Verlag von Guſtav Heckenaſt.
1857.
1.
Die Erweiterung.
Ich ging an den Ort, wo ich meine Arbeiten
abgebrochen hatte. Die Leute, welche von meiner Ab¬
ſicht wieder zu kommen unterrichtet waren, hatten
mich ſchon lange erwartet. Der alte Kaspar, welcher
mein treueſter Begleiter auf meinen Gebirgswan¬
derungen war, und meiſtens in einem Lederſacke die
wenigen Lebensmittel trug, welche wir für einen Tag
brauchten, hatte ſchon mehrere Male in dem Ahorn¬
wirthshauſe um mich gefragt, und war gewöhnlich,
wie mir die Wirthin ſagte, ehe er eintrat, ein wenig
auf der Gaſſe ſtehen geblieben, und hatte auf die vie¬
len Fenſter, welche von der hölzernen Zimmerung des
Hauſes auf die Ahorne hinausſchauten, empor ge¬
blickt, um zu ſehen, ob nicht aus einem derſelben mein
Stifter, Nachſommer. II. 1[2] Haupt hervor rage. Jezt ſaß er wieder bei mir an
dem langen Fichtentiſche unter den grünen Bäumen,
und die andern, denen er Bothſchaft gethan hatte,
fanden ſich ein. Ich war ſehr erfreut, und es rührte
mein Herz, als ich ſah, daß dieſe Leute mit Vergnü¬
gen mein Wiederkommen anſahen, und ſich ſchon auf
die Fortſezung der Arbeit freuten.
Ich ging ſehr rüſtig daran, gleichſam als ob mich
mein Gewiſſen drängte, das, was ich durch die län¬
gere Abweſenheit verſäumt hatte, einzubringen. Ich
arbeitete fleißiger und thätiger als in allen früheren
Zeiten, wir durchforſchten die Bergwände längs ihrer
Einlagerungen in die Thalſohlen und in ihren ver¬
ſchiedenen Höhepunkten, die uns zugänglich waren,
oder die wir uns durch unſere Hämmer und Meißel
zugänglich machten. Wir gingen die Thäler entlang,
und ſpähten nach Spuren ihrer Zuſammenſezungen,
und wir begleiteten die Waſſer, die in den Tiefen
gingen, und unterſuchten die Gebilde, welche von
ihnen aus entlegenen Stellen hergetragen und immer
weiter und weiter geſchoben wurden. Der Haupt¬
ſammelplaz für uns blieb das Ahornhaus, und wenn
wir auch oft länger von demſelben abweſend waren,
und in anderen Gebirgswirthshäuſern oder bei Holz¬
[3] knechten oder auf einer Alpe oder gar im Freien über¬
nachteten, ſo kamen wir in Zwiſchenräumen doch im¬
mer wieder in das Ahornhaus zurück, wir wurden
dort als Eingebürgerte betrachtet, meine Leute fanden
ihre Schlafſtellen im Heu, ich hatte mein beſtändiges
wohleingerichtetes Zimmer, und hatte ein Gelaß, in
welches ich meine geſammelten Gegenſtände konnte
bringen laſſen.
Oft, wenn ich von dem Arbeiten ermüdet war,
oder wenn ich glaubte, in dem Einſammeln meiner
Gegenſtände genug gethan zu haben, ſaß ich auf der
Spize eines Felſens, und ſchaute ſehnſüchtig in die
Landſchaftsgebilde, welche mich umgaben, oder blickte
in einen der Seen nieder, wie ſie unſer Gebirge
mehrere hat, oder betrachtete die dunkle Tiefe einer
Schlucht, oder ſuchte mir in den Moränen eines Glet¬
ſchers einen Steinblock aus, und ſaß in der Einſam¬
keit, und ſchaute auf die blau oder grüne oder ſchil¬
lernde Farbe des Eiſes. Wenn ich wieder thalwärts
kam, und unter meinen Leuten war, die ſich zuſam¬
menfanden, war es mir, als ſei mir alles wieder kla¬
rer und natürlicher.
Von einem Jägersmanne, welcher aber mehr ein
Herumſtreicher war, als daß er an einem Plaze durch
1 *[4] lange Zeit als ein mit dem Bezirke und mit dem
Wildſtande vertrauter Jäger gedient hätte, ließ ich
mir eine Zither über die Gebirge herüber bringen. Er
kannte, eben weil er nirgends lange blieb, und an
allen Orten ſchon gedient hatte, das ganze Gebirge
genau, und wußte, wo die beſten und ſchönſten Zi¬
thern gemacht würden. Er konnte dies darum auch
am beſten beurtheilen, weil er der fertigſte und be¬
rühmteſte Zitherſpieler war, den es im Gebirge gab.
Er brachte mir eine ſehr ſchöne Zither, deren Grifbrett
von rabenſchwarzem Holze war, in welchem ſich aus
Perlenmutter und Elfenbein eingelegte Verzierungen
befanden, und auf welchem die Stege von reinem
glänzenden Silber gemacht waren. Die Bretter, ſagte
mein Bothe, könnten von keiner ſingreicheren Tanne
ſein; ſie iſt von dem Meiſter geſucht und in guten
Zeichen und Jahren eingebracht worden. Die Füßlein
der Zither waren elfenbeinerne Kugeln. Und in der
That, wenn der Jägersmann auf ihr ſpielte, ſo meinte
ich nie einen ſüßeren Ton auf einem menſchlichen Ge¬
räthe gehört zu haben. Selbſt was Mathilde und
Natalie in dem Roſenhauſe geſpielt hatten, war nicht
ſo geweſen; ich hatte weit und breit nichts gehört,
was an die Handhabung der Zither durch dieſen
[5] Jägersmann erinnerte. Ich ließ ihn gerne in mei¬
ner Gegenwart auf meiner Zither ſpielen, weil ihm
keine ſo klang wie dieſe, und weil er ſagte, ſie
müſſe eingeſpielt werden. Er wurde mein Lehrer im
Zitherſpiele, und ich nahm mir vor, da ich ſah, daß
er meine Zither allen anderen vorzog, ihm, wenn ich
Urſache hätte mit unſeren Lehrſtunden zufrieden zu
ſein, eine gleiche zu kaufen. Er hatte nehmlich erzählt,
daß der Meiſter mehrere aus dem gleichen Holze wie
die meinige und in gleicher Art gefertigt habe. Da
ſie nun ziemlich theuer geweſen war, ſo ſchloß ich,
daß der Meiſter die Gleichen nicht ſo ſchnell werde
verkaufen können, und daß noch eine werde übrig
ſein, wenn ich meinem Lehrer zu dem gewöhnlichen
Lohne, den ich ihm in Geld zugedacht habe, noch die¬
ſes Geſchenk würde hinzufügen wollen.
Ich begann in demſelben Sommer auch, mir eine
Sammlung von Marmoren anzulegen. Die Stücke,
die ich gelegentlich fand oder die ich mir erwarb, wur¬
den zu kleinen Körpern geſchliffen, gleichſam dicken
Tafeln, die auf ihren Flächen die Art des Marmors
zeigten. Wenn ich größere Stücke fand, ſo beſtimmte
ich ſie außer dem, daß ich die gleiche Art in Tafeln
in die Sammlung that, zu allerlei Gegenſtänden, zu
[6] kleinen Dingen des Gebrauches auf Schreibtiſchen
Schreinen Waſchtiſchen oder zu Theilen von Geräthen
oder zu Geräthen ſelbſt. Ich hoffte meinem Vater und
meiner Mutter eine große Freude zu machen, wenn
ich nach und nach als Nebengewinn meiner Arbeiten
eine Zierde in ihr Haus oder gar in den Garten
brächte; denn ich ſann auch darauf, aus einem Blocke,
wenn ich einen fände, der groß genug wäre, ein
Waſſerbecken machen zu laſſen.
Im Lauterthale fand ich einmal Roland, den Bru¬
der Euſtachs. Er hatte in einer alten Kirche gezeich¬
net, und war jezt damit beſchäftigt im Gaſthauſe des
Lauterthales dieſe Zeichnungen und einige andere,
welche er in der Nähe entworfen hatte, mehr in das
Reine zu bringen. Es befand ſich nehmlich nicht weit
von Lauterthal ein einſamer Hof oder eigentlich mehr
ein feſtes ſteinernes ſchloßartiges Haus, welches ein¬
mal einer Familie gehört hatte, die durch Handel mit
Gebirgserzeugniſſen und durch immer ausgedehnteren
Verkehr in viele Gegenden der Erde wohlhabend und
durch Entartung ihrer Nachkommen durch den Leicht¬
ſinn derſelben und durch Verſchwendung wieder arm
geworden war. Einer dieſes Geſchlechtes hatte das
große ſteinerne Haus gebaut. Es gehörte jezt einem
[7] fremden Herrn aus der Stadt, welcher es ſeiner Lage
und ſeiner Seltenheiten willen gekauft hatte, und es
zuweilen beſuchte. In dem Hauſe waren ſchöne Bau¬
werke ſchöne Steinarbeiten und ſchöne Arbeiten aus
Holz theils in Zimmerdecken Thüren und Fußböden
theils in Geräthen. Die Holzarbeit mußte einmal im
Gebirge viel blühender geweſen ſein als jezt. Von
dieſen Gegenſtänden durfte nichts aus dem Hauſe
gebracht werden, auch wurde von ihnen nichts ver¬
kauft. Roland hatte die Erlaubniß erhalten zu zeich¬
nen, was ihm als zeichnungswürdig erſcheinen würde.
Dieſes Zweckes halber hielt er ſich im Lauterthal¬
wirthshauſe auf. Ich beſuchte mit ihm öfter das
Haus, und wir geriethen in mannigfache Geſpräche,
namentlich wenn wir Abends, nachdem wir beide un¬
ſer Tagewerk gethan hatten, an dem Wirthstiſche in
der großen Stube zuſammen kamen. Ich fand in ihm
einen ſehr feurigen Mann von ſtarken Entſchlüſſen
und von heftigem Begehren, ſei es, daß ein Gegen¬
ſtand der Kunſt ſein Herz erfüllte, oder daß er ſonſt
etwas in den Bereich ſeines Weſens zu ziehen ſtrebte.
Er verließ dieſe Stätte früher als ich.
Ehe mich meine Geſchäfte aus der Gegend führ¬
ten, fand ich noch etwas, das mich meines Vaters
[8] willen ſehr freute. Kaspar hatte öfters meinen und
Rolands Geſprächen zugehört und mitunter ſogar in
die Zeichnungen geblickt. Einmal ſagte er mir, daß,
wenn ich an alten Dingen ſo ein Vergnügen hätte, er
mir etwas zeigen könne, das ſehr alt und ſehr merk¬
würdig wäre. Es gehöre einem Holzknechte, der ein
Haus einen Garten und ein kleines Feldweſen habe,
das von ſeinem Weibe und ſeinen heranwachſenden
Kindern beſorgt werde. Wir gingen einmal auf meine
Anregung in das Haus hinauf, das jenſeits eines
Waldarmes mitten in einer trockenen Wieſe nicht weit
von kleinen Feldern und hart an einem großen verein¬
zelten Steinblocke lag, wie ſie ſich losgeriſſen oft im
Innern von fruchtbaren Gründen befinden. Das alte
Werk, welches ich hier traf, war die Vertäfelung von
zwei Fenſterpfeilern ungefähr halbmanneshoch. Es
war offenbar der Reſt einer viel größeren Vertäfelung,
welche in der angegebenen Höhe auf dem Fußboden
längs der ganzen Wände eines Zimmers herum ge¬
laufen war. Hier beſtanden nur mehr die Verkleidun¬
gen von zwei Fenſterpfeilern; aber ſie waren vollkom¬
men ganz. Halberhabne Geſtalten von Engeln und
Knaben mit Laubwerk umgeben ſtanden auf einem
Sockel, und trugen zarte Simſe. Der Beſizer des
[9] Häuschens hatte die zwei Verkleidungen in ſeiner
Prunkſtube ſo aufgeſtellt, daß ſie mit der unverzierten
Höhlung gegen die Stube ſchauten. In dieſe Höh¬
lung hatte er geſchnizte und bemalte Heiligenbilder
aus neuerer Zeit geſtellt. Vermuthlich war das Werk
einmal in dem ſteinernen Hauſe geweſen, und war
dort weggekommen, da etwa Nachfolger Veränderun¬
gen machten, und Gegenſtände verſchleuderten. Der
Beſizer des Wieſenhauſes ſagte uns, daß ſein Gro߬
vater die Dinge in einer Verſteigerung der Hager¬
mühle gekauft habe, die wegen Verſchwendung des
Müllers war eingeleitet worden. Meine Nachfragen
um die Ergänzungen zu dieſen Verkleidungen waren
vergeblich, und durch Vermittlung Kaspars erkaufte
ich von dem Beſizer die übergebliebenen Reſte. Ich
ließ Kiſten machen, legte die gefugten Theile ausein¬
ander, packte ſie ſelber ein, und ſendete ſie unterdeſſen
in das Ahornhaus zu meinen anderen Dingen.
Ich blieb wirklich in jenem Herbſte ſehr lange im
Gebirge. Es lag nicht nur der Schnee ſchon auf den
Bergen, ſondern er deckte auch bereits das ganze Land,
und man fuhr ſchon in Schlitten ſtatt in Wägen, als
ich von dem Ahornhauſe Abſchied nahm. Ich hatte
alle meine Sachen gepackt, und hatte ſie voraus ge¬
[10] ſendet, weil ich im künftigen Jahre nicht mehr in die¬
ſem freundlichen Hauſe ſondern irgend wo anders
meinen Aufenthalt würde aufſchlagen müſſen. Ich
ſagte allen meinen Leuten Lebewohl, und ging auf
der glattgefrorenen Bahn neben dem rauſchenden
Fluſſe, der ſchon Stücke Ufereis anſezte, in die ebne¬
ren Länder hinaus. Mein Weg führte mich in ſeinem
Verlaufe auf Anhöhen dahin, von welchen ich im
Norden die Gegend des Roſenhauſes, und im Süden
die des Sternenhofes erblicken konnte. In dem wei¬
ßen Gewande, welches ſich über die Gefilde breitete,
und welches von den dunkeln Bändern der Wälder
geſchnitten war, konnte ich kaum die Hügelgeſtaltun¬
gen erkennen, innerhalb welcher das Haus meines
Freundes liegen mußte, noch weniger konnte ich die
Umgebungen des Sternenhofes unterſcheiden, da ich
nie im Winter in dieſer Gegend geweſen war. Das
aber wußte ich mit Gewißheit, in welcher Richtung
das Haus liegen müſſe, an dem im vergangenen
Sommer ſo viele Roſen geblüht haben, und in wel¬
cher das Schloß, hinter dem die alten Linden ſtanden,
und die Quelle floß, an der die weibliche Geſtalt
aus weißem Marmor Wache hielt. Die wohlthuen¬
den Fäden, die mich nach beiden Richtungen zogen,
[11] wurden von dem ſtärkeren Bande aufgehoben, das
mich zu den lieben theuren Meinigen führte.
Als ich das flache Land erreicht hatte, und an dem
Orte eingetroffen war, in welchem mich meine Kiſten
erwarten ſollten, übergab ich dieſelben, die ich unver¬
lezt vorfand, meinem Frächter zur Beförderung an
den Strom, und empfahl ſie ihm, beſonders die mit
den Alterthümern auf das Angelegentlichſte. Am an¬
deren Tage reiſte ich in einem Wagen nach. Am
Strome ließ ich die Kiſten ſorgfältig in ein Schiff
bringen, und fuhr am nächſten Morgen mit dem
nehmlichen Schiffe meiner Vaterſtadt zu.
Ich langte glücklich dort an, ließ meine Habſelig¬
keiten in unſer Haus ſchaffen, packte zuerſt die Kiſte
mit den Alterthümern aus, und war beruhigt, als die
Holzſchnizereien unverſehrt daraus hervor gingen.
Die Freude meines Vaters war außerordentlich, die
Mutter freute ſich des Vaters willen, und die Schwe¬
ſter, deren glänzende Augen bald auf mich bald auf
den Vater ſchauten, zeigte, daß ſie mit mir zufrieden
ſei. Dieſes ließ mir manches vergeſſen, das beinahe
wie eine Sorge in meinem Herzen war. Ich befand
mich wieder bei meinen Angehörigen, die mit allen
Kräften ihrer Seele an meinem Wohle Antheil nah¬
[12] men, und dies erfüllte mich mit Ruhe und einer ſüßen
Empfindung, die mir in der lezten Zeit beinahe fremd
geworden war.
Ich ſah am anderen Tage, als ich in das Speiſe¬
zimmer ging, den Vater, wie er vor den Verkleidun¬
gen ſtand, und ſie betrachtete. Bald neigte er ſich
näher zu ihnen, bald kniete er nieder, und befühlte
manches mit der Hand, oder unterſuchte es genauer
mit den Augen. Mir klopfte das Herz vor Freude,
und die weißen Haare, welche unter den dunkeln im¬
mer häufiger auf ſeinem Haupte zum Vorſchein ka¬
men, erſchienen mir doppelt ehrwürdig, und die leichte
Falte der Sorge auf ſeiner Stirne, die in der Arbeit
für uns auf dieſem Size ſeiner Gedanken entſtanden
war, während ich meiner Freude nachgehen und die
Welt und die Menſchen genießen konnte, und wäh¬
rend meine Schweſter wie eine prachtvolle Roſe er¬
blühen durfte, erfüllte mich beinahe mit einer Andacht.
Die Mutter kam dazu, er zeigte ihr manches, er er¬
klärte ihr die Stellungen der Geſtalten die Führung
und die Schwingung der Stengel und der Blätter
und die Eintheilung des Ganzen. Die Mutter ver¬
ſtand dieſe Dinge durch die langjährige Übung viel
beſſer als ich, und ich ſah jezt, daß ich dem Vater
[13] etwas weit Schöneres gebracht habe, als ich wußte.
Ich nahm mir vor, im nächſten Frühlinge viel ge¬
nauer nach den zu dieſen Verkleidungen noch gehören¬
den Theilen zu forſchen; ich hatte früher nur im All¬
gemeinen gefragt‚ jezt wollte ich aber auf das Sorg¬
fältigſte in der ganzen Gegend ſuchen. Nachdem wir
noch eine Weile über das Werk geredet hatten, führte
mich die Mutter durch alle meine Zimmer, und zeigte
mir, was man während meiner Abweſenheit gethan
habe, um mir den Winteraufenthalt recht angenehm
zu machen. Die Schweſter kam dazu, und da die
Mutter fortgegangen war, ſchlang ſie beide Arme um
meinen Hals, küßte mich, und ſagte, daß ich ſo gut
ſei, und daß ſie mich nach Vater und Mutter unter
allen Dingen, die auf der Welt ſein können, am mei¬
ſten und am außerordentlichſten liebe. Mir wären bei
dieſer Rede bald die Thränen in die Augen getreten.
Als ich ſpäter in meinem Zimmer allein auf und
ab ging, wollte mir mein Herz immer ſagen: „jezt iſt
alles gut, jezt iſt alles gut.“
Ich kaufte mir am andern Tage eine ſpaniſche
Sprachlehre, welche mir ein Freund, der ſich ſeit meh¬
reren Jahren mit dieſen Dingen abgegeben hatte, an¬
rieth. Ich begann neben meinen anderen Arbeiten
[14] vorerſt für mich in dieſem Buche zu lernen, mir vor¬
behaltend, ſpäter, wenn ich es für nöthig halten
ſollte, auch einen Lehrer im Spaniſchen zu nehmen.
Auch fuhr ich nicht nur fort, in den Schauſpielen
Shakespeares zu leſen, ſondern ich wendete die Zeit,
die mir von meinen Arbeiten übrig blieb, auch der
Leſung anderer dichteriſcher Werke zu. Ich ſuchte die
Schriften der alten Griechen und Römer wieder her¬
vor, von denen ich ſchon Bruchſtücke während meiner
Studienjahre als Pflichterfüllung hatte leſen müſſen.
Damals waren mir die Geſtaltungen dieſer Völker,
die ich mit ruhigen und kühlen Kräften hatte erfaſſen
können, ſehr angenehm geweſen, deßhalb nahm ich
jezt die Bücher dieſer Art wieder vor.
Meine Zither gereichte der Schweſter zur Freude.
Ich ſpielte ihr die Dinge vor, die ich bereits auf die¬
ſen Saiten hervorzubringen im Stande war, ich zeigte
ihr die Anfangsgründe, und als für uns beide in die¬
ſer Übung auch ein Meiſter aus der Stadt in das
Haus kam, lieh ich ihr die Zither, und verſprach ihr,
eine eben ſo ſchöne und gute oder eine noch ſchönere
und beſſere für ſie aus dem Gebirge zu ſchicken, wenn
ſie zu bekommen wäre. Ich erzählte ihr, daß der
Mann, der mir in dem Gebirge Unterricht im Zither¬
[15] ſpiele gebe, bei weitem ſchöner, wenn auch nicht ſo
gekünſtelt ſpiele als der Meiſter in der Stadt. Ich
ſagte, ich wolle in dem Gebirge ſehr fleißig lernen,
und ihr, wenn ich wieder komme, Unterricht in dem
ertheilen, was ich unterdeſſen in mein Eigenthum
verwandelt hätte.
Unter dieſen Beſchäftigungen und unter andern
Dingen, welche ſchon frühere Winter eingeleitet hat¬
ten, ging die kältere Jahreszeit dahin. Als die Früh¬
lingslüfte wehten und die Erde abzutrocknen begann,
trat ich meine Sommerwanderung wieder an. Ich
wählte doch abermals das Ahornhaus zu meinem
Aufenthalte, wenn ich auch wußte, daß ich oft weit
von ihm weggehen und lange von ihm würde entfernt
bleiben müſſen. Es war mir ſchon zur Gewohnheit
geworden, und es war mir lieb und angenehm in
ihm.
Das erſte, was ich vornahm, war, daß ich Both¬
ſchaft nach meinem Zitherſpieljägersmanne ausſandte.
Da er überall zu finden iſt, kam er ſehr bald, und
wir verabredeten, wie wir unſere Übungen im Zither¬
ſpiele fortſezen würden. Gleichzeitig begann ich die
Forſchungen nach jenen Theilen der Wandverkleidun¬
gen, welche zu den meinem Vater überbrachten Pfei¬
[16] lerverkleidungen als Ergänzung gehörten. Ich forſchte
in dem Hauſe nach, in welchem Roland im vergan¬
genen Sommer gezeichnet hatte, ich forſchte bei dem
Holzknechte, von welchem mir die Pfeilerverkleidun¬
gen waren verkauft worden, ich dehnte meine For¬
ſchungen in alle Theile der umliegenden Gegend aus,
gab beſonders Männern Aufträge, welche oft in die
abgelegenſten Winkel von Häuſern und anderen Ge¬
bäuden kommen, wie zum Beiſpiele Zimmerleuten
Maurern, daß ſie mir ſogleich Nachricht gäben, wenn
ſie etwas aus Holz geſchniztes entdeckten, ich reiſte
ſelber an manche Stellen, um nachzuſehen: allein es
fand ſich nichts mehr vor. Als beinahe nicht zu be¬
zweifeln ſtellte ſich heraus, daß die von mir gekauften
Verkleidungen einmal zu dem ſteinernen Hauſe der
ausgeſtorbenen Gebirgskaufherren gehört haben, in
welchem ſie die Unterwand eines ganzen Saales um¬
geben haben mochten. Bei einer einmal vorgenom¬
menen ſogenannten Verſchönerung ſpäterer verſchwen¬
deriſch gewordener Nachkommen hat man ſie wahr¬
ſcheinlich weg gethan, und ſie fremden Händen über¬
laſſen, die ſie in abwechſelnden Beſiz brachten. Die
Pfeilerverkleidungen, welche gleichſam Niſchen bilde¬
ten, in die man Heiligenbilder thun konnte, ſind
[17] übrig geblieben, die anderen geraden Theile ſind ver¬
kommen, oder ſogar muthwillig zerſchlagen oder ver¬
brannt worden.
Gleich in den erſten Tagen meines Aufenthaltes
ging ich auch mit meinem Jägersmanne von dem
Ahornhauſe über das Echergebirge in das Echerthal,
wo der Meiſter wohnte, von dem der Jäger die Zither
für mich gekauft hatte, und von dem ich auch eine für
meine Schweſter kaufen wollte. Dieſer Mann verfer¬
tigte Zithern für das ganze umliegende Gebirge und
zur Verſendung. Er hatte noch zwei mit der meinigen
[ganz] gleiche. Ich wählte eine davon, da in der Ar¬
beit und in dem Tone gar keine Verſchiedenheit wahr¬
genommen werden konnte. Der Meiſter ſagte, er
habe lange keine ſo guten Zithern gemacht, und werde
lange keine ſolchen mehr machen. Sie ſeien alle drei
von gleichem Holze, er habe es mit vieler Mühe ge¬
ſucht und mit vielen Schwierigkeiten gefunden. Er
werde vielleicht auch nie mehr ein ſolches finden.
Auch werde er kaum mehr ſo koſtbare Zithern machen,
da ſeine entfernten Abnehmer nur oberflächliche Waare
verlangten, und auch die Gebirgsleute, die wohl
die Güte verſtehen, doch nicht gerne theure Zithern
kauften.
Stifter, Nachſommer. II. 2[18]
Von dem Zitherſpiele, welches mein Jäger mit
mir übte, ſchrieb ich mir ſo viel auf, als ich konnte,
um es der Schweſter zum Einlernen und zum Spie¬
len zu bringen.
Gegen die Zeit der Roſenblüthe ging ich in den
Asperhof, und fand die zwei Zimmer ſchon für mich
hergerichtet, welche ich im vorigen Sommer bewohnt
hatte.
Am erſten Tage erzählte mir ſchon der Gärtner
Simon, der von ſeinem Gewächshauſe zu mir herüber
gekommen war, daß der Cereus peruvianus in dem
Asperhofe ſei. Der Herr habe ihn von dem Inghofe
gekauft, und da ich gewiß Urſache dieſer Erwerbung
ſei, ſo müſſe er mir ſeinen Dank dafür abſtatten. Ich
hatte allerdings mit meinem Gaſtfreunde über den
Cereus geredet, wie ich es dem Gärtner verſprochen
hatte; aber ich wußte nicht, wie viel Antheil ich an
dem Kaufe hätte, und ſagte daher, daß ich den Dank
nur mit Zurückhaltung annehmen könne. Ich mußte
dem Gärtner in das Cactushaus folgen, um den Ce¬
reus anzuſehen. Die Pflanze war in freien Grund
geſtellt, man hatte für ſie einen eigenen Aufbau gleich¬
ſam ein Thürmchen von doppeltem Glas auf dem
Cactushauſe errichtet, und hatte durch Stüzen oder
[19] durch Lenkung der Sonnenſtrahlen auf gewiſſe Stel¬
len des Gewächſes Anſtalten getroffen, daß der Ce¬
reus, der ſich an der Decke des Gewächshauſes im
Inghofe hatte krümmen müſſen, wieder gerade wach¬
ſen könne. Ich hätte nicht gedacht, daß dieſe Pflanze
ſo groß ſei, und daß ſie ſich ſo ſchön darſtellen würde.
Weil mein Vater an alterthümlichen Dingen eine
ſo große Freude hatte, weil ihn die Verkleidungen ſo
ſehr erfreut hatten, welche ich ihm im vergangenen
Herbſte gebracht hatte, ſo that ich an meinen Gaſt¬
freund, da ich eine Weile in ſeinem Hauſe geweſen
war, eine Bitte. Ich hatte die Bitte ſchon länger auf
dem Herzen gehabt, that ſie aber erſt jezt, da man
gar ſo gut und freundlich mit mir in dem Roſenhauſe
war. Ich erſuchte nehmlich meinen Gaſtfreund, daß
er erlaube, daß ich einige ſeiner alten Geräthe zeich¬
nen und malen dürfe, um meinem Vater die Abbilder
zu bringen, die ihm eine deutlichere Vorſtellung geben
würden, als es meine Beſchreibungen zu thun im
Stande wären.
Er gab die Einwilligung ſehr gerne, und ſagte:
„Wenn ihr eurem Vater ein Vergnügen bereiten wol¬
let, ſo zeichnet und malet, wie ihr wollt, ich habe
nicht nur nichts dagegen, ſondern werde auch Sorge
2 *[20] tragen, daß in den Zimmern, die ihr benüzen wollt,
gleich alles zu eurer Bequemlichkeit hergerichtet werde.
Sollte euch Euſtach an die Hand gehen können, ſo
wird er es gewiß ſehr gerne thun.“
Am folgenden Tage war in dem Zimmer, in wel¬
chem ſich der große Kleiderſchrein befand, mit dem
ich anfangen wollte, eine Staffelei aufgeſtellt und
neben ihr ein Zeichnungstiſch, ob ich mich des einen
oder des andern bedienen wollte. Der Schrein war
von ſeiner Stelle weg in ein beſſeres Licht gerückt,
und alle Fenſter bis auf eines waren mit ihren Vor¬
hängen bedeckt, damit eine einheitliche Beleuchtung
auf den Gegenſtand geleitet würde, der gezeichnet
werden ſollte. Euſtach hatte alle ſeine Farbſtoffe zu
meiner Verfügung geſtellt, wenn etwa die von mir
mitgebrachten irgendwo eine Lücke haben ſollten. Das
zeigte ſich ſogleich klar, daß die Zeichnungen jeden¬
falls mit Farben gemacht werden müßten, weil ſonſt
gar keine Vorſtellung von den Gegenſtänden hätte er¬
zeugt werden können, die aus verſchiedenfarbigem
Holze zuſammengeſtellt waren.
Ich ging ſogleich an die Arbeit. Mein Gaſt¬
freund hatte auch für meine Ruhe geſorgt. So oft
ich zeichnete, durfte niemand in das Zimmer kommen,
[21] in dem ich war, und ſo lange ſich überhaupt meine
Geräthſchaften in demſelben befanden, durfte es zu
keinem andern Gebrauche verwendet werden. Um
deſto mehr glaubte ich meine Arbeit beſchleunigen zu
müſſen.
Es waren indeſſen Mathilde und Natalie in dem
Aſperhofe angekommen, und ſie lebten dort, wie ſie
im vorigen Jahre gelebt hatten.
Ich zeichnete fleißig fort. Niemand ſtellte das
Verlangen, meine Arbeit zu ſehen, Euſtach hatte ich
gebeten, daß ich ihn zuweilen um Rath fragen dürfe,
was er bereitwillig zugeſtanden hatte. Ich führte ihn
daher zu Zeiten in das Zimmer; und er gab mir mit
vieler Sachkenntniß an, was hie und da zu verbeſſern
wäre. Nur Guſtav ließ Neugierde nach der Zeich¬
nung blicken; nicht daß ihm geradezu eine Äußerung
in dieſer Hinſicht entfallen wäre; aber da er ſich ſo
an mich angeſchloſſen hatte, und da ſein Weſen ſehr
offen und klar war, ſo erſchien es nicht ſchwer, den
Wunſch, den er hegte, zu erkennen. Ich lud ihn da¬
her ein, mich in dem Zimmer zu beſuchen, wenn ich
zeichnete, und ich richtete es ſo ein, daß meine Zeich¬
nungszeit in ſeine freien Stunden fiel. Er kam fleißig,
ſah mir zu, fragte um allerlei, und gerieth endlich
[22] darauf, auch ein ſolches Gemälde verſuchen zu wol¬
len. Da mein Gaſtfreund nichts dawider hatte, ſo
überließ ich ihm meine Farben zur Benüzung, und er
begann auf einem Tiſche neben mir ſein Geſchäft, in¬
dem er den nehmlichen Schrein abbildete wie ich. Im
Zeichnen war er ſehr unterrichtet, Euſtach war ſein
Lehrmeiſter; dieſer hatte aber bisher noch immer nicht
zugegeben, daß ſein Zögling den Gebrauch der Far¬
ben anfange, weil er von dem Grundſaze ausging,
daß zuvor eine ſehr ſichere und behende Zeichnung vor¬
handen ſein müſſe. Die Spielerei aber mit dem
Schreine — denn es war nichts weiter als eine Spie¬
lerei — ließ er als eine Ausnahme geſchehen.
Ich wurde in Kurzem mit der erſten Arbeit fertig.
Das Bild ſah in den genau und gewiſſenhaft nachge¬
ahmten Farben faſt noch lieblicher und reizender aus
als der Gegenſtand ſelber, da alles ins Kleinere und
Feinere zuſammengerückt war.
Da ich die Zeichnung vollendet hatte, legte ich ſie
meinem Gaſtfreunde und Mathilde vor. Sie billig¬
ten dieſelbe, und ſchlugen einige kleine Änderungen
vor. Da ich die Nothwendigkeit derſelben einſah,
nahm ich ſie ſogleich vor. Hierauf wurde von ihnen
ſo wie von Euſtach die Abbildung für fertig erklärt.
[23]
Nach dem Kleiderſchreine nahm ich den Schreib¬
tiſch mit den Delphinen vor.
Weil ich durch die erſte Zeichnung ſchon einige
Fertigkeit erlangt hatte, ſo ging es bei der zweiten
ſchneller, und alles gerieth mit mehr Leichtigkeit und
Schwung. Ich war fertig geworden, und legte auch
dieſe Abbildung Mathilden meinem Gaſtfreunde und
Euſtach vor. Guſtav hatte in der Zeit auch ſeine
Zeichnung des großen Schreines vollendet, und
brachte ſie herbei. Er wurde ein wenig ausgelacht,
und andererſeits wurden ihm auch Dinge angegeben,
die er noch zu verändern, und hinein zu machen hätte.
Auch bei mir wurden Verbeſſerungen vorgeſchlagen.
Als wir beide mit unſern Ausfeilungen fertig waren,
wurden in dem Zimmer, in welchem wir gezeichnet
hatten, die Geräthe wieder an ihren Plaz gerückt,
und die Staffelei und unſere Malergeräthſchaften wur¬
den daraus entfernt. Ich hatte mir in dieſem Zim¬
mer nur die zwei Gegenſtände abzubilden vorge¬
nommen.
Hierauf verſuchte ich noch einige kleinere Gegen¬
ſtände.
Unterdeſſen waren manche Leute zum Beſuche in
das Roſenhaus gekommen, wir ſelber hatten auch
[24] einige Nachbarn aufgeſucht, hatten Spaziergänge ge¬
macht, und an mehreren Abenden ſaßen wir im Gar¬
ten oder vor den Roſen oder unter dem großen Kirſch¬
baume und es wurde von verſchiedenen Dingen ge¬
ſprochen.
Euſtach ſagte mir einmal, da ich von den Ge¬
räthen in dem Sternenhofe redete, und die Äußerung
machte, daß meinen Vater Abbildungen von ihnen
ſehr freuen würden, es könne keinen Schwierigkeiten
unterliegen, daß ich in dem Sternenhofe ebenſo zeichnen
dürfe wie in dem Asperhauſe. Ich ging auf die Sache
nicht ein, da ich nicht den Muth hatte, mit Mathilde
darüber zu ſprechen. Am andern Tage zeigte mir
Euſtach die Einwilligung an, und Mathilde lud mich
auf das Freundlichſte ein, und ſagte, daß mir in ihrem
Hauſe jede Bequemlichkeit zu Gebote ſtehen würde.
Ich dankte ſehr freundlich für die Güte, und nach meh¬
reren Tagen fuhr ich mit den Pferden meines Gaſt¬
freundes in den Sternenhof, während Mathilde und
Natalie noch in dem Roſenhauſe blieben.
Im Sternenhofe fand ich zu meiner Überraſchung
ſchon alles zu meinem Empfange vorbereitet. Da
Bilder in dem Schloſſe waren, hatte man auch meh¬
rere Staffeleien, welche man mir zur Auswahl in das
[25] große Zimmer geſtellt hatte, in welchem die alter¬
thümlichen Geräthe ſtanden. Auch ein Zeichnungs¬
tiſch mit allem Erforderlichen war in das Zimmer ge¬
ſchafft worden. Ich wählte unter den Staffeleien eine,
und ließ die übrigen wieder an ihre gewöhnlichen Orte
bringen. Den Zeichnungstiſch behielt ich zur Bequem¬
lichkeit neben der Staffelei bei mir. Es war nun zum
Malen beinahe alles ſo eingerichtet wie im Asper¬
hofe. Auch durfte ich mir die Geräthe, die ich zu
zeichnen vorhatte, in das Licht rücken laſſen, wie ich
wollte. Zum Wohnen und Schlafen hatte man mir
das nehmliche Zimmer hergerichtet, in welchem ich bei
meinem erſten Beſuche geweſen war. Zum Speiſen
wurde mir der Saal, in dem ich arbeitete, oder mein
Wohnzimmer frei geſtellt. Ich wählte das Lezte.
Ich betrachtete mir vorerſt die Geräthe, und
wählte diejenigen aus, die ich abbilden wollte. Hier¬
auf ging ich an die Arbeit. Ich malte ſehr fleißig,
um die Unordnung, welche meine Arbeiten nothwen¬
dig in dem Hauſe machen mußten, ſo kurz als mög¬
lich dauern zu laſſen. Ich blieb daher den ganzen Tag
in dem Saale, nur des Abends, wenn es dämmerte,
oder Morgens, ehe die Sonne aufging, begab ich
mich in das Freie oder in den Garten, um einen Gang
[26] in der erquickenden Luft zu machen, oder gelegentlich
auch ſtille ſtehend oder auf einer Ruhebank ſizend die
weite Gegend um mich herum zu betrachten. Oft,
wenn ich die Pinſel gereinigt und all das unter Tags
gebrauchte Malergeräthe geordnet und an ſeinen Plaz
gelegt hatte, ſaß ich unter den alten hohen Linden im
Garten, und dachte nach, bis das ſpäte Abenroth
durch die Blätter derſelben herein fiel, und die Schat¬
ten auf dem Sandboden ſo tief geworden waren, daß
man die kleinen Gegenſtände, die auf dieſem Boden
lagen, nicht mehr ſehen konnte. Noch öfter aber war
ich auf dem Plaze hinter der Epheuwand, von wel¬
chem aus das Schloß in die großen Eichen einge¬
rahmt zu erblicken war, und neben und hinter dem
Schloſſe ſich die Gegend und die Berge zeigten. Es
war die Stille des Landes, wenn der heitere Spät¬
himmel ſich über das Schloß hinzog, wenn die Spizen
von deſſen Dachfähnchen glänzten, ſich in Ruhe das
Grün herum lagerte, und das Blau der Berge immer
ſanfter wurde. Zuweilen in beſonders heißen Tagen
ging ich auch in die Grotte, in welcher die Marmor¬
nimphe war, freute mich der Kühle, die da herrſchte,
ſah das gleiche Rinnen des Waſſers und ſah den glei¬
chen Marmor, auf dem nur zuweilen ein Lichtchen
[27] zuckte, wenn ſich ein ſpäter Strahl in dem Waſſer fing,
und auf die Geſtalt geworfen wurde.
In dem Schloſſe war es ſehr einſam, die Diener
waren in ihren abgelegenen Zimmern, ganze Reihen
von Fenſtern waren durch herabgelaſſene Vorhänge
bedeckt, und zu dem Hofbrunnen ging ſelten eine Ge¬
ſtalt, um Waſſer zu holen, daher er zwiſchen den großen
Ahornen eintönig fortrauſchte. Dieſe Stille machte,
daß ich deſto mehr der Bewohnerinnen dachte, die
jezt abweſend waren, daß ich meinte, ihre Spuren
entdecken zu können, und daß ich dachte, ihren Geſtal¬
ten irgendwo begegnen zu müſſen. Beſſer war es,
wenn ich in die Landſchaft hinausging. Dort lebten
die Klänge der Arbeit, dort ſah ich heitere Menſchen,
die ſich beſchäftigten und regſame Thiere, die ihnen
halfen.
Es war eine Art von Verwalter in dem Schloſſe,
der den Auftrag haben mußte, für mich zu ſorgen,
wenigſtens that er alles, was er zu meiner Bequem¬
lichkeit für nöthig erachtete. Er fragte oft nach mei¬
nen Wünſchen, ließ mehr Speiſen und Getränke auf
meinen Tiſch ſtellen, als nöthig war, ſorgte ſtets für
friſches Waſſer, Kerzen und andere Dinge, ließ eine
Menge Bücher, die er aus der Bücherſammlung des
[28] Schloſſes genommen haben mochte, in mein Zimmer
bringen, und meinte zuweilen, daß es die Höflichkeit
erfordere, daß er mehrere Minuten mit mir ſpreche.
Ich machte ſo wenig als möglich Gebrauch von allen
für mich in dieſem Schloſſe eingeleiteten Anſtalten,
und ging nicht einmal in die Meierei, in welcher es
ſehr lebhaft war, um durch meine Gegenwart oder
durch mein Zuſchauen nicht jemanden in ſeiner Arbeit
zu beirren.
Als ich mit den ausgewählten Gegenſtänden fer¬
tig war, hörte ich nicht auf; denn aus ihnen ent¬
wickelten ſich wieder andere Arbeiten, was ſeinen
Grund darin hatte, daß ein Gegenſtand den andern
verlangte, was wieder daher rührte, daß die Geräthe
dieſes Zimmers und der Nebengemächer ein Ganzes bil¬
deten, welches man nicht zerſtückt denken konnte. Was
mir aber zu ſtatten kam, war die große Übung, die
ich nach und nach erlangte, ſo daß ich endlich in einem
Tage mehr vor mich brachte, als ſonſt in dreien.
Euſtach kam einmal herüber, mich zu beſuchen.
Ich ſah darin ein Zeichen, daß man mir Gelegenheit
geben wollte, mich ſeines Rathes zu bedienen. Ich
that dieſes auch, freute mich der Worte, die er ſprach,
und folgte den Anſichten, die er entwickelte. Er er¬
[29] zählte mir auch, daß Mathilde und Natalie noch lange
in dem Asperhofe zu bleiben gedächten. Da, wie ich
wußte, ihr Beſuch in dem vorigen Sommer im Ro¬
ſenhauſe viel kürzer geweſen war, ſo verfiel ich auf den
Gedanken, ob ſie nicht etwa gerade darum heuer län¬
ger in demſelben verweilten, um mir Muße zu mei¬
nen Arbeiten in dem Sternenhofe zu geben. Ob es
nun ſo ſei oder nicht, wußte ich nicht, es konnte aber
ſo ſein, und darum beſchloß ich, mein Malen abzu¬
kürzen. Endlich mußte ich doch einmal ſchließen, da
ich doch nicht alle Gegenſtände abbilden konnte. Ich
ſagte Euſtach die Zeit, in der ich fertig ſein würde.
Er blieb zwei Tage in dem Schloſſe, vermaß man¬
ches, unterſuchte einiges in manchen Zimmern, und
kehrte dann wieder in das Roſenhaus zurück.
Ehe ich ganz fertig war, kamen alle vom Asper¬
hofe herüber, und blieben einige Tage. Auch Euſtach
kam wieder mit. Ich legte vor, was ich gemacht hatte,
und es geſchah das Nehmliche, was in dem Roſen¬
hauſe geſchehen war. Man billigte im Allgemeinen
die Arbeit, und ſtellte hie und da etwas aus, was zu
verbeſſern wäre. Ich hatte ſchon zu der Abbildung
der Geräthe im Asperhofe Öhlfarben angewendet, weil
ich in Behandlung derſelben nach und nach eine größere
[30] Fertigkeit erlangt hatte als in der der Waſſerfarben,
und weil die Wirkung eine viel größere war. Die
Geräthe des Sternenhofes hatte ich nun auch mit Öhl¬
farben abgebildet, und dieſe Abbildungen waren viel
gelungener als die im Roſenhauſe. Ich erkannte die
Vorſchläge, welche mir gemacht worden waren, an,
und bemerkte mir ſie zur Ausführung.
Euſtach ging von dem Sternenhofe wieder in das
Roſenhaus zurück; mein Gaſtfreund Mathilde Na¬
talie und Guſtav machten eine kleine Reiſe.
Auch mein Bleiben war nicht mehr lange in dem
Schloſſe. Ich machte noch fertig, was fertig zu ma¬
chen war, ich verbeſſerte, was zu verbeſſern vorge¬
ſchlagen worden war, und was mir ſelber noch in der
Zeit als verbeſſrungswürdig einfiel, und wartete dann
ab, bis alles gut getrocknet wäre, um es einpacken und
für den Vater in Bereitſchaft halten zu können. Da
dies geſchehen war, dankte ich dem Verwalter ſehr
verbindlich für alle ſeine Aufmerkſamkeit, gab den
Mädchen, die für mich zu thun gehabt hatten, Ge¬
ſchenke, welche ich mir zu dieſem Zwecke ſchon früher
angeſchafft hatte, und beſtieg den Wagen, den mir
der Verwalter zu meiner Zurückfahrt in das Roſen¬
haus zur Verfügung geſtellt hatte.
[31]
Als ich in dem Roſenhauſe ankam, traf ich mei¬
nen Gaſtfreund und ſeine Geſellſchaft von der Reiſe
ſchon zurückgekehrt an. Ich blieb noch mehrere Tage
bei ihnen, nahm dann Abſchied, und begab mich in
das Ahornhaus zu meinen Arbeiten zurück.
Ich ſuchte dieſe Arbeiten raſch zu betreiben; aber
alles war jezt anders, und nahm eine andere Färbung
in meinem Herzen an.
Als ich in dem Frühling die Hauptſtadt verlaſſen
hatte, und dem langſam über einen Berg empor fah¬
renden Wagen folgte, war ich einmal bei einem Hau¬
fen von Geſchiebe ſtehen geblieben, das man aus
einem Flußbette genommen, und an der Straße auf¬
geſchüttet hatte, und hatte das Ding gleichſam mit
Ehrfurcht betrachtet. Ich erkannte in den rothen
weißen grauen ſchwarzgelben und geſprenkelten Stei¬
nen, welche lauter plattgerundete Geſtalten hatten,
die Bothen von unſerem Gebirge, ich erkannte jeden
aus ſeiner Felſenſtadt, von der er ſich losgetrennt
hatte, und von der er ausgeſendet worden war. Hier
lag er unter Kameraden, deren Geburtsſtätte oft viele
Meilen von der ſeinigen entfernt iſt, alle waren ſie an
Geſtalt gleich geworden, und alle harrten, daß ſie
zerſchlagen und zu der Straße verwendet würden.
[32]
Beſonders kamen mir die Gedanken, wozu dann
alles da ſei, wie es entſtanden ſei, wie es zuſammen¬
hänge, und wie es zu unſerem Herzen ſpreche.
Einmal gelangte ich zu dem See hinunter, und
betrachtete an dem ſonnigen Nachmittage die That¬
ſache, daß die Schönheit der abſteigenden Berge mei¬
ſtens gegen einen Seeſpiegel am größten iſt. Kömmt
das aus Zufall, haben die abſtürzenden dem See zu¬
eilenden Wäſſer die Berge ſo ſchön gefurcht gehöhlt
geſchnitten geklüftet, oder entſpringt unſere Empfin¬
dung von dem Gegenſaze des Waſſers und der Berge,
wie nehmlich das erſte eine weiche glatte feine Fläche
bildet, die durch die rauhen abſteigenden Riffe Rinnen
und Streifen geſchnitten wird, während unterhalb
nichts zu ſehen iſt, und ſo das Räthſel vermehrt wird?
Ich dachte bei dieſer Gelegenheit: wenn das Waſſer
durchſichtiger wäre, zwar nicht ſo durchſichtig wie die
Luft, doch beinahe ſo; dann müßte man das ganze
innere Becken ſehen, nicht ſo klar wie in der Luft ſon¬
dern in einem grünlichen feuchten Schleier. Das
müßte ſehr ſchön ſein. Ich blieb in Folge dieſes Ge¬
dankens länger an dem See, miethete mich in einem
Gaſthofe ein, und machte mehrere Meſſungen der
Tiefe des Waſſers an verſchiedenen Stellen, deren
[33] Entfernung vom Ufer ich mittelſt einer Meßſchnur be¬
zeichnete. Ich dachte, auf dieſe Weiſe könnte man
annähernd die Geſtalt des Seebeckens ergründen,
könnte es zeichnen, und könnte das innere Becken von
dem äußeren durch eine ſanftere grünlichere Farbe un¬
terſcheiden. Ich beſchloß, bei einer ferneren Gelegen¬
heit die Meſſungen fortzuſezen.
Dieſe Beſtrebungen brachten mich auf die Be¬
trachtung der Seltſamkeiten unſerer Erdgeſtaltungen.
In dem Seegrunde ſah ich ein Thal, in deſſen Sohle,
die ſich bei andern Thälern mit dem vieltauſendfachen
Pflanzenreichthume und den niedergeſtürzten Gebirgs¬
theilen füllt, und ſo einen ſchönen Wechſel von Pflan¬
zen und Geſtein darſtellt, kein Pflanzengrund ſich ent¬
wickelt, ſondern das Gerölle ſich ſachte mehrt, der
Boden ſich hebt, und die urſprünglichen Klüftungen
ausfüllt. Dazu kommen die Stücke, die unmittelbar
von den Wänden in den See ſtürzen, dazu kommen
die Hügel, die außer der gewöhnlichen Ordnung von
bedeutenden Hochwaſſern in den See geſchoben, und
von dem nachträglichen Wellenſchlage wieder abge¬
flacht werden. In Jahrtauſenden und Jahrtauſenden
füllt ſich das Becken immer mehr, bis einmal, mögen
hundert oder noch mehr Jahrtauſende vergangen ſein,
Stifter, Nachſommer. II. 3[34] kein See mehr iſt, auf der ungeheuren Dicke der Ge¬
röllſchichten der menſchliche Fuß wandelt, Pflanzen
grünen, und ſelbſt Bäume ſtehen. So kannte ich
manche Stellen, die einſt Seegrund geweſen waren.
Der Fluß, der Vater des Sees, hatte ſich in ſeinem
Weiterlaufe tiefer gewühlt, er hatte den Seeſpiegel
niederer gelegt, der Seegrund hatte ſich gehoben, bis
nichts mehr war als ein Thal, an dem jezt die Ufer
als grüne Wälle in langen Strecken ſtehen, mit
kräftigen Kräutern blühenden Büſchen und mancher
lachenden Wohnung von Menſchen prangen, wäh¬
rend das, was einmal ein mächtiges Waſſer gebildet
hatte, jezt als ein ſchmales Bändlein in glänzenden
Schlangenlinien durch die Landſchaft geht.
Ich betrachtete vom See aus die Schichtungen der
Felſen. Was bei Kriſtallen der Blätterdurchgang iſt,
das zeigt ſich hier in großen Zügen. An manchen
Stellen iſt die Neigung dieſe, an manchen iſt ſie eine
andere. Sind dieſe ungeheuern Blätter einſt geſtürzt
worden, ſind ſie erhoben worden, werden ſie noch im¬
mer erhoben? Ich zeichnete manche Lagerungen in
ihren ſchönen Verhältniſſen und in ihren Neigungen
gegen die wagrechte Fläche. Wenn ich ſo die Blätter
durchging, und die Geſtaltungen anſah war es mir
[35] wie eine unbekannte Geſchichte, die ich nicht enträth¬
ſeln konnte, und zu der es doch Anhaltspunkte geben
mußte, um die Ahnungen in Nahrung zu ſezen.
Wenn ich die Stücke unbelebter Körper, die ich
für meine Schreine ſammelte, anſah, ſo fiel mir auf,
daß hier dieſe Körper liegen, dort andere, daß unge¬
heure Mengen deſſelben Stoffes zu großen Gebirgen
aufgethürmt ſind, und daß wieder in kleinen Abſtän¬
den kleine Lagerungen mit einander wechſeln. Woher
ſind ſie gekommen, wie haben ſie ſich gehäuft? Liegen
ſie nach einem Geſeze, und wie iſt dieſes geworden?
Oft ſind Theile eines größern Körpers in Menge oder
einzeln an Stellen, wo der Körper ſelber nicht iſt, wo
ſie nicht ſein ſollen, wo ſie Fremdlinge ſind. Wie ſind
ſie an den Plaz gekommen? Wie iſt überhaupt an
einer Stelle gerade dieſer Stoff entſtanden und nicht
ein anderer? Woher iſt die Berggeſtalt im Großen ge¬
kommen? Iſt ſie noch in ihrer Reinheit da, oder hat
ſie Veränderungen erlitten, und erleidet ſie dieſelben
noch immer? Wie iſt die Geſtalt der Erde ſelber ge¬
worden, wie hat ſich ihr Antliz gefurcht, ſind die
Lücken groß, ſind ſie klein?
Wenn ich auf meinen Marmor kam — wie be¬
wunderungswürdig iſt der Marmor! Wo ſind denn
3 *[36] die Thiere hin, deren Spuren wir ahnungsvoll in
dieſen Gebilden ſehen? Seit welcher Zeit ſind die
Rieſenſchnecken verſchwunden, deren Andenken uns hier
überliefert wird? Ein Andenken, das in ferne Zeiten
zurück geht, die niemand gemeſſen hat, die vielleicht
niemand geſehen hat, und die länger gedauert haben,
als der Ruhm irgend eines Sterblichen.
Eine Thatſache fiel mir auf. Ich fand todte Wäl¬
der, gleichſam Gebeinhäuſer von Wäldern, nur daß
die Gebeine hier nicht in eine Halle geſammelt wa¬
ren, ſondern noch aufrecht auf ihrem Boden ſtanden.
Weiße abgeſchälte todte Bäume in großer Zahl, ſo
daß vermuthet werden mußte, daß an dieſer Stelle ein
Wald geſtanden ſei. Die Bäume waren Fichten oder
Lärchen oder Tannen. Jezt konnte an der Stelle ein
Baum gar nicht mehr wachſen, es ſind nur Kriechhölzer
um die abgeſtorbenen Stämme, und auch dieſe ſelten.
Meiſtens bedeckt Gerölle den Boden oder größere mit
gelbem Mooſe überdeckte Steine. Iſt dieſe Thatſache
eine vereinzelte nur durch vereinzelte Ortsurſachen her¬
vorgebracht? Hängt ſie mit der großen Weltbildung
zuſammen? Sind die Berge geſtiegen, und haben ſie
ihren Wälderſchmuck in höhere todbringende Lüfte ge¬
hoben? Oder hat ſich der Boden geändert, oder wa¬
[37] ren die Gletſcherverhältniſſe andere? Das Eis aber
reichte einſt tiefer: wie iſt das alles geworden?
Wird ſich vieles, wird ſich alles noch einmal ganz
ändern? In welch ſchneller Folge geht es? Wenn
durch das Wirken des Himmels und ſeiner Gewäſſer
das Gebirge beſtändig zerbröckelt wird, wenn die Trüm¬
mer herabfallen, wenn ſie weiter zerklüftet werden,
und der Strom ſie endlich als Sand und Geſchiebe
in die Niederungen hinausführt, wie weit wird das
kommen? Hat es ſchon lange gedauert? Unerme߬
liche Schichten von Geſchieben in ebenen Ländern be¬
jahen es. Wird es noch lange dauern? So lange
Luft Licht Wärme und Waſſer dieſelben bleiben, ſo
lange es Höhen gibt, ſo lange wird es dauern. Wer¬
den die Gebirge alſo einſtens verſchwunden ſein? Wer¬
den nur flache unbedeutende Höhen und Hügel die
Ebenen unterbrechen, und werden ſelbſt dieſe ausein¬
ander gewaſchen werden? Wird dann die Wärme in
den feuchten Niederungen oder in tiefen heißen Schluch¬
ten verſchwinden, ſo wie die kalte Luft in Höhen auf
die Erde ohne Einfluß ſein wird, ſo daß alle Glieder
in unſern Ländern von demſelben lauen Stoffe umfloſſen
ſind, und ſich die Verhältniſſe aller Gewächſe ändern?
Oder dauert die Thätigkeit, durch welche die Berge
[38] gehoben wurden, noch heute fort, daß ſie durch innere
Kraft an Höhe erſezen oder übertreffen, was ſie von
Außen her verlieren? Hört die Hebungskraft einmal
auf? Iſt nach Jahrmillionen die Erde weiter abge¬
kühlt, iſt ihre Rinde dicker, ſo daß der heiße Fluß in
ihrem Innern ſeine Kriſtalle nicht mehr durch ſie em¬
por zu treiben vermag? Oder legt er langſam und
unmerklich ſtets die Ränder dieſer Rinde auseinander,
wenn er durch ſie ſeine Geſchiebe hinan hebt? Wenn
die Erde Wärme ausſtrahlt, und immer mehr erkal¬
tet, wird ſie nicht kleiner? Sind dann die Umdre¬
hungsgeſchwindigkeiten ihrer Kreiſe nicht geringer?
Ändert das nicht die Paſſate? Werden Winde Wol¬
ken Regen nicht anders? Wie viele Millionen Jahre
müſſen verfließen, bis ein menſchliches Werkzeug die
Änderung meſſen kann?
Solche Fragen ſtimmten mich ernſt und feierlich,
und es war, als wäre in mein Weſen ein inhaltreiche¬
res Leben gekommen. Wenn ich gleich weniger ſam¬
melte und zuſammentrug als früher, ſo war es doch,
als würde ich in meinem Innern bei weitem mehr ge¬
fördert als in vergangenen Zeiten.
Wenn eine Geſchichte des Nachdenkens und For¬
ſchens werth iſt, ſo iſt es die Geſchichte der Erde, die
[39] ahnungsreichſte, die reizendſte, die es gibt, eine Ge¬
ſchichte, in welcher die der Menſchen nur ein Ein¬
ſchiebſel iſt, und wer weiß es, welch ein kleines, da
ſie von anderen Geſchichten vielleicht höherer Weſen
abgelöſet werden kann. Die Quellen zu der Ge¬
ſchichte der Erde bewahrt ſie ſelber wie in einem
Schriftengewölbe in ihrem Innern auf, Quellen, die
vielleicht in Millionen Urkunden niedergelegt ſind, und
bei denen es nur darauf ankömmt, daß wir ſie leſen
lernen, und ſie durch Eifer und Rechthaberei nicht
verfälſchen. Wer wird dieſe Geſchichte einmal klar
vor Augen haben? Wird eine ſolche Zeit kommen,
oder wird ſie nur der immer ganz wiſſen, der ſie von
Ewigkeit her gewußt hat?
Von ſolchen Fragen flüchtete ich zu den Dichtern.
Wenn ich von langen Wanderungen in das Ahorn¬
haus zurück kam, oder wenn ich ferne von dem Ahorn¬
hauſe in irgend einem Stübchen eines Alpengebäudes
wohnte, ſo las ich in den Werken eines Mannes, der
nicht Fragen löſte, ſondern Gedanken und Gefühle
gab, die wie eine Löſung in holder Umhüllung wa¬
ren, und wie ein Glück ausſahen. Ich hatte manigfal¬
tige ſolcher Männer. Unter den Büchern waren auch
ſolche, in denen Schwulſt enthalten war. Sie gaben
[40] die Natur in und außer dem Menſchen nicht ſo, wie
ſie iſt, ſondern ſie ſuchten ſie ſchöner zu machen, und
ſuchten beſondere Wirkungen hervorzubringen. Ich
wendete mich von ihnen ab. Wem das nicht heilig
iſt, was iſt, wie wird der beſſeres erſchaffen können,
als was Gott erſchaffen hat? In der Naturwiſſen¬
ſchaft war ich gewohnt geworden, auf die Merkmale
der Dinge zu achten, dieſe Merkmale zu lieben, und
die Weſenheit der Dinge zu verehren. Bei den Dich¬
tern des Schwulſtes fand ich gar keine Merkmale, und
es erſchien mir endlich lächerlich, wenn einer ſchaffen
wollte, der nichts gelernt hat.
Die Männer gefielen mir, welche die Dinge und
die Begebenheiten mit klaren Augen angeſchaut hat¬
ten, und ſie in einem ſicheren Maße in dem Rahmen
ihrer eigenen inneren Größe vorführten. Andere ga¬
ben Gefühle in ſchöner Sittenkraft, die tief auf mich
wirkten. Es iſt unglaublich, welche Gewalt Worte
üben können; ich liebte die Worte, und liebte die
Männer, und ſehnte mich oft nach einer unbeſtimm¬
ten unbekannten glücklichen Zukunft hinaus.
Die Alten, die ich einſt zu verſtehen geglaubt
hatte, kamen mir doch jezt anders vor als früher. Es
ſchien mir, als wären ſie natürlicher wahrer einfacher
[41] und größer als die Männer der neuen Zeit, und als
laſſe ſie der Ernſt ihres Weſens und die Achtung vor
ſich ſelbſt nicht zu den Überſchreitungen gelangen,
welche ſpätere Zeiten für ſchön hielten. Ich trug Ho¬
meros Äschilos Sophokles Thukidides faſt auf allen
Wanderungen mit mir. Um ſie zu verſtehen, nahm
ich alle griechiſchen Sprachwerke, die mir empfohlen
waren, vor, und lernte in ihnen. Am förderlichſten
im Verſtehen war aber das Leſen ſelber. Bei den Al¬
ten nahm ich Geſchichtſchreiber gerne unter Dichter,
ſie ſchienen mir dort einander näher zu ſtehen als bei
den Neuen.
Da gerieth ich auch auf das Malen. Die Ge¬
birge ſtanden im Reize und im Ganzen vor mir, wie
ich ſie früher nie geſehen hatte. Sie waren meinen
Forſchungen ſtets Theile geweſen. Sie waren jezt
Bilder ſo wie früher blos Gegenſtände. In die Bil¬
der konnte man ſich verſenken, weil ſie eine Tiefe hat¬
ten, die Gegenſtände lagen ſtets ausgebreitet zur Be¬
trachtung da. So wie ich früher Gegenſtände der
Natur für wiſſenſchaftliche Zwecke gezeichnet hatte,
wie ich bei dieſen Zeichnungen zur Anwendung von
Farben gekommen war, wie ich ja vor Kurzem erſt
Geräthe gezeichnet und gemalt hatte: ſo verſuchte ich
[42] jezt auch, den ganzen Blick, in dem ein Hinterein¬
anderſtehendes im Dufte Schwebendes vom Himmel
ſich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder Lein¬
wand zu zeichnen und mit Öhlfarben zu malen. Das
ſah ich ſogleich, daß es weit ſchwerer war als meine frü¬
heren Beſtrebungen, weil es ſich hier darum handelte,
ein Räumliches, das ſich nicht in gegebenen Abmeſſun¬
gen und mit ſeinen Naturfarben ſondern gleichſam als
die Seele eines Ganzen darſtellte, zu erfaſſen, wäh¬
rend ich früher nur einen Gegenſtand mit bekannten
Linienverhältniſſen und ſeiner ihm eigenthümlichen
Farbe in die Mappe zu übertragen hatte. Die erſten
Verſuche mißlangen gänzlich. Dieſes ſchreckte mich
aber nicht ab, ſondern eiferte mich vielmehr noch im¬
mer ſtärker an. Ich verſuchte wieder und immer wie¬
der. Endlich vertilgte ich die Verſuche nicht mehr, wie
ich früher gethan hatte, ſondern bewahrte ſie zur Ver¬
gleichung auf. Dieſe Vergleichung zeigte mir nach
und nach, daß ſich die Verſuche beſſerten, und die
Zeichnung leichter und natürlicher wurde. Es war ein
gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was
in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr
ich nach dem Ergreifen ſtrebte, deſto ſchöner wurde auch
dieſes Unnennbare vor mir ſelbſt.
[43]
Ich blieb ſo lange in dem Gebirge, als es nur
möglich war, und als die zunehmende Kälte einen
Aufenthalt im Freien nicht ganz und gar verboth.
Im ſpäteſten Herbſte ging ich noch einmal zu mei¬
nem Gaſtfreunde in das Roſenhaus. Es war zur
Zeit, da in dem Gebirge ſchon manigfaltige Schnee¬
laſten auf den Höhen lagen, und das flache Land ſich
ſchon jedes Schmuckes entäußert hatte. Der Garten
meines Freundes war kahl, die Bienenhütte war in
Stroh eingehüllt, in den laubloſen Zweigen ſchrillte
nur noch manche vereinzelte Kohlmeiſe oder ein Win¬
tervogel, und über ihnen zogen in dem grauen Him¬
mel die grauen Dreiecke der Gänſe nach dem Süden.
Wir ſaßen in den langen Abenden bei dem Feuer des
Kamins, arbeiteten unter Tags an der Einhüllung
und Einwinterung der Gegenſtände, die es bedurf¬
ten, oder machten an manchem Nachmittage einen
Spaziergang, wenn der regſame Nebel die Hügel und
die Thäler und die Ebenen umwandelte.
Ich zeigte meinem Gaſtfreunde meine Verſuche im
landſchaftlichen Malen, weil ich es gewiſſermaßen für
eine Falſchheit gehalten hätte, ihm nichts von der
Veränderung zu ſagen, die in mir vorgegangen war.
Ich ſcheute mich ſehr, die Verſuche vorzulegen, ich
[44] that es aber doch, und zwar zu einer Zeit, da auch
Euſtach zugegen war. Als Einleitung erklärte ich,
wie ich nach und nach dazu gekommen wäre, dieſe
Dinge zu machen.
„Es geht allen ſo, welche die Gebirge öfter be¬
ſuchen, und welche Einbildungskraft und einiges Ge¬
ſchick in den Händen haben,“ ſagte mein Gaſtfreund,
„ihr braucht euch deßhalb nicht beinahe zu entſchuldi¬
gen, es war zu erwarten, daß ihr nicht blos bei eurem
Sammeln von Steinen und Verſteinerungen bleiben
werdet, es iſt ſo in der Natur, und es iſt ſo gut.“
Die Entwürfe wurden mit viel mehr Ernſt und
Genauigkeit durchgenommen, als ſie verdienten. Da
ſowohl mein Gaſtfreund als auch Euſtach jedes Blatt
öfter betrachtet hatten, ſprachen ſie mit mir darüber.
Ihr Urtheil ging einſtimmig darauf hinaus, daß mir
das Naturwiſſenſchaftliche viel beſſer gelungen ſei als
das Künſtleriſche. Die Steine, die ſich in den Vor¬
dergründen befänden, die Pflanzen, die um ſie herum
wüchſen, ein Stück alten Holzes, das da läge, Theile
von Gerölle, die gegen vorwärts ſäßen, ſelbſt die
Gewäſſer, die ſich unmittelbar unter dem Blicke be¬
fänden, hätte ich mit Treue und mit den ihnen eigen¬
thümlichen Merkmalen ausgedrückt. Die Fernen die
[45] großen Flächen der Schatten und der Lichter an gan¬
zen Bergkörpern und das Zurückgehen und Hinaus¬
weichen des Himmelsgewölbes ſeien mir nicht gelun¬
gen. Man zeigte mir, daß ich nicht nur in den Far¬
ben viel zu beſtimmt geweſen wäre, daß ich gemalt
hätte, was nur mein Bewußtſein an entfernten Stel¬
len geſagt nicht mein Auge, ſondern daß ich auch die
Hintergründe zu groß gezeichnet hätte, ſie wären mei¬
nen Augen groß erſchienen, und das hätte ich durch
das Hinaufrücken der Linien angeben wollen. Aber
durch beides, durch Deutlichkeit der Malerei und durch
die Vergrößerung der Fernen hätte ich die letzteren
näher gerückt, und ihnen das Großartige benommen,
das ſie in der Wirklichkeit beſäßen. Euſtach rieth mir,
eine Glastafel mit Canadabalſam zu überziehen, wo¬
durch ſie etwas rauher würde, ſo daß Farben auf ihr
haften, ohne daß ſie die Durchſichtigkeit verlöre, und
durch dieſe Tafel Fernen mit den an ſie grenzen¬
den näheren Gegenſtänden mittelſt eines Pinſels zu
zeichnen, und ich würde ſehen, wie klein ſich die grö߬
ten und ausgedehnteſten entfernten Berge darſtellten,
und wie groß das zunächſtliegende Kleine würde.
Dieſes Verfahren aber empfehle er nur, damit man
zur Überzeugung der Verhältniſſe komme, und einen
[46] Maßſtab gewinne, nicht aber, daß man dadurch künſt¬
leriſche Aufnahmen von Landſchaften mache, weil durch
einen ſolchen Vorgang die künſtleriſche Freiheit und
Leichtigkeit verloren würde, welche in Bezug auf Dar¬
ſtellung das Weſen und das Herz der Kunſt ſei. Das
Auge ſoll nur geübt und unterrichtet werden, die Seele
müſſe ſchaffen, das Auge ſoll ihr dienen. In Hinſicht der
Farbgebung der Fernen rieth er mir, dort, wo ich einen
Zweifel hätte, ob ich etwas ſähe oder nur wiſſe, es lie¬
ber nicht anzugeben, und überhaupt in der Farbe lieber
unbeſtimmter als beſtimmter zu ſein, weil dadurch die
Gegenſtände an Großartigkeit gewinnen. Sie werden
durch die Unbeſtimmtheit ferner und durch dieſes allein
größer. Durch Linien des Zeichnenſtiftes auf dem
kleinen Papiere oder der kleinen Leinwand könne man
nichts groß machen. Durch Verdeutlichung werden
die Körper näher gerückt und verkleinert. Wenn über¬
haupt ein Fehler gegen die Genauigkeit gemacht werden
müſſe — und kein Menſch könne Dinge namentlich
Landſchaften in ihrer völligen Weſenheit geben — ſo
ſei es beſſer, die Gegenſtände großartiger und über¬
ſichtlicher zu geben, als in zu viele einzelne Merkmale
zerſtreut. Das erſte ſei das Künſtleriſchere und Wirk¬
ſamere.
[47]
Ich ſah ſehr gut ein, was ſie ſagten, und wußte
auch, woher die Fehler kämen, von denen ſie redeten.
Ich hatte bisher alle Gegenſtände in Hinblick auf
meine Wiſſenſchaft gezeichnet, und in dieſer waren
Merkmale die Hauptſache. Dieſe mußten in der Zeich¬
nung ausgedrückt ſein, und gerade die am ſchärfſten,
durch welche ſich die Gegenſtände von verwandten
unterſchieden. Selbſt bei meinem Zeichnen von An¬
geſichtern hatte ich deren Linien ihr Körperliches ihre
Licht- und Schattenvertheilung unmittelbar vor mir.
Daher war mein Auge geübt, ſelbſt bei fernen Gegen¬
ſtänden das, was ſie wirklich an ſich hatten, zu
ſehen, wenn es auch noch ſo undeutlich war, und da¬
für auf das, was ihnen durch Luft Licht und Dünſte
gegeben wurde, weniger zu achten, ja dieſe Dinge als
Hinderniſſe der Beobachtung eher weg zu denken, als
zum Gegenſtande der Aufmerkſamkeit zu machen.
Durch das Urtheil meiner Freunde wurde mir der
Verſtand plözlich geöffnet, daß ich das, was mir bis¬
her immer als weſenlos erſchienen war, betrachten
und kennen lernen müſſe. Durch Luft Licht Dünſte
Wolken durch nahe ſtehende andere Körper gewin¬
nen die Gegenſtände ein anderes Ausſehen, dieſes
müſſe ich ergründen, und die veranlaſſenden Dinge
[48] müſſe ich, wenn es mir möglich wäre, ſo ſehr zum
Gegenſtande meiner Wiſſenſchaft machen, wie ich frü¬
her die unmittelbar in die Augen ſpringenden Merk¬
male gemacht hatte. Auf dieſe Weiſe dürfte es zu
erreichen ſein, daß die Darſtellung von Körpern ge¬
länge, die in einem Mittel und in einer Umgebung
von anderen Körpern ſchwimmen. Ich ſagte das mei¬
nen Freunden, und ſie billigten meinen Entſchluß.
Wenn der Nebel oder überhaupt die trübe Jahreszeit
einen Blick in die Ferne geſtattete, wurde das, was
mit Worten geſagt wurde, auch an wirklichen Bei¬
ſpielen erörtert, und wir ſprachen über die Art und
Weiſe, wie ſich die entfernten Gebirge oder Theile
von ihnen oder näher gehende von der Hauptkette ſich
ablöſende Gründe darſtellten. Es iſt unglaublich, wie
ſehr ich in jenem kurzen Herbſtaufenthalte unterrichtet
wurde.
Ich ſprach mit meinem Gaſtfreunde auch von den
Dichtern, welche ich las, und erzählte ihm von dem
großen Eindrucke, welchen ihre Worte auf mich mach¬
ten. Wir gingen bei Gelegenheit einmal in ſein Bü¬
cherzimmer, er führte mich vor die Schreine, in wel¬
chen die Dichter ſtanden, und zeigte mir, was er in
dieſer Hinſicht beſaß. Er ſagte auch, ich möchte wäh¬
[49] rend des Aufenthaltes in ſeinem Hauſe von den Bü¬
chern Gebrauch machen, wie ich wollte; ich könnte ſie
im Leſezimmer benüzen oder auch in meine Wohnung
mit hinübernehmen. Es waren Werke in den älteſten
Sprachen da, von Indien bis nach Griechenland und
Italien, es waren Werke der neueren Zeiten da und
auch der neueſten. Am zahlreichſten waren natürlich
die der Deutſchen.
„Ich habe dieſe Bücher geſammelt,“ ſagte er, „nicht,
als ob ich ſie alle verſtände; denn von manchen iſt
mir die Sprache vollkommen fremd; aber ich habe im
Verlaufe meines Lebens gelernt, daß die Dichter,
wenn ſie es im rechten Sinne ſind, zu den größten
Wohlthätern der Menſchheit zu rechnen ſind. Sie
ſind die Prieſter des Schönen, und vermitteln als
ſolche bei dem ſteten Wechſel der Anſichten über Welt
über Menſchenbeſtimmung über Menſchenſchickſal und
ſelbſt über göttliche Dinge das ewig Dauernde in uns
und das allzeit Beglückende. Sie geben es uns im
Gewande des Reizes, der nicht altert, der ſich einfach
hinſtellt, und nicht richten und verurtheilen will. Und
wenn auch alle Künſte dieſes Göttliche in der holden
Geſtalt bringen, ſo ſind ſie an einen Stoff gebunden,
der dieſe Geſtalt vermitteln muß: die Muſik an den
Stifter, Nachſommer. II. 4[50] Ton und Klang, die Malerei an die Linien und die
Farbe, die Bildnerkunſt an den Stein das Metall
und dergleichen, die Baukunſt an die großen Maſſen
irdiſcher Beſtandtheile, ſie müſſen mehr oder minder
mit dieſem Stoffe ringen; nur die Dichtkunſt hat bei¬
nahe gar keinen Stoff mehr, ihr Stoff iſt der Ge¬
danke in ſeiner weiteſten Bedeutung, das Wort iſt
nicht der Stoff, es iſt nur der Träger des Gedankens,
wie etwa die Luft den Klang an unſer Ohr führt.
Die Dichtkunſt iſt daher die reinſte und höchſte unter
den Künſten. Da ich nun meine, daß es ſo iſt, wie
ich ſage, ſo habe ich die Männer, welche die Stimme
der Zeiten als große in der Kunſt des Dichtens be¬
zeichnete, hier zuſammengeſtellt. Ich habe Dichter in
fremden Sprachen, die ich nicht verſtand, dazu ge¬
than, wenn ich nur wußte, daß ſie in der Geſchichte
ihres Volkes vorzüglich genannt werden, und wenn
ich von einem Fachmanne das Zeugniß hatte, daß ich
in dem Buche den Dichter beſize, den ich meine. Sie
mögen unverſtanden hier ſtehen, oder es mag wohl
einer oder der andere in dieſen Saal kommen, der
manchen verſteht und lieſt. Ich habe wohl auch ſolche
Bücher hieher geſtellt, die mir gefallen, das Urtheil
der Zeit mag anders lauten oder erſt feſtzuſtellen ſein.
