[][][][][][][[I]][[II]]
Die Verwaltungslehre.


Siebenter Theil.

Stuttgart.:
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
1868.

[[III]]
Innere Verwaltungslehre.

Drittes Hauptgebiet.
Die wirthſchaftliche Verwaltung.
(Volkswirthſchaftspflege.)

Erſter Theil.
Die Entwährung
Grundentlaſtung, Ablöſung, Gemeinheitstheilung, Enteignung und
Staatsnothrecht
in
England, Frankreich und Deutſchland.


Stuttgart.:
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
1868.

[[IV]]
[[V]]

Vorwort.


Mit dem vorliegenden Bande betritt der Verfaſſer dasjenige
Gebiet der Verwaltungslehre, von welchem er ſich ſelbſt ſagen muß,
daß es wohl bei der gegenwärtigen Entwicklung der Wiſſenſchaft und
der Erfahrungen nicht mehr möglich ſein dürfte, daß Ein Menſch
im Stande ſei, es gründlich zu bewältigen. Schon jetzt ſind viele
Theile dieſes Gebietes zu ſelbſtändigen Fachwiſſenſchaften geworden,
deren Kenntniß und Beherrſchung ein volles Menſchenleben erfordern.
Und das Bewußtſein, das ihn bei dem Beginne dieſer Arbeit erfaßt
hat, wird daher naturgemäß jeden erfaſſen, der in gleicher Weiſe
Aehnliches unternimmt — das Bewußtſein, daß ſeine Kraft nicht
mehr ausreicht, einer ſolchen Aufgabe zu genügen.


Damit aber tritt uns die Frage entgegen, ob es denn über-
haupt noch eine wirthſchaftliche Verwaltungslehre als Ganzes geben
könne, wenn niemand die Kraft hat, ſie im Einzelnen zu bewäl-
tigen? Und wenn es eine ſolche geben muß und ewig geben wird,
was iſt dann ihre Aufgabe im Ganzen, da ſie dieſelbe im Einzelnen
zu löſen nicht mehr im Stande iſt?


Wir glauben, die Antwort liegt nicht ferne.


So tief verſchieden und ſo unendlich reich auch alle einzelnen
Gebiete der wirthſchaftlichen Verwaltung ſein mögen, dennoch ſind
ſie innerlich Eins. Sie ruhen auf derſelben Grundlage, ſie werden
begriffen aus demſelben Princip; ſie werden beherrſcht von denſelben
Geſetzen. Und wenn die Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, um
jedes derſelben zu erſchöpfen, ſo iſt ſie allerdings groß genug, ſie alle
in ihrem höheren Zuſammenhange zu begreifen. Und das iſt es,
was der Wiſſenſchaft der wirthſchaftlichen Verwaltung übrig bleibt.


In Wahrheit aber iſt das weder ein dem Umfange nach Ge-
ringes, noch iſt es ein Werthloſes. Denn ſo mächtig und hoch-
bedeutend auch die Maſſe des Einzelnen hier wie immer ſein mag,
und ſo entſcheidend auch die Wichtigkeit desjenigen iſt, was wir
[VI] praktiſches Leben und Bedürfniß nennen mögen, immer hat das
Allgemeine ſeinen Einfluß und ſeinen Werth für die richtige Erkennt-
niß auch des Einzelnſten. Es iſt überflüſſig, darüber zu reden.
Aber ſelbſt das bloß formale Syſtem gehört zu denjenigen Dingen,
die man in ihrer ganzen Bedeutung erſt würdigen lernt, wenn man
in dieſelben tiefer eindringt. Ein Syſtem, das nichts iſt als eine
zweckmäßige Ordnung des Stoffes, iſt in Wahrheit kein Syſtem.
Das wahre Syſtem bedeutet vielmehr das organiſche Verhältniß
des Einzelnen zum Ganzen; es zeigt, wie der Theil durch das
Ganze ſeine Beſtimmung und ſeine Grenze empfängt; es iſt der
Träger derjenigen Gewalt, welche aus dem Ganzen hervorgehend
im Einzelnen lebt; es gibt kein Verſtändniß und keine vollſtändige
Beherrſchung dieſes Einzelnen ohne ein Verſtändniß und ein klares
Bild ſeines Zuſammenhanges mit dem Ganzen; und das bietet allein
das Syſtem. Ein wahres Syſtem iſt daher niemals die Grund-
lage der Behandlung des Stoffes, ſondern es iſt ſelbſt wieder nur
das Ergebniß des höheren Weſens deſſelben; darum wird es nie
fertig, ehe man das ganze Gebiet vollſtändig durchgearbeitet hat;
daher iſt man ſich über die Sache im Ganzen erſt einig, wenn
man ſich über die ſyſtematiſche Ordnung im Einzelnen klar iſt; und
wenn man daher nach dem Verhältniß der Wiſſenſchaft der wirth-
ſchaftlichen Verwaltung zu den einzelnen Gebieten fragt, ſo kann
man jetzt antworten, daß die erſtere vor allen Dingen das zu geben
hat, was die letztere nie ohne dieſelben empfangen können, das
Syſtem als formalen Ausdruck der organiſchen Auffaſſung des
Geſammtlebens aller einzelnen Theile.


Möge man nun das Streben des Verfaſſers zunächſt von dieſem
Standpunkte aus auffaſſen.


Was nun die Behandlung des vorliegenden erſten ſpeciellen
Theiles, der Entwährungslehre, betrifft, ſo iſt dieſelbe allerdings
etwas anders geworden, als was manche ſich darunter vielleicht
vorſtellen mögen.


Ich habe zu dem, was in der Arbeit enthalten iſt, nichts im
Allgemeinen hinzuzufügen, als daß ſich dieſelbe in der That zu den
Elementen der Geſchichte der europäiſchen Agrarver-
faſſung auf Grundlage der Geſchichte der Geſellſchaft

hat geſtalten müſſen. Der nächſte Werth dieſer Arbeit beſteht viel-
leicht zumeiſt darin, daß noch niemals jemand verſucht hat, eine
[VII] ähnliche zu unternehmen. Es war nicht leicht, gerade hier in die
engliſchen und franzöſiſchen Verhältniſſe einzudringen und noch
ſchwieriger, aus der ſcheinbar tiefen Verſchiedenheit derſelben wieder
einmal zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß die europäiſchen
Rechts- und Verwaltungsverhältniſſe viel weniger von einander
abweichen
, als man gewöhnlich annimmt. Es zeigte ſich hier
wieder einmal, daß der größte Fehler unſerer ſonſt ſo achtungs-
werthen deutſchen Rechtsgeſchichte darin beſteht, eben nur deutſche
Rechtsgeſchichte ſein zu wollen, und nicht zu begreifen, daß ſie ſelbſt
nur ein Zweig an dem Baume der großen europäiſchen Rechts-
geſchichte iſt und ſich als ſolchen erkennen muß, will ſie ſich über-
haupt aus gelehrtem Detail zu einer wirklichen geiſtigen Bedeutung
erheben. Ich geſtehe es offen, daß ich zu hoffen wage, in der
vorliegenden Arbeit einen Theil der Grundlagen dieſer Rechts-
geſchichte Europa’s gegeben zu haben. Unſere größeren Nachfolger
werden darüber urtheilen.


Das Enteignungsrecht im Beſonderen hat endlich in der Ent-
währungslehre ſeine richtige Stellung gefunden, und die Vergleichung
zeigt uns auch hier, daß wir Deutſche darin wie in der Entlaſtung
hinter England und Frankreich weſentlich zurückſtehen. Ich will hier
auf Einzelnes nicht eingehen. Aber das Reſultat ſteht wohl feſt,
daß die gewaltige Macht, welche jene beiden Länder über die ganze
Welt und namentlich über Deutſchland ausgeübt haben und ja zum
Theil noch ausüben, auf der früheren und großartigen Durchführung
des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in den Rechtsord-
nungen des Grundbeſitzes, alſo ſpeciell in der Durchführung der
Entlaſtung beruht. Und das iſt von ſo hoher Bedeutung, daß wir
glauben müſſen, es ſei dieſe Entlaſtungs- und Entwährungslehre
unter allen Gebieten der praktiſchen Staatswiſſenſchaften dasjenige,
welches am meiſten ſich eignet, die wahre Vorbildung für die
Staatskunſt der Zukunft zu werden
.


Schließlich muß ich bedauern, die neueſte Arbeit über die
Enteignung von Dr. G. Meyer (das Recht der Expropriation 1868)
nicht haben benützen zu können. Der Verfaſſer zeichnet ſich vor
allen bisherigen Behandlungen dadurch aus, daß er mit richtigem
Gefühl die Agrarverhältniſſe Roms an die Spitze der Enteignungs-
lehre ſtellt, und ſo den Zuſammenhang von Entlaſtung und Ent-
eignung erkennt. Allein ſeine ſtrenge, juriſtiſche Beſchränkung auf
[VIII] die Enteignung läßt ihn ſpäter dieſen Zuſammenhang wieder ver-
lieren, und während der hiſtoriſche Theil daher die erſten Anklänge
des Verſtändniſſes der Entwährung enthält, iſt der dogmatiſche
eine fleißige und ſehr tüchtige Bearbeitung des Enteignungsrechts.
Ueber ſeine principielle Löſung der Frage wollen wir hier nicht
rechten. Es gibt eben keine ſolche Löſung, die nicht zugleich die
Entlaſtung, die Ablöſungen u. ſ. w. umfaßte, kurz, es gibt keine
Löſung der Enteignungsfrage für ſich, ſondern nur eine Löſung
der Entwährungsfrage. Daß er als guter Deutſcher das römiſche
Recht ſehr gründlich, und die lebendige Welt des deutſchen Rechts-
lebens im 17. und 18. Jahrhundert, namentlich das dominium
eminens
ſehr kurz und ungründlich behandelt, liegt wohl mehr in
unſrer allgemeinen verkehrten Bildung auf den deutſchen Univerſi-
täten, als an ihm ſelber. Eben ſo iſt es bezeichnend, daß er viel
genauer die deutſche Literatur als die Geſetzgebung kennt; der §. 7
iſt wohl der ſchwächſte Theil des Buches, während der dogmatiſche
Theil mit großer Gründlichkeit und Umſicht ausgearbeitet iſt. Die
Frage nach dem, für das Enteignungsverfahren competenten Organe
iſt bei ihm leider in der Frage nach dem zur Beſtimmung der
Entſchädigung geeigneten Behörden einigermaßen untergegangen;
was er S. 318 ff. ſagt, iſt nicht mit voller Klarheit über die Sache
geſchrieben. Das franzöſiſche Recht iſt keineswegs genug gewürdigt;
daß er das engliſche Recht nicht weiter kannte, als Cox und May,
die gar nicht davon ſprechen, und Gneiſt und Thiel, denen die
Hinweiſung auf die Lands Clauses entgangen iſt, iſt wohl ſehr zu
entſchuldigen (S. 331). Vom Staatsnothrecht geſchieht gar keine
Erwähnung. Im Ganzen iſt jedoch das Werk als ein höchſt werth-
voller Beitrag zur Lehre von der Entwährung anzuerkennen.


Die gründliche Umarbeitung meiner erſten Auflage der voll-
ziehenden Gewalt, für deren freundliche Aufnahme ich ſchon hier
meinen Dank ausſprechen darf, wird die Fortſetzung der wirthſchaft-
lichen Verwaltung, zunächſt die Behandtung des Waſſer-, Feuer-
und Verſicherungsweſens, wohl einige Zeit hinausſchieben.


Wien, Anfang Juni 1868.


L. Stein.


[[IX]]

Inhalt.


  • Die wirthſchaftliche Verwaltung.
    (Volkswirthſchaftspflege.)
  • Einleitung.
  • Seite
  • I. Begriff und Inhalt der wirthſchaftlichen Verwaltung oder Volks-
    wirthſchaftspflege 3
  • II. Unterſchied der Volkswirthſchaft, der Staatswirthſchaft und der
    wirthſchaftlichen Verwaltung 5
  • 1) Die Volkswirthſchaft 5
  • 2) Die Staatswirthſchaft 8
  • 3) Die wirthſchaftliche Verwaltung oder Volkswirthſchaftspflege 10
  • III. Elemente der Geſchichte der wirthſchaftlichen Verwaltungslehre 12
  • 1) Die Scheidung von Volkswirthſchaft und Volkswirthſchaftspflege 12
  • 2) Die drei „Schulen“ oder „Syſteme“ der Nationalökonomie
    ſind als Syſteme der wirthſchaftlichen Verwaltung aufzufaſſen 17
  • 3) Die einzelnen Syſteme in ihrer nationalen und adminiſtrativen
    Bedeutung 22
  • a) Das Merkantilſyſtem in England, Frankreich und Deutſch-
    land 23
  • b) Das Syſtem der Économistes oder die Phyſiokraten und
    die reine landwirthſchaftliche Verwaltung 30
  • c) Die Lehre von Adam Smith und ihr Verhältniß zur
    wirthſchaftlichen Verwaltung 37
  • IV. Das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung 47
  • V. Einige Bemerkungen zur Geſchichte der Organiſation der wirth-
    ſchaftlichen Verwaltung 61
  • Allgemeiner Theil.
  • Erſtes Gebiet. Die Verwaltung und das bürgerliche Recht oder
    die Entwährung
    .
  • I.Die allgemeinen Begriffe und Rechtsgrundſätze67
  • I. Der formale Begriff der Entwährung 67
  • II. Die Elemente der Bildung des geſellſchaftlichen Rechts überhaupt 71
  • Seite
  • III. Die Entwährung als ein Rechtsbegriff der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
    ſchaftsordnung 74
  • IV. Das Syſtem der Entwährung. Geſellſchaftliche Natur der Grund-
    entlaſtung, Gemeinheitstheilung, Ablöſung, Enteignung und des
    Staatsnothrechts 77
  • V. Das öffentliche Recht der Entwährungen, ſeine ſyſtematiſche Stelle
    und ſeine Principien 84
  • VI. Elemente der Geſchichte der Entwährungen. Charakter der Geſetz-
    gebung von Frankreich, England und Deutſchland 88
  • II.Die einzelnen Entwährungen93
  • Die Grundentlaſtung93
  • I. Der formale Begriff derſelben 93
  • II. Die Geſchichte der Unfreiheit der Geſchlechterordnungen Europa’s
    in der Grundherrlichkeit. Die Grundverhältniſſe der Befreiung
    durch die Staatsidee. Der Begriff der Selbſtverwaltung 96
  • Englands Entlaſtungsweſen108
  • Erſte Epoche. Von der Eroberung bis auf Karl II.109
  • Zweite Epoche. Von 12. Ch. II. c. 24 bis zum 19. Jahrhundert 124
  • Dritte Epoche. Die Grundentlaſtung. 6. 7. Will. IV. 71. 4. 5.
    Vict. 35. 9. 10. Vict.
    73 134
  • Frankreichs Grundentlaſtung140
  • Deutſchlands Grundentlaſtung150
  • I. Allgemeiner Charakter 150
  • II. Die Ausbildung der bäuerlichen Unfreiheit durch die Geſchlechter
    bis nach dem dreißigjährigen Krieg 152
  • III. Der Uebergang der bäuerlichen Unfreiheit in die Rechtswiſſenſchaft
    und das Privateigenthum der Grundherrlichkeit an ihren öffentlichen
    Rechten. (Eſtor. Hauſchild, das „deutſche Privatrecht“ des 18. Jahr-
    hunderts) 157
  • IV. Der Beginn des Kampfes mit dem Geſchlechterrecht. Das Domi-
    nium eminens
    und ſeine Geſchichte. (Die drei Epochen: Hugo
    Grotius. Biener. Poſſe. Runde. Das Dominium eminens ver-
    ſchwindet und das Princip des Entwährungsrechts überhaupt tritt
    an ſeine Stelle. Das Jus eminens und ſein Unterſchied vom
    Dominium eminens) 164
  • V. Das Verhältniß der ſtaatswiſſenſchaftlichen Literatur zur Grund-
    entlaſtung. (Juſti, Berg, Runde, Fichte; die romantiſche Schule
    in der Bauernfrage: Adam Müller. Die hiſtoriſch-juriſtiſche Rich-
    tung: die Entſchädigung; die landwirthſchaftliche Richtung: Thaer
    und Stüve) 178
  • VI. Die wirkliche Entlaſtung durch Geſetzgebung und Verwaltung des
    Staats 191
  • 1) Der Kampf der Staatsgewalt gegen Leibeigenſchaft und Patri-
    monialgerichtsbarkeit 192
  • Seite
  • 2) Die erſte Hälfte des 19. Jahrhunderts 202
  • 3) Die eigentliche Grundentlaſtung ſeit 1848 217
  • Die Ablöſungen234
  • I. Begriff und Verhältniß zu Entlaſtung und Gemeinheitstheilung 234
  • II. Die germaniſchen Grunddienſtbarkeiten und Verhältniß zur römi-
    ſchen servitus237
  • III. Die Grunddienſtbarkeiten und ihre Ablöſung 242
  • IV. Die Bannrechte 249
  • V. Die Realgerechtigkeiten 252
  • Die Gemeinheitstheilungen253
  • I. Weſen und Verhältniß zur Geſchlechterordnung der Dorfverfaſſung 253
  • II. Englands Gemeinheitstheilung. (Die Enclosures, die Enclosure
    Act
    und Commission) 265
  • III. Das Gemeindegut, die Weide- und die Walddienſtbarkeiten in
    Frankreich. (Die Allotissements, die vaine pâture, der parcours,
    die droits d’usage und das Cantonnement) 270
  • 1) Die Allotissements272
  • 2) Der parcours und die vaine pâture275
  • 3) Die droits d’usage und das Cantonnement277
  • IV. Deutſchlands Gemeinheitstheilungsweſen 279
  • 1) Die hiſtoriſchen Grundlagen 279
  • 2) Die Zeit der polizeilichen Auftheilungen. Juſti. Friedrich II.
    Wöllner. Runde. Frank 280
  • 3) Die Gemeinheitstheilung des 19. Jahrhunderts. Knaus 285
  • Die Enteignung292
  • I. Der Begriff der Enteignung. Entwicklung aus dem geſellſchaftlichen
    Recht 293
  • II. Das Princip des Enteignungsrechts 299
  • III. Die Elemente der Geſchichte des Enteignungsrechts. (Die drei
    Epochen. Die Epoche des Dominium eminens und der Regalität.
    Die Epoche des Verordnungsrechts mit dem Uebergange in die
    bürgerlichen Geſetzbücher. Die Epoche des Verfaſſungsrechts. Ueber-
    gang in die Verfaſſungsurkunden. Entſtehung der Enteignungs-
    geſetze) 301
  • IV. Englands Enteignungsrecht. Die Lands Clauses Act 8. Vict.
    18. 1845 309
  • V. Frankreichs Expropriationsgeſetzgebung 312
  • VI. Das Enteignungsrecht in Deutſchland. Charakter des gegenwärtigen
    Zuſtandes 314
  • VII. Syſtem des Enteignungsrechts 319
  • Das Rechtsprincip des Enteignungsverfahrens. (Die Enteignung als
    ein Akt der innern Verwaltung. Enteignungsgeſetz und Enteignungs-
    verordnung. Stellung des Gerichts und ſeiner Thätigkeit. Die
    rechtliche Natur der Enteignung) 319
  • Seite
  • Erſter Theil. Das Enteignungsverfahren und ſein Recht 324
  • 1) Die Genehmigung des Unternehmens 325
  • 2) Die Genehmigung des Enteignungsplanes 327
  • 3) Der Enteignungsſpruch und der Uebergang des Eigenthums 332
  • Zweiter Theil. Das Entſchädigungsverfahren und ſein Recht 336
  • 1) Die Feſtſtellung der Entſchädigung 337
  • 2) Das Auszahlungsverfahren 340
  • Das Staatsnothrecht342
  • I. Weſen deſſelben 342
  • II. Unterſchied des Nothverordnungsrechts vom eigentlichen Staats-
    nothrecht, und des Staatsnothrechts von der Enteignung. Geſetz-
    gebung 344
  • III. Das Syſtem des Staatsnothrechts 345
  • 1) Die Enteignung des Staatsnothrechts 346
  • 2) Die Entſchädigung des Staatsnothrechts 347
[[1]]

Die wirthſchaftliche Verwaltung.


(Volkswirthſchaftspflege.)


Einleitung.
Einleitung.


Stein, die Verwaltungslehre. VII. 1
[[2]][[3]]

I. Begriff und Inhalt der wirthſchaftlichen Verwaltung oder
Volkswirthſchaftspflege.


Indem wir jetzt zum dritten großen Hauptgebiet der inneren Ver-
waltung übergehen, müſſen wir mit einer Aufgabe beginnen, die zwar
keineswegs zu den angenehmen gehört, aber die dennoch unerläßlich iſt.


In keinem Theile der geſammten Staatswiſſenſchaft nämlich gibt
es eine ſolche faſt unabſehbare Maſſe von Vorarbeiten für die eigent-
liche Verwaltungslehre, als in demjenigen, der ſich auf die volks-
wirthſchaftlichen Verhältniſſe bezieht. Dieſelben ſind theils ſelbſtändig
aufgetreten, theils erſcheinen ſie in einzelnen Abhandlungen und Unter-
ſuchungen aller Art, theils ſind ſie mit der gewöhnlichen Volkswirth-
ſchaftslehre ſo verſchmolzen und verflochten, daß ſie mit ihr ein faſt
untrennbares Ganze bilden. Allein, ſo hart das Urtheil auch klingen
mag, ſo müſſen wir es dennoch ausſprechen, daß hier auf allen Punkten
eine vollſtändige Verwirrung oder doch Unklarheit und Syſtemloſigkeit
der Begriffe herrſcht, die, wie wir glauben, in gar keinem andern Theile
der Wiſſenſchaften überhaupt ihres Gleichen hat. Es iſt nicht bloß
keine Einigung über Begriff und Wort erzielt, ſondern ſie wird auch
nicht einmal angeſtrebt; ja was für die wiſſenſchaftliche Entwicklung
das Uebelſte iſt, es wird kaum noch empfunden, daß dieſe Verwirrung da
iſt, und die beinahe vollſtändige Willkür in der Behandlungsweiſe
erzeugt, welche unſere Zeit in dieſer Beziehung auszeichnet. Es iſt
dabei unmöglich geworden, ſich irgend etwas Beſtimmtes bei den Aus-
drücken zu denken, welche man hier gebraucht, um alle dieſe Gebiete
je nach individuellem Ermeſſen zuſammen zu faſſen, zu ſcheiden, halb
oder ganz zu verſchmelzen, von einem zum andern überzugehen. Schon
die Worte, welche man gebraucht, zeigen jene vollſtändige Unklarheit,
die über dieſem weiten Felde wie ein dunkler Nebel ſchwebt. Bald
wird man in der reinen Nationalökonomie ganze Ausführungen finden,
welche bereits „Anwendungen“ derſelben ſind; bald nennt man das,
[4] was aus der Vermengung der Nationalökonomie und der Volkswirth-
ſchaftspflege entſteht, angewandte Nationalökonomie, ohne ſich zu fra-
gen, wer ſie anwendet, und noch weniger, ob dieſe Anwendung nicht
eine weſentlich andere iſt, wenn der Einzelne und wenn der Staat
ſie macht; bald ſpricht man von Nationalökonomik, mit einem bar-
bariſchen Worte ein unaufgelöstes Verhalten ſehr verſchiedener Dinge
zudeckend; bald ſpricht man von Staatswirthſchaft und Staatswirth-
ſchaftslehre, Nationalökonomie, Finanzen und Volkswirthſchaftspflege
darunter begreifend, ohne ihr Verhältniß zu beſtimmen; bald hat man
daneben eine „Polizeiwiſſenſchaft“ und neben dieſer wieder ein „Ver-
waltungsrecht.“ Bald aber bemüht man ſich grundſätzlich um gar
keinen ſyſtematiſchen Begriff, und mithin auch um gar keine ſyſtema-
tiſche Behandlung, läßt ſich hin und wieder mit einer Formeldefinition
begnügen, reiht dann Paragraphen an Paragraphen, ohne irgend
welchen leitenden Gedanken, wirft in das leere Gefäß eines ſolchen
Paragraphen allerlei Material hinein, was irgendwie damit im Zu-
ſammenhang ſteht, geſchichtliche, philoſophiſche, ſtatiſtiſche, literariſche,
praktiſche Notizen, und dazu in rückſichtsloſer Vermengung franzöſiſche,
deutſche, engliſche Citate, auch „intereſſante“ ſpaniſche, ruſſiſche, ſchwe-
diſche Kleinigkeiten, nimmt Nationalökonomie, Technik, Verwaltung,
Geſetzgebung hinzu, und dieß wird ſo eine „Wiſſenſchaft.“ Es iſt nicht
möglich, auf dieſer Baſis weiter zu arbeiten.


Denn in der That, nicht um Einzelkritik und nicht um dialektiſche
Experimente handelt es ſich, wenn wir nicht umhin können, dieſe Art
und Weiſe auf das Entſchiedenſte zu bekämpfen. Und auch das iſt
nicht einmal das Letzte, was wir darüber zu ſagen haben, daß wir
dadurch unſern eigenſten Werth, den des organiſchen Beherrſchens des
geiſtigen Stoffes, die große Function, welche dem deutſchen Geiſte
verliehen iſt, an der Nachahmerei der engliſchen und franzöſiſchen Un-
klarheit und ihrer intereſſanten Darſtellungsweiſe verlieren, ohne doch
mit Notizengelehrſamkeit den Glanz und die praktiſche Fülle derſelben
erſetzen zu können. Niemand leiſtet das Beſte, wenn er nicht ſeinem
eigenſten Weſen Ausdruck zu ſchaffen vermag. Wir Deutſche aber ſind
doch das Volk der „Denker,“ das iſt des unterſcheidenden, ordnenden,
organiſchen Gedankens. Und deßhalb werden wir nur dann das Höchſte
leiſten, wenn wir auch in der Staatswiſſenſchaft das organiſche Wiſſen
zur Geltung bringen. Doch das iſt nicht das Einzige, nicht einmal
das Wichtigſte um deſſentwillen wir die Feder zu dieſen Bemerkungen
ergreifen.


Denn keine Wiſſenſchaft überhaupt kann zur vollen Entwicklung
gelangen, wenn ſie nicht ihr eigenes Princip kennt, und mit Bewußtſein
[5] ihren Stoff als den ihrigen zu beherrſchen und zu erleuchten weiß.
Alle andern Wiſſenſchaften ſind ſich über ſich ſelber einig; und das
iſt die Grundlage ihrer Größe. Nur die Wiſſenſchaft des wirthſchaft-
lichen Lebens iſt es nicht, am wenigſten die der Verwaltung deſſelben.
Und dennoch fordert man von der letzteren, daß ſie ihrem Weſen nach
für wirthſchaftliche Zwecke thätig ſein ſoll. Sagt mir nicht die ein-
fachſte Logik, daß ich nicht im Stande bin, dieſe Aufgabe der Ver-
waltung zu verſtehen, wenn ich nicht die Nationalökonomie — das
Objekt — von der Verwaltung — dem Subjekt — ſtreng unterſcheide?
Haben nicht beide ihr Weſen für ſich? Muß ich daher nicht ver-
nünftiger Weiſe damit beginnen, daß ich zuerſt jedes von beiden in
dieſem ſeinem Weſen für ſich betrachte, um wiſſen zu können, wie das
eine mit dem andern agiren ſoll? Muß ich dieſe Unterſcheidung nicht
auf jedem Punkte feſthalten und durchführen? Und iſt ein genügen-
des Ergebniß denkbar, wenn ich den bequemen Ausdruck der „An-
wendung“ an die Stelle des Nachdenkens über die Natur des An-
wendenden ſetze, die doch über Inhalt und Gränze der Anwendung
entſcheidet? — Doch es führt nicht weiter, mehr über dieſe Dinge
hier zu reden. Wir unſererſeits hoffen, daß dieſe Epoche eine über-
wundene iſt. Zu der Arbeit des wahrhaft deutſchen Geiſtes aber,
durch den wir aus der franzöſiſch-engliſchen Nachahmerei heraus zu
einer organiſchen Wiſſenſchaft gelangen, wollen wir hier, was an uns
iſt, beitragen. Und unſere nächſte Aufgabe wird es daher ſein, den
logiſchen und organiſchen Begriff der wirthſchaftlichen Verwaltung oder
Volkswirthſchaftspflege aus ſeiner Vermengung mit den verwandten
Begriffen oder Vorſtellungen von Volkswirthſchaft, Staatswirthſchaft,
Polizei und andern heraus zu heben und damit die Baſis unſerer
Wiſſenſchaft zu finden. Das nun iſt freilich unmöglich, ohne jeden
jener Begriffe zunächſt für ſich zu beſtimmen.


II. Unterſchied der Volkswirthſchaft, der Staatswirthſchaft und der
wirthſchaftlichen Verwaltung.


1) Die Volkswirthſchaft.

Die große, gewaltige Erſcheinung, welche der Volkswirthſchafts-
lehre zum Grunde liegt, iſt die die ganze Menſchheit umfaſſende und
die ganze Geſchichte erfüllende Thatſache, daß der Menſch die Welt
der natürlichen Dinge ſeinen Zwecken unterwirft und dem natürlichen
Leben eine perſönliche Beſtimmung gibt. Wir nennen den Proceß,
durch den dieß geſchieht, die Volkswirthſchaft, nach ihrem letzten
[6] Theile, und die Wiſſenſchaft der Begriffe und Geſetze, auf welchen er
beruht, die Volkswirthſchaftslehre.


Die Volkswirthſchaftslehre hat drei Hauptgebiete: die Güterlehre,
Wirthſchaftslehre und die Volkswirthſchaftslehre.


a) Die Güterlehre beruht ihrem höheren, ethiſchen Standpunkte
nach darauf, daß die Erfüllung des Lebens der Perſönlichkeit nicht
bloß in dem phyſiſchen Daſein der Perſon und nicht bloß in der geiſtigen
Welt liegt, ſondern daß ſich dieſelbe auch das rein natürliche Daſein
unterwirft und ihren Zwecken dienſtbar macht. In der Güterlehre
ſehen wir daher eine zweite Welt, eine zweite Ordnung der Dinge,
ſich über die rein natürliche ausbreiten. Es iſt der Menſch, der dem
natürlichen Daſein den Stempel ſeines Daſeins aufdrückt. Er reißt
mit ſeiner Arbeit die Dinge aus dem Kreiſe ihrer natürlichen Exiſtenz
heraus; er ändert und geſtaltet ſie; er trennt das natürlich Verbundene
und verbindet das Getrennte; er gibt ihnen einen neuen Zweck, der nicht
in ihrem natürlichen Daſein liegt, und indem er ſie ſo in dem Leben der
Natur erfaßt und in das der Perſönlichkeit aufnimmt, macht er aus dem
natürlichen Daſein ein Gut. Der gewaltige, die ganze Welt umfaſſende
Proceß, mit welchem alle die Millionen Menſchen auf dieſe Weiſe die
natürliche Welt dem menſchlichen Willen unterwerfen und ſie zu einem
Theile und Inhalt der menſchlichen Beſtimmung erheben, indem ſie aus
den Dingen und Weſen Güter erzeugen, nennen wir das Güterleben.
Das Güterleben hat ſeine Grundbegriffe, ſeinen Organismus, ſeine
Geſetze zunächſt für ſich. Dieſe darzuſtellen iſt die Aufgabe des erſten
Theiles der Wiſſenſchaft der Nationalökonomie, des Güterlebens.


Dieſe nun kann allerdings in verſchiedener Weiſe aufgefaßt werden.
Allein wie immer man ſich dieſelbe denken mag, ſtets wird dieß Güter-
leben eine der großen Bedingungen der perſönlichen Entwicklung, das
Gut eine, durch das Weſen der Perſönlichkeit ſelbſt geforderte und
unmittelbar erzeugte Erfüllung der letzteren ſein. Es iſt daſſelbe mit
allen ſeinen Momenten ein organiſches Element des perſönlichen Lebens;
die in ihm gegebene Herrſchaft über das natürliche Daſein iſt zugleich
eine Vorausſetzung und ein Maß für die Verwirklichung der Idee
der Perſönlichkeit. Es iſt kein Zweifel, daß in dieſem Leben der Güter
auf dieſe Weiſe zugleich ein ſehr praktiſches und ein hohes ethiſches
Moment liegt. Das Verſtändniß des letzteren iſt es, welches das erſtere
über die Linie einer mechaniſchen Ordnung und äußeren Zweckmäßigkeit
erhebt. Die innere und formelle Verbindung beider iſt es, welche die
Grundbegriffe und Geſetze, die dieß Leben der Güter bilden und be-
herrſchen, zur Wiſſenſchaft der Güter, zur Nationalökonomie im
höheren Sinne des Wortes macht.


[7]

Auf dieſe Weiſe enthält das, was wir die Lehre vom Güterleben
an ſich nennen, die großen und allgemeinen Grundbegriffe für Gut,
Werth und Güterentwicklung, welche auf dem allgemeinen Weſen der
Perſönlichkeit und des natürlichen Daſeins beruhen und daher für alle
Einzelnen, für alle Zeiten und Völker eine gleichmäßige, unerſchütter-
liche Gültigkeit haben. Die Darſtellung des Güterlebens an ſich gibt
daher das, was wir als die ewigen, unabänderlichen organiſchen
Geſetze der Nationalökonomie zu bezeichnen haben. Es iſt kein Zweifel,
daß die Verwaltungslehre dieſe Geſetze vorauszuſetzen, und ſie, da
keine ſtaatliche Macht oder Einrichtung ſie zu verändern vermag, ein-
fach als maßgebend anzuerkennen hat.


Bezeichnet man dieſe allgemeinen Geſetze und Erſcheinungen des
Güterlebens nun als den erſten Theil der Güterlehre, ſo entſtehen
der zweite und dritte Theil derſelben dadurch, daß nicht etwa das
Güterleben, ſondern das Weſen der Perſönlichkeit, die ſich in ihm be-
wegt, ein anderes wird.


Die Perſönlichkeit iſt nämlich in der Wirklichkeit zunächſt eine
einzelne Perſon, und an ſie und das Weſen der Individualität
knüpft ſich der zweite Theil, die Wirthſchaftslehre.


b) Die Wirthſchaftslehre. — Jede einzelne Perſönlichkeit,
ihrem Weſen nach frei und ſelbſtbeſtimmt, weiß nämlich ſich ſelbſt ihr
eigenes Güterleben zu bilden. Sie erzeugt ſich mit ihrem Kapital und
ihrer Arbeit, mit ihrer Conſumtion und Reproduktion, ihre eigene,
ihr perſönlich angehörige Güterordnung. Dieſelbe gewinnt dadurch
ihre individuelle Geſtalt und ihr individuelles Leben. Dieſe indi-
viduelle Geſtalt des Güterlebens iſt es, welche wir die Wirth-
ſchaft
nennen. Die Wirthſchaft iſt das Güterleben als individuelle
Perſönlichkeit; ſie iſt der wirthſchaftliche Körper der Perſon. Wo aber
mehrere ſolche Perſönlichkeiten als Einheit zuſammentreten und ein
gemeinſchaftliches Güterleben erzeugen, ſprechen wir von einer Unter-
nehmung
. Es iſt kein Zweifel, daß Wirthſchaft und Unternehmung
die beiden Formen ſind, in denen ſich das Güterleben verwirklicht.
Wie der einzelne Menſch die Wirklichkeit des Begriffs des Menſchen
iſt, ſo ſind Wirthſchaft und Unternehmen die Wirklichkeit des Begriffs
des Güterlebens.


c) Die Volkswirthſchaft. — Dieſe Wirthſchaften und Unter-
nehmungen erſcheinen nun wieder äußerlich zuſammengefaßt durch Land
und Volk. Land und Volk ſind die beiden Formen, in denen für die
ihnen angehörigen Wirthſchaften und Unternehmungen gleichartige
Bedingungen geboten werden: im Lande die natürlichen, im Volke die
geiſtigen. Dieſelben weiſen daher die einzelnen Wirthſchaften und
[8] Unternehmungen auf einander an; ſie geben denſelben durch die in
ihnen liegenden objektiven, unabweisbaren Momente eine gewiſſe Ge-
meinſchaft in Auffaſſung und Thätigkeit, in Stoff und Arbeit, in
Produktion und Conſumtion, in Kapitalbildung, Credit und äußerer
wirthſchaftlicher Sitte; und dieſe Gemeinſchaft, auf den Thatſachen
des Landes und Volkes baſirt, erzeugt das, was wir die Volks-
wirthſchaft
nennen.


Dieß nun ſind die elementaren Begriffe der Nationalökonomie.
Die Wiſſenſchaft des Güterlebens hat ſie auszuführen. Um von ihr
weiter zu gelangen, müſſen wir eben den Begriff der Perſönlichkeit
als die Grundlage der Geſtaltung des Güterlebens weiter entwickeln.


2) Die Staatswirthſchaft.

Diejenige Geſtalt der Perſönlichkeit nun, welche eine neue Geſtalt
des Güterlebens neben und über Wirthſchaft und Volkswirthſchaft
erzeugt, iſt der Staat. Es liegt uns fern, hier auf den Begriff des
Staats an ſich zurückzukommen; allein ſo viel Vorſtellungen ſich auch
über das Weſen des Staats kreuzen und ſcheiden, darüber ſind alle
einig, daß er ſein ſelbſtändiges wirthſchaftliches Leben, das nach ſeiner
Natur, und bei jedem wirklichen Staate nach ſeiner Individualität
geartet iſt, nicht bloß theoretiſch haben muß, ſondern auch praktiſch
hat. Und dieſe individuelle Wirthſchaft des perſönlichen Staats nennen
wir die Staatswirthſchaft.


Begriff und Inhalt der Staatswirthſchaft entſtehen daher durch
die Anwendung des Begriffs der Wirthſchaft auf den Staat; und dieß
iſt zugleich der Punkt, der die Staatswirthſchaft von der Volkswirth-
ſchaftspflege definitiv ſcheidet. Das Weſen jeder Wirthſchaft nämlich
beruht darauf, daß in ihr die einzelne, wirthſchaftende Perſönlichkeit
ihr eigener perſönlicher Zweck iſt, und alle Elemente und Geſetze des
Güterlebens nur gebraucht, um das eigene Intereſſe zu fördern. Die
Gränze ihrer Thätigkeit iſt hier deßhalb nur da gegeben, wo das was
ſie nimmt, zuletzt ihrem eigenen Intereſſe nachtheilig, aber das was
ſie thut, ihrem eigenen Intereſſe vortheilhaft werden kann. Jede
Wirthſchaft, und ſo naturgemäß auch die Staatswirthſchaft, hat zuletzt
nur ſich ſelbſt im Auge. Die Wirthſchaft kennt an ſich kein Opfer,
keine Hingabe, keine Sorge für Andere als für ſich, ſie nimmt jedes
andere wirthſchaftliche Leben nur ſo weit in ſich auf, als es Nachtheil
oder Vortheil bringt; ohne dieſes Weſen der Wirthſchaft iſt ſie ſelbſt
gar nicht denkbar. Iſt dem ſo, ſo iſt dem auch ſo für den Staat und
ſeine Wirthſchaft; ſie iſt nur für den Staat als Individuum vor-
[9] handen; es iſt ein vollſtändiger Widerſpruch, in den Begriff der Staats-
wirthſchaft die Förderung der Einzelwirthſchaft außerhalb ihrer
wirthſchaftlichen Verpflichtung aufzunehmen, ſo ſehr wie es ein Wider-
ſpruch wäre, die Hülfe an andere als einen Theil einer Einzelwirth-
ſchaft zu ſetzen. Die Grundbegriffe der Staatswirthſchaft liegen daher
in dem Weſen des wirthſchaftlichen Güterlebens des Staats, die Ge-
ſetze derſelben in dem Weſen des perſönlichen Staatsintereſſes; die
allgemeine Entwicklung hat mit derſelben nur ſo weit zu thun, als
das Staatsintereſſe durch das Volksintereſſe bedingt erſcheint; und die
Geſammtheit jener Begriffe und Geſetze bilden die Staatswirth-
ſchaftslehre
.


Auf dieſer Grundlage iſt nun auch der Inhalt derſelben leicht
verſtändlich. Die Staatseinnahmen (oder die Finanzen im engern
Sinne) erſcheinen als die Produktion, die Staatsausgaben als die
Conſumtion in der Staatswirthſchaft, und die Reproduktion iſt das-
jenige ſtaatswirthſchaftliche Geſetz, nach welchem die Ausgaben ſo ein-
gerichtet werden müſſen, daß ſie, im ganz ſpeciellen Intereſſe der
Staatswirthſchaft, ſelbſt wieder die Staatseinnahmen befördern und
vermehren. Die Lehre von den Einnahmen heißt nun die Finanz-
wiſſenſchaft; bei den Ausgaben dagegen bietet die Staatswirthſchaft
nur noch die Mittel dar, welche die Verwaltung anwendet, um das
wirthſchaftliche Wohl zu befördern. Hier nun ſcheinen, für die Staats-
ausgaben, Staatswirthſchaft und Volkswirthſchaftspflege zuſammen zu
fallen, und das iſt der Grund, weßhalb bedeutende Männer, wie Lotz
und Kraus, ſie wirklich verſchmolzen haben. Allein es iſt klar, daß
formell die wirthſchaftlichen Aufgaben des Staats nicht bloß da exiſtiren,
wo es ſich um Ausgaben handelt, ſondern daß es Aufgaben, und ent-
ſcheidende, gibt, die es mit Ausgaben gar nicht zu thun haben; im
Gegentheil ſind die Ausgaben nur die materielle Bedingung für einen
Theil jener Aufgaben; wir erinnern nur an die Enteignungsrechte, an
die Grundlage für Straßen- und Bahnnetze, an das Maß und Ge-
wichtsweſen, an hundert andere Dinge, die überhaupt nicht exiſtiren
würden, wenn es nur eine Staatswirthſchaft gäbe, da bei ihnen
keine Ausgaben vorkommen. Dem Weſen nach aber iſt das Princip
der Ausgaben des Staats ſein eigenes Intereſſe, und wenn Staats-
wirthſchaft und Verwaltung gleich wären, ſo würde der leitende Ge-
danke für die erſtere immer nur die Vermehrung der Einnahmen und
nie das Wohl der Bürger ſein, das auch bei verringerten Einnahmen
ſteigen kann. Man muß daher ſagen, daß der Begriff der Staats-
wirthſchaftslehre in dem Theile, der die Ausgaben betrifft, die Lehre
nicht von dem Princip, ſondern von dem materiellen Maßſtabe
[10] für die Volkswirthſchaftspflege abgibt. Ohne Staatswirthſchaft gibt es
für das Staatsleben zwar Geſetze, aber keine auf materielle Mittel
gebaute Ausführung derſelben. Das iſt die Stellung der Staats-
wirthſchaft.


3) Die wirthſchaftliche Verwaltung oder Volkswirthſchaftspflege.

Die Volkswirthſchaftspflege iſt demnach weder die Volkswirthſchaft,
noch die Staatswirthſchaft, ſondern ſie iſt die Anwendung des großen
Princips der Verwaltung auf das wirthſchaftliche Leben überhaupt.
Ihr Begriff, ihre Gränze und das Weſen ihres Syſtems werden daher
jetzt leicht klar ſein.


1) Ihrem Begriffe nach beruht die wirthſchaftliche Verwaltung
weder auf den Geſetzen der Nationalökonomie, noch auf den Forde-
rungen der Staatswirthſchaft, ſondern auf der in der Natur der be-
ſchränkten Einzelkraft liegenden Thatſache, daß der Einzelne viele
Bedingungen ſeiner individuellen wirthſchaftlichen Entwicklung nicht
herſtellen kann, ohne welche nach den in der Volkswirthſchaftslehre
gegebenen Geſetzen der wirthſchaftliche Fortſchritt unmöglich iſt. Ihrem
Princip nach beruht ſie auf dem allgemeinen Geſetz, daß die höchſte
Entwicklung des Ganzen ſtets durch die höchſte Entwicklung des Ein-
zelnen auch im wirthſchaftlichen Leben gegeben iſt, und daß ſomit die
Vollendung der Idee der Perſönlichkeit auch in der wirthſchaftlichen
Welt in der Vollendung des Einzelnen beſteht. Ihrem Inhalt
nach iſt ſie demnach die Geſammtheit der Thätigkeit des Staats, ver-
möge deren derſelbe dem Einzelnen die für ihn unerreichbaren Bedin-
gungen ſeiner individuellen wirthſchaftlichen Entwicklung durch die
Kraft und die Mittel der Gemeinſchaft gibt.


Während daher die Verwaltung der Volkswirthſchaft ihre Geſetze
aus der Güterlehre und ihre Mittel aus der Staatswirthſchaft nimmt,
nimmt ſie ihr Princip aus dem Weſen des Staats. Und an dieß
Princip knüpft ſich nun die zweite Frage nach der Gränze der Volks-
wirthſchaftspflege.


2) Dieſe Gränze für die Thätigkeit der Volkswirthſchaftspflege
entſteht ihrerſeits, indem der Einzelne, deſſen Entwicklung das Ziel der-
ſelben iſt, auch im Staate eine ſelbſtändige Perſönlichkeit bleibt. Dieſe
ſeine Selbſtändigkeit fordert nämlich, daß der Staat ihm nicht etwas
arbeitslos gebe, ſondern daß in allem, was die Verwaltung für das
wirthſchaftliche Leben des Einzelnen thut, der Einzelne den Gebrauch
und Werth dieſer Leiſtungen erſt durch ſeine eigene individuelle Arbeit
ſich gewinnen müſſe. Die Volkswirthſchaftspflege ſoll daher nie Güter
[11] geben, ſondern nur die Bedingungen des Erwerbs derſelben. Sie ſoll
ſie nie vertheilen, ſondern die Vertheilung der freien Arbeit unter-
ordnen. Sie ſoll den Erwerb nie begränzen, ſondern nur beſchützen.
Sie ſoll ſtets da beginnen, wo die Kraft des Einzelnen
ihrer Natur nach aufhält, und ſtets da aufhalten, wo die
Einzelkraft beginnt
. In dieſer ihrer Begränzung liegt einerſeits
die äußere Freiheit des wirthſchaftlichen Lebens, andererſeits die innere
Tüchtigkeit. Jede Verwaltung, die dieſe Gränze überſchreitet, wird zu
einem Widerſpruche mit ſich ſelbſt und zu einem Unheil für die Volks-
wirthſchaft.


Aus der Verbindung jenes Princips für das Weſen der Volks-
wirthſchaftspflege mit dieſem Grundſatz für ihre Gränze ergibt ſich
nun die Grundlage deſſen, was wir das Syſtem derſelben nennen
müſſen.


3) Das Syſtem der Volkswirthſchaftspflege liegt nämlich dem-
gemäß weder in dem Begriff der Volkswirthſchaft, noch in dem der
Staatswirthſchaft, ſondern entſteht vielmehr an denjenigen Verhält-
niſſen, welche ihrerſeits die Bedingungen für die Einzelwirthſchaft ent-
halten. Wir werden es unten genauer darſtellen. Die Verwaltung
bildet ſich auch hier in dieſem Theile wie im Ganzen nicht durch die
Entwicklung ihres an ſich einfachen Grundgedankens, ſondern durch die
Anwendung deſſelben auf das wirthſchaftliche Leben des Volkes aus.
Und daher iſt es denn auch natürlich, daß ſie nicht bloß eine Geſchichte,
ſondern vielmehr in den verſchiedenen Epochen eine höchſt verſchiedene
Geſchichte gehabt hat, und daß in der Volkswirthſchaftspflege die ex-
tremſten Grundſätze zum geltenden Recht geworden ſind. Dieß nun
werden wir ſogleich darſtellen. Hier darf nur noch das Eine bemerkt
werden, was wiederum Volkswirthſchaft und Staatswirthſchaft von
jener auf das Klarſte ſcheidet. Da nämlich jene Bedingungen nicht im
Begriff von Gut oder Staat, ſondern in den gegebenen Lebensverhält-
niſſen der natürlichen oder perſönlichen Kräfte und Zuſtände liegen, ſo
kann man auch zu keiner vollſtändigen Volkswirthſchaftspflege gelangen,
ſo lange man ſie mit der Volks- oder Staatswirthſchafts-
lehre verſchmilzt
. Alle ſogenannten angewandten Nationalökono-
mieen, alle Staatswirthſchaftslehren und ſelbſt die Polizeiwiſſenſchaft
ſind daher nicht bloß zufällig und vorübergehend, ſondern principiell
unvollſtändig, abgeſehen von der Syſtemloſigkeit, der ſie eben ſo
nothwendig unterliegen, da es ja doch abſolut unmöglich iſt, aus den
Begriffen von Gut und Werth z. B. auf die beſte Einrichtung der
Poſt oder des Bauweſens eher zu gelangen, als von dem Begriffe
der Staatsausgaben zum Inhalt des geltenden Rechts über geiſtiges
[12] Eigenthum oder Expropriation. Und dieſes wird im weitern Verlaufe
der Darſtellung ſich genauer ergeben.


Dieß nun ſind die Elemente des Begriffs der Volkswirthſchafts-
pflege. Wie es nun möglich geworden iſt, zu der gegenwärtig geltenden
Unklarheit und Verwirrung zu kommen, das zeigt ſich allerdings in
ſehr einfacher Weiſe, wenn man die ſtaatswiſſenſchaftliche Natur oder
den Charakter der engliſchen und franzöſiſchen Literatur einerſeits und
den Gang der Geſchichte andererſeits ins Auge faßt.


III. Elemente der Geſchichte der wirthſchaftlichen Verwaltungslehre.


1) Die Scheidung von Volkswirthſchaft und Volks-
wirthſchaftspflege
.

Wir glauben nun, daß nichts den tiefen Unterſchied von Volks-
wirthſchaft, Staatswirthſchaft und Volkswirthſchaftspflege, und die
Nothwendigkeit einer durchaus ſelbſtändigen Behandlung der letztern ſo
beſtimmt erſcheinen läßt, als die Darſtellung der Elemente der Geſchichte
der wirthſchaftlichen Verwaltung. Wollte man dieſe Geſchichte im
Einzelnen gründlich verfolgen, ſo müßte man bei der thatſächlichen Ver-
ſchmelzung jener drei Gebiete die Geſchichte der geſammten Staats-
wiſſenſchaft ſchreiben. Dieß liegt außerhalb der Aufgabe der Verwal-
tungslehre. Allerdings iſt die letztere nun dadurch in der Lage, etwas
behandeln zu müſſen, was ſie eigentlich als ihre Vorausſetzung anzunehmen
verpflichtet iſt. Sie kann daher der mißlichen Alternative nicht entgehen,
entweder zu viel oder zu wenig vollſtändig zu werden, ſelbſt für ihre
eigenen Zwecke. Allein noch kann ſie ihrerſeits dieſen Widerſpruch nicht
vermeiden. Sie muß ihn mildern, indem ſie die leitenden Gedanken
angibt, nach denen jeder bei jedem Werke ſich die eigene Beurtheilung
über das Verhältniß deſſelben zur obigen Frage ſelbſt formuliren könne.
Dieſe leitenden Gedanken, deren tiefere Begründung einer andern Ar-
beit überwieſen werden muß, ſind folgende.


I. Das was man wohl auch die „reine“ Nationalökonomie etwa
im Gegenſatz zur angewandten, nennt, von der gründlich verkehrten
Vorſtellung ausgehend, als ob es irgend einen Theil der National-
ökonomie gäbe, der nicht bei jedem wirthſchaftlichen Leben zur Er-
ſcheinung gelangte, oder das, was wir eben die Güter- und Volks-
wirthſchaftslehre in ihrer Selbſtändigkeit nennen, iſt ein Theil der
Erkenntniß des Lebens der Perſönlichkeit ſelbſt, das in dem Weſen
derſelben, alſo unabhängig von Staat und Verwaltung als ein ewig
lebendiges Gebiet deſſelben gegeben iſt. Um daſſelbe in dieſer Selbſt-
[13] ſtändigkeit zu erkennen, muß man von dem Weſen der Perſönlichkeit,
und innerhalb deſſelben von Begriff und Inhalt der That ausgehen;
denn das Gut iſt das perſönliche Ergebniß der wirthſchaftlichen Arbeit,
wie der Begriff das der geiſtigen; jenes iſt die wirthſchaftlich lebendige,
dieſes die geiſtige ſelbſtändig gewordene That der Menſchen. Die ganze
geiſtige Welt aber hat niemals nach Begriff und Weſen der That geſucht.
Daher hat von jeher für die „reine“ Nationalökonomie die wahre Baſis
gefehlt; ſie hat in Ermanglung derſelben niemals ſelbſtändig werden
können, und es gilt daher, daß nie und nirgends die Nationalökonomie
aus ſich ſelbſt heraus entſtanden iſt. Die wahre Geſchichte der National-
ökonomie wird erſt dann gefunden werden, wenn man davon ausgeht,
daß das, was wir die Nationalökonomie in all ihren Formen, und ſelbſt
bei den Deutſchen nennen, erſt da erſcheint, wo die wirthſchaftlichen
Lebensverhältniſſe der Völker zum Gegenſtande der Ver-
waltung ihrer Staaten werden
. Und ſelbſt nachdem ſie in dieſer
Weiſe auftritt, wird ſie Jahrhunderte hindurch nirgends Gegenſtand einer
ſelbſtändigen Unterſuchung und Darſtellung, ſondern ſie wird nur unter-
ſucht und herbeigezogen, ſo weit ſie als Beweis oder Ziel für die
volkswirthſchaftliche Thätigkeit des Staats nothwendig er-
ſcheint
. Alles, was darüber hinausgeht, bleibt gänzlich unerörtert; alles
was von der Nationalökonomie in Frage kommt, wird unbewußt nur
von dem Geſichtspunkte betrachtet, von welchem aus es als Gegenſtand
oder Motiv für die Geſetzgebung zu gelten vermag. Daher verſchmilzt das,
was unſere Zeit die Nationalökonomie nennt, Jahrhunderte lang ſo eng
mit den praktiſchen Gebieten der Staatswiſſenſchaften, daß weder der
Name noch die Thatſache derſelben ſelbſtändig erſcheinen, und bekannt-
lich haben noch jetzt weder die Franzoſen noch die Engländer weder
ein Wort noch einen Begriff für die Nationalökonomie, noch jetzt iſt ſie
ihnen nicht ein ſelbſtändiger Theil der Staatswiſſenſchaft, ſondern die
Geſammtheit der im öffentlichen Leben und in der Staatsverwaltung
zur Geltung kommenden wirthſchaftlichen Geſetze und Begriffe; ſie können
weder das Wort „Gut,“ noch das Wort „Volkswirthſchaft“ recht über-
ſetzen; der Standpunkt ihrer Auffaſſung iſt die Économie politique,
political Economy;
ſo lange das deutſche Volk ſich über die Sphäre
der Schülerſtellung bei dieſen Völkern nicht erheben kann, wird es auch
bei uns nicht beſſer werden.


II. Aus dieſem Grunde aber hat ſich zunächſt ergeben, daß man
auch den Umfang der Verwaltungslehre gründlich falſch verſtanden,
und ihn mit dem der Anwendung wirthſchaftlicher Begriffe und
Geſetze identificirt hat. Dadurch iſt eine Geſtaltloſigkeit in die ganze
Auffaſſung hinein gerathen, die für eine wiſſenſchaftliche Behandlung
[14] geradezu unglaublich iſt. Bald werden ganze Gebiete weggelaſſen, bald
willkürlich einzelne Momente hervorgehoben, bald notizenweiſe andere
erledigt, bald, und das iſt noch das Günſtigſte, die „Volkswirthſchafts-
pflege“ als alleiniger Repräſentant der ganzen Verwaltung hingeſtellt,
bald auch wieder in die Polizeiwiſſenſchaft der Verſuch einer Syſtemi-
ſirung gemacht. Das Schlimmſte iſt, daß über das wahre Verhältniß
gar kein Bewußtſein vorhanden iſt, und keines angeſtrebt wird,
was freilich nur auf Baſis abſtrakter wiſſenſchaftlicher Grundbegriffe
begonnen und erreicht werden kann. Wir müſſen noch einmal wieder-
holen, daß ohne gründliche Aenderung dieſes Verhältniſſes an einen
wahren Fortſchritt nicht zu denken iſt. Um ihn aber zu machen, muß
man wohl den Punkt bezeichnen, von dem er auszugehen hat, und der
daher auch dieſer Seite der Geſchichte der menſchlichen Wiſſenſchaft zu
Grunde liegt.


III. Offenbar kann nun die Selbſtändigkeit der Volkswirthſchafts-
lehre und der Volkswirthſchaftspflege nur dann gewonnen werden, wenn
man dasjenige Element an die Spitze der letztern ſtellt, das weſentlich
von dem ganzen Gebiete der erſtern verſchieden, und eben dadurch ein
ganz neues Gebiet zu erſchaffen beſtimmt und fähig iſt. Dieß Element
iſt der perſönliche Staat, als ein ſelbſtändiger Wille und ein ſelb-
ſtändiger, thätiger Organismus. So wie dieſer Begriff in irgend einer,
beinahe gleichgültig welcher, Formulirung feſtſteht, ſo ergibt ſich, daß
dieſer Staat die Volkswirthſchaft weder erzeugt, noch daß er ſie, oder
daß ſie ihn ausfüllt, ſondern daß vielmehr die großen, unabhängig
vom Staate gegebenen Thatſachen und Geſetze der Volkswirthſchaft zum
Gegenſtande des Staatswillens werden, weil ſie die elementaren Grund-
verhältniſſe für ſeine Intereſſen darbieten. Erſt hier zeigt es ſich
dann, daß die höchſte Selbſtherrlichkeit des Staats nicht ſo weit geht,
um an den von ihm gänzlich unabhängigen Geſetzen der Volkswirthſchaft
auch nur das Geringſte ändern zu können; daß ſie daher ein, vom
Staatswillen ganz unabhängiges Gebiet bilden, und daher Gegenſtand
einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft ſein können und ſein müſſen. Das
Entſtehen der Volkswirthſchaftslehre iſt daher mit dem Punkte gegeben,
wo der Begriff des Staats ſich von dem der Güter ſcheidet, und
jeder in ſeiner Beſonderheit aufgefaßt wird. Und daher ſcheint es
zweifellos, daß die wahre Grundlage ſowohl der Geſchichte der National-
ökonomie, als die der Verwaltungslehre keine andere iſt, als der Proceß
der Unterſcheidung und Trennung der Güterlehre und des
Staatsbegriffes
. Während die wahre Volkswirthſchaftspflege erſt
da beginnt, wo es ſich darum handelt, das Verhältniß der an und für
ſich beſtehendenden Geſetze der Volkswirthſchaft auf die Zwecke
[15] des Staats anzuwenden
, enthält dagegen die wirthſchaftliche
Verwaltung diejenigen Aufgaben des Staats, welche durch das Weſen
deſſelben für das wirthſchaftliche Leben
gegeben ſind. Daraus
ergeben ſich die entſcheidenden Elemente für die Geſtalt und Geſchichte
der letztern.


IV. Es folgt nämlich zuerſt, daß ein Volk und eine Literatur,
die keinen Begriff vom Staate haben, auch niemals zu einer Lehre von
der Verwaltung überhaupt, oder im beſondern zur Volkswirthſchafts-
pflege gelangen können. Es wird vielmehr ein ganz anderer Proceß,
und damit auch eine ganz andere Geſtalt jener Wiſſenſchaften eintreten.
Da nämlich der Staat die Verwaltung überhaupt, und mithin auch
die volkswirthſchaftliche Verwaltung im beſondern ſeiner Natur nach
pflegen muß, ſo wird er ſtets ein beſtimmtes Recht der Volkswirth-
ſchaftspflege, eine poſitive volkswirthſchaftliche Geſetzgebung und Ver-
waltung erzeugen, ſeinerſeits ganz gleichgültig dagegen, ob die Wiſſen-
ſchaft Volkswirthſchaftslehre und -Pflege zu unterſcheiden verſteht. So
wie das geſchehen iſt, wird ſich nun allerdings die Wiſſenſchaft dieſes
poſitiven Rechts bemächtigen, und es wird dieſelbe im Anſchluß an die
Beſtimmungen deſſelben eine Geſetzes- und Rechtskunde der wirth-
ſchaftlichen Verwaltung
des Staats werden. Dieß iſt wieder
theils ſyſtematiſch der Fall, wie in Frankreich als droit administratif,
oder in Deutſchland als die ſog. „Verwaltungsrechte“ oder „Geſetzkunden“;
theils aber auch ſtückweiſe für einzelne Geſetze, was ſich in allen Län-
dern wiederholt. Von einem allgemeinen, aus dem Weſen des Staats
fließenden, den ganzen Stoff beherrſchenden und erleuchtenden Princip
iſt dabei natürlich keine Rede; eine Wiſſenſchaft kann man das wohl
kaum nennen. Daneben aber wird die Vermengung der volkswirth-
ſchaftlichen und verwaltungsrechtlichen Begriffe und Geſetze einfach in
hundert verſchiedenen Formen fortdauern, manche im Einzelnen nützliche
Anregung erzeugen, aber unvermeidlich anſtatt einer ihrer ſelbſt gewiſſen
Wiſſenſchaft, wie die Logik, oder Rechtswiſſenſchaft, oder Heilkunde
u. ſ. w. eine unabſehbare Verwirrung hervorbringen. Denn dieſe Be-
handlungsweiſe wird und muß eine gänzlich ſyſtemloſe ſein, da ihre
beiden verſchmolzenen Elemente, Volkswirthſchaft und Verwaltung eben
zwei weſentlich verſchiedene Syſteme enthalten. Es wird daher bei
viel Trefflichem im Einzelnen und Ganzen weder eine Volkswirthſchaft,
noch eine Verwaltung erſcheinen. Und das iſt in der That der gegen-
wärtige Zuſtand.


Daran knüpft ſich dann eine weitere Folge, welche man in jenem
chaotiſchen Zuſtande bequemer Behandlung gar nicht zu erkennen vermag.


V. Da nämlich, wie geſagt, trotzdem der Staat ſeine wirthſchaft-
[16] liche Verwaltung nicht liegen läßt, ſondern zum Theil mit großer
Energie fortſetzt, ſo ergibt ſich leicht, daß die Volkswirthſchaftslehre, die
ſelbſt ohne Syſtem iſt, ſich unbewußt dem an Macht und Bedeutung
weit überwiegenden Gange der Verwaltung anſchließt; ſie wird ihre
Hauptaufgabe darin ſuchen, eben dieſes Syſtem und dieſe Maßregeln
der Verwaltung zu erklären, zu fördern, auch zu bekämpfen; ſie wird
aus einer Wiſſenſchaft zu einem großen Commentar der wirklichen Ver-
waltung; ſie findet ſich ſelbſt nur in demjenigen, was ſie für oder
gegen jene Richtung der Verwaltung zu ſagen weiß, und ſchließt damit,
das verwaltungsrechtliche Princip für das nationalökono-
miſche zu halten
, und eine beſtimmte Grundauffaſſung für die Thä-
tigkeit der Verwaltung in wirthſchaftlichen Dingen für
eine Schule der Volkswirthſchaftslehre anzuſehen
. Damit
iſt denn der Boden feſter Beſtimmungen verloren; jetzt erſcheinen die
Begriffe der „reinen“ Nationalökonomie nur noch in dem Lichte, in
welchem jene — ihres eigenen Weſens unbewußte — Verwaltungs-
lehre ſie fordert oder braucht; ſie werden nur ſo weit herbeigezogen,
als man ſie braucht; ſie werden nur in ſo weit entwickelt, als ſie auf
jene volkswirthſchaftlichen Maßregeln Bezug haben; und da es keine
ſolche gibt, die nicht mit großen und allgemein wirthſchaftlichen Intereſſen
in Berührung ſtünden, ſo kann es geſchehen, daß jetzt in der Volks-
wirthſchaft ſtatt eines wiſſenſchaftlichen Syſtems vielmehr Parteien
und Parteiintereſſen entſtehen, jede mit ihrer Volkswirthſchafts-
lehre als Troß und Dienerin des beſtimmten adminiſtrativen Zweckes,
den man ins Auge faßt. Damit verliert denn die reine Wiſſenſchaft
ihren Werth, und die Wahrheiten gewinnen die alte Eigenſchaft, um
ſo ernſtlicher bekämpft zu werden, je weniger ſie ſich den ſpeciellen
Zwecken dienſtbar erzeigen können. Die Volkswirthſchaftslehre aber,
will ſie in einem ſolchen Zuſtand noch Bedeutung haben, muß von
ihrer Stellung herabſteigen, und aus einer großen organiſchen Wiſſen-
ſchaft zu einer geiſtigen Räumlichkeit werden, in die man Ueberflüſſiges
hineinſtellt oder Nothwendiges aufbewahrt, eine ordnungs- und vor
allen Dingen charakterloſe Sammlung von Einzelheiten, die für
und gegen alles
Gründe und Citate hat, ein Nachſchlagebuch für
jedes Intereſſe, eine bereite Dienerin, die niemandem abſolut wider-
ſpricht, allen in etwas nützt, dafür aber auch ſelbſtändig weder Mühe
noch Gefahr, weder tiefen Ernſt noch ernſte Tiefe hat, und zu einer
Berieſelungs-Anſtalt für alle möglichen Anſichten des ſogenannten
„praktiſchen Lebens“ wird. Das iſt zum Theil die Lage dieſer Wiſſen-
ſchaft geworden; nirgends deutlicher iſt dieſelbe, als in dem bekannten
Streit über Freihandel und Schutzzoll, die durchaus volkswirthſchaftliche
[17] Begriffe ſein ſollten, während ſie verwaltungsrechtliche Principien ſind.
Nirgends aber wird die Sache ernſter, als in der ſocialen Frage, wo
man die Geſellſchaftslehre zu einem Theil der Nationalökonomie ge-
macht, und dieſe mit der (geſellſchaftlichen) Verwaltung ſo verſchmolzen
hat, daß man in vollſtändiger Verwirrung der Begriffe den Socialis-
mus und Communismus, Vorſchußkaſſen und Armenweſen, Credit-
organiſation und Gütertheilung als volkswirthſchaftliche Begriffe fungiren
läßt, die Forderungen, welche Ein Intereſſe an die Verwaltung ſtellt,
als abſolutes Geſetz der „reinen“ Nationalökonomie bezeichnend, ohne
ſich zu erinnern, daß die Verwaltung als Thätigkeit des Staats den
einzigen Charakter der letzteren, die Vertretung der Harmonie aller In-
tereſſen enthalten muß. — Doch es iſt hier nicht der Ort, darauf ein-
zugehen.


Dieß nun, denken wir, wird ſich klarer herausſtellen, wenn wir jetzt
den kurzen Nachweis liefern, daß das, was man auch hiſtoriſch die
nationalökonomiſchen Schulen nennt, in der That nichts anderes iſt,
als eine Reihe von Principien der wirthſchaftlichen Verwal-
tung auf Grundlage nationalökonomiſcher Begriffe und
Intereſſen
.


2) Die drei „Schulen“ oder „Syſteme“ der Nationalökonomie ſind
als Syſteme der wirthſchaftlichen Verwaltung aufzufaſſen
.

Indem wir es eigener Arbeit nunmehr überlaſſen, die Geſchichte
der Nationalökonomie und die der Verwaltung im Einzelnen mit Wür-
digung aller Geſichtspunkte und Namen und Beleuchtung aller bedeu-
tenden Erſcheinungen zu behandeln, dürfen wir doch die Behauptung
hier begründen und bis zu einem gewiſſen Grad auch entwickeln, daß
in der That in jenen Schulen oder Syſtemen nicht wie man auch
noch in neueſter Zeit feſt gehalten hat, die Grundlagen der Geſchichte
der Nationalökonomie, ſondern vielmehr die der Verwaltung des
wirthſchaftlichen Lebens
gegeben iſt. Und die Sache ſelbſt iſt,
mit Beziehung auf den geſammten Gang der europäiſchen Entwicklung
in der That ſo einfach, daß auch weniges für vorurtheilsfreie Auf-
faſſung genügen wird.


Zu dem Ende müſſen wir zuerſt bezeichnen, wie dieſe „Syſteme“
entſtanden ſind, und was ſie eigentlich bedeuten.


Die Geſchichte Europas zeigt uns bekanntlich mit dem 17. Jahr-
hundert den Keim einer Neugeſtaltung aller europäiſchen Dinge, den
wir bereits früher auf den Beginn des Kampfes der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaftsordnungen und ihres Princips mit der Geſchlechter- und
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 2
[18] Ständeordnung zurückgeführt haben. Doch iſt das, warum es ſich
hier handelt, nicht die Entwicklungsgeſchichte der Geſellſchaft. Es iſt
vielmehr die, der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft entſprechende Staats-
idee
, welche uns an der Schwelle dieſer Zeit entgegentritt. Der
Staat, im Königthum vertreten, iſt bis zu dieſer Epoche auf allen
Punkten in der Gewalt der herrſchenden geſellſchaftlichen Klaſſen. Daß
er als ſolcher, frei von ihnen, ja ihnen gegenüber, eine auf ſich ſelbſt
ruhende Exiſtenz haben könne und ſolle, das fiel niemandem ein. Jetzt
aber löst er ſich aus dieſer Gebundenheit los; er ſtellt ſich ſelbſtändig
dem Adel, der Geiſtlichkeit, dem Bürgerſtande gegenüber; er nimmt
die Rechte und Funktionen, die er bisher allein in ihrem Namen be-
ſeſſen und ausgeübt, für ſich als ſein in Anſpruch; er erzeugt ſich
ſeine Organe im Beamtenthum, ſeine Macht im ſtehenden Heer,
ſeine Symbole im Wappen und Titel, ſeine Wirthſchaft in den Fi-
nanzen, ja ſeine Begriffe in Imperium, potestas und Obrigkeit. Er
wird eine Macht für ſich, kämpft gegen die geſellſchaftlichen Gewalten,
reißt ſich von ihrem Einfluß los, und beginnt ſeinen eigenen Weg.
Wir haben ihn im Allgemeinen nicht weiter zu verfolgen.


Allein auf dieſem Wege muß er mit Einer Erkenntniß beginnen,
die alle andern überragt. Die materiellen Mittel ſeiner Exiſtenz liegen
nicht allein in ſeinem Willen, die materielle Aufgabe ſeiner Thätig-
keit auch nicht allein in ſeiner eigenen Finanz. Indem er jetzt alle
beherrſcht, muß er dieſe Aufgabe für alle erfüllen, dieſe Mittel von
allen nehmen. Und in dem Kampfe der Staaten untereinander wird
es bald klar, daß die Macht und der Glanz des einen Staates gegen-
über dem andern keineswegs in Würde und Alter beſtehe, ſondern in
der wirthſchaftlichen Kraft, in dem Reichthum und Vermögen ſeiner
Angehörigen. Da und nirgends anders iſt die Quelle des Wohlſeins
und der Kraft des jungen Königthums. Und bald zeigen erſchöpfende
Kriege und verderbliche Hofwirthſchaft gleich nachdrücklich, daß darüber
kein Zweifel ſtattfinden könne. Der Staat aber, hoch über jedes einzelne
Recht und jedes einzelne Intereſſe erhaben, erkennt, daß ſeine Pflicht,
für das Wohl ſeiner Angehörigen zu ſorgen, mit ſeinem ſpeciellen In-
tereſſe identiſch ſei. Er will dieß thun, weil er es um ſein ſelbſt
willen thut; er muß es thun, weil die Bedingungen ſeiner eigenen
Macht in den Bedingungen des Wohles ſeiner Angehörigen liegen.
Aber noch iſt das Leben der Völker ein einfaches, noch iſt auch
das Gebiet der Aufgaben des Staats kein vielfach verworrenes, in
tauſend Geſtalten auftretendes; noch iſt auch kein Bewußtſein davon
lebendig, daß jenes Leben in ſich ſelbſt Geſetze trage, die unabänderlich
daſtehen, wie die Geſetze der Natur. Der junge ſelbſtändige Staat
[19] hat daher noch Grund zu dem Glauben, daß er mit Einem Grund-
gedanken, mit Einer Richtung, mit Einem Princip das wirthſchaftliche
Wohlſein ſeines Volkes, die wirthſchaftliche Entwicklung deſſelben beherr-
ſchen könne. Er bildet ſich daher zunächſt Einen ſolchen leitenden Ge-
danken für ſeine ganze, auf das volkswirthſchaftliche Leben des Volkes
gerichtete Thätigkeit aus; dieſen Gedanken verwirklicht er in hundert
Formen, in hundert Maßregeln; er wird zu einem Syſtem, und dieß
„Syſtem,“ theoretiſch behandelt, nennt die folgende Zeit eine „Schule.“
So ſind die „Schulen“ entſtanden.


Das Erſte nun, was uns dabei klar wird, iſt das, daß alle
dieſe Schulen genau daſſelbe wollen — den wirthſchaftlichen Wohl-
ſtand des Volks, zunächſt um des Staats willen. In dem letzten Zweck,
in der unterſten Baſis, der Vorſtellung vom reichen Staatsbürger,
gibt es daher keine verſchiedenen „Syſteme.“ Dieſe beginnen offenbar
erſt da, wo der Staat ſich die Frage aufſtellen muß, nicht was er
will, denn das weiß er ja ohnehin, ſondern wie er es will — wo der
Staat ſich die Frage aufſtellt, welche Maßregeln er nun ergrei-
fen müſſe
, um ſein Ziel, den Reichthum des Volkes zu erlangen.
Offenbar nun hängen dieſe Maßregeln vor allem von der weitern Frage
ab, worin denn dieſer Reichthum des Volkes beſtehe. Die Antwort
auf dieſe Frage hätte nun allerdings die „reine“ Nationalökonomie
geben ſollen; allein dieſelbe exiſtirte eben nicht. Der Staat aber
konnte nicht warten, bis ſie etwa entſtanden wäre. Er mußte viel-
mehr, ohne ſich viel um wiſſenſchaftliche Grundlagen zu kümmern, eben
aus ſeiner Selbſtändigkeit heraus, dasjenige für Volksreichthum halten,
was am meiſten geeignet war, ſeine Wirthſchaft zu heben. Es kam
deßhalb gar nicht zu der Frage, was an und für ſich Reichthum ſei,
ſondern nur zu der, welche Art des Reichthums ihm am faßbarſten
Vortheil bringe, das iſt, die Einnahmen ſeiner Kaſſe vermehre. Es
war natürlich, daß das als Reichthum überhaupt galt. So geſchah
es, daß man den Begriff der Güter mit demjenigen verwechſelte, was
den Staat reich machte; daß eine reine Güterlehre daraus nicht ent-
ſpringen könne, war um ſo klarer, als die Folge jener Auffaſſung
nicht etwa die war, daß der Staat mit ſeinen Forderungen da aufhören
müſſe, wo die Bedingungen des Einzelwohles angegriffen würden, ſondern
daß es ſich überhaupt nur darum handle, vermöge des Einzelwohles
den Staat zu bereichern. So konnte es jetzt verſchiedene „Schulen“
geben, je nachdem dieſer Zweck bei dieſer oder jener Art der Güter leichter
erreicht werden konnte. Das Weſen dieſer Schulen überhaupt beſtand
demnach darin, das Syſtem von Verwaltungsmaßregeln zu entwickeln,
welches die beſten Mittel für die Vermehrung des Volksreichthums
[20] durch die Verwaltungsmaßregeln des Staats enthielt. Die einzelne
Schule dagegen entſtand, indem ſich jene Ideen und Forderungen
der Art von Gütern anpaſſen mußten, in der man den Reichthum
des Volkes ſah. Die Stellung der Nationalökonomie in dieſen Schulen
war nun ſehr einfach. Die Schulen ſelbſt ſind zwar nicht die Geſchichte
der Nationalökonomie, aber ſie enthalten dieſelbe. Im Mer-
kantilſyſtem iſt die letztere noch gar nichts, als ein einfaches Beweis-
mittel, ein Correlat des großen Syſtems der Volkswirthſchaftspflege,
das wir mit jenem Worte bezeichnen, ohne Bewußtſein ihrer Selbſtän-
digkeit, ohne eigene Begriffe und Definitionen. Die Nationalökonomie
erſcheint hier faſt nur in den Folgen, welche das Merkantilſyſtem an-
ſtrebt. Im phyſiokratiſchen Syſtem dagegen beginnt die Güterlehre,
ihre erſte Selbſtändigkeit zu entwickeln. Allerdings wird ſie noch eigent-
lich nicht um ihrer ſelbſt willen unterſucht; daß es eine Lehre von den
Gütern gebe, die einen Werth und eine Bedeutung habe, auch ohne
praktiſche Anwendung für die Verwaltung, wird nicht erkannt, ſondern
höchſtens geahnt. Aber doch iſt das Verhältniß ſchon ein ganz anderes.
Die nationalökonomiſche Grundlage des Merkantilſyſtems iſt eine Be-
hauptung, die des phyſiokratiſchen Syſtems aber ſchon ein Beweis.
Die Geſetze der Nationalökonomie ſcheiden ſich hier zuerſt von den Ge-
ſetzen des Staats, welche von jenen gefordert werden; aber auch jetzt
noch ſtehen die erſtern noch nicht um ihrer ſelbſt willen da; ſie werden
noch immer nur deßhalb geſucht und entwickelt oder geglaubt, um einen
Beweis für die Forderungen zu haben, die man in ihrem Namen an
die Verwaltung ſtellt. Deßhalb findet auch in den nationalökonomiſchen
Grundſätzen derſelben kein Fortſchritt, keine Bewegung ſtatt, während
die adminiſtrative Anwendung nach allen Richtungen hin ſich ausdehnt.
Dieß wird erſt anders in dem ſogenannten „Induſtrie-Syſtem,“ deſſen
Gründer Adam Smith iſt. Hier iſt die Scheidung zwiſchen National-
ökonomie und Verwaltungslehre im Principe vollbracht; das iſt
der erſte und prägnante Charakter dieſer Schule; aber ſie wird in der
Wirklichkeit nicht durchgeführt, und darauf beruht der zweite Cha-
rakter derſelben. Dieſelbe bietet daher ein durchſtehendes Gemiſch von
rein nationalökonomiſchen und adminiſtrativen Begriffen, Geſetzen und
Maßregeln; aber während die Elemente der Güterlehre in Arbeit und
Werth hier zum erſtenmal zur Geltung gelangen, fehlt der Begriff
des Staats und der der Verwaltung. Dagegen tritt ein anderes, dieſes
Syſtem von den früheren tief unterſcheidendes Merkmal auf. Durch
das Eingehen auf die ſelbſtändigen Elemente der reinen Güterlehre
entſteht die Erkenntniß, daß die Geſetze derſelben an ſich von der Ver-
waltung ganz unabhängig, und die Meinung, daß die Intereſſen der
[21] Nationalökonomie im Gegenſatze zu den Intereſſen des Staats daſtehen.
Die Nationalökonomie tritt daher der Staatsverwaltung direkt und faſt
feindlich gegenüber, und dennoch kann ſie derſelben nicht entbehren. So
entſteht in dem geſammten Gebiete jenes Syſtems eben das veränder-
liche Verhältniß, das daſſelbe bis zum heutigen Tage charakteriſirt. Die
neue Nationalökonomie, ohne Verſtändniß des Staatsbegriffes und des
Weſens der Verwaltung und in der Selbſtgewißheit ihrer eigenen Ge-
ſetze, ordnet ſich die erſtere als einen immanenten Theil unter; ſie
fordert, daß die Verwaltung des wirthſchaftlichen Lebens gleichſam als
ein Moment an ihr ſelbſt erſcheinen ſolle; ſie negirt den nationalöko-
nomiſchen Charakter aller derjenigen Thätigkeiten des Staats, die nicht
mit ihren einfachen Principien in äußerer Harmonie ſtehen; ſie löst da-
herden Begriff und Inhalt der ſelbſtändigen Verwaltungs-
lehre in lauter rein nationalökonomiſche Sätze und For-
derungen auf
, zerbröckelt den in der Rechtsphiloſophie ſich erhaltenden
ſelbſtändigen Staatsbegriff, weist ſeine Anwendung auf ihr Gebiet
als eine ihr fremde Potenz ab, und verliert dadurch den lebendigen
Zuſammenhang zwiſchen ſich und der Verwaltung, der noch in der
phyſiokratiſchen Schule beſtanden hat. Die Verwaltung ihrerſeits, ob-
wohl des Werthes der Nationalökonomie ſich wohl bewußt, hat ſich
unterdeſſen mit mächtigen und großen Schritten weiter gebildet. Es iſt
gar keine Frage, daß ſie trotz jener Verſchmelzung dennoch etwas ſehr
Selbſtändiges neben der Güterlehre iſt. Sie geht daher ihren eigenen
Weg in Geſetzen, Verordnungen und Anſtalten; das was ſie ihrerſeits
ſchafft und ſchaffen will, ſtellt ſich mit gleicher Berechtigung neben jene
Nationalökonomie; es bedarf auch ſeinerſeits der wiſſenſchaftlichen Ver-
arbeitung, und ſo entſteht das Verwaltungsrecht, deſſen Begriff
und Inhalt wir von Frankreich empfangen, während die älteſte
Nationalökonomie engliſchen Urſprungs iſt. Das Verwaltungsrecht
ſeinerſeits aber iſt weſentlich poſitiv, es kann nur de lege lata handeln,
es kann ſich, an das Gegebene ſtreng anſchließend, nicht auf Gebiete
beziehen, die kein poſitives Recht haben, es iſt daher beſchränkt auf ſein
Gebiet; es iſt eine mehr interpretative, als rationelle Lehre. Es genügt
daher nicht. Es muß neben ihm ein Syſtem geben, das das Ganze
umfaßt, und nach einem organiſchen Bilde trachtet, dem Staate ent-
ſprechen, den es zum Ausdruck bilden ſoll. So entſteht die Polizei-
wiſſenſchaft
. Allein dieſe hat nirgends einen feſten Boden, da ihr
zwar die Aufgabe des Staats, nicht aber der Begriff deſſelben klar
wird. Sie hat weder die Kraft, ſich denſelben ſelbſt zu verſchaffen,
noch die, ihn von der Rechtsphiloſophie aufzunehmen. Sie kann daher
auch nicht in ordnungsloſe Geſtalt der Nationalökonomie eingreifen; ſie
[22] bleibt ein machtloſes Scheinbild neben dieſer und dem Verwaltungs-
recht; ſo iſt hier auf allen Punkten die ganze Ordnung der Begriffe
aufgelöst; nur die Nationalökonomie überragt durch ihre Maſſe alle
übrigen Theile, ohne doch genügen zu können, und in dieſem Zuſtand
verläuft das Induſtrieſyſtem. Es iſt nun wohl klar, daß wir auf
dieſem Wege zu keinem rechten Abſchluß gedeihen. Der Fortſchritt, der
uns zur Beherrſchung dieſes mächtigen Gebietes der inneren Geſchichte
Europas bringen wird, liegt offenbar zunächſt darin, daß wir jene
„Schulen“ oder „Syſteme“ als die Grundlage der ſich entwickelnden
Volkswirthſchaftspflege und nicht mehr als die der Nationalökonomie
anſehen. Allein dabei iſt nur Eins feſtzuhalten, das man betonen muß.


Jedes dieſer Syſteme iſt nämlich nicht etwa ein Syſtem der wirth-
ſchaftlichen Verwaltung im Ganzen, ſondern es enthält ſtets nur eine
ganz beſtimmte Anforderung
an dieſe Verwaltung. Eben darum
geht es mit ſeinem Inhalt keineswegs unter, ſondern es erhält dieſen
Inhalt und ſeine Forderung als eine dauernde, wenn auch in verän-
derter Geſtalt, in allen Zeiten und Wandlungen der Volkswirth-
ſchaftspflege. Die Geſchichte jener Syſteme hat daher mit der Zeit
ihrer Geltung und Herrſchaft keineswegs abzuſchließen; man ſoll und
kann ihre Wirkung und ihren Inhalt bis in alle Zeiten verfolgen.
Sie ſind daher nicht ſelbſt die Geſchichte der Verwaltung, aber keine
Geſchichte der Verwaltung kann ohne ſie vollſtändig ſein.


