und
andere Gedichte.
Verlag von Wilhelm Friedrich
Königl. Hofbuchhändler.
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und
andere Gedichte.
Verlag von Wilhelm Friedrich
Königl. Hofbuchhändler.
[]
Alle Rechte vorbehalten.
Der Gouverneur.
1
[2]
[3]
1*
[4]
[[5]]
An einen Freund.
[6]
Sicilianen.
(Einer ſchönen Freundin in’s Stammbuch.)
(Schwalbenſiciliane.)
[7]
(Im Bivouak.)
(„Die Anbetung der heiligen drei Könige“.)
(Marſchall Niel.)
[8]
(Sphinx in Roſen.)
(Flüchtiger Gruß.)
I.
Frühling.
[9]
II.
Herbſt.
(Gnadenort.)
[10]
(Jagdſtück.)
(Meiner Mutter.)
[11]
(Little remembrance.)
(Reinigung.)
[12]
(Geſtorben.)
Der Sterbende.— — — — — — — — — — — — — — — —— — — — Der Blaſſe wird noch bläſſer — —Doch die Genoſſen ſprechen, ihn beneidend:Wohl ihm — nun wird er ſtill — nun iſt ihm beſſer.
(Der alte General a. D.)
[13]
(An eine alte Excellenz.)
Kleine Ballade.
[14]
Tod in Aehren.
[15]
In memoriam.
Blümekens.
[16]
Auf dem Hünengrabe.
(Nach der Jagd.)
Goldammer.
[17]
Das Haupt des heiligen Johannes
in der Schüſſel.
2
[18]
[19]
König Regnar Lodbrog.
(d. h. mit den gepichten Hoſen.)
2*
[20]
[21]
[22]
Die Kapelle zum finſtern Stern.
(Miſſunde bei Schleswig, 7. Auguſt 1250.)
[23]
[24]
König Abels Tod.
(In den Marſchen am 29. Juni 1252.)
[25]
[26]
[27]
Wer weiß wo.
(Schlacht bei Kolin, 18 Juni 1757.)
[28]
Inſchrift.
[29]
Erinnerung.
[30]
[31]
Auf dem Kirchhofe.
Herzog Knut der Erlauchte.
(Ermordet 1131.)
[32]
[33]
3
[34]
[35]
[36]
Die Schlacht bei Bornhöved.
(Am Marien Magdalenentage 1227.)
[37]
[38]
[39]
Heidebilder.
[40]
[41]
Du haſt mich aber lange
warten laſſen.
[42]
Liebeslied.
[43]
Glückes genug.
[44]
Ich liebe dich.
[45]
Dorfkirche im Sommer.
Tiefe Sehnſucht.
Vergänglichkeit.
[46]
Correſpondenz.
Four in hand.
[47]
Mit der Pinaſſe.
(Schön Wetter.)
[48]
Verbotene Liebe.
Müde.
[49]
Frühling.
4
[50]
Zu ſpät.
[51]
Hans der Schwärmer.
4*
[52]
Nach dem Ball.
[53]
Die gelbe Blume Eiferſucht.
Unheimlicher Teich.
[54]
[55]
Die Nixe.
[56]
[57]
[58]
[59]
[60]
[61]
[62]
Früh am Tage.
[63]
Kurz iſt der Frühling.
[64]
[65]
Kalter Augulttag.
I.
II.
[66]
„Ich habe dich ſo ſehr geliebet.“
[67]
Hochſommer im Walde.
5*
[68]
An der table d’hôte.
Stück in Eſther.
Kapitel 4. Vers 3—14.
Cap. 4. v. 3. Und am dritten Tage legte ſie
ihre tägliche Kleider ab, und zog ihren königlichen
Schmuck an,
4. Und war ſehr ſchön, und rief Gott, den Hei-
land, an, der alles ſiehet; und nahm zwo Mägde mit
ſich, und lehnete ſich zierlich auf die eine, die andere
aber folgte ihr, und trug ihr den Schwanz am Rock.
5. Und ihr Angeſicht war ſehr ſchön, lieblich
und fröhlich geſtallet; aber ihr Herz war voll Angſt
und Sorge.
6. Und da ſie durch alle Thüren hinein kam,
trat ſie gegen dem Könige Artaxerxes, da er ſaß auf
ſeinem königlichen Stuhl in ſeinen königlichen Kleidern,
die von Gold und Edelſteinen waren, und war ſchreck-
lich anzuſehen.
7. Da er nun die Augen aufhob, und ſahe ſie
zorniglich an, erblaßte die Königin, und ſank in eine
Ohnmacht, und legte das Haupt auf die Magd.
8. Da wandelte Gott dem Könige ſein Herz zur
Güte, und ihm ward bange für ſie, und ſprang von
[69] ſeinem Stuhl, und empfing ſie mit ſeinen Armen, bis
ſie wieder zu ſich kam, und ſprach ſie freundlich an:
Was iſt dir, Eſther? Ich bin dein Bruder, fürchte
dich nicht, du ſollſt nicht ſterben. Denn dies Verbot
betrifft alle andere, aber dich nicht.
9. Trit herzu.
10. Und er hob den goldenen Scepter auf, und
legte ihn auf ihre Achſeln, und küſſete ſie und ſprach:
Sage her.
11. Und ſie antwortete: Da ich dich anſahe,
deuchte mich, ich ſähe einen Engel Gottes; darum
erſchrak ich vor deiner großen Majeſtät.
12. Denn du biſt ſehr ſchrecklich und deine Geſtalt
iſt ganz herrlich.
13. Und als ſie ſo redete, ſank ſie abermals in
eine Ohnmacht, und fiel darnieder.
14. Der König aber erſchrak ſammt ſeinen Dienern
und tröſtete ſie.
[70]
Zerbrochener Keilerkopf.
[71]
[72]
Kleine Geſchichte.
[73]
[74]
[75]
Herblt.
Alt geworden.
[76]
Auf eine Hand.
[77]
Abſchied und Rückkehr.
I.
II.
[78]
Waldſchnepfenjagd.
[79]
Nachklänge.
I.
II.
[80]
Verbannt.
[81]
Abſeits.
6
[82]
Unwetter.
[83]
Siegesfelt.
In einer großen Stadt.
[84]
Italieniſche Dacht.
I.
II.
[85]
Erwartung.
[86]
Papſt Clemens II.
Svidigerus Meinsdorpe, nobilis Cimber,
Henrici II. Imperatoris Cancellarius,
Episcopus et tandem Pontifex, ſub no-
mine: Clementis II. Obiit A. Chr. 1048.
((Heinrich Rantzau 1594.))
[87]
[88]
[89]
[90]
Und ich war fern.
[91]
Der rote Mantel.
[92]
[93]
Bruder Liederlich.
[94]
[95]
Liebesnacht.
[96]
Einer Toten.
[97]
Surſum rorda?
7
[98]
[99]
Zwei Sterbende.
Der Heidebrand.