[51] In dieſen Büchern habe ich viel Glück gefunden und
in dem Alter faſt noch mehr als in der Jugend. Wenn
auch die Jugend die Worte aus einem goldenen Munde
mit einem Sturme und mit Entzücken aufnimmt, wenn
ſie auch dieſelben mit einer Art Schwärmerei und mit
Sehnſucht in dem Buſen trägt, ſo iſt es doch faſt ſtets
mehr die Wärme des eigenen Gefühles, die ſie empfin¬
det, als daß ſie die fremde Weisheit und Größe in
ein beſonnenes betrachtendes abwägendes Herz auf¬
nehmen könnte. Ihr ſeid ſelber jung, und die Tiefe
und Innigkeit der Dichtung mag euch fördern, und
euer Herz jedem künftigen Großen öffnen, wie die
reine Dichtkunſt das immer an der Jugend thut; aber
ihr werdet ſelber einmal ſehen, um wie viel milder
und klarer die verglühende Sonne des Alters in die
Größe eines fremden Geiſtes leuchtet als die feurige
Morgenſonne der Jugend, die alles mit ihrem Glanze
färbt, ſo wie es eine Thatſache iſt, daß die innige
wahre und treue Liebe der alternden Gattin feſter und
dauernder beglückt als die lodernde Leidenſchaft der
jungen ſchönen ſchimmernden Braut. Die Jugend
ſieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und
Unendlichkeit der Zukunft, dieſe verhüllt die Mängel
und erſezt das Abgängige. Sie dichtet in das Kunſt¬
4 *[52] werk, was im eignen Herzen lebt. Daher kömmt die
Erſcheinung, daß Werke von bedeutend verſchiedener
Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können,
und daß Erzeugniſſe höchſter Größe, wenn ſie keine
Wiederſpieglung der Jugendblüthe ſind, nicht erfaßt
werden können. In dem Alter werden ſelbſt ſolche
Glanzſtellen der Jugend, die ſchon ſehr ferne liegen,
wie etwa die Sehnſucht der erſten Liebe mit ihrer
Dunkelheit und Grenzenloſigkeit, oder wie die holde
und berauſchende Seligkeit der Gegenliebe, oder die
Träume künftiger Thaten und künftiger Größe, der
Blick in ein unendliches erſt kommendes Leben oder
wie das erſte Stammeln in irgend einer Kunſt von
dem Greiſe in dem ſanften Spiegel ſeiner Erinnerung
beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der ſie
in dem Brauſen ſeines Lebens überhört, und an der
grauen Wimper mag manche beſeligendere und mit¬
unter ſchmerzlichere Thräne hängen als der feurige
Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem
Auge des Jünglings ſpringt, und keine Spur hinter¬
läßt. Ich leſe jezt ſelten mehr die größten Geiſter im
Zuſammenhange — mit kleineren thue ich es wohl,
weil ſie in einzelnen Stellen minder bedeutend ſind —
aber ich leſe immer in ihnen, und werde wohl bis zu
[53] meinem Lebensende in ihnen leſen. Sie begleiten mich
mit ihren Gedanken wie mit großen Erquickungen
durch den Reſt meines Lebens, und werden mir wohl,
wie ich ahne, an der dunkeln Pforte Kränze aufhän¬
gen, als wären ſie von meinen eigenen Roſen gefloch¬
ten. Deßhalb gebe ich auch kein Buch aus dem Hauſe,
weil ich nicht weiß, ob ich es nicht in nächſter Zeit
ſelber brauchen werde. Im Hauſe ſtehen ſie jedem,
der davon Gebrauch machen will, zu Gebothe. Nur
für Guſtav wird eine Auswahl getroffen, weil er noch
zu jung iſt, und nicht alles ſondern kann. Er würde
hier zwar nichts gänzlich Schlechtes finden; aber nicht
alles Gute würde er verſtehen, und dann wäre die
daran gewendete Zeit verloren; oder er könnte es
mißverſtehen, und dann wäre der Erfolg ein unrich¬
tiger. Das Schlechte, das ſich Dichtkunſt nennt, iſt
der Jugend ſehr gefährlich. In der Wiſſenſchaft zeigt
es ſich viel leichter auf. In der Mathematik liegt es
in der Darſtellung, da ſolche Werke wohl kaum vor¬
kommen dürften, in denen ſogar der Stoff fehlerhaft
wäre, in der Naturwiſſenſchaft liegt es in der Dar¬
ſtellung wie im Stoffe, in welch lezterem es ſich in
der Geſtalt gewagter Behauptungen ausſpricht; nur
in der ſogenannten Weisheitslehre kann es verborgener
[54] ſein gleichwie in der Dichtkunſt, weil manche Weis¬
heitslehre wie Dichtkunſt zuſammen geſtellt iſt, und
wirkt: aber in den Werken der eigentlichen Dicht¬
kunſt verſteckt es ſich vor dem blühenden Gemüthe des
Jünglings, dieſer breitet ſeine Blüthen und ſeine
Begierden darüber, und ſaugt das Gift in ſich. Ein
klarer Verſtand, der ſich von Kindheit an eben zur
Klarheit hingeübt hat, und ein gutes reines Herz ſind
Schuzwehren vor Schlechtigkeit und Sittenloſigkeit
von Dichtungen, weil der klare Verſtand den hohlen
Schwulſt von ſich abweiſt, und das reine Herz die
Unſittlichkeit ablehnt. Aber beides geſchieht nur gegen
die Entſchiedenheit des Schlechten. Wo es in Reize
verhüllt iſt und mit Reinem gemiſcht, dort iſt es am
bedenklichſten, und da müſſen Rathgeber und väter¬
liche Freunde zu Hilfe ſtehen, daß ſie theils aufklären
theils von vornherein die Annäherung des Übels
aufhalten. Gegen die Schlechtigkeit in der Darſtel¬
lung oder gegen die lange Weile braucht man kein
Mittel als ſie ſelber. Ihr ſeid zwar noch jung; aber
ihr ſeid nicht ſo jung zu dem Leſen von Dichtern ge¬
kommen, wie die meiſten unſerer Jünglinge, und ihr habt
ſo viel in Wiſſenſchaften gelernt, daß ich glaube, daß
man euch alle Dichter in die Hände geben kann, ohne
[55] Gefahr zu befürchten, ſelbſt bei ſolchen, die in ihrem
Amte ſehr zweifelhaft ſind. Euer Geiſt wird ſich wohl
heraus finden und gerade dadurch noch mehr klären.
Da ich von der Weisheitslehre ſprach, welche man in
unſerem deutſchen Lande noch immer als Weisheits¬
liebe mit dem griechiſchen Worte Philoſophie bezeich¬
net, muß ich euch ſagen, was ihr wohl vielleicht ſchon
aus anderen Reden von mir gemerkt haben mögt, daß
ich nicht gar ſehr viel auf ſie halte, wenn ſie in ihrem
eigenen und eigenthümlichen Gewande auftrit. Ich
habe alte und neue Werke derſelben mit gutem Willen
durchgenommen; aber ich habe mich zu viel mit der
Natur abgegeben, als daß ich auf ledigliche Abhand¬
lungen ohne gegebener Grundlage viel Gewicht legen
könnte, ja ſie ſind mir ſogar widerwärtig. Vielleicht
reden wir noch ein anderes Mal von dem Gegen¬
ſtande. Wenn ich je einige Weisheit gelernt habe,
ſo habe ich ſie nicht aus den eigentlichſten Weisheits¬
büchern am wenigſten aus den neuen — jezt leſe ich
gar keine mehr — gelernt; ſondern ich habe ſie aus
Dichtern genommen oder aus der Geſchichte, die mir
am Ende wie die gegenſtändlichſte Dichtung vor¬
kömmt.“
Als ich meinen Gaſtfreund ſo reden hörte, erin¬
[56] nerte ich mich, daß ich ihn in der That viel leſen ge¬
ſehen habe. Oft war er mit einem Buche unter einem
ſchattigen Baume geſeſſen oder in rauherer Jahreszeit
auf einer ſonnigen Bank, oft hatte er ſich mit einem
auf einen Spaziergang begeben, er iſt ſehr häufig in
dem Leſezimmer geweſen, und er trug Bücher in ſeine
Arbeitsſtube. Als wir die lezte Fahrt in den Sternen¬
hof gemacht hatten, hatte er Bücher mitgenommen,
und ich glaube von Guſtav gehört zu haben, daß er
auf jede Reiſe Bücher einpacke.
Ich ging bei meinem jezigen Aufenthalte in dem
Roſenhauſe ſehr oft in das Bücherzimmer, und wie
ich früher vor den Schränken geſtanden war, die die
Werke der Naturwiſſenſchaften enthielten, und wie ich
damals manches Buch in das Leſezimmer mitgenom¬
men hatte, ſo ſtand ich jezt vor den Schreinen mit den
Dichtern, ſah viele einzelne der vorhandenen Bücher
an, trug manches in das Leſezimmer oder mit Bewil¬
ligung meines Gaſtfreundes in meine Stube, und
ſchrieb mir die Aufſchrift von manchem in mein Ge¬
denkbuch, um es mir, wenn ich nach Hauſe gekommen
wäre, zu kaufen.
Gegen das Ende meines Aufenthaltes, da noch
einige ſonnige Tage kamen, zeichnete und malte ich
[57] auch mehrere Stücke der ſchönen getäfelten Fußböden,
die in dieſem Hauſe anzutreffen waren. Ich that dies,
um dem Vater von allen Dingen, welche ich geſehen
hatte, einiger Maßen Abbildungen bringen zu können.
Als es ſchon bald zu meiner Abreiſe kam, ſagte
mein Gaſtfreund, er hätte noch etwas mit mir zu
reden, und er ſprach: „Weil euch euere Natur ſelber
zum Theile aus dem Kreiſe herausgezogen hat, den
ihr um euch geſteckt habt, weil ihr zu euren früheren
Beſtrebungen noch den Einblick in die Dichtungen
geſellt habt, ſo wie ja ſchon das Landſchaftsmalen
als ein Übergang in das Kunſtfach ein Schritt aus
eurem Kreiſe war, ſo erlaubet mir, daß ich als
Freund, der euch wohl will, ein Wort zu euch rede.
Ihr ſolltet zu eurem Weſen eine breitere Grundlage
legen. Wenn die Kräfte des allgemeinen Lebens zu¬
gleich in allen oder vielen Richtungen thätig ſind, ſo
wird der Menſch, eben weil alle Kräfte wirkſam ſind,
weit eher befriedigt und erfüllt, als wenn eine Kraft
nach einer einzigen Richtung hinzielt. Das Weſen
wird dann im Ganzen leichter gerundet und gefeſtet.
Das Streben in einer Richtung legt dem Geiſte eine
Binde an, verhindert ihn, das Nebenliegende zu
ſehen, und führt ihn in das Abenteuerliche. Später,
[58] wenn der Grund gelegt iſt, muß der Mann ſich wie¬
der dem Einzigen zuwenden, wenn er irgendwie etwas
Bedeutendes leiſten ſoll. Er wird dann nicht mehr
in das Einſeitige verfallen. In der Jugend muß
man ſich allſeitig üben, um als Mann gerade dann
für das Einzelne tauglich zu ſein. Ich ſage nicht, daß
man ſich in das Tiefſte des Lebens in allen Richtun¬
gen verſenken müſſe, wie zum Beiſpiele in allen
Wiſſenſchaften, wie ihr ja ſelber einmal angefangen
habt, das wäre überwältigend oder tödtend, ohne da¬
bei möglich zu ſein; ſondern daß man das Leben, wie
es uns überall umgibt, aufſuche, daß man ſeine Er¬
ſcheinungen auf ſich wirken laſſe, damit ſie Spuren
einprägen, unmerklich und unbewußt, ohne daß man
dieſe Erſcheinungen der Wiſſenſchaft unterwerfe.
Darin, meine ich, beſteht das natürliche Wiſſen des
Geiſtes zum Unterſchiede von der abſichtlichen Pflege
deſſelben. Er wird nach und nach gerecht für die
Vorkommniſſe des Lebens. Ihr habt, ſcheint es mir
zu jung einen einzelnen Zweig erfaßt, unterbrecht ihn
ein wenig, ihr werdet ihn dann freier und großartiger
wieder aufnehmen. Schaut auch die unbedeutenden
ja nichtigen Erſcheinungen des Lebens an. Geht in
die Stadt, ſucht euch deren Vorkommniße zurecht zu
[59] legen, kommt dann zu uns auf das Land, lebt einmal
eine Weile müßig bei uns, das heißt, thut, was euch
der Augenblick und die Neigung eingibt, wir wollen
dieſes Haus und den Garten genießen, wollen den
Nachbar Ingheim beſuchen, wollen auch zu anderen
entfernteren Nachbarn gehen, und die Dinge an uns
vorüber fließen laſſen, wie ſie fließen.“
Ich dankte ihm für ſeine Bemerkungen, ſagte,
daß ich ſelber ſo etwas Ähnliches in mir empfinde,
daß ich wohl etwas unbeholfen gegen das Leben ſei,
daß meine Eltern und wohlmeinenden Freunde wohl
Nachſicht mit mir haben müſſen, und daß ich für jeden
Wink dankbar ſei. Beſonders freue mich die Ein¬
ladung in ſein Haus, und ich werde ihr mit vieler
Freude Folge leiſten.
Als die Zeit meiner Abreiſe herangekommen war,
packte ich die Zeichnungen und alles, was ich in dem
Roſenhauſe hatte, ein, nahm den herzlichſten Abſchied
von dem alten Manne Guſtav Euſtach Roland, der
gekommen war, verabſchiedete mich von allen Be¬
wohnern des Hauſes Gartens und Meierhofes, und
reiſete zu meinen Angehörigen in die Hauptſtadt
zurück.
Das Erſte, was ich dort nach dem innigſten und
[60] aufrichtigſten Bewillkommen ſah, war, daß mein
Vater das theils gläſerne theils hölzerne Häuschen,
in welchem die alten Waffen hingen, um welches ſich
der Epheu rankte, und welches im Grunde den äußer¬
ſten Anſaz oder gleichſam einen Erker des rechten
Flügels des Hauſes gegen den Garten bildete, in
dem vergangenen Sommer hatte umbauen laſſen.
Er hatte es bedeutend vergrößert aber die Leiſten
Spangen und Rahmen, in denen das Glas befeſtigt
war, hatte er in der früheren Art gelaſſen, nur waren
ſie dem Stoffe nach neu gemacht, und mit ſchönen
Verzierungen und Schnizereien verſehen. Die Simſe
des Daches waren nach mittelalterlicher Weiſe ver¬
fertigt, ſchön geſchnizt und verziert. Der Epheu war
wieder an Leiſten empor geleitet worden, und blickte
an manchen Stellen durch das Glas herein. Die
Fenſter waren nicht mehr nach Außen und Innen zu
öffnen wie früher ſondern zum Verſchieben. Die
größte Veränderung aber war die, daß der Vater
hatte zwei Säulen aufführen laſſen, während früher
die beiden Wände, welche nach Außen geſchaut hat¬
ten, aus Glas verfertigt geweſen waren. Dieſe zwei
Pfeiler hatten genau die Abmeſſungen, daß die zwei
Verkleidungen, welche ich ihm in dem vorigen Herbſte
[61] gebracht hatte, auf dieſelben paßten. Die Verkleidun¬
gen waren aber noch nicht auf ihnen, weil das
Mauerwerk zuerſt austrocknen mußte, daß das Holz
an demſelben keinen Schaden nehmen konnte. Der
Vater hatte mir nur den ganzen Plan und die Vor¬
richtungen zu ſeiner Ausführung geſagt. So wie es
mich einerſeits freute, daß der Vater das Holzkunſt¬
werk ſo ſchäzte, daß er eigens zu dem Zwecke es an¬
bringen zu können das Häuschen hatte umbauen laſ¬
ſen, ſo war es mir andererſeits erſt recht ſchmerzlich,
daß ich die Ergänzungen zu den Verkleidungen nicht
aufzufinden im Stande geweſen war. Ich ſagte dem
Vater von meinen Bemühungen und von meinem
Leidweſen wegen des ſchlechten Erfolges. Er und die
Mutter tröſteten mich, und ſagten, es ſei alles auch
in der vorhandenen Geſtalt recht ſchön, was ver¬
ſchwunden iſt, und nicht mehr erlangt werden kann,
müſſe man nicht eigenſinnig anſtreben, ſondern ſich an
dem, was eine gute Gunſt uns noch erhalten habe,
freuen. Das Häuschen werde eine Erinnerung ſein,
und ſo oft man ſich in demſelben, wenn es vollkom¬
men in den Stand geſezt ſein würde, befinden werde,
werde einem die Zeit vorſchweben, in welcher das
Holzwerk gemacht worden ſei, und die, in welcher ein
[62] lieber Sohn es zur Freude des Vaters aus dem Ge¬
birge gebracht habe.
Ich mußte mich wohl obgleich ungern beruhigen.
Es erſchien mir jezt erſt recht ſchön, wenn die Verklei¬
dungen am ganzen Innern des Häuschens herum
liefen, und über ihnen einerſeits die Pfeiler und an¬
dererſeits die Fenſter ſchimmerten.
Nach einigen Tagen, in welchen die erſten Be¬
ſprechungen geführt wurden, die nach einer Reiſe
eines Familiengliedes im Schooße einer Familie im¬
mer vorfallen, wenn auch die Reiſe eine jährlich wie¬
derkommende iſt, legte ich dem Vater, da unterdeſſen
auch meine Koffer und Kiſten angekommen waren, die
Abbildungen vor, welche ich von den Geräthen und
Fußböden im Roſenhauſe und im Sternenhofe gemacht
hatte. Ich war auf die Wirkung ſehr neugierig. Ich
hatte einen Sonntag abgewartet, an welchem er Zeit
hatte, und an welchem er gerne nach dem Mittageſſen
eine geraume Weile in dem Kreiſe ſeiner Familie zu¬
brachte. Ich legte die Blätter vor ihm auf einem Tiſche
auseinander. Er ſchien mir bei ihrem Anblick — ich
kann ſagen — betroffen. Er ſah die Blätter genau
an, nahm jedes mehrere Male in die Hand, und ſagte
längere Zeit kein Wort. Endlich ging ſeine Empfin¬
[63] dung in eine unverholene Freude über. Er ſagte, ich
wiſſe gar nicht, was ich gemacht hätte, ich wiſſe gar
nicht, welchen Werth dieſe Dinge hätten, ich hätte in
früherer Zeit die Schönheit und Zuſammenſtimmigkeit
dieſer Dinge mit Worten gar nicht ſo in das rechte
Licht geſtellt, wie es ſich jezt in Farbe und Zeichnung,
wenn auch beides mangelhaft wäre, beurkunde. Im
erſten Augenblicke hielt der Vater die Geräthe, welche
ich in dem Sternenhofe abgebildet hatte, für wirklich
alte; als ich ihn aber auf die thatſächlichen Verhält¬
niſſe derſelben aufmerkſam machte, ſagte er, das müſſe
ein außerordentlicher Menſch ſein, der dieſe Entwürfe
gemacht habe, er müſſe nicht nur mit der alten
Bauart und Zuſammenſtellung der Geräthe ſehr
vertraut ſein, ſondern er müſſe auch ein ungewöhn¬
liches Schönheitsgefühl haben, um aus der Menge
der überlieferten Geſtalten das zu wählen, was er
gewählt habe. Und die Zuſammenreihung der Ge¬
räthe ſei ſo aus einem Guße, als wären ſie einſtens
zu einem Zwecke und in einer Zeit verfertigt worden.
Auch die wirklich alten Geräthe im Roſenhauſe ſeien
von einer Schönheit, wie er ſie nie geſehen habe, ob¬
gleich ihm die vorzüglichſten und berühmteſten Samm¬
lungen der Stadt und mancher Schlöſſer bekannt
[64] wären. Zwei ſo auserleſene Stücke wie den großen
Kleiderſchrein und den Schreibſchrein mit den Del¬
phinen dürfte man kaum irgendwo finden. Sie wären
werth, in einem kaiſerlichen Gemache zu ſtehen.
Ich erzählte ihm, um den Mann der die Entwürfe
für den Sternenhof gemacht hatte, näher zu bezeich¬
nen, daß ich viele Bauzeichnungen und Zeichnungen
von anderen Dingen in dem Roſenhauſe geſehen habe,
welche weit höhere Gegenſtände darſtellen, und auch
mit einer ungleich größeren Vollendung ausgeführt
ſeien, als ich bei meinen Abbildungen anzubringen im
Stande geweſen wäre. Dieſe Arbeiten ſeien bei dem
Manne Vorbildungen geweſen, damit er die Ent¬
würfe hätte machen können, die er gemacht habe.
Er ſchien auf meine Worte nicht zu achten, ſon¬
dern legte irgend ein Blatt hin, nahm ein anderes
auf, und betrachtete es.
„So weit ich aus den Abbildungen urtheilen
kann,“ ſagte er, „ſind die alterthümlichen Gegen¬
ſtände, welche du mir da veranſchaulicht haſt, nicht
nur an ſich ſehr vortrefflich, ſondern ſie ſind auch
höchſt wahrſcheinlich, wie Farbe und Zeichnung dar¬
thut, ſehr zweckmäßig wieder hergeſtellt. Meine
Habſeligkeiten ſinken dagegen zu Unbedeutenheiten
[65] herab, und ich ſehe aus dieſen Blättern, wie man die
Sache anfaſſen muß, wenn man die Zeit die Kennt¬
niſſe und die Mittel dazu hat.“
Mich freute es jezt recht ſehr, daß ich auf den
Gedanken gekommen war, dem Vater dieſe Dinge
nachzubilden, um ihm eine Vorſtellung von ihnen zu
geben, mich freute ſein Antheil, den er an ihnen
nahm, und die Freude, die er darüber hatte.
„Es ſind nun zwei Wege, die zu gehen ſind,“
meinte die Mutter, „entweder kannſt du dir nach die¬
ſen Gemälden die Dinge, die ſie darſtellen, machen
laſſen, um dich immerwährend daran zu ergözen,
oder du kannſt in den Asperhof und Sternenhof
reiſen, und ſie in Wirklichkeit ſehen, um eine Freude
zu haben, ſo lange du ſie ſiehſt, und in der Erinnerung
dich zu laben, wenn du wieder weggereiſt biſt.“
Der Vater antwortete: „Die Geräthe, die hier
gezeichnet ſind, nachmachen zu laſſen, iſt eine Unzu¬
kömmlichkeit; denn erſtens müßte hiezu die Einwil¬
ligung des Eigenthümers erlangt werden, und wenn
ſie auch erlangt worden wäre, ſo hätten zweitens die
nachgebildeten Gegenſtände in meinen Augen nicht
den Werth, den ſie haben ſollten, weil ſie doch nur,
wie die Maler ſagen, Copien wären. Es böthe ſich
Stifter, Nachſommer. II. 5[66] auch noch der Gedanke, mit Einwilligung des Eigen¬
thümers nach dieſen Abbildungen neue Zuſammen¬
ſtellungen entwerfen, und in Wirklichkeit ausführen
zu laſſen; allein das verlangt eine ſo große Geſchick¬
lichkeit, welche ich nicht nur mir nicht zutraue, ſondern
welche ich auch an den Arbeitern in ähnlichen Dingen,
die ich in unſerer Stadt kenne, nicht aufzufinden
hoffe. Und zulezt wären die verfertigten Gegenſtände
doch noch immer nichts mehr als halbe Copien. Das
Verfertigen geht alſo nicht. Was deinen zweiten
Weg anbelangt, Mutter, ſo werde ich ihn gewiß
gehen. Ich habe mir ſchon früher bei den Erzählun¬
gen von dieſen Dingen vorgenommen, die Reiſe zu
ihnen zu machen; jezt aber, da ich die Abbildungen
ſehe, werde ich die Reiſe nicht nur um ſo gewiſſer
ſondern auch in viel näherer Zeit machen, als es
wohl ſonſt hätte geſchehen können.“
„Das wird recht ſchön ſein,“ riefen wir faſt alle
aus einem Munde.
Die Mutter ſagte: „Du ſollteſt gleich die Zeit be¬
ſtimmen, und ſollteſt gleich mit deinem Sohne verab¬
reden, daß er dich in derſelben zu dem alten Manne
in das Roſenhaus führe, welcher dich ſchon auch in
den Sternenhof geleiten würde.“
„Nun ſo dränget nur nicht,“ erwiederte er, „es
wird geſchehen, das iſt genug; binden, wißt ihr, kann
ſich ein Mann nicht, der von ſeinem Geſchäfte ab¬
hängt, und nicht wiſſen kann, welche Umſtände ein¬
zutreten vermögen, die von ihm Zeit und Handlun¬
gen fordern.“
Die Mutter kannte ihn zu gut, um weiter in ihn
zu dringen, er würde bei ſeinem ausgeſprochenen Saze
geblieben ſein. Sie beruhigte ſich mit dem Er¬
langten.
Sowohl ſie als die Schweſter dankten mir, daß
ich dem Vater die Bilder gebracht hatte, die ihm ein
ſolches Vergnügen bereiteten.
„Die Fußböden müſſen auch vortrefflich ſein,“ rief
er aus.
„Sie ſind viel ſchöner als die ungefähre Malerei
andeuten kann,“ erwiederte ich, „mein Pinſel kann
noch immer nicht den Glanz und die Zartheit und das
Seidenartige der Holzfaſern ausdrücken, was man
alles dort ſo liebt, daß nur mit Filzſchuhen auf dieſen
Böden gegangen werden darf.“
„Das kann ich mir denken,“ antwortete er, „das
kann ich mir denken.“
Hierauf mußte ich ihm alle Hölzer nennen, die
5 *[68] hier mit Farben angegeben waren, und aus denen die
abgebildeten Gegenſtände beſtanden. Die meiſten
kannte er ohnehin, was mich freute, weil es der Be¬
weis war, daß ich die Farben nicht unſachgemäß an¬
gewendet habe. Die er nicht kannte, nannte ich ihm.
Ich wußte ſie faſt alle ganz genau anzugeben.
Er verwunderte ſich wieder und immer auf's
Neue, und ſuchte ſich die Gegenſtände recht lebhaft
vorzuſtellen.
Die Mutter und Schweſter fragten mich, ob ich
recht lange zu dieſer Arbeit gebraucht hätte, und ob
ich nicht dabei beklommen geweſen wäre.
Ich antwortete, daß ich des Zweckes willen ſehr
fleißig geweſen ſei, daß es anfänglich langſam gegan¬
gen ſei, daß ich aber nach und nach Übung erlangt
hätte, und daß ich dann weit ſchneller vorwärts ge¬
kommen ſei, als ich ſelber geahnt habe. Und was die
Beklemmung anbelangt, ſo hätte ich ſie freilich im
Anfange gehabt; aber da die Dinge einmal auf mich
gewirkt hätten, da ich in Eifer gerathen wäre, da ſich
hie und da ein Gelingen eingeſtellt hätte, namentlich
da mir durch die Entſchiedenheit der Erſcheinung
mancher Holzgattung die Farbe gleichſam von ſelber
in die Hand gegeben worden wäre; ſo hätte ſich
[69] bald die Unbefangenheit eingefunden, und nach und
nach ſich die Luſt hinzu geſellt.
Nach dieſen Worten zeigte mir der Vater auch
manchen Fehler, den ich in den Arbeiten gemacht
hätte, und ſezte mir auseinander, wie ich ſelbe, falls
ich wieder ähnliche Dinge entwerfen ſollte, vermeiden
könnte. Da er Gemälde hatte, da er ſich ſeit Jahren
mit denſelben beſchäftigt hatte, ſo durfte ihm wohl
ein Urtheil in dieſer Hinſicht zugewachſen ſein, und
ich erkannte das, was er ſagte, als vollkommen rich¬
tig an, und glaubte mich aber auch befähigt zu füh¬
len, es in Zukunft beſſer zu machen.
Nach den Fehlern ging der Vater auch auf die
Vorzüge der Arbeit über, und ſagte, daß er nach den
Zeichnungen von Köpfen, die ich vor einiger Zeit ge¬
macht hätte, zu ſchließen, von mir nicht erwartet hätte,
daß ich etwas ſo Sachgemäßes in Öhlfarben würde
ausführen können.
Dieſer Sonntagsnachmittag war eine ſehr liebe,
angenehme Zeit.
Die Freundlichkeit der Schweſter, die ſie beſon¬
ders an dieſem Nachmittage an den Tag legte, war
mir ein ſchönerer Lohn, als wenn ein Kenner geſagt
hätte, daß meine Blätter ausgezeichnet ſeien, das Lob
[70] der Mutter, daß ich auf den Vater und das väterliche
Haus gedacht habe, und aus Liebe zu beiden, um
Freude zu bereiten, eine beſchwerliche Arbeit unter¬
nommen habe, erregte mir die angenehmſten Gefühle,
und da auch der Vater mit einigen gewählten Worten
ſeinen Dank ausſprach, und ſagte, daß er dieſes Zart¬
gefühl nicht vergeſſen werde, konnte ich nur mit großer
Gewalt die Thränen bemeiſtern.
Ich gab ihm alle Blätter als Eigenthum, und
er reihte ſie ſeiner Sammlung von Merkwürdig¬
keiten ein.
An, nächſten Tage packte ich die Zithern aus,
legte beide der Schweſter vor, und ließ ihr die Wahl,
ob ſie die meinige oder die neuangekaufte als für ſie
gehörig annehmen wolle. Sie wählte die neue und
freute ſich darüber ſehr. Ich zeigte ihr auch die
Stücke, welche ich mir nach dem Spiele meines Ge¬
birgslehrmeiſters geſchrieben hatte, und ließ ſie ihr in
ihrem Zimmer, daß ſie ſie abſchreiben laſſen könne,
und daß ſie ihre Übungen darnach begönne. Ich ver¬
ſprach ihr, in dieſem Winter ihr Lehrer in dieſer Kunſt
zu ſein.
Nach einiger Zeit brachte ich auch meine Male¬
reien von Gebirgslandſchaften zum Vorſcheine. Ich
[71] hatte bis dahin immer nicht den Muth dazu gehabt;
aber endlich machte mir mein Gewiſſen zu bittere
Vorwürfe, daß ich gegen meine Angehörigen Heim¬
lichkeiten habe. Ich zeigte meinem Vater die Blätter
auch an einem Sonntagsnachmittage. Ich blickte ihm
erſtaunt in das Angeſicht, als er dieſelben geſehen
hatte, und das Nehmliche ſagte, was mein Gaſt¬
freund im Roſenhauſe und was Euſtach geſagt hat¬
ten. Bei dieſen lezten beiden hatte es mich nicht ge¬
wundert, da ich ſie für Kenner hielt, und da ſie Ge¬
birgsbewohner waren. Der Vater aber, der zwar
Bilder beſaß, war ein Kaufherr, und war nie lange in
dem Gebirge geweſen. Es erhöhte dies meine Ehr¬
furcht gegen ihn noch mehr. Er zeigte mir, wo ich
unwahr geweſen war, und ſezte mir auseinander, wie
es hätte ſein ſollen, was ich augenblicklich begrif.
Das, was er lobte, und richtig fand, gefiel mir ſelber
nachher doppelt ſo wohl.
Klotilden mußte ich die Blätter noch einmal und
allein in ihrem Zimmer zeigen. Sie verlangte, daß
ich ihr beinahe alles erkläre. Sie war nie in höherem
oder im Urgebirge geweſen, ſie wollte ſehen, wie dieſe
Dinge beſchaffen ſeien, und ſie reizten ihre Aufmerk¬
ſamkeit ſehr. Obgleich meine Malereien keine Kunſt¬
[72] werke waren, wie ich jezt immer mehr einſah, ſo hat¬
ten ſie doch einen Vorzug, den ich erſt ſpäter recht er¬
kannte, und der darin beſtand, daß ich nicht wie ein
Künſtler nach Abrundung noch zuſammenſtimmender
Wirkung oder Anwendung von Schulregeln rang,
ſondern mich ohne vorgefaßter Einübung den Dingen
hingab, und ſie ſo darzuſtellen ſuchte, wie ich ſie ſah.
Dadurch gewannen ſie, was ſie auch an Schmelz und
Einheit verloren, an Naturwahrheit in einzelnen
Stücken, und gaben dem Nichtkenner und dem, der nie
die Gebirge geſehen hatte, eine beſſere Vorſtellung als
ſchöne und künſtleriſch vollendete Gemälde, wenn ſie
nicht die vollendetſten waren, die dann freilich auch
die Wahrheit im höchſten Maße trugen. Aus dieſem
Grunde ſagte mir Klotilde durch eine Art unbewußter
Ahnung, ſie wiſſe jezt, wie die Berge ausſehen, was
ſie aus vielen und guten Bildern nicht gewußt hätte.
Sie äußerte auch den Wunſch, einmal die hohen
Berge ſelber ſehen zu können, und meinte, wenn der
Vater die Reiſe in das Roſenhaus und in den Ster¬
nenhof mache, und bei dieſer Gelegenheit auch die
Gebirge beſuche, werde ſie ihn bitten, ſie mitreiſen zu
laſſen. Ich erzählte ihr nun recht viel von den Ber¬
gen, beſchrieb ihr ihre Herrlichkeit und Größe, machte
[73] ſie mit manchen Eigenthümlichkeiten derſelben bekannt,
und ſezte ihr meine verſchiedenen Reiſen in denſelben
und meine Beſtrebungen ausführlicher als ſonſt aus¬
einander. Ich hatte nie ſo viel von den Gebirgen mit
ihr geredet. Nach dieſen Worten verlangte ſie auch,
daß ich ſie unterrichte, eben ſolche Abbildungen ver¬
fertigen zu können, wie ſie hier vor ihr liegen. Sie
wolle ſich Farben und alle andere dazu nothwendigen
Geräthſchaften verſchaffen. Da ſie ohnehin ziemlich gut
zeichnen konnte, ſo war die Sache nicht ſo ſchwierig,
als ſie beim erſten Anſcheine ausgeſehen hatte. Ich
verſprach ihr meinen Beiſtand, wenn die Eltern ein¬
willigen würden.
Wir fragten nach einiger Zeit die Eltern. Sie
hatten im Ganzen nichts dagegen, nur die Mutter
verlangte ausdrücklich, daß dieſe Arbeiten nur Neben¬
dinge ſein ſollen, Dinge zum Vergnügen, nicht Haupt¬
beſchäftigungen; denn die Hauptpflicht des Weibes
ſei ihr Haus, dieſe Dinge können zwar auch recht
wohl in das Haus gehören; aber einſeitig oder gar
mit Leidenſchaft betrieben, untergraben ſie eher das
Haus, als ſie es bauen helfen. Klotilde aber ſei
ſchon ſo alt, daß ſie ſich ihrem künftigen Berufe zu¬
wenden müſſe.
[74]
Wir begriffen das alles und verſprachen, nichts
in's Übermaß gehen laſſen zu wollen.
Es wurden alle Erforderniße angeſchafft, und wir
begannen in gegönnten Zeiten die Arbeit.
Auch ſpaniſch wollte die Schweſter von mir ler¬
nen. Ich betrieb es fort, und da ich ihr voraus war,
wurde ich auch hierin ihr Lehrer, was die Mutter mit
derſelben Einſchränkung wie das Landſchaftsmalen
gelten ließ. Es waren alſo in unſerem Hauſe für die¬
ſes Jahr mehr Beſchäftigungen für mich vorhanden,
als in anderen Zeiten.
Es war mir in jenem Herbſte beſonders wunder¬
bar, daß weder Vater noch Mutter genauer nach mei¬
nem Gaſtfreunde fragten. Sie mußten entweder nach
meinen Erzählungen ein entſchiedenes Vertrauen in
ihn ſezen, oder ſie wollten durch zu vieles Einmiſchen
die Unbefangenheit meiner Handlungen nicht ſtören.
Bei allen häuslichen Beſtrebungen fing ich bei
dem herannahenden Winter doch ein etwas anderes
Leben an, als ich es bisher geführt hatte, und zwar
ein etwas manigfaltigeres. Ich hatte in vergangener
Zeit nur ſolche Stadtkreiſe beſucht, in welche meine
Eltern geladen worden waren, oder in welche ich
durch Freunde, die ich gewann, gezogen wurde. Dieſe
[75] Kreiſe beſtanden größtentheils aus Leuten von ähn¬
lichem Stande mit dem meines Vaters. Ich ſpürte
Neigung in mir, nun auch Sitten und Gebräuche ſo
wie Anſichten und Meinungen ſolcher Menſchen ken¬
nen zu lernen, die ſich auf glänzenderen Lebenswegen
befanden. Der Zufall gab bald hier bald da Ge¬
legenheit dazu, und theils ſuchte ich auch Gelegen¬
heiten. Es geſchah, daß ich Bekanntſchaften machte,
und mitunter auch fortſezen konnte. Ich lernte Leute
von höherem Adel kennen, lernte ſehen, wie ſie ſich
bewegen, wie ſie ſich gegenſeitig behandeln, und wie
ſie ſich gegen ſolche, die nicht ihres Standes ſind, be¬
nehmen.
Es lebte eine alte edle verwittwete Fürſtin in un¬
ſerer Stadt, deren zu früh verſtorbener Gemahl den
Oberbefehl in den lezten großen Kriegen geführt hatte.
Sie war häufig mit ihm im Felde geweſen, und hatte
da die Verhältniſſe von Kriegsheeren und ihren Be¬
wegungen kennen gelernt, ſie war in den größten
Städten Europas geweſen, und hatte die Bekannt¬
ſchaft von Menſchen gemacht, in deren Händen die
ganzen Zuſtände des Welttheiles lagen, ſie hatte das
geleſen, was die hervorragendſten Männer und Frauen
in Dichtungen in betrachtenden Werken und zum Theile
[76] in Wiſſenſchaften, die ihr zugänglich waren, geſchrie¬
ben haben, und ſie hatte alles Schöne genoſſen, was
die Künſte hervorbringen. Einſtens war ſie in den
höheren Kreiſen eine der außerordentlichſten Schön¬
heiten geweſen, und noch jezt konnte man ſich
kaum etwas Lieblicheres denken als die freundlichen
klugen und innigen Züge dieſes Angeſichtes. Ein
Mann, der ſich viel mit Gemälden und ihrer Beur¬
theilung abgab, und oft in die Nähe der Fürſtin kam,
ſagte einmal, daß nur Rembrand im Stande geweſen
wäre, die feinen Töne und die kunſtgemäßen Über¬
gänge ihres Angeſichtes zu malen. Sie hatte jezt
eine Wohnung an der Oſtgrenze der innern Stadt,
damit die Morgenſonne ihre Zimmer füllte, und da¬
mit ſie den freien Blick über das friſche Grün und auf
die entfernten Vorſtädte hätte. Blühende Söhne in
hohen kriegeriſchen Würden beſuchten die alte ehrwür¬
dige Mutter hier, ſo oft ihr Dienſt ihre Anweſenheit
in der Stadt geſtattete, und ſo oft während dieſer
Anweſenheit ein Augenblick es erlaubte. Schöne
Enkel und Enkelinnen gingen bei ihr aus und ein,
und eine zahlreiche Verwandtſchaft wurde bald in die¬
ſen bald in jenen Mitgliedern in ihren Zimmern ge¬
ſehen. Aber geiſtige Erholung oder Anſtrengung —
[77] wie man den Ausdruck nehmen will — war ihr ein
Bedürfniß geblieben. Sie wollte nicht blos das
wiſſen, was jezt noch auf den geiſtigen Gebiethen
hervor gebracht wurde, und in dieſer Beziehung,
wenn irgend ein Werk Ruhm erlangte und Aufſehen
machte, ſuchte ſie auch an deſſen Pforte zu klopfen,
und zu ſehen, ob ſie eintreten könnte; ſondern ſie
nahm oft auch ein Buch von ſolchen Perſonen in die
Hand, die in ihre Jugendzeit gefallen, und dort be¬
deutſam geweſen waren, ſie ging das Werk durch,
und erforſchte, ob ſie auch jezt noch die zahlreichen
mit Rothſtift gemachten Zeichen und Anmerkungen
wieder in derſelben Art machen, oder ob ſie andere an
ihre Stelle ſezen würde; ja ſie nahm Werke der älte¬
ſten Vergangenheit vor, die jezt die Leute, außer ſie
wären Gelehrte nur in dem Munde führen, nicht
leſen; ſie wollte doch ſehen, was ſie enthielten, und
wenn ſie ihr gefielen, wurden ſie nach manchen Zwi¬
ſchenzeiten wieder hervorgeholt. Von dem, was in
den Verhältniſſen der Staaten und Völker vorging,
wollte ſie beſtändig unterrichtet ſein. Sie empfing
daher von manchen ihrer Verwandten und Bekannten
Briefe, und die vorzüglichſten Zeitungsblätter mußten
auf ihren Tiſch kommen. Weil aber, [obwohl] ihre
[78] Augen noch nicht ſo ſchwach waren, das viele Leſen,
das ſie ſich hatte auflegen müſſen, bei ihrem Alter
doch hätte beſchwerlich werden können, hatte ſie eine
Vorleſerin, welche einen Theil und zwar den größten
des Leſeſtoffes auf ſich nahm, und ihr vortrug. Dieſe
Vorleſerin war aber keine bloße Vorleſerin, ſondern
vielmehr eine Geſellſchafterin der Fürſtin, die mit ihr
über das Geleſene ſprach, und die eine ſolche Bildung
beſaß, daß ſie dem Geiſte der alten Frau Nahrung zu
geben vermochte, ſo wie ſie von dieſem Geiſte auch
Nahrung empfing. Nach dem Urtheile von Männern,
die über ſolche Dinge ſprechen können, war die Geſell¬
ſchafterin von außerordentlicher Begabung, ſie war
im Stande jedes Große in ſich aufzunehmen, und
wieder zu geben, ſo wie ihre eigenen Hervorbringun¬
gen, zu denen ſie ſich zuweilen verleiten ließ, zu den
Beachtenswertheſten der Zeit gehörten. Sie blieb
immer um die Fürſtin, auch wenn dieſe im Sommer
auf ein Landgut, das in einem entfernten Theile des
Reiches lag, und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging,
oder wenn ſie ſich auf Reiſen befand, oder eine Zeit
an einer ſchönen Stelle unſers Gebirges weilte, wie
ſie gerne that.
An manchen Abenden zu der Zeit, da ſie in der
[79] Stadt war, ſammelte die Fürſtin einen kleinen Kreis
um ſich, in welchem entweder etwas vorgeleſen wurde,
oder in welchem man über wiſſenſchaftliche oder geſel¬
lige oder Staatsdinge oder Dinge der Kunſt ſprach.
Die Kreiſe waren regelmäßig an gleichen Tagen der
Woche, ſie waren in der Stadt bekannt, wurden ſehr
hoch geachtet oder verſpottet, wie eben der Beurthei¬
lende war, wurden geſucht, und beſtanden zuweilen
aus ſehr bedeutenden Perſonen. In dieſe Kreiſe
hatte ich Zutritt erlangt. Die Fürſtin hatte mich
einige Male getroffen, es war einmal von meiner
Wiſſenſchaft die Rede geweſen, ſie war ſehr neugierig,
was man denn von der Geſchichte der Erdbildung wiſſe,
und aus welchen Umſtänden man ſeine Schlüſſe ziehe,
und ſie hatte mich in ihre Nähe gezogen. Ich hörte auf¬
merkſam zu, wenn ich an den beſtimmten Abenden in
ihrem Geſellſchaftszimmer war, ſprach ſelber wenig,
und meiſtens nur, wenn ich dazu aufgefordert wurde.
Die Fürſtin ſaß in ſchwarzem oder aſchgrauem Sei¬
denkleide — lichtere trug ſie nie — in ihrem Polſter¬
ſtuhle, und hatte einen Schemel unter ihren Füßen.
Die Lampe trug gegen ihre Seite hin einen grünen
Schirm, und goß ihr Licht in die Gegend der Vor¬
leſerin oder des Vorleſers, wenn eben geleſen wurde.
[80] Die Andern ſaßen nach ihrer Bequemlichkeit herum.
Meiſtens bildete ſich von ſelber eine Art Kreis. Man
hörte in tiefer Stille dem Vorleſen zu, und nahm an
den Geſprächen, die nach dem Leſen folgten, oder die,
wenn gar keine Vorleſung war, den ganzen Abend
erfüllten, den eifrigſten Antheil. Die Fürſtin konnte
ihnen den lebhafteſten und tiefſten Fortgang geben.
Es ſchien, daß das, was die vorzüglichſten Män¬
ner in ihrer Gegenwart ſprachen, von ihr angeregt
wurde, und daß ihre größte Gabe darin beſtand, das,
was in anderen war, hervor zu rufen. Sie ſaß dabei
mit ihrer äußerſt zierlichen Geſtalt auf die anmuthigſte
Weiſe in ihrem Stuhle, und bewegte noch als hochbe¬
tagte Frau die Geſellſchaft mit ihrer lieblichen Schön¬
heit. Zuweilen, wenn ſich ihr Inneres erregte, ſtand
ſie auf, hielt ſich an ihrem Stuhle, und erklärte, und
ſprach zu den Anweſenden mit ihrer klaren zarten
wohllautenden Stimme.
Ich lernte verſchiedene Menſchen in den Zimmern
der Fürſtin kennen. Zuweilen war es ein hervor¬
ragender Künſtler, den man dort ſprechen hörte,
zuweilen ein Staatsmann, der mit den wichtigſten
Angelegenheiten unſeres Landes betraut war, oder es
war ſonſt eine bedeutende Perſönlichkeit der Geſellſchaft
[81] oder es waren die Säulen und die Führer unſeres
tapferen Heeres. Ich hörte bei der Fürſtin Aus¬
ſprüche, die ich mir merken wollte, die ich mir auf¬
ſchrieb, und die mir ein unveräußerliches Eigenthum
bleiben ſollten. Ich geſtehe es, daß ich nie ohne eine
gewiſſe Beklemmung in das Zimmer mit den blaube¬
malten Wänden und den dunkelblauen Geräthen und
den einigen Bildern, worunter mich beſonders das
anzog, welches ihren Landſiz darſtellte, trat, und
ich geſtehe es, daß ich nie das Zimmer ohne Ruhe
und Befriedigung verließ. Ich empfand, daß jene
Abende für mich von großer Bedeutung, daß ſie eine
Zukunft ſeien.
Außer den beſonders hervorragenden Menſchen
lernte ich bei der Fürſtin auch noch andere Perſonen,
des höheren Adels unſeres Reiches kennen, kam man¬
ches Mal mit den Kreiſen desſelben in Berührung,
und ſah ſeine Art ſeine Lebensweiſe und ſeine Sitten.
Neben dieſen Abtheilungen der menſchlichen Ge¬
ſellſchaft kam ich auch mit anderen zuſammen. Es
war in der Stadt ein öffentlicher Ort, welcher haupt¬
ſächlich von Künſtlern aller Art beſucht wurde, welche
ſich dort beſprachen, Erfriſchungen zu ſich nahmen,
Zeitungen laſen, oder ſich mit körperlichen Spielen
Stifter, Nachſommer. II. 6[82] ergözten. Dieſen Ort beſuchte ich gerne. Da war
der eine oder der andere Schauſpieler von der Hof¬
bühne oder von der Oper, da war ein Maler, deſſen
Namen damals hoch geprieſen wurde, da waren Ton¬
künſtler, ſo wohl ausübende als dichtende, da waren
Bildhauer und Baumeiſter, vorzüglich aber waren
es Schriftſteller und Dichter, und es befanden ſich
darunter auch Vorſtände und Mitarbeiter an Zei¬
tungsanſtalten. Von anderen Perſonen waren hö¬
here Staatsdiener Bürger Kaufleute und überhaupt
ſolche vorhanden, die einen Antheil an Kunſt und
Wiſſenſchaft und an einem dahin abzielenden Umgange
nahmen. Wenn auch eigentlich nur eine ungezwun¬
gene Heiterkeit herrſchte, wenn auch nur Spiele zu
körperlicher Bewegung und daneben das Schachſpiel
vorzuherrſchen ſchienen, ſo waren doch auch Geſpräche,
und wie es bei ſolchen Männern zu erwarten war,
Geſpräche ſehr lebhafter Natur im Gange, und waren
doch im Grunde die Hauptſache. Da konnte man in
leichten Worten den tiefen Geiſt des Einen ſehen, oder
den ruhigen, der alles zerſezt, und in ſeine Beſtandtheile
auflöſt, oder den lebhaften, der darüber weggeht, oder
den leichtfertigen, der alles verlacht, oder den, deſſen
Sitten ſelbſt ein wenig bedenklich waren. Oft war
[83] es nur ein Wort ein Wiz, der den Grund geben
konnte, um Schlüſſe zu bauen. Troz meiner Schüch¬
ternheit, die mich ferne hielt, gerieth ich doch in Ge¬
ſpräche, und lernte den einen und andern Mann von
denen kennen, die ſich hier einfanden. Selbſt das
äußere Benehmen und Gebahren von Männern, die
ſonſt ſolche Geltung haben, ſchien mir nicht gleich¬
giltig.
Ich beſuchte in jenem Winter auch gerne Orte,
an welchen ſich viele Menſchen zu ihren Vergnügun¬
gen verſammeln, um die Art ihrer Erſcheinung ihr
Weſen und ihr Verhalten als eines Ganzen ſehen zu
können. Vorzüglich ging ich dahin, wo das eigent¬
liche Volk, wie man es jezt häufig zum Gegenſaze der
ſogenannten Gebildeten nennt, zuſammen kömmt.
Die man gebildet nennt, ſind faſt überall gleich; das
Volk aber iſt urſprünglich, wie ich es bei meinen Wan¬
derungen ſchon kennen lernte, und hat ſeine zugearte¬
ten Bräuche und Sitten.
Ich ging in die guten Darſtellungen von Muſik¬
ſtücken, ich fuhr im Beſuche des Hoftheaters fort,
ging jezt auch in die Oper, und beſuchte manche
öffentliche wiſſenſchaftliche Vorträge dann Kunſt- und
Bücherſammlungen hauptſächlich aber zur Vervoll¬
6 *[84] kommnung meiner eigenen künftigen Arbeiten die
Sammlungen von Gemälden.
Den Umgang mit meinem neuen Freunde dem
Sohne des Juwelenhändlers ſezte ich fort. Wir be¬
gannen endlich in der That einen eigenen Unterrichts¬
gang über Edelſteine und Perlen. Zwei Tage in der
Woche waren feſtgeſezt, an denen ich zu einer beſtimm¬
ten für ihn verfügbaren Stunde kam, und ſo lange
blieb, als es eben ſeine Zeit geſtattete. Er führte
mich zuerſt in die Kenntniß aller jener Mineralien ein,
welche man Edelſteine nennt, und vorzüglich zu
Schmuck benüzt. Eben ſo zeigte er mir alle Gattun¬
gen von Perlen. Hierauf unterrichtete er mich in dem
Verfahren, die Juwelen zu erkennen und von falſchen
zu unterſcheiden. Später erſt ging er auf die Merk¬
male der ſchönen und der minder ſchönen über. Bei
dieſem Unterrichte kamen mir meine Kenntniſſe in den
Naturwiſſenſchaften ſehr zu ſtatten, ja ich war ſogar
im Stande durch Angaben aus meinem Fache die
Kenntniſſe meines Freundes zu erweitern, beſonders
was das Verhalten der Edelſteine zum Lichtdurchgang
zur doppelten Brechung und zu der ſogenannten
Polariſation des Lichtes anbelangt. Ich hatte aber
noch immer nicht den Muth, über die gebräuchliche
[85] Faſſung der Edelſteine mit ihm zu ſprechen, und meine
Gedanken hierüber ihm mitzutheilen.
Unter dieſen Dingen ging neben meinen eigent¬
lichen Arbeiten der Unterricht, den ich meiner
Schweſter gab, regelmäßig fort. In der Malerei
hatte ſie noch viel größere Schwierigkeiten als ich,
weil ſie einestheils weniger geübt war, und weil ſie
anderntheils die Urbilder nicht geſehen ſondern nur
fehlerhafte Abbilder vor ſich hatte. Im Zitherſpiel
ging es weit beſſer. Ich wurde heuer ein wirkſamerer
Lehrer, als ich es in dem vergangenen Jahre geweſen
war, und konnte nach dem, was ich gelernt hatte,
überhaupt ein beſſerer Lehrer für ſie ſein, als einer in
der Stadt zu finden geweſen wäre, obwohl dieſe
Schwierigkeiten überwanden, deren Beſiegung mir
und Klotilden eine Unmöglichkeit geweſen wäre. Nach
meinen Anſichten, die ich in den Bergen gelernt hatte,
kam es aber darauf nicht an. Wir lernten endlich
wechſelweiſe von einander, und brachten manche freu¬
dige und empfindungsreiche Stunde an der Zither zu.
Ich mußte zulezt Klotilden auch im Spaniſchen
unterrichten. Da ich immer einige Schritte vor ihr
voraus war, ſo konnte ich allerdings einen Lehrer für
ſie wenigſtens in den Anfangsgründen vorſtellen. Wie
[86] es im weiteren Verlaufe zu machen wäre, würde ſich
zeigen. Wir lebten uns in ein wechſelſeitiges Thätig¬
keitsleben hinein.
So verging der Winter, und ich blieb damals
bis ziemlich tief in das Frühjahr hinein bei den Mei¬
nigen in der Stadt.
2.
Die Annäherung.
Obwohl faſt den ganzen Winter hindurch davon
die Rede geweſen war, daß mich der Vater in dem
nächſten Frühlinge in das Gebirge begleiten werde,
und daß er bei dieſer Gelegenheit den Mann im Ro¬
ſenhauſe beſuchen wolle, um deſſen Seltenheiten und
Koſtbarkeiten zu ſehen, ſo hatte er doch, als der
Frühling gekommen war, nicht Zeit, ſich von ſeinen
Geſchäften zu trennen, und ich mußte wie in allen
früheren Jahren meine Reiſe allein antreten.
Als ich zu meinem Gaſtfreunde gekommen war,
war das Erſte, daß ich ihm von den Wandverkleidun¬
gen erzählte. Ich hatte früher ihrer nicht erwähnt,
weil ich ſie doch nicht für ſo wichtig gehalten hatte.
Ich erzählte ihm, daß ich ſie in dem Lauterthale ge¬
funden und gekauft habe, und daß ſie aus Schnizar¬
[88] beit von Geſtalten und Verzierungen beſtänden. Der
Vater, dem ich ſie gebracht, habe eine große Freude
darüber gehabt, habe ſie nicht nur mit großem Ver¬
gnügen empfangen, ſondern habe auch einen Theil
eines Nebenbaues unſeres Hauſes umgebaut, um die
Verkleidungen geſchickt anbringen zu können. Dieſes
leztere habe mir erſt gezeigt, wie werth der Vater dieſe
Dinge halte, und dies habe mich beſtimmt, noch ge¬
nauer nachzuforſchen, ob ich denn die Ergänzungen
zu dem Getäfel nicht aufzufinden vermöge; denn das,
was der Vater habe, ſeien nur Bruchſtücke, und zwar
zwei Pfeilerverkleidungen, das übrige fehle. Ich habe
wohl ſchon Nachforſchungen in der beſten Art, wie
ich glaube, angeſtellt; aber ich wolle ſie doch noch
fortſezen, und verſuchen, ob ich nicht noch neue Mittel
und Wege auffinden könne, zu meinem Ziele, wenn es
noch vorhanden ſei, zu gelangen, oder die größtmögliche
Gewißheit zu erhalten, daß das Geſuchte nicht mehr
beſtehe. Ich beſchrieb meinem Gaſtfreunde, ſo gut ich
es aus der Erinnerung konnte, die Vertäflungen, und
machte ihn mit dem Fundorte und den Nebenumſtänden
bekannt. Ich verhehlte ihm nicht, daß ich das darum
thue, daß er mir einen Rath geben möge, wie ich
etwa weiter vorzugehen habe. Es handle ſich um
[89] einen Gegenſtand, der meinem Vater nahe gehe.
Nicht vorzüglich, weil dieſe Dinge ſchön ſeien, ob¬
wohl dies auch ein Antrieb für ſich ſein könnte, ſon¬
dern hauptſächlich darum ſuche ich darnach zu for¬
ſchen, weil ſie dem Vater Freude machen. Je älter er
werde, deſto mehr ſchließe er ſich in einem engen
Raume ab, ſein Geſchäftszimmer und ſein Haus wer¬
den nach und nach ſeine ganze Welt, und da ſeien es
vorzüglich Werke der bildenden Kunſt und die Bü¬
cher, mit denen er ſich beſchäftige, und die Wirkung,
welche dieſe Dinge auf ihn machen, wachſe mit den
Jahren. Er habe ſich von dem Schnizwerke in den
erſten Tagen kaum trennen können, er habe es in al¬
len Theilen genau betrachtet, und ſei zulezt ſo mit
demſelben bekannt geworden, als wäre er bei deſſen
Verfertigung zugegen geweſen. Darum wolle ich ſo
vorgehen, daß ich mich nicht in die Lage ſeze, mir
einen Vorwurf machen zu müſſen, daß ich in meinen
Nachforſchungen etwas verſäumt habe. Bisher ſeien
ſie freilich fruchtlos geweſen.
Mein Gaſtfreund fragte mich noch um einige
Theile des Werkes und ſeines Auffindens, die ich
ihm nicht dargeſtellt hatte, oder die ihm dunkel geblie¬
ben waren, und ließ ſich die Örtlichkeiten des Auffin¬
[90] dens noch einmal auf das Umſtändlichſte beſchreiben.
Hierauf ſagte er mir, ich möge an meinen Vater un¬
geſäumt einen Brief ſenden, und ihn bitten die ge¬
nauen Ausmaße des Schnizwerkes nach Außen und
nach Innen zu nehmen, und mir zu ſchicken. Ich be¬
grif augenblicklich die Zweckmäßigkeit der Maßregel,
und ſchämte mich, daß ſie mir ſelber nicht früher ein¬
gefallen war. Er ſelber wolle vorläufig an Roland
ſchreiben, und ihm dann, wenn ſie eingelangt wären,
die Ausmaße ſchicken. Auch wolle er ſeine Geſchäfts¬
führer in jener Gegend beauftragen, ſich um die Sache
zu bemühen. Wenn das Geſuchte zu finden iſt, ſo
dürfte Roland der geeignetſte Mithelfer ſein, und die
anderen Männer, die er noch auffordern werde, hät¬
ten ſich ſchon in den verſchiedenſten Gelegenheiten
ſehr erprobt.
Ich dankte meinem Gaſtfreunde auf das Verbind¬
lichſte für ſeine Gefälligkeit, und verſprach, in nichts
ſäumig zu ſein.
Am nächſten Morgen trug ein Bothe meinen
Brief an den Vater und die Briefe meines Gaſtfreun¬
des an Roland und andere Männer auf die nächſte
Poſt. Mein Gaſtfreund mußte bis in die tiefe Nacht
geſchrieben haben; denn es war ein ganzes Päckchen
[91] von Briefen. Mich rührte dieſe Güte außerordent¬
lich; denn ich wußte nicht, wie ich ſie verdient hatte.
Daß ich in der erſten Zeit meines Aufenthaltes in
dem Roſenhauſe gleich an alle Orte ging, die mir
lieb waren, begreift ſich.
In dem Zeichnungszimmer Euſtachs fand ich den
Muſiktiſch fertig. Es war ſeit ſeiner Vollendung erſt
eine kurze Zeit verfloſſen, deßhalb ſtand er noch an
dieſer Stelle. Ich hatte nicht geahnt, daß das Werk,
das ich bei Beginn ſeiner Wiederherſtellung geſehen
hatte, ſich ſo darſtellen würde, wenn es fertig wäre.
Ich hatte Bilder Bauwerke Zeichnungen und derglei¬
chen in jüngſter Zeit in großer Menge geſehen und
ſelber ähnliche Dinge verfertigt, ich konnte mir daher
in ſolchen Sachen ein kleines Urtheil zutrauen; aber,
wenn ich nicht gewußt hätte, daß der Rahmen und
das Geſtelle des Tiſches neu gemacht worden ſei,
ſo hätte ich es nie erkannt, ſo ſehr paßte beides im
Baue in der ganzen Art und ſelbſt in der Farbe des
Holzes zu der Platte. Das ganze Werk ſtand rein
glänzend und klar vor den Augen. Die Farben der
verſchiedenen Hölzer an den Verzierungen am Laub¬
werke am Obſte und an den Geräthen trat unter der
Macht des Harzes kräftig und ſcharf hervor. Selbſt
[92] die Mißverhältniſſe der Größen in den verſchiedenen
eingelegten Geräthen, zum Beiſpiele zwiſchen der
Flöte der Geige der Trommel, welche mir bei meinem
erſten Beſuche in dem Schreinerhauſe Anſtoß gegeben
hatten, erſchienen mir jezt als naiv, und hatten et¬
was Anziehendes für mich, welches mir die Tiſch¬
platte lieber machte, als wenn ſie ganz fehlerfrei
oder etwa nach neuen Kunſtbegriffen gemacht geweſen
wäre. Ich fragte Euſtach, wohin der Tiſch zu ſtehen
kommen würde. Er konnte es mir nicht ſagen. Es
ſei darüber nichts eröffnet worden, ob er in dem
Hauſe bleiben, oder ob er irgend wohin verſendet
werden würde. Jezt bleibe er hier ſtehen, damit alle
Nachtrocknungen in jener allmählichen Stufenfolge
vor ſich gehen können, wie ſie bei jedem neuverfertig¬
ten Geräthe eintreten müſſen, daß es nicht Schaden
leide. Die meiſten der neuverfertigten oder wieder¬
hergeſtellten Werke ſeien zu dieſem Zwecke in dem
Zeichnungszimmer ſtehen geblieben, wenn ſie anders
dort Plaz hatten. Ich betrachtete den Tiſch noch eine
Weile, und ging dann zu andern Gegenſtänden
über.
Auch die Gärtnerleute beſuchte ich, die Leute des
Meierhofes, die Gartenarbeiter, die Dienſtleute des
[93] Hauſes und einige Nachbaren, zu denen wir früher
öfter gekommen waren, und die ich näher kennen ge¬
lernt hatte.
Obwohl ich nach dem Rathe und der Einladung
meines Gaſtfreundes entſchloſſen war, heuer meine
Berufsarbeit, wenigſtens jenes Berufes, den ich mir
ſelber aufgelegt hatte, ruhen zu laſſen, ſondern einen
Theil des Sommers in dem Roſenhauſe zu verleben,
und mich meiner Laune und dem Augenblicke hinzu¬
geben: hatte ich doch nicht den Willen, gar nichts zu
thun, was mir die größte Qual geweſen wäre, ſon¬
dern mich bei meinen Handlungen von meinem Ver¬
gnügen und der Gelegenheit leiten zu laſſen. Mein
Gaſtfreund hatte mir die nehmlichen zwei Zimmer
eingeräumt, welche ich bisher ſtets inne gehabt hatte,
und freute ſich, daß ich ſeinen Rath befolgen, und
einmal auch anderswohin ſehen wolle als immer ein¬
ſeitig auf meine Arbeiten, und daß ich einmal zu
einem allgemeineren Bewußtſein kommen wolle, als
zu dem ich mich bisher gebannt hätte. Ich hatte viele
Bücher und Schriften mitgebracht, hatte alle Werk¬
zeuge zur Öhlmalerei bei mir, und hatte doch aus Vor¬
ſicht auch einige Vorrichtungen zu Vermeſſungen und
dergleichen eingepackt.
[94]
Wenn man von dem Roſenhauſe über den Hü¬
gel, auf dem der große Kirſchbaum ſteht, nordwärts
geht, ſo kömmt man in die Wieſe, durch welche der
Bach fließt, an dem mein Gaſtfreund jene Erlenge¬
wächſe zieht, welche ihm das ſchöne Holz liefern, das
er neben anderen Hölzern zu ſeinen Schreinerarbeiten
verwendet. Wir waren öfter zu dieſem Bache gekom¬
men, und ſeinen Ufern entlang gegangen. Er floß
aus einem Gehölze hervor, in welchem mein Gaſt¬
freund einige Waſſerwerke hatte aufführen laſſen, um
die Wieſe vor Überſchwemmungen zu ſichern, und die
Verwilderung des Baches zu verhindern. Im Innern
des Gehölzes befindet ſich ein ziemlich großer Teich,
eigentlich ein kleiner See, da er nicht mit Kunſt an¬
gelegt ſondern größtentheils von ſelber entſtanden
war. Nur Geringes hatte man hinzu gefügt, um
nicht Verſumpfungen an ſeinen Rändern und Über¬
fluthungen bei ſeinem Ausfluſſe entſtehen zu laſſen.
Das Waſſer dieſes Waldbeckens iſt ſo klar, daß man
in ziemlicher Tiefe noch alle die bunten Steine ſehen
kann, welche auf dem Grunde liegen. Nur ſchienen
ſie grünlich blau gefärbt, wie es bei allen Wäſſern
der Fall iſt, die aus unſern Kalkalpen oder in deren
Nähe fließen. Rings um dieſes Waſſer iſt das Ge¬
[95] zweige ſo dicht, daß man keinen Stein und kaum einen
Uferrand ſehen kann, ſondern die Zweige aus dem
Waſſer zu ragen ſcheinen. Die Bäume, die da ſtehen,
ſind eines Theils Nadelholz, das mit ſeinem Ernſte
ſich in die Heiterkeit miſcht, die auf den Äſten Blät¬
tern und Wipfeln der Laubbäume ruht, die den vor¬
herrſchenden Theil bilden. Vorzugsweiſe iſt die Erle
der Ahorn die Buche die Birke und die Eſche vorhan¬
den. Zwiſchen den Stämmen iſt reichliches Wucher¬
geſtrippe. Der Bach in der Erlenwieſe meines Gaſt¬
freundes verdankt dem See ſein Daſein; aber da
dieſer aus Quellzuflüſſen lebt, ſo iſt der ausflie¬
ßende Bach oft ſo trocken, daß man, ohne ſich die
Sohle zu nezen, über ſeine hervorragenden Steine
gehen kann. Wo er aus dem See geht, iſt eine kleine
Hütte erbaut, die den Hauptzweck hat, daß die, welche
in dem See ſich baden wollen, in ihr ſich entkleiden
können. Der Seegrund geht mit ſeinen ſchönen Kie¬
ſeln ſo ſachte in die Tiefe, daß man ziemlich weit vor¬
wärts gehen, und das wallende Waſſer genießen
kann, ohne den Grund zu verlieren. Auch zum Ler¬
nen des Schwimmens iſt dieſer Theil ſehr geeignet,
weil man an allen Stellen Grund findet, und ſich
unbefangener den Übungen hingeben kann. Weiter
[96] draußen beginnt das Gebiet derer, die ihrer Arme
und ihrer Bewegungen ſchon vollſtändig Herr ſind.
Guſtav ging an Sommertagen faſt jeden zweiten Tag
mit Euſtach oder mit jemand anderm oder zuweilen
auch mit meinem Gaſtfreunde zu dem See hinaus,
um in demſelben zu ſchwimmen. Dieſe Thätigkeit, ſo
wie die andern Körperbewegungen und Übungen, die
für ihn in dem Roſenhauſe angeordnet waren, ſchie¬
nen ihm viele Freude zu machen. Mein Gaſtfreund
hielt auf körperliche Übungen ſehr viel, da ſie zur
Entwicklung und Geſundheit unumgänglich nothwen¬
dig ſeien. Er lobte dieſe Übungen ſehr an den Grie¬
chen und Römern, welche beiden Völker er auf eine
hervorragende Weiſe ehrte. Das liege auf der Hand,
pflegte er zu ſagen, daß, ſo wie die Krankheit des
Körpers den Geiſt zu etwas anderem mache, als er
in der Geſundheit des Körpers iſt, ein kräftiger und
in hohem Maße entwickelter Körper die Grundlage
zu allem dem abgebe, was tüchtig und herzhaft heißt.
Bei den alten Römern iſt ein großer Theil ihrer Er¬
folge in der Geſchichte und ihres früheren Glückes in
der Pflege und Entwicklung ihres Körpers zu ſuchen.
Ihr Glück dauerte auch nur ſo lange, als die ver¬
nünftige Pflege ihrer Leibesübungen dauerte. In
[97] neuen Schulen vernachläſſige man dieſe Pflege zu
ſehr, die bei uns um ſo nothwendiger wäre, als ſich
durch das Zuſammengehäuftſein in dunſtigen und
heißen Stuben ohnehin Übel erzeugen, die dem Auf¬
enthalte in freier Luft fremd ſind. Darum werden
auch die Geiſteskräfte von Schülern der neuen Zeit
nicht entwickelt, wie ſie ſollten, und wie ſie es bei
Kindern, die in Wald und Feldern ſchweifen, freilich
auf Koſten ihres höheren Weſens wirklich ſind. Da¬
her ſtamme ein Theil der Schalheit und Trägheit
unſerer Zeiten. Ich ging mit Guſtav jezt, da ich viele
Muße hatte, ſehr fleißig zu dem Wäldchen, und da
ich in der Kunſt des Schwimmens eine große Fertig¬
keit hatte, ſo ſah er an mir ein Vorbild, dem er nach¬
ſtreben konnte, und lernte Gelenkigkeit und Ausdauer
mehr, als er es ohne mich gekonnt hätte.
Überhaupt gewann Guſtav eine immer größere
Neigung zu mir. Es mochte, wie ich mir ſchon früher
gedacht hatte, zuerſt der Umſtand eingewirkt haben,
daß ich ihm an Alter nicht ſo ſehr ferne ſtand. Dazu
mochte ſich geſellt haben, daß ich, der ich eigentlich
ſehr einſam und abgeſchloſſen erzogen worden war,
viel tiefer in ſpätere Jahre hinein die Merkmale der
Kindheit bewahrt haben mochte als andere Leute, die
Stifter, Nachſommer. II. 7[98] gleichen Alters mit mir waren, und zulezt konnte jezt
auch das wirken, daß ich bei meiner Geſchäftloſigkeit
viel mehr Berührungspunkte mit ihm fand, als es
bei meinen früheren Anweſenheiten in dem Roſen¬
hauſe der Fall geweſen war.
Ich ſchrieb nun auf dem Asperhofe mehr Briefe
als ſonſt, ich las in Dichtern, betrachtete alles um
mich herum, ſchweifte oft weit in die Gegend hinaus;
aber dieſe Lebensweiſe wurde mir bald beſchwerlich,
und ich ſuchte etwas hervor, was mich tiefer beſchäf¬
tigte. Die Dichter als das Edelſte, was mir jezt be¬
gegnete, riefen wieder das Malen hervor. Ich rich¬
tete meine Zeichnungsgeräthe und meine Vorrichtun¬
gen zur Malerei in den Stand, und begann wieder
meine Übungen im Malen der Landſchaft. Ich malte
je nach der Laune bald ein Stück Himmel bald eine
Wolke bald einen Baum oder Gruppen von Bäu¬
men entfernte Berge Getreidehügel und dergleichen.
Auch ſchloß ich menſchliche Geſtalten nicht aus, und
verſuchte Theile derſelben. Ich verſuchte das Antliz des
Gärtners Simon und das ſeiner Gattin auf die Lein¬
wand zu bringen. Die beiden Leute hatten eine große
Freude über das Ding, und ich gab ihnen die Bilder
in ihre Stube, nachdem ich vorher nette Rahmen dazu
[99] beſtellt, und in der Zeit, bis ſie eintrafen, mir Abbilder
von den Köpfen für meine eigene Mappe gemacht
hatte. Ich malte die Hände oder Büſten verſchiedener
Leute, die ſich in dem Roſenhauſe oder in dem Meier¬
hofe befanden. Meinen Gaſtfreund oder Euſtach oder
Guſtav zu bitten, daß ſie mir als Gegenſtand meiner
Kunſtbeſtrebungen dienen ſollten, hatte ich nicht den
Muth, weil die Erfolge noch gar zu unbedeutend
waren.
Guſtav nahm unter allen den größten Antheil an
dieſen Dingen. So wie er im vorigen Jahre Geräthe
mit mir gemalt hatte, verſuchte er es heuer auch mit
den Landſchaften. Sein Ziehvater und ſein Zeich¬
nungslehrer hatten nichts dagegen, da nur freie Stun¬
den zu dieſen Beſchäftigungen verwendet wurden, da
ſeine Körperübungen nicht darunter zu leiden hatten,
und da ſich dadurch das Band zwiſchen mir und ihm
noch mehr befeſtigte, was mein Gaſtfreund nicht un¬
gern zu ſehen ſchien, da doch zulezt der Jüngling nie¬
manden hatte, an wen er das Gefühl der Freund¬
ſchaft leiten ſollte, das in ſeinen Jahren ſo gerne er¬
wacht, und das ſich in ſanftem Zuge an einen Gegen¬
ſtand richtet. Da unter ſeiner Hand ein Baum ein
Stein ein Berg ein Wäſſerchen in lieblichen Farben
7 *[100] hervorging, hatte er eine unausſprechliche Freude.
Bei Euſtach hatte er nur größtentheils Bau- und Ge¬
räthezeichnungen geſehen, und Roland hatte auch nur
Ähnliches von ſeinen Reiſen zurück gebracht. Was
von Landſchaften in der Gemäldeſammlung ſeines
Ziehvaters hing, auf denen er wohl grüne Bäume
weiße Wolken blaue Berge beobachten konnte, hatte
er nie um ſeine Entſtehung angeſchaut, ſondern die
Dinge waren da, wie auch andere Dinge da ſind,
das Haus der Getreidehügel der Berg der ferne
Kirchthurm, und er hatte nicht daran gedacht, daß
auch er ſolche Gegenſtände hervorzubringen vermöchte.
Er redete auf Spaziergängen davon, wie dieſer Baum
ſich baue, wie jener Berg ſich runde, und er erzählte
mir, daß ihm oft von dem Zeichnen lebhaft träume.
Man ließ den Jüngling auch auf größere Entfer¬
nungen von dem Roſenhauſe mit mir gehen. Seine
Arbeiten wurden dabei ſo eingerichtet, daß, wenn ſie
auch unterbrochen werden mußten, ein weſentlicher
Schaden ſich nicht einſtellen konnte. Dafür gewann
er an Geſundheit und körperlicher Abhärtung bedeu¬
tend. Wir waren nicht ſelten mehrere Tage abwe¬
ſend und Guſtav vergnügte es ſehr, wenn wir Abends
nach unſerem leichten Mahle in einem Gaſthauſe in
[101] unſer Zimmer gingen, wenn er durch die Fenſter auf
eine fremde Landſchaft hinausſchauen konnte, wenn
er ſein Ränzlein und ſeine Reiſeſachen auf dem Tiſche
zurecht richten, und dann die ermüdeten Glieder auf
dem Gaſtbette ausſtrecken durfte. Wir beſtiegen hohe
Berge, wir gingen an Felswänden hin, wir begleite¬
ten den Lauf rauſchender Bäche, und ſchifften über
Seen. Er wurde ſtark, und das zeigte ſich ſichtbar,
wenn wir von einer Gebirgswanderung — denn faſt
immer gingen wir in das Gebirge — zurückkehrten,
wenn ſeine Wangen gebräunt waren, als wollten ſie
beinahe ſchwarz werden, wenn ſeine Locken die dunkle
Stirne beſchatteten, und die großen Augen lebhaft
aus dem Angeſichte hervor leuchteten. Ich weiß nicht,
welcher innre Zug von Neigung mich zu dem Jüng¬
linge hinwendete, der in ſeinem Geiſte zulezt doch
nur ein Knabe war, den ich über die einfachſten Dinge
täglicher Erfahrung belehren mußte, namentlich, wenn
es Wanderungsangelegenheiten waren, und der mir
in ſeiner Seele nichts biethen konnte, wodurch ich er¬
weitert und gehoben werden mußte, es müßte nur
das Bild der vollkommenſten Güte und Reinheit ge¬
weſen ſein, das ich täglich mehr an ihm ſehen lieben
und verehren lernte.
[102]
Ich ging auch einige Male zu dem Lauterſee. Ich
hatte im vorigen Jahre angefangen, ſeine Tiefe an
verſchiedenen Stellen zu meſſen, um ein Bild darzu¬
ſtellen, in welchem ſich die Berge, die den See um¬
ſtanden, ſichtbar auch unter der Waſſerfläche fortſez¬
ten, und nur durch einen tieferen Ton gedämpft wa¬
ren. Der Reiz, der dieſe Aufnahme herbei geführt
hatte, ſtellte ſich wieder ein, und ich ſezte die Meſſun¬
gen nach einem Plane fort, um die Thalſohle des
Sees immer richtiger zu ergründen, und das Bild
einer größeren Sicherſtellung entgegen zu führen.
Guſtav begleitete mich mehrere Male, und arbeitete
mit den Männern, die ich gedungen hatte, das Schif
zu lenken, die Schnüre auszuwerfen, die Kloben zu
richten, an denen ſich die Senkgewichte abwickelten,
oder andere Dinge zu thun, die ſich als nothwendig
erwieſen.
Beſondere Freude machte es mir, daß ich nach
und nach die Feinheiten des menſchlichen Angeſichtes
immer beſſer behandeln lernte, beſonders, was mir
früher ſo ſchwer war, wenn der leichte Duft der Farbe
über die Wangen ſchöner Mädchen ging, die ſich ſanft
rundeten, ſchier keine Abwechslung zeigten, und doch
ſo mannigfaltig waren. Mir waren die Verſuche am
[103] angenehmſten, das Liebliche Sittige Schelmiſche, das
ſich an manchen jungen Land- oder Gebirgsmädchen
darſtellte, auf der Leinwand nachzuahmen.
Eines Abends, da Blize faſt um den ganzen Ge¬
ſichtskreis leuchteten, und ich von dem Garten gegen
das Haus ging, fand ich die Thür, welche zu dem
Gange des Amonitenmarmors zu der breiten Mar¬
mortreppe und zu dem Marmorſaale führte, offen
ſtehen. Ein Arbeiter, der in der Nähe war, ſagte
mir, daß wahrſcheinlich der Herr durch die Thür
hinein gegangen ſei, daß er ſich vermuthlich in dem
ſteinernen Saale befinden werde, in welchen er gerne
gehe, wenn Gewitter am Himmel ſtänden, und daß
die Thür vielleicht offen geblieben ſei, damit Guſtav,
wenn er käme, auch hinaufgehen könnte. Ich blickte
in den Marmorgang, ſah hinter der Schwelle mehrere
Paare von Filzſchuhen ſtehen, und beſchloß, auch in
den ſteinernen Saal hinauf zu gehen, um meinen
Gaſtfreund aufzuſuchen. Ich legte ein Paar von paſ¬
ſenden Filzſchuhen an, und ging den Gang des Amo¬
nitenmarmors entlang. Ich kam zu der Marmor¬
treppe, und ſtieg langſam auf ihr empor. Es war
heute kein Tuchſtreifen über ſie gelegt, ſie ſtand in
ihrem ganzen feinen Glanze da, und erhellte ſich noch
[104] mehr, wenn ein Bliz durch den Himmel ging, und
von der Glasbedachung, die über der Treppe war,
hereingeleitet wurde. So gelangte ich bis in die
Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung und
Erweiterung gleichſam wie in einer Halle nicht weit
von der Wand die Bildſäule von weißem Marmor
ſteht. Es war noch ſo licht, daß man alle Gegen¬
ſtände in klaren Linien und deutlichen Schatten ſehen
konnte. Ich blickte auf die Bildſäule, und ſie kam
mir heute ganz anders vor. Die Mädchengeſtalt
ſtand in ſo ſchöner Bildung, wie ſie ein Künſtler
erſinnen, wie ſie ſich eine Einbildungskraft vorſtel¬
len, oder wie ſie ein ſehr tiefes Herz ahnen kann,
auf dem niedern Sockel vor mir, welcher eher eine
Stufe ſchien, auf die ſie geſtiegen war, um herum¬
blicken zu können. Ich vermochte nun nicht weiter zu
gehen, und richtete meine Augen genauer auf die
Geſtalt. Sie ſchien mir von heidniſcher Bildung zu
ſein. Das Haupt ſtand auf dem Nacken, als blühete
es auf demſelben. Dieſer war ein wenig aber kaum
merklich vorwärts gebogen, und auf ihm lag das
eigenthümliche Licht, das nur der Marmor hat, und
das das dicke Glas des Treppendaches hereinſendete.
Der Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den
[105] Nacken niederging, ſchnitt dieſen mit einem flüchtigen
Schatten, der das Licht noch lieblicher machte. Die
Stirne war rein, und es iſt begreiflich, daß man nur
aus Marmor ſo etwas machen kann. Ich habe nicht
gewußt, daß eine menſchliche Stirne ſo ſchön iſt. Sie
ſchien mir unſchuldvoll zu ſein, und doch der Siz von
erhabenen Gedanken. Unter dieſem Throne war die
klare Wange ruhig und ernſt, dann der Mund, ſo
feingebildet, als ſollte er verſtändige Worte ſagen,
oder ſchöne Lieder ſingen, und als ſollte er doch ſo
gütig ſein. Das Ganze ſchloß das Kinn wie ein ruhi¬
ges Maß. Daß ſich die Geſtalt nicht regte, ſchien blos
in dem ſtrengen bedeutungsvollen Himmel zu liegen,
der mit den fernen ſtehenden Gewittern über das Glas¬
dach geſpannt war, und zur Betrachtung einlud. Edle
Schatten wie ſchöne Hauche hoben den ſanften Glanz
der Bruſt, und dann waren Gewänder bis an die
Knöchel hinunter. Ich dachte an Nauſikae, wie ſie an
der Pforte des goldenen Saales ſtand, und zu Odyſ¬
ſeus die Worte ſagte: „Fremdling, wenn du in dein
Land kömmſt, ſo gedenke meiner.“ Der eine Arm war
geſenkt, und hielt in den Fingern ein kleines Stäb¬
chen, der andere war in der Gewandung zum Theile
verhüllt, die er ein wenig emporhob. Das Kleid war
[106] eher eine ſchön geſchlungene Hülle als ein nach einem
gebräuchlichen Schnitte Verfertigtes. Es erzählte von
der reinen geſchloſſenen Geſtalt, und war ſo ſtofflich
treu, daß man meinte, man könne es falten, und in
einen Schrein verpacken. Die einfache Wand des grauen
Amonitenmarmors hob die weiße Geſtalt noch ſchär¬
fer ab, und ſtellte ſie freier. Wenn ein Bliz geſchah,
floß ein roſenrothes Licht an ihr hernieder, und dann
war wieder die frühere Farbe da. Mir dünkte es
gut, daß man dieſe Geſtalt nicht in ein Zimmer ge¬
ſtellt hatte, in welchem Fenſter ſind, durch die all¬
tägliche Gegenſtände herein ſchauen, und durch die
verworrene Lichter einſtrömen, ſondern daß man ſie
in einen Raum gethan hat, der ihr allein gehört,
der ſein Licht von oben bekömmt, und ſie mit einer
dämmerigen Helle wie mit einem Tempel umfängt.
