Die
Geſchichte
eines vornehmen Frauenzimmers,
Geſchichte der
Pamela
geliefert hat:
und
nunmehr aus dem Engliſchen in das Deutſche
uͤberſetzt.
Verlegts Abram Vandenhoeck, Univerſitaͤts-Buchh.
1750.
Mit Koͤm. Kayſerlichen, Koͤnigl. Großbrit. und Churf.
Braunſchw. wie auch Koͤnigl. Pohln. und Churf. Saͤchſ.
allergnaͤdigſten Privilegiis.
Clariſſa.
Der ſechſte Theil.
Der erſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Jch bin hin, verlohren, zu nichte, zu
Grunde gerichtet und aͤrger, als zernich-
tet, das iſt gewiß! ‒ ‒ Aber war denn
die Zeitung ſelbſt nach deinen Gedan-
ken nicht hart genug: wenn du nicht in die ſchon
allzuſehr uͤberwiegende Schale noch deine Vor-
wuͤrfe legeteſt, die du nicht einmal zu machen Ge-
legenheit haben koͤnnteſt, wofern ich dir nicht frey-
willig alles offenbaret haͤtte? Und dieß ſo gar
eben zu der Zeit, da ich noch ein anderes ſehr em-
pfindliches Misvergnuͤgen, wie der Ausgang
zeigt, uͤber eine fehlgeſchlagene Hoffnung zu be-
ſtreiten habe?
Jch ſtelle mir vor; wo wirklich ein ſolches
Ding iſt, das man zukuͤnftige Strafe nennet;
es muͤſſe keine der geringſten Kraͤnkungen ſeyn,
daß ein neuer Teufel von einem alten und aͤr-
gern geſtraft werden ſoll, und ertragen muß, daß
dieſer, wie ein alter Satyr mit gekruͤmmten
Schwanze, ihm bey ſeinem Leiden und Klagege-
Sechſter Theil. Aſchrey
[2]
ſchrey zurufe: das ſollſt du haben! und das
ſollſt du haben! und jedesmal, wenn er es
ausgeſprochen hat, mit gluͤendem Erz eines ver-
ſetze. Und warum denn! warum denn! ‒ ‒
Die Wahrheit frey heraus zu ſagen, weil du
nicht ein ſo arger Teufel biſt, als ich ſelbſt.
Du verſtehſt dich, gewiß, gut genug auf die
Entſcheidung der Gewiſſensfragen, und kannſt
alſo wohl wiſſen; wie ich ehedem nachdruͤcklich
vorgeſtellet habe (*); daß es eben ſo große Suͤn-
de iſt ein leichtglaͤubiges und williges Maͤgdchen zu
verfuͤhren, als ein nicht leichtglaͤubiges und wach-
ſames ins Garn zu bringen.
Es mag das, was ich zu ſagen willens bin,
fuͤr mich und fuͤr meine Feder auch noch ſo we-
nig edelmuͤthig ſcheinen: ſo muß ich es dir doch
ſagen. Wenn ſolch ein Frauenzimmer, als Fraͤu-
lein Harlowe; ich habe mir vorgenommen,
dir deine Hoffnung, uͤber meine Wuth und
Verzweifelung zu frohlocken, zu nichte zu
machen; es fuͤr das beſte hielte, ſich in den
Stand der heiligen Ehe zu begeben, und, nach
der alten Ordnung der Erzvaͤter, das Jhrige zur
Zeugung von Soͤhnen und Toͤchtern beyzutragen;
in keiner andern Abſicht, als ſie gottſelig zu er-
ziehen, damit ſie gute und brauchbare Glieder
des gemeinen Weſens ſeyn moͤchten: was, Teufel,
kam ihr denn an, daß ſie ſich in den Kopf ſetzte,
ſich an einen liederlichen Kerl zu haͤngen? An
einen,
[3]
einen, von dem ſie wußte, daß er ein liederli-
cher Kerl war.
Ey wahrlich, ſie hoffete nur, ſich ein Verdienſt
zu machen und ihn auf beſſere Wege zu bringen.
Sie hatte ſich artige Vorſtellungen gemacht, wie
ſchoͤn es laſſen wuͤrde, wenn ſie einen Bekehrten
haͤtte, der ihr eignes Machwerk waͤre, der zu
ihrer Seiten durch die Nachbarſchaft unter all-
gemeinem Beyfall zur Kirche ſchlaͤnderte, und,
wie ihre Familie anwuͤchſe, an der Spitze ihrer
Buͤbchen und Maͤgdchen, nicht anders als in ei-
nem feyerlichen Zuge durch die Gaſſen, mit ihr
dahin gienge, ſo daß ſich beyde mit den Fruͤchten
ihres loͤblichen Verlangens; mit meinem guͤ-
tigen Lord Biſchoff in ſeinem Trauſchein zu re-
den; groß machten. Und was wuͤrde es ferner
fuͤr ein artiger Anblick ſeyn: wenn alle mit ein-
ander in einem Kirchenſtuhl nach dem Alter kniee-
ten! wie wir im Gemaͤhlde auf einem alten
Denkmal eine ganze Familie geſehen haben, wo
der ehrliche Ritter in ſeiner Ruͤſtung mit aufge-
habenen Haͤnden knieend vorgeſtellt wird, und
hinter ihm ein halb Dutzend großkoͤpfichter und
kurzoͤhrichter Jungen, die ſtuffen- oder trup-
penweiſe nach ihrem Alter und ihrer Groͤße ge-
ordnet ſind, alle in eben der Stellung ‒ ‒ Mit
ſeinem Geſichte gegen ſeine gottſelige Gattinn ge-
kehrt, die einen großen Halskragen, und eben ſo
viele Maͤgdchen mit molkenhaften Geſichtern, als
er Buͤbchen, auf den Knien hinter ſich hat ‒ ‒
Mit einem Altar zwiſchen beyden, und einem
A 2offenen
[4]
offenen Buche auf demſelben ‒ ‒ Mit glaͤnzen-
den Strahlen in Geſtalt eines halben Mondes
uͤber ihren Haͤuptern, die aus verguͤldeten Wol-
ken herabſchießen und rund um einen herrlichen
Wahlſpruch herumgehen: IN COELO SALVS ‒ ‒
oder QVIES ‒ ‒ vielleicht, wenn es ſich ſo gefuͤ-
get hat, daß ſie das bey der Ehe gewoͤhnliche
Leben von Zank und Widerſpruch gefuͤhret haben.
Es iſt gewiß fuͤr mich eben ein ſo großes Un-
gluͤck, daß ich an die Fraͤulein Clariſſa Harlowe
gerathen bin, wenn ich meinen guten Namen oder
meine Bequemlichkeit achtete, als es fuͤr die Fraͤu-
lein Harlowe iſt, daß ſie mit mir bekannt geworden.
Und wenn endlich alles um und um kommt: ſo
habe ich nichts mehr gethan, als daß ich denjeni-
gen Grundregeln nachgegangen bin, von welchen
du, und ich, und alle liederliche Leute ſich leiten
laſſen, und welche wir, ehe ich dieſe Fraͤulein
kannte, bey einem artigen Maͤgdchen nach dem an-
dern ausgeuͤbet haben, ſo daß wir eben ſo ge-
ſchwinde, als wir nur die eine niedergeſetzt, die
andere wieder aufgenommen; ‒ ‒ nicht anders,
als wie es die Leute mit ihren Schaukelwagen
oder Schaukelpferden bey einer Kirmeſſe auf
dem Lande machen ‒ ‒ ‒ ‒ Mit ihrem: Wer
ſchaukelt ſich hernach zu erſt? Wer ſchau-
ckeit ſich hernach zuerſt?
Aber hier, in dem gegenwaͤrtigen Fall, damit
ich die fliegende Metapher fortſetze; denn ich muß
entweder luſtig oder raſend ſeyn; hier iſt eine
ſehr kleine Fraͤulein, die eben aus ihrem langen
Rocke
[5]
Rocke mit hangenden Ermeln gekrochen und auf
einen Jahrmarkt gebracht iſt, eine ſehr kleine
Meſſe einzukaufen: denn die Welt, Bruder,
weißt du wohl, iſt nur ein großer Jahrmarkt;
und, daß ich deine ernſthafte Betrachtung wie-
derum mit einer ernſthaften Betrachtung bezah-
le, alle ihre Kramereyen ſind nichts, als Ste-
ckenpferde mit Flittergold, verguͤldete Pfefferku-
chen, quickende Trompeten, bunte Trommeln
und ſo weiter ‒ ‒ ‒
Nun ſiehe, wie dieſe ſehr kleine Fraͤulein auf
eine recht artige Weiſe von einer Bude zur an-
dern flattert. Ein ſehr kleiner Bube, vielleicht
Wyerley genannt; ein anderer baͤuriſcher Kerl,
der Biron heißt; ein dritter laͤchelnder Lumpen-
hund, Symmes mit Namen; und noch ein weit
ſcheuslicherer Boͤſewicht, als einer von den uͤbri-
gen, mit einem langen Sack unter dem Arm,
und mit pergamentnen Urkunden bis an die Fer-
ſen beſteckt, Solmes zubenahmet, folgen ihr be-
ſtaͤndig von dieſen Raritaͤten zu jenen, ſtoßen bey
jeder Wendung mit den Schultern an einander,
bleiben ſtehen, wenn ſie ſtehen bleibt, und kom-
men wieder in Bewegung, wenn ſie ſich bewe-
get ‒ ‒ Unter dieſem bey ihr bammelnden Ge-
folge, jedoch beſtaͤndig in den Augen ihrer wach-
ſamen Aufſeher, durchſtreicht die ſehr kleine Fraͤu-
lein den ganzen Jahrmarkt und ergoͤtzet ſich nicht
weniger, als ſie andere ergoͤtzet: bis ſie endlich
durch die Einladung eines Redners mit einem
Treſſenhut eingenommen wird; und, da ſie ver-
A 3ſchiedne
[6]
ſchiedne ſehr kleine Laͤtzgentraͤger mit einander in
den Schaukelwagen geſetzt, und unbeſchaͤdigt in
dem an der einen Seite auf, an der andern nie-
dergehenden Fahrzeuge, einem Bilde der Welt,
alle mit eben ſo weniger Furcht als Verſtand,
die ausweichende Luft durchſchneiden ſiehet, in die
Verſuchung geraͤth, ſich hernach zuerſt zu ſchau-
keln.
Alsdenn ſetze, daß ſie liſtigerweiſe, wenn kei-
ne von ihren Freunden nahe bey ihr find,
unverſehens in den Schaukelwagen ſteigt. Wo
ihr nun, nachdem ſie ſich zwey oder dreymal auf
und nieder geſchaukelt, der artige Kopf ſchwind-
licht wird, und ſie aus dem Wagen, indem er
eben ſeine Hoͤhe erreichet hat, herausſtuͤrzet, und
ſo ihr ſehr kleines Gehirn verſchuͤttet: wer kann
es denn aͤndern? ‒ ‒ Wolltet ihr wohl den Kerl
aufhaͤngen, der oͤffentlich ſeine Handthierung
daraus machte, die ſehr kleinen Creaturen ins
Fliegen zu bringen?
Es iſt wahr, dieſe ſehr kleine Fraͤulein, die
eine recht ſehr kleine Fraͤulein iſt, eine recht ſehr
bewunderte kleine Fraͤulein, eine recht fromme
kleine Fraͤulein; die allezeit an ihr Buch gedach-
te, und mit großem Beyfall durch ihre Schule
gekommen war, daß ſie alle Muſter vollkommen
kannte; dieſe ſehr kleine Fraͤulein hatte ſo gar
ſchon einen Abraham, der ſeinen Sohn opferte,
einen Simſon und die Philiſter, und Blumen,
und Knospen, und Baͤume, und die Sonne,
und den Mond, und das Siebengeſtirn mit
bunten
[7]
bunten Farben, wie es ſich gehoͤrte, ausgeſticket,
welches alles, zur Bewunderung ihrer kuͤnftigen
Enkel, in Raͤhmen, und mit Glaß bedecket, auf-
gehangen war. Sie hatte auch ein Recht auf
ein gar ſehr kleines Gut. Sie war aus einer ſehr
kleinen Familie von einem hundertjaͤhrigen Adel
entſproſſen, welche eine recht ſehr kleine Le-
bensart fuͤhrte, und in Betrachtung ihrer ſelbſt
ſehr wenig, in Betrachtung dieſer Tochter aber
ſehr viel geachtet wurde. ‒ ‒
Fuͤr ſo eine ſehr kleine Fraͤulein, als dieß iſt,
muß es eine recht betruͤbte Sache ſeyn, daß ſie in
ein ſo ſehr großes Ungluͤck geraͤth. Aber ſage
mir einmal: Wuͤrde der Verluſt eines gemeinen
Kindes, von einer andern noch weniger betraͤcht-
lichen Familie, von geringern oder nicht ſo lie-
benswuͤrdigen Gaben, nicht eben ſo groß und eben
ſo ſchwer fuͤr die Familie geweſen ſeyn, als der
Verluſt dieſer ſehr kleinen Fraͤulein fuͤr ihre Fa-
milie iſt?
Jch will mich herablaſſen und ein recht niedri-
driges Beyſpiel geben, bloß damit ich bey
der Perſon bleibe. Zweifelſt du wohl, daß dein
ſtarkſehnichtes und beinichtes Geſicht von deiner
Mutter eben ſo ſehr bewundert worden, als wenn es
das Geſicht eines Lovelace oder eines andern leidli-
chen Kerls geweſen waͤre? Und wuͤrde ſie, wenn du
abgemahlet waͤreſt, es dem Mahler vergeben ha-
ben, wenn er deine Zuͤge nicht ſo genau ausge-
druͤcket haͤtte, daß ein jeder die Aehnlichkeit be-
merkt haben ſollte? Die ziemliche Aehnlich-
A 4keit
[8]
keit iſt alles, was man wuͤnſchet. Wenn wir
einmal an Haͤßlichkeit gewohnt ſind: ſo wird ſie,
bey der natuͤrlichen Parteylichkeit eingenommener
Eltern, Schoͤnheit ſeyn, ſo lange die Welt ſte-
het. ‒ ‒ Mache du ſelbſt die Anwendung.
Aber, ach! Bruder, alles dieß iſt nur ein
Abriß von meiner Gemuͤthsfaſſung, der bloß
deswegen entworfen iſt, damit ich deiner boshaf-
tigen Geſinnung gegen mich ausweichen moͤch-
te! ‒ ‒ Ob du gleich deine unfreundliche Abſicht
durch mein Geſtaͤndniß erhaͤltſt: ſo kann ich doch
nicht umhin, es zu geſtehen; ich bin bis in die
Seele verwundet, durch dieſen ungluͤcklichen ‒ ‒
Zufall muß ich es nennen! ‒ ‒ Habe ich denn
niemand, dem ich, entweder wegen ſeiner Unacht-
ſamkeit, oder wegen ſeiner Verraͤtherey die Kaͤhle
abſchneiden muß, damit ich meine Rache be-
friedige! ‒ ‒
Wenn ich meine letzte boͤſe Abſicht bedenke;
da die Fraͤulein doch gegen die erſte gewaltſame
Beſchimpfung einen ſo edlen Unwillen bezeiget,
und auch, ſo weit ſie im Stande geweſen war,
einen ſo edlen Widerſtand gethan hatte: ſo
muß ich nothwendig ſchließen, daß ich von dieſen
verfluchten Circen bezaubert geweſen, die ſich
anmaßeten, ihr eignes Geſchlecht zu kennen, und
mit Gewalt behaupten wollten, daß bey einem
jeden Frauenzimmer eine Stunde zu treffen ſey,
da ſie nachgiebet oder wenig widerſtehet; und daß
ich
[9]
ich noch, und noch, und noch nicht genug ver-
ſuchet haͤtte; ‒ ‒ aber daß, wenn ſie einmal durch
Huͤlfe ihrer verfluchten Kuͤnſte uͤberwunden
waͤre, wofern ich weder durch Liebe noch Schre-
cken die gluͤckliche Stunde treffen koͤnnte, ſie fuͤr
allemal uͤberwunden ſeyn wuͤrde; ‒ ‒ wobey
ſie ſich zur Rechtfertigung ihres Ausſpruchs auf
alle meine Erfahrung, auf alle meine Kenntniß
von dem Geſchlechte beriefen.
Meine Erfahrung, worauf ſie ſich beriefen,
muß ich geſtehen, war ihrer Ausſage nur allzu
vortheilhaft. Denn meynſt du, daß ich meinen
Vorſatz gegen einen ſolchen Engel, als ſie iſt, haͤt-
te behalten koͤnnen: wenn ich vorher jemals eine
gefunden haͤtte, welche ihre Ehre gegen die uner-
muͤdeten Kuͤnſte und Standhaftigkeit derjenigen
Mannsperſon, gegen die ſie ſelbſt Liebe hegte, ſo
ernſtlich zu vertheidigen geneigt geweſen waͤre?
Warum waren denn nicht mehrere Beyſpiele ei-
ner ſo unbeweglichen Tugend? Oder warum
mußte dieſes, als das einzige, mir eben zu Theil
werden? Wo es nicht darum geſchehen iſt, daß
meine Schuld verdoppelt und zu gleicher Zeit,
alle, denen ihre Geſchichte zu Ohren kommen ſollte,
uͤberfuͤhret wuͤrden, daß es ſo wohl einge-
fleiſchte Engel, als eingefleiſchte Teufel
gebe.
So viel: mein Bekenntniß darzulegen, und
meinem Gewiſſen zu Gefallen zu ſeyn. Jedoch
habe ich auch dieß Abſehen dabey, daß ich durch
mein eignes Geſtaͤndniß deine Bosheit entwaff-
A 5nen
[10]
nen will: denn niemand ſoll etwas aͤrgeres von
mir ſagen, als ich ſelbſt bey dieſer Gelegenheit
von mir ſagen werde.
Eines will ich inzwiſchen noch beyfuͤgen, da-
mit ich dir die Aufrichtigkeit meiner Reue zei-
ge ‒ ‒ Wo du ſie durch irgend einige Mittel bin-
nen dieſen dreyen Tagen auffinden kannſt; oder,
es ſey wann es wolle, nur vorher, ehe ſie hinter
die wahre Beſchaffenheit der Hiſtoͤrchen mit Ca-
pitain Tomlinſon, und ihrem Onkel, kommt;
und wo du ſie alsdenn gewinnen kannſt, daß ſie
ihre Einwilligung giebet: ſo will ich mich wirklich
in deiner, und Tomlinſons Gegenwart, indem
er die Perſon ihres Onkels vertreten ſoll, mit ihr
trauen laſſen.
Jch mache mir noch immer Hoffnung, daß
es ſo kommen moͤge ‒ ‒ Sie kann nicht lange
verborgen-bleiben. ‒ ‒ Jch habe bereits alle
Triebfedern in den Gang gebracht, ſie aufzuſpuͤ-
ren. Finde ich ſie: wer wird denn wohl von
ſolchen Leuten, welche die Sache nichts an-
gehet, Luſt haben, ſich mit einem Manne von
meinem Anſehen, von meinem Vermoͤgen, und
von meiner Kuͤhnheit zu verwickeln? Und von
ihren Freunden wird niemand, wie du bemer-
keſt, auf ſie ſehen. ‒ ‒ Zeige ihr alſo dieſe oder
eine andere Stelle von dem gegenwaͤrtigen Briefe,
nach deinem eignen Gutbefinden: wo du ſie auf-
finden kannſt. Denn, alles wohl erwogen,
deucht mich, es wuͤrde mir lieb ſeyn, daß dieſe
Sache, welche an ſich ſelbſt ſchlimm genug iſt,
ohne
[11]
ohne ſchlimmere Folgen fuͤr eines andern Perſon
ablaufen moͤchte. Gleichwohl ſagt mir mein
Herz zu, ich weiß nicht warum, daß ſie fruͤher
oder ſpaͤter einige Tropfen Bluts nach ſich ziehen
wuͤrde: wofern die Fraͤulein und ich ſie nicht et-
wa unter uns abthun koͤnnen. Und dieß mag ein
anderer Grund ſeyn, warum ſie ihren Unwillen
nicht zu weit treiben ſollte ‒ ‒ Jedoch nicht ſo,
als wenn ich mich uͤber eine ſolche Sache viel be-
kuͤmmern wuͤrde; wofern ich nur meinen Mann
oder meine Maͤnner ſelbſt ausſuchen ſollte: denn
ich haſſe ihre ganze Familie, ſie allein ausge-
nommen, von ganzen Herzen, und werde ſie be-
ſtaͤndig haſſen.
Jch muß noch dieſes hinzuthun, daß die Er-
findung der Fraͤulein, ihre Flucht ins Werk zu
richten, mir nichts beſonderes und außerordentli-
ches zu ſeyn ſcheinet. Es iſt mehr Gluͤck dabey
geweſen, als Wahrſcheinlichkeit, daß ſie einen
guten Erfolg haben ſollte. Denn, wenn ſie
gelingen ſollte: mußten Dorcas, Wilhelm,
Sinclair und ihre Nymphen nothwendig alle ent-
weder betrogen werden, oder von der Wache ge-
gangen ſeyn. Es kommt mir zu, ihnen, wenn
ich ſie ſpreche, meinen herzlichen Dank abzuſtat-
ten, daß ſie wirklich von der Wache gegangen
ſind, und daß ihre Sorge fuͤr ſich ſelbſt und fuͤr
ihre eigne kuͤnftige Sicherheit ſie verleiten ſollen,
ihre Thuͤre nach der Gaſſe, bloß mit einem Rie-
gel
[12]
gel zu verwahren: ich wollte, daß ſie verflucht
waͤren! ‒ ‒
Mabelle verdient vielmehr ein Pechkleid und
ein Freudenfeuer, als den Rock von glaͤnzender
Seide. Da ihre Kleider wiedergebracht ſind:
ſo laß die Kleider der Fraͤulein wieder zu den an-
dern legen; damit ſie ihr zugeſchickt werden, wenn
man ſagen kann, wohin; ‒ ‒ aber doch nicht
eher als bis ich mein Wort dazu gebe: denn wir
muͤſſen den lieben Fluͤchtling wieder zuruͤckbringen,
wo es moͤglich iſt.
Jch vermuthe, daß mein einfaͤltiger Bube,
der ein Frauenzimmer, wie eine Goͤttinn von Per-
ſon, und von einem ſo edlen Anſtande, nicht von
der ungeſchickten und krummſchultrichten Mabelle
zu unterſcheiden gewußt hat, in Hampſtead gewe-
ſen ſey, ſich nach ihr umzuſehen. Jedoch kann
ich ſchwerlich denken, daß ſie dahin gehen ſollte.
Er muß durch alle Gaſſen gehen, wo Zimmer zu
vermiethen angeſchlagen ſind, und ſich nach ei-
nem neuen Ankoͤmmling erkundigen. Die Haͤu-
ſer, welche mit Weiberſachen, mit Thee, Coffee
und dergleichen zu thun haben, ſind diejenigen,
wo Nachfrage geſchehen muß. Wo nicht bald
einige Zeitung von ihr gehoͤrt wird: ſo wollte ich
eben nicht, daß Dorcas, Wilhelm, oder Ma-
belle mir vor Augen kaͤmen; ihre Herrſchaf-
ten moͤgen fuͤr gut zu thun befinden, was ſie
wollen.
Dieß iſt ein ziemlich langer Brief, ob er
gleich mit abgekuͤrzten Zeichen geſchrieben iſt, in
Be-
[13]
Betrachtung, daß er keine Erzaͤhlung oder kein
Verzeichniß von Unternehmungen, wie einige
meiner vorigen, in ſich enthaͤlt: denn Briefe von
der Art werden ſich unvermeidlich, und natuͤrli-
cherweiſe, ſo zu ſagen, in die Laͤnge dehnen. Al-
lein ich habe mich ſeit einiger Zeit ſo gewoͤhnet,
viel zu ſchreiben, daß ich nicht weiß, wie ich es
aͤndern ſoll. Dennoch muß ich ſeiner Laͤnge noch
etwas hinzuſetzen, damit ich mich uͤber den Wink,
den ich dir beym Anfange deſſelben gegeben habe,
erklaͤre. Er beſtand darinn, daß ich, außer dem
Misvergnuͤgen uͤber die Flucht der Fraͤulein Har-
lowe, noch eine fehlgeſchlagene Hoffnung zu be-
dauren habe.
Und was meynſt du wohl? Der alte Lord;
ich wollte daß der Henker ſeine zaͤhe Natur geho-
let haͤtte! denn das wuͤrde ihn fortgeholfen haben;
hat Feuer und Schwefel, und der Teufel weiß
was, verſuchet, das Podagra zu noͤthigen, daß
es die aͤußere Boͤſchung ſeines Herzens verlaſſen
muͤſſen, als es eben alle ſeine Macht zuſammen-
gezogen hatte, die Schanze ſeines Herzens zu
ſtuͤrmen. Kurz, man hat den langſamen
Schanzengraͤber bloß durch Dampfkugeln, Hand-
granaten und kleine Kugelbuͤchſen aus dem Rumpf
in die aͤußerſten Theile getrieben: und da liegt
er nun, und zwackt und nagt an ſeiner großen
Zehe; da ich mir ein gutes Ende von der Krank-
heit ſo wohl als dem Kranken verſprochen hatte.
Aber ich habe verdienet, mit beißendem
Verdruſſe gekraͤnket zu werden: da ich dir vor-
mals
[14]
mals rathen konnte, das laudanum, dieſen ein-
ſchlaͤfernden und betaͤubenden Trank, und das
naſſe Tuch zu gebrauchen (*); und doch acht tau-
ſend Pfund jaͤhrlicher Einkuͤnfte mir durch die
Finger weggleiten laſſen mochte, da ich ſie mir
ſchon mehr, als durch bloße Vorſtellung, zuge-
eignet hatte. Denn ich hatte wirklich angefangen,
die Verwalter zu befragen, und ſie anzuhoͤren,
wenn ſie von Handgeld, von Erneurung der mit
ihnen gemachten Vergleiche, und dergleichen
Zeuge mehr ſchwatzten.
Du kannſt dir nicht einbilden, wie ſich ſeit
geſtern das Bezeigen der Bedienten und ſo gar
meiner Baſen veraͤndert haͤt. Weder dieſe noch
jene buͤcken und neigen ſich halb ſo tief mehr. ‒ ‒
Jch heiße nicht den vierten Theil ſo viel ſeine
Gnaden, und ihre Gnaden, bey den erſtern,
als ich es vor dieſen wenigen Stunden bey ihnen
hieß: und in Anſehung der letztern, iſt es nun
wieder Vetter Robert, mit der gewoͤhnlichen
Vertraulichkeit, ſtatt Herr, und Herr, und,
wenn es ihnen gefaͤllig iſt, Herr Lovelace.
Ja ſie ſind nun ſo vermeſſen, daß ſie mir zur Ge-
neſung des guͤtigſten Onkels Gluͤck wuͤnſchen:
und ich bin genoͤthigt, mich eben ſo vergnuͤgt zu
ſtellen, als ſie ſind; da ich doch, wenn es helfen
wollte, mich hinſetzen und mir die Augen aus-
heulen koͤnnte.
Jch hatte in Gedanken meine Trauer ſchon
beſprochen; nach dem Beyſpiel eines gewiſſen
Staats-
[15]
Staatsbedienten von einem auswaͤrtigen Hofe,
der vor dem Tode, oder gar noch vor der letzten
Krankheit Carls II, wie uns der ehrliche White
Kennet erzaͤhlet, Blackwell-Hall halb von ſchwar-
zen Tuͤchern ledig gemacht hatte: eine Anzeige,
nach der Abſicht des Geſchichtſchreibers, daß dem
Koͤnig mit Gift fortgeholfen werden ſollte und der
Geſandte mit darum wußte. ‒ ‒ Gleichwohl ha-
be ich wunderlicher Thor mir den Wink nicht zu
Nutze zu machen gewußt. Wozu, fuͤr den Teu-
fel, lieſet ein Menſch Geſchichtbuͤcher, wenn er
aus den Beyſpielen, die er darinn findet, nicht
ſeinen Vortheil ziehen kann?
Aber ſo, Bruder, iſt eine Anmerkung des
alten Lords wahr geworden, daß ein Ungluͤck
ſelten allein kommt: und ſo ſchließet
dein zwiefach gekraͤnkter
Lovelace.
Der zweyte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤu-
lein Howe.
Noch einmal bin ich entkommen ‒ ‒ Aber,
ach! Jch, mein beſtes ſelbſt, bin nicht
entkommen! ‒ ‒ O! Jhre arme Clariſſa Harlo-
we!
[16]
we! Sie werden mich auch haſſen: davor iſt mir
nur bange! ‒ ‒ Doch Sie wuͤrden es nicht thun:
wenn Sie alles wiſſen ſollten! ‒ ‒
Allein nicht mehr von meinem ſelbſt, mei-
nem verlohrnen ſelbſt! Sie, welche des Mor-
gens, begluͤckt zu ſeyn und begluͤckt zu machen,
aufſtehen; des Abends, in Jhren eignen Be-
trachtungen vergnuͤgt, zur Ruhe gehen; und in
Jhrem ungeſtoͤrten ſanften Schlummer mit Hei-
ligen und Engeln, wovon die erſtern nur in ſo
fern reiner, als Sie ſelbſt, ſind, weil ſie den
beſchwerlichen und hinderlichen Koͤrper abgeleget
haben, umgehen koͤnnen; Sie ſollen es ſeyn,
wovon ich denken und reden will: wie Sie ſchon
lange, lange, mein einziges Vergnuͤgen geweſen
ſind. Erlauben Sie mir, daß ich, in einer
ehrfurchtsvollen Entfernung, meine geliebte Anna
Howe als ehrwuͤrdig verehre, und in Jhr erwaͤ-
ge, was Jhre Clariſſa Harlowe vormals gewe-
ſen iſt! ‒ ‒
Verzeihen Sie, o! verzeihen Sie mir mei-
ne ſchwaͤrmende Ausſchweifung! Meine Ruhe iſt
zerſtoͤret. Mein Verſtand iſt angegriffen. Was
fuͤr hochfliegenden Unſinn muͤſſen Sie leſen: wo
Sie ſich nun noch, wie vorher, gefallen laſſen
wollen, mit mir Briefe zu wechſeln! ‒ ‒
O! meine beſte, meine liebſte, meine ein-
zige Freundinn! Was habe ich zu erzaͤhlen! ‒ ‒
Aber das kommt ja noch immer auf das Selbſt,
auf das ſchaͤndliche, das verhaßte Selbſt hin-
aus! ‒ ‒ Jch will es ablegen; wo es moͤglich iſt:
und
[17]
und warum ſollte ich es nicht thun? da ich, wie
ich denke, einen Boͤſewicht ausgenommen, nichts
ſo ſehr haſſe. ‒ ‒ So ſey denn das verhaßte Selbſt
von dem Selbſt, auf einen Augenblick, verban-
net; denn ich vermuthe wohl, daß es ſich nicht
laͤnger verbannen laſſen will; damit ich mich nach
einem wuͤrdigern und werthern Gegenſtande,
nach meiner geliebten Anna Howe, erkundige! ‒ ‒
Deren Gemuͤth, in dem unbefleckten weißen
Kleide der Unſchuld, reizet und durch helle
Strahlen erleuchtet. ‒ ‒ Doch was wollte ich
ſagen?
Und wie, meine wertheſte Freundinn; nach
dieſem Miſchmaſch, den ich nicht abſchicken wuͤr-
de, da ich ihn wieder durchgeſehen habe, wenn
Sie nicht daraus erkennen koͤnnten, was ein ver-
wirrtes Gemuͤth mir bey zitternden Haͤnden in die
Feder giebt; Wie befinden ſie ſich? Sie ſind
ſehr krank geweſen, wie es ſcheint. Daß Sie
wieder beſſer ſind, das laſſen Sie mich hoͤren! ‒ ‒
Daß Jhre Frau Mutter ſich wohl befindet, das,
bitte ich Sie, laſſen Sie mich hoͤren, laſſen Sie
mich bald hoͤren! ‒ ‒ Auf dieß Vergnuͤgen habe
ich gewiß ein Recht, Anſpruch zu machen. Denn
wo das Leben nicht noch aͤrger, als ein gemiſch-
tes Farbenwerk, iſt: ſo muß nun auch einmal
ein wenig Weißes an mich ankommen; nachdem
ich, eine lange, lange, Weile, nichts als
Schwarzes, lauter ſchrecklich Schwarzes, ohne
die geringſte Miſchung, geſehen habe.
Sechster Theil. BAber
[18]
Aber wozu ſoll alle dieß wilde und nicht zu-
ſammenhangende Zeug? ‒ ‒ Nur dazu, daß
ich Sie bitte, mich wiſſen zu laſſen, wie Sie
ſich befunden haben, und wie Sie ſich itzt befin-
den. Eine Zeile wird mir genug ſeyn, die Sie
an Frau Rahel Clark, in Herrn Smiths Hauſe,
einem Handſchuhladen, auf der Koͤnigsſtraße,
bey Covent-Garden richten koͤnnen. Unter dieſer
Aufſchrift wird ſie, ob gleich mein Aufenthalt
ſonſt fuͤr jedermann ein Geheimniß iſt, zu Haͤn-
den kommen ‒ ‒ Jhrer ungluͤcklichen ‒ ‒
ab er das iſt noch nicht genug ‒ ‒
Jhrer elednen
Clariſſa Harlowe.
Der dritte Brief
von
der Frau Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
(Unter derjenigen Aufſchrift, die in dem vorher-
gehenden Briefe gegeben iſt.)
Sie werden ſich wundern, daß ſie einen Brief
von mir bekommen. Jch bedaure das große
Un-
[19]
Ungluͤck, worinn ſie zu ſeyn ſcheinen. Solch
eine Hoffnungsvolle junge Fraͤulein, als ſie wa-
ren! ‒ ‒ Aber ſehen ſie, was der Ungehorſam
gegen Eltern nach ſich ziehet!
Jch meines Theils habe zwar Mitleiden mit
ihnen: jedoch habe ich noch mehr Mitleiden mit
ihrem armen Vater und ihrer armen Mutter.
Wie wohl haben dieſe ſie erzogen! Wie ſchoͤn
hatten ſie zugenommen! Was fuͤr Vergnuͤgen
machten ihre Eltern ſich aus ihnen! ‒ ‒ Und nun
faͤllt alles ſo aus! ‒ ‒
Aber, ich bitte, Fraͤulein, machen ſie nicht,
daß auch mein Annchen ihres Fehlers, des Un-
gehorſams, ſchuldig werde. Jch habe ihr ein-
mal uͤber das andere ernſtlich befohlen, mit einer
Perſon, die einen ſo unbeſonnenen Schritt ge-
than hat, keine Briefe zu wechſeln. Es gereicht
ihr nicht zur Ehre, bin ich verſichert. Sie
haben gewußt, daß ich ihr dieß befohlen hatte:
und doch ſetzen ſie beyde ihren Briefwechſel fort,
zu meinem groͤßten Verdruſſe; denn ſie iſt mehr
als einmal recht wunderlich daruͤber geweſen.
Boͤſer Umgang, oder boͤſe Gemeinſchaft,
Fraͤulein ‒ ‒ Sie wiſſen, wie es weiter heißt.
Hier koͤnnen keine Leute fuͤr ſich ſelbſt un-
gluͤcklich ſeyn: ſondern ſie muͤſſen auch ihre
Freunde und Bekannte, die ſich durch ihre Vor-
ſichtigkeit von den Fehlern derſelben frey und
rein erhalten haben, mit ſich beynahe in eben ſo
großes Ungluͤck ziehen, als wenn ſie ſich durch
ihren eignen Kopf in gleiches Unheil geſtuͤrzt haͤt-
B 2ten.
[20]
ten. So weint und klagt meine arme Tochter
beſtaͤndig. Sie hat in Wahrheit ihre eigene
Gluͤckſeligkeit aus der Acht gelaſſen: weil ſie un-
gluͤcklich ſind!
Wenn Leute, die ihr eignes Verderben ſu-
chen, allein fuͤr ihr ſtarrkoͤpfigtes Verfahren lei-
den koͤnnten: ſo waͤre es noch etwas. Allein,
o Fraͤulein, Fraͤulein, was haben ſie zu verant-
worten: da ſie eben ſo viele betruͤbte Herzen ge-
macht, als nur Leute geweſen ſind, die ſie ge-
kannt haben? Das ganze Geſchlecht hat in der
That durch ſie eine empfindliche Wunde bekom-
men. Denn wer ſonſt, als Fraͤulein Clariſſa
Harlowe, wurde von allen Vaͤtern und Muͤt-
tern ihren Toͤchtern zu einem Muſter vorge-
ſtellet?
Jch ſchreibe einen langen Brief, indem ich
willens war nur wenige Worte zu ſagen. Jch
wollte ihnen nur bloß verbieten, an mein Ann-
chen zu ſchreiben: und das ſo wohl, weil ſie einen
ſolchen Fehltritt gethan haben, als weil es ihr
armes Herz nur kraͤnken, und ihnen nichts hel-
fen wird. Wo ſie ihnen alſo lieb iſt: ſo ſchreiben
ſie ihr nicht. Der traurige Brief von ihnen iſt mir
in die Haͤnde gefallen: da Annchen nicht zu Hauſe
geweſen, und ich werde ihn ihr nicht zeigen.
Denn ſie wuͤrde kein Vergnuͤgen davon haben,
wenn ſie ihn ſehen ſollte, und ich auch nicht, die
ich an ihr mein Vergnuͤgen habe. ‒ ‒ Wie ehe-
dem an ihnen ihre Eltern. ‒ ‒
Jedoch
[21]
Jedoch ſie ſcheinen itzt uͤber ihr Vergehen
empfindlich genug! So ſind alle unbeſonnene
Maͤdchen: wenn es zu ſpaͤt ‒ ‒ Was fuͤr eine
betruͤbte und niedergeſchlagene Perſon noͤthigt ſie
alsdenn, ihre eigenwillige Widerſpenſtigkeit und
ihr ſtarrkoͤpfigtes Weſen zu ſpielen!
Jch ſage vielleicht zu viel: bloß weil ich es
fuͤr dienlich achte, das Zeugniß gegen ihre Unbe-
dachtſamkeit abzulegen, welches allen ſorgfaͤlti-
gen Eltern abzulegen zuſtehet; und keinem
mehr, als
Jhrer mitleidigen und ihnen alles
Gute anwuͤnſchenden
Annabella Howe.
Jch ſende gegenwaͤrtiges durch einen beſondern
Bothen, der nicht weiter, als zu Barnet,
zu thun hat: weil ſie nicht noͤthig haben wer-
den wieder zu ſchreiben; da ich weiß, wie gern
ſie ſchreiben moͤgen, und auch weiß, daß Un-
gluͤck die Leute zum Klagen aufgelegt
machet.
Der vierte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Frau Howe.
Erlauben Sie mir, gnaͤdige Frau, Jhnen
mit einigen Zeilen beſchwerlich zu ſeyn:
B 3wenn
[22]
wenn ich Jhnen auch nur fuͤr Jhre Verweiſe
danken ſollte; ob dieſe gleich aus einem bluten-
den Herzen neue Stroͤhme von Blut gezogen
haben.
Meine Geſchichte iſt erſchrecklich. Sie be-
greift Umſtaͤnde, welche Mitleiden erwecken, und
vielleicht ein nicht gaͤnzlich ungeneigtes Urtheil fuͤr
mich zu wege bringen wuͤrden, wenn ſie bekannt
waͤren. Allein meine Bemuͤhung iſt nur, und
es ſoll alle meine Bemuͤhung ſeyn, daß ich meine
Fehler bereue, und ſie nicht geringer zu machen
trachte.
Jedoch ich will Jhr edles Gemuͤth nicht zu
kraͤnken ſuchen. Wo ich nicht alleine leiden
kann: ſo will ich ſo wenige Perſonen, als moͤg-
lich iſt, an meinem Leiden Theil nehmen laſſen.
Jch ergriff in der That mit dieſem Entſchluſſe
auch damals die Feder, als ich den Brief ſchrieb,
der Jhnen in die Haͤnde gefallen iſt. Jch woll-
te nur wiſſen, und zwar ſo wohl aus einer ganz
beſondern Urſache, als aus uneingeſchraͤnkter Lie-
be, ob meine werthe Fraͤulein Howe, von der ich
lange Zeit nicht gehoͤrt hatte, krank geweſen waͤ-
re, wie man mir geſagt hatte; und, wenn es
an dem waͤre, wie ſie ſich nun befaͤnde. Weil
aber die mir wiederfahrne Beleidigungen noch neu
ſind, und mein Ungluͤck ausnehmend groß gewe-
ſen iſt: ſo wollte ſich das Selbſt, einmal uͤber
das andere, haufenweiſe in meinen Brief hinein-
draͤngen. Das menſchliche Gemuͤth iſt im Un-
gluͤck geneigt, ſich an einen jeden, an dem es ei-
niges
[23]
niges Antheil zu haben ſich einbildet oder wuͤn-
ſchet, zu wenden, und Mitleiden und Troſt zu
ſuchen ‒ ‒ Oder; damit ich mich beſſer und kuͤr-
zer mit ihren eignen Worten ausdruͤcke, Un-
gluͤck macht die Leute zum Klagen aufge-
legt. Und gegen wem kann die bedraͤngte Per-
ſon ſich beklagen, wenn ſie es nicht gegen einen
Freund oder Freundinn thun kann?
Da Fraͤulein Howe nicht zu Hauſe geweſen
iſt, als mein Brief gekommen: ſo ſchmeichle ich
mir, daß ſie wieder geneſen iſt. Es wuͤrde mir
zu einiger Befriedigung dienen, wenn ich Nach-
richt bekommen koͤnnte, ob ſie krank geweſen
iſt. Noch eine Zeile von Jhrer Hand wuͤrde
eine allzu große Gewogenheit fuͤr mich ſeyn. Al-
lein, wenn Sie die Guͤte haben wollen, mir
durch einen Bedienten auf dieſe Frage ja oder
nein antworten zu laſſen: ſo will ich nicht weiter
beſchwerlich ſeyn.
Nichts deſto weniger muß ich geſtehen, daß
die Freundſchaft meiner Fraͤulein Howe aller Troſt
war, den ich in dieſer Welt hatte oder erwartete:
und eine Zeile von ihr wuͤrde eine Staͤrkung fuͤr
mein ohnmaͤchtiges Herz geweſen ſeyn. Urthei-
len Sie dann, gnaͤdige Frau, wie ſchwer es mir
werden muͤſſe, ihrem Verbot zu gehorchen! ‒ ‒
Aber dennoch will ich mich bemuͤhen, demſelben
zu gehorchen: ob ich mir gleich, ſo wohl wegen
der Beſchaffenheit alles deſſen, was zwiſchen
Fraͤulein Howe und mir vorgegangen iſt, als
auch wegen ihrer wohlgegruͤndeten Tugend,
B 4Hoff-
[24]
Hoffnung gemacht haben ſollte, daß ſie nicht
durch boͤſe Gemeinſchaft angeſteckt werden
koͤnnte; wenn ein oder zween Briefe waͤren er-
laubet worden. Dieß verlange ich inzwiſchen
nicht: da ich denke, daß ich nichts anders zu
thun habe, als Gott zu bitten, der, wie ich
hoffe, mir ſeine Gnade noch nicht entzogen hat,
ob es ihm gleich gefaͤllt, ſeine Gerechtigkeit ge-
gen meine Fehler walten zu laſſen, damit er mir
einen wahrhaftig zerſchlagenen Geiſt verleihe, wo
er nicht ſchon genug zerſchlagen iſt, und als-
denn zu ſeiner Gnade und Barmherzigkeit auf-
nehme,
die ungluͤckliche
Clariſſa Harlowe.
Eine gedoppelte Gewogenheit, gnaͤdige Frau,
habe ich noch von Jhnen zu erbitten. Die
eine ‒ ‒ daß Sie keinen von meinen Anver-
wandten wiſſen laſſen, daß Sie von mir
Nachricht haben. Die andere ‒ ‒ daß keine
Seele erfahren moͤge, wo man von mir Nach-
richt haben, oder unter welcher Aufſchrift man
ſich an mich wenden kann. Dieß iſt ein
Punct, woran mir mehr gelegen iſt, als ich
mit Worten auszudruͤcken vermoͤgend bin. ‒ ‒
Kurz, meine Sicherheit vor fernern Uebeln
mag davon abhangen.
Der
[25]
Der fuͤnfte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Hanna
Burton.
Es iſt mir ſehr wunderlich gegangen, ſeit dem
ihr von meinen Dienſten, ſo ſehr wider
meinen Willen, genommen, und nur eingebil-
dete Mitgeſellinn uͤber mich geſetzet worden. Aber
das muß nun alles vergeſſen ſeyn ‒ ‒
Wie befindet ihr euch, meine Hanna?
Seyd ihr von eurer Krankheit wieder geneſen?
Wo ihr wieder beſſer ſeyd: wollt ihr denn zu
mir kommen und bey mir ſeyn? Oder koͤnnt
ihr es fuͤglich?
Jch bin in großes Ungluͤck gerathen, und
da ich unter lauter fremden Leuten bin, wuͤrde
es mir lieb ſeyn, euch bey mir zu haben, von
deren Treue und Liebe ich ſo viele angenehme
Proben gehabt.
Jch lebe oder ſterbe: ſo will ich mich be-
muͤhen, daß es euch nicht gereuen ſoll, meine
Hanna.
Wo ihr wieder beſſer ſeyd, wie ich hoffe,
und einen guten Dienſt habt: ſo moͤchten viel-
B 5leicht
[26]
leicht die Leute auf einen Monath, oder ſo
ungefaͤhr, euch gehen laſſen, und ſo lange ſonſt
jemand an eure Stelle nehmen. Unter der Zeit
hoffe ich verſehen zu ſeyn, und ihr koͤnnt alsdenn
wieder zu eurem Dienſte zuruͤckkehren.
Laßt keinen von meinen Freunden wiſſen, daß
ich dieß von euch verlange: ihr moͤgt kommen koͤn-
nen, oder nicht.
Jch bin in Herrn Smiths Hauſe, einem
Strumpf- und Handſchuhladen, in der Koͤnigs-
ſtraße bey Covent-Garden.
Jhr muͤßt unter dem Namen Rahel Clark
die Aufſchriften an mich richten.
Kommt, meine liebe Hanna, wo ihr koͤnnt,
zu eurer armen und jungen Fraͤulein, die allezeit
viel von euch gehalten hat und allezeit halten wird,
ihr moͤget kommen, oder nicht.
Jch ſende gegenwaͤrtiges an eure Mutter zu
St. Albans, weil ich nicht weiß, wohin ich an
euch ſchreiben muß. Antwortet mir mit einer
Zeile, damit ich wiſſe, wie ich daran bin: und
ich werde daraus ſehen, daß ihr die artige Hand
noch nicht vergeſſen habt, die euch in gluͤcklichen
Tagen lehrte.
Eure wahre Freundinn
Clariſſa Harlowe.
Der
[27]
Der ſechſte Brief
von
Hanna Burton zur Antwort.
Jch habe nicht fergeſſen zu ſchreiben und werde
niemals etwas fergeſſen, das ſie, meine
werte Freilein, ſo gut geweſen ſind mich zu ler-
nen. Jhr Ungluͤck meine gnaͤtige Freilein, thut
mier ſehr leit, ſo leit, ich weis nicht, was ich
thun ſol. Von Hertſen wolte ich mich frauen,
wen ich in Stande waͤhre, zu ihnen zu kommen.
Aber in der That, ich bin nicht in Stande gewe-
ſen, hier bei meiner Mutter aus der Stube einen
Fus zu ſetſen, ſeit dem ich gezwungen wahr,
meinen Dienſt zu ferlaſſen, wegen der lauffen-
den Gicht, die mich gans und gahr huͤlflos ge-
machet hat. Jch wil Nacht und Tach fuͤr ſie
betten, meine allerliebſte, meine guͤtichſte,
meine beſte Freilein, mit der man ſo uͤbel umge-
gangen iſt: und es thut mir ſehr leit, das ich
nicht kommen kan, ihnen Liebe und Dienſte zu
thun, welches ich allezeit von Hertſen gern thun
will, wen es in meinem Vermoͤgen waͤhre, die
ich bin
Jhre gehorſamſte Dienerin
Hanna Burton.
Der
[28]
Der ſiebende Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Frau Judith
Norton.
Jch wende mich an Sie, nach einem recht lan-
gen Stillſchweigen; das aber doch keinen
Mangel der Liebe oder Pflicht zum Grunde ge-
habt; vornehmlich in der Abſicht, Sie zu bitten,
daß Sie mich von zween oder dreyen Puncten
verſichern, welche ich zu wiſſen noͤthig habe.
Mein Vater, und die ganze Familie, ſo hat
man mir geſaget, ſollen heute, wie gewoͤhnlich,
bey meinem Onkel Harlowe ſeyn. Haben Sie
die Guͤte, mir Nachricht zu geben, ob ſie wirk-
lich da geweſen ſind; ob ſie bey Gelegenheit des
Geburthsfeſtes vergnuͤgt waren; und ob Sie von
einer Reiſe oder vorgehabten Reiſe meines Bru-
ders mit dem Capitain Singleton und Herrn
Solmes gehoͤret haben.
Mir iſt es wunderlich gegangen, meine liebe,
werthe und recht muͤtterliche Freundinn! ‒ ‒
Sehr wunderlich! ‒ ‒ Herr Lovelace hat ſich als
einen hoͤchſt grauſamen und undankbaren Kerl
gegen mich bewieſen. Aber, Gott ſey Dank, ich
bin von ihm entkommen. ‒ ‒ Weil ich unter ganz
fremden, ob gleich, wie ich denke, rechtſchaffenen
Leuten
[29]
Leuten bin: ſo habe ich an Hanna Burton ge-
ſchrieben, daß ſie zu mir komme und bey mir ſey.
Wo Sie das gute Maͤdchen etwa ſehen ſollten:
ſo bereden Sie daſſelbe, ich bitte Sie, zu mir zu
kommen. Jch bin allezeit willens geweſen, mei-
ne Hanna bey mir zu haben; das weiß ſie wohl ‒ ‒
aber ich hoffete, ich wuͤrde in gluͤcklichern Umſtaͤn-
den ſeyn.
Sagen Sie keinen von meinen Freunden, daß
Sie von mir gehoͤret haben.
Glauben Sie, daß mein Vater, wenn ich ihm
ſchriftlich darum anflehete, ſich gewinnen laſſen
wuͤrde, den ſchweren Fluch, den er bey meinem
Abgange von Harlowe-Burg auf mich geleget,
von mir zu nehmen? ‒ ‒ Jch kann ſonſt keine
Gewogenheit von ihm erwarten: aber da ſein
Fluch, in Anſehung aller gluͤcklichen Umſtaͤnde,
die ich in dieſem Leben vor mir ſahe, ſelbſt nach
dem Buchſtaben erfuͤllet iſt; ſo hoffe ich, man
werde denken, daß er Wirkung genug gehabt
habe.
Jch befuͤrchte, daß meine Armen, wie ich
die guten Leute zu nennen gewohnet war, de-
ren Nothdurft ich durch Jhre treue Haͤnde zu
ſtatten zu kommen pflegte, mich ſeit einiger Zeit
vermiſſet haben. Aber nun bin ich, leider!
ſelbſt arm. Es macht mir mein Vergehen und
meine Reue nicht wenig ſchwerer, daß ich, bey
ſolchen Neigungen, als mir Gott gegeben hat,
mich ſelbſt außer Stande geſetzt habe, das Gute
zu thun, wozu ich vormals mit Vergnuͤgen geboh-
ren
[30]
ren zu ſeyn dachte. Es iſt eine betruͤbte Sache,
meine wertheſte Frau Norton, wenn wir uns
ſelbſt derer Gaben, die uns die Vorſicht anver-
trauet hat, unwuͤrdig machen.
Allein dieſe Betrachtungen ſind nunmehr zu
ſpaͤt: und vielleicht haͤtte ich ſie bey mir behalten
ſollen. Erlauben Sie mir inzwiſchen, zu hoffen,
daß Sie mich noch lieben. Jch bitte Sie, laſſen
Sie mich hoffen, daß Sie es thun: ſo werde ich
doch; ungeachtet meiner Ungluͤcksfaͤlle, welche ge-
macht haben, daß ich gegen die guͤtige und recht
muͤtterliche Bemuͤhungen, die Sie von meiner
Wiegen an auf mich gewandt, undankbar ſchei-
ne; ſo gluͤcklich ſeyn, daß ich denken darf, es ſey
doch noch Eine rechtſchaffene Perſon, die nicht
haſſe
die ungluͤckliche
Clariſſa Harlowe.
Erinnern Sie meinen Mitſaͤugling an mich.
Jch hoffe, er werde ſich noch beſtaͤndig gehorſam
und gut gegen Sie erhalten.
Haben Sie die Guͤte ihren Brief an Rahel
Clark, in Herrn Smiths Hauſe auf der Koͤ-
nigsſtraße, bey Covent-Garden, zu richten.
Aber behalten Sie die Aufſchrift als ein vollkom-
menes Geheimniß bey ſich.
Der
[31]
Der achte Brief.
Frau Nortons Antwort.
Jhre Zuſchrift, meine wertheſte Fraͤulein,
geht mir durch die Seele! Warum wollen
Sie mich nicht alle ihre Ungluͤcksfaͤlle wiſſen laſ-
ſen! ‒ ‒ Jedoch Sie haben ſchon genug geſagt.
Mein Sohn bezeiget ſich recht gut gegen mich.
Seit einigen Stunden hat er einen fieberhaften
Anfall gehabt. Jch hoffe aber, daß es gluͤcklich
voruͤber gehen wird: wo ſein Eifer zu arbeiten
ihm die Ruhe zulaͤſſet, welche ſein guter Herr
ihm zu erlauben geneigt iſt. Er empfiehlt ſich Jh-
nen in ſchuldiger Unterthaͤnigkeit, und vergoß
viel Thraͤnen, als er Jhren traurigen Brief an-
hoͤrte.
Sie ſind falſch berichtet, daß Jhre Familie
bey Jhrem Onkel Harlowe ſeyn ſollte. Sie ſind
es nicht einmal willens geweſen. Der Tag iſt
gar nicht gefeyert worden. Sie ſind in der That
nicht aus dem Hauſe gekommen, als nur in die
Kirche zu gehen, und das auch nicht mehr als
dreymal: ſeit dem Sie von hier gegangen ſind ‒ ‒
Ein ungluͤcklicher Tag fuͤr dieſelben, und fuͤr al-
le, welche Sie kennen! ‒ ‒ Fuͤr mich, gewiß,
am meiſten! ‒ ‒ Mein Herz faͤngt nun immer
mehr und mehr fuͤr Sie zu bluten an.
Jch
[32]
Jch habe nicht ein Wort von einer ſolchen
Reiſe ihres Bruders, Capitain Singletons, und
Herrn Solmes, gehoͤrt, als Sie erwaͤhnen. Es
iſt wahr, man hat von einer Reiſe ihres Bruders
zu ſeinen Guͤtern in den noͤrdlichen Gegenden die-
ſes Reichs geſchwatzet, aber ich habe kuͤrzlich nichts
davon gehoͤret.
Jch beſorge, man werde keinen Brief von
ihnen annehmen. Es kraͤnkt mich ſehr, meine
wertheſte Fraͤulein, daß ich Jhnen die Nachricht
geben muß. Es kann Jhnen kein Uebel bege-
gnet ſeyn, das man nicht vermuthet. So groß
iſt ihrer aller Haß gegen den gottloſen Menſchen;
und ſo boͤſe iſt ſein Ruf.
Jch kann mir ihre Unverſoͤhnlichkeit kaum vor-
ſtellen. Allein man darf von andern nicht nach
ſich ſelbſt urtheilen. Jedoch will ich noch ſo viel
ſagen, daß, wenn Sie mit ſo ſanften und gelin-
den Gemuͤthern, als Jhr eignes, oder, ich will
ſo kuͤhn ſeyn, auch dieß zu ſagen, als das meinige
iſt, zu thun gehabt haͤtten, weder jenen noch Jh-
nen jemals dieſe Uebel begegnet ſeyn wuͤrden. Jch
kannte Jhre Tugend, und Jhre Liebe zur Tugend,
ſelbſt von der Wiegen an, und zweifelte gar nicht,
daß dieſe Jhnen durch Gottes Gnade allezeit zur
Huth und Wache dienen wuͤrde. ‒ ‒ Aber Sie
konnten ſich niemals zwingen laſſen, und es war
auch nicht noͤthig, Sie zu zwingen. ‒ So groß-
muͤthig, ſo edel geſinnt, ſo klug und bedaͤcht-
lich. ‒ ‒ Wie ſehr vergroͤſſert die Liebe Jhrer
angenehmen Eigenſchaften meinen Kummer!
Und
[33]
Und wie viel muͤſſen dieſe Erinnerungen auch bey
Jhnen den Schmerz vermehren!
Sie ſind entkommen, meine allerliebſte Fraͤu-
lein ‒ ‒ Jch hoffe, gluͤcklich ‒ ‒ das iſt, mit
ihrer Ehre ‒ ‒ Wo nicht: wie groß muß Jhr
Jammer ſeyn! ‒ ‒ Nach Jhrem Briefe be-
fuͤrchte ich das aͤrgſte.
Jch bin ſehr ſelten zu Harlowe-Burg. Das
Haus iſt nicht mehr das Haus, das es zu ſeyn
pflegte: ſeit dem Sie daraus gegangen ſind.
Außer dem ſind ſie ſo unerweichlich! Und weil
ich von dem geliebten Kinde, das ich ſo wohl alle-
zeit in meinem Herzen getragen, als mit meiner
Bruſt geſaͤuget habe, nichts hartes reden kann:
ſo ſehen ſie es nicht ungern, daß ich wegbleibe.
Jhre Hanna hat vor einiger Zeit ihren Dienſt
krank verlaſſen. Da ſie noch bey ihrer Mutter
zu St. Albans iſt: ſo beſorge ich, daß es noch
nicht beſſer mit ihr geworden. Sollte es ſeyn:
ſo werde ich, da Sie unter ganz fremden Leuten
ſind, und ich Jhnen itzo eben nicht rathen kann,
in dieſe Gegenden zu kommen, es fuͤr meine
Schuldigkeit halten, Jhnen aufzuwarten, man
mag es hier nehmen, wie man will; ſo bald als
es meines Thomas Unpaͤßlichkeit erlauben wird,
welches bald ſeyn wird, wie ich hoffe.
Jch habe ein wenig Geld bey mir ſtehen. Sie
ſagen, daß Sie ſelbſt arm ſind ‒ ‒ Wie be-
truͤbt ſind dieſe Worte von einer Perſon, die zu
allem Ueberfluß Recht hat und gewoͤhnet iſt! ‒ ‒
Wollen Sie ſo gut ſeyn und befehlen, daß ich es
Sechſter Theil. Cſchicke,
[34]
ſchicke, meine geliebte Fraͤulein? Es iſt groͤßten-
theils von Jhrer Guͤte gegen mich: und ich wer-
de mir eine Ehre daraus machen, es ſeinem er-
ſten Eigenthuͤmer wieder zuzuſtellen.
Jhre Armen wuͤnſchen Jhnen lauter Segen
und beten beſtaͤndig fuͤr Sie. Jch habe mit den
letzten Proben Jhrer Gewogenheit ſo hausgehal-
ten, und die guten Leute ſind ſo geſund geweſen,
haben ſo beſtaͤndig Arbeit gefunden, daß der
Vorrath hingereichet hat und noch hinreichen wird,
bis ihrer unvergleichlichen Wohlthaͤterinn gluͤck-
lichere Tage, wie ich hoffe, zu Theil werden.
Erlauben Sie mir zu bitten, meine allerliebſte
Fraͤulein, daß Sie ſich aller Huͤlfsmittel zu Nu-
tze machen, welche gottſelige Perſonen, wie Sie,
zum Troſt in ihrem Elende, aus der Religion
nehmen. Jhr Leiden mag beſchaffen ſeyn, wie
es will: ſo bin ich verſichert, daß Jhre Abſicht
unſchuldig geweſen iſt. Daher laſſen Sie den
Muth nicht ſinken. Es wird keinem mehr zu
leiden aufgeleget, als er tragen kann, und des-
falls auch tragen muß.
Wir kennen die Wege der Fuͤrſehung nicht.
Wir wiſſen nicht, was fuͤr Abſichten durch ihre
Verwaltung gegen die armen Geſchoͤpfe erhalten
werden moͤgen.
Wenige Leute haben mehr Urſache, dieß zu ſa-
gen, als ich ſelbſt. Und da wir im Elende mehr
Troſt aus Beyſpielen, als aus Gruͤnden, ziehen
koͤnnen: ſo werden Sie mir erlauben, daß ich
Sie
[35]
Sie an meine Schickſale erinnere. Denn wer
hat mehr Kreuz gehabt, als ich?
Jch will von dem Verluſte einer unvergleich-
lichen Mutter, zu der Zeit, da man die muͤtter-
liche Fuͤrſorge am meiſten brauchet, nichts ge-
denken. Der Tod eines lieben Vaters, der eine
Zierde des geiftlichen Standes war, und mich
geſchickt gemacht hatte, ſeine Schreiberinn zu ſeyn,
trieb mich eben, als er eine Befoͤrderung zu ei-
ner Pfarre vor ſich ſahe, welche ſeine Familie in
gute Umſtaͤnde geſetzt haben wuͤrde, ohne irgend
einen Freund in die weite Welt, und einem ſehr
unachtſamen, und, welches noch aͤrger war, einen
ſehr unfreundlichen Manne in die Arme. Ein
elender Mann! ‒ ‒ Aber er hatte, Gott ſey
Dank, bey einer verdrieslichen Krankheit, noch
Zeit genug, ſeine verſaͤumte Gelegenheit, und
ſeine ſchlechten Grundſaͤtze zu bereuen. Daran
habe ich allezeit mit Vergnuͤgen gedacht: ob ich
gleich ſeiner beſchwerlichen Krankheit wegen noch
deſto duͤrftiger hinterlaſſen wurde, und eben mit
meinem Thomas niederkommen ſollte, als er
ſtarb.
Dieſen Umſtand hielte ich fuͤr den ungluͤcklich-
ſten, worinn ich haͤtte koͤnnen hinterlaſſen wer-
den. So kurzſichtig iſt die menſchliche Klugheit.
Aber er ward eben das gluͤckliche Mittel, mich
Jhrer Mutter zu empfehlen, welche in Betrach-
tung meines guten Rufes, und aus Mitleiden
gegen meinen recht duͤrftigen Zuſtand, mir er-
laubte, weil ich mir ein Gewiſſen machte, mein
C 2armes
[36]
armes Buͤbchen von mir zu thun, daß ich Sie und
ihn mit einander ſtillen moͤchte, da ſie nur weni-
ge Tage nach einander gebohren waren. Und
ſeit der Zeit hat es mir niemals an dem geringen
Segen gefehlet, mit welchem mich Gott zufrie-
den gemachet hat.
Jch habe auch, von dem Sterbetage meines
armen Mannes an, nicht gewußt, was ein recht
großer Kummer waͤre, bis auf den Tag, als
Jhre Eltern mir ſagten, wie feſt ſie ſich vorgeſe-
tzet haͤtten, daß Sie Herrn Solmes nehmen ſoll-
ten: da ich nicht nur von ihrer Abneigung von
ihm verſichert war; ſondern auch gewiß wußte,
wie unwuͤrdig er Jhrer waͤre. Denn damals
fing ich an, die Folgen zu befuͤrchten, welche ent-
ſtehen wuͤrden, wenn man ein ſo edles Gemuͤth
zwingen wollte. Bis auf die Zeit hatte ich auch
vor Herrn Lovelace keine Furcht gehabt: ſo ein-
nehmend ſeine Perſon, und ſo ſcheinbar ſeine
Auffuͤhrung und ſein Antrag war. Denn ich
wußte gewiß, daß Sie ihn niemals nehmen wuͤr-
den, bis Sie durch gute Gruͤnde von ſeiner Beſ-
ſerung uͤberzeugt, und Jhre Freunde damit eben
ſo wohl, als Sie ſelbſt, zufrieden waͤren. Aber
das ungluͤckliche Misverſtaͤndniß zwiſchen Jhrem
Bruder und Herrn Lovelace, und die heftige
Vereinigung der Jhrigen, Jhnen Herrn Solmes
aufzudringen, brachte alle das Ungluͤck zuwege,
welches Jhnen und jenen ſo theuer zu ſtehen ge-
kommen iſt, und mich Elende alle meine Ruhe ge-
koſtet
[37]
koſtet hat. O! was hat dieſer undankbare und
zwiefachſchuldige Menſch nicht zu verantworten!
Jnzwiſchen wiſſen ſie nicht, was Jhnen Gott
noch aufbehalten hat. ‒ ‒ Sollten Sie aber,
zur Lehre und Warnung anderer, in einem ſo
wichtigen Falle, um eines einzigen Fehltrittes
willen, Jhre ganze Lebenszeit hier Strafe leiden
muͤſſen: ſo belieben Sie zu erwaͤgen, daß dieß Le-
ben nur ein Stand der Pruͤfung ſey. Sind Sie
in demſelben gelaͤutert: ſo werden Sie hiernaͤchſt
in groͤßerem Maaße belohnet werden, daß Sie ſich
mit Gedult und gaͤnzlicher Ergebung in den goͤttli-
chen Willen der weiſen Fuͤgung uͤberlaſſen haben.
Sie ſehen, meine liebſte Fraͤulein Claͤrchen,
daß ich kein Bedenken trage, den Schritt, den
Sie gethan haben, einen Fehltritt zu nennen.
An Jhnen war er ſo viel weniger, als an einer
andern jungen Fraͤulein, zu entſchuldigen: weil
Sie nicht allein hoͤhere Gaben hatten; ſondern
Jhre und ſeine Gemuͤthsart einander ſo ſehr ent-
gegen waren. Haͤtte man Sie gereizet, Jhres
Vaters Haus zu verlaſſen: ſo war es doch eben
nicht noͤthig, bey ihm zu ſeyn. Aber es war auch,
in der That, nicht noͤthig, daß ich Jhnen dieß
ſchriebe: ohne nur, um Jhnen ein Beweis von
meiner unpartheyiſchen Liebe zu geben (*).
C 3Nach
[38]
Nach dieſem Geſtaͤndniſſe wird es unfreundlich,
und vielleicht, itzo, zur ungelegenen Zeit ſcheinen,
wenn ich Jhnen ſage, wie ſehr ich bedaure, daß
Sie mich nicht eher mit einer Zeile beehret ha-
ben. ‒ ‒ Jedoch, wenn Sie ihr Stillſchweigen
gegen ſich ſelbſt rechtfertigen koͤnnen: ſo muß ich,
das darf ich frey geſtehen, billig zufrieden ſeyn.
Denn ich bin verſichert, daß Sie mich lieben:
gleichwie ich Sie liebe und ehre, auch beſtaͤndig
lieben und ehren werde, und das noch deſto mehr
um Jhres Ungluͤcks willen.
Einen Troſt, deucht mich, habe ich, ſelbſt
wenn mich Jhr Elend kraͤnket: und das iſt die-
ſer. Jch kenne keine junge Perſon, die ſo voll-
kommen alle Eigenſchaften haͤtte, mit deſto helle-
rem Glanze in Jhrer wahren Groͤße zu erſchei-
nen, je mehr ſie Verſuchungen auszuſtehen hat.
Gleichwohl aber iſt dieß ein Troſt, der zuletzt auf
eine Vergroͤßerung meiner Traurigkeit uͤber Jhre
bedraͤngte Umſtaͤnde hinauslaͤuft: weil Sie mit
einem Gemuͤthe begabet ſind, das ſo wohl ge-
ſchickt iſt, gluͤckliche Tage zu er tragen und alle und
jede um Sie herum nur deſto mehr zu beſſern. ‒ ‒
Wehe ihm! ‒ ‒ O der nichtswuͤrdige, nichts-
wuͤrdige Menſch! ‒ ‒ Allein ich will mich ent-
halten, bis ich mehr erfahren habe.
Jndem
[39]
Jndem ich alles wohl uͤberlege, was mir Jhr
trauriger Brief zu denken Gelegenheit giebet;
und nach Jhrem holdſeligen Gemuͤthe, nach der
Liebenswuͤrdigkeit Jhrer Perſon, und nach Jhrer
Jugend fernere Ungluͤcksfaͤlle und Ungelegenhei-
ten befuͤrchte, denen Sie vielleicht unterworfen ſeyn
koͤnnten: ſo kann ich nicht ſchließen, ohne Sie um
Erlaubniß zu bitten, und zwar in rechtem Ernſt,
daß Jch Jhnen aufwarten duͤrfe. ‒ ‒ Jch er-
ſuche Sie, mir dieß nicht, aus irgend einer Be-
trachtung in Abſicht auf mich ſelbſt, oder auf
die Unpaͤßlichkeit meines andern geliebten Kin-
des, abzuſchlagen: wo ich Jhnen irgend nuͤtzlich
oder zum Troſte ſeyn kann. Sollte es auch nur
auf zween oder drey Tage ſeyn: ſo erlauben Sie
mir, Jhnen aufzuwarten; wenn gleich meines
Sohnes Krankheit zunehmen, und, nach Verlauf
dieſer zween oder dreyen Tage, mich wieder her-
unter zu kommen, noͤthigen ſollte. ‒ ‒ Jch wie-
derhole gleichfalls meine inſtaͤndigſte Bitte, daß
Sie befehlen wollen, Jhnen den kleinen Ueber-
reſt an Gelde zuzuſchicken, der noch in meinen
Haͤnden iſt, von Jhrer Guͤtigkeit gegen Jhre
Armen ſo wohl, als gegen
Jhre beſtaͤndig ergebene und getreue Dienerinn.
Judith Norton.
C 4Der
[40]
Der neunte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Lady
Eliſabeth Lawrance.
Jch hoffe, Sie werden die Freyheit entſchuldi-
gen, womit ſich eine Perſon zu Jhnen wen-
det, die nicht die Ehre hat, Jhnen perſoͤnlich be-
kannt zu ſeyn, ob Sie gleich viel von Clariſſa
Harlowe muͤſſen gehoͤret haben. Es geſchieht in
keiner andern Abſicht, als nur um die Beguͤnſti-
gung mit einer Zeile von Jhrer Gnaden Hand,
wo es ſich fuͤglich thun laͤſſet, bey naͤchſter Poſt
zur Antwort auf folgende Fragen zu bitten.
- 1. Ob Sie Mittwoch den 7ten Jun. wie ich auf-
gezeichnet, einen Brief geſchrieben haben, wo-
rinn Sie Jhrem Enkel Lovelace zu ſeiner
vermeynten Vermaͤhlung, die Jhnen, als eine
Nachricht von einem gewiſſen Capitain
Tomlinſon, durch Jhrer Gnaden Hofmeiſter,
Herrn Spurrier, hinterbracht worden ſey,
Gluͤck wuͤnſchen, und ihm verweiſen, daß er
ſich einer Geringſchaͤtzigkeit gegen Sie ſchuldig
gemacht ꝛc. weil er Jhrer Gnaden und der
Familie ſeine Vermaͤhlung nicht gemeldet? - 2. Ob Jhre Gnaden an Fraͤulein Montague ge-
ſchrieben, Jhnen zu Reading entgegen zu
kommen,
[41]
kommen, damit ſie dieſelben zu Jhrer Baſe
Leeſon in Abemarle-Street begleiten moͤchte:
weil Sie wegen Jhrer alten Kanzeley-Sa-
che; dieß beſinne ich mich, war der Ausdruck;
genoͤthigt wuͤrden, in der Stadt zu ſeyn? Und
ob ſie Jhren Enkel beſchieden, Jhnen daſelbſt
Sonnabend Abends den 11ten ſeine Aufwar-
tung zu machen? - 3. Ob Jhre Gnaden und Fraͤulein Montague zu
der beſtimmten Zeit nach London gekommen,
und am Montage in einer Miethkutſche mit
vier Pferden, weil ihre eigne ausgebeſſert wur-
de, nach Hampſtead gefahren, und die junge
Perſon, welche Sie daſelbſt beſuchten, von
dannen nach London gefuͤhret?
Jhre Gnaden werden wahrſcheinlicher weiſe
wohl errathen koͤnnen, daß dieſe Fragen nicht aus
ſolchen Urſachen, die Jhrem Enkel Lovelace vortheil-
haft ſeyn moͤchten, geſchehen. Allein die Antwort
mag ſeyn, was ſie will: ſo kann es ihm keinen
Schaden und mir keinen Vortheil bringen. Nur
denke ich, daß ich dieſe Erkundigung meiner ehe-
maligen Hoffnung, ob ich mich darinn gleich be-
trogen habe, und ſelbſt der Menſchenliebe
ſchuldig ſey, damit eine Perſon, von der ich
vormals beſſere Gedanken zu hegen geneigt gewe-
ſen bin, nicht ſo vollkommen verderbt befunden
werde, daß er in allen und jeden Faͤllen die
Wahrheitsliebe verlaſſen ſollte, welche zu dem
Character eines Cavalliers unumgaͤnglich noͤ-
thig iſt.
C 5Haben
[42]
Haben Sie die Gewogenheit, gnaͤdige Frau,
den Brief ſo an mich zu richten, daß er in dem
Hauſe, zur ſchoͤnen Wilden genannt, auf Lud-
gate-Hill abgegeben, und daſelbſt aufbehalten
werde, bis man ihn abholet. Jch bitte aber
dieſen Weg, an mich zu ſchreiben, fuͤr itzo noch
geheim zu halten, und bin
Jhrer Gnaden gehorſamſte Dienerinn
Clariſſa Harlowe.
Der zehnte Brief
von
Lady Eliſabeth Lawrance an Fraͤulein
Clariſſa Harlowe.
Jch befinde, daß zwiſchen Jhnen und meinem
Enkel Lovelace nicht alles ſo iſt, wie es ſeyn
ſollte. Es wird mich und alle ſeine Freunde un-
gemein kraͤnken, wo er ſich gegen ein Frauenzim-
mer von Jhrem Stande und von Jhren Ver-
dienſten irgend einer vorſetzlichen Niedertraͤchtig-
keit ſchuldig gemachet hat.
Wir haben lange auf eine bequeme Gelegen-
heit gewartet, Jhnen und uns ſelbſt zu einem Er-
folg, den wir alle mit dem ernſtlichen Verlangen
wuͤnſchen, Gluͤck zu wuͤnſchen: indem alle unſere
Hoffnung
[43]
Hoffnung von ihm auf die Gewalt, welche Sie
uͤber ihn haben, gebauet iſt. Denn wo jemals
eine Mannsperſon ein Frauenzimmer angebetet
hat: ſo iſt er die Mannsperſon, und Sie das
Frauenzimmer.
Fraͤulein Montague ſchreibt in ihrem letzten
Briefe an mich, zur Antwort auf einen von mir,
worinn ich mich nach ihren Nachrichten von ihm
erkundige, ob er Sie die Seinige nennen koͤnn-
te, oder ob es wahrſcheinlich waͤre, daß er bald
dieſe Ehre haben wuͤrde, folgende Worte: „Jch
„weiß nicht, was ich in Anſehung der Sache,
„welcher ſich Jhre Gnaden ſo ernſtlich annehmen,
„aus meinem Vetter Lovelace machen ſoll. Er
„ſagt bisweilen, er ſey wirklich mit Fraͤulein Cla-
„riſſa Harlowe vermaͤhlet: zu andern Zeiten aber,
„es ſey ihre eigne Schuld, wenn es nicht ge-
„ſchieht. ‒ ‒ Er ſpricht von ihr nicht allein mit
„Liebe, ſondern auch mit Ehrerbietung: beken-
„net aber doch, daß zwiſchen ihnen beyden ein
„Misverſtaͤndniß ſey, und geſteht zugleich, ſie
„habe nicht die geringſte Schuld daran. Ein
„Engel, ſagt er, ſey ſie, und kein Frauenzimmer:
„keine Mannsperſon in der Welt koͤnne ihrer
„wuͤrdig ſeyn.„ ‒ ‒ ‒ Dieß iſt es, was meine
Neffe Montague ſchreibet.
Gott gebe, meine liebſte Fraͤulein, daß er Sie
nicht ſo abſcheulich beleidigt haben moͤge, daß Sie
ihm nicht vergeben koͤnnen. Wo Sie nicht
ſchon mit ihm vermaͤhlet ſind, und ſeine Hand
ausſchlagen: ſo werde ich alle meine Hoffnung
verlieren,
[44]
verlieren, daß er jemals heyrathen und der Mann
werden wird, den ich aus ihm zu haben wuͤnſche.
So wird es auch bey dem Lord M. ſo wird es
auch bey der Lady Sarah Sadleir heißen.
Jch will nunmehr Jhre Fragen beantworten.
Aber ich weiß in der That kaum, was ich ſchrei-
ben ſoll, aus Beyſorge, die ungluͤckliche Mishel-
ligkeit zwiſchen ihnen noch groͤßer zu machen.
Gleichwohl muß ich einer ſolchen Fraͤulein in al-
len Stuͤcken zu Befehl ſtehen. Hier iſt denn
meine Antwort.
- Jch habe weder den 7ten Jun. noch um die Zeit
herum, irgend eine Zeile an ihn geſchrieben. - Weder ich, noch mein Hofmeiſter, kennen einen
Capitain Tomlinſon. - Jch habe nicht an meine Neffe geſchrieben, mir
zu Reading entgegen zu kommen, noch mich
zu meiner Baſe Leeſon nach London zu begleiten. - Meine Kanzeley-Sache iſt zwar, wie die mei-
ſten Kanzeley-Sachen, langweilig: aber nichts
deſto weniger itzo auf einem ſo guten Fuße,
daß ich deswegen nicht noͤthig haben kann,
nach London zu gehen. - Jch bin auch binnen dieſen ſechs Monathen, nicht
zu London: und ſeit verſchiedenen Jahren nicht
zu Hampſtead geweſen. - Eben ſo wenig werde ich Luſt haben, nach London
zu kommen: ausgenommen wenn ich Gele-
genheit haben ſollte, Herrn Lovelace Gluͤck zu
wuͤnſchen. Jn dem Fall wuͤrde ich mit dem
groͤßten Vergnuͤgen hinreiſen, und mir Hoff-
nung
[45]
nung machen, daß Sie die Gewogenheit ha-
ben wuͤrden, mich nach Glenham-Hall zu be-
gleiten und wenigſtens auf einen Monath bey
mir zu bleiben.
Die Urſache ihrer Nachfrage mag nun ſeyn,
was ſie will: ſo erlauben Sie mir, meine wer-
theſte Fraͤulein, Sie um des Lords M. willen,
um mein ſelbſt willen, um dieſes unbeſonnenen
Menſchen willen, ſo wohl in Abſicht auf ſeine
Seele, als in Abſicht auf ſeinen Leib, und end-
lich um unſerer ganzen Familie willen, inſtaͤndigſt
zu bitten, daß Sie durch dieſe Antwort die Mis-
helligkeiten ſich nicht ſo weit vermehren laſſen wol-
len, daß Sie deswegen ſeine Hand ausſchlagen
moͤchten, wo er noch nicht die Ehre hat, Sie die
Seinige zu nennen; welches ich daher beſorge,
weil Sie ſich mit Jhrem Geburtsnamen unter-
ſchrieben haben.
Erlauben Sie zugleich, daß ich meine Ver-
mittelung anbiete, die Uneinigkeit zwiſchen Jhnen
beyzulegen, ſie beſtehe, worinn ſie wolle. Jhre
Sache, meine liebſte Fraͤulein, kann in keine Haͤn-
de irgend einer lebendigen Seele gerathen, die
mehr zu Jhren Dienſten ergeben waͤre, als
Jhre aufrichtige Bewunderinn und gehorſame
Dienerinn,
Eliſab. Lawrance.
Der
[46]
Der eilfte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Frau Hodges.
Jch werde gewiſſermaßen genoͤthigt, an ſie zu
ſchreiben: da ich unter meinen Verwandten
niemand habe, an den ich ſchreiben, oder von
dem ich, wenn ich ſchriebe, eine Zeile erwarten
darf. Jch bitte mir nur auf eine Frage Ant-
wort aus. Es iſt dieſe:
- Ob ſie einen gewiſſen Capitain Tomlinſon ken-
nen? Und, wo ſie ihn kennen, ob er ein ſehr
vertrauter Freund von meinem Onkel Har-
lowe iſt?
Jch will ihn von Perſon beſchreiben: ſonſt
moͤchte er etwa unter einem andern Namen bey
ihnen bekannt ſeyn; ob ich gleich nicht weiß, war-
um das ſeyn ſollte.
„Er iſt ein ſchmaler laͤnglichter Mann, ein
„wenig pockengruͤbicht, von blaſſer Farbe, funf-
„zig Jahr alt, oder daruͤber, und von gutem An-
„ſehen, wenn er in die Hoͤhe ſiehet. Er ſcheint
„ein ernſthafter Mann zu ſeyn, und einer, der die
„Welt kennet. Er traͤgt ſich ein wenig gebogen
„in den Schultern. Er iſt von Berkshire, ſei-
„ne Frau von Oxfordshire, und hat verſchiedne
Kinder.
[47]
„Kinder. Er iſt noch nicht lange von Nort-
„hamptonshire in ihre Gegenden heruͤber ge-
„kommen.
Jch muß bitten, Fr. Hodges, weder mei-
nen Onkel, noch ſonſt jemand von meinen Ver-
wandten wiſſen zu laſſen, daß ich an ſie ſchreibe.
Sie pflegten zu ſagen, ſie wollten ſich freuen,
wenn es in ihrer Macht ſtuͤnde, mir zu dienen.
Das ſagten ſie freylich, als ich noch in meinem
Gluͤcke ſaß. Aber dennoch darf ich vermuthen,
daß ſie mir eine Kleinigkeit, wodurch mir ein
Gefallen, ohne einiges Nachtheil fuͤr ſie ſelbſt,
geſchehen wird, nicht abſchlagen werden.
Jch vernehme, daß mein Vater, meine
Mutter, meine Schweſter, vermuthlich auch
mein Bruder und mein Onkel Anton heute bey
meinem Onkel Harlowe ſind. Gott erhalte ſie
alle, daß ſie noch viele gluͤckliche Geburtstage
mit Vergnuͤgen begehen moͤgen. Sie werden ſo
gut ſeyn, mir in wenigen Worten von ihrer aller
Befinden Nachricht zu geben.
Richten ſie ihre Antwort, aus einer beſon-
dern Urſache, an Frau Dorothea Salcomb, daß
ſie in dem Wirthshauſe zu den vier Schwanen,
auf der Biſchofsthorſtraße, abgegeben und be-
halten werde, bis jemand ſie abholet.
Sie kennen meine Hand gut genug, wenn
auch der Jnhalt des Briefes nicht hinlaͤnglich
waͤre, daß es noͤthig ſeyn ſollte, meinen Namen
auszudruͤcken, oder mich anders zu unterſchreiben,
als wie
Jhre Freundinn
Der
[48]
Der zwoͤlfte Brief
Die Antwort von Frau Hodges.
Jch ſchreibe Jhnen Antwort, wie Sie verlan-
gen. Der Her iſt mit keinem ſulchen
Manne bekant. Jch weis gewis, das ſo ein
Man niemals in unſer Hauß gekommen, und
der Her gieht wenig aus. Es iſt ihm nicht ums
Hertſe auszugiehn. Warum? Jhre Wider-
ſpenſtigkeit macht, das ſie nicht viel darnach fra-
gen, einander zu ſehn. Des Hern Geburthstag
iſt ſunſt niemals ſo gehalten: denn nicht eine
Sele war hier, und nichts als Seuftſen und
Trauren bey dem Hern, wen er dagte, wie es
ſunſt zu ſeyn pflechte.
Jch fragte den Hern, ob er ſo einen Man
kente, als Capitain Tomlinſon, aber ſagte nicht,
warum ich fragte. Er ſagte nein, er kente
keinen.
Es iſt doch wol kein Poſſen oder Betriegerei
gegen den Hern von einem Tomlinſon angeſtif-
tet ‒ ‒ Man weis nicht, was ſie fuͤr Geſelſchaft
zu haben genoͤthigt ſind, ſeitdem ſie weggegangen,
wie ſie wiſſen, gnaͤdiche Freilein. Verzeihen ſie
mier gnaͤdiche Frailen, aber Lunden iſt ein ge-
waltich
[49]
waltich boͤßer Ort, und der Riter Luveleß ein
Teufel, wie ich habe ſagen gehoͤhrt. Alle hal-
ten ihn fuͤr einen ſulchen Cavlier, dafuͤr man ſich
in acht nehmen mus, und ich denke, das ſie ihn
hierinn ſo befunten haben.
Jch habe zu Jhnen das Vertrauen, gnaͤdi-
che Freilein, das ſie dem Hern kein Leid wuͤrden
geſchehen laſen, wen ſie es wuͤsten, von je-
mand, der ſich fuͤr ſeinen bekanten ausgiebt.
Aber aus Furcht wahr ich mit mier ſelbſt nicht
einich, ob ich es ihm nicht ſagen ſolte. Aber
ich wolte Jhnen gern zeigen, das ich im Ungluͤck
ſo wol, wo ſie ungluͤcklig ſind, als im Gluͤck zu
Gefallen ſein wolte. Den ich bin nicht von de-
nen, die anders tuhn wuͤrden. So nicht
mehr von
Jhrer gehorſammen Dienerin, die
Jhnen alles gute wuͤnſcht,
Sarah Hodges.
Der dreyzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Lady Eli-
ſabeth Lawrance.
Jch kann nicht umhin, Jhrer Gnaden noch
einmal beſchwerlich zu ſeyn, damit ich Jh-
Sechſter Theil. Dnen
[50]
nen von ganzem Herzen fuͤr die guͤtige Zuſchrift
danke.
Jch muß geſtehen, gnaͤdige Frau, daß die
Ehre, mit Frauenzimmern, die ihre Tugend ſo
wohl, als ihre hohe Geburt erhebet, verwandt
zu werden, anfangs keine geringe Reizung bey
mir geweſen, dem Antrage des Herrn Lovelace
ein geneigtes Ohr zu goͤnnen: und zwar um ſo
viel mehr, da ich entſchloſſen war, wann es wirk-
lich geſchehen waͤre, alles, was in meinem Ver-
moͤgen ſtehet, zu thun, damit ich die vortheil-
hafte Meynung, welche Sie von mir haben, ver-
dienen moͤchte.
Jch hatte auch noch einen andern Bewe-
gungsgrund, der mir an ſich ſelbſt, wie ich
wußte, bey Jhrer ganzen Familie zu einem Ver-
dienſte gereichen wuͤrde. Aber er iſt ſo beſchaffen,
daß ich mir dabey zuviel herausgenommen, und,
wie der Erfolg gezeiget hat, auf eine ſtrafbare
Weiſe zu viel herausgenommen habe. Jch mach-
te mir Hoffnung, daß ich ein geringes Werkzeug
in den Haͤnden der Vorſicht ſeyn moͤchte, einen
Menſchen auf beſſere Wege zu bringen, der im
Grunde, wie ich dachte, Verſtand genug haͤtte,
ſich auf beſſere Wege bringen zu laſſen; oder we-
nigſtens dankbar genug waͤre, den ihm zugedach-
ten Dienſt zu erkennen, es moͤchte nun die edel-
muͤthige Hoffnung gelingen oder nicht.
Allein ich habe mich bey dem Herrn Lovelace
ungemein geirret. Er iſt der einzige, ſtelle ich
mir gewiß vor, der ein Cavallier ſeyn will und
bey
[51]
bey dem ich mich ſo ſehr haͤtte irren koͤnnen.
Denn indem ich mich bemuͤhete, einen Elenden,
der erſaufen wollte, zu retten: ſo bin ich, nicht
zufaͤlliger, ſondern vorſetzlicher Weiſe, und mit
einem aus Vorbedacht gefaßten Schluſſe, nach
ihm hineingezogen worden. Er hat alſo den
Ruhm gehabt, zu der Liſte derer, die er ungluͤck-
lich gemacht, einen Namen hinzuzuthun, der,
wie ich zuverſichtlich ſagen darf, ſeinem eignen
Namen nicht zur Verkleinerung wuͤrde gereichet
haben: und zwar durch ſolche Mittel, gnaͤdige
Frau, welche die Menſchlichkeit beleidigen wuͤr-
den, wenn man ſie erfuͤhre.
Meine ganze Abſicht iſt durch Jhrer Gna-
den Antwort auf die Fragen, welche ich mir die
Freyheit genommen habe, Jhnen ſchriftlich vor-
zulegen, ſchon erreichet. Jch wuͤnſche nicht,
den ungluͤcklichen Menſchen bey Jhnen verhaßter
zu machen, als ich nothwendig deswegen thun
muß, damit ich mich entſchuldige, daß ich Jhre
angebotene Vermittelung ſchlechterdings aus-
ſchlage.
Jhre Gnaden laſſen ſich daher folgende Um-
ſtaͤnde melden:
Nachdem er mich mit Zwang, wie ich ſagen
mag, auf eine hinterliſtige Art dazu gebracht
hatte, daß ich mit ihm davon gegangen war: iſt
er im Stande geweſen, mich in eines der ſchaͤnd-
lichſten Haͤuſer zu London, wie der Erfolg gezei-
get hat, zu bringen.
D 2Da-
[52]
Daſelbſt hat er ſich nicht geſchaͤmet, ſich ei-
nes gottloſen Verſuchs gegen meine Ehre ſchuldig
zu machen, uͤber den ich mich mit Recht unwil-
lig bezeiget, und Mittel gefunden habe, von
ihm nach Hampſtead zu fliehen.
Als er mich aber dort aufgefunden hatte, ich
weiß nicht wie: hat er ein paar Weibsleute, in
reicher Kleidung, zu bereden gewußt, daß ſie
die Perſon Jhrer Gnaden und der Fraͤulein
Montague nachaͤffeten. Dieſe haben mich un-
ter dem Vorwand, daß ich bey Jhrer Baſe
Leeſton zu London einen Beſuch ablegen ſollte, mit
dem Verſprechen, noch eben den Abend nebſt
mir nach Hampſtead zuruͤckzukehren, betruͤgeriſcher-
weiſe wiederum in das ſchaͤndliche Haus gebracht.
Da bin ich aufs neue gefangen gehalten, und
zuerſt meiner Sinne, hierauf aber; denn warum
ſollte ich die Schande vor andern zu verheelen ſu-
chen, die ich vor mir ſelbſt nicht verbergen kann?
meiner Ehre beraubet worden.
Wenn Jhre Gnaden nun dieß wiſſen; und
ferner vernehmen werden, daß, in dem aͤrgerli-
chen Fortgange zu dieſem ungluͤcklichen Zweck, vor-
ſetzliche Unwahrheiten, wiederholte Raͤnke, falſche
Briefe zu ſchmieden; ſonderlich einen von Jhrer
Gnaden, einen andern von der Fraͤulein Mon-
tague, einen dritten von dem Lord M.; und un-
zaͤhlige Meineide, nicht die geringſten von ſeinen
Vergehungen geweſen ſind:
So werden Sie ſelbſt urtheilen, daß ich
keine ſo gute Grundſaͤtze haben koͤnnte, die mich
einer
[53]
einer Verbindung mit Perſonen von Jhrer und
Jhrer edlen Schweſter vortrefflichen Gemuͤths-
art wuͤrdig machen wuͤrden, wenn ich mich nicht
von ganzem Herzen erklaͤren koͤnnte, daß eine
ſolche Verbindung nunmehr niemals ſtatt ha-
ben kann.
Jch will mich nicht gaͤnzlich von allem Tadel
loszuſpre chen ſuchen: aber, in Abſicht auf ihn,
habe ich mir keinen Fehler vorzuwerfen. Mein
Verſehen iſt geweſen, daß ich anfangs einen
Briefwechſel mit ihm fortgeſetzet, da es mir von
denen verboten war, die ein Recht hatten, Ge-
horſam von mir zu fordern. Dieß Verſehen iſt
dadurch noch mehr vergroͤßert und deswegen noch
weniger zu entſchuldigen, daß ich ihm eine heim-
liche Zuſammenkunft mit mir geſtattet habe, wel-
che mich ſeinen Raͤnken bloßgeſtellet hat. Daß
ich dafuͤr Strafe leide, laſſe ich mir gern gefal-
len, und danke Gott, daß ich endlich von ihm
entkommen bin, und es in meiner Gewalt habe,
einen ſo gottloſen Menſchen nicht zu meinem
Manne anzunehmen. Jch werde mich freuen,
wenn ich nur andern zur Warnung dienen mag:
da ich ihnen nicht zum Beyſpiel dienen kann; wie
ich mir vormals, ſo eitel und eingebildet war ich!
vorgenommen hatte.
Alles boͤſe, was ich ihm wuͤnſche, iſt, daß
er ſich beſſern und ich das letzte Opfer fuͤr ſeine
Niedertraͤchtigkeit ſeyn moͤge. Vielleicht kann
dieſer gute Wunſch erhalten werden: wenn er ſe-
hen ſollte, wie ſich ſeine Bosheit, ſeine unver-
D 3ſchuldete
[54]
ſchuldete Bosheit gegen ein armes Frauenzimmer,
das durch ſeine grauſame Raͤnke aller Freunde
beraubet iſt, endigen wird.
Jch ſchließe mit meinem gehorſamen Dank
fuͤr Jhrer Gnaden vortheilhafte Meynung von
mir, und mit der Verſicherung, daß ich, ſo lan-
ge mir noch das Leben gegoͤnnet wird, allezeit
ſeyn werde
Jhrer Gnaden dankbare und verpflich-
tete Dienerinn
Clariſſa Harlowe.
Der vierzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Frau
Norton.
Wie guͤtig meine geliebte Fr. Norton, wie
guͤtig lindern Sie die Angſt eines bluten-
den Herzens! Gewiß Sie ſind meine rechte
Mutter. Jch muß durch ein unbegreifliches
Verſehen in eine Familie untergeſchoben ſeyn,
die mich, nachdem ſie neulich den Betrug entde-
cket, oder wenigſtens einen Argwohn davon be-
kommen hat, mit einem ſolchen Unwillen, als ei-
ne ſolche Entdeckung gewiß verſprechen wird,
aus ihrer aller Herzen verbannet hat.
O! waͤre ich doch in der That Jhr eignes
Kind geweſen! Waͤre ich doch nur dazu gebohren
worden,
[55]
worden, daß ich an ihren geringen Gluͤcksum-
ſtaͤnden Theil haͤtte, und von dem Vergnuͤgen,
worinn ſie ſo gluͤcklich ſind, eine Erbinn waͤre!
Alsdenn haͤtte ich mit einem recht ſanften Ge-
muͤthe zu thun gehabt: und dieß wuͤrde mein
folgſames Herze, zu dem ſich Zwang und unedel-
muͤthige Begegnung ſo uͤbel ſchicket, wohl gelei-
tet haben. Denn wuͤrde nichts von dem geſche-
hen ſeyn, was geſchehen iſt.
Jedoch ich muß mich billig in Acht nehmen,
daß ich die Luͤcke, welche ich ſchon ohne das durch
meine Unbeſonnenheit in meiner Pflicht gemacht
habe, durch Ungedult nicht vergroͤßern. Haͤtte
ich nicht gefehlet: ſo haͤtte meine Mutter we-
nigſtens nicht fuͤr unerweichlich und unverſoͤhn-
lich gehalten werden koͤnnen. ‒ ‒ Habe ich denn
nicht ſelbſt, nicht nur meine eigne Fehler, ſondern
auch die Folgen derſelben zu verantworten, wel-
che einer muͤtterlichen Gemuͤthsart, woran vor-
her niemals etwas auszuſetzen geweſen iſt, zur
Verkleinerung und Unehre gereichen?
Jnzwiſchen iſt es eine Guͤtigkeit von Jhnen,
daß Sie das Vergehen einer Perſon, der daſſel-
be ſo hoͤchſtempfindlich iſt, geringer zu machen
ſuchen ‒ ‒ Koͤnnte es gaͤnzlich ausgeloͤſchet wer-
den: ſo wuͤrde mich das der vielen Muͤhe, die
Sie ſich bey meiner Erziehung gegeben haben, wuͤr-
diger machen. Denn es muß ihren Kummer
ſo, wie meine Schaam und Verwirrung, noth-
wendig vermehren, daß ich mich, nach einem ſo
hoffnungsvollen Anfange, ſo aufgefuͤhret habe,
D 4daß
[56]
daß ich, ſtatt einer Ehre fuͤr Sie und meine
andere Freunde, ihnen allen nun eine Schande
bin.
Allein, damit ich Jhnen nicht ſelbſt Urſache
gebe, mich fuͤr ſchuldiger anzuſehen, als ich bin:
ſo erlauben Sie mir, mit wenigen zu verſichern,
daß, wenn meine Geſchichte bekannt wird, ich
mehr Mitleiden, als Tadel, auch ſo gar in Ab-
ſicht auf meine Flucht mit dem Herrn Lovelace,
verdienen werde.
Jn Betrachtung alles deſſen, was hiernaͤchſt
vorgefallen iſt, will ich nur dieß ſagen, daß ich
mich zwar fuͤr dieſe Welt verlohren nennen muß,
aber doch noch einen Troſt uͤbrig habe. Jch ha-
be mir mein Leiden weder durch Unvorſichtigkeit,
noch durch Leichtglaͤubigkeit, noch durch Freyheit
zugezogen. Es iſt kein Augenblick hingegangen,
da ich nicht auf meiner Huth geweſen waͤre, oder
ihre fruͤhe Lehren nicht im Gedaͤchtniſſe gehabt
haͤtte. Aber, nachdem ich im Stande geweſen
war, viele niedertraͤchtige Raͤnke zu Schanden
zu machen, bin ich zuletzt durch die unmenſch-
lichſten Kuͤnſte entehret. Waͤre ich nur nicht
von allen Freunden verſtoßen worden: ſo haͤtte
ſich gewiß dieſer niedertraͤchtige Menſch nicht un-
terſtanden, und auch nicht die Gelegenheit ge-
habt, mir ſo zu begegnen, als er mir begegnet
hat.
Mehr kann ich jetzo nicht ſagen; mehr iſt
auch itzo nicht noͤthig; und dieß ſelbſt, bitte ich
Sie, bey ſich zu behalten, damit nicht Feindſe-
lig-
[57]
ligkeiten nach meinem Hintritt entſtehen moͤgen,
welche das Uebel weiter ausbreiten koͤnnten, das
ich, wie ich hoffe, mit mir endigen ſoll.
Jch bin falſch berichtet, ſagen Sie, daß
meine vornehmſten Anverwandten bey meinem
Onkel Harlowe ſeyn ſollten. Der Tag, ſchrei-
ben Sie, iſt nicht gefeyret. Auch mein Bruder
und Herr Solmes haben nicht ‒ ‒ Etwas er-
ſtaunliches! ‒ ‒ Was fuͤr eine vielfache ver-
wickelte Bosheit hat dieſer nichtswuͤrdige Menſch
zu verantworten! ‒ ‒ Sollte ich es Jhnen er-
zaͤhlen: ſo wuͤrden Sie kaum glauben, daß ein
ſolches Herz in einem Menſchen ſeyn koͤnnte ‒ ‒
Aber es kann eine Zeit kommen, da Sie
meine ganze Geſchichte erfahren werden! ‒ ‒
Jtzo habe ich weder Luſt, noch Worte ‒ ‒ O
wie berſtet mir das Herz! ‒ ‒ Jedoch noch eine
gluͤckliche, eine gewuͤnſchte Erleichterung! waͤ-
ren Sie gegenwaͤrtig: ſo wuͤrden meine Thraͤnen
das Uebrige erſetzen!
Jch nehme meine Feder wieder.
So beſorgen ſie wirklich, daß man keinen
Brief von mir annehmen werde. Laſſen ſie
ſich es nur nicht kraͤnken, daß ſie mir dieß
ſagen muͤſſen! Jch vermuthe alles Boͤſe! ‒ ‒
Mein Jammer iſt ſo groß, daß, wenn Sie mir
nicht zugeredet haͤtten, von dem Throne der Gna-
den Gnade zu hoffen, ich beſorget haben wuͤrde, der
D 5ſchreck-
[58]
ſchreckliche Fluch meines Vaters moͤchte in Abſicht
auf beyde Welten in Erfuͤllung gehen.
Denn noch ein neues Ungluͤck! ‒ ‒ Jn ei-
nem Anfall von Verruͤckung und Unbeſonnenheit
habe ich an meine geliebte Fraͤulein Howe einen
Brief abgeſchickt, ohne mich auf den geheimen
Weg, wodurch ſonſt meine Briefe an Sie kom-
men, zu beſinnen. Der iſt Jhrer zornigen
Mutter in die Haͤnde gefallen: und ſo hat viel-
leicht dieſe werthe Freundinn ſich um meinetwil-
len ein neues Misvergnuͤgen zugezogen. Dazu
iſt noch Jhr wuͤrdiger Sohn krank, und meine
arme Hanna, glauben Sie, kann nicht zu mir
kommen ‒ ‒ O meine liebe Frau Norton, wol-
len Sie, koͤnnen Sie diejenigen tadeln, de-
ren Unwillen gegen mich der Himmel ſelbſt zu
billigen ſcheinet? und wollen Sie die losſprechen,
die der verdammet?
Jedoch, Sie gebieten mir, den Muth nicht
ſinken zu laſſen ‒ ‒ Jch will auch nicht: wo ich
es aͤndern kann ‒ ‒ Und in der That Jhr guͤti-
ger Brief hat mir zu rechter Zeit Troſt verliehen ‒ ‒
Allein Gott dem Allmaͤchtigen ſtelle ich meine
Sache heim: Er raͤche mein Unrecht und rette
meine Unſch ‒ ‒
Aber wie reißen mich meine ſtuͤrmiſche Leiden-
ſchaften hin! Habe ich nicht erſt dieſen Augenblick
geſagt, daß Jhr Brief mir Troſt mitgetheilet
haͤtte? ‒ ‒ Gott vergebe es denen, die meinen
Vater hindern, mir zu vergeben! ‒ ‒ Dieß ſoll
das
[59]
das haͤrteſte gegen ſie ſeyn, was meiner Feder
entfahren ſoll.
Wenn auch Jhr Sohn wieder geneſen ſollte:
ſo lege ich Jhnen doch auf, meine liebe Frau
Norton, daß Sie nicht daran gedenken, zu mir
zu kommen. Jch weiß noch nicht anders, als
daß mir Jhre Vermittelung, ob gleich gegen-
waͤrtig auf Jhre Fuͤrbitte ſo wenig wuͤrde geach-
tet werden, bey meiner Mutter wohl nuͤtzlich ſeyn
koͤnne, mir die Wiederrufung des ſchrecklichſten
Theils von meines Vaters Fluch, der noch al-
lein erfuͤllt zu werden uͤbrig iſt, auszuwirken.
Gewiß die Stimme der Natur muß endlich zu
meinem Beſten gehoͤret werden. Sie wird an-
fangs mir bey meinen Freunden nur in der Stille
das Wort reden, mit der bewußten Klage-ſucht
eines jungen und noch nicht unverſchaͤmten Bett-
lers! ‒ ‒ Aber ſie wird allmaͤhlig heller ſchreyen;
wenn ich Muth habe, es zu thun; und vielleicht
gar den vaͤterlichen Schutz vor fernerem Ungluͤck
und diejenige Vergebung fordern, welche jene
fuͤr ihre eigene Fehler zu erwarten nicht berechtigt
ſeyn werden, die ſich einmiſchen moͤgen. Damit
ſie mir um eines zufaͤlligen, nicht eines vorſetz-
lichen Vergehens willen abgeſchlagen werde,
um eines Vergehens willen, deſſen ich mich;
wenn ſie nicht geweſen waͤren, niemals ſchuldig
gemacht haͤtte.
Aber ſchon wieder hat die Ungedult, die ſich
vielleicht auf parteyiſche Selbſtliebe, den verfuͤh-
reriſchen Jrrwiſch, gruͤndet, die Oberhand.
Jch
[60]
Jch will Jhnen kurz ſagen, es iſt zu meiner
gegenwaͤrtigen und zukuͤnftigen Hoffnung noth-
wendig, daß Sie es mit meiner Familie halten
und ferner gut bey ihr ſtehen. Außerdem koͤnnte
ich leicht, wenn Sie kaͤmen, vermittelſt Jhrer
von dem verruchteſten Menſchen aufgeſpuͤret wer-
den. Sagen Sie alſo nicht, daß Sie denken,
Sie muͤßten billig zu mir kommen, man moͤge
es nehmen wie man wolle ‒ ‒ Nein, um
meinetwillen, ich wiederhole es noch einmal,
muͤſſen Sie nicht kommen: wenn auch mein
Mitſaͤugling, wie ich es hoffe, geneſen waͤre.
Es kann mir auch an Jhrem Rath nicht fehlen,
ſo lange ich noch ſchreiben kann, und Sie mir
antworten koͤnnen. Und ſchreiben will ich, ſo oft
als ich Jhres Raths benoͤthigt bin.
Hiernaͤchſt ſcheinen die Leute, bey denen ich
nun bin, ſo wohl ehrlich als hoͤflich. Es iſt
noch in eben dem Hauſe eine Witwe zur Miethe
von geringen Umſtaͤnden, aber von großen Vor-
zuͤgen ‒ ‒ Beynahe eine eben ſo ernſthafte und
fromme Frau, als die werthe Perſon, an die ich
eben ſchreibe. Sie hat, wie ſie ſagt, alle andere
Gedanken von der Welt aufgegeben, außer de-
nen, die ihr behuͤlflich ſeyn, gluͤcklich davon zu
ſcheiden. ‒ ‒ Wie ſchoͤn ſchickt ſich das zu meinen
eignen Abſichten! ‒ ‒ Hierinn, ſcheint wenig-
ſtens eine troſtreiche Vorſicht fuͤr mich zu wal-
ten! ‒ ‒ Alſo iſt gegenwaͤrtig nichts, das es noͤ-
thig machen, nichts, das es erfordern, oder
nur einmal entſchuldigen kann, daß Sie kom-
men:
[61]
men: da ſo viele und beſſere Abſichten zu errei-
chen ſeyn moͤgen, wenn Sie bleiben, wo Sie
ſind. Es kann eine Zeit kommen, da ich Jhre
letzte und beſte Huͤlfe noͤthig haben werde: und
alsdenn, meine liebe Frau Norton ‒ ‒ als-
denn will ich ſie mir beſtellet haben und von gan-
zem Herzen annehmen ‒ ‒ alsdenn wird ſie
mir von niemand verſaget werden.
Es iſt eine beſondere Hoͤflichkeit, womit Sie
mir Geld anbieten. Allein, ob ich gleich genoͤ-
thigt war, meine Kleider im Stiche zu laſſen:
ſo nahm ich doch verſchiedne Koſtbarkeiten mit
mir, die vor der Hand meinen Mangel erſetzen
werden. Sie werden ſagen, ich habe mein
Geld ſchlecht angeleget ‒ ‒ Das habe ich auch
in der That! ‒ ‒ und wenn ich zuruͤckſehe, noch
dazu in gar kurzer Zeit.
Allein, was ſoll ich thun, wo mein Vater
nicht kann gewonnen werden, ſeinen harten Fluch
zu wiederrufen? Unter allen recht ſchweren
Uebeln, die mich getroffen haben, iſt dieß nun
das ſchwereſte. Denn ich kann unter demſelben
weder leben, noch ſterben.
O meine liebe Frau Norton, wie ſchwer muß
eines Vaters Fluch ein Gemuͤth druͤcken, das
ſich davor ſo ſehr fuͤrchtet, als das meinige! ‒ ‒
Dachte ich wohl, daß ich jemals um die Befrey-
ung von demſelben zu bitten Urſache haben
wuͤrde?
Sie muͤſſen nicht mit mir zuͤrnen, daß ich
nicht eher an Sie geſchrieben habe. Sie haben
voll-
[62]
vollkommen recht, und ſind vollkommen guͤtig,
wenn Sie ſagen, daß Sie verſichert ſind, ich
liebe Sie. Ja in Wahrheit ich liebe Sie. Und
wie edelmuͤthig, ſich ſelbſt ſo vollkommen aͤhnlich,
beweiſen Sie ſich in Jhren Lobeserhebungen,
daß Sie mir mehr beylegen, als ich verdiene,
damit Sie einen Eifer in mir erwecken moͤgen,
ihre Lobeserhebungen zu verdienen! ‒ ‒ Sie
ſagen mir, was Sie von mir in dieſem Elende,
welches mir zu ertragen aufgelegt iſt, erwarten.
Jch wuͤnſche nur, daß ich mich Jhrer Erwartung
gemaͤß verhalten moͤge.
Jch kann mir ſelbſt eine kleine Rechen-
ſchaſt von meinem Stillſchweigen gegen Sie,
meine guͤtige, meine werthe muͤtterliche Freun-
dinn, geben ‒ ‒ Wie gelinde und hoͤflich druͤcken
Sie ſich bey dieſer Gelegenheit aus! ‒ ‒ Jch
wollte gar zu gern, ſo wohl Jhrentwegen, als um
mein ſelbſt willen, daß Sie mit Grunde ſagen
koͤnnten, wir wechſelten keine Briefe mit einan-
der. Haͤtte man geglaubt, wir thaͤten es: ſo
wuͤrde ein jedes Wort, das Sie zu meinem Be-
ſten koͤnnten geſprochen haben, verworfen worden
ſeyn; und meiner Mutter wuͤrde man verboten
haben, Sie zu ſprechen, oder das, was Sie ſa-
gen moͤchten, einiger Achtung wuͤrdig zu hal-
ten.
Außerdem war die Ausſicht in meine kuͤnfti-
ge Umſtaͤnde, die ich vor mir hatte, bald beſſer,
bald ſchlechter. Das Schlechtere wuͤrde Sie
nur beunruhigt haben; wenn Sie es erfahren
haͤtten;
[63]
haͤtten: das Beſſere aber machte mir oft Hoff-
nung, daß ich mit der naͤchſten und dann wieder
mit der naͤchſten Poſt, und ſo von einer Woche
zur andern, Jhnen das Beſte, was mir damals
begegnen konnte, zu melden haben wuͤrde; ſo
kaltſinnig auch nunmehr der nichtswuͤrdige Menſch
mein Herz gegen das Beſte gemachet hat. ‒ ‒
Wie konnte ich mir in den Sinn kommen laſſen,
an Sie zu ſchreiben und dadurch Jhnen zu ge-
ſtehen, daß ich nicht verheyrathet waͤre, und doch
mit einem ſolchen Menſchen, wiewohl ich es nicht
aͤndern konnte, in einem und eben demſelben
Hauſe lebte? ‒ ‒ Der noch dazu gegen ver-
ſchiedne Perſonen vorgegeben hatte, daß wir wirk-
lich vermaͤhlet waͤren, ob gleich mit gewiſſen Be-
dingungen, die von der Ausſoͤhnung mit meinen
Freunden abhingen? Daß ich Jhnen aber die
Wahrheit vorenthalten, oder mich entweder of-
fenbar, oder durch Zweydeutigkeiten einer Un-
wahrheit ſchuldig machen ſollte, das war etwas,
das Sie mich niemals gelehret hatten.
Vielleicht aber werden Sie denken, ich haͤtte
um Jhren Rath in meinen gefaͤhrlichen Umſtaͤn-
den an Sie ſchreiben moͤgen. Allein in der
That, meine liebe Fr. Norton, ich bin nicht aus
Mangel an gutem Rath ins Verderben gera-
then. Das werden Sie aus dem, was ich ſchon
beruͤhret habe, augenſcheinlich erkennen: wenn ich
mich auch nicht weiter erklaͤren ſollte. ‒ ‒ Denn
wie haͤtte der grauſame Raͤuber noͤthig gehabt,
zu unverſchuldeten Kuͤnſten ‒ ‒ ich will freyer
heraus-
[64]
herausreden, aber Sie muͤſſen es gegenwaͤrtig
noch nicht wieder erzaͤhlen ‒ ‒ zu berauſchenden
und betaͤubenden Traͤnken, und zu der grauſam-
ſten und ſchimpflichſten Gewaltthaͤtigkeit ſeine
Zuflucht zu nehmen: wenn ich meine Pflicht
nicht ſorgfaͤltig beobachtet haͤtte?
Nur noch wenige Worte von dieſer betruͤbten
Sache ‒ ‒
Wenn ich alles uͤberlege, was mir begegnet
iſt: ſo ſehe ich offenbar, daß dieſer Verfuͤhrer,
den man gemeiniglich fuͤr gedankenlos gehal-
ten, gegen mich nach einem regelmaͤßigen und vor-
her verabredeten Entwurf zu ſeiner niedertraͤchti-
gen Schandthat gehandelt hat.
Damit er alle ſeine ſchaͤndliche Raͤnke in den
Gang braͤchte, war anfangs nichts weiter noͤthig,
als daß er mich entweder mit Gewalt oder mit
Liſt bewegte, mich in ſeine Gewalt zu begeben:
und nachdem dieß ins Werk gerichtet war, haͤtte
mich nichts, als der Einſpruch von dem vaͤterli-
chen Anſehen, deſſen Gebrauch zu meinem Be-
ſten, ich aber nicht verdienet hatte, von den
Wirkungen ſeiner unergruͤndlichen Anſchlaͤge ret-
ten koͤnnen. Ein Widerſtand von irgend einem
andern Theile wuͤrde nur nach allzu vieler Wahr-
ſcheinlichkeit, ſeine unmenſchliche und undankba-
re Gewaltthaͤtigkeit beſchleuniget haben. Ja,
waͤren Sie ſelbſt bey mir geweſen: ſo wuͤrden
Sie auf eine oder die andere Art, wie ich nun-
mehr Grund zu denken habe, fuͤr Jhre Bemuͤ-
hung mich zu retten gelitten haben. Denn nie-
mals
[65]
mals iſt ein gemachter Entwurf zur Bosheit,
wie ich itzo ſehe, ſo ſtandhaft und allezeit gleich-
maͤßig verfolget worden, als er den ſeinigen ge-
gen eine ungluͤckliche Perſon, die es beſſer von
ihm verdiente, verfolget hat. Allein der All-
maͤchtige hat es, nach dem gemeinen Lauf ſeiner
Fuͤrſehung, fuͤr gut befunden, daß der Fehler ſei-
ne eigne Strafe mit ſich fuͤhren ſollte: und dieß
vielleicht zur Erfuͤllung des ſchrecklichen Fluchs
von meinem Vater, „daß ich hier; o meine lie-
„be Mutter Norton, beten Sie mit mir, daß
„hier das Ende ſeyn moͤge; durch eben den
„nichtswuͤrdigen Menſchen, auf den ich meine
„gottloſe Zuverſicht geſetzet hatte, geſtraft werden
„moͤchte.
Es iſt mir Jhrentwegen leid, daß ich ſo ſchwer-
muͤthig beſchließen ſoll: und gleichwohl muß das
Uebrige kurz ſeyn.
Erlauben Sie mir zu bitten, daß Sie das,
was ich Jhnen eroͤffnet habe, geheim halten: we-
nigſtens bis Sie meine Einwilligung haben, es
bekannt zu machen.
Gott erhalte Jhnen Jhr anderes Kind, das
reiner von Fehlern iſt.
Jch will auf ſeine Gnade hoffen, wenn ich
auch von keinem Menſchen Barmherzigkeit er-
langen ſollte.
Jch wiederhole noch einmal mein Verbot:
Sie muͤſſen nicht daran denken, daß Sie herauf
kommen wollten zu
Jhrer beſtaͤndig gehorſamen
Cl. Harlowe.
Sechſter Theil. EDie
[66]
Die dienſtfertige Perſon, welche Jhr Schrei-
ben heute fuͤr mich abgegeben, hat verſpro-
chen, morgen nachzufragen, ob ich etwas
wieder zuruͤckzuſchicken haͤtte. Eine ſo gu-
te Gelegenheit habe ich nicht vorbeylaſſen
wollen.
Der funfzehnte Brief
von
Frau Norton an Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
O! ungeheure Bosheit von dieſem abſcheuli-
chen Menſchen!
Jſt jemand in der Welt, der einer ſo hold-
ſeligen Perſon Gewalt thun koͤnnte!
Sind Sie verſichert, daß Sie nunmehr vor
ſeinen Haͤnden zu weit zu erreichen ſind?
Sie befehlen mir, die Umſtaͤnde der ſchaͤnd-
lichen Begegnung, die Jhnen widerfahren iſt,
geheim zu halten: ſonſt wuͤrde ich bey einem un-
vermutheten Beſuch, den mir Fraͤulein Harlo-
we, bald nach dem Empfang Jhres betruͤbten
Briefes, goͤnnete, in die Verſuchung gerathen
ſeyn, zu geſtehen, daß ich von Jhnen gehoͤret haͤt-
te, und ihr ſolche Stellen aus Jhren beyden
Briefen mitzutheilen, die von Jhrer Reue und
von Jhrem ſehnlichen Verlangen, ſo wohl die
Wiederrufung des Fluchs, als auch den Schutz
vor
[67]
vor ferneren gewaltſamen Beſchimpfungen, wel-
che vielleicht noch gegen Sie koͤnnten unternom-
men werden, von Jhrem Vater zu erlangen, voll-
kommenen Beweis gegeben haͤtten. Aber als-
denn wuͤrde Jhre Schweſter vermuthlich die
Briefe zu ſehen und mit ſich zu Jhrer Familie
zu nehmen verlanget haben.
Sie muͤſſen doch einmal die betruͤbte Ge-
ſchichte erfahren. Es iſt unmoͤglich, daß ſie
nicht Mitleiden mit Jhnen haben, und Jhnen
nicht vergeben ſollten: wenn ſie Jhre ſruͤhe Reue
und Jhr unverſchuldetes Leiden erfahren; wenn
ſie hoͤren, daß Sie durch die unmenſchliche Ge-
walt eines ungeheuren Raͤubers, und nicht durch
die ſchaͤndlichen Kunſtgriffe eines verfuͤhreriſchen
Liebhabers, gefallen ſind.
Der gottloſe Menſch giebt bey dem Lord M.
vor, wie mir Fraͤulein Harlowe erzaͤhlet, daß er
wirklich mit Jhnen vermaͤhlet ſey. ‒ ‒ Jedoch
glaubet ſie es nicht: und ich hatte auch nicht das
Herz, ihr die Wahrheit zu ſagen.
Sie legte es mir ſehr nahe, ob ich nicht mit
Jhnen von der Zeit an, da Sie weggegangen
waͤren, Briefe gewechſelt haͤtte. Jch konnte
ihr ſicher Nachricht geben, wie ich that, daß es
nicht geſchehen waͤre. Allein ich geſtand zu-
gleich, mir waͤre zuverlaͤßig gemeldet, daß Sie
Jhres Vaters Fluch ungemein zu Herzen naͤh-
men, und ſetzte hinzu, es wuͤrde ein gutes und
ſchweſterliches Werk von ihr ſeyn, wenn ſie ſich
E 2ange-
[68]
angelegen ſeyn laſſen wollte, Sie davon frey zu
machen.
Unter andern harten Dingen, verſetzte ſie,
meine parteyiſche Affenliebe gegen Sie machte,
daß ich die Ehre der Uebrigen von der Familie
wenig bedaͤchte. Wo ich dieß aber nicht von
Jhnen ſelbſt gehoͤret haͤtte: ſo vermuthete Sie,
ich waͤre von der Fraͤulein Howe angeſtiftet.
Sie erklaͤrte ſich mit vieler Bitterkeit gegen
dieſe Fraͤulein: welche, wie es ſcheint, allenthal-
ben und gegen jedermann; denn Sie muͤſſen ge-
denken, daß Jhre Geſchichte in allen Geſellſchaf-
ten den Stoff zur Unterredung hergiebet; wider
Jhre Familie losziehet, und dieſelbe, wie Jhre
Schweſter ſagt, veraͤchtlich, ja gar laͤcherlich
machet.
Mir iſt es aus einem gedoppelten Grunde
nicht lieb, daß ſolche Freyheiten, die von einem
Zorn zeugen, gebraucht werden. Einmal thun
dergleichen Freyheiten niemals gut. Jch habe
von Jhnen ſelbſt das Geſtaͤndniß gehoͤret, daß
Fraͤulein Howe zur Satyre ſehr aufgeleget ſey:
allein ich ſollte hoffen, eine junge Fraͤulein von
Jhrer Einſicht und rechtſchaffener Gemuͤthsart,
muͤßte wiſſen, daß der Endzweck der Satyre nicht
ſey, zu erbittern, ſondern, zu beſſern, und daß ſie
daher niemals auf Perſoͤnlichkeiten hinauslaufen
muͤſſe. Geſchieht das letzte: ſo kann es bey ei-
ner unparteyiſchen Perſon, wie mein frommer
Vater zu ſagen pflegte, den Verdacht erwecken,
daß derjenige, der die Satyre braucht, eine na-
tuͤrliche
[69]
tuͤrliche Neigung zu bittern Urtheilen habe und
dieſer Genuͤge zu thun ſuche; welches an ihm
ein eben ſo großer Fehler ſeyn mag, als irgend
einer von denen, die er an andern zu tadeln und
in ihrer Bloͤße darzuſtellen meynet.
Es wird vielleicht nicht vergeblich ſeyn, wenn
Sie ihr hievon einen kleinen Wink geben.
Mein anderer Grund iſt dieſer, daß ſolche
Freyheiten, die ſich eine ſo feurige Freundinn
von Jhnen, als Fraͤulein Howe nach aller Wiſ-
ſen iſt, herausnimmt, hoͤchſtwahrſcheinlicher Wei-
ſe auf Jhre Rechnung geſchrieben werden
koͤnnen.
Mein Unwillen gegen den ſchaͤndlichſten
Menſchen iſt ſo groß, daß ich die aͤrgerlichen
Umſtaͤnde, welche Sie von ſeiner Niedertraͤchtig-
keit melden, nicht beruͤhren darf. Wie war es
wohl moͤglich, daß Sie ſich gegen einen ſo ver-
meſſenen und ſchluͤßigen Boͤſewicht vertheidigen
konnten, nachdem Sie einmal in ſeiner Gewalt
waren? Jch will nur meine inſtaͤndige Bitte an
Sie wiederholen, daß Sie der Verzweifelung
nicht Platz geben, ſo traurig und ſchrecklich der
Anſchein von Jhren Umſtaͤnden ſeyn mag. Jhr
Elend iſt uͤber die Maaßen groß: aber Sie ha-
ben auch Gaben, die der Groͤße Jhrer Verſu-
chungen gemaͤß ſind. Das geſteht ein jeder.
Setzen Sie das Aergſte, und daß Jhre Fa-
milie ſich nicht zu Jhrem Beſten wolle bewegen
laſſen: ſo wird ja Jhr Vetter Morden bald an-
langen; wie mir Fraͤulein Harlowe erzaͤhlet hat.
E 3Sollte
[70]
Sollte der auch ſelbſt auf der Familie Seite ge-
bracht werden: ſo wird er doch zuſehen, daß
Jhnen Gerechtigkeit widerfahre. Alsdenn koͤn-
nen Sie allen zum Beyſpiel ein gottſeliges Leben
fuͤhren, noch viele hundert gluͤcklich machen und
junge Frauenzimmer lehren, die Fallſtricke zu
vermeiden, worinn Sie ſo ſchrecklich verwickelt
ſind.
Was aber den Mann betrifft, den Sie ver-
lohren haben: Jſt wohl eine Vereinigung mit
einem ſo meineidigen Herzen, als er hat, fuͤr ein
ſo unvergleichliches Herz, als das Jhrige iſt, zu
wuͤnſchen? Er iſt ein ſchaͤndlicher, niedertraͤch-
tiger Kerl, wie Sie ihn mit Recht nennen, bey
allem ſeinen Stolz auf ſeine Ahnen: mehr ein
Feind gegen ſich ſelbſt, in Betrachtung ſeiner
gegenwaͤrtigen und zukuͤnftigen Gluͤckſeligkeit,
als gegen Sie, in den unmenſchlichen und un-
dankbaren Beleidigungen, wodurch er Jhnen ſo
viel boͤſes gethan hat. Jch darf Sie gewiß nicht
ermahnen, einen ſolchen Mann, als der iſt, zu
verachten. Denn waͤren Sie das nicht zu thun
im Stande: ſo wuͤrde es ein Vorwurf gegen ein
Geſchlecht ſeyn, dem Sie allezeit eine Ehre ge-
weſen ſind.
Jhre gute Gemuͤthsart iſt unbeflecket. Das
beweiſet ſelbſt die Beſchaffenheit Jhres Leidens,
wie Sie gar wohl bemerken. Sprechen Sie alſo
Jhrem werthen Herzen Muth ein, und verzwei-
feln nicht. Jſt es nicht Gott, der die Welt re-
gieret, und nach ſeinem Wohlgefallen einige Din-
ge
[71]
ge zulaͤſſet, andere ſelbſt ſchicket? Will er nicht
zeitliche Leiden, die ohne Schuld zugefuͤget und
gottſelig ertragen werden, mit ewiger Gluͤckſelig-
keit belohnen? ‒ ‒ Und was, meine Wertheſte,
was iſt dieß kleine Nun, dieſe Nadelſpitze, ge-
gen eine unumſchraͤnkte Ewigkeit?
Unterdeſſen leidet mein Herz doch unter ei-
nem gedoppelten Kummer. Denn mein armer
Sohn iſt recht, recht krank! ‒ ‒ Ein heftiges
Fieber! ‒ ‒ Es iſt nicht dahin zu bringen, daß
es nachlaͤſſet! ‒ ‒ ‒ Beten Sie fuͤr ihn, meine
liebſte Fraͤulein ‒ ‒ fuͤr ſeine Geneſung, wo es
Gottes Wille iſt. ‒ ‒ Jch hoffe, es werde Got-
tes Wille ſeyn! ‒ ‒ Wo nicht: ‒ ‒ Wie uner-
traͤglich iſt es mir, das zu vermuthen! ‒ ‒ ſo be-
ten Sie fuͤr mich, daß er mir die Gedult und
Ergebung in ſeinen Willen verleihe, die ich Jh-
nen gewuͤnſchet habe. Jch verbleibe, Wertheſte
Fraͤulein,
Jhre ewig ergebene
Judith Norton.
E 4Der
[72]
Der ſechzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fr. Judith
Norton.
Jch ſollte billig Jhren Kummer, ſonderlich
itzo, nicht vermehren ‒ ‒ Aber ich kann es
nicht aͤndern, ich muß Jhnen, da Sie itzo meine
einzige Freundinn ſind, die meine Wunden lin-
dert, eine neue Unruhe entdecken, die mich befal-
len hat.
Jch hatte nur eine Freundinn in der Welt,
außer Jhnen: und dieſe iſt aͤußerſt misvergnuͤgt
mit mir (*). Es iſt ein großer Schmerz, auch
nur auf einen Augenblick dem Tadel einer gelieb-
ten Perſon unterworfen zu ſeyn: ſonderlich wenn
uns etwas beygemeſſen wird, das Ehre und
Klugheit betrifft. Es giebt gewiſſe ſo zaͤrtliche, ſo
bedenkliche Punkte, wie Sie wiſſen, meine liebe
Frau Norton, daß es ſchon einigermaßen eine
Schande iſt, wenn es noͤthig ſcheint, ſich desfalls
zu rechtfertigen. Jn dem gegenwaͤrtigen Falle
iſt mein Ungluͤck, daß ich von einigen Begeben-
heiten, die ich erklaͤren ſoll, nicht anders, als durch
Muthmaßung, Rechenſchaft geben kann: ſo fein
und liſtig hat die ſcheusliche Seele, welche mich
ſo
[73]
ſo ungluͤcklich verſtricket hat, ihr Werk zu treiben
gewußt.
Fraͤulein Howe, mit einem Worte, meynet
in meiner Gemuͤthsart einen Flecken gefunden
zu haben. Jhr harter Brief iſt mir eben erſt
zu Haͤnden gekommen: aber ich werde darauf
vielleicht bey beſſerem Sinne antworten; wenn
ich erſt das Schreiben von Jhnen wohl uͤberle-
ge. Denn, in der That, meine Gedult iſt bey-
nahe zu Ende. Und gleichwohl muß ich beden-
ken, daß die Wunden, welche ein Freund
ſchlaͤget, wohl gemeynet ſind. Aber ſo viele
Dinge auf einmal! ‒ ‒ O, meine liebe Fr. Nor-
ton, wie ſoll eine ſo junge Schuͤlerinn in der Lei-
densſchule im Stande ſeyn, ſo ſchwere und ſo man-
nichfaltige Uebel zu ertragen!
Jedoch ich will dieß auf eine Weile beyſeite
ſetzen und mich zu Jhrem Briefe wenden.
Es iſt mir ſehr leid, daß Fraͤulein Howe ih-
ren Unwillen meinetwegen ſo lebhaft und hitzig
zeiget. Jch habe ihr allemal die Freyheiten von
dieſer Art, welche ſie ſich gegen meine Freunde
genommen, recht dreiſte verwieſen. Vormals
hatte ich einen großen Einfluß uͤber ihr freund-
ſchaftliches Herz, und ſie nahm alles, was ich
ſagte, als ein Geſetz an. Allein Leute, die im
Ungluͤck ſind, haben in allen Stuͤcken, oder bey
allen und jeden, wenig Gewicht. Gluͤck und
Ununterwuͤrfigkeit ſind in der Betrachtung wirk-
lich reizend, daß ſie dem guten Rath eines
freundſchaftlichen Herzens Nachdruck geben: da
E 5es
[74]
es hingegen an einem Elenden fuͤr eine Unver-
ſchaͤmtheit gehalten wird, Rath zu ertheilen oder
Vorſtellungen zu thun.
Jnzwiſchen iſt Fraͤulein Howe eine unſchaͤtz-
bare Perſon. Jſt es zu vermuthen, daß ſie noch
eben die Achtung gegen mein Urtheil behalten
ſollte, die ſie vorher gehabt, ehe ich alles Recht,
fuͤr verſtaͤndig und klug gehalten zu werden, ver-
ſcherzet hatte? Mit was fuͤr einem Geſichte kann
ich mich unterſtehen, ihr einen Mangel der Klug-
heit vorzuhalten? Kann ich aber ſo gluͤcklich ſeyn,
mich wieder in eine gute Meynung bey ihr zu ſe-
tzen, welches mir allezeit ſchaͤtzbar geweſen iſt: ſo
werde ich mich bemuͤhen, Jhre gegruͤndete An-
merkungen in dieſem Stuͤcke ihr nachdruͤcklich
vorzuſtellen.
Sie duͤrfen mich nicht ermahnen, ſagen Sie,
einen ſolchen Mann, als der iſt, durch den ich
gelitten habe, zu verachten ‒ ‒ Jn Wahrheit,
Sie duͤrfen nicht: denn ich wollte lieber den grau-
ſamſten Tod waͤhlen, als die Seinige zu ſeyn.
Dennoch, meine liebe Fr. Norton, will ich Jh-
nen geſtehen, daß ich ihn vormals haͤtte lieben
koͤnnen ‒ ‒ Der undankbare Menſch! ‒ ‒ Haͤt-
te er es mir zugelaſſen: ſo haͤtte ich ihn vor-
mals lieben koͤnnen. Gleichwohl verdiente er
meine Liebe niemals. Und war dieß nicht ein
Fehler? Aber wenn ich nunmehr nur aus ſeinen
Haͤnden errettet bleiben und es dahin bringen
kann, daß mein Vater ſeinen Fluch wiederrufet:
ſo iſt das alles, was ich wuͤnſche.
Eine
[75]
Eine Ausſoͤhnung mit meinen Freunden er-
warte ich nicht; auch keine Verzeihung: wenig-
ſtens nicht eher, als in meinen letzten Noͤthen,
und wie eine Mitgabe auf den Weg.
O meine geliebte Fr. Norton, Sie koͤnnen
ſich nicht einbilden, was ich ausgeſtanden habe!
‒ ‒ Jn der That iſt mein Herz gebrochen. Jch
weiß gewiß, ich werde nicht ſo lange leben, daß
ich zu der Ununterwuͤrfigkeit komme, welche mich
nach Jhren Gedanken in den Stand ſetzen wuͤr-
de, meine vergangene Auffuͤhrung einigermaßen
gut zu machen.
Da ich dieſer Meynung bin: ſo koͤnnen Sie
leicht glauben, daß ich nicht geruhig ſeyn werde,
bis ich mir die Widerrufung des ſchrecklichen
Fluchs, und, wo moͤglich, auf mein Ende eine
Vergebung auswirken kann.
Jch wuͤnſche, daß man mir ſelbſt uͤberlaſſe,
den Weg zu waͤhlen, durch welchen ich mich be-
muͤhen werde, mir dieſe Gewogenheit zu ver-
ſchaffen. Jedoch weiß ich itzo noch nicht, was
das fuͤr ein Weg ſeyn ſoll.
Jch will ſchreiben. Aber an wen? Das iſt
nur mein Zweifel. Ungluͤck und Noth haben
mich noch nicht ſo dreiſte gemacht, daß ich mich
ſelbſt an meinen Vater wenden ſollte. Meine
Onkels, ſo ſehr ſie mich auch vormals liebten,
haben ein hartes Herze. Jhre maͤnnliche Lei-
denſchaften ſind niemals durch den zaͤrtlichen
Vaternamen gemildert. Von meinem Bru-
der mache ich mir keine Hoffnung. Alſo habe
ich
[76]
ich nur meine Mutter und meine Schweſter,
an die ich mich wenden kann ‒ ‒ „Und mag es
„mir nicht erlaubt ſeyn, allerliebſte Mutter, mein
„zitterndes Auge zu ihrem alles ermunternden,
„und vormals mehr als nachſehenden, zu ihrem
„zaͤrtlich eingenommenen Auge, aufzuſchla-
„gen; in Hoffnung, eben zu rechter Zeit die noͤ-
„thige Barmherzigkeit fuͤr ein armes ſieches Herz
„zu erlangen, das noch von demjenigen Leben
„ſchlaͤgt, welches ihm von ihrem eignen und wer-
„thern Herzen mitgetheilet iſt? ‒ ‒ Sonderlich,
„da nur allein um Verzeihung, nicht um Auf-
„nahme zu dem vorigen Stande, flehentlich ge-
„beten wird?
Allein koͤnnte ich meine Mutter zum Mitlei-
den bewegen: wuͤrde das nicht ein Mittel ſeyn,
ſie durch den Widerſtand, welchen ſie finden
wuͤrde, wenn ſie dieſem Mitleiden einigen Nach-
druck zu geben verſuchen wollte, noch immer un-
gluͤcklicher zu machen, als ich ſie ohne das ſchon
gemacht habe?
Alſo denke ich mich an meine Schweſter
zu wenden ‒ ‒ Aber wie unerweichlich hat ſich
meine Schweſter bewieſen! ‒ ‒ Jedoch ich will
ja nicht um Schutz bitten: ob ich gleich ſtuͤndlich
fuͤrchten muß, daß ich Schutz noͤthig haben werde
‒ ‒ Alles, was ich bitten will, ſoll dieß einzige
ſeyn, daß ich von dem ſchweren Fluch, der, ſo
weit er wirken kann, in Anſehung des gegen-
waͤrtigen Lebens, ſchon ſeine Wirkung gehabt
hat, befreyet werde. ‒ ‒ Und gewiß, es iſt nur
hitziger
[77]
hitziger Zorn, kein bedachter Vorſatz geweſen, der
ihn bis auf das kuͤnftige Leben ausgedehnet
hat!
Aber warum vermehre ich ſo Jhren Jam-
mer? ‒ ‒ Wahrlich nicht deswegen, meine lie-
be Frau Norton, weil ich ſo viel Geſuͤhl von
meiner eignen Noth habe, daß ich davor die
Jhrige nicht empfinden kann! Nein, Jhr
Kummer vergroͤßert gewiß meinen eignen noch
mehr. Allein ſie haben einen Troſt, einen ſehr
wichtigen Troſt, ten ich nicht habe: ‒ ‒ daß
Jhre Truͤbſal, es ſey in Anſehung Jhres mehr,
oder in Anſehung Jhres weniger wuͤrdigen Kin-
des, nicht von irgend einem Fehler, deſſen Sie
ſelbſt ſchuldig waͤren, herruͤhret.
Was kann ich mehr fuͤr Sie thun, als be-
ten? ‒ ‒ Glauben Sie ſicherlich, daß ich in ei-
nem jeden Gebete, welches ich fuͤr mich ſelbſt ab-
ſchicke, mit gleichem Eifer ſo wohl Jhrer, als Jh-
res Sohnes, gedenken werde. Denn ich bin
und werde allezeit ſeyn
Jhre wahrhaftig gleichgeſinnte und
gehorſame
Clariſſa Harlowe.
Der
[78]
Der ſiebzehnte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Cl. Harlowe.
Unter der Aufſchrift:
an Frau Rahel Clark ꝛc.
Endlich habe ich von Jhnen gehoͤrt; durch ei-
nen Weg, wodurch ich es mir gar nicht
vermuthete.
Von meiner Mutter.
Sie hatte mich einige Zeit her unruhig und
betruͤbt geſehen, und vermuthete mit Grunde,
daß es um Sie waͤre. Heute fruͤhe ließ ſie ſich
etwas entfallen, woraus ich muthmaßete, daß ſie
etwas von Jhnen gehoͤrt haben muͤßte, mehr als
ich ſelbſt erfahren haͤtte. Da ſie nun befand,
daß dieß meine Unruhe nur vermehrte: ſo geſtand
ſie, daß ſie einen Brief an mich vom 29ten Jun.
von Jhnen in Haͤnden haͤtte.
Sie koͤnnen wohl errathen, daß dieß eine klei-
ne Hitze zwiſchen uns veranlaſſete, welche niemand
von uns eben wuͤnſchen moͤchte.
[Es nimmt mich Wunder, meine Wertheſte,
gewaltig Wunder, daß, da Sie wiſſen, wie
ernſt-
[79]
ernſtlich mir verboten ſey, Briefe mit Jhnen zu
wechſeln, Sie doch einen Brief an mich in unſer
Haus haben ſchicken koͤnnen: indem unter funf-
zigen kaum einer ſeyn muß, der nicht meiner
Mutter in die Haͤnde fallen ſollte; wie Sie bey
dieſem befinden.]
Kurz, ſie bezeigte ſich unwillig, daß ich ihr
ungehorſam ſeyn ſollte: und ich war eben ſo em-
pfindlich, daß ſie mir meine Briefe erbrechen
und vorenthalten moͤchte. Endlich gefiel es ihr
doch, ſich mit mir zu vergleichen, daß ſie mir den
Brief hergeben, und mir ein oder zweymal an
Sie zu ſchreiben erlauben, aber den Jnhalt mei-
ner Briefe ſelbſt ſehen wollte. Denn außer der
Achtung, welche ſie fuͤr Sie heget, mußte ſie noth-
wendig ſehr neubegierig ſeyn, die Gelegenheit zu
ſo betruͤbten Umſtaͤnden, als Jhnen nach dem
niedergeſchlagenen Gemuͤthe, das Jhr Brief
verraͤth, zu Theil geworden ſeyn muͤſſen, zu er-
fahren.
Jch werde ſie aber bereden, ſich damit be-
gnuͤgen zu laſſen, daß ich ihr vorleſe, was ich
ſchreibe: und was ich ihr nicht vorzuleſen wil-
lens bin, will ich, ſo [ ], in Haͤckchen ein-
ſchließen.]
Muß ich Sie, Fr. Cl. Harlowe, an drey Brie-
fe noch erſt erinnern, die ich an Sie geſchrieben,
ohne, auf irgend einen, Antwort zu bekommen;
ausgenommen den erſten, und das nur in we-
nigen Zeilen, mit dem Verſprechen, weitlaͤuftiger
zu ſchreiben: ob Sie ſich gleich den Tag her-
nach,
[80]
nach, als Sie meinen zweyten Brief bekommen
hatten, wohl genug befunden haben, mit ihm
froͤhlich wieder zu dem ſchaͤndlichen Hauſe zuruͤck-
zukehren? Allein nach und nach mehr hievon.
Jch muß eilen, ihres Briefes vom vergangenen
Mittwochen Erwaͤhnung zu thun, mit dem Sie
es ſo wohl zu ſpielen gewußt haben, daß er
meiner Mutter in die Haͤnde fallen ſollte.
Jch muß Jhnen ſagen, daß der Brief mir
beynahe das Herz gebrochen hat. Lieber Gott!
wozu haben Sie ſich ſelbſt gebracht, Fraͤulein
Clariſſa Harlowe! ‒ ‒ Haͤtte ich wohl glauben
koͤnnen, daß Sie, nach Jhrer Flucht von dem
Boͤſewicht, Jhrer ſo muͤhſamen und ernſtlich ge-
wuͤnſchten Flucht, und nach einen ſolchen Ver-
ſuch, als er gethan hatte, ſich gewinnen laſſen
wuͤrden, nicht nur ihm zu vergeben, ſondern gar
mit ihm, noch dazu ohne vermaͤhlt zu ſeyn, in
das ſcheusliche Haus zuruͤckzugehen! ‒ ‒ Ein
Haus, von dem ich Jhnen eine ſolche Nachricht
gegeben hatte! ‒ Etwas erſtaunliches! ‒ ‒ Was
fuͤr ein berauſchendes Ding iſt die Liebe! ‒ ‒
Jch habe allezeit beſorget, daß Sie, auch ſo gar
Sie, dawider nicht die Probe halten wuͤrden.
Sie, Jhr beſtes Selbſt, ſind nicht entkom-
men! ‒ ‒ Jn der That, ich ſehe nicht, wie Sie
haben erwarten koͤnnen zu entkommen.
Was haben Sie zu erzaͤhlen! ‒ ‒ Sie
duͤrfen es nicht erzaͤhlen, meine Wertheſte: ich
wollte mich anheiſchig gemacht haben, Jhnen al-
les, was geſchehen iſt, vorher zu prophezeyen; haͤt-
ten
[81]
ten Sie mir nur geſagt, daß Sie ſich noch ein-
mal in ſeine Gewalt begeben wollten, nachdem
Sie ſich ſo viele Muͤhe gemacht, aus derſelben zu
entgehen.
Jhre Ruhe iſt zerſtoͤret! ‒ ‒ Jch wun-
dere mich nicht daruͤber: indem Sie ſich nun ſelbſt
eine ſo uͤbel angebrachte Leichtglaͤubigkeit vorwer-
fen muͤſſen.
Jhr Verſtand iſt angegriffen! ‒ ‒ Ge-
wiß mein Herz blutet fuͤr Sie: aber verzeihen
Sie mir, meine Werthe, ich vermuthe, Jhr Ver-
ſtand iſt ſchon angegriffen geweſen, ehe Sie
Hampſtead verlaſſen haben; ſonſt wuͤrden Sie
ſich daſelbſt nimmermehr von ihm haben auffin-
den laſſen, oder, da er Sie gefunden, zu gewin-
nen geweſen ſeyn, in das ſcheusliche Hurenhaus
zuruͤckzukehren.
Jch ſage Jhnen, ich habe drey Briefe
an Sie abgelaſſen. Der erſte vom 7ten und
8ten Jun. (*); denn er war auf zweymal geſchrie-
ben; iſt Jhnen ſicher zu Haͤnden gekommen:
wie Sie mir in wenigen Zeilen vom 9ten Nach-
richt gegeben haben. Waͤre es nicht geſchehen:
ſo wuͤrde ich meiner eignen Sicherheit wegen be-
ſorgt geweſen ſeyn; indem ich Jhnen darinn ſol-
che Nachricht von dem abſcheulichen Hauſe, und
ſolche Warnungen in Abſicht auf den Tomlinſon
gegeben habe, daß ich deſto mehr erſtaunet bin,
wie Sie ſich haben in den Sinn kommen laſſen
koͤnnen,
Sechſter Theil. F
[82]
koͤnnen, wieder dahin zuruͤckzugehen, nachdem
Sie einmal von demſelben und von Lovelace ent-
flohen waren ‒ ‒ O meine Werthe! ‒ ‒ Nun
will ich mich uͤber nichts jemals mehr wun-
dern!
Der zweyte vom 10ten Jun. (*) iſt Jhnen
ſelbſt am Sonntage, den 11ten, zu Hampſtead in
die Haͤnde geliefert: da Sie, nach meines Bo-
then Erzaͤhlung von Jhnen, in wunderlichem
Zuſtande auf einem Ruhebette gelegen; aufge-
ſchwollen und roth von Farbe, ich weiß nicht
wie.
Der dritte war vom 20ten Jun. (**). Da
ich nach den wenigen Zeilen vom 9ten, worinn
Sie mir weitlaͤuftiger zu ſchreiben verſprechen,
nicht ein Wort von Jhnen gehoͤrt hatte: ſo ge-
ſtehe ich, daß ich Jhrer darinn nicht geſchonet
habe. Jch wagte es, ihn den gewoͤhnlichen Weg,
durch Wilſons Hand, gehen zu laſſen; weil ich
keinen andern wußte: daher kann ich nicht ſicher
wiſſen, ob Sie ihn bekommen haben. Jn der
That glaube ich vielmehr, daß Sie ihn nicht moͤ-
gen bekommen haben: weil Sie in Jhrem
Schreiben, das meiner Mutter in die Haͤnde ge-
rathen iſt, deſſelben gar nicht erwaͤhnen. Haͤtten
Sie ihn empfangen: ſo denke ich, er wuͤrde Sie
zu ſehr geruͤhrt haben, daß Sie ihn haͤtten ohne
die geringſte Anzeige vorbey laſſen ſollen.
Sie
[83]
Sie haben gehoͤrt, daß ich krank geweſen ſey,
ſchreiben Sie. Es iſt wahr, ich habe einen An-
ſtoß vom kalten Fieber gehabt: allein es war ſo
wenig, daß es mich kaum eine Stunde im Bette
zu ſeyn genoͤthiget hat. Aber ich zweifle nicht,
daß Sie wunderliche Dinge gehoͤrt, und ſich ha-
ben erzaͤhlen laſſen muͤſſen, damit Sie beredet
werden koͤnnten, den Schritt zu thun, den Sie
gethan haben. So lange, bis Sie dieſen Schritt
gethan hatten; ich meyne, bis Sie mit dem nie-
dertraͤchtigen Kerl wieder zuruͤck gegangen waren;
habe ich keine Begebenheit gewußt, die mehr Mit-
leiden verdiente, als Jhr Zufall. ‒ ‒ Denn vor-
her mußte Sie ein jeder entſchuldiget haben, der
nur gewußt, wie man zu Hauſe mit Jhnen um-
gegangen, und Jhre Klugheit und Wachſamkeit
gekannt haͤtte. Aber nun leider! meine Werthe,
ſehen wir, daß man ſich auch auf die weiſeſten
Leute nicht verlaſſen kann, wenn die Liebe,
wie ein Jrrwiſch, ihr verfuͤhreriſches Feuer den
Augen vorhaͤlt.
Meine Mutter ſagt mir, ſie habe Jhnen ge-
antwortet, und Sie gebeten, nicht an mich zu
ſchreiben, weil es mich nur kraͤnken wuͤrde. Ge-
wiß ich bin gekraͤnket, uͤber alle Maßen gekraͤn-
ket, und noch dazu in meiner Hoffnung betro-
gen; das muͤſſen Sie mir erlauben zu ſagen:
denn ich hatte allezeit gedacht, daß niemals ein
ſolches Frauenzimmer, als Sie, bey Jhren Jah-
ren, in der Welt geweſen waͤre.
F 2Jedoch
[84]
Jedoch ich erinnere mich eines Entſcheidungs-
grundes, den Sie einmal gebrauchten; bey Gele-
genheit eines Vorwurfs, der in Geſellſchaft ge-
gen einen vortrefflichen Prediger, welcher keinen
gar vortrefflichen Wandel fuͤhrte, gemacht wur-
de. Predigen und darnach thun, ſagten Sie,
erforderten ganz unterſchiedne Gemuͤthsgaben.
Wenn dieſe in einer Perſon vereinigt waͤren; ſo
machten ſie einen Mann zu einem Heiligen:
gleichwie Witz und Beurtheilungskraft, wenn
ſie beyſammen waͤren, einen großen Geiſt aus-
machten.
Sie entſchieden es damals, wie ich mich be-
ſinne, ſehr artig: aber, halten Sie mich entſchul-
digt, meine Werthe, niemals haben Sie es auf
eine mehr uͤberzeugende Art entſchieden, als durch
den Theil von Jhrer letzten Auffuͤhrung, woruͤber
ich mich beklage.
Meine Liebe zu Jhnen und meine Beyſorge
fuͤr Jhre Ehre haben vielleicht verurſachet, daß
ich ein wenig auf das haͤrteſte geſchrieben. Wo-
fern Sie ſo denken: ſo ſchreiben Sie es auf die
gehoͤrige Rechnung; auf die Rechnung dieſer
Liebe und dieſer Beyſorge. Dadurch wird nichts
mehr, als Gerechtigkeit, widerfahren
Jhrer gekraͤnkten und getreuen
A. H.
Poſtſcript.
Meine Mutter wollte ſich nicht zufrieden geben,
ohne daß ſie ſelbſt meinen Brief laͤſe,
und zwar ehe ich meine Haͤckchen, wie ich mir
vor-
[85]
vorgenommen, geſetzet hatte. Auf die Art hat
ſie unſern vorigen Briefwechſel erfahren und ihn
entſchuldiget.
Sie hat in Wahrheit ſchon vorher Argwohn gehabt;
und auch wohl haben moͤgen: da ſie mich kannte
und meine Liebe zu Jhnen wußte.
Sie nimmt an Jhrem Ungluͤck ſo viel Antheil, daß,
weil ſie denkt, es werde Jhnen ein Troſt, und mir eine
Gefaͤlligkeit ſeyn, ſie ihre Einwilligung dazu giebt,
daß Sie mir die Umſtaͤnde von Jhrer traurigen
Geſchichte weitlaͤuftig ſchreiben moͤgen: jedoch
unter der Bedingung, daß ich ihr alles zeige, was
zwiſchen uns, in Abſicht auf Sie ſelbſt und auf
den ſchaͤndlichſten Kerl, vorgefallen iſt. Jch
habe mich ihr hierinn um ſo viel williger gefaͤllig
erklaͤret: weil die Mittheilung dieſer Nachrichten
Jhnen nicht zum Nachtheil gerathen kann.
Sie moͤgen alſo frey ſchreiben, und die Briefe an
unſer eignes Haus richten.
Meine Mutter verſpricht, mir die Abſchrift von ih-
rem eigenen Briefe an Sie und auch Jhre Ant-
wort darauf zu zeigen. Von der letzten hat ſie
mir eben erſt geſaget. Sie ſuchet ſchon itzo die
Haͤrte ihres Briefes zu entſchuldigen: und meynt,
ich wuͤrde zu ſehr geruͤhret werden, wenn ich ihn
ſehen ſollte. Aber da ich einmal ihr Wort habe,
will ich mich nicht damit abweiſen laſſen.
Jch vermuthe, ihre Zuſchrift wird hart genug gewe-
ſen ſeyn. Das beſorge ich, werden Sie auch von
der meinigen denken. Allein Sie haben mich
ſelbſt gelehret, daß man des Fehlers niemals um
des Freundes willen ſchonen ſolle, und daß viel-
mehr ein großes Verſehen an der Perſon, die wir
hochachten, weniger zu entſchuldigen ſey, als an
einer andern, die uns gleichguͤltig iſt: weil es ei-
nen Vorwurf gegen unſere Wahl, von dieſer Per-
ſon ausmachet, und die Gemuͤthsliebe zu zerſtoͤren
F 3und
[86]
und uns den Urtheilen' der Welt wegen unſerer
Parteylichkeit bloßzuſtellen dienet. Die Ge-
muͤthsliebe, ſage ich noch einmal: denn es iſt un-
moͤglich, daß die Fehler des liebſten Freundes
unſere innere Meynung ihm nicht verſchlimmern,
und dadurch nicht einen Grund zu kuͤnftiger Kalt-
ſinnigkeit und vielleicht zu kuͤnftigem Misvergnuͤ-
gen legen ſollten.
Gott gebe, daß Sie im Stande ſeyn moͤgen, Jhre
Auffuͤhrung, nachdem Sie von Hampſtead abge-
gangen ſind, zu rechtfertigen: gleichwie vor der
Zeit alles edel, großmuͤthig und klug geweſen iſt;
der Kerl ein Teufel, und Sie eine Heilige! ‒ ‒
Jch hoffe inzwiſchen noch, daß Sie es thun koͤn-
nen, und erwarte es daher von Jhnen.
Jch ſende gegenwaͤrtiges durch einen eignen Bothen.
Er wird Jhre Antwort zu der von Jhnen ſelbſt
beſtimmten Zeit abfordern.
Mir iſt bange, der ſcheusliche Boͤſewicht werde bey
dem Poſtamte aufſpuͤren, wo Sie ſich aufhalten,
wofern Sie nicht ſehr behutſam ſind.
Geld und den Willen und den Kopf haben, ein
ſchaͤndlicher Betruͤger zu ſeyn, iſt fuͤr die Uebri-
gen in der Welt zu viel, wenn es bey einem Men-
ſchen zuſammen kommt.
Der
[87]
Der achtzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Wenige Perſonen von jungen Jahren haben
wohl uͤberzeugendere Proben geben koͤn-
nen, als ich ſelbſt, wie wenig wahre Gluͤckſelig-
keit in dem Genuſſe desjenigen, was wir ſelbſt
gewuͤnſchet, zu finden ſey.
Jch will nur ein Beyſpiel von der Wahr-
heit dieſer Anmerkung anfuͤhren. Was wuͤrde
ich vor einigen Wochen darum gegeben haben:
wenn ich von meiner lieben Fraͤulein Howe, auf de-
ren Freundſchaft ich allen meinen uͤbrigen Troſt
und Hoffnung ſetzte, mit einem Briefe beguͤnſti-
get waͤre? Jch ließ mir nicht in den Sinn kom-
men, daß der erſte Brief, mit dem Sie mich be-
ehren wuͤrde, eine ſolche Sprache fuͤhren ſollte,
daß ich deswegen mehr als einmal auf die Un-
terſchrift zuruͤck ſehen muͤßte, damit ich verſichert
waͤre, weil der Name nicht ganz ausgeſchrieben,
daß er nicht von einer andern A. H. unterzeich-
net worden. Denn gewiß, dachte ich, dieß iſt
meiner Schweſter Arabellens Schreibart.
Wahrlich, Fraͤulein Howe; Sie mag mich in
andern Stuͤcken tadeln, ſo viel es Jhr gefaͤllt;
F 4hat
[88]
hat niemals ſo beißend gegen Jhre Freundinn
dergleichen Worte, die bey einem erbitterten Ge-
muͤthe und einem verruͤckten Kopfe geſchrieben
ſind, wiederholen koͤnnen. Sie iſt auch nimmer-
mehr im Stande geweſen, Jhrer Freundinn mit
unfreundlicher Haͤrte und untermengten witzigen
Stichen einen Entſcheidungsgrund wieder zu
Gemuͤthe zu fuͤhren, der vormals von ihr gebrau-
chet worden, als ihr Herz in Luſt und Froͤhlich-
keit durch gute Tage aufgeblaſen war, wie es
meinem Herzen damals ging, und gar nicht be-
fuͤrchtete, daß eben der Grund einſtens ſo ſtrenge
gegen ſie ſelbſt angewandt werden moͤchte.
Allein wie ſchickt es ſich; da meine Gluͤcks-
umſtaͤnde verſchwunden ſind; da mein guter Na-
me verſcherzet, meine Ehre verlohren iſt; denn
weil ich es weiß, bekuͤmmere ich mich nicht dar-
um, wer es mehr wiſſe; da ich aller Freunde, ja
gar aller Hoffnung beraubet bin; wie ſchickt es
ſich, daß ich gegen eine werthe Freundinn mit
hitzigem Muthe deswegen murre und mich be-
ſchwere, weil Sie nicht guͤtiger iſt, als eine leib-
liche Schweſter? ‒ ‒
Jch finde bey der aufſteigenden Bitterkeit,
die ſich mit der Galle in meiner Dinte vermi-
ſchen will, daß ich noch nicht genug nach
meinen Umſtaͤnden gedemuͤthiget bin. Daher
bitte ich Sie um Verzeihung, daß ich meine
Hoffnung zu einiger erwarteten Gewogenheit
vielmehr auf die zaͤrtliche Liebe, die Sie mir
ſonſt zu bezeigen pflegten, als auf das, was ich
nun
[89]
nun verdiene und mir billig bezeiget werden
mag, gebauet habe. Jch will mich bemuͤhen,
eine umſtaͤndliche Antwort auf Jhren Brief zu
geben: ob ſie gleich zu viel Zeit wegnehmen wird,
daß ich gedenken ſollte, ſie ſchon morgen mit Jh-
rem Bothen abzuſenden. Er kann ſeine Reiſe,
wie er ſagt, bis den Sonnabend aufſchieben.
Jch will alſo die ganze Erzaͤhlung am Sonna-
bend fuͤr Sie bereit zu halten ſuchen.
Aber, wie ich mich in allem, was mir begeg-
net iſt, vertheidigen ſoll, kann ich nicht ſagen.
Denn in einem Theil eben der Zeit, in welcher
meine Auffuͤhrung tadelnswuͤrdig geweſen zu
ſeyn ſcheinet, bin ich nicht bey mir ſelbſt geweſen:
und ich weiß bis dieſe Stunde noch nicht alle
Mittel, die man gebrauchet hat, mich zu betruͤgen
und zu ſchanden zu machen.
Sie berichten, daß Sie mir in Jhrem erſten
Briefe eine ſolche Nachricht von dem ſchaͤndli-
chen Hauſe, worinn ich geweſen bin, und des
Tomlinſons wegen ſolche Warnungen gegeben
haben, daß Sie ſich wundern, wie ich mir habe
in den Sinn kommen laſſen koͤnnen, wieder zu-
ruͤckzugehen.
Ach! meine Wertheſte, ich bin betruͤgeriſcher
Weiſe, hoͤchſt ſchaͤndlicher und betruͤgeriſcher
Weiſe zuruͤckgebracht: wie Sie an ſeinem Orte
hoͤren ſollen.
Ohne aus Jhrer mir etwa zugedachten
Nachricht zu wiſſen, daß das Haus ſo ſehr
ſchaͤndlich waͤre, misſielen mir die Leute viel zu
F 5ſehr,
[90]
ſehr, daß ich jemals freywillig dahin zuruͤckge-
kehret ſeyn wuͤrde. Allein haͤtten Sie mir wirk-
lich ſolche Warnungen vor Tomlinſon und dem
Hauſe geſchrieben, als Sie zu thun willens
geweſen zu ſeyn ſcheinen: ſo haͤtten dieſelben mir
nothwendig, wenn ſie beyzeiten an mich gekom-
men waͤren, unbeſchreibliche Dienſte thun muͤſ-
ſen. Aber Sie haben nicht ein Wort weder von
dem einen noch dem andern in Jhren erſten,
oder denen dreyen Briefen gedacht, wovon Sie
mir ſo hitzig vorhalten, daß Sie ſie an mich
abgelaſſen haͤtten. Jch will den, welchen ich
habe, einſchließen, um Sie zu uͤberzeu-
gen(*).
Wenn Sie mir noch dazu erzaͤhlen, daß Jhr
Bothe mir ſelbſt Jhren zweyten Brief uͤberlie-
fert und mich ſo beſchrieben habe, als wenn ich,
in einem wunderlichen Zuſtande, auf einem
Ruhebette gelegen, aufgeſchwollen, und
roth von Farbe, und Sie wiſſen nicht wie:
ſo machen Sie mich ganz irre und verwirrt.
Gott erbarme ſich der armen Clariſſa Har-
lowe! ‒ ‒ Was kann dieß zu bedeuten haben!
‒ ‒ Wer war der Bothe, den Sie an mich
ſchickten? War er auch einer von Lovelacens
Werkzeugen? ‒ ‒ Konnte denn keiner, ohne nur
Bundsgenoſſen von dem Menſchen, die entweder
ſich als ſolche auf den Weg begeben hat-
ten,
[91]
ten, oder hernach zu ſolchen gemacht waren,
zu mir kommen? ‒ ‒ Jch weiß nicht was ich
aus einer Sylbe hievon machen ſoll! ‒ ‒ Jn
Wahrheit, ich weiß es nicht.
Wir wollen einmal ſehen. Sie ſagen, dieß
ſey geſchehen, ehe ich von Hampſtead abgegan-
gen! ‒ ‒ Damals war mein Verſtand noch nicht
angegriffen ‒ ‒ Auch war mir der Kopf niemals
vom Wein eingenommen geweſen! Es waͤre et-
was ſeltſames, wenn das geweſen ſeyn ſollte!
Wie konnte man mich denn in einem wunder-
lichen Zuſtande, aufgeſchwollen und roth
von Farbe, Sie wiſſen nicht wie, antreffen!
‒ ‒ Was fuͤr eine ſchaͤndliche, was fuͤr eine haſ-
ſenswuͤrdige Perſon ſoll ich gleichwohl, nach Jh-
res Bothen Vorſtellung, geſpielet haben!
Allein in der That, ich weiß nichts von ir-
gend einem Bothen von Jhnen.
Weil ich mich zu Hampſtead geſichert glaub-
te: blieb ich laͤnger da, als ich ſonſt gethan haben
wuͤrde; in Hoffnung, den Brief zu bekommen,
welchen Sie mir in der kurzen Zuſchrift vom 9ten
verſprochen hatten, die mir von meinem eignen
Bothen uͤberbracht war, und in der Sie uͤber
ſich nehmen, nach Fr. Townſend zu ſchicken und
dieſelbe zu meinem Beſten zu beſprechen (*).
Jch wunderte mich, daß ich nichts von Jhnen
hoͤrte: und man ſagte mir, Sie waͤren krank.
Zu anderer Zeit erzaͤhlte man mir, Jhre Mutter
und Sie haͤtten meinetwegen einen harten Wort-
wechſel
[92]
wechſel gehabt, und Sie haͤtten darauf Herrn
Hickmanns Beſuch nicht annehmen wollen. Auf
die Art vermuthete ich zu einer Zeit, daß Sie
nicht im Stande waͤren zu ſchreiben: zu einer
andern, daß Jhrer Mutter Verbot gehoͤriges
Gewicht bey Jhnen haͤtte. Allein nunmehr
zweifle ich gar nicht, daß der boͤſe Menſch Jhre
Briefe aufgefangen habe: und wuͤnſche nur, daß
er nicht auch Mittel gefunden, Jhren Bothen
zu beſtechen, damit er Jhnen eine ſo ſeltſame
Geſchichte erzaͤhlen moͤchte.
Es waͤre am Sonntage, den 11ten Jun. ge-
weſen, ſagen Sie, daß der Bothe mir den Brief
gegeben. Jch war an dem Tage zweymal mit
Frau Moore in der Kirche. Herr Lovelace war
unterdeſſen in ihrem Hauſe, wo er ſeinen Tiſch
hatte, und auch ſeine Wohnung aufſchlagen woll-
te: aber dieß wollte ich nicht zulaſſen, ob ich
gleich das andere nicht hindern konnte. Jn ei-
ner von dieſen Zeiten muß es geweſen ſeyn, daß
er Gelegenheit gehabt, an dem Menſchen zu ar-
beiten. Das werden Sie leicht herausbringen,
meine Werthe: wenn Sie ſich nur nach der Zeit,
da er in Frau Moorens Haus angekommen, und
nach andern Umſtaͤnden von dem wunderlichen
Zuſtande, worinn er mich auf einem Ruhebette
und ſo weiter gefunden zu haben vorgiebet, er-
kundigen.
Haͤtte mich jemand nachher geſehen, da ich
verraͤtheriſcher Weiſe wieder in das ſchaͤndliche
Haus zuruͤckgebracht war, unter der Wirkung
boͤſer
[93]
boͤſer Traͤnke arbeitete und in der That' meines
Verſtandes beraubet war; denn dieß iſt mein
ſchreckliches Schickſal geweſen, wie Sie hoͤren
ſollen: ſo haͤtte ich vielleicht aufgeſchwollen, und
roth, und ich weiß ſelbſt nicht wie, ausſehen
moͤgen. Allein ſollten ſie nun ihre arme Clariſſa
ſehen, oder haͤtten Sie dieſelbe zu Hampſtead geſe-
hen, ehe ſie die ſchaͤndlichſte unter allen gewaltſa-
men Beſchimpfungen gelitten hatte: Sie wuͤr-
den ſie gewiß nicht fuͤr aufgeſchwollen und
rothgefaͤrbet halten; nein in Wahrheit nicht.
Mit einem Worte, ich habe die Perſon nim-
mermehr ſeyn koͤnnen, die ihr Bothe geſehen hat:
und kann auch nicht errathen, wo es mirklich je-
mand geweſen iſt, wer es geweſen.
Nun will ich, ſo kurz, als es die Beſchaffen-
heit der Sache leiden will, den ſcheuslichern Theil
meiner betruͤbten Geſchichte vorzuſtellen anfangen.
Jch muß doch etwas umſtaͤndlich ſchreiben, da-
mit Sie mich nicht zu einiger Zuruͤckhaltung
oder Bemaͤntelung aufgelegt anſehen. Das
letztere brauche ich nicht: ſo viel ich mir bewußt
bin. Machte ich mich aber des erſtern gegen
Sie ſchuldig: ſo wuͤrde keine Entſchuldigung fuͤr
mich ſeyn. Gleichwohl wuͤrden Sie Mitleiden
mit mir haben: wenn Sie wuͤßten, wie mein
Herz unter der Laſt der Vorſtellungen, daß ich an
ſo betruͤbte Dinge wieder gedenken und ſie nach
der Reihe erzaͤhlen ſoll, verſinket.
Weil es vielleicht nicht moͤglich ſeyn wird,
alles, was ich zu ſchreiben habe, auch einmal in
zween
[94]
zweeu oder dreyen Briefen zuſammenzufaſſen:
ſo will ich mit meiner Geſchichte einen neuen
Brief anfangen und alles mit einander uͤberſen-
den; ob es gleich zu verſchiedenen Zeiten, ſo wie
ich dazu geſchickt ſeyn mag, geſchrieben ſeyn wird.
Erlauben Sie mir, meine Werthe, hier ein
wenig inne zu halten, und mich zu unter-
ſchreiben
Jhre beſtaͤndig ergebene und verbundene
Clariſſa Harlowe.
Der neunzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Worauf der Leſer im V. Theil S. 596.
verwieſen iſt.
Er hatte mich zu Hampſtead aufgeſpuͤret. Es
war etwas wunderbares: denn ich weiß
noch nicht, durch was fuͤr Mittel.
Jch wollte Jhnen in meinem Briefchen vom
9ten (*) nicht gern etwas davon melden: weil
ich beſorgte, Sie wuͤrden meinetwegen in Furcht
daruͤber gerathen; und außer dem damals noch
hoffete, Jhnen einen kuͤrzern und gluͤcklichern
Aus-
[95]
Ausgang der Sache, durch Jhren Beyſtand,
eheſtens melden zu koͤnnen, als der wirkliche Er-
folg fuͤr mich geweſen iſt.
- Hierauf giebet ſie Nachricht von allem,
was zu Hampſtead zwiſchen ihr, Herrn
Lovelace, Capitain Tomlinſon und den
Weibsleuten daſelbſt vorgegangen iſt.
Es iſt eben das, was Herr Lovelace ſchon
ſo weitlaͤuftig erzaͤhlet hat.
Da Herr Lovelace alles, was er ſagte, und
alles, was Capitain Tomlinſon auf das nach-
druͤcklichſte vorſtellen konnte, nicht tuͤchtig befand,
mich zu bereden, daß ich eine ſo offenbar vorſetz-
liche und ſo gewaltſame Beſchimpfung vergeben
ſollte: ſo gruͤndete er alle ſeine Hoffnung auf ei-
nen Beſuch, den mir die Lady Eliſabeth Lawran-
ce und Fraͤulein Montague abſtatten ſollten.
Unter meinen ungewiſſen Umſtaͤnden, da alle
meine Ausſichten ſo finſter waren, wußte ich nicht,
zu wem ich noch zuletzt meine Zuflucht zu neh-
men genoͤthigt werden moͤchte. Und weil dieſe
Frauenzimmer den beſten Ruf hatten, ſo daß ich
Urſache hatte zu bedauren, daß ich mich nicht
ſchon anfangs, als ich den Schutz meiner eignen
Freunde verſcherzet, in ihren Schutz begeben
haͤtte: ſo dachte ich, ich wollte eine Unterredung
mit ihnen eben nicht fliehen; ob ich gleich gegen
ihren Verwandten viel zu gleichguͤltig war, daß ich
ſie haͤtte ſuchen ſollen, da ich nicht zweifelte, es wuͤr-
de
[96]
de eine von den Abſichten ihres Beſuchs auf
meine Ausſoͤhnung mit ihm zielen.
Am Montage, den 12ten Jun. kamen dieſe
vermeynte vornehme Frauenzimmer nach Hamp-
ſtead: und ihr Anverwandter ſtellte mich ihnen,
und ſie mir, vor.
Sie waren reich geputzet und mit Juwelen
behangen. Die, welche die vorgegebene Lady
Eliſabeth trug, waren ſonderlich ſehr fein.
Sie kamen in einer Kutſche mit vier Pfer-
den, die nach ihrem Geſtaͤndniſſe nur gemiethet
war, weil ihre eigne unterdeſſen zu London aus-
gebeſſert werden ſollte: ein Vorgeben, welches,
wie ich nun merke, dazu gebraucht wurde, damit
ich den Betrug nicht daraus muthmaßen moͤch-
te, daß die Wapen der wirklichen Lady auf der
Kutſche fehlten. Die Lady Eliſabeth hatte ihre
Kammerfrau bey ſich, welche ſie Morriſon nann-
te, eine ſittſame landmaͤßige Perſon.
Jch hatte gehoͤrt, daß die Lady Eliſabeth eine
feine Frau, und die Fraͤulein Montague ein jun-
ges ſchoͤnes Frauenzimmer, hoͤflich, angenehm und
voller Lebhaftigkeit waͤre. So waren auch dieſe
Betruͤgerinnen. Da ich keine von beyden jemals
geſehen hatte: ſo fiel mir nicht der geringſte
Argwohn ein, daß ſie nicht in der That die Frau-
enzimmer, deren Perſon ſie vorſtelleten, ſeyn ſoll-
ten. Ja weil mich ihre reiche Kleidung ein we-
nig ſtutzig machte: ſo konnte ich mich nicht em-
brechen, ich Thoͤrinn! meinen Anzug zu entſchul-
digen.
Die
[97]
Die vermeynte Lady Eliſabeth erzaͤhlte mir
hierauf, daß ihr Enkel ihnen Nachricht gegeben
haͤtte, wie die Sachen zwiſchen uns ſtuͤnden.
Und ob ſie gleich geſtehen muͤßte, es waͤre ihr ſehr
lieb, daß er keine ſolche Geringſchaͤtzung gegen
den Lord und ſie bewieſen haͤtte, als ſie nach dem
ausgebreiteten Geruͤchte, welches ſie gleichwohl in
Anſehung der dazu gehabten Urſachen ſehr billig-
ten, zu befuͤrchten Grund gehabt: ſo waͤre es
doch ihr und ihrer Neffe Montague ſehr nahe ge-
gangen, und wuͤrde der ganzen Familie eben ſo
nahe gehen, daß ſie ein ſo großes Misverſtaͤndniß
zwiſchen uns noch gegenwaͤrtig finden ſollte, wel-
ches alle ihre Hoffnungen, wofern es nicht abge-
than wuͤrde, weit hinausſetzen moͤchte.
Sie koͤnnte leichtlich ſagen, ſprach ſie, wer
Schuld haͤtte, ‒ ‒ und warf dabey einen ſo wohl
zornigen als veraͤchtlichen Blick auf ihn. Sie
fragte ihn, wie es ihm moͤglich geweſen waͤre, ei-
ne ſo reizende Fraͤulein; ſo nannte ſie mich; auf
eine ſolche Art zu beleidigen, daß es zu einem ſo
heftigen Unwillen Anlaß geben ſollte.
Er ſtellte ſich, als wenn er vor Ehrfurcht
zur Schaam und zum Stillſchweigen gebracht
waͤre.
Meine wertheſte Baſe, fuhr ſie fort und
faßte mich bey der Hand; ich muß ſie meine
Baſe nennen, ſo wohl aus Liebe, als auch damit
ich dem loͤblichen Vorſchlag ihres Onkels gemaͤß
handeln; erlauben ſie mir, nicht eine Fuͤrſpreche-
rinn, ſondern nur eine Mittelsperſon fuͤr ihn zu
Sechſter Theil. Gſeyn:
[98]
ſeyn: und das nicht ſo viel ſeinetwegen, als um
mein ſelbſt, um meiner Charlotte und um unſerer
ganzen Familie willen. Seine unanſtaͤndige Auf-
fuͤhrung gegen ſie mag vielleicht von einer allzu
zaͤrtlichen und bedenklichen Beſchaffenheit ſeyn,
daß man ſich genau darnach erkundigen duͤrfte.
Aber, da er verſichert, daß es keine vorſetzliche
Beleidigung geweſen, es mag nun ſeyn, meine
Wertheſte; denn ich fing ſchon an, unwillig dar-
uͤber zu werden; oder nicht ſeyn; da er ſeine Reue
daruͤber bezeiget; und niemals habe ich jemand
eine empfindlichere Reue uͤber eine Beleidigung an
den Tag legen geſehen, als er hierbey wircklich
that; und da endlich die Beleidigung ſelbſt noch
wieder gut zu machen iſt: ſo laſſen ſie Uns fuͤr
dieß einzige mal ihm noch vergeben, und dadurch
dieſem ſo oft fehlenden Menſchen eine Verbind-
lichkeit auflegen. ‒ ‒ Laſſen ſie Uns, ſage ich,
meine Wertheſte: denn, mein Herr; und ſo
wandte ſie ſich zu ihm; eine Beleidigung gegen
eine ſo unvergleichliche Fraͤulein, als dieß iſt,
muß eine Beleidigung gegen mich, gegen ihre
Baſe allhier, und gegen alle tugendhafte Per-
ſonen unſeres Geſchlechtes, ſeyn.
Sehen Sie, meine liebe Freundinn, was er
fuͤr eine Creatur ausgeſucht hatte! Haͤtten Sie
wohl denken koͤnnen, daß eine Weibsperſon in
der Welt waͤre, die ſich ſo ausdruͤcken und doch
von ſchaͤndlichem Gemuͤthe ſeyn koͤnnte? Allein
ſie hatte ihren Unterricht hauptſaͤchlich von ihm,
und das noch dazu ſchriftlich, wie ich Urſache ha-
be
[99]
be zu denken. Denn ich habe mich nachher be-
ſonnen, daß vor meinen Augen dieſe Lady Eliſa-
beth; welche oft von ihrem Stuhl aufſtand, und
mit ſolcher Bewegung, als wenn ſie vor herzli-
cher Freude nicht ſtill ſitzen koͤnnte, an das andere
Ende des Zimmers ſpatzieren gieng; einmal ein
Papier aus ihrer Schnuͤrbruſt hervorzog, hinein-
ſahe, und es darauf wieder hinſteckte. Sie mag
es wohl oͤfterer gethan, und ich es nicht bemerket
haben: denn ich ließ mir gar nicht in den Sinn
kommen, daß ſolche Betruͤgerinnen in der Welt
ſeyn ſollten.
Jch konnte mich nicht entbrechen, auf das,
was ſie ſagte, viele Aufmerkſamkeit zu richten.
Jch fand, daß die Thraͤnen ſchon heraus brechen
wollten. Jch zog mein Schnupftuch aus und
ſchwieg ſtille. Mir war ſeit langer Zeit von kei-
ner Perſon von Stande und Vorzuͤgen; und da-
fuͤr ſahe ich ſie an; ſo leutſelig begegnet worden:
und ich durfte dem Ton von meiner Stimme
nicht trauen.
Die vermeynte Fraͤulein Montague ſtimmte
bey dieſer Gelegenheit mit ein. Sie zog ihren
Stuhl ganz nahe an mich, faßte mich bey der an-
dern Hand, und bat mich, ihrem Vetter zu ver-
geben und mir gefallen zu laſſen, mich ſelbſt als
eine der vornehmſten Perſonen einer Familie, die
lange, ſehr lange, nach der Ehre einer Verbin-
dung mit mir begierig geweſen waͤre, in dieſe Fa-
milie zu verſetzen.
G 2Jch
[100]
Jch ſchaͤme mich itzo, werthe Freundinn, da
ich weiß, was es fuͤr nichtswuͤrdige Perſonen ge-
weſen ſind, Jhnen alle das Zaͤrtliche, das Verbind-
liche, und das Ehrerbietige zu wiederholen, was
ich zu denſelben ſagte.
Darauf kam der nichtswuͤrdige Menſch ſelbſt
hervor. Er warf ſich zu meinen Fuͤßen. Wie
war ich beſetzt! ‒ ‒ Die Weibsleute hielten, ei-
ne, meine rechte, die andere, meine linke Hand.
Die vermeynte Fraͤulein Montague druͤckte mehr
als einmal die Hand, welche ſie gefaßt hatte, an
ihre Lippen. Der boͤſe Menſch bat auf den Knie-
en flehentlich um Vergebung, und ſtellte mir meine
gluͤcklichen und ungluͤcklichen Umſtaͤnde vor Augen,
die ich zu erwarteu haben wuͤrde, nachdem ich ihm
entweder vergeben oder nicht vergeben wollte. Al-
les, was er unter den vorhergehenden Vorſtellungen
von ihm und von dem Capitain Tomlinſon fuͤr
geſchickt hielte, mich zu ruͤhren, wiederholte er.
Er gelobte, er verſprach, er bat die vermeynten
ehrlichen Frauenzimmer, fuͤr ihn gut zu ſagen:
und dieſe ſetzten ihre Ehre fuͤr ihn zum Pfande.
Jn Wahrheit, meine Wertheſte, ich war in
der Enge, vollkommen in der Enge. Es war
mir leid, daß ich dieſen Beſuch zugelaſſen hatte.
Denn ich wußte nicht, wie ich, bey der Zaͤrtlichkeit
gegen ſo wuͤrdige Anverwandten, wofuͤr ich ſie
anſahe, einem ſo nahen Angehoͤrigen von ihnen
ſo frey begegnen ſollte, als er es verdiente. ‒ ‒
Dadurch verlohren meine Gruͤnde und meine
Entſchließungen ihre groͤßte Staͤrke.
Jch
[101]
Jch ſtellte inzwiſchen vor, daß ich mich an
Sie gewandt haͤtte. Jch erwartete alle Stunden,
ſagte ich, von Jhnen eine Antwort auf einen mei-
ner Briefe, welche mein kuͤnſtiges Schickſal ent-
ſcheiden wuͤrde.
Sie erboten ſich dagegen, ſich ſelbſt in Per-
ſon zu ihrem eignen Beſten, wie ſie es mit vie-
ler Hoͤflichkeit ausdruͤckten, an Sie zu wenden.
Sie baten mich, an Sie zu ſchreiben, daß Sie
Jhre Antwort beſchleunigen moͤchten.
Jch verſetzte, ich wuͤßte gewiß, daß Sie den Au-
genblick ſchreiben wuͤrden, ſo bald der Erfolg von
einem Geſuch bey einer dritten Perſon Sie in den
Stand dazu ſetzen wuͤrde ‒ ‒ Allein was die Er-
fuͤllung ihres Begehrens fuͤr ihren Anverwandten
betraͤfe: ſo kaͤme die nicht auf die erwartete Ant-
wort an. Denn davon, ſie wuͤrden es mir ver-
verzeihen, waͤre die Frage nicht. Jch wuͤnſchte
ihm alles Gutes. Jch wuͤnſchte, daß er gluͤcklich
ſeyn moͤchte. Aber ich waͤre uͤberzeuget, daß we-
der ich ihn, noch er mich, gluͤcklich machen
koͤnnte.
O! wie verſprach hierauf der nichtswuͤrdige
Menſch von neuem! ‒ ‒ Wie gelobte er! ‒ ‒
Wie flehentlich bat er! ‒ ‒ Und wie nachdruͤck-
liche Vorſtellungen thaten die Weibsleute! Sie
verpfaͤndeten ſich ſelbſt und die Ehre ihrer ganzen
Famlie fuͤr ſein gerechtes, ſein liebreiches, ſein
zaͤrtliches Bezeigen gegen mich.
Kurz, meine werthe Freundinn, mir ward
ſo hart zugeſetzet, daß ich einen vortheilhaftern
G 3Vertrag,
[102]
Vertrag, als ich willens geweſen war, einzuge-
hen genoͤthigt wurde. Jch wollte Jhre Ant-
wort auf meinen Brief erwarten, ſagte ich: und
wo dieſe die Maaßregeln, wozu ich mich ent-
ſchloſſen, und die Lebensart, die ich mir vorge-
nommen haͤtte, zweifelhaft und ſchwierig machte;
ſo wollte ich alsdenn die Sache uͤberlegen, und
wenn ſie es erlauben wollten, ihnen alles vorſtel-
len, und gemeinſchaftlich mit Jhnen, meine lieb-
ſte Freundinn, ihren Rath daruͤber hoͤren, als
wenn die eine meine eigne Tante, und die andere
meine eigne Baſe waͤre.
Daruͤber vergoſſen ſie Thraͤnen ‒ ‒ Freu-
denthraͤnen hießen es bey ihnen ‒ ‒ Aber ich
halte ſie nach der Zeit zu ihrer eignen Ehre, ſo
gottlos ſie auch ſind, fuͤr Thraͤnen, die eine voruͤ-
bergehende Regung des Gewiſſens erzeugte.
Denn die vermeynte Fraͤulein Montague, wandte
ſich um, und ſagte, wie ich mich beſinne, es waͤ-
re nicht auszuhalten.
Hingegen Herr Lovelace ließ ſich nicht ſo leicht
befriedigen. Vielleicht hatte er ſeine ſchaͤndliche
Maaßregeln ſchon feſt geſetzet, und mochte alſo
gern einen Vorwand wider mich haben wollen.
Er biß ſich auf die Lefzen. ‒ ‒ Er waͤre nur all-
zuviel, ſprach er, zu ſolcher Gleichguͤltigkeit und
ſolcher Kaltſinnigkeit ſelbſt mitten unter dem gluͤck-
lichſten Anſchein fuͤr ſich gewoͤhnet ‒ ‒ Jch haͤt-
te ihm wohl bey zwanzig Gelegenheiten zu ſeinem
groͤßten Leidweſen gezeiget, daß alle Gewogenheit,
die ich ihm haͤtte erweiſen wollen, ſich auf ‒ ‒
Hier
[103]
Hier brach er ab ‒ ‒ und nicht auf meine Nei-
gung gruͤnden ſollte.
Dieß haͤtte beynahe alles wieder umgeſtoßen.
Jch ward ausnehmend dadurch beleidiget. Aber
die vermeynten Anverwandtinnen ſchlugen ſich ins
Mittel. Die aͤltere gab ihm einen ernſtlichen
Verweis. Er muͤßte, ſprach ſie, mit dem, was
ich geſagt haͤtte, zufrieden ſeyn. Sie verlangte
keine andere Bedingung. Und was, mein Herr,
fuhr ſie mit einer gebieteriſchen Miene fort, woll-
ten ſie Fehler begehen und dafuͤr Belohnung
erwarten?
Hiernaͤchſt unterhielten ſie mich mit einer an-
genehmen Unterredung ‒ ‒ Die vermeynte La-
dy erklaͤrte ſich, daß ſie, der Lord M. und die
Lady Sarah ſich unmittelbar und perſoͤnlich an-
gelegen ſeyn laſſen wollten, eine allgemeine Aus-
ſoͤhnung zwiſchen den beyden Familien zu Stande
zu bringen, und dieß entweder in offenbarer oder
geheimer Verabredung mit meinem Onkel Harlo-
we, wie man es fuͤr gut finden wuͤrde. Die
Feindſeligkeiten waͤren an einer Seite ſehr weit
getrieben, ſagte ſie: und an der andern haͤtte man
zu wenig Sorgfalt bewieſen, die erbitterten Ge-
muͤther zu beſaͤnftigen oder zu heilen. Mein
Vater ſollte ſehen, daß ſie mit ihm als einem
Bruder und einem Freunde umgehen koͤnnten:
und mein Bruder und meine Schweſter ſollten
uͤberzeuget werden, daß keine Urſache zu der Ei-
ferſucht oder dem Neide vorhanden waͤre, welchen
G 4ſie
[104]
ſie aus allzu unanſtaͤndigen Bewegungsgruͤnden,
als daß man ſie geſtehen moͤchte, gefaſſet haͤtten.
Konnte, ich wohl anders, als vergnuͤgt mit
ihnen ſeyn, wertheſte Freundinn? ‒ ‒
Erlauben Sie mir, hier abzubrechen. Die
Arbeit wird itzo zu ſchwer fuͤr das Herz
Jhrer
Clariſſa Harlowe.
Der zwanzigſte Brief
Die Fortſetzung
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Jch befand mich ſehr uͤbel, und ward genoͤthigt,
meine Feder niederzulegen. Jch dachte, ich
wurde eine Ohnmacht bekommen haben. Aber
nun iſt mir beſſer ‒ ‒ Alſo will ich fortfahren.
Je mehr wir ſchwatzten: deſto mehr ſchienen
die verſtellten Frauenzimmer fuͤr mich eingenom-
men zu werden. Die Lady Eliſabeth hatte Fr.
Moore heraufgerufen, und fragte ſie, ob ſie fuͤr
ihre Neffe und ſie ſelbſt, ingleichen fuͤr ihre Kam-
merfrau und zween Diener auf drey oder vier
Tage noch Gelegenheit haͤtte?
Herr Lovelace antwortete an ihrer Stelle, ja
ſie haͤtte noch Gelegenheit.
Sie
[105]
Sie wollte ihre werthe Baſe Lovelacen nicht
fragen; erlauben ſie mir, meine Allerliebſte,
ſagte ſie dabey leiſe zu mir, dieſe Art zu reden
vor Fremden zu gebrauchen! ‒ ‒ Jch will
ihres Onkels Geheimniß nicht verrathen;
ob ſie willkommen ſeyn wuͤrde, oder nicht, wenn
ſie ihr ſo nahe waͤre. Allein ſo lange ſie in dieſen
Gegenden bleiben ſollte, wollte ſie alle Abend
herauf kommen ‒ ‒ Was ſagen ſie dazu, Baſe
Charlotte?
Die vermeynte Charlotte antwortete, ihr wuͤr-
de es vor allen Dingen angenehm ſeyn.
Die Lady Eliſabeth nannte ſie ein gefaͤlliges
Maͤgdchen. Jhr gefiele der Ort, ſagte ſie, Jh-
re Baſe Leeſon wuͤrde ſie entſchuldigt halten.
Die Luft und meine Geſellſchaft wuͤrde ihr gut
ſeyn. Sie waͤre niemals gern in dem raͤucherich-
ten London, wenn ſie es aͤndern koͤnnte. Kurz,
meine Wertheſte, ſprach ſie zu mir, ich will hier
bleiben, bis ſie von der Fraͤulein Howe Nach-
richt haben und mir ihr Wort geben, mit mir
nach Glenham-Hall zu gehen. Nicht einen Au-
genblick will ich aus ihrer Geſellſchaft ſeyn, wenn
ich ſie haben kann. Stedman, mein Anwald,
mag hierher zu mir kommen, meinen Willen zu
vernehmen: da der Weg von London bis hierher
ſo kurz iſt. Baſe Charlotte, ein Wort mit ih-
nen, Kind.
Sie gingen an das andere Ende des Zim-
mers, und ſchwatzten von ihren Nachtkleidern.
G 5Die
[106]
Die Fraͤulein Charlotte ſagte, man koͤnnte
Morriſon darnach ſchicken.
Das iſt wahr, verſetzte die andere ‒ ‒ Aber
ſie haͤtte einige Briefſchaften in ihrem geheimen
Kaͤſtchen, die ſie herauf haben muͤßte. Und ſie
wiſſen, Charlotte, daß ich die Schluͤſſel dazu nie-
mand anvertraue.
Koͤnnte Morriſon das Kaͤſtchen nicht herauf-
bringen?
Nein. Sie glaubte, es waͤre am ſicherſten
da, wo es waͤre. Sie haͤtte von einem Stra-
ßenraub gehoͤrt, der erſt ſeit zween Tagen unten
am Huͤgel von Hampſtead veruͤbet worden: und
ſie wuͤrde ungluͤcklich ſeyn, wenn ſie ihr Kaͤſtchen
verloͤre.
Alſo muͤßte ſie nur nach London fahren und
ſich abkleiden. Sie wollte ihre Juwelen dort zu-
ruͤcklaſſen und ſo wiederkommen. Alsdenn wuͤr-
de es ihr in allen Stuͤcken ein großes Theil be-
quemer ſeyn.
Jch meines Theils wunderte mich, daß ſie
mit ihren Juwelen herauf kamen. Allein das
ſollte als eine Achtung fuͤr mich angeſehen wer-
den. Außerdem ließen ſie ſich verlauten, daß ſie
noch einen andern Staatsbeſuch abzulegen wil-
lens geweſen waͤren, wenn ſie mich nicht ſo un-
ausſprechlich einnehmend befunden haͤtten.
Sie ſchwatzten laut genug, daß ich ſie hoͤren
konnte: ſonder Zweifel mit Fleiß, ob ſie
ſich gleich ſtelleten, als wenn ſie leiſe reden woll-
ten.
[107]
ten. Jhre Unterredung endigte ſich mit großen
Lobeserhebungen von mir.
Jch war nicht ſo thoͤricht, daß ich ihre Lob-
ſpruͤche glaubte oder dadurch aufgeblaſen wurde.