7*
[100]
[101]
[102]
[103]
Vier Augen ſind im Wege.
[104]
[105]
[106]
[107]
Hartwich Reventlow.
(1315.)
[108]
[109]
Auf dem Deiche.
I.
[110]
II.
[111]
III.
[112]
IV.
(Begegnung.)
[113]
V.
(Dezember.)
8
[114]
VI.
(Einſamer Baum.)
[115]
[116]
Rondel.
[117]
Verbannt.
[118]
[119]
[120]
[121]
[122]
[123]
[124]
[125]
Ein Geheimnis.
[126]
[127]
[128]
[129]
Trutz, blanke Hans.
9
[130]
[131]
[132]
Una ex hisre morieris.
[133]
Sicilianen.
[134]
(Mittſommer.)
(Im Marſchgarten.)
[135]
(Hinterm Deich.)
Auf der Marſchinſel.
Düke Nommſen, der Strandvogt, ſtand vor mir. Uber
50 Jahre hatte der Regen Rinnen in ſein bartloſes Antlitz
gefurcht, hatten die Winde verſucht, das ſtets kurzgeſchorene
Haar zu packen. Über 50 Jahre war Düke Nommſen
Strandvogt. Er hatte mir nur zu melden, wenn etwas
ganz Beſonderes vorgefallen oder gefunden war. Das ge-
ſchah ſelten. Das gewöhnliche Strandgut ſind Balken, Tonnen,
Leichen, Wrackſtücke: Sachen die nur den Strandhauptmann
angehen.
Düke Nommſen, der Strandvogt, ſtand vor mir. Er-
regt und — ſtumm. Die Lippen ſprachen, aber ich hörte
keine Worte.
„Nun, Nommſen, was haſt du, was giebt’s?“ Schon
wollte ich anfangen, ungeduldig zu werden, als er heraus-
preßte: „Dat is to gräſig (grauenvoll), Herr.“ Ich nahm
Hut und Stock: „Haſt du einen Gendarmen benachrichtigt?“
Er ſchüttelte mit dem Kopfe, dann, während wir ſchon im
Gehen waren, ſagte er: „Dat deit ni nödig, Herr.“ Düke
Nommſen ſchien Alles um ſich her vergeſſen zu haben. Er,
[136] der ſonſt ſo ängſtlich die Dehors bewahrte, der ſo reſpektvoll
antwortete, ging heute, ſtatt an meiner linken, an meiner
rechten Seite. Antworten bekam ich überhaupt nicht mehr
von ihm. Der alte Burſche wurde mir nachgerade unheimlich.
Wir gingen auf dem Norder Außen Deich. Es war
holl Ebb’ (die tiefſte Ebbe). Auf den Watten rief der Avo-
ſettſäbler ſein Puith, Puith; ungeheure Schwärme von
Möwen nahmen ſich zuweilen, wie auf Komando, auf, um
ſogleich, unter großem Geſchrei, wieder einzufallen. Alles
iſt in Bleifarbe getaucht: Die Halligen, die wie Forts aus-
ſehen, um einem hinter ihnen liegenden Kriegshafen als erſte
Stachel zu dienen, die Ufer im Oſten, die Wolken, die Vögel,
der Himmel.
Wir wandern auf dem ſtellenweiſe unergründlichen Deich
nach Weſten. Zu unſern Füßen im Süden liegt die große,
reiche Nordſeeinſel Schmeerhörn. Auf dem nächſten Binnen-
deich, ſcharf am Himmel ausgeſchnitten, reiten ein Bauer
und ſein Sohn, hintereinander; vor ihnen liegen Mehlſäcke;
man hört ordentlich die ſchweren Gäule ſchwappſen und
ſtappſen in der Kleie, die, kniehoch, die Pferde müde macht.
Nun ſind ſie an der Mühle angekommen. Langſam —
oha — mit krummſten Knieen rutſchen Vater und Sohn
von den beiden Braunen. Vadder drinkt ’n ſuren Punſch
(Thee, Schnaps, ohne Zucker), de Säen ſüht to. Nun klettern
ſie wieder auf die Pferde, ohne Mehlſäcke. Vadder vörut, de
Saen achterna. Man hört wieder — man ſieht es zwar nur
— das Schwappſen und Stappſen der Gäule. Nu ſünd ſe ant
Hus. Beide fallen wieder ſchwer von den Gäulen. Vadder
ſlöppt und de Saen ſmökt achtern Diek ’n Sigarrſtummel.
Mit uns, über die Fennen, wo fette Schafe graſen, geht
ein kräftiger Landmann, der nach ſeinem abſeits liegenden
Hof will. Er hat den langen Springſtock in der Hand, und
ſieh!, mit der Eleganz einer Ballettänzerin ſchwebt er, nach-
dem er einen Augenblick den Grund ſondirt hat, über die
oft recht breiten Gräben.
[137]
An unſerm Außendeich ſteht nur vereinzelt ein Haus,
von kleinen Leuten bewohnt. Als wir bei dem erſten vor-
beikommen, ruft ein Hahn ſeinen Hennen: Gluckukukukukukuk:
Paßt auf. Die Hennen, dieſe ewig freſſenden Tiere, picken
und ſcharren ruhig weiter. Henning ſieht mit ſchiefem Kamm
zu uns hinauf, verwickelt dabei den rechten Sporn in einen
Strohhalm, ſucht ſich, erboſt, zu befreien, kreiſt und fällt um.
Wer hat einen umfallenden Hahn geſehen?
Auf dem Strohdache der Kathe ſitzen die Stare in ihrem
ſüßen Geplauder.
Wie ſtill iſt es. Aus den Marſchen dringt kaum ein
Ton, von einigen Höfen klingt das Gluckſen der Kalkuttiſchen
Hühner herüber; zuweilen Kinderlachen von einer Werft.
Der Wind, natürlich Weſtwind, hat ſich gelegt; Regenwolken
ziehen langſam am Himmel.
„Dor, dor … dor iſ’t“ ruft plötzlich Düke Nommſen,
der Strandvogt. Ich hatte in die Marſch hinuntergeſchaut,
und nun wieder meinen Kopf nach Weſten und Nordweſten
wendend, habe ich einen ſonderbaren Anblick: Auf dem Deiche,
hundert Schritt vor uns, ſtehen etwa zwanzig Menſchen mit
allen Zeichen der Neugier, der Furcht, des Abwehrens, der
Beratung. Sie kommen mir wie eine Gruppe Wilder vor,
deren einſame Inſel eben ein Fremdling, mit erſtem Sprung
aus dem Boote, betritt.
„Dor, dor … dor iſ’t“ ruft wieder Nommſen und
zeigt mit dem Finger auf den Strand. Etwas Schwarzes,
etwas Weißes liegt dort; mehr erkenne ich noch nicht. Ich
bin bei den Bauern angekommen, und ſehe, daß unten, mit
ausgebreiteten Armen, Ertrunkene liegen.