Auch durfte der Raum nicht einer des täglichen Ge¬
brauchs ſein, und es war ſehr geeignet, daß die
Wände rings herum mit einem koſtbaren Steine be¬
kleidet ſind. Ich hatte eine Empfindung, als ob ich
bei einem lebenden ſchweigenden Weſen ſtände, und
hatte faſt einen Schauer, als ob ſich das Mädchen in
jedem Augenblicke regen würde. Ich blickte die Ge¬
ſtalt an, und ſah mehrere Male die röthlichen Blize
[107] und die graulich weiße Farbe auf ihr wechſeln. Da
ich lange geſchaut hatte, ging ich weiter. Wenn es
möglich wäre, mit Filzſchuhen noch leichter aufzutre¬
ten, als es ohnehin ſtets geſchehen muß, ſo hätte ich
es gethan. Ich ging mit dem lautloſen Tritte langſam
über die glänzenden Stufen des Marmors bis zu dem
ſteinernen Saale hinan. Seine Thür war halb geöff¬
net. Ich trat hinein.
Mein Gaſtfreund war wirklich in demſelben. Er
ging in leichten Schuhen mit Sohlen, die noch wei¬
cher als Filz waren, auf dem geglätteten Pflaſter auf
und nieder.
Da er mich kommen ſah, ging er auf mich zu,
und blieb vor mir ſtehen.
„Ich habe die Thür zu dem Marmorgange offen
geſehen,“ ſagte ich, „man hat mir berichtet, daß ihr
hier oben ſein könntet, und da bin ich herauf gegan¬
gen, euch zu ſuchen.“
„Daran habt ihr recht gethan,“ erwiederte er.
„Warum habt ihr mir denn nicht geſagt,“ ſprach
ich weiter, „daß die Bildſäule, welche auf eurer Mar¬
mortreppe ſteht, ſo ſchön iſt?“
„Wer hat es euch denn jezt geſagt?“ fragte er.
„Ich habe es ſelber geſehen,“ antwortete ich.
[108]
„Nun dann werdet ihr es um ſo ſicherer wiſſen
und mit deſto größerer Feſtigkeit glauben,“ erwiederte
er, „als wenn euch jemand eine Behauptung darüber
geſagt hätte.“
„Ich habe nehmlich den Glauben, daß das Bild¬
werk ſehr ſchön ſei,“ antwortete ich mich verbeſſernd.
„Ich theile mit euch den Glauben, daß das Werk
von großer Bedeutung ſei,“ ſagte er.
„Und warum habt ihr denn nie zu mir darüber
geſprochen?“ fragte ich.
„Weil ich dachte, daß ihr es nach einer beſtimm¬
ten Zeit ſelber betrachten und für ſchön erachten wer¬
det,“ antwortete er.
„Wenn ihr mir es früher geſagt hättet, ſo hätte
ich es früher gewußt,“ erwiederte ich.
„Jemanden ſagen, daß etwas ſchön ſei,“ antwor¬
tete er, „heißt nicht immer, jemanden den Beſiz der
Schönheit geben. Er kann in vielen Fällen blos
glauben. Gewiß aber verkümmert man dadurch dem¬
jenigen das Beſizen des Schönen, der ohnehin aus
eigenem Antriebe darauf gekommen wäre. Dies ſezte
ich bei euch voraus, und darum wartete ich ſehr gerne
auf euch.“
„Aber was müßt ihr denn die Zeit her über mich
[109] gedacht haben, daß ich dieſe Bildſäule ſehen konnte,
und über ſie geſchwiegen habe?“ fragte ich.
„Ich habe gedacht, daß ihr wahrhaftig ſeid,“
ſagte er, „und ich habe euch höher geachtet als die,
welche ohne Überzeugung von dem Werke reden, oder
als die, welche es darum loben, weil ſie hören, daß
es von andern gelobt wird.“
„Und wo habt ihr denn das herrliche Bildwerk
hergenommen?“ fragte ich.
„Es ſtammt aus dem alten Griechenlande,“ ant¬
wortete er, „und ſeine Geſchichte iſt ſonderbar. Es
ſtand viele Jahre in einer Bretterbude bei Cumä in
Italien. Sein unterer Theil war mit Holz ver¬
baut, weil man den Plaz, an dem es ſtand, und der
theils offen theils gedeckt war, zu häufigem Ballſchla¬
gen verwendete, und die Bälle nicht ſelten in die
Bude der Geſtalt flogen. Deßhalb legte man von der
Bruſt abwärts einen dachartigen Schuz an, der die
Bälle geſchickt herab rollen machte, und über den ſich
die Geſtalt wie eine Büſte darſtellte. Es waren in
dem Raume theils an den Bretterbauten theils an
Mauerſtücken, aus denen er beſtand, noch andere Ge¬
ſtalten angebracht, ein kleiner Herkules mehrere Köpfe
und ein alterthümlicher Stier von etwa drei Fuß
[110] Höhe; denn der Plaz wurde auch zu Tänzen benüzt,
und war an den Stellen, die keine Wand hatten, mit
Schlinggewächſen und Trauben begrenzt, an andern
war er offen, und blickte über Mirten Lorber Eichen
auf die blauen Berge und den heiteren Himmel dieſes
Landes hinaus. Gedeckt waren nur Theile des Rau¬
mes, beſonders dort, wo die Geſtalten ſtanden. Dieſe
hatten Dächer über ſich wie die niedlichen Täfelchen,
welche italieniſche Mädchen auf dem Kopfe tragen.
Im Übrigen war die Bedeckung das Gezelt des Him¬
mels. Mich brachte ein günſtiger Zufall nach Cumä
und zu dieſem Ballplaze, auf dem ſich eben junges
Volk beluſtigte. Gegen Abend, da ſie nach Hauſe ge¬
gangen waren, beſichtigte ich das Mauerwerk, wel¬
ches aus Reſten alter Kunſtbauten beſtand, und die
Geſtalten, welche ſämmtlich aus Gips waren, wie
ſie in Italien ſo häufig alten edlen Kunſtwerken nach¬
gebildet werden. Den Herkules kannte ich insbeſon¬
dere ſehr gut, nur war er hier viel kleiner gebildet.
Die Büſte des Mädchens — für eine ſolche hielt ich
die Geſtalt — war mir unbekannt; allein ſie gefiel
mir ſehr. Da ich mich über die reizende Lage dieſes
Pläzchens ausſprach, ſagte die Beſizerin, eine wahr¬
haftige altrömiſche Sibille, es werde hier in Kurzem
[111] noch viel ſchöner werden. Ihr Sohn, der ſich durch
Handel Geld erworben, werde den Plaz in einen
Saal mit Säulen verwandeln, es werden Tiſche
herum ſtehen, und es werden vornehme Fremde kom¬
men, ſich hier zu ergözen. Die Geſtalten müſſen weg,
weil ſie ungleich ſeien, und weil Menſchen und Thiere
unter einander ſtehen, ihr Sohn habe ſchon die ſchön¬
ſten Gipsarbeiten beſtellt, die alle gleich groß wären.
Sie führte mich zu dem Mädchen, und zeigte mir
durch eine Spalte der Bretter, daß daſſelbe in ganzer
Geſtalt da ſtehe, und alſo die andern Dinge weit
überrage. Man habe darum an dem oberen Rande
der Balken, mit denen die Geſtalt umbaut iſt, einen
hölzernen bemalten Sockel angebracht, von dem der
Oberleib wie eine Büſte herab ſchaue. Dadurch
ſei die Sache wieder zu den anderen geſtimmt wor¬
den. Ich fragte, wann ihr Sohn hieherkomme, und
wann das Umbauen beginnen würde. Da ſie mir das
geſagt hatte, entfernte ich mich. Zur Zeit des mir
von der Alten angegebenen Beginnes des Umbaues
fand ich mich auf dem Plaze wieder ein. Ich traf den
Sohn der Wittwe — eine ſolche war ſie — hier an,
und der Bau hatte ſchon begonnen. Die alten reizen¬
den Mauerſtücke waren zum Theile abgetragen, und
[112] ihre Stoffe waren geſchichtet, um zu dem neuen Baue
verwendet zu werden. Die Schlinggewächſe und Re¬
ben waren ausgerottet, die Geſträuche vor dem Plaze
vernichtet, und man ebnete ihre Stelle, um dort Ra¬
ſen anzulegen. Auf der Südſeite baute man ſchon die
Sockelmauern, auf welche die Säulen von Ziegeln zu
ſtehen kommen ſollten. Die Geſtalt des Mädchens,
von der man die Balkenverhüllung weggenommen
hatte, lag in einer Hütte, welche größtentheils Bau¬
geräthe enthielt. Neben ihr lagen der Herkules der
Stier und die Köpfe, die, wie ich jezt ſah, alte Rö¬
mer darſtellten. Mir gefiel nun auch die früher nicht
geſehene übrige Geſtalt des Mädchens, die nicht we¬
ſentlich verlezt war, außerordentlich, und ich erhan¬
delte ſie, da die Dinge zum Zwecke des Verkaufes in
der Bretterhütte lagen. Aber der Verkäufer ſagte, er
gebe von der Sammlung nichts einzeln weg, und ich
mußte den Stier den Herkules und die Köpfe mit
kaufen. Der Kaufſchilling war nicht geringe, da mein
Gegenmann die Schönheit der Geſtalt recht gut kannte
und ſie geltend machte; aber ich fügte mich. Ich ließ
Kiſten machen, um die Dinge fortzuſchaffen. Den
Stier den Herkules und die Köpfe verkaufte ich in
Italien um ein Geringes, die Mädchengeſtalt ſendete
[113] ich wohlverpackt, daß der Gips nicht leide, an meinen
damaligen Aufenthaltſort; ich kann euch den Namen
jezt nicht nennen, es war ein kleines Städtchen an
dem Gebirge. Mir fiel ſchon damals auf, daß das
Fahrgeld für die Geſtalt ſehr hoch ſei, und daß man
ſich über ihr Gewicht beklagt habe; allein ich hielt es
für italieniſche Liſt, um von mir dem Fremden etwas
mehr heraus zu preſſen. Als ich aber nach Deutſch¬
land zurückgekehrt war, und als eines Tages die
Gipsgeſtalt, für deren gute Verpackung und Über¬
bringung ich durch mir wohlbekannte Verſendungs¬
vermittler geſorgt hatte, in dem Asperhofe ankam,
überzeugte ich mich ſelber von dem ungemeinen Ge¬
wichte der Laſt. Da der Bretterverſchlag, in welchem
ſich die Geſtalt befand, nicht ſo ſchwer ſein konnte, ſo
entſtand in mir und Euſtach, der damals ſchon in
dem Asperhofe war, der Gedanke, die Geſtalt möchte
etwa naß geworden ſein, und durch die Näſſe gelitten
haben. Wir ließen das Standbild in die hölzerne Hütte
ſchaffen, welche ich theils zu ſeinem Empfange theils
zur Reinigung von den vielen Schmuzflecken, die es
an ſeinem früheren Standorte erhalten hatte, vor dem
Eingange in den Garten hatte aufbauen laſſen. Da
es dort von den Brettern und von allen ſeinen andern
Stifter, Nachſommer. II. 8[114] Hüllen befreit worden war, ſahen wir, daß ſich un¬
ſere Furcht nicht beſtätigte. Die Geſtalt war ſo trocken,
wie Gips nur überhaupt zu ſein vermag. Wir ſezten
nach und nach die Vorrichtungen in Gebrauch, durch
die wir die Geſtalt in die Nähe der Glaswand der
Hütte auf eine drehbare Scheibe ſtellen konnten, um
ſie nach Bequemlichkeit betrachten und reinigen zu
können. Da ſie auf der Scheibe ſtand, und wir uns
von der Sicherheit ihres Standes überzeugt hatten,
gingen wir zu ihrer Betrachtung über. Euſtach war
über ihre Schönheit entzückt, und machte mich auf
manches aufmerkſam, was mir auf dem Tanz- und
Ballplaze bei Cumä und ſpäter in der Bauhütte ent¬
gangen war. Freilich ſtand die Geſtalt jezt viel vor¬
theilhafter, da durch die reinen Scheiben der Glas¬
wand das klare Licht auf ſie fiel, und alle Schwin¬
gungen und Schwellungen der Geſtaltung deutlich
machte. Da wir die Überzeugung gewonnen hatten,
daß ein edles Werk in das Haus gekommen ſei, be¬
ſchloſſen wir, ſofort zu deſſen Reinigung zu ſchreiten.
Wir nahmen uns vor, dort, wo der Schmuz nur
locker auf der Oberfläche liege, und dem reinen Waſ¬
ſer und dem Pinſel weiche, auch nur Waſſer und den
Pinſel anzuwenden. Leichtes Übertünchen und ſanftes
[115] Glätten würde die lezte Nachhülfe geben. Für tiefer
gehende Verunreinigung wurde die Anwendung des
Meſſers und der Feile beſchloſſen; nur ſollte die
äußerſte Vorſicht beobachtet und lieber eine kleine
Verunreinigung gelaſſen werden, als daß eine ſicht¬
bare Umgeſtaltung des Stoffes vorgenommen würde.
Euſtach machte in meiner Gegenwart Verſuche, und
ich billigte ſein Verfahren. Es wurde nun ſogleich
ans Werk geſchritten, und die Arbeit in der nächſten
Zeit fortgeſezt. Eines Tages kam Euſtach zu mir
herauf und ſagte, er müſſe mich auf einen ſonderbaren
Umſtand aufmerkſam machen. Er ſei auf dem Schul¬
terblatte mit dem feinen Meſſer auf einen Stoff geſto¬
ßen, der nicht das Taube des Gipſes habe, ſondern
das Meſſer gleiten mache, und etwas wie die Ahnung
eines Klanges merken laſſe. Wenn die Sache nicht
zu unwahrſcheinlich wäre, würde er ſagen, daß der
Stoff Marmor ſei. Ich ging mit ihm in die Bretter¬
hütte hinab. Er zeigte mir die Stelle. Es war ein
Plaz, mit dem die Geſtalt häufig, wenn ſie gelegt
wurde, auf den Boden kam, und der daher durch die¬
ſen Umſtand und zum Theile durch Verſendungen,
denen die Geſtalt ausgeſezt geweſen ſein mochte, mehr
abgenüzt war als andere. Ich ließ das Meſſer auf
8*[116] dieſer Stelle gleiten, ich ließ es an ihr erklingen, und
auch ich hatte das Gefühl, daß es Marmor ſei, was
ich eben behandle. Weil der Plaz, an dem die Ver¬
ſuche gemacht wurden, doch zu augenfällig war, um
weiter gehen zu können, und ihn etwa zu verunſtal¬
ten, ſo beſchloſſen wir an einem unſcheinbareren einen
neuen Verſuch zu machen. In der Ferſe des linken
Fußes fehlte ein kleines Stückchen, dort mußte jeden¬
falls Gips eingeſezt werden, dort beſchloſſen wir zu
forſchen. Wir drehten die Geſtalt mit ihrer Scheibe
in eine Lage, in welcher das helle Licht auf die Lücke
an der Ferſe fiel. Es zeigte ſich, daß neben der klei¬
nen Vertiefung noch ein Stückchen Gips ledig ſei,
und bei der leiſeſten Berührung herab fallen müſſe.
Wir ſezten das Meſſer an, das Stück ſprang weg,
und es zeigte ſich auf dem Grunde, der blos wurde,
ein Stoff, der nicht Gips war. Das Auge ſagte, es
ſei Marmor. Ich holte ein Vergrößerungsglas, wir
leiteten durch Spiegel ein ſchimmerndes Licht auf die
Stelle, ich ſchaute durch das Glas auf ſie, und mir
funkelten die feinen Kriſtalle des weißen Marmors
entgegen. Euſtach ſah ebenfalls durch die Linſe, wir
verſuchten an dem Plaze noch andere Mittel, und es
ſtellte ſich feſt, daß die unterſuchte Fläche Marmor ſei.
[117] Nun begannen wir, um das Unglaubliche völlig zu
beweiſen, oder unſere Meinung zu widerlegen, auch
an andern Stellen Unterſuchungen. Wir fingen an
Stellen an, welche ohnehin ein wenig ſchadhaft wa¬
ren, und gingen nach und nach zu anderen über. Wir
beobachteten zulezt gar nicht mehr ſo genau die Vor¬
ſichten, die wir uns am Anfange auferlegt hatten,
und kamen zu dem Ergebniſſe, daß an zahlreichen
Stellen unter dem Gipſe der Geſtalt weißer Marmor
ſei. Der Schluß war nun erklärlich, daß an allen
Stellen, auch den nicht unterſuchten, der Gips über
Marmor liege. Das große Gewicht der Geſtalt war
nicht der lezte Grund unſerer Vermuthung. Durch
welchen Zufall oder durch welch ſeltſames Beginnen
die Marmorgeſtalt mit Gips könne überzogen worden
ſein, war uns unerklärlich. Am wahrſcheinlichſten
däuchte uns, daß es einmal irgend ein Beſizer gethan
habe, damit ein fremder Feind, der etwa ſeine Wohn¬
ſtadt und ihre Kunſtwerke bedrohte, die Geſtalt als
aus werthloſem Stoffe beſtehend nicht mit ſich fort
nehme. Weil nun doch der Feind die Geſtalt genom¬
men habe, oder weil ein anderer hindernder Umſtand
eingetreten ſei, habe die Decke nicht mehr weggenom¬
men werden können, und der edle Kern habe undenk¬
[118] bar lange Jahre in der ſchlechten Hülle ſtecken müſſen.
Wir fingen nun auf dem Wirbel des Hauptes an,
den Gips nach und nach zu beſeitigen. Theils und
zwar im Roheren geſchah es mit dem Meſſer, theils
und zwar gegen das Ende wurden Pinſel und das
auflöſende Mittel des Waſſers angewendet. Wir
rückten ſo von dem Haupte über die Geſtalt hinunter,
und alles und jedes war Marmor. Durch den Gips
war der Marmor vor den Unbilden folgender Zeiten
geſchüzt worden, daß er nicht das trübe Waſſer der
Erde oder ſonſtige Unreinigkeiten einſaugen mußte,
und er war reiner, als ich je Marmore aus der alten
Zeit geſehen habe, ja er war ſo weiß, als ſei die Ge¬
ſtalt vor nicht gar langer Zeit erſt gemacht worden.
Da aller Gips beſeitigt war, wurde die Oberfläche,
welche doch durch die feinſten zurückgebliebenen Theile
des Überzuges rauh war, durch weiche wollene Tücher
ſo lange geglättet, bis ſich der glänzende Marmor
zeigte, und durch Licht und Schatten die feinſte und
zarteſt empfundene Schwingung ſichtbar wurde. Jezt
war die Geſtalt erſt noch viel ſchöner, als ſie ſich in
Gips dargeſtellt hatte, und Euſtach und ich waren
von Bewunderung ergriffen. Daß ſie nicht aus neuer
Zeit ſtamme, ſondern dem alten Volke der Griechen
[119] angehöre, erkannten wir bald. Ich hatte ſo viele und
darunter die als die ſchönſten geprieſenen Bildwerke
der alten Heidenzeit geſehen, und vermochte daher
zwiſchen ihren und den Arbeiten des Mittelalters oder
der neuen Zeit zu vergleichen. Ich hatte alle Abbil¬
dungen, welche von den Bildwerken der alten Zeit zu
bekommen waren, in den Asperhof gebracht, ſo daß
ich neuerdings Vergleichungen anſtellen konnte, und
daß auch Euſtach, welcher nicht ſo viel in Wirklichkeit
geſehen hatte, ein Urtheil zu gewinnen vermochte.
Nur nach ſehr langen und ſehr genauen Unterſuchun¬
gen gaben wir uns mit Feſtigkeit dem Gedanken hin,
daß das Standbild aus der alten Griechenzeit her¬
rühre. Wir lernten bei dieſen Unterſuchungen, zu de¬
ren größerer Sicherſtellung wir ſogar Reiſen unter¬
nahmen, die Merkmale der alten und neuen Bild¬
werke ſo weit kennen, daß wir die Überzeugung ge¬
wannen, die beſten Werke beider Zeiten gleich bei der
erſten Betrachtung von einander unterſcheiden zu kön¬
nen. Das Schlechte iſt freilich ſchwerer in Hinſicht
ſeiner Zeit zu ermitteln. Merkwürdig iſt es, daß völ¬
lig Werthloſes aus der alten Zeit gar nicht auf uns
gekommen iſt. Entweder iſt es nicht entſtanden, oder
eine kunſtbegeiſterte Zeit hat es ſogleich beſeitigt. Wir
[120] haben in jener Unterſuchungszeit viel über alte Kunſt
gelernt. Von wem und aus welchem Zeitabſchnitte
aber unſer Standbild herrühre, konnten wir nicht er¬
mitteln. Das war jedoch gewiß, daß es nicht der ſtren¬
gen Zeit angehöre, und von der ſpäteren weicheren
ſtamme. Ehe ich aber das Bild aus der Hütte, in
welcher es ſtand, entfernte, ja ehe ich an den Plaz
dachte, auf welchen ich es ſtellen wollte, mußte etwas
anderes geſchehen. Ich reiſte nach Italien, und ſuchte
bei Cumä den Verkäufer meines Standbildes auf.
Er war mit den Umänderungen ſeines Plazes bei¬
nahe fertig. Dieſer war jezt eine Halle neuer Art, in
welcher einige Menſchen ſüßen rothen Wein tranken,
in welcher neue Gipsbilder ſtanden, um welche grüner
Raſen war, und aus welcher man eine ſchöne Aus¬
ſicht hatte. Ich erzählte ihm von der Entdeckung,
welche ich gemacht hatte, und ſagte, er möge nun nach
derſelben den Preis des Bildes beſtimmen. Er könnte
es zu dieſem Zwecke ſelber in Deutſchland beſehen oder
es beſehen laſſen. Er fand beides nicht für nöthig,
ſondern forderte ſogleich eine anſehnliche Summe, die
den Werth eines ſolchen Gegenſtandes, deren Preiſe
in den verſchiedenen Zeiten ſehr wechſeln, darſtellen
mochte. Ich war damals ſchon in den Beſiz meiner
[121] größeren Habe gekommen, die mir durch eine Erb¬
ſchaft zugefallen war, und zeigte mich bereit, die
Summe zu erlegen, nur möchte ich mich über das
Herkommen des Standbildes noch näher unterrichten,
und mir die Gewißheit über das Recht verſchaffen,
das mein Vormann bei ſo veränderter Sachlage über
das Bild habe. Meine Forſchungen führten zu nichts
weiter, als daß das Bild ſeit vielen Menſchenaltern
ſchon in dem Beſize der Familie ſei, von welcher ich
es habe, daß einmal Überreſte eines alten Gebäudes
hier geweſen wären, daß man das Gebäude nach und
nach abgebrochen habe, daß man aus Waſſerbecken
niederen Säulengittern und andern Dingen von
weißem Steine Kalk gebrannt, und daß man aus den
Reſten des Gebäudes und mit dem Kalke Häuſer in
den Umgebungen gebaut habe. Es ſeien mehrere
Standbilder bei den Trümmern geweſen und ſeien
verkauft worden. Für das weiße Mädchen mit dem
Stabe in der Hand habe man einmal einen Mantel
aus Holz gemacht, darüber iſt ein Streit in Hinſicht
der Zahlung entſtanden, und die Schrift, welche den
Großvater des jezigen Beſizers zur Zahlung verur¬
theilte, iſt mir in dem Amte zur Einſicht und beglau¬
bigten Abſchrift gewieſen worden. Nachdem ich mir
[122] noch einen Kaufvertrag über das Marmorbild von
einem Notar hatte verfaſſen laſſen, und mich mit einer
gefertigten Abſchrift verſehen hatte, erlegte ich die ge¬
forderte Summe, und reiſte wieder nach Hauſe. Hier
wurde berathen, wohin das nun mit allem Rechte
mein genannte Standbild kommen ſollte. Es war
nicht ſchwer, die Stelle auszufinden. Ich hatte auf
der Marmortreppe ſchon einen Abſaz errichtet, der
einerſeits die Treppe unterbrechen und ihr dadurch
Zierlichkeit verleihen, und andrerſeits dazu dienen
ſollte, daß einmal ein Standbild auf ihm ſtehe, und
der Treppe den größten Schmuck verleihe. Nachdem
wir uns durch Meſſungen überzeugt hatten, daß die
Geſtalt für den Plaz nicht zu hoch ſei, wurde der
kleine Sockel verfertigt, auf dem ſie jezt ſteht, es
wurde eine Vorrichtung gebaut, ſie auf den Plaz zu
bringen, und ſie wurde auf ihn gebracht. Wir ſtan¬
den nun oft vor der Geſtalt, und betrachteten ſie. Die
Wirkung wurde ſtatt ſchwächer immer größer und
nachhaltiger, und unter allen Kunſtgegenſtänden, die
ich habe, iſt mir dieſer der liebſte. Das iſt der hohe
Werth der Kunſtdenkmale der alten heitern Griechen¬
welt, nicht blos der Denkmale der bildenden Kunſt,
die wir noch haben, ſondern auch der der Dichtung,
[123] daß ſie in ihrer Einfachheit und Reinheit das Gemüth
erfüllen, und es, wenn die Lebensjahre des Menſchen
nach und nach fließen, nicht verlaſſen, ſondern es mit
Ruhe und Größe noch mehr erweitern, und mit Un¬
ſcheinbarkeit und Geſezmäßigkeit zu immer größerer
Bewunderung hinreißen. Dagegen iſt in der Neuzeit
oft ein unruhiges Ringen nach Wirkung, das die
Seele nicht gefangen nimmt, ſondern als ein Unwah¬
res von ſich ſtößt. Es ſind manche Männer gekom¬
men, das Standbild zu betrachten, manche Freunde
und Kenner der alten Kunſt, und der Erfolg iſt faſt
immer derſelbe geweſen, ein Ernſt der Anerkennung
und der Würdigung. Wir, Euſtach und ich, ſind in den
Dingen der alten Kunſt ſehr hiedurch vorgeſchritten,
und beide ſind wir von der alten Kunſt erſt recht zur
Erkenntniß der mittelalterlichen gekommen. Wenn
wir die unnachahmliche Reinheit Klarheit Manig¬
faltigkeit und Durchbildung der alten Geſtaltungen
betrachtet hatten, und zu denen des Mittelalters gin¬
gen, bei welchen große Fehler in dieſen Beziehungen
walten, ſo ſahen wir hier ein Inneres, ein Gemüth
voll Ungeziertheit voll Glauben und voll Innigkeit,
das uns faſt im Stammeln ſo rührt, wie uns jenes
dort im vollendeten Ausdrucke erhebt. Über die Zeit
[124] der Entſtehung unſeres Standbildes können wir auch
jezt noch nichts Feſtes behaupten, auch nicht, ob es
mit anderen aus dem Volke von Standbildern, das
in Hellas ſtand, nach Rom gekommen iſt, oder ob es
unter den Römern von einem Griechen gefertigt wor¬
den iſt, wie man es in jener Römerzeit, da griechiſche
Kunſt mit nicht hinlänglichem Verſtändniſſe über Ita¬
lien ausgebreitet wurde, in den Siz eines Römers
gebracht hat, und wie es auf ein ganz anderes ent¬
ferntes Geſchlecht übergegangen iſt.“
Er ſchwieg nach dieſen Worten, und ich ſah den
Mann an. Wir waren, während er ſprach, in dem
Saale auf und nieder gegangen. Ich begrif, warum
er dieſen Saal bei Abendgewittern aufſucht. Durch
die hellen Fenſter ſchaut der ganze ſüdliche Himmel
herein, und auch Theile des weſtlichen und des öſt¬
lichen ſind zu erblicken. Die ganze Kette der hieſigen
Alpen kann am Rande des Geſichtskreiſes geſehen
werden. Wenn nun ein Gewitter in jenem Raume
entſteht — und am ſchönſten ſind Gewitterwände oder
Gewitterberge, wenn ſie ſich über fernhinziehende Ge¬
birge lagern, oder längs des Kammes derſelben dahin
gehen — ſo kann er dasſelbe frei betrachten, und es
breitet ſich vor ihm aus. Zu dem Ernſte der Wolken¬
[125] Wände geſellt ſich der Ernſt der Wände von Marmor,
und daß in dem Saale gar keine Geräthe ſind, ver¬
mehrt noch die Einſamkeit und Größe. Wenn nun
vollends ſchon eine ſchwache Abenddämmerung einge¬
treten iſt, ſo zeigt die Oberfläche des Marmors den
Widerſchein der Blize, und während wir ſo auf und
nieder gingen, war einige Male der reine kalte Mar¬
mor wie in eine Glut getaucht, und nur die hölzernen
Thüren ſtanden dunkel in dem Feuer, oder zeigten
ihre düſtere Fügung.
Ich fragte meinen Gaſtfreund, ob er das Mar¬
morſtandbild ſchon lange beſize.
„Die Zahl der Jahre iſt nicht ſehr groß,“ antwor¬
tete er, „ich kann ſie euch aber nicht genau angeben,
weil ich ſie nicht in meinem Gedächtniſſe behalten
habe. Ich werde in meinen Büchern nachſehen, und
werde euch morgen ſagen, wie lange das Bild in
meinem Hauſe ſteht.“
„Ihr werdet wohl erlauben,“ ſagte ich, „daß ich
die Geſtalt öfter anſehen darf, und daß ich mir nach
und nach einpräge und immer klarer mache, warum
ſie denn ſo ſchön iſt, und welches die Merkmale ſind,
die auf uns eine ſolche Wirkung machen.“
„Ihr dürft ſie beſehen, ſo oft ihr wollt,“ antwor¬
[126] tete er, „den Schlüſſel zu der Thür des Marmorgan¬
ges gebe ich euch ſehr gerne, oder ihr könnt auch von
dem Gange der Gaſtzimmer über die Marmortreppe
hinabgehen, nur müßt ihr ſorgen, daß ihr immer Filz¬
ſchuhe in Bereitſchaft habt, ſie anzuziehen. Ich freue
mich jezt, daß ich den Marmorgang und die Treppe
ſo habe machen laſſen, wie ſie gemacht ſind. Ich habe
damals ſchon immer daran gedacht, daß auf die
Treppe ein Bild von weißem Marmor wird geſtellt
werden, daß dann am beſten das Licht von oben darauf
herabfällt, und daß die umgebenden Wände ſo wie
der Boden eine dunklere ſanfte Farbe haben müſſen.
Das reine Weiß — in der lichten Dämmerung der
Treppe erſcheint es faſt als ganz rein — ſteht ſehr
deutlich von der umgebenden tieferen Farbe ab. Was
aber die Merkmale anbelangt, an denen ihr die Schön¬
heit erkennen wollt, ſo werdet ihr keine finden. Das
iſt eben das Weſen der beſten Werke der alten Kunſt,
und ich glaube, das iſt das Weſen der höchſten Kunſt
überhaupt, daß man keine einzelnen Theile oder ein¬
zelne Abſichten findet, von denen man ſagen kann,
das iſt das ſchönſte, ſondern das Ganze iſt ſchön, von
dem Ganzen möchte man ſagen, es iſt das ſchönſte;
die Theile ſind blos natürlich. Darin liegt auch die
[127] große Gewalt, die ſolche Kunſtwerke auf den eben¬
mäßig gebildeten Geiſt ausüben, eine Gewalt, die in
ihrer Wirkung bei einem Menſchen, wenn er altert,
nicht abnimmt, ſondern wächſt, und darum iſt es für
den in der Kunſt Gebildeten ſo wie für den völlig
Unbefangenen, wenn ſein Gemüth nur überhaupt
dem Reize zugänglich iſt, ſo leicht, ſolche Kunſtwerke
zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beiſpieles für
dieſe meine Behauptung, welches ſehr merkwürdig
iſt. Ich war einmal in einem Saale von alten Stand¬
bildern, in welchem ſich ein aus weißem Marmor ver¬
fertigter auf ſeinem Size zurückgeſunkener und ſchla¬
fender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den
Saal, deren Tracht ſchließen ließ, daß ſie in einem
ſehr entfernten Theile des Landes wohnten. Sie
hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenſchuhen
lag der Staub einer vielleicht erſt heute Morgen voll¬
brachten Wanderung. Als ſie in die Nähe des Jüng¬
lings kamen, gingen ſie behutſam auf den Spizen
ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine ſo unmittelbare
und tiefe Anerkennung iſt wohl ſelten einem Meiſter zu
Theil geworden. Wer aber in einer beſtimmten Rich¬
tung befangen iſt, und nur die Schönheit, die in ihr
liegt, zu faſſen und zu genießen verſteht, oder wer ſich
[128] in einzelne Reize, die die neuen Werke bringen, hin¬
eingelebt hat, für den iſt es ſehr ſchwer, ſolche Werke
des Alterthums zu verſtehen, ſie erſcheinen ihm mei¬
ſtens leer und langweilig. Ihr waret eigentlich auch
in dieſem Falle. Wenn gleich nicht von der neuen
nur beſtimmte Seiten gebenden Kunſt gefangen, habt
ihr doch Abbildungen von gewiſſen Gegenſtänden,
beſonders denen eurer wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen
zu ſehr und zu lange in einer Richtung gemacht, als
daß euer Auge ſich nicht daran gewöhnt euer Gemüth
ſich nicht dazu hingeneigt hätte, und ungefüger ge¬
worden wäre, etwas anderes mit gleicher Liebe auf¬
zunehmen, das in einer anderen Richtung lag, oder
vielmehr, das ſich in keiner oder in allen Richtungen
befand. Ich habe gar nie gezweifelt, daß ihr zu die¬
ſer Allgemeinheit gelangen werdet, weil ſchöne Kräfte
in euch ſind, die noch auf keinen Afterweg geleitet
ſind, und nach Erfüllung ſtreben; aber ich habe nicht
gedacht, daß dies ſo bald geſchehen werde, da ihr
noch zu kraftvoll in dem auf ſeiner Stufe höchſt lo¬
benswerthen Streben nach dem Einzelnen begriffen
waret. Ich habe geglaubt, irgend ein großes allge¬
meines menſchliches Gefühl, das euch ergreifen würde,
[129] würde euch auf den Standpunkt führen, auf dem ich
euch jezt ſehe.“
Ich konnte eine geraume Zeit auf dieſe lezte Rede
meines Gaſtfreundes nichts antworten. Wir gingen
ſchweigend in dem Saale auf und nieder, und es war
um ſo ſtiller, als unſere mit weichen Sohlen bekleide¬
ten Füße nicht das geringſte Geräuſch auf dem glän¬
zenden Fußboden machten. Blize zuckten zuweilen in
den Spiegelflächen um und unter uns, der Donner
rollte gleichſam bei den offenen Fenſtern herein, und
die Wolken bauten ſich in Gebirgen oder in Trüm¬
mern oder in luftigen Länderſtrecken durch den weiten
Raum auf, den die Fenſter des Saales beherrſchten.
Ich ſagte endlich, daß ich mich jezt erinnere, wie
mein Vater oft geäußert habe, daß in ſchönen Kunſt¬
werken Ruhe in Bewegung ſein müſſe.
„Es iſt ein gewöhnlicher Kunſtausdruck,“ entgeg¬
nete mein Gaſtfreund, „allein es thäte es auch ohne
ihn. Man verſteht gewöhnlich unter Bewegung Be¬
wegbarkeit. Bewegung kann die bildende Kunſt, von
der wir hier eigentlich reden, gar nicht darſtellen.
Da die Kunſt in der Regel lebende Weſen Menſchen
Thiere Pflanzen — und ſelbſt die Landſchaft troz der
ſtarrenden Berge iſt mit ihren beweglichen Wolken
Stifter, Nachſommer. II. 9[130] und ihrem Pflanzenſchmucke dem Künſtler ein Ath¬
mendes; denn ſonſt wird ſie ihm ein Erſtarrendes —
darſtellt, ſo muß ſie dieſe Gegenſtände ſo darſtellen,
daß es dem Beſchauer erſcheint, ſie könnten ſich im
nächſten Augenblicke bewegen. Ich will hier wieder
aus dem Alterthume ein Beiſpiel anführen. Alle
Stoffe, mit welchen Menſchen ſich bekleiden, nehmen
nach der Art der Bewegungen, denen ſich verſchiedene
Menſchen gerne hingeben, verſchiedene Geſtaltungen
an. Ein Freund von mir erkannte einen alten wohl¬
bekannten und trefflichen Schauſpieler einmal bei
einer Gelegenheit, bei welcher er nur ein Stück des
Rockes des Schauſpielers ſehen konnte. Wenn nun
die Geſtaltungen der Stoffe, die ſich meiſtens in Fal¬
ten kund geben, nach der Wirklichkeit nachgebildet
werden, nicht nach willkürlichen Zurechtlegungen, die
man nach herkömmlichen Schönheitsgeſezen an der
Gliederpuppe macht, ſo liegt in dieſen nachgebildeten
Geſtaltungen zuerſt eine beſtimmte Eigenthümlichkeit
und Einzelheit, die den Gegenſtand ſinnlich hinſtellt,
und dann drückt die Geſtaltung nicht blos den Zu¬
ſtand aus, in dem ſie gegenwärtig iſt, ſondern ſie
weist auch auf den zurück, der unmittelbar vorher
war, und von dem ſich die Gebilde noch leiſe vorfin¬
[131] den, und ſie läßt zugleich den nächſtkünftigen ahnen,
zu dem die Bildungen neigen. Dies iſt es, was bei
Gewandungen ganz vorzüglich für das beſchauende
Auge den Begriff der Bewegung gibt und mithin der
Lebendigkeit. Dies iſt es, da die Alten ſo gerne nach
der Natur arbeiteten, was ſie dort, wo ſie Gewänder
anbringen, ſo meiſterhaft handhaben, daß der Spruch
entſtanden iſt, ſie ſtellten nicht nur dar, was iſt, ſon¬
dern auch, was zunächſt war, und ſein wird. Darum
bilden ſie in der Gewandung nicht blos die Haupt¬
theile ſondern auch die entſprechenden Unterabthei¬
lungen, und dies mit einer ſolchen Zartheit und Ge¬
nauigkeit, daß man auf den Stoff des Werkes ver¬
gißt und nur den Stoff der Gewandung ſieht, und
ihn zuſammenlegen und in der Hand ballen zu können
vermeint. Solcher Bildung gegenüber legen manche
Neuen ſogenannte edle Falten zurecht, bilden ſie im
Erze oder Marmor nach, vermeiden hiebei in ſorg¬
lichem Maße zu große Einzelheiten, um nicht unruhig
zu werden, und erzielen hiebei, daß man allerdings
große edle Maſſen von Faltungen ſieht, daß aber in
der Falte der Stoff des Werkes nicht des Gewandes
herrſcht, daß man die marmorne die erzene Falte ſieht,
daß das Gemüth erkältet wird, und daß man meint,
9 *[132] der Mann, der damit angethan iſt, könne nicht gehen,
weil ihn die erzene Falte hindere. Wie es mit dem
Gewande iſt, iſt es auch mit dem Leibe, der das
Gewand der Seele iſt, und die Seele allein kann ja
nur der Gegenſtand ſein, welchen der Künſtler durch
das Bild und Gleichniß des Leibes darſtellt. Hier
auch ließen ſich die Alten von der Natur leiten, und
wenn ſie Sünden begingen, die das Auge des natur¬
forſchenden Zergliederers ſtrenge genommen tadeln
müßte, ſo begingen ſie keine, die das nicht ſo ſtofflich
blickende Auge der Kunſt zu verdammen gezwungen
wäre. Dafür zeigt die Schwingung der Gliederflä¬
chen in ihren Theilen und Unterabtheilungen eine
ſolche Ausbildung und Durchführung, daß die Zu¬
ſtände von jezt und von unmittelbar vorher und nach¬
her ſichtbar werden, daß die Glieder wie ich vorher
von der Gewandung ſagte die Vorſtellung der Be¬
weglichkeit geben, und daß ſie leben. Wie bei den
Gewändern bilden manche Neue auch die Glieder ins
Größere Allgemeinere weniger Ausgeführte, um nicht
krampfig zu werden, und dann gerathen die Muskeln
gerne wie glatte ſpröde unbiegſame Glaskörper, und
die Geſtalt kann ſich nicht rühren. Das Geſagte mag
ungefähr den Begriff von dem geben, was man in der
[133] Kunſt unter Bewegung verſteht. Was man unter
Ruhe begreift, das mag wohl zuerſt darin beſtehen,
daß jeder Gegenſtand, den die bildende Kunſt dar¬
ſtellt, genau betrachtet, in Ruhe iſt. Der laufende
Wagen das rennende Pferd der ſtürzende Waſſer¬
fall die jagende Wolke ſelbſt der zuckende Bliz ſind
in der Abbildung ein Starres Bleibendes, und der
Künſtler kann nur durch die früher von mir ange¬
deuteten Mittel die Bewegung als Bewegbarkeit als
Täuſchung des Auges darſtellen, wodurch er zugleich
ſeinen Gegenſtand über die Gränzen des unmittelbar
Dargeſtellten hinaushebt, und ihm eine ungleich grö¬
ßere Bedeutung gibt. Aber die dargeſtellte Bewegung
darf nicht zu gewaltſam ſein, ſonſt helfen die Mittel
nicht, der Künſtler ſcheitert und wird lächerlich. Zum
Beiſpiele Pferde, die von einem Felſen durch die Luft
hinabſtürzen, dürfen nicht in der Luft fallend gemalt
werden — wenigſtens dürfte dies leichter eine den Ver¬
ſtand befriedigende Zeichnung als ein das ganze Kunſt¬
vermögen entzückendes Bild werden. Darum darf der
in ſeinen Geſtalten ſich ſtets erneuende Waſſerfall mit
weit geringerer Gefahr dargeſtellt werden als eine
Flüſſigkeit, die aus einem Gefäße gegoſſen wird, wo¬
bei die Einbildungskraft ſich mit dem Gedanken quält,
[134] daß das Gefäß nicht leer wird. Der in hohen Lüften
auf ſeinen Schwingen ruhende Geier iſt im Bilde erha¬
ben, der dicht vor unſern Augen auf ſeine Beute ſtür¬
zende kann ſehr mißlich werden. Der an Bergen empor¬
ſteigende Nebel iſt lieblich, der von einer abgefeuerten
Kanone aufſteigende Rauch verlezt uns durch ſein im¬
merwährendes Bleiben. Es iſt begreiflich, daß die
Grenzen zwiſchen dem Darſtellbaren in der Bewegung
nicht feſt zu beſtimmen ſind, und daß größere Bega¬
bungen viel weiter hierin gehen dürfen als kleinere.
So ſah ich ſchon ſehr oft gemalte fahrende Wägen.
Die Pferde ſind gewöhnlich ihrer Fußſtellung nach im
ſchönſten Laufe begriffen, während die Speichen der
Wagenräder klar und ſichtbar in völliger Ruhe ſtarren.
Der größere Künſtler wird uns den Nebel der ſauſen¬
den Speichen darſtellen, und manches Andere zu¬
thun und zuſammenſtellen, daß wir den Wagen wirk¬
lich fahren ſehen. Außer dem hier gegebenen Begriffe
von ſtofflicher Ruhe mag wohl unter Ruhe weit öfter
die künſtleriſche zu verſtehen ſein, die ein Kunſtwerk,
ſei es Bild Dichtung oder Muſik nie entbehren kann,
ohne aufzuhören, ein Kunſtwerk zu ſein. Es iſt dieſe
Ruhe jene allſeitige Übereinſtimmung aller Theile zu
einem Ganzen, erzeugt durch jene Beſonnenheit, die
[135] in höchſter kunſtliebender Begeiſterung nie fehlen darf,
durch jenes Schweben über dem Kunſtwerke und das
ordnende Überſchauen desſelben, wie ſtark auch Em¬
pfindungen oder Thaten in demſelben ſtürmen mö¬
gen, die das Kunſtſchaffen des Menſchen dem Schaf¬
fen Gottes ähnlich macht, und Maß und Ordnung
blicken läßt, die uns ſo entzücken. Bewegung regt
an, Ruhe erfüllt, und ſo entſteht jener Abſchluß in
der Seele, den wir Schönheit nennen. Es iſt nicht
zu zweifeln, daß ſich Andere vielleicht Anderes bei
dieſen Worten denken, daß dieſes Andere gut oder
beſſer als das Meinige ſein kann — gewöhnlich geht
es mit ſolchen Gangwörtern ſo, daß jeder ſeinen
eigenen Sinn hinein legt. Das Beſte iſt, daß die
ſchaffende Kraft in der Regel nicht nach ſolchen auf¬
geſtellten Säzen wirkt, ſondern das Rechte trifft, weil
ſie die Kraft iſt, und es deſto ſicherer trifft, je mehr
ſie ſich auf ihrem eigenthümlichen Wege naturgemäß
ausbildet. Für das Verſtändniß der Kunſt, für ſolche,
welche ihre Werke beſchauen, und ſich darüber beſpre¬
chen, ſind Auslegungen derſelben Einkleidung ihres
Weſens in Worte eine ſehr nüzliche Sache, nur muß
man die Worte nicht zum Hauptgegenſtande machen
und auf einen Sinn, den man ihnen beilegt, nicht ſo
[136] beſtehen, daß man alles verdammt, was nicht nach
dieſem Sinne iſt. Sonſt müßte man ja den größten
und einzigen Künſtler am meiſten tadeln, Gott, der
ſo unzählige Geſtaltungen erſchaffen hat, und deſſen
Werke ja wirklich von Menſchen untergeordneten Gei¬
ſtes getadelt werden, die meinen, ſie hätten es anders
gemacht.“
Bei dieſen Worten kam Guſtav in den Saal. Die
Dämmerung hatte ſchon ſtark zugenommen, es reg¬
nete aber noch immer nicht.
„Dieſer ſteht noch auf demſelben Stande, auf
welchem ihr früher geſtanden ſeid,“ ſagte mein Gaſt¬
freund auf Guſtav weiſend, der auf ihn zuging.
„Wie meinſt du das, Vater?“ fragte der Knabe.
„Wir redeten von Kunſt,“ antwortete mein Gaſt¬
freund, „und da behaupte ich, daß du noch nicht in
der Lage biſt, Kunſtwerke ſo erkennen und beurtheilen
zu können wie unſer Gaſt hier.“
„Wohl, das behaupte ich ſelber,“ ſagte Guſtav,
„er iſt darum auch theilweiſe mein Lehrer, und wenn
er in der Erkenntniß der Kunſt dir und Euſtach und
der Mutter nachſtrebt, ſo werde ich meines Theils
ihm wieder nachſtreben.“
„Das iſt gut,“ ſagte mein Gaſtfreund, „aber das
[137] iſt es nicht ſo ganz, wovon wir ſprachen, allein es
thut nichts zur Sache, und gehört auch nicht zur We¬
ſenheit.“
Mit dieſen Worten, gleichſam um ferneren Fra¬
gen vorzubeugen, trat er an ein Fenſter, und wir mit
ihm.
Wir betrachteten eine Weile die Erſcheinung vor
uns, die über dem immer dunkler werdenden Gefilde
immer großartiger wurde, und gingen dann, da der
Abend beinahe in Finſterniß übergehen wollte, und
die Stunde des Abendeſſens gekommen war, über die
Marmortreppe in das Speiſezimmer hinunter.
Das Gewitter war in der Nacht ausgebrochen,
hatte einen Theil derſelben mit Donnern und einen
Theil mit bloßem Regen erfüllt, und machte dann
einem ſehr ſchönen und heiteren Morgen Plaz.
Das Erſte, was ich an dieſem Tage that, war,
daß ich zu dem marmornen Standbilde ging. Ich
hatte es geſtern, da wir über die Treppe hinabſtiegen,
nicht mehr deutlich und nur von einem Blize ober¬
flächlich beleuchtet geſehen. Die Finſterniß war auf
der Treppe ſchon zu groß geweſen. Heute ſtand es in
der ruhigen und klaren Helle des Tages, welche das
Glasdach auf die Treppe ſendete, ſchmucklos und
[138] einfach da. Ich hatte nicht gedacht, daß das Bild ſo
groß ſei. Ich ſtellte mich ihm gegenüber, und betrach¬
tete es lange. Mein Gaſtfreund hatte Recht, ich
konnte keine eigentliche einzelne Schönheit entdecken,
was wir im neuen Sinne Schönheit heißen, und
ich erinnerte mich auf der Treppe ſogar, daß ich oft
von einem Buche oder von einem Schauſpiele ja von
einem Bilde ſagen gehört hatte, es ſei voller Schön¬
heiten, und dem Standbilde gegenüber fiel mir ein,
wie unrecht entweder ein ſolcher Spruch ſei, oder,
wenn er berechtigt iſt, wie arm ein Werk ſei, das nur
Schönheiten hat, ſelbſt dann, wenn es voll von ihnen
iſt, und das nicht ſelber eine Schönheit iſt; denn ein
großes Werk, das ſah ich jezt ein, hat keine Schön¬
heiten, und um ſo weniger, je einheitlicher und ein¬
ziger es iſt. Ich gerieth ſogar auf den Gedanken und
auf die Erfahrung, die ich mir nie klar gemacht
hatte, daß, wenn man ſagt, dieſer Mann dieſe Frau
habe eine ſchöne Stimme ſchöne Augen einen ſchönen
Mund, eben damit zugleich geſagt iſt, das andere ſei
nicht ſo ſchön; denn ſonſt würde man nicht Einzelnes
herausheben. Was bei einem lebenden Menſchen
gilt, dachte ich, gilt bei einem Kunſtwerke nicht, bei
welchem alle Theile gleich ſchön ſein müſſen, ſo daß
[139] keiner auffällt, ſonſt iſt es eben als Kunſtwerk nicht
rein, und iſt im ſtrengſten Sinne genommen, keines.
Deſſenohngeachtet, daß ich, oder vielmehr eben da¬
rum, weil ich keine einzelnen Schönheiten an dem
Standbilde zu entdecken vermochte, machte es, wie
ich mir jezt ganz klar bewußt war, wieder einen außer¬
ordentlichen Eindruck auf mich. Der Eindruck war
aber nicht einer, wie ich ihn öfter vor ſchönen Sachen
hatte, ja ſelbſt vor Dichtungen, ſondern er war, wenn
ich den Ausdruck gebrauchen darf, allgemeiner geheimer
unenträthſelbarer, er wirkte eindringlicher und gewal¬
tiger; aber ſeine Urſache lag auch in höheren Fernen,
und mir wurde begreiflich, ein welch hohes Ding die
Schönheit ſei, wie ſchwerer ſie zu erfaſſen und zu
bringen ſei, als einzelne Dinge, die die Menſchen er¬
freuen, und wie ſie in dem großen Gemüthe liege,
und von da auf die Mitmenſchen hinausgehe, um
Großes zu ſtiften und zu erzeugen. Ich empfand, daß
ich in dieſen Tagen in mir um vieles weiter gerückt
werde.
In der nächſten Zeit ſprach ich auch mit Euſtach
über das Standbild. Er war ſehr erfreut darüber,
daß ich es als ſo ſchön erkannte, und ſagte, daß er
ſich ſchon lange darnach geſehnt habe, mit mir über
[140] dieſes Werk zu ſprechen; allein es ſei unmöglich gewe¬
ſen, da ich ſelber nie davon geredet habe, und eine
Zwieſprache nur dann erſprießlich werde, wenn man
beiderſeitig von einem Gegenſtande durchdrungen
ſei. Wir betrachteten nun miteinander das Bildwerk,
und machten uns wechſelſeitig auf Dinge aufmerkſam,
die wir an demſelben zu erkennen glaubten. Beſon¬
ders war es Euſtach, der über das Marmorbild, ſo
ſehr es ſich in ſeiner Einfachheit und ſeiner täglich ſich
vor mir immer ſtaunenswerther entwickelnden Natür¬
lichkeit jeder Einzelverhandlung zu entziehen ſchien,
doch über ſein Entſtehen über die Art ſeiner Verhält¬
niſſe über ſeine Geſezmäßigkeit und über das Geheim¬
niß ſeiner Wirkung ſachkundig zu ſprechen wußte.
Ich hörte begierig zu, und empfand, daß es wahr ſei,
was er ſprach, obgleich ich ihn nicht immer ſo genau
verſtand wie meinen Gaſtfreund, da er nicht ſo klar
und einfach zu ſprechen wußte wie dieſer. Ich ſchritt
in der Erkenntniß des Bildes vor, und es war mir,
als ob es nach ſeinen Worten immer näher an mich
heran gerückt würde.
Er ſuchte viele Zeichnungen hervor, auf denen ſich
Abbildungen von Standbildern oder andern geſchniz¬
ten oder auf anderem Wege hervorgebrachten Geſtal¬
[141] ten des Mittelalters befanden. Wir verglichen dieſe
Geſtalten mit der aus dem Griechenthume ſtammen¬
den. Auch wirkliche Geſtaltungen von kleinen Engeln
Heiligen oder anderen Perſonen, die ſich in dem Ro¬
ſenhauſe oder in der Nähe befanden, ſuchte er zur
Vergleichung herbei zu bringen. Es zeigte ſich hier
für meine Augen, daß das wahr ſei, was mein Gaſt¬
freund über griechiſche und mittelalterliche Kunſt ge¬
ſagt hatte. Es war mir wie ein jugendlicher und
doch männlich gereifter Sinn voll Maß und Beſon¬
nenheit ſo wie voll herrlicher Sinnfälligkeit, der aus
dem Griechenwerke ſprach. In den mittelalterlichen
Gebilden war es mir ein liebes einfaches argloſes
Gemüth, das gläubig und innig nach Mitteln grif,
ſich auszuſprechen, der Mittel nicht völlig Herr wurde,
dies nicht wußte, und doch Wirkungen hervorbrachte,
die noch jezt ihre Macht auf uns äußern, und uns
mit Staunen erfüllen. Es iſt die Seele, die da ſpricht,
und in ihrer Reinheit und in ihrem Ernſte uns mit
Bewunderung, erfüllt, während ſpätere Zeiten, von
denen Euſtach zahlreiche Abbildungen von Bildwerken
vorlegte, troz ihrer Einſicht ihrer Aufgeklärtheit und
ihrer Kenntniß der Kunſtmittel nur froſtige Geſtalten
in unwahren Flattergewändern und übertriebenen
[142] Geberden hervorbrachten, die keine Glut und keine
Innigkeit haben, weil ſie der Künſtler nicht hatte,
und die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil
der Künſtler nicht mit der Seele arbeitete, ſondern
mit irgend einer Überlegung nach eben herrſchenden
Geſtaltungsanſichten, weßhalb er das, was ihm an
Gefühl abging, durch Unruhe und Heftigkeit des
Werkes zu erſezen ſuchte. Was die Sinnfälligkeit an¬
langt, ſo ſchien mir das Mittelalter nicht nach Voll¬
endung in derſelben geſtrebt zu haben. Neben einem
Haupte, das in ſeiner Einfachheit und Gegenſtänd¬
lichkeit trefflich und tadellos war, befinden ſich wieder
Bildungen und Gliederungen, die beinahe unmög¬
lich ſind. Der Künſtler ſah dies nicht; denn er fand
den Zuſtand ſeines Gemüthes in dem Ausdrucke ſei¬
nes Werkes, mehr hatte er nicht beabſichtiget, und
nach Verſchmelzung des Sinnenthumes ſtrebte er nicht,
weil es ihm, wenigſtens in ſeiner Kunſtthätigkeit,
ferne lag, und er einen Mangel nicht empfand. Da¬
rum ſtellt ſich auch bei uns die Wirkung der Inner¬
lichkeit ein, obgleich wir unähnlich dem ſchaffenden
Künſtler des Mittelalters die ſinnlichen Mängel des
Werkes empfinden. Dies ſpricht um ſo mehr für die
Trefflichkeit der damaligen Arbeiten. Es waren recht
[143] ſchöne Tage, die ich mit Euſtach in dieſen Verglei¬
chungen und dieſen Beſtrebungen hinbrachte.
Ich wurde auch wieder auf die Gemälde alter und
längſtvergangener Zeiten zurückgeführt. Ich hatte in
meiner früheſten Jugend eine Abneigung vor alten
Gemälden gehabt. Ich glaubte, daß in ihnen eine
Dunkelheit und Düſterheit herrſche, die dem fröhlichen
Reize der Farben, wie er in den neuen Bildern ſich
vorſtellt, und wie ich ihn auch in der Natur zu ſehen
meinte, entgegen und weit untergeordnet ſei. Dieſe
Meinung hatte ich zwar fahren gelaſſen, als ich ſelber
zu mahlen begonnen, und nach und nach geſehen
hatte, daß die Dinge der Natur und ſelber das menſch¬
liche Angeſicht die heftigen Farben nicht haben, die
ſich in dem Farbekaſten befinden, daß aber dafür die
Natur eine Kraft des Lichtes und des Schattens
beſize, die wenigſtens ich durch alle meine Farben nicht
darzuſtellen vermochte. Deßohngeachtet war mir die
Erkenntniß deſſen, was die Malerkunſt in früheren
Zeiten hervorgebracht hatte, nicht in dem Maße auf¬
gegangen, als es der Sache nach nothwendig geweſen
wäre. Wenn ich gleich im Einzelnen vorgeſchritten
war, und manches in alten Bildern als ſehr ſchön er¬
kannt hatte, ſo war ich doch fort und fort zu ſehr in
[144] meinen Beſtrebungen auf dem Gebiethe der Natur be¬
fangen, als daß ich auf andere Gebilde als die der
Natur mit kräftiger Innerlichkeit geachtet hätte. Da¬
rum erſchienen mir Pflanzen Faltern Bäume Steine
Wäſſer ſelbſt das menſchliche Angeſicht als Gegen¬
ſtände, die würdig wären, von der Malerkunſt nach¬
gebildet zu werden; aber alte Bilder erſchienen mir
nicht als Nachbildungen ſondern gewiſſermaßen als
koſtbare Gegenſtände, die da ſind, und auf denen ſich
Dinge befinden, die man gewohnt iſt als auf Ge¬
mälden befindliche zu ſehen. Dieſe Richtung hatte
für mich den Nuzen, daß ich bei meinen Verſuchen,
Gegenſtände der Natur zu malen, nicht in die Nach¬
ahmung irgend eines Meiſters verfiel, ſondern daß
meine Arbeiten mit all ihrer Fehlerhaftigkeit etwas
ſehr Gegenſtändliches und Naturwahres hatten; aber
es erwuchs mir auch der Nachtheil daraus, daß ich
nie aus alten Meiſtern lernte, wie dieſer oder jener
die Farben und Linien behandelt habe, und daß ich
mir alles ſelber mühevoll erfinden mußte, und in
Vielem gar zu einem Ziele nicht gelangte. Obwohl
ich ſpäter der Betrachtung mittelalterlicher Gemälde
mich mehr zuwandte, und ſogar im Winter viele Zeit
in Gemäldeſammlungen unſerer Stadt zubrachte, ſo
[145] war doch mein früherer Zuſtand noch mehr oder we¬
niger unbewußt vorherrſchend, und die Kunſt des
Pinſels fand von mir nicht die Hingabe, die ſie ver¬
dient hätte. Als ich jezt mit Euſtach die Zeichnungen
mittelalterlicher bildender Kunſt durchging, als ich
mit ihm ein mir wie ein neues Wunder aufgegange¬
nes Werk des alten Griechenthums betrachtete, als
ich dieſes Werk mit den minder alten unſerer Vorfah¬
ren verglich, und die Unterſchiede und Beziehungen
einſehen lernte: da fing ich auch an, die Gemälde
meines Gaſtfreundes anders zu betrachten, als ich
bisher ſie und andere Gemälde betrachtet hatte. Ich
ging nicht nur oft in ſein Bilderzimmer, und verweilte
lange Zeit in demſelben, ſondern ich ließ mir auch
das Verzeichniß der Bilder geben, um nach und nach
die Meiſter kennen zu lernen, die er verſammelt hatte,
ich bath, daß mir erlaubt werde, mir das eine oder
andere Bild, wie ich es eben wünſchte, auf die Staf¬
felei ſtellen zu dürfen, um es ſo kennen zu lernen, wie
mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft
mehrere Tage in Unterſuchung eines einzigen Bildes
zu. Welch ein neues Reich öffnete ſich vor meinen
Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der Seele
aufſchloſſen, ſo lag hier wieder eine Welt, es war
Stifter, Nachſommer. II. 10[146] wieder eine Welt der Seele, wieder dieſelbe Welt der
hochgehenden Seele der Dichtkunſt; aber mit wie
ganz anderen Mitteln war ſie hier erſtrebt und er¬
reicht. Welche Kraft welche Anmuth welche Fülle
welche Zartheit, und wie war dem Schöpfer eine ähn¬
liche eine gleiche aber menſchliche Schöpfung nachge¬
ſchaffen. Ich lernte die Beziehungen der alten Ma¬
lerei — mein Freund hatte faſt lauter alte Bilder —
zu der Natur kennen. Ich lernte einſehen, daß die
alten Meiſter die Natur getreuer und liebvoller nach¬
ahmten als die neuen, ja daß ſie im Erlernen der
Züge der Natur eine unſägliche Ausdauer und Ge¬
duld hatten, vielleicht mehr, als ich empfand, daß
ich ſelber hätte, und vielleicht mehr, als mancher
Kunſtjünger der Gegenwart haben mag. Ich konnte
nicht aburtheilen, da ich zu wenige Werke der Gegen¬
wart kannte und ſo betrachtet hatte, als ich jezt ältere
Bilder betrachtete; aber es ſchien mir ein größeres
Eingehen in das Weſen der Natur kaum möglich.
Ich begrif nicht, wie ich das ſo lange nicht in dem
Maße hatte ſehen können, als ich es hätte ſehen ſol¬
len. Wenn aber auch die Alten, wie ich hier mit
ihnen umging, ſich der Wirklichkeit ſehr beflißen, und
ſich ihr ſehr hingaben, ſo ging das doch nicht ſo weit,
[147] als ich bei der Abbildung meiner naturwiſſenſchaft¬
lichen Gegenſtände geſchritten war, von denen ich alle
Einzelheiten, ſo weit es nur immer möglich geweſen
war, zu geben geſucht hatte. Dies wäre, wie ich ein¬
ſah, der Kunſt hinderlich geweſen, und ſtatt einen
ruhigen Geſammteindruck zu erzielen, wäre ſie in lau¬
ter Einzelheiten zerfallen. Die Meiſter, welche mein
Gaſtfreund in ſeiner Sammlung beſaß, verſtanden es,
das Einzelne der Natur in großen Zügen zu faſſen,
und mit einfachen Mitteln — oft mit einem einzigen
Pinſelſtriche — darzuſtellen, ſo daß man die kleinſten
Merkmale zu erblicken wähnte, bei näherer Betrach¬
tung aber ſah, daß ſie nur der Erfolg einer großen
und allgemeinen Behandlung waren. Dieſe große
Behandlung ſicherte ihnen aber auch Wirkungen im
Großen, die dem entgehen, welcher die kleinſten Glie¬
derungen in ihren kleinſten Theilen bildet. Ich ſah
erſt jezt, welche ſchöne Geſtalten aus dem menſchlichen
Geſchlechte auf der Malerleinwand lebten, wie edel
ihre Glieder ſind, wie manigfaltig — ſtrahlend kräf¬
tig geiſtvoll milde — ihr Antliz, wie adelig ihre Ge¬
wänder, und wäre es eine Bettlerjacke, und wie tref¬
fend die Umgebung. Ich ſah, daß die Farbe der An¬
geſichter und anderer Theile das leuchtende Licht
10 *[148] menſchlicher Geſtaltungen iſt, nicht der Farbeſtoff, mit
dem der Unkundige ſeinen Gebilden ein widriges
Roth und Weiß gibt, daß die Schatten ſo tief gehen,
wie ſie die Natur zeigt, und daß die Umgebung eine
noch größere Tiefe hat, wodurch jene Kraft erzielt
wird, die ſich der nähert, welche die Schöpfung durch
wirklichen Sonnenſchein gibt, den niemand malen
kann, weil man den Pinſel nicht in Licht zu tauchen
vermag, eine Kraft, die ich jezt an den alten Bildern
ſo bewunderte. Von der außermenſchlichen Natur
ſah ich leuchtende Wolken klare Himmelsgebilde ra¬
gende reiche Bäume gedehnte Ebenen ſtarrende Felſen
ferne Berge helle dahinfließende Bäche ſpiegelnde
Seen und grüne Weiden, ich ſah ernſte Bauwerke
und ich ſah das ſogenannte ſtille Leben in Pflanzen
Blumen Früchten in Thieren und Thierchen. Ich be¬
wunderte das Geſchick und den Geiſt, womit alles
zurechtgelegt und hervorgebracht iſt. Ich erkannte,
wie unſere Vorfahren Landſchaften und Thiere mal¬
ten. Ich erſtaunte über den zarten Schmelz, womit
einer mittelſt Überfarben ſeinen Gebilden eine Durch¬
ſichtigkeit gab, oder über die Stärke, womit ein an¬
derer undurchſichtige Farben hinſtellte, daß ſie einen
Berg bildeten, der das Licht fängt und ſpiegelt, und
[149] es ſo zwingt, das Bild mit zu malen, zu dem ein
Licht in dem Farbenkaſten nicht war. Ich erkannte,
wie der eine in durchſichtigen Farben untermalte, und
auf dieſe ſeine feſten körperigen Farben aufſezte, oder
wie ein anderer Farbe auf Farbe mit breitem Pinſel
hinſtellt, und mit ihm die Übergänge vermittelt, und
mit ihm die Zeichnung umreißt. Daß alte Bilder dü¬
ſterer ſind, erſchien mir einleuchtend, da das Öhl die
Farben nachdunkeln macht, und der Firniß eine dunkle
bräunliche Farbe erhält. Beides haben umſichtige
Meiſter mehr als voreilige zu vermeiden gewußt, und
mein Gaſtfreund hatte Bilder, die in ſchöner Pracht
und Farbenherrlichkeit leuchteten, obwohl auch bei
ihnen die Würde bewahrt blieb, daß ſie mehr die
Kraft des Tones als auffallende oder etwa gar un¬
wahre Farben brachten. Da ich ſchon viel mit Farben
beſchäftigt geweſen war, ſo verweilte ich oft lange bei
einem Bilde, um zu ergründen, wie es gemalt iſt,
und auf welche Weiſe die Stoffe behandelt worden
ſind. In dem Roſenzimmerchen Mathildens, wohin
mich mein Gaſtfreund führte, um auch dort die Bil¬
der zu ſehen, hingen vier kleine Gemälde, davon zwei
von Tizian waren, eines von Dominichino und eines
von Guido Reni. Sie waren an Größe faſt gleich
[150] und hatten gleiche Rahmen. Sie waren die ſchönſten,
die mein Gaſtfreund beſaß. Je mehr man ſie be¬
trachtete, deſto mehr feſſelten ſie die Seele. Ich bath
ihn faſt zu oft, mir dieſe vier Bildchen zu zeigen, und
er ermüdete nicht, mir immer die Frauengemächer auf¬
zuſchließen, mich in das Zimmerchen zu führen, mich
die Bilder betrachten zu laſſen, und mit mir darüber
zu ſprechen. Er nahm ſie öfter herab, und ſtellte ſie
auf dem Tiſche oder auf einem Seſſel ſo auf, daß ſie
in dem beſten Lichte ſtanden. Ich brachte merkwürdige
Tage in jener Zeit in dem Roſenhauſe meines Freun¬
des zu. Mein Weſen war in einer hohen in einer
edlen und veredelnden Stimmung.
Ich fragte ihn einmal, woher er denn die Bilder
erhalten habe.
„Sie ſind recht nach und nach in das Haus ge¬
kommen, wie es der Sammelfleiß und mitunter auch
der Zufall gefügt hat,“ antwortete er. „Ich habe von
einem Oheime mehrere geerbt; ſie waren aber nicht
die beſten, wie ich ſie jezt habe, ich verkaufte einen
Theil davon, um mir andere wenn auch wenigere
aber beſſere zu kaufen. Ich habe euch ſchon einmal
geſagt, daß ich in Italien geweſen bin. Ich habe drei
Reiſen in dieſes Land gemacht. Da hat ſich manches
[151] gefunden. Ich habe ſtets nach Bildern geſucht, habe
Manches gekauft, Manches wieder verkauft, Neues
gekauft, und ſo war ein fortlaufender Wechſel, bis es
ſo wurde, wie es jezt iſt. Nun aber verkaufe oder ver¬
tauſche ich nichts mehr, ſelbſt wenn mir etwas Außer¬
ordentliches vorkäme, das ich nicht ohne Weggabe
eines Früheren erkaufen könnte. Mit dem Alter wird
man ſo anhänglich an das Gewohnte, daß man es
nicht miſſen kann, wenn es auch verbraucht zu werden
beginnt und verſchoſſen und verſchollen iſt. Ich lege
alte Kleider nicht gerne ab, und wenn ich eines der
Bilder, die mich nun ſo lange umgeben, aus dem
Hauſe laſſen müßte, ſo würde ich einem großen
Schmerze nicht entgehen. Sie mögen nun bleiben,
wie ſie ſind, und wo ſie ſind, bis ich ſcheide. Selbſt
der Gedanke, daß ein Nachfolger die Bilder ſo laſſe
und ſie ehre, wie ſie hier ſind, hat für mich etwas
ſehr Angenehmes, obwohl er thöricht iſt, und ich ihm
aus dem Wege gehe; denn darin beſteht das Leben
der Welt, daß ein Streben und Erringen und darum
ein Wandel iſt, welcher Wandel auch hier eintreten
wird. Ich habe auch längere Zeit ſchon nichts mehr
gekauft, außer einer recht lieben kleinen Landſchaft von
Ruysdael, die neben der Thür im Bilderzimmer hängt,
[152] und die ihr ſo gerne anſchaut. Ich würde nur etwas
ſehr Werthvolles kaufen, in ſo ferne es meine Kräfte
zuließen. Ich habe oft Jahre lang auf ein Bild war¬
ten müſſen, das mir ſehr gefiel, und das ich zu haben
wünſchte, entweder, weil der Beſizer eigenſinnig war,
und, obwohl er das Bild weggeben wollte, doch Be¬
dingungen an die Hingabe knüpfte, die nicht zu erfül¬
len waren, oder weil er ſich von dem Bilde nicht tren¬
nen wollte, obgleich er es mißhandelte und zu Grunde
gehen ließ. Zuweilen mußte ich ſchlechtere Bilder
kaufen, die durch Farbenreiz oder andere Eigenſchaf¬
ten das Auge anſprachen, um einen Vorrath zum
Tauſche zu haben. Es gibt nehmlich Leute, welche
Freude an Bildern haben, welche ältere bedeutende
Bilder nicht weggeben, wenn ſie ſolche beſizen, ſie
aber doch nicht erkennen und ſie durch ſchlechte Be¬
handlung Schaden leiden laſſen. Sie ziehen ein Ge¬
mälde vor, welches ſie beſſer verſtehen, welches ihnen
mehr gefällt, wenn es auch im Werthe minder iſt,
und ſind zu einem Tauſche bereit. Dieſer macht ihnen
Freude, und wenn ich ihnen darlegte, daß ihr Ge¬
mälde einen höheren Werth habe als das meinige,
und wenn ich dieſen Werth nach genauer Schäzung
durch Geld ausglich, ſo war das Vergnügen noch
[153] größer; denn ſie zweifelten doch immer, ob ich Recht
habe, und das alte Bild nicht aus Vorliebe über¬
ſchäze, da ihnen ja ihre Augen ſagten, daß der Un¬
terſchied nicht ſo groß ſei. Auf dieſe Weiſe bekam ich
manches Angenehme, ohne meinem Billigkeitsgefühle
nahe treten zu müſſen, was bei Bildergeſchäften ſo
leicht der Fall wird. Die heilige Maria mit dem
Kinde, welche euch ſo wohl gefällt, und welche ich
beinahe eine Zierde meiner Sammlung nennen möchte,
hat mir Roland auf dem Dachboden eines Hauſes
gefunden. Er war dorthin mit dem Eigenthümer ge¬
ſtiegen, um altes Eiſenwerk, darunter ſich mittelalter¬
liche Sporen und eine Klinge befanden, zu kaufen.
Das Bild war ohne Blindrahmen, und war nicht
etwa zuſammengerollt, ſondern wie ein Tuch zuſam¬
mengelegt, und lag im Staube, Roland konnte nicht
genau erkennen, ob es einen Werth habe, und kaufte
es dem Manne um ein Geringes ab. Ein Soldat
hatte es einmal aus Italien geſchickt. Er hatte es als
bloße Packleinwand benüzt, und hatte Wäſche und
alte Kleider in dasſelbe gethan, die ihm zu Hauſe
ausgebeſſert werden ſollten. Darum hatte das Bild
Brüche, wo nehmlich die Leinwand zuſammengelegt
geweſen war, an welchen Brüchen ſich keine Farbe
[154] zeigte, da ſie durch die Gewalt des Umbiegens weg¬
geſprungen war. Auch hatte man, da wahrſcheinlich
die Fläche zum Zwecke einer Umhüllung zu groß ge¬
weſen war, Streifen von ihr weggeſchnitten. Man
ſah die Schnitte noch ganz deutlich, während die an¬
deren Ränder ſehr alt waren, und noch die Spuren
von den Nägeln zeigten, mit denen ſie einſt an den
Blindrahmen befeſtigt geweſen waren. Auch war,
durch die Mißhandlungen der Zeiten herbeigeführt,
an andern Stellen als an denen der Brüche, die Farbe
verſchwunden, ſo daß man nicht nur den Grund des
Gemäldes ſondern hie und da auch die lediglichen nack¬
ten Fäden der alten Leinwand ſehen konnte. So kam
das Bild auf dem Asperhofe an. Wir breiteten es zu¬
erſt auseinander, wuſchen es mit reinem Waſſer, und
mußten dann, um es als Fläche zu erhalten und es
betrachten zu können, Gewichte auf ſeine vier Ecken
legen. So lag es auf dem Fußboden des Zimmers
vor uns. Wir erkannten, daß es das Werk eines ita¬
lieniſchen Malers ſei, wir erkannten auch, daß es aus
älterer Zeit ſtamme; aber von welchem Künſtler es
herrühre, oder auch nur aus welcher Zeit es ſei, war
nach dem Zuſtande, in welchem die Malerei ſich be¬
fand, durchaus nicht zu beſtimmen. Theile, welche
[155] ganz waren, ließen indeſſen ahnen, daß das Gemälde
einen nicht zu geringen Werth haben dürfte. Wir
gingen nun daran, ein Brett zu verfertigen, auf wel¬
ches das Bild geklebt werden könnte. Wir bereiten
ſolche Bretter gewöhnlich aus Eichenholz, das aus
zwei übereinanderliegenden Stücken, deren Faſern auf
einander ſenkrecht ſind, und einem Roſte beſteht, da¬
mit dem ſogenannten Werfen oder Verbiegen des
Holzes vorgebeugt werde. Als das Brett fertig und
die Verkittung an demſelben vollkommen ausgetrock¬
net war, wurde das Gemälde auf dasſelbe aufgezo¬
gen. Wir hatten dort, wo die Ränder des Bildes
weggeſchnitten waren, die Holzfläche größer gemacht,
und die neu entſtandenen Stellen mit paſſender Lein¬
wand gut ausgeklebt, um dem Gemälde annähernd
wieder eine Geſtalt geben zu können, die es urſprüng¬
lich gehabt haben mochte, und in der es ſich den
Augen wohlgefällig zeigte. Hierauf wurde daran ge¬
gangen, das Bild von dem alten hie und da noch
vorfindlichen Firniſſe und von dem Schmuze, den es
hatte, zu reinigen. Der Firniß war durch die ge¬
wöhnlichen Mittel leicht wegzubringen, nicht ſo leicht
aber der durch Jahrhunderte veraltete Schmuz, ohne
daß man in Gefahr kam, auch die Farben zu beſchä¬
[156] digen. Das gereinigte auf der Staffelei ſtehende Ge¬
mälde wies uns nun eine viel größere Schönheit, als
es uns nach der erſten oberflächlichen Waſchung ge¬
zeigt hatte; aber es war durch die vielen Sprünge
Riſſe und nackten Stellen noch ſo verunſtaltet, daß
eine genaue Würdigung auch jezt nicht möglich war,
ſelbſt wenn wir bedeutend größere Erfahrungen ge¬
habt hätten, als wir hatten. Roland und Euſtach
ſchritten zur Ausbeſſerung. Kein Ding kann ſchwie¬
riger ſein, und durch keins ſind Gemälde ſo ſehr ent¬
ſtellt und entwerthet worden. Ich glaube, wir haben
einen nicht unrichtigen Weg eingeſchlagen. Eine ur¬
ſprüngliche Farbe durfte gar nicht bedeckt werden.
Zum Glücke hatte das Bild gar nie eine Ausbeſſerung
oder ſogenannte Übermalung erhalten, ſo daß entwe¬
der nur die urſprüngliche Farbe vorhanden war oder
gar keine. In die farbentblößten Stellen wurde die
Farbe, welche die umgrenzenden Ränder zeigten,
gleichſam wie ein Stift eingeſezt, bis die Grube er¬
füllt war. Wir nahmen die Farben ſo trocken als
möglich und ſo dicht gerieben, als es der Laufer auf
dem Steine, ohne ſtecken zu bleiben, zuwege bringen
konnte. Wenn ſich aber doch wieder nach dem Trock¬
nen eine Vertiefung zeigte, wurde dieſelbe neuerdings
[157] mit der nehmlichen Farbe ausgefüllt, und ſo fortge¬
fahren, bis eine Höhlung nicht mehr entſtand. Er¬
höhungen, die blieben, wurden mit einem feinen
Meſſer gleichgeſchliffen. Auch über unausrottbaren
Schmuz wurde die Farbe ſeiner Umgebung gelegt.
