden Gottes bekannt
und vertraut zu machen.


§. 12.[16]

§. 12.

Durch die Wunder, mit welchen er es
aus Aegypten fuͤhrte, und in Kanaan ein¬
ſetzte, bezeugte er ſich ihm gleich darauf
als einen Gott, der maͤchtiger ſey, als ir¬
gend ein andrer Gott.

§. 13.

Und indem er fortfuhr, ſich ihm als den
Maͤchtigſten von allen zu bezeugen — wel¬
ches doch nur einer ſeyn kann, — ge¬
woͤhnte er es allmaͤlig zu dem Begriffe des
Einigen.


§. 14.[17]

§. 14.

Aber wie weit war dieſer Begriff des Ei¬
nigen, noch unter dem wahren tranſcen¬
dentalen Begriffe des Einigen, welchen die
Vernunft ſo ſpaͤt erſt aus dem Begriffe des
Unendlichen mit Sicherheit ſchließen lernen!

§. 15.

Zu dem wahren Begriffe des Einigen —
wenn ſich ihm auch ſchon die Beſſerern des
Volks mehr oder weniger naͤherten —
konnte ſich doch das Volk lange nicht er¬
heben: und dieſes war die einzige wahre
Urſache, warum es ſo oft ſeinen Einigen
Gott verließ, und den Einigen, d. i. Maͤch¬
tig¬B[18] tigſten, in irgend einem andern Gotte ei¬
nes andern Volks zu finden glaubte.

§. 16.

Ein Volk aber, das ſo roh, ſo unge¬
ſchickt zu abgezognen Gedanken war, noch
ſo voͤllig in ſeiner Kindheit war, was war
es fuͤr einer moraliſchen Erziehung faͤ¬
hig? Keiner andern, als die dem Alter
der Kindheit entſpricht. Der Erziehung
durch unmittelbare ſinnliche Strafen und
Belohnungen.

§. 17.

Auch hier alſo treffen Erziehung und
Offenbarung zuſammen. Noch konnte
Gott[19] Gott ſeinem Volke keine andere Religion,
kein anders Geſetz geben, als eines, durch
deſſen Beobachtung oder Nichtbeobachtung
es hier auf Erden gluͤcklich oder ungluͤcklich
zu werden hoffte oder fuͤrchtete. Denn
weiter als auf dieſes Leben gingen noch
ſeine Blicke nicht. Es wußte von keiner
Unſterblichkeit der Seele; es ſehnte ſich
nach keinem kuͤnftigen Leben. Ihm aber
nun ſchon dieſe Dinge zu offenbaren, wel¬
chen ſeine Vernunft noch ſo wenig gewach¬
ſen war: was wuͤrde es bey Gott anders
geweſen ſeyn, als der Fehler des eiteln
Paͤdagogen, der ſein Kind lieber uͤbereilen
undB 2[20] und mit ihm prahlen, als gruͤndlich unter¬
richten will.

§. 18.

Allein wozu, wird man fragen, dieſe
Erziehung eines ſo rohen Volkes, eines
Volkes, mit welchem Gott ſo ganz von
vorne anfangen mußte? Ich antworte:
um in der Folge der Zeit einzelne Glieder
deſſelben ſo viel ſichrer zu Erziehern aller
uͤbrigen Voͤlker brauchen zu koͤnnen. Er
erzog in ihm die kuͤnftigen Erzieher des Men¬
ſchengeſchlechts. Das wurden Juden, das
konnten nur Juden werden, nur Maͤnner
aus einem ſo erzogenen Volke.


§. 19.[21]

§. 19.

Denn weiter. Als das Kind unter
Schlaͤgen und Liebkoſungen aufgewachſen
und nun zu Jahren des Verſtandes gekom¬
men war, ſtieß es der Vater auf einmal
in die Fremde; und hier erkannte es auf
einmal das Gute, das es in ſeines Vaters
Hauſe gehabt und nicht erkannt hatte.

§. 20.

Waͤhrend daß Gott ſein erwaͤhltes Volk
durch alle Staffeln einer kindiſchen Erzie¬
hung fuͤhrte: waren die andern Voͤlker des
Erdbodens bey dem Lichte der Vernunft ih¬
ren Weg fortgegangen. Die meiſten der¬
ſelbenB 3[22] ſelben waren weit hinter dem erwaͤhlten
Volke zuruͤckgeblieben: nur einige waren
ihm zuvorgekommen. Und auch das ge¬
ſchieht bey Kindern, die man fuͤr ſich auf¬
wachſen laͤßt; viele bleiben ganz roh; eini¬
ge bilden ſich zum Erſtaunen ſelbſt.

§. 21.

Wie aber dieſe gluͤcklichern Einige nichts
gegen den Nutzen und die Nothwendigkeit
der Erziehung beweiſen: ſo beweiſen die
wenigen heidniſchen Voͤlker, die ſelbſt in
der Erkenntniß Gottes vor dem erwaͤhlten
Volke noch bis itzt einen Vorſprung zu ha¬
ben ſchienen, nichts gegen die Offenba¬
rung.[23] rung. Das Kind der Erziehung faͤngt mit
langſamen aber ſichern Schritten an; es
hohlt manches gluͤcklicher organiſirte Kind
der Natur ſpaͤt ein; aber es hohlt es doch
ein, und iſt alsdann nie wieder von ihm
einzuholen.

§. 22.

Auf gleiche Weiſe. Daß, — die Lehre
von der Einheit Gottes bey Seite geſetzt,
welche in den Buͤchern des Alten Teſtaments
ſich findet, und ſich nicht findet — daß,
ſage ich, wenigſtens die Lehre von der Un¬
ſterblichkeit der Seele, und die damit ver¬
bundene Lehre von Strafe und Belohnung
inB 4[24] in einem kuͤnftigen Leben, darinn voͤllig
fremd ſind: beweiſet eben ſo wenig wider
den goͤttlichen Urſprung dieſer Buͤcher. Es
kann dem ohngeachtet mit allen darinn ent¬
haltenen Wundern und Prophezeyungen
ſeine gute Richtigkeit haben. Denn laßt
uns ſetzen, jene Lehren wuͤrden nicht allein
darinn vermißt, jene Lehren waͤren auch
ſogar nicht einmal wahr; laßt uns ſe¬
tzen, es waͤre wirklich fuͤr die Menſchen in
dieſem Leben alles aus: waͤre darum das
Daſeyn Gottes minder erwieſen? ſtuͤnde es
darum Gotte minder frey, wuͤrde es dar¬
um Gotte minder ziemen, ſich der zeitli¬
chen[25] chen Schickſale irgend eines Volks aus die¬
ſem vergaͤnglichen Geſchlechte unmittelbar
anzunehmen? Die Wunder, die er fuͤr die
Juden that, die Prophezeyungen, die er
durch ſie aufzeichnen ließ, waren ja nicht
blos fuͤr die wenigen ſterblichen Juden, zu
deren Zeiten ſie geſchahen und aufgezeich¬
net wurden: er hatte ſeine Abſichten damit
auf das ganze Juͤdiſche Volk, auf das
ganze Menſchengeſchlecht, die hier auf Er¬
den vielleicht ewig dauern ſollen, wenn
ſchon jeder einzelne Jude, jeder einzelne
Menſch auf immer dahin ſtirbt.