Jnzwiſchen, weil ich keinen Argwohn gegen ſie
hatte: war ich nicht uͤbel mit einem ſo vortheil-
haften Anfange einer Bekanntſchaft mit vorneh-
men Frauenzimmern, von denen ich allemal mit
Ruhm und Ehre hatte reden gehoͤret, zufrieden;
ich mochte nun ihre Verwandtinn werden, oder
nicht. Und gleichwohl dachte ich ſchon damals,
ſo hoch ich auch von ihnen erhoben wurde, daß
ſie in einer oder der andern Betrachtung; ob ich
gleich nicht eben wußte, in welcher; lange nicht
an dasjenige reichten, was ich mir von ihnen
vorgeſtellet hatte.
Der große Betruͤger war unterdeſſen auch
an dem andern Ende des Zimmers, nur auf ei-
ner andern Seite: nach aller Wahrſcheinlichkeit
aus keiner andern Urſache, als damit er mir Ge-
legenheit geben moͤchte, jene verabredete Lobeser-
hebungen zu hoͤren. ‒ ‒ Er ſahe in ein Buch,
welches ſeine Aufmerkſamkeit nicht auf einen Au-
genblick an ſich gezogen haben wuͤrde, wenn nicht
alles ſo verabredet geweſen waͤre. Es war Tay-
lors heiliges Leben und Sterben.
Als die verkleideten Frauenzimmer wieder zu
mir gingen, kam er auch zu mir, und hatte das
Buch in der Hand. ‒ ‒ Ein lebhaftes Buch,
meine Wertheſte! ‒ ‒ Dieſer alte Gottesgelehr-
te nimmt, wie ich ſehe, eine gewaltig blumen-
reiche
[108]
reiche Schreibart an, bey einer ſehr ernſthaften
und wichtigen Sache. Es faͤllt mir dabey ein
auf dem Lande gewoͤhnliches Leichenbegaͤngniß ein,
wo die jungen Weibsperſonen, zu Ehren ihrer
verſtorbenen Geſpielinn, ſonderlich wenn ſie eine
Jungfer geweſen, oder dafuͤr gehalten worden
iſt, aus ihrem Sarge ein Blumenbette machen.
Darauf legte er das Buch weg, und drehete
ſich mit einer von ſeinen gewoͤhnlichen luſtigen
Mienen auf einem Fuße herum. So haben
ſie ſich wirklich vorgenommen, meine Lady und
Fraͤulein, ihren Aufenthalt bey meiner reizenden
Schoͤnen zu nehmen?
Ja, in Wahrheit.
Es ſind wohl niemals verſchmitztere und liſti-
gere Betruͤgerinnen in der Welt geweſen, als
dieſe Weibsleute. Gewiß ſie hatten recht aus-
gelernt und den Handel lange getrieben. Jedoch
waren ſie artig und mußten eine gute Erziehung
gehabt haben ‒ ‒ Vielleicht moͤgen ſie vormals
eben ſo gut, als ich, ihrer Eltern Luſt und Ver-
gnuͤgen geweſen, und wer weiß durch was fuͤr
Kuͤnſte, an Seel und Leib verderbet worden
ſeyn! ‒ ‒ O meine liebe Freundinn, wie frucht-
bar iſt dieſe Betrachtung!
Aber der Kerl! ‒ ‒ Es muß niemals ein
ſo unergruͤndlicher Menſch, ein ſo vollkommener
Betruͤger auf Erden geweſen ſeyn: den abſcheu-
lichen Tomlinſon ausgenommen, dem ſeine Jahre
und Ernſthaftigkeit, bey einer Gruͤndlichkeit im
Denken und Urtheilen, die etwas außerordent-
liches
[109]
liches ſchien, Vorzuͤge in der Betruͤgerey gaben,
wie man gedacht haben moͤchte, welche jener noch
nicht Zeit gehabt hatte zu erlangen. Es iſt et-
was hartes, recht ſehr hartes, daß ich in die Be-
kanntſchaft mit zween ſolchen Buben habe gera-
then ſollen; da nicht zween von der Art mehr,
wie ich hoffe, in der Welt zu finden ſind: ‒ ‒
die beyde ſo feſt entſchloſſen geweſen ſind, die un-
menſchlichſten und treuloſeſten Anſchlaͤge gegen
eine arme junge Perſon, welche keinem von ihnen
jemals Leid gethan oder gewuͤnſchet hatte, fort-
zutreiben.
Laſſen Sie ſich mit der folgenden kurzen Nach-
richt von dem Betragen jener Weibsbilder und
dieſes Menſchen gegen einander dienen.
Herr Lovelace wandte ſich mit großer Ehrer-
bietung zu ſeiner vorgegebenen Tante, und be-
zeigte gegen alles, was ſie ſagte, viele Achtung.
Er ließ ihr bey den Antworten und eintreibenden
Vorwuͤrfen, welche zwiſchen ihnen vorfielen, al-
len Vortheil uͤber ſich. Jch konnte in der That
leicht ſehen, daß er es mit Vorbedacht geſche-
hen ließ, und den ſcharfſinnigen Witz, die
Geſchwindigkeit in lebhaften Antworten mit Fleiß
zuruͤckhielte, welche er gegen die vermeynte Fraͤu-
lein Montague niemals ſparte, und welche ein
witziger Kopf ſelten zu ſparen weiß, wenn ſich eine
Gelegenheit zeiget, ſeinen Witz auszukramen.
Die untergeſchobene Fraͤulein Montague
war noch ehrerbietiger in ihrem Bezeigen gegen
ihre Tante. Die Tante aber beobachtete allezeit
das
[110]
das Anſehen desjenigen Standes, den ſie ange-
nommen hatte, und machte ſich uͤber beyde luſtig:
mit dem Weſen einer Perſon, die ſich auf den
Vorzug ihrer Jahre und Gluͤcksumſtaͤnde uͤber
juͤngere Perſonen, welche eine Abſicht haben
mochten, ihr entweder in ihrem Leben, oder nach
ihrem Tode, verbunden zu ſeyn, verlaͤſſet.
Das Haͤrteſte in ihren Scherzreden fiel in-
zwiſchen auf Herrn Lovelace, bey Gelegenheit
des Rufs, in dem die Leute ſtuͤnden, welche un-
ſere vorigen Zimmer zu London vermietheten.
Jch haͤtte wohl gethan, ſagte ſie, daß ich mich
am beſten geſichert gehalten, wenn ich ſie in ge-
heim verließe.
Dieß machte mich ſtutzig. Denn, da ich da-
mals noch keinen Verdacht auf den ſchaͤndlichen
Tomlinſon hatte: ſo ſchloß ich; und Jhr Brief
vom 7ten (*) kam meinen Schluͤſſen zu ſtatten;
daß, wenn das Haus beruͤchtigt waͤre, entweder
er, oder Herr Mennell, mir oder ihm etwas da-
von wuͤrde zu verſtehen gegeben haben. ‒ ‒ Jch
hatte auch, ob mir gleich die Leute nicht gefielen,
nichts ſehr tadelnswuͤrdiges an ihnen bemerket,
bis auf den Mittwochen Abend vorher, da ſie
mir nicht zu Huͤlfe kommen wollten, ob ſie gleich
ſo nahe waren, wie ich verſichert bin, daß ſie
meine Beklemmung hoͤren konnten, und auch
uͤber das Feuer, wenn es nicht bloß etwas ver-
abredetes
[111]
abredetes geweſen waͤre, eben ſo viel Urſache
hatten, erſchrocken zu ſeyn, als ich.
Jch warf bey dieſem Wink einen unwilligen
Blick auf Herrn Lovelace.
Er ſchien beſchaͤmt zu ſeyn. Jch habe nicht
Gedult, mich nur einmal der ſcheinbaren Blicke
dieſes ſchaͤndlichen Betruͤgers zu erinnern. Aber
wie war es moͤglich, daß ſelbſt dieſe redneriſche
Gewalt, die er uͤber ſeine Mienen hat, ihn in
den Stand ſetzen ſollte eine Schaamroͤthe nach
ſeinem Belieben zu Dienſte zu haben? Denn
roth ward er wirklich, mehr als einmal: und
die Roͤthe bey dieſer Gelegenheit war hochgefaͤrbt
Karmeſin; nicht erzwungen, ſondern ganz na-
tuͤrlich, wie ich dachte ‒ ‒ Jedoch er beſitzt ſo viel
von der Kunſt, fremde Perſonen zu ſpielen, daß
er geſchickt ſcheinet, einen jeden Character anzu-
nehmen: und es hat das Anſehen, als wenn ſei-
ne Muskeln und Geſichtszuͤge ſeinem boͤſen Wil-
len gaͤnzlich zu Gehorſam unterworfen ſind (*).
Die
[112]
Die vermeynte Lady fuhr fort, und ſagte,
ſie haͤtte ſich die Muͤhe genommen, von den Leu-
ten Erkundigung einzuziehen, da ſie gehoͤret,
daß ich das Haus mis vergnuͤgt verlaſſen haͤtte.
Nun waͤre ihr zwar nichts ſehr uͤbels, aber doch
genug zur Nachricht geworden, daß ſie ſich
wundern koͤnnte, daß er den Schluß gefaßt, ſei
ne Braut, eine Perſon von ſo ſehr zaͤrtlicher Ge-
muͤthsart, in ein Haus zu bringen, welches, wo
nicht einen boͤſen, doch auch keinen guten Ruſ
haͤtte.
Sie muͤſſen nothwendig gedenken, werthe
Freundinn, daß mir die falſche Lady Eliſabeth
hieruͤber noch beſſer gefallen habe. Jch vermu-
the, daß eben dieſe Abſicht dabey geweſen ſey.
Es machte ihn beſtuͤrzt, ſagte er, daß die
Lady von den Leuten etwas Boͤſes gehoͤrt haben
ſollte. Er haͤtte noch niemals gehoͤrt, daß ſie ei-
nen ſolchen Ruf verdienten. Es waͤre freylich
leicht zu ſehen, daß ſie eben nicht von ſehr zaͤrtli-
cher Gemuͤthsart waͤren: jedoch waͤren ſie auch
nicht ganz ohne Bedenklichkeit. Die Beſchaf-
fenheit der Mittel, wodurch ſie ihren Unterhalt
ſuchen muͤßten, da ſie Zimmer vermietheten, und
Koſtgaͤnger hielten, veranlaſſete ſie, ſich eines
freyen und gefaͤlligen Bezeigens zu befleißigen:
und gleichwohl haͤtte er vernommen, daß ſie ſich
viel
(*)
[113]
viel Bedenken bey der Wahl ihrer Leute mach-
ten. Es waͤre ſchwer fuͤr Perſonen von munte-
rer Gemuͤthsfaſſung, ſich ſo zu verhalten, daß ſie
allem Tadel entgingen. Offenherzigkeit und ein
freyes Anſehen ſtellten nur gar zu oft rechtſchaffe-
ne Frauenzimmer, deren Gluͤcksumſtaͤnde ſie
nicht uͤber die Urtheile der Welt hinausſetzten,
liebloſen Vorwuͤrfen bloß: deſto mehr waͤren ſie
zu bedauren.
Er wuͤnſchte inzwiſchen, Jhre Gnaden moͤch-
ten erzaͤhlen, was ſie gehoͤrt haͤtten: ob es gleich
itzo wenig bedeutete; weil er niemals von mir
verlangen wollte, einen Fuß wieder in ihr Haus
zu ſetzen. Er baͤte zugleich, die Sache nicht ge-
ringer zu machen, als ſie waͤre.
Es ſey nichts großes, verſetzte ſie. Sie haͤt-
te nur gehoͤrt, daß mehr Weibsleute, als Manns-
perſonen, in dem Hauſe wohnten: aber mehr
Mannsperſonen, als Weibsleute, zum Beſuche
zu ihnen kaͤmen. Und dieß waͤre ihr; vielleicht
von Uebelgeſinnten, dafuͤr koͤnnte ſie nicht ſtehen;
auf eine ſolche Art hinterbracht worden, als wenn
etwas mehr damit gemeynet waͤre, als geſaget
wuͤrde.
Dieß, antwortete er, waͤre der eigentliche
Weg, andere durch verdeckte Anzeige zu beurthei-
len, der bey Verlaͤumdern gewoͤhnlich waͤre. Ein
jeder Menſch, und ein jedes Ding, haͤtte eine
ſchwarze und eine weiſſe Seite, nach dem es
Uebelgeſinnten und Wohlgeſinnten gefiel es vor-
zuſtellen. Er haͤtte bemerkt, daß die Zimmer
Sechſter Theil. Hvorn
[114]
vorn heraus wohl vermiethet waͤren, und, wie er
glaubte, mehr an Perſonen von dem einen als
von dem andern Geſchlechte. Denn er haͤtte bey
Gelegenheit verſchiedne artige Frauenzimmer von
ſittſamen Weſen hin und her gehen geſehn, die
nach aller Wahrſcheinlichkeit nicht ſo unbeliebt
waͤren, daß ſie nicht Beſuch und Freundſchaft
von Perſonen beyderley Geſchlechts haben ſollten.
Allein die gingen uns alle nichts an, noch wir ihnen.
Wir waͤren niemals in einer von ihren Geſell-
ſchaften geweſen: ſondern haͤtten uns in dem ar-
tigſten und ſtilleſten Hauſe von beyden aufgehal-
ten, welches wir gewiſſermaßen fuͤr uns allein
gehabt, nebſt dem Gebrauch eines Saals nach
der Gaſſe zu, um als ein Zimmer fuͤr Bediente,
oder zu geringerm Beſuch, oder bloß fuͤr unſere
Handwerksleute, die wir nicht haͤtten hinauf kom-
men laſſen wollen, zu dienen.
Er haͤtte gern allezeit ſo reden moͤgen, wie er
es befunden. Niemand in der Welt haͤtte mehr
durch Verlaͤumdung gelitten, als er ſelbſt.
Frauenzimmer, geſtuͤnde er, muͤßten ſich
mehr Bedenken machen als Mannsperſonen, wo
ſie wohnten. Unterdeſſen wuͤnſchte er, daß ſie
ihr Urtheil vielmehr auf wirklich geſchehene Din-
ge als auf bloßen Verdacht gruͤnden moͤchten,
ſonderlich wenn ſie ſelbſt von einander redeten.
Er wollte hiemit eben denen Perſonen, wel-
che Jhrer Gnaden die Nachricht gegeben, oder
vielmehr den Argwohn beygebracht haͤtten, kei-
ne Vorwuͤrfe machten, ſie moͤchten ſeyn, wer ſie
woll-
[115]
wollten. Auch hielte er ſich nicht verbunden,
anderer Gemuͤthsart, die angegriffen waͤre, oder
wovon tugendhafte und ehrliebende Frauenzim-
mer keine gute Meynung hegten, zu vertheidigen.
So haͤtten auch dieſe Leute zu wenig zu bedeu-
ten, daß man von ihnen ſo viel Worte machte.
Die vermeynte Lady Eliſabeth verſetzte, alle,
die ſie kenneten, wuͤrden ſie von der Tadelſucht
freyſprechen. Sie muͤßte geſtehen, es braͤchte
ihr einige gute Meynung von den Leuten bey,
daß er ſo lange mit mir bey ihnen geweſen waͤre,
daß ich vielmehr verneinende als bejahende
Gruͤnde haͤtte, warum ſie mir nicht gefielen, und
daß ein ſo verſchmitzter Mann, als Capitain
Tomlinſon ſeyn ſollte, keine Einwendungen ge-
gen ſie gemacht haͤtte.
Jch denke, Baſe Charlotte, fuhr ſie fort,
weil mein Enkel dieſe Zimmer noch nicht verlaſ-
ſen hat, ſo wollen wir, ſie und ich; denn da mei-
ner werthen Fraͤulein Harlowe die Leute nicht ge-
fallen, ſo moͤchte ich ſie nicht um ihre Geſellſchaft
erſuchen; einige Schaͤlchen Thee daſelbſt mit
meinem Enkel nehmen, ehe wir aus London ge-
hen: und dann werden wir ſehen, was es fuͤr
Leute ſind. Jch habe gehoͤrt, daß Fr. Sinclair
eine gewaltig widrige Frau ſey.
Von Herzen gern, gnaͤdige Frau. Jn ihrer
Gnaden Geſellſchaft werde ich kein Bedenken
haben allenthalben hinzugehen.
Es war ihre Gnaden bey jedem Worte:
und da ſie auf ihren Titel und ſo gar auf ihren
H 2Putz
[116]
Putz ſtolz zu ſeyn ſchiene, haͤtte ich wohl vermu-
then moͤgen, daß ſie zu keinem von beyden ge-
wohnt waͤre.
Was ſagen ſie, Vetter Lovelace? Die Lady
Sarah fragt ſehr genau nach allen ihren Sachen:
ob ſie gleich niedergeſchlagenen Gemuͤths iſt. Jch
muß ihr von allen und jeden Umſtaͤnden Nach-
richt geben, wenn ich hinunter reiſe.
Von Herzen gern. Er wollte ihr, wenn es
ihr gefiele, zu Befehl ſtehen. Sie wuͤrde ſehr
artige Zimmer und recht hoͤfliche Leute finden.
Der Henker muß in ihnen ſeyn, ſagte die
Fraͤulein Montague, wo ſie uns anders vor-
kommen.
Hierauf fiel die Unterredung auf Familien-
ſachen: auf die Gluͤckſeligkeit der Familie durch
meinen gehofften Beytritt zu derſelben. Sie
beruͤhrten das große Verlangen, welches der Lord
M. und die Lady Sarah truͤgen, mich zu ſehen
und zu ſprechen. Wie viele Freunde und Be-
wunderer, mit aufgehabenen Haͤnden, wuͤrde ich
haben! O! meine Wertheſte, wie mußten
dieſe Weibsbilder, und er, alle dieſe Zeit
herdurch uͤber das arme Schlachtopfer
frohlocken! ‒ ‒ Was wuͤrde er fuͤr ein gluͤck-
licher Mann ſeyn! ‒ ‒ Sie wollten ſich ſelbſt,
ſprach die Lady Eliſabeth, nicht den Kummer
machen, nur einmal zu vermuthen, daß ich nicht
mit Jhnen ſollte vereinigt werden!
Man ließ ſich etwas von Geſchenken merken.
Sie haͤtte ſich vorgeſetzet, hieß es, daß ich mit ihr
nach
[117]
nach Glenham-Hall gehen ſollte. Sie wollte
es ſich nicht abſchlagen laſſen: wenn ſie auch ei-
ne ganze Woche uͤber ihre Zeit um meinetwillen
bleiben muͤßte.
Es verlangte ſie nach dem Briefe, den ich
von Jhnen erwartete. Jch muͤßte ſchreiben, ihn
zu beſchleunigen, und der Fraͤulein Howe zu wiſ-
ſen zu thun, wie die Sachen ſtuͤnden, ſeit dem ich
zuletzt geſchrieben haͤtte. Das koͤnnte mich viel-
leicht ganz zu ihrem und ihres Enkels Beſten
ſchluͤßig machen: und alsdenn, hoffete ſie, wuͤrde
ich nicht mehr Urſache haben, mich auf neue
Maaßregeln einzulaſſen.
Jn der That, liebſte Freundinn, ich war da-
mals willens, wo ich nicht des folgenden Tages
Nachricht von Jhnen bekaͤme, einen Kerl zu
Pferde mit dem Bericht von allen Umſtaͤnden
an Sie abzufertigen, damit Sie, wo Sie es fuͤr
gut befaͤnden, wenigſtens Fr. Townſend auf ei-
nen andern Tag beſtellen moͤchten. ‒ ‒ Aber
man kam mir auf eine jaͤmmerliche Art zuvor.
Sie noͤthigte mich, zu verſprechen, daß ich
der Sache wegen an Sie ſchreiben wollte, ich
moͤchte von Jhnen Zeitung haben, oder nicht.
Einer von ihren Bedienten ſollte, mit meinem
Briefe, als eine Poſt reiten und der Fraͤulein
Howe Antwort erwarten.
Bey der Gelegenheit ertheilte ſie Jhnen, mei-
ne liebe Freundinn, reichlich die verdienten Lob-
ſpruͤche. Wie ungemein wuͤrde ſie die Ehre ih-
rer Bekanntſchaft reizen!
H 3Die
[118]
Die vermeynte Fraͤulein Montague ſtimmte
mit ihr ein, ſo wohl fuͤr ſich, als fuͤr ihre Schwe-
ſter.
Beyde hatten ihre abſcheuliche Rolle vor-
trefflich gelernet.
O meine Wertheſte! Was fuͤr mannichfal-
tiger Gefahr ſetzen ſich arme unbeſonnene Maͤgd-
chen aus: wenn ſie ſich ſelbſt dem Schutz ihrer
natuͤrlichen Freunde entziehen, und der weiten
Welt uͤberlaſſen?
Hiernaͤchſt ſchwatzten ſie wieder von Ausſoͤh-
nung und vertrauter Freundſchaft mit allen mei-
nen Freunden, ſonderlich mit meiner Mutter.
Sie gaben dieſer wertheſten und rechtſchaffenen
Frauen den Ruhm, den ihr jedermann giebet,
der das Gluͤck hat, ſie zu kennen.
Ach, liebſte Fraͤulein Howe! Jch hatte bey-
nahe meinen Unwillen gegen den vorgegebenen
Enkel vergeſſen! ‒ ‒ So viele angenehme Din-
ge, die man mir vorſagte, brachten mich auf die
Gedanken, daß, wenn Sie dazu rathen ſollten,
und ich mich uͤberwinden konnte, dem nichtswuͤr-
digen Menſchen eine ſo vorſetzlich veruͤbte, ſo
ſchaͤndliche, und gewaltſame Beſchimpfung zu
vergeben, auch im Stande ſeyn wuͤrde, mich der
Verachtung gegen ihn, wegen dieſer und anderer
bey ihm gewoͤhnlichen undankbaren und boͤſen
Unternehmungen zu erwehren, ich vielleicht in
der Verbindung mit einer ſolchen Familie nicht
ungluͤcklich ſeyn moͤchte. Jedoch dachte ich zu-
gleich: Mit was fuͤr Miſchungen kommt alles
an
[119]
an mich, das den Schein des Guten hat! ‒ ‒
Weil inzwiſchen meine ſcheinbare Hoffnung mich
weniger Fehler in der Auffuͤhrung dieſer unter-
geſchobenen Frauenzimmer ſehen ließ, als ich
nachher, mit Huͤlfe einer wiederholten Ueberle-
gung und des gegen ſie gefaßten Abſcheues, geſe-
hen habe: fo fing ich an, mir ſelbſt Vorwuͤrfe zu
machen, daß ich mich nicht gleich anfangs in ih-
ren Schutz begeben haͤtte.
Aber bey allen dieſen ergoͤtzlichen Ausſichten
in die Zukunſt, ſprach die Lady Eliſabeth, muß
ich nicht vergeſſen, daß ich nach London zu fahren
habe.
Sie befahl ſo dann, daß ihre Kutſche an die
Thuͤr kaͤme ‒ ‒ Wir wollen alle mit einander
nach London fahren, ſagte ſie, und mit einander
wieder zuruͤckkommen. Morriſon ſoll hier blei-
ben, und alles in Anſehung meines Zimmers
und Bettes beſorgen, wie ich es zu haben ge-
wohnt bin: denn ich bin in einigen Stuͤcken ſehr
eigen. Meiner Baſe Leeſons Kammermaͤgdchen
koͤnnen alles thun, was ich bey meinen Nacht-
kleidern und dergleichen Dingen mehr gebrau-
che. Es wird fuͤr ſie, meine Allerliebſte, eine
kleine Veraͤnderung der Luft, und fuͤr Hrn. Love-
lace eine bequeme Gelegenheit ſeyn, anzuordnen,
daß alles, was ſie von ihrem Anzuge gebrauchen,
von dem vorigen Hauſe zur Fr. Leeſon geſchickt
werde: und wir koͤnnen es von dannen mit uns
herauſbringen.
H 4Jch
[120]
Jch war nicht willens, ihr hierinn gefaͤllig
zu ſeyn. Weil ich mir aber nicht einbildete, daß
ſie auf dieſe Zumuthung, mit ihnen nach London
zu fahren, beſtehen wuͤrde: ſo antwortete ich dar-
auf nicht.
Hier muß ich meine ermuͤdete Feder nieder-
legen.
O Angedenken! O herznagendes Angeden-
ken! Wie ſehr quaͤlet es mich!
Der ein und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Mitten unter jenen angenehmen Unterredun-
gen kam die Kutſche vor die Thuͤr. Die
falſche Lady Eliſabeth bat mich, ſie zu ihrer Ba-
ſe Leeſon zu begleiten. Jch bat um Entſchuldi-
gung: aber hatte dabey keinen Argwohn. Sie
wollte es ſich nicht abſchlagen laſſen. Wie gluͤck-
lich wuͤrde ein Beſuch, mit einer ſo gefaͤlligen
Herablaſſung an meiner Seite, ihre Baſe Leeſon
machen! ‒ ‒ Jhre Baſe Leeſon waͤre meiner
Bekanntſchaft nicht unwuͤrdig: und wuͤrde es
fuͤr die groͤßte Gewogenheit von der Welt an-
ſehen.
Jch ſchuͤtzte meine Kleidung vor. Allein die
Einwendung ward nicht angenommen. Sie be-
ſtellte
[121]
ſtellte bey Fr. Mooren eine Abendmahlzeit, die
um neune bereit ſeyn ſollte.
Herr Lovelace, der ſchaͤndliche Heuchler und
gottloſe Betruͤger, bat die Lady, weil er, wie er
ſagte, meinen Widerwillen mitzufahren ſaͤhe, nicht
darauf zu beſtehen.
Man ſtellte dagegen vor, wie ſehr man von
meiner Geſellſchaft eingenommen waͤre. Sie
erſuchte mich inſtaͤndigſt, ihr die Gefaͤlligkeit zu
erweiſen, machte eine Bewegung, mir ſelbſt zu
meinem Fecher zu helfen, und, kurz, drang ſo
ſehr in mich, daß meine Fuͤße, wider meine aus-
druͤckliche Erklaͤrung und Abſicht, ihr zu Gefal-
len waren. Nachdem ſie mich gewiſſermaßen
gegen meinen Willen zur Kutſche geleitet, und
zuerſt hatte hineinſteigen laſſen: ſo folgte ſie mir
nach. Jhr folgten die untergeſchobene Baſe
und der nichtswuͤrdige Kerl: und ſo ging es
fort.
Den ganzen Weg uͤber fiel nichts anders
vor, als ungemeine und liebreiche Hoͤflichkeit.
Einmal uͤber das andere hieß es: Was wuͤrde
dieſer unverhoffte Beſuch ihrer Baſe Leeſon fuͤr
eine Freude machen! Und was fuͤr ein Vergnuͤ-
gen muͤßte es einem ſolchen Gemuͤthe, wie ich
haͤtte, ſeyn, daß ich im Stande waͤre, allen und
jeden, zu denen ich nur kaͤme, ſo viele Freude zu
verurſachen!
Der grauſame, der unmenſchliche Verfuͤhrer
war den ganzen Weg uͤber, wie ich mich nochber
beſonnen habe, in Entzuͤckung: aber in einer ſol-
H 5chen
[122]
chen Art der Entzuͤckung, die er augenſcheinlich
mit großer Muͤhe zu unterdruͤcken ſuchte.
Der haſſenswuͤrdige Boͤſewicht! ‒ ‒ O wie
verabſcheue ich ihn! ‒ ‒ Was fuͤr Ungluͤck muß-
te er damals in ſeinem tuͤckiſchen Herzen haben!
‒ ‒ Was fuͤr ein verbanntes Schlachtopfer muß-
te ich in ihrer aller Augen ſeyn!
Jch war dabey zwar nicht eben vergnuͤgt:
aber ließ mir zu der Zeit doch nicht das geringſte
von einiger Gefahr traͤumen; da ſie ſich ſo eifrig
bemuͤheten, mich uͤber alle Furcht davor, und gar
uͤber mich ſelbſt, hinauszuſetzen.
Aber, denken Sie, wertheſte Freundinn, wie
ſchrecklich alles fuͤr mich umſchlug: als die Kut-
ſche, mit langſamer Bewegung, durch verſchiedne
Straſſen und Wege, die mir ganz fremd waren,
ſo weit kam, daß mir das ſchreckliche Haus des
ſchrecklichſten Weibes, wie der Erfolg mir ſie zeig-
te, in die Augen fiel.
Gott ſey mir gnaͤdig! ſchrie ich arme Thoͤ-
rinn, da ich aus der Kutſche ſahe ‒ ‒ Herr Lo-
velace! ‒ ‒ Gnaͤdige Frau! So wandte ich
mich zu der vermeynten Tante! ‒ ‒ Liebe Fraͤu-
lein! So wandte ich mich zu der Baſe, mit auf-
gehabenen Augen und Haͤnden ‒ ‒ Gott ſey mir
gnaͤdig!
Was! Was! Was, meine Allerliebſte!
Er zog die Schnur in der Kutſche an ‒ ‒
Was hat euch den genoͤthigt eben dieſen Weg zu
kommen? ſprach er ‒ ‒ Jedoch, weil wir ein-
mal
[123]
mal da ſind, will ich nur noch etwas fragen.
‒ ‒ Mein liebſtes Leben! warum ſo furcht-
ſam?
Der Kutſcher hielte ſtille. Sein Diener,
der mit einem von ihren Bedienten hinten auf
ſtand, ſtieg herunter ‒ ‒ Fragt, ſagte er, ob etwa
Briefe fuͤr mich da ſind? ‒ ‒ Wer weiß, meine
Allerliebſte; ſo wandte er ſich zu mir; ob wir
nicht ſchon einen Brief von Capitain Tomlinſon
haben moͤgen? ‒ ‒ Wir wollen nicht aus der
Kutſche ſteigen ‒ ‒ Fuͤrchten ſie ſich vor nichts
‒ ‒ Warum ſo furchtſam? ‒ ‒ O, was fuͤr eine
bedenkliche Sache mit ſo zarten Gemuͤthern! ‒ ‒
rief der verfluchte Spoͤtter.
Zu der Zeit ſagte mir mein Herz ſchrecklich
viel Boͤſes zu: ich war einer Ohnmacht nahe.
‒ ‒ Wozu dieß Schrecken, mein werthes Leben?
Sie ſollen nicht einen Fuß aus der Kutſche ſe-
tzen! ‒ ‒ Jch will ja nur eine Frage thun, da
uns der Kerl dieſen Weg doch gefahren hat!
Jhre Fraͤulein wird in Ohnmacht fallen!
ſchrie die verdammte Lady Eliſabeth ihm zu ‒ ‒
Meine wertheſte Baſe! ſo will ich ſie nennen,
ſprach ſie, und faßte mich bey der Hand; wir
muͤſſen ausſteigen, wo ihnen ſo uͤbel wird ‒ ‒
Laſſen ſie uns ausſteigen ‒ ‒ Nur ein Glaß
Waſſer mit Hirſchhorn zu nehmen ‒ ‒ Jn
Wahrheit wir muͤſſen ausſteigen.
Nein, nein, nein ‒ ‒ Mir iſt wohl ‒ ‒ Ganz
wohl ‒ ‒ Will denn der Kutſcher nicht weiter
ſahren? ‒ ‒ Mir iſt wohl ‒ ‒ Ganz wohl ‒ ‒
Jn
[124]
Jn der That mir iſt wohl ‒ ‒ Kutſcher, fah-
ret zu ‒ ‒ Jch reckte den Kopf hiebey aus dem
Wagen ‒ ‒ Kutſcher, fahret zu! ‒ ‒ Wie
wohl meine Stimme war zu ſchwach, daß man
ſie haͤtte hoͤren koͤnnen.
Die Kutſche blieb vor der Thuͤre halten. O
wie zitterte ich!
Dorcas kam heraus, als ſie hier ſtille hielte.
Mein liebſter Engel! ſprach der ſchaͤndliche
Kerl, und ſchnappete nach der Luft, als wenn er
nicht Athem holen koͤnnte; ſie ſollen nicht aus-
ſteigen ‒ ‒ Sind Briefe an mich da, Dorcas?
Ja es ſind zween da, gnaͤdiger Herr. Es
iſt auch ein Cavallier, Herr Belton, hier, der auf
ihre Gnaden wartet, und ſchon uͤber eine Stunde
gewartet hat.
Jch habe ihn eben zu ſprechen. Macht den
Schlag auf ‒ ‒ Sie ſollen nicht ausſteigen, mei-
ne Allerliebſte ‒ ‒ Vielleicht iſt ſchon ein Brief
von dem Capitain da ‒ ‒ Sie ſollen nicht aus-
ſteigen, meine Allerliebſte.
Jch ſeufzete, als wenn mir das Herz berſten
wollte.
Aber wir muͤſſen ausſteigen, Vetter: ihre
Fraͤulein wird in Ohnmacht fallen ‒ ‒ Maͤgd-
chen, ein Glaß mit Waſſer und Hirſchhorn! ‒ ‒
Meine Wertheſte, ſie muͤſſen ausſteigen ‒ ‒
Sie werden eine Ohnmacht bekommen, Kind ‒ ‒
Wir muͤſſen ihre Schnuͤrbaͤnder aufſchneiden ‒ ‒
(Jch glaube, meine Farbe war wechſelsweiſe al-
lerley,
[125]
lerley, bald dieſe, bald jene) ‒ ‒ Jn Wahrheit,
ſie muͤſſen ausſteigen, meine liebe Fraͤulein.
Er wuͤßte, ſprach er, mir wuͤrde den Augen-
blick wohl ſeyn, wenn die Kutſche nur von der
Thuͤre fortginge. Jch ſollte nicht ausſteigen.
Bey ſeiner Seele, ich ſollte nicht.
Himmel, Himmel, mein Engel, Himmel,
Himmel, Vetter; riefen beyde Weibsleute in ei-
nem Athem; was machen ſie fuͤr Weſens uͤber
nichts und wieder nichts! ‒ ‒ Sie uͤberreden
ihre Fraͤulein, daß ſie ſich ſcheue auszuſteigen!
‒ ‒ Sehen ſie nicht, daß ſie eben itzo in Ohn-
macht ſinken wird?
Jn Wahrheit, gnaͤdige Frau, verſetzte der
ſchaͤndliche Betruͤger, mein liebſter Engel muß in
dieſem Stuͤcke nicht gegen ihren Willen getrieben
werden! ‒ ‒ Jch bitte, man beſtehe nicht dar-
auf.
Wiſchwaſch, alberner Menſch! ‒ ‒ Was
ſteckt dahinter! ‒ ‒ Jch vermuthe, wie es ſeyn
wird. Sie ſchaͤmen ſich, uns ſehen zu laſſen,
unter was fuͤr Leute ſie ihre Fraͤulein gebracht ha-
ben! ‒ ‒ Aber ſteigen ſie denn einmal aus, und
ſprechen mit ihrem Freunde, und holen ihre
Briefe.
Er trat hierauf heraus, machte aber den
Schlag hinter ſich zu, um mir gefaͤllig zu ſeyn.
Die Kutſche mag wegfahren, gnaͤdige Frau,
ſprach ich.
Die Kutſche ſoll wegfahren, mein liebſtes
Leben, waren ſeine Worte ‒ ‒ Allein er befahl
nicht,
[126]
nicht, und war nicht willens zu befehlen, daß es
geſchehen ſollte.
Laſſen ſie die Kutſche zufahren, ſagte ich ‒ ‒
Herr Lovelace mag uns nachkommen.
Jn der That, meine Allerliebſte, ihnen iſt
uͤbel ‒ ‒ Jn der That ſie muͤſſen ausſteigen ‒ ‒
Steigen ſie nur auf eine Viertelſtunde aus ‒ ‒
Steigen ſie nur aus, ihrer Sachen wegen ſelbſt
Befehl zu geben. Vor wem koͤnnen ſie ſich in
meiner und meiner Neffe Geſellſchaft fuͤrchten?
‒ ‒ Dieſe Leute muͤſſen ſich ſehr aͤrgerlich gegen ſie
aufgefuͤhret haben! ‒ ‒ Jch will mich mit Got-
tes Huͤlfe darnach erkundigen! ‒ ‒ Jch will ſe-
hen, was es fuͤr Art Leute ſind!
Den Augenblick kam das alte Geſicht vor
die Thuͤr. Tauſendmal um Verzeihung, Ma-
dame; mit den Worten trat ſie an den Schlag
der Kutſche; wo wir ſie auf irgend eine Art be-
leidigt haben! ‒ ‒ Laſſen ſie ſich gefallen, ihre
Gnaden, ſprach ſie zu den andern beyden, aus-
zuſteigen.
Ey, meine Wertheſte, fliſperte die Lady
Eliſabeth, ich finde nun, daß eine ſchlimme Be-
ſchreibung einer Perſon, die wir niemals geſe-
hen haben, ein Vortheil fuͤr ſie ſey. Jch dachte,
dieſe Frau waͤre ein Ungeheuer! Aber, in Wahr-
heit, ſie ſcheinet leidlich.
Mir war bange, ich wuͤrde in Ohnmacht ge-
fallen ſeyn: dennoch weigerte ich mich beſtaͤndig
auszuſteigen ‒ ‒ Kutſcher! ‒ ‒ Kutſcher! ‒ ‒
Kutſcher; rief ich außer Athem, und reckte dabey
in
[127]
in Geſchwindigkeit ein halb Dutzent mal meinen
Kopf aus der Kutſche, und zog ihn wieder hin-
ein; fahret zu! ‒ ‒ Laßt uns weiter ge-
hen.
Mein Herz ſagte mir mehr Boͤſes zu, als ich
ſelbſt Grund daſuͤr angeben konnte. Denn ich
hatte noch keinen Verdacht gegen dieſe Weibs-
leute. Allein, der Widerwillen, welchen ich ge-
gen das ſchaͤndliche Haus gefaßt hatte, und der
Zufall, daß ich mich ſo nahe bey demſelben be-
fand, da ich dergleichen gar nicht vermuthete,
nebſt dem Anblick des alten Unthiers, alles zu-
ſammengenommen, machte, daß ich mich wie ei-
ne verruͤckte Perſon bezeigte.
Das Waſſer und Hirſchhorn ward gebracht.
Die vermeynte Lady Eliſabeth machte, daß ich
es trank. Der Himmel weiß, ob ſonſt etwas
darinn geweſen iſt.
Außerdem muß ich ſehen, fliſperte ſie, was
die Baſen fuͤr Creaturen ſind. Fehlt es einer
Perſon an der geziemenden Zaͤrtlichkeit der Ge-
muͤthsart: ſo kann es meinem Auge nicht entge-
hen. Sie koͤnnten gewiß keinen ſolchen Abſcheu
haben, meine Wertheſte, in unſerer Geſellſchaft
auf wenige Augenblicke wieder in ein Haus zu
treten, in welchem ſie ſich verſchiedne Wochen
aufgehalten und am Tiſche geweſen ſind: wo-
fern ſich dieſe Weibsleute nicht ſo vermeſſen
ſchaͤndlich gegen ſie moͤchten aufgefuͤhret haben,
daß es mein Enkel nicht wiſſen muͤßte.
Hiemit
[128]
Hiemit ſtieg die vermeynte Lady aus: nach-
dem der Bediente auf ihren Befehl den Schlag
aufgemacht hatte.
Meine Wertheſte, ſprach die andere, ich wer-
de die Ehre haben Jhnen zu folgen ‒ ‒ Denn
ich war am naͤheſten bey dem Schlage ‒ ‒
Fuͤrchten ſie ſich vor nichts: ich will nicht einen
Fuß von ihnen ſetzen.
Kommen ſie, meine Geliebte, ſagte die auf-
geſtellte Lady. Geben ſie mir ihre Hand ‒ ‒
Und dabey reichte ſie mir die ihrige: ‒ ‒ Thun ſie
mir nur dieß einzige mal einen Gefallen.
Jch will ihre Fußſtapſen heilig halten, fuͤgte
das alte Ungeheuer hinzu, wenn ſie mein Haus
noch einmal mit ihrer Gegenwart beehren.
Unter der Zeit hatte ſich ein Schwarm von
Leuten um uns geſammlet. Jch war aber zu
ſehr in Bewegung, daß ich darauf haͤtte Acht
geben ſollen.
Die untergeſchobene Fraͤulein Montague
drang aufs neue in mich. Sie ſtand auf, als
wenn ſie im Begriff waͤre auszuſteigen, wo ich
ihr nur Platz machen wollte. Himmel, ſprach
ſie, wer kann dieſen Schwarm ertragen! ‒ ‒
Was werden die Leute denken.
Die vermeynte Lady ſetzte mir auch wieder
zu, und reckte ihre beyden Haͤnde aus ‒ ‒ Kom-
men ſie, meine Wertheſte, nur bloß ihrer Sachen
wegen Befehl zu geben.
Da man mich ſo draͤngte, und angaffete;
denn eben ſahe ich um mich herum; da die
Weibs-
[129]
Weibsleute ſo reich geputzet waren, und das
Volk daruͤber murmelte: ſo ſtieg ich in einem
ungluͤcklichen Augenblick mit Zittern heraus, und
war genoͤthigt, mich mit beyden Haͤnden auf der
vorgegebenen Lady Eliſabeths Arm zu lehnen;
viel zu ſehr erſchrocken, daß ich die gewoͤhnlichen
Regeln des aͤußerlichen Wohlſtandes haͤtte beob-
achten ſollen. ‒ ‒ O daß ich auf der Schwelle
des ſchaͤndlichen Hauſes todt niedergeſunken
waͤre!
Wir werden nur wenige Augenblicke hier
bleiben, meine Wertheſte! ‒ ‒ nur wenige Au-
genblicke, ſagte eben dieſe ſcheinbare, und doch
liederliche, Betruͤgerinn ‒ ‒ außer Athem vor
Freude, wie ich nachher gedacht habe, daß ſie
uͤber das ungluͤckliche Schlachtopfer ſo geſiegt
hatten.
Kommen ſie, Frau Sinclair; ſo, denke ich,
heißen ſie; zeigen ſie uns den Weg ‒ ‒ Sie
folgte alſo derſelben, und leitete mich. Jch bin
ſehr durſtig. Sie haben mich mit ihrer wun-
derlichen Furcht, meine Wertheſte, in Schrecken
geſetzt. Jch muß Thee gemacht haben: wo es
in einem Augenblick geſchehen kann. Wir ha-
ben noch weiter zu gehen, Frau Sinclair, und
muͤſſen dieſen Abend nach Hampſtead zuruͤck.
Er ſoll im Augenblick bereit ſeyn, ſchrie das
nichtswuͤrdige Weib. Wir haben kochend
Waſſer.
So machen ſie denn geſchwinde ‒ ‒ Kom-
men ſie, fuhr ſie gegen mich fort, wie ſie mich
Sechſter Theil. Jdurch
[130]
durch den Gang zu dem verderblichen Hinter-
hauſe leitete ‒ ‒ Lehnen ſie ſich auf mich! ‒ ‒
Wie zittern ſie! ‒ ‒ Wie wankend ſind ihre
Schritte! ‒ ‒ Allerliebſte Baſe, Lovelacen; ſo
nannte ſie mich, weil das alte Ungeheuer es hoͤren
konnte; warum iſt ihr Gemuͤth in ſo heftiger
Bewegung? ‒ ‒ Wir wollen in einem Augen-
blick wieder von hier gehen.
Und ſo leitete ſie das arme Schlachtopfer in
den allzu wohl bekannten Saal des alten Un-
thiers.
Niemals habe ich jemand ſo ſanftmuͤthig,
ſo leutſelig, ſo leiſe mit der Sprache geſehen, als
das verhaßte Weib war. Sie dehnte alles, was
ſie nur gefaͤlliges ſagen konnte, in einem feinen
Tone heraus: aus Ehrfurcht, wie ich damals
dachte, gegen die erhabenen und bewußten Vor-
zuͤge einer Standesperſon, die von Juwelen
funkelte.
Der verlangte Thee war den Augenblick
bereit.
Es war kein Herr Belton da, wie ich glau-
be. Denn der Boͤſewicht ging zu keinem Men-
ſchen: es moͤchte denn damals geſchehen ſeyn,
als wir in der Kutſche mit einander redeten.
Jnzwiſchen erſchien keine ſolche Perſon bey dem
Theetiſche.
Jch mußte zwey Schaͤlchen mit Milch trin-
ken: weil mich die verſtellten Frauenzimmer; ei-
ne jede zu einem Schaͤlchen, hoͤflich noͤthigten
und mir dazu halfen. Jch war unter ihren
Haͤn-
[131]
Haͤnden ganz betaͤubt, und, als ich den Thee
nahm, von den mir zu Kopfe ſteigenden Duͤnſten
beynahe erſticket. Jch konnte kaum ſchlucken.
Jch dachte, ohne dieſem Gedanken wei-
ter nachzuhangen dachte ich es, daß der Thee,
ſonderlich das letzte Schaͤlchen, einen ſeltſamen
Geſchmack haͤtte. Die Weibsleute im Hauſe
erwaͤhnten, weil ich darnach ſchmeckte, daß es
Milch aus London waͤre, die lange nicht ſo
gut, als diejenige, welche ſie von ihren eignen
Milchweibern zu bekommen pflegten.
Jch zweifle gar nicht, daß meine zwey
Schaͤlchen, und vielleicht auch mein Hirſchhorn,
fuͤr mich zubereitet geweſen. Jn dem Fall
ſchickte es ſich freylich beſſer, daß ſie mir dazu
halfen, als daß ich mir ſelbſt dazu haͤtte helfen
ſollen. War mir vorher uͤbel geweſen: ſo fand
ich nun immer mehr und mehr Unordnung in
meinem Kopfe; indem ein ſchwerer und betaͤu-
bender Schmerz bey mir geſchwinde zunahm.
Jch ſchrieb es aber meinem Schrecken zu.
Nichts deſto weniger ging ich auf der unter-
geſchobenen Frauenzimmer Zureden, die Treppen
hinauf: und Dorcas war mir zu Dienſten; wel-
che ſich zwang vor Freuden zu weinen, daß ſie
mein geſegnetes Antlitz, dieß war der ſchaͤndli-
chen Magd eignes Wort, noch einmal ſehen ſoll-
te. Jch machte mich alſobald daruͤber, einige
von meinen Kleidern herauszunehmen, und ord-
nete an, was man aufbehalten, und was man
mir nachſchicken ſollte.
J 2Jndem
[132]
Jndem ich mich hiemit beſchaͤfftigte: kam
die vermeynte Lady Eliſabeth eilfertig zu mir her-
auf ‒ ‒ Sie werden bald fertig ſeyn, meine
Wertheſte. Mein Enkel iſt ſehr geſchaͤfftig, ſei-
ne Briefe zu beantworten. Alſo will ich nur in
Geſchwindigkeit wegfahren, mich umkleiden, und
ſie den Augenblick abholen.
O gnaͤdige Frau! ‒ ‒ Jch bin fertig! Jch
bin ſchon itzo fertig! ‒ ‒ Sie muͤſſen mich hier
nicht verlaſſen. Und ſo ſank ich vor Schrecken
in einen Stuhl.
Den Augenblick, den Augenblick, will ich
wiederkommen ‒ ‒ Ehe ſie noch einmal fertig
ſeyn koͤnnen ‒ ‒ Ehe ſie ihre Sachen koͤnnen zu-
ſammengepackt haben ‒ ‒ Wir wollen ja nicht
ſpaͤt fahren ‒ ‒ Die Straßenraͤuber, wovon wir
gehoͤrt haben, moͤchten auf der Lauer ſeyn ‒ ‒
Laſſen ſie uns nicht ſpaͤt fortkommen.
Hiemit eilte ſie davon: ehe ich noch ein Wort
ſagen konnte. Jhre vermeynte Baſe ging mit
ihr fort, ohne mir davon Nachricht zu geben.
Jch hatte gleichwohl noch keinen Verdacht,
daß dieſe Weibsbilder nicht wirklich die vorneh-
men Frauenzimmer ſeyn moͤchten, deren Perſon
ſie ſpielten, und machte mir ſelbſt aus meiner
feigen Furcht einen Vorwurf ‒ ‒ Es kann un-
moͤglich ſeyn, dachte ich, daß ſolche Frauenzim-
mer gegen eine arme Perſon; wofuͤr ſie ſo einge-
nommen ſind, Verraͤtherey anſtiften ſollten. Sie
muͤſſen unſtreitig die Perſonen ſeyn, die ſie zu
ſeyn ſcheinen ‒ ‒ Was iſt es fuͤr eine Thorheit,
daran
[133]
daran zu zweifeln! Sie haben die Miene, die
Kleidung, den wuͤrdigen Anſtand von vornehmen
Frauenzimmern. ‒ ‒ Wie wenig ſchickt es ſich
fuͤr ſie, und fuͤr meine Menſchenliebe, ſchloß ich,
dieſem Schatten eines unedelmuͤthigen Argwohns
nachzugehen!
So brachte ich meine betaͤubte Lebensgeiſter
wieder zu rechte, ſo gut als es ſich thun laſſen wollte.
Denn mir ward immer ſchwerer und ſchwerer.
Jch wunderte mich gegen Dorcas, was mir feh-
len moͤchte, rieb meine Augen, nahm etwas von
ihrem Schnupftoback, und nieſete einmal uͤber
das andere, mit gar wenigen Nutzen. Jnzwi-
ſchen ſetzte ich meine Beſchaͤfftigung fort. Als
dieſe aber vorbey war; als ich alles, was ich mir
einzupacken vorgenommen, eingepacket, und nichts
mehr zu thun hatte, als zu denken; als ich noch
dazu fand, daß ſie ſo lange verzogen: ſo dachte
ich, ich wuͤrde ganz von Sinnen gekommen ſeyn.
Jch ſchloß mich in die Kammer, die vorher mein
geweſen war, ein. Jch knieete. Jch betete:
doch wußte ich ſelbſt nicht, was. Dann lief ich
wieder heraus. Es waͤre ja faſt finſtere Nacht,
ſprach ich. Wo, wo iſt Herr Lovelace?
Er kam zu mir und gab anfangs auf meine
Beſtuͤrzung und wildes Weſen nicht Acht ‒ ‒
Was ſie mir beygebracht hatten, das machte mich
in meinen Reden und Handlungen unordentlich
und verwildert ‒ ‒ Es geht alles gut, ſagte er,
meine Allerliebſte! ‒ ‒ Eine Zeile von Capitain
Tomlinſon!
J 3Jn
[134]
Jn der That ging alles gut zu dem ehrloſen
Anſchlag des grauſamſten und ſchaͤndlichſten
Kerls.
Jch fragte nach ſeiner Tante. ‒ ‒ Jch
fragte nach ſeiner Baſe. ‒ ‒ Der Abend, fprach
ich, ginge ja zu Ende ‒ ‒ Mit meinem Kopfe,
ſagte ich auch, wie ich mich beſinne, waͤre es ſehr,
ſehr ſchlimm ‒ ‒ Und es ward beſtaͤndig
aͤrger.
Gleichwohl hielte das Schrecken meine Le-
bensgeiſter noch in Bewegung, und ich drang
darauf, daß er ſelbſt hingehen ſollte, ſie anzu-
fordern.
Er rief ſeinem Diener, und ſchmaͤhlte auf
unſer Geſchlecht, wie es ſo zauderhaft waͤre.
Es waͤre gut, daß ſelten wichtige Sachen auf
ſolche Taͤndler ankaͤmen, die mit ihrem Putz ſo
viel zu thun haͤtten und keine Zeit genau beob-
achteten.
Sein Diener kam.
Er befahl ihm, eiligſt zu ſeiner Baſe Leeſon
zu gehen, und ſeiner Tante und Baſe zu vermel-
den, wie unruhig uns beyde ihr Verzug machte.
Aus eigenem Triebe ſetzte er noch hinzu: bitte ſie,
woferne ſie nicht den Augenblick kommen, uns
nur ihre Kutſche zu ſenden; ſo wollen wir ohne
ſie wegfahren. Sage ihnen, ich wundere mich,
daß ſie mir ſo dienen wollen.
Jch dachte, dieß waͤre bedaͤchtlich und auf-
richtig geredet. Aber nun hatte ich ein wenig
Zeit, ſo mittelmaͤßig es auch mit meinem Kopfe
ſtand,
[135]
ſtand, auf den Menſchen und ſein Bezeigen Ach-
tung zu geben. Er jagte mir durch ſeine Blicke
und ſeine heftige Regungen, wie er mich ſtarr
anſahe, Schrecken ein. Augenſcheinliche Regun-
gen von heimlicher Freude. Darauf habe ich
mich nachher beſonnen. Seine Reden waren
kurz und alle ſo ausgeſprochen, als wenn ihm der
Athem zuruͤckgehalten wuͤrde. Niemals hatte
ich ſo abſcheuliche Blicke in ſeinen Augen geſe-
hen, als ſie damals waren ‒ ‒ Sieg und Froh-
locken mahlte ſich in denſelben ab. ‒ Sie waren
grimmig und wild, und mir noch mehr zuwider,
als mir die Blicke der Weibsleute in dem ſchaͤnd-
lichen Hauſe ſchienen, da ich ſie das erſte mal ſa-
he. Bisweilen warf er einen ſo ſcheelen und
Ungluͤck bedeutenden Blick auf mich! ‒ ‒ Jch
wuͤrde die ganze Welt darum gegeben haben, daß
ich hundert Meilen von ihm geweſen waͤre. Jn-
zwiſchen war ſein Bezeigen wohlanſtaͤndig ‒ ‒
Doch war es ein Wohlſtand, weswegen er ſich
Gewalt anthun mußte: wie ich wohl haͤtte ein-
ſehen koͤnnen ‒ ‒ Denn er erhaſchte zwey oder
dreymal meine Hand mit einer ſolchen Heftigkeit
in ſeinem Zugreifen, daß es mir wehe that, und
ſprach dabey durch ſeine zuſammengeſchloſſene
Zaͤhne, wie es ſchien, einige zaͤrtliche Worte. Er
ließ zwar auch die Hand wieder los, mit einem
bettlermaͤßig demuͤthigen Tone, wie das ſchaͤnd-
liche Weib eben vorher angenommen hatte, der
halb inwendig ſchallte: jedoch ließ ſich unter ſei-
nen Worten und ſeiner Art zu handeln eine ſtar-
J 4ke
[136]
ke und beynahe bis zu Verzuͤckungen in dem Koͤr-
per getriebene Leidenſchaft erblicken. ‒ ‒ O mei-
ne liebe Freundinn, was fuͤr Ungluͤck hatte er nicht
damals im Sinne!
Jch klagte ein oder zweymal uͤber Durſt.
Mein Mund ſchien vom Feuer ausgedoͤrret.
Damals meynte ich, es waͤre mein Schrecken,
weil ich ſo oft nach Athem ſchnappete, das mir,
als ein Feuer, den Gaumen ausdoͤrrete. Jch
forderte Waſſer: man brachte mir Tiſchbier.
Bier, vermuthe ich, war beſſer geſchickt, mir ih-
re Traͤnke darinn beyzubringen: wo ich vorher
nicht genug davon bekommen hatte. Jch ſagte
zwar zu dem Maͤgdchen, ſie wuͤßte ja, daß ich
ſelten Bier in den Mund naͤhme: jedoch, weil
ich nichts dergleichen argwoͤhnte und ausnehmend
durſtig war, trank ich, was zuerſt da war; und
den Augenblick befand ich mich weit ſchlimmer,
als vorher; wie berauſcht, moͤchte ich mir einbil-
den; ich weiß nicht wie.
Sein Diener war zweymal ſo lange weg, als
noͤthig war. Ein wenig vorher, ehe er zuruͤck
kam, kam einer von der vermeynten Lady Eliſa-
beths Bedienten mit einem Briefe an Herrn
Lovelace.
Er ſchickte ihn zu mir herauf. Jch las ihn;
und von der Zeit an hielte ich mich fuͤr verlohren:
weil ſie in demſelben ihre Farth nach Hampſtead
fuͤr dieſen Abend verſchob; unter dem Vorwande
heftiger Ohnmachten, womit die Fraͤulein Mon-
tague uͤberfallen ſeyn ſollte. Denn alſobald fiel
mir
[137]
mir ſein ſchaͤndlicher Verſuch ein, welchen er in
dieſem Hauſe ſchon gegen mich unternommen
hatte. Mir fiel die Rache ein, welche ihm mei-
ne Verachtung und die Schwierigkeit, die ich
machte, ihm zu vergeben und mich mit ihm aus-
zuſoͤhnen, bey dieſer Gelegenheit nur allzu wahr-
ſcheinlicher Weiſe einfloͤßen mochte. Mir fielen
feine Blicke ein, die ſelbſt wild und ſchrecklich
fuͤr mich waren. Mir fielen die Weibsleute
in dem Hauſe ein, vor denen ich itzo mehr,
als jemals, auch ſo gar wegen der Winke,
die mir die vermeynte Lady Eliſabeth gegeben,
mich zu fuͤrchten Urſache hatte. Da ſich
dieß alles in meinem furchtſamen Gemuͤthe
mit einander, wie ein Schwarm haͤufete: ſo fiel
ich in eine Art von Raſerey.
Jch kann mich nicht erinnern, wie mir war,
ſo lange dieſelbe dauerte. Aber dieß weiß ich,
daß ich in meinen erſten Bewegungen mein
Kopfzeug abwarf, meine Manſchetten wohl in
zwanzig Stuͤcken zerriß, und hin rannte, ihn auf-
zufinden.
Als ich ein wenig zu mir ſelbſt gekommen
war, beſtand ich auf das, was er ſich von ihrer
Kutſche hatte verlauten laſſen. Allein der Bo-
the, ſagt er, haͤtte ihm gemeldet, daß die Kutſche
ausgeſchickt waͤre, einen Arzt zu holen, wenn et-
wa deſſen Wagen ſchon an ſeine Stelle gebracht,
oder nicht bereit ſeyn ſollte.
Dann beſtand ich darauf, alſobald gerades
Weges zu der Lady Eliſabeth zu gehen.
J 5Frau
[138]
Frau Leeſons Haus, antwortete er, waͤre itzo
voller Unruhe; und da meine Heftigkeit von
nichts, als von ungegruͤndeter Furcht her-
ruͤhren koͤnnte; O was fuͤr Gelobungen, was
fuͤr Betheurungen auf ſeine Ehre that
er hiebey! ſo hoffete er, ich wuͤrde ihre ge-
genwaͤrtige Unruhe nicht vermehren wollen.
Charlotte waͤre in der That bey unerwarteten
Begebenheiten, es moͤchte Freude, oder Traurig-
keit ſeyn, Ohnmachten zu haben gewohnt: und
die wuͤrden eine ganze Woche bey ihr anhalten;
wo ſie nicht in wenigen Stunden vertrieben
waͤren.
Sie geben fleißig auf die Augen Ach-
tung und verſtehen wohl daraus zu urthei-
len, ſagte der Boͤſewicht, vielleicht meiner in ge-
heim zu ſpotten. Sahen ſie nicht bisweilen in
den Augen der Fraͤulein Montague, zu Hamp-
ſtead, etwas verwildertes? ‒ ‒ Jch war ſchon
damals ihretwegen beſorgt ‒ ‒ Stille und Ruhe
thun ihr allein gut. Jhre Beyſorge fuͤr dieſel-
be, und derſelben Liebe fuͤr ſie, wuͤrde die Krank-
heit des armen Maͤgdchens nur vermehren, wenn
ſie dahin kommen ſollten.
Jch erklaͤrte mich noch immer, ganz unge-
dultig vor Kummer und Furcht, daß ich feſt ent-
ſchloſſen ſey, nicht bis morgen in dem Hauſe zu
bleiben. Alles, was ich in der Welt haͤtte, mei-
ne Ringe, meine Uhr, mein weniges Geld, woll-
te ich fuͤr eine Kutſche hingeben: oder wo keine
zu bekommen waͤre, wollte ich noch die Nacht zu
Fuße
[139]
Fuße nach Hampſtead gehen, wenn ich auch al-
lein die ganze Nacht durch gehen ſollte.
Hierauf ward nach einer Kutſche geſchickt,
oder vorgegeben, als wenn darnach geſchickt wuͤr-
de. Sie moͤchte koſten, was ſie wollte, ſagte er:
ſo wollte er es geben, mir gefaͤllig zu ſeyn, ob es
gleich ſo ſpaͤt waͤre; und wollte mich herzlich gern
begleiten ‒ ‒ Aber es war keine Kutſche zu be-
kommen.
Erlauben Sie mir das Uebrige kurz zuſam-
menzuziehen. Es ward von Zeit zu Zeit ſchlim-
mer mit meinem Kopfe. Bald war ich betaͤubt,
bald in Raſerey, bald ohne Empfindung. Das
ſchaͤndlichſte Weib, das auf Erden lebet, mußte
herbeykommen, mich zu ſchrecken. Niemals iſt
wohl ein ſo ſcheusliches Ungeheuer auf der Welt
geweſen, als ſie mir zu der Zeit ſchien.
Jch erinnere mich, daß ich um Barmherzig-
keit flehete ‒ ‒ Jch erinnere mich, daß ich ſagte,
ich wollte die Seinige ſeyn ‒ ‒ in Wahr-
heit, ich wollte die Seinige ſeyn ‒ ‒ damit
ich nur Barmherzigkeit erlangte ‒ ‒ Allein ich
fand keine Barmherzigkeit! ‒ ‒ Meine Kraft,
mein Verſtand, verließ mich! ‒ ‒ Und dann
folgten ſolche Aufzuͤge ‒ ‒ O meine Wertheſte,
ſolche ſchreckliche Aufzuͤge! ‒ ‒ Ohnmachten
uͤber Ohnmachten, derer ich mich freylich nur
ſchwach und unvollkommen erinnere, wirkten fuͤr
mich kein Mitleiden ‒ ‒ Aber der Tod ward mir
nicht gewaͤhret. Das wuͤrde eine allzu große
Barmherzigkeit fuͤr mich geweſen ſeyn.
So
[140]
So ward ich durch ſcheuslichere Herzen von
meinem eignen Geſchlechte, als ich glaubte, daß
auf der Welt waͤren; die ich fuͤr Perſonen von
Stande und Ehre hielte; beruͤckt und betruͤgeri-
ſcher Weiſe zuruͤckgebracht: und ſo unmenſchlich
ward mir von dieſem Boͤſewicht, da ich in ſeiner
Gewalt war, begegnet.
Jch war meiner Sinne ſo weit beraubet,
daß ich nicht fuͤr gewiß ſagen darf, daß die ab-
ſcheulichen Weibsbilder in dem Hauſe perſoͤnlich
geholfen, oder ihn aufgehetzet haben: aber doch
ſchweben mir noch einige traͤumeriſche Vorſtel-
lungen von weiblichen Geſtalten, die vor meinen
Augen, ſo zu ſagen, herumflatterten, ſonderlich
von dem verruchten Weibe, in Gedanken. Allein,
da dieſe verworrene Begriffe von dem Schrecken
herruͤhren mochten, welches mir die aͤrger als
kerlsmaͤßige Wuth, die ihr verſtattet war, weil
ich meinen Abſcheu vor ihrem Hauſe bezeugte,
eingejaget hatte; und da das, was ich von ſeiner
ungeheuren Grauſamkeit gelitten habe, dieſe Ver-
groͤßerung nicht braucht: ſo will ich von einer ſo
anſtoͤßigen Sache, als dieſe meinem Angedenken
beſtaͤndig ſeyn muß, nichts mehr ſagen.
Jch habe die nichtswuͤrdigen Creaturen, wel-
che fremde Perſonen ſpielten, nachher niemals wie-
der geſehen. Er beſtand aͤußerſt darauf, und
rief den Himmel fuͤrchterlich zum Zeugen fuͤr die
Wahrheit ſeiner Ausſage, daß ſie wirklich, und
in
[141]
in Wahrheit die Frauenzimmer geweſen, wofuͤr
ſie ſich ausgegeben haͤtten, an. Er bezeugte, daß
ſie nicht haͤtten Abſchied von mir nehmen koͤnnen,
da ſie von London abgegangen waͤren, weil ich
ohne Empfindung und in der Raſerey geweſen.
Denn ihre berauſchende oder vielmehr betaͤuben-
de Traͤnke hatten beynahe ſolche Wirkungen uͤber
meinen Verſtand, die ihn gaͤnzlich vertilgten, ſo
daß ich einige Tage uͤber auf eine wunderliche
Art verruͤckt war. Bald war ich daͤmiſch, bald
ſchlafſuͤchtig, bald weinte ich, bald raſete ich, bald
ſchrieb ich, und zerriß, was ich ſchrieb, eben ſo
geſchwinde, als ich es geſchrieben hatte. Am
aller elendeſten war ich daran, wenn bisweilen
ein kleiner Strahl der Vernunft mir das, was
ich gelitten hatte, ins Gedaͤchtniß brachte.
Der zwey und zwanzigſte Brief.
Eine Fortſetzung
von der Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Die Fraͤulein giebt hierauf Nach-
richt
- Von ihrer Geneſung aus der Raſerey und
Schlafſucht; - Von ihrem Verſuch, in ſeiner Abweſenheit
davon zu gehen;
Von
[142]
- Von denen Unterredungen, die nach ſeiner Zu-
ruͤckkunſt zwiſchen ihnen erfolgten; - Von der elenden Perſon, die er als ein armer
Suͤnder ſpielte; - Von ihrer Entſchließung, ihn nicht zu neh-
men; - Von ihren verſchiedenen Bemuͤhungen zu ent-
fliehen; - Von ihrer Unterhandlung mit Dorcas, ihr
dabey huͤlfliche Hand zu leiſten; - Von der Handſchrift uͤber ihr gethanes Ver-
ſprechen, welche Dorcas verlohren, ſonder
Zweifel, wie ſie ſagt, aus Vorſatz, um ſie
zu verrathen; - Von ihrem Siege uͤber alle Weibsbilder in
dem Hauſe, die verſammlet waren, ſie zu
ſchrecken und vielleicht ihr aufs neue Ge-
walt anzuthun. - Von ſeiner Abreiſe nach M. Hall.
- Von ſeinen oͤftern Briefen, wodurch er ſie zu
bereden ſuchte, mit ihm an ihres Onkels
Geburtstage zum Altar zu kommen. - Von ihrem ſtandhaften Stillſchweigen auf
alle dieſe Briefe; - Von ihrer zwoten Flucht, die wider ihre ei-
gne Vermuthung, wie ſie ſchreibt, ge-
lungen iſt; da der Verſuch anfangs nach
ihrer Abſicht nur das Vorſpiel zu einem
andern, von dem ſie ſich mehr verſprach
und
[143]
und den ſie in ihren Gedanken entworfen
hatte, ſeyn ſollte; - Und von andern Umſtaͤnden, welche
hier ausgelaſſen ſind, weil man ſie in
den vorhergehenden Briefen, theils von
Herrn Lovelace, theils von ſeinem
Freunde Belford, findet. Hiernaͤchſt
faͤhret ſie fort:
So bald ich mich an einem ſichern Ort be-
fand, ergriff ich zur Stunde die Feder, an Sie
zu ſchreiben. Da ich anfing: war ich nur wil-
lens ſechs oder acht Zeilen zu ſchreiben, damit ich
mich nach ihrem Befinden erkundigte. Denn
weil ich keine Nachricht von ihnen hatte: ſo be-
ſorgte ich wirklich, daß Sie allzu krank geweſen
waͤren und noch waͤren, ſchreiben zu koͤnnen.
Kaum aber fing meine Feder an, das Papier zu
beſchmieren: ſo uͤbereilte ſie mein trauriges Herz,
und der Brief gerieth in die Laͤnge. Die Furcht,
worinn ich geſtanden, daß ich nicht vermoͤgend
ſeyn wuͤrde, davon zu kommen; die Beſchwerde,
welche ich bey Vollziehung meiner Flucht gehabt,
die Schwierigkeit, ein Zimmer fuͤr mich zu fin-
den, da mir ſchon in zweyen Haͤuſern die Leute
nicht gefallen hatten, und in einem dritten ich
den Leuten nicht gefiel, denn Sie muͤſſen geden-
ken, daß ich ein ſchreckliches Anſehen hatte ‒ ‒
Dieß alles, nebſt dem Angedenken deſſen, was ich
von ihm gelitten, nebſt meiner ferneren Sorge we-
gen meiner Unſicherheit, und endlich meinen ver-
laſſe-
[144]
laſſenen Umſtaͤnden, hatte mich ſo verwirrt, daß
ich in dem Briefe, wie ich mich beſinne, wunder-
lich ausſchweifete.
Kurz ich hielte ihn ſelbſt, als ich ihn noch
einmal uͤberſahe, fuͤr einen halb unſinnigen Brief.
Allein ich verzweifelte daran, daß ich beſſer ſchrei-
ben wuͤrde, wenn ich wieder anfinge. Daher
ließ ich ihn abgehen: und kann keine Entſchul-
digung haben, warum ich ihn durch den Weg
geſchickt, durch welchen ich ihn wirklich ſchickte,
wo mir nicht der Grund von dem ſo wenig zu-
ſammenhangenden Jnhalt deſſelben eine ſehr
klaͤgliche Entſchuldigung an die Hand geben
wird.
Der Brief, den ich von Jhrer Mutter em-
pfing, war ein ſchrecklicher Streich fuͤr mich.
Unterdeſſen hatte er die gute Wirkung uͤber mich,
da ich eben damals unter einem heftigen Anfall
benebelnder Kleinmuͤthigkeit arbeitete, und beyna-
he unterliegen wollte, welche bey ſtarken Anfaͤllen
von der Gicht oder dem Schlage, haͤufiges Ader-
laſſen und ſpaniſche Fliegen haben. Er erweckte
meine Aufmerkſamkeit, und machte mir wieder
Muth, die Uebel, mit denen ich umgeben war,
zu beſtreiten: ‒ ‒ indem er, wenn mir noch eine
andere Vergleichung zu gebrauchen erlaubt iſt,
die Wehen, womit ich uͤberladen war, ableitete,
und in einen neuen Canal fuͤhrte; als ſie mei-
nen Verſtand noch einmal zu uͤberſchwemmen
droheten.
Den-
[145]
Dennoch aber beklagte ich von ganzem Her-
zen, und beklage es noch, mit den eignen Wor-
ten Jhrer Frau Mutter, daß ich nicht fuͤr
mich allein ungluͤcklich ſeyn kann. Es
kraͤnkte mich nicht allein die Unruhe, welche ich
ihnen vorher verurſachet hatte, ſondern auch dieſe,
die ich ihnen aufs neue durch meine Unachtſam-
keit zuwege gebracht.
- Hierauf meldet ſie den Jnhalt derer Briefe,
die ſie an Frau Norton, an die Lady
Eliſabeth Lawrance, und Frau Hodges
geſchrieben, wie auch der Antworten
von dieſen Perſonen, wodurch ſie alle
Betruͤgereyen des Herrn Lovelace ent-
deckte.
Bey dem allen, faͤhrt ſie fort, kann ich nicht
umhin, mich zu verwundern, wie der ſchaͤndliche
Tomlinſon zu der Wiſſenſchaft verſchiedner Din-
ge, welche er mir erzaͤhlte, und welche vieles bey-
trugen, mir ein Vertrauen zu ihm zu machen,
gelangen konnte (*).
Jch zweifle nicht, daß die Hiſtorien von der
Frau Fretchvilla und ihrem Hauſe als eben ſo
ſchaͤndliche
Sechſter Theil. K
[146]
ſchaͤndliche Betruͤgereyen, wie eine von den vori-
gen, wuͤrde befunden werden, wenn ich Nachfra-
ge thun wollte, und nicht ſchon genug, ja allzu
viel, gegen den meineidigen Kerl haͤtte.
Wie bin ich angefuͤhret! ‒ ‒ Was wird es
mit einem ſo falſchen und eidbruͤchigen Boͤſewicht
fuͤr ein Ende nehmen: da der Himmel nicht we-
niger von ihm entehret und trotzig aufgefordert
iſt, als ich betrogen und gemishandelt bin! Dieß
muß ich inzwiſchen wider mich ſelbſt ſagen, daß,
wofern dasjenige, was ich gelitten habe, eine na-
tuͤrliche Folge von meinem erſten Vergehen iſt,
ich mir ſelbſt niemals vergeben kann: ob Sie
gleich ſo parteyiſch fuͤr mich ſind, daß Sie mich
wegen alles deſſen, was vor meiner erſten Flucht
vorgegangen iſt, von allen Vorwuͤrfen frey-
ſprechen.
Nun, gnaͤdige Frau, und meine wertheſte
Fraͤulein Howe, die uͤber meine Sache das Ur-
theil ſprechen ſollen, erlauben Sie mir die Feder
niederzulegen, mit einer einzigen Bitte, die ich
auf das inſtaͤndigſte an Sie beyde thue. Jch
bitte, daß ſich keine von Jhnen jemals das ge-
ringſte Wort von den Traͤnken und Gewaltthaͤ-
tigkeiten, die ich mit einigen Winken angedeutet
habe, verlauten laſſen wolle ‒ ‒ Nicht, weil ich
etwa Sorge tragen wollte, daß meine Schande
vor der Welt verborgen bleiben moͤchte, oder daß
es nicht uͤberall bekannt werden ſollte, daß der
Kerl ſich als einen ſchaͤndlichen Betruͤger gegen
mich bewieſen habe: denn dieß hat ein jeder, nur
ich
[147]
ich allein nicht, von ſeiner beſchrieenen Gemuͤths-
art, wie es ſcheint, erwartet. Aber geſetzt, man
beſtuͤnde darauf, weil ſeine Handlungen gegen
mich wirklich Lebensſtrafe verdienen, daß ich
ihn und ſeine Mitſchuldige oͤffentlich vor Gericht
belangen ſollte: wie, denken Sie, koͤnnte ich das
ertragen?
Da mein guter Name, ſchon vor der ab-
ſcheulichen und des Todes wuͤrdigen That, ja
ſelbſt von der Stunde an, als ich meines Va-
ters Haus verließ, in den Augen der Welt ver-
lohren geweſen: und da alle meine Hoffnung zur
Gluͤckſeligkeit in dieſer Welt gaͤnzlich verſchwun-
den iſt: ſo laſſen Sie mich in Ruhe unvermerkt
zu Grabe gehen; und laſſen nicht anders, als
durch eine einzige Freundſchaftsthraͤne, und nicht
mehrere, die von Jhrem holdſeligen Auge, mei-
ne eigne, allerliebſte, Anna Howe, an dem gluͤck-
lichen Tage, der allen meinen Kummer verſchar-
ren ſoll, herabfließe, das Angedenken erneuret
werden, daß eine ſolche Perſon in der Welt ge-
weſen ſey als
Sonnabends,
den 8ten Jul. Clariſſa Harlowe.
K 2Der
[148]
Der drey und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Odaß der Himmel doch ſeine Rache uͤber den
verruchteſten und verderbteſten Kerl auf die
merklichſte Art, vor den Augen aller Welt, ſe-
hen laſſen moͤchte! ‒ ‒ Jch zweifle nicht, er
wird es zu ſeiner Zeit thun ‒ ‒ Und wir muͤſ-
ſen, zur Belohnung unſers Leidens, auf eine Welt
nach dieſer hinausſchauen! ‒
Noch eine aͤrgerliche Entdeckung! ‒ ‒ Wie
ſind Sie hinter das Licht gefuͤhret worden! ‒ ‒
Jch habe Sie fuͤr recht wachſam, fuͤr recht ſcharf-
ſichtig gehalten: ‒ ‒ aber, leyder! fuͤr den ſcheus-
lichen Betruͤger, mit dem Sie zu thun gehabt
haben, ſind Sie nicht wachſam, nicht ſcharfſich-
tig genug geweſen! ‒ ‒
Der Brief, den Sie, als den meinigen vom
7ten Jun. an mich eingeſchloſſen uͤberſandt haben,
iſt betruͤglich geſchmiedet und untergeſchoben (*).
Die Hand, in der That, iſt der meinigen bis zum
Erſtaunen aͤhnlich; und der Umſchlag, ſehe ich,
iſt wirklich mein Umſchlag: dennoch iſt die Nach-
ahmung in dem Briefe nicht ſo genau und voll-
kommen, daß Sie, die meine Hand ſo wohl ken-
nen,
[149]
nen, es nicht haͤtten entdecken moͤgen; wenn Sie
damals einigen Argwohn von ſeinem ſchaͤndlichen
Gemuͤthe gehabt haͤtten.
Kurz, dieſer betruͤgeriſch geſchmiedete Brief
iſt zwar ziemlich lang, aber enthaͤlt doch nur we-
nige Auszuͤge aus dem meinigen. Der meinige
war ſehr lang. Er hat, wie ich ſehe, alles aus-
gelaſſen, was Jhnen haͤtte zeigen koͤnnen, wie
ſcheuslich das Haus ſey, und gegen den ſchaͤndli-
chen Tomlinſon einigen Verdacht beyzubringen
vermoͤgend geweſen waͤre. ‒ ‒ Sie werden dieß
aus dem bloßen Entwurf des eigentlichen Brie-
fes, den ich einſchließen will (**)(*), ſehen, und
bemerken, wie er, verfluchter Betruͤger! die
Nachricht von der Fraͤulein Lardner und meine
Erinnerungen zu ſeinem abſcheulichen Zweck ver-
drehet hat.
Da ich fuͤr unſerer beyden Sicherheit vor
einem ſo kuͤhnen und verruchten Raͤnkeſchmieder
beſorgt bin: ſo muß ich Sie auffordern, werthe-
ſte Freundinn, daß Sie ſich entſchließen, geſetz-
maͤßige Rache an dem hoͤlliſchen Boͤſewicht zu
nehmen; und dieß nicht allein um unſerer ſelbſt
willen, ſondern auch um derer Unſchuldigen wil-
len, die ſonſt von ihm noch koͤnnen betrogen und
geſchaͤndet werden.
- Hiernaͤchſt ertheilet ſie die eigentlichen Um-
ſtaͤnde von der Ausſage des jungen Kerls,
den ſie mit ihrem Brief nach Hampſtead
geſchickt hatte, und der ſich einbildete,
K 3daß
[150]
daß er ihn ihr ſelbſt in die Haͤnde gelie-
fert haͤtte(*). Alsdenn faͤhret ſie fort:
Jch bin erſtaunet, daß der ehrloſe Kerl, der
doch nichts von der Zeit wiſſen konnte, da mein
Bothe, fuͤr deſſen Ehrlichkeit ich ſtehen kann,
kommen wuͤrde, ein Weibsbild hat bey der Hand
haben koͤnnen, das Jhre Perſon ſpielete! Es iſt
etwas ſeltſames, daß der Bothe eben zu der Zeit,
als Sie in der Kirche geweſen ſind, hat ankom-
men ſollen; wie ich es aus der Vergleichung ſei-
ner Ausſage mit Jhrer Nachricht, daß Sie an
dem Tage zweymal in die Kirche gegangen, wirk-
lich befinde: da er eben ſo leicht zwo Stunden
vorher bey der Frau Moore haͤtte anlangen koͤn-
nen. ‒ ‒ Allein haͤtten Sie mir nur gemeldet,
liebſte Freundinn, daß der Betruͤger Sie aufge-
ſpuͤret haͤtte und um Sie waͤre! ‒ ‒ Das haͤtten
Sie thun ſollen! ‒ ‒ Jedoch ich tadle Sie nach
einem Urtheil, das bloß auf den Ausgang der
Sache gegruͤndet iſt.
Jch habe niemals die Hiſtoͤrchen, die unter
den Maͤgdchen auf dem Lande herumgehen, von
Geſpenſtern, Schutzengeln, und Geiſtern geglau-
bet: doch aber ſehe ich keinen andern Weg, den
gluͤcklichen Erfolg dieſes nichtswuͤrdigen Kerls in
ſeiner Bosheit, und die Mittel, wodurch er ſeine
ſcheinbare Betruͤgereyen ins Werk richtet, zu er-
klaͤren, als wenn man annimmt, wo er nicht der
Teufel ſelber iſt, daß er beſtaͤndig einen vertrau-
ten Geiſt zur Seiten hat. Bisweilen ſcheint es,
nimmt
[151]
nimmt dieſer Vertraute die Geſtalt des feyerli-
chen Betruͤgers Tomlinſons an; bisweilen die
Geſtalt der verfluchten Sinclair, wie er ſie nen-
net: bisweilen wird ihm auch erlaubt, die Ge-
ſtalt der Lady Eliſabeth Lawrance anzunehmen ‒ ‒
Allein, man ſehe, was er fuͤr ein aufgeſchwolle-
nes Bild vorſtellte, als er die engliſche Geſtalt
und das engliſche Weſen meiner geliebten Freun-
dinn annehmen wollte!
Jch bin der Meynung, meine Wertheſte,
daß Sie da, wo Sie ſind, nicht laͤnger ſicher ſeyn
werden, als ſo lange der Boͤſewicht auf dem Lan-
de iſt. Worte ſind zu wenig! ‒ ‒ Wie koͤnnte
ich ihn ſonſt verfluchen. Jch zweifle kaum, daß
er ſich auf eine Zeit ſelbſt verkauft habe. O moͤch-
te doch die Zeit nur kurz ſeyn: ‒ ‒ Oder moͤch-
te ſein hoͤlliſcher Eingeber mit ihm den Bund
nicht beſſer halten, als mit andern!
Jch ſchließe nicht allein den erſten Entwurf
von meinem langen und oben beruͤhrten Briefe
ein: ſondern auch ein Verzeichniß des Hauptin-
halts von demjenigen, den der junge Kerl Jhnen
zu Hampſtead ſelbſt in die Haͤnde geliefert zu ha-
ben glaubte. Wenn Sie beydes durchgeſehen
haben: ſo will ich Jhnen zu urtheilen uͤberlaſſen,
wie viel ich Urſache gehabt, mich zu wundern,
daß Sie auf keinen von dieſen Briefen antworte-
ten; da Sie ſelbſt bekannten, daß Sie den einen
bekommen haͤtten; und ich verſichert ward, daß
der andere Jhnen ſelbſt in die Haͤnde geliefert
waͤre; an beyden aber Jhrer Ehre ſo viel gelegen
K 4war.
[152]
war. Sie moͤgen auch ſelbſt urtheilen, wie viel
mehr ich mich wundern mußte, als ich einen
Brief von Frau Townſend, vom 15ten Jun. aus
Hampſtead bekam, der folgende Nachrichten ent-
hielte: „Herr Lovelace waͤre verſchiedne Tage bey
„Jhnen geweſen, und haͤtte am Montage vorher
„ſeine Tante und Baſe, in einem reichen Putz
„und einer Kutſche mit vier Pferden, hingebracht,
„Sie zu beſuchen. Dieſe haͤtten Sie mit Jhrem
„guten Willen mit ſich nach London genommen ‒ ‒
„und in ihre vorige Wohnung gefuͤhret, wo Sie
„ſich noch aufhielten. Die Weibsleute zu Hamp-
„ſtead glaubten, daß Sie mit ihm vermaͤhlet waͤ-
„ren, und machten ihre Anmerkungen uͤber mich,
„als eine Perſon, die zwiſchen Mann und Weib
„Uneinigkeiten ſtiftete. Er ſelbſt waͤre des Ta-
„ges zuvor, Mittwoch. den 14ten, zu Hampſtead
„geweſen, und haͤtte ſich geruͤhmet, wie gluͤcklich
„er mit Jhnen waͤre, auch Frau Moore, Frau
„Bevis und Jungfer Rawlins eingeladen, nach
„London zu kommen und ſeine Gemahlinn zu be-
„ſuchen; welches ſie verſprochen haͤtten. Er haͤt-
„te verſichert, daß Sie mit Jhrer vorigen Woh-
„nung vollkommen wieder vergnuͤgt waͤren. End-
„lich haͤtten noch die Weibsperſonen zu Hamp-
„ſtead der Frau Townſend erzaͤhlet, daß er ihre
„Zimmer gar wohl bezahlet haͤtte„.
Jch geſtehe Jhnen, werthe Freundinn, ich
wunderte mich ſo ſehr, und war ſo misvergnuͤgt
uͤber dieſen widrigen Anſchein gegen eine Auffuͤh-
rung, wider die bis dahin nichts einzuwenden ge-
weſen,
[153]
weſen, daß ich mir vornahm, mich ſo gut, als
ich koͤnnte, zu beruhigen, und zu warten, bis
Sie es fuͤr dienlich finden wuͤrden, an mich zu
ſchreiben. Allein ich konnte meine Ungedult nur
auf wenige Tage im Zaum halten: und den 20ten
Jun. ſchrieb ich einen harten Brief an Sie; den
Sie, wie ich finde, nicht bekommen haben.
Was fuͤr ein ungluͤckliches Schickſal, liebſte
Freundinn, hat ſich, von dem erſten Anfange an
bis auf dieſe Stunde, in Jhrer Begebenheit ge-
zeiget! Haͤtte meine Mutter erlaubet ‒ ‒
Jedoch kann ich dieſe tadeln: da Jhr Va-
ter und Jhre Mutter am Leben ſind, die ſo viel
zu verantworten haben? ‒ ‒ So viel! ‒ ‒ als
kein Vater und keine Mutter, in Betrachtung
des Kindes, das ſie getrieben, verfolget, bloßge-
ſtellet, aufgegeben haben ‒ ‒ jemals zu verant-
worten gehabt!
Noch einmal muß ich den verruchten Boͤſe-
wicht verfluchen ‒ ‒ Wiewohl, ich habe es ſchon
vorher geſagt, alle Worte ſind zu wenig und rei-
chen nicht ſo weit, als es noͤthig waͤre!
Sehen wir aber nicht an den erſchrecklichen
Meineiden und Betruͤgereyen dieſes Menſchen,
was liederliche Leute und Liebhaber der ſo genann-
ten freyen Lebensart zu thun geneigt ſind, wenn
ſie ein junges Frauenzimmer in ihre Gewalt be-
kommen? Es iſt wahrſcheinlich, daß er die un-
leidliche Vermeſſenheit haben mochte, einen leich-
tern Sieg zu hoffen. Allein da Jhre Wach-
ſamkeit und erhabne Tugend, die ihres gleichen
K 5nicht
[154]
nicht haben, verurſacheten, daß Traͤnke, Noth-
zwang, und die aͤußerſten Gewaltthaͤtigkeiten zur
Erreichung ſeines abſcheulichen Zwecks noͤthig
waren: ſo ſehen wir, daß er ſich niemals ein Be-
denken daruͤber machte. Jch zweifle gar nicht,
daß eben dieſe oder eine gleiche Bosheit von Leu-
ten dieſer ſchaͤndlichen Art oͤfterer wuͤrde ausgeuͤ-
bet werden, wenn die Thorheit und Leichtglaͤubig-
keit der elenden und unvorſichtigen Perſonen, die
ſich ſelbſt in ihre Haͤnde werfen, ihnen nicht einen
leichtern Sieg zuwege braͤchte.
Mit wie großem Vergnuͤgen muͤſſen diejeni-
gen Eltern, welche ihre Toͤchter durch die Ver-
maͤhlung mit einem tugendhaften Mann gluͤcklich
berathen haben, dieſe Dinge uͤberlegen! Und
wie gluͤcklich ſind die jungen Weibsperſonen, die
ſich ſelbſt unter einem anſtaͤndigen Schutz ſicher
befinden! ‒ ‒ Konnte eine ſolche Perſon, als Fraͤu-
lein Clariſſa Harlowe, nicht entgehen: wer kann
wohl ſicher ſeyn? ‒ ‒ Denn ob gleich ein jeder
liederlicher Kerl nicht ein Lovelace iſt: ſo iſt
doch auch nicht ein jedes Frauenzimmer eine Cla-
riſſa; und ſeine Unternehmungen ſind nur mit
Jhrem Widerſtande und Jhrer Wachſamkeit in
gleichem Verhaͤltniſſe geweſen.
Meine Mutter hat mir befohlen, Jhnen ih-
re Gedanken uͤberhaupt von Jhrer traurigen Ge-
ſchichte zu eroͤffnen. Jch will es in einem andern
Briefe thun, und denſelben nebſt dieſem durch
einen eignen Bothen an Sie ſchicken.
Kuͤnftig
[155]
Kuͤnftig aber, wenn Sie es genehm halten,
will ich meine Briefe durch die gewoͤhnliche
Hand, durch Collins, ſenden, daß ſie im Sara-
cenen-Kopfe auf dem Schneehuͤgel abgegeben
werden: und dahin koͤnnen Sie auch die ihrigen
ſchicken; wie wir ſie ſonſt beyde in Wilſons Haus
zu ſenden pflegten. Jch nehme diejenigen aus,
welche wir durch die Poſt abzulaſſen fuͤr gut be-
finden werden, und bin beſorgt, daß dieſe, nach
meinem naͤchſtkuͤnftigen, wieder an Herr Hick-
mann, wie zuvor, gerichtet werden muͤſſen. Denn
meine Mutter ſetzet unſerm Briefwechſel eine ſol-
che Bedingung, welche Sie vermuthlich nicht zu
erfuͤllen geneigt ſeyn werden, ob ich es gleich wuͤn-
ſchen moͤchte. Jch werde Jhnen dieſe Bedin-
gung bald melden.
Unterdeſſen bitte ich wegen aller Haͤrte in mei-
nem letzten Schreiben um Entſchuldigung, und
erſuche Sie, meine Wertheſte, zu glauben, ich
ſey
Jhre wahrhaftig gleich geſinnte, und
unveraͤnderliche Freundinn,
Anna Howe.
Der
[156]
Der vier und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jch nehme nun meine Feder wieder, theureſte
Freundinn, damit ich meiner Mutter ge-
horche und Jhnen ihre Meynung uͤber Jhre un-
gluͤckliche Geſchichte entdecke.
Sie redet beſtaͤndig aus dem alten Tone,
und will behaupten, daß alle Jhre Ungluͤcksfaͤlle
von dem erſten verderblichen Schritte herruͤhren,
den Sie gethan haben. Denn ſie glaubt; ich
kann es aber nicht glauben; daß Jhre Verwand-
ten willens geweſen waͤren, nach noch einem ge-
meinſchaftlichen Verſuch, Jhrer Abneigung nach-
zugeben, wenn ſie dieſelbe ſo feſtgegruͤndet gefun-
den haͤtten, als man, erlauben Sie mir es zu ſa-
gen, durch eine thoͤrichte Vermuthung, nach ſo
vielen, laͤcherlicherweiſe wiederholten Verſu-
chen, ſie nicht zu finden dachte.
Jn Anſehung deſſen, was ſie von dem ſchaͤnd-
lichen Freygeiſte zuletzt gelitten haben, bleibt ſie
unveraͤnderlich der Meynung, daß, wo ſich alles,
in Abſicht auf die Traͤnke und die Gewaltthaͤtig-
keiten, die Sie ausgeſtanden haben, ſo verhaͤlt,
wie Sie berichtet haben; woran dieſelbe nicht
zweifelt; Sie vor allen Dingen eine gerichtliche
Klage
[157]
Klage wider ihn und ſeine teufliſche Mitgenoſſen
anſtellen muͤſſen.
Sie fragt, welche Moͤrder, welche Raͤuber
wohl wuͤrden vor Gericht gebracht werden: wenn
ein jeder die Schamhaftigkeit vorwenden woll-
te, und das zugelaſſen wuͤrde, damit er nicht vor
Gericht erſcheinen duͤrfte, jemand daſelbſt zu ver-
folgen.
Das Wohl der Geſellſchaft erfordere, ſagt
ſie, daß ſolch ein Raubvieh daraus gejaget werde.
Wo Sie ihn nicht verfolgen: ſo werden Sie, nach
ihren Gedanken, alles Ungluͤck zu verantworten
haben, was er in dem Fortgange ſeines ſchaͤndli-
chen Lebens noch thun mag.
Wird man wohl denken, Annchen, ſagte ſie,
daß es der Fraͤulein Harlowe ein Ernſt ſey, wenn
ſie ſpricht, Sie trage keine Sorge, ihre Schande
vor der Welt verborgen zu halten, wo Sie ſich
fuͤrchtet oder ſchaͤmet, vor Gericht zu erſcheinen,
und dadurch ſich und ihrem Geſchlechte Gerech-
rechtigkeit wider ihn zu verſchaffen? Wird man
nicht vielmehr auf den Verdacht gerathen, daß
Sie beſorgt ſeyn moͤge, es werde ſich bey der Un-
terſuchung der wunderlichen Sache einige
Schwachheit oder heimliche Liebe zeigen? Wo
eine ſo mannichfaltig verwickelte Bosheit, ſchloß
ſie, als dieſe iſt, ungeſtraft hingehen ſoll; eine
Bosheit, wobey Meineid, Miſchung ſchaͤdlicher
Traͤnke, Unterſchiebung erdichteter Briefe, Auf-
ſtellung falſcher Perſonen, alle zuſammenkom-
men, eine unſchuldige Perſon ungluͤcklich zu ma-
chen
[158]
chen und eine anſehnliche Familie zu entehren;
eine Bosheit, wobey dieſe Laſter ſelbſt, wie man
vermuthen mag, Beweisthuͤmer ihrer Unſchuld
ſind: was fuͤr ein Fall wird denn wohl verdie-
nen, vor Gericht gebracht zu werden; oder wel-
cher Ubelthaͤter ſoll an den Galgen kommen?
Hiernaͤchſt meynt ſie, und ich bin eben der
Meynung, daß vor allen Dingen die ſchaͤndlichen
Creaturen, welche an ſeiner Bosheit Theil haben,
zu verdienter Strafe gezogen werden ſollen; wie
geſchehen muß und geſchehen wird, wenn man
ihn zu ſeinem Verhoͤr bringet: und dieß kann ein
Mittel ſeyn ein ganzes Otternneſt zu zerſtoͤren und
auszurotten, und viele unſchuldige Seelen zu
retten.
Sie fuͤgte hinzu, wo es der Fraͤulein Clariſſa
Harlowe um ihrer ſelbſt willen ſo gleichguͤltig
ſeyn koͤnnte, ob an einem ſolchen Boͤſewicht dieſe
oͤffentliche Gerechtigkeit ausgeuͤbet wuͤrde, oder
nicht: ſo waͤre Sie ſchuldig, in Betrachtung Jh-
rer Familie, Jhrer Bekannten und Jhres Ge-
ſchlechts, die alle durch ſeine Schandthaten gegen
Sie beleidigt und geaͤrgert waͤren, ihre Zweifel
zu uͤberwinden.
Waͤre ſie Jhre Mutter, erklaͤrt ſie ſich; ſo
wuͤrde ſie ihres Theils Jhnen unter keinen andern
Bedingungen vergeben: und wo Sie ſich dieſel-
ben gefallen laſſen, will ſie es ſelbſt uͤber ſich neh-
men, Sie mit Jhrer Familie wieder auszu-
ſoͤhnen.
Dieß,
[159]
Dieß, werthe Freundinn, ſind meiner Mut-
ter Gedanken von Jhrer betruͤbten Geſchichte.
Jch muß geſtehen, ſie ſind gegruͤndet und
gerecht. Meiner Meynung nach wuͤrde es den
Geſetzen gar wohl gemaͤß ſeyn, ein ſchimpflich be-
leidigtes Frauenzimmer anzuhalten, daß ſie die
Mannsperſon vor Gericht verfolgete, und die
Verfuͤhrung, wobey ſich ſeine vorſetzliche Bos-
heit und kein Fehler in ihrem Willen zeigte, an
ſeiner Seite des Todes wuͤrdig erklaͤren ließe.
Zu dem Ende iſt die Gewohnheit auf der Jn-
ſel Man ſehr gut ‒
„Wenn daſelbſt eine ledige Weibsperſon ei-
„nen ledigen Kerl wegen einer gewaltſamen Ent-
„ehrung belanget: ſo ernennen die geiſtlichen
„Richter einen Geſchwornen. Findet dieſer Ge-
„ſchworne ihn ſchuldig: ſo wird er als ſchuldig
„den weltlichen Gerichten wieder uͤberliefert.
„Hier uͤberreicht der Richter, wofern er uͤberwie-
„ſen wird, der Weibsperſon einen Strick, ein
„Schwerdt und einen Ring: und ſie hat die freye
„Wahl, ob er gehangen, enthauptet oder mit ihr
„getrauet werden ſoll„.
Eines von den beyden erſten ſollte ſie, mei-
nen Gedanken nach, allemal waͤhlen.
Mich verlangt ſehr, die Umſtaͤnde von Jh-
rer Geſchichte vollſtaͤndig zu erfahren. Sie muͤſ-
ſen bey einem ſo geſchaͤfftigen Gemuͤthe, als Sie
beſitzen, mehr als zu viele Zeit uͤbrig haben: wo
Sie ſich nur leidlich befinden und einigermaßen
munter ſeyn koͤnnen.
Die
[160]
Die Bosheit des aͤrgſten Kerls auf der Welt
und die Tugend des vortrefflichſten Frauenzim-
mers auf Erden, vermuthe ich, wuͤrde in dieſer
Erzaͤhlung durch ausnehmende Beyſpiele vorge-
ſtellt werden: wenn ſie auf die zuſammenhangen-
de und beſondere Art, wie Sie zu ſchreiben pfleg-
ten, aufgeſchrieben wuͤrde.
Verſuchen Sie es, liebſte Freundinn: und
da Sie das Beyſpiel nicht ohne die Warnung
geben koͤnnen; ſo geben Sie beydes, zum Be-
ſten aller derer, die von Jhrem ungluͤcklichen
Schickſal hoͤren werden. Fangen Sie von Jh-
rem Schreiben vom 5ten Jun. an, zu welcher
Zeit eine nicht unangenehme Ausſicht in die Zu-
kunft vor Jhnen war. Jch bedaure Sie wegen
der Arbeit: kann Sie aber derſelben nicht willig
uͤberheben.
Meine Mutter verlangt, ich ſoll noch beyfuͤ-
gen, daß ſie auf die gerichtliche Ausfuͤhrung Jh-
rer Sache beſtehen muͤſſe. Sie wiederholt es,
daß ſie dieß zu einer Bedingung ſetze, unter wel-
cher ſie unſern kuͤnftigen Briefwechſel erlaubet. ‒‒
Melden Sie mir alſo Jhre Gedanken daruͤber.
Jch fragte ſie, ob ſie zulaſſen wollte, daß ich vor
Gericht erſcheinen moͤchte, Sie zu unterſtuͤtzen,
wenn Sie ſich gefaͤllig erklaͤrten? ‒ ‒ Allerdings,
war ihre Antwort, wenn das Sie bewegen koͤnn-
te, mit ihm und den ſcheuslichen Weibsleuten an-
zubinden. Jch denke, ich koͤnnte zu Jhnen kom-
men;
[161]
men; ich bin verſichert, ich koͤnnte es: wenn nur
eine Wahrſcheinlichkeit vorhanden waͤre, dem Un-
geheuer ſein verdientes Ende zu verſchaffen.
Noch einmal: ertheilen Sie mir Jhre Ge-
danken daruͤber; und ſetzen den Fall, daß es mit
Genehmhaltung Jhrer Anverwandten geſchehen
ſollte.
Sie moͤgen ſich aber in dieſem Stuͤcke ent-
ſchließen, wozu Sie wollen: ſo werde ich beſtaͤn-
dig beten, daß Gott Jhnen Gedult verleihe, Jhr
ſchweres Leiden zu ertragen, wie eine Perſon thun
muß, die ſich daſſelbe nicht durch einen ſtrafbaren
Willen zugezogen hat; daß er Jhrem verwunde-
ten Gemuͤthe Friede und Troſt zuſpreche, und
Jhnen viele begluͤckte Tage ſchenke.
Jch bin, und werde allezeit ſeyn,
Jhre ergebene und getreue
Anna Howe.
Die beyden vorhergehenden Briefe wur-
den durch einen eignen Bothen abge-
ſchickt: und in dem Umſchlage waren
noch die folgenden Zeilen geſchrieben.
Montags, den 10ten Jul.
Jch kann den Einſchluß nicht ohne Begleitung
von einigen Zeilen abgehen laſſen, um Jhnen,
wertheſte Freundinn, anzuzeigen, daß beyde Brie-
fe in einigen Stellen nicht ſo zaͤrtlich ſind, als ich
wuͤrde geſchrieben haben, wenn ſie nicht vor mei-
ner Mutter die Muſterung haͤtten leiden muͤſſen.
Sechſter Theil. LDie
[162]
Die Haupturſache aber, warum ich ſo beſonders
ſchreibe, iſt dieſe, daß ich Sie um Erlaubniß bit-
te, Jhnen Geld, Kleider und Waͤſche, welches
Sie nothwendig brauchen muͤſſen, zu ſenden, und
dabey erſuche, mich wiſſen zu laſſen, ob entweder
ich, oder ſonſt jemand, bey dem ich etwas
gelten mag, Jhnen dienen kann. Jch bin aus-
nehmend beſorgt, daß Sie da, wo Sie ſich auf-
halten, noch nicht genug vor ſeinen Haͤnden geſi-
chert ſind. Gleichwohl iſt London, wie ich ver-
ſichert bin, vor allen andern der Ort, wo man
geheim bleiben kann.
Jch moͤchte mir vor Verdruß die Haare aus-
raufen, daß ich es nicht in meiner Gewalt habe,
Jhnen perſoͤhnlichen Schutz zu ertheilen! ‒ ‒
Jch bin
Jhre ewig ergebene
Anna Howe.
Der fuͤnf und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jch laſſe mir den Weg gefallen, allerliebſte
Freundinn, den Sie vorſchreiben, unſere
Briefe zu uͤbermachen; und habe es ſchon mit
dem Waͤrter in dem Wirthshauſe verabreden
laſſen,
[163]
laſſen, daß er mir die ihrigen den Augenblick
uͤberbringe, wenn Collins mit denſelben ankommt:
da es hinwiederum dem Hausknecht hier, wo ich
bin, erlaubt ſeyn wird, die meinigen fuͤr Sie
zu Collins zu tragen.
Weil Sie ſo inſtaͤndig alle Umſtaͤnde meiner
traurigen Geſchichte zu wiſſen verlangen: ſo will
ich Jhnen, wo mir Leben und Kraft verliehen
wird, von allem, was mich ſeit der Zeit, wel-
che Sie benennen, betroffen hat, eine weitlaͤuf-
tige Nachricht aufſetzen. Aber es iſt ſehr wahr-
ſcheinlich, daß Sie dieſelbe nicht eher ſehen wer-
den, als bis mein letzter Auftritt in der Welt ge-
endiget iſt. Da ich dieſen, indem ich ſchreibe,
beſtaͤndig vor Augen haben werde: ſo wird es
nicht noͤthig ſeyn, daß ſonſt jemand fuͤr die
Wahrhaftigkeit der Perſon, welche die Feder
fuͤhret, Gewaͤhr leiſte.
Es iſt ferne von mir, daß ich mich vor wei-
terer Gewaltthaͤtigkeit dieſes Kerls geſichert hal-
ten ſollte. Aber was kann ich thun! Wohin
kann ich fliehen? ‒ ‒ Vielleicht mag der ſchlechte
Zuſtand meiner Geſundheit, welcher nothwen-
dig immer aͤrger werden muß, wie die Erinne-
rung und Betrachtung der vergangenen Uebel
mir von Zeit zu Zeit ſchwerer zuſetzet, mein
Schutz ſeyn. Jch dachte freylich einmal, weit
von hier zu gehen; und wenn ich noch viele
Jahre vor mir ſaͤhe, wuͤrde ich es wirklich thun ‒
‒ ‒ aber, wertheſte Freundinn, der toͤdtliche
Streich iſt mir ſchon verſetzet. ‒ ‒ Sie haben
L 2auch
[164]
auch nicht Urſache, nach den Umſtaͤnden, wor-
unter ich itzo bin, daruͤber bekuͤmmert zu ſeyn.
Was fuͤr ein Herz muͤßte ich haben: wenn es
nicht gebrochen ſeyn ſollte! ‒ ‒ Und, in Wahr-
heit, meine liebſte, meine beſte, ich haͤtte bey-
nahe geſagt, meine einzige Freundinn, ich tra-
ge ein ſo ſehnliches Verlangen nach meinem letz-
ten und beſchließenden Auftritte, und ſehe meine
Abnahme mit ſo vielem Vergnuͤgen an, daß ich
ſo gar bisweilen undankbarlich uͤber die von Na-
tur geſunde Leibesbeſchaffenheit, welche die Em-
pfindung alles erlangten Vergnuͤgens bey mir zu
verdoppeln pflegte, misvergnuͤgt bin.
Was die mir ernſtlich empfohlne Ausfuͤh-
rung meiner Sache vor Gericht anlanget: ſo kann
ich dieſelbe vielleicht nach dieſem weitlaͤuftiger be-
ruͤhren; wo ich jemals mehr Kraͤfte und Mun-
terkeit haben werde. Denn gegenwaͤrtig ſind
ſie ſehr niedergeſchlagen und ſchwach. ‒ ‒ Nur
das will ich itzo ſagen, daß ich eher alles Uebel,
ausgenommen die Wiederhohlung meines groͤßten
Ungluͤcks, erdulden wollte, als oͤffentlich vor
Gericht erſcheinen, mir Gerechtigkeit zu ver-
ſchaffen (*) Jch bedaure von Herzen, daß Jh-
re Mutter eine ſolche Regel, als die Bedingung
unſers kuͤnftigen Briefwechſels vorſchreibet. ‒ ‒
Denn
[165]
Denn Jhre fernere Freundſchaft, meine Wer-
theſte, und das Verlangen, welches ich hatte,
bis an das Ende meines Lebens Briefe mit Jh-
nen zu wechſeln, waren alle Hoffnung und aller
Troſt, den ich fuͤr mich uͤbrig ſahe. Jnzwi-
ſchen, da dieſe Freundſchaft in der Gewalt des
Herzens, nicht der Hand allein, ſtehet, hoffe ich,
dieſelbe nicht zu verlieren.
O! meine Allerliebſte! was fuͤr ein ſchweres
Gewicht hat eines Vaters Fluch! ‒ ‒ Sie koͤn-
nen es ſich nimmermehr einbilden ‒ ‒ Jedoch
ich will gegen Sie hievon nichts gedenken; da
Jhnen meine Angehoͤrigen niemals gefallen ha-
ben. ‒ ‒ Eine Ausſoͤhnung mit denſelben iſt nicht
zu hoffen!
Jch habe einen Brief an Jungfer Rawlins,
zu Hampſtead, geſchrieben. Die Antwort darauf,
welche ich eben itzo bekommen habe, hat mir ge-
holfen, daß ich hinter die ſchaͤndliche Erfindung
gekommen bin, wodurch dieſer gottloſe Kerl Jh-
ren Brief vom 10ten Jun. aufzufangen gewußt.
Jch will Jhnen den Jnhalt von beyden mit-
theilen.
Jn meiner Zuſchrift an ſie melde ich ihr
„was mich durch die Bosheit der Weibsleute,
„welche bey mir fuͤr die Tante und Baſe des
„gottloſeſten Menſchen ausgegeben waren, betrof-
„fen habe, und bekenne, daß ich niemals mit
„ihm verheyrathet worden. Jch erſuche ſie, ge-
„naue Nachfrage zu thun, und mich wiſſen zu
„laſſen, wer es in Frau Moorens Hauſe gewe-
L 3ſen
[166]
„ſen waͤre, der am Sonntage, Nachmittags,
„den 11ten Jun. unter der Zeit, da ich in der
„Kirche war; einen Brief von der Fraͤulein Ho-
„we, mit dem Vorgeben daß ich es ſelbſt waͤre,
„angenommen, und dabey auf einem Ruhebette
„gelegen haͤtte. ‒ ‒ Jch bezeuge ihr, daß eben
„der Brief mich von dem Verderben gerettet ha-
„ben wuͤrde, wenn er mir zu Haͤnden gekommen
„waͤre. Jch entſchuldige mich mit der Raſerey,
„worein mich das unmenſchliche Verfahren gegen
„mich geſtuͤrzet hatte, und mit der eben ſo un-
„menſchlichen und widerrechtlichen Einſperrung,
„daß ich mich nicht ſchon eher an Frau Moore
„gewandt, und die Rechnung von dem, was ich
„ihr ſchuldig waͤre, verlanget haͤtte: wie ich ſie
„mir nun ausbaͤte. Endlich bitte ich, ihre Ant-
„wort, aus Beyſorge, ich moͤchte ſonſt von Herrn
„Lovelace aufgeſpuͤret werden, an Frau Maria
„Akkins zu richten, ſo, daß ſie in dem Wirths-
„hauſe zur ſchoͤnen Wilden auf Ludgate-Hill ab-
„gegeben und aufbehalten werde, bis man ſie ab-
„fordert.
Jn ihrer Antwort berichtet ſie, „der ehrloſe
„Kerl haͤtte Frau Bevis gewonnen, m eine Per-
„ſon vorzuſtellen ‒ ‒ Ein ploͤtzlicher Einfall
„von ihm, wie es ſcheint, als Jhr Bothe
„ſich ſehen ließ ‒ ‒ Sie waͤre beredet, ſich auf
„ein Ruhebette zu legen, ein Schnupftuch uͤber
„den Hals und das Geſicht zu ziehen, und vor-
„zugeben, daß ſie ſich nicht wohl befaͤnde. Die
„falſchen Vorſtellungen von den uͤbeln Dienſten
meiner
[167]
„meiner liebſten Freundinn, zwiſchen einem
„Manne und ſeiner Frauen eine Uneinigkeit zu
„unterhalten, haͤtten ſie verleitet. ‒ ‒ und ſo haͤt-
„te ſie, als wenn ich es ſelbſt waͤre, den Brief
„von Jhrem Bothen angenommen.
„Jungfer Rawlins giebt ſich Muͤhe, Frau Be-
„vis in ihrer Abſicht zu entſchuldigen. Sie bezeuget
„ihre Beſtuͤrzung und ihr Beyleid wegen desjeni-
„gen, was ich ihr eroͤffne: aber freuet ſich gleich-
„wohl, ſo wie ſie alle, daß ſie noch zu rechter Zeit
„die ſchaͤndliche Gemuͤthsart des niedertraͤchtigen
„Menſchen erfahren haͤtten; indem die beyden
„Witwen, und ſie ſelbſt, auf ſeine ernſtliche Ein-
„ladung; willens geweſen waͤren, mich in Frau
„Sinclairn Hauſe zu beſuchen; in der Meynung,
„daß alles zwiſchen ihm und mir, wie er ſie ver-
„ſichert haͤtte, in gluͤcklichem Stande waͤre.
„Herr Lovelace, meldet ſie mir, haͤtte Frau Moo-
„ren ganz wohl befriediget. Sie beſchließet mit
„dem Wunſch, einer Nachricht von den eigentli-
„chen Umſtaͤnden einer ſo außerordentlichen Bege-
„benheit gewuͤrdiget zu werden, da dieſelben dien-
„lich ſeyn moͤgen, ihr zu zeigen, was fuͤr gottloſe
„Creaturen, unter Weibsleuten ſo wohl als un-
„ter Mannsperſonen, in der Welt ſind.
Jch danke Jhnen fuͤr die Entwuͤrfe von ih-
ren zween Briefen, die von dieſem abſcheulichen
Kerl aufgefangen ſind. Jch ſehe, wie großen
Vortheil er, in der Vollfuͤhrung ſeiner ehrloſen
Anſchlaͤge gegen die elende Perſon, die er ſo lan-
L 4ge
[168]
ge zu einem Spiel ſeiner verdammten Erfindun-
gen gemacht hat, davon gezogen habe.
Jch muß es noch einmal ſagen, ich bin des
Lebens ganz uͤberdruͤßig; und einer Erde muͤde,
auf welcher unſchuldige und gutwillige Ge-
muͤther gewiß als Fremdlinge anzuſehen ſind,
und von den aͤchten Soͤhnen und Toͤchtern
der Erde allen Jammer leiden muͤſſen.
Wie ungluͤcklich, daß dieſe Briefe allein,
welche mir ſeine ſcheusliche Abſichten haͤtten ent-
decken, und mich gegen dieſelben, und gegen die
Bosheit der ehrloſen Weibsleute, haͤtten bewaff-
nen koͤnnen, in ſeine Haͤnde fallen ſollten! ‒ ‒
Noch ungluͤcklicher, daß ſelbſt meine Flucht nach
Hampſtead ihm die Gelegenheit geben mußte, ſie
zu bekommen!
Nichts deſto weniger kann ich nicht anders,
als mich wundern, wie es dem Tomlinſon moͤg-
lich geweſen, das zu erfahren, was zwiſchen
Herrn Hickmann und meinem Onkel Harlowe
vorgegangen war (*): ein Umſtand, der dem
niedertraͤchtigen Betruͤger den meiſten Glauben
bey mir verſchaffete.
Wie der gottloſe Kerl ſelbſt mich zu Hamp-
ſtead hat auffinden koͤnnen, muß ebenfalls fuͤr
mich ganz und gar ein Geheimniß bleiben. Er
mag ſich mit ſeinen Raͤnken ruͤhmen ‒ ‒ Er, der
mehr Bosheit, als Witz hat, mag ſich mit ſei-
nen
[169]
nen Raͤnken ruͤhmen! ‒ ‒ Aber, bey dem allen,
werde ich, wie ich mich in Demuth zu hoffen
unterfange, gluͤckſelig ſeyn, wenn er, elender
Menſch ‒ ‒ Ach! ‒ ‒ wer kann ſagen was ‒ ‒
ſeyn wird.
Leben Sie wohl, meine theureſte Freun-
dinn! ‒ ‒ Jch wuͤnſche, daß Sie gluͤcklich ſeyn
moͤgen! ‒ ‒ Alsdenn kann Jhre Clariſſa Harlo-
we nicht gaͤnzlich elend ſeyn!
Der ſechs und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jch ſchreibe, meine Allerliebſte, ich kann nicht
anders, als ſchreiben, um meinen Kum-
mer uͤber Jhre Kleinmuͤthigkeit zu bezeugen.
Erlauben Sie mir zu bitten, reizender Ausbund
aller Vorzuͤge, erlauben Sie mir zu bitten, daß
Sie derſelben nicht freyen Lauf laſſen.
Troͤſten Sie ſich im Gegentheil, ſelbſt, in
dem ſiegreichen Gepraͤnge einer unbefleckten Tu-
gend, eines ganz unſtraͤflichen Willens. Wer
haͤtte die Verſuchungen aushalten koͤnnen, die
Sie uͤberſtiegen haben? ‒ ‒ Jhr Vetter Mor-
den wird bald anlangen. Er wird ſchon zuſehen,
L 5daran
[170]
daran zweifle ich gar nicht, daß Jhnen, ſo wohl
fuͤr Jhre Perſon, als in Anſehung Jhres Guts,
Gerechtigkeit widerfahre. Sie koͤnnen noch vie-
le begluͤckte Tage erleben, und noch viel Gutes
thun: wenn Sie nur unvermeidliche Zufaͤlle nicht
bis zu einer ſuͤndlichen Kleinmuͤthigkeit erhoͤhen
wollen.
Wozu, meine Wertheſte, dauret noch dieſe
nagende Sorge um eine Ausſoͤhnung mit Ver-
wandten, die eben ſo nichtswuͤrdig als unver-
ſoͤhnlich ſind, die ihren Willen von einem nach
allem greifenden Bruder lenken laſſen, welcher
ſeine Rechnung dabey findet, daß er den Riß of-
fen erhaͤlt? Jch ſehe nun augenſcheinlich, daß
der ſchaͤndlichſte Kerl alle ſeine Anſchlaͤge auf dieſe
uͤbertriebene Sorge gebauet habe. Er hat ge-
merket, daß Sie mehr, als jemals Grund zu
hoffen war; nach der Ausſoͤhnung lechzeten. Die
Abſicht, die Hoffnung, geſtehe ich, iſt ausneh-
mend reizungsvoll: waͤren Jhre Angehoͤrigen
nur Chriſten, oder auch nur Heiden mit menſch-
lichen Herzen geweſen.
Jch werde dieſen kurzen Brief; denn ich bin
genoͤthigt ihn kurz zu machen; durch den jungen
Rogers, wie wir ihn nennen, abſenden. Es
iſt eben der, den ich zu Jhnen nach Hampſtead
ſchickte: ein unſchuldiger Bauer; ob er ſich gleich
gern in fremde Sachen menget. Haben Sie die
Guͤte, ihn vor ſich zu laſſen: damit er mir er-
zaͤhlen koͤnne, wie Sie ausſehen, und wie Sie
ſich befinden.
Herr
[171]
Herr Hickmann ſollte Jhnen aufwarten: al-
lein ich beſorge, daß alle ſeine Bewegungen, und
auch meine eigne, von dem verfluchten Boͤſe-
wicht bewachet werden; wie ich in der That deſ-
ſelben Bewegungen von einem meiner Unterhaͤnd-
ler bewachen laſſe. Denn ich geſtehe, ich fuͤrch-
te mich, da ich nunmehr weiß, daß er meine
heftigen Briefe gegen ihn aufgefangen hat, ſo ſehr
vor ſeinen Raͤnken und vor ſeiner Rache, daß
er mir ſo wohl in allen Traͤumen vorkommt, als
beym Wachen die Urſache aller meiner Furcht iſt.
Meine Mutter hat mir eben, auf mein ernſt-
liches und kuͤhnes Anhalten, die Erlaubniß ge-
geben, an Sie zu ſchreiben und Jhre Briefe
anzunehmen. ‒ ‒ Aber ſie hat die Erlaubniß an
dieſe Bedingung gebunden, daß Jhre Briefe
unter einem Umſchlag an Herr Hickmann gehen
muͤſſen; vermuthlich mit einer Abſicht, ihn bey
mir geltend zu machen: und an dieſe fernere Be-
dingung, daß ſie alles ſehen ſoll, was wir ſchrei-
ben ‒ ‒ „Wenn die Maͤgdchen“, hat ſie gegen
jemand geſagt, der es mir wieder erzaͤhlet hat,
„ſich etwas in den Kopf geſetzet haben: ſo iſt es
„beſſer fuͤr eine Mutter, wo moͤglich, ſelbſt von
„ihrer Partey zu ſeyn, als ſich ihnen zu widerſe-
„tzen; indem alsdenn Hoffnung ſeyn wird, daß
„ſie noch den Zaum in ihren eignen Haͤnden be-
„halten werde“.
Haben Sie die Gewogenheit, mir zu mel-
den, was es fuͤr Leute ſind, bey denen Sie woh-
nen
[172]
nen. ‒ ‒ Soll ich Frau Townſend ſchicken, Jh-
nen entweder ſichrere oder fuͤr Sie bequemerere
Wohnungen anzuweiſen?
Seyn Sie ſo gut, und ſchreiben durch Ro-
gers. Er wird um Jhre Antwort bey Jhnen zu
der Jhnen beliebigen Zeit anfragen.
Leben Sie wohl, meine liebſte Freundinn.
Troͤſten Sie ſich ſelbſt, wie Sie in dergleichen
ungluͤcklichen Umſtaͤnden troͤſten wuͤrden
Jhre eigne
Anna Howe.
Der ſieben und zwanzigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jch bin ausnehmend bekuͤmmert, meine liebe
Fraͤulein Howe, daß ich die Haupturſache
zu der Furcht bin, die Sie vor den rachgierigen
Unternehmungen dieſes gottloſen Kerls haben.
O! wie weit breitet ſich mein Verſehen aus! ‒ ‒
Wo ich finde, daß er den geringſten Anſchlag
gegen Sie, oder Herrn Hickmann, auf die Bahn
bringet: ſo, verſichere ich Sie, will ich mich er-
klaͤren, ihn vor Gericht zu verfolgen; wenn ich
auch
[173]
auch gewiß wuͤßte, daß ich das erſte mal, da ich
vor dem Richterſtuhl, vor welchen er gefordert
ſeyn moͤchte, erſcheinen wuͤrde, nicht uͤberleben
ſollte.
Jch geſtehe, daß die Gruͤnde ihrer Mutter
wegen dieſer Sache ihre Richtigkeit haben: aber
ich muß auch ſagen, daß, nach meinen Gedan-
ken, in meiner beſondern Begebenheit Umſtaͤnde
vorkommen, die mich entſchuldigen werden, wenn
ich, auf eine jede geringere Veranlaſſung, als
die oben beruͤhrte, nicht geneigt ſeyn ſollte, ge-
gen ihn zu erſcheinen. Jch habe ſchon gemeldet,
daß ich mich hieruͤber vielleicht einmal genauer
erklaͤren kann.
Jhr Bothe hat mich nun wirklich geſehen.
Jch habe mit ihm von dem Betrug, der ihm zu
Hampſtead geſpielet worden, geredet. Es iſt
mir leid, daß ich Urſache habe, zu ſagen, daß,
wenn der arme junge Kerl nicht ſehr einfaͤltig
und ſehr klugduͤnkend geweſen waͤre, er nicht
ſo groͤblich hinters Licht gefuͤhret ſeyn wuͤrde.
Frau Bevis hat eben die Vertheidigung fuͤr ſich.
Ein gutartiges, gedankenloſes Weib, das nicht
gewohnt iſt mit einem ſo ehrloſen und doch ſo
ſcheinbaren Betruͤger umzugehen, der ſich dieſe
beyden einfaͤltigen Leute zu Nutze gemacht hat.
Jch denke, ich kann nicht geheimer ſeyn, als
wo ich bin. Jch hoffe ach ſicher zu ſeyn. Alle
Gefahr, die ich laufe, iſt, wenn ich fruͤhe in die
Bethſtunde gehe und wieder herauskomme. Das
habe ich zwey oder dreymal gewaget: einmal in
der
[174]
der Kapelle bey Lincolns-Jnn, um eilfe; einmal
zu St. Dunſtans in der Fleet-Street, um ſie-
ben des Morgens, jedesmal in einer Saͤnfte;
und zweymal fruͤhe um ſechſe in der Kirche hier
in der Nachbarſchaft im Covent-Garden. Die
gottloſen Weibsbilder, von denen ich entflohen
bin, werden nicht in die Kirche kommen, wie
ich hoffe, nach mir zu ſehen; ſonderlich bey ſo
fruͤhen Bethſtunden: und ich habe mir in der
letzten Kirche den geheimſten Stuhl ausgeſuchet,
mich darinn zu verbergen. Vielleicht mache ich
auch wenig Anſehen in einem alltaͤglichen Rock;
als wenn ich verkleidet waͤre: da uͤber dieß mein
Geſicht halb von meiner Kappe bedeckt wird. ‒ ‒
Jch bekuͤmmere mich nun ſehr wenig darum, mei-
ne Wertheſte, wie ich ausſehe. Sauber und
rein iſt alles, was ich ſuche.
Der Name des Mannes in deſſen Hauſe ich
wohne, iſt Smith ‒ ‒ Er iſt ein Handſchuh-
macher und Handſchuhkraͤmer. Seine Frau
haͤlt den Laden, und handelt auch mit Struͤm-
pfen, Baͤndern, Schnupftaback und Raͤuch-
werk: eine ehrbare Frau, aufrichtig und klug.
Der Mann iſt ehrlich und fleißig. Beyde leben
in einem guten Vernehmen mit einander. Ein
Beweis bey mir, daß ihre Herzen rechter Art
ſind! Denn wo ein paar Eheleute uͤbel mit ein-
ander leben, da iſt es ein Zeichen, wie ich denke,
daß ein jedes etwas unrechtes von dem andern
weiß, entweder in Anſehung der Gemuͤthsart,
oder der ſittlichen Grundſaͤtze, weswegen ſie der
Welt,
[175]
Welt, wenn es ihr ſo gut, als ihnen ſelbſt, be-
kannt waͤre, eben ſo wenig gefallen wuͤrden, als
dergleichen Leute einander gefallen. Gluͤcklich iſt
der Eheſtand, wo weder Mann noch Weib dem
andern Theil irgend etwas Boͤſes, das von ei-
nem freyen Willen oder von einem Vorſatz ab-
hinge, uͤberhaupt in der Auffuͤhrung vorzuwer-
fen hat! ‒ ‒ Denn ſelbſt diejenigen Perſonen,
welche boͤſe Herzen haben, werden fuͤr Leute von
guten Herzen Ehrerbietung hegen.
Zwey ſaubere Zimmer, mit nicht außeror-
dentlichem, aber reinem Aufputze, in dem erſten
Stockwerk, gehoͤren mir. Das eine davon nen-
nen ſie den Speiſeſaal.
Noch eine Treppe hoͤher hat eine rechtſchaffene
Witwe, Frau Lovick mit Namen, eingemiethet,
welche zwar von geringen Gluͤcksumſtaͤnden iſt,
aber, wie mich Frau Smithen verſichert, bey
vornehmen Leuten von ihrer Bekanntſchaft, we-
gen ihrer Gottſeligkeit, ihrer Klugheit und ihres
Verſtandes, in großem Anſehen ſtehet. Mit
dieſer bin ich geſonnen, mich wohl bekannt zu
machen.
Jch danke Jhnen, liebſte Freundinn, fuͤr ih-
ren guͤtigen, ihren zu recht gelegener Zeit ertheil-
ten Zuſpruch und Troſt. Jch hoffe, der Him-
mel werde mir mehr Gnade verleihen, als daß
ich in Verzweifelung gerathen ſollte, wenn man
das Wort in geiſtlichem Verſtande nimmt:
ſonderlich da ich mir ſelbſt den Troſt, welchen
Sie mir geben, zueignen kann, daß weder mein
Wille,
[176]
Wille, noch meine Unvorſichtigkeit etwas zu mei-
nem Ungluͤck beygetragen hat. Jedoch die Un-
verſoͤhnlichkeit meiner Angehoͤrigen, die ich mit ei-
ner ungekraͤnkten Ehrerbiethung liebe; meine
Furcht vor neuen Gewaltthaͤtigkeiten, weil ich
vermuthe, der gottloſe Kerl werde mich noch
nicht ruhen laſſen; mein verlaſſener Zuſtand ohne
einigen Schutz, da meine Jugend, mein Ge-
ſchlecht, meine geringe Bekanntſchaft mit der
Welt mich betruͤbten Anfaͤllen unterwerfen; mei-
ne Betrachtung des Aergerniſſes, das ich gege-
ben habe, nebſt der Empfindung der Schande,
die mir von einem Menſchen angethan iſt, von
dem ich nichts boͤſes verdiente, alles zuſammen
genommen wird ohne allen Zweifel die Wirkung
hervorbringen, welche mir nicht unangenehm ſeyn
kann: ‒ ‒ ob gleich vielleicht um ſo viel langſa-
mer; weil ich von Natur eine gute Leibesbeſchaf-
fenheit, und hiernaͤchſt, wie ich mich zu glauben
unterfange, auch gute Grundſaͤtze habe, die mich
zu gehoͤriger Zeit und bey gehoͤriger Ueberlegung,
meiner Hoffnung nach, uͤber die Empfindung
aller weltlichen Widerwaͤrtigkeiten hinaus-
ſetzen werden.
Jtzo iſt mein Kopf ſehr in Unordnung. Jch
habe ihn in der That, ſeit der Gewalt, die ihm,
und meinem Herzen ſelbſt, durch die gottloſen
Kuͤnſte der verruchten Seelen, unter welche ich
verſtoßen war, geſchehen iſt, nicht zu irgend
deutlichen Vorſtellungen gebrauchen koͤnnen.
Jch
[177]
Jch muß noch mehr Widerwaͤrtigkeiten ha-
ben. Bisweilen finde ich mich zu meinen Um-
ſtaͤnden noch nicht genug gedemuͤthiget. Es ſol-
len mir dieſe Widerwaͤrtigkeiten, wie ſie kom-
men, als Pruͤfungs ‒ und Bewaͤhrungs-
mittel willkommen ſeyn. ‒ ‒ Nur noch meines
Vaters Fluch ‒ ‒ Jedoch auch dieſer, hoffe ich,
mag mir ſo viel nuͤtzen, daß er mich veranlaſſe,
meine Aufmerkſamkeit zu verdoppeln, da-
mit ich ihn kraftlos mache.
Nun will ich nichts mehr beyfuͤgen, als mei-
nen gehorſamſten Dank an Jhre Frau Mutter, fuͤr
ihre guͤtige Nachſicht gegen uns; meine ſchuldige
Empfehlung an Herrn Hickmann; und meine
inſtaͤndigſte Bitte, daß Sie glauben wollen,
ich ſey bis an meine letzte Stunde, und noch nach
derſelben, wo moͤglich, meine geliebte Freundinn,
und mein wertheres Selbſt; denn was iſt nun
mein eignes Selbſt?
Jhre verbundene und ergebene
Clariſſa Harlowe.
Der acht und zwanzigſte Brief.
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann
Belford.
Jch habe drey Briefe von dir auf einmal vor
mir zu beantworten. Jn einem jeden be-
Sechſter Theil. Mklagſt
[178]
klagſt du dich uͤber mein Stillſchweigen: und in
einem erzaͤhlſt du mir, daß du nicht leben koͤn-
neſt, wo ich dir nicht alle Tage, oder wenigſtens
einen Tag um den andern ſchreibe.
Wohlan denn, Bruder, ſtirb, wo du
willſt ‒ ‒ Was fuͤr Luſt, meynſt du, kann ich
zu ſchreiben haben: da der einzige Gegenſtand,
der es verdiener, daß man davon ſchreibe, mir
entriſſen iſt.
Hilf mir wieder zu meinem Engel, zu mei-
ner Clariſſa: ſo ſollſt du alle Stunden einen
Brief, oder wenigſtens etwas geſchriebenes, ein
Stuͤck von einem Briefe, von mir bekommen.
Alles, was die Beherrſcherinn meines Herzens
ſagen wird, will ich niederſchreiben. Eine jede
Bewegung, eine jede Miene an ihrer liebens-
wuͤrdigen Perſon, einen jeden Blick, will ich zu
beſchreiben verſuchen: und wenn ſie ſtille ſchwei-
get, will ich mich bemuͤhen, dir ihre Gedanken
zu erzaͤhlen, entweder was ſie ſind, oder was ſie
nach meinem Wunſche ſeyn ſollten. ‒ So wird
es mir, wenn ich ſie habe, niemals an Stoffe
zu ſchreiben fehlen. Da ich ihrer verluſtig bin,
iſt meine ganze Seele ein Blanket: die ganze
Schoͤpfung um mich herum, die Elemente oben,
unten, und alle Dinge, die ich ſehe; denn ge-
nießen kann ich nichts; ſind ohne ſie ein
Blanket.
O kehre wieder, kehre wieder, allerliebſte
Beherrſcherinn meiner Seele! Kehre wieder zu
deinem Anbeter Lovelace! Was iſt das Licht,
was
[179]
was die Luft, was die Stadt, was das Land,
was iſt alles, ohne dich? Licht, Luft, Freude,
reizende Toͤne, ſind nach meiner Vorſtellung nur
Theile von dir: und koͤnnten ſie alle mit einem
Worte ausgedruͤcket werden; ſo wuͤrde das Wort
Clariſſa ſeyn.
O! meine geliebte Clariſſa, ſo kehre dann
wieder. Noch einmal: kehre wieder, deinen
Lovelace zu begluͤcken, der nun, bey dem Ver-
luſt von dir, den Werth des Kleinods erkennet,
das er geringe geſchaͤtzet hat, und nur alle Mor-
gen aufſtehet, die Sonne zu verfluchen, welche
uͤber einen jeden, uͤber ihn allein nicht, ſcheinet!
Aber, Bruder, es iſt etwas erſtaunliches fuͤr
mich, daß man die fluͤchtig gewordne Schoͤne gar
nicht antreffen, daß man gar nichts von ihr hoͤ-
ren kann. Sie iſt ſo ſchlecht auf Raͤnke abge-
richtet; denn dieß iſt ihre Gabe nicht; daß ich feſt
verſichert bin, wenn ich meine Freyheit gehabt
haͤtte, ich wuͤrde ſie ſchon laͤngſt aufgeſpuͤret ha-
ben: ob gleich die verſchiednen Kundſchafter,
welche ich um London, um die nahe gelegenen Fle-
cken herum, und in der Fraͤulein Howe Nach-
barſchaft, gebraucht habe, bisher in ihren Be-
muͤhungen nicht gluͤcklich geweſen ſind. Allein
mein Lord bleibt noch ſo ſchwach und niederge-
ſchlagen, daß nicht von ihm zu kommen iſt. Jch
wollte einem Manne, den ich annoch in Gefahr
halte, auch nicht gerne misfaͤllig werden. Denn
wollte ſein Podagra nun, da es ihn niederge-
M 2bracht
[180]
bracht hat, ihm nur, wie ein guter Schlaͤger,
den letzten Stoß verſetzen: ſo wuͤrde alles mit
ihm vorbey ſeyn. Jtzt aber muß ich hier ganze
Stunden bey ihm ſitzen; der Henker hohle ſeine
thoͤrichte Liebe zu mir! ſie kommt mir zu ſehr un-
gelegner Zeit; und muß ihm meine Schelmſtuͤ-
cke erzaͤhlen. Eine artige Beluſtigung fuͤr einen
kranken Mann! Und gleichwohl betet er, wenn
er das Podagra hat, Abends und Morgens mit
ſeinem Kapelan. Was muß er ſich fuͤr Begrif-
fe von der Religion machen, der, nachdem er
ſeine Gebetsformeln hergeſchnaubt oder gemum-
melt hat, mit voͤlliger Beruhigung ſeufzen oder
aͤchzen kann, als wenn er mit dem Himmel alles
abgethan haͤtte, und mit neuer Begierde meine
Hiſtoͤrchen wieder anzuhoͤren im Stande iſt? ‒ ‒
Ja, der mich noch dazu aufmuntert, uͤber ſie la-
chet, daß ihm die Seiten beben, und mich einen
loſen Schelm mit einem ſolchen Tone nennet,
welcher genugſam zeiget, daß er ſich uͤber ſeinen
Anverwandten nicht wenig vergnuͤge.
Der alte Lord iſt in ſeinen Tagen ein Suͤnder
geweſen, und leidet nun dafuͤr: aber ein heimli-
cher Suͤnder, der mehr in die Laſter hinein ge-
ſchlichen als gehuſchet; aus Furcht vor ſeinem
guten Namen; oder vielmehr aus Furcht entde-
cket und offenbar uͤberwieſen zu werden; denn
dieſe Art Leute, Bruder, haben keine wahre Ach-
tung fuͤr einen guten Namen ‒ ‒ Er hat oft be-
zahlet, was er niemals bekommen hatte, und
ſich nie zu der Freude uͤber eine Unternehmung
durch
[181]
durch die erſte Hand erheben duͤrfen, welche ihm
zu einem Zweykampf oder zu der Ehre, vor Ge-
richt als der Anfuͤhrer angeſehn zu werden, einen
Anſchein geben konnte.
Wenn man einen ſolchen alten Trojaner an-
ſiehet, der eben in das Grab ſinket, welches,
meiner Hoffnung nach, ſchon eher gegraben und
mit ihm ausgefuͤllet ſeyn ſollte; der vor Schmer-
zen ſchreiet und vor Zagheit aͤchzet; und dennoch
eben den Augenblick ſein ledernes Geſicht mit ei-
nem abſcheulichen Gelaͤchter in Falten ziehet, ei-
nen jungen Suͤnder einen trefflichen Schalk nen-
net, und ihn noch mehr ermuntert, wie er vor-
dem die Verſchnittenen in Jtalien anzureizen
pflegte: was iſt das fuͤr eine widerſinniſche, fuͤr
eine unnatuͤrliche Liebe zu alten Gewohnheiten!
Meine beyden Baſen ſind gemeiniglich zuge-
gen, wenn ich die Zeit vertreibe, wie es der
alte Lord nennet. Es muͤſſen ſcheusliche Hiſtorien
ſeyn, die nicht mehr Hoͤrer und Bewunderer fin-
den als Erzaͤhler.
Bewunderer!
Ja, Belford, Bewunderer, ſage ich
noch einmal. Denn ob dieſe Maͤgdchen mich
gleich bisweilen der veruͤbten Thaten wegen
tadeln wollen: ſo ruͤhmen ſie doch meine Art ſie
auszufuͤhren, meine Erfindung, meine Uner-
ſchrockenheit ‒ ‒ Außerdem nenne ich das Ruhm,
was andere Tadel nennen. Das habe ich alle-
zeit gethan: und auf die Weiſe beyzeiten die
Schaam abgeleget, welche einen zu Unterneh-
M 3mun-
[182]
mungen geſchickten Geiſt, wie das kalte Waſſer
die Hitze, daͤmpfet.
Dieß ſind muntere Maͤgdchen. Sie haben
Leben und Witz. Als geſtern Charlotte uͤber ei-
ne erzaͤhlte Unternehmung gegen mich loszog:
ſagte ich ihr, daß ich einige male bey mir ſelbſt
daruͤber geſtritten, ob ſie mir zu nahe verwandt
waͤre, oder nicht; und daß es einmal eine Streit-
frage bey mir geweſen, ob ich ſie nicht auf einen
Monath oder ſo ungefaͤhr herzlich lieben koͤnnte.
Vielleicht, ſetzte ich hinzu, waͤre es gut fuͤr ſie
geweſen, daß mir eben zu der Zeit, als ich auf
Mittel und Wege zu meiner Abſicht dachte, ein
anderes artiges kleines Puͤpchen aufgeſtoßen und
meine Gedanken auf ſich gerichtet.
Alle drey ſchlugen hieruͤber zugleich ihre Haͤn-
de und Augen in die Hoͤhe. Jch bemerkte aber,
daß die Maͤgdchen, ob ſie gleich wider mich aus-
riefen, doch uͤber dieſe freye Sprache nicht ſo zor-
nig waren, als ich meine Geliebte, ſelbſt bey ſo
verſteckten und dunkeln Winken, daß ich mich
uͤber ihre geſchwinde Einſicht gewundert, befun-
den habe.
Jch bezeugte gegen Charlotte, daß, ſo ernſt-
haft ſie auch in ihrem laͤchelnden Unwillen bey
dieſer Erklaͤrung gern ſeyn wollte, ich dennoch
verſichert waͤre, es wuͤrde mich nicht uͤber zween
oder drey Kunſtgriffe gekoſtet haben; denn nie-
mand bewunderte eine gute Erfindung mehr, als
ſie: wofern ich ihr Gewiſſen nur von dem be-
ſchwer-
[183]
ſchwerlichen Zweifeln wegen der Blutsfreund-
ſchaft loszumachen gewußt haͤtte.
Sie wollte hoͤchſt unwillig ſeyn: und auch
ihre Schweſter, ihretwegen. Jch ſagte ihr
aber, daß ſie mir ſo ernſtlich ſchiene, als wenn ſie
gedacht haͤtte, es waͤre mein Ernſt, und mich
zu der Probe herausforderte. Klare Worte,
fuͤgte ich hinzu, waͤren in dieſen Faͤllen dem ſchoͤ-
nen Geſchlechte anſtoͤßiger, als allmaͤhlige Unter-
nehmungen. Jch bat Martha, uber den Vor-
zug, den ich ihrer Schweſter zu geben ſchiene,
nicht unwillig zu werden: indem ich fuͤr ſie eben-
falls große Hochachtung haͤtte.
Eine italiaͤniſche Aria, nach meiner gewoͤhn-
lichen ungezwungenen Art, ein halb verweigerter
Kuß von mir, ein Achſelzucken von beyden arti-
gen Baſen, als wenn ſie ſich verwunderten, und
ein: Loſer, loſer Schelm, von dem alten
Lord, mit einem ſo heftigen Lachen, daß ihm die
Seiten bebeten, machte uns alle wieder zu guten
Freunden.
Da, Bruder! ‒ ‒ Willſt du dieß fuͤr einen
Brief annehmen, oder nicht? Es iſt gewiß
Zeuges genug ‒ ‒ Wie habe ich einen ganzen
Bogen; jedoch eben nicht mit abgekuͤrzten Zeichen;
voll geſchmieret, ohne daß ich etwas zu ſchreiben
gehabt haͤtte! Mein Kerl ſoll dieß mitnehmen:
denn er wird nach London gehen. Und wo du
von ſolchem verfluchten Zeuge leidlich denken
kannſt: ſo will ich dir bald noch einen ſchicken.
M 4Der
[184]
Der neun und zwanzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford.
Habe ich nichts neues, nichts luſtiges, bey mei-
ner grillenfaͤngeriſchen Lebensart, fragſt du
mich in einem von deinen dreyen Briefen, dich
damit vergnuͤgt zu unterhalten? ‒ ‒ Du ſagſt
mir zugleich, daß, wenn ich nur das Geringſte zu
verzaͤhlen habe, damit die niederſaͤchſiſche
Redensart ja angebracht werde, ich am
meiſten beluſtige. Eine artige Hoflichkeit, ent-
weder gegen dich ſelbſt, oder gegen mich! Jn
Wahrheit gegen beyde! ‒ ‒ Ein Zeichen, daß
du ein eben ſo windichtes Herz, als ich einen win-
dichten Kopf habe. Allein kannſt du vermuthen,
daß die unvergleichliche Fraͤulein nicht Alles, nicht
Alles in Allen, bey mir ſey? Gleichwohl fuͤrch-
te ich mich auch ſo gar, an ſie zu gedenken. Denn
ſonder Zweifel muß dieß das erſte ſeyn, daß alle
meine Anſchlaͤge und Erfindungen verrathen
werden.
Der alte Lord hat gleichfalls den Kopf ganz
voll von der Fraͤulein Harlowe: und meine Baſen
nicht weniger. Er hoffet, ich werde doch nicht
ein ſolcher Hund ſeyn; hier haſt du eine Probe
von ſeiner Lordmaͤßigen Art zu reden; daß ich
gegen ein Frauenzimmer von ſo vielen Verdien-
ſten,
[185]
ſten, von ſo vieler Schoͤnheit und ſo vielem Ver-
moͤgen, er ſetzt auch hinzu, von einer ſo guten
Familie, wider die Ehre zu handeln gedenke.
Allein ich ſage ihm, das letzte ſey etwas, das er
nicht ruͤhmen muͤſſe: es ſey eine ſehr zaͤrtliche
Sache; kurz, es ſey das Fleckchen, wo es mir
wehe thue, und ich beſorge, er moͤchte es zu hart
angreiffen, wenn ich mich in die Gewalt eines ſo
unglimpflichen Wundarztes geben wollte.
Er ſchuͤttelt ſeinen kraͤnklichen Kopf. Er
denkt, es ſey nicht alles zwiſchen uns ſo, wie es
ſeyn ſollte. Jhn verlangt, daß ich ſie ihm, als
meine Frau, vorſtellen moͤchte. Er ſagt mir oft
vor, was fuͤr große Dinge er noch uͤber ſeine vo-
rigen Anerbietungen thun, und was fuͤr Geſchenke
er bey der Geburt des erſten Kindes machen wolle.
Aber ich hoffe, es werde alles noch eher in mei-
nen Haͤnden ſeyn, als ſich ein ſolcher Vorfall zu-
traͤgt. Hoffen thut keinen Schaden, Bruder.
Wenn die Hoffnung nicht waͤre, ſagt mein
Onkel: ſo wuͤrde das Herz brechen.
Es iſt acht Uhr mitten im Sommer: und
die faulen Maͤgdchen, bey vollkommener Geſund-
heit, ſind noch nicht herunter gekommen, das
Fruͤhſtuͤck zu halten! ‒ ‒ Wie verzweifelt ſchlecht
ſchickt es ſich fuͤr junge Frauenzimmer, einen lie-
derlichen Kerl wiſſen zu laſſen, daß ſie ihre Bet-
ten ſo herzlich lieben, und zu gleicher Zeit, wo
man ſie finden kann! Allein ich will ſie ſtraſen.
M 5Sie
[186]
Sie ſollen mit ihrem alten Onkel fruͤh ſtuͤcken und
einander angaͤhnen, als gieng es um eine Wette.
Jch will unterdeſſen in meinem offnen Wagen zu
dem Obriſten Ambroſius fahren, der mich geſtern
ſo wohl zum Fruͤhſtuͤck als zum Mittagsmahl ein-
geladen hat, weil zwo Baſen von Yorkshire, ge-
prieſene Schoͤnheiten, bey ihm ſind, welche ſchon
vierzehn Tage da geweſen, und mich, wie er
ſagt, gern ſehen wollen. So, Bruder! laufen
doch noch nicht alle Weibsleute von mir weg,
Gott ſey Dank! ‒ ‒ Jch wuͤnſchte, daß mein
Herz mir zuließe, da die entflohene Schoͤne ſo
undankbar iſt, ſie durch eine andere Schoͤnheit
aus demſelben zu vertreiben. Aber wer kann ſie
verdraͤngen? Wer kann einen Platz in demſelben
haben: nachdem Fraͤulein Clariſſa Harlowe es
eingenommen hat?
Wenn ich wieder komme, will ich fortſchrei-
ben, dir einen Gefallen zu thun, wo ich etwas zu
ſchreiben finden kann.
Mein Wagen ſteht bereit. Meine Baſen
laſſen mir ſagen, daß ſie den Augenblick herunter
kommen. So will ich ihnen zum Poſſen ſchon
weg ſeyn.
Sonnabends, Nachmittags.
Jch blieb bey dem Obriſten, und ſpeiſete zu
Mittage mit ihm, und ſeiner Frauen, und ſei-
nen Baſen: aber den Nachmittag konnte ich nicht
mit ihnen zubringen; das wollte mein Herz nicht lei-
den. Es war genug an den Perſonen und Geſich-
tern
[187]
tern der beyden jungen Fraͤulein, das mich veranlaſ-
ſen konnte, Vergleichungen anzuſtellen. Beſondere
Zuͤge unterhielten meine Aufmerkſamkeit einige Au-
genblicke: allein dieſe dienten nur, meine Ungedult
nach der bezaubernden Gebieterinn uͤber mein Herz
zu vermehren, welche an Perſon, an Weſen, an
Verſtand niemals ihres gleichen gehabt. Mein
Herz empfand einen Ekel und ward krank, wenn
ich ihren Verſtand und Umgang mit jenem ver-
gleichen wollte. Es war nur ein lebhafter Witz,
und ein allzu gekuͤnſteltes Verlangen zu gefallen.
Jede war mit ſich ſelbſt hoͤchſt zufrieden. Beyde
hielten auf eine gezwungene Art den Mund of-
fen, weiße Zaͤhne zu zeigen, als wenn daß der
Hauptvorzug waͤre; und durch die Lockung eines
angenehmen Athems zu verliebter Vertraulichkeit
zu reizen: wobey ſie zugleich ſtillſchweigend ſich
uͤber anderer Athem aufhielten, indem ſie hoch-
muͤthig zu verſtehen geben wollten, daß der nicht
ſo rein waͤre.
Vordem haͤtte ich ſie leiden koͤnnen.
Sie ſchienen ſich in ihrer Erwartung betro-
gen zu finden, daß ich ſo bald im Stande war,
ſie zu verlaſſen. Jedoch habe ich itzo nicht ſo vie-
le Eitelkeit; meine Clariſſa hat mich von meiner
Eitelkeit geheilet; daß ich ihr Misvergnuͤgen
daruͤber ſo viel einem beſondern Wohlgefallen an
mir, als ihrer Bewunderung ihrer ſelbſt zuſchrei-
ben ſollte. Sie ſahen mich als einen Kenner der
Schoͤnheit an. Sie wuͤrden ſich eine Ehre dar-
aus gemacht haben, wenn ſie meine Aufmerkſam-
keit
[188]
keit als Schoͤnheiten an ſich gezogen haͤtten. Al-
lein ſo gezwungene, ſo flatterwitzige, bloß, ſo weit
die Haut geht, leidliche Schoͤnheiten! ‒ ‒ Sie
hatten ſich ſelbſt nicht weiter unterſucht, als was
ihre Spiegel ſie zu ſehen in den Stand geſetzt
hatten: und ihre Spiegel hatten ihnen noch da-
zu geſchmeichelt. Denn ich hielte ſie fuͤr un-
wirkſame Geſichter, die niemand ruͤhren koͤnnen,
und fuͤr Geſichter ohne alle Lebhaftigkeit. Jedoch
waren ihre Augen auf Eroberungen aus, und
ſuchten anderer Aufmerkſamkeit an ſich zu ziehen,
damit ſie der ihrigen zu ſtatten kaͤmen. ‒ ‒ Jch
glaube, ich haͤtte mit weniger Muͤhe ihnen Seel
und Leben und allen Zuͤgen ihres Geſichts einen
Glanz geben koͤnnen ‒ ‒ Aber meine Clariſſa! ‒ ‒
O Belford, meine Clariſſa hat mich gegen alle
andere Schoͤnheit blind und unempfindlich ge-
macht. ‒ ‒ Suche ſie fuͤr mich auf, daß meine
Feder eine wuͤrdige Beſchaͤfftigung habe, ſonſt ſoll
dieß der letzte Brief ſeyn von
deinem
Lovelace.
Der dreyßigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford.
Nun, Bruder, habe ich etwas zu ſchreiben, aber
auch eine Rache uͤber mich. Jch bin in der
aͤußer-
[189]
aͤußerſten Anfechtung fuͤr alle meine Suͤnden ge-
gen meine fluͤchtig gewordne Geliebte. Denn
geſtern um fuͤnfe ſind hier Lady Sarah Sadleir
und Lady Eliſabeth Lawrance, eine jede in ihrer
Kutſche mit ſechs Pferden, angekommen. Wit-
wen lieben einen großen Aufzug, und dieſe in-
ſonderheit koͤnnen nicht zehn Meilen ohne ein Ge-
ſpann Pferde und ein halb Dutzent Reitknechte
reiſen.
Die Zeit war mir gewaltig lang geworden.
Daher gieng ich nach Tiſche in die Kirche. War-
um moͤgen nicht huͤbſche Mannsleute, dachte ich,
eben ſo wohl Vergnuͤgen finden, ſich anſehen zu
laſſen, als huͤbſche Weibsbilder? ‒ ‒ Als der
Gottesdienſt vorbey war, gerieth ich an den Ma-
jor Warneton: und ſo kam ich nicht eher, als
nach ſechſen zu Hauſe. Jch wunderte mich, wie
ich in den Hof kam, daß ich ihn mit Kutſchen und
Bedienten beſetzt fand. Jch wußte gewiß, daß
die Eigenthuͤmer davon nicht eben zu meinem
Beſten gekommen waren.
Lady Sarah war zu dieſem Beſuch, wie ich
gar bald befand, von der Lady Eliſabeth aufge-
bracht, welche noch geſund genug iſt, aus ſich
ſelbſt und aus ihren eignen Sachen heraus zu ge-
hen und ſich andere Beſchaͤfftigungen zu ſuchen.
Jedoch war dem Vorgeben nach ihr Gewerbe,
meinem Onkel zu ſeiner Beſſerung Gluͤck zu wuͤn-
ſchen. Boshafte Teufel in beyder Betrachtung!
Weil ſie aber in meiner Abweſenheit ankamen:
ſo war ihre Unterredung vornehmlich von mir,
und
[190]
und ſie hatten bequeme Zeit, ſich einander wider
mich in Harniſch zu jagen.
Simon Parſons gab mir hievon einen Wink:
wie ich vor der Hofmeiſterſtube vorbey gieng.
Denn es ſchien, als wenn ſie laut geredet haͤtten;
und er hatte einige Rechnungen mit dem alten
Pritchard zur Richtigkeit zu bringen gehabt.
Dennoch eilte ich, ihnen meine Schuldigkeit
zu bezeigen. Wenn andere gleich ihre Pflicht
nicht beobachten, weißt du wohl, iſt das doch
keine Entſchuldigung fuͤr unſere Nachlaͤßigkeit.
Nun trete ich hinein zu meinem Verhoͤr.
Mit ſchrecklich ernſthaften Geſichtern ward
ich empfangen. Die beyden Ueberbleibſel des Al-
terthums nickten nur ihre altfraͤnkiſchen Koͤpfe und
verzogen ihre Geſichter, daß ſie laͤnger, als ge-
woͤhnlich wurden. Alle alte Zuͤge an ihren runz-
lichten Stirnen und verfallenen Wangen, ließen
ſich ſtark ſehen. Wasmachen ſie gutes, Vetter?
und was machen ſie, Herr Lovelace? Dabey ſa-
hen ſie ſich rund herum einander an, als wenn ſie
ſagen wollten: Reden ſie zuerſt, und Reden ſie.
Denn ſie ſchienen ſich entſchloſſen zu haben, keine
Zeit zu verlieren.
Jch machte mir nichts weiter daraus, als
daß ich ihnen dafuͤr ein eben ſo maͤnnliches We-
ſen zeigte, als ihr Weſen weibiſch war. Jhr
Diener, gnaͤdige Frau, ſagte ich zu der Lady Eli-
ſabeth, und, Jhr Diener, gnaͤdige Frau ‒ ‒ Es
iſt mir lieb, daß ich ſie im Stande ſehe, von Hau-
ſe zu ſeyn, zu der Lady Sarah.
Jch
[191]
Jch nahm meinen Stuhl. Der Lord M. ſa-
he ſchrecklich muͤrriſch aus, hatte die Haͤnde ge-
falten, drehete ſeine eben vom Chiragra befreyte
Daumen in die Ruͤnde, bald oben, bald unten,
und wandte ſein blaſſes Geſicht und ſeine heraus-
ſtehende Augen wechſelsweiſe auf den Fußboden,
auf den Kamin, auf ſeine zwo Schweſtern, und
ſeine zwo Verwandtinnen: mich aber wuͤrdigte
er nicht einmal ſeiner Blicke.
Dabey fing ich an, auf das Laudanum und
das weiße Tuch, wovon ich dir ſchon laͤngſt ge-
ſagt hatte, zu denken, und mir ſelbſt eine zaͤrtli-
che Gemuͤthsart, die niemals gut thun wird, zu
verweiſen.
Endlich machte die Lady Sarah mit Stottern
den Anfang. ‒ ‒ Herr Lovelace ‒ ‒ Vetter Lo-
velace! ‒ ‒ Hem! ‒ ‒ Hem! ‒ ‒ Jch bedaure,
daß keine Hoffnung iſt, daß ſie jemals aufhoͤren ‒ ‒
Was giebt es denn nun, gnaͤdige Frau?
Was es giebt! ‒ ‒ Ja! Lady Eliſabeth hat
zween Briefe von der Fraͤulein Harlowe, die uns
berichtet haben, was es giebt ‒ ‒ Sind denn
alle Frauenzimmer gleich bey ihnen?
Jch haͤtte Ja ſagen koͤnnen: wenn man den
Unterſchied ausnimmt, den Stolz und Ehrgeiz
machen.
Hierauf ſchrieen ſie alle einmuͤthig wider
mich ‒ ‒ Eine Perſon von ſolcher Gemuͤthsart,
als die Fraͤulein Harlowe! rief die eine! ‒ ‒
Ein Frauenzimmer von ſo edler Geſinnung und
ſo feinem Verſtande! ſchrie die andere ‒ ‒ Wie
vor-
[192]
vortrefflich ſie ſchreibet! riefen die juͤngferlichen
Meerkaͤtzchen und ſahen ihre ſaubere Hand an. ‒ ‒
Jhre Vollkommenheiten gereichen mir zum
Verbrechen. ‒ ‒ Was koͤnnen ſie wohl fuͤr
ein Ende von dieſen Dingen erwarten? rief die
Lady Sarah ‒ ‒ Verdammte, verdammte Haͤn-
del! ſchrie der Lord, und ſchuͤttelte ſein lockeres
und wackelndes Fleiſch an den Kinnbacken, wel-
ches, wie die Wammen an dem Halſe einer al-
ten Kuhe, herunter hing.
Jch meines Theils wußte kaum, ob ich ſin-
gen oder ſagen ſollte, was ich auf dieſe vereinigte
Angriffe von allen zu antworten hatte. ‒ ‒ Fein
ſachte und gemach, liebe Frauenzimmer ‒ ‒ Ei-
ne auf einmal, ich bitte ſie. Jch ſoll doch, wie
ich hoffe, nicht niedergehetzt werden, ohne daß
man mich auch hoͤre. Haben ſie die Guͤte, mir
dieſe Briefe zu zeigen. Jch bitte, zeigen ſie mir
dieſelben.
Da ſind ſie! ‒ ‒ Das iſt der erſte ‒ ‒ Le-
ſen ſie ihn laut, wo ſie koͤnnen.
Jch oͤffnete einen Brief von meiner Schoͤnen,
der am Donnerſtage, den 29ten Jun. das
ſollte unſer Hochzeittag ſeyn; geſchrieben und an
die Lady Eliſabeth Lawrance gerichtet war. ‒ ‒
Aus dem Jnhalt ſehe ich, zu meinem großen Ver-
gnuͤgen, daß das liebe Kind noch am Leben, noch
geſund und trefflich munter iſt. Aber die Aufſchrift
und Anzeige des Orts, wohin die Antwort zu ſenden
waͤre, war ſo ausgekratzt, daß ich ſie nicht leſen
konnte: welches mich ſehr kraͤnkte.
Sie
[193]
Sie legt in dieſem Schreiben der Lady Eli-
ſabeth drey Fragen vor.
Erſtlich, wegen eines Briefes von ihr,
vom 7ten Jun. worinn ſie uns zu unſerer Ver-
maͤhlung Gluͤck wuͤnſchet; und wobey ich meine
Tante der Muͤhe zu ſchreiben guͤtigſt uͤberhoben
habe: eine rechte Hoͤflichkeit von mir, ſollte ich
denken!
Hernach: „Ob ſie und eine von ihren Nef-
„fen, Montague, geſonnen geweſen, wegen einer
„alten Kanzeleyſache nach London zu kommen?
„Ob ſie auch wirklich dieſem Vorſatz gemaͤß nach
„London und hiernaͤchſt nach Hampſtead gegangen
„waͤren, und von dannen die junge Perſon, wel-
„che ſie beſucht, mit ſich nach London gebracht
„haͤtten?„ Dieß war der Jnhalt der zwoten
und dritten Frage.
Ein lieber kleiner nachforſchender Schalk!
Was wollte ſie durch dieſe Fragen gebeſſert
ſeyn? ‒ ‒ Aber Neubegierde, verdammte Neu-
begierde iſt der Kitzel, der das ſchoͤne Geſchlecht
zu ſtechen pflegt ‒ ‒ Wenn haſt du inzwiſchen
wohl erfahren, daß es zu ihrem Beſten ausge-
ſchlagen waͤre? Denn ſie forſchen ſelten nach,
als wenn ſie etwas befuͤrchten ‒ ‒ Und das
Sprichwort iſt, wie mein Lord ſagt: Was man
fuͤrchtet, das kommt. Das heißt, meiner
Vermuthung nach, was ſie fuͤrchten, das traͤgt
ſich gemeiniglich zu, weil gemeiniglich Urſache zu
fuͤrchten da iſt.
Sechſter Theil. NSie
[194]
Sie geſteht in der That, ihr einziger Bewe-
gungsgrund zu dieſen Fragen ſey die Neugierig-
keit. Wenn gleich Jhre Gnaden vermuthen
moͤchten, ſchreibt ſie, daß dieſe Fragen nicht zu
meinem Vortheil gereichten: ſo koͤnne doch die
Antwort mir keinen Schaden, noch ihr einigen
Vortheil bringen, ohne nur, daß ſie erfuͤhre, ob
ich ihr ‒ ‒ eine verdammte Luͤgen vorgeſagt haͤtte;
dieß heißt es auf gut deutſch, was ſie mit ihrer
Nachfrage haben will.
Gut, gnaͤdige Frau, ſprach ich, mit ſo vie-
ler philoſophiſchen Gleichguͤltigkeit, als ich nur
annehmen konnte: darf ich aber fragen, was Jh-
re Gnaden darauf geantwortet haben?
Da iſt eine Abſchrift von meiner Antwort,
verſetzte ſie, und ſtieß mir dieſelbe mit ſehr weni-
ger Achtung in die Hand.
Dieſe Antwort war vom 1ten Jul. ſehr guͤ-
tig und hoͤflich gegen die Fraͤulein, aber gegen ih-
ren armen Verwandten nur recht ſo ſo ‒ ‒ Daß Leu-
te ihr eignes Fleiſch und Blut ſo leicht aufgeben
koͤnnen! ‒ ‒ Sie ſchreibt ihr „was fuͤr eine
„groͤße Ehre ſich unſere ganze Familie aus einer
„Verbindung mit einer ſo vortrefflichen Fraͤulein
„machen wuͤrde.“ Sie laͤßt mir Gerechtigkeit
widerfahren, wenn ſie meldet, wie ſehr ich ſie
als einen Engel von einem Frauenzimmer anbe-
te, und bittet, ich weiß nicht um wie vieler Din-
ge willen, außer um meiner Seele willen, „daß
„ſie ſo guͤtig ſeyn wolle, mich zu einem Man-
„ne anzunehmen.“ Sie antwortet endlich ‒ ‒
du
[195]
du wirſt wohl errathen, wie ‒ ‒ auf die Fragen
der Fraͤulein.
Auch gut, gnaͤdige Frau! Kann ich die Ge-
wogenheit erwarten, den andern Brief der Fraͤu-
lein ebenfalls zu ſehen? Er iſt vermuthlich eine
Antwort auf das vorige Schreiben von Jhnen.
Ja, ſagte der alte Lord: aber, Herr, ich muß
ſie erſt etwas fragen, ehe ſie ihn leſen. ‒ ‒ Ge-
ben ſie mir den Brief, Lady Eliſabeth.
Da iſt er, mein Lord.
Nun ward die Brille aufgeſetzt und der Kopf
von einer Zeile zur andern bewegt. ‒ ‒ Eine
unvergleichlich artige Hand! ‒ ‒ Jch habe oft
gehoͤrt, daß dieſe Fraͤulein einen herrlichen
Kopf hat.
Jch will meines Lords weiſe Anmerkungen
und Fragen wiederholen, Bruder, und dich ſo
auf den Jnhalt dieſes unbarmherzigen Briefes
fuͤhren.
„Montags, den 3ten Jul.“ So lieſet mein
Lord. ‒ ‒ Laß ſehen! ‒ ‒ das war verwichnen
Montag: ja, nicht laͤnger! „Montags den
„3ten Jul. ‒ ‒ Gnaͤdige Frau ‒ ‒ Jch kann
„nicht umhin ‒ ‒ um, um, um, um, um, um
‒ ‒ So mummelte er, daß es niemand ver-
ſtehen konnte, und uͤb rhuͤpfte ganze Zeilen ‒ ‒
„Jch muß Jhnen geſtehen ‒ ‒ gnaͤdige Frau,
„daß die Ehre mit Frauenzimmern verwandt zu
„ſeyn ‒ ‒
Hier ward die Brille abgenommen ‒ ‒
Nun ſagen ſie mir, Herr, hat nicht dieſe Fraͤu-
N 2lein
[196]
lein um ihretwillen alle ihre Freunde, die ſie in
der Welt hatte, verlohren?
Sie hat ſehr unverſoͤhnliche Freunde, mein
Lord: das wiſſen wir alle.
Aber hat ſie nicht um ihretwillen alle verloh-
ren? ‒ ‒ das ſagen ſie mir nur.
Jch glaube es, mein Lord.
Gut! ‒ ‒ Jch freue mich denn wenigſtens,
daß du nicht ſo unverſchaͤmt biſt, das zu leugnen.
Die Brille ward wieder aufgeſetzt ‒ ‒ „Jch
„muß Jhnen geſtehen, gnaͤdige Frau, daß die
„Ehre mit Frauenzimmern verwandt zu ſeyn,
„die ſo wohl ihre Tugend, als ihre Geburt erhe-
„bet ‒ ‒ ‒ Recht artig, in Wahrheit! ſagte
mein Lord und las noch einmal, „die ſo wohl ihre
„Tugend, als ihre Geburt erhebet, anfangs
„keine geringe Reizung bey mir geweſen, dem
„Antrag des Herrn Lovelace ein geneigtes Ohr
„zu goͤnnen.“
‒ ‒ Es iſt etwas erhabenes in dieſer Fraͤu-
lein, etwas erhabenes, das ihr angebohren iſt,
ſchrie mein Lord.
Lady Sarah. Sie wuͤrde eine Zierde fuͤr
unſere Familie geweſen ſeyn.
Lady Eliſab. Jn der That, das wuͤrde ſie
geweſen ſeyn.
Lovel. Ja, ich unterſtehe mich zu ſagen, fuͤr
eine koͤnigliche Familie.
Lord M. Was fuͤr ein Teufel hat denn ‒ ‒
Lovel. Haben ſie die Gewogenheit, weiter
zu leſon, mein Lord. Es kann nicht ihr Brief
ſeyn,
[197]
ſeyn, wo er ſie nicht immer mehr und mehr, je
weiter ſie leſen, in Verwunderung uͤber ſie ſetzet.
Baſe Charlotte, Baſe Martha, ich bitte, geben
ſie Achtung ‒ ‒ Leſen ſie weiter, mein Lord.
Fraͤulein Charlotte. Erſtaunliche Uner-
ſchrockenheit!
Fraͤulein Martha ſchlug nur ihre Tauben-
augen in die Hoͤhe.
Lord M. welcher weiter lieſet. „Und
„zwar um ſo viel mehr, da ich entſchloſſen war,
„wenn es wirklich geſchehen waͤre, alles, was in
„meinem Vermoͤgen ſtehet, zu thun, damit ich
„die vortheilhafte Meynung, welche ſie von mir
„haben, verdienen moͤchte.
Darauf vereinigten ſie ihre Stimmen wieder
gegen mich.
Eine erwuͤnſchte Zeit dazu! ‒ ‒ Jch ar-
mer! ‒ ‒ Jch hatte nichts dagegen zu thun als
unverſchaͤmt zu ſeyn.
Lovel. Jch bitte, leſen ſie weiter, mein Lord
‒ ‒ Jch habe ihnen ja geſagt, wie ſie alle die
Fraͤulein bewundern wuͤrden ‒ ‒ Oder ſoll ich
leſen?
Lord M. Verdammte Dreiſtigkeit! ‒ ‒
Er las aber fort. „Jch hatte auch noch ei-
„nen andern Bewegungsgrund, der mir an ſich
„ſelbſt, wie ich wußte, bey ihrer ganzen Familie
„zu einem Verdienſt gereichen wuͤrde. ‒ ‒ Alle
waren hier die Aufmerkſamkeit ſelbſt ‒
„Aber er iſt ſo beſchaffen, daß ich mir dabey zu
„viel herausgenommen, und, wie der Erfolg ge-
N 3zeiget
[198]
„zeiget hat, auf eine ſtrafbare Weiſe zu viel her-
„ausgenommen habe. Jch machte mir Hoff-
„nung, daß ich ein geringes Werkzeug in den
„Haͤnden der Vorſicht ſeyn moͤchte, einen Men-
„ſchen auf beſſere Wege zu bringen, der im
„Grunde, wie ich dachte, Verſtand genug haͤtte,
„ſich auf beſſere Wege bringen zu laſſen; oder
„wenigſtens dankbar genug waͤre, den ihm zuge-
„dachten Dienſt zu erkennen, es moͤchte nun die
„edelmuͤthige Hoffnung gelingen oder nicht.“ ‒ ‒
Unvergleichliche Fraͤulein! ‒ ‒
Eine unvergleichliche Fraͤulein! war der Wie-
derſchall, den die Frauenzimmer hoͤren ließen,
mit ihren Schnupftuͤchern an den Augen, und
dann mit einer Naſenmuſik.
Lovel. Bey meiner Seele, Fraͤulein Mar-
tha, ſie weinen bey der unrechten Stelle: ſie ſol-
len niemals mit mir in ein Trau rſpiel gehen.
Lady Eliſab. Verhaͤrteter Menſch!
Der Lord hatte ſeine Brille abgenommen,
um ſie abzuwiſchen. Seine Augen waren be-
nebelt: und er gedachte, die Schuld laͤge an ſei-
ner Brille.
Jch ſahe, daß ſie alle aufgebracht waren und
ſproͤde thaten ‒ ‒ Gewiß, ſprach ich daher, dieß
iſt recht lehrreich geſchrieben ‒ ‒ Das iſt eben
das Vortreffliche an dieſer Fraͤulein, daß ſie in
jeder Zeile, wie ſie fortſchreibet, ſich ſelbſt zu beſ-
ſern ſuchet. Haben ſie die Gewogenheit, mein
Lord, fortzufahren. ‒ ‒ Jch kenne ihre Schreib-
art:
[199]
art: der folgende Ausſpruch wird ebenfalls noch
ruͤhrend fuͤr uns ſeyn.
Lord M. Verdammter Kerl! ‒ ‒ Jn-
zwiſchen ſattelte er wieder und las weiter ‒ ‒
„Allein ich habe mich bey den Herrn Lovelace un-
„gemein geirret.“ ‒ ‒ Da ſchrieen ſie wieder al-
le ‒ ‒ „Er iſt der einzige, ſtelle ich mir gewiß
„vor ‒ ‒
Lovel. Frauensperſonen koͤnnen ſich alles
und jedes gewiß vorſtellen ‒ ‒ Wie kann ſie
aber Rede und Antwort von dem geben, was
andere unter eben den Umſtaͤnden wuͤrden ge-
than, oder nicht gethan haben?
Jch war genoͤthigt, alles, was mir einfiel, zu
ſagen, damit ich nur ihr Schreien ſtillte. Der
Henker hole euch alle mit einander, dachte ich!
als wenn ich doch nicht ſchon Verdruß genug haͤt-
te, da ich ſie verlohren habe!
Lord M. welcher fortlieſet. „Er iſt der
„einzige, ſtelle ich mir gewiß vor, der ein Caval-
„lier ſeyn will, und bey dem ich mich ſo ſehr haͤt-
„te irren koͤnnen.“
Sie wollten ſchon wieder alle anfangen ‒ ‒
Jch bitte, mein Lord, fahren ſie fort! ‒ ‒ Hoͤ-
ren ſie, hoͤren ſie ‒ ‒ Jch bitte, meine wertheſten
Frauenzimmer, hoͤren ſie! ‒ ‒ Nun, mein Lord,
haben ſie die Guͤte weiter fortzufahren. Die
Frauenzimmer ſchweigen ſchon ſtille.
Sie thaten es auch wirklich: weil ſie vor
Verwunderung uͤber mich außer ſich waren, und
Haͤnde und Augen aufhuben.
N 4Lord
[200]
Lord M. Jch will, zu deiner Beſchaͤmung:
denn er hatte das folgende uͤbergeſehen.
Was fuͤr elende Geſchoͤpfe, Belford, was fuͤr
boshaftige und elende Geſchoͤpfe ſind die armen
Sterblichen! ‒ ‒ Die ſich ſo freuen, einander
zu kraͤnken, einander gekraͤnkt zu ſehen!
Lord M. welcher lieſet. „Denn indem
„ich mich bemuͤhete, einen Elenden, der erſaufen
„wollte, zu retten: ſo bin ich, nicht zufaͤlliger, ſon-
„dern vorſetzlicher Weiſe, und mit einem aus
„Vorbedacht gefaßten Schluſſe, nach ihm hinein-
„gezogen worden“ ‒ ‒ Was ſagen ſie dazu,
Herre?
- Lady S.
- Lady El.
Lovel. Was ich ſage! Ey! ich ſage, es iſt
ein recht artiges Gleichniß, wenn es bey der An-
wendung nur Stich halten wollte ‒ ‒ Aber,
wo es ihnen gefaͤllig iſt, mein Lord: ſo leſen ſie
weiter. Erlauben ſie mir zu hoͤren, was ferner
geſagt wird. Jch will auf alles mit einander
zugleich antworten.
Lord M. Jch will ‒ ‒ „Er hat alſo den
„Ruhm gehabt, zu der Liſte derer, die er ungluͤck-
„lich gemacht, einen Namen hinzuzuthun, der,
„wie ich zuverſichtlich ſagen darf, ſeinem eignen
„Namen nicht zur Verkleinerung wuͤrde gereicht
„haben.“
Sie ſahen mich alle an: als wenn ſie von
mir erwarteten, daß ich reden ſollte.
Lovel.
[201]
Lovel. Seyn ſie ſo guͤtig und fahren fort,
mein Lord. Jch will bald darauf antworten.
Wer hat ihr geſagt, daß ich eine Liſte hielte ‒ ‒
Jch will bald darauf antworten.
Lord M. der weiter lieſet. „Und zwar
„durch ſolche Mittel, gnaͤdige Frau, welche die
„Menſchlichkeit beleidigen wuͤrden, wenn man ſie
„erfuͤhre.
Hier mußte die Brille, in der Hitze, wieder
herunter.
Jn der That war dieß ein verfluchter Streich
fuͤr mich. Jch dachte, ich haͤtte eine eiſerne
Stirn zur Unverſchaͤmtheit: allein, bey meiner
Treue, dieß haͤtte ſie beynahe doch zerſchlagen.
Lord M. Was ſagen ſie hierzu, Herr-e!
Vergiß nicht, Bruder, allemal in dieſer Un-
terredung ihr Herr mit einem angehaͤngten e
und langgezogenen r, Herr-e zu leſen ‒ ‒ wel-
ches vielmehr Unwillen als Hochachtung an-
zeigte.
Alle ſahen mich an, als wenn ſie ſehen woll-
ten, ob ich auch roth werden koͤnnte.
Lovel. Die Augen weg! mein Lord! ‒ ‒
Die Augen weg! Frauenzimmer! ‒ ‒ Jch
glaube, daß ich ziemlich verſchaͤmt ausſahe.
‒ ‒ Was ich hierzu ſage, mein Lord! ‒ ‒ Jch
ſage, dieſe Fraͤulein weiß ſich auf eine ſehr nach-
druͤckliche Art auszudruͤcken! ‒ ‒ Das iſt alles
‒ ‒ Es giebt viele Dinge, die zwiſchen Verlieb-
ten vorgehen, und woruͤber ſich eine Mannsper-
ſon vor ernſthaften Leuten nicht erklaͤren kann.
N 5Lady
[202]
Lady Eliſab. Zwiſchen Verliebten,
Herr - e! ‒ ‒ Aber Herr Lovelace, koͤnnen ſie ſa-
gen, daß ſich dieſe Fraͤulein entweder als eine
ſchwache oder eine leichtglaͤubige Perſon aufge-
fuͤhret habe? ‒ ‒ Koͤnnen ſie das ſagen?
Lovel. Jch bin bereit, der Fraͤulein auf alle
Art Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen ‒ ‒ Al-
lein nun bitte ich, wenn ich ſo befragt werden
ſoll, daß ſie mich den uͤbrigen Jnhalt des Brie-
fes hoͤren laſſen, damit ich zu meiner Vertheidi-
gung vorbereitet ſey, wie ſie ſich alle zu meinem
Verhoͤr vorbereitet haben. Denn daß man von
einem ſo ſtuͤckweiſe Antwort verlangt, wenn er
nicht weiß, was folgen wird, iſt eine verfluchte
Art zu verfahren, wodurch man jemand faͤngt.
Sie gaben mir den Brief. Jch las ihn fuͤr
mich durch ‒ ‒ Aus der Wiederholung deſſen,
was ich ſagte, wirſt du den uͤbrigen Jnhalt leicht
errathen.
Sie ſollen finden, wertheſte Frauenzimmer;
ſie ſollen finden, mein Lord, daß ich meiner ſelbſt
nicht ſchonen will. Jch hielte den Brief vor mir
in der Hand, und ſahe darauf, als ein Rechtsge-
lehrter auf ſein Geſetzbuch. Und ſo fing ich an
zu reden.
Fraͤulein Harlowe ſchreibt, „wenn Jhre
„Gnaden wiſſen werden“ ‒ ‒ dabey wandte ich mich
zu der Lady Eliſabeth ‒ „daß in dem Fortgang
„zu ihrem Ungluͤck vorſetzliche Unwahrheiten,
„wiederholte Raͤnke falſche Briefe zu ſchmieden,
„und unzaͤhlige Meineide nicht die geringſten
„von
[203]
„von meinen Vergehungen geweſen ſind: ſo
„werden ſie urtheilen, daß ſie keine ſo gute Grund-
„ſaͤtze haben koͤnnte, die ſie einer Verbindung mit
„Perſonen von ihrer und ihrer edlen Schweſter
„vortrefflichen Gemuͤthsart wuͤrdig machen wuͤr-
„den, wenn ſie ſich nicht von ganzem Herzen er-
„klaͤren koͤnnte, daß eine ſolche Verbindung nun-
„mehr niemals ſtatt haben koͤnne.
Gewiß, meine liebe Frauenzimmer, dieß iſt
parteyiſch und hitzig, nicht vernuͤnftig. Wenn
unſere Familie ſich durch meine Vermaͤhlung mit
einer Perſon, der ich ſo begegnet habe, nicht ent-
ehret achten will, ſondern ſich im Gegentheil
freuen wuͤrde, daß ich ihr dieſe Gerechtigkeit wi-
derfahren ließe; und wenn ſie nach der Probe als
reines Gold befunden iſt, und ſich ſelbſt nichts
vorzuwerfen hat: warum ſollte es denn wider ih-
re gute Grundſaͤtze ſtreiten, ihren Willen dazu zu
geben, daß eine ſolche Verbindung Platz finden
moͤchte?
Sie kann ſich ſelbſt um desjenigen willen,
was wider ihren Willen geſchehen iſt, nicht fuͤr
ſchlechter halten, mit Recht kann ſie es nicht.
Jtzt droheten ihre Blicke einen allgemeinen
Aufſtand ‒ aber ich fuhr fort.
Mein Lord hat uns vorgeleſen, ſie habe ſich
eine Hoffnung gemacht, wobey ſie ſich zu viel
herausgenommen, ja auf eine ſtrafbare
Weiſe zu viel herausgenommen, wie ſie ſich
ausdruͤckt, „daß ſie ein Werkzeug in den Haͤnden
„der Vorſicht ſeyn moͤchte, mich auf beſſere We-
„ge
[204]
„ge zu bringen: und dieß, wuͤßte ſie, wuͤrde ihr
„bey ihnen allen zu einem Verdienſte gereichen,
„wenn es ins Werk gerichtet waͤre.„ Aber was
war es denn, wovon ſie mich auf beſſere We-
ge bringen wollte? ‒ ‒ Sie hatte gehoͤrt, wer-
den ſie ſagen; aber ſie hatte auch nur bloß ge-
hoͤret, ſo lange ſie dieſe Hoffnung behielte;
daß ich ein recht gottloſer Kerl waͤre, damit
ich mich nach der Weiber Mundart ausdruͤcke. ‒
Was nun weiter? ‒ ‒ Wahrlich, den Augenblick,
da ſie durch ihre eigne Erfahrung uͤberzeugt
war, daß die Anklage gegen mich etwas mehr
als Hoͤrenſagen, und ich folglich fuͤr ihre edel-
muͤthige Bemuͤhungen eine geſchickte Perſon
waͤre, bey der ſie ihr Werk faͤnde, wollte ſie nichts
weiter thun, als mich aufgeben. So flieht ſie
davon, und erklaͤret ſich, daß der feyerliche Kir-
chengebrauch, der alles wieder gut machen wuͤr-
de, niemals ſtatt haben ſoll! ‒ ‒ Kann dieß aus
einem andern Bewegungsgrunde geſchehen, als
aus Weiberzorn?
Hiedurch brachte ich ſie alle wider mich auf:
und das war meine Abſicht. Es diente mir ſtatt
einer Tonne, die man dem Wallfiſche zuwirft:
und nachdem ich ſie eine Zeitlang damit hatte
ſpielen laſſen, forderte ich ſie zur Aufmerkſamkeit
auf. Weil ich wußte, daß ſie mich allezeit gern
ſchwatzen gehoͤrt: fuhr ich fort zu reden.
Die Fraͤulein hat gedacht, das ſieht man of-
fenbar, daß es eine weit leichtere Arbeit waͤre,
jemand von boͤſen Gewohnheiten auf beſſere We-
ge
[205]
ge zu bringen, als es nach der Natur der Sa-
che ſeyn kann.
Sie ſchreibet, wie mein Lord geleſen hat, „Jn-
„dem ſie ſich bemuͤhet haͤtte, einen Elenden, der
„erſaufen wollen, zu retten, waͤre ſie, nicht zufaͤl-
„liger, ſondern vorſetzlicher Weiſe, und mit einem
„aus Vorbedacht gefaßten Schluſſe, nach ihm
„hineingezogen.“ Aber wie kann dieß ſeyn, lieb-
ſte Frauenzimmer? ‒ ‒ Sie ſehen aus ihren
eignen Worten, daß ich ſelbſt noch lange nicht
aus der Gefahr bin. Haͤtte ſie mich, wir wol-
len ſetzen in einem tiefen Sumpf, gefunden, und
ich waͤre durch ihre Huͤlfe aus demſelben gekom-
men, haͤtte aber ſie darinn umkommen laſſen: ſo
wuͤrde das in der That ein großes Verbrechen
geweſen ſeyn ‒ ‒ Allein verhaͤlt ſich die Sache
nicht ganz anders? Jſt ſie nicht ſelbſt herausge-
kommen, wo ihr Gleichniß beweiſet, was ſie da-
durch bewieſen haben will, und hat mich zuruͤck-
gelaſſen, daß ich immer tiefer einſinke? ‒ ‒ Waͤ-
re es ihr ein Ernſt geweſen, mich zu retten: ſo
haͤtte ſie mir ihre Hand reichen ſollen, daß wir
mit vereinigten Kraͤften einander ausgeholfen
haͤtten ‒ ‒ Jch hielte meine Hand ausgereckt,
und bat ſie, mir ihre Hand zu geben ‒ ‒ Aber
nein, in Wahrheit! ſie hatte ſich vorgenommen,
ſich ſelbſt ſo geſchwinde, als ſie koͤnnte, herauszu-
bringen, und mich ſinken oder ſchwimmen zu
laſſen: indem ſie, gegen ihre eigne Grundſaͤtze,
mir ihre Huͤlfe verſagte; weil ſie ſahe, daß ich ſie
gebrauchte. Sie ſehen, wertheſte Frauenzimmer,
ſie
[206]
ſie ſehen, mein Lord, wie leicht ſich Ohren, welche
an angenehmen Toͤnen Luſt zu haben geneigt
ſind, durch wohlklingende Worte uͤberraſchen
laſſen! ‒
Alle waren im Begriff wieder auszurufen:
allein ich kam ihnen zuvor, und fuhr fort, ehe ſie
ihre Stimme erheben und reden konnten.
Meine ſchoͤne Anklaͤgerinn bringet vor, „Jch
„haͤtte zu der Liſte derer, die ich ungluͤcklich ge-
„macht, einen Namen hinzugefuͤget, der meinem
„eignen Namen nicht zur Verkleinerung gereicht
„haben wuͤrde.“ Es iſt wahr, ich bin luſtig,
und zu Unternehmungen aufgelegt geweſen. Es
liegt in meiner Natur, daß ich ſo bin. Jch
weiß nicht, wie ich zu einer ſolchen Natur gekom-
men bin: aber ich bin hingegen niemals gewohnt
geweſen, zu ſchelten oder zu tadeln; das wiſſen
ſie alle. Wenn ein Menſch durch eine heſtige
Leidenſchaft zu einer geringen Beleidigung hinge-
riſſen iſt, die man ihm, ſo geringe ſie auch iſt,
nicht vergeben will; ſo kann er leicht zur Ver-
zweifelung gebracht werden: wie ein Dieb, der
nur einen Raub im Sinne hat, oft, durch Wi-
derſtand, und zu ſeiner eignen Erhaltung, verlei-
tet wird, einen Mord zu begehen.
Jch mußte hier ein wund rlicher, ein ſcheus-
licher Boͤſewicht heißen. Allein das muß ein
einfaͤltiger Tropf ſeyn, der nichts fuͤr ſich ſelbſt zu
ſagen weiß, da doch eine jede Sache ihre ſchwar-
ze und ihre weiße Seite hat. ‒ ‒ Jn Weſtmin-
ſter-
[207]
ſter-Hall, Bruder, findet man alle Tage eben ſo
kuͤhne Vertheidigungen, als die meinige war.
Aber was hat dieſe Fraͤulein fuͤr ein Recht,
fuhr ich fort, uͤber mich zu klagen: da es ſo gut
iſt, als wenn ſie ſagte: Herr Lovelace, ſie haben
als ein Betruͤger bey mir gehandelt ‒ ‒ Sie
wollten gern ihren Fehler wieder gut ma-
chen: ich werde es ihnen aber nicht zulaſſen, da-
mit ich das Vergnuͤgen habe, ſie preiszugeben,
und die Ehre, ihre Hand auszuſchlagen.
Allein man fragte mich hiebey: Ob das der
Fall waͤre? Ob ich nun vorgeben wollte, daß
ich die Fraͤulein heyrathen wuͤrde, wenn ſie mich
haben wollte?
Lovel. Sie ſehen, daß ſie die Vermittelung
der Lady Eliſabeth ausſchlaͤgt ‒ ‒
Lord M. der mir in die Rede fiel.
Worte ſind Wind: aber Werke zeigen,
wie jemand geſinnt. Was ſoll euer verfluch-
tes Wortſpiel bedeuten, Robert? ‒ ‒ Sagt rein
heraus: Wollt ihr ſie haben, wo ſie euch haben
will? Antwortet mir Ja, oder Nein: und fuͤh-
ret uns nicht ſo herum, eure Meynung zu erfah-
ren, als wenn wilde Gaͤnſe gejagt werden.
Lovel. Sie weiß, daß ich ſie nehmen wuͤr-
de. Aber, mein Lord, wo ſie ſo fortfaͤhret, ſich
ſelbſt und mich preiszugeben: ſo wird ſie ma-
chen, daß es fuͤr uns beyde eine Schande wird,
zu heyrathen.
Charlotte. Allein, wie muß mit ihr um-
gegangen ſeyn?
Lovel.
[208]
Lovel. Wie nun, Baſe Charlotte, fiel ich
ihr ins Wort und griff ihr unter das Kinn, woll-
ten ſie wohl haben, daß ich ihnen alles, was zwi-
ſchen der Fraͤulein und mir vorgegangen iſt, er-
zaͤhlen ſollte? Wuͤrden Sie es gern ſehen, wenn
ſie einen dreiſten und kuͤhnen Liebhaber haͤtten,
daß ein jeder kleiner Streich von verliebter Schel-
merey, den er gegen ſie vornaͤhme, unter die Leu-
te gebracht wuͤrde?
Charlotte ward roth. Alle fingen an aus-
zurufen. Jch ließ mich nichts anfechten und
ſetzte meine Vertheidigung fort.
Die Fraͤulein ſchreibt: „Sie ſey von mir
„ihrer Ehre beraubt worden;“ Der Teufel hole
mich, wo ich meiner ſchone! „durch ſolche Mit-
„tel, welche die Menſchlichkeit beleidigen wuͤrden,
„wenn man ſie erfuͤhre.“ Sie iſt ein ſehr un-
ſchuldiges Frauenzimmer, und kann uͤber die
Mittel, worauf ihre Worte zielen, nicht Richter
ſeyn. Zu viele Zaͤrtlichkeit mag in der That
zu wenige Zaͤrtlichkeit ſeyn. Haben ſie nicht
etwa ein ſolches Sprichwort, mein Lord? ‒ ‒
Es iſt wohl eben ſo viel als dieß: Eine Aus-
ſchweifung fuͤhrt zu der andern! ‒ ‒ Ein
ſolches Frauenzimmer, wie dieſe Fraͤulein, mag
vielleicht ihre Begebenheit fuͤr etwas außeror-
dentlichers halten, als ſie wirklich iſt. So viel
will ich uͤber mich nehmen zu behaupten, daß, wo
ſie an mir die einzige Mannsperſon in der Welt
gefunden hat, die ſo mit ihr umgegangen ſeyn
wuͤrde, als ich, nach ihrer Sage, mit ihr umge-
gangen
[209]
gangen bin, ich an ihr die einzige Weibsperſon
in der Welt gefunden habe, welche ſo viel We-
ſens uͤber einen Fall, der bloß wegen der damit
verknuͤpften Umſtaͤnde außerordentlich iſt, gemacht
haben wuͤrde.
Dieß brachte ſie alle wider mich auf, und
Haͤnde, Augen, Stimmen, alle wurden auf ein-
mal erhoben. Nur mein Lord M. der in ſeinem
Kopfe, dem letzten Sitze einer ſich zuruͤckziehen-
den Leichtfertigkeit, eben ſo viel Bosheit hat, als
ich in meinem Herzen habe, ward gezwungen,
uͤber die Miene, womit ich dieß ſagte, und Char-
lottens ſo wohl, als aller Uebrigen, Erroͤthung,
ein ſolches Maul zu machen, das groß genug war,
die andere Haͤlfte von ſeinem Geſichte zu ver-
ſchlingen, indem er, um ſich des Lachens zu er-
waͤhren, aus vollem Halſe ſchrie, O! O! ‒ ‒
als wenn er einen gewaltigen Stich vom Poda-
gra fuͤhlte.
Haͤtteſt du geſehen, wie die beyden altfraͤn-
kiſchen Geſichter, und die beyden jungen Kaͤtz-
chen wechſelsweiſe ſich einander, meinen Lord
und mich anſahen: ſo haͤtteſt du ſelbſt dein haͤß-
liches Geſicht mitten von einander ſpalten moͤ-
gen. Dein großes Maul hat es ohne das ſchon
halb fuͤr dich gethan. Und bey dem allen be-
fand ich nicht ſelten in dieſer Unterredung, daß
meine aufgeweckte und unerſchrockne Art zu han-
deln ein Laͤcheln, zu meinem Vortheil, von den
ſproͤden Maͤulern, ſonderlich der juͤngern Frauen-
zimmer, erzwang. Denn da es ben nicht wahr-
Sechſter Theil. Oſchein-
[210]
ſcheinlich iſt, daß ein ſolcher Fall ſie treffen moͤch-
te: ſo konnten ſie dadurch nicht ſo geruͤhret wer-
den, als die aͤltern; welche ſelbſt Roͤschen von
ihrem eignen Stocke gehabt hatten, und ſehr un-
gern wuͤrden geſehen haben, wenn jemand ſie in
der Knoſpe gebrochen, und nicht einmal, mit ih-
rer Erlaubniß, Frau Roſenſtrauch, zu der
Mutter geſagt haͤtte.
Der naͤchſte Punct, woruͤber ich angeklagt
wurde, war die Unterſchiebung falſcher Briefe
und die Nachaͤffung der Perſonen von Lady Eli-
ſabeth und meiner Baſe Charlotte. Zween har-
te Vorwuͤrfe! wirſt du ſagen: und es iſt auch
wahr. ‒ ‒ Der Lord war uͤber die geſchmiede-
ten Briefe ſehr ungehalten. Die Frauenzim-
mer gelobten, die Nachaͤffung ihrer Perſonen
niemals zu vergeben. Niemand war da, der
unter ihnen Friede ſtiftete. Alſo wurden wir
alle Weiber und zankten uns mit einander.