Wenn die Farbe nach längerer Zeit durch das Öhl,
das ſie enthielt, und durch andere Urſachen, die viel¬
leicht noch mitwirken, nachgedunkelt war, und ſich in
dem Gemälde als Fleck zeigte, wurde mit äußerſt
trockener Farbe und mit der Spize eines feinen Pin¬
ſels die Stelle ſo lange gleichſam ausgepunktet, bis
ſie ſich von der Umgebung durchaus nicht mehr un¬
terſchied. Dieſes Verfahren wurde zuweilen mehrere
Male wiederholt. Zulezt konnte man mit freien Augen
die Pläze, an welchen ſich neue Farben befanden, gar
nicht mehr erkennen. Nur das Vergrößerungsglas
zeigte noch die Ausbeſſerungen. Wir brachten Jahre
mit dieſem Verfahren zu, beſonders da Zwiſchenzeiten
waren, die mit andern Arbeiten ausgefüllt werden
mußten, und da unſer Vorgehen ſelber Zwiſchenzeiten
bedingte, in denen die Farben auszutrocknen hatten,
oder in denen man ihnen Zeit geben mußte, die Ver¬
änderungen zu zeigen, die nothwendig bei ihnen ein¬
treten müſſen. Dafür aber war an dem vollendeten
[158] Gemälde nicht zu merken, daß es nicht in allen Thei¬
len ein altes ſei, es hatte die feinen Sprünge alter
Bilder und hatte alle die Reinheit und Klarheit des
Pinſels, der es urſprünglich geſchaffen hatte. Wenn
man alte Bilder bei Ausbeſſerungen übermalt und
dadurch ſtimmt, ſo iſt nicht ſelten ein Überzug über die
feinen Linien, welche die Zeit in alte Bilder ſprengt,
und dieſer Überzug zeigt nicht nur, daß das Bild aus¬
gebeſſert worden iſt, ſondern er ſtellt auch einen fei¬
nen Schleier dar, der über die Farben gebreitet iſt,
und ſie trüb und undurchſichtig macht. Solche Bilder
geben oft einen düſtern unerfreulichen und ſchwer¬
laſtenden Eindruck. Es werden viele unſer Thun in
Herſtellung alter Bilder unbedeutend und unerheblich
nennen, beſonders da es ſo viele Zeit und ſo viele
Anſtalten erforderte; uns aber machte es eine große
und eine innige Freude. Ihr werdet es gewiß nicht
tadeln, da ihr einen ſo großen Antheil an den Her¬
vorbringungen der Kunſt zu nehmen beginnt. Wenn
nach und nach die Geſtalt eines alten Meiſters vor
uns aufſtand, ſo war es nicht blos das Gefühl eines
Erſchaffens, das uns beſeelte, ſondern das noch viel
höhere eines Wiederbelebens eines Dinges, das ſonſt
verloren geweſen wäre, und das wir ſelber nicht hät¬
[159] ten erſchaffen können. Als ſchon bereits einige Theile
des Bildes fertig waren, zeigte es ſich, daß die Far¬
ben reiner und glänzender ſeien, als wir gedacht hat¬
ten, und daß das Bild einen vorzüglicheren Werth
habe, als Anfangs unſere Vermuthung war. So
lange die vielen Sprünge und farbloſen Stellen und
ſo lange die unreinen Flecke, die wir nicht hatten be¬
ſeitigen können, auf dem Gemälde waren, übten ſie
auch auf das Nichtzerſtörte und ſogar auf das ſehr
wohl Erhaltene einen Einfluß aus, und ließen es im
Ganzen mißfärbiger erſcheinen, als es war. Nachdem
aber in einer ziemlich großen Fläche die widerſtreiten¬
den Stellen mit den entſprechenden Farben zugedeckt
waren, und die neue Farbe die alte, ſtatt ihr zu wi¬
derſprechen, unterſtüzte, ſo kam eine Reinheit ein
Schmelz eine Durchſichtigkeit und ſogar ein Feuer zu
Stande, daß wir in Erſtaunen geriethen; denn bei
ſtarkbeſchädigten Bildern kann man die Folgerichtig¬
keit der Übergänge nicht beurtheilen, bis man ſie nicht
vollendet vor ſich hat. Freilich mochte der beſondere
Farbenfluß ſich noch höher darſtellen, da er von den
unverbeſſerten und widerwärtigen Stellen umgeben
und gehoben wurde; aber das war ſchon vorauszu¬
ſehen, daß, wenn das ganze Bild fertig ſein würde,
[160] ſeine Stimmung einen entſchieden künſtleriſchen Ein¬
druck machen müſſe. Ich hatte während der Arbeit
viele Mühe darauf verwendet, die ganze Geſchichte
und die Herkunft des Bildes zu erforſchen; allein ich
kam zu keinem Ergebniſſe. Der Soldat, der die Lein¬
wand aus Italien geſchickt hatte, war längſt geſtor¬
ben, und es lebte überhaupt niemand mehr, der in
näherer Beziehung zu dem Ereigniſſe geſtanden wäre;
denn daſſelbe hatte ſich weit früher zugetragen, als
ich gedacht hatte. Der Großvater des lezten Beſizers
des Bildes hatte öfter erzählt, daß er ſagen gehört
habe, daß ein aus dem Hauſe gebürtiger Soldat ein¬
mal ſeine Strümpfe und Hemden in ein Muttergot¬
tesbild eingewickelt aus Welſchland nach Hauſe ge¬
ſchickt habe. Die Wahrheit der Erzählung beſtättigte
ſich dadurch, daß man noch das alte zerſtörte Ma¬
rienbild auf dem Dachboden des Hauſes fand. Ich
konnte auch nicht ergründen, welche Gelegenheit es
geweſen ſei, die jenen deutſchen Soldaten nach Welſch¬
land geführt hatte. Von dem, herauszufinden, aus
welcher Gegend Italiens das Bild gekommen ſei,
konnte nun vollends gar keine Rede mehr ſein. Als
nach langer Zeit nach vieler Mühe und mancher Un¬
terbrechung das Gemälde in einem ſchönen alterthüm¬
[161] lich gearbeiteten Goldrahmen fertig vor uns ſtand,
war es eine Art Feſt für uns. Roland war herbei ge¬
rufen worden, da er gegen den Schluß des Werkes
eine Reiſe angetreten, und die Vollendung ſeinem
Bruder überlaſſen hatte. Mehrere Nachbaren waren
geladen worden, ja ein Freund und Kenner alter
Kunſt, dem ich die Sache gemeldet hatte, war ſogar
von ziemlich weiter Entfernung herzugekommen, um
die Wiederherſtellung zu ſehen, und andere, wenn ſie
auch nicht geladen waren, hatten ſich eingefunden,
da ſie durch Zufall Kenntniß von der Begebenheit er¬
halten hatten, und wußten, daß ſie auf dem Asper¬
hofe nicht unwillkommen ſein würden. Es iſt nicht
wahr, was man öfter ſagt, daß eine ſchöne Frau ohne
Schmuck ſchöner ſei als in demſelben: und eben ſo iſt
es nicht wahr, daß ein Gemälde zu ſeiner Geltung
nicht des Rahmens bedürfe. Ich hatte zu unſerem
Marienbilde einen Rahmen nach Zeichnungen aus
mittelalterlichen Gegenſtänden beſtellt, und hatte deſ¬
ſen Ausführung gelegentlich, wenn mich ein Geſchäft
oder mein Wille in die Stadt brachte, überwacht.
Er war weit eher auf dem Asperhofe angekommen,
als das Bild fertig war, und mußte die Zeit über in
ſeiner Kiſte verpackt harren. Wir verſuchten auch
Stifter, Nachſommer. II. 11[162] nicht ein einziges Mal das Bild in ihn zu fügen, ehe
es fertig war, um den Eindruck nicht zu ſchwächen.
Bei neuen Bildern zeigt freilich der Rahmen erſt,
daß noch manches hinzuzufügen und zu ändern iſt,
und vieles muß an ſolchen Bildern erſt gemacht wer¬
den, wenn man ſie bereits in einem Rahmen geſehen
hat. Bei alten Bildern, die wiederhergeſtellt werden,
iſt das anders, beſonders, wenn ſie auf unſere Weiſe
hergeſtellt werden. Da gibt das Vorhandene den Weg
der Herſtellung an, man kann nicht anders malen, als
man malt, und die Tiefe das Feuer und der Glanz
der Farben iſt daher durch das bereits auf der Lein¬
wand Befindliche bedingt. Wie dann das Bild in
einem Rahmen ausſehen werde, liegt nicht in der
Willkühr des Wiederherſtellers, und wenn es in dem
Rahmen trefflich oder minder gut ſteht, ſo iſt das
Sache des urſprünglichen Meiſters, deſſen Werk man
nicht ändern darf. Als unſere Maria, welche noch nicht
einmal einen Firniß erhalten hatte, aus den alter¬
thümlichen Geſtalten des Rahmens, die ſehr paßten,
herausſah, ſo war es ein wunderbarer Anblick, und
erſt jezt ſahen wir, welche Lieblichkeit und Kraft der
alte Meiſter in ſeinem Bilde dargelegt hatte. Ob¬
wohl der Rahmen erhabene Arbeit in Blumen Ver¬
[163] zierungen und ſogar in Theilen der menſchlichen Ge¬
ſtalt enthielt, und auf demſelben Glanzlichter von ſtar¬
ker Wirkung angebracht waren, ſo erſchien das Bild
doch nicht unruhig, ja es beherrſchte den Rahmen, und
machte ſeinen Reichthum zu einer anmuthigen Man¬
nigfaltigkeit, während es ſelber durch ſeine Gewalt
ſich geltend machte, und in den erhebenden Farben
von würdigem Schmucke umgeben thronte. Ein leiſer
Ruf entſchlüpfte den Lippen aller Anweſenden, und
ich freute mich, daß ich mich nicht getäuſcht hatte,
als ich auf die Macht des Bildes rechnend einen ſo
reichen Rahmen für dasſelbe beſtellt hatte. Wir ſtan¬
den lange davor, und betrachteten die Schönheit der
Farbengebung an den entblößten Theilen ſo wie die
der Gewandung und der Gründe, was im Vereine
mit der Einfachheit und Hoheit der Linienführung
und mit der maßvollen Anordnung der Flächen ein
ſo würdevolles und heiliges Ganzes bildete, daß man
ſich eines tiefen Ernſtes nicht erwehren konnte, der
wie wahrhaftige Andacht war. Erſt ſpäter fingen wir
zu ſprechen an, beredeten dieſes und jenes, und ka¬
men, wie es natürlich war, dahin, Vermuthungen
über den Meiſter zu wagen. Es wurde Guido Reni
genannt, es wurde Tizian genannt, es wurde die
11 *[164] Rafaeliſche Schule genannt. Für alles hatte man
Gründe, und der Schluß war, wie er es auch noch
heute iſt, daß man nicht wußte, von wem das Bild
ſei. Roland war außerordentlich vergnügt, daß er die
Sache in ihrer Entſtellung ſchon geahnt, und durch
den Kauf eine ſo zweckmäßige Handlung ausgeführt
habe. Damals war er noch außerordentlich jung, er
war bei Weitem nicht ſo eingeübt wie jezt, und war
daher ſeiner Handlung nicht ganz ſicher. Euſtach ſah
man es an, daß ihm, wie der Volksausdruck ſagt,
das Herz vor Freude lache. Eine freundliche Bewir¬
thung meiner Gäſte war damals das Ende des Ta¬
ges. Wir ſuchten in der folgenden Zeit eine Stelle,
an welcher das Bild am vortheilhafteſten aufgehängt
werden könnte. Roland erhielt eine Belohnung in
einem Werke, das er ſich ſchon längſt gewünſcht hatte,
und Euſtach, das ſah ich wohl, fand ſeine ſchönſte
Befriedigung darin, daß er näher in unſere Kunſt¬
kreiſe gezogen wurde. Dem Manne, von welchem
das Bild in ſeinem verſtümmelten Zuſtande gekauft
worden war, gab ich noch eine Summe, mit welcher
er weit über ſeine Erwartung abgefunden war; denn
das Bild hätte er doch nie herſtellen laſſen können, er
wäre auch auf den Gedanken nicht gekommen, und
[165] ohne Roland wäre das Bild nicht verkauft worden,
bis es immer mehr verfallen, und einmal vernichtet
worden wäre. Oft ſtand ich in ſpäteren Zeiten noch
davor, und hatte manche Freude in Betrachtung des
Werkes. Ich ſah das Angeſicht und die Hände der
Mutter an, und ſah das theils nackte theils durch
ſchöne Tücher ſchicklich verhüllte Kind. Ein dem
Lande Italien ſo häufig zukommendes Zeichen iſt es,
daß das Kind nicht in den Armen der Mutter gehal¬
ten wird, ſondern daß es mit ſchönem Hinneigen zu
derſelben und von ihr leicht und ſanft umfaßt auf
einem erhöhten Gegenſtande vor ihr ſteht. Der Künſt¬
ler hat dadurch nicht nur Gelegenheit gefunden, den
Körper des Kindes in einer weit ſchöneren Stellung
zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Bu¬
ſen gehalten geweſen wäre, ſondern er hat noch den
weit höheren Vortheil erreicht, das göttliche Kind in
ſeiner Kraft und in ſeiner Freiheit zu zeigen, was die
Wirkung hat, als ehrten wir gleichſam ſchon die
Macht, mit welcher es einſtens handeln wird. Daß
ſüdliche Völker den Heiland als Kind in ſo großer
ſinnlicher Schönheit malen, hat mich immer entzückt,
und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher
wie ein kräftiger wunderſchöner Leib des Südens aus¬
[166] ſieht, ſo beirrt mich das nicht, ſehen doch die Jeſus¬
kinder und die Johanneskinder des herrlichen Rafael
auch ſo aus, und die Wirkung iſt doch eine ſo gewal¬
tige. Daß die Mutter, deren Mund ſo ſchön iſt,
die Augen gegen Himmel wendet, ſagt mir nicht
ganz zu. Die Wirkung, ſcheint mir, iſt hierin ein
wenig überbothen, und der Künſtler legt in eine
Handlung, die er ſeine Geſtalt vor uns vornehmen
läßt, eine Bedeutung, von der er nicht machen kann,
daß wir ſie in der bloßen Geſtalt ſehen. Wer durch
einfachere Mittel wirkt, wirkt beſſer. Wenn er die
Heiligkeit und Hoheit ſtatt in die erhobenen Augen
in die bloße Geſtalt hätte legen können, wobei die
Augen einfach vor ſich hinblickten, ſo hätte er beſſer
gethan. Rafael läßt ſeine Madonnen ruhig und ernſt
blicken, und ſie werden Himmelsköniginnen, während
ſo manche andere nur bethende Mädchen ſind. Aus
dieſem möchte ich auch ſchließen, daß das Bild nicht
aus der Rafaelſchen Schule iſt, ſo ſehr die herrliche
Geſtalt des Kindes daran erinnert. Das Bild hängt
nicht mehr dort, wo es Anfangs war. Wir haben
alle Bilder mehrere Male umgehängt, und es ge¬
währt eine eigene Freude, zu verſuchen, ob in einer
andern Anordnung die Wirkung des Ganzen nicht
[167] eine beſſere ſei. Auch darüber haben wir ernſte Be¬
rathungen und vielerlei Verſuche angeſtellt, welche
Farbe wir den Wänden geben ſollen, daß ſich die
Bilder am beſten von ihnen abheben. Wir blieben
dann bei dem röthlichen Braun ſtehen, das ihr jezt
noch in dem Gemäldezimmer findet. Ich laſſe nun
nichts mehr ändern. Die jezige Lage der Bilder iſt
mir zu einer Gewohnheit und iſt mir lieb geworden,
und ich möchte ohne übeln Eindruck die Sache nicht
anders ſehen. Sie iſt mir eine Freude und eine Blume
meines Alters geworden. Die Erwerbung der Bilder,
die, wie ihr ſchon aus meinen früheren Worten ſchlie¬
ßen könnt, nicht immer ſo leicht war, wie die der hei¬
ligen Maria, ſtellt eine eigene Linie in dem Gange
meines Lebens dar, und dieſe Linie iſt mit vielem
verſehen, was mir theils einen freudigen theils einen
trüben Rückblick gewährt. Wir ſind in manche Ver¬
hältniſſe gerathen, haben manche Menſchen kennen
gelernt, und haben manche Zeit mit Wiederherſtel¬
lung der Bilder mit Verwindung von Täuſchungen
mit Hineinleben in Schönheiten zugebracht, wir ha¬
ben auch manche zu Zeichnungen und Entwürfen
von Rahmen verwendet; denn alle Gemälde haben
wir nach und nach in neue von uns entworfene Rah¬
[168] men gethan, und ſo ſtehen nun die Werke um mich
wie alte hochverehrungswürdige Freunde, die es täg¬
lich mehr werden, und die eine Annehmlichkeit und
eine Wonne für meine noch übrigen Tage ſind.“
Daß ich durch die Erzählung meines Gaſtfreun¬
des der Sammlung ſeiner Bilder noch mehr zugewen¬
det wurde, begreift ſich.
Ich lenkte meine Aufmerkſamkeit nun auch auf
die Kupferſtiche meines Gaſtfreundes. Da dieſelben
nicht unter Glas und Rahmen waren, ſondern ſich
in großen Laden des Tiſches im Leſezimmer befanden,
ſo konnte man ſie weit bequemer betrachten als die
Gemälde. Ich nahm mir zuerſt die Mappen nach
einander heraus, und ſah alle Kupferſtiche der Reihe
nach an. Dann aber ging ich an eine mehr geordnete
Betrachtung. So wie mein Gaſtfreund nicht Bücher
aus dem Hauſe gab, wohl aber einem Gaſte in ſein
Zimmer die verlangten bringen ließ, ſo that er es
auch mit den Kupferſtichen, nur gab er immer gleich
eine ganze Mappe in ein Zimmer nicht aber leicht
einzelne Blätter. Er that dies der Erhaltung und
Schonung willen. Weil ich nun nicht viele Stun¬
den im Leſezimmer ununterbrochen mit Anſehen von
Kupferſtichen zubringen mochte, ſo ließ mir mein
[169] Gaſtfreund die einzelnen Mappen nach und nach
in meine Wohnung bringen, und ich konnte die
in ihnen enthaltenen Werke mit Muße betrachten,
konnte dieſe Beſchäftigung auch durch Anderes unter¬
brechen, und konnte, wenn ich die Mappe durch eine
beliebige Zeit in meiner Wohnung gehabt hatte, die¬
ſelbe durch eine andere erſezen. Später, da ich alle
Mappen genau durchſucht hatte, wobei ich mir die¬
jenigen Werke aufzeichnete, die mir ganz beſonders
gefielen oder die von meinem Gaſtfreunde und Euſtach
als vorzüglich bezeichnet waren, ſchlug ich mir bei
Gelegenheit nur die eine oder die andere auf, um das
eine oder andere mir ſehr liebe Werk des Grabſtichels
zu beſehen. Ich merkte mir in meinem Gedenkbuche
auch diejenigen an, welche ich mir gleichfalls kaufen
wollte, wenn es ſolche waren, die man noch im Han¬
del bekommen konnte. Ich lernte bei dieſen Unterſu¬
chungen die Art und Weiſe des Vortrags verſchiede¬
ner Meiſter und verſchiedener Zeiten kennen, und
endlich auch würdigen, und ich fand wieder, wie es
bei den Gemälden der Fall iſt, daß mit geringen Aus¬
nahmen auch dieſe Kunſt eine ſchönere Vergangenheit
gehabt habe, als ſie eine Gegenwart habe, ja bei den
Kupferſtichen konnte ich dies noch genauer kennen
[170] lernen als bei Gemälden, da mein Freund alte und
neue Kupferſtiche hatte, während in ſeinem Bilder¬
zimmer nur ſehr wenige neue Bilder hingen, die Ver¬
gleichung alſo ſchwieriger war, und ich mich auf die
neuen Bilder weniger erinnerte, welche ich in der
Stadt geſehen hatte, und welche ich auch mit anderen
Augen mochte angeſchaut haben. Ich lernte die Fein¬
heiten die Großartigkeit die Schönheit die Ruhe in
der Behandlung immer mehr kennen und würdigen,
und beſchloß, da mir Kupferſtiche weit leichter zu er¬
werben waren als Gemälde, vorläufig damit zu be¬
ginnen, mir Blätter, die ich für trefflich hielt, zu kaufen,
und eine Sammlung anzubahnen. Es war eine ziem¬
liche Zeit hingegangen, die ich mit Betrachtung und
Einprägung der Kupferſtiche und Gemälde verbrachte.
Euſtach war häufig bei mir, wir ſprachen über die
Dinge, und ich lernte täglich höher von dieſem
Manne denken.
Ich kam während dieſer Zeit auch öfter in das
Schreinerhaus und andere Werkſtätten, und ſah zu,
was da verfertiget werde.
Bei dieſen Veranlaſſungen fiel es mir auf, daß
mein Gaſtfreund noch nicht begonnen hatte, aus dem
in Wahrheit gewiß außerordentlich ſchönen Marmor,
[171] den ich ihm gebracht hatte, deſſen Schönheit ich ganz
gewiß zu beurtheilen verſtand, und der ihm ſelber
viele Freude gemacht zu haben ſchien, etwas verferti¬
gen zu laſſen. Ich konnte auch den Marmor in dem
Roſenhauſe gar nicht auffinden. Er war in dem Vor¬
rathshauſe gelegen, wo ſich auch öfter Steine von
mir befunden hatten. Jezt war er nicht mehr dort.
War er, um nicht Verlezungen zu erfahren, in einen
anderen ſichereren Ort gebracht worden, oder hatte
man ihn doch irgendwohin geſendet, wo an ihm ge¬
arbeitet wurde? Das Lezte war nicht denkbar, da
mein Gaſtfreund alle Dinge aus Holz und Stein in
ſeinem Hauſe arbeiten ließ, wozu auch nicht nur die
Vorrichtungen und Werkzeuge vorhanden waren, ſon¬
dern wohin auch zu jeder Zeit die etwa noch man¬
gelnden Arbeitskräfte gezogen werden können.
Ich machte eines Tages eine Reiſe in das Lauter¬
thal, und hielt mich einige Zeit in demſelben auf.
Es war nicht, um meine gewöhnliche Beſchäftigung
dort vorzunehmen, ſondern um nach den Arbeiten mit
meinem Marmor zu ſehen. In der Nähe des Ahorn¬
gaſthauſes — etwa zwei Wegeſtunden von demſelben
entfernt — befand ſich die Anſtalt, in welcher Marmor
geſägt und geſchliffen wurde, und in welcher man ver¬
[172] ſchiedene Dinge aus Marmor verfertigte. Der Ort hieß
das Rothmoor, weßhalb, konnte ich nicht ergründen;
denn es war überall Geſtein und rauſchendes Waſſer,
und von einem Moore war auf Meilen in der Länge
und Breite nichts zu finden; aber der Ort hieß ſo.
Es befanden ſich dort mehrere Stücke Marmor von
mir, damit aus denſelben etwas für den Vater ge¬
macht würde. Das größte Stück war faſt roſenroth,
und es ſollte daraus ein Waſſerbecken für den Garten
werden. Das Becken aber hatte ich ſelber entworfen.
Aus großer Vorliebe für Gewächſe hatte ich ſeine Ge¬
ſtalt aus dem Gewächsreiche genommen. Es war ein
Blatt, welches dem der Einbeere ſehr ähnlich war, in
welchem die glänzende dunkelſchwarze Kugel liegt.
Ich hatte das Blatt nach einem wirklichen aus Wachs
gebildet, nur die Auszackung machte ich geringer und
die Tiefe größer. Das Wachsblatt wurde von einem
Arbeiter, der des Geſtaltens ſehr kundig war, in
Gips bedeutend größer nachgebildet, und nach dem
Gipsblatte ſollte das Marmorbecken gearbeitet wer¬
den. In der Tiefe desſelben ſollte wie bei dem Ein¬
beerenblatte die Kugel liegen, und aus einem Stiele,
der ſich über das Blatt erhebt, ſoll das Waſſer in
einem feinen Strahle in das Blatt ſpringen. Das
[173] Blatt ſelber ſollte von Roſenmarmor der Stamm und
Stengel von einem anderen dunkleren ſein. Ich be¬
ſtrebte mich in dem Rothmoore nachzuſehen, wie weit
die Arbeit gediehen ſei, und verſuchte durch Beſpre¬
chungen für größere Leichtigkeit und Reinheit einzu¬
wirken. Aus anderem Marmor ſollten andere Dinge
verfertigt werden. Zuerſt das Pflaſter um die Ein¬
beere herum. Das Blatt ſollte ſein Waſſer auf die¬
ſes Pflaſter hinabgießen, daſſelbe ſollte auf ſeiner
Ebene eine ſanfte Rinne bilden, um das Waſſer wei¬
ter zu leiten. Die Farbe des Pflaſters ſollte blaß gelb¬
lich ſein. Ich hatte eine erklekliche Anzahl Stücke
hiezu zuſammengebracht. Für eine Laube in dem Gar¬
ten hatte ich die Platte eines Tiſchchens beabſichtigt.
Sonſt waren noch kleine Tragſteine ein paar Simſe
und Briefbeſchwerer im Werke. Die Sachen waren
in Arbeit. Als Daraufgabe war ein Neſt, in welchem
zwei Eier lagen, deren Marmor faſt täuſchend die
Farbe von Kibizeiern hatte.
Ich war mit den Arbeiten, ſo weit ſie jezt gediehen
waren, ſehr zufrieden. Der Stein zu dem Becken war
nicht nur in ſeine allgemeine Geſtalt geſchnitten wor¬
den, ſondern das Blatt war in rohen Umriſſen fertig,
ſo daß zur feineren Ausfeilung und zur Glättung ge¬
[174] ſchritten werden konnte. Es arbeiteten zwei Menſchen
ausſchließlich an dieſem Gegenſtande. Mit dem
Gipsvorbilde ließ ich noch einige Veränderungen vor¬
nehmen. Es war mir nicht leicht genug, und zeigte
mir nicht hinlänglich das Weiche des Pflanzenlebens.
Ich ging in die Berge, ſuchte Pflanzen der Einbeere,
und brachte ſie ſammt ihrer Erde in Töpfen zurück,
damit ſie nicht zu ſchnell welkten, und uns länger als
Muſter dienen könnten. An dieſen Pflanzen ſuchte ich
zu zeigen, was an dem Vorbilde noch fehle. Ich er¬
klärte, wo ein Blatttheil ſich ſanfter legen ein Rand
ſich weicher krümmen müſſe, damit endlich das Stein¬
bild, wenn es fertig wäre, nicht den Eindruck hervor¬
bringe, als ob es gemacht worden, ſondern den, als
ob es gewachſen wäre. Da ich mich bemühte, die
Sache ohne Verlezung des Mannes, welcher das
Gipsvorbild verfertiget hatte, darzulegen, und ſie
eher in das Gewand einer Berathung einzukleiden,
ſo ging man auf meine Anſichten ſehr gerne ein, und
da die erſten Verſuche gelangen, und das Becken durch
die größere Ähnlichkeit, die es mit dem Blatte er¬
langte, auch ſichtbar an Schönheit gewann, ſo ging
man mit Eifer an die Fortſezung, ſuchte ſich den
Pflanzenmerkmalen immer mehr zu nähern, und er¬
[175] lebte die Freude, daß endlich das Werk in ungemein
edlerer Vollendung daſtand als früher. Selbſt für
künftige Arbeiten hatte man durch dieſes Verfahren
einen Anhaltſpunkt gewonnen, und Hoffnungen ge¬
ſchöpft, ſich in ſchönere und heiterere Kreiſe zu ſchwin¬
gen. Der Werkmeiſter ſprach unverhohlen mit mir
über die Sache. Früher hatte man nach hergebrachten
Geſtalten und Zeichnungen Gegenſtände verfertigt,
dieſelben verſandt, und Preiſe dafür erhalten, die
ſolchen Waaren gewöhnlich zukommen, ſo daß die
Anſtalt beſtehen konnte, aber einer gehäbigen und
wohlhabenden Blüthe doch nicht theilhaftig war. Daß
man ſich an Pflanzen als Vorbilder wenden könne,
war ihnen nicht eingefallen. Jezt richtete man den
Blick auf ſie, und fand, daß alle Berge voll von Din¬
gen ſtänden, die ihnen Fingerzeige geben könnten,
wie ſie ihre Werke zu verfertigen und zu veredeln
hätten.
Ich blieb ſo lange da, bis das Gipsblatt voll¬
kommen fertig war, und bis ich mich darüber beruhigt
hatte, welche Werkzeuge zum Meſſen angewendet
würden, damit die Geſtalt des Vorbildes mit allen
ihren Verhältniſſen in die Nachbildung übergehen
könnte.
[176]
Nachdem ich noch die Bitte um Beſchleunigung
der Arbeit angebracht hatte, damit ich ſie ſo bald als
möglich in den Garten des Vaters bringen könnte,
und nachdem ich verſprochen hatte, in dieſem Som¬
mer noch einen Beſuch in der Anſtalt zu machen, trat
ich den Rückweg in das Roſenhaus wieder an.
Ich beſtieg auf meiner Wanderung, die ich in den
Bergen zu Fuße machte, das Eiskar, ſezte mich auf
einen Steinblock, und ſah beinahe den ganzen Nach¬
mittag in tiefem Sinnen auf die Landſchaften, die
vor mir ausgebreitet waren, hinaus.
In dem Roſenhauſe beſchäftigte ich mich wieder
mit Betrachtung der Bilder. Ich nahm ſogar ein
Vergrößerungsglas, und ſah die Gemälde an, wie
denn die verſchiedenen alten Meiſter gemalt haben,
ob der eine einen ſtumpfen ſtarren Pinſel genommen
habe, der andere einen langen weichen, ob ſie mit
breitem oder ſpizigem gearbeitet, ob ſie viel untermalt
haben, oder gleich mit den ſchweren undurchſichtigen
Farben darauf gegangen ſeien, ob ſie in kleinen Flä¬
chen fertig gemacht, oder das Große vorerſt angelegt,
und es in allen Theilen nach und nach der Vollen¬
dung zugeführt hätten.
[177]
Mein Gaſtfreund war in dieſen Dingen ſehr er¬
fahren, und ſtand mir bei.
Von den Dichtern nahm ich jezt Calderon vor.
Ich konnte ihn bereits in dem Spaniſchen leſen, und
vertiefte mich mit großem Eifer in ſeinen Geiſt.
Wir beſuchten mehrere Male den Inghof. Es
wurde dort Muſik gemacht, es wurde geſpielt, wir
beſuchten die ſchönſten Theile der Umgebung, oder
beſahen, was der Garten oder der Meierhof oder das
Haus Vorzügliches aufzuweiſen hatte.
Zur Zeit der Roſenblüthe kam Mathilde und Na¬
talie auf den Aſperhof. Wir wußten den Tag der
Ankunft, und erwarteten ſie. Als ſie ausgeſtiegen
waren, als Mathilde und mein Gaſtfreund ſich be¬
grüßt hatten, als einige Worte von den Lippen der
Mutter zu Guſtav geſprochen worden waren, wendete
ſie ſich zu mir, und ſprach mit den freundlichſten Mie¬
nen und mit dem liebevollſten Blick ihrer Augen die
Freude aus, mich hier zu finden, zu wiſſen, daß ich
mich ſchon ziemlich lange bei ihrem Freunde und
ihrem Sohne aufgehalten habe, und zu hoffen, daß
ich die ganze ſchöne Jahreszeit auf dem Asperhofe zu¬
bringen werde.
Ich erwiederte, daß ich heuer beſchloſſen habe,
Stifter, Nachſommer. II. 12[178] den ganzen Sommer über blos für mein Vergnügen
zu leben, und daß ich es mit großem Danke anerken¬
nen müſſe, daß mir erlaubt ſei, auf dieſem Size ver¬
weilen zu dürfen, der das Herz den Verſtand und das
ganze Weſen eines jungen Mannes ſo zu bilden ge¬
eignet ſei.
Natalie ſtand vor mir, da dieſes geſprochen wor¬
den war. Sie erſchien mir in dieſem Jahre vollkom¬
mener geworden, und war ſo außerordentlich ſchön,
wie ich nie in meinem ganzen Leben ein weibliches
Weſen geſehen habe.
Sie ſagte kein Wort zu mir, ſondern ſah mich
nur an. Ich war nicht im Stande, etwas aufzufin¬
den, was ich zur Bewillkommung hätte ſagen kön¬
nen. Ich verbeugte mich ſtumm, und ſie erwiederte
dieſe Verbeugung durch eine gleiche.
Hierauf gingen wir in das Haus.
Die Tage verfloſſen wie die in den vergangenen
Jahren. Nur eine einzige Ausnahme trat ein. Man
begann nach und nach von den Bildern zu ſprechen,
man ſprach von der Marmorgeſtalt, welche auf der
ſchönen Treppe des Hauſes ſtand, man ging öfter in
das Bilderzimmer, und beſah Verſchiedenes, und
man verweilte manche Augenblicke in der dämmerigen
[179] Helle der Treppe, auf welche von oben die ſanfte
Fluth des Lichtes hernieder ſank, und vergnügte ſich
an bei Herrlichkeit der dort befindlichen Geſtalt und
der Pracht ihrer Gliederung. Ich erkannte, daß Ma¬
thilde in der Beurtheilung der Kunſt erfahren ſei,
und daß ſie dieſelbe mit warmem Herzen liebe. Auch
an Natalien ſah ich, daß ſie in Kunſtdingen nicht
fremd ſei, und daß ſie in ihrer Neigung etwas gelten.
Ich machte alſo jezt die Erfahrung, daß man in frühe¬
rer Zeit, da ich mein Augenmerk noch weniger auf
Gemälde und ähnliche Kunſtwerke gerichtet hatte,
und dieſelben einen tiefen Plaz in meinem Innern
noch nicht einnahmen, mich geſchont habe, daß man
nicht eingegangen ſei, in meiner Gegenwart von den
in dem Hauſe befindlichen Kunſtwerken zu ſprechen,
um mich nicht in einen Kreis zu nöthigen, der in
jenem Augenblicke noch beinahe außerhalb meiner
Seelenkräfte lag. Mir kam jezt auch zu Sinne, daß
in gleicher Weiſe mein Vater nie zu mir auf eigenen
Antrieb von ſeinen Bildern geſprochen habe, und daß
er ſich nur in ſo weit über dieſelben eingelaſſen, als
ich ſelber darauf zu ſprechen kam, und um dieſes oder
jenes fragte. Sie haben alſo ſämmtlich einen Gegen¬
ſtand vermieden, der in mir noch nicht geläufig war,
12 *[180] und von dem ſie erwarteten, daß ich vielleicht mein
Gemüth zu ihm hinwenden würde. Mich erfüllte
dieſe Betrachtung einigermaßen mit Scham, und ich
erſchien mir gegenüber all den Perſonen, die nun
durch meine Vorſtellung gingen, als ungefüg und
unbehilflich; aber da ſie immer ſo gut und liebreich
gegen mich geweſen waren, ſo ſchloß ich aus dieſem
Umſtande, daß ſie nicht nachtheilig über mich geur¬
theilt, und daß ſie meinen Antheil an dem, was ihnen
bereits theuer war, als ſicher bevorſtehend betrachtet
haben. Dieſer Gedanke beruhigte mich eines Theiles
wieder. Beſonders aber gereichte es mir zur Ge¬
nugthuung, daß ſie mit einer Art von Freude in die
Geſpräche eingingen, die ſich jezt über bildende Kunſt
entſpannen, daß alſo das nicht unſachgemäß ſein
mußte, was ich in dieſer Richtung jezt äußerte, und
daß es ihnen angenehm war, mit mir auf einer Le¬
bensrichtung zuſammen zu treffen, welche für ſie
Wichtigkeit hatte.
Eines Tages, da die Blüthe der Roſen ſchon bei¬
nahe zu Ende war, wurde ich unfreiwillig der Zeuge
einiger Worte, welche Mathilde an meinen Gaſt¬
freund richtete, und welche offenbar nur für dieſen
allein beſtimmt waren. Ich zeichnete in einer Stube
[181] des Erdgeſchoſſes ein Fenſtergitter. Das Erdgeſchoß
des Hauſes hatte lauter eiſerne Fenſtergitter. Dieſe
waren aber nicht jene großſtäbigen Gitter, wie man
ſie an vielen Häuſern und auch an Gefängniſſen an¬
bringt, ſondern ſie waren ſanft geſchweift, und hatten
oben und unten eine flache Wölbung, die mitten
gleichſam wie in einen Schlußſtein in eine ſchöne
Roſe zuſammenlief. Dieſe Roſe war von vorzüglich
leichter Arbeit, und war ihrem Vorbilde treuer, als
ich irgendwo in Eiſen geſehen hatte. Außerdem war
das ganze Gitter in zierlicher Art zuſammengeſtellt,
und die Stäbe hatten nebſt der Schlußroſe noch
manche andere bedeutſame Verzierungen. Es war
faſt gegen Abend, als ich mich in einer Stube des
Erdgeſchoſſes, deren Fenſter auf die Roſen hinaus¬
gingen, befand, um mir vorläufig die ganze Geſtalt
des Gitters, die außen zu ſehr von den Roſen ver¬
deckt war, zu entwerfen. Die einzelnen Verzierungen,
deren Hauptentwicklung nach außen ging, wollte ich
mir ſpäter einmal von dorther zeichnen. Da ich in
meine Arbeit vertieft war, dunkelte es vor dem Fenſter,
wie wenn die Laubblätter vor demſelben von einem
Schatten bedeckt würden. Da ich genauer hinſah, er¬
kannte ich, daß jemand vor dem Fenſter ſtehe, den
[182] ich aber der dichten Ranken willen nicht erkennen
konnte. In dieſem Augenblicke ertönte durch das ge¬
öffnete Fenſter klar und deutlich Mathildens Stimme,
die ſagte: „Wie dieſe Roſen abgeblüht ſind, ſo iſt
unſer Glück abgeblüht.“
Ihr antwortete die Stimme meines Gaſtfreun¬
des, welche ſagte: „Es iſt nicht abgeblüht, es hat
nur eine andere Geſtalt.“
Ich ſtand auf, entfernte mich von dem Fenſter
und ging in die Mitte des Zimmers, um von dem
weiteren Verlaufe des Geſpräches nicht mehr zu ver¬
nehmen. Da ich ferner überlegt hatte, daß es nicht
geziemend ſei, wenn mein Gaſtfreund und Mathilde
ſpäter erführen, daß ich zu der Zeit, als ſie ein Ge¬
ſpräch vor dem Fenſter geführt hatten, in der Stube
geweſen ſei, der jenes Fenſter angehörte, ſo entfernte
ich mich auch aus derſelben, und ging in den Gar¬
ten. Da ich nach einer Zeit meinen Gaſtfreund Ma¬
thilden Natalie und Guſtav gegen den großen Kirſch¬
baum zugehen ſah, begab ich mich wieder in die
Stube, und holte mir meine Zeichnungsgeräthe, die
ich dort liegen gelaſſen hatte; denn der Abend war
mittlerweile ſo dunkel geworden, daß ich zum Weiter¬
zeichnen nicht mehr ſehen konnte.
[183]
Als die Roſenblüthe gänzlich vorüber war, be¬
ſchloſſen wir, uns auch eine Zeit in dem Sternenhofe
aufzuhalten. Da wir den Hügel zu ihm hinan fuhren,
ſah ich, daß Gerüſte an dem Mauerwerke aufge¬
ſchlagen waren, und als wir uns genähert hatten,
erkannte ich, daß die Arbeiter, die ſich auf den Ge¬
rüſten befanden, damit beſchäftigt waren, die Tünche
von den breiten Steinen, welche an die Oberfläche
der Mauern gingen, abzunehmen, und die Steine zu
reinigen. Man hatte vorher an einem abgelegenen
Theile des Hauſes einen Verſuch gemacht, welcher
ſich bewährte, und welcher darthat, daß das Haus
ohne Tünche viel ſchöner ausſehen werde.
In dem Sternenhofe wurde ich ſo freundlich be¬
handelt, wie in der früheren Zeit, ja wenn ich mei¬
nem Gefühle trauen durfte, und wenn man ſo feine
Unterſcheidungen machen darf, noch freundlicher als
früher. Mathilde zeigte mir ſelber alles, von dem ſie
glaubte, daß es mir von einigem Werthe ſein könnte,
und erklärte mir bei dieſem Vorgange alles, von dem
ſie glaubte, daß es einer Erklärung bedürfen könnte.
Während dieſes meines Aufenthaltes erfuhr ich auch,
daß Mathilde das Schloß von einem vornehmen
Manne gekauft hatte, der ſelten auf demſelben gewe¬
[184] ſen war, und es ziemlich vernachläſſigt hatte. Vor
ihm war es im Beſize einer Verwandten geweſen,
deren Großvater es gekauft hatte. In der Zeit vorher
war ein häufiger Wechſel der Eigenthümer geweſen,
und das Gut war ſehr herab gekommen. Mathilde
fing damit an, daß ſie die zum Schloſſe gehörigen
Unterthanen, welche Zehnte und Gaben in dasſelbe zu
entrichten hatten, gegen ein vereinbartes Entgelt für
alle Zeiten von ihren Pflichten entband, und ſie zu
unbeſchränkten Eigenthümern auf ihrem Grunde
machte. Das zweite, was ſie that, beſtand darin, daß
ſie die Liegenſchaften des Schloſſes ſelber zu bewirth¬
ſchaften begann, daß ſie einen geſchloſſenen Haus¬
ſtand von Geſinde und ihrer eigenen Familie begrün¬
dete, und mit dieſem Hausſtande lebte. Sie richtete
den Meierhof zurecht, und brachte mit Hilfe thätiger
Leute, die ſie aufnahm, die Felder die Wieſen und
Wälder in einen beſſeren Stand. Die ſchönen Zeilen
von Obſtbäumen, welche durch die Fluren liefen, und
die mir bei meinem erſten Aufenthalte ſchon ſo ſehr ge¬
fallen hatten, waren von ihr ſelber gepflanzt, und wenn
ſie gute ſelbſt ziemlich erwachſene Obſtbäume irgendwo
erhalten konnte, ſo ſcheute ſie nicht die Zeit und den
Aufwand, ſie bringen und auf ihren Grund ſezen
[185] zu laſſen. Da die Nachbarn dieſes Verfahren allmäh¬
lich nachahmten, ſo erhielt die Gegend das eigen¬
thümliche und wohlgefällige Anſehen, das ſie von
den umliegenden Ländereien unterſchied.
Die Gemälde, welche ſich in den Wohnzimmern
Mathildens und Nataliens befanden, hatten nach
meiner Meinung im Ganzen genommen zwar nicht
den Werth wie die im Asperhofe, aber es waren
manche darunter, welche mir nach meinen jezigen An¬
ſichten mit der größten Meiſterſchaft gemacht ſchienen.
Ich ſagte die Sache meinem Gaſtfreunde, er beſtät¬
tigte ſie, und zeigte mir Gemälde von Tizian Guido
Reni Paul Veroneſe Van Dyk und Holbein. Unbe¬
deutende oder gar ſchlechte Bilder, wie ich ſie, ſo weit
mir jezt dieſes meine Rückerinnerung plözlich und wie¬
derholt vor Augen brachte, in manchen Sammlungen,
die mir in früheren Jahren zugänglich geweſen waren,
geſehen hatte, befanden ſich weder in der Wohnung
Mathildens noch in dem Asperhofe. Wir ſprachen auch
hier ſo wie in dem Roſenhauſe von den Gemälden und
es gehörte zu den ſchönſten Augenblicken, wenn ein Bild
auf die Staffelei gethan worden war, wenn man die
Fenſter, die ein ſtörendes Licht hätten ſenden können,
verhüllt hatte, wenn das Bild in die rechte Helle
[186] gerückt worden war, und wenn wir uns nun davor
befanden. Mathilde und mein Gaſtfreund ſaßen ge¬
wöhnlich, Euſtach und ich ſtanden, neben uns Na¬
talie, und nicht ſelten auch Guſtav, welcher bei ſol¬
chen Gelegenheiten ſehr beſcheiden und aufmerkſam
war. Öfter ſprach hauptſächlich mein Gaſtfreund von
dem Bilde öfter aber auch Euſtach, wozu Mathilde
ihre Worte oder einfachen Meinungen geſellte. Man
wiederholte vielleicht oft geſagte Worte, man zeigte
ſich Manches, das man ſchon oft geſehen hatte, und
machte ſich auf Dinge aufmerkſam, die man ohnehin
kannte. So wiederholte man den Genuß, und ver¬
lebte ſich in das Kunſtwerk. Ich ſprach ſehr ſelten
mit, höchſtens fragte ich, und ließ mir etwas erklä¬
ren. Natalie ſtand daneben, und redete niemals ein
Wort.
Zur Nimphe des Brunnens, die unter der Eppich¬
wand im Garten war, ging ich auch öfter. Früher
hatte ich den wunderſchönen Marmor bewundert, de߬
gleichen mir nicht vorgekommen war; jezt erſchien
mir auch die Geſtalt als ein ſehr ſchönes Gebilde.
Ich verglich ſie mit der auf der Treppe im Hauſe mei¬
nes Gaſtfreundes ſtehenden. Wenn auch jenes an
Hoheit Würde und Ernſt weit den Vorzug in meinen
[187] Augen hatte, ſo war dieſes doch auch für mich ſehr
anmuthig weich und klar, es hatte eine beſchwichti¬
gende Ruhe, wie die Göttin eines Quells ſollte, und
hatte doch wieder jenes Reine und, ich möchte ſagen,
Fremde, das ein Gemälde nicht hat, das aber der
Marmor ſo gerne zeigt. Ich wurde mir dieſer Em¬
pfindung des Fremden jezt klarer bewußt, und ich er¬
fuhr auch, daß ſie mich ſchon in früherer Zeit ergriffen
hatte, wenn ich mich Marmorbildwerken gegenüber
befand. Es wirkte bei dieſer Geſtalt noch ein Beſon¬
deres mit, was in meiner Beſchäftigung der Erdfor¬
ſchung ſeinen Grund hat, nehmlich, daß der Marmor
gar ſo ſchön und faſt fleckenlos war. Er gehörte zu jener
Gattung, die an den Rändern durchſcheinend iſt, de¬
ren Weiße beinahe funkelt, und uns verleitet zu mei¬
nen, man ſähe die zarten Kriſtalle wie Eisnadeln oder
wie Zuckerkörner ſchimmern. Dieſe Reinheit hatte für
mich an der Geſtalt etwas Erhabenes. Nur dort, wo
das Waſſer aus dem Kruge floß, den die Geſtalt um¬
ſchlungen hielt, war ein grünlicher Schein in dem
Marmor, und der Staffel, auf dem der am tiefſten
herabgehende Fuß ruhte, war ebenfalls grün und
von unten durch die herauf dringende Feuchtigkeit ein
wenig verunreinigt. Der Marmor an dem Bilde mei¬
[188] nes Freundes war wohl trefflich, es mochte wahr¬
ſcheinlich pariſcher ſein; aber er hatte ſchon eini¬
germaßen die Farbe alten Marmors, während die
Nimphe wie neu war, als wäre der Marmor aus
Carara. Ich dachte mir wohl auch, und meine Freunde
beſtättigten es, daß das Bildwerk neueren Urſprunges
ſei; aber wie bei dem meines Gaſtfreundes wußte
man auch hier den Meiſter nicht.
Ich ſaß ſehr gerne in der Grotte bei dem Bild¬
werke. Es war da ein Siz von weißem Marmor in
einer Vertiefung, die ſich ſeitwärts von der Nimphe
in das Bauwerk zurück zog, und von der aus man die
Geſtalt ſehr gut betrachten konnte. Es war ein ſanf¬
tes Dämmern auf dem Marmor, und im Dämmern
war es wieder, als leuchtete der Marmor. Man
konnte hier auch das leiſe Rinnen des Waſſers aus
dem Kruge das Kräuſeln desſelben in dem Becken
das Hinabträufeln auf den Boden und das gelegent¬
liche Blizen auf demſelben ſehen.
Zur Wohnung hatte man mir dieſelbe Räumlich¬
keit gegeben, die ich in den erſten zwei Malen inne
hatte, da ich in dieſem Schloſſe war. Man hatte ſie
mit allen Bequemlichkeiten ausgeſtattet, auf die man
nur immer denken konnte, und deren ich zum größten
[189] Theile nicht bedurfte; denn ich war in meinem Reiſe¬
leben gewohnt geworden, in den äußeren Dingen auf
das Einfachſte vorzugehen.
Da wir von dem Sternenhofe Abſchied nahmen,
ſagte mir Mathilde auf die liebe freundliche Weiſe
Lebewohl, mit der ſie mich empfangen hatte.
Wir beſuchten auf unſerer Rückreiſe mehrere Land¬
wirthe, welche in der Gegend einen großen Ruf ge¬
noſſen, und beſahen, was ſie auf ihren Gütern ein¬
geführt hatten, und was ſie zum Wohle des Landes
auszubreiten wünſchten. Mein Gaſtfreund nahm
Rebſtecklinge Abtheilungen von Samen und Abbil¬
dungen von neuen Vorrichtungen mit nach Hauſe.
Ehe ich die Rückreiſe zu den Meinigen antrat,
ging ich noch einmal in das Rothmoor, um zu ſehen,
wie weit die Arbeiten aus meinem Marmor gediehen
wären. Von den kleineren Dingen waren manche fer¬
tig. Das Waſſerbecken und die größeren Arbeiten
mußten in das nächſte Jahr hinüber genommen wer¬
den. Ich billigte dieſe Anordnung; denn es war
mir lieber, daß die Sache gut gemacht würde, als daß
ſie bald fertig wäre. Das Vollendete packte ich ein,
um es mit nach Hauſe zu nehmen.
[190]
In dem Roſenhauſe fand ich bei meiner Zurück¬
kunft einen Brief von Roland, der über die Ergeb¬
niſſe der Nachforſchungen nach den Ergänzungen zu
den Pfeilerverkleidungen meines Vaters ſprach. Es
war keine Hoffnung vorhanden, die Ergänzungen zu
finden. Im ganzen Gebirge war nichts, was mit den
beſchriebenen Verkleidungen Ähnlichkeit hatte, über¬
haupt ſind da keine Verkleidungen und Vertäflungen
vorhanden geweſen, wohin Roland ſeit Jahren ſeine
Wanderungen angeſtellt hatte, ſie müßten denn ſehr
verborgen ſein, wornach man ein Auffinden ſo dem
Zufalle anheim geben müſſe, wie das durch Zufall
entdeckt worden ſei, was ich meinem Vater gebracht
hätte. In Hinſicht der Vertäflungen aber, um welche
es ſich hier handle, ſei beinahe Gewißheit vorhanden,
daß ſie zerſtört worden ſeien. Die Ausmaße, welche
ihm über die in den Händen meines Vaters befind¬
lichen Werke zugeſendet worden ſeien, paſſen genau
auf ein Gemach im Steinhauſe des Lauterthales, wo¬
her gleich Anfangs der Urſprung der Dinge vermu¬
thet worden ſei, und welches Gemach jezt öde ſteht.
Es habe zwei Pfeiler, an denen die noch vorhandenen
Verkleidungen geweſen ſein müſſen. Die Zwiſchen¬
arbeiten ſind eben ſo zerſtört worden, wie vieles, was
[191] ſich in jenem ſteinernen Schlößchen befunden habe;
denn ſonſt müßten ſie ſich entweder in dem Gebäude
oder in der Gegend vorfinden, was beides nicht der
Fall iſt, oder ſie müßten ſehr im Verborgenen ſein,
da doch ſonſt die Nachforſchungen, welche nun ſchon
durch zwei Jahre angeſtellt und bekannt geworden
ſeien, die Leute veranlaßt haben dürften, die Sachen
zum Verkaufe um einen guten Kaufſchilling zu brin¬
gen. Man müſſe alſo ſeine Gedanken dahin richten,
daß nichts zu finden ſei, und wenn doch noch etwas
gefunden würde, ſo müſſe man es als eine unver¬
hoffte Gunſt anſehen. Mein Gaſtfreund und ich ſag¬
ten, daß wir ungefähr auf dieſes Ergebniß gefaßt ge¬
weſen ſeien.
Als der Herbſt ziemlich vorgeſchritten war, begab
ich mich auf die Rückreiſe in meine Heimath. Es war
ein ſehr heiterer Sonntagsmorgen, den ich zu meiner
Ankunft auserwählt hatte, weil ich wußte, daß an
dieſem Tage der Vater zu Hauſe ſein würde, und ich
daher den Nachmittag in dem vollen Kreiſe der Mei¬
nigen zubringen konnte. Ich war nicht wie gewöhn¬
lich auf einem Schiffe gekommen, ſondern ich hatte
meine Wanderung längs des ganzen Gebirges gegen
Sonnenaufgang unternommen, und war dann mitter¬
[192] nachtwärts mit einem Wagen in unſere Stadt gefah¬
ren. Den Vater traf ich ſehr heiter an, er ſchien
gleichſam um mehrere Jahre jünger geworden zu ſein.
Die Augen glänzten in ſeinem Angeſichte, als wäre
ihm eine ſehr große Freude widerfahren. Auch die
anderen ſahen ſehr vergnügt und fröhlich aus.
Nach dem Mittageſſen führte er mich in das glä¬
ſerne Häuschen, und zeigte mir, daß ſich die Verklei¬
dungen bereits auf den Pfeilern befänden. Es war
ein bewunderungswürdiger Anblick, ich hätte nie ge¬
dacht, daß ſich die Schnizerei ſo gut darſtellen würde.
Sie war vollkommen gereinigt und ſchwach mit Fir¬
niß überzogen worden.
„Siehſt du,“ ſagte der Vater, „wie ſich alles ſchön
geſtaltet hat. Die Holzverkleidung fügt ſich, als wäre
ſie für dieſe Pfeiler gemacht worden. Es iſt faſt auch
ſo der Fall; wenn nicht die Holzverkleidung für
die Pfeiler gemacht worden iſt, ſo ſind doch die Pfei¬
ler für die Holzverkleidung gemacht worden. Was
aber von weit größerer Bedeutung iſt, beſteht darin,
daß das Holzkunſtwerk in das ganze Häuschen ſo
paßt, als wäre ſie urſprünglich für dasſelbe beſtimmt
geweſen — und dies freut mich am meiſten. Ich
kann mich daher auch nicht ſo betrüben wie du, daß
[193] die anderen Theile der Verkleidungen nicht aufzufin¬
den geweſen ſind. Ich müßte ja das ganze Häuschen
wieder umbauen, wenn die Ergänzungen zum Vor¬
ſcheine gekommen wären; denn ſchwerlich würden ſie
hieher paſſen, und zu verſtümmeln oder zu vergrößern
würden ſie ihrer Natur nach nicht ſein. Wir wollen
daher das Vorhandene genießen, und kömmt durch
ein Wunder die Ergänzung zum Vorſcheine, ſo wird
ſich ſchon zeigen, was zu thun ſei. Du ſiehſt, wir
haben uns viele Mühe gegeben, die Lücken auszufül¬
len, und alles in einen natürlichen Zuſammenhang
zu bringen.
So war es auch. Über den Verkleidungen befanden
ſich an den Pfeilern Spiegel eingeſezt, deren Rahmen
die Verzierungen der Verkleidung fortſezten, und zu
den Verzierungen der Fenſterſtäbe und Fenſterkreuze
hinüber leiteten. Unter den Fenſtern waren Simſe
und Vertäflungen ſo angebracht, daß ſie eine ruhigere
Fläche zwiſchen den Schnizwerken abgaben. Ich
ſprach gegen meinen Vater meine Bewunderung aus,
daß man der Sache eine ſolche Geſtalt zu geben ge¬
wußt habe.
„Es iſt uns aber auch ein ſehr tüchtiger Lehrmei¬
ſter beigeſtanden,“ erwiederte er, „und wir waren in
Stifter, Nachſommer. II. 13[194] der Lage, nach ſeinem Rathe noch Manches in unſe¬
rem begonnenen Werke abzuändern; denn ſonſt wäre
es nicht ſo geworden, wie es geworden iſt. Seze dich
zu uns, daß ich es dir erzähle.“
Er ſaß mit der Mutter auf einer Bank, die aus
feinen Rohrſtäben geflochten war, die Schweſter und
ich nahmen ihnen gegenüber auf Seſſeln Plaz.
„Dein Gaſtfreund,“ fing er an, „hat uns ausge¬
funden, und hat, als du zwei Wochen fort wareſt,
ſeine Bauzeichnungen und die Zeichnungen vieler an¬
derer Gegenſtände hieher geſendet, daß ich ſie anſehe.
Er hat mir auch den Antrag gemacht, daß ich manche,
die mir beſonders gefielen, zu meinem Gebrauche
nachzeichnen laſſen dürfe, nur möchte ich ihm die
Blätter vorher alle ſenden, und die bezeichnen, deren
Nachbildung ich wünſchte, er würde ſie mir dann ge¬
legentlich zu dieſem Gebrauche zuſtellen. Ich lehnte
dieſe Erlaubniß ab, nur Einzelnes von Verzierungen
oder Stäben ließ ich flüchtig heraus zeichnen, in ſo
fern ich erkannte, daß es mir bei meinen nächſten An¬
ordnungen würde dienlich ſein. Den größten Nuzen
aber ſchöpften wir — mein Arbeiter und ich — aus
der Anſchauung des Ganzen überhaupt. Wir lernten
hier neue Dinge kennen, wir ſahen, daß es Schöneres
[195] gibt, als wir ſelber haben, ſo daß wir den Plan
und die Ausführung zu den Arbeiten in dem Häus¬
chen hier viel beſſer machten, als wir ſonſt beides ge¬
macht haben würden. Die Zeichnungen von den
Bauwerken Geräthen und anderen Dingen, welche
mir dein Gaſtfreund geſandt hat, ſind ſo ſchön, daß
es vielleicht wenige gleiche gibt. Ich habe wohl
in jüngeren Jahren bei meinen Reiſen und Wan¬
derungen ſehr ſchöne und hie und da ſchönere Bau¬
werke geſehen; aber Zeichnungen von Bauwerken
habe ich nie ſo vollendet klar und rein geſehen. Ich
hatte eine große Freude bei dem Anſchauen dieſer
Dinge, und wer in dem Beſize einer ſo trefflichen
Sammlung der ſchönſten zahlreichen und dabei ſo
manigfaltigen Gegenſtände iſt, der kann niemals
mehr bei ſeinen Anordnungen in das Unbedeutende
Leere und Nichtige verfallen, ja er muß bei gehöri¬
ger Benüzung, und wenn ſein Geiſt die Dinge in ſich
aufzunehmen verſteht, nur das Hohe und Reine her¬
vorbringen. Das iſt eine ſeltne Gunſt des Schick¬
ſales, wenn ein Mann die Muße Mittel und Mitar¬
beiter hat, ſolche Werke anlegen zu können. Es ge¬
hörte zu meinen ſchönſten Augenblicken, in dieſen
Sammlungen blättern zu dürfen, und mich in die
13 *[196] Anſchauung deſſen, was mich beſonders anſprach,
zu vertiefen. Vielleicht gönnt es doch noch ein¬
mal eine ſpätere Gunſt, von dem Anerbiethen die¬
ſes Mannes Gebrauch machen zu können, und hie
und da etwas zu Stande zu bringen, was nicht ganz
ein unwerther Zuwachs zu meinen lezten Tagen iſt.
Alſo gefällt dir das, was wir zu unſeren Verkleidun¬
gen hatten hinzu machen laſſen?“
„Vater, ſehr,“ erwiederte ich; „aber ich habe jezt
andere Dinge zu reden; ich kann mich von meinem
Erſtaunen nicht erholen, daß mein Gaſtfreund ſeine
Zeichnungen hieher geſendet hat, die er ſo liebt, die
er gewiß nicht weniger liebt als ſeine Bücher, von
denen er doch keines aus ſeinem Hauſe gibt. Ich
habe eine ſo große Freude über dieſes Ereigniß, daß
ich nicht Worte finde, ſie nur halb auszudrücken.
Vater, mein Gefühl hat in jüngſter Zeit einen ſolchen
Aufſchwung genommen, daß ich die Sache ſelber
nicht begreife, ich muß mit dir darüber reden, ich
habe ſehr viele Dinge mit dir zu reden. Und meinem
Gaſtfreunde muß ich auf das Wärmſte und Heißeſte
danken, ſobald ich ihn ſehe, er hat mir durch die Sen¬
dung der Zeichnungen an dich die höchſte Gunſt er¬
zeigt, die er mir nur zu erzeigen im Stande war.“
„Dann muß ich dich bitten, mit mir zu gehen,
und noch etwas anzuſchauen,“ ſagte mein Vater.
Er führte mich in ſein Alterthumszimmer. Die
Mutter und die Schweſter gingen mit.
An einem Pfeiler, der mit einem langen alter¬
thümlich gefaßten Spiegel geſchmückt war, ſtand der
Tiſch mit den Muſikgeräthen, den ich im Roſenhauſe
in der Wiederherſtellung befindlich und zu Anfang
dieſes Sommers bereits vollendet geſehen hatte.
Ich konnte vor Verwunderung kein Wort ſagen.
Der Vater, der mein Gefühl verſtand, ſagte:
„Der Tiſch iſt mein Eigenthum. Er iſt mir in dieſem
Sommer geſendet worden, und es war die Bitte bei¬
gefügt, ich möge ihn unter meinen andern Dingen
als Erinnerung an einen Mann aufſtellen, deſſen
größte Freude es wäre, einem Andern, der ſeine Nei¬
gung gleichen Dingen zuwende wie er, ein Vergnügen
zu machen.“
„Da muß ich nun augenblicklich zu meinem Freunde
reiſen,“ rief ich.
„Den Dank habe ich ihm wohl ſchon ausgedrückt,“
ſagte der Vater; „aber wenn du hingehen, und es
mit dem eigenen Munde thun willſt, ſo freut es mich
um deſto mehr.“
Die Schweſter hüpfte oder ſprang beinahe in dem
Zimmer herum, und rief: „ich habe es mir gedacht,
daß er ſo handeln wird, ich habe es mir gedacht. O
der Freude, o der Freude! Wirſt du bald abreiſen?“
„Morgen mit dem früheſten Tagesanbruch,“ er¬
wiederte ich, „heute müſſen noch Pferde beſtellt wer¬
den.“
„Es iſt eine ſpäte Jahreszeit und du biſt kaum
gekommen, mein Sohn,“ ſagte die Mutter; „aber ich
halte dich nicht ab. Der Tiſch und noch mehr die
Geſinnung des Mannes, der ihn ſendete, haben auf
deinen Vater wie ein Glück gewirkt. Das müſſen
vortreffliche Menſchen ſein.“
„Sie haben ihres Gleichen nicht auf Erden,“
rief ich.
Ohne zu ſäumen ſchickte ich den Knecht auf die
Poſt, um mir auf den nächſten Morgen um vier Uhr
zwei Pferde zu beſtellen. Dann ſprachen wir noch
von dem Tiſche. Der Vater breitete ſich über ſeine
Eigenſchaften aus, er erklärte uns dieſes und jenes,
und ſezte mir dann in einer längeren Beweisführung
auseinander, warum er gerade auf dieſem Plaze
ſtehen müſſe, auf dem er ſtehe. Ohne von den Ge¬
mälden des Vaters etwas zu ſagen, auf welche ich
[199] mich ſehr gefreut hatte, und von denen ich mit dem
Vater hatte reden wollen, und ohne auf meinen dies¬
jährigen Sommeraufenthalt näher einzugehen, ließ
ich den Reſt des Tages verfließen, und erwartete mit
Ungeduld den Morgen. Nur gelegentliche Fragen des
Vaters beantwortete ich, und hörte zu, wenn er wie¬
der von dem ſprach, was in dieſem Sommer ein
Ereigniß für ihn geweſen war. Vor dem Schlafen¬
gehen nahmen wir Abſchied, und ich begab mich auf
meine Zimmer.
Um drei Uhr des Morgens war ein leichter Leder¬
koffer gepackt, und eine halbe Stunde ſpäter ſtand ich
in guten Reiſekleidern da. In dem Speiſezimmer, in
welchem noch ein Frühſtück für mich bereit ſtand, er¬
wartete mich die Mutter und die Schweſter. Der
Vater, ſagten ſie, ſchlummere noch ſehr ſanft. Das
Frühmahl war eingenommen, die Pferde ſtanden vor
dem Hausthore, die Mutter verabſchiedete ſich von
mir, die Schweſter begleitete mich zu dem Wagen,
küßte mich dort auf das Innigſte und Freudigſte, ich
ſtieg ein, und der Wagen fuhr in der noch überall
dicht herrſchenden Finſterniß davon.
Ich war nie mit eigenen Poſtpferden gefahren,
weil ich die Auslage für Verſchwendung hielt. Jezt
[200] that ich es, mir ging die Reiſe noch immer nicht
ſchnell genug, und auf jeder Poſt, wo ich neue Pferde
und einen neuen Wagen erhielt, däuchte mir der
Aufenthalt zu lange.
Ich hatte den Vater um den Brief nicht gefragt,
der mit den Zeichnungen oder mit dem Tiſche gekom¬
men war, auch hatte ich mich nicht um die Art erkun¬
digt, wie dieſe Dinge eingelangt ſeien. Der Vater
hatte ebenfalls nichts davon erwähnt. Ich beſchloß,
meinem Vorhaben treu zu bleiben, und hierüber eine
Frage nicht zu ſtellen.
Nach einer nur durch das nothwendige Eſſen von
mir unterbrochenen Fahrt bei Tag und Nacht kam ich
gegen den Mittag des zweiten Tages in dem Roſen¬
hauſe an. Ich hielt vor dem Gitter, gab einem
Knechte, der gar nicht erſtaunt war, weil er an mein
Gehen und Kommen in dieſem Hauſe gewohnt ſein
mochte, meinen Koffer, ſendete Wagen und Pferde
auf die lezte Poſt, in die ſie gehörten, zurück, ging in
das Haus, und fragte nach meinem Freunde.
Er ſei in ſeinem Arbeitszimmer, ſagte man mir.
Ich ließ mich melden, und wurde hinaufgewieſen.
Er kam mir lächelnd entgegen, als ich eintrat. Ich
ſagte, er ſcheine zu wiſſen, weßhalb ich komme.
[201]
„Ich glaube es mir denken zu können,“ antwor¬
tete er.
„Dann werdet ihr euch nicht wundern,“ ſagte ich,
„daß ich in dieſem Jahre, für welches ich ſchon Ab¬
ſchied genommen habe, mittelſt einer ſehr eiligen Reiſe
noch einmal in euer Haus komme. Ihr habt meinem
Vater eine doppelte Freude erwieſen, ihr habt zu mir
nichts geſagt, mein Vater hat mir auch nichts ge¬
ſchrieben, wahrſcheinlich, um den Eindruck, wenn ich
die Sache ſelber ſähe, größer zu machen: ich müßte
ein ſehr unrechtlicher Menſch ſein, wenn ich nicht
käme, und für den Jubel, der in mein Herz kam,
nicht dankte. Ich weiß nicht, wodurch ich es denn
verdient habe, daß ihr das gethan habt, was ihr
thatet; ich weiß nicht, wie ihr denn mit meinem Va¬
ter zuſammenhänget, daß ihr ihm ein ſo koſtbares
Geſchenk macht, und daß ihr mit den Zeichnungen ſo
in Liebe an ihn dachtet. Ich danke euch tauſendmal
und auf das Herzlichſte dafür. Ich habe euch für
alles Freundliche, was mir in eurem Hauſe zu Theil
geworden iſt, in meinem Herzen gedankt, ich habe
euch auch mit Worten gedankt. Dieſes aber iſt das
Liebſte, was mir von euch gekommen iſt, und ich
biethe euch den heißeſten Dank dafür an, der ſich am
[202] beſten ausſprechen würde, wenn es mir nur auch ein¬
mal gegönnt wäre, für euch etwas thun zu können.“
„Das dürfte ſich vielleicht auch einmal fügen,“
antwortete er, „das Beſte aber, was der Menſch für
einen andern thun kann, iſt doch immer das, was er
für ihn iſt. Das Angenehmſte an der Sache iſt mir,
daß ich mich nicht getäuſcht habe, und daß euer Vater
an den Sendungen Freude hatte, und daß die Freude
des Vaters auch euch Freude machte. Im Übrigen iſt
ja alles ſehr einfach und natürlich. Ihr habt mir von
den alterthümlichen Dingen erzählt, welche euer Va¬
ter beſizt, und welche ihm Vergnügen machen, ihr
habt von ſeinen Bildern geſprochen, ihr habt ihm
Schnizwerke gebracht, für welche er eigens einen
kleinen Erker ſeines Hauſes umbauen ließ, ihr habt
euch große Mühe gegeben, die Ergänzungen zu den
Schnizereien zu finden, habt ſogar meinen Rath hiebei
eingeholt, und es war euch unangenehm, befürchten
zu müſſen, daß ihr das Geſuchte troz alles Strebens
nicht finden würdet. Da dachte ich, daß ich vielleicht
mit einem meiner Gegenſtände eurem Vater ein Ver¬
gnügen machen könnte, beſprach mich mit Euſtach,
und ſandte den Tiſch. Das Überſenden der Zeichnun¬
gen war auch ganz folgerichtig. Ihr habt im vorigen
[203] Jahre mit vieler Mühe hier und im Sternenhofe Ab¬
bildungen von Geräthen gemacht, um eurem Vater
nur im Allgemeinen eine Vorſtellung von dem zu ge¬
ben, was hier iſt. Wie nahe lag es alſo, ihm Zeich¬
nungen zu ſchicken, in denen noch weit Mehr weit
Umfaſſenderes und weit Edleres enthalten iſt, obgleich
ſie nur die Sammlung eines einzelnen Menſchen ſind,
und weit hinter dem zurückſtehen, was an Prachtwer¬
ken hie und da beſteht. Wir haben vielerlei an alten
Geräthen hier, wir können etwas entbehren, haben
ſchon Manches weggegeben, und geben gerne etwas
einem Manne, der damit Freude hat und der es zu
pflegen und zu achten verſteht.“
„Es würde mir ſehr viel Schmerz machen,“ ſagte
ich, „wenn ihr nur im Entfernteſten denken könntet,
daß ich mit meinen Handlungen auf ein ſolches Er¬
gebniß habe hinzielen können.“
„Das habe ich nie geglaubt, mein junger Freund,“
antwortete er, „ſonſt hätte ich die Sachen gar nicht
geſchickt. Aber es iſt die zwölfte Stunde nahe. Gehet
mit mir in das Speiſezimmer. Wir wußten zwar von
eurer Ankunft nichts; aber es wird ſich ſchon etwas
vorfinden, daß ihr nicht Hunger leiden müſſet, und
daß auch wir nicht einen Abbruch leiden.“
Mit dieſen Worten gingen wir in das Speiſe¬
zimmer.
Nach dem Eſſen wurde ich von Guſtav in meine
Wohnung geleitet, die immer in reinlichem Stande
gehalten wurde, und die jezt von einem ſchwachen
Feuer wohlthätig erwärmt war. Mir that eine Ruhe
etwas noth, und die mäßige Wärme erquickte meine
Glieder.
Im Laufe des Nachmittages ſagte mein Gaſt¬
freund zu mir: „Es iſt nie ein ſo ſchöner Spätherbſt
geweſen als heuer, meine Witterungsbücher weiſen
keinen ſolchen ſeit meinem Hierſein aus, und es ſind
alle Anzeichen vorhanden, daß dieſer Zuſtand noch
mehrere Tage dauern wird. Nirgends aber ſind ſolche
klare Spätherbſttage ſchöner als in unſeren nördlichen
Hochlanden. Während nicht ſelten in der Tiefe Mor¬
gennebel liegen, ja der Strom täglich in ſeinem Thale
Morgens den Nebelſtreifen führt, ſchaut auf die
Häupter des Hochlandes der wolkenloſe Himmel
herab, und geht über ſie eine reine Sonne auf, die
ſie auch den ganzen Tag hindurch nicht verläßt.
Darum iſt es auch in dieſer Jahreszeit in den Hoch¬
landen verhältnißmäßig warm, und während die
rauhen Nebel in der Tiefgegend ſchon die Blätter
[205] von den Obſtbäumen geſtreift haben, prangt oben
noch mancher Birkenwald mancher Schlehenſtrauch
manches Buchengehege mit ſeinem goldenen und ro¬
then Schmucke. Nachmittags iſt dann gewöhnlich
auch die Ausſicht über das ganze Tiefland deutlicher
als je zu irgend einer Zeit im Sommer. Wir haben
daher beſchloſſen, heuer noch eine Reiſe in das Hoch¬
land zu machen, wie ich es in früherer Zeit ſchon in
manchen Jahren gethan habe. Die Entfernungen
ſind dort nicht ſo groß, und ſollten ſich die Vorboten
melden, daß das Wetter ſich zur Änderung anſchicke,
ſo können wir jederzeit den Heimweg antreten, und
ohne viel Ungemach den Asperhof wieder erreichen.
Morgen wird Mathilde und Natalie eintreffen, ſie
fahren mit uns, auch Euſtach begleitet uns. Wolltet
ihr nicht auch den Weg mit uns machen, und einige
Tage der lieblichen Spätzeit mit uns genießen?
Kömmt dann Schnee oder Regen, wenn wir wieder
in meinem Hauſe angelangt ſind, ſo werdet ihr wohl
auf dem Poſtwagen eure Heimreiſe machen können,
und das Wetter wird euch nicht viel anhaben.“
„Es kann mir nie viel anhaben,“ entgegnete ich,
„weil ich gegen ſeine Einflüſſe abgehärtet bin, auch
könnte mir in dem Gefühle, welches ich gegen euch
[206] habe, keine größere Annehmlichkeit begegnen, als
einige Zeit in eurer Geſellſchaft zu reiſen; aber zu
Hauſe wiſſen ſie nichts davon, und erwarten mich
wahrſcheinlich ſchon bald.“
„Ihr könntet ſie ja in einem Briefe verſtändigen,“
ſagte er.
„Das kann ich thun,“ erwiederte ich. „Wenn
ich auch gleich nach meiner Ankunft nach einer viele
Monate dauernden Abweſenheit wieder fortgereiſt
bin, wenn ſie mich auch ſchon in den nächſten Tagen
erwarten, ſo werden ſie doch einſehen, daß ein länge¬
rer Aufenthalt in der Geſellſchaft eines Mannes, zu
welchem ich in einer Angelegenheit wie die zwiſchen
uns vorgefallene gereiſt bin, nur in der Natur der
Sache gegründet iſt. Sie würden es weit übler neh¬
men, wenn ich unter den beſtehenden Verhältniſſen
nach Hauſe käme, als wenn ich noch eine Weile bei
euch bleibe.“
„Ich habe euch meine Frage und mein Anerbiethen
geſtellt,“ antwortete mein Gaſtfreund, „handelt nach
eurem beſten Ermeſſen. Was ihr thut, wird wohl
das Rechte ſein.“
„Ich ſchreibe ſogleich den Brief.“
[207]„Gut, und ich werde ihn ſofort auf die Poſt
ſenden.“
Ich ging in meine Zimmer, und ſchrieb einen
Brief an den Vater. Es war wohl das Rechte, was
ich that. Wie ſchwer würden es mir Vater Mutter
und Schweſter verziehen haben, wenn ich mich nicht
mit Freude an einen Mann zu einer kurzen Reiſe an¬
geſchloſſen hätte, der ſo an unſerm Hauſe gehandelt
hat.
Als ich mit dem Briefe fertig war, trug ich ihn
hinab, und der Knecht, der gewöhnlich zu allen Bo¬
thengängen verwendet wurde, wartete ſchon auf ihn,
um nebſt anderen Aufträgen ihn an den Ort zu brin¬
gen, in welchem er auf die Poſt kommen ſollte.
Am anderen Tage, ſchon im Verlaufe des Vor¬
mittages, kamen Mathilde und Natalie. Es ſchien,
daß allen die Urſache, weßhalb ich, nachdem ich
ſchon Abſchied genommen hatte, wieder in das Ro¬
ſenhaus gekommen war, Freude machte. Sie ſahen
mich freundlicher an. Selbſt Natalie, die mich ſo ge¬
mieden hatte, war anders. Ich glaubte einige Male,
wenn ich abgewendet war, ihren Blick auf mich ge¬
richtet zu wiſſen, den ſie aber ſogleich, wenn ich hin¬
ſah, weg wendete. Guſtav ſchloß ſich mit ganzem
[208] Herzen an mich an, und hatte darüber kein Hehl.
Ich wußte ſchon, daß er mir immer ſeine Neigung
in großem Maße zugewendet habe, und ich erwiederte
ſie aus dem Grunde meiner Seele.
Nachmittags wurden die Vorbereitungen zur Reiſe
gemacht, und am anderen Morgen noch vor Aufgang
der Sonne fuhren wir ab. Mit Mathilde fuhren
Natalie und ein Dienſtmädchen, mit meinem Gaſt¬
freunde fuhren Euſtach Guſtav und ich. Mit Roland
ſollten wir irgend wo im Lande zuſammen tref¬
fen, er ſollte eine Strecke mit uns reiſen, und für
dieſen Fall war es dann beſtimmt, daß Guſtav in
dem Wagen der Mutter untergebracht werden mußte.
Die eigenthümliche Art des Hochlandes erzeugte einen
eigenthümlichen Plan des Reiſens. Wir hatten nehm¬
lich beſchloſſen, über manchen ſteilen und länger
dauernden Berg hinan zu gehen, eben ſo über man¬
chen hinab. Dies ſollte die ganze Geſellſchaft zuwei¬
len zuſammen bringen zuweilen trennen. Man konnte
auf dieſe Art Manches gemeinſchaftlich genießen,
Manches vereinzelt, ſich aber in Kürze davon Mit¬
theilungen machen.
Ehe noch die Sonne den höchſten Punkt ihres
Bogens erklommen hatte, waren wir bereits die
[209] Dachung empor gekommen, welche das niedrere Land
von dem Hochlande trennt, und fuhren nun in das
eigentliche Ziel unſerer Reiſe hinein.