Eben deßhalb muß man ſich für die letztere wohl dahin einigen,
daß dieſelbe zwar in ihrem höchſten Principe durch jene Syſteme aus-
gedrückt wird, daß aber in Beziehung auf den Inhalt der wirthſchaft-
lichen Verwaltung jeder Theil ſeine eigene Geſchichte hat.
Dadurch wird nun der Stoff, der uns hier vorliegt, ſo mächtig, wie
gar kein anderer der ganzen Wiſſenſchaft. Der Verwaltungslehre als
Ganzem bleibt daher vor der Hand wohl nur Eins erreichbar; das iſt
das Zuſammenfaſſen aller dieſer ſelbſtändigen Theile in Ein organiſches
Ganze. Wir werden dieß verſuchen.


Doch mag es uns geſtattet ſein, im obigen Sinne einen Blick auf
jene drei Syſteme in ihrer hiſtoriſchen Bedeutung und Entwicklung
zu werfen.


3) Die einzelnen Syſteme in ihrer nationalen und adminiſtrativen
Bedeutung
.

Indem wir uns nun dieſen einzelnen Syſtemen und ihrer kurzen
Charakteriſtik zuwenden, tritt uns Eine Thatſache entgegen, die für
ihr Verſtändniß entſcheidend wirkt.


[23]

In der That nämlich haben dieſe drei Syſteme allerdings für
ganz Europa gegolten. Allein von der Verwaltung ausgehend und
für ſie beſtimmt, werden ſie dem Weſen nach für alle gleich, doch in
der Wirklichkeit von der individuellen, nationalen Geſtalt des concreten
Staatslebens der einzelnen Staaten erfaßt und nehmen dadurch ſelbſt
eine ſpecifiſche, nationale Geſtalt an. Sie ſind andere in jedem Staate.
Es genügt nicht, einfach ihre Theorie hinzuſtellen; man muß ſie in
den einzelnen Staaten je nach der Beſonderheit derſelben wirkſam
ſehen; und das wieder beruht darauf, daß ſie ſich an beſtimmte prak-
tiſche Zuſtände und Aufgaben der Verwaltung anſchließen und ihre
Verſchiedenheit von der Verſchiedenheit der Verhältniſſe empfangen,
auf die ihr Princip angewendet wird. Die Geſchichte Europas iſt
auch hier eine Geſchichte großer individueller Geſtaltungen
auf gleichartiger Grundlage; in dem Verſtändniß dieſes Elementes des
Werdens ruht ſein Reichthum.


Wir werden daher, wenn auch nur in Andeutung, die einzelnen
Syſteme von dieſem Standpunkt charakteriſiren. Ihren allgemeinen
Inhalt dürfen wir als bekannt vorausſetzen.


a) Das Merkantilſyſtem in England, Frankreich und Deutſchland.

England. Daß und warum England, ſeinem ganzen auf Selbſt-
verwaltung beruhenden Staatsleben nach, von jeher unfähig war und
iſt, ein Eingreifen der Regierung in das Leben des Volkes zu erzeugen
oder zu ertragen, iſt ſchon früher bezeichnet. Wenn daher trotzdem
hier ein „Syſtem“ für die Verwaltung der wirthſchaftlichen Intereſſen
auftreten und zur Geltung gelangen konnte, ſo mußte ſich daſſelbe
naturgemäß zunächſt und vor allem auf dasjenige Gebiet beziehen, auf
dem der Einzelne und ſogar die Selbſtverwaltung ohnmächtig iſt. Das
iſt die Thätigkeit der Staatsverwaltung für den auswärtigen Verkehr, bei
der die Rückwirkungen derſelben auf den inneren dann der Natur
der Sache überlaſſen werden. Und dieß iſt das Verhältniß des Mer-
kantilſyſtems in England.


In England zuerſt iſt das Merkantilſyſtem überhaupt nie zu
einem Syſtem der inneren wirthſchaftlichen Verwaltung geworden,
ſondern tritt von Anfang an als das Princip für die Volkswirthſchafts-
pflege im internationalen Verkehr auf. Und zwar iſt das nicht
bloß der Charakter deſſelben in der Theorie des 17. Jahrhunderts
ſeit Man und Culpepper, ſondern eben ſo ſehr des wirklich geltenden
Rechts. Das Merkantilſyſtem mit ſeinen nationalökonomiſchen Grund-
gedanken des Geldreichthums wird für die Verwaltung zur Forderung
[24] nach dem Schutze der eigenen Flagge und der inneren Produktion,
zur Grundlage des Krieges mit Holland um den Alleinhandel im trans-
atlantiſchen Verkehr, zum Anſtoß der Verträge mit Portugal und an-
dern Staaten. England will den Staat und ſeine Einmiſchung in
ſein wirthſchaftliches Leben ſchon unter dem Merkantilſyſtem nur da,
wo allein der Staat als ſolcher zu functioniren fähig iſt und die Kraft
des Einzelnen nicht ausreicht, in dem Gegenſatz der Intereſſen der
ganzen Nation gegenüber den andern Nationen. Das war ſchon im
17. Jahrhundert der Charakter der engliſchen Volkswirthſchaftspflege
und das iſt er noch. Das Merkantilſyſtem als Princip der Verwaltung
unterſcheidet ſich in England daher von dem aller andern Staaten
genau ſo, wie der Charakter dieſes Staates ſelbſt von den übrigen
des Continents. Jede Einmiſchung der Regierung in die inneren
Angelegenheiten wird auch unter dem Merkantilſyſtem grundſätzlich ab-
gewieſen. Nicht erſt Adam Smith hat dieß Princip ausgeſprochen,
ſondern er hat es nur auch auf den internationalen Verkehr ausgedehnt;
ſein Freihandel iſt nichts anderes, als die Befreiung von jeder ſelb-
ſtändigen Einmiſchung der Verwaltung auf dem einzigen Gebiete, auf
dem die Nation ſie bisher zugelaſſen oder gefordert. Von dem, was
wir den Colbertismus nennen, iſt in England gar keine Rede, eben
ſo wenig unter der Herrſchaft des Merkantilſyſtems als ſpäter. Da
exiſtirt keine Befreiung der Gewerbe, keine Erleichterung des inneren
Handels, kein Kampf mit Monopolen, weil England ſie nicht hatte;
es exiſtirt kein Verſuch, den Stand der Kaufleute und Producenten
zu heben oder zur Ehre zu bringen, weil England deſſen nicht bedurfte;
da entſteht kein Verſuch, Muſterfabriken, Kunſtſchulen oder ähnliches
anzulegen, weil Englands Selbſtverwaltung, die ſtolze Selbſtgewißheit
des Individuums, dem widerſprach. Von einem Syſtem der Volks-
wirthſchaftspflege auf Grundlage der Principien des Merkantilſyſtems
iſt daher auch damals keine Rede; die Verſchiedenheit von dem ſich
büreaukratiſch organiſirenden Frankreich und dem an einzelnen Maß-
regeln herum experimentirenden, auch hier einheitsloſen Deutſchland iſt
eine durchgreifende; das verwaltungsrechtliche Princip des engliſchen
Merkantilſyſtems iſt: Schutz des Verkehrs nach Außen und völlige
Selbſtverwaltung ohne alle Regierungsthätigkeit im Innern. Nicht
einmal das Nächſtliegende, das Bankweſen und das Straßenweſen,
ordnet die Regierung; von einem Waſſerweſen, von einem Schifffahrts-
weſen (die merchants chipping Act iſt bekanntlich erſt 1854 gegeben),
von einer Wieſenpolizei, von einem Grundbuchsweſen, von Land-,
Forſt- oder Bergbauordnungen im Sinne des Merkantilſyſtems iſt keine
Spur vorhanden. Vergleicht man Englands Merkantilſyſtem mit dem
[25] des Continents, ſo iſt es keine Frage, daß daſſelbe überhaupt gar
nicht vom Standpunkt einer nationalökonomiſchen Theorie, ſondern nur
von dem des engliſchen Staatslebens aus verſtanden werden könne.


Weſentlich anders iſt dagegen das Bild des Merkantilſyſtems in
Frankreich. Die Gewalt des perſönlichen Staats und der Gedanke,
daß die höchſte Entwicklung des Einzelnen nur durch die Macht und
den Glanz des Staats begründet werden könne — dieß ſpecifiſche Princip
der romaniſchen Völker iſt bereits durch Richelieu feſt begründet. Es
ſteht feſt, daß die Selbſtändigkeit des Einzelnen eine Gefahr für das
Ganze iſt. Es folgt, daß wie in andern Dingen, ſo auch in volks-
wirthſchaftlichen Intereſſen, der Fortſchritt des Einzelnen nur durch die
Thätigkeit des Ganzen gewonnen werden kann. So wie daher im
Merkantilſyſtem die entſcheidende Wichtigkeit der volkswirthſchaftlichen
Entwicklung für den Staat zum Bewußtſein kommt, und die Regierung
Ludwigs XIV. des Geldes und wieder des Geldes bedarf, ſo beginnt
der Staat es als ſeine erſte Aufgabe anzuſehen, die geſammte Volks-
wirthſchaftspflege im Sinne jener Principien in die Hand zu nehmen.
Auf dieſe Weiſe entſteht das erſte, als ein Ganzes aufgefaßte und mit
blendendem Glanze durchgeführte Syſtem der Volkswirthſchaftspflege in
Europa. Und zwar iſt daſſelbe in Beziehung auf den internationalen
Verkehr allerdings dem engliſchen natürlich gleichartig. Daß er den
Schutz der einheimiſchen Produktion durch Navigationszölle und Schutzzölle
gegen fremde Concurrenz will, iſt natürlich, und nicht das Eigenthüm-
liche des franzöſiſchen Merkantilſyſtems. Daſſelbe beſteht vielmehr cha-
rakteriſtiſch in dem großartig durchgeführten Verſuch, durch alle der
Verwaltung zu Gebote ſtehenden Mittel die innere induſtrielle
Produktion
zu fördern. Es iſt wahr, daß die Volkswirthſchafts-
pflege, die ſich daraus ergiebt, weſentlich nur eine Sorge für die höhere
Induſtrie iſt; allein das iſt ſie in einem Maße, die ganz Europa
blendet, und die allenthalben durch ihre glänzenden Erfolge zur Nach-
ahmung oder wenigſtens zur Bewunderung hinreißt. Frankreich ſelbſt
erkennt das; es folgt auf allen Punkten willig und dankbar der mäch-
tigen Hand, die es leitet; es will auch in der Induſtrie beherrſcht
werden von der Staatsgewalt, und es wird beherrſcht. Unter dem
mächtigen Schutze der höchſten Gewalt regt ſich die induſtrielle Tüchtig-
keit der Nation; ſie tritt alsbald ſiegreich auf dem ihr eigenthümlichen
Gebiete auf; es iſt die Kunſt und der Geſchmack im Dienſte der wirth-
ſchaftlichen Produktion, es iſt der unerſchöpfliche freie Werth, der ſich
zur Baſis der induſtriellen Stellung Frankreichs mit der Welt macht,
und die Regierung mit richtigem Verſtändniß des Charakters ihrer
Nation geht voran. Sie errichtet Manufakturen und Fabriken, ſie
[26] gründet Sèvres und die Gobelins, ſie ehrt den Fabrikanten, ſie fördert
die Kunſt und Wiſſenſchaft, ſie ſchafft die Académie und die École des
Beaux-Arts;
ſie geht weiter und gründet die großen Handelsgeſell-
ſchaften mit ihren mächtigen Mitteln; ein allgemeines Wohlbehagen
breitet ſich über das Ganze aus; ſelbſt die Finanzen gelangen zu einem
nie geahnten Aufſchwung; und ſo iſt der wahre Kern des Merkantil-
ſyſtems in Frankreich nicht mehr dieſe oder jene nationalökonomiſche
Anſchauung, ſondern vielmehr der Gedanke, daß die Volkswirth-
ſchaft nur unter der Hand der leitenden Regierung ihre
höchſte Entwicklung erlangen könne
.


Dieſes ächt franzöſiſche Syſtem iſt nur wenig durch eine eigene
Literatur vertreten. Es war der große, ſtaatsmänniſche Blick eines
einzelnen Mannes, der dieß vermochte. Hier wie immer hat Frank-
reichs Schickſal auf der Individualität ſeines Herrſchers geruht. Das
dankbare Volk aber nannte das Syſtem, das aus der abſtracten Lehre
der Merkantiliſten zu einem praktiſchen Syſtem der wirthſchaftlichen
Verwaltung geworden, und dem es ſeine induſtrielle Stellung in der
Welt bis zum heutigen Tage dankt, mit gutem Recht nicht etwa das
Merkantilſyſtem, ſondern den Colbertismus. Der Colbertismus iſt
keine Nationalökonomie; er iſt die auf den Principien des Merkantil-
ſyſtems gebaute innere Volkswirthſchaftspflege der höheren
Induſtrie
. Der Colbertismus iſt der Beginn der Volkswirthſchafts-
pflege überhaupt; er gehört ganz der Verwaltungslehre. England
war unfähig, ihn zu ertragen, Deutſchland war unfähig, ihn zu er-
zeugen, und der Mangel eines Begriffs der Verwaltung und ihrer
Scheidung von der Nationalökonomie macht es auch jetzt noch ſchwer,
ihn recht zu verſtehen. Aber es iſt kein Zweifel, daß in ihm der Keim
aller wirthſchaftlichen Verwaltung liegt, die noch immer ihre ganze
Bedeutung für Europa nicht entfaltet hat. Denn in ihm zuerſt tritt
der Staat als Staat handelnd auf; und jetzt erſt iſt es möglich,
daß er auch Fehler begehe, die dann die Grundlage der Erkenntniß
des Wahren werden. Und ſchon das 18. Jahrhundert thut eben in
dieſer Richtung einen mächtigen Schritt vorwärts.


Was nun endlich das Merkantilſyſtem in Deutſchland betrifft,
ſo iſt die Geſtalt, welche daſſelbe hier annimmt, eben ſo bezeichnend
für dieß große Volk und ſeinen ganzen ſtaatlichen Charakter, als für
Frankreich und England. Auch in Deutſchland muß man Weſen und
Wirkung jenes Syſtems nicht etwa auf ſeinen einfachen nationalökono-
miſchen Grundgedanken, ſondern auf die Elemente des öffentlichen
Rechts zurückführen. Als im 17. Jahrhundert der Reichthum als
eine der großen Grundlagen der ſtaatlichen Macht den Herrſchern zum
[27] Bewußtſein kommt, beſitzt Deutſchland als Ganzes überhaupt keine
Verwaltung. Es beſteht aus lauter einzelnen Souveränetäten. Der
deutſche Reichstag iſt gänzlich machtlos; die einzelnen Souveräne aber
ſind innerhalb ihrer Territorien daſſelbe, was Ludwig XIV. in Frank-
reich war, oder wollten es doch ſein. Wenn daher auch das deutſche
Volk als Ganzes ſich einen volkswirthſchaftlichen Colbertismus hätte ge-
fallen laſſen, ſo gab es doch niemanden, der ihn hätte einführen können.
Die deutſchen Reichstage bleiben daher bei einem ſchwachen Verſuch ſtehen,
namentlich im 16. Jahrhundert, wenigſtens negativ gewiſſe polizeiliche
Maßregeln für die Volkswirthſchaft durchzuführen, Schutzzölle aufzuſtellen,
allerlei Luxus zu verbieten u. a. m.; allein das Ganze bleibt ohne
Bedeutung. Die Religionswirren und der dreißigjährige Krieg drücken
jeden Aufſchwung zu Boden. Erſt nach demſelben bricht ſich ein ge-
meinſames Bewußtſein Bahn. Und hier iſt es nun keinen Augenblick
zu verkennen, daß auch auf dem Gebiete der Volkswirthſchaft nicht der
engliſche, ſondern der franzöſiſche Gedanke zur Geltung gelangt. Auch
in Deutſchland wollen die Regierungen die Völker durch ihr polizeiliches
Eingreifen reich machen; das iſt der ſpecifiſche Charakter dieſer Epoche.
Nur hat natürlich Deutſchland eben ſo wenig einen Colbert, wie es
einen Ludwig XIV. hat. Ihre Stelle vertritt vielmehr auch hier die
Wiſſenſchaft, und das deutſche Merkantilſyſtem erſcheint daher als die
erſte Aufnahme volkswirthſchaftlicher Grundſätze in die neue Polizei-
wiſſenſchaft. Hier nun muß man wohl das 17. und 18. Jahrhundert
ziemlich beſtimmt ſcheiden. Als die beiden Hauptvertreter dieſer Zeiten
kann man Seckendorff und Juſti anſehen. Seckendorff iſt der Erſte,
der auf einer für ſeine Zeit wahrhaft großartigen Baſis die Volks-
wirthſchaftspflege in die Staatswiſſenſchaft aufgenommen
hat
. Allerdings geht Klockde Aerario (1651) ihm voraus, in vieler
Beziehung mit weiterem und freierem Blick, aber dennoch eigentlich
ohne ſyſtematiſche Auffaſſung. Klock hat die Grundſätze des Merkantil-
ſyſtems einſeitig vertreten, aber im Grunde iſt er kein Volkswirth,
ſondern der erſte Vertreter der Finanzwiſſenſchaft in Deutſchland,
und Vauban und Boisguillebert in Frankreich müſſen ihm als ſeine
bedeutendſten Nachfolger zur Seite geſtellt werden. Seckendorff dagegen
drückt der ſpäteren Zeit den Stempel der ſpecifiſch deutſchen Entwicklung
auf. In Deutſchland war von jeher die Einheit ſeines Lebens nur in
der Wiſſenſchaft, der Arbeit des Geiſtes, vorhanden, und Seckendorff
iſt es, der die ganze volkswirthſchaftliche Verwaltung in dieſem Sinne
zu einem Theile der deutſchen Wiſſenſchaft vom Staate gemacht hat.
In ſeinem Teutſchen Fürſtenſtaat (1655) erſcheint dieſelbe als „der
Ander Hauptpunkt der Regierung, welcher beſteht in Aufrichtung guter
[28] Ordnung und Geſätze für die Wohlfahrt und gemeinen Nutz deß Vatter-
landes.“ (Ander Theil C. VIII.) Allerdings iſt der Standpunkt Secken-
dorffs charakteriſtiſch. Er ſpricht nur von Ordnung; die Geſetze
ſollen Frieden und Ruhe herſtellen und namentlich „eine gute Für-
ſichtige Anſtalt und Ordnung über alle Handthierung und Nahrung
im Lande“ einrichten. Von einem poſitiven Eingreifen iſt eigentlich
noch keine Rede; er hat kein eigentlich nationalökonomiſches Princip
und die Ideen des Merkantilſyſtems ſind ihm offenbar ſo wenig be-
kannt, als die engliſche Literatur. Sein Buch iſt dagegen anzuſehen
als die Grundlage der ſpäteren Polizeiwiſſenſchaft in ihrer An-
wendung auf die Volkswirthſchaft; er will auf allen Punkten den
negativen Schutz gegen die innere Störung aller Produktionszweige,
des Handels, der Gewerbe und auch der Landwirthſchaft; der in ihm
zuerſt klar ausgeſprochene, wenn auch nicht philoſophiſch erfaßte
Eudämonismus erſcheint noch bloß als Gericht und Polizei, beides aber
ſtets zur „Wohlfahrt und gemeinem Nutz“ des Landes. Während nun
das philoſophiſche Princip durch Pufendorf und beſonders durch Wolff
in großartiger Weiſe entwickelt wird, wartet das volkswirthſchaftliche
noch ein ganzes Jahrhundert, ehe es ſich zu einem wiſſenſchaftlichen
Syſtem entwickelt, und dieß Syſtem iſt dann allerdings nichts als eine
ausgearbeitete Theorie des Merkantilſyſtems. Der Hauptvertreter dieſer
Richtung iſt J. G. v. Juſti. Seine erſte bedeutende Arbeit iſt
„Staatswirthſchaft, oder ſyſtematiſche Abhandlung aller ökonomiſchen
und Cameral-Wiſſenſchaften“ (1755, 2 Bde). Dieß Werk, das Kautz
ein wenig mit Uebergehung Seckendorffs das „erſte ſyſtematiſche Werk
über Volks- und Staatswirthſchaft in Deutſchland“ nennt, iſt aller-
dings die erſte ſyſtematiſche Ausführung des Eudämonismus auf der
nationalökonomiſchen Grundlage des Merkantilſyſtems; allein es iſt
nicht richtig, es bloß für ſich zu betrachten. Denn es iſt vielmehr
eine Vorarbeit Juſti’s, die noch einſeitig am Merkantilſyſtem hängt
und vielmehr den Schlußpunkt ſeiner Herrſchaft in Deutſchland als
den Mittelpunkt derſelben bildet. Juſti ſelbſt iſt raſch über denſelben
hinweg gelangt. Schon fünf Jahre ſpäter ſchrieb er ſein Hauptwerk,
das erſte wiſſenſchaftliche Syſtem der innern Verwaltung überhaupt,
ſeine Polizeiwiſſenſchaft (1760—61, 2 Bde. 4.). Allerdings wird
in dieſem Werke „die Policey die Grundveſte der Glückſeligkeit der
Staaten“ (§. 6). Aber hier unterſcheidet Juſti bereits die „un-
beweglichen Güter“ von den „beweglichen,“ und geht ſo ſelbſt den
Phyſiokraten vorauf, den engen Standpunkt der Merkantiliſten zum
Theil überwindend. Er ſagt ſchon §. 11: „Die Beſchaffenheit der un-
beweglichen Güter im Lande muß mit dem gemeinſchaftlichen Beſten
[29] beſtändig in der genaueſten Verbindung und Uebereinſtimmung ſtehen;“
in §. 18 erkennt er zweitens: „der Nahrungsſtand im Lande muß alle-
zeit ſowohl mit der Wohlfahrt der einzelnen Familien als dem gemeinen
Beſten in Verbindung ſtehen,“ und endlich erkennt er (§. 19 ff.), daß
„der ſittliche Zuſtand der Unterthanen ſowohl für die einzelnen Fami-
lien als für das gemeine Beſte vom größten Einfluß iſt.“ Hier erkennt
man deutlich das Durchgreifen der Wolffſchen Idee; es iſt die Erhebung
zu einer ſyſtematiſchen, großartig angelegten Verwaltungslehre über-
haupt, die aber ſchon bei Juſti nicht recht zu Stande kommt, weil
auch ihm die unklare Vorſtellung von dem „Gemeinen Beſten“ an die
Stelle des beſtimmten Begriffs vom Staat tritt, ohne den die Ver-
mengung von Nationalökonomie und Verwaltungslehre unvermeidlich
bleibt und ſelbſt die merkantiliſtiſche Vorſtellung vom Werthe des Gel-
des und der Induſtrie überragt, welche jene Zeit charakteriſirt. Durch
alles dieß zuſammengenommen kommt Deutſchland zwar nicht in ſeiner
ſtaatlichen Ordnung, wohl aber in ſeiner Wiſſenſchaft zu einem Syſtem
der Volkswirthſchaftspflege, wie es theoretiſch kein ander Volk aufzu-
weiſen hat. Die praktiſche Durchführung der Ideen des Merkanti-
lismus jedoch konnte nur in den einzelnen Staaten verſucht werden.
Und hier traten wie immer die beiden deutſchen Großmächte, Oeſterreich
und Preußen, an die Spitze; Oeſterreich weſentlich auf literariſchem
Gebiet durch Becher und namentlich durch W. J. Horneck: Oeſterreich
über alles, wenn es nur will (1654), ein Mann, der es bewies, daß
es Deutſchland nicht an einem Colbert, ſondern nur an einem Reiche
fehlte, das ihn verſtanden hätte. Die übrigen deutſchen Staaten waren
damals wie jetzt für große Gedanken zu klein. Die Geſchichte dieſer
Zeit und ihrer Erſcheinungen iſt noch zu ſchreiben; erſt wenn die
deutſchen Kulturhiſtoriker die Kraft haben werden, Männer wie Horneck
ſo meiſterhaft zu individualiſiren, wie es Roſcher in Hildebrands
Jahrbüchern gethan, wird man wiſſen, was Leo geahnt, daß die Hälfte
des innern Lebens auch dieſer Epoche in der nach den Grundſätzen des
Merkantilſyſtems vorſchreitenden Volkswirthſchaftspflege beſtanden hat.
Hier können wir es nur andeuten.


Faßt man nun den Einfluß des Merkantilſyſtems auf Europa
und ſpeciell in Beziehung auf die wirthſchaftliche Verwaltung und
die Nationalökonomie auf, ſo ergibt ſich folgendes Reſultat. Das
Merkantilſyſtem iſt nie und nirgends zu einem Syſtem der National-
ökonomie geworden, wohl aber iſt es dasjenige Syſtem, welches die
Bedeutung der Volkswirthſchaft für das Geſammtleben zuerſt zum
öffentlichen Bewußtſein gebracht hat. Es hat dadurch die wirthſchaft-
lichen Lebensverhältniſſe des Volkes zuerſt in das Gebiet der Verwaltung
[30] hineingezogen, und iſt die erſte große Erſcheinung der europäiſchen
Volkswirthſchaftspflege
. Dabei iſt es einſeitig in ſeiner Zeit
wie in ſeinen Grundgedanken; aber dieſer Grundgedanke iſt unbewußt
ein Ausdruck der entſtehenden ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, denn es
iſt der erſte große Vertreter des Gedankens, daß die (das Geld ver-
dienende
) gewerbliche Arbeit des Volkes die Staaten reich
mache. Es zwingt daher zum Nachdenken über die Geſetze, welche
die Arbeit und den Erwerb durch Arbeit beherrſchen; aber es ſelbſt iſt
noch keine Erkenntniß dieſer Geſetze. Es hat daher die Elemente der
Nationalökonomie in ſich; aber es iſt dennoch nicht bloß ein reines,
ſondern zunächſt einſeitiges Syſtem von wirthſchaftlichen Ver-
waltungsprincipien und -Maßregeln. Das zweite große Gebiet der
Arbeit, die landwirthſchaftliche Produktion, iſt ihm faſt gänzlich un-
bekannt; doch erſcheint das Hinausgehen über die Arbeit des gewerb-
lichen Lebens und den Credit bereits in den Banken, und zum Theil
in den Handelsmagazinen, die jedoch in bezeichnender Weiſe beide nur
als große Thatſache ohne alle Theorie daſtehen. Man ſieht, daß die
Bahn geöffnet iſt; aber noch iſt eigentlich kein feſtes Reſultat, keine
dauernde Grundlage gewonnen.


b) Das Syſtem der Économistes oder die Phyſiokraten und die reine land-
wirthſchaftliche Verwaltung.

Die gewöhnliche Meinung iſt bekanntlich, daß die Schule der
Phyſiokraten erſt durch Quesnay begründet ſei. Es iſt der Glanz
ſeines allerdings etwas ſchematiſchen, aber doch immerhin großartigen
Syſtems, das zu dieſer Anſicht auch bedeutende Männer verleitet hat.
Dennoch iſt Quesnay eben ſo wenig der Erſte auf der von ihm ein-
zuſchlagenden Bahn, als ſein Syſtem die Aufgabe und Abſicht hatte,
vor allen Dingen eine rein nationalökonomiſche Theorie zu gründen.
Denn gerade bei Quesnay zeigt es ſich am klarſten, wie die National-
ökonomie entſtanden iſt. Sie iſt nichts an und für ſich, ſondern ſie
iſt für ihn, und allerdings hier zum erſtenmale in der Geſtalt einer
wirklichen Wiſſenſchaft, die großartige Begründung eines auf das Tiefſte
in die geſellſchaftlichen und volkswirthſchaftlichen Verhältniſſe eingreifen-
den Syſtems der wirthſchaftlichen Verwaltung, das wie es in Quesnay
ſeinen Theoretiker, in Turgot ſeinen Praktiker und in Mirabeau ſeinen
Socialiſten hatte. Es iſt wahr, daß erſt die Phyſiokraten der Na-
tionalökonomie die theoretiſche Fähigkeit eigener Exiſtenz gegeben haben;
aber die Franzoſen haben die letztere dennoch nicht ſelbſtändig auszu-
tragen vermocht; bei ihnen iſt auch dieſe Schule zu einem Syſtem der
[31] Volkswirthſchaftspflege geworden, das allerdings viel großartiger und
wir möchten ſagen ſeiner ſelbſt bewußter iſt, als das der Merkanti-
liſten. Und dieß iſt im Allgemeinen nicht ſchwierig zu erkennen.


So heilſam auch Colberts Syſtem mit all ſeiner Einſeitigkeit ge-
wirkt hatte, ſo haben dennoch die Kriege und der tyranniſche Luxus
Ludwigs XIV. ſein ganzes Werk vernichtet. Das Elend Frankreichs
wuchs von Jahr zu Jahr, und Vauban konnte ſchon in ſeiner Dîme
royale
(1698) die furchtbare Rechnung aufſtellen: „Von je zehn Fran-
zoſen iſt Einer ein Bettler; von den übrigen ſind fünf verarmt und
außer Stande, jenen Bettlern ein Almoſen zu geben; von den übrigen
vier ſind drei in ſehr ungünſtigen Verhältniſſen; auf das letzte Zehntel,
den Adel, die Geiſtlichkeit, die Beamteten und den noch wohlhabenden
Bürgerſtande, kann man kaum 100,000 Familien rechnen, und von
dieſen wieder nur ein Zehntel als wirklich reich annehmen.“ (Dîme
royale. Écon. fr. p.
36. 37.) Die Noth, neben der die Unwirthſchaft
und die Verſchwendung hier wie immer ihre beiden Begleiter, mit
gleichem Schritt einhergingen, ließ allmählig die Ueberzeugung entſtehen,
daß der Merkantilismus nicht ausreiche; ſie zwang die Männer, welche
ihr Vaterland liebten, zuerſt den Thatſachen ins Auge zu ſehen, dann
über den Ruin der Finanzen nachzudenken, und endlich nach einem
ganz andern Ausgangspunkte für die Aufgaben des Staats zu ſuchen,
damit er ſelber wieder gut mache, was er verdorben hatte. So tritt
ſchon hier auf allen Punkten der Staat in ſeiner Verwaltung ſtatt der
allgemeinen Begriffe und Grundſätze der Nationalökonomie in den Vor-
dergrund, und danach geſtaltet ſich nun die folgende Literatur, die in
ihren Principien zwar Nationalökonomie, in ihren Ausführungen jedoch
Verwaltungslehre und namentlich Volkswirthſchaftspflege iſt. Aus dem
erſten der obigen Elemente entſprang die erſte volkswirthſchaftliche
Statiſtik, die aus den obigen Gründen zugleich eine finanzielle war,
und damit den Grund einerſeits zu einer hiſtoriſchen Betrachtung der
volkswirthſchaftlichen Verwaltung, andererſeits zu einer rationellen
Unterſuchung des Syſtems der Finanzen legte, aus dem dann ein
halbes Jahrhundert ſpäter erſt das Steuerprincip Quesnays hervorging.
Die beiden Männer, welche hier Bahn brachen, ſind Boisguillebert
und Vauban. Boisguilleberts beide bekannteſten Arbeiten ſind der
Détail de la France sous le règne présent (L. XIV. 1697) und
das Factum de la France, ou moyen très facile de rétablir les
finances de l’État
(1707); für die Geſchichte der phyſiokratiſchen Schule
nicht minder wichtig iſt ſein Traité de la nature, culture, commerce
et intérêt des Grains, tant par rapport au public qu’à toutes les
conditions d’un État,
in der er zuerſt die Freiheit des Kornhandels
[32] als Grundlage der Herſtellung des wahren Kornpreiſes fordert zum
Theil in Paradoxen (wie P. II: Ou l’on fait voir que plus on en-
lèvera de blés en France, et moins on aura à craindre les ex-
trêmes chertés
). Zu einem Syſtem gelangt Boisguillebert jedoch ſo
wenig, als ſein Zeitgenoſſe Vauban in ſeiner Dîme royale (1698),
eine Arbeit, welche nicht bloß ein für die damalige Zeit hochwichtiges
Syſtem der Staatseinnahmen vertrat, ſondern durch die an den großen
Mathematiker der Befeſtigungskunſt erinnernde Genauigkeit ſeiner Auf-
zeichnungen über die beſtehenden Grundlaſten in den Seigneuries die
Koſten des Landbaus, die Schätzungs- und Verkehrspreiſe der Grund-
ſtücke und des Korns eines der bedeutendſten — leider ſehr wenig be-
nutztes — hiſtoriſches Document bildet. Beiden Männern aber iſt das
gemeinſam, was eigentlich die Kraft der phyſiokratiſchen Schule aus-
machte: das Verſtändniß der Bedeutung der Landwirthſchaft neben
der Induſtrie
; hält man ſie neben die eigentlichen Phyſiokraten, ſo
erkennt man unzweifelhaft, daß die Grundgedanken der letzteren durch-
aus nicht neu, ſondern nur eine organiſche Formulirung der Beobach-
tungen und Ergebniſſe waren, die ſchon im Anfange des 18. Jahr-
hunderts feſtſtanden. Denn beide ſind in gleicher Weiſe für die
Befreiung des Handels und der inneren Produktion; vor allem aber
iſt beiden das große ſociale Bewußtſein lebendig, das die wichtigſte
Thatſache der ganzen phyſiokratiſchen Schule bildet. Boisguillebert ver-
ſteht es bereits, die Klaſſe der Reichen von der der Armen zu ſcheiden
und darauf eine Reihe von Beobachtungen über die Kornpreiſe zu
gründen (ſo namentlich Traité des Grains, ch. VI). Vauban dagegen
iſt ſchon in ſeiner ganzen Arbeit von dem Bewußtſein durchdrungen,
„que le même peuple qu’on accable et qu’on méprise est le véri-
table soutien de l’État.“
Schon hier aber wendet ſich die große
ſociale Frage nicht eben den Geſetzen der Nationalökonomie oder der
Geſellſchaftslehre, ſondern dem „Staate“ zu; in ihm, ſeinem Begriffe,
ſeinen Kräften und ſeinen Verpflichtungen culminirt dieſe wiſſenſchaft-
liche Richtung, ohne es klar zu wiſſen und doch die folgende Zeit mit
ſich fortreißend. Denn es iſt der Charakter der franzöſiſchen Entwicklung
überhaupt, der hier in demſelben Geiſte wie unter Colbert, wenn auch
von einem andern Standpunkte aus, vertreten wird. Das Gewicht
jener unverkennbaren Thatſachen wendete aber naturgemäß den Blick
von der abſtrakten Theorie ab, und vielleicht hätte ſchon damals die
Verwaltung eine neue Bahn eingeſchlagen, wenn nicht Laws Experi-
mente wieder alle Vorſtellungen verwirrt und die Gedanken und Hoff-
nungen einſeitig auf das Geldweſen zurückgerichtet hätten. Die erſten
Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts vergeſſen in dem Papierſchwindel
[33] aller Art die Beachtung ſowohl der Landwirthſchaft als der ſocialen
Unterſchiede; noch einmal waren Nationalökonomie und Finanzwiſſen-
ſchaft nichts als die Kunſt, Geld für den Staat zu machen; noch ein-
mal fällt die geiſtige Arbeit in die Fragen des Merkantilſyſtems; die
übrigens hochbedeutenden Arbeiten Laws über Münzen und Banken
(Considérations sur le Numéraire (nach Locke’sConsiderations of
the consequences of the raising of the interest and of raising of
the value of money,
1691), und ſeine Mémoires sur les Banques)
wurden weiter ausgearbeitet von Dutot (Réflexions sur le commerce
et les Finances
) und Melon (Essai politique sur le commerce, 1734)
und öfter, ſo daß ſelbſt Montesquieu, hier der Sache nicht Herr
und ohne rechtes Verſtändniß für das Weſen und die Bedeutung der
capitalloſen Arbeit und ihrer Gefahren, das ganze Gebiet der Land-
wirthſchaft mit ihrem damaligen unfreien Recht auf das Klima und
ſeinen Einfluß reducirt (L. XVI.) und ſich bloß mit dem Handel und
dem Gelde — jenen beiden Hauptelementen des Merkantilſyſtems — in
ihrem Verhältniß zur Verfaſſung beſchäftigt, geiſtreich wie immer und
tief einſchneidend, aber hier einſeitiger als irgendwo (L. XX. XXI.
und XXXI.). Auf dieſe Weiſe zeigt uns die erſte Hälfte des 18. Jahr-
hunderts die Zeit des Schwankens zwiſchen den beiden großen Rich-
tungen der Volkswirthſchaftspflege, der gewerblichen Arbeit und der
Landwirthſchaft, beide durch große Anſichten und große Arbeiten ver-
treten, noch ohne rechte Herrſchaft über die Frage und ohne Entſcheidung.
Und das iſt nun das große Verdienſt und die wahre hiſtoriſche Stellung
Quesnays, daß er eben mit dem Glanze ſeiner Theorie dieſe Ent-
ſcheidung, und zwar eben in dem Sinne der Volkswirthſchaftspflege,
gebracht hat. Wir haben über ſein Syſtem als ſolches nichts zu ſagen.
Allein wenn je ſo iſt es hier klar, ſo wie man einen Blick auf die
treffliche Zuſammenſtellung ſeiner Werke von Daire wirft, daß er ſein
Tableau économique nicht aufgeſtellt hat, um eine neue national-
ökonomiſche Theorie zu begründen. Mitten in den entſcheidenden Orga-
nismus der Regierung geſtellt, war es ihm von Anfang an klar, daß
es die wirthſchaftliche Verwaltung ſei, auf die es ankomme;
und unmittelbar an das Tableau ſchließen ſich daher die Maximes
générales
du gouvernement économique d’un royaume agricole, et
notes sur ce sujet
(1758; die Originalausgabe iſt nicht mehr vor-
handen). Dieſe maximes générales ſind in der That weſentlich ein
Syſtem der Verwaltung; die einfachen Principien deſſelben ſind: „die
balance en argent, chose futile; dagegen préférence pour l’agricul-
ture, liberté de culture, entière liberté du commerce, circulation
complète, impôt non destructeur,
und endlich l’aisance pour les
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 3
[34]pauvres citoyens. Mit dieſen Grundſätzen, getragen durch die Neuheit
und den Glanz des erſten nationalökonomiſchen Syſtems, das die
Geſchichte unſerer Wiſſenſchaft kennt, und das in den Problèmes éco-
nomiques
auch dialektiſch entwickelt ward, beginnt für Frankreich eine
neue Auffaſſung der Idee der Verwaltung. Der Grundgedanke dieſer
phyſiocratiſchen Volkswirthſchaftspflege iſt: der Staat ſoll eine Be-
ſteuerung
einrichten, welche den Landmann nicht mehr ruinirt; die
Verwendung ſeiner Einnahmen ſoll nicht mehr auf den luxe de déco-
ration
gehen; er ſoll daran feſthalten, daß er nicht ſo ſehr auf die
Zunahme der Bevölkerung als auf die der Einnahmen zu ſehen habe;
zu dem Ende ſoll er die volkswirthſchaftliche Bewegung ſowohl in Be-
ziehung auf Gewerbe als auf Handel frei geben (pleine liberté de la
concurrence, M. XXV.
). Die Verwaltung namentlich ſoll in Ver-
wendungen der Staatsgelder für öffentliche Zwecke nicht ſparſam ſein;
„car de très grandes dépenses peuvent cesser d’être excessives par
l’augmentation des richesses“ (M. XXVII.);
ja die Verwaltung ſoll
ſogar die nationalökonomiſche Bildung neben der juriſtiſchen aufſtellen:
l’étude de la jurisprudence humaine ne suffit pas pour former les
hommes d’État; il est nécessaire que ceux qui se destinent aux
emplois de l’administration soient assujettis à l’ordre naturel le plus
avantageux aux hommes réunis en société (M. II.).
Das iſt offenbar
keine Nationalökonomie mehr; das iſt ſchon etwas, was man in unſerer
Zeit ein ſehr beſtimmtes Programm der wirthſchaftlichen Verwaltung
nennen würde. Für Quesnay iſt die Nationalökonomie, deren orga-
niſche Geſetze ihm die Ordre naturel bilden und für welche ſein Tableau
nur die ſchematiſche Darſtellung iſt, von dem Gouvernement auf das
Beſtimmteſte geſchieden; das letztere hat ſeine ganz feſtſtehende Function,
und die Nationalökonomie iſt ihrerſeits nur das Subſtrat dieſer Thä-
tigkeit der Verwaltung. So ſind hier die Grundlagen des Verſtänd-
niſſes der letzteren gelegt, und wenn er nicht ſchon damals die ſelbſtän-
dige Volkswirthſchaftspflege von der Güterlehre ſchied, ſo war wohl die
Haupturſache davon, daß Frankreich eben auf ſeinen Univerſitäten die
Staatswiſſenſchaften auch in der Form des Jus naturae ſo gut als gar
nicht lehrte, und daher aus dieſen einfachen Principien kein Syſtem
zu machen verſtand. Man gelangte daher nicht einmal zu einer Po-
lizei- oder Cameralwiſſenſchaft, wie in Deutſchland; Güterlehre und
wirthſchaftliche Verwaltung verſchmelzen wieder in Eins und der Name
der „Économistes,“ den die Phyſiokraten annahmen, bedeutete nur
die große Forderung, daß die Verwaltung ſich an die Principien der
Nationalökonomie anſchließen ſolle, und das Bewußtſein, daß ſie un-
mächtig bleiben müſſe, wenn ſie mit ihnen in Widerſpruch trete, wie
[35] es Dupont de Nemours am klarſten in ſeinem Abrégé des prin-
cipes d’Économie politique (2me section, société, Ed. Daire p. 371)

ausſpricht: „La société donc ne peut se faire des lois qu’en dedans
du cercle tracé par les lois naturels.“
Daneben erhält ſich aber mit
gleicher Beſtimmtheit in dieſer ganzen Schule das Verſtändniß, daß
aus dieſer Verſchiedenheit der Geſetze des Güterlebens und der Ver-
waltung nicht eben ein Gegenſatz zwiſchen Volk und Staat hervorgehe,
ſondern daß vielmehr die höchſte Aufgabe der Verwaltung zugleich die
höchſte Identität der Intereſſen für beide enthalte. Quesnay hält
dieſen Grundton ſeiner ganzen Auffaſſung feſt, und die Verhältniſſe
machten es wohl erklärlich, daß er die finanzielle Frage in dem be-
kannten Satz zum Ausgangspunkte nahm: „Pauvre paysan, pauvre
royaume; pauvre royaume, pauvre roi.“
Seine Schule aber kommt
faſt auf jedem Punkte auf den Satz zurück, „que l’intérêt du sou-
verain est identique avec celui des sujets.“
Dieß allgemeinſte Princip
der wirthſchaftlichen Verwaltung durchdringt die ganze phyſiokratiſche
Schule, wenn es auch nur auf die Vor- und Nachproduktion ange-
wendet wird, und die beiden Haupterſcheinungen, die ſich aus den
Werken Quesnays entwickeln, gehören darum in der That der Ver-
waltung und nicht mehr der Güterlehre. Wir dürfen ſie hier nicht
verfolgen; aber ſie ſind bedeutend genug, um der künftigen Geſchichte
als Grundlage zu dienen. Was Colbert für die volkswirthſchaftlichen
Principien des Merkantilſyſtems geweſen, das wollte Turgot für die
der Phyſiokraten ſein. Turgots Miniſterium iſt die direkte Anwendung
der phyſiokratiſchen Verwaltungslehre auf die franzöſiſchen Zuſtände;
es iſt der große Verſuch, zuerſt den Handel und das Gewerbe und
dann den Bauern durch die Maßregeln der Regierung frei zu machen.
Aber er vermochte nicht einmal das negative Element ſeiner Schule
durchzuſetzen, jene „liberté de la concurrence;“ zu der poſitiven Seite
derſelben, zur Idee der Grundentlaſtung, die der phyſiokratiſchen
Schule ihre höchſte volkswirthſchaftliche Begründung verdankt, ohne
daß ſie dieſelbe doch auszuſprechen gewagt hätte, hat auch Turgot ſich
nicht erhoben: vielleicht eben deßhalb nicht, weil ſie ſelbſt die gründ-
liche Umgeſtaltung der ſocialen Ordnung vorausſetzte, die niemand
deutlicher kommen ſah, als eben die Phyſiokraten. Denn ſie ſind
die wahren Socialiſten des
18. Jahrhunderts. Ihr Kampf
gegen die Merkantiliſten wird zu einer in furchtbarem Ernſt ihnen
entgegentretenden Ahnung der kommenden Revolution, die in der Ver-
zweiflung an dem guten Willen der herrſchenden Klaſſe und an dem
Verſtändniß ihrer Gefahren prophetiſch den nahenden Vernichtungskampf
der ſtändiſchen Ordnung vorherſieht. „Modérez votre enthousiasme,
[36] aveugles admirateurs des faux produits de l’industrie! Avant de
crier miracle, ouvrez les yeux et voyez combien sont pauvres,
du moins malaisés, ces mêmes ouvriers qui ont l’art de changer
vingt sous en une valeur de mille écus. Au profit de qui passe
donc cette multiplication énorme des valeurs? Quoi? ceux par les
mains desquels elle s’opère ne connaissent pas l’aisance? Ah, dé-
fiez-vous de ce contracte!“
(Mercier de la Rivière, Ordre na-
turel et essentiel des sociétés politiques, I. p. 199, cf. 280, 81.)

Und neben dieſen Ausbrüchen des Gefühls ein Mann wie Mirabeau
mit ſeinem Ami de l’homme (1770), der erſte, der die eudämoniſtiſche
Idee der Verwaltung auf allen Punkten mit ſpecieller Beziehung auf
die niedere Klaſſe durchführt! Gewaltig waren dieſe Geiſter, und tief
war ihr Verſtändniß deſſen, was den Keim der Gefahr in ſich trug.
Aber dennoch waren ſchon damals die Dinge zu weit gediehen, um
noch mit einzelnen, wenn auch noch ſo großartig angelegten Verwaltungs-
maßregeln geändert werden zu können.


Das nun iſt die phyſiokratiſche Schule in ihren Hauptrichtungen.
Allerdings iſt ſie zunächſt und vor allem eine franzöſiſche Erſcheinung.
Allein ſie ſteht ſo wenig vereinzelt wie die Merkantiliſten Englands.
Jene eigenthümliche Auffaſſung, welche die Bewegung und das Leben
der Geiſter eben nur in der Bücherwelt findet und es ſtets an einzelne
literariſche Namen knüpft, ohne ſich um alles andere zu kümmern, was
neben und über denſelben vorgeht, hat auch hier eine höchſt enge und
einſeitige Anſchauung jener Schule erzeugt. In der That nämlich ſind
die Phyſiokraten nur eine ganz beſtimmte Geſtalt der großen Bewegung,
welche das 18. Jahrhundert charakteriſirt und alle continentalen Länder
ergreift. Dieſe Bewegung iſt keine geringere, als die Richtung der
Verwaltung
in Geſetzen und Thätigkeit auf die Hebung der nie-
deren landwirthſchaftlichen Klaſſe
und der Rohproduktion
überhaupt. Die Phyſiokraten, über die ſelbſt die Literaturgeſchichte ihre
Vorgänger, deren wir erwähnt haben, vergißt, ſind nichts als der
franzöſiſche, auf dem erſten nationalökonomiſchen Syſtem begründete
Ausdruck dieſer neuen Bahn, welche die Volkswirthſchaftspflege
einſchlägt. Es wird daher die Aufgabe der künftigen Geſchichtſchreibung
ſein, die Geſammtheit aller dieſer großen Maßregeln nicht als eine
Schule der Nationalökonomie, welche letztere nur beiläufig darin vor-
kommt, ſondern als eine neue Epoche der wirthſchaftlichen Verwaltung
zuſammenzufaſſen. Selbſt in England, wo die Verwaltung der
inneren Angelegenheiten ſtets auf dem niedrigſten Standpunkt ſteht,
erkennt man deutlich in Literatur wie in Praxis dieſe Richtung. Die
großen Arbeiten von Arthur Young und zum Theil auch die von John
[37] Stuart löſen ſich von der einſeitig merkantiliſtiſchen Färbung los, und
namentlich der erſtere iſt bekanntlich der erſte eigentlich landwirthſchaft-
liche Schriftſteller Englands. In Deutſchland aber tritt jener Grund-
zug des 18. Jahrhunderts noch viel deutlicher zu Tage. Hier beginnt
die Verwaltung wirklich praktiſch in die landwirthſchaftlichen Verhält-
niſſe einzugreifen, und zwar in zwei Richtungen; zuerſt in den erſten
großen Verſuchen, eine durchgreifende Aenderung in der Lage der unfreien
ländlichen Beſitzer hervorzubringen, gemeſſene Frohnden ſtatt der un-
gemeſſenen einzuführen, Ablöſungen auf dem Wege freier Vereinbarung
zu erzielen, namentlich aber die Leibeigenſchaft vollſtändig aufzuheben;
dann in der Herſtellung eigener Organe für die landwirthſchaftliche
Verwaltung, den Landesökonomie-Collegien und ähnlicher Inſtitute,
deren Geſchichte die Vorläuferin der gegenwärtigen Miniſterien der
Landwirthſchaft und der öffentlichen Bauten bildet. Wir werden unten
in der Geſchichte der Entlaſtungen, Ablöſungen und Gemeinheits-
theilungen, und ſpäter in der Landwirthſchaftspflege das Einzelne dar-
ſtellen. Hier möge zunächſt nur die Thatſache feſtſtehen, daß die phy-
ſiokratiſche Schule ſich von dieſem großen europäiſchen Hintergrund nur
durch ihren ſyſtematiſchen Inhalt und durch den großartigen, wenn
auch mißlungenen Verſuch Turgots abhebt, während gegenüber der
allerdings viel bedeutenderen literariſchen Bewegung in Frankreich in
der Verwaltung Deutſchlands viel mehr wirklich geſchieht, als jene
theokratiſche Schule Frankreichs dort möglich machen konnte. Und erſt
in dieſem Sinne kann man von jenem Syſtem als dem Führer und
Haupt einer zweiten ſelbſtändigen Epoche der Volkswirthſchaftspflege
und der neueren Verwaltung des geſammten Europas reden.


In ganz ähnlicher Weiſe muß nun der eigentliche Charakter der
Schule von Adam Smith eben ſo ſehr in dem Verhältniß zur Verwal-
tung, als in ihrem nationalökonomiſchen Inhalt geſucht werden. Und
dieß wollen wir gleichfalls hier kurz andeuten.


c) Die Lehre von Adam Smith und ihr Verhältniß zur wirthſchaftlichen
Verwaltung.

Es kann natürlich auch nicht entfernt unſere Abſicht ſein, hier die
ohnehin wohlbekannte Lehre von Adam Smith im Allgemeinen darzu-
ſtellen. Indem wir dieſelbe nach allen Seiten hin vorausſetzen, müſſen
wir jedoch den Standpunkt deſſelben in Beziehung auf die Verwaltung,
die Gründe, warum er einen ſo mächtigen Anklang namentlich in
Deutſchland fand, und endlich die Geſtalt der Volkswirthſchaftspflege,
wie ſie aus dieſem Einfluſſe Adam Smiths hervorgeht, ſo kurz und
beſtimmt als möglich charakteriſiren.


[38]

Das achtzehnte Jahrhundert iſt im Guten wie im Böſen die Zeit
der polizeilichen Bevormundung des Volks. Die ganze Theorie des
Eudämonismus, wie ſie Chriſtian Wolf zuerſt zu einem Syſteme ver-
arbeitet, iſt zum Inhalt der ganzen innern Verwaltung, namentlich alſo
auch der Volkswirthſchaftspflege geworden. Die Abſichten dabei waren
meiſt vortrefflich, die Mittel oft ſehr rationell, das Ziel ein großes.
Allein das größere Element der perſönlichen Selbſtändigkeit, der Drang
nach Selbſtthätigkeit im Volke, kurz das Bedürfniß nach ſtaatsbürgerlicher
Freiheit war bereits ſo groß, daß auch das Beſte, was die Regierungen
boten und gaben, unwillig oder gar nicht angenommen wurde, weil
die Völker die Herren auch ihres eigenen Glücks ſein wollten. So ent-
ſtand jene tiefe Spaltung zwiſchen Volk und Staat, die ſich bis auf
den heutigen Tag fortſetzt, jenes tiefe Mißtrauen des erſteren gegen
den letzteren, das bis zur entſchiedenſten Negation geht; und es war
daher natürlich, daß jeder, der ſeine Anſichten auf dieſen Gegenſatz
baute, als Bundesgenoſſe jener faſt unwiderſtehlichen Zeitrichtung be-
grüßt wurde.


Da trat Adam Smith mit ſeiner Wealth of Nations auf. Er
vertritt zwei Gedanken, die ſo tief in das Leben eingegriffen haben,
wie wenig andere, nicht ſo ſehr wegen ihrer Wahrheit, als wegen ihrer
Harmonie mit dem ganzen Entwicklungsgange der ſtaatlichen und geſell-
ſchaftlichen Ideen jener Epoche. Der eine iſt ein allerdings rein national-
ökonomiſcher, der andere aber iſt das verwaltungsrechtliche Princip
der Smithſchen Schule
; und es iſt ſchwer zu ſagen, welches von
beiden das hiſtoriſch bedeutendſte geweſen iſt, obwohl man faſt nur das
erſtere erkannt hat. Dieß nun war der Gedanke, daß die Quelle des
Werthes und damit des Reichthums die Arbeit ſei. Die Arbeit aber
iſt, im Gegenſatze zum Beſitze oder Kapital das nationalökonomiſche
Lebensprincip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft; die Idee, daß der
Reichthum aus der Arbeit als ſolcher hervorgehe, war zugleich die Idee,
daß in ihr die Quelle der wirthſchaftlichen Gleichheit und der einzigen
möglichen Hebung der niederen Klaſſe liege. Es war nicht anders
möglich, als daß dieſer Grundſatz auf einen dankbaren Boden fiel und
volles Verſtändniß fand; an ihn knüpft ſich die ganze Nationalökonomie
des Jahrhunderts, das Adam Smith folgt. Doch das zu verfolgen,
iſt nicht unſere Sache. Der zweite Grundgedanke Adam Smiths da-
gegen war der, daß die wahre Quelle alles Gedeihens der Wirthſchaft
durch die Arbeit in dem freien Verſtändniß des Einzelnen von ſeinem
eigenen Intereſſe liege. Jeder wird am beſten ſelbſt wiſſen, was ihm
am nützlichſten iſt; das iſt das Smithſche „Selfintrest.“ Die Conſequenz
davon iſt die entſchiedene Verurtheilung der polizeilichen
[39] Bevormundung auch in wirthſchaftlicher Hinſicht
; er fordert
unbedingt an ihrer Stelle die freie Selbſtbeſtimmung des Einzelnen;
er erklärt geradezu, es ſei eine „impertinence and presumtion of the
Government, to watch over the industry of private people.“
Das
waren Gedanken, welche dem Engländer vollkommen geläufig waren;
dem Continente waren ſie neu, und mußten in jener Zeit als das
Evangelium der wirthſchaftlichen Freiheit der neuen ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft begrüßt werden. Und die nächſte natürliche Folge war die,
daß diejenige Nationalökonomie, welche die Wahrheit dieſes Princips
durch die abſoluten Grundſätze der Güterlehre bewies, an und für ſich
als die wahre Nationalökonomie begrüßt wurde. Man nahm das wirth-
ſchaftliche Princip um der freiheitlichen Conſequenz willen und bewies
das freiheitliche Princip wieder durch die wirthſchaftlichen Conſequenzen
des Syſtems. Das Loſungswort der Nationalökonomie ward durch
Adam Smith die „Arbeit,“ das Loſungswort der geſammten Staats-
wiſſenſchaft dagegen die „Freiheit.“


Das iſt es nun, was der ganzen theoretiſchen Bewegung auf dieſen
beiden Gebieten in unſerem Jahrhundert ihre Geſtalt gegeben hat. Wir
überlaſſen dabei die nationalökonomiſche Seite der Geſchichte der Volks-
wirthſchaftslehre; aber der Gang der Volkswirthſchaftspflege bedarf doch
einiger Bemerkungen.


Adam Smith hatte ſein Princip der wirthſchaftlichen Freiheit in
ächt engliſcher Weiſe aufgefaßt, als die einfache Negation des Staats
und ſeiner Berechtigung in volkswirthſchaftlichen Dingen. Die erſte
große Folge davon war, daß man von ihm aus die Nationalökonomie
principiell von der übrigen Wiſſenſchaft ſcheiden, und ſie als eine
ſelbſtändige Wiſſenſchaft behandeln lernte. Man kann, namentlich bei
der gegenwärtig herrſchenden Verwirrung aller Begriffe auf dieſem Ge-
biete, nicht oft und nachdrücklich genug darauf hinweiſen, daß bis zum
Anfang unſeres Jahrhunderts überhaupt keine ſelbſtändige Na-
tionalökonomie exiſtirt hat
, ſondern daß ſie nur als begründendes
Moment an der Volkswirthſchaftspflege vorkommt; ſelbſt Quesnay konnte
ſie aus dieſer Verſchmelzung nicht herausreißen. Erſt jetzt beginnt man
zu verſtehen, daß es eine Nationalökonomie gibt, und von da an fängt
die eigentlich nationalökonomiſche Literatur an, ihre Stellung einzu-
nehmen. Allein ſie ſteht beinahe ausſchließlich auf den Schultern von
Adam Smith. Nun ließ ſich aber, trotz aller Macht dieſer Lehre, denn
doch nicht ſo einfach das Daſein, die Nothwendigkeit, ja die Function
des Staats und ſeiner Verwaltung nicht bloß in Recht und Verfaſſung,
ſondern auch in der Volkswirthſchaft abweiſen. Die große, ſyſtematiſch
ausgearbeitete ſtaatsrechtliche Literatur ſtand aufrecht da; die Rechts-
[40] philoſophie behandelte vor allem den Staat; fehlte auch gänzlich der eigent-
liche Begriff der Verwaltung, ſo erhielt ſich doch die alte Polizeiwiſſen-
ſchaft nach ihrem ganzen Umfang. Das Staatsrecht mußte daher von
der Nationalökonomie wenigſtens nach wie vor gewiſſe Anſtalten, wie
Münze, Poſt, andere „Regalien“ fortwährend behandeln; die Rechts-
philoſophie konnte am Ende nicht läugnen, daß die idealen Aufgaben
des Staatsbegriffes denn doch auch zum Theil im Gebiete der materiellen
Elemente des Daſeins liegen; die Polizeiwiſſenſchaft hatte von jeher die
volkswirthſchaftliche Verwaltung in ihrer Weiſe behandelt. Adam Smith
hatte für England leichtes Spiel gehabt; aber in Deutſchland war es
denn doch mit jenem kahlen Begriff des Selfinterest nicht gethan. So
wie daher ſeine Lehre in Deutſchland Platz griff, mußte die Frage ent-
ſtehen, wie ſich nunmehr jene neue ſelbſtändige Nationalökonomie zu
der Staatslehre, die man in England gar nicht kannte, verhalten werde.


Es iſt ein eigener Theil der Geſchichte der deutſchen Wiſſenſchaft,
der uns dieſen merkwürdigen Proceß der Theilung und wieder der Ver-
ſchmelzung jener Richtungen zeigt; aber er kann erſt dann und von dem-
jenigen geſchrieben werden, der ſich über den Begriff und den ſelbſtändigen
organiſchen Inhalt der Güterlehre vollkommen klar iſt. Wir ſind noch
mitten in demſelben. Es muß uns daher hier, wollen wir nicht alle
uns zu Gebote ſtehenden Gränzen unſerer Aufgabe überſchreiten, ge-
nügen, die Hauptgeſtaltungen anzugeben, die aus jener Bewegung
hervorgehen, indem wir die allgemeinen Grundlagen als hinreichend
bekannt vorausſetzen.


Wir glauben nun, daß es unſerem Zwecke am meiſten entſprechen
wird, wenn wir jene Bewegung in die drei Hauptepochen eintheilen,
in denen ſie verläuft, und an die ſich im Weſentlichen wohl die künftige
Geſchichte dieſes Gebietes der Staatswiſſenſchaft anſchließen wird. Wir
bezeichnen ſie in Kürze als die der Staatswirthſchaftslehre, die
der Volkswirthſchaftspflege, und die der angewandten Na-
tionalökonomie.


Ohne allen Zweifel iſt nun die erſte Epoche die bei weitem reichere
und bedeutendere, und überragt an Umfang wie an Tiefe die folgenden
ſo ſehr, daß nicht einmal eine Vergleichung recht möglich iſt.


Als nämlich mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts das Werk
von Adam Smith nach Europa kam, traf es den deutſchen Geiſt in
der vollen, kräftigen Bewegung, welche überhaupt eine neue, freiere
Geſtaltung des geſammten Staatslebens ſuchte und forderte. Damals
dachte man noch viel über Weſen und Inhalt des Staats nach; der
Begriff des Staats, jung und lebendig, wenn auch unklar, fühlte daß
er alle menſchlichen Verhältniſſe in ſich aufnehmen und verarbeiten
[41] müſſe, ohne doch denſelben ihre Selbſtändigkeit in der oberflächlichen
Weiſe zu nehmen, wie es die ſchon trivial gewordene Polizeiwiſſenſchaft
zu thun gewohnt war. Die großartige Auffaſſung der Lehre von
Adam Smith imponirte daher dieſer geiſtigen Arbeit der Deutſchen, aber
ſie unterjochte ſie keineswegs. In dem Suchen nach der neuen Staats-
idee, welche aus der letzteren geboren werden ſollte, konnte jenes ein-
ſeitige Princip der Negation der Staatsverwaltung, die leere negative
Freiheit des Selfinterest um ſo weniger genügen, als denn doch die Ge-
wöhnung an eine wirkliche, und vielfach ſo höchſt wohlthätige Regierung
eine tiefgewurzelte war. Ein einfaches Annehmen der Auffaſſung von
Adam Smith war daher zwar für ſein nationalökonomiſches Princip
der Arbeit ſehr wohl möglich; ſein verwaltungsrechtliches der individuellen
Ungebundenheit dagegen iſt nicht einmal recht geſehen, viel weniger
angenommen worden. Im Gegentheil ging ſchon mit dem Anfange
dieſes Jahrhunderts die deutſche Wiſſenſchaft vielmehr daran, die Idee
und das Syſtem der Nationalökonomie in die organiſche Idee des
Staats aufzunehmen und mit derſelben wo möglich auf allen Punkten
ſyſtematiſch zu verarbeiten. Das nun war wiederum nur von Einem
Standpunkt aus möglich. Hätte man ſchon damals in der National-
ökonomie gekannt, was ſie wirklich iſt, nicht etwa einen Theil der
Staatslehre, ſondern vielmehr ein ganz ſelbſtändiges Gebiet des Lebens
der Perſönlichkeit, ſo hätte man einen gemeinſamen höheren Begriff
ſuchen müſſen, dem man auch das organiſche Staatsleben als Theil
oder Moment deſſelben hätte unterordnen müſſen. Das aber überließ
man der Philoſophie, und ſo weit ging daher noch die Tradition der
alten Staats- und Rechtslehre, daß man für alle praktiſchen Fragen,
alſo auch für die der Wirthſchaft, den Staatsbegriff an die Spitze
ſtellen zu müſſen glaubte. So entſtand die Vorſtellung von der Staats-
wirthſchaft
und ihrer Wiſſenſchaft, der Staatswirthſchaftslehre,
welche die Nationalökonomie in irgend einer Weiſe als Theil der Staats-
wiſſenſchaft, das iſt als ein Moment an der Wiſſenſchaft vom
Staate
behandeln wollte, und zwar im Allgemeinen von dem Stand-
punkte aus, daß die Nationalökonomie die Geſetze lehre und enthalte,
welche der Staat anzuerkennen und zu verwirklichen habe. Das iſt der
eigentliche Charakter der Epoche der Staatswirthſchaftslehre, die mit dem
Anfange dieſes Jahrhunderts beginnt, und deren letzter großer, hoch-
bedeutender Vertreter Lotz iſt (Staatswirthſchaftslehre, 2. Aufl. 1838).


Man kann nun wohl im Allgemeinen ſagen, daß gleich anfangs
in dieſer Verſchmelzung das Gefühl vollkommen klar iſt, daß im Grunde
dennoch Nationalökonomie und Staatswirthſchaft zwei ſehr verſchiedene
Dinge ſeien; allein über das wahre Verhältniß iſt man ſich aus einem
[42] ſehr nahe liegenden Grunde niemals recht klar geworden. Während
man nämlich wenigſtens zum Theil ſehr gut wußte, was eigentlich die
Nationalökonomie ſei, hatte man keinen klaren Begriff von der
Verwaltung
. Man vergaß, daß wenn die Geſetze der National-
ökonomie wirkliche Geſetze ſeien, ſie ſich durch eigene Kraft verwirk-
lichen müßten; man ſah nicht, daß das, was erſt des Staats bedarf
um ins Leben zu treten, dann kein Geſetz mehr iſt. Man kam daher
zu der Vorſtellung, daß eben nur das Nationalökonomie ſei, was über-
haupt direkt oder indirekt durch die Thätigkeit des Staats vollzogen
werden könne. Natürlich war auch das wieder nicht durchführbar, denn
die Begriffe von Arbeit und Werth, die Geſetze des Angebots und der
Nachfrage waren denn doch ganz unabhängig vom Staate. Und ſo
beginnt dieſe Epoche der „Staatswirthſchaftslehre“ gleich anfangs mit
einer Richtung, welche die Frage nach dem Verhältniß der National-
ökonomie zur Staatswirthſchaft und Wiſſenſchaft zum Grunde legt,
während eine zweite Richtung, dieſer Frage nicht Herr und ſie daher
auch zur Seite liegen laſſend, unbeirrt von ihr direkt auf die Staats-
wirthſchaft eingeht. An der Spitze der erſten Richtung ſteht Soden,
der die Frage nach jenem Verhältniß als Einleitung ſeines ganzen
Werkes hin und her wirft. Bei ihm verſchwindet aber der ſtrenge Be-
griff der Nationalökonomie als der organiſchen Güterlehre in „das
höchſte Sittengeſetz des Wohlwollens, der Humanität, und demgemäß:
Beglückung der Nationalindividuen“ (die Nationalökonomie, 1. Bd.
1805. §. 17) „aber im Princip der Staatsverwaltung liegt dazu
keine Pflicht, alſo auch kein Zwangsrecht. Das Princip der Staats-
verwaltung iſt nur: Begründung, Sicherung und Bewährung der
ſtaatsgeſellſchaftlichen Vortheile, in ſo weit ſie aus der ſtaatsgeſellſchaft-
lichen Verbindung unbedingt fließen.“ Dann fährt er fort, mit wenig
Worten die Hauptſache berührend: „In dieſer Abſonderung der Begriffe
liegt, bei dem unruhigen Geiſte der Regierungen und nach der ihrem
Charakter eigenen Tendenz zur Ausdehnung der Macht, das Pal-
ladium der bürgerlichen Freiheit.“ Das war ſehr wahr und ganz aus
Adam Smith, aus deſſen Studium überhaupt Sodens Werk hervor-
ging; allein die Unklarheit ſeiner Vorſtellung zeigt ſich ſofort wie er
weiter kommt; eben hat er das „Zwangsrecht“ geläugnet, in §. 21
deducirt er wieder ſeine Nothwendigkeit; immer mit dem Gedanken, daß
die „Geſetze der Nationalökonomie die Grundſätze beſtimmen“ ſoll, nach
denen dieß Zwangsrecht ausgeübt wird (ebd). Die Nationalökonomie iſt
ihm (§. 25) die „ſchöne Haushaltung der Natur“; die Staatswirthſchaft
iſt ihm dann wieder identiſch mit der Staatsverwaltung (§. 17). Zu
einem rechten Abſchluß gelangt er nicht. Chr. Schlözer, der Gründer
[43] der wohl ſo genannten deutſch-ruſſiſchen Schule, hat ſich in ſeiner „Staats-
wirthſchaft“ oder Lehre vom Nationalreichthum (1804. 2 Bde.) mit der
principiellen Frage gar nicht abzugeben, die Materie aber ohne Syſtem
durch einander geworfen. Eben ſo unſicher bleibt Hufeland, trotz
dem daß er Soden weit an dialektiſcher Schärfe überragt. In ſeiner
„Neuen Grundlegung der Staatswirthſchaftskunſt“ (Bd. 1. S. XXX)
will er dieſelbe unter die Staatswiſſenſchaften reihen; auf S. 112—118
dagegen ſcheidet er mit Recht ſtrenge die Nationalökonomie oder „Güter-
lehre“ vom Staate. In der That iſt die folgende Zeit über dieſen
ganzen Zweifel gar nicht hinausgekommen. Sartorius, Abhandlung
über die Elemente des Nationalreichthums (Göttingen 1806) ſchließt die
gleiche Unterſuchung damit, daß er die Freiheit der Privatwirthſchaft
als Regel, die Einmiſchung des Staats als Ausnahme fordert; freilich
fällt bei ihm dieſe Ausnahme ſehr ausgiebig aus, und ein Princip für
dieſelbe fehlt gänzlich. Als allmählig mit den zwanziger Jahren der
Begriff der „Staatswiſſenſchaften“ an die Stelle der alten Polizeiwiſſen-
ſchaft tritt, laſſen die erſteren jene Frage überhaupt fallen, und finden
ſie höchſtens mit einer paſſenden Phraſe ab, während ſie in einzelnen
Arbeiten noch vielfach verhandelt wird, wie bei Behr, die Lehre von
der Wirthſchaft des Staats (1822). Pölitz hat dann verſucht, Staats-
wirthſchafts- und Volkswirthſchaftslehre in ihrem Verhältniß zu einander
auf die möglichſt einfache Formel zurück zu führen. Er ſagt (Staats-
wiſſenſchaft Bd. II. S. 133. 1827) die Staatswirthſchaftslehre unter-
ſcheidet ſich dadurch weſentlich von der Volkswirthſchaftslehre, daß dieſe
von dem Begriff (er meint die Thatſache) „des Volkes und den Grund-
bedingungen des Volkslebens, jene vom Begriffe des Staats und den
Grundbedingungen des Staatslebens ausgeht.“ Da er aber vom
Staate eben keinen Begriff hat, ſo kommt er ſofort zu dem bezeichnenden
Satze, daß die Staatwirthſchaftslehre in den Grundſätzen beſteht, nach
welchen jene Grundbedingungen des Volkslebens, nämlich das „Recht
und die Wohlfahrt“ unter die Garantie des rechtlich geſtalteten
Zwanges
geſtellt werden. — Rotteck dagegen hat ſie in ſeiner Fort-
ſetzung von Aretins Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie Bd. II.
Abth. I. S. 259 ff. ſogar ins eigentliche Staatsrecht aufgenommen.
Was er eigentlich meint, iſt ſchwer zu ſagen, wie denn überhaupt das
Verhältniß zwiſchen Pölitz und Rotteck darin beſteht, daß bei Pölitz die
Form klar und das Princip unklar iſt, während Rotteck im Princip
klar, in den Begriffen dagegen ſehr unklar erſcheint. Neben dieſer
erſten Richtung ſteht nun die zweite, die ohne viel dialektiſchen Zweifel
über Weſen und Werth der Nationalökonomie geradezu dem Staate auf
Grundlage ihrer Anſchauung von der wirthſchaftlichen Wohlfahrt die
[44] Aufgabe vindicirt, die ganze Nationalökonomie direkt durch Staats-
geſetze und Thätigkeit zu regeln. Hier ſtellt ſich zuerſt Adam Müller
in ſeinen „Elementen der Staatskunſt“ 1808 auf den Standpunkt, die
landwirthſchaftlichen und gewerblichen Verhältniſſe den höhern Staats-
zwecken zu unterordnen; ihm iſt hier wie immer die Regierung der
„Vater“ des Volkes. Fichte’s Geſchloſſener Handelsſtaat (1800) iſt in
der That nichts anderes, als der erſte große Reflex der franzöſiſchen
ſocialiſtiſchen Ideen in einem großen deutſchen Geiſt; er iſt die erſte
deutſche Utopie, die wir haben, aber ohne Bewußtſein davon, daß er
nur Utopie iſt. Ludens Handbuch der Staatsweisheit oder der Po-
litik (1811) iſt im Grunde nur eine geiſtreichere Darſtellung des wirth-
ſchaftlichen unfreien Eudämonismus, ohne tiefere Bedeutung. Erſt als
unterdeſſen das Studium der eigentlichen Nationalökonomie weiter ge-
diehen iſt, gewinnt die „Staatswirthſchaft“ die Tiefe und Breite, die
ſie zu einer bedeutenden Erſcheinung macht. Sie wird zu einer voll-
ſtändigen Nationalökonomie, die aber mit einer beinahe vollſtän-
digen Volkswirthſchaftspflege äußerlich verbunden iſt
,
ohne daß man recht dazu gelangt wäre, ſich über den Unterſchied beider
klar zu werden; höchſtens daß man die „reine Staatswirthſchaftslehre“
als Nationalökonomie der „angewandten“ als Volkswirthſchaftspflege
vorauf ſendete, ohne zu einem Verſtändniß des innern Verhaltens
zu gelangen. Die beiden bedeutendſten Werke in dieſer Richtung, die
eigentlichen Vertreter der „Staatswirthſchaftslehre“ ſind Kraus, Staats-
wirthſchaftslehre, 1. Aufl. 1817 (ſehr kurz), 2. Aufl. 1837 in 5 Bdn.
von H. v. Auerswald herausgegeben, namentlich aber Lotz, Handbuch
der Staatswirthſchaftslehre, 3 Bde. 2. Aufl. 1838, ein Mann, der im
Einzelnen von wenigen erreicht, im Ganzen bisher von niemanden
übertroffen iſt, und deſſen Arbeit man immer mit größtem Nutzen
ſtudiren wird. An ſie ſchließen ſich etwa noch Bülau, der Nachfolger
von Pölitz (Handbuch der Staatswirthſchaftslehre 1835), eben ſo glatt,
breit und klar, aber nicht ſo umfaſſend im Ganzen, und Schön, Neue
Unterſuchung der Nationalökonomie und der natürlichen Volkswirth-
ſchaftsordnung (1835). Auch dieſe ganze Richtung iſt ſich principiell einig
darüber, daß nirgend ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen der National-
ökonomie und der Thätigkeit und Aufgabe des Staats beſtehe, und
Mühe genug gibt ſich namentlich Lotz (§. 5. 6.) dieß Verhältniß wiſſen-
ſchaftlich zu formuliren, namentlich zu beſtimmen, „wie weit die
Staatswirthſchaftslehre den Staatswiſſenſchaften gehört“ (S. 10.), eine
Frage, die uns wunderlich erſcheinen würde, wenn jene Staatswirth-
ſchaft ihm nicht als Nationalökonomie erſchienen wäre. Allein zu einem
Abſchluß konnte dieſe Richtung nicht gelangen, und wir dürfen wohl
[45] hier den tiefern Grund dafür wiederholen. Jene Unterſcheidung nämlich
iſt nie durchzuführen, ſo lange die Wiſſenſchaft keinen beſtimmten Be-
griff vom Staate hat. Es iſt von jeher der große Mangel der praktiſchen
Staatswiſſenſchaft geweſen, die Aufſtellung und Durchführung des Staats-
begriffes für etwas außerhalb ihres Bereiches liegendes anzuſehen. Sie
hat denſelben nicht bloß der Rechtsphiloſophie überlaſſen, ſondern ihn
auch gar nicht von derſelben aufgenommen. Sie gelangte dadurch zu
dem Widerſpruch, in allen Punkten ihrer Lehre, wo ſie von der Thätig-
keit des Staats in ſeiner Verwaltung ſprach, ohne den Begriff deſſelben
weiter arbeiten zu müſſen. Sie konnte dadurch natürlich zuerſt zu keinem
Syſteme gelangen, da dieſes doch nur durch jenen Begriff gegeben
wird, und eben ſo wenig zu einem allgemein gültigen Princip für die
einzelnen Functionen, da dieſe gleichfalls nur durch jenes Weſen des
Staats gegeben werden. Die Behandlung aller der Volkswirthſchafts-
pflege gehörenden Theile der Staatswirthſchaft wird dadurch die einer
ſcharfen und gründlichen Beobachtung, ohne daß eine höhere klare Ord-
nung herausträte; natürlich fehlt die Vollſtändigkeit, und an die Stelle
von Grundſätzen muß zu oft das Gefühl der bloßen Zweckmäßigkeit
treten. Das aber konnte bei dem ſich immer höher entwickelnden Or-
ganismus des Staats nicht genügen; es war daher natürlich, daß ſich
neben der Staatswirthſchaftslehre auch andere Richtungen Bahn brachen,
die freilich ihrerſeits eben ſo wenig ausreichten. Wir glauben ſie nur
kurz andeuten zu ſollen.


In jener Verwirrung hat Rau das große Verdienſt, formell den
alten Standpunkt des vorigen Jahrhunderts, die Dreitheilung in Na-
tionalökonomie, Finanzwiſſenſchaft und Volkswirthſchaftspflege aufrecht
erhalten, und damit die Scheidung der erſtern von der letztern gründ-
lich durchgeführt zu haben. Es iſt nicht überflüſſig, über den Werth,
den ſeine Volkswirthſchaftspflege an und für ſich hat, hier zu
reden. Allein, indem wir natürlich dabei gänzlich von allem Einzelnen
abſehen, auch dieſer Standpunkt war nicht fähig, dem wahren Bedürf-
niß zu entſprechen. Nicht wegen des Mangels an Inhalt, und auch
nicht wegen des Syſtems dieſes reichen Werkes, ſondern vielmehr deß-
halb, weil Rau’s Arbeit nirgends zu dem Bewußtſein gelangt, daß
dieſe Volkswirthſchaftspflege ſelbſt wieder nur ein Theil der in-
neren Verwaltung iſt
, und daher, wie es ſcheint, von der Vor-
ſtellung getragen wird und ſie auch wohl bei andern erweckt, als ob
die Volkswirthſchaftspflege die innere Verwaltung ſelbſt ſei.
Es iſt nicht überflüſſig, zu betonen, daß damit dem Bedürfniſſe der
Verwaltung, die mit immer größeren Aufgaben ausgerüſtet ward, nicht
genügt werden konnte. Es erzeugte ſich vielmehr daraus eine neue
[46] Geſtalt dieſer Arbeiten, die in hohem Grade förderlich, dennoch nie für
ſich allein ausreicht. Rau hatte gezeigt, wie viel Stoff nicht etwa bloß
für das Ganze, ſondern auch für die einzelnen Theile der Volkswirth-
ſchaftspflege vorhanden ſei. Die Kraft der deutſchen Arbeit warf ſich
daher jetzt gerade auf dieſe einzelnen Gebiete und leiſtete darin ſo Be-
deutendes, daß die Maſſe und der Werth dieſer Werke das Bewußtſein
und beinahe das Bedürfniß der organiſchen Einheit erdrückte, und bei
der deutſchen Gründlichkeit die wohlbegründete Vorſtellung wach rief,
daß es ohnehin unmöglich ſei, einen ſolchen Stoff zu bewältigen. Das
gewaltige Gebiet der wirthſchaftlichen Verwaltung zerfuhr daher zuerſt
in die großen Einzelwerke über Grundentlaſtung, Waſſerrecht, Poſt-
recht, Eiſenbahnrecht, Bankweſen, Münzweſen, Land-, Forſt- und Berg-
bau, Armen- und Heimathsweſen, Patentrecht, Handelsrecht und an-
deres, nach allen Seiten hin Tüchtiges leiſtend, aber gänzlich des Be-
wußtſeins der innern Einheit, des organiſchen Zuſammengehörens baar.
Nichts wäre verkehrter, als das anzuklagen, oder auch nur nicht hoch
zu achten; allein nichts wäre einſeitiger, als damit ſich allein genügen
laſſen zu wollen. Denn, auch nur rein formell geſprochen, bilden alle
dieſe Zweige denn doch Aufgaben Einer und derſelben höchſten Be-
hörde
; wie nun ſoll es möglich ſein, die weſentliche Verwaltung für
dieſelben herzuſtellen, wenn ſie nicht ſelbſt als nothwendige und orga-
niſche Grundlage derſelben exiſtirt und durch die Wiſſenſchaft zum Aus-
druck gelangt? Der formale Charakter dieſes Zuſtandes, der eben ſo
groß in ſeinen einzelnen Theilen als wichtig in ſeiner praktiſchen Be-
deutung iſt, beſteht deßhalb in der geiſtigen oder, wenn man will, or-
ganiſchen Heimathloſigkeit aller ſeiner einzelnen Gebiete und
das was jenen einzelnen Theilen eben dadurch mangelt, iſt gerade das,
was ſich der Theil nicht ſelbſt geben kann: die Begründung und Be-
gränzung durch das Ganze. Sie bieten alles für alle, welche mit den
Theilen zu thun haben; für die, welche das Ganze verwalten, gibt es
bisher keine Wiſſenſchaft, nicht einmal für die wirthſchaftliche, geſchweige
denn für die geſammte innere Verwaltung. Es iſt die Auflöſung der
alten Staatswirthſchaftslehre in die Einzelgebiete der Volkswirthſchafts-
pflege mit all ihren Vortheilen und Nachtheilen, welche den Charakter
des gegenwärtigen Zuſtandes bildet.


— Da iſt nun noch die neueſte Richtung, die wir in ihrer völligen
Unklarheit in Princip und Syſtem nicht beſſer als mit dem völlig un-
klaren Namen der „angewandten Nationalökonomie“ bezeichnen können,
und die nichts anderes iſt, als ein Zurückfallen in die Kategorien des
Anfangs dieſes Jahrhunderts. Sie erkennt ſtillſchweigend ihre Unfähig-
keit von dem Einzelnen weiter als bis zum Einzelnen zu gelangen.
[47] Von einem Begriffe des Staats, von einem tieferen Verſtändniß der
Perſönlichkeit, von einem organiſchen Gedanken für Nationalökonomie
oder Volkswirthſchaftspflege, geſchweige denn für die Verwaltung über-
haupt oder die innere Verwaltung im beſondern, iſt hier keine Rede
mehr. Es iſt die Abdication der organiſchen Wiſſenſchaft, die durch
hiſtoriſche Unterſuchung um ſo weniger erſetzt werden kann, als das
Ergebniß derſelben gleichfalls nur Stoff zum Stoffe häufen muß, wenn
man nicht den Werth der geſchichtlichen Erſcheinungen, ſondern nur ihre
Thatſache und Geſtalt erkennt. Die große Frage, vor der unſere Wiſ-
ſenſchaft ſteht, iſt daher in der That die, ob es uns künftig genügen
wird, Beobachtungen zu beſitzen oder das Beobachtete zu beherrſchen.


Dasjenige nun, was wir über das bisherige Syſtem, ſeine An-
ordnung, ſeine Mängel und Zufälligkeiten zu ſagen haben könnten,
glauben wir hier nicht anführen zu ſollen, da es eben in Individual-
kritik auslaufen würde. Statt deſſen glauben wir der Sache und unſrer
Auffaſſung am beſten zu entſprechen, wenn wir ſtatt alles Eingehens
auf das Einzelne lieber das der wirthſchaftlichen Verwaltung zum Grunde
liegende Syſtem hier ſelbſt den einzelnen Theilen vorausſenden. Und
wieder verſtatten wir uns, darauf hinzuweiſen, daß für diejenigen,
welche eine philoſophiſche Begründung nicht für erforderlich halten, das
Kriterium der organiſchen Richtigkeit dieſes Syſtems darin geſucht und
hoffentlich gefunden werden möge, daß alle der Volkswirthſchaftspflege
angehörigen Begriffe, Geſetze, Anſtalten, hiſtoriſche Erſcheinungen und
Fragen ſich vollſtändig und ohne Mühe und Zwang in dieſes Syſtem
einfügen. Die Ueberzeugung davon würde nicht bloß einen großen
praktiſchen Werth, ſondern zugleich die Ehre haben, wenigſtens auf
dieſem Punkte jenen ſogenannten praktiſchen Werth der philoſophiſchen
Auffaſſung beweiſen zu können.


IV. Das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung.


Das Syſtem der volkswirthſchaftlichen Verwaltung als drittes
großes ſelbſtändiges Gebiet der geſammten Innern Verwaltung neben die
Verwaltung des phyſiſchen und geiſtigen Volkslebens hingeſtellt, beruht
nun auf folgenden Grundlagen.