Mein Lord erklaͤrte ſich, daß er nach ſeinem
Gewiſſen dafuͤr hielte, es waͤre kein aͤrgerer Bube
auf Gottes Erdboden, als ich ‒ ‒ Was
braucht es, ſich in alle Kleinigkeiten bey der
Sache einzulaſſen? ſprach er. Es waͤre nicht
das erſte mal, daß ich ſeine Hand nachgemacht
haͤtte.
Hierauf antwortete ich, daß ich vermuthete,
es waͤren damals, als man die Verordnung:
Scandalum magnatum, ausgeſonnen haͤtte, viele
unter den Lords geweſen, welche gewußt, daß ſie
harte Namen verdienten, und waͤre daher dieß
Geſetz
[211]
Geſetz vielmehr gemacht, ihnen einen Freybrief
fuͤr ihren Stand zu geben, als, ihre wirkliche Be-
ſchaſfenheit zu rechtfertigen.
Daruͤber forderte er mich auf, mich zu erklaͤ-
ren, mit einem Herr-e, welches ſo ausgeſprochen
wurde, daß es genugſam zeigte, daß er eines der
ſchimpflichſten Woͤrter in unſerer Sprache im
Sinne hatte.
Leute, denen ihr Stand und ihre Jahre zum
Schutz dienten, verſetzte ich, ſollten ſich nicht ſol-
che Freyheiten heraus nehmen, die ein Menſch,
dem das Herz auf der rechten Stelle ſaͤße, nicht
anders hingehen laſſen koͤnnte, als wenn er im
Stande waͤre, denjenigen, der ihn ſchimpfte, von
ganzem Herzen zu verachten.
Dieß brachte ihn in eine gewaltige Hitze.
Er wollte den Augenblick nach ſeinem Pritchard
ſchicken. Pritchard ſollte gerufen werden. Er
wollte ſein Teſtament aͤndern: und alles, was er
mir nehmen koͤnnte, wollte er mir nehmen.
Thun ſie es, thun ſie es immerhin, mein Lord.
Jch habe mein eignes Vergnuͤgen allezeit hoͤher
geachtet, als ihr Gut. Aber ich werde Prit-
chard wiſſen laſſen, daß, wenn er den Aufſatz
macht, er auch unterzeichnen und ſiegeln
ſoll.
Was, was wollte ich Pritcharden thun? ‒ ‒
fragte er und ſchuͤttelte ſeinen kranken Kopf wi-
der mich.
Was er, oder ſonſt jemand, mit ſeiner Feder
ſchreibt, mir das zu entziehen, was mir, meiner
O 2Mey-
[212]
Meynung nach, von Rechts wegen gehoͤret, das
ſoll er nur mit ſeinen Ohren ſiegeln: dieß iſt al-
les, mein Lord.
Nun ſchlugen ſich meine beyden Tanten ins
Mittel.
Lady Sarah gab mir zu verſtehen, ich triebe
die Sache ſehr weit: weder der Lord M. noch ei-
ne von ihnen, verdiente die Begegnung von mir,
welche ihnen widerfuͤhre.
Jch antwortete, ich haͤtte eine gedoppelte Ur-
ſache, warum ich nicht leiden koͤnnte, daß mir
von meinem Lord uͤbel begegnet wuͤrde: einmal,
weil ich mehr Hochachtung gegen ihn hegte, als
gegen irgend eine Perſon auf der Welt; und hier-
naͤchſt, weil es das Anſehen haben wuͤrde, als
wenn ich durch eigennuͤtzige Abſichten bewogen
waͤre, das von Jhm anzunehmen, was mir ſonſt
kein Menſch bieten duͤrfte.
Und was, verſetzte er, ſoll mich denn bewe-
gen, das von ihnen anzunehmen, was ich anneh-
men muß? ‒ ‒ Haͤ, Herr?
Jn der That, Vetter Lovelace; ſagte darauf
Lady Eliſabeth mit anſehnlicher Ernſthaftigkeit;
wir verdienen nicht, keine von uns, wie Lady Sa-
rah ſagt, daß ſie uns ſo begegnen, wie ſie thun.
Sie moͤgen wiſſen, daß ich es nicht fuͤr billig hiel-
te, meine, und ihrer Baſe Charlottens Ehre
kraͤnken zu laſſen, damit ſie ein unſchuldiges Frau-
enzimmer ungluͤcklich machen koͤnnen. Sie muß
gar bald gewußt haben, was fuͤr eine gute Mey-
nung wir alle von ihr hegen, und wie ſehr wir
wuͤnſch-
[213]
wuͤnſchten, daß ſie ihre Frau werden moͤchte.
Dieſe gute Meynung, welche ſie von unſerer Ge-
ſinnung gehabt, iſt eine Reizung fuͤr ſie geweſen;
das, ſehen ſie, ſchreibt ſie ſelbſt; ihrem Antrage
Gehoͤr zu geben. Aber auch eben dieſelbe hat,
nebſt ihrer Freunde wunderlichem Bezeigen, dazu
geholfen, daß ſie ſich in ihre Gewalt begeben.
Wie ſie ihr vergolten haben, liegt nur allzu offen-
bar am Tage. Es iſt unſerer aller Ehre und
gutem Namen gemaͤß, ihr Verfahren bey ihr fuͤr
ſtrafwuͤrdig zu erkennen, und uns deſſen nicht
theilhaftig zu machen. Ja, ich muß ihnen ſagen,
wir haben aus der Urſache, weil ſie die Fraͤulein
durch gottloſe Leute, welche ſie aufgebracht, un-
ſere Perſonen faͤlſchlich vorzuſtellen, hinters Licht
geſuͤhret haben, eine gedoppelte Verbindlichkeit,
uns ihres ſtrafbaren Verfahrens nicht theilhaftig
zu machen.
Lovel. Wohlan! das laſſe ich gelten. Jch
wollte, daß ſie alle mit einander mein Verfahren
fuͤr verwerflich erklaͤrten. Jch geſtehe, ich habe
ſchaͤndlich bey dieſer Fraͤulein gehandelt. Ein
Schritt hat mich zu dem andern gefuͤhret. Jch
bin zu einer Gemuͤthsart verdammt, die mich, kuͤh-
ne Unternehmungen zu wagen, antreibet. Jch
kann nichts weniger leiden, als daß ich unterlie-
gen ſoll.
Unterliegen! fiel mir die Lady Sarah ins
Wort. Was fuͤr eine Schande, ſo zu ſchwatzen!
‒ ‒ Hat die Fraͤulein ſich mit ihnen jemals im
einen Streit eingelaſſen? Fraͤulein Clariſſa Har-
O 3lowe,
[214]
lowe, habe ich gehoͤret, iſt auf eine edelmuͤthige
Art aufrichtig und offenherzig: uͤber alle Kuͤnſte,
uͤber alle Verſtellung erhaben; weder buhleriſch,
noch ſproͤde! ‒ ‒ Die arme Fraͤulein! Sie hat
gewiß von einem Menſchen, fuͤr welchen ſie den
Schritt gethan, den ſie ſo freymuͤthig tadelt, ein
beſſeres Schickſal verdienet!
Dieß ruͤhrte mich mehr, als halb ‒ ‒ Waͤ-
re die Sache, woruͤber wir ſtritten, von allen auf
die Art angegriffen worden: ſo haͤtte ich mich ge-
ſchaͤmet, die Augen aufzuſchlagen. Jch fing
ſchon an mich zu ſchaͤmen.
Charlotte fragte, ob ich nicht noch geneigt
ſchiene, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen,
wenn ſie mich haben wollte? Sie unterſtuͤnde
ſich zu ſagen, daß es die groͤßte Gluͤckſeligkeit ſeyn
wuͤrde, welche die Familie haben koͤnnte, daß die-
ſe vortreffliche Fraͤulein zu ihr gehoͤrte: und fuͤr
eine Perſon wollte ſie es verantworten.
Sie erklaͤrten ſich alle fuͤr dieſe Meynung:
und die Lady Sarah ſtellte mir die Sache
heim.
Allein mein Lord Sauertopf wollte behau-
pten, daß ich nicht ſechs Minuten nach einander
ernſthaft ſeyn koͤnnte!
Jch verſicherte ſeine Gnaden, daß ſie ſich ſehr
irreten. So wenig ich mir nach ſeinen Gedan-
ken aus dieſer Sache machen ſollte: ſo haͤtte ich
doch niemals etwas empfunden, das mir ſo nahe
zu Herzen gegangen waͤre.
Die
[215]
Die Fraͤulein Martha ſagte, es waͤre ihr lieb,
das zu hoͤren; in der That es waͤre ihr lieb, das
zu hoͤren: und ihre liebreiche Augen glaͤnzeten vor
Vergnuͤgen.
Der Lord M. nannte ſie eine hoͤchſtliebens-
wuͤrdige Seele, und haͤtte beynahe geheulet und
geſchrieen.
Du mußt ja nicht glauben, Bruder, daß
dieß aus Menſchenliebe geſchehe. Nein, dieſer
Lord hat kein menſchliches Herz. Das kannſt
du wohl aus ſeinem Bezeigen gegen mich ab-
nehmen. Aber wenn Leuten ihr Gemuͤth durch
eine Empfindung ihrer eigenen Schwachheiten
erweicht iſt, und wenn ſie ſich ihrem letzten Ende
naͤhern: ſo werden ſie durch die geringſten Vor-
faͤlle, ſie moͤgen ſich ihnen von innen, oder von
außen darſtellen, geruͤhret werden. Dieß nennet
die kurzſichtige Welt oft Menſchenliebe: da ſie
doch alle die Zeit uͤber, indem ſie mit dem Elen-
de menſchlicher Natur ein Mitleiden bezeugen,
nur gegen ſich ſelbſt mitleidig ſind; und, wenn
ſie vollkommen geſund und munter waͤren, eben
ſo wenig, als du, oder ich, um ſonſt jemand be-
kuͤmmert ſeyn wuͤrden.
Hier brachen ſie mein Verhoͤr ab, ſo weit die
Verſammlung dießmal Sitz dazu genommen
hatte. Die Lady Sarah war ſehr ermuͤdet. Es
ward beſchloſſen, die Sache morgen weiter vor-
zunehmen. Jnzwiſchen traten ſie alle mit ein-
ander ab, und hielten eine geheime Berathſchla-
gung.
O 4Der
[216]
Der ein und dreyßigſte Brief.
Eine Fortſetzung
von
Herrn Lovelace.
Statt daß man die Sache da, wo man ſie ge-
laſſen hatte, wieder anfangen ſollte, mußten
die Frauenzimmer nothwendig einige Stellen in
dem Briefe meiner ſchoͤnen Anklaͤgerinn beruͤh-
ren: da ich mir Hoffnung gemacht, daß ſie die-
ſelben wuͤrden haben ruhen laſſen; weil wir auf
einem leidlichen Fuß mit einander ſtunden. Al-
lein, in Wahrheit, hieß es, ſie muͤßten von un-
ſerer Geſchichte alles hoͤren, was ſie hoͤren koͤnn-
ten, und was ich zu dieſen Stellen zu ſagen haͤt-
te, damit ſie deſto beſſer im Stande waͤren, die
Vermittelung zwiſchen uns zu uͤbernehmen, wo
ich wirklich und in der That geneigt waͤre, ihr
die gehoffete Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen.
Dieſe Stellen waren, erftlich, „daß, nach-
„dem ich ſie hinterliſtiger Weiſe wider ihren Wil-
„len dahin gebracht, wirklich mit mir davon zu
„gehen, ich ſie in eines der aͤrgſten Haͤuſer zu Lon-
„don gefuͤhret haͤtte;
Zweytens, „daß ich einen gottloſen Verſuch
„gegen ſie unternommen, woruͤber ſie unwillig
„geworden, und in geheim nach Hampſtead ge-
„flohen waͤre.
Drittens
[217]
Drittens kamen die Beſchuldigungen, daß
ich falſche Briefe geſchmiedet, und falſche Perſo-
nen aufgeſtellet haͤtte, wieder vor: und wir waͤren
daruͤber beynahe aufs neue in Zank gerathen, ehe
wir zu der folgenden Beſchuldigung kommen konn-
ten; die noch aͤrger war. Denn
Viertens ward mir vorgeworfen, „daß,
„nachdem ich ſie betruͤgerifcher Weiſe in das
„ſchaͤndliche Haus zuruͤckgebracht, ich ſie erſtlich
„ihrer Sinne, alsdenn ihrer Ehre, beraubet, und
„nachher daſelbſt gefangen gehalten haͤtte.
Was wuͤrde es anders ſeyn, wenn ich dir die
Bemaͤntelungen dieſer ſchweren Vorwuͤrfe erzaͤh-
len ſollte, als eine Wiederholung vieler von denen
Gruͤnden, die mein Verbrechen geringer vorſtel-
len koͤnnen, und die ich ſchon in meinen Briefen
an dich gebrauchet habe. ‒ ‒ Es mag alſo genug
ſeyn, nur dieß zu ſagen, daß ich, zur Beſchoͤni-
gung meiner Anſchlaͤge, auf die ausnehmende
Bedenklichkeit der Fraͤulein, auf ihr Mistrauen,
das ſie in meine Ehre geſetzet, auf das zu Raͤn-
ken aufgelegte Gemuͤth der Fraͤulein Howe, wo-
durch es geſchehen, daß Raͤnke an ihrer Seite,
auch an meiner Seite Raͤnke veranlaſſet haͤtten,
und auf den heftigen Zorn des ſchoͤnen Gefchlechts
ſehr beſtand. Jch betheurte, daß meine ganze
Abſicht, warum ich ſie mit einem gelinden Zwange
feſtgehalten, nur dieſe geweſen waͤre, ſie dadurch
zu noͤthigen, daß ſie mir vergeben, und mich hey-
rathen moͤchte, und dieß um der Ehre beyder
Familien willen. Jch ruͤhmte mich mit meinen
O 5guten
[218]
guten Eigenſchaften, unter welchen einige waͤren,
die mir niemand, der mich kennte, abſpraͤche, und
auf die wenige von den Freunden der ſo genann-
ten freyen Lebensart einen Anſpruch machen
koͤnnten.
Nach dieſen Unterredungen fingen ſie an, die
Fraͤulein mit vielem Eifer zu bewundern und zu
erheben. Das war alles, wie ich gar wohl wuß-
te, eine Vorbereitung zu der Hauptfrage: und
dieſe ward von der Lady Sarah folgendergeſtalt
auf die Bahn gebracht.
Wir haben ſo viel von den Briefen der ar-
men Fraͤulein geſagt, als wir, meinen Gedanken
nach, ſagen koͤnnen. Wollten wir uns bey dem
Ungluͤck aufhalten, das aus der Mishandlung ei-
ner Perſon von ihrem Range leicht entſtehen
mag; wofern es nicht, auf alle nun moͤgliche Art,
wieder gut gemacht wird: ſo wuͤrde das vielleicht
wenig nuͤtzen. Aber, mein Herr, ſie ſcheinen
noch ſo wohl eine gute Meynung, die ſie vollkom-
men verdienet, von ihr zu begen, als Zuneigung
zu ihr zu haben. Jhrer Tugend kann nicht der
geringſte Vorwurf gemacht werden. Sie koͤnn-
te nicht ſo zuͤrnen, wie ſie thut: wenn ſie ſich ſelbſt
etwas vorzuwerfen haͤtte. Sie iſt, nach jeder-
manns Geſtaͤndniſſe, ein feines Frauenzimmer,
hat ein artiges Gut, als ihr Eigenthum, iſt von
keiner ſchlechten Familie, ob dieſelbe gleich in
Anſehung ihrer ſo wenig klug, als ihren Vorzuͤ-
gen gemaͤß gehandelt hat. Wegen ihres vor-
treſflichen Gemuͤths und ihrer Geſchicklichkeit in
der
[219]
der Haushaltung, geht die gemeine Sage von
ihr, wie der rechtſchaffene D. Lewin mir einmal
erzaͤhlet hat, daß ihre Klugheit einen armen
Mann reich machen, und ihre Gottſelig-
keit einen Freydenker in der Lebensart auf
beſſere Wege bringen wuͤrde. Jch bin bloß
in der Abſicht hierher gekommen, ſo wie auch die
Lady Eliſabeth, da ich ſonſt in den letzten zwoͤlf
Monaten nicht zweymal von Hauſe geweſen, daß
ich ſehen wollte, ob es nicht moͤglich ſey, ihr Ge-
rechtigkeit widerſahren zu laſſen, und ob wir und
der Lord M. ihre naͤchſten Anverwandten, mein
Herr, noch etwas bey ihnen gelten, oder nicht.
Was mich betrifft: ſo ſoll ſich meine Entſchlie-
ßung, wie ich es mit allem, woruͤber ich Gewalt
habe, gehalten wiſſen will, nach ihrer Entſchlie-
ßung in dieſem Stuͤcke richten.
Lady Eliſabeth. Auch meine.
Und meine auch, ſagte meine Lord, und ſchwur
tapfer dazu.
Lovel. Es ſey ferne von mir, daß ich die
Gunſtbezeigungen geringe ſchaͤtzen ſollte, welche
ſie, irgend jemand von ihnen, mich gerne verdie-
nen ſehen moͤchten. Aber es ſey auch eben ſo
ferne von mir, aus eigennuͤtzigen Abſichten Be-
dingungen einzugehen, die mir nicht gefallen! ‒ ‒
Was das Ungluͤck anlanget, das kommen ſoll:
ſo mag es kommen. Jch bin mit den Harlowes
noch nicht zur Richtigkeit. Sie ſind der angrei-
fende Theil geweſen: und es wuͤrde mir lieb ſeyn,
wenn ſie mich auf die Art, wie ſie in dergleichen
Fall
[220]
Fall von mir hoͤren ſollten, von ſich hoͤren ließen.
Es ſollte mir nicht leid ſeyn, mich bey dieſer Ge-
legenheit finden zu laſſen: ja es ſollte mir viel
angenehmer ſeyn, als daß ich genoͤthigt bin, ſie zu
ſuchen.
Fraͤulein Charlotte, welche dabey roth
ward. Das heißt vielmehr, wie ein ungeſtuͤmer,
als wie ein vernuͤnftiger Menſch, geſprochen.
Jch hoffe, das werden ſie zugeben, Herr Vetter.
Lady Sarah. Da aber einmal, was ge-
ſchehen iſt, geſchehen iſt, und nicht ungeſchehen
ſeyn kann: ſo laſſen ſie uns darauf denken, was
nun zunaͤchſt das beſte ſeyn moͤge. Haben ſie
etwas wider ihre Vermaͤhlung mit der Fraͤulein
Harlowe einzuwenden, wofern dieſelbe ſie nehmen
will?
Lovel. Es kann, nach aller Moͤglichkeit,
nichts mehr, als eines, eingewendet werden: daß
ſie naͤmlich allenthalben ſo wohl, als gegen die La-
dy Eliſabeth, die Regel beobachten wird, welche
ihr beſonders eigen iſt, und auch, erlauben ſie
es mir, ihnen zu ſagen, beſonders eigen ſeyn
muß, daß ſie das, was ſie vor ſich ſelbſt nicht
verbergen kann, aller Welt bekannt machen
wolle.
Fraͤulein Martha. Gewiß, das ſchreibt
die Fraͤulein in heftiger Betruͤbniß, und in Ver-
zweifelung.
Das ſagen ſie, Baſe Martha! ‒ ‒ Ange-
nehmes Maͤgdchen! Wollten ſie, meine Wer-
theſte, in einem ſolchen Falle, ſagte ich leiſe zu
ihr,
[221]
ihr, mit dergleichen Ausrufungen nicht mehr ge-
meynet wiſſen?
Hiefuͤr trug ich einen Schlag mit ihrem Fe-
cher, eine Erroͤthung an ihrer Seite, und von dem
Lord M. eine Anmerkung, davon, daß ich alles,
was ſie ſagten, zu einem Scherze machte.
Jch fragte, ob ſie gedaͤchten, daß die Harlo-
wes einige Achtung von mir verdienten: und ob
dieſe Familie nicht uͤber mich hoͤhniſch frohlocken
wuͤrde, wenn ich ihre Tochter heyrathen ſollte,
als wenn ich es nicht anders thun duͤrfte?
Lady Sarah. Vormals war ich ſelbſt uͤber
dieſe Familie zornig: wie wir alle waren. Al-
lein itzo bedaure ich ſie, und glaube, daß ſie, Herr
Lovelace, die aͤrgſte Begegnung, welche ihnen von
denſelben widerfahren iſt, durch ihre Auffuͤhrung
nur allzu wohl, als verdient, gerechtfertiget
haben.
Lord M. Jhre Familie iſt alt, zaͤhlt lau-
ter rechtſchaffene Cavallier, iſt reich und anſehn-
lich. Jch kann ihnen ſagen, daß viele von un-
ſerm Stande ſich freuen wuͤrden, wenn ſie ihre
Ahnen von keinem ſchlechtern Stamme, als der
Harloweiſche iſt, ableiten koͤnnten.
Lovel. Es iſt eine unedelmuͤthige und un-
verſoͤhnliche Familie. Jch haſſe ſie: und ob ich
gleich gegen die Fraͤulein Ehrerbietung hege; ſo
iſt mir doch ſonſt alles, was zu ihnen gehoͤret,
veraͤchtlich.
Lady Eliſab. Jch moͤchte wuͤnſchen, daß
man von dem, der uͤber gemeine Fehler an an-
dern
[222]
dern eine ſolche Verachtung bezeiget, nichts aͤr-
gers ſagen koͤnnte.
Lord M. Wie wuͤrde ſich meine Schwe-
ſter Lovelacen alle ihre thoͤrichte Nachſicht gegen
dieſen ihren Liebling verwieſen haben: wenn ſie
bis itzo gelebt, und bey dieſer Gelegenheit gegen-
waͤrtig geweſen waͤre!
Lady Sarah. Es mag ſeyn: aber erlau-
ben ſie, mein Lord, daß wir zuſehen, ob etwas
fuͤr dieſe arme Fraͤulein auszurichten iſt.
Fraͤulein Charlotte. Wo Herr Lovelace
nichts gegen die Gemuͤthsbeſchaffenheit der Fraͤu-
lein einzuwenden hat; und ich darf glauben, daß
er ſich nicht ſchaͤmen werde, ihr Gerechtigkeit
widerfahren zu laſſen, wenn es auch gegen ihn
ſelbſt ausfallen ſollte: ſo kann ich nicht anders ſe-
hen, als daß Ehre und Großmuth ihn zu allem
dem bewegen werde, was wir von ihm erwarten.
Waͤren der Fraͤulein einige Leichtſinnigkeit und
Schwachheiten vorzuwerfen: ſo wollte ich zu ih-
rem Beſten den Mund nicht aufthun; ob ich
gleich in geheim Mitleiden mit ihr haben, und
ihr hartes Verhaͤngniß bedauren wuͤrde. Und
gleichwohl moͤchte es auch denn, bey einem ſo be-
ſondern Falle, nicht an Bewegungsgruͤnden feh-
len, welche Ehre und Dankbarkeit an die Hand
geben wuͤrden, ſie zu verbinden, mein Herr, daß
ſie ihre Geluͤbde, welche ſie offenbar gebrochen ha-
ben, wieder beſtaͤtigten und erfuͤlleten.
Lady Eliſabeth. Meine Neffe Charlotte
hat ſie mit ſo vieler Gerechtigkeit aufgefordert,
und
[223]
und ihnen die Frage ſo eigentlich vorgeleget, daß
ich nicht anders, als wuͤnſchen kann, ſie moͤchten
ſich frey heraus, und ohne Ausflucht, daruͤber er-
klaͤren.
Hierauf forderten mich alle in einem Athem
zur Ernſthaftigkeit und Gerechtigkeit auf: und
ich brachte meine Meynung mit einem aufrichtig
feyerlichen Weſen ſolgendermaßen vor.
„Jch ſehe vollkommen ein, daß die Erfuͤl-
„lung deſſen, was ſie mir aufgeleget haben, mir kei-
„ne Entſchuldigung uͤbrig laſſen werde. Nichts
„deſto weniger aber will ich meine Zuflucht we-
„der zu Ausfluͤchten noch zu Bemaͤntelungen
„nehmen.
„Jch ſchaͤme mich nicht, wie meine Baſe
„Charlotte in voͤlligem Ernſt angemerket hat,
„den Verdienſten der Fraͤulein Harlowe in Wor-
„ten Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen: ob ich
„gleich geſtehen will, daß ich billig erroͤthen muß,
„daß ich es in Werken ſo wenig gethan habe.
„Jch bekenne ihnen allen, und, was noch
„mehr iſt, ich bekenne mit der groͤßten Reue;
„wo nicht mit Schaam, Baſe Charlotte; daß
„ich bey meinem Verfahren mit dieſer Fraͤulein
„viel zu verantworten habe. Unter dem ſchoͤnen
„Geſchlechte iſt keine edlere Seele, und keine lie-
„benswuͤrdigere Perſon bey derſelben. Und was
„die Tugend betrifft: ſo haͤtte ich niemals glau-
„ben koͤnnen; verzeihen ſie mir, wertheſte Frau-
„enzimmer, daß eine Weibsperſon jemals vor-
„handen geweſen waͤre, die ſolche vortreffliche,
„ſolche
[224]
„ſolche beſtaͤndig gleichmaͤßige Proben derſelben
„gegeben haͤtte, oder koͤnnte gegeben haben.
„Denn in ihrer ganzen Auffuͤhrung hat ſie ſich
„gleich weit uͤber Verſuchung, und Raͤnke, und,
„ich haͤtte beynahe geſagt, uͤber menſchliche
„Schwachheit erhaben bewieſen.
„Der Schritt, den ſie gethan, und ſich ſo
„frey zu einem Vorwurfe macht, war in Wahr-
„heit erzwungen, wie ſie ihn nennet. Denn
„ob ſie gleich ſo weit gereizet war, daß ſie daran
„gedachte, mit mir davon zu gehen: ſo war
„ſie es doch nicht willens, und hatte ſich auch
„mit nichts dazu verſorget. Ja ſie wuͤrde nie-
„mals nur einmal daran gedacht haben: wenn
„ihre Verwandten, auf die von ihr ſelbſt vorge-
„ſchlagene Vermittelung, ihr frey gelaſſen haͤt-
„ten, dem Manne zu entſagen, den ſie nicht
„haſſete, damit ſie des Mannes, den ſie wirklich
„haßte, los werden moͤchte.
„Es reizte meinen Ehrgeiz ich geſtehe es,
„daß ich mich ſo wenig auf die Kraft des Ein-
„drucks, welchen ich nach meiner Eitelkeit in ei-
„nem ſo zaͤrtlichen Herzen gemacht zu haben hof-
„fete, verlaſſen konnte: und in meinen aͤrgſten
„Raͤnken gegen ſie, munterte ich mich ſelbſt da-
„mit auf, daß ich kein Vertrauen dabey mis-
„brauchte; denn ſie hatte gar keines zu meiner
„Ehre.
„Es wuͤrde mehr, als ein Wunderwerk ge-
„weſen ſeyn: wenn ſie den Uebeln entgangen waͤ-
„re, die ſie gelitten hat. Jhre Wachſamkeit
„machte,
[225]
„machte, daß mehr Anſchlaͤge misriethen, als
„diejenigen waren, welche ihren Fall befoͤrderten:
„und dieſe waren viel und mancherley. Alle
„haͤrtere Verſuche gegen ſich, und alle groͤßere
„Beſchwerlichkeiten, hatte ſie ihrem edlen Wi-
„derſtande und gerechten Unwillen zu danken.
„Jch weiß, fuhr ich fort, wie ſehr ich mich
„ſelbſt verurtheile, indem ich dieſer unvergleichli-
„chen Fraͤulein Gerechtigkeit widerfahren laſſe.
„Aber dennoch will ich ihr Gerechtigkeit wider-
„fahren laſſen: und kann mich nicht entbrechen;
„wenn ich auch wollte. Dieß zeigt, wie ich hof-
„fe, daß ich noch nicht ſo ganz verrucht bin, als
„man von mir gedacht hat.
„Bey mir, in der That, hat ſie dem ſchoͤnen
„Geſchlechte in ihrem Fall, wo es ein Fall zu
„nennen iſt; in Wahrheit ſollte es nicht ſo hei-
„ßen; mehr Ehre gemacht, als irgend eine an-
„dere Perſon jemals in ihrem Stehen thun
„konnte.
„Da ich mit der Zeit endlich ihrer wachſa-
„men Tugend Urſache zum Verdacht gegeben
„hatte: ſo ward ich freylich genoͤthigt, Gewalt
„und Kuͤnſte zu gebrauchen, damit ſie mir nicht
„entkommen moͤchte. Darauf fing ſie an, liſtige
„Anſchlaͤge zu erſinnen, damit ſie meine Raͤnke
„unkraͤftig machte. Aber alle ihre Anſchlaͤge
„waren von der Art, daß die ſtrengſte Wahrheit
„und genaueſte Ehre ſie rechtfertigen wuͤrde.
„Sie konnte ſich zu Betrug und Unwahrheit
„nicht herunterlaſſen: nein; auch nicht einmal
Sechſter Theil. P„um
[226]
„um ihrer eignen Rettung willen. Mehr als
„einmal ſagte ſie mir mit Recht, durch das Be-
„wußtſeyn ihrer Vorzuͤge angeflammet, daß ihre
„Seele weit uͤber die meinige erhoben waͤre! ‒ ‒
„Verzeihen ſie mir, wertheſte Frauenzimmer,
„wenn ich ſage, daß ich ſo lange, bis ich dieſe
„Fraͤulein kennen lernte, den Perſonen von dem
„ſchoͤnen Geſchlecht eine Seele ſtreitig machte:
„weil ſie, wie ich anzunehmen geneigt war, nur
„zu voruͤbergehenden Abſichten erſchaffen waͤren.
„ ‒ ‒ Man kann ſich nicht einbilden, auf was fuͤr
„ungereimte Dinge Leute von ungebundenen
„Grundſaͤtzen verfallen, damit ſie ihre freye Le-
„bensart fuͤr ſich ſelbſt rechtfertigen, und ſich ei-
„ne Religion nach ihrem Sinne machen. Je-
„doch bin ich in dieſem Stuͤcke nicht ſo vielen Feh-
„lern unterworfen geweſen, als einige andere.
„Kein Wunder, daß eine ſo edelgeſinnte
„Perſon, als meine Clariſſa, einen jeden aus-
„geſonnenen Kunſtgriff als eine gewiſſe Art der
„Schande anſahe, die nicht zu vergeben waͤre!
„Kein Wunder, daß ſie ſo leicht gegen den Mann,
„den ſie zu vorſetzlichen Verbrechen aufgelegt
„hielte, einen Abſcheu bekommen konnte: ob ſie
„ihn gleich vormals mit einem nicht ganz gleich-
„guͤltigen Auge anſahe! ‒ ‒ Aber es iſt auch
„nicht zu verwundern; erlauben ſie mir dieß an
„der andern Seite zu ſagen; daß der Menſch,
„welcher es ſo ſchwer fand, der geringern Be-
„leidigungen wegen, Vergebung zu erlangen,
„und nicht die Gabe hatte, nachzulaſſen oder
„Reue
[227]
„Reue zu empfinden, zur Verzweifelung ge-
„bracht, und, die groͤßern zu begehen, hinge-
„riſſen werden moͤchte.
„Kurz, liebe Frauenzimmer, mit einem
„Wort, mein Lord, Fraͤulein Clariſſa Harlo-
„we iſt ein Engel: wo jemals ein Engel
„in menſchlicher Natur geweſen, oder ſeyn
„konnte. Sie iſt in Anſehung ihres Wil-
„lens ſo rein, als ein Engel, und iſt es alle-
„zeit geweſen. Dieſe Gerechtigkeit muß ich ihr
„widerfahren laſſen: ob man gleich im Begriff
„iſt, wie ich an allen blinzenden Augen merke,
„die Frage zu thun: Was ſeyd ihr denn, Lo-
„velace? ‒ ‒
Lord M. Ein Teufel! ‒ ‒ Ein verdamm-
ter Teufel! muß ich antworten. Jch wuͤnſche,
daß Gottes Fluch ihnen in allem, was ſie un-
ternehmen, folge: wo ſie es bey ihr nicht auf
alle Art und Weiſe, ſo viel nun noch in ihrer
Gewalt iſt, wieder gut machen.
Lovel. Von ihnen, mein Lord, konnte ich
nichts anders erwarten: allein von den Frauen-
zimmern hoffe ich weniger Ungeſtuͤm, weil ich
ein ſo aufrichtiges Bekenntniß abgeleget habe.
Die Frauenzimmer, ſo wohl die aͤltern, als
die juͤngern, hatten ihre Schnupftuͤcher an den
Augen: da ich den Verdienſten dieſer erhabenen
Fraͤulein ein ſo gerechtes Zeugniß gab; welches
ich mir kein Bedenken machen wollte, vor einem
Richterſtuhl, wenn ich dazu gefordert wuͤrde,
abzulegen.
P 2Lady
[228]
Lady Eliſab. Das iſt eine edle Gemuͤths-
art, mein Herr. Wofern ſie ſo denken, als ſie
reden: ſo koͤnnen ſie ſich gewiß nicht weigern, der
Fraͤulein alle Gerechtigkeit zu thun, die nun-
mehr noch in ihrer Gewalt ſtehet.
Dieſe Forderung ließen ſie alle einhellig an
mich ergehen.
Jch ſtellte vor, daß ich verſichert waͤre, ſie
wollte mich nicht haben. Wenn ſie einmal ei-
nen Entſchluß gefaßt haͤtte: ſo waͤre ſie nicht zu
bewegen. Unbeweglichkeit waͤre eine Harlowei-
ſche Suͤnde. Dieſe, und ihr Name, waͤre al-
les, was ſie von ihren Anverwandten haͤtte.
Allein ſie waren alle der Meynung, daß ſie in
ihren gegenwaͤrtigen verlaſſenen Umſtaͤnden zu
bewegen ſeyn wuͤrde, mir zu vergeben. Die La-
dy Sarah ſagte, ihre Schweſter und ſie wollten
ſich Muͤhe geben, die Edle Leidenstraͤgerinn,
wie ſie dieſelbe mit Recht nannten, aufzuſuchen;
ſie wollten dieſelbe in ihren Schutz nehmen, und
ihr fuͤr die Gerechtigkeit, welche ich ihr ſo wohl
nach, als vor der Heyrath thun wuͤrde, Gewaͤhr
leiſten.
Es war mir einigermaßen ein Vergnuͤgen,
daß ich die Verſoͤhnlichkeit dieſer Frauenzimmer
von meiner eignen Familie wahrnahm, wenn ſie,
eine oder die andere von ihnen, mit einem Love-
lace zu thun gehabt haͤtten. Aber es wuͤrde etwas
hartes fuͤr uns ehrliche Leute geweſen ſeyn, Bruder:
wenn alle Weibsperſonen Clariſſen waͤren.
Hier werde ich genoͤthigt abzubrechen.
Der
[229]
Der zwey und dreyßigſte Brief.
Die Fortſetzung
von
Herrn Lovelace.
Es iſt weit beſſer, Bruder, daß man ſeine
Hiſtorie ſelbſt erzaͤhlet, wenn ſie doch be-
kannt werden muß, als daß man ſie fuͤr ſich von
einem Feinde erzaͤhlen laſſe. Weil ich dieß wohl
wußte: ſo gab ich ihnen eine umſtaͤndliche Nach-
richt, wie ſehr ich bey ihr darauf gedrungen haͤt-
te, nachdem ich von ihr gereiſet waͤre, den Don-
nerſtag, der ihres Onkels Geburtstag geweſen,
und ihr zu gefallen ernannt worden, zu der ge-
heimen Vollziehung unſerer Heyrath zu beſtim-
men; da ich einige Tage vorher ſchon wirklich
einen Trauſchein ausgewirkt haͤtte, der noch bey
ihr waͤre.
Jch erzaͤhlte, daß ich mich erboten haͤtte;
weil ich ſie nicht gewinnen koͤnnen, mir das ge-
ringſte zu verſprechen, ſo lange ſie unter einem
vermeynten Zwange waͤre; ihr vollkommene Frey-
heit zu laſſen, wofern ſie mir auf den Tag die
geringſte Hoffnung machen wollte. Allein auch
dieß Erbieten haͤtte mir nicht geholfen.
Da dieſe Unbiegſamkeit mich zur Verzweife-
lung gebracht: ſo haͤtte ich mich entſchloſſen,
P 3mei-
[230]
meine vorhergehenden Fehler durch die ausge-
ſtellten Befehle zu vermehren, daß ſie nicht eher,
als bis ich von M. Hall zuruͤck kaͤme, aus dem
Hauſe gehen oder Briefe wechſeln ſollte; weil ich
wohl gewußt, daß ich ſie auf ewig verlieren
muͤßte, wenn ſie in voͤlliger Freyheit waͤre.
Dieſer Zwang haͤtte ſie ſo erbittert, daß ich
mir, ob ich gleich nicht weniger als vier ver-
ſchiedne Briefe geſchrieben, nicht eine Sylbe zur
Antwort von ihr haͤtte auswirken koͤnnen: da ich
doch nur um vier Worte, den Tag und die Kirche
zu bezeichnen, inſtaͤndigſt gebeten.
Jch berief mich auf meine beyden Baſen,
daß ſie die außerordentlichen Maaßregeln bezeug-
ten, die ich genommen haͤtte, Bothen nach Lon-
don abzufertigen: ob ſie die Urſache gleich nicht
gewußt; welche dieſe geweſen waͤre, wie ich ih-
nen nunmehr ſagte.
Jch eroͤffnete ihnen, daß ich ſo gar an euch,
Bruder, und an einen andern Cavallier, von
dem ſie, meinen Gedanken nach, eine gute Mey-
nung gehabt, geſchrieben haͤtte, ihr aufzuwarten,
und auf das nachdruͤcklichſte bey ihr um ihre
Einwilligung anzuhalten: da ich mich unterdeſ-
ſen den letzten Tag zu Salt-Hill in Bereitſchaft
gehalten, dem Bothen, welchen man ſenden
wuͤrde, zu begegnen, und, wo ſeine Bothſchaft
vortheilhaft waͤre, nach London fortzugehen.
Aber, ehe meine Freunde noch haͤtten zu ihr kom-
men koͤnnen, haͤtte ſie Mittel gefunden, noch
einmal von mir zu fliegen: und nun ſaͤße ſie
vielleicht
[231]
vielleicht irgendwo unter dem Fenſter der Lady
Eliſabeth zu Glenham-Hall; und wirbelte da-
ſelbſt, wie die angenehme Philomela, mit einem
Dorn in der Bruſt, ihre traurigen Klagen gegen
ihren grauſamen Tereus heraus.
Die Lady Eliſabeth erklaͤrte ſich, daß ſie
nicht bey ihr waͤre, und ſie auch nicht wuͤßte,
wo ſie ſich aufhielte. Sie ſollte ſonſt, ſetzte die
Lady hinzu, ihr der willkommenſte Gaſt ſeyn,
den ſie jemals aufgenommen haͤtte.
Jn Wahrheit, ich hatte einen Verdacht,
daß ſie ſchon wuͤßten, wo ſie waͤre, und ſie auch
in ihren Schutz genommen haͤtten. Denn ich
bildete mir ein, die Lady Sarah koͤnnte unmoͤg-
lich bloß durch einen Brief von der Fraͤulein
Harlowe, der noch dazu nicht an ſie ſelbſt gerich-
tet war, zu einem ſolchen Eifer ermuntert ſeyn:
da ſie eine ſehr unempfindliche und niedergeſchla-
gene Frau iſt. Aber ihre Schweſter, finde ich,
hatte ſie dazu aufgebracht. Denn die Lady Eli-
ſabeth iſt eben ſo dienſtfertig, und weiß eine Sa-
che eben ſo wohl zu treiben, als die Fraͤulein
Howe: aber ſie iſt von großmuͤthigerer und edle-
rer Neigung ‒ ‒ Sie iſt meine Tante, Bruder.
Jch vermuthete, ſprach ich, ihre Gnaden
wuͤrden eine geheime Anweiſung des Orts haben,
wohin man an ſie ſchicken koͤnnte. Jch ſprach,
wie ich wuͤnſchte: ich haͤtte die ganze Welt dar-
um gegeben, daß ich gehoͤrt haͤtte, ſie waͤre ge-
neigt, ſich bey irgend jemand von meiner Fami-
lie Gunſt zu erwerben.
P 4Die
[232]
Die Lady Eliſabeth antwortete, ſie haͤtte kei-
ne andere Anweiſung dazu, als die in dem Briefe
ſtuͤnde, und die ſie ausgekratzt haͤtte. Es waͤre
auch ſehr wahrſcheinlich, daß dieſe nur auf eine
kurze Zeit zu gebrauchen geweſen; damit die Fraͤu-
lein vor mir verborgen bleiben moͤchte: ſonſt wuͤr-
de ſie ſchwerlich ein Wirthshaus angewieſen ha-
ben, wo die Antwort abgegeben werden ſollte.
Sie waͤre der Meynung, daß der einzige ſichere
Weg, in dem Geſuch gluͤcklich zu ſeyn und Ver-
gebung zu erlangen, dieſer ſeyn wuͤrde, daß man
ſich an die Fraͤulein Howe wendete: wofern ich
dieſelbe in den Stand ſetzen wollte, ſich die Be-
foͤrderung der Sache angelegen ſeyn zu laſſen.
Fraͤulein Charlotte. Erlauben ſie mir ei-
nen Vorſchlag zu thun. ‒ ‒ Weil wir alle von
der Gerechtigkeit, die der Fraͤulein Harlowe bil-
lig geſchehen muß, einerley Gedanken hegen: ſo
will ich, wo Herr Lovelace ſich verbinden wird,
ſie zu heyrathen, einen Beſuch bey der Fraͤulein
Howe abſtatten, ſo wenig ich auch mit ihr bekannt
bin; und ſie zu bereden ſuchen, daß ſie ſich der
Sache annehme und die erwuͤnſchte Ausſoͤhnung
befoͤrdere. Und kann dieß nur geſchehen: ſo
zweifle ich gar nicht, daß alles gluͤcklich beygelegt
werden moͤge. Denn jedermann kennt die Liebe,
welche die Fraͤulein Harlowe und die Fraͤulein
Howe fuͤr einander haben.
Heyrathen, Bruder, wie du ſiehſt, iſt
bey dieſen Weibsperſonen ein Suͤhnopfer
fuͤr
[233]
fuͤr alles, was wir ihnen zuwider thun
koͤnnen. Eine recht ſchauſpielmaͤßige Be-
lohnung.
Dieſer Rath ward vollkommen gebilliget:
und ich verpflichtete mich, wie man verlangte,
bey meiner Ehre, auf die feyerlichſte Weiſe, die
ſie nur wuͤnſchen konnten.
Lady Sarah. Wohlan denn, Baſe Char-
lotte, fangen ſie alſobald ihre Unterhandlung mit
der Fraͤulein Howe an.
Lady Eliſab. Ja, ich bitte, thun ſie es:
und laſſen ſie der Fraͤulein Harlowe vermelden,
daß ich bereit ſey, ſie als den willkommenſten Gaſt
aufzunehmen, und ſie nicht eher aus meinen Au-
gen laſſen wolle, bis das Band geknuͤpfet iſt.
Lady Sarah. Sagen ſie ihr in meinem
Namen, daß ſie meine Tochter ſeyn ſoll ‒ ‒
ſtatt meiner armen Eliſabeth! ‒ ‒ Dabey ver-
goß ſie noch ein Thraͤnlein zum Andenken ihrer
verlohrnen Tochter.
Lord M. Was ſagen ſie hiezu, Herr?
Lovel. Zufrieden, mein Lord ‒ ‒ Jch rede
die Sprache ihres Hauſes.
Lord M. Wir wollen uns nicht aͤffen laſ-
ſen, Vetter. Kein leeres Wortſpiel. Wir wollen
nicht bey der Naſe herumgefuͤhrt ſeyn.
Lovel. Sie ſollen auch nicht, mein Lord.
Jedoch war ich nicht willens zu heyrathen; wo
ſie den dazu beſtimmten Donnerſtag vorbeygehen
ließe. Allein ich denke, nach ihren eignen Be-
griffen, daß ich ſie zu ſehr beleidiger habe, es
P 5wieder
[234]
wieder gut machen zu koͤnnen, wenn ich auch der be-
ſte Ehemann gegen ſie waͤre, wie ich zu ſeyn ent-
ſchloſſen bin, wo ſie ſich herab laſſen will; ſo
will ich es nennen; mich zu nehmen. Dieß
mag ihnen, Baſe Charlotte, von meiner Seite
aufgetragen ſeyn zu ſagen.
Das gefiel ihnen allen.
Lord M. Gieb deine Hand, Robert! ‒ ‒
Endlich redeſt du, wie ein rechtſchaffener Mann.
Jch hoffe, wir werden uns auf dein Wort ver-
laſſen koͤnnen?
Die Frauenzimmer legten mir durch ihre
Augen eben dieſe Frage vor.
Lovel. Sie koͤnnen, mein Lord; ſie koͤnnen,
wertheſte Frauenzimmer; ſie koͤnnen ſich gaͤnzlich
darauf verlaſſen.
Nun fing man wieder an, weitlaͤuftig von
der perſoͤnlichen Beſchaffenheit der Fraͤulein ſo
wohl, als von ihren außerordentlichern Eigen-
ſchaften und Gaben zu reden. Fraͤulein Martha,
welche ſie einmal geſehen hatte, ließ ihrer Zunge
mehr, als alle uͤbrigen, den freyen Lauf zu ihrem
Ruhme. Auf dieſe Geſpraͤche folgten die Unter-
ſuchungen von den Vortheilen der Familie,
wornach man ſich bey den Unterhandlungen zu ei-
ner Heyrath niemals zu erkundigen vergißt: da
ſie bey den Altklugen einer Familie die vor-
nehmſten Bewegungsgruͤnde ſind, und bey
den Parteyen ſelbſt die geringſten, deren
Erwaͤhnung geſchehen muß; ob ſie gleich
auch bey dieſen vielleicht das erſte ſeyn moͤgen,
woran
[235]
woran gedacht wird. Man erkundigte ſich
nach dem Vermoͤgen der Fraͤulein, nach der ei-
gentlichen Bewandniß, die es mit dem Gute von
ihrem Großvater haͤtte, und uͤberlegte, was ihr
Vater und ihre unverheyrathete Onkels, nach
wahrſcheinlicher Vermuthung, zu ihrem Beſten
thun wuͤrden, wenn eine Ausſoͤhnung ausgewir-
ket waͤre: welche ſie durch ihre Vermittelung
gewiß zwiſchen beyden Familien zu Stande zu
bringen hoffen; wo es nicht von mir verſehen
wird. Die beyden ehrwuͤrdigen Frauenzimmer,
welche nun nicht mehr altfraͤnkiſche Geſichter
bey mir heißen, ließen ſich etwas von reichen Ge-
ſchenken an ihrem Theile verlauten: und mein
Lord bezeugte, daß er ſich ſo zu meinem Vortheil
erklaͤren wollte, daß meine Vermaͤhlung mit der
Fraͤulein Harlowe dadurch das beſte wuͤrde, was
ich jemals an einem Tage in meinem Leben gethan
haͤtte; und es auch jener Familie eben ſo ange-
nehm, als mir ſelbſt ſeyn ſollte, wie er im gering-
ſten nicht zweifelte.
Auf die Art haͤngt itzo das Eheſtandsſchwerdt
bloß an einem einzigen Haar uͤber meinem Hau-
pte. Auf die Art endigte ſich mein Verhoͤr, und
auf die Art ſind wir alle wieder Freunde, Vetter
und Vetter, Enkel und Enkel bey einem jeden
Worte.
Hat wohl jemals ein Luſtſpiel einen gluͤckli-
chern Ausgang gehabt, als dieß lange Verhoͤr?
Der
[236]
Der drey und dreyßigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
So denken ſie nun, Bruder, daß ſie gewaltig
viel gewonnen haben. Allein ſollte ich an-
deres Sinnes werden; ſollte es mich reuen: ſo,
glaube ich, bin ich ſicher ‒ ‒ Und gleichwohl faͤllt
es mir dieſen Augenblick in den Sinn, daß dem
Dinge doch ſchwerlich zu trauen ſey. Denn es
muß gewiß da, wo erſt vor ſo kurzer Zeit Feuer
geweſen iſt, noch etwas unter der Aſche glimmen,
das ſich aufruͤhren laͤßt, verbrennliche Waare, die
los daruͤber geſtreuet iſt, in Flamme zu ſetzen.
Mit der Liebe iſt es nicht anders, als wie mit ei-
nigen Pflanzen oder Wurzeln, die ſich ſelbſt fort-
pflanzen, und ſchon ſtark in die Erde eingegriffen
haben. Wenn ſie einmal tief in das Herz ge-
drungen: ſo laͤßt ſie ſich ſchwerlich jemals ganz
und gar ausrotten; ausgenommen, in Wahr-
heit, durch die Ehe, welche das Grab fuͤr die
Liebe iſt, weil ſie leidet, daß die Liebe ein En-
de nehme. Dazu kommen noch dieſe Frauenzim-
mer, alle als Fuͤrſprecherinnen fuͤr ſie, mit ihr,
und vielleicht mit der Fraͤulein Howe, an ihrer
Spitze ‒ ‒ Nicht zu meinem Beſten; ‒ ‒ das
erwarte ich von der Fraͤulein Howe nicht: ‒ ‒
ſon-
[237]
ſondern vielleicht ihres eignen Vortheils wegen.
Denn Fraͤulein Howe, denke ich, hat Urſache,
Rache von mir zu befuͤrchten. Auch Herr Hick-
mann wird in Sicherheit ſeyn, wie ſie ſich vor-
ſtellen mag: wenn ich ihre geliebte Freundinn
heyrathe. Er hat ſich geſchaͤfftig genug bewieſen:
und ich habe lange gewuͤnſchet, ihm eines beyzu-
bringen ‒ ‒ Ueberdieß iſt die Fraͤulein ſelbſt in
verzweiflungsvollen Umſtaͤnden in Anſehung ihrer
Freunde: und wird wahrſcheinlicher Weiſe ſo
bleiben, ſo lange ſie unverheyrathet, und ihr guter
Name widrigen Urtheilen ausgeſetzet iſt.
Ein Ehemann iſt ein trefflicher Deckmantel,
eine Schuͤrze von Feigenblaͤttern, fuͤr eine Frau.
Wenn ein Frauenzimmer in ihren Freyheiten,
in denen Ausſchweifungen, nach welchen ihr Herz
ſich ſehnet, Schutz findet ‒ ‒ und alle ihre Fehler,
auch die ſtrafbareſten, wenn ſie darinn entdeckt
werden ſollte; ja ſelbſt das Laͤcherliche in ihrer
Auffuͤhrung; auf den Mann geſchoben werden
koͤnnen: ſo iſt das ja etwas unvergleichliches fuͤr
eine Frau, das ſie ſich wohl wuͤnſchen mag.
Allein ein Vergnuͤgen werde ich doch haben,
wo ich heyrathe, welches mir nicht wenig ange-
nehm iſt. Wenn eines Mannes Frau eine wer-
the Freundinn hat: ſo koͤnnen hundert Freyhei-
ten gegen dieſe Freundinn genommen werden,
die ſich ſonſt nicht nehmen ließen; wo das ledige
Frauenzimmer, welches weiß, was fuͤr ein Recht
zu Freyheiten ihm die Ehe bey ihrer Freundinn
gegeben hat, ſich nicht weniger Bedenken, in An-
ſehung
[238]
ſehung ihrer ſelbſt, gegen ihn machte, als ſie ſich
machen ſollte. Hiernaͤchſt giebt es weitlaͤuftige
Freyheiten; ſoll ich ſie ſo nennen? die ſich der
Mann bey ſeiner Frau nehmen kann, und die nicht
ganz anſtoͤßig ſeyn moͤgen. Leidet die Frau
dieſe vor ihrer Freundinn Augen: ſo werden
ſie der Freundinn zu einer Belehrung dienen.
Und kann die Freundinn dabey ohne Scheu und
Erroͤthung gegenwaͤrtig ſeyn: ſo wird das einem
klugen Kerl zeigen, daß ſie ſelbſt zu gelegener
Zeit und an gelegenem Orte eben ſo viel leiden
kann. Keuſchheit, Bruder, iſt, wie Gottſe-
ligkeit, eine ſich allemal ſelbſt vollkommen aͤhn-
liche Sache. Laͤßt ein Maͤgdchen einer
unziemlichen Leichtſinnigkeit, in Anſehung der
Augen, in Anſehung der Ohren, Raum und
Platz: ſo verlaß dich nur darauf, daß der Teufel
ſchon einen von ſeinen geſpaltenen Fuͤßen in ihrem
Herzen habe. ‒ ‒ Alſo nimm dich in acht, Hick-
mann, ich rathe es dir: ich mag heyrathen, oder
nicht.
So, Bruder, habe ich mir auf einmal alle
meine Verwandten wieder zu Freunden gemacht:
‒ ‒ und, wo die Fraͤulein meine Hand ausſchlaͤgt,
die Schuld auf ſie geſchoben. Dieß, wußte ich
wohl, wuͤrde allezeit in meiner Gewalt ſeyn, zu
thun. Jch bezeigte mich deswegen eben ſo viel
ſtolzer gegen ſie alle, damit ich mir durch meine
Willfahrung ein deſto groͤßeres Verdienſt machen
koͤnnte.
Bey
[239]
Bey dem allen aber wuͤrde es recht ſeltſam
ſeyn; nicht wahr? wuͤrde es nicht ſeltſam ſeyn,
wenn alle meine Raͤnke und geſpielte Streiche auf
das Heyrathen hinauslaufen ſollten? Was fuͤr
eine Strafe wuͤrde es noch dazu fuͤr mich ſelbſt
werden, daß ich alle dieſe Zeit uͤber meinen eignen
Schatz gepluͤndert habe?
Sollte dieß geſchehen: ſo muß ich bey dir,
Bruder, um zwey Dinge inſtaͤndigſt anhalten. ‒ ‒
Da ich ſo wichtige Geheimniſſe, zwiſchen mir und
meiner Frauen, deinen Haͤnden anvertrauet habe:
ſo muß ich, um meiner eignen Ehre willen, und
zur Erhaltung der Ehre meiner Gattinn und mei-
ner erlauchten Erben, erſtlich dich verbinden, die
Briefe, mit welchen ich ſo verſchwenderiſch gegen
dich geweſen bin, herauszugeben; und hernach
das an dir thun, was in Frankreich, wie ich ver-
ſchiedne Leute einander habe ins Ohr ſagen hoͤren,
an dem wirklichen Vater eines gewiſſen Monar-
chen geſchehen ſeyn ſoll; das heißt, dir die Kehle
abſchneiden, damit du nicht aus der Schule plau-
dern koͤnneſt.
Jch habe Mittel gefunden, die guͤtige Mey-
nung, welche meine Freunde allhier von mir zu
hegen angefangen, noch zu erhoͤhen: indem ich
ihnen den Jnhalt der vier letzten Briefe, worinn
ich meine kuͤnftige Gemahlinn auß nachdruͤcklich-
ſte um die feyerliche Vollziehung unſerer Ver-
maͤhlung erſuchte, eroͤffnet habe. Mein Lord hat
einen von ſeinen Spruͤchen zu meinem Vortheil
wiederholet: er hoffet, es werde noch ſo ausfallen,
daß
[240]
daß der Teufel nicht voͤllig ſo ſchwarz iſt, als
man ihn mahlet.
Nun bitte ich dich, lieber Bruder, bedenke,
wie viele gute Folgen aus unſerer Vermaͤhlung
fließen koͤnnen. Bedenke, daß eine hievon auf
dich ſelbſt kommen muß! Denn je eher du
ſtirbſt: deſto weniger haſt du zu verantworten;
ja bisweilen bin ich nicht ungeneigt zu glauben,
daß wohl etwas wahres in den Gedanken des
alten Mannes ſeyn mag, der uns einmal erzaͤhlte,
daß derjenige, welcher einen Menſchen toͤdte, alle
Suͤnden dieſes Menſchen, ſo wohl als ſeine eigne,
zu verantworten habe, weil er ihm nicht die Zeit
zur Buße ließe, welche der Himmel ihm zu goͤn-
nen beſchloſſen haͤtte. Eine feine Sache fuͤr dich;
wo du dir den Kopf abſchlagen laſſen willſt: nur
ein verfluchtes Ding fuͤr den Todtſchlaͤger! Be-
denke aber auch, daß wir Urſache haben zu beſor-
gen, die Fraͤulein Howe moͤge uns ihre Huͤlfe
verſagen: und deswegen bemuͤhe dich ſelbſt, ich
bitte dich, meine Clariſſa Harlowe aufzuſuchen,
damit ich eine Lovelacen aus ihr machen koͤnne.
Beſtelle alle Waͤchter in London, und alle Aus-
ruͤfer auf dem Lande, zehn Meilen in die Runde
um die Hauptſtadt herum, mit ihrem „Hoͤret und
„merket! wo jemand, er ſey Mann, Weib, oder
„Kind, Nachricht geben kann “ ‒ ‒ Zeige in al-
len Zeitungen an, und melde ihr, „daß, wo ſie
„ſich zu der Lady Eliſabeth Lawrance, oder
„zu der Fraͤulein Charlotte Montague, verfuͤgen
„will, ſie etwas erfahren moͤge, woran ihr ſehr viel
„gelegen ſey.“.
Meine
[241]
Meine beyden Baſen Montague werden ſich
wirklich morgen zu der Fr. Howe auf den Weg
machen, um ihre ungeſtuͤme Tochter zu gewin-
nen, daß ſie ſich meiner Sache bey ihrer Freun-
dinn annehme. Sie werden in einer Kutſche
mit ſechs Pferden ſtutzen: damit ſie deſto mehr
Staat machen und deſto mehr Anſehen haben.
Ein verzweifelter Verdruß, daß ich ſo weit
heruntergebracht bin! ‒ ‒ Mein Stolz weiß ſich
kaum darein zu ſchicken.
Der Lord M. hat die beyden ehrwuͤrdigen
Frauenzimmer beredet, hier zu bleiben, und den
Ausgang zu erwarten: und ich, der ich itzo bey ih-
nen in ſehr großen Gnaden ſtehe, werde die Eh-
re haben ſie zu bedienen, und nach Oxford, nach
Blenheim und an verſchiedne andere Oerter zu
fuͤhren.
Der vier und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa Har-
lowe.
Collins geht morgen nicht ab. Einige Haus-
angelegenheiten hindern ihn. Rogers iſt
eben erſt von Jhnen zuruͤckgekommen: und man
Sechſter Theil. Qkann
[242]
kann ſeiner nicht wohl entbehren. Herr Hick-
mann iſt wegen einer Sache fuͤr meine Mutter
ausgereiſet, und hat ſeine beyden Bedienten mit-
genommen, der Perſon, die ihn gebrauchet, Eh-
re zu machen. Daher bin ich genoͤthigt, gegen-
waͤrtiges auf gut Gluͤck unter ihrem angenomme-
nen Namen mit der Poſt abzulaſſen.
Jch habe ihnen zu melden, daß ich die Ehre
gehabt, von der Fraͤulein Montague und ihrer
Schweſter, in der Kutſche des Lords M. mit ſechs
Pſerden, einen Beſuch zu bekommen. Des
Lords Cavallier kam geſtern hierher geritten, und
bat, daß ich, wegen einer ganz beſondern An-
gelegenheit, einen Beſuch von dieſen beyden
jungen Frauenzimmern annehmen moͤchte: wenn
es des folgenden Tages ſeyn koͤnnte; wuͤrde es
eine deſto groͤßere Gefaͤlligkeit ſeyn.
Da ich ſo wenig perſoͤnliche Bekanntſchaft
mit der einen und der andern habe: ſo zweifelte
ich nicht, daß es die Sachen meiner liebſten
Freundinn betreffen wuͤrde. Jch fragte deswe-
gen meine Mutter um Rath, und ließ ſie hier-
auf, weil es ſo weit iſt, einladen, mir ihre Geſell-
ſchaft zum Mittagsmahl zu goͤnnen; welches ſie
freundlich annahmen.
Jch hoffe, meine Wertheſte, da die Sachen
bisher ſo ſehr uͤbel geſtanden, daß ihre Geſand-
ſchaft an mich ihnen ſo angenehm ſeyn werde, als
irgend etwas, das nun geſchehen kann. Sie ka-
men im Namen des Lords M. und ſeiner beyden
Schweſtern, mich zu erſuchen, daß ich mir ange-
legen
[243]
legen ſeyn ließe, ſie zu bereden, daß ſie ſich in den
Schutz der Lady Eliſabeth Lawrance begeben
moͤchten, welche ſich nicht von ihnen entfernen
will, bis ſie ihnen alle Gerechtigkeit gethan ſie-
het, die ihnen nunmehr noch widerfahren kann.
Die Lady Sarah Sadleir hatte ſeit zwoͤlf Mona-
ten, ſeit dem ſie ihre angenehme Tochter, welche
Sie und ich bey Fr. Benſon geſehen, verlohren
hat, nicht einen Fuß von Hauſe geſetzet. Aber
dieſe Reiſe hat ſie auf Zureden ihrer Schweſter
bloß zu dem Ende uͤbernommen, daß ſie Jhnen,
wo moͤglich, eine Erſetzung des gelittenen Nach-
theils verſchaffen moͤchte. Jhre vereinigte Muͤ-
he, nebſt dem Beſtreben des Lords M. iſt ihnen
bey vereinigten Kraͤften ſo weit gelungen, daß der
nichtswuͤrdige Menſch ſich gegen ſie, und gegen
dieſe jungen Fraͤuleins, auf die feyerlichſte Art
verbunden hat, Sie in ihrer Gegenwart zu hey-
rathen, wofern Sie von Jhnen zu gewinnen ſind,
ihm Jhre Hand zu geben.
Dieſen Troſt moͤgen ſie fuͤr ſich nehmen, daß
dieſe ganze anſehnliche Familie eine gebuͤhren-
de, das iſt, die hoͤchſte Ueberzeugung von Jh-
rem Verdienſte hat, und Sie ſehr bewundert.
Der ſcheusliche Kerl hat ſeiner ſelbſt nicht geſcho-
net; indem er Jhrer Tugend Gerechtigkeit hat
widerfahren laſſen: und die beyden Fraͤuleins ga-
ben uns eine ſolche Nachricht von ſeinen Bekennt-
niſſen, und von ſeiner Verurtheilung, die er wi-
der ſich ſelbſt ausgeſprochen, daß meine Mutter
ganz von Jhnen eingenommen ward. Wir alle
Q 2viere
[244]
viere vergoſſen Freudenthraͤnen, daß eine Perſon
von unſerm Geſchlechte da iſt; und ich ins beſon-
dere, daß dieſe eine Perſon meine Freundinn iſt;
welche demſelben ſo viel Ehre gemacht hat, daß
ſie die aus eigner Ueberzeugung gefloſſenen Lobes-
erhebungen, welche er Jhnen ertheilet hat, ver-
dienet: ob gleich mit der vergnuͤgten Regung ein
Mitleiden gegen die unvergleichliche Perſon ge-
miſchet war.
Er verſpricht durch ſie, ſich als den beſten
Mann zu beweiſen. Der Lord, und ſeine beyden
Schweſtern, wollen alle die Gewaͤhr leiſten, daß
er es wirklich thun werde. Sie ſchwatzten von
anſtaͤndigen Eheſtiftungen, von anſehnlichen Ge-
ſchenken. Sie ſagten, ſie haͤtten den Lord M.
und ſeine zwo Schweſtern ſo verlaſſen, daß ſie
von nichts, als von dieſen Geſchenken und Ehe-
ſtiftungen geredet, wie ſie am beſten einzurichten
waͤren, Jhnen dadurch Ehre zu bezeigen, auch
um ſo viel groͤßer, je groͤßer das ſchimpfliche Lei-
den geweſen, das Sie ausgeſtanden haben; im-
gleichen von Veraͤnderung der Namen durch ei-
nen Parlamentsbrief, als einer Vorbereitung zu
der Muͤhe, die ſie ſich alle mit vereinigten Kraͤf-
ten geben wollen, die Titel auf eben denjenigen
zu bringen, auf den das Stammgut fallen muß,
wenn der Lord ſtirbt, deſſen Ende ſie naͤher beſor-
gen, als ſie wuͤnſchen. Auch zweifeln ſie nicht an ei-
ner gaͤnzlichen Beſſerung in ſeinen ſittlichen Grund-
ſaͤtzen und in ſeiner Lebensart, welche von Jhrem
Bey-
[245]
Beyſpiele und Jhrer Gewalt uͤber ihn zu erwar-
ten ſtehet.
Jch machte ſehr viele Einwendungen fuͤr ſie
‒ ‒ alle, glaube ich, die ſie ſelbſt haͤtten machen
koͤnnen, wenn ſie zugegen geweſen waͤren. Aber
ich trage kein Bedenken, meine liebſte Freundinn,
Jhnen zu rathen; und das thut auch meine Mut-
ter, daß Sie ſich alſobald in den Schutz der La-
dy Eliſabeth begeben, mit dem Entſchluſſe, den
elenden Menſchen zum Manne zu nehmen. Alle
ſeine kuͤnftige Groͤße; und es fehlt ihm nicht an
Ehrgeiz; haͤnget von ſeiner Aufrichtigkeit gegen
Sie ab. Die Fraͤuleins betheuren, daß ihn das
Unrecht, welches er Jhnen gethan hat, ſchmerzlich
reue.
Alle ſeine Furcht iſt, daß Sie ſo bereit ſind,
einem jeden, wie er beſorget, das Uebel, welches
Sie gelitten haben, zu entdecken; dieß, glaubt er,
werde ſie beyde widrigen Urtheilen bloßſtellen.
Allein haͤtten Sie es der Lady Eliſabeth nicht ent-
decket: ſo wuͤrden Sie nicht eine ſo eifrige Freun-
dinn gehabt haben; indem alle dieß Gute, ſo, hof-
fe ich, wird es ausſchlagen, von zween Briefen,
die Sie ihr zugeſchrieben, herruͤhret. Jedoch
rathe ich Jhnen, mit der Erzaͤhlung deſſen, was
vergangen iſt, etwas ſparſamer zu ſeyn: Sie
moͤgen ihn anzunehmen gedenken; oder nicht.
Denn wozu, wertheſte Freundinn, kann das nun-
mehr dienen, als nur ſchaͤndlichen Gemuͤthern
Anlaß zu geben, uͤber Jhre Freunde zu froh-
Q 3locken:
[246]
locken: da doch ein jeder nicht wiſſen wird, wie viel
Ehre Jhnen Jhr Leiden ſelbſt gemacht habe?
Jhr trauriger Brief, den mir Rogers ge-
bracht hat (*), nebſt ſeiner Nachricht von Jhrem
ſehr mittelmaͤßigen Befinden, wovon er ſo wohl
durch die Weibsleute in dem Hauſe, als durch
Jhr Anſehen, und Jhre Mattigkeit, da Sie mit
ihm geredet, verſichert iſt, wuͤrde mir einen un-
beſchreiblichen Kummer verurſachet haben: wenn
ich nicht durch dieſen angenehmen Beſuch von
den Fraͤuleins aufgemuntert waͤre. Jch mache
mir Hoffnung, Sie werden ſich gleichfalls auf-
muntern laſſen, indem ich Jhnen das, was da-
bey vorgegangen iſt, eroͤffne.
Jn der That, liebſte Freundinn Sie muͤſſen
ſich nicht bedenken; Sie muͤſſen ihnen willfah-
ren: die Verbindung iſt anſehnlich und gereicht
zur Ehre. Sehr wenige Leute werden etwas
von ſeiner greulichen Niedertraͤchtigkeit gegen Sie
erfahren. Alles muß ſich endlich in eine allge-
meine Ausſoͤhnung aufloͤſen: und Sie werden
im Stande ſeyn, Jhre vorige Weiſe wieder zu
beobachten, und einem jeden, der es verdient, das
Gute zu erweiſen, welches Jhnen vormals allent-
halben, wohin Sie nur den Fuß ſetzten, Segens-
wuͤnſche verſchaffete.
Es kraͤnkt mich, wenn ich befinde, daß Jh-
res Vaters uͤbereilter Wunſch Sie ſo viel ruͤh-
ret, als er es thut. Auf mein Wort, liebe Freun-
dinn, Jhr Gemuͤth iſt ſchrecklich geſchwaͤchet.
Sie
[247]
Sie muͤſſen, in Wahrheit, Sie muͤſſen ſich nicht
ſelbſt verlaſſen. Die Buße, wovon Sie ſchwa-
tzen ‒ ‒ Es gehoͤrt fuͤr diejenigen, Buße zu
thun, welche Sie in Ungluͤck geſtuͤrzet haben, das
Sie nicht wohl vermeiden konnten. Sie urthei-
len vielmehr nach dem ungluͤcklichen Ausgange,
als nach der wahren Beſchaffenheit, von Jhrem
Zufalle. Auf meine Ehre, ich halte Sie faſt in
einem jeden Schritt, den Sie gethan haben, fuͤr
untadelhaft. Was hat nicht der ſchaͤndlich uͤber-
muͤthige und ehrgeizige, doch dumme, Bruder
von Jhnen zu verantworten! ‒ ‒ Ja auch das
boshafte Ding, Jhre Schweſter! ‒
Allein was geſchehen iſt, ſteht nicht zu aͤn-
dern. Wohlan denn, laſſen Sie uns in die Zu-
kunft hinausſehen. Es oͤffnen ſich itzo gluͤckliche
Ausſichten fuͤr Sie: da eine ſchon itzo edle Fa-
milie bereit iſt, Sie aufzunehmen, und Sie mit
offenen Armen und freudigen Herzen zu empfan-
gen; und, durch ihre Liebe fuͤr Sie, eine andere
Familie, welche nicht weiß, was fuͤr ein unver-
gleichliches Muſter der Tugend ſie alle zu verfol-
gen in ein Buͤndniß getreten ſind, lehren will,
wie man Sie ſchuͤtzen muͤſſe. Jhre Klugheit,
Jhre Gottſeligkeit, wird alles kroͤnen: ſie wird
einen Boͤſewicht auf beſſere Wege bringen, den
man, um hundert anderer willen mehr, als um
ſein ſelbſt willen, auf beſſere Wege gebracht wuͤn-
ſchen wuͤrde.
Wie ein Wandersmann, der durch die aus-
getretene Fluth eines reiſenden Strohmes von
Q 4ſeinem
[248]
ſeinem Wege verſchlagen iſt, haben Sie nur die
gerade und richtige Bahn, worauf Sie waren,
uͤberſchwemmet geſehen. Es kommt nur auf ei-
nen Umweg von wenigen Meilen, auf den Ver-
luſt eines oder zween Tage, ſo zu ſagen, an: ſo
ſind Sie auf der Spur, dieſelbe wieder zu fin-
den; und durch Jhre Geſchwindigkeit, fortzuei-
len, wird die verlohrne Zeit eingebracht werden.
Mittlerweile wird die Anſtrengung Jhrer Lebens-
geiſter alle Jhre Ungelegenheit ſeyn: denn es
war nicht Jhr Fehler, daß Sie in Jhrem Fort-
gange aufgehalten wurden.
Bedenken Sie dieß, wertheſte Freundinn
und machen ſich das Gleichniß zu Nutzen: Sie
wiſſen ſchon, wie. Wenn Sie, ohne Hinderniß
in Jhrem eignen Fortgange, das Werkzeug ſeyn
koͤnnen, die Ueberſchwemmung zu hemmen, das
Waſſer in ſeine natuͤrliche Gaͤnge zuruͤckzutrei-
ben, und dadurch, zum Beſten der kuͤnftigen
Wanderer, welche eben den Weg ziehen, die uͤber-
ſchwemmte Bahn wieder frey zu machen: wie
groß wird Jhr Verdienſt ſeyn! ‒ ‒
Jch werde mit Ungedult auf Jhren naͤchſten
Brief warten. Die Fraͤuleins ſchlugen vor, daß
Sie ſich, wofern Sie in London, oder in der Naͤ-
he waͤren, auf die Readinger Landkutſche ſetzen
moͤchten, welche irgendwo auf der Fleet-Street
einkehret. Wo Sie nur den Tag melden: ſo
werden Jhnen auf dem Wege, und zwar ſehr
bald nach Jhrer Abreiſe, einige Perſonen von
beyder-
[249]
beyderley Geſchlecht, worunter Sie vielleicht eine
nicht ungern ſehen wuͤrden, entgegen kommen.
Herr Hickmann ſoll Jhnen zu Slough auf-
warten: und die Lady Eliſabeth ſelbſt, nebſt einer
von den Fraͤulein Montague, will mit Wagen
und Pferden, wie es ſich ſchicket, zu Reading ſeyn,
Sie zu empfangen, und gerades Weges mit ſich
zu ihrem Gut zu nehmen. Denn ich habe aus-
druͤcklich bedungen, daß der Boͤſewicht ſelbſt Jh-
nen nicht eher vor Augen kommen ſoll, bis Jhre
Hochzeit vollzogen wird: wo Sie es nicht ſelbſt
erlauben.
Leben Sie wohl, meine wertheſte Freundinn.
Jch wuͤnſche, daß Sie gluͤcklich ſeyn moͤgen. So
werden viele hundert dem zufolge gluͤcklich ſeyn.
Unbeſchreiblich begluͤckt wird gewiß alsdenn ſeyn
Jhre ewig ergebene
Anna Howe.
Der fuͤnf und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa Har-
lowe.
Warum wollen Sie ein Gemuͤth, das ſich ſo
ſehr zu Jhren Dienſten ergeben hat, un-
Q 5ter
[250]
ter einer ſolchen Ungedult arbeiten laſſen, als es
in vergeblicher Erwartung einer Antwort auf ei-
nen Brief, woran Jhnen und folglich mir ſo
viel gelegen iſt, arbeiten muß: wie Jhnen ſelbſt
nicht unbekannt ſeyn kann? ‒ ‒ Rogers erzaͤhlte
mir verwichenen Donnerſtag, daß es ſo uͤbel mit
Jhrer Geſundheit ſtuͤnde! Jhr Brief zeugte von
einem ſo niedergeſchlagenen Gemuͤthe! ‒ ‒ Jn
der That aber muͤßten Sie ſich ſehr uͤbel befinden:
wenn Sie auf einen ſolchen Brief nicht etwas
antworten koͤnnten; ſollte es auch nur eine Zeile
ſeyn, um zu melden, daß Sie ſo bald, als Sie
koͤnnten, ſchreiben wollten. Sie haben ihn ge-
wiß bekommen. Der Aufſeher von unſerm
naͤchſten Poſtamte will ſeine Ehre zum Pfande
ſetzen, daß er ſicher gegangen iſt. Jch habe ihn
beſonders deswegen erſuchen laſſen.
Gott verleihe mir gute Zeitungen von Jh-
rer Geſundheit, und daß Sie im Stande gewe-
ſen ſind, zu ſchreiben: ſo will ich Sie ſcheuren
‒ ‒ Jn Wahrheit ich will Sie ſcheuren ‒ ‒ als
ich Sie noch niemals geſcheuret habe.
Jch vermuthe, Sie werden ſich damit ent-
ſchuldigen, daß die Sache Ueberlegung erforder-
te ‒ ‒ Gott! meine Wertheſte, das moͤchte ſeyn:
aber Sie haben einen ſo guten Verſtand, und
die Sache, wovon die Rede iſt, faͤllt ſo leicht in
die Augen, daß Sie nicht eine halbe Stunde
brauchen konnten, ſich zu entſchließen ‒ ‒ Hier-
naͤchſt ſind Sie vermuthlich willens geweſen, Col-
lins Anfrage nach Jhrem Briefe, als morgen,
zu
[251]
zu erwarten! ‒ ‒ Geſetzt ‒ ‒ Fraͤulein! ‒ ‒
Jn der That ich bin boͤſe auf Sie ‒ ‒ Geſetzt
es fiele etwas vor, wie am verwichnen Freytage,
daß es ihm nicht moͤglich waͤre, morgen nach
London zu kommen! ‒ ‒ Kind, wie koͤnnten Sie
mir ſo dienen? ‒ ‒ Jch weiß nicht, wie ich aus
dem Gezaͤnke mit Jhnen herauskommen ſoll!
Lieber, ehrlicher Collins, eile! Er will: er
will. Er macht ſich auf den Weg und reiſet die
ganze Nacht uͤber. Denn ich habe ihm geſagt,
daß die liebſte Freundinn, die mir in der Welt
verliehen iſt, es in Jhren eignen Haͤnden habe,
gluͤcklich zu ſeyn und mich gluͤcklich zu machen;
und daß der Brief, den er mir von Jhnen uͤber-
bringen wird, mich davon verſichern werde.
Jch habe ihm befohlen, gerades Weges zu
Jhrer Wohnung zu gehen, ohne ſich bey dem
Wirthshauſe zum Saracenen-Kopf aufzuhalten.
Die Sachen ſtehn itzo auf einem ſo guten Fuß,
daß er es ſicher thun kann.
Jhr erwarteter Brief, hoffe ich, iſt fertig:
wo nicht, ſo wird er zu der von Jhnen geſetzten
Stunde deswegen anfragen.
Sie koͤnnen nicht ſo gluͤcklich ſeyn, als Sie
verdienen. Allein ich zweifele doch nicht, daß
Sie wenigſtens ſo gluͤcklich ſeyn wollen, als Sie
ſeyn koͤnnen: das iſt, daß Sie ſich entſchließen
werden, ſich alſobald in den Schutz der Lady Eli-
ſabeth zu begeben. Wo Sie ihn etwa nicht um
Jhrer ſelbſt willen nehmen wollten: ſo muͤſſen
Sie ihn um meinetwillen, um Jhrer Familie,
um
[252]
um Jhrer Ehre willen nehmen! ‒ ‒ Lieber,
ehrlicher Collins eile! eile! und erleichtere das
unruhige Herz der meiner Geliebten
Ewig getreuen und ewig ergebenen
Anna Howe.
Der ſechs und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Charlotte
Montague.
Jch nehme mir die Freyheit, durch dieſen be-
ſondern Bothen, an Sie zu ſchreiben. Jn
hoͤchſter Verwirrung meiner Seele ſchreibe ich an
Sie, von Jhnen, und einem jeden in Jhrer Fa-
milie, der etwas davon weiß, Nachricht von mei-
ner geliebten Freundinn zu verlangen, welche,
wie ich beſorge, hinterliſtiger Weife entfuͤhret iſt;
durch die ſchaͤndlichen Kunſtgriffe eines der
ſcheuslichſten ‒ ‒ O helfen Sie mir zu einem
Namen, der arg genug ſey, ihn damit zu bele-
gen! ‒ ‒ Jhre Gottſeligkeit iſt ein ſicheres Un-
terpfand, daß Sie ſich niemals ſelbſt Gewalt
thun werde. Es muß, es muß Er ſeyn: Er
allein, der im Stande geweſen iſt, eine unſchul-
dige
[253]
dige Perſon ſchimpflich zu beleidigen; und nun ‒ ‒
wer weiß, was er mit ihr gemacht hat!
Wo ich nur ſo viel Gedult habe: ſo will ich
Jhnen die Urſache zu dieſer verwirrungsvollen
und heftigen Unruhe entdecken.
Jch ſchrieb den Augenblick an ſie, als Sie
und Jhre Schweſter mich verlaſſen hatten.
Weil ich aber keinen eignen Bothen haben
konnte; wie ich willens war: ſo ward ich genoͤ-
thigt, den Brief mit der Poſt abzuſchicken. Jch
drang bey ihr darauf; Sie wiſſen, daß ich
es Jhnen zu thun verſprach; ich drang ernſt-
lich bey ihr darauf, daß ſie ſich bequemen
moͤchte, das Verlangen Jhrer ganzen Fa-
milie zu erfuͤllen. Da ich keine Antwort bekam:
ſchrieb ich am Sonntage, Abends, noch einmal;
und ſandte den Brief mit einem eignen Bothen
fort, der die ganze Nacht reiſete. Jch ſchalt in
demſelben auf ſie, daß ſie ein ſo ungedultiges Herz,
als ich habe, bey einer Sache, woran ihr, und
folglich mir auch, ſo viel gelegen waͤre, in unge-
wiſſer Erwartung ſtecken ließe. Jn meinem
Sinne war ich recht boͤſe auf ſie.
Allein urtheilen Sie, wie groß meine Be-
ſtuͤrzung, wie groß meine Verwirrung ſeyn muß-
te: da geſtern Abends der Bothe, ſo eilfertig,
als eine Poſt reiten kann, zuruͤckkam, und mir
die Nachricht brachte, daß man ſeit Freytags
fruͤhe nicht von ihr gehoͤret haͤtte; und daß ein
Brief, der mit der Poſt gekommen waͤre, und
von mir ſeyn muß, fuͤr ſie in ihrer Wohnung laͤge.
Sie
[254]
Sie iſt am Freytage fruͤhe, um ſechs, ausge-
gangen: bloß in der Abſicht, wie die Leute glau-
ben, in die Kirche beym Covent-Garden, die ganz
nahe bey dem Hauſe iſt, zur Bethſtunde des
Morgens zu gehen; wie ſie ſchon vorher verſchie-
dene male gethan hatte. Sie iſt zu Fuße gegan-
gen, und hat es ſo verlaſſen, daß ſie binnen einer
Stunde wieder zu Hauſe ſeyn wollte ‒ ‒ Jn ei-
nem ſehr ſchlechten Zuſtande mit ihrer Geſund-
heit!
Gott ſey mir gnaͤdig! Was ſoll ich machen!
‒ ‒ Jch bin die ganze verwichne Nacht uͤber
voͤllig außer mir geweſen.
O wertheſte Fraͤulein! Sie wiſſen nicht, wie
lieb ich dieſe Freundinn habe! ‒ ‒ Sie iſt, ſo zu
ſagen, mein irdiſcher Heyland geweſen! ‒ ‒
Meine eigne Seele iſt mir nicht werther, als
meine Clariſſa Harlowe! ‒ ‒ Ja, ſie iſt meine
Seele! ‒ ‒ Denn nun habe ich keine! ‒ ‒ We-
nigſtens nur eine ſehr elende! ‒ Denn ſie war
die Freude, die Staͤrke, die Stuͤtze meines Lebens!
Niemals hat eine Weibsperſon die andere ſo ge-
liebet, als wir einander lieben. Es iſt unmoͤg-
lich, Jhnen ihre ausnehmende Vorzuͤge nur halb
zu erzaͤhlen. Jch machte mir einen Ruhm und
eine Ehre daraus, daß ich zu einer ſo brennenden
Liebe einer ſo unbefleckten und unvergleichlichen
Perſon geſchickt war! ‒ ‒ Aber nun! ‒ ‒ Wer
weiß, ob die theure und beleidigte Seele nicht
durch den Tod das volle Maaß ihres Elendes,
ihres
[255]
ihres unverdienten Elendes, bekommen hat, oder
noch zu einem aͤrgern Schickſal aufbehalten iſt!
‒ ‒ Dieß uͤberlaſſe ich Jhnen zur Nachfrage ‒ ‒
Denn ‒ ‒ Jhr ‒ ‒ ſoll ich denn Menſchen nen-
nen ‒ ‒ Jhr Verwandter, hoͤre ich, iſt noch bey
Jhnen.
Gewiß, meine liebe Fraͤulein, Sie waren
doch beyde zu den Vorſchlaͤgen, die Sie mir in
Gegenwart meiner Mutter thaten, wohl bevoll-
maͤchtiget. Gewiß er darf ſich nicht unterſtehen,
Jhre Vertraulichkeit und die Vertraulichkeit Jh-
rer edlen Angehoͤrigen zu misbrauchen. Jch
entſchuldige dieſe Unruhe nicht, welche ich Jhnen
verurſache, auch nicht die Bitte, die ich hiemit
an Sie ergehen laſſe, durch dieſen Bothen mit
einer Zeile zu beehren
Jhre beynahe verwirrte
Anna Howe.
Der ſieben und dreyßigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
den 15ten Jul.
Alles zu nichte, zu nichte, beym Jupiter! ‒ ‒
Henker, Bruder, was ſoll ich nun machen!
Ein Fluch treffe alle meine Raͤnke und Kuͤn-
ſte!
[256]
ſte! ‒ ‒ Jedoch ich habe ihn ſchon! ‒ ‒ Selbſt in
meinem Herzen und in meiner Seele habe ich
ihn!
Du ſagteſt mir, daß ſich meine Strafe nur
erſt anfienge! ‒ ‒ Kannſt du, ungluͤcklicher Wahr-
ſager, kannſt du mir auch ſagen, wo ſie ſich en-
digen werde?
Deinen Beyſtand fordere ich. Den Au-
genblick, da du dieß bekommſt, fordere ich deinen
Beyſtand. Dieſer Bothe reitet auf Leben und
Tod! ‒ ‒ Und ich hoffe, er wird euch in eurer
Wohnung zu London finden: wenn er euch nicht
zu Edgware antrifft, wo er am Sonntage ſeyn
und anfragen wird.
Das verfluchte, verfluchte Weib, fertigte am
Freytage einen Kerl zu Pferde mit der frohen
Zeitung, nach ihren Gedanken, in einem froh-
lockenden Briefe von Sarah Martin an mich
ab, daß ſie meinen Engel am verwichnen Mitt-
wochen aufgefunden, und am Freytag fruͤhe, da
ſie zur Bethſtunde in der Kirche beym Covent-
Garden geweſen ‒ ‒ vielleicht fuͤr meine Beſſe-
rung zu beten! ‒ ‒ als ſie wieder zu Hauſe ge-
hen wollen, durch zween Gerichtsbediente haͤtte
anhalten laſſen, welche ſie in einer Saͤnfte, die man
in Bereitſchaft gehabt, geſetzet, und in eines von
den Haͤuſern dieſer verdammten Kerl gebracht
haͤtten.
Sie hat dieſelbe unter dem Vorwand, daß
ſie ihr fuͤr Tiſch und Wohnung hundert und
ſunfzig Pfund St. ſchuldig waͤre, in Verhaft
neh-
[257]
nehmen laſſen: eine Summe; nichts von der
niedertraͤchtigen Bosheit bey dieſem Verfahren
zu ſagen; welche die liebe Seele unmoͤglich auf-
bringen koͤnnte; da alle ihre Kleider und Sachen,
ausgenommen was ſie an und bey ſich hatte, als
ſie davon ging, in dem Hauſe des alten Teufels
ſind.
Und hier, was noch ſo viel ſchlimmer iſt, hat
das liebe Kind ſchon zween Tage liegen muͤſſen.
Denn ich mußte meine beyden Tanten und mei-
ne zwo Baſen bedienen, und dem Lord M. nach
ſeinem langwierigen Lager bey einer Luſtreiſe zur
Veraͤnderung der Luft Geſellſchaft leiſten.
Der Henker hole unſere ganze Familie! ‒ ‒ Jch
bin nicht eher, als dieſe Stunde, zuruͤckgekom-
men, und nun bin ich zu meiner Verwirrung zu-
ruͤckgekommen: da ich die verfluchte Zeitung und
den frohlockenden Brief erhalten habe.
Eile, eile, lieber Bruder, um Gottes willen
eile zu der beleidigten Schoͤnen! Mein Herz blu-
tet fuͤr ſie ‒ ‒ Dieß hat ſie nicht verdienet! ‒ ‒
Jch darf keinen Fuß von hier ſetzen. ‒ ‒ Man
wird glauben, daß es auf meinen Anſchlag ge-
ſchehen ſey ‒ ‒ Und wo ich von der Stelle ge-
he: ſo wird das den Verdacht beſtaͤtigen.
Verdammt ſey den Augenblick dieß verfluch-
te Weib! ‒ ‒ Gleichwohl denkt ſie, daß ſie hie-
durch nicht wenig Dank bey mir verdienet habe! ‒ ‒
Ungluͤcklicher, hoͤchſt ungluͤcklicher Umſtand! ‒ ‒
Noch dazu eben zu einer Zeit, da ſich beſſere
Sechſter Theil. RAus-
[258]
Ausſichten fuͤr die liebenswuͤrdige Fraͤulein
oͤffneten.
Eile zu ihr! ‒ ‒ Rette und bezeuge ihr
meine Unſchuld bey dieſem verdammten Anſchla-
ge. Jch ſchwoͤre aufrichtig bey allem, was hei-
lig iſt, daß du es ſicher thun kannſt! ‒ ‒ Je-
doch ich habe ſo ſchaͤndliche Raͤnke geſchmiedet,
daß die leidende Schoͤne es ſchwerlich glauben
wird: ob das Verafhren gleich ſo poͤbelhaft nie-
dertraͤchtig iſt.
Setzt ſie in Freyheit, den Augenblick, wenn
ihr ſie ſehei: ohne die geringſte Bedingung vor-
zuſchreiben, ſetzet ſie in Freyheit ‒ ‒ Auf euren
Knieen bittet fuͤr mich um Verzeihung: und
verſichert ſie, daß, wohin ſie auch immer gehe,
ich ihr nicht beſchwerlich ſeyn; nein, auch
mich nicht zu ihr naͤhern wolle, ohne ihre eigne
Erlaubniß. Vor allen Dingen laßt niemand
von der verfluchten Rotte zu ihr kommen. Bit-
tet ſie nur, euch zu erlauben, daß ihr von Zeit
zu Zeit ihre Befehle annehmen duͤrfet. Jhr
ſeyd allemal ihr Freund und Fuͤrſprecher gewe-
ſen. Was wollte ich itzo darum geben, daß ich
es euch nicht haͤtte umſonſt ſeyn laſſen!
Laßt ihr alſobald alle ihre Kleider und Sa-
chen zuſchicken, als eine geringe Probe meiner
Aufrichtigkeit. Und dringet dem lieben Kinde,
das ohne Geld ſeyn muß, ſo viel Geld auf, als
ihr ſie nur immer anzunehmen gewinnen koͤnnet.
Meldet mir, wie man ihr begegnet habe. Wehe
dem,
[259]
dem, der Schuld daran hat: wo man hart
mit ihr umgagangen iſt!
Nimm deine Taſchenuhr in die Hand, wenn
du ſie befreyet haſt, und verdamme die ganze
Bruth, den Drachen und die Schlangen, nach
der Uhr, bis du muͤde biſt: und ſage es ihnen,
ich befehle es dir, daß dieß die Bezahlung fuͤr
ihre verfluchte Dienſtfertigkeit ſey.
Es kam ihnen nicht zu, nachdem ſie ſie ge-
funden hatten, etwas weiter zu thun, als auf
meine Verordnung zu warten, wie ſie verfahren
ſollten.
Der große Teufel fliege mit ihnen allen,
einzeln nach der Reihe, durch das Dach ihres
verfluchten Hauſes davon, und zerſtoße ſie, wie
er fliegt, gegen die Spitzen der Schorſteine in
Stuͤcken: und laſſe denn die kleinern Teu-
fel die zerſtreueten Ueberbleibſel von ihnen
auffammlen, und in Saͤcke werfen, damit
ſie wieder an ihrem beſtimmten Orte, in dem Feu-
erelemente, mit Loͤthe von geſchmolzenem Bley
zuſammengeſetzt werden.
Eine Zeile! Eine Zeile! Ein Koͤnig-
reich fuͤr eine Zeile! nur mit ertraͤglichen Nach-
richten, den erſten Augenblick, da du ſchreiben
kannſt! ‒ ‒ Dieſer Kerl wartet, ſie mir
zu bringen.
R 2Der
[260]
Der acht und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Charlotte Montague an Fraͤulein
Howe.
Jhre Zuſchrift hat uns allen unausſprechliche
Unruhe gemacht.
Der hoͤſe Menſch iſt beſtaͤndig ſeit Sonnabend
Abends halb außer ſich geweſen.
Wir wußten nicht, was ihm fehlte, bis uns
Jhr Brief gebracht ward.
So ein ſchaͤndlicher Boͤſewicht er auch iſt:
ſo iſt er doch an dieſem neuen Uebel unſchuldig.
Jn der That er iſt es; er muß es ſeyn: wie
ich Jhnen umſtaͤndlicher melden werde.
Jtzo will ich Jhren Bothen aber nicht auf-
halten.
Jhre gerechte Ungedult zu ſtillen, will ich
Jhnen nur ſo viel melden, daß die liebe Fraͤu-
lein ſicher, und, wir hoffen, wohl auf iſt.
Ein abſcheulicher Misverſtand ſeiner uͤber-
haupt und ohne genaue Beſtimmung gegebenen
Befehle, hat ihr das Schrecken und den Schimpf
von einem Verhaft zuwege gebracht.
Die
[261]
Die arme liebe Fraͤulein Harlowe! Jhr
Leiden hat ſie uns beynahe eben ſo theuer und
werth gemacht, als ihre ausnehmenden Vorzuͤge
ſie Jhnen kann gemacht haben.
Allein ſie muß nun ſchon voͤllig in Freyheit
ſeyn.
Er iſt beſtaͤndig außer ſich geweſen; ſeit dem
er die Zeitung bekommen hatte: und wir wußten
nicht was ihm fehlte.
Jedoch das habe ich ja ſchon geſchrieben.
Der Lord M. die Lady Sarah Sadleir und
Lady Eliſabeth Lawrance, wollen alle noch dieſen
Nachmittag an Sie ſchreiben.
Eben das will der boͤſe Menſch ſelber auch
thun.
Sie wollen die Briefe durch ihren eignen
Bedienten uͤberbringen laſſen, ihren Bothen nich
aufzuhalten.
Jch weiß nicht, was ich ſchreibe.
Aber Sie ſollen alle Umſtaͤnde, genau, wahr
und aufrichtig erfahren,
Wertheſte Fraͤulein,
von
Jhrer getreueſten und gehorſamen Dienerinn
Charlotte Montague.
R 3Der
[262]
Der neun und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Montague an Fraͤulein Howe.
Zur Erfuͤllung meines Verſprechens will ich
Jhnen genau und umſtaͤndlich alles melden,
was wir von dieſem aͤrgerlichen Vorfall
wiſſen.
Da wir am Donnerſtag, Abends, von Jh-
nen zuruͤckkamen, und unſern Bericht von der
guͤtigen Aufnahme abſtatteten, welche ſo wohl wir
als unſer Gewerbe bey Jhnen gefunden; indem
Sie die Gewogenheit haͤtten, zu verſprechen, daß
Sie ſich bey Jhrer liebſten Freundinn unſerer
Sache annehmen wollten: ſo machte uns dieß
alle ſo wohl zufrieden mit einander, und mit mei-
nem Vetter Lovelace, daß wir uns zu einer klei-
nen Ausfarth auf zween Tage, den Freytag und
Sonnabend, entſchloſſen; damit der Lord und die
Lady Sarah die Luſt ein wenig veraͤndern moͤch-
ten, weil beyde, der eine ſeiner Krankheit wegen,
die andere wegen ihres niedergeſchlagenen Ge-
muͤths, lange nicht ausgekommen waren. Mein
Lord, ſeine beyden Schweſtern, und ich, waren in
einer Kutſche: und alle unſer Geſpraͤch war von
der
[263]
der lieben Fraͤulein Harlowe und von unſerer
kuͤnftigen Gluͤckſeligkeit mit ihr. Herr Lovelace
und meine Schweſter, die ſein Liebling, wie er
der ihrige, iſt, waren in ſeinem offenen Wagen:
und ſo oft wir mit einander Geſellſchaft mach-
ten, gab eben das beſtaͤndig den Stoff zu unſerer
Unterredung.
Was ihn betrifft: ſo hat wohl niemals eine
Mannsperſon ein Frauenzimmer ſo hoch geprie-
ſen, als er die Fraͤulein. Niemals hat wohl ein
Menſch groͤßere Hoffnung von ſich gegeben und
einen beſſern Vorſatz gefaſſet. Er iſt nicht von
denen Leuten, die ſich durch Eigennutz regieren
laſſen. Dazu iſt er zu ſtolz. Allein er ließ
das auſrichtigſte Vergnuͤgen blicken, wenn er von
ihr und von ſeiner Hoffnung, ihre Gewogenheit
wieder zu erlangen redete. Jedoch ſagte er mehr,
als einmal, daß er beſorgte, ſie wuͤrde ihm nicht
vergeben: denn aus Herzens Grunde muͤßte er
geſtehen, er verdiente ihre Vergebung nicht.
Einmal uͤber das andere betheurte er, daß kein
ſolches Frauenzimmer mehr in der Welt
waͤre.
Dieß beruͤhre ich nur, um Jhnen zu zeigen,
daß er zu eben der Zeit nicht an einem ſo unge-
heuren und ſchimpflichen Verfahren Theil haben
konnte.
Wir kamen nicht eher zuruͤck, als Sonnabend
Abends, und waren noch alle ſo wohl mit einan-
der zufrieden, wie wir ausgereiſet waren. Wir
haben ſonſt niemals ſo viel Vergnuͤgen in ſeiner
R 4Ge-
[264]
Gefellſchaft gehabt. Wenn er gut ſeyn wollte,
und ſo, wie er ſeyn wollte: ſo wuͤrde kein Menſch
von ſeinen Verwandten mehr geliebet werden, als er.
Allein niemals ging wohl eine groͤßere Veraͤnde-
rung mit einem Menſchen vor, als mit ihm, da
er zu Haufe kam und einen Brief von einem
Bothen empfing, der ſich, wie es ſcheinet, mit
der Hoffnung, eine gute Belohnung von ihm zu
bekommen, geſchmeichelt, und von dem vorigen
Abend an auf ſeine Ruͤckkunft gewartet hatte.
Jn einer ſolchen Wuth! ‒ ‒ Der Kerl fuͤrch-
tete ſich nur, er moͤchte uͤbel angelaufen ſeyn.
Er aber ſchloß ſich den Augenblick ein, und be-
fahl, daß ein Kerl zu Pferde bereit ſeyn ſollte,
des folgenden Morgens vor Tageslicht abzuge-
hen, und den Brief an einen Freund in London
zu bringen.
Er wollte uns den ganzen Abend nicht ſehen,
auch des folgenden Tages mit uns weder Fruͤh-
ſtuͤck, noch Mittagsmahlzeit halten. Er verdien-
te, ſprach er, niemals das Licht zu ſchauen. Er
nannte meine Schweſter eine Unſchuldige: da
ſie ſehr begierig war, die Veranlaßung zu dem
allen erfahren. Er gebot ihr, ihn zu meiden:
und ſagte, er waͤre ein elender Meufch, und durch
ſeine eigne Erfindungen, und die Folgen derſel-
ben, dazu gemacht.
Niemand unter uns konnte von ihm heraus-
bringen, was ihn ſo beunruhigte. Wir ſollten
es nur allzu bald hoͤren, waren ſeine Worte, zur
aͤußer-
[265]
aͤußerſten Zernichtung aller ſeiner und aller un-
ſerer Hoffnung.
Wir konnten leicht vermuthen, daß nicht
alles recht mit der ruhmwuͤrdigen Fraͤulein ſte-
hen mußte.
Er war alle Tage aus: und ſagte, er moͤchte
aus ſich ſelbſt entlaufen.
Am Montage, ſpaͤt des Abends, bekam er
einen Brief durch ſeinen eignen Bothen, der mit
ſolcher Eilfertigkeit zuruͤckkehrte, daß Kerl und
Pferd rauchten, von Herrn Belford, ſeinem Lieb-
ling unter ſeinen Freunden. Der Jnhalt mag
geweſen ſeyn, was er will: er ward dadurch nicht
geruhiger, ſondern vielmehr wie ein Unſinniger.
Jedoch wollte er uns die Urſache noch nicht wiſ-
ſen laſſen. Nur ſprach er zu meiner Schweſter:
kein Menſch, meine liebe Martha, der ſich nur
halb die Plagen vorſtellen koͤnnte, welche einen
zu Raͤnken geneigten Kopf verfolgen, wuͤrde je-
mals die rechte Bahn verlaſſen.
Er war nicht zu Hauſe, als Jhr Bothe kam:
aber er kam bald, und ward von uns allen uͤbel ge-
nug empfangen. Seine eigne Marter, ſagte er
dagegen, waͤre groͤßer, als die, welche wir, welche
Fraͤulein Harlowe, welche Sie, wertheſte Fraͤu-
lein, empfaͤnden, alle zuſammen genommen. Er
wollte Jhren Brief ſehen. Er muß allemal al-
les vor ſich haben. Nachdem er ihn geleſen hat-
te: ſprach er, er dankte Gott, daß er nicht ein
ſolcher Boͤſewicht waͤre, als Sie, nur mit allzu
vielem Grunde, von ihm daͤchten.
R 5Darauf
[266]
Darauf geſtand er uns, die Sache verhielte
ſich alſo:
Er haͤtte den Leuten in dem Hauſe, woraus
die werthe Fraͤulein entflohen waͤre, uͤberhaupt
und ohne genaue Beſtimmung aufgetragen, wo
moͤglich ausfuͤndig zu machen, wohin ſie gegan-
gen waͤre, damit er Gelegenheit haben moͤchte,
ſie duͤrch unablaͤßliches Anhalten zu bewegen, daß
ſie ſeine Hand annaͤhme, ehe ihre Mishelligkeiten
uͤberall bekannt wuͤrden. Die gottloſen, wenig-
ſtens allzudienſtfertigen, wo nicht gottloſen
Leute, entdeckten am Mittwochen, wo ſie ſich auf-
hielte: und weil ſie beſorgten, ſie moͤchte von
dannen wieder aufbrechen, ehe ſie von ihm Ver-
haltungsbefehle haben konnten; brachten ſie die-
ſelbe in eine gelinde Verwahrung, wie ſie es
nennen, und fertigten einen Bothen ab, ihm Nach-
richt davon zu geben und Verhaltungsbefehle von
ihm einzuholen.
Dieſer Bothe langte hier am Freytage, Nach-
mittags, an, und wartete, bis wir am Sonna-
bend, Abends, zu Hauſe kamen. ‒ ‒ Jch habe
Jhnen ſchon gemeldet, liebſte Fraͤulein, in was
fuͤr eine Wuth er gerieth, da er den Brief las,
welchen jener brachte.
Der Brief, den er, nach ſeiner zu dem Ende
geſchehenen Abſonderung von uns, ſchrieb, und
am Sonntag Morgen ſo fruͤhe abfertigte, hatte
den Zweck, ſeinen Freund, Herrn Belford, zu be-
ſchwoͤren, daß er bey dem Empfang deſſelben al-
ſobald zu der Fraͤulein eilte, ſie in Freyheit ſetzte,
ihr
[267]
ihr alle ihre Sache zuſchicken ließe, und ſeine Un-
ſchuld, bey einer ſo ſcheuslichen und niedertraͤch-
tigen That, wie er ſie mit Recht nannte, rettete.
Gegenwaͤrtig zweifelt er nicht, daß alles
gluͤcklich vorbey, und die Geliebte ſeiner Seele;
ſo nennt er ſie bey jedem Worte; unter beque-
mern und gluͤcklichern Umſtaͤnden, als vor der
ſchrecklichen That, ſeyn werde. Er bekennet itzo,
daß die Urſache, warum ihn der Brief von Hrn.
Belford noch unruhiger und wunderlicher ge-
macht, dieſe geweſen: weil er ihn aus Vorſatz,
und in der Abſicht, ihn zu quaͤlen, in ungewiſſer
Erwartung gehalten; ihm ſchwere Vorwuͤrfe ge-
macht; und bloß gemeldet, daß er ihr aufgewartet;
die weitern Umſtaͤnde aber, welche er ihm damals
zugleich haͤtte eroͤffnen koͤnnen, bis zu ſeinem naͤch-
ſten Schreiben verſparet haͤtte. Herr Belford, ſagt
er, iſt allemal ein Freund und Fuͤrſprecher der
Fraͤulein geweſen.
Er verſichert, und wir koͤnnen es fuͤr ihn
betheuren, daß er beſtaͤndig, ſeit verwichenen
Sonnabends Abend, der elendeſte Menſch gewe-
ſen ſey.
Er hat ſich deswegen enthalten, ſelbſt nach
London zu gehen, damit man ſich nicht einbilden
moͤchte, daß er an einem ſo ſcheuslichen Anſchla-
ge Schuld haͤtte, und hinauf kaͤme, einige ſchaͤnd-
liche Abſichten dem zu Folge zu vollfuͤhren.
Glauben Sie, wertheſte Fraͤulein Howe, daß
wir alle uͤber dieſen ungluͤcklichen Zufall den
empfindlichſten Schmerzen fuͤhlen. Wir beſor-
gen,
[268]
gen, er werfe die vortreffliche und bedraͤngte Fraͤu-
lein, zwar nicht zu viel fuͤr die Veranlaßung
dazu, aber zu viel fuͤr unſere Hoffnung, er-
bittern.
O was fuͤr elende Leute ſind dieſe Freygeiſter
in der Lebensart, die gern ungebahnte und ver-
worrene Wege betreten, und, wenn ſie einmal
irren, nicht wiſſen, wie weit ihr eigenſinniger Lauf
ſie von der rechten Bahn abfuͤhren moͤge!
Meine Schweſter danket, nebſt mir, Jhrer
guͤtigen Frau Mutter und Jhnen fuͤr die Gunſt-
bezeigungen, womit Sie uns am verwichenen
Donnerſtage uͤberhaͤufet haben. Wir bitten, ſich
ferner die Sache, worauf unſer Beſuch zielte,
angelegen ſeyn zu laſſen. Wir werden auf nichts
anders ſinnen, als wie wir der liebenswuͤrdigen
Fraͤulein gefaͤllig ſeyn, und ihr nach unſerm aͤu-
ßerſten Vermoͤgen das, was ſie von dem un-
gluͤcklichen Menſchen gelitten hat, gut machen
koͤnnen.
Wir verbleiben, wertheſte Fraͤulein,
Jhre verbundne und getreue Dienerinnen
- Charlotte
- Martha
Wir vereinigen unſere Bitte mit dem obigen Er-
ſuchen der Fraͤulein Charlotte und Fraͤulein
Martha Montague, daß Sie die Guͤte haben wol-
len, ſich der Sache anzunehmen: da wir uͤberzeugt
ſind,
[269]
ſind, daß der Zufall ein bloßer Zufall, und kein
geſpielter Streich oder Anſchlag von einem Boͤ-
ſewicht, der ſonſt nur allzu voll davon iſt, gewe-
ſen ſeyn. Wir verharren, wertheſte Fraͤulein
Jhre gehorſamſte Diener und
Dienerinnen
M.
Sarah Sadleir.
Eliſabeth Lawrance.
Nach dem, was oben von ſolchen Namen und
Haͤnden geſchrieben iſt, wider deren Ehre
ſo unſtreitig nichts einzuwenden ſeyn kann, haͤtte
ich entſchuldigt und uͤberhoben ſeyn moͤgen, einen
Namen unterzuſchreiben, der mir ſelbſt beynahe
eben ſo verhaßt iſt, als ich weiß, daß er Jhnen
iſt. Allein die obigen wollen es ſo haben. Da
ich alſo ſchreiben muß: ſo ſoll es die Wahrheit
ſeyn. Hier iſt ſie. Wo mir noch einmal zuge-
laſſen wird, der am meiſten wohlverdienten und
am meiſten beleidigten Perſon ihres Geſchlechts
meine Schuldigkeit zu bezeigen: ſo will ich mir
gefallen laſſen, es mit einem Halfter um den Hals
zu thun, und mich, von einem Pfarrer, zu mei-
ner rechten, und dem Henker, zu meiner linken
Hand, begleitet, nach ihrem Willen entweder zur
Kirche oder zum Galgen verurtheilen laſſen.
18ten Jul.
Jhr gehorſamſter
Diener
Robert Lovelace.
Der
[270]
Der vierzigſte Brief
von
Hrn. Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Was fuͤr einen verfluchten Handel haſt du
mit dem vortrefflichſten unter allen Frau-
enzimmern getrieben! Es mag nun ein Vorge-
ben Ernſt, oder Scherz ſeyn; wie du willſt: ſo
wird die arme Fraͤulein gewiß nicht lange dein,
oder des Gluͤckes, Spiel ſeyn.
Jch will dir eine Nachricht von einem Auf-
zuge geben, dem nur ihre ruͤhrende Feder fehlet,
ihn recht vorzuſtellen: ſo wuͤrde er alle dein
ſchwarzes Blut aus deinem ſchwielichten Herzen
preſſen.
Du allein, der du die Urſache ihrer Drang-
ſale biſt, haͤtteſt ihr in ihrem Gefaͤngniſſe auf-
warten ſollen. Jch bin einem ſolchen Amte nicht
gewachſen: und weiß auch nicht anders, als daß
es ein jeder anderer Menſch eben ſo wenig ſeyn
wuͤrde.
Dieſe letzte That hat dein grauſames Werk
vollendet. Wenn ſie gleich wider deine Abſicht
geſchehen iſt: ſo iſt ſie doch eine Folge von deinen
uͤberhaupt ausgeſtellten Befehlen; und konnte
nur mit allzu vieler Wahrſcheinlichkeit von denen,
die deine andere Schandthaten gegen die Fraͤu-
lein wiſſen, fuͤr einen dir angenehmen Dienſt an-
geſe-
[271]
geſehen werden. Nun rathe ich dir, ohne Scheu
allenthalben auszupoſaunen, wie ernſtlich du wuͤn-
ſcheſt, mit ihr vermaͤhlet zu werden: es mag dein
Ernſt ſeyn, oder nicht.
Du kannſt es ſicher thun. Sie wird nicht
ſo lange leben, daß du auf die Probe geſtellet
wuͤrdeſt: und es wird doch eine kleine Bemaͤn-
telung fuͤr dein ungeheures Verfahren mit ihr
ſeyn; und ein Mittel, zu machen, daß Leute, die
nicht das, was ich, von der Sache wiſſen, dich ein
wenig laͤnger unter ſich, und in ihrer Gemein-
ſchaft, dulden, ohne dich zu deinen Bruͤdern, den
Wilden in den Wuͤſten Libyens, zu jagen.
Euer Bothe ſand mich zu Edgware, da ich
verſchiedne gute Freunde zum Mittagseſſen bey
mir erwartete, die ich drey Tage vorher eingela-
den hatte. Jch ſchickte zu ihnen, daß ſie mich,
wegen einer Sache, die auf Leben und Tod ankaͤ-
me, entſchuldigt hielten: und eilte nach London
zu dem gottloſen Weibe. Denn wie wußte ich,
ob nicht von den verfluchten Weibsleuten, viel-
leicht auf dein Angeben, damit du die Fraͤulein
muͤrbe und zu deinen Maaßregeln bequem ma-
chen moͤchteſt, aͤrgerliche Verſuche auf ſie gethan
wuͤrden?
Es iſt wenig in der Welt bekannt, was fuͤr
Schandthaten in dieſen abſcheulichen Haͤuſern ge-
gen unſchuldige und in ihr Garn gezogene Per-
ſonen veruͤbet werden!
Da ich die Fraͤulein hier nicht fand: machte
ich mich alſobald auf zu dem Gerichtsbedienten;
ob
[272]
ob mir gleich Sarah erzaͤhlte, daß ſie eben daher
gekommen waͤre, und daß die Fraͤulein weder ſie,
noch ſonſt jemand, wie ſie haͤtte herunter ſagen
laſſen, zu ſehen willens waͤre, indem ſie die noch
uͤbrige Zeit dieſes Sonntages fuͤr ſich haben woll-
te, weil es vielleicht der letzte ſeyn moͤchte, den ſie
erlebte.
Als ich dahin kam: ward mir eben der Be-
ſcheid gegeben.
Jch ſchickte hinauf, und ließ ihr ſagen, daß ich
deswegen kaͤme, weil mir aufgetragen waͤre, ſie in
Freyheit zu ſetzen. Jch ſcheuete mich, den Na-
men von einem Menſchen, der fuͤr einen Freund
von dir bekannt iſt, hinaufſagen zu laſſen. Sie
erklaͤrte ſich inzwiſchen, ſchlechterdings memand,
er ſey, wer er wolle, fuͤr den Tag, vor ſich zu
laſſen, noch auf irgend etwas, das von mir geſagt
wuͤrde, weiter Antwort zu geben.
Nachdem ich mich alſo nach allem erkundigt
hatte, was der Gerichtsbediente, ſeine Frau und
ſeine Magd mir von dem ſcheuslichen Verhaft,
von ihrem Betragen, von dem Verhalten der
Weibsleute gegen ſie, und von ihrem ſchlechten
Geſundheitszuſtande melden konnten: ſo ging ich
wieder zu Sinclairs Hauſe, wie ich ſie noch nen-
nen will, zuruͤck, und hoͤrte die Erzaͤhlung der
drey Weibsleute an. Dieß alles hat mich in
den Stand geſetzt, dir folgende Nachricht von
den aͤrgerlichen Umſtaͤnden zu erth ilen, welche
dir genug ſeyn mag, bis ich dis ungluͤckliche Fraͤu-
lein morgen ſelbſt ſehen kann, wo es moͤglich iſt,
alsdenn
[273]
alsdenn vor ſie zu kommen. Du wirſt finden,
daß ich in meinen Erkundigungen mich ſehr ge-
nau um alle Umſtaͤnde bekuͤmmert habe.
Dein ſchaͤndlicher Kerl war es, der die arme
Fraͤulein ihren Faͤngern anwieß, und die Unver-
ſchaͤmtheit hatte, ſich ſehen zu laſſen, und die Ge-
richtsbedienten bey der verfluchten Handlung an-
zufriſchen. Er dachte, ſonder Zweifel, ſeinem
loͤblichen Herrn den angenehmſten Dienſt zu
thun. Man hatte eine Saͤnfte bey der Hand,
und der Raͤdelsfuͤhrer hielte ſich bereit, ſo bald
der Gottesdienſt vorbey war. Da die Fraͤulein
aus der Kirche, zu der Thuͤre, die auf die Bed-
fordſtraße geht, heraus kam: traten die Gerichts-
bedienten zu ihr, und ſagten ihr ins Ohr, daß ſie
einen Handel gegen ſie haͤtten.
Sie erſchrack, zitterte und erblaßte.
Handel! ſprach ſie. Was iſt das? Jch
habe an keinem boͤſen Handel Theil! ‒ ‒
Gott ſey mir gnaͤdig! meine guten Leute, was
meynet ihr?
Daß ſie unſere Gefangene ſind, Madame.
Gefangene, meine Herren! ‒ ‒ Was ‒ ‒
Wie ‒ ‒ Warum ‒ ‒ Was habe ich gethan?
Sie muͤſſen mit uns gehen. Laſſen ſie ſich
gefallen, Madame, in dieſe Saͤnfte zu ſteigen.
Mit euch! ‒ ‒ Mit Mannsleuten! ‒ ‒
Soll ich mit Mannsleuten gehen! ‒ ‒ Jch
bin nicht gewohnt, mit fremden Mannsleuten
zu gehen! ‒ ‒ Jn Wahrheit, ihr muͤſſet mich
entſchuldigt halten!
Sechſter Theil. SWir
[274]
Wir koͤnnen ſie nicht entſchuldigt halten: wir
ſind Gerichtsbediente ‒ ‒ Wir haben einen
ſchriftlichen Befehl gegen ſie. Sie muͤſſen mit
uns gehen, und ſollen ſchon erfahren, auf weſſen
Ruͤge.
Ruͤge! verſetzte die unſchuldige Schoͤne:
ich weiß nicht, was ihr meynet. Jch bitte euch,
Leute, legt keine Hand an mich ‒ ‒ Man wollte
ſie in die Saͤnfte heben ‒ ‒ Jch bin nicht ge-
wohnt, ſo mit mir umgehn zu laſſen! ‒ ‒ Jch
habe nichts gethan, wodurch ich es verdiente.
Darauf bekam ſie deinen gottloſen Kerl zu
Geſichte ‒ ‒ O du Boͤſewicht, ſprach ſie, wo iſt
dein ſchaͤndlicher Herr? ‒ ‒ Soll ich wieder ſei-
ne Gefangene ſeyn? Helft, lieben Leute!
Es hatte ſich ſchon vorher ein Schwarm zu
ſammlen angefangen.
Mein Herr iſt auf dem Lande, Madame,
viele Meilen von hier. Wenn ſie ſich nur belie-
ben laſſen, mit dieſen Leuten zu gehen: ſo werden
ſie ihnen mit aller Hoͤflichkeit begegnen.
Das Volk hatte groͤßtentheils Mitleiden mit
ihr. Ein feines junges Frauenzimmer! ‒ ‒
Tauſend Schade! ſagten einige ‒ ‒ Einige we-
nige machten unterdeſſen ſchaͤndliche und aͤrger-
liche Anmerkungen. Ein anſehnlicher Mann
aber ſchlug ſich ins Mittel, und verlangte die
Vollmacht der Leute zu ſehen.
Sie zeigten ihm dieſelbe. Jſt ihr Name
Clariſſa Harlowe, Madame? fragte der Herr.
Ja,
[275]
Ja, ja, in der That, antwortete ſie, und waͤ-
re beynahe zu Boden geſunken, mein Name iſt
vormals Clariſſa Harlowe geweſen: ‒ aber
nun iſt er Jammer und Elend! ‒ ‒ Gott
ſey mir gnaͤdig! was wird weiter folgen.
Sie muͤſſen mit dieſen Leuten gehen, Ma-
dame, ſagte der Herr: ſie haben Vollmacht zu
dem, was ſie thun. Er bezeugte ihr ſein Mit-
leiden und ging fort.
Jn der That, ſie muͤſſen, ſprach einer von
den Saͤnftentraͤgern.
Jn der That, ſie muͤſſen, ſagte der andere.
Kann man ſich, fiel noch ein anderer Herr
ein, an niemand wenden, der zuſehe, daß einem
ſo feinen Frauenzimmer nicht uͤbel begegnet
werde?
Dein ſchaͤndlicher Kerl antwortete: Es waͤre
dazu beſonders Befehl gegeben. Sie haͤtte rei-
che Anverwandten. Sie duͤrfte nur fordern: ſo
wuͤrde ſie alles bekommen. Man wuͤrde ſie bloß
in eines Gerichtsbedienten Haus fuͤhren: bis die
Sachen abgethan werden koͤnnten. Die Leute,
bey denen ſie gewohnt haͤtte, hegten viele Liebe
gegen ſie: allein ſie haͤtte ihre Zimmer heimlich
verlaſſen.
Ey! hatte ſie ſchon ſolche Streiche im Kopfe?
riefen einer oder zween.
Dieß hoͤrte ſie nicht ‒ ‒ Aber ſagte: Wohl-
an, wenn ich gehen muß: ſo muß ich! ‒ ‒ Jch
kann nicht widerſtehen ‒ ‒ Nur will ich nicht zu
dem Weibe gehracht ſeyn! ‒ ‒ Jch will lieber zu
S 2euren
[276]
euren Fuͤßen ſterben, als mich zu dem Weibe
bringen laſſen.
Sie werden nicht dahin gebracht werden,
Madame, rief dein Kerl.
Nur in mein Haus, Madame, ſagte einer
von den Gerichtsbedienten.
Wo iſt das?
Jn High-Holborn, Madame.
Jch weiß nicht, wo High-Holborn iſt: al-
lein es mag ſeyn, wo es will, nur nicht zu dem
Weibe. ‒ ‒ Aber ſoll ich bloß mit Mannsleu-
ten gehen?
Da ſie um ſich ſahe und gewahr ward, daß
die drey Wege, naͤmlich nach der Henriettenſtraße,
nach der Koͤnigsſtraße und gerade zu nach der
Bedfordſtraße, voll Gedraͤnge von dem zuſam-
mengelaufenen Volke waren: ſo ſtutzte ſie ‒ ‒
Es ſey, wohin es wolle ‒ ‒ Es ſey, wohin es
wolle, ſprach ſie: nur nicht in des Weibes Haus!
Hiemit trat ſie in die Saͤnfte, und warf ſich, in
der aͤußerſten Beklemmung und Verwirrung,
auf den Sitz ‒ ‒ Tragt mich, tragt mich aus den
Augen ‒ ‒ Bedeckt mich ‒ ‒ Bedeckt mich ‒ ‒
auf ewig! ‒ ‒ Das waren ihre Worte.
Dein gottloſer Kerl zog die Vorhaͤnge zu.
Sie war kraftlos. So gingen ſie mit ihr durch
einen ungeheuren Schwarm des Volkes fort.
Hier muß ich ausruhen. Jch kann itzo nicht
mehr ſchreiben. Nur erinnere dich, Lovelace,
alles dieß widerfuhr einer Clariſſa!!!
Die
[277]
Die ungluͤckliche Fraͤulein ſank in Ohnmacht
nieder, als ſie in des Gerichtsbedienten Hauſe
aus der Saͤnfte gehoben ward.
Einige von dem Volke folgten der Saͤnfte
gar bis an das Haus nach, welches in einem elen-
den Hofe iſt. Sarah war da; und befriedigte
einige von den Nachfragenden damit, daß dem
jungen Frauenzimmer uͤber alle Maaßen wohl
wuͤrde begegnet werden. Alſo zerſtreueten ſie
ſich bald.
Dorcas war auch da: aber kam ihr nicht zu
Geſichte. Sarah bot ihr, als eine beſondere
Gefaͤlligkeit an, ſie in ihre vorige Wohnung zu
bringen. Allein ſie erklaͤrte ſich, daß man ſie
nicht anders als todt dahin bringen ſollte, wenn
man es thaͤte.
Die Weibsleute machen ſich mit der ſehr ge-
linden Begegnung groß, die der Fraͤulein wider-
fahren iſt. Das wuͤrde auch eben ſo gut ein
Geier thun, koͤnnte er nur ſprechen: wenn er das
Eingeweide von ſeinem Raube auf ſeinen raͤube-
riſchen Klauen hat. Dieſes wirſt du aus dem
urtheilen, was ich zu erzaͤhlen habe.
Sie fragte, was man mit dieſer Begegnung
haben wollte, die ihr widerfahren waͤre? ‒ ‒ Die
Leute ſagten mir, ſprach ſie, daß ich mit den
Mannsperſonen gehen muͤßte! ‒ ‒ Sie haͤtten
Vollmacht, mich zu nehmen. Alſo unterwarf
S 3ich
[278]
ich mich. Aber was ſoll denn nun die Abſicht
dieſer ſchimpflichen Gewaltthaͤtigkeit [...]
Die Abſicht, antwortete die ſchaͤndliche Sa-
rah Martin, iſt, daß ehrliche Leute zu dem Jhri-
gen kommen.
Gott behuͤte mich! Habe ich etwas genom-
men, das denen zugehoͤrt, die ſich dieſe Gewalt
uͤber mich ausgewirkt haben? ‒ ‒ Jch habe ſehr
koſtbare Sachen zuruͤckgelaſſen: aber nichts mit
mir genommen, das nicht mein eigen iſt.
Wer denken ſie, Fraͤulein Harlowe; denn
ich vernehme, ſagte das verfluchte Weibsbild,
daß ſie nicht verheyrathet ſind; wer denken ſie,
ſoll fuͤr ihren Tiſch und ihre Zimmer bezahlen;
fuͤr ſo ſchoͤne Zimmer! auf eine ſo lange Zeit, als
ſie bey der Fr. Sinclair geweſen ſind?
Gott ſey mir gnaͤdig! Jungfer Martin! ‒ ‒
Jch denke, ſie ſind Jungfer Martin ‒ ‒ Jſt
das die Urſache eines ſo ſchmaͤhligen Schimpfes,
der mir auf freyer Gaſſe angethan iſt?
Urſache genug, Fraͤulein Harlowe ‒ ‒
Sie hatte ihre innige Freude daran, ihrer eifer-
ſuͤchtigen Rachbegierde dadurch Genuͤge zu thun,
daß ſie ſie Fraͤulein nannte ‒ ‒ Hundert und
funfzig Guineas oder Pfund iſt nicht eine Klei-
nigkeit zu verlieren ‒ ‒ und zwar bey einer jun-
gen Perſon, die fuͤr ihre Zimmer betruͤgen
wollte!
Sie ſetzen mich in Erſtaunen, Jungfer Mar-
tin! ‒ ‒ Was iſt das fuͤr eine Sprache, die ſie
reden?
[279]
reden? ‒ ‒ Fuͤr meine Zimmer betruͤgen!
‒ ‒ Was iſt das?
Sie ſtand beſtuͤrzt und ſchwieg auf einige
Augenblick ſtille.
Aber ſie faßte ſich wieder, wandte ſich von
ihr zum Fenſter, rang ihre Haͤnde. ‒ ‒ Die ver-
fluchte Sarah zeigte mir, wie! ‒ ‒ ‒ und hub
ſie in die Hoͤhe. ‒ ‒ Nun, Lovelace! Nun den-
ke ich in der That, daß ich dir haͤtte vergeben
ſollen! ‒ ‒ Aber wer ſoll Clariſſa Harlowen
vergeben! ‒ ‒ O meine Schweſter! O mein
Bruder! Gegen dieß waren eure Grauſamkei-
ten noch zaͤrtliche Liebesbezeigungen!
Nachdem ſie ein wenig inne gehalten hatte;
wobey ihr Schnupftuch die fallenden Thraͤnen in
ſich zog: wandte ſie ſich zu Sarah. Nun ha-
be ich nichts anders zu thun, als mich zufrieden
zu geben. ‒ ‒ Nur dieß will ich ſagen, wo dieſe
ihre Tante, dieſe Fr. Sinclair, oder dieſer Kerl,
dieſer Herr Lovelace, zu mir kommt; oder ich in
das ſcheusliche Haus gebracht werde; denn das,
vermuthe ich, iſt die Abſicht bey dieſer neuen Ge-
waltthaͤtigkeit und Beſchimpfung; Gott ſey der
armen Clariſſa Harlowe gnaͤdig! ‒ ‒ ſo ſehen ſie,
was es fuͤr Folgen haben wird! ‒ ‒ Sehen ſie
zu, ich rathe es ihnen, was es fuͤr Folgen haben
wird!
Das ſchaͤndliche Weibsbild antwortete ihr, es
waͤre nicht darauf angeſehen, ſie gegen ihren Wil-
len irgendwohin zu bringen: aber wenn es waͤre,
ſo wuͤrden ſie ſich in Acht nehmen, ſich nicht wie-
S 4der
[280]
der durch ein Federmeſſer erſchrecken zu
laſſen.
Sie ſchlug ihre Augen auf zum Himmel,
ſchwieg ſtille ‒ ‒ ging in die entferntſte Ecke des
Zimmers, ſetzte ſich nieder und zog ihr Schnupf-
tuch uͤber das Geſicht.
Sarah that ihr verſchiedne Fragen. Da ſie
ihr aber nicht antwortete: ſagte ſie zu ihr, ſie
wollte ihr alſobald wieder aufwarten, wenn ſie
ihre Sprache bekommen haͤtte.
Sie trug den Leuten auf, ſie zu noͤthigen,
daß ſie aͤße und traͤnke. Sie muß immer faſten:
nichts als ihr Gebet und ihre Thraͤnen, armes
Ding! waren die Worte des unbarmherzigen
Teufels, wie ſie mir geſtanden hat ‒ ‒ Meynſt
du, daß ich nicht auf ſie fluchte?
Sie ging weg, und nach ihrer Mittagsmahl-
zeit kam ſie wieder dahin.
Die ungluͤckliche Fraͤulein ſchien dann, nach
der Erzaͤhlung dieſes Teufels von ihr, entweder
durch den Kummer muͤrbe und ſanftmuͤthig ge-
macht zu ſeyn, oder einen Entſchluß gefaßt zu
haben, daß ſie ſich durch die Beſchimpfungen
von dieſem verfluchten Weibsbilde nicht reizen
laſſen vollte.
Sarah erkundigte ſich in ihrer Gegenwart,
ob ſie etwas gegeſſen oder getrunken haͤtte. Da
die Frau ihr Nachricht gab, ſie haͤtte es bey ihr
nicht dahin bringen koͤnnen, daß ſie einen Biſſen
gekoſtet oder einen Tropfen getrunken haͤtte: ſagte
ſie: Dieß iſt arg, Fraͤulein Harlowe! Sehr
arg!
[281]
arg! ‒ ‒ Jhre Religion, denke ich, ſollte ſie leh-
ren, daß es ein Selbſtmord iſt, wenn ſie Hun-
gers ſterben wollen.
Sie antwortete nicht.
Das gottloſe Menſch hat mir geſtanden, ſie
haͤtte ſich vorgenommen gehabt, ſie dahin zu brin-
gen, daß ſie ſpraͤche.
Sie fragte, ob Mabelle ihr aufwarten ſollte,
bis man ſaͤhe, was ihre Freunde fuͤr ſie, in Be-
zahlung der Schuld, thun wollten? Mabelle,
ſagte ſie, hat die Kleider noch nicht verdient, die
ſie ſo guͤtig geweſen ſind ihr zu geben.
Bin ich nicht einer Antwort werth, Fraͤu-
lein Harlowe?
Jch wollte ihnen antworten, ſprach die ſanft-
muͤthige Bedraͤngte, ohne die geringſte Bewe-
gung, wenn ich wuͤßte, wie.
Jch habe Anſtalt gemacht, daß ihnen Feder,
Dinte und Papier gebracht werde, Fraͤulein
Harlowe. Da iſt es. Jch weiß, ſie ſchreiben
gern. Sie moͤgen ſchreiben, an wen es ihnen be-
liebt. Jhre Freundinn, die Fraͤulein Howe wird
warten, Nachricht von Jhnen zu haben.
Jch habe keinen Freund oder Freundinn,
verſetzte ſie. Jch verdiene keine.
Rowland, das iſt des Gerichtsbedienten Na-
me, ſagte zu ihr: Sie haͤtte Freunde genug, ihre
Schuld zu bezahlen, wenn ſie ſchreiben wollte.
Sie wollte niemand beſchweren: ſie haͤtte
keine Freunde. Das war alles, was ſie aus ihr
bringen konnten, ſo lange als Sarah da blieb.
S 5Jedoch
[282]
Jedoch redete ſie es mit einem gedultigen Gemuͤ-
the, als wenn ſie ihre Schmerzen fuͤhlte.
Das vermeſſene Weibsbild ging weg, und
verordnete vor ihren Ohren, daß ſie ihr ſehr hoͤf-
lich begegnen, und nichts mangeln laſſen ſollten.
Nun haͤtte ſie, geſtand ſie mir, ihren gewuͤnſchten
Sieg uͤber dieſe hochmuͤthige Schoͤne, die gegen
ſie alle in ihrem eignen Hauſe ſo fremde und vor-
nehm gethan.
Was denkſt du hievon, Lovelace! ‒ ‒
Der Sieg dieſes nichtswuͤrdigen Weibsbil-
des war uͤber eine Clariſſa.
Um ſechſe, des Abends, noͤthigte ſie Rowlands
Weib, daß ſie Thee trinken moͤchte. Sie wollte
lieber ein Glaß Waſſer haben, ſagte ſie: denn
ihre Zunge wollte ihr beynahe an dem Gaumen
kleben.
Das Weib brachte ihr ein Glaß, und etwas
Brodt und Butter. Sie verſuchte das letztere zu
koſten: aber konnte es nicht niederſchlucken. Al-
lein das Waſſer trank ſie mit heißer Begierde,
und ſchlug ihre Augen in Dankbarkeit dafuͤr in
die Hoͤhe!!!
Die goͤttliche Clariſſa, Lovelace ‒ ‒ ſo
weit gebracht, daß ſie ſich uͤber einen Be-
cher kalten Waſſers freuen muß! ‒ ‒ Durch
wen ſo weit gebracht!
Um neun Uhr fragte ſie, ob jemand bey ihr
ſchlafen ſollte?
Jhre Magd; wo es ihr gefaͤllig waͤre: oder,
weil ſie ſo ſchwach und krank waͤre, ſollte das
Maͤgd-
[283]
Maͤgdchen bey ihr aufſitzen, wenn ſie es haben
wollte.
Sie wollte am liebſten ſo wohl bey Nacht als
bey Tage alleine ſeyn, verſetzte die Fraͤulein. Aber
koͤnnten ihr nicht die Schluͤſſel zu dem Zimmer,
wo ſie liegen ſollte, anvertrauet werden? denn ſie
wuͤrde ihre Kleider nicht ablegen.
Das, ſagten ſie ihr, koͤnnte nicht geſchehen.
Sie haͤtte wohl beſorgt, erwiederte ſie, daß es
nicht geſchehen wuͤrde ‒ ‒ Allein in der That, ſie
wollte nicht weggehen, wenn ſie auch koͤnnte.
Die Leute erzaͤhlten mir, daß ſie außer dem
Bette, worinn ſie ſelbſt ſchliefen, welches ſie gern
von ihr wuͤrden angenommen geſehen haben, und
außer dem, worinn ihre Magd laͤge, nur noch ein
einziges oben in einer Kammer, wie ſie es nann-
ten, einem Loche von einer Kammer, haͤtten: und
das waͤre der Gefangenen Bette. Sie machten
deswegen verſchiedne Entſchuldigungen gegen
mich. Jch gedenke, es iſt aͤrgerlich genug.
Aber die Fraͤulein wollte in ihrem Bette nicht
liegen. Waͤre ſie nicht eine Gefangene? ſprach
ſie. ‒ ‒ Man ſollte ihr den gewoͤhnlichen Platz
der Gefangenen anweiſen.
Jedoch geſtunden ſie, daß ſie ſtutzig geworden
waͤre, als man ſie dahin gefuͤhret haͤtte. Aber ſie
faßte ſich wieder. Gar gut, ſagte ſie ‒ ‒ War-
um ſollte nicht alles von einem Schlage ſeyn?
‒ ‒ Warum ſollte mein Elend nicht ganz voll-
kommen ſeyn?
Sie
[284]
Sie hatte nur das dabey auszuſetzen, daß alle
Befeſtigungen von auſſen, und keine von innen
waͤren. Sie koͤnnte nicht ruhig ſeyn, ſprach ſie,
in einem Zimmer, wo andere nach ihrem Belie-
ben hinein, und ſie nicht herauskommen koͤnnte.
Sie waͤre dazu nicht gewoͤhnt!!!
Die theure, theure Seele! ‒ ‒ Meine
Thraͤnen fließen, wie ich ſchreibe. ‒ ‒ Jn
der That, Lovelace, ſie war einer ſolchen
Begegnung nicht gewohnt!
Die Leute verſicherten ſie, es waͤre eben ſo
viel ihre Schuldigkeit, ſie vor anderer Gewalt
und Spott zu beſchuͤtzen, als ſie zu bewahren,
daß ſie nicht davon ginge.
So waͤren ſie Leute, auf deren Ehrlichkeit
man ſich mehr verlaſſen koͤnnte, als ſie ſeit einiger
Zeit zu finden gewohnt waͤre.
Sie fragte, ob ſie Herrn Lovelace kennten?
Nein, war ihre Antwort.
Habt ihr von ihm gehoͤrt?
Nein.
Nun ſo moͤcht ihr wohl gute Leute in eurer
Art ſeyn.
Halte hier einen Augenblick inne, Love-
lace! ‒ ‒ und uͤberlege ‒ ‒ Jch muß.
Man fragte ſie wieder, ob man auch etwas in
ihrer Wohnung anſagen laſſen ſollte?
Dieß iſt nun meine Wohnung: nicht? ‒ ‒
Das war alle ihre Antwort.
Sie
[285]
Sie ſaß die ganze Nacht in einem Stuhl auf,
mit dem Ruͤcken gegen die Thuͤr: und hatte, wie
es ſcheint, ein zerbrochnes Stuͤck Holz in die Hen-
kel geſteckt, worinn von innen ein Riegel geweſen
war.
Des folgenden Tages fruͤhe kamen Sarah
und Marichen beyde, ſie zu beſuchen.
Sie hatte ſich des vorhergehenden Tages von
Sarah ausgebeten, daß ſie weder Fr. Sinclair,
noch Dorcas, noch den Diener mit den abgebroch-
nen Zaͤhnen, der Wilhelm hieße, ſehen duͤrfte.
Marichen wollte ſich gern bey ihr in Gunſt
ſetzen, und ſtellte ſich, als wenn ſie an ihrem Un-
gluͤck viel Theil naͤhme. Aber die Fraͤulein mach-
te ſich nicht mehr aus ihr, als aus der andern.
Sie fragten, ob ſie etwas zu befehlen haͤtte?
‒ ‒ Wo ſie etwas haͤtte: duͤrfte ſie nur ſagen,
was es waͤre; ſo ſollte ihr gehorchet werden.
Nein, gar nichts, ſagte ſie.
Wie gefielen ihr die Leute im Hauſe? Waͤ-
ren ſie hoͤflich gegen ſie?
Sehr gut, in Betrachtung, daß ſie kein Geld
haͤtte, welches ſie ihnen geben koͤnnte.
Wollte ſie Geld annehmen? Sie koͤnnten es
zu ihrer Rechnung ſetzen.
Sie wollte keine Schulden machen.
Haͤtte ſie etwas Geld bey ſich?
Sie fuͤhlte mit Gelaſſenheit in ihre Taſche,
und zog eine halbe Guinea und etwas Silbergeld
heraus. Ja, ich habe ein wenig. ‒ ‒ Allein hier
ſollten
[286]
ſollten Sporteln bezahlt werden, glaube ich.
Nicht wahr? Jch habe von gewiſſem Gelde zum
Eingange gehoͤrt, zur Befriedigung dafuͤr, daß
man nicht ausgezogen werde. Aber dieſe Leute,
bilde ich mir ein, ſind ſehr hoͤflich: denn ſie ha-
ben ſich nicht merken laſſen, daß ſie mir meine
Kleider wegnehmen wollten.
Sie haben Befehl, hoͤflich gegen ſie zu ſeyn.
Das iſt ſehr guͤtig.
Aber wir beyde wollen Buͤrgſchaft fuͤr ſie ſtel-
len, Fraͤulein, wo ſie mit uns zu Fr. Sinclairn
zuruͤckgehen wollen.
Nein, um aller Welt willen nicht.
Jhre Zimmer ſind ſehr artig.
Deſto beſſer fuͤr die, denen ſie zugehoͤren!
Dieſe ſind ſehr traurig.
Deſto beſſer fuͤr mich!
Sie koͤnnen noch ſehr gluͤcklich ſeyn, Fraͤu-
lein, wo ſie wollen.
Jch hoffe es.
Wo ſie ſich weigern zu eſſen, oder zu trinken:
ſo wollen wir Buͤrgſchaft ſtellen, und ſie mit uns
nehmen.
So will ich verſuchen zu eſſen und zu trin-
ken. Alles, nur nicht, mit ihnen zu gehen.
Wollen ſie nicht zu ihrer neuen Wohnung
ſchicken? Die Leute werden erſchrocken ſeyn.
Das werden ſie ſeyn, wo ich hinſchicke. Das
werden ſie ſeyn, wenn ſie erfahren, wo ich bin.
Allein, haben ſie nach nichts von dannen zu
ſchicken?
Da
[287]
Da iſt ſo viel, daß ſie fuͤr ihre Zimmer und
fuͤr die gemachte Unruhe bezahlt ſeyn werden.
Jch werde ihre Sicherheit nicht ſtoͤren.
Aber vielleicht moͤgen Briefe oder Nachrich-
ten fuͤr ſie daſelbſt gelaſſen ſeyn.
Jch habe ſehr wenige Freunde: und denen,
die ich habe, will ich die Kraͤnkung erſparen,
daß ſie wiſſen ſollten, was mich befallen hat.
Wir wundern uns ungemein uͤber ihre Gleich-
guͤltigkeit, Fraͤulein Harlowe. Wollen ſie nicht
an jemand von ihren Freunden ſchreiben?
Nein.
Ey! ſie denken hier doch wohl nicht beſtaͤn-
dig zu bleiben?
Jch werde nicht beſtaͤndig leben.
Gedenken ſie denn hier ſo lange zu bleiben,
als ſie leben?
Wie es Gott, und denen, die mich hierher ge-
bracht haben, gefallen wird.
Wuͤrde es ihnen lieb ſeyn, in Freyheit zu kom-
men?
Jch bin elend! ‒ ‒ Was hilft die Freyheit
einer Elenden mehr, als nur noch elender zu
ſeyn!
Wie, elend, Fraͤulein? ‒ ‒ Sie koͤnnen
ſich ſelbſt ſo gluͤcklich machen, als ihnen beliebt.
Jch hoffe, ſie ſind beyde gluͤcklich.
Ja, das ſind wir.
Sie moͤgen immer gluͤcklicher werden!
Allein das wuͤnſchen wir Jhnen auch.
Jch
[288]
Jch glaube, ich werde niemals ihrer Mey-
nung ſeyn, in dem, was Gluͤckſeligkeit heißt.
Was, denken ſie, ſey unſere Meynung von
der Gluͤckſeligkeit?
Jn Fr. Sinclairs Hauſe zu leben.
Vielleicht ſind wir auch einmal ſo ekel, und
ſo voll Bedenklichkeit geweſen.
Wie iſt es denn bey ihnen voruͤber gegangen?
Weil wir geſehen haben, wie laͤcherlich das
ſproͤde Weſen ſey.
Kommen ſie etwa hierher, mich zu bereden,
daß ich das ſproͤde Weſen, wie ſie es nennen, eben
ſo ſehr haſſen ſoll, als ſie thun?
Wir ſind gekommen, ihnen unſere Dienſte
anzubieten.
Es ſteht nicht in ihrer Gewalt, mir zu die-
nen.
Vielleicht iſt es nicht alſo.
Jch bin nicht geneigt, ihnen Muͤhe zu ma-
chen.
Sie moͤgen ſchlecht bedient werden.
Es kann vielleicht ſeyn.
Sie ſind gewaltig kurz, Fraͤulein.
Wie ich ihren Beſuch zu ſeyn wuͤnſchte,
Jungfern.
Leben ſie wohl, verkehrte Schoͤnheit!
Jhre Dienerinn, Jungfern.
Leben ſie wohl, uͤbermuͤthiges Geſicht!
Sie ſehen mich erniedriget ‒ ‒
Wie ſie verdienen, Fraͤulein Harlowe. Der
Stolz will einen Fall haben.
Beſſer,
[289]
Beſſer, mit dem, was ſie Stolz nennen, fal-
len, als mit Niedertraͤchtigkeit ſtehen.
Wer thut das?
Jch habe ſonſt eine beſſere Meynung von
ihnen gehabt, Jungfer Horton! ‒ ‒ Jn der
That, ſie ſollten einer Elenden nicht ſpotten.
Die Elende, ſagte Sarah, ſollte auch ande-
rer Leute fuͤr ihre Hoͤflichkeit nicht ſpotten.
Es ſollte mir leid ſeyn, wenn ich es thaͤte.
Fr. Sinclair ſoll alſobald zu ihnen kommen,
um zu wiſſen, ob ſie ihr etwas zu befehlen haben.
Jch wuͤnſche mir gar keine Freyheit, als dieſe,
daß ich es abſchlagen koͤnne, ſie und noch eine
Perſon zu ſehen.
Die Urſache, warum wir gekommen ſind, iſt
keine andere geweſen, als zu erfahren, ob ſie zu
ihrer Erlaſſung einige Vorſchlaͤge zu thun haͤt-
ten.
Darauf, ſcheint es, kam der Gerichtsdiener
herein. Sie haben ſehr gute Freunde, Mada-
me, wie ich vernehme. Jſt es nicht beſſer, daß
ſie es abthun? Die Koſten werden hoch auflau-
fen. Hundert und funfzig Guineas laſſen ſich
eher bezahlen, als zwey hundert. Laſſen ſie dieſe
Jungfern fuͤr ſich gut ſagen, und gehen mit ihnen,
oder ſchreiben ſie an ihre Freunde, es abzuthun.
Sarah ſagte: Es iſt ein anſehnlicher Herr,
der ſie einfuͤhren ſahe und ſo viel Mitleiden fuͤr
ſie hatte, Fraͤulein Harlowe, daß er das Geld
fuͤr ſie gern vorſchießen, und ihnen, wenn ſie koͤn-
nen, zu bezahlen freylaſſen wollte.
Sechſter Theil. TSiehe,
[290]
Siehe, Lovelace, was dieß fuͤr verfluchte
Teufel ſind. Dieß, wiſſen wir, iſt der Weg, wie
manches unſchuldiges Herz verleitet iſt, ſich erſt
einem zu Gefallen, und dann fuͤr die ganze Stadt,
halten zu laſſen. Aber daß ſolche nichts-
wuͤrdige Weibsbilder mit einem ſolchen Engel,
als dieß iſt, ſo zu Werke gehen ſollten! ‒ ‒ Wie
wuͤrde ſich die teufliſche Sarah gefreuet haben:
wenn ſie den geringſten Anlaß gehabt haͤtte, dir
zu erzaͤhlen, daß dieſer Wink mit einem horchen-
den Ohr, oder nicht unwilligen Gemuͤthe, aufge-
nommen waͤre.
Herr, ſprach die Fraͤulein, mit dem groͤßten
Unwillen, zu dem Gerichtsdiener, habt ihr mir
nicht geſtern Abends geſagt, daß es euch eben ſo
viel zuſtuͤnde, mich vor anderer Gewalt und
Spott zu beſchuͤtzen, als mich zu bewahren, daß
ich nicht davon gienge? ‒ ‒ Kann mir nicht er-
laubt ſeyn, zu ſehen, wen es mir beliebt, und de-
nen, die mir nicht gefallen, den Zutritt zu mir zu
verſagen?
Jhre Glaͤubiger, Madame, werden vermu-
then, daß ſie zu ihnen kommen duͤrfen.
Nein: wenn ich mich erklaͤre, daß ich mich
in keine Unterhandlung mit ihnen einlaſſen
will.
So wird man ſie ins Gefaͤngniß ſchicken,
Madame.
Gefaͤngniß, Freund! ‒ ‒ Wofuͤr giebſt du
denn dein Haus aus?
Fuͤr kein Gefaͤngniß, Madame.
Was
[291]
Was bedeuten denn dieſe Fenſter mit eiſer-
nen Gittern? Was dieſe gedoppelten Schloͤſſer
und Riegel, alle von außen, keine von innen!
So ſank ſie auf einen Stuhl nieder: und ſie
konnten nicht ein Wort mehr von ihr heraus-
bringen. Sie zog ihr Schnupftuch wieder, wie
vorher einmal, uͤber das Geſicht; welches bald
von Thraͤnen durchnetzet war: und gluchſete hef-
tig, wie ſie geſtehen.
Eine feine und gelinde Begegnung,
Lovelace! ‒ ‒ Vielleicht wirſt du ſie eben
ſo wohl, als dieſe nichtswuͤrdigen Weibs-
leute, dafuͤr anſehen!
Sarah beſtellte hierauf ein Mittagseſſen,
und ſagte, ſie wuͤrden bald wieder da ſeyn, und
zuſehen, daß ſie aͤße und traͤnke, wie eine gute
Chriſtin thun muͤßte, ſich alſo in ihre Um-
ſtaͤnde ſchickte, und ſie ſo gut machte, als moͤglich
waͤre.
Was hat dieß reizende Frauenzimmer nicht
gelitten! Was fuͤr Schulen iſt ſie nicht dieſe letzten
drey Monathe, wovon ich weiß, durchgegangen!
‒ ‒ Wer ſollte denken, daß eine Perſon von ſo
zarter Leibesbeſchaffenheit das haͤtte ausſtehen
koͤnnen, was ſie ausgeſtanden hat. Wir ſchwa-
tzen bisweilen von Herzhaftigkeit, von Muth, von
Tapferkeit! ‒ ‒ Hier ſind dieſe Tugenden in
ihrer vollkommenſten Groͤße! ‒ ‒ Solche Groß-
ſprecher, als du und ich, wuͤrden niemals im
Stande geweſen ſeyn, nur unter der Haͤlfte derer
Verfolgungen, derer fehlgeſchlagenen Hoffnungen,
T 2derer
[292]
derer Verſchmaͤhungen, die ihr begegnet ſind,
auszudauren: ſondern wuͤrden, wie feige Maͤm-
men, auf eine niedertraͤchtige Weiſe durch
eine Hinterthuͤr, das iſt, durch ein Schwerdt,
durch eine Piſtole, durch einen Strick, oder
durch ein Meſſer, aus der Welt geſchlichen ſeyn
‒ ‒ Aber hier iſt ein Frauenzimmer von fei-
nen Grundſaͤtzen, das durch den kraͤftigen Ein-
druck dieſer Betrachtung, wie ich es mir vor-
ſtelle; denn was kann ſie ſonſt unterſtuͤtzen?
Daß ſie die Uebel, mit welchen ſie kaͤm-
pfet, nicht verdienet hat; daß dieſe Welt
nur zu einem voruͤbergehenden Stande der
Pruͤfung beſtimmet; und daß ſie auf der
Reiſe zu einer andern und beſſern iſt; alle harte
Beſchwerden der Reiſe verlieb nimmt, und
durch die Anfaͤlle von Dieben und Raͤubern,
oder von anderm Schrecken und andern Schwie-
rigkeiten ſich nicht von ihrer Bahn abfuͤhren laͤſ-
ſet; weil ſie einer reichlichen Belohnung am
Ende derſelben verſichert iſt.
Wo du dieſe Betrachtung dem Character
eines deiner Mitgeſellen und Freunde nicht ge-
maͤß achteſt: ſo frage ich dich, ob du dir einbil-
deſt, daß ich von der Geſellſchaft, die ich meinem
Onkel auf eine ſo lange Zeit bey ſeinem toͤdtlichen
Zuſtande geleiſtet, und von den gottſeligen Be-
trachtungen des frommen Geiſtlichen, der Tag
vor Tag, auf des armen Mannes eignes Ver-
langen, zu ihm gekommen und ihm vorgebetet,
keinen Vortheil gezogen habe? ‒ ‒ Koͤnnte ich
wohl
[293]
wohl noch eine ſolche Gelegenheit haben, als
dieß geweſen iſt, mir alle dieſe Betrachtungen
ins Gewiſſen zu ſchieben?
Wer kann auch hiernaͤchſt von frommen
Perſonen und gottſeligen Dingen ſchreiben und
ſie bewundern: und doch auf die Zeit nicht
ernſthaft werden; wo er der Beſchaffenheit die-
ſer Gegenſtaͤnde gemaͤß ſchreibet? ‒ ‒ Und hier-
aus moͤgen wir abnehmen, was fuͤr ein Vortheil
es fuͤr den ſittlichen Zuſtand der Menſchen ſeyn
muͤſſe, gute Geſellſchaft zu halten: da diejenigen,
welche nur boͤſe Geſellſchaft haben, nothwendig
immer mehr und mehr verhaͤrten und verhaͤrtet
werden muͤſſen.
Es iſt zwoͤlf Uhr am Sonntage in der Nacht
‒ ‒ Jch kann an nichts, als an dieſe vortreffliche
Fraͤulein gedenken. Jhre Ungluͤcksfaͤlle nehmen
meinen ganzen Kopf und mein ganzes Herz ein.
Jch bin auf eine Viertelſtunde ſchlaͤfrig geweſen:
aber der Anfall iſt vorbeygegangen. Alſo will
ich die traurige Erzaͤhlung aus den Nachrichten
der nichtswuͤrdigen Weibsleute fortſetzen. Jn
dem Beſuch, den ich ablegen ſoll, wo ich mor-
gen vorgelaſſen werde, darf ich wohl ſagen, wird
genug vorfallen, in Anſehung der Umſtaͤnde,
worinn ich ſie aller Vermuthung nach antreffen
muß, was ich dir durch deinen Bedienten uͤber-
ſchreiben kann.
T 3Nach-
[294]
Nachdem die Weibsbilder ſie verlaſſen hat-
ten, klagte ſie uͤber ihren Kopf, und uͤber ihr Herz;
und ſchien durch die Furcht, noch einmal wieder
in Sinclairs Haus gebracht zu werden, in Schre-
cken geſetzt zu ſeyn.
Da ſie gar nichts zum Fruͤhſtuͤck haben
wollte: kam Rowlands Frau zu ihr herauf und
ſagte ihr; wie dieſe gottloſen Weibsleute, nach
ihrem eigenen Geſtaͤndniſſe gegen mich, befohlen
hatten, aus Beyſorge, ſie moͤchte ſich ſelbſt durch
Hunger den Tod zuziehen; daß ſie Thee, Brodt
und Butter nehmen ſollte und muͤßte. Weil
ſie Freunde haͤtte, welche ſie unterſtuͤtzen koͤnnten;
wenn ſie an dieſelben ſchriebe: ſo waͤre es eine
ſchlimme Sache fuͤr die Fraͤulein ſelbſt und fuͤr
ſie, ſich ſo durch Hunger hinzurichten.
Wo es um eurer ſelbſt willen ſeyn muß,
antwortete ſie: ſo iſt es eine andere Sache. Laßt
Caffee, Thee oder Chocolate, oder, was ihr wollt,
gemacht werden: und bringt mir alle Tage ein
junges Huhn zur Rechnung, wo es euch beliebt,
und eſſet es ſelb ſt. Jch will es koſten, wo ich
kann. Jch wollte nichts thun, euch Ungelegen-
heit zu machen. Jch habe Freunde, die euch
alles reichlich bezahlen werden, wenn ſie wiſſen,
daß ich dahin bin.
Sie wunderten ſich uͤber ihre außerordentli-
che geſetzte Gemuͤthsfaſſung in ſolchen Ungluͤcks-
faͤllen.
Dieſe waͤren nichts, ſagte ſie, gegen das,
was ſie ſchon von dem ſchaͤndlichſten Kerl in der
Welt
[295]
Welt gelitten haͤtte. Der Schimpf, daß ſie auf
der Gaſſe ergriffen waͤre, da eine Menge von Leu-
ten um ſie herum geweſen, und aͤrgerliche Be-
ſchuldigungen ihre Ohren beleidigt haͤtten, haͤtten
ſie in der That ſehr geruͤhret. Aber das waͤre
vorbey ‒ ‒ Alles wuͤrde auch bald vorbey ſeyn!
‒ ‒ Sie wuͤrde noch weit geſetzter ſeyn: wenn
ſie nicht die Furcht, einen Kerl und ein Weib zu
ſehen, und hinterliſtiger, oder gewaltſamer Wei-
ſe wieder in das ſchaͤndlichſte Haus von der Welt
gebracht zu werden, daran hinderte.
Waͤre es denn nicht beſſer, dem Anerbieten
der beyden artigen Frauenzimmer, daß ſie Buͤrg-
ſchaſt ihretwegen ſtellen wollten, Gehoͤr zu geben?
‒ ‒ Sie koͤnnten ihr ſagen, daß es ein ſehr guͤti-
ges Erbieten waͤre, und das man nicht alle Tage
antraͤffe.
Sie glaubte es.
Vielleicht moͤchten die Jungfern ihr darum
nachſehen, daß ſie nicht wieder in das Haus zu-
ruͤckgehen duͤrfte, gegen welches ſie einen ſo gro-
ßen Widerwillen hegte. Auch was ferner den
anſehn lichen Herrn betraͤffe, der geneigt waͤre, al-
les mit ihren Glaͤubigern auf eine ihr ſelbſt be-
liebige Verſchreibung, abzuthun: ſo waͤre es ih-
nen ſehr ſeltſam vorgekommen, daß ſie einen ſo
edelmuͤthigen Vorſchlag nicht einmal geachtet
haͤtte.
Haben euch die beyden Jungfern erzaͤhlt,
wer der Herr waͤre? ‒ ‒ Oder haben ſie ſonſt
etwas mehr von der Sache geſagt?
T 4Ja!
[296]
Ja! Sie haben mir auch zu verſtehen ge-
geben, ſagte das Weib, daß ſie nichts thun duͤrf-
ten, als nur einen Beſuch von dem Herrn anneh-
men: ſo, glaubeten ſie, wuͤrde das Geld auf eine
ihnen beliebige Verſchreibung oder Handſchrift,
ausgezahlt werden.
Sie fuhr vor Schrecken auf.
Jch rathe euch, ſprach ſie, da ihr meinen
Freunden einmal Rede und Antwort davon ge-
ben werdet, daß ihr keinen Herrn zu mir bringet.
Jch rathe euch, thut es nicht. Thut ihr es: ſo
wißt ihr nicht, was es fuͤr Folgen haben mag.
Sie fuͤrchteten keine boͤſe Folgen, verſetzten ſie:
wenn ſie ihre Pflicht thaͤten. Wenn ſie ihr ei-
gen Beſtes nicht wuͤßte: ſo wuͤrden ihre Freun-
de es ihnen danken, daß ſie einige unſchuldige
Schritte gethan, ihr, ob gleich wider ihren Wil-
len, zu dienen.
Treibt mich nicht auf das aͤußerſte, Freund!
‒ ‒ Bringt mich nicht zur Verzweifelung, gute
Frau! ‒ ‒ Es wird mir nicht wenig ſchwer, un-
geachtet der ſcheinbaren Gemuͤthsfaſſung, welcher
ihr eben itzo Erwaͤhnung gethan habt, alles Un-
gemach, das ich leide, ſo zu ertragen, wie ich es
billig ertragen ſollte. Aber, wo ihr eine
Mannsperſon, oder Mannsleute zu mir bringet;
es ſey, unter welchem Vorwand es wolle:
ſo ‒ ‒
Hier brach ſie ab, und ſahe ſo ernſtlich und
verwildert aus, wie ſie mir ſagten, daß ſie nicht
anders wuͤßten, als daß ſie ſich ſelbſt auf eine
oder
[297]
oder die andere Art Leid thun wollte, wo ſie ihr
nicht gehorchten: und das wuͤrde in ihrem Hau-
ſe eine betruͤbte Sache, und vielleicht ihr Ungluͤck
ſeyn. Daher verſprachen ſie ihr, es ſollte keine
Mannsperſon anders, als mit ihrer eignen Ge-
nehmhaltung, zu ihr gebracht werden.
Rowlands Frau beredete ſie, Sonnabends
fruͤhe um eilfe ein Schaͤlchen Thee zu trinken,
und ein wenig Brod und Butter zu koſten.
Dieß that ſie vermuthlich deswegen, damit ſie
eine Entſchuldigung haͤtte, nicht mit den Weibs-
leuten zu Mittage zu eſſen, wenn ſie wieder
kaͤmen.
Aber ihre Gefaͤngnißkammer, wie ſie ſich
ausdruͤckte, wollte ſie nicht verlaſſen, um in ihren
Saal zu gehen.
„Fenſter ohne eiſerne Gitter und ein helleres
„Gemach, ſagte ſie, haͤtten ein allzu froͤhliches
„Anſehen fuͤr ihr Gemuͤth.
Zu einer andern Zeit waren ihre Worte:
„Das Licht der Sonne waͤre ihr zuwider. Die
„Sonne ſchien hereinzuſtrahlen, ihres Ungluͤcks
„zu ſpotten.
Und da bald ein Platzregen fiel: ſahe ſie
durch das Gitter nach demſelben. „Wie guͤ-
„tig, ſprach ſie, weinen die Elemente, mir Geſell-
„ſchaft zu leiſten!
„Mich dauchte, ſetzte ſie hinzu, die Sonne,
„welche vor einer Weile herumſtrahlte, und dieſe
„eiſerne Gitter verguͤldete, triebe ihr Spiel mit
„mir, wie die beyden Weibsleute, welche meines
T 5„wil-
[298]
„wilden und verfallenen Anſehens durch das
„Wort, Schoͤnheit, und meines niedergeſchla-
„genen Herzens durch die Worte, uͤbermuͤthiges
„Geſicht, zu ſpotten ſuchten!
Sarah kam zur Mittagszeit wieder, um zu
ſehen, wie ſie fuͤhre, und daß ſie ſich nicht durch
Hunger vom Leben haͤlfe. Das ſagte ſie ihr
ſelbſt. Weil ſie gern mit ihr etwas ſchwa-
tzen wollte, fuͤgte ſie hinzu: ſo wollte ſie mit ihr
Mittagsmahlzeit halten, wenn ſie ihr die Erlaub-
niß gaͤbe.
Jch kann nicht eſſen.
Sie muͤſſen verſuchen, Fraͤulein Har-
lowe.
Weil das Eſſen eben bereit war: ſo bot ſie
der Fraͤulein ihre Hand, und erſuchte ſie hinunter
zu gehen.
Nein: ſie wollte keinen Fuß aus ihrer Ge-
faͤngnißkammer ſetzen.
Die haͤmiſchen Mienen werden es nicht gut
machen, Fraͤulein Harlowe: in der That
nicht.
Sie ſchwieg ſtille.
Sie werden haͤrtere Begegnung zu erwarten
haben, als ſie jemals noch erfahren, das kann ich
ihnen ſagen: wo ſie ſich nicht einiger maßen be-
quemen, die Sachen abzuthun.
Sie ſchwieg noch ſtille.
Kommen ſie, Fraͤulein, gehen ſie herunter
zum Eſſen. Jch bitte, thun ſie es. Jungfer
Horton iſt unten: ſie war ja vordem ihr Guͤnſtling.
Sie
[299]
Sie wartete anf eine Antwort: aber bekam
keine.
Wir ſind hergekommen, ihnen zu ihrem Be-
ſten einige Vorſchlaͤge zu thun: ob ſie uns gleich
noch vor ſo kurzem erſt ſchimpflich beleidigt ha-
ben. Wir haben Frau Sinclair nicht wollen in
Perſon kommen laſſen: weil wir ihnen eine Ge-
faͤlligkeit zu thun gedacht.
Das iſt in der That eine Gefaͤlligkeit.
Kommen ſie, geben ſie mir ihre Hand, Fraͤu-
lein Harlowe. Sie haben mir Verbindlich-
keit: das kann ich ihnen ſagen. Laſſen ſie uns
zur Jungfer Horton hinuntergehen.
Halten ſie mich entſchuldigt: ich will nicht
einen Fuß aus dieſer Kammer ſetzen.
Wollten ſie haben, daß ich und Jungfer Hor-
ton in dieſer garſtigen Bettkammer ſpeiſen
ſollten?
Es iſt keine Bettkammer fuͤr mich. Jch
bin nicht zu Bette geweſen, und werde auch nicht
zu Bette gehen, ſo lange ich hier bin.
Und doch geben ſie nichts darum, wie ich ſe-
he, das Haus zu verlaſſen ‒ ‒ So wollen ſie nicht
hinunter gehen, Fraͤulein Harlowe?
Jch will nicht: es waͤre denn, daß man mich
mit Gewalt zwaͤnge.
Gut, gut, laſſen ſie es bleiben. Jch werde
von Jungfer Horton nicht verlangen, daß ſie in
dieſer Kammer ſpeiſe, ich verſichere ſie. Jch will
eine Schuͤſſel herabſchicken.
So
[300]
So flatterte die kleine naſeweiſe Kroͤte
hinunter.
Als ſie ihre Mittagsmahlzeit gehalten hat-
ten: kamen ſie mit einander herauf.
Sie haben nichts eſſen wollen, Fraͤulein, wie
es ſcheint! ‒ ‒ Das ſind recht ſehr haͤmiſche
Mienen! ‒ ‒ Kein Wunder, daß der ehrliche
Cavallier ſo viel mit ihnen zu thun gehabt
hat.
Sie hielte nur ihre Augen und Haͤnde in die
Hoͤhe: und ihre Thraͤnen troͤpfelten an ihren
Wangen herunter.
Vermeſſene Teufel! ‒ ‒ Wie viel grau-
ſamer und ſpoͤttiſcher ſind boͤſe Weibsbil-
der, als boͤſe Mannsleute ſelbſt!
Mich deucht, Fraͤulein, ſagte Sarah, ſie
ſind ein wenig ſchmutzig, gegen ſonſt, da wir
ſie geſehen haben. Jammer und Schade, daß
eine ſo zaͤrtliche und ekele Fraͤulein nicht ihren
Anzug ſollte wechſeln koͤnnen. Warum wollen
ſie nicht zu ihrer Wohnung ſchicken, wenigſtens
Waͤſche holen zu laſſen?
Jch bin nun nicht zaͤrtlich und ekel.
Die Fraͤulein ſieht in allem gut und ſauber
aus, ſprach Marichen. Aber, wertheſte Fraͤulein,
warum wollen ſie nicht zu ihrer Wohnung ſen-
den? Es iſt nichts mehr, als eine Freundſchaft
gegen die Leute. Sie muͤſſen um ſie bekuͤmmert
ſeyn. Und ihre Fraͤulein Howe wird ſich wun-
dern, wo ſie geblieben ſind: denn ſonder Zweifel
wechſeln ſie mit ihr Briefe.
Sie
[301]
Sie wandte ſich von ihnen, und ſagte zu ſich
ſelbſt: Allzu viel! Allzu viel! ‒ ‒ Sie warf
ihr Schnupftuch, das ſchon vorher von ihren
Thraͤnen durchnetzet war, von ſich, und hielte ih-
re Schuͤrze an die Augen.
Weinen ſie nicht, Fraͤulein, ſagte die ſchaͤnd-
liche Marichen.
Ey ja! weinen ſie nur, ſchrie die noch
ſchaͤndlichere Sarah, wo es eine Erleichterung iſt.
Nichts, wie Herr Lovelace mir einmal ſagte, trock-
net eher, als Thraͤnen. Denn vormals weinte
ich auch maͤchtig.
Jch konnte mir dieß nicht mit Gelaſſenheit
erzaͤhlen laſſen. Jedoch fluchte ich nicht halb ſo
viel auf ſie, als ich wuͤrde gethan haben, wenn ich
nicht geſonnen geweſen waͤre, alle Umſtaͤnde von
ihrer gelinden Begegnung herauszubringen.
Dieß wollte ich aber aus einer gedoppelten Urſa-
che: einmal, damit ich dich durch die Wiederholung
herzlich kraͤnken und ruͤhren moͤchte; hiernaͤchſt,
damit ich wuͤßte, auf was fuͤr Art ich wahrſchein-
licher Weiſe morgen die Fraͤulein ſehen koͤnnte.
Allein, Fraͤulein Harlowe, rief Sarah,
halten ſie dieſen verlohrnen Anſtand fuͤr artig?
Sie ſind eine gute Chriſtinn, Kind. Fr. Row-
land ſagt mir, ſie habe ihnen eine Bibel gebracht
‒ ‒ O da liegt ſie! ‒ ‒ Jch zweifle nicht, ſie
werden die dienſamen Stellen, wie der ehrliche
Matthaͤus Prior ſagt, eingeſchlagen haben.
Hiemit ſtand ſie auf und nahm die Bibel ‒ ‒
Ey, wahrlich, ſie haben es gethan ‒ ‒ Das
Buch
[302]
Buch Hiob! Dieß faͤllt von ſelbſt auf, wie ich
ſehe ‒ ‒ Meine Mutter hat mich in der Bibel
fein unterrichtet ‒ ‒ Das Buch Jeſus Si-
rach auch! ‒ ‒ Das iſt ein apocryphiſches Buch,
wie man es nennt. ‒ ‒ Sie ſehen, Jungfer Hor-
ton, ich weiß etwas von dem Buche.
Sie ſchlugen noch einmal vor, daß ſie Buͤrg-
ſchaft fuͤr ſie ſtellen wollten, und ſie mit ihnen in
ihr Haus gehen ſollte. Ein Anſchlag, den ſie
wieder eben ſo unwillig, als vorher, aufnahm.
Sarah erzaͤhlte ihr, daß ſie auf eine ſehr vor-
theilhafte Art, zu ihrem Beſten, an euch geſchrie-
ben haͤtte, und alle Stunden Antwort erwartete,
auch nicht zweifelte, daß ihr mit dem Bothen ſelbſt
heraufkommen, die ganze Schuld guͤtigſt bezah-
len, und ſie wegen Verabſaͤumung deſſelben um
Verzeihung bitten wuͤrdet.
Dieß brachte ſie in ſolche Unruhe und Ver-
wirrung, daß ſie beſorgten, ſie wuͤrde in Ohnmacht
gefallen ſeyn. Sie koͤnnte euren Namen nicht
ertragen, ſagte ſie. Sie hoffete, daß ſie euch nie-
mals wieder ſehen ſollte: und wuͤrdet ihr euch
aufdringen; ſo moͤchten ſchreckliche Folgen dar-
aus entſtehen.
Es wuͤrde ihr doch gewiß lieb ſeyn, ant-
worteten ſie, ihrer Gefangenſchaft erlaſſen zu
werden.
Ja, in Wahrheit, es wuͤrde ihr nun lieb
ſeyn: da ſie ihr Furcht und Schrecken mit dem
Namen desjenigen eingejagt haͤtten, der an
allem ihren Ungemach ſchuld waͤre, und, wie ſie
nun
[303]
nun offenbar ſaͤhe, dieſe neue Beſchimpfung an-
geſtiftet haͤtte, damit er ſie noͤthigen moͤchte, ſeine
ſchaͤndliche Bedingungen anzunehmen.
Warum, fragten ſie, wollte ſie denn nicht an
ihre Freunde ſchreiben, die Forderung der Frau
Sinclair richtig zu machen?
Weil ſie hoffete, daß ſie nicht lange irgend je-
mand beſchwerlich ſeyn wuͤrde, und weil ſie wuͤß-
te, daß die Bezahlung des Geldes, wenn ſie es
im Stande waͤre zu bezahlen, nicht dasjenige
waͤre, worauf man ſein Abſehen gerichtet
haͤtte.
Sarah hat mir bekannt, daß ſie der Fraͤu-
lein geantwortet haͤtte, ſie glaubte in der Wahr-
heit eben ſo guten Herkommens und eben ſo wohl
erzogen zu ſeyn, als ſie, ob ſie gleich auf kein ſo
anſehnliches Vermoͤgen Anſpruch gehabt haͤtte.
Ja ſie war ſo unverſchaͤmt, gegen mich darauf zu
beſtehen, daß es die Wahrheit ſey.
Sie hatte die Vermeſſenheit, gegen die Fraͤu-
lein noch dieß hinzuzuſetzen, daß ſie eben ſo viel
Urſache haͤtte, als ſie, zu erwarten, daß Herr
Lovelace ſie heyrathen wuͤrde: indem er mit ihr
einen Vertrag gemacht, es zu thun, ehe er jemals
die Fraͤulein Clariſſa Harlowe gekannt. Sie
haͤtte daruͤber noch dazu ſeine Hand und Siegel:
‒ ‒ ſonſt wuͤrde er ſeine Abſicht nicht erreicht
haben. Daher waͤre es nicht glaublich,
daß ſie ſo dienſtfertig ſeyn ſollte, ſeine Sache ge-
gen ſich ſelbſt zu treiben: wenn ſie gedaͤchte, daß
Herr Lovelace dergleichen Abſichten auf ſie haͤtte,
als
[304]
als ſie ſich anzudeuten herausnaͤhme. Sie fuͤr
ihr Theil haͤtte keinen andern Vorſatz, als einem
jungen Frauenzimmer, welches ſich Dinge zu ei-
nem wirklichen Kummer machte, woruͤber ſonſt
von niemand ſo viel Weſens wuͤrde gemacht wer-
den, die Freyheit zu verſchaffen ‒ ‒ und ihrer
Freundinn, der Frau Sinclair, zur Bezahlung
einer rechtmaͤßigen Forderung zu helfen.
Die Fraͤulein bat ſie, ſie zu verlaſſen. Sie
brauchte dieſe Beyſpiele nicht, ſagte ſie, ſich zu
uͤberzeugen, in was fuͤr Geſellſchaft ſie waͤre: und
erklaͤrte ſich, daß ſie, dergleichen Beſuche, und
noch aͤrgerer, wovor ſie ſich fuͤrchtete, los zu wer-
ben, an eine Freundinn ſchreiben wollte, das Geld
fuͤr ſie aufzubringen; ob es gleich der Tod fuͤr ſie
ſeyn wuͤrde, das zu thun. Denn die Freundinn
koͤnnte ihr nicht ohne ihre Mutter willfahren: und
in deren Augen wuͤrde dieß einer Freundſchaft, die
uͤber alle niedertraͤchtige Nebenabſichten erhaben
waͤre, ein eigennuͤtziges Anſehen geben.
Sie riethen ihr, alſobald zu ſchreiben.
Aber um wie viel muß ich ſchreiben? Wie
hoch belaͤuft es ſich? Sollte mir nicht eine Rech-
nung daruͤber eingehaͤndiget ſeyn? ‒ ‒ Gott
weiß, ich habe ihre Zimmer nicht gemiethet. Nur
derjenige konnte das thun, der mir ſo begegnen
konnte, als er gethan hat.
Reden ſie nicht wider Hrn. Lovelace, Fraͤu-
lein Harlowe. Er iſt ein Herr, gegen den ich
große Hochachtung habe ‒ ‒ verfluchte Kroͤte!
‒ ‒ Und, wenn man ausnimmt, daß er ſeinen
Vor-
[305]
Vortheil, wo er kann, bey Uns einfaͤltigen und
leichtglaͤubigen Maͤgdchens zu machen ſuchet, iſt
er ein Mann, der auf ſeine Ehre haͤlt.
Sie hub ihre Haͤnde und Augen auf, an
ſtatt zu reden. Sie hatte es auch wohl Urſache.
Denn keine Worte, die ſie zu gebrauchen vermoͤ-
gend geweſen waͤre, haͤtten die Angſt ausdruͤcken
koͤnnen, welche ſie fuͤhlen mußte, da ſie in dem
Uns mit begriffen war.
Sie muͤßte wenigſtens um hundert und funf-
zig Guineas ſchreiben. Um zwey hundert moͤch-
te eben ſo gut geſchrieben werden, wo ſie nicht viel
Geld mehr haͤtte.
Frau Sinclair, ſagte die Fraͤulein, haͤtte alle ihre
Kleider. Die moͤchten verkauft werden, frey ver-
kauft werden, und das Geld moͤchte ſo weit reichen,
als es wollte. Sie haͤtte auch noch einige andere Koſt-
barkeiten aber kein Geld, gar keines, außer der elen-
den halben Guinea und dem wenigen Silbergelde,
das ſie geſehen haͤtten. Sie wollte eine Ver-
ſchreibung geben, alles zu bezahlen, was aus ih-
ren Kleidern und den andern Sachen, die ſie
haͤtte, zu wenig heraus kaͤme. Sie haͤtte anſehn-
liche Guͤter, die ihr von Rechts wegen zugehoͤr-
ten. Jhre Handſchrift wuͤrde und muͤßte bezahlt
werden, wenn ſie auch auf tauſend Pfund. Aber
ihre Kleider wuͤrde ſie niemals gebrauchen. Sie
glaubte, wenn dieſe nicht allzu ſehr unter ihrem
Werth verkauft wuͤrden, ſo wuͤrden dieſelben, und
ihre wenigen Koſtbarkeiten, fuͤr alles hinreichen.
Sie wuͤnſchte keinen Ueberſchuß zu haben, als zu
Sechſter Theil. Uden
[306]
den letzten Koſten: und dazu wuͤrden vierzig
Schillinge eben ſo gut, als vierzig Pfund, genug
ſeyn. Laſſen ſie mein Ungluͤck, ſagte ſie mit auf-
geſchlagenen Augen, in dieſem Leben groß,
in dieſem Leben vollkommen ſeyn! ‒ ‒ Um
einen guͤtigen Vergleich, laſſen ſie es voll-
kommen ſeyn ‒ ‒ Hier brach ſie ab. Sonder
Zweifel zielte ſie auf ihres Vaters Fluch, der bis
auf das kuͤnftige Leben ausgedehnet war.
Die gottloſen Weibsbilder konnten ſich nicht
entbrechen, gegen mich zu wuͤnſchen, daß ſie eine
bequeme Gelegenheit haben moͤchten, einen ſol-
chen Kauf fuͤr ſich, zu ihrer Kleidung, zu thun.
O, wie fluchte ich auf ſie! und, in meinem Her-
zen, auf dich ‒ ‒ Aber es iſt mehr als zu wahr-
ſcheinlich, dachte ich, daß ſich dieſe ſchaͤndliche
Sarah Martin Hoffnung macht; ob du gleich
der Schande nicht faͤhig biſt; daß ihr Lovelace,
wie ſie ſich unterſteht, dich kuͤhnlich hinter deinem
Ruͤcken zu nennen, ſie mit einem oder dem andern
von dem Raube beſchenken moͤge, der an der ar-
men Fraͤulein geſchehen iſt!
Will Frau Sinclair, fuhr ſie fort, meine
Kleider nicht fuͤr eine hinlaͤngliche Sicherheit an-
ſehen, bis ſie verkauft werden koͤnnen? Es ſind
ſehr gute Kleider. Eine oder zween Anzuͤge ſind
uur eben angelegt, wie ſie aus der Arbeit kamen;
niemals getragen. Sie koſten weit mehr, als
die Forderung an mich iſt. Mein Vater moch-
te mich gern fein gekleidet ſehen ‒ ‒ ‒ Sie
ſollen alle fort. Aber laſſen ſie mir eine genaue-
re
[307]
re Rechnung uͤber die zugemuthete Schuld ge-
ben. Jch vermuthe, ich muß fuͤr meinen Ver-
derber; das war ihr vollkommen bequemes
Wort; und fuͤr ſeine Bedienten, eben ſo wohl, als
fuͤr mich ſelbſt, bezahlen. ‒ ‒ Jch bin damit zu-
frieden ‒ ‒ Jn der That, ich bin damit zufrieden
‒ ‒ Jch bin weit daruͤber hinaus, daß ich wuͤn-
ſchen ſollte, daß mit jemand, der ſo zu handeln
im Stande geweſen iſt, uͤber die Gerechtigkeit
und Billigkeit dieſer Sache nur einmal Worte
gewechſelt werden ſollten. Wenn ich nur genug
habe, die Forderung zu bezahlen: ſo werde ich
vergnuͤgt ſeyn, und will die Niedertraͤchtigkeit ei-
ner ſolchen Handlung, wie dieß iſt, als eine Ver-
groͤßerung einer Schuld, die meiner Meynung
nach nicht vergroͤßert werden konnte, hingehen
laſſen.
Jch geſtehe, Lovelace, es iſt Bosheit dabey,
wenn ich dir dieſe Umſtaͤnde ſo genau erzaͤhle, da-
mit ich dich bis zum Herzen verwunde. Erlau-
be mir, dich zu fragen: Was kannſt du nun von
deiner Grauſamkeit, deiner unerhoͤrten Grauſam-
keit, gedenken, daß du eine Perſon von ihrem
Stande, von ihrem Vermoͤgen, von ihren Gaben, und
von ihrer Tugend, ſo weit heruntergebracht haſt?
Die nichtswuͤrdigen Weibsleute, muß man
geſtehen, handeln nur ihrer ordentlichen Handthie-
rung gemaͤß: einer Handthierung, wozu du, als
das vornehmſte Werkzeug, dieſe beyden gebracht
haſt. Und ſie wiſſen, was deine Abſichten gewe-
ſen, und wie weit ſie verfolget ſind. Es heißt,
U 2nach
[308]
nach ihrer Meynung, ihr gelinde begegnen, daß
ſie das Weib, welches ihr mit ſo großem Rechte
verhaßt iſt, nicht zu ihr gebracht; daß ſie ihr nicht
gedrohet, fremde Mannsperſonen zu ihr zu fuͤh-
ren; und daß ſie ihre Baͤndiger und Demuͤ-
thiger, Kerls, die nicht die geringſte Regung des
Gewiſſens fuͤhlen koͤnnen, noch nicht in ihre Ge-
ſellſchaft gebracht haben, um ſie zu ihrem abſcheu-
lichen Hauſe mit Gewalt zuruͤckzuſchleppen, und
hernach, wenn ſie da waͤre, zu allen ihren Maaß-
regeln zu noͤthigen.
Bis zu meiner Ankunft gedachten ſie, dir
wuͤrde nichts von dem, was ſie litte, misfallen;
nichts, was ſie muͤrbe machen koͤnnte, einen Stand
voll Schaam und Schande einzugehen; und
vermoͤgend waͤre, ſie dahin zu bringen, daß ſie
ſich deinen Abſichten gefaͤllig bezeigte, wenn du
kommen und ſie von dieſen gottloſen Weibsleu-
ten, einem groͤßern Uebel, als deine Beyſchlaͤfe-
rinn zu ſeyn, befreyen ſollteſt.
Wenn du dieſe Dinge uͤberlegeſt: ſo wirſt
du keine Schwierigkeit machen, zu glauben, daß
dieſe ihre eigne Erzaͤhlung von ihrem Betragen
gegen die unvergleichliche Fraͤulein, noch viel zu
wenig von ihren unverſchaͤmten Verſpottungen
ſage; und zwar um ſo viel weniger, wenn ich dir
ſage, daß endlich ihre Begegnung ſolche Wirkun-
gen uͤber ſie hatte, daß ſie in heftigen Mutterbe-
ſchwerden von ihnen verlaſſen wurde. Die Weibs-
bilder verordneten deswegen, wo es damit anhal-
ten und aͤrger werden ſollte, nach einem Apothe-
ker
[309]
ker zu ſchicken: und ins beſondere, wie ſie von
Anfange befohlen hatten, keine ſcharfe oder ſpi-
tzige Geraͤthe, ſonderlich kein Federmeſſer, wel-
ches ſie vielleicht, unter dem Vorwand, eine Fe-
der umzuſchneiden, fordern moͤchte, ihr in die
Haͤnde kommen zu laſſen.
Um zwoͤlfe des Sonnabends in der Nacht,
ließ ihnen Rowland ſagen, es waͤre ſo ſchlecht mit
ihr, daß er nicht wuͤßte, was es fuͤr einen Aus-
gang nehmen moͤchte, und wuͤnſchte, ſie aus ſei-
nem Hauſe gebracht zu ſehen.
Dieß veranlaſſete ſie eben ſo ſehr eine Nach-
richt von euch zu wuͤnſchen. Denn ihr Bothe
war zu ihrer groͤßten Verwunderung noch nicht
wieder von M. Hall zuruͤckgekommen: und ſie
waren verſichert, daß er ſchon am Freytag,
Abends, daſelbſt angelanget ſeyn muͤßte.
Am Sonntag, Morgens fruͤhe, gingen beyde
Teufel hin, zu ſehen, wie ſie ſich befaͤnde. Sie
bekamen eine ſolche Nachricht von ihrer Schwach-
heit, Niedergeſchlagenheit und Angſt, daß ſie ſich
aus Mitleiden, wie ſie ſagten, enthielten, ſie zu
ſehen, weil ſie befanden, daß ihre Beſuche ihr ſo
unangenehm waͤren. Allein die Furcht vor dem
Ausgange war ſonder Zweifel ihre vornehmſte
Bewegurſache: nichts anderes haͤtte ſo ſteinerne
Herzen erweichen koͤnnen.
Sie ſchickten nach dem Apotheker, den Row-
land bey ihr gehabt hatte, und knuͤpften Rowlan-
den, und ſeinem Weibe, und ſeiner Magd feyer-
lich ein, die aͤußerſte Sorge fuͤr ſie zu tragen:
U 3ſonder
[310]
ſonder Zweifel mit einer eigennuͤtzigen Vorſich-
tigkeit. Sie ſandten auch hinauf, und ließen ihr
ſagen, was ſie verordnet haͤtten; daß ſie ihr aber
nicht beſchwerlich fallen wollten, weil ſie gehoͤret,
daß ſie etwas, ſich in Ordnung zu bringen, einge-
nommen haͤtte.
Die Fraͤulein hatte Bedenken gehabt, wie es
ſcheint, des Apothekers Beſuch in der Nacht an-
zunehmen; weil er eine Mannsperſon waͤre
‒ ‒ und hatte nicht eher dazu beredet werden koͤn-
nen, als bis ſie ihr vorſtellten, daß ihre eigne
Sicherheit es erforderte.
Die Weibsbilder kamen aus der Kirche wie-
der hin ‒ ‒ O Himmel! Robert, dieſe Unthiere
gehen in die Kirche! ‒ ‒ Allein die Fraͤulein ließ
ihnen herunter ſagen, daß ſie alle uͤbrige Zeit von
dem Tage fuͤr ſich ſelbſt haben muͤßte.
Als ich zuerſt kam, und ihnen meldete, wie
du auf ſie wegen desjenigen, was ſie gethan hat-
ten, flucheteſt; und auch dazu ſelbſt auf ſie fluch-
te: erſtaunten ſie. Die Mutter ſagte, ſie haͤtte
gedacht, daß ſie Herrn Lovelace beſſer kennete;
und von ihm Dank, aber keine Fluͤche erwartet.
Unterdeſſen, da ich bey ihnen war, kam ihr
Bothe wieder zuruͤck, und fluchte ganz erſchreck-
lich uͤber die uͤble Aufnahme, welche er bey dir
gefunden hatte, ſtatt der Belohnung, dazu man
ihm fuͤr die vermeynte gute Zeitung, daß die
Fraͤulein aufgefunden und in Sicherheit gebracht
waͤre, Hoffnung gemacht hatte. ‒ ‒ Biſt du
nicht
[311]
nicht ein artiger Kerl, daß du andere Leute fuͤr die
Folgen deiner eignen Fehler mishandelſt!
Unter was fuͤr aͤrgerlichen und nachtheiligen
Umſtaͤnden, die ſich dadurch noch vermehren, daß
ich dein Freund und Vertrauter bin, muß ich
morgen fruͤhe dieſe ungluͤckliche Fraͤulein beſu-
chen! Noch dazu in deinem Namen! ‒ ‒
Schon genug, abgewieſen zu werden, daß ich von
einem Geſchlechte bin, vor dem ſie, um deinet-
willen, einen ſo gerechten Abſcheu heget! Und
da ſie einen ſolchen Tyrannen zum Vater, und ei-
nen ſolchen unverſoͤhnlichen Bruder hat: hat ſie,
in Betrachtung derſelben, auch keine Urſache,
zum Vortheil fuͤr irgend jemand von dem maͤnn-
lichen Geſchlechte, eine Ausnahme zu machen.
Es iſt drey Uhr. Jch will hier ſchließen,
und mich ein wenig zur Ruhe begeben. Was
ich geſchrieben habe, das wird dich gehoͤrig zu dem-
jenigen vorbereiten koͤnnen, was bald erfolgen
wird.
Dein Bedienter ſagt mir, daß er nicht ohne
einen Brief zuruͤckkommen ſoll, und daß du ihn
morgen erwarteſt. Du haſt da, wo du biſt, Leu-
te genug zu deinem Befehl. Wo ich irgend
Schwierigkeit finde, vor die Fraͤulein zu kommen:
ſo ſoll dein Bothe mit dem gegenwaͤrtigen abge-
hen. ‒ ‒ Er mag gebrochne Beine und andere
Folgen erwarten, wo das, was er mitbringt, dei-
ne Hoffnung nicht erfuͤllet! ‒ ‒ Wo ich aber
vorgelaſſen werde: ſo ſollſt du dieß Schreiben,
und die Nachricht, wie mein Beſuch abgelaufen
U 4iſt,
[312]
iſt, beyde zugleich haben. Jm erſtern Fall, magſt
du einen andern Bedienten ſchicken, auf die naͤch-
ſte Zeitung zu warten, von
J. Belford.
Der ein und vierzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Heute fruͤhe um ſechſe ging ich zu Rowland.
Fr. Sinclair mußte mir folgen, die Klage
aufzuheben, aber ſich nicht ſehen zu laſſen.
Rowland vermeldete mir, auf meine Anfra-
ge, daß die Fraͤulein ſich ausnehmend uͤbel be-
faͤnde, und verlangt haͤtte, niemand, als ſeine
Frau, oder Magd, zu ihr kommen zu laſſen.
Jch ſagte, ich muͤßte ſie ſehen. Jch haͤtte
ihm ſchon geſtern Abends mein Gewerbe geſagt:
und ich muͤßte ſie ſehen.
Sein Weib ging hinauf: kam aber den Au-
genblick wieder zuruͤck, und ſagte, ſie koͤnnte kein
Wort aus ihr bringen, jedoch haͤtte ſie die Au-
genlieder bewegt, ob ſie die Augen gleich entwe-
der nicht aufſchlagen wollte, oder nicht aufſchla-
gen koͤnnte, ſie anzuſehen.
Hohl euch der Henker, Weib, ſprach ich, die
Fraͤulein mag in einer Ohnmacht liegen: die
Fraͤu-
[313]
Fraͤulein mag wohl gar in den letzten Zuͤgen ſeyn.
‒ ‒ Laßt mich hinaufgehen. Zeigt mir den
Weg.
Ein ſchreckliches Loch von einem Hauſe; in
einem Gange, den ſie einen Hof nennen: mit
jaͤmmerlich engen Treppen, ſelbſt zu den Stuben
im erſten Stockwerk! Sie fuͤhrten mich in eine
Hoͤhle, mit zerfallenen Waͤnden, die mit Papier
beſchlagen geweſen waren, wie ich an einer Men-
ge von kleinen Naͤgeln, und an einigen zerriſſenen
Stuͤcken, die noch an den verroſteten Naͤgelkoͤ-
pfen hingen, ſehen konnte.
Der Fußboden war rein: aber die Decke
war mit mancherley Figuren und Anfangsbuch-
ſtaben von Namen beraͤuchert; welches die klaͤg-
liche Beſchaͤfftigung elender Leute geweſen war,
die kein anderes Mittel gehabt hatten, ſich die Zeit
zu vertreiben.
An der einen Ecke ſtand ein Bette mit gro-
ben Vorhaͤngen, die man zu den Fuͤßen oben an
die Decke genagelt hatte, weil die Ringe abgeriſ-
ſen waren: aber mit einer Bettdecke, die reinlich
ausſahe, ob ſie gleich gewaltig zerlumpet und die
Ecken in Knoten aufgeknuͤpfet waren, damit die
Riſſe nicht weiter darinn gingen.
Die Fenſter waren dunkel und mit gedoppel-
ten Gittern, oben mit Brettern vernagelt, die
Ausbeſſerung zu erſparen, und nur mit einem klei-
nen viereckichten Kuckloch, die Luft herein zu laſ-
ſen: wiewohl mehr durch zerbrochene Fenſter-
U 5ſcheiben
[314]
ſcheiben herein ging, als dadurch hinein kommen
konnte.