B 5§. 23[26]

§. 23.

Noch einmal. Der Mangel jener Leh¬
ren in den Schriften des Alten Teſtaments
beweiſet wider ihre Goͤttlichkeit nichts. Mo¬
ſes war doch von Gott geſandt, obſchon die
Sanktion ſeines Geſetzes ſich nur auf dieſes
Leben erſtreckte. Denn warum weiter?
Er war ja nur an das Iſraelitſche Volk,
an das damalige Iſraelitiſche Volk ge¬
ſandt: und ſein Auftrag war den Kennt¬
niſſen, den Faͤhigkeiten, den Neigungen die¬
ſes damaligen Iſraelitiſchen Volks, ſo
wie der Beſtimmung des kuͤnftigen, voll¬
kommen angemeſſen. Das iſt genug.


§. 24.[27]

§. 24.

So weit haͤtte Warburton auch nur
gehen muͤſſen, und nicht weiter. Aber
der gelehrte Mann uͤberſpannte den Bogen.
Nicht zufrieden, daß der Mangel jener Leh¬
ren der goͤttlichen Sendung Moſis nichts
ſchade: er ſollte ihm die goͤttliche Sendung
Moſis ſogar beweiſen. Und wenn er die¬
ſen Beweis noch aus der Schicklichkeit ei¬
nes ſolchen Geſetzes fuͤr ein ſolches Volk zu
fuͤhren geſucht haͤtte! Aber er nahm ſeine
Zuflucht zu einem von Moſe bis auf Chri¬
ſtum ununterbrochen fortdaurenden Wun¬
der, nach welchem Gott einen jeden ein¬
zeln[28] zeln Juden gerade ſo gluͤcklich oder ungluͤck¬
lich gemacht habe, als es deſſen Gehorſam
oder Ungehorſam gegen das Geſetz verdiente.
Dieſes Wunder habe den Mangel jener Leh¬
ren, ohne welche kein Staat beſtehen koͤn¬
ne, erſetzt; und eine ſolche Erſetzung eben
beweiſe, was jener Mangel, auf den er¬
ſten Anblick, zu verneinen ſcheine.

§. 25.

Wie gut war es, daß Warburton
dieſes anhaltende Wunder, in welches er
das Weſentliche der Iſraelitiſchen Theokra¬
tie ſetzte, durch nichts erhaͤrten, durch
nichts wahrſcheinlich machen konnte. Denn
haͤtte[29] haͤtte er das gekonnt; wahrlich — als¬
denn erſt haͤtte er die Schwierigkeit unauf¬
loͤslich gemacht. — Mir wenigſtens. —
Denn was die Goͤttlichkeit der Sendung
Moſis wieder herſtellen ſollte, wuͤrde an der
Sache ſelbſt zweifelhaft gemacht haben, die
Gott zwar damals nicht mittheilen, aber
doch gewiß auch nicht erſchweren wollte.

§. 26.

Ich erklaͤre mich an dem Gegenbilde der
Offenbarung. Ein Elementarbuch fuͤr Kin¬
der, darf gar wohl dieſes oder jenes wich¬
tige Stuͤck der Wiſſenſchaft oder Kunſt, die
es vortraͤgt, mit Stillſchweigen uͤbergehen,
von[30] von dem der Paͤdagog urtheilte, daß es den
Faͤhigkeiten der Kinder, fuͤr die er ſchrieb,
noch nicht angemeſſen ſey. Aber es darf
ſchlechterdings nichts enthalten, was den
Kindern den Weg zu den zuruͤckbehaltnen
wichtigen Stuͤcken verſperre oder verlege.
Vielmehr muͤſſen ihnen alle Zugaͤnge zu den¬
ſelben ſorgfaͤltig offen gelaſſen werden: und
ſie nur von einem einzigen dieſer Zugaͤnge
ableiten, oder verurſachen, daß ſie denſel¬
ben ſpaͤter betreten, wuͤrde allein die Un¬
vollſtaͤndigkeit des Elementarbuchs zu einem
weſentlichen Fehler deſſelben machen.


§. 27.[31]

§. 27.

Alſo auch konnten in den Schriften des
Alten Teſtaments‚ in dieſen Elementarbuͤ¬
chern fuͤr das rohe und im Denken un¬
geuͤbte Iſraelitiſche Volk‚ die Lehre von
der Unſterblichkeit der Seele und kuͤnftigen
Vergeltung gar wohl mangeln: aber ent¬
halten durften ſie ſchlechterdings nichts‚
was das Volk‚ fuͤr das ſie geſchrieben wa¬
ren‚ auf dem Wege zu dieſer großen Wahr¬
heit auch nur verſpaͤtet haͤtte. Und was
haͤtte es‚ wenig zu ſagen‚ mehr dahin
verſpaͤtet, als wenn jene wunderbare
Vergeltung in dieſem Leben darinn waͤre
ver¬[32] verſprochen, und von dem waͤre verſpro¬
chen worden, der nichts verſpricht, was
er nicht haͤlt?

§. 28.

Denn wenn ſchon aus der ungleichen
Austheilung der Guͤter dieſes Lebens, bey
der auf Tugend und Laſter ſo wenig Ruͤck¬
ſicht genommen zu ſeyn ſcheinet, eben nicht
der ſtrengſte Beweis fuͤr die Unſterblichkeit
der Seele und fuͤr ein anders Leben, in
welchem jener Knoten ſich aufloͤſe, zu fuͤh¬
ren: ſo iſt doch wohl gewiß, daß der
menſchliche Verſtand ohne jenem Knoten
noch lange nicht — und vielleicht auch
nie[33] nie — auf beſſere und ſtrengere Beweiſe
gekommen waͤre. Denn was ſollte ihn
antreiben koͤnnen, dieſe beſſern Beweiſe zu
ſuchen? Die bloſſe Neugierde?

§. 29.