Mein Gaſtfreund hatte Recht. In dem milden
ſanften Schimmer der Nachmittagſonne, die hier faſt
wärmer ſchien als in den Ebenen und Thälern des
Tieflandes, fuhren wir einem lieblichen Schauplaze
entgegen. Selbſt untergeordnete Umſtände vereinig¬
ten ſich, die Reiſe angenehm zu machen. Die ſandi¬
gen Straßen des Oberlandes, welche auch ſehr gut
gebaut waren, zeigten ſich ohne ſtaubig zu ſein ſehr
trocken, was von den Wegen in der Tiefe nicht geſagt
werden konnte, die theils durch die täglichen Mor¬
gennebel getränkt theils ihres ſchweren Bodens hal¬
ber ſchon in langen Strecken feucht kühl und ſchmuzig
waren. So rollten wir bequem dahin, alles war klar
durchſichtig und ruhig. Nataliens gelber Reiſeſtroh¬
hut tauchte vor uns auf oder verſchwand, ſo wie ihr
Wagen einen leichten Wall hinan ging oder jenſeits
desſelben hinab fuhr. Die Sonne ſtand an dem wol¬
kenloſen Himmel, aber ſchon tief gegen Süden, gleich¬
ſam als wollte ſie für dieſes Jahr Abſchied nehmen.
Die lezte Kraft ihrer Strahlen glänzte noch um man¬
ches Geſtein und um die bunten Farben des Geſtrip¬
Stifter, Nachſommer. Il. 14[210] pes an dem Geſteine. Die Felder waren abgeerntet
und umgepflügt, ſie lagen kahl den Hügeln und Hän¬
gen entlang, nur die grünen Tafeln der Winterſaaten
leuchteten hervor. Die Hausthiere des Sommer¬
zwanges entledigt, der ſie auf einen kleinen Weidefleck
gebannt hatte, gingen auf den Wieſen, um das nach¬
ſproſſende Gras zu genießen, oder gar auf den Saat¬
feldern umher. Die Wäldchen, die die unzähligen
Hügel krönten, glänzten noch in dieſer ſpäten Zeit
des Jahres entweder goldgelb in dem unverlorenen
Schmuck des Laubes oder röthlich oder es zogen ſich
bunte Streifen durch das dunkle bergan klimmende
Grün der Föhren empor. Und über allem dem war
doch ein blauer ſanfter Hauch, der es milderte, und ihm
einen lieben Reiz gab. Beſonders gegen die Thalrinnen
oder Tiefen zu war die blaue Farbe zart und ſchön.
Aus dieſem Dufte heraus leuchteten hie und da ent¬
fernte Kirchthürme oder ſchimmerten einzelne weiße
Punkte von Häuſern. Das Tiefland war von den
Morgennebeln befreit, es lag ſammt dem Hochge¬
birge, das es gegen Süden begrenzte, überall ſichtbar
da, und ſäumte weithinſtreichend das abgeſchloſſene
Hügelgelände, auf dem wir fuhren, wie eine entfernte
duftige ſchweigende Fabel. Von Menſchentreiben
[211] darin war kaum etwas zu ſehen, nicht die Begren¬
zungen der Felder geſchweige eine Wohnung, nur
das blizende Band des Stromes war hie und da
durch das Blau gezogen. Es war unſäglich, wie
mir alles gefiel, es gefiel mir bei weitem mehr,
als früher, da ich das erſte Mal dieſes Land mit
meinem Gaſtfreunde genauer beſah. Ich tauchte meine
ganze Seele in den holden Spätduft, der alles um¬
ſchleierte, ich ſenkte ſie in die tiefen Einſchnitte, an
denen wir gelegentlich hin fuhren, und übergab ſie
mit tiefem innerem Abſchluſſe der Ruhe und Stille,
die um uns waltete.
Als wir einmal einen langen Berg empor klom¬
men, deſſen Weg einerſeits an kleinen Felsſtücken
Geſtrippe und Wieſen dahinging, andererſeits aber
den Blick in eine Schlucht und jenſeits derſelben auf
Berge Wieſen Felder und entfernte Waldbänder ge¬
währte, als dir Wägen voran gingen, und die ganze
Geſellſchaft langſam folgte, vielfach ſtehen bleibend
und ſich beſprechend, gerieth ich neben Natalien, die
mich, nachdem wir eine Weile geſchwiegen hatten,
fragte, ob ich noch das Spaniſche betreibe.
Ich antwortete ihr, daß ich es erſt ſeit Kurzem zu
lernen begonnen habe, daß ich aber ſeit der Zeit im¬
14 *[212] mer darin fortgefahren ſei, und daß ich zulezt mich an
Calderon gewagt habe.
Sie ſagte, von ihrer Mutter ſei ihr das Spaniſche
empfohlen worden. Es gefalle ihr, ſie werde nicht
davon ablaſſen, ſo weit nehmlich ihre Kräfte darin
ausreichen, und ſie finde in dem Inhalte der ſpani¬
ſchen Schriften beſonders in der Einſamkeit der Ro¬
manzen in den Pfaden der Maulthiertreiber und in
den Schluchten und Bergen eine Ähnlichkeit mit dem
Lande, in dem wir reiſen. Darum gefalle ihr das
Spaniſche, weil ihr dieſes Land hier ſo gefalle. Sie
würde am liebſten, wenn es auf ſie ankäme, in dieſen
Bergen wohnen.
„Mir gefällt auch dieſes Land,“ erwiederte ich,
„es gefällt mir mehr, als ich je gedacht hätte. Da ich
zum erſten Male hier war, übte es auf mich ſchier
keinen Reiz aus, ja mit ſeinem raſchen Wechſel und
doch mit der großen Ähnlichkeit aller Gründe ſtieß es
mich eher ab, als es mich anzog. Da ich mit unſerem
Gaſtfreunde ſpäter einmal einen größeren Theil be¬
reiſte, war es ganz anders, ich fand mich zu dieſer
Weitſicht und Beſchränktheit zu dieſer Enge und Gro߬
artigkeit zu dieſer Einfachheit und Manigfaltigkeit
hingeneigt. Ich fühlte mich bewegt, obwohl ich an
[213] ganz andere Geſtalten gewohnt war, und ſie liebte,
nehmlich an die des Hochgebirges. Heute aber ge¬
fällt mir alles, was uns umgibt, es gefällt mir ſo,
daß ich es kaum zu ſagen im Stande bin.“
„Seht, das geht immer ſo,“ erwiederte ſie. „Als
ich mit meinem Vater zum erſten Male hier war, frei¬
lich befand ich mich noch in den Kinderjahren, war
mir das unaufhörliche Auf- und Abfahren ſo unan¬
genehm, daß ich mich auf das Äußerſte wieder in un¬
ſere Stadt und in deren Ebenen zurück ſehnte. Nach
langer Zeit fuhr ich mit der Mutter durch dieſe Ge¬
genden und ſpäter wiederholt in derſelben Geſellſchaft
wie heute, außer euch, und jedes Mal wurde mir das
Land und ſeine Geſtaltungen ja ſelbſt ſeine Bewohner
lieber. Auch das iſt eigenthümlich und angenehm,
daß man Wagenreiſen und Fußreiſen verbinden kann.
Wenn man, wie wir jezt thun, die Wägen verläßt,
und einen langen Berg hinan geht, oder ihn hinab
geht, wird einem das Land bekannter, als wenn man
immer in dem Wagen bleibt. Es tritt näher an uns.
Die Geſträuche an dem Wege, die Steinmauern, die
ſie hier ſo gerne um die Felder legen, ein Birken¬
wäldchen mit den kleinſten Dingen, die unter ſeinen
Stämmen wachſen, die Wieſen, die ſich in eine
[214] Schlucht hinab ziehen, und die Baumwipfel, welche
aus der Schlucht herauf ſehen, hat man unmittelbar
vor Augen. In Ebenen eilt man ſchnell vorbei. Hier
iſt gerade ſo eine Schlucht, wie ich ſprach.“
Wir blieben ein Weilchen ſtehen, und ſahen in
die Schlucht hinab. Beide ſprachen wir gar nichts.
Endlich fragte ich ſie, woher ſie denn wiſſe, daß ich
die ſpaniſche Sprache lerne.
„Unſer Gaſtfreund hat es uns geſagt,“ erwiederte
ſie, „er hat uns auch geſagt, daß ihr Calderon leſet.“
Nach dieſen Worten gingen wir weiter. Die an¬
dere Geſellſchaft, welche vor uns geweſen war, blieb
im Geſpräche ſtehen, und wir erreichten ſie. Die Ge¬
ſpräche wurden allgemeiner, und betrafen meiſtens
die Gegenſtände, welche man eben entweder in näch¬
ſter Nähe oder in großer Entfernung ſah.
Weil nach Untergang der Sonne gleich große
Kühle eintrat, und unſere Reiſe nicht den Zweck
hatte, große Strecken zurück zu legen, ſondern das zu
genießen, was die Zeit und der Weg bothen, ſo
wurde, als die Sonne hinter den Waldſäumen hinab
ſank, Halt gemacht, und die Nachtherberge bezogen.
Die Eintheilung war ſchon ſo gemacht worden, daß
wir zu dieſer Zeit in einem größeren Orte eintrafen.
[215] Wir gingen noch ins Freie. Wie ſchnell war in Kur¬
zem der Schauplaz geändert. Die belebende und fär¬
bende Sonne war verſchwunden, alles ſtand einfär¬
biger da, die Kühle der Luft ließ ſich empfinden, in
der Tiefe der Wieſengründe zogen ſich ſehr bald
Nebelfäden hin, das ferne Hochgebirge ſtand ſcharf
in der klaren Luft, während das Tiefland verſchwamm
und Schleier wurde. Der Weſthimmel war über den
dunkeln Wäldern hellgelb, manche Rauchſäule ſtieg
aus einer Wohnung gegen ihn auf, und bald auch
glänzte hie und da ein Stern, die feine Mondes¬
ſichel wurde über den Zacken des weſtlichen Waldes
ſichtbar, um in ſie zu ſinken.
Wir gingen nun in ein Zimmer, das für uns ge¬
heizt worden war, verzehrten dort unſer Abendeſſen,
blieben noch eine Zeit in Geſprächen ſizen, und bega¬
ben uns dann in unſere Schlafgemächer.
Am andern Tage war ein klarer Reif über Wieſen
und Felder. Die Nebelfäden unſerer Umgebung wa¬
ren verſchwunden, alles lag ſcharf und funkelnd da,
nur das Tiefland war ein einziger wogender Nebel,
jenſeits deſſen das Hochgebirge deutlich mit ſeinen
friſchen und ſonnigen Schneefeldern daſtand.
Kurz nach Aufgang der Sonne fuhren wir fort,
[216] und bald waren ihre milden Strahlen zu ſpüren. Wir
empfanden ſie, der Reif ſchmolz weg, und in Kurzem
zeigte ſich uns die Gegend wieder wie geſtern.
Wir beſuchten eine Kirche, in welcher mein Gaſt¬
freund Ausbeſſerungen an alten Schnizereien machen
ließ. Es war aber gerade jezt nicht viel zu ſehen.
Ein Theil der Gegenſtände war in das Roſenhaus
abgegangen, ein anderer war abgebrochen, und lag
zum Einpacken bereit. Die Kirche war klein und ſehr
alt. Sie war in den erſten Anfängen der gothiſchen
Kunſt gebaut. Ihre Abbildung befand ſich unter den
Bauzeichnungen Euſtachs. Als wir alles beſehen
hatten, fuhren wir wieder weiter.
Nachmittags geſellte ſich Roland zu uns. Er
hatte uns in einem Gaſthauſe erwartet, in welchem
unſere Pferde Futter bekamen.
Ich konnte, da wir uns eine Weile in dem Hauſe
aufhielten, und ſpäter bei einer andern Gelegenheit,
da wir eine Strecke zu Fuß gingen, wieder bemerken,
daß ſeine Blicke zuweilen auf Natalien hafteten.
Er hatte Zeichnungen in einem Buche, das er bei
ſich trug, und er hatte Bemerkungen und Vorſchläge
in ſein Gedenkbuch geſchrieben. Er theilte von beiden
Einiges mit, ſoweit es die Reiſe geſtattete, und ver¬
[217] ſprach Abends, wenn wir in der Herberge angelangt
ſein würden, noch Mehreres vorzulegen.
Am nächſten Tage Nachmittags kamen wir nach
Kerberg, und beſahen die Kirche und den ſchönen
geſchnizten Hochaltar. Mir gefiel er jezt viel beſſer,
als da ich ihn in Geſellſchaft meines Gaſtfreundes
und Euſtachs zum erſten Male geſehen hatte. Ich
begrif nicht, wie ich damals mit ſo wenig Antheil vor
dieſem außerordentlichen Werke hatte ſtehen können;
denn außerordentlich erſchien es mir troz ſeiner Feh¬
ler, die, wie ich wohl ſah, in jedem Werke altdeut¬
ſcher Kunſt zu finden ſein würden, die ich aber in
dem Bildnerwerke, das auf der Treppe meines Freun¬
des ſtand, nicht fand. Wir blieben lange in der
Kirche, und ich wäre gerne noch länger geblieben.
Vor der Ruhe dem Ernſte der Würde und der Kind¬
lichkeit dieſes Werkes kam eine Ehrfurcht ja faſt ein
Schauer in mein Herz, und die Einfachheit der An¬
lage bei dem großen Reichthume des Einzelnen be¬
ruhigte das Auge und das Gemüth. Wir ſprachen
über das Werk, und aus dem Geſpräche erkannte ich
jezt recht deutlich, daß früher auch vor dieſem Werke
die zwei Männer auf meine Unkenntniß Rückſicht ge¬
nommen hatten, und ich dankte es ihnen in meinem
[218] Herzen. Ich nahm mir vor, einmal von dieſer Schniz¬
arbeit ein genaues Abbild zu machen, und es meinem
Vater zu bringen.
Ich äußerte mich, wie ſchön wie groß einmal die
Kunſt gewirkt habe, und wie dies jezt anders gewor¬
den ſcheine.
„Es ſind in der Kunſt viele Anfänge gemacht
worden,“ ſagte mein Gaſtfreund. „Wenn man die
Werke betrachtet, die uns aus ſehr alten Zeiten über¬
liefert worden ſind, aus den Zeiten der egiptiſchen
Reiche des aſſiriſchen mediſchen perſiſchen der Reiche
Indiens Kleinaſiens Griechenlands Roms — vieles
wird noch erſt in unſern Zeiten aus der Erde zu Tage
gefördert, vieles harrt noch der zukünftigen Enthül¬
lung, wer weiß, ob nicht ſogar auch Amerika Schä¬
zenswerthes verbirgt — wenn man dieſe Werke be¬
trachtet, und wenn man die beſten Schriften liest, die
über die Entwicklung der Kunſt geſchrieben worden
ſind: ſo ſieht man, daß die Menſchen in der Erſchaf¬
fung einer Schöpfung, die der des göttlichen Schö¬
pfers ähnlich ſein ſoll, — und das iſt ja die Kunſt,
ſie nimmt Theile, größere oder kleinere der Schöpfung
und ahmt ſie nach — immer in Anfängen geblieben
ſind, ſie ſind gewiſſermaßen Kinder, die nachäffen.
[219] Wer hat noch erſt nur einen Grashalm ſo treu ge¬
macht, wie ſie auf der Wieſe zu Millionen wachſen,
wer hat einen Stein eine Wolke ein Waſſer ein Ge¬
birge die gelenkige Schönheit der Thiere die Pracht
der menſchlichen Glieder nachgebildet, daß ſie nicht
hinter den Urbildern wie ſchattenhafte Weſen ſtehen,
und wer hat erſt die Unendlichkeit des Geiſtes darzu¬
ſtellen gewußt, die ſchon in der Endlichkeit einzelner
Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der
Fruchtbarkeit der Erde mit ihren Winden Wolkenzü¬
gen, in dem Erdballe ſelber, und dann in der Unend¬
lichkeit des Alls? Oder wer hat nur dieſen Geiſt zu
faſſen gewußt? Einige Völker ſind ſinniger und inni¬
ger geworden, andere haben ins Größere und Weitere
gearbeitet, wieder andere haben den Umriß mit keu¬
ſcher und reiner Seele aufgenommen, und andere ſind
ſchlicht und einfältig geweſen. Nicht ein Einzelnes
von dieſen iſt die Kunſt, alles zuſammen iſt die Kunſt,
was da geweſen iſt, und was noch kommen wird.
Wir gleichen den Kindern auch darin, daß, wenn ſie
ein Haus eine Kirche einen Berg aus Erde nur ent¬
fernt ähnlich ausgeführt haben, ſie eine größere Freude
darüber empfinden, als wenn ſie das um Unvergleich¬
liches ſchönere Haus die ſchönere Kirche oder den
[220] ſchöneren Berg ſelbſt anſehen. Wir haben ein inni¬
geres und ſüßeres Gefühl in unſerem Weſen, wenn
wir eine durch Kunſt gebildete Landſchaft Blumen
oder einen Menſchen ſehen, als wenn dieſe Gegen¬
ſtände in Wirklichkeit vor uns ſind. Was die Kinder
bewundern, iſt der Geiſt eines Kindes, der doch ſo
viel in der Nachahmung hervorgebracht hat, und was
wir in der Kunſt bewundern, iſt, daß der Geiſt eines
Menſchen, uns gleichſam ſinnlich greifbar ein Gegen¬
ſtand unſerer Liebe und Verehrung, wenn auch feh¬
lerhaft doch dem etwas nachgeſchaffen hat, den wir
in unſerer Vernunft zu faſſen ſtreben, den wir nicht
in den beſchränkten Kreis unſerer Liebe ziehen können,
und vor dem die Schauer der Anbethung und Demü¬
thigung in Anbetracht ſeiner Majeſtät immer größer
werden, je näher wir ihn erkennen. Darum iſt die
Kunſt ein Zweig der Religion, und darum hat ſie
ihre ſchönſten Tage bei allen Völkern im Dienſte der
Religion zugebracht. Wie weit ſie es in dem Nach¬
ſchaffen bringen kann, vermag niemand zu wiſſen.
Wenn ſchöne Anfänge da geweſen ſind, wie zum
Beiſpiele im Griechenthume, wenn ſie wieder zurück
geſunken ſind, ſo kann man nicht ſagen, die Kunſt ſei
zu Grunde gegangen; andere Anfänge werden wieder
[221] kommen, ſie werden ganz anderes bilden, wenn ihnen
gleich allen das Nehmliche zu Grunde liegt und liegen
wird, das Göttliche; und niemand kann ſagen, was
in zehntauſend in hunderttauſend Jahren in Millio¬
nen von Jahren oder in hunderten von Billionen von
Jahren ſein wird, da niemand den Plan des Schö¬
pfers mit dem menſchlichen Geſchlechte auf der Erde
kennt. Darum iſt auch in der Kunſt nichts ganz
unſchön, ſo lange es noch ein Kunſtwerk iſt, das
heißt, ſo lange es das Göttliche nicht verneint, ſon¬
dern es auszudrücken ſtrebt, und darum iſt auch nichts
in ihr ohne Möglichkeit der Übertreffung ſchön, weil
es dann ſchon das Göttliche ſelber wäre nicht ein
Verſuch des menſchlichen Ausdruckes desſelben. Aus
dem nehmlichen Grunde ſind nicht alle Werke aus
den ſchönſten Zeiten gleich ſchön und nicht alle aus
den verkommenſten oder roheſten gleich häßlich. Was
wäre denn die Kunſt, wenn die Erhebung zu dem
Göttlichen ſo leicht wäre, wie groß oder klein auch
die Stufe der Erhebung ſei, daß ſie vielen ohne in¬
nere Größe und ohne Sammlung dieſer Größe bis
zum ſichtlichen Zeichen gelänge? Das Göttliche müßte
nicht ſo groß ſein, und die Kunſt würde uns nicht ſo
entzücken. Darum iſt auch die Kunſt ſo groß, weil
[222] es noch unzählige Erhebungen zum Göttlichen gibt,
ohne daß ſie den Kunſtausdruck finden, Ergebung
Pflichttreue das Gebet Reinheit des Wandels, woran
wir uns auch erfreuen, ja woran die Freude den
höchſten Gipfel erreichen kann, ohne daß ſie doch
Kunſtgefühl wird. Sie kann etwas Höheres ſein,
ſie wird als Höchſtes dem Unendlichen gegenüber ſo¬
gar Anbethung, und iſt daher ernſter und ſtrenger als
das Kunſtgefühl, hat aber nicht das Holde des Rei¬
zes desſelben. Daher iſt die Kunſt nur möglich in
einer gewiſſen Beſchränkung, in der die Annäherung
zu dem Göttlichen von dem Banne der Sinne um¬
ringt iſt, und gerade ihren Ausdruck in den Sin¬
nen findet. Darum hat nur der Menſch allein die
Kunſt, und wird ſie haben, ſo lange er iſt, wie ſehr
die Äußerungen derſelben auch wechſeln mögen. Es
wäre des höchſten Wunſches würdig, wenn nach Ab¬
ſchluß des Menſchlichen ein Geiſt die geſammte Kunſt
des menſchlichen Geſchlechtes von ihrem Entſtehen
bis zu ihrem Vergehen zuſammenfaſſen und über¬
ſchauen dürfte.“
Mathilde antwortete hierauf mit Lächeln: „Das
wäre ja im Großen, was du jezt im Kleinen thuſt,
[223] und es dürfte hiezu eine ewige Zeit und ein unend¬
licher Raum nöthig ſein.“
„Wer weiß, wie es mit dieſen Dingen iſt,“ er¬
wiederte mein Gaſtfreund, „und es wird hier wie
überall gut ſein: Ergebung Vertrauen Warten.“
Euſtach öffnete die Mappe, in welcher er die
Zeichnung des Altares und die Zeichnungen von
Theilen der Kirche von der Kirche ſelber und von Ge¬
genſtänden hatte, die ſich in der Kirche befanden.
Wir verglichen die Zeichnung mit dem Altare,
es wurde Manches bemerkt, Manches gelobt, Man¬
ches zur Verbeſſerung der Zeichnung vorgeſchlagen.
Wir betrachteten auch die Kirche, wir betrachteten
Theile derſelben, wir beſahen Grabmäler, und unter
ihnen auch den großen rothen Stein, auf welchem
der Mann mit der hohen ſchönen Stirne abgebildet
iſt, der die Kirche und den Altar gegründet hatte.
Wir blieben an dieſem Tage in Kerberg. Wir
ſtiegen auf den Berg, auf welchem das alte Schloß
lag, und ſahen das Schloß und den in dem tiefſten
herbſtlichen Zuſtande ſtehenden Garten an. Wir gin¬
gen auf den Stellen, auf welchen die alten mächtigen
und reichen Leute gegangen waren, die einſt hier ge¬
[224] wohnt hatten, und auch der Mann, als deſſen That
die Kirche in dem Thale ſteht.
„Was alle dieſe Menſchen gethan haben,“ ſagte
mein Gaſtfreund, „wäre zum Theile in den Papieren
und Pergamenten enthalten, die in den Schlöſſern
und Häuſern dieſes Landes und mitunter auch in
entfernten Städten liegen. Einige wiſſen einen Theil
dieſer Thaten, die meiſten ſind damit völlig unbe¬
kannt, und diejenigen, welche auf den Spuren herum
gehen, die ihre Vorfahren getreten haben, wiſſen oft
nicht wer dieſe geweſen ſind. Es wäre nicht unziem¬
lich, wenn durch Öffnung der Briefgewölbe in al¬
len Ländern auch Einzelgeſchichten von Familien und
Gegenden verfaßt würden, die unſer Herz oft näher
berühren und uns greiflicher ſind als die großen Ge¬
ſchichten der großen Reiche. Man betritt wohl die¬
ſen Weg, aber vielleicht nicht ausreichend und nicht
in der rechten Art.
Von Kerberg aus wendeten wir uns am folgen¬
den Tage den höher gelegenen Theilen des Landes
zu, das dichter und ausgebreiteter bewaldet war als
die bisher befahrenen Gegenden, und von dem uns
durch das Dämmer des Vormittages die breiten und
[225] weithinziehenden Bergesrücken mit Nadeldunkel und
Buchenroth entgegen ſahen.
Mein Gaſtfreund hatte Recht gehabt. Ein Tag
wurde immer ſchöner als der andere. Nicht der ge¬
ringſte Nebel war auf der Erde, auf welcher wir rei¬
ſeten, nicht das geringſte Wölkchen am Himmel, der
ſich über uns ſpannte. Die Sonne begleitete uns
freundlich an jedem Tage, und wenn ſie ſchied, ſchien
ſie zu verſprechen, morgen wieder ſo freundlich zu
erſcheinen.
Roland blieb drei Tage bei uns, dann verließ er
uns, nachdem er vorher noch Zeichnungen und andere
Papiere in den Wagen meines Gaſtfreundes gepackt
hatte. Er wollte noch bis zum Eintritte des ſchlechten
Wetters in dem Lande bleiben, und dann in das Ro¬
ſenhaus zurückkehren.
Alles war recht lieb und freundlich auf dieſer
Reiſe, die Geſpräche waren traulich und angenehm,
und jedes Ding, eine kleine alte Kirche, in der einſt
Gläubige gebethet, eine Mauertrümmer auf einem
Berge, wo einſt mächtige und gebiethende Menſchen
gehauſt hatten, ein Baum auf einer Anhöhe, der
allein ſtand, ein Häuschen an dem Wege, auf das
Stifter, Nachſommer. II. 15[226] die Sonne ſchien, alles gewann einen eigenthümlichen
ſanften Reiz und eine Bedeutung.
Am achten Tage wandten wir unſere Wägen wie¬
der gegen Süden, und am neunten Abends trafen
wir in dem Asperhofe ein.
Ehe ich mich zu meiner Heimreiſe rüſtete, ſah ich
noch einmal Manches der herrlichen Bilder meines
Gaſtfreundes, drückte manches Außerordentliche der
Bücher in meine Seele, ſah die geliebten Angeſichter
der Menſchen, die mich umgaben, und ſah manchen
Blick der Landſchaft, die ſich zu tiefem Erſterben rü¬
ſtete.
Mein Herz war gehoben und geſchwellt, und
es war, als breitete ſich in meinem Geiſte die Frage
aus, ob nun ein ſolches Vorgehen, ob die Kunſt die
Dichtung die Wiſſenſchaft das Leben umſchreibe und
vollende, oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das es
umſchließe, und es mit weit größerem Glück erfülle.
3.
Der Einblick.
Ich fuhr bei ſehr ſchlechtem Wetter, welches mit
Wind Regen und Schnee nach den hellen und ſonni¬
gen Tagen, die wir in den Hochlanden zugebracht
hatten, gefolgt war, von dem Roſenhauſe ab. Die
Pferde meines Gaſtfreundes brachten mich auf die
erſte Poſt, wo ſchon ein Plaz für mich in dem in der
Richtung nach meiner Heimath gehenden Poſtwagen
beſtellt war. Mathilde und Natalie waren zwei Tage
vor mir abgereiſt, da ſich ſchon die Zeichen an dem
Himmel zeigten, daß die milden Tage für dieſes Jahr
zu Ende gehen würden. Roland war von ſeiner Wan¬
derung in dem Asperhofe eingetroffen. Alles hatte
auf ſtürmiſche Änderung in dem Luftraume hingedeu¬
tet. Ich weiß nicht, warum ich ſo lange geblieben
war. Es erſchien mir auch einerlei, ob das Wetter
15 *[228] übel ſei oder nicht. Ich war von meinen Wanderun¬
gen her an jedes Wetter gewohnt, um ſo mehr konnte
mir dasſelbe gleichgültig ſein, wenn ich in einem
vollkommen geſchüzten Wagen ſaß, und auf einer
wohlgebauten Hauptſtraße dahin rollte.
Am dritten Tage Mittags nach meiner Abreiſe
von dem Roſenhauſe traf ich bei den Meinigen ein.
Die zweite Ankunft in dieſem Jahre.
Sie hatten aus meinem Briefe die Verſpätung
meiner Ankunft entnommen, den Grund vollſtändig
gebilligt, und wären, wie ich ganz richtig vorausge¬
ſehen hatte, unwillig auf mich geworden, wenn ich
anders gehandelt hätte. Ich erzählte nun alles, was
ſich nach meiner ſchnellen Abreiſe von Hauſe begeben
hatte. Da bei meiner erſten Ankunft gleich die eine
Urſache zur Wiederabreiſe vorgekommen war, ſo
konnte ich auch jezt erſt nach und nach erzählen, was
ſich im vergangenen Sommer mit mir zugetragen habe.
Der Vater kam ſehr häufig auf die Zeichnungen zu¬
rück, die ihm mein Gaſtfreund geſendet hatte, und
aus ſeinen Reden war zu entnehmen, wie ſehr er die
Geſchicklichkeit des Mannes anerkannte, der die Zeich¬
nungen gemacht hatte, und wie hoch in ſeiner Ach¬
tung der ſtehe, auf deſſen Veranlaſſung ſie entſtanden
[229] waren. Er führte mich neuerdings zu dem Muſik¬
geräthtiſche, zeigte mir noch einmal, warum er ihn
gerade an dieſen Plaz geſtellt habe, und fragte mich
wieder, ob ich mit der Wahl des Ortes einverſtanden
ſei. Mich wunderte Anfangs die Frage, da er ſonſt
nicht gewohnt war, mich in ſolchen Dingen zu Rathe
zu ziehen. Nach meiner Anſicht war der Tiſch in dem
Alterthumszimmer an dem Fenſterpfeiler in paſſender
Umgebung ſehr gut geſtellt, und zeigte ſeine Eigen¬
ſchaften in dem beſten Lichte. Ich wiederholte daher
meine vollkommene Billigung des Plazes, die ich
ſchon vor meiner Abreiſe ausgeſprochen hatte. Später
aber ſah ich wohl recht deutlich, daß es nur die Freude
an dieſem Stücke war, was den Vater zur Wieder¬
holung der Frage über die Zweckmäßigkeit des Plazes
und zum wiederholten Zurückkommen zu dem Tiſche
veranlaßt hatte. Das freudige Weſen, welches ich
bei meiner erſten Ankunft in ſeiner ganzen Geſtalt
ausgedrückt geſehen zu haben glaubte, erſchien mir
jezt auch noch über ihn verbreitet. Selbſt die Mutter
und die Schweſter ſchienen mir vergnügter zu ſein
als in andern Zeiten — ja mir war es, als liebten
mich alle mehr als ſonſt, ſo gut ſo freundlich ſo hin¬
gebend waren ſie. Wie ſehr dieſes Gefühl, von den
[230] Seinen geliebt zu ſein, das Herz beſeligt, iſt mit Wor¬
ten nicht auszuſprechen.
Ich erzählte meinem Vater von dem Marmor¬
bilde, welches auf der Treppe im Hauſe meines Gaſt¬
freundes ſteht, und ſuchte ihm eine Beſchreibung von
dieſem Kunſtwerke zu machen. Er ſah mich ſehr auf¬
merkſam an, ja mir war es einige Male, als ſähe er
mich gewiſſermaßen betroffen an. Er fragte um man¬
ches, und veranlaßte mich neuerdings von dem Bil¬
derwerke zu ſprechen. Es ſchien ihn ſehr angelegent¬
lich zu berühren. Ich erzählte ihm dann auch von der
Brunnengeſtalt in dem Sternenhofe, verglich ſie mit
der Treppengeſtalt im Roſenhauſe, ſuchte den Unter¬
ſchied hervorzuheben, und ſuchte für die Treppenge¬
ſtalt weit den Vorzug zu gewinnen, obgleich ſie der
älteren Zeit angehöre, und die andere etwa erſt im
vergangenen Jahrhunderte verfertigt worden ſei, und
obgleich dieſe faſt blendend reinen Marmor habe,
die andere aber einen, dem man das hohe Alter ſchon
anſehe. Er fragte auch hier noch um Vergleichungs¬
punkte, und ich ſah, daß er die Sache ergrif, und
Einſicht von ihr hatte. Ich erzählte ihm dann auch
von den Gemälden meines Gaſtfreundes, ich nannte
ihm die Meiſter, von denen Werke vorhanden wären,
[231] und bemühte mich, Beſchreibungen von den Bildern
zu geben, welche mich am meiſten in Anſpruch genom¬
men hätten. Er that auch in dieſer Hinſicht zahlreiche
Fragen, und machte, daß ich mich über den Gegen¬
ſtand weiter ausbreitete, als ich wohl urſprünglich im
Sinne hatte.
Am zweiten Tage nach meiner Ankunft, da wir
wieder von dieſen Dingen geſprochen hatten, nahm
er mich bei der Hand, und führte mich in ſein Bil¬
derzimmer. Ich war abſichtlich ſeit meiner Ankunft
nicht in demſelben geweſen, und hatte mir deſſen Be¬
ſuch auf eine ruhigere Zeit aufgehoben. Ich hatte die
zwei Tage in Geſprächen mit meinen Eltern hinge¬
bracht, zum Theile hatte ich ſie auch benüzt, die Dinge,
welche ich ihnen und der Schweſter gebracht hatte,
zu übergeben. Darunter waren auch die kleineren
Marmorgegenſtände, welche im Rothmoore fertig ge¬
worden waren. Der Reſt der Zeit war mit Auspacken
Einräumen und mit einigen Ankunftsbeſuchen aus¬
gefüllt worden. Da wir in das Zimmer getreten wa¬
ren, und die Mitte desſelben erreicht hatten, ließ er
meine Hand fahren, ſagte aber nichts. Ich war im
größten Erſtaunen. Die Bilder, welche vorhanden
waren, und deren Zahl geringe war, weit geringer
[232] als bei meinem Gaſtfreunde ja ſelbſt im Sternenhofe,
erſchienen mir als außerordentlich ſchön, als ganz
vollendete zuſammenſtimmende Meiſterwerke, wie ſie,
wenn ich dem erſten Eindrucke trauen durfte, bei mei¬
nem Gaſtfreunde in dieſer gleich hohen und zuſammen
gehörigen Schönheit nicht vorhanden waren. Es be¬
fand ſich, wie ich bald entdeckte, kein Bild der neueren
oder neueſten Zeit darunter, ſämmtlich gehörten ſie
der älteren Zeit an, wenigſtens, wie ich wahrzuneh¬
men glaubte, dem ſechzehnten Jahrhunderte. Ein
ganz tiefes eigenthümliches Gefühl kam in meine
Seele. Das iſt die große und nicht zu beſchreibende
Liebe des Vaters. Dieſe koſtbaren Dinge beſaß er,
an dieſen Dingen hing ſein Herz, ſein Sohn war
vorüber gegangen, ohne ſie zu beachten, und der Va¬
ter entzog dem Sohne doch kein Theilchen der Zunei¬
gung, er opferte ſich ihm, er opferte ihm faſt ſein
Leben, er ſorgte für ihn, und ſuchte ihm nicht ein¬
mal zu beweiſen, wie ſchön die Sachen wären. Ich
erfuhr, wie ſehr ich auch hier geſchont worden war.
„Das ſind ja herrliche Bilder,“ rief ich in Rüh¬
rung aus.
„Ich glaube, daß ſie nicht unbedeutend ſind,“ er¬
[233] wiederte er mit einer durch Bewegung ergriffenen
Stimme.
Dann gingen wir näher, um ſie zu betrachten.
Es waren in der That lauter alte Gemälde, keines
von beſonders großen Abmeſſungen keines von kunſt¬
widriger Kleinheit. Ich that die Bemerkung, daß er
keine neuen Bilder habe.
„Es hat ſich ſo gefügt,“ ſagte er, „ich habe ſchon
einige der hier befindlichen Stücke von deinem Gro߬
vater, der auch ein Freund von ſolchen Dingen war,
geerbt, und anderes habe ich gelegentlich erworben.
Die mittelalterliche Kunſt ſteht wohl höher als die
neue. In ihr iſt ein größerer Reichthum ſchöner
Werke vorhanden als in der neuen, es iſt daher leich¬
ter möglich, ein fehlerfreies altes Bild zu erwerben
als ein neues. Wer Bilder unſerer Zeiten liebt, gibt
ſolche, die an Schönheit keinen Tadel verdienen, nicht
zum Kaufe, ſie ſind daher nicht leicht zu erhalten.
Bilder, die von Anfängern oder von ſolchen herrüh¬
ren, die ſchwach in der Kunſt ſind, ſtehen leicht und
an vielen Orten theils von den Künſtlern theils von
Händlern, wie es auch in früheren Zeiten geweſen
ſein wird, zum Kaufen. Zu dieſen konnte ich nie eine
Neigung faſſen, daher iſt es gekommen, daß ich lauter
[234] alte Bilder beſize. Es war ein kräftiges und gewal¬
tiges Geſchlecht, das damals wirkte. Dann kam eine
ſchwächliche und entartetere Zeit. Sie meinte es beſ¬
ſer zu machen, wenn ſie die Geſtalten reicher und ver¬
blaſener bildete, wenn ſie heftiger in der Farbe und
weniger tief im Schatten würde. Sie lernte das Alte
nach und nach mißachten, daher ließ ſie daſſelbe
verfallen, ja die mit der Unkenntniß eintretende
Rohheit zerſtörte Manches, beſonders wenn wilde
und verworrene Zeitläufe eintraten. Man wendete
dann wieder um, und achtete allgemeiner wieder
das Alte — von allen Seiten mißachtet war es nie¬
mals. — Man ſuchte ſogar nachzuahmen, nicht blos
in der Malerkunſt ſondern auch und zwar noch mehr
in der Baukunſt; man konnte aber das Vorbild weder
in der Grundeinheit noch in der Ausführung errei¬
chen, ſo gut und treu die neuen Einzelnheiten auch
geweſen ſein mochten. Es iſt langſam beſſer gewor¬
den, was ſich eben in dem Zeichen kund that, daß
man alte Bauwerke wieder ſchäzte — ich ſelber weiß
noch eine Zeit, in welcher Reiſende und Schriftſtel¬
ler, die man für gelehrt und ſpruchberechtigt achtete,
die gothiſche Bauweiſe für barbariſch und veraltet er¬
klärten — daß man alte Bilder hervor zog ja alte
[235] Geräthe ſammelte, und in dem Schnitte der Kleider
alte Gebilde und Wendungen theilweiſe einführte.
Möge man auf dieſem Wege zum Beſſeren fortfahren,
und nicht blos das Alte wieder zu einer Mode ma¬
chen, die den Geiſt nicht kennt, ſondern nur die Ver¬
änderung liebt. Du kannſt es noch erleben, wenn
wieder eine Höhe eintritt; denn ein Schwellen von
Tiefe in Höhe und ein Sinken aus der Höhe in die
Tiefe war immer vorhanden. Wenn die Erkenntniß
des Alterthums, nicht blos des unſern ſondern des
noch ſchönern des Griechenthums, wie es ſich jezt
auszuſprechen ſcheint, immer fortſchreitet und nicht
ermattet, ſo werden wir auch dahin kommen, daß wir
eigene Werke werden erſinnen können, in denen die
ernſte Schönheitsmuſe ſteht, nicht Leidenſchaft oder
Abſicht oder ein äußerlicher Reiz oder ledigliche plan¬
loſe Heftigkeit, Werke, die nicht nachgeahmt ſind,
oder in denen nur ein älterer Stil ausgedrückt iſt.
Wenn wir dahin gekommen ſind, dann dürften wir
wohl auch geſellſchaftlich auf einer Stufe ſtehen, daß
nicht blos Theile unſeres Volkes nach Außen mächtig
ſind ſondern das ganze Volk, und daß es dann mit
ſeinem Leben gelaſſen kräftig auf das Leben anderer
Völker wirkt. Ich denke immer, die ſind glücklich, die
[236] die Lerchen dieſes Frühlings ſingen hören; aber dieſe
werden den Zuſtand nicht ſo empfinden wie der, der
andere geſehen hat, ſo wie der Unſchuldige ſeine Un¬
ſchuld nicht empfindet, der rechtliche Mann ſeine
Rechtſchaffenheit nicht hoch anſchlägt, und verdorbene
Zeiten ihre Verdorbenheit nicht kennen.“
Ich dachte, da mein Vater ſo ſprach, an meinen
Gaſtfreund, der ähnlich fühlt, und ſich ähnlich aus¬
ſpricht. Aber es iſt ja kein Wunder, daß Männer,
die ein ähnliches Streben haben, alſo auch ähnlichen
Geiſt beſizen, auf ähnliche Gedanken kommen, beſon¬
ders, wenn ſie an Alter nicht zu verſchieden ſind.
Wir betrachteten nun das Einzelne.
Mein Vater hatte Bilder von Tizian Guido Reni
Paul Veroneſe Annibale Caracci Dominichino Sal¬
vator Roſa Nikolaus Pouſſin Claude Lorrain Al¬
brecht Dürer den beiden Holbein Lucas Cranach Van
Dyk Rembrand Oſtade Potter van der Neer Wou¬
vermann und Jakob Ruisdael. Wir gingen von dem
einen zu dem andern, betrachteten ein jedes, thaten
manches Bild auf die Staffelei, und redeten über ein
jedes. Mein Herz war voll Freude. Es erſchien mir
jezt immer deutlicher, was ich beim erſten Anblicke
nur vermuthet hatte, daß die Bilder in dem Gemälde¬
[237] zimmer meines Vaters lauter vorzügliche ſeien, und
daß ſie noch dazu an Werth ſo ſehr zuſammen ſtimm¬
ten, daß das Ganze eben den Eindruck eines Außeror¬
dentlichen machte. Ich hatte ſchon ſo viel Urtheil ge¬
wonnen, daß ich dachte, nicht gar zu weit mehr in
die Irre gerathen zu können. Ich äußerte mich in
dieſer Beziehung gegen meinen Vater, und er ver¬
ſicherte in der That, daß er glaube, daß er nicht nur
gute Meiſter beſize, ſondern auch von dieſen Meiſtern
nach ſeiner Erfahrung, die er ſich in vielen Jahren
in vielen Gemäldeſammlungen und im Leſen vieler
Werke über Kunſt erworben habe, beſſere von ihren
Arbeiten. Ich gab mich den Bildern immer inniger
hin, und konnte mich von manchem kaum trennen.
Das Köpfchen von einem jungen Mädchen, das ich
mir einmal zu einem Zeichnungsmuſter genommen
hatte, ſtammte von Hans Holbein dem jüngern her.
Es war ſo zart ſo lieb, daß es jezt auch wieder einen
Zauber auf mich ausübte, wie es wohl auch damals
ausgeübt haben mußte; denn ſonſt hätte ich es ja
nicht zum Vorbilde genommen. Kaum waren hier
Mittel zu entdecken, mit denen der Künſtler gewirkt
hatte. Eine ſo einfache ſo natürliche Färbung mit
wenig Glanz und Vortreten der Farben, ſo gering
[238] ſcheinende harmloſe Linien, und doch eine ſolche Lieb¬
lichkeit Reinheit Beſcheidenheit, daß man kaum weg¬
gehen konnte. Die blonden Haare, die ſich von der
Stirn gegen hinten zogen, waren faſt mit keinem
Aufwande gemacht, und doch konnte es kaum etwas
ſchöneres geben als dieſe blonden Locken. Der Vater
erlaubte, daß ich mir das Bild zweimal auf die Staf¬
felei ſtellen durfte.
Als wir mit dem Anſchauen der Bilder fertig wa¬
ren, zog der Vater eine flache Lade aus einem Kaſten
in dem Alterthumszimmer, ſtellte die Lade auf einen
Tiſch in der Nähe des Fenſters, und lud mich ein
hinzu zu gehen, und ſeine geſchnittenen Steine anzu¬
ſehen.
Ich that es.
Hier war meine Verwunderung faſt noch größer
als bei den Bildern. Ich fand auf den Steinen die
Geſtalten wieder, wie die eine war, welche auf der
Treppe des Hauſes meines Gaſtfreundes ſtand.
„Das ſind lauter antike Bildungen,“ ſagte mein
Vater.
Es waren verſchiedene Steine von verſchiedenem
Werthe und verſchiedener Größe. Edelſteine, die
durch ihren Stoff einen hohen Werth nach unſern
[239] heutigen Begriffen haben wie Saphire Rubine waren
nicht dabei; doch aber mindere, die wohl als Schmuck
getragen werden können, und, wie ich mich jezt deut¬
lich erinnerte, von unſerer Mutter auch bei Gelegen¬
heiten getragen wurden. Es war ein Onix da, auf
welchem eine Gruppe in der gewöhnlichen halb erha¬
benen Arbeit geſchnitten war. Ein Mann ſaß in einem
alterthümlichen Stuhle. Er hatte nur geringe Be¬
kleidung. Seine Arme ruhten ſehr ſchlicht an ſeiner
Seite, und ſein feines Angeſicht war nur ein wenig
gehoben. Er war noch ein ſehr junger Mann. Frauen
Mädchen Jünglinge ſtanden ſeitwärts in leichterer
Arbeit und weniger kräftig hervorgehoben, eine Göt¬
tin hielt einen Kranz oberhalb des Hauptes des ſizen¬
den Mannes. Mein Vater ſagte, das ſei ſein beſter
wie größter Stein und der ſizende Mann dürfte Au¬
guſtus ſein. Wenigſtens ſtimme ſein Halbangeſicht,
wie es auf dem Steine ſei, mit jenen Halbangeſich¬
tern Auguſtus zuſammen, die man auf den gut erhal¬
tenen Münzen dieſes Mannes ſehe. Die Geſtalt die
Gliederung die Haltung dieſes Mannes, die Geſtal¬
ten der Mädchen Frauen und Jünglinge ihre Beklei¬
dung ihre Stellungen in Ruhe und Einfachheit, die
deutliche und naturgemäße Ausführung der kleinen
[240] Theile in den Gliedern und Gewändern machten auf
mich wieder jene ernſte tiefe fremde zauberartige Wir¬
kung, welche die Geſtalt auf der Treppe in dem Hauſe
meines Gaſtfreundes in mir hervorgebracht hatte, da
ich im vergangenen Sommer während des Gewitters
zu ihr empor geſtiegen war. Auf den andern Steinen
befanden ſich Männer in Helmen, entweder ſchöne
junge Angeſichter oder alte mit ehrwürdigen Bärten.
Solche, die in mittleren Mannesjahren ſtanden, wa¬
ren gar nicht vorhanden. Auch Frauenköpfe waren
auf einigen Steinen zu ſehen. Auf mehreren zeigten
ſich ganze Geſtalten, ein Hermes mit den Flügeln an
den Füßen, ein ſchreitender Jüngling oder einer, der
mit dem Arme zum Wurfe mit einem Steine ausholt.
Dieſe Geſtalten waren ſo genau und richtig, daß ſie
das Vergrößerungsglas ertrugen. Steine mit andern
Dingen als menſchliche Geſtalten hatte mein Vater
gar nicht. Ich erinnerte mich, daß ich irgendwo —
des Ortes konnte ich mich nicht mehr entſinnen —
Käfer auf Steine geſchnitten geſehen hatte.
„Ich habe die Steine mit menſchlichen Geſtalten
vorgezogen,“ ſagte mein Vater, als ich in dieſer Hin¬
ſicht eine Bemerkung machte, „weil ſie mir doch das¬
jenige ſchienen, was zu dem Menſchen in der nächſten
[241] Beziehung ſteht. Ich bin nicht reich genug, eine große
Sammlung von geſchnittenen Steinen anlegen zu
können, in welcher alle Gattungen enthalten ſind,
ſo fern man überhaupt Gelegenheit hat, ſie zu kau¬
fen, und weil ich das nicht konnte, ſo habe ich mich
lediglich auf menſchliche Geſtalten beſchränkt, und
unter dieſen wieder auf jene, deren Erwerb mir ohne
Einfluß auf mein Hausweſen möglich war; denn es
gibt da Kunſtwerke in dieſem Fache, welche ein gan¬
zes Vermögen in Anſpruch nehmen, von deſſen Rente
manche kleine Familie, deren Anſprüche nicht zu be¬
deutend ſind, leben könnte.“
Die Männer in den Helmen trugen dieſe Kopf¬
bedeckung in der gewöhnlichen Art, wie man ſie auf
den alten Münzen ſieht, und wie ich ſie ſchon auf
Abbildungen von Kunſtwerken in halberhabener Ar¬
beit geſehen habe, die ſich auf griechiſchen oder römi¬
ſchen Bauten befanden. Die einfache Art, den Helm
zu tragen, wenn er auch eine noch ſo koſtbare Arbeit
iſt, habe ich an Abbildungen aus ſpäteren Zeiten na¬
mentlich aus dem Mittelalter nicht mehr gefunden.
Die Angeſichter hatten Züge, die etwas Fremdes wie¬
ſen, das jezt nicht mehr vorkömmt, und auf eine ent¬
legene Zeit zurückdeutet. Die Züge waren meiſtens
Stifter, Nachſommer, II. 16[242] einfach, ja ſogar oft unbegreiflich einfach, und doch
waren ſie ſchön, ſchöner und menſchlich richtiger —
ſo ſchien es mir wenigſtens — als ſie jezt vorkommen.
Die Stirnen die Naſen die Lippen waren ſtrenger
ungekünſtelter, und ſchienen der Urſprünglichkeit der
menſchlichen Geſtalt näher. Dies war ſelbſt bei den
Abbildungen der Greiſe der Fall, und ſogar da, wo
man vermuthen durfte, das abgebildete Haupt ſei das
Bildniß eines Menſchen, der wirklich gelebt hat. Es
konnte dieſe Geſtaltung nicht Eingebung des Künſt¬
lers ſein, da offenbar die Steine verſchiedenen Zeiten
und verſchiedenen Meiſtern angehörten; ſie mußte
alſo Eigenthum jener Vergangenheit geweſen ſein.
Die Köpfe der Frauen waren auch ſchön, oft überra¬
ſchend ſchön; ſie hatten aber auch etwas Eigenthüm¬
liches, das ſich von unſern gewohnten Vorſtellungen
entfernte, ſei es in der Art, das Haupthaar aufzu¬
ſtecken, und es zu tragen, ſei es, wie ſich Stirne und
Naſe zeigten, ſei es im Nacken im Halſe im Beginne
der Bruſt oder der Arme, wenn dieſe Theile noch auf
dem Bilde waren, ſei es in dem uns fernliegenden
Ganzen. Allgemein aber waren dieſe Köpfe kräftiger,
und erinnerten mehr an die Männlichkeit als die un¬
ſerer heutigen Frauen. Sie erſchienen dadurch reizen¬
[243] der und ehrfurchterweckender. Die Ausführung dieſer
Abbildungen zeigte ſich ſo rein ſo entwickelt und folge¬
richtig, daß man nirgends, auch nicht im Kleinſten,
verſucht wurde, zu denken, daß etwas fehle, ja daß
man im Gegentheile die Gebilde wie Naturnothwen¬
digkeiten anſah, und daß einem in der Erinnerung an
ſpätere Werke war, dieſe ſeien kindliche Anfänge und
Verſuche. Die Künſtler haben alſo große und ein¬
fache Schönheitsbegriffe gehabt, ſie haben ſich dieſe
aus der Schönheit ihrer Umgebung genommen, und
dieſe Schönheit der Umgebung durch ihre Schön¬
heitsbegriffe wieder verſchönert. So ſehr mir die
Bilder des Vaters gefielen, ſo ſehr mir die Bilder
meines Gaſtfreundes gefallen hatten, ſo ſehr wurde
ich, wie ich durch die Marmorgeſtalt meines Gaſt¬
freundes ernſter und höher geſtimmt worden war
als durch ſeine Bilder, auch durch die geſchnittnen
Steine meines Vaters ernſter und höher geſtimmt als
durch ſeine Bilder. Er mußte das fühlen. Er ſagte
nach einer Weile, da wir die Steine angeſchaut hat¬
ten, da ich mich in dieſelben vertieft, und manchen
mehrere Male in meine Hände genommen hatte:
„Das, was die Griechen in der Bildnerei geſchaffen
haben, iſt das Schönſte, welches auf der Welt be¬
16 *[244] ſteht, nichts kann ihm in andern Künſten und in
ſpäteren Zeiten an Einfachheit Größe und Richtigkeit
an die Seite geſezt werden, es wäre denn in der
Muſik, in der wir in der That einzelne Sazſtücke und
vielleicht ganze Werke haben, die der antiken Schlicht¬
heit und Größe verglichen werden können. Das ha¬
ben aber Menſchen hervorgebracht, deren Lebensbil¬
dung auch einfach und antik geweſen iſt, ich will
nur Bach Händel Haidn Mozart nennen. Es iſt
ſehr ſchade, daß von der griechiſchen Malerei nichts
übrig geblieben iſt als Theile von dem, was in dieſer
Kunſt immer als ein untergeordneter Zweig betrach¬
tet worden iſt, von der Wandmalerei und Gebäude¬
verzierung. Da die griechiſche Dichtkunſt das Höchſte
iſt, was in dieſer Kunſtabtheilung beſteht, da ihre
Baukunſt als Muſter einfacher Schönheit beſonders
für die Geſtaltungen ihres Landes gilt, da ihre Ge¬
ſchichtſchreiber und Redner kaum ihres Gleichen ha¬
ben, ſo iſt anzunehmen, daß ihre Malerei auch dieſen
Dingen gleichgeartet geweſen ſein müſſe. Sie ſpre¬
chen in Schriften, die bis auf unſere Tage gekommen
ſind, von ihren Bauwerken von ihrer Weltweisheit
Geſchichtſchreibung Dichtkunſt und Bildnerkunſt nicht
höher als von ihrer Malerei, ja nicht ſelten ſcheint
[245] es, als zögen ſie dieſe noch vor, alſo muß auch ſie
vom höchſten Belange geweſen ſein; denn es iſt nicht
anzunehmen, daß Schriftſteller, die doch endlich der
Ausdruck wenn auch der gehobene ihrer Zeit und ihres
Volkes ſind, ſo feine Kenntniſſe und ſo feines Gefühl
in andern Künſten gehabt haben, und für Fehler der
Malerei blind geweſen wären. Wahrſcheinlich wür¬
den wir uns an Strenge und Rundung in ihrer Ma¬
lerei ergözen und ſie bewundern, wie wir es mit ihren
Bildſäulen thun. Ob wir an ihnen für unſere Ma¬
lerei etwas lernen könnten, weiß ich nicht, ſo wie ich
nicht weiß, wie viel es iſt, was wir an ihrer Bild¬
hauerei gelernt haben. Dieſe Steine ſind durch viele
Jahre mein Vergnügen geweſen. Oft in trüben
Stunden, wenn Sorgen und Zweifel das Leben ſei¬
nes Duftes beraubten, und es dürr vor mich hinzu¬
breiten ſchienen, bin ich zu dieſer Sammlung gegan¬
gen, habe dieſe Geſtalten angeſchaut, bin in eine an¬
dere Zeit und in eine andere Welt verſezt worden,
und bin ein anderer Menſch geworden.“
Ich ſah meinen Vater an. Hatte ich früher
ſchon oft Gelegenheit gehabt, ihn hoch zu achten,
und hatte ich zu verſchiedenen Zeiten entdeckt, daß er
bedeutendere Eigenſchaften beſize, als ich geahnt hatte,
[246] ſo war ich doch nie in der Lage, ihn beurtheilen zu
können, wie ich ihn jezt beurtheilte. In Geſchäfte
der eintönigſten Art gezwungen, oder vielleicht ſelber
und freiwillig in dieſe Geſchäfte gegangen — denn
er führte ſie mit einer Ordnung mit einer Rechtlich¬
keit mit einer Ausdauer mit einer Anhänglichkeit an
ſie, daß man ſtaunen mußte — hatte er, der unſchein¬
bar ſeinen bürgerlichen Obliegenheiten nachkam, und
von dem viele nur glauben mochten, daß er in ſeinem
Hauſe einige Spielereien von alten Geräthen Bildern
und Büchern habe, vielleicht einen tieferen und ein¬
ſameren Kreis um ſich gezogen, als ich jezt noch er¬
kennen konnte, und hatte ohne Anſpruch an dieſem
Kreiſe fort gebaut. Ich empfand Ehrfurcht vor ihm,
und fragte ihn, ob er die Schriftſteller, von denen er
ſpreche, griechiſch geleſen habe.
„Wie könnte ich ſie denn anders geleſen haben,
und noch leſen, wenn ich ſie lieben ſoll,“ antwortete
er, „die alte vorchriſtliche Welt hat ſo ganz andere
Vorſtellungen als die unſere, die Völkerwanderung
hat ſo ſehr einen Abſchnitt in der Geſchichte gemacht,
daß die Werke der vorher geweſenen Völker gar nicht
überſezt werden können, weil unſere Sprachen in
ihrem Körper und in ihrem Geiſte auf die alten Vor¬
[247] ſtellungen nicht paſſen. Im Leſen in ihrer Sprache
und in ihren Dichtungen und Geſchichten wird man
nach und nach einer von ihnen, und lernt ihre Art
beurtheilen, was man ſonſt nie mehr kann. In un¬
ſern Schulen lernen wir ja römiſch und griechiſch,
und wenn man in der Zeit nach der Schule noch et¬
was nachhilft, und fleißig in den alten Schriften
liest, ſo fügt ſich die Sache ohne Mühe, und gelingt
leichter, als man etwa das Franzöſiſche Italieniſche
oder Engliſche lernt, wie es ja jezt die meiſten Leute
thun.“
„Du haſt ja aber auch dieſe Sprachen gelernt,“
ſagte ich.
„Wie ſie auch andere lernen,“ antwortete er, „und
wie es mein Stand foderte.“
„Ich habe es bis heute nicht gewußt, daß du in
den alten Sprachen Bücher lieſeſt,“ ſagte ich, „und
was noch mehr iſt, daß du dich in die Dichtkunſt in
die Geſchichte und Weltweisheit der Völker, deren
Schriften du lieſeſt, vertiefeſt. Du weißt, daß wir
uns nie anmaßten, die Bücher zu unterſuchen, in de¬
nen du lieſeſt.“
„Es war keine Urſache vorhanden, dir zu erzäh¬
[248] len, was ich leſe,“ antwortete er, „ich dachte, es
wird ſich ſchon geben. Deine Mutter wußte es wohl.“
Die Hochachtung für den Vater, der ohne Auf¬
heben mehr war, als der Sohn geahnt hatte, und
der geduldig auf den Sohn gewartet hatte, ob er auf
dem Wege zu ihm ſtoßen werde, war nicht die einzige
Frucht dieſes Tages. Ich empfand recht wohl, daß
der Vater auch mich höher achtete, und daß er eine
große Freude habe, daß der Sohn nun auch in Kunſt¬
dingen ſich ihm nähere. Daß wir in einigen wiſſen¬
ſchaftlichen Sachen zuſammen trafen, wußte ich wohl,
da wir über Gegenſtände der Geſchichte der Dichtun¬
gen und über andere in jüngſter Zeit manchmal ge¬
ſprochen hatten, ich wußte aber nie, in wie ferne und
auf welchen Wegen der Vater zu dieſen Dingen ge¬
kommen war. Heute hatte ich einen größern Einblick
gethan, und ich wußte nun auch gar nicht, welch eine
geregelte wiſſenſchaftliche Bildung der Vater aus ſei¬
nen früheren Jahren hinter ſich habe, und ob es nicht
etwa gar aus dieſer wiſſenſchaftlichen Bildung herzu¬
ſchreiben ſei, daß er mich gerade meinen Weg habe
gehen laſſen, der mir ſelber zuweilen abenteuerlich
vorgekommen war. Ich mußte jezt doppelt wünſchen,
daß mein Vater einmal mit meinem Gaſtfreunde zu¬
[249] ſammen käme, um mit ihm über ähnliche Gegenſtände
zu ſprechen, wie er heute zu mir geſprochen hatte.
Ich konnte doch nicht hinreichend eingehen, und wußte
auch nicht, in wie ferne er in ſeinen Urtheilen über
altgriechiſche Bildnerkunſt Dichtkunſt Malerei und
über die neuere Muſik Recht habe. Allein der Vater
arbeitete ſo ruhig in ſeinem Berufsgeſchäfte weiter,
er war in alle Einzelheiten desſelben ſo vertieft, und
ſorgte für den regelmäßigen Fortgang desſelben, daß
es nicht leicht zu erwarten war, daß er ſich zu einer
Reiſe entſchließen würde.
Gegen das Ende unſeres Geſpräches kam auch
die Mutter und Klotilde herein. Das Angeſicht der
Mutter wurde ſehr heiter, als ſie uns bei den Stei¬
nen ſtehen ſah, als ſie ſah, daß der Vater ſie mir
zeigte und erklärte, und als ſie auch erkennen mochte,
daß in dem Weſen des Vaters eine Freude ſei, und
daß die Annäherung, die ſie geahnt habe, wirklich
eingetreten ſei.
Wir gingen noch einige Male bald in das Bil¬
derzimmer bald in das Alterthumszimmer, in welchem
noch immer die Lade mit den Steinen auf dem Tiſche
ſtand, und redeten über Verſchiedenes.
„Dieſe Kunſtwerke,“ ſagte der Vater, da er die
[250] Steine wieder verſchloſſen hatte, und da wir uns aus
dieſem Zimmer entfernten, „könnt ihr in euren Beſiz
bringen. Wenn ihr Sinn und tiefe Liebe für dieſel¬
ben habet, ſo werdet ihr ſie nach unſerem Tode in
einer von mir gemachten und, wie ich glaube, gerech¬
ten Theilung empfangen. Sterbe ich vor eurer Mut¬
ter, ſo bleiben ſie als Denkmal unſeres friedlichen
Hauſes in der Lage, in der ſie jezt ſind, und ſie wer¬
den euch erſt eingehändigt, wenn mir auch die Mutter
gefolgt iſt. Will Klotilde dir ihren Antheil abtreten,
ſo iſt die Summe ſchon beſtimmt, welche du ihr dafür
geben mußt, und ſo auch umgekehrt. Iſt bei beiden
nach unſerm Abſterben eine ſolche Liebe zu dieſen Bil¬
dern und Steinen nicht vorhanden, daß ihr ſie un¬
zerſplittert bewahret, ſo iſt ſchon beſtimmt, daß auf
eure hierin eingeholte Erklärung dieſelben gegen ein
Entgelt, das nicht unbillig iſt, an einen Ort über¬
gehen, an welchem ſie beiſammen bleiben. Ich glaube
aber wohl, daß dieſe Neigung in unſerm Hauſe fort¬
dauern werde.“
Wir antworteten auf dieſe Rede nichts, weil ſie
einen Gegenſtand berührte, der, wie entfernt wir ihn
uns auch denken mußten, doch ſchmerzlich auf uns
einwirkte.
[251]
Ich verlegte mich nach dieſer gemachten Erfah¬
rung mit noch größerem Eifer auf die Kenntniß der
Werke der bildenden Kunſt. Ich lernte mich in die
Bilder des Vaters bis in die kleinſten Einzelheiten
hinein, und war zu dieſem Zwecke ſehr oft und zu¬
weilen lange in dem Bilderzimmer, ich beſuchte alle
größeren zugänglichen Sammlungen, und ſuchte deren
Bilder zu ergründen, ich beſah alle Bildnerwerke, die
in unſerer Stadt einen Ruf hatten, und ſtrebte nach
einer genauen Kenntniß ihrer Beſchaffenheiten, ich las
endlich namhafte Werke über die Kunſt, und verglich
meine Gedanken und Gefühle mit den in den Büchern
gefundenen. Ich ſprach viel mit meinem Vater über
dieſe Gegenſtände, wir näherten uns immer mehr,
meine Empfindungen wurden ſtets inniger, und ich
verſenkte meine Seele in ſie. Unſern Erzdom bewun¬
derte ich jezt in einem höheren Maße als in allen
früheren Zeiten, und ich ſtand manche Stunde vor
ſeinem ungeheuren Baue. Selbſt die Gebilde der Ma¬
thematik, wenn ich wieder zu Zeiten etwas in ihr zu
thun hatte, erſchienen mir zuweilen ſchön und zierlich,
was mir namentlich bei einigen franzöſiſchen Mathe¬
matikern geſchah. Das Malen ſchöner Köpfe ſezte ich
fort, und eben ſo wurde das Zeichnen und Malen
[252] von Landſchaften, welches ich im vorigen Jahre mit
der Schweſter begonnen hatte, nicht bei Seite geſezt.
Ich nahm mit ihr die Zeichnungen vor, welche ſie im
vergangenen Sommer während meiner Abweſenheit
gemacht hatte, und ſo wie ich von meinem Gaſtfreunde
von Euſtach und von dem Vater über die Fehler be¬
lehrt worden war, die ſich in meinen Landſchaftsver¬
ſuchen befanden, ſo belehrte ich Klotilden wieder über
die ihrigen.
Seit ich Mathilden kannte, beſonders aber jezt,
nachdem ich öfter in ihrer Geſellſchaft geweſen war,
und im Spätherbſte die Reiſe mit ihr und den andern
in das Hochland gemacht hatte, war ich auch auf die
Angeſichter ältlicher und alter Frauen aufmerkſam ge¬
worden. Man thut ſehr Unrecht, und ich bin mir be¬
wußt, daß ich es auch gethan habe, und gewiß han¬
deln andere Leute in ihrer Jugend ebenfalls ſo, wenn
man die Angeſichter von Frauen und Mädchen, ſo¬
bald ſie ein gewiſſes Alter erreicht haben, ſofort be¬
ſeitigt, und ſie für etwas hält, das die Betrachtung
nicht mehr lohnt. Ich fing jezt zu denken an, daß es
anders ſei. Die große Schönheit und Jugend reißt
unſere Aufmerkſamkeit hin, und erregt ein tiefſtes Ge¬
fallen; warum ſollten wir aber mit dem Geiſte nicht
[253] auch ein Angeſicht betrachten, über welches Jahre hin¬
gegangen ſind? Liegt nicht eine Geſchichte darin, oft
eine unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die
ihren Widerſchein auf die Züge gießt, daß wir ſie mit
Rührung leſen oder ahnen? Die Jugend weist auf
die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergan¬
genheit. Hat dieſe kein Recht auf unſern Antheil? Als
ich Mathilden das erſte Mal ſah, fiel mir das Bild
der verblühenden Roſe ein, welches mein Gaſtfreund
von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es ſo
treffend fand; und ſpäter oft, wenn ich Mathilden
betrachtete, geſellte ſich das Bild wieder zu meinen
Gedanken, es erregten ſich neue, und es erzeugte
ſich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal
gedacht, daß Mathilde ausſehe, wie ein Bild der Ver¬
gebung, und ſpäter dachte ich es mir öfter. Ihr An¬
geſicht mußte ſehr ſchön geweſen ſein, vielleicht gar ſo
ſchön wie jezt Nataliens, nun iſt es ganz anders;
aber es ſpricht leiſe von einer Vergangenheit, daß
wir meinen, wir müßten ſie vernehmen können, und
wir vernähmen ſie auch gerne, weil ſie uns ſo an¬
ziehend ſcheint. Sie muß manche Neigungen gehabt
haben, ſie muß manche Freuden erlebt und manches
Gut verloren haben, ſie hat Schmerzen und Kummer
[254] ertragen; aber ſie hat alles Gott geopfert, und hat
geſucht, mit ſich in das Gleiche zu kommen, ſie iſt
mit den Menſchen gut geweſen, und jezt iſt ſie in tie¬
fem Glücke mit manchem unerfüllten Wunſche, und
mit mancher kleinern und größern Sorge, die ſie ſin¬
nen macht. Als ich einen Mann ſagen gehört hatte,
daß die Fürſtin, in deren Abendgeſellſchaften ich zu¬
weilen ſein durfte, ſo ſchöne Töne in dem Angeſichte
habe, daß ſie nur Rembrand zu malen im Stande
wäre, wurde ich nicht blos auf die Fürſtin noch
mehr aufmerkſam, die in ihrem hohen Alter noch ſo
ſchön war, ſondern ich betrachtete auch Mathilden
wieder genauer, und lernte die Schönheit, wenn
ſchon manche Jahre über ſie gegangen ſind, beſſer
kennen. Ich fing nun an, Männer und Frauen, die
in höherem Alter ſind, zu betrachten, und ſie um die
Bedeutung ihrer Züge zu erforſchen. Dabei fielen mir
die Greiſenköpfe auf den Steinen meines Vaters ein.
Ich betrachtete die Steine öfter, da mir der Zugang
zu denſelben erlaubt war, und verglich die Köpfe, die
ſich auf ihnen befanden, mit denjenigen, die mir in
dem jezt lebenden Geſchlechte aufſtießen. Beide Arten
waren wirklich nicht mit einander vergleichbar, und
es zeigten ſich in ihnen die Verſchiedenheiten menſch¬
[255] licher Geſchlechter. Das Antliz der Fürſtin erſchien
mir nun um vieles ſchöner als in der früheren Zeit,
daß ich aber nicht auf den Wunſch gerieth, es ma¬
len zu wollen, alſo noch weniger dem Wunſche
einen Ausdruck gab, begreift ſich. In den Angeſich¬
tern der Manchen, welche ich jezt eifriger betrachtete,
fand ich freilich oft etwas, das mir nicht gefiel, ſei
es Neid ſei es irgend eine Begierlichkeit ſei es bloße
Abgelebtheit oder Geiſtloſigkeit, ſei es etwas ande¬
res, ich ſtellte bei ſolchen Gelegenheiten meine Be¬
trachtung bald ein, und hegte nicht den Wunſch, das
Geſehene zu malen. Seit ich Guſtav beſſer kennen
gelernt hatte, und näher mit ihm befreundet worden
war, betrachtete ich auch gerne Köpfe von Jünglin¬
gen, ob ſie nicht Gegenſtände zum Malen abgäben.
Wenn gleich ſein Angeſicht ebenfalls nicht jenen ſchö¬
nen und einfachen Angeſichtern auf den Steinen mei¬
nes Vaters glich, die beſonders edel und merkwür¬
dig aus den Helmen heraus ſahen, ſo war es ihnen
doch näher als alle andern, welche ich jezt zu er¬
blicken Gelegenheit hatte, und war überhaupt ſo
ſchön wie es ſelten einen Kopf eines Knaben geben
wird, der eben in das Jünglingsalter übertritt. Wenn
der Ausdruck der Mienen der Jünglinge unſerer Stadt
[256] ſehr oft darauf hinwies, daß ihr Geiſt verzogen wor¬
den ſein mag, wenn ſie etwas Weichliches oder etwas
zu ſehr Herausforderndes oder etwas hatten, das
ſchon über ihre Jahre hinausging, ohne doch Kraft
zu zeigen: ſo war Guſtavs Antliz ſo kräftig, daß es
vor Geſundheit zu ſchwellen ſchien, es war ſo ein¬
fach, daß es gleichſam keinen Wunſch keine Sorge
kein Leiden keine Bewegung ausſprach, und doch war
es wieder ſo weich und gütig, daß man, wenn der
feurige Blick nicht geweſen wäre, in das Angeſicht
eines Mädchens zu blicken geglaubt haben würde.
Ich zeichnete und malte meine Köpfe jezt anders
als noch kurz vorher. Wenn ich früher, vorzüglich bei
Beginne dieſer meiner Beſchäftigung, nur auf Rich¬
tigkeit der äußeren Linien ſah, ſo weit ich dieſelbe
darzuſtellen vermochte, und wenn ich nur die Farben
annäherungsweiſe zu erringen im Stande war, ſo
glaubte ich, mein Ziel erreicht zu haben: jezt ſah ich
aber aus den Ausdruck, gleichſam, wenn ich das Wort
gebrauchen darf, auf die Seele, welche durch die Li¬
nien und die Farben dargeſtellt wird. Seit ich die
Marmorgeſtalt in dem Hauſe meines Gaſtfreundes
ſo lieben gelernt hatte, und in die Bilder mich ver¬
tiefte, welche ich in dem Roſenhauſe getroffen hatte,
[257] und in dem Hauſe meines Vaters vorfand, war alles
anders als früher, ich ſuchte und haſchte nach irgend
einem Innern, nach irgend etwas, das weit außer
dem Bereiche von Linien und Farben lag, das größer
war als dieſe Dinge, und doch durch ſie darzuſtellen
ſein mußte. Einen Kopf ſo zu zeichnen oder gar zu
malen, wie ich jezt wollte, war viel ſchwerer, als wie
ich früher anſtrebte, es war ohne einen Vergleich zu¬
zulaſſen, ſchwerer; aber es war nicht zu umgehen,
wenn man überhaupt die Sache machen wollte, es
war dichten, wenn ein Dichtungswerk geliefert ſein
ſollte. Ich ſtellte meine Aufgabe kleiner, ich ſuchte die
Züge auf einem beſcheidenen Raume zu entwerfen,
und begnügte mich mit den Andeutungen in Zeich¬
nung und Farben, wenn nur ein Inneres zu ſprechen
begann, ohne daß ich darauf beharrte, daß aus dem
Begonnenen ein ausgeführtes Bild werden ſollte,
was nicht ſelten, wenn ich es verſuchte, das Innere
wieder vertilgte, und das Gemälde ſeelenlos machte.
Mein Vater wurde der Richter, und war jezt ein ſtren¬
ger, während er früher alles einfach hatte gelten laſ¬
ſen, was ich unternahm. Er pflegte zu ſagen, das,
was ich jezt vor Augen habe, ſei das Künſtleriſche,
mein Früheres ſei ein Vergnügen geweſen. Ich nahm
Stifter, Nachſommer. II. 17[258] häufig, wenn ich nicht in das Reine kommen konnte,
zu den Bildern meine Zuflucht, und ſuchte zu ergrün¬
den, wie es dieſer und jener gemacht habe, um zu
dem Ausdrucke zu gelangen, den er darſtellte. Mein
Vater ſagte, das ſei der geſchichtliche Weg der Kunſt,
man könne ihn verfolgen, wenn man große Bilder¬
ſammlungen beſuche, und wenn die Werke ohne große
Lücken da ſind, um ſie vergleichen zu können. Das
ſei auch außer der genaueſten Betrachtung der Natur
und der Liebe zu ihr der Weg, auf dem die Kunſt
wachſe, und auf dem ſie bei den verſchiedenen An¬
fängen, die ſie in verſchiedenen Zeiten und Räumen
gehabt habe, gewachſen iſt, bis ſie wieder verſank
oder zerſtört wurde, um wieder zu beginnen, und zu
verſuchen, ob ſie ſteigen könne. Wo der bare Hochmuth
auftritt, der alles Geweſene verwirft, und aus ſich
ſchaffen will, dort iſt es mit der Kunſt wie auch mit
andern Dingen in dieſer Welt aus, und man wirft
ſich in das bloße Leere.
Außer dem Zeichnungsunterrichte ſezte ich mit der
Schweſter auch die Übungen in der ſpaniſchen Sprache
und im Zitherſpiele fort. Sie war ohnehin von
Kindheit an geneigt geweſen, alles, was ich that,
ein wenig nachzuahmen, und ich hatte immer die Luſt
[259] gehabt, ihr Führer zu werden. Dies blieb jezt zum
Theile auch ſo fort.
Der Unterricht, welchen mir mein Freund der
Sohn des Juwelenhändlers in der Edelſteinkunde
gegeben hatte, wurde wieder aufgenommen und fort¬
geſezt. Da wir auch außerdem in manchen Stunden
einen freundlichen Umgang mit einander pflegten, ſo
nahm ich mir eines Tages, obwohl es mir ſtets ſchwer
wird, jemanden über ſeinen ihm eigenthümlichen Be¬
ruf etwas zu ſagen, doch den Muth, ihn meine Ge¬
danken über die Faſſung der Edelſteine wiſſen zu laſ¬
ſen, wie ich nehmlich glaube, daß es nicht richtig ſei,
wenn die Edelſteine von der Faſſung erdrückt würden;
daß ich es aber auch für nicht richtig halte, wenn ſie
keine andere Faſſung hätten, als die ſie brauchten, um
an dem Kleidungsſtücke mit dem Halt, den ſie benö¬
thigen, befeſtigt werden zu können; und daß daher
der Mittelweg ſich darbiethe, daß die Schönheit des
Steines durch die Schönheit der Geſtaltgebung ver¬
größert werde, wodurch es ſich möglich mache, daß der
an ſich ſo koſtbare Stoff das Koſtbarſte würde, nehm¬
lich ein Kunſtwerk. Ich wies hiebei auf die Geſtal¬
tungen hin, welche die Kunſt des Mittelalters hege,
17 *[260] und aus denen geſchöpft und weiter fortgeſchritten
werden könne.
„Du haſt im Grunde vollkommen Recht,“ erwie¬
derte mein Freund, „wir fühlen das alle mehr oder
minder klar, außer denen, welchen alles gleichgültig
und unweſentlich iſt, was nicht unmittelbar zum Er¬
werbe führt; darum ſind auch allerlei Verſuche ge¬
macht worden, und werden noch gemacht, die Faſſung
zu vergeiſtigen. Sie gelingen in ſo ferne mehr oder
weniger, je nachdem es größere oder kleinere Künſtler
ſind, welche die Entwürfe machen. Hierin liegt aber
eine mehrfache Schwierigkeit. Zuerſt ſind die, welche
in Juwelen und Perlen arbeiten, ſehr ſelten Künſt¬
ler, ſie können es nicht leicht werden, weil die Vorbe¬
reitung dazu zu viel Zeit und Kräfte in Anſpruch
nehmen würde; werden ſie es aber, ſo bleiben ſie
gleich Künſtler, verfertigen Kunſtwerke, und arbeiten
nicht in Edelſteinen, was ihrem Geiſte und ihrem
Einkommen abträglich wäre. Müſſen nun Künſtler
um Entwürfe angegangen werden, ſo biethet ſich
zweitens der Übelſtand, daß der Künſtler die Juwe¬
len zu wenig kennt, und die Faſſung daher zu we¬
nig auf ihre Natur berechnen kann, wozu ſich noch
geſellt, daß die großen Künſtler ſchwer zugänglich
[261] ſind, Entwürfe für Edelſteinfaſſungen auszuarbeiten,
es müßte denn dies eine beſondere Liebhaberei ſein;
und wenn ſie es thun, ſo kömmt die Faſſung ſehr
theuer. Deßhalb muß man zu geringeren Künſtlern
ſeine Zuflucht nehmen, welche dann auch wieder ge¬
ringere Entwürfe liefern. Wir haben die Sache in
unſerer Handelsſtube ganz im Klaren. Wir verſu¬
chen auch von Zeit zu Zeit ein wirkliches Kunſtwerk
in Perlen und edlen Steinen darzuſtellen, und war¬
ten, ob ein Kenner komme, und es übernehme; denn
der Leute, welche Edelſteine brauchen, ſind viel mehr,
als welche Kunſtdinge ſuchen. Solche Werke in gro¬
ßer Zahl ausführen zu laſſen hindert uns der Man¬
gel an zahlreichen trefflichen Entwürfen und der
Mangel an Käufern, da der Juwelenverkauf doch
endlich unſer Erwerb iſt. Da unſere gewöhnlichen
Kunden aber doch ſo viel Geſchmack haben, daß ſie
eine unedle Faſſung beleidigen würde, ſo wählen wir
den natürlichſten Weg, die Faſſung im Stoffe edel
und in der Geſtalt auf das Einfachſte zu machen,
ſo daß die Schönheit der Steine oder der Perlen
allein es iſt, was herrſcht, und der Anker, an dem es
haftet, ſich verbirgt. Was deinen Gedanken von mit¬
telalterlichen Geſtaltungen anbelangt, ſo iſt er nicht
[262] neu; man hat ſchon ſolche verſucht, und der Freiherr
von Riſach hat bei uns nach beigebrachten Zeichnun¬
gen Dinge ähnlicher Art verfertigen laſſen.“
Mir leuchtete die Sache ſehr ein, und ich konnte
ſie nicht weiter belegen. Ich betrachtete von nun an
mit noch größerer Sorgfalt und Genauigkeit die Ar¬
beiten, welche mein Freund in den verſchiedenen
Werkſtätten der Stadt machen ließ. Sie waren mei¬
ſtens ſehr ſchön, ja ich glaube, ſchöner, als man ſie
irgendwo zu ſehen gewohnt iſt. Deßungeachtet mußte
ich behaupten, daß, wenn nur überhaupt ein edlerer
und höherer Sinn für Kunſt vorhanden wäre, dieje¬
nigen Leute, welche große Summen für Schmuck
ausgeben, dieſelben Summen oder vielleicht noch
größere dahin verwenden würden, daß ſie gleich wirk¬
liche Kunſtwerke in Juwelen beſtellten. Dagegen er¬
wiederte mein Freund, daß, wie hoch der Kunſtſinn
auch ſtehe und wie weit er ſich verbreite, doch die
Zahl derer immer größer bleiben würde, welche
blos Schmuck als Schmuckſachen kaufe, als derer,
welche Kunſtwerke in Kleinodien entwerfen und aus¬
führen laſſen, was er allerdings als die höchſte Spize
ſeines Berufes anſehen würde. Dazu komme noch,
daß mancher, der Kunſtſinn habe, von der Schönheit
[263] der Steine ſich gefangen nehmen laſſe, und zulezt
nichts begehre als dieſe einzige Schönheit. In dem
lezten Grunde hatte mein Freund ganz beſonders
Recht; denn je mehr ich ſelber die Steine betrachtete, je
mehr ich mit ihnen umging, eine deſto größere Macht
übten ſie auf mich, daß ich begrif, daß es Menſchen
gibt, welche blos eine Edelſteinſammlung ohne Faſ¬
ſung anlegen, und ſich daran ergözen. Es liegt etwas
Zauberhaftes in dem feinen ſammtartigen Glanze der
Farbe der Edelſteine. Ich zog die farbigen vor, und
ſo ſehr die Diamanten funkelten, ſo ergrif mich doch
mehr das einfache reiche tiefe Glühen der farbigen.