Vier alte Stuͤhle von tuͤrkiſcher Arbeit, un-
ten geborſten, daß die Ausſtopfung hervorkam.
Ein alter, wacklichter, wurmſtichichter Tiſch,
worauf mehr Naͤgel verwendet waren, ihn aus-
zubeſſern, daß er ſtehen konnte, als der Tiſch ſelbſt
vor funfzig Jahren, da er neu geweſen, gekoſtet
hatte.
Auf dem Geſimſe war ein eiſerner Schiebe-
leuchter mit einem brennenden Lichte, das nur
eben, eben, ſchimmerte, vier auf einen Pfennig,
vermuthe ich.
Nicht weit davon, auf eben dem Geſimſe
ſtand ein alter Spiegel, mitten durch in tauſend
Stuͤcken zerknickt, dem vielleicht in einer Wuth
der Stoß von einem Elenden gegeben war, wel-
chem er den Jammer ſeines Herzens in ſeinem
Geſichte vorgeſtellet hatte.
Jn dem Camin waren zween halbe Ziegel,
an einer, und ein ganzer an der andern Seite;
welches zeigte, daß er in beſſerm Stande geweſen
war: nun aber war der Moͤrtel den uͤbrigen Zie-
geln an allen andern Stellen nachgefolget, und
hatte die Mauerſteine bloß gelaſſen.
Ein alter Ofenroſt mit halben Gittern war
in eben dem Camin, und in dem Roſt ſtand eine
große ſteinerne Flaſche ohne Hals, die mit trau-
rigem Eibenbaum, als einem Jmmergruͤn, mit
verwelktem Stabwurz, mit Feldroſen, und mit
Sproͤß-
[315]
Sproͤßlingen von Raute in der Bluͤte, gefuͤllet
war.
Die aͤrgerliche Beſchreibung zu beſchließen;
in einem dunkeln Winkel ſtand noch ein altes
hoͤlzernes Ruhebette, worinn der Boden gebro-
chen war, ohne ein Polſter oder Bettdecke. Es
war auf einer Ecke geſunken und hielte nicht zu-
ſammen, weil einer von ſeinen wurmſtichichten
Fuͤßen fehlte, der in zwey Stuͤcken unter dem
jaͤmmerlichen Hausrath lag, den er nicht laͤnger
hatte halten koͤnnen.
Und dieß, du ſcheuslicher Lovelace, war
die Schlafkammer der goͤttlichen Cla-
riſſa! ! !
Jch hatte Zeit, meine Augen auf dieſe Din-
ge zu werfen. Denn weil ich leiſe hinauf ging:
wandte ſich die arme Fraͤulein nicht um, als wir
hineintraten, und bewegte auch den Kopf nicht
eher, als bis ich redete.
Sie lag auf den Knieen in einer Ecke von
dem Gemach, bey dem wunderlichen Fenſter, ge-
gen den Tiſch, auf einem alten Polſter, wie es
ſchien, von dem hoͤlzern Ruhebette; halb mit ih-
rem Schnupftuch bedecket; mit dem Ruͤcken
nach der Thuͤre zu, die bloß zugemacht war;
Schloͤſſer brauchte es nicht! mit ihren Armen
creutzweiſe uͤber den Tiſch und mit dem Voͤrder-
finger ihrer rechten Hand in der Bibel. Sie
hatte vielleicht darinn geleſen und nicht laͤnger le-
ſen koͤnnen. Papier, Feder und Dinte waren
bey ihrem Buche auf dem Tiſche. Jhr Anzug
war
[316]
war von weiſſem Damaſt, ausnehmend ſauber:
aber ihre Schnuͤrbruſt ſchien nicht feſt geſchnuͤ-
ret. Man erzaͤhlte mir nachher, daß ihre Schnuͤr-
baͤnder zerſchnitten waͤren, als ſie bey ihrer An-
kunft an dieſen verfluchten Ort in Ohnmacht ge-
fallen: und ſie hatte ſich um ihren Anzug nicht
genug bekuͤmmert, andere holen zu laſſen. Jhr
Kopfzeug war ein wenig in Unordnung, und ihr
ſchoͤnes Haar warf in natuͤrlichen Locken, wie ihr
es vordem beſchrieben habt, aber ein wenig ver-
wirrt, als wenn es kuͤrzlich nicht gekaͤmmet waͤ-
re, einen unordentlichen Schatten auf eine Seite
von dem liebenswuͤrdigſten Halſe in der Welt,
wie die andern von ihrem verzogenen und zer-
knuͤllten Halstuche beſchattet ward. Jhr Ge-
ſicht, o wie veraͤndert! wie verſchieden von dem,
was ich geſehen hatte! Doch liebenswuͤrdig,
Trotz allem ihrem Kummer und Leiden! war auf
ihre creutzweiſe uͤber einander geſchlagene Arme
geleget, als wir herein traten: aber ſo, daß nicht
mehr als die eine Seite davon bedeckt war.
Da ich das Gemach uͤberſahe, und die Fraͤu-
lein auf den Knieen zu Geſichte bekam, welche in
ihr weiſſes und weites Kleid; denn ſie hatte kei-
nen Reiffenrock an; das ſich uͤber den finſtern,
ob gleich nicht unreinen, Boden ausbreitete, und
den ſcheuslichen Winkel erleuchtete, ſo gar mit
einem majeſtaͤtiſchen Weſen geſunken war; mit
ſo weiſer Waͤſche, als man ſich nicht einbilden
konnte, in Betrachtung, daß ſie ſeit der Zeit, da
ſie hier geweſen, ſich niemals abgekleidet hatte:
ſo
[317]
ſo haͤtte mich der Kummer, womit ich fuͤr ſie ge-
ruͤhret ward, beynahe erwuͤrget. Es ſtieg mir
etwas in die Kehle, ich weiß nicht was, das ich
ſchlucken und gluchſen mußte, die Sprache zu be-
kommen. Endlich brach ſie mit Gewalt hervor
‒ ‒ der Hen ‒ ‒ Hen ‒ ‒ Henker hole euch
beyde, ſagte ich zu dem Kerl und dem Weibe,
iſt dieß ein Zimmer fuͤr eine ſolche Fraͤulein? Und
konnten die verfluchten Teufel von ihrem eignen
Geſchlechte, die dieſen geplagten Engel beſuchten,
ſie in einem ſo verdammten Winkel ſehen und
doch darinn zuruͤcklaſſen?
Wir haͤtten gern geſehn, mein Herr, daß die
Fraͤulein unſere eigne Schlafkammer genommen
haͤtte: aber ſie wollte nicht. Wir ſind arme
Leute ‒ ‒ und vermuthen nicht, daß jemand laͤn-
ger bey uns bleiben werde, als ſo lange es nicht
zu aͤndern iſt.
Jhr ſeyd gewiß, ich zweifele gar nicht, mit
Vorbedacht von den verdammten Weibsbildern,
die euch gebraucht haben, ausgeſucht: und wo
euer Bezeigen gegen dieſe Fraͤulein nur halb ſo
arg geweſen iſt, als euer Haus, ſo waͤre es beſſer
geweſen, daß ihr nie das Tageslicht geſehen
haͤttet.
Darauf hub die reizungsvolle und geplagte
Fraͤulein ihr liebenswuͤrdiges Geſicht in die Hoͤ-
he. Allein es breitete ſich ein ſo merklicher Kum-
mer uͤber daſſelbe aus, daß ich mich nicht enthal-
ten konnte, wenn es auch mein Leben gekoſtet haͤt-
te, augenſcheinlich geruͤhret zu werden.
Sie
[318]
Sie bewegte ihre Hand zwey oder dreymal
auf und nieder gegen die Thuͤre, als wenn ſie mir
befehlen wollte, wegzugehen, und uͤber mein Zu-
dringen misvergnuͤgt waͤre: ſprach aber nicht.
Goͤnnen ſie mir, gnaͤdige Fraͤulein ‒ ‒ Jch
will ohne ihre Erlaubniß nicht einen Schritt naͤ-
her kommen ‒ ‒ Goͤnnen ſie mir auf einen Au-
genblick ein geneigtes Ohr.
Nein ‒ ‒ Nein ‒ Weg, weg, Mannsper-
ſon ‒ ‒ das Wort ſprach ſie mit beſonderm
Nachdruck aus; und wuͤrde mehr geſagt haben:
allein ſie ſchien die Sprache als verlohren aufzu-
geben, nicht anders, als wenn ſie ſich vergebens
beſtrebte, Worte herauszubringen; und ließ noch
einmal ihren Kopf, mit einem tiefen Seufzer,
auf ihren linken Arm niederſinken, indem der
rechte von ſelbſt, als wenn ſie ihn nicht in ihrer
Gewalt haͤtte, an ihrer Seite, betaͤubt, wie ich
vermuthe, herunter fiel.
O daß du da geweſen waͤreſt! und an mei-
ner Stelle! ‒ ‒ Jedoch bin ich durch dasjenige,
was ich damals in mir ſelbſt fuͤhlte, uͤberzeuget
worden, daß eine Faͤhigkeit, ſich durch das Un-
gluͤck unſerer Mitgeſchoͤpfe ruͤhren zu laſſen, kei-
nesweges einem maͤnnlichen Herzen ſchaͤndlich
ſey. Mit was fuͤr einem Vergnuͤgen haͤtte ich,
in dem Augenblick, mein eignes Leben aufgeben
koͤnnen: wenn ich nur vorher dieß reizende Frau-
enzimmer zu raͤchen, und ihrem Verderber, wie
ſie dich auf eine nachdruͤckliche Art nennet, ob es
gleich der Freund iſt, den ich am meiſten liebe,
die
[319]
die Kehle abzuſchneiden, vermoͤgend geweſen waͤ-
re! Und dennoch ließ, zu gleicher Zeit, mein Herz
nebſt meinen Augen einer ſo ſanftmuͤthigen Re-
gung freyen Lauf, als es niemals vorher zu fuͤh-
len geſchickt geweſen iſt, ob ich gleich kein ſo ver-
haͤrteter Boͤſewicht bin, als du.
Jch darf mich nicht zu ihnen nahen, werthe-
ſte Fraͤulein, ohne ihre Erlaubniß: aber auf
meinen Knieen bitte ich, erlauben ſie mir, ſie von
dieſem verdammten Hauſe, und von der Gewalt
des verfluchten Weibes, die ſchuld daran iſt, daß
ſie hier ſind, zu befreyen!
Sie hub ihr angenehmes Geſicht noch einmal
wieder auf, und ſahe mich auf meinen Knieen.
Niemals habe ich ſonſt gewußt, was es hieße, ſo
herzlich zu bitten.
Sind ſie nicht ‒ ‒ Sind ſie nicht Herr Bel-
ford, mein Herr? Jch denke, ihr Name iſt Bel-
ford?
Ja, gnaͤdige Fraͤulein, und ich bin allezeit ein
eifriger Verehrer ihrer Tugenden, und ein Fuͤr-
ſprecher fuͤr ſie geweſen. Jch komme nur in der
Abſicht, ſie aus den Haͤnden, worinn ſie ſind, frey
zu machen.
Und in weſſen Haͤnde zu bringen? O gehen
ſie von mir, gehen ſie von mir! Laſſen ſie mich
niemals von dieſer Stelle aufſtehen! Laſſen ſie
mich niemals, niemals, einer Mannsperſon mehr
glauben.
Dieſen Augenblick, wertheſte Fraͤulein, ſelbſt
dieſen Augenblick, wo es ihnen beliebt, koͤnnen ſie
gehen,
[320]
gehen, wohin es ihnen zu gehen beliebt. Sie
ſind vollkommen frey, und haben Macht, mit ſich
zu thun, was ſie wollen.
Jch moͤchte nun hier an dieſem Orte eben ſo
gern, als ſonſt irgendwo, ſterben. Jch will kei-
nem Freunde von demjenigen, in deſſen Geſell-
ſchaft ich ſie geſehen habe, eine Verbindlichkeit
haben. Alſo bitte ich, mein Herr, gehen ſie
weg.
Hierauf wandte ſie ſich zu dem Gerichtsdie-
ner. Herr Rowland, das, denke ich, iſt euer
Name, ich bin beſſer mit eurem Hauſe zufrieden,
als ich anfangs war. Wenn ihr nur gut dafuͤr
ſeyn koͤnnet, daß niemand zu mir kommen ſoll,
als eure Frau; keine Mannsperſon! auch kei-
ne von denen Weibsleuten, die mit meinem Elen-
de ihren Spott getrieben haben: ſo will ich bey
euch, und eben hier in dieſem Winkel, ſterben.
Jhr ſollt fuͤr die Muͤhe, die ihr mit mir gehabt
habt, wohl vergnuͤget werden ‒ ‒ Jch habe da-
zu Geldes werth genug ‒ ‒ denn ſeht, ich habe
einen diamantenen Ring ‒ ‒ Sie zog ihn aus
ihrem Buſen hervor ‒ ‒ und ich habe Freunde,
die ihn um einen hohen Preiß ausloͤſen werden,
wenn ich dahin bin.
Aber was ſie betrifft, mein Herr ‒ ‒ Sie
ſahe mich an ‒ ‒ ſo bitte ich ſie, wegzugehen.
Wo ſie es gut mit mir meynen: ſo hoffe ich, wird
Gott ihnen ihre gute Meynung belohnen; aber
dem Freunde meines Verderbers will ich keine
Verbindlichkeit haben.
Sie
[321]
Sie werden weder mir, noch ſonſt jemand,
Verbindlichkeit haben. Sie ſind wegen einer
Schuldforderung, die ſie nicht erkennen, in Ver-
haft geweſen. Die Klage iſt aufgehoben: und
ſie werden nur ſo gut ſeyn, mir ihre Hand bis an
die Kutſche zu geben, die ſo nahe bey dieſem Hau-
ſe ſtehet, als ſie hat herauf kommen koͤnnen. Jch
will ſie entweder an dem Schlage der Kutſche
verlaſſen, oder ſie begleiten, wohin es ihnen be-
liebt, und ihnen ſo lange aufwarten, bis ich ſie
ſicher dahin gekommen ſehe, wo ſie zu ſeyn wuͤn-
ſchen moͤchten.
Wollen ſie mich denn zwingen, mein Herr,
ihnen verbunden zu ſeyn?
Sie werden mich vielmehr unausſprechlich
verbinden, gnaͤdige Fraͤulein, wenn ſie mir befeh-
len, ihnen einen Dienſt oder etwas gefaͤlliges zu
erweiſen.
Wohlan denn, mein Herr ‒ ‒ Sie ſahe
mich an ‒ ‒ Aber warum treiben ſie in der de-
muͤthigen Stellung Spott mit mir! Stehen ſie
auf, mein Herr! Jch kann ſonſt nicht mit ihnen
reden.
Jch ſtand auf.
Nehmen ſie nur dieſen Ring, mein Herr.
Jch habe eine Schweſter, die ihn, um des vori-
gen Beſitzers willen, gern fuͤr den Preiß, wie
man ihn ſchaͤtzen mag, nehmen wird! ‒ ‒ Von
dem Gelde, was ſie dafuͤr giebet, laſſen ſie dieſen
Mann bezahlet, gut bezahlet werden. Jch habe
noch einige Koſtbarkeiten in dem vorigen Hauſe;
Sechſter Theil. XDor-
[322]
Dorcas, oder die Mannsperſon Wilhelm, kann
ſagen, wo die ſind. Laſſen ſie die und meine
Kleider bey dem gottloſen Weibe, wo ſie mich ge-
ſehen haben, verkaufen, daß davon erſt meine
Zimmer, und dann ihres Freundes Schulden,
weswegen ich in Verhaft gezogen bin, bezahlet
werden, ſo weit es reichen will: wenn nur ſo viel
zuruͤck behalten wird, als genug iſt, mich irgend-
wo, oder auf irgend eine Art, es iſt gleich gut,
wo oder wie, zur Erde zu ſchaffen. ‒ ‒ Sagen
ſie ihrem Freunde, ich wuͤnſche, daß es genug ſeyn
moͤge, die ganze Forderung abzuthun: wo es
aber nicht iſt, ſo muß er ſie ſelbſt richtig machen;
oder ſich deswegen, wo er es fuͤr gut befindet, an
Fraͤulein Howe wenden; die wird es wieder er-
ſtatten, und mit den Zinſen, wenn er darauf be-
ſtehet ‒ ‒ Wenn ſie mir verſprechen, mein Herr,
dieß auszurichten: ſo werden ſie mir, wie ſie ſich
erbieten, ſo wohl etwas gefaͤlliges, als einen
Dienſt erweiſen. Sagen ſie nur, daß ſie es thun
wollen, und nehmen den Ring, und gehen. Wo
ich noͤthig habe, ihnen noch etwas mehr zu ſagen;
ſie ſcheinen eine leutſelige Mannsperſon zu ſeyn:
ſo will ich ſie es wiſſen laſſen. Und ſo leben ſie
wohl, mein Herr.
Jch nahete mich zu ihr, und wollte reden ‒ ‒
Reden ſie nicht, mein Herr: hier iſt der
Ring.
Jch trat zuruͤck.
Wollen ſie ihn nicht nehmen? Wollen ſie
mir nicht dieſen letzten Liebesdienſt erweiſen? ‒ ‒
Jch
[323]
Jch habe keine andere Perſon, von der ich ihn
verlangen koͤnnte: ſonſt, glauben ſie mir, wuͤrde
ich ſie nicht darum erſuchen. Aber ſie moͤgen
ihn nehmen oder nicht ‒ ‒ ‒ und ſo legte ſie ihn
auf den Tiſch ‒ ‒ ſie muͤſſen weggehen, mein
Herr. Mir iſt ſehr uͤbel. Jch wollte gern ein
wenig ruhen, wenn ich koͤnnte. Jch finde, daß
mir wieder uͤbel wird.
Jndem ſie nun aufſtehen wollte: ſank ſie
vor allzu großem Leidweſen und Kummer in
Ohnmacht.
Warum, Lovelace, wareſt du nicht ſelbſt ge-
genwaͤrtig? ‒ ‒ Warum begehſt du ſolche
Schandthaten, daß ſo gar du ſelbſt dich ſcheueſt,
dabey zu erſcheinen; und traͤgſt es doch einem
weichlichern Herzen und Kopfe auf, damit zu
thun zu haben?
Die Magd kam eben herein. Das Weib
und dieſe huben ſie auf das veraltete Ruhebette:
und ich ging mit dieſem Rowland weg; der wie
ein Kind weinte, und ſagte, daß er in ſeinem Le-
ben niemals ſo geruͤhrt geweſen waͤre.
Jedoch du biſt ein ſo verhaͤrteter Boͤſe-
wicht, daß ich zweifele, ob du bey meiner
Erzaͤhlung eine Thraͤne vergießen wirſt.
Die Frau und ihre Magd brachten ſie durch
Waſſer und Hirſchhorn wieder zu ſich. Jch
ging unterdeſſen hinunter: denn das abſcheuliche
Weib war ſchon eine Weile unten geweſen. O
wie fluchte ich auf ſie! Das Fluchen iſt mir nie
mals ſo gut gefloſſen.
X 2Sie
[324]
Sie ſuchte mich durch glatte Worte einzu-
nehmen: aber ich entſagte ihr, und ſchickte ſie
nach Aufhebung der Klage fort; mit Heulen
und Schreien, oder mit dem Schein davon, uͤber
mein Bezeigen gegen ſie.
Jhr werdet bemerken, daß ich gegen die
Fraͤulein nicht ein Wort von euch erwaͤhnte.
Jch ſcheuete mich davor. Denn es war augen-
ſcheinlich, daß ſie euren Namen nicht leiten konn-
te. Jhr Freund und die Geſellſchaft, worinn
ſie mich geſehen haben, das waren allein die
Worte, die ſie ſprechen konnte, euch auf das naͤ-
heſte zu nennen. Und doch haͤtte ich eure Ge-
ſinnung gern ſo weit gerechtfertiget, daß ſie von
dieſer groben, dieſer filzicht ausſehenden Schand-
that, freygeſprochen waͤre.
Jch ſchickte, durch Rowlands Weib, wieder
hinauf, als ich hoͤrte, daß die Fraͤulein wieder zu
ſich gekommen waͤre, und bat ſie, den teufeliſchen
Ort zu verlaſſen. Das Weib verſicherte ſie, ſie
haͤtte voͤllige Freyheit, es zu thun, weil die Klage
aufgehoben waͤre.
Allein ſie gab nicht ſo viel darauf, ihr ein-
mal zu antworten, und war ſo ſchwach und nie-
dergeſchlagen, daß es beynahe eben ſo wenig in
ihrer Macht, als nach ihrer Neigung war, zu re-
den; wie mir das Weib erzaͤhlte.
Jch wuͤrde zu meinem Freunde, Doct. H-
geeilet haben: aber das Haus iſt eine ſolche
Hoͤhle, und das Gemach, worinn ſie war, ein ſol-
ches Loch, daß ich mich ſchaͤmte, mich von einem
ſo
[325]
ſo angeſehenen Manne, ſenderlich mit einem
Frauenzimmer von ſolcher Geſtalt, und in ſo
außerordentlichem Jammer, darinn ſehen zu laſ-
ſen; und ich ſand, daß ſie nicht zu bereden war,
daſſelbe mit der Schlafkammer der Leute, die rein
und helle war, zu verwechſeln.
Das wunderliche Gemach, worinn ſie ſich
befand, ſagten mir die elenden Leute, haͤtte in beſ-
ſerer Ordnung ſeyn ſollen: allein es waͤre erſt
eben den Morgen, da ſie hereingebracht waͤre, von
einem ungluͤcklichen Manne verlaſſen worden;
ſonder Zweifel, ein leidlichers Gefaͤngniß zu ha-
ben; da wohl ſchwerlich ein aͤrgeres ſeyn konnte.
Weil man mir vermeldete, daß ſie nicht ge-
ſtoͤret ſeyn wollte, und geneigt ſchiene zu ſchlum-
mern: ſo nahm ich dieſe Gelegenheit, zu ihrer
Wohnung im Covent-Garden zu gehen. Dor-
cas, welche ſie daſelbſt zuerſt entdeckte, wie Wil-
helm ſie von der Kirche zum Verhaft anwies,
hatte mir ſchon vorher die noͤthige Nachricht da-
zu gegeben.
Der Mann heißt Smith und handelt mit
Handſchuhen, Schnupſtaback, und dergleichen
kleinen Waaren. Seine Frau haͤlt den Laden:
er macht die Handſchuhe, welche ſie verkaufen.
Ehrliche Leute, wie es ſcheint.
Jch gedachte die Frau mit mir zu der Fraͤu-
lein zu nehmen: aber ſie war nicht zu Hauſe.
Jch ſchwatzte mit dem Manne, und erzaͤhlte
ihm, was der Fraͤulein begegnet waͤre. Jch
ſagte, daß es von einem Misverſtande ausgeſtell-
X 3ter
[326]
ter Befehle hergekommen ſey. Jch gab ihr den
Ruhm, den ſie verdiente: und bat ihn, ſeine Frau,
den Augenblick wenn ſie zu Hauſe kaͤme, zu der
Fraͤulein zu ſchicken; gab ihm auch die Anwei-
ſung, wohin; weil ich nicht zweifelte, daß ihr
Beſuch derſeiben ſehr willkommen ſeyn wuͤrde.
Er verſprach es.
Jch hoͤrte von ihm, daß am Sonnabend ein
Brief fuͤr ſie, und etwa eine halbe Stunde vor-
her, ehe ich gekommen, noch einer, mit einer Auf-
ſchrift von eben der Hand, daſelbſt abgegeben
waͤre: der erſte von der Poſt; der andere von
einem Landmanne; welcher in großer Eilfertig-
keit, nachdem er ihre Abweſenheit und alle Um-
ſtaͤnde, die ſie ihm ſagen konnten, erfahren haͤtte,
betruͤbt wieder abgegangen waͤre, und geſagt haͤt-
te, die Fraͤulein, von der er geſchickt waͤre, wuͤr-
de ſich uͤber die Zeitung bis zum Tode kraͤnken.
Jch hielte fuͤr gut, die beyden Briefe mit mir
zuruͤckzunehmen, ließ meine Kutſche wegfahren,
und nahm eine Saͤnfte, weil dieſe bequemer war,
die Fraͤulein fortzubringen, wenn ich, der Freund
ihres Verderbers, ſie etwa gewinnen koͤnnte,
Rowlands Haus zu verlaſſen.
Weil ich hier genoͤthigt werde, mich einer un-
vermeidlichen Verhinderung zu unterziehen: ſo
ſoll nun die Reihe an dich kommen, auch ein we-
nig von der Quaal zu ſchmecken, die mit einer
ungewiſſen Erwartung verbunden iſt. Daher
will ich abbrechen, ohne dir den geringſten Wink
von dem Ausgange meines fernern Verfahrens
zu
[327]
zu geben. Jch weiß, daß diejenigen Leute, wel-
che am liebſten andere herumfuͤhren moͤgen, am
wenigſten leiden koͤnnen, daß man ſie wieder her-
umfuͤhret. Wohl in zwanzig Faͤllen haſt du die-
ſe Anmerkung an dir wahr gemacht. Und ich
frage nichts nach deinem Toben.
Jnzwiſchen ſoll doch ein anderer Brief wie-
der bereit ſeyn. Du magſt darnach ſchicken: ſo
bald als du willſt. Wenn aber das auch nicht
waͤre: habe ich denn nicht ſchon genug geſchrie-
ben, dich zu uͤberzeugen, daß ich ſey
Dein bereitwilliger und dienſtgefliſſener
J. Belford:
Der zwey und vierzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
des Abends.
Verflucht ſey dein hartes Herz, du ſchaͤndlicher
Galgenſchwengel! Wie haſt du mich durch
dein vorſetzliches Abbrechen gemartert! Nim-
mermehr kann die Fraͤulein Harlowe ſo gelitten
haben, als ich durch deine Schuld habe leiden
muͤſſen, und nun leide.
Das weibliche Geſchlecht iſt dazu gemacht,
Quaal und Pein zu ertragen. Dieß iſt ein Fluch,
X 4den
[328]
den die erſte Weibsperſon allen ihren nachfolgen-
den Toͤchtern erblich hinterlaſſen hat, da ſie den
Fluch uͤber uns alle brachte. Und ſie haben die-
jenigen am liebſten, es ſey Mann oder Kind, die
ihnen am meiſten Quaal machen. ‒ ‒ Aber ſoll-
teſt du einen ſolchen Geiſt, als ich habe, uͤber dei-
ne verdammte Spannbank ziehen! ‒ ‒ Keine
Folter, keine Marter, kann meiner Marter gleich
ſeyn!
Muß ich noch erſt auf die Ruͤckkunft eines
andern Bothen warten? Der Henker hole dich,
boshaftiger Teufel! Jch moͤchte nur wuͤnſchen,
daß du ein Poſtpferd waͤreſt und ich auf deinen
Ruͤcken ſaͤße! Wie wollte ich peitſchen und ſpor-
nen und deine traͤge Seiten aufreißen, bis ich dich
zu einem voͤllig geroſteten, voͤllig geſchundenen
Gerichte fuͤr eine Hundemahlzeit machte, daß alle
Hunde in der Graſſchaft, ſo wie ich dich forttrie-
be, hinter dir her heulen follten, auf mein Abſtei-
gen zu warten, damit ſie dich in kleine Stuͤcke
zerreißen und ſo auf einmal verzehren moͤchten,
wenn ſich noch jedes zerpreßtes Mundvoll vom
Leben bewegte!
Gieb dieſem Kerl die Fortſetzung von deiner
quaͤlenden Schreiberey. Fertige ihn damit ei-
ligſt ab. Du haſt verſprochen, daß ſie bereit ſeyn
ſoll. Jedes Kuͤſſen, oder jeder Stuhl, worauf
ich ſitzen, das Bette, worinn ich liegen werde, wo
ich ja zu Bette gehe, wird mit gerade aufgerich-
teten Pfriemen, Haarnadeln, Pfloͤcken und Pack-
nadeln ausgeſtopfet ſeyn. Jch kann mir bereits
vor-
[329]
vorſtellen, daß, wenn mein Leib ſo, wie mein Ge-
muͤth, durchbohret werden ſoll, ich nur in ein gro-
ßes Faß, das mit eiſernen Stacheln von ſtaͤhler-
nen Spitzen ausgeſchlagen iſt, eingeſteckt, und ei-
nen Berg, der dreymal ſo hoch iſt, als die Seu-
le zu London, das Denkmaal genannt, herunter
gerollt werden darf.
Jedoch ich verliere hiedurch nur Zeit: wie-
wohl ich nicht weiß, wie ich ſie hinbringen ſoll, bis
dieſer Kerl mit dem Verfolg deiner innigſtquaͤ-
lenden Nachrichten zuruͤckkommt.
Der drey und vierzigſte Brief
von
Hrn. Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Da ich wieder in Rowlands Haus kam: be-
fand ich, daß der Apotheker eben hinauf
gegangen war. Weil Rowlands Frau mit ihm
eben war: ſo machte ich mir deſto weniger Be-
denken, auch hinauf zu gehen. Denn es war
hoͤchſtwahrſcheinlich, daß, wenn ich erſt um Er-
laubniß bitten ließe, es eben ſo gut ſeyn wuͤrde,
als wenn ich abgewieſen zu werden verlangte:
und außerdem hoffete ich, daß die Briefe, welche
ich bey mir hatte, mir eine gute Entſchuldigung
an die Hand geben wuͤrden.
X 5Sie
[330]
Sie ſaß zur Seiten des zerbrochenen Ruhe-
bettes, ausnehmend ſchwach und niedergeſchlagen,
und hatte nicht Luſt, wie ich bemerkte, mit dem
Manne zu reden. Es war auch kein Wunder.
Denn ich habe niemals einen aͤrgerlichern Kerl,
von einem leidlich artigen Stande, geſehen, nie-
mals einen unwiſſendern ſchwatzen gehoͤrt ‒ ‒
Der ordentliche Arzt von dieſem und andern der-
gleichen Haͤufern, wie ich vermuthe! Mir fiel
dabey Otways Apotheker in ſeinem Cajus Ma-
rius ein:
Betruͤbt und mager ſah er aus;Schon bis auf Mark und Bein hinausWar ihm die Duͤrftigkeit gegangen;Der Hunger ſaß auf beyden Wangen;Noth und Bedruck kam aus den BlickenJn ſeinen Augen klar herbey;Veraͤchtlichkeit und BetteleyHing hinter ihm auf ſeinem Ruͤcken;Die Welt war nicht ſein Freund,Und ihr Geſetz ſein Feind.
Weil ich ſchwarz gehe: ſo glaube ich, ſahe
er mich, indem ich herein trat, fuͤr einen Doctor
an, und ſchlich hinter mich, mit ſeinem Huthe
auf beyden Daumen. Er ſahe nicht anders aus,
als wenn er nur erwartete, daß ſich das Orakel
aufthun und ihm Verhaltungsbeſehle geben
ſollte.
Die Fraͤulein warf misvergnuͤgte Blicke ſo
wohl auf mich, als auf Rowland, der mir folgte,
und
[331]
und auf den Apotheker. Es waͤre nicht das ge-
ringſte unter ihrem gegenwaͤrtigen Ungluͤck, ſprach
ſie, daß ſie nicht Perſonen von ihrem eignen Ge-
ſchlechte uͤberlaſſen ſeyn, und die freye Wahl ha-
ben koͤnnte, zu ſehen, wen es ihr zu ſehen be-
liebte.
Jch bat ſie um Entſchuldigung, und winkte
dem Apotheker, wegzugehen, welches er that.
Jch vermeldete ihr hierauf, daß ich in ihrer neu-
en Wohnung geweſen waͤre, damit man alles be-
reit halten ſollte, ſie zu empfangen: weil ich ver-
muthete, ſie wuͤrde es fuͤr das beſte halten, dahin
zu gehen. Zu dem Ende haͤtte ich eine Saͤnfte
vor der Thuͤre. Herr Smith und ſeine Frau;
ich nannte mit Fleiß ihre Namen, damit ſie nicht
Urſache haben ſollte, ſich im geringſten vor Sin-
clairs Hauſe zu fuͤrchten; waͤre ihrer Sicherheit
wegen voller Sorge geweſen. Jch haͤtte zween
Briefe bey mir, welche dort fuͤr ſie abgegeben
waͤren: der eine von der Poſt, der andere erſt
heute fruͤhe.
Dieß machte ſie aufmerkſam. Sie reckte
ihre ſchoͤne Hand aus, nahm die Briefe, und druͤck-
te ſie an ihre Lippen ‒ ‒ Von der einzigen
Freundinn, die ich auf der Welt habe! ſagte ſie
dabey, kuͤßte ſie noch einmal, und ſahe die Sie-
gel an, als wenn ſie zuſehen wollte, ob ſie auch
offen geweſen waͤren. Jch kann ſie nicht leſen,
ſetzte ſie hinzu: meine Augen ſind zu dunkel; und
ſteckte ſie in ihren Buſem.
Jch
[332]
Jch bat ſie, darauf bedacht zu ſeyn, daß ſie
das jaͤmmerliche Loch verlaſſen moͤchte.
Wohin koͤnnte ſie gehen, war ihre Frage,
fuͤr den kurzen Ueberreſt ihres Lebens ſicher und
ungeſtoͤrt zu ſeyn, und neuen Beſuchen von de-
nen Weibsleuten, die ihren Spott vorher mit
ihr getrieben haͤtten, zu entgehen?
Jch gab ihr die feyerlichſten Verſicherungen,
daß ſie in ihrer neuen Wohnung von keiner See-
le ſollte beunruhigt werden, und ich meine Ehre
insbeſondere dafuͤr zum Pfande ſetzen wollte, daß
diejenige Perſon, von der ſie am meiſten be-
leidigt waͤre, nicht, ohne ihre eigne Ein-
willigung, zu ihr kommen ſollte.
Jhre Ehre, mein Herr! Sind ſie nicht des
Menſchen Freund?
Jch bin kein Freund, gnaͤdige Fraͤulein, von
ſeinen ſchaͤndlichen Handlungen gegen das vor-
trefflichſte Frauenzimmer auf der Welt.
Schmeicheln ſie mir, mein Herr? Hiernaͤchſt
ſind ſie ja eine Mannsperſon ‒ ‒ Aber o! mein
Herr, was hat ihr Freund, ihr unmenſchlicher
Freund, nicht zu verantworten! ‒ ‒ Jndem ſie
dieß ſagte: reckte ſie ihren Kopf mit großem
Ernſt hervor.
Sie brach aber damit ab. Das Herz ward
ihr ſchwer und war zu voll. Sie hielte ihre
Hand uͤber die Augen und uͤber die Stirn: und
die Thraͤnen fielen tropfenweiſe durch ihre Fin-
ger. Es ſchien, als wenn ihr deine unmenſch-
liche
[333]
liche Grauſamkeit ſo empfindlich war, als Caͤ-
ſarn der Stich von ſeinem Liebling, Brutus!
Ob ſie gleich ſo ſehr in Unordnung war: ſo
dachte ich doch, daß ich dieſe Gewogenheit nicht vor-
beylaſſen wollte, eure Unſchuld an dieſem ſchaͤnd-
lichen Verhaft zu betheuren.
Man kann den ungluͤcklichen Menſchen un-
moͤglich in irgend einer von den ehrloſen Hand-
lungen gegen ſie vertheidigen, gnaͤdige Fraͤulein:
aber an dieſer letzten Gewaltthaͤtigkeit iſt er, bey
allem, was gut und heilig heißt, unſchuldig!
O elende Leute! Wie ſeltſam iſt das maͤnn-
liche Geſchlecht! ‒ ‒ Fuͤhren ſie denn alle eine
Sprache? Was gut und heilig heißt! ‒ ‒ Wo
ſie einen Eid, oder ein Geluͤbde, oder eine Be-
ſchwoͤrung finden koͤnnen, mein Herr, wodurch
meine Ohren nicht zwanzig mal an einem Tage
beleidigt ſind: ſo moͤgen ſie dieſelbe ausſprechen;
und dann mag ich wieder einer Mannsperſon
glauben.
Dieſe Worte ruͤhrten mich uͤber alle Maaße:
weil ich wußte, wie niedertraͤchtig du geweſen
wareſt, und was ſie deswegen fuͤr Urſache hatte,
ſo zu reden.
Aber ſagen ſie, mein Herr; denn mich deucht,
ich wollte gern, daß der elende Menſch nicht ei-
ner ſo poͤbelhaften Niedertraͤchtigkeit faͤhig ſeyn
moͤchte! ‒ ‒ Sagen ſie, daß er an dieſer letzten
Schandthat unſchuldig ſey? Koͤnnen ſie das mit
Wahrheit ſagen?
So wahr Gott im Himmel lebt! ‒ ‒
Ey,
[334]
Ey, mein Herr, wo ſie ſchwoͤren: ſo muß ich
ein Mistrauen in ſie ſetzen. ‒ ‒ Halten ſie ſelbſt
ihr Wort fuͤr unzulaͤnglich: wie kann ich mich
denn auf ihren Eid verlaſſen! ‒ ‒ O daß mir
dieſe Erfahrung nicht ſo theuer zu ſtehen gekom-
men waͤre! Sollte ich aber tauſend Jahr leben:
ſo wuͤrde ich allemal die Wahrhaftigkeit eines
Schwoͤrers fuͤr verdaͤchtig halten. Entſchuldi-
gen ſie mich, mein Herr! Allein iſt es wohl glaub-
lich, daß derjenige, welcher ſo frey mit ſeinem
Gott verfaͤhret, ſich bey ſeinen Mitgeſchoͤpfen
uͤber irgend etwas, das zu ſeinem Zweck dienen
mag, ein Bedenken machen werde?
Dieß war ein ſehr ruͤhrender Verweis.
Jch halte auf mein Wort, gnaͤdige Fraͤu-
lein, ſprach ich; ich halte darauf, wie einem Ca-
vallier zuſtehet: und wo ich es ihnen jemals
breche ‒ ‒
Zuͤrnen ſie nicht uͤber mich, mein Herr. Es
geht mir nahe, daß ich die Wahrheitsliebe eines
Cavalliers in Zweifel ziehen ſoll. Aber ihr
Freund nennt ſich einen Cavallier ‒ ‒ Sie
wiſſen nicht, was ich von einem. Cavallier gelit-
ten habe. ‒ ‒ Und darauf weinte ſie wieder.
Jch wuͤrde ihnen vollkommenen Beweis ge-
ben, gnaͤdige Fraͤulein, wenn es ihre Betruͤbniß
und ihr niedergeſchlagenes Gemuͤth litte, daß er
an dieſer unmenſchlichen Schandthat kein Theil
hat, und ſie ſo uͤbel empfindet, als ſie billig zu
empfinden iſt.
Es
[335]
Es mag ſeyn, mein Herr, verſetzte ſie mit
heftiger Lebhaftigkeit: er wird ſeine Rechenſchaft
ſonſt irgendwo, nicht mir, zu geben haben. Es
wuͤrde mir nicht unangenehm ſeyn, wenn ich ihn
im Stande befaͤnde, ſeine Geſinnung in dieſem
Vorfall zu rechtfertigen. Laſſen ſie ihn nur dieß
einzige wiſſen, mein Herr, daß ich eben damals,
da ſie mich in bitterem Kummer uͤber ſein un-
verſchuldetes Verfahren mit mir die heftigſten
Klagen fuͤhren gehoͤret haben; eben in dem Au-
genblick, da ich ſo geruͤhret geweſen bin; noch die-
ſes habe ſagen koͤnnen; und niemals hatte
ich eine ſo ernſtliche und ruͤhrende Erhe-
bung der Haͤnde und Augen geſehen: Gieb
ihm, gnaͤdiger Gott! Buße und Beſſerung, da-
mit ich die letzte arme Perſon ſeyn moͤge, die
durch ihn ungluͤcklich gemacht ſeyn ſoll! ‒ ‒ Und
zu rechter, zu dir gefaͤlliger Zeit, nimm den elen-
den Menſchen, der gegen mich keine Barmher-
zigkeit gehabt hat, zu deiner Gnade und Barm-
herzigkeit auf!
Bey meiner Seele, ich konnte nicht ſprechen.
‒ ‒ Sie hatte ihre Bibel nicht umſonſt vor
ſich.
Jch ward gezwungen, mein Geſicht wegzu-
kehren, und mein Schnupftuch auszuziehen.
Was iſt dieß fuͤr ein Engel! ‒ ‒ Selbſt
der Kerkermeiſter und ſeine Frau und Magd,
weinten.
Noch einmal wuͤnſche ich, daß du da gewe-
ſen, daß du zu ihren Fuͤßen niedergeſunken waͤ-
reſt,
[336]
reſt, und den Augenblick die Frucht ihrer edelmuͤ-
thigen Wuͤnſche fuͤr dich eingeerndtet haͤtteſt: ſo
wenig du auch etwas anders, als das Verderben,
verdienet haſt!
Jch ſtellte ihr vor, ſie wuͤrde da, wo ſie itzt
waͤre, weniger von ſolchen Beſuchen, die ihr nicht
gefielen, frey ſeyn, als in ihrer eignen Wohnung.
Jns beſondre wuͤrde es ihr nach aller Wahr-
ſcheinlichkeit, den Beſuch von jemand zuzie-
hen, der ſonſt, wie ich Buͤrge ſeyn wollte; ich
durfte aber nicht wieder ſchwoͤren, nachdem ſie mir
einen ſo harten Verweis desfalls gegeben hatte;
ohne ihre Einwilligung nicht zu ihr kommen ſoll-
te. Jch bezeugte, wie ſehr ich mich wunderte,
daß ſie nicht geneigt waͤre, einen ſolchen Ort, als
dieſer, zu verlaſſen: da es doch mehr als wahr-
ſcheinlich waͤre, daß einige von ihren Freunden,
wenn ſie erfuͤhren, wie uͤbel ſie ſich befaͤnde, ſie
beſuchen wuͤrden.
Der Ort, ſagte ſie, waͤre ihr in der That,
als man ſie zuerſt dahin gebracht, ſehr aͤrgerlich
und zuwider geweſen. Allein ſie haͤtte ſich ſo
ſchwach und uͤbel befunden, und ihr Kummer
haͤtte ſie ſo niedergeſchlagen, daß ſie nicht vermu-
thet, bis itzo zu leben. Daher waͤren ihr alle
Oerter gleichguͤltig geweſen. Denn in einem
Gefaͤngniſſe ſterben, waͤre ſterben, und eben ſo
angenehm, als in einem Palaſt ſterben, Palaͤſte,
ſagte ſie, koͤnnten fuͤr einen Sterbenden keine Rei-
zungen haben. Weil ſie aber nunmehr beſorgte, ſie
wuͤrde nicht ſo bald aufgeloͤſet werden, als ſie ge-
hoffet
[337]
hoffet haͤtte; weil ſie ferner hier ſo wenig ſich
ſelbſt gelaſſen waͤre; und weil ſie endlich durch
die Verwechſelung dieſes Ortes die Bequemlich-
keit haben moͤchte, die Briefe ihrer theureſten
Freundinn leichter zu bekommen: ſo wollte ſie
hoffen, ſie wuͤrde ſich auf die Verſicherungen,
welche ich ihr gaͤbe, verlaſſen koͤnnen, daß ſie die
Freyheit haͤtte, zu ihrer letztern Wohnung zuruͤck-
zukehren; ſonſt wollte ſie ſich mit andern Zim-
mern aufs neue verſehen, die ſo wenig in meiner,
als eurer Kundſchaft waͤren. Sie haͤtte das
Vertrauen, ich wuͤrde ein allzu rechtſchaffener
Cavallier ſeyn, als daß ich Theil daran nehmen
ſollte, ſie zu dem Hauſe zuruͤck zu bringen, wel-
ches ſie ſo viele Urſache zu verabſcheuen haͤtte,
und wohin ſie vorher betruͤgeriſcher Weiſe, auf
die ſchaͤndlichſte Art, zu ihrem Ungluͤck gebracht
waͤre.
Jch verſicherte ſie mit den nachdruͤcklichſten
Worten, aber ſchwur nicht, daß ihr euch ent-
ſchloſſen haͤttet, ihr nicht beſchwerlich zu fallen.
Zu einem Beweiſe von der Aufrichtigkeit meiner
Erklaͤrungen bat ich ſie, mir, auf meines Freun-
des ausdruͤckliches Verlangen, Befehl zu geben,
daß alle ihre Kleider, und was ihr ſonſt zugehoͤr-
te, zu ihrer neuen Wohnung geſendet wuͤrden.
Hieruͤber ſchien ſie vergnuͤgt zu ſeyn, und
gab mir alſobald ihre Schluͤſſel aus der Taſche.
Sie fragte mich, ob Frau Smithen, die ich ge-
nannt haͤtte, nicht zu mir kommen duͤrfte? Sie
wollte ihr weiter Nachricht und Anweiſung ge-
Sechſter Theil. Yben.
[338]
ben. Jch willigte mit Vergnuͤgen darein: und
hierauf erklaͤrte ſie ſich, daß ſie die Saͤnfte, wel-
che ich ihr angeboten haͤtte, annehmen wollte.
Jch ging hinaus: und bediente mich der
Gelegenheit, mich gegen Rowland und ſeine
Magd guͤtlich zu beweiſen. Denn die Fraͤulein
hatte in Betrachtung deſſen, was ſie waren, an
ihrem Bezeigen nichts auszuſetzen: und der Kerl
ſcheint jaͤmmerlich arm zu ſeyn. Jch ſchickte
auch nach dem Apotheker, der eben ſo arm iſt,
als der Kerkermeiſter; ja ich darf wohl ſagen,
noch aͤrmer, in Anſehung der Wiſſenſchaft, die zu
ſeinem Geſchaͤffte erfordert wird; und befriedigte
ihn beſſer, als er gehoffet hatte.
Die Fraͤulein verſuchte, nachdem ich weg-
gegangen war, die Briefe zu leſen, welche ich ihr
gebracht hatte. Aber ſie konnte nur ein kleines
Stuͤck von dem einen leſen, und gerieth uͤber den-
ſelben ſehr in Bewegung.
Sie vermeldete dem Weibe, daß ſie alſobald
Gelegenheit nehmen wollte, ihrer aller Muͤhe zu
verguͤtigen, und den Apotheker zu befriedigen,
welcher ſeine Rechnung zu ihrer Wohnung ſen-
den moͤchte.
Der Magd gab ſie etwas: vermuthlich die
einzige halbe Guinea, die ſie hatte. Und ſodann
kam ſie mit großer Muͤhe die Treppen hinunter:
indem ihre Fuͤße unter ihr zitterten, und Row-
lands Weib ihr zu einer Stuͤtze diente.
Jch reichte ihr meinen Arm. Sie ließ ſich
gefallen, ſich darauf zu lehnen. Jch beſorge,
mein
[339]
mein Herr, ſprach ſie im Gehen, daß ich unhoͤf-
lich gegen ſie geweſen bin: allein, wenn ſie alles
wuͤßten; ſo wuͤrden ſie mir vergeben.
Jch weiß genug, gnaͤdige Fraͤulein, mich zu
uͤberfuͤhren, daß keine ſo unbefleckte Tugend und
Ehre in irgend einem Frauenzimmer auf der
Welt iſt, und keines, mit dem ſo unmenſchlich
umgegangen waͤre.
Sie ſahe mich ſehr ernſtlich an. Was ſie
denken mochte, das kann ich nicht ſagen: aber
uͤberhaupt habe ich niemals ſo viel Geiſt in eines
Frauenzimmers Augen geſehen, als in ihren.
Jch befahl meinem Bedienten, der wegen
der Trauer weniger dafuͤr angeſehen werden
konnte, und der Fraͤulein nicht vor Augen gekom-
men war, die Saͤnfte im Geſichte zu behalten,
und mir Nachricht zu bringen, wie ſie ſich be-
faͤnde, wenn ſie ausſtiege. Der Kerl hatte den
Einfall eben in den Laden zu treten, ehe die Saͤnf-
te hineinkam, unter dem Vorwand, Schnupfta-
back zu kaufen: und alſo war er im Stande,
mir eine Nachricht zu geben, daß ſie von der gu-
ten Frauen im Hauſe mit großer Freude empfan-
gen worden, und dieſe ihr geſagt haͤtte, ſie waͤre
eben erſt zu Hauſe gekommen und im Begriff
geweſen, ihr in High-Holborn aufzuwarten ‒ ‒
O Frau Smithen, waren die Worte der Fraͤu-
lein, ſo bald ſie dieſelbe ſahe, dachten ſie nicht,
daß ich davon gelaufen waͤre? ‒ ‒ Sie wiſſen
nicht, was ich ausgeſtanden habe, ſeit dem ich ſie zu-
letzt geſehen. Jch bin in einem Gefaͤngniſſe ge-
Y 2weſen!
[340]
weſen! ‒ ‒ Wegen Schulden, die ich nicht er-
kenne, in Verhaft gezogen! ‒ ‒ Aber Gott ſey
Dank, daß ich wieder hier bin! ‒ ‒ Wollen ſie
ihrem Maͤgdchen erlauben ‒ ‒ Jch habe ihren
Namen ſchon vergeſſen ‒ ‒
Cathrine, Madame ‒ ‒
Wollen ſie Catharine mir zu Bette helfen
laſſen? ‒ ‒ Jch habe meine Kleider ſeit Don-
nerſtag Abends nicht vom Leibe gehabt.
Was ſie weiter ſagte, das hoͤrte der Kerl nicht:
weil ſie ſich auf das Maͤgdchen ſtuͤtzte, und die
Treppen hinauf ging.
Allein bemerkeſt du nicht, was fuͤr eine wun-
derbare, was fuͤr eine außerordentliche Offenher-
zigkeit in dieſer Fraͤulein herrſchet. Sie waͤre
in einem Gefaͤngniſſe geweſen, ſagte ſie vor
einem Fremden in dem Laden und vor dem Maͤgd-
chen: und ſo wuͤrde ſie, nach wahrſcheinlicher
Vermuthung, geſagt haben, wenn auch zwanzig
Leute in der Bude geweſen waͤren.
Die Schande, welche ſie vor ſich ſelbſt
nicht verbergen kann, wie ſie in ihrem Briefe
an die Lady Eliſabeth ſaget, bemuͤht ſie ſich nicht,
vor der Welt zu verheelen!
Aber dieß zeigt mir offenbar, daß ſie ſich
vorgenommen hat, deiner auf keine Art zu ſcho-
nen. Da ſie dennoch im Stande iſt, ein ſolches
Gebeth fuͤr dich abzulaſſen, als ſie in ihrem Ge-
faͤngniſſe that; ich will der Gefaͤngnißkammer
oft erwaͤhnen, dich zu quaͤlen: zeiget denn das
nicht, daß die Rache ſehr wenig in ihrem Gemuͤ-
the
[341]
the herrſche; ob ſie gleich ſo gebuͤhrlich zuͤrnen
kann?
Dieß iſt ein anderer unvergleichlicher Vorzug
an dieſer bewundernswuͤrdigen Fraͤulein. Denn
haben wir wohl vorher jemand unter dem ganzen
weiblichen Geſchlechte, oder auch dem unfrigen
angetroffen, der gewußt haͤtte, wie man im Werk
und in der Ausuͤbung zwiſchen Rache und
Unwillen uͤber niedertraͤchtige und undankbare
Begegnung einen Unterſcheid machen muͤßte?
Bey dem allen iſt es ein verfluchtes Ding,
daß einem ſolchen Frauenzimmer, als dieß iſt,
ſo hat begegnet werden ſollen, wie ihr begegnet
iſt. Waͤreſt du ein Koͤnig geweſen, und haͤtteſt
gegen eine ſo wohlverdiente und unſchuldige Per-
ſon ſo gehandelt, als du gehandelt haſt: ſo, glau-
be ich nach meinem Gewiſſen, wuͤrde es dem
ganzen Volk zur Suͤnde zugerechnet ſeyn, und
muͤßte durch Schwerdt, Peſt oder Hunger ſeyn
gebuͤßet worden! ‒ ‒ Aber da du keine oͤffentli-
che Perſon biſt: ſo wirſt du gewiß, außer dem,
was du von der Gerechtigkeit deines Landes, und
der Rache ihrer Freunde, erwarten magſt, nach
dieſem deine Strafe, wie ſie ihre Belohnung,
finden.
Es muß nothwendig ſo ſeyn: wo wirklich
eine kuͤnftige Belohnung vorhanden iſt. Jch
werde aber nun immer mehr und mehr uͤberzeu-
get, daß ſie ſtatt haben muß ‒ ‒ Wie hart iſt
ſonſt ihr Schickſal: da ihre Strafe, allem Anſe-
hen nach, ſo viel zu groß fuͤr ihren Fehltritt iſt?
Y 3Und
[342]
Und was dein Verbrechen betrifft: wie kann
wohl deine abſcheuliche Bosheit gegen ſie, wodurch
du alle natuͤrliche und goͤttliche Verbindlichkeiten
gebrochen haſt, durch ein zeitliches Feuer, wenn
du etwa durch einen Zufall in deinem Bette
von der Flamme verzehret wuͤrdeſt, gebuͤßet
werden?
Jch hatte mir vorgenommen, keine Zeit zu
verſaͤumen, daß der Fraͤulein alles, was ihr
in dem Hauſe des verfluchten Weibes zugehoͤrte,
geſendet wuͤrde. Zu dem Ende nahm ich eine
Kutſche fuͤr Frau Smithen, ließ der Fraͤulein
meine Empfehlung hinauf ſagen, und mich er-
kundigen, wie ſie ſich nach der Veraͤnderung des
Orts befaͤnde, und brachte es dahin, ſo uͤbel ſie
ſich auch befand, wie ſie mir herunter ſagen ließ,
daß ſie der Frau Smithen gehoͤrige Anweiſung
gab. Dieſe Frau nahm ich mit mir zu Sin-
clairs Hauſe: und ſie ſahe zu, wie alles ausge-
nommen, in eben die Kiſten und Kaſten, worinn
es anfangs hingebracht war, geleget, und auf
zween Wagen weggefuͤhret wurde.
Waͤre ich nicht da geweſen: ſo wuͤrden Sa-
rah und Marichen, jede etwas, als einen Raub
von der armen Fraͤulein fuͤr ſich behalten haben.
Dieß ſagten ſie frey heraus: und ich hatte Muͤhe
ein Kopfzeug von Bruͤßler-Spitzen wieder von
Sarah zuruͤck zu bekommen. Sie hatte
die Dreiſtigkeit, ſich verlauten zu laſſen, daß ſie
es der Fraͤulein Harlowe zu Ehren tragen woll-
te. Weder ich, noch Frau Smithen, ſollten et-
was
[343]
was davon gewußt haben, daß ſie es genommen:
wenn ſie nicht nach den Manſchetten, die dazu
gehoͤrten, geſucht haͤtte.
Mein Unwillen bey dieſer Gelegenheit, und
die Unterredung, welche ich mit Frau Smithen
hatte, brachte mir eine ſehr gute Meynung bey
dieſer Frauen zuwege: indem ich nicht allein die
Verdienſte der Fraͤulein mit vielen Worten ruͤhm-
te, ſondern auch mein Beyleid uͤber ihr Leiden be-
zeugte; ob ichihr gleich Raum ließ, zu vermuthen,
daß ſie verheyrathet waͤre, jedoch ohne es zu bekraͤf-
tigen. Alſo ſind wir ſchon itzo vollkommen wohl mit
einer bekannt. Hiedurch werde ich im Stande
ſeyn, euch von Zeit zu Zeit zu melden, was vor-
geht. Das will ich auch ſorgfaͤltig thun: wo-
fern ich mich nur auf die Erfuͤllung der feyerli-
chen Verſprechungen, welche ich der Fraͤulein ſo
wohl in eurem, als in meinem Namen, gethan
habe, verlaſſen kann, daß ſie von aller perſoͤnli-
chen Belaͤſtigung von euch frey ſeyn ſoll. Und
ſo wird es in meiner Gewalt ſeyn, auf gleiche
Art eure Gefaͤlligkeit im Schreiben wieder zu
vergelten, und außer dem meine Fertigkeit, mit
Abkuͤrzungen zu ſchreiben, welche ich bis auf die-
ſen Briefwechſel ſehr aus der Acht gelaſſen hatte,
zu erhalten.
Jch befahl den verruchten Weibsleuten, eure
Rechnung auſzuſetzen. Das wollten ſie thun,
war ihre Antwort, und ſich dabey raͤchen. Jn
der That belebet ſie nichts, als Rache. Denn
nun, ſagen ſie, werdet ihr gewiß heyrathen, und
Y 4eurem
[344]
eurem Beyſpiel werden alle eure Freunde und
Mitgeſellen folgen ‒ ‒ wie die Alte ſagt, zum
aͤußerſten Ungluͤck ihres armen Hauſes.
Der vier und vierzigſte Brief
von
Hrn. Belford an Herrn Robert Lovelace.
18ten Jul.
Weil ich ſpaͤt geſeſſen habe, meinen Brief bis
zu dem obigen Abſatze zu vollenden und
zu verſiegeln, damit er in Bereitſchaft waͤre: ſo
bin ich eher, als ich aufzuſtehen wuͤnſchte, durch
die Ankunft deines zweyten Bothens, an wel-
chem alles, wie an ſeinem Pſerde, rauchete, ge-
ſtoͤret worden.
Unter der Zeit, da er ein wenig zur Erfri-
ſchung zu ſich nimmt, will ich noch ein paar Zei-
len ſchreiben, dir von Herzen zu deiner Wuth
und Ungedult, die ich erwartet habe, und zur
Wiedererlangung des Gefuͤhls in deinem Gemuͤ-
the, Gluͤck zu wuͤnſchen.
Wie ſehr vergnuͤgt mich die Vorſtellung,
die du mir durch deine aufgerichtete Pfriemen,
Haarnadeln, Pfloͤcke und Packnadeln, durch dein
rollendes Faß mit eiſernen Stacheln, und durch
deine
[345]
deine zerſtochene Seiten, von deiner verdienten
Marter giebeſt!
Jch will bey jeder Gelegenheit, die ſich dar-
bietet, mehr Stacheln in dein Faß ſchlagen, und
dich Berg ab, und auf, rollen, wie du wieder zu
Gefuͤhl kommſt, oder vielmehr wieder unem-
pfindlich wirſt. Du weißt alſo die Bedingun-
gen, unter welchen du den Briefwechſel mit mir
haben ſollſt. Bin ich nicht berechtiget, dein bis-
her ſchwielichthartes Herz, wo moͤglich, zu Re-
gungen des Gewiſſens zu erweichen: da ich be-
ſtaͤndig, bey dem ganzen Verlauf der Sache, und
beyzeiten, wider deine unmenſchliche und un-
dankbare Treuloſigkeit gegen ein ſo edles Frauen-
zimmer, Vorſtellungen gethan habe?
Nur muß ich dir eines noch einmal nach-
druͤcklich vorhalten, wovon ich vorher vielleicht zu
ſehr obenhin Erwaͤhnung gethan. Die Fraͤu-
lein iſt bloß durch meine feyerliche Verſicherun-
gen, daß ſie ſich feſt darauf verlaſſen koͤnnte, ſie
wuͤrde von euren Beſuchen frey ſeyn, gewonnen
worden, ſich nicht zu einer neuen Wohnung zu
begeben, wo weder ihr noch ich im Stande ſeyn
ſollten, ſie zu finden.
Jch glaubte, daß ich ihr dieſe Verſicherun-
gen geben moͤchte: nicht allein, weil ihr es ver-
ſprochen habt; ſondern auch weil es fuͤr euch noͤ-
thig iſt, ihren Aufenthalt zu wiſſen, damit ihr
euch durch eure Freunde an ſie wenden koͤnnet.
Setze mich daher in den Stand, ihr dieſe
meine feyerlichen Verbindungen zu leiſten: oder
Y 5gute
[346]
gute Nacht, auf ewig, aller Freundſchaft, wenig-
ſtens allem Briefwechſel, mit dir.
J. Belford.
Der fuͤnf und vierzigſte Brief
von
Herrn Belford an Herrn Robert Lovelace.
mittags.
Jch ließ mich heute fruͤhe wieder nach dem Be-
finden der Fraͤulein durch meinen Bedien-
ten erkundigen: und ſo bald als ich zu Mittage
gegeſſen hatte, ging ich ſelbſt hin.
Jch bekam nur ſchlechte Nachricht: jedoch
ließ ich meine Empfehlung hinauf ſagen. Sie
ließ mir dagegen fuͤr alle meine Hoͤflichkeiten
Dank abſtatten, und ſich entſchuldigen, daß ſie
es zu der Zeit eben nicht in Perſon thun koͤnnte,
weil ſie ſehr ſchwach und matt waͤre: wenn ich
mich aber dieſen Abend um ſechſe bemuͤhen woll-
te, ſo hoffete ſie im Stande zu ſeyn, ein Schaͤl-
chen Thee mit mir zu trinken und mir alsdenn
ſelbſt zu danken.
Jch mache mir eine große Ehre aus dieſer
Gefaͤlligkeit, und glaube, daß es fuͤr euch nicht
uͤbel ausſieht, da ich ihr als ein Freund von euch
bekannt bin. Mich deucht, ich muß nur alle
Zwei-
[347]
Zweifel wider euch, wegen dieſer letzten ſchaͤndli-
chen Handlung, aus ihrem Gemuͤthe vertreiben.
Wer weiß alsdenn, was eure edle Verwandten
vielleicht bey ihr fuͤr euch ausrichten koͤnnen, wo
ihr bey eurer Geſinnung bleibt? Denn euer Be-
dienter hat mir erzaͤhlet, daß ſie wirklich die Fraͤu-
lein Howe zu ihrem und eurem Beſten gewon-
nen haͤtten, ehe dieſe verfluchte Sache vorgefal-
len waͤre. Jch bitte mir von dir ſelbſt alle Um-
ſtaͤnde aus, damit ich deſto beſſer wiſſen moͤge,
wie ich dir dienen koͤnnen.
Die Fraͤulein hat hier zwey artige Zimmer,
eine Schlafkammer und einen Saal, und bey je-
dem ein helles Cloſet. Sie hat ſchon eine Waͤr-
terinn; weil die Leute im Hauſe nur eine Magd
haben; ein Weib, deren Sorgfalt, Fleiß und
Ehrlichkeit Fr. Smithen ſehr ruͤhmet. Außer
dem hat ſie auch den Vortheil, daß ihr eine Wit-
we von gutem Herkommen freywillig an die
Hand gehet, und ſie liebet, wie es ſcheint. Fr.
Lovick iſt ihr Name, und ſie wohnt uͤber dem Zim-
mer der Fraͤulein, welche ſehr fuͤr ſie eingenom-
men ſcheinet, weil ſie etwas an ihr gefunden hat,
wie ſie denket, das der Gemuͤthsart ihrer wuͤrdi-
gen Fr. Norton aͤhnlich iſt.
Heute fruͤhe um ſieben, ſcheint es, befand ſich
die Fraͤulein ſo ſchlecht, daß ſie ſich auf aller
Verlangen gefallen ließ, nach einem Apotheker
zu ſchicken ‒ ‒ ‒ Nicht nach dem Kerl, kannſt
du leicht glauben, den ſie in Rowlands Hauſe
gehabt hatte: ſondern nach einem gewiſſen Herrn
God-
[348]
Goddard, einem geſchickten, anſehnlichen und
auch gewiſſenhaften Manne. Dafuͤr iſt er ſo
wohl durch den allgemeinen Ruf bekannt, als er
ſich auch durch ſeine Fuͤrſchriften, die er dieſer
Fraͤulein gegeben, ſelbſt ſo bewieſen hat. Denn
da er geſagt, ihr Zufall ſey Gram und Traurig-
keit: ſo hat er ihr fuͤr itzo bloß unſchaͤdliche Saͤf-
te, als Herzſtaͤrkungen, und, ſo bald als es ihr
Magen zu leiden im Stande ſeyn wuͤrde, leichte
Nahrungsmittel verordnet, und der Fr. Lovick
die Verſicherung gethan, daß ihr dieß, nebſt der
Luft, einer maͤßigen Bewegung, und angeneh-
men Geſellſchaft, mehr helfen wuͤrde, als alle
Arzneymittel in ſeiner Apotheke.
Dieß hat mir eine ſehr gute Meynung von
dem Manne beygebracht: wie, dem Anſehen nach,
auch der Fraͤulein; welche ebenfalls ſein ſittſa-
mes Bezeigen, ſein vaͤterliches Weſen, und hoͤf-
liche Auffuͤhrung ruͤhmet. Jch bin willens, mich
mit ihm bekannt zu machen, und wo er fuͤr rath-
ſam findet, einen Arzt zu Huͤlfe zu nehmen, ihm
meinen werthen Freund Dr. H. mehr um der
ſchoͤnen Kranken, als um des Arztes willen, dem
es nicht an Kundſchaft fehlet, vorzuſchlagen. ‒ ‒
Der Ruf deſſelben iſt ſo beſchaffen, daß nicht das
geringſte daran auszuſetzen iſt: und ſeine Leutſe-
ligkeit, bin ich verſichert, wird ihn bey der Fraͤu-
lein vorzuͤglich angenehm machen.
Fr. Lovick hat mir den Gefallen erwieſen,
mir den Jnhalt eines Briefes an Fraͤulein Ho-
we mitzutheilen, den ihr die Fraͤulein in die Fe-
der
[349]
der gegeben hatte, weil ſie ſelbſt nicht mit feſter
Hand ſchreiben koͤnnen. Es war eine Antwort,
wie es ſcheint, auf ihre beyden Briefe, was dieſe
auch in ſich halten mochten, und begriff folgen-
des:
„Sie waͤre in ein ſchreckliches Ungluͤck ver-
„wickelt geweſen, welches ſie, wenn es ihrer Freun-
„dinn bekannt waͤre, von den Wirkungen ihres
„freundſchaftlichen Misvergnuͤgens uͤber ihr bis-
„heriges Stillſchweigen freyſprechen wuͤrde: in-
„dem ſie in Verhaft geſeſſen haͤtte. ‒ ‒ Haͤtte ſie
„das wohl glauben koͤnnen? ‒ ‒ Sie waͤre erſt
„des Tages vorher freygekommen: und itzt ſo
„ſchwach und matt, daß ſie genoͤthigt waͤre, eine
„ehrbare Witwe in eben dem Hauſe zu erſuchen,
„von ihrem Stillſchweigen auf die beyden Briefe
„vom 13ten und 16ten auf dieſe Art Rechenſchaft
„zu geben. So bald als ſie im Stande ſeyn
„wuͤrde, wollte ſie auf dieſelben antworten. Un-
„terdeſſen baͤte ſie, ihre Freundinn moͤchte ſich
„ihretwegen keinen Kummer machen: indem
„dieß nur ein Ungluͤcksfall geweſen, der ſie be-
„troffen haͤtte, als ſie ſich ſchon im geringſten
„nicht wohl befunden; eine Laſt, die einer elenden
„Perſon auf die Schultern geleget worden, wel-
„che bereits vorher unter einer allzuſchweren
„Buͤrde beynahe geſunken waͤre; und gar nichts
„gegen das Uebel, welches ſie vorher erduldet
„haͤtte. Es ſchiene auch vermuthlich eine Gluͤck-
„ſeligkeit daraus zu entſtehen; daß ſie naͤmlich in
„einem ehrlichen Hauſe, bey klugen und guͤtigge-
„ſinnten
[350]
„ſinnten Leuten, in Ruhe ſeyn wuͤrde: weil ihr
„die Verſicherung gegeben waͤre, daß der elende
„Menſch, deſſen Anblick der Tod fuͤr ſie ſeyn wuͤr-
„de, ihr nicht beſchwerlich fallen ſollte. Daher
„duͤrfte die Fraͤulein Howe ihre Briefe nicht
„mehr durch geheime und koſtbare Wege uͤber-
„ſenden. Auch Collins duͤrfte keine Vorſichtig-
„keit weiter gebrauchen, aus Furcht, daß ihm zu
„ihrer Wohnung nachgelauret wuͤrde. Jhre
„Freundinn ſelbſt haͤtte endlich ebenfalls nicht Ur-
„ſache laͤnger unter einem angenommenen Na-
„men ihre Zuſchrift an ſie zu richten: ſondern
„koͤnnte unter ihrem wirklichen Namen ſchrei-
„ben.“
Jhr ſehet, daß ich wirklich in dem Gleiße
bin, euch einen Dienſt zu erweiſen. Jhr ſehet,
wie viel ſie auf meine Verpflichtung, daß ihr
euch nicht in ihre Geſellſchaft eindraͤngen ſollet,
baue. Laßt eure hitzige Ungedult nicht alles
verderben, und nicht verurſachen, daß ich fuͤr ei-
nen Betruͤger bey einer Fraͤulein angeſehen wer-
de, die Urſache hat, eine jede Mannsperſon,
die ihr zu Geſichte kommt, als einen ſolchen
in Verdacht zu haben. ‒ ‒ Unter dieſer Bedin-
gung moͤcht ihr alle Dienſte erwarten, die aus
wahrer Freundſchaft kommen koͤnnen, und von
Eurem aufrichtig wohlwuͤnſchenden
Joh. Belford.
Der
[351]
Der ſechs und vierzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Jch bin eben von der Fraͤulein gekommen. Jch
ward in den Saal gelaſſen, wo ſie, in ei-
nem ſehr ſchwachen und matten Zuſtande, in ei-
nem Lehnſtuhl ſaß. Sie bemuͤhete ſich, aufzu-
ſtehen, als ich hinein trat: aber war gezwungen,
ſitzen zu bleiben. Sie werden mich entſchuldi-
gen, Herr Belford: ich ſollte aufſtehen, ihnen
fuͤr alle ihre Hoͤflichkeit gegen mich Dank zu ſa-
gen. Jch bin tadelnswuͤrdig geweſen, daß ich
den betruͤbten Ort ſo ungern verlaſſen wollte.
Denn hier bin ich im Himmel, gegen dort: und
habe noch dazu gute Leute um mich! ‒ ‒ Jch
habe lange, lange Zeit vorher, keine gute Leute
um mich gehabt, ſo daß ich anfing mich zu wun-
dern; dieß ſagte ſie mit einem halben Laͤcheln;
wo ſie alle hin gekommen waͤren.
Jhre Waͤrterinn und Fr. Smithen, welche
gegenwaͤrtig waren, nahmen Gelegenheit, abzu-
treten. Als wir alleine waren: ſprach ſie: Sie
ſcheinen ein Freund der Leutſeligkeit, mein Herr.
Sie ließen ſich merken, da ich mein Gefaͤng-
niß verließ, daß ihnen meine traurige Geſchichte
nicht ganz unbekannt waͤre. Wo ſie dieſelbe
nach
[352]
nach der Wahrheit wiſſen: ſo muͤſſen ſie wiſ-
ſen, daß mir hoͤchſt unmenſchlich begegnet iſt,
und ich es an dem Menſchen, durch deſſen Haͤn-
de ich gelitten, nicht verdienet habe.
Jch wuͤßte genug, war meine Antwort, uͤber-
zeugt zu ſeyn, daß ſie nach ihrem Verdienſt eine
Heilige, und nach ihrer reinen Tugend ein Engel
waͤre. Jch wollte weiter reden, als ſie mich un-
terbrach. Keine hochfliegende Schmeicheleyen!
Keine ungebuͤhrliche Lobſpruͤche, mein Herr! Jch
verſuchte fuͤr meine Aufrichtigkeit eine Vertheidi-
gung zu fuͤhren: indem ich das Wort Hoͤflich-
keit auf die Bahn brachte; und zwiſchen dieſer,
und der Schmeicheley einen Unterſchied machen
wollte. Allein, nichts, ſagte ſie, kann hoͤflich
ſeyn, was nicht gerecht und billig iſt. Jtzo ha-
be ich keine Eitelkeit mehr zu befriedigen: wenn
ich ſie etwa ſonſt ja gehabt haben ſollte.
Jch lehnte alle Abſicht ſchmeichleriſcher Re-
den von mir ab. Alles, was ich geſagt haͤtte,
und was ich ſagen wuͤrde, waͤre die Wirkung
einer aufrichtigen Ehrerbietung geweſen, und ſoll-
te es ferner ſeyn. Meines ungluͤcklichen Freun-
des Erzaͤhlung von ihr haͤtte ihr ein Recht dar-
auf gegeben.
Hierauf erwaͤhnte ich eurer Betruͤbniß, eurer
Buße, eurer Entſchließungen, es bey ihr, auf alle
euch itzo moͤgliche Art, wieder gut zu machen:
und betheurte auf das feyerlichſte eure Unſchuld,
in Anſehung der letzten ſchaͤndlichen Beſchim-
pfung.
Es
[353]
Es iſt mir eine Quaal, verſetzte ſie, an ihn
zu gedenken. Das wieder gut machen, wovon
ſie reden, kann nicht ſtatt haben. Die letzte Ge-
waltthaͤtigkeit, von der ſie ſprechen, iſt nichts ge-
gen das, was vorhergegangen iſt. Das kann
nicht ausgeſoͤhnet; nicht bemaͤntelt werden: dieſe
kann vielleicht; und es wird mir nicht zuwider
ſeyn, wenn ich uͤberfuͤhret werde, daß er einer ſo
ſehr niedertraͤchtigen Bosheit nicht ſchuldig ſeyn
kann. ‒ ‒ Jedoch da er ſich der Schande theil-
haftig gemacht, fremde Haͤnde faͤlſchlich nachzu-
ahmen ‒ ‒ da er die Niedertraͤchtigkeit began-
gen, untergeſchobene Perſonen aufzuſtellen: ‒ ‒
was ſind denn wohl fuͤr Gottloſigkeiten, wozu er
nicht aufgeleget iſt?
Hiernaͤchſt haͤtte ich ihr gern Nachricht von
dem Verhoͤr gegeben, das ihr bey euren Freun-
den auszuſtehen gehabt; von eurer ſchon vorher
gefaßten Entſchließung, ſie zu heyrathen, wenn
ſie euch mit den vier ausgebetenen Worten be-
ehret haͤtte; von dem ſehnlichen Verlangen eurer
ganzen Familie, die Ehre der Verwandtſchaft
mit ihr zu haben; von dem Antrage eurer beyden
Baſen bey der Fraͤulein Howe, mit aller Einwil-
ligung, damit dieſe Fraͤulein ſie zu gewinnen
ſuchte: allein, da ich dieſe Dinge nur eben be-
ruͤhrt hatte, wies ſie mich kurz ab, und ſagte, das
waͤre eine Sache, die vor einen andern Richter-
ſtuhl gehoͤrte; die Briefe der Fraͤulein Howe be-
traͤffen eben das; und ſie wuͤrde ihre Gedanken
Sechſter Theil. Zan
[354]
an ſie ſchreiben, ſo bald als ſie nur im Stande
waͤre.
Darauf verſuchte ich noch genauer, euch von
allem Verdacht frey zu machen, daß ihr bey dem
dienſtfertigen Verhaſt der ſchaͤndlichen Sinclair
eine Hand mit im Spiel gehabt haben ſolltet.
Sie war ſo edelmuͤthig, daß ſie wuͤnſchte, euch
davon vollkommen befreyet zu ſehen: und weil
ich des heftigen Briefes, den ihr bey dieſer Gele-
genheit an mich geſchrieben haͤttet, Erwaͤhnung
gethan: ſo fragte ſie, ob ich den Brief bey mir
haͤtte?
Jch geſtand, daß ich ihn haͤtte.
Sie wuͤnſchte, ihn zu ſehen.
Dieß ſetzte mich in Verwirrung. Denn ihr
muͤßt denken, daß die meiſten freyen Dinge, wel-
che bey uns liederlichen Bruͤdern fuͤr Witz und
Lebhaftigkeit hingehen, fuͤr die Ohren und Augen
zaͤrtlicher Perſonen von dem ſchoͤnen Geſchlecht,
aͤrgerliches Zeug ſeyn muͤſſen. Außer dem
herrſcht durch und durch in deinen ernſthafte-
ſten Briefen ein ſo leichtſinniges Weſen, eine ſo
falſche Herzhaftigkeit, mit welcher du dich bemuͤ-
heſt, die Dinge, die dich am meiſten ruͤhren, zu
einem Kurzweil zu machen, daß uͤberhaupt dieje-
nigen Briefe, welche dir am meiſten Ehre ma-
chen, und andern eine gute Meynung von dir bey-
bringen ſollten, am wenigſten bequem ſind, geſe-
hen zu werden.
Etwas dem aͤhnliches gab ich der Fraͤulein
zu verſtehen: und wollte mich gern entſchuldigen,
ihn
[355]
ihn zu zeigen. Aber ſie beſtand ſo ernſtlich dar-
auf, daß ich einige Stellen davon zu leſen unter-
nahm, und diejenigen, woran das meiſte auszu-
ſetzen war, vorbeyzulaſſen ſchluͤßig wurde.
Jch weiß wohl, du wirſt deswegen auf mich
fluchen. Allein ich hielte es fuͤr beſſer, ihr darinn
gefaͤllig zu ſeyn, als ſelbſt verdaͤchtig zu werden,
und es ſo dann nicht in meiner Gewalt zu ha-
ben, dir bey ihr zu dienen: da ſchon ein ſo guter
Grund geleget war, und ſie eben ſo viel boͤſes von
dir weiß, als ich ihr erzaͤhlen kann.
Du erinnerſt dich vermuthlich des Jnhalts
von deinem raſenden Briefe (*). Jhre Anmer-
kungen uͤber die verſchiednen Stellen von demſel-
ben, welche ich ihr vorlas, waren folgende:
Ueber deine erſten Zeilen, Alles zunichte!
zunichte, beym Jupiter! ‒ ‒ Henker, Bru-
der, was ſoll ich nun machen! Ein Fiuch
treffe alle meine Raͤnke und Kunſtgriffe!
druͤckte ſie ſich ſo aus:
„O wie leichtſinnig iſt das Herz, wie wenig
„wird es durch das Gefuͤhl von ſeinen eignen
„Verbrechen geruͤhret, das dieſen freydenkeriſchen
„Schaum in die Feder geben konnte!
Der Abſatz, worinn des ſchaͤndlichen Ver-
hafts Erwaͤhnung geſchiehet, ruͤhrete ſie nicht
wenig.
Jn dem folgenden ließ ich deinen Fluch uͤber
deine Anverwandten, die du bedienen mußt ſt,
Z 2vor-
[356]
vorbey, und las die ſieben folgenden Abſaͤtze, bis
auf den abſcheulichen Wunſch, der zu anſtoͤßig
war, daß ich ihn ihr haͤtte vorleſen ſollen. Was
ich las, das gab ihr zu folgenden Betrachtungen
Gelegenheit:
„Die Raͤnke und Kunſtgriffe, welche er ver-
„fluchet, und das Frohlocken der gottloſen Weibs-
„leute, da ſie mich aufgefunden hatten, zeigen
„mir, daß alle ſeine Vergehungen vorſetzlich ge-
„ſchehen ſind. Jch zweifle auch nicht, daß ſeine
„ſchrecklichen Meineyde und unmenſchlichen Kuͤn-
„ſte, ſo wie er in ſeinen Anſchlaͤgen nach und nach
„fortgegangen, fuͤr feine Liſt, fuͤr ein witziges
„Spiel und fuͤr einen Beweis ſeiner hohen Er-
„findungsgaben, angeſehen worden! ‒ ‒ O mein
„grauſamer, grauſamer Bruder! waͤre es nicht
„um deinetwillen geſchehen: ſo wuͤrde ich nicht
„an einen ſo verderblichen, ſo veraͤchtlichen Raͤn-
„keſchmieder gerathen ſeyn! ‒ ‒ Aber leſen ſie
„weiter, mein Herr, ich bitte, leſen ſie weiter.
Bey der Stelle: Kannſt du, ungluͤckli-
cher Wahrſager, mir auch ſagen, wo ſich
meine Strafe endigen werde? ‒ ‒ ſeufzete
ſie. Und als ich an den Ausdruck kam, Viel-
leicht betete ſie fuͤr meine Beſſerung, fragte
ſie: Steht das wirklich da? und ſeufzete wieder
‒ ‒ Der elende Menſch! ‒ ‒ Sie vergoß auch
eine Thraͤne fuͤr dich ‒ ‒ Bey meiner Treue, Lo-
velace, ich glaube, ſie haſſet dich nicht! ‒ ‒ Sie
ſorget wenigſtens, ſie ſorget auf eine edelmuͤthige
Art,
[357]
Art, fuͤr deine kuͤnftige Gluͤckſeligkeit! ‒ ‒ Was
fuͤr eine edelgeſinnte Perſon haſt du beleidiget!
Sie machte eine harte Anmerkung uͤber mich,
als ich dieſe Worte las ‒ ‒ Auf euren Knieen
bitter fuͤr mich um Verzeihung ‒ ‒ „Sie
„hatten in allen Stuͤcken ihre Vorſchrift, mein
„Herr, ſprach ſie, wie ſie ſich verhalten ſollten, da
„ſie zu mir kamen, mich loszumachen. ‒ ‒ Sie
„ließen ſich ſo weit herab, daß ſie knieeten. Jch
„dachte, es waͤre eine Wirkung von ihrer eignen
„Leutſeligkeit und ihrem gutherzigen Verlangen,
„mir zu dienen. Verzeihen ſie mir, mein Herr,
„ich wußte nicht, daß ſie nur darinn einer gege-
„benen Vorſchrift folgten.“
Dieß machte mich nicht wenig bekuͤmmert.
Jch konnte nicht ertragen, daß ich fuͤr ein ſo elen-
des Werkzeug, das ſich als eine Puppe von an-
dern regieren laͤßt, fuͤr einen ſolchen Joſeph Leh-
mann, einen ſolchen Tomlinſon angeſehen wuͤrde
‒ ‒ Daher bemuͤhete ich mich, mit einiger Hitze,
dieſe Anmerkung gaͤnzlich von mir abzulehnen:
und ſie bat mich wieder um Verzeihung. „Jch
„bekennte mich ſelbſt, ſprach ſie, fuͤr den Freund
„von einem Menſchen, deſſen Freundſchaft, wie
„ſie Urſache haͤtte, ungern zu ſagen, keinem eine
„gute Meynung bey andern erwerben koͤnnte.“
‒ ‒ Sie bat mich, weiter zu leſen. Jch that es:
aber fuhr hernach nicht viel beſſer. Denn,
Bey der Stelle, wo ihr ſchreibt, daß ich al-
lezeit ihr Freund und Fuͤrſprecher geweſen
waͤre, war dieß ihre unbeantwortliche Anmerkung:
Z 3„Jch
[358]
„Jch finde, mein Herr, nach dieſem Ausdruck,
„daß er allezeit Abſichten wider mich geheget,
„und daß ſie von Zeit zu Zeit darum gewußt ha-
„ben. O haͤtten ſie doch die Guͤte gehabt, einen
„Weg zu ſuchen, wodurch ihre eigne Sicherheit
„nicht in Gefahr gerathen waͤre, um mir von ſei-
„ner niedertraͤchtigen Geſinnung Nachricht zu
„geben: da ſie dieſelbe nicht billigten! Aber ſie,
„als ein Cavallier, vermuthe ich, haͤtten lieber
„ein unſchuldiges Mitgeſchoͤpfe ungluͤcklich ge-
„macht geſehen, als daß ſie zu einer ſolchen Hand-
„lung aufgelegt ſcheinen wollten, welche, ſo edel-
„muͤthig ſie auch waͤre, wahrſcheinlicher Weiſe
„die Bande einer gottloſen Freundſchaft zerriſſen
„haben moͤchte.
Nach dieſer harten, aber gerechten Erinne-
rung, haͤtte ich gern das folgende nicht geleſen:
ob ich es gleich unverſehens angefangen hatte.
Allein ſie hielte mich dazu an. Was wollte
ich nun darum geben, daß ich euch nicht
umſonſt eure Fuͤrſprache haͤtte thun laſſen!
Und dieß war dabey ihre Anmerkung: „So ſe-
„hen ſie, mein Herr, wenn ſie das gluͤckliche
„Werkzeug geweſen waͤren, die mir zugedachten
„Uebel zu verhindern, daß ſie von ihrem Freun-
„de ſelbſt Dank dafuͤr verdient haben wuͤrden,
„nachdem er zur Ueberlegung gekommen waͤre.
„Dieß Vergnuͤgen, bin ich verſichert, wird mit
„der Zeit ein jeder haben, der die Tugend aus-
„uͤbet, gottloſen Abſichten zu widerſtehen, oder
„vorzubeugen. Jch war ihnen verpflichtet ſehe
„ich
[359]
„ich, fuͤr ihre gute Wuͤnſche. ‒ ‒ Aber es be-
„traf, nach ihrem Gedanken, ihre Ehre, ſein
„Geheimniß zu verſchweigen: es betraf vielleicht
„deſto mehr ihre Ehre; je ſchaͤndlicher das Ge-
„heimniß war. Jedoch erlauben ſie mir zu wuͤn-
„ſchen, Herr Belford, daß ſie im Stande ſeyn
„moͤchten, die Ergoͤtzungen zu empfinden, welche
„in einem guͤtigen Gemuͤthe aus tugendhafter
„Freundſchaſt entſpringen! ‒ ‒ Keine andere iſt
„dieſes heil. Namens wuͤrdig. Sie ſcheinen ein
„leutſeliger Menſch zu ſeyn: ich hoffe, um ihrer
„ſelbſt willen, daß ſie noch einmal den Unterſchied
„erſahren werden. Geſchieht es: ſo denken ſie
„an Fraͤulein Howe und Clariſſa Harlowe; ich
„finde, ſie wiſſen viel von meiner Geſchichte;
„welche durch ihre Freundſchaft unter einander
„die gluͤcklichſten Perſonen in der Welt waren,
„bis dieſer ihr Freund“ ‒ ‒ Hier brach ſie ab,
und wandte das Geſicht von mir.
Wo du dich ſelbſt einen ſchaͤndlichen Raͤn-
keſchmieder nenneſt, da ſprach ſie: „O was fuͤr
„ein verhaͤrteter Boͤſewicht iſt dieſer Menſch,
„daß er ſich ſelbſt ſein Verbrechen vorhaͤlt, und
„ſich doch nicht ſchaͤmet!
Bey der Stelle, wo du ſchreibſt, Melde mir,
wie man ihr begegnet habe: Wehe dem,
der Schuld daran iſt, wo man hart mit
ihr umgegangen, bemerkte ſie folgendes mit ei-
ner unwilligen Miene: „Was fuͤr ein Menſch
„iſt ihr Freund, mein Herr! ‒ ‒ Soll ein ſol-
„cher Mann, als er iſt, ſich aufwerfen, die Schul-
Z 4digen
[360]
„digen zu beſtrafen? ‒ ‒ Alle harte Begegnung,
„welche mir von jenen widerfahren konnte, war
„unendlich geringer“ ‒ ‒ Hiemit hielte ſie ei-
nen oder zween Augenblicke inne: darauf fuhr
ſie fort. „Und wer ſoll ihn denn ſtrafen? Was
„maßet ſich der elende Menſch an! ‒ ‒ Jſt etwa
„niemand, als er ſelbſt, berechtiget, die Unſchul-
„digen zu beleidigen? ‒ ‒ Er iſt vermuthlich
„auf der Welt, das ſein Werk ſeyn zu laſſen,
„was der boͤſe Feind unten, wie man glaubet, zu
„thun hat: allen geringern Werkzeugen der Bos-
„heit nach ſeinem Belieben Strafen zuzuthei-
„len!“
Was, dachte ich, habe ich gethan! Jch wer-
de gemacht haben, daß der wilde Kerl denkt, ich
habe ihm einen Poſſen ſpielen wollen, indem ich
ein Stuͤck von ſeinem Briefe dieſer ſcharfſichtigen
Fraͤulein vorgeleſen! ‒ ‒ Jedoch, wo du boͤſe
biſt: ſo kannſt du, mit Grunde, nur auf dich
ſelbſt boͤſe ſeyn. Denn wer wuͤrde denken, daß
ich, zum Beweiſe deiner Aufrichtigkeit in Ableh-
nung eines hoͤchſtſtrafbaren Vorwurfs, ihr nicht
einige von den untadelhafteſten Stellen eines
Briefes zeigen moͤchte, den du eben zu dem En-
de an deinen Freund geſchrieben hatteſt, damit
du ihn von deiner Unſchuld uͤberfuͤhreteſt? Al-
lein ein boͤſes Herz, und eine boͤſe Sache, ſind
verzweifelte Dinge: und ſo laß es uns auf die
gehoͤrige Rechnung ſchreiben.
Jch uͤberging die mir von dir aufgetragene
Verrichtung, die Weibsleute nach der Uhr zu
ver-
[361]
verfluchen; und die von dir gebrauchten Namen
des Drachen und der Schlangen, ob ſie ſich
gleich ſo gut zur Sache ſchickten. Denn haͤtte
ich dieſe Stellen geleſen: ſo haͤtte ſie daraus ab-
nehmen muͤſſen, daß du von Anfange gewußt,
was ſie fuͤr Creaturen waͤren; und ein ſo ſchaͤnd-
licher Kerl geweſen, als du wirklich geweſen biſt,
da du eine Perſon von ſo reiner Tugend unter
ſie gebracht haſt. Jch beſchloß mit dem Abſatz,
mit welchem du ſelbſt ſchließeſt: Eine Zeile!
Eine Zeile! Ein Koͤnigreich fuͤr eine Zeile!
ꝛc. Jedoch ſagte ich ihr; weil ſie merkte, daß ich
eines und das andere vorbey ließ; es waͤren noch
mehr heſtige Ausdruͤcke darinn: aber weil dieſel-
ben bequemer waͤren, mir die Aufrichtigkeit des
Briefſtellers zu zeigen, als von einem ſo zaͤrtli-
chen Ohr, wie ſie haͤtte, angehoͤrt zu werden; fo
haͤtte ich ſie lieber uͤbergehen wollen.
Sie haben genug geleſen, ſprach ſie ‒ ‒ Er
iſt ein gottloſer, gottloſer Menſch! ‒ ‒ Jch ſehe,
er hat ſich vorgenommen gehabt, mich, auf was
fuͤr Art es ſeyn moͤchte, in ſeiner Gewalt zu ha-
ben. So wie ſeine Handlungen beſchaffen ge-
weſen ſind, darf ich im geringſten nicht zweifeln,
was er fuͤr Abſichten geheget habe. Sie wiſſen
vermuthlich von ſeinem ſchaͤndlichen Tomlinſon
‒ ‒ Sie wiſſen ‒ ‒ Jedoch was nuͤtzt das Re-
den? ‒ ‒ Niemals iſt wohl ein ſo vorſetzlich fal-
ſches Herz in einem Menſchen geweſen ‒ ‒ Nichts
kann wahrer ſeyn, dachte ich! ‒ ‒ Was hat
er nicht gelobet! Was hat er nicht erfunden!
Z 5Und
[362]
Und wozu das alles? ‒ ‒ Bloß eine arme und
junge Perſon ungluͤcklich zu machen, die er haͤtte
ſchuͤtzen ſollen, und die er zuerſt alles andern
Schutzes beraubet hatte.
Sie ſtand auf, und wandte ſich von mir,
mit ihrem Schnupftuch an den Augen. Nach-
dem ſie alſo ein wenig inne gehalten hatte: kam
ſie wieder zu mir ‒ ‒ „Jch hoffe, waren ihre
„Worte, daß ich mit einem Menſchen rede, der
„ein beſſeres Herz hat: und danke ihnen, mein
„Herr, fuͤr alle ihre guͤtige, obgleich vergebliche,
„Vorſtellungen, die ſie ehemals zu meinem Be-
„ſten gethan haben; die Bewegungsgruͤnde da-
„zu moͤgen nun Mitleiden oder gute Grundſaͤtze,
„oder beydes geweſen ſeyn. Daß ſie vergeblich
„waren, das mochte, nach ſehr wahrſcheinlicher
„Vermuthung, wohl daher ruͤhren, weil es ih-
„nen an Ernſt fehlte: und dieß daher, weil es
„mir, wie ſie denken mochten, an Verdienſt fehl-
„te. Jch mochte vielleicht in ihren Augen nicht
„verdienen, gerettet zu werden! ‒ ‒ Jch moch-
„te von ihnen wohl fuͤr eine unbeſonnene Perſon
„angeſehen werden, die von ihren wahren und
„natuͤrlichen Freunden entlaufen waͤre, und da-
„her billig die Folgen von dem Looß, das ſie fuͤr
„ſich ſelbſt gezogen haͤtte, tragen muͤßte.
Jch ſcheuete mich, um deinetwillen, ihr zu
eroͤffnen, wie ſehr es mir ein Ernſt geweſen war:
allein ich verſicherte ſie, daß ich ein eifriger
Freund von ihr geweſen waͤre, und daß meine
Bewegurſachen ſich auf ein Verdienſt gegruͤndet
haͤtten,
[363]
haͤtten, das, wie ich glaubte, niemals ſeines glei-
chen gehabt. So wenig auch Herr Lovelace zu
vertheidigen waͤre: ſo haͤtte er doch ihrer Tugend
allemal Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Eben
der vollkommenen Ueberzeugung von ihrer unbe-
fleckten Ehre waͤre es zuzuſchreiben, daß er ſo
ſehnlich wuͤnſchte, ein ſo unſchaͤtzbares Kleinod
ſein Eigenthum zu nennen ‒ ‒ Jch wollte wei-
ter reden, als ſie mich wieder abzubrechen noͤ-
thigte ‒ ‒
Schon genug, und zu viel von dieſer Sache,
mein Herr! ‒ ‒ Wird er mich nur ſein Ange-
ſicht niemals mehr ſehen laſſen: ſo iſt das alles,
was ich nun von ihm zu verlangen habe. ‒ ‒
Jn der That, in der That ‒ ‒ Dieß ſagte ſie
mit zuſammen geſchlagenen Haͤnden ‒ ‒ Jch
will ihn niemals wieder ſehen, wo ich es,
durch irgend einige Mittel ohne eine ſtrafbare
Verzweifelung, vermeiden kann.
Was konnte ich zu deinem Vortheil anfuͤh-
ren? ‒ ‒ Wie dem aber auch ſeyn mag: ſo war
es doch nicht rathſam, damals dieſe Saite wie-
der zu ruͤhren, weil ich beſorgen mußte, dadurch
zu veranlaſſen, daß mir, nicht allein von der Sa-
che weiter zu reden, ſondern auch ihr jemals wie-
der aufzuwarten, verboten wuͤrde.
Jch gab ihr von weiten etwas wegen des
Geldes zu verſtehen. Jch haͤtte dir ſchon vor-
her noch melden ſollen, daß, da ich ihr die Stelle
vorlas, worinn du mir auftraͤgſt, ihr ſo viel Geld
aufzudringen, als ich ſie zu nehmen bereden koͤnn-
te,
[364]
te, ſie einmal uͤber das andere mit großer Lebhaf-
ttigkeit, nein, nein, nein, nein! ſagte. Daher
durfte ich es nicht mehr, als eben wieder anzei-
gen ‒ ‒ und das ſo dunkel und verſteckt, daß ihr
freygelaſſen wurde, ſich zu ſtellen, als wenn ſie
mich nicht verſtuͤnde.
Jn Wahrheit, ich weiß niemand, von maͤnn-
lichem oder weiblichem Geſchlechte, den ich ſo
ungern beleidigen, oder von dem ich mir ſo un-
gern einen Vorwurf zuziehen moͤchte, als von ihr.
Sie hat ſo viel wirklich erhabenes in ihrem We-
ſen, ohne Stolz oder Hochmuth, den man bey
denen, an welchen man eines von beyden findet,
zu zuͤchtigen gereizet wird; ein ſo durchdringen-
des, jedoch ſo angenehm durch guͤtige Blicke ge-
mildertes Auge, daß ſie allen und jeden Ehr-
furcht einfloͤßet.
Mich deucht, ich habe eine gewiſſe Art von
heiliger Liebe gegen dieſen Engel von einem Frau-
enzimmer: und ich wundere mich bis zum Er-
ſtaunen, daß du nur einmal eine Viertelſtunde
mit ihr umgehen, und bey deinen teufliſchen Ab-
ſichten bleiben konnteſt.
Da ſie durch Gottſeligkeit, Klugheit, Tu-
gend, erhabne Geſinnung, Familie, Gluͤcksum-
ſtaͤnde, und durch eine Lauterkeit des Herzens,
deren ſich vor ihr niemals ein Frauenzimmer zu
ruͤhmen gehabt, bewahret wurde: was fuͤr ein
rechter Teufel mußte denn derjenige ſeyn; ich
fuͤrchte aber, dich nur ſtolz zu machen!
der
[365]
der ſich entſchließen konnte, durch ſo viele Bede-
ckungen durchzubrechen!
Jch meines Theils empfinde immer mehr
und mehr, daß ich mich nicht haͤtte begnuͤgen
laſſen ſollen, bloß Vorſtellungen gegen deine
niedertraͤchtigen Abſichten zu thun und mit dir
daruͤber zu zanken: und in der That hatte ich es,
mehr als einmal, im Sinne, wirklich etwas fuͤr
ſie zu unternehmen. Aber ich elender Menſch!
ich ward durch die Vorſtellungen von einer fal-
ſchen Ehre, wie ſie mir mit Recht vorgeworfen
hat, abgehalten: weil du mir ſelbſt freywillig
deine Abſichten entdecket hatteſt. Da ſie uͤber
dieß in ein ſo verfluchtes Haus gebracht war, und
ſo wohl von dir ſelbſt, als von deinen hoͤlliſchen
Unterhaͤndlern, ſo bewachet wurde: ſo dachte ich
auch, weil ich meinen Mann kannte, daß ich das
Ungluͤck, welches ihr zugedacht war, nur beſchleu-
nigen wuͤrde. ‒ ‒ Außer dem befand ich dich durch
ihre Tugend mit einer ſo großen Ehrfurcht ge-
bunden, daß du nicht das Herz hatteſt, einen Ver-
ſuch auf ſie zu wagen, als du ſie zuerſt dorthin
brachteſt: und ſie hatte dich mehr als einmal ge-
noͤthigt, ob ſie gleich deine ſchaͤndliche Abſichten
nicht wußte, dieſelben aufzugeben, und dich zu
entſchließen, ihr Gerechtigkeit zu thun, und dir
ſelbſt Ehre zu machen. Daher zweifelte ich
kaum, daß ihr Verdienſt endlich ſiegen wuͤrde.
Wo du bey deinem Vorſatz bleibeſt, ſie zu
heyrathen: ſo iſt meine Meynung, daß du nichts
beſſers thun kannſt, als wenn du deine wirkliche
Tan-
[366]
Tante, und deine wirkliche Baſen, bewegeſt, ei-
nen Beſuch bey ihr abzulegen, und deine Fuͤr-
ſprecherinnen zu ſeyn. Weigern ſie ſich aber,
perſoͤnliche Beſuche abzuſtatten: ſo koͤnnen viel-
leicht Briefe von ihnen, und von dem Lord M.
durch die Fuͤrſprache der Fraͤulein Howe unter-
ſtuͤtzt, etwas zu deinem Vortheil ausrichten.
Aber dieß iſt bloß meine Hoffnung, die auf
das, was ich deinetwegen wuͤnſche, gebauet iſt.
Die Fraͤulein, denke ich in der That, wuͤrde lie-
ber den Tod, als dich, erwaͤhlen: und die zwo
Frauen hier im Hauſe halten dafuͤr, daß ihr das
Herz wirklich gebrochen ſey: ob ſie gleicht nicht
halb wiſſen, was ſie gelitten hat.
Da ich Abſchied nahm, erboth ich mich aufs
beſte zu ihrem Befehl, und erſuchte ſie um Er-
laubniß, mich oft nach ihrem Befinden zu er-
kundigen.
Sie antwortete mir nur durch eine Neigung
des Hauptes.
Der ſieben und vierzigſte Brief
von
Hrn. Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Dieſen Morgen ließ ich mich zu Frau Smi-
then tragen; und weil ich hoͤrte, daß die
Fraͤu-
[367]
Fraͤulein eine ſehr ſchlechte Nacht gehabt haͤtte,
aber doch auf waͤre: ſo ſchickte ich nach ih-
rem wuͤrdigen Apotheker. Der kam zu mir, und
billigte meinen Vorſchlag, Dr. H. zu Huͤlfe zu
nehmen. Daher trug ich den Frauensleuten
auf, ihr den Beſuch, welcher ihr zugedacht waͤre,
zu melden.
Es ſchien, als wenn ſie anfangs nicht damit
zufrieden war: jedoch behielte ſie ihre Einwen-
dung zuruͤck. Aber nach einer kleinen Weile
fragte ſie dieſelben, was ſie thun ſollte. Sie
haͤtte zwar Sachen von Werth, und waͤre wil-
lens, einige davon, ſo bald als ſie koͤnnte, zu
Gelde zu machen: aber eben itzo haͤtte ſie nicht
eine einzige Guinea, die ſie dem Arzt fuͤr ſeine
Muͤhe geben koͤnnte.
Frau Lovick ſagte, ſie haͤtte fuͤnf Guineas
bey ſich: die ſtuͤnden ihr zu Dienſte.
Sie wollte drey davon annehmen, antworte-
te ſie: wofern ſie das; ‒ ‒ ſie zog einen diaman-
tenen Ring von ihrem Finger; ‒ ‒ ſo lange be-
halten wollte, bis ſie wieder bezahlte; allein
unter keinen andern Bedingungen.
Als ſie hoͤrte, daß ich mit Herrn Goddard
unten war: verlangte ſie vorher ein Wort mit
mir zu ſprechen, ehe ſie den Arzt ſaͤhe.
Sie ſaß in einem Lehnſtuhl, und hatte den
Kopf an ein Kuͤſſen gelegt. Frau Smithen und
die Witwe ſtunden, eine an dieſer, die andere an
jener Seite, bey ihrem Stuhl. Jhre Waͤrterinn
war
[368]
war mit einem Glaſe mit Hirſchhorn hinter ihr.
Sie ſelbſt hatte ihr Salz in der Hand.
Wie ich hineinkam, richtete ſie ihren Kopf
auf, und erkundigte ſich, ob der Arzt Herrn Lo-
velace kennte?
Jch ſagte, nein: ich glaubte, daß ihr ihn in
eurem Leben niemals geſehen haͤttet.
Sie fragte ferner, ob der Doctor mein Freund
waͤre?
Ja, er waͤre es: und ein ſehr braver und
erfahrner Mann. Jch nannte ihn wegen ſeiner
vorzuͤglichen Geſchicklichkeit in ſeiner Kunſt: und
Herr Goddard ſagte, er wuͤßte keinen beſſern
Arzt.
Jch habe mir nur eines auszudingen, ehe ich
den Mann ſehe: daß er ſich nicht weigere, ſeine
Bezahlung von mir anzunehmen. Bin ich arm,
mein Herr: ſo bin ich doch ehrgeizig. Jch will
mir keine Verbindlichkeit auflegen. Sie koͤnnen
glauben, mein Herr, daß ich das nicht thun
werde. Jch gebe dieſen Beſuch nur zu, weil
ich weder gegen die wenigen Freunde, die mir
noch uͤbrig ſind, undankbar, noch denen von mei-
nen Verwandten, welche nach Verlauf einiger
Zeit, zu ihrer eignen Befriedigung, ſich nach mei-
nem Bezeigen in meinen ſiechen Tagen erkundi-
gen moͤgen, eigenſinnig ſcheinen wollte. So,
mein Herr, wiſſen ſie die Bedingung. Laſſen ſie
mich nicht beunruhigt werden: ich befinde mich
ſehr ſchlecht, und kann die Sache nicht erſt weit-
laͤuftig ausmachen.
Weil
[369]
Weil ich ſahe, daß ſie ſo feſt entſchloſſen war:
ſagte ich nur, wenn es ſo ſeyn muͤßte, ſollte es
ſeyn.
Dann mag der Mann kommen, mein Herr.
Aber ich werde nicht im Stande ſeyn, viele Fra-
gen zu beantworten. Waͤrterinn, ihr koͤnnt ihm,
dort am Fenſter, erzaͤhlen, was ich fuͤr eine Nacht
gehabt habe, und wie es die beyden verwichnen
Tage mit mir geweſen iſt. Und Herr Goddard,
wo er hier iſt, kann ihm melden, was ich einge-
nommen habe. Jch bitte, laſſen ſie mich ſo we-
nig, als moͤglich iſt, mit Fragen beſchweret
werden.
Der Arzt bezeigte ihr die ſchuldige Hoͤflich-
keit mit dem artigen Weſen, das ihn uͤberall ſo
beliebt machet: und ſie warf ihre angenehme
Augen mit derjenigen Guͤtigkeit, welche alle ihre
liebreiche Blicke begleitet, auf ihn.
Jch wollte abtreten: allein ſie verbot es.
Er nahm ihre Hand. Keine Lilie hat eine
ſolche Schoͤnheit in ihrer Farbe. Jn der That,
Madame, ſie ſind ſehr matt, ſprach er: allein
erlauben ſie mir zu ſagen, ſie koͤnnen ſelbſt mehr
fuͤr ſich thun, als unſer ganzer Orden fuͤr ſie
thun kann.
Darauf ging er ans Fenſter. Und nach ei-
ner kurzen Unterredung mit den Frauensleuten,
kam er zu mir und zu Herrn Goddard an das
andre Fenſter. Wir koͤnnen hier nichts thun,
ſagte er leiſe, als durch Herzſtaͤrkungen und Nah-
rungsmittel. Was fuͤr Freunde hat das Frau-
Sechſter Theil. A aenzim-
[370]
enzimmer? Sie ſcheint eine Perſon von Stan-
de, und, ſo krank ſie auch iſt, ein ſehr ſeines Frau-
enzimmer zu ſeyn ‒ ‒ Eine ledige Fraͤulein, ver-
muthe ich.
Jch antwortete ihm, mit leiſer Stimme, es
waͤre an dem. Es waͤren bey ihrem Zufall au-
ßerordentliche Umſtaͤnde: wie ich ihm gemeldet
haben wuͤrde, wenn ich ihn geſtern angetroffen
haͤtte. Jhre Freunde waͤren ſehr grauſam ge-
gen ſie: allein ſie koͤnnte dieſelben nicht nennen
hoͤren, ohne ſich ſelbſt Vorwuͤrfe zu machen, ob
dieſe gleich mehr zu tadeln waͤren, als ſie.
Jch wußte, daß ich es erriethe, verſetzte der
Doctor. Eine Liebesſache, Herr Goddard! Eine
Liebesſache, Herr Belford! Es iſt eine Perſon in
der Welt, die ihr mehr dienen kann, als unſer
ganzer Orden.
Herr Goddard ſagte, er haͤtte beſorgt, daß
ihre Krankheit in dem Gemuͤth ſteckte, und auch
nach dieſer Vermuthung mit ihr verfahren. Er
erzaͤhlte dem Arzt, was er gebraucht haͤtte. Die-
ſer billigte es, nahm noch einmal ihre ſchoͤne
Hand, und ſagte: Meine liebe Fraͤulein, ſie wer-
den unſere Huͤlfe ſehr wenig gebrauchen. Sie
muͤſſen groͤßtentheils ihr eigner Arzt ſeyn. Kom-
men ſie, wertheſte Fraͤulein; verzeihen ſie mir
dieſe vertrauliche Zaͤrtlichkeit; ihr Anblick floͤßet
ſo wohl Liebe als Ehrerbietung ein, und einem
Vater von Kindern, unter denen einige noch aͤl-
ter, als ſie ſind, kann ſie wohl zu gute gehalten
werden; muntern ſie ſich auf. Entſchließen ſie
ſich,
[371]
ſich, alles zu thun, was in ihrem Vermoͤgen
iſt, damit ſie wohl ſeyn moͤgen: ſo werden ſie bald
beſſer werden.
Sie ſind ſehr guͤtig, mein Herr, antwortete
ſie. Jch will nehmen, was ſie mir verordnen.
Mein Gemuͤth iſt aufgebracht und beunruhiget
worden. Jch werde beſſer ſeyn, glaube ich, ehe
ich ſchlimmer werde. Die Fuͤrſorge meiner gu-
ten Freunde ‒ ‒ Sie ſahe die Frauensleute an
‒ ‒ ſoll nicht mit Undank erwiedert werden.
Der Doctor ſchrieb. Er wollte die Bezah-
lung gern verbitten. Da ihre Krankheit, waren
ſeine Worte, mehr durch liebreiches Zureden eines
Freundes, als durch Fuͤrſchriften eines Arztes zu
lindern waͤre: ſo wuͤrde er ſich eine große Ehre
daraus machen, wenn er die Erlaubniß haͤtte,
ihr vielmehr unter dem einen Namen Rath
mitzutheilen, als unter dem andern etwas zu
verordnen.
Es wuͤrde ihr allezeit lieb ſeyn, verſetzte ſie,
einen ſo leutſeligen Mann bey ſich zu ſehen.
Seine Beſuche wuͤrden bey ihr eine gute Mey-
nung von ſeinem Geſchlechte unterhalten.
Allein, wenn ſie vergeſſen ſollte, daß er ihr Arzt
waͤre: ſo koͤnnte ſie vielleicht etwas von der Zu-
verſicht zu ſeiner Wiſſenſchaft und Erfahrung
verlieren, welche noͤthig ſeyn moͤchte, die Beſſe-
rung, worauf ſeine Beſuche zielten, zu befoͤrdern.
Als er noch weiter darauf beſtand, welches
er auf eine ſehr feine und hoͤfliche Art that, da er
doch taͤglich zwey oder dreymal bey dem Hauſe
A a 2vorbey
[372]
vorbey kaͤme: ſo ſagte ſie, es wuͤrde ihr allezeit
ein Vergnuͤgen ſeyn, ihn von der angenehmen
Seite, von welcher er ſich ihr darboͤte, zu
betrachten. Es koͤnnte aber etwas bey einer
Perſon ſehr edelmuͤthig ſeyn, anzubieten, das bey
einer andern eben ſo unedelmuͤthig ſeyn wuͤrde,
anzunehmen. Sie waͤre in der That itzo eben
nicht in großen Umſtaͤnden: und er ſaͤhe bey dem
geringen Zeichen der Erkenntlichkeit, welches er
annehmen mußte, daß ſie vielmehr ihren eignen
Zuſtand, und was denſelben gemaͤß waͤre,
als ſein Verdienſt, oder das Vergnuͤgen, das
ſie in ſeinen Beſuchen finden wuͤrde, in Betrach-
tung gezogen haͤtte.
Wir gingen alle zugleich weg; und weil der
Doctor und Herr Goddard ſehr begierig waren,
etwas mehr von ihrer Geſchichte zu wiſſen: ſo
begaben wir uns auf des letztern Vorſchlag in ein
benachbartes Caffeehaus, und ich ertheilte ihnen
im Vertrauen eine kurze Nachricht davon. Jch
machte alles zu eurem Beſten ſo geringe und
leicht, als ich konnte: und dennoch werdet ihr
wohl erachten, daß dieß geringe und leichte ſchon
groß und ſchwer genug ſeyn mußte, damit der
Gemuͤthsart der Fraͤulein nur einigermaßen
Gerechtigkeit widerfuͤhre.
Um drey Uhr, Nachmittags.
Jch habe eben wieder in Smithens Hauſe
nachgefragt, und gehoͤret, daß ſie etwas beſſer
waͤre, welches ſie dem freundlichen Zureden ihres
Arztes
[373]
Arztes zuſchriebe. Sie bezeugte ſich hoͤchſt vergnuͤgt
mit beyden Maͤnnern, und ſagte, ihr Verhalten
gegen ſie waͤre vollkommen vaͤterlich ‒ ‒
Vaͤterlich, arme Fraͤulein! ‒ ‒ Da ſie nie-
mals, bis auf die letzte und gar kurze Zeit, aus
ihrer Eltern Augen und Fuͤrſorge geweſen; nun
aber von allen ihren Freunden gaͤnzlich verlaſſen
iſt: ſo findet ſie gern an einem jeden etwas vaͤ-
terliches und muͤtterliches; das letzte an Frau
Lovick und Frau Smithen; damit ſie bey ſich den
Mangel von Vater und Mutter, nach welchen
ihr gehorſames Herz ſich ſehnet, erſetzen
moͤge.
Frau Smithen erzaͤhlte mir, daß ſie, nach-
dem wir weggegangen, ihr und der Witwe Lovick
die Schluͤſſel zu ihren Kaſten und Schublaͤden
gegeben, und ſie gebeten haͤtte, ein Verzeichniß
von ihren Sachen in denſelben aufzufetzen; wel-
ches ſie in ihrer Gegenwart gethan.
Sie meldeten mir auch, daß ſie ſich von ih-
nen ausgebeten haͤtte, ihr einen Kaͤufer zu zween
reichen und vollkommenen Anzuͤgen von Kleidern
zu verſchaffen, wovon der eine noch niemals, der
andere nicht uͤber ein oder zweymal getragen
waͤre.
Dieß ging mir uͤber alle Maaßen zu Herzen:
vielleicht mag es dir auch ein wenig zu
Herzen gehen!!! ‒ ‒ Die Urſachen, warum ſie
dieſelben verkaufen wollte, ſagte ſie ihnen, waͤren
dieſe: weil ſie es nicht erleben wuͤrde, ſie an-
zuziehen; weil ihre Schweſter und andere Ver-
A a 3wand-
[374]
wandten ſich zu gut hielten, ſie zu tragen; weil
ihre Mutter nichts von dem, was ihr zugehoͤret
haͤtte, vor ihren Augen leiden wuͤrde; weil ſie
das Geld noͤthig haͤtte; und weil ſie niemanden
Verbindlichkeit haben wollte, da ſie noch Sachen
bey ſich haͤtte, die ſie nicht brauchen koͤnnte. Je-
doch vermuthe ich nicht, ſetzte ſie hinzu, daß ſie
um einen Preiß abgehen werden, der ihrem Werth
gemaͤß iſt.
Sie waren beyde ſehr bekuͤmmert, wie ſie mir
geſtunden: und fragten mich um Rath. Da
auch ihre reiche Kleidung ihnen noch hoͤhere Be-
griffe von ihrem Range gemacht hatte, als ſie
vorher gehabt: ſo glaubten ſie, ſie muͤßte vom
vornehmen Stande ſeyn, und wollten wieder gern
ihre Geſchichte wiſſen.
Jch geſtand ihnen, daß ſie wirklich eine
Fraͤulein von Familie und Vermoͤgen waͤre: und
gab ihnen noch Raum, ſie fuͤr verheyrathet zu hal-
ten: uͤberließ es aber ihr ſelbſt, ihnen alles zu ih-
rer Zeit und auf ihr beliebige Art zu erzaͤhlen.
Alles, was ich ſagen wollte, war dieſes, daß ihr
ſehr ſchaͤndlich begegnet waͤre; daß ſie es nicht
verdiente; und daß ſie die Unſchuld und Reinig-
keit ſelbſt waͤre.
Jhr koͤnnt leicht vermuthen, daß ſie beyde
die groͤßte Verwunderung an den Tag legten,
wie eine Mannsperſon in der Welt ſeyn koͤnnte,
die im Stande geweſen waͤre, einem ſo feinen
Frauenzimmer uͤbel zu begegnen.
Was
[375]
Was die Verfuͤgung wegen der beyden An-
zuͤge von Kleidern betrifft: ſo trug ich Frau Smi-
then auf, bey ihr vorzugeben, daß ſie, nach ge-
thaner Anfrage, einen Freund gefunden haͤtte,
der den reichſten davon kaufen, aber, damit ſie
keinen Verdacht ſchoͤpfen moͤchte, ſich auf
einen guten Vergleich verlaſſen wollte. Da ich
zwanzig Guineas bey mir hatte, ſo ließ ich die-
ſelben, als einen Theil der Bezahlung, bey ihr;
und empfahl ihr, ſich ſo zu ſtellen, als wenn ſie
die Fraͤulein bereden wollte, ihn fuͤr ſo wenig
mehr fahren zu laſſen, als ſie nur dieſelbe bewe-
gen koͤnnte dafuͤr zu nehmen.
Jch reiſe nach Edgware mit dem armen
Belton. ‒ ‒ Jn meinem naͤchſten Briefe will
ich dir mehr von ihm ſchreiben. Jch werde
morgen wiederkommen, und gegenwaͤrtiges fuͤr
deinen Bothen bereit zuruͤcklaſſen, wo er in mei-
ner Abweſenheit darum anfragen wird. Lebe wohl!
Der acht und vierzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Eine Antwort
M. Hall, Mittw. Abends, den 19ten Jul.
Du hatteſt wohl Urſache zu beſorgen, daß ich
denken wuͤrde, du wollteſt mir einen Poſſen
A a 4ſpie-
[376]
ſpielen, da du der Fraͤulein meinen Brief
zeigeteſt.
Du frageſt: Wer wuͤrde denken, daß du ihr
nicht die untadelhafteſten Stellen eines Briefes,
der zu meiner eignen Vertheidigung an dich ge-
ſchrieben waͤre, vorleſen moͤchteſt? ‒ ‒ Jch will
dir ſagen, wer ‒ ‒ Eben derjenige, welcher in
eben dem Briefe, worinn er dieſe Frage thut, ſei-
nem Freunde, den er ihrem Unwillen ausſetzet,
zu verſtehen giebt: „daß durch und durch in ſei-
„nen ernſthafteſten Briefen ein ſo leichtſinniges
„Weſen herrſchet, daß diejenigen am wenigſten
„bequem ſind, geſehen zu werden, welche
„ihm am meiſten Ehre machen, und andern
„eine gute Meynung von ihm beybringen
„ſollten.„ Was denkeſt du nun von deiner
Thorheit, die du auf dieſe Art ſelbſt verdammet
haſt? Es mag aber ſeyn, wie es iſt: ich rathe
dir nur, kuͤnftig vorſichtiger zu ſeyn, damit es
bey dieſem ungeſchickten Fehler allein bleiben
moͤge.
„Es iſt ihr eine Quaal an mich zu gedenken!
„‒ ‒ Freydenkeriſcher Schaum! ‒ ‒ Ein ſo
„verderblicher und veraͤchtlicher Raͤnkeſchmieder!
„‒ ‒ Ein Menſch, deſſen Freundſchaft keinem
„eine gute Meynung bey andern erwerben kann!
„‒ ‒ Ein verhaͤrterer Boͤſewicht! ‒ ‒ Des
„Teufels Ebenbild: ‒ Ein gottloſer, gottloſer
„Menſch!“ ‒ ‒ Allein ſagte ſie dieß alles, konn-
te ſie, durfte ſie dieß alles ſagen, oder nur zu
verſtehen geben? ‒ Und zwar einem Menſchen,
den
[377]
den ſie wegen der Leutſeligkeit ruͤhmet, und um
dieſer Tugend willen mir ſelbſt vorzieht: da alle
die Leutſeligkeit, welche er zeiget, ihm von mir
vorgeſchrieben iſt, und ſie dieß ſo gar ſelbſt
weiß ‒ ‒ folglich mich des Ruhmes von meinen
eignen Werken beraubet? Alles dieß zeigt vor-
trefflich, daß ſie ein Recht hat, einen ſo ſpitzfin-
digen Unterſchied, als du zwiſchen den Worten
Unwillen und Rache macheſt zu fordern. Aber
es iſt allezeit deine Weiſe geweſen, etwas anzu-
geben und damit herauszuplatzen, was du nie-
mals auszumachen im Stande geweſen biſt.
Das Lob, welches du ihr wegen ihrer Of-
fenherzigkeit ertheileſt, iſt noch eines von deiner
Art. Jch denke nicht ſo, wie du, von ihren
ſchwatzhaften Erzaͤhlungen und Klagen: ‒ ‒
Was koͤnnen die nuͤtzen? ‒ ‒ Es iſt gut, daß
du nur eine heilige Liebe gegen ſie haſt; der
Teufel hole dich mit deinem albernen Weſen!
ſonſt iſt es ſehr verdaͤchtig und aͤrgerlich zu ge-
denken, daß man ein ſo reizendes Frauenzimmer
gerade vor einem liederlichen Bruder ſtehen ſie-
het, und von der Suͤnde gegen ſie, welche nicht
zu vergeben iſt, ſchwatzen hoͤret! ‒ ‒ Jch wuͤnſch-
te von Herzen, daß ſolche keuſche Frauenzimmer
ein wenig Schamhaftigkeit bey ihrem Zorn ha-
ben moͤchten. ‒ ‒ Es wuͤrde ſehr fremd klingen,
wenn ich, Robert Lovelace, mir mehr Zaͤrtlichkeit
in einem Stuͤcke, welches die aͤußerſte Zaͤrtlich-
keit erfordert, anmaßen wollte, als Fraͤulein Cla-
riſſa Harlowe hat.
A a 5Jch
[378]
Jch denke, ich will es ihrer Amme, Norton,
und ihrer Fraͤulein Howe, durch meine Unter-
haͤndler in den Kopf ſetzen, dem lieben unerfahr-
nen Kinde fuͤr ihr Ausplaudern den Pelz zu wa-
ſchen.
Allein im Ernſt muß ich dir ſagen, daß, ſo
hart und uͤbermuͤthig es auch iſt, wenn ſie ſo ver-
aͤchtlich fragt: „Was fuͤr ein Menſch iſt ihr
„Freund, mein Herr, daß er ſich aufwirft, die
„Schuldigen zu beſtrafen!“ ich doch niemals den
verfluchten Weibsleuten vergeben werde, die ver-
moͤgend geweſen ſind, dieſe letzte abſcheuliche Ge-
waltthaͤtigkeit an einer ſo unvergleichlichen Per-
ſon auszuuͤben.
Die grauſamen Verſpottungen von den bey-
den Nymphen in ihren Beſuchen bey ihr; die
Argliſt, die abſcheulichſte Hoͤle auszuſuchen, wel-
che zu finden war, ſonder Zweifel in der Abſicht,
ſie zu bewegen, daß ſie wieder nach ihrem Hauſe
zuruͤckkehrte; und der noch abſcheulichere Ver-
ſuch, ihr eine Mannsperſon vorzuſchlagen, welche
die Schuld bezahlen wollte; eine Falle, wie ich
nicht zweifele, die ihrem Herzen, in der Verzwei-
felung und dem hoͤchſten Unwillen, von der teufe-
liſchen Sarah geſtellet wurde; weil ſie ohne
Zweifel dachte, daß ſie eine Weibsperſon waͤ-
re; damit ſie ihr meine Gunſt voͤllig entziehen,
und mich reizen moͤchte, ſie ihrer gewiſſenloſen
Grauſamkeit in der Hitze zu uͤbergeben; ſind
Beſchimpfungen; daß ich mich mit den Redens-
arten
[379]
arten der Fraͤulein ausdruͤcke; die ich niemals
vergeben kann, niemals vergeben will.
Was aber deine Gedanken und die Meynung
der beyden Frauensleute in Smithens Hauſe be-
trifft, daß ihr Herz gebrochen ſey: ſo iſt das die
rechte Weiberſprache. Jch wundere mich, wie
du dazu gekommen biſt: da du doch ſo manches
Sterben und Wiederaufleben der Weibs-
leute geſehen und gehoͤret haſt.
Jch will dir ſagen, was wider dieſe Vorſtel-
lungen, die ſie ſich machen, ſtreitet.
Jhre Lebenszeit, und vortreffliche Natur;
das Gute, welches ſie allemal zu thun Vergnuͤ-
gen gefunden, wozu ſie ſich eingebildet hat, geboh-
ren zu ſeyn, und welches ſie noch ferner in einem
eben ſo hohen Grade, als jemals, thun kann, ja
noch in einem groͤßern Maaße, weil ich, wie du
weißt, kein Knicker bin; ihre Neigung zu der Re-
ligion, eine Neigung, die ſie allezeit lehren wird,
unvermeidliche Uebel mit Gedult zu ertragen;
die Betrachtung ihres letzten herrlichen Sieges
uͤber mich und die ganze Rotte; die Betrachtung
ihrer gluͤcklich ausgefallenen Flucht von uns al-
len; ihr unbefleckter Wille; und der ſtolze
Ruhm, den ſie in ſich empfindet, die Begegnung,
welche ihr widerfahren iſt, nicht verdient zu ha-
ben.
Wie iſt es moͤglich, ſich einzubilden, daß eine
Weibsperſon, die alle dieſe Troſtgruͤnde zu uͤber-
legen hat, an einem gebrochenen Herzen ſterben
werde?
Jm
[380]
Jm Gegentheil zweifele ich nicht, daß, wie
ſie ſich von der Niedergeſchlagenheit wieder erho-
let, worein dieſe letzte tuͤckiſche Schandthat ſie ge-
ſtuͤrzet hat, der ſich niemand, als nichtswuͤrdige
Creaturen von ihrem eignen Geſchlechte, haͤtte
ſchuldig machen koͤnnen, ſo auch die Liebe wieder
in ihr durch die Zeit beruhigtes Gemuͤth zuruͤck-
kehren werde. Alsdenn werden ſich ihre Gedan-
ken noch einmal auf die Ehe lenken. Mit der
Zeit wird ſie lebhaftere Vorſtellungen in ihrem
Kopfe haben: und dieſe werden machen, daß
ſie durch alle ihre Veraͤnderungen mit Ruhe und
Vergnuͤgen hindurch gehet; ob gleich keines von
beyden in einem ſo hohen Grade ſtatt haben mag,
als wenn die liebe ſtolze und ſchelmiſche Schoͤne
ſich uͤber alle Uebrigen von ihrem Geſchlecht, in
ihrem Lauf, haͤtte erheben koͤnnen.
Du fragſt, wenn du mir die bittern Vorwuͤr-
ſe erzaͤhleſt, welche die Fraͤulein gegen deinen ar-
men Freund machte, da du vermuthlich mit den
Fingern in dem Munde vor ihr ſtundeſt: Was
du fuͤr mich anfuͤhren konnteſt?
Habe ich dir nicht in meinen vorigen Brie-
fen hundert Dinge in den Mund gelegt, die ein
Freund, dem es ein Ernſt iſt einen Freund zu
rechtfertigen oder zu entſchuldigen, bey einer ſol-
chen Gelegenheit ſagen moͤchte?
Aber nun auf die Hauptdinge zu kommen,
die itzo im Gange ſind, und auf die Verfaſſung,
worinn hier die Sachen ſtehen ‒ ‒ Es iſt wahr,
wie dir mein Bedienter geſagt hat, daß ſich die
Fraͤu-
[381]
Fraͤulein Howe, vor dieſes verfluchten Weibes
Dienſtfertigkeit, anheiſchig gemacht hatte, ſich
meiner Sache bey ihrer Freundinn anzunehmen:
gleichwohl hat ſie meinen Baſen bey dem Beſu-
che, den ſie ihr machten, geſtanden, ſie hielte da-
fuͤr, daß ſie mir niemals vergeben wuͤrde.
Jch bin begierig zu wiſſen, was die Fraͤulein
Howe an ihre Freundinn geſchrieben hat, ſie zu
bewegen, daß ſie den veraͤchtlichen Raͤnke-
ſchmieder, den Menſchen, deſſen Freund-
ſchaft keinem eine gute Meynung bey an-
dern erwerben kann, den gottloſen, gottlo-
ſen Menſchen heyrathen moͤchte. Du haſt die
beyden Briefe in deinen Haͤnden gehabt. Waͤ-
ren ſie in meinen Haͤnden geweſen: ſo wuͤrde
das Siegel, vielleicht ohne Huͤlfe der bey dem
Poſtamt gebraͤuchlichen Kugel, vor meinen war-
men Fingern geſchmolzen ſeyn, und die Falten
wuͤrden ſich, wie es mit andern Falten bey mir
gegangen iſt, von ſelbſt geoͤffnet haben, meiner
Neubegierde zu willfahren. Eine gottloſe Nach-
laͤßigkeit, Bruder, daß du keine Anſtalten ge-
macht haſt, ſie durch einen Kerl zu Pferde an
mich herunter zu ſchicken! Man haͤtte vorgeben
koͤnnen, daß der Bothe, der den zweyten Brief
gebracht, ſie beyde wieder zuruͤckgenommen haͤt-
te. Jch haͤtte ſie nach genommener Abſchrift
durch einen andern wieder ſchicken koͤnnen, als
wenn ſie von der Fraͤulein Howe kaͤmen: und
niemand, außer mir und dir, haͤtte es anders ge-
wußt.
Mein
[382]
Meine beyden Tanten befinden, daß die Un-
terhandlung, deren gluͤcklicher Fortgang ihnen an
ihren thoͤrichten Herzen liegt, ſich, nach aller Wahr-
ſcheinlichkeit, in die Laͤnge ziehen moͤchte. Alſo
ſind ſie im Begriff, zu ihren eignen Guͤtern von
hier abzugehen: nachdem ſie die beſte Sicherheit,
welche die Natur der Sache leidet, das iſt, mein
Wort, von mir genommen haben, die Fraͤulein
zu heyrathen, wo ſie mich haben will.
Alles, was ich in meiner gegenwaͤrtigen Un-
gewißheit zu thun habe, iſt, daß ich meinen Ge-
muͤthskraͤften wieder einen Glanz gebe, indem ich
den Roſt abfeile, den ſie durch den Rauch in der
Stadt, durch eine lange Gefangenſchaft in mei-
ner beſtaͤndigen Aufwartung bey meiner verkehr-
ten Schoͤnen mit ſo geringem Erfolg, angenom-
men haben; und daß ich die ſchlaff gewordenen
Faͤſerchen meiner Seele, wo moͤglich, wieder an-
ziehe, welche durch die unruhigen Bewegungen,
die ſie darinn erreget hat, nicht anders, als die
Sehnen eines von der Gicht wackelhaften Kran-
ken, gezwackt und gezuckt ſind: damit ich auf die
Art im Stande ſeyn moͤge, ihr einen Gemahl der
ihrer Aufnahme ſo wuͤrdig iſt, als ich ſeyn kann,
darzuſtellen; oder, wo ſie meine Hand ausſchlaͤgt,
meine gewoͤhnliche Munterkeit, wieder anzuneh-
men, und anderen von dem verfuͤhreriſchen Ge-
ſchlechte zu zeigen, daß mir die Schwierigkeiten,
welche ich bey dieſer angenehmen Perſon von
demſelben angetroffen, nicht den Muth zu mei-
nen
[383]
nen Bemuͤhungen genommen haben, mich ihnen
eben ſo angenehm, als vorher, zu machen.
Jn dieſem letztern Falle wird eine Reiſe nach
Frankreich und Jtalien, darf ich ſagen, es wie-
der gut machen. Die Fraͤulein Harlowe wird
unter der Zeit alles vergeſſen haben, was ſie von
dem undankbaren Lovelace gelitten hat: ob es
gleich unmoͤglich ſeyn wird, daß ihr Lovelace je-
mals ein Frauenzimmer vergeſſen ſollte, derglei-
chen er anzutreffen verzweifelt, wenn er auch von
einem Ende der Welt bis zum andern reiſen
wollte.
Wo du fortfaͤhreſt die ſchweren Schulden ab-
zutragen, worunter dich meine langen Briefe, ſo
viele Wochen nach einander, zu ſeufzen gezwun-
gen haben: ſo will ich mich bemuͤhen, mein Ver-
langen, nach London zu kommen und mich ſelbſt
zu den Fuͤßen der Geliebten meiner Seele zu wer-
fen, ſo ungeſtuͤm es auch iſt, zu baͤndigen. Klug-
heit und Ehre vereinigen ſich beyde, den Zwang,
worunter mich in dieſem Stuͤcke mein eignes
Verſprechen und deine Verbindung gelegt
haben, zu verſtaͤrken. Jch moͤchte ſie nicht aufs
neue reizen: ſondern wollte vielmehr gern ihrem
Unwillen Zeit laſſen, ſich zu ſetzen, damit alles,
was erfolget, ihr freyes Werk und Thun ſeyn
moͤge.
Hickmann; der Kerl iſt mir bis auf den
Tod zuwider; hat ſich durch eine Zeile, welche ich
eben
[384]
eben itzo bekommen habe, eine Zuſammenkunſt
mit mir am Freytage in Herrn Dormers, als ei-
nes gemeinſchaftlichen Freundes, Hauſe aus-
gebeten. Erfordert das Gewerbe, weswegen er
mit mir zuſammen kommen muß, daß es eben
bey einem gemeinſchaftlichen Freunde ſeyn
ſollte? Eine verſteckte Ausforderung! Nicht
wahr, Belford? ‒ ‒ Jch werde nicht hoͤflich ge-
gen ihn ſeyn, beſorge ich. Er hat ſich einge-
mengt! ‒ ‒ Und außer dem beneide ich ihn der
Fraͤulein Howe wegen. Denn wo ich einen
rechten Begriff von dieſem Hickmann habe: ſo
iſt es unmoͤglich, daß dieſe Heldinn ihn jemals
lieben kann.
Eine treffliche Reizung fuͤr einen Menſchen,
der gern Raͤnke macht, wenn er Urſache hat zu
glauben, daß die Weibsperſon, auf die er ſein Ab-
ſehen gerichtet, ihren Mann nicht liebe! Was
fuͤr gute Grundſaͤtze muß die Frau haben, wel-
che, durch eine Empfindung von ihrer Pflicht
und gelobten Treue, gegen Verſuchung bewahret
wird, wo keine Zuneigung und Liebe ſtatt findet
und ſie haͤlt!
Jch bitte dich, gieb uns genaue Nachricht,
wie es mit dem armen Belton gehet. ‒ ‒ Es iſt
ein ehrlicher Kerl. ‒ ‒ Es ſcheint ihm etwas
mehr, als ſeine Thomaſine, anzuhaͤngen.
Tourville, Mowbray, und ich vertreiben
uns die Zeit ſo vergnuͤgt, als wir ohne dich thun
koͤnnen. Jch wuͤnſche nur, daß wir die wegen
des Podagra beſchwerlichen Tage des Lords M.
nicht
[385]
nicht durch die Freude, die wir ihm machen, ver-
mehren.
Dieß iſt ein Vortheil, wie ich ſchon ſonſt,
glaube ich, angemerkt habe, den wir maͤnnliche
Miſſethaͤter in Liebesſachen vor dem andern Ge-
ſchlecht voraus haben. ‒ Denn unterdeſſen, da
ſie, arme Dinger! in Loͤchern und Winkeln ſitzen
und ſeufzen, oder zu Gebuͤſchen und Waͤldern
laufen, um ſich uͤber ihre fehlgeſchlagene Hoff-
nung zu beklagen, koͤnnen wir ſchwaͤrmen und
ſchreyen, jagen und beitzen, und durch neue Liebe
das Angedenken der alten aus unſern Herzen
verbannen.
So luſtig wir inzwiſchen unſere Zeit hinbrin-
gen: ſo erregen doch ſehr oft die Betrachtungen
des Unrechts, das ich dieſer edelen Fraͤulein ge-
than habe, ein trauriges Gefuͤhl in meinem Her-
zen. Aber ich weiß, ſie wird mir erlauben, es
bey ihr wieder gut zu machen, wenn ſie mich nur
erſt herzlich geplaget hat; und das iſt mein
Troſt.
Noch immer ein ehrlicher Kerl! ‒ ‒ Schla-
ge deine Fluͤgel zuſammen, Bruder, und kraͤ-
he! ‒ ‒
Sechſter Theil. B bDer
[386]
Der neun und vierzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa Har-
lowe.
Was, liebſte Freundinn, haben Sie ausge-
ſtanden! ‒ ‒ Wie groß muß Jhre Angſt
bey einer ſo ſchaͤndlichen Beſchimpfung auf freyer
Gaſſen und am hellen Tage geweſen ſeyn!
Kein Ende, denke ich, mit den unverdienten
Drangſalen einer theuren Seele, die ſo ungluͤck-
lich einem ſchaͤndlichen Freydenker in die Haͤnde
getrieben und verraͤtheriſcher weiſe uͤbergeben iſt!
‒ ‒ Wie erſchrack ich bey dem Empfang Jhres
Briefes, der von einer andern Hand geſchrieben
und nur von Jhnen in die Feder gegeben war!
‒ ‒ Sie muͤſſen ſich ſehr uͤbel befinden. Und es
iſt auch nicht zu verwundern. Allein ich hoffe,
daß es vielmehr von Beſtuͤrzung, Schrecken und
Niedergeſchlagenheit herruͤhre, die ſich uͤber-
winden laſſen, als von einem eingeriſſenen Kum-
mer, der ſolche Folgen haben moͤchte, woran es
mir unertraͤglich wird, nur einmal zu gedenken.
Aber vor allen Dingen, meine Allerliebſte,
muͤſſen ſie den Muth nicht ſinken laſſen! Jn der
That ſie muͤſſen den Muth nicht ſinken laſſen!
Bisher haben ſie nichts verſehen: allein Ver-
zwei-
[387]
zweifelung wuͤrde ganz ihr eigner und der aͤrgſte
Fehler ſeyn, deſſen ſie ſchuldig ſeyn koͤnnen.
Es iſt mir etwas unertraͤgliches, eine andere
Hand ſtatt ihrer zu ſehen. Senden ſie mir ein
paar Zeilen, wenn es auch noch ſo wenig ſind,
liebſte Freundinn, von ihrer eignen Hand, wo
moͤglich ‒ ‒ denn die werden mein Herz wieder
lebendig machen: inſonderheit wo ſie mir von ih-
rer Beſſerung Nachricht geben koͤnnen.
Jch erwarte ihre Antwort auf meinen Brief
vom 13ten. Wir warten alle mit Ungedult dar-
auf.
Seine Verwandten ſind ſo anſehnliche und
ehrliebende Perſonen ‒ ‒ Sie tragen ein ſo eifri-
ges Verlangen, Sie unter ihre Angehoͤrigen zu
zaͤhlen ‒ ‒ Der elende Menſch iſt ſo voller
Reue; das ſagt ein jeder von ſeiner Familie
‒ ‒ Jhre eigne Anverwandten ſind ſo unver-
ſoͤhnlich ‒ ‒ Jhr letztes Ungluͤck iſt zwar eine
Folge von ſeiner vorigen Bosheit, aber doch we-
der auf ſein Angeben, noch mit ſeinem Wiſſen,
zuwege gebracht, und wird von ihm ſo uͤbel em-
pfunden ‒ ‒ daß meine Mutter gaͤnzlich der
Meynung iſt, Sie ſollten ihn nehmen ‒ ‒
Sonderlich, wo Sie ſich auf meine Wuͤnſche, wie
ich ſie in meinem Briefe entdecket habe, und auf
das Verlangen aller ſeiner Freunde, wuͤrden er-
geben und gefaͤllig bezeiget haben, wenn dieſer
ſchreckliche Verhaft nicht darzwiſchen gekommen
waͤre.
B b 2Jch
[388]
Jch will die Abſchrift von dem Briefe, den
ich am verwichnen Dienſtage auf die Nachricht,
daß niemand wuͤßte, wo Sie hingekommen waͤ-
ren, an die Fraͤulein Montague abgelaſſen habe,
und die Antwort darauf, welche von dem Lord
M. und der Lady Sarah Sadleir, und der Lady
Eliſabeth Lawrance ſo wohl als von den beyden
Fraͤulein ‒ ‒ und auch von dem elenden Men-
ſchen ſelbſt, unterſchrieben iſt, beyſchließen.
Jch geſtehe, daß mir die Art, wie er ſich aus-
druͤckt, in dem, was er an mich geſchrieben hat,
nicht gefaͤllt: und ehe ich mich ſeiner weiter an-
nehme, habe ich mich entſchloſſen, durch einen gu-
ten Freund ſeine Aufrichtigkeit aus ſeinem eignen
Munde zu vernehmen, und zu erfahren, ob in
ſeiner Bitte an mich ſeine ganze Neigung, oh-
ne die Wuͤnſche ſeiner Verwandten betrach-
tet, rede. Jedoch empoͤret ſich mein Herz gegen
ihn, wenn ich gedenken muß, daß nur einmal der
geringſte Schatten eines Grundes zu einer ſolchen
Frage vorhanden iſt: da das Frauenzimmer die
Fraͤulein Clariſſa Harlowe ‒ ‒ Allein ich glau-
be, mit meiner Mutter, daß Heyrathen itzo das
einzige noch uͤbrige Mittel iſt, Jhr kuͤnftiges Le-
ben auf eine ertraͤgliche Art leicht ‒ ‒ gluͤcklich
darf man nicht ſagen ‒ ‒ zu machen. ‒ ‒ Jn
den Augen der Welt ſelbſt wird, in dem Falle,
die Schande mehr auf ihn, als auf Sie, fallen
‒ ‒ Und bey denen, welche Sie kennen, wird Jhr
Sieg herrlich und ruhmwuͤrdig ſeyn.
Jch
[389]
Jch werde genoͤthigt, meine Mutter bald zu
der Jnſel Wight zu begleiten. Meine Tante
Harman nimmt ſehr ab, und verlanget inſtaͤn-
digſt uns beyde, und auch Herrn Hickmann, wie
ich denke, zu ſehen.
Seine Schweſter, von der wir ſo viel gehoͤ-
ret hatten, und ihr Lord, beſuchten uns dieſer
Tage. Jch habe das Gluͤck ihr außerordentlich
zu gefallen, oder wenigſtens ſagt ſie es.
Jch kann nicht anders ſagen, als daß ich glau-
be, ſie ſey der vortrefflichen Beſchreibung vollkom-
men aͤhnlich, die wir von ihr gehoͤret haben.
Es wuͤrde der Tod fuͤr mich ſeyn, wenn ich
nach der kleinen Jnſel reiſen und Sie nicht vor-
her ſehen ſollte. Gleichwohl beſteht meine Mut-
ter darauf, daß mein erſter Beſuch bey Jhnen
einen Gluͤckwunſch an Sie, als Fr. Lovelacen,
zum Zweck haben muͤſſe. Sie mag gar zu gern
eine Gewalt uͤber mich ſehen laſſen, die ſie oft
eben dadurch, daß ſie dieſelbe ſehen laͤßt, ſtreitig
macht.
Wenn ich weiß, was auf die Fragen erfolgen
wird, die dem elenden Menſchen in meinem Na-
men ſollen vorgelegt werden, und was Jhre Ge-
ſinnung in Anſehung meines Briefes vom 13ten
ſeyn mag: ſo werde ich Jhnen mehr von meinen
Gedanken eroͤffnen.
Der Ueberbringer des gegenwaͤrtigen ver-
ſpricht ſo zu eilen, daß er noch dieſen Nachmit-
B b 3tag
[390]
tag bey Jhnen anlange. O! kaͤme er doch mit
guter Zeitung wieder zuruͤck fuͤr
Jhre ewig ergebene
Anna Howe.
Der funfzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Sie uͤberladen mich, meine liebſte Fraͤulein
Howe, durch Jhre feurige und doch ſtand-
hafte Liebe. Jch will mich ſehr kurz faſſen: weil
ich nicht wohl, ob gleich ein großes Theil beſſer,
als vorher, bin; und weil ich eine Antwort auf
Jhre Zuſchriſt vom 13ten aufzuſetzen ſuche. Zum
voraus aber muß ich Jhnen ſagen, meine Wer-
theſte, daß ich den Menſchen nicht nehmen will
‒ ‒ Zuͤrnen Sie nicht uͤber mich ‒ ‒ Allein in
der That, ich will ihn nicht. Alſo laſſen Sie
ihm meinetwegen keine Fragen vorlegen, ich bitte
Sie.
Jch laſſe den Muth nicht ſinken, liebſte
Freundinn. Jch hoffe, daß ich ſagen duͤrfe, ich
will ihn nicht ſinken laſſen. Jſt mein Zuſtand
nicht um vieles verbeſſert? Jch danke dem Him-
mel dafuͤr!
Jch
[391]
Jch bin itzo keine Gefangene mehr in einem
ſchaͤndlichen Hauſe. Jch bin nun den Raͤnken
des Menſchen nicht mehr bloß geſtellet. Jch
bin nicht mehr genoͤthigt, mich aus Furcht vor
ihm in Winkel zu verſtecken. Einer von ſeinen
Vertrauten iſt mein eifriger Freund geworden,
und verbindet ſich, ihn von mir abzuhalten: und
das mit ſeiner eignen Einwilligung. Jch bin
unter ehrlichen Leuten. Alle meine Kleider und
Sachen ſind mir wieder zugeſtellet. Der nichts-
wuͤrdige Menſch giebt ſelbſt meiner Ehre Zeug-
niß.
Jn Wahrheit, ich bin ſehr ſchwach und krank:
aber ich habe einen vortrefflichen Arzt, Dr. H.
und einen eben ſo rechtſchaffenen Apotheker, Hrn.
Goddard ‒ ‒ Jhr beyder Bezeigen gegen mich,
meine Allerliebſte, iſt vollkommen vaͤterlich! ‒ ‒
Mein Gemuͤth ſelbſt, kann ich befinden, faͤngt an
ſtaͤrker zu werden: und mich deucht, ich finde
mich bisweilen meinem Elende uͤberlegen.
Jch werde wohl manches mal wieder ſinken.
Das muß ich vermuthen. Und meines Vaters
Fluch ‒ ‒ Jedoch Sie werden mit mir ſchelten,
daß ich deſſen auch itzo Erwaͤhnung thue, da ich
eben meine Troſtgruͤnde erzaͤhle.
Allein ich empfehle Jhnen inſtaͤndigſt, meine
theureſte Freundinn, daß ſie mein Ungluͤck Jhr
Gemuͤth nicht zu ſehr anfechten laſſen. Thun
Sie das: ſo wird es nur dienen, einige von de-
nen Pfeilen, die ſchon ſtumpf geworden ſind, und
B b 4ihre
[392]
ihre Schaͤrfe verlohren haben, aufs neue zuzu-
ſpitzen.
Wo Sie etwas zu meiner Gluͤckſeligkeit bey-
tragen wollen: ſo laſſen ſie Jhre eigne Gluͤck-
ſeligkeit, und die frohe Hoffnung, die ſie vor ſich
ſehen, ungehindert Platz finden.
Sie werden ſehr niedrige Gedanken von Jh-
rer Clariſſa Harlowe haben: wo ſie nicht glau-
ben, daß das groͤßte Vergnuͤgen, welches Sie in
dieſer Welt haben kann, in Jhrem Gluͤck und
Jhrer Wohlfarth liege. Denken Sie nicht an-
ders an mich, meine einzige Freundinn, als unter
denen Umſtaͤnden, worunter wir in vergangenen
Zeiten mit einander waren: und ſtellen Sie ſich
vor, als wenn ich weit, weit, weg waͤre! ‒ ‒ Auf
einer langen Reiſe! ‒ ‒ Wie oft werden die be-
ſten Freunde, wenn ihr Vaterland ſie auffordert,
ſo von einander getrennt ‒ ‒ mit Gewißheit
auf viele Jahre ‒ ‒ mit Wahrſcheinlichkeit
auf ewig!
Lieben Sie mich inzwiſchen beſtaͤndig. Aber
laſſen Sie es eine entwoͤhnende Liebe ſeyn. Jch
bin nicht mehr, was ich vormals war: da wir,
wie ich ſagen mag, eine unzertrennliche Liebe
unter einander hatten ‒ ‒ Jhre Abſichten muͤſ-
ſen nun ganz verſchieden ſeyn ‒ ‒ Entſchließen
Sie ſich, meine Wertheſte, einen wuͤrdigen Mann
gluͤcklich zu machen: weil ein wuͤrdiger Mann
Sie gluͤcklich machen muß ‒ ‒ Und ſo, meine
Allerliebſte, leben Sie fuͤr itzo wohl! ‒ ‒ Leben
Sie
[393]
Sie wohl, meine Allerliebſte! ‒ ‒ Jedoch wer-
de ich bald wieder ſchreiben, wie ich hoffe!
Der ein und funfzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Eine Antwort
auf den acht und vierzigſten Brief.
Jch habe dem armen Belton das Stuͤck von
dem Beſchluß eures Briefes vorgeleſen, wo
ihr euch nach ihm erkundiget, und meldet, wie
luſtig ihr, und die Uebrigen, eure Zeit zu M. Hall
zubringet. Er holte einen tiefen Seufzer. Jhr
ſeyd alle recht gluͤcklich, waren ſeine Worte
‒ ‒ Mir iſt bange, daß es ſeine Worte gewe-
ſen ſind: denn der arme Menſch wird gar bald
dahin ſeyn. Veraͤnderung der Luft, nebſt der
aufgeweckten und luſtigen Geſellſchaft, worinn
ich ihn gelaſſen habe, hoffet er, werde ihm Beſſe-
rung verſchaffen. Allein nichts, darf ich ſagen,
wird es thun.
Eine zehrende Krankheit und eine zehrende
Maitreſſe, die von einem allzu guͤtigen Liebhaber
gehalten wird, ſind ſchreckliche Dinge: wenn
man mit beyden zugleich kaͤmpfen ſoll. Es
muß Gewalt gebraucht werden; wo man der
B b 5letztern
[394]
letztern los ſeyn will: und gleichwohl hat er nicht
mehr Munterkeit genug, ſich wider ſie einzulaſ-
ſen. Sein Haus iſt Thomaſinens Haus, nicht
ſein. Er iſt ſeit vierzehn Tagen nicht in dem-
ſelben geweſen. Er irret von einem Wirthshau-
ſe zum andern herum. Er geht in ein jedes nur
in der Abſicht, etwas weniges zu ſich zu nehmen:
und bleibt hernach doch zween oder drey Tage
da, ohne daß er wieder wegkommen kann; und
weiß kaum, zu welchem er alsdenn zuerſt gehen
ſoll. Seine Krankheit iſt in ihm: und er kann
ihr nicht entlaufen.
Jhre Jungen; vormals dachte er, ſie waͤren
ſein; ſind verwegen genug, ihn in ſeinem eignen
Hauſe, wie ſie bey ihm vorbeygehen, mit der
Schulter fortzuſchieben. Da ſie es mit der Mut-
ter halten: ſo jagen ſie ihn gewiſſermaßen hin-
aus, und ſchwelgen, in ſeiner Abweſenheit, auf
den Ueberreſt ſeines geringe gewordenen Vermoͤ-
gens los. Jhre Mutter, die vormals ſo zaͤrtlich,
ſo demuͤthig, ſo gefaͤllig war, daß wir ihn alle
gluͤcklich prieſen, und ſeine Lebensart fuͤr etwas er-
wuͤnſchtes hielten, iſt nun ſo frech, ſo vermeſſen,
daß er nicht mit ihr ſtreiten kann, ohne ſeiner
Geſundheit unſaͤglichen Schaden zu thun. Alſo
iſt es mit ihm ſo weit gekommen, daß er mit ei-
ner kleinmuͤthigen Vertheidigung, die kaum eine
Vertheidigung iſt, zufrieden ſeyn muß. ‒ ‒
Wie weit heißt das zuruͤckgekommen, fuͤr ein
Herz, das ſo viele Jahre als angreiffender
Theil Krieg gefuͤhret, und ſich nicht darum be-
kuͤm-
[395]
kuͤmmert hat, wer der Gegner ſeyn moͤchte! ‒ ‒
Nun vergleicht er ſich ſelbſt mit dem veralteten
Loͤwen in der Fabel, welcher, durch die ſchlagende
Ferſen eines feigen und veraͤchtlichen Eſels, mit
zerſtoßenem Maul zu Boden geworfen iſt.
Jch habe ſeine Sache uͤbernommen. Er hat
mir, jedoch nicht ohne Widerſtreben, Erlaubniß
gegeben, ihn in den Beſitz ſeines eignen Hauſes
zu ſetzen, und fuͤr ihn ſeine ungluͤckliche Schwe-
ſter, die er bisher geringe geachtet, eben weil ſie
ungluͤcklich iſt, in daſſelbe einzufuͤhren. Es iſt
etwas hartes, ſagte er zu mir, und weinte, armer
Schelm! indem er es ſagte, daß es ihm nicht ge-
goͤnnet ſeyn kann, in ſeinem eignen Hauſe ruhig
zu ſterben! ‒ ‒ Dieß ſind die Fruͤchte von dem
begluͤckten Stande, wenn man eine Maitreſſe
haͤlt.
Ob er gleich erſt vor nicht langer Zeit ihre
Untreue erfahren hat: ſo kommt es doch nun her-
aus, daß dieſe ſchon ſo lange fortgetrieben iſt, daß
er keine Urſache hat, die Jungen fuͤr ſein zu hal-
ten. Wie verliebt pflegte er gleichwohl in die-
ſelben zu ſeyn!
Wo ich euren und unſerer Mitgeſellen Bey-
ſtand noͤthig habe, den armen Kerl wieder einzu-
ſetzen: ſo will ich euch davon Nachricht geben.
Unterdeſſen iſt mir eben itzo erzaͤhlt, daß Thoma-
ſine ſich erklaͤre, nicht aus der Stelle zu weichen:
denn es ſcheint, als wenn ſie muthmaßer, man
werde Maaßregeln nehmen, ſie zu vertreiben. Sie
ſey
[396]
ſey Frau Belten, ſpricht ſie, und wolle ihre Ver-
maͤhlung beweiſen.
Stellt ſie ſich ſchon bey ſeinen Lebzeiten ſo:
was wuͤrde ſie nach ſeinem Tode zu thun verſu-
chen?
Jhre Jungen drohen jedermann, der ſich
unterſtehen wird, ihre Mutter zu beleidigen.
Von ihrem Vater, wie ſie den armen Belton
nennen, reden ſie als von einem unaͤchten Vater.
Und ihr vermuthlich rechter Vater iſt beſtaͤndig
da, iſt als ein Feind da; unter dem gewoͤhnli-
chen Namen ihres Vetters. Nun heißt er gar
ihr Vetter, der ſie ſchuͤtzet.
Es iſt wohl ſchwerlich jemals einer geweſen,
darf ich ſagen, der eine Maitreſſe gehalten, und
nicht gemacht haͤtte, daß ſie dagegen einen Liebha-
ber hielte, dem ſie verſchwenderiſch alles zuſteckte
was ſie von der ausſchweifenden Thorheit deſſen,
der ſie hielte, bekommen hatte.
Jch will die Sache ohne euch abthun, wo ich
kann. Es wird nur, wie ich mir vorſtelle, ein
aͤhnlicher Fall mit demjenigen ſeyn, der den alten
Sarmatern begegnete. Als dieſelben, nach ei-
ner Abweſenheit von vielen Jahren, zu Hauſe
kamen: fanden ſie ihre Weiber im Beſitz ihrer
Sklaven; ſo daß ſie nicht allein mit dieſen Wei-
bern, die ſich ihrer Untreue bewußt waren, und
mit ihren Knechten, ſondern auch mit den Kin-
dern von dieſen Knechten zu ſtreiten hatten, wel-
che bis zu maͤnnlichen Jahren aufgewachſen, und
entſchloſſen waren, ihre Mutter und ihre laͤngſt
frey-
[397]
freygelaſſene Vaͤter zu vertheidigen. Allein die
edlen Sarmater hielten es ſich fuͤr eine Schande,
ihre Knechte mit gleichen Waffen anzugreiffen,
und verſahen ſich nur mit eben der Art von Peit-
ſchen, womit ſie dieſelben vormals zu zuͤchtigen
gewohnt geweſen. Da ſie mit dieſen den An-
griff auf ſie thaten: flohen die Abtruͤnnigen vor
ihnen. ‒ ‒ Zum Andenken hievon ſieht man
noch, bis auf dieſen Tag, auf der Muͤnze in No-
vogrod in Rußland, einer Stadt von dem alten
Sarmatien, einen Kerl zu Pferde mit einer Peit-
ſche in der Hand.
Der arme Menſch nimmt es uͤbel, daß ihr
ihn nicht inſtaͤndiger, als wie ihr gethan, gebeten
habt, zu M. Hall von eurer Geſellſchaft zu ſeyn.
Es kommt von Mowbray her, iſt er verſichert,
daß er von dem, der in ſeinen Einladungen ſo
feurig zu ſeyn pflegte, ſo ſehr obenhin gebeten
worden.
Mowbrays Rede gegen ihn, ſagt er, wolle er
ihm niemals vergeben. „Ey Thoms“, waren
die Worte des uͤbermuͤthigen Kerls, mit einem
Fluch, „du laͤſſeſt ja den Kopf haͤngen, wie ein
„Huhn, das den Pips hat. Du ſollteſt munte-
„rer werden, oder dich entſchließen, eine vierzigtaͤ-
„gige Friſt in der Einſamkeit zu halten, wenn du
„nicht den ganzen Haufen anſtecken wollteſt.“
Jch meines Theils bin nur darum bekuͤm-
mert, daß dieſer arme Kerl ſo wohl in Anſehung
ſeiner Umſtaͤnde, als ſeines Gemuͤths, elend dar-
an iſt: ſonſt wuͤrde ich eurer aller uͤberdruͤßig ſeyn.
So
[398]
So groß iſt das Wohlgefallen, das ich an dem
Umgange mit dieſer goͤttlichen Freundinn finde,
und ſo groß meine Bewunderung ihres Bezei-
gens und ihrer Geſinnung, daß ich ſo gar deiner
Geſellſchaft, auf einen Monat, entbehren wollte,
damit ich nur eine Stunde in ihrer Geſellſchaft
ſeyn koͤnnte. Jch bin mit mir ſelbſt ausnehmend
wohl zufrieden, daß ich im Stande bin, ſo hoch
als ich deine Geſellſchaft zu ſchaͤtzen pflegte, von
freyen Stuͤcken, ſo zu ſagen, dieſe Wahl zu
treffen.
Es iſt doch, wenn alles herauskommt, ein
teufliſches Leben, das wir gefuͤhrt haben. Wenn
man bedenken muß, wie ſich alles in ſehr weni-
gen Jahren endiget; wenn man ſieht, was fuͤr
einen ſchlechten Zuſtand in Anſehung der Geſund-
heit ſich dieſer arme Kerl ſo bald zugezogen hat;
und alsdenn bemerket, wie ein jeder von euch
den Ungluͤcklichen verlaͤßt, und davon laͤuft, wie
die Ratzen von einem einfallenden Hauſe: ſo iſt
das gewiß ein feiner Troſt, der einem Menſchen
helfen kann, auf ſeine uͤbel gewaͤhlte Geſellſchaft
und ein uͤbel angewandtes Leben zuruͤck zuſehen.
Kann ich meines Theils nur irgend eine gu-
te Familie gewinnen; mir eine Schweſter oder
eine Tochter anzuvertrauen; da mein Vermoͤgen
nun gewachſen iſt und mich in den Stand ſetzen
wird, gute Eheſtiftungen vorzuſchlagen: ſo will
ich euch alle verlaſſen, will heyrathen und in Zu-
kunft vielmehr ein vernuͤnftiges, als ein viehiſches
Leben fuͤhren.
Der
[399]
Der zwey und funfzigſte Brief
von
Hrn. Belford an Herrn Robert Lovelace.
Jch bin genoͤthigt worden, meine zwanzig
Guineas wieder zuruͤck zunehmen. Wie
die Weibsleute es gemacht haben, kann ich nicht
ſagen; ich vermuthe, daß zu dem reichen Anzuge
allzu bald ein Kaͤufer gefunden war: allein ſie
iſt auf den Argwohn gefallen, daß ich das Geld
vorgeſchoſſen haͤtte, und hat die Kleider nicht ſah-
ren laſſen wollen. Jnzwiſchen hat Fr. Lovick in
der That einige reiche Spitzen, die dreymal ſo viel
werth waren, fuͤr funfzehn Guineas verkauft.
Von dem Gelde hat ſie ihr wieder gegeben, was
ſie zur Bezahlung des Arztes geborget hatte: in
einer Krankheit, die durch die Grauſamkeit des
wildeſten Menſchen verurſachet iſt. Du weißt
ſeinen Namen!
Der Arzt fragte dieſen Morgen, wie es
ſcheint, bey ihr nach, und hatte wegen der Bezah-
lung einen kurzen Wortwechſel mit ihr. Sie
drang darauf, daß er ſie jedesmal, wenn er kaͤ-
me, nehmen ſollte, er moͤchte etwas vorſchreiben,
oder nicht: weil ſie muthmaßte, daß er der Fr.
Lovick und ihrer Waͤrterinn bloß muͤndliche Ver-
ordnungen ertheilte, um keine zu nehmen.
Er
[400]
Er ſagte, es wuͤrde ihm unmoͤglich geweſen
ſeyn, wenn er auch kein Arzt geweſen waͤre, ſich
nach der Geſundheit und dem Wohlbefinden ei-
ner ſo vortreſflichen Perſon nicht zu erkundigen.
Er waͤre nicht willens, ſich nur aus Hoͤflichkeit
noͤthigen zu laſſen; wenn er die angebotene Be-
zahlung verbaͤte: ſondern er wuͤßte, daß ihr Zu-
ſtand ſich nicht ſo ploͤtzlich veraͤndern koͤnnte, daß
taͤgliche Beſuche noͤthig waͤren. Sie muͤßte ihm
alſo erlauben, ſich unten bey den Frauensleuten
nach ihrem Befinden zu erkundigen, und er
muͤßte nicht daran denken, herauf zu kommen:
wenn er fuͤr das Vergnuͤgen, welches er ſich ſelbſt
ſo gern machen wollte, mit Gelde belohnet wer-
den ſollte.
Es fiel endlich auf einen Vergleich aus, ein
anderes mal allezeit eine Bezahlung anzuneh-
men. Das ließ ſie ſich, wiewohl ungern, gefal-
len, und vermeldete ihm, daß ſie zwar itzo ver-
laſſen und im Ungluͤck waͤre, aber nach Recht
und Geſetzen ein großes Vermoͤgen haͤtte, und
keine Ausgaben ſo hoch auflaufen koͤnnten, daß
daruͤber ein Bedenken entſtehen ſollte, ſie moͤchte
leben oder ſterben. Allein ſie ließe ſich den Ver-
gleich gefallen, ſetzte ſie hinzu, in Hoffnung ihn
ſo oft zu ſehen, als es ihm ſeine Zeit erlauben
wollte: denn ſie hegte gegen ihn und Herrn
Goddard, wegen ihres guͤtigen und zaͤrtlichen
Verfahrens mit ihr, eine beynahe kindliche Hoch-
achtung.
Jch
[401]
Jch hoffe, du wirſt dich mit dieſem recht-
ſchaffenen Arzte bekannt machen, wenn du nach
London kommſt, und ihm Dank ſagen, daß er
ihr eine gute Meynung von dem Geſchlechte bey-
bringet, welches du ihr ſo viele Urſache gegeben
haſt zu verabſcheuen.
Der drey und funfzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Eben bin ich von einer Zuſammenkunft mit
dem Hickmann zuruͤckgekommen. Ein ge-
zwungener Narr von einem Kerl, eben ſo ſteif,
als ſeine Manſchetten.
Du weißt, Bruder, ich bin ihm nicht gut:
und wem wir nicht gut ſind, dem koͤnnen wir
nichts vorzuͤgliches zugeſtehen; vielleicht nicht
einmal den Vorzug, der ihm billig ſollte zugeſtanden
werden. ‒ ‒ Jnzwiſchen meyne ich es im rech-
ten Ernſt, wenn ich ſage, daß er mir ſo ſteif, ſo ſproͤde,
ſo gezwungen, ſo eigen und doch ſo toͤlpiſch in ſei-
ner Perſon vorgekommen iſt, daß ich auf deine
Meynung wetten kann, wo du ihm und dir ſelbſt
Gerechtigkeit wiederfahren laͤſſeſt, du habeſt nie-
mals noch einen ſolchen Kerl, ausgenommen im
Spiegel, geſehen.
Sechſter Theil. C cJch
[402]
Jch will dir erzaͤhlen, wie ich ihn abgefuͤhret
habe.
Er kam in ſeinen eignen Wagen zu Dor-
mern: und wir ſpatzierten, auf ſein Erſuchen,
mit einander in dem Garten. Er war von ver-
teufelt vielen Umſtaͤnden, und machte einen gan-
zen Scheffel voll Entſchuldigungen wegen der
Freyheit, die er ſich naͤhme. Nachdem er ein halb
hundert male gehuſtet und ſich gereuſpert hatte,
vermeldete er mir, daß er kaͤme-daß er kaͤme
‒ ‒ mir auf Verlangen der wertheſten Fraͤu-
lein Howe, wegen ‒ ‒ wegen ‒ ‒ der Fraͤu-
lein Harlowe, aufzuwarten.
Gut, mein Herr, reden ſie, ſprach ich: aber
erlauben ſie mir zu ſagen, wo ihr Buch ſo lang
iſt, als ihre Vorrede, ſo wird es eine Woche Zeit
wegnehmen, es zu leſen.
Dieß war ſehr unhoͤflich, wirſt du ſagen.
Allein es iſt nichts ſo gut, als daß man dieſen
Leuten, die ſo viele Umſtaͤnde machen, gleich an-
fangs das Ziel verruͤckt. Wenn ſie einmal
aus ihrer Bahn gebracht ſind: ſo ſind ſie voller
Zweifel uͤber ſich ſelbſt, und koͤnnen niemals wie-
der ins Gleiß kommen. Alsdenn hat ein ehrli-
cher Kerl, der unverſchaͤmt angegriffen wird, wie
es mir ging, die ganze Unterredung hiedurch ge-
wonnen.
Er ſtrich ſeinen Bart, und wußte kaum,
was er ſagen ſollte. Endlich nachdem er bey
ſeinen Reden eine Einſchaltung uͤber die andere
und in die andere gemacht, und ſeine Entſchul-
digung
[403]
digungen durch neue Entſchuldigungen zu ent-
ſchuldigen geſucht hatte; vermuthlich Swifts
Ausſchweifungen zum Lobe der Ausſchweifungen
nachzuahmen: fing er wieder an ‒ ‒ Jch ver-
muthe, ich vermuthe, mein Herr, daß ſie an dem
Beſuche Theil gehabt haben, der bey der Fraͤulein
Howə, im Namen des Lords M. und der Lady Sa-
rah Sadleir, und der Lady Eliſabeth, von ihren
beyden Fraͤulein Baſen abgelegt iſt?
Ja allerdings, mein Herr: und Fraͤulein
Howe bekam hernach einen Brief, der von mei-
nem Lord und dieſen Ladies, und von mir ſelbſt
unterſchrieben war. Haben ſie ihn geſehen, mein
Herr?
Jch kann nicht anders ſagen, als daß ich ihn
geſehen habe. Er hat vornehmlich zu dieſem
Beſuch Anlaß gegeben. Denn die Fraͤulein
Howe denkt, daß ihr Antheil an demſelben mit
einem ſo leichtſinnigen Weſen ‒ ‒ Verzeihen ſie
mir, mein Herr ‒ ‒ geſchrieben ſey, daß ſie nicht
weiß, ob ſie ſich im Ernſt oder im Scherz an
ſie wenden und ihre Fuͤrſprache bey ihrer Freun-
dinn ſuchen *.
Will die Fraͤulein Howe mir erlauben, mich,
perſoͤnlich gegen ſie zu erklaͤren, Herr Hickmann?
O nein, mein Herr, im geringſten nicht,
Fraͤulein Howe, bin ich verſichert, wuͤrde ihnen
die Muͤhe nicht zumuthen.
Jch werde es nicht fuͤr eine Muͤhe halten.
Jch will ſie eiligſt zur Fraͤulein Howe begleiten,
C c 2mein
[404]
mein Herr, und ihr alle Zweifel benehmen.
Kommen ſie, mein Herr, nun will ich ihnen auf-
warten. Sie haben einen Wagen. Wir ſind
allein. Wir koͤnnen ſchwatzen, indem wir
fahren.
Er ſtockte, wandte und drehete ſich, ſchlug
hinten aus, ſtrich ſeine Manſchetten, zog
ſeine Perucke und zerrte ſein Halstuch, das
lang genug war, ein Laͤtzchen abzugeben ‒ ‒
Jch werde nicht gerades Weges zur Fraͤulein Ho-
we fahren, mein Herr. Es wird eben ſo gut
ſeyn, wenn ſie die Guͤte haben wollen, ihr durch
mich Genuͤge zu thun.
Was iſt es denn, was ihr Bedenken macht,
Herr Hickmann?
Fraͤulein Howe, mein Herr, bemerket, daß
ſie in dem Theil des Briefes, der von ihnen kommt,
ſchreiben ‒ ‒ Aber erlauben ſie mir, mein Herr,
ich habe eine Abſchrift von dem, was ſie geſchrie-
ben haben ‒ ‒ Er zog ſie hervor ‒ ‒ Wollen ſie
mir erlauben, mein Herr? ‒ ‒ So fangen ſie an ‒ ‒
Wertheſte Fraͤulein Howe! ‒ ‒
Keine Beleidigung, wie ich hoffe, Herr Hick-
mann?
Nein, im geringſten nicht, mein Herr! ‒ ‒
Nein gar nicht, mein Herr! ‒ ‒ Er ſahe ſo ſorg-
faͤltig auf das Papier, als wenn er nicht gut ſe-
hen koͤnnte, weiter zu leſen.
Gebrauchen ſie eine Brille, Herr Hick-
mann?
Eine
[405]
Eine Brille, mein Herr! ‒ ‒ Dabey
wendte er ſein ganzes breites Geſicht gegen mich
in die Hoͤhe ‒ ‒ Eine Brille! ‒ ‒ Was bewegt
ſie, mir eine ſolche Frage zu thun? Solch ein
junger Mann, als ich, ſollte eine Brille gebrau-
chen, mein Herr! ‒ ‒
Jn Spanien, Herr Hickmann, thun es ſo
wohl junge Leute, als alte, ihre Augen zu erhal-
ten ‒ ‒ Haben ſie einmal Priors Alma geleſen,
Herr Hickmann?
Ja mein Herr: ‒ ‒ Gewohnheit iſt alles
ſo wohl bey Voͤlkern als an einzelnen Perſonen.
Jch verſtehe, was ſie mit ihrer Frage ſagen wol-
len. ‒ ‒ Aber es iſt nicht die englaͤndiſche
Gewohnheit.
Sind ſie einmal in Spanien geweſen, Herr
Hickmann?
Nein, mein Herr: in Holland bin ich ge-
weſen.
Jn Holland, mein Herr! ‒ ‒ Niemals in
Frankreich oder Jtalien? ‒ ‒ Jch hatte mir vor-
genommen mit ihm in das Land Verwirrungs-
hauſen zu reiſen.
Nein, mein Herr, ich kann nicht ſagen, daß
ich bisher da geweſen waͤre.
Das iſt ein Wunder, mein Herr, da ſie doch
auf dem feſten Lande geweſen!
Jch war einer beſondern Angelegenheit we-
gen dahin gekommen und war genoͤthigt, bald
wieder zuruͤck zu gehen.
C c 3Aber,
[406]
Aber, mein Herr, ſie wollten ja leſen ‒ ‒
Haben ſie die Guͤte fortzufahren.
Er ſahe wieder ſo ſorgfaͤltig auf das Blatt,
als wenn ſeine Augen aͤlter waͤren, als das Ue-
brige an ihm, und las: Nach dem, was oben
geſchrieben, und durch ſolche Namen und
Haͤnde unterzeichnet iſt, gegen deren Ehre
niemand etwas einzuwenden haben kann ‒ ‒
Gewiß, ſprach er hiebey, und ſchlug die Augen
von dem Papier auf, niemand hat gegen die Eh-
re des Lords M. und der Ladies, welche den Brief
unterzeichnet haben, etwas einzuwenden.
Jch hoffe, Herr Hickmann, auch wider mei-
ne Ehre hat niemand etwas einzuwenden!
Wo es ihnen beliebt, mein Herr: ſo will ich
weiter leſen ‒ ‒ Haͤtte ich entſchuldigt und
uͤberhoben ſeyn moͤgen, einen Namen zu
unterzeichnen, der mir beynahe ſelbſt eben
ſo verhaßt iſt; beliebt ihnen zu ſagen; als er
Jhnen iſt, wie ich wohl weiß ‒ ‒
Jch muß ſie bey dieſer Stelle unterbrechen,
Herr Hickmann. Jn dem, was ich an Fraͤu-
lein Howe geſchrieben, habe ich das Wort weiß
beſonders unterſchieden. Jch hatte einen Grund
dazu. Fraͤulein Howe iſt ſehr frey mit meinem
guten Namen umgegangen. Jch habe ihr nie-
mals etwas zu Leide gethan. Jch nehm es ihr
ſehr uͤbel, und hoffe, mein Herr, ſie kommen in
ihrem Namen, ſie desfalls bey mir zu entſchul-
digen.
Fraͤu-
[407]
Fraͤulein Howe iſt ein ſehr hoͤfliches und fei-
nes Frauenzimmer. Sie iſt nicht gewohnt mit
dem guten Namen eines Cavalliers ungebuͤhrlich
umzugehen.
So habe ich deſto mehr Urſache, es uͤbel zu
nehmen, Herr Hickmann.
Ey, mein Herr, ſie wiſſen die Freundſchaft ‒ ‒
Keine Freundſchaft ſollte ſolche Freyheiten,
als ſich Fraͤulein, Howe gegen meinen guten Na-
men herausgenommen hat, rechtfertigen.
Jch glaube, nun fing er an zu wuͤnſchen, daß
er nicht zu mir gekommen waͤre. Er ſchiene ganz
in Unordnung zu ſeyn.
Haben ſie von der Fraͤulein Howe meinen
Namen nicht angetaſtet gehoͤrt, mit großer ‒ ‒
Mein Herr, ich komme nicht, ſie zu beleidi-
gen: allein ſie wiſſen, wie ſehr ſich Fraͤulein
Howe und Fraͤulein Harlowe unter einander lie-
ben ‒ ‒ Jch beſorge, daß ſie der Fraͤulein Har-
lowe nicht ſo begegnet haben, als ein ſo feines
und junges Frauenzimmer es verdiente: und wo
die Liebe gegen ihre Freundinn der Fraͤulein Ho-
we Anlaß gegeben hat, ſich Freyheiten zu neh-
men, wie ſie es nennen; ſo wird ein edelgeſinn-
tes Gemuͤth bey einer ſolchen Gelegenheit ſich
vielmehr leid ſeyn laſſen, daß es Urſache dazu
gegeben hat, als ‒ ‒
Jch weiß die Folge, die ſie machen wollen,
mein Herr! ‒ ‒ Aber ich moͤchte dieſen Vorwurf
lieber von einem Frauenzimmer haben, als von
einem Cavallier. Jch habe ein großes Verlan-
C c 4gen,
[408]
gen, der Fraͤulein Howe aufzuwarten. Jch
bin uͤberzeugt, daß wir bald zu einen guten Ver-
nehmen kommen wuͤrden. Edelgeſinnte Gemuͤ-
ther ſind allezeit verwandt. Jch weiß, wir wuͤr-
den in allen Stuͤcken uͤbereinkommen. Seyn ſie
doch ſo guͤtig, Herr Hickmann, mir bey der
Fraͤulein Howe einen Zutritt zu verſchaffen.
Mein Herr ‒ ‒ Jch kann ihr Verlangen
der Fraͤulein Howe melden, wo es ihnen gefaͤllig
iſt.
Ja, thun ſie es. Belieben ſie weiter zu le-
ſen, Herr Hickmann?
Er las ſehr feyerlich, als wenn ich mich nicht
erinnerte, was ich geſchrieben haͤtte. Da er auf
die Stelle kam von dem Halfter, dem Pfarrer
und dem Henker, und ſie geleſen hatte: ſprach er:
Wie, mein Herr, ſieht dieß nicht einem Scherze
aͤhnlich? ‒ ‒ Fraͤulein Howe haͤlt es dafuͤr. Es
ſteht nicht in der Fraͤulein Gewalt, wiſſen ſie,
mein Herr, ſie zum Galgen zu verurtheilen.
So glauben ſie denn, wenn es in ihrer Ge-
walt ſtuͤnde, daß ſie es thun wuͤrde?
Sie ſchreiben hier an Fraͤulein Howe, fuhr
er fort, daß Fraͤulein Harlowe die am meiſten
beleidigte Perſon von ihrem Geſchlechte
ſey. Jch weiß von der Fraͤulein Howe, daß ſie
die Beleidigungen, welche ſie geſtehen, ausneh-
mend uͤbel befindet: dergeſtalt, daß Fraͤulein Ho-
we zweifelt, ob ſie ſie jemals gewinnen werde,
dieſelben zu uͤberſehen. Und da ihre ganze Fa-
milie wuͤnfchet, daß ſie das Unrecht, welches ihr
wider-
[409]
widerfahren iſt, bey ihr wieder gut machen moͤch-
ten; und gleichfalls der Fraͤulein Howe Ver-
mittelung bey ihrer Freundinn verlanget: ſo be-
ſorget Fraͤulein Howe, nach dieſer Stelle von
ihrem Briefe, daß ſie allzuviel ſcherzen, und daß
ihr Erbieten, ihr Gerechtigkeit zu thun, vielmehr
eine Hoͤflichkeit gegen ihrer Freunde Bitten ſey,
als von ihrer eignen Neigung herkomme. Da-
her verlangt ſie ihre Geſinnung in dieſem Stuͤcke
zu wiſſen: ehe ſie ſich weiter ins Mittel ſchlaͤgt.
Denken ſie, Herr Hickmann, daß, wenn ich
im Stande bin, meine eigne Verwandten zu be-
truͤgen, ich ſo viele Verbindlichkeit gegen die
Fraͤulein Howe habe, die ſich allezeit große Frey-
heit gegen mich herausgenommen, daß ich ihr
geſtehen ſollte, was ich jenen nicht geſtehe?
Jch bitte um Verzeihung, mein Herr ‒ ‒
Allein Fraͤulein Howe denket, daß, da ſie ihr ge-
ſchrieben haben, ſie durch mich eine Erklaͤrung
deſſen, was ſie geſchrieben, verlangen moͤge.
Sie ſehen etwas von mir, Herr Hickmann ‒ ‒
Denken ſie, daß es mein Ernſt, oder mein
Scherz ſey?
Jch ſehe, mein Herr, ſie ſind ein aufgeweck-
ter Cavallier, von feinem Verſtande, und alles,
was ‒ ‒ Alles, was ich in der Fraͤulein Howe
Namen bitte, iſt, zu wiſſen, ob ſie wirklich und
bona fide zugleich mit ihren Freunden verlangen,
daß ſie Theil nehmen ſoll, ſie mit der Fraͤulein
Harlowe wieder auszuſoͤhnen?
C c 5Es
[410]
Es wuͤrde mir uͤber alle Maaße lieb ſeyn,
mit der Fraͤulein Harlowe ausgeſoͤhnt zu werden:
und ich wuͤrde der Fraͤulein Howe große Ver-
bindlichkeit haben; wenn ſie einen ſo gluͤcklichen
Erfolg zuwege bringen koͤnnte.
Aber, mein Herr, ſie haben doch vermuthlich
keine Einwendung gegen das Heyrathen, als die
Bedingung dieſer Ausſoͤhnung?
Der Eheſtand hat mir niemals in meinem
Leben gefallen. Jch muß offenherzig mit ihnen
zu Werke gehen, Herr Hickmann.
Jch bedaure es: ich halte ihn fuͤr einen gluͤck-
lichen Stand.
Jch hoffe, Herr Hickmann, ſie werden ihn ſo
befinden.
Jch zweifele nicht daran, mein Herr: und
darf wohl ſagen, daß ſie ihn eben ſo befinden
wuͤrden, wenn ſie die Fraͤulein Harlowe be-
kommen ſollten.
Wenn ich mit irgend einer Perſon in dem-
ſelben gluͤcklich ſeyn koͤnnte: ſo wuͤrde es mit der
Fraͤulein Harlowe ſeyn.
Jch verwundere mich ſehr, mein Herr! ‒ ‒
So denken ſie denn, nach dem allen, die Fraͤulein
Harlowe nicht zu heyrathen! ‒ ‒ Nach der har-
ten Begegnung ‒ ‒
Was fuͤr harte Begegnung, Herr Hickmann?
Jch zweifele nicht, daß eine Fraͤulein von ihrer
Bedenklichkeit dasjenige ſo hart vorgeſtellet
habe, was andern nur Kleinigkeiten ſcheinen
wuͤrde.
Wo
[411]
Wo das, was mir zu verſtehen gegeben iſt,
mein Herr ‒ ‒ Verzeihen ſie mir ‒ ‒ der
Fraͤulein geboten worden: ſo hat ſie ſich uͤber et-
was mehr, als uͤber Kleinigkeiten, zu beklagen.
Laſſen ſie mich wiſſen, Herr Hickmann, was
ſie gehoͤret haben. Jch will getreulich auf die
Klagen antworten.
Sie wiſſen am beſten, mein Herr, was ſie
gethan haben. Sie geſtehen ſelbſt, daß die Fraͤu-
lein ſo wohl die am meiſten beleidigte, als am
meiſten wohlverdiente Perſon von ihrem
Geſchlechte ſey.
Das iſt wahr, mein Herr. Dennoch aber
wuͤrde es mir lieb ſeyn, zu erfahren, was ſie ge-
hoͤret haben. Denn davon haͤngt vielleicht mei-
ne Antwort auf die Fragen ab, welche mir die
Fraͤulein Howe durch ſie vorleget.
Wohlan denn, mein Herr, weil ſie darnach
fragen: ſo koͤnnen ſie nicht uͤbel nehmen, wenn
ich ihnen antworte. ‒ ‒ Zuerſt, mein Herr, wer-
den ſie geſtehen, vermuthe ich, daß ſie der Fraͤu-
lein Harlowe die Ehe verſprochen haben, und al-
les das.
Und ich vermuthe, mein Herr, ſie werden
mir vorzuwerfen haben, daß ich alles das ohne
die Ehe zu haben gewuͤnſchet.
Ey, mein Herr, ich weiß, daß ſie als witzig
geruͤhmet werden: aber darf ich nicht fragen, ob
dieſe Dinge ſie nicht allzu wenig anfechten?
Wenn etwas geſchehen iſt und nicht zu aͤn-
dern ſteht: ſo iſt es billig, ſich darein ſo gut, als
moͤglich,
[412]
moͤglich, zu ſchicken. Jch wuͤnſchte nur, daß die
Fraͤulein auch ſo denken moͤchte.
Jch bin der Meynung, man ſollte keine
Frauenzimmer hinters Licht fuͤhren. Jch denke,
ein Verſprechen, das einem Frauenzimmer ge-
ſchehen iſt, ſollte wenigſtens eben ſo ſehr binden,
als das, was einer andern Perſon gegeben
worden.
Jch glaube, daß ſie ſo denken, Herr Hick-
mann: und glaube, daß ſie ein recht guter ehr-
licher Mann ſind.
Jch wuͤrde mein Wort allezeit halten, mein
Herr, es moͤchte einer Mannsperſon, oder einem
Frauenzimmer gegeben ſeyn.
Sie reden ſehr gut. Es ſey fern von mir,
ſie anders zu bereden. Allein was haben ſie wei-
ter gehoͤrt?
Du wirſt leicht denken, Bruder, daß ich ſehr
begierig ſeyn mußte, zu erfahren, wie meine kuͤnf-
tige Gemahlinn der Fraͤulein Howe die Sache
vorgeſtellt, und wie weit die Fraͤulein Howe ſie
dem Herrn Hickmann eroͤffnet haͤtte.
Mein Herr, dieß gehoͤrt nicht zu meinem ge-
genwaͤrtigen Zweck.
Aber, Herr Hickmann, es gehoͤrt zu meinem
Zweck. Jch hoffe, ſie werden nicht erwarten,
daß ich ihnen ihre Fragen beantworten ſollte,
wenn ſie eben zu der Zeit meine nicht beantwor-
ten wollen. Was, erlauben ſie mir, haben ſie
weiter gehoͤrt?
Wenn
[413]
Wenn ich es dann ſagen muß, mein Herr:
ſo habe ich gehoͤrt, daß die Fraͤulein Harlowe zu
einem ſehr argen Hauſe gebracht ſey.
Es iſt wahr, die Leute ſind nicht ſo gut aus-
gefallen, als ſie haͤtten ſeyn ſollen ‒ ‒ Was ha-
ben ſie ferner gehoͤrt?
Jch habe gehoͤrt, mein Herr, daß man ſich
wunderlicher Vortheile, ſehr ungebuͤhrlicher
Vortheile, gegen die Fraͤulein bedienet habe: al-
lein worinn ſie beſtanden, kann ich nicht ſagen.
Koͤnnen ſie es nicht ſagen? Koͤnnen ſie es
nicht muthmaßen? So will ich es ihnen denn
ſagen, mein Herr. Vielleicht iſt einige Frey-
heit gegen ſie gebraucht, als ſie im Schlafe gele-
gen. Denken ſie, daß man ſich niemals eines
ſolchen Vortheils uͤber ein Frauenzimmer bedie-
net habe? ‒ ‒ Sie wiſſen, Herr Hickmann, daß
die Frauenzimmer ſich ſehr ſcheuen, ſich auch den
ſittſamſten Mannsperſonen anzuvertrauen, wenn
ſie geneigt ſind, zu ſchlafen. Warum das: wo-
fern ſie nicht daͤchten, daß man ſich, zu ſolchen
Zeiten, einiger Vortheile uͤber ſie bedienen
moͤchte?
Allein, mein Herr, war der Fraͤulein nichts
eingegeben zu ſchlafen?
Das iſt die Frage, Herr Hickmann. Jch
moͤchte gern wiſſen, ob die Fraͤulein das ſage?
Jch habe nicht alles geſehen, was ſie geſchrie-
ben hat. Aber ſo viel ich gehoͤrt habe, iſt es eine
ſehr ſcheusliche Sache ‒ ‒ Verzeihen ſie mir,
mein Herr.
Jch
[414]
Jch verzeihe ihnen, Herr Hickmann, Allein,
geſetzt, es waͤre ſo: denken ſie denn, daß niemals
ein Frauenzimmer durch Wein, oder dergleichen,
beruͤckt ſey? ‒ ‒ Denken ſie, daß die vorſichtig-
ſte Weibsperſon von der Welt nicht durch ein
ſtaͤrkeres Getraͤnke, ſtatt eines ſchwaͤchern, wenn
ſie durſtig geweſen, nach einer Ermuͤdung bey die-
ſem ſehr heißen Wetter, betrogen werden koͤnnte?
Und denken ſie, daß, wenn ſie auf die Art in ei-
nen tiefen Schlaf gefallen, ſie das einzige Frauen-
zimmer ſey, bey dem man ſich eines ſolchen Vor-
theils bedient habe?
Auch ſo, wie ſie es vorſtellen, Herr Lovelace,
iſt die Sache nicht geringe. Aber ich beſorge,
daß ſie um ein großes ſchwerer ſey, als ſie dieſel-
be machen.
Was haben ſie fuͤr Urſache, mein Herr, dieß
zu beſorgen? Was hat die Fraͤulein geſagt?
Haben ſie die Guͤte, es mir zu eroͤffnen. Jch
habe Urſache, ſo ernſtlich darauf zu dringen.
Die Fraͤulein Howe weiß noch ſelbſt nicht
alles, mein Herr. Die Fraͤulein verſpricht, ihr
zu gelegner Zeit, wo ſie lebet, alle Umſtaͤnde zu
melden: aber ſie hat ſchon genug geſagt, zu bewei-
ſen, daß es eine ſehr arge Sache ſey.
Es iſt mir lieb, daß die Fraͤulein Harlowe
noch nicht von allen Umſtaͤnden genaue Nach-
richt gegeben hat. Weil ſie es nicht gethan: ſo
koͤnnen ſie der Fraͤulein Howe von mir vermel-
den, daß weder ſie, noch irgend ein Frauenzim-
mer auf der Welt, tugendhafter ſeyn kann, als
die
[415]
die Fraͤulein Harlowe, ihrem Gemuͤthe nach, bis
auf dieſe Stunde iſt. Vermelden ſie ihr, daß
ich hoffe, ſie werde niemals die eigentlichen Um-
ſtaͤnde wiſſen wollen; aber daß der Fraͤulein
ungebuͤhrlich begegnet ſey. Vermelden ſie ihr,
daß, ob ich gleich nicht weiß, was ihre Freundinn
geſchrieben hat, ich doch eine ſolche Meynung
von ihrer Liebe zur Wahrheit habe, daß ich blind-
lings fuͤr die Wahrheit eines jeden Tittels da-
von unterſchreiben wollte, wenn es mich auch noch
ſo ſchwarz vorſtellen ſollte. Vermelden ſie ihr,
daß ich nur drey Dinge an ihr zu tadeln habe.
Das eine, daß ſie mir nicht Gelegenheit geben
will, das Unrecht, welches ihr geſchehen iſt, wie-
der gut zu machen: das zweyte, daß ſie ſo be-
reit iſt, einem jeden wiſſen zu laſſen, was ſie ge-
litten hat, daß dieß mir die Gewalt benehmen
wird, mit einem leidlichen Rufe fuͤr uns beyde,
das Uebel, welches ſie erduldet hat, wieder zu er-
ſetzen. Wird dieſes etwas von der Abſicht er-
fuͤllen, Herr Hickmann, wozu dieſer Beſuch die-
nen ſoll?
Dieß, geſtehe ich, mein Herr, heißt ſo gere-
det, als ein Mann, der auf ſeine Ehre haͤlt, re-
den muß. Aber ſie ſagen, es ſey noch ein drit-
tes, das ſie an der Fraͤulein tadeln. Darf ich
fragen, was dieß ſey?
Jch weiß nicht, mein Herr, ob ich es ihnen
ſagen ſoll, oder nicht. Vielleicht werden ſie es
nicht glauben, wenn ich es ſage. Allein wenn
die Fraͤulein gleich die Wahrheit, und nichts
als
[416]
als die Wahrheit melden wird: ſo wird ſie doch
nicht die ganze Wahrheit berichten.
Erlauben ſie, mein Herr ‒ ‒ Jedoch es mag
ſich vielleicht nicht ſchicken. ‒ ‒ Jnzwiſchen ma-
chen ſie mich ſehr begierig: es iſt doch gewiß kein
Vergehen in der Auffuͤhrung der Fraͤulein. Jch
hoffe, es iſt kein Vergehen darinn. Jch bin
verſichert, wenn die Fraͤulein Howe ſie nicht in
allen Stuͤcken fuͤr untadelhaft hielte, ſo wuͤrde
ſie ſich ihres Beſten nicht ſo ſehr annehmen, als
ſie thut, ſo herzlich ſie auch dieſelbe liebet.