Der und jener Iſraelite mochte freylich
wohl die goͤttlichen Verſprechungen und An¬
drohungen, die ſich auf den geſammten
Staat bezogen, auf jedes einzelne Glied
deſſelben erſtrecken, und in dem feſten
Glauben ſtehen, daß wer fromm ſey auch
gluͤcklich ſeyn muͤſſe, und wer ungluͤcklich
ſey, oder werde, die Strafe ſeiner Miſſe¬
that trage, welche ſich ſofort wieder in
CSe¬[34] Segen verkehre, ſobald er von ſeiner Miſ¬
ſethat ablaſſe. — Ein ſolcher ſcheinet
den Hiob geſchrieben zu haben; denn der
Plan deſſelben iſt ganz in dieſem Geiſte. —

§. 30.

Aber unmoͤglich durfte die taͤgliche Er¬
fahrung dieſen Glauben beſtaͤrken: oder
es war auf immer bey dem Volke, das
dieſe Erfahrung hatte, auf immer um
die Erkennung und Aufnahme der ihm noch
ungelaͤufigen Wahrheit geſchehen. Denn
wenn der Fromme ſchlechterdings gluͤcklich
war, und es zu ſeinem Gluͤcke doch wohl
auch mit gehoͤrte, daß ſeine Zufriedenheit
keine[35] keine ſchrecklichen Gedanken des Todes un¬
terbrachen, daß er alt und lebensſatt
ſtarb: wie konnte er ſich nach einem an¬
dern Leben ſehnen? wie konnte er uͤber et¬
was nachdenken, wornach er ſich nicht ſehnte?
Wenn aber der Fromme daruͤber nicht nach¬
dachte: wer ſollte es denn? Der Boͤſe¬
wicht? der die Strafe ſeiner Miſſethat
fuͤhlte, und wenn er dieſes Leben ver¬
wuͤnſchte, ſo gern auf jedes andere Leben
Verzicht that?

§. 31.

Weit weniger verſchlug es, daß der
und jener Iſraelite die Unſterblichkeit der
See¬C 2[36] Seele und kuͤnftige Vergeltung, weil ſich
das Geſetz nicht darauf bezog, gerade zu
und ausdruͤcklich leugnete. Das Leugnen
eines Einzeln — waͤre es auch ein Sa¬
lomo geweſen, — hielt den Fortgang des
gemeinen Verſtandes nicht auf, und war
an und fuͤr ſich ſelbſt ſchon ein Beweis,
daß das Volk nun einen großen Schritt der
Wahrheit naͤher gekommen war. Denn
Einzelne leugnen nur, was Mehrere in
Ueberlegung ziehen; und in Ueberlegung
ziehen, warum man ſich vorher ganz und
gar nicht bekuͤmmerte, iſt der halbe Weg
zur Erkenntniß.


§. 32.[37]

§. 32.

Laßt uns auch bekennen, daß es ein he¬
roiſcher Gehorſam iſt, die Geſetze Gottes
beobachten, blos weil es Gottes Geſetze
ſind, und nicht, weil er die Beobachter
derſelben hier und dort zu belohnen ver¬
heiſſen hat; ſie beobachten, ob man ſchon
an der kuͤnftigen Belohnung ganz verzwei¬
felt‚ und der zeitlichen auch nicht ſo ganz
gewiß iſt.

§. 33.

Ein Volk‚ in dieſem heroiſchen Gehor¬
ſame gegen Gott erzogen‚ ſollte es nicht
beſtimmt‚ ſollte es nicht vor allen andern
faͤ¬C 3[38] faͤhig ſeyn, ganz beſondere goͤttliche Ab¬
ſichten auszufuͤhren? — Laßt den Sol¬
daten, der ſeinem Fuͤhrer blinden Gehor¬
ſam leiſtet, nun auch von der Klugheit ſei¬
nes Fuͤhrers uͤberzeugt werden, und ſagt,
was dieſer Fuͤhrer mit ihm auszufuͤhren
ſich nicht unterſtehen darf? —

§. 34.

Noch hatte das Juͤdiſche Volk in ſeinem
Jehova mehr den Maͤchtigſten, als den
Weiſeſten aller Goͤtter verehrt; noch hatte
es ihn als einen eifrigen Gott mehr ge¬
fuͤrchtet, als geliebt: auch dieſes zum Be¬
weiſe, daß die Begriffe, die es von ſeinem
hoͤch¬[39] hoͤchſten einigen Gott hatte, nicht eben die
rechten Begriffe warm, die wir von Gott
haben muͤſſen. Doch nun war die Zeit da,
daß dieſe ſeine Begriffe erweitert, veredelt,
berichtiget werden ſollten, wozu ſich Gott
eines ganz natuͤrlichen Mittels bediente;
eines beſſern richtigern Maaßſtabes, nach
welchem es ihn zu ſchaͤtzen Gelegenheit
bekam.

§. 35.

Anſtatt daß es ihn bisher [nur] gegen die
armſeligen Goͤtzen der kleinen benachbarten
rohen Voͤlkerſchaften geſchaͤtzt hatte, mit
welchen es in beſtaͤndiger Eiferſucht lebte:
fingC 4[40] fing es in der Gefangenſchaft unter dem wei¬
ſen Perſer an, ihn gegen das Weſen aller
Weſen zu meſſen, wie das eine geuͤbtere
Vernunft erkannte und verehrte.

§. 36.

Die Offenbarung hatte ſeine Vernunft
geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf
einmal ſeine Offenbarung.

§. 37.

Das war der erſte wechſelſeitige Dienſt,
den beyde einander leiſteten; und dem Ur¬
heber beyder iſt ein ſolcher gegenſeitiger Ein¬
fluß ſo wenig unanſtaͤndig, daß ohne ihm
eines von beyden uͤberfluͤſſig ſeyn wuͤrde.


§. 38.[41]

§. 38.

Das in die Fremde geſchickte Kind ſahe
andere Kinder, die mehr wußten, die an¬
ſtaͤndiger lebten, und fragte ſich beſchaͤmt:
warum weiß ich das nicht auch? warum
lebe ich nicht auch ſo? Haͤtte in meines Va¬
ters Hauſe man mir das nicht auch bey¬
bringen; dazu mich nicht auch anhalten
ſollen? Da ſucht es ſeine Elementarbuͤcher
wieder vor, die ihm laͤngſt zum Ekel ge¬
worden, um die Schuld auf die Elemen¬
tarbuͤcher zu ſchieben. Aber ſiehe! es er¬
kennet, daß die Schuld nicht an den Buͤ¬
chern liege, daß die Schuld ledig ſein ei¬
genC 5[42] gen ſey, warum es nicht laͤngſt eben das
wiſſe, eben ſo lebe.

§. 39.