Die Aufgabe der innern Verwaltung in der Volkswirthſchaft be-
ſteht nicht darin, die Volkswirthſchaft zu begründen, herzuſtellen, zu
leiten, den Volksreichthum zu erzeugen, oder ähnliche Ziele durch die
Gewalten des Staats zu erreichen. Sie ſoll nur diejenigen Bedin-
gungen
der wirthſchaftlichen Entwicklung herſtellen, welche die Ein-
zelnen ſich mit eigner Kraft nicht ſchaffen können.


[48]

Sie erſcheint daher auch nur da, wo es ſich um ſolche Bedin-
gungen
handelt. Sie kann eben deßhalb auch das Syſtem dieſer ihrer
Aufgaben nicht etwa in dem der Volkswirthſchaft oder Staatswirth-
ſchaft ſuchen wollen. Es iſt unmöglich, ein Syſtem, namentlich der
erſteren, für die Volkswirthſchaftspflege zum Grunde zu legen. Ihr
Syſtem kann gar nicht das der Grundbegriffe und Grundgeſetze der
Volkswirthſchaft ſein, da dieſe niemals das Objekt der Thätigkeit der
Verwaltung ſind. Sondern daſſelbe iſt in der That das Syſtem der
außerhalb oder über der Einzelkraft liegenden Lebensverhältniſſe der
Gemeinſchaft, und zwar inſofern eine Action der Verwaltung für die-
ſelben als eine Aufgabe der wirthſchaftlichen Geſammtinter-
eſſen
erſcheint. Und der, dieſe Aufgabe und ſomit die Thätigkeit der
Verwaltung beſtimmende Wille der Verwaltung erzeugt dann das gel-
tende Recht derſelben. So iſt dieß Syſtem naturgemäß ein vollkommen
ſelbſtändiges und eigengeartetes, und dennoch wohl ein ſehr einfaches.


Die geſammte Volkswirthſchaftspflege und ihr Recht zerfällt zuerſt
in den allgemeinen und den beſondern Theil.


Der allgemeine Theil behandelt alle diejenigen Lebensverhältniſſe,
welche als Bedingung jeder Art von Wirthſchaft und Unternehmung
erſcheinen. Der beſondere Theil dagegen hat nur mit denjenigen zu
thun, welche durch die beſondern wirthſchaftlichen Verhältniſſe der ein-
zelnen Art
der Unternehmung gegeben ſind.


Das was der allgemeine Theil enthält, gehört daher jedem beſon-
dern Theile wieder an, und muß gleichſam als Einleitung für jede der
Abtheilungen dieſes beſondern Theiles angeſehen werden. Es iſt der
Stamm, aus dem die großen Zweige der Verwaltung entſproſſen.
Kein einzelner Theil kann daher ohne den allgemeinen als ein voll-
ſtändiger betrachtet werden. Der letztere muß vielmehr den erſteren auf
allen Punkten gleichſam durchdringen, erheben, verallgemeinern; der
erſtere muß den letzteren vorausſetzen und in einzelnen Fällen anwen-
den; niemals wird die Behandlung eines einzelnen Gebietes voll-
ſtändig, ja nicht einmal recht praktiſch werden, wenn ſie nicht den all-
gemeinen Theil gründlich kennt und denſelben als ein in ſich fertiges
Ganze anſehen kann. Es iſt einer der größten Mängel der gegenwär-
tigen wirthſchaftlichen Verwaltungslehre, daß das organiſche Verhältniß
beider Elemente des Syſtems nicht gehörig ausgearbeitet vorliegt; denn
allgemein gehaltene Beziehungen des Einen auf das Andere nützen hier
nicht viel. Wir erinnern hier nur beiſpielsweiſe an eben das Verhält-
niß von Credit und Landwirthſchaft, von Wegweſen und Forſtwirth-
ſchaft, von Maß und Gewicht und Bergweſen und anderes. Die
Forderung einer ſtrengen Unterſcheidung des allgemeinen Theils, ſeines
[49] Inhalts und ſeines Rechts von dem beſonderen Theil und ſeinen ein-
zelnen Gebieten erſcheint dieſer als die erſte wiſſenſchaftliche Forderung
der ganzen wirthſchaftlichen Verwaltungslehre, und wo immer ein be-
ſonderer Theil behandelt wird, wird derſelbe ſtets das zugleich weſent-
lich Praktiſche dieſer Forderung erkennen.


II. Das Syſtem des allgemeinen Theiles ruht nun auf denjenigen
Verhältniſſen des volkswirthſchaftlichen Lebens, welche ihrem Weſen nach
durch keine Art der Unternehmung erſchöpft, für keine derſelben auch
nur als vorwiegende Bedingung ihrer ſpeciellen Entwicklung angeſehen
werden können, ſondern die gleichmäßig die Vorausſetzung der Wohl-
fahrt aller bilden. Dieſe nun erſcheinen naturgemäß in drei, durch
das Weſen des Lebens überhaupt gegebene Gruppen.


Die erſte hat es mit dem rein perſönlichen Element zu thun, ſo
weit daſſelbe nicht von der Kraft und dem Willen des Einzelnen be-
herrſcht wird. Dieß perſönliche Element iſt das Recht der Einzelnen.
Dieß Recht der Einzelnen erzeugt da, wo ſeine Aufhebung eine Be-
dingung des wirthſchaftlichen Fortſchrittes iſt, die Entwährung als
erſte volkswirthſchaftliche Funktion der Verwaltung, und mit ihr das
Entwährungsrecht. Dieſes nun theilt ſich wieder in die Grund-
entlaſtung
, die eine vorwiegend ſociale Maßregel iſt, die Ablö-
ſungen
, welche im Intereſſe der Geſammtproduktion geſchehen, und
die Enteignungen (Expropriationen) und Zwangsleiſtungen,
welche durch das Intereſſe des Verkehrs gefordert werden.


Das zweite große Element iſt die Natur. Die Verwaltung aber
hat es nicht mit der Natur im Ganzen zu thun, und eben ſo wenig
mit der Natur, ſo weit ſie nur in der Sphäre der Einzelwirthſchaft er-
ſcheint. Die Natur wird erſt da Gegenſtand der Verwaltung, wo ſie
als eine, die Geſammtheit aller Intereſſen beſtimmende, und durch
den Einzelnen nicht mehr zu bewältigende Kraft erſcheint, der jedoch die
Gemeinſchaft durch den Organismus der Verwaltung ihre Gränze vor-
ſchreiben und ihre Ordnung geben kann. Das nun iſt der Fall bei
Feuer und Waſſer. Für Feuer und Waſſer gibt es daher eine Verwaltung
und mithin ein Verwaltungsrecht, das zugleich ein öffentliches, ein
bürgerliches und ein polizeiliches iſt. Dieſe Verwaltung des Feuers und des
Waſſers iſt wieder, wie es im Weſen jeder elementaren Kraft begründet
iſt, zunächſt eine Organiſation des Kampfes mit ihren Gefahren; dann
aber tritt die Verwaltung auch poſitiv ordnend hinzu, namentlich beim
Waſſer, und endlich ſchreitet ſie, wo dennoch jene Kräfte Schaden gethan,
helfend ein, und erzeugt das Verſicherungsweſen. Auf dieſe Weiſe bildet
die Verwaltung der elementaren Verhältniſſe das zweite ſelbſtändige
Gebiet der volkswirthſchaftlichen Verwaltung in ihrem Allgemeinen.


Stein, die Verwaltungslehre. VII. 4
[50]

Das dritte entſteht nun durch das dritte, allen einzelnen Arten
der Unternehmung gemeinſame, für alle ohne Ausnahme gleich weſent-
liche Bedingung bildende Element. Dieß Element iſt der Verkehr.
Der Verkehr wird freilich zunächſt durch die Einzelnen ſelbſt hervor-
gerufen; er iſt ſeinem Weſen nach nothwendig und vollſtändig frei.
Das Syſtem der Verwaltung iſt daher nicht das Syſtem des Verkehrs
ſelbſt; ſondern auch hier ſind es nur diejenigen Bedingungen des
Verkehrs, die ſich die Einzelnen nicht ſelbſt ſchaffen können, welche die
Aufgabe der Verwaltung und damit das Syſtem derſelben bilden. Nun
begreift das Wort „Verkehr“ alle Formen des gegenſeitigen Ueber-
ganges von Gütern und Leiſtungen, von Perſonen und Mittheilungen.
Alle dieſe Formen ſcheiden ſich nun in drei Hauptgruppen, inſofern es
ſich um die Aufgaben der Verwaltung handelt. Wir nennen den erſten
Theil den eigentlichen Verkehr, den zweiten den Werthumlauf,
den dritten den Creditumlauf. Jeder dieſer Theile fordert ſein
eigenes Recht, ſeine eigene Ordnung, ſeine eigene Polizei; gemeinſam
iſt ihnen der Sache nach, daß ſie die Bewegung der Perſonen und
Güter in ihrem Uebergange vom Einen zum Andern enthalten, und
daß die Verwaltung hier diejenigen Bedingungen herzuſtellen hat, welche
der Einzelne nicht ſelbſt leiſten kann. Darnach ergeben ſich folgende
Grundverhältniſſe.


A. Der Verkehr (im eigentlichen Sinne) ſetzt voraus, daß die
materiellen Bedingungen deſſelben von der Verwaltung hergeſtellt wer-
den. Dieſe theilen ſich in zwei Hauptarten, die Verkehrsmittel und
die Verkehrsanſtalten.


Unter den „Verkehrsmitteln“ verſtehen wir diejenigen öffentlichen
Einrichtungen, welche die materiellen öffentlichen Vorausſetzungen der
Verkehrsbewegung von Perſonen und Gütern enthalten. Wir umfaſſen
dieſe öffentlichen Einrichtungen in ihrer Geſammtheit mit dem Aus-
drucke der Verkehrswege. Die Aufgabe der Verwaltung beſteht hier
darin, dieſe Verkehrswege herzuſtellen, zu erhalten und zu ſchützen, ſo
weit die Macht der Verwaltung reicht, weil natürlich das Vorhanden-
ſein und die Güte der Verkehrswege eine der großen Bedingungen der
Werthentwicklung iſt, auf der der Fortſchritt der Volkswirthſchaft beruht.
Die Vertretung der Geſammtintereſſen, die hiedurch der Verwaltung
gegeben iſt, bezeichnen wir im Allgemeinen als das Wegeweſen.


Das Wegeweſen ſeinerſeits ſcheidet ſich nun nach der Natur des
Weges in zwei große, weſentlich verſchiedene Theile.


Der erſte Theil umfaßt die Wege zu Land, oder das ganze
Straßenweſen, von welchem das öffentliche Bauweſen als eigent-
liches Straßenbauweſen den erſten Theil bildet.


[51]

Der zweite Theil beruht dagegen auf dem Waſſer als Mittel
des Verkehrs. Hier erſcheint wieder einer von den Punkten, auf wel-
chem zwei Gebiete in einander greifen. Man kann nemlich das Waſſer-
recht als Theil der elementaren Verwaltung, und man kann es, inſo-
fern es dem Verkehrsweſen angehört, als Theil des Verkehrsmittelrechts
behandeln. An ſich iſt die Stellung, die man dieſem Theil gibt, nicht
weſentlich; will man, ſo kann man das Recht und die Ordnung der
Waſſerſtraßen und Waſſerverkehrsplätze am Ende auch in das eigent-
liche Waſſerrecht der elementaren Verwaltung aufnehmen, wenn nur
das Bewußtſein feſtgehalten wird, daß es eigentlich in das Verkehrs-
weſen gehört. Mit richtigem Takt haben jedoch, ſo viel wir ſehen.
alle Bearbeitungen des öffentlichen Waſſerrechts dieſen Theil deſſelben
ausgeſchloſſen, und höchſtens als Moment für die nähere Beſtimmung
der bei ihnen auftretenden Fragen benützt. Denn in der That iſt hier
das Element des Verkehrs in ſo großem und vorwiegendem Maße die
Hauptſache, daß man über die ſchließlich richtige Stellung in der Behandlung
kaum zweifelhaft ſein kann. Dieß nun zeigt ſich am deutlichſten, wenn
man eben nicht bloß bei dem Waſſer als Verkehrsmittel ſtehen bleibt.
Das eigentliche Verkehrsmittel iſt eben nicht das Waſſer, ſondern die
Schifffahrt. Die Schifffahrt tritt zwar zunächſt als Privatunter-
nehmen auf, wie das der Laſt- und Fahrwägen. Allein die Natur der
Schifffahrt macht dennoch aus ihr ein Verhältniß, das im Bau, in
der Leitung, in dem Recht der Schiffe eine Ordnung im Geſammt-
intereſſe fordert. Und ſo erſcheint denn das Waſſerverkehrsweſen als das
Schifffahrtsweſen im Gebiet des öffentlichen Verkehrsweſens, das
wieder theils als das Recht des Waſſerverkehrs, theils als das der
Schifffahrt auftritt; beide wieder geſchieden in die Binnen- und die
Seeſchifffahrt. Der Waſſerverkehr enthält dann die Ordnung und das
Recht zuerſt der Flüſſe und Canäle, dann der Häfen, endlich der offe-
nen Seewege im Lootſen- und Leuchtthurmweſen, nebſt den Seeſignalen
und dem Rettungsweſen. Das Recht der Schifffahrt dagegen ſpaltet
ſich in das öffentliche Recht des Schiffbaus und das der Schiffs-
führung
. So iſt dieſer Theil des Verwaltungsrechts ein Ganzes.


2) An dieſe Verkehrsmittel als Gegenſtand der Verwaltung ſchließen
ſich nun die Verkehrsanſtalten und ihr Recht. Verkehrsanſtalten
ſind ſolche Einrichtungen, durch welche die Verwaltung die Beförderung
ſelbſt übernimmt. Sie enthalten ein ganzes Syſtem von Inſti-
tuten; jedes derſelben iſt von hoher Wichtigkeit, und jedes bildet daher
auch ein ſelbſtändiges Rechtsgebiet.


Die erſte Anſtalt iſt unzweifelhaft die Poſt. Man braucht hier
vor der Hand über den Begriff des Regals und der Regalität nicht
[52] zu ſtreiten; gewiß iſt die Poſt ein wirthſchaftliches Hoheitsrecht und
damit ein Zweig der Verwaltung der wichtigſten wirthſchaftlichen In-
tereſſen. Das Poſtweſen iſt daher ein eigenes Rechtsgebiet, das ſeine
eigene Darſtellung fordert.


Die zweite Anſtalt iſt die Eiſenbahn. Das Eiſenbahnweſen iſt
eben ſo unzweifelhaft ein Gebiet der Verwaltung; daß die meiſten Ei-
ſenbahnen auf Vereinen beruhen, ändert natürlich in dieſer Sache
nichts. Das Eiſenbahnrecht iſt ſchon jetzt ein ſelbſtändiger Theil der
öffentlichen Rechtslehre.


Den Eiſenbahnen zur Seite ſteht die Dampfſchifffahrt, die
ſich von der übrigen Seeſchifffahrt ſo weſentlich in ihren Verhältniſſen
und Grundlagen unterſcheidet, daß wir ſie ſelbſt da, wo ſie nicht direkt
von der Verwaltung gegründet iſt oder vom Staate ſubventionirt wird,
dennoch mit ihrem ganzen Rechtsverhältniß als eine öffentliche Anſtalt
betrachten müſſen.


Daß das Gleiche für das Telegraphenweſen der Fall iſt, be-
darf keiner weitern Erörterung.


Mit dieſen Gebieten iſt nun das (eigentliche) Verkehrsweſen er-
ſchöpft.


B. Der Werthumlauf hat nun zunächſt denſelben Charakter,
wie der Verkehr. Es iſt die einzelne Perſönlichkeit, welche denſelben
in hundert und aber hundert Verträgen, Traditionen, Zahlungen und
Leiſtungen täglich vermittelt. Es iſt eben die zweite große Form des
Verkehrs, nur eine beſondere dadurch, daß ſein Objekt hier nicht mehr
eine Perſon oder ein Gut, ſondern ſpeciell eben der ſelbſtändige
Werth iſt. Was kann dabei der Gegenſtand der Verwaltung ſein?


Offenbar, hier hat die Verwaltung weder die Bewegung zu er-
möglichen, noch auch ſie ſelbſt herzuſtellen. Das iſt Sache der Ein-
zelnen. Allein Eine Bedingung derſelben gibt es, die der Einzelne
ſich in dieſem die ganze Welt umfaſſenden Werthumlauf nicht verſchaffen
kann; und das iſt die objektive Gewißheit für das richtige Maß des
Werthes, das er im Umlaufe empfängt. Die Aufgabe der Verwaltung
entſteht für den Werthumlauf daher an dieſem Punkte. Die Verwal-
tung muß ſo viel als möglich die Thätigkeit des Einzelnen erſetzen,
mit der er ſich über das Werthmaß die abſolut nothwendige Gewiß-
heit verſchaffen mußte. Das nun geſchieht in drei Hauptformen. Die
erſte iſt die durch die Verwaltung feſtgeſtellte öffentlich-rechtliche Maß-
und Gewichtsordnung
, die zweite iſt das Münzweſen, das
die Ordnung des Geldes regelt, und das dritte endlich iſt das öffent-
liche Recht der Werthpapiere. Dieſe Punkte bezeichnen die Auf-
gabe und die Gränze deſſen, was die Verwaltung für den Werthumlauf
[53] ihrerſeits zu leiſten hat; und es iſt kein Zweifel, daß ſelbſt die einzelnen
Beſtimmungen dieſes Verwaltungsrechts auch natürlich auf das Engſte
in einander greifen.


C. Der Creditumlauf endlich oder das Creditweſen hat na-
mentlich in unſrem Jahrhundert keineswegs bloß ſeinen äußern Um-
fang geändert. Man kann nicht nachdrücklich genug darauf hinweiſen,
daß der Credit in unſrer Zeit einen ganz andern Charakter hat, als
ſelbſt noch vor wenig Jahrzehnten. Der Credit iſt jetzt das geworden,
was er zu werden beſtimmt iſt, er iſt aus einer rein volkswirthſchaft-
lichen Erſcheinung eine ſociale Potenz geworden. Für den Credit reichen
daher die gewöhnlichen bürgerlich rechtlichen Begriffe nicht mehr aus;
der Credit iſt bereits, und wird mehr und mehr eine der größten Auf-
gaben der Verwaltung werden. Die Entfremdung der bisherigen Ver-
waltungslehre vom Begriff und Weſen des Credits iſt nicht aufrecht zu
halten; das bezeichnende Wort für ſeine neue Stellung iſt bereits ge-
funden; es iſt die Organiſation des Credits. Die Organiſation
des Credits bedeutet in der That den Credit als Gegenſtand der innern
Verwaltung, und zwar weſentlich als eine der großen ſocialen Auf-
gaben der nächſten Zukunft. Nur muß man dabei natürlich die enge Auf-
faſſung der Verwaltung fallen laſſen, welche dieſelbe als eine rein
ſtaatliche bezeichnet. Die Organiſation des Credits iſt vielmehr das-
jenige Gebiet der Verwaltung, in welchem das Vereinsweſen als
Organismus der letzteren weſentlich zu wirken berufen iſt
.
In dieſem Sinne aufgefaßt, entfaltet ſich hier ein hochbedeutſamer
Theil der allgemein wirthſchaftlichen Verwaltungslehre. Wir können
demſelben natürlich an dieſem Orte nicht vorgreifen; allein auf Grund-
lage des obigen Begriffes iſt es nicht mehr ſchwierig, dieſe Organiſa-
tion nunmehr in ihren Hauptformen darzulegen.


Die erſte Form des Credits iſt die des Einzelcredits oder rein
perſönlichen Credits. Derſelbe hat wieder zwei Theile. Der erſte
Theil hat es mit der Creditpolizei oder dem Wucher und ſeinem
öffentlichen Recht zu thun; der zweite mit den ſchon ausgeſprochenen
ſocialen Anſtalten für den Einzelcredit in den öffentlichen Pfand- und
Leihhäuſern und ihren Rechtsverhältniſſen. Die zweite Form des
Credits iſt die des Realcredits. Auch dieſe erſcheint zuerſt als ein
rein individuelles Verhältniß zwiſchen Schuldner und Gläubiger; allein
die öffentliche Natur jedes Verkehrs in Credit gibt ihm auch in dieſem
Theile ein eigenthümliches öffentliches Recht, wie es ſeine Natur for-
dert und wie es trotzdem das Einzelne ſich daſſelbe nicht ſichern kann.
Dieß öffentliche Recht iſt das der Grund- und Hypothekenbücher,
die an ſich ein ſelbſtändiges öffentliches Inſtitut ſind, und deren
[54] Angehörigkeit an das wirthſchaftliche Verwaltungsrecht wohl von nieman-
dem ernſtlich bezweifelt werden wird. Daß das Recht der Grund- und
Hypothekenbücher in Beziehung auf die Führung derſelben eine öffent-
liche Ordnung, in Beziehung auf die bürgerlichen Rechtsverhältniſſe da-
gegen, die es ſchafft, ein hochwichtiger Theil desjenigen iſt, was wir
das bürgerliche Verwaltungsrecht genannt haben, liegt auf der Hand.
Neben dieſem Grundbuchsweſen tritt nun das zweite Element des Real-
credits auf in den Realcreditinſtituten aller Art, in denen wieder
das Vereinsweſen als das eigentlich ſchöpferiſche Element erſcheint, und
die großen Grundformen jener Realcreditinſtitute, die Bodencredit-
anſtalten aller Art, hervorruft, während hier die Staatsverwaltung
meiſtens gar nicht, zuweilen nur helfend in zweiter Linie auftritt.


Die dritte Form des Credits iſt nun diejenige, welche wir den
eigentlichen Credit oder den Geſchäftscredit nennen möchten. Das
Weſen dieſes Geſchäftscredits beſteht darin, daß durch denſelben das in
den Händen des Einen befindliche Werthcapital für einen Andern ver-
wendet wird. Es iſt nun Sache der Nationalökonomie, im Einzelnen
nachzuweiſen, wie dieſer Credit zur bewegenden Kraft in dem geſamm-
ten volkswirthſchaftlichen Leben unſrer ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
wird. Die Verwaltungslehre hat dieſe entſchiedene Wahrheit von der-
ſelben als eine jener Thatſachen anzunehmen, welche die Grundlage der
ganzen volkswirthſchaftlichen Entwicklung bilden. Iſt dem aber ſo, ſo
folgt, daß dieſer Credit nicht mehr für die Verwaltung gleichgültig
bleiben kann. Freilich nun iſt es nicht Aufgabe der letztern, ſelbſt
Credit zu geben. Allein der Geſchäftscredit, das geſammte volkswirth-
ſchaftliche Leben umfaſſend, wird eben dadurch eine der entſcheidenden
Thatſachen des Geſammtintereſſes, und das Verwaltungsrecht des Ge-
ſchäftscredits beſteht darnach in der öffentlich rechtlichen Ordnung der-
jenigen Verhältniſſe deſſelben, welche zwar als die nothwendige Vor-
ausſetzung ſeiner Entwicklung anerkannt werden müſſen, dennoch aber
von dem Einzelnen nicht hergeſtellt werden können. Und deßhalb pflegt
man wohl die auf das öffentliche Leben des Geſchäftscredits bezüglichen
Beſtimmungen der Verwaltung die öffentliche Organiſation des Cre-
ditweſens im Beſondern zu nennen.


Dieſe nun hat drei Haupttheile. Der erſte dieſer Theile beſteht in
dem, durch das oben angeführte Weſen des Credits geſetzten bürger-
lichen Verwaltungsrecht
des Geſchäftscredits, der zweite in dem,
was das Geſammtleben für den Zahlungscredit fordert, das dritte
in dem, was den Unternehmungscredit bedingt. Dieſe drei Be-
griffe ſind nun allerdings durch die Nationalökonomie gegeben und be-
gründet; allein da die letztere ſie bisher noch nicht verarbeitet hat, und
[55] wir noch lange zu thun haben, bis wir zur Organiſation des Credits
gelangen, ſo möge es uns geſtattet ſein, ſchon hier die Grundzüge der
Sache ſelbſt aufzuſtellen.


1) Das bürgerliche Verwaltungsrecht des Geſchäftscredits beruht
nationalökonomiſch darauf, daß ſtets der Preis des Credits und die
Leichtigkeit, denſelben zu erlangen, weſentlich bedingt werden durch die
Leichtigkeit und Sicherheit des Verfahrens, durch welches das Vor-
handenſein von Schuld und Forderung einerſeits bewieſen, und dieſe,
wenn bewieſen, auch eingetrieben werden kann. Darauf beruht einerſeits
die geſchichtliche Entwicklung dieſes Theiles des Verwaltungsrechts, an-
derſeits ſein Inhalt. Offenbar nämlich kann ein beſonderes Recht für
den Geſchäftscredit nur da entſtehen, wo derſelbe nicht mehr als ein
Verhältniß vom Einzelnen zum Einzelnen erſcheint, ſondern als eine
das geſammte Geſchäftsleben aller umfaſſende Gewalt auftritt, ohne
welche niemand, auch wollend, ſeine Geſchäfte betreiben kann, und
deren Macht und Conſequenzen auch die größte individuelle Vorſicht
ſich nicht mehr zu entziehen vermag. Es darf uns deßhalb nicht wun-
dern, daß wir auch erſt in unſerm Jahrhundert von einem eigenen
Creditrecht reden, das weder das alte germaniſche noch auch das
römiſche Recht kennt, ja deſſen Grundſätze zum Theil mit den einfachen
Principien des letzteren in direktem Widerſpruch ſtehen. Dieſe Grund-
ſätze aber beziehen ſich, wie geſagt, auf drei Hauptpunkte: die Con-
ſtatirung des Schuldverhältniſſes, die Execution der Creditforderung, und
die Folgen der Zahlungsunfähigkeit. Daraus entſtehen die drei großen
Rechtsverhältniſſe des bürgerlichen Verwaltungsrechts des Geſchäfts-
credits. Sie ſind an ſich bekannt, und es handelt ſich nur darum, ſie
eben als einen Theil des Verwaltungsrechtes anzuerkennen. Das ſind
zuerſt das Recht der Handlungsbücher, beziehungsweiſe ihre
Beweiskraft; dann das Wechſelrecht, in welchem einerſeits die Be-
weiskraft, anderſeits aber auch die Executivkraft eine vom bürgerlichen
Recht weſentlich verſchiedene und zwar nach den Bedürfniſſen des Ge-
ſchäftscredits beſtimmte wird; endlich das Ausgleichsverfahren,
deſſen tiefgreifender Unterſchied vom Concursverfahren wiederum nur
durch das Weſen jenes Credits bedingt wird. Man kann nun —
und das iſt auch meiſtens der Fall — dieſe drei Gebiete als ſelbſtän-
dige Rechtsgebiete behandeln, und es verſteht ſich von ſelbſt, daß da-
gegen an ſich nichts zu erinnern iſt. Das, worauf es aber hier an-
kommt, iſt, daß man ſie als Theile des Verwaltungsrechts aner-
kenne, und das Bewußtſein ihres Zuſammenhangs mit dem Ganzen
deſſelben nicht verliere. Und hier iſt die Rechtswiſſenſchaft noch weit
hinter der Wirklichkeit zurück. Denn nicht nur, daß alle jene Rechts-
[56] gebiete noch gar keine ſyſtematiſche Stellung haben, vielmehr gleichſam
heimathslos in der Luft ſchweben, ſondern es fehlt auch, wir müſſen
ſagen gänzlich das Bewußtſein, daß ſie ganz etwas anders enthalten,
als eine beſondere Form des Privatrechts. Man weiß nicht, daß ſie
in der That diejenigen öffentlich rechtlichen Modificationen
des bürgerlichen Rechts enthalten, welche durch das Weſen des Ge-
ſchäftscredits
als eines Elementes des geſammten volkswirthſchaft-
lichen Lebens bedingt werden. Erſt auf dieſer Grundlage erhalten ſie
ihre wahre Bedeutung. Sie iſt die Baſis der Exegeſe im Einzelnen
und der Auffaſſung im Ganzen, wie aus ihr, und nicht aus den
Principien des bürgerlichen Rechts, die Geſetze hervorgegangen ſind,
nach denen ſie ſich richten. Erſt wenn man ſie als Theile des Ver-
waltungsrechts behandeln wird, werden ſie in ihrem wahren Weſen
verſtändlich ſein. Das genauer zu zeigen, iſt die erſte Aufgabe der
Lehre von der Organiſation des Geſchäftscredits.


2) Der Zahlungscredit iſt zweitens nicht eine beſondere Art
des Credits, ſondern eine beſondere Form ſeiner Benutzung. Es iſt
durchaus nothwendig, ſich eine klare Vorſtellung von demſelben und
ſeiner Funktion zu verſchaffen, wenn man die richtige Stellung der
Verwaltung auch hier beurtheilen will. Was die Zahlung als ſolche
betrifft, ſo braucht nicht erſt dargethan zu werden, daß ſie eine Löſung
einer Verbindlichkeit durch Münze iſt. Im Geſchäftscredit aber er-
ſcheint nun bekanntlich das Verhältniß, daß die Zahlung des Einen
beſtändig von der des Andern abhängig iſt; ſtockt die erſte, ſo ſtocken
alle auf dieſelben im geſchäftlichen Wege angewieſenen Zahlungen.
Nun iſt dabei das Weſentliche, daß dieſer ſpecifiſche Akt der Zahlungen
durch das Vorhandenſein von Werthen aller Art nicht erſetzt werden
kann, ſo wenig etwa wie das Trinken durch das Eſſen, oder das Hören
durch das Sehen. Die Zahlung beruht nicht auf Gütern, ſondern
wird nur vollzogen durch Geld. Es kann jemand ein großes Vermögen
haben und zahlungsunfähig ſein; es kann jemand zahlungsfähig ſein,
und vollſtändig bankerott. Das Zahlen als ſolches erſcheint daher
als ein ſpecifiſches Element des Verkehrs, und doch wieder nicht immer
gegeben durch das Vorhandenſein von Werthen, obgleich ſie der zu
zahlenden Summe vollſtändig entſprechen. Es wird daher eine der
großen Aufgaben der Gemeinſchaft der Intereſſen, die Zahlungen
möglich zu machen
, ſo weit ſie wenigſtens durch Werthe gedeckt ſind,
damit nicht die Stockung der Zahlung für alle auf die Zahlung des
Einen angewieſenen andern Geſchäfte leiden. Und das dafür beſtimmte
Inſtitut iſt die eigentliche Bank. Das Princip alles Bankweſens iſt
es daher, den Zahlungscredit zu organiſiren, und die aus
[57] dieſer Funktion hervorgehenden Rechte bilden das Recht der Banken,
das ganz weſentlich verſchieden iſt von dem der Creditinſtitute. Wir
haben dieß in eingehender Weiſe, mit ſpecieller Beziehung auf das
Bankweſen und das Bankrecht Englands, Frankreichs und Deutſchlands
nachgewieſen in dem Jahrbuch für Geſetzkunde und Statiſtik, 1862
(das Bankweſen Europas und die Geſetzgebung S. 113 — 165), auf
welche Darſtellung wir uns auch für den folgenden Begriff berufen
müſſen.


So bildet das Bankweſen den zweiten Theil der Organiſation des
Credits. Das Papiergeldweſen iſt nur ein Theil deſſelben; und
wieder begegnen wir hier der Thatſache, daß man das letztere eben
wegen dieſes Zuſammenhanges ſowohl bei der Behandlung des Werth-
umlaufes, als bei der der Organiſation des Credits darſtellen kann.
Freilich bringt es die Natur der Banken mit ſich, daß es paſſender in
das letztere fällt; es iſt nur nothwendig, ſich den Zuſammenhang mit
dem Geldweſen klar zu vergegenwärtigen.


3) Der Unternehmungscredit entſteht endlich da, wo die
Arbeit im weiteſten Sinne des Werthkapitals eines andern bedarf.
Für ſeinen Unterſchied vom Zahlungscredit verweiſen wir auf den oben
citirten Aufſatz. Allerdings nun erſcheint erſt im Unternehmungscredit
die wahre gewaltige Kraft des Credits; nur er umfaßt alle Lebens-
verhältniſſe, und nur durch ihn erfüllt ſich erſt die eigentlich ſociale
Bedeutung des Credits. Er hat daher auch ſeinerſeits nicht eben eine
einfache Form, ſondern erſcheint in vielen Formen zugleich, und mit
Recht bildet er daher auch dasjenige Gebiet, an welches man zunächſt
denkt, wenn von der Organiſation des Credits die Rede iſt. Demnach
laſſen ſich alle Verhältniſſe, auf welche er ſich bezieht, auf drei große
Grundformen zurückführen, die ihrerſeits wieder dem Vereinsweſen an-
gehören, und in denen die Aufgabe der Verwaltung daher nicht durch
die ſtaatliche Gewalt, ſondern durch die freie Thätigkeit des Staats-
bürgerthums vollzogen wird. In der That verſteht man die mächtige
Bedeutung des Vereinsweſens überhaupt erſt gerade auf dem Gebiete
dieſer Organiſation des Credits; es iſt das ſeine natürliche Heimath
und der Hauptbeweis, daß ohne das Vereinsweſen auch die Selbſt-
verwaltung nicht auszureichen vermag. Jene Grundformen ſind aber
die folgenden.


Die erſte iſt diejenige, welche wir als die eigentlichen Er-
werbsgeſellſchaften
bezeichnen. Das Weſen jeder Erwerbsgeſell-
ſchaft beſteht darin, daß jedes Mitglied einer, durch die Geſellſchaft
aufgeſtellten Unternehmung einen gewiſſen Beitrag leiſtet, daß aus
dieſem Beitrag ein Capital wird, das allen gehört, und daß endlich
[58] dieß Capital zur Produktion von Gütern verwendet wird. Durch
dieſe Aufgabe, eine Güterproduktion mit dem Geſellſchaftscapital her-
vorzurufen, unterſcheidet ſich die eigentliche Erwerbsgeſellſchaft von den
übrigen Erwerbsvereinen. Daß die Grundform des Beitrages in der
Aktie beſteht, iſt richtig, aber nicht abſolut weſentlich (Kuxe, Com-
manditen). Die Einzahlung auf die betreffenden Aktien iſt aber in
der That ein Unternehmungscredit, den das Mitglied der Unterneh-
mung gibt, und den wir deßhalb auch an einem andern Orte (Syſtem
der Volkswirthſchaft S. 217) den induſtriellen Credit genannt haben.


Die zweite Form iſt die, welche wir als die Creditanſtalten
oder Creditinſtitute (crédit mobilier) bezeichnen. Hier wird in ganz
gleicher Weiſe ein Unternehmungscapital zuſammen gebracht; die Credit-
anſtalten aber unterſcheiden ſich weſentlich von den Erwerbsgeſellſchaften
dadurch, daß ihr Zweck nicht mehr die Produktion von Gütern, ſon-
dern ein Erwerb durch Gewährung von Credit iſt. Dieſer Credit
iſt nun allerdings eben ſo gut wie bei der Bank ein Zahlungscredit,
aber er iſt das weder nothwendigerweiſe, noch iſt er darauf geſetzlich
beſchränkt, wie bei der Bank. Im Gegentheil iſt es eine der Haupt-
aufgaben der Creditanſtalten, Unternehmungscredit zu geben, und ſich
ſelbſt bei Unternehmungen zu betheiligen. Auf dieſem Moment be-
ruht der große, das ganze Recht derſelben beherrſchende Unterſchied
zwiſchen Banken und Creditanſtalten, wie das von uns dargelegt iſt;
und hier beginnt die Aufgabe der Verwaltungslehre neben der der Na-
tionalökonomie.


Die dritte Form endlich iſt die, welche wir in allen ihren verſchie-
denen Geſtalten als die der Vorſchußkaſſen oder Volksbanken zu
bezeichnen haben. Auch ſie ſind zugleich für Unternehmungs- und
Zahlungscredit beſtimmt. Ihre Organiſation kann eine ſehr verſchie-
dene ſein. Sie können entweder auf einem Aktiencapital, oder auf
einer gegenſeitigen Haftung, oder auf beiden zugleich, oder auf Ein-
lagen, oder auf Pfändern beruhen, wonach natürlich die Organe und
innere Ordnung weſentlich modificirt erſcheinen. Immer aber iſt die
Organiſation des Credits für das vorwiegend perſönliche Ca-
pital
, während die beiden obigen Formen weſentlich auf dem Vor-
handenſein von Gütern und Werthcapital beruhen. Und das iſt es,
was ihnen ihre eigentlich ſociale Stellung gibt. Es liegt wohl außer-
halb unſrer Aufgabe, dieß hier weiter zu verfolgen. Uns muß es
genügen, dieß hochwichtige Gebiet hier charakteriſirt und in ſeine
organiſche Stellung zur Organiſation des Credits überhaupt gebracht
zu haben. Die weitere Ausführung gehört dann der beſondern Arbeit.


Dieß ſind nun diejenigen Begriffe und Verhältniſſe, welche als
[59] Aufgabe der Verwaltung dasjenige bilden, was wir den allgemei-
nen Theil der wirthſchaftlichen Verwaltungslehre
oder
der Volkswirthſchaftspflege genannt haben. Es iſt nunmehr wohl klar,
daß dieſe Punkte ohne Unterſchied für alle einzelnen Gebiete der Volks-
wirthſchaft, für alle Arten des Capitals und der auf daſſelbe gebauten
Produktion gleichmäßig wichtig ſind. Es gibt gar keine Art der
letzteren, die nicht aller zugleich bedürfte, die nicht in allen zugleich
die unabweisbare Bedingung ihrer Sicherung und Entwicklung zu finden
hätte. Es iſt daher gänzlich falſch, ſowohl irgend einen dieſer
Theile als Theil eines beſondern Gebietes der Volkswirthſchaftspflege
zu behandeln, als auch denſelben bloß für ſich, ohne ſeinen organiſchen
Zuſammenhang mit allen andern hinzuſtellen. Es iſt eine der Lebens-
fragen der ganzen Verwaltungslehre, ſich über dieſen Punkt einig zu
ſein. Und wenn dieß auch nicht mit Einemmale erreicht wird, ſo
dürfen wir dennoch nicht müde werden, immer und immer darauf zu-
rückzukommen, daß in dieſem allgemeinen Theil der wirthſchaftlichen
Verwaltung der wahre Kern und Schwerpunkt alles deſſen liegt, was
überhaupt die Verwaltungslehre hier zu leiſten hat.


IV. Denn der beſondere Theil der letztern iſt nun auf Grund-
lage des Obigen wohl etwas ſehr Einfaches und leicht zur Anerkennung
zu bringen. Er beruht ſeinerſeits auf der beſondern Natur der Arten
des Capitals
, und enthält diejenigen Ordnungen und Maßregeln,
welche vermöge dieſer beſondern Natur für die einzelne Art der auf
dieſelbe gebauten Unternehmung als Bedingung ihrer ſpeciellen Ent-
wicklung erſcheint. Hier gibt es daher nichts Allgemeines mehr, ſondern
hier muß die Specialität herrſchen. Und wir begnügen uns daher,
nur eben die einzelnen Theile dieſes beſondern Theiles aufzuführen.


Dieſe ſind die Urproduction mit dem Bergrecht, die Landwirth-
ſchaft mit dem Landwirthſchaftsrecht, das Forſtweſen mit ſeiner Ver-
waltung und ſeiner Geſetzgebung, zu der man die Jagd und Fiſcherei
hinzurechnen muß, dann das Gewerbe mit der Gewerbeordnung, die
Induſtrie mit dem Fabrikweſen und den Ausſtellungen, der Handel,
der das Zollweſen in ſich aufnimmt, und endlich der geiſtige Erwerb
mit dem Nachdruck, Privilegien, Muſter- und Markenrecht. Es iſt wohl
nicht füglich thunlich, weiter auf dieſe an ſich einfachen Grundbegriffe
und ihren Inhalt hier einzugehen. Daß jeder derſelben eine ſelbſtän-
dige Behandlung fordert, bedarf keiner Erörterung.


Damit erſcheint nun das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung
gegeben. Und nun wird es erlaubt ſein, zur leichtern Anſchauung
daſſelbe noch in der Form eines Schemas beſonders hier anzuhängen.


[60]
[61]

V. Einige Bemerkungen zur Geſchichte der Organiſation der wirthſchaftlichen
Verwaltung.


Es wird eine der künftigen Aufgaben der Geſchichte der Staats-
wiſſenſchaft ſein, die Geſchichte dieſer Organiſation zu ſchreiben. Und
dieſe Geſchichte iſt in der That weder eine bloß formelle Schematiſirung
der verſchiedenen Aemter und Stellungen, noch auch eine bloß formale
Ausfüllung einer Lücke in der Wiſſenſchaft des Staats. Es iſt viel-
mehr kein Zweifel, daß die Entwicklung jenes Organismus zunächſt und
im Allgemeinen die Entwicklung des ſelbſtändigen Bewußtſeins des
Staats von dieſem hochwichtigen Theile ſeiner Verwaltung iſt; dann
aber erſcheint dieſelbe andrerſeits wieder in ihrer individuellen Geſtalt
in jedem einzelnen Lande; denn ſie iſt eine weſentlich andre in Eng-
land, in Frankreich, in Deutſchland, und in den übrigen Theilen Eu-
ropas. Es iſt daher eine große und ſchwere Aufgabe, dieſelbe zu be-
handeln. Denn hier genügt es nicht mehr, einfach die Thatſachen der
Neubildungen aufzuführen, ſondern man muß, ſoll anders dieſe Arbeit
einen Werth haben, jene Neugeſtaltungen und Organiſationen auf
ihren Grund, das werdende Verſtändniß von den Aufgaben der Ver-
waltung, zurückführen.


Dieſe Aufgabe kann aber die vorliegende Arbeit noch nicht löſen.
Denn ihre Vorausſetzung iſt eben die Anerkennung des einheitlichen
Syſtems der wirthſchaftlichen Verwaltung ſelbſt. So lange dieſe nicht
gewonnen iſt, würde jede vorausgehende Bearbeitung faſt auf jedem
Punkte mit Kritik und Erklärungen ſo viel zu thun haben, daß der
Umfang in keinem Verhältniß zu dem Reſultate ſtehen würde.


Wir glauben daher, uns mit einigen Bemerkungen hier genügen
laſſen zu dürfen.


Der Charakter des geſammten Ganges der Entwicklung einer ſelb-
ſtändigen Organiſation der Volkswirthſchaftspflege beruht darauf, daß
dieſelbe anfangs mit der ſtaatswirthſchaftlichen (finanziellen) Verwaltung
im Ganzen, mit der polizeilichen im Einzelnen namentlich örtlich faſt
vollſtändig verſchmolzen erſcheint und daher zu einem Bewußtſein ihrer
ſelbſtändigen Aufgabe nicht gelangt. Eine eigene Organiſation für
die Volkswirthſchaftspflege ergibt es bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts
nicht. Dann fängt dieſelbe an, allmählig, aber nur ſtück- und theil-
weiſe aufzutreten, und zwar namentlich in den Regalien, bei denen
nun zugleich die Verwaltung ihren erſten Charakter empfängt. Die
Verwaltungsorgane der Regalien ſind faſt ausnahmslos techniſche
Beamtete
, die nach dem früheren Standpunkt unter der Finanz-
verwaltung ſtehen, und in Deutſchland als die Cameralverwaltung
[62] auftreten. Von einer Einheit aus einem höheren Geſichtspunkte iſt dabei
noch keine Rede. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ent-
ſtehen jedoch, namentlich durch die phyſiokratiſchen Bewegungen und
durch die Polizeiwiſſenſchaft angeregt, einzelne Organe, wie die Landes-
ökonomie-Collegien, die jedoch zu keiner großen Entwicklung gedeihen,
da auf allen Punkten die obrigkeitlichen Rechte der Grundherrlichkeiten
der Thätigkeit ſolcher Behörden entgegen treten. Alle örtliche Volks-
wirthſchaftspflege liegt noch in den Händen der letztern.


Erſt als in Frankreich die letzten Reſte dieſer Grundherrlichkeit be-
ſeitigt worden, und die Miniſterien als Organiſationsbaſis der voll-
ziehenden Gewalt zur Geltung gelangen, ſcheidet ſich die Volkswirth-
ſchaftspflege aus der innern Verwaltung heraus, und es entſtehen
einzelne Miniſterien für dieſelbe. Allein dieſe Organiſation iſt gleich
anfangs eine höchſt unſichere, und iſt es bis zum heutigen Tage geblieben.
Man hatte eben keinen Begriff der Volkswirthſchaftspflege als eines
Ganzen, und die Grundlage der miniſteriellen Organiſation war daher
nicht der Unterſchied des Syſtems in Miniſterien der Volkswirthſchaft
und Miniſterien der ſocialen Verwaltung, ſondern man nahm aus der
erſten gewiſſe einzelne, an Bedeutung hervorragende Gebiete heraus,
gab dieſem ſelbſtändige Miniſterien, und den Reſt faßte man dann un-
geſchieden als Miniſterium des Innern zuſammen, ohne ſich weiter
viel Rechenſchaft über das wahre Verhältniß abzulegen. Dazu kam,
daß man gewiſſe Gebiete nach wie vor dem Finanzminiſterium über-
ließ, namentlich diejenigen, bei denen es ſich um Einnahmsquellen des
Staats handelte, wie das Poſt- und Münzregal, zum Theil auch das
Bergweſen u. a. m. Wo Zweifel entſtanden, half man ſich durch
eigene Commiſſionen und Schöpfung eigener Referate, ohne gerade viel
nach einem ſelbſtändigen Syſteme zu fragen. Auch ſetzte man die ein-
zelnen wirthſchaftlichen Miniſterien oder ſog. „Fachminiſterien“ wohl
dem Miniſterium des Innern gegenüber, gewöhnlich mit ziemlich eng-
begränzter Competenz, wie die Handelsminiſterien, die Ackerbaumini-
ſterien, die Miniſterien für öffentliche Arbeiten; bald verſchmolz man ſie
wieder; bald hob man ſie ganz oder zum Theil auf; kurz, man kann
nicht im Zweifel ſein, daß hier ein feſtes Princip durchaus fehlt,
und auch nicht gefunden werden wird, bis man ſich über das Weſen
der Volkswirthſchaft im Verhältniß zur geſellſchaftlichen Verwaltung,
und zweitens über Natur und Inhalt der Oberaufſicht einig ſein wird.
Die beſte Quelle für das Beſtehende iſt dabei ſtets für jedes Land das
Staatshandbuch.


Dagegen iſt ein zweiter hochwichtiger Moment aufgetreten, und
dazu beſtimmt, der ganzen Auffaſſung des Organismus eine neue
[63] Geſtalt zu geben. Das iſt die ſtarke, und von Jahr zu Jahr zunehmende
Bedeutung der beiden andern Grundformen der vollziehenden Gewalt,
der Selbſtverwaltungskörper und des Vereinsweſens. Mehr und mehr
geſtaltet ſich die Sache ſo, daß wir die allgemeinen Maßregeln und
Geſetze den Miniſterien, die wirkliche örtliche und beſondere Ausführung
deſſelben dagegen den Selbſtverwaltungen und Vereinen anheimfallen
und damit die weſentlichſte Funktion der Regierung in der Oberaufſicht
über die Thätigkeit jener Organe beſtehen wird. Die Regierung tritt
dadurch von Jahr zu Jahr mehr in die Stellung, welche ihr gerade
in der Volkswirthſchaftspflege am meiſten zukommt, die leitende, die
Einheit herſtellende Organiſation zu ſein, welche die Verwaltung ſelbſt
nur da einführt, wo Sonderintereſſen eine Selbſtverwaltung oder ein
Vereinsweſen nicht zulaſſen (z. B. Poſt, Münzen u. ſ. w.), während ſie
alle Aufgaben der Volkswirthſchaft, welche von den letzteren übernom-
men werden können, demſelben mehr und mehr zuweist. Dieſe Bewe-
gung iſt erſt im Beginn; aber ſie wird ihr Ziel erreichen. Und
um das zu überſehen, muß man allerdings erſt alle einzelne Gebiete der
Volkswirthſchaftspflege einmal vorführen, als Grundlage des Verſtänd-
niſſes dieſer neuen Ordnung, und als Baſis auch des Syſtems der
vollziehenden Gewalt in ſeiner praktiſchen Anwendung.


Unſere Aufgabe wird es daher zunächſt ſein, bei jedem einzelnen
Gebiete der Volkswirthſchaftspflege die betreffende Organiſation deſſelben
auch in ihrer hiſtoriſchen Entwicklung zu beleuchten; erſt dann läßt ſich
ein allgemeines Bild geben, das auch für beſondere Studien einen
Werth haben kann.


[[64]][[65]]

Die wirthſchaftliche Verwaltung.
(Volkswirthſchaftspflege.)
Allgemeiner Theil.
Erſtes Gebiet.
Die Entwährung.


Stein, die Verwaltungslehre. VII. 5
[[66]][[67]]

Allgemeiner Theil.


Erſtes Gebiet.
Die Verwaltung und das bürgerliche Recht oder die Entwährung.


I.
Die allgemeinen Begriffe und Rechtsgrundſätze.

Wir beginnen das weite Gebiet der volkswirthſchaftlichen Verwal-
tung mit einem Begriffe, über den man ſich nicht einig iſt, und mit
einem Worte, das im Grunde noch keine feſte wiſſenſchaftliche Bedeu-
tung hat. Das was dieſer Begriff und dieſes Wort bisher umfaßt
haben, iſt nur zum Theil in die Volkswirthſchaftspflege aufgenommen,
zum Theil gehört es zu ganz neuen Zweigen der Wiſſenſchaft. Während
ferner die Sache ſelbſt, die wir darſtellen werden, eine allgemein be-
kannte iſt, iſt das tiefere Weſen derſelben, der Zuſammenhang mit den
höchſten Fragen des Staats und der Menſchheit, unſeres Wiſſens bis-
her weder von der Philoſophie noch von der Fachwiſſenſchaft irgend einer
Art unterſucht worden. Wir haben daher bei einem mächtigen Material
das einzelne Gebiet derſelben zu ſeiner höheren Einheit mit den letzten
Faktoren des wirklichen Staatslebens zu bringen. Und darum iſt es un-
thunlich, die Sache mit einer einfachen Definition abzuthun, die einem
formalen Bedürfniß genügen möchte.


Wir können daher es nicht vermeiden, die Entwährungslehre,
deren Inhalt wir als erſte Grundlage der wirthſchaftlichen Verwaltungs-
lehre anerkennen müſſen, ihrem allgemeinen Weſen nach zu bezeichnen,
um ihr das Recht auf ihre Stellung dauernd zu gewinnen.


Zu dem Ende werden wir zunächſt den formalen Begriff der Ent-
währung aufſtellen, und dann auf das Weſen derſelben eingehen.


I. Der formale Begriff der Entwährung.

Unter der Entwährung verſtehen wir im Allgemeinen das Recht
und das Verfahren des Staats, vermöge deren derſelbe durch ſeine
[68] Verwaltung ein wohlerworbenes Privatrecht, deſſen Aufhebung als
eine unabweisbar gewordene Bedingung der allgemeinen Entwicklung
anerkannt iſt, gegen Rückerſtattung ſeines Werthes, oder gegen Ent-
ſchädigung und nach geſetzlichen Formen aufhebt.


Die Entwährung iſt daher zunächſt nichts anderes, als eine ſpecielle
Anwendung des Begriffes der Verwaltung und ihres Princips auf das
erworbene Recht des Einzelnen. Dieſe Anwendung hat, wie jeder Akt der
Verwaltung, die allgemein anerkannte Aufgabe, die Bedingungen der
Geſammtentwicklung herzuſtellen, die ſich die Einzelnen nicht mit eigner
Kraft herſtellen können. Sie darf daher grundſätzlich auch nur da be-
ginnen, wo der Verſuch, jene Privatrechte durch freien Vertrag beſeitigen
zu wollen, ſich als ergebnißlos bewieſen haben.


Iſt dem nun ſo, muß man wohl fragen, ob dann wirklich die
Entwährung bei dieſen einfachen Grundlagen eine größere Bedeutung
hat, und daher die Arbeit und Mühe einer allgemeineren Auffaſſung
bedürfen wird.


In der That aber tritt uns ſogleich bei der Entwährung ein tiefer
Widerſpruch entgegen, deſſen Erwägung uns auf weitere Fragen führt.
Die Entwährungslehre läßt nämlich das Eingreifen, die Aufgabe und
das Recht der innern Verwaltung auf dem Punkte eintreten, wo auf
den erſten Blick die ganze innere Verwaltung aufhören, und die un-
beſtrittene Funktion des zweiten Theiles der Verwaltung, die Rechts-
pflege, allein eingreifen ſollte. Während in Bevölkerung, Polizei, Ge-
ſundheit und Bildung die Verwaltung das individuelle Leben in ſeinen
Grundlagen ſchützt und entwickelt, tritt ſie in der Entwährung dem-
jenigen direkt entgegen, was ſelbſt als die erſte Grundlage aller
perſönlichen Selbſtändigkeit und Entwicklung vom Staate ſelbſt aner-
kannt wird, dem individuellen, wohlerworbenen Rechte des Einzelnen,
und hebt es da auf, wo ſeine Unverletzlichkeit als die allererſte Bedingung
jeder Freiheit und jedes Fortſchrittes anerkannt wird, im perſönlichen
Eigenthum. Es iſt kein Zweifel, daß der Staat dieſe Berechtigung
haben muß; es iſt aber auch kein Zweifel, daß dieſe Berechtigung im
direkten Gegenſatz zum Weſen der ſelbſtändigen Perſönlichkeit ſteht.
Und iſt nun der Staat ſelbſt nur die höchſte Form der Perſönlichkeit,
tritt er da nicht mit ſich ſelbſt in Widerſpruch, indem er ein Recht auf
Entwährung überhaupt anerkennt und fordert? Kann dann überhaupt
noch der Begriff und das Weſen der ſelbſtbeſtimmten Perſönlichkeit der
Staatswiſſenſchaft zum Grunde gelegt werden, wenn die erſte Forde-
rung der Volkswirthſchaftspflege die iſt, durch den Willen des Staats
dasjenige aufheben zu dürfen, was die erſte Forderung für den freien
Staatsbürger iſt: die Heiligkeit des bürgerlichen Rechts? Und wenn
[69] dem doch ſo iſt, wie iſt denn jener Widerſpruch zu löſen, deſſen Exiſtenz
und deſſen Härte mit keiner formalen Definition der Entwährung verdeckt
werden, deſſen ernſte Conſequenz von keiner Verſicherung, daß der Begriff
des Staats an ſich jeden Mißbrauch ausſchließe, beſeitigt werden kann?


Offenbar liegt hier eine Frage vor, deren endgültige Erledigung
nicht auf dem Wege der gewöhnlichen juriſtiſchen Deduktion gefunden
werden kann. Das römiſche Recht, das weſentlich das Privatrecht des
bürgerlichen Lebens und Verkehrs iſt, kennt daher weder den Namen,
noch den Begriff, noch die Thatſache der Expropriation; es iſt auch
gänzlich vergeblich, bei ihr nach Grundſätzen für die Entwährung ſuchen
zu wollen. Die Idee derſelben entſteht erſt mit dem ſiebzehnten Jahr-
hundert; aber ſie entſteht bei Männern, deren Gedanken unter der
Herrſchaft des römiſchen Rechts erzogen, deren Begriffe mit römiſcher
Grundlage und mit römiſchen Namen und Formeln umgeben waren.
Ihnen war daher der Gedanke der Entziehung des Eigenthums, zu
deſſen Vertretung und Vertheidigung ſie als Juriſten berufen waren,
ein Räthſel, und gleichſam ein Fremdling in dem ganzen Gebiete ihrer
Auffaſſungen. Die meiſten machten es ſich daher mit der Sache be-
quem; ſie wieſen die ganze Frage einfach von ſich; von allen großen
römiſchen Juriſten, von den Gloſſatoren bis auf den heutigen Tag hat
keiner die Entwährung jemals auch nur unterſucht, geſchweige denn
zu einer Entſcheidung gebracht. Aber diejenige Seite der Rechtswiſſen-
ſchaft, welche über dieſe enge Grenze hinausging, mußte über das,
was wir als Entwährung bezeichnen, dennoch zu einem Reſultate
kommen. Sie mußten verſuchen, die Aufhebung des Rechts ſelbſt wieder
als ein Recht zu begreifen.


Um dazu zu gelangen, war Eine Vorausſetzung nothwendig. Wir
müſſen ſie hier erledigen, um zu dem wahren und eigentlichen Begriffe
und Weſen der Entwährung gelangen zu können.


Wollte man nämlich jene Aufhebung des Einzelrechts zum Recht
machen, ſo war es von Anfang an klar, daß man dafür einen Stand-
punkt ſuchen müſſe, der außerhalb des Privatrechts liege, und
auf den die Forderungen und Grundſätze des Privatrechts vollkommen
unanwendbar ſind. Denn das leuchtete ſchon Hugo Grotius ein, daß
es keineswegs genügen könne, einfach die Entwährung in dem „Syſtem
des deutſchen Privatrechts“ unterzubringen, wie Beſeler und Gerber
es gethan, um ſie auch zu einem wirklichen Privatrecht zu machen;
noch weniger, um ihr Weſen zu erklären. Jenen Standpunkt aber
fand ſchon die Literatur in dem Begriffe und Recht des Staats. Der
Gedankenkreis, der daraus hervorging, und den alle ſpäteren Unter-
ſuchungen bis auf den heutigen Tag nicht überſchritten haben, war
[70] aber ein einfacher. Der Staat iſt die Quelle der formalen Rechtsbildung
durch ſeinen Willen, das Geſetz: der Staat iſt die Quelle des Inhalts
der Rechtsbildung, indem ſein Wohl die erſte Vorausſetzung des Wohles
aller iſt; der Staat iſt daher berufen und berechtigt, zum formalen,
gültigen Recht alles dasjenige zu machen, was er vermöge der Anfor-
derungen ſeines Wohles zu fordern berechtigt iſt: salus rei publicae
suprema lex.
Fordert daher der Staat das Eigenthum des Einzelnen
im Namen dieſes öffentlichen Wohles, ſo iſt er berechtigt, dieſe Forde-
rung durch ſeinen Willen zum geltenden Recht zu machen, und das
Einzeleigenthum wirklich zu entziehen. Dieſe Entziehung iſt die Ent-
währung
, und das durch den Staatswillen geſetzte Recht für das
Verfahren bei dieſer Entziehung iſt das Entwährungsrecht. Das
Uebrige iſt Sache der adminiſtrativen Zweckmäßigkeit; das Weſen des
Entwährungsrechts iſt aber demgemäß nichts als eine ſpecielle Anwen-
dung des Staatsbegriffes auf das perſönliche Eigenthum. Das war
die Logik, aus welcher das Entwährungsrecht begründet wurde. Sie
ſteht, wie geſagt, noch heutigen Tages feſt. Bedürfen wir mehr?


Offenbar aber iſt hier Ein Punkt nicht erledigt. Allerdings kann
der Staat nicht beſtehen, ohne einen Theil der Selbſtändigkeit des
Einzelnen zum beſtändigen Opfer zu fordern. Jeder Akt der Finanz-
verwaltung, jede Steuer, jeder polizeiliche Akt iſt ein ſolches Aufheben
der perſönlichen Freiheit durch den Staat. Allein niemals hat man,
und mit Recht, darin etwas geſehen, was dem Weſen der Entwährung
analog geweſen wäre. Denn was immer der Einzelne an die Verwal-
tung leiſtet, leiſtet er zuletzt für ſich ſelber; die Verwaltung verwaltet
eben die Geſammtheit der Einzelleiſtungen für die Intereſſen Aller zu-
gleich. Bei der Entwährung jedoch handelt es ſich nicht um den Theil
des Einzeleigenthums, der als Leiſtung für die Gegenleiſtung des
Staats betrachtet werden muß, ſondern um ein Eigenthum, das dem
Einzelnen als Einzelnem genommen wird, und für welches er als Einzelner
die allgemeine Gegenleiſtung durch die Thätigkeit der Verwaltung nicht
empfängt
. Hier reicht daher der Begriff und das Recht der öffent-
lichen Leiſtung an den Staat nicht aus. Bei allen öffentlichen Leiſtungen
gibt der Staat, wenigſtens dem Princip nach, ſo viel zurück, als er
empfängt, und daher ſoll jede öffentliche Leiſtung gleichmäßig jeden
treffen, wie die Verwaltung ihrerſeits gleichmäßig für jeden da iſt.
Bei der Entwährung trifft einen Einzelnen die Pflicht der Leiſtung,
und damit ſind die Grundſätze über die öffentlichen Leiſtungen auf ſie
nicht anwendbar. Darüber iſt man ſich einig. Geht man aber einen
Schritt weiter, ſo iſt die Entwährung auch durch den Staatsbegriff
nicht zu erklären. Denn der Staat iſt die perſönliche Einheit der
[71] Staatsbürger; wie iſt es möglich, daß er ſeine principielle Baſis, das
Staatsbürgerthum, in ſeiner materiellen Baſis, dem Einzeleigenthum,
angreife? Eben ſo unmöglich iſt die Begründung der Entwährung vom
Standpunkt des allgemeinen Nutzens oder Wohles. Das wahre Ziel
des letzteren iſt ja doch nicht das Wohl irgend eines dritten, ſondern nur
dasjenige gehört dem öffentlichen Wohl, was die Bedingungen aller
individuellen Entwicklung herſtellt. Nun iſt die erſte Bedingung der
individuellen Entwicklung die Unverletzlichkeit des Einzeleigenthums; wie
kann etwas wahrhaft dem allgemeinen Wohle dienen, das damit beginnt,
die Grundlage des Einzelwohles zu untergraben? — Doch mag man über
alle dieſe dialektiſchen Streitfragen denken wie man will, Ein Punkt über-
ragt ſie alle und zeigt, daß es unmöglich iſt, aus den Begriffen von
Staat, Recht oder öffentlichem Wohle die Entwährung zu begründen.
Das iſt die Unmöglichkeit, für das Recht der Entwährung von jenen Be-
griffen aus eine Gränze zu finden. Entſpringt die Entwährung aus
Staat, Recht oder öffentlichem Wohle, ſo umfaßt ſie alle Rechte des Ein-
zelnen, nicht bloß ſein Eigenthum, ſondern auch ſeine Ehre und ſeinen
Glauben; es iſt conſequent, daß es möglich ſein muß, das Recht des
Staats auf Glaubensänderung auf derſelben Grundlage dialektiſch nach-
zuweiſen, wie das auf Entziehung des Einzelvermögens; daß es möglich
ſein muß, von dem Einzelnen im Namen des Staats oder des öffent-
lichen Wohles einen Makel für ſeine Ehre, ein Eingreifen in die in-
timſten Verhältniſſe des perſönlichen Lebens wie in das Eigenthum zu
verlangen; vor allem aber, daß die Entſchädigung bei der Enteig-
nung nicht von dem Weſen der Entwährung ſelbſt, ſondern von der Er-
kenntniß abhange, daß das öffentliche Wohl ſie fordere: das nun will
doch niemand behaupten. Hat daher dieſe Entwährung eine Gränze, ſo
liegt ſie offenbar nicht in Staat, Recht oder öffentlichem Nutzen, welche
ſelbſt nur als Momente an der Entwährung erſcheinen, ſondern ſie muß
auf einer weſentlich andern Grundlage entſtehen. Sie iſt in der That
weder ein Rechts- noch ein eudämoniſtiſcher Begriff noch ein Element
des Staatsbegriffes, ſondern ſie iſt eine geſellſchaftliche Erſchei-
nung
und ihr Recht iſt ein geſellſchaftliches Recht, und dieß zu zeigen,
iſt die Aufgabe des Folgenden.


II. Die Elemente der Bildung des geſellſchaftlichen Rechts überhaupt.

Es muß uns dabei verſtattet ſein, einige leitende Grundſätze aus
der Geſellſchaftslehre und ihrer Rechtsbildung hier herauszunehmen, die
eingehende Begründung derſelben andern Arbeitern überlaſſend.


Eine Geſellſchaftsordnung iſt diejenige Ordnung der Menſchen,
[72] durch welche die großen geiſtigen Aufgaben der Menſchheit zur Aufgabe
von Gemeinſchaften werden, und dadurch das ganze Leben jedes ein-
zelnen Menſchen, der ſich einer ſolchen Aufgabe widmet, mit allen ſeinen
Beziehungen den Forderungen derſelben unterordnet. Die Verſchieden-
heit der Geſellſchaftsordnungen entſteht nun dadurch, daß in den ver-
ſchiedenen Stadien der Entwicklung der Menſchheit das Bewußtſein über
Weſen und Inhalt dieſer Aufgaben, ſo wie über die in dem Menſchen
liegenden Bedingungen ihrer Erfüllung ſich herausbildet. Die Entwick-
lung der Geſellſchaftsordnungen iſt daher an ſich eine unendlich mannich-
fache; allein da die erſte Bedingung aller Erreichung der höchſten Zwecke
die bewußte und thätige Einheit der Menſchen iſt, ſo werden die Ge-
ſellſchaftsordnungen als die Grundformen dieſer Einheit des Menſchen
für die höchſten Zwecke erſcheinen. Darnach unterſcheiden wir den Be-
griff der Geſchlechterordnung, in welcher dieſe Einheit als die natür-
liche der Familie daſteht, die ſtändiſche Ordnung, in welcher ſie durch
den bewußten Willen der Berufsgenoſſen erzeugt wird, und die ſtaats-
bürgerliche Ordnung, in welcher ſie auf dem freien Willen der ſelb-
ſtändigen Individualität beruht. Jede dieſer Ordnungen will immer
daſſelbe, aber ſie will es in anderer Weiſe; in der Geſchlechterordnung
beruht die Entwicklung auf der Unterordnung des Einzelnen unter das
Altershaupt, in der ſtändiſchen Ordnung auf der Unterwerfung unter
die Berufsgemeinſchaft, in der ſtaatsbürgerlichen Ordnung auf der freien
Hingabe an den ſelbſtgeſetzten Lebenszweck und der Theilnahme an dem
freien Verein. Dieſer Grundſatz nun, nach welchem jeder Einzelne in
jeder dieſer Ordnung Platz und Aufgabe für ſeine Theilnahme an der
höchſten geiſtigen Arbeit der Menſchheit empfängt, bildet demnach das
Princip der einzelnen Geſellſchaftsordnung.


Dieſes Princip fordert, daß ſich alle übrigen Lebensverhältniſſe
des Einzelnen ihm unterordnen. Es erzeugt daher gemeingültige Sätze
für das Leben des Einzelnen, deren Befolgung als Bedingung für die
Erreichung der höchſten Zwecke für Alle anerkannt wird. Dieſe Sätze,
durch Alle für jeden Einzelnen im Namen jener höchſten Güter gefordert,
werden damit zum Recht. Jede Geſellſchaftsordnung bildet ſich daher
ihr eigenes Rechtsſyſtem, deſſen Princip die Unterordnung des Lebens
des Einzelnen unter die beſtimmte Ordnung der Geſellſchaft und ihre
Forderungen iſt. So entſteht das geſellſchaftliche Recht, als die-
jenige Summe von Beſchränkungen des Rechts der ſelbſtän-
digen Perſönlichkeit
, welche nicht mehr durch die Idee des per-
ſönlichen Staats, ſondern durch das ſpecielle Princip der einzelnen
Geſellſchaftsordnungen gefordert, und als Bedingung ſeiner Verwirk-
lichung angeſehen wird.


[73]

Da nun die drei Geſellſchaftsordnungen ein weſentlich verſchiedenes
Princip haben, ſo iſt auch das Recht derſelben ein weſentlich ver-
ſchiedenes. Und es iſt klar, daß während die Grundſätze des Rechts,
die aus dem reinen Begriffe des Staats oder dem der Einzelperſönlich-
keit folgen, ewig dieſelben ſein müſſen, der Wechſel des Rechts nur
durch den Wechſel des geſellſchaftlichen Princips entſtehen kann. Der
Begriff der Geſellſchaft iſt daher die Grundlage aller Rechtsgeſchichte;
mithin auch desjenigen Rechts, welches wir als das der Entwährung
bezeichnet haben. Dle Elemente dieſer Rechtsbildung aber ſind folgende.


Unter denjenigen Lebensverhältniſſen, für welche die Geſellſchafts-
ordnung das geltende Recht bildet, nehmen nun Grundbeſitz und Erwerb
die erſten Stellen ein. Eine Geſellſchaftsordnung iſt erſt dann als eine
fertige zu betrachten, wenn ſie die Verhältniſſe des Grundbeſitzes und
des Erwerbes ihrem Princip gemäß geordnet hat.


Das Rechtsprincip der Geſchlechterordnung für den Grundbeſitz iſt
nun das, daß nur das Geſchlecht das Eigenthum des Grundbeſitzes
habe, während der Erwerb nur ſo weit als ein ehrenhafter gilt, als
er aus dem Grundbeſitz ſtammt. In der Geſchlechterordnung iſt daher
jeder, der einem Geſchlechte nicht angehört, unfähig zum Grundbeſitz,
und die gewerbliche Arbeit nimmt die Geſchlechterehre. Daher tritt jede
Geſchlechterordnung mit der Forderung auf, das Eigenthum jedes nicht
zum Geſchlecht Gehörigen entweder aufzuheben oder von dem Ge-
ſchlecht abhängig zu machen, die Perſon deſſelben dagegen als das
öffentlichen Rechts ledig hinzuſtellen. So erzeugt jede Geſchlechter-
ordnung von den Aſſyrern bis zur neueſten Zeit die Begriffe und öffent-
lichen Rechtsverhältniſſe des unfreien Beſitzes und der unfreien
Perſon
.


Das Rechtsprincip der Ständeordnung für den Beſitz iſt dagegen
ein doppeltes. Für den Grundbeſitz fordert es, daß er dem Berufe
gehöre, und erzeugt dadurch den körperſchaftlichen Grundbeſitz. Für
den gewerblichen Beſitz dagegen erkennt es die Berechtigung des Ge-
werbes
an, wenn auch als untergeordnet unter die geiſtige Arbeit.
Das Gewerbe aber kann ohne freies Einzeleigenthum nicht beſtehen.
Die Ständeordnung nimmt daher das Einzeleigenthum am Erworbenen
in ſein Rechtsſyſtem auf neben dem Geſammteigenthum am körper-
ſchaftlichen Beſitz. Sie iſt mithin ein großer Fortſchritt gegenüber der
Geſchlechterordnung; aber ſie macht dieſen Erwerb wieder von der Be-
rufskörperſchaft abhängig, und erzeugt daher die unfreie Arbeit,
als die Herrſchaft der Körperſchaft über die Arbeit des Einzelnen.


Das Rechtsprincip der ſtaatsbürgerlichen Ordnung für den Beſitz
iſt dagegen der Ausdruck des allgemeinen Princips derſelben für die
[74] Verhältniſſe des Eigenthums, die volle Freiheit des individuellen
wirthſchaftlichen Beſitzes und Erwerbes. Sie iſt daher die unverſöhn-
liche Feindin ſowohl des unfreien Beſitzes, als der unfreien Perſon und
der unfreien Arbeit. Ihr Lebensprincip iſt die, durch kein Recht ge-
hemmte freie Entwicklung jeder einzelnen Perſönlichkeit.


Auf dieſer Baſis entwickeln ſich nun Begriff und Syſtem des Ent-
währungsrechtes.


III. Die Entwährung als ein Rechtsbegriff der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaftsordnung.

Es iſt nun klar, daß wenn man ſich jene drei großen geſellſchaft-
lichen Rechtsprincipien für Beſitz und Erwerb vergegenwärtigt, keine
neue Geſellſchaftsordnung entſtehen kann, ohne das Recht der andern
aufzuheben. In der That iſt in der Weltgeſchichte das Auftreten einer
Geſellſchaftsordnung ſtets ein Kampf auf Leben und Tod nicht bloß mit
der andern im Allgemeinen, ſondern ſpeciell mit dem Rechtsſyſtem der-
ſelben für die Beſitzes- und Gewerbeordnung. Auf dieſer Thatſache
beruht, wie ſchon geſagt, die Geſchichte des Rechts. Allein für uns
liegt das entſcheidende Moment doch auf einem noch höhern Punkte.
Nicht nämlich die einfache Beſeitigung des beſtehenden Rechts iſt es,
um die es ſich bei dem Wechſel der Geſellſchaftsordnungen handelt.
Das nämlich iſt das Weſen dieſes Wechſels, daß in ihm das beſtehende
Recht nur als die nothwendige Conſequenz, als die praktiſche Voraus-
ſetzung und Folge des beſtimmten geſellſchaftlichen Princips auftritt.
Keine neue Geſellſchaftsordnung bekämpft die andere im Namen der
materiellen Macht, auch nicht im Namen des materiellen Wohlſeins,
auch nicht im Namen des abſtrakten Rechtsbegriffs und auch nicht im
Namen des Staats und ſeiner Idee. Sondern ſie fordert das Auf-
geben der andern Rechts- und Eigenthumsordnung im Namen derjenigen
Berechtigung, welche das höhere ſittliche Ideal gegenüber einer beſtehen-
den Rechtsordnung gibt, die daſſelbe nicht zur Geltung gelangen läßt.
Denn das Rechtsleben, welches jede Geſellſchaftsordnung für ſich und
durch ſich erzeugt, geht ihr eben deßhalb niemals aus dem Begriffe des
Rechts der Idee der unverletzlichen Perſönlichkeit hervor, ſondern viel-
mehr aus den unabweisbaren Forderungen jener höchſten ſittlichen Auf-
gabe, deren organiſche Verwirklichung ſie ſelber ſein will. Jede Geſell-
ſchaftsordnung ordnet daher das Recht, welches ſie ſelbſt gebildet
hat, denjenigen ethiſchen Forderungen unter, um derent-
willen ſie dieß Recht erzeugte
. Das iſt das höchſte Princip der
geſellſchaftlichen Rechtsbildung.


[75]

Jenes höchſte Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung
iſt nun die volle Freiheit und Selbſtthätigkeit der einzelnen Perſönlich-
keit. Vermöge dieſes Princips fordert ſie nun, daß alles dasjenige
geltende Recht, was mit dieſem ihrem höchſten Princip in Widerſpruch
ſteht, aufgehoben werde. Sie fordert dieß aber nicht etwa als ein
abſtraktes ſittliches Princip; die Lehre von der Verfaſſung zeigt uns
vielmehr ein weſentlich anderes Bild. Jede poſitive Verfaſſung iſt
nämlich auch ihrerſeits nichts als diejenige Geſtalt des öffentlichen Rechts,
welche aus dem höchſten Princip einer beſtimmten Geſellſchaftsordnung
hervorgeht; oder, jede Geſellſchaftsordnung hat ihre, durch ſie erzeugte
und nur durch ſie verſtändliche Verfaſſung. Dadurch wird der Staat,
der an ſich das Organ der perſönlichen Entwicklung überhaupt, als
abſtrakter Idee iſt, in der Wirklichkeit vielmehr das Organ für die
Vollziehung aller Forderungen der beſtimmten Geſellſchaftsordnung,
welche in ihm lebt und ihn erfüllt. Vermöge dieſes Geſetzes werden
dann die Forderungen der Geſellſchaft als Willen des Staats zum gel-
tenden Recht; ſie heißen Geſetz und Verordnung. Die ſtaatsbürgerliche
Geſellſchaft macht daher ihr Rechtsſyſtem ſo gut zum geltenden Recht,
wie die Geſchlechter- und die Ständeordnung es gethan; an ſie ſchließt
ſich daher ſo gut wie an dieſe eine reiche, das ganze Leben des Volkes
umfaſſende, auf jedem Punkte eingreifende Rechtsbildung und Geſetz-
gebung, deren Inhalt es auf jedem Punkte iſt, die Bedingungen ihres
höchſten Princips der vollen individuellen Freiheit und Selbſtbeſtimmung
zum geltenden Recht zu machen. Und hier iſt nun der Platz, auf welchem
die Entwährung ihre Funktion, ihr Princip, ihr Recht, ja ſogar ihr
nunmehr leicht verſtändliches Syſtem empfängt, von dem die unten
folgende Darſtellung nur die genauere hiſtoriſche und juriſtiſche Aus-
führung enthält.


Es bedarf keiner Erklärung, daß das Rechtsprincip der Geſchlechter-
und ſtändiſchen Ordnung für Perſon, Beſitz und Arbeit in direktem
Widerſpruch mit dem der ſtaatsbürgerlichen Ordnung ſteht. Die erſte
und unabweisbarſte Aufgabe der letzteren iſt es daher, dieß Rechts-
ſyſtem der beiden andern Geſellſchaftsordnungen, ſo weit es die freie
Selbſtthätigkeit des Einzelnen rechtlich hemmt, aufzuheben und eine
Ordnung der Perſonen, des Beſitzes und der Arbeit an die Stelle zu
ſetzen, deren Princip und Inhalt durch die Geſammtheit derjenigen
Bedingungen gebildet werden, welche eben jene ſelbſtändige individuelle
Freiheit möglich machen. So entſtehen jene gewaltigen, in das Leben
der Völker auf das Tiefſte eingreifenden Maßregeln, die wir gleich
bezeichnen werden, und die die Geſchichte mit ganz beſtimmten Namen
benannt hat. Allein die Entlaſtungen, die Gewerbefreiheit, die
[76] Gemeinheitstheilung, die Enteignung, dieſe Maßregeln ſind als bloße
Aufhebung des beſtehenden Rechts zwar eine neue geſellſchaftliche Rechts-
ordnung von Beſitz und Arbeit, aber noch nicht die Entwährung. Dieſe
enthält ihrerſeits ſelbſt wieder eine zweite ganz beſtimmte Seite in
jener Rechtsbildung und zwar als eine ſolche, die wiederum aus dem-
ſelben Rechtsprincip hervorgeht, das jene Aufhebung fordert.


Da nämlich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung die Selbſtän-
digkeit der Einzelperſönlichkeit an und für ſich will, ſo muß ſie dieſelbe
auch da wollen, wo ſie im Namen dieſes ihres höchſten Princips das
für die Einzelperſönlichkeit geltende geſellſchaftliche Recht aufhebt. Das
nun erſcheint dadurch, daß ſie dieſe Selbſtändigkeit jenem höchſten Grund-
ſatze nach überhaupt nur ſo weit beſchränkt, als dieß für ihr Princip
unbedingt gefordert wird, und mithin auch in der Aufhebung der Ge-
ſchlechter- und Ständeordnung für Perſonen, Beſitz und Arbeit nur
ſo weit
geht, als dieſe Aufhebung eine unabweisbare Bedingung der
freien Einzelentwicklung wird. Die Aufgabe des Rechts der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft iſt es daher, die Selbſtändigkeit der Einzelnen,
deren Recht aufgehoben wird, auch in dieſer Aufhebung ſo weit zu
erhalten
, als dieß ohne Beſchränkung der Principien jener Ordnung
möglich iſt.


So entſteht neben dem Princip der Aufhebung jener Rechte das
zweite, das mit jenem untrennbar verbunden iſt, das Princip der
Entſchädigung. Die Entſchädigung, deren Weſen und Entwicklung
auch hiſtoriſch von Anfang an ganz richtig gefühlt und verſtanden ward,
obwohl man ſie nie wiſſenſchaftlich auflöste, beruht auf der Scheidung
von Gut und Werth, die nur durch die Grundbegriffe der National-
ökonomie möglich iſt. Sie beruht auf dem Grundſatz, daß das Eigen-
thum das Recht auf beide Elemente zugleich enthält, und daß daher
die Aufhebung des einen dieſer Elemente ſehr wohl möglich iſt, ohne
das Recht auf das andere zu beſchränken. Das Recht auf den Werth
eines Beſitzes aber iſt, nach dem Weſen des Werthes, niemals ein
Widerſpruch mit dem Princip der freien Entwicklung aller Einzelnen
und ihrer Arbeit; es iſt vielmehr ſeiner höheren Natur nach das Gebiet
der freien Bethätigung des Individuums ſelbſt. Während daher das
Rechtsprincip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft das Eigenthum an all
den Gütern aufheben kann, deren individueller Beſitz materiell im
Widerſpruch mit der freien Thätigkeit der Einzelnen ſteht, kann ſie
demſelben Princip gemäß das Eigenthum am Werth nicht aufheben.
Sie muß daher, wo ſie jenes beſeitigt, dieſes von dem Gute trennen,
und den Werth als ſelbſtändigen dem Berechtigten zurückgeben.
Dieſe Zurückgabe des Werthes heißt die Entſchädigung. Und
[77] diejenige Aufhebung des Einzeleigenthums, welche demgemäß das Eigen-
thum an Werthe unverletzt erhält, während ſie das Eigenthumm am
Gute im Namen des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft auf-
hebt
, iſt die Entwährung.


Auf dieſe Weiſe entwickelt ſich der Begriff und Inhalt der Ent-
währung als eines, aus dem Weſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts-
ordnung folgenden Rechts, mit ſeiner doppelten, ſcheinbar entgegengeſetz-
ten Aufgabe, das der Entziehung des Gutes und das der Herausgabe
des Werthes, die beide nur die einfachen Conſequenzen jener höchſten
Idee der individuellen Entwicklung ſind, nur daß die erſtere durch die
allgemeine, die letztere durch die einzelne Entwicklung gefordert wird.
Die Entwährung in all ihren Formen liegt daher nicht im Begriffe
des öffentlichen Wohles oder des Rechts an ſich, ſondern vielmehr in
demjenigen öffentlichen Wohl und Recht, welches aus der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft hervorgeht. Die andern Geſellſchaftsordnungen kennen
ſie gar nicht. Sie erſcheint daher auch mit dem bei weitem größten
Theil ihres Inhalts nicht als eine dauernde Aufgabe des Staats,
ſondern nur als ein vorübergehender, überhaupt nur einmal mög-
licher
Proceß der Aufhebung des Rechts und der Beſitzeszuſtände der
Geſchlechter- und Ständeordnung, während gerade dieſe Aufgabe die bei
weitem wichtigſte der ganzen Entwährung iſt. Ihr Rechtsprincip liegt
demnach im Weſen der Geſellſchaft. Es iſt wahr, daß das vielleicht
eine Schwierigkeit bildet, daſſelbe zur Anerkennung zu bringen, aber
gewiß iſt zugleich, daß auf dieſer Grundlage die beiden andern Fragen,
das Syſtem der Entwährung, und das öffentliche Recht derſelben,
ſich in höchſt einfacher Weiſe erledigen.


IV. Das Syſtem der Entwährung. Geſellſchaftliche Natur der Grund-
entlaſtung, Gemeinheitstheilung, Ablöſung, Enteignung und des
Staatsnothrechts.

Das was wir das Syſtem der Entwährung nennen, entſteht nun,
indem das obige Princip der Entwährung auf diejenigen geſellſchaft-
lichen Rechte Anwendung findet, welche mit dem eben bezeichneten
Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Gegenſatz ſtehen.


Um nun zu dieſem Syſtem zu gelangen, muß vorher eine große,
europäiſche Thatſache feſtgeſtellt werden. Es wird keine Schwierigkeit
haben, ſie zuzugeſtehen.


Allerdings nämlich ſcheiden ſich wiſſenſchaftlich die drei großen
Grundformen der Geſellſchaft: die Geſchlechterordnung, die ſtändiſche
und die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſehr beſtimmt von einander, und
[78] wenn man ſie einmal in ihrer inneren und äußeren Selbſtändigkeit
erkannt hat, ſo iſt es nicht wohl möglich, ſie weiter zu vermiſchen oder
zu verwechſeln. Allein in der wirklichen Geſchichte der germaniſchen
Völker- und Staatenbildung iſt dieſe Scheidung eben nicht vollzogen.
Hier tritt uns vielmehr eine andere, allerdings mit dem ganzen Weſen
der Geſellſchaft vollſtändig harmonirende Thatſache entgegen. Es iſt
die, daß ſich jene drei Ordnungen nicht ausſchließen, ſondern neben
und in einander fortbeſtehen können, und zwar ſo, daß ein Theil des
Volkslebens der einen, ein anderer Theil deſſelben der zweiten, ja ein
dritter Theil der dritten Ordnung angehört. In dieſem gleichzeitigen
Beſtehen, in dieſem ſich gegenſeitig Durchdringen liegt eben der Reich-
thum der germaniſchen Welt; ohne daſſelbe wäre ſie eben ſo innerlich
öde und geſchichtslos, wie die indiſche und chineſiſche. Es iſt aber ſehr
einfach, dieſen abſtrakten Satz durch bekannte Thatſachen zu beſtätigen.
Der erſte Blick auf die europäiſche Rechtsgeſchichte genügt, um ſich zu
überzeugen, daß das Rechtsſyſtem der unfreien Perſonen und das des
unfreien Beſitzes in Leibeigenen und unabhängigem Bauernſtand, das
Rechtsſyſtem der unfreien Arbeit in Zünften, Innungen und Vor-
rechten aller Art ſchon ſeit Jahrhunderten nicht bloß neben einander,
ſondern auch neben dem Princip und der theilweiſen Gültigkeit der
perſönlichen und wirthſchaftlichen Freiheit beſtanden hat, die erſten
beiden der Geſchlechter- und Ständeordnung, das dritte der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft angehörig. Es iſt eben ſo bekannt, daß gerade in
dieſem Nebeneinander der ewig junge Keim der inneren und äußeren
Bewegungen und Gegenſätze des Volkslebens gelegen iſt, und daß dieſe
nur aus jenem zu verſtehen ſind.