Jch liebe die Fraͤulein zu ſehr, Herr Hick-
mann, daß ich wuͤnſchen ſollte, die gute Meynung
der Fraͤulein Howe von ihr zu verringern, ſon-
derlich da ſie von allen andern Freunden verlaſſen
iſt. Aber vielleicht wuͤrde es ſchwerlich Glauben
finden: wenn ich es ſagen ſollte.
Es ſollte mir ſehr leid ſeyn, und es wuͤrde
auch der Fraͤulein Howe leid ſeyn, wenn die ar-
me Fraͤulein ſich durch ihre Auffuͤhrung die Noth-
wendigkeit auſgelegt haͤtte, ihnen fuͤr dieſe Ver-
ſchwiegenheit verbunden zu ſeyn. ‒ Sie haben
ſo viel von einem rechtſchaffenen Cavallier an
ſich, und ſtehen durch ihre Familie und Guͤter in
ſo großem Anſehen, daß ich ſie nicht dazu aufge-
legt halte, einem jungen Frauenzimmer, wie dieß
iſt, etwas aufzubuͤrden, damit ſie ſich nur den
Vorwurf erleichtern moͤchten. ‒ ‒ Verzeihen ſie
mir, mein Herr.
Jch thue, ich thue es, Herr Hickmann. Sie
ſagen ja, ſie ſind nicht mit irgend einer Abſicht,
mich
[417]
mich zu beleidigen hierher gekommen. Jch neh-
me mir Freyheiten, und geſtatte ſie auch wieder.
‒ ‒ ‒ Jch wollte ſehr ungern etwas ſagen, ich
wiederhole es noch einmal, das die gute Mey-
nung von der Fraͤulein Harlowe bey der einzigen
Freundinn, die ſie uͤbrig zu haben denket, ſchwaͤ-
chen koͤnnte.
Es mag ſich etwa nicht ſchicken, antwortete
er, daß ich um das dritte Stuͤck, welches ſie ge-
gen die ungluͤckliche Fraͤulein haben, wiſſe: al-
lein ich habe niemals jemand, von ihrer eignen
unverſoͤhnlichen Familie, gehoͤrt, der an ihrer Eh-
re den geringſten Zweifel gehabt haͤtte. Fraͤu-
lein Howe ſagte in der That einmal, nach einer
Unterredung mit einem von ihren Onkeln, daß
ſie beſorgte, es waͤre nicht alles, wie es ſeyn ſollte,
an ihrer Seite ‒ ‒ Aber ſonſt habe ich niemals
gehoͤrt ‒ ‒
Ey, mein Herr, ſprach ich in einem hitzigen
Tone und mit einer aufgebrachten Miene, und
kam ihm ſo nahe auf den Hals, daß er ſtutzig zu-
ruͤcke trat! ‒ ‒ Es iſt beynahe eine Gott slaͤſte-
rung, wider die Ehre der Fraͤulein einen Zweifel
zu erregen. Sie iſt reiner, als eine veſtaliſche
Jungfrau: denn die veſtaliſchen Jungfrauen ha-
ben ſich oft an ihrem eignen Feuer gewaͤrmet.
Keine Zeit, von Anfange bis itzo, hat jemals ein
junges Frauenzimmer in der ſchoͤnſten Bluͤte
hervorgebracht, und keine kuͤnftige Zeit, bis an
das Ende der Welt, unterſtehe ich mich zu be-
haupten, wird jemals eines hervorbringen, das
Sechſter Theil. D dſo
[418]
ſo verſuchet waͤre, als ſie verſuchet iſt, und alle
Proben ſo ausgehalten haͤtte, wie ſie gethan hat
‒ ‒ Jch muß ihnen ſagen, mein Herr, daß ich
niemals noch ein ſolches Frauenzimmer geſehen,
oder gekannt, oder nur davon gehoͤret habe, als
die Fraͤulein Harlowe iſt.
Mein Herr, mein Herr, ich bitte ſie um
Verzeihung. Es ſey ferne von mir, etwas an
der Fraͤulein auszuſetzen. Sie haben nicht ein
Wort von mir gehoͤret, das ſo ausgeleget werden
koͤnnte. Jch habe die aͤußerſte Hochachtung fuͤr
ſie. Fraͤulein Howe liebt ſie, als ihre eigne See-
le: und das wuͤrde ſie nicht thun, wenn ſie nicht
gewiß wuͤßte, daß ſie eben ſo tugendhaft waͤre,
als ſie ſelbſt.
Als ſie ſelbſt, mein Herr! ‒ ‒ Jch habe
eine hohe Meynung von der Fraͤulein Howe ‒ ‒
Aber ich darf wohl ſagen ‒ ‒
Was duͤrfen ſie von der Fraͤulein Howe ſa-
gen, mein Herr? ‒ ‒ Jch hoffe, ſie werden ſich
nicht unterſtehen, etwas zum Nachtheil der Fraͤu-
lein Howe zu ſagen!
Unterſtehen, Herr Hickmann! ‒ ‒ Das
iſt eine Sprache, wobey man ſich zu viel unter-
ſtehet!
Die Veranlaſſung dazu, Herr Lovelace, wo
ſie mit Vorſatz gegeben iſt, iſt ſo beſchaffen, daß
man ſich dabey zu viel unterſtehet, erlauben ſie
‒ ‒ Jch bin nicht der Mann, mein Herr, der
alles uͤbel nimmt ‒ ‒ ſonderlich, wo ich als eine
Mittelsperſon gebraucht werde. Allein keine
lebendige
[419]
lebendige Seele ſoll, vor meinen Ohren, etwas
zur Verkleinerung der Fraͤulein Howe ſagen, oh-
ne daß ich mich daruͤber regen ſollte.
Wohl geredet, Herr Hickmann. Jhre Hi-
tze, bey einer ſolchen vermeynten Veranlaſſung,
misfaͤllt mir nicht. Was ich aber ſagen wollte,
iſt dieſes, daß nach meiner Meynung keine
Frauensperſon in der Welt iſt, die ſich mit der
Fraͤulein Clariſſa Harlowe vergleichen ſollte, bis
ſie ihre Proben ausgeſtanden, und ſich bey und
nach denſelben ſo gehalten haͤtte, als ſie gethan
hat. Sie ſehen, mein Herr, ich rede gegen mich
ſelbſt. Sie ſehen, ich thue es. Denn fuͤr ſo
einen Freygeiſt in der Lebensart man mich auch
haͤlt: ſo werde ich doch niemals die Regeln von
dem, was recht und unrecht iſt, meinen Handlun-
gen unterwuͤrfig machen.
Das iſt recht, mein Herr. Das iſt wirklich
edelmuͤthig, will ich ſagen. Aber es iſt Scha-
de ‒ ‒ verzeihen ſie mir, mein Herr ‒ ‒ es iſt
Schade, daß ein Mann, der einen ſo feinen Aus-
ſpruch thun kann, auch ſeine Handlungen dem-
ſelben nicht gemaͤß einrichten will.
Das iſt eine andere Sache, Herr Hickmann.
Wir fehlen alle in einigen Stuͤcken. Jch wuͤn-
ſche nicht, daß die Fraͤulein Howe ſolche Proben
auszuhalten haben ſollte: und freue mich, daß
ſie bey einem ſo guten Manne keine ſolche Ge-
fahr laͤuft.
Der arme Hickmann! ‒ ‒ Er ſahe ſo aus,
als wenn er nicht wuͤßte, ob ich ihm eine
D d 2Hoͤf-
[420]
Hoͤflichkeit vorſagte, oder mich uͤber ihn auf-
hielte.
Allein, fuhr ich fort, weil ich finde, daß ich
ſie neubegierig gemacht habe: ſo bin ich geneigt,
damit ſie nicht mit einem Zweifel, der dem be-
wundernswuͤrdigſten Frauenzimmer nachtheilig
ſeyn koͤnnte, von mir weggehen moͤgen, ihnen ei-
nigermaßen zu verſtehen zu geben, was ich fuͤrs
dritte an ihr zu tadeln habe.
Wie es ihnen beliebt, mein Herr ‒ ‒ Es
mag ſich vielleicht nicht ſchicken ‒ ‒
Es kann ſich eben nicht ſehr uͤbel ſchicken,
Herr Hickmann. ‒ ‒ Erlauben ſie mir alſo zu
fragen: Was wuͤrde Fraͤulein Howe denken,
wenn ihre Freundinn um deſto mehr wider mich
eingenommen iſt, weil ſie denkt; aus Rache ge-
gen mich, das glaube ich; ſich einem andern Lieb-
haber dadurch gefaͤlliger zu machen?
Wie, mein Herr! Gewiß, das kann nicht
ſeyn! ‒ ‒ Jch kann ihnen ſagen, wenn Fraͤulein
Howe dieß gedaͤchte, ſo wuͤrde ſie es im gering-
ſten nicht billigen. Denn ſo wenig ſie auch, mein
Herr, der Fraͤulein Howe zu gefallen glauben;
und ſo wenig ſie ihre Handlungen an ihrer Freun-
dinn billiget: ſo, weiß ich, iſt ſie doch der Mey-
nung, daß ſie keinen Menſchen anders, als ſie,
nehmen muͤßte, und wo ſie ihre Frau nicht wird,
ihr Lebelang unverheyrathet bleiben ſollte.
Rache und Eigenſinn, Herr Hickmann, wer-
den Frauenzimmern, auch den beſten unter ihnen,
Anlaß geben, ſehr unbegreifliche Dinge zu unter-
nehmen.
[421]
nehmen. ‒ ‒ Sie werden lieber eines von ihren
eignen Augen hingeben, als daß ſie dem Manne,
der ſie beleidigt hat, dieſelben nicht beyde ausreiſ-
ſen ſollten.
Jch weiß nicht, was ich hierzu ſagen ſoll,
mein Herr: allein, gewiß, ſie kann ſich keiner an-
dern Perſon gefaͤllig zu machen ſuchen! ‒ ‒
Noch dazu, ſo bald ‒ ‒ Sie iſt ja, wie wir hoͤ-
ren, ſo krank und ſo ſchwach ‒ ‒
Nicht ſchwach in ihrem Unwillen, will ich ſie
verſichern. Jch weiß ſehr wohl um alle ihre
Anſchlaͤge ‒ ‒ und ich ſage ihnen, ſie moͤgen es
glauben, oder nicht, daß ſie in Abſicht auf einen
andern Liebhaber mich ausſchlaͤgt.
Kann es moͤglich ſeyn?
Es iſt wahr, bey meiner Seele! ‒ ‒ Den-
ken ſie, daß ſie dieß der Fraͤulein Howe nicht zu
verſtehen gegeben habe?
Das hat ſie in der That nicht gethan. Waͤ-
re es geſchehen: ſo wuͤrde ich ſie itzo, im Namen
der Fraͤulein Howe, nicht bemuͤhet haben.
Sie ſehen alſo, daß ich recht habe. Ob ſie
ſich gleich keiner Unwahrheit ſchuldig machen
kann: ſo hat ſie doch ihrer Freundinn nicht die
ganze Wahrheit bekannt.
Was ſoll man zu dieſen Dingen ſagen! ‒ ‒
Er ſahe ganz erſtaunlich verwirrt aus.
Sagen, ſagen, Herr Hickmann! ‒ ‒ Wer
kann von den Unternehmungen und Maßregeln
eines zornigen und beleidigten Frauenzimmers
Rede und Antwort geben? Die Hiſtorien wuͤr-
D d 3den
[422]
den ohne Ende ſeyn, die ich ihnen aus meiner
eignen Wiſſenſchaft von den ſchrecklichen Wir-
kungen eines zornigen Unwillens bey Weibsper-
ſonen erzaͤhlen koͤnnte. Ohne Ende koͤnnte ich
ihnen erzaͤhlen, was ſie unternehmen werden,
wenn ſie ſich in ihrer Hoffnung betrogen finden.
Aber kann ein ſtaͤrkeres Beyſpiel ſeyn, als dieß
iſt: von einer ſolchen Perſon, als Fraͤulein Har-
lowe, die eben itzo, ſo krank ſie auch iſt, nicht al-
lein einem der verhaßteſten Ungeheure, die man
jemals geſehen hat, ſich gefaͤllig zu machen ſu-
chet, ſondern ſo gar gewiſſermaßen um ſeine Liebe
wirbet? Jch denke, der Fraͤulein Howe ſollte
man dieß nicht ſagen. Jedoch muß ſie es billig
wiſſen, damit ſie ihr eine ſo unzeitige Uebereilung
widerrathe.
O! pfuy! Das iſt etwas unerhoͤrtes! Die
Fraͤulein Howe weiß nichts davon! Gewiß ſie
wuͤrde ſie nicht einmal anſehen, wo dieß wahr
iſt.
Es iſt wahr, vollkommen wahr, Herr Hick-
mann! So wahr, als ich hier bin und es ihnen
ſage! ‒ ‒ Und dazu iſt es ein garſtiger Kerl:
garſtiger anzuſehen, als ich.
Als ſie, mein Herr! Ey, in Wahrheit, ſie
ſind einer von den artigſten Mannsperſonen in
England.
Es mag ſeyn: aber der Elende, den ſie mir
ſo boshaftig vorziehet, iſt ein ungeſtalter, mage-
rer Kerl; mehr einem Gerippe, als einem Men-
ſchen aͤhnlich! Außer dem kleidet er ſich ‒ ‒
Sie
[423]
Sie haben niemals einen Teufel in einem ſo ver-
zweifelten Aufzuge geſehen! Kaum hat er einen
Rock fuͤr ſeinen Leib, und einen Schuh fuͤr ſeinen
Fuß. Ein kahlkoͤpfichter Lumpenhund! Und
doch kann er ſich nicht uͤberwinden, eine Perucke
zu kaufen, damit er ſeinen kahlen Kopf verberge.
Denn er iſt ſo begierig, als die Hoͤlle: niemals
zufrieden; und doch gewaltig reich.
Ey, mein Herr, es iſt gewiß etwas Scherz
hierbey. Ein Mann von gemeinen Gaben weiß
nicht, wie er ſich in einem ſolchen Cavallier fin-
den ſoll, als ſie ſind. Allein, mein Herr, wo et-
was wahres an der Erzaͤhlung iſt: was iſt es denn
fuͤr ein Menſch? Etwa ein Jude, oder ein filzich-
ter Buͤrger, vermuthe ich, der ſich wegen der be-
druckten Umſtaͤnde der Fraͤulein etwas herausge-
nommen haben mag: und ihr lebhafter Witz
giebt ihm eine Bildung, wie es ihnen geſaͤllig iſt.
Wahrlich, der Nichtswuͤrdige hat in allen
Grafſchaften in England, und auch außer Eng-
land, Guͤter.
Etwa ein oſtindiſcher Staathalter, vermuthe
ich, wo etwas daran iſt. Die Fraͤulein war
einmal auf die Gedanken gerathen, weit in die
Fremde zu gehen. Aber ich bilde mir ein, mein
Herr, ſie haben alle dieſe Zeit uͤber geſcherzt.
Waͤre das nicht: ſo muͤßten wir gewiß von ihm
gehoͤret haben ‒ ‒
Von ihm gehoͤrt! Ja, mein Herr, wir haben
alle von ihm gehoͤret ‒ ‒ Aber keiner von uns
hat Luſt, ſich ihn zum Vertrauten zu machen ‒ ‒
D d 4aus-
[424]
ausgenommen dieſe Fraͤulein ‒ ‒ und zwar, wie
ich ihnen geſagt habe, mir zum Trotze ‒ ‒ Sein
Name, mit einem Worte, iſt Tod! ‒ ‒ Tod,
mein Herr, ſagte ich noch einmal, ſtampfte mit
den Fuͤßen dazu und redete ſo laut, daß ihm die
Ohren gellen mochten. Er ſprang daruͤber auch
eine halbe Elle in die Hoͤhe.
Du haſt wohl niemals einen Menſchen ſo
verſtoͤrt geſehen. Er ſahe recht ſo aus, als wenn
das ſchreckliche Gerippe ſchon vor ihm ſtuͤnde,
und er ſeine Rechnungen noch nicht in Bereit-
ſchaft haͤtte. Nachdem er ein wenig wieder zu
ſich gekommen war: ſpielte er mit ſeinen Knoͤ-
pfen an der Weſte, als wenn er ſeinen Roſenkranz
hergebetet haͤtte.
Dieß, mein Herr, fuhr ich fort, iſt ihr Frey-
er! ‒ ‒ Ja ſie iſt ein ſo vorwitziges Maͤgdchen,
daß ſie um ihn freyet. Allein ich hoffe, es
wird niemals ein Paar werden.
Er hatte ſich ſchon vorher hitziger bewieſen,
und ſahe nun auch hitziger aus, als ich von ihm
vermuhete.
Jch bin hierher gekommen, mein Herr, ſprach
er, Mishelligkeiten zu vermitteln. Es geziemet
mir, ein geſetztes Gemuͤth zu behalten. Aber,
mein Herr ‒ ‒ dabey ging er mir nahe auf den
Hals ‒ ‒ ſo ſehr ich auch Frieden liebe, und ihn
zu befoͤrdern ſuche, will ich mir doch nicht uͤbel
begegnen laſſen.
Da ich mein Spiel ſo weit mit ihm getrie-
ben hatte: ſo wuͤrde es unrecht geweſen ſeyn, ihn
bey
[425]
bey dieſer, mehr als halben, Drohung zu faſſen.
Jedoch bin ich ihm, nach meinen Gedanken, ei-
nen heimlichen Groll ſchuldig: weil er ſich unter-
ſteht, um die Fraͤulein Howe zu werben.
Sie gedenken mich nicht herauszufordern,
vermuthe ich, Herr Hickmann, ſo wenig, als ich,
ſie zu beleidigen. Jn der Vermuthung bitte ich
ſie um Entſchuldigung. Es iſt meine Weiſe ſo.
Jch meyne es nicht boͤſe. Jch kann den Kum-
mer mein Herz nicht angreiffen laſſen. Jch kann
nicht ſechs Minuten nach einander ernſthaft ſeyn,
wenn es auch mein Blut koſten ſollte. Jch bin
ein Abkoͤmmling, glaube ich, von dem alten
Kanzler More: und wuͤrde mich nicht enthalten
koͤnnen, noch einen Spaß zu machen, wenn ich
ſchon auf dem Geruͤſte waͤre, den Kopf herzuge-
ben. Allein ſie koͤnnen aus dem, was ich geſagt
habe, abnehmen, daß ich die Fraͤulein Harlowe,
und zwar aus den richtigſten Gruͤnden, allen
Frauenzimmern in der Welt vorziehe. Und ich
wundere mich, daß nach dem, was ich unterſchrie-
ben, und was ich meinen Verwandten verſpro-
chen, und was ich ihnen fuͤr mich zu verſprechen
Vollmacht gegeben habe, noch eine Schwierig-
keit vorhanden ſeyn ſollte, zu glauben, daß ich
dieſe unvergleichliche Fraͤulein gern, auf ihr ſelbſt
beliebige Bedingungen, heyrathen wuͤrde. Jch
geſtehe ihnen, Herr Hickmann, daß ich ſie ſchaͤnd-
lich beleidiget habe. Wo ſie mich mit ihrer Hand
beehren will: ſo erklaͤre ich mich, daß ich geſon-
nen bin, mich als den beſten Ehemann zu bewei-
D d 5ſen.
[426]
ſen. Nichts deſto weniger muß ich ſagen, daß,
wo ſie ſortfaͤhret, ihre Begebenheit bey allen an-
zubringen, und uns beyde unguͤtigen Urtheilen
auszuſetzen, wie ſie thut, es unmoͤglich ſey, mit
Ehren fuͤr ſie, oder fuͤr mich, das Band zu
knuͤpfen. Und ob ich gleich meine Furcht fuͤr
ihr Leben unter einem ſo kurzweiligen Bilde vor-
geſtellt habe: ſo bin ich doch wirklich beſorgt, Hr.
Hickmann, daß ſie ihre Natur verderben, und
ſich, weil ſie den Tod ſuchet, da ſie ihn vermeiden
kann, außer Stande ſetzen werde, ihm zu entge-
hen, wenn ſie es gern wollte.
Dieſe geſetzte und ehrliche Sprache brachte
ſeine ſteife Muskeln wieder nieder, daß er ganz
hoͤflich und gefaͤllig ausſahe. Er war mein gehor-
ſamſter und aufrichtig unterthaͤniger Diener ein-
mal uͤber das andere, wie ich ihn an ſeinen Wa-
gen begleitete: und ich ſeiner beynahe eben ſo oft.
So tritt Hickmann ab.
Der vier und funfzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
Eine Antwort auf den XLVII. LI.
und LII. Brief.
Jch will einige Zeilen uͤber den Jnhalt von
deinen letzten aͤrgerlichen Briefen, die mir
eben
[427]
eben gebracht ſind, wegſchleudern, und, was ich
ſchreiben werde, durch eben den Bothen abſen-
den, der meinen Brief von meiner Zuſammen-
kunft mit Hickmann uͤberbringet.
Die Beſſerung, ſehe ich, uͤbereilt dich ſehr.
Deines Onkels langſamer Tod, und deine Auf-
wartung bey ihm, durch alle Stationen zu dem-
ſelben, hat dich dazu vorbereitet. Allein mache
du es nach deiner eignen Weiſe, wie ich es nach
meiner machen will. Die Gluͤckſeligkeit beſteht
darinn, daß uns wohl gefaͤllt, was wir thun: und
kannſt du ein Vergnuͤgen darinn finden, daß du
traurig biſt; ſo wird es eben ſo gut fuͤr dich
ſeyn, als wenn du froͤhlich waͤreſt, wenn dir auch
gleich niemand darinn Geſellſchaft leiſten ſollte.
Jch bin, inzwiſchen, doch ausnehmend unru-
hig bey der ſchlechten Geſundheit der Fraͤulein.
Dieſe ruͤhrt gaͤnzlich von dem verfluchten Ver-
haft her. Sie hatte vorher einen vollkommenen
Sieg uͤber mich und die ganze Rotte. Du haͤltſt
mich fuͤr unſchuldig an demſelben: das, hoffe ich,
wird ſie auch thun ‒ ‒ das Uebrige, wie ich oft
geſagt habe, iſt ein gemeiner Fall, der bloß eini-
ge außerordentliche Umſtaͤnde mit ſich verbunden
hat: das iſt alles. Warum denn alle die har-
ten Vorwuͤrfe von ihr und von dir?
Was die Verkaufung ihrer Kleider, ihrer
Spitzen, und ſo weiter betrifft: ſo klingt das aͤr-
gerlich; ich geſtehe es. Was fuͤr eine unver-
ſoͤhnliche ſo wohl, als ungerechte Bruth von nichts-
wuͤrdigen Geſchoͤpfen ſind ihre unfreundliche
Ver-
[428]
Verwandten, die nicht allein Geld von ihr, ſon-
dern auch reichliche Einkuͤnfte von ihrem eignen
Gute, in Haͤnden haben, und ihr doch beydes
vorenthalten, offenbar und nach ihrem eig-
nen Geſtaͤndniß bloß in der Abſicht, ſie Noth
leiden zu laſſen! Aber kann ſie von ihrer ſtolzen
und uͤbermuͤthigen Freundinn, der Fraͤulein Ho-
we, nicht Geld bekommen, mehr als ſie gebrau-
chet? ‒ ‒ Und, was meynſt du, wuͤrde es mir nicht
eine herzliche Freude ſeyn, ihr zu dienen? ‒ ‒
Was hat es denn mit der Veraͤußerung ihrer
Kleider anders auf ſich, als daß es ein Eigen-
ſinn iſt, nach Art der Weiber? ‒ ‒ Ja ich
weiß billig nicht, ob ich mich nicht freuen ſoll,
wenn ſie dieß mir zum Trotze thut. ‒ ‒ Man-
che betrogne Schoͤnen haben ſich haͤngen, andre
erſaͤufen wollen. Meine Geliebte raͤchet ſich nur
an ihren Kleidern. Die Leidenſchaften wirken
in verſchiednen Gemuͤthern auf verſchiedne Art:
wie es die Beſchaffenheit der natuͤrlichen Geſin-
nung und des Koͤrpers mit ſich bringet. ‒ ‒ Au-
ßerdem; meynſt du wohl, daß ich unwillig ſeyn
werde, das, was ſie von der Hand ſchlaͤgt, drey-
mal ſo hoch am Werthe wieder zu erſetzen? Alſo
hat dieß nicht viel zu bedeuten, Bruder.
Du ſiehſt, wie ſie durch das liebreiche Zure-
den des feinen Arztes geruͤhret wird. Daraus
wirſt du urtheilen koͤnnen, wie ſchrecklich der
ſcheusliche Verhaft und der Fluch ihres finſtern
Vaters ihr Gemuͤth gekraͤnkt haben muͤſſe. Jch
habe große Hoffnung, wenn ſie mich nur ſehen
will,
[429]
will, daß mein Bezeigen, meine Reue, meine
Liebkoſungen einige gluͤckliche Wirkungen uͤber
ſie haben werden.
Allein du biſt allzu fertig, mich verlohren zu
geben. Jch kann dir im Ernſt ſagen, ſo vor-
treffliche Vorzuͤge ſie auch hat, ſo denke ich den-
noch, daß die ernſtliche Fuͤrbitte meiner Anver-
wandten, die erbetene Vermittelung der kleinen
Furie, der Fraͤulein Howe, und die Unterhand-
lungen, die dir von mir ſelbſt aufgetragen ſind,
ſolche Beweiſe von gefaͤlliger Herablaſſung und
hoher Achtung an ihnen abgeben und eine ſolche
Roue an mir zeigen, daß nichts weiter zu thun
ſtehet. ‒ ‒ So mag denn die Sache itzo hiebey
beruhen, bis ſie dieſelbe beſſer uͤberleget.
Nun noch ein paar Worte von des armen
Beltons Umſtaͤnden. Jch geſtehe, daß mich
anfangs die Untreue ſeiner Thomaſine ſtutzig
machte: da ihre Verſtellung ſo viele Jahre uͤber
nicht entdecket war ‒ ‒ Jch habe noch ganz neu-
lich einige Nachrichten von ihrer Bosheit be-
kommen, und war willens, dir davon zu ſagen,
wenn ich dich ſehen wuͤrde. Die Wahrheit zu
ſagen, ich habe ihre Augen allezeit fuͤr verdaͤch-
tig gehalten. Das Auge, weißt du, iſt das
Fenſter, wodurch das Herz herauskuckt. Man-
ches Weib, das ſich nicht vor der Thuͤr zeigen
will, hat an dem Fenſter den ſchlauen, den ver-
ſtaͤndlichen Wink mit dem Auge gegeben.
Aber Thoms hat gar keine ordentliche Haus-
haltung gefuͤhrt. Ein recht nachlaͤßiger Bruder.
Er
[430]
Er hat ſich niemals um ſeine eigne Sachen be-
kuͤmmern wollen. Das Gut, welches ihm ſein
Onkel gelaſſen hat, iſt ſein Verderben geweſen.
Es mochte ſeyn, wer es wollte, Weib oder Mai-
treſſe, eine mußte ſein Vermoͤgen zum Spiel ge-
habt haben.
Jch habe ihm oft einen Wink von ſeinen
Schwachheiten in dieſem Stuͤcke gegeben: und
von der Gefahr, die er liefe, argliſtigen Leuten
zum Raube zu werden. Aber es war ihm zu-
wider, ſich zu bemuͤhen. Er wollte allemal von
ſeinen Rechnungen laufen: wie er nun, armer
Schelm! gern von ſich ſelbſt entlaufen moͤchte.
Haͤtte er keine Weibsperſon gehabt, ihn zu ru-
pfen: ſo wuͤrde ſein Kutſcher oder Diener ſein
oberſter Rath uͤber ſeine Sachen geweſen ſeyn,
und es eben ſo gut gethan haben.
Gleichwohl habe ich viele Jahre herdurch
gedacht, daß ſie ſeinem Bette getreu waͤre. We-
nigſtens dachte ich, die Jungen waͤren von ihm.
Denn ob ſie gleich ſtark von Muskeln und Kno-
chen ſind: ſo vermuthete ich doch, die geſunde
Mutter moͤchte ſie mit den Gliedern und Schul-
tern verſehen haben. Sie iſt nicht von einem
zarten Bau. Außerdem ſahe und redete Thoms
vor einigen Jahren noch mehr wie ein Mann,
als er auf die letzte gethan hat, da er ſeit einiger
Zeit hohl und in ſich redet, armer Schelm! weil
ihm die Luftroͤhre zuſammen gefallen iſt; und
von der halb weggeſpienen Lunge keichet.
Er beklagt ſich, ſchreibſt du, daß wir alle von
ihm laufen. Jn Wahrheit, Belford, es iſt kein
Ver-
[431]
Vergnuͤgen, einen armen Kerl, den man liebt,
an einem Theil nach dem andern ſterben zu ſe-
hen, und ihm nicht helfen zu koͤnnen. Es giebt
Freundſchaften, die nur ſo tief als das Glas
gehen. Jch moͤchte nicht gern von mir denken
laſſen, daß meine Freundſchaft gegen irgend ei-
nen von meinen Vaſallen von dieſer Art ſey.
Jedoch wird bey froͤhlichen Herzen, die nur darum
vertraut geworden, weil ſie froͤhlich gewe-
ſen, wenn der Grund zu ihrer erſten Vertrau-
lichkeit wegfaͤllt, auch die Freundſchaft ſelbſt ver-
gehen: ich meyne eine ſolche Freundſchaft, die
man eigentlicher durch das Wort Mitgeſell-
ſchaft unterſcheiden kann.
Aber meine Freundſchaft, wie ich geſagt ha-
be, geht tiefer. Jch wuͤrde noch eben ſo bereit
ſeyn, als ich jemals in meinem Leben geweſen
bin, ihm nach meinem aͤußerſten Vermoͤgen zu
dienen.
Willſt du ihm, zum Beweiſe dieſer meiner
Bereitwilligkeit, ihm aus allen ſeinen Schwierig-
keiten, in Anſehung Thomaſinens, herauszuhel-
fen, ein Mittel vorſchlagen, das mir eben in den
Sinn gekommen iſt?
Es iſt dieſes. Jch wollte Thomaſine, und
ihre ungeſchickte Jungen, wo Belton gewiß weiß,
daß keiner davon ſein iſt, zu einer Luſtfarth ein-
laden. Sie iſt allezeit hoͤflich gegen mich gewe-
ſen. Es ſollte auf einem Boote ſeyn, das man
zu dem Ende miethen moͤchte, um nach der
Schanze Tilbury auf der Themſe, oder nach der
Juſel
[432]
Jnſel Sheepy zu ſegeln, oder ſich ein Vergnuͤ-
gen auf dem Fluſſe Medway zu machen. Als-
denn duͤrfte man es nur anſtellen, daß das Boot
umſchluͤge. Jch kann ſchwimmen, wie ein Fiſch.
Ein anderes Boot ſollte in Bereitſchaft ſeyn, aus
Fuͤrſorge, wenn es aufs aͤrgſte ausfallen ſollte,
diejenigen aufzufangen, welche ich befehlen wuͤr-
de. Hierauf wird ein Trauerkleid fuͤr alle drey
genug ſeyn: wenn Thoms geneigt iſt, den aͤu-
ßerlichen Wohlſtand zu beobachten. Ja auch
der einem Stallknecht nicht unaͤhnliche Vetter
kann von der Steuerbank ins Waſſer ſtuͤrzen:
und wer weiß, ob ſie nicht beyde, Thomaſine und
er, Hand in Hand, an das Ufer getrieben werden
moͤgen?
Dieß, wirſt du ſagen, iſt keine gemeine
Freundſchaftsprobe.
Unterdeſſen berede du ihn, zu uns herunter
zu kommen. Er iſt mir niemals in ſeinem Leben
willkommener geweſen, als er mir nun ſeyn ſoll.
Wo er nicht will: ſo laß ihn mir Gelegenheit
geben, ihm einen andern Dienſt zu erweiſen. Jch
will alsdenn unverzuͤglich ein paar Fluͤgel an mei-
ne Schultern legen: und er ſoll mich, ſo bald er
nur befiehlt, zu ſeinen Fenſtern hinein fliegen ſe-
hen.
Was deinen Vorſatz, die bisherige Lebensart
zu bereuen, und zu heyrathen, anlanget: ſo ra-
the ich dir nur, zu uͤberlegen, welches von beyden
du zuerſt vornehmen wolleſt. Wo du meinem
Rath folgen willſt: ſo wirſt du bald damit fer-
tig
[433]
tig werden. Laß den Eheſtand an die Stelle
des andern treten, und das erſte ſeyn. Denn ſo
wird, nach der hoͤchſten Wahrſcheinlichkeit, die
Reue, als eine Folge, geſchwind auf dich zurol-
len, und auf die Art wirſt du in einem beydes
zugleich haben.
Der fuͤnf und funfzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Heute fruͤhe ward ich, ſo bald als ich nur mei-
nen Namen hinauf ſagen ließ, zum Be-
ſuch bey der goͤttlichen Fraͤulein angenommen.
Jch kann ſie mit Recht ſo nennen: wie das,
was ich zu erzaͤhlen habe, vollkommen beweiſen
wird.
Sie hatte eine ertraͤgliche Nacht gehabt, und
war weit munterer von Gemuͤth: obgleich ſchwach
in Anſehung des Koͤrpers; und augenſcheinlich,
dem Geſichte nach, in der Abnahme.
Frau Lovick und Frau Smithen waren bey
ihr und machten ihr auf eine liebreiche Art den
Vorwurf, daß ſie ſich, in Betrachtung ihrer
Kraͤfte, allzu fleißig mit ihrer Feder beſchaͤfftiget
haͤtte, indem ſie ſeit fuͤnfen auf geweſen waͤre.
Sie ſagte, ſie haͤtte beſſer geruhet, als ſonſt viele
Sechſter Theil. E eNaͤch-
[434]
Naͤchte. Sie haͤtte ihre Lebensgeiſter frey, und
ihr Gemuͤth ziemlich erleichtert befunden: und
da ihr, wie ſie Urſache haͤtte zu denken, nur noch
eine kurze Zeit, und in derſelben vieles zu thun,
uͤbrig waͤre; ſo muͤßte ſie eine gute Haushaͤlte-
rinn mit ihren Stunden ſeyn.
Sie haͤtte einen Brief an ihre Schweſter
ſchreiben wollen, ſetzte ſie hinzu: aber waͤre ſelbſt
nicht damit zufrieden geweſen; ob ſie gleich zwey
oder dreymal einen Verſuch gethan, und einen
Aufſatz gemacht haͤtte. Jedoch muͤßte der letzte
hingehen.
Nach dem, was ich ihr von Zeit zu Zeit zu
verſtehen gegeben haͤtte, faͤnde ſie Urſache zu ge-
denken, ſprach ſie hierauf, daß ich alles wuͤßte,
was ſie und ihre Familie betraͤffe, und alſo, wo-
fern es an dem waͤre, auch um den ſchweren
Fluch, den ihr Vater auf ſie geleget haͤtte, wiſſen
muͤßte. Dieſer waͤre in einem Theile, in Anſe-
hung der zeitlichen Hoffnung, welche ſie vor ſich
gehabt, auf eine ſchreckliche Art erfuͤllet: und das
in ſehr kurzer Zeit. Aus der Urſache fuͤrchtete
ſie ſich heftig vor dem andern Theil. Daher
haͤtte ſie ſich an ihre Schweſter gewandt, eine
Wiederrufung deſſelben auszuwirken. Jch hoffe,
ſagte ſie, mein Vater wird ihn wiederrufen.
Sonſt wird es ſehr elend um mich ſtehen. ‒ ‒
Dennoch aber ‒ ‒ Hiebey blieb ihr der Othem
vor Furcht zuruͤck, indem ſie redete ‒ ‒ bin ich
geneigt, vor der Antwort, die erfolgen mag, zu
erzit-
[435]
erzittern: denn meine Schweſter hat ein hartes
Herze.
Jch ſagte etwas wider ihre Freunde: in ſo
fern als ich zu erkennen gab, was man nach
Verdienſt von ihnen denken wuͤrde, wenn der
unverdiente Fluch nicht von ihr genommen wer-
den ſollte. ‒ ‒ Dabey faßte ſie mich, und redete
auf eine ſo kindliche Art von ihren Eltern, daß
eben dieß ihnen, wo ſie unverſoͤhnlich bleiben,
fuͤr ihr unmenſchliches Verfahren mit einer ſol-
chen Tochter, eine gedoppelte Verdammniß zu-
wege bringen muß.
Jch muͤßte ihre Eltern nicht tadeln, waren
ihre Worte: das waͤre der Fehler an ihrer lieb-
ſten Fraͤulein Howe. Wie ungeheuer waͤre ihr
Verbrechen, daß es den beſten Eltern, wie ſie ſich
ihr bewieſen haͤtten, bis ſie ihnen misfaͤllig ge-
worden waͤre, einen boͤſen Schein gaͤbe, weil ſie
die Unbeſonnenheit eines Kindes, von deſſen Er-
ziehung ſie mit Recht beſſere Fruͤchte erwarten
koͤnnen, mit Unwillen ahndeten! Es waͤren al-
lerdings einige harte Umſtaͤnde in ihrem Schick-
ſal: aber mein Freund koͤnnte mir ſagen, daß
bey dem ganzen ungluͤcklichen Verlauf der Sa-
che, niemand, als ſie ſelbſt, wider ſeinen Cha-
racter gehandelt haͤtte. Sie unterwuͤrfe ſich da-
her der Strafe, die ſie ſich zugezogen. Haͤtten
jene etwas verſehen: ſo waͤre es dieß einzige, daß
ſie ſich nicht nach einigen Umſtaͤnden, welche ihre
Miſſethat ein wenig verringern wuͤrden, erkundi-
E e 2gen
[436]
gen wollten, und, weil ſie ſie fuͤr ſtrafwuͤrdiger
hielten, als ſie waͤre, ſie ungehoͤrt ſtrafeten.
O Himmel! ‒ ‒ Jch war im Begriff,
dich zu verfluchen, Lovelace! Wie ver-
dammet dich eine jede Probe von der aus-
nehmenden Vortreff lichkeit dieſer ganz vor-
treff lichen Fraͤulein! ‒ ‒ Du wirſt Urſa-
che haben, dich fuͤr den verfluchteſten un-
rer allen Menſchen zu halten, wo ſie ſtir-
bet.
Hierauf bat ich ſie, weil ſie ſo ruhmwuͤrdige
Proben der Großmuth und Vergebung abzule-
gen vermoͤgend waͤre, ihre Guͤte auch uͤber einen
Menſchen gehen zu laſſen, deſſen Herz, in allen
Adern an demſelben, wegen der an ihr veruͤbten
Beleidigungen blutete, und der ſich in ſeinem
ganzen Leben bemuͤhen wollte, ſie wieder gut zu
machen.
Die Weibsleute wollten abtreten: da die
Unterredung auf ſo beſondere Umſtaͤnde fiel. Al-
lein ſie wollte es nicht zulaſſen. Sie vermeldete
mir, daß meine Beſuche ein Ende haben muͤß-
ten: wo ich nach dieſem wieder eine Sache, die
ihr ſo ſehr unangenehm waͤre, ſo ernſtlich beruͤh-
ren wollte. Es waͤre auch nicht noͤthig, fuͤgte ſie
hinzu, daß ich in dieſem Stuͤcke mich als ein
Freund zu eurem Beſten bemuͤhete: weil ſie
ſchon den Anfang gemacht haͤtte, ihre ganze Ge-
ſinnung bey der Sache an Fraͤulein Howe zu
ſchreiben; zur Antwort auf die Briefe, in wel-
chen Fraͤulein Howe, um ſich den Wuͤnſchen eu-
rer
[437]
rer edlen und wuͤrdigen Verwandten gemaͤß zu
bezeigen, eben darauf beſtuͤnde.
Unterdeſſen koͤnnen ſie ihn wiſſen laſſen,
ſprach ſie, daß ich ihn aus Herzens Grunde zu-
ruͤckweiſe ‒ ‒ aber daß ich doch eben dieß, ob
gleich mit einer ſo feſten Entſchließung, die kei-
nen Zweifel uͤbrig laſſen wird, ohne Leidenſchaft
ſage. Vielmehr bemuͤhe ich mich, das melden
ſie ihm, mein Gemuͤth in eine ſolche Verfaſſung
zu ſetzen, daß ich im Stande ſeyn moͤge, Mit-
leiden mit ihm zu haben. Der elende meiney-
dige Menſch! Was hat er nicht zu verantwor-
ten! Ja, ſagen ſie ihm, ich werde mich ſelbſt fuͤr
ungeſchickt zu dem Stande halten, wornach ich
trachte: wo ich ihm, nach einem kurzen und ge-
ringen Streit mit mir ſelbſt, nicht ſo gar verge-
ben kann. Jch hoffe, fuhr ſie fort mit zuſam-
mengeſchlagenen Haͤnden, die ſie, wie ihre Au-
gen, aufhub, ich hoffe, mein lieber irdiſcher Va-
ter wird mir das Beyſpiel geben, was mein
himmliſcher Vater uns allen ſchon gegeben hat,
und, indem er ſeiner gefallenen Tochter vergiebt,
ſie lehren, dem Menſchen zu vergeben, der als-
denn, ich hoffe es, meine ewige Gluͤckſeligkeit,
auf die ich warte, nicht zernichtet haben wird, wie
er mein zeitliches Gluͤck zerſtoͤret hat.
Halte hier inne, du Boͤſewicht! ‒ ‒ Je-
doch ich darf es dir nicht befehlen ‒ ‒
Denn ich kann nicht weiter ſchreiben!
E e 3Der
[438]
Der ſechs und funfzigſte Brief.
Die Fortſetzung
von
Herrn Belford.
Jhr werdet euch leicht vorſtellen koͤnnen, wie
ſehr mich damals ihre edelmuͤthige Rede
und Auffuͤhrung geruͤhret habe: da mich die bloße
Erinnerung und das Aufſchreiben genoͤthigt, mei-
ne Feder fallen zu laſſen. Den Frauensleuten
ſtunden die Thraͤnen in den Augen. Jch ſchwieg
auf einige Augenblicke ſtille ‒ ‒ Endlich rief
ich: Unvergleichliches Muſter aller Vorzuͤge!
Ausbund unnachahmlicher Guͤte! So nannte
ich ſie in einem ſolchen Tone, daß ich mich hald
vor mir ſelbſt ſchaͤmte, weil es vor den Frauens-
perſonen war ‒ ‒ Aber wer konnte einer ſo er-
habenen Großmuth in einem ſo jungen Frauen-
zimmer widerſtehen: da ihr liebenswuͤrdiges We-
ſen allem, was ſie ſagte, Reiz und Anmuth gab?
‒ ‒ Mich deucht, ſprach ich, und bog wirklich,
gewiſſermaßen wider meinen Willen, die Kniee,
mich deucht, ich habe in der That einen Engel
vor mir. Jch kann mich kaum erwehren, vor
ihnen niederzufallen, und um ihren Beyſtand zu
bitten, daß ſie mich zu der Welt, nach der ſie
trachten, nach ſich ziehen! ‒ ‒ Jedoch ‒ ‒
Aber was ſoll ich ſagen? ‒ ‒ Setzen ſie mich
nur
[439]
nur in den Stand, unvergleichliche Fraͤulein, in
einem oder dem andern geringen Falle, ihnen die-
nen zu koͤnnen, damit ich, wofern ich ſie uͤberlebe,
die Ehre und den Ruhm haben moͤge, zu den-
ken, daß ich geſchickt geweſen bin, etwas zu ih-
rem Vergnuͤgen beyzutragen, da ſie unter uns
waren.
Hier brach ich ab. Sie ſchwieg ſtille. Jch
ſuhr fort ‒ ‒ Haben ſie mir nichts aufzutragen,
worinn ſie mich brauchen koͤnnen: da ſie von al-
len ihren Freunden verlaſſen, und unter fremden,
ob gleich, ohne Zweifel, rechtſchaffenen Leuten
ſind? Kann ich ihnen nicht dienen durch ein Ge-
werbe, das ſie mir geben moͤgen, durch Briefe-
ſchreiben, durch perſoͤnliche Aufwartung, entwe-
der mit einem Gewerbe, oder mit einem Briefe,
bey ihrem Vater, ihren Onkeln, ihrem Bruder,
ihrer Schweſter, der Fraͤulein Howe, dem Lord
M. oder den Ladies, ſeinen Schweſtern? Durch
irgend eine Bemuͤhung, darinn ich zu ihrem
Dienſte gebraucht werden koͤnnte, ohne die ge-
ringſte Abſicht auf die Wuͤnſche meines Freun-
des, oder auf meine eigne Wuͤnſche ihm zu die-
nen? Denken ſie, gnaͤdige Fraͤulein, ob ich es
nicht kann?
Jch danke ihnen, mein Herr. Recht herzlich
danke ich ihnen. Allein in keinem Stuͤcke, wor-
an ich itzo gedenken, oder wenigſtens woruͤber ich
mich entſchließen kann, koͤnnen ſie mir dienen.
Jch will ſehen, was fuͤr eine Antwort mir der
E e 4Brief,
[440]
Brief, den ich geſchrieben habe, bringen wird
‒ ‒ Bis dahin ‒ ‒
Mein Leben und mein Vermoͤgen, fiel ich ihr
in die Rede, ſind ganz zu ihren Dienſten. Er-
lauben ſie mir, zu beruͤhren, daß ſie hier ohne ei-
nen Freund ſind, den die Natur dazu gemacht
haͤtte; und gewiſſermaßen; ſo viel weiß ich von
ihrem ungluͤcklichen Schickſal; der Mittel be-
raubt ſeyn muͤſſen, ſich Freunde zu machen ‒ ‒
Sie wollte mich unterbrechen, mit einem ge-
wiſſen ernſtlichen Bezeigen, das ein Verbot zu
erkennen gab ‒ ‒
Jch bitte ſie um Erlaubniß, gnaͤdige Fraͤu-
lein, weiter zu reden. Jch habe ſchon vorher
wohl zwanzig Wege geſucht, Erwaͤhnung davon
zu thun: aber mich es niemals bis itzo unterſtan-
den. Erlauben ſie mir nun, da ich das Eis ge-
brochen habe, mich ſelbſt ihnen anzubieten ‒ ‒
nur als ihren Wechsler ‒ ‒ Jch weiß, ſie wol-
len ſich keine Verbindlichkeit zuziehen: ſie brau-
chen es auch nicht. Sie haben ſelbſt Vermoͤ-
gen genug, wenn es nur in ihren Haͤnden waͤre:
und von demſelben, ſie moͤgen leben oder ſter-
ben, will ich mir gefallen laſſen, meinen Vor-
ſchuß wieder zu nehmen. Jch verſichere ſie,
daß der ungluͤckliche Menſch niemals mein Er-
bieten, oder ihre geneigte Aufnahme erfahren
ſoll ‒ ‒ Erlauben ſie mir nur dieſen gerin-
gen ‒ ‒
Und hiemit ließ ich hinter ihrem Stuhl einen
Bankzettel auf hundert Pfund Sterl. fallen, den
ich
[441]
ich in der Abſicht mitgebracht hatte, ihn auf eine
oder die andere Art hinter mir zuruͤckzulaſſen.
Du ſollteſt es niemals erfahren haben: haͤtte ſie
mir die Gewogenheit erzeiget, ihn anzunehmen.
Das ſagte ich ihr ſelbſt.
Sie machen mir viele Unruhe, Herr Belford,
durch dieſe Proben ihrer Hoͤflichkeit. Gleich-
wohl ſehe ich in Betrachtung der Geſellſchaft, in
welcher ich ſie geſehen habe, nicht ungern, daß ich
ſie dazu aufgelegt befinde. Mich deucht, ich
freue mich, um der menſchlichen Natur willen,
daß nur ein einziger ſolcher Menſch, als der iſt,
den ſie und ich kennen, ſeyn konnte. ‒ ‒ Was
aber das guͤtig Dargebotene betrifft, es mag ſeyn,
was es will: ſo werden ſie mich ſehr beunruhi-
gen, wo ſie es nicht aufnehmen. Jch brauche
ihre Guͤtigkeit nicht. Jch habe Geldeswerth ge-
nug, das ich niemals gebrauchen kann, meine ge-
genwaͤrtige Beduͤrfniſſe zu ſtillen: und wo es noͤ-
thig iſt, kann ich meine Zuflucht zu der Fraͤulein
Howe nehmen. Jch habe ihr verſprochen, daß
ich es thun wollte ‒ ‒ Alſo bitte ich, mein Herr,
dringen ſie mir dieſe Gunſtbezeigung nicht auf
‒ ‒ Nehmen ſie es ſelbſt auf ‒ ‒ Wo ſie mir
ein ruhiges und zufriednes Gemuͤth zu machen
willens ſind, dringen ſie mir dieſe Gunſtbezeigung
nicht auf. ‒ ‒ Sie redete mit Ungedult.
Jch bitte, gnaͤdige Fraͤulein, erlauben ſie mir
nur ein Wort ‒ ‒
Nicht eines, mein Herr, bis ſie das zuruͤck-
genommen haben, was ſie haben fallen laſſen.
E e 5Jch
[442]
Jch zweifele weder an der Ehre noch an der guͤ-
tigen Geſinnung bey ihrem Erbieten: allein
ſie muͤſſen nicht ein Wort mehr davon ſagen.
Jch kann es nicht leiden.
Sie buͤckte ſich nieder, aber mit Muͤhe. Jch
kam ihr alſo zuvor, und bat ſie wegen eines Er-
bietens um Verzeihung, das ihr, wie ich ſaͤhe,
mehr Verwirrung gemacht haͤtte, als ich, nach
der Lauterkeit meiner Abſichten, vermuthet. Es
waͤre mir aber unertraͤglich, zu gedenken, daß ein
ſolches Gemuͤth, als ihres, im Bedruck ſeyn ſoll-
te: indem der Mangel an denen Gemaͤchlichkei-
ten, woran ſie einen Ueberfluß zu haben gewohnt
waͤre, ſie ruͤhren und in ihren goͤttlichen Beſchaͤff-
tigungen ſtoͤren moͤchte.
Sie ſind ſehr guͤtig gegen mich, mein Herr,
verſetzte ſie, und haben eine ſehr vortheilhaſte
Meynung von mir. Allein ich hoffe, daß ich
nun nicht leicht aus meinen gegenwaͤrtigen Be-
ſchaͤfftigungen gebracht werden kann. Meine
abnehmende Geſundheit wird mich darinn mehr
und mehr befeſtigen. Jene, die mich in Verhaft
nehmen und einſperren ließen, gedachten ſonder
Zweifel, daß ſie die bequemſten Mittel gewaͤhlt
haͤtten, mich ſo in die Enge zu treiben, daß ſie
mich zu allen ihren Maaßregeln bringen moͤch-
ten. Allein ich unterſtehe mich zu hoffen, daß
ich ein Gemuͤth habe, welches, durch zeitliche
Drangſale, in weſentlichen Stuͤcken nicht
kann erniedrigt werden. Die elenden und nichts-
wuͤrdigen Leute wiſſen wenig von der Gewalt an-
gebohr-
[443]
gebohrner guter Grundſaͤtze, verzeihen ſie mir
meine Eitelkeit, die darinn zu liegen ſcheinet,
da ſie ſich einbilden, daß ein Gefaͤngniß, Duͤrf-
tigkeit, oder Mangel, ein rechtgeſinntes Gemuͤth
dahin bringen koͤnne, ſich einer vorſetzlichen und
freywilligen Schandthat ſchuldig zu machen, da-
mit es nur dergleichen Uebel eines kurzen Le-
bens vermeiden moͤge.
Darauf wandte ſie ſich von mir zu dem Fen-
ſter, mit einem erhabenen Weſen, das ihren Wor-
ten gemaͤß war, und deutlich zeigte, daß ſie zu
der Zeit mehr Seel, als Leib, war.
Was fuͤr eine Großmuth! ‒ ‒ Kein Wun-
der, daß eine ſo feſt gegruͤndete Tugend, alle dei-
ne Kuͤnſte zu ſchanden machen konnte ‒ ‒ und
dich noͤthigte, damit du dein verfluchtes Ziel er-
langen moͤchteſt, zu denen unnatuͤrlichen Kuͤnſten
deine Zuflucht zu nehmen, welche ſie ihrer ſchoͤ-
nen Sinne beraubten.
Die Weibsleute waren uͤber alle Maaße ge-
ruͤhret, Fr. Lovick inſonderheit, welche leiſe zur Fr.
Smithen ſagte: Wir haben einen Engel, nicht
ein Frauenzimmer bey uns, Fr. Smithen.
Jch wiederholte mein Erbieten, an einen
oder den andern von ihren Freunden zu ſchreiben.
Jch eroͤffnete ihr, daß, da ich mir die Freyheit ge-
nommen, dem Dr. H. von dem grauſamen Un-
willen ihrer Anverwandten, als welches ihr mei-
ner Vermuthung nach am meiſten auf dem Her-
zen laͤge, Nachricht zu geben, er vorgeſchlagen
haͤtte, ſelbſt zu ſchreiben, und ihnen zu melden,
wie
[444]
wie uͤbel ſie ſich befaͤnde, wofern ſie es nicht uͤbel
nehmen wollte.
Es waͤre eine Guͤtigkeit an dem Arzte, ver-
ſetzte ſie: aber ſie baͤte, daß man keinen ſolchen
Schritt ohne ihr Wiſſen und ihre Einwilligung
thun moͤchte. Sie wollte warten und zuſehen,
was fuͤr Wirkungen ihr Brief an ihre Schwe-
ſter haben wuͤrde. Alles, was ſie zu hoffen haͤt-
te, waͤre, daß ihr Vater ſeinen Fluch wiederrufen
moͤchte. Uebrigens wuͤrden ihre Freunde den-
ken, daß ſie nicht zu viel leiden koͤnnte: und ſie
waͤre zufrieden, daß ſie litte. Denn nunmehr
koͤnnte ihr nichts begegnen, weswegen ſie zu leben
wuͤnſchen ſollte.
Frau Smithen ging hinunter. Sie kam
aber bald wieder herauf und fragte, ob die Fraͤu-
lein und ich nicht heute mit ihr zu Mittage eſſen
wollte: denn es waͤre ihr Hochzeitstag. Sie
haͤtte Fr. Lovick dazu gebeten, und wuͤrde ſonſt
niemand haben, wofern wir ihr die Gewogenheit
beweiſen wollten.
Die reizende Fraͤulein ſeufzete und ſchuͤttelte
den Kopf ‒ ‒ Hochzeitstag! ſagte ſie ‒ ‒
Jch wuͤnſche ihnen viele gluͤckliche Hochzeitstage,
Fr. Smithen! ‒ ‒ Aber mich werden ſie ent-
ſchuldigt halten.
Herr Smith kam mit eben der Bitte herauf.
Sie wandten ſich beyde an mich.
Unter der Bedingung, daß die Fraͤulein
wollte, wuͤrde ich kein Bedenken machen und an
einem
[445]
einem andern Orte, wo ich wirklich ſchon zuge-
ſagt haͤtte, abſagen laſſen.
Sie verlangte hierauf, daß ſie ſich alle nie-
derſetzen ſollten. Sie haben mir zu verſchiede-
nen malen ihr Verlangen zu erkennen gegeben,
Fr. Lovick und Fr. Smithen, daß ich ihnen eine
kleine Nachricht von meinen Begebenheiten ge-
ben moͤchte. Nun will ich ihrem Verlangen
Genuͤge thun, wo ſie Muße haben: da dieſer
Cavallier, der alles weiß, wie ich zu glauben Ur-
ſache habe, gegenwaͤrtig iſt; und ihnen ſagen
kann, ob ich die Wahrheit rede, oder nicht.
Sie ſetzten ſich alle, auch ſelbſt der Smithen
Mann, mit großer Begierde nieder, und die
Fraͤulein fing eine Erzaͤhlung von ſich ſelbſt an,
die ich ſo genau, als moͤglich iſt, mit ihren eignen
Worten wiederholen will. Denn ich hoffe, ihr
werdet es fuͤr etwas halten, woran euch gelegen
iſt, daß ihr erfahret, auf was fuͤr Art ſie eure
Grauſamkeit gegen ſie erzaͤhlet, und was fuͤr Ge-
ſinnungen ſie dabey aͤußert, wie auch, was fuͤr
Grund zu der Hoffnung uͤbrig iſt, welche ſich eu-
re Freunde zu eurem Beſten von ihr machen.
„Anfangs, da ich dieſe Zimmer bezog, wa-
„ren ihre Worte, gedachte ich nur eine kurze Zeit
„hier zu bleiben: und das ſagte ich ihnen auch,
„Fr. Smithen. Daher trug ich Bedenken, ei-
„ne andere Nachricht von mir zu geben, als daß
„ich eine ſehr ungluͤckliche und junge Perſon waͤ-
„re, die von ihren rechtſchaffenen Freunden be-
„truͤge-
[446]
„truͤgeriſcher Weiſe entfuͤhret und von ſehr ſchaͤnd-
„lichen Leuten entflohen waͤre.
„Dieſe Nachricht hielte ich mich verbunden
„ihnen zu geben, damit ſie ſich deſto weniger wun-
„dern moͤchten, daß ſie eine junge Frauensper-
„ſon, mit Zittern und außer Athem, durch ihren
„Laden in ihr Hinterzimmer hineinhuſchen ſahen:
„da ich einen ſchlechten Rock uͤber mein eignes
„Kleid gezogen hatte, um Zimmer und Schutz
„flehete, und nur mein bloßes Wort von mir
„gab, daß ſie gut bezahlt werden ſollten, indem
„alle meine Habſeligkeiten in ein Schnupftuch
„geknuͤpft waren.
„Meine ploͤtzliche Abweſenheit auf drey Ta-
„ge und Naͤchte nach einander, als ich in Ver-
„haft war, mußte ſie noch mehr in Verwunde-
„rung ſetzen. Ob nun gleich dieſer Cavallier,
„der vielleicht von dem ſcheuslichſten Theil mei-
„ner Begebenheit mehr weiß, als ich ſelbſt, ih-
„nen, nach ihrem Geſtaͤndniß Fr. Lovick, entdecket
„hat, daß ich nur eine ungluͤckliche, nicht
„ſtrafwuͤrdige Perſon ſey: ſo halte ich es doch
„fuͤr meine Schuldigkeit, ehrliebende Gemuͤther
„meines guten Namens wegen nicht in Zweifel
„zu laſſen.
„Sie muͤſſen alſo wiſſen, daß ich in einem
„Stuͤcke; ich haͤtte beynahe geſagt, nur in einem
„Stuͤcke, aber es war ein ſehr wichtiges Stuͤck;
„ein ungehorſames Kind gegen die guͤtigſten El-
„tern von der Welt geweſen bin. Denn was
„einige Leute Grauſamkeit an ihnen nennen,
kommt
[447]
„kommt bloß von ihrer allzu großen Liebe und
„ihrer fehlgeſchlagenen Hoffnung her: da ſie Ur-
„ſache gehabt hatten, ſich eines beſſern zu mir zu
„verſehen.
„Es beſuchte mich, anfangs mit ihrem Wiſ-
„ſen, ein Mann von gutem Herkommen und
„Vermoͤgen, aber, wie der Erfolg gezeiget hat,
„von aͤrgern Grundſaͤtzen, als ich irgend einem
„Menſchen zutrauen konnte. Mein Bruder,
„ein junger Mann von ſehr ſteifem Kopfe, war
„damals nicht zu Hauſe. Da er zuruͤckkam:
„misbilligte er ſeine Beſuche ganz und gar, aus
„einem alten Grolle, und weil er den Cavallier,
„das liegt itzo offenbar am Tage, beſſer kannte,
„als ich. Weil er in unſerer Familie vieles
„galt: ſo brachte er andere Cavalliere, die ſich
„um mich bewarben; und zuletzt, nachdem ver-
„ſchiedne zuruͤck gewieſen waren, einen, der uͤber
„alle Maaße widrig, in aller unparteyiſchen
„Augen widrig war. Jch konnte ihn nicht lie-
„ben. Sie verbanden ſich alle, mich zu zwin-
„gen, daß ich ihn nehmen ſollte: da ein Zwey-
„kampf zwiſchen dem Cavallier, gegen welchen
„meine Freunde aufgebracht waren, und meinem
„Bruder, ſie jenem alle noch mehr zu Feinden ge-
„macht hatte.
„Kurz; ich ward eingeſperret, und man be-
„gegnete mir ſo gar hart, daß ich in einer unbe-
„ſonnenen Hitze Abrede nahm, mit dem Manne,
„den ſie haſſeten, davon zu gehen. Ein gottlo-
„ſer Vorſatz, werden ſie ſagen: allein ich war
„unge-
[448]
„ungemein gereizet. Nichts deſto weniger be-
„reuete ich ihn, und nahm mir vor, nicht mit ihm
„wegzugehen. Jedoch ſetzte ich weder in ſeine
„Ehre, noch in ſeine Liebe gegen mich, ein Mis-
„trauen: weil mich niemand der letztern unwuͤr-
„dig achtete, und meine Umſtaͤnde nicht zu ver-
„achten waren. Aber da ich ihm thoͤricht; mei-
„ne Freunde denken noch beſtaͤndig, daß es bos-
„haftiger und hinterliſtiger Weiſe, in der Ab-
„ſicht, ſie zu verlaſſen, geſchehen ſey; eine gehei-
„me Zuſammenkunft verſtattete: ward ich auf
„eine hinterliſtige Art, jaͤmmerlich genug, darf
„ich ſagen, entfuͤhret; ob gleich andere, die ſich
„erſt eines ſo unbeſonnenen Fehltrittes, als die
„Zuſammenkunft mit ihm war, ſchuldig ge-
„macht, eben ſo mochten beruͤckt und uͤberraſcht
„worden ſeyn, als ich.
„Nachdem wir eine Zeitlang in eines Pach-
„ters Hauſe auf dem Lande geweſen waren; wel-
„che Zeit uͤber er ſich beſtaͤndig ſo gegen mich be-
„zeigte, wie Ehre und Tugend es erfordern:
„brachte er mich in eine ganz artige Wohnung
„in der Stadt, bis man ſich mit einer noch beſ-
„ſern verſorgen koͤnnte. Allein der Erfolg zeig-
„te, wie er in der That wußte und nach ſeiner
„Abſicht gewollt hatte, daß es ein Haus einer
„ſchaͤndlichen, einer hoͤchſtſchaͤndlichen Weibsper-
„ſon war: ob ich ſie gleich lange nicht dafuͤr er-
„kannte; denn ich wußte nichts von London und
„den Schlichen in London.
„Es
[449]
„Es iſt nicht noͤthig, daß ich wiederhole, was
„hierauf erfolgte. So unerhoͤrte ſchaͤndliche
„Raͤnke! ‒ ‒ denn ich gab ihm keine Gelegen-
„heit, ſich eines meiner Ehre nachtheiligen Vor-
„theils uͤber mich bedienen zu koͤnnen.
Hier hielte ſie inne, und bedeckte ihr ange-
nehmes Geſicht halb mit ihrem Schnupſtuche,
das ſie an ihren thraͤnenden Augen hielte.
Jn Geſchwindigkeit, als wenn ſie dem ver-
haßten Andenken entgehen wollte, nahm ſie das
Wort wieder. ‒ ‒ „Jch entflohe hernach aus
„dieſem abſcheulichen Hauſe in ſeiner Abweſen-
„heit, und kam zu ihnen. Dieſer Cavallier hat
„mich beynahe uͤberredet, daß der undankbare
„Menſch an dem ſchaͤndlichen Verhaft durch ſei-
„ne Nachſicht nicht Theil gehabt habe. Man
„hat mich ſonder Zweifel eingezogen, damit man
„mich noch einmal zu dem gottloſen Hauſe zu-
„ruͤckbringen moͤchte: denn ich bin ihnen nichts
„ſchuldig, es waͤre denn, daß ich ſie dafuͤr bezah-
„len ſollte“ ‒ ‒ Sie ſeufzete und trocknete ihre
ſchoͤnen Augen wieder ab ‒ ‒ und ſetzte mit ei-
ner ſanftmuͤthigern und ſchwaͤchern Stimme
hinzu ‒ ‒ „daß ich ungluͤcklich und zu ſchan-
„den gemachet bin!“
Jn Wahrheit, gnaͤdige Fraͤulein, ſagte ich,
ſo ſtrafwuͤrdig, ſo abſcheulich ſtrafwuͤrdig er auch
in allen uͤbrigen Stuͤcken iſt, ſo iſt er doch an die-
ſer letzten gottloſen Gewaltthaͤtigkeit unſchul-
dig.
Sechſter Theil. F f„Es
[450]
„Es iſt gut, und ich wuͤnſche es. Dieß Un-
„gluͤck, ſo ſchwer es auch war, iſt eines der ge-
„ringſten unter denen Uebeln, die ich ausgeſtan-
„den habe. Allein hieraus werden ſie abneh-
„men, Frau Lovick; denn ſie ſchienen heute fruͤhe
„begierig zu ſeyn, zu wiſſen, ob ich nicht verhey-
„rathet waͤre; daß ich in meinem Leben nie-
„mals verheyrathet geweſen bin ‒ ‒ Sie,
„Herr Belford, haben es ohne Zweifel vorher ge-
„wußt: und nun will ich auch niemals heyra-
„then. Jedoch danke ich Gott, daß ich keine
„Schuld auf mich geladen habe.
„Was meine Angehoͤrigen betrifft: ſo bin
„ich aus keiner geringen Familie. Jch habe,
„durch die mir zugedachte Gunſt meines Groß-
„vaters, ein anſehnliches Gut, das von Rechts-
„wegen mein eigen iſt; ohne daß mein Vater
„etwas daruͤber zu ſagen haͤtte, wenn es mir ſo
„gefaͤllig geweſen waͤre: aber es ſoll mir nie-
„mals gefaͤllig ſeyn.
„Mein Vater hat viel Vermoͤgen. Jch
„hatte einen andern Namen angenommen, als
„ich zuerſt zu ihnen kam: allein das war bloß in
„der Abſicht geſchehen, damit ich von dem treu-
„loſen Menſchen nicht entdeckt wuͤrde; der ſich
„nun, durch dieſen Cavallier, verbindet, mir nicht
„beſchwerlich zu fallen.
„Mein wirklicher Name, wiſſen ſie itzo, iſt
„Harlowe: Clariſſa Harlowe. Jch bin noch
„nicht zwanzig Jahr alt.
„Jch
[451]
„Jch habe ſo wohl eine vortreffliche Mutter,
„als einen vortrefflichen Vater ‒ ‒ Eine Frau
„von anſehnlichem Herkommen und gutem Ver-
„ſtande ‒ ‒ Eines beſſern Kindes wuͤrdig ‒ ‒
„Sie liebten mich beyde ungemein.
„Jch habe zween rechtſchaffene Onkels:
„Maͤnner von großem Vermoͤgen; ſehr fuͤr die
„Ehre ihrer Familie beſorgt, welche ich verletzet
„habe.
„Jch war ihr inniges Vergnuͤgen: und mit
„ihren und meines Vaters Wohnungen hatte ich
„drey Haͤuſer, die ich meine eigne nennen konnte.
„Denn ſie waren gewohnt mich wechſelsweiſe
„bey ſich zu haben, und ſich beynahe guͤtig um
„mich zu ſtreiten. Jch war alſo zween Monate
„im Jahr in des einen, zween Monate in des
„andern, ſechs Monate in meines Vaters
„Hauſe, und zween Monate bey andern von mei-
„nen werthen Freunden, die ſich ſelbſt durch
„mich gluͤcklich ſchaͤtzten. So oft ich in des ei-
„nem Hauſe war: ward ich von allen uͤbrigen,
„welche nach meiner Ruͤckkehr zu ihnen verlang-
„te, mit Briefen uͤberhaͤufet.
„Kurz; jedermann liebte mich. Die Armen
„‒ ‒ Jch war gewohnt, ihre Herzen zu erfreuen.
„Jch verſchloß meine Hand niemals vor einem
„Duͤrftigen ‒ ‒ Aber nun bin ich ſelbſt arm!
„So, Fr. Smithen, ſo, Fr. Lovick, bin ich
„nicht verheyrathet. Es iſt nicht mehr, als
„recht und billig, daß ich ihnen dieß ſage. Jch
„bin nunmehr in einem Stande der Erniedri-
F f 2„gung
[452]
„gung und Buße fuͤr den unbeſonnenen Fehl-
„tritt, der ſo viel Uebel nach ſich gezogen hat.
„Gott, hoffe ich, wird mir vergeben: wie ich mich
„bemuͤhen werde, mein Gemuͤth in ſolche Ver-
„faſſung zu bringen, daß ich aller Welt vergeben
„moͤge; ſelbſt auch demjenigen, der durch Un-
„dankbarkeit und erſchreckliche Meineyde ‒ ‒
„Elender Menſch! er dachte alle ſeine Gottloſig-
„keit waͤre Witz! ‒ ‒ ein junges Frauenzimmer
„ſo weit heruntergebracht hat, welches ſeine
„Gluͤckſeligkeit, ſo gar nach dieſem Leben, zur
„Abſicht hatte und wuͤnſchete; und welches
„man fuͤr eine Perſon von ſolchem Stande, ſol-
„chen Gluͤcksumſtaͤnden und ſolcher guten Hoff-
„nung anſahe, daß alles dieß betraͤchtlich genug
„war, ſo wohl den einen als den andern Caval-
„lier in England, um ſeines eignen Vortheils
„willen, zur Treue in ſeinen Gelobungen gegen
„ſie zu verbinden. Aber, daß meine Eltern mir
„vergeben werden, das kann ich nicht erwarten.
„Meine Zuflucht muß der Tod ſeyn. Die
„ſchmerzlichſte Art deſſelben wollte ich viel lieber
„erdulden, als jemand heyrathen, der ſo gegen
„mich handeln koͤnnte, als der Menſch gehandelt
„hat, von deſſen Geburt, Erziehung und Ehre,
„ich ſo viel Urſache hatte mich eines beſſern zu
„verſehen.
„Jch ſehe, fuhr ſie fort, daß ich, die ich vor-
„mals aller Vergnuͤgen geweſen bin, itzo jeder-
„mann Kummer verurſache ‒ ‒ Sie, denen ich
„doch ganz fremd bin, werden fuͤr mich zum Mit-
„leiden
[453]
„leiden beweget! ‒ ‒ Es iſt guͤtig! ‒ ‒ Allein
„es iſt Zeit, aufzuhoͤren. Jhre mitleidige Her-
„zen, Fr. Smithen und Fr. Lovick, ſind zu ſehr
„geruͤhret“ ‒ ‒ denn die beyden Weiber gluch-
ſeten wieder vom Weinen, und der Mann war
auch beweget ‒ ‒ „Es iſt eine Grauſamkeit von
„mir, daß ich durch mein Ungemach ihren Hoch-
„zeittag zu einem Trauertage mache.“ Hierauf
wandte ſie ſich zu Herr Smithen und ſeiner
Frguen ‒ ‒ „Der Himmel laſſe ſie, ehrliches,
„gutes Paar, ihren Hochzeitstag noch vielmal
„gluͤcklich begehen! ‒ ‒ Wie angenehm iſt es
„anzuſehen, daß ſie ſich beyde, nach dem Ver-
„lauf vieler Jahre, ſo liebreich vereinigen, ihn zu
„ſeyren! ‒ ‒ Vormals dachte ich ‒ ‒ Jedoch
„nicht mehr ‒ ‒ Alle meine Hoffnung zur Gluͤck-
„ſeligkeit in dieſem Leben hat nun ein Ende.
„Sie iſt, wie aufgehende Knoſpen oder Bluͤten
„an einem zu fruͤhzeitigen Schoͤßlinge durch einen
„ſtrengen Froſt, erſticket! ‒ ‒ Wie die Feld-
„fruͤchte durch einen Oſtwind, verbrannt! ‒ ‒
„Aber ich kann nur einmal ſterben: und wenn
„mir das Leben nur ſo lange gefriſtet wird, bis
„ich von einem ſchweren Fluch befreyet bin, den
„mein Vater in ſeinem Zorn auf mich geleget
„hat, und der in allen Stuͤcken, ſo weit er das
„gegenwaͤrtige Leben betrifft, buchſtaͤblich erfuͤllet
„iſt; ſo iſt das alles, was ich zu wuͤnſchen habe,
„und der Tod wird mir willkommener ſeyn, als
„jemals dem muͤdeſten Wanderer, der die End-
F f 3„ſchaft
[454]
„ſchaft ſeiner Reiſe erreichet hatte, die Ruhe ge-
„weſen iſt.“
Und ſo ließ ſie ihr Haupt an die Lehne ihres
Stuhls ſinken, und ſuchte ihre Thraͤnen durch ihr
Schnupftuch, womit ſie das Geſicht bedeckte, vor
uns zu verbergen.
Keine Seele von uns konnte ein Wort ſpre-
chen. Deine Gegenwart, du verhaͤrteter Boͤſe-
wicht, wuͤrde uns vielleicht eine Schaam vor ei-
ner Weichherzigkeit eingefloͤßet haben, die du
vermuthlich an mir inſonderheit verlachen wirſt,
wenn du dieß lieſeſt!
Sie begab ſich bald hernach in ihre Kam-
mer, und war genoͤthigt, wie es ſcheint, ſich nie-
derzulegen. Wir gingen alle mit einander hin-
unter, und unterhielten uns auf anderthalb Stun-
den mit ihrem Lobe. Fr. Smithen und Fr. Lo-
vick bezeugten einmal uͤber das andere ihre Ver-
wunderung, daß ein Menſch in der Welt ſeyn
koͤnnte, der im Stande waͤre, eine ſolche Fraͤu-
lein zu beleidigen, noch mehr ſie vorſetzlich zu be-
ſchimpfen. Sie wiederholten, daß ſie einen En-
gel bey ſich im Hauſe haͤtten. ‒ ‒ Jch gedachte,
ja, ſie haͤtten ihn wirklich: und das ſo gewiß,
als unter dem Dache des guten Lords M. ein
Teufel lebte.
Jch haſſe dich von ganzem Herzen! ‒ ‒ Bey
meiner Treue ich haſſe dich! ‒ ‒ Jch haſſe dich
jede Stunde mehr, als die vorhergehende! ‒ ‒
Der
[455]
Der ſieben und funfzigſte Brief
von
Hrn. Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Weswegen haſſeſt du mich, Belford? ‒ ‒
Und warum immer mehr und mehr? ‒ ‒
Habe ich mich irgend einer Beleidigung ſchuldig
gemacht, die du nicht vorher gewußt haſt? ‒ ‒
Wo das Ruͤhrende in der Beredtſamkeit ein
ſolches Herz, als deines, bewegen kann: kann es
denn auch die Natur der Sachen aͤndern? ‒ ‒
Habe ich dieſem unvergleichlichen Frauenzimmer
nicht allemal eben ſo viel Gerechtigkeit widerfah-
ren laſſen, als du ihr nach deinem Herzen, oder
ſie ſich ſelbſt thun kann? ‒ ‒ Was fuͤr Unſinn
iſt denn dein Haß, dein zunehmender Haß: da
ich noch beſtaͤndig entſchloſſen bin, nach meinem
Wort, das ich dir gegeben habe, und nach mei-
ner Verpflichtung gegen meine Verwandte, ſie zu
heyrathen? Aber haſſe mich, wie du willſt:
wenn du nur ſchreibeſt. Du kannſt mich nicht
ſo ſehr haſſen, als ich mich ſelbſt haſſe. Und
gleichwohl weiß ich, wenn du mich wirklich haſſe-
teſt, ſo wuͤrdeſt du dich nicht unterſtehen, es mir
zu ſagen.
Wozu war es aber noͤthig, dieſen Weibsleu-
ten ihre Hiſtorie zu erzaͤhlen? Sie wird gewiß
F f 4nach
[456]
nach Verlauf einiger Zeit bereuen, daß ſie uns
beyde ſo unnoͤthiger Weiſe widrigen Urtheilen
bloßgeſtellet hat.
Krankheit benimmt einer jeden Neigung ih-
re Kraft, und macht, daß wir das haſſen, was
wir vorher liebeten. Aber ſo bald die Geſund-
heit wieder von neuem hergeſtellt iſt, veraͤndert
ſich das Spiel. Alsdenn ſind wir geneigt, mit
uns ſelbſt vergnuͤgt zu ſeyn, und auf die Art im
Stande, auch an einem jeden andern Vergnuͤgen
zu finden. Eine jede Hoffnung nimmt uns alsdenn
ein: eine jede Stunde ſtellt ſich uns zur Freude
dar. Was Herr Addiſon von der Freyheit ſagt,
das kann noch eigentlicher von der Geſundheit
geſagt werden. Denn was iſt Freyheit ſelbſt
ohne Geſundheit?
Und ich freue mich, daß ſie ſchon ſo viel beſſer iſt,
daß ſie mit fremden Leuten eine ſo lange und ihr
nicht gleichguͤltige Unterredung halten kann.
Es iſt wunderlich und eben ſo verkehrt, das
iſt, eben ſo weibermaͤßig, als wunderlich, daß
ſie meine Hand ausſchlagen und lieber waͤhlen
ſollte, zu ſterben ‒ ‒ O das garſtige Wort! und
wie frey handelt gleichwohl deine Feder damit ge-
gen mich! ‒ ‒ als mich zu nehmen, der ich ſie
beleidigte, indem ich meinem Character gemaͤß
handelte, da hingegen ihre Eltern zu ihrer eignen
Schaam und Schande wider ihren Character
han-
[457]
handelten, und ich nun bereit bin, wider mei-
nen eignen Character zu handeln, damit ich ihr
gefaͤllig ſeyn moͤge. Demnach ſoll ich nicht Ver-
gebung erlangen! Jene aber ſollen bey ihr unta-
delhaft ſeyn ‒ ‒ Und Heyrathen iſt doch das ein-
zige Mittel allen Schaden zu erſetzen und ihre
eigne Ehre zu retten. ‒ ‒ Gewiß du mußt das
Widerſprechende bey ihrer vergebenden Unver-
ſoͤhnlichkeit, wie ich es nennen mag, ſelbſt ſehen!
‒ ‒ Gleichwohl willſt du gern, ſo ein ſchwerer
Bube du auch biſt, nach ihr von der Erden hin-
aufgezogen werden! Was ſpielſt du fuͤr eine Per-
ſon mit deinem Geſchwaͤtze; ſo ſteif als Hick-
manns Manſchetten, bey deinen hohen Wuͤnſchen
und fußfaͤlligen Verehrungen! ‒ ‒ Ungewohnt,
nach deinem ſchwachen Gehirn, die erhabenen
Ausſpruͤche zu ertragen, welche, ſo gar in ordent-
licher Unterredung, von den Lippen dieſes beſtaͤn-
dig reizenden Frauenzimmers fallen.
Aber die artigſte Grille von allen war, den
Bankzettel hinter ihren Stuhl fallen zu laſſen,
an ſtatt ihn auf deinen Knieen zu ihren Haͤnden
zu uͤberreichen! ‒ ‒ Zu verurſachen, daß ein ſol-
ches Frauenzimmer, als dieß iſt, ſich gedoppelt
buͤcken muß ‒ ‒ ihn anzunehmen und ihn von
dem Boden aufzuheben! ‒ ‒ Was fuͤr eine un-
anſtaͤndige und unangenehme Art iſt es, womit
du deine Gutthaten anbringeſt! Wie unge-
reimt, daß du dir in den Kopf ſetzeſt, als wenn
der beſte Weg, einem Frauenzimmer ein Ge-
F f 5ſchenk
[458]
ſchenk zu machen, der waͤre, daß man es hinter
ihrem Stuhl werfe.
Jch bin ſehr begierig zu ſehen, was ſie an ih-
re Schweſter geſchrieben hat; was ſie an Fraͤu-
lein Howe zu ſchreiben vorhat; und was fuͤr eine
Antwort ſie von der Harlowiſchen Arabelle be-
kommen werde. Kannſt du nicht einen An-
ſchlag erdenken, wie man zu den Abſchriften von
dieſen Briefen, oder wenigſtens dem vornehm-
ſten Jnhalt derſelben, und auch der andern, die
ſie ſonſt wechſelt, kommen koͤnne? Fr. Lovick,
ſcheinſt du zu ſagen, iſt eine fromme und gott-
ſelige Frau. Da die Fraͤulein eine ſo genaue
Nachricht von ſich gegeben hat: ſo wird ſie ihr
alles eroͤffnen. Und haſt du nicht vor, dich zu
beſſern? ‒ ‒ Wird nicht dieſe Uebereinſtim-
mung der Gemuͤther zwiſchen dir und der Wit-
we ‒ ‒ Wie alt iſt ſie, Bruder? Der Teufel
hat niemals eine Freundſchaft zwiſchen einer
Mannsperſon und einem Weibe, von irgend
gleichen Jahren, auf die Bahn gebracht, die
nicht auf das Heyrathen, oder auf die Vertil-
gung der ſittlichen Grundregeln in ihnen beyden
ausgefallen waͤre ‒ ‒ Wird nicht dieſe Ueberein-
ſtimmung eine Vertraulichkeit zwiſchen euch ſtif-
ten, die dich in den Stand ſetzen mag, mir in
dieſem Stuͤcke zu willfahren? Ein Neubekehr-
ter, kann ich dir ſagen, vermag ſehr vieles bey
euren frommen Leuten. Ein ſolcher iſt ein Hei-
liger aus ihren ſchaffenden Haͤnden. Sie wer-
den ihn als eine Pflanze, die ſie ſelbſt aufgebracht
haben,
[459]
haben, waͤſſern, ſeiner pflegen, und ihn lieben,
und dieß aus einem recht geiſtlichen Stolze.
Ein Troſt erwaͤchſet mir aus dem nicht ge-
ringen Leidweſen, das dieſe bewundernswuͤrdige
Fraͤulein zu bezeugen ſcheinet, indem ſie uͤber den
Hochzeitstag der Leute ihre Betrachtungen macht.
‒ ‒ Vormals dachte ich ‒ ‒ So laͤſſeſt du ſie
abbrechen.
Vormals dachte ſie! Was denn? ‒ ‒ O
Belford, warum ſetzeteſt du nicht in ſie, ſich zu
erklaͤren, was ſie vormals hoffete?
Was ein Frauenzimmer in Liebesſachen ein-
mal hoffet, das hoffet ſie allemal, ſo lange Raum
zur Hoffnung uͤbrig iſt. Sind wir nicht beyde
ledig? Kann ſie einen andern Mann, als mich,
haben? Will ich eine andere Frau, als ſie, ha-
ben?
Niemals will ich! Niemals kann ich! ‒ ‒
Jch ſage dir, daß ich taͤglich, daß ich ſtuͤndlich
verliebter in ſie werde; und eben itzo eine weit
heftigere Neigung gegen ſie fuͤhle, als ich jemals
in meinem Leben gefuͤhlet habe; und das mit voll-
kommen ehrlichen Abſichten, nach ihrem eignen
Begriffe von dem Worte. Ja ich habe mich
die ganze verwichene Woche uͤber nicht ſo viel
veraͤndert, daß ich es nur einmal anders ge-
wuͤnſcht haͤtte. Alſo iſt dieſe Geſinnung feſt
bey mir eingewurzelt und mir ſelbſt zur Natur
geworden: wie ſonſt das Leben auf Ehre,
oder auf eine großmuͤthige Zuverſicht zu mir,
welches ich dem Leben von Zweifel und Mis-
trauen
[460]
trauen vorzog. Das aber muß ja wohl ein
Leben von Zweifel und Mistrauen ſeyn, wo
das Weib nicht die geringſte Zuverſicht heget,
und einen Mann durch Huͤlfe der Kirchen- und
Staatsgeſetze, um die Verbindlichkeit, welche ſie
ihm aufleget, dadurch zu verſtaͤrken, auf Lebens-
lang bindet, ſich gut zu bezeigen.
Jch werde am Montage fruͤhe zu einer ge-
wiſſen Art von einem Ball reiſen, wozu mich der
Obriſt Ambroſius eingeladen hat. Er wird we-
gen eines Vorfalls in der Familie gegeben: ich
bekuͤmmere mich nicht darum, was es fuͤr einer iſt.
Denn alles, was mir bey der Sache angenehm
iſt, iſt dieß, daß die Frau und Fraͤulein Howe da
ſeyn werden; und, wie gewoͤhnlich, auch Hick-
mann: indem die gnaͤdige Frau ohne ihn nicht
einen Fuß aus dem Hauſe ſetzen wird. Der
Obriſt hoffet, daß die Fraͤulein Arabelle Harlo-
we ebenfalls kommen werde: denn alle Manns-
perſonen und Frauenzimmer in ſeiner Gegend
von einiger Betraͤchtlichkeit ſind eingeladen.
Jch kam von ungefaͤhr mit dem Obriſten
zuſammen, der, wie ich glaube, ſchwerlich dachte,
daß ich die Einladung annehmen wuͤrde. Aber
er kennet mich nicht, wo er denkt, daß ich mich
ſchaͤme, an irgend einem Orte zu erſcheinen, wo
Frauenzimmer ihr Geſicht zeigen duͤrfen. Er
gab mir zwar zu verſtehen, daß mein Name, we-
gen der Fraͤulein Harlowe, ſehr im Gerede waͤ-
re: allein, daß ich auf eine von meines Onkels
Redens-
[461]
Redensarten anſpiele, ich will nicht im Betts
liegen, wenn etwas luſtiges vorgeht.
Da ich in meines Lords Kutſche ſahren wer-
de: ſo haͤtte ich gern eine von meinen Baſen
Montague beredet, mit mir zu fahren. Allein
ſie ſchlugen es beyde ab: und ich moͤchte eben
keinen von deinen Bruͤdern mit mir nehmen.
Es wuͤrde ſonſt ſo ausſehen, als wenn ich gedaͤch-
te, daß ich eine Leibwache noͤthig haͤtte. Außer
dem iſt der eine zu ungehobelt, der andere zu
ſchmeichelnd, und ein allzu großer Haſenfuß fuͤr
einige von der ernſthaften Geſellſchaft, die da ſeyn
wird, und inſonderheit fuͤr mich. Man kennt
die Leute an ihren Mitgeſellen, und ein Haſe, wie
Tourville zum Exempel, ſorgt vor allen Dingen,
ein Schild durch ſeinen Aufzug in Kleidern aus-
zuhaͤngen, damit man wiſſe, was in ſeinem Laden
zu haben ſey. Du biſt in der That eine Aus-
nahme. Du kleideſt dich, wie ein Geck, und biſt
doch ein guter Kerl. Jnzwiſchen biſt du gleich-
wohl ein ſo ungeſchickter Stutzer, daß du dir ſelbſt
eine doppelte Schande zu machen ſcheinſt, indem
du durch deine merkliche und buntſcheckichte Klei-
dung, wenn du aus der Trauer biſt, deine unan-
genehme Perſon noch unangenehmer vorſtelleſt.
Jch beſinne mich, daß ich mit mir ſelbſt un-
eins war, als ich dieß das erſte mal ſahe, ob ich
dich fuͤr einen großen Narren oder fuͤr einen un-
geſchickten Witzling halten ſollte. An deiner
Kleidung ſahe ich, daß etwas nicht recht bey dir
ſeyn mußte. Wo dieſer Kerl, dachte ich, nicht
ein
[462]
ein ſo großes Vergnuͤgen an dem Laͤcherlichen
findet, daß er ſich ſelbſt nicht verſchonen will: ſo
muß er ein gewaltig einfaͤltiger Pinſel ſeyn, daß
er ſich ſo viele Muͤhe giebt, ſeine garſtige Geſtalt
noch merklicher zu machen, als ſie ſonſt ſeyn
wuͤrde.
Ungekuͤnſtelte Kleidung, an einer Mannsper-
ſon oder einem Frauenzimmer von maͤßiger Ge-
ſtalt, zeiget wenigſtens Beſcheidenheit an, und
macht die Tadler allezeit zu gelinder Beurthei-
lung geneigt. Wer wird eine perſoͤnliche Unvoll-
kommenheit an einem laͤcherlich machen, der ſich
bewußt zu ſeyn ſcheinet, daß es eine Unvollkom-
menheit iſt? Wer hat jemals geſagt, daß ein
Einſiedler arm waͤre? Aber wer wollte an
denen, die auf ihre Haͤßlichkeit ſtolz zu ſeyn, oder
ihr einen gezwungenen Putz, in Hoffnung ſich
davon loszumachen, anzulegen ſcheinen, der ſo un-
gereimten Thorheit ſchonen?
Allein ob ich gleich dieß muntere Weſen an-
nehme: ſo bin ich doch in dem Jnnerſten meiner
Seele durch ein ſchmerzliches Gefuͤhl geruͤhret
‒ ‒ Mein ganzes Herze haͤngt meiner Geliebten
nach! Mit was fuͤr Gleichguͤltigkeit werde ich
die ganze Geſellſchaft bey dem Obriſten anſehen,
da meine Augen des Gemuͤths auf meine Schoͤ-
ne gerichtet ſind, und dieſe mein ganzes
Herz einnimmt?
Der
[463]
Der acht und funfzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Arabelle Har-
lowe.
Jch kann nicht umhin, es mag aufgenommen
werden, wie es will, weil es von mir
kommt, Jhnen zu melden, daß Jhre arme Schwe-
ſter in dem Hauſe eines gewiſſen Smithen, der
einen Handſchuhladen haͤlt und mit wohlriechen-
den Sachen handelt, auf der Koͤnigsſtraße beym
Covent-Garden, gefaͤhrlich krank liege. Sie
weiß nicht, daß ich ſchreibe. Einige heftige Wor-
te, als ein Fluch, von ihrem Vater, beunruhigen
ſie bey ihrem ſchwachen Zuſtande ungemein. Jch
darf Jhnen nicht an die Hand geben, was dabey
zu thun ſey. Sie ſind ihre Schweſter. Jch
habe mich daher nicht entbrechen koͤnnen, nicht
allein um derſelben, ſondern auch um Jhrer ſelbſt
willen, an Sie zu ſchreiben.
Jch bin, Fraͤulein,
Jhre gehorſame Dienerinn
Anna Howe.
Der
[464]
Der neun und funfzigſte Brief
von
Fraͤul. Arabelle Harlowe an Fraͤul. Howe.
Jch habe Jhre Zuſchrift von heute fruͤhe be-
kommen. Alles, was dem ungluͤcklichen
Geſchoͤpfe, deſſen Sie gedenken, begegnet iſt, iſt
nichts anders, als was wir vorhergeſagt und er-
wartet haben. Derjenige, um deſſentwillen ſie
uns verlaſſen hat, mag ſie troͤſten. Man ſagt
uns, daß ihm das Gewiſſen aufgewacht ſey, und
daß er ſie heyrathen wollte. Wir glauben es in
der That nicht. Sie kann wohl ſehr krank
ſeyn. Das Misvergnuͤgen uͤber ihre fehlgeſchla-
gene Hoſfnung kann ſie wohl krank machen, oder
ſollte es thun. Sie iſt aber die einzige Perſon,
die ich weiß, welche ſich in ihrer Erwartung be-
trogen hat.
Jch kann nicht ſagen, Fraͤulein, daß die
Nachricht von ihren Haͤnden uns eben deſto an-
genehmer ſeyn ſollte, je mehr Freyheiten, es ih-
nen gefallen hat, ſich gegen unſere ganze Familie
herauszunehmen, weil wir uͤber eine Auffuͤhrung
unwillig geweſen ſind, deren Rechtfertigung ei-
nem jungen Frauenzimmer zur Schande gerei-
chen wuͤrde. Entſchuldigen ſie dieſe Freyheit,
welche durch groͤßere Freyheiten an ihrer Seite
veranlaſſet iſt.
Jch bin, Fraͤulein, Jhre gehorſame Dienerinn
Arabelle Harlowe.
Der
[465]
Der ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe zur Antwort.
Wenn Sie nur halb ſo viel Verſtand haͤtten,
als ſie Unart beſitzen: ſo wuͤrden ſie, den
Ueberſchuß von der letztern ungeachtet, doch im
Stande geweſen ſeyn, zwiſchen einer freundſchaft-
lichen Abſicht gegen Sie alle, damit ſie ſich ſelbſt
deſto weniger vorzuhalten haben moͤchten, wenn
ein klaͤglicher Zufall erfolgen ſollte, und einer
Dienſtfertigkeit, die ich Jhnen nicht ſchuldig war,
einen Unterſchied zu machen, weil Freyheiten, die
man ſich gegen jemand herausnimmt, wenigſtens
von der andern Seite wieder genommen werden
koͤnnen. Jch will um des ungluͤcklichen Ge-
ſchoͤpfes willen, wie Sie eine Schweſter nen-
nen, die ſie dazu zu machen geholfen haben, nicht
alles ſagen, was ich ſagen koͤnnte. Sollte das
geſchehen, was ich beſorge: ſo ſollen Sie, Sie
moͤgen es verlangen oder nicht, meine ganze Mey-
nung erfahren.
Anna Howe.
Sechſter Theil. G gDer
[466]
Der ein und ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Arabelle Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jhren muthigen Brief habe ich bekommen.
Da Sie niemanden ſchonen: ſo kann ich
nicht erwarten, daß Sie meiner ſchonen ſollten.
Sie ſind ſehr gluͤcklich, daß Sie eine kluge und
wachſame Mutter haben ‒ ‒ Aber ſonſt ‒ ‒
Der meinigen kann es niemand an Klugheit zu-
vorthun: allein wir hatten alle eine zu gute Mey-
nung von einer gewiſſen, daß wir Wachſamkeit
fuͤr noͤthig halten ſollten. Es kann vielleicht ſei-
ne Urſache haben, warum Sie in einem ſo an-
ſtoͤßigen und offenbaren Vergehen, ſo ſehr ihre
Partey nehmen.
Jch helfe eine Schweſter ungluͤcklich ma-
chen! ‒ ‒ das iſt nicht wahr, Fraͤulein! ‒ ‒ Es
iſt alles ihr eigen Werk! ‒ ‒ Ausgenommen, in
Wahrheit, was ſie dem Rath einer Gewiſſen zu
danken haben mag. ‒ ‒ Sie wiſſen, wer am be-
ſten davon Rede und Antwort geben kann.
Laſſen Sie uns ihre Meynung wiſſen, ſo
bald als es Jhnen gefaͤllig iſt. Wenn wir er-
fahren
[467]
fahren haben werden, daß es Jhre Meynung iſt:
ſo werden wir urtheilen, wie viel wir darauf ach-
ten ſollen. Das iſt alles von ꝛc.
Ar. H.
Der zwey und ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Arabelle Har-
lowe.
Es mag ein Ungluͤck fuͤr einige Leute ſeyn,
daß ſie eines jeden Aufmerkſamkeit an ſich
ziehen: andere moͤgen deſto gluͤcklicher ſeyn, ob
ſie gleich auch deſto neidiſcher ſeyn moͤgen; weil
ſie niemand einiger Aufmerkſamkeit wuͤrdig ach-
tet. Aber man wuͤrde ſich freuen, wenn ſolche
Leute den Verſtand haͤtten, es mit Dank anzu-
nehmen, daß ſie nicht ſo betraͤchtliche Perſonen
ſind: weil ſie dieß keiner Gefahr unterwirft, un-
ter welcher ſie ſchwerlich geſchickt ſeyn wuͤrden,
ſich gehoͤrig zu verhalten.
Jch geſtehe Jhnen, daß ich vordem einmal
vielleicht in Schwierigkeiten gerathen ſeyn moͤch-
te: wenn es nicht durch den klugen Rath der be-
wundernswuͤrdigen Gewiſſen verhuͤtet waͤre, de-
ren vornehmſter Fehler der außerordentliche Vor-
zug ihrer Gaben, und deren Ungluͤck dieß iſt,
daß ſie ein paar Creaturen zum Bruder und zur
G g 2Schwe-
[468]
Schweſter hat, die ihre unvergleichlichen Vorzuͤ-
ge nicht einzuſehen vermoͤgend ſind. Aber ſo
muthig mich auch die im hoͤchſten Grade muthi-
ge Perſon anſehen mag: ſo hielte ich mich doch
nicht deswegen fuͤr weiſer, weil ich aͤter war;
noch aus einem ſo elenden Grunde fuͤr berechti-
get, einer ſo außerordentlich erhabenen Seele
Geſetze vorzuſchreiben, viel weniger ihr uͤbel zu
begegnen.
Jch wiederhole es mit Dankbarkeit, daß der
Rath dieſer liebenswuͤrdigen Perſon mir ſehr gro-
ße Dienſte gethan hat ‒ ‒ und zwar ehe meiner
Mutter Wachſamkeit noͤthig ward. Aber das
kann ich nicht ſagen, wie es mit mir gegangen
ſeyn wuͤrde, wenn ich einen Bruder oder eine
Schweſter gehabt haͤtte, die es ſo wohl fuͤr ihren
Vortheil, als fuͤr eine Befriedigung ihres poͤ-
belhaften Neides angeſehen haͤtten, mich anzu-
ſchwaͤrzen.
Jhre unvergleichliche Schweſter hat, in der
That, Sie, Fraͤulein, eben ſo wohl, als mich ge-
rettet ‒ ‒ nur mit dieſem Unterſchiede ‒ ‒ Sie
wider Jhren Willen ‒ ‒ Mich mit meinem
Willen: und haͤtte es Jhr eigner Bruder und
ſeine eigne Schweſter nicht gemacht; ſo wuͤrde
ſie ſelbſt nicht verlohren geweſen ſeyn.
Jch moͤchte nichts mehr wuͤnſchen, als daß
beyden Schweſtern nur ihr eigner Wille gelaſſen
waͤre! ‒ ‒ Die bewundernswuͤrdigſte Perſon un-
ter ihrem Geſchlechte wuͤrde alsdenn niemals aus
ihres Vaters Hauſe gekommen ſeyn! ‒ ‒ Sie,
Fraͤu-
[469]
Fraͤulein ‒ ‒ Jch weiß nicht, was aus Jhnen
geworden ſeyn moͤchte ‒ ‒ Allein was auch im-
mer geſchehen waͤre: ſo wuͤrden Sie doch die Leut-
ſeligkeit an ihr gefunden haben, die Sie nicht be-
wieſen; Sie moͤchten nun dieſelbe verdient ha-
ben, oder nicht. ‒ Sie wuͤrden, wenn es auch zu
dem aͤrgſten gekommen waͤre, weder eine guͤtige
Schweſter noch eine mitleidige Freundinn, in
Jhrer vortrefflichſten Schweſter, verlohren ha-
ben.
Aber warum bin ich weitlaͤuftig gegen eine ſo
Armſelige? ‒ ‒ Warum ſuche ich eine ſo ſchwa-
che Gegnerinn in die Enge zu treiben, deren er-
ſter Brief nichts als niedrige Bosheit iſt, und
deren zweytes Schreiben aus Unwahrheit und
Widerſpruch ſo wohl, als aus Haß und ungeſchick-
ter Auffuͤhrung zuſammen geſetzet iſt? Jedoch,
ich bin willens geweſen, Jhnen ein Theil von
meiner Meynung zu eroͤffnen. ‒ ‒ Fordern Sie
nur mehr: ſo ſoll es zu Jhren Dienſten ſeyn;
von einer Perſon, die zwar Gott danket, daß ſie
ſich nicht Jhre Schweſter nennet, allein doch
nicht Jhre Feindinn iſt; inzwiſchen aber nur
durch zwo Bewegurſachen abgehalten wird, das
letztere nicht zu ſeyn; einmal, weil Sie mit einer
ſo vortrefflichen Schweſter, ob gleich unwuͤrdiger
Weiſe, in Verwandtſchaft ſtehen; hiernaͤchſt,
weil Sie nicht betraͤchtlich genug ſind, etwas an-
deres zu verdienen, als Mitleiden und Verach-
tung von
A. H.
G g 3Der
[470]
Der drey und ſechzigſte Brief
von
Frau Harlowe an Frau Howe.
Jch ſende Jhnen eingeſchloſſene Abſchriften
von fuͤnf Briefen, die zwiſchen Fraͤulein
Howe und meiner Arabelle gewechſelt ſind. Sie
beſitzen ſo viel Klugheit und Einſicht, und koͤn-
nen, da Sie ſelbſt eine Mutter ſind, an dem Un-
gluͤck unſerer ganzen Familie wegen der Unbeſon-
nenheit und Undankbarkeit eines Kindes, von
welchem wir ehemals ganz eingenommen waren,
ſo wohl Theil nehmen, daß ich ſagen darf, Sie
werden die wunderlichen Freyheiten, die ſich Jh-
re Tochter gegen uns alle herausgenommen hat,
nicht billigen und befoͤrdern. Die gegenwaͤrti-
gen ſind nicht die einzigen, woruͤber wir uns zu
beklagen haben: allein wir haben zu den andern
ſtille geſchwiegen; weil ſie nicht, wie dieſe, zu Pa-
pier gebracht ſind. Wir bitten nur, daß wir mit
den Anmerkungen von einem jungen Frauenzim-
mer verſchont werden moͤgen, welches nicht weiß,
was wir durch die Unbeſonnenheit eines leichtfer-
tigen Maͤgdchens gelitten haben, und noch leiden;
eines leichtfertigen Maͤgdchens, das uͤber ſich
ſelbſt Ungluͤck, und uͤber eine Familie, die ſie alles
Ver-
[471]
Vergnuͤgens beraubet, Schande gebracht hat.
Jch bin nicht willens, Jhrer bekannten Klugheit
in dieſem Falle etwas vorzuſchreiben: ſondern
uͤberlaſſe Jhnen, es zu machen, wie Sie es fuͤr
das dienlichſte halten.
Jch bin, gnaͤdige Frau,
Jhre gehorſamſte Dienerinn,
Charl. Harlowe.
Der vier und ſechzigſte Brief
von
Fr. Howe, zur Antwort.
Jch bin uͤber die Briefe meiner Tochter an
Fraͤulein Harlowe hoͤchſt unwillig. Jch
habe gar nicht gewußt, daß ſie ſich ſolche Frey-
heit genommen hatte. Dieſe junge Maͤgdchen
haben ſolche romanenmaͤßige Begriffe, theils von
der Liebe, theils von der Freundſchaft, daß
man ſie in keinem von beyden regieren kann.
Nichts, als Zeit, und theur erkaufte Erfahrung,
wird ſie von den Ungereimtheiten in beyden uͤber-
fuͤhren. Jch hatte vorher ſchon ſo gerechte Vor-
ſtellungen von dem, was das Ungluͤck Jhrer gan-
zen Familie auf ſich haben muͤßte, daß ich ihr oft
verboten hatte, wie ich auch Jhrem Bruder,
G g 4Herrn
[472]
Herrn Anton Harlowe, geſagt habe, mit dem ar-
men gefallenen Engel Briefe zu wechſeln ‒ ‒
Gewiß niemals iſt wohl ein junges Frauenzim-
mer dem, was wir uns von Engeln vorſtellen,
ſo wohl der Perſon, als dem Gemuͤthe nach,
aͤhnlicher geweſen ‒ ‒ Aber nachdem ich ihres
widerſpenſtigen Bezeigens muͤde geworden war;
es iſt mir leid, daß ich dieß von meinem eignen
Kinde ſagen muß: ſo ward ich genoͤthigt, es
wieder geſchehen zu laſſen. Jn der That, ſie be-
ſtand ſo ſteif auf ihren Willen, daß mir bange
war, es moͤchte auf einen Anfall von einer Krank-
heit hinauslaufen: wie es nur allzu oft auf einen
Anfall von ſtoͤrriſchem Misvergnuͤgen ausfiel.
Niemand, als Eltern ſelbſt, weiß, was fuͤr
Unruhe Kinder zuwege bringen. Diejenigen
ſind am gluͤcklichſten, habe ich oft gedacht, wel-
che keine haben. Und o Himmel! wie wenig
laſſen ſich insbeſondere dieſe aufgewachſene Maͤgd-
chen regieren! ‒ ‒
Jch glaube inzwiſchen, daß Sie nicht mehr
ſolche Briefe von meiner Anna bekommen wer-
den. Jch bin genoͤthigt worden, wegen Fraͤu-
lein Claͤrchens Unpaͤßlichkeit; ſie ſcheint aber
recht krank zu ſeyn; Zwang bey ihr zu gebrau-
chen: ſonſt wuͤrde ſie nach London gelaufen ſeyn,
ihr aufzuwarten. Dieß nennt ſie die Pflicht ei-
ner Freundinn: und vergißt, daß ſie ihrer roma-
nenmaͤßigen Freundſchaft den ſchuldigen Gehor-
ſam gegen eine zaͤrtliche und allzu guͤtige Mutter
aufopfert.
Es
[473]
Es ſind tauſend vortreffliche Vorzuͤge, die
der armen und leidenden Fraͤulein, ihr Vergehen
ungeachtet, nicht abzuſprechen ſind: und wo ſich
alles ſo verhaͤlt, wie ſie es meiner Tochter eroͤff-
net hat, ſo iſt ſie auf die klaͤglichſte Art gemishan-
delt worden. Allein ich bin dennoch der Mey-
nung, daß es Jhnen und ihrem Vater gaͤnzlich
zu uͤberlaſſen ſey, ob ſie ihr vergeben wollen, und
daß ſich niemand, wegen des den Eltern gebuͤh-
renden Anſehens, darinn einmiſchen ſollte. Außer
dem hat das alles ein jeder vermuthet, wie Fraͤu-
lein Harlowe ſchreibet: ob Fraͤulein Claͤrchen es
gleich nicht glauben wollte, bis ſie fuͤr ihre Leicht-
glaubigkeit fuͤhlte. Aus dieſen Urſachen unter-
fange ich mich nicht, zur Verringerung ihres Feh-
lers die geringſte Vorſtellung zu thun, welcher
durch ihren bewundernswuͤrdigen Verſtand,
und eine Einſicht, die ihre Jahre uͤberſteiget, noch
groͤßer gemacht wird.
Jch bin, gnaͤdige Frau, nebſt Empfehlung
an den lieben Herrn Harlowe, und Jhre ganze
betruͤbte Familie,
Jhre gehorſamſte Dienerinn
Arabelle Howe.
Jch werde mich in wenigen Tagen mit meiner
Tochter auf die Jnſel Wight begeben. Jch
will unſere Reiſe mit Fleiß beſchleunigen,
damit ich ihr Gemuͤth von dem Ungemach
ihrer Freundinn abziehe; welches uns bey-
nahe eben ſo viel Kummer macht, als Fraͤu-
lein Claͤrchens Unbedachtſamkeit Jhnen ge-
machet hat.
G g 5Der
[474]
Der fuͤnf und ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa Har-
lowe.
Wir ſind beſchaͤfftigt, uns zu unſerer kleinen
Reiſe fertig zu machen. Aber ich werde
krank ſeyn, ich werde ſehr krank ſeyn: wo ich
nicht hoͤren kann, daß es mit Jhnen beſſer iſt, ehe
ich abgehe.
Rogers hat mich durch ſeine Erzaͤhlung von
dem ſchlechten Zuſtande Jhrer Geſundheit ſehr
betruͤbt gemacht. Da Sie nunmehr aber im
Stande geweſen ſind, eine Feder zu halten, und
ihr Verſtand ſeine Staͤrke und Klarheit hat: ſo
hoffe ich, daß der Zeitvertreib, den Sie vom
Schreiben haben werden, Jhre Beſſerung befoͤr-
dern werde.
Jch laſſe gegenwaͤrtiges eilfertig mit einer
außerordentlichen Gelegenheit abgehen, damit es
Jhnen zeitig genug zu Haͤnden komme, Sie zu
bewegen, daß Sie ſich vorher wohl bedenken,
ehe Sie auf den Jnhalt meines Briefes vom
13ten, wegen der Sache, welche der Beſuch der
beyden Fraͤulein Montague bey mir betraf, eine
gaͤnzlich entſcheidende Antwort geben. Denn ſo,
wie
[475]
wie Sie ſchreiben werden, muß ich dieſen ant-
worten.
Jn Jhrem letzten beſchließen Sie ſehr feſt,
daß Sie ihn nicht nehmen wollen. Gewiß, er
verdienet vielmehr einen ſchmaͤhlichen Tod, als
eine ſolche Frau. Aber da ich ihn wirklich fuͤr
unſchuldig an dem Verhaft halte; und ſeine gan-
ze Familie ſo ernſtliche Vorſtellungen ſeinetwe-
gen thut; auch fuͤr ihn Gewaͤhr leiſten will: ſo
denke ich, daß es itzo der beſte Schritt ſeyn werde,
den Sie thun koͤnnen, daß Sie ſich ihren und
ſeinen eignen inſtaͤndigſten Bitten gefaͤllig er-
weiſen; indem Jhre eigne Familie, wie ich Sie
gewiß verſichern kann, unverſoͤhnlich bleibet.
Er iſt ein Menſch, der Einſicht hat. Es iſt
nicht unmoͤglich, daß er ſich als einen guten Ehe-
mann gegen Sie bezeige, und mit der Zeit kein
boͤſer Mann werde.
Meine Mutter iſt gaͤnzlich meiner Meynung.
Am Freytage hat auch Herr Hickmann, nach dem
Wink, den ich Jhnen in meinem letzten Schrei-
ben davon gab, eine Unterredung mit dem wun-
derlichen Kopfe gehabt. Er iſt auf keine Weiſe
mit dem Bezeigen deſſelben gegen ihn ſelbſt zu-
frieden. Jn der That hat er nicht Urſache zu-
frieden zu ſeyn. Dennoch gehen ſeine Gedanken
dahin, daß er aufrichtig entſchloſſen ſey, Sie zu
heyrathen, wenn Sie ſich gefallen laſſen wollen,
ihn zu nehmen.
Vielleicht mag Herr Hickmann Sie in ge-
heim beſuchen, ehe wir abreiſen. Wo ich nicht
zu
[476]
zu Jhnen kommen kann: ſo werde ich nicht ru-
hig ſeyn, ohne wenn er es thut. Er wird Jh-
nen alsdenn erzaͤhlen, was fuͤr eine bewunderns-
wuͤrdige Beſchreibung der vermeſſene Kerl von
Jhnen gemacht hat, und wie vollkommen er Jh-
rer Tugend Gerechtigkeit widerfahren laͤſſet.
Er hat alles eben ſo frey gegen ſeine Anver-
wandten, ob gleich zu ſeiner eignen Verurtheilung
geſtanden. Das haben mir ſeine beyden Baſen
erzaͤhlet. Alles, was er beſorgt, wie er zu Herrn
Hickmann geſagt, iſt, daß, wo Sie fortfahren,
Jhre Geſchichte zu erzaͤhlen, und ihn dem Ur-
theil der Leute bloßzuſtellen, das Heyrathen ſelbſt
ihnen beyden die Schande nicht abnehmen wer-
de; und hiernaͤchſt, „daß Sie durch Jhre uͤber-
„maͤßige Betruͤbniß Jhre Natur verderben, und,
„indem Sie den Tod ſuchen, da Sie ihn vermei-
„den koͤnnten, ſich außer Stande ſetzen werden,
„ihm zu entgehen, wenn Sie gern wollten.
Alſo empfehle ich Jhnen, liebſte Freundinn,
wo Sie koͤnnen, Jhren Abſcheu gegen dieſen
fchaͤndlichen Menſchen zu uͤberwinden. Sie
koͤnnen vielleicht noch viele gluͤckliche Tage erle-
ben, und wiederum ſo wohl das Vergnuͤgen aller
Jhrer Freunde, Nachbarn und Bekannten, als
eine Stuͤtze, ein Troſt, ein Gluͤck fuͤr Jhre Anna
Howe ſeyn.
Mich verlangt ſehr, Jhre Antwort auf mei-
nen Brief vom 13ten zu haben. Jch bitte, hal-
ten Sie den Bothen ſo lange auf, bis ſie fertig
iſt. Wenn er nur am Montage, Abends, wieder
zuruͤck-
[477]
zuruͤckkommt: ſo wird es fuͤr ſeine Geſchaͤffte
Zeit genug ſeyn. Alsdenn wird er mich auch
wieder von dem Obriſten Ambroſe zu Hauſe ge-
kommen finden. Dieſer giebt an dem Geburts-
und Hochzeittage der Fr. Ambroſen einen Ball.
Der ganze Adel in der Nachbarſchaft iſt auf die-
ſe Zeit, wegen einiger guten Zeitungen, die ſie von
Fr. Ambroſens Bruder, dem Statthalter, bekom-
men haben, eingeladen.
Meine Mutter hat dem Obriſten fuͤr mich
und ſich ſelbſt in meiner Abweſenheit zugeſagt.
Jch wollte mich gern bey ihr entſchuldiget ha-
ben, und das um ſo viel mehr, da ich wider den
Tag Einwendungen zu machen hatte (*): allein
ſie iſt beynahe eben ſo jung, als ihre Tochter;
und weil ſie es nicht fuͤr ſo gut haͤlt, ohne mich zu
gehen, ſo gab ſie mir zu verſtehen: Sie koͤnnte
nichts vorſchlagen, was mir angenehm waͤre.
Wir haben erſt kuͤrzlich einen kleinen Kampf
mit einander gehabt. Daher, denke ich, muß
ich wohl nachgeben. Denn ich mag nicht gern
Zank haben, wenn ich es aͤndern kann: ob ich
mich gleich ſelten befleißige, die Gelegenheit zu
vermeiden, wenn ſie ſich von ſelbſt darbietet. Jch
weiß nicht, ob wir uns nicht beyde ein wenig vor
einander fuͤrchteten, und ungewiß waren, ob es
moͤglich ſeyn wuͤrde, daß wir bey einander leben
koͤnnten. ‒ ‒ Jch, ganz nach ineines Vaters
Art! ‒ ‒ Meine Mutter ‒ ‒ Was? ‒ ‒
Ganz
[478]
Ganz nach meiner Mutter Art ‒ ‒ Was
ſollte ich anders ſagen.
O, meine Wertheſte, wie viele Dinge fallen
in dieſem Leben vor, die uns Misvergnuͤgen: wie
wenige, die uns Freude machen! ‒ ‒ Jch bin
gewiß verſichert, daß ich bey dieſer Gelegenheit
keine haben werde: weil die eigentliche Mitge-
noßinn meines Herzens, die vornehmſte Haͤlfte der
einzigen Seele, welche, wie man von uns zu
ſagen pflegte, das Paar von Freundinnen be-
lebte; weil Sie, meine Allerliebſte, die eine jede
Geſellſchaft, worinn Sie den Fuß ſetzten, aufzu-
klaͤren, und mir ein wirkliches Anſehen, naͤchſt
Jhnen ſelbſt, zu geben gewohnt waren, nicht da
ſeyn koͤnnen! ‒ ‒ Wie unendliche Vorzuͤge hat
bey mir eine einzige Stunde in Jhrem Umgange,
meine allezeit lehrreiche Freundinn! ‒ ‒ Mich
duͤrſtet recht darnach! ‒ ‒ vor allen Veraͤnde-
rungen, allem Zeitvertreib, woran unſer Ge-
ſchlecht gemeiniglich das groͤſte Vergnuͤgen fin-
det! ‒ ‒ Leben Sie wohl, meine Allerliebſte! ‒ ‒
A. Howe.
Der
[479]
Der ſechs und ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Was fuͤr Kummer, meine liebſte Freundinn,
macht mir Jhre liebreiche Sorge fuͤr mei-
ne Wohlfarth! Wie viel ſtaͤrker und zaͤrtlicher
ſind doch die Bande einer reinen Freundſchaft,
und die Vereinigung aͤhnlicher Gemuͤther, als die
Bande der Natur! Der angenehme Saͤnger in
Jſrael hatte wohl Urſache zu ſagen, wenn er das
Lob der Freundſchaft zwiſchen ihm und ſeinem
geliebten Freunde aufs hoͤchſte treiben wollte, daß
die Liebe Jonathans gegen ihn wunderbar waͤre,
daß ſie die Liebe der Frauen uͤbertraͤffe! Was
fuͤr einen erhabenen Begriff giebt es von der See-
le Jonathans, die zu dieſem heiligen Bande ſo
liebreich eingerichtet war, wenn wir nur anneh-
men koͤnnen, daß ſeine Freundſchaft der Freund-
ſchaft meiner Anna Howe gegen Jhre gefallene
Clariſſa gleich geweſen! Aber ob ich mir gleich
einen Ruhm aus Jhrer guͤtigen Liebe zu mir ma-
chen kann: ſo denken Sie doch, meine Werthe-
ſte, was fuͤr einen Kummer ein nicht unedies
Gemuͤth empfinden muͤſſe; wenn die Verbind-
lichkeit ganz an einer Seite lieget; wenn ich eben
zu
[480]
zu der Zeit, da Jhr Licht, wegen der Verdunke-
lung bey mir, deſto heller ſcheinet, einer theuren
Freundinn Quaal verurſachen muß, der ich ſonſt,
mit dem groͤßten Ergoͤtzen, Freude zu machen
ſuchte; und wenn ich zu gleicher Zeit die gute
Meynung, worinn dieſelbe bey allen ſtehet, zu
verringern Gelegenheit geben ſoll, weil ſie meine
gekraͤnkte Ehre gegen die geſchaͤfftigen Zungen
liebloſer Tadeler vertheidiget! ‒ ‒
Dieß iſt es, was mich oft beweget, die Wor-
te meines bewunderten Kreuztraͤgers in ſeinen
Klagen, mit ſehr geringer Veraͤnderung, zu wie-
derholen: „O! daß es mit mir noch ſo waͤre,
„wie in den vergangenen Monaten, wie in denen
„Tagen, da Gott mich bewahrte! Da ſein Licht
„uͤber mein Haupt ſchien, und ich bey ſeinem
„Lichte durch die Finſterniß wandelte! Wie in
„den Tagen meiner Kindheit ‒ ‒ da der All-
„maͤchtige noch mit mir war; da ich in meines
„Vaters Hauſe lebte; da ich meine Tritte mit
„Butter wuſch, und der Fels Oel fuͤr mich ſtroͤ-
„mete!“
Sie legen mir Jhre Gruͤnde vor, welche durch
die Meynung Jhrer geehrten Fr. Mutter ver-
ſtaͤrket werden, warum ich an Herrn Lovelacen als
einen Ehegatten gedenken ſollte (*).
Jch habe auch Jhren Brief vom 13ten vor
mir (**), der die Nachricht von dem Beſuch, den
Vor-
[481]
Vorſchlaͤgen und der guͤtigen Vermittelung der
beyden Fraͤulein Montague, im Namen der gu-
ten Ladies, Sarah Sadleir und Eliſab eth Law-
rance, und des Lords M. in ſich enthaͤlt.
Jch habe gleichfalls den vom 18ten vor mei-
nen Augen (*), worinn Sie mich, als ich ſo
ſchmaͤhlicher und grauſamer Weiſe in Verhaft
gezogen war, und Sie nicht wußten, wo ich hin-
gekommen waͤre, von dieſen Fraͤulein und der
Familie, ſo zu ſagen, fordern.
Nicht weniger auch die Antwort von dieſen
Fraͤul ein, welche auf eine ſo vollkommene und
edelmuͤthige Art von denenſelben, von dem Lord,
von den beyden ehrwuͤrdigen Ladies, und, auf die
gewoͤhnliche leichtſinnige Art, von dem elenden
Kerl ſelbſt unterſchrieben iſt (**).
Dieſe, meine wertheſte Fraͤulein Howe, und
noch Jhr Brief vom 16ten (***), der unterdeſſen,
da ich in Verhaft war, anlangte, und mir nicht
eher, als einige Tage hernach, zu Haͤnden kam,
ſind alle vor mir.
Jch habe die ganze Sache und Jhre Gruͤn-
de, womit Sie Jhren Rath unterſtuͤtzen, ſo wohl
erwogen, als es itzo mein Kopf und mein Herz
leiden will.
Noch dazu bin ich geneigt, zu glauben, daß
der Menſch an dem ſchmaͤhlichen Verhaft un-
Sechſter Theil. H hſchuldig
[482]
ſchuldig ſey: nicht allein, weil es Jhre Meynung
iſt; ſondern auch, weil einer von Herrn Lovela-
tens Freunden, Herr Belford, mich ſo verſichert;
ein gutgeſinnter und leutſeliger Menſch, der des
Urhebers von meinem Jammer; ich denke, mit
unverſtellter und nicht aus Nebenabſichten ange-
nommener Aufrichtigkeit; nicht ſchonet.
Ja ich glaube ſo gar, wenn es Jhnen gefaͤllt,
aus aufrichtiger Hoͤflichkeit gegen Jhre und Herrn
Hickmanns Meynung, daß er mich im Ernſt
heyrathen wuͤrde, wenn ich ihn haben wollte:
nachdem er durch das viele Zureden ſeiner Freun-
de gewonnen iſt, und ſich ſeiner unverdienten
Schandthaten gegen mich ſchaͤmet.
„(*) Aber, was iſt denn nun der Ausſchlag
„von allem? ‒ ‒ Es iſt dieſes: ‒ ‒ Daß ich
„bey dem bleiben muß, was ich ſchon erklaͤret ha-
„be ‒ ‒ Und das iſt ‒ ‒ Zuͤrnen Sie nicht uͤber
„mich, meine beſte Freundinn ‒ ‒ daß ich mehr
„Vergnuͤgen finde, an den Tod, als an einen ſol-
„chen Ehegatten zu gedenken. Kurz, wie ich mich
„in meinem letzten Schreiben erklaͤrt habe, ich kann
„mich nicht entſchließen ‒ ‒ Vergeben Sie mir,
wenn
[483]
„wenn ich ſage, ich will mich nicht entſchließen
„‒ ‒ jemals die Seinige zu ſeyn.
„Allein Sie werden meine Gruͤnde erwarten.
„Jch weiß gewiß, Sie werden es thun. Halte
„ich dieſelben zuruͤck: ſo werden Sie ſchließen,
„daß ich entweder eigenſinnig, oder unverſoͤhnlich,
„oder gar beydes ſey. Das wuͤrden harte Be-
„ſchuldigungen ſeyn, wenn ſie gegruͤndet waͤren,
„und einer Perſon, die den Tod in Gedanken
„und im Munde fuͤhret, zu einem Vorwurf die-
„nen muͤßten. Und dennoch wuͤrde ich etwas
„ſagen, das ſchwerlich Glauben finden wuͤrde:
„wenn ich ſagen wollte, daß Unwillen, und Mis-
„vergnuͤgen uͤber eine fehlgeſchlagene Hoffnung,
„an meinem Entſchluſſe kein Theil haͤtten. Denn
„ich geſtehe, ich bin unwillig, hoͤchſt unwillig:
„aber mein Unwillen iſt nicht unvernuͤnftig. Sie
„werden ſelbſt davon uͤberzeugt werden, wo Sie
„es noch nicht ſind: wenn Sie meine ganze Ge-
„ſchichte wiſſen; ‒ ‒ wofern Sie dieſelbe jemals
„erfahren ‒ ‒ Da ich ſo viele Dinge zu thun
„habe, an die es noͤthiger iſt zu gedenken, als an
„dieſen Menſchen, oder an meine eigne Rechtfer-
„tigung: ſo fange ich an, zu befuͤrchten, daß ich
„nicht Zeit haben werde, das zu Stande zu brin-
„gen, was ich mir vorgenommen, und Jhnen ge-
„wiſſermaßen verſprochen habe (*).
„Jch habe einen Grund zur Unterſtuͤtzung
„meines Entſchluſſes anzugeben, den Sie, wie
H h 2„ich
[484]
„ich glaube, ſelbſt einraͤumen werden. Weil ich
„aber geſtanden habe, daß ich unwillig bin: ſo
„will ich von denen Bewegurſachen, woran der
„Zorn, und das Misvergnuͤgen uͤber meine fehl-
„geſchlagene Hoffnung zu viel Antheil haben,
„den Anfang machen. Jch hoffe, daß, wenn ich
„einmal mein Gemuͤth von dieſen nagenden und
„unruhigen Leidenſchaften entladen, und ſie auf
„das Papier und gegen meine Anna Howe aus-
„geſchuͤttet habe, ich ihnen vorbeugen werde, da-
„mit ſie niemals wieder in mein Herz zuruͤckkeh-
„ren, und beſſere, ſanftmuͤthigere, und angeneh-
„mere Regungen an ihre Stelle treten moͤgen.
„Erlauben Sie mir denn, Jhnen zu geſte-
„hen, daß mein Stolz zwar ſehr gedemuͤthiget,
„aber noch nicht hinlaͤnglich gedemuͤthiget iſt:
„wofern die Noth erfordert, daß ich mich herab-
„laſſen ſoll, denjenigen zu einem Manne zu waͤh-
„len, deſſen Handlungen mir ein Abſcheu ſind
„und ſeyn muͤſſen! ‒ ‒ Wie? ‒ ‒ Soll ich; da-
„gegen mich vorſetzlicher und treuloſer Weiſe, ei-
„ne ſo unmenſchliche Grauſamkeit veruͤber iſt, daß
„es eine Marter ſeyn muß, daran zu gedenken,
„und, ohne die Sittſamkeit zu verletzen, nicht be-
„ſchrieben werden kann; ſoll ich mir in den Sinn
„kommen laſſen, dem, der mich zu ſchanden ge-
„macht hat, mein Herz zu ſchenken? Kann ich
„einem ſo gottloſen Menſchen Treue geloben,
„und mein ewiges Heil, durch die Verbindung
„mit einem ſo gar verruchten Boͤſewicht, zu wa-
„ge ſetzen: da ich nun einmal weiß, daß er eiu
„ſolcher
[485]
„ſolcher Menſch iſt? Halten Sie Jhre Clariſſa
„Harlowe fuͤr ſo verlohren, oder wenigſtens fuͤr
„ſo weit erniedriget, daß Sie, um nur in den
„Augen der Welt einer gekraͤnkten Ehre wieder
„einen Anſtrich zu geben, der Großmuth, oder
„vielleicht dem Mitleiden eines Menſchen, der
„durch ſo unmenſchliche Mittel ihr dieſelbe ge-
„raubt hat, auf eine niedertraͤchtige Art verbun-
„den ſcheinen ſollte? Jn Wahrheit, liebſte Freun-
„dinn, ich wuͤrde meine Reue uͤber den unbeſon-
„nenen Schritt, den ich gethan habe, fuͤr nichts
„beſſeres, als fuͤr einen ſcheinbaren Betrug anſe-
„hen: wenn ich nicht, auch ſo gar uͤber den ge-
„ringſten Wunſch, Herrn Lovelace zu einem Man-
„ne zu haben, erhoben waͤre.
„Ja, ich ſtehe dafuͤr, ich muͤßte mich krie-
„chend gegen den ehrloſen Beleidiger erniedri-
„gen, und ihm dankbar ſeyn, daß er mir eine ſo
„elende Gerechtigkeit widerfahren ließe.
„Sehen Sie mich nicht ſchon, wenn ich Jh-
„rem gegebenen Rath folge, vor ſeinen Freunden
„mit niedergeſchlagenen Augen erſcheinen, und
„vor meinen eignen, wofern etwa dieſe ſich her-
„ablaſſen wollten, mich zu erkennen, ohne die edle
„Freymuͤthigkeit, welche aus einem Gemuͤthe,
„das ſich keines verdienten Vorwurfs bewußt iſt,
„entſpringet?
„Sehen Sie mich nicht um mein eignes Haus
„herumkriechen, und alle meine ehrliche Maͤgde
„mir ſelbſt vorziehen? ‒ ‒ als wenn ich mich ſo
„gar ſcheuete, meine Lippen, entweder zu einem
H h 3„Ver-
[486]
„Verweiſe, oder zu einer Erinnerung, gegen ſie
„zu oͤffnen, damit ihre kuͤhnere Augen mir nicht
„gebieten moͤchten, in mich ſelbſt zu gehen, und
„von ihnen nicht zu erwarten, daß ſie vollkom-
„men ſeyn ſollten.
„Und ſoll ich dem nichtswuͤrdigen Menſchen
„ein Recht geben, mir ſeine Großmuth und ſein
„Mitleiden vorzuhalten, ja mir vielleicht gar
„Vorwuͤrfe zu machen, daß ich im Stande ge-
„weſen bin, ſolche Schandthaten zu vergeben?
„Es iſt wahr, ich machte mir vormals Hoff-
„nung, daß ich ſo gluͤcklich ſeyn moͤchte, ihn auf
„beſſere Wege zu bringen: indem ich mir gar
„nicht traͤumen ließ, daß er ein ſo vorſetzlich
„ſchaͤndlicher Kerl waͤre. Jch glaubte vergebens,
„daß er mich aufrichtig genug liebte, meinen
„Rath zu ſeinem Beſten anzunehmen und das
„Beyſpiel, welches ich ihm zu geben mich in de-
„muͤthiger Hoffnung geſchickt hielte, bey ſich et-
„was gelten zu laſſen: und das um ſo viel mehr,
„da er keine geringe Meynung von meiner Tu-
„gend und von meinem Verſtande hatte. Aber
„was iſt nun fuͤr Hoffnung zu dieſer meiner er-
„ſten Hoffnung uͤbrig? ‒ ‒ Sollte ich ihn hey-
„rathen: was wuͤrde ich fuͤr eine Perſon ſpielen;
„wenn ich einem Menſchen, dem ich Gelegenheit
„gegeben haͤtte, mich von allen meinen Pflichten
„abzuleiten, Tugend und Sittenlehre predigen
„wollte? Setzen Sie ferner, daß ich von einem
„ſolchen Manne Kinder bekommen moͤchte. Was
„meynen Sie wohl? Muͤßte es einer nachdenken-
„den
[487]
„den Perſon nicht das Herz nagen: wenn ſie um
„ſich herum auf ihre kleine Familie ſehen, und
„gedenken ſollte, daß ſie ihnen einen Vater gege-
„ben haͤtte, der, ohne ein Wunderwerk, zum Ver-
„derben beſtimmt waͤre, und deſſen Laſter durch
„ſein ſchaͤndliches Beyſpiel auf ſie fortgepflanzet
„werden, und, nur nach allzu vieler Wahrſchein-
„lichkeit, einen Fluch uͤber ſie bringen moͤchte?
„‒ ‒ Ja, wer weiß bey dem allen, ob nicht mei-
„ne ſuͤndliche Gefaͤlligkeit gegen einen Mann, der
„ſich ſelbſt berechtigt halten wuͤrde, Gehorſam
„von mir zu fordern, meine eigne Tugend anſte-
„cken, und mich, ſtatt daß ich ihn beſſern ſollte,
„zu einer Nachfolgerinn von ihm machen moͤch-
„te? ‒ ‒ Denn wer kann Pech angreifen,
„und ſich nicht beſudeln?
„Erlauben Sie mir alſo, noch einmal mich
„zu erklaͤren, daß ich dieſen Mann aufrichtig ver-
„achte! Wo ich mein eignes Herz kenne: ſo
„thue ich es in Wahrheit! ‒ ‒ Jch habe Mit-
„leiden mit ihm! ‒ ‒ So weit er auch fuͤr mein
„Mitleiden zu niedrig iſt: ſo habe ich doch Mit-
„leiden mit ihm! ‒ ‒ Allein dieß koͤnnte ich nicht
„thun: wenn ich ihn noch liebte. Denn ge-
„wiß, meine Wertheſte, die Niedertraͤchtigkeit
„und Undankbarkeit desjenigen, den wir lieben,
„muͤſſen wir nothwendig hoͤchſt uͤbel empfinden.
„Jch liebe ihn daher nicht! Meine Seele verab-
„ſcheuet es, Gemeinſchaft mit ihm zu haben.
„Jſt aber nun gleich ſo viel meinem Un wil-
„len zuzuſchreiben: ſo bin ich doch durch die zor-
H h 4„nigen
[488]
„nigen Wirkungen deſſelben nicht ſo weit hinge-
„riſſen, daß ich ungeſchickt geworden ſeyn ſollte,
„nachzuſinnen, was ich thun muͤßte, oder was
„geſchehen koͤnnte; wenn der Allmaͤchtige mir
„gebieten ſollte, laͤnger zu leben, damit die Zeit zu
„meiner Buße verlaͤngert wuͤrde.
„Das unehliche Leben iſt mir, zu gewiſſen
„Zeiten, als diejenige Lebensart, als die einzige
„Lebensart, die ich erwaͤhlen koͤnnte, vorgekom-
„men. Allein muͤßte ich mich nun nicht beſtaͤn-
„dig in demſelben mit dem Andenken meiner
„vergangenen Drangſale ſchleppen, und uͤber
„meine Fehler klagen, bis die Stunde zu meiner
„Aufloͤſung herbey kaͤme? Wuͤrde nicht ein jeder
„vermoͤgend ſeyn, den Grund anzugeben, warum
„Clariſſa Harlowe die Einſamkeit erwaͤhlet, und
„ſich der Welt entzogen haͤtte? Wuͤrde nicht der
„Blick eines jeden, der mich ſehen moͤchte, mir
„als ein Vorwurf wider mich vorkommen? Und
„wuͤrde nicht mein ſich bewußtes Auge meinen
„Fehler bekennen, anderer Leute Augen moͤchten
„mich anklagen, oder nicht? Es iſt ſonſt eine von
„meinen Ergoͤtzungen geweſen, die Huͤtten mei-
„ner armen Nachbarn zu beſuchen, und den Kna-
„ben gute Lehren, den aͤltern Maͤgdchens War-
„nungen zu geben. Wie ſollte ich nun im Stan-
„de ſeyn, ohne Regungen des Gewiſſens und oh-
„ne Quaal, zu den letztern zu ſagen: Fliehet die
„Teuſchereyen der Mannsperſonen: da man von
„mir gedacht haͤtte, daß ich ſelbſt mit einer Manns-
„perſon davon gelaufen waͤre?
„Was
[489]
„Was kann ich denn anders wuͤnſchen, mei-
„ne liebſte, meine einzige Freundinn, als nur
„den Tod? ‒ ‒ Und was iſt der Tod, wenn man
„alles erwaͤget? Er iſt nur der Beſchluß eines
„ſterblichen Lebens. Er iſt nur die Vollendung
„eines vorgeſetzten Laufes; eine erquickende Her-
„berge nach einer beſchwerlichen Reiſe; das En-
„de eines ſorgevollen und muͤhſamen Lebens;
„und, wenn er gluͤcklich ausfaͤllt, der Anfang zu
„einem Leben in unſterblicher Gluͤckſeligkeit.
„Wenn ich nun nicht ſterbe: ſo kann es ſich
„vielleicht zutragen, daß ich uͤberfallen werde,
„wenn ich weniger dazu bereit bin. Waͤre ich
„denen Ungluͤcksfaͤllen entgangen, unter welchen
„ich ſeufze: ſo haͤtte es mitten in einer freudigen
„und erwartungsvollen Hoffnung geſchehen moͤ-
„gen; wenn mein Herz vor Verlangen nach
„dem Leben aͤngſtlich und heftig geſchlagen, und
„die Eitelkeit dieſer Erden mich eingenommen
„haͤtte.
„Nun aber, meine Wertheſte, erlauben Sie
„mir dieß zu Jhrer Befriedigung zu ſagen, nun
„wuͤnſche ich zwar nicht zu leben: jedoch moͤchte
„ich auch nicht, wie ein nichtswuͤrdiger und feiger
„Soldat, meinen Poſten verlaſſen, wenn ich ihn
„behaupten kann, und es meine Schuldigkeit
„iſt, ihn zu behaupten.
„Jch bin freylich, mehr als einmal, durch ſo
„ſuͤndliche Gedanken getrieben worden. Aber
„es war in meiner aͤußerſten Beklemmung.
„Einmal, inſonderheit, das habe ich Urſache zu
H h 5„glau-
[490]
„glauben, rettete ich mich durch meine Verzwei-
„felung von der aͤrgerlichſten Beſchimpfung mei-
„ner Perſon; von einer neuen Vollziehung ſei-
„ner Schandthat, ſo viel ich weiß: indem die
„ehrloſen Weibsbilder, die ich mit ſo vielem Grun-
„de fuͤrchtete, gegenwaͤrtig waren, mir Furcht
„einzujagen, wo nicht gar ihm beyzuſtehen! ‒ ‒
„O! meine Allerliebſte, Sie wiſſen nicht, was ich
„bey der Gelegenheit ausgeſtanden habe! ‒ ‒ ‒
„Eben ſo wenig weiß ich ſelbſt, was es geweſen
„ſeyn wuͤrde, dem ich damals entgangen bin:
„wofern ſich der gottloſe Kerl zu mir genaͤhert
„haͤtte, die ſcheuslichen Abſichten ſeines ſchaͤndli-
„chen Herzens zu vollziehen. Jch fand einen
„Heldenmuth an mir; eine Herzhaftigkeit, die ich
„vorher niemals gefuͤhlet hatte; eine geſetzte,
„nicht eine unbeſonnene Herzhaftigkeit; und ei-
„ne ſolche Herrſchaft uͤber meine Gemuͤthsbewe-
„gungen ‒ ‒ Jch kann nur ſo viel ſagen, daß
„ich nicht weiß, wie ich zu einer ſolchen Erhe-
„bung des Gemuͤths gekommen bin: wofern ſie
„mir nicht als eine Erfuͤllung meines ernſtlichen
„Gebetes zu Gott um eine ſolche Gewalt uͤber
„mich ſelbſt, ehe ich zu der ſchrecklichen Geſell-
„ſchaft ging, verliehen war.“
Gleichwie ich der Meynung bin, daß es mehr
Rache und Verzweifelung, als gute Grundſaͤtze,
gezeigt haben wuͤrde; wenn ich mir ſelbſt Gewalt
gethan haͤtte, nachdem die Schandthat an mir
vollbracht war: alſo wuͤrde ich es nicht weniger
fuͤr ein großes Verbrechen halten; wenn ich mich
frey-
[491]
freywillig ſelbſt verabſaͤumen; wenn ich vor-
ſetzlich dem Tode in die Arme rennen ſollte, da
ich ihn vermeiden moͤchte. Der Kerl denkt faͤlſch-
lich, daß ich dieß thun werde.
Die Vermuthungen eines ſo kurzſichtigen, ei-
nes ſo niedriggeſinnten Menſchen, aber moͤgen
ſeyn, was ſie wollen: ſo muͤſſen Sie, meine Wer-
theſte, doch den Schluß, welchen ich gefaſſet ha-
be, niemals dieſen, und wo nicht dieſen, irgend
einen andern Mann, zu nehmen, weder einer fin-
ſtern Gemuͤthsart, einer Schwermuͤthigkeit, einer
Verzweifelung, noch einer hitzigen Neigung zu
einem laſterhaften Stolze oder noch weit laſter-
haftern Rache beylegen. Jch bin ſo weit ent-
fernt; das verſichere ich, meine wertheſte, mei-
ne einzige Geliebte; dieſen Vorwurf zu verdie-
nen, daß ich alles thun will, was ich kann, mein
Leben zu verlaͤngern, bis es Gott, in Gnade ge-
gen mich, gefallen wird, daſſelbe von mir zu for-
dern. Jch habe Urſache zu denken, daß meine
Strafe nur die verdiente Folge meines Verge-
hens iſt, und will ihr nicht entlaufen, ſondern den
Himmel bitten, ſie mir zu heiligen. Wenn der
natuͤrliche Trieb zu Speiſe und Trank mir zu
ſtatten kommt, will ich ſo viel eſſen und trinken,
als genug iſt, die Natur zu erhalten. Sehr we-
nig, wiſſen Sie, wird dazu hinreichen. Und was
mir meine Aerzte vorzuſchreiben fuͤr dienlich fin-
den werden, das will ich nehmen: wenn es auch
noch ſo unangenehm ſeyn ſollte. Kurz, ich will
alles thun, was ich kann, damit ich alle meine
Freun-
[492]
Freunde, welche es nach dieſem ihrer Muͤhe werth
achten moͤgen, ſich nach meiner letzten Auffuͤhrung
zu erkundigen, uͤberfuͤhre, daß ich mein Leben mit
ziemlicher Gedult ertragen, und mit einem Looße,
das ich fuͤr mich ſelbſt gezogen, zufrieden zu ſeyn
geſuchet habe. Denn ſo ſage ich oft, in demuͤ-
thiger Nachahmung des erhabenſten Muſters:
‒ ‒ Herr, es iſt dein Wille, und es ſoll auch mein
Wille ſeyn. Du biſt gerecht in allem deinem
Thun mit den Menſchenkindern: und ich weiß,
du wirſt mich nicht mehr betruͤben, als daß ich
es ertragen kann. Kann ich es aber ertragen:
ſo muß ich es billig ertragen, und unter dem
Beyſtande deiner Gnade will ich es ertragen.
„Allein hier, meine Wertheſte, iſt ein ande-
„rer Grund: ein Grund, der Sie uͤberzeugen
„wird, daß ich nicht an das Heyrathen, ſondern
„an eine ganz andere Vorbereitung gedenken
„muͤſſe. So gewiß als ich verſichert bin, daß
„ich itzo lebe: ſo gewiß bin ich auch verſichert,
„daß ich nicht lange leben werde. Die ſtarke
„Empfindung, welche ich allezeit von meinem
„Vergehen gehabt habe, der Verluſt meines gu-
„ten Namens, das Misvergnuͤgen uͤber meine
„zernichtete Hoffnungen, der unablaͤßige Zorn
„meiner Freunde, haben der unmenſchlichen Be-
„gegnung, die mir widerfahren iſt, wo ich es am
„wenigſten verdiente, geholfen, und mein Herz
„angegriffen; es noch eher angegriffen, als es
„durch Gruͤnde der Religion ſo befeſtiget war,
„als es, meiner Hoffnung nach, nunmehr iſt.
„Be-
[493]
„Betruͤben Sie ſich nicht, meine Wertheſte ‒ ‒
„Aber ich bin gewiß, wo ich es mit ſo weniger
„Vermeſſenheit, als Betruͤbniß, ſagen mag, nach
„Hiobſr; Worten, daß Gott bald mein Weſen
„aufloͤſen, und mich dem Tode und der
„Wohnung, die fuͤr alle Lebendige beſtimmt
„iſt, zufuͤhren werde.“
Nun, meine liebſte Freundinn, wiſſen Sie
meine Geſinnung vollkommen. Sie werden die
Guͤte haben, an die Fraͤuleins von Herrn Lovela-
cens Familie zu ſchreiben, daß ich mich ihnen al-
len fuͤr ihre gute Meynung von mir unendlich
verbunden achte; und daß es mir ein groͤßeres
Vergnuͤgen gemacht habe, als ich in dieſem Leben
erwartet haͤtte, daß ich, auf eine ſo geringe, und
nicht einmal perſoͤnliche, Kenntniß von mir, einer
Verbindung mit ihrer anſehnlichen Familie, nach
der Mishandlung, die mir widerfahren iſt, wuͤr-
dig geachtet bin: allein daß ich keinesweges an
ihren Verwandten, als an meinen Ehegatten, ge-
denken koͤnne. Haben Sie auch die Gewogen-
heit, meine Wertheſte, aus dem obigen einen
Auszug von denenjenigen Gruͤnden zu machen,
welche nach Jhren Gedanken einiges Gewicht
bey denenſelben haben.
Jch wuͤrde ſelbſt an ſie ſchreiben, ihre gewo-
gene Geſinnung mit Dank zu erkennen: wenn
ich fuͤr meinen Kopf, fuͤr mein Herz und fuͤr mei-
ne Finger nicht mehr zu thun haͤtte, als ſie, wie
mir bange iſt, zu vollfuͤhren vermoͤgend ſeyn
werden.
Es
[494]
Es wuͤrde mir lieb ſeyn, zu wiſſen, wenn Sie
ſich zu Jhrer Reiſe auf den Weg machen, wo
Sie Jhre kleine Stationen haben und wie lange
Sie ſich bey Jhrer Tante Harmann aufhalten
werden: damit Jhnen mein Gebet beſonders an
alle und jede Oerter, wohin Sie nur gehen, und
wo Sie ſind, folgen moͤge.
Clariſſa Harlowe.
Der ſieben und ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Da der Brief, welcher den gegenwaͤrtigen be-
gleitet, eines ganz beſondern Jnhalts iſt:
ſo habe ich ihn nicht gern mit einem andern, ſo
zu ſagen, verwirren wollen. Jnzwiſchen habe
ich doch noch einige andere Dinge auf dem Her-
zen, welche Jhre Entſchuldigung noͤthig haben
werden, daß ich dieſelben an Sie gelangen laſſe.
Jch hoffe, Sie werden den folgenden Zeilen dieſe
Entſchuldigung nicht verſagen.
Meine gute Fr. Norton hat mir vor einiger
Zeit, in einem Briefe vom 3ten dieſes Monats (*),
einen Wink gegeben, daß meine Verwandten ei-
nige
[495]
nige harte Dinge, welche Sie aus Liebe zu mir
wider dieſelben zu ſagen beliebten, uͤbel naͤhmen.
Fr. Norton beruͤhrte dieß mit der ehrſurchtsvol-
len Liebe, die ſie gegen meine theureſte Freundinn
heget: wuͤnſchte aber, daß Sie um meinetwil-
len eine Lebhaftigkeit, welche Jhnen bey den mei-
ſten andern Gelegenheiten ſo wohl ſtehet, zuruͤck-
halten moͤchten. Dieß war ihre Meynung. Sie
wiſſen, daß ich eine Sicherheit habe, freyer gegen
meine Anna Howe zu reden und zu ſchreiben, als
als Frau Norton thun wuͤrde.
Jch durfte zu der Zeit gegen Sie keine Er-
waͤhnung davon thun: weil alles einen ſo ſtar-
ken Schein wider mich hatte, da Herr Lovelace,
nach meiner Flucht nach Hampſtead, mich wie-
der in ſeine Gewalt zu bekommen gewußt, daß
Sie deswegen in Jhrer Antwort auf meinen
Brief bey meiner zwoten Flucht ſehr mit mir zuͤr-
neten. Bald hernach ward ich durch den grau-
ſamen Verhaft eingeſperret. Daher habe ich
dieſe Sache nicht wohl eher, als itzo, beruͤhren
koͤnnen.
Erlauben Sie mir alſo nun, meine liebſte
Fraͤulein Howe, meine ernſtliche Bitte zu wie-
derholen; denn dieß iſt, unter verſchiedenen,
nicht das erſte mal, da ich genoͤthigt werde, auf
dieſe Veranlaſſung, mit Jhnen zu keifen; erlau-
ben Sie mir meine ernſtliche Bitte zu wiederho-
len, daß Sie, in allen Jhren Unterredungen von
mir, meiner Eltern und meiner andern Verwand-
ten ſchonen wollen. ‒ ‒ Jch wuͤnſchte freylich,
daß
[496]
daß dieſe es fuͤr gut befunden haͤtten, andere
Maaßregeln mit mir zu nehmen: allein wer ſoll
ihr Richter ſeyn? ‒ ‒ Der Ausgang hat ſie ge-
rechtfertiget, und mich verdammet. Sie erwar-
teten nichts gutes von dieſem ſchaͤndlichen Kerl.
Er hat ſie alſo nicht betrogen. Aber von mir
erwarteten ſie etwas anderes: und ſind betrogen
worden. Sie haben um ſo viel mehr Urſache,
gegen mich eingenommen zu ſeyn; wo ſie nicht
willens geweſen ſind, wie meine Tante Hervey
ehemals an mich ſchrieb (*), meine Neigung ge-
gen Herrn Solmes zu erzwingen; und wo ſie
glauben, daß ich nach einem freywilligen Ent-
ſchluſſe und mit Vorbedacht, von ihnen gelaufen
ſey.
Jch verlange gar nicht, wiederum zu der vo-
rigen Gunſt bey ihnen aufgenommen zu werden.
Denn warum ſollte ich ſitzen, und etwas wuͤn-
ſchen, das ich keine Urſache habe zu erwarten?
‒ ‒ Ueber dieß wuͤrde ich ihnen nicht ins Geſicht
ſehen koͤnnen: wenn ſie mich auch aufnehmen
wollten. Jn der That, ich wuͤrde es nicht koͤn-
nen. Alles, was ich zu hoffen habe, iſt, daß
mein Vater erſt mich von ſeinem ſchweren Fluch
losſprechen, und hiernaͤchſt mir den letzten Segen
ertheilen wolle. Dieſe Gunſtbezeigungen ſind
zur Beruhigung meines Gemuͤths unumgaͤnglich
noͤthig.
Jch habe an meine Schweſter geſchrieben:
aber nur der Losſprechung von dem Fluche gedacht.
Mir
[497]
Mir iſt bange, ich werde eine harte Antwort
von ihr bekommen. Mein Vergehen iſt in den
Augen meiner Familie ſo greulich, daß meine er-
ſte Vorſtellung ſchwerlich Eingang finden wird.
Außer dem wiſſen ſie nicht, und werden es auch
vielleicht nicht glauben, daß ich mich ſo gar ſchlecht
befinde, als in der That wahr iſt. Sollte ich
alſo wirklich vorher ſterben, ehe ſie Zeit haben
koͤnnten, die noͤthigen Erkundigungen einzuziehen:
ſo muͤſſen Sie keine zu ſtrenge Urtheile uͤber ſie
faͤllen. Sie muͤſſen es ein ungluͤckliches Schick-
ſal nennen: Jch weiß ſelbſt nicht, wie Sie es
nennen muͤſſen: denn ich habe dieſelben, leider!
in eben ſo viel Jammer gebracht, als mir ſelbſt
zu Theil geworden iſt. Und gleichwohl weiß ich,
nach meinen Gedanken, bisweilen nicht, ob mein
Kummer, daß ich ſie beleidigt habe, ſich nicht ver-
groͤßern wuͤrde, wenn ſie mir liebreich Vergebung
ankuͤndigen ſollten: indem ich mir vorſtelle, daß
nichts ein edelgeſinntes Gemuͤth mehr verwunden
koͤnne, als eine großmuͤthige Verzeihung.
Jch hoffe, Jhre Fr. Mutter werde unſern
Briefwechſel noch auf einen Monat erlauben:
ob ich gleich ihrem Rath, dieſen Mann zu neh-
men, nicht folge. Nur auf einen Monat.
Wenn große Veraͤnderungen nahe bevorſtehen:
was fuͤr Wechſel; Wechſel, wovor einem das
Herz erzittert, wenn man daran gedenket; kann
alsdenn ein kurzer Monat ans Licht bringen! ‒ ‒
Aber, wo ſie nicht will: ‒ ‒ wohlan, meine Wer-
Sechſter Theil. J itheſte,
[498]
theſte, ſo ſtehet uns beyden zu, ihren Willen uns
gefallen zu laſſen.
Sie koͤnnen ſich nicht einbilden, wie beſorgt
ich geweſen ſeyn wuͤrde, wenn ich gewußt haͤtte,
daß Herr Hickmann in einer ſo kitzlichen Angele-
genheit, als ſeine Geſandſchaft von Jhnen gewe-
ſen ſeyn muß, da es auf ein Befragen angekom-
men, mit dem uͤbermuͤthigen und unbaͤndigen
Kerl eine Zuſammenkunft haben ſollte.
Sie machen mir zu einem Beſuch von ihm
Hoffnung. Laſſen Sie ihn nur erwarten, mich
hoͤchſt veraͤndert zu ſehen. Jch weiß, er liebet
mich: denn er liebet einen jeden, den Sie lieben.
Eine betruͤbte Zuſammenkunft! beſorge ich. Al-
lein es wird mir lieb ſeyn, einen Mann zu ſehen,
den Sie dereinſt, ich hoffe ein baldiges dereinſt,
gluͤcklich machen werden; und deſſen ſanſtmuͤthi-
ges Bezeigen und unumſchraͤnkte Liebe zu Jhnen
auch Sie gluͤcklich machen wird, wo es Jhre ei-
gne Schuld nicht hindert.
Jch bin, meine theureſte, meine guͤtigſte
Freundinn, angenehmſte Geſpielinn bey meinen
gluͤcklichen Stunden, Freundinn, die meinem ein-
genommenen Herzen allezeit die liebſte und naͤch-
ſte geweſen iſt,
Jhre gleichmaͤßig verbundne und getreue
Clariſſa Harlowe.
Der
[499]
Der acht und ſechzigſte Brief
von
Fr. Norton an Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Entſchuldigen Sie mich, meine liebſte Fraͤu-
lein, daß ich ſo lange geſchwiegen habe.
Jch bin ſehr krank geweſen. Mein armer
Sohn hat auch an den Pforten des Todes ge-
ſtanden: und da ich hoffete, daß es beſſer mit ihm
waͤre, hat er einen Ruͤckfall bekommen. Ach!
wertheſte Fraͤulein, er iſt ſehr gefaͤhrlich krank.
Schließen Sie uns beyde mit in Jhr Gebet.
Zwiſchen Jhrer Schweſter und Fraͤulein Ho-
we ſind ſehr heftige Briefe gewechſelt. Ein je-
der in Jhrer Familie iſt gegen dieſe Fraͤulein er-
bittert. Jch wuͤnſchte, daß Sie ihr gegen ihre
Hitze Vorſtellungen thun wollten. Denn es
kann nicht gut thun: indem Jhre Angehoͤrigen
nicht anders glauben werden, als daß ſie ſich auf
Jhre Nachſicht ins Mittel ſchlaͤgt; und nicht,
daß Sie ſo krank ſind, als Fraͤulein Howe ſie
verſichert.
Ehe ſie ſchrieb, gingen ſie damit um, daß ſie
den jungen Geiſtlichen, Herrn Brand, hinauf
ſchicken wollten, um ſich in geheim nach Jhrer
Geſundheit und Lebensart zu erkundigen. ‒ Aber
J i 2nun
[500]
nun ſind ſie ſo erbittert, daß ſie ihren Vorſatz ha-
ben fahren laſſen.
Es geht hier und zu Harlowe-Burg die Re-
de, daß Jhnen neue Beſchimpfungen widerfah-
ren; und daß Sie im Begriff ſind, ſich in den
Schutz der Lady Eliſabeth Lawrance zu begeben.
Jch glaube, es wuͤrde Jhren Verwandten nun-
mehr lieb ſeyn, wie es mir ſeyn ſollte, wenn Sie
es thun wollten. Dieß wird vielleicht verurſa-
chen, daß ſie es fuͤr itzo aufſchieben, etwas zu Jh-
rem Vortheil zu beſchließen.
Wie ungluͤcklich bin ich, daß der gefaͤhrliche
Zuſtand, worinn ſich mein Sohn befindet, mich
abhaͤlt, zu Jhnen zu kommen! Erlauben Sie
mir, um eine Nachricht zu bitten, wie Sie ſich,
ſo wohl in Anſehung Jhres Leibes, als Jhres
Gemuͤths, befinden. Ein Bedienter von dem
Herrn Robert Beachcroft, der in ſeines Herrn
Geſchaͤfften nach London reitet, wird Jhnen ge-
genwaͤrtiges uͤberreichen, und mir vielleicht ein
paar Zeilen, welche ich fuͤr eine beſondere Gunſt
anſehen werde, zur Antwort bringen. Er wird
einige Stunden in der Stadt zu bleiben genoͤ-
thigt ſeyn, bis er wieder abgefertigt wird.
Es iſt heute der Geburtstag, welcher eben ſo
vielen Perſonen, als das Vergnuͤgen und die
Ehre hatten, Sie zu kennen, Freude zu verurſa-
chen pflegte. Der Allmaͤchtige verleihe Jhnen
Heil und Gluͤck, und gebe, daß es der einzige ſeyn
moͤge, den Sie, wertheſte Fraͤulein, jemals im
Ungluͤck
[501]
Ungluͤck erleben; der einzige, an welchem Sie im
Ungluͤck gefunden werden von
Jhrer beſtaͤndig ergebenen
Judith Norton.
Der neun und ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fr. Norton.
Wenn ich nicht in neue Unruhen gefallen waͤ-
re, die mich auf verſchiedne Tage außer
Stande geſetzt, eine Feder zu halten: ſo wuͤrde
ich nicht unterlaſſen haben, mich nach Jhrem
und Jhres Sohnes Befinden zu erkundigen.
Denn ich wuͤrde nur mehr als zu bereit geweſen
ſeyn, Jhr Stillſchweigen eben der Urſache zuzu-
ſchreiben, welcher es, wie ich zu meinem ſehr gro-
ßen Leidweſen befinde, zuzuſchreiben geweſen iſt.
Jch bitte den Himmel, Sie auf die Jhnen an-
genehmſte Art zu troͤſten.
Es geht mir uͤber alle Maaßen nahe, daß
Fraͤulein Howe meinetwegen an meine Freunde
geſchrieben hat. Jch habe eben ſo wenig von
ihrem Vorſatze, dieß zu thun, als von dem Jn-
halt ihres Briefes gewußt. Sie hat mir auch
J i 3noch
[502]
noch nicht eroͤffnet; vermuthlich, weil ſie durch
den uͤbeln Erfolg abgeſchrecket iſt; daß ſie ge-
ſchrieben hat. Es iſt unmoͤglich, an dem Ver-
gnuͤgen, das ſo reizende und muntere Gemuͤther
machen, ohne die Ungelegenheiten, welche mit ih-
rer Lebhaftigkeit verbunden ſeyn werden, Theil zu
nehmen. ‒ ‒ So untermengt ſind unſere beſte
Ergoͤtzungen!
Jch habe erſt geſtern geſchrieben, der lieben
Fraͤulein ſolche Freyheiten, wozu ihre unzeitige
Liebe gegen mich ſie verleitet hatte, zu verweiſen:
weil Sie mir in Jhrem vorigen Briefe davon
Nachricht gaben. Mir iſt bange geweſen, daß
alle dergleichen Freyheiten mir zur Laſt gelegt
werden moͤchten. Jch bin verſichert, daß nichts,
als meine eigne Vorſtellung bey meinen Freun-
den, und eine vollkommene Ueberzeugung von
meiner herzlichen Reue, mir einige Gewogenheit
auswirken werde. Am wenigſten unter allen
kann ich vermuthen, daß entweder Jhre, oder
dieſer werthen Freundinn Vermittelung, mir et-
was nuͤtzen werde: da Jhrer beyder allzu zaͤrtli-
che und parteyiſche Liebe gegen mich ſo wohl be-
kannt iſt.
- Hierauf giebt die Fraͤulein eine kurze
Nachricht von dem Verhaft; von
ihrem niedergeſchlagenen Zuſtande bey
demſelben; von ihrer Furcht, daß ſie
wieder in das vorige Haus zuruͤckge-
bracht werden moͤchte; von Herrn
Lovelacens betheurter Unſchuld an die-
ſer
[503]
ſer ſchimpflichen Gewaltthaͤtigkeit;
von ihrer Befreyung durch Herrn Bel-
ford; von Herrn Lovelacens Verſpre-
chen, ihr nicht beſchwerlich zu fallen;
von der Zuſendung ihrer Kleider; von
dem ernſtlichen Verlangen aller ſeiner
Freunde und ſein ſelbſt, ihn zu heyra-
then; von dem Rath der Fraͤulein
Howe, daß ſie ſich ihren Bitten ge-
faͤllig bezeigen moͤchte; und von ih-
rem frey geaͤußerten Entſchluſſe, lieber
zu ſterben, als ihn zu nehmen, den ſie
nur erſt geſtern der Fraͤulein Howe
gemeldet haͤtte, damit er ſeinen Ver-
wandten hinterbracht wuͤrde. Als-
denn faͤhrt ſie alſo fort:
Nun werden Sie ſich vielleicht wundern,
meine liebe Fr. Norton, daß ich eine ſolche Ant-
wort gegeben habe. Aber wenn Sie alles wiſ-
ſen werden: ſo werden Sie, da Sie mich ſo wohl
kennen, nicht boͤſe von mir gedenken. Ueber dieß
bin ich in einer beſſern Vorbereitung begriffen,
als einen irdiſchen Braͤutigam zu empfangen.
Stellen Sie ſich auch nicht vor, meine wer-
the und allezeit ehrwuͤrdige Freundinn, daß mei-
ne gegenwaͤrtige Gemuͤthsverfaſſung von einem
finſtern Weſen oder von einer Niedergeſchlagen-
heit herruͤhre. Denn ſie iſt zwar durch ein Mis-
vergnuͤgen uͤber meine fehlgeſchlagene Hoffnung
zuerſt veranlaſſet worden; indem mir die Welt
J i 4ſehr
[504]
ſehr fruͤhe, ſo gar bey meinem erſten und uͤber-
eilten Schritt in dieſelbe, ihre wahre und haͤß-
liche Geſtalt gezeiget hat: jedoch hoffe ich, daß
ſie eine beſſere Wurzel bekommen habe, und die-
ſes durch ihre Fruͤchte, ſo wohl mir, als allen
meinen Freunden, taͤglich mehr und mehr zeigen
werde.
Jch habe an meine Schweſter geſchrieben.
Es war am verwichnen Freytage. Alſo ſind die
Wuͤrfel ausgeworfen. Jch hoffe auf eine gelin-
de und guͤtige Antwort. Aber vielleicht wuͤrdi-
gen ſie mich gar keiner. Es iſt das erſte mal,
wie Sie wiſſen, daß ich mich gerades Weges an
ſie wende. Jch moͤchte wuͤnſchen, daß Fraͤulein
Howe mich in dieſer bedenklichen Sache mir ſelbſt
uͤberlaſſen haͤtte.
Es wird mir zu einem großen Vergnuͤgen
gereichen, wenn ich hoͤre, daß Sie wieder geneſen
ſind, und mein Mitſaͤugling außer Gefahr iſt.
Allein warum ſagte ich, außer Gefahr? ‒ ‒
Wenn kann dieß wohl mit Grunde von Geſchoͤ-
pfen geſaget werden, die ein ſo ungewiſſes Recht
dazu haben? Es iſt eine von denen gewoͤhnlichen
Redensarten, welche die Hinfaͤlligkeit und kuͤh-
ne Einbildung der armen Sterblichen zugleich
beweiſet.
Kraͤnken Sie ſich nicht, daß Sie ihre Wuͤn-
ſche, bey mir zu ſeyn, nicht erfuͤllen koͤnnen. Jch
bin gluͤcklicher, als ich unter lauter fremden Leu-
ten zu ſeyn vermuthen konnte. Es war mir an-
fangs etwas betruͤbtes: aber Gewohnheit macht
alles
[505]
alles bey uns gut. Die Leute in dem Hauſe, wo
ich bin, ſind hoͤflich und ehrlich. Es hat auch
eine Witwe in demſelben eingemiethet. Habe
ich Jhnen das nicht ſchon gemeldet? Eine gott-
ſelige Frau: die dadurch noch deſto beſſer gewor-
den iſt, daß ſie in der Leidensſchule gelernet hat.
Eine vortreffliche Schule! meine liebe Fr.
Norton, die uns lehret, uns ſelbſt zu erkennen,
mit einander Mitleiden zu haben, einander zu
ertragen und unſre Augen zu einer beſſern Hoff-
nung aufzuheben.
Jch habe einen ſo leutſeligen Arzt, der auf
ſeine Bezahlung am wenigſten denket, und einen
ſo rechtſchaffenen Apotheker, als jemals einen
Kranken beſucht haben. Meine Waͤrterinn iſt
fleißig, geſaͤllig, ſtille und maͤßig. So bin ich
nicht ungluͤcklich, weder aͤußerlich noch inner-
lich-Jch hoffe, meine werthe Frau Norton,
daß meine innerliche Gluͤckſeligkeit taͤglich mehr
und mehr zunehmen werde.
Es wuͤrde mir unſtreitig eine der troſtreiche-
ſten Vergnuͤgungen ſeyn, die ich empfinden koͤnn-
te, wenn ich Sie bey mir haͤtte: Sie, welche
mich ſo herzlich lieben; Sie, welche die wachſa-
me Stuͤtze meiner unvermoͤgenden Kindheit ge-
weſen ſind; Sie, aus deren guten Lehren ich ſo
vielen Vortheil gezogen habe! ‒ ‒ Jn Jhren
Schooß koͤnnte ich allen meinen Kummer geru-
hig niederlegen: und, durch Jhre Gottſeligkeit
und Erfahrung in den Wegen des Himmels,
J i 5wuͤrde
[506]
wuͤrde ich in dem, was ich noch auszuſtehen ha-
be, geſtaͤrket werden.
Aber da es nicht ſeyn muß: ſo will ich mich
zufrieden geben. Das, hoffe ich, werden Sie
auch thun. Denn Sie ſehen, in was fuͤr Be-
trachtungen ich nicht ungluͤcklich bin: und in
denen, worinn ich es bin, ſtehet es nicht in Jhrer
Gewalt, mir zu helfen.
Außerdem habe ich, wie gedacht, alle meine
Kleider in meinem eignen Beſitze. Alſo bin ich
fuͤr dieſe Welt und die ordentlichen Beduͤrfniſſe
reich genug.
So ſehen Sie, meine ehrwuͤrdige und liebe
Freundinn, daß ich nicht allemal die ſchwarze
Seite von meinem Schickſal vorkehre, damit ich
nur zum Mitleiden bewegen moͤge: ein Kunſt-
griff, der mir nur allzu oft von meiner harther-
zigen Schweſter vorgeworfen iſt; da doch mein
Herz, wofern ich es ſelbſt kenne, uͤber alle Raͤn-
ke und Kuͤnſte erhaben iſt. Jedoch hoffe ich,
endlich ſo gluͤcklich zu ſeyn, daß ich mir durch die-
ſe Gabe, wo es meine Gabe iſt, vielmehr Vor-
theil verſchaffe, als Vorwurf zuziehe. End-
lich, ſage ich: denn weſſen Herz habe ich bisher
beweget? ‒ ‒ Niemandes, bin ich verſichert, der
nicht ſchon vorher zu meinem Beſten eingenom-
men war.
Was den Tag betrifft: ‒ ‒ ſo habe ich ihn
ſo zugebracht, wie ich billig ſollte. ‒ ‒ Es iſt ein
ſehr ſchwerer Tag fuͤr mich geweſen! ‒ ‒ Auch
mehr um meiner Freunde, als um mein ſelbſt
willen!
[507]
willen! ‒ ‒ Wie pflegten ſie denſelben zu bege-
hen! ‒ ‒ Was war er fuͤr ein Freudenfeſt! ‒ ‒
Wie haben ſie ihn nun zugebracht! ‒ ‒ Wie
traurig! als man ſich leicht einbilden mag. ‒ ‒
Sagen Sie nicht, daß diejenigen grauſam ſind,
die ſo viel durch mein Vergehen leiden, und die
ganzer achtzehn Jahre nach einander ſich in mir
erfreueten, und durch ihre zaͤrtliche Guͤte mich
erfreueten! ‒ ‒ Jedoch das Uebrige will ich nur
denken! ‒ ‒ Leben Sie wohl, meine liebſte Fr.
Norton! ‒ ‒ Leben Sie wohl!
Der ſiebzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Arab. Harlowe.
Hielte ich den Zuſtand meiner Geſundheit
nicht fuͤr ſehr zweydeutig, meine liebſte
Schweſter, und ſaͤhe ich es nicht fuͤr meine
Schuldigkeit an, dieſen Schritt zu thun: ſo
wuͤrde ich ſchwerlich ſo kuͤhn geweſen ſeyn,
mich, obgleich nur mit meiner Feder, zu
Euch zu nahen; nachdem ich Eure Vorwuͤr-
fe ſo erſchrecklich gerechtfertigt befunden habe, als
ſie wirklich gerechtfertigt ſind.
Jch habe nicht das Herz, an meinen Vater
ſelbſt, auch noch nicht an meine Mutter, zu ſchrei-
ben. Mit zittern wende ich mich an Euch, Euch
um
[508]
um Eure Fuͤrbitte zu erſuchen, daß mein Vater
die Guͤtigkeit haben wolle, den ſchwereſten Theil
des ſehr ſchweren Fluches, den er auf mich gele-
get hat; den Theil, der ſich auf das zukuͤnftige
Leben beziehet, zu wiederruffen: denn, in Be-
trachtung des gegenwaͤrtigen, habe ich, in
der That, ſelbſt durch den Boͤſewicht, in
welchen ich, wie man gedachte, mein Ver-
trauen ſetzte, meine Strafe gefunden.
Da ich mir nicht Hoffnung mache, wieder in
die vorige Gunſt geſetzet zu werden: ſo mag mir
wohl erlaubt ſeyn auf die Erſuͤllung dieſer Bitte
ernſtlich zu dringen. Jedoch will ich meine Bit-
te durch keine Gruͤnde unterſtuͤtzen: weil ich ver-
ſichert bin, daß mein Vater ſein armes Kind nicht
auf ewig ungluͤcklich wuͤnſchen kann.
Jch empfinde die dankbareſten Regungen ge-
gen die Guͤtigkeit meiner Mutter, daß ſie mir
meine Kleider heraufgeſchicket hat. Jch wuͤrde
die Gewogenheit den Augenblick, da ich ſie be-
kommen hatte, mit der ſchuldigſten Dankſagung
erkannt haben: wenn ich nicht beſorgt haͤtte, daß
eine jede Zeile von mir unangenehm ſeyn
wuͤrde.
Jch wollte mich nicht gern neuer Beleidi-
gungen ſchuldig machen. Daher will ich all-
andere Betheurungen meines Gehorſams und
meiner Liebe, wodurch ich mich empfehlen koͤnnte,
vermeiden, und mich fuͤr beyde auf mein Herz
berufen, wo beyde in feurigen Regungen, wel-
che
[509]
che nichts als der Tod ausloͤſchen kann, lodern.
Jch unterſchreibe mich alſo nur, ohne einmal
meinen Namen beyzuſetzen,
Meine liebe und gluͤckliche Schweſter,
Jhre gekraͤnkte Dienerinn.
Ein Brief, der an mich, in Herrn Smithens,
eines Handſchuhmachers, Hauſe, auf der
Koͤnigsſtraße, beym Covent-Garden gerich-
tet iſt, wird mir zu Haͤnden kommen.
Der ein und ſiebzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace,
Zur Antwort
auf ſeine Briefe, auf den vorhergehen-
den LIV und LVIIſten.
Was fuͤr Muͤhe machſt du dir, dich ſelbſt zu
bereden, daß der ſchlechte Zuſtand, wo-
rinn ſich die Geſundheit der Fraͤulein befindet,
dem ſchaͤndlichen Verhaft und der Unverſoͤhnlich-
keit ihrer Freunde zuzuſchreiben ſey! da doch bey-
de, wenn es auch waͤre, auf dich zuruͤckfallen.
Was fuͤr elende Entſchuldigungen werden gute
Koͤpfe fuͤr das Boͤſe, wozu ſie durch boͤſe Herzen
verleitet
[510]
verleitet werden, hervorſuchen! ‒ ‒ Aber es iſt
kein Wunder, daß der, welcher vorſetzlich eine
boͤſe Handlung unternehmen kann, ſich auch mit
einer boͤſen Entſchuldigung beſriedigen wolle.
Fuͤr was fuͤr Thoren muß er gleichwohl die uͤbri-
gen Leute in der Welt anſehen: wenn er ſich ein-
bildet, daß dieſe ſich eben ſo leicht betruͤgen laſſen,
als er ſich ſelbſt betruͤgen kann!
Vergeblich ſuchſt du die Noth, wozu du dieſe
Fraͤulein gebracht haſt, ihre Kleider von der
Hand zu ſchlagen, einem Stolz oder Eigenſinn
beyzumeſſen. Denn kann ſie anders thun und
noch die edelmuͤthige Seele ſeyn, die ſie iſt?
Jhre unverſoͤhnlichen Freunde haben ihr die
Gelder, welche ſie zu ihren ordentlichen Ausga-
ben gehabt und hinter ſich gelaſſen hat, verſaget,
und, wie ihre Schweſter ſchrieb, gewuͤnſcht, ſie
zur Duͤrftigkeit gebracht zu ſehen. Nach aller
Wahrſcheinlichkeit wird es ihnen alſo nicht unan-
genehm ſeyn, daß ſie in ſolchen Bedruck gerathen
iſt. Sie werden es als eine Rechtfertigung ih-
rer gottloſen Hartherzigkeit vom Himmel anſe-
hen. Du kannſt nicht vermuthen, daß ſie von
dir Zuſchub annehmen ſollte: und ihn von mir
anzunehmen, wuͤrde, nach ihrer Meynung, eben
ſo gut ſeyn, als wenn ſie ihn von dir annaͤhme.
Die Mutter der Fraͤulein Howe iſt eine geizige
Frau: und vielleicht koͤnnte die Tochter nichts
dergleichen ohne jener Wiſſen thun. Koͤnnte
ſie es: ſo iſt ſie viel zu edel geſinnt, es abzuſchla-
gen, wenn es von ihr verlangt wuͤrde. Aber
die
[511]
die Fraͤulein Harlowe iſt uͤber dieß der feſten
Meynung, daß ſie die Dinge, welche ſie veraͤu-
ßert, niemals brauchen oder tragen werde.
Weil ich nichts von London gehoͤrt habe, das
mich noͤthigt, dahin zu gehen: ſo werde ich dem
armen Belton zu gefallen, um ihm Geſellſchaft
zu leiſten, bis morgen, oder vielleicht bis auf den
Mittwochen hier bleiben. Denn der ungluͤckli-
che Menſch will mich immer ungerner verlaſſen.
Jch werde mich bald nach Epſom begeben, da-
mit ich ihm da zu dienen, und ihn wieder in ſein
eignes Haus einzuſetzen ſuchen moͤge. Der ar-
me Kerl! Er iſt erſchrecklich niedergeſchlagen;
kriecht herum; und nichts vergnuͤget ihn. Jch
habe von Herzen Mitleiden mit ihm: aber kann
ihm nicht helfen ‒ ‒ Was fuͤr Troſt kann ich
ihm entweder von ſeinem vergangenen Leben oder
von ſeiner kuͤnftigen Hoffnung zuſprechen?
Bey unſern Freundſchaften und Vertraulich-
keiten, Lovelace, wird die Rechnung allein auf
ein dauerhaftes Leben und eine beſtaͤndige Ge-
ſundheit gemacht. Wenn Krankheit kommt: ſo
ſehen wir um uns herum und auf einander; wie
geſcheuchte Voͤgel, bey dem Anblick eines Gelers,
der eben auf ſie ſtoſſen will. Was fuͤr elende
Leute ſind wir denn bey aller unſerer Tapfer-
keit!
Du ſagſt mir, daß du die Beſſerung ge-
ſchwinde uͤber mich kommen ſiehſt. Jch hoffe
es. Jch ſehe einen ſo großen Unterſchied in dem
Bezeigen dieſer bewundernswuͤrdigen Fraͤulein
bey
[512]
bey ihrer Krankheit, und des armen Beltons
bey ſeiner, daß in meinen Augen offenbar der
Suͤnder der wirkliche Feige, und der Heilige der
wahre Held iſt; und fruͤher oder ſpaͤter werden
wir es alle ſo befinden, wofern wir nicht ploͤtzlich
hingeriſſen werden.
Die Fraͤulein ſchloß ſich geſtern Nachmit-
tags um ſechſe ein und will bis heute Nachmit-
tag, um ſieben oder acht, keine Geſellſchaft ha-
ben, auch nicht einmal von ihrer Waͤrterinn: in-
dem ſie ſich ein ſtrenges Faſten aufgeleget hat.
Warum aber das? Es iſt heute ihr Geburtstag!
‒ ‒ Jn der Bluͤte: jedoch in einer hinfaͤlligen
Bluͤte ihres Lebens! ‒ ‒ Ein jeder Geburtstag,
bis auf dieſen, iſt, ſonder Zweifel, unter ihre
gluͤckliche Tage zu zaͤhlen geweſen! ‒ ‒ Was
muß ſie fuͤr Betrachtungen anſtellen! ‒ ‒ Was
ſollteſt du billig uͤberlegen!
Was fuͤr Spott treibſt du mit meinen erha-
benen Wuͤnſchen und meinen fußfaͤlligen Vereh-
rungen, wie du es nenneſt! Wie luſtig machſt
du dich daruͤber, daß ich meinen Bankzettel hin-
ter ihren Stuhl geworfen habe. Jch hatte da-
mals zu viel ehrerbietige Furcht vor ihr, und be-
ſorgte zu ſehr, mein Erbieten wuͤrde ihr misfaͤllig
ſeyn, daß ich es mit dem Anſtande, der meiner
Abſicht gemaͤßer geweſen waͤre, haͤtte thun koͤn-
nen. War aber ja die Handlung ungeſchickt:
ſo war ſie doch beſcheiden. Deswegen iſt ſie, in
der That, bey dir deſto bequemer, laͤcherlich ge-
macht zu werden: da du das Schoͤne und Zaͤrt-
liche
[513]
liche in einer beſcheidenen Gefaͤlligkeit eben ſo we-
nig, als in einer beſcheidenen Liebe, empfinden
kannſt. Denn es laͤßt ſich eben das von unver-
bruͤchlicher Ehrfurcht ſagen, was der Dichter von
ungefaͤrbter Zuneigung ſaget.
Etwas aͤhnliches kann zur Vertheidigung der
beſcheidenen Hochachtung angefuͤhret werden,
welche den demuͤthigen Freund in ſeinem Aner-
bieten ſchuͤchtern machte, das ehrfurchtgebietende
Auge oder die verehrungswuͤrdige Hand anzu-
fallen, und ihn bewegte, auf eine ungeſchickte
Art, den Weyrauch hinter den Altar, auf den er
haͤtte gelegt werden ſollen. Jedoch wie ſollte ei-
ne Seele, die mit der Zaͤrtlichkeit ſelbſt unmenſch-
lich zu verfahren vermoͤgend geweſen iſt, etwas
von derſelben wiſſen?
Allein noch mehr erſtaune ich uͤber dein mu-
thiges Herz, daß du dir in den Sinn kommen
laͤſſeſt, dich der Fraͤulein Howe und Fraͤulein
Arabelle Harlowe ſelbſt darzuſtellen! ‒ ‒ Du
wirſt doch, gewiß, nicht ſo kuͤhn ſeyn, dieſen Ge-
danken auszufuͤhren!
Sechſter Theil. K kWas
[514]
Was meine und deine Kleidung betrifft: ſo
habe ich nur dieß zu ſagen. Deine ganze An-
merkung kommt darauf hinaus, daß die aͤußere
Seite von mir die ſchlimmſte und von dir die
beſte iſt. Was gewinneſt du bey dieſem Ver-
gleich? Beſſere du die eine: ich will die andere
zu verbeſſern ſuchen. Jch fordere dich hiemit
auf, den Anfang zu machen.
Fr. Lovick hat mir auf mein Erſuchen die
Abſchrift von einer geiſtlichen Betrachtung, die
ſie mir zeigte, gegeben. Die Fraͤulein hat die-
ſelbe aus der heiligen Schrift gezogen, da ſie bey
Rowlanden in Verhaft geweſen; wie der beyge-
ſchriebene Tag zeiget. Sie ſoll nicht wiſſen,
daß Fr. Lovick ſich eine ſolche Freyheit genom-
men hat.
Jhr und ich haben allezeit die edle Einfalt,
und das Ungezwungene und Erhabene in der
Schreibart bewundert, wodurch ſich dieſe Buͤ-
cher als durch eigenthuͤmliche Merkmaale unter-
ſcheiden: ſo oft uns einige Stellen, die etwa in
andern Werken von den Verfaſſern angezogen
waren, aufgeſtoſſen ſind. Und einmal beſinne
ich mich, machtet ihr, ſo gar ihr, die Anmerkung,
daß dieſe Stellen allemal einer reichen Goldader
aͤhnlich ſchienen, welche durch geringhaltigers
Metall fortliefe: indem ſie das Werk, worinn ſie
zu einem Beweiſe der Glaubwuͤrdigkeit angefuͤh-
ret waͤren, allezeit ſchoͤner machten.
Verſuche, Lovelace, ob du einen Geſchmack
an einer goͤttlichen Schoͤnheit finden kannſt. Jch
denke,
[515]
denke, ſie muß in deinem Herzen wenigſtens eine
voruͤbergehende, wo nicht fortdaurende, Regung
des Gewiſſens erwecken. Du ruͤhmeſt dich mit
deiner Aufrichtigkeit. Laß dieß die Probe davon
ſeyn, und verſuche, ob du bey einem ſo wichtigen
Jnhalt, wozu die Veranlaſſung von dir ſelbſt ge-
geben iſt, ernſthaft ſeyn kannſt.
Geiſtliche Betrachtung.
- O daß mein Kummer voͤllig gewogen und
mein Leiden zugleich in die Wagſchale
geleget wuͤrde! - Denn nun wuͤrde es ſchwerer ſeyn, als der
Sand am Meer. Daher werden mei-
ne Worte verſchlungen. - Denn die Pfeile des Allmaͤchtigen ſtecken in
mir, und das Gift von dieſen doͤrret mei-
nen Geiſt aus. Die Schrecken von
Gott ſtellen ſich wider mich, als ein Heer
in ſeiner Schlachtordnung. - Wenn ich mich niederlege: ſo ſage ich:
Wann werde ich wieder aufſtehen?
Wann wird die Nacht voruͤber ſeyn?
Und ich werde hin und her geworfen,
bis der Tag anbricht. - Meine Tage ſind ſchneller, als ein Weber-
ſpul, und verſtreichen, daß keine Hoff-
nung mehr uͤbrig iſt ‒ ‒ Mein Auge
wird nicht mehr Gutes ſehen.
K k 2Warum
[516]
- Warum iſt das Licht derjenigen gegeben,
die im Elende liegt: und das Leben der
betruͤbten Seele? - Die ſich nach dem Tode ſehnet; wiewohl
er nicht kommt; und mehr nach demſel-
ben, als nach verborgenen Schaͤtzen
graͤbet? - Warum iſt das Licht einer Perſon gegeben,
deren Weg verdecket iſt, und die Gott
umzaͤunet hat? - Denn, was ich heftig fuͤrchtete, das iſt uͤber
mich gekommen! - Jch war nicht ſicher; nicht ruhig; nicht
ſtille: und doch kam die Unruhe uͤber
mich. - O daß meine Worte nun aufgeſchrieben!
O daß ſie in ein Buch gepraͤget! Daß
ſie mit einer eiſernen Feder und Bley auf
ewig in das Buch gegraben wuͤrden!
Jch habe ein wenig Zeit uͤbrig, und das
Schreiben fließet mir gut. Erlaube mir, Love-
lace, daß ich uͤber die heiligen Buͤcher einige An-
merkungen beybringe.
Man lehret uns die Bibel leſen, wenn wir
Kinder ſind, und bloß als ein Buch zu den erſten
Erkenntnißgruͤnden. So viel ich weiß, mag dieß
die Urſache ſeyn, warum wir uͤber dieſelbe hin-
aus zu ſeyn glauben, wenn wir zu reifern Jah-
ren gekommen ſind. Denn ihr wiſſet, daß un-
ſere Eltern ſo wohl, als wir ſelbſt, unſern Wachs-
thum
[517]
thum in der Erkenntniß nach denen Buͤchern, zu
welchen wir fortgeſchritten ſind, nicht nach unſe-
rer Einſicht in dem, was wir durchgegangen,
gar weislich ſchaͤtzen. Aber bey meines Onkels
Krankheit trieb mich die Neubegierde in einer von
meinen ſchwermuͤthigen Stunden, da mir eine
Bibel in ſeinem Cloſet in die Augen fiel, hinein-
zukucken: und darauf fand ich allenthalben, wo
ich nur aufſchlug, daß vortreffliche Dinge da-
rinn ſtuͤnden. Jch habe mir eine geborgt, als
ich die obigen Betrachtungen von Fr. Lovick be-
kam: denn ich war begierig, dieſelben mit dem
Buche zu vergleichen; weil ich ſchwerlich glaub-
te, daß ſie darinn ſo ausnehmend bequem zur
Sache eingerichtet ſeyn koͤnnten, als ich wirklich
befinde. Zu einer oder der andern Zeit kann es
gar leicht geſchehen, daß ich mich entſchließe, ſie
ganz mit fluͤchtigen Augen durchzulaufen.
Dieß iſt inzwiſchen gewiß, ich unterſtehe mich
es zu wiederholen, daß die Schreibart eben die-
jenige ungekuͤnſtelte, einfaͤltige und natuͤrliche iſt,
welche wir an andern Schriftſtellern uͤber alle
Maaßen bewundern wuͤrden. Hiernaͤchſt iſt ſich
alle Welt uͤber ihr Alterthum und ihre Glaub-
wuͤrdigkeit einig: und die Gelehrten ſuchen mit
groͤßtem Fleiße, ihre verſchiedne Beweisgruͤnde
hievon durch die Ausſpruͤche und Verordnungen
derſelben zu beſtaͤrken. Jch ward, in der That,
bey meinem Onkel, ſo von ihr eingenommen, daß
ich mich halb ſchaͤmete, daß ſie mir ſo neu vor-
kam. Dennoch kann ich wohl ſagen, daß ich eines
K k 3und
[518]
und das andere von der Geſchichte des alten Te-
ſtaments, wie man es nennet, im Kopfe habe:
allein ich habe es, vielleicht, mehr dem juͤdiſchen
Geſchichtſchreiber Joſephus, als der Bibel ſelbſt,
zu danken.
Wunderlich genug, bey allem unſern Stolz
auf Gelehrſamkeit, daß wir es fuͤr das beſte hal-
ten, das wenige, das wir wiſſen, aus abgeleiteten
und vielleicht faulen Baͤchen zu ſchoͤpfen: da die
reine, die helle und erſte Quelle uns viel naͤher
zur Hand, und leichter dazu zu kommen iſt; ‒ ‒
vielleicht aber eben aus der Urſache geringer ge-
ſchaͤtzet wird!
Allein der Menſch iſt ein thoͤrichtes Geſchoͤpf,
das ſich beſtaͤndig in fremde Dinge miſchet. Je
mehr wir in ſein Jnnerſtes hineinſchauen: deſto
mehr muͤſſen wir ihn verachten. ‒ ‒ Er will den
Vorzug unter den Werken der Schoͤpfung be-
haupten! ‒ ‒ Wer kann ſich enthalten hoͤhniſch
zu lachen! da wir kein einziges unter den beſon-
dern Werken dieſer Schoͤpfung ſehen, das nicht ſo
wirken oder handeln ſollte, als es, ſeiner Natur,
und ſeinem Urſprunge nach, zu wirken oder zu
handeln beſtimmt iſt; ihn ſelbſt allein ausgenom-
men, der beſtaͤndig aus ſeinem Kreiſe ſchweifet.
Ja ſo ſtolz und eitel der eingebildete Wurm uͤber
ſeine vermeynte und ſelbſteigne Vorzuͤge iſt: ſo
hat er doch nicht allein ſeinen Schmuck, ſondern
auch die Beduͤrfniſſe des Lebens, Nahrung ſo
wohl als Kleider, allen uͤbrigen Geſchoͤpfen zu
danken; indem er mit ihrem Blut und ihren
Saͤften
[519]
Saͤften in ſeinen Adern, und mit ihren Federn
und Decken an ſeinem Leibe ſtrotzig einhergehet.
Denn was hat er eigenes, außer einer boshaften,
meerkatzenmaͤßigen, argen Natur. Dennoch
denkt er, daß er voͤllige Freyheit habe, ein jedes
wuͤrdigers Geſchoͤpfe zu ſtoßen, zu ſchlagen, zu
treiben: und wenn er keine von den Thieren nie-
derzujagen und zu mishandeln hat; ſo wird er
ſeine Macht, ſeine Staͤrke, ſeinen Reichthum an-
wenden, ohnmaͤchtigere und ſchwaͤchere von ſeiner
eignen Art zu unterdruͤcken.
Wenn ihr und ich das erſte mal zuſammen
kommen: ſo wollen wir weitlaͤuftiger von dieſer
Sache reden. Jch darf wohl ſagen, wir werden
wechſelsweiſe den beyden Weiſen des Alterthums
nachzuahmen, bald zu weinen und bald zu lachen
haben: wenn wir bedenken, was fuͤr elende und
doch eingebildete Weſen die Menſchen uͤberhaupt,
aber wir liederlichen Bruͤder inſonderheit, ſind.
Jch traf bey Dorrell eben dieſen Abend ei-
nen Auſſatz, unter dem Titel, die Hauptſpruͤ-
che der heiligen Schrift, von ungefaͤhr an,
welchen ein gewiſſer Blackwall verfertiget hat.
Jch nahm ihn mit mir zu Hauſe; und hatte
kaum zwoͤlf Seiten geleſen: als ich uͤberzeuget
wurde, daß ich mich vor mir ſelber ſchaͤmen
muͤßte; wenn ich bedenke, wie ſehr ich lange nicht
ſo edle, und lange nicht ſo natuͤrliche Schoͤnheiten
in heidniſchen Schriftſtellern bewundert habe,
da ich unterdeſſen von dieſer vortrefflichſten
Sammlung von Schoͤnheiten, von der Bibel,
K k 4nichts
[520]
nichts gewußt. Bey meiner Treue, Lovelace, ich
werde nach dieſem eine beſſere Meynung von der
Einſicht, und dem Geſchmack vieler Pfarrer ha-
ben, mit denen ich zu meiner Zeit zuſammen
gekommen bin, und die ich deswegen mit Ver-
achtung angeſehen, weil ſie, wie ich dachte, die
Art des Ausdrucks und die Ausſpruͤche, welche in
derſelben gefunden werden, vor allen alten Dich-
tern und Weltweiſen zu hoch preiſeten. Und
eben dieß iſt nun ein uͤberzeugender Beweis fuͤr
mich, der ſo wohl die vermeſſene Einbildung ei-
nes Unglaͤubigen, als ſeine Unwiſſenheit beſchaͤ-
met, daß diejenigen, welche am wenigſten wiſſen,
die groͤßten Spoͤtter ſind. Ein artiger Haufe
von Kluͤglingen ſind wir, die ohne Kenntniß ta-
deln, ohne Urſache lachen, und am meiſten lermen
und ſchreyen gegen Dinge, von denen wir am
wenigſten wiſſen!
Der zwey und ſiebzigſte Brief
von
Hrn. Belford an Herrn Robert Lovelace.
Jch bin erſt heute fruͤhe nach London gekom-
men: weil der arme Belton mir auf dem
Halſe war, als ein Menſch, der ſich ſonſt an nie-
mand halten kann.
Jch
[521]
Jch eilte zu Smithens Hauſe und bekam nur
eine ſehr mittelmaͤßige Nachricht von der Ge-
ſundheit der Fraͤulein. Jch ließ meine Empfeh-
lung vermelden: und ſie verlangte mich Nach-
mittags zu ſehen.