Da die Juden nunmehr, auf Veran¬
laſſung der reinern Perſiſchen Lehre, in ih¬
rem Jehova nicht blos den groͤßten aller
Nationalgoͤtter, ſondern Gott erkannten;
da ſie ihn als ſolchen in ihren wieder her¬
vorgeſuchten heiligen Schriften um ſo eher
finden und andern zeigen konnten, als er
wirklich darinn war; da ſie vor allen
ſinnlichen Vorſtellungen deſſelben einen eben
ſo großen Abſcheu bezeugten, oder doch in
dieſen Schriften zu haben angewieſen wur¬
den,[43] den, als die Perſer nur immer hatten:
was Wunder, daß ſie vor den Augen des
Cyrus mit einem Gottesdienſte Gnade fan¬
den, den er zwar noch weit unter dem
reinen Sabeismus, aber doch auch weit
uͤber die groben Abgoͤttereyen zu ſeyn er¬
kannte, die ſich dafuͤr des verlaßnen Lan¬
des der Juden bemaͤchtiget hatten?

§. 40.

So erleuchtet uͤber ihre eignen uner¬
kannten Schaͤtze kamen ſie zuruͤck, und
wurden ein ganz andres Volk, deſſen erſte
Sorge es war, dieſe Erleuchtung unter
ſich dauerhaft zu machen. Bald war an
Ab¬[44] Abfall und Abgoͤtterey unter ihm nicht
mehr zu denken. Denn man kann ei¬
nem Nationalgott wohl untreu werden,
aber nie Gott, ſo bald man ihn einmal
erkannt hat.

§. 41.

Die Gottesgelehrten haben dieſe gaͤnz¬
liche Veraͤnderung des juͤdiſchen Volks ver¬
ſchiedentlich zu erklaͤren geſucht; und Ei¬
ner, der die Unzulaͤnglichkeit aller dieſer
verſchiednen Erklaͤrungen ſehr wohl ge¬
zeigt hat, wollte endlich „die augenſchein¬
„liche Erfuͤllung der uͤber die Babyloniſche
„Gefangenſchaft und die Wiederherſtellung
„aus[45] „aus derſelben ausgeſprochnen und aufge¬
„ſchriebnen Weiſſagungen,“ fuͤr die wahre
Urſache derſelben angeben. Aber auch
dieſe Urſache kann nur in ſo fern die wahre
ſeyn, als ſie die nun erſt veredelten Be¬
griffe von Gott voraus ſetzt. Die Juden
mußten nun erſt erkannt haben, daß Wun¬
derthun und das Kuͤnftige vorherſagen, nur
Gott zukomme; welches beydes ſie ſonſt
auch den falſchen Goͤtzen beygeleget hatten,
wodurch eben Wunder und Weiſſagungen
bisher nur einen ſo ſchwachen, vergaͤngli¬
chen Eindruck auf ſie gemacht hatten.


§.42.[46]

§. 42.

Ohne Zweifel waren die Juden unter
den Chaldaͤern und Perſern auch mit der
Lehre von der Unſterblichkeit der Seele be¬
kannter geworden. Vertrauter mit ihr
wurden ſie in den Schulen der Griechiſchen
Philoſophen in Aegypten.

§. 43.

Doch da es mit dieſer Lehre, in Anſe¬
hung ihrer heiligen Schriften, die Bewand¬
niß nicht hatte, die es mit der Lehre von
der Einheit und den Eigenſchaften Gottes
gehabt hatte; da jene von dem ſinnlichen
Volke darinn war groͤblich uͤberſehen wor¬
den,[47] den, dieſe aber geſucht ſeyn wollte; da
auf dieſe noch Voruͤbungen noͤthig ge¬
weſen waren, und alſo nur Anſpielun¬
gen
und Fingerzeige Statt gehabt hat¬
ten: ſo konnte der Glaube an die Unſterb¬
lichkeit der Seele natuͤrlicher Weiſe nie der
Glaube des geſammten Volks werden. Er
war und blieb nur der Glaube einer gewiſ¬
ſen Sekte deſſelben.

§. 44.

Eine Voruͤbung auf die Lehre von
der Unſterblichkeit der Seele, nenne ich
z. E. die goͤttliche Androhung, die Miſſe¬
that des Vaters an ſeinen Kindern bis ins
dritte[48] dritte und vierte Glied zu ſtrafen. Dieß
gewoͤhnte die Vaͤter in Gedanken mit ihren
ſpaͤteſten Nachkommen zu leben, und das
Ungluͤck, welches ſie uͤber dieſe Unſchuldige
gebracht hatten, voraus zu fuͤhlen.

§. 45.

Eine Anſpielung nenne ich, was
blos die Neugierde reizen und eine Frage
veranlaſſen ſollte. Als die oft vorkom¬
mende Redensart, zu ſeinen Vaͤtern
verſammlet werden
, fuͤr ſterben.

§. 46.

Einen Fingerzeig nenne ich, was
ſchon irgend einen Keim enthaͤlt, aus wel¬
chem[49] chem ſich die noch zuruͤckgehaltne Wahr¬
heit entwickeln laͤßt. Dergleichen war
Chriſti Schluß aus der Benennung Gott
Abrahams, Iſaacs und Jacobs.

Dieſer Fingerzeig ſcheint mir allerdings in
einen ſtrengen Beweis ausgebildet werden
zu koͤnnen.

§. 47.

In ſolchen Voruͤbungen, Anſpielungen,
Fingerzeigen beſteht die poſitive Voll¬
kommenheit eines Elementarbuchs; ſo wie
die oben erwaͤhnte Eigenſchaft, daß es
den Weg zu den noch zuruͤckgehaltenen
Wahrheiten nicht erſchwere, oder ver¬
Dſperre,[50] ſperre, die negative Vollkommenheit deſ¬
ſelben war.

§. 48.

Setzt hierzu noch die Einkleidung und
den Stil — 1) die Einkleidung der nicht
wohl zu uͤbergehenden abſtrakten Wahr¬
heiten in Allegorieen und lehrreiche einzelne
Faͤlle, die als wirklich geſchehen erzaͤhlet
werden. Dergleichen ſind die Schoͤpfung,
unter dem Bilde des werdenden Tages; die
Quelle des moraliſchen Boͤſen, in der Er¬
zaͤhlung vom verbotnen Baume; der Ur¬
ſprung der mancherley Sprachen, in der Ge¬
ſchichte vom Thurmbaue zu Babel, u. ſ. w.


§. 49.[51]

§. 49.

2) den Stil — bald plan und einfaͤl¬
tig, bald poetiſch, durchaus voll Tavto¬
logieen, aber ſolchen, die den Scharf¬
ſinn uͤben, indem ſie bald etwas anders
zu ſagen ſcheinen, und doch das nehmliche
ſagen, bald das nehmliche zu ſagen ſchei¬
nen, und im Grunde etwas anders bedeu¬
ten oder bedeuten koͤnnen: —

§. 50.