Keiner von den Zuſchauern iſt zu bereden, mit mir hin-
unter zu ſteigen. Ich gehe allein auf die Leichen zu. Ah …
ich prallte zurück: das hatte ich nicht erwartet. Dann feſt
drauf los:
Auf einer breiten weißen Planke lagen, neben einander
zwei Menſchen, gekreuzigt: Ein junges, weißes, zierlich ge-
[138] bautes Weib und ein herkuliſcher Neger. Sie waren nackt;
um die Hüften beider waren purpurne Tücher geſchlungen.
Wie ſeltſam das doch war, daß ich an ein Paar Totenköpfe
(Schmetterlinge) denken mußte, die ich in meinen Knaben-
jahren einſt an einem Tage gefangen und ſie neben einander,
ausgebreitet, geſpießt hatte …
Weiß und Purpur, Schwarz und Purpur. Ich werde
ruhiger und verliere alles Grauen. Die Bauern merken es;
ſie wollen zu mir; ich befehle mit der Hand, daß ſie oben
bleiben ſollen. Jetzt beuge ich mich zu den beiden. Das
Brett, auf das ſie geſchlagen ſind, ähnlich der Thür oder
der Wand einer luxuriös ausgeſtatteten Kajüte, ſcheint an
allen Seiten gewaltſam abgebrochen zu ſein. Es iſt weiß;
und nun ſeh’ ich es genau: es hat vergoldete Leiſtenum-
faſſungen. Es iſt entſchieden ein Stück der Wanddekoration
aus einer vornehm eingerichteten Kajüte.
Zuerſt betrachte ich die Frau. Welch’ ein junges Ge-
ſichtchen; welch’ liebliche Züge; nichts iſt verzerrt, wie denn
auch beide Leichen ausſehen, als wären ſie nur ganz kurze
Zeit im Waſſer geweſen. Die Augen ſtehen bei der jungen
Frau halb offen; ich ſeh’ ein tiefes Blau. Langes rötliches
Haar fließt um ihr Haupt. Aber … o … o … wie
ſchändlich! dieſe kleinen ſchneeigen Hände, an denen die Nägel
lang und abgerundet ſind (ſie haben die Form einer Haſel-
nuß), dieſe kleinen lieben Hände ſind mit großen, plumpen,
verroſteten Schiffsnägeln durchſtoßen. Das Blut hat die See
abgewaſchen.
Der Neger, deſſen linke Fingerſpitzen faſt die rechten der
Frau berührten, ſo nahe lagen ſie an einander, hat eine
gebogene Naſe wie der ſchönſte Römerjunge. Die Ober-
lippe iſt emporgezogen und zeigt das Gebiß eines fletſchen-
den Hundes. Auch ſeine Hände ſind mit großen verroſteten
Schiffsnägeln durchbohrt. Seine Geſtalt iſt rieſengroß, eine
Moriturus te ſalutat Figur, ein Gladiator Neros.
[139]
Die Füße beider ſind feſt mit dicken Tauen umſchnürt,
und dieſe durch mehrere Löcher im Brett gezogen und auf
der Rückſeite ſtark verknotet.
Um aller Heiligen willen, wo kommen die beiden her?
Das iſt klar, daß ſie nicht lange im Waſſer gelegen haben.
Die Flut hat ſie dann an unſern Strand geſpült.
Hundert Vermutungen wurden in mir wach; hundert
phantaſtiſche Bilder drängten ſich in mir …
Die Sonne ging unter, ſo wundervoll, wie wir es nimmer
auf dem Feſtlande, auf der Oſtſee ſehen. Zwiſchen ſchwam-
migen, dunklen Wolkenmaſſen ſchoſſen tauſend Lichter.
Und die Flut kam und dann tritt wieder die Ebbe ein,
und dann kommt wieder die Flut, und dann wieder die Ebbe,
u. ſ. w u. ſ. w.
Verloren.
I.
Die erſte Schlacht war geſchlagen. Der Sieger lagerte
auf dem Gefechtsfelde. Der Rauch zahlreicher Bivouacsfeuer
ſtieg zum wolkenloſen Frühlingsnachthimmel empor. In
der Ferne, bei den Feldwachen und Patrouillen, fielen ein-
zelne Schüſſe.
Abſeits der eigentlichen Wahlſtatt, dunkelte, in helles
Mondlicht getaucht, ein Wäldchen. Inmitten deſſelben ſtand
ein einſtöckiges, jagdſchloßartiges Haus. Vor dieſem breitete
ſich ein großer Raſenplatz, von zwei Kieswegen umarmt.
Am andern Ende des freien Raumes, gerade der Front des
Gebäudes gegenüber, trat, wie eben aus dem Walde kommend,
die Diana von Verſailles, auf breitem Sandſteinſockel, hervor.
[140]
Hier hatte ein heißer Kampf ſtattgefunden. Thür und
Fenſter waren zertrümmert; Kugelſpuren an den Wänden.
Gefallene Grenadiere, Schmerz und Wuth noch auf den
Geſichtern, hatten mit ihrem Blut den Raſen gefärbt. Einer
lehnte am Sockel der Diana. Sein Nacken war zurückge-
bogen; die halb offenen Augen blickten zu ihr auf. Die
altitaliſche Göttin hatte dem deutſchen Krieger den Weg zur
Walhalla gezeigt.
Einige Schritte vor ſeinen Soldaten, kurz vor der ein-
geſchlagenen Thür, lag ausgeſtreckt ein junger Offizier. Das
blaſſe Antlitz war zur Seite geneigt. Unter dem Helm her-
vor drängte ſich zwiſchen die gebrochenen Augen eine dichte
ſchwarze Locke. Seine Rechte hielt noch, wie im Leben, den
Degen umfaßt. Die Linke lag auf dem Herzen. Nur ein
einziger Blutstropfen war ihm aus der Wunde auf die Hand
geträufelt, im Sternenlicht glänzend, als wäre er ein Rubin,
der zu dem kleinen, den vierten Finger umſchließenden Gold-
reifen gehöre ....
Frühlingsfriede. Es war ſo ſtill wie Stein auf Gräbern
ruht. Ab und zu nur rauſchte ein Windhauch durch die
Zweige, klagend und gleichgültig zugleich: er rauſchte das
ewige Lied des Todes — der Entſagung.
II.
Dieſelbe Frühlingsnacht lag auch auf Wald und Feld,
auf Stadt und Dorf im Norden unſeres Vaterlandes. In
dem kleinen Orte war alles ſchon zur Ruhe gegangen. Auch
in dem großen, ſchloßartigen Hauſe des Amtmannes ſchien
Alles ſtill. Hinter den Fenſtern waren die weißen Rouleaux
hinuntergelaſſen. Nur nach der Gartenſeite im Erdgeſchoß,
waren zwei Fenſter weit geöffnet. Ein perſiſcher Teppich
bedeckte den Fußboden des Zimmers. Auf dem runden Tiſch
[141] vor dem Sofa ſtand eine Aſtrallampe, die den Raum hell
erleuchtete. Den Fenſtern gegenüber war ein „Bechſtein“
hingeſchoben. — In die Nacht hinaus klang das Impromptü
As dur, Opus 142, Nummer 2, von Franz Schubert. Der
Zwiſchenſatz wurde zu ſchnell, zu leidenſchaftlich geſpielt; es
lag etwas wie Angſt und Unruhe darin. Bald waren auch
die letzten Akkorde des vornehmen kleinen Stückes verhallt.