Iſt dem nun ſo, ſo ergibt ſich von ſelbſt, daß das Princip der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft die Aufgabe hatte, nicht etwa bloß zu
einer abſtrakten Geltung zu gelangen, ſondern ſeine Verwirklichung
vielmehr in der Aufhebung desjenigen geltenden Rechtsſyſtemes für
Perſonen, Beſitz und Arbeit zu ſuchen, die mit ihm im Widerſpruche
ſtanden. Die Aufgabe deſſelben lag daher zuerſt und zunächſt außer-
halb
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſelbſt, das iſt in dem weiten
und mächtigen Gebiete desjenigen Rechts, das auf der Herrſchaft der
Geſchlechter- und Ständeordnung beruhte; und erſt nachdem dieſes Ge-
biet dem neuen geſellſchaftlichen Rechtsleben unterworfen, ward es
möglich, die Frage zu beantworten, ob und wie weit der Grundſatz
der Entwährung auch auf die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt An-
wendung finden könne und ſolle. Auf dieſe Weiſe nun entſteht ein
Proceß der Rechtsbildung, vermöge deſſen die Grundſätze der neuen
geſellſchaftlichen Ordnung die ganze Rechtsbildung der frühern für
[79] Perſonen-, Sachen- und Erwerbsrecht umgeſtalten, und alles aufheben,
was dem Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft entgegenſteht. Dieſer
Proceß hat im Großen und Ganzen reichlich zweihundert Jahre ge-
dauert, und wie wir ſehen werden, iſt er noch keineswegs fertig.
Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft iſt noch nicht zur vollen Geltung
ihrer Grundſätze gelangt, obgleich ihr Sieg über die Rechtsſyſteme der
frühern Geſellſchaftsordnungen ohne allen Zweifel ein entſchiedener iſt.
Und wir müſſen ſagen, daß dieſer Proceß die wahre Rechtsgeſchichte
Europas ſeit dem
17. Jahrhundert enthält. Es iſt ein ganz
neues Leben von Gedanken und Principien, das ſich namentlich ſeit
dem weſtphäliſchen Frieden in Europa Bahn bricht; eine neue Rechtswelt
erſcheint, und die ſogenannte deutſche Reichs- und Rechtsgeſchichte erkennt
das an, indem ſie inſtinktartig mit der Epoche abſchließt, wo ihre zwar
große aber einſeitige Baſis, die germaniſche Geſchlechterordnung und ihr
Recht aufhören die Herrſchaft zu beſitzen. Dieſe neue Rechtsgeſchichte
des ſtaatsbürgerlichen Rechts iſt aber keineswegs beſtändig die Geſchichte
der Entwährung. Es iſt vielmehr feſtzuhalten, daß die Entwährung
ihrerſeits nur als ein wenn auch mächtiger und definitiv entſcheidender,
ſo doch immer nur als ein beſtimmter Theil innerhalb derſelben
vorkommt; und es iſt durchaus nothwendig, die Gränze dieſes Auf-
tretens der Entwährung in jener neuen Rechtsbildung nicht bloß äußer-
lich, ſondern auch principiell zu bezeichnen.


Dieſe Gränze nun beſteht darin, daß die Entwährung ihrem Be-
griffe nach den Grundſatz der Entſchädigung enthält. Die Ent-
währung iſt daher nicht die Aufhebung des Geſchlechter- und Stände-
rechts überhaupt, ſondern ſie umfaßt nur diejenigen Aufhebungen,
welche die Entſchädigung möglich machen, das iſt diejenigen, bei
denen die durch das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beſeitigten
Rechte einen nachweisbaren wirthſchaftlichen Werth haben.
Das nun iſt aber bei jenen Rechten keineswegs immer der Fall. Da-
her dann die natürliche Erſcheinung, daß die neue Rechtsbildung, wenn
auch in hundert verſchiedenen Arten und Anwendungen, doch immer
in zwei großen Grundformen vor ſich geht, die ſtets neben einander
laufen. Die eine hebt einfach die beſtehenden geltenden Rechtsordnungen
auf, die andere erzeugt dagegen ein Verfahren, welche dieſe Auf-
hebung durch Ermittlung des Werthes mit einer geſetzlichen Entſchädi-
gung verbindet; und dieſes Verfahren iſt die Entwährung. Die
Entwährung bezieht ſich daher auch nur auf einzelne, ganz beſtimmte
Gebiete; ſie umfaßt nur einzelne ganz beſtimmte Fälle; ſie erſcheint als
ein ganz beſtimmtes eigenthümliches Verfahren, und während daher
jene erſte Seite bloß der Geſetzgebung angehört, wird die Entwährung
[80] dasjenige Gebiet in dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Ordnung über
Geſchlechter- und Ständerecht, welches auf Grundlage der Geſetzgebung
Aufgabe der inneren Verwaltung wird. Und demnach gehören
beide Gebiete, aus demſelben Rechtsprincip entſprungen, natürlich zu-
ſammen; die Rechtsgeſchichte hat ſie von demſelben Standpunkt zu be-
handeln, und darin wird die wichtigſte Aufgabe für die Zukunft der-
ſelben liegen.


Auf dieſer Grundlage nun iſt das Syſtem der Entwährung leicht
zu bezeichnen. Es ſteht daſſelbe in der That nicht etwa ſelbſtändig da,
ſondern es enthält diejenigen Gebiete der Aufhebung des Geſchlechter-
und Ständerechts, bei denen die Entſchädigung möglich und
darum nothwendig wird
. Deßhalb muß es uns verſtattet ſein,
einen Blick auf das ganze Syſtem der neuen Rechtsbildung zu werfen,
um für das der Entwährung darin ſeine Stelle und ſeinen Umfang
zu finden.


Das leitende Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung
gegenüber der Geſchlechterordnung in Beziehung zunächſt auf die Perſon
iſt mit einem Worte das der rechtlichen Gleichheit. Der formale
Ausdruck dieſes Princips beſteht darin, daß die Verwaltung des Rechts
für alle gleich ſein, das iſt, daß alle ohne Unterſchied vor demſelben
Gericht des Staats ihr Recht ſuchen ſollen. Damit iſt die Aufhebung
der Grundlage des Geſchlechterrechts, des Syſtems der Geſchlechtergerichte,
oder der Verſchiedenheit der Competenz je nach der geſellſchaftlichen
Stellung ausgeſprochen. Es folgt ferner, daß der Wille der Einzelnen
gleich ſei, das iſt, daß kein Einzelner als Einzelner von dem andern
Gehorſam zu fordern habe, ſondern daß nur die Gemeinſchaft aller im
perſönlichen Staat über den Einzelnen herrſchen dürfe. Der formale
Ausdruck dieſes Princips iſt, daß der Einzelne nur dem Geſetze und
nicht ſeinem Herrn zu gehorchen habe. Daran ſchließt ſich der dritte
Satz, daß der Beſitz als ſolcher ein Recht auf Verwaltung, Gericht
und Polizei nicht mehr geben dürfe; damit ward die letzte Grundlage
des feudalen Syſtems, die Grundherrlichkeit, die mit dem Geſchlechter-
beſitz verbundene Obrigkeit, unmöglich. Alle dieſe Rechte der Geſchlechter
haben nun ihrem Weſen nach keinen wirthſchaftlichen Werth; ſie wer-
den daher nicht entwährt
, ſondern einfach aufgehoben, und zwar
mit allen auch wirthſchaftlichen Conſequenzen und Leiſtungen der bisher
untergeordneten Klaſſen, da das Recht der herrſchenden auf dieſe nicht
ein ſelbſtändiges Privatrecht, ſondern nur die Folge eines Rechts iſt,
das an ſich, nach dem Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, über-
haupt kein Privatrecht ſein ſoll. Die Geſammtheit dieſer auf-
gehobenen Rechte enthält die Herſtellung der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit.


[81]

In Beziehung auf den Beſitz der Geſchlechterordnung tritt dagegen
ein weſentlich anderes Verhältniß ein. Dieſer Beſitz iſt nämlich theils
unfrei durch die Unterordnung unter die gutsherrliche Obrigkeit,
theils aber auch auf Grundlage des Verkehrsrechts in Grund-
ſtücken
, das ſich aus dem Princip der Geſchlechterordnung ergeben hat,
und das ſtatt einer wirthſchaftlichen Gegenleiſtung eine öffentlich recht-
liche, ſtatt des Erwerbs in freies Einzeleigenthum ein unfreies Eigen-
thum mit bedingtem, von dem Willen des Grundherrn abhängigem
Uebergang von einem zum andern ſetzt. Das Princip der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft will aber die wirthſchaftliche Conſequenz des Weſens
der freien Perſönlichkeit, das, der freien Verfügung des Eigenthümers
übergebene Beſitzthum. Seine Verwirklichung empfängt dieſes Princip
durch die Aufhebung jener wirthſchaftlichen Rechte des bisherigen Grund-
herrn. Dieſe nun erſcheint als nothwendig; aber jene Rechte haben
einen wirthſchaftlichen Werth; ſie bilden einen Theil des Vermögens
des bisherigen Herrn; ſie dürfen daher nicht einſeitig aufgehoben, ſon-
dern es muß eine Entſchädigung gegeben, oder ſie müſſen entwährt
werden
. So entſteht hier der Begriff der Entwährung; und dieſer
hat nun drei Grundformen.


Dieſe drei Grundformen bilden ſich nun nicht eben aus dem Weſen
der Entwährung, ſondern vielmehr aus der Verſchiedenheit desjenigen,
der der Grundherr iſt; und dieſe Verſchiedenheit geht wieder aus
den zwei Grundformen der Geſchlechterordnung hervor.


Die erſte und bei weitem mächtigſte Art des Grundherrn iſt nun
der eigentliche Grundherr, der Geſchlechteradel mit ſeinem adlichen
Grundbeſitz und der mit ihm verbundenen Obrigkeit. Die Herſtellung
des Einzeleigenthums iſt hier nicht die Herſtellung eines Beſitzes, ſon-
dern die Befreiung der beſtehenden Grundbeſitzungen von der frühern
Begränzung in Eigenthum und Verkehr. Dieſe Herſtellung oder Be-
freiung iſt nun diejenige Form der Entwährung, welche wir die Grund-
entlaſtung
nennen.


Die zweite Art des Grundherrn iſt dagegen die alte Geſchlechter-
genoſſenſchaft
des herrſchenden Bauerngeſchlechts, deren Beſitz die
Gemeindeflur iſt. Die Herſtellung des Einzeleigenthums gegenüber
dieſer Geſtaltung des Beſitzes der Geſchlechterordnung erſcheint nun in
der Herſtellung des Einzeleigenthums an der Stelle des Geſammt-
eigenthums
. Die Entſchädigung iſt hier in Form und Weſen eine
andere. Sie beſteht in der Theilung des Gemeinguts; ſie iſt daher
auch eine Entwährung, aber ſie iſt eine Entwährung der Gemeinde,
nicht des Gutsherrn; wir nennen ſie daher die Gemeinheitstheilung.


Die dritte Art iſt nun nichts anderes, als eine in höchſt ver-
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 6
[82] ſchiedenen Formen vorkommende Vermiſchung beider Arten der Grund-
herren, des Gutsherrn und der Gemeinde. Auch hier handelt es ſich
ſtets um die Herſtellung des Einzeleigenthums an der Stelle der be-
ſtimmten Form des Geſammtgutes, die in einem gemeinſamen Gebrauche
beſteht. Die Entſchädigung tritt ein, aber ſie hat verſchiedene Geſtalt;
es iſt eine dritte Art der Entwährung, die wir als die Ablöſungen
bezeichnen.


Dieſes ſind die drei Arten der Entwährung, welche das ſtaats-
bürgerliche Recht gegenüber dem Geſchlechterrecht erzeugt. Weſentlich
anders dagegen verhält ſich das erſtere gegenüber der Ständeordnung.


Die Ständeordnung entwickelt nämlich für das Einzelrecht zwei
Grundformen, welche mit dem Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaftsordnung im Widerſpruche ſtehen, und daher von ihr aufgehoben
werden. Aber keine derſelben begründet die Möglichkeit einer Entſchä-
digung; beide gehören daher der Geſchichte, aber beide gehören nicht
der Entwährung
. Demnach iſt es nothwendig, ſie hier zu bezeichnen.


Die Ständeordnung erzeugt nämlich zuerſt den ſtändiſchen Beſitz,
den man gewöhnlich mit dem Geſchlechterbeſitz verwechſelt, indem man
den letzteren fälſchlich den ſtändiſchen Beſitz nennt. In der That aber
iſt der ſtändiſche Beſitz nur derjenige, der der ſtändiſchen Berufs-
körperſchaft
gehört, und daher den Begriff des Einzeleigenthums
und Rechts ausſchließt. Dieſe Berufskörperſchaften ſind die Geiſtlichkeit,
die Bildungsanſtalten und die gewerblichen Körperſchaften der Zünfte
und Innungen. Die Aufhebung des ausſchließlichen Berufsrechts hat
zur Folge, daß die Körperſchaften als ſelbſtändige Corporationen ihre
Funktionen aufgeben, und dieſe Funktionen als Aufgabe der innern
Verwaltung erſcheinen. In dieſer aber tritt das ſtaatsbürgerliche Princip
des Einzeleigenthums in der Geſtalt des ſtaatlichen Gehalts auf; der
körperſchaftliche Beſitz wird daher aufgehoben und entweder zur Fun-
dirung des Gehaltes oder zu andern Verwaltungszwecken verwendet,
und dieſe Form des Beſitzes verſchwindet daher, ohne daß ein Einzel-
eigenthum aus demſelben hervorgeht. Das Hauptbeiſpiel dafür ſind
bekanntlich die Säculariſationen. Es iſt dem Obigen gemäß nun aller-
dings kein Zweifel, daß auch dieſe Maßregeln der obigen Rechtsbildung
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft angehören; allein es iſt klar, daß
ſie keine Entwährung enthalten, weil hier keine Entſchädigung ſtatt-
findet. Es tritt daher hier ſo wenig wie in dem folgenden Falle ein
ſpecielles Verfahren der Verwaltung ein, ſondern die einfache Geſetz-
gebung genügt; und wenn es daher erklärlich iſt, wie Einige, z. B.
Biſchof, die Säculariſationen dem Entwährungsrecht wegen des allge-
meinen Princips hinzurechnen, ſo iſt es andererſeits wohl klar, daß ſie
[83] demſelben in Wahrheit nicht angehören. Daſſelbe gilt von dem zweiten
Gebiet.


Dieſes nun bezieht ſich auf die freie Arbeit. Es enthält die Her-
ſtellung des freien Verkehrs und des freien Erwerbs, das iſt die Durch-
führung des Grundſatzes, daß alle Güter die Fähigkeit haben, Einzel-
eigenthum zu werden, und daß alle Arten des Erwerbes jedem Ein-
zelnen offen ſtehen. Der formelle Ausdruck dieſes Grundſatzes iſt die
Gewerbefreiheit, welche die Aufhebung der Erwerbskörperſchaften
der Zünfte und Innungen und ihrer ausſchließlichen Berechtigung zum
Inhalt haben. Die weitere Ausdehnung deſſelben liegt in der Auf-
hebung aller Privilegien und Monopole, die ihrerſeits die Anwendung
des Princips der ſtändiſchen Arbeitsordnung auf den Einzelerwerb
ſtatt auf ganze Corporationen entfalten. Auch hier iſt ein wirthſchaft-
licher Werth an ſich nicht nachgewieſen, ſo weit es ſich dabei um den
Einzelnen handelt, der in ſeinem Einzelgeſchäft dadurch nicht afficirt
wird; es tritt daher auch keine Entſchädigung ein, und das ganze weite
Gebiet der Herſtellung des freien Verkehrs und der freien Arbeit fällt
daher nicht unter das Gebiet der Entwährungslehre, ſo tief es auch
in den großen Proceß der ſtaatsbürgerlichen Rechtsbildung eingreift.


Das nun ſind die Anwendungen des Princips der Entwährung
auf die Reſte der Geſchlechter- und Ständeordnung, die der vollen Ent-
wicklung der ſtaatsbürgerlichen Ordnung entgegenſtehen. Und jetzt ent-
ſteht die Frage, ob Begriff und Weſen der Entwährung auch auf die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt Anwendung finden, nachdem ſie der-
ſelben zum Siege über die Geſchlechter- und Ständeordnung verholfen
haben.


Es iſt nun kein Zweifel, daß dem ſo iſt. Die beiden Formen, in
denen die Entwährung auch gegen das ſtaatbürgerliche freie Einzelrecht
zur Geltung kommt, ſind die Enteignung (oder Expropriation) und
das Staatsnothrecht. Es genüge hier, ſie anzuführen, da wir
unten darauf genauer zurückkommen. Sie enthalten beide die Löſung
der Frage, unter welchen Bedingungen auch die Aufhebung des Einzel-
eigenthums, das eben die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung ſelbſt
erſt geſchaffen hat, dadurch zu einem öffentlichen Recht werden kann,
daß dieſe Aufhebung ſelbſt wieder als Vorausſetzung des höchſten Princips
der letztern, der vollen Entwicklung der freien Perſönlichkeit erſcheint.
Der höhere Rechtsgrund der Enteignung liegt aber hier klar genug
darin, daß ſie ſelbſt als Conſequenz deſſelben Princips auftritt, aus
dem das Einzeleigenthum eben hervorgeht. Denn das letztere iſt erſt
hier in ſeinem ganzen Weſen zur Geltung gelangt; das Einzeleigen-
thum tritt hier zuerſt auf nicht als ein an und für ſich daſeiendes,
[84] ſondern als eine nothwendige Conſequenz des Weſens der freien Per-
ſönlichkeit, und findet daher auch, eben vermöge des Rechts der Ent-
eignung ſeine Gränze da, wo eben jene Idee der freien perſönlichen
Entwicklung, die es erzeugt hat, es auch wieder aufhebt, in der Ent-
eignung. Dieß nun darzuſtellen iſt die Aufgabe des ſpeciellen Theils.
Mit dem Vorhergehenden aber iſt demnach das Syſtem und zugleich
die organiſche Stellung der Entwährung überhaupt bezeichnet. Faſſen
wir das Ergebniß in Einem Satz zuſammen, ſo ergibt ſich jetzt folgendes.


Die Entwährung iſt derjenige Theil der Bildung des Rechts
aus der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, welcher zu ſeiner Vorausſetzung
die Entſchädigung des bisher Berechtigten hat, und zwar ſowohl im
Verhältniß zu dem Rechtsſyſtem der Geſchlechter- und Ständeordnung,
als zu dem der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſelbſt. Ihre Gebiete aber
gehören nur der erſten und letzten Ordnung an, weil es nur hier eine
Entſchädigung gibt. Dieſelben ſind: die Entwährung des Geſchlechter-
rechts in Grundentlaſtung, Gemeinheitstheilung und Ab-
löſung
, und die Entwährung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in
Enteignung und Staatsnothrecht.


Steht nun dieß feſt, ſo iſt es auch nicht mehr ſchwierig, das all-
gemeine Recht der Entwährung in Beziehung auf den Staat zu bezeichnen.


V. Das öffentliche Recht der Entwährungen, ſeine ſyſtematiſche Stelle und
ſeine Principien.

Auch hier hat es entſcheidenden Werth, den formalen Begriff an
die Spitze der Ausführungen zu ſtellen.


Die Entwährung liegt demnach im Weſen der geſellſchaftlichen
Rechtsbildung, und iſt ein ganz beſtimmtes Gebiet derſelben. Sie muß
aber, wie jeder andere Theil, durch den Willen des Staats zum gel-
tenden Recht erhoben werden. Und demgemäß empfängt die Entwährung
ihr öffentliches Recht, inſofern ſie mit ihrem Princip und ihrer Ver-
wirklichung zum Inhalt der Geſetzgebung und zur Aufgabe der
Verwaltung
wird.


Das Princip der Entwährung, inſofern es eine Beſchränkung
der Grundlage des freien Staatsbürgerthums iſt, kann daher auch nur
in demjenigen Willensakt oder Geſetze des Staats ausgeſprochen werden,
welcher eben das Staatsbürgerthum ſelbſt geſetzlich als Gruundlage des
Staatslebens anerkennt; das iſt das Staatsgrundgeſetz oder die
Verfaſſung. Durch die Anerkennung der Entwährung wird daſſelbe
damit zu einem allgemeinen verfaſſungsmäßigen Rechte der Staats-
bürger.


[85]

Die wirkliche Entwährung iſt jedoch die Anwendung dieſes Grund-
geſetzes auf den einzelnen Fall, eine beſtimmte geſellſchaftliche Rechts
inſtitution und ein beſtimmtes Gut. Dieſe Anwendung iſt principiell
Sache der vollziehenden Gewalt, und geſchieht durch die Verordnung.
Jede einzelne, wirkliche Entwährung geſchieht daher nach einem Ver-
ordnungsrecht.


Nun kann natürlich das Verfahren der vollziehenden Gewalt ſelbſt
wieder Gegenſtand eines Geſetzes ſein, und mithin dem Verordnungs-
recht eben nur die Anwendung dieſer geſetzlichen Vorſchriften über das
Verfahren in jedem einzelnen Falle überlaſſen ſein. Es iſt auch an
ſich möglich, und das iſt eben aus hiſtoriſchen Gründen der wirkliche
Gang der Dinge geweſen, daß die Entwährungen der Geſchlechterrechte
— Entlaſtung, Gemeinheitstheilung und Ablöſung — als an ſich vor-
übergehende, nur einmal für die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft vor-
handene Akte der Verwaltung nothwendige Entwährungen überhaupt
nicht in das Staatsgrundgeſetz aufgenommen, ſondern durch ſpecielle
nur auf ſie ſelbſt bezügliche, Einzelgeſetze hergeſtellt werden. In dieſem
Falle wird es geſchehen, daß die Verfaſſungen ſich um die Geſchlechter-
entwährungen überhaupt nicht mehr kümmern und ſie nicht ſpeciell
berückſichtigen, ſondern nur den Rechtsgrundſatz der Enteignung auf-
nehmen. Alsdann erſcheint das öffentliche Entwährungsrecht in zwei
Hauptformen: erſtlich in den Specialgeſetzen für Entlaſtung, Ab-
löſung und Gemeinheitstheilung, nebſt den Ausführungsverord-
nungen
dieſer Entwährungen, die dann zuweilen auch als Geſetze
erlaſſen werden; zweitens in dem Enteignungsgeſetz, das in ſeinem
Princip in der Verfaſſung anerkannt iſt, aber zu ſeinem Inhalt das
geſetzliche Syſtem für das Verfahren der Regierung bei der wirklichen
Enteignung hat, während die Enteignungsverordnung alsdann die
Anwendung dieſes ſpeciellen Enteignungsgeſetzes auf ein einzelnes Gut
nnd ſein Recht enthält.


Darnach ergibt ſich, daß jedes Enteignungsgeſetz im eigentlichen
Sinne ein Geſetz für das Verfahren bei der wirklichen Enteignung
iſt. Und darnach kann es kein Zweifel ſein, wohin ſowohl die Ent-
laſtungen u. ſ. w., als die Enteignungen gehören. Alle Entwährung
nämlich erſcheint darnach als Funktion der inneren Verwaltung
welche im Namen des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft das
Einzeleigenthum gegen Entſchädigung aufhebt.


Aus dieſem Weſen des Entwährungsrechts folgen nun auch die
leitenden Principien für ſeinen Inhalt, die für alle fünf Formen der
Entwährung geltend und daher in jedem Entwährungsgeſetz enthalten
ſein müſſen.


[86]

Man wird dieſelben ſcheiden müſſen in die formalen, auf das Ver-
fahren
, und in die materiellen, auf das Gut bezüglichen Elemente
des öffentlichen Entwährungsrechts.


Die formalen Elemente ſind folgende:


Der erſte Grundſatz iſt der, daß die Entwährung auf einem Ge-
ſetze (ſ. oben) beruhe, aber im einzelnen Falle durch eine Verfügung
im Namen des Staats ausgeſprochen werden muß, deren Vorausſetzung
und Form das Entwährungsgeſetz zu beſtimmen hat, widrigenfalls die
Regierung einſeitig durch ihre Verordnungen darüber zu entſcheiden voll-
kommen
berechtigt iſt.


Der zweite Grundſatz iſt, daß das Verfahren bei der Aufhebung
des Eigenthums oder Rechts von dem Verfahren bei der Herausgabe
des Werthes, oder das eigentliche Enteignungs- und das Ent-
ſchädigungsverfahren
ſelbſtändig getrennt werden muß.


Der dritte Grundſatz iſt, daß der auf dieſe Weiſe geſetzlich ge-
ordnete Proceß der Entwährung auch nur durch die Organe des Staats
ſelber, und nie durch die Betheiligten in Vollzug geſetzt werden darf,
da die Entwährung nie für ein Einzelintereſſe, ſondern nur im Namen
des ſtaatsbürgerlichen Princips geſchehen ſoll, deſſen Vertreter der
Staat iſt. Daher iſt auch das ganze, aus der Entwährung entſtehende
Rechts- und Verkehrsverhältniß kein Privatrecht, kein Kauf u. ſ. w.
(ſ. unten bei der Enteignung), ſondern ein Theil desjenigen Rechts-
gebietes, das wir als das bürgerliche Verwaltungsrecht bezeichnet
haben.


Was nun die materiellen Elemente des Entwährungsrechts betrifft,
ſo ſind ſie folgende.


Die erſte, auf das Gut als Objekt der Entwährung bezügliche
Regel für alle Entwährung liegt im Weſen der innern Verwaltung,
nach welchem überhaupt die Thätigkeit des Staats nur da eintreten ſoll,
wo die Einzelnen ſich ſelbſt durch eigene Kraft nicht mehr zu helfen
vermögen. Das Recht und die Aufgabe der Entwährung durch die Ver-
waltung darf daher auch nur da eintreten, wo die Aufhebung des be-
treffenden geſellſchaftlichen und wirthſchaftlichen Rechtes ſich als unab-
weisbar gewordene, aber dennoch durch die freie Vereinbarung
der Einzelnen nicht erreichbare Vorausſetzung irgend eines Geſammt-
intereſſes herausgeſtellt hat, oder ſo lange der Staat ſich das betreffende
Objekt ſelbſt nicht zu produciren vermag, was bei beweglichen Gütern
wohl faſt ausnahmslos der Fall iſt. So lange daher die eigene Pro-
duktion ſolcher Güter, oder aber eine freie Vereinbarung über Rechte
und unbewegliche Güter möglich iſt, ſoll der Staat mit ſeinem Ent-
währungsrechte nicht eintreten. Es muß daher als Rechtsprincip bei
[87] jeder Entwährung gelten, daß die Verwaltung die freie Vereinbarung
zu veranlaſſen und zu befördern hat, bevor ſie zur Entwährung ſchreitet;
es folgt freilich, daß ſie dabei die Bedingungen vorſchreiben muß, unter
denen die freiwillige Entwährung allein dem Intereſſe genügt, um
deſſentwillen ſie vollzogen iſt, und zwar ſowohl in Beziehung auf In-
halt und Umfang der zu entwährenden Rechte, als in Beziehung auf die
Zeit, in der die Entwährung ſelbſt geſchehen muß. Demgemäß wird
man das obige erſte materielle Rechtsprincip aller Entwährung am beſten
bezeichnen, indem man ſagt, daß jede vom Staate ausgeſprochene Ent-
währung den Charakter und die Stellung einer ſubſidiären Verwal-
tungsmaßregel
haben muß.


Die zweite große Bedingung aller Entwährung iſt nun die, daß
nicht mehr Rechte und Güter der Entwährung unterzogen werden
dürfen, als zur Erreichung des Zweckes unbedingt nothwendig iſt.
Es iſt klar, daß hierin das Princip der Selbſtändigkeit und Unverletzlichkeit
der Perſönlichkeit und ihres bürgerlichen Rechtes zur Erſcheinung kommt.
Die Anwendung dieſes Grundſatzes aber tritt in zwei Hauptpunkten auf.


Zuerſt muß der Staat bei jedem Akte der Entwährung das Ob-
jekt derſelben genau in Art und Umfang beſtimmen, ſo daß mit dieſer
Beſtimmung die Gränze für das an ſich unverletzliche Privatrecht des
Einzelnen wieder hergeſtellt wird; denn es gibt keine allgemeine Ent-
währung, ſondern nur die eines beſtimmten einzelnen Objektes.


Zweitens aber muß, nachdem das Objekt beſtimmt iſt, von dieſem
Entwährungsobjekte auch nur dasjenige Moment aufgehoben werden,
das eben dem Geſammtintereſſe wirklich entgegen ſteht. Wo daher die
Zwecke der Verwaltung mit der Entwährung Eines Momentes des
Gutes, namentlich des zeitweiſen Beſitzes oder des Gebrauches auszu-
reichen vermag, da ſoll die Entwährung des Eigenthums nur dann
eintreten, wenn der Eigenthümer ſelbſt es fordert, weil die Gränze des
entwährten wirthſchaftlichen Moments eine unbeſtimmte (lange Dauer
der Occupation, ſtarker Verbrauch) iſt.


Drittens endlich muß das Entſchädigungsverfahren die Entſchä-
digung ſo einrichten, daß ſie dem Berechtigten auch wirklich zukommt;
ein Grundſatz, der für die Haftung der Behörde für die Entſchädigungs-
berechtigten maßgebend iſt.


Viertens endlich muß das Entſchädigungsverfahren vor allen
Dingen den Werth und ſeine Feſtſtellung vor den Privatintereſſen
ſichern. Darauf beruht Wichtigkeit und Inhalt des Schätzungver-
fahrens
, das mithin die Grundlage des ganzen Entſchädigungsver-
fahrens wird.


Dieß nun ſind die Elemente jedes öffentlichen Entwährungsrechts.
[88] Bevor wir nun auf dieſer Grundlage zu den einzelnen Entwährungen
übergehen, ſcheint es von Wichtigkeit, das geltende Recht der Entwäh-
rung in den verſchiedenen Staaten zu charakteriſiren.


VI. Elemente der Geſchichte der Entwährungen. Charakter der Geſetzgebung
von Frankreich, England und Dentſchland.

Die eben bezeichnete Natur der Entwährungen hat nun auch die
hiſtoriſche Entwicklung deſſelben ſowohl in Theorie als in Geſetzgebung
beſtimmt. Es iſt zwar kein Zweifel, daß alle Arten der Entwährung
auf demſelben Principe ruhen und daher auch innerlich ein Ganzes
bilden; eben ſo gewiß iſt es, daß die Principien für das Verfahren in
allen dieſen Arten dieſelben ſind. Allein die höhere Einheit, welche ſie
alle umfaßt, iſt doch zuletzt nur das Weſen der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft, und bei dem Verfahren die Idee und Aufgabe der inneren
Verwaltung. Beide Begriffe aber fehlten. Und ſo war es natürlich,
daß vermöge des Mangels auf dem erſten Punkte die ganze Entwäh-
rungslehre und ihr Recht niemals als ein Ganzes aufgefaßt und nie-
mals ſyſtematiſch behandelt worden iſt, während durch den Mangel
einer organiſchen Verwaltungslehre alle Gebiete der Entwährung ohne
eigentliche Heimath in der Wiſſenſchaft daſtehen. Es iſt auch nicht ein-
mal verſucht worden, ihnen ihre rechte Stelle anzuweiſen; und eben ſo
wenig haben wir den Verſuch gefunden, ſelbſt in der neueſten Zeit bei
den eingehenden Behandlungen des Expropriationsrechts nicht, alle jene
Arten unter Einem Geſichtspunkt zuſammen zu faſſen.


Der Charakter der Rechtsbildung für die Entwährung beruht daher
darauf, daß jede einzelne Art der Entwährung ihre eigene Geſchichte
und ihre eigene Literatur hat
. Und es bleibt uns daher nichts
anderes übrig, als bei jedem einzelnen Theile dieſer Geſchichte und Li-
teratur ſelbſtändig nachzuholen.


Demnach ſteht wohl die Aufgabe der Verwaltungslehre feſt, jene höhere
Einheit in all dieſen ſo eng verwandten, aus derſelben großen Quelle
entſpringenden Erſcheinungen feſtzuhalten. Wir haben dieß verſucht,
und als nächſten Ausdruck dieſes Grundgedankens den Geſammtnamen
der „Entwährung“ aufgeſtellt, der von allen Worten am beſten die
beiden Momente, die Entziehung des Eigenthums und die Entſchädi-
gung, bezeichnet, und dadurch eben die Entwährung von den übrigen
Theilen der ſtaatsbürgerlichen Rechtsbildung unterſcheidet. Daß wir
dabei den Ausdruck „Enteignung“ ſtatt der Expropriation gebrauchen,
bedarf wohl keiner Motivirung.


Denſelben Charakter, wie die Literatur, hat nun auch die Geſetz-
[89] gebung; und hier mag es wohl geſtattet ſein, einige Worte hinzuzu-
fügen, welche den Ueberblick erleichtern.


Zuerſt mangelt allerdings auch der Geſetzgebung das Bewußtſein,
daß alle Formen der Entwährung zuletzt einem und demſelben Princip
und der Geſchichte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gemeinſam ange-
hören. Daher finden wir denn auch hier dieſelbe Erſcheinung, daß die
Geſetzgebungen über Entlaſtung, Auftheilung und Enteignung ganz un-
abhängig und ganz ohne Beziehung auf einander entſtanden ſind und
als lauter ſelbſtändige Geſetze daſtehen. Der materielle Grund dafür
lag wohl darin, daß allerdings das Entlaſtungs- und Auftheilungs-
weſen überhaupt nur einmal auftreten kann, während die Enteignung
als ein dauerndes Element des öffentlichen Rechts erſcheint. Und da
nun der Proceß, der den Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bedeu-
tet, in ſehr verſchiedenen Abſtufungen und Formen auftritt, ſo iſt auch
eine formelle Gleichartigkeit der Entwährungsgeſetzgebung weder zu er-
warten, noch auch vorhanden. Dennoch iſt die Grundlage für alle
Staaten Europas dieſelbe; und daher iſt bei aller formellen Ungleichheit
in den Rechtsſätzen eine ſo große Gleichheit, wie vielleicht in gar
keinem andern Theile des ganzen Verwaltungsrechts. Es iſt deßhalb
ſehr leicht, dieſe gemeinſame Grundlage zu bezeichnen, und auf derſelben
die poſitive Geſtalt der Entwährungs-Rechtsbildung zu charakteriſiren.


So wie man zunächſt anerkennt, daß dieſelbe der Entwicklung der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in ihrem Kampfe mit der Geſchlechter- und
Ständeordnung angehört, ſo erklärt es ſich, weßhalb das ganze römiſche
und canoniſche Recht von dem Entwährungsrecht auch nicht einmal
eine Vorſtellung haben. Wenn hochbegabte Männer wie Aeneas Syl-
vius
(De ortu et auctoritate imperii c. 17) die Nothwendigkeit eines
ſolchen Rechts ahnen, ſo ſtehen ſie eben damit ſchon hoch über ihrer
Zeit. Denn natürlich kann auch in der germaniſchen Welt unter der
Herrſchaft der Geſchlechter- und der Ständeordnung von dem Princip
oder Inhalt der Entwährung in keiner Richtung die Rede ſein, um
ſo weniger, als das römiſche Recht keinen Anſtoß dazu gab. Erſt mit
dem 17. Jahrhundert, in dem das Princip der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft ſeine erſten Strahlen auf die Wiſſenſchaft wirft, entſteht mit
der Staatswiſſenſchaft zugleich die Frage, wie ſich denn das Imperium
oder Dominium, die Obrigkeit oder das Königthum, nicht bloß zu der
Geſetzgebung im Allgemeinen, ſondern ſpeciell auch zum Privatrecht
verhalte. Und ſchon hier wird der Grundgedanke ausdrücklich und als
etwas ganz unbezweifeltes ausgeſprochen, daß das wahre Bedürfniß
des Staats, die necessitas Imperii, das Recht auf Aufhebung auch
des Privateigenthums enthalte. Von da an iſt dieß Princip nie
[90] wieder bezweifelt oder beſtritten worden
; es ſteht feſt als
eine der großen Forderungen der neuen Ideen des Staats, jedoch natür-
lich ohne daß man ſich über die geſellſchaftliche Grundlage Rechenſchaft
ablegt. Denn das Entſtehen dieſes Princips iſt in der That zugleich
der Beginn des großen Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gegen
das Geſchlechter- und Ständerecht, und natürlich wendet ſich dieſer Kampf
zunächſt dem härteſten Theil des letzteren, der Lage des urſprünglich
freien Bauern zu, in dem dunklen Bewußtſein, daß es keinen wahrhaft
definitiven geſellſchaftlichen Fortſchritt gebe, ſo lange der Bauernbeſitz
und die Perſon der unteren Klaſſen noch in der Geſchlechterabhängig-
keit bleibt. Die große Frage nach der Grundentlaſtung wird
daher das eigentliche Schlachtfeld zwiſchen der neuen und der alten
Rechtsbildung; das was hier geſchieht, überragt ſo ſehr alle andern
Gebiete der Entwährung, daß von denſelben neben jener ſo gut als
gar keine Rede iſt; in ihr zeichnet ſich daher auch der ganze Entwick-
lungsgang des Sieges der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft deutlicher ab,
als irgendwo ſonſt, und das Bewußtſein wird allgemein, daß die neue
Ordnung des öffentlichen Rechts trotz aller Verfaſſung und aller Frei-
heitsprincipien nicht entſchieden iſt, ſo lange die Grundentlaſtung nicht
durchgeführt iſt. Dieſe Geſchichte der Grundentlaſtung iſt daher das
Hauptgebiet der Entwährungsgeſchichte; an ſie ſchließen ſich die Gemein-
heitstheilung und Ablöſung als ſehr untergeordnete Momente an, und
die Enteignung, die bereits den vollendeten Sieg der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft vorausſetzt, kommt eben deßhalb erſt mit dem neunzehn-
ten Jahrhundert zu einer ſelbſtändigen Bedeutung, ohne daß man doch
recht ihren Zuſammenhang mit dem Entlaſtungsweſen erkannt hätte.
Das ſind die allgemeinſten Grundzüge der Entwicklung dieſes Theiles
der europäiſchen Rechtsbildung. Es iſt kaum nöthig, zu wiederholen,
daß ſie ohne den Begriff der drei Geſellſchaftsformen gar nicht verſtanden
wird, daß ſie aber auch für das Weſen und Princip derſelben vielleicht
den bedeutſamſten praktiſchen Beweis bildet, den die Wiſſenſchaft kennt.


Demgemäß wird es nun wohl auch klar ſein, daß der Gang und die
Stadien der Bildung des poſitiven Entwährungsrechts wieder in jedem
einzelnen Lande in höchſt einfacher und durchſichtiger Weiſe mit dem Gange
jener Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zuſammen hängen.
Die folgende Darſtellung hat dieß für jedes einzelne Gebiet ſpeciell
nachzuweiſen; hier möge nur das allgemeine Bild der Sache Platz finden.


In Frankreich bricht ſich das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft, von keiner Regierung verſtanden und vertreten, die gewaltſame
Bahn in der Revolution, und der ganze Proceß der Entlaſtung drängt
ſich daher in die Jahre von 1789 bis 1795 zuſammen. Das Princip
[91] der Entwährung wird im Allgemeinen bereits in der Décl. des droits
anerkannt; die Enteignung tritt, eben weil die Entlaſtung bereits eine
fertige Thatſache iſt, dann ſelbſtändig und von ihr geſchieden ſeit 1807
auf, und gipfelt in dem Geſetze von 1841. Die ganze Entlaſtung und
Ablöſung iſt in dieſer Zeit im franzöſiſchen Recht bereits überwunden
und vergeſſen; es gibt daher in Frankreich weder Entlaſtungs- noch Ab-
löſungsgeſetze; nur in der Gemeinheitstheilung, in dem alten Geſchlechter-
rechte der vaine pature und des droit de parcours erhält ſich ein ſelb-
ſtändiger Reſt des alten Rechts, zuſammenhanglos und unverſtanden
daſtehend; das ganze Entwährungsrecht Frankreichs iſt durch dieſen
Gang der Dinge zum bloßen Enteignungsrecht des Geſetzes
von
1841 geworden.


Weſentlich anders iſt es in England. Hier iſt der Gegenſatz
zwiſchen der Geſchlechter- und ſtaatsbürgerlichen Ordnung bei weitem
nicht ſo ſcharf ausgedrückt; allein nichts iſt verkehrter, als zu glauben,
daß er nicht gleichfalls dort beſteht. Der ganze Charakter des engliſchen
Geſchlechterrechts im Verhältniß zum Continent beſteht nämlich darin,
daß es zwar eine eben ſo große Unfreiheit des Beſitzes dort gibt, wie
im übrigen Europa, allein keine Unfreiheit der Perſon und des
Erwerbes
. Die Freiheit der letzteren macht daher die Unfreiheit des
erſteren ſo erträglich, daß England überhaupt erſt in der Mitte unſeres
Jahrhunderts an die Entlaſtung und Gemeinheitstheilung denkt, wäh-
rend das Princip des Privatrechts die Idee der Enteignung auch erſt
in derſelben Zeit, und zwar nicht als allgemeines Princip der Verfaſ-
ſung, wie in Frankreich und Deutſchland, ſondern nur als Ausnahms-
geſetz für induſtrielle Unternehmungen erſcheinen läßt. Die Geſetzgebung
iſt daher hier ſehr unvollſtändig, und beſteht bloß in dem Entlaſtungs-
geſetze 45. Vict. 35 und 9. 10. Vict. 75, und dem ganz ſpeciellen Ent-
eignungsgeſetz in der Lands Clauses Act. Von einer theoretiſchen Be-
handlung iſt hier keine Rede.


In Deutſchland endlich muß man wieder davon ausgehen, daß
hier wie auf allen andern Gebieten zwei Rechtsbildungen neben ein-
ander beſtehen und ſich gelegentlich kreuzen und hemmen. Das ſind
die des deutſchen Volkes im allgemeinen, und die der einzelnen Staaten
im beſondern. Die Bewegung beginnt hier jedoch im 18. Jahrhundert,
und zwar mit den erſten, noch ziemlich geſtaltloſen Verſuchen, die Grund-
entlaſtungen auf dem Wege freiwilliger Vereinbarung durchzuführen;
zugleich wird die Gemeinheitstheilung ſelbſtändig aufgenommen, aber
mehr verſuchsweiſe und ohne großen Erfolg; dann tritt aber mit dem
Anfang unſeres Jahrhunderts das allgemeine Princip der Entwäh-
rung in der Geſetzgebung auf, nur in höchſt verſchiedener Weiſe; denn
[92] während Preußen und Oeſterreich es in ihren bürgerlichen Geſetzgebungen
als geltendes, aber ziemlich unausgeführtes Recht hinſtellen, wird es
in den neuen Verfaſſungen ſeit 1818 allmählig zu einem Grundrecht.
Aber trotzdem gibt es Jahrzehnte hindurch noch weder ein Grundent-
laſtungs- noch ein Enteignungsgeſetz, und deßhalb auch ſo gut als gar
keine Jurisprudenz derſelben. Die Ausbildung jenes Entwährungs-
princips zu einer vollſtändigen Geſetzgebung erfolgt daher ſtoßweiſe, und
höchſt ungleichmäßig in den verſchiedenen Staaten. Es bedarf wohl
keiner weiteren Erklärung mehr, weßhalb die großen Revolutionen Frank-
reichs ſtets den Anſtoß zur Weiterbildung gaben, und zwar weſentlich auf
dem Gebiete des Entlaſtungsweſens, während das Enteignungsweſen
vielfach zurückbleibt. Das ganze Entlaſtungsweſen ſchließt ſich demgemäß
an die Epoche von 1830 und 1848 und zwar weſentlich als ſpecielle
Entlaſtungsgeſetzgebung, während die Ablöſungen immer erſt ſpäter
kommen, und die Gemeinheitstheilungen durch das neugeſtaltete Gemeinde-
weſen, namentlich ſeit 1848, eine ganz andere Richtung einſchlagen.
Ueber dieſen hochwichtigen, ja entſcheidenden Erſcheinungen wird nun
die Enteignungsgeſetzgebung faſt ganz vernachläſſigt; nur einige Staaten
gelangen zu einer ſolchen; die meiſten aber führen das Princip der Ent-
eignung zu einer wirklichen Geſetzgebungnur in ſpecieller Beziehung zu
den Eiſenbahnen aus, ſo daß die größten Staaten, Oeſterreich und Preu-
ßen, überhaupt noch einer eigentlichen Enteignungsgeſetzgebung entbehren.
Dadurch ſind nun auch zwei Gebiete der Literatur entſtanden, die ſich
trotz ihrer inneren Verwandtſchaft gegenſeitig gar nicht kennen und berück-
ſichtigen, die Literatur der Entlaſtungen und Gemeinheitstheilungen, die
ſehr umfangreich und gründlich, und die des Enteignungsrechts, die
naturgemäß verhältnißmäßig unbedeutend geblieben iſt. Zu einer einheit-
lichen Rechtsbildung iſt man nicht gelangt, eine einheitliche Literatur muß
erſt den Gedanken der Gemeinſamkeit dieſer Erſcheinungen erobern.


Auf dieſer Grundlage werden wir nun im beſondern Theil jede
einzelne Entwährung in ihrer Geſchichte und Literatur unterſuchen.
Das Geſammtergebniß der obigen Bemerkungen aber iſt, daß die Ge-
ſchichte des Entwährungsrechtes und ſeiner Bildung daher ein Theil
der geſellſchaftlichen Geſchichte Europas
iſt — ein Standpunkt,
der allein eine Verbindung der verſchiedenen Formen und Epochen
derſelben zuläßt. Und die Verwaltungslehre, indem ſie dieſelbe in dieſem
Sinne auffaßt, wird daher auch den gegenwärtigen Zuſtand des
Entlaſtungs- und Ablöſungsweſens nur als einen hiſtori-
ſchen Moment
, das Recht der Expropriation und der Zwangsenteignung
dagegen als einen dauernden Theil des Verwaltungsrechts
aufzufaſſen haben.


[93]
II.
Die einzelnen Entwährungen.

Die Grundentlaſtung.

I. Der formale Begriff derſelben.

Die Grundentlaſtung bildet nun, dem Obigen zufolge, den erſten
und wichtigſten Theil der Entwährung, die erſte große Anwendung des
Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und damit Anfang und Ende
ihres Sieges in den Völkern Europas.


Ihr formaler Begriff iſt zunächſt folgender:


Die Grundentlaſtung iſt dem formalen Begriffe nach diejenige
Entwährung, welche die Geſammtheit aller, mit hiſtoriſch beſtimmten
einzelnen Grundbeſitzungen verbundenen öffentlichen Rechte aufhebt,
indem ſie die Beſitzer für den wirthſchaftlichen Werth dieſer Rechte
nach geſetzlich beſtimmten Vorſchriften wenigſtens zum Theil entſchädigt.


Das Grundentlaſtungsrecht enthält ſeinerſeits die Geſammtheit
von Beſtimmungen, nach welchen die aufzuhebenden Rechte feſtgeſtellt,
und das Entſchädigungsverfahren geordnet wird.


Es iſt daher kein Zweifel, daß das geſammte Grundentlaſtungs-
weſen dem öffentlichen, und ſpeciell dem innern Verwaltungsrechte an-
gehört. Es iſt eine beſtimmte Anwendung des allgemeinen Entwährungs-
rechts des Staats. Allerdings aber iſt es nicht zu verkennen, daß es
eine zweifache Natur hat. Es gehört einerſeits der Verwaltung der
geſellſchaftlichen Entwicklung an, indem es die öffentliche Stellung der
Grundherrlichkeiten beſeitigt, und das gleiche Recht jedes Grundbeſitzes
herſtellt. Andererſeits aber gehört es der inneren Verwaltung, indem
es jene öffentlichen Rechtszuſtände der Grundherrlichkeiten, welche ein
unbeſiegbares Hinderniß für den Einzelnen waren, aufhebt, und da-
mit die freie volkswirthſchaftliche Entwicklung Aller möglich macht. Faßt
man es in ſeinem Verhältniß zur geſellſchaftlichen Ordnung, ſo gehört
es der Geſellſchaftslehre; faßt man es in ſeinem Verhältniß zum Privat-
recht des Einzelnen, ſo gehört es der Volkswirthſchaftspflege. Man
muß es daher formell als Uebergang beider Gebiete in einander an-
ſehen. Wir nun ſtellen es an die Spitze der volkswirthſchaftlichen Ver-
waltung, weil es mit dem Element, mit welchem es der Geſellſchafts-
lehre angehört, ein nur einmaliges und hiſtoriſches, mit dem jedoch,
mit welchem es in der Volkswirthſchaftspflege erſcheint, ein dauerndes
und organiſches Moment der Verwaltung iſt.


[94]

Indem wir auf dieſe Weiſe das ganze Entlaſtungsweſen in die
Verwaltungslehre aufnehmen, iſt es nunmehr nothwendig, nachdem ſein
ſocialer Charakter entwickelt iſt, ſein Verhältniß zum Staat, das iſt
ſeinen adminiſtrativen Charakter zu bezeichnen.


Auch dieſer hängt aufs engſte mit dem geſellſchaftlichen Weſen der
Entlaſtung zuſammen.


Jede Geſellſchaftsordnung erzeugt neben dem Großen, Glänzenden
und Dauernden, das nur ſie hervorbringen kann, zugleich auf Grund-
lage des geſellſchaftlichen Intereſſes ihrer Klaſſen die ihr eigenthümliche
Geſtalt der geſellſchaftlichen Unfreiheit. Das Weſen dieſer Unfreiheit
beſteht in allen Geſellſchaftsordnungen darin, durch eine beſtimmte
Form der Vertheilung des Beſitzes dem Recht auf öffentliche Herrſchaft
den Charakter des Privatrechts zu verleihen. Das freiheitliche Element
kämpft nun gegen eine ſolche Ordnung; und ſo entſteht die große hiſto-
riſche Frage, ob überhaupt eine beſtimmte Geſellſchaftsordnung fähig
ſei, eine höhere und freiere Geſtaltung aus ihren eigenen Elementen
heraus zu erzeugen.


Die Geſellſchaftslehre zeigt nun, daß dieß nur ſo lange möglich
iſt, als die Rechte der herrſchenden Klaſſe noch nicht mit Beſitz und
Erwerb identificirt worden ſind. Sobald dieß aber eingetreten iſt, ver-
liert die betreffende Geſellſchaftsordnung die Fähigkeit, aus ſich ſelber
heraus fortſchreiten zu können. Der Fortſchritt zu einer höheren Ge-
ſtaltung iſt dann nur dadurch möglich, daß die Gewalt, die über
jedem geſellſchaftlichen Intereſſe ſteht, der Staat helfend einſchreitet.
Der Organismus, durch den er dieſe ſeine Hilfe vollzieht, iſt die Ver-
waltung. Und der Gang dieſer Verwaltung iſt dabei ſtets der, daß
zuerſt das abſtrakte Rechtsprincip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit an-
erkannt wird, daß dann einzelne Verwaltungsmaßregeln verſucht werden,
und dabei heftige Kämpfe aller Art entſtehen; daß aber der Staat erſt
dann den definitiven Sieg über die vorhandene ſociale Unfreiheit
gewinnt, wenn er die Beſitz- und Erwerbsverhältniſſe in der
Weiſe ordnet, daß ſie der freien individuellen Entwicklung und der
Rechtsgleichheit nicht mehr entgegen ſtehen. Das Eingreifen in die
wirthſchaftlichen Verhältniſſe und ihr Recht bildet daher ſtets den
Schlußpunkt einer jeden großen geſellſchaftlichen Bewegung.


Die Geſchichte Europas zeigt nun, daß die Geſchlechterordnung, die
in allen europäiſchen Völkern herrſcht, auf ſich ſelbſt angewieſen, von
der urſprünglichen Freiheit und Gleichheit immer tiefer in die Herrſchaft
der herrſchenden Klaſſe und die Unfreiheit der Beherrſchten verſinkt.
Die höhere Idee des Staats, im Königthum verkörpert, erſcheint daher
als das gewaltige Element der Befreiung der beherrſchten Klaſſe der
[95] Geſchlechterordnung, und die Grundentlaſtung iſt derjenige große, zu-
gleich ſociale und wirthſchaftliche Akt des Staats, durch welchen er dieſen
Proceß der geſellſchaftlichen Befreiung durch die Herſtellung der wirth-
ſchaftlichen abſchließt. Das iſt das Weſen und die hiſtoriſche Stellung
der Grundentlaſtung.


Die Grundentlaſtung kann daher niemals als eine für ſich beſtehende
Maßregel richtig verſtanden werden. Sie iſt vielmehr ein Glied in
einer großen Kette von Kämpfen und Bewegungen, die mit dem Ent-
ſtehen der germaniſchen Reiche beginnen, und die ihrerſeits mit der
Grundentlaſtung ſelbſt nicht enden
. Sie iſt zwar einerſeits die
Folge großer theils geiſtiger, theils wirthſchaftlicher Erſcheinungen, aber
ſie iſt zugleich die Grundlage neuer geſellſchaftlicher, wirthſchaftlicher
und damit öffentlich rechtlicher Ordnungen. Man kann ſie daher für
ſich betrachten, und daraus entſteht die poſitive Darſtellung des Grund-
entlaſtungsrechts; man kann ſie bloß vom wirthſchaftlichen Geſichts-
punkte aus auffaſſen, und damit erſcheint ſie rein als eine Maßregel
der Volkswirthſchaftspflege; allein ihre ganze Bedeutung liegt erſt in
ihrem inneren und äußeren Zuſammenhang mit jenen Elementen der
europäiſchen Geſchichte, und damit zugleich in dem Verſtändniß deſſen,
was ſie ihrerſeits, wenn vollendet, zu erzeugen beſtimmt iſt. Und
das nun darf man daher auch an die Spitze des Folgenden ſtellen.


Die Grundentlaſtung nämlich bedeutet, wie wir oben entwickelt
haben, den hiſtoriſchen Wendepunkt in dem Leben der europäiſchen
Völker, in welchem die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung definitiv
an die Stelle der Geſchlechterordnung tritt, wie die Gewerbefreiheit den
Punkt bezeichnet, auf welchem jene erſtere ſich über die Ständeordnung
erhebt. Sie bedeutet ſpeciell in geſellſchaftlichem Sinne die ſtaatsbürger-
liche Gleichheit ohne Rückſicht auf den Umfang des Grundbeſitzes; ſie
bedeutet volkswirthſchaftlich die Verſchmelzung der Natur des beweg-
lichen Kapitals mit dem unbeweglichen, und das Aufheben der Unter-
ſchiede, die auf der Scheidung derſelben in Einzel- und Volkswirthſchaft
beruhen; ſie bedeutet endlich im öffentlichen Recht das Eintreten der
Selbſtverwaltung in die Landgemeinde, mit all ihren großen und be-
deutſamen Folgen. Sie iſt daher durch dieſe Momente zwar der Ab-
ſchluß Einer Epoche der innern Geſchichte, aber auch der Beginn
einer andern, beſſeren und freieren
. Sie iſt der entſcheidende
Beweis für die Bedeutung und den Werth der Staatsidee, ohne welche
jede Geſellſchaftsform durch ihren Beſitz und ihre Intereſſen ſtarr wird.
Sie iſt aber endlich, und das iſt nicht ihr letzter Werth, die höchſte An-
erkennung des an ſich unverletzlichen perſönlichen Rechts, indem ſie die
abſoluten Principien der Entwährung und der von ihr geforderten
[96] Entſchädigung ſelbſt in dem Gebiete der geſellſchaftlichen Gegenſätze zur
Gültigkeit bringt, in denen ohne ſie die geſellſchaftlichen Bewegungen
als wilde, allen verderbliche, und von der Unfreiheit zu noch größerer
Unfreiheit führende Bürgerkriege auftreten. Sie iſt eben dadurch die
Signatur eines wahrhaft lebensfähigen Staates; denn kein Staat iſt
fähig, dem dauernden Fortſchritt zu dienen, wenn er ein Recht verletzt,
das zu verletzen nicht eine unabweisbare Bedingung ſeine eigenen Exi-
ſtenz war. Das iſt dasjenige, was wir neben der formalen Beſtimmung
der Grundentlaſtung als die höhere, der Verwaltungslehre angehörende
Idee derſelben bezeichnen müſſen. Und auf dieſer Grundlage entſteht die
Aufgabe der folgenden Darſtellung.


Dieſe nun wird zuerſt die großen, für ganz Europa gemeinſamen
Elemente der Geſchlechterherrſchaft und ihrer Unfreiheit charakteriſiren,
nicht um etwas Neues zu ſagen, ſondern um die Grundlage für die
geſellſchaftliche Rechtsbildung der einzelnen Culturvölker zu geben, auf
der die geſellſchaftliche und legislative Individualität der letzteren in
ihrem rechten Lichte erſcheinen kann.


II. Die Geſchichte der Unfreiheit der Geſchlechterordnungen Europa’s in der
Grundherrlichkeit. Die Grundverhältniſſe der Befreiung durch die Staatsidee.
Der Begriff der Selbſtverwaltung.

Wenn wir es wagen, im Folgenden mit kurzen Zügen die Geſtalt
der Unfreiheit der Geſchlechterordnung in der Grundherrlichkeit für die
Darſtellung der Entlaſtung voraufzuſenden, ſo iſt dieß nur dadurch
möglich, daß wir jede quellenmäßige Begründung im Einzelnen weg-
laſſen, und die Kenntniß derſelben auf allen Punkten vorausſetzen.
Wir müſſen dabei das Recht in Anſpruch nehmen, daß das Ganze
den ungültigen Beweis für das Einzelne darbieten dürfe. Dieß iſt das
Verhältniß des Folgenden zur bisherigen Rechtsgeſchichte, die leider
noch immer ſtatt nach organiſchem Verſtändniß nur nach Thatſachen
und Quellen zu ſuchen verſteht.


Da die Verwaltungslehre endlich ſich nicht auf Deutſchland be-
ſchränken ſoll und kann, ſo müſſen wir ſchließlich darauf aufmerkſam
machen, daß wir bei dieſer Darſtellung Kategorien aufzuſtellen haben,
welche für die europäiſchen und nicht mehr bloß für die deutſchen rechts-
geſchichtlichen Verhältniſſe gültig ſind. Wir können daher auch uns nicht
an ſtreng deutſche Ausdrücke binden, ſondern müſſen mehr die Sache ſelbſt
als die einzelnen oft ſehr zufälligen Geſtaltungen derſelben ins Auge
faſſen.


I. Die germaniſche Geſchichte beginnt mit derjenigen Geſtalt der
Geſchlechterordnung, welche wir in der Dorf- und Gauverfaſſung finden.
[97] Ihre Grundlage iſt die Ausſchließlichkeit des Eigenthumsrechts an dem
Grund und Boden für die Gemeinde mit periodiſcher Vertheilung an
die einzelnen Geſchlechter und dem Geſammteigenthum an der unge-
theilten, übrigbleibenden Gemeinde als Dorfmark, der Allmende, der
Hutweide; die getheilte Hufe iſt für den Kornbau, die Gemeindeweide
für die Viehzucht beſtimmt. Gleich Anfangs aber treten zwei Klaſſen
in dieſer erſten Form der Geſchlechterordnung auf, der freie Bauer
und die Maſſe der Hörigen, Leute, Laſſen u. ſ. w. Dieſelben haben
ſchon damals kein Eigenrecht am Grundbeſitz; der Grundbeſitz iſt aus-
ſchließlich in den Händen der Freien, der herrſchenden Klaſſe. So-
mit iſt der Grundzug der ganzen germaniſchen Geſellſchaftsordnung
der Geſchlechter, die Verſchmelzung des Grundbeſitzes mit
Freiheit und Herrſchaft
der Klaſſe, bereits mit dem Anfang aller
germaniſchen Entwicklung gegeben; und an dieſen Punkt knüpft ſich
nun die ganze folgende Geſchichte der inneren Bewegungen der germa-
niſchen Völkerſchaften.


Die Völkerwanderung und die damit verbundene Eroberung fügt
nämlich dieſen beiden Klaſſen eine dritte hinzu. Das iſt die der Herren.
Die Herren entſtehen zum größten Theil aus der Geſammtheit derjenigen,
denen die Könige die an die Dorfniederlaſſungen nicht vertheilten Grund-
beſitzungen ſchenkten. Dieſe Herren ſind anfangs unter mannigfachen
Namen nur Großgrundbeſitzer, jedoch meiſt zugleich die königlichen Heer-
führer, welche die freien Bauern zum Kriegsdienſt für den König
zwingen. Allmählig werden ſie, namentlich unter den Karolingern, die
Stellvertreter des Königs, und mit der Leitung aller öffentlichen An-
gelegenheiten im Namen des letzteren betraut. Perſönlich ſind ſie nicht
einmal alle freigeboren; ihre Stellung beruht auf dem Königthum an
das ſie ſich anſchließen, und auf dem großen Beſitz, den ſie meiſtens
als beneficium für die gelobte fides vom Könige innehaben. Sie
ſind aber keineswegs allenthalben vorhanden, ſondern meiſt nur da,
wo große Domänen zu vergeben waren. Noch iſt von einer Unterdrückung
der freien Bauern aus der alten Geſchlechterordnung wenig die Rede.
Die alten Bauerndörfer beſtehen in altem Recht neben und zum Theil
mitten unter ihnen. Aber ſchon entſteht der Gedanke, daß der Bauer
dem Könige unterworfen ſei. An dieſen Gedanken und jene neue
Vertheilung des Grundbeſitzes ſchließen ſich nun die bekannten Ereigniſſe
des Mittelalters, und ſein im Einzelnen unendlich verworrenes, im
Ganzen dagegen höchſt einfaches Rechtsſyſtem.


Sowie nämlich mit der karolingiſchen Dynaſtie das alte Königthum
verſchwindet, ſo ſieht jeder der einzelnen Herren ſich als Succeſſor in
die Rechte und Beſitzthümer deſſelben an, ſo weit er ſie ſelber beſitzt.
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 7
[98] Es wird jetzt dem freien Bauern gegenüber das, was bis dahin der
König geweſen, der Träger und Vertreter der Staatsidee und der In-
haber aller ihrer Rechte. Der Dienſt gegen den König hat aufgehört,
und die Herrſchaft des Staats iſt die Herrſchaft des Herren. Aber
principiell iſt durch denſelben Proceß eigentlich auch der freie Bauer
ſouverain geworden, da er doch zuletzt nur unter der Gewalt und dem
Recht des Königs ſtand. Mit dem Wegfallen des Königthums ſtehen
daher jetzt zwei herrſchende Klaſſen neben einander, zwar mit gleichem
Recht, aber mit ſehr verſchiedenen Machtverhältniſſen. Der Kampf
zwiſchen beiden um die Herrſchaft war damit unvermeidlich, denn der
Staat mit ſeiner Gewalt mangelte, um ihn aufzuhalten. Dieſer
Kampf wird nun im 10. und 11. Jahrhundert ziemlich auf dem ganzen
Continente ausgekämpft und zwar durch das Fauſt- und Fehderecht.
Der Charakter der Epoche des Fehderechts, deſſen Natur man nirgends
deutlicher ſieht als in Frankreich (ſ. Stein, franzöſiſche Rechtsgeſchichte,
die erſten Abtheilungen) beſteht darin, daß vermöge des Verſchwindens
der Staatsidee die Gewalt der Einzelnen gegeneinander zu einem, ſogar
poſitiv ausgearbeiteten, Rechtsſyſtem wird. Dieſe Gewalt wird aber nicht
bloß als „Fehde“ von einem Grundherrn gegen den andern ausgeübt,
ſondern eben ſo ſehr von dem Grundherrn gegen die Glieder der zweiten
herrſchenden Klaſſe, die freien Bauern. Sie werden jetzt dem Herrn
unterworfen, theils durch phyſiſche Gewalt, theils unterwarfen ſie ſich
freiwillig. Die einzelnen freien Bauernhöfe, die ganzen freien Dörfer
werden den Herrſchaften incorporirt; aus den beiden Grundformen des
Beſitzes, dem Herrnbeſitz und dem alten Geſchlechterbeſitz der freien
Bauern, entſteht Eine; der Herr ſtellt ſich im Namen des alten König-
thums an die Spitze aller öffentlichen Funktionen und Rechte des Dorfes
und Gaues; Gericht, Buße und Polizei werden ſein; und dieſer, durch
dieſe Unterwerfung und Einverleibung des alten Geſchlechterbauernthums
unter die Herrſchaft und den Herrn entſtehende öffentlich rechtliche
Körper iſt nun die Grundherrlichkeit.


Dieſe Grundherrlichkeit, ihrem Weſen nach in ganz Europa gleich,
iſt nun aber in ihrem einzelnen Inhalt ſehr verſchieden geſtaltet. Dieß
nun beruht zuerſt darauf, daß die ihr unterworfenen Geſellſchafts-
gruppen nicht Eine in ihrer Rechtloſigkeit gleiche Maſſe bildete, ſondern
wie geſagt, ſelbſt aus einer herrſchenden und beherrſchten Klaſſe beſtand.
Form und Inhalt der Unterwerfung unter die Grundherrlichkeit mußte
daher je nach den Verhältniſſen ſehr verſchieden erſcheinen. Doch treten
natürlich hier ſofort die beiden Elemente alles perſönlichen Lebens, die
Perſon und der Beſitz als dasjenige in den Vordergrund, was für
jene innere Rechtsgeſtaltung der Grundherrlichkeiten die entſcheidenden
[99] Kategorien abgibt. Der Grundherr konnte nämlich die Perſon unfrei
machen und den Beſitz frei laſſen; er konnte aber auch den Beſitz unfrei
machen, während die Perſon frei blieb; er konnte endlich beides zugleich
unfrei machen. Es gab daher je nach der inneren Bildungsgeſchichte
dieſer kleinen Grundherrlichkeiten in denſelben theils freie Perſonen,
theils unfreie, und andererſeits theils freie Grundſtücke, theils un-
freie
. Ferner war es klar, daß das Maß und die Art der Unfrei-
heit, der Umfang der Leiſtungen, die ſie mit ſich brachte, und die
Symbole und den Namen, mit denen ſie anerkannt ward, eine faſt un-
endliche Verſchiedenheit zuließen. Dabei nun trat alsbald das Geſetz
ein, das auch hier über die Geſellſchaftsbildung entſcheidet. Die Unter-
ſchiede in der Freiheit der Perſonen wurden alsbald überragt durch die
Unterſchiede in der Freiheit des Beſitzes, und wenn man daher dieſe
letzten in feſte Kategorien gebracht hat, ſo darf man ſagen, daß man
die Grundlagen des inneren Rechtszuſtandes der Grundherrlichkeiten
gewonnen hat.


Dieſe Kategorien ſind folgende.


Die bisher freien Geſchlechterhufen erkennen den Grundherrn als
den Nachfolger des Königthums im Lehnrecht an, und ſtellen ſich
unter ſein Obereigenthum.


Oder der Grundherr gibt dem perſönlich Freien ein Theil ſeines
eigenen Grundes und Bodens, bald mit dem Rechte der Erbpacht,
bald mit dem der Zeitpacht.


Oder der Grundherr beſitzt den Unfreien auf unfreiem Boden, als
eine ihm ſomit unbedingt perſönlich und wirthſchaftlich unterworfene
Perſönlichkeit.


Natürlich nun hat jede dieſer Kategorien auch ihre eigenthümlichen
Leiſtungen, deren Charakter und Name für die Zukunft von entſchei-
dender Bedeutung wird.


Die Kategorie der perſönlich freien Lehnsbauern gibt nur irgend
eine ſymboliſche Leiſtung, durch welche die Lehnsherrlichkeit anerkannt wird.


Die Kategorie der Bauern auf überlaſſenem Grunde muß natür-
lich Leiſtungen nach Maßgabe des Ueberlaſſungsvertrages leiſten. Dieſe
Leiſtungen heißen Frohnden und (die grundherrlichen) Zehnten.
Sie ſind urſprünglich beſtimmt von beiden Seiten, und heißen daher
die gemeſſenen Frohnden.


Die Kategorie der Unfreien auf unfreiem Grunde hat weder ein
perſönliches noch ein wirthſchaftliches Recht. Der Herr beſtimmt ein-
ſeitig ihre Leiſtungen. Und ſo entſtehen die ungemeſſenen Frohnden,
und anſtatt der gemeſſenen Zehnten die unbegränzte Abgabenpflicht des
Leibeigenen (taillable de haut en bas).


[100]

Es iſt nicht thunlich, die einzelnen Gruppen dieſer Leiſtungen hier
weiter auszuführen. Das Bild des Ganzen zeigt uns jedoch ſchon hier
zwei Grundformen des Grundbeſitzes, den wirthſchaftlich herrſchenden der
Herren, und den wirthſchaftlich dienenden der alten Geſchlechter. Schon
hier iſt daher der Beſitz und ſeine wirthſchaftliche Organiſation die
Baſis der geſellſchaftlichen Herrſchaft der Herren über Bauern und
Eigenleute. Die alte zweite Kategorie der herrſchenden Klaſſe, der
freie Bauer, iſt verſchwunden; es gibt nur noch Unterſchiede innerhalb
der untern Klaſſe: die alte Geſchlechterordnung iſt gebrochen. Alle
kleineren Unterſchiede, Namen und Verhältniſſe ordnen ſich dieſer That-
ſache unter. Sie bildet das erſte Element der Grundherrlichkeit.


Das zweite große Element derſelben hat nun einen weſentlich
andern Charakter. Während das erſte der Geſchlechterordnung ange-
hört, ſtammt das zweite aus der ſtändiſchen Ordnung. Es tritt zuerſt
auf mit der ſtrengen Scheidung des geiſtlichen Berufs von der übrigen
Geſellſchaft, und bildet durch ſeine wirthſchaftliche Baſis den geiſt-
lichen Stand. Der geiſtliche Stand hat ſeine Beſitzverhältniſſe in dop-
pelter Form. Einmal wird er ſelbſt Grundherr durch ſeinen Grund-
beſitz, und ſteht als Grundherr unter all den eben charakteriſirten Ver-
hältniſſen. Dann aber fordert er für ſeine Leiſtungen eine Abgabe
von allen, die dieſe Leiſtung genießen. Dieſe Abgabe iſt der Zehnte.
Der Zehnte iſt daher an und für ſich keine grundherrliche Abgabe; er
gehört der ſtändiſchen Geſellſchaft. Er verbindet ſich aber, wie die
grundherrlichen Abgaben, gleichfalls mit dem Grundbeſitz, und wie
die Funktion der Geiſtlichkeit eine dauernde, allgemeine und gleichartige
iſt, ſo fordert die letztere auch den Zehnten als ein der Kirche über-
haupt zuſtehendes Recht. Die Frage, wie weit dies der letzteren ge-
lungen, dürfen wir hier übergehen. Wohl aber müſſen wir ſein Ver-
hältniß zu den grundherrlichen Laſten hier hervorheben. Der Zehnte
hat für die letzteren die Bedeutung, daß er zum Maßſtab wird für
das, was auch die Grundherren zu fordern haben. Die Arbeits-
leiſtungen oder Frohnden entziehen ſich nun zwar dieſer Meſſung durch
den Zehnten; allein die Abgaben der zweiten und zum Theil der
dritten Klaſſe nehmen vielfach dieß Maß an, mit dem Maße den
Namen, und ſo beginnen die Abgaben an die Gutsherren allmählig
hauptſächlich als Zehnten aufzutreten. Das hat in der richtigen Be-
urtheilung der letzteren viele Verwirrungen hervorgerufen, da man es
ſchwer vereinigen konnte, daß dieſelben als urſprünglich ſtändiſche Ab-
gabe doch weſentlich unter den grundherrlichen erſcheinen. Das wahre
Verhältniß iſt nun wohl klar. Sie ſind, wo ſie als grundherrliche
auftreten, niemals neue, ſondern nur Bemeſſung und Formulirung
[101]alter Abgaben, natürlich oft unter höchſter Bedrückung des Bauern-
ſtandes und höchſt ungleichmäßig durchgeführt, aber ihre eigentliche
Natur doch niemals verläugnend. Die kirchlichen Zehnten hängen da-
gegen mit der Grundherrlichkeit gar nicht zuſammen, und haben ſich
daher auch Jahrhunderte lang nach Beſeitigung der letzteren erhalten,
wie in England und Holland. Sie ſind daher mit dem Steuerweſen
verbunden, und verſchwinden erſt mit deſſen Organiſation, während
die Aufhebung der grundherrlichen Leiſtungen auf ganz andern Grün-
den beruht. Doch davon unten.


Aus dieſem Eingreifen des ſtändiſchen Rechts entſteht nun aber
ein weiteres Element der grundherrlichen Herrſchaft, nämlich das grund-
herrliche Gewerberecht, namentlich das Verkehrsrecht mit Getränken
und das Produktions- und Verkehrsrecht für das Müllergewerbe.
Daran knüpft ſich die Entſtehung der Realgerechtigkeiten und
der Bannrechte, in denen das Recht auf gewiſſe Erwerbszweige zum
Eigenthum der Grundherren wird. An dieſen Punkt ſchließen ſich
zum großen Theil die Ablöſungen an; ſie bilden den Uebergang von
den Entlaſtungen zum zweiten Gebiet der Entwährung. Hier aber er-
ſcheinen ſie zunächſt als Theil der Grundherrlichkeit; und in Verbin-
dung der übrigen Rechte der letzteren mit dieſer Gruppe von Rechten
iſt nun der Grundherr faſt der unbedingte wirthſchaftliche Herr
aller ſeiner Gutsangehörigen. Das ſteht feſt mit dem 13. Jahrhundert.
Aber die Vollendung dieſer herrſchenden Stellung empfängt die Grund-
herrlichkeit doch erſt durch das dritte, im Grunde wichtigſte Moment.


Dieſes dritte Moment beſteht nämlich darin, daß nunmehr der
Grundherr alle im Weſen des Staats liegenden Aufgaben und
Rechte als ſein Recht anſieht, und dieſelben mit ſeinem Grund und
Boden untrennbar verbindet. Er iſt der Herr der örtlichen Finanz-
wirthſchaft, der Rechtspflege und der Polizei.


Wir nennen nun alle dieſe Rechte, da unter ihnen nur die Rechts-
pflege zum klaren Bewußtſein der Zeit kam und daher auch das Ge-
richt als Organ derſelben alle dieſe Funktionen ausübte, die grund-
herrliche
oder Patrimonialgerichtsbarkeit. Erſt mit dieſer
grundherrlichen Gerichtsbarkeit erſcheinen Begriff und Inhalt der Grund-
herrlichkeit abgeſchloſſen. Die Grundherrlichkeit iſt durch dieß Privat-
recht des Herrn auf alle jene Rechte der Verwaltung im weiteren
Sinne nicht bloß im Großgrundbeſitz, und die Grundherren ſind ver-
möge ihres Beſitzes nicht bloß die geſellſchaftlich herrſchende Klaſſe, ſon-
dern die Grundherrlichkeit iſt vielmehr jetzt ein, durch und vermöge des
Beſitzes gebildeter und nach Privatrecht erblich gewordener Verwal-
tungskörper
. Jetzt erſt iſt die geſellſchaftlich herrſchende Klaſſe auch
[102] die ſtaatlich herrſchende; ſie herrſcht nicht bloß in der Verfaſſung, ſon-
dern auch in der Verwaltung, und ſie herrſcht in derſelben nicht bloß
vermöge des Beſitzes, ſondern auch vermöge der Idee des Staats
und ſeines Rechts, die ſie innerhalb der Grundherrlichkeit vertritt. Jetzt
nehmen auch die von ihr von der beherrſchten Klaſſe geforderten Lei-
ſtungen einen anderen Charakter an; ſie erſcheinen nicht mehr als bloß
wirthſchaftliche, ſondern als öffentlich rechtliche Leiſtungen; der Grund-
herr bekommt das Recht, die Angehörigen zu zwingen zu neuen
Leiſtungen, die er für wirkliche oder angebliche öffentliche Aufgaben
und Funktionen fordert; daß dieſelben dann mit den alten Namen be-
legt werden, ändert natürlich dieß Verhältniß nicht; und ſo entſtehen
„Zehnten“ und „Frohnden,“ welche für Verwaltungszwecke auferlegt
und gefordert werden, wie namentlich Schulzehnten, Wegefrohnden u. ſ. w.,
die mit dem Grundbeſitz des Herrn an ſich nichts zu thun haben, ſon-
dern in der That Naturalſteuern ſind, welche aber der Grundherr als
Patrimonialrichter einfordert. Hier iſt der Rechtstitel nicht mehr Lehn
oder Hörigkeit, ſondern hier iſt er ſchon die ſtaatliche Gewalt; und
damit nimmt die herrſchende Klaſſe jetzt auch die ſtaatliche Idee in
ihrer Stellung auf, indem nunmehr der Begriff und Name der („hohen“)
„Obrigkeit“ mit der Stellung der Grundherren identificirt wird. Dieſe
Stellung aber empfängt nun dadurch ihren Abſchluß, daß der Grund-
herr als perſönlicher Inhaber der Gerichtsbarkeit ſtets der geſetzliche
Richter in eigener Sache iſt
, und daher der beherrſchten Klaſſe
keine Möglichkeit mehr offen bleibt, ſich gegen die Auflagen der Guts-
herren oder die Willkür der grundherrlichen Polizei zu ſchützen, da
das Gericht dem gehört, den der Bedrückte verklagen ſoll. Das iſt der
Höhepunkt der geſellſchaftlichen Unfreiheit, wie ſie durch das Zuſammen-
wirken der Sonderintereſſen der Geſchlechter- und Ständeordnung auf
dem Lande ſich herausbildet. — Aus jenen drei großen Elementen be-
ſteht nun der Zuſtand der Gutsherrlichkeiten und der Bauern bis auf
die neueſte Zeit. Natürlich hat ſich derſelbe zu dieſer vollſtändigen
Herrſchaft der erſteren und Unfreiheit der letzteren wieder allenthalben
gleichmäßig, noch auch ohne die heftigſten Kämpfe entwickelt. Ueber-
blickt man die Karte des lehnrechtlichen Europas, ſo ſieht man die ver-
ſchiedenſten Spielarten der Abhängigkeit, unter den verſchiedenſten Na-
men, die jedoch unter oft ganz örtlicher Geltung allgemeine europäiſche
Verhältniſſe bedeuten. Eins aber iſt allen dieſen Variationen einer
derſelben Thatſache gemein — das iſt das Streben der Grundherren,
alle drei Klaſſen der alten Geſchlechterordnung in die möglichſt gleiche
Unfreiheit
hinabzudrücken, und alle mit möglichſt gleicher Härte aus-
zubeuten. Und bei völligem Mangel an ſtaatlicher Gewalt und roheſter
[103] Willkür der Herren keine Hoffnung auf Hülfe! Da verſuchen denn
die alten Reſte der freien Bauerngeſchlechter, ſich ſelbſt zu helfen. Sie
greifen zu den Waffen. Die Bauernkriege entſtehen, und wälzen ſich
wie eine große elementare Erſcheinung über ganz Europa hin. Ihr Er-
gebniß aber war vorauszuſehen. Die Bauernkriege waren keine Erhebung
des Volkes, ſondern nur ein letzter verzweifelter Kampf der früher
herrſchenden Klaſſe der bäuerlichen Geſchlechterordnung, der Freibauern
und der Zinsbauern, gegen die neue herrſchende Klaſſe des Adels. Daß
die Städter ſich davon frei hielten, iſt bekannt; aber auch die Leibeigenen
erſchienen nicht. Dieſer Kampf iſt daher hoffnungslos. Der „Bauer“
unterliegt. Und jetzt hat das Sonderintereſſe der Grundherren keine
Gränze mehr. Die große Frage, ob die Geſchlechterordnung durch
ihre eigenen Elemente ſich ſelber helfen
und ihre Entwicklung
zu einer freieren Geſtaltung auf eigener Grundlage ausführen könne,
iſt definitiv gelöst; ſie iſt durch den Gang der Geſchichte dazu für
unfähig erklärt. Wenn jetzt nicht ein anderer ganz neuer Faktor
in die Bewegung hineintritt, ſo iſt der Fortſchritt der Völker für eine
beſſere Zukunft unmöglich.


Dieſer Faktor nun, der einzige, der über allen Gewalten und
Intereſſen der Geſchlechterordnung erhaben iſt, iſt der Staat, und
zwar in der Geſtalt, in der er ſich als ſelbſtändiger über jene Ord-
nungen und Bewegungen erhebt als das Königthum mit ſeiner Ver-
waltung.


Mit dem Königthum beginnt daher der Proceß einer neuen Rechts-
bildung, die allenthalben zu ihrem gleichartigen Inhalt den Kampf
gegen jene Unfreiheit hat, wie ſie die Geſchlechterordnung in der an-
gegebenen Weiſe aus ſich erzeugt. Dieſe Befreiung der niederen Ge-
ſchlechterklaſſe iſt die größte That des Königthums; auf ihr beruht ſeine
wahre Macht, denn hier handelt es am meiſten im Geiſte der neuen
geſellſchaftlichen Entwicklung, und nie und nirgends hat daſſelbe das
Bewußtſein von dieſer ihm eingeborenen Aufgabe ganz verloren.


Allein wie nun die Geſchlechterunfreiheit weder eine plötzlich ent-
ſtandene, noch eine in ſich einfach geſtaltete iſt, ſo konnte auch jener
Kampf des Königthums, der ſie beſeitigte, nicht mit einem einzigen
Akte beendet werden. Um ſo weniger, als das Königthum ſelbſt keines-
wegs ein reines war, ſondern vielmehr auf allen Punkten mit der
Geſchlechterherrſchaft zuſammenhing. Es hat daher auch nur wenig
unmittelbar eingegriffen; es iſt vielmehr die Geſammtheit von höheren
ethiſchen, juriſtiſchen und wirthſchaftlichen Elementen des Volkslebens,
die wir, um das Königthum kryſtalliſirt, eben den Staat im engeren
Sinne als ein ſelbſtändiges perſönliches Leben nennen, und die hier
[104] mit all ihren verſchiedenartigſten Kräften theils bewußt, theils unbewußt
thätig wird. Und dieſe Arbeit iſt eine lange und nach Zeit und Ort
ſehr verſchiedene. Es würde eine unabſehbare Aufgabe ſein, ſie hier ganz
zu verfolgen. Wir müſſen uns daher entſchließen, hier nur die Fun-
damente dieſer Geſchichte aufzuſtellen. Dieſelben haben ihren Werth
nicht durch die Vollſtändigkeit im Einzelnen, ſondern dadurch, daß ſie
uns das geben, deſſen die Verwaltungslehre in dieſem Gebiete bedarf,
ein klares Geſammtbild von der Bewegung, welche die ſtaatsbür-
gerliche Freiheit aus der unfreien Geſchlechterordnung
erzeugt
, und damit das, worauf es hier ankommt, die Beſtimmung
der Stellung, welche ſpeciell die Grundentlaſtung als eine beſtimmte
Stufe in dieſer großen hiſtoriſchen Entwicklung einnimmt.


Man kann nämlich dieſe — vielleicht größte, wenn auch faſt vol-
lendete Arbeit — der inneren Verwaltung in vier Hauptmomente theilen.