Und ihr habt alle gute Eigenſchaften
eines Elementarbuchs ſowol fuͤr Kinder, als
fuͤr ein kindiſches Volk.


D 2§. 51.[52]

§. 51.

Aber jedes Elementarbuch iſt nur fuͤr
ein gewiſſes Alter. Das ihm entwachſene
Kind laͤnger, als die Meinung geweſen,
dabey zu verweilen, iſt ſchaͤdlich. Denn
um dieſes auf eine nur einigermaaſſen nuͤtz¬
liche Art thun zu koͤnnen, muß man mehr
hineinlegen, als darinn liegt; mehr hin¬
eintragen, als es faſſen kann. Man muß
der Anſpielungen und Fingerzeige zu viel
ſuchen und machen, die Allegorieen zu ge¬
nau ausſchuͤtteln, die Beyſpiele zu um¬
ſtaͤndlich deuten, die Worte zu ſtark preſ¬
ſen. Das giebt dem Kinde einen kleinli¬
chen,[53] chen, ſchiefen, ſpitzfindigen Verſtand; das
macht es geheimnißreich, aberglaͤubiſch,
voll Verachtung gegen alles Faßliche und
Leichte.

§. 52.

Die nehmliche Weiſe, wie die Rabbi¬
nen ihre heiligen Buͤcher behandelten! Der
nehmliche Charakter, den ſie dem Geiſte
ihres Volks dadurch ertheilten!

§. 53.

Ein beſſrer Paͤdagog muß kommen,
und dem Kinde das erſchoͤpfte Elementar¬
buch aus den Haͤnden reißen. — Chri¬
ſtus kam.


D 3§. 54.[54]

§. 54.

Der Theil des Menſchengeſchlechts, den
Gott in Einen Erziehungsplan hatte faſ¬
ſen wollen. — Er hatte aber nur den¬
jenigen in Einen faſſen wollen, der durch
Sprache, durch Handlung, durch Regie¬
rung, durch andere natuͤrliche und politi¬
ſche Verhaͤltniſſe in ſich bereits verbunden
war — war zu dem zweyten großen
Schritte der Erziehung reif.

§. 55.

Das iſt: dieſer Theil des Menſchenge¬
ſchlechts war in der Ausuͤbung ſeiner Ver¬
nunft ſo weit gekommen, daß er zu ſeinen
mora¬[55] moraliſchen Handlungen edlere, wuͤrdigere
Bewegungsgruͤnde bedurfte und brauchen
konnte, als zeitliche Belohnung und Stra¬
fen waren, die ihn bisher geleitet hatten.
Das Kind wird Knabe. Leckerey und
Spielwerk weicht der aufkeimenden Be¬
gierde, eben ſo frey, eben ſo geehrt, eben
ſo gluͤcklich zu werden, als es ſein aͤlteres
Geſchwiſter ſieht.

§. 56.

Schon laͤngſt waren die Beſſern von je¬
nem Theile des Menſchengeſchlechts ge¬
wohnt, ſich durch einen Schatten ſolcher
edlern Bewegungsgruͤnde regieren zu laſ¬
ſen.D 4[56] ſen. Um nach dieſem Leben auch nur in
dem Andenken ſeiner Mitbuͤrger fortzuleben,
that der Grieche und Roͤmer alles.

§. 57.

Es war Zeit, daß ein andres wah¬
res nach dieſem Leben zu gewaͤrtigendes Le¬
ben Einfluß auf ſeine Handlungen ge¬
woͤnne.

§. 58.

Und ſo ward Chriſtus der erſte zuver¬
laͤſſige, praktiſche
Lehrer der Unſterb¬
lichkeit der Seele.


§. 59.[57]

§. 59.

Der erſte zuverlaͤſſige Lehrer. —
Zuverlaͤſſig durch die Weiſſagungen, die
in ihm erfuͤllt ſchienen; zuverlaͤſſig durch
die Wunder, die er verrichtete; zuver¬
laͤſſig durch ſeine eigene Wiederbelebung
nach einem Tode, durch den er ſeine Lehre
verſiegelt hatte. Ob wir noch itzt dieſe
Wiederbelebung, dieſe Wunder beweiſen
koͤnnen: das laſſe ich dahin geſtellt ſeyn.
So, wie ich es dahin geſtellt ſeyn laſſe,
wer die Perſon dieſes Chriſtus geweſen.
Alles das kann damals zur Annehmung
ſeiner Lehre wichtig geweſen ſeyn: itzt iſt es
D 5zur[58] zur Erkennung der Wahrheit dieſer Lehre ſo
wichtig nicht mehr.

§. 60.

Der erſte praktiſche Lehrer. — Denn
ein anders iſt die Unſterblichkeit der Seele,
als eine philoſophiſche Speculation, ver¬
muthen, wuͤnſchen, glauben: ein anders,
ſeine innern und aͤuſſern Handlungen dar¬
nach einrichten.

§. 61.

Und dieſes wenigſtens lehrte Chriſtus
zuerſt. Denn ob es gleich bey manchen
Voͤlkern auch ſchon vor ihm eingefuͤhrter
Glaube war, daß boͤſe Handlungen noch
in[59] in jenem Leben beſtraft wuͤrden: ſo waren
es doch nur ſolche, die der buͤrgerlichen
Geſellſchaft Nachtheil brachten, und da¬
her auch ſchon in der buͤrgerlichen Geſell¬
ſchaft ihre Strafe hatten. Eine innere
Reinigkeit des Herzens in Hinſicht auf ein
andres Leben zu empfehlen, war ihm al¬
lein vorbehalten.

§. 62.

Seine Juͤnger haben dieſe Lehre getreu¬
lich fortgepflanzt. Und wenn ſie auch
kein ander Verdienſt haͤtten, als daß ſie
einer Wahrheit, die Chriſtus nur allein
fuͤr die Juden beſtimmt zu haben ſchien.


ei¬[60]

einen allgemeinern Umlauf unter mehrern
Voͤlkern verſchaft haͤtten: ſo waͤren ſie
ſchon darum unter die Pfleger und
Wohlthaͤter des Menſchengeſchlechts zu
rechnen.

§. 63.

Daß ſie aber dieſe Eine große Lehre
noch mit andern Lehren verſetzten, deren
Wahrheit weniger einleuchtend, deren
Nutzen weniger erheblich war: wie konnte
das anders ſeyn? Laßt uns ſie darum
nicht ſchelten, ſondern vielmehr mit Ernſt
unterſuchen: ob nicht ſelbſt dieſe beyge¬
miſchten Lehren ein neuer Richtungs¬
ſtoß[61]ſtoß fuͤr die menſchliche Vernunft ge¬
worden.