Frau Lovick erzaͤhlte mir, daß ſie wirklich,
nachdem ich am Sonnabend weggegangen waͤre,
einen von den beſten Anzuͤgen der Fraͤulein an
eine adliche Frau verkauft haͤtte, welche ihre
Wohlthaͤterinn iſt, und ihn fuͤr eine Baſe erſtan-
den hat, die in Geſchwindigkeit verheyrathet wer-
den ſoll, und von ihr, als ihre kuͤnſtige Erbinn
ausgeſtattet wird. Die Fraͤulein machte ſich ſo
viel Bedenken, ob auch das Geld von euch, oder
von mir kaͤme, daß ſie die Kaͤuferinn ſelbſt ſehen
wollte. Dieſe geſtand gegen Frau Lovick, daß
ſie den Anzug von Kleidern um das halbe Geld
unter ſeinem Werth kaufte. Jedoch bewunder-
te ſie die Fraͤulein, wie die Witwe ſagt, als eine
der liebenswuͤrdigſten von ihrem Geſchlechte: ob
ihr Gewiſſen gleich zuließ, die Kleider ſo weit
unten ihrem Preiße zu nehmen. Ja, weil ihr
ein kleiner Wink von ihrer Geſchichte gegeben
war: ſo konnte ſie ſich der Thraͤnen nicht erweh-
ren, als ſie ihren Kauf zu ſich nahm.
Sie mag wohl eine gute Frau ſeyn. Frau
Lovick ſagt, daß ſie es iſt. Aber der Eigennutz
iſt ein verhaßtes und teufliſches Ding, welches
einigen Leuten die grauſamſten und ſchaͤndlichſten
Handlungen angenehm machet. Nichts deſto
weniger bin ich der Meynung, daß diejenigen,
K k 5welche
[522]
welche es ſich zu gute halten koͤnnen, die Noth
ihrer Mitgeſchoͤpfe ſich zu ihrem Vortheil zu ma-
chen, und irgend etwas um einen geringern Preiß
zu kaufen, als die geſetzmaͤßigen Zinſen von ih-
rem Einkaufsgelde, wenn ſie es etwa eher kau-
fen ſollten, als ſie es brauchen, erlauben wuͤr-
den, nicht beſſer als Raͤuber ſind, wenn ſich gleich
einiger Unterſchied findet ‒ ‒ Bey einem Schiff-
bruche zu pluͤndern, und bey einem Feuer zu rau-
ben, ſind freylich hoͤhere Grade der Bosheit.
Aber vergroͤßern nicht dieſe ſo wohl, als jene,
das Ungluͤck eines Ungluͤcklichen, und haͤufen mehr
Elend auf einen Elenden, dem ein jeder nach ſei-
ner Pflicht die Laſt erleichtern muß?
Um drey Uhr ging ich wieder zu Smithen.
Die Fraͤulein ſchrieb eben, als ich meinen Na-
men hinaufſagen ließ: aber geſtattete mir doch
den Beſuch. Jch ſahe eine augenſcheinliche Ver-
aͤnderung in ihrem Geſichte, die nicht zum guten
war. Da Frau Lovick ihr, mit vieler Ehrerbie-
tung, die allzu fleißige Beſchaͤfftigung mit ihrer
Feder, fruͤh und ſpat, und ihr Faſten am vorigen
Tage, zu einem Vorwurf machte: ſo erwaͤhnte
ich etwas von der Veraͤnderung. Jch verſicher-
te ſie, daß ihr Arzt ſich groͤßre Hoffnung von ihr
machte, als ſie von ſich ſelbſt haͤtte: ich wollte
mir aber die Freyheit nehmen, zu ſagen, daß
keine Huͤlfe uͤbrig waͤre, wenn jemand ſelbſt an
ſeiner Geneſung verzweifelte.
Sie verzweifelte nicht, und hoffete auch nicht,
war ihre Antwort. Darauf ging ſie mit großer
Ge-
[523]
Gelaſſenheit zum Spiegel. Mein Geſicht, ſprach
ſie, iſt in der That eine aufrichtige Abbildung
meines Herzens. Allein das Gemuͤth wird alle-
zeit den Koͤrper mit ſich hinreißen.
Das Schreiben, ſagte ſie ferner, iſt meine
einzige Aufmunterung: und ich habe etwas zu
ſchreiben, das nicht leidet, mich dieſer Arbeit zu
uͤberheben. Was meine Stunden betrifft: ſo
bin ich allemal gewohnt geweſen, fruͤhe aufzuſte-
hen. Aber itzo iſt die Ruhe weniger in meiner
Gewalt, als jemals. Der Schlaf hat ſeit lan-
ger Zeit mit mir im Streit gelegen, und will
keine Freundſchaft machen, ob ich gleich den er-
ſten Schritt dazu gethan habe. Was ſeyn will,
das muß ſeyn.
Hierauf ging ſie in ihr Cloſet, und brachte
mir ein Paͤckchen mit dreyen Siegeln. Haben
ſie die Guͤte, ſprach ſie, dieß ihrem Freunde zu-
zuſtellen. Es muß ihm ein ſehr angenehmes
Geſchenk ſeyn. Denn dieß Paͤcklein, mein
Herr, begreift alle ſeine Briefe an mich: ſolche
Briefe, die ſeinem ganzen Geſchlechte Schande
machen wuͤrden, wenn ſie in andere Haͤnde fallen,
und mit ſeinen Handlungen verglichen werden
ſollten.
Meine Briefe an ihn machen keine große
Anzahl aus. Er mag ſie aufbehalten, oder zer-
nichten, wie ihm beliebt.
Jch dachte, ich muͤßte dieſe Gelegenheit nicht
vorbeylaſſen, euretwegen Vorſtellungen zu thun.
Daher brachte ich auf das nachdruͤcklichſte, mit
dem
[524]
dem Paͤckchen in der Hand, alle Gruͤnde vor,
die ich zu eurem Beſten erdenken konnte.
Sie hoͤrte mich voͤllig an, mit mehrerer Auf-
merkſamkeit, als ich mir ſelbſt, in Betrachtung
ihres feſten Entſchluſſes, haͤtte verſprechen koͤn-
nen.
Jch wollte ſie nicht unterbrechen, Herr Bel-
ford, verſetzte ſie: ob mir gleich der Jnhalt ihres
Vortrages im geringſten nicht gefaͤllt. Die Be-
wegungsgruͤnde zu denen Vorſtellungen, welche
ſie zu ſeinem Vortheil thun, ſind edelmuͤthig.
Jch ſehe gern Beyſpiele edelmuͤthiger Freund-
ſchaft ſowohl in dem einen, als dem andern Ge-
ſchlechte. Allein ich habe meine Geſinnung bey
der Sache vollkommen an Fraͤulein Howe ge-
ſchrieben: und dieſe wird ſie den Fraͤuleins von
ſeiner Familie eroͤffnen. Sagen ſie alſo nicht
mehr, ich bitte ſie, von einem Gegenſtande, der
zu unangenehmen Vorwuͤrfen leiten kann.
Jhr Apotheker kam herein. Er rieth ihr,
ſich der Luft zu bedienen, und tadelte ihren ſo
großen Eifer zu ſchreiben, als man ihm geſagt
haͤtte. Er gab, nicht nur als ſeine eigne, ſondern
auch als des Arztes Meynung, an, daß ſie bald
wieder genefen wuͤrde, wenn ſie nur zu geneſen
verlangte, und die Mittel gebrauchen wollte.
Vielleicht mag die Fraͤulein, in der That,
wohl nach ihrer Geſundheit zu viel ſchreiben.
Jedoch habe ich bey verſchiedenen Gelegenheiten
bemerkt, daß die Aerzte, wenn ſie ſchon verlegen
ſind, und nicht wiſſen, was ſie vorſchreiben ſollen,
ihren
[525]
ihren Kranken dasjenige verbieten, was denſelben
am beſten gefaͤllt, und ſie am meiſten beluſtiget.
Allein ſo deutlich ſie auch ſehen, daß dieſe
Fraͤulein edel und erhaben geſinnet iſt: ſo kennen
ſie doch nicht halb den Adel ihres Gemuͤths, und
wiſſen nicht halb, wie tief ſie verwundet iſt. Sie
verlaſſen ſich zu viel auf ihre Jugend, die in
dieſem Fall, wie ich beſorge, es nicht ausma-
chen, und auf die Zeit, welche den Jammer ei-
nes ſolchen Gemuͤths nicht erleichtern wird.
Denn da ſie den feſten Vorſatz gehabt, gutes zu
thun, und einen liederlichen Menſchen, den ſie
liebte, auf beſſere Wege zu bringen: ſo iſt ſie in
allen ihren Abſichten betrogen, die ihr am meiſten
am Herzen gelegen, und wird niemals im Stan-
de ſeyn, wie ich befuͤrchte, mit einer ſolchen Zu-
friedenheit mit ſich ſelbſt ihre Augen aufzuſchla-
gen, welche hinreichen ſollte, ihr das Leben ſo an-
genehm zu machen, daß ſie es wuͤnſchen moͤchte.
Dieſe Fraͤulein hat ganz andere Abſichten bey
ihrem Leben gehabt, als die gemeinen Beſchaͤffti-
gungen mit Eſſen, Schlafen, Putzen, Beſuchen
und andern Zeitvertreib nach der Mode, welche
bey den meiſten von ihrem Geſchlechte, und ſon-
derlich denen, die ſich fuͤr geſchickt halten, anſehn-
lichen und artigen Verſammlungen einen Glanz
und eine Zierde zu geben, die Zeit wegnehmen.
Kurz ihre Traurigkeit ſcheint mir von einer ſol-
chen Art zu ſeyn, daß die Zeit, welche ſonſt bey
den meiſten Perſonen das Leiden zu erleichtern
pflegt, bey ihr daſſelbe nur groͤßer und
ſchwe-
[526]
ſchwerer machen wird; wie einer der engli-
ſchen Dichter von einer andern Perſon ſaget.
Du, Lovelace, haͤtteſt alle dieſe erhabene
Vorzuͤge ſehen moͤgen, ſo wie du nach und nach
in deinen Anſchlaͤgen fortgegangen biſt. Jn ei-
nem jeden Worte, in einem jeden Ausſpruche,
in einer jeden Handlung laſſen ſie ſich augen-
ſcheinlich blicken. ‒ ‒ Aber deine verfluchten
Erfindungen, und dein raͤnkſuͤchtiger Geiſt haben
dich hingeriſſen. Es ſchickt ſich recht gut, daß
eben dasjenige, womit du dich gottloſer Weiſe zu
ruͤhmen, worauf du deine Gaben ſo ausnehmend
uͤbel anzuwenden pflegteſt, deine Strafe und
dein Fluch werden ſollte.
Herr Goddard nahm ſeinen Abſchled. Jch
war im Begriff, eben das zu thun: als die Magd
herauf kam, und ihr vermeldete, daß ein Caval-
lier unten waͤre, der ſich ſehr ernſtlich nach ihrem
Befinden erkundigte, und ſie ſelbſt zu ſehen ver-
langte; ſein Name waͤre Hickmann.
Sie ward hieruͤber ganz froͤhlich und befahl
der Magd, den Cavallier zu erſuchen, daß er
hinaufkaͤme.
Jch wuͤrde weggegangen ſeyn. Aber ſie
dachte vermuthlich, daß ich ihm alsdenn auf
der Treppe begegnet ſeyn wuͤrde, und verbat es.
Sie eilte an die Treppe, um ihn oben an
derſelben zu empfangen; faßte ihn bey der Hand;
fragte woh zehenmal, ohne auf eine Antwort zu
warten, nach der Fraͤulein Howe Befinden, und
bezeugte mit den lebhafteſten Ausdruͤcken ihre
Er-
[527]
Erkenntlichkeit fuͤr die Guͤte derſelben, daß ſie
ihn zu ihr ſchickte, ehe ſie ihre kleine Reiſe an-
traͤte.
Er gab ihr einen Brief von dieſer Fraͤulein,
den ſie in ihren Buſem ſteckte. Sie ſagte, ſie
wollte ihn hernach alſobald leſen.
Man konnte augenſcheinlich an ihm merken,
daß es ihm nahe ging, wahrzunehmen, wie ſchlecht
ſie ausſaͤhe.
Sie ſehen mich bekuͤmmert an, Herr Hick-
mann, ſprach ſie ‒ ‒ O! mein Herr, die Zeiten
haben ſich bey mir gewaltig geaͤndert, ſeit dem ich
ſie zuletzt bey meiner lieben Fraͤulein Howe geſe-
hen! ‒ ‒ Wie munter war ich damals! ‒ ‒
Mein Herz war geruhig. Jch hatte reizende
Ausſichten vor mir, und ward von jedermann
geliebet! ‒ ‒ Jedoch ich will ſie nicht kraͤnken.
Jn Wahrheit, gnaͤdige Fraͤulein, antwortete
er, ich bin ihretwegen herzlich bekuͤmmert.
Er wandte ſein Geſicht weg, in welchem ſich
die Traurigkeit offenbar ſehen ließ.
Jhre Augen glaͤnzeten. Dennoch wandte
ſie ſich zu uns beyden, und ſtellte einen dem an-
dern vor: ihn mir, als einen Cavallier der in
Wahrheit dieſen Namen verdiente; mich ihm,
als zwar einen Freund von euch ‒ ‒ Wie
ſchaͤmte ich mich damals vor mir ſelbſt! ‒ ‒
aber doch leutſeligen Mann, der die niedertraͤch-
tige Bosheit ſeines Freundes verabſcheuete und
ihr auf alle Art zu dienen ſuchte.
Herr
[528]
Herr Hickmann nahm meine Hoͤflichkeiten
mit Kaltſinnigkeit an, die inzwiſchen doch viel-
mehr eurentwegen zu erwarten war, als an mei-
ner Seite Einwendung verdiente. Die Fraͤu-
lein bat uns beyde, morgen mit ihr zu fruͤhſtuͤ-
cken: weil er genoͤthigt war, des folgenden Ta-
ges wieder zuruͤck zukehren.
Jch ließ ſie bey einander, und ging zu Herrn
Dorrell, meinem Anwald, um ihn wegen des ar-
men Beltons Sachen um Rath zu fragen. Her-
nach kam ich zu Hauſe, und ſchrieb ſo weit, als
du itzo ſieheſt, zur Vorbereitung zu dem, was
morgen bey meinem Beſuch zum Fruͤhſtuͤck vor-
fallen mag.
Der drey und ſiebzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Jch erſchien dieſen Morgen, nach der Fraͤulein
Einladung, zum Fruͤhſtuͤck, und fand den
Herrn Hickmann bey ihr.
Jn ſeinem Geſichte bildete ſich viele Schwer-
muͤthigkeit und Betruͤbniß ab. Jedoch empfing
er mich mit mehrerer Hoͤflichkeit und Achtung,
als geſtern; welches ich vermuthlich der vortheil-
haſten Beſchreibung der Fraͤulein von mir zu
danken hatte.
Er
[529]
Er ſprach ſehr wenig. Denn, ich glaube,
ſie hatten geſtern und heute fruͤhe, ehe ich kam,
ſich einander ſchon alles geſagt.
Bey dem, was man ſich verlauten ließ, merk-
te ich, daß Fraͤulein Howe, in ihrem Briefe, von
eurer Zuſammenkunft mit ihr, bey dem Obriſten
Ambroſe, Nachricht gegeben; ‒ ‒ daß ſie eurer
Erklaͤrungen gegen ſie Erwaͤhnung gethan; und
ihre Meynung eroͤffnet hatte, daß die Vermaͤh-
lung mit euch itzo nur noch das einzige Mittel
waͤre, ihr Uebel wieder gut zu machen.
Herr Hickmann hatte, wie ich ebenfalls aus
ihren Reden abnehmen konnte, im Namen der
Fraͤulein Howe bey ihr angehalten, daß ſie ſich,
bey der Ruͤckkunft ihrer Freundinn, in eines be-
nachbarten Pachters Hauſe finden laſſen moͤchte,
wo man ſaubere Zimmer zu ihrer Aufnahme in
Bereitſchaft halten wuͤrde. Sie fragte, wie lan-
ge ſie von Hauſe zu ſeyn gedaͤchten: und er gab
ihr die Nachricht, daß ſie ſich vorgenommen haͤt-
ten, nicht laͤnger als vierzehn Tage, mit der Hin-
und Herreiſe, wegzubleiben. Sie wuͤrde alſo
vielleicht Zeit haben, verſetzte ſie hierauf, den guͤ-
tigen Vorſchlag zu uͤberlegen.
Er hatte ihr von der Fraͤulein Howe Geld
angeboten: aber konnte ſie nicht bereden, etwas
anzunehmen. Kein Wunder, daß ich abſchlaͤgi-
ge Antwort bekommen hatte! Sie ſagte nur dieß
einzige, daß, wenn ſie etwas noͤthig haben ſollte,
ſie dafuͤr niemanden, als der Fraͤulein Howe, ver-
bunden ſeyn wollte.
Sechſter Theil. L lHerr
[530]
Herr Goddard, ihr Apotheker, kam herein,
ehe das Fruͤhſtuͤcken vorbey war. Auf ihr Ver-
langen ſetzte er ſich bey uns nieder. Herr Hick-
mann fragte ihn, ob er ihm einigen Troſt wegen
der Geneſung der Fraͤulein Harlowe geben koͤnn-
te, den er einer Fraͤulein, welcher ſie ſo lieb, als
ihr eignes Leben, waͤre, mitbringen moͤchte.
Die Fraͤulein, antwortete er, wird ſich ſehr
wohl befinden, wenn ſie ſich nur ſelbſt dazu ent-
ſchließen will. Jn Wahrheit, gnaͤdige Fraͤu-
lein, ſie werden ſich alsdenn bald beſſer befinden.
Der Doctor iſt gaͤnzlich dieſer Meynung, und hat
nichts fuͤr ſie verordnet, als weiche Gallerte, und
unſchaͤdliche Herzſtaͤrkungen, damit ſie nur nicht
Hungers ſterben. Erlauben ſie mir zu ſagen,
daß ſo vieles Wachen, ſo wenig Nahrung, und
ſo viele Betruͤbniß, als ſie bey ſich Platz finden
zu laſſen ſcheinen, hinlaͤnglich ſey, die beſte Ge-
ſundheit zu ſchwaͤchen und die ſtaͤrkſte Natur
auszuzehren.
Was kann ich thun, mein Herr? ſagte ſie
hierauf. Jch habe keine Neigung zum Eſſen.
Nichts von dem, was ſie Nahrung nennen, will
mein Magen ertragen. Jch thue, was ich kann:
und habe an dem Dr. H. und an ihnen ſo guͤti-
ge Fuͤhrer, daß ich nicht zu entſchuldigen ſeyn
wuͤrde, wenn ich es nicht thaͤte.
Jch will ihnen eine Fuͤrſchrift geben, gnaͤdi-
ge Fraͤulein, welche von dem Doctor gewiß ge-
billigt werden, und alle Arzney in dieſem Falle
unnoͤthig machen wird. „Gehen ſie Abends
„um
[531]
„um zehn zur Ruhe. Stehen ſie nicht eher, als
„fruͤhe um ſieben auf. Nehmen ſie in Waſſer
„abgekochte Habergruͤtze, oder eine Milchſuppe,
„oder ſchwache Bruͤhen zu ihrem Fruͤhſtuͤcke;
„zum Mittagseſſen alles, wozu ſie Luſt haben,
„wenn ſie nur eſſen wollen; des Nachmittags
„ein Schaͤlchen Thee mit Milch; und zum
„Abendeſſen eine leichte Speiſe. Jch will mein
„Leben fuͤr das ihrige geben, wo dieſe Ordnung,
„nebſt der freyen Luft auf dem Lande einen Mo-
„nat uͤber, ſie nicht wieder zu rechte bringen
„wird.“
Wir waren ſehr vergnuͤgt mit der uneigen-
nuͤtzigen Fuͤrſchrift dieſes rechtſchaffenen Man-
nes: und ſie ſagte, in Beziehung auf ihre Waͤr-
terinn, welche fuͤr ſie Gewaͤhr leiſtete: Haben
ſie die Guͤte, Herr Hickmann, der Fraͤulein Ho-
we zu vermelden, in was fuͤr guten Haͤnden ich
bin. Was aber die guͤtige Verordnung dieſes
Herrn betrifft: ſo verſichern ſie dieſelbe, daß ich
alles thun und nach meinem aͤußerſten Vermoͤ-
gen thun will, was ich ihr in dem laͤngſten von
meinen beyden letzten Briefen, meiner Geſund-
heit wegen, verſprochen habe. Jch habe mich
gegen Fraͤulein Howe verbindlich gemacht, mein
Herr, ſprach ſie zu Herrn Goddard, ich habe mich
verbindlich gemacht, mein Herr, zu mir, daß ich
alle freywillige Verwahrloſung meiden will. Es
wuͤrde ein nicht zu verzeihender Fehler ſeyn, wenn
ich es nicht thaͤte, und ſich ſehr ſchlecht zu dem
guten Namen, den ich gern verdienen moͤchte,
L l 2oder
[532]
oder zu der Faſſung des Gemuͤths, zu der ich
gern nach dieſem von meinen Freunden vermoͤ-
gend geachtet ſeyn wollte, ſchicken.
Herr Hickmann und ich gingen nachher auf
ein Caffeehaus in der Nachbarſchaft. Er gab
mir einige Nachricht von eurem Betragen auf
dem Balle Montag Abends, und von eurem Be-
zeigen gegen ihn in der Unterhandlung, die ihr
vor der Zeit mit ihm hatte. Er ſtellte das letz-
tere auf eine vortheilhaftere Art vor, als ihr ſelbſt
gethan habt: und gleichwohl ſagte er mit großer
Freyheit, aber auch mit der einem Cavallier an-
ſtaͤndigen Hoͤflichkeit, ſeine Meynung von euch.
Er erzaͤhlte mir, wie feſt ſich die Fraͤulein
entſchloſſen haͤtte, euch nicht zu heyrathen. Sie
haͤtte ſich heute fruͤhe hingeſetzt, der Fraͤulein Ho-
we auf den Brief, welchen er gebracht, eine Ant-
wort zu ſchreiben. Er ſollte dieſelbe um zwoͤlfe
abfordern, weil ſie beynahe ſchon fertig geweſen
waͤre, ehe er zum Fruͤhſtuͤck zu ihr gekommen
waͤre. Er haͤtte ſich aber vorgenommen, ſich
um drey Uhr auf den Ruͤckweg zu begeben.
Er erzaͤhlte mir ferner, die Fraͤulein Howe,
ihre Mutter und er, wuͤrden ihre kleine Reiſe
nach der Jnſel Wight am kuͤnftigen Montage
vornehmen. Allein er muͤßte den ſchlechten Zu-
ſtand der Geſundheit, worinn ſich Fraͤulein Har-
lowe befaͤnde, auf das vortheilhafteſte vorſtellen:
ſonſt wuͤrden ſie in ihrer Entfernung von Hauſe
ſehr unruhig ſeyn. Er bezeugte ſein Vergnuͤgen
daruͤber, daß er die Fraͤulein in ſo guten Haͤnden
faͤnde,
[533]
faͤnde, ſchlug vor, bey dem Dr. H. anzuſprechen,
und ſeine Meynung zu hoͤren, ob es glaublich
waͤre, daß ſie wieder geneſen wuͤrde; und hoffete,
ſie vortheilhaft zu finden.
Da er entſchloſſen war, die Sache ſo gut,
als moͤglich, vorzuſtellen, und die Fraͤulein ſich
geweigert hatte, das Geld anzunehmen, welches
ihr durch ihn angeboten war: ſo ſagte ich nichts
von der Verkaufung ihrer Kleider. Jch dachte,
es wuͤrde zu nichts weiter dienen, als die Fraͤu-
lein Howe beſtuͤrzt zu machen und zu kraͤnken.
Denn es klingt ſo ſeltſam, daß eine Fraͤulein
von ihrem Stande und Vermoͤgen ſo weit her-
untergebracht ſeyn ſollte, daß ich ſelbſt nicht mit
Gelaſſenheit daran gedenken kann. Jch weiß
auch niemand, als einen Menſchen, in der Welt,
der es thun kann.
Dieſer Cavallier iſt ein wenig gezwungen,
und von vielen Umſtaͤnden: aber ich halte ihn
fuͤr einen angenehmen, nicht unempfindlichen
Mann, der gar nicht die Begegnung, oder die
Beſchreibung, die ihm von euch zu Theil wird,
verdienet.
Allein ihr ſeyd wirklich ein wunderlicher
Menſch. Weil ihr Vorzuͤge in Anſehung eurer
Perſon, eures Weſen, eures Verſtandes vor al-
len Mannsperſonen habet, die ich kenne, und ein
Geſicht, das den Teufel ſelbſt betruͤgen wuͤrde:
ſo koͤnnt ihr keinen andern fuͤr ertraͤglich halten.
Aus dieſem recht beſcheidenen Grunde ſpot-
teſt du einiger von uns, die um deswillen, weil
L l 3ſie
[534]
ſie zu ihrem aͤußerlichen Anſehen nicht das Ver-
trauen haben, was du haſt, ihre Maͤngel durch
Huͤlfe der Schneider und Peruckenmacher zu
verbergen ſuchen; genug betrogen, wo ſie es in
der That auf eine ſo ungereimte Art thun, daß
ſie ſich noch mehr widrigen Urtheilen bloßſtellen.
Du ſagſt, daß wir durch unſere Kleidung nur
ein Schild aushaͤngen und kund machen, was in
unſerm Laden, in unſern Gemuͤthern zu ſuchen
iſt. Dieß haͤltſt du, ſonder Zweifel, fuͤr eine wi-
tzige Anmerkung. Allein ich bitte dich, Lovelace,
ſage mir, wo du kannſt: Was fuͤr ein Schild
muͤßteſt du aushaͤngen, wenn du verbunden waͤ-
reſt, uns von dem, womit dein Gemuͤth verſehen
iſt, einen klaren Begriff zu geben.
Herr Hickmann ſagt mir, er wuͤrde ſchon ſeit
einigen Wochen durch die Hand der Fraͤulein
Howe gluͤcklich geweſen ſeyn; denn alle Eheſtif-
tungen ſind ſeit einiger Zeit zu Stande: aber ſie
wolle nicht heyrathen, wie ſie ſich erklaͤret, ſo lan-
ge ihre Freundinn ſo ungluͤcklich iſt.
Dieß iſt in Wahrheit eine reizende Probe
von der Gewalt der Freundſchaft bey Frauen-
zimmern, welche ihr, und ich, und unſere lieder-
lichen Bruͤder beſtaͤndig, als ein Hirngeſpinſte
und ein unmoͤgliches Ding, an Frauenzimmern
von gleichem Alter, gleichem Range und gleichen
Vorzuͤgen, laͤcherlich gemacht haben.
Aber wirklich, Lovelace, ich ſehe mehr und
mehr, daß, bey allem unſern eingebildeten Stolz,
nicht niedriggeſinntere und elendere Thiere in der
Welt
[535]
Welt ſind, als wir liederlichen Bruͤder und Lieb-
haber der ſo genannten freyen Lebensart. Jch
will dir ſagen, wie es zugehet.
Unſere fruͤhzeitige Liebe zur Schelmerey
macht, daß wir uͤberhaupt der Unterweiſung ent-
laufen: und ſo werden wir bloße Halbgelehrte in
denen Wiſſenſchaften, wozu man uns anfuͤhret.
Weil wir nicht mehr wiſſen wollen: ſo bilden
wir uns ein, es ſey nichts mehr zu wiſſen.
Mit unſaͤglicher Eitelkeit, ungezaͤumten Ein-
bildungen und gar keiner Beurtheilung fangen
wir zunaͤchſt an, halbe Witzlinge vorzuſtellen.
Alsdenn meynen wir, daß wir das ganze Feld
der Gelehrſamkeit und Erkenntniß in unſerer
Verwahrung haben, und verachten einen jeden,
der ſich mehr Muͤhe giebt, und ernſthafter iſt,
als wir. ‒ ‒ Alle ſolche Leute ſind bey uns ſchlaͤf-
rige einfaͤltige Troͤpfe, die an den ruͤhrungsvolle-
ſten Vergnuͤgungen des Lebens keinen Geſchmack
haben.
Dieß macht uns bey beſcheidenen und wohl-
verdienten Leuten unleidlich, und noͤthigt uns, mit
denen, die unſers Gelichters ſind, einen Haufen
auszumachen. Auf die Art haben wir keine
Gelegenheit, jemand zu ſehen, oder mit jemand
umzugehen, der uns zeigen koͤnnte, oder wollte,
was wir ſind. Alſo machen wir ſelbſt den
Schluß, daß wir die geſchickteſten Kerls und al-
lein die klugen Koͤpfe in der Welt ſind; ſehen
mit ſtolzen Augen auf alle andere nieder, welche
ſich ſelbſt die Freyheiten nicht erlauben, die wir
L l 4uns
[536]
uns nehmen; und bilden uns ein, die Welt ſey
fuͤr uns, und fuͤr uns allein, gemacht.
So beſtreichen wir in den nuͤtzlichen Wiſſen-
ſchaften nur die oberſte Flaͤche, da andere bis auf
den Grund gehen; werden bey Leuten von gruͤnd-
licher Einſicht, wahrer Ehre und hoͤhern Gaben
veraͤchtlich gehalten; und bewegen uns mit ver-
bundnen Augen immer in die Ruͤnde, wie ſo vie-
le blinde Muͤhlpferde, in einem engen Kreiſe
herum, indem wir uns inzwiſchen einbilden, als
wenn wir die ganze Welt mit anſehnlichem Ge-
praͤnge zu unſerer Laufbahn haͤtten.
Jch machte, daß Herr Hickmann bey ſeiner
Zuruͤckkunft von der Fraͤulein auf mich ſtoßen
mußte: und wir nahmen in Lebecks Head auf
der Chandosſtraße eine kleine Mahlzeit mit ein-
ander ein.
Er war uͤber alle Maaße geruͤhret, da er
von ihr Abſchied nahm: indem er beſorgte, wie
er mir ſagte, ob er es ſich gleich gegen ſie nicht
merken laſſen wollte, daß er ſie niemals wieder
ſehen wuͤrde. Sie empfahl ihm, der Fraͤulein
Howe alles auf die vortheilhafteſte Art, welche
nur mit der Wahrheit beſtehen konnte, vorzu-
ſtellen.
Er erzaͤhlte mir einen zaͤrtlichen Theil von
dem Abſchiede. Es war dieſes. Da er ihr an
der Thuͤre ihres Cloſets einen Kuß gegeben: haͤt-
te er ſich nicht enthalten koͤnnen, ſich eben dieſe
Frey-
[537]
Freyheit noch einmal, oben an der Treppe, wo-
hin ſie ihn begleitete, auf eine feurige Art zu
nehmen; und zwar in den Gedanken, daß es das
letzte mal ſeyn wuͤrde, daß er dieſe Ehre jemals
haben ſollte. Als er nun wegen ſeiner Freyheit
ſich zu entſchuldigen geſucht; indem er ſie mit ei-
ner Heſtigkeit, welche er weder zu erklaͤren noch
zu unterdruͤcken gewußt, an ſeine Bruſt gedruͤ-
cket: ſo haͤtte ſie geantwortet: ‒ ‒ Entſchuldi-
gen ſie, Herr Hickmann; daß ich will. Sie ſind
mein Bruder, und mein Freund: und, um ih-
nen zu zeigen, daß der Mann, welcher mit mei-
ner geliebten Fraͤulein Howe gluͤcklich ſeyn ſoll,
mir ſehr werth ſey; ſollen ſie ihr dieſes Zeichen
meiner Liebe mitnehmen ‒ ‒ Darauf hielte ſie
ihm ſelbſt ihr angenehmes Geſicht zu einem Kuſſe
hin, und druͤckte ihm die Hand ‒ ‒ Vielleicht,
fuhr ſie fort, wird ihre Liebe zu mir ihr daſſelbe
angenehmer machen, als ſonſt ihre Bedenklich-
keit erlauben wuͤrde. Sagen ſie ihr, ſprach ſie
auf einem Knie, mit zuſammen geſchlagenen
Haͤnden und aufgehabenen Augen, daß ſie mich
bey dem letzten Augenblick unſers Abſchiedes in
dieſer Stellung ſehen, indem ich Gluͤck und Se-
gen fuͤr ſie beyde erbitte, und daß ſie auf viele,
ſehr viele, gluͤckliche Jahre ſich einander zum Ver-
gnuͤgen und Troſt ſeyn moͤgen.
Die Thraͤnen, ſagte er, fielen mir aus den
Augen. Jch ſeufzete ſelbſt, mit einer Miſchung
von Freude und Kummer: und weil ſie ſich wie-
der hinein begab, ſo bald ich ſie aufgehoben hatte,
L l 5ging
[538]
ging ich, hoͤchſt unzufrieden mit mir ſelbſt, daß
ich wegginge, die Treppe hinunter. Weil ich in-
zwiſchen doch nicht bleiben konnte: ſo beobachte-
ten meine Augen unverruͤckt den entgegenſtehen-
den Weg von meinen Fuͤßen; ſo lange als es
nur den Saum von ihrem Kleide zu ſehen moͤg-
lich war.
Jch ging in den hintern Laden, fuhr der
rechtſchaffene Mann fort, und empfahl die engli-
ſche Fraͤulein der Fuͤrſorge der Fr. Smithen aufs
beſte. Als ich auf der Gaſſe war: ſchlug ich
mein Auge zu ihrem Fenſter auf. Da ſahe ich
ſie zum letzten male; ich zweifle, daß ich ſie je-
mals wieder ſehen werde: und ſie bewegte ihre
Hand auf und nieder gegen mich, mit einem ſol-
chen Blick von laͤchelnder Guͤte und untermeng-
tem Kummer, daß ich es nicht beſchreiben
kann.
Jch bitte dich, ſage mir, du ſchaͤndlicher Lo-
velace, ob du nicht ſelbſt aus dieſer trocknen Be-
ſchreibung von mir, wie ich durch die Betrach-
tungen uͤber dieſen Vorfall, einen Gedanken be-
kommeſt, daß ein weit erhabneres Vergnuͤgen in
vernuͤnftiger Gemuͤthsfreundſchaft liegen muͤſſe;
als du jemals unter dem dicken Rauch der Sinn-
lichkeit zu ſchmecken vermoͤgend geweſen biſt?
Sage, ob es dir nicht moͤglich ſeyn mag, mit der
Zeit, dem unendlich Vorzuͤglichen denjenigen
Vorzug zu geben, den ich ihm nun, wie ich hoffe,
allezeit geben werde.
Jch
[539]
Jch will dich ungeſtoͤrt laſſen, dir dieſe Be-
trachtung auf das beſte zu Nutze zu machen.
Sie kommt von
Deinem wahren Freunde
Joh. Belford.
Der vier und ſiebzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jhre beyden ruͤhrenden Briefe wurden mir, wie
ich wegen eines jeden Briefes von Jhnen
befohlen hatte, in des Obriſten Hauſe gebracht,
ungefaͤhr eine Stunde vorher, ehe wir aufbra-
chen. Jch konnte mich nicht enthalten, noch
daſelbſt einige Blicke auf ihren Jnhalt zu wer-
fen, und mehr Thraͤnen uͤber ſie zu vergieſſen,
als ich Jhnen ſagen will: ob ich gleich meine
Augen, ſo gut als ich konnte, wieder abtrocknete,
damit die Geſellſchaft, zu der ich zuruͤckzukehren
genoͤthigt war, und meine Mutter, ſo wenig als
moͤglich, von meinem Kummer merken ſollte.
Jch bin noch uͤber alle Maaßen in Bewe-
gung, und war es damals noch mehr. Die
Urſache will ich ihnen alſobald eroͤffnen. Nichts,
als diejenigen Bewegungen, welche der letzte
Streich
[540]
Streich des Todes erwecken wuͤrde, koͤnnte mei-
ne erſte Aufmerkſamkeit von dem betruͤbten und
feyerlichen Jnhalt ihrer letzten Liebesbezeigungen
abfuͤhren. Mit dieſem muß ich alſo den An-
fang machen.
Wie kann mir der Gedanke ertraͤglich ſeyn,
eine ſo werthe Freundinn zu verlieren! Jch will
es nicht einmal vermuthen. Jn der That ich
kann es nicht! Ein ſolches Gemuͤth, als Sie
beſitzen, iſt nicht deswegen in der Menſchheit
eingekleidet, daß es uns ſo bald entzogen wuͤrde.
Es muß noch ſehr viel, zum Beſten aller, die
das Gluͤck haben, Sie zu kennen, zu thun uͤbrig
ſeyn.
Sie erzaͤhlen, in Jhrem Briefe vom ver-
wichnen Donnerſtage (*), die verſchiednen Um-
ſtaͤnde, in welchen ſich Jhr Zuſtand ſchon gebeſ-
ſert hat. Laſſen Sie mich im Werke ſehen, daß
Sie es mit dieſer Erzaͤhlung im Ernſt meynen,
und wirklich den Muth haben, ſich zu entſchlie-
ßen, die Empfindung der Beleidigungen, die Sie
nicht vermeiden konnten, zu uͤberwaͤltigen. Als-
denn will ich auf die Fuͤrſehung, und mein de-
muͤthiges Gebeth, fuͤr Jhre vollkommene Gene-
ſung trauen. Von Herzen werde ich mich freu-
en, wenn ich Sie, bey meiner Ruͤckkehr von der
kleinen Jnſel, in einer ſolchen Befſerung finde,
daß Sie nach dem Vorſchlage, welchen Herr
Hickmann Jhnen zu thun hat, nahe bey uns ſeyn
koͤnnen.
Sie
[541]
Sie verweiſen wir, in Jhrem Schreiben
vom Sonnabend (*), die Freyheit, welche ich
mir gegen Jhre Familie nehme.
Jch mag wohl hitzig ſeyn. Jch weiß, ich
bin es ‒ ‒ Allzu hitzig ‒ ‒ ‒ Jedoch kein feu-
riges Bezeigen in der Freundſchaft kann zu kei-
nem Verbrechen gereichen: ſonderlich wenn un-
ſer Freund große Vorzuͤge hat, unter dem Be-
druck ſeufzet und mit unverdientem Leiden kaͤmpfet.
Jch habe keinen Begriff von Kaltſinnigkeit
in der Freundſchaft: man mag ſie mit dem Na-
men der Klugheit, oder wie man ſonſt will,
beehren oder unterſcheiden.
Sie moͤgen Jhre Verwandten entſchuldi-
gen. Das iſt allezeit Jhre Weiſe geweſen.
Aber, liebſte Freundinn, andere Leute muͤſſen die
Freyheit haben zu urtheilen, wie ihnen beliebt.
Jch bin nicht ihre Tochter, nicht eine Schweſter
von Jhrem Bruder und Jhrer Schweſter ‒ ‒
Jch danke dem Himmel, daß ich es nicht bin.
Allein wenn Sie wegen der Freyheiten, die
ich mir vor ſo langer Zeit, als Sie melden, ge-
nommen habe, uͤbel mit mir zufrieden ſind: ſo
beſorge ich, daß Sie noch mehr bekuͤmmert ſeyn
moͤchten, wenn Sie wuͤßten, was erfolget waͤre, da
ich mich ganz neulich an Jhre Schweſter gewandt
hatte, um Jhnen die Losſprechung zu verſchaffen,
welche Jhnen ſo ſehr am Herzen lieget. Aber
Jhre Angehoͤrigen haben es mit mir nicht beſſer
gemacht. Jedoch ich muß Jhnen nicht alles er-
zaͤhlen.
[542]
zaͤhlen. Jch hoffe inzwiſchen, daß dieſe Unver-
ſoͤhnlichen, ich ſchließe meine Mutter mit ein,
gegen ihre Eltern allezeit gute, gehorſame, bloß
leidende Kinder geweſen ſind.
Noch einmal, vergeben Sie mir. Jch ha-
be ſchon geſtanden, daß ich zu hitzig geweſen bin.
Aber ich habe kein Beyſpiel zu dem Gegentheil
vor mir, als von Jhnen: und das Verfahren
mit Jhnen hat ſehr wenige Reizung fuͤr mich,
daß ich Jhnen in Jhrer gehorſamen Sanftmuth
nachzuahmen ſuchen ſollte.
Sie uͤberlaſſen es mir, der edelgeſinnten Fa-
milie, deren einziges Ungluͤck iſt, daß ein ſo
ſchaͤndlicher Menſch ſo nahe mit ihnen verwandt
iſt, auf ihre Hoffnung eine abſchlaͤgige Antwort
zu geben. Aber dennoch ‒ ‒ Ach! meine Wer-
theſte, ich fuͤrchte mich ſo ſehr in Betrachtung
meiner ſelbſt, wenn dieſe abſchlaͤgige Antwort
gegeben werden muß ‒ ‒ Jch weiß nicht, was
ich ſagen ſollte ‒ ‒ Allein erlauben Sie mir in-
zwiſchen dieſe abſchlaͤgige Antwort aufzuſchieben,
bis ich wieder von Jhnen hoͤre.
Jhr liebreicher Eifer, Sie in ihre anſehnli-
che Familie zu ziehen, gereichet Jhnen ſo ſehr
zur Ehre ‒ ‒ Sie alle bewundern Sie mit ſo
vieler Gerechtigkeit ‒ ‒ Sie ſelbſt, meine
Wertheſte, muͤſſen uͤber den niedertraͤchtigen Men-
ſchen einen ſo edlen Sieg gehabt haben ‒ ‒ Es
iſt ihm ſo ſehr ein Ernſt um Sie ‒ ‒ Die Welt
weiß ſo viel von der ungluͤcklichen Sache ‒ ‒
Sie koͤnnen noch ſo viel gutes ſtiften ‒ ‒ Jhr
Wille
[543]
Wille iſt ſo unbefleckt ‒ ‒ Jhre Verwandten
ſind ſo unverſoͤhnlich. ‒ Bedenken Sie dieß,
meine Allerliebſte, und bedenken es mehr als
einmal.
Erlauben Sie mir, daß ich Sie Jhnen ſelbſt
uͤberlaſſe, es zu thun: da ich Jhnen unterdeſſen
die Veranlaſſung zu der Bewegung bey mir,
welche ich in dem Anfange meines Briefes be-
ruͤhret habe, melde. Jn dem Beſchluß deſſelben
werden Sie die Verbindlichkeit finden, welche
ich mir habe gefallen laſſen uͤber mich zu nehmen,
daß ich dieſe wichtige Sache Jhnen noch ein-
mal zur Entſcheidung anheimſtelle, ehe ich in
Jhrem Namen die abſchlaͤgige Antwort gebe,
die mit Ehre fuͤr Sie ſelbſt nicht bereuet oder
wiederrufen werden kann, wenn ſie einmal ge-
geben iſt.
Wiſſen Sie dann, liebſte Freundinn, daß
ich meine Mutter zu dem Obriſten Ambroſe bey
der Gelegenheit, die ich Jhnen in meinem vori-
gen Schreiben gemeldet, begleitete. Es waren
viele Fraͤulein und Cavallier da, welche Sie ken-
nen: ſonderlich Fraͤulein Catharina d’Olly,
Fraͤulein Lloyd, Fraͤulein Brigitta d’Ollyffe,
Fraͤulein Biddulph und einer jeden beſondere
Verehrer, nebſt den zwoen Baſen des Obriſten,
die beyde feine Frauenzimmer ſind; außer vielen
andern, welche Sie nicht kennen; denn ſie wa-
ren mir nicht weiter, als dem Namen nach, be-
bekannt.
[544]
kannt. Es war eine anſehnliche Geſellſchaft;
und alle waren mit einander wohl zuſrieden: bis
der Obriſt Ambroſe einen hereinfuͤhrte, der den
Augenblick, da er in den großen Saal gefuͤhrt
wurde, die ganze Verſammlung in eine gewiſſe
Unruhe ſetzte.
Es war Jhr Boͤſewicht.
Jch dachte, ich wuͤrde zu Boden ſinken, ſo
bald er mir in die Augen fiel. Meine Mutter
ward auch unruhig und kam zu mir. Annchen,
ſagte ſie mir ins Ohr, koͤnnt ihr den Kerl ohne
allzu heftige Bewegung ſehen? ‒ ‒ Wo nicht:
ſo geht in das naͤchſte Zimmer.
Jch konnte nicht weggehen. Jedermann
warf verſtohlne Blicke von ihm auf mich. Jch
blieb ſitzen, wehete mir mit dem Fecher friſche
Luft zu und ward genoͤthigt, ein Glaß mit Waſ-
ſer zu fordern. O daß ich ſolche Augen haͤtte,
als man dem Baſilisken beyleget, dachte ich, und
daß ſein Leben in derſelben Gewalt waͤre! ‒ ‒
Den Augenblick wollte ich ihn toͤdten!
Er trat mit einem mir ſo verhaßten aber al-
len andern Augen ſo angenehmen Weſen herein,
daß ich ihn auch deswegen mit meinen Blicken
haͤtte toͤdten koͤnnen.
Nachdem er der gantzen Geſellſchaft uͤber-
haupt die gewoͤhnlichen Hoͤflichkeiten bezeigt hat-
te: nahm er Herrn Hickmann allein, und ſagte,
daß er eines und das andere von ſeinem Bezei-
gen gegen ihn, da er ihn das letzte mal geſprochen,
uͤber-
[545]
uͤberdacht haͤtte, und ſich deswegen fuͤr ſeine Ge-
dult und Hoͤflichkeit verbunden achtete.
Er hatte es in der That auch Urſache.
Fraͤulein d’Oily fragte ihn, als er ihr ſeine
Hoͤflichkeit bezeigte, in einem Kreiſe von andern
Fraͤulein, vor ihrer aller Ohren, wie ſich Fraͤu-
lein Clariſſa Harlowe befaͤnde?
Er hoͤrte, war ſeine Antwort, daß Jhnen
nicht ſo wohl waͤre, als er wuͤnſchte und Sie
verdienten.
O! Herr Lovelace, was haben ſie in Anſe-
hung dieſer Fraͤulein zu verantworten: wofern
alles wahr iſt, was ich gehoͤret habe!
Jch habe ſehr viel zu verantworten, ſagte
der unverſchaͤmte Boͤſewicht. Nur hat die wer-
the Fraͤulein ſo viele ausnehmende Vorzuͤge und
eine ſo zaͤrtliche Gemuͤthsart, daß kleine Suͤnden
in ihren Augen groß ſind.
Kleine Suͤnden! verſetzte die Fraͤulein.
Herrn Lovelacens Character iſt ſo wohl bekannt,
daß niemand ihm kleine Suͤnden zutrauet.
Sie ſind ſehr guͤtig gegen mich, Fraͤulein
d’Oily.
Nein, in Wahrheit, ich bin es nicht.
So bin ich denn die einzige Perſon, gegen
welche ſie nicht ſehr guͤtig ſind: und ſo bin ich
ihnen deſto weniger verbunden.
Er wandte ſich hierauf mit einem muntern
Weſen zu der Fraͤulein Playford, und ſagte ihr
einige Hoͤflichkeiten. Jch glaube, Sie kennen
dieſelbe nicht. Sie beſucht ſeine Baſen Mon-
Sechſter Theil. M mtague
[546]
tague bisweilen. Er hatte in der That mit ſei-
nem ſcheinbaren Anſtande einem jeden etwas zu
ſagen: und dieß ſtillte allzubald das Misvergnuͤ-
gen, welches jedermann bey ſeiner Ankunft em-
pſand.
Jch ſaß noch immer auf meinem Stuhl:
und er ſahe mich entweder nicht, oder wollte mich
noch nicht ſehen. Er redete meine Mutter an
und faßte ſie, mit einer hoͤchſt zuverſichtlichen
Mine, wider ihren Willen bey der Hand. Jch
freue mich, gnaͤdige Frau, ſie hier zu ſehen: ich
hoffe, die Fraͤulein Howe befindet ſich wohl. Jch
habe Urſache, mich ſehr uͤber ſie zu beklagen:
aber mache mir Hoffnung, daß ich die hoͤchſte
Verbindlichkeit, die einem Menſchen aufgelegt
werden kann, gegen ſie haben werde.
Meine Tochter iſt gewohnt, mein Herr, zu
feurig und zu eifrig in ihren Freundſchaften zu
ſeyn, daß meine oder ihre eigne Ruhe ungeſtoͤrt
bleiben ſollte.
Es war freylich erſt vor kurzem ein Misver-
gnuͤgen zwiſchen meiner Mutter und mir vorge-
fallen: allein mich deucht dennoch, daß ſie dieß
gegen ihn haͤtte ſparen koͤnnen; ob es gleich nie-
mand hoͤrte, wie ich glaube, außer der Perſon, zu
welcher es geſagt wurde, und der Fraͤulein, die
es mir erzaͤhlte; denn meine Mutter ſagte es
leiſe.
Wir leben nicht fuͤr uns allein, gnaͤdige
Frau, ſprach der ſchaͤndliche Heuchler. Nicht
ein jeder hat eine Seele, die zur Freundſchaft
auf-
[547]
aufgelegt iſt: und was muß das fuͤr ein Herz
ſeyn, welches gegen einen Freund im Leiden un-
empfindlich ſeyn kann?
Jſt dieß ein Ausſpruch von Herrn Lovela-
cens Mund! ſagte meine Mutter ‒ ‒ Verzei-
hen ſie mir, mein Herr, ſie koͤnnen gewiß keine
Abſicht haben, warum ſie ſich bemuͤhen ſollten,
mir eine eben ſo gute Meynung von ihnen beyzu-
bringen, als einige unſchuldige Perſonen zu ih-
rem Schaden von ihnen geheget haben.
Sie wollte von ihm eilen. Aber er hielte
ſie bey der Hand ‒ ‒ Ein wenig gelinder, gnaͤ-
dige Frau, ein wenig gelinder an dieſem Orte.
Sie werden zugeben, daß ein ſehr ſtrafwuͤrdiger
Menſch ſeine Fehler einſehen mag. Sollte man
denn nicht Barmherzigkeit gegen ihn ausuͤben:
wenn er es thut, ſie geſtehet und bereuet?
Jhr Weſen und Anſehen, mein Herr, ſcheint
keine Reue zu erkennen zu geben. Allein der Ort,
wo wir ſind, mag dieß eben ſo gut entſchuldigen
als meine Ungelindigkeit, wie ſie ſich aus-
druͤcken.
Aber, gnaͤdige Frau, erlauben ſie mir zu ſa-
gen, daß ich auf ihre Fuͤrſprache bey ihrer rei-
zenden Tochter, dieß war ſein betruͤgeriſches
Wort, hoffe, damit ich es in meiner Gewalt
haben moͤge, alle Welt zu uͤberzeugen, daß nie-
mand jemals aufrichtiger Reue gezeiget hat. Und
warum, warum ſo zornig, gnaͤdige Frau ‒ ‒
denn ſie beſtrebte ſich, ihre Hand von der ſeini-
gen loszumachen ‒ ‒ Warum ſo heftig, ſo jung-
M m 2ferlich!
[548]
ferlich! ‒ ‒ Der unverſchaͤmte Kerl! ‒ ‒ Darf
ich fragen, ob Fraͤulein Howe hier iſt?
Sie wuͤrde nicht hier geweſen ſeyn: wenn
ſie gewußt haͤtte, was fuͤr eine Perſon ſie zu ſe-
hen bekommen ſollte.
Jſt ſie denn hier? ‒ ‒ Dem Himmel ſey
Dank! ‒ ‒ Hiemit ließ er ihre Hand los, und
trat weiter hervor in die Geſellſchaft.
Wertheſte Fraͤulein Lloyd ‒ ‒ Jndem er dieß
ſagte, gab er ſich ein Anſehen und faßte ſie bey
der Hand, wie er meine Mutter losgelaſſen hat-
te ‒ ‒ Sagen ſie mir, ſagen ſie mir doch, iſt
die Fraͤulein Arabella Harlowe hier? oder wird
ſie kommen? Jch habe es gehoͤrt: und eben
dieß, und die bequeme Gelegenheit, ihrer Freun-
dinn, der Fraͤulein Howe, meine Hochachtung zu
bezeugen, ſind bey mir wichtige Bewegungs-
gruͤnde geweſen, dem Obriſten aufzuwarten.
Ausnehmende Dreiſtigkeit! Nicht wahr,
meine Wertheſte?
Fraͤulein Arabella Harlowe, verzeihen ſie
mir, mein Herr, war die Antwort der Fraͤulein
Lloyd, wuͤrde ſehr wenig Neigung haben, ſie hier
oder ſonſt irgendwo anzutreffen.
Es kann vielleicht ſeyn, meine liebe Fraͤulein
Lloyd: aber vielleicht habe ich, eben aus der Ur-
ache, mehr Verlangen, ſie zu ſehen.
Fraͤulein Harlowe, mein Herr, ſagte Fraͤu-
lein Biddulph, mit einer drohenden Miene, wird
ſchwerlich ohne ihren Bruder hier ſeyn. Jch ſtelle
mir
[549]
mir vor, wo einer kommt, ſo werden ſie beyde
kommen.
Der Himmel gebe, daß ſie beyde kommen!
verſetzte der Boͤſewicht. Von mir, verſichre ich ſie,
Fraͤulein Biddulph, ſoll zu nichts Gelegenheit
gegeben werden, dieſe Geſellſchaft zu ſtoͤren. Eine
geruhige Unterredung von einer halben Stunde
mit dieſem Bruder und ſeiner Schweſter, in Ge-
genwart des Obriſten und ſeiner Gemahlinn, oder
wen ſie ſonſt waͤhlen wuͤrden, ſollte fuͤr mich die
gluͤcklichſte Gelegenheit ſeyn.
Jndem er ſich nun rund herum wandte, als
wenn er begierig waͤre, die eine, oder den andern,
oder beyde zu finden: ward er meiner gewahr,
und nahete ſich mit einer ſehr tiefen Beugung zu
mir.
Jch war ganz in Bewegung. Das koͤnnen
Sie leicht vermuthen. Er wollte mich gern bey
der Hand faſſen. Jch weigerte mich aber, und
gluͤhete ganz vor Unwillen. Aller Augen waren
auf uns gerichtet.
Jch ging von ihm an das andere Ende des
Zimmers, und ſetzte mich nieder, wie ich dachte,
aus ſeinem verhaßten Geſichte. Aber alſobald
hoͤrte ich ſeine verhaßte Stimme hinter meinem
Stuhl. Er redete leiſe und lehnte ſich mit un-
verſchaͤmter Sorgloſigkeit hinten auf denſelben.
Reizende Fraͤulein Howe! ſprach er und ſahe
uͤber meine Schultern, Eine Bitte ‒ ‒ Jch
ſprung von meinem Stuhl auf: aber konnte kaum
vor Unwillen ſtehen. ‒ ‒ O angenehmer und
M m 3wohl-
[550]
wohlanſtaͤndiger Widerwillen! redete der uner-
traͤgliche Kerl leiſe fort! ‒ ‒ Es iſt mir leid,
daß ich ihnen alle dieſe Unruhe mache: allein
erlauben ſie mir, entweder hier, oder in ihrem
eignen Hauſe, mir eine Viertelſtunde Gehoͤr aus-
zubitten. ‒ ‒ Jch bitte ſie, gnaͤdige Fraͤulein,
nur auf eine Viertelſtunde, in einem von den
anſtoßenden Zimmern.
Nein, wenn es auch ein Koͤnigreich einbraͤch-
te, verſetzte ich, und wehete mit meinem Fecher.
‒ ‒ Jch wußte nicht, was ich that ‒ ‒ Allein
ich haͤtte ihn toͤdten koͤnnen.
Wir werden ſo viel bemerket ‒ ‒ Sonſt,
meine liebe Fraͤulein Howe, wollte ich auf mei-
nen Knieen um ihre Fuͤrſprache bey ihrer reizen-
den Freundinn bitten.
Sie wird ihnen nichts zu ſagen haben.
Jch hatte damals Jhre Briefe noch nicht,
meine liebſte Freundinn.
Die Worte ſind vermoͤgend zu toͤdten! ‒ ‒
Aber ich habe ſie in der That verdient, und noch
einen Dolch dazu in meinem Herzen. ‒ ‒ Jch
bin mir meiner Unwuͤrdigkeit ſo wohl bewußt,
daß ich keine Hoffnung, als in ihrer Fuͤrſprache
habe ‒ ‒ O koͤnnte ich diejenige Gewogenheit,
auf welche ich in keiner andern Betrachtung hof-
fen kann, der Vermittelung der Fraͤulein Howe
zu danken haben ‒ ‒
Meiner Vermittelung, ſchaͤndlichſter Kerl!
‒ ‒ Meiner Vermittelung! ‒ ‒ Jch verabſcheue
euch! ‒ ‒ Aus ganzer Seele verabſcheue ich
euch,
[551]
euch, ſchaͤndlichſter Kerl! ‒ ‒ Drey oder viermal
wiederholte ich dieſe Worte, noch dazu mit
Stammlen ‒ ‒ Jch war ausnehmend in Be-
wegung.
Sie koͤnnen mich nicht ſo arg nennen, gnaͤdi-
ge Fraͤulein, als ich mich ſelbſt nennen will ‒ ‒
Jch bin, in Wahrheit, der ſchaͤndlichſte Kerl ge-
weſen ‒ ‒ Aber nun bin ich es nicht mehr ‒ ‒
Erlauben ſie mir ‒ ‒ Aller Augen waren auf
uns gewandt ‒ ‒ Erlauben ſie mir nur auf ei-
nen Augenblick Gehoͤr zu finden ‒ ‒ Nur zehn
Worte mit ihnen zu wechſeln, wertheſte Fraͤu-
lein Howe ‒ ‒ in weſſen Gegenwart es ihnen
beliebt ‒ ‒ um ihrer liebſten Freundinn willen ‒ ‒
nur zehn Worte mit ihnen in dem naͤchſten Zim-
mer.
Es iſt eine Beſchimpfung fuͤr mich, wenn
man gedenket, daß ich nur ein einziges mit euch
wechſeln wuͤrde, wenn ich es aͤndern konnte! ‒ ‒
Mir aus dem Wege und Geſichte, Kerl!
Hiemit wollte ich davon fliehen: allein er
ergriff mich bey der Hand. Jch war uͤber alle
Maaßen in Unordnung ‒ ‒ Jedermanns Au-
gen wurden immer mehr und mehr aufmerkſam
uͤber uns.
Herr Hickmann, den meine Mutter auf die
Seite gefuͤhret hatte, ihm eine Geduld einzuſchaͤr-
fen, welche ihm vielleicht nicht noͤthig war auf-
zudringen, kam hierauf eben mit meiner Mutter
herauf. Sie hatte ihn an ſeinem Leitſeil ‒ ‒ An
ſeinem Ermel, ſollte ich ſagen.
M m 4Herr
[552]
Herr Hickmann, ſprach der kuͤhne Boͤſewicht,
legen ſie fuͤr mich eine Fuͤrbitte ein, daß ich nur
zehn Worte, in dem naͤchſten Zimmer, mit der
Fraͤulein Howe in ihrer, und der gnaͤdigen Frau-
en Gegenwart zu reden Erlaubniß bekomme.
Hoͤrt, Annchen, was er euch zu ſagen hat.
Um ſeiner loszuwerden, hoͤrt ſeine zehn
Worte.
Jch bitte um Entſchuldigung, Frau Mutter.
Sein Athem ſelbſt ‒ ‒ Laſſen ſie mich los, mein
Herr!
Er ſeufzete, und ſahe aus ‒ ‒ O wie ſeufze-
te der ausgelernte Boͤſewicht! Wie ſahe er aus!
Er ließ endlich meine Hand fahren; mit einer
ſolchen Ehrerbietung in ſeinem Bezeigen, daß ei-
nige mich deswegen tadelten, weil ich ihn nicht
hoͤren wollte. ‒ ‒ Dieß reizte mich noch mehr.
O! meine liebſte Freundinn, dieſer Kerl iſt ein
Teufel! ‒ ‒ Dieſer Kerl iſt in Wahrheit ein
Teufel! ‒ ‒ ‒ So gedultig, wenn es ihm be-
liebt! So ſanftmuͤthig! ‒ ‒ Und doch ſo ver-
meſſen, ſo halsſtarrig, ſo verwegen!
Jch wollte in großer Verwirrung aus der
Geſellſchaft gehen. Er war eben ſo bald an der
Thuͤr, als ich.
Wie guͤtig iſt dieß! ſprach der nichtswuͤrdige
Kerl und oͤffnete die Thuͤr fuͤr mich, weil er be-
reit war, mir zu folgen.
Jch kehrte darauf um, und weil ich nicht
wußte was ich that! ſo fuhr ich ihm eben, da er
mir
[553]
mir ſo nahe kam, mit dem Fecher ins Geſicht,
daß der Puder aus ſeiner Perucke flog.
Jedermann ſchien ſo vergnuͤgt, als ich ver-
drieslich war.
Weil es ihn verdroß, daß der Puder von ihm
ſtaͤubte, und die Geſellſchaft uͤber ihn lachte: ſo
wandte er ſich zu Herrn Hickmann. Sie wer-
den einer der gluͤcklichſten Maͤnner in der Welt
ſeyn, Herr Hickmann: weil ſie ein guter Mann
ſind, und nichts thun werden, dieſe hitzige Fraͤu-
lein zu reizen; ſie aber zu viel Verſtand hat, oh-
ne Urſache gereizet zu werden. Sonſt ſey ihnen
der Himmel gnaͤdig!
Dieſer Mann, dieſer Herr Hickmann, meine
Wertheſte, iſt allzu ſanftmuͤthig fuͤr eine Manns-
perſon. ‒ ‒ Jn der That es iſt wahr ‒ ‒ Allein
meine gedultige Mutter ruͤckt mir vor, daß ihre
hitzige Tochter ſich ihn deſto lieber ſeyn laſſen
ſollte. Aber ſanftmuͤthige Maͤnner außerhalb
Hauſes ſind nicht allemal ſanftmuͤthige Maͤnner
zu Hauſe. Jch habe das in mehr als einem
Falle bemerket. Und wenn ſie es auch waͤren:
ſo wuͤrden ſie mir, ich denke es in Wahrheit, des-
wegen doch nicht beſſer gefallen.
Hierauf wandte er ſich zu meiner Mutter,
mit dem Vorſatze, ſich auch an ihr zu erholen.
Woher, gnaͤdige Frau, hat die Fraͤulein alle dieſe
Heftigkeit?
Die ganze Geſellſchaft um uns lachte: denn
ich darf Jhnen nicht ſagen, daß die heftige Ge-
muͤthsart meiner Mutter gar wohl bekannt iſt.
M m 5Sie
[554]
Sie antwortete mit bitterem Verdruß: Sie be-
gegnen mir, mein Herr, wie den Uebrigen in der
Welt ‒ ‒ Allein ‒ ‒
Jch bitte um Verzeihung, gnaͤdige Frau,
fiel er ein: ich haͤtte meine Frage ſparen moͤgen
‒ ‒ Und alſobald, indem ich mich in die andere
Ecke des Zimmers begab, ging er zu der Fraͤu-
lein Playford. Was wollte ich darum geben,
Fraͤulein, daß ich ſie die Arie ſingen hoͤrte, wel-
che ſie bey dem Lord M. die Guͤte gehabt haben
uns vorzuſingen?
So gerieth er mit ihr und der Fraͤulein
d’Ollyffe in eine Unterredung uͤber die Muſik, als
wenn nichts vorgefallen waͤre, und ſang der Fraͤu-
lein Playford leiſe vor, indem er ſie bey beyden
Haͤnden gefaßt hatte; mit ſolchem freyen und
unbekuͤmmerten Weſen, daß es mich nicht wenig
verdroß, herum, und zuzuſehen, wie vergnuͤgt die
Haͤlfte von den unbeſonnenen Thoͤrinnen unſers
Geſchlechts mit ihm war, da doch ſeine gottloſe
Gemuͤthsart ſo beſchrieen iſt ‒ ‒ Daher kom-
men die meiſten Schandthaten ſolcher ehrloſen
Buben. Wuͤrden ſie hingegen finden, daß man
ſie meidete, verachtete und als raͤuberiſche Thie-
re, wie ſie ſind, hielte: ſo wuͤrden ſie zu ihren
Hoͤlen laufen und da fuͤr ſich heulen. Alsdenn
wuͤrde niemand, außer denen, die ein betruͤbter
Zufall, oder eine Vermeſſenheit, die kein Mitlei-
den verdienet, ihnen in die Haͤnde ſpielte, durch
ſie leiden.
Nach
[555]
Nach dieſem ſchwatzte er bisweilen ſehr
ernſthaft mit Hrn. Hickmann. Bisweilen, ſa-
ge ich: denn es ward mit vielen ploͤtzlichen An-
wandlungen eines luſtigen Bezeigens unterbro-
chen. Bald wandte er ſich zu dieſer, bald zu je-
ner Fraͤulein, bald wieder zu Herrn Hickmann:
indem er nach Belieben eine ernſthafte oder freu-
dige Miene annahm. Auf die Art zog er aller
und ſonderlich der Frauenzimmer Augen an ſich.
Dieſe waren voll von Verwunderung uͤber ihn:
jedoch mit den Zuſaͤtzen von ihrem Wenn nur,
und Aber, und Was iſt es Schade, und andern
ſolchem Zeuge, welche, ſelbſt bey ihrem Tadel, zu
viel Wohlgefallen anzeigten.
Unſer Geſchlecht mag wohl billig ſolchen lie-
derlichen Leuten ein Spott und Gelaͤchter ſeyn!
Was fuͤr unbeſonnene Creaturen, die ſich bloß
durch das Auge regieren laſſen! ‒ ‒ Wuͤrde
uns nicht eine kleine Ueberlegung lehren, daß ein
Mann, der wahre Vorzuͤge hat, ein ſittſamer
Mann ſeyn muͤſſe, weil er bloͤde ſeyn muß? Und
daß ein ſo nichtswuͤrdiger Kerl, als dieſer, ſeine
Stuffen in der Bosheit erreichet, und einen gan-
zen Lauf in Schandthaten vollendet haben muͤſſe,
ehe er zu dieſer unbegreiflichen Unverſchaͤmtheit
gelangen konnte? Einer Unverſchaͤmtheit, die
bloß von der ſchlechten Meynung, welche er von
uns, und den hohen Gedanken, welche er von
ſich ſelbſt heget, herruͤhren kann.
Allein Perſonen von unſerm Geſchlechte ſind
uͤberhaupt ſittſam und verſchaͤmt an ſich ſelbſt,
und
[556]
und nur allzugeneigt, das, was in der That ihre
vornehmſte Anmuth iſt, als einen Fehler anzuſe-
hen. Gar fein urtheilen ſie: wenn ſie dieſen
Fehler dadurch zu erſetzen gedenken, daß ſie einen
Mann waͤhlen, der ſich nicht ſchaͤmen kann.
Seine Unterredung mit Herrn Hickmann fiel
auf Sie, und das Unrecht, welches er Jhnen
nach ſeinem eignen Geſtaͤndniß gethan hat: ob
er gleich von der Sache ſo leicht abbrechen, und
wieder dazu kommen konnte.
Jch habe keine Gedult mit einem ſolchen
Teufel ‒ ‒ Menſch kann er nicht heißen. Ge-
wiß er wuͤrde ſich allenthalben, und vor jeder-
mann, ſelbſt bey dem Altar eben ſo auffuͤhren:
wenn ein Frauenzimmer mit ihm da waͤre.
Es ſoll allemal eine Regel bey mir ſeyn, daß
derjenige, der ein Frauenzimmer nicht mit einiger
Ehrerbietung anſiehet, es mit Verachtung anſe-
hen, und bey Gelegenheit auch veraͤchtlich mit dem-
ſelben umgehen werde.
Er war ſo dreiſt, daß er mich auffordern woll-
te: allein ich ſchlug es ihm ſchlechterdings ab,
und meidete ihn, ſo viel ich konnte, mit den ver-
achtungsvolleſten Blicken. Aber ihn konnte
nichts kraͤnken.
Jch wuͤnſchte wohl zwanzig mal, daß ich nicht
da geweſen waͤre.
Die Cavalliers, glaube ich, haͤtten eben ſo
gern gewuͤnſcht, als ich, daß er lieber den Hals
gebrochen haͤtte, als da geweſen waͤre. Denn
niemand ward geachtet, als er. Er iſt ſo wenig
von
[557]
von einem Haſenfuß, und doch ſo zierlich und
praͤchtig in ſeiner Kleidung. Seine Perſon iſt
ſo ſcheinbar. Seine Arten zu handeln ſind ſo
unerſchrocken. Jn ſeinem Geſichte zeigt ſich ſo
viel Nachdenken und Scharfſinnigkeit. Er be-
ſitzt ſo viele Munterkeit, doch ſo wenig affenmaͤſ-
ſiges. Ob er gleich gereiſet hat: ſo hat er doch
nichts angenommenes in ſeinem Weſen. Er iſt
kein bloßer Flatterer: ſondern ganz maͤnnlich.
Sein Witz iſt ſo bekannt: und vor ſeinem Muth
fuͤrchtet man ſich ſo ſehr. Sie muͤſſen daher
nothwendig denken, daß die kleinen Stutzer, de-
ren vier oder fuͤnfe gegenwaͤrtig waren, in ſeiner
Geſellſchaft jaͤmmerlich zu kurz kamen. Ein an-
ſehnlicher Cavallier, dem es gefiel, wie er mich
ihn ſo meiden ſahe, erwaͤhnte gegen mich, daß die
Anmerkung des Dichters nur allzu wahr waͤre,
daß die Frauenzimmer gemeiniglich in ihren
Herzen liederlich waͤren: ſonſt koͤnnten ſie fuͤr
einen Menſchen, der einen ſo beruͤchtigten Namen
haͤtte, nicht ſo eingenommen ſeyn.
Jch gab ihm dagegen zu erkennen, daß die
Anmerkung ſo wohl bey dem Poeten als bey dem,
der ſie anwendete, viel zu allgemein ſey, und mit
mehr Unart, als guten Sitten, gemacht wuͤrde.
Als der nichtswuͤrdige Kerl ſahe, wie ſorg-
faͤltig ich ihn meidete; indem ich aus einer Ecke
des Zimmers in die andre ging: ſo kam er end-
lich kuͤhn zu mir herauf, da meine Mutter und
Herr Hickmann mit mir ſprachen; und redete
mich vor ihnen alſo an:
Jch
[558]
Jch bitte um Verzeihung, gnaͤdige Fraͤulein,
ich muß gewiß, mit ihrer Fr. Mutter Erlaubniß,
auf einige Augenblicke eine Unterredung mit ih-
nen haben; entweder hier, oder in ihrem eignen
Hauſe: und ich erſuche, mir dazu Gelegenheit
zu verſtatten.
Annchen, ſagte meine Mutter, hoͤrt, was er
euch zu ſagen hat. Jn meiner Gegenwart moͤcht
ihr es wohl thun: und beſſer in dem naͤchſten
Zimmer, wenn es ſeyn muß, als daß er zu euch
in unſer eignes Haus komme.
Darauf trat ich in die eine Ecke des Saals.
Meine Mutter folgte mir, und er folgte ihr mit
Herrn Hickmann, den er unter dem Arm gefaßt
hatte ‒ ‒ Nun, mein Herr, ſprach ich, was ha-
ben ſie denn zu ſagen? ‒ ‒ Sagen ſie es mir
hier.
Jch habe mich gegen Herrn Hickmann ſchon
erklaͤret, fing er an, wie ſehr ich wegen der Be-
leidigungen, die dem vortrefflichſten Frauenzim-
mer in der Welt von mir widerfahren ſind, be-
kuͤmmert ſey: daß ſie zwar das letzte mal, da ich
die Ehre gehabt ſie zu ſehen, einen ſo herrlichen
Sieg uͤber mich erhalten habe, der, nebſt meiner
Reue, billig ihren vorigen Unwillen haͤtte maͤßi-
gen ſollen; daß ich aber dennoch von ganzem
Herzen mir alle Maaßregeln gefallen laſſen wol-
le, Vergebung von ihr zu erlangen. Meine Ba-
ſen Montague haben ihnen eben das eroͤffnet.
Die Lady Eliſabeth und Lady Sarah, und mein
Lord M. haben ſich fuͤr meine Ehre verbuͤrget.
Jch
[559]
Jch weiß, wie viel ſie bey der werthen Perſon
vermoͤgen. Meine Baſen haben mir geſagt,
daß ſie ihnen Hoffnung gemacht haͤtten, dieß bey
ihr zu meinem Beſten anzuwenden. Mein Lord
M. und ſeine beyden Schweſtern warten mit
ſehnlichem Verlangen auf die Wirkungen deſſel-
ben. Sie muͤſſen von ihr ſchon vor itzo Nach-
richt gehabt haben: ich hoffe, ſie haben Nach-
richt. Wollen ſie denn die Guͤte haben, mir zu
entdecken, ob ich mir einige Hoffnung machen
moͤge?
Wenn ich von dieſer Sache reden muß: ſo
wiſſen ſie, daß ſie ihr das Herz gebrochen haben.
Sie kennen den Werth der Fraͤulein nicht, wel-
che ſie beleidigt haben. Sie ſind ihrer nicht
wuͤrdig: und ſie verachtet ſie, wie ſie billig muß.
Werthe Fraͤulein Howe, laſſen ſie keinen
Zorn ſich mit ſo harten Ankuͤndigungen vermen-
gen. Jch muß mein Schickſal wiſſen. Jch
will noch einmal auf Reiſen gehen: wo ich ſie
ſchlechterdings unverſoͤhnlich finde. Allein ich
hoffe, ſie werde mir erlauben, ihr ſelbſt aufzuwar-
ten, damit ich mein Urtheil aus ihrem eignen
Munde erfahre.
Es wuͤrde alſobald Jhr Tod ſeyn, ſie zu ſe-
hen. Und was muͤſſen Sie ſeyn, wenn ſie ihr
ins Geſicht zu ſehen vermoͤgend ſind?
Jch warf ihm hierauf, heftig genug, das koͤn-
nen ſie glauben, ſeine Schandthaten vor, und das
Uebel, welches ſie von ihm gelitten haͤtten. Jch
hielte ihm vor, in was fuͤr Ungluͤck er ſie geſtuͤr-
zet;
[560]
zet; wie er alle ihre Freunde ihnen zu Feinden
gemacht; und in was fuͤr ein ſchaͤndliches Haus
er ſie gefuͤhret haͤtte. Jch gab ihm einen Wink
von ſeinen ehrloſen Kuͤnſten und von dem ſchreck-
lichen Verhaft. Jch ſagte ihm, wie ſchlecht ſie
ſich itzo befaͤnden, und wie feſt ſie entſchloſſen
waͤren, lieber zu ſterben, als ihn zu nehmen.
Er ſuchte ſeine Auffuͤhrung in keinem Stuͤ-
cke, als in Anſehung des Verhafts, zu rechtferti-
gen: und betheurte ſo feyerlich ſeine ſchmerzliche
Reue uͤber ſein Verfahren mit Jhnen, indem er
ſich auf die freyeſte Art ſelbſt anklagte und ſich
die verdienten Namen beylegte, daß ich ver-
ſprach, Jhnen dieſes Stuͤck von unſerer Unterre-
dung vorzuſtellen. Und nun haben ſie es.
Meine Mutter ſo wohl, als Herr Hickmann,
glaubt, wegen desjenigen, was bey dieſer Gele-
genheit vorfiel, daß er durch das Boͤſe, welches
er Jhnen angethan, in ſeinem Gewiſſen geruͤhret
ſey. Allein nach ſeinem ganzen Bezeigen, muß
ich geſtehen, kommt es mir vor, als wenn ihn
nichts eine halbe Stunde uͤber zu ruͤhren vermoͤ-
gend iſt. Dennoch zweifle ich im geringſten
nicht, daß er ſie gern heyrathen wuͤrde. Es kraͤnkt
ſeinen Stolz, wie ich wohl ſehen konnte, daß er
eine abſchlaͤgige Antwort bekommen ſollte: und
den meinigen kraͤnkte es dagegen, daß ein ſo nichts-
wuͤrdiger Kerl ſich unterſtanden hatte, zu denken,
es wuͤrde in ſeiner Gewalt ſeyn, ein ſolches
Frauenzimmer zu bekommen, wenn es ihm nur
beliebte; und es muͤßte ihm als eine Herablaſ-
ſung
[561]
ſung oder eine Gefaͤlligkeit, wenigſtens von allen
ſeinen eignen Verwandten, angerechnet werden,
wenn er ſich gefallen laſſen wollte, an das Heyra-
then zu denken.
Nun wiſſen Sie die Urſache, liebſte Freun-
dinn, warum ich noch verziehe, den Fraͤuleins von
ſeiner Familie die abſchlaͤgige Antwort zu mel-
den. Meine Mutter, Fraͤulein Lloyd und Fraͤu-
lein Biddulph, welche ſehr begierig nachfragten,
was in unſerer geheimen Unterredung vorgefal-
len waͤre, und deren Neubegierde ich einigerma-
ßen fuͤr recht hielte zu befriedigen, ſonderlich da
ſie zu unſerer naͤchſten Bekanntſchaft gehoͤren,
ſind alle der Meynung, daß Sie ihn nehmen ſoll-
ten.
Sie werden Herrn Hickmann vollkommen
Jhre Meynung wiſſen laſſen. Wenn er mir die-
ſelbe eroͤffnet: ſo will ich Jhnen auch meine Mey-
nung voͤllig ſagen.
Moͤchte er mir, unterdeſſen, nur gute Zeitung
von dem Zuſtande Jhrer Geſundheit bringen!
So wuͤnſchet mit dem eifrigſten Verlangen
Jhre ewig getreue und ergebene
Anna Howe.
Sechſter Theil. N nDer
[562]
Der fuͤnf und ſiebzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jch erkenne mit ſchuldigem Dank ihre Gewo-
genheit, daß Sie Herrn Hickmann zu mir
geſandt, mich zu beſuchen, ehe Sie Jhre beſchloſſe-
ne Reiſe antreten. Hiernaͤchſt aber muß ich mit
Jhnen keifen, nach der Aufrichtigkeit derjenigen
Liebe, welche nicht die Liebe ſeyn koͤnnte, die ſie
iſt, wenn ſie dieſe bindende Freyheit nicht leiden
wollte, daß Sie es aufgeſchoben haben, die ab-
ſchlaͤgige Antwort zu geben, welche ich Sie mit
ſo reifer Ueberlegung inſtaͤndigſt gebeten hatte,
den Anverwandten des Herrn Lovelacens zu ver-
melden.
Es iſt mir leid, daß ich genoͤthigt bin, Jh-
nen, meine Wertheſte, die mich ſo wohl kennen,
noch einmal zu ſagen, daß, wenn ich auch noch
viele Jahre leben ſollte; ich Herrn Lovelacen
nicht haben wollte: viel weniger kann ich an ihn
gedenken, da es wahrſcheinlich iſt, daß ich nicht
eines mehr erleben werde.
Was die Welt und ihre Urtheile betrifft:
ſo wiſſen Sie, liebſte Freundinn, daß ich zwar
allezeit
[563]
allezeit ſehr gewuͤnſchet, einen guten Namen zu
haben, aber es dennoch niemals fuͤr recht gehal-
ten, der Meynung der Welt mehr als einen Ne-
benplatz einzuraͤumen. Die Vorwuͤrfe, welche
die Fraͤulein d’ Oily Herrn Lovelacen in oͤffentli-
cher Geſellſchaft gemacht, ſind ein neuer Beweis,
daß ich meine Ehre bey der Welt verloren habe.
Und was wuͤrde es mir fuͤr ein Vortheil ſeyn,
wenn ſie auch wieder zu erſetzen waͤre, und ich
lange leben ſollte, wofern ich mich ſelbſt nicht ge-
gen mich ſelbſt rechtfertigen koͤnnte?
Weil ich in meinem vorigen Schreiben ſo
viel von den Freyheiten geſagt, welche Sie ſich
gegen meine Freunde genommen haben: ſo will
ich nun deſto weniger ſagen. Allein der Wink,
den Sie mir geben, daß noch ſonſt etwas, zwi-
ſchen einigen von denſelben und Jhnen, neulich
vorgefallen iſt, macht mir vielen Kummer: und
das ſo wohl meinetwegen, als um jener willen;
indem ſie das nothwendig mehr gegen mich erbit-
tern muß. Jch wuͤnſchte, liebe Freundinn, daß
ich in einer Angelegenheit, woran mir ſo ſehr viel
lieget, mir ſelbſt und meinen eignen Maaßregeln
uͤberlaſſen waͤre. Da aber geſchehene Dinge
nicht zu aͤndern ſind: ſo muß ich die Folgen er-
tragen. Jedoch befuͤrchte ich mehr als vorher,
was mir meine Schweſter antworten moͤge, wo
ich gar nur einer Antwort gewuͤrdigt werde.
Wollen Sie mir erlauben, meine Wertheſte,
dieß mit einer Anmerkung zu beſchließen? ‒ ‒
Es ſoll dieſe ſeyn. Meine geliebte Freundinn
N n 2hat
[564]
hat allezeit in ſolchen Dingen, woran ihr loͤbli-
cher Eifer Theil gehabt, mehr den Verweis,
als den Fehler zu vermeiden geſchienen. Wol-
len Sie mir dieſe Freyheit zu gute halten: ſo
will ich wiederum Jhrer Art zu denken ſo viel
einraͤumen, daß, in Anſehung der Auffuͤhrung ei-
niger Eltern in dieſen bedenklichen Faͤllen, unbe-
daͤchtlicher Widerſtand oft eben ſo viel Ungluͤck
anrichte, als unbeſonnene Liebe.
Was Jhre guͤtige Einladung betrifft, mich
in geheim in Jhre Nachbarſchaſt zu begeben: ſo
habe ich mich gegen Herrn Hickmann erklaͤrt, daß
ich es uͤberlegen wolle. Aber ich glaube, wo
Sie die Guͤte haben wollen, mich entſchuldigt zu
halten, daß ich es nicht annehmen werde: wenn
ich auch im Stande ſeyn ſollte, von hier aufzu-
brechen. Jch will Jhnen meine Gruͤnde ange-
ben, warum ich es ausſchlage: und das muß ich
billig thun, da meine Liebe und Dankbarkeit mir
einen Beſuch, den ich bisweilen von meiner lie-
ben Fraͤulein Howe haben koͤnnte, zu dem groͤß-
ten Troſt und Vergnuͤgen in der Welt machen
wuͤrde.
Sie muͤſſen alſo wiſſen, daß dieſe große
Stadt, ſo gottlos ſie auch iſt, doch keinen Man-
gel an bequemer Gelegenheit habe, ſich zu beſſern:
indem hier taͤglich in verſchiedenen Kirchen Bet-
ſtunden gehalten werden. Dieſe Gelegenheit
ſuche ich mir mit großem Verlangen, wie es mei-
ne Kraͤfte zulaſſen wollen, zu Nutze zu machen.
Die Art und Weiſe, welche ich mir vorgenom-
men,
[565]
men, und angefangen hatte, als der grauſame
Verhaft mich ſo wohl der Freyheit als der Kraͤf-
te beraubte, iſt dieſe. Wenn ich zu einer gelin-
den Bewegung aufgelegt war: ſo nahm ich eine
Saͤnfte nach St. Dunſtans Kirche in Fleet-
Street, wo des Morgens um ſieben Bethſtunde
iſt. Jch war willens, wenn das Wetter gut
waͤre, zu Fuße nach der Kapelle in Lincolns-Jnn
zu gehen; wo nicht, eine Saͤnfte zu nehmen:
weil daſelbſt fruͤhe um eilfe, und Nachmittags
um fuͤnfe, eben die erwuͤnſchte Gelegenheit iſt.
Zu andern Zeiten gedachte ich nicht weiter, als
zur Kirche beym Covent-Garden, zu gehen, wo
ebenfalls des Morgens fruͤhe Bethſtunde gehal-
ten wird.
Wenn ich dieſer Weiſe folge: ſo zweifle ich
nicht, daß es ſehr viel helfen wird, wie es ſchon
gethan hat, meine unruhige Gedanken zu einer
Stille, und mich zu derjenigen vollkommenen
Ergebung in den goͤttlichen Willen, wornach ich
trachte, zu bringen. Denn ich muß geſtehen,
wertheſte Freundinn, daß noch bisweilen mein
Kummer und Nachdenken mir zu ſchwer iſt, und
alle Huͤlfe, die ich von den Pflichten der Re-
ligion nehmen kann, kaum hinreichet, meine
wankende Vernunft zu ſtuͤtzen. Jch bin ſehr
jung, das wiſſen Sie, meine Wertheſte, meiner
eignen Leitung in ſolchen Umſtaͤnden, worunter
ich bin, uͤberlaſſen zu ſeyn.
Eine andere Urſache, warum ich mich nicht
gern in Jhre Nachbarſchaft begeben will, iſt das
N n 3Misver-
[566]
Misvergnuͤgen, welches meinetwegen zwiſchen
Jhrer Fr. Mutter, und Jhnen, entſtehen
moͤchte.
Waͤren Sie wirklich verheyrathet; und ver-
langte alsdenn der rechtſchaffene Mann, der in
dem Fall ein Recht haben wuͤrde, Jhnen in allen
Jhren Abſichten befoͤrderlich zu ſeyn, daß ich in
der Nachbarſchaft ſeyn ſollte: ſo weiß ich, in der
That, nicht, was ich thun moͤchte. Denn wenn
ich gleich nicht willens ſeyn wuͤrde, zu der Zeit,
da ich Jhnen einen Beſuch abſtatten und meinen
Gluͤckwunſch ablegen duͤrfte, meine andern wich-
tigen Urſachen fahren zu laſſen: ſo moͤchte ich
doch nicht wiſſen, wie ich mir ſelbſt das Vergnuͤ-
gen verſagen koͤnnte, in der Naͤhe bey Jhnen zu
bleiben, wenn ich einmal da waͤre.
Jch uͤberſende Jhnen die Abſchrift von mei-
nem Briefe an meine Schweſter beygeſchloſſen.
Jch hoffe, man werde gedenken, daß er mit ei-
nem wahrhaftig reuevollen Gemuͤthe geſchrieben
ſey: denn er iſt es in der That. Jch bitte, daß
Sie nicht glauben, als wenn ich mich in demſel-
ben zu ſehr erniedrige: indem das bey einem Kin-
de gegen Eltern, die es ungluͤcklich beleidiget hat,
nicht ſtatt haben kann.
Sollten ſie ihn aber noch, da ſie vielleicht
mehr als vorher uͤber Jhre Freyheiten gegen ſie
unwillig ſind, mit Verachtung und Stillſchwei-
gen uͤbergehen; denn ich bin bisher noch mit kei-
ner Antwort beguͤnſtigt worden: ſo muß ich ler-
nen, es an ihnen fuͤr recht zu halten, daß ſie es
thun;
[567]
thun; ſonderlich da ich mich itzo zum erſten mal
gerade an ſie wende. Denn ich habe oft die
Kuͤhnheit derjenigen Leute getadelt, die eine Gunſt-
bezeigung ſuchen, welche jemand nach eignem
Gutbefinden zugeſtehen, oder abſchlagen kann,
und ſich doch die Freyheit nehmen beleidigt zu
ſeyn, wenn ihnen nicht gewillfahret wird: als ob
der, von dem etwas gebeten wird, nicht eben
ſo gut ein Recht haͤtte, es zu verſagen, als der,
welcher bittet, es zu fordern.
Wofern hingegen mein Brief beantwortet
werden ſollte; und zwar in ſolchen Ausdruͤcken,
daß ich ihn einer ſo feurigen Freundinn nicht gern
zeigen moͤchte: ‒ ‒ ſo muͤſſen Sie, meine wer-
the Freundinn, nicht unternehmen, meine Ver-
wandten unguͤtig zu beurtheilen, ſondern ihnen
etwas zu gute halten; weil ſie nicht wiſſen, was
ich gelitten habe; weil ſie mit gerechtem Un-
willen gerecht fuͤr ſie, wenn ſie ihn fuͤr gerecht
anſehen, wider mich eingenommen ſind; und
weil ſie nicht im Stande ſind, von der Wahrheit
meiner Reue zu urtheilen.
Was koͤnnen ſie auch fuͤr mich thun: wenn
man alles erwaͤget? ‒ ‒ Sie koͤnnen bloß Mit-
leiden mit mir haben. Und was wird das wei-
ter thun, als ihren eignen Kummer nur ver-
mehren, dem itzo ihr Unwillen noch eine Er-
leichterung iſt? Denn koͤnnen ſie, durch ihr Mit-
leiden, meine verlorne Ehre bey der Welt wieder
herſtellen? Koͤnnen ſie dadurch einen Schwamm
kaufen, der die vergangenen ungluͤcklichen fuͤnf
N n 4Monate
[568]
Monate meines Lebens von dem Jahr auswi-
ſchen wird (*)?
Jhre Nachricht von dem froͤhlichen und un-
bekuͤmmerten Bezeigen des Herrn Lovelacens,
bey dem Obriſten, ſetzt mich gar nicht in Ver-
wunderung: nachdem ich gehoͤrt habe, daß er die
Dreiſtigkeit gehabt, dahin zu kommen; ob er
gleich gewußt, wer eingeladen und erwartet
wuͤrde. ‒ ‒ Nur daruͤber, meine Wertheſte,
wundere ich mich wirklich, wie Fraͤulein Howe
ſich einbilden koͤnnen, daß ich an einen ſolchen
Menſchen, als meinen Ehegatten, gedenken
koͤnnte.
Der elende Menſch! Jch habe Mitleiden mit
ihm, daß ich ihn herum flattern; die Gaben,
welche ihm zu vortrefflichen Abſichten gegeben
ſind, misbrauchen; Muthigkeit fuͤr Witz halten;
und ohne Furcht vor der Gefahr an dem Rande
des Abgrundes herumtanzen ſehe!
Allein, in Wahrheit, ſeine Drohung, mich
zu ſehen, beunruhigt und kraͤnket mich auf das
empfindlichſte. Jch kann nicht anders, als hof-
fen, daß ich ihn in dieſer Welt niemals wieder ſe-
hen werde.
Weil Sie, liebſte Freundinn, den Fraͤuleins
von ſeiner Familie die abſchlaͤgige Antwort, auf
mein Erſuchen, ſo ungern melden wollen: ſo will
ich Sie nur bemuͤhen, den Brief, welchen ich zu
dem Ende einſchließen werde, zu uͤbermachen.
Er
[569]
Er iſt zwar an Sie ſelbſt gerichtet; weil die
Fraͤuleins ſich in dieſer Angelegenheit an Sie ge-
wandt haben: aber bloß an eine von denen Fraͤu-
leins, an welche es Jhnen ſelbſt belieben wird, zu
ſenden.
Jch empfehle mich, liebſte Fraͤulein Howe,
zu Jhrem Gebeth, und beſchließe mit wiederholter
Dankſagung, daß Sie den Herrn Hickmann zu
mir geſchickt haben, und mit den aufrichtigſten
Wuͤnſchen, daß Sie geſund und gluͤcklich leben
und bald Jhren Hochzeitstag begehen moͤgen,
Jhre ewig ergebene und verbundene
Clariſſa Harlowe.
Der ſechs und ſiebzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Ein Einſchluß von dem vorhergehenden.
Weil Sie ſich ungern mit meiner feſten Ent-
ſchließung, die ich Jhnen ſo bald, als ich
nur im Stande war, eine Feder zu halten, er-
oͤffnet habe, zufrieden zu geben ſcheinen: ſo bitte
ich mir die Gewogenheit von Jhnen aus, durch
N n 5ge-
[570]
gegenwaͤrtiges, oder durch einen andern Weg,
den Sie am bequemſten finden, den wuͤrdigen
Fraͤuleins, weiche ſich zum Behuf ihres Ver-
wandten an Sie gewendet haben, zu vermelden,
daß ich zwar fuͤr ihre edelmuͤthige Meynung von
mir unendlich ver bunden ſey, aber dennoch nicht
einwilligen koͤnne, Herrn Lovelacens vielfaͤltige
Uebertretungen aller ſittlichen Geſetze, ſo zu ſa-
gen, fuͤr rechtmaͤßig zu erklaͤren, und durch
eine Verbindung mit einem Menſchen, durch deſ-
ſen vorſetzliche Beleidigungen, in einer langen
Folge von den niedertraͤchtigſten Raͤnken, ich al-
le meine zeitliche Hoffnung verlohren habe, auch
meine kuͤnftige Gluͤckſeligkeit in Gefahr zu
ſetzen.
Er muß gewiß ſelbſt, wenn er ſeine eigne
Handlungen uͤberleget, der Gerechtigkeit ſo wohl
als der Anſtaͤndigkeit meiner Entſchließung Zeug-
niß geben. Die Fraͤuleins, darf ich ſagen, wuͤr-
den es thun, wenn ſie den ganzen Verlauf von
meinem ungluͤcklichen Schickſal wuͤßten.
Haben Sie die Guͤte, ihnen zu eroͤffnen, daß
ich mich ſelbſt betruͤge: wofern mein Vorſatz in
dieſem Stuͤcke nicht vielmehr aus gutem Grund-
ſaͤtzen, als aus einer Leidenſchaft, fließet; ſo
undankbar, ja gar unmenſchlich er auch mit ihr
umgegangen iſt. Jch kann von der Wahrheit
dieſer Verſicherung keinen ſtaͤrkern Beweis ge-
ben, als wenn ich mich erklaͤre, daß ich ihm ver-
geben kann und will; unter dieſer einzigen und
leich-
[571]
leichten Bedingung, daß er mir niemals wei-
ter beſchwerlich fallen wolle.
Auf welche Art es Jhnen auch belieben mag,
dieſe Erklaͤrung zu thun, ſo haben Sie doch die
Gewogenheit, ihr meine gehorſamſte Empfeh-
lung an die Fraͤulein und Ladies von der edlen
Familie und den Lord M. beyzuſuͤgen. Und
glauben Sie, meine Wertheſte, daß ich bis an
den letzten Augenblick meines Lebens ſeyn werde
Jhre beſtaͤndig verbundene und
ergebene
Clariſſa Harlowe.
Der ſieben und ſiebzigſte Brief
von
Hrn. Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
Jch habe drey Briefe von dir, woruͤber ich
etwas ſchreiben muß (*): aber ich bin zwei-
felhaft, ob ich wegen deiner unbarmherzigen An-
merkungen mit dir zanken, oder fuͤr deine ange-
nehme Sorgfalt, mir alle Umſtaͤnde genau zu
melden, dir Dank ſagen ſoll. Allein ich habe
in der That, manche von meinen angenehmen
Schaͤtzchens, zu meiner Zeit, in einem Athem zum
Weinen und Lachen gebracht; ja an einer Seite
von
[572]
von ihren artigen Geſichtern ein Lachen zu erre-
gen gewußt, ehe noch an der andern das Wei-
nen voruͤber gehen konnte. Warum ſollte ich
dich denn nicht in einem und eben demſelben
Augenblick verfluchen und loben koͤnnen? Nimm
alſo beydes auf einmal hin: und das folgende
ſo, wie es mir aus der Feder kommen wird.
Wie oft habe ich meine Suͤnden gegen dieſe
unvergleichliche Fraͤulein, aufrichtig bekannt? ‒ ‒
Dennoch ſchonſt du meiner niemals, ob du gleich
ein eben ſo boͤſer Kerl biſt, als ich. Weil ich
denn ſo wenig durch meine Bekenntniſſe gewinne:
ſo waͤre ich nicht uͤbel geneigt, einen Verſuch zu
thun, mich zu vertheidigen; und das nicht allein
aus der aͤltern und neuern Geſchichte, ſondern
auch aus dem ordentlichen Lauf der Welt; je-
doch ſo, daß ich nichts wiederhole, was ich ſchon
vorher zu meinem Behuf angebracht habe.
Jch habe Luſt mit meiner Feder zu ſpielen.
So hoͤre denn kuͤrzlich zuerſt aus der alten Hiſto-
rie. ‒ ‒ Meynſt du nicht, daß ich eben ſo viel
Recht habe auf Vergebung Anſpruch zu machen,
in Betrachtung der Fraͤulein Harlowe, als Vir-
gils Held, in Betrachtung der Koͤniginn Dido?
Denn was fuͤr ein undankbarer Bube war der
Fluͤchtling gegen die gaſtfreye Prinzeßinn, die
ihm gutwillig die letzte Gunſt zugeſtanden hat-
te? ‒ ‒ Da er ſich wie ein Dieb davon ſchlich?
woher vermuthlich noch heut zu Tage die Redens-
art, ein getreuer Trojaner, ſpottweiſe gebraucht
wird. Es iſt wahr, er gab vor, daß es auf
Befehl
[573]
Befehl der Goͤtter geſchehe. Allein konnte das
wohl ſeyn: da ſein Gewerbe, worauf er ausging,
nichts anders war, als andere Fuͤrſten nicht nur
ihrer Herrſchaften, ſondern auch ihres Lebens zu
berauben? ‒ Nichts deſto weniger heißt dieſer
Kerl bey dem unſterblichen Dichter, der ihn be-
ſinget, bey jedem Worte der fromme Aeneas.
Wenn nun auch Fraͤulein Harlowe ihr Herz,
welches der Himmel verhuͤten wolle! brechen
ſollte, weil ihr ſo begegnet iſt; nichts von ihrem
betrogenen Stolz zu ſagen, dem ihr Tod mehr,
als irgend einem vernuͤnftigen Grunde, zuzuſchrei-
ben ſeyn wuͤrde: was fuͤr einen Vergleich wird
ihr Schickſal mit dem Schickſal der Koͤniginn
Dido haben? Und habe ich halb die Verbindlich-
keit gegen ſie, welche Aeneas gegen die Koͤniginn
von Carthago hatte? Da die letztere ein Ver-
trauen, die erſtere gar keines, in ihren Mann
ſetzte? ‒ ‒ Wer iſt hiernaͤchſt ſonſt von mir ge-
pluͤndert? Wer iſt ſonſt von mir beleidigt wor-
den? Jhrem Bruder habe ich ſein nichtswuͤrdi-
ges Leben geſchenket, ſtatt daß ich es irgend einem
genommen haͤtte, wie der Trojaniſche Fluͤchtling
es wohl tauſenden genommen hat. Warum
ſollte es denn nicht eben ſo wohl der fromme
Lovelate, als der fromme Aeneas heißen? Denn
denkſt du wohl, wenn ein Brand entſtanden und
es in meiner Gewalt geweſen waͤre, daß ich mei-
nen alten Anchiſes, wie er den ſeinigen aus dem
Freudenfeuer von Troja, nicht auch ſo gar mit
dem Verluſt meiner Creuſa, wenn ich ein Weib
dieſes
[574]
dieſes Namens gehabt haͤtte, gerettet haben
wuͤrde?
Aber ich will ein neuers Beyſpiel zu meinem
Vortheil anfuͤhren ‒ ‒ Bin ich mit der Fraͤu-
lein Harlowe ſo umgegangen, als unſere beruͤhm-
te jungfraͤuliche Koͤniginn, wie ſie genannt wur-
de, mit einer Perſon von ihrem eignen Blute,
einer verſchwiſterten Koͤniginn, umgegangen iſt,
die ſich vor ihren aufruͤhriſchen Unterthanen in ih-
ren Schutz begab, von ihr aber achtzehn Jahr
gefangen gehalten, und endlich enthauptet wurde?
Nennen dennoch ehrliche Proteſtanten ſie nicht
auch ſo gar fromm: weil ſie durch aͤrgere und
ſchlechtere Regierungen, in vier Thronfolgen,
Anſehen und Liebe erlanget hat? ‒ ‒ Ja nen-
nen ſie dieſelbe nicht ins beſondre ihre Koͤniginn?
Was den ordentlichen Lauf der Welt
betrifft: ſo will ich dich nur fragen. ‒ Wer ver-
ſagt es ſich wohl, eine herrſchende Leidenſchaft,
ſie beſtehe, worinn ſie wolle, zu vergnuͤgen, wenn
er es in ſeiner Gewalt hat? ‒ ‒ Ueberlaͤßt er es
nicht geruhigern Betrachtungen, und, wo er ein
großer Herr iſt, ſeinen Schmeichlern, nachher ei-
ne Urſache dafuͤr aufzuſuchen?
Jch will ferner auch den aͤrgſten Theil mei-
nes Verfahrens mit der Fraͤulein nicht vorbey-
laſſen. ‒ ‒ Wie viele Mannsperſonen giebt es,
die eben ſo wohl, als ich, durch berauſchendes Ge-
traͤnke erſt trunken zu machen, und dann zu uͤber-
winden geſucht haben? Was liegt daran, von
wel-
[575]
welcher Art die Traͤnke geweſen, wenn man
eben dieſelbe Abſicht zum Ziel gehabt hat?
Ueberhaupt muß ich dir ſagen, daß weder
die Koͤniginn von Carthago, noch die Koͤniginn
von Schottland, gedacht haben wuͤrden, daß ſie
Urſache haͤtten ſich zu beklagen: wenn man nicht
aͤrger mit ihnen umgegangen waͤre, als ich mit
der Koͤniginn meines Herzens umgegangen bin.
Trage ich uͤber dieß nicht ein ſehnliches Verlan-
gen, alles durch die Heyrath wieder gut zu ma-
chen? Was meynſt du, wuͤrde der fromme Ae-
neas wohl ſo gerecht gegen ſeine Dido geweſen
ſeyn: wenn ſie gelebt haͤtte?
Wohlan denn, Belford, laß die Leute mit ih-
ren Begriffen laufen, wie ſie wollen: ich bin
vergleichungsweiſe ein ſehr unſchuldiger
Menſch. Und habe ich durch dieſe und andere
dergleichen Schluͤſſe mein eignes Gewiſſen nur
befriediget: ſo iſt eine wichtige Abſicht erhalten.
Was habe ich mit der Welt zu thun?
Nun ſetze ich mich geruhig nieder, deine
Briefe zu erwaͤgen.
Jch hoffe, deine Vorſtellungen zu meinem
Vortheil (*), als ſie dir meine Briefe fuͤr mich,
und zwar mit ſo vieler Großmuth, uͤbergab, wa-
ren mit dem Nachdruck, den die Ehrlichkeit er-
fordert, begleitet. Aber ich habe dich ſehr im
Verdacht, daß du deinen Clienten zu bald ver-
lohren giebſt. Hiernaͤchſt haſt du ein ſo wunder-
liches Anſehen, das nichts gutes zuſaget; ein
Anſehen
[576]
Anſehen, das vielmehr zur Verwerfung reizet,
als Ueberredung mit ſich fuͤhret; und biſt ein ſol-
ches ſtotterndes Scheuſal, daß ich, wo ich ver-
liere, es vielmehr der Ungeſchicklichkeit und dem
uͤbeln Anſehen meines Sachwalters, als meiner
Sache ſelbſt zuſchreiben werde. Ferner biſt du
der Staͤrke beraubt, welche ſonſt Leute von un-
ſerm Schlage ihren Gruͤnden geben: denn ſie
will dich nicht ſchwoͤren laſſen ‒ ‒ Noch dazu
biſt du ein langſamer Kopf, ein Kerl der nicht
denkt; bloß ertraͤglich, wenn es nur etwas zu
wiederholen giebt; ein ſcheuslicher Toͤlpel, wenn
aus dem Stegereif zu reden iſt. Alles dieß
iſt bey einer ſolchen Fraͤulein ſehr nachtheilig ‒ ‒
Und noch weit nachtheiliger iſt deine gegenwaͤrti-
ge Unſchluͤßigkeit, ob du der alte liederliche Bru-
der bleiben, oder ein neuer Bekehrter werden
willſt. Denn dieß ſetzt dich mit ihr in eben die
Umſtaͤnde, in welchen Martin Luther, wie man
mir erzaͤhlt hat, bey der erſten oͤffentlichen Un-
terredung zum Schutz ſeiner vermeynten neuen
Lehren, zu Leipzig mit Ecken geweſen iſt. Luther
war damals nur noch ein halber Verbeſſerer der
Religion. Er hielte noch feſt an einigen Lehrſaͤ-
tzen, die durch eine natuͤrliche Folge machten, daß
andere, die er vertheidigte, ſich nicht behaupten
ließen. Daher hatte Ecke in einigen Stuͤcken
die Oberhand uͤber ihn. Aber von der Zeit an
machte er ſich eine freye Bahn: indem er alles
fahren ließ, was ihm im Wege ſtand. Dadurch
bekamen erſt ſeine Lehren ſichern Lauf. Nach-
her
[577]
her ward er niemals verwirrt gemacht, und konn-
te ſich dreiſt erklaͤren, daß er ſie vor Engeln und
Menſchen vertheidigen wollte. Ja gegen ſeine
Freunde, die ihm widerrathen wollten, ſich der
Gefahr bloszuſtellen und vor dem Kayſer Carl
dem V. zu Speyer zu erſcheinen, ließ er ſich verlau-
ten, daß er hingehen wollte, wenn auch ſo
viel Teufel zu Speyer, als Ziegel auf den
Daͤchern waͤren. Eine Antwort, die noch heu-
tiges Tages von einem jeden ſaͤchſiſchen Prote-
ſtanten bewundert wird.
Da alſo deine ungluͤckliche Ungeſchicklichkeit
deinen Gruͤnden ihre Staͤrke benimmt: ſo denke
ich, du thaͤteſt beſſer, wenigſtens fuͤr itzo, nicht
bey ihr darauf zu beſtehen, daß ſie die Verguͤti-
gung, wozu ich mich erbiete, annehme. Sonſt
moͤchte das beſtaͤndige Plagen, mir zu vergeben,
ſie nur beſtaͤrken, die Vergebung abzuſchlagen:
bis ſie gar, um nur mit ſich ſelbſt einig zu
ſeyn, genoͤthigt wird, bey einem Entſchluſſe, der
ſo oft bekannt iſt, feſt zu halten. Hingegen,
wenn ſie ſich ſelbſt uͤberlaſſen iſt: ſo wird ein we-
nig Zeit und beſſere Geſundheit, welche ihr beſ-
ſere Lebensgeiſter verſchaffen werden, einen leb-
haftern Unwillen in ihr erwecken; dieſer lebhaf-
tere Unwillen wird ſie zu heftigen Gemuͤthsbewe-
gungen leiten; die heftigen Gemuͤthsbewegungen
werden ſich legen, und in Klagen und Unterre-
dungen verwandelt werden; alsdenn werden
meine Freunde ſich ins Mittel ſchlagen und Ge-
waͤhr fuͤr mich leiſten; und alle unſere Unruhe
Sechſter Theil. O oan
[578]
an beyden Setten wird voruͤber ſeyn. ‒ ‒ Dieß
iſt der natuͤrliche Lauf der Dinge.
Jch kann dich nicht ertragen: wenn du alle
Hoffnung zur Geneſung der Fraͤulein aufgie-
beſt (*); und das ſelbſt wider des Arztes und
Apothekers Meynung.
Die Zeit, ſagſt du mit Congrevens Worten,
wird ihr Leiden groͤßer und ſchwerer ma-
chen. Aber warum das? Weißt du nicht, daß
dieſe Worte, die der allgemeinen Erfahrung ſo
ſehr widerſprechen, auf den Zuſtand einer Per-
ſon, da die Leidenſchaft in ihrer voͤlligen Staͤrke
war, gerichtet waren? ‒ ‒ ‒ Zu ſolcher Zeit
denkt ein jeder in einer ſchwermuͤthigen Traurig-
keit eben das. Allein wie die Schwaͤrmer es mit
der Schrift machen: ſo machſt du es mit den
Dichtern, die du geleſen haſt. Alles, was in
dieſen oder in jener nur eine entfernte Aehnlich-
keit mit einem vorkommenden Fall hat, wird
von euch beyden, als ein Evangelium, angenom-
men: wenn es ſich auch zu dem allgemeinen
Zweck der Dichter oder der Schrift, und dem
Falle, noch ſo wenig ſchicket. So hoͤrte ich ein-
mal, daß einer von den Schwaͤrmern auf einer
Kanzel ſich ſehr eifrig fuͤr einen todten Hund
ausgab: da alle, Maͤnner, Weiber und Kinder,
durch ſein Geheul von dem Gegentheil uͤberzeugt
waren.
Jch kann dir ſagen, daß, wofern ſonſt nichts
helfen will, ich entſchloſſen bin, Trotz deinem
Sau-
[579]
Sauerſehen und deinen Verbuͤrgungen fuͤr mich
zu dem Gegentheil, ſie ſelbſt zu ſehen.
Jn Perſon, weiß ich, iſt mancher Streit ab-
gethan worden, den Entfernung unterhalten
und weitlaͤuftiger gemacht haben wuͤrde. Wo
du dich dieſer Zuſammenkunft thaͤtlich widerſe-
tzeſt: ſo wirſt du ein alberner Kerl ſeyn, als der
in dem Maͤrchen von der Tonne.
Kurz, ich kann nicht leiden, daß ein Frauen-
zimmer, welches ich mir ehedem durch zarte
Feſſeln der Liebe verbunden hatte, mir aus den
Haͤnden entwiſchen, und im Stande ſeyn ſollte,
da mein Herz vor heftiger Liebe gegen ſie in hel-
len Flammen brennet, mich zu verachten, und
ſo wohl der Liebe als mir Trotz zu bieten. Du
kannſt dir nicht einbilden, wie ſehr ich dich, ih-
ren Arzt, ihren Apotheker und einen jeden,
von deſſen Zutritt zu ihr oder Unterredung mit
ihr ich nur etwas hoͤre, beneide, und in den einen
oder den andern verwandelt zu ſeyn wuͤnſche.
Daher, wo ſonſt nichts helfen will, will
ich ſie ſehen. Jch will dir ein unvergleichliches
Mittel ſagen, das mir eben eingefallen iſt, dein
und mein eignes Verſprechen zu retten.
Frau Lovick, ſagt ihr, iſt eine fromme Frau.
Wo es mit der Fraͤulein ſchlimmer wird, ſo ſoll
ſie ihr rathen, nach einem Geiſtlichen zu ſchicken,
der bey ihr bete. Ohne ihr Wiſſen, ohne der
Fraͤulein Wiſſen, ohne dein Wiſſen; denn das
kann man vorgeben; will ich es ſo anſtellen, daß
ich, in einem langen Rock und Prieſterkleide, der
O o 2Mann
[580]
Mann ſey. Jch legte einmal, zu einer gewiſſen
Abſicht, die geiſtliche Tracht an: und man ur-
theilte, daß ich eine feine und artige Perſon vor-
ſtellte. Mein breiter Biberhut, wie ein tuͤrki-
ſcher Bund, ſtand mir maͤchtig wohl: und ich
ward uͤberhaupt von allen, die mich ſahen, be-
wundert.
Mich deucht, es muß ſich vortrefflich ſchicken,
wenn man mich bey ihrem Bette auf den Knieen
ſieht; wenn man hoͤret, wie ich aus dem oͤffent-
lichen Gebethbuch; ich bin verſichert, daß ich von
ganzem Herzen bethen werde; das Krankengebeth
zur Geneſung der ſchmachtenden Fraͤulein anfan-
ge, und mit einer Ermahnung zur chriſtlichen
Liebe und Vergebung fuͤr mich ſelbſt beſchließe.
Jch will die Sache uͤberlegen. Jn welcher
Geſtalt ich aber fuͤr gut befinden mag zu erſchei-
nen: ſo kannſt du verſichert ſeyn, daß ich dir
zum voraus von meinem feſtgeſetzten Beſuch
Nachricht geben werde, damit du Anſtalt macheſt,
nicht bey der Hand zu ſeyn, und nichts von der
Sache zu wiſſen. Dieß wird dein gegebnes
Wort retten: und was meines betrifft; ſo frage
ich, kann ſie wohl aͤrger von mir denken, als ſie
ſchon itzo denket?
Eine unverbruͤchliche Schuldigkeit zu wah-
rer Liebe und ehrerbietiger Hochachtung beſteht,
nach deiner weiſen Meynung (*) in Ungereimt-
heit und Ungeſchicklichkeit ‒ ‒ Es iſt erſtaunlich,
daß auch du einer von denen parteyiſchen Leuten
ſeyn
[581]
ſeyn ſollteſt, die ihre Regeln von dem, was recht
und unrecht iſt, nach demjenigen feſtſetzen, was
ſie ſich ſelbſt zu ſeyn befinden, und nicht aͤn-
dern koͤnnen zu ſeyn. ‒ ‒ So iſt Ungeſchicklich-
keit eine Vollkommenheit an dem Ungeſchickten.
Auf dem Fuß kann niemand jemals unrecht ha-
ben. Allein ich bleibe dabey, daß ein ungeſchick-
ter Kerl alles ungeſchicklich thun wird. Und iſt
er ſo, wie du: ſo wird er ſein gedankenloſes Ge-
hirn auf die Folter ſpannen, Entſchuldigungen
heraus zu bringen, die eben ſo ungeſchickt ſind,
als ſein erſter Fehler. Ehrfurchtsvolle Liebe
floͤßet ſolche Handlungen ein, die ihr ſelbſt an-
ſtaͤndig ſind: und wer ſie nicht an den Tag legen
kann, wo er am meiſten geneigt iſt, ſie an den
Tag zu legen, der zeigt, daß er ein ungeſchliffener
rauher Kerl, ein vollkommener Belford, ſey,
und ſie nicht beſitze.
Aber hier wirſt du den merkwuͤrdigen und
witzigen Einfall anbringen, daß die aͤußerliche
Seite an mir die beſte, und an dir die ſchlechte-
ſte ſey, und daß, wenn ich anfange mein Ge-
muͤth zu beſſern, du dein aͤußerliches Anſehen
beſſern wolleſt.
Jch bitte dich, Bruder, warte darauf nicht:
ſondern fange nur immer an, dich in der Klei-
dung zu beſſern, wenn du deine Trauer ablegeſt.
Denn warum ſollteſt du einen jeden, der dich vor-
her niemals geſehen hat, zu deinem Nachtheil
wider dich zum voraus einnehmen? ‒ ‒ Es
haͤlt ſchwer zuerſt gefaßte Vorurtheile, es ſey ein
O o 3Wohl-
[582]
Wohlgefallen, oder ein Misfallen an jemand,
wieder abzulegen. Man wird ſeiner eignen
Scharfſichtigkeit zu Ehren Gruͤnde aufſuchen,
den erſten Eindruck zu beſtaͤrken. Es iſt auch
nicht ein jedes Gemuͤth ſo aufrichtig, daß es ſei-
nen Jrthum bekennen ſollte, wenn es ihn einſie-
het. Du biſt ſelbſt ein Meiſter in der vermeyn-
ten Wiſſenſchaft, den Leuten anzuſehen, wie ſie
beſchaffen ſind: und ſo oft du dich betruͤgeſt,
wirſt du darauf ſinnen, einige Gruͤnde zu finden,
warum es wahrſcheinlicher geweſen, daß du Recht
gehabt haben ſollteſt. Du wirſt bey der Per-
ſon, die du einmal getadelt haſt, auf alle Bewe-
gungen, alle Handlungen, auf ein jedes Wort,
einen jeden Ausſpruch, acht geben, damit du dir
helfen moͤgeſt, deine erſte Meynung wieder zu er-
wecken und zu behaupten. Und in der That die
menſchliche Natur iſt ein ſo ſchaͤndliches Ding,
daß, da du ſelten an der vortheilhaften Seite
irreſt, du große Wahrſcheinlichkeit fuͤr dich haſt,
es an der andern unter ſechſen ſuͤnf male zu tref-
fen. Vielleicht muthmaßeſt du auch nur von
andern nach dem, was du in deinem eignen Her-
zen findeſt, damit du Urſache habeſt, dir aus dei-
ner Scharfſichtigkeit ſelbſt eine Ehre zu machen.
Hier haſt du eine Predigt wieder fuͤr deine
Predigt. Jch hoffe, wo dir deine eigne gefaͤllt,
daß du mir fuͤr meine Dank ſagen werdeſt; um
ſo viel mehr, da du dich daraus beſſern kannſt,
wo du willſt: Denn die Berechnung dazu iſt
nach deiner eignen Mittagslinie gemacht.
Die
[583]
Die Fraͤulein verweiſet mich, wegen meines
Schickſals, auf einen Brief, den ſie an Fraͤulein
Howe geſchrieben, wirklich geſchrieben hat. Die-
ſer, ſcheint es, hat ſie ihre Urſachen entdecket,
warum ſie mich nicht haben will. Mich verlangt
ſehr, den Jnhalt dieſes Briefes zu erfahren.
Aber ich mache mir große Hoffnung, daß ſie ihre
abſchlaͤgige Antwort ſo ausgedruͤckt habe, daß
dieſelbe Raum laͤßt, zu denken, ſie wolle nur zu
dem Gegentheil beredet ſeyn, damit ſie mit ſich
ſelbſt einig werde.
Jch koͤnnte uͤber eine oder zwo Stellen von
der geiſtlichen Betrachtung der Fraͤulein einige
artige Anmerkungen machen. Allein, fuͤr ſo
gottlos man mich auch anſieht, ſo bin ich doch
niemals ſo verrucht geweſen, daß ich heilige Din-
ge laͤcherlich gemacht haͤtte, oder nur leichtſinnig
damit zu Werke gegangen waͤre. Jch halte es
fuͤr den hoͤchſten Grad der Ungezogenheit, mit
ſolchen Sachen einen Scherz zu treiben, welche
die Welt uͤberhaupt mit Ehrerbietung anſiehet,
und heilig nennet. Jch wuͤrde nicht einmal an
der Fabellehre der Heiden gegen einen Heiden
das Laͤcherliche aufdecken, was vielleicht aus ei-
nigen Ungereimtheiten, die einem jeden von bloß
gemeiner Ueberlegung in die Augen faͤllt, von
ſelbſt fließen moͤchte. Jch habe mich auch zu
Rom, und an andern papiſtiſchen Oertern, nie-
mals gegen diejenigen Gebraͤuche, welche ich fuͤr
ſehr außerordentlich hielte, aͤrgerlich aufgefuͤhret.
Denn ich ſahe, daß einige Leute durch dieſelbe ge-
O o 4ruͤhrt,
[584]
ruͤhrt, und dem Anſehen nach erbauet wurden.
Ob ſie mir alſo gleich unbegreiflich waren: ſo
ließ ich mich doch mit den Gedanken begnuͤgen,
daß, wofern ſie nur bey dem großen Haufen
eine gute Abſicht zu erhalten dienten, Religion,
oder wenigſtens Staatsklugheit, genug darinn
waͤre, ſie dem Spotte, auch ſo gar eines Gottlo-
ſen, der nur ordentlichen Verſtand und gute Sit-
ten haͤtte, zu entziehen.
Aus eben der Urſache habe ich niemals bey
einem neuen Schauſpiel Geraͤuſch gemacht oder
andern unruhige Zeichen des Misfallens gege-
ben, wenn ich es auch fuͤr noch ſo ſchlecht hielte.
Denn ich ſchloß erſtlich, daß ein jeder mit Recht
fordern koͤnnte, in Ruhe das anzuſehen, wofuͤr er
bezahlte: und hiernaͤchſt, da der Schauplatz, der
kurze Begriff der Welt, aus dem Parterre, den
Logen und der Gallerie beſtuͤnde, dachte ich, es
wuͤrde ſchwerlich ein ſolches Stuͤck aufgefuͤhret
werden, das in dem vermiſchten Haufen nicht ei-
nigen gefallen ſollte; und wenn das waͤre, haͤtten
dieſe einige eben ſo viel Recht; ungeſtoͤrt bey ih-
rem Urtheil gelaſſen zu werden, als ich bey mei-
nem.
Meine Weiſe, mein Misfallen zu zeigen,
war dieſe: ich ging niemals wieder hin. Da
ein jeder ſeine freye Wahl hat, ob er ein Schau-
ſpiel anſehen will, oder nicht: ſo hat er nicht eben
die Entſchuldigung, ſein Misfallen durch Lermen
zu erkennen zu geben, als wenn er gezwungen
waͤre, es anzuſehen.
Jch
[585]
Jch habe mich allezeit, wie du weißt, gegen
die kleinen Geiſter, unter den Freydenkern in der
Lebensart, erklaͤret, welche ihre Anſpruͤche auf den
Witz nicht anders ausmachen konnten, als wenn
es auf zwey Stuͤcke ankam, die ein jeder wirk-
lich witziger Menſch fuͤr viel zu ſchlecht halten
wird, daß er ihnen verbunden ſeyn moͤchte: auf
Ruchloſigkeit gegen heilige Dinge und auf
Unflaͤtherey. Beyde muͤſſen nothwendig die
Ohren aller Verſtaͤndigen, von maͤnnlichem oder
weiblichem Geſchlechte, beleidigen, ohne eine Ab-
ſicht zu befoͤrdern, als daß ſie eine ſehr niedrige
und verruchte Gemuͤthsart anzeigen. Es war
auch gar nicht meine Art, mit Eydſchwuͤren und
Fluͤchen ſo freygebig zu ſeyn, als ich nun bin:
bis ich mit dem unverſchaͤmten Mowbray; kein
großer Ruhm fuͤr mich, daß ich einen ſolchen Lehr-
meiſter gehabt habe; bekannt wurde. Denn
hierauf ward ich genoͤthigt, es ihm bisweilen in
Fluchen und Schwoͤren zuvorzuthun, damit ich
ihn in ſeiner Pflicht gegen mich, als feinen Gene-
ral, halten moͤchte. Ja ich verweiſe mir oft
ſelbſt dieſe nichtswuͤrdige unnuͤtze Freyheit im
Reden, worinn uns der niedrigſte Poͤbel uͤber-
trifft.
Alle meine Laſter ſind die Weiber, und die
Liebe zu Raͤnken und liſtigen Streichen. Jch
muß mich ſelbſt wundern, wie ich auf ſo aͤrgerli-
che Freyheiten im Reden gefallen bin: da ſie,
uͤberhaupt zu reden, gar nicht geſchickt ſind, mei-
nen vornehmſten Zweck zu befoͤrdern. Nur bis-
O o 5weilen
[586]
weilen wird man freylich mit einem kleinen uner-
fahrnen Kinde bekannt, das Kleidung, Eidſchwuͤ-
re und Fluͤche fuͤr die Unterſcheidungszeichen ei-
nes liederlichfreyen Gemuͤths zu halten ſcheinet,
dem ſie guͤnſtig zu ſeyn geneigt iſt: und in der
That ſind dieß die einzigen Gaben, derer ſich ei-
nige, welche liederliche und artige Bruͤder heißen,
ruͤhmen koͤnnen. Allein was muͤſſen das fuͤr
Weibsperſonen ſeyn, die ſich durch ſolche nichts-
wuͤrdige Seelen von verruchten Leuten anlocken
laſſen? ‒ ‒ Denn Gottloſigkeit mit Witz iſt
ſchwerlich zu entſchuldigen: aber ohne Witz iſt
ſie eben ſo anſtoͤßig als veraͤchtlich.
Da haſt du noch einmal eine Predigt wieder
fuͤr deine Predigt. Du wirſt wohl gar denken,
daß ich mich auch beſſern wolle: aber das iſt die
Sache nicht. Wenn dieß ein neues Licht waͤ-
re, das in mir aufginge; wie deine Sittenlehre
bey dir zu ſeyn ſcheinet: ſo moͤchte dergleichen zu
befuͤrchten ſtehen. Allein dieß iſt beſtaͤndig
meine Art zu denken geweſen: und ich fordere
dich und alle deine Bruͤder auf, eine Zeit zu nen-
nen, da ich entweder die Religion laͤcherlich ge-
macht, oder unflaͤthig geſchwatzt habe. Viel-
mehr weißt du, wie oft ich dem wilden Thiere in
Liebesſachen, Mowbray, und dem gezwungenen
Stutzer, Tourville, ja dir ſelbſt die zweydeutigen
Reden, wie ihr es genannt habt, verwieſen habe.
Meine Regel iſt in der Liebe, wie in Sachen,
die einen maͤnnlichen Widerwillen erforder-
ten, allezeit geweſen, vielmehr zu thun als zu re-
den:
[587]
den: und in Anſehung der erſtern verſichere ich
dich, daß die Frauenzimmer ſelbſt viel eher das
eine, als das andere entſchuldigen werden.
Jn der Bewunderung, welche du uͤber die
Buͤcher der heil. Schrift zu erkennen giebſt, haſt
du gewiß Recht. Nur kommt es mir wunder-
lich vor, daß du bis itzo nichts von ihrer Schoͤn-
heit und edlen Einfalt gewußt haſt. Jhr Alter-
thum hat mir allezeit Ehrerbietung gegen ſie ein-
gefloͤßet: und wie iſt es moͤglich geweſen, daß
du, ſie aus der Urſache, wo nicht aus einer an-
dern, zu leſen, nicht angetrieben biſt?
Jch will dir eine kurze Hiſtorie erzaͤhlen, die
ich von meinem Lehrmeiſter gehoͤrt habe, indem
er mich ermahnte, mich nicht ſelbſt durch unwiſ-
ſende Verwunderung bloßzugeben, wenn ich
die Schule verlaſſen, und nach London oder auf
Reiſen gehen ſollte.
„Das erſte mal, als ihm Drydens Schrift,
„das Gaſtmahl Alexanders, in die Haͤnde fiel,
„erzaͤhlte er mir, ward er davon außerordent-
„lich eingenommen: und weil er vorher niemand
„davon reden gehoͤrt; ſo dachte er, wie du von
„der Bibel, daß er eine neue Entdeckung gemacht
„haͤtte.
„Er eilte zu einer beſtimmten Zuſammen-
„kunft, welche er mit verſchiedenen witzigen Koͤ-
„pfen hatte: denn er hielte ſich zu der Zeit in
„London auf. Einer von denſelben war ein be-
„ruͤhmter Kunſtrichter, der, nach ſeiner Erzaͤh-
„lung, mehr Verdienſt als Gluͤck hatte: denn alle
„die
[588]
„die kleinen Witzkraͤmer, deren Schriften nach
„den Regeln der Kunſt die Probe nicht halten
„wollten, machten eine gemeinſchaftliche Sache
„daraus, wie er ſagte, ihn zu Boden zu werfen,
„nicht anders, als wie man es mit einem tollen
„Hunde machen wuͤrde.
„Der junge Mann; denn damals war er
„jung; ertheilte dieſem unvergleichlichen Stuͤck
„ein praͤchtiges Lob, und gab ſich dabey ſelbſt das
„Anſehen, als wenn er ein Verdienſt aus der an-
„dern Hand haͤtte, weil er die Schoͤnheiten deſ-
„ſelben aufdeckte.
„Der alte Dichter hoͤrte ihn an, bis er aus-
„geredet hatte, und laͤchelte. Dieß nahm der
„Lehrling als einen Beyfall an: bis er folgende
„beißende Worte von ihm hoͤrte: Ey Wunder!
„mein Herr, wo haben ſie bisher gelebt, oder mit
„was fuͤr Leuten ſind ſie umgegangen, ob ſie gleich
„jung ſind, daß ſie vorher niemals von dem fein-
„ſten Stuͤck in der engliſchen Sprache etwas ge-
„hoͤret haben?
Dieſe Hiſtorie hatte eine ſolche Wirkung
uͤber mich, da ich allezeit ein ſtolzes Herz ge-
habt, und fuͤr einen geſchickten Kerl habe angeſe-
hen ſeyn wollen, daß ich mir zwo Regeln mach-
te, dergleichen Schimpf zu vermeiden: erſtlich,
ſo oft als ich in eine Geſellſchaft ginge, wo Un-
bekannte waͤren, einen jeden von ihnen ſprechen
zu hoͤren, ehe ich mir ſelbſt die Freyheit naͤhme
zu ſchwatzen; hiernaͤchſt, wo ich einen von ihnen
mir uͤberlegen befaͤnde, allen Anſpruch auf neue
Ent-
[589]
Entdeckungen fahren zu laſſen, und mich damit
zu begnuͤgen, daß ich alles, was ſie lobten, auch
lobte, als waͤren es mir ganz bekannte Schoͤn-
heiten, wenn ich gleich vorher niemals davon ge-
hoͤrt haͤtte. Auf die Art ſetzte ich mich ſelbſt
nach und nach in den Ruf eines witzigen Kopfs.
Als ich aber allen Zwang, und Buͤcher und ge-
lehrten Umgang abſchaffete, und mit einigen von
unſern Bruͤdern, die nun in den unterirdiſchen
Gegenden herumwandern, und andere derglei-
chen, als Belton, Mowbray, Tourville und dir,
in Bekanntſchaft gerieth: ſo that ich mich durch
meinen eignen Kopf hervor, und machte mir eine
Ehre daraus, wie uns von Herrn Richard in ſei-
nen letzten Tagen erzaͤhlt iſt, das Haupt in der
Geſellſchaft zu ſeyn. Denn nachdem ich ſie alle
ausgeforſcht, wie weit ihre Kunſt reichte, und
mich vor keinem Nebenbuhler fuͤrchtete, als vor
dir, den ich auch, wenigſtens durch meine Lebhaf-
tigkeit und Fertigkeit, etwas herunter gebracht
hatte: ſo fand ich, wie Addiſons Cato, ein ſtol-
zes Vergnuͤgen, meinem kleinen Rath Geſetze zu
geben.
Jch will alſobald weiter mit dir fortfahren.
Der
[590]
Der acht und ſiebzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
Da ich nun allen Verdacht einer vorſetzlichen
Leichtſinnigkeit, bey Gelegenheit der geiſtli-
chen Betrachtung meiner Geliebten, von mir ab-
gelehnet habe; einer Betrachtung, welche, wie
du anmerkeſt, ſich ſo fein auf ihre Umſtaͤnde ſchi-
cket, das heißt, auf die Vorſtellung, die ſie und
du von ihren Umſtaͤnden entworfen haben: ſo
kann ich mich nicht enthalten, mein Vergnuͤgen
an den Tag zu legen, daß ich durch eine oder zwo
Zeilen von derſelben; durch den Pfeil, Bruder,
und durch den Ausdruck, daß uͤber ſie gekom-
men ſey, was ſie fuͤrchtete; ermuntert werde,
etwas zu hoffen, das mich in die groͤßte Verwun-
derung ſetzen wuͤrde, wenn es nicht kommen ſoll-
te. Deutſch heraus zu ſagen, ich hoffe, daß das
liebe Kind in den Umſtaͤnden iſt, Mamma zu
werden.
Der verfluchte Verhaft hat mich eben we-
gen der uͤblen Wirkungen, welche das Schrecken
in dieſem erwuͤnſchten Zuſtande bey ihr haͤtte ha-
ben koͤnnen, mehr als in irgend einer andern Be-
trachtung bekuͤmmert gemacht. Es wuͤrde mein
groͤßter Ruhm ſeyn, an dieſer kaltſinnigen Schoͤ-
nen den Sieg der Natur uͤber alle Grundſaͤtze zu
beweiſen, und von einem ſolchen Engel einen
jungen
[591]
jungen Lovelace zu haben. Alsdenn wird ſie um
deſſelben willen leben, bin ich verſichert, und ihr
Kind zu einem rechtmaͤßigen Erben machen.
Und was fuͤr Verdienſte wuͤrde der kleine Engel
haben, der noch, ehe er gebohren waͤre, beyden
Eltern eine Verbindlichkeit auflegen wuͤrde, wel-
che keiner von beyden abzutragen vermoͤgend waͤ-
re! ‒ ‒ Koͤnnte ich nur verſichert ſeyn, daß es
ſich in der That ſo verhielte: ſo wuͤrde ich mir
keine Sorge fuͤr ihre Geneſung machen. Sor-
ge, ſage ich: denn, ſollte ſie ſterben; ‒ ‒ Ster-
ben! abſcheuliches Wort! Wie ſehr haſſe ich es
‒ ‒ ſo denke ich in Wahrheit, daß ich der elende-
ſte Menſch auf der Welt ſeyn wuͤrde.
Was das ernſtliche Verlangen betrifft, das
ſie nach dem Tode bezeiget: ſo hat ſie die Wor-
te vollkommen in dem ehrlichen Hiob zur Hand
gefunden; ſonſt wuͤrde ſie ſich nicht ſo nachdruͤck-
lich und heftig erklaͤret haben.
Jhre angebohrne Gottſeligkeit, wie ich ſchon
mehr als einmal bemerket habe, wird ihr nicht zu-
laſſen, ihr Leben durch Gewaltthaͤtigkeit oder
Verabſaͤumung ſelbſt zu verkuͤrzen. Sie hat
ein viel zu edles Gemuͤth dazu: und wuͤrde es
ſchon eher gethan haben, wenn ſie dergleichen im
Sinn haͤtte. Denn ſie hat zu viel Verſtand,
daß ſie nur einmal gedenken ſollte, es, wie die
roͤmiſche Matrone, zu thun, da das Uebel vorbey
iſt; da nichts dadurch zu erhalten ſtehet; und
da der Mann, wenn er auch in ſeiner Handlung,
wie einige denken moͤgen, ein Tarquin ſeyn ſollte,
doch
[592]
doch an Macht kein Tarquin iſt, und alſo keine
Sache des ganzen Volks daraus gemacht wer-
den kann.
Außer dem, wie ich kurz vorher in einem aͤhn-
lichen Fall bemerkt habe, war ſie im Bedruck,
und empfand ihn ſehr heftig, als ſie dieß ſchrieb.
Sie ſahe kein Ende. Alles war finſter und fuͤrch-
terlich vor ihren Augen. Und was noch mehr;
hat ſie es nicht in ihrer Gewalt, mich eben ſo ſehr
in meiner Hoffnung zu ſchanden zu machen,
als ſie in der ihrigen betrogen iſt? Rache,
Bruder, hat manches Frauenzimmer bewogen,
ein Leben zu lieben, dem ſonſt Traurigkeit und
Verzweifelung ein Ende gemacht haben wuͤrde.
Wenn man es recht bedenkt, iſt der Tod auch
nicht eine ſo angenehme Sache, als Hiob ihn in
ſeinem Elende vorſtellet. Ja ein Verlangen
nach dem Tode, bloß weil man eine irdiſche Hoff-
nung fehlgeſchlagen ſiehet, zeiget ein Gemuͤth an,
das nicht ſo beſchaffen iſt, wie es ſeyn ſollte. Das
muß ich dieſer Fraͤulein ſagen, ſie mag davon
denken, was ſie will (*). Du und ich, Bruder,
ſcheuen uns nicht, in der Hitze, wenn wir von
Zorn
[593]
Zorn oder Unwillen getrieben werden, uns in ſol-
che Gefahr zu ſtuͤrzen, auf welche leicht ein ploͤtz-
licher und gewaltſamer Tod folgen koͤnnte: ſo oft
unſere Ehre es erfordert. Dennoch wuͤrden wir
ihn in einer langwierigen Krankheit, welche die
Lebensgeiſter geſchwaͤcht haͤtte, bey ſtillem Gemuͤ-
the und ruhiger Ueberlegung mit Zittern heran-
nahen ſehen.
So leſen wir von einem franzoͤſiſchen Gene-
ral unter Heinrichs des IV Regierung. Jch ha-
be ſeinen Namen vergeſſen: wo es nicht der Mar-
ſchall Biron war. Da er bey hundert Gelegen-
heiten im Felde dem ſchrecklichen Kerl mit uner-
ſchrocknem Muth unter die Augen gegangen war:
ſo bezeigte er ſich doch, wie der niedergeſchlagen-
ſte und ſeigeſte Menſch, als er durch Verraͤtherey
das Leben verwirkt hatte, und unter dem grauſa-
men Gepraͤnge der Zubereitung, und der rund
herum geſtellten Wachen, zu dem Sterbegeruͤſte
gefuͤhret ward.
Der
Sechſter Theil. P p
[594]
Der Dichter ſagt ſehr wohl:
Mehr als zu wahr: denn alsdann iſt es alle-
mal der alte Mann in der Fabel, mit ſeinem
Buͤndel von Reiſern.
Die Fraͤulein iſt im Shakeſpeare, der Zierde
unſerer engliſchen Dichter, wohl beleſen, und
muß bisweilen bey ſich ſelbſt nach ſeinen Wor-
ten ſchließen, die ſo nachdruͤcklich ſind, daß die
Sache, ſo ruͤhrend ſie auch iſt, nichts mehr von
der Art hervorbringen kann.
Oder
[595]
Jch ſehe aus einem von denen dreyen Brie-
fen, daß meine Geliebte durch Herr Hickmann
einige Nachricht von meiner Unterredung mit
der Fraͤulein Howe, bey dem Obriſten Ambroſe,
bekommen hat. Jch hatte daſelbſt eine angeneh-
me Weile daruͤber: ob ich gleich von verſchied-
nen in der Geſellſchaft beißend mitgenommen
wurde. Jnzwiſchen macht es mir doch nicht
wenig Kummer, daß ich unſere Sache unter den
ſchwatzhaften Flattergeiſtern von beyderley
Geſchlecht ſo uͤberall ausgeblaſen finde. Es iſt
ganz ihre eigne Schuld. Gewiß es iſt niemals
P p 2eine
[596]
eine ſo wunderliche kleine Seele auf der Welt
geweſen. ‒ ‒ Sollte ſie nicht ihr eignes Geheim-
niß bey ſich behalten: da durch Entdeckung deſ-
ſelben keine gute Abſicht nach aller Moͤglichkeit
zu erhalten iſt, und ſie, wie man denken ſollte,
durch das Ausſchreyen weder ſich ſelbſt Mitleiden
oder Freunde, noch mir Feinde erwecken will?
‒ ‒ Wie? Bruder, muͤſſen nicht alle Frauen-
zimmer uͤber ihre Schwachheit ins Faͤuſtchen la-
chen? Wie wuͤrde es um die Ruhe in der Welt
ſtehen: wenn ſich alle Weibsleute in der Welt
einfallen laſſen ſollten, ihrem Beyſpiel zu folgen?
Was fuͤr eine artige Weile wuͤrden daruͤber die
Haͤupter der Familien haben: wenn ihre Weiber,
wenn ihre Toͤchter ihnen allemal die Ohren mit
ihren Bekenntniſſen beſchwerten? Die Schwe-
ſtern wuͤrden alle Tage ihren Bruͤdern Kehlen
abzuſchneiden geben; wo ihnen die Ehre ihrer
Familien, wie man es nennt, zu Herzen ginge:
und die ganze Welt wuͤrde entweder ein Schau-
platz der Verwirrung ſeyn, oder das Hoͤrnertragen
muͤßte ſo ſehr Mode werden, als es in Litthauen
iſt (*).
Jch freue mich unterdeſſen, daß Fraͤulein
Howe, ſo ſehr ſie mich auch haſſet, doch ihr Wort,
das ſie meinen Baſen bey dem Beſuch derſelben
bey
[597]
bey ihr, und mir bey dem Obriſten, gegeben hat-
te, gehalten hat, ihre Freundinn zu bereden zu
ſuchen, daß ſie alles durch die Vermaͤhlung mit
mir abthun moͤchte. Dieß iſt nun ſonder Zwei-
fel das beſte, ja das einzige Mittel, das ſie fuͤr
ihre und ihrer Familie Ehre ergreifen kann.
Jch hatte einmal die Gedanken, mich an
dieſer kleinen ungeſtuͤmen Fraͤulein zu raͤchen,
und hatte, wie du dich erinnern magſt (*) zu dem
Ende einen Anſchlag auf die Reiſe gemacht; wel-
che ſie itzo thun will, weil davon einige Zeit ge-
redet war. Aber ich denke ‒ ‒ Laß ſehen ‒ ‒
Ja, ich denke, ich will ſie dieſem Hickmann ſicher
und unverletzt laſſen: da du glaubſt, daß der
Kerl ein leidlicher Menſch iſt und ich ihn aufs
aͤrgſte abgemahlt hatte. Es iſt mir lieb, um ſei-
netwillen, daß er ſich nicht zu beißend wider mich
bey dir herausgelaſſen hat.
Und ſo bezahle ich dir hiemit, wo nicht der
Guͤte, doch der Menge nach; ob ich gleich noch
viele Dinge unberuͤhrt laſſe. Denn ich fange
an ſelbſt nicht zu wiſſen, was ich hier mit mir
machen ſoll ‒ ‒ Jch bin des Lords M. uͤber-
druͤßig, der in ſeiner Geneſung mit mir die Fa-
bel von der Amme, dem weinenden Kinde und
dem Wolfe geſpielet hat ‒ ‒ Jch bin meiner
Baſen Montague uͤberdruͤßig, ob es gleich vor-
treffliche Maͤgdchens ſind, wenn ſie mir nur nicht
P p 3ſo
[598]
ſo nahe verwandt waͤren ‒ ‒ Jch bin Mowbrays,
und Tourvillens, und ihres ewigen Einerleyes,
uͤberdruͤßig ‒ ‒ Jch bin des Landlebens uͤber-
druͤßig ‒ ‒ Jch bin meiner ſelbſt uͤberdruͤßig.
Mich verlangt nach etwas, das ich nicht habe.
Darum muß ich nach London, und da eine Zu-
ſammenkunft mit der ſchoͤnen Beherrſcherinn
meines Herzens haben. Denn bey verzweifel-
ten Zufaͤllen muß man verzweifelte Mittel ge-
brauchen. Jch warte nur darauf, daß ich mein
Urtheil durch die Fraͤulein Howe erfahre. Wer-
de ich verworfen: ſo will ich alsdenn mein Heil
ſelbſt verſuchen, und zu ihren Fuͤßen mein Ur-
theil empfangen ‒ ‒ Allein ich will dir vorher
Nachricht davon geben, wie ich dir geſagt habe,
damit du der Fraͤulein, ſo gut als du nur
immer kannſt, dein Wort halten
moͤgeſt.
Der
[599]
Der neun und ſiebzigſte Brief
von der
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
zur Antwort
auf ihren Brief vom 27ten Jul. der
hier der LXXV. iſt.
Nun will ich Jhnen, meine liebſte Freundinn,
ohne Zuruͤckhaltung, vollkommen meine
Meynung von Jhrem Entſchluſſe, den ſchaͤnd-
lichſten Kerl nicht zu nehmen, ſchreiben. Sie
gaben mir in Jhrem Briefe vom Sonnabend
dem 23ten, zur Vertheidigung dieſes Entſchluſſes,
Gruͤnde an, die dem unbefleckten Gemuͤth meiner
Clariſſa Harlowe ſo anſtaͤndig waren, daß nichts
als Selbſtliebe, damit ich meine allezeit holdſeli-
ge Freundinn nicht verlieren moͤchte, mich haͤtte
bewegen koͤnnen, ihn geaͤndert zu wuͤnſchen.
Jn der That, ich dachte, es waͤre unmoͤglich,
daß, ſo ſehr man es auch wuͤnſchen moͤchte, eine
ſo edle Probe der Ueberwindung des Zorns von
irgend einer Perſon unſers Geſchlechts gegeben
wuͤrde, wenn ſo viele Reizungen vorhanden waͤ-
ren, ihm freyen Lauf zu laſſen. Daher war ich
geneigt, noch einmal in Sie zu dringen, daß Sie,
P p 4ihren
[600]
ihren gerechten Unwillen uͤberwaͤltigen, und ſich
durch das Anſuchen ſeiner Freunde gewinnen
laſſen moͤchten, ehe Sie Jhre Empfindlichkeit ſo
hoch trieben, daß es Jhnen ſchwerer ſeyn und we-
niger zu Jhrer Ehre gereichen wuͤrde, ſich geſaͤllig
zu bezeigen, als wenn Sie es zu Anfange gethan
haͤtten.
Aber nunmehr, meine Wertheſte, da ich ſehe,
daß Sie in Jhrer edlen Entſchließung unbeweg-
lich ſind, und daß es einem ſo lautern und tugend-
haften Gemuͤthe unmoͤglich iſt, ſich mit dem Ge-
muͤthe eines ſo meineidigen Uebelthaͤters zu ver-
einigen: wuͤnſche ich Jhnen von Herzen Gluͤck
dazu, und bitte um Verzeihung, daß ich auch
nur einmal zu zweifeln geſchienen, ob Wiſſen
und Thun bey meiner geliebten Clariſſa Harlo-
we einerley ſey.
Nur eines betruͤbet mein Herz bey dieſer Ge-
legenheit: nur der ſchlechte Zuſtand Jhrer Ge-
ſundheit, den Herr Hickmann ungern geſtehet.
Denn ob Sie gleich die Lehre, welche Sie mir
allezeit gegeben haben, ſo wohl beobachten, daß
eine Perſon, die widrige Urtheile gegen ſich hat,
zuerſt ſich bey ſich ſelbſt zu rechtfertigen ſuchen,
und der Meynung der Welt von ihr nur einen
Nebenplatz einraͤumen; in allen Faͤllen aber, wo
ſich beydes nicht mit einander vereinigen ließe,
das erſtere dem letztern vorziehen ſollte; und ob
Sie gleich bey Jhrer Anna Howe, und bey Jh-
rem eignen Herzen, ſowohl gerechtfertigt ſind:
ſo erlauben Sie mir doch, theureſte Freundinn,
Sie
[601]
Sie zu erſuchen, daß Sie ſich auf alle erſinnliche
Art bemuͤhen, Jhre Geſundheit und Munterkeit
wieder zu erlangen. Dieß eben wird das Werk
kroͤnen, wenn es wirklich geſchehen kann. Dieß
wird der Welt zeigen, daß Sie in der That
uͤber den ſchaͤndlichen Boͤſewicht erhaben gewe-
ſen, und zwar auf eine kleine Weile aus Jhrem
vorgeſetzten Lauf gebracht worden, aber doch im
Stande geweſen ſind, ihn wieder anzutreten, und
ferner ſo wohl durch Jhr Beyſpiel, als durch Jh-
re Lehren, alle, welche Sie kennen, gluͤcklich zu
machen.
So bitte ich Sie denn noch einmal, um des
Himmels, um der Welt, um der Ehre unſers Ge-
ſchlechts und um mein ſelbſt willen, verſuchen
Sie, dieſen Angriff abzutreiben. Koͤnnen Sie
ihn uͤberwaͤltigen: ſo werde ich ſo gluͤcklich ſeyn,
als ich wuͤnſche. Denn ich kann unmoͤglich, in
Wahrheit ich kann unmoͤglich wegen vieler, vie-
ler kuͤnftigen Jahre daran gedenken, daß ich von
Jhnen getrennt ſeyn ſollte.
Die Gruͤnde, warum Sie mir zur Erfuͤllung
meiner Wuͤnſche, Sie in der Naͤhe bey uns zu
ſehen, keine Hoffnung machen, ſind ſo uͤberzeu-
gend, daß ich mich damit gegenwaͤrtig beruhigen
muß. Aber, meine Wertheſte, wenn Jhr Ge-
muͤth voͤllig geſetzt iſt; und das, hoffe ich, wird
es nun bald ſeyn, da Sie ſo vollkommen wegen
dieſes nichtswuͤrdigen Kerls ſchluͤßig find: ſo
werde ich Sie bey uns, oder in der Naͤhe, erwar-
ten. Alsdenn ſollen Sie eine jede Bahn, wor-
P p 5auf
[602]
auf ich meinen Fuß ſetzen will, abzeichnen: und
ich will von derſelben weder zur Rechten noch zur
Linken ausweichen.
Sie wuͤnſchen, daß ich mich bey Jhren Freun-
den nicht fuͤr Sie ins Mittel geſchlagen haͤtte.
Jch wuͤnſchte es ſelbſt: weil es ohne Frucht ge-
weſen iſt; weil es einigen von ihnen einen neuen
Grund geben mag, ihre boshafte Anſchlaͤge dar-
auf zu bauen; und weil Sie desfalls mit mir
zuͤrnen. Allein wie konnte ich ſtille ſitzen, dieß
habe ich ſchon in meinem vorigen Schreiben ge-
ſagt, da ich wußte, wie unruhig die Unverſoͤhn-
lichkeit Jhrer Angehoͤrigen Sie machen muͤßte?
Jedoch, ich will mich von der Sache ſelbſt abzie-
hen ‒ ‒ denn ich ſehe, ich werde wieder hitzig
werden ‒ ‒ und Jhnen misfallen ‒ ‒ Es iſt
aber nichts in der Welt, das ich thun wollte, waͤ-
re es mir ſelbſt auch noch ſo angenehm; wenn
ich daͤchte, daͤchte, daß es ihnen misfallen moͤchte:
und nichts, das ich unterlaſſen wuͤrde; wenn ich
wuͤßte, daß es Jhnen zum Vergnuͤgen gereichen
koͤnnte. Und in der That, meine liebſte, halb
ſtrenge Freundinn, ich will verſuchen, ob ich den
Fehler nicht eben ſo willig, als den Verweis,
vermeiden kann.
Aus dieſer Urſache enthalte ich mich, das ge-
ringſte von einer ſo bedenklichen Sache, als Jhr
Brief an Jhre Schweſter iſt, zu erwaͤhnen. Er
muß recht ſeyn; weil Sie ſo denken: ‒ ‒ und
wo er ſo, wie er billig ſollte, aufgenommen wird;
ſo wird Jhnen das zeigen, daß er es wirklich
iſt.
[603]
iſt. Wo er aber Schimpfen und Schmaͤhen nach
ſich zieht; wie nur allzu glaublich iſt: ‒ ‒ ſo,
finde ich, ſind Sie nicht willens, mich darum wiſ-
ſen zu laſſen.
Sie ſind allezeit ſo fertig geweſen, wegen an-
derer Leute Fehler ſich ſelbſt anzuklagen, und viel-
mehr Jhre eigne Auffuͤhrung als das Urtheil Jh-
rer Anverwandten fuͤr verdaͤchtig zu halten, daß
ich Jhnen oft geſagt habe, ich koͤnne Jhnen hier-
inn nicht nachfolgen. Es iſt kein nothwendiger
Glaubensartikel bey mir, daß alle Leute bey Jah-
ren der Jahre wegen weiſe, oder alle junge
Leute der Jugend wegen unbeſonnen und hals-
ſtarrig ſind. Es kann, ſo viel ich weiß, wohl
mehrentheils ſo ſeyn: und vielleicht mag es bey
meiner Mutter und ihrer Tochter zutreffen.
Allein dieß will ich mich unterſtehen zu ſagen,
daß es bisher zwiſchen den Hauptperſonen von
Harlowe-Burg und ihrer juͤngern Tochter noch
nicht ſo geſchienen.
Sie entſchuldigen dieſelben zum voraus we-
gen der von ihnen vermutheten Grauſamkeit:
weil ſie nicht wuͤßten, was Sie gelitten haͤtten
und wie uͤbel Sie ſich befaͤnden. Sie haben
aber das erſtere gehoͤrt; und laſſen es ſich nicht
leid ſeyn: das andere iſt ihnen gemeldet; und
ich habe die groͤßte Urſache zu denken, daß ich
wiſſe, wie ſie es aufgenommen haben ‒ ‒ Allein
es wird weit gefehlt ſeyn, daß ich den Fehler ver-
meiden ſollte, und ich werde mir eben ſo gewiß
auch den Verweis zuziehen: wofern ich noch
mehr
[604]
mehr von dieſer Sache ſage. Jch will daher
gegenwaͤrtig nur dieß hinzuſetzen, daß Sie ſich
in Jhren Gedanken von denſelben ganz unver-
gleichlich beweiſen, dieſe hingegen ſich in der Art,
wie ſie es erwiedern, ganz ‒ ‒ Erlauben Sie
mir, meine Wertheſte, mit einer kleinen, aber
gerechten, Spoͤtterey zu beſchließen ‒ ‒ Aber
Sie wollen es nicht erlauben, das weiß ich wohl.
‒ ‒ Alſo bin ich ſchon zu Ende, ganz zu Ende:
ob gleich ungern. Jedoch wo Sie an das Wort
gedenken, das ich geſagt haben wuͤrde: ſo zwei-
feln Sie nicht, daß es gerecht ſey, und fuͤllen den
leeren Raum ſelbſt damit aus.
Sie machen mir Hoffnung, daß, wenn ich
wirklich verheyrathet waͤre, und Herr Hickmann
es verlangen ſollte, Sie mir die Gefaͤlligkeit er-
weiſen wollten, mich bey der Gelegenheit zu be-
ſuchen; und daß es Jhnen vielleicht, wenn Sie
einmal bey mir waͤren, ſchwer ſeyn wuͤrde, weit
von mir wieder wegzugehen.
Himmel, was fuͤr ein Gewicht ſcheinen Sie,
meine Wertheſte, Herrn Hickmanns Verlangen
beyzulegen! Gewiß er verlangt, und wuͤrde vor
allen Dingen verlangen, Sie in der Naͤhe und
bey uns zu haben: wenn wir dieß Gluͤck haben
koͤnnten. Allein erlauben Sie mir zu ſagen, daß,
wenn Herr Hickmann ſich nach der Heyrath her-
ausnehmen ſollte, uͤber meine Freundſchaften
mit mir zu ſtreiten, da ich nicht hoffe ganz thoͤ-
richt zu ſeyn, ich ihm zu verſtehen geben wuͤrde,
wie viel ſeine eigne Ruhe durch eine ſolche Un-
ver-
[605]
verſchaͤmtheit leiden koͤnnte: vornehmlich, wenn
es Freundſchaften ſeyn ſollten, die eher geſtiftet
waͤren, als ich ihn haͤtte kennen gelernt.
Jch weiß, daß ich in dieſem Stuͤcke allemal
andere Gedanken gehabt habe, als Sie hegen.
Denn Sie gedenken von dem Vorrechte eines
Ehemannes weit hoͤher, als die meiſten Men-
ſchen von den koͤniglichen Vorrechten gedenken.
‒ ‒ Dieſe Vorſtellungen, liebſte Freundinn, von
einer Perſon, die Jhre Einſicht und Beurthei-
lungskraft beſitzet, ſind uns keinesweges vortheil-
haft: in ſo fern ſie dem uͤbermuͤthigen Geſchlecht
in ihren angemaßten Vorzuͤgen Recht ſprechen;
da unter zehen kaum einer von ihnen, in Be-
trachtung der Bequemlichkeiten, welche ſie haben,
irgend das geringſte Vorrecht verdienet. Ueber-
ſehen Sie alle Familien, die wir kennen: wir
werden nicht ein Drittel von ihnen finden, das
halb ſo viel Verſtand haͤtte, als ihre Weiber ‒ ‒
Und dennoch ſollen dieſe mit Vorrechten begabet
ſeyn! ‒ ‒ Eine Frau aber, die zweymal ſo viel
Verſtand hat, ſoll nichts thun, als hoͤren, zittern
und gehorchen ‒ ‒ und das noch dazu, wie ich
Buͤrge bin, Gewiſſens wegen!
Allein Herr Hickmann und ich koͤnnen viel-
leicht eine kleine Unterredung uͤber dieſe Dinge
haben, ehe ich ihm erlaube, von dem Hochzeits-
tage zu ſchwatzen. Alsdenn werde ich ihm zu
verſtehen geben, worauf er ſich zu verlaſſen ha-
be: gleichwie er mir eroͤffnen wird, wofern er ein
redlicher Mann iſt, was er von mir zu erwarten
geden-
[606]
gedenket. Erlauben Sie mir aber, wertheſte
Freundinn, Jhnen zu entdecken, daß es vielleicht
mehr, als Sie glauben, in Jhrer Gewalt ſtehe,
den Tag zu beſchleunigen auf den meine Mutter
ſo ſehr dringet, als Sie ihn wuͤnſchen. ‒ ‒ Denn
ſelbſt des Tages, da Sie mich verſichern koͤnnen,
daß Sie ſich ertraͤglich befinden, und deswegen
Jhren Arzt und Apotheker, auf derſelben eignes
Anrathen, nicht mehr gebrauchen ‒ ‒ Ein oder
der andere Tag, binnen einem Monate von die-
ſer erwuͤnſchten Zeitung, ſoll es ſeyn ‒ ‒ Alſo
eilen Sie, geliebte Freundinn, und machen, daß
es beſſer mit Jhnen wird. Dann wird dieſe
Sache auf eine weit angenehmere Weiſe fuͤr
Jhre Anna Howe, als es ſonſt jemals geſchehen
kann, zu Stande gebracht werden.
Jch ſchicke noch heute, durch eine beſondere
Gelegenheit, Jhren Brief an die Fraͤulein Mon-
tague, in welchem Sie den verruchteſten Kerl im
ganzen Koͤnigreiche mit Recht von ſich abweiſen,
und hoffe nicht unrecht gethan zu haben, daß ich
einige Abſaͤtze aus Jhrem Briefe vom 23ten ab-
ſchreibe und zugleich uͤberſende, wie Sie anfangs
haben wollten.
Sie ſcheinen ſich mit Schreiben zu beſchaͤff-
tigen: und zwar allzu viel, in Betrachtung Jh-
rer Geſundheit. Jch hoffe, Sie thun es, um
die eigentlichen Umſtaͤnde Jhrer traurigen Ge-
ſchichte aufzuſetzen. Meine Mutter hat mich ge-
neigt gemacht, darauf bey Jhnen zu dringen, in
der Abſicht, daß ſie dereinſt, wenn ſie unter einem
erdich-
[607]
erdichteten Namen bekannt gemacht werden
moͤchte, unſerm Geſchlechte eben ſo viel Nutzen
als Ehre bringen wuͤrde. Sie ſagt, ſie koͤnne
ſich nicht entbrechen, wegen des anſtaͤndigen und
gehoͤrigen Unwillens, womit Sie den nichtswuͤr-
digen Kerl abweiſen, Sie zu bewundern. Sie
wuͤrde ſich ungemein freuen: wenn ihrem Rath,
daß Sie Jhre betruͤbte Geſchichte aufſchreiben
moͤchten, Genuͤge geſchehen ſollte. Alsdenn, ſagt
ſie, wuͤrde Jhre edle Auffuͤhrung unter allen Jh-
ren Verſuchungen und Widerwaͤrtigkeiten nicht
allein unſerm Geſchlecht ein leuchtendes Beyſpiel,
ſondern auch zugleich, da dieſe Widerwaͤrtigkei-
ten eine Solche Perſon betroffen haben, den
unbedaͤchtlichen und jungen Frauenzimmern eine
ſchreckensvolle Warnung geben.
Am Montage werden wir unſere Reiſe an-
treten. Jch hoffe binnen vierzehn Tagen wieder
zuruͤck zu ſeyn, und mit meiner Mutter noch ein-
mal wegen einer Reiſe nach London, anzubinden.
Wenn der Vorwand etwa ſeyn muß, Kleider
einzukaufen: ſo wird doch der vornehmſte Be-
wegungsgrund der ſeyn, meine liebſte Freun-
dinn noch einmal zu ſehen, weil ich noch ſagen
kann, daß ich nicht vollkommen darein gewilliget,
eine Perſon, die bisher nur Beſuche bey mir ab-
geleget, in einen Verwandten zu verwandeln,
und mich alſo nicht weniger meine eigne nennen
darf, als
Jhre
Anna Howe.
Der
[608]
Der achtzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an die beyden Fraͤuleins
Montague.
Jch habe nicht ermangelt, alles, was ich bey
meiner geliebten Freundinn vermag, anzu-
wenden, damit ſie Jhrem Verwandten, ob er es
gleich ſo ſchlecht verdienet hat, vergeben, und ſich
mit ihm wieder ausſoͤhnen moͤchte. Ja ich ha-
be ſo gar meine ernſtliche Vorſtellungen bey ihr
desfalls wiederholet. Dieſe Wiederholung und
die Erwartung ihrer Antwort, haben einige Zeit
weggenommen, und ſind die Urſache, daß ich mir
nicht eher habe die Ehre nehmen koͤnnen, in der
Sache an Sie zu ſchreiben.
Sie werden aus dem Einſchluß ihre unver-
aͤnderliche Entſchließung ſehen, welche auf ſo edle
und erhabene Bewegungsgruͤnde gebauet iſt, daß
ich nicht anders kann, als ſie zu gleicher Zeit be-
klagen und loben: loben, weil ihr Entſchluß
gerecht iſt, und Jhr ganzes anſehnliches Haus in
der Meynung, welche Sie von ihren unvergleich-
lichen Vorzuͤgen, gefaßt haben, beſtaͤrken wird;
beklagen, weil ich nur allzu viel Urſache habe,
ſo
[609]
ſo wohl nach dieſen Gruͤnden, als nach der Aus-
ſage eines Cavalliers, der eben von ihr gekom-
men iſt, zu beſorgen, daß ihre Geſundheit in ei-
nem ſo hinfaͤlligen Zuſtande ſey, daß ſich ihre
Gedanken mit ganz andern Dingen, als einem
laͤngern Aufenthalt in der Welt, beſchaͤfftigen.
Den eingeſchloſſenen Brief hat ſie fuͤr gut
befunden, unverſiegelt an mich zu ſchicken, da-
mit ich ihn uͤberſehen und hiernaͤchſt weiter an
Sie ſenden moͤchte. Das iſt die Urſache, war-
um die Aufſchrift an mich gerichtet, und das
Siegel von mir iſt. Er iſt ſehr vollſtaͤndig und
entſcheidend. Jedoch da es ihr gefallen hatte,
mir, ſo bald als ſie nur eine Feder halten konnte,
in einem Briefe vom 23ten dieſes, die Gruͤnde
weitlaͤuftiger anzugeben, warum ſie ſo wohl Jhr
als mein inſtaͤndiges Erſuchen nicht Platz finden
laſſen koͤnnte: ſo will ich aus dieſem Briefe ei-
nige Stellen abſchreiben, welche dem gottloſeſten
Menſchen in der Welt, wo er ſie zu Geſichte be-
kommt, zu einem Grunde dienen werden, ſich
fuͤr einen der Ungluͤcklichſten zu halten, weil er ei-
ner ſo unvergleichlichen Gattinn verluſtig gewor-
den, mit der er ſich haͤtte ruͤhmen moͤgen, wenn
er nicht ſo ausnehmend gottlos geweſen waͤre.
Die Stellen ſind dieſe:
- Man ſehe dieſe Stellen in dem Briefe
der Fraͤulein Harlowe vom 23ten Jul.
unter derLXVI.Zahl. Sie ſind dort
ſo „ bezeichnet.
Sechſter Theil. Q qNun
[610]
Nun haben Sie, wertheſte Frauͤleins, die Gruͤn-
de meiner geliebten Freundinn vor ſich, warum ſie
einen Mann ausſchlaͤgt, welcher der Verwandt-
ſchaft mit ſo vielen vortrefflichen Perſonen nicht
wuͤrdig iſt. Jch will noch hinzuſetzen, denn ich
kann es nicht unterlaſſen, daß niemals eine groͤ-
ßere Schandthat begangen iſt, wenn man den
Werth und Rang der Perſon, und die ſchaͤndli-
che Art ſeines Verfahrens, in Betrachtung zie-
het. Da ſie aber glaubet, daß ihr erſtes und
einziges Verſehen nicht anders als durch den
Tod zu buͤßen iſt: ſo bitte ich Gott taͤglich
und will ihn von dem Augenblick, da ich dieſe
traurige Veraͤnderung hoͤren werde, ſtuͤndlich
bitten, daß es Jhm gefallen moͤge, jenen zu ei-
nem Ziel ſeiner Rache zu machen; auf eine Art,
woran alle, welche ſein treuloſes Verbrechen wiſ-
ſen, die Hand des Himmels in der Beſtrafung
deſſelben ſehen koͤnnen.
Sie werden mir verzeihen, wertheſte Fraͤu-
lein: ich habe meine eigne Seele nicht lieber als
Fraͤulein Clariſſa Harlowe. Die Drangſale,
welche ſie ausgeſtanden hat; die Verfolgungen,
welche ſie von allen ihren Freunden erduldet; der
Fluch, unter welchem ſie, ſeinetwegen, von ih-
rem unverſoͤhnlichem Vater gehalten wird; ihre
ſchwache Geſundheit und ſchlechte Umſtaͤnde, zu
denen ſie von einem dauerhaften Wohlbefinden
und großem Ueberfluß heruntergebracht iſt: der
abſcheuliche Verhaft und die ſchreckliche Einſper-
rung, welche alle ihre andern Drangſale vergroͤ-
ßert
[611]
ßert haben, und ihm beyzumeſſen ſind, als das
Werk ſeiner ſchaͤndlichen Unterhaͤndler, es ſey nun
auf ſeinen ausdruͤcklichen Befehl, oder nicht, und
als eine natuͤrliche Folge ſeiner vorhergehenden
Bosheit; die Entehrung unſers Geſchlechts in
den Augen der Welt an einer Perſon, welche
eine der groͤßten Zierden deſſelben iſt; die un-
menſchlichen Mittel, welche er gebraucht hat, ihr
Verderben zu erreichen, ſie moͤgen beſtanden ha-
ben, worinn ſie wollen; denn ich weiß noch nicht
alles; alle dieſe Umſtaͤnde kommen zuſammen,
meine Heſtigkeit und meine Fluͤche gegen einen
ſolchen Menſchen zu rechtfertigen, den ich, durch
ſeine Schandthaten, auch ſo gar von der Wohl-
that chriſtlicher Vergebung ausgeſchloſſen achte.
‒ ‒ Und ſollten Sie alles ſehen, was ſie ſchreibt,
und die bewundernswuͤrdigen Gaben kennen,
welche ſie beſitzet: ſo wuͤrden Sie ſich ſelbſt mit
mir vereinigen, ſie zu bewundern und ihn zu
verfluchen, wie ich thue.
Glauben Sie inzwiſchen, ich bin, mit der
groͤßten Hochachtung gegen Jhre Verdienſte,
Wertheſte Fraͤuleins,
Jhre gehorſamſte Dienerinn
Anna Howe.
Q q 2Der
[612]
Der ein und achtzigſte Brief
von
Frau Norton an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jch habe das Vergnuͤgen, Jhnen zu melden,
daß zu der Geneſung meines Sohnes noch
einmal gute Hoffnung iſt. Er empfiehlt ſich Jh-
nen gehorſamſt. Er iſt ſehr matt und ſchwach.
Jch bin es ebenfalls. Dieß iſt das erſte mal,
da ich ſeit verſchiedenen Tagen im Stande bin,
aufzuſitzen und zu ſchreiben: ſonſt wuͤrde ich nicht
ſo lange ſtille geſchwiegen haben.
Jhr Brief an Jhre Schweſter iſt angekom-
men und beantwortet. Sie haben vermuthlich
die Antwort itzo ſchon. Jch wuͤnſche, daß ſie
zu Jhrem Vergnuͤgen gereichen moͤge: allein mir
iſt bange, es werde nicht ſeyn. Denn durch Eli-
ſabeth Barnes erfahre ich, daß ſie bey dem Em-
pfang ihres Schreibens alle in großer Bewe-
gung, und ſehr uneinig geweſen ſind, ob es be-
antwortet werden ſollte oder nicht. Sie wollen
nicht glauben, daß Sie ſich ſo uͤbel befinden, als
ich, zu unſaͤglichem Kummer fuͤr wich, wahrneh-
me. Das, was zwiſchen Fraͤulein Harlowe und
Fraͤu-
[613]
Fraͤulein Howe vorgefallen iſt, hat die Sache
verſchlimmert, wie ich wohl beſorgte.
Jch zeigte Eliſabethen zwo oder drey Stel-
len in Jhrem Briefe an mich. Sie ſchien da-
durch geruͤhret, und ſagte, ſie wollte dieſelben
vortheilhaft erzaͤhlen und mir einen Beſuch von
der Fraͤulein Harlowe verſchaffen, wenn ich ver-
ſprechen wollte, ihr eben das zu zeigen. Aber
ich habe hernach nicht weiter davon gehoͤret.
Mich deucht, ich ſehe ungern, daß Sie den
gottloſen Mann ausſchlagen. Aber nichts deſto
weniger zweifle ich nicht, daß Jhre Bewegungs-
gruͤnde, es zu thun, richtiger ſind, als meine Wuͤn-
ſche, daß Sie es nicht thun moͤchten. Jedoch
da Sie entſchloſſen ſeyn wuͤrden, wie ich ſagen
mag, am Leben zu bleiben, wenn Sie einen ſol-
chen Gedanken Platz finden ließen; und da mir
daran ſo viel gelegen iſt: ſo kann ich nicht um-
hin, mir ſelbſt dieſen Gefallen zu erweiſen und
Sie zu fragen: Koͤnnen Sie, meine wertheſte
Fraͤulein, Jhren gerechten Unwillen nicht uͤber-
winden? ‒ ‒ Allein ich darf von dieſer Sache
nicht mehr ſagen.
Wie erſchrecklich muß es in der That fuͤr
meine liebſte zaͤrtliche Fraͤulein geweſen ſeyn, ſich
auf den Gaſſen in London in Verhaft nehmen zu
laſſen! ‒ ‒ Wie blutet mein Herz wieder fuͤr
Sie! Was muß das Jhrige damals ausgeſtan-
den haben! ‒ ‒ Jedoch mußte dieß, bey einem
ſolchen Gemuͤth, als Sie beſitzen, etwas geringes
Q q 3ſeyn,
[614]
ſeyn, in Vergleichung mit dem, was Sie vorher
gelitten hatten.
O meine theureſte Fraͤulein Claͤrchen,
wie ſollen wir wiſſen, was wir zu bit-
ten haben, wenn wir um etwas anderes bit-
ten, als daß der goͤttliche Wille geſchehe,
und wir uns in denſelben gaͤnzlich ergeben
moͤgen! ‒ ‒ Als Sie im neunten, und hernach
im eilften Jahre, ein gefaͤhrliches Fieber hatten:
o! wie unaufhoͤrlich klagten wir alle, wie beteten
wir, wie brachten wir unſere Geluͤbde vor den
Thron der Gnaden, damit Sie geneſen moͤchten!
Denn unſer aller Leben beruhete auf Jhrem Leben
‒ ‒ Wie viel erwuͤnſchter wuͤrde dennoch itzo,
nach dem, was der Ausgang gewieſen hat, ſon-
derlich wo wir Sie bald verlieren muͤſſen, ſo
wohl fuͤr Sie als fuͤr uns der Erfolg geweſen
ſeyn, wenn wir Sie damals verlohren haͤtten!
Es iſt betruͤbt zu ſagen! Da ich es aber
in aufrichtiger Liebe zu Jhnen, und in der voͤlli-
gen Ueberzeugung ſage, daß wir nicht allemal
geſchickt ſind, fuͤr uns ſelbſt die rechte Wahl zu
treffen: ſo hoffe ich, es werde zu entſchuldigen
ſeyn; und das um ſo vielmehr, weil eben dieſe
Betrachtung ſo wohl Sie als mich natuͤrlicher
Weiſe zur Beruhigung unter den gegenwaͤrtigen
Verhaͤngniſſen leiten wird. Wir ſind ja verſi-
chert, daß nichts von ungefaͤhr geſchehe, und daß
aus den ſchwerſten Uebeln, ſo viel wir wiſſen, das
groͤßte Gut entſtehen koͤnne.
Es
[615]
Es iſt mir lieb, daß Sie bey ſo ehrlichen Leu-
ten ſind und alle Jhre Sachen wieder haben ‒ ‒
Wie ſchrecklich iſt mit Jhnen umgegangen, daß
man ſich uͤber eine ſo elende Gerechtigkeit gegen
Sie, als dieß iſt, ſchon freuen muß!
Jhre Gabe, Mitleiden zu erwecken, wird
allemal durch einen oder den andern Wink be-
ruͤhret: und die Eliſabeth Jhrer Schweſter kommt
niemals zu mir, daß ſie nicht voll davon ſeyn
ſollte. Aber, wie Sie ſagen, wer iſt dadurch be-
weget, den Sie bewegt zu ſeyn wuͤnſcheten?
Gleichwohl bin ich verſichert, wenn dieſe un-
gluͤckliche Vorſtellung nicht im Wege ſtuͤnde, daß
Jhre Frau Mutter zu erweichen ſeyn wuͤrde.
Vergeben Sie mir, meine werthe Fraͤulein Claͤr-
chen, ich muß einen Weg verſuchen, mich zu
uͤberzeugen, ob meine Meynung nicht gegruͤndet
iſt. Jch will Jhnen aber nicht ſagen, was es
iſt, ohne wenn es gluͤcklich gehet. Jch will es in
ſchuldigem Gehorſam und reiner Liebe gegen Jh-
re Angehoͤrigen und gegen Sie verſuchen.
Der Himmel ſtaͤrke Sie in allen Jhren Ver-
ſuchungen! Dieß, theureſte Fraͤulein, iſt das be-
ſtaͤndige Gebeth
Jhrer ewig ergebenen Freundinn und
Dienerinn
Judith Norton.
Q q 4Der
[616]
Der zwey und achtzigſte Brief
von
Frau Norton an Frau Harlowe.
Da mir verboten iſt, Jhnen ohne Erlaubniß
irgend etwas zuzuſenden, das vielleicht von
meiner geliebten Fraͤulein Claͤrchen an mich kom-
men moͤchte; und ich mich ſo uͤbel befinde, daß
ich Jhnen nicht aufwarten kann, um Jhre Er-
laubniß zu bitten: ſo muß ich Jhnen durch ge-
genwaͤrtige Zeilen beſchwerlich fallen, um zu mel-
den, daß ich einen Brief von Jhr bekommen ha-
be, weswegen ich glaube, nach dieſem, wie die
Sachen vielleicht ausfallen moͤgen, nicht entſchul-
digt werden zu koͤnnen, wenn ich nicht um Erlaub-
niß baͤte, Jhnen denſelben, und zwar ſo bald als
moͤglich, zu zeigen.
Es iſt bey der lieben Fraͤulein von dem Lord
M. von den Ladies, ſeinen Schweſtern, von ſei-
nen beyden Neffen und von dem gottloſen Men-
ſchen ſelbſt Anſuchung geſchehen, ihm zu verge-
ben und ihn zu heyrathen. Dieß hat ſie aus
einem edlen Unwillen uͤber ſein Verfahren mit
ihr gaͤnzlich abgeſchlagen. Wofern Sie nun,
gnaͤdige Frau, nebſt der vornehmen Familie, der
Meynung ſeyn ſollten, daß itzo das beſte ſey,
was
[617]
was man vornehmen kann, jener Wuͤnſche zu
erfuͤllen: ſo moͤgen die Umſtaͤnde vielleicht er-
fordern, daß Sie Jhr Anſehen gebrauchen, oder
Jhren Rath ertheilen, die Fraͤulein entweder auf
andere Gedanken zu bringen, oder ſie in ihrer
Geſinnung widrigenfalls zu beſtaͤrken.
Jch habe Urſache zu glauben, daß ein Be-
wegungsgrund zu der abſchlaͤgigen Antwort, die
ſie gegeben hat, in ihrer voͤlligen Ueberzeugung
liege, daß ſie nicht lange irgend jemanden mehr
beſchwerlich fallen werde. Daher moͤchte ſie
nicht gern einem Ehegatten ein Recht geben, we-
gen des Gutes, das ihr von ihrem Großvater
vermacht iſt, mit ihrer Familie in Zwiſtigkeiten
zu gerathen. Jedoch hat ſie ſich nicht das ge-
ringſte gegen mich verlauten laſſen. Ja ſie wuͤr-
de es nicht einmal als einen Grund angeben;
das darf ich ohne Scheu ſagen: weil ſie, wegen
des ſchaͤndlichen Verfahrens dieſes Mannes mit
ihr, weit ſtaͤrkere Gruͤnde hat, ſeine Hand auszu-
ſchlagen.
Der Brief, den ich bekommen habe, wird
zeigen, wie aufrichtige Reue die theureſte Fraͤu-
lein empfinde. Wenn ich Jhre Erlaubniß dazu
habe, will ich ihn nebſt einer Abſchrift von mei-
nem, worauf er eine Antwort iſt, verſiegelt uͤber-
ſenden. Da ich mich aber ohne ihr Wiſſen ent-
ſchließe; dieß iſt in der That an dem; dieſen
Schritt zu thun: ſo will ich ihr nichts davon
melden; wofern nicht die gewuͤnſchte Wirkung
erfolget. Denn ſonſt wuͤrde ich mir nicht allein ihr
Q q 5Mis-
[618]
Misfallen zuziehen: ſondern es wuͤrde ihr auch
das Herz, welches ſchon halb gebrochen iſt, nur
ganz brechen.
Jch bin, gnaͤdige Frau,
Jhre gehorſamſte und beſtaͤndig
verpflichtete Dienerinn
Judith Norton.
Der drey und achtzigſte Brief
von
Frau Harlowe an Frau Judith Norton.
Wir kennen alle Jhre tugendhafte Klugheit,
liebe Frau Norton: wir kennen ſie alle.
Aber Jhre Parteylichkeit fuͤr dieß ihr unbeſonne-
nes Schooßkind iſt uns ebenfalls bekannt: und
wir kennen nicht weniger die Gabe der Ungluͤck-
ſeligen, ihr Elend ſo nachdruͤcklich zu ſchildern,
daß es einen Stein ruͤhren moͤchte.
Jedermann iſt der Meynung, daß das liebe
boshaftige Kind es darauf anfaͤngt, Vergebung
zu erlangen und wieder aufgenommen zu werden.
Aus der Urſache iſt Eliſabethen verboten worden;
nicht von mir, das koͤnnen Sie ſicher glauben;
etwas mehr von ihren Briefen zu ſagen: denn ſie
redete mit meiner Arabelle von einigen ruͤhrenden
Stellen, welche Sie ihr vorgeleſen haben.
Dieß
[619]
Dieß wird Sie uͤberzeugen, daß nichts zu
ihrem Vortheil Gehoͤr finden werde. Zu welchem
Ende ſollte ich denn etwas von ihr erwaͤhnen? ‒ ‒
Allein Sie koͤnnen verſichert ſeyn, daß ich es thun
will: wenn ich nur einen Beyſtand haben kann.
Dieß iſt aber gar nicht glaublich, bis wir ſehen,
was die Folgen von ihrem Verbrechen ſeyn moͤ-
gen: und wer kann das ſagen? ‒ ‒ Sie mag
vielleicht ‒ ‒ Wie kann ich es aus meinem Mun-
de gehen laſſen, da meine vormals liebſte Toch-
ter unverheyrathet iſt! ‒ ‒ Sie mag vielleicht
ſchwanger ſeyn! ‒ ‒ Dieß wuͤrde ihren Schand-
fleck verewigen. Jhr Bruder mag vielleicht
Schaden daruͤber nehmen, welches Gott verhuͤten
wolle! ‒ ‒ Eines Kindes Ungluͤck, hoffe ich, wird
nicht den Mord des andern nach ſich ziehen!
Was ihren Kummer und ihr gegenwaͤrtiges
Elend betrifft, es mag ſeyn, was es will: ſo muß
ſie es ertragen. Es muß gegen das, was ich
ſtuͤndlich ihretwegen trage, nur etwas geringes
ſeyn. Jch beſorge in der That, daß ihr Vater,
ihre Onkels, und ihre andern Freunde, nicht an-
ders, als wenn ſie in den letzten Zuͤgen lieget, ſich
bewegen laſſen werden, ihr zu vergeben.
Die Bereitwilligkeit, verkehrten Kindern zu
verzeihen, wenn ſie die unbeſonnenſten und wider-
ſpenſtigſten Dinge veruͤbt haben, die ſie nur ver-
uͤben koͤnnen, iſt die Urſache, wie man uns alle
Tage vorhaͤlt, daß ſo viele ihrem Beyſpiel fol-
gen. Sie verlaſſen ſich auf die allzuguͤtige
Schwaͤche der Gemuͤthsart ihrer Eltern, und in-
dem
[620]
dem ſie ſich darauf verlaſſen, verſtocken ſie ihre
eigne Herzen. Durch eine kleine Demuͤthigung
ſoll die groͤßte Verkehrtheit hinlaͤnglich gebuͤßet
und ausgeſoͤhnet ſeyn, wenn ſie das Elend, wel-
ches man ihnen vorhergeſagt, uͤber ſich gebracht
haben.
Allein ſollte ein ſolches Kind, als dieß; ich
fuͤhre das an, was andere ſtuͤndlich ſagen,
ich aber mit Betruͤbniß billigen muß; ſollte
ein ſolches Kind Raͤnke und Kuͤnſte gebrauchen,
ihre Eltern ſowohl als ſich ſelbſt zu betruͤgen, und
mit einem liederlichen Kerl davon laufen! Kann
ihr Verbrechen auf irgend eine Art gebuͤßet und
ausgeſoͤhnet werden? Hat ſie es nicht vor Gott,
vor uns, vor Jhnen, und vor aller Welt, die ſie
kennet, zu verantworten, daß ſie ſolche Gaben ſo
gemisbrauchet hat, wie ſie gethan?
Sie ſagen, ihr Herz ſey halb gebrochen. Jſt
es zu verwundern? Hat ſie ihre Suͤnde nicht ſo
wohl gegen alle Warnung, als gegen ihre eigne
Einſicht begangen?
Daß er ſie nun heyrathen wollte, oder daß ſie
ſeine Hand ausſchlagen wuͤrde, wenn ſie glaubte,
daß er es im Ernſt meynte, iſt nach den Umſtaͤn-
den, worein ſie ſich ſelbſt geſetzet hat, gar nicht
wahrſcheinlich: und waͤre ich geneigt es zu glau-
ben, ſo wuͤrde es hier ſonſt niemand thun. Er
achtet ſeine Verwandten nicht, und wuͤrde dieſe
eben ſo leicht, als alle andere, betruͤgen. Seine
Abneigung von dem Heyrathen hat er allemal
oͤffentlich zu verſtehen gegeben, und giebt ſie auch
noch
[621]
noch bey Gelegenheit zu verſtehen. Aber wenn
es ihm ja nun ein Ernſt iſt, woran doch ein jeder
zweifeln muß, der ihn kennet: was denken Sie
denn, da er uns noch dazu haſſet, und frey geſte-
het, daß er uns alle haſſe und verachte, was wuͤrde
hier das angenehmſte ſeyn? Von ihrem Tode?
oder von ihrer Vermaͤhlung mit einem ſo ſchaͤnd-
lichen Kerl Nachricht zu bekommen?
Fuͤr uns alle, kann ich jedoch nicht ſagen.
Denn, o! meine liebe Frau Norton. Sie wiſſen,
was die Zaͤrtlichkeit einer Mutter fuͤr ihr herzlich
geliebtes Kind, ungeachtet aller Fehler dieſes Kin-
des, lieber ſehen wuͤrde, als auf beſtaͤndig ihrer
verluſtig zu werden!
Allein ich muß mit dem Strohm ſchwimmen.
Die Klugheit erfordert es: ſonſt wuͤrde ich das
Ungluͤck derer, die eines beſſern wuͤrdig ſind, ſon-
derlich meines lieben Herrn Harlowes, nur ver-
groͤßern, da es doch ſchon mehr als genug iſt, ſie
alle auf die uͤbrige Zeit ihres Lebens der Gluͤckſe-
ligkeit zu berauben. So viel weiß ich gewiß;
wenn ich mich den Uebrigen widerſetzen wollte:
ſo wuͤrde unſer Sohn wegeilen, den liederlichen
Kerl aufzuſuchen. Wer koͤnnte alsdenn ſagen,
was bey einem ſo ungeſtuͤmen und blutduͤrſtigen
Menſchen, wofuͤr der Lovelace bekannt iſt, der
Ausgang davon ſeyn wuͤrde?
Alles, was ich vermuthen kann fuͤr ſie auszu-
zurichten, iſt, daß binnen einer Woche, oder ſo
ungefaͤhr, Hr. Brand hinaufgeſchickt werde, ſich
in geheim nach ihrem gegenwaͤrtigen Zuſtande und
ihrer
[622]
ihrer Lebensart zu erkundigen, und zu ſehen, daß
ſie nicht ganz verlaſſen ſey. Denn nichts, was ſie
ſelbſt ſchreibet, wird geachtet werden.
Jhr Vater hat in der That, auf ihr inſtaͤn-
diges Bitten, den Fluch aufgehoben, den er, bey
ihrer gottloſen Flucht von uns, anfangs im Zorn
auf ſie legte. Aber Fraͤulein Howe; es iſt etwas
betruͤbtes, Frau Norton, auf ſo viele Art zugleich
zu leiden! hatte durch ihre ungebuͤhrliche Frey-
heiten gegen uns alle, ſowohl im Reden in allen
Geſellſchaften, als durch Briefe an meine Ara-
belle, die Sachen ſo ſchwer gemacht, daß wir ihn
kaum bewegen konnten, ihren Brief leſen zu hoͤren.
Dieſe Freyheiten der Fraͤulein Howe gegen
uns; das allgemeine Geſchrey wider uns außer-
halb Hauſes, wo nur von uns geredet wird; und
die ſichtbare, ja nicht ſelten in die Ohren fal-
lende Unehrerbietigkeit, womit Hohe und Niedere
uns begegnen, wenn wir zu und von der Kirche
gehen, auch ſelbſt wenn wir in der Kirche ſind;
denn ſonſt irgend wohin zu gehen haben wir nicht
das Herz; als wenn keiner von uns anders, als
um ihretwillen, geachtet, und ſie unſchuldig, wir
alle ſchuldig waͤren; alle dieſe Umſtaͤnde, muͤſſen
Sie nothwendig denken, vorſchlimmern die Sache
beſtaͤndig bey der ganzen Familie.
Sie hat mir gewiß meinen Zuſtand, der ſchon
vorher gar nicht leicht war, vollkommen ſchwer
gemacht! ‒ ‒ Jhnen die Wahrheit zu ſagen;
mir iſt ausdruͤcklich befohlen, ohne Erlaubniß
nicht das geringſte von ihr, es ſey durch welche
Hand
[623]
Hand es wolle, anzunehmen. Sollte ich alſo mei-
nem mitleidigen Seufzen nach ihr ſo weit Genuͤge
thun, daß ich in geheim den Brief, wovon Sie
melden, annaͤhme: was wuͤrde es anders ſeyn,
als mich zu quaͤlen, ohne daß ich im Stande waͤre,
ihr zu helfen? Und ſollte man es erfahren ‒ ‒
Hr. Harlowe iſt ſo zornig ‒ ‒ Sollte es ſein Po-
dagra in den Magen treiben, wie bey ihrer unbe-
ſonnenen Flucht geſchahe ‒ ‒ Jn Wahrheit, in
Wahrheit, ich bin ſehr ungluͤcklich daran! ‒ ‒
Denn, o meine liebe Fr. Norton, ſie iſt doch be-
ſtaͤndig noch mein Kind! ‒ ‒ Aber, wofern es
nicht mehr in meiner Gewalt ſtuͤnde ‒ ‒ Jedoch
verlangt mich, ihren Brief zu ſehen. ‒ ‒ Sie be-
richten, daß er von ihrem gegenwaͤrtigen Zuſtande
und von ihren Umſtaͤnden Nachricht gebe. ‒ ‒
Das arme Kind, welches Tauſende im Beſitz
haben ſollte! ‒ ‒ Und haben wird! ‒ ‒ Denn
ihr Vater wird ein getreuer Haushaͤlter fuͤr ſie
ſeyn ‒ ‒ Allein es muß auf ihm beliebige Art,
und zu ihm beliebiger Zeit, erſt geſchehen.
Befindet ſie ſich wirklich uͤbel? ‒ ‒ ſo ſehr
uͤbel? ‒ ‒ Sie muß billig Kummer haben ‒ ‒
Sie hat gedoppelt ſo viel verurſachet.
Aber glaubt ſie wirklich, daß ſie uns nicht
lange beſchwerlich ſeyn werde? ‒ ‒ O! Fr. Nor-
ton, ſie muß, ſie wird uns lange beſchwerlich
ſeyn. ‒ ‒ Denn kann ſie gedenken, daß ihr Tod,
wenn wir ihrer beraubt ſeyn ſollten, unſerm Lei-
den ein Ende machen werde? ‒ ‒ Kann man ſich
vorſtellen, daß der Fall eines ſolchen Kindes nicht
bis
[624]
bis an die letzte Stunde unſers Lebens von uns
beklaget werden ſolle?
Allein bezeuget ſie in dem Briefe, welchen
Sie haben, ohne Zuruͤckhaltung, ihre Reue?
Giebt ſie nicht etwas uns nachtheiliges, auch nur
von weiten, darinn zu verſtehen? Zielt ſie nicht
auf eine Verringerung ihres Fehlers? ‒ ‒ Wenn
ich ihn ſehen ſollte: wuͤrde er mich nicht ſo ſehr
bewegen, daß mein ſichtbarer Kummer mich
harten Begegnungen bloßſtellen moͤchte? ‒ ‒
Kann es angeſtellt werden ‒ ‒
Aber zu welchem Ende? ‒ ‒ Nein! ſenden
Sie ihn nicht ‒ ‒ Jch ſage Jhnen, ſenden Sie
ihn nicht ‒ ‒ Jch darf ihn nicht ſehen ‒ ‒
Jedoch ‒ ‒
Aber ach! ‒ ‒
O vergeben Sie der verwirrungsvollen Mut-
ter! Sie koͤnnen ‒ ‒ Sie wiſſen, dieß alles zu
gute zu halten ‒ ‒ Alſo will ich es gehen laſſen ‒ ‒
Jch will dieſen Theil von meinem Briefe nicht
noch einmal ſchreiben.
Allein ich finde nicht fuͤr gut, mehr von ihr
zu wiſſen, als uns allen gemeldet wird ‒ ‒ Nicht
mehr, als ich geſtehen darf, geſehen zu haben;
und was einige von ihnen mir vielmehr eroͤffnen,
als von mir erfahren moͤgen. Dieß erfordert
meine aͤußerliche Ruhe: ob gleich meine innerliche
Zufriedenheit durch den Zwang immer mehr und
mehr leidet.
Jch
[625]
Jch ward genoͤthigt abzubrechen. Aber ich
will nun verſuchen, meinen langen Brief zu be-
ſchließen.
Es iſt mir leid, daß Sie ſich nicht wohl be-
finden. Wenn Sie ſich aber auch wohl befaͤn-
den: ſo koͤnnte ich doch, ſelbſt Jhrentwegen, nicht
wuͤnſchen, daß Sie zu uns heraufkommen moͤch-
ten; wie Sie nach Eliſabeths Erzaͤhlung zu thun
begierig ſind. Kaͤmen Sie: ſo wuͤrde nichts
geachtet werden, was von Jhnen gekommen waͤ-
re. Da man ohne das ſchon glaubet, daß Sie
zu parteyiſch fuͤr ſie ſind: ſo wuͤrde dieß, daß Sie
herauf kaͤmen, es nur beſtaͤrken, Jhnen nachthei-
lig ſeyn, und ihr nichts nuͤtzen. Weil ein jeder
Sie hier werth achtet: ſo rathe ich Jhnen, daß
Sie ſich ihrer nicht zu eifrig annehmen; ſonder-
lich vor der Eliſabeth meiner Arabelle; bis ich
Jhnen eine bequeme Zeit dazu melden kann.