Das erſte, was das Königthum braucht, um jene Unfreiheit zu
brechen, iſt ein ſelbſtändiger, das iſt nicht mehr innerhalb der Ge-
ſchlechterordnung und ihres Rechtsſyſtems ſtehender Rechtstitel für ſein
Eingreifen in Verhältniſſe, welche ihrerſeits die ganze Geſtalt des Ge-
ſchlechterrechts ausfüllen.


Das zweite, was ſich daran anſchließt, iſt die Aktion, welche auf
Grundlage dieſes Rechtstitels nun auch wirklich auf dem Wege der
entſtehenden inneren Verwaltung in die unfreie Ordnung hineingreift,
und ſie durch Geſetzgebung, durch Gericht und Polizei wirklich um-
geſtaltet.


Das dritte iſt dann die ſelbſtändige Bewegung des jungen Staats-
bürgerthums, das theils durch das bei der herrſchenden Klaſſe ent-
ſtehende Verſtändniß der nothwendigen Bedürfniſſe des Volkes, theils
durch die Wiſſenſchaft des Rechts, des Güterlebens und ſelbſt der Staats-
wirthſchaft die bereits erſchütterte unfreie Ordnung der Geſchlechter
innerlich angreift, und ſie im Geiſte des Volkes als unhaltbar und
mit den höchſten Intereſſen deſſelben im Widerſpruche ſtehend, ſo lange
und ſo vielſeitig darſtellt, bis ſie in ihren einzelnen Punkten unhalt-
bar wird.


Wenn das geſchehen iſt, ſo erſcheint der vierte Theil des Proceſſes,
die wirkliche Grundentlaſtung. Dieſe hat ihrerſeits ſtets zwei Stadien.
Das erſte iſt die freie, die durch freies Uebereinkommen der Betheiligten
ſtattfindet, aber der Regel nach nur in ſehr beſchränktem Maße zur
Ausführung gelangt. Der Grund, weßhalb ſie ſo geringe Bedeutung
hat, liegt im Weſen der Sache; denn die Grundentlaſtung ſoll die
ganze ſtaatsbürgerliche Freiheit herſtellen, während die freie Abfindung
ſich nur auf die wirthſchaftlichen Verhältniſſe, und noch dazu in
[105] ungenügender Weiſe bezieht. Erſt das zweite Stadium, die geſetzliche
und eigentliche Grundentlaſtung vollendet den Befreiungsproceß der Ge-
ſchlechterordnung. Sie iſt der Abſchluß der erſten großen Epoche, und ſomit
der Beginn der zweiten; und dieſe zweite darf hier charakteriſirt werden,
weil man ſie noch zu vielfach in ihrer Bedeutung nicht anerkannt hat.


In der That ſind nämlich alle jene vier Momente oder Stadien
der Auflöſung der Geſchlechterherrſchaft mit ihrem Abſchluß in der
Grundentlaſtung nur negativer Natur. Sie beſeitigen Uebelſtände und
Unfreiheiten. Sie ſind eben deßhalb nur die Vorbereitung einer neuen
poſitiven Ordnung; und dieſe nun iſt es, welche man als das wahre
und höhere Ziel jener ganzen Bewegung ins Auge faſſen muß.


Im Allgemeinen iſt es kein Zweifel, daß das Ergebniß dieſer Be-
wegung im poſitiven Sinne die Herſtellung der ſtaatsbürgerlichen Ord-
nung an der Stelle der Geſchlechterordnung iſt. Es iſt dieſelbe der
Proceß, durch welchen die erſtere, die innerhalb des Gebietes und der
Heimath des beweglichen Capitals und der geiſtigen Güter ſich als
Berufs- und Gewerbefreiheit Bahn bricht, nunmehr auch auf dem Ge-
biete des unbeweglichen Capitals, des Grundbeſitzes, zur völligen Herr-
ſchaft gelangt. Denn jede Geſellſchaftsordnung iſt erſt dann eine fertige,
wenn ſie das Recht des Grundbeſitzes nach ihren Principien geordnet
hat. Nun beſtand das Grundrecht der Geſchlechterordnung eben in der
Grundherrlichkeit, das iſt das Eigenthumsrecht des Grundherrn an
den öffentlichen Rechten und Funktionen des Staats. Indem nun die
Grundentlaſtung dieſes Eigenthumsrecht aufhebt, fällt die öffentliche
Funktion in Finanzen, Rechtspflege und Innerem wieder an den Staat
zurück. Und damit iſt denn das unmittelbare Verhältniß der ländlichen
Gemeinde zum Staat in Verfaſſung und Verwaltung hergeſtellt; die
alte grundherrliche Gemeinde iſt jetzt eine Verwaltungs-
gemeinde geworden
.


So wie das feſtſteht, tritt nun die weitere für das geſammte
Staatsleben entſcheidende Folge ein. Die Gemeinde iſt jetzt ein organi-
ſcher Theil der vollziehenden Gewalt geworden, während unter der
Grundherrlichkeit dieſe örtliche vollziehende Gewalt ein Eigenthumsrecht
des Grundherrn war. Die Ordnung und das innere Recht der Ge-
meinde, bis dahin geſetzt und abhängig durch die hiſtoriſche Entwicklung
der Geſchlechterherrſchaft, werden mithin jetzt beſtimmt durch den allge-
meinen Charakter des öffentlichen Rechts im Staat. Nun haben wir
in der Lehre von der vollziehenden Gewalt gezeigt, daß die Gemeinde
ihrem Weſen nach das Organ der örtlichen Selbſtverwaltung iſt, und
was dieſelbe bedeutet. Es iſt klar, daß unter der Grundherrlichkeit
keine freie Selbſtverwaltung möglich iſt. So wie dagegen die Grund-
[106] entlaſtung dieſe Grundherrlichkeit aufhebt, tritt die Möglichkeit der
Selbſtverwaltung für die Gemeinde ein; erſt mit der Grundent-
laſtung iſt die Möglichkeit einer freien Landgemeindeord-
nung gegeben
. Das iſt das Element in der Grundentlaſtung, welches
der Zukunft angehört. Sie iſt keine Landgemeindeordnung, aber ſie
muß eine ſolche erzeugen. Alle Landgemeindeordnungen vor der definitiv
durchgeführten Grundentlaſtung ſind nothwendig unvollkommen und
keine wahre Gemeindeordnungen; ſie können die Selbſtverwaltung vor-
bereiten, aber dieſelbe geben, können ſie nicht. Die Grundentlaſtung
ihrerſeits macht daher zunächſt eine neue, ſelbſtändige Landgemeindeord-
nung überhaupt nothwendig; der Charakter dieſer Landgemeindeordnungen
aber, von der Geſchlechterordnung unberührt, wird dann zum Aus-
druck des Princips
, welches in jedem einzelnen Staat für die Aner-
kennung und Ausbildung der Selbſtverwaltung überhaupt gilt.
Und ſo kann man ſagen, daß erſt die Grundentlaſtung die vollſtändige
Entwicklung und Geltung der eigenen und eigentlichen Natur jedes
Staats bedingt; ſo lange ſie nicht vollſtändig und rein durchgeführt
iſt, ſteht noch immer das grundherrliche Recht zwiſchen dem Staat und
demjenigen Gemeindeleben, auf welchem er ſelbſt beruht, ſo lange gibt
es noch immer zwei Grundformen der Gemeinde, die Stadt- und die
Landgemeinde, die darin ſo weſentlich verſchieden ſind, weil die erſte
der ſtaatsbürgerlichen, die zweite der Geſchlechterordnung angehört. Nach
der Grundentlaſtung zerfällt dieſer Unterſchied, und damit tritt für
die ganze Selbſtverwaltung des Staats die Frage ein, ob die Natur
derſelben, und wie weit ſie die Selbſtverwaltung überhaupt zulaſſen, zu
erzeugen und zu ertragen vermag
. Und ſo wird der Zeitpunkt
der Grundentlaſtung der entſcheidende Zeitpunkt für die geſammte innere
Entwicklung des Staats. Es iſt unmöglich, ſich darüber zu täuſchen.
Und es iſt daher für jede allgemeinere Auffaſſung nicht möglich, bei der
Grundentlaſtung als ſolcher ſtehen zn bleiben, oder ſie vom bloß land-
wirthſchaftlichen oder rein juriſtiſchen Geſichtspunkt aufzufaſſen. Sie iſt
vielmehr gerade im obigen Sinne ein Stück der inneren Entwicklungs-
geſchichte des Staatslebens überhaupt, und ihre wahre Bedeutung liegt
damit weſentlich in ihrem Verhältniß zu der von ihr erzeugten, auf ihr
beruhenden Selbſtverwaltung der Landgemeinde.


Iſt dem nun ſo, ſo ergibt ſich der dritte Geſichtspunkt für die
höhere Auffaſſung der Grundentlaſtung. Derſelbe läßt ſich jetzt ſehr
ſehr kurz bezeichnen. Während jener Proceß, deſſen Schlußpunkt die
Grundentlaſtung iſt, in allen europäiſchen Staaten bei großer äußerer
Verſchiedenheit innerlich gleichartig erſcheint, iſt die Folge derſelben,
die Geſtalt der neuen Landgemeinde ſpeciell und das Auftreten der
[107] Selbſtverwaltung ein wirklich verſchiedener in den verſchiedenen Ländern.
Denn während die Grundentlaſtung einen Theil des geſellſchaftlichen
Lebens der europäiſchen Völker bildet, das ſich, auf gleicher Grundlage
entſtanden, auch gleichartig entwickelt, iſt die neue Stellung der Land-
gemeinde der Ausdruck der ſtaatlichen Individualität, die ſich weſentlich
in dem Verhältniß der Staatsverwaltung zur Selbſtverwaltung äußert.
Daher dann die obwohl lange nicht genug beachtete, ſo doch überraſchende
Erſcheinung, daß ſich die rechte Individualität des Staatslebens der
europäiſchen Völker in der That erſt nach dem, mit der Grundent-
laſtung definitiv entſchiedenen Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts-
ordnung herausbildet. Was eigentlich Deutſchland, England und
Frankreich ihrer individuellen Natur nach ſind, das tritt erſt zu Tage,
nachdem der Befreiungsproceß von der Geſchlechterherrſchaft abgeſchloſſen
iſt. Und dieſe Individualität der einzelnen Staaten iſt nicht etwa eine
Abſtraktion, ſondern eine höchſt concrete Thatſache, welche eben vermöge
des Gemeindeweſens alle Theile des geſammten Staatslebeus durchzieht,
und auf jedem Punkte der Verwaltung zur Geltung gelangt, indem ſie
die Frage nach der inneren Freiheit, die Frage nach der organiſchen Theil-
nahme des Volkes an ſeiner Verwaltung neben der ſeiner Theilnahme an
der Verfaſſung zur Entſcheidung bringt. Jetzt erſt zeigt es ſich in Europa,
daß die Verfaſſung nur die Hälfte der Freiheit des Volkes iſt, und daß
eine verfaſſungsmäßige Freiheit ohne eine durchgebildete Selbſtverwaltung
doch zuletzt nur einen geringen Werth hat. Und dem entſprechend be-
ginnt jetzt erſt, wir möchten ſagen inſtinktmäßig, die Hochachtung vor
dem engliſchen Staatsleben, in welchem eben vermöge der früh entwickel-
ten Grundentlaſtung die Selbſtverwaltung ſo früh begonnen, und die
ganze Organiſation des Staats durchdrungen hat. Der Begriff und
die Bedeutung des Selfgovernment wird dem Continent, und nament-
lich den Deutſchen erſt nach der Grundentlaſtung verſtändlich,
obgleich ſelbſt die bedeutendſten Männer den wahren Zuſammenhang,
weßhalb ihre engliſchen Arbeiten ſo dankbar aufgenommen worden,
nicht immer recht verſtehen, und weßhalb andrerſeits die gründlichſten
Unterſuchungen über die Grundentlaſtung für ſich, wie die von Judeich,
verhältnißmäßig unbeachtet vorübergehen. Das ſind alles ſehr natür-
liche und wohlmotivirte Erſcheinungen; denn der Geiſt jedes lebendigen
Volkes iſt ſtets der Zukunft zugewendet, und ſchätzt das, was ihr an-
gehört, ſtets höher als das, was die Vergangenheit in der Gegen-
wart aufrecht hält. In jedem Falle aber ſteht wohl das feſt, daß wir
nunmehr nicht einfach zur Darſtellung der Grundentlaſtung an ſich
übergehen können. Wir müſſen auch ſie in ihrer individuellen Geſtalt
betrachten, und ihre Entwicklung je nach den Verhältniſſen jedes einzelnen
[108] Volkes darſtellen. Denn tief verſchieden ſind hier wie immer die
drei großen Culturvölker, und es iſt eine der größten Erſcheinungen
des europäiſchen Lebens, denſelben großen hiſtoriſchen Gedanken in den
drei Ländern, welche an der Spitze der Civiliſation der Welt ſtehen,
wenn auch nur in den Grundzügen ſeiner Entwicklung wirken zu ſehen.
Die deutſche Wiſſenſchaft aber wird, ſo lange ſie ihre Beſchränkung
auf Deutſchland nicht aufgibt, und ſo lange ſie ſich begnügt, höchſtens
die fremden Entwicklungen unvermittelt neben die eigene zu ſtellen,
nur den Körper, nicht aber den Geiſt der Wiſſenſchaft der Geſchichte zu
geben im Stande ſein. Und wir wiederholen und werden wiederholen
dieſen Kampf gegen die deutſche Beſchränktheit auf dieſem Gebiet, ſo
unbehaglich es auch vielen ſein mag, das zu hören; denn die größere
Auffaſſung wird bei der Breite und Tiefe unſerer deutſchen geiſtigen
Kräfte und Strebungen doch ſiegen.


Von dieſem Standpunkt aus wollen wir nun verſuchen, die Ge-
ſchichte jenes Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Gebiete der
Entlaſtung nach den drei großen Culturvölkern England, Frankreich
und Deutſchland darzuſtellen, die allein wahrhaft große und hiſtoriſche
Individualitäten in der Geſchichte auch dieſer Rechtsbildung ſind. An
ſie ſchließen ſich dann die kleineren Staaten an, die zu verfolgen uns
zu weit führen würde, die aber auch eigentlich wenig wahrhaft Eigen-
thümliches, ſondern nur den allerdings oft höchſt intereſſanten Reflex
der großen Bewegung darbieten, welche ſich in den drei leitenden
Geſchichtsvölkern individualiſirt. Ihre weitere Verarbeitung wartet auf
die Europäiſche Rechtsgeſchichte.


Englands Entlaſtungsweſen.

Schon Englands Entlaſtungsweſen zeigt uns, weßhalb es unthun-
lich iſt, eine unmittelbare Vergleichung der [Entlaſtung] in den ver-
ſchiedenen Ländern Europas anzuſtellen; aber eben ſo ſehr liefert es
den Beweis, daß dennoch hier ganz genau dieſelben Grundverhältniſſe
vorhanden, und dieſelben Elemente wirkſam geweſen ſind.


Wie reduciren daher dieß Gebiet, das im Einzelnen eben ſo reich
und ſchwierig iſt als die deutſche und franzöſiſche Geſchichte der Ge-
ſchlechterunfreiheit, auf die oben aufgeſtellten großen europäiſchen Grund-
formen derſelben und ihrer Geſchichte. Und dieſe werden wir nun am
beſten in drei Epochen theilen, von denen die erſte die älteſte Zeit bis
Karl II. enthält, und weſentlich in dem Uebergang der villenage zum
[109]copyhold beſteht; die zweite enthält die Aufhebung des Lehnſyſtems
für die freeholds und tenements in capite, ändert aber wenig an den
Verhältniſſen, die ſich aus der erſten für den unfreien Grundbeſitz ent-
wickeln; die dritte endlich iſt die des 19. Jahrhunderts mit ihrer eigent-
lichen Entlaſtung ſowohl der Zehnten als der copyholds.


Erſte Epoche.
Von der Eroberung bis auf Karl II.

Man kann wohl mit gutem Recht ſagen, daß Englands eigentliche
Geſchichte erſt mit der Schlacht von Haſtings beginnt, welche derſelben
den, von da an unverwiſchbaren Stempel der innern Gleichartigkeit
und der äußern Einheit aufdrückt.


Die Eroberung der Normannen trifft auf denſelben Zuſtand der
urſprünglichen Geſchlechterordnung, den wir allenthalben bei den ger-
maniſchen Völkern antreffen. Es ſcheiden ſich im Weſentlichen zwei
Klaſſen, die der herrſchenden Bauerngeſchlechter, und die der perſönlich
und wirthſchaftlich Unfreien, dieſelben, die wir als servi bei den Deutſchen,
als traels bei den Skandinaven finden, und deren Urſprung wir hier
dahingeſtellt ſein laſſen. Dieſe Leibeigenen gehen in die folgende
Epoche über, und es iſt kein Zweifel, daß alles das, was von den
ſpäteren villanis oder villeins geſagt, grundſätzlich nur das alte ger-
maniſche Recht derſelben iſt, wie es auf dem ganzen Continent er-
ſcheint. Bractons Definition der villanis iſt die ganz allgemeine des
urſprünglichen Leibeigenen „ille qui tenet in villenagio (ſ. unten) faciet
quidquid ei praeceptum fuerit, nec scire debet sive quid facere
debet in crastino, et semper tenebitur ad incerta (L. Angl. IV. 1. 28)“

oder, wie Blackſtone es auf die folgende Zeit anwendet: a sort of
people in a condition of downright servitude used and employed in
the most servile works, and belonging both they, their children and
effects to the Lord of the soil (II.
6.). Sie waren daher früher wie
ſpäter ein rein ſachliches Eigenthum und konnten, wie das Gut, das ſie
beſaßen verkauft und vererbt werden. „Long after 1225 they were con-
sidered as a saleable commodity“
(Eden, State of the poor I. 35.),
mit Beiſpielen noch aus dem 14. Jahrhundert (1339), ſo auch in der
Magna Charta c. 4. und 9. Henr. III. c. 4. Ein eignes Eigenthum
hatten ſie nicht „quando cunque placuerit, (dominus) auferre peterit
a villano sive magnagium suum et omnia bona“
(Bracton I. 9). Und
wenn die Schilderungen, die noch Thomas Morus in ſeiner Utopia
1516) von dem Zuſtande eines großen Theiles der niederen Bevölkerung
gibt, auch auf England Anwendung finden (S. 18—30 der Glasgower
[110] Ausgabe von 1750), ſo mag es noch lange ſehr traurig mit den Verhält-
niſſen dieſer Klaſſe ausgeſehen haben, ihm erſcheint der geſammte Zu-
ſtand aller damaligen Staaten Europas als „quaedam conspiratio
divitum, de suis commodis reipublicae nomine tituloque tractan-
tium“ (p. 261),
das große Geſetz der ſocialen Rechtsbildung ahnend,
daß jede Geſellſchaftsordnung ihre Intereſſen durch ihre Verwaltung
und Geſetzgebung zur Geltung bringt. (Ueber den weiteren Inhalt
von Thomas Morus vergl. Wiskemann, Darſtellung der in Deutſch-
land zur Zeit der Reformation geltenden national-ökonomiſchen An-
ſichten. Jablonowsk Preisſchrift 1861.) Ueber Englands Zuſtände ſ.
Wachsmuth, Europäiſche Sittengeſchichte IV. 407. ff.


Es würde uns zu weit führen dieß weiter zu verfolgen. Die Schei-
dung beider Geſchlechterklaſſen war eine abſolute, und dieſelbe wie im
im übrigen germaniſchen Europa. Das iſt die Grundlage der Unfrei-
heit und Geſchichte der Freiheit in der Geſchlechterordnung Englands.


In dieſen Zuſtand tritt nun die normanniſche Eroberung hinein.
Das was ſie zunächſt bringt, iſt die neue herrſchende Klaſſe der Sieger,
die Lords. Die Normannen bilden eine große Geſchlechtergruppe für
ſich; die alten angelſächſiſchen Geſchlechterbauern werden durch ſie aus
der herrſchenden zur Mittelklaſſe, und ſofort entſteht hier derſelbe Proceß,
dem wir in ganz Europa begegnen: der Verſuch der jetzt herrſchenden
Klaſſe, die neue Mittelklaſſe zu der Stellung der niederen Klaſſe hinab-
zudrücken, und der Kampf der erſteren gegen die neuen Herren, um
die bedrohte Freiheit zu retten, wenn auch die Herrſchaft nicht mehr
zu retten war.


Dieſer Kampf iſt nun hier wie in Frankreich und Deutſchland ſo-
wohl ein allgemeiner beider Klaſſen gegeneinander, als ein örtlicher und
in den beſonderen Verhältniſſen einzelner Landestheile ſehr verſchieden
geführter geweſen. Das erſte erſcheint in den großen Bewegungen, die
ſich an den ſagenhaften Robin Hood anſchließen, und viel ernſter und
nachdrücklicher in dem Bauernaufſtande des Wat Tyler. Derſelbe iſt
offenbar ein Aufſtand desjenigen Theiles der alten Bauerngeſchlechter,
der durch die neuen Lords theils direkt um ſeine Unabhängigkeit ge-
bracht war, theils auf unfreiem Grund ſitzend mit perſönlicher Freiheit
ſich die Herrſchaft nicht gefallen laſſen wollte. Der Bundſchuh Wat
Tylers fordert vom Könige die Aufhebung der perſönlichen Hörigkeit
(slavery), Freiheit des Kornhandels auf den Märkten, und eine feſte
Grundabgabe ſtatt der Leiſtungen des villenage „requests which though
extremly reasonable in themselves, the nation was not sufficiently
prepared to receive“
(Hume, History of England II. p. 246) und
die daher auch für den Augenblick zugeſtanden, ſpäter zurückgenommen
[111] wurden (Rymer, Foedera VII. 217; vgl. EdenState of the poor
and history of the labouring classes in England I.
55). Was die
einzelnen Gewaltthätigkeiten betrifft, ſo liegen ſie wie ſo manche andere
unter dem Schutte der Geſchichte begraben, und nur der Kampf der
ſpäteren Geſetzgebung gegen das Unrecht der Geſchlechter gibt davon
Zeugniß („The king remembereth, that great inconveniences daily
do increase by desolation and pulling downe, and willfull waste
of houses an townes within this realme, and laying to pasture lands
which customably have beene used in tillage etc.“
1448) weßhalb
das Statute verbietet, Bauernhöfe niederzulegen (pull down), die mit
wenigſtens 20 Acres Land als tillage oder husbandry bewirthſchaftet
werden; und noch unter Heinrich VII. mußte die Errichtung von in-
closures and large farms
auf Koſten der mittleren Beſitzer ſtrenge ver-
bieten (4. Henry VII. 16; vgl. Hallam, History of England III. 65.
Eden, I. 73). An den Individuen lag es daher gewiß nicht, wenn
die Geſchlechterunfreiheit nicht mit all ihrer Härte und ihrer Unfreiheit
auch in England wie im übrigen Europa zur Geltung kam. Hier waren
andere Elemente thätig; und dieſe ſind es in der That, welche die innere
Geſchichte der engliſchen Geſellſchaft entſchieden haben.


Dieſe Elemente beſtanden einerſeits in dem rein quantitativen Ver-
hältniß der neuen herrſchenden Klaſſe zu der früheren beherrſchten, theils
in der eigenthümlichen Stellung, welche das Königthum durch die Er-
oberung eingenommen hatte.


Offenbar kann nämlich die herrſchende Geſchlechterklaſſe, wenn die
unterworfene noch ſtreitbar iſt, die letztere nur dann ganz unfrei machen,
wenn ſie an Zahl ſo mächtig iſt, daß ſie des Sieges durch die Waffen
gewiß bleibt, und die unterworfene nicht ſelbſt beſtändig in ihrem
eigenen Intereſſe zu den Waffen rufen muß. Das aber war in England
bei den Normannen nicht der Fall; denn die ganze Summe derſelben —
die tenentes in capite, da von den milites und tenentes wohl nur ein
Theil Normannen waren — betrug etwa 1400, ja nebſt den letzteren mit
2899 etwa 3200, wogegen die socemanni allein 23,000, die villani aber
102,702 ausmachten, abgeſehen von den bordariis, cottariis und servis,
die zwar auch mit etwa 100,000 aufgezählt werden, aber nicht in Waffen
ſtanden wie die socemanni (vgl. Gneiſt, Geſchichte des Selfgovern-
ment S. 60 über das Doomesdaybook). Eben ſo entſcheidend war
die Thatſache, daß viele von den tenants in capite ſo große Grund-
beſitzungen hatten, daß ſie weder dieſelben ganz bewirthſchaften noch
beherrſchen konnten. So beſaßen nach der Eroberung der Earl Moreton
793 Höfe (manors), der Earl Allen 442, der Biſchof Odo von Bayeux
432, William Earl Warrens 228 (nach Dugdale, Baronage). Die ganze
[112] Grafſchaft Norfolk hatte nur 66 Grundherren, Hugh de Alvincis bekam
vom Könige Wilhelm dem Eroberer das ganze Palatinat von Cheſter.
(EdenI. 54.) Eine völlige Unterwerfung war daher gleich anfangs faktiſch
unthunlich und die Eroberer mußten ſich begnügen eine gewiſſe Oberherr-
lichkeit auszuüben, die mehr durch die Natur der gegebenen Verhältniſſe
als durch ihren guten Willen beſtimmt ward. Dieſe Oberherrlichkeit nun
kann in Princip und Entwicklung nicht verſtanden werden, ohne das,
was die Engländer unter ihrem feodal system im Gegenſatz zu dem
alten Recht verſtehen.


Dieſes feodal system beruht darauf, daß der König durch die Er-
oberung rechtlich als einziger Eigenthümer alles Grundes und
Bodens angeſehen wird. Diejenigen, welche vom Könige direkt mit
Herrſchaften, Grafſchaften und Ländern belehnt werden, ſind die te-
nants in capite
. Alle diejenigen, welche einen Grundbeſitz innerhalb
der vom Könige an den tenant in capite belehnten Marken haben,
erſcheinen daher zwar auch als ſitzend auf dem Grund und Boden des
Königs, aber als Vaſallen der tenants in capite; dieſe können wieder
subtenentes haben; immer aber bleibt der König nicht bloß Lehens-
herr, ſondern Obereigenthümer. Der ſchlagendſte Unterſchied zwiſchen
dieſem Syſtem des Grundbeſitzes und dem des Continents beſteht daher
darin, daß es keinen Unterſchied zwiſchen Allodium und Feudum gibt,
ſondern daß alles Land Feudum des Königs iſt, und daher für alle
Grundbeſitzer das Princip der Gleichheit des Rechts an dem
Grund und Boden gilt, wenn auch innerhalb dieſer Gleichheit gewiſſe
Stufen vorhanden ſind, die aber doch zuletzt alle in jenem Rechte des
Königs zuſammen laufen. Auch der niedrigſte villein, wenn er ein-
mal zu irgend einem Grundbeſitz gelangt war, gleichviel in welcher Form,
ſtand daher dem Rechte nach nicht bloß unter dem verleihenden Lord
of the manor,
ſondern zugleich unter dem Könige als eigentlich und
wahrem Eigenthümer, den der Lord nur vertrat. Das war die Seite
jenes feodal system, mit dem daſſelbe in ſo entſcheidender Weiſe in
die innere Rechtsbildung und geſellſchaftliche Entwicklung Englands ein-
gegriffen hat, und das ſo wenig Gneiſt als Zöpfl (Alterthümer des
deutſchen Reiches und Rechtes I. Nr. V.) richtig erkannt haben. Die
Geſchichte der Freiheit in der Geſchlechterordnung hat es nun nicht mit
dem Verhältniß der vermöge dieſes feodal system herrſchenden Klaſſe zum
Königthum, ſondern eben mit dem der unterſten beherrſchten Klaſſe
zu den herrſchenden Beſitzern zu thun, was die bisherigen Bearbeiter,
die mehr an den Staat, als an das Volk dachten, ſo gut als gänzlich
überſehen haben. In der That kam es jetzt nur darauf an, auch dem
unterſten villein in ein rechtlich beſtimmtes Verhältniß zum Grund und
[113] Boden zu bringen, um ihn die erſte Stufe der Freiheit betreten zu
laſſen. Die einfache Folge jenes Princips, die ſelbſt Blackſtone und
Eden, die beiden objektivſten Beurtheiler dieſer Erſcheinungen, nicht ge-
hörig hervorheben, war nämlich die, daß jedes Recht, welches ein
Glied der unterſten Klaſſe durch einen Lord of the manor oder tenens
in capite
auf irgend einen Grundbeſitz erwarb, als eine Modifikation
des königlichen Eigenthumsrechts erſchien, und daher die Dis-
poſitionen des Lord über den Grundbeſitz auch des villein als unter
königlichem Recht und Gericht ſtehend, anerkannt werden mußten.
Der König als Eigenthümer konnte daher auch das Recht des Lord
auf den villein ändern, ohne in das Privateigenthum in der Weiſe
einzugreifen, wie auf dem Continent, da er ſtets wenigſtens dem ab-
ſtrakten Princip nach über ſein eigenes Grundſtück entſchied. Man kann
dieſe wichtige Thatſache nicht hoch genug anſchlagen, und hat ſehr Un-
recht mit Macaulay und Anderen ſie für das Verſtändniß Karls II. bei
Seite liegen zu laſſen, ebenſo wie diejenigen, welche ſich dieſelbe nicht
vergegenwärtigen, weder ganz Seldens Vertheidigung des Königs, noch
auch die Theorie Hobbes richtig würdigen werden. Hobbes iſt näm-
lich in der That der erſte, der für die geſammte Entwährungslehre
jenes poſitiv rechtliche, auch noch von Blackſtone anerkannte Verhältniß
zu einem theoretiſchen Princip ausarbeitete, indem er den Begriff des
Privateigenthums als des Eigenthumes der Einzelnen gegenüber dem
Einzelnen von dem des Staats oder königlichen Eigenthum als dem
Eigenthum des Königs im Gegenſatz zu dem des Einzelnen zuerſt ſtrenge
unterſchied, und während er das individuelle Eigenthumsrecht im erſten
Sinne als unverletzlich erklärt, daſſelbe im zweiten dem königlichen unter-
wirft: Ex quo intelligitur, singulos cives suum sibi proprium habere,
in quod nemo concivium suorum jus habet, quia iisdem legibus
tenetur; non autem proprium ita habere quidquam, in quod non
habeat jus ille qui habet imperium summum, cujus mandata sunt
ipsae leges, cujus voluntate voluntas singulorum continetur (De Cive
L. IV. 15).
Es iſt wohl ſehr leicht, dieſe abſtrakte Formulirung auf
jenes höchſte Eigenthumsrecht zurückzuführen, und zugleich zu verſtehen,
wie dieſe Theorie auf dem Continent mit ſeinem Allod und ſeiner ört-
lichen Souveränität den heftigſten Widerſtand finden mußte. Faßt man
aber das obige Verhältniß in denjenigen Punkten zuſammen, in denen
es für das Entlaſtungsweſen Englands von entſcheidender Bedeutung
war, ſo ergeben ſich folgende Sätze, deren praktiſche Anwendung ſchon
ſeit dem 13. Jahrhundert in England wirkſam iſt.


Erſtlich kann der König als Eigenthümer auch desjenigen Grundes,
den der niederſte villein beſitzt, das Recht des letzteren durch ſeine
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 8
[114] Geſetze ändern und ſeinen Grundbeſitz befreien, weil er zuletzt ja doch
nur über ſeinen eigenen Grund entſcheidet.


Zweitens iſt es unmöglich, eine völlige Identificirung der ſtaat-
lichen Gewalt mit dem Grund und Boden jemals in der Weiſe für
die einzelnen Grundherren herzuſtellen, wie auf dem Continent, weil
der König als wirklicher letzter Eigenthümer zugleich Innehaber deſſelben
ſtaatlichen Rechts bleibt, das durch ſeine Verſchmelzung mit dem Grund
und Boden eben die „Grundherrlichkeit“ bildet. Eine Patrimonialgerichts-
barkeit iſt daher rechtlich in England gar nicht in der Weiſe möglich,
wie auf dem Continent.


Drittens endlich folgt, daß wenn und wo der Lord dem Un-
freien ein Recht auf Grund und Boden in irgend einer Weiſe zugeſteht,
der letztere damit in ein unmittelbares Verhältniß zum Könige, über
deſſen Recht ja verfügt worden iſt, tritt, und daß daher von dieſem
Augenblick an beide, Lord und villein, dem Gerichte des Königs
unterworfen werden.


Auf Grundlage dieſer Sätze wird es nun einleuchten, daß ſchon
das große Princip des feodal system eine ſolche Unterdrückung der
niederſten Klaſſe durch die Grundherren grundſätzlich unmöglich machte,
wie ſie auf dem Continent eintritt. Die Stellung der Lords iſt von
Anfang an eine andere als die der franzöſiſchen und deutſchen Grund-
herren; und es iſt klar, daß daher auch der ganze Proceß der Erhebung
der niederſten Klaſſe zur ſtaatsbürgerlichen Freiheit ein weſentlich anderer
ſein mußte, als auf dem Continent, obgleich die übrigen Elemente
ganz genau dieſelben waren.


Um das nachzuweiſen, mag es uns geſtattet ſein, die Grundzüge
der Geſchlechterordnung Englands hier zu bezeichnen, wie ſich dieſelben
durch das Eintreten der Klaſſe der Lords in das alte angelſächſiſche
Dorf und ſeine Bauern und Leibeigenen geſtaltete. Der Entwicklungs-
proceß der Freiheit oder der Entlaſtung iſt dann bis auf den heutigen
Tag, wie wir glauben, vollkommen klar.


Die Eroberung theilt nämlich das ganze Land in lauter Groß-
grundbeſitze, die entweder Einzelnen oder als ganzer Complex einem Lord
verliehen werden. Jeder dieſer Beſitze heißt (ſpäter) ein manor. Der
Lord kann von ſeinen vielen manors einzelne wieder an andere Freie
— natürlich im Anfange Normannen — gegen Waffendienſt verleihen.
Die Lords haben daher ihre Vaſallen; jene erſcheinen im Doomesday-
book
als proprietors, reſp. thanes oder tenentes in capite, dieſe als
tenentes im Allgemeinen oder subtenentes (die milites gehören der
ſpäteren Zeit); das iſt die herrſchende Klaſſe.


Die alte herrſchende Klaſſe der freien Bauern tritt nun in ein
[115] neues Verhältniß. Sie ſind perſönlich nach wie vor frei, und ihr
Beſitz gehört wie der manor ſelbſt dem Könige. Allein da ſie ſchon
bei der Eroberung Eigenthümer waren, ſo konnte eine eigentliche Ver-
leihung nicht ſtattfinden, ſondern nur eine Unterordnung unter den
manor des Lords, innerhalb deſſen Gränzen ſie lagen. Dieſe Unter-
ordnung ward nun dadurch, im Gegenſatz zu den folgenden, ausge-
drückt, daß ſie zwar zu allen öffentlichen Dienſten auf Befehl des Lords
im Namen des Königs verpflichtet, aber zu keinen perſönlichen oder
wirthſchaftlichen Leiſtungen gegen den Lord durch ihren Grundbeſitz ge-
bunden waren. Ein ſolcher Grundbeſitz hieß dann ein liberum tene-
mentum,
engliſch „free tenure,“ mit dem Ausdrucke, der aus dem
feodal system hervorgeht; der angelſächſiſche Ausdruck dagegen war
„socage,“ und der Grundbeſitz hieß daher „free“ oder „common so-
cage,“
was dann ſpäter als Gegenſatz zu dem unfreien Grundbeſitz
auch wohl „privileged tenure“ genannt ward, obgleich natürlich von
einem wirklichen „privilege“ keine Rede war. Die ganze geſellſchaftliche
Klaſſe bildet die Klaſſe der „sochemanni“ des Doomesdaybook. Es
iſt im Weſentlichen die Gruppe der „Freibauern“ in Deutſchland.


Neben dem Grundbeſitz dieſer sochemanni lag nun der große Grund-
beſitz des Lord, der waste, die herrſchaftlichen Gelände, das eigentliche
„Gut,“ das aber nicht wie auf dem Continent Allod und feudum
unterſchied, ſondern unter gleichartigem Recht als eine „tenure“ be-
ſtand. Um dieß nun zu bebauen, begannen natürlich die Lords als-
bald die freien Männer aus den angelſächſiſchen Geſchlechtern, die wohl
meiſt als zweite und dritte Söhne der freien Hufner oder sochemanni
keinen Grundbeſitz hatten, mit Höfen zu beleihen, die aus dieſem
Gutsgrund gebildet werden. Ein ſolcher Beliehener war nach dem
Lehensbegriff der „Mann“ des Lord, ſein „homo;“ perſönlich frei, ſaß
er auf unfreiem Gut. Und hier beginnt nun der Uebergang zu der
niederen Klaſſe.


Der Lord hatte nämlich auch dieſe in Geſtalt der alten Leibeigenen
überkommen und zwar höchſt wahrſcheinlich in doppelter Geſtalt. Theils
nämlich hatten dieſe Leibeigenen unter gewiſſen Bedingungen ſchon eine
kleine Bauernſtelle aus der angelſächſiſchen Zeit in Beſitz, theils nicht.
Grundſätzlich machte das für das Recht beider Klaſſen der Unfreien
natürlich keinen Unterſchied. Allein in der Wirklichkeit ließ ſich die,
durch das Vorhandenſein oder dieſen Mangel an Grundbeſitz gegebene
Verſchiedenheit der ganzen geſellſchaftlichen Stellung denn doch wohl
keinen Augenblick verkennen. Denn die erſte Klaſſe erſchien natürlich an
die Scholle, das iſt in Wahrheit an ihre wirthſchaftlichen Bedürfniſſe, ge-
bunden, und die principiell unzweifelhafte Berechtigung zur Verfügung
[116] über ſie fand ihre Gränze darin, daß der Werth ihres, dem Lord gehöri-
gen Grundbeſitzes von ihrem Daraufbleiben abhängig war. Sie bildeten
daher bald auch in der rechtlichen Auffaſſung eine Klaſſe für ſich, die an-
fänglich wieder in Unterklaſſen getheilt auftritt (villani, bordarii, cottarii),
dann aber als ein geſellſchaftliches Ganzes aufgefaßt werden und im
(Geſellſchafts-) Recht der manor erſcheinen unter dem Geſammtnamen
der „villeins regardant.“ Neben ihnen beſtehen dann die ganz be-
ſitzloſen Leibeigenen, die im Doomesdaybook als servi auftreten,
nachher aber bald als „villeins en gros,“ bei denen das Individuum
noch ganz ohne alles Recht iſt, bezeichnet werden. Das iſt die Geſtalt
der Geſellſchaftsordnung.


Den Grundformen derſelben entſprechen nun auch die Ordnungen
in Beziehung auf die beiden großen öffentlichen Funktionen jener
Epoche, das Heerweſen und das Gericht. Das Heerweſen beruht
einerſeits auf der Dienſtpflicht des Lords gegen den König, der die
Dienſtpflicht des tenens gegen den Lord entſpricht; natürlich konnte
unmittelbar nach der Eroberung der sochemann kein Waffenrecht
haben; er war ja die unterworfene Klaſſe. Allein ſchon 1181 nimmt
das Königthum auch die letztere in die Assize of Arms auf, und
damit ſtellt ſich der sochemann auf ſeiner socage rechtlich und ge-
ſellſchaftlich wenn er ſehr reich iſt, neben den Lord, und immer neben
den homo des Lord. Mit der Assize of Arms beginnt zwiſchen der
höchſten und zweithöchſten Klaſſe der engliſchen Geſchlechter jener eigen-
thümliche Proceß, auf welchem die heutige engliſche Geſellſchaftsord-
nung ihrer einen Seite nach beruht, daß nicht das Recht, ſondern
der Umfang des Beſitzes die geſellſchaftliche Stellung des Ein-
zelnen bedingt. Doch dieß gehört nicht der eigentlichen Entlaſtungs-
geſchichte an. Das Gerichtsweſen ſpaltet ſich dagegen wie allenthalben
zuerſt in zwei große Theile, zu denen dann ein drittes, zuletzt ent-
ſcheidendes Moment hinzukommt. Der Lord hält Gericht als Vorſitzer
der freien Männer ſeiner Grundherrhaft, und empfängt damit die con-
tinentalen Titel des Dux, Comes, Vicecomes, Marchio u. ſ. w. Dann
aber hält er Gericht über alle diejenigen Fälle, in denen es ſich um
das Eigenthum, und namentlich um den Grundbeſitz handelt. Dieß
Gericht, deſſen Objekt natürlich namentlich die Leiſtungen der auf dem
Grunde der Lords ſitzenden Hinterſaſſen, der perſönlich Freien, ſo wie
der Unfreien war (die costums), hieß daher die customary court; da-
mit eng verwandt iſt die court of ancient demesne (Blackſtone II. 6).
Doch müſſen wir das Genauere hier übergehen, obgleich Gneiſt die
letztere ganz wegläßt. Da nun aber der König zuletzt der Eigenthümer
aller Beſitzungen iſt, und in jedem Court über ſeine Rechte in letzter
[117] Inſtanz verhandelt wird, ſo hat er auch das Recht, einen Gerichtshof
zu berufen, unter dem beide gutsherrlichen Gerichtshöfe ſtehen; und
dieß geſchieht durch die reiſenden Richter in ihren Circuit Courts, die
urſprünglich keine adminiſtrative, ſondern rein feudale Inſtitutionen
ſind, aber für die innere Weiterentwicklung von höchſter Bedeutung
werden.


Offenbar iſt nun in dieſer Geſtalt der Geſchlechterordnung das Ge-
biet der eigentlichen Unfreiheit, alſo auch das Gebiet, auf welchem die
Freiheit durch die Entlaſtung gewonnen werden muß, das der villeins.
Und hier nur unterſcheiden ſich ſofort die obigen Klaſſen in ganz be-
ſtimmter Weiſe, noch ehe die Entlaſtungsbewegung eintritt, die eben
durch dieſe Unterſcheidung leicht verſtändlich wird.


Wo nämlich der Lord ein Grundſtück an einen freien Mann
verlieh, da war es natürlich, daß der letztere vorher die Bedingungen
abmachte, unter denen er in den Dienſt des Herrn trat. Dieſe Be-
dingungen ſind die gutsherrlichen Leiſtungen, servitiae. Der perſönlich
unfreie villein war in dieſer Beziehung ganz rechtlos; wollte ſich der
perſönlich Freie nicht demſelben ganz gleichſtellen, da der Beſitz beider
ſchon gleich war, ſo mußte er jene servitia rechtlich feſtſtellen. Auf
dieſe Weiſe entſtand eine Mittelklaſſe der Unfreien hier wie auf dem
Continent diejenige, welche zwar, wie Bracton ſagt, „villana faciunt
servitia,“
aber „certa et determinata.“ Es iſt der ganz unzweifel-
hafte Begriff der „gemeſſenen Frohnden,“ dem wir hier begegnen, und
höchſt wahrſcheinlich ſind es dieſe, über welche das Court of ancient
demesne
ſtattfand. Ihnen gegenüber ſtand dagegen der perſönlich un-
freie villein. Derſelbe hatte anfänglich gar kein Recht, weder auf ſeine
Arbeit, noch auf ſeinen Grundbeſitz; er mußte daher unbedingt nach
dem Willen des Herrn dienen; und daher denn der zweite Begriff der
servitia villana indeterminata, der ungemeſſenen Frohnden. Dieß ſind
alles einfache und klare Verhältniſſe, die ganz denen des Continents
entſprechen. Aber die eigenthümliche Geſtalt der engliſchen Agrarver-
faſſung tritt nur da ein, wo die beiden oben erwähnten Elemente, die
Größe des unbebauten Grundbeſitzes und das Princip des königlichen
Rechts auf dieſelben einzuwirken beginnen.


Wir werden nun dieſen Proceß, der bis zur Gegenwart ſeine
Wirkungen äußert, ganz kurz als den des Ueberganges von der
villainagezumcopyhold bezeichnen. Gelingt es, denſelben feſtzuſtellen,
ſo iſt die ganze engliſche Agrarverfaſſung in dieſer ihrer ſocialen Seite
wie wir glauben, vollkommen klar. Derſelbe hat mit dem liberum te-
nementum
oder freehold wenig zu thun, denn ſein Gebiet iſt eben die
Hebung der unterſten Klaſſe, und nicht das Verhältniß der mittleren
[118] der sochemanni, zum Lord, in welchem die bisherige Geſchichtſchreibung
ihre Aufgabe begränzt hat.


Dieſer Uebergang der villenage zum copyhold hat nämlich zwei
Faktoren, die bei aller ihrer Einfachheit ſtreng geſchieden ſein wollen.


Der erſte dieſer Faktoren iſt das Verhältniß des villein zum
Lord of the Manor, der zweite das Verhältniß deſſelben zum Könige.


Es iſt bemerkt worden, daß die Lords große Grundbeſitzungen
hatten, welche bei der dünnen Bevölkerung ſehr ſchwer zu cultiviren
waren. Sie hatten daher das höchſte Intereſſe, die angelſächſiſche Be-
völkerung, in deren Mitte ſie lebten, zur Arbeit zu veranlaſſen. Sie
mußten froh ſein, wenn die Bauernſöhne ſich dazu hergaben, auf ihrem
Grunde ſich mit gemeſſenen Frohnen niederzulaſſen; ſie mußten aber auch
zufrieden ſein, wenn der Leibeigene tüchtig arbeitete und ſeine Abgaben
in Dienſten leiſtete, denn er war keinswegs leicht zu erſetzen. Im
Sinne der wirthſchaftlichen Intereſſen ſtanden daher bald diejenigen,
welche ungemeſſene Frohnden leiſteten, mit denen gleich, die nur
gemeſſene zu leiſten hatten. Die feſte Geſtalt der engliſchen Landwirth-
ſchaft trug dazu bei, dieſe Frohnden in beſtimmter, landwirthſchaftlich
geregelter Reihenfolge zu ordnen, und der Lord war froh, wenn der
Gang ſeiner Wirthſchaft unter Hülfe ſeiner villeins ſich gleichſam von
ſelber regelte. Da nun die letzteren doch noch immer vom Lord abhängig
waren, ſo hielten ſie natürlich feſt zu ihm; es entſtand ein gegenſeitiges
Verhältniß der Treue, das vom Vater auf Sohn ging, und nicht den
Charakter einer Pacht, deren Größe ſich nach dem Reinertrage richtete,
ſondern eben eines grundherrlichen Vertrages hatte, gerade wie bei den
villeins mit feſten Frohnden; der Gedanke, daß man den villein wirk-
lich vom Gute treiben könne, verſchwindet; die Frohnden ſtellen ſich
durch Uebung feſt, und werden faktiſch determinata, gemeſſene. Der
perſönlich unfreie villein ſteht daher jetzt thatſächlich dem perſönlich
freien gleich. Der Lord aber läßt über alle ſeine Grundholden all-
mählig ein Regiſter aufnehmen, ein Polyptichon, ein Grundbuch über
das, was die Holden je nach ihren Grundbeſitzungen zu leiſten haben;
dieß Verzeichniß heißt dann die „Court roll.“ Dieſe Court rolls ent-
ſtehen weſentlich ſeit Henry III. „Previous to the reigns of Henry the
third and Edward the first they are not much (?) noted in ancient
records; but in the period immediatly subsequent — — it was ex-
tremely essential for the Baron, to assertain the position of his es-
tate, so that he seldom failed to obtain full information relative
to his material rights.
(EdenI. S. 12.) In dieſer Court roll ſind
nun theils die Verträge aufgezeichnet, nach welchen die perſönlich Freien
den unfreien Grund gegen die servitia determinata übernommen haben,
[119] theils aber auch diejenigen Leiſtungen, welche der villein „von Alters
her“ für ſeinen Beſitz wirklich leiſtete. Nun nannte man darnach den
Beſitz der erſten Klaſſe, deren Ueberlaſſungsvertrag, die servitia definirt,
das villenagium privilegiatum (ſ. oben), denn am Ende war es aller-
dings richtig, daß es ein privilegium war, wenn der Grundbeſitz des
Herrn, an ſich zu ungemeſſener Frohnde verpflichtet, vertragsmäßig nur
gemeſſene leiſtete; den Beſitz der zweiten dagegen nannte man das vil-
lenagium purum.
Allein die lange Uebung, der custom, ließ allmählig
den Gedanken verſchwinden, daß der Lord das Recht habe, die Be-
gränzung der Frohnden auf dem villenagium purum jeden Augenblick
aufzuheben und neue Frohnden einzuführen, oder gar das, den villein
jeden Augenblick davon zu jagen, oder wenigſtens nach ſeinem Tode
eine andere Familie einzuſetzen. Denn das engliſche Recht hielt ſchon
damals an dem Grundſatz feſt, „custom is the life of common law“
und dieß common law ward von den alten Angelſachſen, deren soche-
manni
in den Höfen des Königs als Geſchworenen auch wohl im Intereſſe
ihres Stammes nachdrücklich gehandhabt. War alſo einmal der villein
unter custom, ſo galt dieſe custom, die gewohnheitsrechtliche Bemeſſung
der Frohnden und der gewohnheitsrechtlich erbliche Beſitz, wenn ſie im
court roll ſtanden, als common law. Wer daher ſeine Rechtstitel
und ſeine Leiſtungen für den Fall eines gerichtlichen Verfahrens ſichern
wollte, der ließ ſich einen Grundbuchsauszug, eine copy of the court
roll“
geben, und beſaß nun ſein Grundſtück auf den Rechtstitel dieſer
copy — er war ein copyholder. Das iſt die Entſtehung und Natur
des copyholds in der Geſchlechterordnung Englands. Ihre Bedeutung
iſt eine doppelte. Erſtlich ſtellte der copyhold den villein mit dem
perſönlich freien Beſitzer einer privileged villenage — die man wegen
der Freiheit des Beſitzers, der der Regel nach ein sochemann ſein
mochte, auch villein-socage nannte — gleich, und hob damit die perſön-
liche Leibeigenſchaft auf; zweitens ſtellte derſelbe den Grundbeſitzer und
ſein Recht unter den königlichen Richter, und machte damit die Will-
kür des Herrn zu nichte. So wie das einmal der Fall war, mußte
der Begriff des villenagium überhaupt verſchwinden, da ſein Charakter,
die grundſätzliche Ungemeſſenheit der Frohnde und die Entlaſtbarkeit
der Inſaſſen, mit dem copyhold vernichtet waren. Der copyhold ward
daher ein allgemeines Recht des Grundbeſitzes und ſtellte ſich allmählig
neben das liberum tenementum der alten sochemanni; es iſt der erſte
große Schritt der Entlaſtung
im engliſchen Recht, der Ausdruck
der erſten Erhebung aus der Unfreiheit der Geſchlechterordnung zum
freien Grundbeſitz.


Dieſem zunächſt wirthſchaftlichen Proceß tritt nun zur Seite ein
[120]juriſtiſcher, der nicht mindere Beachtung verdient, um ſo mehr, als
man ihn von dieſer Seite nur zu oft überſieht. Das war das Auf-
treten des königlichen Rechts.


Es iſt ſchon oben bemerkt, daß die Ueberlaſſung des Grundes auch
an den villein das Recht des Königs betraf, da der Letztere Eigenthümer
des Ganzen war, und daß daher eine Patrimonialjurisdiktion im con-
tinentalen Sinne als Privateigenthum an der Gerichtsbarkeit und Po-
lizei gar nicht entſtehen konnte. Allein die weitere Folge war, daß
jene Ueberlaſſung alsbald die Perſon der villeins ſelbſt frei machte, ob-
gleich keine perſönliche Freilaſſung vorhergegangen war, „for this was
dealing with the villein at the footing of a freeman“
wie Black-
ſtone ſagt II. 6. it was in some of the customes giving him an ac-
tion against his lord, and in others, vesting an ownership in him
entrely inconsistent with his former state of bondage.“ „A villein“

ſagt EdenI. S. 14, thus circumstanced, was no longer a villein.“
So entſteht denn der juriſtiſche Grundſatz, daß die Ueberlaſſung an
irgend einen Pächter überhaupt nicht unter vierzig Jahren zugelaſſen
werden ſolle, was freilich nicht zur allgemeinen Geltung kommt (Black-
ſtone I. 9 nach dem Mirror of Justice II. 27). Ebenfalls hatte jene copy-
hold
die perſönliche Befreiung und das große Princip der Gleichſtellung
des villein und baron vor dem königlichen Richter zu Folge, und das
Gericht befeſtigte ſomit formell, was die custom thatſächlich eingeführt.
Die Bahn für die Befreiung aus der Geſchlechterunfreiheit war ge-
brochen.


Dieß war der ziemlich einfache und allgemeine Entwicklungsgang, der
in England aus dem urſprünglich hörigen einen freien Mann gemacht,
und ihm vermöge jener copy of the court roll eine vollkommen ſelb-
ſtändige, rechtlich unantaſtbare Stellung gegeben hat. Es iſt nun ſelbſt-
verſtändlich, daß da, wo der Lord of the Manor aus Verſehen oder
auch aus Böswilligkeit keine Court roll aufgezeichnet hatte, der villain
die Möglichkeit hatte, dieß Recht ſeines Beſitzes und ſeiner Perſon durch
ein Verdict der Geſchworenen anerkennen zu laſſen, da dieſer Fall nie-
mals in dem unfreien Hofgericht zur Entſcheidung gebracht worden,
weil er vermöge des Princips des feodal system als ein Recht des
Grundes und Bodens ein königliches Recht betraf. Nur darf man nicht,
wie ſelbſt Sugenheim geneigt iſt zu thun, glauben, daß einerſeits mit
dieſem copyhold die ganze Frage der freien Agrarverfaſſung im
Weſentlichen erledigt worden ſei, und eben ſo wenig darf man wie
Maurer, Zöpfl und Gneiſt, den zweiten großen, neben dem obigen
Proceß herlaufenden Befreiungsakt der perſönlich unfreien Nichtbeſitzer,
der villains en gros (ſ. oben) darüber vergeſſen.


[121]

In der That enthält der Uebergang vom villein auf ſeine privi-
leged tenure
zum copyholder nur zwei von den oben erwähnten
Klaſſen der Geſchlechterunfreiheit. Er bezieht ſich nur auf die perſönlich
Freien, die lange Zeit auf unfreiem Boden ſaßen, und auf die perſön-
lich Unfreien, die aus der ungemeſſenen Frohnde der villeins in feſte
Rechtsverhältniſſe übertraten. Er hat daher nur mit denen zu thun,
welche einen Grundbeſitz haben. Dieſe nun macht er ſo gut als frei,
wenn auch der Grund und Boden zum Theil ſehr ſchwere Laſten an
den Lord zu tragen hat; die Freiheit derſelben iſt eine Thatſache, lange
bevor ſie ein Recht wird. Allein es bleibt noch eine vierte große Klaſſe
übrig, und das iſt die der perſönlich Unfreien, die keinen Grund-
beſitz haben, die villeins en gros, und die dem Lord urſprünglich leib-
eigen angehören. Nun iſt es zwar klar, daß auch dieſe nicht lange in
jener abſoluten Unfreiheit bleiben konnten, da neben ihnen alles frei
ward. Ein großer Theil derſelben ging nun zwar allmählig in die
Klaſſe der villeins regardant als Hinterſaſſen des Lord gegen das
servitium über; allein ein anderer Theil erhielt eine ſolche Hufe ent-
weder nicht oder wollte ſie vielleicht nicht haben. Das Schickſal dieſer
letzten Klaſſe und ihre Befreiung bildet daher das letzte Gebiet der Ge-
ſchichte der engliſchen Freiheit der Geſchlechterordnung. Leider iſt es
ſehr ſchwierig, die Sache hier im Einzelnen zu verfolgen, da mit der
Anknüpfung an den Grundbeſitz der feſte Rechtstitel fehlt. Im Großen
und Ganzen aber mögen es zwei Hauptpunkte geweſen ſein, welche
auch hier die Entſcheidung brachten.


Der erſte Punkt beſtand in den unmittelbaren Freilaſſungen,
den manumissions, die bereits ſeit dem 12. Jahrhundert ſehr all-
gemein werden, und hauptſächlich von der Kirche ausgegangen ſind.
Schon das große Concilium von Weſtminſter, 1102, erklärte, „daß
niemand ſich unterfangen ſolle (nemo presumat), den verdammlichen
Handel des Verkaufes von Menſchen auf dem Markte weiter zu treiben,
der bisher allgemeine Sitte in England geweſen.“ (Eadwrd bei
EdenI, 10.) In dieſer Richtung wirkten dann die einzelnen Geiſt-
lichen weiter. Thomas Smith in ſeinem Common wealth (1635)
gibt an, daß viele Herren auf Andrängen der Geiſtlichen ihre Leib-
eigenen befreiten (S. 250). Sehr gut charakteriſirt Eden a. a. O.
S. 10 das Verhältniß: „It is not unreasonable to suppose that the
clergy, whose learning in a dark age had given them the exclu-
sive possession of the Courts of Justice, should in interpreting
the law avail themselves of many subtleties which, while they
accorded with christian charity at the same time enabled them
to lessen the formidable power of their great rivals, temporal
[122]Lords.“
Daher auch die Bemerkung Blackſtone’s (II. 9.), daß die
Geiſtlichen beſtändig eifrig waren, jedes der Befreiung günſtige Moment
zur Geltung zu bringen. Waren ſie doch ſelbſt zum großen Theil aus
der unterdrückten Klaſſe hervorgegangen! Wenn daher auch keine Manu-
miſſionen in Maſſe vor ſich gingen, wie Sugenheim glaubt, der die
villeins regardant und en gros nicht gehörig ſcheidet, ſo löste ſich doch
das Verhältniß auf allen Punkten mehr und mehr, und die Entſchei-
dung brachte auch hier wieder zuletzt das volkswirthſchaftliche Verhält-
niß; nur war es dießmal nicht der Beſitz, ſondern die Arbeit, die
mit durchgreifender Wirkſamkeit eintrat.


Trotz dem nämlich, daß der Grundherr, und neben ihm gewiß
auch viele subtenentes, ſowohl Normannen als die sochemanni der
Angelſachſen auf ihrem liberum tenementum viele ihrer villeins mit
Grund und Boden betheilt hatten, blieb doch viel Land übrig, das be-
baut werden wollte; und der villein ging in England ſo gut als auf
dem Continent in die Stadt zu den Burgenses, die ihn ſchützten, wenn
ſie ſeine Arbeit brauchen konnten. „A few years after (1331) we find
both the spiritual and temporal nobility complaining that their
villeins fled into the tradingtowns, where the merchants under
colour of their franchise detained their.“
(Rot. Parl. III. 448.
EdenI. 30.) Wollte der Grundherr daher Arbeiter haben, ſo mußte
er ihn zahlen; den einen, weil er ihm ſonſt davon ging, den andern,
weil er ihm ſonſt überhaupt nicht kam. Die freie Stellung, welche die
villeins, zum copyhold übergehend, ſchon im 13. Jahrhundert ge-
wannen, hatte daher zur Folge, daß für die Arbeiter eine ähnliche
gefordert und gegeben wurde. So entſtand die erſte Arbeiter- und
Lohngeſetzgebung
in Europa, das Statute of labourers, 1350, für
deſſen Inhalt und Geſchichte wir namentlich auf EdenI, S. 28 ff.
verweiſen (gab es ein älteres? ſ. Eden a. a. O. S. 34); vgl. auch
Sugenheim S. 296, der freilich gleich eine „fluctuirende freie länd-
liche Arbeiter-Bevölkerung“ daraus macht; freie Männer waren das
wohl nur ſelten, meiſt Leibeigene, aber die große Bedeutung jener
Geſetzgebung lag darin, daß ſie den Leibeigenen nunmehr für ſeinen
Lohn unter das common und statute law ſtellte, ſo daß ſchon 1259
der servile tenant Recht auf den Lohn, die wages, hatte, ja ſogar
auf ſeine Koſten einen Stellvertreter ſtellen durfte (EdenI. 14. 15).
So wie aber Lord und villein vor demſelben Gericht zu Recht ſtehen
mußten, war von einer eigentlichen Leibeigenſchaft keine Rede mehr,
eben ſo wenig, wenn es ſich um die labourers wages, als wenn es
ſich um die servitia des villeins handelte. Und ſo geht der Proceß
der Befreiung auch der nichtſeßhaftenvilleins (en gros) neben dem
[123] der ſeßhaften (regardants auf villein tenure ſitzenden) in ziemlich gleichem
Schritte vor ſich. Während aus den letzteren die copyholders werden,
werden aus den villeins en gros, den alten serfs oder thraels,
die labourers. Das ſind die beiden Elemente der Entwicklung der
Freiheit in der Geſchlechterordnung Englands; und es iſt wohl ſchon
hier klar, daß dieſe ganze Geſchichte Englands eine weſentlich verſchiedene
von der des Continents iſt, obwohl ſie genau aus denſelben Ele-
menten hervorgeht.


Allerdings muß man nun nicht glauben, daß alles dieſes weder
in den von uns angegebenen einfachen Verhältniſſen verläuft, noch auch
daß es plötzlich oder vollſtändig geſchehen iſt. Wir ſehen vielmehr, daß
z. B. die Realrechte der Bannmühlen und ſelbſt der Bannöfen der
Grundherren noch lange beſtanden (Kenett, Parochial Antiquities
396; die Bäcker- und Müllerſtatute der Gild of Berwik bei Eden
I. 21). Auch ſind Klagen genug über die Härte der Herren gegen ihre
eigenen Leute; noch im 14. Jahrhundert kommen Verkäufe von Leib-
eigenen vor, und Hallam findet noch unter Eduard III. neben 94 copy-
holders
(hatten ſie ſchon alle wirklich copys, oder nahm man den
copyhold nur an?) noch ſechs Leibeigene (Sugenheim S. 299). Ja die
Herren verweigerten ſtets direkt die unbedingte geſetzliche Anerkennung
der Manumiſſion der villeins, ſo daß Macaulay (History of Eng-
land I.
1.) noch ſagen muß, daß „that the institute (of villenage)
even to this hour, not has been abolished by statute.“
Doch das
war gleichgültig, da das common law ſie beſeitigt hatte (Sugenheim
S. 300). Die Unfreiheit war deßhalb nicht weniger gebrochen. Alle
villeins haben ein gleichartiges, wenn auch kein gleiches Recht; alle
labourers ſtehen unter dem Geſetze; das Gericht gehört nie und nir-
gends mehr dem Grundherrn, ſondern dem Könige; der Grundherr
des Continents exiſtirt in England überhaupt nicht, ſondern
aus dem feudalen Lord iſt ein Großgrundbeſitzer geworden.
Das iſt der materielle Schluß der erſten großen Epoche; den formalen
bringt nun dafür das wohlbekannte Stat. 12. Ch. II. 24 von 1672.
Dieſes Statute, von welchem Blackſtone ſagt, es ſei „a greater acqui-
sition to the civil property of this kingdom than even magna
charta itself“ (II. 5.)
beſtimmt nun folgende Grundſätze, die in Be-
ziehung auf das Obige leicht zu erklären ſind. Erſtlich, daß alle
Arten von tenures (ſ. unten), die vom Könige oder von einem an-
dern
gehalten werden, zu einem freien Eigenthum gemacht werden
ſollen, daß ſie alſo nach continentalem Begriffe aus einem Lehn zu
einem Allod erhoben werden. Das bezeichnet das Geſetz jetzt als Er-
hebung aller dieſer tenures into free and common soccage; die
[124] Beſitzer ſind für ihren Beſitz den alten Lords der normanniſchen Eroberer
auch formell gleichgeſtellt. Zweitens als natürliche Folge davon
werden alle Arten von Abgaben, die aus dem feodal system von
Seiten dieſer subtenentes an den früheren tenants in capite, theils
in recognitionem dominii, theils als wirkliche Lehnsabgabe beſtehen,
aufgehoben. Dadurch ſind die vom Stat. 12 ausdrücklich angeführten
„fines for alienation (beim Verkauf des Lehngutes), tenures by homage
(der Lehnseid und ſeine Leiſtung), knigths service (ritterlicher Dienſt),
and escuage (für die feierliche Aufnahme in das Dienſtverhältniß),
aids for marrying this daughter or knigththing the son (Abgabe für
die Ausſteuer der Tochter oder den Sohn des Herrn) und endlich alle
Leiſtung und alles Obereigenthum des Königs überhauptall
tenures of the king in capite
— aufgehoben worden. Drittens
werden, gleichfalls dem entſprechend, alle auf dieſe Rechte bezüglichen
Gerichtsinſtanzen und andere Lehnsleiſtungen courts of ward and li-
veries, and all wardships, liveries, primes seisins and ousterlemains
)
abgeſchafft. Dieß Geſetz iſt das erſte Entlaſtungsgeſetz in der
europäiſchen Geſchichte; es hat daſſelbe wohl viel dazu beigetragen,
überhaupt die Regierung Karls II. in England noch erträglich zu machen,
und wir wundern uns billig, daß Macaulay keine weitere Rückſicht
darauf nimmt. Allein allerdings iſt dieß Geſetz nur die Entlaſtung
der urſprünglich freien Lehnsbeſitzer
, und hat mit der Ent-
laſtung des urſprünglich unfreien Beſitzes gar nichts zu thun; die Be-
wunderung Blackſtones iſt uns nicht wohl verſtändlich, wenn er ſagt,
das Statut von Karl II. habe „exstirpated the whole, and demolished
booth root and branches“ „of the military tenures.“
Denn daſſelbe
fügt ausdrücklich hinzu „save only tenures in franc almoign (ſ. unten)
copyholds, and the honorary services (without the slavish parts)
of grand serjanty.“
Das heißt, die aus dem alten Recht hervorgehende
Stellung des urſprünglich unfreien Bodens, die zu dieſer Zeit bereits
als copyhold allgemein anerkannt iſt, bleibt beſtehen. Damit iſt
die Grundlage der zweiten großen Epoche der engliſchen Agrarver-
faſſung gegeben, deren rechtliche Natur und Geſtaltung die nunmehr
folgende iſt.


Zweite Epoche.
Von 12. Ch. II. c. 24 bis zum 19. Jahrhundert.

Setzt man nun als formellen Schlußpunkt der erſten Epoche das
obenerwähnte Geſetz, ſo iſt die Grundlage der engliſchen Agrarverfaſſung
bis zur neueſten Zeit ſehr leicht zu erklären, nur muß man allerdings
[125] daran feſthalten, daß es ſich zunächſt gar nicht auf die bisher unfreie
Klaſſe, alſo auch nicht auf den copyhold oder die Reſte des villenagium
bezieht, ſondern nur auf die ganze Klaſſe des freien Eigenthums, das
dem Namen nach nach dem feodal system als Eigenthum des Königs
galt. Für dieſe Klaſſe iſt die Anerkennung des freien und vollgültigen
Eigenthums durch jenes Geſetz, nämlich das formelle Ende des
oben dargeſtellten, ſpecifiſch engliſchen
feodal system. Das
Obereigenthum der Krone an jeden Grundbeſitz iſt aufgegeben, und
an ſeine Stelle tritt das individuelle Eigenthumsrecht des rechtmäßigen
Beſitzers. Dieſen Uebergang macht das engliſche Recht durch, ohne
daß der Gedanke einer Entſchädigung jemals aufgetreten, und ander-
ſeits, ohne daß die Beſeitigung öffentlicher Verwaltungs- oder Polizei-
rechte nöthig geweſen wäre, da die Lords eben keine Patrimonialjuris-
diction jemals anders als über die villeins en gros beſeſſen, und auch
dieſe durch das ſtatutariſche Recht der wages und durch die Manu-
miſſionen verloren hatten. Das Ende des feodal system iſt daher
die Herſtellung des Privateigenthums an die Stelle des lehnsrecht-
lichen Eigenthumsſyſtems für die Großgrundbeſitzer. Allein die weitere
Frage iſt nun die, ob jenes Geſetz auch direkte oder indirekte Folgen
gerade für die zweite Klaſſe des Grundbeſitzes, die wir bezeichneten,
gehabt hat, und ob es damit eigentlich dem Proceſſe der Entlaſtung
angehört.


Um dieß zu erklären, müſſen wir auf zwei Ausdrücke hier eingehen,
deren Verſtändniß der ſonſt ſo klare Blackſtone nicht ganz beſitzt. Das
ſind die beiden Bezeichnungen von tenure oder tenementum, und die
von estate.


Der Ausdruck „tenure“ nämlich bedeutet kurz geſagt den Rechts-
titel auf den Grundbeſitz, inſofern derſelbe aus dem feodal system
ſtammt. Tenere bedeutet den Beſitz unter dem oberſten Recht eines
andern halten. Dieß Recht hat nun hier wie immer gewiſſe Modi-
fikationen, die theils aus dem lehnsrechtlichen Erwerb des Beſitzes,
theils aus den lehnsrechtlichen Verpflichtungen, die mit dem Beſitze ver-
bunden ſind, hervorgehen. Jede dieſer Modifikationen heißt nun
eine beſondere Art der „tenure,“ die in vier Hauptarten zerfielen, te-
nure in capite, tenure in soccage, tenure in villenagium privilegia-
tum
und tenure in villenagium — die erſte die der Barone der nor-
manniſchen Eroberer, die zweite die der freien Angelſachſen, die dritte
die der Freien auf unfreiem Boden, die vierte die der Unfreien auf
unfreiem Gut. Von dieſen tenures betrifft nun das Stat. 12. Ch. II. 24.
nur die beiden erſten, und gibt ihnen an der Stelle des Lehns-
eigenthums das bürgerliche Eigenthumsrecht. Für dieſe verſchwindet
[126] daher jetzt der Ausdruck und Begriff der tenure, und an ſeine Stelle
tritt der Begriff und das Wort der „estates,“ Grundbeſitz im bürger-
lichen Eigenthume; ſie ſind gleich, und wenn man von nun an noch
den Ausdruck „freehold“ gebraucht, ſo hat er nur noch die hiſtoriſche
Bedeutung, daß dieſe freeholdfrüher unmittelbares Kroneigenthum
geweſen iſt; das Verhältniß des Grundbeſitzes zum Könige iſt auf-
gehoben. Der copyhold dagegen ſteht zu dem Könige zwar in keinem
direkten Verhältniß; doch aber war der König mittelbar Obereigenthümer
auch für die copyholder. Und die Frage mußte daher jetzt entſtehen,
ob das Rechtsverhältniß des copyholders, das aus der tenure in vil-
lenagium purum
oder privilegiatum hervorgegangen durch das Stat. 12.
Ch.
24 nicht modificirt worden ſei.


Hier nun muß man das formale von dem materiellen Verhältniß
wohl unterſcheiden.


In der That nämlich hatte der Lord bis zum Stat. 12. Ch. II. dieß
Recht auf dieſe Leiſtungen des copyholders doch im Grunde nur vermöge
ſeiner tenure in capite als Vertreter des Königs gehabt. Die Aufhebung
der tenures nun macht ihn dagegen zum privatrechtlichen Eigenthümer der
Leiſtungen des copyholders; oder, das Recht auf dieſe Leiſtungen entſprang
nicht mehr aus der tenure in capite, ſondern aus dem Privateigenthum.
Sie bilden daher auch mit dem Eigenthum am Grund und Boden Ein
Ganzes und der Begriff der estate enthält daher jetzt für den Großgrund-
beſitzer zugleich den Beſitz des Grundes und Bodens, und die Geſammt-
heit der Rechte, welche aus der Rent roll über die copyholders entſprin-
gen, und die an ſich ja durch Aufhebung des feodal system gar nicht ge-
ändert werden. Allein während die tenure des freehold ſomit gegen-
über dem Könige verſchwindet, bleibt ſie der hiſtoriſche Rechtsgrund
für die Verpflichtungen des copyholders; ſie iſt der juriſtiſche Beweis
für den Grundherrn; der title, für ſeinen Beſitz und ſeine Rechte,
die estate, und zugleich der juriſtiſche Beweis für den copyholder
gegenüber dem älteren Lord auf ſeinen zwar zum Theil ſehr ſchwer
belaſteten, aber doch vererblichen und im Verkehr freien Beſitz. Man
kann ihn daher zur Bezeichnung der Agrarverhältniſſe nicht entbehren,
nur iſt er ſelbſt kein Rechtsverhältniß, ſondern nur der hiſtoriſche Grund
des Agrarrechts. Und daher denn erklärt es ſich, daß tenure, estate
und title ſelbſt bei den ſonſt vollkommen klaren Juriſten wie Blackſtone
und Anderen, noch immer durch einander gebracht werden, und daß der
copyholder noch immer als „tenant“ des Herrn erſcheint, was eben
ſo wenig richtig iſt, als ob der Beſitzer eines mit Servituten belaſteten
Grundſtücks als der „Laſſe“ des praedium dominans erſchiene. Zugleich
erhielt ſich juriſtiſch das ganze Syſtem der alten Bezeichnungen der
[127] Leiſtungen; und ſo ſind ſolche Sätze verſtändlich, die ſonſt gar nicht
für die Zeit nach Karl II. zu erklären ſein werden; wie die von Cal-
thorpe
(On Copyholds 53. 54): „Copyholds and customary tenants
differ not so much in nature as in name,“
was offenbar falſch iſt
für das Princip, wenn es auch richtig iſt für das Objekt des Rechts;
„for although some be called copyholders, some customary some,
tenants by the virge, some base tenants, some bond tenants, and
some by one name and some by the other, yet thy do all agree
in substance and kind of tenure“
— nur daß es ſtreng genommen
eben gar keinetenure mehr gibt; oder wie BlackſtoneI. 9: „Al-
most every copyhold tenant“ — tenant
gibt es der Sache nicht mehr
beeing thus tenant of the will of the Lord according to the
custom of the manor“
— eigentlich ein vollkommener Widerſpruch,
da der will of the Lord zwar einmal die Leiſtungen des früheren
tenant beſtimmt hat, jetzt aber, da dieſe Leiſtungen Grundlaſten ge-
worden ſind, ſelbſt eben ſo wenig bedeutet, als der Wille des Ver-
leihers bei einer Servitut, wenn ſie verliehen iſt. Solche Verwirrungen
ließen ſich zu hunderten anführen. So gut ſie auch aus der Geſchichte
ſich erklären, ſo ſind ſie es dennoch, welche die engliſche Agrarverfaſſung
in ihrem ſonſt ſo einfachen Verſtändniß ſchwierig gemacht haben. Hält
man jedoch das Obige feſt, ſo wird namentlich Blackſtones Darſtellung
vollkommen klar, wenn er eintheilt: Ch. IV. of the feodal system,
Ch. V. of the ancient English tenures, Ch. VI. of the modern
English tenures, Ch. VII. of freehold estates.
Die freehold estates
ſind die aus den angeführten hiſtoriſchen Gründen mit keinen Leiſtungen
an den früheren Lord belaſteten soccage tenures; die estates less them
freehold Ch. IX
ſind Grundbeſitzungen, die noch mit den Grundlaſten
der Lehnszeit „grundbücherlich“ würden wir ſagen, belaſtet blieben.
So einfach nun auch dieß Verhältniß formell erſcheinen mag, ſo trat
doch in der Wirklichkeit ein zweites hinzu, das die obige Unbeſtimmtheit
in der Bezeichnung nur noch mehr beförderte, und das in mehr als
einer Beziehung dieſe ganze Epoche beherrſcht. Das war dasjenige,
was auch die Juriſten des vorigen Jahrhunderts, wie Blackſtone, den
„tenant at will“ nennen, und das eigentlich die Schwierigkeit der ſpä-
teren Agrarverfaſſung bildet.


Um dieſes zu erklären, müſſen wir allerdings einen Schritt zurück-
gehen.


Als nämlich die großen Grundherren ſahen, daß die customary
tenants
eben durch ihren dominirenden Beſitz nach dem custom das
Eigenthum an der in tenure gegebenen Hufe genommen, und dieſes Ei-
genthum invariabel ward — was ja eben das Recht des copyholders
[128] ausmacht — da fühlten ſie, daß dieſe tenure ihnen doch im Grunde,
trotz des Beibehaltens der Ausdrücke von „tenant“ und villenagium
die Gewalt über den Hinterſaſſen nahmen. Sie begannen daher viel-
fach, diejenigen Hufen, die noch nicht in copyhold übergegangen waren,
deren Leiſtungen alſo noch nicht durch custom vollkommen beſtimmt er-
ſchienen, entweder gegen eigene Verträge, oder wenigſtens gegen das
Recht zu überlaſſen, daß ſie zwar nicht die Laſten der Hufe vermehren
können gegen die custom, wohl aber nicht gezwungen ſein ſollen, den
Beſitzer dauernd zu belaſſen, oder als Erbpächter ſitzen zu laſſen; ſon-
dern daß es vielmehr von ihrem „Willen“ abhangen ſolle, ob der Pächter
bleibt oder nicht. So war der Beſitzer einer ſolchen Hufe nur durch
den „Willen“ des Lord Beſitzer; er war in der That ein „tenant at
the will of the Lord;“
er war ein Pächter im neuern Sinn, das was
wir den „farmer“ nennen. Damit dann entſtand eine ganz neue Claſſe.
Sie war nicht eine Klaſſe von Eigenthümern, wie die free-
holders
und copyholders,ſondern von Pächtern. Ihre Verpflich-
tungen wurden vertragsmäßig feſtgeſtellt; der Vertrag ſelbſt hieß „lease,“
und ſo entſtehen die „leaseholders,“ vertragsmäßige Pächter auf der
dem Grundherrn gehörigen Hufe, der „estate.“ Die leaseholders
ſind nun wieder je nach dem Rechtsakte, durch den ſie die Pacht gewinnen,
„tenants“ — und hier ſollte man ſagen farmers „for years“ — ge-
wöhnliche Pächter, mit Pachtvertrag, der wieder eine Menge von For-
men haben kann; oder ſie ſind tenants (farmers) „by will,“ frei künd-
bare, jeden Augenblick entlaßbare Pächter — „so that either of them
may determine his will, and quit his connexions with the others
at his own pleasure“
(Blackſtone I. 9) oder ſie ſind „tenants by sut-
france“
wo über die Bedingungen gar nichts ausgemacht wird, und
ohne Vertrag das Pachtverhältniß durch ſtillſchweigende Verlängerung
fortbeſteht. Es iſt kein Zweifel, daß wir in dieſentenants nicht mehr
eine geſellſchaftliche, ſondern eine wirthſchaftliche Klaſſe vor
uns haben, wieder alſo von einer Anwendung des Begriffs der Ent-
währung keine Rede ſein kann. Allein in der Wirklichkeit war jene
Gränze ſehr ſchwer zu ziehen zwiſchen der neuen Klaſſe der farmers und
der alten, der copyholders. Denn formell waren ja auch die copy-
holders
urſprünglich tenants at the will of the lord, nur daß die
Bedingungen, unter denen ſie das Eigenthum erworben, oder eben dieſer
will of the Lord, nicht mehr als Vertrag erſchien, ſondern als eine
Reallaſt. Andrerſeits ſaßen viele von den Hinterſaſſen des manor
vielleicht ſchon von älteſter Zeit ſo auf dem Gute, daß es zu keiner
gewohnheitsrechtlichen Fixirung der servitia gekommen war, und daß
daher weder eine feſte court roll, noch mithin eine copy davon exiſtirte.
[129] In manchen Fällen ſcheuten ſich beide Theile davor, dieſe Leiſtungen
vor Gericht zu bringen, und der Herr ließ dann den alten villein
ſitzen, ohne daß es zu irgend einer feſtern Rechtsbildung zwiſchen
beiden kam, was man die tenants at suffrance nannte. Offenbar
bildete nun die Geſammtheit dieſer Fälle den Uebergang von dem
copyhold zu dem freien Pachtvertrag, und da bei ihnen der Hinter-
ſaſſe ſtets von dem Willen des Grundherrn abhängt, ſo umfaßte man
ſie gleichfalls mit dem Geſammtausdruck „tenants by will,“ ſo daß
der letztere jetzt im Grunde drei Klaſſen bedeutet, den copyhold, dem
Reſt der alten villeins, die nicht zu einer Fixirung ihrer servitia und
daher auch nicht zum Eigenthum gelangt, und deßhalb jeden Augen-
blick, oder doch beim Todesfall entfernbar waren, und endlich den
wirklichen Pächter, den farmer, der auf Grundlage eines Vertrages
auf dem Gute ſaß. Der will war im erſten Fall ſchon gemeinrechtlich
in feſte Laſt umgewandelt, im zweiten war er eigentlich reine Willkür,
im dritten war ein Pachtvertrag, lease. Die Exiſtenz der letzten
beiden Formen war es nun, welche dem Lord noch ſeine Herrſchaft über
ſeine Hinterſaſſen ſicherte; zwar war die Abhängigkeit des feodal system
und die perſönliche Unfreiheit des villein in dieſer zweiten Epoche ver-
ſchwunden, allein die wirthſchaftliche Abhängigkeit blieb. Und
dieſe wirthſchaftliche Abhängigkeit erzeugte ein Verhältniß, das faktiſch
dem der lehnsrechtlichen tenures und tenants ganz gleich war; es war
der des durch den Beſitz beherrſchten Nichtbeſitzes, auf den man daher
den lehnsrechtlichen Begriff des „tenant“ (by will) ohne weiteres neben
dem des „estate“ anwendete. So iſt die Verſchmelzung dieſer Begriffe
und die Unklarheit in den Vorſtellungen entſtanden, die uns neben der
völligen Klarheit über das Lehnsweſen ſo wie über das eigentliche rö-
miſche Recht des Miethvertrages ſchon bei den ältern wie Littleton, und
nicht minder bei Blackſtone überraſcht; ja ſelbſt die neueſten Schriftſteller
ſind durchaus nicht klar geworden, wovon Sugenheim Beiſpiele genug
bietet.


Um ſich nun hier eine definitive Grundlage zu ſchaffen, muß man
feſthalten, daß der eben bezeichnete Zuſtand der tenureoder der estate
by will
eben einen Uebergang von der Lehnsepoche zur ſtaatsbür-
gerlichen bildet, und daß dieſer Uebergang ſeinerſeits in dem allmäh-
ligen Verſchwinden der Reſte der alten tenure by will beſteht, indem
ein förmlicher Pachtvertrag, oder eine copyhold, an die Stelle der
rein auf der Willkür des Herrn beruhenden Stellung des tenant of
will
tritt. Denn namentlich dem Bauern war jeder landwirthſchaftliche
Aufſchwung unmöglich, wenn kein feſtes Verhältniß zwiſchen ihm und
dem Grundherrn eintrat; am Ende hatte aber auch der letztere indirekt
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 9
[130] Schaden genug davon. Der ganze zweite Zeitabſchnitt, von dem wir
hier reden, enthält daher die allmählige Auflöſung dieſes willkürlichen
Verhältniſſes in feſte Pachtverträge, und das Entſtehen der großen
Klaſſe der farmer neben der der Eigenthumsbeſitzer, welcher nunmehr
der Unterſchied in dem Rechtsverhältniß des Grundes und Bodens ent-
ſpricht, der durch die Ausdrücke „freehold estates“ und estates less
than freehold,“
wie bei Blackſtone, nicht glücklich bezeichnet wird, da die
freehold estates die laſtenfreien Grundbeſitze ſind, die durch Stat. 22.
Ch. II.
24 Eigenthum wurden, während die estates less than freehold
ſowohl das belaſtete Eigenthum der copyhold,als das der tenants
by will
im neueren Sinne bedeutet, während er das Recht der Farmer
als estates upon condition kategoriſirt. Man muß ſich von jener
Vorſtellung definitiv los machen, da ſie nur verwirrt. Zum Grunde
liegt allerdings die Vorſtellung, daß der Lord eine gewiſſe moraliſche
Verpflichtung habe, den tenant by will nicht nach Willkür fortzujagen,
und dieß Gefühl iſt es, das bei Blackſtone und den andern in jener
Verwirrung ſeinen Ausdruck findet. Dem Recht nach hat es keine
Bedeutung. Die wirklich vorhandenen rechtlichen Kategorien des Agrar-
rechts dieſer Epoche ſind freehold, copyhold und leasehold, und der
Entwicklungsgang geht dahin, für alles, was nicht freehold und co-
pyhold
iſt, einen feſten Pachtvertrag einzuführen, um vermöge des-
ſelben die Grundſätze der reinen ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft an die
Stelle der alten Geſchlechterordnung zu ſetzen.