§. 64.

Wenigſtens iſt es ſchon aus der Erfah¬
rung klar, daß die Neuteſtamentlichen
Schriften, in welchen ſich dieſe Lehren
nach einiger Zeit aufbewahret fanden, das
zweyte beßre Elementarbuch fuͤr das Men¬
ſchengeſchlecht abgegeben haben, und noch
abgeben.

§. 65.

Sie haben ſeit ſiebzehnhundert Jahren
den menſchlichen Verſtand mehr als alle
andere Buͤcher beſchaͤftiget; mehr als alle
an¬[62] andere Buͤcher erleuchtet, ſollte es auch
nur durch das Licht ſeyn, welches der
menſchliche Verſtand ſelbſt hineintrug.

§. 66.

Unmoͤglich haͤtte irgend ein ander Buch
unter ſo verſchiednen Voͤlkern ſo allgemein
bekannt werden koͤnnen: und unſtreitig
hat das, daß ſo ganz ungleiche Den¬
kungsarten ſich mit dieſem nehmlichen
Buche beſchaͤftigten, den menſchlichen Ver¬
ſtand mehr fortgeholfen, als wenn jedes
Volk fuͤr ſich beſonders ſein eignes Elemen¬
tarbuch gehabt haͤtte.


§. 67.[63]

§. 67.

Auch war es hoͤchſt noͤthig, daß jedes
Volk dieſes Buch eine Zeit lang fuͤr das
Non plus ultra ſeiner Erkenntniſſe halten
mußte. Denn dafuͤr muß auch der Knabe
ſein Elementarbuch vors erſte anſehen; da¬
mit die Ungeduld, nur fertig zu werden,
ihn nicht zu Dingen fortreißt, zu welchen
er noch keinen Grund gelegt hat.

§. 68.

[Und] was noch itzt hoͤchſt wichtig iſt: —
Huͤte dich, du faͤhigeres Individuum, der
du an dem letzten Blatte dieſes Elemen¬
tarbuches ſtampfeſt und gluͤheſt, huͤte dich,
es[64] es deine ſchwaͤchere Mitſchuͤler merken zu
laſſen, was du witterſt, oder ſchon zu
ſehn beginneſt.

§. 69.

Bis ſie dir nach ſind, dieſe ſchwaͤchere
Mitſchuͤler; — kehre lieber noch einmal
ſelbſt in dieſes Elementarbuch zuruͤck, und
unterſuche, ob das, was du nur fuͤr Wen¬
dungen der Methode, fuͤr Luͤckenbuͤſſer der
Didaktik haͤltſt, auch wohl nicht etwas
Mehrers iſt.

§. 70.

Du haſt in der Kindheit des Menſchen¬
geſchlechts an der Lehre von der Einheit
Got¬[65] Gottes geſehen, daß Gott auch bloße Ver¬
nunftswahrheiten unmittelbar offenbaret;
oder verſtattet und einleitet, daß bloße
Vernunftswahrheiten als unmittelbar geof¬
fenbarte Wahrheiten eine Zeit lang gelehret
werden: um ſie geſchwinder zu verbreiten,
und ſie feſter zu gruͤnden.

§. 71.

Du erfaͤhrſt, in dem Knabenalter
des Menſchengeſchlechts, an der Lehre
von der Unſterblichkeit der Seele, das
Nehmliche. Sie wird in dem zweyten
beſſern Elementarbuche als Offenbarung
Ege¬[66]geprediget‚ nicht als Reſultat menſchli¬
cher Schluͤſſe gelehret.

§. 72.

So wie wir zur Lehre von der Einheit
Gottes nunmehr des Alten Teſtaments
entbehren koͤnnen; ſo wie wir allmaͤlig‚
zur Lehre von der Unſterblichkeit der Seele‚
auch des Neuen Teſtaments entbehren zu
koͤnnen anfangen: koͤnnten in dieſem nicht
noch mehr dergleichen Wahrheiten vorge¬
ſpiegelt werden, die wir als Offenbarun¬
gen ſo lange anſtaunen ſollen‚ bis ſie die
Vernunft aus ihren andern ausgemachten
Wahr¬[67] Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbin¬
den lernen?

§. 73.

Z. E. die Lehre von der Dreyeinig¬
keit. — Wie, wenn dieſe Lehre den
menſchlichen Verſtand, nach unendlichen
Verirrungen rechts und links, nur endlich
auf den Weg bringen ſollte, zu erkennen,
daß Gott in dem Verſtande, in welchem
endliche Dinge eins ſind, unmoͤglich eins
ſeyn koͤnne; daß auch ſeine Einheit eine
tranſcendentale Einheit ſeyn muͤſſe, welche
eine Art von Mehrheit nicht ausſchließt? —
E 2Muß[68] Muß Gott wenigſtens nicht die vollſtaͤn¬
digſte Vorſtellung von ſich ſelbſt haben?
d. i. eine Vorſtellung, in der ſich alles be¬
findet, was in ihm ſelbſt iſt. Wuͤrde ſich
aber alles in ihr finden, was in ihm ſelbſt
iſt, wenn auch von ſeiner nothwendi¬
gen Wirklichkeit
, ſo wie von ſeinen
uͤbrigen Eigenſchaften, ſich blos eine Vor¬
ſtellung, ſich blos eine Moͤglichkeit faͤnde?
Dieſe Moͤglichkeit erſchoͤpft das Weſen ſei¬
ner uͤbrigen Eigenſchaften: aber auch ſei¬
ner nothwendigen Wirklichkeit? Mich
duͤnkt nicht. — Folglich kann entweder
Gott gar keine vollſtaͤndige Vorſtellung von
ſich[69] ſich ſelbſt haben: oder dieſe vollſtaͤndige
Vorſtellung iſt eben ſo nothwendig wirklich‚
als er es ſelbſt iſt ꝛc. — Freylich iſt das
Bild von mir im Spiegel nichts als eine
leere Vorſtellung von mir‚ weil es nur das
von mir hat‚ wovon Lichtſtrahlen auf
ſeine Flaͤche fallen. Aber wenn denn nun
dieſes Bild alles, alles ohne Ausnahme
haͤtte‚ was ich ſelbſt habe: wuͤrde es ſo¬
dann auch noch eine leere Vorſtellung‚ oder
nicht vielmehr eine wahre Verdopplung
meines Selbſt ſeyn? — Wenn ich eine
aͤhnliche Verdopplung in Gott zu erkennen
glaube: ſo irre ich mich vielleicht nicht ſo
E 3wohl‚[70] wohl, als daß die Sprache meinen Be¬
griffen unterliegt; und ſo viel bleibt doch
immer unwiderſprechlich, daß diejenigen,
welche die Idee davon populaͤr machen
wollen, ſich ſchwerlich faßlicher und ſchick¬
licher haͤtten ausdruͤcken koͤnnen, als durch
die Benennung eines Sohnes, den Gott
von Ewigkeit zeugt.