Sollte ich Jhnen aber verbieten, das werthe bos-
hafte Kind zu lieben? Wer kann das? O, mei-
ne Fr. Norton! Sie muͤſſen ſie lieben! ‒ ‒
Und ich auch!
Jch uͤberſende Jhnen fuͤnf Guineas, Jhnen
in Jhrer und Jhres Sohnes gegenwaͤrtigen
Krankheit zur Beyhuͤlfe zu dienen: denn es muß
Jhnen ſchwer geworden ſeyn. Was fuͤr eine
betruͤbte, betruͤbte Sache, meine gute Fr. Nor-
ton, daß alle Jhre, alle meine Muͤhe, auf acht-
zehn oder neunzehn Jahre nach einander, in ſo
Sechſter Theil. R rweni-
[626]
wenigen Monaten ſo jaͤmmerlich zernichtet iſt!
Jedoch ich muß allezeit Jhre Freundinn ſeyn und
Sie bedauren: eben deswegen, weil ich ſelbſt bey
jedermann Mitleiden verdiene.
Vielleicht finde ich eine Gelegenheit, Sie zu
beſuchen, als wenn es Jhrer Krankheit wegen
geſchaͤhe: und dann mag ich den Brief, wovon
Sie Erwaͤhnung thun, bey Jhnen mit Thraͤnen
durchleſen. Allein in Zukunft ſchreiben Sie mir
nichts von dem armen Maͤgdchen, das Jhrer
Meynung nach nicht uns allen entdecket werden
kann.
Jch empfehle Jhnen, wo Sie meine Freund-
ſchaft achten, wo Sie meine Ruhe wuͤnſchen,
weder dem boshaften Kinde, noch ſonſt jeman-
den, das geringſte von einem Briefe zu ſagen,
den Sie von mir bekommen haben. Es iſt mir
eine kleine Erleichterung geweſen, weil mir die
Gelegenheit gegeben iſt, an Sie zu ſchreiben: da
Sie, auf eine ſo beſondre Art, an meinem Leiden
Theil nehmen muͤſſen. Eine Mutter, Fr. Nor-
ton, kann ihr Kind nicht vergeſſen: wenn auch
das Kind die Mutter verlaſſen, und, indem es
das that, allen Troſt, alles Vergnuͤgen ihrer
Mutter mit ſich hinwegnehmen konnte! ‒ ‒ Un-
ter ſolchen Umſtaͤnden, kann ich mit Wahrheit
ſagen, iſt
Jhre ungluͤckliche Freundinn
Charlotte Harlowe.
Der
[627]
Der vier und achtzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Frau
Judith Norton.
Jch wuͤnſche Jhnen, meine liebe Fr. Norton,
von ganzem Herzen Gluͤck zu der Geneſung
Jhres Sohnes, und bitte Gott, daß er dieſelbe,
nebſt Jhrer eignen Geſundheit, zur Vollkommen-
heit gedeihen laſſe.
Jch ſchreibe mit einiger Unruhe, weil ich die
Folge von ihrem Vorſatz, den Sie mir zu verſte-
hen geben, beſorge; von dem Vorſatz, einen oder
den andern Weg zu meinem Beſten zu verſuchen.
Sie meynen vermuthlich bey meinen Verwand-
ten. Aber Sie wollen mir nicht melden, ſchrei-
ben Sie, was es ſey: wofern es keinen gewuͤnſch-
ten Erfolg hat.
Nun muß ich Sie erſuchen, daß Sie nichts
fuͤr mich unternehmen, wovon Sie mir nicht
vorher Nachricht geben.
Jch habe nur eine Bitte an meine Angehoͤ-
rigen zu thun, außer derjenigen, die in meinem
Briefe an meine Schweſter enthalten iſt: und
ich wollte nicht gern, deucht mich, um ihrer ei-
gnen zukuͤnftigen Gemuͤthsruhe willen, daß ſie
durch Jhre und der Fraͤulein Howe wohlge-
R r 2meynte
[628]
meynte Guͤtigkeit verdrieslich gemacht, und da-
durch gereizet wuͤrden, mir dieſelbe abzuſchlagen.
Warum ſollte auch mehr fuͤr mich verlanget wer-
den, als ich genießen kann? Mehr, als ſchlech-
terdings fuͤr meine Zufriedenheit nothwendig iſt?
Sie vermuthen, daß ich meiner Schweſter
Antwort auf meinen Brief unterdeſſen, da der
ihrige mir zu Haͤnden kaͤme, haben wuͤrde. Jch
habe ſie: und ſie iſt hart, ſehr hart. Jedoch,
wenn ich mein Vergehen, wie es in ihren Augen
iſt, und die Erbitterungen, wozu ſie, wie ich glau-
ben muß, ſo neulich von meiner lieben Fraͤulein
Howe gereizet ſind, uͤberlege: ſo muß ich es als
eine Gewogenheit anſehen, daß er nur einmal be-
antwortet iſt. Jch will Jhnen bald, ſo wohl von
derſelben, als von meinem Schreiben, worauf es
die Antwort iſt, eine Abſchrift uͤberſenden.
Jch habe Urſache, meinem Vater vielen
Dank zu wiſſen, daß er den ſchweren Fluch, der
mich ſo ſehr druͤckte, von mir genommen hat. ‒ ‒
Eines Vaters Fluch, meine liebe Fr. Norton!
Was fuͤr ein Kind koͤnnte unter dem Fluch eines
Vaters geruhig ſterben: ſonderlich wenn er ſo
buchſtaͤblich, als dieſer, erfuͤllet iſt, in ſo fern er
auf das gegenwaͤrtige Leben gehet!
Mein Herz iſt mir zu ſchwer, daß ich die be-
ſondern Umſtaͤnde in dem Briefe meiner Schwe-
ſter beruͤhren koͤnnte. ‒ ‒ Jch kann mein Ver-
gehen nur auf eine Art buͤßen und ausſoͤhnen.
O moͤchte dieſe doch angenommen werden! Und
moͤchten alle werthe Verwandten bald vergeſſen,
daß
[629]
daß eine ſolche ungluͤckliche Tochter, Schweſter,
oder Baſe, als Clariſſa Harlowe, gelebet habe!
Mein Vetter Morden war einer von denen,
die ſo ernſtlich in meinem neunten und eilften
Jahre fuͤr mich beteten, wie Sie erwaͤhnen.
Meine Schweſter denkt, er werde einer von de-
nen ſeyn, welche wuͤnſchen werden, daß ich nie-
mals geweſen waͤre. Aber ich bitte Sie, wenn
er kommt, laſſen Sie es mich ſo bald, als moͤ-
glich, wiſſen.
Sie glauben, daß, wenn die ungluͤckliche
Vorſtellung von meiner Gabe, Mitleiden zu er-
wecken, nicht im Wege ſtuͤnde, meine Mutter
ſich erweichen laſſen wuͤrde. Was wollte ich
darum geben, ſie noch einmal zu ſehen, und,
wenn gleich ohne ihr Wiſſen, nur den Saum ih-
res Kleides zu kuͤſſen.
Haͤtte ich denken koͤnnen, daß das letzte mal,
da ich ſie ſahe, das letzte geweſen waͤre: wie
viele Muͤhe ſollte es gekoſtet haben, mich von ih-
ren umfaßten Fuͤßen zu reiſſen! ‒ ‒ Und wie
wenig ließ ich mir in den Sinn kommen, als ich
am vorigen 5ten April (*) hinter der Hecke, mei-
nen Vater, meinen Onkel Anton, meinen Bru-
der, und meine Schweſter ſahe, daß dieß das
letzte mal ſeyn wuͤrde, da ich ſie jemals ſehen ſoll-
te, und daß mich in ſo kurzer Zeit ſo viel erſchreck-
liches Ungluͤck treffen wuͤrde!
Allein ich kann nichts ſchreiben, als was Jh-
nen Unruhe verurſachen muß. Jch will daher
R r 3nur
[630]
nur meine Bitte wiederholen, daß Sie ſich nicht
ohne meine vorlaͤufige Einwilligung fuͤr mich ins
Mittel ſchlagen wollen, und mit der Verſiche-
rung beſchließen, daß ich ſey, und allezeit ſeyn
werde
Jhre ergebenſte und gehorſamſte
Clariſſa Harlowe.
Der fuͤnf und achtzigſte Brief
von
Fraͤulein Arabelle Harlowe an Fraͤulein
Clariſſa Harlowe.
zur Antwort
auf ihren Brief vom Freytage dem 21ten
Jul. der hier der LXXte iſt.
Schweſter.
Wie jaͤmmerlich iſt Euer romanenmaͤßiger
und unbeſonnener Zug ausgefallen! Jch
beklage Euch von Herzen.
Jhr habt wohl Urſache traurig zu ſeyn, und
Reue zu empfinden. ‒ ‒ Lovelace hat Euch ver-
laſſen! ‒ ‒ Jn welchem Zuſtande, und in wel-
chen Umſtaͤnden, wiſſet Jhr am beſten.
Jch
[631]
Jch wuͤnſchte, daß Eure Auffuͤhrung ſo be-
ſchaffen geweſen waͤre, daß Euer Zufall mehr
Mitleiden verdiente. Allein Jhr habt nur ge-
funden, was ihr geſucht habt.
Gott helfe Euch! ‒ ‒ denn Jhr habt keinen
Freund, der Euch anſehen wird! ‒ ‒ Armes,
gottloſes, verlohrnes Geſchoͤpfe! ‒ ‒ Jhr ſeyd
gegen alles Warnen, alles Vorhalten, alle Pflicht
und Gehorſam, gefallen.
Aber es nuͤtzt nichts, daß ich Euch Verweiſe
gebe. Jch weine uͤber euch!
Meine arme Mutter! ‒ ‒ O! Eure Unbe-
ſonnenheit hat ſie weit elender gemacht, als Jhr
ſeyn koͤnnet! Dennoch hat ſie meinen Vater ge-
beten, Euch Eurer Bitte zu gewaͤhren.
Meine Onkels vereinigten ſich mit ihr: denn
ſie dachten, es waͤre ein wenig mehr Beſcheiden-
heit in Eurem Briefe, als in dem Schreiben
Eurer muthigen Fuͤrſprecherinn. Es hat ihm
daher gefallen, mir zu erlauben, daß ich ſchreibe,
aber fuͤr ihn nur allein dieſe Worte, und nicht
mehr: „Er hebe den Fluch auf, den er auf Euch
„legte, als er zuerſt von Eurer gottloſen Flucht
„hoͤrte, ſo weit es in ſeiner Gewalt ſtehet, und
„hoffe, daß Eure gegenwaͤrtige Strafe allein die-
„jenige ſeyn moͤge, die Jhr findet; uͤbrigens wol-
„le er Euch niemals fuͤr ſein Kind erkennen,
„Euch niemals vergeben, und bedaure ſchmerz-
„lich, daß er eine ſolche Tochter in der Welt
„habe.“
R r 4Alles
[632]
Alles dieß, und noch mehr habet Jhr von
ihm und von Uns allen verdienet: aber was
habt Jhr dem verruchten liederlichen Kerl ge-
than, das zu verdienen, was Euch von ſeinen
Haͤnden widerfahren iſt? ‒ ‒ Jch fuͤrchte, ich
fuͤrchte, Schweſter! ‒ Jedoch nicht mehr! ‒ ‒
Vortrefflich habt ihr dieſe vier Monate ange-
wandt!
Mein Bruder iſt itzo in Edinburg, wohin
ihn mein Vater geſchickt hat, damit er dieſen
frohlockenden Betruͤger nicht etwa antreffen moͤ-
ge, ob er gleich nicht weiß, daß dieß der Bewe-
gungsgrund dazu iſt.
Man ſagt uns, daß er Euch gern heyrathen
wollte. Aber warum hat er Euch denn ſitzen
laſſen? Er hatte Euch ſonder Zweifel ſo lange
gehalten, bis er Eurer uͤberdruͤßig war: und es
iſt gar nicht glaublich, daß er wuͤnſchen ſollte,
Euch zu haben, anders als auf den Fuß, wie
Jhr ohne allen Streit ſchon die ſeine geweſen
ſeyd.
Jhr ſolltet Eurer Freundinn, der Fraͤulein
Howe, rathen, ſich Eurer Sachen weniger anzu-
nehmen, wofern ſie es nicht mit mehrerer An-
ſtaͤndigkeit thun koͤnnte. Sie hat drey Briefe
an mich geſchrieben, die ſehr uͤbermuͤthig ſind.
Eure große Goͤnnerinn, die arme Fr. Norton,
denkt, daß Jhr nichts von dem Unternehmen der
muthigen Fraͤulein, an mich zu ſchreiben, wiſſet.
Jch hoffe es. Aber alsdenn iſt die Briefſtelle-
rinn deſto unverſchaͤmter. Weil ich inzwiſchen
der
[633]
der guten Frauen, die ganz von euch eingenom-
men iſt, glaubte: ſo ſetzte ich mich deſto williger
nieder, auf Euren Brief zu antworten; und
ſchreibe nicht ſo ſcharf, als ich ſonſt gethan haben
wuͤrde, wo ich ihn nur gar einmal beantwortet
haͤtte.
Der vergangene Montag iſt Euer Geburts-
tag geweſen. Denket, elendes undankbares
Maͤgdchen, wie wir ihn alle zu begehen pflegten:
ſo werdet Jhr Euch nicht wundern, wenn man
Euch ſaget, daß wir an dem Tage alle von ein-
ander gelaufen ſind. Allein Gott verleihe Euch
wahre Reue, wo Jhr ſie nicht ſchon fuͤhlet. Sie
wird gewiß wahr und aufrichtig ſeyn: wo ſie
der Scham und der Betruͤbniß gleich iſt, die
Jhr uns allen verurſachet habt.
Eure traurige Schweſter
Arabelle Harlowe.
Euer Vetter Morden wird alle Tage in Eng-
land erwartet. Er wird eben ſo wohl als
die Uebrigen von der Familie wuͤnſchen,
daß Jhr niemals geweſen waͤret, wenn er
hoͤren wird, wie trefflich Jhr es gemacht
habt.
R r 5Der
[634]
Der ſechs und achtzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Sie haben mir ein großes Vergnuͤgen gemacht,
meine theureſte Freundinn, daß Sie meine
Art zu denken und die Entſchließung, Herrn Lo-
velacen niemals zu nehmen, welche ſich darauf
gruͤndet, gebilliget haben. Dieſer Beyfall iſt,
nach der Beſchaffenheit der Umſtaͤnde, und nach
der genauen Beobachtung wahrer Ehre und der
erhabenen Gemuͤthsart, die ich an meiner Anna
Howe allezeit bewundert habe, ſo gerecht, daß
ich ſchwerlich ſagen konnte, wohin ich den Rath,
den Sie mir gaben, das Gegentheil zu thun,
rechnen ſollte, wofern ich ihn nicht etwa meinem
ungluͤcklichen Schickſal zuſchreiben muͤßte, wel-
ches endlich haben wollte, daß ich niemanden
mehr gefallen moͤchte.
Laſſen Sie aber den ſchlechten Zuſtand mei-
ner Geſundheit, und das, worauf dieſer natuͤrli-
cher Weiſe hinausgehen mag, ſich nicht betruͤben.
Jch habe mich gegen Sie erklaͤret, daß ich dem
Leben nicht entlaufen, und keine Mittel verſaͤu-
men will, wodurch es verlaͤngert werden kann;
wofern es Gott gefaͤllt: und gefaͤllt es ihm
nicht;
[635]
nicht; wer ſoll denn gegen ſeinen Willen
murren?
Wenn ſichs zeigen wird, daß ich in meinen
groͤßten Verſuchungen nicht anders gehandelt ha-
be, als es Jhrer Liebe und meinem guten Na-
men anſtaͤndig geweſen iſt: ſo wird das fuͤr uns
beyde, bey genauer Ueberlegung, eine Gluͤckſelig-
keit ſeyn.
Der Angriff, den Sie mir ſo ernſtlich rathen
zu uͤberwaͤltigen zu ſuchen, war der haͤrteſte, den
ich leiden konnte. Aber, meine Wertheſte, da ich
ihn mir nicht durch mein Verſehen zugezogen
hatte: ſo hoffe ich, daß ich ihn ſchon uͤberwaͤlti-
get habe. Ja ich hoffe es.
Bisweilen bin ich inzwiſchen mehr um an-
dere, als um mich ſelbſt betruͤbt. Und das muß
ich billig ſeyn. Denn in Anſehung meiner ſelbſt,
kann ich nicht anders als denken, daß ich vielmehr
entkommen bin, als einen Verluſt gelitten habe,
indem es mir fehlgeſchlagen iſt, Hrn. Lovelacen zu
einem Manne zu haben: auch ſo gar, wenn er
nicht die ſchaͤndlichſte Gewaltthaͤtigkeit an mir
veruͤbet haͤtte.
Es mag ein jeder, der meine Geſchichte weiß,
aus ſeinem Betragen gegen mich, vor der Ge-
waltthaͤtigkeit, ſeine Gemuͤthsart abnehmen, und
dann ſelbſt urtheilen, ob es im geringſten wahr-
ſcheinlich geweſen, daß ein ſolcher Mann mich
gluͤcklich machen ſollte. Wenn man aber die Be-
ſchaffenheit ſeines Gemuͤths aus ſeinen Grund-
ſaͤtzen in Abſicht auf unſer Geſchlecht uͤber-
haupt,
[636]
haupt, und aus ſeinen Unternehmungen gegen
viele von demſelben ſchließet; und ſeine natuͤrliche
Grauſamkeit, und die Neigung, mit ſeinen Erfin-
dungen ſein Spiel zu treiben, nebſt der hohen
Meynung, die er von ſich ſelber hat, uͤberleget:
ſo wird man nicht zweifeln, daß eine Frau bey
ihm ungluͤcklich geweſen ſeyn moͤchte; und noch
ungluͤcklicher, wenn ſie ihn lieb gehabt, als wenn
ſie gleichguͤltig gegen ihn haͤtte ſeyn koͤnnen.
Eine Zeit von zwoͤlf Monaten haͤtte, nach
der groͤßten Wahrſcheinlichkeit, meinem Leben ein
Ziel ſetzen moͤgen: da ich mit meinen Freunden
ſo uͤbel daran; da ich von meinem Bruder und
meiner Schweſter verfolget und geaͤngſtiget wor-
den, und mein Herz ſelbſt durch die freywillige,
und, wie nun offenbar am Tage liegt, vorſetzliche
Unſchluͤßigkeit des Menſchen zerriſſen war; des
Menſchen, von dem ich Dank zu verdienen ſuchte,
und von dem ich um ſo viel mehr berechtigt war,
Schutz zu erwarten, weil er mich alles andern
Schutzes beraubet, und, indem er meine eigne
Familie haſſete, mich dahin gebracht hatte, daß
ich mich ihm gaͤnzlich uͤberlaſſen mußte. Dieß
war vormals, wie ich dachte, ſeine ganze Abſicht:
und elend genug fuͤr mich, wenn ſie es ganz ge-
weſen waͤre.
Kann man wohl denken, liebſte Freundinn,
daß, ſo gluͤcklich als ich war, ehe ich Hrn. Lovela-
cen kennen lernete, mein Herz durch eine ſo un-
gluͤckliche Veraͤnderung in meinen Umſtaͤnden
nicht angegriffen worden? ‒ ‒ Vielleicht brauch-
te
[637]
te es nicht erſt der gottloſen Gewaltthaͤtigkeit, ein
Leben, mit welchem er ſein Spiel getrieben hat,
um vieles, wenn gleich etwa nicht ſo gar ſehr,
zu verkuͤrzen.
Waͤre ich nur einen Monath uͤber die Seine
geweſen: ſo haͤtte er mein Gut, welches meinen
Verwandten am Herzen lag, haben muͤſſen; zu
deſto groͤßerem Verdruſſe fuͤr ſie, weil ſie ihn
eben ſo ſehr haſſeten, als er ſie.
Habe ich in Betrachtung dieſer Dinge nicht
Urſache, mich ſelbſt ohne Hr. Lovelacen fuͤr gluͤck-
licher, als mit ihm, zu halten? ‒ ‒ Da noch da-
zu mein Wille unbefleckt iſt, und ich mir ſelbſt
ſehr wenig, ja in Abſicht auf ihn nicht das ge-
ringſte, vorzuwerfen habe?
Allein mit meinen Verwandten verhaͤlt es
ſich ganz anders. Dieſe verdienen in der That
Mitleiden. Sie ſind ungluͤcklich, und werden es
ohne Zweifel lange ſeyn.
Wenn wir von ihrem Unwillen und ihrer
Auffuͤhrung urtheilen wollen: ſo muͤſſen wir uns
an ihre Stelle und unter ihre Umſtaͤnde ſetzen. ‒ ‒
Da ſie mich fuͤr ſchuldiger anſehen, als ſich ſelbſt;
diejenigen, welche mir wohl wollen, moͤgen ihrer
Meynung ſeyn oder nicht; und da ſie ein Recht
haben, fuͤr ſich zu urtheilen: ſo muß ihnen bil-
lig vieles zu gute gehalten werden; ſonderlich
meinen Eltern. Sie werden wenigſtens von ſich
ſelbſt freygeſprochen; welches bey mir nicht ſeyn
kann: und das um ſo viel mehr, wie ſie ſich er-
innern koͤnnen, weil ſie durch ihre Muͤhe, ihre
vorige
[638]
vorige Guͤtigkeit gegen mich, und ihre unſtreitige
Liebe, ihrer Pflicht Genuͤge gethan haben.
Jhre Parteylichkeit fuͤr eine Freundinn, die
Sie ſo hoch achten, wird Jhnen nicht leicht dieſe
Art zu denken erlauben. Aber haben Sie nur die
Guͤte, meine Wertheſte, die Sache nach der fol-
genden Vorſtellung zu betrachten.
Hier ſehen Sie meine Mutter, eine der kluͤg-
ſten Perſonen von ihrem Geſchlechte, in eine Fa-
milie verheyrathet, die vielleicht keine ſo gluͤckliche
Gemuͤthsart hatte, als ſie ſelbſt. Dennoch beſaß
ſie die Geſchicklichkeit, einen jeden von derſelben
auf eine lange Zeit durch ihre Weisheit, welche
ſie alle lenkte, vollkommen zu regieren: da ſie
unterdeſſen nicht anders wußten, als wenn die
Vorſchriften derſelben das waͤren, was ihnen ihre
eigne Herzen eingaͤben. Eine ſo angenehme Kunſt
hatte ſie, zu uͤberwinden, indem ſie nachzugeben
ſchien. Denken Sie, meine liebſte Freundinn,
wie groß der Ruhm und das Vergnuͤgen einer
ſolchen Mutter ſeyn mußte, daß ſie der Familie,
welcher ſie in ihrer Liebe den Vorzug gab, an
meinem Bruder einen Sohn geben konnte, der
nicht unwuͤrdig war, fuͤr eine Erfuͤllung ihrer
Wuͤnſche angeſehen zu werden; an meiner
Schweſter, eine Tochter, der ſie ſich nicht Urſache
hatte zu ſchaͤmen; und an mir, eine zwote Toch-
ter, welcher jedermann, ſo groß war ihre partey-
iſche Gunſt gegen mich, als einem noch eigentli-
chern Bilde von ihr ſelbſt ſchmeichelte! Wie zu-
frieden mit ſich ſelbſt konnte ſie auf eine Familie,
die
[639]
die ſie ſo gluͤcklich gemacht hatte, mit Laͤcheln her-
um ſehen! Was fuͤr Lobſpruͤche brachte ihr das
Beyſpiel zuwege, welches ſie uns gegeben hatte:
und was fuͤr hoffnungsvolle Wirkungen folgten
auf dieſelben! Mit was fuͤr einer edlen Zuverſicht
konnte ſie ihren lieben Hrn. Harlowe anſehen, als
eine Perſon, welche durch ſie gluͤcklich gemacht
war; und vergnuͤgt gedenken, daß aus einer ſo
reinen Quelle nichts als reine Tugend ſtroͤmete!
Nun kehren Sie dieſe reizende Vorſtellung um,
liebſte Freundinn, wie ich taͤglich thue. Sehen
Sie meine theure Mutter, wie ſie ſich in ihrem
Cloſet betruͤbet; wie ſie an ihrem Tiſche und in
denen Gemaͤchern, worinn der Kummer vormals
ein Fremdling war, ihre Betruͤbniß zu unterdruͤ-
cken ſuchet; wie ſie in tiefen Gedanken ihren Kopf
haͤngen laͤſſet; wie kein Laͤcheln ihr guͤtiges Geſicht
mehr erheitert; wie ihre Tugend genoͤthigt iſt fuͤr
Fehler zu leiden, derer ſie nicht ſchuldig ſeyn koͤnn-
te; wie ihre Geduld, weil ſie mehr als irgend ein
anderer von dieſer edlen Gabe beſitzt, beſtaͤndig
durch wiederholte Vorwuͤrfe ſolcher Fehler auf die
Probe geſetzet wird, durch welche ſie eben ſo ſehr
gekraͤnket iſt, als diejenigen ſeyn koͤnnen, von de-
nen ſie ſo oft davon hoͤret; wie ſie, als die Quelle,
eine Befleckung, welche nur einen von den abge-
ſtroͤmten Baͤchen angeſteckt hatte, ſich ſelbſt bey-
miſſet; wie ſie ſich fuͤrchtet, wenn ſie etwa dazu
geneigt waͤre, ihre Lippen zu meinem Beſten zu
oͤffnen, damit man nicht denken moͤge, daß ſie in
ihrem eignen Gemuͤthe eine Neigung zu Fehlern
haͤtte,
[640]
haͤtte, deren ſie ſonſt nicht im geringſten haͤtte
verdaͤchtig werden koͤnnen; wie ſie des Bewußt-
ſeyns von dem verdienten Ruhm, woraus ſich die
Mutter hoffnungsvoller Kinder eine Ehre machen
kann, beraubt iſt; wie ein jeder, der ſie beſuchet,
oder von ihr beſuchet wird, durch ſtumme Zeichen
und Blicke, welche mehr bedeuten, als Worte
ausdruͤcken koͤnnen, Beyleid bezeuget, wo ſie alle
Gluͤck zu wuͤnſchen pflegeten; wie das angenom-
mene Stillſchweigen derſelben ſie kraͤnket, der
mitleidige Blick ein trauriges Andenken in ihr
erneuret, der halb verſchluckte Seufzer, in jenen,
tiefere Seufzer aus ihr preſſet, und die wegge-
wandten Augen derſelben, welche eine aufſteigen-
de Thraͤne zuruͤckzuhalten ſuchen, bey ihr Thraͤ-
nen reizen, die nicht zuruͤck gehalten ſeyn wollen.
Wenn ich dieſe Dinge erwaͤge, und ferner die
Marter bedenke, welche das heftigere Herz mei-
nes Vaters zerreißet, weil es ſich nicht durch die
Thraͤnen erleichtern kann, die bey ſanftern Ge-
muͤthern den quaͤlenden Kummer zu den Augen
ableiten; wenn ich die uͤberkochende Unruhe mei-
nes ungedultigen und hitzigen Bruders uͤberle-
ge, der in dem Fall einer Schweſter, aus welcher
er ſich vormals einen Ruhm machte, ſeine Ehre
mit dem empfindlichſten Verdruß gekraͤnket ſie-
het; wenn ich den Stolz einer aͤltern Schwe-
ſter, welche mit Widerwillen die Ehrenbezeigun-
gen gegen eine juͤngere, wobey ſie ſelbſt hintan-
geſetzet war, ertragen hatte; und endlich die
Schande betrachte, welche zweenen Onkeln
verur-
[641]
verurſachet iſt, die ſich um die Wette bemuͤheten,
ihrer damals gluͤcklichen Baſe Merkmaale der
Gewogenheit zu geben; wenn ich mein Verge-
hen nach dieſer harten, aber gegruͤndeten Vorſtel-
lung in Erwaͤgung ziehe: was kann denn fuͤr ein
Grund uͤbrig ſeyn, irgend ſonſt jemand, als mich
ungluͤckſelige ſelbſt zu tadeln? Und wie viel Ur-
ſache habe ich zu ſagen: Wo ich mich ſelbſt
rechtfertige; ſo wird mein eignes Herz
mich verdammen: wo ich ſage, ich bin
vollkommen; ſo wird es auch beweiſen,
daß ich verkehrt ſey?
Hier erlauben Sie mir, meine Feder auf ei-
nige Augenblicke niederzulegen.
Sie ſind ſehr gefaͤllig gegen mich, Jhrer
Abſicht nach, das weiß ich, wenn Sie mir ent-
decken, daß es in meiner Gewalt ſey, den Tag
zu Hrn. Hickmanns Gluͤck zu beſchleunigen.
Dennoch erlauben Sie mir zu geſtehen, daß ich
dieſe guͤtige Verſicherung weniger, als irgend ei-
ne andere Stelle in Jhrem Briefe bewundere.
Einmal wiſſen Sie ja, daß es nicht in mei-
ner Gewalt ſtehe, zu ſagen, wann ich meinen
Arzt abzuſchaffen vermoͤgend ſeyn werde. Sie
ſollten alſo die Vollziehung einer Heyrath, welche
Sie ſich ſelbſt vorgeſetzt haben und Jhre Fr.
Mutter ſo ſehnlich wuͤnſchet, nicht auf einen
ſo ungewiſſen Ausgang ankommen laſſen. Jch
werde auch eine Hoͤflichkeit, die eine Geringſchaͤ-
Sechſter Theil. S stzung
[642]
tzung gegen jene in ſich ſchließen muß, nicht an-
nehmen.
Wenn mir hiernaͤchſt etwas eine Luſt zum
Leben machen koͤnnte; nach dem, was ich gelit-
ten habe: ſo wuͤrde es die Hoffnung ſeyn, daß die
mehr als ſchweſterliche Liebe, welche uns ſeit ſo
vielen Jahren durch ein beſtaͤndiges Band, als
eine Seele, mit einander vereiniget hat, fortdau-
ren werde ‒ ‒ Und warum ſollten Sie, meine
Wertheſte, Anſtand nehmen, durch ein noch ſtaͤr-
kers Band einer Perſon, die ſo wenige Freunde
hat, noch einen Freund zu verſchaffen?
Es iſt mir lieb, daß Sie meinen Brief der
Fraͤulein Montague uͤberſandt haben. Jch hof-
fe, ich werde von dem ungluͤckſeligen Menſchen
nichts mehr hoͤren.
Jch hatte angefangen, die eigentlichen Um-
ſtaͤnde meiner traurigen Begebenheit aufzuſetzen.
Aber es iſt eine ſo kummervolle Arbeit, und ich
habe ſo viele wichtigere Dinge zu thun, und, wie
ich beſorge, ſo wenige Zeit zu denſelben, daß ich
nicht weiter fortfahren wuͤrde, wenn ich mich ent-
ziehen koͤnnte.
Außer dem weiß ich bis auf dieſe Stunde
noch nicht, durch was fuͤr Mittel einige von ſei-
nen Anſchlaͤgen, mich ungluͤcklich zu machen, ins
Werk gerichtet ſind. Daher muͤßten einige we-
ſentliche Stuͤcke von meiner betruͤbten Geſchichte
mangelhaft bleiben: wenn ich ſie ſchreiben ſollte.
Allein ich habe an ein Mittel gedacht, welches die
Abſicht, die Jhre Fr. Mutter und Sie ſelbſt zu
erlan-
[643]
erlangen wuͤnſchen, eben ſo gut, vielleicht noch
beſſer erfuͤllen wird.
Herr Lovelace hat, wie es ſcheint, ſeinem
Freunde, Herrn Belford, alles entdecket, was bey
dem ganzen Verlauf der Sache nach und nach
zwiſchen ihm und mir vorgegangen iſt. Hr. Bel-
ford hat es nicht laͤugnen koͤnnen. Alſo hat ein
armes junges Frauenzimmer, wie wir beylaͤufig
bemerken moͤgen, welches durch ihre Unbedacht-
ſamkeit einem liederlichen Kerl in die Haͤnde ge-
rathen iſt, noch einen Grund, ihre Thorheit zu
bereuen, den ſie ſich nicht einmal in den Sinn
kommen laͤſſet: indem dieſe nichtswuͤrdigen
Leute, welche nicht mehr Ehre in einem Stuͤcke,
als in dem andern beobachten, kein Bedenken
tragen, bey ihren liederlichen Bruͤdern uͤber ihre
Schwachheit, als uͤber einen Theil ihres Sieges,
zu frohlocken.
Jch habe nichts dergleichen zu beſorgen:
wo mir in ſeinen Briefen die Gerechtigkeit wi-
derfahren iſt, welche mir nach Herrn Belfords
Verſicherung widerfahren ſeyn ſoll. Daher wer-
den ſich die beſondern Umſtaͤnde meiner Bege-
benheit, und die niedertraͤchtigen Kunſtgriffe des
ſchaͤndlichen Kerls, wie ich denke, am beſten aus
dieſen ſeinen eignen Briefen ſelbſt zuſammenſu-
chen laſſen: wofern Herr Belford zu gewinnen
iſt, ſie mitzutheilen. Jch kann mich auf dieſel-
ben mit eben der Wahrheit und eben dem Eifer
berufen, welche bey demjenigen ſtatt hatten, der
da ſagt: ‒ ‒ O daß mich jemand hoͤren
S s 2wollte!
[644]
wollte! und daß mein Widerſacher ein
Buch geſchrieben haͤtte! ‒ ‒ Gewiß, ich
wollte es auf meine Achſel nehmen und es
als eine Krone an mich binden! denn ich
habe meine Uebertretungen nicht verdecket,
wie Adam, daß ich meine Bosheit in mei-
nem Buſen verborgen haͤtte.
Es iſt ein Mittel, worauf man fallen mag,
Herrn Belford zu bewegen, daß er dieſe Briefe
ſehen laſſe: da er einen aufrichtigen Abſcheu vor
dem niedertraͤchtigen Bezeigen ſeines Freundes
gegen mich zu haben ſcheinet, und ſich erklaͤret,
daß er allezeit Abſcheu davor getragen habe.
Aber wenn ſie es hoͤren: ſo werden ſie ſagen, es
ſey ein wunderliches Mittel. Nichts deſto we-
niger habe ich mich itzo im Ernſt dazu ent-
ſchloſſen.
Es iſt kein anderes, als dieſes:
Jch gedenke dem Herrn Belford die Voll-
ziehung meines letzten Willens aufzutragen. Er-
ſchrecken Sie nicht davor! Jn der Abſicht erlau-
be ich ſeine Beſuche mit deſto wenigerm Beden-
ken. So oft als ich ihn ſehe, werde ich wegen
des Antheils, das er an meinen Umſtaͤnden
nimmt, mehr und mehr geneigt, es zu thun. Wo-
fern ich eben der Meynung bleibe, und er die
Vollziehung uͤber ſich nehmen, und den Stoff zu
meiner Geſchichte, der in ſeinen Haͤnden iſt, mit-
theilen will: ſo wird dieſer, nebſt demjenigen,
den ſie dazu geben koͤnnen, die ganze Abſicht zu
erreichen hinlaͤnglich ſeyn.
Jch
[645]
Jch weiß, Sie werden uͤber meinen Einfall,
einem ſolchen Menſchen die Vollziehung meines
letzten Willens aufzutragen, ſtutzen. Aber ich
bitte, liebſte Freundinn, uͤberlegen Sie, was ich
unter meinen gegenwaͤrtigen Umſtaͤnden beſſers
thun kann: da ich die Macht habe ein Teſtament
zu machen, und uͤber anſehnliche Guͤter vollkom-
mene Gewalt beſitze.
Jhre Fr. Mutter, bin ich verſichert, wuͤrde
es nicht zugeben, daß Sie dieſen Liebesdienſt
uͤber ſich nehmen ſollten. Hr. Hickmann moͤch-
te dadurch den Anfaͤllen des ungeſtuͤmen Men-
ſchen bloßgeſtellet werden. Fr. Norton kann
es aus verſchiedenen Urſachen, in Betrachtung
ihrer ſelbſt, nicht thun. Mein Bruder ſiehet
das, was ich billig haben ſollte, als etwas an,
worauf er ein Recht hat. Mein Onkel Har-
lowe hat ſchon, nebſt meinem Vetter Morden,
die Vollziehung des Teſtaments von meinem
Großvater, in Anſehung des mir von dieſem ver-
machten Guts, auf ſich: allein Sie ſehen, daß ich
nicht einmal die wenigen Stuͤcke, die ich zu Har-
lowe-Burg zuruͤckgelaſſen, von meiner eignen
Familie habe bekommen koͤnnen; und mein On-
kel Anton drohete ſchon einmal, meines Groß-
vaters Teſtament ſtreitig zu machen. Mein
Vater! ‒ ‒ Gewiß, meine Wertheſte, ich koͤnn-
te nicht vermuthen, daß mein Vater alles thun
wuͤrde, was ich wuͤnſche: und uͤber dieß ſchließet
die Vollziehung des letzten Willens einer Toch-
ter durch den Vater, wobey vielleicht einige Stuͤ-
S s 3cke
[646]
cke ſeinem Gutachten ſchlechterdings zuwider ſind,
nach dem Worte ſelbſt etwas kuͤhnes und einem
Vorſchreiben nicht unaͤhnliches in ſich.
Sollte, in der That, mein Vetter Morden
beyzeiten ankommen und dieß Amt uͤbernehmen
wollen ‒ ‒ Jedoch auch ihn ſelbſt moͤchte es in
Gefahr ſetzen: und das um ſo viel mehr, da er
ein hitziger Mann iſt, und der andere, welcher
eben ſo hitzig, mich als ſein Eigenthum anſiehet,
weil ich ſo lange ohne Schutz geweſen bin.
Nun aber weiß Herr Belford, wie ich ſchon
erwaͤhnet habe, alles, was vorgegangen iſt. Er
iſt ein Mann, der Herz hat, und ſich, wie es
ſcheint, eben ſo wenig fuͤrchtet als der andere:
nur beſitzt er mehr menſchliche Eigenſchaften.
Sie wiſſen nicht, liebſte Freundinn, was fuͤr Pro-
ben einer aufrichtigen Leutſeligkeit dieſer Hr. Bel-
ford nicht allein bey Gelegenheit des grauſamen
Verhafts, ſondern auch nachher in verſchiednen
Faͤllen bewieſen hat. Fr. Lovick hat ſich Muͤhe
gegeben, ſich nach dem allgemeinen Ruf von ihm
zu erkundigen, und hoͤrt einen ſehr guten Ruf
von ihm wegen ſeiner Gerechtigkeit und Groß-
muth in allem, was auf Mein und Dein, wie
man ſagt, ankommt. Er hat eine Erkenntniß
von den Rechten und hat gegenwaͤrtig von zweyen
Teſtamenten die Vollziehung auf ſich, bey deren
Verwaltung an ſeiner Ehre nichts auszuſetzen
iſt.
Alle dieſe Gruͤnde haben mich ſchon gewiſſer-
maßen ſchluͤßig gemacht, ihn um dieſe Gefaͤllig-
keit
[647]
keit zu erſuchen: ob es gleich wunderlich klingen
wird, daß ich einem vertrauten Freunde von
Herrn Lovelacen die Vollziehung meines letzten
Willens uͤberlaſſe.
Dieß iſt gewiß; mein Bruder wird in dem
Fall ſich weit eher bey den Hauptſtuͤcken von mei-
nem Teſtament zufrieden geben: da er ſehen
wird, daß es vergeblich ſeyn werde, einige derſel-
ben ſtreitig zu machen, die er ſonſt, das darf ich
wohl ſagen, ſtreitig machen, oder meine andern
Freunde ſtreitig zu machen bereden wuͤrde. Und wer
wuͤrde wohl gern denjenigen, dem man die Vollzie-
hung ſeines letzten Willens auftraͤgt, in einen
Proceß verwickeln, wenn man es aͤndern koͤnnte?
Dieß wuͤrde geſchehen: wenn ſie irgend einem
aufgetragen waͤre, von dem mein Bruder ſich
Hoffnung machen koͤnnte, daß er ihm Furcht ein-
jagen oder hinderlich ſeyn moͤchte. Denn mein
Vater, der von ihm regieret wird, hat alles im
Beſitz. Jch wollte auch nicht wuͤnſchen, wie
Sie leicht glauben koͤnnen, daß meinem Vater
mit Gewalt Guͤter aus den Haͤnden geriſſen
wuͤrden. Herr Belford aber, der ein bemittelter
Mann und ein guter Haushaͤlter in ſeinen eignen
Sachen iſt, wuͤrde nichts weiter ſuchen, als Ge-
rechtigkeit zu thun.
Hiezu kommt, daß er ausnehmend auf eine
Gelegenheit dringet, ſeine Bereitwilligkeit, mir zu
dienen, an den Tag zu legen. Er wuͤrde auch
im Stande ſeyn, ſeinen ungeſtuͤmen Freund zu
S s 4lenken,
[648]
lenken, bey dem er mehr vermag, als irgend ſonſt
jemand.
Bey dem allen aber weiß ich nicht, ob es
nicht weit beſſer waͤre, daß meine Geſchichte, und
ich ſelbſt dazu, ſo bald, als moͤglich, vergeſſen
wuͤrde. Hieran werde ich deſto weniger zweifeln,
wo der gute Name meiner Eltern; Sie werden
mir verzeihen, wertheſte Freundinn; nicht vor
der ungebuͤhrlichen Bitterkeit, die wegen Jhres
freundſchaftlichen Eifers fuͤr mich bisweilen mit
Jhrer Dinte vermiſcht geweſen iſt, in Sicherheit
ſeyn kann. Eine Sache, welche billig wohl in
Erwaͤgung gezogen werden ſollte, und, ich beſte-
he darauf, in Erwaͤgung gezogen werden muß:
wofern etwas geſchiehet, das Jhre Fr. Mutter
und Sie verlangen.
Mein Vater iſt ſo gut geweſen, den ſchweren
Fluch, welchen er auf mich gelegt hatte, von mir
zu nehmen. Nun muß ich mich um einen letz-
ten Segen bewerben: und das iſt alles, was ich
mich unterſtehen werde zu verlangen. Der Brief
meiner Schweſter, wodurch mir die erlangte Ge-
wogenheit angezeiget wird, iſt hart. Allein da
ſie in jedermanns Namen an mich ſchreibet:
ſo konnte ich es nicht anders erwarten.
Wo Sie morgen abreiſen: ſo kann dieſer
Brief Jhnen nicht eher zu Haͤnden kommen, als
bis Sie bey Jhrer Tante Harmann angelanget
ſind. Jch werde ihn alſo dahin richten: wie
Hr. Hickmann mir Anweiſung gegeben hat.
Jch
[649]
Jch hoffe, daß Jhnen nichts widriges auf
Jhrer kleinen Reiſe begegnet ſeyn wird, und daß
Sie alle, welche Sie wohl zu ſehen gewuͤnſchet,
in guter Geſundheit werden gefunden haben.
Sollten Jhre Freunde und Anverwandten
auf der kleinen Jnſel ihre Bitten mit den Be-
fehlen Jhrer Fr. Mutter vereinigen, Jhre Ver-
maͤhlung vollzogen zu ſehen, ehe Sie dieſelbe ver-
laſſen: ſo erlauben Sie mir, Jhnen zu empfeh-
len, daß Sie ſich nicht weigern, ſich ihnen gefaͤl-
lig zu beweiſen. Was fuͤr eine angenehme Nach-
richt wird es ſeyn, daß Sie ihnen ſo gefaͤllig ge-
weſen ſind, fuͤr
Jhre beſtaͤndig getreue und ergebene
Cl. Harlowe.
Der ſieben und achtzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Arabelle Harlowe.
Jch beklage mich nicht, liebe Schweſter, uͤber
die Haͤrte, welche Euch beliebet hat in dem
Briefe, womit Jhr mich beguͤnſtigt habt, auszu-
druͤcken: weil dieſe Haͤrte mit derjenigen Gewogen-
heit, um die ich gebeten hatte, begleitet war. Außer
dem ſind die Vorwuͤrfe, welche mir mein eignes
S s 5Herz
[650]
Herz machet, weit ſtaͤrker, als die mir irgend eine
andere Perſon machen kann: ob ich gleich nicht
halb ſo ſtrafwuͤrdig bin, als man ſich einbildet.
Waͤren alle Umſtaͤnde meiner ungluͤcklichen Ge-
ſchichte bekannt: ſo wuͤrde dieß zugeſtanden wer-
den. Jch will bereit ſeyn, der Fr. Norton, wenn
es ihr aufgetragen wird, ſich darnach zu erkun-
digen, oder Euch, meine Schweſter, wo Jhr die
Gedult haben koͤnnet, ſie anzuhoͤren, dieſelben zu
eroͤffnen.
Jch habe mit einem blutenden Herzen daran
gedacht, was der 24te Jul. fuͤr ein Tag waͤre.
Jch habe mit dem Abend vor demſelben angefan-
gen und den Tag ſelbſt ſo begangen ‒ ‒ wie es
ſich ſchickte ihn zu begehen ‒ ‒ Jch kann auch
meinen theuren und allezeit geehrteſten Eltern,
und Euch, meine Arabelle, keinen andern Troſt,
als dieſen, geben ‒ ‒ daß, wie es der erſte un-
gluͤckliche Geburtstag von mir geweſen iſt, es
auch nach aller Wahrſcheinlichkeit der letzte ſeyn
werde.
Glaubet mir, meine liebe Schweſter, ich ſa-
ge dieß nicht, bloß Mitleiden zu erwecken, ſon-
dern aus den beſten Gruͤnden. Da ich es nun
fuͤr meine Gemuͤthsruhe von der hoͤchſten Wich-
tigkeit anſehe, noch eine Gunſt mehr zu erlan-
gen: ſo wollte ich Eurer Fuͤrſprache, als meiner
Schweſter, gern die Erlaubniß zu danken haben,
um welche ich erſuche, mir fuͤnf bis ſechs Zeilen
an einen von meinen geehrteſten Eltern, oder an
beyde, mit der Hoffnung zu einer Antwort abzu-
laſſen,
[651]
laſſen, damit ich mir den letzten Segen von ih-
nen ausbitten moͤge.
Dieſer Segen iſt die einzige Gewogenheit,
um die ich nun zu bitten habe: er iſt die einzige,
um die ich bitten darf. Dennoch ſcheue ich mich,
auf einmal, wenn gleich nur ſchriftlich, mich
vor einen von ihnen zu wagen. Suchte ich ihn
aber nicht: ſo moͤchte es einer Halsſtarrigkeit
und Verabſaͤumung meiner Pflicht beyzumeſſen
zu ſeyn ſcheinen: da mein Herz nichts als De-
muth und Reue iſt. Habt nur die Guͤte, mich
ſo dreiſt zu machen, daß ich dieſe noͤthige Sache
verſuche. Schreibt nur dieſe einzige Zeile:
„Claͤrchen Harlowe, ihr habt die Freyheit zu
„ſchreiben, wie ihr verlanget.“ Dieß wird ge-
nug ſeyn ‒ ‒ und ſoll, bis an die letzte Stunde
meines Lebens, als die groͤßte Gefaͤlligkeit erkannt
werden von
Eurer aufrichtig reuevollen Schweſter
Clariſſa Harlowe.
Der acht und achtzigſte Brief
von
Frau Norton an Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Jch muß geſtehen, daß ich mir die Freyheit
genommen habe, an Jhre Frau Mutter zu
ſchrei-
[652]
ſchreiben, und mich erboten, wenn ſie es erlaubte,
Jhren Brief vom 24ten an ſie einzuſchließen.
Daraus, dachte ich, wuͤrde ſie ſehen, in welchem
Zuſtande Jhr Gemuͤth waͤre; was die letzten
Unruhen von dem gottloſen Verhaft auf ſich ge-
habt haͤtten; wie die Leute beſchaffen waͤren, bey
denen Sie wohnen; was fuͤr Vorſchlaͤge Jhnen
von der Familie des Lords M. gethan worden;
wie aufrichtig Jhre Reue waͤre, und wie ſehr das
Unternehmen der Fraͤulein Howe, an Jhre Ver-
wandten in ſolchen Ausdruͤcken, wie ſie gebraucht
hat, zu ſchreiben, Sie beunruhigte ‒ ‒ Allein da
Sie die Sache ſich allein vorbehalten haben, und
mir in Jhrem letztern verbieten, ohne Jhr Wiſſen
Jn dieſer bedenklichen Angelegenheit etwas vor-
zunehmen: ſo iſt es mir lieb, daß der Brief nicht
von mir verlanget wurde. Jn der That mag
es auch wohl beſſer ſeyn, daß die Sache ganz zwi-
ſchen Jhnen und jenen allein getrieben wird: weil
man glaubt, daß meine Zuneigung zu Jhnen von
Parteylichkeit herruͤhre.
Jhre Angehoͤrigen wuͤrden ſonder Zweifel
lieber ſehen, daß Sie die Gewogenheit, warum
Sie ſo ſehnlich bitten, ihnen ſelbſt, als meiner ge-
ringen Vermittelung zu danken haben ſollten.
Jch wollte nicht, daß Sie daran verzweifelten.
denn ich darf Sie verſichern, daß Jhre Fr. Mut-
ter bereit iſt, die erſte Gelegenheit zu ergreifen,
ihre muͤtterliche Zaͤrtlichkeit zu zeigen. Dieß kann
ich aus verſchiednen Anzeigen abnehmen, woruͤber
ich
[653]
ich nicht die Freyheit habe mich deutlich zu er-
klaͤren.
Mich verlangt, bey Jhnen zu ſeyn, da ich
mich nun beſſer befinde, und meines Sohnes Ge-
neſung einen guten Fortgang hat. Aber iſt es
nicht hart, mir angedeutet zu haben, daß es itzo
nicht wohl werde aufgenommen werden, wenn ich
zu Jhnen komme? ‒ ‒ Vermuthlich, weil zur
Ausſoͤhnung, welche, wie ich hoffe, ſtatt finden
wird, durch den ſo neulich zwiſchen Jhnen und
Jhrer Schweſter angefangenen Briefwechſel Un-
terhandlungen gepflogen werden. Wenn Sie
nur haben wollten, daß ich kaͤme: ſo wuͤrde ich
mich auf meine guten Abſichten verlaſſen, und es
auf jedermanns Misfallen wagen.
Herr Brand hat in der Stadt zu thun, weil
er um eine Pfarre anhalten will, welche derjenige,
der ſie itzo hat, einer beſſern Bedienung wegen,
wie man vermuthet, zu verlaſſen genoͤthigt ſeyn
wird. Wenn er da iſt: ſoll er ſich nach Jhrer
Lebensart und Jhrer Geſundheit erkundigen.
Er iſt ein junger Mann, der ſich ſehr gern
durch ſeine Dienſte gefaͤllig bezeigen mag. Wenn
ihr Onkel Harlowe, der ihn zu dieſer Geſandt-
ſchaft gewaͤhlet hat, ihn nicht als ein Orakel an-
ſaͤhe: ſo haͤtte Jhre Fr. Mutter lieber gewuͤnſcht,
daß ſonſt jemand dazu abgeſchickt waͤre.
Er iſt einer von denen Leuten, die Verwir-
rung anrichten und zu viel thun, die ſich einbil-
den, daß ſie in Sachen weiter ſehen als ein ande-
rer, und gern Geheimniſſe entdecken moͤgen, wo
keine
[654]
keine ſind, damit man ſie fuͤr ſchlau und ver-
ſchmitzt halte.
Jch kann nicht ſagen, daß er mir gefaͤllt, es
ſey auf der Kanzel, oder ſonſt. Da ich einen der
reineſten Geiſtlichen und der beſten Gelehrten im
ganzen Koͤnigreiche zum Vater gehabt habe, der
niemals mit dem, was er wußte, prahlte, ſondern
das Evangelium, welches er lehrte, liebte und
hochachtete, und aller andern Gelehrſamkeit vor-
zog: ſo iſt es mir verdrieslich, wenn ich genoͤthigt
bin, einen jungen Menſchen zu hoͤren, der ſeinen
Text, ſo bald als er ihn genannt, ſelbſt wider das
Beyſpiel ſeines gelehrten und wuͤrdigen Aufſe-
hers (*), wenn ihm ſeine Geſundheit zu predigen
erlaubt, verlaͤſſet, und bey einer chriſtlichen Ge-
meine von Landleuten mit lateiniſchen und grie-
chiſchen Brocken aus heidniſchen Schriftſtellern
um ſich wirft, und ſie noch dazu nicht allemal ſo
vorbringt, daß es ſich ſonderlich ſchickt, wie ich
aus dem Engliſchen, worinn er ſie allezeit uͤber-
ſetzt, als dem einzigen Mittel, wornach mir zu
urtheilen erlaubt iſt, urtheile. Dieß iſt eine An-
zeige, daß es irgendwo nicht recht bey ihm iſt,
entweder im Kopfe, oder im Herzen, oder in bey-
den; denn ſonſt muͤßte ihn ſeine Anweiſung auf
hohen Schulen es beſſer gelehrt haben. Sie wiſ-
ſen, meine liebe Fraͤul. Claͤrchen, wie viele Ehr-
erbietung ich gegen den geiſtlichen Stand hege.
Eben daher kommt es, daß ich dieß ſage.
Jch
[655]
Jch weiß den Tag nicht, den er abreiſen wird.
Weil aber ſeine Nachfrage in geheim geſchehen
ſoll: ſo haben Sie die Guͤte, ſich von dieſer Nach-
richt nichts merken zu laſſen. Jch zweifle nicht,
Jhr Leben und Umgang werde ſo beſchaffen ſeyn,
daß Sie den Unterſuchungen des dienſtfertigſten
Nachforſchers Trotz bieten koͤnnen.
Jch hoͤre eben itzo, daß Sie noch einen Brief
an Jhre Schweſter geſchrieben haben. Aber ich
beſorge, ſie werden auf Herrn Brands Bericht
warten, ehe ferner einige Gewogenheit von den-
ſelben zu erhalten ſeyn wird. Denn ſie wollen
noch nicht glauben, daß Sie ſich ſo uͤbel befinden,
als ich fuͤrchte.
Sie wuͤrden gar bald merken, daß Sie eine
ſehr guͤtige Mutter haben: wenn ſie Freyheit
haͤtte, nach ihrer eignen Neigung zu handeln.
Dieß macht mir große Hoffnung, daß zuletzt alles
ein gutes Ende gewinnen werde. Denn ich denke
wirklich, daß ſie auf dem rechten Wege ſind, eine
Ausſoͤhnung zu erlangen. Gott gebe ſeinen Se-
gen dazu, und ſchenke Jhnen Jhre Geſundheit,
und Sie allen ihren Freunden wieder, nach dem
Gebeth
Jhrer beſtaͤndig ergebenen Dienerinn
Judith Norton.
Jhre guͤtige Fr. Mutter hat mir in geheim fuͤnf
Guineas geſchickt: wie Jhr zu ſchreiben beliebt,
zwar nur zu dem Ende, daß ſie uns in der
Krankheit, mit welcher wir geplagt geweſen
ſind, zur Beyhuͤlfe dienen; aber nach groͤßerer
Wahr-
[656]
Wahrſcheinlichkeit in der Abſicht, damit ich ſie
Jhnen ſenden moͤchte, als wenn ſie von mir kaͤ-
men. Jch hoffe daher, daß ich ſie nebſt noch
zehen, die mir uͤbrig ſind, hinauf ſchicken moͤge.
Jch will Jhnen von des Herrn Mordens Ankunft,
den Augenblick, da ich ſie erfahre, Nachricht
geben.
Wo es Jhnen nicht zuwider iſt: ſo wuͤrde es mir
lieb ſeyn, alles zu erfahren, was zwiſchen Jh-
ren Verwandten und Jhnen vorgehet.
Der neun und achtzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fr. Norton.
Sie machen mir durch die Nachricht von Jhrer
und Jhres Sohnes Geneſung ein großes
Vergnuͤgen, meine wertheſte Fr. Norton. Jch
wuͤnſche, daß Sie ſich noch viele, viele Jahre
durch einander begluͤckt ſehen moͤgen.
Sie melden mir, daß Sie wirklich an meine
Mutter geſchrieben und ſich erboten haben, mei-
nen Brief vom 24ten verwichnen Monats einzu-
ſchließen. Aber, wie Sie ſagen, iſt er nicht von
Jhnen verlangt worden. Das heißt ſo viel, ob
Sie es gleich ſo fein als Sie nur koͤnnen, einklei-
den, daß Sie mit Jhrem Erbieten abgewieſen
ſind. Daraus iſt offenbar, daß keine Vorſtellun-
gen fuͤr mich Gehoͤr finden werden. Dennoch
empfehlen Sie mir zu hoffen, daß die Gewogen-
heit,
[657]
heit, welche ich inſtaͤndigſt ſuchte, mit der Zeit,
wuͤrde zugeſtanden werden.
Die Gewogenheit, um die ich damals anhiel-
te, ward wirklich zugeſtanden. Allein Sie beſor-
gen, ſchreiben Sie, daß meine Anverwandten auf
Hrn. Brands Bericht warten werden, ehe durch
meinen zweyten Brief, den ich an melne Schwe-
ſter geſchrieben habe, einige Gewogenheit zu er-
halten ſeyn wird. Sie ſetzen hinzu, daß ich eine
guͤtige Mutter habe, wenn ſie nur Freyheit haͤtte,
nach ihrer eignen Neigung zu handeln; und daß
alles zuletzt ein gutes Ende gewinnen werde.
Aber was, meine liebe Frau Norton, was iſt
es fuͤr eine Gewogenheit, darum ich in meinem
zweyten Briefe anhalte? ‒ ‒ Es iſt nicht das,
daß ſie mich wieder zu voriger Huld aufnehmen
wollen ‒ ‒ Wo meine Freunde dieß gedenken:
ſo irren ſie ſich. Das erwarte ich nicht, das
kann ich nicht erwarten. Ja, wie ich oft geſagt
habe, es wuͤrde mir unertraͤglich ſeyn, wenn ſie
mich auch wieder aufnehmen wollten, vor den
Augen derjenigen theuren Freunde zu leben, die
die ich ſo ſchmerzlich beleidigt habe. Es iſt nur
bloß ein Segen, was ich bitte: ein Segen, mit
dem ich ſterben; nicht mit dem ich leben moͤ-
ge. ‒ ‒ Wiſſen ſie das? Und wiſſen ſie, daß
ihre Unfreundlichkeit vielleicht mein Ziel verkuͤr-
zen werde? So daß ihre Gewogenheit, wo ſie
dieſelbe jemals zuzuſtehen willens ſind, zu ſpaͤt
kommen kann?
Sechſter Theil. T tNoch
[658]
Noch einmal bitte ich Sie, daß Sie nicht
daran gedenken, zu mir zu kommen. Jch habe
itzo keine Unruhe mehr, außer derjenigen, welche
von der Furcht, einen Menſchen zu ſehen, den ich
um aller Welt willen nicht ſehen wollte, wenn ich
es aͤndern koͤnnte, und von der Haͤrte meiner naͤ-
heſten und liebſten Verwandten herruͤhret: einer
Haͤrte, die in ihnen ſelbſt, wie ich beſorge, allein
ihren Grund hat. Denn Sie melden mir, daß
mein Bruder in Edenburg ſey. Sie wuͤrden
daher ihre Haͤrte nur vermehren, und uͤber dieß
ſich ſelbſt Feinde machen: wenn Sie zu mir kom-
men ſollten. Sehen Sie das nicht?
Herr Brand mag kommen, wo er will. Er
iſt ein Geiſtlicher und muß es gut meynen: oder
ich muß ſo gedenken; er mag von mir ſagen, was
ihm beliebt. Alles, was ich beſorge, iſt nur dieß
einzige, daß, weil er weiß, ich ſey in Ungnaden
bey einer Familie, bey der er ſich in Achtung zu
erhalten wuͤnſchet, und weil er meinem Onkel
Harlowe und meinem Vater Verbindlichkeit hat,
er mich nur auf eine matte und kaltſinnige Art
freyſprechen werde. Deswegen aber fuͤrchte ich
mich nicht vor demjenigen, was er oder ſonſt je-
mand in der Welt von meiner Auffuͤhrung hoͤren
kann. Sie koͤnnen verſichert ſeyn, meine geliebte
und werthe Freundinn, in Wahrheit Sie koͤnnen,
daß dieſe ſo beſchaffen iſt, daß ich getroſt der Nach-
frage des Allerdienſtfertigſten Trotz bieten darf.
Jch will Jhnen, wie Sie verlangen, von
dem was vorgehet, Abſchriften zuſenden: wenn
ich
[659]
ich auf meinen zweyten Brief eine Antwort habe.
Jch fange nun an zu wuͤnſchen, daß ich mir das
Herz genommen haͤtte, an meinen Vater ſelbſt,
oder wenigſtens an meine Mutter, zu ſchreiben, an
ſtatt daß ich mich an meine Schweſter gewandt
habe. Und gleichwohl beſorge ich, daß meine
arme Mutter fuͤr ſich ſelbſt nichts zu meinem
Beſten thun koͤnne. Ein ſtarkes Buͤndniß, mei-
ne liebe Frau Norton, in der That ein ſtarkes
Buͤndniß gegen ein armes Maͤgdchen, ihre Toch-
ter, Schweſter, Baſe! ‒ ‒ Mein Bruder hat es
vielleicht erneuret, ehe er ſie verlaſſen. Er haͤtte
es nicht noͤthig gehabt ‒ ‒ Sein Werk iſt voll-
endet: und mehr als vollendet.
Machen Sie ſich meinetwegen in Anſehung
des Geldes keine Sorge. Jch habe kein Geld
noͤthig. Es iſt mir lieb, daß meine Mutter ſo
bedaͤchtlich gegen Sie geweſen iſt. Jch habe in
eben der Betrachtung mich Jhretwegen betruͤbet.
Allein der Himmel wird nicht zulaſſen, daß es
einer ſo frommen Frauen an dem geringen
Segen fehle, mit dem ſie allezeit zufrieden gewe-
ſen iſt. Jch wuͤnſchte, daß ein jeder von unſerer
Familie nur ſo reich waͤre, als Sie ſind! ‒ ‒ O
meine Mutter Norton, Sie ſind reich: Sie ſind
reich, in der That! ‒ ‒ Wahre Reichthuͤmer
beſtehen in einem ſolchen Vergnuͤgen, als dasje-
nige iſt, mit welchem Sie geſegnet ſind. ‒ ‒
Und ich hoffe in Gott, daß ich auf dem Wege bin,
auch reich zu ſeyn.
T t 2Leben
[660]
Leben Sie wohl, meine beſtaͤndig guͤtige Freun-
dinn. Sie ſagen, zuletzt werde alles ein gutes
Ende gewinnen ‒ ‒ Und ich weiß, daß es ſo
ſeyn wird ‒ ‒ Jch habe das Vertrauen, daß es
ſeyn wird, mit eben ſo vieler Verſicherung, als
Sie ſich darauf verlaſſen moͤgen, daß ich bis an
meine letzte Stunde ſeyn werde
Jhre beſtaͤndig dankbare und
ergebene
Cl. Harlowe.
Der neunzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Jch bin verzweifelt gekraͤnkt und in meiner
Hoffnung betrogen. Denn am Sonnabend
iſt hier ein Bothe von der Fraͤulein Howe mit
einem Briefe an meine Baſen (*) angekommen.
Jch habe nichts davon gewußt, bis geſtern, da
man Anſtalt gemacht hatte, daß meine beyden
Tanten hier waren, mit dem alten Lord, und
meinen zwoen Verwandtinnen, Gericht daruͤber
zu halten. Und niemals iſt man wohl mit einem
Baͤren auf der Hetze ſo jaͤmmerlich umgegangen,
als mit deinem armen Freunde! ‒ ‒ Und war-
um? ‒ ‒ Warum anders, als wegen der Grau-
ſam-
[661]
ſamkeit der Fraͤulein Harlowe? Denn habe ich
irgend etwas begangen, das eine neue Beleidi-
gung waͤre? Wollte ich nicht gern unter ihr be-
liebigen Bedingungen ihre Gunſt wieder erlan-
gen: wenn ich koͤnnte? Jſt es recht, mich fuͤr
etwas zu ſtrafen, was mein Ungluͤck, nicht mein
Verſehen iſt? Solche alberne Richter, die bloß
nach dem Ausgange der Sache urtheilen, muß
ich zu meinen Verwandten haben! Jch ſchaͤme
mich ihrer aller.
Jn dem Briefe von der Fraͤulein Howe war
ein anderer eingeſchloſſen, der an ſie ſelbſt von
der Fraͤulein Harlowe (*) in der Abſicht geſchrie-
ben worden, daß er an meine Baſen geſchickt
werden ſollte. Jn demſelben verwirft ſie mich
gaͤnzlich; und zwar in ſehr heftigen und nicht
zweifelhaften Ausdruͤckungen: giebt aber doch
vor, daß ſie in dieſer Verwerfung mehr durch
gute Grundſaͤtze, als durch eine Leidenſchaft
geleitet werde ‒ ‒ Verdammte Luͤgen, als jemals
eine geſagt iſt! ‒ ‒ Zu einem Beweiſe davon,
ſchreibt ſie, ſolle dieß dienen, daß ſie mir vergeben
koͤnne und wirklich vergebe, unter der einzigen
Bedingung, wofern ich ihr niemals mehr be-
ſchwerlich fallen wolle. Der ganze Brief iſt ſo
geſchrieben, daß ſie deswegen mehr bewundert,
ich mehr verabſcheuet werde.
Was man uns von den Bewegungen und
Bezeigungen, von dem Seufzen und Stehnen
der franzoͤſiſchen Propheten, die vormals unter
T t 3uns
[662]
uns geweſen ſind, erzaͤhlet hat, iſt gar nichts gegen
das Schauſpiel, welches dieſe ſchwaͤrmeriſche See-
len vorſtellten, da dieſe Briefe, und einige ruͤh-
rende Stellen, als ein Auszug aus einem andern
von meiner unverſoͤhnlichen Schoͤnen an die Frl.
Howe, geleſen wurden. ‒ ‒ Solche Klagen uͤber
den Verluſt einer ſo unvergleichlichen Verwand-
tinn! Solche Lobeserhebungen ihrer Tugend,
ihrer erhabnen Seele und Geſinnung! Solche
Drohungen, mich zu enterben! da ich doch ihrer
Vorwuͤrfe nicht bedurfte, mir durch mein eignes
Nachdenken, und die Wuth, daß mir mein Ziel
verruͤcket war, das Herz zu zernagen; und ſie
eben ſo aufrichtig bewunderte, als jemand von
ihnen ‒ ‒ Was Teufel, rief ich, ſoll dieß alles?
‒ ‒ Jſt es nicht genug, daß ich verachtet und
verworfen werde? Kann ich ihr unverſoͤhnliches
Gemuͤth aͤndern? ‒ ‒ Wollte ich nicht das Uebel,
welches ſie durch mich gelitten hat, wieder gut
machen? ‒ ‒ Darauf haͤtte ich ſie beynahe alle,
nebſt ihr ſelbſt und der Fraͤulein Howe, zur Ge-
ſellſchaft, verfluchet. ‒ ‒ Jch ſchwur von ganzem
Herzen, daß ſie dennoch die Meinige ſeyn ſollte.
Nun ſchwoͤre ich es dir noch einmal ‒ ‒ ‒
Sollte auch ihr Tod in einer Woche, nachdem
das Band geknuͤpfet iſt, erfolgen: ſo ſoll es doch,
ſo wahr der Herr des Himmels lebet, geknuͤpfet
werden; und ſie ſoll als eine Lovelacen ſterben. ‒ ‒
Sage ihr das, wo du willſt: aber zugleich ſage
ihr, daß ich keine Abſicht auf ihr Vermoͤgen
habe, und feyerlich auf daſſelbe, und auf alle An-
ſpruͤche
[663]
ſpruͤche in Anſehung deſſelben, zu eines jeden Vor-
theil, den ſie zu beſtimmen Belieben tragen wird,
Verzicht thun wolle, wofern ſie das Leben ohne
Erben aufgiebet ‒ ‒ Jch bin kein ſo niedertraͤch-
tiger Kerl, daß ich mich irgend poͤbelhafter Ab-
ſichten auf ihr Vermoͤgen ſchuldig machen ſollte.
Laß ſie dann fuͤr ſich ſelbſt urtheilen, ob es ihrer
Ehre nicht gemaͤß ſey, vielmehr wie eine Lovela-
cen, als wie eine Harlowe, dieſe Welt zu verlaſſen?
Aber denke nicht, daß ich eine Sache, die mir
ſo nahe am Herzen liegt, ganz auf einen Fuͤrſpre-
cher ankommen laſſen werde, der die Gegenpartey
ſo viel mehr bewundert, als ſeine eigne Partey.
Jch will in wenigen Tagen nach London gehen,
damit ich mich ſelbſt zu ihren Fuͤßen werfen koͤn-
ne. Jch will einen unerſchrocknen wohlvor-
bereiteten Pfarrer mitbringen oder zur Hand
haben: und die Trauung ſoll vollzogen werden;
es mag daraus erfolgen, was da will.
Allein wo ſie mir erlauben will, zu dieſem
Ende in eine von denen Kirchen zu ihr zu kom-
men, welche in dem Trauſchein, den ſie bey ſich
behalten, und, dem Himmel ſey Dank! mir mit
meinen Briefen nicht zuruͤckgeſchicket hat, benannt
ſind: ſo will ich ſie nicht beunruhigen, ſondern
vor dem Altar in einer von den beyden Kirchen
mit ihr zuſammen kommen, und mich verbinden,
meine beyden Baſen mitzubringen, daß ſie ihr
aufwarten, und ſelbſt die Lady Sarah und Lady
Eliſabeth und meinen Lord M. in Perſon, damit
ſie mir ihre Hand gebe.
T t 4Oder,
[664]
Oder, wofern es ihr noch angenehmer ſeyn
wird: will ich auf mich nehmen, daß eine von
meinen Tanten, oder beyde, nach London kommen,
und ſie mit ſich herunter nehmen ſollen. Die
Hochzeit ſoll alsdenn in ihrer beyder und des Lords
M. Gegenwart hier oder ſonſt irgendwo, wie es
ihr ſelbſt belieben wird, vollzogen werden.
Treibe nicht dein Spiel mit mir, Belford:
ſondern gebrauche aufrichtig und nachdruͤcklich
alle Beredſamkeit, die du in deiner Gewalt haſt,
ſie zu gewinnen, daß ſie eine von dieſen dreyen
Arten waͤhle. ‒ ‒ Eine davon muß ſie waͤhlen ‒ ‒
Bey meiner Seele, ſie muß.
Da klopft Charlotte an die Thuͤre zu meinem
Cloſet, um vor mich gelaſſen zu werden. Was
Teufel will Charlotte? ‒ ‒ Jch will keine Vor-
wuͤrfe mehr leiden! Komm herein, Maͤgdchen!
Weil meine Baſe Charlotte fand, daß ich
viel zu eifrig fortſchrieb, auf irgend einige Hoͤf-
lichkeit gegen ſie zu denken; und wohl errieth,
wovon ich ſchreiben mochte: ſo bat ſie mich, ihr
zu zeigen, was ich geſchrieben hatte.
Jch that es ihr zu gefallen: und ſie war ſo
vergnuͤgt, da ſie mich ſo ernſtlich in meinem Vor-
ſatz ſahe, daß ſie ſich erbot; und ich nahm das
Erbieten an, ſelbſt an Fraͤulein Harlowe zu ſchrei-
ben; wenn ſie Erlaubniß haͤtte, mir in dem Brie-
fe ſo zu begegnen, als ſie es fuͤr gut faͤnde.
Jch werde eine Abſchrift davon beyſchließen.
Als
[665]
Als ſie ihn geſchrieben hatte: brachte ſie ihn
zu mir und entſchuldigte die Freyheiten, welche
ſie ſich darinn gegen mich genommen. Jch hiel-
te ſie fuͤr entſchuldigt: und ſie war bereit, mir
vor Freuden wegen meines Beyfalls einen Kuß
zu geben; aber ich gab ihr zween, und ſagte,
daß ich mir guten Erfolg davon verſpraͤche, und
daß ich daͤchte, ſie haͤtte es gluͤcklich getroffen.
Jedermann billigt ihn eben ſo, wie ich, und
iſt wohl mit mir zufrieden, daß ich mich ſo gedul-
tig mishandeln und andere alles fuͤr mich unter-
nehmen laſſe ‒ ‒ ‒ Erhalte ich meinen Zweck
nicht: ſo wird alle Schuld auf des lieben Kindes
Eigenſinn fallen. Jhre Neigung zur chriſtlichen
Liebe und Vergebung, womit ſie ſich ſo groß ma-
chet, wird mit Recht in Zweifel gezogen, und das
Mitleiden, welches itzo vollkommen in ihrem Be-
ſitz iſt, wird auf mich verleget werden.
Weil ich alſo mein ganzes Vertrauen auf
dieſen Brief ſetze: ſo ſetze ich alle meine andere
und auf verſchiedne Faͤlle eingerichtete Anſchlaͤge,
auch meine Reiſe nach London zuruͤck, bis meine
Gebieterinn an die Fraͤulein Montague eine Ant-
wort ſchicket.
Wo ſie aber auf ihren Kopf beſtehet, und
nicht verſprechen will, ſich zur Ueberlegung der
Sache Zeit zu laſſen: ſo magſt du ihr eroͤffnen,
was ich oben geſchrieben hatte, ehe meine Baſe
herein kam. Bleibt ſie noch verkehrt und ei-
genſinnig: ſo verſichere ſie, daß ich ſie ſehen
muͤſſe und wolle ‒ ‒ Jedoch ſoll dieß mit al-
T t 5ler
[666]
ler Anſtaͤndigkeit und Ehrerbietung geſchehen.
Kann ich ſie alsdenn nicht zu meinem Beſten be-
wegen: ſo will ich auf Reiſen gehen, und viel-
leicht niemals wieder nach England zuruͤckkommen.
Jch bedaure, daß du, zu dieſer entſcheiden-
den Zeit, ſo viel, wie du mir meldeſt, mit deinen
Watſordiſchen Sachen und den Anſtalten, un-
ſerm Belton Gerechtigkeit zu verſchaffen, zu thun
haſt. Wo du meine Huͤlfe bey dem letztern
brauchſt: ſo magſt du nur befehlen. Ob ich
gleich von dieſer verkehrten Schoͤnen ganz einge-
nommen und geplaget bin: ſo will ich doch auf
deinen erſten Wink gehorchen.
Jch verlaſſe mich ſehr auf deinen Eifer und
deine Freundſchaft. Eile daher zu ihr zuruͤck,
und fange ein Werk wieder an, welches mir ſo
nahe am Herzen liegt, daß ich mich damit ſo
wohl in meinen Traͤumen, als beym Wachen,
unterhalte.
Der ein und neunzigſte Brief
von der
Fraͤulein Montague an Fraͤul. Clariſſa
Harlowe.
Unſere ganze Familie iſt auf das empfindlich-
ſte durch die Beleidigungen gekraͤnket, wel-
che
[667]
che Jhnen von einem derſelben widerfahren ſind,
den Sie allein der Verwandtſchaft mit uns allen
einigermaßen wuͤrdig machen koͤnnen. Wenn
Sie ſich, als ein Werk der Barmherzigkeit und
Liebe, das groͤßte, welches Jhr frommes Herz be-
weiſen kann, gefallen laſſen wollen, ſeine vorige
Bosheit und Undankbarkeit zu uͤberſehen und un-
ſere Verwandtinn zu werden: ſo werden Sie
uns zu der gluͤcklichſten Familie in der Welt ma-
chen. Jch kann die Verſicherung geben, daß der
Lord M. die Lady Sarah Sadleir, die Lady Eli-
ſabeth Lawrance und meine Schweſter, welche
alle Jhre Tugenden und Jhr edles Gemuͤth be-
wundern, Sie beſtaͤndig lieben und verehren, ja
alles, was in ihrer Gewalt iſt, thun werden, das,
was Sie von Herrn Lovelacen gelitten haben,
wieder gut zu machen. Jnzwiſchen wuͤrden wir
uns nicht unterſtehen, dieß zu bitten, wertheſte
Fraͤulein: wenn wir nicht verſichert waͤren, daß
ihm ſeine vorigen Schandthaten gegen Sie von
ganzem Herzen leid ſind, und daß er auf ſeinen
Knieen bey Jhnen um Verzeihung bitten, und
Jhnen ewige Liebe und Ehre geloben wird.
Daher laſſen Sie ſich gefallen, meine wer-
theſte Baſe; was fuͤr ein Vergnuͤgen werden
Sie uns allen machen, wenn uns dieſer angeneh-
me Ausdruck erlaubt ſeyn mag! laſſen Sie ſich
gefallen, um unſer aller willen, um ſeiner See-
le willen; gewiß, Sie muͤſſen eine ſo fromme
Fraͤulein ſeyn, daß Sie wuͤnſchen werden, eine
Seele zu retten; ja, erlauben Sie mir zu ſagen,
um
[668]
um Jhres eignen guten Namens willen, uns
unſerer vereinigten Bitte zu gewaͤhren. Wenn
Sie nur, uns einige Hoffnung zu machen, ſagen
wollen, daß es Jhnen lieb ſeyn werde, Charlotte
Montague zu ſehen, und ihr eben ſo wohl perſoͤn-
lich bekannt zu werden, als Sie es durch Jhren
guten Ruf ſind: ſo will ich binnen zweenen Ta-
gen von der Zeit an, da ich die Erlaubniß von
Jhnen bekommen werde, Jhnen mit oder ohne
meine Schweſter aufwarten, und Jhre fernere
Befehle annehmen.
Erlauben Sie mir, unſere wertheſte Ba-
ſe; wir koͤnnen uns ſelbſt das Vergnuͤgen, Sie
ſo zu nennen, nicht verſagen; erlauben Sie mir,
inſtaͤndigſt zu bitten, daß Sie mir meine Reiſe
nach London vergoͤnnen, und den Lord M. und
die Ladies von ſeiner Familie in den Stand ſetzen
wollen, die Beleidigungen, welche einer Perſon
von den groͤßten Vorzuͤgen in der Welt durch ei-
nen der kuͤhnſten Menſchen in derſelben wider-
fahren ſind, auf alle moͤgliche Art bey Jhnen wie-
der gut zu machen. Sie werden uns alle un-
endlich dadurch verpflichten, inſonderheit aber die-
jenige, welche ſich noch einmal unterſtehet ſich
zu nennen
Jhre ergebene Baſe und verbundne
Dienerinn
Charlotte Montague.
Der
[669]
Der zwey und neunzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
3ten Aug.
Jch habe mit meinen eignen und Beltons Sa-
chen ſo viel zu thun gehabt, daß ich nicht
eher, als geſtern Abends, nach London kommen
konnte. Unterdeſſen habe ich mich daran begnuͤ-
gen laſſen, daß ich, von Zeit zu Zeit, zu der Fr.
Lovick geſchickt, von dem Befinden der Fraͤulein
Erkundigung einzuziehen. Die Nachrichten,
welche ich bekam, waren nur ſehr mittelmaͤßig:
und das ruͤhrte groͤßtentheils von Briefen oder
Zeitungen her, die Jhr von Jhrer unverſoͤhnli-
chen Familie gebracht waren.
Jch bin itzo mit meinen eignen Sachen voͤl-
lig zur Richtigkeit, und kuͤnftige Woche werde ich
nach Epſom abgehen, und mich bemuͤhen, Bel-
tons Schweſter fuͤr ihn in den Beſitz ſeines ei-
genen Hauſes zu ſetzen. Nachher will ich mich
ganz und gar euren und der Fraͤulein Dienſten
widmen.
Jch bekam noch geſtern Abends die Erlaub-
niß, ſie zu ſehen, und fand ſie augenſcheinlich
verſchlimmert. Als ich wieder zu Hauſe gegan-
gen war, wurde mir euer Brief vom verwichenen
Donnerſtag uͤberbracht. Jch muß dir ſagen, Lo-
velace,
[670]
velace, daß ich auf die Erfuͤllung deines mir ge-
gebenen Wortes, Jhr nicht in Perſon beſchwer-
lich zu fallen, beſtehe.
- Herr Belford ſchreibt weiter vom Donnerſtage
fruͤhe um zehen, und giebt eine Nachricht von
einer Unterredung, die er eben mit der Fraͤu-
lein uͤber den vorhergehenden Brief von der
Fraͤulein Montague, und uͤber Hrn. Lovelacens
auf verſchiedne Faͤlle eingerichtete Anſchlaͤge,
in dem XC. Briefe, gehabt hatte. Die letztern
unterſtuͤtzte Herr Belford bey der Fraͤulein mit
dem groͤßten Eifer. Weil aber der Ausſchlag
von dieſer Unterredung in den folgenden Brie-
fen zu finden ſeyn wird: ſo ſind die Vorſtel-
lungen und Gruͤnde des Herrn Belfords, und
die Antworten der Fraͤulein hier ausgelaſſen.
Der drey und neunzigſte Brief
von der
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an die Fraͤul.
Montague.
Jch bin Jhnen fuͤr Jhren guͤtigen Brief, wo-
durch Sie ſich zu mir herablaſſen, unend-
lich verbunden. Dennoch aber vermehrt eben
derſelbe meine Betruͤbniß: da er mir eine neue
Probe giebt, wie gluͤcklich ich in einer Verbin-
dung
[671]
dung haͤtte ſeyn koͤnnen, welche von ſo wuͤrdigen
Ladies und Fraͤuleins ſo ſehr gebilligt wird, und in
Betrachtung derſelben und des Lords M. mir
ſelbſt zu ſo großer Ehre gereicht haben wuͤrde,
ja ehemals fuͤr mich ſo ſehr zu wuͤnſchen gewe-
ſen iſt.
Allein in der That, in der That, wertheſte
Fraͤulein, mein Herz verabſcheuet den Menſchen,
der von einer ſolchen Familie abſtammet, und
doch vermoͤgend geweſen iſt, ſich erſtlich ſo vor-
ſetzlicher Gewaltthaͤtigkeit ſchuldig zu machen, als
er ſich ſchuldig gemachet, und, wie er weiß, fer-
ner den Abend vor ſeiner Abreiſe nach Berkſchi-
re gegen mich im Sinne gehabt hat; hernach
aber ſo niedertraͤchtig zu ſeyn, da er gleichwohl
auf ſeine Ehre zu halten vorgiebet, daß er in die-
ſe Familie eine Perſon zu erheben wuͤnſchte, die
er zu einer Mitgenoſſenſchaft mit den allerlieder-
lichſten ihres Geſchlechtes zu erniedrigen im Stan-
de geweſen war.
Erlauben Sie mir alſo, theureſte Fraͤulein,
mich mit dem feurigſten Eifer zu erklaͤren, daß
ich denke, ich koͤnnte niemals verdienen mit den
Ladies und Fraͤuleins von einer ſo anſehnlichen und
edlen Familie in einer Reihe zu ſtehen: wenn ich
ſeine unerhoͤrte und durchtriebene Bosheit gut
heißen, und ſo zu ſagen heiligen koͤnnte; ind[em]
ich einem ſolchen Schaͤnder vor dem Altar L [...]
und Ehre gelobte.
Jnzwiſchen geſtatten Sie mir guͤtigſt, a [...]
Lord M. an die beyden Ladies, ſeiner G [...]
S [...]
[672]
Schweſtern, an Sie ſelbſt, wertheſte Fraͤulein,
und an Jhre Schweſter, eine Bitte ergehen zu
laſſen. ‒ ‒ Es iſt dieſe, daß Sie alle die Ge-
wogenheit haben wollen, Herrn Lovelacen durch
Jhr vereinigtes Anſehen und Beſtreben dahin zu
bringen, daß er mir nicht weiter beſchwerlich falle.
Haben Sie die Guͤte ihm vorzuſtellen, daß,
wo mir die Vorſicht ein laͤngers Leben zuge-
dacht hat, es an ihm ſehr grauſam ſeyn werde,
wenn er mich aus demſelben zu jagen verſuchen
will. Es wird um ſo viel grauſamer ſeyn, da
er weiß, daß ich niemand habe, der mich vor ihm
ſchuͤtze. Jch wuͤnſche auch niemand zu ſeinem
oder deſſelben eignen Schaden auf meine Seite
zu bringen.
Bin ich hingegen zum Tode beſtimmet: ſo
wird es nicht weniger grauſam ſeyn, wenn er
mich nicht in Ruhe ſterben laſſen will ‒ ‒ ‒ da
ich ihm ein geruhiges und gluͤckliches Ende wuͤn-
ſche. Jn Wahrheit, ich thue es.
Sie aber, wertheſte Fraͤulein, und alle An-
gehoͤrigen der anſehnlichen Familie, uͤberſchuͤtte
der Himmel mit allen Guͤtern dieſes Lebens. Das
iſt der Wunſch einer Perſon, deren Ungluͤck es iſt,
daß ſie genoͤthigt wird, allen andern Ehrenna-
men zu entſagen, außer dieſem, wodurch ſie ſich
[...]nnet
Wertheſte Fraͤulein,
Jhre und Derſelben verbundne und
getreue Dienerinn
Clariſſa Harlowe.
Der
[673]
Der vier und neunzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
3ten Aug.
Jch bin eben itzo durch den folgenden Brief,
den mir ein Bothe von der Fraͤulein in die
Haͤnde geliefert hat, in eine angenehme Beſtuͤr-
zung geſetzt worden. Den Brief, welchen ſie
als eingeſchloſſen (*) beruͤhret, habe ich wieder
zuruͤckgeſchickt, ohne eine Abſchrift davon zu neh-
men. Der Jnhalt deſſelben wird euch vermuth-
lich bald durch einen andern Weg mitgetheilet
werden. Er weiſet dich ſchlechterdings ab ‒ ‒
Armer Lovelace!
Sie haben ſich oft erboten, mir durch etwas,
das in Jhrer Gewalt ſtehen wuͤrde, eine
Gefaͤlligkeit zu erweiſen: und ich hege eine ſo gu-
te Meynung von Jhnen, daß ich geneigt bin zu
hoffen, Sie werden dadurch etwas mehr gemey-
net haben, als mir eine bloße Hoͤflichkeit zu ſa-
gen.
Sechſter Theil. U uJch
[674]
Jch habe daher zwo Bitten an Sie zu thun.
Der erſten will ich itzo gedenken: der andern
aber nur, wofern dieſe gewaͤhret ſeyn wird; ſonſt
nicht.
Es iſt fuͤr mich noͤthig, eine ſolche Nachricht
hinter mir zu laſſen, die bey verſchiedenen meiner
Freunde, welche ſich itzo nicht um mich bekuͤm-
mern wollen, meine Auffuͤhrung rechtfertigen moͤ-
ge. Die Fraͤulein Howe und ihre Fr. Mutter
verlangen es auch mit vieler Sorgfalt von mir.
Jch beſorge, daß ich nicht Zeit haben werde
dieſelbe aufzuſetzen; und Sie werden ſich nicht
wundern, daß ich immer weniger Neigung bey
mir ſpuͤhre, ein ſo beſchwerliches Werk zu uͤber-
nehmen: ſonderlich, da ich mich nicht im Stan-
de finde, mit Gelaſſenheit auf das, was ich gelit-
ten habe, zuruͤck zu ſehen; und dadurch zu ſehr
in Unordnung gerathen werde, in einer Arbeit
von noch groͤßerer Wichtigkeit, die ich vor
mir habe, mit der gehoͤrigen Gemuͤthsverfaſſung
fortzuſchreiten.
Es iſt augenſcheinlich fuͤr mich, daß Jhr gott-
loſer Freund Jhnen von Zeit zu Zeit eine um-
ſtaͤndliche Nachricht von allem ſeinen Bezeigen
gegen mich, und allen ſeinen Raͤnken wider
mich, gegeben habe: und Sie haben mich mehr
als einmal verſichert, daß er ſo wohl im Schrei-
ben als Reden meiner Gemuͤthsart alle Gerech-
tigkeit habe widerfahren laſſen.
Kann ich nun von Jhnen, mein Herr, eine
aufrichtige und glaubwuͤrdige Probe von ſeinen
Briefen
[675]
Briefen oder Nachrichten an Sie, bey einigen
der wichtigſten Vorfaͤlle, bekommen: ſo werde ich
im Stande ſeyn, zu urtheilen, ob ich meiner Eh-
re wegen genoͤthigt ſeyn werde, oder nicht, mich
dem verlangten Werke zu unterziehen.
Sie koͤnnen durch meine beygeſchloſſene Ant-
wort auf einen Brief, womit mich die Fraͤulein
Montague beehret hat, welche Sie aber die Guͤ-
te haben werden mir, ſo bald als Sie dieſelbe ge-
leſen, wieder zuzuſenden, vollkommen verſichert
werden, daß es mir unmoͤglich ſey, jemals an ih-
ren Freund ſo, wie von mir bis zu meiner groͤß-
ten Beſchwerde verlangt wird, zu gedenken. Er
kann daher von der Probe, um welche ich Sie
erſuche, keinen Schaden haben: und ich verſpre-
che Jhnen auf meine Ehre, daß ſie weder vor
Gericht, noch ſonſt, zu ſeinem Nachtheil gebraucht
werden ſoll. Damit dieß, nach meinem Hin-
tritt, nicht geſchehen moͤge, verſichere ich Sie,
daß es ein hauptſaͤchliches Stuͤck meiner Ab-
ſicht iſt, die Stellen, wodurch Sie mir eine Ge-
faͤlligkeit erzeigen werden, allezeit in Jhrer ei-
gnen, und keines andern, Gewalt zu laſſen.
Wofern Sie fuͤr gut befinden, mein Herr,
mir meine Bitte zuzuſtehen: ſo ſind die Stellen,
welche ich abgeſchrieben wuͤnſchen moͤchte; ohne
die Sache beſſer oder ſchlimmer zu machen; das-
jenige, was er den 7ten und 8ten Jun. oder un-
gefaͤhr um die Zeit, als ich durch den gottloſen
Vorwand eines entſtandenen Feuers beunruhigt
wurde, und vom Sonntage, dem 11ten Jun. bis
U u 2zum
[676]
zum 19ten, an Sie geſchrieben hat. Hiedurch
werden Sie ſehr verbinden
Jhre gehorſame Dienerinn
Cl. Harlowe.
Nun, Lovelace, da keine Hoffnung fuͤr dich iſt,
Jhre Gewogenheit wieder zu erlangen; da
deine Aufrichtigkeit, daß du niemals, wie kleinere
Geiſter unter den liederlichen Bruͤdern gethan
haben wuͤrden, deine Laſter durch Anſchwaͤrzung
der Fraͤulein oder ihres Geſchlechts zu bemaͤnteln
geſucht haſt, einigen Ruhm verdienen mag; da
ſie dadurch mehr beruhigt werden kann; da du
beſſer durch deine eigne, als durch ihre Feder, fah-
ren mußt; und da endlich deine Handlungen ge-
zeiget haben, daß deine Briefe nicht das ſtraf-
wuͤrdigſte ſind, was ſie von dir weiß: ſo ſehe ich
nicht, warum ich ihr auf ihre Ehre, und unter
denen Bedingungen, die ſie geſetzet, und um der
Urfachen willen, welche ſie angefuͤhret hat, nicht
darinn gefaͤllig ſeyn mag; und zwar ohne Ver-
letzung derjenigen Treue, welche man in dem, was
uns von Freunden entdeckt und anvertrauet iſt,
beobachten muß; ſonderlich, wie ich haͤtte hinzu-
ſetzen moͤgen, da du dir aus deiner Feder und
aus deiner Gottloſigkeit einen Ruhm ma-
cheſt, und dich nicht ſchaͤmen kannſt.
Allein dem ſey, wie ihm wolle: ſie will ih-
res Verlangens gewaͤhret ſeyn, ehe deine Gegen-
vorſtellungen oder dein Geſchrey dawider, an mich
kom-
[677]
kommen koͤnnen. Alſo bitte ich dich, ſchicke dich
darein, ſo gut als moͤglich iſt, und tobe nicht: es
waͤre denn, daß du nur einen Vorwand wider
mich ſucheteſt, und deine Gabe zu fluchen uͤben
wollteſt! ‒ ‒ Gefaͤllt es dir, aus dieſen Urſachen
ſolches zu thun: ſo raſe immerhin; es ſoll mir
willkommen ſeyn.
Mich verlangt zu wiſſen, was die zwote Bit-
te ſey. Allein dieß weiß ich, daß, wo es etwas
geringers iſt, als dir die Kehle abzuſchneiden
oder meinen eignen Hals in Gefahr zu ſetzen,
ich ihr gewiß willfahren, und mir eine Ehre dar-
aus machen werde, daß es in meiner Gewalt ſte-
het, ihr gefaͤllig zu ſeyn.
Nun will ich wirklich anfangen, mich mit den
Auszuͤgen zu beſchaͤfftigen.
Der fuͤnf und neunzigſte Brief
von
Hrn. Belford an Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Sie haben mir befohlen, Jhnen auf Eh-
re und Glauben, ohne die Sache beſ-
ſer, oder ſchlimmer zu machen, dasjenige
mitzutheilen, was Herr Lovelace, in Abſicht
auf Sie ſelbſt, in dem Zeitlauf kurz vor
U u 3Jhrem
[678]
Jhrem Aufenthalt zu Hampſtead, und zwiſchen
dem 11ten und 19ten Jun. an mich geſchrieben
hat. Sie verſichern mich, daß Sie bey dieſem
Verlangen keine andere Abſicht haben, als zu ſe-
hen, ob Sie, nach der Nachricht, welche er gie-
bet, um Jhrer eignen Ehre willen genoͤthigt wer-
den, ſelbſt die verdrieslichen Dinge zu beruͤhren.
Was Sie befehlen, gnaͤdige Fraͤulein, iſt von
einer ſehr bedenklichen Beſchaffenheit: da es die
Geheimniſſe vertrauter Freundſchaft zu betreffen
ſcheinet. Allein weil ich weiß, daß Sie keine
Abſicht hegen koͤnnen, von der Sie die Bewe-
gungsgruͤnde dazu nicht geſtehen wollen; und
weil ich denke, daß die Mittheilung der verlang-
ten Stellen der Gemuͤthsart meines ungluͤcklichen
Freundes, in ſo fern er ein aufrichtiger Menſch
iſt, einige Ehre bringen mag; ob gleich ſeine
Handlungen an dem vortrefflichſten Frauenzim-
mer in der Welt ihm allen Anſpruch auf den
Ruhm eines ehrlichen Mannes benommen ha-
ben: ſo gehorche ich Jhnen mit deſto groͤßerem
Vergnuͤgen.
- Hierauf faͤhrt er mit ſeinen Auszuͤgen
fort, und beſchließet dieſelben mit ei-
ner Vorſtellung bey ihr zum Beſten
ſeines Freundes, in den folgenden
Worten:
„Nun, gnaͤdige Fraͤulein, habe ich Jhren
„Befehl erfuͤllet, und, wie ich hoffe, meinem
„Freunde bey Jhnen nicht einen uͤbeln Dienſt ge-
„than:
[679]
„than: indem Sie hieraus ſehen werden, wie er
„Jhrer Tugend in einer jeden Zeile, die er ſchreibt,
„Gerechtigkeit widerfahren laſſe. Eben das
„thut er in allen ſeinen Briefen: ob gleich zu
„ſeiner eignen Verdammung. Erlauben Sie
„mir hinzuzuſetzen, daß, wenn die allezeit, auch
„in Jhrem Leiden, liebenswuͤrdige Perſon, es nur
„einigermaßen Jhrer Ehre nicht zuwider achten
„koͤnnte, ſeine Geluͤbde, bey ſeiner aufrichtig reue-
„vollen Gemuͤthsverfaſſung, vor dem Altar an-
„zunehmen, ich im geringſten nicht zweifele, daß
„er ſich gegen Dieſelbe als den beſten und zaͤrtlich-
„ſten Ehegatten beweiſen wuͤrde. Was fuͤr eine
„Verbindlichkeit wuͤrde nicht die vortreffliche
„Fraͤulein hiedurch ſeiner ganzen edlen Familie
„auflegen, welche Sie ſo ſehr bewundert! ja, ich
„will mich unterſtehen es zu ſagen, auch Jhrer
„eignen Familie, wenn der ungluͤckliche Wider-
„willen derſelben, welcher gewiß gegen ihn weiter
„getrieben iſt, als vernuͤnftige Gruͤnde erlauben,
„uͤberwaͤltiget iſt, und eine allgemeine Ausſoͤh-
„nung Platz findet! Denn wer iſt wohl, der dieſe
„beyden bewundernswuͤrdigen Perſonen nicht ein-
„ander geben wuͤrde, wenn ſeine Auffuͤhrung nicht
„im Wegeſtuͤnde?“
Dem ſey aber, wie ihm wolle: ſo moͤchte ich
Jhnen gehorſamſt anheim ſtellen, gnaͤdige Fraͤu-
lein, ob Sie, da Jhnen von mir, als ſeinem
Freunde, ſehr bedenkliche Umſtaͤnde mitgetheilet
werden, ſich nicht durch Jhre Ehre verbunden
achten wollen, dieſelben gaͤnzlich mit Stillſchwei-
U u 4gen
[680]
gen zu uͤbergehen, als wenn Sie die Nachricht
davon niemals geſehen haͤtten, und ſich die Mit-
theilung dieſer Stellen gar nicht zu Nutze zu ma-
chen; nicht einmal zu einem Beweiſe, der in ei-
nigen vielleicht liegen moͤchte, von ſeiner vorſetz-
lichen Abſicht, die er nicht gegen Sie, in ſo fern
Sie eben die Perſon find, welche Sie ſind, ſon-
dern gegen das andere Geſchlecht gehabt zu
haben ſcheinet. Jch kann ſelbſt, zu meiner eige-
nen Beſchaͤmung, Zeugniß geben, daß alle Freun-
de der ſo genannten freyen Lebensart die ſchaͤnd-
liche Abſicht haben, uͤber daſſelbe zu ſiegen und zu
frohlocken. Allein ich wollte ihm doch nicht gern
Raum laſſen, wenn etwa ein Misverſtaͤndniß
zwiſchen ihm und mir entſtehen ſollte, mir vorzu-
werfen, daß der Verluſt von Jhnen, oder durch
ſein Verfahren mit Jhnen, der Verluſt von ſei-
nen eignen Freunden, den er leiden moͤchte, dem
zuzuſchreiben waͤre, was er eine Verletzung ver-
trauter Freundſchaft nennen wuͤrde, wenn er
mehr nach dem Erfolg, wofern es ſo ausfallen
ſollte, als nach meiner Abſicht urtheilte.
Jch bin, gnaͤdige Fraͤulein, mit der ehrerbie-
tigſten Hochachtung
Jhr getreugehorſamſter Diener
J. Belford.
Der
[681]
Der ſechs und neunzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Hrn. Joh.
Belford.
Jch achte mich Jhnen fuͤr die guͤtige Mitthei-
lung der verlangten Nachrichten hoͤchſt ver-
bunden. Jch werde ſie nicht ſo gebrauchen, daß
Sie entweder ſich ſelbſt, oder mir, Vorwuͤrfe zu
machen, Urſache haben ſollen. Es war nicht
noͤthig, daß ich erſt neues Licht bekaͤme, die vor-
ſetzliche Bosheit des ungluͤcklichen Menſchen bey
mir außer Streit zu ſetzen: wie meine Antwort
auf den Brief der Fraͤulein Montague Sie uͤber-
fuͤhren mochte (*).
Jch muß zu ſeinem Vortheil geſtehen, daß
er in ſeinen Nachrichten an Sie, von den unan-
ſtaͤndigſten und aͤrgerlichſten Handlungen einigen
Wohlſtand beobachtet hat. Und wo alle ſeine
Erzaͤhlungen, die von einer wunderlichen Nei-
gung, ſich andern zu entdecken, zeugen, eben ſo
anſtaͤndig ſind: ſo wird dadurch nichts als hoͤchſt-
ſtrafbar verhaßt gemacht werden, außer dem
ſchaͤndlichen Herzen, das auf ſolche Raͤnke ſinnen
konnte, welche weit ſtaͤrkere Beweiſe ſeiner Un-
menſchlichkeit, als ſeines Witzes, geweſen ſind.
U u 5Denn
[682]
Denn auch Leute von den geringſten Gaben und
Verſtandeskraͤften moͤgen in den ſchaͤndlichſten
Unternehmungen einen gluͤcklichen Fortgang ha-
ben; wenn ſie nur alle Achtung gegen die ſittli-
chen Geſetze, welche die Menſchen mit einander
verbinden, unterdruͤcken koͤnnen: und das eher
gegen ein unſchuldiges Herz, als gegen ein ande-
res; weil dieſes ſeine eigne Lauterkeit kennet, und
deſto weniger im Stande iſt, anderer Tugend fuͤr
verdaͤchtig zu halten.
Jch finde, daß ich große Urſache gehabt ha-
be, mich in dem ganzen Fortgange bey meinem
Leiden fuͤr Jhre gute Abſicht verbunden zu achten.
Jnzwiſchen iſt es doch unmoͤglich, mein Herr, bey
dieſer Gelegenheit die natuͤrliche Folge zu uͤberſe-
hen, welche daraus gegen ſeine vorſetzliche Nie-
dertraͤchtigkeit fließet. Allein ich ſage davon deſto
weniger, weil Sie nicht denken ſollen, daß ich
von Jhren mitgetheilten Nachrichten Gruͤnde ent-
lehne, ſein Verbrechen ſchwerer zu machen; welche
gar nicht noͤthig ſind.
Damit ich Jhnen nun die Muͤhe erſparen
moͤge, mein Herr, in Zukunft weiter zu ſeinem
Vortheil Vorſtellungen zu thun: ſo erlauben Sie
mir, Jhnen zu ſagen, daß ich alles genau uͤber-
dacht und erwogen habe; alles, was die eitle
Ehrbegierde der Menſchen eingeben moͤchte; alles,
wozu mir eine erwuͤnſchte Ausſoͤhnung mit mei-
nen Freunden, und die guͤtige Achtung ſeiner An-
verwandten gegen mich Hoffnung machen koͤnnte;
ja auch der Genuß der Freundſchaft mit meiner
Fraͤu-
[683]
Fraͤulein Howe, welcher unter allen weltlichen
Vorſtellungen mir itzo der wertheſte und betraͤcht-
lichſte iſt. Alles dieß habe ich erwogen: und der
Ausſchlag iſt, und war es ſchon vorher, ehe Sie
mir die Gefaͤlligkeit erzeigten, jene Nachrichten
mitzutheilen, daß ich mehr Beruhigung in der
Hoffnung finde, daß es in einem Monathe ganz
mit mir zu Ende ſeyn werde, als in den ange-
nehmſten Dingen, die aus einer Verbindung mit
dem Herrn Lovelace entſtehen koͤnnten; wenn ich
auch verſichert waͤre, daß er ſich als den beſten
und zaͤrtlichſten Ehegatten beweiſen wuͤrde. Uebri-
gens aber, wo er ſich nur mit denen Uebeln be-
gnuͤgen laſſen will, die er uͤber mich gebracht hat;
will ich ihm, bis an die letzte Stunde meines Le-
bens, Gutes wuͤnſchen: ob er gleich die Vater-
loſe mit Ungemach uͤberhaͤufet, und fuͤr
ſeine Freundinn eine Grube gegraben hat.
Denn vaterlos, ja auch mutterlos mag diejenige
wohl genannt werden, der aller vaͤterlicher Schutz,
und alle muͤtterliche Vergebung, verſaget iſt.
Nun, mein Herr, da ich Jhre Gewogenheit
in Ertheilung der verlangten Auszuͤge mit ſchul-
digem Dank erkenne, komme ich auf das zweyte
Stuͤck meiner Bitte. Dieſes erfordert eine große
Dreiſtigkeit, wenn ich es Jhnen eroͤffnen ſoll:
eine Dreiſtigkeit, die nichts, als eine große Wi-
derwaͤrtigkeit und ein ſehr verlaſſener Zuſtand,
geben kann. Jedoch, wo es ſich nicht ſchicken
will,
[684]
will, kann ich nur eine abſchlaͤgige Antwort be-
kommen, und werde wenigſtens, wie ich ſagen
darf, entſchuldigt ſeyn. Jch mache alſo auf fol-
gende Art die Vorbereitung dazu.
Sie ſehen, mein Herr, daß ich gaͤnzlich in
die Haͤnde fremder Leute gerathen bin, welche
zwar ſo guͤtig und mitleidig, als man von frem-
den nur wuͤnſchen mag, aber nichts deſto weniger
Perſonen ſind, von denen ich nichts mehr als
Mitleiden und gute Wuͤnſche erwarten kann.
Auch kann mein Andenken ſo wenig, als meine
Perſon, Schutz von denſelben haben: wofern das
eine oder die andere Schutz brauchen ſollte.
Wenn ich dann den einzigen Cavallier,
der den Stoff in Haͤnden hat, wodurch er mei-
nem guten Namen Gerechtigkeit zu verſchaffen
im Stande ſeyn wird;
Und Herzhaftigkeit, freye Macht, und Ge-
ſchicklichkeit beſitzet, mir zu Gefallen zu ſeyn;
Wenn ich dieſen erſuche, mein Gedaͤchtniß,
wie ich ſagen mag, zu ſchuͤtzen;
Und die Vollziehung meines letzten Wil-
lens uͤber ſich zu nehmen; auch dahin zu ſehen,
daß einige meiner Wuͤnſche, auf dem Sterbe-
bette, erfuͤllet werden;
Wenn ich dabey ihm gaͤnzlich uͤberlaſſe, es
auf ihm beliebige Art und Weiſe, und zu beliebiger
Zeit, zu thun; jedoch, in erforderlichen Faͤllen,
mit Zuziehung meiner werthen Fraͤulein Howe:
So unterſtehe ich mich zu hoffen, daß dieſes
Stuͤck meiner Bitte zugeſtanden werden moͤge.
Kann
[685]
Kann es aber zugeſtanden werden: ſo wird
aus der mir bezeigten Gewogenheit und dem
uͤbernommenen Dienſt mir folgende mannichfal-
tige Beruhigung zuwachſen.
Es wird meinem Gedaͤchtniß bey allen denen
zur Ehre gereichen, welche erfahren werden, daß
ich meiner Unſchuld ſo wohl verſichert geweſen
bin, daß, da ich keine Zeit gehabt, meine Ge-
ſchichte ſelbſt aufzuſetzen, ich es auf diejenige
Nachricht mit vollkommener Zuverſicht habe an-
kommen laſſen koͤnnen, welche der Zerſtoͤrer mei-
nes guten Namens und meines Gluͤcks davon
gegeben hat.
Jch werde nicht befuͤrchten duͤrfen, daß jemand
durch dieß Werk entweder mit meinen eignen
Verwandten oder mit Jhrem Freunde in Unru-
hen oder Gefahr verwickelt werde: indem ich
ſolche Verordnungen wegen meiner Verlaſſen-
ſchaft zu machen habe, die vielleicht meinen eignen
Freunden nicht ſo wohl geſallen werden, als es
zu wuͤnſchen waͤre. Denn ich bin nicht willens
unbillige Verfuͤgungen zu treffen. Allein Sie
wiſſen, mein Herr, wenn Eigennutz Richter iſt:
ſo wird ſelbſt bey ſonſt guten Leuten nicht alle-
mal recht von Dingen geurtheilet werden.
Jch werde auch von der beſchwerlichen Muͤhe
befreyet ſeyn, mich an Dinge wieder zu erinnern,
welche meine Seele beunruhigen: und zwar zu
einer Zeit, da die unruhigen Bewegungen derſel-
ben vielmehr geſtillet werden ſollten, um der aller-
wichtigſten Vorbereitung Platz zu machen.
Und
[686]
Und wer weiß, ob derjenige, welcher ſchon itzo
aus Menſchenliebe durch mein Ungluͤck geruͤhret
iſt, nicht beweget werden moͤge, wenn er die ganze
Geſchichte vor ſich hat und wiederum uͤberdenket,
wenn er den Ausgang gleichfalls vor ſich haben
und gewiſſermaßen Theil daran nehmen wird;
wer weiß, ob er alsdenn nicht, aus einem hoͤhern
Grunde, bewegt werden moͤge, ſein kuͤnftiges Le-
ben ſo einzurichten, daß er ſeine eigne Belohnung
in der ewigen Wohlfarth finde, welche ihm ge-
wuͤnſchet wird von ſeiner
verbundnen Dienerinn
Clariſſa Harlowe.
Der ſieben und neunzigſte Brief
von
Hrn. Belford an Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Die Ehre, welche Sie mir in Jhrem heutigen
Schreiben erwieſen haben, ruͤhret mich ſo
vollkommen, daß ich die Antwort darauf nicht
einen Augenblick aufſchieben wollte. Jch hoffe,
Sie werden am Leben bleiben, noch viele begluͤckte
Jahre zu zaͤhlen, und in denen Stuͤcken, die Jh-
nen am meiſten am Herzen liegen, die Vollzie-
hung Jhres Willens ſelbſt zu uͤbernehmen. Sollte
ich
[687]
ich Sie aber uͤberleben: ſo nehme ich das gehei-
ligte Amt, welches Sie mir aufzutragen belieben,
mit der groͤßten Bereitwilligkeit an; und Sie
koͤnnen ſich auf meine Treue, und, wo moͤglich,
auf die buchſtaͤbliche Vollziehung eines jeden
Stuͤckes, das Sie verordnen werden, vollkommen
verlaſſen.
Die Erfuͤllung des guͤtigen Wunſches, wo-
mit Sie beſchließen, iſt beſtaͤndig mit der groͤßten
Sorgfalt mein Augenmerk geweſen, ſeit dem mir
die Ehre Jhres Umganges gegoͤnnet iſt. Jch will
meine ganze Bemuͤhung dahin richten, daß er
nicht vergeblich ſeyn moͤge. Die Gluͤckſeligkeit,
den Zutritt zu Jhnen zu haben, wozu mir dieß
anvertraute Werk, wie ich vermuthe, oft Gele-
genheit geben wird, muß nothwendig den er-
wuͤnſchten Zweck befoͤrdern: weil es unmoͤglich
ſeyn wird, ein Zeuge Jhrer Gottſeligkeit, Gelaſ-
ſenheit und anderer Tugenden zu ſeyn, und Jhnen
nicht nachzueifern. Das einzige, was ich bitte,
iſt, daß Sie mich durch keinen kuͤnftigen Anwer-
ber um dieſe Ehre, oder durch keine Begebenheit,
des aufgetragenen Amts wieder entſetzet werden
laſſen: wofern ſich nicht einige neue Beweiſe der
Unwuͤrdigkeit zeigen, entweder in den ſittlichen
Grundſaͤtzen, oder der Auffuͤhrung,
Gnaͤdige Fraͤulein,
Jhres verbundenen und getreuen
Dieners
J. Belford.
Der
[688]
Der acht und neunzigſte Brief
von
Herrn Belford an Herrn Robert Lovelace.
Jch habe der Fraͤulein die Auszuͤge, welche
Sie aus deinen Briefen von mir verlanget
hat, wirklich uͤberliefert. Jch verſichere dich, daß
ich die Sache aufs beſte fuͤr dich gemacht habe,
nicht wie das Gewiſſen, ſondern wie die Freund-
ſchaft mich, ſie zu machen, verbinden konnte. Jch
habe einige freye Worte veraͤndert, oder wegge-
laſſen. Die feurige Beſchreibung ihrer Perſon
bey dem Feuerſpiel, wie ich es nennen mag,
habe ich nicht abgeſchrieben. Jch habe ihr zu
erkennen gegeben, daß ich in der Gerechtigkeit,
welche du ihrer unvergleichlichen Tugend gethan
haſt, dir Gerechtigkeit widerfahren laſſen habe.
Allein du ſollſt die Worte ſelbſt leſen, welche in
meinem Briefe an ſie unmittelbar nach den Aus-
zuͤgen folgen:
- „Nun, gnaͤdige Fraͤulein ꝛc. ‒ ‒ Man
ſehe in demXCV.Briefe die Stelle,
welche ſo„ bezeichnet iſt.
Die Fraͤulein iſt ausnehmend unruhig bey
den Gedanken, daß ihr verſuchen wollet, ſie zu
beſuchen. Um des Himmels willen, da ihr euer
Wort gegeben habt, und Mitleidens wegen, weil
ſie
[689]
ſie in der That in einem ſchwachen und matten
Zuſtande iſt, laßt mich euch bitten, daran nicht zu
gedenken.
Geſtern, Nachmittags, bekam ſie einen grau-
ſamen Brief von ihrer Schweſter. Fr. Lovick
vermuthet aus der Wirkung, die er uͤber ſie ge-
habt hat, daß er grauſam geweſen ſeyn muͤſſe. Es
war eine Antwort auf ihr Schreiben vom ver-
wichnen Sonnabend, worinn ſie um einen Se-
gen und um Vergebung von ihren Eltern erſu-
chet hat.
Sie erkennet, daß, wo alle deine Briefe mit
gleicher Beobachtung des Wohlſtandes und glei-
cher Gerechtigkeit geſchrieben ſind, wie ich ſie ver-
ſichert habe, ſie ſich von der ſonſt noͤthigen Muͤ-
he, ihre eigne Geſchichte aufzuſetzen, befreyet ach-
ten werde. Dieß iſt ein Vortheil, der dir von
den auf ihr Verlangen ertheilten Auszuͤgen zu-
waͤchſt: ob du mir gleich vielleicht nicht danken
wirſt, daß ich ihr darinn gefaͤllig geweſen bin.
Aber was meynſt du, iſt die zwote Bitte, wel-
che Sie an mich zu thun hatte? Keine andere,
als daß ich die Vollziehung ihres letzten Wil-
lens uͤber mich nehmen moͤchte ‒ ‒ Jhre Be-
wegungsgruͤnde ſollſt du zu gehoͤriger Zeit erfah-
ren: und alsdenn, ich kann fuͤr ſie ſtehen, werden
ſie dir vollkommen Genuͤge thun.
Jhr koͤnnt euch nicht einbilden, was fuͤr eine
Ehre ich mir aus dem anvertrauten Amte mache.
Mir iſt nur bange, daß ich allzu bald zur
Ausuͤbung deſſelben kommen werde. Was fuͤr
Sechſter Theil. X xein
[690]
ein trauriges Vergnuͤgen wird es mir geben, da
ſie beſtaͤndig ſchreibt, ihre Papiere durchzuſehen
und in Ordnung zu bringen. Bey einer ſo hold-
ſeligen Gemuͤthsart, bey ſo vieler Gedult und Er-
gebung, doch mitten unter den gegenwaͤrtigen
Drangſalen von dieſen Drangſalen zu ſchreiben!
O wie viel lebhafter und ruͤhrender muß, aus
dieſer Urſache, ihre Schreibart ſeyn, als alles, was
man in der trocknen, geſchichtmaͤßigen und unbe-
lebten Schreibart anderer Perſonen leſen kann,
welche die Schwierigkeiten und Gefahr, die ſie
uͤberſtiegen haben, erzaͤhlen! Da die Gemuͤther
ſolcher Leute nicht unter zweifelhafter Erwartung
leiden, nicht durch die Marter der Ungewißheit
gequaͤlt werden, ſondern im Gegentheil ganz ge-
ruhig ſind. Wenn der Erzaͤhler ſelbſt durch ſei-
ne eigne Geſchichte nicht beweget wird: wie ſoll
er im Stande ſeyn, den Zuhoͤrer oder Leſer zu be-
wegen?
Sonnabends fruͤhe, den 5ten Aug.
Jch bin eben von einem Beſuch bey der Fraͤu-
lein zuruͤckgekommen. Jch habe ihr in Per-
ſon fuͤr die Ehre, die ſie mir gethan hat, Dank ge-
ſaget, und ſie der aͤußerſten Treue und Sorgfalt
verſichert, wenn ich zu dem geheiligten Amt ge-
fordert werden ſollte. Jch fand ſie ſehr ſchlecht,
und gab es ihr zu erkennen. Sie ſagte mir da-
her, daß ſie einen zweyten hartherzigen Brief von
ihrer Schweſter bekommen, und darauf gerades-
weges, und zwar auf ihren Knieen an ihre Mut-
ter
[691]
ter geſchrieben haͤtte. Vorher haͤtte ſie nicht das
Herz gehabt, es zu thun. Jn dieſem Schrei-
ben baͤte ſie um einen letzten Segen, und um
Vergebung. Es waͤre kein Wunder, ſprach ſie,
daß ich ſie geruͤhret ſaͤhe. Da ich den letzten Lie-
besdienſt fuͤr ſie uͤbernommen haͤtte; wofuͤr ſie
mir ſo wohl als fuͤr die Gewaͤhrung ihrer an-
dern Bitte dankte: ſo ſollte ich dereinſt alle dieſe
Briefe vor mir ſehen. Und koͤnnte ſie eine guͤ-
tige Antwort auf denjenigen bekommen, welchen
ſie nun geſchrieben haͤtte, der unguͤtigen Antwort
von ihrer Schweſter ein Gegengewicht zu geben:
ſo moͤchte ſie vielleicht bewogen werden, mir bey-
de mit einander zu zeigen.
Jch wußte, daß es ihr misfaͤllig geweſen ſeyn
wuͤrde, wenn ich die Grauſamkeit ihrer Ver-
wandten hart beurtheilet haͤtte. Daher ſagte ich
nur, ſie muͤßte gewiß Feinde haben, die ihre
Rechnung dabey zu finden hoffeten, daß ſie den
Unwillen ihrer Freunde gegen ſie unterhielten.
Es kann wohl ſeyn, Herr Belforo, verſetzte
ſie: dem Ungluͤcklichen fehlt es niemals an Fein-
den. Ein Vergehen, das freywillig begangen
iſt, rechtfertigt die Beſchuldigung vieler andern.
Wo das Ohr den Anklagen geoͤffnet wird, da
wird es nicht an Klaͤgern fehlen: und jedermann
wird dienſtfertig mit Hiſtoͤrchen gegen ein in Un-
gnaden gefallenes Kind da aufgezogen kommen,
wo inemand etwas zu deſſelben Vortheil ſagen
darf. Jch haͤtte zu rechter Zeit weiſe geweſen
X x 2ſeyn
[692]
ſeyn und nicht erſt noͤthig gehabt haben ſollen,
durch meine eigne Ungluͤcksfaͤlle von der Wahr-
heit desjenigen uͤberfuͤhrt zu werden, was die ge-
meine Erfahrung taͤglich beweiſet. Herrn Love-
lacens Schandthaten, meines Vaters Unbeweg-
lichkeit, meiner Schweſter Vorwuͤrfe, ſind die na-
tuͤrlichen Folgen von meiner eignen Unbeſonnen-
heit. Alſo muß ich mich in mein hartes Schick-
ſal ſo gut, als moͤglich, ſchicken. Nur, da dieſe
Folgen ſo nahe auf einander treffen: wie kann
ich es denn aͤndern, weil ſie noch neu ſind, daß ich
aufs neue geruͤhret werde?
Jch fragte, ob ein Brief an einen ihrer Freun-
de von mir ſelbſt oder ihrem Arzt, oder Apothe-
ker, worinn der ſchwache Zuſtand ihrer Geſund-
heit, und ihre große Demuth vorgeſtellet waͤre,
angenehm ſeyn wuͤrde? Oder wo eine Reiſe, zu
irgend jemand von ihnen, Dienſte thun moͤchte:
ſo wollte ich ſie mit Freuden in Perſon uͤberneh-
men, und mich ſchlechterdings nach ihrer Anwei-
ſung richten, an wen ſie auch befehlen wollte, mei-
nen Antrag zu thun.
Sie verlangte aber ernſtlich, daß nichts der-
gleichen unternommen werden moͤchte: ſonder-
lich ohne ihr Wiſſen und ihre Einwilligung.
Fraͤulein Howe, ſagte ſie, haͤtte durch ihren gut-
gemeynten Eifer Schaden angerichtet: und wenn
Hoffnung uͤbrig waͤre, durch Mittelsperſonen ei-
ne Gewogenheit zu erlangen; ſo haͤtte ſie ſchon
eine guͤtige Freundinn, Fr. Norton, an der Hand,
welche an Froͤmmigkeit und Klugheit wenige ih-
res
[693]
res gleichen haͤtte, und keine Gelegenheit vorbey
laſſen wuͤrde, ihr zu dienen.
Jch meldete ihr, daß ich bis den Montag
außerhalb London ſeyn wuͤrde. Sie wuͤnſchte
mir viel Vergnuͤgen, und ſagte, es ſollte ihr lieb
ſeyn, mich bey meiner Zuruͤckkunft zu ſehen.
Lebe wohl.
Der neun und neunzigſte Brief
von
Frl. Arab. Harlowe an Frl. Cl. Harlowe.
zur Antwort
auf ihr Schreiben vom Sonnab. dem 29ten Jul.
welches hier der LXXXVII Brief iſt.
Jch wuͤnſchte, daß Jhr mir mit keinem von eu-
ren Briefen mehr beſchwerlich fallen woll-
tet. Jhr habt allezeit im Schreiben einen Kunſt-
griff gehabt, und Euch darauf verlaſſen, daß Jhr
von einem jeden erhalten koͤnntet, was Jhr woll-
tet, wenn Jhr ſchriebet. Allein Euer Witz und
Eure Thorheit haben Euch zu Grunde gerichtet.
Und nun kommt Jhr, wie alle boshafte Seelen
thun, wenn ſie ſich ſelbſt nicht helfen koͤnnen, mit
Betteln und Bitten, und macht andere eben ſo
unruhig, als Euch ſelbſt.
X x 3Als
[694]
Als ich letztens an Euch ſchrieb: ſo vermu-
thete ich wohl, daß ich nicht Friede haben wuͤrde.
So wolltet ihr gern nach und nach heran-
kriechen, bis Jhr verlanget werdet, wieder aufge-
nommen zu ſeyn.
Allein Jhr hoffet nur bloß auf Vergebung
und einen Segen, ſchreibt Jhr. Wozu ſoll ein
Segen, Schweſter Claͤrchen? Denket, wozu? ‒ ‒
Nichts deſto weniger las ich Euren Brief mei-
nem Vater und meiner Mutter vor.
Jch will Euch nicht erzaͤhlen, was mein Va-
ter ſagte ‒ ‒ Eine, die das wahre Gefuͤhl hat,
welches Jhr Euch von Euren Miſſethaten zu ha-
ben ruͤhmet, kann ſchon errathen, ohne daß ich es
Euch erzaͤhle, was ein billig zuͤrnender Vater in
einem ſolchen Fall ſagen wuͤrde.
Meine arme Mutter! ‒ ‒ O nichtswuͤrdi-
ge Seele! Was hat Eure undankbare Thorheit
meiner armen Mutter nicht gekoſtet! ‒ ‒ Waͤret
Jhr weniger geliebt worden: ſo wuͤrdet ihr viel-
leicht nicht ſo gottlos geweſen ſeyn. Aber ich ha-
be noch niemals in meinem Leben ein verzaͤrteltes
Schooßkind wohlgerathen geſehen.
Mein Herz iſt voll, und ich kann mich nicht
entbrechen, meine Meynung zu ſchreiben. Denn
Eure Laſter haben uns alle in Schande gebracht.
Jch ſcheue und ſchaͤme mich in eine oͤffentliche
Verſammlung oder eine beſondre Geſellſchaft
oder zu einer Luſtbarkeit zu gehen. Und warum?
‒ ‒ Jch darf nicht erſt ſagen warum: da Eu-
re Handlungen entweder zu dem oͤffentlichen Ge-
ſpraͤch
[695]
ſpraͤch oder dem ſchimpflichen Geziſchel den Per-
ſonen beyderley Geſchlechts an allen ſolchen Orten
Gelegenheit geben.
Ueberhaupt iſt es mir leid, daß ich Euch kei-
nen beſſern Troſt zu ſenden habe: allein ich finde
niemand geneigt, Euch zu vergeben. Jch weiß
nicht, was die Zeit fuͤr Euch thun mag: wenn
man ſiehet, daß Eure Reue nicht mehr von ei-
nem Misvergnuͤgen uͤber Eure fehlgeſchlagene
Hoffnung als von wahrer Ueberzeugung herkom-
me. Denn es iſt nur allzu wahrſcheinlich, Fraͤu-
lein Claͤrchen, daß wenn es Euch nach Wunſch
gegangen waͤre, wie Jhr erwartet, und Euer
ſcheinbarer Boͤſewicht Euch nicht verlaſſen haͤtte,
wir nichts von dieſen ruͤhrenden Bitten gehoͤret,
und nichts anders erfahren haben wuͤrden, als wie
er uns Trotz boͤte, und Jhr Euch Eurer Schuld
ruͤhmetet. Dieſer Meynung iſt ſo wohl ein je-
der, als
Eure gekraͤnkte Schweſter
Arabelle Harlowe.
Jch ſende gegenwaͤrtiges durch eine beſondere
Gelegenheit, und man hat verſprochen, es Euch
morgen Abend zu uͤberliefern oder fuͤr Euch ab-
zugeben.
X x 4Der
[696]
Der hunderte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an ihre Mutter.
Keine Miſſethaͤterinn, die durch eigne Ueber-
zeugung niedergeſchlagen war, hat ſich je-
mals ihrem zornigen und gerechten Richter mit
groͤßerer Ehrfurcht oder einer aufrichtigern Zer-
knirſchung genaͤhert, als ich mich Jhnen durch
dieſe Zeilen naͤhere.
Jch muß in der That geſtehen, daß, wenn
weine demuͤthige Bitte nicht meine kuͤnftige
Wohlfarth betroffen haͤtte, ich mich nicht unter-
ſtanden haben wuͤrde, mir dieſe Freyheit zu neh-
men. Allein die Sache liegt mir ſo ſehr am
Herzen, daß ich ſie fuͤr etwas anſehe, welches
naͤchſt der Vergebung Gottes des Allmaͤchtigen,
ſuͤr mich ſchlechterdings nothwendig iſt.
Haͤtte meine gluͤckliche Schweſter meinen
Jammer gekannt: ſo wuͤrde ſie mein Herz nicht,
wie ſie gethan hat, durch eine Haͤrte gequaͤlet
haben, welche ich nothwendig fuͤr unfreundlich
und unſchweſterlich halten muß.
Jedoch es ſtehet mir nicht zu, mich uͤber eine
Unfreundlichkeit von ihr zu beklagen. Weil ihr
aber zu ſchreiben beliebt, daß man ſehen muͤſſe,
daß
[697]
daß meine Reue nicht ſo wohl von wahrer
Ueberzeugung, als von einem Misvergnuͤgen uͤber
meine fehlgeſchlagene Hoffnung herkomme: ſo
erlauben Sie mir, gnaͤdige Frau, darauf zu beſte-
hen, daß ich wirklich ein Recht habe auf den
Segen, um welchen ich flehe, einen Anſpruch
zu machen; weil meine demuͤthige Bitte ſich
auf eine wahre und ungeheuchelte Reue gruͤndet.
Dieß werden Sie deſto eher glauben: wofern
diejenige, welche niemals, nach ihrem beſten Wiſ-
ſen, ihrer Mutter vorſetzlich eine Unwahrheit ge-
ſaget hat, Glauben finden kann; wenn ſie auf die
feyerlichſte Weiſe, wie ſie thut, verſichert, daß ſie
zu dem Verfuͤhrer, mit dem feſten Vorſatz, nicht
mit ihm abzugehen, gekommen ſey; daß der un-
beſonnene Schritt, den ſie gethan hat, mehr aus
Zwang, als aus Bethoͤrung, geſchehen; und daß
ihr Herz ſo wenig dazu geneigt geweſen, daß ſie
von dem Augenblick an, da ſie ſich in ſeiner Ge-
walt befunden, und alle Augenblicke hernach, ver-
ſchiedne Wochen vorher, ehe ſie die geringſte
Urſache gehabt, die ihr widerfahrne Begegnung
von ihm zu befuͤrchten, Reue und Kummer dar-
uͤber empfunden habe.
Daher bitte ich Sie, meine beſtaͤndig geehrte
Fr. Mutter, in der groͤßten Demuth auf meinen
Knieen um Jhren Segen: denn auf meinen
Knieen ſchreibe ich dieſen Brief. Jch verlange
nicht, daß Sie mich Jhre Tochter nennen: ſagen
Sie nur in ſo vielen Worten: Verlohrnes,
ungluͤckliches, elendes Geſchoͤpfe, ich ver-
X x 5gebe
[698]
gebe euch! und Gott wolle euch ſegnen! ‒ ‒
Dieß iſt alles. Laſſen Sie mich nur eine Zeile
dieſes Jnhalts, unter Jhrer theuren Hand, auf
einem fuͤr mich geſegneten Stuͤcklein Papier ſehen,
damit ich es in meinen ſchwereſten Verſuchungen
an mein Herz halten moͤge: ich werde es als einen
Freybrief zum Himmel anſehen. Und wo ich mich
nicht zu viel unterſtehe; und es wir an ſtatt ich
heißen koͤnnte, mit Beyfuͤgung Jhrer beyden
geehrteſten Namen: ſo wuͤrde ich nichts mehr zu
wuͤnſchen haben. Alsdann wollte ich ſagen:
„Großer und barmherziger Gott! Du ſieheſt
„hier in dieſem Papier dein armes unwuͤrdiges
„Geſchoͤpfe von ihren billig zuͤrnenden Eltern los-
„geſprochen: O ſprich, um meines Erloͤſers willen,
„dein gnaͤdiges Fiat dazu, und nimm eine buß-
„fertige Suͤnderinn in deine gnaͤdige Arme auf!“
Jch kann Sie bey keinem Stuͤcke muͤtterli-
cher Zaͤrtlichkeit beſchwoͤren, gnaͤdige Frau, wel-
ches nach der Meynung meiner ſtrengen Richter,
vor denen dieſe demuͤthige Bittſchrift erſcheinen
muß, meine Vorwuͤrfe nicht vermehren wuͤrde:
daher laſſen Sie ſich, um Gottes willen, bewegen,
mir Segen und Vergebung anzudeuten; weil Sie
hiedurch mit Troſt erheitern werden die letzten
Stunden
Jhrer
Clariſſa Harlowe.
Der
[699]
Der hundert und erſte Brief
von
Frl. Montague an Frl. Clariſſa Harlowe.
Zur Antwort auf ihr Schreiben
vom Donnerſt. den 3ten Aug. welches hier
der XCIII. Brief iſt.
Wir waren alle der Meynung, ehe uns noch
Jhr Brief zu Haͤnden kam, daß Herr Lo-
velace Jhrer aͤußerſt unwuͤrdig waͤre, und viel-
mehr gehoͤrige Strafe, als das Gluͤck von einer
ſolchen Ehegattinn verdiente. Wir hofften weit
mehr von Jhrer guͤtigen Achtung gegen uns,
als von irgend einer Achtung, welche wir bey
Jhnen gegen einen ſo niedertraͤchtigen Beleidi-
ger fuͤr moͤglich hielten. Denn wir waren alle
feſt entſchloſſen Sie zu lieben, und zu bewundern:
ſein Bezeigen gegen Sie mochte geweſen ſeyn,
wie es wollte.
Allein was kann man nunmehr, nach Jh-
rem Briefe, ſagen?
Jnzwiſchen iſt mir befohlen, Jhnen in aller
Unterſchreibenden Namen zu eroͤffnen, wie ſehr
uns das, was Sie gelitten haben, zu Herzen gehe,
und Jhnen zu melden, daß der Lord M. ihm ver-
boten habe, jemals uͤber die Schwellen derer
Zim-
[700]
Zimmer zu kommen, in welchen er ſich auf halten
wird. Da Sie aber von den ungluͤcklichen Wir-
kungen des Misfallens bey Jhren Freunden ge-
bruͤckt werden, welche Sie vielleicht einigen Un-
bequemlichkeiten unterwerfen moͤgen: ſo erſuchen
Sie der Lord, die Lady Sarah, und die Lady Eli-
ſabeth, auf Jhre Lebenszeit, oder wenigſtens bis
Sie zu dem Beſitz Jhres eignen Gutes gelaſſen
werden, hundert Guineas alle Vierteljahre, die
Jhnen ordentlich durch eine beſondere Hand wer-
den zugeſtellt werden, und zum Anfange den ein-
geſchloſſenen Bankzettel anzunehmen. Gedenken
Sie nicht, wertheſte Fraͤulein, wir bitten Sie alle
darum, gedenken Sie nicht, daß Sie fuͤr dieſes
Zeichen der Liebe von dem Lord M. der Lady Sa-
rah und der Lady Eliſabeth, den Freunden die-
ſes ſchaͤndlichen Menſchens verbunden ſind:
denn er hat keine Freunde mehr unter uns.
Wir wuͤnſchen alle, daß uns ein Antheil an
Jhrer Achtung gegoͤnnet, und wir eben ſo, wie
Verwandte, angeſehen werden moͤgen, als wir
geweſen ſeyn wuͤrden, wenn das, was wir ſonſt
mit ſo vielem Vergnuͤgen hoffeten, geſchehen waͤ-
re. Wir werden unſer Gebeth mit einander ver-
einigen, daß Sie Jhre Geſundheit und Munter-
keit wieder erlangen, und viele begluͤckte Jahre
erleben moͤgen: und da fuͤr dieſen nichtswuͤrdigen
Menſchen ſich nicht mehr Vorſtellungen thun laſ-
ſen, ſo bitten wir nur, daß uns, wenn er auf
Reiſen gegangen iſt, wie er ſich itzo zu thun an-
ſchicket, die Ehre erlaubt ſey, mit einer Fraͤulein,
die
[701]
die ihres gleichen nicht hat, uns perſoͤnlich bekannt
zu machen. Dieß iſt es, wertheſte Fraͤulein,
warum mit dem groͤßten Verlangen erſuchen
Jhre
ergebene Freunde, und getreueſte Diener
und Dienerinnen
M.
Sarah Sadleir.
Eliſab. Lawrance.
Charl. Montague.
Marth. Montague.
Sie werden die drey Erſtbenannten insbeſon-
dre noch mehr kraͤnken: wo Sie das Merk-
mal ihrer Liebe nicht annehmen. Wertheſte
Fraͤulein Harlowe, ſtrafen Sie dieſe nicht
fuͤr ſeine Schandthaten. Wir ſenden ge-
genwaͤrtiges durch eine beſondere Gelegen-
heit, wodurch wir die Gefaͤlligkeit, daß Sie
es annehmen, zu erfahren hoffen.
Herr Lovelace ſchreibt mit eben der Gelegen-
heit: aber er weiß nichts von unſerm Brie-
fe, und wir nichts von ſeinem. Denn wir
meiden einander. Wir halten uns in ei-
nem, und er in dem andern Theil des
Hauſes auf, welche von einander am wei-
teſten entfernet ſind.
Der
[702]
Der hundert und zweyte Brief
von
Herrn Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
Jch bin durch den Jnhalt der Antwort von der
Fraͤulein Harlowe auf den Brief meiner
Baſe Charlotte vom verwichenen Donnerſtage,
die Jhr durch eben den Kerl gebracht iſt, welcher
mir euer Schreiben brachte, ſo ausnehmend be-
unruhiget, daß ich kaum Gedult oder Nachden-
ken genug habe, was ihr ſchreibet, zu erwaͤgen.
Sie haͤtte in der That wohl noͤthig, ſelbſt um
Barmherzigkeit von ihren Freunden zu ſchreyen:
da ſie nicht weiß, wie ſie Barmherzigkeit bewei-
ſen ſoll! Sie iſt eine aͤchte Tochter der Harlowes
‒ ‒ Bey meiner Seele, Bruder, ſie iſt eine aͤchte
Tochter der Harlowes! Dennoch hat ſie ſo viele
vortreffliche Vorzuͤge, daß ich ſie lieben muß, und
deſto mehr, ſo thoͤricht bin ich, weil ſie mich ver-
achtet.
Du kommſt beſtaͤndig, nach der gewoͤhn-
lichen Weiſe liederlicher Leute, wenn ſie
fromm werden wollen, mit deinem verfluch-
ten Unſinn vom Sterben, Sterben, Sterben, auf-
gezogen; und wenn du das Wort einmal erha-
ſchet haſt, kannſt du nicht umhin, es in einen je-
den Abſatz einzuſchieben! Der Teufel hole mich,
wo
[703]
wo ich nicht denke, daß du ihr lieber mit deinen
eignen Haͤnden Gift geben wollteſt, als daß ſie
wieder geneſen, und dich der Ehre berauben ſoll-
te, ein Wahrſager zu ſeyn.
Aber nicht mehr von deiner Todesklocke.
Dein Spiel mit dem Tode wird ſich umkehren.
Sie wird leben, mich zu begraben: das ſehe ich.
Denn, bey meiner Seele, ich kann weder eſſen,
noch trinken, noch ſchlafen, noch, welches weit
aͤrger iſt, irgend ein Frauenzimmer in der Welt
lieben, als ſie. Jch mag itzo nicht einmal eine
Weibsperſon anſehen. Vielmehr kehre ich mei-
nen Kopf von einer jeden weg, die mir begegnet:
ausgenommen, wenn mich von ungefaͤhr ein Au-
ge, eine Miene, ein Zug an einem oder dem an-
dern vorbeyſtreifenden Geſichte durch eine Aehn-
lichkeit mit ihr ruͤhret. Alsdenn kann ich mich
nicht entbrechen, ſie noch einmal anzuſehen: ob
ich mich gleich bey dem zweyten Blick wieder be-
ſinne. Denn ihr kann niemand in der Welt
aͤhnlich ſeyn.
Allein gewiß, Belford, der Teufel ſteckt in
dieſer Fraͤulein! Je mehr ich an ihren Unſinn
und ihre Hartnaͤckigkeit gedenke: deſto weniger
Gedult habe ich mit ihr. Jſt es wohl moͤglich,
daß ſie ihrer Familie, ihren Freunden auf irgend
eine andere Art ſo viel Gerechtigkeit thun kann,
als wenn ſie mich heyrathet? Wuͤßte ſie gewiß,
daß ſie nur einen einzigen Tag leben wuͤrde: ſo
ſollte ſie doch billig als eine Frau ſterben. Wo
ihre chriſtliche Rache ihr nicht zulaſſen will,
es
[704]
es um ihrer ſelbſt willen zu wuͤnſchen: ſollte ſie
es denn nicht um ihrer Familie und um ihres Ge-
ſchlechtes willen thun, deſſen Sache ſie ſich bis-
weilen ſo ſehr, wie ſie vorgiebt, angelegen ſeyn
laͤſſet? Wo ihr aber nichts werth genug iſt, ih-
ren harlowiſchen Sinn zu meinem Beſten zu be-
wegen: hat ſie denn wohl einiges Recht zu dem
Mitleiden, welches du ſo mitleidig allezeit fuͤr ſie
zu erregen ſucheſt?
Was die Mishelligkeit betrifft, welche ihr
Brief zwiſchen mir und der einfaͤltigen Familie
an dieſem Orte angerichtet hat; ich muß dir aber
ſagen, daß wir alle gaͤnzlich zerfallen ſind: ſo ach-
te ich die ſo viel, als nichts. Sie ſind albern,
daß ſie auf mich fluchen: da ich ihnen zehn Fluͤ-
che fuͤr einen wieder geben kann; wenn ſie es ei-
nen ganzen Tag aushalten ſollten.
Jch habe eine Haͤlfte von dem Hauſe fuͤr
mich allein, und zwar die beſte. Denn die Gro-
ßen genießen desjenigen am wenigſten, was ſie
am meiſten koſtet. Große Bequemlichkeiten
haben und ſie gebrauchen, ſind zwey verſchiedne
Dinge. Sie haben die ordentlichen Zimmer fuͤr
ſich: ich die Staatszimmer fuͤr mich. Hier
ſpiele ich den großen Herrn, und will ihn ſo lan-
ge ſpielen, als es mir beliebt: da unterdeſſen die
beyden engbruͤſtigen Schweſtern, der alte poda-
griſche Bruder und die zwo verdrieslichen Nef-
fen in der andern Haͤlfte eingeſperret ſind und
keinen Fuß herausſetzen duͤrfen, aus Furcht, mich
anzutreffen; dem ſie, was der Spaß dabey iſt,
ver-
[705]
verboten haben, nicht in ihre Zimmer zu kommen,
gleichwie ich ihnen unterſagt habe, nicht in meine
zu treten. Auf die Art halte ich ſie alle gefan-
gen. Artige Hunde und Huͤndinnen, die Lerm
machen, und mich anbellen, und doch, wenn ich
mich ſehen laſſe, ſich ſcheuen aus ihren Huͤtten nur
eben hervorzukommen; oder wo ſie außen ſind,
ehe ſie mich ſehen, bey meinem Anblick knorren,
und mit hangenden Ohren, herumfliegenden
Wammen am Halſe, und bebenden und einwaͤrts
gebognen Schwaͤnzen, wieder hinein laufen.
Unterdeſſen da ich ſo tapfer mit Kaͤfern,
Hummeln, Wespen, und Horniſſen Krieg fuͤhre;
und aus Wuth uͤber eine verachtete Liebe ganz in
Feuer bin: thuſt du dir mit deiner Kaltſinnigkeit
etwas zu gute, und gehſt in deinem Anſchlage
fromm zu werden und in deinem Frohlocken uͤber
mein Ungluͤck fort.
Der Teufel hole dich, als einen unempfindli-
chen Kloß von einem Kerl. Jch habe nicht mehr
Gedult mit dir, als mit der Fraͤulein. Denn
du weißt nichts von Liebe oder Freundſchaft: ſon-
dern diſt zu der einen ſo ungeſchickt, als der an-
dern unwuͤrdig; ſonſt wuͤrdeſt du dich nicht, wie
du unter dem ſeltſamen Bezeigen des Mit-
leidens thuſt, uͤber meine fehlgeſchlagene Hoff-
nung freuen.
Du biſt ein artiger Kerl! nicht wahr? daß
du dich anheiſchig machſt, ihr einige Stellen aus
meinen Briefen, die im Vertrauen an dich ge-
ſchrieben ſind, abzuſchreiben! Aus Briefen von
Sechſter Theil. Y yder
[706]
der Art, daß du dir eher haͤtteſt die Zunge aus-
reißen laſſen, als geſtehen ſollen, dergleichen em-
pfangen zu haben! Dieſe ſollen ihr dennoch itzo
mitgetheilet werden! Allein ich beſchwoͤre dich,
und wehe dir, wo es zu ſpaͤt iſt! daß du ihr nicht
mit einer Zeile von mir gefaͤllig zu werden ſu-
cheſt.
Wo du es gethan haſt: ſo ſoll die geringſte
Rache, welche ich nehmen will, die ſeyn, daß ich
meine Ehre, worauf ich dir verſprochen habe, ſie
nicht zu beſuchen, aus den Augen ſetzen will,
gleichwie du in Mittheilung ſolcher Briefe, die
unter dem Siegel der Freundſchaft geſchrieben
ſind, die deinige aus den Augen geſetzt haben
wirſt.
Jch bin nun, zu allzu großem Leidweſen fuͤr
meine Hoffnung, durch ihren Brief an meine Ba-
ſe Charlotte uͤberzeuget, daß ſie ſich feſt vorge-
nommen hat, mich niemals zu nehmen.
Unerhoͤrte Bosheit, nennet ſie mein Ver-
brechen gegen ſie. Aber wie weiß ſie, wozu die
Hitze einer feurigen Liebe treiben werde? Wie
weiß ſie die gehoͤrige Unterſcheidungen der Wor-
te, welche ſie in dieſem Falle gebraucht? ‒ ‒
Wenn ſie das aͤrgſte denkt, und bey ſolchen ſehr
bedenklichen Umſtaͤnden Vergleichungen an-
ſtellen kann: muß ſie denn nicht weniger zaͤrt-
lich von Gemuͤthe ſeyn, als ich mir von ihr einge-
bildet hatte? ‒ ‒ Jedoch, ſie hat gehoͤrt, daß der
Teufel ſchwarz iſt: und weil ſie Luſt hat, einen
aus mir zu machen; ſo ſtoͤßt ſie zwanzig Feuer-
maur-
[707]
maurkehrer in ihrer Einbildungskraft in einem
Moͤrſer zuſammen, damit ſie einen ſchwaͤrzer von
Ruß mache, als er ordentlicherweiſe aus dem
ſchmutzigen Zeuge kommt.
Aber was fuͤr einen Wirbelwind erregt ſie
durch ihre ſtolze Verachtung meiner in meiner
Seele! Niemals, niemals iſt eines Menſch en
Stolz ſo gekraͤnket worden. Wie erniedrigt ſie
mich ſo gar in meinen eignen Augen! ‒ ‒ Jhr
Herz verabſcheuet mich aufrichtig, ſagt ſie, wegen
meiner Niedertraͤchtigkeit ‒ ‒ Dennoch ge-
denkt ſie den Vortheil von dem, was ſie ſo nen-
net, zu erndten! ‒ ‒ Verflucht ſey ihr uͤbermuͤ-
thiger Stolz und ihre Niedertraͤchtigkeit zu
einer und eben derſelben Zeit! ‒ ‒ Jhr uͤbermuͤ-
thiger Stolz gegen mich: und ihre Niedertraͤch-
tigkeit gegen ihre eigne Verwandten; die der
Verwandtſchaft mit ihr weit unwuͤrdiger ſind,
als ich ſeyn kann; oder ich muß in der Thatſehr
niedertraͤchtig ſeyn.
Wer muß ſie gleichwohl nicht bewundern,
wer muß ſie nicht anbeten? ‒ ‒ O das verfluch-
te, verfluchte Haus! Waͤren die Weibsleute in
demſelben nur nicht geweſen! ‒ ‒ Und dann ihre
verdammten Traͤnke! Waͤren nur dieſe nicht ge-
weſen: ſo haͤtten ihre ungeſchwaͤchten Ver-
ſtandeskraͤfte und die Majeſtaͤt ihrer Tugend
ſie gerettet, wie einmal durch ihre demuͤthige Be-
redſamkeit (*), ein anderes mal durch ihre ſchreck-
Y y 2liche
[708]
liche Drohungen gegen ihr eignes Leben (*) ge-
ſchahe.
Da ſie in dieſen beyden Faͤllen ihre Gewalt
uͤber mich, und meine Liebe gegen ſie, offenbar ſe-
hen kann: ſollte ſie mich denn haſſen, verachten
und abweiſen! ‒ ‒ Das haͤtte ſie mit einigem
Schein der Gerechtigkeit thun moͤgen: wenn die
gewaltſame Entehrung, welche ich zuletzt im Sin-
ne hatte, veruͤbet waͤre ‒ ‒ Aber wie nun: da ſie
in aller Betrachtung als Siegerinn davon gegan-
gen iſt? ‒ ‒ Ja ſie hat wohl Urſache, mich zu
verachten, daß ich ſie ſo habe gehen laſſen.
Sie hat mich in der That kriechend und
erniedrigt verlaſſen! ‒ ‒ Der Eindruck bleibt
bey ihr. ‒ ‒ Jch moͤchte mein eignes Fleiſch
freſſen, daß ich ihr nicht Urſache gegeben ‒ ‒ ‒
daß ich ſie nicht in der That erniedriget habe
‒ ‒ oder daß ich nicht ſo lange in der Stadt ge-
blieben bin, bis ich mich dadurch haͤtte erhoͤhen
koͤnnen, daß ich mir ſelbſt eine Frau gegeben haͤt-
te, die uͤber alle Verſuchung erhaben waͤre.
Jch will es inzwiſchen noch einmal wagen an
ſie zu ſchreiben. Wo das nicht hilft, oder mir
nicht eine Antwort verſchaffet: ſo will ich mich
bemuͤhen, ſie ſelbſt zu ſehen; es mag daraus fol-
gen, was da Will. Entgeht ſie mir aber: ſo will
ich dem ungeſtuͤmen Maͤgdchen, das ſie am lieb-
ſten hat, ein treffliches Ungluͤck anrichten, und
alsdenn auf ewig das Koͤnigreich verlaſſen.
Nun,
[709]
Nun, Bruder, da du dich doch damit ab-
giebſt, den Jnhalt geheimer Briefe mitzutheilen,
ſage ihr dieß, wo du willſt: und ſetze noch hin-
zu, daß, wo Sie mich verlaͤßt, Gott mich ver-
laſſen werde. Alsdann iſt es gleich viel, was aus
Jhrem Lovelace wird.
Der hundert und dritte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
zur Antwort
auf ſein Schreiben vom Freytag Abends dem
4ten Aug. welches hier der XCVIII
Brief iſt.
So habt ihr wirklich der unverſoͤhnlichen Schoͤ-
nen Auszuͤge aus Briefen, die im Vertrauen
auf Freundſchaft geſchrieben ſind, uͤberliefert!
Nehmt euch in Acht ‒ ‒ Nehmt euch in Acht,
Belford ‒ ‒ Jch liebe euch in der That mehr,
als ſonſt eine Mannsperſon in der Welt: aber
dieß iſt etwas ſehr bedenkliches. Die Sache iſt
fuͤr mich ſehr ernſthaft geworden. Es liegt mir
am Herzen, ſie zu haben: und haben will ich ſie;
wenn ich ſie auch in Todeszuͤgen heyrathe.
Y y 3Sie
[710]
Sie dringt ſehr ernſtlich darauf, ſchreibt ihr,
daß ich ihr nicht beſchwerlich zu fallen ſuche.
Das, ſoll ſie wiſſen, wird ſchlechterdings von ihr
ſelbſt, und der Antwort, die ich auf meinen Brief
von ihr bekomme, abhangen: ob ſie durch Fe-
der und Dinte, oder durch das veraͤchtliche Still-
ſchweigen gegeben wird, womit ſie meine letzten
vier Briefe an ſie beantwortete. Jch will ihn
in ſo demuͤthigen und billigen Ausdruͤcken ſchrei-
ben, daß ſie mir vergeben Wird, wo ſie nicht eine
aͤchte Harlowe iſt. Allein was die Vollzie-
hung ihres letzten Willens betrifft: ‒ ‒ ſo
ſollſt du bey ihr der Vollzieher nicht ſeyn; ich
will das Leben nicht haben, wo du es ſeyn ſollſt.
‒ ‒ Sie ſoll auch nicht ſterben. Niemand ſoll
bey ihr etwas ſeyn, niemand ſoll ſich unterſtehen
etwas bey ihr zu ſeyn, als ich. ‒ ‒ Deine Gluͤck-
ſeligkeit iſt ohne das ſchon zu groß, daß du taͤg-
lich den Zutritt zu ihr haſt, ſie anſieheſt, mit
ihr ſprichſt, ſie ſprechen hoͤreſt: da mir unterdeſ-
ſen verboten iſt, nur einmal ſo weit zu kommen,
daß ich ihr Fenſter ſehen kann. ‒ ‒ Was fuͤr
eine Verwerfung iſt dieß, von demjenigen, der
ehemals ihr lieber geweſen iſt, als alle Manns-
perſonen in der Welt! ‒ ‒ Und daß ſie nun im
Stande iſt, bisweilen mit niedriger Verachtung,
zu andern Zeiten mit geringſchaͤtzigem Mitleiden
auf mich herab zu ſchauen, weil ihr Haupt unter
den Sternen vor mir, verdecket iſt, das kann ich
nicht ertragen.
Dieß
[711]
Dieß ſage ich dir; wo mir meine Bemuͤhung
durch den Brief nicht gelinget: ſo will ich die
kriechende Thorheit, welche den Weg zu meinem
Herzen gefunden hat, uͤberwinden; oder ich will
daſſelbe vor ihr ausreißen, und es an ihres wer-
fen, damit ſie ſehen moͤge, wie viel zaͤrtlicher, als
ihres, dieſer empfindliche Theil ſey, den ſie, und
ihr, und ſonſt alle ſich die Freyheit genommen ha-
ben, ſchwielichthart zu nennen.
Warne die Leute, welche hinten und vorn
und an beyden Seiten bey der verfluchten Mut-
ter wohnen, ihre beſte Habſeligkeiten wegzubrin-
gen: wo ich verworfen werde. Denn die erſte
Rache, die ich nehmen werde, wird die ſeyn, daß
ich dieſe Schlangengrube in Feuer ſetze. Es wird
nicht zu beſorgen ſeyn, daß ſie eben in einer Hend-
lung uͤberfallen werden ſollten, welche, wie Sha-
keſpeare ſaget, den Vorſchmack der Selig-
keit in ſich habe ‒ ‒ So wird denn meine Ra-
che an ihnen, wo ſie in den Flammen umkom-
men, welche ich aufſteigen laſſen werde,
gaͤnzlich vollfuͤhret ſeyn.
Y y 4Der
[712]
Der hundert und vierte Brief
von
Herrn Lovelace an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
So wenig ich auch Urſache habe, ein geneigtes
Ohr oder ein vergebendes Herz bey Jhnen
fuͤr mich zu erwarten: ſo kann ich mich doch nicht
entbrechen, noch einmal an Sie zu ſchreiben; wel-
ches ein Zudringen iſt, das eher zu verzeihen ſeyn
wird, als ein Beſuch ſeyn wuͤrde; um Sie zu er-
ſuchen, daß Sie mich in den Stand ſetzen, die
Beleidigungen, welche Jhnen von mir widerfah-
ren ſind, ſo weit es moͤglich iſt, auszuſoͤhnen und
wieder gut zu machen.
Jhre engliſchreine Tugend und mein erwach-
tes Gewiſſen ſind beſtaͤndige Zeugniſſe Jhrer er-
habenen Verdienſte und meiner abſcheulichen
Niedertraͤchtigkeit: allein Jhre Vergebung wird
mir eine ewige Verbindlichkeit gegen Sie aufle-
gen ‒ ‒ Vergeben Sie mir denn, mein liebſtes
Leben, mein irdiſches Gut und ſichtbarer Anker
meiner kuͤnſtigen Hoffnung! Wie Sie ſelbſt; da
Sie glauben, etwas an ſich zu haben, weswegen
Jhnen Vergebung noͤthig iſt; wie Sie ſelbſt hof-
fen, Verzeihung zu erlangen: ſo vergeben Sie
auch mir, und erklaͤren ſich geneigt, unter Jhuen
beliebi-
[713]
beliebigen Bedingungen, und in weſſen Geſell-
ſchaft es Jhnen gefaͤllt, bey dem heiligen Altar
mit mir zuſammen zu kommen, und ſich ſelbſt zu
dem reuevolleſten und ergebenſten Herzen, das
jemals in eines Menſchen Bruſt geſchlagen hat,
ein Recht zu geben.
Aber vielleicht mag eine Zeit der Pruͤfung
erfordert werden. Es mag Jhnen ſo wohl wegen
Jhrer Unpaͤßlichkeit, als wegen Jhrer Zweifel,
vielleicht unmoͤglich ſeyn, mich ſo bald gaͤnzlich
wieder zur Gewogenheit aufzunehmen, als mein
Herz aufgenommen zu ſeyn wuͤnſchet. Jn dieſem
Fall will ich mich Jhrem Belieben unterwerfen;
und es ſoll keine Buße ſeyn, die Sie mir auflegen
koͤnnen, welche ich nicht mit Freuden uͤber mich
nehmen will: wo Sie ſich gefallen laſſen wollen,
mir Hoffnung zu machen, daß, nach einer Aus-
ſoͤhnung, geſetzt, ſie ſollte ſich auch auf ganze Mo-
nathe erſtrecken, wobey die Regelmaͤßigkeit mei-
nes kuͤnftigen Lebens und Wandels Sie von mei-
ner Beſſerung uͤberzeugen wird, Sie endlich mein
Eigenthum ſeyn wollen.
Erlauben Sie mir alſo, um einige Zeilen zu
einem Zeichen der Gewogenheit zu bitten, welche
mich in dieſer bedingten Hoffnung ermuntern
moͤgen: wo es keine noch naͤhere Hoffnung und
noch greßmuͤthigere Aufmunterung ſeyn kann.
Schlagen Sie mir dieß ab: ſo werden Sie
mich zur Verzweifelung bringen. Aber auch als-
denn muß ich mich, auf alle Gefahr, zu ihren
Fuͤßen werfen, damit ich mir nicht ſelbſt die Ver-
Y y 5ſaͤumung
[714]
ſaͤumung irgend eines eifrigen Bemuͤhens, eines
demuͤthigen Beſtrebens, Sie zur Gewogenheit
zu bewegen, vorzuhalten habe. Denn in Jhnen,
gnaͤdige Fraͤulein, in Jhrer Vergebung iſt alle
meine Hoffnung fuͤr dieſe und jene Welt verei-
niget. Wo Sie mich ganzlich verwerfen: ſo
wird mir nicht vergoͤnnet ſeyn, Barmherzigkeit
von Oben zu erwarten. ‒ ‒ Denn mein Gewiſ-
ſen iſt itzo genug erwecket, daß ich denken kann,
es ſey zur Gnade bey Gott nothwendig, vorher
von unſchuldig Beleidigten Vergebung zu haben:
indem der Allmaͤchtige, wie vernuͤnftig zu glauben
iſt, den Nichtswuͤrdigen, der ſie ohne Urſache und
toͤdtlich beleidiget, in ihre Gewalt giebet. Und
wer kann zu dieſer Gewalt ein Recht haben:
wo Sie es nicht haben?
Mit einem Wort, gnaͤdige Fraͤulein, ich ſehe
Jhre Sache als die Sache der Tugend, und
deswegen als die Sache Gottes an. Muß ich
denn nicht erwarten, daß er dieſelbe in dem Ver-
derben eines Menſchen, der gegen eine Perſon
von unbefleckter Tugend ſo gehandelt hat, wie ich
gehandelt habe, ausfuͤhren und behaupten werde:
wofern Sie, durch Verwerfung meiner, zeigen,
daß meine Beleidigung groͤßer iſt, als daß eine
Vergebung moͤglich ſeyn ſollte?
Jch verſichere ſie auf das heiligſte, daß mich
keine zeitliche oder weltliche Abſichten zu dieſer
eifrigen Bitte bewegen. Jch verdiene keine Ver-
gebung von Jhnen. Mein Lord M. und ſeine
Schweſtern verdienen ſie auch von mir nicht.
Jch
[715]
Jch verachte dieſelben von ganzem Herzen, weil
ſie ſich einbilden moͤgen, daß ich mich durch die
Hoffnung einiger Vortheile, welche ſie mir zu-
wenden koͤnnen, regieren laſſen wolle. Es iſt
keine lebendige Seele in der Welt, die mir etwas
vorſchreiben ſoll, außer Jhnen. Jhre ganze Auf-
fuͤhrung, gnaͤdige Fraͤulein, iſt nach ſo edlen
Grundſaͤtzen eingerichtet, und Jhr Unwillen ſo
bewundernswuͤrdig gerecht geweſen, daß Sie mir
etwas Goͤttliches an ſich zu haben, und zu gleicher
Zeit unendlich weit liebenswuͤrdiger zu ſeyn ſchei-
nen, als Sie mir haͤtten ſcheinen koͤnnen, wenn
Sie die unmenſchlichen Uebel nicht ausgeſtanden
haͤtten, welche nun mein Gemuͤth, bey der Erin-
nerung meiner eignen Bosheit gegen das vor-
trefflichſte Frauenzimmer, mit Angſt und Schre-
cken erfuͤllen.
Jch wiederhole, daß alles, was ich itzo bitte,
nur einige Zeilen ſind, welche meine ungewiſſe
Tritte leiten, und, wo es Jhnen moͤglich iſt, ſich
ſo weit herabzulaſſen, mich ermuntern koͤnnen,
zu hoffen, daß mir die Ehre erlaubt ſeyn moͤge,
wofern ich meine gegenwaͤrtige Geluͤbde durch mei-
ne kuͤnftige Auffuͤhrung rechtfertigen kann, mich
Ewig den Jhrigen
zu nennen,
R. Lovelace.
Der
[716]
Der hunderte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an den Lord M.
und die Ladies und Fraͤuleins
von ſeinem Hauſe.
Zur Antwort auf den CI. Brief von der
Fraͤulein Montague,
dem 7ten Aug.
Halten Sie mich entſchuldigt, mein guͤtiger
Lord, und meine geehrteſten Ladies, daß ich
die mir alle Vierteljahr von Jhnen edelmuͤthig
zugedachte Guͤte nicht annehme, und erlauben
mir, das eingeſchloſſene und erſte Unterpfand Jh-
rer Guͤtigkeit mit aller dankbarer Erkenntlichkeit
und wahrer Ehrerbietung wieder zuruͤckzuſenden.
Jn der That, ich habe das eine nicht noͤthig, und
kann vielleicht das andere nicht gebrauchen.
Nichts deſto weniger bin ich durch Jhre groß-
muͤthige Gewogenheit ſo vollkommen geruͤhret,
daß ich bis an die letzte Stunde meines Lebens
ein Vergnuͤgen finden werde, daran zu gedenken,
und mir aus dem Antheil an der Achtung ſo ehr-
wuͤrdiger Perſonen, mit denen ich ehemals die
ſtolze Hoffnung hatte verwandt zu werden, eine
Ehre machen will.
Erlau-
[717]
Erlauben Sie mir aber, meine Beyſorge
daruͤber zu bezeugen, daß Sie Jhren Verwand-
ten aus Jhrer Geſellſchaft verbannet und von
Jhrer Gunſt ausgeſchloſſen haben: indem er nun
vielleicht noch weniger als jemals gebunden ſeyn
wird; und ich inſonderheit, die durch Jhr Anſehen
bey ihm, fuͤr den Ueberreſt meiner Tage, unbe-
ſchweret zu bleiben hoffete, ſeinen Verfolgungen
wieder ausgeſetzet werden mag.
Er hat ſich gegen Sie, mein guͤtiger Lord,
und wertheſte Ladies und Fraͤuleins, nicht ſo ver-
gangen, als gegen mich: und dennoch haben Sie
alle ſo großmuͤthig fuͤr ihn bey mir Fuͤrbitte thun
koͤnnen. Wird es ſich denn wohl ſehr uͤbel ſchi-
cken, wenn ich um meiner eignen Ruhe willen,
um anderer armen Frauenzimmer willen, die noch
von ihm beleidigt werden moͤgen, wo er ganz zur
Verzweifelung gebracht wird, und um ihrer gan-
zen wuͤrdigen Familie willen bitte, daß Sie ihm
die Vergebung zu Theil werden laſſen wollen,
welche Sie von mir hoffeten? und dieß um ſo
viel mehr, da ich denken darf, daß ſein verwegenes
und ungeſtuͤmes Gemuͤth ſich nicht durch gewalt-
ſame Mittel baͤndigen laſſen werde. Denn ich
zweifele gar nicht, daß die Befriedigung einer
gegenwaͤrtigen Leidenſchaft allezeit mehr bey ihm
gelten werde, als irgend eine Hoffnung auf das
kuͤnftige: ſo unverantwortlich auch die eine, oder
ſo vortheilhaft auch die andere ſeyn mag.
Jhr Unwillen fuͤr mich iſt ungemein groß-
muͤthig: gleichwie Jhre Guͤte gegen mich wahr-
haftig
[718]
haftig edel iſt. Allein ich habe nicht alle Hoff-
nung aufgegeben, daß er durch die Uebel, denen er
mich unterworfen hat, gebuͤhrend werde geruͤhret
werden, und Jhre ganze geehrte Familie ſich ſei-
ner Beſſerung werde erfreuen, und noch viele von
denen begluͤckten Jahren nach einander erleben
koͤnnen, welche Sie, mein guͤtiger Lord, und mei-
ne wertheſten Ladies und Fraͤuleins, ſo liebreich
wuͤnſchen
Jhrer ewig dankbaren und
verbundenen
Clariſſa Harlowe.
Der hundert und ſechſte Brief
von
Herrn Belford an Herrn Robert Lovelace.
Jhr habt von Tourville Nachricht bekommen,
wie viel mir ſo wohl, als Mowbray und ihm,
Beltons Unpaͤßlichkeit und Sachen, ſeit meinem
vorigen, zu thun gemacht haben. Jch fragte am
Montage auf meinem Wege nach Epſom bey
Smithen an.
Die Fraͤulein war in die Bethſtunde gegan-
gen: ich hatte aber das Vergnuͤgen zu hoͤren, daß
es nicht ſchlimmer mit ihr geworden waͤre; und
ließ meine Empfehlung nebſt der Nachricht, daß
ich
[719]
ich auf drey oder vier Tage außerhalb London
ſeyn wuͤrde, fuͤr ſie zuruͤck.
Jch beziehe mich auf Tourville, der euch die
Schwierigkeiten melden will, welche wir gehabt
haben, dieſe ſanftmuͤthige Maitreſſe und ſpar-
ſame Haushaͤlterinn mit ihrer Bruth auszutrei-
ben, und des armen Kerls Schweſter in den Be-
ſitz ſeines eignen Hauſes zu ſetzen; da er unter-
deſſen in einem Wirthshauſe zu Croydon lauſche-
te, und viel zu niedergeſchlagen war, ſich bey ſei-
ner eignen Sache ſehen zu laſſen.
Allein ich muß bemerken, daß wir aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach eben zu rechter Zeit kamen, die
zertruͤmmerten Ueberbleibſel ſeines Vermoͤgens von
dieſem um ſich greifenden Weibe und ihrer Bande
zu retten. Denn da er nicht lange leben kann,
und ſie das auch gedenket: ſo fanden wir, daß ſie
wirklich Maaßregeln genommen hatte, eine Hey-
rath zu errichten und von allem fuͤr ſich und ihre
Soͤhne Beſitz zu nehmen.
Tourville wird euch erzaͤhlen, wie ich genoͤ-
thigt worden, den ehemaligen Stallknecht vor ih-
ren Augen zu zuͤchtigen, ehe ich ihn aus dem
Hauſe treiben konnte. Er hatte die Verwegenheit,
Hand an mich zu legen: ich aber ließ ihn nur
einen Schritt, ein paar Treppen hinunter, von
oben bis unten thun. Jch dachte, er haͤtte Hals
und Beine gebrochen. Als er hierauf uͤber Hals
und Kopf herausgejagt war: ſo fand Thomaſine
fuͤr gut, nach ihm hinauszugehen.
Vor-
[720]
Vortreffliche Folgen von dem Maitreſſen-
halten: dem Stande, den wir ſo eifrig zu erhe-
ben geſucht haben! ‒ ‒ Bey dauerhafter Ge-
ſundheit mag es darum ſeyn, wie es will: aber
Krankheit und Abnahme der Lebensgeiſter
an dem, der ſie haͤlt, werden ihm den Unterſchied
zeigen.
Sie hat ſich gegen eine Vertraute merken
laſſen, ſie wuͤrde ihn bald in einem Raum von
ſechs Fuß bey allen fuͤnf Fingern haben; in ſei-
nem Bette meynte ſie: und denn wollte ſie nie-
mand, als den ihr beliebte, zu ihm kommen laſ-
ſen. Der Stallknechtskerl wuͤrde vermuthlich
in dem Fall ſein Arzt geweſen, ſein Teſtament
wuͤrde bald fuͤr ihn gemacht ‒ ‒ und nach aller
Wahrſcheinlichkeit wuͤrden die Witwenkleider
zum voraus fertig angeſchaffet ſeyn. Wer weiß,
ob dieſe nicht in der Abſicht bereit gehalten waͤ-
ren, um vor ſeinen eignen Augen darinn zu er-
ſcheinen: wie ich einen ſolchen Fall an einem gott-
loſen Weibe erfahren habe, die eines ihr verhaß-
ten Ehemannes ſpottete, als ſie ihn ſchon aufge-
geben hatte; wiewohl das dem Manne eine ſol-
che Bewegung der Lebensgeiſter und einen ſol-
chen Wechſel machte, daß er davon kam, und es
noch erlebte, ſie in ihrem Sarge mit eben den
Kleidern, worinn ſie ſeiner geſpottet hatte, zu
ſehen.
So viel fuͤr dießmal von Belton und ſeiner
Thomaſine.
Jch
[721]
Jch fange an von Herzen Mitleiden mit dir
zu haben, da ich nun ſehe, daß es dir Ernſt iſt.
Jch bedaure deine fruchtloſe Liebe, die du gegen
dieſen Engel von einem Frauenzimmer bezeugeſt:
und das um ſo viel mehr, da es unmoͤglich iſt,
du magſt ſagen, was du willſt, daß ſie aus ihrer
Krankheit und ihrer Freunde Unverſoͤhnlichkeit,
wovon ſie neue Proben gehabt hat, herauskom-
men ſollte.
Jch hoffe, du biſt nicht in der That boͤſe uͤber
die Auszuͤge, welche ich fuͤr ſie aus deinen Brie-
fen gemacht habe. Es gereicht deiner Aufrich-
tigkeit ſo ſehr zum Vortheil, ihr zu zeigen, wie
viel Gerechtigkeit du ihrer Tugend haſt widerfah-
ren laſſen, daß ich nach meiner Ueberzeugung ge-
denke, recht daran gethan zu haben: ob es gleich
bey einem andern Frauenzimmer, oder bey einer,
die nicht ſchon das aͤrgſte von dir gewußt haͤtte,
was ſie wiſſen konnte, unrecht geweſen ſeyn
moͤchte.
Wo der erhaltene Zweck die Mittel rechtfer-
tigen wird: ſo iſt klar, daß ich fuͤr euch beyde et-
was Gutes gethan habe; indem ich ſie geruhiger
gemacht, und euch eine beſſere Meynung bey ihr,
als ſie ſonſt von euch gehabt haben wuͤrde, zuwe-
ge gebracht habe.
Wofern ihr aber nichts deſto weniger mit
meiner Gefaͤlligkeit gegen ſie in einer Sache, wel-
che ich ſelbſt fuͤr bedenklich erkenne, uͤbel zufrie-
Sechſter Theil. Z zden
[722]
den ſeyd: ſo laßt uns dieß bey unſerer erſten Zu-
ſammenkunft unterſuchen. Alsdenn will ich euch
zeigen, was ich fuͤr Auszuͤge gemacht, und wie
ich ſie zu eurem Vortheil verbunden habe.
Allein du wirſt doch gewiß mir nicht vor-
ſchreiben wollen, was ich wegen der Vollziehung
ihres letzten Willens thun oder nicht thun ſoll.
Jch bin mein eigner Herr, wie ich hoffe.
Meinen Gedanken nach ſollte es dir lieb ſeyn,
daß die Rechtfertigung ihres Andenkens einem
uͤberlaſſen iſt, der zugleich, wie du verſichert ſeyn
magſt, mit dir und deinen Handlungen nach aller
Gelindigkeit verfahren wird, welche die Umſtaͤn-
de nur immer zulaſſen wollen.
Jch kann nicht umhin, meine hoͤchſte Ver-
wunderung uͤber eine Probe von deiner Partey-
lichkeit fuͤr dich ſelbſt zu erkennen zu geben. Sie
iſt in der Stelle, wo du ſagſt: Sie haͤtte in der
That ſelbſt wohl noͤthig, um Barmherzigkeit von
ihren Freunden zu ſchreyen, da ſie ſelbſt nicht
weiß, wie ſie Barmherzigkeit beweiſen ſoll.
Jn Wahrheit, du kannſt die Faͤlle nicht fuͤr
einerley anſehen! ‒ ‒ Denn ſie verlangt, wie ich
vernehme, nur einen letzten Segen und eine letz-
te Vergebung fuͤr einen Fehler, der gewiſſerma-
ßen wider ihren Willen begangen iſt, wo man
ihn noch einmal einen Fehler nennen kann, und
hoffet nicht wieder angenommen zu werden.
Du willſt fuͤr vorſetzliche Uebelthaten; die ſie
gleichwohl vergiebet, unter der Bedingung, daß
du ihr nicht mehr beſchwerlich falleſt; Verge-
bung
[723]
bung haben, und hoffeſt, zu voriger Gunſt wie-
der aufgenommen zu werden, und das feinſte
Kleinod in der Welt, zu Folge dieſer Vergebung,
zu deinem gaͤnzlichen Eigenthum zu machen.
Nun will ich fortfahren, dir kuͤrzlich zu er-
zaͤhlen, was ſeit meinem letzten mit der armen
Fraͤulein vorgefallen iſt. Daraus wirſt du ſe-
hen, daß ſie Unruhen und Beſchwerden genug
uͤber ſich hat, welche alle urſpruͤnglich von dir
kommen, ohne daß du noͤthig haſt, ſie durch neue
Plagen zu vermehren. Und ſo lange als du zu
M. Hall, wo ein jeder dein Gefangener iſt, dich
ſo rittermaͤßig zeigen kannſt: ſehe ich nicht an-
ders, als daß dein ſtolzer Muth eben ſo gut be-
friedigt ſeyn mag, wenn du da uͤber ein halb
Dutzent Perſonen von Stande und Anſehen herr-
ſcheſt, als er befriedigt werden koͤnnte, wenn du
hier uͤber eine verlaſſene Wayſe; wie ich dieſe
Fraͤulein wohl nennen kann, da ſie niemand hat,
der ihr beyſtehe, wo ich es nicht thue; und uͤber
eine Perſon, die ſich gluͤcklich ſchaͤtzen wird, wenn
ſie vor dir und vor aller Welt nur in den Armen
des Todes eine Zuflucht finden kann, deine Herr-
ſchaft ausuͤbeteſt.
Mein letzter Brief war vom Sonnabend.
Am Sonntage ließ ſie ſich auf ihres Arztes
Rath gefallen, zur Veraͤnderung der Luſt auszu-
fahren. Fr. Lovick und Herr Smith nebſt ſei-
ner Frauen fuhren mit ihr. Nachdem ſie in der
Kapelle zu Highgate dem Gottesdienſt beygewoh-
net hatte, bewirthete ſie dieſelben mit einer klei-
Z z 2nen
[724]
nen Mahlzeit. Nach Mittage war ſie auf ih-
rem Ruͤckwege in der Kirche zu Jslington und
kam mit leidlicher Munterkeit wieder zu Hauſe.
Sie hatte in meiner Abweſenheit verſchiede-
ne Briefe außer dem eurigen bekommen, wie mir
Fr. Lovick erzaͤhlet hat. Euer Schreiben, wie
es ſcheint, machte ihr viele Unruhe. Sie ließ
dem Bothen, der inſtaͤndig um eine Antwort an-
hielte, ſagen, daß es keine eilfertige Beantwor-
tung erforderte.
Am Mittwochen bekam ſie einen Brief von
ihrem Onkel Harlowe (*), zur Antwort auf einen,
den ſie verwichenen Sonnabend auf ihren Knieen
an ihre Mutter geſchrieben hatte. Er mußte
ſehr grauſam ſeyn, ſagt Fr. Lovick, nach denen
Wirkungen zu urtheilen, die er bey ihr hatte.
Denn da ſie ihn empfing, war ſie eben willens,
ſich auf den Nachmittag in einer Kutſche der freyen
Luft zu bedienen, ward aber von ſo heftigen Mut-
terbeſchwerden daruͤber angegriffen, daß ſie genoͤ-
thigt wurde, ſich niederzulegen, und, weil es da-
durch nicht beſſer ward, um acht Uhr zu Bette
zu gehen.
Am Donnerſtage war ſie des Morgens ſehr
fruͤhe auf, und nahm ihre Zuflucht zu der heiligen
Schrift, ihr Gemuͤth zu beſaͤnftigen, wie ſie zur
Fr. Lovick ſagte. So ſchwach ſie auch war, ſo
wollte ſie doch um eilfe ſich zu der Kapelle von
Lincolns-Jnn tragen laſſen. Sie befand ſich ein
wenig beſſer, als ſie wieder zu Hauſe gebracht
wurde,
[725]
wurde, und ſetzte ſich darauf nieder, an ihren On-
kel zu ſchreiben: allein ſie ward genoͤthigt, ver-
ſchiedne male abzubrechen ‒ ‒ weil ſie mit ſich
ſelbſt zu ſtreiten hatte, wie ſie ſich gegen Fr. Lo-
vick verlauten ließ, um eine demuͤthige Gemuͤths-
verfaſſung zu erlangen. „Mein Herz, ſagte ſie
„zu der guten Frauen, iſt ein ſtolzes Herz, und,
„wie ich finde, noch nicht muͤrbe genug gemacht,
„ſich in meine Umſtaͤnde zu ſchicken, ſondern will
„meiner Feder, ich mag thun, was ich kann, Din-
„ge vorſchreiben, die von Empfindlichkeit und
„Unwillen zeugen.“
Heute Abends, an eben dem Donnerſtage,
kam ich von Belton wieder in London an, und
ging alſobald zu Smithens Hauſe. Sie befand
ſich zu ſchlecht, meinen Beſuch anzunehmen:
ließ mir aber, da ich hinauf ſchickte, meine Em-
pfehlung machen zu laſſen, herunter ſagen, daß
es ihr lieb ſeyn wuͤrde, mich morgen zu ſehen.
Fr. Lovick that mir den Gefallen, mir die Ab-
ſchrift von einer geiſtlichen Betrachtung mitzu-
theilen, welche die Fraͤulein aus der heil. Schrift
gezogen hat. Sie hat derſelben die Ueberſchrift
vorgeſetzet: Die armen Sterblichen, als die
Urſache ihres eignen Jammers; in der Ab-
ſicht, wie ich vermuthe, ihrem Unwillen uͤber Wi-
derwaͤrtigkeiten, die mit ihrem Fehler in ſo un-
gleichem Verhaͤltniſſe ſtehen, wenn er auch ſo groß
waͤre, als ſie zu denken geneigt iſt, ſeine Staͤrke
zu benehmen. Wir koͤnnen hieraus ſehen, auf
was fuͤr Art ſie ihr Gemuͤth zu befeſtigen ſuchet,
Z z 3welcher
[726]
welcher ſie groͤßtentheils die Herzhaftigkeit und
Großmuth zu danken hat, mit der ſie ihre unver-
diente Verfolgungen ertraͤget.
Geiſtliche Betrachtung.
Die armen Sterblichen, als die Urſache ihres
eignen Jammers.
Sage du nicht: Es iſt durch den Herrn ge-
ſchehen, daß ich dahin gefallen bin. Denn
du ſollteſt das nicht thun, was er haſſet.
Sage du nicht: Er hat verurſachet, daß
ich geirret habe. Denn er braucht den Suͤn-
der nicht.
Er hat den Menſchen ſelbſt anfangs ge-
macht, und ihn ſeinen eignen Anſchlaͤgen uͤber-
laſſen;
Die Gebote zu halten, wo du willſt, und
angenehme Treue zu beweiſen.
Er hat dir Feuer und Waſſer vorgeſtellt.
Recke deine Hand aus, zu welchem von bey-
den du willſt.
Er hat keinem Menſchen befohlen, Boͤſes zu
thun; auch keinem Freyheit gegeben, zu ſuͤn-
digen.
Und nun, Herr, was iſt meine Hoffnung?
Wahrlich, meine Hoffnung iſt allein in dir.
Errette mich von allen meinen Uebertretun-
gen, und mache mich nicht zu einem Anlauf
fuͤr den Thoren.
Wenn
[727]
Wenn du den Menſchen fuͤr die Suͤnde
zornig zuͤchtigeſt: ſo machſt du, daß ſeine
Schoͤnheit verzehret wird, als wie eine Motte
ein Gewand zerfrißt. Ein jeder Menſch iſt
demnach eitel.
Wende dich zu mir, und ſey mir gnaͤdig:
denn ich bin verlaſſen und geplaget.
Die Unruhen meines Herzens ſind groß-
O bringe du mich aus meinen Noͤthen!
Fr. Smithinn erzaͤhlte mir folgende Umſtaͤn-
de von einer Unterredung, am Dienſtage, Nach-
mittags, zwiſchen ihr ſelbſt und einem jungen
Geiſtlichen, welchem, wie es ſcheint, von den
Freunden der Fraͤulein aufgetragen war, ſich nach
ihr zu erkundigen.
Er kam in einem Reitkleide in ihren Laden,
und forderte etwas ſpaniſchen Schnupftoback.
Weil er ſie alleine da fand: ſo verlangte er ein
wenig mit ihr in dem hintern Laden zu ſprechen.
Er ſchlug in verſchiedenen entfernten Fragen
auf den Buſch, und fing endlich an, eigentlicher
von der Fraͤulein Harlowe zu reden.
Er ſagte, er habe ſie vor ihrem Fall gekannt;
das war ſein unverſchaͤmtes Wort; und gab fol-
gende Nachricht in Anſehung des Hauptinhalts
von ihr, wie ich ſie von Fr. Smithinn zuſammen-
gebracht habe.
„Sie haͤtte damals, erzaͤhlte er, bey einem
„jeden Verwunderung und Vergnuͤgen erwecket.
Z z 4Er
[728]
„Er bedaurte ſehr feyerlich ihre Abweichung
„von dem rechten Wege: eine andere von
„ſeinen Redensarten. Fr. Smithinn ſagte, er waͤ-
„re ein recht gelehrter Mann: denn er haͤtte ver-
„ſchiedne Dinge geredet, die ſie nicht verſtanden;
„entweder lateiniſch oder griechiſch, ſie koͤnnte nicht
„ſagen, welches von beyden; aber er waͤre ſo guͤ-
„tig geweſen, ſie ihr ohne ihr Erſuchen im Engli-
„ſchen zu erklaͤren. Etwas artiges fuͤr einen Ge-
„lehrten, ſetzte ſie hinzu, wenn er ſo gefaͤllig iſt
„und ſich ſo weit herablaͤſſet.
Er ſagte, „ihre Entlaufung mit einem ſo
„ſchaͤndlichen und liederlichen Kerl haͤtte allen be-
„nachbarten Frauenzimmern großes Aergerniß
„gegeben und ihre Freunde ſehr beleidiget.
Er erzaͤhlte der Fr. Smithinn, „wie ſehr ſie
„ein jedes Auge auf ſich zu ziehen gewohnt gewe-
„ſen, ſo oft ſie von Hauſe oder zur Kirche ge-
„gangen waͤre, und wie ſie von allen Zungen,
„wenn ſie voruͤbergegangen, geprieſen, und mit
„guten Wuͤnſchen begleitet worden; ſonderlich
„von den Armen. Von ihr, geſtand er, haͤtten
„die Artigen das Artige in der Kleidung und dem
„Anſtande bekommen, ohne daß ſie ſelbſt die Ab-
„ſicht zu haben, oder es zu wiſſen geſchienen. Je-
„doch waͤre es nicht ohne Lachen anzuſehen gewe-
„ſen, daß Frauenzimmer ihr in der Kleidung
„und dem Bezeigen nachgeahmet, welche nicht
„im Stande geweſen waͤren, ſich zu ihrer An-
„muth und ihrem ungezwungenen Weſen zu er-
„heben, und ſich daher eben zu der Zeit laͤcherlich
„ge-
[729]
„gemacht, da ſie ſich eines allgemeinen Beyfalls
„verſichert zu ſeyn geglaubet, weil ſie eben das
„truͤgen, und auf eben die Art angelegt haͤtten,
„was diejenige trug, die aller Bewunderung auf
„ſich zog; ohne zu bedenken, daß, wenn dieſe
„ihre Perſon, oder ihre Maͤngel gehabt haͤtte,
„ſie eine ganz andere Mode wuͤrde aufgebracht
„haben: denn ſie haͤtte ſich in allen Stuͤcken nach
„der Natur gerichtet und auf das Ungezwun-
„gene geſehen; welches, nebſt einer Vermiſchung
„von einem erhabenen Anſtande und einer Ge-
„faͤlligkeit, ſich zu andern herabzulaſſen, in ihrem
„Anſehen und Betragen, ſie mochte entweder
„von andern Hoͤflichkeiten anzunehmen haben,
„oder ſelbſt andern Hoͤflichkeiten bezeigen, ihr vot
„allen Perſonen ihres Geſchlechts einen wirklichen
„Vorzug gegeben haͤtte.
„Er ſagte in dieſem Stuͤcke nicht bloß ſeine
„Meynung, ſetzte er hinzu, ſondern das Urtheil,
„welches jedermann faͤllte. Denn die Lobeserhe-
„bungen der Fraͤulein Clariſſa Harlowe waͤren eine
„ſo beliebte Gelegenheit zum Geſpraͤche geweſen,
„daß einer, der von einer andern Sache nicht
„wohl zu reden gewußt, verſichert geweſen waͤre,
„hievon wohl zu reden: weil er nichts haͤtte ſagen
„koͤnnen, was er nicht zwanzigmal wiederholet
„und mit Beyfall aufgenommen gehoͤret haͤtte.“
Hiedurch gab der artige Herr vielleicht den
Grund von den beſten Dingen an, die er ſelbſt
ſagte. Jedoch muß ich geſtehen, daß die perſoͤn-
liche Bekanntſchaft mit der Fraͤulein, welche mir
Z z 5gegoͤn-
[730]
gegoͤnnet iſt, es mir leicht machte, demjenigen,
was mir die gute Frau, als eine Beſchreibung
des jungen Geſtilchen von ihr, erzaͤhlte, die ge-
hoͤrige Geſtalt zu geben. Denn wer ſiehet nicht,
auch itzo bey ihrer hinfaͤlligen Geſundheit, daß
ihr alle dieſe Eigenſchaften zukommen?
Jch vermuthe, er iſt noch nicht lange von
ſeinen Lehrmeiſtern, und denkt nun nichts anders
zu thun zu haben, als ſich das Anſehen eines
Gelehrten unter den Unwiſſenden zu geben:
wofuͤr ſolche junge Leute diejenigen zu halten auf-
gelegt ſind, welche mit ihnen nicht Stellen aus
den Dichtern anfuͤhren und uns ſagen koͤnnen,
wie ein alter Schriftſteller ſich uͤber eine Sache
ausgedruͤckt habe, uͤber die ſie ſich gleichwohl eben
ſo gut, als der Schriftſteller, im Engliſchen aus-
zudruͤcken wiſſen moͤgen.
Fr. Smithinn ward ſo von ihm eingenommen,
daß ſie ihn gern zu der Fraͤulein hineingefuͤhret
haͤtte: weil ſie nicht zweifelte, es wuͤrde ihr ſehr
angenehm ſeyn, jemand zu ſehen, der ſie und ihre
Freunde ſo wohl kennete. Aber dieß verbat er
aus verſchiedenen Urſachen, welche er anfuͤhrte.
Die eine war, weil Perſonen von ſeinem Stande
die Geſellſchaft, worinn ſie waͤren, ſehr be-
hutſam waͤhlen muͤßten, ſonderlich wo es auf das
andere Geſchlecht ankaͤme, und wo ein Frau-
enzimmer ihre Ehre beflecket haͤtte: ‒ ‒ Jch
wuͤnſchte, daß ich da geweſen waͤre, als er ſich ſo
viel herausgenommen. ‒ ‒ Die andere, weil ihm
aufgetragen waͤre, ſich nach ihrer Lebensart, und
den
[731]
den Perſonen, welche ſie beſuchten, zu erkundigen.
Denn, was die Lobeserhebungen betraͤffe, die Fr.
Smithinn von der Fraͤulein machte, ließ er ſich
merken, ſo ſchien ſie eine Frau von gutem Herzen
zu ſeyn, und moͤchte, ob er es gleich um der Fraͤu-
lein willen nicht hoffete, vielleicht zu parteyiſch
und kurzſichtig ſeyn, daß man ſich in einer Auge-
legenheit, worauf ſo vieles ankaͤme, als auf die
von ihm uͤbernommene Verrichtung ſeiner Anzei-
ge nach ankommen ſollte, gaͤnzlich auf ſie verlaſſen
koͤnnte. Dabey ſchuͤttelte er den Kopf, redete
zweifelhaft und geheimnißvoll, und gab ſich, wie
ich merken konnte, uͤberhaupt bey der ganzen Un-
terredung ein ſolches Anſehen, als wenn es mit
ihm und ſeinem Gewerbe ungemein viel auf ſich
haͤtte. Wie Fr. Smithinn ihm Nachricht gab,
daß es mit der Geſundheit der Fraͤulein ſehr
ſchlecht ſtuͤnde: ſo zuckte er mit vieler Kaltſinnig-
keit die Achſel ‒ ‒ Sie mag ſich wohl ſehr uͤbel
befinden, ſprach er: Jhr Verdruß uͤber die fehl-
geſchlagene Hoffnung muß ſie empfindlich ange-
griffen haben. Allein, ich darf ſagen, ſie befindet
ſich noch nicht uͤbel genug, ihren ſehr großen Fall
zu buͤßen, und von denen, welche ſie ſo ſchwer be-
leidiget hat, Vergebung zu erwarten.
Ein ſtrotziger eingebildeter Lehrling! Was
wollte ich darum geben, daß er mir in den Lauf
gekommen waͤre!
Er gieng, ſonder Zweifel hoͤchſt zufrieden mit
ſich ſelbſt, und der guten Meynung der Fr. Smi-
thinn von ſeiner großen Einſicht und Gelehrſam-
keit
[732]
keit verſichert, wieder weg: bat ſie aber, der Fraͤu-
lein nichts von ihm und ſeiner Nachfrage zu ſa-
gen. Jch habe ihr, aus ganz andern Urſachen,
eben das empfohlen.
Es iſt mir inzwiſchen um ihrer Gemuͤthsruhe
willen lieb, daß ihre Angehoͤrigen anfangen zu
denken, es gezieme ihnen, ſich nach ihr zu er-
kundigen.
Der hundert und ſiebente Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
- Herr Belford meldet ſeinem Freunde die
großmuͤthige Freygebigkeit des Lords
M. und der Ladies von ſeiner Familie,
und die dankbare Geſinnung der Fraͤu-
lein bey dieſem Vorfall. - Er ſchreibet, daß ſie, in Hoffnung, den be-
ſchwerlichen Beſuch von ihm zu vermei-
den, willens ſey, auf ſeinen Brief vom
7ten, ob gleich ſehr wider ihre Neigung,
zu antworten. „Sie war ſehr aufmerkſam,
„ſchreibt Herr Belford, auf die Stelle in
„eurem Briefe, worinn die Vergebung von
„einer ohne Urſache beleidigten Perſon fuͤr
„nothwendig zur Gnade von Gott angeſe-
„hen wird.