Auf dieſe Weiſe ergibt ſich nun, daß das Stat. 12. Ch. II. 24 in ſo
fern einen indirekten Einfluß auf das Agrarrecht der niederen Klaſſe
hatte, als ſich die Vorſtellung von einer lehnsrechtlichen Abhängigkeit
der alten tenants noch erhalten kann ſelbſt bei den copyholders, und
daß ſie faktiſch fortbeſteht in den angedeuteten Reſten der alten tenure
by will
und by suffrance, die wie geſagt erſt allmählig verſchwinden
und dem Syſtem der leaseholds mit dem ganz freien farmer Platz
machen. Daneben nun wird das zweite große Verhältniß der länd-
lichen Unfreiheit, das ſich ganz ſelbſtändig neben dem erſten, oben be-
zeichneten entwickelt hatte, die ſtändiſche Grundabhängigkeit von dem
Stat. 12. Ch. II. 24 gar nicht berührt. Dieſes beſtand in zwei Haupt-
formen; dem franc almoign und dem tithes.


Die tenure in franc almoign, tenementum in libera elemosyna,
(free alms — Almoſen) entſteht nämlich da, wo der Kirche ein
Grundſtück geſchenkt wird. Hier begegnen wir dem Punkte, wo die
ſtändiſche Ordnung die Geſchlechterordnung und ihr Recht auch im
Grundbeſitze geradezu aufhebt, ein Verhältniß, das wir als ein ſpeci-
fiſch engliſches betrachten müſſen, und das nur durch das feodal system
[131] ganz verſtändlich iſt. Die Kirche wird als eine vollkommen ſelbſtändige
Macht, und ihr Dienſt als ein über dem Lehnsdienſt ſtehender an-
geſehen — „this divine service was of a higher and more exalted
nature than fealty.“
(Littleton §. 131 — 135. BlackſtoneI. 6. V.)
Demgemäß konnte jeder der Kirche ein Grundſtück ſchenken, ohne daß
das Recht des Königs dadurch beeinträchtigt erſchien, und mit dieſer
Schenkung hörte die fealty gegen den König auf. Die Klöſter und
Kirchen, aber auch die Weltgeiſtlichkeit (the parochial clergy) beſaßen
meiſtens unter dieſem Titel ihr Land; ſie nun ihrerſeits konnten wieder
dieſes Land den Landwirthen überlaſſen; dadurch entſtand eine eigne
Art der tenure, und das war die tenure in franc almoign — „a tenure
of a nature very distinct from all others, beeing not in the last
feodal, but merely spiritual“
(Blackſtone). Die Hinterſaſſen der franc
almoign
waren nur verpflichtet zu der ſogenannten trinoda necessitas,
Wege zu machen, die Burgen zu bauen und Einfälle abzuwehren.
Eben wegen dieſer ganz exceptionellen Stellung des franc almoign
gegenüber dem feodal system, und wohl auch weil die Kirche den feſten
Halt der Angelſachſen gegenüber den Normannen bildete, ſahen die
normanniſchen Könige das franc almoign ſtets mit ungünſtigen Augen
an, bis Eduard I. das Geſetz erließ, daß nur der König Land unter
dieſer tenure verleihen könne (18. Edw. I. Blackſtone I. 6. fine).
Was jedoch einmal unter derſelben der Kirche gegeben war, blieb; und
wie wir geſehen, hob auch das Stat. 12. Ch. II. 24 die tenure in franc
almoign
nicht auf; ſie blieb daher beſtehen, und erhält ſich auch in
dieſer zweiten Epoche; nur iſt das eine Ausnahme, während das Fol-
gende allgemein iſt.


Dieß nun ſind die Zehnten, die tithes, die vielleicht nirgends in
ihrer Reinheit ſo ſehr erſcheinen, als eben in England. Hier ſind ſie
nämlich weder eine königliche, noch eine lehnsherrliche Abgabe, ſondern
nur eine rein ſtändiſche an die Kirche. Da ſie auf das Recht auf den
Grund und Boden, die tenure, keinen unmittelbaren Einfluß hat, ſo wird
ſie von den Juriſten nicht beachtet. Wohl aber iſt es der Mühe werth, ihren
Charakter hier zu bezeichnen. Wir glauben jede Unterſuchung über Ur-
ſprung und Weſen derſelben hier bei Seite laſſen zu ſollen. Gewiß iſt aber,
daß ſie in dieſer Epoche in ſoweit fortbeſtehn, als jede einzelne Kirche ein
wohlerworbenes Recht darauf nachweiſen kann, und daß ſie ſomit als die
ſtändiſche Form der Grundlaſt neben der Geſchlechtergrundlaſt, die
ſich in copyholds noch erhält (ſ. unten), durch die ganze neue Um-
geſtaltung des Geſchlechterrechts gar nicht berührt wird, während auf
dem Continent die, dieſe ganze Entwicklung charakteriſirende Ver-
ſchmelzung
der Geſchlechter- und ſtändiſchen Herrſchaft ſich auch auf
[132] die Zehnten erſtreckt. Staatszehnten (dîme royale) und herrſchaftliche
Zehnten gibt es in England nicht. Die Zehnten haben ihre eigene
Geſchichte, und erſcheinen ganz unabhängig von den Grundlaſten eigent-
lich erſt da, wo der Proceß der Grundentlaſtung in der folgenden Epoche
beginnt.


Dieſes nun ſind die Elemente des Grundrechts oder der Agrar-
verfaſſung in dieſer zweiten Epoche. Ihr Charakter liegt jetzt wohl
klar vor. Der Grundherr hat den letzten Reſt ſeines Privatrechts an
öffentlichen Funktionen als Inhaber der Gerichtsbarkeit über die beſitz-
loſen villeins verloren; es gibt keine Spur mehr von einer Patrimo-
nialgerichtsbarkeit; die Grundlaſten des copyholders ſind reine grund-
bücherliche Servituten (in faciendo); der leaseholder iſt privatrecht-
licher Pächter; die wenigen tenants in franc almoign haben ein Ver-
hältniß wie die copyholders, und die Zehnten beſtehen als Grundlaſt
fort. Damit iſt die Thatſache feſtgeſtellt, daß der continentale Begriff
der Grundentlaſtung in England überhaupt nicht Platz greifen
kann, indem derſelbe die Verſchmelzung eines öffentlichen Rechts mit
dem Privatbeſitz zum Gegenſtande, und den Uebergang des öffentlichen
Rechts, das in der Patrimonialjurisdiktion lag, an den Staat oder die
Gemeinde zur Folge hatte. Die Entlaſtung in England iſt daher faſt
von Anfang an nur eine Ablöſung, und die folgende dritte Epoche
iſt daher nichts anderes, als der große Proceß der Ablöſung, welcher
die völlige Freiheit des Grundbeſitzes in England definitiv herſtellen ſoll.


Und jetzt können wir zum Schluß dieſer Epoche eine frühere all-
gemeine Bemerkung mit ſpecieller Beziehung auf England wieder auf-
nehmen. Da nämlich vermöge des feodal system von Anfang an eine
Verſchmelzung des öffentlichen Rechts mit dem Privatrecht auf dem
Grundbeſitz überhaupt unmöglich war, und da ſich inzwiſchen der kleine
und mittlere Grundbeſitz zur völligen Selbſtändigkeit entwickelt, ſo
kann auch dasjenige gar nicht entſtehen, was die Grundlage der innern
Verhältniſſe des Continents bildet, die Grundherrlichkeit, und nament-
lich nicht die grundherrliche, das iſt die gutsunterthänige Ge-
meinde
. Die Mitglieder der Gemeinde müſſen daher von Anfang an
ihre innere Verwaltung ſelbſt übernehmen; und das war um ſo na-
türlicher, als die alte angelſächſiſche Gemeinde eigentlich nie ganz
untergegangen war. Da der Grundherr nun weder Eigenthümer war,
noch auch das Gericht hatte, ſo mußte die Gemeinde gleich anfangs
beginnen, die Grundlagen der Selbſtverwaltung bei ſich aus-
zubilden; und damit geſchah das, was die Baſis auch noch der gegen-
wärtigen Geſellſchaftsordnung Englands iſt; der Lord iſt nicht mehr
Herr der Gemeinde, ſondern er iſt nur Großgrundbeſitzer; die
[133] Gemeinde verwaltet ſich ſelbſt, und der Herr kann ſich höchſtens an
die Spitze dieſer Selbſtverwaltung ſtellen, ohne ſie beherrſchen zu dürfen
oder zu können. Daraus folgen die Elemente der innern Entwicklung
Englands. Einerſeits muß der geſammte Adel, will er noch einen
Einfluß auf öffentliche Dinge haben, ihn dadurch gewinnen, daß
er nicht wie auf dem Continent im Namen des eigenen Rechts,
ſondern im Namen des Königs die ſchwierigern Aufgaben der Ver-
waltung freiwillig übernimmt, und ſeine Einnahmen aus den copy-
holds
und leaseholds für ſeine öffentliche Stellung verwendet. Das
thut der Adel in England wirklich; und die ehrende Anerkennung
dieſer Bereitwilligkeit blieb weder von Seiten des Bauernſtandes noch
von Seiten der Krone aus. Der Bauernſtand umfaßte die Geſammt-
heit aller jener Großgrundbeſitzer, wenn ſie nicht durch ſehr großen
Beſitz der nobility angehörten, ſondern mit geringerem Maße von
freeholds ein angemeſſenes Einkommen verbanden, als die gentry des
Landes, die allenthalben ihre freie Arbeitskraft dem öffentlichen Wohle
zuwendete, und die daher der freie Bauer auf dem kleinen Grunde,
ſei es nun daß derſelbe ein freehold, ein copyhold oder ein leasehold
war, als ſein natürliches Haupt anſah. So bildeten ſich hier zwei
neue Klaſſen der Geſellſchaft, deren Unterſchied auf dem Beſitz und
nicht auf Vorrechten beruht, die gentry und die yeoman, tauſendfach im
gegenſeitigen Intereſſe verbunden, und doch vor Recht und Gericht
gleich, die ſelbſtändige Freiheit in der Verſchiedenheit der Geſellſchafts-
ordnung. Ich wüßte gar keine Darſtellung dieſer Verhältniſſe, die ſich
an Klarheit und Einfachheit mit der von Thaer in ſeiner engliſchen
Landwirthſchaft (Bd. II. 2. Th. S. 44 ff.) „Unterſchied der Stände in
England, in Bezug auf landwirthſchaftliche Einrichtungen“ meſſen
könnte, ſelbſt keine engliſche; was Thaer dort ſagt, gibt ein vollkom-
menes Bild der Sache; und eben ſo durchgreifend richtig iſt ſeine Dar-
ſtellung der „Pachtungen“ (ebend. S. 60 ff.) mit der Unterſcheidung der
Pacht at will, at leases (feſter Termin) und at life; Verhältniſſe, die
noch gegenwärtig vollkommen gültig ſind. Hätte Thaer zugleich die
Verhältniſſe der Selbſtverwaltung mit aufgenommen, ſo würde Deutſch-
land ſchon damals eine Quelle für das Verſtändniß über Fragen und
Zuſtände gehabt haben, die Vincke in ſeiner „Darſtellung der neueren
Verwaltung Großbritanniens“ 1815 leider nicht berührte, und deren
übrige muſtergültige Darſtellung bei Thaer nur für die Landwirthe und
nicht für die Staatswiſſenſchaft Deutſchlands von Einfluß wurde.
Denn Englands Ordnung beruhte in der That von da an auf der all-
mähligen Entwicklung ſeiner Selbſtverwaltung in der Gemeinde. Es
iſt klar, daß und warum England keine geſetzlich uniformirte Gemeinde-
[134] ordnung in der Mitte dieſes langſamen, aber ſichern Bildungsproceſſes
ſeiner innern Freiheit haben konnte; der Charakter des Gemeinderechts und
ſeiner Bildung hängt im Gegentheil eng mit dem Grundſatz zuſammen, daß
die Bauern, denen kein Herr etwas rechtlich ſchuldig war, nunmehr auch
ſelbſt ihre eigenen Laſten für jede von der Geſetzgebung der Gemeinde auf-
erlegte Pflicht ſelbſt vertheilen und tragen mußten. Daher denn kommt es,
daß die Gemeinden ſich in England nicht örtlich wie auf dem Continent
auf dem Gebiete des Grundherrn bilden, ſondern vielmehr an den
Aufgaben der inneren Verwaltung
entſtehen. Jedesmal wenn
eine ſolche Aufgabe beſtimmt auftritt und feſte Geſtalt annimmt, bildet
ſich die Gemeinde ſelbſt zu dem, dieſe Aufgaben auf Grundlage eigener
Steuern vollziehenden Selbſtverwaltungskörper, der urſprünglich die
Kirchengemeinde zum Grunde liegt, und an welche ſich dann die Straßen-
und Wege-, die Schul- und namentlich die Armengemeinde anſchließen.
England iſt daher das Vaterland der Verwaltungsgemeinde, wie es
das der Selbſtverwaltung der Landgemeinde iſt; und die Grundlage
dieſer großen Thatſache iſt die Freiheit des Grundbeſitzes. Andrerſeits
aber entwickelt ſich eben deßhalb dieß Gemeindeweſen auch nicht plötz-
lich, ſondern gleichſam ſtückweiſe, nicht durch Geſetze, ſondern durch
ſeine Aufgaben und durch ſeine Steuern, und es wird jetzt klar ſein,
daß es weder einer beſondern Anſtrengung noch der mit dem neun-
zehnten Jahrhundert begonnenen Ablöſungen bedurfte, um die Selbſt-
verwaltung des „alten Englands“ und ſeine bäuerlichen Verhältniſſe
zum Muſter für das übrige Europa zu machen.


Und jetzt wird es leicht ſein, die dritte und letzte Epoche in Eng-
lands Agrarverfaſſung zu charakteriſiren.


Dritte Epoche.
Die Grundentlaſtung. 6. 7. Will. IV. 71. 4. 5. Vict. 35. 9. 10. Vict. 73.

Blickt man nun auf die frühere Darſtellung zurück, ſo ergibt ſich
als Grundlage der Aufgaben unſers Jahrhunderts in England folgendes.


Allerdings gibt es nämlich in England keine Grundherrlichkeit.
Wohl aber bleiben aus der eben dargeſtellten Epoche zwei Formen der
Grundlaſten übrig, die eine der Reſt der Geſchlechterordnung, die an-
dere die der ſtändiſchen Ordnung. Die erſte dieſer Formen iſt die Ge-
ſammtheit aller der Dienſtbarkeiten, welche als mit dem Grund und
Boden verbunden, noch auf dem copyhold ruhen. Dieſelben werden
gebildet durch die Summe der Verpflichtungen, welche die alte custom
oder der ausdrückliche will des Lord of the manor dem alten Ueber-
nehmer des villenagium, gleichviel ob es perſönlich frei oder villein
[135] geweſen, auferlegt, und in der court roll aufgezeichnet oder die der
customary court, als nach dem custom zum common law erhoben, an-
erkannt hatte. Natürlich waren dieſe Verpflichtungen und Leiſtungen
ſehr verſchieden; gemeinſchaftlich aber war ihnen allen, daß ſie mit dem
öffentlichen Recht des Grundherrn gar nichts zu thun hatten. Die
zweite Form waren die tithes, die Zehnten, welche die Bauern als
Glieder der Kirchengemeinde an die Kirche zu entrichten hatten.


Schon im vorigen Jahrhundert beginnt nun eine Bewegung, welche
ſich auch gegen dieſe Reſte der alten Unfreiheit wendet. Dieſe Bewegung
aber, da jene Reſte keine öffentlichen Rechte des Grundherrn enthalten,
iſt keine politiſche. Sie geht vielmehr von der Nationalökonomie
aus und fordert im Namen der Geſetze der Arbeit und des Werthes,
daß beide Arten der Leiſtungen aufgehoben werden. Der Hauptvertreter
dieſer Auffaſſung war Adam Smith, und es war wohl nicht der letzte
Grund ſeines Einfluſſes, daß er ſich an die Spitze jener, dem geſunden
Sinne des volkswirthſchaftlich gebildeten engliſchen Volkes ſo leicht ver-
ſtändlichen Forderung ſtellte. Adam Smith iſt in der That der erſte,
der das ganze Verhältniß des abhängigen Bauernſtandes mit derſelben
einfachen Klarheit in der Nationalökonomie behandelte, mit der Black-
ſtone es für die Jurisprudenz darſtellte. Man ſollte über die Literatur
des vorigen Jahrhunderts in England nie ſprechen, ohne dieſe beiden
hoch bedeutenden Männer neben einander zu ſtellen. Adam Smith
machte darauf aufmerkſam, daß nicht nur die niedere Klaſſe des Volkes
in höchſt ungerechter Weiſe durch die höhere ausgebeutet werde, ſondern
wies auch darauf hin, daß dieß Verhältniß, das ein zum Theil höchſt
drückendes für den Landmann war (metayers und das Urtheil über
dieſelben im Bd. II.), für das ganze Volk verderblich ſei. Er wird dabei
bitter und oft ungerecht — „All for ourselves and nothing for other
people, seems in every age of the world to have been the vile
maxim of the masters of mankind“
— und mit Recht bekämpft Eden
bei aller Hochachtung, die er für Adam Smith hat, dieſe zu weit grei-
fende Verurtheilung. In der That konnte ſich England wohl in jener
Zeit vor allen Ländern Europas zu ſeinen inneren Zuſtänden Glück
wünſchen; aber der Gedanke haftete doch, daß jene Laſten einen tiefen
Widerſpruch mit der ganzen volkswirthſchaftlichen Entwicklung enthielten
(vgl. unter anderm Macculloch II. 269). Und ſo ſehen wir denn
England, zum Theil unter dem gewaltigen Eindruck der franzöſiſchen
Revolution und ihrer gänzlichen Beſeitigung aller Feudalreſte, mit dem
Anfang unſeres Jahrhunderts an die Arbeit der Ablöſung gehen, welche
wie geſagt, das Entlaſtungsweſen in England vertreten.


Blackſtone erzählt, daß ſchon James II. den Gedanken gehabt
[136] habe, die alten Lehnsleiſtungen, aber freilich wohl nur die der tenentes
und subtenentes,nicht die der copyhold, gegen eine Geldleiſtung
abzulöſen, und das Stat. 22. Ch. II. 24 war im Grunde nichts anderes,
als eine ſolche Geldablöſung, da daſſelbe als Ablöſungspreis eine
dauernde Getränkeſteuer an den König ausbedang (BlackſtoneII. V).
Das Ende des vorigen Jahrhunderts zeigt nun in England denſelben
Proceß, der ſtets der geſetzlichen Ablöſung vorangeht, den Verſuch, dieſelbe
durch gegenſeitige freie Vereinbarung zu Stande zu bringen. In der
That hatte der Zehnte ſchon im 18. Jahrhundert ſeine alte Geſtalt als
Naturalzehnte verloren, und war zu einer Geldleiſtung in den meiſten
Theilen von England geworden. Dennoch beſtand er zum Theil fort,
zum Theil wurde die Leiſtung jährlich neu vereinbart, und die Folgen
davon ließen es als unmöglich erſcheinen, dieſen Zuſtand fortdauern zu
laſſen (Thaer, engliſche Landwirthſchaft III. 83 ff.) Ja es traten
zum Theil direkte und gewaltſame Verweigerungen des Zehnten ein,
und daran ſchloßen ſich gerne diejenigen copyholders an, die auch jetzt
noch ſtatt einer mäßigen Geldrente an den Grundherrn wirkliche, wenn
auch ſtreng gemeſſene Frohnden leiſten mußten (Thaer, engliſche Land-
wirthſchaft II. 2. 49. III. 139). Die Bewegungen des Landmannes
fielen zuſammen mit denen der Städter, und die Volksvertretung mußte
ſich nach heftigem Widerſtand bequemen, die ganze Ablöſungsfrage
definitiv in die Hand zu nehmen. Schon 1816 war die Forderung,
namentlich in Beziehung auf die Umwandlung der Zehnten ernſthaft
aufgetreten; 1822 fanden heftige Debatten im Parlamente ſtatt, und
1824 ward die freiwillige Ablösbarkeit des Zehnten beſchloſſen (Pauli,
Geſchichte Englands, Bd. I.; leider nicht mit gehöriger Sachkenntniß und
Ausführlichkeit bearbeitet). Bei den ſcharf entgegenſtehenden Intereſſen
hat dieſes Geſetz nicht viel Erfolg gehabt. Der Kampf der niedern
Klaſſe gegen die höhere, der Arbeit gegen das Capital, hatte allent-
halben die Gemüther zu tief erregt, und ſo geſchah hier, was allent-
halben geſchehen iſt, daß nämlich die Bewegung des Volkes nach einer
Reform des Parlaments, oder nach einer neuen Geſtalt der Verfaſſung,
ſich von den Städten auf das Land verpflanzte, und nunmehr eben
durch die Verbindung des Bauernſtandes mit dem Städter unwiderſteh-
lich ward. Das feſte Capital aſſociirte ſich auch in England mit dem
beweglichen, der Grundbeſitz mit dem Gewerbe, um durch eine neue
Vertretung eine neue Ordnung der Laſten des Grundbeſitzes zu erzielen.
Der Sturm, der 1830 in Paris losbrach, ergriff auch England. Die
Reform trat ein und mit ihr ward wie immer die Erhebung der Ablöſung
aus einem bloß facultativen Recht zu einer geſetzlichen Pflicht. Das
geſchah durch das erſte eigentliche Ablöſungsgeſetz für die Zehnten
[137] 6. 7. Will. IV. 71. 1836. Nachdem auf dieſe Weiſe die Zehnten
der ſtändiſchen Epoche beſeitigt waren, konnte die gleichartige Ablöſung
der, in der alten copyhold noch erhaltenen Grundlaſten nicht auf ſich
warten laſſen. Auch hier beginnt die Geſetzgebung wie bei den Zehnten
mit dem Princip der freiwilligen Vereinbarung durch das Stat. 4. 5.
Vict.
35 (1841). Allein auch hier zeigt ſich das als nutzlos, und zehn
Jahre ſpäter wird dieſe Ablöſung zur geſetzlichen Pflicht gemacht, ſo-
bald einer der Betheiligten ſie fordert. 15. 16. Vict. 51. Dazu kam end-
lich dasjenige Geſetz, welches dem continentalen Begriffe der Ablöſungen
und Gemeintheilungen entſpricht, die Enlcosures Act von 1845, die, wie
es ihre Natur mit ſich bringt, nicht eigentlich eine Entlaſtung iſt, ſondern
eine Herſtellung des Einzeleigenthums der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
an der Stelle des Geſammteigenthums der älteſten Geſchlechterordnung.
Es iſt ſchwer, zu ſagen, wie viel Einfluß auf dieſe Geſetzgebungen die
deutſche Entwicklung des freien Grundrechts gehabt hat, um ſo mehr,
als uns hier eingehende Darſtellungen fehlen. Allein im Großen und
Ganzen iſt dennoch die Sache klar, und läßt eine ſo einfache Darſtel-
lung zu, wie ſie namentlich Gneiſt (I. §. 117.) gegeben, und die auch
Sugenheim (S. 318), ohne weiter auf die Quellen einzugehen, accep-
tirt hat. Doch haben beide Unrecht, die Ablöſung der Zehnten und der
Grundlaſten einfach neben einander zu ſtellen, da auch in dieſer Ablöſung
der tief verſchiedene Charakter der Geſchlechter- und ſtändiſchen Unfrei-
heit wieder zu Tage tritt, während anderſeits beide wieder eben ſo
wichtige Punkte mit einander gemein haben. Die Principien der Ent-
laſtung, die ſich daraus ergeben, ſind nun folgende.


Gemeinſchaftlich iſt nämlich der Entlaſtung der Zehnten und der-
jenigen der Laſten zuerſt der Grundſatz, daß, da das Recht der Be-
rechtigten nur ein Privatrecht iſt, daſſelbe auch in ſeinem ganzen
Umfang entſchädigt werden muß, während bei der deutſchen Entlaſtung
eine der Hauptfragen die nach der Scheidung der für die Gewährung
einer Entſchädigung geeigneten und nicht geeigneten Rechte ſein mußte.
Zweitens beruht auf dieſem rein privatrechtlichen Charakter jener Rechte
der Satz, daß aus demſelben Grunde die Herſtellung der Entſchädigung
ganz dem Einzelnen überlaſſen ward; England kennt für ſeine Entlaſtung
weder Rentenbanken noch Entlaſtungsobligationen, wie Deutſchland.
Dennoch iſt es niemanden zweifelhaft, daß dieſe Entlaſtungen eine
ihrem Weſen nach hochwichtige Angelegenheit ſind und in ihrem letzten
Reſultate zuſammentreffen. Daher hat man für dieſelben eine und die-
ſelbe Behörde eingeſetzt, obgleich das Verfahren wieder ein ſehr ver-
ſchiedenes iſt, und obgleich die eigentlichen Ablöſungen und Auftheilungen
auch hier ſtrenge von den Entlaſtungen geſchieden ſind.


[138]

Dagegen iſt der weſentliche Unterſchied zwiſchen den Zehnten und
den Leiſtungen des copyhold, den ſtändiſchen und den Geſchlechterlaſten,
wieder in der Art der Entſchädigung aufrecht erhalten. Und ſo hat
England zwei Entlaſtungs- (oder Ablöſungs-) Syſteme neben einander.


a) die Zehntablöſung, jetzt wohl ganz beendigt, hat anfangs
nicht zur Aufgabe gehabt, die Zehnten überhaupt zu beſeitigen, da ſie
eben den Charakter einer Gemeindeabgabe für kirchliche Zwecke hatte,
ſondern nur die Naturalzehnten definitiv in feſte Geldabgaben
zu verwandeln. Die Ablöſung ſelbſt ging eben deßhalb auch nicht indi-
viduell vor ſich, ſondern kirchſpielsweiſe, und konnte daher freiwillig
durch die Majorität der Zehntpflichtigen, wie jede andere rate beſchloſſen
werden; nur wenn dieſe Majorität nicht zu Stande kam, trat die
Zwangsablöſung ein, die dann urſprünglich als eine feſte Kirchenab-
gabe auf den Grundſtücken ruhte, bis auch dafür eine definitive Ab-
löſung theils in Land (bis 20 Acres), theils in kleinen Beträgen durch
Geld eingeführt ward (9. 10. Vict. 73). Ebenſo ward die Ablöſung
der Oſter-Ablationen, Mortuarien, Stolgebühren, Fiſch- und Mineral-
zehnten, alſo die ganze Summe der ſtändiſchen Grundlaſten in dieß
Ablöſungsverfahren durch 2. 3. Vict. 62 einbezogen. Für dieß Ver-
fahren ward eine eigene Grundentlaſtungscommiſſion eingeſetzt, die
Tithes Commission, die aus drei vom Miniſterium des Innern und
aus zwei vom Erzbiſchof von Canterbury beſtellten Räthen gebildet iſt.
Die Geſchäfte dieſer Commiſſion ſind ziemlich abgeſchloſſen (GneiſtI.
§. 117).


b) die Entlaſtung, oder die Ablöſung derjenigen Laſten, welche
noch auf den copyholds ruhten, wurde dieſer Commiſſion gleichfalls
aufgetragen. Auch hier wie bei den Zehnten begann man mit der frei-
willigen Ablöſung (ſ. oben 4. 5. Vict. 35); erſt als die Ablöſung zum
Rechte der Betheiligten gemacht ward, ward ſie allgemein. Für dieſe
nun iſt im Gegenſatze zu dem Zehnten der Grundſatz anerkannt, daß
die Leiſtung für die Ablöſung nicht in Geld, ſondern in Land geſchehen
muß; nur die kleinen Antheile bis 4½ Pfd. Sterl. ſind in Geld ab-
lösbar (nach 8. 9. Vict. 56). Die Commiſſion beſtätigt nach vorgängiger
Prüfung und Verhandlung die Ablöſungsreceſſe durch einen Special-
Commiſſarius (Gneiſt a. a. O., Sugenheim S. 318. 319). Ueber
die eigentlichen Ablöſungen und Auftheilungen ſ. unten.


Dieß nun ſind die Epochen und die rechtlichen Grundſätze für die
Geſtalt, welche der Befreiungsproceß aus der Geſchlechterherrſchaft in
England durchgemacht hat, und deſſen letzter Abſchluß auch hier durch
die Auftheilungen gebildet wird. Zwei Dinge, glauben wir, ergeben
ſich aus der obigen Darſtellung. Zuerſt das, daß in England genau
[139]derſelbe Proceß in ſeinen Elementen ſich vollzieht, der auf dem Con-
tinente zu der gegenwärtigen Befreiung des Grundbeſitzes geführt hat.
Dann, daß der Unterſchied dieſes Proceſſes von dem continentalen
darin beſteht, daß die öffentlich rechtlichen Funktionen der Verwaltung
niemals zu einem Privatrecht der Grundherren geworden ſind, und daß
daher die Unfreiheit dort niemals eine ſo allgemeine und harte werden
konnte, als auf dem Continent. Die engliſche Unfreiheit war daher
weſentlich eine wirthſchaftliche, und nur in ſo fern eine geſellſchaftliche,
und ſtaatliche, als die wirthſchaftliche Unfreiheit die letztere erzeugt. Und
das nun ſind die Gründe, aus denen Englands Selfgovernment her-
vorgegangen iſt. Wir aber haben geglaubt, etwas ausführlicher gerade
auf dieſem Gebiete ſein zu dürfen, weil das, was wir die engliſche
Agrarverfaſſung nennen, ſo oft in unklarer Weiſe dargeſtellt wird,
indem man die copyhold noch oft, wie es ſelbſt Gneiſt thut, als
eine customary tenure bezeichnet, was ganz geeignet, die Vorſtellungen
zu verwirren. Freilich haben auch die Engländer ſelbſt das Weſen des
copyhold nicht ganz verſtanden, da allerdings die Laſten der copy-
hold
formell noch immer auf der alten Court roll beruhen, und durch
custom begründet ſind, aber keinen unfreien, ſondern nur einen mit
Reallaſten beſchwerten freien Beſitz begründen. Die übrigen deutſchen
Arbeiten, wie die von Maurer und Zöpfl, haben den Entwicklungsgang
überhaupt, Sugenheim die Agrarverfaſſung nicht berückſichtigt. Es
dürfte deßhalb die obige Darſtellung für die Aufklärung über die inneren
Zuſtände Englands ihren Werth haben.


Was nun Schottland und Irland betrifft, ſo fordern ſie eigent-
lich eine ſelbſtändige hiſtoriſche Bearbeitung, die uns hier zu weit führen
würde. Doch werden die folgenden Bemerkungen wohl das Weſentliche
im Anſchluß an die Darſtellung Englands charakteriſiren. In Schott-
land zunächſt hat das engliſche feodal system niemals Platz gegriffen;
der König war nie der höchſte Eigenthümer des Landes. Daher galt für
Schottland das continentale Princip des Lehnsweſens, nach welchem
der Grundherr zugleich das Privatrecht an den Funktionen der Ver-
waltung hatte — das iſt, die Grundherrlichkeit mit der vollen privaten
und ſtrafrechtlichen Gerichtsbarkeit. Ja es waren ſogar die Zehnten
mit der Reformation nicht etwa aufgehoben, ſondern wie auf dem Con-
tinent an die Grundherrn übergegangen (ſeit 1560). Darin lag der
Hauptgrund des unverſöhnlichen Haſſes der ſchottiſchen Grundherrn
gegen die engliſche Herrſchaft, und das Streben, die ſchottiſche Verwal-
tung von der engliſchen ſo fern als möglich zu erhalten; darin auch der
Grund der Treue an das Haus Stuart, da jene feudalen Vorrechte voraus-
ſichtlich nur durch ein, von den großen Grundherren gänzlich abhängiges
[140] Königthum geſichert erſcheinen konnten. Die ſchottiſchen Herren fühlten
mit voller Beſtimmtheit, daß die Vereinigung mit dem das Princip
der bäuerlichen Freiheit allenthalben verwirklichenden England zu einer
Agrarverfaſſung führen müſſe, welche die ganze ſchottiſche Grundherr-
lichkeit definitiv beſeitigen werde. Der letzte Kampf für dieſe Grund-
herrlichkeit ward in der Schlacht von Culloden gekämpft (1746). Die
Niederlage der Schotten in dieſer Schlacht war nicht bloß die Vernichtung
der Stuarts, ſondern vielmehr die der alten Grundherrlichkeit. Faſt
unmittelbar nachher ward daher auch die Akte von 1748 erlaſſen, welche
die geſammte Grundherrlichkeit in Schottland aufhob, und an die Stelle
der Patrimonialgerichte amtliche Gerichte einſetzte — „the abolition of all
sorts of hereditary jurisdiction, and the appointment of the crown of
stipendiary sherifs and other judicial officers.“
Macculloch, Ac-
counts I.
429. Daher ſagt mit Recht der Verfaſſer eines vortrefflichen
Artikels in Edinb. Review LXIII. (1836): „that abolition of hereditary
jurisdiction has paved the way for the introduction of a regular
system of government.“
Sugenheim a. a. O. S. 322 ff. Fehlt bei
Gneiſt. — In Irland wurden Zehnten und Frohndienſte als Folge der
Eroberung eingeführt und bildeten den Grund der beſtändigen Empörung
des Landvolkes gegen die Herren; in ihnen, und nicht in den kirchlichen
Verhältniſſen lag die ewig neue Quelle des Haſſes gegen England;
und es iſt nur zu bewundern, daß das Sonderintereſſe der großen
Grundherren bis auf die neueſte Zeit jede Beſſerung hat verhindern
können. Den erſten Schritt dazu that die Removeable Leasehold Con-
version Act 1849,
welche die Afterpacht zugleich verbot, und die eben
ſo wichtige Incumberd Estates Act (ebend.), welche den Eigenthums-
erwerb der belaſteten Grundſtücke möglich machte. Von da an ſtehen
Schottland und Irland im Weſentlichen auf demſelben Standpunkt wie
England (ſ. Sugenheim a. a. O. 340 ff.).


Frankreichs Grundentlaſtung.

Wir haben uns bei England länger aufgehalten, weil die agrar-
rechtlichen Verhältniſſe deſſelben weder ſehr bekannt, noch von der Li-
teratur recht klar dargeſtellt worden. Anders iſt es mit Frankreich.


Frankreichs Rechtsgeſchichte iſt in ihren Grundzügen uns nicht un-
bekannt. Wir wiſſen, daß die innere und äußere Verwandtſchaft
zwiſchen ihr und der deutſchen eine große und durchgreifende iſt. Wir
ſehen allenthalben unter andern Namen dieſelben Grundverhältniſſe
wie in Deutſchland auftreten. Die Aehnlichkeit iſt eine weit größere
als die mit der Rechtsgeſchichte Englands, ſo groß, daß man die
[141] deutſche Rechtsgeſchichte zum Theil durch die franzöſiſche verſtehen lernt.
Dieſe Sätze gelten auch für das, was wir als die Grundentlaſtung oben
bezeichnet haben; zum Theil ſogar in noch entſchiedenerer Weiſe als für
die übrigen Rechtsinſtitute. Wir müſſen uns demnach darüber klar ſein,
was eigentlich die Aufgabe einer beſondern Darſtellung des franzö-
ſiſchen Grundentlaſtungsweſens ſein könne.


Wir finden nun dieſe nicht in den einzelnen Principien und An-
wendungen der Grundentlaſtung in Frankreich, ſondern in der Be-
ſtimmung des allgemeinen Charakters derſelben.


Während nämlich die Grundentlaſtung in England ſich langſam
und gleichſam ſelbſtthätig wirkend ſchon ſeit dem dreizehnten Jahrhun-
dert vollzieht, und zwar bis auf die letzten Jahrzehnte ſo gut als
gänzlich ohne alle Mitwirkung der Regierung, tritt ſie in Frankreich
unvermittelt, plötzlich und rückſichtslos in der Revolution auf, bildet
den eigentlich materiellen Kern derſelben, wird ausſchließlich durch die
revolutionäre Staatsgewalt vollzogen, und ſchließt daher auch eben ſo
ſchnell und definitiv ab, wie ſie begonnen. Während ſie in England
hauptſächlich aus dem Intereſſe der Betheiligten hervorgeht, beruht ſie
in Frankreich vielmehr auf dem abſtrakten Princip der zum Siege ge-
langenden Bewegung der bisher unfreien Klaſſe. Während ſie daher
in England kaum recht zur Erſcheinung und zum Bewußtſein der wiſ-
ſenſchaftlichen Welt gelangt, weil ſie unmerklich und vielfach von den
alten Namen und Rechtsverhältniſſen verdeckt und verſteckt, ſich ziemlich
in aller Stille vollzieht, verſchwindet ſie wieder in Frankreich deßhalb,
weil ſie nur als einfache, natürliche, einer beſondern Berechtigung gar
nicht bedürfende Conſequenz der großen, das ganze Leben des Volkes
umfaſſenden geiſtigen und geſellſchaftlichen Bewegung auftritt. Daher
iſt es beiden Ländern gemeinſam, daß ſie ſelber den Begriff der Grund-
entlaſtung theoretiſch gar nicht kennen, obwohl die Sache bei beiden
ſo gut vorhanden war und iſt wie in Deutſchland. Ja es iſt nicht ein-
mal möglich, das deutſche Wort „Entlaſtung“ ins Engliſche oder Fran-
zöſiſche zu überſetzen. Und daher auch die ſomit leicht erklärliche That-
ſache, daß auch die deutſche Grundentlaſtungsliteratur ſich faſt eben ſo
wenig mit Frankreich als mit England beſchäftigt. Das Bewußtſein,
daß gerade auf dieſem Gebiete eine Thatſache von der höchſten Wich-
tigkeit für die Zukunft ſich in ganz Europa zugleich vollzieht, iſt
daher nicht zum Durchbruche gelangt; die Gewißheit, daß die Gleich-
artigkeit des europäiſchen Lebens weit größer und tiefer iſt, als ſeine
Verſchiedenheit, wird nicht gewonnen. Das iſt gerade hier ein wahrer
Mangel, wo doch am Ende der entſcheidende Punkt der ganzen innern
Entwicklung, die Conſolidirung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts-
[142] ordnung, an der Stelle der Geſchlechter und ſtändiſchen Ordnung durch
das neue Recht des freigewordenen Grundbeſitzes liegt. Wie wir daher
verſucht haben, in der Rechtsgeſchichte Englands den Punkt zu finden,
wo die Grundentlaſtung entſteht, und den Weg den ſie geht, ſo müſſen
wir es auch für Frankreich verſuchen.


Indeſſen müſſen und können wir hier kurz ſein. Wir dürfen die
innere Rechtsgeſchichte Frankreichs als eine bekannte vorausſetzen; thäten
wir es nicht, wir müßten gegenüber dem, was auf dieſem Gebiete be-
reits geſchehen iſt, alle Gränzen unſrer Arbeit überſchreiten. Auch wird
hier eben dadurch die kurze Bezeichnung der Grundlagen genügen können.


Frankreichs innere Zuſtände beginnen genau mit denſelben Ele-
menten, welche wir als die Grundlagen der Geſchlechterordnung und
ihrer Unfreiheit bezeichnet haben. Wir finden hier im Anfange des
Mittelalters eben ſo wie in England und Deutſchland den Herrn, den
seigneur, dann den Mittelfreien, den homme, der perſönlich frei, auf
unfreiem Grunde ſitzt, den Hörigen, den villein, der perſönlich unfrei,
auf dem herrſchaftlichen Grunde belaſſen wird, und den perſönlich Un-
freien ohne allen Grundbeſitz, den serf. Auch hier verſchmelzen die
beiden mittlern Klaſſen in eine und dieſelbe. Und theils während dieß
geſchieht, theils nachdem daſſelbe geſchehen iſt, wird die letzte Klaſſe der
serfs in die Stellung der villeins hinaufgehoben, die höchſte Klaſſe
der Mittelfreien zu derſelben ſo weit als möglich hinabgedrückt, ſo daß
wir hier wie im ganzen übrigen Europa zuletzt zwei große Klaſſen
ſehen, die der Herren und die der Eigenen, bei denen zwar das Maß
der Unterthänigkeit, aber nicht das Princip derſelben verſchieden iſt.


Allein dieß Verhältniß bietet nun einen ganz weſentlich verſchie-
denen Punkt von dem Syſteme des engliſchen Rechts dar. Das Land
iſt zwar erobert, aber nicht von dem Könige. Es iſt daher nicht das
Eigenthum des Königs oder der Krone, ſondern das Eigenthum des
Grundherrn ſelbſt. Der König hat am Grund und Boden des letztern
überhaupt nicht wie in England das Obereigenthum, ſondern nur ſo
weit
, als er dieſen Grundbeſitz dem seigneur wirklich zu Lehn aufge-
tragen hat. Der Grundherr hat daher zwei Grundformen des Rechts
für ſeine Beſitzungen. Dieſelben ſind entweder ſein von dem Könige
gar nicht abhängiges Gut, oder ſie ſind verliehenes Gut. Das erſte
nun nennen wir die alleu, das alte allodium, das zweite den fief, das
alte beneficium. Zwar ſteht der seigneur für beides unter dem König
als suzerain, aber für das erſte hat er nur die allgemeine fides zu
beſchwören; er darf dem Könige nicht feindlich ſein und muß ihm im
Kriege beiſtehen; aber ein weiteres Recht hat der König nicht. Nur
für das zweite, den fief, iſt der König Obereigenthümer, und nur für
[143] dieſes hat der seigneur dem Könige beſtimmte Lehnsdienſte zu leiſten.
Alles was mit dem alleu zuſammenhängt, iſt daher voll-
kommenes Privateigenthum
des seigneur. Mithin auch das ganze
Recht deſſelben über alle Hinterſaſſen auf dem alleu. Ueber dieſe hat der
König gar kein Recht. Mithin hat er auch kein Recht, ſich hineinzu-
mengen in Beziehung auf alles, was der seigneur mit dem Hinterſaſſen
ſeines alleu macht. Das Gericht und die Polizei über dieſe Hinter-
ſaſſen
ſind daher wie das Grundſtück und die Perſon ſelbſt Privat-
eigenthum des Herrn. So entſteht der Begriff und der Inhalt der
Grundherrlichkeit, der eben, wie geſagt, den ganzen Continent ſo we-
ſentlich verſchieden von England erſcheinen läßt. Eine jede europäiſche
Rechtsgeſchichte muß von dieſer erſten und entſcheidenden Thatſache aus-
gehen. Das iſt der Begriff des continentalen Lehnsweſens im Gegen-
ſatz zu dem engliſchen feodal system. Aber erſt an ſeinen Conſe-
quenzen wird der Unterſchied ſelber ganz klar.


Offenbar nun enthält jenes franzöſiſch-germaniſche Lehnsſyſtem Eine
unentſchiedene Frage. Es iſt die nach dem Verhältniß, in welchem der
seigneur nun zu dem Hinterſaſſen auf dem Grund und Boden des
feudum, neben dem alleu, ſteht. Hat er auch über ſie dieſelbe
Gewalt, hat er daſſelbe Recht, hat er daſſelbe Eigenthum wie über die
hommes und villeins ſeines alleu? Und hat er ſie nicht, wer hat ſie?
Und hat ſie dem Principe nach der König, der ja der verleihende
Eigenthümer iſt, wie wird derſelbe ſie ausüben? Das ſind die Fragen,
deren Beantwortung die Baſis der inneren Geſchichte Frankreichs bil-
den wird.


Wir haben in unſrer franzöſiſchen Rechtsgeſchichte (Stein, franz.
Rechtsgeſchichte als III. Thl. der franz. Rechtsgeſchichte von Warnkönig und
Stein) den Verſuch gemacht, den Entwicklungsgang aller dieſer Fragen
zu beantworten. Das Hauptergebniß dieſer Unterſuchung iſt folgendes.


Das Königthum Frankreichs hat vollkommen das Bewußtſein dieſer
Verhältniſſe, Rechte und Aufgaben, die ihm aus jenem Doppelrecht
erwachſen. Es iſt klar, daß das letztere in jenem einfachen Ueberein-
anderſtehen beider Rechtsſyſteme nicht fortdauern kann; ſchon darum
nicht, weil es unthunlich iſt, die äußere Gränze beider Syſteme im
Einzelnen, das iſt in Abgaben, Rechtspflege und Verwaltung feſtzu-
halten und durchzuführen. Das Königthum, ſeine Abhängigkeit von
den Grundherren durch jene Rechte derſelben fühlend, beginnt daher
ſchon im zwölften Jahrhundert den Kampf mit denſelben. Es entfaltet
ſeine Kräfte, breitet ſich mit ſeinen Organen, den baillis und sene-
chaux
über ganz Frankreich aus, greift auf allen Punkten in das
Recht der seigneurs hinein, ſtellt auf allen Punkten ſtädtiſche und
[144] gewerbliche Freibriefe aus, tritt auf allen Punkten mit ſeiner Gerichts-
barkeit neben die der seigneurs, und wird aus einem rechtlichen Princip
zu einem großen, mächtigen, verwaltenden Organismus. Wir haben
a. a. O. dieſen Proceß den Entwicklungsgang, den Kampf und Sieg
des organiſchen Königthums genannt. Wir dürfen für das Einzelne
auf unſere eingehende Arbeit verweiſen. Im Beginn des vierzehnten
Jahrhunderts iſt dieſer Proceß faſt vollendet. Das Königthum hat die
Verwaltung des Reiches faſt gewonnen, und das alleu iſt faſt ſchon
wie die tenure in capite in England, dem fief in Beziehung auf
öffentliche Rechte gleichgeſtellt, und nur noch ein privatrechtliches Ver-
hältniß der Grundherren geworden.


Allein die letztern haben die Gefahr, die von dieſer Seite kam,
wohl gefühlt. Sie warten nur auf einen gelegenen Augenblick, um
die alte Stellung wieder zu gewinnen, und zugleich wo möglich alle
Rechte über die Hinterſaſſen ohne Unterſchied das alleu und fief gleich
zu machen. Dieſe Gelegenheit kam mit Ludwig X., genannt Hutin,
der dem großartigen Auftreten Philipps des Schönen folgte. In ſeiner
einjährigen, hülfloſen Regierung (1315) tritt der geſammte Adel Frank-
reichs gegen das junge Königthum auf, und erzwingt von demſelben
eine Menge von Zugeſtändniſſen, welche wir im Großen und Ganzen
als die Herſtellung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit bezeichnen können.
Dieſe Errungenſchaft blieb dem Adel, trotz der energiſchen Thätigkeit
Philipps des Langen, der zwar das ſo beſchränkte Königthum neu or-
ganiſiren, aber ihm ſeine alte Stellung nicht wiedergeben konnte. Von
da bildet ſich der Charakter der innern Zuſtände Frankreichs immer
beſtimmter als der einfache Gegenſatz zwiſchen Königthum und Grund-
herrſchaft aus, während die Lage der niedern Klaſſe faſt ganz aus dem
Geſichtskreiſe des erſtern verſchwindet. Seit Ludwig XI. iſt nun der
Sieg und die Herrſchaft des centralen Königthums über die Grund-
herren entſchieden, aber die niedere Klaſſe iſt dafür den letztern faſt
ganz überantwortet; an ſie denkt die Geſetzgebung faſt gar nicht mehr.
Nur auf Einem Punkte hat ſie Hochbedeutendes gewirkt, und hier be-
gegnen wir einer, dem deutſchen Leben verwandten, wenn auch daſſelbe
weit überragenden Erſcheinung. Dieß iſt die Aufzeichnung der cou-
tumes,
die vor allen Dingen zur Aufgabe hatten, ſo weit möglich die
allmählig herausgebildete Gränze der Rechte der seigneurs gegenüber
den verſchiedenen Klaſſen der Hinterſaſſen feſtzuſtellen, und ſomit ein
feſtes Recht an die Stelle der Willkür zu ſetzen. Allein eine Hülfe
brauchte das nicht, weil die Gerichtsbarkeit über die Anwen-
dung der
coutumes in den Händen deſſelben seigneurs blieb, der
ein beſtändiges Intereſſe daran hatte, ſie in jedem einzelnen Falle zu
[145] überſchreiten. Ihre geſetzliche Aufzeichnung war in England überflüſſig,
und fand nur als Privataufzeichnung im gutsherrlichen Grundbuch,
der Court roll ſtatt, weil das königliche Gericht über vorkommenden
Streit zwiſchen Herrn und villein entſchied; die geſetzliche Aufzeichnung
in Frankreich nützte dagegen wenig, weil hier der Inhaber der Berech-
tigung zugleich Gerichtsherr über die Rechtsfragen derſelben war. Der
Sieg des Königthums gab daher Frankreich unter Richelieu, Mazarin
und Louis XIV. einen nie geahnten Glanz nach außen; allein die
Unfreiheit des Landvolkes machte es unfähig, die Laſten dieſes Glanzes
zu tragen. Für die gänzliche Unterwerfung unter den Hof des Königs
gab das Königthum dem Adel ſeine Unfreien preis; die allgemeine
Verarmung, das glänzendſte Elend in Europa war die Folge davon.
Das war der Zuſtand im achtzehnten Jahrhundert.


Unter dieſen Verhältniſſen würde es nun hier zu weit führen, auf
die einzelnen Rechte der Herren und der Eigenen einzugehen, und ſpe-
ciell die Reſte der alten serfs (ſ. Repert. de Jurisprudence von Guyot
v. serfs Bd. II.) den taillables de haut en bas, die Rechte der corvées
(ſ. die vortreffliche Darſtellung des alten coutümieren Rechts: Institutes
coutumières d’Antoine Loysel, avec les notes d’Eusèbe de
Lauriére,
neu herausgegeben von Dupin und Laboulaye 1846.
2 Bde. 8.) und die justice seigneuriale genauer zu bezeichnen. Das
Geſammtreſultat aber, das für die Folge entſcheidend ward, war das,
daß in Beziehung auf die grundherrlichen Rechte jeder Unterſchied zwi-
ſchen allod und fief verſchwindet, und daß der seigneur die ganze
grundherrliche Verwaltung als ſein Eigenthum anſieht. Oeffentliches
und bürgerliches Eigenthumsrecht ſind jetzt verſchmolzen; der Begriff
und das Recht der Grundherrlichkeit ſind zur vollen Herrſchaft gelangt,
und die Geſchlechterordnung iſt mit der ſtändiſchen in Frankreich zu
Einem Ganzen verſchmolzen.


Gegen dieſen Zuſtand beginnt nun eine Bewegung, die wir als
die Vorläuferin der Revolution, und zwar ſpeciell in Beziehung auf
die Grundentlaſtung, anſehen müſſen. Dieſelbe hat zwei Stadien; beide
ſind hinlänglich bekannt. Das erſte ward durch die Ueberzeugung ver-
treten, daß die Macht und der Reichthum des Königs unter dieſer Un-
freiheit des Landmannes wirthſchaftlich zu Grunde gehen. Der
Vertreter dieſer Richtung iſt vor allem Vauban in ſeiner Dixme Royale,
der erſte Mann, der die Gefahr, die in jenen Zuſtänden lag, offen
und mit jenem hohen bürgerlichen Muthe zu bezeichnen wagte, der die
Franzoſen ſo oft vor den Deutſchen auszeichnet; neben ihm muß man
Boisguillebert mit ſeinen Factum de la France nennen. Sie ſind die
Vorgänger des phyſiokratiſchen Syſtems, der in dem Quesnay’ſchen Satz
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 10
[146] gipfelt: pauvre paysan, pauvre royaume; pauvre royaume, pauvre
Roi.
Allein es iſt merkwürdig — im Grunde freilich ganz natürlich
— wie alle dieſe Männer das Bewußtſein durchdringt, daß alle ihre
Wahrheiten wie ihre Vorſchläge nutzlos ſind, eine Ueberzeugung, die
ſelbſt Turgot nicht bewältigen kann. Sie ſind im höchſten Grade der
Beachtung werth, weil ſie zeigen, wie da, wo es ſich um eine Umge-
ſtaltung der Geſellſchaftsordnung handelt, auch die großartigſte Syſtemi-
ſirung von Maßregeln gegenüber der kommenden Auflöſung hoffnungs-
los bleibt, und dieß Gefühl der Machtloſigkeit ſelbſt in ihren ſchönſten
Momenten an der Stirn tragen. Daher darf es uns nicht wundern,
daß neben jenen mehr oder weniger praktiſchen Gedanken das Bewußt-
ſein von einer unvermeidlichen Gefahr, von einer unmeßbaren Umge-
ſtaltung der ganzen Geſtalt des öffentlichen Rechtszuſtandes durchdrang.
In der That finden wir ſtatt der erſten Verſuche in Deutſchland,
theils durch die Wiſſenſchaft, theils durch die Geſetzgebung, eine frei-
willige Ablöſung der unerſchwinglichen Laſten des Bauernſtandes und
eine Befreiung des letzteren anzubahnen, in Frankreich vielmehr in
den beiden Jahrzehnten vor der Revolution trübe, mahnende Vor-
ahnungen der kommenden Umwälzung bei den bedeutendſten Männern,
und es iſt kein Zweifel, daß es gerade die phyſiokratiſche Schule war,
die dieſen Gefühlen ihre concrete, volkswirthſchaftliche Baſis gab. So
ſagt ſchon Quesnay ſelbſt in ſeinen Maximes générales du Gouverne-
ment économique d’un Royaume agricole: „[Qu’on] ne diminue pas
l’aisance des dernières classes des citoyens
(er meint die unterſten
Klaſſen der Landleute), car elles ne pourraient pas assez contribuer
à la consommation des denrées qui ne peuvent être consommées,

und bedeutſamer unter andern Mercier de la Rivière(Ordre naturel
et essentiel etc. T. I. p. 199. 280. 281. Ed. Doré): „Modérez votre
enthousiasme, aveugles admirateurs des faux produits de l’industrie.
Avant de crier miracle, ouvrez les yeux et voyez combien sont
pauvres, du moins malaisés, les mêmes ouvriers qui ont l’art de
changer vingt sous en une valeur de mille écus. Au profit de
qui passe donc cette multiplication énorme de valeurs? Quoi, ceux
par les mains desquels elle s’opère, ne connaissent pas l’aisance?
Ah, defiez-vous de ce contraste!
So bereitet ſich allmählig das zweite
Stadium der obenbezeichneten Bewegung vor, das Stadium der rein
negativen, an einer Beſſerung der Dinge verzweifelnden Revolution,
Wir haben, ſeit unſer Blick von den rein äußerlichen Thatſachen auf
die innere Bewegung der ſocialen Elemente gerichtet worden iſt, uns
gewöhnt, jene geiſtigen Erſcheinungen zu beachten und ihre hohe Wich-
tigkeit zu verſtehen. Kein Werk über jene merkwürdige Epoche glaubt
[147] in unſrer Zeit mit Recht ein vollſtändiges zu ſein, wenn es nicht die
Bewegung der geſellſchaftlichen Gegenſätze verſteht. Es iſt daher hier
nicht nöthig, weiter darauf einzugehen; auch hat namentlich Sugen-
heim
a. a. O. mit richtigem Verſtändniß viele Quellen geſammelt.
Die Revolution war das Ende dieſer Hoffnungsloſigkeit. Wir ſind
darüber einig, daß ſie, wie jede tiefgreifende Umwälzung, eine ſociale
geweſen. Klar iſt es aber, daß ſie ohne alle Bedeutung hätte bleiben
müſſen, wenn ſie nicht, und zwar vor allen Dingen, eine Umwälzung
der landwirthſchaftlichen Unfreiheit geworden wäre.


Daß ſie es war, iſt bekannt. Und das nun iſt es auch, was zu-
gleich der franzöſiſchen Geſchichte der Entlaſtung ihren faktiſchen und
rechtlichen Charakter aufgeprägt hat, denn die franzöſiſche Grund-
entlaſtung iſt darnach eine revolutionäre
geweſen.


Wenn wir daher von dem Grundentlaſtungsweſen in der europäi-
ſchen Geſchichte reden, als einem langſamen organiſchen Proceß, der die
Forderungen der Freiheit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft mit denen
des Rechts in allen Geſellſchaftsordnungen vereint, ſo iſt es klar, daß
wir von einem ſolchen Entlaſtungsweſen in Frankreich gar nicht reden
können. Die Entlaſtung iſt hier reine Gewalt; ſie hat überhaupt kein
Recht gehabt; und wir würden ſie daher einfach übergehen, wenn nicht
auch jene Entlaſtungsfrage in der franzöſiſchen Revolution Elemente
und Gedanken angeregt hätte, welche ſich die Grundentlaſtung in Deutſch-
land — ob mit oder ohne Bewußtſein, iſt ſchwer zu ſagen — angeeignet hat.


Man muß nämlich in der Entlaſtungsgeſchichte der Revolution
zwei Stadien unterſcheiden, die freilich mehr im Princip als in der
Wirklichkeit beſtanden haben. Doch iſt es von großem Werth für das
ganze Entlaſtungsweſen, beide wohl von einander zu ſcheiden.


Das erſte iſt der große Akt des 4. Auguſt 1789, dieſer „Bartho-
lomäus-Nacht des Eigenthums und der Mißbräuche,“ wie Wachsmuth
(Geſchichte Frankreichs im Revolutionszeitalter I. S. 168) ſie nur halb
mit Recht nennt. Der 4. Auguſt war nämlich in der That nur die
unvermittelte und aus dem Gefühl hervorgehende, aber ganz den Ver-
hältniſſen entſprechende erſte Grundentlaſtungsgeſetzgebung Eu-
ropas. Sie hob an und für ſich gar kein Eigenthum auf, ſondern ſie
enthielt nur das, was die deutſche Grundentlaſtung ein halbes Jahr-
hundert ſpäter durch Wiſſenſchaft und Geſetzgebung vollzog, und hätte
Frankreichs Volk es verſtanden, nicht bloß frei ſondern auch gerecht zu
ſein, ſo wäre es frei geblieben. Der Beſchluß vom 4. Auguſt enthielt
nämlich nicht etwa eine revolutionäre Aufhebung aller gutsherrlichen
Rechte, ſondern ſtellte die Unterſcheidung auf, die Deutſchland ſpäter
als die allein richtige wirklich durchgeführt hat. Wir glauben den
[148] betreffenden Paſſus hier wiedergeben zu ſollen, weil — mit oder ohne
Bewußtſein — die deutſchen Grundentlaſtungen zum Theil die wört-
lichen
Wiederholungen deſſelben ſind; ſo gewaltig hat die Natur der
Sache gewirkt. Das erſte Decret des 4. Auguſt ſagt im Art. 1:
„L’assemblée nationale détruit entièrement le régime féodal, et de-
créte que, dans les droits et devoirs tout féodaux que censuels,
ceux qui tiennent à la main morte réelle ou personelle, et à la
servitude personelle sont abolis sans indemnité, et tous autres de-
clarés rachétables.“
Das war der entſcheidende, faſt allein welthiſto-
riſch wirkſame Grundſatz der Revolution: es war der definitive Bruch
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft mit der Stände- und Geſchlechterord-
nung. Der leitende Gedanke aber, und das unterſcheidende Moment
derſelben von der reinen Revolution iſt die Aufnahme des Princips
der Entſchädigung für alles, was nicht dem öffentlichen Recht an-
gehört. So wird hier dieſer Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
zuerſt zu einer Anwendung des Grundbegriffes der Entwährung.
Ihr erſtes und allgemeines Princip war daher allerdings die Aufhebung
aller grund- und gutsherrlichen Rechte, Befugniſſe und Laſten. Allein
ſie theilte dieſe Laſten in die zwei Theile, die durch das Weſen der-
ſelben gefordert werden. Sie ſchied nämlich diejenigen Laſten, welche
aus dem Lehnsrechte entſtanden, von denen, deren nachweisbare Quelle
ein privatrechtliches Vertragsverhältniß war. Sie fühlte vollkommen
klar, daß die erſteren eigentlich allein eine einfache Aufhebung zuließen,
da ſie in der That den Widerſpruch der Grundherrlichkeit enthielten,
wornach öffentliche Rechte und Funktionen des Staats ein Privateigen-
thum waren. Die Aufhebung derſelben war ihrem Weſen nach nur
ein Zurücknehmen dieſer Rechte von Seiten des Staats, eine neue Or-
ganiſirung der Verwaltung deſſelben in Wirthſchaft, Rechtspflege und
Innerem. Alle diejenigen Laſten dagegen, deren Grund eine privat-
rechtliche Verpflichtung war, wurden nicht ohne weiteres aufgehoben,
ſondern ſollten vielmehr abgelöst werden; das iſt, es ſollte für ſie
eine Entſchädigung, und zwar mit Eins zu Dreißig gegeben, und
dieſe Entſchädigung von Provinz zu Provinz eigends geregelt werden.


Zwei Gründe haben es nun bewirkt, daß dieſes Geſetz nur halb,
oder vielmehr ſeinem Geiſte nach gar nicht zur Anwendung kam. Der
erſte lag in dem Geiſte der ſocialen Bewegung ſelbſt, die ihrerſeits von
abſoluter Negation gegen jedes Recht, das die Grundlage der Ungleich-
heit werden konnte, trunken, der herrſchenden Klaſſe den Verluſt an
Vorrechten nicht mit dem Gewinn an Capital erſetzen wollte. Es iſt
dieſe Seite der Bewegung hinreichend gründlich dargeſtellt. Der zweite
Grund dagegen war materieller Natur und verdient ſeine Beachtung,
[149] weil er die Bedeutung eines zweiten Moments in der deutſchen Grund-
entlaſtung in ihr rechtes Licht ſtellt. Nach dem Beſchluß vom 4. Auguſt
1789 ſollte ein großer Theil der Grundlaſten abgelöst werden. Die
erſte Bedingung daher wäre nun die Organiſirung entweder eines Ab-
löſungscapitals, oder eines Ablöſungscredits geweſen; denn es war
phyſiſch unmöglich, damals wie jetzt, das Ablöſungscapital wirklich ſo-
fort von dem Einzelnen herbeizuſchaffen. Das aber hätte wieder vor
allem eine ſtarke und wohlgeordnete Verwaltung gefordert; und die war
es, welche die Revolution eben gebrochen hatte. Allerdings ſetzte die
Assemblée nationale eine ſolche und ihre regelmäßige Thätigkeit voraus,
und das Decret vom 15. März 1790, dem eine ganze Reihe anderer
folgten, welche wiederum die erſte Geſetzgebung über die Durchführung
der Grundentlaſtung enthalten, und deren Hauptmomente in dem Ge-
ſetz vom 25. Auguſt 1792 und 17. Juli 1793 ausgeführt wurden;
allein alle dieſe und viele andere einzelne Beſtimmungen kamen nie
zur Geltung (vergl. Laſſalle, Theorie der erworbenen Rechte I.
S. 232. 233), weil dem Principe des Staats die Organiſation und
die Vollziehung in einer ſelbſtändigen Verwaltung fehlten. Die Ver-
nichtung der inneren Verwaltung aber entſtand zum großen Theil da-
raus, daß die Grundherren, bisher die Inhaber derſelben, Frankreich
verließen; die Emigration gab die Entſchädigung daher in die Hände
derer, welche ihre entſchiedenen Gegner waren, und dieſe wußten nur
zu gut, daß die Ablöſungscapitalien nur den, im Lager Preußens und
Oeſterreichs mit den Waffen in der Hand gegen Frankreich marſchiren-
den Emigranten übergeben worden wären. Man braucht ſich nicht zu
fragen, ob das auch unter andern Umſtänden möglich geweſen wäre.
Das Princip der Entſchädigung war daher zwar an ſich ausgeſprochen,
aber die Ausführung derſelben ward durch die Emigration eine Unmög-
lichkeit. Es war daher natürlich, daß man ſie verbot; die Beſchlüſſe
vom 25. Auguſt 1792 und vom 17. Juli 1793 über die geſetzlichen
Entſchädigungen und ihre Auszahlungen machten daher das Princip der
Entſchädigung faktiſch unwirkſam, und dieſe Aufhebung war in der
That mehr eine Kriegserklärung gegen die Emigranten, als eine Auf-
hebung des Eigenthums. Dadurch kam die zweite große Frage der
Grundentlaſtung, die Organiſirung des Entſchädigungscapitals und der
Entſchädigungszahlung, in Frankreich gar nicht zur Frage; und jetzt
erſt
trat die Entlaſtung als eine wirkliche Beraubung des Eigenthums
der höheren Klaſſen durch die niedere, und damit als jene ernſte Er-
ſchütterung des Eigenthumsbegriffes auf, deren Folgen Frankreich und
Europa bis auf den heutigen Tag empfinden, und noch lange empfinden
werden. Es iſt nutzlos, hier zu fragen, ob die niedere oder höhere
[150] Klaſſe daran die größere Schuld trugen; gewiß iſt nur die für uns
genügende Thatſache, daß erſt damit die eigentliche „Entlaſtung“ in
Frankreich ihren Charakter verliert, und daß Deutſchland daher die ganze
Frage gleichſam aufs Neue beginnen mußte.


Auf dieſe Weiſe iſt Frankreich zwar das Vaterland des Princips
der geſellſchaftlichen Entwährung, aber die wirkliche Entlaſtung, die ohne
eine organiſirte Entſchädigung keine Entwährung, ſondern eine geſell-
ſchaftliche Revolution iſt, iſt in Frankreich nie zur Geltung gelangt.
Das war zuletzt der eigentliche und durchgreifende revolutionäre Akt
dieſer Zeit; und nur dieſer Akt hat ſich dauernd erhalten. Denn die
franzöſiſche Revolution war eine ſociale, und hatte im Grunde ihre
Miſſion mit der Rechtsgleichheit und der auf ihr beruhenden neuen
Ordnung des Eigenthums erfüllt, wie es das Weſen jeder ſocialen
Revolution iſt. Die große Aufgabe Deutſchlands war es nun, in der-
ſelben
Umgeſtaltung ſeiner geſellſchaftlichen Ordnung ſtatt der Um-
wälzung Weſen und Begriff der Entwährung feſtzuhalten und durch-
zuführen.


Deutſchlands Grundentlaſtung.

I. Allgemeiner Charakter.

Eine andere, im höchſten Grade beachtenswerthe Erſcheinung bietet
nun Deutſchlands Grundentlaſtung neben derjenigen von England und
Frankreich. Die eigenthümliche Natur Deutſchlands, die auch hier wieder
zur vollen Geltung gelangt, ſeine Zerſtreuung in eine Menge ſelb-
ſtändiger und ſelbſtthätiger Theile, die Beſonderheit der geſellſchaftlichen
und wirthſchaftlichen Zuſtände deſſelben und die Verſchiedenheit der
Elemente, welche in jedem Theile deſſelben wirken, haben es auch auf
dieſem Gebiete mit ſich gebracht, daß die Entlaſtung zunächſt eine große,
faſt unerſchöpfliche Maſſe von Verſchiedenheiten darbietet. Es iſt kein
Zweifel, daß jeder dieſer Theile ſeine eigene Geſchichte und ſein eige-
nes Recht der Grundentlaſtung hat. Und man muß daher, ehe man
überhaupt auf den Gegenſtand eingeht, über den Standpunkt einig
ſein, den man dieſem Reichthum von Einzelerſcheinungen gegenüber
einnehmen will.


Die Bewältigung dieſes höchſt umfangreichen Einzelmaterials be-
ruht nämlich auch hier auf dem, was wir die Individualiſirung des
Staatslebens überhaupt, der Verwaltung insbeſondere, nach dem Geiſte
und der inneren Arbeit der großen Culturvölker genannt haben. Und
in dieſer Beziehung erſcheint auch die Grundentlaſtung Deutſchlands
[151] als eine innere und äußere Einheit, die durch jene Verſchiedenheit ſeiner
Theile nicht geändert, ſondern nur erfüllt und reicher gemacht wird.


Während nämlich Englands Grundentlaſtung eigentlich gleichzeitig
mit der Grundherrlichkeit der Eroberer beginnt, und ohne Hülfe der
Staatsgewalt bis zur neueſten Zeit beſtändig fortſchreitet, und Frank-
reichs Entlaſtung durch eine plötzliche gewaltſame Umwälzung mit einem
Schlage hergeſtellt wird, iſt Deutſchlands Entlaſtung eine, im Grunde
erſt mit dem 17. Jahrhundert entſtehende Arbeit, in welche ſich in
merkwürdiger Weiſe die Wiſſenſchaft und die Verwaltung theilen, und
die daher wie kein anderes Land mit klarem, ja mit ſyſtematiſchem
Bewußtſein aller Betheiligten vorgenommen wird. Und wenn man
daher das ganze Entlaſtungsweſen als eines der weſentlichſten Gebiete
der Geſchichte der Geſellſchaft, als den organiſchen Proceß des Ueber-
ganges von der unfreien Geſchlechterordnung zum Staatsbürgerthum
innerhalb der Elemente des Grundbeſitzes anerkennt, ſo iſt die deutſche
Grundentlaſtung eine der merkwürdigſten Erſcheinungen in dieſem Theile
der Geſchichte der europäiſchen Geſellſchaft, und namentlich diejenigen,
ohne welche man ſie nie ganz verſteht, das iſt das Verhältniß des
Königthums zur Entwicklung des Staatsbürgerthums. Von
dieſem Standpunkte aus werden wir das Grundentlaſtungsweſen Deutſch-
lands als ein Ganzes darlegen, und damit die Entwicklung und Be-
deutung der Entlaſtung in jedem einzelnen Lande ſpeciellen Arbeiten
überlaſſen können, nur ſo weit dieſelben herbeiziehend, als es noth-
wendig iſt, um für das Ganze durch das Einzelne ſeinen Beweis zu liefern.


Die Grundlage dieſer Arbeit muß nun der Zuſtand des bäuerlichen
Beſitzes, das iſt der unfrei gewordenen Geſchlechterordnung ſein, wie
derſelbe im 17. Jahrhundert aus all den Elementen hervorgeht, welche
ſeit der Völkerwanderung auf dieſelbe eingewirkt haben.


Auch hier finden wir nun große, in ganz Deutſchland herrſchende
Grundverhältniſſe, über die man mit ſich einig ſein muß, will man anders
das Weſentliche, um deſſentwillen am Ende doch die Geſchichte allein
bearbeitet wird, den großen Proceß des Fortſchrittes zur freieren Ge-
ſtaltung der Geſellſchaft, klar erkennen. Wir wiſſen nun recht wohl,
daß dieß gerade durch dasjenige höchſt ſchwierig geworden iſt, was das-
ſelbe eigentlich hätte am meiſten fördern ſollen. Das iſt die äußerſt
genaue, ja bewunderungswürdige Detailkenntniß aller einzelnen Zu-
ſtände jener Unfreiheit, die wir der ohne Rivalen daſtehenden deutſchen
Gelehrſamkeit verdanken. Man kann dieſelbe nicht hoch genug ſchätzen;
aber man darf ſich nicht darüber täuſchen, daß in ihr das Ganze in
dem Einzelnen verloren gegangen iſt. Sie hat jenen Geſammtzuſtand in
eine ſolche Menge einzelner Namen, Bezeichnungen, Rechtsverhältniſſe
[152] und Oertlichkeiten aufgefaßt, daß derſelbe dadurch das lebendige Ele-
ment des Werdens und Lebens vielfach zu verlieren in Gefahr iſt;
am meiſten durch den einſeitigen Grundſatz, daß die Auffaſſung des
Ganzen unberechtigt ſein ſoll, ſo lange nicht jede Einzelheit von der-
ſelben verarbeitet iſt. Warum ſollen jedoch nicht beide Elemente mit
gleichem Rechte neben einander gehen? Die Anſchauung des europäi-
ſchen Geſammtlebens aber iſt beſtimmt, der deutſchen Gelehrſamkeit zu
zeigen, daß wenn ſie ſelbſt auch keine Gränze hat, ſie doch allein dieſe
Gränze nicht ausfüllen kann.


Es wird demnach darauf ankommen, den allgemeinen Charakter
jener Zuſtände dadurch zu bezeichnen, daß man die reichen Ergebniſſe
der deutſchen Rechtsgeſchichte und des deutſchen Privatrechts, wie ſie
durch Männer wie Eichhorn im Ganzen erkannt und durch Männer
wie Mittermaier im Einzelnen geſammelt ſind, in ihrem Verhältniß
zum hiſtoriſchen Entwicklungsproceß zuſammenfaßt.


II. Die Ausbildung der bäuerlichen Unfreiheit durch die Geſchlechter bis
nach dem dreißigjährigen Krieg.

Es iſt keine Frage mehr, daß Deutſchland die Heimath der ur-
ſprünglichen bäuerlichen Geſchlechterordnung iſt, mit dem freien Bauern
und ſeiner Hufe, der gemeinſamen Almend, und dem unfreien, ſchon
von Anfang an leibeigenen Hinterſaſſen. Niemand hat dieß beſſer dar-
geſtellt, als Maurer in ſeiner „Geſchichte der Markenverfaſſung“ auf
den wir ſpeciell für Deutſchland in erſter Linie verweiſen. Nur hat
er nicht beſtimmt genug das Weſen des dritten großen Elements der
Geſchlechterepoche in ſeiner Selbſtändigkeit hervorgehoben; er zeigt uns
daher mehr Zuſtände, als einen lebendigen Proceß der Geſchichte. In
der That nämlich ward jenes einfache Verhältniß vermöge der inneren
und äußeren Kriege und andrer Umſtände allmählig durch das dritte
Element der Geſchlechterordnung, die herrſchende Klaſſe der Grundherren,
überragt. Anfänglich ſtehen hier wie in ganz Europa jene drei Klaſſen
unvermittelt neben einander. Die Verhältniſſe des Grundbeſitzes, als
der faſt ausſchließlich herrſchenden Form des Capitals, übernehmen
jedoch alsbald die Vermittlung weſentlich in derſelben Weiſe, wie im
übrigen Europa. Der Herr verleiht ſeinen überflüſſigen Grund und
Boden theils an ſeine Leibeigenen, theils auch an die Söhne der freien
Bauern, theils behält er am Hofe einige perſönliche Leibeigenen ohne
verliehenen Grundbeſitz. Die urſprünglich ganz freien Bauern aber
müſſen ſich vielfach dazu verſtehen, ihren ganz freien Grundbeſitz
dem großen Grundherrn zu Lehen aufzutragen. Damit beginnt hier
[153] wie allenthalben der geſellſchaftliche Proceß, der das Mittelalter
auszeichnet. Die alte Geſtalt der Geſellſchaft, in welcher der freie
Bauer mit vollkommen gleichem Recht neben dem Herrn ſtand, und
beide den Leibeigenen als dienende Klaſſe unter ſich haben, beginnt
zu verſchwinden und die ganze geſellſchaftliche Ordnung theilt ſich
in die zwei großen Klaſſen, die des grundherrlichen Adels, und die
des abhängig gewordenen Bauern. Die weitere Geſchichte beſteht dann
ihrerſeits wieder in der Fortſetzung des obigen Proceſſes, der nach den
Geſetzen der ſocialen Bewegung ſich faſt von ſelbſt vollzieht, und den
die großen kirchlichen und internationalen Ereigniſſe nur fördern, ohne
ihn doch erzeugt oder weſentlich umgewandelt zu haben. Der Grund-
herr beginnt die anfangs noch ſehr tiefgehenden Unterſchiede innerhalb
der Klaſſe der Bauern zu bekämpfen, und für alle Abſtufungen derſelben
die gleiche Abhängigkeit hervorzurufen. Die Reſte des freien Bauern-
ſtandes ringen dagegen mit allen Mitteln. Das Bewußtſein des alten
Rechts und des neuen Unrechts lebt in ihnen fort. Sie erheben ſich
daher in Deutſchland gerade wie in England und Frankreich mit den
Waffen in der Hand. Die Bauernkriege treten auf. Allein ſie haben
hier wie in England und Frankreich dasſelbe Schickſal, und im Weſent-
lichen beruht dieß Schickſal auf denſelben Gründen. Der Bauer hat
die Waffenübung verloren, und iſt dem Ritter gegenüber faſt wehrlos.
Aber er hat außerdem auch in Deutſchland nur das Gefühl für ſeine
Klaſſe. Er nimmt die Leibeigenen nicht in ſich auf; ſein Aufſtand
iſt daher kein Volkskrieg, ſondern nur der Kampf eines Theiles der
unterworfenen Klaſſe gegen die herrſchende, wie Sugenheim das mit ſo
vielem Rechte betont (a. a. O. S. 367). Er iſt daher unmächtig, wie
die Sklavenkriege in Rom. Dazu kommt, daß die Städte ihrerſeits,
ſelbſt zu Grundherrn geworden, ſich von den Bauern fern halten. Der
eigentliche Bauernſtand unterliegt; und das Ergebniß, geſellſchaftlich
ausgedrückt, iſt daher die Unterwerfung des höheren, beſſer berechtigten
Theiles der niederen Klaſſe unter daſſelbe Recht und Unrecht, welches
bis dahin für den niederen, weniger berechtigten Theil deſſelben ge-
golten. Der Begriff und das Recht des freien Bauernthums, bisher
eine allgemeine geſellſchaftliche Kategorie, werden zur Ausnahme.


Dennoch ſind einzelne Gebiete Deutſchlands bis zum 17. Jahr-
hundert von jener Bewegung gar nicht ergriffen. Noch iſt der ganz freie
oder der Lehnsbauer in dieſen Gebieten eine mächtige, neben dem Grund-
herrn daſtehende, in ſeiner eigenen und freien Gemeinde ſich ſelber
ſeine eigene Dorfſchaft verwaltende Klaſſe von Grundbeſitzern, über
die der Herr oft gar keine, oft nur eine ganz geringe Gewalt hat. In
tiefer Verſchiedenheit von der adeligen Gutsherrſchaft ſtehen dieſe Frei-
[154] bauern und Freidörfer als die Reſte der urſprünglichen Geſchlechter-
ordnung da, und halten und ſchützen zum großen Theil auch noch die
übrigen Standesgenoſſen, die zwar unfrei, aber doch noch nicht unglück-
lich ſind. Da kam aber der dreißigjährige Krieg. Von ihm datirt ſich
das Unglück Deutſchlands. Das Kaiſerthum wird gebrochen, die ört-
liche Souveränetät mit all ihrem Unheil entſteht; die karolingiſche Mon-
archie geht zum zweitenmal unter. Aber faſt noch ſchlimmer waren die
Folgen für den Bauernſtand. Der Bauer Deutſchlands ward durch
dieſen Krieg in ſeinem Wohlſtand vernichtet, und die Achtung vor ihm
als Stand, die ſich noch erhalten, ging im rohen Söldnerdienſte un-
rettbar verloren. Die Hufen lagen wüſt, die Wohnhäuſer waren abge-
brannt, das Vieh erſchlagen, die Söhne und Knechte zum Heere ge-
laufen, Peſtilenz und Elend, Armuth und Verzweiflung überall. Das
Einzige, was da hätte helfen können, wäre ein landwirthſchaftlicher
Credit geweſen, um das Kapital für neue Kultur zu ſchaffen. Aber
wer hatte das Geld um es zu leihen, wer hatte Grundbücher und Exe-
kution, um Sicherheit zu geben, wer hatte regelrechten Abſatz, um
Zinſen und Amortiſation zu bieten? So war keine Hoffnung für den
Bauernſtand, ſich ſelbſt zu helfen. Und während ſo mit dem Wohl-
ſtande die Kraft deſſelben gebrochen wurde, ward es den Herren nunmehr
leicht, die alten rechtlichen Gränzen zwiſchen den verſchiedenen Klaſſen
innerhalb des alten Bauernthums allmählig zu verwiſchen. Der Gedanke,
daß jene Unterſchiede urſprünglich ſpecifiſche geweſen, verſchwand. Die
Unfreiheit ward als Princip angenommen, die Freiheit war die Aus-
nahme, und die Bauern hatten keine Kraft mehr, ſich dem zu widerſetzen.
Die herrſchende Klaſſe hatte definitiv geſiegt; die Kluft zwiſchen Grund-
herren und Bauern war eine unüberſchreitbare geworden.


Dieß nun iſt der Charakter des Entwicklungsganges im Allgemeinen.
Er iſt dem franzöſiſchen derſelben Epoche faſt ganz gleich. Doch gibt
es Einen Punkt, auf welchem ſich auch hier Deutſchland von Frank-
reich unterſcheidet, und der in ſeinen Folgen vieles recht unklar gemacht
hat. Das iſt dasjenige, was wir die Oertlichkeit jener Bewegung zur
Unfreiheit nennen möchten. Deutſchlands Zuſtände gehen bekanntlich
durch das Verſchwinden der kaiſerlichen Macht von Jahrhundert zu
Jahrhundert einer immer größeren Souveränetät auch der kleinen
Reichsſtände entgegen. Die Folge davon iſt, da faſt zweihundert dieſer
kleinen Reichsſtände in der That nur kaiſerlos gewordene Grundherren
ſind, daß auch die Geſtalt, welche jene bäuerliche Unfreiheit annimmt,
in jedem kleinen Reichstheile als eine ganz beſondere und ſelbſtändige
erſcheint, die nach Ortsrecht und Ortsgewohnheit beſtimmt iſt und da-
her auch eine große Menge verſchiedener Namen empfängt, von dem
[155] jeder eine beſtimmte Modifikation jenes allgemeinen Abhängigkeits-
verhältniſſes bezeichnet. Der Uebelſtand dabei war, daß die ſpätere
Wiſſenſchaft dadurch zu der Meinung kam, daß es ſich um wenigſtens
zum Theil ganz eigengeartete und ſpecifiſche Verhältniſſe handle, und
deßhalb viel mehr Werth auf alle dieſe kleinen Einzelheiten legte, als
es nöthig war. Eine Erſchöpfung aller dieſer Einzelverhältniſſe und
Namen iſt jetzt faſt unthunlich, und nicht der Mühe werth; wichtig iſt
nur, daß man ſich durch dieſelben nicht abhalten laſſe, die großen Kate-
gorien feſtzuhalten, welche alle jene Differenzen und Namen in einfacher
Weiſe beherrſchen und dem Folgenden, dem großen Proceß der Be-
freiung aus der Geſchlechterherrſchaft zu Grunde liegen. Dieſe beiden
großen Kategorien nun, welche aus den urſprünglichen Zuſtänden her-
vorgehend, den Grundcharakter auch der ſpäteren Unfreiheit bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts enthalten, und deren Unterſcheidung auch
für das Entlaſtungsweſen unentbehrlich iſt, ſind nun die der Bauern
und die der Leibeigenen. Indem wir dabei für alle Einzelheiten
auf das reiche Material bei Runde, Mittermaier und anderen ver-
weiſen, müſſen wir ſie etwas genauer charakteriſiren.


Die erſte große Kategorie der unfreien Grundſaßen ward aus
denjenigen gebildet, welche bei perſönlicher Freiheit in wirthſchaft-
licher Unfreiheit
ſtanden. Dieſe wirthſchaftliche Unfreiheit beſtand
ihrerſeits theils in Abgaben, theils in Leiſtungen, Frohnden. Dieſelben
aber hatten einen weſentlich verſchiedenen Charakter, und dieſer kann nur
erkannt werden, indem man auf den Urſprung der Grundherrlichkeit
zurückblickt. Man kann jene unfreien Leiſtungen und Giebigkeiten in
drei Hauptkategorien theilen.


Die erſte Kategorie enthält diejenigen, welche nur die Bedeutung
einer recognitio dominii beſitzen, und bei denen daher der Bauer mit
Perſon und Gut nur als Lehnsmann gilt.


Die zweite enthält diejenigen, welche von dem Gutsherrn als
Obrigkeit gefordert werden, und bei denen daher der Bauer dem Guts-
herrn nicht als Grundherrn, ſondern als dem Herrn und Organ der
Verwaltung leiſtet.


Die dritte Kategorie enthält diejenigen, welche der Bauer als
Pachtzins leiſtet für Grundſtücke, die ihm der Gutsherr entweder förm-
lich als Pacht übertragen hat, oder bei denen das urſprüngliche Eigen-
thum des Gutsherrn gar nicht bezweifelt wird.


Alle dieſe drei Unterarten bilden zuſammengenommen die Laſten
der Bauern, deren ſpecielle Namen meiſt von den Verſchiedenheiten
ihrer Leiſtungen an den Grundherrn herrühren, die übrigens viel weniger
in der Sache als in der Form und der Bezeichnung ſich unterſcheiden.