In eines der offenen Fenſter trat ein junges Mädchen.
Sie faltete die Hände und blickte in den Garten hinein. Das
Kleid war bis an den Hals geſchloſſen; aus der Spitzenkrauſe
hob ſich der ſchöne Kopf, ſchmal und blaß. — Und eine Kette
klagender, ſchwerer, ſehnſuchtsvoller Gedanken zog ihr Herz
in die Vergangenheit.
In weiter Ferne hörte man Geſang. Bald deutlicher,
bald ſchwächer. Es waren Soldaten, die auf dem Wege zur
Grenze waren, wo der Krieg in dieſen Tagen ausgebrochen.
Jetzt klang es klar zu ihr herüber:
Sie horchte atemlos. Der Mund öffnete ſich ein wenig.
Die Augen wurden größer. Auf dem holden Geſicht prägte
ſich Angſt und Sorge aus.
klang es, ſchwächer und ſchwächer werdend. —
[142]
hörte ſie noch einmal deutlich.
Die Stirn tief gebeugt, die Augen geſchloſſen, ſo hatte
ſie die letzten Töne vernommen. Nun war es ſtill und ein-
ſam um ſie her. Langſam ging ſie zum Flügel:
Sie ſpielte und ſang das alte ſchöne Soldatenlied. Als
ſie geendet, lag noch lange die rechte Hand auf den Taſten.
Wie oft hatte er es ihr geſungen, mit ſeiner klaren, ruhigen
Stimme. Sie hatte ihn begleitet. Begeiſtert hatte er dann
von den Volks- und Soldatenliedern erzählt. Wie ſich die
Soldaten ſelbſt ihre Melodien zurechtlegen, zuerſt durch kleine
Abänderungen von alten Kirchen- und Volksweiſen. Wie
die Grundſtimmung in faſt allen ihren Geſängen eine weiche,
ernſte ſei; wie durch alle das Heimweh ziehe, oft unbe-
wußt. —
Ein Nachtfalter flatterte um die Lichter. Sie erhob ſich
und ging an’s Fenſter. Die obere Fläche der linken Hand
legte ſie an die Seitenwand und ſtützte die Stirn hinein.
Aus den großen grauen Augen brachen Thränen, unauf-
haltſam.
Ab und zu rauſchte ein Windhauch durch die Zweige,
klagend und gleichgültig zugleich: er rauſchte das ewige Lied
der Entſagung — des Todes.
[143]
Adjutantenritte.
Herrn Oberſt A. v. Schell zugeeignet.
(Erinnerungen aus einer Januarſchlacht).
Zu ſpät.
Der Oberbefehlshaber hatte um Mitternacht den um ihn
verſammelten Generalſtabsoffizieren und von allen Seiten
zum Befehlsempfang herbeigeeilten Adjutanten die Dispo-
ſitionen zur Schlacht für den folgenden Tag ſelbſt diktiert.
Klar und ruhig ſprach er jedes Wort, den Rücken gegen
den Kamin kehrend und ſich die Hände wärmend. Ohne
ein einziges Mal zu ſtocken, vollendete er den Armeebefehl.
Es war drei Uhr morgens, als wir Adjutanten, uns die
Hände zum Abſchiede reichend, zu unſern Truppenteilen
zurückritten. Ich konnte erſt in drei bis vier Stunden bei
meinem General ſein. Es war eine naßkalte, windige
Winternacht mit ſpärlichem Monde. Meine beiden mich be-
gleitenden Huſaren und ich kamen ohne Abenteuer im Quartiere
an. Ich traf den General „fix und fertig.“ Er hatte ſich
unausgekleidet auf’s Bett gelegt und nur von ſeinen Män-
teln zudecken laſſen.
Als ich den Befehl zum Vormarſch verleſen, erhielt ich
von ihm die Weiſung, ungeſäumt nach dem rechten Flügel
zu reiten, um dorthin eine wichtige Meldung zu bringen.
Ich hätte gerne einen heißen Schluck gehabt, aber der Kaffee
war noch nicht fertig; ſo nahm ich, was ich gerade fand.
Es wurde raſch eine Flaſche Sekt geleert, die der General ſo
liebenswürdig war mit mir zu teilen. Wir tranken ihn
aus Taſſen. Roher Schinken ſchmeckte nicht übel dazu.
Dann ritt ich ab. Der Frühmorgen zeigte ein mürriſches
Geſicht; nur der Wind hatte ſich gelegt; dumpf und ſtill
[144] und grämlich lag’s auf der Gegend. Die ſtark verregnete
Karte in der Linken, hier und dort einen Kameraden grüßend,
mir von Patrouillen Auskunft geben laſſend, trabte ich
meinem Ziele zu.
Noch war’s nicht voller Tag. Vom Feinde war nichts
zu erblicken. Bei den Doppelpoſten fielen einzelne Schüſſe.
Als ich in ein Thälchen einlenkte, entſchwanden auch unſere
Truppen. Das Thal engte ſich, und bald bemerkte ich ein
Brückchen, das ſich über ein träges, ſchmutzig gelbes Waſſer
bog. Halt — was iſt das? Da lag ein Menſch und ſperrte
mir den ſchmalen Übergang. Ich gab meinem Pferde die
Sporen und war im Nu an ſeiner Seite. Es war ein
toter Garde mobile, platt auf dem Antlitz liegend. Die
Beine und Arme lagen ausgeſpreitzt gleich Mühlenflügeln.
Nein! Nicht tot! Denn der linke Arm hob ſich mit letzter
Kraftanſtrengung empor, als zucke er in der Abwehr vor
meines Pferdes Hufen. Ein Rabe, der auf dem Geländer
ſaß und den Schwerverwundeten mit ſchiefem Kopfe ſehn-
ſüchtiglich betrachtete, flog mürriſch in’s Weite.
Die Meldung war von Wichtigkeit, ich mußte fort.
Hier lag einer nur, und Hunderte büßten vielleicht mein
Zögern mit dem Tode. Da fiel mir in den Zügel links ein
ſüdfranzöſiſch Weib mit roten, jungen Lippen. Ihre dunklen
Augen gruben ſich flehentlich in die meinen. Gerechter Gott!
Vor meinem Gaule kniete, den linken Arm ausſtreckend
gegen mich, den andern um den einzigen Sohn klammernd,
ein altes Mütterchen und rief: Halt! Halt! Gieb meinem
Sohn zu trinken, nur einen Schluck. Noch lebt er! Hilf, hilf!