Meinen Beruf, den ich im Sommer bei Seite ge¬
ſezt hatte, nahm ich wieder auf. Ich machte mir
gleichſam Vorwürfe, daß ich ihn ſo verlaſſen und
mich einem planloſen Leben hatte hingeben können.
Ich that das, wozu der Winter gewöhnlich auser¬
ſehen war, und ſezte die Arbeiten der vorigen Zeiten
fort. Das Regelmäßige der Beſchäftigung übte bald
ſeine ſanfte Wirkung auf mich; denn was ich troz der
freudigen Stimmung, in welcher ich aus meinen Er¬
ringungen in der Kunſt und in der Wiſſenſchaft war,
doch Schmerzliches in mir hatte, das wich zurück,
und mußte erblaſſen vor der feſten ernſten ſtrengen
[264] Beſchäftigung, die der Tag foderte, und die ihn in
ſeine Zeiten zerlegte.
Ich beſuchte auch, wie im vergangenen Winter,
meine Kreiſe, dann Muſik- und Kunſtanſtalten.
Daß das alles vereinigt werden konnte, mußte
eine genaue Zeiteintheilung gemacht werden, und
ich mußte die Zeit richtig verwenden. Dazu war ich
wohl von Kindheit an gewöhnt worden, ich ſtand
ſehr früh auf, und hatte Manches für den Tag
ſchon an der Lampe fertig gemacht, wenn die allge¬
meine Frühſtunde in unſerm Hauſe heran rückte, und
man ſich zu dem Frühmahle verſammelte. Dazu
brauchte ich nicht viel Schlaf, und konnte manche
Stunde von der beginnenden Nacht nehmen. Die
Thätigkeit ſtärkte, und wenn ein Schwung und eine
Erhebung in meinem Weſen war, ſo wurde der
Schwung und die Erhebung durch die Thätigkeit noch
klarer und feſter.
Einer meiner erſten Gänge war nach meiner Zu¬
rückkunft zu der Fürſtin, um mich ihr vorzuſtellen.
Sie war ſelber erſt vor wenigen Tagen von ihrem
Lieblingslandſize in die Stadt zurückgekehrt, und noch
nicht recht heimiſch. Sie empfing mich ſehr freundlich
wie immer, und fragte mich um meine Beſchäftigun¬
[265] gen während des Sommers. Ich konnte ihr nicht viel
ſagen, und erzählte ihr außer den Meſſungen, die
ich am Lauterſee vorgenommen hatte, von meinen
Kunſtbeſtrebungen meiner Kunſtneigung und meiner
Liebe zu den Dichtungen. Von den beſonderen Ver¬
hältniſſen zu meinem Gaſtfreunde erwähnte ich nur
das Allgemeine, weil ich es für anmaßend gehalten
hätte, einer alten würdigen Frau, deren Beziehungen
ausgebreitet und inhaltsreich waren, unaufgefodert
Einzelheiten von meinem Leben mitzutheilen. Sie
ging auch nicht näher darauf ein, dafür verweilte ſie
deſto eifriger bei der Kunſt und bei den Dichtern.
Sie fragte mich, was ich geleſen hätte, wie ich es
aufgefaßt hätte, und was ich darüber dächte. Sie
zeigte ſich hiebei mit allen den Werken bekannt, welche
ich ihr nannte, nur hatte ſie das Griechiſche, von dem
ich ihr erzählte, blos in der Überſezung geleſen. Sie
ging im Allgemeinen auf die Gegenſtände ein, und
verweilte bei manchem Einzelnen ganz beſonders.
Unſere Anſichten trafen oft zuſammen, oft gingen
ſie auch auseinander, und ſie ſuchte ihre Meinung
zu begründen, was mir zum mindeſten immer manche
neue Geſichtspunkte gab. In Bezug auf die Kunſt
verlangte ſie, daß ich ihr einige Zeichnungen und
[266] Malereien zeigen möchte, deren Wahl ich ſelber vor¬
nehmen könne, wenn ich ſchon nicht alle vor ihre
Augen bringen wollte. Ich ſagte, daß alle wohl zu
viel wären, namentlich, da ich in erſter Zeit ſo viele
blos naturwiſſenſchaftliche Zeichnungen gemacht habe,
und daß ich ſelber die Gränze nicht angeben könne,
wo die naturwiſſenſchaftlichen Zeichnungen in die
künſtleriſch angelegten übergingen. Ich würde aus
allen Zeitabſchnitten etwas auswählen, und es ihr
bringen. Es wurde ein Tag beſtimmt, an welchem
ich zur Mittagszeit zu ihr kommen ſollte.
Ich kam an dem Tage, es war niemand als die
Vorleſerin zugegen, und es wurde der Befehl gegeben,
niemanden vorzulaſſen; denn ihr allein hätte ich ja
die Zeichnungen gebracht, nicht jedem fremden Auge,
das dazu käme. Sie ſah alle Blätter an, und billigte
alle, beſonders erregten naturwiſſenſchaftliche Pflan¬
zenzeichnungen ihre Aufmerkſamkeit, weil ſie ſich viel
mit Pflanzenkunde beſchäftigt hatte, noch jezt Antheil
an dieſer Wiſſenſchaft nahm, und ſie beſonders bei
ihren Landaufenthalten pflegte. Sie freute ſich an der
Genauigkeit der Abbildungen, und ſagte mir ganz
richtig, welche den Urbildern am meiſten entſprächen.
Nach dieſen Pflanzenzeichnungen ſagten ihr am mei¬
[267] ſten die der Köpfe zu. An den landſchaftlichen Verſu¬
chen mochte ihr die Einſeitigkeit aufgefallen ſein, da
ſie gewiß eine Kennerin landſchaftlicher Bildungen
war, weil ſie ſehr gerne im Sommer einige Wochen
an irgend einer der ſchönſten Stellen unſeres Landes
verweilte. Sie äußerte ſich aber in dieſer Richtung
nicht. Von den Köpfen ſagte ſie, daß man auf dieſe
Weiſe eine ganze Sammlung merkwürdiger Menſchen
anlegen könnte. Ich erwiederte, darauf ſei ich nicht
ausgegangen, ich könnte auch nicht ſo leicht beurthei¬
len, wer ein merkwürdiger Menſch ſei. Es habe mir
nur, da ich lange Zeit Gegenſtände der Natur gezeich¬
net hatte, eingeleuchtet, daß das menſchliche Antliz
der würdigſte Gegenſtand für Zeichnungen ſei, und
da habe ich die Verſuche begonnen, es in ſolchen aus¬
zudrücken. Ich habe Anfangs dabei unwiſſend faſt
immer die Richtung von Naturzeichnungen verfolgt,
bis ſich mir etwas Höheres zeigte, deſſen Darſtellung
darüber hinausgeht, das uns erſt die Züge und Mie¬
nen recht menſchlich macht, und deſſen Vergegenwär¬
tigung ich nun anſtrebe, in Ungewißheit, ob es ge¬
lingen werde oder nicht.
Sie fragte auch nach denjenigen von meinen wiſſen¬
ſchaftlichen Beſtrebungen, die ich im Zuſammenhange
[268] aufgeſchrieben habe, und ließ den Wunſch blicken,
etwas Zuſammengehöriges zu erfahren. Die Ge¬
ſchichte, wie unſere Erde entſtanden ſei, und wie ſie
ſich bis auf die heutigen Tage entwickelt habe, müßte
den größten Antheil erwecken. Ich entgegnete, daß
wir nicht ſo weit ſeien, und daß ich am wenigſten zu
denen gehöre, welche einen ergiebigen Stoff zu neuen
Schlüſſen geliefert haben, ſo ſehr ich mich auch be¬
ſtrebe, für mich, und wenn es angeht, auch für andere
ſo viel zu fördern, als mir nur immer möglich iſt.
Wenn ſie davon und auch von dem, was andere gethan
haben, Mittheilungen zu empfangen wünſche, ohne ſich
eben in die vorhandenen wiſſenſchaftlichen Werke ver¬
tiefen und den Gegenſtand als eigenen Zweck vor¬
nehmen zu wollen, ſo werde ſich wohl Zeit und Ge¬
legenheit finden. Sie zeigte ſich zufrieden, und entließ
mich mit jener Güte und Anmuth, die ihr ſo eigen
war.
Seit dieſer Zeit verwandelte ſich mein Verhältniß
zu ihr in ein anderes. Da ich nun einmal unter Tags
in ihrer Wohnung geweſen war, geſchah dies öfter,
entweder, wenn wir Werke oder Abbildungen anzu¬
ſchauen hatten, wozu das Licht der abendlichen Lam¬
pen nicht ausreichend geweſen wäre, oder wenn ſie
[269] mich zu Geſprächen einladen ließ, die dann gewöhn¬
lich zwiſchen ihr ihrer Geſellſchafterin und mir vor¬
fielen — ſelten geſchah es, daß einer ihrer Söhne ge¬
legentlich anweſend war oder eine Enkelin oder jemand
von ihren näheren Anverwandten — und bei denen
meiſtens die Geſchichte der Erde oder etwas in die
Naturlehre Einſchlägiges der Gegenſtand war. Öfter
machte ich auch ſelber einen kurzen Beſuch, um mich
um den Zuſtand ihrer Geſundheit zu erkundigen.
Auch die Abende kamen in Bezug auf mich in eine
andere Geſtalt. Da wir einmal von Dichtungen ge¬
redet hatten, mit denen ich mich in der lezten Zeit be¬
ſchäftigte, und da gerade dieſe Dichtungen aus einer
vergangenen Zeit ſtammten, die nichts mit den Ta¬
geserzeugniſſen gemein hatte, da die Fürſtin ſich
in ihren jezigen Jahren mit dieſen Dingen nicht be¬
ſchäftigte, und die Zeit ſchon ziemlich weit hinter
ihr lag, in der ſie Kenntniß von ſolchen Werken ge¬
nommen hatte: ſo wurde beſchloſſen, wieder das
eine oder das andere vorzunehmen, und es gemein¬
ſchaftlich zu genießen. Das geſchah an Abenden,
und ich mußte oft die Pflicht des Vorleſers überneh¬
men, beſonders wenn die Geſellſchaft nicht zahlreich
war, was ſich gerne an Abenden ereignete, in denen
[270] Dichtungen vorgenommen wurden. In dieſe Pflicht
gerieth ich bei Gelegenheit der Vornahme einiger
ſpaniſchen Romanzen. Die Fürſtin die Geſellſchaf¬
terin ich und noch ein Mann, welcher zugegen war,
verſtanden ſchlecht ſpaniſch; doch war beſchloſſen
worden, die Romanzen in ſpaniſcher Sprache zu
leſen. Das Vorleſen wurde mir aufgetragen, und
wie ſchlecht oder gut es ging, wir verſtanden doch
mit eingemiſchten Erklärungen und mit gelegentli¬
chen Geſprächen in unſerer Mutterſprache zulezt die
Romanzen. Nach dieſem Vorgange mußte ich nun
auch öfter in deutſcher Sprache vorleſen, und es ge¬
ſchah nicht ſelten, daß ich um meine Meinung über
Theile des Geleſenen befragt wurde, und daß man
eine Erklärung verlangte. Dies wurde um ſo mehr
der Fall, als wir uns auch über Abtheilungen aus
Cervantes und Calderon wagten. In andern Spra¬
chen beſonders im Italieniſchen des Dante und Taſſo
las ſehr gerne die Geſellſchafterin der Fürſtin. Das
Alte aus dem Griechiſchen — es wurde nur die
Ilias und Odyſſeus dann einiges aus Äſchylos vor¬
genommen — mußte ich ganz allein in deutſcher Über¬
ſezung vorleſen Es wurde da auch ſehr viel über das
uralte geſellſchaftliche Leben der Griechen über ihre
[271] häuslichen Einrichtungen über ihren Staat ihre Kunſt
und über die Geſtalt und Beſchaffenheit ihres Landes
und ihrer Meere geſprochen. Ich wurde zu dieſen
Beſchäftigungen in dieſem Winter weit öfter zu der
Fürſtin eingeladen, als es früher der Fall geweſen
war. Der Frühling und die Zeit, in welcher man
wieder den Landaufenthalt zu ſuchen pflegt, kam uns
zu früh, wir verabredeten noch, was wir in dem
nächſten Winter vorzunehmen gedächten, und die Für¬
ſtin beurlaubte mich mit vieler und ſehr gewinnender
Freundlichkeit.
Die Beſchäftigungen im Kreiſe unſerer Familie
beſtanden jezt in ſehr häufigen Geſprächen zwiſchen
dem Vater und mir über die Kunſt und über Bü¬
cher. Er erzählte mir, wie er dazu gekommen wäre,
Bilder lieb zu gewinnen, und ſich Bilder zu ſammeln.
Er kam hiebei auf ſeine Jugend, und da er in einer
freudigeren und erregteren Stimmung war, als
ſonſt, ſo erzählte er mir ausführlich, wie er dieſelbe
verlebt habe. Er ſtellte mir dar, wie er ſich die Mit¬
tel, um etwas lernen zu können, ſelber habe verſchaf¬
fen müſſen, und wie ihm ſein älterer Bruder, der ein
ſehr begabter Menſch geweſen wäre, hierin zwar ein
wenig aber in der That ſehr wenig habe beiſtehen
[272] können, weil er ſich ſelbſt alles habe herbei ſchaffen
müſſen, und nur um wenige Jahre älter geweſen ſei.
Nach Anweiſung vernünftiger Menſchen habe er zu
leſen begonnen, und manchen freien Tag in ſeiner
Lehrzeit habe er in ſeiner Kammer bei den Büchern
zugebracht. Er habe, da er frei wurde, und theils
in unſerer Stadt theils in den erſten Handelspläzen
Europas Dienſte that, die Bekanntſchaft von Künſt¬
lern gemacht, habe ſie in ihren Arbeitsſtuben beſucht,
habe über die Art zu malen ſich Kenntniſſe geſammelt,
und ſei mit dieſen Kenntniſſen in die berühmteſten
Bilderſammlungen der größten Städte gegangen.
Hiebei ſei es ihm widerfahren, daß er zweimal im
Lernen habe von vorne anfangen müſſen. So ſei es
ihm in Rom, wohin er ſich von Trieſt aus bege¬
ben hatte, um dort ein halbes Jahr für ſich ſelber
zu leben, klar geworden, daß er gar nichts wiſſe. Er
habe wieder unverdroſſen angefangen, und von Rom
ſchreibe ſich ſeine Liebe für alte Bilder her. Sein
Bruder habe den Weg durch die Staatsſchulen ge¬
macht, und da er ihn ſehr liebte, habe er von ihm
auch die Liebe zu den alten Sprachen angenommen.
In ſeinen Dienſten habe er mehr freie Zeit gehabt,
als da er noch lernte, und dieſe Zeit habe er zu ſeinen
[273] Lieblingsneigungen angewendet. Mit einem alten
Abte, der die Verwaltung ſeines Kloſters abgegeben
hatte und ſeine würdevolle Muße, wie er ſich aus¬
drückte, im Winter in unſerer Stadt genoß, habe er
alte Dichter und Geſchichtſchreiber geleſen. Der Abt ſei
ein großer Freund der alten Schriften geweſen, habe
bei ihm Neigung zu dieſen Dingen entdeckt, und ſei
ihm mit ſeinen Kenntniſſen beigeſtanden. Er habe ſehr
oft im Zimmer des Abtes laut aus den ſogenannten
Claſſikern leſen müſſen. Die Bekanntſchaft deſſelben
habe er bei ſeinem Dienſtherrn in unſerer Stadt ge¬
macht, in deſſen Hauſe dem Abte, der einſt Lehrer
dieſes Dienſtherrn geweſen ſei, jährlich ein oder zwei
Male ein Feſt gegeben wurde. Der Dienſtherr, der
lezte, bei dem ſich mein Vater befunden, ſei ein Ehren¬
mann geweſen, der ſeinen Leuten nicht nur Gelegen¬
heit verſchafft habe, etwas lernen zu können, indem
er ſie zu den vorkommenden Reiſen benüzte, auf denen
ſie Geſchäftsfreunde Handelsverbindungen Verkehrs¬
wege und dergleichen kennen lernten, ſondern der
ihnen auch Zeit gönnte, ſelber, wenn ſie nicht die
Mittel zu großen Geſchäftsanlagen beſaßen, mit klei¬
nen Anfängen zu größeren Unternehmungen und zu
endlicher Selbſtſtändigkeit ſchreiten zu können. So
Stifter, Nachſommer. II. 18[274] habe auch der Vater mit kleinen Erſparniſſen begon¬
nen, habe ſich ausgedehnt, und ſei endlich, da die
Anfänge unter den Flügeln ſeines Herrn geſchehen
ſeien, mit deſſen Unterſtüzung ein ſelbſtſtändiger Kauf¬
mann geworden. Was er zu Vergnügungen hätte
verwenden können, habe er bei Seite gelegt, und
habe ſich entweder ein Buch oder ein Kunſtwerk ge¬
kauft, oder habe eine Reiſe zu ſeiner Belehrung
gemacht. Da ſich ſeine Verbindungen mehrten, und
ſtets ergiebiger zu werden verſprachen, habe er meine
Mutter kennen gelernt, und ihre Hand gewonnen.
Sie habe eine nicht unbeträchtliche Mitgift in das
Haus gebracht, und ſo ſei gemeinſchaftlich der Grund
gelegt worden, daß wir Kinder nun nicht nur frei
und unabhängig bei unſern Eltern in ihrem eigenen
Hauſe leben können, ſondern auch für die Zukunft
einen Nothpfennig zu erwarten hätten, und daß er
ſelber ſich mit Manchem habe umringen können, was
ihm die ſanfte Neigung ſeines Herzens gebothen habe,
und was ihm als Erheiterung und nach der Liebe ſei¬
ner Gattin und der Wohlgerathenheit ſeiner Kinder
auch als Lohn ſeines Alters dienen werde. Der betagte
Abt habe ihn als ſeinen lezten Schüler noch getraut,
und ſei bald darauf geſtorben. Mit der jungen Frau
[275] habe er dreimal ſeine alten Eltern, welche ferne in
einem waldigen Lande von einer wenig ergiebigen
Feldwirthſchaft lebten, beſucht, ſie ſeien dann kurz
darauf eins nach dem andern geſtorben. Sein edler
Dienſtherr habe uns noch aus der Taufe gehoben,
ſei dann von den Geſchäften zurück getreten, habe
bei ſeinem einzigen Kinde einer Tochter die an einen
angeſehenen Güterbeſizer verheirathet war, gelebt,
und ſei bei ihr auch endlich geſtorben. So haben
ſich alle Verhältniſſe geändert. Das heimatliche
Waldhaus mit der geringen Feldwirthſchaft habe
er und ſein Bruder einer Schweſter geſchenkt, dieſe
ſei ohne Kinder geſtorben, und da weder er noch der
Bruder das Haus bewirthſchaften konnten, ſo haben
ſie eingewilligt, daß es an einen entfernten Verwand¬
ten falle. Der Bruder ſei während unſerer Unmün¬
digkeit geſtorben, eben ſo die Großeltern von müt¬
terlicher Seite, und endlich ein Großoheim von
eben dieſer Seite, der uns Kinder zu Erben ein¬
geſezt, und da die Mutter keine Geſchwiſter gehabt
habe, ſo ſeien wir nun allein, und ſo ſei keine Ver¬
wandtſchaft weder von väterlicher noch von mütterli¬
cher Seite übrig. Er habe die Liebe, welche ihm durch
den Tod ſeiner Angehörigen, denen er, beſonders dem
18 *[276] Bruder, eine treue Erinnerung weihe, anheimgefallen
ſei, an die Mutter und uns übertragen, ſein Haus
ſei nun ſein Alles, und wir zwei, die Schweſter und
ich, ſollten verbunden bleiben, und ſollten in Nei¬
gung nicht von einander laſſen, beſonders wenn auch
wir allein ſein, und er und die Mutter im Kirchhofe
ſchlummern würden.
Dieſe Ermahnung zur Liebe war nicht nöthig;
denn daß wir, die Schweſter und ich, uns mehr lieben
könnten, als wir thaten, ſchien uns nicht möglich,
nur die Eltern liebten wir beide noch mehr, und wenn
eine Anſpielung darauf gemacht wurde, daß ſie uns
einſt verlaſſen ſollten, ſo betrübte uns das außeror¬
dentlich, und wohin wir die Liebe, die uns dann
zurückfallen ſollte, wenden würden, wußten wir ſehr
wohl, wir würden ſie an gar nichts wenden, ſie würde
von ſelber über die Grabhügel hinaus gegen die ver¬
ſtorbenen Eltern bis an unſer Lebensende fortdauern.
Die andern Vorkommniſſe, die zwar auch in un¬
ſerer Familie aber nicht in ihr allein ſondern zu¬
gleich in Geſellſchaft von geladenen Menſchen vorfie¬
len, waren mir nicht ſo angenehm als in frühe¬
ren Zeiten, ja ſie waren mir eher widerwärtig und
dünkten mir Zeitverluſt. Sie beſtanden beinahe
[277] gleichmäßig wie in früheren Jahren aus abendlichen
Kreiſen, in denen geſprochen wurde, oder aus Ge¬
ſellſchaften, in denen etwas Muſik oder gar Tanz
vorkam. An dem lezteren nahm ich gar keinen Theil,
und die Schweſter, welche, wie ich ſchon ſeit län¬
ger wahrnahm, ſchier alle meine Neigungen theilte,
that es ſehr wenig, und flüchtete an ſolchen Abenden
ſehr gerne zu mir. Ich hatte die Leute, darunter aber
vorzüglich die jungen, welche bei ſolchen Gelegen¬
heiten zu uns kamen, ſchon genau kennen gelernt,
und wenn ich in früherer Zeit eine Scheu, ja ſogar
eine gewiſſe Gattung von Ehrfurcht vor ihnen gehabt
hatte, ſo war dies jezt nicht mehr der Fall; ich hatte
durch Nachdenken und durch Erfahrungen im Um¬
gange mit andern Menſchen einſehen gelernt, daß
das, wovor ich beſonders eine Scheu hatte, nehmlich
ihre Sicherheit und Vornehmheit, nur ein Ding iſt,
welches man lernt, wenn man ſehr viel in ſolchen Ge¬
ſellſchaften iſt, wie ſie bei uns waren, und wenn man
in dieſen Geſellſchaften viel ſpricht, und in den Vor¬
dergrund tritt. Und daß dieſes Ding nicht ſchwer zu
erlernen iſt, ſah ich daraus, daß es ſolche inne hatten,
deren Geiſteskräfte hoch zu achten ich nicht veranlaßt
war. Meine Erfahrungen an Menſchen hatte ich
[278] aber nicht blos in hohen Ständen gemacht, ſondern
auch in niedern, und in dieſen zwar nicht in der Stadt,
ſondern bei Gebirgsbewohnern und Landbebauern.
In hohen Ständen ſah ich junge Leute, namentlich
bei der Fürſtin war das der Fall, welche jenes Be¬
nehmen, das mir ſonſt ſo hoch über mir ſchien, nicht
hatten, ſondern ſich einfach und wenig vortretend ga¬
ben, höflich und nicht linkiſch waren, und an das
Wort, das ich öfter in meiner Jugend gehört aber
falſch verſtanden hatte, „ein junger Mann von guter
Erziehung“ erinnerten. In den untern Ständen habe
ich manchen Mann kennen gelernt, der, wenn er vor
ſolchen ſtand, die er für höher erachtete, als ſich ſelbſt,
nicht die Mühe übernahm, auch höher in ſeinem Be¬
nehmen ſein zu wollen, ſondern der ruhig ſo ſprach,
wie er die Sache verſtand, und ruhig die Rede an¬
hörte, die ihm ein Anderer erwiederte. Dieſer Mann
ſchien mir auch von höherer Erziehung als die, welche
viele Arten des Benehmens wiſſen und erſichtlich
machen. Ein gültiges Beiſpiel gab mein Gaſtfreund,
der noch einfacher war als jene Männer, von denen
ich ſagte, daß ich ſie bei der Fürſtin geſehen habe,
und deſſen Rede und Thun ſo klare Achtung erzeugten.
Selbſt ſein Anzug, der Anfangs auffiel, ſtimmte zu
[279] Allem. Auch Euſtach, Guſtav aber ganz gewiß, ſtan¬
den im entſchiedenen Vorzuge vor meinen Geſell¬
ſchaftsleuten. Weil ich nun dieſe Menſchen ſehr gut
kannte, und weil ſie mir keine hohe Rückſichtnahme
mehr einflößten, war es mir unerſprießlich, mit ihnen
zu ſein, und es erſchien mir, daß ich die Zeit beſſer
würde benüzen können. Aber auch die Erfahrungen
in dieſer Hinſicht mochte mein Vater für nüzlich ge¬
halten haben. Ich machte ſie nur an jungen Männern.
Über Mädchen konnte ich ein Urtheil gar nicht ſagen,
weil ich ſehr wenig mit ihnen ſprach, und weil mich
natürlich keine in meiner Zurückgezogenheit aufſuchen
konnte. Bei älteren Leuten, Männern wie Frauen,
kam mir oft jemand entgegen, dem ich Achtung
zollen mußte; aber auch zu alten Leuten wie zu Mäd¬
chen konnte ich mich nicht drängen. Unter denen, wel¬
chen ich mehr zugethan war, ſtand der Sohn des Ju¬
welenhändlers oben an, ich war ihm wirklich in der
eigentlichen Bedeutung ein Freund. Wir brachten
außer unſeren Kleinodienlehrſtunden manche Zeit mit
einander zu, wir beſprachen verſchiedene Dinge, und
laſen auch mitunter kleine Abſchnitte von Schriften
mit einander, die wir gemeinſchaftlich achteten. Seine
Eltern waren ſehr liebenswürdig und fein. Der junge
[280] Breporn war mir auch nicht unangenehm. Er ſprach
noch öfter von der ſchönen Tarona, und bedauerte
ſehr, daß ſie auf weite Reiſen gegangen, und da¬
her gar nicht in die Stadt gekommen ſei, weßwegen
er mir ſie nie habe zeigen können. An den eigent¬
lichen Vergnügungen, die junge Männer unter ſich
anſtellten, nahm ich nur ungemein ſelten Theil.
Daß ich aber auch überhaupt viel weniger mit Män¬
nern meines Alters umging, und nicht, wie es bei
vielen jungen Leuten in unſerer Stadt der Gebrauch
iſt, Tage mit ihnen zubrachte, und dies öfter wieder¬
holte, rührte daher, daß ich viele Beſchäftigungen
hatte, und daß mir daher zu wenig Zeit übrig blieb,
ſie auf Anderes zu verwenden. Am liebſten war es
mir, wenn ich mit meinen Angehörigen allein war.
Ich ging nach dem Winter ziemlich ſpät im Früh¬
linge auf das Land. So erfreulich der lezte Som¬
mer für mich geweſen war, ſo ſehr er mein Herz ge¬
hoben hatte, ſo war doch etwas Unliebes in dem
Grunde meines Innern zurück geblieben, was nichts
anders ſchien als das Bewußtſein, daß ich in meinem
Berufe nicht weiter gearbeitet habe, und einer plan¬
loſen Beſchäftigung anheim gegeben geweſen ſei. Ich
wollte das nun einbringen, und den größten Theil
[281] des Sommers einer feſten und angeſtrengten Thätig¬
keit weihen. Ich nahm alle Geräthe und Werke mit,
welche ich zur Fortſezung meiner Arbeiten brauchte.
Freie Stunden, die nach genauer Zeiteintheilung
übrig blieben, wollte ich dann meinen Lieblingsdingen
widmen.
Ich kam in das Ahornwirthshaus, und beſtellte
mir dahin auch die Leute, die ich verwenden wollte,
wenn ſie ſich nehmlich bereit erklärten, mir in ent¬
ferntere Theile der Gebirge zu folgen, wohin mich
heuer meine Arbeiten führen würden. Der alte Kaspar
wollte mit gehen, zwei andere auch, und ſo hatte ich
genug. Ich erkundigte mich nach meinem Zitherſpiel¬
lehrer, er war fort, und ſo gut wie verſchollen. Kein
Menſch wußte etwas von ihm. Ich ging in das Roth¬
moor, um nachzuſehen, wie weit die Marmorarbeiten
gediehen waren. Sie wurden heuer fertig, und ich
konnte ſie im Herbſte nach Hauſe bringen laſſen. Da
das geſchehen war, verließ ich für dieſen Sommer
das Ahornwirthshaus, in welchem ich nun ſo lange
gewohnt hatte, um mich in die Bergabtheilung zu be¬
geben, die ich durchforſchen wollte. Ich ging mit
einem wehmüthigen Gefühle von dem Hauſe fort.
An einer Stelle, wo das Gebirge weit verzweigt
[282] und wild verflochten aber deßohngeachtet bei Weitem
nicht ſo ſchön war wie das, welches ich verlaſſen
hatte, ſezte ich mich wie in einem Mittelpunkte meiner
Beſtrebungen feſt. Ich vermißte das heitere fenſter¬
ſchimmernde Ahornhaus, ich vermißte das ganze Thal,
in dem ich beinahe heimiſch geworden war. In einem
Hauſe, das an der Öffnung dreier Thäler lag und mir
daher den geeigneteſten Plaz abgab, miethete ich mich
ein. Schwarzer Tannenwald ſah auf meine Fenſter,
ſchritt an den Bächen, welche aus den drei Thälern
kamen, neben feuchten Wieſen und andern offnen
Stellen in die Thalgründe hinein, und zog ſich auf
die Berge. Die höheren Kuppen oder gar die Schnee¬
berge konnte man wegen der Enge des Thales über
den finſtern Tannen nicht ſehen. Das mochte auch
die Urſache ſein, daß das Haus und die mehreren in
den Waldlehnen zerſtreuten und an den Bächen hin¬
gehenden Hütten die Tann hießen. Mauern mit grü¬
nem Mooſe bewachſen bildeten mein Haus, und grenz¬
ten an ein zerfallenes Gärtchen, in welchem wenig
mehr als Schnittlauch wuchs. Auf der Gaſſe war der
Boden ſchwarz, und dieſelbe Schwärze zog ſich in
das Gras hinein; denn das Einzige, welches häufig
an dieſem Wirthshauſe ankam, und da hielt, da¬
[283] mit ſich Menſchen und Thiere erquickten, waren Koh¬
lenfuhren. In dem ganzen bei näherer Beſichtigung
ſich als ungeheuer zeigenden Waldgebiethe waren die
Kohlenbrennereien zerſtreut, und ganze Züge von den
ſchwarzen Fuhrwerken und den ſchwarzen Fuhrmän¬
nern zogen die düſtere Straße hinaus, um die Kohlen
gegen die Ebenen zu bringen, von wo ſie ſogar bis
in unſere Stadt befördert wurden. Nur ein einziges
Zimmer mit kleinen Fenſtern und eiſernen Kreuzen
daran konnte ich haben. In demſelben war ein Tiſch
zwei Stühle ein Bett und eine bemalte Truhe, in die
ich Kleider und andere Dinge legen konnte. Für
meine größeren Kiſten wurde mir ein Verſchlag in
einem Schoppen eingeräumt. Kaspar und die andern
ſchliefen, wenn wir uns in dem Hauſe befanden, in
der Scheuer im Heu. Ich ließ mein Gepäcke größten¬
theils in meinen Koffern, hing nur das Nöthige an
Nägel, die in dem Zimmer waren, legte meine Schreib¬
geräthe meine wiſſenſchaftlichen Bücher und meine
Dichter auf den Tiſch, füllte das Bettgeſtelle mit mei¬
nen von Hauſe mitgebrachten Bettſtücken, ſtellte meine
Bergſtöcke in eine Ecke, und war eingerichtet. Die
Sonne, welche am ſpäten Vormittage bei einem Fen¬
ſter meines Zimmers hereinkam, ſtreifte am Nachmit¬
[284] tage das andere, um bald die Spizen der Tannen zu
vergolden und zu verſchwinden. Ich war in manchen
ähnlichen Herbergen ſchon geweſen, war daran ge¬
wöhnt, fügte mich, und wurde mit dem Wirthe der
Wirthin und einer rührigen Tochter, einfachen gut¬
müthigen Leuten, die einen kleinen Gedankenkreis
hatten, bald bekannt. Sonſt kam noch manches Mal
ein Gebirgsjäger ein ſeltener Wandersmann oder ein
Hauſirer in das Tannwirthshaus. Die größte Zahl
der Gäſte beſtand außer den Kohlenführern in Holz¬
knechten, welche in den großen Wäldern zerſtreut wa¬
ren, und welche gerne an Samſtagen oder an Tagen
vor großen Feſten heraus kamen, um zu den Ihrigen
zu gehen. Da verweilten ſie denn nun nicht ſelten
gerne ein wenig in dem Tannwirthshauſe, um ſich
ein Gutes zu thun. Die Hauptbeſchäftigung aller
Bewohner der Tann war die Holzarbeit und ihr
Hauptreichthum waren Kühe und Ziegen, welche täg¬
lich in die Wälder gingen, und von welchen die jün¬
geren den ganzen Sommer hindurch auf der Höhe der
Waldungen und der Holzſchläge blieben.
Von dieſem Hauſe aus fingen wir nun an, un¬
ſere Beſchäftigungen zu betreiben. Durch die langen
und weithingeſtreckten Waldungen ging unſer Ham¬
[285] mer, und die Leute trugen die Zeugen der verſchiede¬
nen Bodenbeſchaffenheiten, auf denen die ausgedehn¬
ten Waldbeſtände wuchſen, in der Geſtalt der manig¬
faltigen Geſteine in die Tann. Wenn auch von unſe¬
rem Gaſthauſe aus die Felſenberge oder gar das Eis
nicht zu erblicken waren, ſo waren ſie darum nicht
weniger vorhanden. Weil hier Alles großartiger
war, da wir uns tiefer im Gebirge und näher ſeinem
Urſtocke befanden, ſo dehnten ſich auch die Wälder in
mächtigeren Anſchwellungen aus, und wenn man
durch eine Reihe von Stunden in dem dunkeln Schat¬
ten der feuchten Tannen und Fichten gegangen war,
ſo wurden endlich ihre Reihen lichter, ihr Beſtand
minderte ſich, erſtorbene Stämme oder ſolche, die durch
Unfälle zerſtört worden waren, wurden häufiger, das
trockene Geſtein mehrte ſich, und wenn nun freie Pläze
mit kurzem Graſe oder Sandgries oder Knieholz
folgten, ſo ſah man dämmerige Wände in rieſigen
Abmeſſungen vor den Augen ſtehen, und blizende
Schneefelder waren in ihnen, oder zwiſchen ausein¬
anderſchreitenden Felſen ſchaute ein ganz in Weiß ge¬
hüllter Berg hervor. Die Geſteinwelt folgte nun in
noch größeren Ausdehnungen auf die Waldwelt. Uns
führte unſere Abſicht oft aus der Umſchließung der
[286] Wälder in das Freie der Berge hinaus. Wenn die
Beſtandtheile eines ganzen Geſteinzuges ergründet
waren, wenn alle Wäſſer, die der Geſteinzug in die
Thäler ſendet, unterſucht waren, um jedes Geſchiebe,
das der Bach führt, zu betrachten und zu verzeichnen,
wenn nun nichts Neues nach mehrfacher und genauer
Unterſuchung ſich mehr ergab, ſo wurde verſucht, ſich
des Zuges ſelbſt zu bemächtigen, und ſeine Glieder,
ſo weit es die Macht und Gewalt der Natur zuließ,
zu begehen. In die wildeſten und abgelegenſten
Gründe führte uns ſo unſer Plan, auf die ſchroffſten
Grate kamen wir, wo ein ſcheuer Geier oder irgend
ein unbekanntes Ding vor uns aufflog, und ein ein¬
ſamer Holzarm hervor wuchs, den in Jahrhunder¬
ten kein menſchliches Auge geſehen hatte; auf lichte
Höhen gelangten wir, welche die ungeheure Wucht
der Wälder, in denen unſer Wirthshaus lag, und die
angebauteren Gefilde draußen, in denen die Menſchen
wohnten, wie ein kleines Bild zu unſern Füßen leg¬
ten. Meine Leute wurden immer eifriger. Wie über¬
haupt der Menſch einen Trieb hat, die Natur zu be¬
ſiegen, und ſich zu ihrem Herrn zu machen, was ſchon
die Kinder durch kleines Bauen und Zuſammenfügen
noch mehr aber durch Zerſtören zeigen, und was die
[287] Erwachſenen dadurch darthun, daß ſie die Erde nicht
nur zur nahrungſproſſenden machen, wie der Dich¬
ter des Achilleus ſo oft ſagt, ſondern ſie auch vielfach
zu ihrem Vergnügen umgeſtalten, ſo ſucht auch der
Bergbewohner ſeine Berge, die er lieb hat, zu zäh¬
men, er ſucht ſie zu beſteigen zu überwinden, und
ſucht ſelbſt dort hinan zu klettern, wohin ihn ein wei¬
terer wichtigerer Zweck gar nicht treibt. Die Erzäh¬
lung ſolcher beſtandener Züge bildet einen Theil der
Würze des Lebens der Bergbewohner. Meine Leute
waren in einer geſteigerten Freude und Empfindung,
wenn wir mit dem Hammer und Meißel theils Stu¬
fen in die glatten Wände ſchlugen, theils Löcher
machten, unſere vorräthigen Eiſen eintrieben, auf
ſolche Weiſe Leitern verfertigten, und auf einen
Standort gelangten, auf den zu gelangen eine Un¬
möglichkeit ſchien. Wir kamen oft eine Reihe von
Tagen nicht in unſer Tannwirthshaus hinab.
Ich ſuchte auch gerne auf die Gipfel hoher Berge
zu gelangen, wenn mich ſelbſt eben meine Beſchäf¬
tigung nicht dahin führte. Ich ſtand auf dem Felſen,
der das Eis und den Schnee überragte, an deſſen
Fuß ſich der Firnſchrund befand, den man hatte über¬
ſpringen müſſen, oder zu deſſen Überwindung wir
[288] nicht ſelten Leitern verfertigten, und über das Eis
trugen, ich ſtand auf der zuweilen ganz kleinen Fläche
des lezten Steines, oberhalb deſſen keiner mehr war,
und ſah auf das Gewimmel der Berge um mich und
unter mir, die entweder noch höher mit den weißen
Hörnern in den Himmel ragten, und mich beſiegten,
oder die meinen Stand in anderen Luftebenen fortſez¬
ten, oder die einſchrumpften, und hinab ſanken, und
kleine Zeichnungen zeigten, ich ſah die Thäler wie
rauchige Falten durch die Gebilde ziehen und manchen
See wie ein kleines Täfelchen unten ſtehen, ich ſah
die Länder wie eine ſchwache Mappe vor mir liegen,
ich ſah in die Gegend, wo gleichſam wie in einen
ſtaubigen Nebel getaucht die Stadt ſein mußte, in
der alle lebten, die mir theuer waren, Vater Mutter
und Schweſter, ich ſah nach den Höhen, die von
hier aus wie blauliche Lämmerwolken erſchienen, auf
denen das Asperhaus ſein mußte und der Sternen¬
hof, wo mein lieber Gaſtfreund hauste, wo die gute
klare Mathilde wohnte, wo Euſtach war, wo der
fröhliche feurige Guſtav ſich befand, und wo Nata¬
liens Augen blickten. Alles ſchwieg unter mir, als
wäre die Welt ausgeſtorben, als wäre das, daß
ſich Alles von Leben rege und rühre, ein Traum ge¬
[289] weſen. Nicht einmal ein Rauch war auf die Höhe
hinauf zu ſehen, und da wir zu ſolchen Beſteigungen
ſtets ſchöne Tage wählten, ſo war auch meiſtens der
Himmel heiter und in der dunkelblauen Finſterniß hin
eine endloſere Wüſte, als er in der Tiefe und in den
mit kleinen Gegenſtänden angefüllten Ländern erſcheint.
Wenn wir hinab ſtiegen, wenn Kaspar hinter uns die
Eiſen aus den Steinen zog, und in den Sack that, den
er an einem Stricke um die Schultern hängen hatte,
wenn wir nun die Leiter über den Firnſchrund zurück¬
zogen, oder im Falle, daß wir keine Leiter gebraucht
hatten, über den Spalt geſprungen waren, ſo zeigte
ſich in dem Ernſte von Kaspars harten Zügen oder in
den Angeſichtern der andern, die uns begleiteten,
eine gewiſſe Veränderung, ſo daß ich ſchloß, daß der
Stand, auf dem wir geſtanden waren, einen Eindruck
auf ſie gemacht haben mußte.
Die Stunden oder Tage, die ich mir von meiner
Arbeit abdingen konnte, weil ich Ruhe brauchte, oder
das Wetter mich hinderte, wendete ich zur Entwer¬
fung leichter Landſchaftsgebilde an, und die Tiefe der
Nacht wurde, ehe ſich die Augen ſchloſſen, durch die
großen Worte Eines, der ſchon längſt geſtorben war,
und der ſie uns in einem Buche hinterlaſſen hatte, er¬
Stifter, Nachſommer. II. 19[290] hellt, und wenn die Kerze ausgelöſcht war, wurden
die Worte in jenes Reich mit hinüber genommen,
das uns ſo räthſelhaft iſt, und das einen Zuſtand
vorbildet, der uns noch unergründlicher erſcheint.
Wie in der jüngſtvergangenen Zeit konnte ich
auch jezt nicht mehr mit der bloßen Sammlung des
Stoffes meiner Wiſſenſchaft mich begnügen, ich konnte
nicht mehr das Vorgefundene blos einzeichnen, daß
ein Bild entſtehe, wie Alles über einander und neben
einander gelagert iſt — ich that dieſes zwar jezt auch
ſehr genau — ſondern ich mußte mich ſtets um die
Urſachen fragen, warum etwas ſei, und um die Art,
wie es ſeinen Anfang genommen habe. Ich baute in
dieſen Gedanken fort, und ſchrieb, was durch meine
Seele ging, auf. Vielleicht wird einmal in irgend
einer Zukunft etwas daraus.
Zur Zeit der Roſenblüthe machte ich einen Ab¬
ſchnitt in meinem Beginnen, ich wollte mir eine Un¬
terbrechung gönnen, und den Asperhof beſuchen.
Ich lohnte meine Leute ab, gab ihnen das Ver¬
ſprechen, daß ich ſie in Zukunft wieder verwenden
werde, legte zu ihrem Lohne noch ein kleines Heim¬
reiſegeld, und entließ ſie. In dem Tannhauſe ver¬
packte ich Alles wohl, was mein Eigenthum war, be¬
[291] richtigte das, was ich ſchuldig geworden, ſagte, daß ich
wieder kommen werde, daß man mir das Dagelaſſene
unterdeſſen gut bewahren möge, und fuhr in einem
einſpännigen Gebirgswäglein durch den tiefen Weg,
der von dem rauſchenden Bache des Tannwirthshau¬
ſes waldaufwärts führt, davon. Als ich die Heer¬
ſtraße erreicht hatte, ſendete ich meinen Fuhrmann
zurück, und wählte für die weitere Fahrt einen Plaz
im Poſtwagen. Die Strecke von der lezten Poſt zu
meinem Freunde legte ich zu Fuße zurück. Für Nach¬
ſendung meines Gepäckes trug ich Sorge.
Ich war ſpäter gekommen, als ich eigentlich beab¬
ſichtigt hatte. In der tiefen Abgeſchiedenheit und in
der hohen kühlen Lage der Tann hatte ich mich über
das, was draußen geſchah, getäuſcht. In dem freie¬
ren Lande war ein warmer Frühling und ein ſehr
warmer Frühſommer geweſen, was ich in den Bergen
nicht ſo genau hatte ermeſſen können. Darum blühten
ſchon die Roſen mit freudiger Fülle in allen Gärten,
an denen ich vorüber kam. In ſchöner Vollkommen¬
heit ſchauten die untadeligen Laubkronen meines Gaſt¬
freundes über das dunkle Dach des Hauſes und ſtan¬
den an den beiden Flügeln des Gartengitters, als ich
den Hügel hinan ſtieg. Die Fenſtervorhänge, welche
19 *[292] theils ein wenig geöffnet theils der Hize willen ge¬
ſchloſſen waren, luden mich gaſtlich ein, und der
Schmelz des Geſanges der Vögel und mancher lau¬
tere vereinzelte Ruf grüßte mich wie einen, der hier
ſchon lange bekannt iſt.
Da ich die Einrichtung des Gitterthores kannte,
drückte ich an der Vorrichtung, der Flügel öffnete ſich,
und ich trat in den Garten.
Mein Gaſtfreund war bei den Bienen. Ich er¬
fuhr das von dem Gärtner, welcher der erſte war,
den ich zu ſehen bekam. Er ordnete etwas an einem
Geranienbeete in der Nähe des Einganges. Ich ſchlug
den Weg zu den Bienen ein. Mein Gaſtfreund ſtand
vor der Hütte, und erwartete das Erſcheinen einer
jungen Familie, die ſchwärmen wollte. Er ſagte
mir dieſes, als ich hinzutrat, ihn zu begrüßen. Der
Empfang war beinahe bewegt, wie zwiſchen einem
Vater und einem Sohne, ſo ſehr war meine Liebe zu
ihm ſchon gewachſen, und eben ſo mochte auch er
ſchon eine Zuneigung zu mir gewonnen haben.
Da er doch wohl von ſeinem Vorhaben nicht weg¬
gehen konnte, ſagte ich, ich wolle die andern auch be¬
grüßen, und er billigte es. Er hatte mir erzählt, daß
Mathilde und Natalie in dem Asperhofe ſeien.
[293]
Ich ging gegen das Haus. Guſtav hatte es ſchon
erfahren, daß ich da ſei, er flog die Treppe herunter,
und auf mich zu. Gruß, Gegengruß, Fragen, Ant¬
worten, Vorwürfe, daß ich ſo ſpät gekommen ſei, und
daß ich in dem Frühlinge doch nicht einige Tage be¬
nüzt habe, um in den Asperhof zu gehen. Er ſagte,
daß er mir ſehr viel zu erzählen habe, daß er mir al¬
les erzählen wolle, und daß ich recht lange lange da
bleiben müſſe.
Er führte mich nun zu ſeiner Mutter. Dieſe ſaß
an einem Tiſche im Gebüſche, und las. Sie ſtand
auf, da ſie mich nahen ſah, und ging mir entgegen.
Sie reichte mir die Hand, die ich, wie es in unſerer
Stadt Sitte war, küſſen wollte. Sie ließ es nicht zu.
Ich hatte wohl ſchon früher bemerkt, daß ſie nicht zu¬
gab, daß ihr die Hand geküßt werde; aber ich hatte
in dem Augenblicke nicht daran gedacht. Sie ſagte,
daß ich ihr ſehr willkommen ſei, daß ſie mich ſchon
früher erwartet habe, und daß ich nun eine nicht zu
kurze Zeit meinen hieſigen Freunden ſchenken müſſe.
Wir gingen unter dieſen Worten wieder zu dem Tiſche
zurück, auf den ſie ihr Buch gelegt hatte, und ſie hieß
mich an ihm Plaz nehmen. Ich ſezte mich auf einen
der daſtehenden Stühle. Guſtav blieb neben uns
[294] ſtehen. Ihr Angeſicht war ſo heiter und freundlich,
daß ich meinte, es nie ſo geſehen zu haben. Oder es
war wohl immer ſo, nur in meiner Erinnerung war
es ein wenig zurück getreten. Wirklich, ſo oft ich
Mathilden nach längerer Trennung ſah, erſchien ſie
mir, obwohl ſie eine alternde Frau war, immer lieb¬
licher und immer anmuthiger. Zwiſchen den Fältchen
des Alters und auf den Zügen, welche auf eine Reihe
von Jahren wieſen, wohnte eine Schönheit, welche
rührte, und Zutrauen erweckte. Und mehr als dieſe
Schönheit war es, wie ich wohl jezt erkannte, da ich
ſo viele Angeſichter ſo genau betrachtet hatte, um ſie
nachzubilden, die Seele, welche gütig und abgeſchloſ¬
ſen ſich darſtellte, und auf die Menſchen, die ihr
naheten, wirkte. Um die reine Stirne zog ſich das
Weiß der Haubenkrauſe, und ähnliche weiße Streifen
waren um die feinen Hände. Auf dem Tiſche ſtand
ein Blumentopf mit einer dunkeln faſt veilchenblauen
Roſe. Sie lehnte ſich in dem Rohrſtuhle, auf dem
ſie ſaß, zurück, faltete die Hände auf ihrem Schooße,
und ſagte: „Wir werden in dem Sternenhofe ein
kleines Feſt feiern. Ihr wißt, daß wir begonnen ha¬
ben, die Tünche, womit die großen Steinflächen,
die die Mauern unſers Hauſes bekleiden, in frühe¬
[295] ren Jahren überſtrichen worden ſind, wegzunehmen,
weil unſer Freund meinte, daß dieſelbe das Haus
entſtelle, und daß es ſich weit ſchöner zeigen würde,
wenn ſie weggenommen, und der bloße Stein ſicht¬
bar wäre. Heuer iſt nun die ganze vordere Fläche
des Hauſes fertig geworden, die Gerüſte werden eben
abgebrochen, und da werden, wenn die Spuren
auch auf dem Boden vor dem Hauſe vertilgt ſind,
wenn der Sand geebnet iſt, wenn der Raſen gereinigt
und gewaſchen iſt, daß er keine Kalkflecke, ſondern
das reine Grün zeigt, wir alle hinausfahren, um die
Sache zu betrachten und ein Urtheil abzugeben, ob
das Haus den Gewinn gemacht habe, der ſich uns
verſprochen hat. Es werden auch andere Menſchen
kommen, es werden wahrſcheinlich ſich einige Nach¬
barn einfinden, und da ihr zu unſern Freunden aus
dem Asperhofe gehört, und da wir alle euer Urtheil
in Anſchlag bringen möchten, ſo ſeid ihr gebethen, auch
dabei zu ſein, und die Geſellſchaft zu vermehren.“
„Mein Urtheil iſt wohl ſehr geringe,“ antwortete
ich, „und wenn es nicht ganz verwerflich iſt, und wenn
ich mir einige Kenntniſſe und eine beſtimmte Empfin¬
dung des Schönen erworben habe, ſo danke ich alles
dem Beſizer dieſes Hauſes, der mich ſo gütig aufge¬
[296] nommen, und manches in mir hervor gezogen hat,
das wohl ſonſt nie zu irgend einer Bedeutung gekom¬
men wäre. Ich werde alſo kaum zur Feſtſtellung der
Sache auf dem Sternenhofe etwas beitragen können,
und meine Anſicht wird gewiß die meines Gaſtfreun¬
des und Euſtachs ſein: aber da ihr mich ſo freundlich
einladet, und da es mir eine Freude macht, in eurem
Hauſe ſein zu können, ſo nehme ich die Einladung
gerne an, vorausgeſezt, daß die Zeit nicht zu ſpät be¬
ſtimmt iſt, da ich doch wohl noch in dieſem Sommer
in den Ort meiner jezigen Thätigkeit zurückkehren,
und Einiges vor mich bringen möchte.“
„Die Zeit iſt ſehr nahe,“ erwiederte ſie, „es iſt
ohnehin ſchon ſeit länger her gebräuchlich, daß nach
der Roſenblüthe, zu welcher ich immer in dieſem Hauſe
eingeladen bin, unſere hieſigen Freunde auf eine
Weile in den Sternenhof hinüber fahren. Das wird
auch heuer ſo ſein. Während hier die feinen Blätter
dieſer Blumen ſich vollkommen entwickeln und endlich
welken und abfallen, wird unſer Hausverwalter in
dem Sternenhofe Alles in Ordnung bringen, daß
keine Verwirrung mehr zu ſehr ſichtbar iſt, er wird
uns hierüber einen Brief ſchreiben und wir werden
den Tag der Zuſammenkunft beſtimmen. Von dem
[297] Urtheile, wenn irgend eines mit einem überwiegen¬
den Gewichte zu Stande kömmt, wird es abhän¬
gen, ob auch die Koſten zu der Reinigung der an¬
dern Theile des Hauſes verwendet werden, oder ob
der jezige Zuſtand, daß eine Seite von der Tünche
befreit iſt, die übrigen aber damit behaftet ſind, der
gewiß weniger ſchön iſt, als wenn alles übertüncht
geblieben wäre, fortbeſtehen, oder ob gar das Befreite
wieder übertüncht werden ſolle. Daß ihr übrigens
eure Anſichten geringe achtet, daran thut ihr Unrecht.
Wenn in der Nähe unſers Freundes Einiges an euch
früher zur Blüthe kam, ſo iſt dies wohl ſehr natür¬
lich; es iſt ja Alles an uns Menſchen ſo, daß es
wieder von andern Menſchen groß gezogen wird, und
es iſt das glückliche Vorrecht bedeutender Menſchen,
daß ſie in andern auch das Bedeutende, das wohl ſonſt
ſpäter zum Vorſcheine gekommen wäre, früher ent¬
wickeln. Wie ſicher in euch die Anlage zu dem Höheren
und Größeren vorhanden war, zeigt ſchon die Wahl,
mit der ihr aus eigenem Antriebe auf eine wiſſen¬
ſchaftliche Beſchäftigung gekommen ſeid, die ſonſt un¬
ſere jungen Leute in den Jahren, in denen ihr euch
entſchieden habt, nicht zu ergreifen pflegen, und daß
euer Herz dem Schönen zugewendet war, geht daraus
[298] hervor, daß ihr ſchon bald begannet, die Gegenſtände
eurer Wiſſenſchaft abzubilden, worauf der, dem der
bildende Sinn mangelt, nicht ſo leicht verfällt, er
macht ſich eher ſchriftliche Verzeichniſſe, und endlich
habt ihr ja in Kurzem die Abbildung anderer Dinge
menſchlicher Köpfe Landſchaften verſucht, und habt
euch auf die Dichter gewendet. Daß es aber auch
nicht ein unglücklicher Tag war, an welchem ihr
über dieſen Hügel herauf ginget, zeigt ſich in einer
Thatſache: ihr liebt den Beſizer dieſes Hauſes, und
einen Menſchen lieben können iſt für den, der das
Gefühl hat, ein großer Gewinn.“
Guſtav hatte während dieſer Rede die Mutter
ſtets freundlich angeſehen.
Ich aber ſagte: „Er iſt ein ungewöhnlicher ein
ganz außerordentlicher Menſch.“
Sie erwiederte auf dieſe Worte nichts, ſondern
ſchwieg eine Weile. Später fing ſie wieder an: „Ich
habe mir dieſe Roſenpflanze auf den Tiſch geſtellt,
gewiſſermaßen als die Geſellſchafterin meines Leſens
— gefällt euch die Blume?“
„Sie gefällt mir ſehr,“ antwortete ich, „wie mir
überhaupt alle Roſen gefallen, die in dieſem Hauſe
gezogen werden.“
„Sie iſt eine neue Art,“ ſagte ſie, „ich habe aus
England einen Brief bekommen, in welchem eine
Freundin mit Auszeichnung von einer Roſe ſprach,
die ſie in Kew geſehen habe, und deren Namen ſie
hinzu fügte. Da ich in dem Verzeichniſſe unſerer Ro¬
ſen den Namen nicht fand, dachte ich, daß dies eine
Art ſein dürfte, welche unſer Freund nicht hat. Ich
ſchrieb an die Freundin, ob ſie mir eine ſolche Roſen¬
pflanze verſchaffen könne. Mit Hilfe eines Mannes,
der uns beide kennt, erhielt ſie die Pflanze, und in
dieſem Frühlinge wurde ſie mir in einem Topfe ſehr
wohl und ſinnreich verpackt aus England geſchickt.
Ich pflegte ſie, und da die Blumen ſich entwickeln
wollten, brachte ich ſie unſerm Freunde. Die Roſen
öffneten ſich hier vollends, und wir ſahen, — beſon¬
ders er, der alle Merkmale genau kennt — daß dieſe
Blume ſich in der Sammlung dieſes Hauſes noch
nicht befindet. Euſtach bildete ſie ab, daß wir ſie
feſthalten, und ob die, welche in Zukunft kommen
werden, ihr gleichen. Mein Freund ſchrieb nach Eng¬
land um Pfropfreiſer für den nächſten Frühling, dieſe
Pflanze bleibt indeſſen in dem Topfe, und wird hier
beſorgt werden.“
Während ſie ſo ſprach, regten ſich die Zweige
[300] neben einem ſchmalen Pfade, der aus dem Gebüſche
auf den Plaz führte, und Natalie trat auf dem Pfade
hervor. Sie war erhizt, und trug einen Strauß von
Feldblumen in der Hand. Sie mußte nicht gewußt
haben, daß ein Fremder bei der Mutter ſei; denn ſie
erſchrak ſehr, und mir ſchien, als ginge durch das Roth
des erwärmten Angeſichtes eine Bläſſe, die wieder mit
einem noch ſtärkeren Roth wechſelte. Ich war eben¬
falls beinahe erſchrocken, und ſtand auf.
Sie war an der Ecke des Gebüſches ſtehen geblie¬
ben, und ich ſagte die Worte: „Mich freut es ſehr,
mein Fräulein, euch ſo wohl zu ſehen.“
„Mich freut es auch, daß ihr wohl ſeid,“ erwie¬
derte ſie.
„Mein Kind, du biſt ſehr erhizt,“ ſagte die Mut¬
ter, „du mußt weit geweſen ſein, es kömmt ſchon die
Mittagsſtunde, und in derſelben ſollteſt du nicht ſo
weit gehen. Seze dich ein wenig auf einen dieſer
Seſſel, aber ſeze dich in die Sonne, damit du nicht
zu ſchnell abkühleſt.“
Natalie blieb noch ein ganz kleines Weilchen
ſtehen, dann rückte ſie folgſam einen von den herum¬
ſtehenden Seſſeln ſo, daß er ganz von der Sonne
beſchienen wurde, und ſezte ſich auf ihn. Sie hatte
[301] den runden Hut mit dem nicht gar großen Schirme,
wie ihn Mathilde und ſie ſehr gerne auf Spaziergän¬
gen in der Nähe des Roſenhauſes und des Sternen¬
hofes trugen, als ſie aus dem Gebüſche getreten war,
in der Hand gehabt, jezt, da die Sonne auf ihren
Scheitel ſchien, ſezte ſie ihn auf. Sie legte den Strauß
von Feldblumen, den ſie gebracht hatte, auf den Tiſch,
und fing an, die einzelnen Gewächſe heraus zu ſuchen,
und gleichſam zu einem neuen Strauße zu ordnen.
„Wo biſt du denn geweſen?“ fragte die Mutter.
„Ich bin zu mehreren Roſenſtellen in dem Gar¬
ten gegangen,“ antwortete Natalie, „ich bin zwiſchen
den Gebüſchen neben den Zwergobſtbäumen und un¬
ter den großen Bäumen, dann zu dem Kirſchbaume
empor und von da in das Freie hinaus gegangen.
Dort ſtanden die Saaten und es blühten Blumen
zwiſchen den Halmen und in dem Graſe. Ich ging
auf dem ſchmalen Wege zwiſchen den Getreiden fort,
ich kam zur Felderraſt, ſaß dort ein wenig, ging dann
auf dem Getreidehügel auf mehreren Rainen ohne
Weg zwiſchen den Feldern herum, pflückte dieſe
Blumen, und ging dann wieder in den Garten zu¬
rück.“
„Und haſt du dich denn lange auf dem Berge auf¬
[302] gehalten, und haſt du alle Zeit zu dem Aufſuchen
und Pflücken dieſer Blumen verwendet?“ fragte Ma¬
thilde.
„Ich weiß nicht, wie lange ich mich auf dem
Berge aufgehalten habe; aber ich meine, es wird
nicht lange geweſen ſein,“ antwortete Natalie, „ich
habe nicht blos dieſe Blumen gepflückt, ſondern auch
auf die Gebirge geſchaut, ich habe auf den Himmel
geſehen, und auf die Gegend auf dieſen Garten und
auf dieſes Haus geblickt.“
„Mein Kind,“ ſagte Mathilde, „es iſt kein Übel,
wenn du in den Umgebungen dieſes Hauſes herum
gehſt; aber es iſt nicht gut, wenn du in der heißen
Sonne, die gegen Mittag zwar nicht am heißeſten iſt,
aber immerhin ſchon heiß genug, auf dem Hügel
herum gehſt, welcher ihr ganz ausgeſezt iſt, welcher
keinen Baum — außer bei der Felderraſt — und kei¬
nen Strauch hat, der Schatten biethen könnte. Und
du weißt auch nicht, wie lange du in der Hize ver¬
weileſt, wenn du dich in das Herumſehen vertiefeſt,
oder wenn du Blumen pflückeſt, und in dieſer Be¬
ſchäftigung die Zeit nicht beachteſt.“
„Ich habe mich in das Blumenpflücken nicht ver¬
tieft,“ erwiederte Natalie, „ich habe die Blumen nur
[303] ſo gelegentlich geleſen, wie ſie mir in meinem Dahin¬
gehen aufſtießen. Die Sonne thut mir nicht ſo weh,
liebe Mutter, wie du meinſt, ich empfinde mich in ihr
ſehr wohl und ſehr frei, ich werde nicht müde, und
die Wärme des Körpers ſtärkt mich eher, als daß ſie
mich drückt.“
„Du haſt auch den Hut an dem Arme getragen,“
ſagte die Mutter.
„Ja das habe ich gethan,“ antwortete Natalie,
„aber du weißt, daß ich dichte Haare habe, auf die¬
ſelben legt ſich die Sonnenwärme wohlthätig, wohl¬
thätiger, als wenn ich den Hut auf dem Haupte
trage, der ſo heiß macht, und die freie Luft geht ange¬
nehm, wenn man das Haupt entblößt hat, an der
Stirne und an den Haaren dahin.“
Ich betrachtete Natalie, da ſie ſo ſprach. Ich er¬
kannte erſt jezt, warum ſie mir immer ſo merkwürdig
geweſen iſt, ich erkannte es, ſeit ich die geſchnittenen
Steine meines Vaters geſehen hatte. Mir erſchien
es, Natalie ſehe einem der Angeſichter ähnlich, welche
ich auf den Steinen erblickt hatte, oder vielmehr in
ihren Zügen war das Nehmliche, was in den Zügen
auf den Angeſichtern der geſchnittenen Steine iſt. Die
Stirne die Naſe der Mund die Augen die Wangen
[304] hatten genau etwas, was die Frauen dieſer Steine
hatten, das Freie das Hohe das Einfache das Zarte
und doch das Kräftige, welches auf einen vollſtändig
gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen eigen¬
thümlichen Willen und eine eigenthümliche Seele.
Ich blickte auf Guſtav, der noch immer neben dem
Tiſche ſtand, ob ich auch an ihm etwas Ähnliches
entdecken könnte. Er war noch nicht ſo entwickelt, daß
ſich an ihm ſchon das Weſen der Geſtalt ausſprechen
konnte, die Züge waren noch zu rund und zu weich;
aber es däuchte mir, daß er in wenigen Jahren ſo
ausſehen würde, wie die Jünglingsangeſichter unter
den Helmen auf den Steinen ausſehen, und daß er
dann Natalien noch mehr gleichen würde. Ich blickte
auch Mathilden an; aber ihre Züge waren wieder in
das Sanftere des Alters übergegangen; ich glaubte
deßohngeachtet, vor nicht langer Zeit müßte auch ſie
ausgeſehen haben wie die älteren Frauen auf den
Steinen ausſehen. Natalie ſtammte alſo gleichſam
aus einem Geſchlechte, das vergangen war, und das
anders und ſelbſtſtändiger war als das jezige. Ich
ſah lange auf die Geſtalt, welche beim Sprechen bald
die Augen zu uns aufſchlug, bald ſie wieder auf ihre
Blumen nieder ſenkte. Daß ihr Haupt ſo antik
[305] erſchien, wie der Vater mit einem altrömiſchen Beiworte
von ſeinen Steinen ſagte, mochte zum Theile auch
daher kommen — wenigſtens gewann ihre Erſcheinung
dadurch — daß es mit einem richtig gebildeten Halſe
aus einem ganz einfachen ſchmuckloſen Kleide hervor
ſah. Keine überflüſſige Zuthat von Stoffen und keine
Kette oder ſonſt ein Schmuck umgab den Hals —
dieſes macht nur die blos anmuthigen Angeſichter noch
anmuthiger — ſondern das Kleid mit einer nicht auf¬
fallenden Farbe und mit einem nicht auffallenden
Schnitte ſchloß den reinen Hals, und ging an der
übrigen Geſtalt hernieder.
Die Mutter ſah Natalien freundlich an, da ſie
ſprach, und ſagte dann: „Der Jugend iſt alles gut,
der Jugend ſchlägt alles zum Gedeihen aus, ſie wird
wohl auch empfinden, was ihr noth thut, wie das
Alter empfindet, was es bedarf — Ruhe und Stille
— und unſer Freund ſagt ja auch, man ſoll der Na¬
tur ihr Wort reden laſſen; darum magſt du gehen,
wie du fühleſt, daß du es bedarfſt, Natalie, du wirſt
kein Unrecht begehen, wie du es ja nie thuſt, du wirſt
keine Maßregel außer Acht laſſen, die wir dir geſagt
haben, und du wirſt dich in deine Gedanken nicht ſo
vertiefen, daß du deinen Körper vergäßeſt.“
„Das werde ich nicht thun, Mutter,“ entgegnete
Natalie, „aber laſſe mich gehen, es iſt ein Wunſch in
mir, ſo zu verfahren. Ich werde ihn mäßigen, wie
ich kann; ich thue es um deinetwillen, Mutter, daß
du dich nicht beunruhigeſt. Ich möchte auf dem Fel¬
derhügel herum gehen, dann auch in dem Thale und
in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen,
und alles darin beſchauen und betrachten. Und die
Ruhe ſchließt dann ſo ſchön das Gemüth und den
Willen ab.“
Daß Natalie doch durch das Wandeln in der hei¬
ßen Sonne unmittelbar vor der Mittagszeit ſich er¬
hizt habe, zeigte ihr Angeſicht. Dasſelbe behielt die
Röthe, welche es nach dem erſten Erblaſſen erhalten
hatte, und verlor ſie nur in geringem Maße, während
ſie an dem Tiſche ſaß, was doch eine geraume Zeit
dauerte. Es blühte dieſes Roth wie ein ſanftes Licht
auf ihren Wangen, und verſchönerte ſie gleichſam wie
ein klarer Schimmer.
Sie fuhr in ihrem Geſchäfte mit den Blumen
fort, ſie legte eine nach der andern von dem größeren
Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere Strauß
der größere wurde, der größere aber ſich immer ver¬
kleinerte. Sie ſchied keine einzige Blume aus, ſie
[307] warf nicht einmal einen Grashalm weg, der ſich ein¬
gefunden hatte; es erſchien alſo, daß ſie weniger eine
Ausleſe der Blumen machen als dem alten Strauße
eine neue ſchönere Geſtalt geben wollte. So war es
auch; denn der alte Strauß war endlich verſchwun¬
den, und der neue lag allein auf dem Tiſche.
Mathilde hatte ihr Buch immer vor ſich auf dem
Tiſche liegen, und ſah nicht wieder hinein. Sie frug
mich um meinen lezten Aufenthalt und um meine lez¬
ten Arbeiten. Ich ſezte ihr beides auseinander.
Guſtav hatte ſich indeſſen auch auf einen Seſſel
ganz nahe an mir geſezt, und hörte aufmerkſam zu.
Als die Sonne im Mittage angekommen war,
und nachgerade unſern ganzen Tiſch erfüllt hatte, er¬
ſchien Arabella, um uns zum Mittageſſen zu rufen.
Ein Mann, der in dem Garten arbeitete, mußte
den Blumentopf in das Haus tragen. Mathilde nahm
das Buch und ein Arbeitskörbchen, das neben ihr auf
dem Tiſche geſtanden war, Natalie nahm ihren Blu¬
menſtrauß, hing ihren Hut wieder an ihren Arm, und
ſo gingen wir in das Haus. Die Frauen wandelten
vor uns, Guſtav und ich gingen hinter ihnen.
Daß ich mich gegen meinen Gaſtfreund gegen
20 *[308] Euſtach gegen Guſtav und ſelbſt gegen die Leute des
Hauſes vertheidigen mußte, weil ich heuer ſo ſpät
gekommen ſei, nahm mich nicht Wunder, da ich im¬
mer ſo freundlich hier aufgenommen worden war,
und da man ſich beinahe daran gewöhnt hatte, daß
ich alle Sommer in das Roſenhaus komme, wie ja
auch mir dieſe Beſuche zur Gewohnheit geworden
waren.
Mein Gaſtfreund und ich ſprachen von den Din¬
gen, welche ich im Laufe des heurigen Sommers un¬
ternommen hatte, ſo wie er mir auch in den erſten
Tagen alles zeigte, was in dem Roſenhauſe geſchah,
und was ſich in meiner Abweſenheit verändert hatte.
Ich ſah, daß die Zeit der Roſenblüthe nicht ſo
lange dauern werde, weil ich ja auch nicht zu ihrem
erſten Anfange ſondern etwas ſpäter gekommen war.
Die Bilder gaben mir wieder eine ſüße Empfin¬
dung, und die hohe Geſtalt auf der Treppe trat mir
immer näher, ſeit ich die geſchnittenen Steine geſehen
hatte, und ſeit ich wußte, daß etwas unter den Leben¬
den wandle, das ähnlich ſei. Ich ging mit Guſtav
oder allein öfter in der Gegend herum.
Eines Nachmittages waren wir in dem Roſen¬
zimmer. Mathilde ſprach recht freundlich von ver¬
[309] ſchiedenen Gegenſtänden des Lebens, von den Er¬
ſcheinungen desſelben, wie man ſie aufnehmen müſſe,
und wie ſie in dem Laufe der Jahre ſich ablöſen.
Mein Gaſtfreund antwortete ihr. Bei dieſer Gelegen¬
heit ſah ich erſt, wie zart und ſchön für das Zimmer
geſorgt worden war; denn die vier an Größe wie an
Rahmen gleichen Gemälde, die in demſelben hingen,
waren troz ihrer Kleinheit bei Weitem das Herrlichſte
und Außerordentlichſte, was es an Gemälden im
Roſenhauſe gab. Ich hatte mein Urtheil doch ſchon
ſo weit gebildet, um bei dem großen Unterſchiede,
der da waltete, das einſehen zu können. Doch leitete
ich auch meinen Gaſtfreund auf den Gegenſtand, und
er gab meine Wahrnehmung freilich in ſehr beſcheide¬
nen Ausdrücken, weil Mathilde zugegen war, zu.
Wir beſahen, nachdem das Geſpräch eine Wendung
genommen hatte, die Bilder, und machten uns auf
das Zarte Liebliche und Hohe derſelben aufmerkſam.
Beſuche, wie gewöhnlich zur Roſenzeit, kamen
auch heuer; aber ich miſchte mich weniger als etwa
in früheren Jahren unter die Leute.
Natalie ging wirklich, wie ich jezt ſelber wahr¬
nahm, in dieſem Sommer mehr als in vergangenen im
Garten und in der Gegend herum, ſie ging viel wei¬
[310] ter, und ging auch öfter allein. Sie ging nicht blos
bei dem großen Kirſchbaume öfter in das Freie, und
ging dort zwiſchen den Saaten herum, ſondern ſie
ging auch geradewegs über den Hügel hinab zu der
Straße, oder ſie ging in den Meierhof oder längs der
Hügel dahin, oder ſie ging ein Stück auf dem Wege
nach dem Inghofe. Wenn ſie zurückgekehrt war, ſaß
ſie in ihrem Lehnſtuhle, und blickte auf das, was vor
ihr oder in ihrer Umgebung geſchah.
Eines Tages, da ich ſelber einen weiten Weg ge¬
macht hatte, und gegen Abend in das Roſenhaus zu¬
rück kehrte, ſah ich, da ich von dem Erlenbache hinauf
eine kürzere Richtung eingeſchlagen hatte, auf bloßem
Raſen zwiſchen den Feldern gegangen, auf der Höhe
angekommen war, und nun gegen die Felderraſt zu¬
ging, auf dem Bänklein, das unter der Eſche derſel¬
ben ſteht, eine Geſtalt ſizen. Ich kümmerte mich nicht
viel um ſie, und ging meines Weges, welcher gerade
auf den Baum zuführte, weiter. Ich konnte, wie
nahe ich auch kam, die Geſtalt nicht erkennen; denn
ſie hatte nicht nur den Rücken gegen mich gekehrt,
ſondern war auch durch den größten Theil des Baum¬
ſtammes gedeckt. Ihr Angeſicht blickte nach Süden.
Sie regte ſich nicht, und wendete ſich nicht. So kam
[311] ich faſt dicht gegen ſie heran. Sie mußte nun meinen
Tritt im Graſe oder mein Anſtreifen an das Getreide
gehört haben; denn ſie erhob ſich plözlich, wendete
ſich um, damit ſie mich ſähe, und ich ſtand vor Na¬
talien. Kaum zwei Schritte waren wir von einander
entfernt. Das Bänklein ſtand zwiſchen uns. Der
Baumſtamm war jezt etwas ſeitwärts. Wir erſchra¬
ken beide. Ich hatte nehmlich nicht — auch nicht im
Entfernteſten — daran gedacht, daß Natalie auf
dem Bänklein ſizen könne, und ſie mußte erſchrocken
ſein, weil ſie plözlich Schritte hinter ſich gehört hatte,
wo doch kein Weg ging, und weil ſie, da ſie ſich um¬
wendete, einen Mann vor ſich ſtehen geſehen hatte.
Ich mußte annehmen, daß ſie nicht gleich erkannt
habe, daß ich es ſei.
Ein Weilchen ſtanden wir ſtumm einander gegen¬
über, dann ſagte ich: „Seid ihr es, Fräulein, ich
hatte nicht gedacht, daß ich euch unter dem Eſchen¬
baume ſizend finden würde.“
„Ich war ermüdet,“ antwortete ſie, „und ſezte mich
auf die Bank, um zu ruhen. Auch dürfte es wohl an
der Zeit ſpäter geworden ſein, als man gewohnt iſt,
mich nach Hauſe kommen zu ſehen.“
„Wenn ihr ermüdet ſeid,“ ſagte ich, „ſo will ich
[312] nicht Urſache ſein, daß ihr ſteht, ich bitte ſezet euch,
ich will, ſo ſchnell ich kann, durch die Felder und den
Garten eilen, und euch Guſtav herauf ſenden, daß
er euch nach Hauſe begleite.“
„Das wird nicht nöthig ſein,“ erwiederte ſie, „es
iſt ja noch nicht Abend, und ſelbſt wenn es Abend
wäre, ſo droht wohl nirgends ringsherum eine Ge¬
fahr. Ich bin ſchon viel weiter allein gegangen, ich
bin allein nach Hauſe zurückgekehrt, meine Mutter
und unſer Gaſtfreund haben deßhalb keine Beſorg¬
niſſe gehabt. Heute bin ich bis auf dem Raitbühel
bei dem rothen Kreuze geweſen, und bin von dort zu
der Bank hieher zurück gegangen.“
„Das iſt ja faſt über eine Stunde Weges,“ ſagte
ich.
„Ich weiß nicht, wie lange ich gegangen bin,“
antwortete ſie, „ich ging zwiſchen den Feldern hin,
auf denen die ungeheure Menge des Getreides ſteht,
ich ging an manchem Strauche hin, den der Rain
enthält, ich ging an manchem Baume vorbei, der in
dem Getreide ſteht, und kam zu dem rothen Kreuze,
das aus den Saaten empor ragt.“
„Wenn ich ſehr gut gehe,“ ſagte ich, „ſo brauche
ich von hier bis zu dem rothen Kreuze eine Stunde.“
„Ich habe, wie ich ſagte, die Zeit nicht gezählt,“
entgegnete ſie, „ich bin von hier zu dem Kreuze ge¬
gangen, und bin von dem Kreuze wieder hieher zu¬
rück gekehrt.“
Während dieſer Worte war ich aus der ungefü¬
gen Stellung im Graſe hinter dem Bänklein auf den
freien Raum herüber getreten, der ſich vor dem Baume
ausbreitet, Natalie hatte eine leichte Bewegung ge¬
macht, und ſich wieder auf das Bänkchen geſezt.
„Nach einem ſolchen Gange bedürft ihr freilich
der Ruhe,“ ſprach ich.