[156]

Die zweite große Kategorie der Unfreien iſt diejenige, welche in
perſönlicher, und dadurch zugleich in wirthſchaftlicher Unfreiheit
ſtanden. Dieſe Kategorie umfaßt der Name, der Begriff, und das
Recht der Leibeigenen. Der Leibeigene iſt niemals Eigenthümer
irgend einer Sache, am wenigſten ſeines Grundſtückes; er iſt ein Theil
des letzteren; er muß daher unbeſchränkt leiſten, was der Herr gebietet,
und kann von ihm mit der Scholle verkauft werden; an ſich iſt dabei
gleichgültig, in welcher Weiſe der Grundherr die Abgaben und Leiſtungen
beſtimmt; das Weſentliche iſt, daß beide in Deutſchland wie in Frank-
reich für dieſe Klaſſe ungemeſſen ſind (taillable de haut en bas);
und daß es daher bei derſelben auch gar nicht in Frage kommt, ob
dieſelben vom Gutsherrn als Lehnsherrn oder als Obrigkeit gefordert
werden.


Offenbar nun ſind dieſe beiden Kategorien an ſich nicht bloß dem
Maße der Leiſtungen, ſondern eigentlich dem Princip nach verſchieden;
das Recht beider war urſprünglich nur ein weſentlich anderes. Allein
mit dem Untergang der Reichsgewalt entſteht dann theils in der Wirk-
lichkeit, theils aber auch in der ganzen geſellſchaftlichen Auffaſſung der
Gedanke, daß jene Kategorien nicht nach der Qualität, ſondern nur
nach der Quantität, dem Umfange ihrer Verpflichtungen nach verſchieden
ſeien. Und daran ſchloß ſich dann der naturgemäße Proceß, der eben
dieſe Verſchiedenheit der, dem allgemeinen Rechtsprincip nach als gleich-
ſtehend angenommenen Klaſſen auszugleichen, und alle Bauern in
gleiche Abhängigkeit zu bringen trachtete. Die Coëfficienten dieſes
Proceſſes waren jetzt einfach. Der Grundherr hatte anerkannter Weiſe
die niedere Polizei; er war die Ortsobrigkeit. Faſt allenthalben hatte
aber derſelbe Grundherr auch die Erbgerichtsbarkeit; ſie ward ihm noch
im 18. Jahrhundert als ein adliches Recht anerkannt (Fiſcher, Ca-
meral- und Polizeirecht I. §. 840—846); was Kamptz (Jahrbuch der
preußiſchen Geſetzgebung, Heft 67, S. 236 und 271) darüber bemerkt,
bezieht ſich auf die ſpätere Zeit. Dieſe Gerichtsbarkeit umfaßte das ge-
ſammte Vermögen und das niedere Strafrecht; mithin auch alle die Fälle,
in denen der Grundherr gegen die Bauern Gewalt gethan. Was daher
der Grundherr als Obrigkeit forderte, das beſtätigte er als Gerichts-
herr. Was er im Eigenintereſſe feſtſtellte, das erkannte er ſelber im
Gerichte als Recht. So ſchloß ſich damit zunächſt faktiſch ein Cirkel,
deſſen Inhalt die Vollendung der Unfreiheit der Geſchlechter-
ordnung war
. Was mit dem Auftreten der Herren begonnen, iſt hier
ſo ziemlich vollendet. Der Gedanke ſteht im Allgemeinen feſt, daß ſich
die ganze Klaſſe der Grundbeſitzer in die höhere und herrſchende des
Adels und die niedere faſt in gleicher Rechtsloſigkeit befindliche Maſſe
[157] den Unfreien ſcheidet. Die letztere iſt das unterſte Glied der damaligen
Geſellſchaft geworden. Das Element der Freiheit iſt faktiſch daraus
verſchwunden; die letzten Reſte des alten Rechts der unfreien Bauern
unterliegen faſt ausnahmslos der grundherrlichen Gerichtsbarkeit, und
jetzt kam es nur noch darauf an, auch wiſſenſchaftlich und juriſtiſch
durch Geſetz, Theorie und Praxis im Einzelnen zu ſanktioniren, was
der Entwicklungsgang der ſich ſelbſt überlaſſenen Geſchlechterordnung
thatſächlich hervorgebracht hatte.


Setzt man nun, daß im Allgemeinen das 17. Jahrhundert jene
Unfreiheit des Bauernſtandes faktiſch vollendete, ſo kann man ſagen,
daß ſie im 18. Jahrhunderte juriſtiſch und zum Theil hiſtoriſch in der
Wiſſenſchaft formulirt ward. Es iſt von großem Intereſſe, dieß ins
Auge zu faſſen.


III. Der Uebergang der bäuerlichen Unfreiheit in die Rechtswiſſenſchaft und
das Privateigeuthum der Grundherrlichkeit an ihren öffentlichen Rechten.

(Eſtor. Hauſchild, das „deutſche Privatrecht“ des 18. Jahrhunderts.)


Als nun mit dem 18. Jahrhundert die Jurisprudenz begann, neben
der Interpretation des Corpus Juris auch das deutſche Privatrecht nach
franzöſiſchem Vorbilde ſelbſtändig zu behandeln, mußten jene Rechts-
verhältniſſe der Unterthänigen ein Hauptgebiet deſſelben bilden. Die
Entſcheidung, welche dieſe neue Wiſſenſchaft des deutſchen Privatrechts
hier traf, war natürlich für dieß Rechtsverhältniß von durchgreifender
Bedeutung.


Es iſt nun wohl überflüſſig zu beweiſen, daß dieſe Entſcheidung
von der hiſtoriſchen Bildung der damaligen Juriſten abhängig werden
mußte, da ohne eine geſchichtliche Anſchauung jene Verhältniſſe und der
ſie beherrſchende Proceß ſchwer verſtändlich ſind. Nun kann man nicht
ſagen, daß die Juriſten ohne eine ſolche geſchichtliche Kunde geweſen
ſind. Das 17. Jahrhundert hatte in Heineccius ſeinen Eichhorn, in
Conring ſeinen Mittermaier, anderer nicht zu gedenken. Allein es iſt
charakteriſtiſch, daß die Quellenkunde und daher das Verſtändniß wenig
über das 13. Jahrhundert hinausging, und daher von den freien
Bauern des Cäſar und Tacitus nichts wußte. Die juriſtiſche Auf-
faſſung ließ ſich daher von den gegebenen Zuſtänden überwältigen, und
wer weiß, ob nicht die Sonderintereſſen der Herrſcher laut und leiſe
nachhalfen und mit Lob und Lohn ſchürten und ſchoben, bis man
als urſprüngliche Thatſache und Recht annahm, was erſt durch die
Unbill der Zeiten im Leben der ländlichen Geſchlechterordnung entſtanden
war? Jedenfalls wird mit dem 18. Jahrhundert ein der früheren
[158] Zeit ganz unbekannter Grundſatz aufgeſtellt, deſſen Bedeutung und Um-
fang die ſpätere Zeit halb mit Unwillen, halb mit Verwunderung bei
Seite geſchoben und zu würdigen vergeſſen hat. Nachdem das 17. Jahr-
hundert faktiſch die Kluft zwiſchen Bauernſtand und Adel definitiv ge-
zogen, trat mit Eſtor zuerſt der Satz in der Theorie auf, daß alle
Bauern urſprünglich leibeigen geweſen
. Eſtors Abhandlung
„de praesumtione contra rusticos in causis operarum harumque
redemtione“
erſchien zuerſt als Vorrede zu M. D. Grollmanns
Dissertatio triga de operarum debitarum mutatione 1734. Dieſe Ab-
handlung, weder groß an Umfang, noch von großem wiſſenſchaftlichen
Werth, hat nun in der Geſchichte der Befreiung des Grundbeſitzes
eine ſehr bedeutende Stellung. Sie erſcheint nämlich in der Zeit, wo
in Deutſchland bereits die erſten Verſuche der Ablöſung auftreten und
das territoriale Königthum ſich der Bauern anzunehmen beginnt. Sie
iſt daher als der erſte Verſuch anzuſehen, ſich über das wahre Ver-
hältniß jener Unfreiheit und ihrer perſönlichen und wirthſchaftlichen
Laſten klar zu werden. Dabei mußte nun vor allem die Frage ent-
ſtehen, ob und wie weit die faktiſch beſtehenden Laſten auf einem ob-
jektiv gültigen Rechtstitel beruhten, oder ob ſie durch Unrecht einge-
führt ſeien. Die Unterſuchung dieſer Frage begegnete nun zuerſt jener,
noch immer geltenden Verſchiedenheit im Syſtem der bäuerlichen Laſten,
die wir oben angegeben haben und die noch immer durch den Unterſchied
der „Bauern“ und der „Leibeigenen“ bezeichnet wurden. Man wußte,
daß von jeher ein Theil — eben jene Leibeigenen — der Grundholden
unfrei geweſen; man fand, daß ſie jetzt alle unfrei ſeien; wollte man
das erklären, ſo mußte man entweder den Grund dieſer Unfreiheit in
der Gewalt des Herrn ſuchen, oder man mußte die gegenwärtigen Zu-
ſtände im Weſentlichen als die urſprünglichen annehmen und darauf
eine juriſtiſche Theorie über das geſammte Bauernrecht bilden, welche
dann allerdings die Unfreiheit aus einer hiſtoriſchen Thatſache zu einem
geltenden Recht machte. Und in dieſer letzteren Richtung ſehen wir in
der erſten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Bewegung entſtehen, an
deren Spitze ſich Eſtor ſtellte.


Eſtor nämlich mit ſeiner oben angeführten Abhandlung bezeichnet
den Zeitpunkt, in welchem jene juriſtiſche Frage eine beſtimmte Ge-
ſtalt annimmt. Er kehrte nämlich einfach das wahre hiſtoriſche Ver-
hältniß um. Sein Satz, daß alle Bauern urſprünglich leibeigen ge-
weſen, ſollte eigentlich nicht bedeuten, daß die Herren das Recht hätten,
die mittelfreien oder eigentlichen Bauern in die Leibeigenſchaft wieder
zurückzuführen, ſondern vielmehr das, daß jede Behauptung einer Be-
ſchränkung der Rechte des Gutsherrn von dem Bauer nachgewieſen
[159] werden müſſe, ſo daß wenn derſelbe keinen klaren Rechtstitel auf jene
Beſchränkung habe, der Gutsherr berechtigt ſei, unbeſchränkte Dienſte
und Abgaben zu fordern — donec probetur contrarium. Die Con-
ſequenzen dieſes Princips wären wohl ſehr ernſte geweſen, denn gerade
die ganze erſte Kategorie der reinen Lehns- und obrigkeitlichen Abgaben
und Dienſte des urſprünglich freien Bauern an den Gutsherrn war
natürlich faſt ausnahmslos ohne allen beſonderen, nachweisbaren Akt
eingeführt; und wäre Eſtors Anſchauung zur vollen Geltung gelangt,
ſo würde ſie ſomit nothwendig die ganze perſönlich freie Klaſſe mit
wenig Ausnahmen zu Leibeigenen gemacht haben. Natürlich war dieſe
Gefahr gerade deßhalb ſo groß, weil der Grundherr zugleich Polizei
und Gericht beſaß, und daher ſelbſt über jenen Beweis der Freiheit
oder Unfreiheit entſchied. Die wiſſenſchaftliche Welt fühlte das ſehr
wohl. Die Oppoſition gegen Eſtor ließ nicht lange auf ſich warten.
Schon 1738 ſchrieb J. Leonh. Hauſchild ſein opusculum historico-ju-
ridicum de praesumtione pro libertate naturali in causis rusticorum,

worin er freilich mehr aus dem jus naturale als aus der hiſtoriſchen
Auffaſſung die urſprüngliche Freiheit des Bauernſtandes im Gegenſatz
zu Eſtor allgemein behauptete. Eſtor ließ dann ſeine Abhandlung mit
einer etwas modificirten Grundlage 1742 wieder erſcheinen. (Fiſcher
citirt andere Ausgabe von 1736; Runde hat nur die beiden von 1734
und 1742.) Dagegen ſchrieb dann Hauſchild wieder 1744 ſeine Abhand-
lung „Beiſchriften von Bauern und Frohnden.“ Eſtor ſeinerſeits fand
einen Vertheidiger in J. J. Reineccius, Dissertatio de rustico
quondam servo
1749, wogegen A. R. J. Bunnemann ſeine Ad-
sertio de rusticorum libertate et operis contra Reineccium
1750
erſcheinen ließ. Dieſer Streit hatte das Gute, daß man allmählig von
den abſtracten Behauptungen ſowohl über das poſitive als aus dem
natürlichen Recht abkam, und ſich der hiſtoriſchen Grundlage zuwendete.
Allein dieſe war keineswegs genug bekannt; die alte Geſchlechterordnung
mit dem freien Bauernſtande des urſprünglichen Dorfes, das allmählige
Auftreten der Herren, die allmählige Verwiſchung des Unterſchiedes
zwiſchen dem Freibauern und dem Leibeigenen verſtand man nicht; eine
größere hiſtoriſche Auffaſſung fehlte gänzlich, und das darf uns nicht
wundern, wenn wir auch noch heut zu Tage in Facharbeiten die Ge-
lehrſamkeit ſich in der Conſtatirung der einzelnen Thatſachen und Unter-
ſchiede ſtatt in der Nachweiſung jenes großen hiſtoriſchen Proceſſes,
in welchem ſie alle auftauchen und verſchwinden, ſich erſchöpfen ſehen.
Es entſtand daher eine Art von Compromiß in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts, der faſt in alle Lehrbücher jener Zeit über-
ging, und die Grundlage der Lehre von den bäuerlichen Rechten ward,
[160] obwohl ſich in derſelben jene beiden Grundanſchauungen dauernd er-
hielten, ohne auf das praktiſche Recht weiteren Einfluß zu gewinnen.
Wir glauben das Verhältniß am beſten zu bezeichnen, wenn wir zwei
der bedeutendſten Namen, welche jene beiden Auffaſſungen vertreten,
hier anführen. Fiſcher (in ſeinem Lehrbegriff ſämmtlicher Cameral-
und Polizeirechte 1785) ſagte Bd. I. §. 1120: „Es wird über die Rechts-
frage ſehr geſtritten, ob die heutigen Bauern von den alten Leibeigenen
herkommen, oder nicht. Sie iſt allerdings zu bejahen. Denn
ob zwar ſchon einige von alten Freigeborenen, von Bürgern und ſogar
von Edelleuten herrühren, ſo machen doch dieſe in Betracht des
ganzen Haufens
eine ſehr unbeträchtliche Anzahl aus, die nur Aus-
nahme von der Regel
ſind.“ Das war der Standpunkt, den man
als den der Mitte des vorigen Jahrhunderts ziemlich allgemein, wenn
auch bald mit Betonung des einen, bald des andern Punktes, bezeichnen
kann. Die Literatur iſt nicht unbedeutend. Grupen (Observationes
p.
1005) und Selchow (De jure ingenuit. Cap. 1. §. 20) heben
ſtärker die urſprüngliche Freiheit heraus; Benkendorf in ſeiner Oeco-
nomia forensis P. V.
206 ff. und Weſtphal, teutſches Privatrecht
Th. I. Abth. 31. S. 333 mehr die Unfreiheit; daß ſich Eſtor in ſeinen
ſpäteren Werken (bürgerl. Rechtsgelehrſamkeit Thl. III. §. 358) daran an-
ſchloß, war ganz natürlich. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat
dagegen die Rechtsgeſchichte bereits bedeutende Fortſchritte gemacht.
Hauſchild ſelbſt hat noch 1771 in ſeinen „Juriſtiſchen Abhandlungen
von Bauern und Frohndienſten“ (Quart) alles zuſammengefaßt, was
jenen Eſtor’ſchen Streit und ſeine juriſtiſchen Folgen betrifft; die größere
Bekanntſchaft mit den alten Rechtsquellen, die kaum einen Zweifel
ließen, die Unterſuchung localer Rechtsverhältniſſe, die ſich ſchon damals
über Belgien und Holland ausbreitete (England und Frankreich blieben
auch damals den gewöhnlichen deutſchen Gelehrten unbekannte Länder)
erzeugte ein beſſeres hiſtoriſches Verſtändniß, dem zuletzt Sartorius
in ſeiner „Geſchichte des deutſchen Bauernkrieges, oder der Empörung
in Deutſchland zu Anfang des 16. Jahrhunderts“ (1795) eine allge-
meine Geſtalt gab; und ſo entſtand die Anſicht, der Runde in ſeinen
trefflichen, bis jetzt nur in der Breite, kaum in der Tiefe übertroffenen
Grundſätzen des deutſchen gemeinen Privatrechts (1795. 2. Aufl. §. 484)
den damals wohl allgemein gültigen Ausdruck gab: „Der Unterſchied
zwiſchen freien und leibeigenen Bauern hat in Deutſchland von den
früheſten Zeiten an ſtattgefunden, wiewohl übrigens nicht zu läugnen
iſt, daß die Leibeigenſchaft unter den deutſchen Bauern in den älteren
Zeiten viel gemeiner (allgemeiner!) und drückender war, als heut zu
Tage, und daß auch in den meiſten Provinzen (welches Reiches?) worin
[161] nunmehr der Bauer nach der Regel perſönlich frei iſt, der größere
Theil ehedem leibeigen geweſen ſei.“ Es iſt klar, daß dieſe hiſtoriſche
Auffaſſung über das 12. Jahrhundert nicht zurückgeht; die alte Bauern-
ſchaft und das freie Dorf liegen noch unter dem Horizont derſelben,
und erſt das 19. Jahrhundert hat hier volles Verſtändniß gebracht.


Aus dieſem doppelten Standpunkt ergab ſich nun auch das allge-
meine Princip für die Beantwortung der Hauptfrage, nach den Frohn-
den
und ihrem Recht. Und hier iſt vielleicht die Stelle, auf welcher
die Bedeutung des römiſchen Rechts für die bäuerliche Unfreiheit be-
zeichnet werden kann, die in ſo ſehr entgegengeſetzter Weiſe beurtheilt
wird. Jene erſte, unfreiere Richtung kam nämlich von ihrem Stand-
punkt aus zu der natürlichen Conſequenz, die Fiſcher kurz ausdrückt
(a. a. O. §. 1155). „Ob zwar ſchon in vielen Gegenden die Dienſte der
Leibeigenen gemeſſen ſind, ſo ſind ſie doch im Zweifelsfalle für unge-
meſſen zu halten
, können aber bloß auf die herkömmliche Weiſe
begehrt werden.“ (Vgl. 1159 und 1279 ff.) Allerdings war dieſer
Grundſatz die Folge des Begriffes der Leibeigenſchaft; allein die römi-
ſchen Juriſten nahmen dabei einen eigenthümlichen Standpunkt ein.
Damals wie jetzt beſchränkt auf die Begriffe und das Verſtändniß des
römiſchen Rechts, war ihnen das Weſen der Frohnden und Dienſte
überhaupt nicht formulirbar; ſie wollten durchaus eine Servitus quae
in faciendo consistit
daraus machen (Runde, deutſches Privatrecht,
§. 274) und brachten dadurch allerdings in der Theorie einige Ver-
wirrung hervor, weßhalb man oft, und auch noch in neueſter Zeit
(Sugenheim a. a. O. S. 360) die Einführung des römiſchen Rechts
als ein großes Unheil betrachtet hat. Nun iſt es wahr, daß die Eſtor’ſche
Richtung ſchon im Anfange des 18. Jahrhunderts bedeutende An-
hänger fand, die wie Ludolf (P. II. 232), Leyſer (Specimen 416.
Medit.
1), Pertſch (de oper. determinatis et indeterminatis §. 54),
Weſtphal (deutſches Privatrecht I. Abth. 32. C. 1. 2) die Ungemeſſen-
heit der Frohnden als Princip ausſprechen. Allein andererſeits hielten
doch auch wieder dieſelben römiſchen Juriſten daran feſt, daß die einmal
gemeſſenen Frohnden nicht mehr überſchritten werden dürfen,
ein Grundſatz, der im Weſentlichen denſelben Erfolg hatte, wie die
Anerkennung des Court roll für den tenant in villeinage im common
law
(ſ. oben). Daher fängt jetzt auch die Lehre von der Verjährung
an, eine nicht unbedeutende Stelle im Rechte der Leibeigenſchaft einzu-
nehmen; namentlich aber werden die Begriffe der Emphyteusis und
des Colonats vielfach auf die bloß wirthſchaftlich Unfreien angewendet,
und damit der Begriff des freien Vertrages dem der Unterthanſchaft unter-
ſtellt. Das römiſche Recht, das die Anerkennung des gleichen perſönlichen
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 11
[162] Rechts bei allen über ein Recht Streitenden grundſätzlich voraus-
ſetzt, arbeitet daher der Idee der Rechtsgleichheit zwiſchen Grundherren
und Bauern vor, in ganz ähnlicher Weiſe wie das engliſche Common
law;
und dieſer allgemeine, principielle Erfolg iſt vielleicht viel wich-
tiger, als die einzelnen Uebelſtände, die ſeine Anwendung mit ſich
brachte. Am wenigſten iſt es richtig, wenn man ſich darauf beruft,
daß das römiſche Recht das deutſche Rechtsbewußtſein untergraben und
fremde Rechtsideen an deren Stelle geſetzt habe. Denn gerade dieß
deutſche Rechtsbewußtſein beruhte auf der traditionellen Unterſcheidung
der Klaſſen und der Annahme von Vorrechten der höheren Stände für
die das römiſche Recht gar kein Verſtändniß hatte. Die rechtliche Per-
ſönlichkeit des germaniſchen Rechtsbewußtſeins war ſtets eine bevorrechtete
oder unterworfene; die des römiſchen Rechts dagegen die gleichberechtigte.
Das iſt es, was der Ausdruck des gemeinen bürgerlichen Rechts
eigentlich bedeutet. Die künftige Rechtsgeſchichte wird dieſe Wahrheiten
zu würdigen wiſſen. So hat die römiſche Jurisprudenz vielmehr im
Ganzen heilſam gewirkt; man ſieht das am beſten bei den Bannrechten,
für welche ſelbſt die deutſchen Juriſten den römiſchen Begriff des Bila-
teral-Contracts (do ut des vel facias) und mithin das Princip der
Rechtsgleichheit für Herrn und Bauern anerkannten (vgl. Runde a. a. O.
§. 281 — übrigens nicht klar gegenüber §. 276). Doch muß die ge-
nauere Darlegung dieſer Verhältniſſe einer beſonderen Arbeit vorbe-
halten bleiben.


Faßt man nun aber das Geſammtergebniß dieſer Bewegung des
18. Jahrhunderts auf dem Gebiete des Rechtsbegriffes der bäuerlichen
Unfreiheit zuſammen, als das Reſultat, mit welchem es in das 19. Jahr-
hundert hineintritt, ſo erſcheint daſſelbe als das folgende.


Allerdings hat die entſtehende hiſtoriſche Bearbeitung der Frage es
feſtgeſtellt, daß die Unfreiheit nicht der allgemeine urſprüngliche Zuſtand
des Bauernthums geweſen. Allein die höchſt fleißigen und umſichtigen
Bemühungen der Wiſſenſchaft ſcheinen einerſeits zu zeigen, daß bei
weitem der größte Theil des Bauernſtandes zu der Zeit, wo die rechts-
geſchichtlichen Aufzeichnungen beginnen und mit der daher auch das
damalige Studium anfängt, der Zeit des 13. Jahrhunderts, wirklich
ſchon in einer mehr oder weniger ausgeſprochenen Unfreiheit geweſen;
andererſeits ſteht es ſchon damals feſt, daß die hiſtoriſche Entwicklung
der bäuerlichen Unfreiheit „nicht in allen Provinzen zu gleicher Zeit
und gleich ſtark gewirkt habe,“ ſo daß „kein ſicherer Schluß von
einer Provinz auf die andere, ja oft nicht einmal von einem Amte und
von einem Dorfe auf das andere erlaubt“ iſt (Runde §. 480), obwohl
ſcharfe Beobachter ſchon damals den großen Unterſchied zwiſchen den
[163] von den Slaven eroberten Theilen Norddeutſchlands, in denen die Leib-
eigenſchaft viel allgemeiner und härter war als im alten eigentlichen
Deutſchland, und dem letztern erkannten. (Vgl. FiſcherI, 1084—89,
der übrigens ungenau hier Nord- und Süddeutſchland einander zu all-
gemein entgegenſetzt.) Die ſpätere Rechtsgeſchichte hat dieſen hochwichtigen
Unterſchied, auf dem namentlich der gegenwärtige, noch ſehr unfreie Zu-
ſtand der oſtpreußiſchen Agrarverfaſſung
beruht, ganz überſehen;
Eichhorn hat überhaupt die Unterſchiede der deutſchen Stämme grundſätz-
lich in den Hintergrund treten laſſen; daß aber der ſonſt ſo geiſtvolle und
gründliche Sugenheim darauf keine Rückſicht genommen, iſt ein Mangel
ſeines vortrefflichen Werkes. Aus dieſen leitenden Principien folgert nun
die deutſche Rechtswiſſenſchaft am Ende des vorigen Jahrhunderts den ſehr
ernſten Satz, daß „bei Beurtheilung jener rechtlichen Verhältniſſe (der
Bauern) überhaupt nicht mehr auf die alte Verfaſſung, ſondern
allein auf die gegenwärtigen Umſtände Rückſicht zu nehmen
ſei
“ — und daß „der Bauer ſo gut wie jeder andere Unterthan bei
dem Grade von Freiheit und Eigenthum geſchützt werden müſſe, zu
deſſen Beſitz er wirklich gelangt iſt.“ „In allen Fällen,“ ſagt Runde,
als Hauptvertreter dieſes Standpunkts, „muß man zunächſt den Beſitz-
ſtand und die Localverfaſſung vor Augen behalten, alsdann aber die
Entſcheidungsgründe aus den Bauernrechten hernehmen“ — ein Satz,
den bereits Ludolf in ſeiner Abhandlung de juris coloniarii in Ger-
mania diversitate ejusque adminiculis generatim (Observ. for. II.
obs. 148)
und namentlich Struben (de jure Villicorum c. 2 und in
ſeinen Rechtlichen BedenkenIII. 435) als leitenden und ziemlich all-
gemein anerkannten Grundſatz ausgeſprochen hatten. Die Bedeutung
dieſer Auffaſſung lag nun darin, daß die grundherrlichen Rechte dadurch
auch für die Rechtswiſſenſchaft definitiv den Charakter von Privat-
rechten
angenommen hatten, alſo als unverletzlich und nicht mehr
als von der „Verfaſſung“ d. h. dem öffentlichen Recht der Staaten ab-
hängig anerkannt wurden. Den Schlußpunkt dieſer Theorie bildet das
Recht auf die Patrimonialgerichtsbarkeit. Sie iſt für dieſelbe gleichfalls
ein „zum Patrimonio gehöriges veräußerliches Recht,“ und „die Haupt-
quelle dieſer Gerichtsbarkeit iſt vielmehr das Eigenthum an der
Perſon
, und das Obereigenthum an dem ihr verliehenen Gute.“
Sie iſt daher ſelbſt ein Privateigenthum; ſie hat ihren Charakter als
öffentliches Recht gänzlich verloren, und ſelbſt bei ſo freiſinnigen und
tüchtigen Männern wie Runde, ergibt ſich der Schlußſatz, der zugleich das
Ende des vorigen und den Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts
bedeutet. „Wenn man, dem an ſich richtigen Grundſatze des allge-
meinen Staatsrechts zu Folge, auch nach deutſcher Verfaſſung alle
[164] Gerichtsbarkeit für einen Ausfluß der höchſten Gewalt betrachtet;
ſo verwickelt man die ganze Lehre (von der Patrimonialgerichtsbarkeit)
in unauflösliche Schwierigkeiten, welche offenbar beweiſen, daß unſere
Vorfahren jene verfeinerte Philoſophie (!) über richterliche und oberſt-
richterliche Gewalt nicht kannten, und nicht darnach handelten“ (§. 702).
Freilich hatten die Grundherren nach keiner Philoſophie gehandelt; ſie
hatten einfach ihre Gewalt ihren Standes- und Sonderintereſſen dienſt-
bar gemacht. Doch blieb das Reſultat. Auch die ſtaatliche Funktion
des Gerichts und der Polizei iſt Privateigenthum; heilig und un-
verletzlich wie dieſes. Die Entwicklung der Geſchlechterunfreiheit, bis
dahin im Kampfe der ſtreitenden Elemente zweifelhaft, hat zwar ihre
objektiv rechtlichen Gränzen gefunden, aber ſie iſt auch als bürgerliches
Eigenthum dem Schutze des Gerichts anvertraut, und zwar deſſelben
Gerichts, das vermöge deſſelben Princips auch Privateigenthum des-
jenigen iſt, der über ſeine eigenen gutsherrlichen Rechte und Verhält-
niſſe Kläger und Richter in derſelben Perſon zu ſein, ein bürgerliches
Eigenthumsr
echt hat.


Das iſt der Schluß dieſer Bewegung. Die Frage, ob die Ge-
ſchlechterordnung ſich durch ſich ſelbſt zur Freiheit erheben kann, iſt auch
in Deutſchland verneint. Die Elemente dieſer Geſchlechterordnung ſind
unfähig, das große Princip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit durch ſich
ſelbſt zu entwickeln. Das Ergebniß iſt, daß das Recht der herrſchenden
Klaſſe über die beherrſchte, und daß ſogar der Beſitz der öffentlichen
Funktionen als Privateigenthum angeſehen, als Privatrecht geſchützt,
und demnach mit der untergeordneten Lage der niederen Klaſſe zuſam-
mengenommen als die „Verfaſſung“ des Bauernſtandes ſelbſt von der
Rechtswiſſenſchaft anerkannt worden.


Soll daher aus dieſem Zuſtand ein Fortſchritt ſtattfinden, ſo muß
derſelbe von einem ganz anderen, von der Geſchlechterordnung unab-
hängigen und gegen dieſelbe und ihr Recht gleichgültigen Element aus-
gehen. Und dieſes Element iſt der Staat.


IV. Der Beginn des Kampfes mit dem Geſchlechterrecht. Das Dominium
eminens
und ſeine Geſchichte.

(Die drei Epochen: Hugo Grotius. Biener. Poſſe. Runde. Das Dominium
eminens
verſchwindet und das Princip des Entwährungsrechts überhaupt tritt
an ſeine Stelle. Das Jus eminens und ſein Unterſchied vom Dominium
eminens.
)


Während nun auf dieſe Weiſe die Geſchlechterordnung ihre unfreie
Rechtsordnung an die Scholle bindet, beginnt gleichzeitig die eigentliche
Staatsbildung auch in Deutſchland in ihren erſten eigentlichen Anfängen
[165] zum Durchbruch zu gelangen. Sie wird erzeugt durch die höhere Natur
des Lebens, vertreten von zum Theil ſehr tüchtigen Perſönlichkeiten,
getragen von der Wiſſenſchaft der Gelehrten und von dem Intereſſe und
der Thätigkeit des Beamtenthums. Sie beginnt etwa mit dem 16. Jahr-
hundert. Sie iſt auf allen Punkten zugleich thätig. Sie wird, kaum
entſtanden, von dem Bewußtſein erfaßt, daß ſie die Trägerin der
höchſten allgemeinen, ſittlichen und wirthſchaftlichen Intereſſen überhaupt
ſei. Sie kann ſich daher auch jenem großen Proceß, der jene Unfrei-
heit der Geſchlechterordnung gleichſam kryſtalliſirt, nicht entziehen. Mit
ihrem Auftreten beginnt daher eine neue Epoche für dieſelbe. Sie iſt
es, welche die Entſcheidung zu bringen hat, da die unfrei gewordenen
Geſchlechter ſich ſelber nicht mehr helfen können.


Nun kann kein Lebendiges ganz ſein Weſen verläugnen. Das Weſen
des die Staatsidee vertretenden Königthums aber iſt es, in der möglichſt
kräftigen und daher auch möglichſt freien Entwicklung aller Angehörigen
des Staats ſeine eigene höchſte Kraft und damit ſeine eigenen höchſten In-
tereſſen zu ſuchen. Das Königthum kann ſich nicht verhehlen, daß wenn ein
Theil der Geſellſchaft von einem andern beherrſcht wird, es zuletzt ſelber
unter die Herrſchaft des letzteren fallen muß. Es braucht das nicht
theoretiſch zu wiſſen oder zu beweiſen; ſieht und hört ja doch der ein-
zelne Menſch, und weiß nicht, wie es geſchieht. Es wird auch unbe-
wußt ſeiner Natur folgen, und hier das Seinige thun. Die Aufgabe
der Wiſſenſchaft iſt es nur, Weſen, Grund und Folge der Dinge zum
Bewußtſein zu bringen. Das iſt ſie jetzt, und das war ſie auch da-
mals. Allerdings aber hatte das Königthum, indem es ſich faſt gleich-
zeitig mit ſeinem Entſtehen jener Aufgabe der Befreiung der niederen
Geſchlechterklaſſen zuwendet, in den gegebenen Verhältniſſen einen ganz
beſtimmten Anlaß, die Wiſſenſchaft zu Hülfe zu rufen. Dieſer aber lag
in dem Rechtsprincip ſelbſt, auf welchem jene Unfreiheit beruhte.


In derſelben Zeit nämlich, in der das Königthum und in ihm die
Staatsidee ſich entwickeln, geſtaltet ſich auch das Rechtsverhältniß der
herrſchenden Klaſſe aus einem vorwiegend öffentlichen zu einem privat-
rechtlichen um, wie wir geſehen haben. Wenn daher das junge König-
thum in dieſe Verhältniſſe eingreifen will, ſo braucht es vor allem
Eins; es braucht einen andern Rechtstitel als den ſeiner abſtracten
Hoheit, um in die zum Privatrecht des Grundherrn gewordene Unfrei-
heit der Bauern und Leibeigenen einzugreifen. Und dieſer Rechtstitel iſt
eben das Jus und Dominium eminens, das Obereigenthum, mit deſſen
abſtrakter Aufſtellung der Kampf des Königthums gegen jene Unfrei-
heit beginnt. Das iſt ſeine Stellung in der Geſchichte der neuen
Staatsidee.


[166]

Man wird ſich nun die Sache nicht ſo denken, als hätte das Kö-
nigthum ſein dominium eminens ausdrücklich in dieſem Bewußtſein
ſeiner ſocialen Aufgabe gefordert. Die ganze Frage entſteht vielmehr
von ſelbſt; ſie wird auch nicht ſo ſehr durch die Theorie angeregt, als
vielmehr von ihr wiſſenſchaftlich formulirt. Die Literatur derſelben
iſt nicht etwa die Frage ſelbſt, ſondern nur ihr Ausdruck, die Form,
in der dieſelbe mit Princip und Conſequenz zum Bewußtſein kommt.
Eben ſo wenig iſt die deutſche Bewegung hier der engliſchen oder franzöſiſchen
gleichartig, oder in ihren Wirkungen gleichzeitig. Denn das König-
thum, an welches ſich dieſelbe anſchließt, iſt in England und Frankreich
ein doch anderes, als in Deutſchland und daher erſcheint auch die
ganze Behandlung des Princips als eine weſentlich verſchiedene in den
drei Ländern. In England iſt der König dem anerkannten Rechte
des feodal system nach wirklicher Eigenthümer alles Grundes und
Bodens bis zum St. 24. Ch. II. 12. Sein jus und dominium eminens
war daher an ſich gar nicht fraglich; nur war er, ſo weit nicht eben
das feodal system ihm ganz beſtimmte Rechte einräumte, an die Zu-
ſtimmung des Parlaments gebunden (ſ. oben). In Frankreich war
der König oberſter Lehnsherr, ohne doch eigentlich, mit Ausſchluß der
Kronlehen, Obereigenthümer zu ſein; zwar wird nun das Königthum
ſeit dem Ende des 15. Jahrhunderts allgewaltig, aber in die droits
seigneuriaux
greift es nicht ein, da es überhaupt ſeit Ludwig XIII.
die innere Entwicklung des Volkes über dem Glanz des verderbten,
vom Adel beherrſchten Hofes und über die Machtfragen der Monarchie
vergißt. In Frankreich iſt ſeit Richelieu die Frage nach der Herrſchaft
der Krone im öffentlichen Recht unbezweifelt für dieſelbe entſchieden,
aber die Frage nach der Gewalt über das Privatrecht des Grundherrn
eben ſo beſtimmt gegen dieſelbe verneint. Die großen Organe, welche
dies Recht der Grundherrſchaft vertraten, waren die Parlamente. Aller-
dings ſtrafte der König durch dieſe Parlamente die Ausſchreitungen
der Grundherren gegen die Unterthanen, wenn ſie zu wirklichen Ver-
brechen ausarteten, wie 1665 in den Grands Jours d’Auvergne und
ſonſt (Sugenheim a. a. O. S. 142—162), aber die Rechte ſelbſt ließ
er unangetaſtet — einer der gewaltigen Gründe, weßhalb die Revo-
lution mit der Geſchlechterherrſchaft auch das Königthum vernichtete.
Daher hatte Frankreich die Lehre vom dominum eminens des Königs
für die Herrſchaft der Krone nicht nöthig, und wollte ſie nicht gebrauchen
für die innere Verwaltung. Ganz anders dagegen war es in Deutſch-
land. Hier war mit dem Kaiſerthum die Staatsidee ſelber gebrochen,
und an ihre Stelle die örtliche Souverainetät getreten, die zuletzt
ſelber nur ein Privatrecht auf Selbſtherrſchaft der kleinen Reichsſtände
[167] wurde. Für dieſe hatte das dominum eminens keinen rechten Sinn,
da ſie ohnehin wahre Eigenthümer ihrer Herrſchaften waren, ohne doch
Staaten zu ſein, und bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges gab
es daher auch hier keinen Raum für jene Frage. Erſt mit der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts fangen nun die territorialen Staatenbildungen
an, und dieſe tragen trotz der mannichfachſten Unterſchiede dennoch
einen und denſelben Charakter, den namentlich Preußen und Oeſterreich
mit dem 18. Jahrhundert ſofort zur energiſchen Geltung bringen,
das iſt die ſtarke Entwicklung aller Actionen der inneren Verwal-
tung
. Namentlich Preußen, κατ̕ ἐξοχὴν der Verwaltungsſtaat,
geht hier ein ganzes Jahrhundert lang mit glänzendem Erfolg, aber
auch mit großer Härte, voran. Dieſe innere Verwaltung läßt nun
auf allen Punkten jenes Recht der Grundherren, das auf Gerichts-
barkeit und Polizei — und Polizei hieß und war noch jede Innere
Verwaltung — ein Privatrecht hatte. Sie war daher als königliche
Verwaltung gar nicht möglich, ohne dieſe Grundherrlichkeit in hundert
Punkten zu beſchränken, zu verletzen, zu vernichten. Damit trat ſie
mit ihrer Staatsidee dem Princip des Privatrechts und der Heiligkeit
des Eigenthums entgegen; und dieſes tiefen Gegenſatzes waren ſich die
Krone und nicht weniger die Gutsherren recht wohl bewußt. Die
erſtere brauchte daher etwas anderes als die einfache Negation jenes
Rechts der letzteren; und wenn jener Friedrich Wilhelm I. offen und
ſtolz erklärte, er werde dem Junkerthum gegenüber „die Souverainetät
wie einen rocher de bronze ſtabiliren,“ ſo bedurfte er trotz ſeiner per-
ſönlichen Energie doch auch eines ſichern Rechtstitels dafür. Und
dieſen Rechtstitel bot nun der Begriff des dominium eminens. Der-
ſelbe bedeutet in der That nicht ein Obereigenthum, ſondern er iſt in
ſeiner deutſchen Geſtalt vielmehr das höhere Recht der Staatsidee
überhaupt
. Dieſer Begriff iſt daher nicht etwa in die gewöhnliche
Kategorie der juriſtiſchen Controverſen, etwa aus dem Lehnrecht, zu
ſtellen, wie Manche wohl meinen. Er iſt vielmehr ſelbſt zum Theil
ein Element, zum Theil ein Ergebniß der Entwicklung der Staatsidee
in Deutſchland, und ſeine große Bedeutung namentlich für die ganze
Entwährungslehre macht es nothwendig, ihn aus der Vergeſſenheit
herauszuziehen, in welche er gerathen iſt, und ihm ſeine Stelle in der
Geſchichte des deutſchen Staatslebens zurückzugeben.


Man kann wohl drei Hauptauffaſſungen in dieſem Begriffe unter-
ſcheiden, die zugleich für die ganze Auffaſſung des Staatsbegriffes
höchſt bezeichnend ſind.


Die erſte dieſer Auffaſſungen können wir die der Gloſſatoren
nennen. Sie beruht auf dem Verſuche, das Lehnrecht, namentlich alſo
[168] die Geſammtheit derjenigen Rechte, welche der Lehnsherr über das feu-
dum
hat, mit dem römiſchen Begriff des dominium in Uebereinſtim-
mung zu bringen. Der Sage nach — denn etwas Anderes iſt es doch
wohl nicht — entſteht dieſe Frage bei einem Streit der beiden Gloſſa-
toren Bulgarus und Martinus. Die Geſchichte hat uns den Beginn
dieſes Streites, der theoretiſch bald halb Europa umfaſſen ſollte, als
Anekdote aufbewahrt. Bekannt iſt die Sitte, die herrſchenden Herren,
namentlich die Lehnsherren domini zu nennen; ebenſo bekannt jene
vage Vorſtellung aus der Zeit Karls des Großen, welche den Kaiſer
von Deutſchland als ſeinen Nachfolger, als den oberſten Lehnsherren der
Chriſtenheit anſah, eine Vorſtellung, welche von der Geiſtlichkeit mit
Eifer und Abſicht genährt wurde. Die Courtoiſie jener Zeit ſagte
daher wohl, der deutſche Kaiſer ſei „dominus mundi.“ Die neu ent-
ſtehende römiſche Jurisprudenz verſtand dagegen unter dominus den
juriſtiſchen Eigenthümer und forderte ihrerſeits, daß ſich der lehns-
rechtliche Begriff des dominium dem römiſchen in irgend einer Weiſe
unterordnen ſolle, um dadurch jene Definition zu empfangen. Nun er-
zählt Otto Morena in der Historia Laudensi (MuratoriVI. 1018),
daß eines Tages der Kaiſer Friedrich Barbaroſſa mit Bulgarus und
Martinus ausgeritten ſei und bei dieſer Gelegenheit beide gefragt habe,
ob er wirklich rechtlich der „dominus mundi“ ſei. Bulgarus ant-
wortete ihm, daß er es nicht ſei in Betreff des Eigenthums (quod
non erat dominus, quantum ad proprietatem
), wogegen Martinus
höfiſch erklärte, er ſei wirklicher dominus. Der Kaiſer ſchenkte, dar-
über höchlich erfreut, dem Martinus ſein Pferd; Bulgarus aber, als
er dieß hörte, ſagte: „Amisi equum, quia dixi aequum, quod non
erat aequum“
(Pütter, Specimen juris publici et gentium medii
aevi. p.
192). Von da an nun ſcheidet ſich der Begriff des domi-
nium
in zwei Theile. Der ſtrenge römiſche Begriff bleibt; allein neben
ihm entſteht der zweite des dominium feudale, über deſſen Inhalt
und Gränzen man ſich auf der Grundlage des römiſchen Rechts nicht
klar werden konnte, da man ein Oberrecht des Lehnsherrn über die
proprietas des Vaſallen nicht läugnen konnte und doch auch wieder
zugeſtehen mußte, daß dominium und proprietas das vollkommen freie
und ausſchließliche Recht über die Sache bedeuten, das der Lehnsherr
denn doch in Beziehung auf das Eigenthum des Vaſallen nicht hatte.
Daher ſehen wir von jetzt an das Beſtreben, jenes Oberrecht des
Lehnherrn ſo viel als möglich in juriſtiſche Formulirung zu bringen.
So entſtanden zunächſt der Unterſchied von dominium directum und
utile; dann der Verſuch, das Rechtsverhältniß des oberſten Lehnsherrn
durch Ausdrücke zu bezeichnen, bei denen man die Worte dominium
[169] und proprietas ſorgfältig vermied, um zu keiner Verwechslung Anlaß
zu geben. So ſagt Baldus in C. un. vers. et praem. ergo de
alleud. in usibus Feud.: „Omnia feuda et praedia censualia et
allaudialia
a principe procedunt et ad principem redeunt.“

Was das entſcheidende „procedunt“ juriſtiſch bedeutet, das zu ſagen
überließ dann das römiſche Recht dem Lehnsherrn; ſo viel ſtand jedoch
feſt, daß es jetzt zwei Arten des Eigenthums gebe; was dagegen nicht
recht feſt ſtand, das waren die Gränzen zwiſchen beiden, das Maß des
Rechts, welches das dominium directum oder feudale, oder das utile
— das doch im Grunde die eigentlich römiſche proprietas enthielt —
beſitzen ſollte. Offenbar lag hier ein Verhältniß zum Grunde, das
mit privatrechtlichen Begriffen nicht erſchöpft werden konnte, obwohl es
ſich auf privatrechtliche Objekte bezog und im privatrechtlichen Sinne
des römiſchen Rechts behandelt wurde. Und dieß Verhältniß kam nun
in der zweiten Epoche zum Ausdruck, aber allerdings nicht zur end-
gültigen Entſcheidung.


Als nämlich mit dem dreißigjährigen Kriege ſich das Territorial-
ſtaatsrecht entwickelt, entſtehen in Deutſchland zwei Klaſſen von Reichs-
ſtänden. Die eine Klaſſe beſteht aus wirklichen kleinen und größeren
Staaten, welche kleinere und größere Herrſchaften in ſich aufnehmen,
und über dieſelben eine eigentliche Verwaltung zu entwickeln beginnen.
Die zweite Klaſſe, die kleinen Reichsſtände dagegen, ſind nichts als
ſouverain gewordene Grundherrlichkeiten. Da aber die Souverainetät
beiden angehört, ſo muß nun auch auf beide der Begriff des domi-
nium principis
angewendet werden. Offenbar nun aber waren beide
Klaſſen in Beziehung auf den ihnen angehörigen Grund und Boden
in ſehr verſchiedenem Verhältniß. Die erſte Klaſſe hatte über alles,
was nicht proprietas fisci oder principis war, kein eigentliches Eigen-
thum, ſondern nur die ſtaatliche Herrſchaft; die zweite Klaſſe dagegen
„ſolche deutſche Staaten, welche aus der Verbindung einzelner einem
Fürſten oder ſeiner Familie eigenthümlich zugehörender Güter
(dominium im Sinne der proprietas) entſtanden ſind, haben ein wah-
res
, über Grund und Boden des Landes ſich erſtreckendes Eigenthum.“
So noch Runde 1795 (Deutſches Privatrecht §. 101). Da man
nun den Ausdruck „dominus“ und mithin auch den Ausdruck „domi-
nium“
auf beide Klaſſen urſprünglich ganz gleichmäßig anwenden
mußte, weil am Ende beide Lehnsherren und ſouverain waren, ſo
ward jetzt von den abſoluten Anhängern der fürſtlichen
Gewalt der Begriff der proprietas mit dem des dominium
überhaupt
verſchmolzen und der Fürſt als dominus quoad proprie-
tatem totius terrae
angeſehen auch da, wo er gar kein Eigenthumsrecht
[170] hatte. Dieſe Begriffsverwirrung aber war denn doch nicht bloß zu
groß, ſondern auch ſowohl der ſtändiſchen Selbſtverwaltung als ſogar
dem Princip des Eigenthums überhaupt zu gefährlich, und es ent-
ſtand daher ein Proceß, der die Unterſcheidung zwiſchen dominium
und proprietas wieder herſtellte. Nun behielt die Sache anfänglich die
große Schwierigkeit, daß man in der lateiniſchen Literatur den Aus-
druck dominium auch für die fürſtliche Herrſchaft beibehalten mußte,
der jedoch nach wie vor für die Juriſten die proprietas bedeutete (wie
C. 1. §. 1. D. d. Scto. Silan. „domini appellatione continetur qui
habet proprietatem,“
und vielfach). Es war daher zu einer rechten
Klarheit nicht zu gelangen, bis man im 18. Jahrhundert anfing,
deutſche Ausdrücke zu gebrauchen; erſt dieſes Auftreten deutſcher Aus-
drücke entſcheidet die zweite Epoche.


Es erklärt ſich daher wohl einfach, wenn wir bemerken, daß jener
Proceß der Unterſcheidung zwiſchen dominium und proprietas ſo lange
unvollſtändig bleibt, als die betreffende Literatur noch lateiniſch iſt,
und das iſt im Weſentlichen das 17. Jahrhundert; erſt im achtzehnten,
wo man anfängt deutſch zu ſchreiben, greift auch der deutſche Gedanke
durch, und dieſen nun bezeichnen die beiden Worte „Landeshoheit“ und
„Staatseigenthum.“ An ſie und ihre Bedeutung knüpft ſich ein
Stück Literaturgeſchichte, das nicht zu vergeſſen der Mühe werth iſt.


Als nämlich im Anfange des 17. Jahrhunderts die junge königliche
Macht in den Hauptländern Europas den Kampf mit dem Lehnsweſen
und der Grundherrlichkeit aufnimmt, in Spanien und den Niederlanden
mit Philipp II. und ſeinen Nachfolgern, in Frankreich mit Richelieu,
in England mit den Stuarts, in Dänemark mit Friedrich III., in
den einzeln entſtehenden deutſchen Staaten mit den Landesfürſten,
entſteht die theoretiſche Frage, ob die allerdings anerkannte lehnsherr-
liche „Suzerainetät“ des Landesherrn auch demſelben das Recht zur
Regierung, die „Souverainetät“ gebe. Und in dieſer Frage war es,
wo Hugo Grotius mit deutſchen Gedanken, aber in lateiniſcher Sprache
den Ausgangspunkt der neuen Theorie bildet, die das 17. Jahrhundert
beherrſchte und jenem Manne vorzugsweiſe ſeine Stellung in der Ge-
ſchichte der Rechtsphiloſophie gegeben hat. Es iſt die große Bedeutung
des Hugo Grotius, die ganze, bereits im 16. Jahrhundert vorhandene
Auffaſſung des jus naturae, die in der ſchon vor Hugo Grotius keines-
wegs unbedeutenden rechtsphiloſophiſchen Literatur aufgeſtellt war, zu
der concreten Frage über das Eigenthumsrecht des Fürſten am
Staate und dem Umfang deſſelben
kryſtalliſirt zu haben. Die
vortreffliche und höchſt gründliche Arbeit von Kaltenborn „die Vor-
läufer des Hugo Grotius auf dem Gebiete des jus naturae et gentium“
[171] (1848) hat den wir möchten faſt ſagen einzigen Fehler, eben dieſe be-
ſtimmte Beziehung auf jene Hauptfrage der europäiſchen Staatenbildung
nicht klar und feſt genug erkannt und herausgehoben zu haben; denn
in der That war ſie die Grundlage und das Ziel aller Theorien noch
lange nach Hugo Grotius, ja faſt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Hugo Grotius aber nahm hier eine ganz entſcheidende Stellung ein.
Sein Lib. I. C. 3. iſt das Compendium der Principien ſeines Staats-
rechts. Darnach muß man unterſcheiden. Das Recht der „Könige“ und
ihrer „Herrſchaft“ (imperium) entſteht entweder aus der Wahl und dem in
ihr liegenden Vertrage, oder aus der Eroberung. Das Recht des Königs
iſt im erſten Falle ein beſchränktes, aber im zweiten Falle ein unbe-
ſchränktes
. Dieſes unbeſchränkte Recht umfaßt nun auch das Eigen-
thum; ſolche Könige ſind „reges pleno jure proprietatis, ut qui justo bello
imperium quaesierunt, aut in quorum ditionem populus aliquis — ita
se dedidit, ut nihil exciperetur“ lib. 1. cap.
3. §. 11. Bei dieſen
Königen entſteht nun die Frage, ob ihr jus proprietatis ſich bloß auf das
Recht der Regierung, oder auch auf die Freiheit der Einzelnen er-
ſtreckt. Und darauf antwortet Hugo Grotius: „At sicut est alia potestas
dominica, alia regia, ita et alia libertas personalis, alia civilis, alia
singulorum, alia universorum. Hic non de hominum singulorum,
sed de populi libertate quaeritur. — Cum populus alienatur, non
ipsi homines alienantur, sed jus perpetuum eos regendi.“
So er-
ſcheint hier das Princip der perſönlichen Freiheit als die abſolute, von
keiner Staatsform zu überſchreitende Gränze der höchſten Staatsgewalt;
das war die wahre Baſis des Princips der Reformation, ein neuer
Gedanke gegenüber dem alten jus feudale, in welchem der Menſch ſtets
in untrennbarer Verbindung mit dem Grundbeſitz und daher auch mit
dem Recht des Lehnsherrn über dieſen Grundbeſitz gedacht, und dieſem
Rechte des Grundbeſitzes auch perſönlich unterworfen wird. So iſt
jener Gedanke des Hugo Grotius, die principielle Scheidung der Per-
ſönlichkeit vom Beſitz und ſeiner Abhängigkeit, der theoretiſche Aus-
gangspunkt der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
und ihrer
Scheidung von der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung. Allein während
Hugo Grotius auf dieſe Weiſe, wie er es in dem obigen Satze aus-
drücklich hervorhebt, den Menſchen frei macht, macht er den Staat
nicht frei
. Er erkennt vielmehr an, daß es Staaten gebe, deren
„imperium“ in der plenitudo juris proprietatis dem Eigenthum des
Landesherrn beſtehen könne. Dieſe Staaten nun nennt er die „regna
patrimonialia,“
und ſetzt ſie ausdrücklich den regnis quae non in patri-
monio sed „tanquam“ in usufructu habentur“
entgegen. Die erſten
kann der König ganz nach ſeiner Willkür regieren, ja quo minus rex
[172] regnum (patrimoniale) alienet, nihil impedit.“
Bei den letzteren da-
gegen iſt der König an die Zuſtimmung der Stände für ſeine
Thronbeſteigung, alſo auch für ſeine ganze Regierung gebunden —
„ut imperium totum valide transeat, populi totius consensu opus
est, qui expediri potest per partium legatos, quos ordines vocant.“

Damit war die erſte Baſis für den Unterſchied der freien und un-
freien Verfaſſung gefunden, nicht auf Grundlage eines abſtrakten Be-
griffes, ſondern auf derjenigen der hiſtoriſchen Staatsbildung, und
einerſeits der Raum für die reine Philoſophie gegeben, die alsbald für
jenes Recht des Landesherrn das begriffliche Weſen des Staats als
Grundlage nahm, wie in England Hobbes (ſ. oben), in Deutſchland
Pufendorf (1667), der in ſeiner Auffaſſung des Staats noch weiter
ging als Hugo Grotius und faſt eben ſo weit wie der von ihm nicht
citirte, und doch ihm ſo wohl bekannte Hobbes; er ſagt im jus nat. et
gent. lib. VII. cap. 6. §. 16: Qui (patrimonialiter imperans) licet
victis libertatem personalem et dominium privatum relinquat, sal-
tem tamen imperium in ipsos pleno et irrevocabili modo sibi vin-
dicare intelligitur.“
Andererſeits fanden jetzt auch die hiſtoriſchen Stu-
dien über das poſitive Recht dieſes Königthums damit einen feſteren
Anhaltspunkt, wie wir gleich ſehen werden. Und ſo konnte nun, nach-
dem man über das Weſen der Patrimonialſtaaten gegenüber denen der
ſtändiſchen einig war, die zweite Frage entſtehen, wie weit denn nun
jenes imperium gehe. Das iſt der Punkt, auf welchem ſich hiſtoriſch
der Begriff der Landeshoheit von dem des Staatseigenthums, die beide
ſchon in dem Unterſchiede der Ausdrücke imperium und dominium
liegen, zu ſcheiden, und die Auffaſſung des 18. Jahrhunderts zu bilden
beginnt.


Schon Hugo Grotius war ſich darüber klar, daß in jedem
Staate unterſchieden werden müſſe zwiſchen dem eigentlichen patrimonium
principis,
dem perſönlichen Eigenthum des Fürſten an gewiſſen Gütern,
und dem, was wir jetzt das Staatseigenthum nennen. Nur wendete
er den Unterſchied des Patrimonial- und ſtändiſchen Staates auch auf
dieſe Verhältniſſe, die bona publica des römiſchen Rechts an, und
kam conſequent zu dem Schluß, daß in den Patrimonialſtaaten auch
dieſe bona publieu proprietas des dominus ſeien. „Ut enim res
est ager“
(Grundbeſitz) ita et iter, actus, via, sed haec alii (die Patri-
monialfürſten) habent jure pleno proprietatis, alii jure usufructuario.“
(Lib. 1. cap. 3. §. 11.)
Offenbar war nun dieſer letztere Begriff des
jus usufructuarium eines ſtändiſch begränzten Königthums höchſt un-
klar; denn es handelte ſich bei der im 17. Jahrhundert entſtehenden
Verwaltung nicht ſo ſehr um den Ertrag, als um das Recht,
[173] Verwaltungsmaßregeln über dieſe „res,“ die öffentlichen Angelegenheiten,
zu erlaſſen. Einen Begriff der Verwaltung aber hatte man nicht; ſo
kam man wieder auf den Begriff des dominium und den der proprietas
zurück, um das Recht des Königs dadurch zu definiren. Und da nun
einmal feſtzuſtehen ſchien, daß zwar das abſtrakte imperium im Weſen
des Königthums liege, die Anwendung deſſelben auf die „res“ dagegen
ein Eigenthumsrecht vorausſetze, während eine proprietas an denſelben
denn doch nicht zugegeben ward, ſo erfand man eine neue Art des
Eigenthums, eben das dominium eminens, das iſt diejenige Art des
Eigenthums, welche den Rechtstitel für den Erlaß und die Durchfüh-
rung von Verwaltungsmaßregeln in Beziehung auf jene mit dem
Grundbeſitz verbundenen öffentlichen Angelegenheiten abgeben ſollte. Die
Literatur über dieſen ſpecifiſchen Begriff des 17. Jahrhunderts iſt eine ſehr
reiche; die bedeutendſten Arbeiten ſind J. Fr. Horn, Dissertatio do-
minium supereminens
1658 und Hermann Conring, Dissertatio
de dominio eminente
1667. Schon Hugo Grotius hatte den Grund zu
dieſer Scheidung des imperium vom dominium, der Scheidung der
Staatsidee vom grundherrlichen Fürſtenthum gelegt, indem er das
Criterium dafür in die von den höheren Staatsbedürfniſſen, der ne-
cessitas,
geforderte Aufgaben der Staatsgewalt legt, wobei der Fürſt
ſelbſt ſchon nur noch als Haupt der Gemeinſchaft, der civitas, aufgefaßt
wird. So ſagt er (lib. III. c. 19): „Jus supereminens dominii in
res subditorum, quod civitati competit, et ejus nomine a summam
potestatem habente
exercitur. Id enim jus adomnes spectat res
subditorum
.“
Das iſt eigentlich die erſte hiſtoriſche Definition des
Entwährungsrechts, die uns bekannt iſt, und hier iſt es, wo ſich
der innere Zuſammenhang deſſelben mit dem alten dominium eminens
deutlich zeigt; die „civitas“ iſt hier ſchon unklar der organiſche Staat,
der summam potestatem habens das Staatsoberhaupt und die Re-
gierung. Doch denkt Hugo Grotius offenbar zunächſt an den Patri-
monialſtaat. Bei Chr. Wolff wird die Sache bereits in Formeln ge-
faßt; er findet hier wie immer eine an ſich vollkommen klare Definition,
wenn er auch die Ausdrücke willkürlich anders gebraucht. Nach ihm iſt
ex jure naturali das dominium eminens das jus disponendi de rebus
propriis civium salutis publicae causa,
die potestas eminens das
Recht de ipsis personis civium; das jus eminens begreift beide zugleich,
und ſteht dem „superior“ zu; wer das iſt, ſagt er nicht weiter (vgl.
§. 976); allerdings aber ſind ihm ſchon dominium et imperium ganz
unzweifelhaft duo jura a se invicem prorsus distincta, quorum unum
ab altero prorsus independens est“ (Instit. jur. nat. et gent.
§. 1065.
1749. 1. Auflage). Die übrigen Schriftſteller bei Pütter, Beitr. III.
[174] 193 und 378—382. Daraus nun ergab ſich im Weſentlichen für das
18. Jahrhundert folgendes Syſtem von Begriffen. Das imperium
muß vom dominium als proprietas unbedingt geſchieden werden (J. P.
Slevoigt, de dominio et imperio 1711; J. Fr. Kaiſer, dissertatio
de diverso imperii et dominii jure.
1728; vgl. Henr. Coccejus,
Introduct. ad. Grotium diss. 12). Das imperium beruht auf der
Hoheit, die im Staatsbegriffe liegt; dieſe Hoheit heißt nämlich ſeit
Moſer die Landeshoheit im Gegenſatz zur Reichshoheit, was dann
Pütter (Instit. jur. publ. §. 28) zu einem allgemein anerkannten
Kathederbegriff macht. Dieſe Landeshoheit iſt eben das imperium des
17. und 18. Jahrhunderts, und findet allmählig eine feſte Definition,
die von Hertius (dissertatio de superioritate territoriali, opuscul.
I. P. 2. p.
27), der Grotius’ Lehre eben ſo einſeitig auffaßt wie Poſſe,
(ſ. unten) und am klarſten von Runde (Deutſches Privatrecht §. 101)
am Ende des vorigen Jahrhunderts dahin definirt wird: „Die Landes-
hoheit begreift alle die gemeine Wohlfahrt des Staats zum Zwecke
habenden Rechte der Oberherrſchaft oder Staatsgewalt, mit Ausſchluß
der dem Kaiſer vorbehaltenen Regierungsrechte.“ Die Frage, ob die bona
publica
dem dominium des Landesherrn gehörten oder nicht, ward dann
verſchieden beantwortet; nach dem Syſtem des Hugo Grotius II. c. 2.
§. 4. verſchieden im Patrimonial- und im ſtändiſchen Staate als „do-
minum primi occupatoris, puta populi aut regis“
(im Patrimo-
nialſtaate) ſehr beſtimmt bezeichnet („talia esse solent flumina, lacus
stagna, silvae, montes asperi“
) — darnach dann Heineccius,
(Elem. juris german. I. 367) und eben ſo Vitriarius ſelbſt (Instit.
jur. publ. lib. III. T.
18. §. 6); dagegen Hertius a. a. O. §. 43:
ad summum imperantem non spectare, nisi lex, mos aut major
conjectura (?) exceptionem suggerat.
Chr. Wolff ſetzt die res
publicae
allerdings in dominio totius populi, das jedoch ſein Recht
an den Rektor übertragen kann, der dann nicht bloß das imperium,
ſondern auch das dominium eminens in rebus publicis hat, wobei
jedoch der Gebrauch allein bleibt, während das jus disponendi dem
Rektor gehört (Instit. jur. nat. et. gent. §. 1130). Freilich war mit
dieſen bonis publicis die Sache nicht erledigt, denn noch immer war
der Landesfürſt Lehnsherr und hieß „dominus.“ Zu Lehn aber trugen
faſt alle Grundherren ihren Grundbeſitz. Das Lehnrecht hatte nun mit
dem imperium nichts zu thun, auch nichts mit den bonis publicis;
jetzt handelte es ſich deßhalb darum, ob die Lehnsherrlichkeit ein do-
minium eminens
oder ein Recht für ſich ſei. Hier war es nun, wo
ſich namentlich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die
Anſichten und Tendenzen zum Theil in ſehr entſchiedener Weiſe theilten,
[175] und wo der eigentliche Streit über das dominium eminens entſtand.
Dieſer Streit nun iſt es, den wir als die dritte Geſtalt oder Epoche
in der Lehre vom dominium eminens bezeichnen können. Es iſt, wenn
man ihn im Ganzen überſieht, keinen Augenblick unklar, daß es ſich auch
dießmal eigentlich nicht um ein Eigenthumsverhältniß, ſondern vielmehr
um den großen politiſchen Gegenſatz zwiſchen der herrſchenden abſoluten
Monarchie und den freieren Ideen der Volksvertretung handelt, die
ſchon bei Hugo Grotius wie bei Moſers Landeshoheit dem Ganzen
zum Grunde liegen, und in welchem das dominium eminens nur
Ausdruck und Rechtstitel für die unfreiere Auffaſſung iſt, während das
privatrechtliche Element ziemlich in den Hintergrund tritt. Man kann
deßhalb ſehr klar die zwei politiſchen Richtungen in dieſer juriſtiſchen Frage
unterſcheiden.


Eine Richtung nämlich ſtellte ſich einfach auf den Standpunkt des
alten Martinus und erklärte, daß die superioritas territorialis in ihrer
Anwendung auf den Grund und Boden überhaupt und auf die Lehns-
beſitzungen insbeſondere als dominium eminens das wirkliche Eigen-
thum
des Landesherrn ſei; ſo ſagt der Hauptvertreter dieſer Anſicht
Biener(De natura et indole dominii in Germania I. §. 10): „Omnia
territoria, sine quibus superioritas non intelligitur, in patrimo-
nium et proprietatem
cesserunt cum omnibus juribus regalibus at-
que ipsis adeo subditis et vasallis.“
(Vgl. ib. lib. II. c. 1.) Eben ſo
ſagt Fiſcher (Lehrbuch des Cameral- und Polizeirechts II. §. 451).
Vermöge der Verfaſſung des Mittelalters hat der Staat das Ober-
eigenthum über alle Grundſtücke, nach dem Sprüchwort „Sand und
Land gehört der Herrſchaft;“ doch ſcheidet er ganz beſtimmt davon
das „Staatseigenthum,“ unter dem er die alten bona publica verſteht
(S. 388), was Poſſe (S. 8) falſch verſtanden hat. So mußte noch
Schlözer in ſeinem Staatsanzeiger (Heft 63. S. 358) gegen einen
„Altmagyaren“ kämpfen, der die Baſis der deutſchen Staatsgewalt
dahin definirte, „daß in ſolchen Provinzen, in denen der Regent zugleich
Grundherr ſei, der Landesfürſt nach Belieben ſchalten und walten
könne“ — ſo ſei „der Kurfürſt von Hannover zugleich Grundherr und
Eigenthümer ſeines deutſchen Landes; daher hat in Hannover, eigent-
lich zu reden, niemand nur eine Handbreit Boden zu ſeinem
Eigenthum
.“ — „Mit Oeſterreich verhält es ſich eben ſo wie mit Han-
nover; der Erzherzog iſt Eigenthümer des Landes. In Oeſterreich
iſt unſer Erbkönig daher zugleich Eigenthümer wie ein anderer Grund-
herr in ſeinen Gütern; in Ungarn iſt er dagegen nur Erbbeamter
(vgl. Poſſe a. a. O. S. 5—7). Die Anwendung dieſes Princips
auf das öffentliche Recht, die Conſequenz der ausſchließlichen Herrſchaft
[176] des Landesherrn, die Negation des Rechts der Stände, der ordines
des Hugo Grotius, lag auf der Hand; der „Patrimonalſtaat“ des
letzteren wurde als die Grundlage des geſammten Staatsrechts an-
genommen, und Landeshoheit und Obereigenthum ſo identificirt, daß
jetzt principiell die Landeshoheit als Eigenthum in das dominium emi-
nens
aufgenommen wurde; der Sicherheit halber ward das dominium
feudale
wieder als „Lehnsobereigenthum“ davon geſchieden, und auf die
Einſchränkungen in Veränderungs- und Veräußerungsrecht reducirt.
(Böhmer, Instit. jur. feud. §. 35 u. öfter; Fiſcher a. a. O. §. 454.)
Dieſer Richtung trat nun die zweite freiere entſchieden entgegen, indem
ſie ein ſolches dominium eminens definitiv verwarf, und die Landes-
hoheit von dem Begriffe und Recht des Eigenthums auch auf dieſem
Gebiete trennte. Zuerſt erſchien Rave, Betrachtung über den Unter-
ſchied der Oberherrſchaft und des Eigenthums; 1766 Pütter in ſeinen
BeiträgenI. Nr. VI. u. IX. führte die Scheidung weiter auf juri-
ſtiſchem Gebiet aus, bis die bedeutende Schrift von A. F. H. Poſſe
über das Staatseigenthum in den deutſchen Reichslanden und das
Staatsrepräſentationsrecht der deutſchen Landſtände (1794) definitiv mit
großer Klarheit und gründlicher Gelehrſamkeit den Satz feſtſtellte, „daß
das Staatsobereigenthum — nur die Befugniß der regierenden Gewalt
— eine Aufopferung des Privateigenthums und die Beſchränkung der
natürlichen Freiheit der Unterthanen zur Beförderung des allgemeinen
Wohles oder der allgemeinen Bequemlichkeit nach Verhältniß des dem
Ganzen dadurch zu verſchaffenden Vortheils enthalte, daß aber der
Grund dieſes Rechts in der aus den Staatszwecken unmittelbar flie-
ßenden Staatsgewalt und nicht in einem Eigenthum des Staats
an den Unterthanen und dem Landesbeſtande liege“ (S. 11), ein Satz,
den Hufeland in ſeinen Lehrſätzen des Naturrechts §. 396 in ähn-
licher Weiſe gegen die naturrechtliche Lehre Pufendorfs, dem Princip
des Patrimonialſtaates, „daß alles Eigenthum nur Begünſtigung des
Staats ſei“ und Häberlin im Repertorium des Staats- und Lehns-
rechts (Artikel: Obereigenthum) publiciſtiſch nachgewieſen hatte, und den
endlich Runde in ſeinem deutſchen Privatrecht definitiv formulirt
(§. 101): „Landeshoheit und Eigenthum ſind zwei ihrem Weſen
nach ſo verſchiedene Rechte, daß die Beſtandtheile und Wirkungen des
Einen ſchlechterdings nicht als Inbegriff des Andern betrachtet werden
dürfen.“ Man kann ſagen, daß damit die Frage endgültig entſchieden war;
die Ideen Bieners und Fiſchers verſchwinden, und damit verſchwindet
auch der Begriff und Name des
dominium eminensaus der
ganzen Literatur
. Mit dem 19. Jahrhundert iſt ſeine hiſtoriſche
Miſſion vollbracht; es bleibt nur Eines übrig, und das erhält ſich bis
[177] auf die neueſte Zeit. Wir haben ſpäter darauf zurückzukommen. Es
iſt der Begriff des jus eminens, der aber eigentlich mit dem des do-
minium emineus
direkt nichts zu thun hat. Das jus eminens be-
deutet nämlich durchaus nie — wenigſtens finde ich keine darauf be-
zügliche Stelle — ein Obereigenthum, ſondern genau das Nothrecht
des Staats, als ratio status extraordinarii, favor oder apex neces-
sitatis
u. a. m. Natürlich kommt dieſer Begriff erſt da ſelbſtändig zur
Erſcheinung, wo das dominium eminens beſeitigt iſt, obgleich er ſchon
früh anerkannt iſt. Dieſer Begriff iſt es nun, der ſich in der Literatur
des 19. Jahrhunderts erhielt und in den Lehrbüchern, wir können nicht
anders ſagen als unverſtanden fortgeſchleppt, und zur größeren Ver-
wirrung faſt immer mit dem dominium eminens zuſammengeſtellt wird
(ſ. z. B. Klüber, Oeffentl. Recht §. 551; Zachariä, Deutſches Staats-
und Bundesrecht II.), ohne das man ſich über das Weſen beider Rechen-
ſchaft abgelegt hätte (ſ. unten). Das dominium eminens aber war
jetzt der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und dem öffentlichen Recht der-
ſelben, ſowohl der Rechtsphiloſophie als dem deutſchen Privatrecht, ganz
unklar geworden, und wird daher, wenn es noch vorkommt, ohne Ver-
ſtändniß ſeiner hohen politiſchen Bedeutung in der Geſchichte rein als
ein lehnsrechtlicher Begriff wie bei Eichhorn (§. 565), oder als eine
Modifikation des Eigenthumsbegriffes wie bei Mittermaier (Deutſches
Privatrecht I. §. 156; Albrecht, Gewehre S. 75. 283; Beſeler,
Erbverträge I. S. 79) angeſehen. Daß es eine geſchichtliche Thatſache
und Bewegung enthalte, ſah niemand, und der Mangel an jedem prak-
tiſchen Werth erhielt es nur noch nominell. An ſeine Stelle tritt alsbald
der Begriff der Expropriation, auf den wir unten kommen.


Dieß iſt, wie wir glauben, das Weſentliche in dem Stück deutſcher
Rechtsgeſchichte, das uns das hiſtoriſche Wort dominium eminens be-
zeichnet. Und jetzt können wir fragen, welche Bedeutung daſſelbe für
unſern eigentlichen Gegenſtand, die Idee und das Recht der Entwäh-
rung überhaupt
, und ſpeciell für Idee und Recht der Entlaſtung
gehabt habe?


Die Antwort liegt, denken wir, in dem Schlußpunkt der Geſchichte
des dominium eminens ſelbſt. Aus dem faſt zwei Jahrhunderte wäh-
renden Streit hat ſich endlich der Grundſatz hieraus gebildet, daß wie
Poſſe und Runde (a. a. O.) ſagen, die regierende Gewalt das
Recht habe
, für die Beförderung des allgemeinen Wohles, für die
Verwirklichung der höchſten Staatszwecke, oder wie die Ausdrücke ſonſt
lauten mögen, „von dem Unterthanen die Aufopferung ihrer erworbenen
Güter und ſelbſt ihres Lebens zu fordern.“ Damit war dann das
gefunden, deſſen die junge Verwaltung gegenüber der Grund-
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 12
[178]herrlichkeit bedurfte, um die Lage der unterworfenen Geſchlechter-
klaſſe, deren Unfreiheit zum Privatrecht des Grundherrn geworden war,
auch gegen den Willen der Berechtigten durch eine Verwaltungsmaß-
regel durchzuſetzen. Der Rechtstitel der Befreiung des Bauern-
ſtandes und der Leib eigenen war gegeben
, und das dominium
eminens
iſt es, an welchem er zum Bewußtſein und zur Geltung ge-
langt, obwohl das dominium eminens ſelbſt darüber untergeht. Das
iſt das große Ergebniß dieſer Bewegung.


Nachdem nun dieß feſtſtand, kam es zunächſt nur darauf an, die
innere und äußere Nothwendigkeit dieſer Befreiung, den volkswirthſchaft-
lichen Titel für dieſelbe zu finden, um die Staatsgewalt zur wirklichen
Entlaſtung fortſchreiten zu laſſen.


In dieſem Theile der Bewegung ſpielt nun die Staatswiſſenſchaft
eine nicht unbedeutende Rolle. Jedoch darf man ſich über ihre Leiſtungen
und Forderungen nicht täuſchen, und wir glauben daher, ſie hier
charakteriſiren zu müſſen.


V. Das Verhältniß der ſtaatswiſſenſchaftlichen Literatur zur Grund-
entlaſtung.

(Juſti, Berg, Runde, Fichte; die romantiſche Schule in der Bauernfrage: Adam
Müller. Die hiſtoriſch juriſtiſche Richtung: die Entſchädigung; die landwirth-
ſchaftliche Richtung: Thaer und Stüve.)


Wenn wir es unternehmen, hier denjenigen Theil der deutſchen
Literatur zu charakteriſiren, der ſich ſeit hundert Jahren mit der Frage
nach der Freiheit des Grundeigenthums beſchäftigt hat, ſo müſſen wir zwei
Bemerkungen voraufſchicken. Die erſte iſt die, daß wir im Verhältniß
zu dem ungemein großen, und noch dazu faſt in lauter kleinen Abhand-
lungen zerſplitterten Stoff denſelben keineswegs ganz bemeiſtert haben.
Wir müſſen im Gegentheil geſtehen, daß wir wenigſtens in dieſer Be-
ziehung weit hinter unſerer Aufgabe zurückgeblieben ſind. Indeſſen
haben auch gelehrtere Männer es nicht vermocht, denſelben als Theil
einer größeren Arbeit zu bewältigen, wie Mohl in ſeiner großartigen
Literatur der Staatswiſſenſchaft Bd. II. 318 f. zeigt, der mit Recht
klagt, daß es nicht einmal ein Werk gebe, „welches das geſammte
Rechtsverhältniß der Bauern in Deutſchland, ſei es geſchichtlich, ſei
es rechtlich, darſtellte“ (vgl. Note 1). Wir werden erſt dann zu
einem vollen Bilde dieſer literarhiſtoriſchen Bewegung gelangen, wenn
ſich Specialarbeiten aus der Geſchichte der Staatswiſſenſchaften der
Sache annehmen, wie die ſchönen B[i]lder von Roſcher über die
früheren Nationalökonomen Oeſterreichs in Hildebrands Jahrbüchern,
[179] oder die nicht minder gründliche und geiſtvolle Arbeit von G. Schmoller
(„Zur Geſchichte der nationalen Anſichten in Deutſchland während der Re-
formation,“ 1861). Uns iſt es hier nur möglich, den Gang der Lite-
ratur in großen Grundzügen anzugeben; leider haben Sugenheims
Arbeiten ihn von dieſer Richtung fern gehalten. Dennoch iſt die Sache
ſelbſt ſo bedeutſam für das innere geiſtige Leben der Deutſchen, daß wir
das Eingehen auf dieſelbe für eine, auch der tüchtigſten Kraft würdige
Aufgabe halten.


Denn dieſe Literatur zeigt uns, daß der deutſche Geiſt auch in
ſeinen bedeutendſten Vertretern noch im Beginn unſeres Jahrhunderts
ganz unfähig war, ſich in der Weiſe für die freie Entwicklung der
niederen Klaſſe, ja für die geſellſchaftliche Freiheit und das wahre
Staatsbürgerthum zu begeiſtern, wie der franzöſiſche. Es iſt im Gegen-
theil keinen Augenblick zu verkennen, daß die Deutſchen vielmehr mit
der größten Vorſicht, zum Theil auf großer Anſchauung, zum Theil
aber auch auf ſtrengen Vorurtheilen beruhend, an die Frage nach der
Befreiung des Bauernſtandes gehen. Es liegt auf der ganzen, faſt
hundert Jahre dauernden Literatur eine gewiſſe Kälte, über die wir
ſtaunen müſſen; da iſt mit gar wenig Ausnahmen nirgends die Rede
von jenen gewaltigen Ideen, welche Frankreich an die Spitze von
Europa hoben; da iſt nirgends jener Schwung der Gedanken, nirgends
jene mächtige Rückſichtsloſigkeit des Princips, welche Menſchen und
Dinge gleichmäßig und unwiderſtehlich fortreißt, nirgends daher auch
die Gewalt über Völker und Staaten, wodurch Frankreich ſich an die
Spitze der Civiliſation emporſchwang. Die ganze Frage nach der Be-
freiung des Bauernſtandes verläuft ruhig und ſtückweiſe, theoretiſch
und methodiſch; ſie iſt durch und durch geſättigt mit der an ſich ſehr
achtbaren Angſt, „wohlerworbene Rechte“ zu verletzen; ſie thut dem
Einen zu wenig, um dem Andern nicht zu viel zu thun, und während
Deutſchland in Philoſophie, Poeſie und gewiſſenhafter Gelehrſamkeit ſich
an die Spitze Europas ſtellt, iſt es in dem Verſtändniß der entſcheiden-
den ſocialen Fragen ſo weit hinter dem Weſten zurück, daß der Vor-
rang Frankreichs und Englands ſelbſt dem für das deutſche Weſen am
meiſten Begeiſterten klar war. Lag das an dem tiefen, conſervativen,
die ganze Natur des deutſchen Volkes durchziehenden Grundzug der Ach-
tung vor dem Unterſchied der ſtändiſchen oder Geſchlechterklaſſen? Lag
es an dem nicht minder tiefen Bedürfniß deſſelben, ſich über jedes erſt
vollſtändig bewußt ſein zu wollen, ehe es mit poſitiven Maßregeln vor-
geht? Lag es an dem Mangel eines einheitlichen Staats, in deſſen Ver-
tretungen ſich die Ueberzeugungen zur Begeiſterung entzünden? Lag es
an allen dieſen Urſachen zugleich? Gewiß iſt nur, daß wir auf dieſem
[180] Gebiete vielleicht mit einem ſehr beſonnenen, aber gewiß nicht glänzen-
den Theile der Literatur zu thun haben. Der ganzen Entlaſtungsliteratur
fehlt auf jedem Punkte die Initiative, und die Verwaltungen der deut-
ſchen Staaten ſind mit all ihrer ängſtlichen Beſchränkung auf das Un-
vermeidliche dennoch den Schriftſtellern des deutſchen Volkes hier weſent-
lich voraus geweſen.


Wir können nun in dieſer Literatur die des vorigen Jahrhunderts
von der des gegenwärtigen allerdings ſcheiden; aber wir müſſen leider
hinzufügen, daß die Arbeiten der ſiebziger Jahre keinen Schritt hinter
den Anſichten zurückſtehen, die wir noch unmittelbar vor 1848 in
Werken wie Mohls Polizeiwiſſenſchaft und andern wiederfinden. Der
pragmatiſche Gang der Dinge iſt nun im Weſentlichen folgender.