Schon lockerte ich im ſtrohumwickelten Bügel den Fuß,
um abzuſpringen, als mich zwei ruhige graue Augen trafen.
Rechts vom Geländer ſtand ein langes, ſchmales Weib, im
weißen, togaähnlichen Faltengewande! Nicht trüb und traurig,
doch auch nicht fröhlich ſah ſie mich an. Ihre Züge blieben
gleichmäßig ernſt und ſtreng. Die Dame Pflicht rief mich,
und ich gehorchte.
[145]
Als ich auf dem Rückweg an dieſelbe Brücke kam, lag
noch immer der Garde mobile da. Ich ſprang vom Pferde,
und mir den Trenſenzügel über die Schulter hängend, kniete
ich nieder, um ihm aufzuhelfen. Doch zu ſpät; aus ſeinen
Augen lachte mich der Tod an, und die Urmutter Erde ſog
gierig ſein Blut. Der Tag ward heller, wenn er auch trübe
blieb. Der Himmel zeigte dem Schlachttage ein widerwärtiges,
heimatforderndes Graueinerlei. Schwach klang vom linken
Flügel Gewehrfeuer her. Ich nahm den Krimſtecher. Doch
kaum hielt ich ihn vor den Augen, als mich ein heftiges
Knattern ſchnell zum Umſehn zwang. Vor einem durch-
ſichtigen, nahen Wäldchen lagen graue Wölkchen im Ringel-
tanze. Da knallte es wieder. Wetter! Das galt mir. Klipp,
klapp, ſchlug’s um mich ein in die nackten Zweige einer Eiche.
Ich ſchoß wie die Schwalbe davon, nach rückwärts, zum
Wäldchen, Abſchiedshandkußgrüße ſendend.
Dann, im ruhigen, engliſchen Trabe weiter reitend, ſtieß
ich plötzlich auf einen Zug Huſaren, der um die Ecke eines
Häuschens bog. Voran mein Freund, ein junger Offizier
mit ſchiefem Kolpak. Ihm gehörte ſchon ſeit Jahren mein
Herz; wir hatten uns manchen Tag und manche Nacht zu-
ſammengefunden. Wie immer war er a quatre epingles.
Im rechten Auge glitzerte die Scherbe, von der ich behauptete,
daß er ſie auch Nachts nicht ablege. „Wo willſt du hin?“
„Und du?“ Er deutete auf das Wäldchen, das ſich mir eben
ſo freundſchaftlich gezeigt, und berichtete, daß er auf Kund-
ſchaft ausgeſandt ſei: man habe das Schießen gehört. Zu-
gleich ſolle er erforſchen, ob ſich Kolonnen hinter dem Walde
geſammelt hätten.
Ich bot mich an, ihm den Weg zu zeigen. Wir ſchlichen,
Indianern gleich, hinter Knick und Wall, jede Terrainfalte
ſorgſam benutzend. Voran wir zwei, nach allen Seiten
ſpähend. Neben uns blieb der bärtige Trompeter, die unzer-
trennliche Begleitung des Lieutenants. Dann folgten zwanzig
friſche, blonde, blauäugige Bauerburſchen.
10
[146]
Wir hatten uns allmählig dem Ziele genähert. Halt!
Drei Hundert Schritte kaum lag das Wäldchen vor uns,
beſtanden mit wenigen Bäumen, durch deren dünne Stämme
der Lichtſtreifen des Horizontes freigelegt ward. Die vor-
liegende ebene Wieſe war wie zur Attacke gemacht.
Nun zogen wir die Huſaren dicht heran. Ein Klingen-
blitz und Vorwärts, vorwärts!
Die Attacke.
[147]
In der Mittagſtunde.
Zwiſchen zwölf und ein Uhr ſtand die Schlacht. Auf
einem Hügel, neben einem einſamen, brennenden Hauſe, aus
dem die Bewohner geflohen, hielt der Oberbefehlshaber, die
Hände kreuzweiſe übereinander auf dem Sattelknopf haltend,
regungslos ſeit einer halben Stunde.
Der Stab ſtand gedeckt hinter dem Hauſe. Von allen
Seiten, in raſcher Aufeinanderfolge, kamen und ritten ab
10*
[148] auf triefenden Pferden Adjutanten, Ordonnanzoffiziere und
Ordonnanzen, um zu melden. Den Letzteren war die Meldung
ſchriftlich mit Blei gegeben. Der General ſchob die kleinen
vierkantigen Zettel in die Satteltaſche, ohne einen der hinter
ihm haltenden Offiziere heranzuwinken. Noch immer hielt
er regungslos; nur zuweilen den Krimſtecher gebrauchend
oder in die Karte blickend. Sein großer Dunkelbrauner kaute
unaufhörlich den linken Trenſenzügel, ab und zu mit dem
Kopfe nickend. Eine Granate krepierte zwiſchen uns und
riß einen Hauptmann vom Stabe in Stücke. Sein Pferd
bäumte hoch auf, ſchlug mit den Vorderhufen in die Luft,
und brach dann, gräßlich zerſchmettert, zuſammen. Wir
waren alle unwillkürlich auf einen Augenblick auseinander-
geſprengt. Ein Offizier eilte zum General, um ihm den Tod
des von ihm ſehr hoch gehaltenen Hauptmanns zu melden.
Der General blieb regungslos; nur klopfte er ſeinem, durch
den furchtbaren Knall unruhig gewordenem Pferde den Hals,
und ritt einmal eine liegende Acht.
Die Suite ſtand wieder auf demſelben Fleck. Auf die
entſetzlich verſtümmelte Leiche breitete eine Stabsordonnanz ein
vor dem brennenden Gebäude liegendes buntes Bettlaken.
Um das Bettlaken herum waren hingeworfen eine Kaffe-
mühle, ein Bauer mit einem Kanarienvogel, der piepte und
luſtig, ſelbſt in der ſchiefen Lage, ſein halb verſtreutes Futter
nahm. Vor dem Hauſe lagen ferner Bücher, Taſſen, eine
Frauenmütze, zerbrochene Vaſen, Bilder, Kiſſen, eine Cigarren-
taſche mit einer Stickerei, ein Kamm, eine Zuckerdoſe und
tauſenderlei ſonſtige Hausgeräte und nützliche und nicht-
nützliche Gegenſtände.
Verwundet war ſonſt keiner von uns. Die Granate
mußte auf dem Sattelknopf des Pferdes des Hauptmanns
zerplatzt ſein. Ab und zu ſchwirrte eine verlorene Gewehr-
kugel mit pfeifendem Tone über unſere Köpfe. Eine ſchlug
in den Gartenzaun ein. Klapp! klang es leicht. Wie ein
Spechtſchnabelhieb.
[149]
Der General hielt regungslos. Sein ernſtes, durch-
geiſtigtes, feines Geſicht war blaß. Je mehr es in ihm
arbeitete, je mehr beherrſchte er ſich äußerlich. Wir Offiziere
blickten fortwährend durch unſere Gläſer und tauſchten Be-
merkungen.