§. 74.

Und die Lehre von der Erbſuͤnde. —
Wie, wenn uns endlich alles uͤberfuͤhrte,
daß der Menſch auf der erſten und nie¬
drigſten
Stufe ſeiner Menſchheit, ſchlech¬
ter¬[71] terdings ſo Herr ſeiner Handlungen nicht
ſey, daß er moraliſchen Geſetzen folgen
koͤnne?

§. 75.

Und die Lehre von der Genugthuung des
Sohnes. — Wie, wenn uns endlich
alles noͤthigte, anzunehmen: daß Gott,
ungeachtet jener urſpruͤnglichen Unvermoͤ¬
genheit des Menſchen, ihm dennoch mo¬
raliſche Geſetze lieber geben, und ihm alle
Uebertretungen, in Ruͤckſicht auf ſeinen
Sohn, d. i. in Ruͤckſicht auf den ſelbſt¬
ſtaͤndigen Umfang aller ſeiner Vollkommen¬
hei¬E 4[72] heiten, gegen den und in dem jede Unvoll¬
kommenheit des Einzeln verſchwindet, lie¬
ber verzeihen wollen; als daß er ſie ihm
nicht geben, und ihn von aller morali¬
ſchen Gluͤckſeligkeit ausſchlieſſen wollen,
die ſich ohne moraliſche Geſetze nicht den¬
ken laͤßt?

§. 76.

Man wende nicht ein, daß dergleichen
Vernuͤnfteleyen uͤber die Geheimniſſe der
Religion unterſagt ſind. — Das Wort
Geheimniß bedeutete, in den erſten Zei¬
ten des Chriſtenthums, ganz etwas an¬
ders,[73] ders, als wir itzt darunter verſtehen;
und die Ausbildung geoffenbarter Wahr¬
heiten in Vernunftswahrheiten iſt ſchlecht¬
terdings nothwendig, wenn dem menſch¬
lichen Geſchlechte damit geholfen ſeyn ſoll.
Als ſie geoffenbart wurden, waren ſie
freylich noch keine Vernunftswahrheiten;
aber ſie wurden geoffenbaret, um es zu
werden. Sie waren gleichſam das Facit,
welches der Rechenmeiſter ſeinen Schuͤlern
voraus ſagt, damit ſie ſich im Rechnen
einigermaaſſen darnach richten koͤnnen.
Wollten ſich die Schuͤler an dem vor¬
aus geſagten Facit begnuͤgen: ſo wuͤr¬
denE 5[74] den ſie nie rechnen lernen, und die Ab¬
ſicht‚ in welcher der gute Meiſter ihnen
bey ihrer Arbeit einen Leitfaden gab,
ſchlecht erfuͤllen.

§. 77

Und warum ſollten wir nicht auch
durch eine Religion, mit deren hiſtori¬
ſchen Wahrheit, wenn man will‚ es
ſo mißlich ausſieht‚ gleichwohl auf
naͤhere und beſſere Begriffe vom goͤttli¬
chen Weſen‚ von unſrer Natur‚ von un¬
ſern Verhaͤltniſſen zu Gott‚ geleitet wer¬
den koͤnnen‚ auf welche die menſchliche
Ver¬[75] Vernunft von ſelbſt nimmermehr gekom¬
men waͤre?

§. 78.

Es iſt nicht wahr, daß Speculationen
uͤber dieſe Dinge jemals Unheil geſtiftet,
und der buͤrgerlichen Geſellſchaft nachtheilig
geworden. — Nicht den Speculationen:
dem Unſinne, der Tyranney, dieſen Spe¬
culationen zu ſteuern; Menſchen, die ihre
eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu goͤn¬
nen, iſt dieſer Vorwurf zu machen.


§. 79.[76]

§. 79.

Vielmehr ſind dergleichen Speculatio¬
nen — moͤgen ſie im Einzeln doch aus¬
fallen, wie ſie wollen — unſtreitig die
ſchicklichſten Uebungen des menſchlichen
Verſtandes uͤberhaupt, ſo lange das
menſchliche Herz uͤberhaupt, hoͤchſtens nur
vermoͤgend iſt, die Tugend wegen ihrer ewi¬
gen gluͤckſeligen Folgen zu lieben.

§. 80.

Denn bey dieſer Eigennuͤtzigkeit des
menſchlichen Herzens, auch den Verſtand
nur allein an dem uͤben wollen, was un¬
ſere[77] ſere koͤrperlichen Beduͤrfniſſe betrift, wuͤrde
ihn mehr ſtumpfen, als wetzen heiſſen.
Er will ſchlechterdings an geiſtigen Ge¬
genſtaͤnden geuͤbt ſeyn, wenn er zu ſeiner
voͤlligen Aufklaͤrung gelangen, und dieje¬
nige Reinigkeit des Herzens hervorbringen
ſoll, die uns, die Tugend um ihrer ſelbſt
willen zu lieben, faͤhig macht.

§. 81.

Oder ſoll das menſchliche Geſchlecht auf
dieſe hoͤchſte Stufen der Aufklaͤrung und
Reinigkeit nie kommen? Nie?


§. 82.[78]

§. 82.

Nie? — Laß mich dieſe Laͤſterung
nicht denken, Allguͤtiger! — Die Erzie¬
hung hat ihr Ziel; bey dem Geſchlechte
nicht weniger als bey dem Einzeln. Was
erzogen wird, wird zu Etwas erzogen.

§. 83.

Die ſchmeichelnden Ausſichten, die man
dem Juͤnglinge eroͤfnet; die Ehre, der
Wohlſtand, die man ihm vorſpiegelt: was
ſind ſie mehr, als Mittel, ihn zum Manne
zu erziehen, der auch dann, wenn dieſe
Ausſichten der Ehre und des Wohlſtandes
[79] wegfallen, ſeine Pflicht zu thun vermoͤ¬
gend ſey.

§. 84.

Darauf zwecke die menſchliche Erzie¬
hung ab: und die goͤttliche reiche [dahin]
nicht? Was der Kunſt mit dem Einzeln
gelingt, ſollte der Natur nicht auch mit
dem Ganzen gelingen? Laͤſterung! Laͤ¬
ſierung !

§. 85.