„Jhr
[733]
- „Jhr Großvater, finde ich, hat ihr die Macht
„gegeben, wenn ſie nur achtzehn Jahr alt waͤ-
„re, ein Teſtament zu machen, und einen gro-
„ßen Theil ſeines Gutes, wem ihr beliebte,
„von der Familie, das Uebrige nach ihrem
„eignen Wohlgefallen außer derſelben zu ver-
„machen, wofern ſie unverheyrathet ſtuͤrbe.
„Dieß hat er in der Abſicht gethan, damit er
„ihr einige Achtung zuwege braͤchte: weil er
„beſorgte, ſie wuͤrde beneidet werden. Nun iſt
„ſie entſchloſſen, ihr Teſtament alſobald aus-
„zufertigen. - Hr. Belford dringet auf die Erfuͤllung des
Verſprechens, das er ihm gethan hatte,
die Fraͤulein nicht zu beunruhigen, und
theilt ihm den Jnhalt ihrer Antwort an
den Lord M. und die Ladies, worinn ſie
das großmuͤthige Anerbieten derſelben
ausſchlaͤget. Man ſehe den CV. Brief.
Der hundert und achte Brief
von der
Frl. Clar. Harlowe an Hrn. Rob. Lovelace.
Es iſt etwas grauſames, zwiſchen dieſen beyden
Dingen waͤhlen zu muͤſſen, entweder Sie zu
ſehen, oder an Sie zu ſchreiben. Allein es iſt mir
ſchon
[734]
ſchon lange kein freyer Wille gelaſſen geweſen,
und ein groͤßeres, ja, ich mag nun wohl ſagen,
das groͤßte Uebel zu vermeiden, ſchreibe ich.
Wenn es mir moͤglich waͤre, meine wirkliche
Geſinnung zu verbergen, oder zu verhehlen: ſo
koͤnnte ich Jhnen wohl die entfernte Hoffnung
machen, welche Sie verlangen, und doch bey allen
meinen Entſchließungen bleiben. Aber ich muß
Jhnen ſagen, mein Herr; es geziemet meiner
Gemuͤthsart, Jhnen zu ſagen, daß, wenn ich auch
mehr Jahre leben ſollte, als ich vielleicht Wochen
leben mag, und keine andere Mannsperſon in
der Welt waͤre, ich dennoch die Jhrige nicht ſeyn
koͤnnte, nicht ſeyn wollte.
Man machet ſich kein Verdienſt, wenn man
ſeine Pflicht erfuͤllet:
Die Religion verbindet mich, nicht allein er-
littenes Unrecht zu vergeben, ſondern auch Boͤſes
mit Gutem zu vergelten. Es iſt mein einziger
Troſt, und ich danke Gott fuͤr denſelben, daß ich
itzo in einer ſolchen Gemuͤthsverfaſſung in Anſe-
hung Jhrer ſtehe, daß ich den Geſetzen der Reli-
gion mit Freuden gehorchen kann. Daher ver-
ſichere ich Sie, daß ich wuͤnſche, Sie moͤgen al-
lenthalben, wo Sie gehen, gluͤcklich ſeyn: und hier-
inn will ich alle gute Wuͤnſche eingeſchloſſen haben.
Da ich nun, mit großem Widerſtreben, das
geſtehe ich, einen von denen Faͤllen, worunter Sie
mich zu waͤhlen zwingen, erfuͤllet habe: ſo er-
warte ich die Fruͤchte davon.
Clariſſa Harlowe.
Der
[735]
Der hundert und neunte Brief
von
Hrn. Joh. Harlowe an Frl. Clar. Harlowe.
Zur Antwort auf ihr Schreiben
an ihre Mutter,
welches hier der C. Brief iſt.
Da Jhre Mutter weder Luſt noch Erlaubniß
hat, an Sie zu ſchreiben: ſo bin ich erſucht
worden, die Feder anzuſetzen; ob ich mich gleich
entſchloſſen hatte, es nicht zu thun.
Daher muß ich Jhnen melden, daß Jhre
Briefe, nebſt der Veranlaſſung derſelben, uns
allen beynahe das Herz brechen.
Waͤren wir verſichert, daß Sie Jhre Thor-
heit erkannt haͤtten, ſie wirklich und aufrichtig
bereueten, und ſich ſo ſehr uͤbel befaͤnden, als Sie
angeben: ſo weiß ich nicht, was zu Jhrem Vor-
theil geſchehen moͤchte. Aber wir kennen alle
Jhre Weiſe, Mitleiden zu erregen: wenn Sie
etwas erhalten wollen.
Ungluͤckliches Maͤgdchen! in welchen elenden
Zuſtand haben Sie uns alle verſetzet. Wir, die
mit ſo vielem Vergnuͤgen einander zu beſuchen
gewohnt waren, koͤnnen itzo einander nicht mit
Gelaſſenheit anſehen.
Haͤtten
[736]
Haͤtten Sie nicht aus hundert Faͤllen erfah-
ren, wie werth Sie uns vormals geweſen: ſo
koͤnnten Sie es nun urtheilen, wenn Sie wuͤß-
ten, wie ſehr uns Jhre Thorheit in Unordnung
gebracht hat.
Boshaftiges, boshaftiges Maͤgdchen! Sie
ſehen die Fruͤchte, welche es bringt, wenn man
einen liederlichen und ausſchweifenden Kerl einem
maͤßigen und tugendhaften Manne vorziehet.
Gegen alle Warnung, gegen beſſer Wiſſen. Und
noch dazu ein ſo ſittſames Frauenzimmer, als Sie
waren! Wer konnte denken, daß Sie eine ſo un-
anſtaͤndige Wahl treffen wuͤrden?
Jhre Mutter kann nicht fragen, und Jhre
Schweſter weiß nach der Sittſamkeit nicht, wie
ſie fragen ſoll: alſo frage ich Sie, ob Sie Urſache
haben zu glauben, daß Sie von dem Boͤſewicht
ſchwanger ſind? ‒ ‒ Sie muͤſſen das beant-
worten, und es nach der Wahrheit beantworten, ehe
man ſich Jhretwegen zu etwas entſchließen kann.
Jhre Miſſethaten moͤgen Jhnen wohl billig
das Gewiſſen auf das empfindlichſte ruͤhren.
Haͤtte ich jemals denken koͤnnen, daß mein Aug-
apfel, wie jedermann Sie nannte, es ſo gemacht
haben wuͤrde? Gewiß ich liebte Sie zu ſehr. Al-
lein das iſt nunmehr vorbey. Jedoch, ob ich
gleich fuͤr niemand, als fuͤr mich ſelbſt, zu ſtehen
uͤber mich nehmen will; ſage ich meines Theils:
Gott vergebe Jhnen! Und dieß iſt alles von
Jhrem betruͤbten Onkel
Johann Harlowe.
Unten
[737]
Unten an dieſen Brief war die folgende
Betrachtung mit ſchwarzer Seide
angenaͤhet.
Betrachtung.
O daß du mich in dem Grabe verdecken woll-
teſt! Daß du mich verborgen halten woll-
teſt, bis dein Zorn voruͤber gegangen iſt!
Mein Geſicht iſt unrein vom Weinen:
und an meinen Augenliedern ſchwebet der
Schatten des Todes.
Meine Freunde verachten mich: aber mein
Auge ſchuͤttet Thraͤnen zu Gott aus.
Ein ſchrecklicher Ton ſchallt in meine Oh-
ren: im Gluͤck kam der Verderber uͤber mich!
Jch habe geſuͤndiget! Was ſoll ich dir
thun, o du Bewahrer der Menſchen! War-
um haſt du mich zu einem Ziel gegen dich ge-
ſetzet, ſo daß ich mir ſelbſt eine Laſt bin!
Wenn ich ſage, mein Bette ſoll mir zum
Troſte dienen, mein Lager ſoll mein Klagen
ſtillen:
So jagſt du mir durch Traͤume Schrecken
ein, und ſetzeſt mich durch Erſcheinungen in
Furcht;
So daß meine Seele lieber wuͤnſchet er-
ſticket zu werden, und lieber zu ſterben, als das
Leben zu haben.
Jch bin deſſelben muͤde! Jch moͤchte nicht
beſtaͤndig leben! ‒ ‒ ‒ Laß mich: denn meine
Tage ſind eitel.
Sechſter Theil. A a aEr
[738]
Er hat mich zu einem Sprichwort des
Volkes gemacht: und vorzeiten war ich, wie
eine Pauke, zum Frohlocken beſtimmet.
Meine Tage ſind vergangen; meine An-
ſchlaͤge, ja ſelbſt die Gedanken meines Herzens
ſind zernichtet.
Da ich Gutes erwartete: kam das Boͤſe
uͤber mich. Und da ich auf das Licht harrete:
kam Finſterniß.
Und wo iſt nun meine Hoffnung? ‒ ‒
Dennoch will ich alle Tage des mir be-
ſtimmten Lebens warten, bis mein Zuſtand zu
ſeinem Wechſel kommt.
Der hundert und zehnte Brief
von
Frl. Clar. Harlowe an Hrn. Joh. Harlowe.
Es war ein Werk der Liebe, was ich mir aus-
bat: nur ein letzter Segen, damit ich geru-
hig ſterben moͤchte. Jch verlange nicht wieder
aufgenommen zu werden: wie meiner harten
Schweſter, o! daß ich nur nicht an ſie geſchrie-
ben haͤtte! mir zur Abſicht anzudichten beliebet.
Dieſe Gewogenheit mag man mir verſagen, wenn
ich darum anhalte.
Jch
[739]
Jch konnte meinem letzten Auftritt in der
Welt nicht getroſt entgegen ſehen: wenn ich nicht
wenigſtens den Segen ſuchte, um welchen ich
bat; und zwar mit einer ſo empfindlichen Zer-
knirſchung, daß ich nicht verdiente, wofern man
ſie wuͤßte, von der Zaͤrtlichkeit einer Mutter zu
der mit harten Vorwuͤrfen gefuͤhrten Feder eines
Onkels verwieſen, und durch eine grauſame Frage
verwundet zu werden; eine Frage, die mir auf
eine anſtoͤßige Weiſe von ihm vorgeleget, und
durch eine kurze, eine ſehr kurze Zeit beſſer beant-
wortet ſeyn wird, als ich ſie beantworten kann.
Denn ich bin weder verhaͤrtet, noch ohne Scham-
haftigkeit. Waͤre ich es: ſo wuͤrde ich die Ge-
wogenheit, um welche ich flehete, nicht ſo ſorgfaͤl-
tig zu erlangen geſuchet haben.
Erlauben Sie mir zu ſagen, daß ich dieſelbe
ſo wohl um meines Vaters und meiner Mutter
willen, als meinetwegen begehrte. Denn ich bin
verſichert, ſie werden wenigſtens, wenn ich dahin
bin, nicht geeuhig ſeyn, daß ſie mich mit meiner
Bitte abgewieſen haben.
Es wuͤrde mir noch immer lieb ſeyn, von
dieſen, von Jhnen, mein Herr, und von allen
meinen Verwandten Segen und Fuͤrbitte zu er-
langen. Aber da es mir auf eine ſolche Art ab-
geſchlagen iſt: ſo will ich mich nicht unterſtehen,
noch einmal darum anzuhalten, und mich gaͤnz-
lich auf den Segen des Allmaͤchtigen verlaſſen,
der niemals verſaget wird, wenn man ihn fuß-
A a a 2faͤllig
[740]
faͤllig mit ſo aufrichtiger Buße ſuchet, als die-
jenige iſt, in der ich meiner Hoffnung nach ſtehe.
Gott erhalte meinen werthen Onkel und alle
meine geehrten Freunde! Dieß iſt das Gebeth
Jhrer ungluͤcklichen
Clariſſa Harlowe.
Der hundert und eilfte Brief
von.
Fraͤul. Howe an Fraͤul. Clariſſa Harlowe.
Montags, den 7ten Aug.
Jch kann eben itzo nur ein paar Zeilen ſchrei-
ben. Jch kann nicht ſagen, wie unertraͤg-
lich es fuͤr mich klingt, daß dem Herrn Belford
die Vollziehung Jhres letzten Willens aufgetra-
gen ſeyn ſoll: ſo dringend auch Jhre Urſachen zu
dieſem Anſchlage ſind. Und dennoch bin ich feſt
der Meynung, daß keiner von Jhren Verwandten
zu dem Amte zu ernennen ſey. Allein ich halte
mich um ſo viel weniger bey dieſer Sache auf:
weil ich hoffe, und die Furcht vor dem Gegentheil
mir unertraͤglich iſt, daß Sie noch viele, viele
Jahre leben werden.
Herr
[741]
Herr Hickmann redet freylich ſehr gut von
dem Herrn Belford. Aber der arme Mann hat
nicht viel Einſicht, Sonſt wuͤrde er ſchwerlich ſo
gut von mir denken, als er thut.
Jch habe eine beſondere Gelegenheit, gegen-
waͤrtiges durch einen Freund meiner Tante Har-
mann zu uͤberſenden. Er iſt ſchon fertig, nach
London abzugehen, welches die Urſache iſt, warum
ich eile, und wird alſobald wieder zuruͤckkommen.
Jch erwarte daher durch ihn ein großes Packet,
und hoffe und wuͤnſche ſehnlich gute Zeitungen
von der Beſſerung Jhrer Geſundheit zu bekom-
men; welches der Himmel verleihen wolle zur
Erhoͤrung des Gebeths
Jhrer ewig ergebenen
Anna Howe.
Der hundert und zwoͤlfte Brief
von
Fraͤul. Clariſſa Harlowe an Fraͤul. Howe.
Jch will Jhnen ein großes Packet ſenden; wie
Sie verlangen und erwarten; weil ich es
durch einen ſo ſichern Weg thun kann: aber doch
nicht alles, was mir zu Haͤnden gekommen iſt. ‒ ‒
Denn ich muß geſtehen, daß meine Freunde ſehr
hart ſind; allzu hart, daß jemand, der keine Liebe
A a a 3fuͤr
[742]
fuͤr ſie hat, ihre Briefe ſehen koͤnnte. Sie, meine
Wertheſte, wollten ſie ſchon vor langer Zeit, wie
Sie ſagten, nicht meine Freunde, ſondern nur
meine Verwandten nennen. Jn der That, ich
kann ſie nicht meine Verwandten nennen, wie
ich denke. ‒ ‒ Jedoch ich bin krank, und daher
vielleicht muͤrriſcher, als ich ſeyn ſollte. Es iſt
ſchwer, aus ſich ſelbſt zu gehen und ein Urtheil
gegen uns ſelbſt zu ſprechen: und gleichwohl muͤſ-
ſen wir es oft billig thun, ein gerechtes Urtheil
zu faͤllen.
Jch gedachte wohl, daß ich Jhnen durch die
Wahl der Perſon, welcher ich die Vollziehung
meines Teſtaments aufgetragen habe, Unruhe
verurſachen wuͤrde. Allein die betruͤbte Noth-
wendigkeit, zu der ich gebracht bin, muß mich
entſchuldigen.
Jch werde nichts von dem wiederholen, was
ich vorher ſchon von dieſer Sache beruͤhret habe.
Wo aber Jhre Einwuͤrfe nicht durch die Papiere
und Briefſchaften, welche ich beyſchließen will,
und mit den Zahlen 1, 2, 3, 4, bis 9, bezelchnet
habe, ſo gehoben werden, daß Sie zufrieden ſind:
ſo muß ich mich in einem neuen Fall fuͤr ungluͤck-
lich halten; indem ich mich ſchon zu weit einge-
laſſen habe, und noch dazu nach meinem eignen
Gutbefinden, daß ich wieder zuruͤckziehen koͤnnte.
Da ich die beygehenden Abſchriften von dem
Herrn Belford im Vertrauen aus den Briefen
ſeines Freundes an ihn bekommen habe: ſo muß
ich inſtaͤndigſt bitten, daß Sie dieſelben keine
Seele,
[743]
Seele, außer Jhnen ſelbſt, ſehen laſſen, und mir
ſie bey der erſten Gelegenheit wieder zuruͤckſenden,
damit ſie im geringſten nicht zu einigem Nachtheil
entweder desjenigen, der ſie zuerſt geſchrieben,
oder deſſen, der ſie mir mitgetheilet hat, gebrau-
chet werden. Sie werden leicht merken, daß ich
zu dieſer Sorgfalt durch meine Zuſage verbunden
bin. Wenn durch meine Schuld ein Ungluͤck
zwiſchen dieſem menſchlichen und jenem un-
menſchlichen Freygeiſt in der Lebensart entſte-
hen ſollte: ſo wuͤrde ich es hoͤchſt unverantwort-
lich fuͤr mich anſehen.
Jch fuͤge unten ein Verzeichniß von den Pa-
pieren oder Briefſchaften bey, die ich einſchließen
werde. Sie muͤſſen mir ſie alle wieder zuſchicken,
wenn Sie ſie alle durchgeleſen haben (*).
A a a 4Jch
[744]
Jch bin ſehr muͤde und verdrießlich ‒ ‒ ‒
uͤber ‒ ‒ ‒ ich weiß nicht was ‒ ‒ ‒ uͤber das
Schreiben, denke ich ‒ ‒ Aber am meiſten uͤber
mich ſelbſt, und uͤber einen Zuſtand, den ich,
wenn ich auch nicht wollte, geendigt und uͤber-
wunden wuͤnſchen muß.
O meine Allerliebſte, es iſt eine betruͤbte, eine
ſehr betruͤbte Welt! ‒ ‒ So lange wir unter den
Fluͤgeln unſerer Eltern Schutz finden: wiſſen
wir gar nichts davon. Da ich Buͤcher geleſen,
da ich mich auf das Schreiben gelegt hatte, und
die Leute unter der Geſtalt betrachtete, wie ſie bey
mir und ich bey ihnen Beſuch ablegte: gedachte
ich, daß ich viel davon wuͤßte. Erbaͤrmliche Un-
wiſſenheit! ‒ ‒ Ach ich habe gar nichts davon
gewußt!
Mit
[745]
Mit eifrigen Wuͤnſchen fuͤr Jhre Gluͤckſelig-
keit, und fuͤr die Gluͤckſeligkeit eines jeden, der
Jhnen lieb und werth iſt, bin ich und werde alle-
zeit ſeyn
Jhre dankbarergebene
Cl. Harlowe.
Der hundert und dreyzehnte Brief
von
Herrn Anton Harlowe an Fraͤuleln Clariſſa
Harlowe.
Zur Antwort
auf ihr Schreiben an ihren Onkel Harlo-
we vom Donnerſt. dem 10ten Aug.
Weil Jhr Onkel Harlowe nicht Belieben hat,
ihren uͤbermuͤthigen Brief an ihn zu be-
antworten; mein ehemaliger Brief (*) an Sie
aber gleichſam im prophetiſchen Geiſt geſchrieben
war, wie Sie zu Jhrem Leidweſen befunden ha-
ben; und Sie gegenwaͤrtig Jhren Zuſtand in
Anſehung der Geſundheit ſchlechter, als er iſt,
und in Anſehung Jhrer Reue beſſer, als er iſt, zu
A a a 5machen
[746]
machen ſuchen, wovon wir ſehr wohl verſi-
chert ſind, damit Sie nur Mitleiden erwecken
moͤgen, welches Sie nicht verdienen, da Sie ge-
nug gewarnet ſind: ſo ergreife ich aus allen die-
ſen Urſachen noch einmal die Feder; ob ich gleich
Jhrem Bruder bey ſeiner Abreiſe nach Eden-
burg verſprochen, nicht an Sie zu ſchreiben,
wenn Sie auch an mich ſchreiben ſollten, ohne
daß ich ihm davon Nachricht gegeben haͤtte.
Dieſe Zuſage hatten wir in der That alle gethan.
Denn er ſagte vorher, was geſchehen, und wie
Sie ſich an uns wenden wuͤrden, wenn Sie es
nicht zu aͤndern wuͤßten.
Mein Bruder Johann hat Jhre Zaͤrtlichkeit
beleidiget, wie es ſcheint, indem er Jhnen eine
deutliche Frage vorgeleget, welche Jhre Mutter
aus herzlicher Betruͤbniß, und Jhre Schweſter
aus Sittſamkeit nicht thun kann: ob ſie gleich
nichts anders als eine Folge von Jhren Hand-
lungen iſt ‒ ‒ Nichts deſto weniger muß ſie
beantwortet ſeyn, ehe Sie von Jhrem Vater und
Jhrer Mutter und von uns die Nachricht erhal-
ten werden, worauf Sie hoffen: das kann ich Jh-
nen ſagen.
Sie haben auf eine ſtrafwuͤrdige Art verſchie-
dene Wochen mit dem ſchaͤndlichſten Kerl, der je-
mals auf Erden geweſen iſt, ſonder Zweifel Tiſch
und Bett gemein gehabt. Denn iſt ſeine Ge-
muͤthsart nicht bekannt? Daher, bitte ich, ſchaͤ-
men Sie ſich nicht, wenn Sie um etwas befra-
get werden, das natuͤrlicher Weiſe aus einem ſol-
chen
[747]
chen freyen Leben entſtehen mag. Dieſe Sitt-
ſamkeit wuͤrde Jhnen in der That auf achtzehn
Jahre Jhres Lebens wohl geſtanden haben ‒ ‒
Sie werden ſo gut ſeyn, ſich das zu merken ‒ ‒
allein wenn ſie mit Jhrer Auffuͤhrung ſeit dem
Anfange des verwichenen Aprils verglichen wird,
ſchickt ſie ſich nicht ſehr wohl. Alſo, bitte ich,
nehmen Sie es nicht ſo auf, und wiſchen ſich den
Mund daruͤber, als wenn nichts vorgefallen
waͤre.
Aber vielleicht beleidige ich Jhre Zaͤrtlichkeit
gleichfalls zu ſehr! ‒ ‒ O Maͤgdchen, Maͤgd-
chen! Sie wuͤrden beſſer gethan haben, wenn Sie
Jhre Sittſamkeit zu rechter Zeit und an dem rech-
ten Ort gezeiget haͤtten! ‒ ‒ Jedermann, außer
Jhnen, glaubte das von dem liederlichen Kerl,
was er in der That geweſen iſt: Sie aber woll-
ten nichts boͤſes von ihm glauben ‒ ‒ Was den-
ken Sie nun?
Jhre Thorheit hat unſer aller Ruhe zerſtoͤret.
Und wer weiß, wo es noch ein Ende haben moͤ-
ge? ‒ ‒ Jhr armer Vater zeigte mir nur erſt
geſtern dieſe Schriftſtelle. Mit bitterem Kum-
mer zeigte er ſie mir. Der arme Mann! Neh-
men Sie dieſelbe zu Herzen:
„Ein Vater wachet fuͤr ſeine Tochter, wenn
„es niemand weiß: und die Sorge fuͤr ſie laͤßt
„ihn nicht ſchlafen ‒ ‒ Wenn ſie jung iſt, daß
„die Bluͤte ihres Alters nicht verſtreiche ‒ ‒ Sie
„wiſſen, was fuͤr Vorſchlaͤge Jhnen zu ver-
„ſchiedenen Zeiten geſchehen ſind ‒ ‒ Wenn
„ſie
[748]
„ſie verheyrathet iſt, daß ſie nicht gehaßt werde;
„wenn ſie noch Jungfer iſt, daß ſie nicht geſchaͤn-
„det und in ihres Vaters Hauſe ſchwanger wer-
„de ‒ ‒ Jch mache die Worte nicht: das
„bedenken Sie ‒ ‒ Und wenn ſie einen Mann
„hat, daß ſie ſich nicht uͤbel verhalte.“ Was
folgt aber? „Wenn deine Tochter nicht ſcham-
„haftig iſt: ſo halte gute Wache uͤber ſie ‒ ‒
„Jedoch Sie hat keine Wachſamkeit zu-
„ruͤckhalten koͤnnen! ‒ ‒ damit ſie dich nicht
„deinen Feinden zum Gelaͤchter mache ‒ ‒ wie
„Sie uns alle dieſem verfluchten Lovelace
„zum Spott gemacht haben ‒ ‒ und du
„nicht durch ſie zu einem Sprichwort in der
„Stadt, zu einem Anſtoß unter dem Volk, und
„zu Schanden vor den Leuten werdeſt.“ Sir.
XLII, 9. 10 u. f.
Nun werden Sie wuͤnſchen, daß Sie nicht
uͤbermuͤthig geſchrieben haͤtten. Aber Jhre
Schweſter hat hart an Sie geſchrieben! ‒ ‒ Ey,
Maͤgdchen, ſagen Sie niemals, daß dasjenige
hart ſey, was Sie verdienet haben. Sie ver-
ſtehen die Bedeutung der Worte. Niemand
verſteht ſie beſſer. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß
Sie nur der Haͤlfte von dem, was Sie wiſſen,
gemaͤß gehandelt haͤtten. So wuͤrden wir nicht
ſo ſehr in unſerer Hoffnung betrogen, und betruͤ-
bet ſeyn, als wir alle ſind. Und niemand iſt es
mehr, als derjenige, welcher vormals war
Jhr ergebener Onkel
Anton Harlowe.
Gegen-
[749]
Gegenwaͤrtiges wird Jhnen morgen zu Haͤnden
kommen. Vielleicht mag man mit des Zeit zu-
geben, daß Sie einen Theil von Threm Gut be-
kommen, wenn Sie erſt ein wenig mehr fuͤr Jhr
Vergehen gefuͤhlet haben. Jhr Onkel Johann,
dem Sie ſo uͤbermuͤthig geantwortet, und dem
von Jhrem Großvater die Vollziehung ſeines
letzten Willens fuͤr Sie aufgetragen iſt, will
nicht, daß Sie ganz verlaſſen ſeyn ſollen. Al-
lein wir hoffen, daß nicht alles wahr ſey, was
wir von Jhnen hoͤren. ‒ ‒ Nehmen Sie ſich
nur in Acht, ich rathe es Jhnen, daß, ſo arg
Sie es auch ſchon gemacht haben, Sie es nicht
noch aͤrger machen: wo es moͤglich iſt, aͤrger
zu handeln. Machen Sie ſich den Wink zu
Nutze.
Der hundert und vierzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Herrn Anton
Harlowe.
Es iſt mir ſehr leid, daß ich uͤbermuͤthig an
meinen Onkel geſchrieben habe. Meine
Abſicht iſt inzwiſchen nicht geweſen, uͤbermuͤthig
zu ſchreiben. Leute, die zum Ungluͤck noch nicht
gewoͤhnt ſind, moͤgen ſich allzu leicht ungedul-
tig machen laſſen.
Der
[750]
Der Fall einer tugendhaften Perſon iſt ſon-
der Zweifel etwas ſchreckliches und nicht zu ent-
ſchuldigen. Er hat eine Aehnlichkeit mit dem
Abfall von der reinen Lehre. Jedoch wuͤnſchte
ich, daß man ſich nach den Umſtaͤnden meines
Falles erkundiget haͤtte.
Mache ich meinen Zuſtand in Anſehung der
Geſundheit aͤrger, als er iſt, und in Anſehung
meiner Reue beſſer, als er iſt: ſo iſt es billig,
mein Herr, daß ich fuͤr meine gedoppelte Verſtel-
lung geſtraft werde; und Sie haben das Ver-
gnuͤgen einer von denen zu ſeyn, die mich zur
Strafe ziehen. Nichts deſto weniger wird der
Ausgang meine Aufrichtigkeit in beyder Betrach-
tung rechtfertigen. Auf dieſen laſſe ich es an-
kommen. ‒ ‒ Der Himmel wolle Jhnen allezeit,
wenn Sie uͤberlegen, wie Sie mich verworfen ha-
ben, ſo viel Troſt verleihen, als Sie Vergnuͤgen
daran zu finden ſcheinen, daß Sie ein elendes
Frauenzimmer kraͤnken, welches ſchon aufs hoͤch-
ſte, und zwar, wie ſie hoffen darf, durch eine ge-
hoͤrige Empfindung ihres eignen Fehlers gekraͤn-
ket iſt!
Was Sie von mir gehoͤrt haben, kann ich
nicht ſagen. Wenn die naͤchſten und liebſten
Verwandten eine ungluͤckliche Perſon aufgeben:
ſo iſt es nicht zu verwundern, daß diejenigen,
welche nicht mit ihr verwandt ſind, Verlaͤum-
dungen gegen ſie fuͤr wahr annehmen und aus-
breiten. Dennoch denke ich, daß ich der Ver-
laͤumdung ſelbſt Trotz bieten, und, den verderbli-
chen
[751]
chen Schritt ausgenommen, den ich am 10ten
April, ob gleich wider meinen Willen, gethan
habe, mich in meine Unſchuld einhuͤllen und ge-
ruhig ſeyn kann. Unterdeſſen danke ich Jhnen,
mein Herr, fuͤr ihre Warnung: ſie mag zu be-
deuten haben, was ſie will.
Die Frage, auf welche eine Antwort von mir
verlanget wird, iſt zu anſtoͤßig, das geſteht man
ſelbſt, daß ſie entweder von einer Mutter an eine
Tochter, oder von einer Schweſter an die andere
geſchehen koͤnnte: und dennoch, ſagen Sie, muß
ich ſie beantworten. ‒ ‒ O mein Herr! ‒ ‒
Muß ich ſie beantworten? ‒ ‒ Wohlan ſo ſey
dieß meine Antwort: „Eine kurze, eine weit
„kuͤrzere Zeit, als man ſich einbildet, wird mei-
„ner ganzen Familie, und ſelbſt meinem Bruder
„und meiner Schweſter eine weit hinlaͤngliche-
„re Antwort geben, als ich mit Worten geben
„kann.
Nichts deſto weniger haben Sie die Gewo-
genheit, in Erwaͤgung kommen zu laſſen, daß ich
nicht um eine Wiederherſtellung zu voriger Ge-
wogenheit gebeten habe; dazu konnte ich mir kei-
ne Hoffnung machen: auch nicht um den Beſitz
eines Theils von meinem Gute; ja nicht einmal
um die Mittel zu dem nothwendigen Unterhalt
von dem Einkommen aus dieſem Gute; ‒ ‒
ſondern bloß um einen Segen, um einen letzten
Segen.
Jch will noch dieß beyfuͤgen, weil es die
Wahrheit iſt, daß ich mir kein vorſetzliches Ver-
brechen,
[752]
brechen, kein freyes Leben, wobey ich Tiſch und
Bette mit jemand gemein gehabt haͤtte, wie Sie
es ausdruͤcken, vorzuwerfen habe!
Warum, warum, mein Herr, ſind keine an-
dere Fragen eben ſo wohl, als dieſe anſtoͤßige Er-
kundigung, an mich gethan? ‒ ‒ Fragen, welche
die Sittſamkeit einer Mutter oder einer Schwe-
ſter zu thun erlaubt haben wuͤrde, und die auch,
wenn es mir zu ſagen vergoͤnnet iſt, ſich fuͤr On-
kels, wenn es ja der Mutter verboten oder die
Schweſter nicht geneigt geweſen waͤre, ſie zu
thun, beſſer geſchickt und von mehrerer Liebe
gezeuget haͤtten, als dieſe, welche ſie gethan
haben.
Ob nun gleich mein demuͤthiges Geſuch mir
ſo viele harte Vorwuͤrfe zuwege gebracht hat:
ſo reuet es mich doch nicht, daß ich an meine Mut-
ter geſchrieben habe; wenn ich ſchon nicht anders
als wuͤnſchen kann, daß ich an meine Schweſter
nicht geſchrieben haͤtte; weil ich dadurch einer
Schuldigkeit, der ich mir als einer Pflicht bewußt
bin, Genuͤge gethan, ungeachtet der Erfolg mei-
nen Wuͤnſchen ſo wenig gemaͤß geweſen iſt.
Nichts deſto weniger kann ich mich nicht entbre-
chen, mein Schickſal in der That hart zu nennen,
weil ich wegen meines Hauptfehlers nicht anders,
als in ſolchen Ausdruͤcken, um Verzeihung bitten
kann, welche die Beleidigung ſelbſt vergroͤßern
werden.
Allein ich wuͤrde am beſten thun, wenn ich
abbraͤche: damit ich nicht, weil mein Herz, das
zu
[753]
zu voll iſt, ſich durch meine Feder, wie ich finde,
ergießen will, noch mehr Verzeihung, ſo wie ich
mehr Zeilen ſchreibe, zu bitten habe, wo gar kei-
ne zu erlangen ſtehet.
Gott der Allmaͤchtige ſegne, bewahre und
troͤſte meine werthe, bekuͤmmerte, und ſchmerzlich
beleidigte Eltern! ‒ ‒ Und erhalte meine gluͤck-
liche Schweſter in Ehren, in Gunſt, und Vorzuͤ-
gen! ‒ ‒ Gott vergebe meinem Bruder und ſchuͤ-
tze ihn ſo wohl vor der ungeſtuͤmen Heftigkeit ſei-
ner eignen Gemuͤthsart, als vor demjenigen, der
die Ehre ſeiner Schweſter zu ſchanden gemacht
hat! ‒ ‒ Sie aber, mein wertheſter Onkel, und
Jhren nun nicht weniger, als ſonſt jemals, wer-
then Bruder, meinen andern Vater, wie ich ihn
nach ſeinem Befehl zu nennen pflegte, laſſe der
Himmel durch ſie alle und durch einander geſegnet
und gluͤcklich ſeyn! ‒ ‒ Und dem zu Folge wuͤn-
ſche ich, daß Sie alle eiligſt aus Jhrem Angeden-
ken auf ewig verbannen moͤgen
Die ungluͤckliche
Clariſſa Harlowe.
Sechſter Theil. B b bDer
[754]
Der hundert und funfzehnte Brief
von
Frau Norton an Fraͤul. Clariſſa Harlowe.
Alle Jhre Freunde, meine liebſte Fraͤulein,
ſcheinen hier nunmehr entſchloſſen zu ſeyn,
Jhnen den Vorſchlag zu thun, daß Sie ſich zu
einer von unſern Pflanzſtaͤdten begeben moͤgen.
Dieß, glaube ich, kommt von den falſchen und
widrigen Nachrichten des Herrn Brands her,
von welchem ſie einen Brief empfangen haben.
Jch wuͤnſchte von Herzen, daß Sie, ohne wi-
der Jhre eigne Begriffe von der Ehre zu han-
deln, ſich den inſtaͤndigen Bitten der ganzen Fa-
milie des Herrn Lovelace zu ſeinem Beſten ge-
maͤß bezeigen koͤnnten. Dieß, denke ich, wuͤrde
einem jeden das Maul ſtopfen, und mit der Zeit
Jhnen jedermann wieder zum Freunde machen.
Denn Jhre eigne Freunde wollen nicht glauben,
daß er im Ernſt, Sie zu heyrathen, geſonnen ſey:
und der Haß zwiſchen beyden Familien iſt ſo groß,
daß ſie ſich nicht herablaſſen wollen, desfalls Er-
kundigung einzuziehen; ja ihm auch nicht glau-
ben wuͤrden, wenn er noch ſo feyerlich betheurte,
daß es ihm ein Ernſt ſey.
Es wuͤrde mir lieb ſeyn, auf allen Nothfall,
einen kleinen Aufſatz von den Umſtaͤnden Jhrer
trau-
[755]
traurigen Geſchichte unter Jhrer eignen Hand in
Bereitſchaft zu haben. Allein erlauben Sie mir
zu gleicher Zeit zu verſichern, daß keine widrige
Vorſtellungen, auch nicht Jhr eignes Bekennt-
niß ſelbſt, meine Meynung von Jhrer Gottſelig-
keit, oder von Jhrer Klugheit in weſentlichen
Stuͤcken, verringern werden: weil ich weiß, daß
es allemal Jhre demuͤthige Weiſe geweſen iſt,
geringe Fehler an Jhnen ſelbſt ſchwer wider ſich
zu machen. Sie mochten Jhre eigne Fehler
auch wohl vergroͤßern, liebſte Fraͤulein: da Sie
jederzeit ſo wenige an ſich gehabt haben, und die-
ſe wenige ſo geringe geweſen ſind, daß Jhre Auf-
richtigkeit bey denſelben ſie groͤßtentheils in treff-
liche Vorzuͤge verwandelt hat.
Nichts deſto weniger erlauben Sie mir, Jh-
nen zu rathen, meine wertheſte Fraͤulein Claͤr-
chen, daß Sie keine Beſuche geſtatten, welche
bey tadelſuͤchtigen Richtern Jhrem guten Na-
men nachtheilig ſeyn koͤnnen. Da dieſer bisher
in keinem Stuͤcke durch ein freywilliges Ver-
ſehen von Jhnen gelitten hat: ſo hoffe ich, Sie
werden ihn nicht aus kleinmuͤthiger Verabſaͤu-
mung deſſelben, indem Sie ſich ſelbſt mit einem
Bewußtſeyn Jhrer eignen Unſchuld befriedigen,
leiden laſſen. Widerwaͤrtige Umſtaͤnde, das wiſ-
ſen Sie, meine liebſte Fraͤulein, ſind ein Probier-
ſtein nicht allein fuͤr die Klugheit, ſondern auch
fuͤr die Tugend.
Jch halte es fuͤr meine Schuldigkeit, Jhnen
zu geſtehen, daß mir, ſeit dem Empfang des Brie-
B b b 2fes
[756]
fes von dem Herrn Brand, aufs neue verboten
iſt, Jhnen aufzuwarten. Jedoch ſoll mich das
nicht abhalten, zu Jhnen zu kommen: wofern
Sie es mir erlauben wollen. Ja ich wuͤrde
nicht einmal auf dieſe Erlaubniß warten, wenn
ich mir nicht Hoffnung machte, daß ich bey dieſen
bedenklichen Umſtaͤnden, die der Sache eine Ent-
ſcheidung zu verſprechen ſcheinen, im Stande ſeyn
moͤchte, Jhnen hier Dienſte zu leiſten.
Der wirklich ehrwuͤrdige D. Lewin, welcher
ſich allezeit Jhrentwegen hoͤchſt bekuͤmmert bezei-
get hat, und noch bezeiget, hat oft Bothſchaft bey
mir gehabt, und ſich nach dem Zuſtande Jhrer
Geſundheit erkundigen laſſen. Er misbilligt
ganz und gar die Maaßregeln der Familie gegen
Sie. Er iſt zu unpaͤßlich auszugehen. Aber
wenn er auch geſund waͤre: ſo wuͤrde er doch,
wie ich vernehme, zu Harlowe-Burg keinen Be-
ſuch ablegen. Denn ihm iſt vor einiger Zeit, da
er zwiſchen Jhrer Familie und Jhnen eine Ver-
mittelung zu treffen geſuchet, unartig von Jhrem
Bruder begegnet worden.
Jch bekomme eben itzo Nachricht, daß Jhr
Vetter Morden in England angelanget ſey. Er
iſt zu Canterbury, wo er, wie es ſcheint, einige
Angelegenheiten zu beſorgen hat. Man erwar-
tet ihn bald in dieſen Gegenden. Wer weiß,
was durch ſeine Ankunft geſchehen mag? ‒ ‒
Gott ſey mit Jhnen, meine liebſte Fraͤulein Claͤr-
chen,
[757]
chen, und troͤſte und ſtaͤrke Sie. Fuͤrchten Sie
ſich nur nicht: er wird mit Jhnen ſeyn. Denn
ich bin verſichert, vollkommen verſichert, daß Sie
Jhr Vertrauen gaͤnzlich auf Jhn ſetzen.
Und wenn man es recht bedenkt, was iſt die-
ſe Welt, worauf wir arme Geſchoͤpfe uns ſo ſehr
verlaſſen, ein dauerhaftes Gut zu erlangen! ‒ ‒
da alle Freude derſelben, und, welches noch ein
Troſt dagegen iſt, alle Beſchwerden und Un-
ruhen derſelben nur auf einen Augenblick beſte-
hen und wie ein Morgentraum verſchwinden?
Erinnern Sie ſich, meine wertheſte Fraͤulein,
daß die weltliche Freude ſich keine Verwandtſchaft
mit derjenigen, nach welcher wir trachten ſollen,
anmaßen koͤnne. Zu der letztern muͤſſen wir
durch Leiden, und fehlgeſchlagene Hoffnung, ge-
ſchickt gemachet werden. Sie ſind alſo auf dem
geraden Wege zur Herrlichkeit: ſo dornicht auch
der Fußſteig iſt, auf welchem Sie gehen. Und
ich haͤtte beynahe geſagt, daß es auf Sie ſelbſt
ankomme; durch Jhre Gedult und Ergebung in
den goͤttlichen Willen; indem Gott Sie geſchickt
machet, welcher ſich niemals dem entziehet, der
wahrhaftig bußfertig iſt und ihn anruffet; ein Er-
be der ſeligen Unſterblichkeit zu ſeyn.
Dennoch bete ich demuͤthigſt, daß Sie zu die-
ſer Herrlichkeit, ſo reif Sie auch nach aller
Wahrſcheinlichkeit ſo bald dazu ſind, nicht eher
gelaſſen werden, bis Sie mit Jhrer ſanften
Hand; ein Vergnuͤgen, welches ich mir, wie
B b b 3Sie
[758]
Sie wiſſen, ſo oft verſprochen habe; mir die
Augen zugedruͤcket, als
Jhrer muͤtterlich ergebenen
Judith Norton.
Der hundert und ſechzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fr. Norton.
Was Herr Brand, oder irgend jemand, zu
meinem Nachtheil geſchrieben oder geſagt
haben koͤnne, kann ich mir nicht einbilden: und
gleichwohl ſind einige uͤble Geruͤchte wider mich
ausgeſtreuet. Das finde ich aus einem und dem
andern Wink in einem ſehr harten Briefe an
mich von meinem Onkel Anton: einem ſolchen
Briefe, als wohl niemals, wie ich glaube, an eine
elende Perſon geſchrieben iſt, die ſchon vorher,
aus Schwachheit des Leibes ſo wohl als des Ge-
muͤths, auf dem Grabe gegangen. Allein mei-
ne Freunde koͤnnen vielleicht beſſer gerechtfertigt
werden, als die Anbringer. ‒ ‒ Denn wer weiß,
was ſie gehoͤrt haben moͤgen.
Sie geben mir eine freundſchaftliche War-
nung, welche mehr zu bedeuten ſcheinet, als Sie
ausdruͤcklich anzeigen, wenn Sie mir rathen, kei-
ne Beſuche zu geſtatten, die mir einen widrigen
Ruf
[759]
Ruf zuwege bringen koͤnnen. Sie, meine liebe
Fr. Norton, haͤtten in einer ſo bedenklichen Sache
rein heraus reden ſollen. Gewiß ich habe Truͤb-
ſal genug gehabt, daß mein Gemuͤth dadurch ge-
ſchickt geworden iſt, alles zu ertragen. Aber ich
will mich nicht durch muthmaßliche Uebel in
Unruhe und Verwirrung ſetzen. Jch moͤchte
es thun; wenn ich nicht ohne das genug haͤtte,
die gewiß ſind: und ich werde alles hoͤren, wenn
es fuͤr dienlich gehalten wird, mich es wiſſen zu
laſſen. Unterdeſſen erlauben Sie mir, zu Jhrer
Beruhigung zu ſagen, daß, ſo viel ich weiß, ich
ſeit dem letzten ungluͤcklichen 10ten April nichts
ſtrafwuͤrdiges oder unanſtaͤndiges, weder in Wor-
ten, noch in Werken, zu verantworten habe.
Sie verlangen eine Nachricht von dem, was
zwiſchen mir und meinen Freunden vorgehet, und
auch ein Verzeichniß oder kurze Aufſaͤtze von den
Hauptumſtaͤnden meiner traurigen Geſchichte,
damit Sie mir bey Gelegenheit dienen moͤgen.
Sie ſollen ein ganzes Packet von Papieren bekom-
men, meine liebe Fr. Norton, die ich an meine
Fraͤulein Howe geſchickt habe, wenn dieſe mir ſie
wieder zuruͤckſendet. Sie ſollen auch außer dem
noch ein Packet, und zwar mit dem gegenwaͤrti-
gen Briefe, bekommen, welches ich fuͤr itzo an je-
ne liebe Freundinn um meiner eignen Verwand-
ten willen nicht zu ſenden gedenken kann, da ſie
ohne das ſchon allzu heftig in ihren harten Urthei-
len gegen dieſelben iſt. Aus dieſen Papieren
werden Sie einen großen Theil von meiner Ge-
B b b 4ſchichte
[760]
ſchichte zu ſammeln vermoͤgend ſeyn. Jn Anſe-
hung desjenigen aber, was vor demſelben herge-
gangen iſt, und ſich eigentlicher auf das beziehet,
was ich von dem Herrn Lovelace gelitten, muͤſſen
Sie Gedult haben. Denn weder mein Kopf
noch mein Herz iſt gegenwaͤrtig zu ſolchen Din-
gen aufgelegt. Die Papiere, welche ich Jhnen
mit dieſem Briefe zuſchicke, werden die ſeyn, von
denen hier unten ein Verzeichniß beygefuͤgt iſt (*).
Sie muͤſſen mir dieſelben, ſo bald ſie durchgeleſen
ſind, wieder zuſenden, und bey Jhrer Ehre keine
Nachricht, die Jhnen von mir gegeben iſt, ohne
meine Einwilligung gebrauchen.
Dieß, was ich Jhnen mittheile, muͤſſen ſie,
meine gute Fr. Norton, nicht als etwas anſehen,
wor-
[761]
worauf ich mich gegen meine Verwandten berufe.
Es iſt mir vielmehr herzlich leid, daß ſie einem ſo
vortrefflichen Geiſtlichen, als D. Lewin iſt, mis-
faͤllig geworden ſind. Mein einziger Bewegungs-
grund aber, warum ich es Jhnen mittheile, iſt,
weil Sie alles wiſſen wollen, und ich gedenke,
daß Sie billig alles wiſſen muͤſſen. Denn wer
weiß, wie Sie ſchreiben, ob man ſich nicht endlich
an Sie wenden moͤge, den Troſt, welchen mir
ihre Herzen, wenn ſie zuletzt nachgeben, goͤnnen
wollen, einer Perſon, die ihn noͤthig hat, in ihrer
aller Namen zu ertheilen: einer Perſon, die ſich
bisweilen berechtigt haͤlt, Anſpruch darauf zu
machen, wenn ſie nach dem urtheilet, was ſie von
ihrem eignen Herzen weiß?
Mir iſt bekannt, daß ich eine ſehr guͤtige und
gelinde Mutter habe. Aber da ſie mit ungeſtuͤ-
men Gemuͤthern zu thun hat, hat ſie nur allzu oft
diejenige Gemuͤthsruhe, welche ſie ſo vieles Vor-
zugs wuͤrdig achtet, eben durch ihre allzu große
Fuͤrſorge, ſie zu erhalten, verſcherzet.
Jch bin verſichert, ſie wuͤrde mich zur Ant-
wort auf einen Brief, der mit einem ſo zerſchla-
genen und bruͤnſtigen Geiſte geſchrieben war,
nicht an ein maͤnnliches Herz verwieſen haben:
wenn ſie ſich ſelbſt uͤberlaſſen geweſen waͤre.
Allein, meine liebe Fr. Norton, was meynen
Sie, haͤtte die verehrungswuͤrdige Frau mir nicht
die Gewogenheit erweiſen moͤgen, in geheim eine
Zeile zu ſenden? ‒ ‒ Wo nicht: haͤtte ſie Jhnen
nicht erlauben moͤgen, auf ihren Befehl oder durch
B b b 5ihre
[762]
ihre Nachſicht, eine ſanfte, eine muͤtterliche Zeile
zu ſchreiben, da ſie ſahe, daß ihre arme Tochter
ſo hart angegriffen wuͤrde?
O nein, ſie haͤtte es nicht thun moͤgen! ‒ ‒
Weil gewiß ihr Herz die Maaßregeln der Uebri-
gen billiget! ‒ ‒ Und haͤlt ſie dieſelben fuͤr recht:
ſo muͤſſen ſie vielleicht recht ſeyn! ‒ ‒ Wenig-
ſtens in ſo fern, als ſie nur das wiſſen, was ſie
wiſſen! ‒ ‒ Jedoch koͤnnten ſie ja alles wiſſen,
wenn ſie wollten! ‒ ‒ Und vielleicht gedenken ſie zu
ihnen beliebiger Zeit ſich gehoͤrig zu erkundigen. ‒ ‒
Jch habe mich nur erſt neulich an ſie gewandt ‒ ‒
Allein wie wird es gleichwohl ihre Herzen kraͤn-
ken, wenn die ihnen beliebige Zeit ſchon außer
der Zeit ſeyn ſollte!
Aus denen Briefen, welche ich an die Fraͤu-
lein Howe geſchickt habe, werden Sie ſehen, wenn
ſie vor Jhnen ſind, daß der Lord M. und die La-
dies und Fraͤuleins von ſeiner Familie, ſo eifer-
ſuͤchtig ſie auch auf die Ehre ihres Hauſes hal-
ten, damit ich mich nach ihrer eignen Sprache
ausdruͤcke, doch eine beſſere Meynung von mir
haben, als meine eigne Verwandten. Sie wer-
den eine Probe von ihrer großmuͤthigen Freyge-
bigkeit gegen mich ſehen, welche mich ſehr geruͤh-
ret hat.
Einige von den Briefen in eben dem Packet,
werden Jhnen auch einen wunderlichen Schritt,
den ich gethan habe, entdecken. Fuͤr wunderlich
werden ſie ihn anſehen. Die Briefe aber werden
Jhnen
[763]
Jhnen zu gleicher Zeit meine Urſachen dazu er-
oͤffnen (*).
Man muß allemal vermuthen, daß außeror-
dentlich widerwaͤrtige Umſtaͤnde eine Nothwen-
digkeit mit ſich bringen werden, einige außeror-
dentliche Schritte zu wagen, welche unter andern,
als dieſen Umſtaͤnden, ſchwerlich zu entſchuldigen
ſeyn wuͤrden. Es wird in der That ein großes
Gluͤck, und einigermaßen ein Wunder ſeyn, wenn
alle die Maaßregeln, welche ich zu nehmen ge-
zwungen bin, recht ſeyn ſollten. Eine lautere
Abſicht, ohne allen unerlaubten Zorn und Wider-
willen, muß mein Troſt ſeyn: was auch andere
immer von dieſen Maaßregeln gedenken moͤgen,
wenn ſie ihnen bekannt werden. Dieß wird gleich-
wohl ſchwerlich eher geſchehen, als bis es nicht
mehr in meiner Gewalt iſt, ſie zu rechtfertigen,
oder mich zu verantworten.
Jch hoͤre mit Vergnuͤgen, daß mein Vetter
Morden geſund und wohl angelanget iſt. Mich
deucht, ich moͤchte wuͤnſchen ihn zu ſehen: aber
ich beſorge, daß er mit dem Strohm ſchwimmen
wird; weil man vermuthen muß, daß er zuerſt
hoͤren werde, was jene zu ſagen haben. ‒ ‒ ‒
Allein was ich am meiſten befuͤrchte, iſt dieſes,
daß er uͤbernehmen wird, mich zu raͤchen. ‒ ‒ ‒
Viel lieber, als daß dieß geſchehen ſollte, moͤchte
ich wuͤnſchen, von ihm als eine Perſon angeſehen
zu
[764]
zu werden, die ſeiner Fuͤrſorge, wenigſtens ſeiner
raͤchenden Fuͤrſorge, aͤußerſt unwuͤrdig waͤre.
Wie ſanfte, wie balſamiſch ſind die Verſiche-
rungen von Jhrer fortdaurenden Liebe und Gunſt
fuͤr das verwundete Herz Jhrer Clariſſa! ‒ ‒ ‒
Lieben Sie mich, meine werthe Mutter Norton,
fahren Sie fort, mich bis ans Ende zu lieben! ‒ ‒
Jch denke, daß ich nun ohne Vermeſſenheit ver-
ſprechen kann, Jhre Liebe bis ans Ende zu ver-
dienen. Wenn ich aber dahin ſeyn werde: ſo
erhaͤlten Sie mein Gedaͤchtniß in Jhrem wuͤrdi-
gen Herzen. Denn dadurch werden Sie das
Angedenken von einer Perſon erhalten, welche Sie
mehr liebet und ehret, als ſie ausdruͤcken kann.
Allein wenn ich nicht mehr da bin: ſo uͤber-
winden Sie ſo bald, als moͤglich iſt, das empfehle
ich Jhnen, die ſchmerzliche Quaal des Kummers,
der einen neulichen Verluſt begleiten wird, und
laſſen dieſelbe bald gaͤnzlich in diejenige angenehm-
traurige Achtung fuͤr das Angedenken verwan-
delt werden, welche uns verbindet, alle Fehler zu
vergeſſen, und an nichts zu gedenken, als was fuͤr
liebenswuͤrdig gehalten ward. Dieſe macht den
Hinterbliebenen mehr Vergnuͤgen, als Kummer:
‒ ‒ ſonderlich wenn ſie ſich mit der demuthsvol-
len Hoffnung troͤſten koͤnnen, daß Gott die werth-
geachtete Verſtorbene zu ſeiner Gnade aufgenom-
men habe.
Was betraͤgt auch wohl die Zeit zwiſchen ei-
nem fruͤhen Hintritt und dem laͤngſten Ueberle-
ben: wenn man darauf nach dieſem zuruͤckſie-
het?
[765]
het? ‒ ‒ Wie groß iſt hingegen der Troſt in
der angenehmen Hoffnung, ſich wieder zu ſehen,
niemals wieder von einander getrennet, niemals
mehr geplaget, bekuͤmmert, verlaͤumdet zu wer-
den ‒ ‒ ſondern in alle Ewigkeit ſich unter ein-
ander gluͤcklich zu machen und gluͤcklich gemacht
zu ſeyn!
Jn der Betrachtung dieſes begluͤckten Zu-
ſtandes, in welchem ich mich, zu der Gott gefaͤl-
ligen Zeit, mit Jhnen, meine liebe Fr. Norton,
und auch mit meinen werthen Verwandten, die
alle ausgeſoͤhnt ſeyn und das Kind ſegnen wer-
den, gegen welches ſie nun ſo erbittert ſind, zu
erfreuen hoffe, nenne ich mich ſchließlich
Jhre beſtaͤndig gehorſame und
ergebene
Clariſſa Harlowe.
Der hundert und ſiebzehnte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Jch weiß fuͤr den Teufel nicht, was mir fehlet:
aber ich bin in meinem Leben nicht ſo krank
geweſen. Anfangs dachte ich, daß einige von
meinen trefflichen Verwandten allhier mir ein
Puͤlverchen beygebracht haͤtten, damit ſie das ganze
Haus
[766]
Haus fuͤr ſich ſelbſt bekommen moͤchten. Allein,
da ich eben der bin, auf dem alle Hoffnung der
Familie beruhet: ſo glaube ich, daß ſie nicht ſo
gottlos ſeyn wuͤrden.
Jch muß meine Feder niederlegen. Jch kann
nicht mit der geringſten Munterkeit ſchreiben.
Was fuͤr eine Peſt mag mich befallen haben!
Der Lord M. ſtattete eben itzo einen verfluch-
ten finſtern Beſuch bey mir ab, ſich zu erkundi-
gen, wie ich mich nach dem Aderlaſſen befinde.
Seine Schweſtern ſind geſtern beyde weggefah-
ren, Gott ſey Dank. Aber ſie haben nicht Ab-
ſchied von mir genommen, und mir kaum gute
Beſſerung wuͤnſchen laſſen. Mein Lord war zaͤrt-
licher und bezeigte ſich pflichtmaͤßiger, als ich
vermuthete. Mannsperſonen vergeben leichter,
als Weibsleute. Dieß habe ich Urſache zu ſagen,
bin ich verſichert. Denn, außer der unverſoͤhn-
lichen Fraͤulein Harlowe, und den alten Ladies,
ſind die beyden Affen Montague auch noch nicht
bey mir geweſen.
Weder eſſen, trinken, noch ſchlafen! ‒ ‒ ‒
Ein klaͤglicher Zuſtand, Bruder! Sollte ich nun
wie ein Narr ſterben: ſo wuͤrden die Leute ſagen,
daß die Fraͤulein Harlowe mir das Herz gebro-
chen haͤtte. ‒ ‒ Daß die Guaal, welche ſie mir
macht, mir bis ans Herz gehet, iſt gewiß.
Ver-
[767]
Verzweifelt uͤbel! Jch wollte es gern durch
Schreiben verjagen. Allein ich muß meine Feder
wieder niederlegen. Es will nicht gehen. Armer
Lovelace! ‒ ‒ Was, Teufel, fehlt dir?
Aber nun wollen wir es verſuchen ‒ ‒ ‒
Hay ‒ ‒ Hay! ‒ ‒ Hay Der Henker, wie
gaͤhne ich! ‒ ‒ Wo ſoll ich anfangen? Bey der
Vollziehung des Teſtaments, das dir aufgetragen
iſt? ‒ ‒ ‒ Du ſollſt das Amt gedoppelt haben.
Denn ich denke wirklich, du magſt mir einen
Sarg und einen Todtenkittel ſchicken. Jch werde
unterdeſſen, da ſie herunter kommen koͤnnen, be-
reit fuͤr ſie ſeyn.
Was fuͤr eine kleine Thoͤrinn iſt die Fraͤulein
Harlowe! Jch bin Buͤrge, ſie wird nun bereuen,
daß ſie meine Hand ausgeſchlagen hat. Eine ſo
liebenswuͤrdige junge Witwe ‒ ‒ Was fuͤr eine
reizungsvolle Witwe wuͤrde ſie abgegeben haben?
Was fuͤr eine Zierde wuͤrde ſie den Trauerklei-
dern geweſen ſeyn? Jn den erſten zwoͤlf Mona-
then eine Witwe zu ſeyn, iſt eine von den groͤßten
Gluͤckſeligkeiten, die einem ſchoͤnen Frauenzimmer
begegnen koͤnnen. Solche artige Beſchaͤfftigung
mit dem neuen Trauerputz, wenn ſie kaum ih-
ren hellen Freudenſchmuck nach der Relhe
herum getragen haͤtte! Solch Licht und Schatten!
Wie wuͤrden die einander abſtechen, und durch
die Perſon ſelbſt, welche ſie truͤge, einen Glanz
bekommen.
Geh
[768]
Geh zum Teufel! ‒ ‒ Jch will ſchreiben! ‒ ‒
Kann ich etwas anders thun?
Man wollte nicht haben, Belford, daß ich
ſchreiben ſollte ‒ ‒ Jch muß in der That krank
ſeyn, wenn ich nicht ſchreiben kann ‒ ‒
Aber du ſcheinſt empfindlich geworden zu
ſeyn, Bruder! Jſt es deswegen, weil ich aufge-
bracht war? Es ſchickt ſich fuͤr zween Freunde
eben ſo wenig, als fuͤr Mann und Weib, zu glei-
cher Zeit ungeduldig zu ſeyn. ‒ ‒ Was muß es
fuͤr Folgen haben, wenn ſie es ſind? ‒ ‒ Jch
habe itzo keine Luſt, mich zu ſchlagen: ſondern bin
ſo gedultig und laſſe alles mit mir machen, wie
die jungen Huͤner, welche mir in der Bruͤhe ge-
bracht werden ‒ ‒ denn ſo weit iſt es ſchon mit
mir gekommen.
Jch kann dir inzwiſchen ſagen, du magſt dein
eigner Herr ſeyn, wo du willſt; was die Voll-
ziehung des Teſtaments betrifft: aber das will
ich nimmermehr leiden, daß du meine Briefe
bekannt macheſt und allerley Urtheilen bloßgiebſt.
Sie ſind um die Haͤlfte zu offenherzig, daß ſie
andern ſollten gezeigt werden. Jch dringe ſchlech-
terdings darauf, daß du bey Empfang des ge-
genwaͤrtigen ſie alle verbrenneſt.
Jch will dir niemals die unverſchaͤmte und
unfreundliche Anmerkung verzeihen, daß ich hier
uͤber ein halb Dutzent Perſonen von Stande den
Ritter ſpiele. Beſinne dich auch noch dazu auf
deine
[769]
deine arme verlaſſene Wayſe ‒ ‒ Dieſe An-
merkungen ſind zu ernſthaft, und auch du biſt zu
ernſthaft fuͤr mich, daß ich dergleichen Dinge als
einen Scherz hingehen laſſen ſollte: ob gleich die
roͤmiſche Schreibart, jedoch in der That nur eben,
noch beybehalten iſt. Bey meiner Seele, Bruder,
wenn ich nicht ſo außerordentlich benebelt waͤre:
ſo wuͤrde ich ſchon vor dieſer Zeit bey dir und ſelbſt
bey der Fraͤulein in London geweſen ſeyn.
Jnzwiſchen ſchreibe nur fort, und ſchicke mir,
wo du kannſt Abſchriften von allem, was zwi-
ſchen unſerer Charlotte und der Fraͤulein Harlo-
we vorgehet. Jch will nichts von dem erwaͤh-
nen, was du mir von dieſer Art mittheileſt. Die
Leute hier gefallen mir deswegen nicht ſchlimmer,
weil ſie der Fraͤulein ein freygebiges und groß-
muͤthiges Erbieten gethan haben. Allein ihr
ſeht, daß ſie eben ſo ſtolz als unverſoͤhnlich iſt.
Man kann ihr keine Gefaͤlligkeit erweiſen. Sie
wollte lieber ihre Kleider verkaufen, als irgend
einem Menſchen verbunden ſeyn, ob ſie gleich viel-
mehr andere verbinden wuͤrde, wenn ſie die Ge-
faͤlligkeit annaͤhme.
O Himmel! ‒ ‒ O Himmel! ‒ ‒ Toͤdtlich
krank ‒ ‒ Lebe wohl, Bruder!
Jch ward genoͤthigt bey dieſer Stelle abzu-
brechen: ſo uͤbel war mir. Und was meynſt du,
Bruder? Mein Onkel brachte den Pfarrer von
dem Kirchſpiel herein, bey mir zu beten: weil ſein
Sechſter Theil. C c cKape-
[770]
Kapelan zu Oxford iſt. Jch lag in meinem
Schlafrock, den ich uͤber meine Weſte gezogen hat-
te, und war in einem Schlummer. Da ich mei-
ne Augen aufſchlug: wen ſahe ich anders, als
den Pfarrer, der an einer Seite von dem Bette;
den Lord M. der an der andern Seite; und Fr.
Greme, die zu den Fuͤßen knieete, und gehohlet
war, auf mich Acht zu haben, wie ſie es nen-
nen. Gott ſey Dank, mein Lord, ſprach ich, in
einer Entzuͤckung! ‒ ‒ Wo iſt die Fraͤulein?
‒ ‒ Denn ich dachte, ſie wollten mich mit ihr
trauen.
Sie meynten anfangs, daß ich in der Raſe-
rey redete und beteten immer lauter.
Dieß weckte mich auf. Jch ſprang aus dem
Bette, fuhr in meine Pantoffeln, ſteckte die Hand
in meine Weſtentaſche und zog deinen Brief mit
der geiſtlichen Betrachtung meiner Geliebten in
demſelben hervor. Mein Lord, Herr D. Wright,
Fr. Greme ſie haben mich fuͤr einen ſehr gottlo-
ſen Kerl angeſehen: aber ſehen ſie, ich kann ih-
nen eben ſo gut vorleſen, als ſie mir.
Sie wurden ſtutzig und ſahen einander an.
Jch gaͤhnte und las: die armen Ster-erb-lichen
als die Urſa-a-che ihres eignen-ihres eignen
Jam-am-mers.
Die Betrachtung ſchickt ſich eben ſo gut auf
mich, als auf die Fraͤulein, wie du bemerken wirſt,
wenn du ſie noch einmal lieſeſt (*). Bey der
Stelle, wo es heißt, daß, wenn ein Menſch um
der
[771]
der Suͤnde willen gezuͤchtigt wird, ſeine Schoͤn-
heit vergehe, trat ich zum Spiegel. Eine elen-
de Geſtalt, beym Jupiter! rief ich: und ſie lob-
ten und bewunderten mich alle mit aufgehabenen
Haͤnden und Augen. Der Doctor ſagte, er haͤt-
te es allemal fuͤr unmoͤglich gehalten, daß ein
Menſch von meiner Einſicht ſo wild ſeyn koͤnnte,
als die Welt mich ausſchriee. Mein Lord lachte
vor Freuden, wuͤnſchte mir Gluͤck, und ich, Dank
ſey meiner lieben Fraͤulein Harlowe, brachte mir
eine hohe Meynung bey guten, boͤſen, und mittel-
maͤßigen zu wege. Kurz, ich habe mich auf be-
ſtaͤndig bey allen, die hier ſind, in gutes Anſehen
geſetzet ‒ ‒ Aber, o Belford, auch dieß will nicht
helfen! ‒ ‒ Jch muß wieder abbrechen.
Ein Beſuch von den beyden Schweſtern
Montague, welche von meinem hinkenden Onkel
hereingefuͤhrt wurden, um mir zugleich zu mei-
ner Geneſung und zu meiner Beſſerung in der
Gottſeligkeit Gluͤck zu wuͤnſchen! Was fuͤr ein
gluͤcklicher Zufall iſt dieſe Unpaͤßlichkeit bey der
geiſtlichen Betrachtung in meiner Taſche! denn
vorher waren wir alle gaͤnzlich mit einander zer-
fallen. Auf eben die Art habe ich oft, als ein
Knabe, mich zu dem Haufen der Leute geſellet,
die aus der Kirche kamen, und dadurch das An-
ſehen bekommen, als wenn ich ſelbſt da geweſen
waͤre.
C c c 2Jch
[772]
Jch bin durch den Uebermuth des jungen
Geiſtlichen voͤllig in Harniſch gejagt. Du wirſt
mir den groͤßten Gefallen erweiſen, wenn du ihn
aufſucheſt und mir in dem naͤchſten Briefe ſeiue
Ohren uͤberſchickeſt.
Meine ſchoͤne Gebieterinn verſteht mich nicht
recht: wo ſie glaubt, daß ich ihr vorgeſchlagen
habe, an mich zu ſchreiben, damit ſie von mei-
nem Beſuch frey bleiben moͤchte; als wenn ich
ihr ſchlechterdings zwiſchen dieſen beyden Din-
gen die Wahl laſſen wollte. Das ſoll nicht ge-
ſchehen, und es iſt auch meine Abſicht nicht ge-
weſen, es waͤre dann, daß ſie mir in dem Jnhalt
ihres Briefes beſſer gefallen haͤtte, als ſie mir
wirklich gefallen hat. Bitte ſie, meinen Brief
noch einmal zu leſen. Jch habe ihr keine ſolche
Hoffnung gemacht. Jch wuͤrde aufs laͤngſte
morgen, Trotz euch beyden, bey ihr geweſen ſeyn:
wenn mir nicht die Fuͤße ſo, wie einem huͤlfloſen
Miſſethaͤter, gebunden waͤren.
Allein ich werde von Stunde zu Stunde beſ-
ſer. Das ſage ich: der Arzt ſagt es nicht. Aber
ich bin verſichert, daß ich es am beſten weiß.
Jch will bald in London ſeyn. Verlaß dich dar-
auf. Nur ſage meiner lieben, grauſamen und
unverſoͤhnlichen Fraͤulein Harlowe nichts davon.
Le-e-be wohl, Bru-u-der! ‒ ‒ Was fuͤr
ein Gaͤh-nen! Gaͤh-nen! Gaͤh-nen!
Dein
Lovelace.
Der
[773]
Der hundert und achtzehnte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Deine Unpaͤßlichkeit macht mir ungemein viel
Kummer. Es wuͤrde mir ſehr nahe gehen,
dich zu verlieren. Wenn du aber ſo bald ſtir-
beſt: ſo koͤnnte ich von ganzem Herzen wuͤnſchen,
daß es vor dem Anfang des verwichenen Aprils
geſchehen waͤre; und zwar ſo wohl deinetwegen,
als um des vortrefflichften Frauenzimmers wil-
len, das in der Welt iſt. Denn ſo wuͤrdeſt du
nicht von der himmelsſchreyenden und der groͤß-
ten Suͤnde in deinem Leben Rechenſchaft zu ge-
ben haben.
Jch bekam am Sonnabend Nachricht, daß
du ſehr aus der Ordnung waͤreſt. Dieß machte,
daß ich Bedenken trug, an dich zu ſchreiben, bis
ich etwas weiter hoͤrte. Heinrich beſtaͤtigte, bey
ſeiner Ruͤckkunft von dir, den ſchlechten Zuſtand,
worinn du dich befindeſt. Allein ich hoffe, daß
der Lord M. nach feiner unverdienten Zaͤrtlich-
keit gegen dich, ſich nur das aͤrgſte von dir vor-
ſtelle. Was kann es ſeyn, Robert? Ein hefti-
ges Fieber, ſagt man: wobey aber ſeltſame und
harte Zufaͤlle ſind.
C c c 3Jch
[774]
Jch will dir bey dem Zuſtande, worinn du
dich befindeſt, durch die Nachricht von dem, was
hier mit der Fraͤulein Harlowe vorgeht, keine
Unruhe machen. Jch wuͤnſche, daß deine Buße
ſo geſchwinde, als deine Krankheit, und, wo du
ſtirbeſt, auch ſo kraͤftig ſeyn moͤge. Denn ſonſt
iſt zu befuͤrchten, daß Sie und Jhr niemals an
einem Orte zuſammen kommen werdet.
Jch habe ihr erzaͤhlet, wie krank ihr waͤret.
Der arme Menſch! waren ihre Worte. Ge-
faͤhrlich krank, ſagen ſie?
Jn Wahrheit, gefaͤhrlich, gnaͤdige Fraͤu-
lein. ‒ ‒ So laͤßt mir der Lord M. melden.
Gott ſey ihm gnaͤdig, wo er ſtirbt! ſprach
die unvergleichliche Fraͤulein ‒ ‒ und hierauf,
nach dem ſie ein wenig inne gehalten hatte: der
arme Menſch! ‒ ‒ Gott laſſe ihn die Barmher-
zigkeit finden, die er nicht bewieſen hat!
Jch ſende dieß durch einen beſondern Boten.
Denn mich verlangt ſehr, zu hoͤren, wie es mit
dir gehet. ‒ ‒ Wo ich den letzten Brief von dir
bekommen habe: was fuͤr traurige Betrachtun-
gen wird dieß letzte Schreiben, das ſo voller an-
ſtoͤßigen Leichtſinnigkeit iſt, bey mir erwecken, als
deinem wahren Freunde
Joh. Belford.
Der
[775]
Der hundert und neunzehnte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Jch danke dir, Bruder, von ganzem Herzen
danke ich dir, fuͤr den vernuͤnftigen und bil-
ligen Beſchluß deines letzten Briefes! ‒ ‒ Jch
bin um deſſelben willen nicht uͤbel geneigt, dir die
bis itzo ſchlechterdings nicht zu verzeihenden Aus-
zuͤge zu vergeben.
Allein denkſt du, daß ich einen ſolchen Engel,
einen ſolchen zu vergeben geneigten Engel, als
dieſe Fraͤulein iſt, verlieren will? ‒ ‒ Bey mei-
ner Seele, ich will nicht! ‒ ‒ Sollte ſie fuͤr ei-
nen ſolchen undankbaren Miſſethaͤter um Gnade
beten! ‒ ‒ wie verwundet ſie mein Herz, wie
kraͤnkt ſie meine Seele durch ihre erhabene Groß-
muth! ‒ ‒ Aber ſie muß zuerſt Barmherzigkeit
an mir beweiſen! ‒ ‒ So wird ſie mich ein Ver-
trauen lehren, um welches willen ihr Gebeth fuͤr
mich wird erfuͤllet werden.
Sende mir eiligſt, eiligſt Nachrichten von
ihrem Befinden, von ihren Beſchaͤftigungen, von
ihrer Unterredung.
Jch bin krank bloß vor Liebe! ‒ ‒ O daß
ich ſie haͤtte die meinige nennen koͤnnen! ‒ ‒ Als-
denn wuͤrde es ſich der Muͤhe verlohnt haben,
C c c 4krank
[776]
krank zu ſeyn! ‒ ‒ wenn nach ihr geſchickt und
ſie von London zu mir herunter gehohlet waͤre;
wenn ſie zu meiner Erquickung, mit Geneſungs-
mitteln in ihren Tauben gleichen Fluͤgeln, herzu
geflogen; wenn ſie aus Pflicht und aus freyer
Wahl fuͤr mich gebetet, und mir um ihrentwillen
zu leben geboten haͤtte! ‒ ‒ O Bruder! was fuͤr
einen Engel habe ich ‒ ‒
Jedoch ich habe ſie nicht verlohren! ‒ ‒
Jch will ſie nicht verlieren! Jch befinde mich
beynahe wohl. Jch wuͤrde mich ganz wohl be-
finden: wenn die Lumpenhunde mit ihrem Vor-
ſchreiben nicht da waͤren, welche die Krankheit fuͤr
erheblich ausgeben wollen, damit ſie ihrer Wiſ-
ſenſchaft ein Anſehen verſchaffen. ‒ ‒ Jch will
ſie zu der Meinigen machen ‒ ‒ und wieder
krank werden, damit ich mir ſelbſt zu ihrer
pflichtmaͤßigen Zaͤrtlichkeit und zu ihrer gott-
ſeligen ſo wohl, als perſoͤnlichen Fuͤrſorge ein
Recht erwerbe.
Gott mache ſie ewig gluͤcklich! ‒ ‒ Sende
mir eiligſt, eiligſt Nachrichten von ihren Umſtaͤn-
den! ‒ ‒ Jch bin krank vor Liebe! ‒ ‒ So
großmuͤthige Guͤte! ‒ ‒ Bey allem, was hoch
und heilig heißt, ich will ſie nicht verlieren! ‒ ‒
Das ſage ihr! ‒ ‒ Sie erklaͤrt ſich, nach dem,
was die Fraͤulein Howe an Charlotte aus ihrem
Briefe uͤberſchrieben hat, daß ſie nicht Mitleiden
mit mir haben koͤnnte, wenn ſie die Meinige zu
werden gedaͤchte ‒ ‒ Aber ſage ihr, daß ſie mich
haſſen und nur nehmen moͤge. Mein Bezeigen
gegen
[777]
gegen ſie ſoll dieſen Haß bald in Liebe verwan-
deln. ‒ ‒ Denn mit Leib und Seel will ich ganz
der ihrige ſeyn.
Der hundert und zwanzigſte Brief
von
Herrn Belford an Hrn. Robert Lovelace.
Jch freue mich aufrichtig, da ich hoͤre, daß es
ſchon ſo viel beſſer mit dir iſt, als dein Be-
dienter mir erzaͤhlet. Dein Brief ſieht ſo aus,
als wenn deine Grundſaͤtze mit deiner Geſundheit
zugleich beſſer wuͤrden. Dieß war noch einmal
ein Brief, den ich, wie ich that, der Fraͤulein zei-
gen konnte.
Sie befindet ſich ſehr ſchlecht. Verfluchte
Briefe von ihrer unverſoͤhnlichen Familie! Da-
her konnte ich mich uͤber denſelben nicht viel zu
deinem Beſten unterreden. ‒ ‒ Aber das, was
vorging, wird machen, daß du ſie noch immer
mehr anbeteſt.
Sie hoͤrte mir ſehr aufmerkſam zu, als ich
ihn las; und da ich zu Ende war, ſprach ſie:
der elende Menſch! Was iſt dieß fuͤr ein Brief!
Er hatte ja zeitig Proben, daß meine Gemuͤths-
art nicht unedel waͤre, wenn Großmuth ihn haͤt-
te verbinden koͤnnen! Aber ſein geruͤhrtes Ge-
wiſſen, und das um ſein ſelbſt willen, iſt alle
C c c 5Strafe,
[778]
Strafe, die ich ihm wuͤnſche ‒ ‒ Jedoch ich muß
mehr zuruͤckhalten: wo ſie ihm alles ſchreiben,
was ich ſage.
Jch erhob ihre unumſchraͤnkte Guͤtigkeit ‒ ‒
Wie konnte ich anders: ob ich ſie gleich dadurch
ins Geſicht lobte!
Keine Guͤtigkeit in dieſem Stuͤcke! ſprach
ſie ‒ ‒ Es waͤre eine Gemuͤthsverfaſſung, welche
ſie um ihrer ſelbſt willen zu erlangen bemuͤht ge-
weſen. Sie litte zu viel, weil man ihr Barm-
herzigkeit verſagte, daß ſie dieſelbe einem reuevol-
len Herzen nicht wuͤnſchen ſollte ‒ ‒ Er ſcheinet
reuevoll zu ſeyn, ſetzte ſie hinzu: und es kommt
mir nicht zu, weiter als nach den aͤußerlichen Zei-
chen zu urtheilen. ‒ ‒ Jſt er es nicht: ſo betruͤgt
er ſich ſelbſt mehr, als ſonſt jemand.
Sie befand ſich ſo uͤbel, daß dieß alles war,
was bey dieſer Gelegenheit vorfiel.
Was fuͤr einen feinen Stoff zu einem Trauerſpiel
wuͤrde das Unrecht, welches dieſer Fraͤulein wi-
derfahren iſt, und ihr Bezeigen unter demſelben,
ſo wohl in Anſehung ihrer unverſoͤhnlichen Freun-
de, als in Anſehung ihres Verfolgers, an die
Hand geben! Jedoch wuͤrde in Betrachtung der
Sittenlehre ein ſtarker Einwurf dagegen zu ma-
chen ſeyn (*); denn hier wird die Tugend ge-
ſtraft
[779]
ſtraft: ausgenommen, wenn wir auf die Beloh-
nungen nach dieſem Leben ſehen, welcher ſie
nach der Tugendlehre verſichert ſeyn muß; oder
wer kann es jemals ſeyn? Bey dem allen weiß
ich gleichwohl nicht, ſo ein ſchrecklicher Kerl biſt
du, und ſo ein ſchaͤndlicher Ehemann haͤtteſt du
werden moͤgen, ob ihre Tugend nicht dadurch
belohnet wird, daß ſie deiner los wird. Denn
eben die Dinge, welche der menſchlichen Natur
am ſchmerzlichſten ſind, wenn ſie ſich zutragen,
ſind oft, wie dieſe reizende Fraͤulein einmal be-
merkte, in dem Ausgange die gluͤcklichſten fuͤr uns.
Jch habe vielfaͤltig bey meiner Aufwartung,
die ich dieſer Fraͤulein mache, gedacht, daß, wenn
Beltons bewunderter Schriftſteller, Nicol. Rowe,
eine Perſon von ſolcher Gemuͤthsart vor ſich ge-
habt haͤtte, er ein anderes Bild von einer Buß-
fertigen, als er wirklich gethan hat, entworfen
oder
(*)
[780]
oder ſeinem Schauſpiel, welches er die ſchoͤne
Bußfertige nennet, eine bequemere Aufſchrift
gegeben haben wuͤrde. Die Fraͤulein Harlowe
iſt in der That eine Bußfertige, eine Bußfertige
ohne Fehler, denke ich, wo ich mich keines Wider-
ſpruchs mit ausdruͤcklichen Worten ſchuldig ma-
che; wenn man das Bezeigen ihrer Eltern gegen
ſie vom Anfange an betrachtet.
Die ganze Geſchichte der andern iſt ein Wuſt
von verdammtem Zeuge. Lotharius, das iſt wahr,
ſcheint ein eben ſo gottloſer und unedelmuͤthiger
Kerl, als du weißt wer. Der Verfaſſer hat wohl
gewußt, wie er einen liederlichen Kerl, aber nicht,
wie er eine Bußfertige ſchiltern ſollte. Caliſta
iſt ein ekelhaftes Maͤgdchen voller Luͤſte, und ihre
Buße iſt nichts, als Raſerey, Uebermuth und
Verachtung. Jhre Leidenſchaften ſind ganz ſtuͤr-
miſch und ungeſtuͤm. Sie haben nichts von den
feinern Leidenſchaften des ſchoͤnen Geſchlechts an
ſich, welche, wenn ſie natuͤrlich entworfen werden,
ſich durch etwas Sanftes, das ſelbſt unter Wuth
und Verzweifelung hervor ſcheinet, von den maͤnn-
lichen Leidenſchaſten unterſcheiden werden. Jhre
Gemuͤthsbeſchaffenheit iſt aus Betrug und Ver-
ſtellung zuſammengeſetzet. Sie hat keine Tugend
an ſich. Sie iſt der Stolz ſelbſt: und ihr Teufel
ſteckt eben ſo viel in ihr, als er außer ihr iſt.
Wie kann denn der Fall einer ſolchen Perſon
ein eigentliches Ungluͤck ausmachen: wenn man
alle Umſtaͤnde davon erwaͤget? Denn ſucht ſie
nicht recht unverſchaͤmt, ſelbſt nach der Entde-
ckung,
[781]
ckung, ihr Verbrechen zu rechtfertigen? Da ſie
weiß, daß ſie ſelbſt Schuld hat: ſo fordert ſie
doch Altamont zur Rache gegen ſeinen beſten
Freund auf, als wenn er ſie verlaͤumdet haͤtte;
ergiebt ſich, Altamont zu heyrathen, ob ſie gleich
mit einem andern ſich ſtrafbar vergangen hatte,
und nimmt den weinenden Tropf wirklich mit zu
Bette, da ſie ſich mit Leib und Seel an Lotharius
ergeben hatte, der jedoch ſich weigerte, ſie zu
heyrathen.
Jhre Buße nennt ſie, bey ihrem Anfange,
mit Recht die Raſerey ihrer Seele: und nach-
dem ſie, wie ich geſagt habe, ihr Verbrechen ſo
lange, als ſie gekonnt, aufs kuͤhnlichſte vertheidi-
get und alles nur moͤgliche Ungluͤck angerichtet
hatte; indem ſie den Tod des Lotharius, ihres
Vaters und anderer verurſachte; ſo erſticht ſie
ſich ſelbſt.
Kann dieß ein Werk der Buße ſeyn?
Allein, in der That, unſere Dichter wiſſen
kaum, wie ſie ein Ungluͤck ohne Schrecken und
Morden vorſtellen ſollen, und muͤſſen die Seele
erſchuͤttern, damit ſie Thraͤnen aus den Augen
preſſen.
Altamont, der ein verliebter Toͤlpel, ein leicht-
glaͤubiger Hahnrey, und, ob er gleich als ein be-
herzter Kerl und ein Soldat abgemahlet wird,
ein einfaͤltiger weinender Tropf und ein Zaͤnker
mit ſeinem beſten Freunde iſt, ſtirbt in der That,
als ein Narr, ohne Schwerdt oder Kugel, bloß
vor Betruͤbniß und Unſinn um eine der ſchaͤnd-
lichſten
[782]
lichſten Perſonen ihres Geſchlechts. Aber die
ſchoͤne Bußfertige, wie ſie heißt, ſtirbt durch ihre
eigne Hand: und da ſie ihrer begangenen Laſter
wegen ſchon auf kein ruͤhmliches Mitleiden An-
ſpruch machen konnte, verſcherzt ſie hierdurch auch
alles Recht wahrhaftig bußfertig genannt zu
werden, und nach der hoͤchſten Wahrſcheinlichkeit
alles Recht, in jener Welt Barmherzigkeit zu
erlangen.
Hingegen hier iſt Fraͤulein Harlowe, eine
tugendhaſte, edelmuͤthige, weiſe, gottſelige Perſon,
die ungluͤcklicher Weiſe durch die Geluͤbde und
Eidſchwuͤre eines ſchaͤndlichen und liederlichen
Kerls, den ſie fuͤr einen ehrliebenden Mann an-
ſiehet, verſtricket wird. Weil ihr um ſeinet wil-
len uͤbel von ihren Freunden begegnet wird: iſt
ſie gewiſſermaßen gezwungen, ſich in ſeinen Schutz
zu begeben. Er macht ſich niemals uͤber die hoͤch-
ſten und feuerlichſten Betheurungen der Ehre ein
Bedenken, damit er ſie zu einem Vertrauen zu
ihm bewegen moͤge. Nach einer Reihe von Raͤn-
ken und Erfindungen, die alle durch ihre Tugend
und Wachſamkeit zu ſchanden gemacht ſind,
nimmt er auf eine niedertraͤchtige Art ſeine Zu-
flucht zu den ſchaͤndlichſten Kuͤnſten, und iſt ge-
noͤthigt, damit er ihr die Ehre rauben koͤnne, ſie
erſt ihrer Sinne zu berauben. Nichts deſto we-
niger kann er ſie nicht zu ſeinen unedlen Abſichten
der Vertraulichkeit außer der Ehe bewegen. Sie
haͤlt ihn durch eingefloͤßte Ehrfurcht gegen ſie
von einer neuen Unternehmung eines vorſetzlichen
Ver-
[783]
Verbrechens zuruͤck, da er ſchon im Begriff dazu
iſt, in Gegenwart der verruchteſten Welbsbilder,
die zu dem Ende verſammlet ſind, daß ſie ihm zu
ſeinem verfluchten Zweck behuͤlflich ſeyn moͤgen.
Sie ſieget uͤber ſie alle, bloß durch ihre Unſchuld,
und entkommt aus den ſchaͤndlichen Haͤnden,
worein er ſie gebracht hatte. Sie zuͤrnet edelmuͤ-
thig, nicht unſinnig. Sie will den Nichtswuͤr-
digen nicht ſehen, oder heyrathen, der ſein Ver-
fahren mit einer ſo goͤttlichen Fraͤulein bereuet,
und ſie gern bewegen wollte, ihm ſeine Schand-
that zu vergeben, und ihn zu ihrem Manne an-
zunehmen. Ob ſie auch gleich von allen ihren
Freunden verfolget, der aͤußerſten Noth uͤberlaſſen
und von dem Beſitz eines anſehnlichen Vermoͤ-
gens ſo weit herunter gebracht iſt, daß ſie ſich
gezwungen ſiehet, ihre Kleidung von der Hand zu
ſchlagen, damit ſie ihren Unterhalt finde, da ſie
mit lauter fremden Leuten umgeben, und genoͤ-
thigt iſt, aus dem Freunde ihres Betruͤgers, in
Ermangelung anderer, einen Freund fuͤr ſich zu
machen; ob ſie ſich gleich nach dem Tode ſehnet,
und aus Ueberzeugung, daß der Kummer und
das uͤble Verfahren mit ihr ſchon ihr edles Herz
gebrochen habe, alle Vorbereitungen zum Tode
machet: ſo verabſcheuet ſie doch den gottloſen
Gedanken, ihre geſetzte Lebenszeit ſelbſt zu verkuͤr-
zen. Sie weiß eben ſo wenig von Rache als von
Verzweifelung, und iſt im Stande, dem Urheber
ihres Ungluͤcks zu vergeben; wuͤnſchet ihm Buße,
und daß ſie das letzte Opfer ſeiner unmenſchlichen
Treu-
[784]
Treuloſigkeit ſeyn moͤge; ja iſt um nichts in die-
ſem Leben ſo bekuͤmmert, als dem Ungluͤck vorzu-
beugen, das zur Rache demjenigen begegnen,
oder von demjenigen entſtehen koͤnnte, der mit
ihr ſo ſchaͤndlich umgegangen iſt.
Dieß heißet Buße! Dieß heißet Gottſelig-
keit! Und daher wird es natuͤrlicher Weiſe ein
Ungluͤck. welches nach Wuͤrden ein jedes Herz
ruͤhren muß.
So uͤbel dieſer vortrefflichen Fraͤulein auch
von ihren Verwandten begegnet wird: ſo bricht
es doch bey ihr in keine Ausſchweifungen aus.
Sie beſtrebt ſich im Gegentheil vielmehr, Gruͤnde
zu finden, damit ſie jene rechtfertige und ſich ſelbſt
Schuld gebe. Sie ſcheint wegen der Grauſam-
keit derſelben mehr um desjenigen willen, was
ihnen nach dieſem, wenn ſie nicht mehr da ſeyn
wird, beſchwerlich ſeyn kann, als um ihrer ſelbſt
willen bekuͤmmert. Denn in Anſehung ihrer
ſelbſt, ſagt ſie, iſt ſie verſichert, daß Gott ihr ver-
geben werde, wenn ihr gleich ſonſt niemand ver-
geben will.
So oft ſie außerordentlich von ihnen gereizet
wird, nimmt ſie ihre Zuflucht zur heiligen Schrift,
und bemuͤhet ſich ihre Heftigkeit nach dem Bey-
ſpiel geheiligter Vorgaͤnger zu maͤßigen. Froͤm-
mere und beſſere Leute, ſpricht ſie, waͤren mehr
geplaget worden als ſie, ſo ſchmerzlich ſie auch
bisweilen ihr Truͤbſal achtete: ſollte ſie denn nicht
ertragen, was weniger ſtrafwuͤrdige Perſonen er-
tragen haben. Wie ſanftmuͤthig, und doch heſtig,
ſie
[785]
ſie ſich bey eben der Gelegenheit, wovon ich Er-
waͤhnung gethan habe, bey einigen neuen Proben
der Unverſoͤhnlichkeit ihrer Freunde, beklage, wird
die beygeſchloſſene geiſtliche Betrachtung zeigen.
Siehe, ob du nach der gottloſen Leichtſinnigkeit
deines Herzens dieſelbe ſo, wie die andern, auf
deinen Zuſtand deuten kannſt. Kannſt du es
nicht: ſo laß deinem Gewiſſen freyen Lauf, und
dieß wird die geſchickteſte Anwendung machen.
Betrachtung.
Wie lange wollt ihr meine Seele beunruhi-
gen, und mich durch Worte zerſchlagen!
Es ſey in der That, daß ich gefehlet habe:
ſo bleibt ja mein Verſehen bey mir ſelbſt.
Gegen diejenige, welche gekraͤnket iſt, ſollte
billig Mitleiden von ihren Freunden bewieſen
werden.
Allein die, welche mit ihren Fuͤßen zu glei-
ten bereit iſt, wird wie eine Lampe in den Ge-
danken derer, die ruhig und ſicher ſind, ver-
achtet.
Es iſt eine Schaam, welche Suͤnde mit
ſich bringet: es iſt aber auch eine Schaam,
welche Ruhm und Ehre bringet.
Habet Mitleiden mit mir, habet Mitleiden
mit mir, o ihr, meine Freunde! denn die Hand
Gottes hat mich geruͤhret.
Waͤre eure Seele an meiner Seele Stelle:
ſo koͤnnte ich auch ſo reden, wie ihr. Jch koͤnn-
te Worte gegen euch haͤufen ‒ ‒
Sechſter Theil. D d dAber
[786]
Aber ich wollte euch vielmehr durch meinen
Mund ſtaͤrken, und meine Lippen ſollten ſich
nur bewegen, euren Kummer zu lindern.
Warum wollt ihr ein Blatt, das hin und
her getrieben wird, zerbrechen? Warum
wollt ihr die duͤrre Stoppel verfolgen? War-
um wollt ihr bittere Worte gegen mich ſchrei-
ben, und mir die Suͤnden meiner Jugend auf-
legen?
Barmherzigkeit kommt zur Zeit der Truͤb-
ſal gelegen, wie Regenwolken zur Zeit der
Duͤrre.
Sind meiner Tage nicht wenige? So hoͤ-
ret dann auf, und laſſet mich alleine, damit
ich ein wenig Troſt empfinden moͤge ‒ ‒ ‒
Ehe ich dahin gehe, von wannen ich nicht wie-
der kommen werde: ſelbſt zu dem Lande der
Finſterniß und Schatten des Todes.
Poſtſcript.
- Dieſe vortreffliche Fraͤulein hat, durch einen Brief
von Frau Norton, Nachricht, daß der Obriſt
Morden eben in England angekommen iſt. Er
iſt itzo die einzige Perſon, welche ſie zu ſehen
wuͤnſchet. - Jch ließ einige Eiferſucht daruͤber merken, daß
ihm zu der Vollziehung ihres letzten Willens
der Vorzug vor mir gegeben werden moͤchte.
Sie erklaͤrte ſich aber, daß ſie es nunmehr gar
nicht zu thun gedaͤchte: weil ein ſolches Amt,
wenn er es annehmen ſollte, woran ſie doch
zweifelte, nach der Beſchaffenheit einiger Pa-
piere, welche in dem Fall nothwendig durch
ſeine
[787]
ſeine Haͤnde gehen muͤßten, Ungluͤck zwiſchen
meinem Freunde und ihm anrichten koͤnnte;
und es wuͤrde fuͤr ſie aͤrger, als der Tod, ſeyn,
daran zu gedenken. - Der arme Belton, hoͤre ich, ſteht an den Pforten
des Todes. Es iſt eben ein Bothe von ihm ge-
kommen, der mir meldet, er koͤnne nicht ſter-
ben, bis er mich ſehe. Jch hoffe, der arme
Kerl werde noch nicht ſterben: weil ſeine Sa-
chen weder in Anſehung dieſer, noch jener Welt,
in leidlicher Ordnung ſind. Jch kann mich
nicht entbrechen, zu dem armen Mann zu gehen.
Dennoch wollte ich nicht gern einen Fuß aus
der Stelle ſetzen, bis ich eine Verſicherung von
dir habe, daß du die Fraͤulein nicht beunruhi-
gen willſt: denn ich weiß daß es ihm ſchwer
werden wird, mich von ſich zu laſſen, wenn er
mich zu ſich bringet. - Tourville erzaͤhlt mir, wie geſchwinde es ſich mit
dir beſſere: erlaube mir daher, dich zu beſchwoͤ-
ren, daß du dir nicht in den Sinn kommen
laſſeſt, dieß unvergleichliche Frauenzimmer zu
belaͤſtigen. Um dein ſelbſt willen bitte ich dieß,
ſo wohl als um ihretwillen, und um deines ge-
gebenen Verſprechens willen. Denn ſollte ſie
binnen wenigen Wochen ſterben, wie ich be-
fuͤrchte: ſo wuͤrde man, und vielleicht nur mit
allzu vielem Grunde, ſagen, daß dein Beſuch
ihr Ende beſchleuniget habe. - Jn Hoffnung, daß du es nicht thun werdeſt, wuͤn-
ſche ich dir vollkommene Beſſerung: ſonſt aber
wuͤnſche ich, daß du wieder von deiner Krank-
heit befallen und bettlaͤgerig gehalten werdeſt.
D d d 2Der
[788]
Der hundert und ein und zwanzigſte Brief
von
Herrn Belford an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jch halte mich nach meiner Ehre verbunden,
Jhnen zu eroͤffnen, daß ich befuͤrchte, Herr
Lovelace werde ſein Schickſal durch einen Beſuch
bey Jhnen verſuchen.
Jch wuͤnſchte, daß Sie ſich uͤberwinden koͤnn-
ten, ſeinen Beſuch anzunehmen. Alle Hochach-
tung, ja die groͤßte Ehrfurcht, und alle Reue
werden Sie in ſeinem Bezeigen ſehen, wo ſie
denſelben zulaſſen koͤnnen. Weil ich aber genoͤ-
thigt werde, alſobald nach Epſom zu reiſen, da-
mit ich dem armen Hrn. Belton, den Sie einmal
geſehen haben, den letzten Freundſchaftsdienſt, wie
ich beſorge, erweiſen moͤge; und weil ich es fuͤr
glaublicher halte, daß ſich Herr Lovelace nicht
werde gewinnen laſſen, als daß er es thun wer-
de: ſo habe ich fuͤr gut befunden, Jhnen dieß
anzuzeigen, damit Sie, wenn er kommen ſollte,
nicht allzu beſtuͤrzt werden.
Er ſchmeichelt ſich ſelbſt, daß Sie ſich nicht
ſo uͤbel befinden, als ich es vorſtelle. Wenn er
Sie
[789]
Sie ſiehet: ſo wird er uͤberzeugt werden, daß ſo
wohl ſeine eigne kuͤnftige Gemuͤthsruhe, als Jhre
Geſundheit erfordere, Jhnen die groͤßten Gefaͤl-
ligkeiten, welche er Jhnen erweiſen kann, zu er-
weiſen; und, ich darf ſagen, aus Furcht, der
letztern Schaden zu thun, wird er die Gedanken
fahren laſſen, ſich Jhnen ferner jemals aufzu-
dringen, wenigſtens ſo lange als Sle ſo ſehr un-
paͤßlich ſind. Daher wird der Verdruß von
einer halben Stunde, wo es ein Verdruß
ſeyn wird, den ungluͤcklichen Menſchen zu ſehen,
der eben ſelbſt von einem gefaͤhrlichen Fieber
wieder aufgekommen iſt, alles ſeyn, was Sie
noͤthig haben werden auszuſtehen.
Jch bitte, daß Sie ſich nicht ſelbſt allzu ſehr
beunruhigen und in Unordnung bringen wollen.
Es iſt unmoͤglich, daß er vor dem Montage, auf
das geſchwindeſte, in London ſeyn kann: und wo
er ſich entſchließet zu kommen; ſo hoffe ich noch
vor ihm in Herrn Smithens Hauſe zu ſeyn.
Jch bin, gnaͤdige Fraͤulein, mit der ehrer-
bietigſten Hochachtung
Jhr getreueſter und gehorſamſter
Diener
J. Belford.
D d d 3Der
[790]
Der
Hundert und zwey und zwanzigſte Brief
von
Hrn. Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
Zur Antwort
auf ſein Schreiben vom 17ten Aug. welches hier
der CXX. Brief iſt.
Was fuͤr ein unbarmherziger Kerl biſt du!
Wer einen ſo unverſchaͤmten Erinnerer
hat, der braucht kein Gewiſſen zu haben. Hat
aber Nic. Rowe ein Schauſpiel geſchrieben, das
ſeiner Aufſchrift nicht Genuͤge thut: muß ich
denn deswegen Anmerkungen uͤber mich machen
laſſen? ‒ ‒ Jch habe geſuͤndiget. Jch bereue es.
Jch wollte es gern wieder gut machen. ‒ ‒ Sie
vergiebt mir meine Suͤnde. Sie nimmt meine
Reue an. Aber ſie will es mich nicht wieder gut
machen laſſen. ‒ ‒ Was willſt du denn von mir
haben? Was ſoll ich thun?
Begieb dich nur zu Belton, ſo bald als du
kannſt. Jedoch du magſt dich zu ihm begeben,
oder nicht: ſo muß ich hinauf kommen, und ſe-
hen, was ich ſelbſt bey der wunderlichen Schoͤnen
ausrichten kann. Verlaß dich darauf, ich gehe
den Augenblick von hier ab, wenn es die nichts-
wuͤrdigen
[791]
wuͤrdigen Kerls mit ihrem Vorſchreiben zuge-
ben wollen. Ja, der Lord M. iſt ſelbſt der Mey-
nung, daß ſie mir billig einen Beſuch erlauben
ſollte. Seine Meynung gielt viel bey mir ‒ ‒
wenn ſie mit der meinigen uͤbereintrifft. Jch habe
ihn und meine beyden Baſen verſichert, daß ich
mich ſo anſtaͤndig und ehrerbietig bezeigen will,
als ſich nur ein Menſch gegen diejenige Perſon
bezeigen kann, gegen welche er die groͤßte Ehr-
furcht heget. Das will ich auch wirklich thun.
Davon ſollſt du ſelbſt ein Zeuge ſeyn, wo du
nicht fuͤr gut befindeſt, unterdeſſen zu Belton zu
gehen.
Der Obriſt Morden, wie du von mir gehoͤrt
haſt, iſt ein Mann, der auf Ehre und Muth
haͤlt: ‒ ‒ aber der Obriſt Morden hat eben ſo
wohl ſeine Maͤgdchen gehabt, als ihr und ich.
Und, die Wahrheit zu ſagen, wer hat wohl keines
gehabt, es ſey nun oͤffentlich oder heimlich? Der
Teufel braucht allemal ein artiges Maͤgdchen zur
Lockſpeiſe, wenn er ſeinen Hamen nach einer
Mannsperſon auswirft: er ſey von welchem Al-
ter, Range oder Stande er wolle.
Jch habe meine Geliebte oft von dem Obri-
ſten mit vorzuͤglicher Hochachtung ſprechen gehoͤrt.
Jch wuͤnſchte, daß er, um Jhres Gemuͤths wil-
len, die Sachen zwiſchen ihren uͤbrigen unver-
ſoͤhnlichen Freunden und ihr ein wenig ertraͤgli-
cher machen koͤnnte.
Mich deucht, ich bin um den armen Belton
bekuͤmmert. Allein es kann niemand krank oder
D d d 4nieder-
[792]
niedergeſchlagen ſeyn, ohne daß du dein Eulenge-
ſchrey erhebeſt und ihn alſobald toͤdteſt. Keiner,
als nur ein Kerl, der geſchickt iſt, bey der verlohr-
nen Schildwache des Todes einen Trommelſchlaͤ-
ger abzugeben, koͤnnte ſo viel Vergnuͤgen finden,
als du findeſt, einen Todtenmarſch mit deinen
Gaͤnſekielen zu ſchlagen.
Jch werde dich im Ernſt wegen der Auszuͤ-
ge, die du der Fraͤulein aus meinen Briefen ge-
geben haſt, zur Rechenſchaft ſordern, ſo bald ich
dich ſehe; ungeachtet deſſen, was ich in meinem
letzten Briefe ſchrieb: ſonderlich, wo ſie dabey
bleibet, meine Hand auszuſchlagen. Wohl hun-
dert male habe ich erfahren, daß ein Frauenzim-
mer nein geſaget, und ſich zuletzt doch gefaͤllig be-
wieſen hat: aber durch dieſe Auszuͤge, iſt mir
bange, haſt du gemacht, daß ſie die Thuͤr ihres
Herzens vor mir verriegelt hat, wie ſie ſonſt ihre
Kammerthuͤr zu verriegeln pflegte. ‒ ‒ Dieß iſt
daher eine Treuloſigkeit, welche die Freundſchaft
nicht leiden, und meine Ehre mir nicht zu
verzeihen erlauben kann.
Der
[793]
Der hundert und drey und zwanzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
Auguſt.
Jch glaube, Bruder, daß ich verbunden bin,
dich zu verfluchen. Jedoch will ich mir
nicht vorgreifen, ſondern zu meinem Zweck kom-
men, und dir einen laͤngern Brief ſchreiben, als
du ſeit einiger Zeit von mir empfangen haſt. So
folgt er hier.
Damit du ſo wenig, als moͤglich, von der
Zeit wiſſen moͤchteſt, da ich in London zu ſeyn ent-
ſchloſſen war: ging ich geſtern in meines Lords
Kutſche mit ſechſen ab, ſo bald ich meinen Brief
an dich abgefertigt hatte, und kam geſtern Abends
in London an. Denn ich wußte, daß ich mich
auf deine Freundſchaft nicht verlaſſen koͤnnte, wo
es auf der Fraͤulein Harlowe Eigenſinn an-
kaͤme.
Es war kein anderer Ort ſo bereit zu mei-
nem Aufenthalt: daher ward ich genoͤthigt, zu
meiner alten Wohnung zu gehen, wo auch meine
Kleiderkammer iſt. Hier ſtieß ich eine Million
Fluͤche uͤber die ganze Rotte aus, und wollte we-
der Sarah noch Marichen ſehen: und dieß nicht
allein, weil ſie die Fraͤulein hatten entfliehen laſ-
D d d 5ſen,
[794]
ſen, ſondern weil ſie den ſchaͤndlichen Verhaft
verurſachet, und in des Gerichtsdieners Hauſe,
auf eine uͤbermuͤthige Art, ihren Spott mit ihr
getrieben hatten.
Jch putzte mich mit einem noch niemals ge-
tragenen Anzug aus, den ich zu einen von mei-
nen Hochzeitskleidern beſtimmt hatte: ‒ ‒ und
gefiel mir darinn ſo wohl, daß ich anfing mit dir
zu denken, die aͤußerliche Seite waͤre bey mir die
beſte.
Jch nahm eine Saͤnſte, mich zu Smithens
Hauſe tragen zu laſſen, und mein Herz ſchlug, daß
ich ſein Klopfen beynahe hoͤren konnte, bis an mei-
ne Kehle, vor gewiſſer Erwartung, meine Gelieb-
te zu ſehen. Jch ſchlug meine Finger zuſammen,
wie man mit mir forttanzte. Jch befahl mei-
nen Augen, wechſelsweiſe matt und feurig zu ſeyn.
Jch ſchwatzte mit meinen Knieen und ſagte ihnen,
wie ſie ſich beugen muͤßten. Jch ſpielte, in der
Sprache eines, der etwas ruͤhrend zu beſchreiben
weiß, meine Rolle ſo wohl in Gedanken, als in
Worten, die ich zu mir ſelbſt redete:
Auf
[795]
Auf dieſe Art unterhielte ich mich ſelbſt, bis
ich an Smithens Haus kam. Da ſetzten die
Kerls ihre muntere Buͤrde nieder. Jhre Huͤte
flogen von dem Kopf. Wilhelm war in einer
neuen Liverey bey der Hand. Der Saͤnftende-
ckel ging auf. Meine Gnaden huſchten heraus;
und die Frau hinter der Zahlbank gerieth ganz in
Unruhe und Bewegung ‒ ‒ Ehrerbietung und
Furcht gaben ihren Geſichtszuͤgen die gebuͤhrende
und feyerliche Geſtalt. Jhre Kniee, wie ich
nicht zweifele, ſchlugen vor Beben an die inwen-
dige Seite ihrer bretternen Vormauer.
Jhr Diener, Madame ‒ ‒ Wilhelm laß die
Kerls ein wenig zuruͤckgehen und warten.
Sie haben ein junges Frauenzimmer im
Hauſe, das hier eingemiethet hat: Fraͤulein Har-
lowe, Madame. Jſt ſie oben?
Mein Herr, mein Herr, erlauben ihre Gna-
den ‒ ‒ das Weib, denke ich, iſt durch meine
Geſtalt in Schrecken geſetzt ‒ ‒ Fraͤulein Har-
lowe, mein Herr! Ja es wohnt in der That ein
ſolches Frauenzimmer bey uns ‒ ‒ Aber,
aber ‒ ‒
Aber was, Madame? ‒ ‒ Jch muß ſie ſe-
hen. ‒ ‒ Eine Treppe hoch: nicht wahr? ‒ ‒
Bemuͤhen ſie ſich nicht ‒ ‒ Jch werde ihr Zim-
mer ſchon finden. Hiemit ging ich auf die Trep-
pe zu.
Mein Herr, mein Herr, die Fraͤulein, die
Fraͤulein iſt nicht zu Hauſe ‒ ‒ Sie iſt ausge-
fahren ‒ ‒ Sie iſt auf dem Lande ‒ ‒
Auf
[796]
Auf dem Lande! Nicht zu Hauſe! ‒ ‒ Un-
moͤglich! das werden ſie mir nicht aufbinden,
meine gute Frau. Jch muß ſie ſehen. Jch
habe etwas mit ihr zu thun, worauf Leben und
Tod ankommt.
Jn der That, mein Herr, die Fraͤulein iſt nicht
zu Hauſe! Jn der That, mein Herr, ſie iſt aus-
gefahren!
Darauf klingelte ſie. Johann, rief ſie, ich
bitte, komm herunter! ‒ ‒ Jn der That, mein
Herr, die Fraͤulein iſt nicht zu Hauſe.
Johann kam herunter, der gute Mann vom
Hauſe: da ich nach ihrer unbeſcheidenen Ver-
traulichkeit nur einen von ſeinen Arbeitsleuten
erwartete.
Mein Kind, ſagte ſie, der Herr will nicht
glauben, daß die Fraͤulein Harlowe ausgefah-
ren iſt.
Johann buͤckte ſich vor meinen ſaubern Klei-
dern. Jhr Diener, mein Herr ‒ ‒ Jn Wahr-
heit, die Fraͤulein iſt ausgefahren. Sie iſt heu-
te fruͤhe um ſechſe aus London gefahren ‒ ‒
aufs Land ‒ ‒ weil es der Doctor verordnet hat.
Jch wollte noch weder Johann, noch ſeinem
Weibe, glauben. Jch bin verſichert, ſagte ich,
ſie kann nicht ausgefahren ſeyn. Jch habe ge-
hoͤrt, daß ſie ſich ſehr ſchlecht befaͤnde ‒ ‒ Sie
iſt nicht im Stande, in einer Kutſche auszufah-
ren. Kennt ihr Herrn Belford, Freund?
Ja, mein Herr, ich habe die Ehre, den Ca-
vallier Belford zu kennen. Er iſt aufs Land ge-
reiſet,
[797]
reiſet, einen kranken Freund zu beſuchen. Er iſt
am Sonnabend abgegangen, mein Herr.
Dieß war auch in deiner Wohnung meinem
Wilhelm geſagt, den ich alſobald bey meiner An-
kunft in London zu dir ſchickte, dich bitten zu laſ-
ſen, daß du zu mir kaͤmeſt.
Eben der Herr Belford hat mir geſchrieben,
daß ſie ſich ausnehmend ſchlecht befaͤnde. Wie
kann ſie denn ausgefahren ſeyn?
O, mein Herr, ſie befindet ſich ſehr ſchlecht,
ſehr ſchlecht in der That ‒ ‒ Sie konnte kaum
bis an die Kutſche gehen.
Belford, dachte ich, wußte ſelbſt nichts von
der Zeit, da ich kommen wollte. Er kann auch
meinen Brief von geſtern noch nicht einmal ha-
ben. Und ſie iſt ſo krank: es iſt unmoͤglich, daß
ſie ausfahren ſollte.
Wo iſt ihre Magd? Ruft ihre Magd zu
mir.
Jhre Magd, mein Herr, iſt ihre Waͤrterinn.
Sie hat keine andere. Und die iſt mit ihr ge-
fahren.
Gut, Freund, ich muß euch nicht glauben.
Jhr werdet mich entſchuldigen: ich muß ſelbſt
die Treppe hinauf gehen. Und ſo wollte ich hin-
aufſteigen.
Daruͤber nahm Johann ein ernſthaftes und
nicht ſo ehrerbietiges Geſicht an ‒ ‒ Mein Herr,
dieß Haus iſt mein: und ‒ ‒
Und was, Freund? ‒ ‒ Jch zweifelte nun-
mehr nicht, daß ſie oben waͤre ‒ ‒ Jch muß und
will
[798]
will ſie ſehen. Jch bin ein Friedensrichter. Jch
habe eine Vollmacht nachzuſuchen.
So ging ich hinauf. Sie folgten mir,
mummelten, und waren gewaltig verſtoͤrt, und
in Bewegung.
Die erſte Thuͤr, an die ich kam, war ver-
ſchloſſen. Jch klopfte an.
Die Fraͤulein, mein Herr, hat den Schluͤſſel
zu ihrem Zimmer.
Ja inwendig, daran zweifle ich nicht, guter
Freund. Jch klopfte noch einmal; und weil ich
verſichert war, daß, wenn ſie meine Stimme hoͤr-
te, ihre furchtſame und ſanfte Gemuͤthsart ma-
chen wuͤrde, daß ſie ſich, durch eine oder die an-
dere Bewegung in der Verwirrung, meinem lau-
ſchenden Ohre verriethe: ſo ſagte ich ganz laut:
Jch weiß gewiß, daß die Fraͤulein Harlowe hier
iſt. Wertheſte Fraͤulein, oͤffnen ſie die Thuͤr:
laſſen ſie mich nur auf einen Augenblick vor ſich!
Allein weder Antwort, noch Flattern, kam
mir zu Ohren; und da die Leute ganz ruhig wa-
ren: ſo fuͤhrte ich ſie weiter zu dem naͤchſten Zim-
mer. Der Schluͤſſel ſteckte von außen in der
Thuͤre. Daher ſchloß ich auf, und ſahe mich in
demſelben und in dem Cloſet rund um.
Der Mann ſagte, er haͤtte in ſeinem Leben
keinen ſo unhoͤflichen Cavallier geſehen.
Halt Freund, verſetzte ich: laß dir rathen
daß du dich ein wenig beſcheiden auffuͤhreſt; ſonſt
werde ich dir eine Lection geben, die du niemals
in deinem Leben gelernet haſt.
Mein
[799]
Mein Herr, ſprach er, es ſchickt ſich nicht fuͤr
einen Cavallier, einen Mann in ſeinem eignen
Hauſe zu beſchimpfen.
So bitte ich dich denn, Kerl, war meine
Antwort, kraͤhe nicht auf deinem eignen Miſt-
haufen.
Jch ging wieder an die verſchloſſene Thuͤr zu-
ruͤck. Meine werthe Fraͤulein Harlowe, ich bit-
te, machen ſie die Thuͤre auf, oder ich werde ſie
aufbrechen ‒ ‒ Hiemit ſtieß ich hart daran, daß
es knackte.
Der Mann ſahe ganz blaß aus, machte bey
ſeinem Zittern und bey ſeiner Furcht ein gewaltig
langes Geſicht und rief einem von ſeinen Arbeits-
leuten oben: Joſeph komme geſchwinde her-
unter.
Joſeph kam herunter: ein Kerl von ſeltſa-
men Geberden, mit einem Loͤwengeſichte, kurz und
dick, und mit einem Haarbuſch auf dem Kopfe,
wie eine alte und oft gekapte Eiche. Darauf
bekam Meiſter Johann ein trotzigers Geſicht. Al-
lein ich ſtimmte ein Liedlein an, ging durch alle
andere Zimmer, fuͤhlte auf den Gaͤngen mit mei-
nen Knoͤcheln zu, ob auch verborgene Thuͤren da
waͤren, und ging mit beſtaͤndigem Singen die
naͤchſte Treppe hinauf: indem Johann, und Jo-
ſeph und Fr. Smithinn mir mit Zittern folgten.
Jch ſahe mich daſelbſt herum, ging in zwo
offene Schlafkammern, durchſuchte die Cloſets,
die Gaͤnge, und kuckte durch das Schluͤſſelloch
einer andern Kammer. Keine Fraͤulein Har-
lowe,
[800]
lowe, beym Jupiter! Was ſoll ich machen! ‒ ‒
Was ſoll ich machen! ‒ ‒ Nun wird ſie ſich be-
truͤben, daß ich ſie nicht antreffe.
Dieß ſagte ich mit Fleiß, um auszuforſchen,
ob dieſe Leute die Begebenheit der Fraͤulein wuͤß-
ten, und bekam von Fr. Smithinn die Antwort,
die ich erwartete. ‒ ‒ Jch glaube nicht, mein
Herr, ſagte ſie.
Wie ſo, Fr. Smithinn? Wiſſen ſie, wer ich
bin?
Jch kann es wohl errathen, mein Herr.
Was errathen ſie denn? wer bin ich?
Jhr Name iſt, Herr Lovelace, mein Herr, ich
zweifle nicht.
Eben der iſt es. Aber wie haben ſie ſo wohl
rathen koͤnnen, Fr. Smithinn? Sie haben mich
doch vorher niemals geſehen ‒ ‒ Haben ſie?
Hier, Bruder, machte ich mich auf einen hoͤf-
lichen Lobſpruch gefaßt: und es ſchlug fehl.
Es iſt leicht zu errathen, mein Herr: denn
es koͤnnen nicht zween ſolche Cavalliers ſeyn, als
ſie ſind.
Wohl geredet, Fr. Smithinn ‒ ‒ Aber mey-
nen ſie ſo gut, oder ſo boͤſe? ‒ ‒ ſo huͤbſch, war
meinen Gedanken nach das wenigſte, was ſie wuͤr-
de geſagt haben.
Jch uͤberlaſſe ihnen, es zu rathen, mein
Herr.
Durch dieß Anheimſtellen, dachte ich, werde
ich durch mich ſelbſt verurtheilet.
Ey,
[801]
Ey, Vater Smith, dein Weib iſt ein Witz-
ling, Kerl! ‒ ‒ Haſt du das vorher jemals ge-
merket? ‒ ‒ Aber wo iſt die Witwe Lovick, Fr.
Smithinn? Mein Vetter, Johann Belford,
ſagt, ſie ſey eine ſehr fromme Frau. Jſt ſie zu
Hauſe? Oder iſt ſie auch mit der Fraͤulein Har-
lowe ausgefahren?
Sie wird alſobald zu Hauſe kommen, mein
Herr. Sie iſt nicht mit der Fraͤulein.
Allein, meine gute, liebe Fr. Smithinn, wo
iſt die Fraͤulein hingefahren? Und wann wird ſie
wiederkommen?
Jch kann es nicht ſagen, mein Herr.
Luͤgen ſie nicht, Fr. Smithinn, luͤgen ſie nicht.
Hiebey griff ich ihr unter das Kinn: woruͤber
Johann ſein Kinn zuſammenzog, und ſeine Ober-
lefze bis an die Naſe erhob. ‒ ‒ Jch bin verſi-
chert, ſie wiſſen es ‒ ‒ Aber hier iſt noch eine
Treppe: laßt uns ſehen. Wer wohnt dort oben?
‒ ‒ Halt, hier iſt noch ein verſchloſſenes Zim-
mer ‒ ‒ Jch pochte an die Thuͤr ‒ ‒ Wer iſt
zu Hauſe, rief ich?
Das iſt das Zimmer der Fr. Lovick. Sie
iſt ausgegangen und hat den Schluͤſſel bey ſich.
Witwe Lovick! ‒ ‒ Jch klopfte noch einmal
hart an ‒ ‒ Jch glaube, ſie ſind zu Hauſe. Jch
bitte, machen ſie die Thuͤr auf.
Johann und Joſeph mummelten und fliſper-
ten mit einander.
Sechſter Theil. E e eNicht
[802]
Nicht gefliſpert, gute Freunde: es iſt keine
Weiſe, zu fliſpern. Joſeph, was ſagte Johann
zu dir?
Johann, mein Herr! ſprach mir die gute
Frau mit Unwillen nach.
Jch bitte um Verzeihung, Fr. Smithinn.
Aber ſie ſehen, wie viel ein Beyſpiel vermag.
Haͤtten ſie gegen ihren ehrlichen Mann mehr
Achtung gezeiget: ſo wuͤrde ich es auch thun.
Nehmen ſie dabey eine gute Lehre von mir an.
‒ ‒ Weiber, die ihren Maͤnnern unehrerbietig be-
gegnen, lehren fremde Leute, veraͤchtlich mit ihnen
umzugehen. Da hoͤrſt du es, ehrlicher Meiſter
Johann: warum nimmſt du dafuͤr nicht den Hut
vor mir ab? ‒ ‒ O, das wuͤrdeſt du thun: wenn
du ihn aufhaͤtteſt. Allein ich glaube, du ſetzeſt
deinen Hut niemals auf in Gegenwart deiner
Frauen: nicht wahr?
Sparen ſie ihr hoͤhniſches Geſpoͤtte, mein
Herr, rief Johann. Jch wuͤnſchte, daß nur alle
Eheleute ſo gluͤcklich lebten, als wir.
Jch wuͤnſche es auch, guter Freund. Aber
ich will mich haͤngen laſſen: wo du Kinder haſt.
Wie ſo, mein Herr?
Haſt du Kinder? ‒ ‒ Antworte mir, Kerl:
haſt du, oder nicht?
Vielleicht nicht, mein Herr. Allein was
heißt das?
Was heißt das? ‒ ‒ Jch wills dir ſagen.
Der Mann, welcher keine Kinder mit ſeiner
Frauen hat, muß mit Johann ſchlecht weg vor-
lieb
[803]
lieb nehmen. Haͤtteſt du ein Kind oder ein paar:
ſo wuͤrdeſt du bey einem jeden Worte mit einer
hoͤflichen Beugung, oder wenigſtens mit einer
freundlichen Miene, Hr. Smith heiſſen.
Sie ſind ſehr aufgeweckt, mein Herr, verſetz-
te meine Frau. Jch bilde mir ein, wenn ich oder
mein Mann ſo viel zu verantworten haͤtte, als
ich wohl weiß wer, wir wuͤrden nicht ſo luſtig
ſeyn.
Deſto aͤrger, Fr. Smithinn, fuͤr die, welche
gezwungen waͤren, ihnen Geſellſchaft zu leiſten.
Aber ich bin nicht luſtig ‒ ‒ Jch bin traurig!
‒ ‒ Ach! ‒ ‒ Wo ſoll ich meine liebe Fraͤu-
lein Harlowe finden?
Meine geliebte Fraͤulein Harlowe! das rief
ich unten an der dritten Treppe; wo ſie oben ſind,
ſo antworten ſie mir um Gottes willen. Jch
werde hinauf kommen.
Mein Herr, ſprach die gute Frau, ich wuͤnſch-
te, ſie wollten ſich belieben laſſen, hinunter zu ge-
hen. Hier oben, und noch eine Treppe, ſind die
Stuben fuͤr das Geſinde und die Werkſtaͤtten.
Es iſt niemand da, den ſie ſuchen.
Soll ich hinauf gehen, Fr. Smithinn, und
zuſehen, ob die Fraͤulein Harlowe da iſt?
Sie koͤnnen es thun, mein Herr, wo es ih-
nen beliebt.
So will ich es nicht. Denn wenn ſie da
waͤre: wuͤrden ſie nicht ſo gefaͤllig ſeyn.
Jch ſchaͤme mich, daß ich ihnen allen dieſe
Muͤhe mache. Sie ſind die hoͤflichſten Handels-
E e e 2leute,
[804]
leute, die ich jemals gekannt habe. Ehrlicher
Joſeph ‒ ‒ Hiebey ſchlug ich ihm unvermuthet
auf die Achſel, daß er ſprang ‒ ‒ haſt du jemals
um Geld das Maul verzogen? ‒ ‒ Denn der
Bube ſchien kein Misfallen an mir zu haben,
und rieß ſein plattes Geſicht von einem Ohr zum
andern auf, zog das Maul weit aus, zeigte die
Zaͤhne, welche eben ſo breit und ſchwarz waren,
als die Naͤgel an ſeinen Daumen ‒ ‒ Aber ver-
hindere ich dich nicht? Was kannſt du in einem
Tage verdienen, Kerl?
Eine halbe Krone kann ich in einem Tage
verdienen. Das ſagte er mit einer ſtolzen und
uͤbermuͤthigen Miene: indem ich ihn ſtutzig ge-
macht hatte.
Da iſt denn dein Lohn auf einen Tag. Al-
lein du haſt nicht noͤthig, mir weiter aufzuwarten.
Kommen ſie, Fr. Smithinn, komm Johann,
Meiſter Smith wollte ich ſagen: laßt uns hin-
untergehen und mich hoͤren, wo die Fraͤulein
hingefahren iſt, und wann ſie wieder kommen
wird.
So ging ich voran die Treppe hinunter.
Johann und Joſeph, ob ich gleich den letzten ſchon
bezahlt und ſeiner Dienſte erlaſſen hatte, und
meine Frau folgten mir, ihre Hoͤflichkeit gegen
einen Fremden zu zeigen.
Jch ging wieder in eines von den Zimmern
des erſten Stockwerks. Jch habe große Luſt bey
ihnen einzumiethen. Denn ich habe in meinem
Leben
[805]
Leben niemals ſo gefaͤllige Leute geſehen. Was
fuͤr Zimmer haben ſie zu vermiethen?
Gar keine, mein Herr.
Das iſt mir leid. Allein wem gehoͤrt dieſes.
Mir, mein Herr, antwortete Johann auf ei-
ne baͤuriſche Art.
Dir, Kerl! Wohlan denn, ich will es von
dir miethen. Dieß nebſt einer Schlafkammer
und einem Gemach auf dem Boden fuͤr meinen
Bedienten, wird genug fuͤr mich ſeyn. Jch will
dir geben, was du verlangeſt, und alle Tage noch
eine halbe Guinea daruͤber, fuͤr dieſe Gelegen-
heiten.
Fuͤr zehn Guineas alle Tage, mein Herr ‒ ‒
Halt, Johann! Meiſter Smith wollte ich
ſagen ‒ ‒ Ehe du ſprichſt, bedenke dich ‒ ‒ Jch
will mich nicht beleidigen laſſen, Kerl.
Jch wuͤnſchte, mein Herr, ſie moͤchten ſich be-
lieben laſſen, hinunter zu gehen, ſagte die gute
Frau. Wirklich, mein Herr, ſie nehmen ſich ‒ ‒
Große Freyheiten, hoffe ich, wollten ſie doch
nicht ſagen, Fr. Smithinn?
Jn der That, mein Herr, ich hatte etwas der-
gleichen auf der Zunge.
So iſt es mir denn lieb, daß ich ihnen zu-
vorgekommen bin: denn die Worte ſchicken ſich
beſſer in meinem, als in ihrem Munde. Allein,
ich muß bey ihnen meine Wohnung aufſchlagen,
bis die Fraͤulein wieder zuruͤck kommt. Jch
glaube, ich muß es. Jnzwiſchen moͤchten ſie
E e e 3in
[806]
in dem Laden noͤthig ſeyn: wir wollen uns alſo
dort daruͤber beſprechen.
Hiemit ging ich hinunter und ſie folgten, ih-
re Aufwartung ſorgfaͤltig bey mir zu beobachten,
meinen Fußtapfen nach.
Da ich in den Laden kam, und weder Stuhl
noch Seſſel ſahe: ging ich hinter die Zahlbank,
und ſetzte mich unter einer im Bogen ausgewoͤlb-
ten gewiſſen Art von Himmel aus Schnitzwerk
nieder, womit ſich dieſe hochmuͤthige Handelsleu-
te, welche den vornehmen Perſonen in koͤnigli-
chen Nitſchen nachahmen, oft etwas zu gute thun,
da unterdeſſen denen, von welchen ſie ihr Brodt
verdienen, vielleicht ein Seſſel gut genug ſeyn
muß. So groß iſt das Anſehen des Handels
unter dieſem Volke, das zu der Handlung ſo ge-
neigt iſt.
Jch ſahe um und uͤber mich. Jch ſagte ih-
nen, daß ich mir eine recht große Ehre aus mei-
nem Sitz machte, und fragte, ob Johann jemals
die Erlaubniß haͤtte, dieſe praͤchtige Nitſche ein-
zunehmen?
Vielleicht haͤtte er ſie, antwortete er ſehr uͤber-
muͤthig.
Daher kommt es, rief ich, daß du ſo ſteif
wie eine Saͤule ausſiehſt, Kerl.
Johann ſahe mich gewaltig muͤrriſch an.
Aber ſein Kerl Joſeph, und mein Kerl Wilhelm
wandten ſich um und kehrten uns den Ruͤcken zu,
damit ſie ihre wunderlichen Geberden, ein jeder
mit
[807]
mit ſeinen Faͤuſten in dem Maul, vor uns ver-
bergen moͤchten.
Jch fragte, was ſie zu Kaufe haͤtten?
Puder, ſagten ſie, Seifkugeln, Schnupfta-
back, Handſchuhe und Struͤmpfe.
Wohlan, ich will ihr Kundmann ſeyn. Wil-
helm, brauche ich Seifkugeln?
Ja, Jhre Gnaden moͤgen ſich nur nach Be-
lieben mit einer oder zwoen verſehen.
Geben ſie ihm ein halb Dutzent, Fr. Smi-
thinn.
Sie ſagte mir, daß ſie dahin kommen muͤßte,
wo ich waͤre, wenn ſie damit aufwarten ſollte.
Seyn ſie ſo gut, mein Herr, und gehen hinter der
Zahlbank weg.
Jn Wahrheit, das will ich nicht. Der La-
den ſoll mein ſeyn. Wo ſind ſie, wenn ein Kund-
mann kommen ſollte?
Sie zeigte mir mit dem Finger die Stelle
uͤber meinem Kopfe an, und zog den Mund, als
wenn ſie nicht gern lachen wollte, wenn ſie es hel-
fen koͤnnte. Jch langte das Glaß herunter und
gab meinem Wilhelm ſechs Stuͤcke. Da ‒ ‒
verwahre ſie, Junge.
Er that es, und verzog das Maul, daß man
die Zaͤhne ſehen konnte, die ihm vorn fehlten.
Dieß machte mir das Gewiſſen rege, weil ich an
dieſem Verluſt ſchuld war. Joſeph, ſprach ich,
komm her. Komm her, Kerl, wenn ich es dir
befehle.
E e e 4Er
[808]
Er ſchlich hierauf zu mir, mit den Haͤnden
auf dem Ruͤcken, halb willig und halb unwillig.
Jch ſchlug, ehe er es ſich verſahe, meinen
Arm um ſeinen Hals. Wilhelm, dein Feder-
meſſer, den Augenblick. Verdammter Kerl, wo
iſt dein Federmeſſer?
O Himmel! ſagte der buſchkoͤpfichte Hund,
und beſtrebte ſich mit aller Muͤhe ſeinen Kopf
unter meinem Arm wegzuziehen: da ich unter-
deſſen mit der andern Hand um ſeine verfluchten
Kinnbacken herumwuͤhlte, als wenn ich ihm ſeine
Zaͤhne ausreißen wollte.
Jch will dich gut bezahlen, Kerl: ſtraͤube dich
nicht ſo. Das Federmeſſer, Wilhelm!
O Himmel! ſchrie Joſeph und ſtraͤubte ſich
immer mehr und mehr. Endlich kam Wilhel-
mens Schneidemeſſer heraus: denn der Galgen-
ſchwengel iſt ein Gaͤrtner auf dem Lande. Jch
habe nur dieſes, gnaͤdiger Herr.
Das beſte von der Welt, einen Zahn aus ſei-
nem Fleiſche zu heben. Der Henker hole den
Kerl, warum ſtraͤubſt du dich ſo?
Weil Meiſter Smith und die Meiſterinn,
wie ich vermuthe, befuͤrchteten, ich moͤchte eine
Abſicht wider Joſephs Kehle haben, weil er ihr
Verfechter waͤre; und dieß machte auch in der
That, daß ich mich mehr mit ihm abgab: ſo ka-
men ſie mit traurigluſtigen Geſichtern auf mich
zu. Daher ließ ich ihn gehen.
Jch wollte, ſprach ich, nur zween oder drey
von den breiten Zaͤhnen dieſes Kerls herausneh-
men,
[809]
men, um ſie in meines Dieners Kinnbacken zu
ſetzen ‒ ‒ Jch wuͤrde ihm dafuͤr bezahlt haben,
was er gefordert haͤtte ‒ ‒ Bey meiner Seele,
Joſeph, ich wuͤrde es gethan haben.
Joſeph ſchuͤttelte ſeine Ohren, ſtrich mit bey-
den Haͤnden ſein buſchichtes Haar nieder, ſo glatt
als es nur liegen wollte, und ſahe mich an, als
wenn er nicht wuͤßte, ob er lachen oder boͤſe thun
ſollte. Nachdem er mich aber ein oder ein paar
male ſtarr und beſtuͤrzt angegaffet hatte: ſchlich
er an das andere Ende des Ladens. So wie er
wegging, ſchuͤttelte er den Kopf gegen mich, ſtrich
noch immer ſeine Haare nieder, ſtellte ſich bey ſei-
nem Meiſter hin, kuckte allen ins Geſicht, und
murmelte, daß ich gewaltig ſtark in Armen waͤ-
re, und er gedacht haͤtte, ich wuͤrde ihn erwuͤrgt
haben. Darauf ſchlug er ſeine Arme in einan-
der, ſchuͤttelte ſeinen borſtichten Kopf, und ſetzte
hinzu, es waͤre gut, daß ich ein Cavallier waͤre,
ſonſt wuͤrde er einen ſolchen Schimpf nicht hin-
genommen haben.
Jch fragte, wo ihr Rappee waͤre? die gute
Frau zeigte mit dem Finger auf die Stelle: und
ich nahm eine Muſchelſchale voll heraus, wollte
es aber von ihr nicht waͤgen laſſen, und fuͤllte mei-
ne Doſe. Wo ſind nun ihre Handſchuhe, Fr.
Smithinn?
Sie zeigte es mir an. Jch ſuchte vier Paar
davon aus, und trug Joſephen auf, die Finger
offen zu machen, weil er ſo ausſahe, als wenn er
E e e 5haben
[810]
haben wollte, daß ich wieder an ihn gedenken
ſollte.
Eine Kaͤuferinn, die an der Thuͤr gegaffet
hatte, kam herein und verlangte etwas ſchottlaͤn-
diſchen Schnupftabak. Jch wollte ihr damit auf-
warten. Das Menſch war aber haͤßlich: und
dis ſagte ich ihr; ſonſt, ſprach ich, wuͤrde ich ſie
beſchenkt haben. Sie ward boͤſe; denn kein
Weibsbild iſt ihrer Meynung nach haͤßlich; und
warf ihren Stuͤber hin; und ich ſteckte ihn in
meine Taſche.
Jndem ich hierauf eben ein Auge auf die
Thuͤr warf: ſo ſahe ich ein ſehr artiges Frauen-
zimmer, mit einem Bedienten hinter ihr, wel-
ches herein kuckte und den gaffenden Haufen frag-
te: Was iſt hier zu thun, Leute? Jch lief hin-
ter der Zahlbank weg zu ihr. Weil ſie davon
gehen wollte: ergriff ich ſie bey der Hand, und
zog ſie in den Laden hinein. Jch bat, ſie moͤchte
mir ihre Kundſchaft goͤnnen, weil ich eben erſt
den Handel angefangen haͤtte.
Was haben ſie zu Kaufe, mein Herr? ſagte
ſie mit Laͤcheln, aber ein wenig beſtuͤrzt.
Zwirnband, und andere Arten von Baͤndern,
ſeidne Schnuͤre, Steck- und Naͤhnadeln; denn
ich trage kleine Waaren herum: Puder, Schoͤn-
pflaͤſterchen, Seifkugeln, Struͤmpfe, Kniebaͤnder,
Schnupftabak und Nadelkuͤſſen ‒ ‒ Haben wir
das nicht, Frau Smithinn?
So zog ich ſie ſanfte herein an die Zahlbank,
und lief ſelbſt mit einem geſchaͤfftigen und dienſt-
ferti-
[811]
fertigen Weſen hinter dieſelbe. Jch habe vor-
treffliche Handſchuhe und Seifkugeln, Madame:
Rappee, ſchottlaͤndiſchen, portugieſiſchen und alle
Arten von Schnupftabak.
Wohlan, ſprach ſie bey recht gutem Sinne,
ich will einem jungen Anfaͤnger einmal in ſeiner
Hoffnung zu ſtatten kommen. Hier, Andreas,
ſagte ſie zu ihrem Diener, ihr braucht ein Paar
Handſchuhe: nicht wahr?
Jch nahm ein Packet mit Handſchuhen her-
unter, welches mir Frau Smithinn anwies, und
kam herum zu dem Kerl, ſie ihm ſelbſt anzupaſſen.
Es iſt nicht noͤthig, ſie von einander zu ma-
chen, ſprach ich. Deine Finger, Freund, ſind ſo
ſteif, als Trommelſtoͤcke. Stoß zu ‒ ‒ Du biſt
ein ungeſchickter Hund! Jch wundere mich, daß
ein ſo artiges Frauenzimmer ſich von einem ſo
toͤlpiſchen Buben folgen laͤßt.
Der Kerl hatte vor Lachen keine Kraft: und
Joſeph war maͤchtig vergnuͤgt; vermuthlich in
der Hoffnung, daß ich, um ihn nicht zu beunru-
higen, von Andreas einige Zaͤhne borgen wuͤrde.
Auch Vater und Mutter Smithen ſchienen ſich,
wie alle, an dem muntern Weſen zu beluſtigen:
weil der Spaß ſie nicht mehr traf.
Der Kerl ſagte, die Handſchuhe waͤren zu klein.
Stoß zu, daß dich der Henker hohle, verſetzte
ich. Ey Kerl, du haſt nicht ſo viel Kraft, als
eine Katze.
Herr, Herr, ſprach er mit Lachen, ich werde
ihrer Gnaden in der Seite Schaden thun.
Daß
[812]
Daß dich der Henker hohle, ſtoß zu, ſage ich.
Er that es, und riß die Seiten von dem
Handſchuh auf.
Wilhelm, rief ich, wo iſt dein Schneidemeſ-
ſer? Bey meiner Seele, Freund, ich haͤtte große
Luſt, deine verdammten Pfoten zu beſchneiden.
Aber komm, hier iſt ein weiteres Paar. Verſuche
die, wenn du zu Hauſe kommſt, und laß deinen
Schatz, wo du einen haſt, die andern wieder aus-
beſſern. So kannſt du beyde nehmen.
Das Frauenzimmer lachte uͤber die Munter-
keit. Eben das that mein Kerl, und Fr. Smi-
thinn und Joſeph. Ja ſelbſt Johann lachte:
ob er gleich, nach dem Zwange in ſeinem Geſichte,
nur halb mit mir zufrieden zu ſeyn ſchien.
Darauf ging ich wieder hinter die Zahlbank,
und legte mich uͤber dieſelbe heruͤber. Nun,
Madame, hoffe ich, werden ſie auch fuͤr ſich ſelbſt
etwas kaufen. Niemand wird ihnen beſſere
Waare und beſſern Kaufs geben.
Geben ſie mir dann fuͤr ſechs Stuͤber portu-
gieſiſchen Schnupftaback.
Sie zeigten mir, wo er waͤre, und ich warte-
te ihr damit auf. Als ſie mir ihn bezahlen woll-
te, ſagte ich, daß ich bey meinem Anfange zu
handeln kein Geld naͤhme.
Wenn ich ihren Diener beſchenkte, anworte-
te ſie mir: ſo ſollte ich ſie doch nicht beſchenken.
So laß ich es mir denn von ganzem Herzen
gefallen, ſprach ich. Es ſchickt ſich fuͤr uns
Han-
[813]
Handelsleute nicht, uͤbermuͤthig zu ſeyn ‒ ‒
Schickt ſichs wohl, Fr. Smithinn?
Jch ſteckte alſo ihre ſechs Stuͤber in meine
Taſche. Hiernaͤchſt ergriff ich ſie bey der Hand,
gab ihr einen Wink von dem Schwarm, der ſich
um die Thuͤr verſammlet hatte, und bat ſie, mit
mir in den hintern Laden zu gehen.
Sie machte aber durch ihr Strauben ihre
Hand aus der meinigen los, und wollte nicht laͤn-
ger bleiben.
So buͤckte ich mich, wuͤnſchte ihr freund-
lich wohl zu leben, dankte ihr, und ſetzte hinzu,
daß ich hoffete, auf ein ander mal ihre Kund-
ſchaft zu haben.
Sie gieng mit Laͤcheln weg, und Andreas
hinter ihr, der ſich fein gegen mich buͤckte.
Mir fieng der Schwarm des zuſammenge-
laufenen Volkes an verdrieslich zu werden, wel-
cher in Geſchwindigkeit dicker ward. Daher be-
fahl ich Wilhelmen, die Saͤnfte an die Thuͤr
kommen zu laſſen.
Nun Frau Smithinn, ſagte ich mit einem
ernſthaften Geſichte, es iſt mir herzlich leid, daß
die Fraͤulein Harlowe nicht zu Hauſe iſt. Sie
ſagen mir nicht, wo ſie ſeyn mag?
Jn der That, mein Herr, ich kann nicht.
Sie wollen nicht, meynen ſie ‒ ‒ Sie hat
nicht wiſſen koͤnnen, daß ich kommen wuͤrde.
Jch bin erſt geſtern Abends in London angelan-
get. ‒ ‒ Jch bin ſehr krank geweſen. Sie
hat mir beynahe das Herz durch ihre Grauſam-
keit
[814]
keit gebrochen. Sie wiſſen meine Geſchichte:
ich zweifle nicht daran. Sagen ſie ihr, daß ich
morgen fruͤhe wieder von London abgehen muͤßte.
Allein ich will meinen Diener herſchicken, und
mich erkundigen laſſen, ob ſie mir die Gewogen-
heit erweiſen will, auf eine halbe Stunde einen
Beſuch von mir anzunehmen. Denn ſo bald
als ich wieder hinunter komme, werde ich mich
nach Dover, zu meiner Reiſe nach Frankreich, auf
den Weg machen: wofern ſie es nicht anders
befiehlt, als die allein uͤber mein Schickſal zu ge-
bieten hat.
Hierauf warf ich einen Portugalloͤſer hin;
nahm Herrn Smith bey der Hand; ſagte ihm,
daß es mir leid waͤre, daß wir nicht mehr Zeit
haͤtten, beſſer mit einander bekannt zu werden;
rief dem ehrlichen Joſeph ein Fahre wohl zu, der
das Maul, indem ich vorbeygieng, zuzog, als
wenn er dachte, ſeine Zaͤhne waͤren noch in Ge-
fahr; nahm von Frau Smithinn Abſchied und
bat ſie, mich ihrer ſchoͤnen Hausgenoßinn zu em-
pfehlen, ſtimmte ein Liedlein an, und ſprang,
weil die Saͤnfte gekommen war, in dieſelbe hin-
ein. Das Volk, welches ſich um die Thuͤre her-
um geſammlet hatte, ſchien mit mir vergnuͤgt
zu ſeyn; und einer rief: Ein munterer Caval-
lier, ich verſichere! So ward ich nach meinem
Befehl zu Whitens Haus getragen.
So bald als ich dahin kam, befahl ich Wil-
helmen wegzugehen, ſich umzukleiden, ſich durch
ſeine ſchwarze Perucke und durch Zuſchließung
ſeines
[815]
ſeines Mauls unkenntlich zu machen, und alsdenn
um Smithens Hauſe auf der Lauer zu ſeyn, da-
mit er alle Bewegungen der Fraͤulein erfahren
koͤnnte.
Jch gebe dir dieſe unverſchaͤmte Nachricht
von mir ſelbſt, damit du wider mich toben und
mich verhaͤrtet, und was du willſt, nennen moͤ-
geſt. Denn einmal war ich froh, daß ich noch
lebte, da ich erſt vor ſo kurzem krank geweſen
war. Hiernaͤchſt aber war ich durch die un-
vermuthete Abweſenheit meiner Schoͤnen ſo ſehr
in meiner Hoffnung betrogen, und ſo wohl dar-
uͤber, als uͤber die ungeſchliffene Begegnung von
Vater Johann ſo verdrieslich, daß ich kein an-
deres Mittel uͤbrig hatte, mich des Murrens und
Unwillens gegen jedermann, der mir in den
Weg kaͤme, zu erwehren. Ueber dieß war es
mir eine Freude, durch die Abweſenheit der
Fraͤulein und ihre ſchon des Morgens fruͤhe um
ſechſe uͤbernommene Reiſe zu befinden, daß ſie
unmoͤglich ſo krank ſeyn koͤnnte, als du es be-
ſchriebeſt: und dieſes machte mich noch mun-
terer. Alsdenn weiß ich auch, daß das Frauen-
zimmer allezeit luſtige und aufgeweckte Manns-
perſonen gern ſiehet. Die liebe Fraͤulein ſelbſt
pflegte ſich an meiner freudigen Gemuͤthsart und
meinem lebhaften Weſen zu vergnuͤgen: und
haͤtte ſie gehoͤrt, daß ich in dem hintern Laden
geſeſſen und um ſie geheulet haͤtte; ſo wuͤrde ſie
mich noch geringer geſchaͤtzet haben, als ſie thut.
Hiezu
[816]
Hiezu kam die empfindliche Ueberzeugung bey
mir, daß die Leute in dem Hauſe nothwendig eine
ſchreckliche Vorſtellung von mir, als von einem
wilden Manne, einem blutduͤrſtigen, verhaͤrteten
Kerl, einem vollkommenen Weiberfreſſer, haben
mußten, und mich ſonder Zweifel mit den Klau-
en eines Loͤwen, und den Zaͤhnen eines Tigers,
zu ſehen vermutheten. Es war alſo der Klug-
heit gemaͤß, ihnen zu zeigen, was fuͤr ein un-
ſchaͤdlicher, luſtiger Kerl ich waͤre, damit ich
mir die Johannen und Joſephen zu Vertrauten
machte. Denn ich ſahe augenſcheinlich, weil
die gute Frau dieſelben herunter rief, daß ſie
mich fuͤr einen gefaͤhrlichen Mann hielte. Nun
aber, da Johann und ich uns mit einander ge-
meſſen haben; da Frau Smithinn geſehen hat,
daß ich das Geſicht, die Haͤnde und das Anſehen
von einem Menſchen habe, und aufgerichtet gehe,
und ſchwatze, und lache, und ſcherze, wie andere
Leute; und Joſeph, daß ich von Zaͤhnausreißen
ſchwatzen kann, ohne ihm das geringſte Leid zu
thun: ſo werden ſie alle bey meinem naͤchſten
Beſuch weit geruhiger und vergnuͤgter mit mir
ſeyn, als Andreas mit ſeinen Handſchuhen war;
und wir werden einander allezeit willkommen
und eben ſo gut bekannt ſeyn, als wenn wir uns
ein ganzes Jahr gekannt haͤtten.
Als ich wieder in unſerer Mutter Haus kam:
verfluchte ich ſie, und alle ihre Nymphen mit
einander, aufs neue, und wollte noch durchaus
weder Sarah, noch Marichen, ſehen. Jch
tobte
[817]
tobte uͤber den ſchrecklichen Verhaft, und ſagte
dem alten Drachen, daß ſie und ihre Bruth da-
ran ſchuld waͤre, daß die reineſte Tugend in der
Welt zu ſchanden gemacht, meine Ehre vor der
Welt beflecket, und ich nicht verheyrathet und in
der Liebe der vortrefflichſten Perſon ihres Ge-
ſchlechts gluͤcklich waͤre.
Sie ſagte, um mich zu beſaͤnftigen, ſie wollte
mir ein neues Geſicht zeigen, das mir gefallen
wuͤrde, weil ich doch meine Sarah nicht ſehen
wollte, die vor Betruͤbniß ſterben moͤchte.
Wo iſt das neue Geſicht? rief ich. Laßt mich
es ſehen: ob ich gleich niemals ein Geſicht, als
nur das Geſicht der Fraͤulein Harlowe mit Ver-
gnuͤgen ſehen werde.
Sie will nicht herunter kommen, verſetzte ſie.
Sie will noch nicht zu Befehl ſtehen ‒ ‒ Sie
iſt eben erſt ins Garn gekommen. Man muß
ihr aufwarten und ſie noch dazu ſehr liebkoſen.
Ey, ſprach ich, das ſieht wohl aus. Fuͤhret
mich den Augenblick zu ihr.
Jch folgte ihr die Treppe hinauf. Aber wer
ſollte es anders ſeyn, als die kleine Kroͤte, Sarah.
O verflucht, ſagte ich, fuͤr den Teufel, ſeyd
ihr es? Jſt eures das neue Geſicht?
O mein lieber, lieber Herr Lovelace! rief ſie:
ich freue mich, daß noch etwas ſie zu mir bringen
kann. Und ſo fiel das kleine Thier mir um den
Hals, und hing da, wie eine Katze. Was wol-
len ſie mir geben, ſprach ſie: ſo will ich auf eine
Sechſter Theil. F f fhalbe
[818]
halbe Stunde tugendhaft ſeyn und ihre Clariſſa
nach dem Leben vorſtellen.
Jch ward ganz zu einem Belford. Jch
konnte eine ſolche Verſpottung des lieben Kindes
nicht leiden: denn ich bin hauptſaͤchlich von einer
ſanften und edelmuͤthigen Natur; ihr moͤget den-
ken, was ihr wollt. Jch fluchte mit dem groͤß-
ten Eifer auf ſie, daß ſie auf eine ſolche Art den
Namen derſelben in den Mund naͤhme. Allein
der kleine Teufel ließ ſich nicht irren: ſondern
fing an zu weinen, zu gluchſen, zu bitten, zu fle-
hen, zu klagen, und ohnmaͤchtig zu werden; ſo
daß ich niemals meiner liebenswuͤrdigen Fraͤulein
ſo wohl nachaͤffen geſehen habe. Jch war bey-
nahe davon eingenommen: denn ich haͤtte mir
vorſtellen koͤnnen, daß ich ſie noch einmal vor mir
haͤtte.
O was fuͤr ein Geſchlecht! was fuͤr ein durch-
triebenes Geſchlecht iſt dieſes. Man kann ſie
nicht erforſchen. Anfangs mag freylich ihre Trau-
rigkeit und ihr Kummer unverſtellt und wahrhaf-
tig ſeyn. Allein man laſſe nur dem Sturm freyen
Lauf: ſo wird er ſich bald legen und nach und
nach auf ein ſanftes Gemurmel hinauskommen,
das in den Ohren eine eben ſo angenehm zitternde
Bewegung machet, als die Toͤne einer wohlge-
ſtimmten Violine. An Sarah ſieht man, daß
die Kunſt uͤberhaupt die Stelle der Natur ſo wohl
vertreten wird, daß man den Unterſchied nicht
leicht merken wird. Die Fraͤulein Harlowe iſt
in der That, nach meinen Gedanken, die einzige
Weibs-
[819]
Weibsperſon, die in den Worten ihres geliebten
Schriftſtellers, Hiobs; denn ich kann eben ſo gut
als ſie einen Spruch anfuͤhren; ſagen kann:
Aber ſo iſt es mit mir nicht.
Sie fragten ſehr genau nach meiner Schoͤ-
nen. Sie erzaͤhlten mir, daß ihr ſelten zu ihnen
kaͤmet, und, wenn ihr noch kaͤmet, ein gewaltig
ernſthaftes Geſicht machtet, kaum fuͤnf Minuten
bleiben wolltet, und nur beſtaͤndig die Fraͤulein
Harlowe ruͤhmetet und ihr hartes Schickſal be-
klagtet: kurz, daß ihr ſie verachtetet, voll von Lehr-
ſpruͤchen waͤret, und ſonder Zweifel in kurzem
verlohren ſeyn und heyrathen wuͤrdet.
Eine artige Beſchreibung fuͤr dich! nicht
wahr? Du biſt auf einem begluͤckten Wege,
und haſt nichts mehr zu thun, als auf demſel-
ben fortzuwandern. Aber was fuͤr ein Werk
haſt du denn zu vollfuͤhren? Wo du umkehreſt:
ſo werden es dieſe Zauberinnen machen wie die
Coſacken des Czars, bey Pultowa, denk ich, war
es, welche mit geladenem und aufgeſpannten Ge-
wehr hinter das ordentlich geuͤbte Kriegsvolk ge-
ſtellt waren, ſie zu erſchießen, wo ſie nicht mehr
angreiffen und ſiegen wollten. Du wirſt von ei-
ner jeden Hure, die du gemacht haſt, alsdenn
verachtet werden. ‒ ‒ Und, o Bruder! wie
fuͤrchterlich wird in dem Fall die Anzahl deiner
Feinde ſeyn!
Jch bin willens, alle meine Bewegungen
nach den Nachrichten, die Wilhelm einziehet, ein-
zurichten. Denn ich muß und will dieß liebe
F f f 2Kind
[820]
Kind ſehen. Jedoch habe ich dem Lord M. ver-
ſprochen, binnen zween oder dreyen Tagen aufs
laͤngſte wieder unten zu ſeyn. Denn er iſt ſeit
meiner Krankheit gewaltig fuͤr mich eingenom-
men geweſen.
Jch mache mir Hoffnung, daß mein Vorge-
ben, morgen fruͤhe wieder von London wegzuge-
hen, die Fraͤulein bald nach Hauſe zuruͤckbringen
werde.
Unterdeſſen, dachte ich, wollte ich ſchreiben,
dich aufzumuntern, da du ſo wichtige und noth-
wendige Geſchaͤffte bey dem Sterbenden haſt.
Weil dein Bedienter alle Tage, wie es ſcheinet,
hin und her kommt: ſo kann ich dir vielleicht
morgen noch einen Brief mit der Nachricht von
demjenigen ſenden, was bey der Zuſammenkunft
zwiſchen der lieben Fraͤulein und mir, nach wel-
cher meine Seele duͤrſtet, vorgefallen iſt.
Der
Hundert und vier und zwanzigſte Brief
von
Hrn. Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
Jch muß fortſchreiben, mir ſelbſt einen Zeit-
vertreib und Ermunterung zu machen.
Denn ich kann keine Ruhe, keine erquickende Ruhe
finden.
[821]
finden. Jch bin eben in einem verfluchten Schre-
cken erwachet. Wie ſehr kann doch ein Menſch
durch Traͤume beunruhiget werden.
„Mich dauchte, ich hatte eine Unterredung
„mit meiner Geliebten. Sie war die Guͤte, Ge-
„faͤlligkeit und Vergebung ſelbſt. Sie ließ ſich
„durch die vereinigten Fuͤrbitten des Lords M. der
„Lady Sarah, der Lady Eliſabeth und meiner
„beyden Baſen Montague zu meinem Vortheil
„bewegen. Dieſe machten ihr alle in tiefer Trauer
„die Aufwartung: die Frauenzimmer in langen
„Schleppen, welche die Erde hinter ihnen feg-
„ten; der Lord M. in einem langen ſchwarzen
„Mantel, der hinter ihm ſchleifte. Sie ſagten
„ihr, ſie kaͤmen in dieſen Kleidern, ihre Betruͤb-
„niß uͤber meine Suͤnden gegen ſie zu bezeigen,
„und bey ihr um Vergebung fuͤr mich zu bitten.
„Jch ſelbſt, ſo kam es mir vor, lag auf mei-
„nen Knieen, mit einem Degen in der Hand,
„und erbot mich, ihn in die Scheide zu ſtecken,
„oder mir ins Herz zu ſtoſſen: wie ſie entweder
„das eine, oder das andere, befehlen wuͤrde.
„Den Augenblick kam ihr Vetter Morden,
„wie ich dachte, ploͤtzlich mit bloßem Degen zu
„einem Fenſter, wie ein Blitz, hereingeſchoſſen
„‒ ‒ Stirb, Lovelace! ſprach er, ſtirb auf der
„Stelle und ſey verdammt: wo du meiner Baſe
„das ihr widerfahrne Unrecht nicht im Ernſt wie-
„der gut machen willſt.
„Jch ſtand auf, traͤumte mir, dieſen Schimpf
„zu raͤchen: als der Lord M. mit ſeinem großen
F f f 3„ſchwar-
[822]
„ſchwarzen Mantel zwiſchen uns rannte und ihn
„uͤber mein Geſicht warf. Den Augenblick ſchlug
„meine Geliebte, mit der angenehmen Stimme,
„welche ſo oft meine Ohren entzuͤcket hatte, ihre
„Arme um mich herum, ſo wie ich in dem Man-
„tel meines Lords verhuͤllet war. O ſchonen ſie,
„waren ihre Worte, ſchonen ſie meines Lovela-
„cens! Und ſchonen ſie, o Lovelace, meines ge-
„liebten Vetters Morden! Machen ſie nicht, daß
„mein Ungluͤck durch den Fall eines von denen,
„die mir ſo theuer und werth ſind, oder gar durch
„beyder Fall vermehret werde.
„Hieruͤber wollte ich, wie es mir vorkam, voll
„Entzuͤckung uͤber ihre liebreiche Vermittelung,
„ſie in meine Arme faſſen: als eine engliſche Ge-
„ſtalt, die vortrefflichſte, welche ich jemals geſe-
„hen habe, mit einem durchſichtigweiſen Glanz
„bekleidet, oben aus einer Decke herunter ſtieg.
„Jndem dieſe ſich oͤffnete: zeigte ſich noch eine
„Decke uͤber ihr, welche um und um mit guͤldenen
„Cherubinen und glaͤnzenden Seraphinen beſetzt
„war. Alle riefen mit Frohlocken: Willkommen,
„willkommen, willkommen! Sie umſchloſſen
„meine Schoͤne und fuhren mit ihr zu der Ge-
„gend der Seraphinen hinauf. Jn dem Augen-
„blick ſchloß ſich die geoͤffnete Decke zu; ich ver-
„lohr meine Geliebte und die glaͤnzende Ge-
„ſtalt zugleich aus dem Geſichte, und fand ihr
„himmelblaues Kleid, reich mit ſilbernen Ster-
„nen von erhabener Arbeit beſetzt, in meinem Arm
„zuſammengewickelt. Dieß Kleid hatte ich er-
ergriffen,
[823]
„griffen, in Hoffnung, ſie zuruͤckzuhalten: allein
„es war alles, was mir von meiner geliebten Fraͤu-
„lein Harlowe uͤbrig war. Darauf; es iſt mir
„noch ſchrecklich zu erzaͤhlen! ſenkte ſich der Bo-
„den unter mir, wie ſich die Decke fuͤr ſie geoͤffnet
„hatte: und ich fiel in die fuͤrchterlichſte Grube.
„Jndem ich aber uͤber Hals und Kopf hinunter
„taumelte: erwachte ich in einem ploͤtzlichen
„Schrecken; und war in der That, eine halbe
„Stunde uͤber, in ſolcher Unordnung, als wenn
„mein Traum eine wirkliche Begebenheit gewe-
„ſen waͤre.
Wirſt du mir zu gute halten, daß ich dich mit
ſolchem ſchwaͤrmeriſchen Zeuge beſchwere? Du
wirſt nur ſo viel daraus ſehen, daß meine Cla-
riſſa mir allezeit gegenwaͤrtig iſt; ich mag ſchla-
fen oder wachen.
Aber eben dieſen Augenblick kommt Wilhelm
hierher gerannt und meldet mir, daß die Fraͤulein
wirklich geſtern Abends zwiſchen eilfen und zwoͤl-
fen zu Hauſe gekommen, und nun da ſey: ob
gleich ſehr krank.
Jch eile zu ihr. Aber damit ich ihre Unpaͤß-
lichkeit nicht durch ein rauhes oder ungeſtuͤmes
Bezeigen vermehren moͤge: will ich bey meinem
Zutritt und in meinem Antrage ſo liebreich und
ſanftmuͤthig ſeyn, als dieſes Taͤubchen ſelbſt zu
ſeyn pfleget.
F f f 4Daß
[824]
Die Saͤnfte iſt gekommen. Jch fliege zu
meiner Geliebten.
Der
Hundert und fuͤnf und zwanzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Hrn. Joh. Belford.
Verflucht ſey mein Geſtirn! ‒ ‒ Wiederunm
in meiner Hoffnung betrogen.
Es war um acht Uhr, da ich in Smithenſ
Haus kam. ‒ ‒ Die Frau war in dem Laden.
So, alte Bekannte, wie befinden ſie ſich nun?
Jch weiß, daß meine Geliebte oben iſt ‒ ‒ Sa-
gen ſie ihr, daß ich hier ſey, und auf Erlaubniß
warte, zu ihr zu kommen, aber mich nicht abwei-
ſen laſſen koͤnne. Vermelden ſie ihr, daß ich
mich mit dem ehrerbietigſten Gehorſam, und in
weſſen Geſellſchaft es ihr beliebt, zu ihr nahen,
und, ohne ihre Erlaubniß, nicht den Saum ihres
Kleides anruͤhren wolle.
Jn
[825]
Jn der That, mein Herr, ſie irren ſich. Die
Fraͤulein iſt weder in dieſem Hauſe, noch in der
Naͤhe.
Das will ich ſehen ‒ ‒ Wilhelm! ſiehe zu
‒ ‒ Dieß ſagte ich ihm ins Ohr, nachdem ich ihm
gewinkt hatte zu mir zu kommen ‒ ‒ Siehe zu,
ob du auf eine oder die andere Art auͤfſpuͤren kannſt,
ob ſie in der Nachbarſchaft iſt, wo nicht hier im
Hauſe: jedoch ohne die Thuͤre aus dem Geſichte
zu verlieren, damit ſie nicht etwa unten ſeyn und
fortgehen moͤge.
Wilhelm buͤckte ſich, und gieng weg. Jch
ſtieg ohne weitere Umſtaͤnde hinauf, und ward
nun bloß von der guten Frauen allein begleitet.
Jch ging in alle und jede Zimmer, dasjenige
ausgenommen, welches das vorige mal und nun
wieder, verſchloſſen war. Jch rief die Fraͤulein
Harlowe mit der Stimme, die ſich zur Liebe ſchi-
cket: aber durch die Stille bey ihrem Stillſchwei-
gen ward ich uͤberzeuget, daß ſie nicht da war.
Jedoch zweifelte ich nicht, weil ich mich ſtark
auf meine erhaltene Nachricht verließ, daß ſie in
dem Hauſe ſeyn wuͤrde.
Alſo ging ich zwo Treppen hinauf und ſahe
mich in dem erſten Zimmer herum. Aber keine
Fraͤulein Harlowe.
Ey wer wohnt doch in dieſem Zimmer? Das
fragte ich, indem ich zu der Thuͤr von einer an-
dern Stube trat.
Eine adliche Witwe, mein Herr ‒ ‒ Fr.
Lovick.
F f f 5O
[826]
O meine werthe Fr. Lovick! ſagte ich: ich
habe durch meinen Vetter Johann Belford eine
genaue Nachricht von ihrer Gemuͤthsart. Jch
muß vor allen Dingen die Fr. Lovick ſehen. Lie-
be Fr. Lovick, oͤffnen ſie die Thuͤr.
Sie that es.
Jhr Diener, Madame. Haben ſie die Guͤte,
mich zu entſchuldigen. ‒ ‒ Sie haben meine Ge-
ſchichte gehoͤret. Sie ſind eine Bewunderinn
des vortrefflichſten Frauenzimmers in der Welt.
Wertheſte Fr. Lovick, ſagen ſie mir, wo iſt ſie hin-
gekommen?
Die arme Fraͤulein, mein Herr, iſt geſtern
weggegangen, ihrem Beſuch auszuweichen.
Wie ſo? Sie wußte ja nicht, daß ich hier
ſeyn wuͤrde.
Sie beſorgte, ſie moͤchten kommen: da ſie
hoͤrte, daß ſie von ihrer Krankheit geneſen waͤren
‒ ‒ O! mein Herr, was iſt es Schade, daß ein
ſo feiner Cavallier Gottes Guͤtte gegen ihn ſo
ſchlecht vergelten ſoll!
Sie ſind ein vortreffliches Frauenzimmer, Fr.
Lovick! das weiß ich aus meines Vetters Joh.
Belfords Nachricht von ihnen: und die Fraͤu-
lein Harlowe iſt ein Engel.
Freylich iſt die Fraͤulein Harlowe ein Engel,
antwortete ſie: und ſie wird auch bald Engeln Ge-
ſellſchaft leiſten.
Kein Spaßen mit einer ſolchen Frau, als
dieſe iſt, Bruder.
Sagen
[827]
Sagen ſie mir die Wahrheit, Frau Lovick.
Wo kann ich dieſe liebe Fraͤulein ſehen? Bey
meiner Seele, ich will ſie weder ſchrecken, noch
beleidigen. Jch will ſie nur bitten, mich eine hal-
be Viertelſtunde anzuhoͤren: und, wo ſie es ſo
verlangt, will ich ſie hernach niemals mehr beun-
ruhigen.
Mein Herr, verſetzte die Witwe, es wuͤrde
der Tod fuͤr die Fraͤulein ſeyn, ſie zu ſehen. Sie
iſt die verwichne Nacht zu Hauſe geweſen: ich
will ihnen die Wahrheit ſagen. Es haͤtte ſich
auch fuͤr ihren Zuſtand beſſer geſchickt, den gan-
zen Tag im Bette zu bleiben. Sie kaͤme zu Hau-
ſe, ſagte ſie, um zu ſterben: und wo ſie ihren
Beſuch nicht vermeiden koͤnnte, wuͤrde ſie nicht
im Stande ſeyn, vor ihnen zu fliehen; ja ſie
glaubte, ſie wuͤrde vor ihren Augen ſterben.
Und doch dieſen Morgen fruͤhe wieder auszu-
gehen! Wie kann das ſeyn, Frau Lovick?
Ey, mein Herr, ſie hatte nicht zwo Stunden
Ruhe, aus Furcht vor ihnen. Jhre Furcht mach-
te ſie ſtark: und dafuͤr wird ſie leiden, wenn die
Furcht voruͤber iſt. Weil ſie ſich nun, je mehr
ſie daran dachte, deſto weniger im Stande fand,
zu bleiben, und ihren Beſuch anzunehmen: ſo
ließ ſie eine Saͤnfte kommen, und hat ſich weg-
tragen laſſen, niemand weiß, wohin. Jedoch
glaube ich, daß ſie willens war, ſich an die Waſ-
ſerſeite bringen zu laſſen, um ein Boot zu nehmen.
Denn ſie kann es mit einer Kutſche nicht aus-
halten.
[828]
halten. Es iſt ihr geſtern ausnehmend beſchwer-
lich geweſen.
Allein, ehe wir weiter reden, ſprach ich,
wo ſie außerhalb Hauſes iſt: ſo koͤnnen ſie nichts
dagegen einzuwenden haben, daß ich in alle Zim-
mer oben und unten kucke; weil mir geſagt iſt,
daß ſie ſich wirklich hier im Hauſe befindet.
Jn Wahrheit, mein Herr, ſie iſt nicht hier.
Sie koͤnnen ihrer Begierde Genuͤge thun; wo es
ihnen gefaͤllt: aber Fr. Smithinn und ich haben
ſie bis an die Saͤnfte begleitet. Wir waren ge-
noͤthigt, ihr zu einer Stuͤtze zu dienen: ſo ſchwach
war ſie. Wohin, ſagte ſie, kann ich gehen, Fr.
Lovick? Wohin kann ich gehen, Fr. Smithinn?
‒ ‒ Der grauſame, grauſame Menſch! Sagen
ſie ihm, daß ich ihn ſo genannt habe, wo er wie-
der kommt. ‒ ‒ Gott gebe ihm die Ruhe, wel-
che er mir nicht laſſen will!
Holdſelige Fraͤulein! rief ich, ſchlug die Au-
gen nieder und zog mein Schnupftuch hervor.
Die Witwe weinte. Jch wuͤnſchte, ſagte ſie,
daß ich eine ſo vortreffliche Fraͤulein, die ſo vieles
ausſtehen muß, niemals gekannt haͤtte! Jch lie-
be ſie, als mein eignes Kind!
Fr. Smithinn weinte.
Hierauf ließ ich meine Hoffnung fahren, ſie
fuͤr dießmal zu ſehen. Es kraͤnkte mich uͤber alle
Maaßen, daß ich mich betrogen fand, und hoͤr-
te, wie ſchlecht ſie ſich befaͤnde.
O daß ſie mich in den Stand ſetzen wollte,
ſprach ich, das ihr widerfahrne Unrecht und Uebel
wie-
[829]
wieder gut zu machen! Jch bin ein undank-
barer Boͤſewicht gegen ſie geweſen. Jch darf ih-
nen nicht erſt erzaͤhlen, Fr. Lovick, wie ſehr ich
ſie beleidigt habe, und wie viel ſie durch ihrer Ver-
wandten Unverſoͤhnlichkeit leidet. Das letzte, Fr.
Lovick, das letzte, Fr. Smithinn, iſt es, was ihr
das Herz abnaget. Jhre Familie iſt die unver-
ſoͤhnlichſte, die auf dem Erdboden ſeyn kann: und
die liebe Fraͤulein zeigt dadurch, daß ſie mich
nicht ſehen, und ſich mit mir nicht ausſoͤhnen will,
ihre Verwandtſchaft mit derſelben ein wenig allzu
deutlich.
O mein Herr! nicht eine Sylbe von dem,
was ſie ſagen, ſchickt ſich auf die Fraͤulein. Jch
habe niemals ein ſo liebreiches Kind, eine ſo er-
bauliche Gottesfurcht, eine Perſon von einem
ſo verſoͤhnlichen Gemuͤthe geſehen! Sie klagt ſich
allemal ſelbſt an, und entſchuldigt ihre Verwand-
ten. Was aber ſie betrifft, mein Herr: ſo ver-
giebt ſie ihnen; ſie wuͤnſchet ihnen wohl; ſie
wuͤnſcht, daß ſie gluͤcklicher ſeyn moͤgen, als
ſie vor ihnen ſeyn kann. Warum wollen ſie,
mein Herr, warum wollen ſie ihr nicht goͤnnen,
in Ruhe zu ſterben? Dieß iſt alles, was ſie wuͤn-
ſchet. Sie ſehen nicht wie ein unbarmherziger
Cavallier aus! ‒ ‒ Wie koͤnnen ſie denn eine
arme Fraͤulein, auf welche niemand von ihren
Verwandten ſehen will, ſo jagen und verfolgen?
Dieß macht, daß mein Herz fuͤr ſie blutet.
So weinte ſie wieder. Fr. Smithinn wein-
te auch. Mir ward nicht anders, als wenn ich
auf
[830]
auf Kohlen ſaͤße. Jch veraͤnderte zu verſchiede-
nen malen meinen Stuhl. Das, was Fr. Lovick
weiter ſagte, und mir zeigte, machte mich noch
unruhiger.
So ſchlecht ſich die arme Fraͤulein verwichne
Nacht befand, waren ihre Worte: ſo ſchrieb ſie
doch eine geiſtliche Betrachtung daruͤber, daß ſie
von ihnen ſo verfolget wird, in ihr Buch. Jch
habe eine Abſchrift davon. Wenn ich daͤchte,
daß es einige Wirkung thun wuͤrde: ſo wollte
ich ſie ihnen vorleſen.
Laſſen ſie mich ſie ſelbſt leſen, Fr. Lovick.
Sie gab ſie mir. Die Aufſchrift ſieht einem
Harloweiſchen Geiſte aͤhnlich, und iſt von einem
verſoͤhnlichen Gemuͤthe unertraͤglich. Jch ver-
langte ſie mit mir zu nehmen. Fr. Lovick ge-
ſtand es zu, unter der Bedingung, daß ich ſie
dem Ritter Belford zeigte. So magſt du ſie
hier leſen, Herr Ritter Belford, wo du willſt.
Als ich von dem Feinde meiner See-
len gejaget ward.
Errette mich, o Herr, von dem boͤſen Men-
ſchen. Bewahre mich vor dem gewaltthaͤ-
tigen Manne.
Der mit Ungluͤck in ſeinem Herzen um-
gehet.
Er hat ſeine Zunge geſchaͤrfet, wie eine
Schlange. Otterngift iſt unter ſeinen Lippen.
Be-
[831]
Bewahre mich, o Herr, vor den Haͤn-
den des Gottloſen. Bewahre mich vor dem
gewaltthaͤtigen Manne, der ſich vorgenommen
hat, meine Gaͤnge zu umziehen.
Er hat eine Falle fuͤr mich geleget. Er
hat an der Seite des Weges ein Netz ausge-
ſpannet. Er hat Fallſtricke fuͤr mich in den
Weg geſtellet, in welchem ich wandelte.
Bewahre mich vor den Fallen, die er mir
geleget hat; und vor den Stricken dieſes Werk-
meiſters der Bosheit.
Der Feind hat meine Seele verfolget.
Er hat mein Leben zu Grunde gerichtet. Er
hat gemacht, daß ich im Finſtern wohne, als
diejenigen, welche lange todt geweſen ſind.
Daher iſt mein Geiſt in mir uͤberſchwem-
met. Mein Herz in mir iſt zerſtoͤret.
Verberge dein Antlitz nicht vor mir an dem
Tage, da ich in Unruhe bin.
Denn meine Tage ſind verzehret, wie
Rauch: und meine Beine ſind verbrannt, wie
der Feuerheerd.
Mein Herz iſt zerſtoßen, und verwelket,
mir Graß: ſo daß ich mein Brodt zu eſſen ver-
geſſe.
Vor der Stimme meines Seufzens kleben
meine Gebeine an meine Haut.
Sechſter Theil. G g gJch
[832]
Jch bin wie ein Pelikan in der Wildniß.
Jch bin wie eine Eule in der Wuͤſten.
Jch wache; und bin wie ein verlaſſener
Sperling auf dem Giebel.
Jch habe Aſche gegeſſen, wie Brodt, und
meinen Trank mit Weinen gemenget;
Um deines Eifers und um deines Zornes
willen: denn du haſt mich erhoben und nieder-
geworfen.
Meine Tage ſind wie ein Schatten, der ab-
nimmt, und ich bin verwelket, wie Graß.
Gieb nicht zu, o Herr, daß des Gottloſen
Verlangen geſchehe: foͤrdere nicht ſeine An-
ſchlaͤge, damit er ſich nicht erhebe.
Ey, Fr. Lovick, ſagte ich, nachdem ich dieſe
geiſtliche Betrachtung, wie ſie es nannte, durch-
geleſen hatte, ich denke, daß mir von der Fraͤu-
lein ſehr hart begegnet iſt, wo ſie in dem allen
mich meynet. Denn wie kann ich der Feind
ihrer Seele ſeyn: da ich ſie mit Seel und Leib
liebe?
Sie ſagt, ich ſey ein gewaltthaͤtiger Mann,
und ein gottloſer Menſch. ‒ ‒ Daß ich es gewe-
ſen ſey, das geſtehe ich: allein ich bereue es und
wuͤnſche mir nur das Vermoͤgen, das Unrecht,
welches ich ihr gethan habe, zu erſetzen.
Der Fallſtrick, die Falle, das Netze ge-
hen vermuthlich auf das Heyrathen. ‒ ‒ Allein
iſt
[833]
iſt es ein Verbrechen an mir, daß ich ſie zu hey-
rathen wuͤnſche? Wuͤrde wohl irgend ein anderes
Frauenzimmer ſo gedenken, und lieber ein Peli-
kan in der Wildniß oder ein verlaſſener Sper-
ling auf dem Giebel werden, als einen Gat-
ten haben, der alle Tage und Naͤchte um ſie her-
um zwitſchern wuͤrde?
Sie ſagt, ſie habe Aſche gegeſſen wie
Brodt ‒ ‒ Ein wunderliches Verſehen in Wahr-
heit! ‒ ‒ und ihren Trank mit Weinen ge-
menget ‒ ‒ Liebe ſchwaͤrmeriſche Seele! wuͤr-
de ich von einem jeden ſagen, der dieß bekennete,
nur nicht von der Fraͤulein Harlowe.
Sie beſchließet mit dem Gebeth, daß das
Verlangen des Gottloſen; ich fuͤrchte, ſie
meynt mich armen; nicht erfuͤllet, daß meine
Anſchlaͤge nicht gefoͤrdert werden, damit
ich mich nicht ſelbſt erhuͤbe. ‒ ‒ Jch wuͤrde
mich ohne Zweifel erheben, und zwar mit Grun-
de: wenn ich durch eine ſolche Frau geehret und
begluͤckt werden koͤnnte. Hat aber mein Verlan-
gen einen ſo loͤblichen Zweck: ſo weiß ich nicht,
warum ich gottlos genannt und meine ruͤhmli-
che Anſchlaͤge nicht gefoͤrdert werden ſollten,
damit ich mich ſelbſt erheben moͤge.
Aber hier, Fr. Lovick, erlauben ſie mir zu
fragen, da ſonder Zweifel mit dem verlaßenen
Sperlinge auf dem Giebel etwas gemeynt
wird: Jſt die liebe Fraͤulein nicht eben itzo, ſagen ſie
G g g 2mir
[834]
mir die Wahrheit, auf dem oberſten Boden der
Fr. Smithinn verſteckt? ‒ ‒ Was ſagen ſie, Fr.
Lovick? Was ſagen ſie hiezu, Fr. Smithinn?
Sie verſicherte mich des Gegentheils; daß
ſie wirklich außerhalb Hauſes waͤre, und ſie nicht
wuͤßten, wo.
Du ſieheſt, Bruder, daß ich den Schmerz
gern vertrieben haͤtte, den mir das Geſpraͤch der
Weibsleute und dieſe Sammlung von Schrift-
ſtellen, welche mir als ein Kriegsheer in Schlacht-
ordnung entgegengeſetzt waren, zuwege brachte.
Jch ſagte auch noch verſchiedne andere ſeltſame
und nicht wichtige Dinge zu eben dem Ende; al-
les, was ich dafuͤr zu ſagen hatte! Aber die Wit-
we wollte mich ſo nicht davon kommmen laſſen.
Sie blieb mir auf dem Halſe, und machte mir, wie
ich gedacht habe, durch ihre empfindliche und
ernſthafte Verweiſe nicht wenig zu ſchaffen. Fr.
Smithinn ſtimmte bisweilen mit ein: und weil
die beyden Hannswuͤrſte, Johann und Joſeph,
nicht zugegen waren; ſo hatte ich keine Gelegen-
heit, aus der Unterredung einen Spaß zu ma-
chen. Endlich verbanden ſie ſich beyde, und ſuch-
ten mit dem groͤßten Eifer mich zu gewinnen,
daß ich alle Gedanken, die Fraͤulein zu ſehen,
fahren ließe. Allein davon konnte ich nichts hoͤ-
ren. Jch bat vielmehr Fr. Smithinn, mir ei-
nes von ihren Zimmern nur ſo lange, bis ich ſie
ſehen koͤnnte, einzuraͤumen. Wenn es auch nur
auf zween oder drey Tage ſeyn ſollte: ſo wollte
ich
[835]
ich fuͤr ein ganzes Jahr bezahlen, und es den
Augenblick wieder raͤumen, wenn ich mit ihr ge-
ſprochen haͤtte. Aber ſie baten um Entſchuldi-
gung, und ſagten, ſie waͤren verſichert, daß
die Fraͤulein nicht eher zu Hauſe kommen wuͤrde,
bis ich wegwaͤre, wenn es auch einen Monath
dauren ſollte.
Dieß gefiel mir. Denn ich befand hiedurch,
daß ſie die Frauͤlein nicht fuͤr ſo gar krank hiel-
ten, als ſie mich gern uͤberreden wollten. Jch
ſagte aber nicht ein Wort von dieſem Wink, der
ihnen aus Verſehen entfahren war: weil ich nicht
machen wollte, daß ſie gegen mehrere derglei-
chen auf ihrer Huth ſeyn moͤchten.
Kurz, ich erklaͤrte mich, daß ich ſie ſehen
muͤßte und wollte: daß es aber mit aller Hoch-
achtung und Ehrfurcht geſchehen ſollte, die nur
irgend ein Herz ſo unvergleichlichen Vorzuͤgen, als
ſie an ſich haͤtte beweiſen koͤnnte. Jch wollte,
ſetzte ich hinzu, alle Kirchen in London und Weſt-
minſter, wo Bethſtunden oder Gottesdienſt waͤ-
re, von dem Aufgange der Sonnen bis zu ihrem
Untergange, nach der Reihe beſuchen, und wie
ein Geſpenſt um ihr Haus herumgehen: bis ich
die Gelegenheit faͤnde, nach der ſich meine See-
le ſehnte.
Dieß, bat ich ſie, ihr zu ſagen: und ſo en-
digte ſich unſere ernſthafte Unterredung.
Jch nahm Abſchied von ihnen, und ging
hinunter. Jndem ich in meine Saͤnfte trat, be-
G g g 3fahl
[836]
fahl ich, daß man mich zu Lincolns-Jnn tragen
ſollte. Da ſpatzierte ich ſo lange im Garten, bis
die Kapelle geoͤffnet wurde. Hierauf gieng ich
hinein, und betete, in Hoffnung, das liebe Kind her-
einkommen zu ſehen. Aber vergebens: und gleich-
wohl betete ich ſehr andaͤchtig, daß ſie entweder
durch meinen, oder ihren guten Engel dahin ge-
fuͤhret werden moͤchte. Und in Wahrheit, ich
brenne mehr, als jemals, vor ungedultigem
Verlangen, noch einmal zu den Fuͤßen dieſer an-
betungswuͤrdigen Fraͤulein knieen zu duͤrfen. Haͤt-
te ich ſie in der Kapelle angetroffen, oder zu Ge-
ſichte bekommen: ſo glaube ich feſt, daß ich nicht
im Stande geweſen ſeyn wuͤrde, ſollte es auch
mitten unter dem Gottesdienſt und in Gegen-
wart von Tauſenden geweſen ſeyn, mich zu ent-
halten, daß ich nicht vor ihr niedergefallen waͤre,
und ſo gar mit lauter Stimme fußfaͤllig um Ver-
gebung gebeten haͤtte. Ein chriſtliches Werk!
Die Ausuͤbung deſſelben ſchickt ſich daher wohl
fuͤr den Ort.
Nachdem der Gottesdienſt vorbey war: ſetz-
te ich mich wieder in meine Saͤnfte, und ließ
mich noch einmal zu Smithens Hauſe tragen,
in Hoffnung, ſie daſelbſt zu uͤberraſchen. Allein
kein ſolches Gluͤck fuͤr deinen Freund! Jch ſtand,
nach meiner Uhr, anderthalb Stunden in dem
hintern Laden, und mußte wieder viel Predigen
von den Frauensleuten anhoͤren. Johann war
itzo beſonders hoͤflich gegen mich. Er war durch
mein
[837]
mein ernſthaftes Geſpraͤche und die Ehre, welche
ich gegen die Fraͤulein bezeugte, ein wenig ge-
wonnen. Sie wuͤnſchten alle drey, daß die Sa-
chen zwiſchen uns beygelegt werden koͤnnten:
aber beſtanden noch immer darauf, daß die Fraͤu-
lein niemals aus ihrer Krankheit kommen koͤnn-
te; und daß ihr Herz gebrochen waͤre. Eine
Rolle, vermuthe ich, die ſie von dir hatten.
Weil ich da war, wurde durch eine beſonde-
re Gelegenheit ein Brief an die Fraͤulein ge-
bracht. Sie ſchienen ihn ſehr ſorgfaͤltig vor mir
zu verbergen. Das machte mich argwoͤhniſch,
daß er an ſie ſeyn moͤchte. Jch bat, man moͤch-
te mich nur das Siegel und die Aufſchrift ſehen
laſſen, und verſprach, ihn unerbrochen zuruͤckzu-
geben.
Da ich ihn anſahe, ſagte ich, daß ich die
Hand und das Siegel kennete. Er waͤre von
ihrer Schweſter (*): und ich hoffete, er wuͤrde
ihr vergnuͤgte Nachrichten bringen.
Sie wuͤnſchten alle von Herzen, daß dieſe
Hoffnung erfuͤllet werden moͤchte. Jch gab ih-
nen den Brief wieder zuruͤck, nahm hoͤflich Ab-
ſchied, und ging fort.
Aber ich will alſobald wieder da ſeyn. Denn
ich ſtelle mir vor, daß mein freundliches Bezei-
gen gegen dieſe Weibsleute, auf ihre Nachricht
davon, mir die Gewogenheit verſchaffen werde,
nach
[838]
nach welcher ich ein ſo ſehnliches Verlangen tra-
ge. Daher will ich meinen Brief offen laſſen,
um dir den Erfolg meines naͤchſten Beſuchs in
Smithens Hauſe zu melden.
Weil dein Bedienter eben anfragt: ſo ſende
ich dir gegenwaͤrtiges. Es ſoll bald noch ein
Schreiben folgen. Unterdeſſen verlangt mich, zu
hoͤren, wie es mit dem armen Belton ſtehe. Ver-
ſichere ihn meiner aufrichtigen Wuͤnſche
fuͤr ſein Wohl.
Ende des ſechſten Theils.
[][][][][]
gen und harten Reden der Familie. Sie wußte
nicht, daß Clariſſa ſich feſt entſchloſſen hatte,
nicht mit dem Herrn Lovelace fortzugehen: auch
nicht,
einen andern, als ſeinen Schutz, zu verſchaffen;
als Sie beſorgte, Sie wuͤrde kein Mittel finden,
die Vermaͤhlung mit Herrn Solmes zu vermei-
den, wofern Sie da bliebe.
Herr Lovelace geſchmiedet hatte. Siehe den V.
Th. S. 358. u. f.
Theile, S. 358. u. f.
lacens Erroͤthung eine weit natuͤrlichere Urſache
hatte, als dieſe, welche die Fraͤulein angiebet.
Er ward vor Unwillen roth, wie er nachher ſei-
nem Freunde, Belford, im Umgange erzaͤhlet
hat. Denn ſeine vorgegebene Tante hatte dar-
inn ihre Rolle verfehlet, daß ſie das Haus ver-
warf: und er hatte viele Muͤhe, das Verſehen
wieder gut zu machen; indem er genoͤthigt wurde,
ſich nach ihr zu richten, und ſeinen erſten Vor-
ſatz zu aͤndern. Dieſer war aber, daß von den
Leuten in dem Hauſe gut ſollte geſprochen wer-
den
zuruͤck zu kehren, wenn es auch nur unter dem
Vorwand geſchehen moͤchte, daß ſie ihre Kleider
nach Hampſtead bringen ließe.
jenige zuruͤckgewieſen werden, was die Fraͤulein
gleichwohl nicht erklaͤren konnte, weil ſie nicht
wußte, daß Herr Lovelace zu den Briefen der
Fraͤulein Howe, ſonderlich dem, der im IV. Th.
S. 55. u. f. ſtehet, und woruͤber er S. 203 Anmer-
kungen macht, gekommen war.
ſehen wird, zu dieſer oͤffentlichen Belangung ih-
res Beleidigers, durch ſolche Gruͤnde, die ſeinem
Character gemaͤß ſind, zu bereden: und ſie be-
antwortet dieſelben auf eine dem ihrigen gemaͤße
Art.
Briefe.
Geburtstag.
welche ſo “ bezeichnet ſind, wurden nachher von
der Fraͤulein Howe, in einem Briefe an die Fraͤu-
lein von Herrn Lovelacens Familie, abgeſchrieben
und ſind hier deswegen ſo unterſchieden, dami
man nicht noͤthig haben moͤchte, ſie zu wiederhy
len, wenn der Brief vorkommt.
Herrn Lovelace eine Unterredung zu verſtatten.
lein von der Richtigkeit dieſer Lehre ſo uͤberzeuget
waͤre, als ſie wirklich war. Denn in dem LXIX.
Briefe an Fr. Norton ſchreibt ſie: „Denken ſie
„auch nicht, daß meine gegenwaͤrtige Gemuͤthsver-
„faſſung von einem finſtern Weſen, oder einer
„Niedergeſchlagenheit herruͤhre. Denn ſie iſt
„zwar
„fehlgeſchlagene Hoffnung veranlaſſet; indem die
„Welt mir ſehr fruͤhe, ſelbſt bey meinem erſten
„und uͤbereilten Schritt in dieſelbe, ihre wahre
„und haͤßliche Geſtalt zeigte: aber dennoch hoffe
„ich, daß ſie eine beſſere Wurzel gefaßt habe, und
„dieſes, durch ihre Fruͤchte, mir und allen
„meinen Freunden taͤglich mehr und mehr zei-
„gen werde.
bar ihre Liebhaber haben, die Adiutores oder Ge-
huͤlfen heißen, daß die Ehemaͤnner ſchwerlich oh-
ne dieſe jemals eine Luſtfarth oder Geſellſchaft
zum Vergnuͤgen anſtellen.
beruͤhret.
Fraͤulein Montague.
- 1. Ein Brief von der Fraͤulein Monta-
gue vom _ _ 1ten Aug. - 2. Eine Abſchrift von meiner Antwort _ _ 3ten Aug.
- 3. Hrn. Belfords Brief an mich, welcher
Jhnen zeigen wird, was ich mir von
ihm ausgebeten, wie er mich meiner
Bitte gewaͤhret, und was fuͤr Aus-
zuͤge er mir auf mein Verlangen aus
den Briefen ſeines Freundes gege-
ben habe _ _ 3ten 4ten
Aug. - 4. Eine Abſchrift von meiner Antwort
und Dankſagung, nebſt dem Erſu-
chen, die Vollziehung meines Teſta-
ments uͤber ſich zu nehmen _ _ 4ten Aug. - 5. Hrn. Belfords Erklaͤrung, daß er die
Vollziehung uͤbernehmen wolle _ _ 4ten Aug.
6. Ein
- 6. Ein Brief der Fraͤul. Montague mit
einem großmuͤthigen und freygebi-
gen Anerbieten von dem Lord M.
und den Ladies dieſer Familie _ _ 7ten Aug. - 7. Ein Brief von Hrn. Lovelace. _ _ 7ten Aug.
- 8. Eine Abſchrift von meiner Antwort
auf das Schreiben der Fraͤul. Mon-
tague vom vorigen Tage. _ _ 8ten Aug. - 9. Eine Abſchrift von meiner Antwort
an Hrn. Lovelace _ _ 11ten Aug.
Aus dieſen verſchiedenen Briefen, welche in ſo
kurzer Zeit geſchrieben und empfangen ſind, daß
ich nichts von dem ſage, was ich noch ſonſt be-
kommen und geſchrieben habe, Jhnen aber nicht
zeigen kann, werden Sie ſehen, wie wenig Zeit
und Muße mir gelaſſen iſt, meine Geſchichte ſelbſt
aufzuſetzen.
- 1. Eine Abſchrift von meinem Briefe an meine
Schweſter, worinn um die Befreyung von dem
Fluch meines Vaters gebeten wird, vom
21ten Jul. - 2. Die Antwort meiner Schweſter, vom 27. Jul.
- 3. Eine Abſchrift von meinem zweyten Briefe an
meine Schweſter, vom 29ten Jul. - 4. Meiner Schweſter Antwort, vom 3ten Aug.
- 5. Die Abſchrift von meinem Briefe an meine
Mutter, vom 5ten Aug. - 6. Der Brief von meinem Onkel Harlowe, vom
7ten Aug. - 7. Die Abſchrift von meiner Antwort auf den-
ſelben, vom 10ten Aug. - 8. Der Brief von meinem Onkel Anton, vom
12ten, und endlich - 9. Die Abſchrift von meiner Antwort auf die-
ſen, vom 13ten.
Vollziehung ihres letzten Willens aufgetragen hat.
gend in einem Trauerſpiel nicht leiden muͤſſe, iſt
nicht wohl bedacht. Monimia in dem Trauerſpiel
die Wayſe; Belvedera in dem erhaltenen Vene-
dig;
Shakeſpeares Koͤnig Lear; Desdemona in Othel-
lo; Hamlet und andere, daß ich nicht mehrere
nenne, ſind Beweiſe, daß ein Trauerſpiel ſchwer-
lich mit Recht dieſen Namen verdienen koͤnnte,
wenn die Tugend nicht eine Zeitlang litte und das
Laſter auf eine Weile ſiegte. Allein er beſinnet ſich
in eben dem Abſatz, und fuͤhret uns auf die Zu-
kunft, daß wir daſelbſt die Belohnung der Tugend
und die Strafe des Laſters ſuchen muͤſſen. Er
macht keine uͤble Anmerkung, wenn er ſagt: Er
wiſſe nicht, ob die Tugend eines ſolchen Frauen-
zimmers, als Clariſſa iſt, nicht dadurch belohnet
werde, daß ihr ein ſolcher Mann, als Lovelace,
nicht zu Theil wird.
- License
-
CC-BY-4.0
Link to license
- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Richardson, Samuel. Clarissa. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnzr.0