Verwundete hinkten bei uns vorüber oder wurden vor-
beigetragen.
Der Tag war trüb und grau, doch die Überſicht nur
zuweilen durch den ſich ſchwer verziehenden Pulverdampf
behindert. Wir konnten deutlich vor uns und rechts und
links die gegenſeitigen Schützenlinien und die Kolonnen, die,
wenn ſie ins Granatfeuer kamen, ſich teilten, ſehen.
Auf drei Infanterie-Bataillone weſtlich von uns richtete
ſich plötzlich unſere ganze Aufmerkſamkeit. Sie zogen neben
einander in einer engen Mulde, wie ratlos, hin und her,
ohne ſich entwickeln zu können. Wie uns ſchien, marſchierten
ſie in aufgeſchloſſener Kolonne nach der Mitte; Kompagnie-
Kolonnen zu formieren, hinderten die ſteilen Wände des Ein-
ſchnitts. Ein Füllhorn von Granaten ſchüttete ſich über
ſie aus. Auch der General bemerkte es. Er wandte den
Kopf zu uns und rief meinen Namen. Ich war mit bei-
nahe einem einzigen Sprunge von der Stelle an ſeiner Seite:
„Excellenz?“ „Sehen Sie die kleine Kuppe halbrechts vor
uns?“ Er deutete, den Krimſtecher in der Hand behaltend,
auf dieſe. „Es ſteht dort ein einzelner Baum; ſehen Sie ihn?“
„Zu Befehl, Excellenz.“ Ich hatte zu thun, mein lebhaft
drängendes Pferd zu beruhigen. „Reiten Sie zur 97. leichten
Batterie; ſie ſoll unverzüglich dort Stellung nehmen und
feuern. Haben wir uns verſtanden?“ „Zu Befehl, Excellenz.“
„Reiten Sie ſelbſt mit der Batterie auf den Hügel und
klären Sie dem Batterie-Chef die Situation auf.“ „Zu Be-
fehl, Excellenz.“ … und ich war ſchon unterwegs zu der
nur wenige Minuten hinter uns haltenden, vom Oberbefehls-
haber zu ſeiner ſpeciellen Verfügung geſtellten Batterie. Es
war ein ſchauderhafter Weg. Gräben und Wälle mußten
[150] überſprungen werden. Bald ſchwamm, bald kletterte mein
kleiner Huſarengaul, den ich für meinen alten Trakehner
Hengſt, dem denn doch endlich der Puſt ausgegangen war,
vertauſcht hatte. Vorwärts, vorwärts! Was ſind Gräben,
noch ſo breite, was überhaupt Hinderniſſe im Gefecht. End-
lich ſah ich die Batterie. Ich winkte ſchon aus der Ferne
mit dem Taſchentuch. Der Batterie-Chef verſtand es. Er
gab Befehle; ich merkte es an der wimmelnden Bewegung,
die an den Geſchützen entſtand. Dann raſte er auf mich zu,
den Trompeter an der Seite. Wir trafen uns; ſein Geſicht
glühte, als ich ihm den Befehl zum Vorrücken überbrachte. Der
Trompeter war ſchon in Carriere zur Batterie unterwegs,
um vom Hauptmann dem älteſten Offizier die Ordre zu über-
mitteln, die Batterie „Zu Einem“ ſo raſch wie möglich vor-
zuführen. Der Hauptmann und ich ſetzten uns dann in
Trab, doch ſo, daß wir mit der Batterie, die zahlreiche
Terrainſchwierigkeiten zu überwinden hatte, Fühlung behielten.
Ich kannte den Weg aus den Frühſtunden. Wir mußten
durch eine enge, kurze, ſchluchtartige Vertiefung, die juſt ſo
breit war, daß nur ein Geſchütz dem andern folgen konnte.
In Zügen hier zu fahren, verbot die Enge. Links dieſer ſchmalen
Einſenkung war, auch nachdem das felſige Terrain hinter
uns lag, durch Sumpf und naſſe Wieſen ein Vorgehen von
Kavallerie und Artillerie unmöglich; rechts hätten wir große
Umwege machen müſſen und dadurch viel Zeit verloren.
Die Bataillone, die Bataillone! lagen mir im Sinn; dutzend-
weiſe wurden dort die Leute gemäht. Hatte unſere Batterie
erſt Stellung genommen, dann mußte ſich die franzöſiſche
Artillerie gegen dieſe wenden.
Der Hügel war lang genug, um weite Räume zwiſchen
den einzelnen Geſchützen zu erlauben. Die Verluſte wurden
geringer. Wo iſt die Schlucht, die Schlucht! Um uns ſah
es wild und wüſt aus. Aber vorwärts, vorwärts! Der
Hauptmann und ich, nachdem der Batterie ein Zeichen ge-
geben war, zu folgen, jagten vor, um raſch durchzupreſchen
[151] und die günſtigſte Stellung für die Batterie auf dem Hügel
vor deren Eintreffen auszuſuchen.
Um Gott! rief der keineswegs zartbeſaitete Hauptmann,
als wir einbogen: Bei Gott! da durch zu kommen, iſt ja
unmöglich. Das liegt ja Alles voll von Verwundeten.
Ein grauſenhafter Aublick bot ſich uns: Auf einander
geſchichtet lagen in der Schlucht Tote und Verwundete, wenn
auch in geringer Zahl. Die Letzteren hatten unſere Batterie
heranraſſeln hören und waren mit größeſter Anſtrengung an
die Seiten gekrochen, um dem Rädertode zu entgehen. Es
mußte hier vor wenigen Stunden ein verzweifelter Kampf
ſtattgefunden haben.
Unmöglich! Hier war nicht durchzukommen. Aber die
Bataillone, die Bataillone! Der Hauptmann und ich hielten
einige Sekunden ratlos; die Batterie arbeitete mit keuchenden,
dampfenden Pferden näher und näher heran.
Unmöglich! — Da raſte auf naſſem Pferde ein junger
Generalſtabsoffizier des Oberbefehlshabers auf uns zu. Um
ſeine Stirn war ein weißes Tuch geknotet; auf den Haaren
ſaß die Feldmütze irgend eines Musketiers. Er lenkte ſein
Pferd mit der Rechten; mit der linken Hand wiſchte er fort
und fort das unter dem Tuche hervorquellende Blut aus den
Augen. Er konnte kaum mehr ſehen. Von Weitem ſchon
ſchrie er mit ganz heiſerer Stimme: „Die Batterie, die
Batterie ſoll vor! Wo bleibt die Batterie? Excellenz iſt ..“
Ich ſchoß auf ihn zu, um ihn aufzufangen; er lag, faſt ohn-
mächtig, auf der Mähne des nun nicht mehr von ihm ge-
führten Pferdes; die Arme hingen ſchlaff um den Hals des
Tiers. Ich hatte keine Zeit, Verwundeten zu helfen, und
wär’s mein Bruder geweſen. So rief ich einen im Graben
ſitzenden Leichtverwundeten, der da mit beſchäftigt war, ſeine
Hand zu verbinden, indem er das eine Ende des Tuches mit
den Zähnen feſthielt. Er legte mit mir den Hauptmann
vom Generalſtabe ſanft nieder. Noch einmal ſah ich in das
blaſſe, blutüberſtrömte Geſicht; in halber Ohnmacht ſchon,
[152] bebten noch die Lippen: Batbatbatbatbat … Er wollte
ſagen: Batterie vor! .. O du treuer, o du lieber Menſch!