„Es iſt auch nicht gerade deßwillen,“ antwortete
ſie, „weßhalb ich dieſe Bank ſuchte. So ermüdet ich
bin, ſo könnte ich wohl noch recht gut den Weg durch
die Felder und den Garten nach Hauſe, ja noch einen
viel weiteren machen; aber es geſellte ſich zu dem kör¬
perlichen Wunſche noch ein anderer.“
„Nun?“
„Auf dieſem Plaze iſt es ſchön, das Auge kann
ſich ergehen, ich bin bei meinen Gedanken, ich brauche
dieſe Gedanken nicht zu unterbrechen, was ich doch
thun muß, wenn ich zu den Meinigen zurück kehre.“
„Und darum ruhet ihr hier?“
„Darum ruhe ich hier.“
[314]„Seid ihr von eurer Kindheit an gerne allein in
den Feldern gegangen?“
„Ich erinnere mich des Wunſches nicht,“ antwor¬
tete ſie, „wie es denn überhaupt einige Zeitabſchnitte
in meiner Kindheit gibt, an welche ich mich nicht
genau erinnern kann, und da der Wunſch in meinem
Gedächtniſſe nicht gegenwärtig iſt, ſo wird auch die
Thatſache nicht geweſen ſein, obwohl es wahr iſt, daß
ich als Kind lebhafte Bewegungen ſehr geliebt habe.“
„Und jezt führt euch eure Neigung öfter in das
Freie?“ fragte ich.
„Ich gehe gerne herum, wo ich nicht beengt bin,“
antwortete ſie, „ich gehe zwiſchen den Feldern und den
wallenden Saaten, ich ſteige auf die ſanften Hügel
empor, ich wandere an den blätterreichen Bäumen
vorüber, und gehe ſo fort, bis mich eine fremde Ge¬
gend anſieht, der Himmel über derſelben gleichſam
ein anderer iſt, und andere Wolken hegt. Im Gehen
ſinne und denke ich dann. Der Himmel die Wolken
darin das Getreide die Bäume die Geſträuche das
Gras die Blumen ſtören mich nicht. Wenn ich recht
ermüdet bin, und auf einem Bänklein wie hier oder
auf einem Seſſel in unſerem Garten oder ſelbſt auf
einem Size in unſerem Zimmer ausruhen kann, ſo
[315] denke ich, ich werde nun nicht wieder ſo weit gehen.
— — Und wo ſeid denn ihr geweſen?“ fragte ſie,
nachdem ſie ſich unterbrochen und ein Weilchen ge¬
ſchwiegen hatte.
„Ich bin nach dem Eſſen von dem Erlenbache zu
dem Teiche hinauf gegangen,“ antwortete ich, „dann
durch das Gehölze auf den Balkhügel empor, von
dem man die Gegend von Landegg ſieht, und den
Thurm ſeiner Pfarrkirche erblicken kann. Von dem
Balkhügel bin ich dann noch auf den Höhen fortge¬
gangen, bis ich zu den Rohrhäuſern gekommen bin.
Da ich dort ſchon zwei ſtarke Wegſtunden von dem
Asperhofe entfernt war, ſchlug ich den Rückweg ein.
Ich hatte im Hingehen viele Zeit verbraucht, weil ich
häufig ſtehen geblieben war, und verſchiedene Dinge
angeſehen hatte, deßhalb wählte ich nun einen kürzeren
Rückgang. Ich ging auf Feldpfaden und manigfalti¬
gen Kirchenwegen durch die Felder, bis ich zwiſchen
Dernhof und Ambach wieder zu dem Seewalde und
zu dem Erlenbache herabkam. Von dort aus waren
mir Raine bekannt, die am kürzeſten auf die Felder¬
raſt herüber führten. Obwohl auf ihnen kein Weg
führt, ging ich doch auf ihrem Graſe fort, und kam
ſo gegen euch herzu.“
„Da müßt ihr ja recht müde ſein,“ ſagte ſie, und
machte eine Bewegung auf dem Bänklein, um mir
Plaz neben ſich zu verſchaffen.
Ich wußte nicht recht, wie ich thun ſollte, ſezte
mich aber doch an ihrer Seite nieder.
„Habt ihr etwa ein Buch mit euch genommen,
um auf dieſer Bank zu leſen,“ fragte ich, „oder habt
ihr nicht Blumen gepflückt?“
„Ich habe kein Buch mitgenommen, und habe
keine Blumen gepflückt,“ antwortete ſie, „ich kann
nicht leſen, wenn ich gehe, und kann auch nicht leſen,
wenn ich im freien Felde auf einer Bank oder auf
einem Steine ſize.“
Wirklich ſah ich auch gar nichts neben ihr, ſie
hatte kein Körbchen oder ſonſt irgend etwas, das
Frauen gerne mit ſich zu tragen pflegen, um Gegen¬
ſtände hinein legen zu können; ſie ſaß müßig auf dem
Bänklein, und ihr Strohhut, den ſie von dem Haupte
genommen hatte, lag neben ihr in dem Graſe.
„Die Blumen pflücke ich,“ fuhr ſie nach einem
Weilchen fort, „wenn ſie bei Gelegenheit an dem
Wege ſtehen. Hier herum iſt meiſtens der Mohn,
der aber wenig zu Sträußen paßt, weil er gerne die
Blätter fallen läßt, dann ſind die Kornblumen die
[317] Wegnelken die Glocken und andere. Oft pflücke ich
auch keine Blumen, wenn ſie noch ſo reichlich vor mir
ſtehen.“
Mir war es ſeltſam, daß ich mit Natalien allein
unter der Eſche der Felderraſt ſize. Ihre Fußſpizen
ragten in den Staub der vor uns befindlichen offenen
Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider berührte
denſelben Staub. In der Krone der Eſche rührte ſich
kein Blättchen; denn die Luft war ſtill. Weit vor
uns hinabgehend und weit zu unſerer Rechten und
Linken hin, ſo wie rückwärts war das grüne der Reife
entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume des¬
ſelben, der uns am nächſten war, ſahen uns der rothe
Mohn und die blauen Kornblumen an. Die Sonne
ging dem Untergange zu, und der Himmel glänzte an
der Stelle, gegen die ſie ging, faſt weißglühend über
die Saatfelder herüber, keine Wolke war, und das
Hochgebirge ſtand rein und ſcharf geſchnitten an dem
ſüdlichen Himmel.
„Und habt ihr bei dem rothen Kreuze auch ein
wenig geruht?“ fragte ich nach einer Weile.
„Bei dem rothen Kreuze habe ich nicht geruht,“
antwortete ſie, „man kann dort nicht ruhen, es ſteht
faſt unter lauter Halmen des Getreides, ich lehnte
[318] mich mit einem Arme an ſeinen Stamm, und ſah auf
die Gegend hinaus, auf die Felder auf die Obſtbäume
und auf die Häuſer der Menſchen, dann wendete ich
mich wieder um, und ſchlug den Rückweg zu dieſem
Bänklein ein.“
„Wenn heiterer Himmel iſt, und die Sonne
ſcheint, dann iſt es in der Weite ſchön,“ ſagte ich.
„Es iſt wohl ſchön,“ erwiederte ſie, „die Berge
gehen wie eine Kette mit ſilbernen Spizen dahin, die
Wälder ſind ausgebreitet, die Felder tragen den Se¬
gen für die Menſchen, und unter all den Dingen
liegt das Haus, in welchem die Mutter und der
Bruder und der väterliche Freund ſind; aber ich gehe
auch an bewölkten Tagen auf den Hügel, oder an
ſolchen, an denen man nichts deutlich ſehen kann. Als
Beſtes bringt der Gang, daß man allein iſt, ganz
allein, ſich ſelber hingegeben. Thut ihr bei euren
Wanderungen nicht auch ſo, und wie erſcheint denn
euch die Welt, die ihr zu erforſchen trachtet?“
„Es war zu verſchiedenen Zeiten verſchieden,“
antwortete ich; „einmal war die Welt ſo klar als
ſchön, ich ſuchte Manches zu erkennen, zeichnete Man¬
ches, und ſchrieb mir Manches auf. Dann wurden
alle Dinge ſchwieriger, die wiſſenſchaftlichen Auf¬
[319] gaben waren nicht ſo leicht zu löſen, ſie verwickelten
ſich, und wieſen immer wieder auf neue Fragen hin.
Dann kam eine andre Zeit; es war mir, als ſei die
Wiſſenſchaft nicht mehr das Lezte, es liege nichts
daran, ob man ein Einzelnes wiſſe oder nicht, die
Welt erglänzte wie von einer innern Schönheit, die
man auf ein Mal faſſen ſoll, nicht zerſtückt, ich be¬
wunderte ſie, ich liebte ſie, ich ſuchte ſie an mich zu
ziehen, und ſehnte mich nach etwas Unbekanntem und
Großem, das da ſein müſſe.“
Sie ſagte nach dieſen Worten eine Zeit hindurch
nichts; dann aber fragte ſie: „Und ihr werdet in die¬
ſem Sommer noch einmal in euren Aufenthaltsort
zurückkehren, den ihr euch jezt zu eurer Arbeit auser¬
koren habt?“
„Ich werde in denſelben zurück kehren,“ antwor¬
tete ich.
„Und den Winter bringt ihr bei euren lieben An¬
gehörigen zu?“ fragte ſie weiter.
„Ich werde ihn wie alle bisherigen in dem Hauſe
meiner Eltern verleben,“ ſagte ich.
„Und ſeid ihr in dem Winter im Sternenhofe?“
fragte ich nach einiger Zeit.
„Wir haben ihn früher zuweilen in der Stadt zu¬
[320] gebracht,“ antwortete ſie, „jezt ſind wir ſchon einige
Male in dem Sternenhofe geblieben, und zwei Mal
haben wir eine Reiſe gemacht.“
„Habt ihr außer Klotilden keine andere Schwe¬
ſter?“ fragte ſie, nachdem wir wieder ein Weilchen
geſchwiegen hatten.
„Ich habe keine andere,“ erwiederte ich, „wir ſind
nur zwei Kinder, und das Glück, einen Bruder zu
beſizen, habe ich gar nie kennen gelernt.“
„Und mir iſt wieder das Glück eine Schweſter zu
haben nie zu Theil geworden,“ antwortete ſie.
Die Sonne war ſchon untergegangen, die Däm¬
merung trat ein, und wir waren immer ſizen geblie¬
ben. Endlich ſtand ſie auf, und langte nach ihrem
Hute, der in dem Graſe lag. Ich hob denſelben auf,
und reichte ihn ihr dar. Sie ſezte ihn auf, und ſchickte
ſich zum Fortgehen an. Ich both ihr meinen Arm.
Sie legte ihren Arm in den meinigen, aber ſo leicht,
daß ich ihn kaum empfand. Wir ſchlugen nicht den
Weg auf den Anhöhen hin zu dem Gartenpförtchen
ein, das in der Nähe des Kirſchbaumes iſt, ſondern
wir gingen auf dem Pfade, der von der Felderraſt
zwiſchen dem Getreide abwärts läuft, gegen den
Meierhof hinab. Wir ſprachen nun gar nicht mehr.
[321] Ihr Kleid fühlte ich ſich neben mir regen, ihren Tritt
fühlte ich im Gehen. Ein Wäſſerlein, das unter
Tags nicht zu vernehmen war, hörte man rauſchen,
und der Abendhimmel, der immer goldener wurde,
flammte über uns und über den Hügeln der Getreide
und um manchen Baum, der beinahe ſchwarz da
ſtand. Wir gingen bis zu dem Meierhofe. Von
demſelben gingen wir über die Wieſe, die zu dem
Hauſe meines Gaſtfreundes führt, und ſchlugen den
Pfad zu dem Gartenpförtchen ein, das in jener Rich¬
tung in der Gegend der Bienenhütte angebracht iſt.
Wir gingen durch das Pförtchen in den Garten, gin¬
gen an der Bienenhütte hin, gingen zwiſchen Blu¬
men die da ſtanden, zwiſchen Geſträuch das den
Weg ſäumte, und endlich unter Bäumen dahin, und
kamen in das Haus. Wir gingen in den Speiſeſaal,
in welchem die andern ſchon verſammelt waren. Na¬
talie zog hier ihren Arm aus dem meinigen. Man
fragte uns nicht, woher wir gekommen wären, und
wie wir uns getroffen hätten. Man ging bald zu dem
Abendeſſen, da die Zeit desſelben ſchon heran gekom¬
men war. Während des Eſſens ſprachen Natalie und
ich faſt nichts.
Als wir uns im Speiſeſaale getrennt hatten, und
Stifter, Nachſommer. II. 21[322] als jedes in ſein Zimmer gegangen war, löſchte ich
die Lichter in dem meinigen ſogleich aus, ſezte mich
in einen der gepolſterten Lehnſtühle, und ſah auf die
Lichttafeln, welche der inzwiſchen heraufgekommene
Mond auf die Fußböden meiner Zimmer legte. Ich
ging ſehr ſpät ſchlafen, las aber nicht mehr, wie ich
es ſonſt in jeder Nacht gewohnt war, ſondern blieb
auf meinem Lager liegen, und konnte ſehr lange den
Schlummer nicht finden.
In den Tagen, die auf jenen Abend folgten,
ſchien es mir, als weiche mir Natalie aus. Die Zi¬
thern hörte ich wieder in ein paar Nächten, ſie wur¬
den ſehr gut geſpielt, was ich jezt mehr empfinden
und beurtheilen konnte als früher. Ich ſprach aber
nichts darüber, und noch weniger ſagte ich etwas da¬
von, daß ich ſelber in dieſem Spiele nicht mehr ſo
unerfahren ſei. Meine Zither hatte ich nie in das
Roſenhaus mitgenommen.
Endlich nahte die Zeit, in welcher man in den
Sternenhof gehen ſollte. Mathilde und Natalie reiſ¬
ten in Begleitung ihrer Dienerin früher dahin, um
Vorkehrungen zu treffen und die Gäſte zu empfangen.
Wir ſollten ſpäter folgen.
In der Zeit zwiſchen der Abreiſe Mathildens und
[323] der unſrigen that mein Gaſtfreund eine Bitte an mich.
Sie beſtand darin, daß ich ihm in dem kommenden
Winter eine genaue Zeichnung von den Vertäflungen
anfertigen möchte, welche ich meinem Vater aus dem
Lauterthale gebracht hatte, und welche von ihm in die
Pfeiler des Glashäuschens eingeſezt worden waren.
Die Zeichnung möchte ich ihm dann im nächſten
Sommer mitbringen. Ich fühlte mich ſehr vergnügt
darüber, daß ich dem Manne, zu welchem mich eine
ſolche Neigung zog, und dem ich ſo viel verdankte,
einen Dienſt erweiſen konnte, und verſprach, daß ich
die Zeichnung ſo genau und ſo gut machen werde,
als es meine Kräfte geſtatten.
An einem der folgenden Tage fuhren mein Gaſt¬
freund Euſtach Roland Guſtav und ich in den Ster¬
nenhof ab.
21*
4.
Das Feſt.
Ein Feſt in dem Sinne, wie man das Wort ge¬
wöhnlich nimmt, war es nicht, was in dem Sternen¬
hofe vorkommen ſollte, ſondern es waren mehrere
Menſchen zu einem gemeinſchaftlichen Beſuche einge¬
laden worden, und dieſe Einladungen hatte man auch
nicht eigens und feierlich ſondern nur gelegentlich ge¬
macht. Übrigens ſtand es in Hinſicht des Sternen¬
hofes ſo wie des Asperhofes jedem Freunde und je¬
dem Bekannten frei, zu was immer für einer Zeit einen
Beſuch zu machen, und eine Weile zu bleiben.
Als wir am zweiten Tage nach unſerer Abreiſe
von dem Asperhofe — wir hatten einen kleinen Um¬
weg gemacht — in dem Sternenhofe eintrafen, waren
ſchon mehrere Menſchen verſammelt. Fremde Diener,
zuweilen ſeltſam gekleidet, gingen, wie ſich das alle¬
[325] mal findet, wenn mehrere Familien zuſammen kom¬
men, in der Nähe des Schloſſes herum oder auf dem
Wege zwiſchen dem Meierhofe und dem Schloſſe hin
und her. Man hatte einen Theil der Wägen und
Pferde in dem Meierhofe untergebracht. Wir fuhren
bei dem Thore hinein, und unſer Wagen hielt im
Hofe. Ich hatte ſchon, da wir den Hügel hinan fuh¬
ren, und uns dem Schloſſe näherten, einen Blick auf
deſſen vorderſte Mauer geworfen, an der jezt die
bloßen Steine ohne Tünche ſichtbar waren, und hatte
mein Urtheil ſchnell gefaßt. Mir gefiel die neue Ge¬
ſtalt um Außerordentliches beſſer als die frühere, an
welche ich jezt kaum zurück denken mochte. Meine Be¬
gleiter äußerten ſich während des Hinzufahrens nicht,
ich ſagte natürlich auch nichts. Im Hofe näherten ſich
Diener, welche unſer Gepäcke in Empfang nehmen
und Wagen und Pferde unterbringen ſollten. Der
Hausverwalter führte uns die große Treppe hinan,
und geleitete uns in das Geſellſchaftszimmer. Das¬
ſelbe war eines von jenen Zimmern, die in einer
Reihe fortlaufen, und mit den neuen im Asperhofe
verfertigten Geräthen verſehen ſind. Die Thüren aller
dieſer Zimmer ſtanden offen. Mathilde ſaß an einem
Tiſche und eine ältliche Frau neben ihr. Mehrere an¬
[326] dere Frauen und Mädchen ſo wie ältere und jüngere
Männer ſaßen an verſchiedenen Stellen umher. Auf
dem unſcheinbarſten Plaze ſaß Natalie. Mathilde
ſo wie Natalie waren gekleidet, wie die Frauen
und Mädchen von den beſſeren Ständen gekleidet
zu ſein pflegten; aber ich konnte doch nicht umhin,
zu bemerken, daß ihre Kleider weit einfacher ge¬
macht und verziert waren als die der anderen Frauen,
daß ſie aber viel beſſer zuſammen ſtimmten und ein
edleres Gepräge trugen, als man dies ſonſt findet.
Mir war, als ſähe ich den Geiſt meines Gaſtfreun¬
des daraus hervorblicken, und wenn ich an höhere
Kreiſe unſerer Stadt, zu denen ich Zutritt hatte,
dachte, ſo ſchien es mir auch, daß gerade dieſer An¬
zug derjenige vornehme ſei, nach welchem die andern
ſtrebten. Mathilde ſtand auf und verbeugte ſich freund¬
lich gegen uns. Das thaten die andern auch, und
wir thaten es gegen Mathilde und gegen die andern.
Hierauf ſezte man ſich wieder, und der Hausverwal¬
ter und zwei Diener ſorgten, daß wir Size bekamen.
Ich ſezte mich an eine Stelle, welche ſehr wenig auf¬
fällig war. Die Sitte des gegenſeitigen Vorſtellens
der Perſonen, wie ſie faſt überall vorkömmt, ſcheint
in dem Roſenhauſe und in dem Sternenhofe nicht
[327] ſtrenge gebräuchlich zu ſein; denn ich wußte ſchon
mehrere Fälle, in denen es unterblieben war; be¬
ſonders wenn ſich mehrere Menſchen zuſammen ge¬
funden hatten. Bei der gegenwärtigen Gelegenheit
unterblieb es auch. Man überließ es eher den Be¬
mühungen des Einzelnen, ſich die Kenntniß über
eine Perſon zu verſchaffen, an der ihm gelegen war,
oder man überließ es eher dem Zufalle, mit ein¬
ander bekannt zu werden, als daß man bei jedem
neuen Ankömmlinge das Verzeichniß der Anweſenden
gegen ihn wiederholt hätte. Zudem ſchienen ſich hier
die meiſten Perſonen zu kennen. Mich wollte man
wahrſcheinlich aus dem Spiele laſſen, weil ich nie,
wenn fremde Menſchen in den Asperhof gekommen
waren, gefragt hatte, wer ſie ſeien. Guſtav benahm
ſich hier auch beinahe wie ein Fremder. Nachdem er
ſich gegen ſeine Mutter ſehr artig verbeugt, in die
allgemeine Verbeugung gegen die andern eingeſtimmt,
und Natalien zugelächelt hatte, ſezte er ſich beſcheiden
auf einen abgelegenen Plaz, und hörte aufmerkſam
zu. Mein Gaſtfreund und Euſtach ſo wie auch Ro¬
land waren in den gebräuchlichen Beſuchkleidern, ich
ebenfalls. Mir kamen dieſe Männer in ihren ſchwar¬
zen Kleidern fremder und faſt geringer vor als in
[328] ihrem gewöhnlichen Hausanzuge. Mein Gaſtfreund
war bald mit verſchiedenen Anweſenden im Geſpräche.
Allgemein wurde von allgemeinen und gewöhnlichen
Dingen geredet, und das Geſpräch ging bald zwi¬
ſchen einzelnen bald zwiſchen mehreren Perſonen hin
und wider. Ich ſprach wenig und faſt ausſchlie߬
lich nur, wenn ich angeredet und gefragt wurde.
Ich ſah auf die Verſammlung vor mir oder auf man¬
chen Einzelnen oder auf Natalien. Roland rückte ein¬
mal ſeinen Stuhl zu mir, und knüpfte ein Geſpräch
über Dinge an, die uns beiden nahe lagen. Wahr¬
ſcheinlich that er es, weil er ſich eben ſo vereinſamt
unter den Menſchen empfand wie ich.
Nachdem man den Nachmittagsthee, bei dem man
eigentlich verſammelt war, verzehrt, und ſich ſchon
zum größten Theile erhoben hatte, und in Gruppen
zuſammen getreten war, wurde der Vorſchlag ge¬
macht, ſich in den Garten zu begeben, und dort einen
Spaziergang zu machen. Der Vorſchlag fand Beifall.
Mathilde erhob ſich und mit ihr die älteren Frauen.
Die jüngeren waren ohnehin ſchon geſtanden. Ein
ſchöner alter Herr, wahrſcheinlich der Gatte der ält¬
lichen Frau, welche neben Mathilden geſeſſen war,
both der Hausfrau den Arm, um ſie über die Treppe
[329] hinab zu geleiten, dasſelbe that mein Gaſtfreund mit
der ältlichen Frau. Einige Paare entſtanden noch
auf dieſe Weiſe, das Andere ging gemiſcht. Ich blieb
ſtehen, und ließ die Leute an mir vorüber gehen, um
mich nicht vorzudrängen. Natalie ging mit einem
ſchönen Mädchen an mir vorüber, und ſprach mit
demſelben als ſie an mir vorbei ging. Ich war mit
Roland und Guſtav der lezte, welcher über die Treppe
hinab ging. Im Garten war es ſo, wie es bei
einer größeren Anzahl von Gäſten in ähnlichen Fällen
immer zu ſein pflegt. Man bewegte ſich langſam vor¬
wärts, man blieb bald hier bald da ſtehen, betrachtete
dieſes oder jenes, beſprach ſich, ging wieder weiter,
löſte ſich in Theile, und vereinigte ſich wieder. Ich
achtete auf alles, was geſprochen wurde, gar nicht.
Natalie ſah ich mit demſelben Mädchen gehen, mit
dem ſie an mir in dem Geſellſchaftszimmer vorüber
gegangen war, dann geſellten ſich noch ein paar hinzu.
Ich ſah ſie mit ihrem lichtbraunen Seidenkleide zwi¬
ſchen andern hervorſchimmern, dann ſah ich ſie wie¬
der nicht, dann ſah ich ſie abermals wieder. Ge¬
büſche deckten ſie dann ganz. Die jungen Männer,
welche ich in der Geſellſchaft getroffen hatte, gingen
bald mit dem älteren Theile bald mit dem jüngeren.
[330] Roland und Guſtav geſellten ſich zu mir, und wenn
Guſtav fragte, wie es dort ausſehe, wo ich jezt gear¬
beitet habe, ob hohe Berge ſind weite Thäler, und
ob es ſo freundlich iſt wie am Lauterſee, und ob ich
noch weiter vordringen wolle, und in welche Berge
ich dann komme: ſo ſprach Roland wieder von den
Anweſenden, und nannte mir manchen, und erzählte
mir von ihren Verhältniſſen. Durch ſeine Reiſen in
dem Lande durch ſeinen Aufenthalt in Kirchen Kapel¬
len verfallenen Schlöſſern und an allen bedeutenderen
Orten erfuhr er mehr als irgend ein anderer erfahren
konnte, und durch ſein lebhaftes Weſen und ſein gu¬
tes Gedächtniß wurde er zur Erforſchung angeleitet,
und war im Stande, das Erforſchte zu bewahren.
Die ältliche Frau, welche wir bei unſerem Eintritte
in das Geſellſchaftszimmer neben Mathilden ſizen ge¬
ſehen hatten, war die Beſizerin eines großen Anwe¬
ſens etwa eine halbe Tagereiſe von dem Sternenhofe
entfernt. Ihr Name war Tillburg, wie auch ihr
Schloß hieß. Sie hatte ſich mit allen Annehmlichkei¬
ten und mit allem, was prächtig war, umringt. Ihre
Gewächshäuſer waren die ſchönſten im Lande, ihr
Garten enthielt alles, was in der Zeit als vorzüglich
auftauchte, und wurde von zwei Gärtnern und einem
[331] Obergärtner nebſt vielen Gehilfen beſorgt, ihre Zim¬
mer wieſen Geräthe und Stoffe von allen Hauptſtäd¬
ten der Welt auf, und ihre Wägen waren das Be¬
quemſte und Zierlichſte, was man in dieſer Art hatte.
Gemälde Bücher Zeitſchriften kleine Spielereien wa¬
ren in ihren Wohnzimmern zerſtreut. Sie machte
Beſuche in der Umgegend, und empfing auch ſolche
gerne. Im Winter iſt ſie ſelten in ihrem Schloſſe und
immer nur auf kurze Zeit, ſie macht gerne Reiſen,
und hält ſich beſonders oft in ſüdlichen Gegenden
auf, von denen ſie Merkwürdigkeiten zurückbringt.
Sie war die einzige Tochter und Erbin ihrer Eltern,
ein Bruder, den ſie hatte, war in der zarteſten Jugend
geſtorben. Der Mann mit dem freundlichen Ange¬
ſichte, welcher Mathilden aus dem Saale geführt
hatte, war ihr Gatte. Er war ebenfalls das einzige
Kind reicher Eltern, die Verbindung hatte ſich erge¬
ben, und ſo waren zwei große Vermögen in eins zu¬
ſammen gekommen. Er theilte nicht gerade die Lieb¬
habereien ſeiner Gattin, war ihnen aber auch nicht
entgegen. Er hatte keine Leidenſchaften, war einfach,
machte ſeiner Gattin, die er ſehr liebte, gerne eine
Freude, und fand in den Reiſen derſelben, auf denen
er ſie begleitete, halb ſein eigenes Vergnügen halb
[332] eines, weil er das ihrige theilte. Er verwaltete aber
von jeher die Beſizungen ſehr einſichtig. Die Till¬
burg ſtammt von ihm. Einer von den jungen Män¬
nern, die im Geſellſchaftszimmer waren, der ſchlanke
Mann mit den lebhaften dunkeln Augen iſt der
Sohn und zwar das einzige Kind dieſer Eheleute,
er iſt gut erzogen worden, und man kann nicht wiſ¬
ſen, ob von Tillburg her nicht zartere Beziehungen
zu dem Sternenhofe gewünſcht werden.
Guſtav machte bei dieſen Worten eine leichte Sei¬
tenbewegung gegen Roland, ſah ihn an, ſagte aber
nichts.
Ich erinnerte mich der Tillburg, die ich ſehr gut
kannte aber nie betreten hatte. Ich war öfter in ihrer
Nähe vorüber gekommen, und hatte die vier runden
Thürme an ihren vier Ecken, denen man in der neue¬
ren Zeit eine lichte Farbe gegeben hatte, eine Tünche,
wie man ſie gerade jezt von dem Sternenhofe wieder
weg haben will, nicht angenehm empfunden, wie ſie
ſich ſo ſcharf von dem Grün der nahen Bäume und
dem Blau der fernen Berge und des Himmels abho¬
ben, welchen lezteren ſie beinahe finſter machten.
„Der kleinere Mann mit den weißen Haaren, der
in der Nähe des mittleren Fenſters geſeſſen und öfter
[333] aufgeſtanden war,“ fuhr Roland fort, „iſt der Beſizer
von Haßberg. Sein Vater hatte die Beſizung erſt ge¬
kauft, und ſie urſprünglich für einen jüngeren Sohn
beſtimmt, da der ältere das Stammgut Weißbach er¬
ben ſollte; allein der jüngere Sohn und der Vater
ſtarben, und ſo hatte der ältere Weißbach und Ha߬
berg. Er übergab nach einiger Zeit ſeinem Sohne
das Stammgut, und zog ſich nach Haßberg zu¬
rück. Er iſt einer jener Männer, die immer erfinden
und bauen müſſen. In Weißbach hat er ſchon meh¬
rere Bauten aufgeführt. In Haßberg richtete er eine
Muſterwirthſchaft ein, er verbeſſerte die Felder und
Wieſen, und friedigte ſie mit ſchönen Hecken ein, er
errichtete einen auserleſenen Viehſtand, und führte in
geſchüzten Lagen den Hopfenbau ein, der ſich unter
ſeine Nachbarn verbreitete und eine Quelle des Wohl¬
ſtandes eröffnete. Er dämmte dem Ritfluſſe Wieſen
ab, er mauerte die Ufer des Mühlbaches heraus, er
baute eine Flachsröſtanſtalt, baute neue Ställe Scheu¬
ern Trockenhäuſer Brücken Stege Gartenhäuſer, und
ändert im Innern des Schloſſes beſtändig um. Er iſt
im Laufe des ganzen Tages mit Nachſchauen und
Anordnen beſchäftigt, zeichnet und entwirft in der
Nacht, und wenn irgendwo im Lande über Führung
[334] einer Straße oder Anlegung eines Bewirthſchaftungs¬
planes oder Errichtung eines Gebäudes Rath gepflo¬
gen wird, ſo wird er gerufen, und er macht bereitwil¬
lig die Reiſen auf ſeine eigenen Koſten. Selbſt bei der
Regierung des Landes iſt ſein Wort nicht ohne Be¬
deutung. Die Frau mit dem aſchgrauen Kleide iſt
ſeine Gattin und die zwei Mädchen, welche vor Kur¬
zem mit Natalie gegen die Eichen zugingen, ſind ſeine
Töchter. Frau und Töchter reden ihm zu, er ſolle
ſich mehr Ruhe gönnen, da er ſchon alt wird, er ſagt
immer: ‚Das iſt das Lezte, was ich baue;‘ allein ich
glaube, den lezten Plan zu einem Baue wird er auf
ſeinem Todtenbette machen. Unſer Freund hält in
dieſen Dingen große Stücke auf ihn.“
Da wir um die Ecke eines Gebüſches bogen, und
gegen die Eichen, welche an der Eppichwand ſtehen,
zugingen, ſahen wir wieder eine Menſchengruppe vor
uns. Roland, der einmal im Zuge war, ſagte: „Der
Mann in dem feinen ſchwarzen Anzuge, vor dem ſeine
Gattin in dem nelkenbraunen Seidenkleide geht, iſt
der Freiherr von Wachten, deſſen Sohn hier eben¬
falls zugegen iſt, ein Mann von mittelgroßer Geſtalt,
der im Geſellſchaftszimmer ſo lange am Eckfenſter
geſtanden war, ein junger Mann von vielen ange¬
[335] nehmen Eigenſchaften, der aber zu oft in den Ster¬
nenhof kömmt, als daß es ſich durch bloßen Zufall
erklären ließe. Der Freiherr verwaltet ſeine Beſizun¬
gen gut, er hat keine beſondere Vorliebe, hält alles
und jedes in der ihm zugehörigen Ordnung, und
wird immer reicher. Da er nur den einzigen Sohn
und keine Tochter hat, ſo wird die künftige Gattin ſei¬
nes Sohnes eine ſehr anſehnliche und ſehr reiche Frau.
Die Familie lebt im Winter häufig in der Stadt.
Die Güter liegen etwas zerſtreut. Thondorf mit den
ſchönen Wieſen und dem großen Waldgarten müßt
ihr ja kennen.“
„Ich kenne es,“ antwortete ich.
„Auf dem Randek hat er ein zerfallendes Schloß,“
fuhr Roland fort, „in welchem wunderſchöne Thüren
ſind, die aus dem ſechzehnten Jahrhunderte ſtammen
dürften. Der Verwalter räth ihm, die Thüren nicht
herzugeben, und ſo zerfallen ſie nach und nach. Sie
ſind in unſern Zeichnungsbüchern enthalten, und
würden Gemächer im Stile jener Zeit gebaut und
eingerichtet ſehr zieren. Sogar zu Tiſchen oder ande¬
ren Dingen, falls man ſie als Thüren nicht verwen¬
den könnte, würden ſie ſehr brauchbar ſein. Ich habe
auch in der ſehr zerfallenen Kapelle von Randek außer¬
[336] ordentlich ſchöne Tragſteine gezeichnet. Meiſtens
wohnt der Freiherr im Sommer in Wahlſtein ſchon
ziemlich tief in den Bergen, wo die Elm hervor¬
ſtrömt.“
„Ich kenne den Siz,“ antwortete ich, „und kenne
auch die Familie im Allgemeinen.“
„Der Mann mit den ſchneeweißen Haaren,“ ſprach
Roland weiter, „heißt Sandung, er veredelt die
Schafzucht, und der eine von den zwei neben ihm
gehenden Männern iſt der Beſizer des ſogenannten
Berghofes ein allgemein geachteter Mann und der
andere iſt der Oberamtmann von Landegg. Es fehlen
noch die vom Inghof, dann ſind mehrere Vertreter
der hier herum wohnenden Leute vorhanden. Ich
theile ſie, wenn ich in meiner Liebhaberei im Lande
herum reiſe, nach ihren Liebhabereien in Gruppen
ein, und man könnte eine Landmappe ſo nach dieſen
Liebhabereien mit Farben zeichnen, wie ihr die Ge¬
birge mit Farben zeichnet, um das Vorkommen der
verſchiedenen Geſteine anzuzeigen.“
Da wir wieder eine Wendung machten, ganz
nahe an der rechten Seite der Eppichwand, ging Ma¬
thilde mit der Frau von Tillburg auf einem Neben¬
wege gegen uns hervor. Sie blieb vor uns ſtehen,
[337] und ſagte zu mir: „Ihr habt meiner Brunnennimphe
nicht ſo viel Aufmerkſamkeit geſchenkt, als ihr ſolltet;
ihr zieht die Geſtalt auf der Treppe unſers Freundes
zu ſehr vor. Sie verdient es wohl; allein ihr müßt
doch die hieſige auch ein wenig genauer anſehen, und
ſie mir ein wenig ſchön heißen.“
„Ich habe ſie ſchön geheißen,“ erwiederte ich, „und
wenn meine ganz unbedeutende Meinung etwas gilt,
ſo ſoll ihr die Anerkennung gewiß nicht entgehen.“
„Wir beſuchen nun ohnehin alle die Grotte,“ ent¬
gegnete ſie.
Nach dieſen Worten ging ſie mit ihrer Begleiterin
auf dem Hauptwege gegen die Eppichwand vor, wir
folgten. Die anderen kamen in verſchiedenen Rich¬
tungen herzu, und man ging zu der Marmorgeſtalt
in der Brunnenhalle.
Einige gingen hinein, andere blieben mehr am
Eingange ſtehen, und man redete über die Geſtalt.
Dieſe ruhte indeſſen in ihrer Lage, und die Quelle
rann ſanft und ſtettig fort. Es waren nur allgemeine
Dinge, welche über das Bildwerk geſprochen wurden.
Mir kam es fremd vor, die gepuzten Menſchen in den
verſchiedenfarbigen Kleidern vor dem reinen weißen
Stifter, Nachſommer. II. 22[338] weichen Marmor ſtehen zu ſehen. Roland und ich
ſprachen nichts.
Man entfernte ſich wieder von dem Marmor,
ging langſam an der Eppichwand hin, und ſtieg die
Stufen zu der Ausſicht empor. Auf dieſer verweilte
man eine Zeit, und ging dann gegen die Linden zu¬
rück. Nach Betrachtung der Linden und des ſchönen
Plazes unter ihnen begab ſich der Zug wieder auf den
Rückweg in das Schloß. Euſtach hatte ich beinahe die
ganze Zeit nicht geſehen.
Zugleich mit uns kamen im Schloſſe Wägen an,
in denen die von Ingheim und noch einige Gäſte
ſaßen. Nachdem man ſich bewillkommt hatte, und
nachdem die Angekommenen ſich von den überflüſ¬
ſigen Reiſekleidern befreit hatten, theilte ſich, wie
es bei ähnlichen Gelegenheiten ſtets vorkömmt, die
Geſellſchaft in Gruppen, von denen einige vor dem
Hauſe ſtanden und plauderten, andere auf den Sand¬
wegen im Raſen herumgingen, wieder andere gegen
den Meierhof wandelten. Als die Abendröthe hinter
den Bäumen erſchien, die in ſchönen Zeilen im We¬
ſten des Schloſſes die Felder ſäumten, und als ihr
Glühen immer bläſſer wurde und dem Gelb des
Spätabends Plaz machte, ſammelten ſich die Leute
[339] wieder. Die einen kehrten von ihrem Spaziergange
die anderen von ihrem Geſpräche die dritten von
ihrer Betrachtung verſchiedener Gegenſtände zurück,
und man begab ſich in das Speiſezimmer. In dem¬
ſelben begann nun ein Abend, wie ſie auf dem Lande,
wo man von dem Umgange mit Seinesgleichen viel
ausgeſchloſſener iſt, zu den vergnügteſten gehören.
Ich habe dieſe Betrachtung, da ich im Sommer im¬
mer ferne von der Stadt war, öfter machen können.
Da man Menſchen, mit denen man gleiche Geſinnun¬
gen und gleiche Meinungen hat, auf dem Lande viel
ſeltener ſieht als in der Stadt, da man mit dem
Raume nicht ſo kargen muß wie in der Stadt, wo
jede Familie nur das mit vielen Koſten erſchwingt,
was ſie für ſich und nächſte Angehörige braucht, da
die Lebensmittel auf dem Lande gewöhnlich aus der
erſten und unmittelbaren Quelle bei der Hand ſind,
auch ſtrenge Anforderungen hierin nicht gemacht wer¬
den: ſo iſt man auf dem Lande viel gaſtfreundlicher
als in der Stadt, und Gelegenheiten, wo man ſich
in einem Zimmer und um einen Tiſch verſammelt,
werden da viel fröhlicher ungezwungener und auch
herzlicher begangen, weil man ſich freut, ſich wieder
zu ſehen, weil man um alles fragen will, was ſich an
22 *[340] den verſchiedenen Stellen, woher die Ankömmlinge
gekommen ſind, zugetragen hat, weil man die eigenen
Erlebniſſe mittheilen, und weil man ſeine Anſichten
austauſchen will.
Der Tiſch war ſchon gedeckt, der Hausverwalter
wies allen ihre Pläze an, die zur Vermeidung von
dennoch möglichen Verwirrungen noch überdieß durch
von ſeiner Hand geſchriebene Zettel bezeichnet wa¬
ren, und man ſezte ſich. Der Mann hatte geſorgt,
daß ſolche, die ſich gut kannten, nahe zuſammen ka¬
men. Deßohngeachtet ſchritt man mit der Freimüthig¬
keit des Landes und alter Bekannter dazu, die Zettel
noch zu verwechſeln, und ſich gegen die Anordnungen
des Mannes zuſammen zu ſezen. Von der Decke des
Zimmers hing eine ſanft brennende Lampe hernieder,
und außer ihr wurde die Tafel noch durch vertheilte
ſtrahlende Kerzen erhellt. Mathilde nahm den Mit¬
telſiz ein, und richtete ihre Freundlichkeit und ihr
ruhiges Weſen gegen alle, die in ihrem Bereiche wa¬
ren, und ſelbſt gegen die entfernteſten Pläze ſuchte
ſie ihre Aufmerkſamkeit zu erſtrecken. Die bekannteren
und älteren Gäſte ſaßen ihr zunächſt, die jüngeren
entfernter. Julie die Tochter Ingheims mit den hei¬
teren braunen Augen ſaß mir faſt gegenüber, ihre
[341] Schweſter die blauäugige Apollonia etwas weiter un¬
ten. Sie hatten ſehr geſchmackvolle Kleider an, das
Geſchmeide, das ſie trugen, hätte, wie ich meinte,
etwas weniger ſein ſollen. Neben beiden ſaßen die
jungen Männer Tillburg und Wachten. Natalie ſaß
zwiſchen Euſtach und Roland. Ob es ſo angeordnet,
ob es ihre eigene Wahl war, wußte ich nicht. Man
trug ein einfaches Mahl auf, und fröhliche Geſpräche
belebten es. Man ſprach von den Begebniſſen der
Gegend, man neckte ſich mit kleinen Erlebniſſen, man
theilte ſich Erfahrungen mit, die man in ſeinem Kreiſe
gemacht hatte, man ſprach von Büchern, die in der
Gegend neu waren, und beurtheilte ſie, man erzählte,
was man im Bereiche ſeiner Liebhaberei Neues er¬
worben, was man für Reiſen gemacht und was man
für fernere vorhabe. Auch auf die Geſchichte des Lan¬
des kam es, auf ſeine Verwaltung, auf Verbeſſerun¬
gen, die zu machen wären, und aus Schäze, die noch
ungehoben liegen. Selbſt Wiſſenſchaft und Kunſt
war nicht ausgeſchloſſen. Mancher Scherz erheiterte
die Anweſenden, und man ſchien ſehr vergnügt, ſich
ſo in einen Kreis verſammelt zu haben, wo ſich Neues
ergab, und wo man Altes wieder beleben konnte.
Nach ein paar ſchnell vergangenen Stunden ſtand
[342] man auf, die Lichter zu dem Gange in die verſchiede¬
nen Schlafgemächer wurden angezündet, und man
begab ſich allmählich zur Ruhe.
Am andern Morgen nach dem Frühmahle, da die
höher geſtiegene Sonne die Gräſer bereits getrocknet
hatte, begab man ſich in das Freie, um das Urtheil
über die Arbeiten an der Vorderſeite des Hauſes zu
fällen. Alle gingen mit. Selbſt Dienerſchaft ſtand
ſeitwärts in der Nähe, als ob ſie wüßte, was ge¬
ſchehe — und ſie wußte es wohl auch — und als ob
ſie ſich dabei betheiligen ſollte. Man ging einige hun¬
dert Schritte von der Vorderſeite des Hauſes weg,
wendete ſich dann um, blieb im Graſe ſtehen, und
betrachtete die von der Tünche befreite Wand. Hier¬
auf umging man in einem weiten Bogen eine Ecke
des Hauſes, um auch eine Wand zu ſehen, auf wel¬
cher ſich noch die Tünche befand. Nachdem man bei¬
des wohl angeſchaut hatte, nahm man einen Stand
ein, der beide Anſichten geſtattete.
Nach und nach wurden Meinungen laut. Man
fragte zuerſt die älteren und anſehnlicheren Gäſte.
Dieſe gaben faſt alle ihr Urtheil unbeſtimmt und mit
Vorſicht ab. Beide Einrichtungen hätten ihr Gutes,
an beiden wird etwas auszuſtellen ſein, und es komme
[343] auf Geſchmack und Vorliebe an. Da das Geſpräch
allgemeiner wurde, traten ſchon manche Meinungen
abgeſchloſſener hervor. Einige ſagten, es ſei etwas
Beſonderes und nicht überall Vorkommendes, die nack¬
ten Steine aus einer Wand ſtehen zu laſſen. Wenn
die Koſten nicht zu ſcheuen ſind, möge man es an dem
ganzen Schloſſe ſo machen, und man habe dann et¬
was ſehr Eigenes. Andere meinten, es ſei doch überall
Sitte, die Wände ſelbſt gegen Außen mit einer Tünche
zu bekleiden, ein licht getünchtes Haus ſei ſehr freund¬
lich, darum hätten auch die Vorbeſizer dieſes Hauſes
ſo gethan, um ſein Anſehen dem neuen Geſchmacke
näher zu bringen. Darauf ſagten wieder andere, die
Gedanken der Menſchen ſeien wechſelvoll, einmal
habe man die großen viereckigen Steine, aus denen
das Äußere dieſer Wände beſtehe, nackt hervor ſehen
laſſen, ſpäter habe man ſie überſtrichen, jezt ſei eine
Zeit gekommen, wo man wieder auf das Alte zurück
gehe, und es verehre, man könne alſo die Steine wie¬
der nackt legen. Mein Gaſtfreund vernahm die Mei¬
nungen, und antwortete in unbeſtimmten und nicht
auf eine einzelne Anſicht geſtellten Worten, da alles,
was geſagt wurde, ſich ungefähr in demſelben Kreiſe
bewegte. Mathilde ſprach nur Unbedeutendes, und
[344] Euſtach und Roland ſchwiegen ganz. Von der feuri¬
gen Natur des lezten wunderte es mich am meiſten.
Ich ſchloß aus dieſer Thatſache, daß meine Freunde
ihre Meinung entweder ſchon gefaßt hatten, oder daß
ſie dieſelbe erſt für ſich faſſen wollten. Dieſe eben ab¬
gehaltene Beſchau erſchien mir alſo als etwas Allge¬
meines Unweſentliches als eine nachbarliche Artigkeit
als eine Gelegenheit, zuſammen zu kommen, um ſich
gemeinſchaftlich zu ſehen und zu ſprechen, wie man
es bei andern Anläſſen auch thut.
Mir erſchien die Bloslegung der Steine unbe¬
dingt als das Natürlichſte. Wie ich wohl ſchon er¬
kennen gelernt hatte, iſt bei Denkmälern — und je
größer und würdiger ſie ſein ſollen, um deſto mehr iſt
dies der Fall — der Stoff nicht gleichgültig, und
dann darf er aber nicht mit Fremdartigem vermengt
werden. Ein Siegesbogen, ſelbſt wenn er unter Dach
ſteht, darf von Marmor ſein, weniger ſchon von Zie¬
geln oder Holz, ganz und gar nicht von gegoſſenem
Eiſen oder feſtgeklebtem Papier. Eine Bildſäule kann
von Marmor Metall oder Holz ſein, weniger von
groben Steinen, ganz und gar nicht von allerlei zu¬
ſammengefügten Beſtandtheilen. Unſere neuen Häu¬
ſer, die nur beſtimmt ſind, Menſchen aufzunehmen,
[345] um ihnen Obdach zu geben, haben nichts Denkmal¬
artiges, ſei es ein Denkmal für den Glanz einer Fa¬
milie, ſei es ein Denkmal der abgeſchloſſenen und
wohlgenoſſenen Wohnlichkeit für irgend ein Ge¬
ſchlecht. Darum werden ſie fachartig aus Ziegeln ge¬
baut, und mit einer Schicht überſtrichen, wie man
auch lackirtes Geräthe macht, oder künſtliches Geſtein
malt. Schon die aus bloßem Holze zur Wohnung
eines Geſchlechtes in unſern Gebirgsländern (nicht
zur Spielerei in Gärten) erbauten Häuſer haben
Denkmalartiges, noch mehr die Schlöſſer, die aus
feſten Steinen gefügt ſind, die Thorbogen die Pfeiler
die Brücken und noch mehr die aus Stein gebauten
Kirchen. Daraus ergab ſich mir von ſelber, daß die¬
jenigen, die dieſes Schloß ſo bauten, daß die Außen¬
ſeiten der Wände feſt gefügte viereckige unbeſtrichene
Steine ſind, Recht gehabt haben, und daß die, welche
die Steine beſtrichen, im Unrechte waren, und daß
die, welche ſie wieder blos legen, abermals im Rechte
ſind. Ich ſah, daß man an ſämmtlichen Steinen,
weil ſonſt die Kalktünche nicht zu vertilgen geweſen
wäre, die Oberfläche mit ſcharfen Hämmern erneuert
hatte. Dies gab wohl den Steinen etwas, das ein
lichteres Grau iſt, als die alten Simſe und Trag¬
[346] ſteine hatten, die nicht getüncht waren; allein durch
Zeit und Wetter werden ſich auch die erneuerten
Steinoberflächen wieder dunkler färben.
Man ging, da man eine Weile geſprochen hatte,
obwohl ein eigentliches Urtheil nicht gefällt worden
war, wieder in das Haus zurück, und auch die Die¬
nerſchaft, welche zugeſchaut hatte, ging auseinander,
gleichſam als ob die Sache jezt aus wäre.
In dem Hauſe zerſtreuten ſich die Gäſte, manche
begaben ſich in Zimmer, manche gingen in das Freie.
Ich nahm in meinem Schlafgemache, wozu mir
das nehmliche Zimmer, welches ich früher bewohnt
hatte, angewieſen worden war, einen leichteren Hut,
und einen bequemeren Rock, und ging dann auch in
den Garten. Ich ging ganz allein in einem dunkeln
Gange zwiſchen Gebüſchen hin, und es war mir
wohl, daß ich allein war. Ich ſchlug die abgelegenen
wenig gangbaren und auch weniger im Stande ge¬
haltenen Wege ein, damit ich niemanden begegne,
und damit ſich niemand zu mir geſelle. Es war auch
wirklich kein Menſch in den Gängen, und ich ſah nur
kleine Vögel, welche ungeſcheut in ihnen liefen, und
Futter von der Erde pickten. Ich umging den Linden¬
plaz, und kam hinter ihm aus dem Gebüſche heraus.
[347] Von da ging ich in einem großen Umwege der Eppich¬
wand zu, und hatte vor, in die Nimphengrotte zu tre¬
ten, wenn niemand in ihr wäre. Als ich ſchon nahe
an der Grotte war, und ſchief in dieſelbe blicken
konnte, ſah ich, daß Natalie auf dem Marmorbänk¬
lein ſize, welches ſich ſeitwärts von der Nimphenge¬
ſtalt befand. Sie ſaß an dem innerſten Ende des
Bänkleins. Ihr blaßgraues Seidenkleid ſchimmerte
aus der dunkeln Höhlung heraus. Einen Arm ließ
ſie an ihrer Geſtalt ruhen, den andern hatte ſie auf
die Lehne des Bänkleins geſtüzt, und barg die Stirn
in ihrer Hand. Ich blieb ſtehen, und wußte nicht,
was ich thun ſollte. Daß ich nicht in die Grotte
gehen wolle, war mir klar; allein die kleinſte Wen¬
dung, die ich machte, konnte ein Geräuſch erregen,
und ſie ſtören. Aber ohne daß ich ein Geräuſch machte,
ſah ſie auf, und ſah mich ſtehen. Sie erhob ſich,
ging aus der Grotte, ging mit beeilten Schritten an
der Eppichwand hin, und entfernte ſich in das Ge¬
büſch. In Kurzem ſah ich den Schimmer ihres Klei¬
des verſchwinden. Eine ganz kleine Zeit blieb ich
ſtehen, dann ging ich in die Grotte hinein. Ich ſezte
mich auf dieſelbe Marmorbank, auf der ſie geſeſſen
war, und ſah in das Rinnen des Waſſers, ſah auf
[348] die einſame Alabaſterſchale, die neben dem Becken
ſtand, und ſah auf den ruhigen glänzenden Mar¬
mor. Ich ſaß ſehr lange. Da ſich Stimmen näher¬
ten, und da ich vermuthen mußte, daß man die Brun¬
nengeſtalt beſuchen würde, ſtand ich auf, ging aus
der Grotte, ging in das Gebüſch, und begab mich
auf denſelben Wegen, auf denen ich gekommen war,
in das Schloß zurück.
Der Mittag vereinigte noch einmal alle Gäſte bei
dem Mahle. Mehrere von ihnen hatten beſchloſſen,
gleich nach demſelben fort zu fahren, um noch vor der
Nacht ihre Heimath zu erreichen. Man brachte einen
fröhlichen Trinkſpruch aus auf die ſchöne Geſtaltung
des Schloſſes und einen Dank für die herzliche Bewir¬
thung. Der Spruch wurde mit einem Wunſche für
das Wohl der Geſellſchaft und für baldiges Wieder¬
ſehen erwiedert. Die heitere Sommerſonne verklärte
das Zimmer, und die Blumen des Gartens ſchmück¬
ten es.
Nach dem Mahle fuhren mehrere der Gäſte fort,
und im Laufe des Nachmittages entfernten ſich alle.
Wir, die nach dem Asperhofe mußten, hatten
beſchloſſen, morgen früh abzufahren.
Bei dem Abendeſſen kam das Geſpräch auf das
[349] Unternehmen an dem Hauſe. Ich ſah, daß die Übrig¬
gebliebenen ſchon einig waren. Es ſprach nun mein
Gaſtfreund, es ſprachen Euſtach und Roland. Sie
hatten alle meine Anſicht. Ich wurde aufgefordert,
auch meine Meinung zu ſagen. Ich ſprach ſie nach
meiner innern Empfindung aus. Alle mochten ſie
wohl ſo erwartet haben. Über den Aufwand zur
Deckung der künftigen Koſten ſprach mein Gaſtfreund
mit Mathilden beſonders. Durch das Abſchlagen der
Steine mit ſcharfen Hämmern hatten ſich die Ausla¬
gen größer gezeigt, als man Anfangs vermuthen
konnte. Mein Gaſtfreund rieth daher, daß man die
Arbeit auf längere Friſten ausdehnen ſolle, wodurch
die Koſten weniger empfindlich würden, und, da doch
das Schaffen des Schönen das Vergnügen bilde,
dieſes Vergnügen ſich verlängere. Man billigte den
Vorſchlag, und freute ſich auf das Wachſen des Ed¬
leren, und freute ſich auf den Augenblick, wenn das
Haus in einem würdigen Gewande da ſtehen würde,
und man die Beruhigung hätte, es ſo dem künftigen
Beſizer übergeben zu können.
Mit dem Anbruche des nächſten Tages fuhren
mein Gaſtfreund Euſtach Roland Guſtav und ich auf
dem Wege nach dem Roſenhauſe dahin.
[350]
Als ich in Hinſicht der eben zugebrachten Tage
etwas über das Landleben ſagte, und die Annehm¬
lichkeiten desſelben berührte, und als wir eine Zeit
über dieſen Gegenſtand geſprochen hatten, ſagte mein
Gaſtfreund: „Das geſellſchaftliche Leben in den
Städten, wenn man es in dem Sinne nimmt, daß
man immer mit fremden Perſonen zuſammen iſt, bei
denen man entweder mit andern zum Beſuche iſt, oder
die mit andern bei uns ſind, iſt nicht erſprießlich.
Es iſt das nehmliche Einerlei wie das Leben in Or¬
ten, die den großen Städten nahe ſind. Man ſehnt ſich
ein anderes Einerlei aufzuſuchen; denn wohl iſt jedes
Leben und jede Äußerung einer Gegend ein Einerlei,
und es gewährt einen Abſchluß, von dem einen Einer¬
lei in ein anderes über zu gehen. Aber es gibt auch
ein Einerlei, welches ſo erhaben iſt, daß es als Fülle
die ganze Seele ergreift, und als Einfachheit das All
umſchließt. Es ſind erwählte Menſchen, die zu dieſem
kommen, und es zur Faſſung ihres Lebens machen
können.“
„In der Weltgeſchichte kömmt wohl Ähnliches
vor,“ ſagte ich.
„In der Weltgeſchichte kömmt es vor,“ antwortete
er, „wo ein Menſch durch eine große That, die ſein
[351] Leben erfüllt, dieſem Leben eine einfache Geſtalt geben
kann, abgelöſt von allem Kleinlichen — in der Wiſ¬
ſenſchaft, wo ein großartiges Feld höchſten Erringens
vor dem Menſchen liegt — oder in der Klarheit und
Ruhe der Lebensanſchauungen, die endlich Alles auf
einige ausgedehnte aber einfältige Grundlinien zurück
führt. Jedoch ſind auch hier Maße und Abſtufungen
wie in allen andern Dingen des Lebens.“
„Von den zwei Hauptzeiträumen, welche das
menſchliche Geſchlecht betroffen haben,“ erwiederte
ich, „von dem ſogenannten antiken und dem heutigen
dürfte wohl der griechiſch-römiſche das Meiſte von
dem Geſagten aufzuweiſen haben.“
„Wir wiſſen zulezt gar nicht, welche Zeiträume es
in der Geſchichte gegeben hat,“ antwortete er. „Die
Griechen und Römer ſind unſerer Zeit am nächſten,
wir ſind aus ihnen hervor gegangen, und wiſſen von
ihnen auch das Meiſte. Wer weiß, wie viele Völker¬
abſchnitte es gegeben hat, und wie viele unbekannte
Geſchichtsquellen noch verborgen ſind. Wenn einmal
ganze Reihen ſolcher Völkerzuſtände wie Griechen-
und Römerthum vorliegen, dann läßt ſich eher über
unſere Frage etwas ſagen. Oder ſind etwa ſolche
Reihen nur dageweſen und vergeſſen worden, und
[352] werden überhaupt die hinterſten Stücke der Weltge¬
ſchichte vergeſſen, wenn ſich vorne neue anſezen, und
ihrer Entwicklung entgegen eilen? Wer wird dann
nach zehntauſend Jahren noch von Hellenen oder von
uns reden? Ganz andere Vorſtellungen werden kom¬
men, die Menſchen werden ganz andere Worte haben,
mit ihnen in ganz anderen Säzen reden, und wir
würden ſie gar nicht verſtehen, wie wir nicht verſtehen
würden, wenn etwas zehntauſend Jahre vor uns ge¬
ſagt worden wäre, und uns vorläge, ſelbſt wenn wir
der Sprache mächtig wären. Was iſt dann jeder
Ruhm? Aber kehren wir zu unſerem Gegenſtande zu¬
rück, und ſehen wir von Egiptern Aſſirern Indern
Medern Hebräern Perſern, von denen Kunde zu uns
herüber gekommen iſt, ab, und vergleichen wir uns
nur allein mit der griechiſch-römiſchen Welt, ſo dürfte
in ihr wirklich mehr einfache Lebensgröße gelegen ſein
als in der unſern liegt. Ich verwundere mich oft,
wenn ich in der Lage bin, zu entſcheiden, welchen von
beiden ich den Preis geben ſoll, Cäſars Thaten oder
Cäſars Schriften, wie ſehr ich im Schwanken begrif¬
fen bin, und wie wenig ich es weiß. Beides iſt ſo
klar ſo ſtark ſo unbeirrt, daß wir wenig deßgleichen
haben dürften.“
„Jene alten Verhältniſſe des Handelns und Den¬
kens waren aber, wie ich glaube, auch weniger ver¬
wickelt als die unſrigen,“ ſagte ich.
„Sie hatten einen nicht ſo ausgedehnten Schau¬
plaz, wie wir,“ erwiederte er, „obwohl auch der Plaz
der Thaten zu Cäſars Zeit — Brittanien Gallien
Italien Aſien Afrika —, oder zu Alexanders Zeit —
Griechenland und Orient — nicht ganz klein war.
Ihre Verhältniſſe nach Außen geſtalteten ſich daher
leichter; aber im Innern dürften ſie bei der großen
Zahl der mithandelnden Perſonen, von denen die
meiſten Stimme und Gewalt in Staatsdingen hat¬
ten, nicht ſo leicht geweſen ſein, und die Macht,
dieſe Gemüther durch Wort Erſcheinung und Hand¬
lung zu gewinnen und zu leiten, dürfte ſchwierig zu
erwerben geweſen ſein, und dürfte eben dem Weſen
eines Mannes die feſte Geſtalt aufgedrückt haben, die
wir ſo oft an ihm bewundern. Unſere Zeit iſt eine ganz
verſchiedene. Sie iſt auf den Zuſammenſturz jener
gefolgt, und erſcheint mir als eine Übergangszeit,
nach welcher eine kommen wird, von der das grie¬
chiſche und römiſche Alterthum weit wird übertroffen
werden. Wir arbeiten an einem beſondern Gewichte
der Weltuhr, das den Alten, deren Sinn vorzüglich
Stifter, Nachſommer. II. 23[354] auf Staatsdinge auf das Recht und mitunter auf die
Kunſt ging, noch ziemlich unbekannt war, an den
Naturwiſſenſchaften. Wir können jezt noch nicht
ahnen, was die Pflege dieſes Gewichtes für einen
Einfluß haben wird auf die Umgeſtaltung der Welt
und des Lebens. Wir haben zum Theile die Säze
dieſer Wiſſenſchaften noch als todtes Eigenthum in
den Büchern oder Lehrzimmern, zum Theile haben
wir ſie erſt auf die Gewerbe auf den Handel auf den
Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet,
wir ſtehen noch zu ſehr in dem Brauſen dieſes An¬
fanges, um die Ergebniſſe beurtheilen zu können,
ja wir ſtehen erſt ganz am Anfange des Anfanges.
Wie wird es ſein, wenn wir mit der Schnelligkeit des
Blizes Nachrichten über die ganze Erde werden ver¬
breiten können, wenn wir ſelber mit großer Geſchwin¬
digkeit und in kurzer Zeit an die verſchiedenſten Stel¬
len der Erde werden gelangen, und wenn wir mit
gleicher Schnelligkeit große Laſten werden befördern
können? Werden die Güter der Erde da nicht durch
die Möglichkeit des leichten Austauſchens gemeinſam
werden, daß allen Alles zugänglich iſt? Jezt kann
ſich eine kleine Landſtadt und ihre Umgebung mit
dem, was ſie hat, was ſie iſt, und was ſie weiß, ab¬
[355] ſperren: bald wird es aber nicht mehr ſo ſein, ſie
wird in den allgemeinen Verkehr geriſſen werden.
Dann wird, um der Allberührung genügen zu kön¬
nen, das, was der Geringſte wiſſen und können
muß, um vieles größer ſein als jezt. Die Staaten,
die durch Entwicklung des Verſtandes und durch Bil¬
dung ſich dieſes Wiſſen zuerſt erwerben, werden an
Reichthum an Macht und Glanz vorausſchreiten, und
die andern ſogar in Frage ſtellen können. Welche
Umgeſtaltungen wird aber erſt auch der Geiſt in ſei¬
nem ganzen Weſen erlangen? Dieſe Wirkung iſt bei
Weitem die wichtigſte. Der Kampf in dieſer Rich¬
tung wird ſich fortkämpfen, er iſt entſtanden, weil
neue menſchliche Verhältniſſe eintraten, das Brau¬
ſen, von welchem ich ſprach, wird noch ſtärker wer¬
den, wie lange es dauern wird, welche Übel ent¬
ſtehen werden, vermag ich nicht zu ſagen; aber es
wird eine Abklärung folgen, die Übermacht des Stof¬
fes wird vor dem Geiſte, der endlich doch ſiegen wird,
eine bloße Macht werden, die er gebraucht, und weil er
einen neuen menſchlichen Gewinn gemacht hat, wird
eine Zeit der Größe kommen, die in der Geſchichte
noch nicht dageweſen iſt. Ich glaube, daß ſo Stufen
nach Stufen in Jahrtauſenden erſtiegen werden. Wie
23 *[356] weit das geht, wie es werden wie es enden wird,
vermag ein irdiſcher Verſtand nicht zu ergründen.
Nur das ſcheint mir ſicher, andere Zeiten und andere
Faſſungen des Lebens werden kommen, wie ſehr auch
das, was dem Geiſte und Körper des Menſchen als
lezter Grund inne wohnt, beharren mag.“
Wir gingen nun in manches Einzelne dieſes Stof¬
fes ein, behandelten es im Fahren, und ſuchten die
möglichen Folgen anzugeben. Beſonders wurden
Zweige der Naturwiſſenſchaften genannt, welche vor¬
zugsweiſe vorgeſchritten waren, und Einfluß zu ge¬
winnen ſchienen, wie die Chemie und andere. Roland
war entſchieden für Neuerung, wenn ſie auch Alles
umſtürzte, mein Gaſtfreund und Euſtach hegten den
Wunſch, daß jenes Neue, welches bleiben ſoll, weil es
gut iſt — denn wie vieles Neue iſt nicht gut — nur
allgemach Plaz finden, und ohne zu große Störung
ſich einbürgern möchte. So iſt der Übergang ein län¬
gerer aber er iſt ein ruhigerer und ſeine Folgen ſind
dauernder.
Nach dem Mittagseſſen kam das Geſpräch auf
die Brunnennimphe im Sternenhofe, und mein Gaſt¬
freund erzählte mir, wie ſie erworben worden war.
Ein Mann, der entfernt mit Mathilden verwandt
[357] war, hatte zu ſeinem großen Vermögen noch Erb¬
ſchaften gemacht. Er verlegte ſich auf Sammlungen.
Er hatte Münzen, er hatte Siegel, er hatte keltiſche
und römiſche Alterthümer, Muſikgeräthe Tulpen und
Georginen Bücher Gemälde und Bildſäulen. Er
baute in ſeinem Garten an ſein Haus, welches etwas
erhöht ſtand, eine große Fläche, die er mit Steinen
pflaſterte, und von welcher künſtliche ſteinerne Stufen
in mehreren Richtungen nach dem Garten hinab gin¬
gen. Auf die Brüſtungen dieſer Fläche und auf die
Einfaſſungen der Treppen wurden Bildſäulen geſezt.
Es gehörte zu den größten Vergnügungen des Man¬
nes, auf der Fläche hin und her zu gehen. Das that
er auch oft, wenn die heißeſte Sonne am Himmel
ſtand, und das Pflaſter in die Sohlen brannte.
Außerdem hatte er auch noch Bildſäulen auf den Trep¬
pen des Hauſes und in den Zimmern. Die Nimphe,
welche jezt Mathilde beſizt, hatte er in einem Brun¬
nentempel im Garten. Er hatte ſie von ſeinem Gro߬
oheime geerbt. Sie ſoll zu den Jugendzeiten desſel¬
ben von einem italieniſchen Bildhauer für einen Für¬
ſten verfertigt worden ſein, deſſen ſchneller Tod¬
fall das Übergehen an ihre Beſtimmung vereitelte.
So kam ſie nach mehreren Zufällen an den Gro߬
[358] oheim, der Verbindungen mit dem Künſtler hatte.
Man ſagt, dieſe Bildſäule ſei der Anfang zu der
Bildſäulenliebhaberei des Vetters Mathildens gewe¬
ſen. Als dieſer Mann ſtarb, fand ſich ein lezter Wille
geſchrieben vor, daß alle Kunſtwerke an Kunſtkenner
oder Kunſtliebhaber nicht aber an Händler verkauft
werden, und daß das Geld dafür und die anderen
Dinge, die er hinterlaſſen, und zwar leztere nach
einem Schäzungswerthe unter ſeine entfernten Ver¬
wandten vertheilt werden ſollten; denn Kinder oder
nähere Verwandte hatte er nicht. Da nun die Nimphe
weitaus das ſchönſte Kunſtwerk war, welches er be¬
ſaß, da Mathilde es immer bewundert hatte, da ſie
ſchon im Beſize des Sternenhofes war, und in dem¬
ſelben ſchon ſchöne Gemälde untergebracht hatte: ſo
war es ihr nicht ſchwer, ſich als eine Kunſtliebhaberin
auszuweiſen, und das Bildwerk anzukaufen. Man
gönnte es ihr mehr als einem Fremden, weil auf dieſe
Weiſe das Kunſtwerk gewiſſermaßen in der Familie
blieb, und ſie überdieß auch mehr in die gemein¬
ſchaftliche Erbſchaft zahlte, als ein Fremder gethan
haben würde. Sie brachte das ihr ſo liebe Werk in
den Sternenhof und ſtellte es dort in einem Saale
auf. Erſt lange darnach wurde durch Euſtachs und
[359] meines Gaſtfreundes Bemühungen zwiſchen den
Eichen, die ſchon ſtanden, die Eppichwand und die
Quellengrotte gebaut, und ſo der Geſtalt ein würdiger
und wirkungsvollerer Aufenthaltsort gegeben, da ſie
für den Saal doch immer zu groß und ihre Stellung
und ihre Beſchäftigung unpaſſend geweſen war. Den
Krug, aus welchem das Waſſer rann, hatte ſie ſchon,
das Becken und die Bank ſind neu gemacht worden,
die Alabaſterſchale hat Mathilde aus ihrem Beſiz¬
thume dazu gegeben.
Wir kamen am Abende im Roſenhauſe an. Am
andern Tage bath ich meinen Gaſtfreund, er möge
erlauben, daß ich eine Nachzeichnung von der Zeich¬
nung des Kerberger Altares, die er beſize, mache,
und dieſe Zeichnung meinem Vater zum Geſchenke
bringe. Er erlaubte es ſehr gerne. Die Zeichnung
war nach dem Vorſchlage, welcher auf der Reiſe in
das Hochland gemacht worden war, von Roland ver¬
beſſert worden, und ſo wurde ſie mir übergeben.
Ich ſchloß mich in mein Zimmer ein, und arbei¬
tete mehrere Tage fleißig von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang, bis ich mit der Zeichnung fertig
war. Ich verpackte ſie nun ſehr wohl, und gab mei¬
nem Gaſtfreunde die Urzeichnung zurück.
[360]
Nun hielt ich mich nicht mehr länger in dem As¬
perhofe auf, und eilte in die Tann.
Ich ſtieg dort auf Berge, ich arbeitete ſehr ange¬
ſtrengt, ich ſpielte ſehr viel auf meiner Zither, und
las in meinen Büchern.
Eines Tages gegen den Spätſommer hin hörte
ich mit Allem auf. Ich packte meine Kiſten, that die
Werkzeuge und die Schriften, die ſich auf meine Ar¬
beiten bezogen, in ihre Fächer und Koffer, entließ faſt
alle Leute, verſah die Kiſten mit Aufſchriften, verord¬
nete ihre Verſendung, und ging dann in das Lauter¬
thal. Dort nahm ich nur den alten Kaspar und von
den jungen Männern einen, der mir beſonders lieb
geworden war, und beſchloß, die Meſſung des Lau¬
terſees zu Ende zu bringen.
Ich miethete mich in dem Seewirthshauſe ein,
richtete alle Geräthe, welche mir zu meinem Vorhaben
nöthig waren, zurecht, ließ diejenigen neu verfertigen,
welche ich nicht hatte, und ging ans Werk. Ich ar¬
beitete recht fleißig. So lange das Licht des Tages
leuchtete, waren wir auf dem Waſſer. Nachts — außer
einigen Stunden Schlafes — war ich an dem Papiere
theils mit Rechnungen theils mit Schreiben theils
ſogar mit Zeichnen beſchäftigt. Ich wiederholte einige
[361] Meſſungen, welche ich in früheren Zeiten vorgenom¬
men hatte, um mich von der Beſtändigkeit oder Wan¬
delbarkeit des Waſſerſtandes oder des Seegrundes zu
überzeugen. Da ein durchaus gleicher Waſſerſtand
nicht zu denken iſt, ſo bezog ich meine Meſſungen auf
einen mittleren Stand, und ſtellte immer die Frage,
wie tief unter dieſem Stande die beſtimmten Stellen
des Seegrundes liegen. Dieſer mittlere Stand, der
nach demjenigen genommen wurde, welcher in der
meiſten Zeit des Jahres herrſcht, war in meiner Ab¬
bildung auch der Waſſerſpiegel. Ihn nahm ich bei
den Nachmeſſungen zur Richtſchnur. In größeren Ent¬
fernungen von dem Ufer hatte ſich der Seegrund ſeit
dem Beginne meiner Meſſungen nicht geändert, oder
wenn er ſich geändert hatte, war es ſo wenig, daß es
durch unſere Meßwerkzeuge nicht wahrzunehmen war.
An jenen Ufern oder in der Nähe derſelben, wo große
Tiefen herrſchten, und ſteile ruhige Wände ſtanden,
an denen bei Regengüſſen höchſtens ſchmale Bänder
oder ſeichte Waſſerflächen niederrieſeln, war ebenfalls
keine Veränderung. Aber an ſeichten Stellen bei flache¬
ren Ufern, wo der Regen Gerölle und andere Dinge
einführt, fanden ſich ſchon Veränderungen vor. Am
meiſten aber waren die Wandlungen und am größten,
[362] wo eine Schlucht ſich gegen das Waſſer öffnete, aus
welcher ein Bergbach hervorſtrömte, der, je nachdem
er weiter her floß oder bei Güſſen heftiger anſchwoll,
auch größere Berge von Gerölle in den See ſchob,
und dort liegen ließ. Nach der Wiederholung dieſer
alten Meſſungen wurde zu neuen geſchritten, die zur
Vollendung der mir zum Ziele geſezten Kenntniſſe
nothwendig waren. Ebenſo wurden die Zeichnungen
der Gebilde, welche ſich außerhalb des Waſſers als
Ufer befanden, fleißig fortgeſezt.
Zweimal wurde die Arbeit unterbrochen. Ich
ging in das Rothmoor, um nachzuſehen, wie weit die
Dinge, die aus meinen Marmoren verfertigt werden
ſollten, gediehen wären, und wie gut ſie ausgeführt
würden. Die Fortſchritte waren zu loben. Man ſagte,
— und ich ſelber ſah die Möglichkeit ein — daß in
dieſem Sommer noch alles fertig werden würde. Aber
in Hinſicht der Güte hatte ich Ausſtellungen zu ma¬
chen. Ich ordnete mit Bitten Vorſtellungen und
Verſprechen an, daß man das, was ich angab, ſo
genau und ſo rein mache, wie ich es wollte.
Wenn Regenzeit war, ſo daß die Wolken an den
Bergen herum hingen, und weder dieſe noch die Ge¬
ſtalt des Sees richtig zu überblicken waren, ſo blieb
[363] ich zu Hauſe, und zeichnete und malte dasjenige in
mein Hauptblatt, was ich im Freien auf viele Neben¬
blätter aufgenommen hatte. So rückte das Unterneh¬
men der Vollendung immer näher.
Endlich waren die Arbeiten im Freien beendigt,
und es erübrigte nur noch, die vielen Angaben, welche
in meinen Papieren zerſtreut waren, und welche ich
bisher nicht hatte bewältigen können, in die Zeich¬
nung einzutragen, und die Geſtalten, welche ich auf ein¬
zelnen Blättern hatte, theils mit der Hauptzeichnung
wegen der Richtigkeit zu vergleichen, theils dieſe, wo
es noththat, zu ergänzen. Auch Farben mußten auf
verſchiedene Stellen aufgetragen werden.
Nach langer Arbeit und nach vielen Schwierig¬
keiten, die ich zur Erzielung einer großen Genauigkeit
zu überwinden hatte, war das Werk eines Tages fer¬
tig, und der ganze Entwurf lag in ſchwermüthiger
Düſterheit und in einer Schönheit vor meinen Augen,
die ich ſelber nicht erwartet hatte. Ich betrachtete al¬
lein die Abbildung eine Weile, da niemand war, der
das Anſchauen mit mir getheilt hätte, rollte dann das
Blatt auf eine Walze, verpackte es ſehr gut in einen
Koffer, nahm von dem See und von allen Bewoh¬
nern des Seewirthshauſes Abſchied, und begab
[364] mich auf den Weg in das Ahornhaus des Lauter
thales.
Dort ſiedelte ich mich an. Ich ging nun täglich
in das Rothmoor, blieb den ganzen Tag dort, und
kehrte Abends zurück, ſo daß ich in der Dämmerung
im Ahornhauſe ankam. Ich ſah im Rothmoore den
Arbeiten an meinen Marmoren zu, dem Schneiden
Feilen Reiben Schleifen und Glätten. Ich gab auch
an, wie Manches zu behandeln ſei, und wie es einer
größeren Vollendung namentlich aber einer größern
Genauigkeit entgegen geführt werden könnte.
Das Waſſerbecken meines Vaters wurde nach und
nach fertig und die kleineren Dinge, welche gemacht
werden ſollten, waren ebenfalls vollendet. Die Sonne
ſchien in die Bauhütte, und das Becken erglänzte recht
rein und ſchön in derſelben. Ich ließ von ſtarken Bal¬
ken Behältniſſe zimmern. In dieſe wurden die Theile
des Beckens mit Winden Hebeln und Stricken ge¬
packt und zur Verſendung bereitet. Die Wägen mu߬
ten eigens vorgerichtet werden, damit die Behältniſſe
an den Strom gebracht werden könnten. Dieſe Vor¬
richtung war endlich fertig. Das Aufladen wurde
bewerkſtelligt, und die Wägen gingen ab. Ich ging
mit ihnen bis an den Strom, und verließ ſie keinen
[365] Augenblick, um wo möglich jeden Unfall zu verhüten.
Am Strome wurden die Behältniſſe auf ein Schif ver¬
laden, und weiter befördert. Von dem Landungsplaze
vor unſerer Stadt wurden ſie endlich wieder durch
ſtarke Wägen in unſern Garten gebracht.
Es wurde nun daran geſchritten, das Waſſerwerk
in dieſem Herbſte noch fertig zu machen. Der Vater
hatte auf Briefe von mir und auf geſendete Maße den
Dingen bereits vorarbeiten laſſen. Es wurden nun
noch mehrere Arbeiter gedungen und ein Waſſerbau¬
kundiger genommen, welcher die Arbeiten zu leiten
hatte. Ich war den ganzen Tag bei dem Werke zu¬
gegen, und half mit. Der Vater kargte ſich ebenfalls
alle mögliche Zeit ab, um zugegen ſein und zuſchauen
zu können. Die Röhren wurden gelegt, die Steig¬
röhre verzapft, der Stengel über ſie gebaut, mit den
nöthigen Eiſen geſtärkt und verlöthet, und an dem¬
ſelben wurde das Blatt befeſtigt. Der Pfropfen, wel¬
cher den in das Blatt mündenden Stengel geſchloſſen
gehalten hatte, wurde gelüftet, und der reine Strahl
fiel auf die im Blatte liegende Einbeere hinunter, füllte
das Becken, und glitt von demſelben, als es gefüllt
war, auf den ſanften gelb marmornen Fußboden nie¬
der, und rieſelte in deſſen Rinne weiter. Die Farben
[366] ſtimmten ſehr gut zuſammen, das Dunkel des Sten¬
gels hob ſich von dem Roſenroth des Blattes ab, und
das Gelb des Fußbodens gab dem Roſenroth eine
ſchönere Farbe und einen feineren Glanz. Es waren
mehrere Gäſte zur Eröffnung des Werkes geladen
worden, und dieſe ſo wie Vater Mutter und Schwe¬
ſter freuten ſich des Gelingens.
Der Vater reichte mir als Gegengeſchenk ſehr
ſchön gebunden und auf den Deckeln mit halberhabener
Arbeit verſehen das Niebelungenlied. Ich dankte ihm
ſehr dafür.