Nein; ſie wird kommen, ſie wird ge¬
wiß kommen, die Zeit der Vollendung, da
der[80] der Menſch, je uͤberzeugter ſein Verſtand
einer immer beſſern Zukunft ſich fuͤhlet,
von dieſer Zukunft gleichwohl Bewegungs¬
gruͤnde zu ſeinen Handlungen zu erborgen,
nicht noͤthig haben wird; da er das Gute
thun wird, weil es das Gute iſt, nicht
weil willkuͤhrliche Belohnungen darauf ge¬
ſetzt ſind, die ſeinen flatterhaften Blick
ehedem blos heften und ſtaͤrken ſollten, die
innern beſſern Belohnungen deſſelben zu er¬
kennen.

§. 86.

Sie wird gewiß kommen, die Zeit ei¬
nes neuen ewigen Evangeliums,
die[81] die uns ſelbſt in den Elementarbuͤchern des
Neuen Bundes verſprochen wird.

§. 87.

Vielleicht, daß ſelbſt gewiſſe Schwaͤr¬
mer des dreyzehnten und vierzehnten Jahr¬
hunderts einen Strahl dieſes neuen ewigen
Evangeliums aufgefangen hatten; und nur
darinn irrten, daß ſie den [Ausbruch] deſſel¬
ben ſo nahe verkuͤndigten.

§. 88.

Vielleicht war ihr dreyfaches Alter
der Welt
keine ſo leere Grille; und
Fge¬[82] gewiß hatten ſie keine ſchlimme Abſichten,
wenn ſie lehrten, daß der Neue Bund
eben ſo wohl antiquiret werden muͤſſe,
als es der Alte geworden. Es blieb
auch bey ihnen immer die nehmliche Oe¬
konomie des nehmlichen Gottes. Im¬
mer — ſie meine Sprache ſprechen zu
laſſen — der nehmliche Plan der all¬
gemeinen Erziehung des Menſchenge¬
ſchlechts.

§. 89.

Nur daß ſie ihn uͤbereilten; nur daß
ſie ihre Zeitgenoſſen, die noch kaum der
Kind¬[83] Kindheit entwachſen waren, ohne Auf¬
klaͤrung, ohne Vorbereitung, mit Eins
zu Maͤnnern machen zu koͤnnen glaub¬
ten, die ihres dritten Zeitalters wuͤr¬
dig waͤren.

§. 90.

Und eben das machte ſie zu Schwaͤr¬
mern. Der Schwaͤrmer thut oft ſehr
richtige Blicke in die Zukunft: aber er
kann dieſe Zukunft nur nicht erwarten.
Er wuͤnſcht dieſe Zukunft beſchleuniget;
und wuͤnſcht, daß ſie durch ihn beſchleu¬
niget werde. Wozu ſich die Natur Jahr¬
tau¬F 2[84] tauſende Zeit nimmt, ſoll in dem Augen¬
blicke ſeines Daſeyns reifen. Denn was
hat er davon, wenn das, was er fuͤr
das Beſſere erkennt, nicht noch bey ſei¬
nen Lebzeiten das Beſſere wird? Koͤmmt
er wieder? Glaubt er wieder zu kom¬
men? — Sonderbar, daß dieſe Schwaͤr¬
merey allein unter den Schwaͤrmern nicht
mehr Mode werden will!

§. 91.

Geh deinen unmerklichen Schritt, ewi¬
ge Vorſehung! Nur laß mich dieſer Un¬
merklichkeit wegen an dir nicht verzwei¬
feln.[85] feln. — Laß mich an dir nicht ver¬
zweifeln, wenn ſelbſt deine Schritte mir
ſcheinen ſollten, zuruͤck zu gehen! — Es
iſt nicht wahr, daß die kuͤrzeſte Linie im¬
mer die gerade iſt.

§. 92.

Du haſt auf deinem ewigen Wege ſo
viel mitzunehmen! ſo viel Seitenſchritte
zu thun! — Und wie? wenn es nun gar
ſo gut als ausgemacht waͤre, daß das
große langſame Rad, welches das Ge¬
ſchlecht ſeiner Vollkommenheit naͤher bringt,
nur durch kleinere ſchnellere Raͤder in Be¬
we¬F 3[86] wegung geſetzt wuͤrde, deren jedes ſein
Einzelnes eben dahin liefert?

§. 93.

Nicht anders! Eben die Bahn, auf
welcher das Geſchlecht zu ſeiner Vollkom¬
menheit gelangt, muß jeder einzelne
Menſch (der fruͤher, der ſpaͤter) erſt
durchlaufen haben. — „In einem und
„eben demſelben Leben durchlaufen haben?
„Kann er in eben demſelben Leben ein
„ſinnlicher Jude und ein geiſtiger Chriſt
„geweſen ſeyn? Kann er in eben demſel¬
„ben Leben beyde uͤberhohlet haben?“


§. 94.[87]

§. 94.

Das wohl nun nicht! — Aber warum
koͤnnte jeder einzelne Menſch auch nicht
mehr als einmal auf dieſer Welt vorhanden
geweſen ſeyn?

§. 95.

Iſt dieſe Hypotheſe darum ſo laͤcherlich,
weil ſie die aͤlteſte iſt? weil der menſchliche
Verſtand, ehe ihn die Sophiſterey der
Schule zerſtreut und geſchwaͤcht hatte,
ſogleich darauf verfiel?


F 4§. 96.[88]

§. 96.

Warum koͤnnte auch Ich nicht hier be¬
reits einmal alle die Schritte zu meiner
Vervollkommung gethan haben, welche
blos zeitliche Strafen und Belohnungen
den Menſchen bringen koͤnnen?

§. 97.

Und warum nicht ein andermal alle
die, welche zu thun, uns die Ausſich¬
ten in ewige Belohnungen, ſo maͤchtig
helfen?


§. 98.[89]

§. 98.

Warum ſollte ich nicht ſo oft wieder¬
kommen, als ich neue Kenntniſſe, neue
Fertigkeiten zu erlangen geſchickt bin?
Bringe ich auf Einmal ſo viel weg,
daß es der Muͤhe wieder zu kommen etwa
nicht lohnet?

§. 99.

Darum nicht? — Oder, weil ich es
vergeſſe, daß ich ſchon da geweſen?
Wohl mir, daß ich das vergeſſe. Die
Erinnerung meiner vorigen Zuſtaͤnde,
wuͤrde mir nur einen ſchlechten Gebrauch
des[90] des gegenwaͤrtigen zu machen erlauben.
Und was ich auf itzt vergeſſen muß, habe
ich denn das auf ewig vergeſſen?

§. 100.

Oder, weil ſo zu viel Zeit fuͤr mich
verloren gehen wuͤrde? — Verloren? —
Und was habe ich denn zu verſaͤumen?
Iſt nicht die ganze Ewigkeit mein?

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Erziehung des Menschengeschlechts. Die Erziehung des Menschengeschlechts. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp04.0