Keine Sekunde Zeit war zu verlieren. Ich flog zurück
zum Hauptmann. Auch er war entſchloſſen nun. Alſo
vorwärts!
Nicht umſehn! Nicht umſehn! ſchrie der Hauptmann.
Wir zwei kletterten, ſo raſch es ging, voran. Nur einmal
wandte ich den Kopf: — Bald hoch, in der Luft, bald niedrig
kreiſende, kreiſchende Räder, ſchräg und ſchief liegende Rohre
und Achſen, ſich unter dem Rade drehende Tote und Ver-
wundete, der Kantſchu in fortwährender Bewegung auf den
Pferderücken, Wut, Verzweiflung, Fluchen, Singen, Schreien. ..
Nun fuhr die Batterie auf dem Hügel auf, Haare, Ge-
hirn, Blut, Eingeweide, Uniformſtücke in den Speichen. In
wundervoller Präciſion fuhr ſie auf. Abgeprotzt. Geladen.
Richten. Und: „Erſtes Geſchütz — Feuer!“ Der Qualm
legte ſich dicht vor die Laffeten, wir konnten die Wirkung
nicht beobachten. Doch ſchon beim zweiten Schuß pfiff eine
feindliche Granate über uns weg. Sie galt der Batterie.
Die Bataillone waren degagiert. Ich ritt, mich vom Haupt-
mann verabſchiedend, zurück zum General, das Schreckensthal
vermeidend. Als ich mich zurückgemeldet, ſagte mir der
Oberbefehlshaber ein gütiges Wort. Dann ſchloß ich mich
wieder der Suite an.
Und regungslos hielt der General.
Hinter uns klang häufig das Kavallerie-Signal Trab.
Wir konnten die Schwadronen nicht ſehen. Aber es war
mir, als hörte ich das Stapſen, Schnaufen, Klirren. Kom-
mandorufe klangen an mein Ohr: Ha—hlt … Ha—hlt …
und immer ſchwächer und ſchwächer werdend: Ha—hlt …
Ha—hlt. Alles das klang her, was die Bewegungen eines
Reiterregiments ſo hoch poetiſch macht; erſt recht, wenn man
„drin ſteckt.“ Ich hörte das Alles deutlich, und doch war
um uns ein einziger Donnerton. Dazwiſchen klangen ſchrill
die Schüſſe der Batterie, die ich eben herangeholt hatte.
[153] Sie ſtand nicht weit von uns. Auf vier Meilen im Umkreiſe
plapperte das Gewehrfeuer; es brodelte täuſchend wie die
Blaſen in einem rieſigen kochenden Keſſel.
Ledige Pferde mit ſchleifenden Zügeln, zuweilen mit den
Sätteln unter dem Bauche, jagten um uns herum. Langſam
trottete ein Mauleſel heran und begann, vor dem General
ſtill ſtehend, auf der Erde nach Gras zu ſuchen. Auf ſeinem
Rücken waren zwei Tragſtühle befeſtigt. In jedem von
ihnen ſaß ein geſtorbener Franzoſe. Feſtgeſchnallt, ſaßen
ſie Rücken an Rücken, doch ſo, daß die Geſichter (die Köpfe
hingen hintenüber) ſich anſahen. Die Oberlippen waren
zurückgezogen. Sie ſchienen ſich anzulachen.
Und regungslos hielt der General.
Da kam vom rechten Flügel her, wohin er ſich zur ge-
naueren Berichterſtattung begeben hatte, der Chef des Stabes
an. Reiter und Pferd waren von unten bis oben mit
Schmutz beſpritzt. Der Oberſt mußte in flotteſter Gangart
geritten ſein. Das Pferd dampfte; am Halſe, unter den
Deckenrändern, zwiſchen den Hinterbacken ſtand weißer Schaum;
Die Flanken flogen; es ſchien auf der Hinterhand zuſammen-
brechen zu wollen.
Wir beobachteten den Oberſt geſpannt, als er neben dem
General hielt. Es mußte gut ſtehen, das konnten wir merken.
Während er noch mit dem Oberbefehlshaber ſprach, bald
auf der Karte ſuchend und findend, bald mit dem Finger in
die Schlacht zeigend, ſauſte vom linken Flügel ein Meldender
heran. Sein Pferd war durchaus fertig. Es konnte nicht
mehr den Hügel hinan und brach am Fuße deſſelben mit
ſeinem Reiter zuſammen. Beide überkugelten ſich. Aber
ſofort erhob ſich aus dem Knäuel ein junger Jägeroffizier
mit einem hübſchen ſchwarzen Schnurrbärtchen, braunen ge-
wellten Haaren, dunkelbraunen Augen und einem durch den
Purzelbaum eingetriebenen Tſchako. Er ſtürmte bei uns
vorbei, uns lachend zurufend: Es geht gut, es geht gut!
Auf ſeinem kurzen Wege zum General hatte er ein Paar
[154] ſchneeweiße Handſchuhe [hervorgezogen], und war bemüht,
dieſe noch an den Fingern zu haben, ehe er oben war. Aber
nur der linke hatte ſeinen Platz erobert. Ebenſo lächelnd
wie er bei uns vorbeigekommen, meldete er dem Oberbefehls-
haber, der ihm freundlich die Hand reichte. Dann beſtieg er
ein ihm von einer Ordounanz eingefangenes kleines Berber-
roß und ritt, das letzte Stück von einem kalten Huhn, das
in unſerm Beſitz war, annehmend, luſtig wieder von dannen,
unterwegs kauend und mit der rechten Fauſt die Beulen
ſeines abgenommenen, entſtellten Tſchakos in Ordnung zu
bringen ſuchend. Es ſchien ihm Alles ungeheures Vergnügen
zu machen. Grüß Dich Gott, alter Kerl, wenn Dir dies vor
Augen kommen ſollte. Zwar lieſt Du ſelten Gedichte (ich
auch), aber es iſt immerhin doch möglich.
Der General ritt zu uns hinter das rauchende Gebäude,
deſſen Dach und Sparren eben praſſelnd zuſammengebrochen
waren, und fragte: Hat einer der Herren noch eine nicht
letzte Cigarre? Sie wurde ihm präſentiert.