Es wurde beſchloſſen, für den Winter ein Bret¬
terhäuschen über das Waſſerwerk machen zu laſſen
und dasſelbe gut zu verwahren, daß keine Kälte ein¬
dringen könne. Für den Frühling wurden Pläne ent¬
worfen, wie man die Gartenumgebungen des Beckens
einrichten ſolle, daß der ganze Anblick ein deſto wür¬
digerer und ſchönerer ſei. Man hoffte bis zum Ein¬
tritte der beſſeren Jahreszeit mit den Entwürfen im
Reinen zu ſein, und beginnen zu können.
Ich übergab außer dem Becken auch die andern
Marmorgegenſtände, welche in dem Rothmoore waren
verfertiget worden. Darunter befanden ſich Säulen
und Simſe, welche an einer Stelle verwendet werden
[367] ſollten, die am Ende des Gartens lag, eine Ausſicht
auf die Berge und auf die Umgebung both, und auf
welcher der Vater etwas zu errichten vorhatte, das
der Ausſicht würdig wäre, und ſie beſſer genießen laſſe.
Ich meinte, es dürfte eine ſchöne Faſſung anzulegen
ſein, die den Plaz begrenzt, die breite Flächen hat,
daß man ſich auf dieſelben lehnen, und Dinge auf ſie
legen könne, und an der ſich Size befänden, auf wel¬
chen man ausruhen könne. Wenn in der Nähe dieſer
Faſſung ein Tiſch wäre, würde es noch beſſer ſein.
Außerdem hatte ich Schalen zu beliebigem Gebrauche
gebracht, Ringe, die einen Vorhang faſſen, Tiſch¬
platten Pfeilerverzierungen Steine von verſchiedener
Farbe, die im Vierecke geſchliffen waren, und die
man der Reihe nach auf Papier oder Ähnliches legen
konnte, und noch mehrere Dinge dieſer Art.
Dem Vater zeigte ich die Zeichnung von dem Ker¬
berger Altare, und ſagte, daß ich ſie eigens für ihn
gemacht habe, und ſie ihm hiemit übergebe. Er war
ſehr erfreut darüber, und dankte mir dafür. Der Al¬
tar war ihm zwar nicht neu, er hatte ihn in früherer
Zeit, ehe er wieder hergeſtellt worden war, geſehen,
und die Zeichnung des wiederhergeſtellten Altares
war unter den von meinem Gaſtfreunde dem Vater
[368] im vorigen Jahre geſendeten Zeichnungen geweſen.
Deßohngeachtet war es ihm ſehr angenehm, die Zeich¬
nung zu beſizen, und ſie öfter und nach Muße betrach¬
ten zu können. Er machte mich auf mehrere Dinge
aufmerkſam, die er nach wiederholter Betrachtung ent¬
deckt hatte. Zuerſt ſah er, daß der Altar viel reicher und
manigfaltiger ſei, als da er ihn in noch unverbeſſertem
Zuſtande vor vielen Jahren in Wirklichkeit geſehen
hatte; dann machte er mich darauf aufmerkſam, daß
dieſes Werk ſchon die Rundlinien habe, daß die
Thürmchen durch gewundene Stäbe in Geſtalten
von Piramiden gebildet, und daß die menſchlichen
Geſtalten ſchon ſehr durchgearbeitet ſeien, was alles
darauf hindeute, daß das Werk nicht mehr der Zeit
der ſtrengen gothiſchen Bauart angehöre, ſondern
derjenigen, wo dieſe Art ſich ſchon zu verwandeln
begonnen hatte. Auch zeigte er mir, daß Theile der
Verzierungen im Laufe der Zeiten an andere Orte
geſtellt worden ſeien, als an die ſie gehören, daß die
Büſten ſich nicht an dem rechten Plaze befinden, und
daß menſchliche Geſtalten verloren gegangen ſein müſ¬
ſen. Er holte Bücher aus ſeinem Bücherſchreine her¬
bei, in denen Abbildungen waren, und aus denen er
mir die Wahrheit deſſen bewies, was er behauptete.
[369] Ich ſagte ihm, daß mein Gaſtfreund und Euſtach
der nehmlichen Meinung ſind, daß aber die Wieder¬
herſtellungen, welche man an dem Altare gemacht
hat, im ſtrengen Wortverſtande nicht Wiederher¬
ſtellungen geweſen ſeien, ſondern daß man ſich zuerſt
nur zum Zwecke geſezt habe, den Stoff zu erhalten,
und weitere Umänderungen oder größere Ergänzungen
einer ferneren Zeit aufzubewahren, wenn ſich über¬
haupt die Mittel und Wege dazu fänden. Nur ſolche
Ergänzungen ſind gemacht worden, bei denen die Ge¬
ſtalt des Gegenſtandes unzweifelhaft gegeben war.
Die Bücher des Vaters machten mich auf die
Sache, die ſie behandelten, mehr aufmerkſam, ich
bath ihn, daß er ſie mir in meine Wohnung leihe,
und begann ſie durchzugehen. Sie führten mich da¬
hin, daß ich die Baukunſt und ihre Geſchichte vom
Anfange an genauer kennen zu lernen wünſchte, und
mir alle Bücher, die hiezu nöthig waren, nach dem
Rathe meines Vaters und anderer ankaufte.
Stifter, Nachſommer. II. 24
5.
Der Bund.
Der Winter verging wie gewöhnlich. Ich richtete
meine mitgebrachten Dinge in Ordnung, und holte
an Schreibgeſchäften nach, was im Sommer wegen
der Thätigkeit im Freien und der anderweitig ver¬
lorenen Zeit im Rückſtände geblieben war. Der Um¬
gang mit den Meinigen in dem engſten Kreiſe des
Hauſes war mir das Liebſte, er war mein größtes
Vergnügen, er war meine höchſte Freude. Der Vater
bezeigte mir von Tag zu Tag mehr Achtung. Liebe
konnte er mir nicht in größerem Maße bezeigen, denn
dieſe hatte er mir immer höchſtmöglich bewieſen; aber
ſo wie er früher bei der zärtlichſten Sorgfalt für mein
Wohl und bei der Herbeiſchaffung alles deſſen, was
zu meinem Unterhalte und meiner Ausbildung noth¬
wendig geweſen iſt, mich meine Wege gehen ließ, im¬
[371] mer freundlich und liebevoll war, und nicht begehrte,
daß ich mich in andere Richtungen begebe, die ihm
etwa bequemer ſein mochten: ſo war er zwar dies jezt
alles auch; aber er fragte mich doch häufiger um
meine Beſtrebungen, und ließ ſich die Dinge, welche
darauf Bezug hatten, auseinanderſezen, er holte mei¬
nen Rath und meine Meinung in Angelegenheiten
ſeiner Sammlungen oder in denen des Hauſes ein,
und handelte darnach, er ſprach über Werke der Dich¬
ter der Geſchichtſchreiber der Kunſt mit mir, und
that dies öfter, als es in früheren Zeiten der Fall
geweſen war. Er brachte in meiner Geſellſchaft manche
Zeit bei ſeinen Bildern bei ſeinen Büchern und bei
ſeinen andern Dingen zu, und verſammelte uns gerne
in dem Glashäuschen, das eine erwärmte Luft durch¬
wehte, die ſich traulich um die alten Waffen die alten
Schnizwerke und die Pfeilerverkleidungen ergoß. Er
ſprach von verſchiedenen Dingen, und ſchien ſich wohl
zu fühlen, den Abend in dem engſten Kreiſe ſeiner
Familie zubringen zu können. Mir ſchien es, daß er
zu der jezigen Zeit nicht nur früher aus ſeiner Schreib¬
ſtube nach Hauſe komme als ſonſt, ſondern daß er ſich
auch mehr innerhalb der Mauern desſelben aufhalte
als in früheren Jahren. Die Mutter war ſehr freu¬
24 *[372] dig über die Heiterkeit des Vaters, ſie ging gerne in
ſeine Pläne ein, und beförderte alles, was ſie in ihrem
Kreiſe zu der Erfüllung derſelben thun konnte. Sie
ſchien uns Kinder mehr zu lieben als in jeder vergan¬
genen Zeit. Klotilde wendete ſich immer mehr und
mehr zu mir, ſie war gleichſam mein Bruder, ich war
ihr Freund ihr Rathgeber ihr Geſellſchafter. Sie ſchien
gar keine andere Empfindung als für unſer Haus zu
haben. Wir ſezten unſere Übungen im Spaniſchen
im Zitherſpielen im Zeichnen und Malen fort. Troz
dieſer Dinge war ſie auch im Hausweſen eifrig, um
der Mutter Folge zu leiſten, und ihren Beifall zu ge¬
winnen. Wenn etwas in dieſer Art, das eine größere
Sorgfalt und Geſchicklichkeit erheiſchte, beſonders ge¬
lang, und dies erkannt wurde, ſo war ihre Befriedi¬
gung größer, als wenn ſie bei einer ernſten und wich¬
tigen Bewerbung vor einer anſehnlichen Verſammlung
den Preis davon getragen hätte.
In den Geſellſchaften, die in kleineren oder größe¬
ren Kreiſen nur ſeltener als in früheren Jahren in un¬
ſerem Hauſe ſtatt fanden, wurden jezt auch mehr Ge¬
ſpräche geführt, als da wir auch jünger waren. Es
wurden ernſthafte Dinge in Unterſuchung gezogen,
Angelegenheiten des Staates allgemeine öffentliche
[373] Unternehmungen oder Erſcheinungen, die von ſich
reden machten. Man ſprach auch von ſeinen Beſchäf¬
tigungen von ſeinen Liebhabereien oder von dem ge¬
wöhnlichen Tagesſtoffe, wie etwa das Theater iſt,
oder wie Begebenheiten ſind, die ſich in den nächſten
Umgebungen zutragen. Im Übrigen wurde auch zu
den bekannten Vergnügungen gegriffen, Muſik Tanz
Liederſingen. Manche jüngere Leute lernten ſich da
neu kennen, ältere ſezten die früher beſtandene Be¬
kanntſchaft fort.
Ich beſuchte meine Freunde, beſprach mich mit
ihnen, und erzählte ihnen im Allgemeinen, womit ich
mich eben beſchäftige. Sie theilten mir aus dem Kreiſe
ihrer Erlebniſſe mit, und machten mich auf manche
Perſönlichkeiten aufmerkſam.
Ich ſezte meine Malerei fort, ich betrieb die Edel¬
ſteinkunde, und beſuchte manches Theater. Das Leſen
der Bücher über Baukunſt vergnügte mich ſehr, und
es eröffnete ſich mir da ein neues Feld, das manches
Erſprießliche und manche Förderung verſprach.
Die Abende bei der Fürſtin erſchienen mir immer
wichtiger. Es hatte ſich nach und nach eine Geſell¬
ſchaft zuſammen gefunden, deren Mitglieder ſich häu¬
fig und gerne in dem Zimmer der Fürſtin verſammel¬
[374] ten. Es wurden die anziehendſten Stoffe verhandelt,
und man ſchrak nicht zurück, wenn jemand die Fragen
der allerneueſten Weltweisheit auf die Bahn brachte.
Man legte ſich die Dinge zurecht, wie man konnte,
man kleidete die eigenthümliche Redeweiſe der ſoge¬
nannten Fachmänner in die gewöhnliche Sprache, und
wendete den gewöhnlichen Verſtand darauf an. Was
durch dieſe Mittel und durch die der Geſellſchaft her¬
ausgebracht werden konnte, das beſaß man, und wenn
es von der Geſellſchaft als ein Gewinn betrachtet
wurde, ſo behielt man es als einen Gewinn. Wenn
aber nur Worte da zu ſein ſchienen, von denen man
eine greifbare Bedeutung nicht ermitteln konnte, ſo
ließ man die Sache dahin geſtellt ſein, ohne ihr eine
Folge zu geben, und ohne über ſie aburtheilen zu wol¬
len. Die Dichter und das Spaniſche wurden lebhaft
fortgeſezt.
Wenn ſehr klare Tage waren, und eine heitere
Sonne ein erhellendes Licht in den Zimmern vermit¬
telte, ſo war ich in dem Glashäuschen, und arbeitete
an den Abbildungen der Pfeilerverkleidungen für mei¬
nen Gaſtfreund. Ich wollte ſie ſo gut machen, als es
mir nur möglich wäre, um dem Manne, dem ich ſo
viel verdankte, und den ich ſo hoch achtete, Zufrie¬
[375] denheit abzugewinnen, oder ihm gar etwa ein Ver¬
gnügen zu bereiten. Ich wollte zuerſt Zeichnungen von
den Verkleidungen entwerfen, und nach ihnen Bilder
in Öhlfarben ausführen. Ich machte die Zeichnungen
auf lichtbraunes Papier, tiefte die Schatten in Schwarz
ab, erhöhte die Lichter in einem helleren Braun, und
ſezte die höchſten Glanzſtellen mit Weiß auf. Als ich
die Zeichnungen in dieſer Art fertig hatte, und durch
vielfache Vergleichungen und Abmeſſungen überzeugt
war, daß ſie in allen Verhältniſſen richtig ſeien, ſezte
ich noch den Maßſtab hinzu, nach dem ſie ausgeführt
waren. Ich ſchritt nun zur Verfertigung der Bilder.
Sie wurden etwas kleiner als die Entwürfe gemacht,
aber im genauen Verhältniſſe zu denſelben. Ich benuzte
zum Malen immer die nehmlichen Vormittagsſtunden,
um die Glanzpunkte die Lichter und die Schatten in
ihrer vollen Richtigkeit zu erfaſſen, und auch der Farbe
im Allgemeinen ihre Treue geben zu können. Es zeigte
ſich mir da eine Erfahrung in den Farben wieder be¬
ſtätigt, die ich ſchon früher gemacht hatte. Auf die
mit ſchwachem Firniſſe überzogenen Holzſchnizwerke
nahmen die umgebenden Gegenſtände einen ſolchen
Einfluß, daß ſich Schwerter Morgenſterne dunkel¬
rothes Faltenwerk die Führung der Wände des Fu߬
[376] bodens, die Fenſtervorhänge und die Zimmerdecke in
unbeſtimmten Ausdehnungen und unklaren Umriſſen
in ihnen ſpiegelten. Ich merkte bald, daß, wenn alle
dieſe Dinge in die Farbe der Abbildungen aufgenom¬
men werden ſollten, die dargeſtellten Gegenſtände
wohl an Reichthum und Reiz gewinnen, aber an
Verſtändlichkeit verlieren würden, ſo lange man nicht
das Zimmer mit allem, was es enthält, mit malt,
und dadurch die Begründung aufzeigt. Da ich dies
nicht konnte, und mein Zweck es auch nicht er¬
heiſchte, ſo entfernte ich alles Zufällige und ſtark Ein¬
wirkende aus dem Zimmer, und malte dann die Schni¬
zereien, wie ſie ſich ſammt den übergebliebenen Ein¬
wirkungen mir zeigten, um einerſeits wahr zu ſein,
und um andererſeits, wenn ich jede Einwirkung der
Umgebung weg ließe, nicht etwas geradezu Unmög¬
liches an ihre Stelle zu ſezen und den Gegenſtand
ſeines Lebens zu berauben, weil er dadurch aus jeder
Umgebung gerückt würde, keinen Plaz ſeines Daſeins
und alſo überhaupt kein Daſein hätte. Was die wirk¬
liche Ortsfarbe der Schnizereien ſei, würde ſich aus
dem Ganzen ſchon ergeben, und müßte aus ihm er¬
kannt werden. Ich wendete bei der Arbeit ſehr viele
Mühe auf, und ſuchte ſie ſo genau, als es meiner
[377] Kraft und meinen Kenntniſſen möglich war, zu ver¬
richten. Ich erhöhte und vertiefte die Farben ſo lange,
und ſuchte nach dem richtigen Tone und dem erforder¬
lichen Feuer ſo lange, bis das Bild neben die Gegen¬
ſtände geſtellt aus der Ferne von ihnen nicht zu unter¬
ſcheiden war. Die Zeichnung des Bildes mußte
richtig ſein, weil ſie vollkommen genau nach dem
urſprünglichen Entwurfe gemacht worden war, den
ich nach mathematiſchen Weiſungen zuſammen ge¬
ſtellt hatte. Als die Sache nach meiner Meinung
fertig war, zeigte ich ſie dem Vater, welcher ſie auch
mit Ausnahme von kleinen Anſtänden, die er erhob,
billigte. Die Anſtände beſeitigte ich zu ſeiner Zufrie¬
denheit. Hierauf wurde alles in taugliche Fächer ge¬
bracht, und zur Verführung bereit gehalten.
Es waren faſt die Tage des Vorfrühlings heran¬
gekommen, ehe ich mit dieſem Werke fertig war. Dies
hatte ſeinen Grund auch vorzüglich darin, daß ich die
ſpäteren hellen Wintertage mehr als die früheren trü¬
ben hatte benuzen können.
Im Frühlinge trat ich meine Reiſe wieder an.
Ich machte zuerſt einen Beſuch bei meinem Gaſt¬
freunde, brachte ihm die Fächer, in denen die Abbil¬
dungen der Pfeilerverkleidungen enthalten waren, und
[378] händigte ihm ſowohl den Entwurf als auch das Far¬
benbild der Schnizereien ein. Er berief Euſtach in
ſeine Stube, in welcher die Dinge ausgepackt wur¬
den, herüber. Beide ſprachen ſich ſehr günſtig über
die Arbeit aus, und zwar günſtiger als über jede frü¬
here, die ich ihnen vorgelegt hatte. Ich war darüber
ſehr erfreut. Euſtach ſagte, daß man ſehr gut die
Ortsfarben und die, welche durch fremde Einwirkun¬
gen entſtanden waren, unterſcheiden könne, und daß
man aus den lezten die Beſchaffenheit der Umgebun¬
gen zu ahnen vermöge. Sie ſtellten das Bild in die
nöthige Entfernung und betrachteten es mit Gefallen.
Beſonders anerkennend ſprach Euſtach über die Rich¬
tigkeit und Brauchbarkeit des unfarbigen Entwurfes.
Ich reiſte nach dem kurzen Beſuche in dem Roſen¬
hauſe in die Gegend der Tann, blieb auch dort nur
kurz, und drang tiefer in das Gebirge ein, um eine
Mittelſtelle zu finden, von der aus ich meine neuen
Arbeiten unternehmen könnte. Als ich eine ſolche ge¬
funden hatte, ging ich in das Lauterthal und dort in
das Ahornwirthshaus, um meinen Kaspar und die
andern, welche mir im vorigen Jahre geholfen hatten,
auch für das heurige zu dingen. Als dies, wie ich
glaube, zu gegenſeitiger Zufriedenheit abgethan war,
[379] blieb ich noch einige Tage in dem Ahornhauſe, theils
damit ſich meine Leute zu der Abreiſe rüſten konnten,
theils um das mir liebgewordene Haus das liebge¬
wordene Thal und die Umgebung wieder ein wenig
zu genießen. Ich ging bei dieſer Gelegenheit mehrere
Male in das Rothmoor, um dort nachzuſehen, was
man eben für Gegenſtände aus Marmor mache. Mir
ſchien es, als wäre die Anſtalt ſeit einem Jahre ſehr
gediehen. Ich beſprach mich dort auch über Arbeiten,
die für mich auszuführen wären, falls ich den hiezu
nöthigen Marmor fände. Erkundigungen um auf
Spuren der Ergänzungen der Pfeilerverkleidungen
meines Vaters, die ich in dieſer Gegend gekauft
hatte, zu kommen, waren auch heuer wie in früherer
Zeit fruchtlos.
Ein Ereigniß trat in dem Lauterthale ein, das
mich ſehr erheiterte. Mein Zitherſpiellehrer, der einige
Zeit gleichſam verſchollen war, war wieder da. Er
zeigte viele Freude, mich zu ſehen, und ſagte, er wolle
mir in das Kargrat folgen, welches jezt der Mittel¬
punkt meiner Arbeiten war, ein Dörfchen auf graſigen
bäum- und buſchloſen Anhöhen ganz nahe an dem
ewigen Eiſe mit armen Bewohnern und einem viel¬
leicht noch ärmeren genügſamen Pfarrer. Er ſagte,
[380] er wolle diejenigen Arbeiten, die ich ihm auftragen
werde, gegen Lohn verrichten, und in freier Zeit wollen
wir auf der Zither ſpielen. Er habe noch keinen Schü¬
ler gehabt, mit dem ihm die Übungen auf der Zither
ſo viele Freude gemacht hätten. Ich beſchloß, einen
Verſuch zu wagen, und wir wurden über die gegen¬
ſeitigen Bedingungen einig.
Als alles in Bereitſchaft war, gingen wir aus
dem Ahornhauſe in das Kargrat ab. Ich ging mit
den Leuten auf abgelegenen und ſchneller zum Ziele
führenden Gebirgspfaden. Nur einmal hatten wir
eine Strecke gebahnter Straße, auf welcher ich zwei
leichte Wagen miethete. Im Kargrat fand ich ein
kleines Zimmerchen. Für meine Leute wurde eine
Scheune zurecht gerichtet, und zur Aufbewahrung mei¬
ner Gegenſtände wurde aus Brettern ein ganz kleines
Häuschen eigens erbaut. Wir waren nun in der Nähe
der höchſten Höhen. In mein winziges Fenſter ſahen
die drei Schneehäupter der Leiterköpfe, hinter denen
die ſteile ziemlich ſchlanke blendend weiße Nadel der
Karſpize hervorragte, und neben denen die edelſtein¬
glänzenden Bänke der Simmen oder des Simmieiſes
ſich dehnten. Um den ſehr ſpizen Kirchthurm des
Dörfchens wehte die ſcharfe faſt harte Gebirgsluft,
[381] und ſenkte ſich auf unſere Häupter und Angeſichter
nieder. Weit ab gegen die Tiefe zu lagen die anderen
Berge und die dichter bewohnten und bevölkerten
Länder.
Über das Zitherſpiel meines wiedergefundenen
Lehrers war ich wirklich ſehr erfreut. Ich hatte in der
Zeit, während welcher ich ihn nicht geſehen hatte,
ſchon beinahe vergeſſen, wie vortrefflich er ſpiele.
Alles, was ich ſeit dem gehört hatte, erblaßte zur
Unbedeutenheit gegen ſein Spiel, von dem ich den
Ausdruck „höchſte Herrlichkeit“ gebrauchen muß. Er
ſcheint von dieſem ſeinem Muſikgeräthe auch ergriffen
und beherrſcht zu ſein; wenn er ſpielt, iſt er ein ande¬
rer Menſch, und greift in ſeine und in die Tiefen
anderer Menſchen, und zwar in gute. Auf dieſen
Berghöhen war das ſchöne Spiel faſt noch ſchöner
noch rührender und einſamer.
Wie uns im vorigen Jahre Wälder und Wände
eingeſchloſſen hatten, und nur wenige Stellen uns
freien Umblick verſchafften, ſo waren wir heuer faſt
immer auf freien Höhen, und nur ausnahmsweiſe
umſchloſſen uns Wände oder Wälder. Der häufigſte
Begleiter unſerer Beſtrebungen war das Eis.
Als die Kalendertage ſagten, daß die Roſenblüthe
[382] ſchon beinahe vorüber ſein müſſe, beſchloß ich, meine
Freunde zu beſuchen. Ich ordnete im Kargrat alles
für meine Abweſenheit und Wiederkunft an, und be¬
gab mich auf den Weg.
Als ich in dem Asperhofe ankam, ſagten mir der
Gärtner und die Dienſtleute, daß Mathilde Natalie
mein Gaſtfreund Euſtach Roland und Guſtav in den
Sternenhof fort ſeien. Die Roſen waren ſchon ver¬
blüht, und man hatte mich nicht mehr erwartet. Mein
Gaſtfreund hatte geſagt, daß ich, weil ich ihm im
Frühlinge mitgetheilt hatte, daß ich heuer ganz nahe
an dem Simmieiſe wohnen werde, wahrſcheinlich im
Sommer von dorther den weiten Weg nicht werde
haben machen wollen, und daß zu vermuthen ſei, daß
ich im Herbſte meine Arbeit abkürzen, und auf eine
Zeit bei meinen Freunden einſprechen werde. Sollte
ich aber dennoch kommen, ſo hatten die Leute den
Auftrag, zu ſagen, daß man mich bitte, in den
Sternenhof nach zu kommen.
Ich miethete alſo des andern Tages auf der Poſt
einen leichten Wagen, und ſchlug die Richtung nach
dem Sternenhofe ein.
Als ich in der Umgebung desſelben angekommen
war, ſah ich an Zäunen und in Gärten noch manche
[383] Roſe friſch blühen, obwohl im Asperhofe weder auf
dem Gitter noch im Garten eine zu erblicken geweſen
war, außer mancher welken und gerunzelten Blume,
die man abzunehmen vergeſſen hatte. Auch auf der
Anhöhe, die zu dem Schloſſe empor leitete, waren an
Roſenbüſchen, die gelegentlich den Raſen ſäumten,
weil man im Sternenhofe die Roſen nicht eigens
pflegte, ſondern ſie nur wie gewöhnlich als ſchönen
Gartenſchmuck zog, noch Knoſpen, die ihres Auf¬
brechens harrten. Dieſe Thatſache mag daher kom¬
men, weil der Sternenhof näher an den Gebirgen
und höher liegt als das Roſenhaus meines Freundes.
In dem Hofe des Hauſes nahmen die Leute
mein Gepäck und die Pferde in Empfang, und wieſen
mich die große Treppe hinan. Da ich gemeldet
worden war, wurde ich in Mathildens Zimmer ge¬
führt, und fand ſie in demſelben allein. Sie ging
mir faſt bis zu der Thür entgegen, und empfing mich
mit derſelben offenen Herzlichkeit und Freundlichkeit,
die ihr immer eigen war. Sie führte mich zu dem
Tiſche, der an einem mit Blumen geſchmückten Fenſter
ſtand, wo ſie gerne ſaß, und wies mir ihr gegenüber
einen Stuhl an dem Tiſche an. Als wir uns geſezt
hatten, ſagte ſie: „Es freut mich ſehr, daß ihr noch
[384] gekommen ſeid, wir haben geglaubt, daß ihr heuer
den weiten Weg nicht machen würdet.“
„Wo man mich ſo freundlich aufnimmt,“ antwor¬
tete ich, „und wo man mich ſo gütig behandelt, dahin
mache ich gerne einen Weg, ich mache ihn jedes Jahr,
wenn er auch weit iſt, und wenn ich auch meine Be¬
ſchäftigung unterbrechen muß.“
„Und jezt findet ihr mich und Natalien nur allein
in dieſem Hauſe“ erwiederte ſie, „die Männer, da ſie
ſahen, daß ihr nach dem Abblühen der Roſen noch
nicht gekommen waret, meinten, ihr würdet im
Sommer nun gar nicht mehr kommen, und haben
eine kleine Reiſe angetreten, die auch Guſtav mit¬
macht, weil er das Reiſen ſo liebt. Sie beſuchen eine
kleine Kirche in einem abgelegenen Gebirgsthale, deren
Zeichnung Roland gebracht hat. Die Kirche wurde in
der Zeichnung ſehr ſchön befunden, und zu ihr ſind ſie
nun unter Rolands Führung auf dem Wege. Wo ſie
nach der Beſichtigung derſelben hinfahren werden,
weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß ſie nur einige
Tage ausbleiben, und in den Sternenhof zurück¬
kehren werden. Ihr müßt ſie hier erwarten, ſie
werden eine Freude haben, euch zu ſehen, und ich
werde mich bemühen, alles Erforderliche einzuleiten,
[385] daß ihr indeſſen hier die beſte Bequemlichkeit haben
könnet.“
„Der Bequemlichkeit,“ erwiederte ich, „bin ich we¬
der gewohnt, noch ſchlage ich ſie hoch an. Ich möchte
nur nicht eine Störung in euer jeziges einſames Haus¬
weſen bringen. Das Höchſte, was mir zu Theil wer¬
den kann, habe ich empfangen, eine freundliche Auf¬
nahme.“
„Wenn auch gewiß eine freundliche Aufnahme
das Höchſte iſt, und wenn ihr auch eine Bequemlich¬
keit nicht begehret,“ antwortete ſie, „ſo iſt die Freund¬
lichkeit in den Mienen bei der Aufnahme eines Gaſtes
nicht das Einzige, ſo ſchäzenswerth ſie dort iſt, ſon¬
dern ſie muß ſich auch in der That äußern, und es
muß uns erlaubt ſein, unſere Pflicht, die uns lieb iſt,
zu erfüllen, und dem Gaſte eine ſo gute Wohnlichkeit
zu bereiten, als es die Umſtände erlauben, er mag ſie
nun benüzen oder nicht.“
„Was ihr für eine Pflicht haltet, will ich nicht
beſtreiten,“ antwortete ich, „ich will es nicht beirren,
nur wünſchen muß ich, daß es mit ſo wenig eigener
Aufopferung als möglich verbunden iſt.“
„Dieſe wird nicht groß ſein,“ ſagte ſie, „aus einige
Aufmerkſamkeit in Hinſicht der Genauigkeit und Wil¬
Stifter, Nachſommer. II. 25[386] ligkeit der Leute kömmt es an, und dieſe müſſet ihr
mir ſchon erlauben.“
Sie zog mit dieſen Worten an einer Glocken¬
ſchnur, und bedeutete den hereinkommenden Diener,
daß er ihr den Hausverwalter rufe.
Da dieſer erſchienen war, ſagte ſie ihm mit ſehr
einfachen und kurzen Worten, daß für einen längeren
Aufenthalt für mich in dem Hauſe auf das Beſte ge¬
ſorgt werden möge. Als er ſich entfernen wollte, trug
ſie ihm noch auf, vorerſt dem Fräulein zu ſagen, wer
gekommen ſei, ſie würde es ſpäter auch ſelber melden,
und zum Abendeſſen würden wir in dem Speiſezimmer
zuſammen kommen.
Der Hausverwalter entfernte ſich, und Mathilde
ſagte, jezt wäre das Hauptſächlichſte gethan, und es
erübrige ſpäter nur noch, ſich einen Bericht über die
Mittel und die Art der Ausführung geben zu laſſen.
Wir gingen nun auf andere Geſpräche über.
Mathilde fragte mich um mein Befinden und um das
Allgemeine meiner Beſchäftigungen, denen ich mich
in dieſem Sommer hingegeben habe.
Ich antwortete ihr, daß mein körperliches Befin¬
den immer gleich wohl geblieben ſei. Man habe mich
von Kindheit an zu einem einfachen Leben angeleitet,
[387] und dieſes verbunden mit viel Aufenthalt im Freien
habe mir eine dauernde und heitere Geſundheit ge¬
geben. Mein geiſtiges Befinden hänge von meinen
Beſchäftigungen ab. Ich ſuche dieſelben nach meiner
Einſicht zu regeln, und wenn ſie geordnet und nach
meiner Meinung mit Ausſicht auf einen Erfolg vor
ſich gehen, ſo geben ſie mir Ruhe und Haltung. Sie
ſind aber in den lezten Jahren, was meine Haupt¬
richtung anbelangt, faſt immer dieſelben geblieben,
nur der Schauplaz habe ſich geändert. Die Neben¬
richtungen ſind freilich andere geworden, und dies
werde wohl fortdauern, ſo lange das Leben daure.
Hierauf fragte ich nach dem Wohlbefinden aller
unſerer Freunde.
Mathilde antwortete, man könne hierüber ſehr
befriedigt ſein. Mein Gaſtfreund fahre in ſeinem ein¬
fachen Leben fort, er beſtrebe ſich, daß ſein kleiner
Fleck Landes ſeine Schuldigkeit, die jedem Landbeſize
zum Zwecke des Beſtehenden obliege, beſtmöglich er¬
fülle, er thue ſeinen Nachbarn und andern Leuten viel
Gutes, er thue es ohne Gepränge, und ſuche haupt¬
ſächlich, daß es in ganzer Stille geſchehe, er ſchmücke
ſich ſein Leben mit der Kunſt mit der Wiſſenſchaft und
mit andern Dingen, die halb in dieſes Gebiet halb
25 *[388] beinahe in das der Liebhabereien ſchlagen, und er ſuche
endlich ſein Daſein mit jener Ruhe der Anbethung der
höchſten Macht zu erfüllen, die alles Beſtehende ord¬
net. Was zulezt auch noch zum Glücke gehört, daß
Wohlwollen der Menſchen komme ihm von ſelber ent¬
gegen. Euſtach und der ziemlich ſelbſtſtändige Roland
haben ſich zum Theile an dieſes Gewebe von Thätig¬
keiten angeſchloſſen, zum Theile folgen ſie eigenen An¬
trieben und Verhältniſſen. Guſtav ſtrebe erſt auf der
Leiter ſeiner Jugend empor, und ſie glaube, er ſtrebe
nicht unrichtig. Wenn dieſes ſei, ſo werde dann die
lezte Sproſſe an jede Höhe dieſes Lebens anzulegen
ſein, auf der ihm einmal zu wandeln beſtimmt ſein
dürfte. Was endlich ſie ſelber und Natalie betreffe,
ſo ſei das Leben der Frauen immer ein abhängiges
und ergänzendes, und darin fühle es ſich beruhigt
und befeſtigt. Sie beide hätten den Halt von Ver¬
wandten und nahen Angehörigen, dem ſie zur Feſti¬
gung von Natur aus zugewieſen wären, verloren,
ſie leben unſicher auf ihrem Beſizthume, ſie müßten
Manches aus ſich ſchöpfen wie ein Mann, und ge¬
nießen der weiblichen Rechte nur in dem Widerſcheine
des Lebens ihrer Freunde, mit dem der Lauf der Jahre
ſie verbunden habe. Das ſei die Lage, ſie daure ihrer
[389] Natur nach ſo fort, und gehe ihrer Entwicklung ent¬
gegen.
Mich hatte dieſe Darſtellung Mathildens beinahe
ernſt gemacht. Die Stimmung milderte ſich wieder,
da wir auf die Erzählung von Dingen kamen, die ſich
in dieſem Sommer zugetragen hatten. Mathilde be¬
richtete mir über die Roſenblüthe über die Beſuche in
derſelben über ihr Leben auf dem Sternenhofe und
über das Gedeihen alles deſſen, was der Jahresernte
entgegen ſehe. Ich beſchrieb ihr ein wenig meinen
jezigen Aufenthaltsort, erklärte ihr, was ich anſtrebe,
und erzählte ihr, auf welchen Wegen und mit welchen
Mitteln wir es auszuführen verſuchen.
Nachdem das Geſpräch auf dieſe Art eine Zeit ge¬
dauert hatte, empfahl ich mich, und begab mich in
mein Zimmer.
Es war mir dieſelbe Wohnung eingeräumt und
hergerichtet worden, welche ich jedes Mal, ſo oft ich
in dem Sternenhofe geweſen war, inne gehabt hatte.
Ein Diener hatte mich von dem Vorzimmer Mathil¬
dens in dieſelbe geführt. Sie hatte beinahe genau
dasſelbe Anſehen wie früher, wenn ich ein Bewohner
dieſes Hauſes geweſen war. Sogar die Bücher, welche
der Hausverwalter jedes Mal zu meiner Beſchäftigung
[390] herbeigeſchafft hatte, waren nicht vergeſſen worden.
Nachdem ich mich eine Weile allein befunden hatte,
trat dieſer Hausverwalter herein, und fragte mich, ob
alles in der Wohnung in gehöriger Ordnung ſei, oder
ob ich einen Wunſch habe. Als ich ihm die Verſiche¬
rung gegeben hatte, daß alles über meine Bedürfniſſe
trefflich ſei, und nachdem ich ihm für ſeine Mühe und
Sorgfalt gedankt hatte, entfernte er ſich wieder.
Ich überließ mich eine Zeit der Ruhe, dann ging
ich in den Räumen herum, ſah bald bei dem einen
bald bei dem andern Fenſter auf die bekannten Gegen¬
ſtände auf die nahen Felder und auf die entfernten
Gebirge hinaus, und kleidete mich dann zu dem Abend¬
eſſen anders an.
Zu dieſem Abendeſſen wurde ich bald, da ich
ſpät am Tage in dem Schloſſe angekommen war,
gerufen.
Ich begab mich in den Speiſeſaal, und fand dort
bereits Mathilden und Natalien. Mathilde hatte ſich
anders angekleidet, als ich ſie bei meiner Ankunft in
ihrem Zimmer getroffen hatte. Von Natalien wußte
ich dies nicht; aber da ſie ein ähnliches Kleid anhatte,
wie Mathilde, ſo vermuthete ich es, und mußte über¬
zeugt ſein, daß man ihr meine Ankunft gemeldet
[391] habe. Wir begrüßten uns ſehr einfach, und ſezten
uns zu dem Tiſche.
Mir war es äußerſt ſeltſam und befremdend, daß
ich mit Mathilden und Natalien allein in ihrem Hauſe
bei dem Abendtiſche ſize.
Die Geſpräche bewegten ſich um gewöhnliche
Dinge.
Nach dem Speiſen entfernte ich mich bald, um
die Frauen nicht zu beläſtigen, und zog mich in meine
Wohnung zurück.
Dort beſchäftigte ich mich eine Zeit mit Papieren
und Büchern, die ich aus meinem Koffer hervorge¬
ſucht hatte, gerieth dann in Sinnen und Denken, und
begab mich endlich zur Ruhe.
Der folgende Tag wurde zu einem einſamen Mor¬
genſpaziergange benüzt, dann frühſtückten wir mit
einander, dann gingen wir in den Garten, dann be¬
ſchäftigte ich mich bei den Bildern in den Zimmern.
Der Nachmittag wurde zu einem Gange in Theile
des Meierhofes und auf die Felder verwendet, und
der Abend war wie der vorhergegangene.
Mit Natalien war ich, da ſie jezt mit ihrer Mut¬
ter allein in dem Schloſſe wohnte, beinahe fremder,
als ich es ſonſt unter vielen Leuten geweſen war.
[392]
Wir hatten an dieſem Tage nicht viel mit ein¬
ander geſprochen und nur die allergewöhnlichſten
Dinge.
Der zweite Tag verging wie der erſte. Ich hatte
die Bilder wieder angeſehen, ich war in den Zimmern
mit den alterthümlichen Geräthen geweſen, und hatte
den Gängen Gemächern und Abbildungen des oberen
Stockwerkes einen Beſuch gemacht.
Am dritten Tage meines Aufenthaltes in dem
Sternenhofe nachmittags, da ich eine Weile in die
Zeilen des alten Homer geblickt hatte, wollte ich meine
Wohnung, in der ich mich befand, verlaſſen, und in
den Garten gehen. Ich legte die Worte Homers auf
den Tiſch, begab mich in das Vorzimmer, ſchloß die
Thür meiner Wohnung hinter mir ab, und ging über
die kleinere Treppe im hinteren Theile des Hauſes in
den Garten. Es war ein ſehr ſchöner Tag, keine
einzige Wolke ſtand an dem Himmel, die Sonne ſchien
warm auf die Blumen, daher es ſtille von Arbeiten
und ſelbſt vom Geſange der Vögel war. Nur das
einfache Scharren und leiſe Hämmern der Arbei¬
ter hörte ich, welche mit der Hinwegſchaffung der
Tünche des Hauſes in der Nähe meines Ausganges
auf Gerüſten beſchäftigt waren. Ich ging neben Ge¬
[393] büſchen und verſpäteten Blumen einem Schatten zu,
welcher ſich mir auf einem Sandwege both, der mit
ziemlich hohen Hecken geſäumt war. Der Sandweg
führte mich zu den Linden, und von dieſen ging ich
durch eine Überlaubung der Eppichwand zu. Ich ging
an ihr entlang, und trat in die Grotte des Brunnens.
Ich war von der linken Seite der Wand gekommen,
von welcher man beim Herannahen den ſchöneren An¬
blick der Quellnimphe hat, dafür aber das Bänkchen
nicht gewahr wird, welches in der Grotte der Nimphe
gegenüber angebracht iſt. Als ich eingetreten war,
ſah ich Natalien auf dem Bänklein ſizen. Sie war
ſehr erſchrocken, und ſtand auf. Ich war auch er¬
ſchrocken; dennoch ſah ich in ihr Angeſicht. In dem¬
ſelben war ein Schwanken zwiſchen Roth und Blaß,
und ihre Augen waren auf mich gerichtet.
Ich ſagte: „Mein Fräulein, ihr werdet mir es
glauben, wenn ich euch ſage, daß ich von dem Laub¬
gange an der linken Seite dieſer Wand gegen die
Grotte gekommen bin, und euch nicht habe ſehen kön¬
nen, ſonſt wäre ich nicht eingetreten, und hätte euch
nicht geſtört.“
Sie antwortete nichts, und ſah mich noch im¬
mer an.
[394]
Ich ſagte wieder: „Da ich euch nun einmal beun¬
ruhigt habe, wenn auch gegen meinen Willen, ſo
werdet ihr mir es wohl gütig verzeihen, und ich werde
mich ſogleich entfernen.“
„Ach nein, nein,“ ſagte ſie.
Da ich ſchwankte, und die Bedeutung der Worte
nicht erkannte, fragte ich: „Zürnet ihr mir, Natalie?“
„Nein, ich zürne euch nicht,“ antwortete ſie, und
richtete die Augen, die ſie eben niedergeſchlagen hatte,
wieder auf mich.
„Ihr ſeid auf dieſen Plaz gegangen, um allein zu
ſein,“ ſagte ich, „alſo muß ich euch verlaſſen.“
„Wenn ihr mich nicht aus Abſicht meidet, ſo iſt es
nicht ein Müſſen, daß ihr mich verlaſſet,“ antwortete ſie.
„Wenn es nicht eine Pflicht iſt, euch zu verlaſſen,“
erwiederte ich, „ſo müßt ihr euren Plaz wieder ein¬
nehmen, von dem ich euch verſcheucht habe. Thut es,
Natalie, ſezt euch auf eure frühere Stelle nieder.“
Sie ließ ſich auf das Bänkchen nieder ganz vorn
gegen den Ausgang, und ſtüzte ſich auf die Marmor¬
lehne.
Ich kam nun auf dieſe Weiſe zwiſchen ſie und die
Geſtalt zu ſtehen. Da ich dieſes für unſchicklich hielt,
ſo trat ich ein wenig gegen den Hintergrund. Allein
[395] jezt ſtand ich wieder aufrecht vor dem leeren Theile
der Bank in der nicht ſehr hohen Halle, und da mir
auch dieſes eher unziemend als ziemend erſchien, ſo
ſezte ich mich auf den andern Theil der Bank, und
ſagte: „Liebt ihr wohl dieſen Plaz mehr als andere?“
„Ich liebe ihn,“ antwortete ſie, „weil er abge¬
ſchloſſen iſt, und weil die Geſtalt ſchön iſt. Liebt ihr
ihn nicht auch?“
„Ich habe die Geſtalt immer mehr lieben gelernt,
je länger ich ſie kannte,“ antwortete ich.
„Ihr ginget früher öfter her?“ fragte ſie.
„Als ich durch die Güte eurer Mutter manche Ge¬
räthe in dem Sternenhofe zeichnete, und faſt allein in
demſelben wohnte, habe ich oft dieſe Halle beſucht,“
erwiederte ich. „Und ſpäter auch, wenn ich durch
freundliche Einladung hieher kam, habe ich nie ver¬
ſäumt, an dieſe Stelle zu gehen.“
„Ich habe euch hier geſehen,“ ſagte ſie.
„Die Anlage iſt gemacht, daß ſie das Gemüth
und den Verſtand erfüllet,“ antwortete ich, „die grüne
Wand des Eppichs ſchließt ruhig ab, die zwei Eichen
ſtehen wie Wächter, und das Weiß des Steins geht ſanft
von dem Dunkel der Blätter und des Gartens weg.“
„Es iſt alles nach und nach entſtanden, wie die
[396] Mutter erzählt,“ erwiederte ſie, „der Eppich iſt erzogen
worden, die Wand vergrößert erweitert und bis an
die Eichen geführt. Selbſt in der Halle war es ein¬
mal anders. Die Bank war nicht da. Aber da der
Marmor ſo oft betrachtet wurde, da die Menſchen
vor ihm ſtanden, oder ſelbſt in der Halle neben ihm,
da die Mutter ebenfalls die Geſtalt gerne betrachtete,
und lange betrachtete: ſo ließ ſie aus dem gleichen
Stoffe, aus dem die Nimphe gearbeitet iſt, dieſe Bank
machen, und ließ dieſelbe mit der kunſtreichen vor¬
chriſtlich ausgeführten Lehne verſehen, damit ſie einer¬
ſeits zu dem vorhandenen Werke ſtimme, und damit
andererſeits das Werk mit Ruhe und Erquickung an¬
geſehen werden könne. Mit der Zeit iſt auch die Ala¬
baſterſchale hieher gekommen.“
„Die Menſchen werden von ſolchen Werken ge¬
zogen,“ antwortete ich, „und die Luſt des Schauens
findet ſich.“
„Ich habe dieſe Geſtalt von meiner Kindheit an
geſehen, und habe mich an ſie gewöhnt,“ ſagte ſie,
„haltet ihr nicht auch den bloßen Stein ſchon für ſehr
ſchön?“
„Ich halte ihn für ganz beſonders ſchön,“ erwie¬
derte ich.
[397]
„Mir iſt immer, wenn ich ihn lange betrachte,“
ſagte ſie, „als hätte er eine ſehr große Tiefe, als ſollte
man in ihn eindringen können, und als wäre er durch¬
ſichtig, was er nicht iſt. Er hält eine reine Fläche
den Augen entgegen, die ſo zart iſt, daß ſie kaum
Widerſtand leiſtet, und in der man als Anhaltspunkte
nur die vielen feinen Splitter funkeln ſieht.“
„Der Stein iſt auch durchſichtig,“ antwortete ich,
„nur muß man eine dünne Schichte haben, durch die
man ſehen will. Dann ſcheint die Welt faſt gold¬
artig, wenn man ſie durch ihn anſieht. Wenn meh¬
rere Schichten übereinander liegen, ſo werden ſie in
ihrem Anblicke von Außen weiß, wie der Schnee, der
auch aus lauter durchſichtigen kleinen Eisnadeln be¬
ſteht, weiß wird, wenn Millionen ſolcher Nadeln auf
einander liegen.“
„So habe ich nicht unrecht empfunden,“ ſagte ſie.
„Nein,“ erwiederte ich, „ihr habt recht geahnt.“
„Wenn die Edelſteine nicht nach dem geachtet wer¬
den, was ſie koſten,“ ſagte ſie, „ſondern nach dem, wie
ſie edel ſind, ſo gehört der Marmor gewiß unter die
Edelſteine.“
„Er gehört unter dieſelben, er gehört gewißlich
unter dieſelben,“ erwiederte ich. „Wenn er auch als
[398] bloßer Stoff nicht ſo hoch im Preiſe ſteht, wie die
geſuchten Steine, die nur in kleinen Stücken vorkom¬
men, ſo iſt er doch ſo auserleſen und ſo wunderbar,
daß er nicht bloß in der weißen ſondern auch in jeder
andern Farbe begehrt wird, daß man die verſchieden¬
ſten Dinge aus ihm macht, und daß das Höchſte,
was menſchliche bildende Kunſt darzuſtellen vermag,
in der Reinheit des weißen Marmors ausgeführt
wird.“
„Das iſt es, was mich auch immer ſehr ergriff,
wenn ich hier ſaß, und betrachtete,“ ſagte ſie, „daß in
dem harten Steine das Weiche und Runde der Ge¬
ſtaltung ausgedrückt iſt, und daß man zu der Dar¬
ſtellung des Schönſten in der Welt den Stoff nimmt,
der keine Makel hat. Dies ſehe ich ſogar immer an
der Geſtalt auf der Treppe unſers Freundes, welche
noch ſchöner und ehrfurchterweckender als dieſes Bild¬
werk hier iſt, wenn gleich ihr Stoff in der Länge der
vielen Jahre, die er gedauert hat, verunreinigt wor¬
den war.“
„Es iſt gewiß nicht ohne Bedeutung,“ entgegnete
ich, „daß die Menſchen in den edelſten und ſelbſt hie
und da älteſten Völkern zu dieſem Stoffe griffen, wenn
ſie hohes Göttliches oder Menſchliches bilden wollten,
[399] während ſie Ausſchmückungen in Laubwerk Simſen
Säulen Thiergeſtalten und ſelbſt untergeordnete Men¬
ſchen- und Götterbilder aus farbigem Marmor aus
Sandſtein aus Holz Thon Gold oder Silber verfer¬
tigten. Es wäre zugänglicherer behandelbarerer Stoff
geweſen: Holz Erde weicher Stein manche Metalle:
ſie aber gruben weißen Marmor aus der Erde, und
bildeten aus ihm. Aber auch die andern Edelſteine,
aus denen man verſchiedene Dinge macht, geſchnittene
Steine allerlei Geſtalten Blumen- und Zierwerk, ſo wie
endlich diejenigen, die man beſonders Edelſteine nennt
und zum Schmucke der menſchlichen Geſtalt und hoher
Dinge anwendet, haben in ihrem Stoffe etwas, das
anzieht, und den menſchlichen Geiſt zu ſich leitet, es
iſt nicht blos die Seltenheit oder das Schimmern, das
ſie werthvoll macht.“
„Habt ihr auch die Edelſteine kennen zu lernen
geſucht?“ fragte ſie.
„Ein Freund hat mir vieles von ihnen gezeigt und
erklärt,“ antwortete ich.
„Sie ſind freilich für die Menſchen ſehr merkwür¬
dig,“ ſagte ſie.
„Es iſt etwas Tiefes und Ergreifendes in ihnen,“
antwortete ich, „gleichſam ein Geiſt in ihrem Weſen,
[400] der zu uns ſpricht, wie zum Beiſpiele in der Ruhe
des Smaragdes, deſſen Schimmerpunkten kein Grün
der Natur gleicht, es müßte nur auf Vogelgefiedern
wie das des Colibri oder auf den Flügeldecken von
Käfern ſein — wie in der Fülle des Rubins, der mit
dem roſenſamtnen Lichtblicke gleichſam als der vor¬
nehmſte unter den gefärbten Steinen zu uns aufſieht
— wie in dem Räthſel des Opals, der unergründlich
iſt — und wie in der Kraft des Diamantes, der we¬
gen ſeines großen Lichtbrechungsvermögens in einer
Schnelligkeit wie der Bliz den Wechſel des Feuers
und der Farben gibt, den kaum die Schneeſterne noch
der Sprühregen des Waſſerfalles haben. Alles, was
den edlen Steinen nachgemacht wird, iſt der Körper
ohne dieſen Geiſt, es iſt der inhaltleere ſpröde harte
Glanz ſtatt der reichen Tiefe und Milde.“
„Ihr habt von der Perle nicht geſprochen.“
„Sie iſt kein Edelſtein, geſellt ſich aber im Ge¬
brauche gerne zu ihm. In ihrem äußern Anſehen iſt
ſie wohl das Beſcheidenſte; aber nichts ſchmückt mit
dem ſo ſanft umflorten Seidenglanze die menſchliche
Schönheit ſchöner als die Perle. Selbſt an dem
Kleide eines Mannes, wo ſie etwas hält, wie die
Schleife des Halstuches oder wie die Falte des
[401] Bruſtlinnens, dünkt ſie mich das Würdigſte und
Ernſteſte.“
„Und liebt ihr die Edelſteine als Schmuck?“
fragte ſie.
„Wenn die ſchönſten Steine ihrer Art ausgewählt
werden,“ antwortete ich, „wenn ſie in einer Faſſung
ſind, welche richtigen Kunſtgeſezen entſpricht, und
wenn dieſe Faſſung an der Stelle, wo ſie iſt, einen
Zweck erfüllt, alſo nothwendig erſcheint: dann iſt
wohl kein Schmuck des menſchlichen Körpers feier¬
licher als der der Edelſteine.“
Wir ſchwiegen nach dieſen Worten, und ich konnte
Natalien jezt erſt ein wenig betrachten. Sie hatte ein
mattes hellgraues Seidenkleid an, wie ſie es über¬
haupt gerne trug. Das Kleid reichte, wie es bei ihr
immer der Fall war, bis zum Halſe und bis zu den
Knöcheln der Hand. Von Schmuck hatte ſie gar nichts
an ſich, nicht das Geringſte, während ihr Körper doch
ſo ſtimmend zu Edelſteinen geweſen wäre. Ohrge¬
hänge, welche damals alle Frauen und Mädchen
trugen, hatte weder Mathilde je, ſeit ich ſie kannte,
getragen, noch trug ſie Natalie.
In unſerem Schweigen ſahen wir gleichſam wie
durch Verabredung gegen das rieſelnde Waſſer.
Stifter, Nachſommer. II. 26[402]
Endlich ſagte ſie: „Wir haben von dem Ange¬
nehmen dieſes Ortes geſprochen, und ſind von dem
edlen Steine des Marmors auf die Edelſteine gekom¬
men; aber eines Dinges wäre noch Erwähnung zu
thun, das dieſen Ort ganz beſonders auszeichnet.“
„Welches Dinges?“
„Des Waſſers. Nicht blos, daß dieſes Waſſer
vor vielen, die ich kenne, gut zur Erquickung gegen
den Durſt iſt, ſo hat ſein Spielen und ſein Fließen
gerade an dieſer Stelle und durch dieſe Vorrichtungen
etwas Beſänftigendes und etwas Beachtungswerthes.“
„Ich fühle, wie ihr,“ antwortete ich, „und wie oft
habe ich dem ſchönen Glänzen und dem ſchattenden
Dunkel dieſes lebendigen flüchtigen Körpers an dieſer
Stelle zugeſehen, eines Körpers, der wie die Luft
wohl viel bewunderungswürdiger wäre, als es die
Menſchen zu erkennen ſcheinen.“
„Ich halte auch das Waſſer und die Luft für
bewunderungswürdig,“ entgegnete ſie, „die Menſchen
achten nur ſo wenig auf beides, weil ſie überall
von ihnen umgeben ſind. Das Waſſer erſcheint mir
als das bewegte Leben des Erdkörpers wie die Luft
ſein ungeheurer Odem iſt.“
„Wie richtig ſprecht ihr,“ ſagte ich, „und es ſind
[403] auch Menſchen geweſen, die das Waſſer ſehr geachtet
haben; wie hoch haben die Griechen ihr Meer ge¬
halten, und wie rieſenhafte Werke haben die Römer
aufgeführt, um ſich das Labſal eines guten Waſſers
zuzuleiten. Sie haben freilich nur auf den Körper
Rückſicht genommen, und haben nicht, wie die Grie¬
chen die Schönheit ihres Meeres betrachteten, die
Schönheit des Waſſers vor Augen gehabt; ſondern
ſie haben ſich nur dieſes Kleinod der Geſundheit in
beſter Art verſchaffen wollen. Und iſt wohl etwas
außer der Luft, das mit größerem Adel in unſer Weſen
eingeht als das Waſſer? Soll nicht nur das reinſte
und edelſte ſich mit uns vereinigen? Sollte dies nicht
gerade in den geſundheitverderbenden Städten ſein,
wo ſie aber nur Vertiefungen machen, und das Waſ¬
ſer trinken, das aus ihnen kömmt? Ich bin in den
Bergen geweſen in Thälern in Ebenen in der großen
Stadt, und habe in der Hize im Durſte in der Be¬
wegung den koſtbaren Kriſtall des Waſſers und ſeine
Unterſchiede kennen gelernt. Wie erquickt der Quell
in den Bergen und ſelbſt in den Hügeln, vorzüglich
wenn er am reinſten aus dem reinen Granit fließt,
und Natalie, wie ſchön iſt außerdem der Quell!“
Hatte nun Natalie ſchon früher einen Durſt em¬
26 *[404] pfunden, und hatte derſelbe ihr Geſpräch auf das
Waſſer gelenkt, oder war durch das Geſpräch ein
leichter Durſt in ihr hervorgerufen worden: ſie ſtand
nun auf, nahm die Alabaſterſchale in die Hand, ließ
ſie ſich in dem ſanften Strahle füllen, ſezte ſie an ihre
ſchönen Lippen, trank einen Theil des Waſſers, ließ
das übrige in das tiefere Becken fließen, ſtellte die
leere Schale an ihren Plaz, und ſezte ſich wieder zu
mir auf die Bank.
Mir war das Herz ein wenig gedrückt, und ich
ſagte: „Wenn wir beide das Schöne dieſes Ortes be¬
trachtet, und wenn wir von ihm und von andern Din¬
gen, auf die er uns führte, gerne geſprochen haben,
ſo iſt doch etwas in ihm, was mir Schmerz erregt.“
„Was kann euch denn an dieſem Orte Schmerz
erregen?“ fragte ſie.
„Natalie,“ antwortete ich, „es iſt jezt ein Jahr,
daß ihr mich an dieſer Halle abſichtlich gemieden habt.
Ihr ſaßet auf derſelben Bank, auf welcher ihr jezt ſizet,
ich ſtand im Garten, ihr tratet heraus, und ginget
von mir mit beeiligten Schritten in das Gebüſch.“
Sie wendete ihr Angeſicht gegen mich, ſah mich
mit den dunkeln Augen an, und ſagte: „Deſſen er¬
innert ihr euch, und das macht euch Schmerz?“
„Es macht mir jezt im Rückblicke Schmerz, und
hat ihn mir damals gemacht,“ antwortete ich.
„Ihr habt mich ja aber auch gemieden,“ ſagte ſie.
„Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu
haben, als dränge ich mich zu euch,“ entgegnete ich.
„War ich euch denn von einer Bedeutung?“ frag¬
te ſie.
„Natalie,“ antwortete ich, „ich habe eine Schwe¬
ſter, die ich im höchſten Maße liebe, ich habe viele
Mädchen in unſerer Stadt und in dem Lande kennen
gelernt; aber keines ſelbſt nicht meine Schweſter achte
ich ſo hoch wie euch, keines iſt mir ſtets ſo gegenwär¬
tig, und erfüllt mein ganzes Weſen wie ihr.“
Bei dieſen Worten traten die Thränen aus ihren
Augen, und floſſen über ihre Wangen herab.
Ich erſtaunte, ich blickte ſie an, und ſagte: „Wenn
dieſe ſchönen Tropfen ſprechen, Natalie ſagen ſie, daß
ihr mir auch ein wenig gut ſeid?“
„Wie meinem Leben,“ antwortete ſie.
Ich erſtaunte noch mehr, und ſprach: „Wie kann
es denn ſein, ich habe es nicht geglaubt.“
„Ich habe es auch von euch nicht geglaubt,“ erwie¬
derte ſie.
„Ihr konntet es leicht wiſſen,“ ſagte ich. „Ihr ſeid
[406] ſo gut, ſo rein, ſo einfach. So ſeid ihr vor mir ge¬
wandelt, ihr waret mir begreiflich wie das Blau des
Himmels, und eure Seele erſchien mir ſo tief, wie
das Blau des Himmels tief iſt. Ich habe euch mehrere
Jahre gekannt, ihr waret ſtets bedeutend vor der herr¬
lichen Geſtalt eurer Mutter und der eures ehrwür¬
digen Freundes, ihr waret heute, wie ihr geſtern
geweſen waret, und morgen wie heute, und ſo habe
ich euch in meine Seele genommen zu denen, die ich
dort liebe, zu Vater Mutter Schweſter — nein, Na¬
talie, noch tiefer, tiefer —“
Sie ſah mich bei dieſen Worten ſehr freundlich
an, ihre Thränen floſſen noch häufiger, und ſie reichte
mir ihre Hand herüber.
Ich faßte die Hand, ich konnte nichts ſagen, und
blickte ſie nur an.
Nach mehreren Augenblicken ließ ich ihre Hand
los, und ſagte: „Natalie, es iſt mir nicht begreiflich,
wie iſt es denn möglich, daß ihr mir gut ſeid, mir,
der gar nichts iſt, und nichts bedeutet?“
„Ihr wißt nicht, wer ihr ſeid,“ antwortete ſie.
„Es iſt gekommen, wie es kommen mußte. Wir haben
viele Zeit in der Stadt zugebracht, wir ſind oft den
ganzen Winter in derſelben geweſen, wir haben Reiſen
[407] gemacht, haben verſchiedene Länder und Städte ge¬
ſehen, wir ſind in London Paris und Rom geweſen.
Ich habe viele junge Männer kennen gelernt. Dar¬
unter ſind wichtige und bedeutende geweſen. Ich habe
geſehen, daß mancher Antheil an mir nahm; aber es
hat mich eingeſchüchtert, und wenn einer durch ſpre¬
chende Blicke oder durch andere Merkmale es mir
näher legte, ſo entſtand eine Angſt in mir, und ich
mußte mich nur noch ferner halten. Wir gingen wie¬
der in die Heimath zurück. Da kamet ihr eines Som¬
mers in den Asperhof, und ich ſah euch. Ihr kamet
im nächſten Sommer wieder. Ihr waret ohne An¬
ſpruch, ich ſah, wie ihr die Dinge dieſer Erde liebtet,
wie ihr ihnen nach ginget, und wie ihr ſie in eurer
Wiſſenſchaft hegtet — ich ſah, wie ihr meine Mutter
verehrtet, unſern Freund hochachtetet, den Knaben
Guſtav beinahe liebtet, von eurem Vater eurer Mut¬
ter und eurer Schweſter nur mit Ehrerbiethung ſpra¬
chet, und da — — da —“
„Da, Natalie?“
„Da liebte ich euch, weil ihr ſo einfach ſo gut und
doch ſo ernſt ſeid.“
„Und ich liebte euch mehr, als ich je irgend ein
Ding dieſer Erde zu lieben vermochte.“
„Ich habe manchen Schmerz um euch empfunden,
wenn ich in den Feldern herumging.“
„Ich habe es ja nicht gewußt, Natalie, und weil
ich es nicht wußte, ſo mußte ich mein Inneres ver¬
bergen, und gegen jedermann ſchweigen, gegen den
Vater gegen die Mutter gegen die Schweſter, und ſo¬
gar gegen mich. Ich bin fortgefahren, das zu thun,
was ich für meine Pflicht erachtete, ich bin in die
Berge gegangen, habe mir ihre Zuſammenſezung
aufgeſchrieben, habe Geſteine geſammelt und Seen
gemeſſen, ich bin auf den Rath eures Freundes einen
Sommer beſchäftigungslos in dem Asperhofe gewe¬
ſen, bin dann wieder in die Wildniß gegangen und
zu der Grenze des Eiſes emporgeſtiegen. Ich konnte
nur eure Mutter euren Freund und euren Bruder
immer wärmer lieben: aber, Natalie, wenn ich auf den
Höhen der Berge war, habe ich euer Bild in dem
heitern Himmel geſehen, der über mir ausgeſpannt
war, wenn ich auf die feſten ſtarren Felſen blickte, ſo
erblickte ich es auch in dem Dufte, der vor denſelben
webte, wenn ich auf die Länder der Menſchen hinaus¬
ſchaute, ſo war es in der Stille, die über der Welt
gelagert war, und wenn ich zu Hauſe in die Züge der
Meinigen blickte, ſo ſchwebte es auch in denen.“
„Und nun hat ſich alles recht gelöſet.“
„Es hat ſich wohl gelöſet, meine liebe liebe Na¬
talie.“
„Mein theurer Freund!“
Wir reichten uns bei dieſen Worten die Hände
wieder, und ſaßen ſchweigend da.
Wie hatte ſeit einigen Augenblicken alles ſich um
mich verändert, und wie hatten die Dinge eine Ge¬
ſtalt gewonnen, die ihnen ſonſt nicht eigen war. Na¬
taliens Augen, in welche ich ſchauen konnte, ſtanden
in einem Schimmer, wie ich ſie nie, ſeit ich ſie kenne,
geſehen hatte. Das unermüdlich fließende Waſſer die
Alabaſterſchale der Marmor waren verjüngt; die wei¬
ßen Flimmer auf der Geſtalt und die wunderbar im
Schatten blühenden Lichter waren anders; die Flüſſig¬
keit rann plätſcherte oder pippte oder tönte im einzel¬
nen Falle anders; das ſonnenglänzende Grün von
draußen ſah als ein neues freundlich herein, und ſelbſt
das Hämmern, mit welchem man die Tünche von
den Mauern des Hauſes herabſchlug, tönte jezt als
ein ganz verſchiedenes in die Grotte von dem, das
ich gehört hatte, als ich aus dem Hauſe gegangen
war.
Nach einer geraumen Weile ſagte Natalie: „Und
[410] von dem Abende im Hoftheater habt ihr auch nie
etwas geſprochen.“
„Von welchem Abende Natalie?“
„Als König Lear aufgeführt wurde.“
„Ihr ſeid doch nicht das Mädchen in der Loge
geweſen?“
„Ich bin es geweſen.“
„Nein, ihr ſeid ſo blühend wie eine Roſe, und
jenes Mädchen war blaß wie eine weiße Lilie.“
„Es mußte mich der Schmerz entfärbt haben. Ich
war kindiſch, und es hat mir damals wohlgethan,
in euren Augen allein unter allen denen, die die Loge
umgaben, ein Mitgefühl mit meiner Empfindung zu
leſen. Dieſe Empfindung wurde durch euer Mitge¬
fühl zwar noch ſtärker, ſo daß ſie beinahe zu mächtig
wurde; aber es war gut. Ich habe nie einer Vor¬
ſtellung beigewohnt, die ſo ergreifend geweſen wäre.
Ich ſah es als einen günſtigen Zufall an, daß mir
eure Augen, die bei dem Leiden des alten Königs
übergefloſſen waren, bei dem Fortgehen aus dem
Schauſpielhauſe ſo nahe kamen. Ich glaubte ihnen
mit meinen Blicken dafür danken zu müſſen, daß ſie
mir beigeſtimmt hatten, wo ich ſonſt vereinſamt ge¬
weſen wäre. Habt ihr das nicht erkannt?“
„Ich habe es erkannt, und habe gedacht, daß der
Blick des Mädchens wohlwollend ſei, und daß er ein
Einverſtändniß über unſere gemeinſchaftliche Empfin¬
dung bei der Vorſtellung bedeuten könne.“
„Und ihr habt mich alſo nicht wieder erkannt?“
„Nein, Natalie.“
„Ich habe euch gleich erkannt, als ich euch in dem
Asperhofe ſah.“
„Es iſt mir lieb, daß es eure Augen geweſen ſind,
die mir den Dank geſagt haben; der Dank iſt tief in
mein Gemüth gedrungen. Aber wie konnte es auch
anders ſein, da eure Augen das Liebſte und Holdeſte
ſind, was für mich die Erde hat.“
„Ich habe euch ſchon damals in meinem Herzen
höher geſtellt als die andern, obwohl ihr ein Fremder
waret, und obwohl ich denken konnte, daß ihr mir
in meinem ganzen Leben fremd bleiben werdet.“
„Natalie, was mir heute begegnet iſt, bildet eine
Wendung in meinem Leben, und ein ſo tiefes Ereig¬
niß, daß ich es kaum denken kann. Ich muß ſuchen,
alles zurecht zu legen, und mich an den Gedanken
der Zukunft zu gewöhnen.“
„Es iſt ein Glück, das uns ohne Verdienſt vom
[412] Himmel gefallen, weil es größer iſt als jedes Ver¬
dienſt.“
„Drum laſſet uns es dankbar aufnehmen.“
„Und ewig bewahren.“
„Wie war es gut, Natalie, daß ich die Worte
Homers, die ich heute nachmittag las, nicht in mein
Herz aufnehmen konnte, daß ich das Buch weglegte,
in den Garten ging, und daß das Schickſal meine
Schritte zu dem Marmor des Brunnens lenkte.“
„Wenn unſere Weſen zu einander neigten, ob¬
gleich wir es nicht gegenſeitig wußten, ſo würden ſie
ſich doch zugeführt worden ſein, wann und wo es
immer geſchehen wäre, das weiß ich nun mit Si¬
cherheit.“
„Aber ſagt, warum habt ihr mich denn gemieden,
Natalie?“
„Ich habe euch nicht gemieden, ich konnte mit
euch nicht ſprechen, wie es mir in meinem Innern
war, und ich konnte auch nicht ſo ſein, als ob ihr ein
Fremder wäret. Doch war mir eure Gegenwart ſehr
lieb. Aber warum habt denn auch ihr euch ferne
von mir gehalten?“
„Mir war wie euch. Da ihr ſo weit von mir
waret, konnte ich mich nicht nahen. Eure Gegenwart
[413] verherrlichte mir alles, was uns umgab, aber das
dunkle künftige Glück ſchien mir unerreichbar.“
„Nun iſt doch erfüllet, was ſich vorbereitete.“
„Ja es iſt erfüllt.“
Nach einem kleinen Schweigen fuhr ich fort: „Ihr
habt geſagt, Natalie, daß wir das Glück, das uns
vom Himmel gefallen iſt, ewig aufbewahren ſollen.
Wir ſollen es auch ewig aufbewahren. Schließen wir
den Bund, daß wir uns lieben wollen, ſo lange das
Leben währt, und daß wir treu ſein wollen, was auch
immer komme, und was die Zukunft bringe, ob es
uns aufbewahrt iſt, daß wir in Vereinigung die Sonne
und den Himmel genießen, oder ob jedes allein zu
beiden emporblickt, und nur des andern mit Schmer¬
zen gedenken kann.“
„Ja, mein Freund, Liebe unveränderliche Liebe,
ſo lange das Leben währt, und Treue, was auch die
Zukunft von Gunſt oder Ungunſt bringen mag.“
„O Natalie, wie wallt mein Herz in Freude! Ich
habe es nicht geahnt, daß es ſo entzückend iſt, euch
zu beſizen, die mir unerreichbar ſchien.“
„Ich habe auch nicht gedacht, daß ihr euer Herz
von den großen Dingen, denen ihr ergeben waret,
wegkehren und mir zuwenden werdet.“
„O meine geliebte meine theure ewig mir gehö¬
rende Natalie!“
„Mein einziger mein unvergeßlicher Freund!“
Ich war von Empfindung überwältigt, ich zog ſie
näher an mich, und neigte mein Angeſicht zu ihrem.
Sie wendete ihr Haupt herüber, und gab mit Güte
ihre ſchönen Lippen meinem Munde, um den Kuß zu
empfangen, den ich both.
„Ewig für dich allein,“ ſagte ich.
„Ewig für dich allein,“ ſagte ſie leiſe.
Schon als ich die ſüßen Lippen an meinen fühlte,
war mir, als ſei ein Zittern in ihr, und als fließen
ihre Thränen wieder.
Da ich mein Haupt wegwendete, und in ihr An¬
geſicht ſchaute, ſah ich die Thränen in ihren Augen.
Ich fühlte die Tropfen auch in den meinen hervor¬
quellen, die ich nicht mehr zurückhalten konnte. Ich zog
Natalien wieder näher an mich, legte ihr Angeſicht an
meine Bruſt, neigte meine Wange auf ihre ſchönen
Haare, legte die eine Hand auf ihr Haupt, und hielt
ſie ſo ſanft umfaßt, und an mein Herz gedrückt. Sie
regte ſich nicht, und ich fühlte ihr Weinen. Da dieſe
Stellung ſich wieder löſte, da ſie mir in das Angeſicht
ſchaute, drückte ich noch einmal einen heißen Kuß auf
[415] ihre Lippen, zum Zeichen der ewigen Vereinigung und
der unbegrenzten Liebe. Sie ſchlang auch ihre Arme
um meinen Hals, und erwiederte den Kuß zu gleichem
Zeichen der Einheit und der Liebe. Mir war in dieſem
Augenblicke, daß Natalie nun meiner Treue und Güte
hingegeben, daß ſie ein Leben eins mit meinem Leben
ſei. Ich ſchwor mir, mit allem, was groß gut ſchön
und ſtark in mir iſt, zu ſtreben, ihre Zukunft zu
ſchmücken, und ſie ſo glücklich zu machen, als es nur
in meiner Macht iſt, und erreicht werden kann.
Wir ſaßen nun ſchweigend neben einander, wir
konnten nicht ſprechen, und drückten uns nur die
Hände als Beſtättigung des geſchloßnen Bundes
und des innigſten Verſtändniſſes.
Da eine Zeit vergangen war, ſagte endlich Nata¬
lie: „Mein Freund, wir haben uns der Fortdauer
und der Unaufhörlichkeit unſerer Neigung verſichert,
und dieſe Neigung wird auch dauern; aber was nun
geſchehen, und wie ſich alles Andere geſtalten wird,
das hängt von unſern Angehörigen ab, von meiner
Mutter, und von euren Eltern.“
„Sie werden unſer Glück mit Wohlwollen an¬
ſehen.“
„Ich hoffe es auch; aber wenn ich das vollſte
[416] Recht hätte, meine Handlungen ſelber zu beſtimmen,
ſo würde ich nie auch nicht ein Theilchen meines
Lebens ſo einrichten, daß es meiner Mutter nicht
gefiele; es wäre kein Glück für mich. Ich werde ſo
handeln, ſo lange wir beiſammen auf der Erde ſind.
Ihr thut wohl auch ſo?“
„Ich thue es; weil ich meine Eltern liebe, und
weil mir eine Freude nur als ſolche gilt, wenn ſie
auch die ihre iſt.“
„Und noch jemand muß gefragt werden.“
„Wer?“
„Unſer edler Freund. Er iſt ſo gut, ſo weiſe, ſo
uneigennüzig. Er hat unſerm Leben einen Halt ge¬
geben, als wir rathlos waren, er iſt uns beigeſtan¬
den, als wir es bedurften, und jezt iſt er der zweite
Vater Guſtavs geworden.“
„Ja, Natalie, er ſoll und muß gefragt werden;
aber ſprecht, wenn eins von dieſen nein ſagt?“
„Wenn eines nein ſagt, und wir es nicht über¬
zeugen können, ſo wird es Recht haben, und wir
werden uns dann lieben, ſo lange wir leben, wir
werden einander treu ſein in dieſer und jener Welt;
aber wir dürften uns dann nicht mehr ſehen.“
„Wenn wir ihnen die Entſcheidung über uns an¬
[417] heim gegeben haben, ſo müßte es wohl ſo ſein; aber
es wird gewiß nicht gewiß nicht geſchehen.“
„Ich glaube mit Zuverſicht, daß es nicht geſchehen
wird.“
„Mein Vater wird ſich freuen, wenn ich ihm ſage,
wie ihr ſeid, er wird euch lieben, wenn er euch ſieht,
die Mutter wird euch eine zweite Mutter ſein, und
Klotilde wird ſich euch mit ganzer Seele zuwenden.“
„Ich verehre eure Eltern und liebe Klotilde ſchon
ſo lange, als ich euch von ihnen reden und erzählen
hörte. Mit meiner Mutter werde ich noch heute
ſprechen, ich könnte die Nacht nicht über das Ge¬
heimniß heraufgehen laſſen. Wenn ihr zu euren El¬
tern reiſet, ſagt ihnen, was geſchehen iſt, und ſendet
bald Nachricht hieher.“
„Ja Natalie.“
„Geht ihr von hier wieder in die Berge?“
„Ich wollte es; nun aber hat ſich Wichtigeres
ereignet, und ich muß gleich zu meinen Eltern. Nur
auf Kurzes will ich, ſo ſchnell es geht, in meinen
jezigen Standort reiſen, um die Arbeiten abzube¬
ſtellen, die Leute zu entlaſſen, und Alles in Ordnung
zu bringen.“
„Das muß wohl ſo ſein.“
Stifter, Nachſommer. II. 27[418]
„Die Antwort meiner Eltern bringt dann nicht
eine Nachricht, ſondern ich ſelber.“
„Das iſt noch erfreulicher. Mit unſerm Freunde
wird wohl hier geredet werden.“
„Natalie, dann habt ihr eine Schweſter an Klo¬
tilden, und ich einen Bruder an Guſtav.“
„Ihr habt ihn ja immer ſehr geliebt. Alles iſt ſo
ſchön, daß es faſt zu ſchön iſt.“
Dann ſprachen wir von der Zurückkunft der Män¬
ner, was ſie ſagen würden, und wie unſer Gaſtfreund
die ſchnelle Wendung der Dinge aufnehmen werde.
Zulezt, als die Gemüther zu einer ſanfteren Ruhe
zurückgekehrt waren, erhoben wir uns, um in das
Haus zu gehen. Ich both Natalien meinen Arm, den
ſie annahm. Ich führte ſie der Eppichwand entlang,
ich führte ſie durch einen ſchönen Gang des Gartens,
und wir gelangten dann in offnere freie Stellen, in
denen wir eine Umſicht hatten.
Als wir da eine Strecke vorwärts gekommen wa¬
ren, ſahen wir Mathilden außerhalb des Gartens
gegen den Maierhof gehen. Das Pförtchen, welches
von dem Garten gegen den Maierhof führt, war in
der Nähe, und ſtand offen.
[419]
„Ich werde meiner Mutter folgen, und werde
gleich jezt mit ihr ſprechen,“ ſagte Natalie.
„Wenn ihr es für gut haltet, ſo thut es,“ erwie¬
derte ich.
„Ja, ich thue es, mein Freund. Lebt wohl.“
„Lebt wohl.“
Sie zog ihren Arm aus dem meinigen, wir
reichten uns die Hände, drückten ſie uns, und Na¬
talie ſchlug den Weg zu dem Pförtchen ein.
Ich ſah ihr nach, ſie blickte noch einmal gegen
mich um, ging dann durch das Pförtchen, und das
graue Seidenkleid verſchwand unter den grünen Hecken
des Grundes.
Ich ging in das Haus, und begab mich in meine
Wohnung.
Da lag das Buch, in welchem die Worte Homers
waren, die heute die Gewalt über mein Herz verloren
hatten — es lag, wie ich es auf den Tiſch gelegt hatte.
Was war indeſſen geſchehen. Die ſchönſte Jungfrau
dieſer Erde hatte ich an mein Herz gedrückt. Aber
was will das ſagen? Das edelſte wärmſte herrlichſte
Gemüth iſt mein, es iſt mir in Liebe und Neigung
zugethan. Wie habe ich das verdient, wie kann ich
es verdienen?!
[420]
Ich ſezte mich nieder, und ſah gegen die Ruhe der
heitern Luft hinaus.
Ich verließ an dieſem Tage gar nicht mehr das
Haus. Gegen Abend ging ich in den Gang, der im
Norden des Hauſes hinläuft, und ſah auf den Garten
hinaus. Auf einer freien Stelle, in welcher ein wei¬
ßer Pfad durch Wieſengrün hingeht, ſah ich Mathil¬
den mit Natalien wandeln.
Ich ging wieder in mein Zimmer zurück.
Als es dunkelte, wurde ich zu dem Abendeſſen
gerufen.
Da Mathilde und Natalie in den Speiſeſaal ge¬
treten waren, lud mich Mathilde mit einem ſanften
Lächeln und mit der Freundlichkeit, die ihr immer eigen
war, ein, an ihrer Seite Plaz zu nehmen.
Ende des zweiten Bandes.
Appendix A
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
- License
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CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Stifter, Adalbert. Der Nachsommer. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp02.0