Dann bildeten wir einen Kreis um ihn. Der Oberbe-
fehlshaber gab einigen von uns perſönlich Befehle. Als wir
abritten, um die „mit aller Macht auf die Stadt vorzugehn“
Befehle zu überbringen, ſetzte er ſich in kurzen Galopp, um,
weiter vorwärts, einen neuen Beobachtungspoſten einzu-
nehmen. Eine Ordonnanz blieb bei der Brandſtätte zurück:
ſie hatte den Auftrag, den Meldenden von dem neugewählten
Aufſtellungspunkt des Generals Mitteilung zu machen.
Der Zauber der Mittagſtunde war gebrochen.
Es lebe der Kaiſer!
[155]
[156]
Appendix A Inhalt.
- Seite
- Der Gouverneur 1
- An einen Freund 5
- Sicilianen 6
- Einer ſchönen Freundin in’s Stammbuch. — Schwalben-
ſiciliane. — Im Bivouak. — „Die Anbetung der heiligen
drei Könige.“ — Marſchall Niel. — Sphinx in Roſen. —
Flüchtiger Gruß. I. Frühling. II. Herbſt. — Gnadenort. —
Jagdſtück. — Meiner Mutter. — Little remembrance. —
Reinigung. — Geſtorben. — Der alte General a. D. —
An eine alte Excellenz. - Kleine Ballade 13
- Tod in Aehren 14
- In memoriam 15
- Blümekens 15
- Auf dem Hünengrabe 16
- Goldammer 16
- Das Haupt des heiligen Johannes in der Schüſſel 17
- König Regnar Lodbrog 19
- Die Kapelle zum finſtern Stern 22
- König Abels Tod 24
- Wer weiß wo 27
- Inſchrift 28
- Erinnerung 29
- Auf dem Kirchhofe 31
- Herzog Knut der Erlauchte 31
- Die Schlacht bei Bornhöved 36
- Heidebilder 39
- Du haſt mich aber lange warten laſſen 41
- Seite
- Liebeslied 42
- Glückes genug. — Ich liebe dich. — Dorfkirche im Sommer.
— Tiefe Sehnſucht. — Vergänglichkeit. - Correſpondenz 46
- Four in hand 46
- Mit der Pinaſſe 47
- Verbotene Liebe 48
- Müde 48
- Frühling 49
- Zu ſpät 50
- Hans der Schwärmer 51
- Nach dem Ball 52
- Die gelbe Blume Eiferſucht 53
- Unheimlicher Teich 53
- Die Nixe 55
- Früh am Tage 62
- Kurz ist der Frühling 63
- Kalter Auguſttag 65
- Ich habe dich ſo ſehr geliebet 66
- Hochſommer im Walde 67
- An der table d’hôte 68
- Zerbrochener Keilerkopf 70
- Kleine Geſchichte 72
- Herbſt 75
- Alt geworden 75
- Auf eine Hand 76
- Abſchied und Rückkehr 77
- Waldſchnepfenjagd 78
- Nachklänge 79
- Verbannt 80
- Abſeits 81
- Unwetter 82
- Siegesfeſt 83
- In einer großen Stadt 83
- Italieniſche Nacht 84
- Seite
- Erwartung 85
- Papſt Clemens II.86
- Und ich war fern 90
- Der rote Mantel 91
- Bruder Liederlich 93
- Liebesnacht 95
- Einer Toten 96
- Surſum corda 97
- Zwei Sterbende 99
- Der Heidebrand 99
- Vier Augen ſind im Wege 103
- Hartwich Reventlow 107
- Auf dem Deiche 109
- Rondel 116
- Verbannt 117
- Ein Geheimnis 125
- Trutz, blanke Hans 129
- Una ex hisce morieris 132
- Sicilianen 133
- Mittſommer. — Im Marſchgarten. — Hinterm Deich.
- Auf der Marſchinſel 135
- Verloren 139
- Adjutantenritte 143
Appendix B
Druck von Oskar Leiner in Leipzig.
[]
Appendix C
Verlag der Königl. Hofbuchhandlung von Wilhelm Friedrich
in Leipzig.
Aus Carmen Sylva’s Königreich.
Pelesch-Märchen
von
Carmen Sylva.
Zweite Auflage. Mit 3 Illustrationen und Facsimile. eleg. br. ℔ 5.—,
eleg. geb. ℔ 6.—
JEHOVAH
von
Carmen Sylva.
Zweite Auflage, eleg. br. ℔ 2.50, eleg. geb. ℔ 4.—
Rumänische
Dichtungen.
Deutsch von
Carmen Sylva.
Herausgegeben und mit weiteren Beiträgen versehen
von Mite Kremnitz.
Zweite Auflage, eleg. br. ℔ 5.—, eleg. geb. ℔ 6.—
Acht Novellen
von
Hermann Heiberg.
In 8°. eleg. br. ℔ 4.—, eleg. geb. ℔ 5.—
Ausgetobt
Roman von
Hermann Heiberg.
Zweite Auflage, in 8° eleg. br. ℔ 6.—, eleg. geb. ℔ 7.—
Ernsthafte Geschichten
von
Hermann Heiberg.
In 8° eleg. br. ℔ 6.—, eleg. geb. ℔ 7.—
Schach von Wuthenow.
Erzählungen aus der Zeit des Regiments-Gensdarmes
von
Theodor Fontane.
Zweite Auflage, in 8° eleg. br. ℔ 3.—
[][]
Appendix D
Verlag der Königl. Hofbuchhandlung von Wilhelm Friedrich
in Leipzig.
Aus Carmen Sylva’s Königreich.
Pelesch-Märchen
von
Carmen Sylva.
Zweite Auflage. Mit 3 Illustrationen und Facsimile. eleg. br. ℔ 5.—,
eleg. geb. ℔ 6.—
JEHOVAH
von
Carmen Sylva.
Zweite Auflage, eleg. br. ℔ 2.50, eleg. geb. ℔ 4.—
Rumänische
Dichtungen.
Deutsch von
Carmen Sylva.
Herausgegeben und mit weiteren Beiträgen versehen
von Mite Kremnitz.
Zweite Auflage, eleg. br. ℔ 5.—, eleg. geb. ℔ 6.—
Acht Novellen
von
Hermann Heiberg.
In 8°. eleg. br. ℔ 4.—, eleg. geb. ℔ 5.—
Ausgetobt
Roman von
Hermann Heiberg.
Zweite Auflage, in 8° eleg. br. ℔ 6.—, eleg. geb. ℔ 7.—
Ernsthafte Geschichten
von
Hermann Heiberg.
In 8° eleg. br. ℔ 6.—, eleg. geb. ℔ 7.—
Schach von Wuthenow.
Erzählungen aus der Zeit des Regiments-Gensdarmes
von
Theodor Fontane.
Zweite Auflage, in 8° eleg. br. ℔ 3.—
Appendix E
Druck von Oskar Leiner in Leipzig.
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- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Liliencron, Detlev von. Adjutantenritte und andere Gedichte. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnzx.0