Der Beginn des literariſchen Kampfes für die Befreiung des Bauern-
ſtandes lag in dem von uns bereits hervorgehobenen Kampf über die
urſprüngliche bäuerliche Unfreiheit zwiſchen Eſtor und Hauſchild, wenn
man nicht allgemeinen und vagen Anſichten, wie die von Hugo Grotius
(de Jure Belli et Pacis II. 5. 27), daß der Herr auch Verpflichtungen
gegen den Leibeigenen habe, Bedeutung beilegen will. Gegen das Ende
jenes rechtshiſtoriſchen Kampfes nämlich beginnen die großen Auffaſ-
ſungen der Phyſiokraten nach Deutſchland herüber zu reichen. Turgots
Ideen, Mirabeaus Buch über den Menſchen, Arthur Youngs land-
wirthſchaftliche Reiſe nach Frankreich, die ſeiner Zeit viel beſprochene
Broſchüre: Des inconvenients des droits feodaux 1776, in Paris durch
Henkershand verbrannt, die erſte praktiſche Anwendung der phyſiokra-
tiſchen Lehren auf die beſtehenden Rechtsverhältniſſe der Bauern werden
in Deutſchland bekannt, und jetzt entſteht die erſte Bewegung, die ſich
der Frage nach der Aufhebung der Leibeigenſchaft und der Frohnden
zuwendet. Und hier dürfen wir mit Stolz auf den eigentlichen Gründer
der deutſchen Polizeiwiſſenſchaft, Juſti, hinweiſen, der mit glänzender
und warmer Ueberzeugung, freilich faſt ganz allein ſtehend, die Sache
der Befreiung des Bauernſtandes verſicht, und der faſt allein Deutſch-
land gegenüber Frankreich vertritt. Er ſagt (Polizeiwiſſenſchaft I. Bd.
1. Buch, Hauptſtück V. §. 182): „Die Freiheit des Bürgers und aller
Mitglieder des Staats iſt gleichſam die erſte weſentliche Eigenſchaft aller
bürgerlichen Verfaſſung. Die Staaten, worinnen ein Stand oder Klaſſe
des Volkes der andern mit Unterthänigkeit oder Leibeigenſchaft verwandt
iſt, haben eine ſo monſtröſe Verfaſſung, die nur in den allerbar-
bariſcheſten Zeiten habe beſtehen können, die aber geſittete und ver-
nünftige Zeiten ohne Schaden nicht fortſetzen können.“ Daher „ſollen
die Bauern Eigenthümer der Landgüter ſein“ und dieß ſoll die
Regierung durch hohe Beſteurung der Beſitzer unfreier Güter erzielen,
[181] §. 183. Es iſt wohl kein Zweifel, daß ihm dabei das im Principe
noch mehr als in der Durchführung ſo großartige Syſtem der Grund-
ſteuer von Maria Thereſia vor Augen lag, das zuerſt in Europa den
Gedanken verwirklichte, auch die Grundſtücke der Herren der Grund-
ſteuer direkt zu unterwerfen. In der That handelte es ſich dabei keines-
wegs bloß um eine Erhöhung der Grundſteuer ſelbſt, ſondern eben ſo
ſehr um das Princip der rechtlichen Gleichheit des herrlichen und
bäuerlichen Beſitzes gegenüber dem Geſetze; und von dieſem Gedanken
bis zu dem der Anbahnung einer Grundentlaſtung vermöge dieſer Steuer
war nur Ein Schritt. Dieſen Schritt deutet Juſti an, und ſeine Ge-
danken ſind eben ſo ſehr die des damaligen großartigen Regierungs-
ſyſtems in Oeſterreich (das Sugenheim unſeres Wiſſens zuerſt und
trefflich durch das richtige Verſtändniß des öſterreichiſchen Grundkataſters
charakteriſirt hat (a. a. O. S. 472 u. öfter), als die des bloßen Gelehrten.
Wie hoch ſteht übrigens hier jener edle, wenn auch etwas pedantiſche
Charakter über den meiſten ſeiner Zeitgenoſſen und Nachfolger, die kaum
einmal wagten, auch nur von Ablöſungen der Laſten zu reden, und
ſich meiſt nur zur Forderung von gemeſſenen Frohnden ſtatt der unge-
meſſenen erheben! Denn auch der ſonſt ſo frei geartete Sonnen-
fels
bleibt bei dem Kampf der Regierung gegen zu große Güter ſtehen
(Handlung §. 85 ff., nicht wie Roſcher citirt 103). Von dem Folgen-
den hat eigentlich nur Lotz denſelben Muth gehabt wie Juſti. Die
Literatur des vorigen Jahrhunderts kam nicht zum Gedanken eines
„Eigenthums der Bauern an ihrem Landgute,“ ſondern beſchränkte ſich
auf den Kampf gegen die Frohnden, und es iſt anzuerkennen, daß man
im Anfang die Frohnden überhaupt, ohne Unterſchied, beſeitigen
wollte (Gedanken von der Abſtellung der Naturaldienſte 1777 Wide-
mann
über die natürlichſten Mittel, die Frohndienſte aufzuheben 1795);
ſchon damals die Umwandlung der unbeſtimmten Gefälle in feſte
Renten
(Möſer, patriotiſche Phantaſien III. S. 321) und noch da-
mals galt das als „Phantaſie“! Während auf der einen Seite das
„Bedenken über die Frage, wie dem Bauernſtande Freiheit und Eigen-
thum in den Ländern, wo ihm beides fehlet, verſchafft werden könne“
(1769) die Aufhebung der Leibeigenſchaft und der Dienſte energiſch
vertritt, überkommt andere deutſche Schriftſteller ſchon die Angſt da-
vor, daß nur ja nicht zu vieles und zu plötzliches in dieſer Richtung
geſchehe, wie Büſch, Geldumlauf III. 97; v. Münchhauſens Haus-
vater warnt ſchon geradezu vor der Geldablöſung (1764 T. IV.
§. 296, ſ. RoſcherII. §. 125) und der Herr von Benckendorf hat
den Muth, zu erklären, daß ungemeſſene Dienſte ſogar ſehr nützlich
für den Bauern ſeien (1775, Oeconomia forensis); ja die Schrift von
[182]Weſtfeld: „Ueber die Abſtellung der Herrendienſte“ 1773, die nach
Roſcher a. a. O. die Vortheile der Berechtigten erhöhen will, konnte
ſogar als Preisſchrift gekrönt werden. So ſtanden die Anſichten noch
am Ende des vorigen Jahrhunderts, und es iſt merkwürdig, zu ſehen,
wie die deutſchen Autoren faſt in dem Grade zaghafter werden, in
welchem die deutſchen Verwaltungen ernſthafter daran denken, der glanz-
vollen Erſcheinung Frankreichs und ſeiner ſtaatsbürgerlichen Freiheit in
der Befreiung des Bauernſtandes ein Gegengewicht zu geben. Selbſt
die tüchtigſten Männer, die wir ſonſt hochachten müſſen, erheben ſich,
wie Berg in ſeinem Polizeirecht (1799) höchſtens dazu, die Leib-
eigenſchaft
für „ein erniedrigendes und gemeinſchädliches Verhältniß“
zu erklären (I. Buch III. S. 418); er ſtellt noch faſt ſchüchtern die
Frage: „Sollte die Staats-Polizeigewalt nicht überhaupt berechtigt ſein,
die Leibeigenſchaft gänzlich aufzuheben?“ und kommt zu dem
ächt deutſchen Schluſſe: Wenn der Regent ſelbſt Leibherr iſt, ſo
kann er ohne Anſtand ſeinen Unterthanen die Freiheit geben; ſind
dagegen Bürger des Staats in dem Beſitze der Leibherrſchaft, ſo muß
für die damit verbundenen nützlichen Rechte ein billig mäßiger Er-
ſatz geleiſtet werden.“ Auf demſelben Standpunkt ſteht Runde im
deutſchen Privatrecht §. 553; ſpeciell erörtert in EggersDiss. de jure
imperantis libertatem personalem perfectam restituendi rusticis glebae
adscriptis
(1781); ſelbſt Poſſe kommt nicht weiter (ſ. weitere, mir
unerreichbar gebliebene Literatur des vorigen Jahrhunderts bei Koch
Agrargeſetzgebung, Einleitung. Was half es da, wenn Berg wieder
(in Bd. III.) eine ausführliche Lehre von der landwirthſchaftlichen Polizei
und ſchöne Principien über die landwirthſchaftliche Bildung aufſtellte?
Hatten doch manche deutſche Verwaltungen gethan, was für jene
Göttinger Gelehrten noch kathedermäßig fraglich erſchien (ſ. unten), und
während ſie über das Recht diſputirten, drangen die Franzoſen über
den Rhein und riſſen mit gewaltigen Händen nieder, was jene kaum
theoretiſch anzuzweifeln wagten. Wie klein war in jener Zeit eine Ge-
lehrſamkeit, welche die bereits aufgeſtellte Frage nach der Beſeitigung der
Frohnden fallen ließ, wo Frankreich durch ſeine bäuerliche Freiheit weit
mehr als durch die Taktik Napoleons der erſte Staat Europas ward!


In der That iſt es wohl nur dieſer Zuſtand der Geiſter, dieſer
Mangel an wahrhaft bürgerlichem Muthe ſelbſt bei den hochgebildetſten
Männern, der uns die Vereinſamung Steins und ſeiner Turgot-
ſchen Verwaltung im Beginne unſeres Jahrhunderts erklärt. Stein
war vielleicht der einzige Mann in ganz Preußen, der vollkommen klar
die Rettung Deutſchlands allein in der Hebung ſeines Bauernſtandes
und in der, nur dadurch möglichen Herſtellung des freien und
[183] tüchtigen Gemeindeweſens erkannte. Wir kommen auf ſeine großen Maß-
regeln zurück. So wie dieſelben aber erſcheinen, ſo beginnt auch wieder
jene einerſeits naive, andrerſeits leicht erklärliche Angſt, daß der ganze
Zuſtand der deutſchen Geſellſchaft, den theils die Geſchlechterordnung
— in den Städten, ſelbſt in den Familien als Erziehungsprincip herr-
ſchend, auf dem Lande aber die Grundlage der ganzen bäuerlichen
Rechtsverhältniſſe bildend — theils die Ständeordnung und ihre Privi-
legien beherrſchte, darüber zu Grunde gehen müſſe. Jetzt entſteht da-
her ein Suchen und Streben darnach, jene Geſchlechter- und ſtändiſche
Beſchränkung der freien Volksentwicklung, und namentlich die Oppoſition
der Grundherrſchaft gegen die Befreiung des Bauern zu motiviren, und
die ganze ſociale Bewegung jener Zeit wo möglich in enge Schranken zu
bannen. Wir treffen dieſes Streben nur zu oft da, wo wir es am wenig-
ſten vermuthen. Die allgemeine Grundlage iſt das, was wir die Romantik
der Staatswiſſenſchaft nennen möchten, und das den Unterſchied zwiſchen
Stadt und Land, zwiſchen Bürger und Bauer, der zu verſchwinden
droht, wiſſenſchaftlich feſthält. Namentlich der ſonſt ſo großartige Fichte
ſteht hier ganz auf dem Standpunkt des Mittelalters. Er will nicht
weniger, als eine ſtreng geſetzliche Privilegirung aller Arten der
Produktion. „Es muß einer Anzahl Bürger ausſchließend das Recht
zugeſtanden werden, gewiſſe Gegenſtände auf eine gewiſſe Weiſe zu be-
arbeiten. Das nennt man eine Zunft. Die Mißbräuche bei denſelben
ſollten nicht ſein, aber ſie ſelbſt ſollten ſein — denn „der Künſtler
muß von ſeiner Arbeit leben können, laut des (früher) geführten Be-
weiſes.“ Welch eine eigenthümliche Vorahnung des droit au travail!
(NaturrechtII. S. 57. 58. 1796, — Gedanken, die Fichte in ſeiner
1800 erſchienenen, in mehr als einer Beziehung höchſt intereſſanten Ar-
beit „Der geſchloſſene Handelsſtaat. Ein philoſophiſcher Entwurf als
Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik.“
(Stuttgart, Cotta) in eigenthümlicher Weiſe ausführte; doch hat er das
ganze Gebiet dann in ſeiner „Staatslehre“ (1800 aus ſeinem Nachlaß)
fallen laſſen. In ganz ähnlicher Weiſe will ſelbſt Arthur v. Schlözer
(freilich nur der Sohn ſeines Vaters) in ſeiner Schrift: Anfangsgründe
der Staatswiſſenſchaft 1807, Thl. II. 67 noch eine geſetzliche Scheidewand
zwiſchen den Gewerben von Stadt und Land ziehen, wie Möſer mit
ſeinen Phantaſien aus Osnabrück, den contrat social in jenem Winkel
Europas auf den Kopf ſtellend, den Grundſatz zurecht machte, „daß
vermöge eines Originalcontracts die Städte gewiſſe Leiſtungen über-
nommen hätten, für welche ihnen als Compenſationsmittel der aus-
ſchließliche Betrieb der Manufaktur- und Fabrikgewerbe und des Handels
zugeführt worden ſei“ (Patriotiſche Phantaſien I. Nr. 32. S. 201).
[184] Bei ſolchen Anſichten, von denen ſich weder der in allen dieſen Fragen
reichsgräfliche Soden freihalten (National-Oekonomie II. S. 107), noch
deren ſich der weiche Pölitz ſpäter erwehren konnte (Staats-Wiſſen-
ſchaft II. S. 145—148) und die erſt Lotz zurecht wies (Handbuch der
Staatswirthſchaftslehre Bd. II. §. 94 und S. 104. 1838. 2. Aufl.)
darf es uns kaum wundern, wenn der Gedanke, aus dem der Leibeigen-
ſchaft noch nicht einmal entwachſenen Bauern einen Staatsbürger zu
machen, indem man ihn vor allen Dingen von Frohnden und Zehnten
befreite, keinen rechten Raum in der Theorie gewann, und wenn die
tüchtigere Verwaltung des erſten und die Verfaſſungsgeſetzgebung des
zweiten Jahrzehnts hier ſchwere Kämpfe durchzumachen hatten.


Die Literatur des 19. Jahrhunderts, die ſich daran anſchließt,
macht nun in der That mit verhältnißmäßig wenigen und meiſt ſehr
ſchüchteren Ausnahmen nicht einmal einen recht erfreulichen, geſchweige
denn einen erhebenden Eindruck. Es iſt kaum der Mühe werth, dieſe
Partie der Staatswiſſenſchaft, die Deutſchland nicht gerade zur beſondern
Ehre gereicht, genauer durchzugehen. Mohl hat hier mit großem Unrecht
die Schuld auf die Geſetzgebung und die bevorzugten Stände allein
geſchoben (Literatur der Staatswiſſenſchaft II. S. 39); wenn man ſeiner
Sache ſo ungewiß war, wie er ſelbſt als Hauptautorität der Polizei-
wiſſenſchaft, ſo durfte man wahrlich von den Verwaltungen nicht ver-
langen, daß ſie um eines Hauptes höher ſein ſollten, als die „freie“
Theorie. Baumſtark hat dagegen in ſeiner nüchternen, aller idealen
Färbung haaren Weiſe den wahren Kern der Sache und die Schwie-
rigkeit, wie ſie theils wirklich vorhanden war, theils mit großem Geſchick
benutzt ward, einfach genug bezeichnet. Er ſagt (Kameraliſtiſche En-
cyclopädie S. 658, 659): „Freies erbliches Grundeigenthum iſt das erſte
Beförderungsmittel des landwirthſchaftlichen Gewerbes. Allein mit ihr
collidirt die Pflicht zur Sicherung geheiligter (!) Privatrechte, denn
jeder Art von gutsbäuerlicher Belaſtung (ſoll heißen Befreiung) ſteht
ein wohlerworbenes oder wenigſtens verjährtes gutsherrliches Recht
entgegen.“ An dieſem Dilemma ſcheiterte dieſer ganze Theil der
Publiciſtik, und erſt die großen Bewegungen des Volkslebens ſelbſt
ſind über dieſe „geheiligten“ Rechte und ihre Gelehrten hinwegge-
gangen. Die allgemeine Geſtalt dieſes Ganges der Literatur iſt aber
folgende.


Allerdings nämlich erhielt ſich die Grundauffaſſung Juſtis auch
ſeit der Herſtellung des deutſchen Bundes, wie andererſeits die deutſche
Rechtsgeſchichte die Hauſchild’ſchen Behauptungen über die urſprüng-
liche Freiheit des Bauernſtandes beſſer begründete und weiter verfolgte;
ſeit Kindlingers Geſchichte der Hörigkeit, insbeſondere der ſogenannten
[185] Leibeigenſchaft 1819 iſt freilich bis auf Sugenheim nichts Bedeu-
tendes in dieſer Richtung geleiſtet. Allein die Vertretung der Ideen
einer wirklichen Befreiung des Bauernſtandes verflachen ſich zu ziemlich
allgemeinen Phraſen wie bei Jacob, Polizeiwiſſenſchaft Th. II. §. 122,
„daß kein Recht und kein Geſetz fortdauern ſolle, wenn die Umſtände
oder die Einſichten ſich ſo verändern, daß es mit dem allgemeinen
Staatszweck oder mit dem weſentlichen Rechte eines Gliedes des Staats
in Widerſpruch tritt.“ Energiſcher im Allgemeinen, aber nicht eingrei-
fender im Einzelnen ſind Rottecks Anſichten. Die großen Worte,
welche namentlich im Anfange der zwanziger Jahre die von Rotteck
und Welker vertretene Richtung namentlich des badiſchen Liberalismus
in den Mund nahm („heilloſes Unrecht,“ „Zins der Sklaverei“ u. ſ. w.)
waren nicht geeignet, in dem ſehr beſonnen gewordenen Deutſchland
die Sache der Befreiung des Bauernſtandes zu fördern. Der Ge-
danke, daß die Grundlaſt ein „wohlerworbenes Recht“ des Grundherrn
ſei, hätte ein viel tieferes Eingehen gefordert; die rechtshiſtoriſche Bil-
dung war zu weit vorgeſchritten, um nicht das einfache Zuſammen-
werfen von Leibeigenſchaft, Frohnden und Zehnten, wie es z. B. von
Rotteck (in der von ihm geſchriebenen Fortſetzung vom Aretins
Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie II. 1. S. 268—276) ge-
ſchieht, als Gegenargument zu gebrauchen, und die weitere Forderung
dieſer Richtung, die am klarſten Rotteck ſelbſt (a. a. O. S. 270) aus-
ſpricht: „Von allen dieſen Laſten aber fordert der Bauer die unent-
geltliche
Befreiung, eben darum, weil ſie mit Unrecht ihm aufliegen
und weil die Zumuthung des Loskaufs keine Freiſprechung, ſondern
eine bekräftigte Verdammung iſt,“ widerſprach ſogar den einfachen
Grundbegriffen des Privateigenthums, da es durch die neuern Unter-
ſuchungen unzweifelhaft ward, daß wenigſtens ein Theil dieſer Laſten
wirklich ein rein privatrechtliches Verhältniß enthielt. Die Vertreter
der Befreiung wurden durch jene Maßloſigkeit vielleicht viel mehr als
durch die Gegner eingeſchüchtert; denn die Natur des deutſchen Geiſtes
bringt es mit ſich, daß er ſich weit mehr vor dem Unrecht fürchtet,
welches er durch Uebertretung oder durch hiſtoriſche Unkenntniß begeht,
als vor dem, welches auf einem einſeitigen Syſtem beruht. So ſehen
wir denn hier Mohls Ausſpruch beſtätigt, den er wunderlicher Weiſe
dem oben angeführten faſt unmittelbar voraufgehen läßt; „der große
Antheil, den die Wiſſenſchaft an den ſpäteren Verbeſſerungen hat,
unterliegt keinem Zweifel;“ allein „ſie ſind mehr durch die allge-
meine geiſtige Strömung der Zeit, als durch einzelne Beſtrebungen
hervorgerufen worden“ (Literatur der Staatswiſſenſchaft a. a. O. S. 318.)
In der That haben weder Chr. Schlözer in ſeinem „Anfang der Staats-
[186] wiſſenſchaft, noch ſelbſt Krauſe in ſeiner Staatswiſſenſchaft ſich ernſt-
lich damit beſchäftigt; man ſieht deutlich, wie ſie die Sache umgehen.
Und ſo konnte es kommen, daß, als die Entlaſtungsfrage in den
zwanziger Jahren in einzelnen deutſchen Volksvertretungen zur Ver-
handlung kam, die Conſervativen geradezu die Beſeitigung der Grund-
laſten als einen Widerſpruch mit dem wahren Weſen des Bauernſtan-
des aufſtellten, für welchen „der Gutsherr Vater, Freund, Erzieher
und Beſchützer“ ſei (Adam Müller, die Gewerbspolizei in Beziehung
auf den Landbau, 1824) oder wie derſelbe in der Concordia
(Heft II. Wien 1820) ſagt: Die Grundlaſten und die Unfreiheit des
Bauernſtandes dürfen nicht beſeitigt werden, „weil die Landwirthſchaft
das Beharren und Bleiben des Arbeiters, ſeine Adſcription an dem
Materiale des Grundſtücks, ſeine unzertrennliche Verbindung mit dem
Kapitale verlange“ (vgl. Lotz, Staatswiſſenſchaft II. S. 92). In dem-
ſelben Sinn ſchrieb G. v. Aretin (nicht zu verwechſeln mit J. C. von
Aretin, dem oft erwähnten Verfaſſer der „Staatswiſſenſchaft der con-
ſtitutionellen Monarchie“) ſeine Broſchüre: „Die grundherrlichen Rechte
in Bayern, eine Hauptſtütze des öffentlichen Wohlſtandes“ 1819. Dieſer
falſche Conſervativismus ſteigert ſich, wie die Gefahr für denſelben
wächst, bis zur Poeſie der Unfreiheit, namentlich in Bayern, wo
Seinsheim und Moy ſich in den Verhandlungen der bayeriſchen
Kammer ausſprachen (1840): „möge der landwirthſchaftliche Vortheil
auch unzweifelhaft ſein, ſo ſei ſelbſt die Umwandlung der Gutslaſten,
geſchweige denn die Aufhebung derſelben politiſch bedenklich, ſie hebe
die perſönliche Wechſelbeziehung von Gnade und Ergebenheit auf
und ſetze an ihre Stelle ein feſtes Rechnungsverhältniß ohne alle per-
ſönlichen Beziehungen“ (Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 53). Auf dieſe
Weiſe darf es uns kaum wundern, wenn ſelbſt Männer wie Rau an-
fänglich noch ängſtlich das Zunftweſen gerne erhalten hätten („Ueber
das Zunftweſen und die Folgen ſeiner Aufhebung 1816“) — was er
freilich ſpäter änderte und wenn Mohls Polizeiwiſſenſchaft (2. Auf-
lage 1844) noch mit höchſter Vorſicht Zehnten und Frohnden ſcheidet
und ſich auf keinem Punkte zu einem höheren Geſichtspunkte als dem
der Entwicklung der landwirthſchaftlichen Produktion und dem Schutze
der beſtehenden Rechte erhebt, während noch RoſcherII. §. 124 (1860)
ſich mit der Phraſe hilft „mag die Aufhebung einiger“ (auch der
aus der Leibeigenſchaft folgender?) wohl gar aller bäuerlichen Laſten
— unter verzweifelten (!) Umſtänden ohne Entſchädigung nothwen-
dig ſein, ein ungeheures Unrecht und Unglück wird es immer bleiben.“
Daß man dieß „ungeheure Unrecht“ noch im Jahre 1860 für ein
„ungeheures Unglück“ auch in Beziehung auf die ohne Entſchädigung
[187] in Preußen, Oeſterreich und andern Ländern wirklich aufgehobenen
Laſten der alten Leibeigenſchaft erklären, und dafür keinen ernſtlichen
Widerſpruch finden kann, würde die Seinsheim, Adam Müller und
Moy ſehr gefreut haben. — Alle aber kommen in ihren Unterſuchungen
nicht auf das, was denn doch der eigentliche Kern der Sache war, die
Patrimonialjurisdiktion. Dieſe, die denn doch am Ende die
öffentlich rechtliche Organiſirung der Unfreiheit der Ge-
ſchlechterordnung iſt
, iſt während des ganzen 19. Jahrhunderts
ſo gut als gar nicht auch nur berührt, geſchweige denn von der Lite-
ratur ernſtlich bekämpft. Es iſt eine der auffallendſten Erſcheinungen
in der letzteren, daß bei der gründlichen Unterſuchung über die recht-
liche und hiſtoriſche Stellung der Bauern diejenige über die Gutsherr-
lichkeit als ſolche faſt gänzlich fehlt, ſelbſt bei Mittermaier, der doch
noch der einzige iſt, der ſich ernſtlich damit beſchäftigt (Deutſches
Privatrecht I. §. 88.) Und das lag wohl einem großen Theil nach
daran, daß man noch nicht erkannt hatte — erkennt man es denn
jetzt ſchon ganz? — wie der Begriff und das Recht der Grundherrlich-
keit es eigentlich war, welche die Einführung der Gemeindeverfaſſung
namentlich auf dem Lande hindere. Wir kommen darauf unten zurück.
Das Geſammtergebniß dieſer Bewegung iſt, daß dieſe rechtsphilo-
ſophiſche und hiſtoriſche Richtung der Wiſſenſchaft nicht im Stande
war, für die Entwicklung der freieren Geſtaltung die Initiative abzu-
geben; man war über den Standpunkt Juſti’s nicht nur nicht hin-
ausgekommen, ſondern man hatte ihn im Großen und Ganzen nicht
einmal erreicht. Jedenfalls aber ſtand als Princip feſt, daß wenn
eine Aenderung geſchehen ſolle, dieſelbe nur gegen Entſchädigung
der Berechtigten ſtattfinden könne, da ſie „ein Eingreifen in das
Privatrecht
ſei und nur gerechtfertigt werde durch das allgemeine
höhere Intereſſe“ (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 133) — ein Satz,
den man fünfzig Jahre früher eben ſo gut gekannt hatte. Die ganze
Frage nach der Grundentlaſtung war im 19. Jahrhundert für die theo-
retiſche Staatswiſſenſchaft theils in die ſtrenge Unterſcheidung der
Arten und Entſtehungsgründe derſelben aufgelöst, theils aber
(wie bei Mohl) zu einer reinen Frage nach dem Recht und Weſen der
Expropriation geworden, und der Schwerpunkt derſelben lag nicht mehr
in dem Juſti’ſchen Unwillen über die „unwürdige Verfaſſung“ des
Bauernſtandes, ſondern in dem Mohl’ſchen Beweis des „Allgemeinen
Intereſſes“ an der Entlaſtung. Und dieß iſt nun der Punkt, wo ein
neues Element in dieſelbe hineintritt, der, an das „Allgemeine In-
tereſſe“ anknüpfend, von entſcheidender Bedeutung geworden iſt.


Dieß Moment war die Entſtehung der rationellen Landwirthſchaft
[188] und die Ausbildung derſelben zu einer Wiſſenſchaft. Auf beide haben
die beiden großen Schulen der Franzoſen und Engländer, die phyſio-
kratiſchen und die Smith’ſchen Anſichten, entſcheidend eingewirkt. Jene,
indem ſie namentlich in Deutſchland die Ueberzeugung hervorriefen,
daß die Landwirthſchaft die Hauptquelle des Volks- und dadurch des
Staatsreichthums ſei; dieſe, indem ſie für die ganze Volkswirthſchafts-
lehre die Wahrheit zum Dogma erhoben, daß nur die möglichſte Frei-
heit
der wirthſchaftlichen Zuſtände den Flor der Volkswirthſchaft be-
gründe. Aus dem Zuſammenwirken beider ging dann zunächſt der
Eifer hervor, mit welchem ſich die Regierungen der Hebung der Land-
wirthſchaft annahmen, die Organiſirung der „Landes-Oekonomie-Col-
legien,“ die Aufnahme der ſpeciellen „Landwirthſchafts-Polizei“ in die
Polizeiwiſſenſchaft und der Gedanke, daß der Staat das Recht habe,
hier wie auf allen Punkten ſeiner Verwaltung mit ſeinen Geſetzen
durchzugreifen. Da es ſich in Deutſchland nicht um eine Nacht des
4. Auguſts handeln konnte, ſo handelte es ſich um eine Beweisführung
über die landwirthſchaftliche Nothwendigkeit und Nützlichkeit der
Entlaſtung. Dieſe Beweisführung hat die deutſche Literatur über-
nommen und ſie wirklich geliefert. Man kann im Allgemeinen ſagen,
daß die darauf bezügliche Literatur ſich in drei große, hiſtoriſch ein-
ander folgende Gruppen ſcheidet. Die erſte umfaßt die Schriftſteller
des vorigen Jahrhunderts ſeit Juſti, welche nachweiſen, daß die Be-
ſeitigung der Grundlaſten, Frohnden und Zehnten nicht bloß im All-
gemeinen möglich ſei, ſondern auch ohne Benachtheiligung der
Berechtigten vor ſich gehen könne. Wir haben ſchon auf ſie hinge-
wieſen, und dürfen nur den Wunſch ausſprechen, daß ſie recht bald
einmal Gegenſtand der Beſprechung von kundiger Hand werden mögen.
Die zweite gehört den erſten dreißig Jahren unſeres Jahrhunderts
an. An der Spitze derſelben ſteht Thaer in ſeinen verſchiedenen land-
wirthſchaftlichen Werken; von ihm aus geht der dann alle Theile der
Volkswirthſchaftspflege durchziehende, in den verſchiedenſten Formen
wiederholte Beweis, deſſen geiſtige Baſis immer Adam Smith iſt, daß
die unfreie Arbeit die unproduktivſte ſei, und daß daher die
Aufhebung der Grundlaſten eine unabweisbare Bedingung des geſammten
Volkswohles werde. Wir dürfen für die einzelnen Citate auf Rau,
Volkswirthſchaftspflege von §. 53 an, Roſcher, Nationalökonomie II.
von §. 107, Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 133 ff. und deſſen Litera-
tur der Staatswiſſenſchaft (a. a. O.), beſonders auf Bülau in ſeiner
ruhigen, klaren Weiſe: „Der Staat und der Landbau;“ ähnlich, aber
etwas verwiſchter, in ſeinem „Handbuch der Staatswirthſchaftslehre“
1835 §. 46 verweiſen; für den Norden ſpeciell auf Kochs Agrar-
[189] verfaſſung (Einl.). Es iſt kein Zweifel, daß ſchon mit dem Ende der
zwanziger Jahre die wirthſchaftliche Ueberzeugung von der Noth-
wendigkeit der Beſeitigung dieſes „Hinderniſſes der landwirthſchaftlichen
Produktion“ ganz allgemein feſtſteht, die ſich übrigens um die formale
Hauptſache, die gutsherrliche Gerichtsbarkeit, gar nicht kümmerte.
Die Gewißheit, daß die Geſetzgebung hier eingreifen werde und müſſe,
erzeugt dann ſchon in dieſer Zeit eine Reihe von Vorſchlägen, alle mit
der beſtimmt ausgeſprochenen Tendenz, die „geheiligten Rechte“ der
Grundherren ſo viel als möglich zu ſchonen; die juriſtiſch-hiſtoriſchen
Unterſuchungen halten dabei das Bewußtſein der Unterſcheidung in
der rechtlichen Natur der verſchiedenen Laſten feſt, und ſo entſteht eine
wahre Fluth von Arbeiten, die alle demſelben Ziele zuſtreben. Dieſer
ganzen Richtung fehlt lange Zeit freilich eins, das iſt das klare Ver-
ſtändniß von dem, was man von den Regierungen in Beziehung auf
die Entſchädigungen der Berechtigten fordern ſolle. Einerſeits
war man ſich nicht klar über die Natur derjenige Rechte, für welche
man überhaupt Entſchädigung verlangen dürfe, und wie wir gleich
bemerken, man iſt es ſich theoretiſch auch nie geworden, wie nament-
lich die allgemeinen Werke von Mohl und Rau hinreichend beweiſen,
bei denen es in dieſer Beziehung gänzlich an einem Princip fehlte
und fehlt. Andererſeits aber, und das war das ſpecifiſch Praktiſche,
wußte man die als nothwendig erkannten Entſchädigungen nicht zu
organiſiren, da die Entſchädigung durch Abtretung von Land theil-
weiſe bedenklich für den Bauernſtand, theilweiſe werthlos für den
Gutsherrn werden müſſe (ſchon Hagen, über das Agrargeſetz und
deſſen Anwendung. 1814; vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 133
und Rau, neulich RoſcherII. §. 122). Eben deßhalb blieb auch ein
Mann, den wir in der Geſchichte der Staatswirthſchaftslehre ſtets als
einen eben ſo gründlichen als freiſinnigen und verſtändigen Schrift-
ſteller hochſchätzen müſſen, Lotz (in ſeiner Staatswiſſenſchaftslehre II.
§. 96 f.) ohne bedeutenden Erfolg. Dagegen beginnt mit Stüve
(„Ueber die Laſten des Grundeigenthums in Rückſicht auf das Königreich
Hannover“ 1829), ein Gedanke Platz zu greifen, der von da langſam
fortſchreitend die ganze Ablöſungstheorie und bald auch die Ablöſungs-
geſetzgebung beherrſcht. Das iſt die Durchführung der Entſchädigung
nach beſtimmten Procentualſätzen, vor allem aber die Ermöglichung
der Abzahlung durch Bildung eines landwirthſchaftlichen Cre-
dits
, der die Entſchädigungsſumme gegen Unterpfand hergibt, und
die Abtragung der Entlaſtungsſchuld durch den befreiten Bauern raten-
weiſe möglich macht. Eigentlich war erſt damit der rechte praktiſche
Weg für die Verwaltung gewieſen, und das Entlaſtungsweſen gewinnt
[190] von da an eine feſte Geſtalt ſowohl in der Praxis als in der Litera-
tur. Die ganze dritte Epoche, von 1830 bis 1848, bewegt ſich daher
jetzt auf dieſer Baſis und die Entlaſtungsliteratur bildet jetzt einen
integrirenden Theil der Thätigkeit der Verwaltungen, zwar ohne eigent-
liche Initiative, aber doch als unterſtützender und erklärender, keines-
weges zu unterſchätzender Faktor der wirklichen Entlaſtungsgeſetzgebung,
zu der wir jetzt übergehen. Wie ſehr iſt es zu bedauern, daß Judeich
in ſeinem höchſt achtungswerthen Werke über die Grundentlaſtung
nicht eine Geſchichte dieſer Entlaſtungsliteratur gegeben hat, nachdem
Kochs Agrargeſetzgebung in dieſer Beziehung ſo gut als gar nichts
geleiſtet hat! Die Geſchichte der deutſchen Geſellſchaft würde dadurch
einen unſchätzbaren Stoff gewonnen haben, und Judeich hätte jene
Geſchichte gewiß geben können, vielleicht auch ſollen.


Was nun die Arbeiten nach 1848 betrifft, ſo haben wir nur zu
bemerken, daß Kochs bekannte Agrargeſetze des preußiſchen Staats
ſich allein auf die Sammlung der geltenden preußiſchen Geſetze be-
ſchränken, während Sugenheim nicht beſtimmt genug die Entlaſtun-
gen ſcheidet; übrigens aber als der bedeutend großartigere Nachfolger
Kindlingers und Sommers daſteht, und der erſte iſt, dem wir
einen Blick in den Befreiungsproceß des Bauernſtandes auch der übri-
gen Staaten Europas verdanken; doch fehlt ihm das Bewußtſein von dem
juriſtiſchen Elemente, das zu ſehr in das ſociale übergeht. Er wird
trotzdem auf lange Zeit hinaus der bedeutendſte Mann in dieſem Ge-
biete bleiben. Judeich („Die Grundentlaſtung in Deutſchland 1863)
iſt eine höchſt ſchätzenswerthe Bearbeitung des beſtehenden Entlaſtungs-
rechts in den einzelnen deutſchen Staaten, die um ſo dankenswerther
iſt, je weniger ſich die Staatswiſſenſchaft bisher um das Poſitive ge-
kümmert hat. Daß Rau und Roſcher die ganze Theorie der Ent-
laſtung noch immer als einen eminenten Theil der Volkswirthſchafts-
pflege theoretiſch und ſyſtematiſch fortführen, nachdem das alles weder
einen theoretiſchen noch praktiſchen Werth mehr hat, iſt namentlich für
die ſogenannte „hiſtoriſche Methode“ geradezu unbegreiflich, und muß
die ganze Lehre verwirren. Alle die verſchiedenen Arten und Formen
der Ablöſung waren praktiſch bis die definitiven Geſetze erlaſſen wurden;
jetzt ſind ſie nur noch die Zeichen der Arbeit, mit der die Theorie über
dieſen Stoff Herr geworden iſt. Das Nähere gehört entweder der Ge-
ſchichte oder der Interpretation der Geſetze; die ernſthafte Beſprechung
des Stillſtandes, in den Preußens Regierung gerathen iſt, hat auch
bei ihnen keinen Platz gefunden.


Faſſen wir nun das Geſammtergebniß dieſer kurzen Geſchichte
der Entlaſtungsliteratur ſeit hundert Jahren zuſammen, ſo beſteht
[191] daſſelbe darin, daß ſie ſelbſt niemals die eigentliche Initiative der Be-
freiung gehabt, ſondern ſie den Regierungen überlaſſen hat; daß ſie
jedoch einerſeits in ihrer juriſtiſchen Seite den letzteren den Rechtstitel
der Entwährung überhaupt für die Rechte der Grundherren gegeben,
und ihr dafür das Princip der Entſchädigung zur Geltung gebracht
hat, wobei ſie mit großer Gründlichkeit die einzelnen Verhältniſſe der
Unfreiheit namentlich bei Frohnden und Zehnten hiſtoriſch unterſucht,
aber das Princip für den Punkt, wo die Gränze der Entſchädigung
zu beginnen habe, weder geſucht noch gefunden hat; während die
volkswirthſchaftliche Seite die ökonomiſche Nothwendigkeit der Ent-
laſtung und das Syſtem der Entſchädigung nachweist. Es iſt klar,
daß dieſe Literatur — der bloß abſtrakte Geiſt des deutſchen Volkes
— eben ſo wenig fähig war, die Unfreiheit der Geſchlechterordnung
zu beſeitigen, wie die bloßen Elemente der letzteren ſelbſt. Nach wie
vor iſt es der Staat, der hier die Entſcheidung gebracht. Wir müſſen
daher dieß Verhältniß jetzt für ſich darſtellen, und in ſeiner Geſchichte
wird die gegenwärtig geltende Grundentlaſtungsgeſetzgebung in ihrer
wahren Stellung erſcheinen.


VI. Die wirkliche Entlaſtung durch Geſetzgebung und Verwaltung des Staats.

Wenn es nun einen Theil der Geſchichte des inneren Lebens des
Volkes gibt, in welchem die ſpecifiſche Bedeutung und Wirkſamkeit
des Staats am meiſten in den Vordergrund tritt, ſo iſt es ohne Zweifel
die große Arbeit der Herſtellung der Freiheit der niederen Klaſſe, eine
Arbeit, in der die großen Elemente des Geſammtlebens, namentlich
aber der tiefe Gegenſatz, der zwiſchen Staat und Geſellſchaft beſteht,
am ſchlagendſten zum Ausdruck kommt.


Der dreißigjährige Krieg hatte den Reſt des einheitlichen ſtaat-
lichen Lebens vernichtet; mit ſeinem Verſchwinden trat, nach den
Geſetzen, welche das Verhältniß zwiſchen Staat und Geſellſchaft
regeln, die Herrſchaft des Sonderintereſſes der herrſchenden Geſchlechter-
klaſſe rückſichtslos in den Vordergrund, und die Unfreiheit des Bauern-
ſtandes beginnt mit der Kaiſerloſigkeit. Jenem eigenthümlichen, groß-
artigen Lebensproceß der menſchlichen Gemeinſchaft, der in der leben-
digen geiſtigen Stimmung zwiſchen dem Geiſt und dem Gefühle des
Volkes und dem individuellen Willen und Erkennen des Staats be-
ſteht, und aus dem die mächtigſten Erſcheinungen hervorgehen, fehlte
der eine Faktor, der Staat. Keine Wiſſenſchaft war und iſt je im
Stande, das zu erſetzen; kein Unglück groß genug, um ohne denſelben
Hülfe zu finden. So wie aber die Staatenbildung mit ihrer regierenden
[192] Gewalt ſich langſam wieder erzeugt, tritt auch jener Proceß wieder
ein und ſein entſcheidendes Symptom iſt die Aufnahme des Kampfes
mit der herrſchenden Klaſſe, die hier als langſames, aber ſicheres Vor-
ſchreiten zur Befreiung des Bauernſtandes erſcheint, und mit dem Siege
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung oder die Geſchlechterordnung
für Deutſchland erſt mit dem letzten Jahrzehnt endet. Dieſen Proceß
nennen wir die Geſchichte der Entlaſtung.


Bei dieſer Geſchichte muß man nun davon ausgehen, daß die eigent-
liche Grundentlaſtung nur ein Stadium in derſelben bildet, und daher
ihre allgemeinere Bedeutung nicht in den einzelnen für dieſelbe zur Gel-
tung gebrachten poſitiven Beſtimmungen, ſondern in dem Verhältniß der-
ſelben zum geſammten Entwicklungsgange des Volkslebens findet. Die
folgende Arbeit iſt von dieſem Geſichtspunkte ausgegangen. Die eigentliche
juriſtiſch-nationalökonomiſche Lehre von Grundentlaſtung und Ablöſung
gehört bereits der Geſchichte an, und ihren Inhalt findet man, wie
bereits erwähnt, mit jetzt ziemlich werthloſer Breite in Rau und Roſcher;
wir werden von derſelben nur ſo viel aufnehmen, als für den Charakter
des Entwicklungsganges dieſer Frage unabweislich iſt. Das viel Wich-
tigere iſt der letztere ſelbſt. Derſelbe zerfällt in drei große Epochen.
Die erſte dieſer Epochen reicht bis zum Anfange dieſes Jahrhunderts;
die zweite bis zum Jahre 1848; die dritte umfaßt die jüngſte Zeit.
Wir bezeichnen die erſte als die Zeit des Kampfes der Staatsgewalt
mit der Leibeigenſchaft und der Patrimonialgerichtsbarkeit, die zweite
als die Zeit der volkswirthſchaftlichen, die dritte als die der ſtaats-
bürgerlichen Entlaſtung.


1) Der Kampf der Staatsgewalt gegen Leibeigenſchaft und
Patrimonialgerichtsbarkeit
.

Das 16. Jahrhundert der deutſchen Geſchichte iſt von dem 17.
weſentlich verſchieden. Es iſt die letzte Epoche, in welcher das deutſche
Reich als Ganzes den großen Verſuch einer Verwaltungsthätigkeit macht.
Die Reichstags- und Deputationsbeſchlüſſe und Abſchiede verſuchen ein
Verwaltungsrecht zu ſchaffen; die Einſetzung des Reichskammergerichts
iſt der Verſuch, demſelben eine ſelbſtändige Organiſation zu geben; der
Deputations-Abſchied von 1600 ſtellt ſogar den Grundſatz einer durch-
greifenden Organiſation und Controle „der Unter-, Ober- und Hofgerichte“
auf, „damit den Unterthanen, daß ſie rechtlos geſtellt worden ſeien,
Urſachen zu klagen abgeſchnitten ſei“ (vgl. Eichhorn, Deutſche Reichs-
und Rechtsgeſchichte IV. §. 550). Allein der dreißigjährige Krieg, deſſen
furchtbare ſociale Wirkung niemand beſſer als Sugenheim aufgefaßt
[193] hat, vernichtete alle dieſe Anläufe zu einer Reichsverwaltung. Das
Rechtsprincip, das er für Deutſchland zur Geltung bringt, iſt die
Souveränetät der Reichsſtände. Die kleinen Reichsſtände aber ſind Ge-
ſchlechterherrſchaften. Damit wird die Alleinherrſchaft der herrſchenden
Geſchlechter beſiegelt, und von jetzt an empfängt die Unfreiheit der Unter-
worfenen den Charakter, den wir bezeichnet haben, den Charakter eines
„geheiligten Privatrechts“ der Herren an ihren Unterthanen. Mit dieſem
Reſultat beginnt die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts.


Indeſſen waren einige von den neuen Staatenbildungen groß genug,
um neben dem Begriff des Eigenthums als Baſis ihres Rechts dem der
ſtaatlichen Gewalt, bald imperium, bald Landeshoheit genannt (ſ. oben),
Raum zu geben. Das Loslöſen von Kaiſer und Reich hatte für dieſe
Territorien wenigſtens das Gute, daß ſie ſich auf ſich ſelber ſtellten
und daher jene Idee der Landeshoheit zu einem förmlichen Syſtem der
Regierungsgewalt zu entwickeln begannen. Damit trat dieſe Gewalt
an die Stelle des alten Reiches, und nun geſchah allmählig das, was
den Ausgangspunkt der folgenden Geſchichte bildet. Die großen Landes-
herren ſtellten für ihre Territorien Centralbehörden auf, welche alsbald
für ſich das Recht der Reichsinſtitutionen, die Oberaufſicht über
alle öffentlichen Verhältniſſe in Anſpruch nahmen, „ſintemahl ſolchen
falls weder einem noch andern inſonderheit wie mächtig und Reich er
auch wäre — dergleichen Oberſte Herrſchaft und Regierung im Land
zukommt, ſondern ſie ſind gegen den Landes-Herrn insgeſammt und
inſonderheit für Unterthanen zu achten“ (Seckendorf, Teutſcher Fürſten-
ſtaat, II. Thl. Cap. 1. 1660), denn „es iſt die Lands Fürſtliche Regierung
in denen Teutſchen Landen — nichts anderes, als die Oberſte und
höchſte Bottmäßigkeit
des ordentlich regierenden Fürſten oder Herrn
über die Stände und Unterthanen — zu Erhaltung und Behauptung des
gemeinen Nutzens und Wolweſens“ (ebend.). Um dieſe Idee zu verwirk-
lichen, beginnt nun eine förmliche ſyſtematiſche Eintheilung des Landes;
die alte Vogtei wird zum „Amt,“ der Amtmann wird Diener des
Landesherrn, und wie wir es in der franzöſiſchen Rechtsgeſchichte (Das
organiſche Königthum S. 402—499) für Frankreich nachgewieſen haben,
beginnen nun dieſe landesherrlichen Amtleute ihre Competenz alsbald
auch über die örtliche Verwaltung der Grundherrlichkeiten „zur Erhal-
tung und Behauptung des allgemeinen Nutzens und Wolweſens“ aus-
zudehnen.


Hier nun kommen ſie natürlich ſofort in Conflict mit der Grund-
herrlichkeit und ihrem öffentlichen Rechte, und dieſer Conflict war gleich
anfangs nicht der eines einfachen Competenzſtreites, ſondern in ihm be-
rührten ſich zuerſt die beiden großen Principien, deren Schickſal das
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 13
[194] Schickſal der folgenden Jahrhunderte ſein ſollte. Es iſt eben deßhalb
von entſcheidender Bedeutung, dieſelben hier zu charakteriſiren.


Die geſammte deutſche oder vielmehr die geſammte germaniſche
Gerichtsverfaſſung, in der die Staatsidee der Geſchlechterordnung faſt
allein für das innere Leben der Völker thätig war, beruht nämlich auf
dem Grundſatz, der ſelbſt wieder nur ein Ausfluß des Weſens der Ge-
ſchlechterordnung iſt, daß nämlich die Vertheilung und das Recht des
Grundbeſitzes die Baſis für die Ordnung und die Competenz der
Gerichte ſei. Denn es iſt der Grundbeſitz in jeder Geſchlechter-
ordnung, der dem Manne ſeine Stellung gibt. Die Gerichte waren
daher nicht bloß eben ſo verſchieden, wie die Arten und Rechte des
Grundbeſitzes ſelbſt, ſondern ihre Competenz war durch alle ihre Formen
hindurch gegeben und begränzt durch das beſtimmte Recht des Grundes
und Bodens, für welches ſie eingeſetzt oder hiſtoriſch entſtanden waren.
Daher gibt es namentlich in Deutſchland, der eigentlichen Heimath der
Geſchlechterordnung, ſo viele Gerichte, als es Verhältniſſe und Rechte
des Grundbeſitzes gibt; ſo ſehr, daß in den bei weitem meiſten Fällen
der Name des Gerichts ſchon von vornherein das Recht bezeichnet, für
welches es allein beſtimmt iſt. Das Syſtem der alten Gerichts-
barkeiten iſt daher identiſch mit dem Syſteme des Grund-
rechts der Geſchlechterordnung
. Faſt immer erkennt man deßhalb
auch auf den erſten Blick an dem Namen der Gerichte ſeine Stellung
zu dieſem Syſteme der Grundrechte. Ich finde niemanden, der dieß
Verhältniß auf Grund einer wahrhaft ſtaunenswerthen Gelehrſamkeit
ſo einfach und beſtimmt ausgeſprochen hätte, als Fiſcher in ſeinem
Cameral- und Polizeirecht, der viel klarer und umſichtiger iſt, als der
breite und höchſt verworrene Eſtor (Teutſche Rechtsgelahrtheit II. Thl.
1758. Buch 4. S. 845 ff.). „Das teutſche Eigenthum iſt entweder Leib-
herrlich, Gutsherrlich oder Lehenherrlich. Jedes gab eigenen Gerichts-
barkeiten den Urſprung,“ denn „nach teutſchem Rechtsſyſteme war das
vollſtändige Eigenthumsrecht eine Quelle der Gerichtsbarkeit“ (II. §. 42.
43). Daher gibt es eine leibeigenſchaftliche Gerichtsbarkeit, welche „der
Leibherrſchaft vermög Eigenthumsrecht über ihre Leibeigenen gebührte“
(§. 44), eine gutsherrliche Gerichtsbarkeit über diejenigen, „die ſich
theils auf dem gutsherrlichen Grunde anſäßig gemacht, theils Stücke
davon zum Untereigenthum empfangen haben“ (§. 45) und eine lehens-
herrliche Gerichtsbarkeit aus dem Lehensobereigenthum (§. 46). In der
That aber waren das nur die drei Grundformen, in denen die herr-
ſchende Klaſſe die Gerichtsbarkeit über die beherrſchte beſaß; die Erb-
gerichtsbarkeit oder Patrimonialgerichtsbarkeit bedeutet hier keine beſondere
Gerichtsbarkeit, ſondern nur den Rechtstitel des Beſitzes derſelben für
[195] den Grundherrn — was auch Fiſcher nicht klar wird. Denn jede der
einzelnen Klaſſen der Geſellſchaft hatte daneben wieder ihr beſonderes
Gerichtsſyſtem. Das rein ſtändiſche, dem Gerichtsſyſtem des Grund-
beſitzes der Geſchlechterordnung zur Seite ſtehende Gerichtsſyſtem der
Geiſtlichkeit, der Univerſitäten und der Zünfte und Innungen laſſen
wir hier weg; auch gehen wir nicht weiter ein auf das Gerichtsſyſtem
der herrſchenden Klaſſe. Dagegen iſt dasjenige der beherrſchten Klaſſe
vom größten Intereſſe für das, was wir die „Agrarverfaſſung“ jener
Zeit nennen würden, und viel zu wenig für das Verſtändniß derſelben
benützt. Die Grundlage dieſes Theiles des früheren Gerichtsſyſtemes
des deutſchen Bauernſtandes war die Competenz für die Rechtsverhält-
niſſe der Mitglieder derſelben Klaſſe in ihren Streitigkeiten unterein-
ander
. In der That hatte jede Bauernklaſſe, ihre Verſchiedenheit
mochte nun auf der beſonderen Art des Pachtcontractes oder auf
der Beſchaffenheit oder Benennung ihrer Abgaben beruhen, ihre eigen-
thümlichen Gerichte“ (§. 118). So gab es Meierdinge, Märkerdinge,
Hegegerichte, Zeidelgerichte, Laetgerichte, Hofgedinge, Dinghöfe, Erb-
fallgerichte, Cour-, Erb- und Leibgewinnsgerichte, und gewiß noch
eine Menge anderer Namen und Competenzen (§. 121—123). Da die
deutſche Rechtsgeſchichte mit dem dreißigjährigen Kriege ſchließt, ſo hat
ſie von dieſen Dingen keine Notiz genommen — hat doch nicht einmal
Runde ſie berückſichtigt, und Eichhorn ſogar die ganze Patrimonial-
gerichtsbarkeit weggelaſſen! Das große Princip jenes Syſtems von
Gerichten iſt aber, daß ſie die Rechtsunterſchiede der Klaſſen der
Geſellſchaft in ihren Namen, Formen und Competenzen zum Inhalt
des öffentlichen Rechts machen, obwohl ſie nur Unterſchiede des Eigen-
thums an Grund und Boden ſind, und ſomit das gemeinſame Rechts-
bewußtſein der Nation durch eine unüberſehbare Zerſtückelung der Rechts-
funktion tödteten. Der Begriff und das Weſen des Rechts ging in
lauter Rechten unter, und jede Verſchmelzung der Klaſſen wurde durch
dieſe Gerichte ſchon an und für ſich zu einem Unrecht.


Jetzt kam das römiſche Recht. Für das römiſche Recht gibt es
keinen Unterſchied des Rechts. Vor dem römiſchen Rechte ſind alle
Staatsangehrigen gleich. Die Unterſchiede in Laſten und Forderungen
begründen allerdings eine Verſchiedenheit der Rechtstitel, aber weder
einen Unterſchied in dem Perſonenrecht, noch in der Competenz. Vom
Standpunkt des römiſchen Rechts iſt es ein Unding, um eines beſondern
Anſpruches willen ein beſonderes Gericht für berechtigt zu halten. Die
neuen „Beamteten“ aber waren römiſche Juriſten. Sie waren daher
principiell die Vertreter der Gleichheit vor dem Recht, und daher auch
die natürlichen Vertreter des einfachen Gerichtsſyſtems, das ohne
[196] Rückſicht auf die Klaſſen der Stände und Geſchlechterordnung für alle
Rechtsfragen nach dem Recht an ſich Recht ſprach.


Damit trat ein ganz neues Princip zunächſt für den Begriff des
Rechts, und dann für das der Gerichte ins Leben. Dies Princip, ge-
tragen und vertreten durch das immer mächtiger werdende Beamten-
thum, war entſchieden feindlich gegen das Gerichtsſyſtem der Geſchlechter-
ordnung. Mit dem Beamtenthum und ſeinem Römiſchen Recht mußte
daher ein Kampf beginnen, der in allen Ländern des germaniſchen
Rechts gleichartig iſt und der europäiſchen Rechtsgeſchichte angehört.
Wir haben von dieſem Kampfe nur das Verhältniß zu jenem Gerichts-
ſyſtem aufzunehmen.


Die erſte Folge war nun allerdings die, daß die oben erwähnten
eigentlichen Bauerngerichte verſchwinden und den römiſchen Begriffen
und Rechten Platz machen. Sie dauern nur noch als eine Art von
Schiedsgerichten von „Genoſſenſchaften“ fort, wie ſchon Fiſcher ſie auf-
faßt (§. 118). Anders aber war die Frage gegenüber den Guts- und
Herrengerichten, auf die es uns ankommt.


Die Lehre vom imperium des jus naturae und das Römiſche Recht
hatten zuſammen gewirkt, um den Grundſatz feſtzuſtellen, daß alle
Gerichtsbarkeit Ausfluß der Landesherrlichkeit ſei. Anderſeits waren
dagegen gerade die grundherrlichen Gerichte das Hauptmittel der herr-
ſchenden Klaſſe, um die Bauern in ihrer Unterwerfung zu erhalten.
Die Grundherren ſahen ſich daher durch die „römiſchen Juriſten“ ernſtlich
in ihrer Stellung gefährdet. Wo die Gerichtsherren, wie in den kleinen
deutſchen Reichsſtänden, ſouverän waren, war die Frage bald zu Gunſten
des Grundherrn erledigt. Allein in den „Staaten“ begann der Kampf
zwiſchen beiden Organen theoretiſch und praktiſch, und bildet ein keines-
wegs unwichtiges Moment in der Geſchichte des 18. Jahrhunderts. Es
iſt der erſte Kampf der neuen Staatsidee mit dem Geſchlechterrecht im
Kleinen, der in dem Ringen der amtlichen Gerichtsbarkeit mit dem
Patrimonialgerichte ſich vollzieht, und der Ausfall dieſes Kampfes mußte
entſcheiden über die Möglichkeit, durch die junge Staatsgewalt ſchon da-
mals die alte und ſtarke Geſchlechterherrſchaft zu brechen.


Wir wiſſen von den Einzelheiten dieſes Kampfes noch ſehr wenig;
ihre Darſtellung muß einer ſelbſtändigen Bearbeitung vorbehalten bleiben.
Das Ergebniß im Großen und Ganzen aber, mit dem das 18. Jahr-
hundert abſchließt, und das ſich auf das 19. überträgt, iſt folgendes.


Dem großen organiſchen Gedanken des 17. Jahrhunderts, daß alle
Gerichtsbarkeit Ausfluß des imperium ſei, tritt durch die entſtehenden
rechtsgeſchichtlichen Studien des 18. Jahrhunderts die Thatſache ent-
gegen, daß die gutsherrliche und leibeigene Gerichtsbarkeit nachweisbar
[197]nicht auf landesherrlichen Verleihungen, ſondern auf dem hiſtoriſchen
Rechte des Grundes und Bodens ſelbſt beruhe. Ein Theil der Juriſten
— Neigung, perſönliche Beziehungen, öffentliche Stellung mögen damals
wie immer vielfach auf die Richtung der Einzelnen eingewirkt haben
— mußte daher zugeſtehen, daß die Gerichtsbarkeit des Herrn über
Leibeigene und Hinterſaſſen die Natur des Privateigenthums be-
ſitze; das Recht auf dieſelben identificirt ſich ihnen mit dem Recht auf
den Grund und Boden, ſie iſt erblich, wie dieſer; ſie iſt ein Theil des
Patrimonii, und heißt daher jetzt Erb- oder Patrimonial-Gerichtsbarkeit.
Daß dieſelbe gelegentlich dem Adel beſtätigt wird (wie in Preußen,
Fiſcher I. §. 842) ändert die privatrechtliche Natur derſelben nicht; es
wird ausdrücklich anerkannt, daß ſie ihren Urſprung aus dem Eigen-
thumsrechte genommen habe“ (Fiſcher a. a. O. §. 842 nebſt der Lite-
ratur) und noch am Ende des vorigen Jahrhunderts gilt für die deutſche
Jurisprudenz dieſer Satz als unzweifelhaft „die ſtillſchweigende Con-
ceſſion des Regenten iſt eine ganz untaugliche und nichts aufklärende
Hypotheſe“ (Runde §. 702). Allerdings war die Competenz dieſer
Gerichte eben wegen ihrer hiſtoriſchen Stellung fraglich. Eine, an
Diſſertationen ſehr reiche Literatur beſchäftigte ſich im ganzen 18. Jahr-
hundert mit derſelben (bei Fiſcher a. a. O. §. 841 die bekannteſten).
Das Geſammtreſultat aber war, daß die Patrimonial- oder Erbgerichts-
barkeit für die geſammte niedere Juſtiz competent ſei; der allgemeine
Ausdruck war: daß dieſelbe „Polizeigewalt, Heimfallsrecht, Abzugsrecht
und das Fiscalrecht mit ſich vereinigt“ (Fiſcher ebend.)


Das nun war für die große ſociale Frage des Bauernſtandes ein
ſehr ernſtes Reſultat. Die ganze Auffaſſung der römiſchen Juriſten
und der Beamteten überhaupt ward durch dies Ergebniß weſentlich er-
ſchüttert. Die ſtändiſche Richtung der deutſchen Jurisprudenz wußte
das gut zu benutzen. „Daß die lehre des Römiſchen rechtes von der
gerichtsbarkeit von der Teutſchen gänzlich unterſchieden ſei, haben Gund-
ling
in den digestis über dieſen Titel, Gebauerde jurisdictione,
Johann Leonh. Hauſchild von der gerichts-verfaſſung der Teutſchen
(Leipzig 1741, 4.) und beſonders Fr. Eſaias Pufendorfde juris-
dictione Germanica
(Lemgo 1740, 8.) wie ich auch in meinem unter-
richte von der abfaſſung der urthel mit mererem gezeigt“ (Eſtor,
Deutſche Rechtsgelahrtheit anderer teil. Marb. 1758. §. 4924). Eben ſo
Fiſcher a. a. O. II. §. 24, der in §. 19 die ganze, mit Herm. Con-
ring
(Diss. de judiciis Reipubl. Germ. Helmst. 1644) beginnende Lite-
ratur über dieſe Frage aufführt. Uebrigens hatte auch die entgegen-
geſetzte Anſicht ſchon im 18. Jahrhundert eifrige Vertreter, namentlich
Selchow (Jur. Germ. Privat.) vgl. auch Runde a. a. O. In der
[198] That aber lag der tiefe Unterſchied im ſocialen Sinne des Wortes nicht
bloß in dem, dem römiſchen Rechte unverſtändlichen Eigenthum an
der Gerichtsbarkeit, ſondern eben ſo ſehr in dem rein polizeilichen
Strafrecht der Erbgerichtsbarkeit, das den Bauern ganz in die Hand
des Herrn gab. Welche Folgen dieß Recht hatte, davon hat uns
Sugenheim eine Reihe von ſchlagenden Beiſpielen geſammelt (S. 376
und öfter). Der Gutsherr als Gerichts- und namentlich als Polizeiherr
hatte das Recht, alle ſeinem Erbgerichte unterſtehenden Bauern nach
Ermeſſen prügeln zu laſſen; es bedarf keiner weiteren Darlegung, wie
ein ſolches, in der „Polizei“ liegendes Recht des Grundherrn jeden
Reſt der Selbſtändigkeit der Bauern vernichten mußte; das Gericht
des Herrn war nur eine Form der Willkür, und der Zuſtand war
trauriger als je. Dazu kam endlich noch das ſogenannte „Legen“ der
Bauernhöfe, das Vertreiben der Bauern aus ihren Höfen und die Ver-
einigung der letzteren mit dem gutsherrlichen Hofe. Die Art und Weiſe
wie dieß geſchah, war verſchieden; bald griff der Gutsherr mit Gewalt
durch, bald benutzte er den Vorwand der Nichtentrichtung der gutsherr-
lichen Laſten, bald entfernte er die Kinder beim Tode des Vaters. Die
vom Hofe getriebenen Bauern mußten dann Taglöhner werden; damit
verſchwand der letzte Reſt des Unterſchiedes zwiſchen Bauer und Leib-
eigenen, und ſomit gelangte die Geſchlechterordnung bei ihrem letzten
Stadium der Unfreiheit an. Es war ein elender Zuſtand.


Und dennoch war es vielleicht gerade dieſer letzte Punkt, der die
kaum noch zur rechten Kraft gelangte Staatsgewalt dazu brachte, gegen
jene Verhältniſſe einzuſchreiten. Mit dem ſelbſtändigen Landesfürſten-
thum war einerſeits das Gefühl der Souveränetät gewaltſam, anderer-
ſeits aber auch das Bedürfniß nach Abgaben geſtiegen. Eine Gerichts-
barkeit, welche mit Ausnahme des peinlichen Halsgerichts alle Funktionen
des Staats erblich als Eigenthum beſaß, mußte das erſtere vernichten,
eine völlige Vernichtung des Bauernſtandes mußte die Erfüllung des
zweiten unmöglich machen. In Frankreich hatte ſchon Sully den Bauern-
ſtand als die wahre Grundlage des Staatsreichthums erkannt; die fran-
zöſiſche Literatur, viel höher in ihrer ſtaatsmänniſchen Auffaſſung
ſtehend, als die rein juriſtiſche deutſche, gab durch ihren Einfluß den
freieren Blick auf die Verhältniſſe; das Beamtenthum drängte vorwärts,
die gutsherrliche Gerichtsbarkeit zwar als eine andere, aber zugleich als
eine nicht ebenbürtige, ſich untergeordnete betrachtend, und die Noth
der Kriege des 18. Jahrhunderts Hand in Hand mit der fürſtlichen
Verſchwendung zwang die Regierungen, ſich des zu Grunde gehenden
Bauernſtandes anzunehmen. So entſtand, von der Staatsgewalt aus-
gehend, eine Bewegung, welche die erſte Hülfe brachte.


[199]

Dieſe Bewegung erſcheint in zwei Hauptformen. Zuerſt tritt ſie
auf als Unterordnung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit unter die
Beamtengerichte; dann als der Verſuch, den Bauernſtand zu erhalten
und zu heben. Letzteres wieder geſchieht theils durch das Verbot des
„Legens“ der Bauernhöfe, theils durch Beſchützung der Bauern gegen
die wildere Mißhandlung der Herren, theils als Herſtellung der erſten
Formen der Verwaltung der Landwirthſchaft in den Landes-Oekonomie-
Collegien, theils endlich als direkter Verſuch, die Leibeigenſchaft aufzu-
heben.


Jede dieſer großen Maßregeln hat ihre eigene Geſchichte; doch wird
es Aufgabe einer ſelbſtändigen Arbeit ſein müſſen, dieſes hochwichtige
Gebiet des Kampfes der Regierungen mit der Grundherrlichkeit noch
genauer durchzuführen, als das in etwas ſporadiſcher Weiſe bereits
von Sugenheim geſchehen iſt, deſſen Arbeit übrigens dauernd an der
Spitze dieſes Theiles der Geſchichte Deutſchlands ſteht, und namentlich
zuerſt denſelben mit tiefem Verſtändniß und umfaſſender Gelehrſamkeit
in ſeinem Verhältniß zum Geſammtleben Europas dargeſtellt hat. Wir
haben dazu nur einige wenige Bemerkungen hinzuzufügen. Die Geſchichte
der Aufhebung der Leibeigenſchaft beginnt ſchon mit der Verordnung
vom 16. December 1702, durch welche Friedrich I. von Preußen be-
fahl, daß auf „Seinen Domänen“ die Leibeigenſchaft aufgehoben werden
ſolle (Stenzel, Geſchichte des preußiſchen Staats III. 680. Preuß,
Friedrich der Große III. 97). Von da an bis zu den letzten geſetzlichen
Akten unſeres Jahrhunderts, welche die Leibeigenſchaft wirklich beſei-
tigen, zeigt es ſich in immer wiederkehrender Folge, daß man ſich weder
über den rechtlichen Inhalt, noch über die eigentliche Bedeutung der
Leibeigenſchaft jemals recht klar wurde, namentlich aber über ihr
Verhältniß zur Hörigkeit. Das nun beruhte darauf, daß es bereits
damals die alte ſtrenge Scheidung zwiſchen Leibeigenen und Bauern,
welche die Grundlage der urſprünglichen Geſchlechterordnung war, nicht
mehr gab. Der Unterſchied war ein gradueller geworden, ſtatt
daß er früher ein qualitativer geweſen. Die Folge daran war, daß
jedes Rütteln an der Leibeigenſchaft die ganze Geſchlechterordnung der
Grundherrlichkeit erſchütterte, und daß daher die Regierungen einerſeits
bei derſelben nicht ſtehen bleiben konnten, ſondern conſequent zum Ver-
nichtungskampfe mit der geſammten herrſchenden Stellung des Adels
von ihr aus fortſchreiten mußten, während es eben deßwegen anderer-
ſeits vollkommen erklärlich war, wenn die herrſchende Klaſſe dem Landes-
herrn offen ins Geſicht ſagte, daß ſie ſelbſt nicht gewilligt ſeien, ihr
Recht aufzugeben, die letzteren aber nicht berechtigt, es aufzuheben, wie
die pommeriſchen Stände ſelbſt gegenüber einem Manne wie Friedrich II.
[200] 1763 rund hinaus erklärten, es ſei unmöglich, dem Willen des
Monarchen zu genügen“ (Sugenheim S. 382). Das Gefühl, daß es
ſich bei der Aenderung dieſes Verhältniſſes um das Grundprincip der
ganzen damals geltenden Geſellſchaftsordnung handle, war allgemein,
und die deutſche, beſchränkte Jurisprudenz that das Ihrige, wie wir
geſehen haben, um in dieſem Kampfe das ſtändiſche Element durch die
eifrige Herbeiziehung des Begriffes geheiligter Privatrechte zu unter-
ſtützen. Die Regierungen wären daher machtlos geblieben, wenn ſie
nicht in der Herſtellung eines „contribuablen Bauernſtandes“ ein Be-
dürfniß gefunden hätten, das ſtärker war, als alle feudale Jurisprudenz.
Um dieſem contribuablen Bauernſtand herſtellen zu können, mußten ſie
vor allen Dingen das Legen der Bauernhöfe verbieten; ſie mußten die
Flucht der leibeigen gewordenen Bauern aus dem Lande in die Stadt,
aus einer Souveränetät in die andere hindern; ſie mußten ſogar mit
ihren Maßregeln direkt etwas für die Bauern thun; und um alles das
möglich zu machen und wirklich auszuführen, mußten ſie die „gutsherr-
liche“ Obrigkeit der „landesherrlichen“ unterordnen. Und das geſchah;
freilich in einer Weiſe, welche den ganzen Geiſt des 18. Jahrhunderts
ſchlagend charakteriſirt. Aus der Idee des imperium des 17. Jahr-
hunderts ging nämlich allerdings der Gedanke hervor, daß alle Ge-
richtsbarkeit ein „Hoheitsrecht,“ ein „Regal“ ſei; aus der Theorie des
18. aber auch der zweite Satz, daß die Grundherren auf dieſes Regal
ein jus quaesitum hätten. Die Conſequenz war, daß man nirgends
zu dem Schluß gelangte, die Patrimonialgerichtsbarkeit aufzuheben,
ſondern mir nur zu dem, dieſelbe entweder bloß in ihrer Competenz
zu beſchränken, wie in Oeſterreich durch die Errichtung der Kreisgerichte
als zweite Inſtanz für die Patrimonialgerichtsbarkeit (Sugenheim
S. 104 und öfter; vgl. Kopetz, öſterreichiſche, politiſche Geſetzkunde
1807. I. Bd. §. 15 ff.) oder die Ausübung der wirklichen Gerichtsbar-
keit an dieſelben wiſſenſchaftlichen und amtlichen Bedingungen zu
binden, wie die Uebernahme eines eigentlichen Juſtizamtes. Dabei nun
ſchied man theils die Juſtiz von der „Oekonomie,“ namentlich in
Preußen; dort „hatten die Aemter urſprünglich Oekonomie, Juſtiz und
Polizei zu verwalten. In der neueren Zeit aber (letzte Hälfte des
18. Jahrhunderts) iſt die letztere davon abgeſondert, und „eigenen Juſtiz-
amtleuten übergeben worden“ (Fiſcher a. a. O. §. 83), theils forderte
man wenigſtens in Preußen, daß „die Gerichtsherrſchaften dazu ſolche
Subjekte auswählen, die bei den Landesjuſtizcollegien gehörig vor-
bereitet ſind“ (Corpus Juris Frieder. I. P. 11. Tit. 4 und 8; Reglement
über das Juſtizweſen in der Kur- und Neumark Brandenburg I. 4. 5. 6.
Fiſcher a. a. O. §. 89). Aehnlich in Sachſen durch Scheidung des
[201] Gerichtsverwalters vom Gerichtsaktuar (Berger, Oeconom. Jurispr.
IV.
6.), wodurch man in Preußen zu dem Grundſatz kam, daß der
Gerichtsherr die Juſtiz überhaupt nicht mehr perſönlich, ſondern nur
durch einen Juſtizbeamten ausüben dürfe, was übrigens eben nur in
Preußen galt (Fiſcher §. 88; vgl. Sugenheim S. 398). Allein
der Grundgedanke der Erbgerichtsbarkeit blieb beſtehen, und namentlich
in den kleinen deutſchen Reichslanden änderte ſich gar nichts.


Mit dieſem allgemeinen Reſultate ſchließt das 18. Jahrhundert.
Auf allen Punkten iſt der Kampf der Staatsidee mit dem Rechte der
herrſchenden Klaſſe eröffnet. Die Leibeigenſchaft iſt zum Theil aufge-
hoben, die freiwilligen Ablöſungen ſind zum Theil verſucht, die Erb-
gerichtsbarkeit iſt zum Theil beſchränkt, das alte Verhältniß iſt in ſeinen
Grundveſten erſchüttert. Allein jene geſellſchaftlichen Reſte ſind Privat-
rechte geworden, und die Klaſſe der Grundherren hat ſich für die Ver-
theidigung derſelben allenthalben erhoben, allenthalben das „Landes-
recht“ und die „Landesprivilegien“ gegenüber der Krone dafür aufgerufen
allenthalben die gefahrbringende Umgeſtaltung bekämpft, und das neun-
zehnte Jahrhundert findet noch nirgends ein faßbares Reſultat. Es
hat den großen Proceß der Ablöſung erſt ſelbſt zu ſchaffen.


Und hier nun darf man einen Blick auf das dominium eminens
und ſeine ſpecielle Stellung zur Entlaſtung zurückwerfen. Auch hier
zeigt ſich ſein inniger Zuſammenhang mit der Staatsidee. Wie der
Staat ſelbſt an den ſocialen Gewalten die begränzenden Faktoren ſeiner
Entwicklung findet, ſo auch das dominium eminens. Es vermag nicht,
in die eigentliche geſellſchaftliche Frage hinabzuſteigen. Seinem hiſtoriſchen
Urſprung getreu, bedeutet es auch in dieſer Zeit nur das Verhältniß
des Staats zu den Grundherren als herrſchender Klaſſe, und das do-
minium (super)eminens
erſcheint daher mehr und mehr nur noch als
Lehensobereigenthum des Fürſten gegenüber dem Vaſallen. Die Frage,
die mit dem 18. Jahrhundert entſteht, die Frage nach dem Recht des
Staats, die beherrſchte Klaſſe durch Beſchränkung des Rechts der herr-
ſchenden zu heben, nimmt jene Idee des dominium eminens gar nicht
in ſich auf. Sie hat den höheren Rechtstitel dafür gegeben, daß die
Landesherrn die Selbſtändigkeit der herrſchenden Stände und ihrer
Landtage brachten; ſie hat die fürſtliche Gewalt mit dem Recht auf
die einzelnen Hoheitsrechte ausgefüllt, und iſt zum juriſtiſchen Princip
der höchſten Verwaltung geworden, aber mehr vermag ſie nicht.
Es iſt noch immer nur eine höchſte Form des „Eigenthums;“ ſowie
es daher einem zweiten Eigenthum ſich gegenüber findet, dem Eigen-
thum der Grundherren an allen Rechten der Grundherrlichkeit, ſo iſt es
gleichſam paralyſirt. Die damalige Wiſſenſchaft weiß nichts Beſtimmtes
[202] mit dieſem Begriffe zu machen. Er hat ſeine ſeine hiſtoriſche, aller-
dings nicht unbedeutende, Miſſion erfüllt, und beginnt zu verſchwinden.
Sein Auftreten in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts iſt ein
unſicheres; ihm fehlt jene Selbſtgewißheit, die ſtets der Ausdruck einer
höheren Bedeutung iſt; er ſinkt zum Kathederbegriff herab. Die Zeit
iſt vorbei, wo man den Fürſten noch abſolut mit dem Staat iden-
ficiren, und die Funktion des Staatsoberhaupts daher als eine Form
des dominium betrachten kann. Der Ausdruck bleibt zwar in den
Lehrbüchern, aber nicht mehr im ſtaatsrechtlichen Bewußtſein des Volks;
andere Potenzen traten auf; das 19. Jahrhundert verſteht nicht mehr,
was er eigentlich ſeiner Zeit bedeutet haben möge, und wirft ihn daher
zuſammen mit dem jus eminens, dem ſogenannten Staatsnothrecht, wo
wir wenn auch nicht ihm ſelber, ſo doch ſeinem hiſtoriſchen Schatten
begegnen. Denn in der That iſt der ganze Standpunkt des 19. Jahr-
hunderts ein ſo weſentlich von dem des 18. verſchiedener, daß auch
für die Entlaſtung eine neue Geſchichte beginnt.


2) Die erſte Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Nirgends mehr als im Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts
wird es klar, daß man die Grundentlaſtung trotz ihrer entſcheidenden
Bedeutung für das Leben des Volkes doch nur als ein Moment an
einer höheren, eben nur in ihren machtvollen Erſcheinungen conkret
erfaßbaren Entwicklung betrachten darf. Denn in der That iſt nichts
unklarer und unfertiger, als die deutſche Grundentlaſtung von 1800
bis 1848; nirgends iſt Einſeitigkeit, nirgends ein feſtes Princip, nir-
gends entſcheidende Durchführung; jeder Staat und jedes Land hat
ſeine Entlaſtungsverſuche, ſeine Geſetzgebung, ſeine Richtung; die Worte
ſelbſt, die Namen mit denen man die Sache bezeichnen will, ſind un-
klar, zum Theil widerſprechend geworden; die Wiſſenſchaft iſt rathlos,
da ſie keine feſte geiſtige Thatſache findet, an der ſie ſich halten kann;
die Definitionen mangeln, die Literatur verſchwindet, höchſtens daß
einige allgemeine Phraſen über das Weſen der Entwährung die Ober-
fläche berühren; erſt mit den dreißiger Jahren wird das anders, aber
auch da gewinnt es nicht jene feſte Geſtalt, mit der wir ſeit 1848 zu
thun haben. Es iſt klar, daß hier eine andere, größere Frage in An-
regung iſt; ſie erſt wird zur wahren, definitiven Entlaſtung führen.


Dieſe Bewegung iſt nun keine andere als die der Entwicklung der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung mit ihren beiden großen Prin-
cipien der organiſchen Staatsgewalt und der Gleichheit und Freiheit
aller Staatsbürger. Es iſt klar, daß das erſte unmöglich die Erb-
[203] gerichtsbarkeit anerkennen kann, und daß das zweite, die perſönliche
Abhängigkeit des Einzelnen vom Einzelnen, wie ſie die Geſchlechter-
ordnung an den Grundbeſitz gebunden hat, unbedingt vernichten muß.
Allein die große Frage dieſer Zeit iſt der Weg und das Mittel, um zu
dieſem Ziele zu gelangen. Dieſe aber beſtehen in der ſtaatsbürgerlichen
Verfaſſung, welche das Geſetz als den organiſchen Geſammtwillen des
Volkes anerkennt. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft fordert daher die
Verfaſſung; die Verfaſſung das Staatsbürgerthum; das Staatsbürger-
thum aber die Befreiung von der Abhängigkeit der Perſon und des Be-
ſitzes des Einzelnen vom Einzelnen. Die Verfaſſung iſt daher die formelle
Hauptſache, aber die Grundentlaſtung iſt ihre Verwirklichung
für den Bauern
. Und daher tritt von 1800 bis 1848 die Geſchichte
der Grundentlaſtung gegen die der Verfaſſung in den Hintergrund, und
wie auch dem Wandernden das Ziel oft eben dadurch unſichtbar wird, daß
er ihm näher kommt, ſo ſehen in dieſer Zeit die meiſten Schriftſteller gar
nicht, daß die Verfaſſung, nach der ſie ſtreben, doch zuletzt ohne Grund-
entlaſtung keinen feſten Boden hat. Man redet wenig von ihr; man
ſchiebt ſie zur Seite, aber ſo, wie man die großen Gedanken der Zukunft
bei Seite ſchiebt, leiſe und ohne Kampf. Es iſt, als ob alle wüßten,
daß die Formfrage erledigt werden müßte, bevor man zur Hauptſache
übergeht. Und daher noch immer die Hoffnung der herrſchenden Klaſſe,
die Befreiung der Beherrſchten zurückzuhalten, die Grundentlaſtung zu
verſchieben oder unvollſtändig zu machen, daher die Unſicherheit der
Regierungen, die noch allenthalben unter dem Druck dieſer herrſchenden
Klaſſe ſtehen, in allem was ſie für die beherrſchte thut; daher das
Fortbeſtehen der alten Namen und Verhältniſſe der bäuerlichen Un-
freiheit trotz der Geſetze, die nicht ganz zur Ausführung gelangen, und
doch zu viel geben, um unbeachtet zu bleiben; daher denn aber auch
der ſtille Zorn des Landmannes, der ſeine Stellung und ihren Wider-
ſpruch fühit, einen Widerſpruch, den die freien Städter nur noch empfind-
licher machen gegenüber den noch Frohnen leiſtenden, der Erbgerichts-
barkeit unterworfenen Bauern; daher die Macht des „Liberalismus“ über
das Landvolk; daher die Wahrheit und das tiefe Einſchneiden jenes Wor-
tes, das für Deutſchland zuerſt in der Darſtellung des Socialismus und
Communismus ausgeſprochen wurde: „die nächſte Revolution wird eine
ſociale ſein“; daher, und weſentlich nur daher die Gewalt, und darin und
weſentlich nur darin das große und dauernde Ergebniß des Jahres 1848.


Betrachtet man nun den Gang der Entlaſtung vor 1848 von
dieſem Standpunkt, ſo wird es wohl leicht verſtändlich, wenn wir
ſagen, daß dieß ſpecielle Eingehen auf die einzelnen Beſtrebungen
und Arbeiten für dieſelbe in Geſetz und Verwaltung nur einen Werth
[204] hat für die Territorialgeſchichte der einzelne Länder, denn es ſind
das eben vereinzelte Vorverſuche für den definitiven Sieg der Neu-
geſtaltung der deutſchen Geſellſchaftsordnung ſeit 1848. Wir übergehen
ſie hier deßhalb, um ſo mehr als eine Erſchöpfung in der That nur in
eigenen Arbeiten möglich iſt. Wohl aber dürfen wir bemerken, daß
das einfache Zuſammenwerfen dieſer Erſcheinungen mit denen nach
1848 oder der eigentlichen Grundentlaſtung, die Vorſtellung als gäbe
es hier keinen weſentlichen Unterſchied in den großen Stadien der Ent-
wicklung bis zu unſerer Zeit, wie es namentlich bei dem ſonſt ſo acht-
baren Judeich geſchieht, und ſelbſt bei Sugenheim, von den National-
ökonomen wie Rau und Roſcher oder der Polizeiwiſſenſchaft zu ſchweigen,
die überhaupt nur ein volkswirthſchaftliches oder polizeiliches Ereigniß in
der Sache ſahen, eine einſeitige iſt. Daß auch die Hiſtoriographie, ſelbſt
die „Geſchichte des 19. Jahrhunderts“ von dem wahren und dauern-
den Ergebniß des 19. Jahrhunderts ſo gut als gar nichts zu erzählen
weiß, iſt nur einer von den Beweiſen dafür, daß, wenn Rechts- und
Wiſſenſchaftslehre einſeitig ſind, die Geſchichtſchreibung wahrlich auf
ihrem bisherigen Standpunkt der geiſtreichen Beobachtung nicht dazu
angethan iſt, ihnen einen höheren Geſichtskreis zu verleihen. Doch hier
liegen die Aufgaben der Zukunft der Wiſſenſchaft. Wir wenden uns
der Vergangenheit des Lebens zu.


Trotz jener Unſicherheit der jungen, mit dem 19. Jahrhundert
entſtehenden Staatsgewalt hat dennoch eben jene ſchwankende Bewegung
für die Herſtellung der Freiheit des Bauernſtandes auf Einem Punkte
ein ſehr feſtes und klares Moment; und der iſt es, der jene Bewegung
ſelbſt lebendig erhält. Dieß Moment iſt das durch die franzöſiſchen
Kriege und die franzöſiſche Vorherrſchaft erlangte, namentlich ſeit der
Schlacht von Jena allen Denkenden feſtſtehende Bewußtſein, daß die
Macht der Staaten weſentlich auf der Tüchtigkeit des Bauern-
ſtandes
beruhe. Mit der Unmöglichkeit, ſich dieſe alles überragende
Thatſache zu läugnen, tritt die Unmöglichkeit ein, ſie in der Ver-
waltung, namentlich in der wirthſchaftlichen, nicht mehr zu berück-
ſichtigen. Die Befreiung des Bauernſtandes wird daher eine volks-
wirthſchaftliche Aufgabe der Verwaltung
. Zwar ſteht der
Anfang der Befreiung, der große Gedanke Steins, viel höher, und es
erſcheint bereits in dem contribuablen Bauernſtande das Staatsbürger-
thum unſerer Gegenwart. Aber die quantitative Maſſe des Geiſtes
der Regierungen folgt ihm nicht. Für ſie kommt es noch nicht darauf
an, den Stand der Bauern, ſondern nur die Produktivkraft ſeines
Beſitzes
zu befreien. Die Grundentlaſtung iſt keine eigentliche Be-
freiung des Bauern, ſondern nur eine Hebung ſeiner wirthſchaftlichen
[205] Verhältniſſe. Der Kampf der Regierungen geht daher auch nicht gegen
das, wodurch die erſte, ſondern weſentlich nur gegen das, wodurch die
zweite beſchränkt wird. Gewaltſame Bewegungen ändern das an
mehreren Orten, allein nur in unvollkommener Weiſe; der beſchränkte
Charakter des Ganzen bleibt allenthalben. Die ganze Literatur hält
ſich auch, wie bereits dargeſtellt, weſentlich auf dieſem Standpunkt, und
zwar bis unmittelbar vor 1848. Daß ihr eben deßhalb bei vielfach
praktiſcher Nützlichkeit jeder höhere Schwung, jeder rechte Anklang im
Volke fehlt, iſt leicht verſtändlich. Aus jenem ſpecifiſchen Charakter
dieſer Epoche gehen nun auch die einzelnen Hauptmomente dieſer ganzen
Richtung hervor, welche dem geſammten Entlaſtungsweſen bis 1848
zum Grunde liegen. Wir müſſen ſie ſpeciell bezeichnen, weil ſie erſt
uns in den Stand ſetzen, den tiefen Unterſchied der ſogenannten vor-
und nachmärzlichen Zeit klar zu machen.


Das erſte und weſentliche Moment iſt die Aufhebung der Leib-
eigenſchaft
, das iſt das ſachliche Gebundenſein des Bauern an ſeinen
Grundbeſitz und die Herſtellung ſeiner perſönlich freien Bewegung.
Das zweite eben ſo weſentlich iſt die Beſchränkung der wirthſchaft-
lichen Rechte
des Grundherrn, die Ordnung der Frohnden und
Giebigkeiten. Allein weiter als bis zu der Gränze dieſer Beſtim-
mungen geht keine Regierung. Denn an dieſer Gränze beginnt
erſt das eigentliche Staatsbürgerthum, und mit ihm der Kampf der
noch immer herrſchenden Klaſſe um ihre Stellung, das Bewußtſein,
daß mit dem Ueberſchreiten derſelben eine ganz neue Ordnung der
Dinge beginnt. Die Staatsidee ſteht noch keineswegs hoch genug, um
ſich auf das vollkommene Staatsbürgerthum ſtützen zu können. Die
Grundentlaſtung vor 1848 iſt in der That nur eine Beſchränkung der
Willkür der Grundherren, nicht aber eine Befreiung der beherrſchten
Klaſſe der Geſchlechterordnung. Und daraus folgen nun die übrigen
Momente, welche dieſe Epoche charakteriſiren.


Das erſte dieſer Momente iſt zwar die Ablösbarkeit aller grund-
herrlichen Laſten, aber nur als freies Uebereinkommen zwiſchen Herrn
und Hinterſaßen, nicht als eine Pflicht für beide. Daraus folgen
dann die einzelnen Grundſätze, welche dieſen Standpunkt charakteriſiren.
Zuerſt greift der Staat in jenen Proceß nicht unmittelbar, ſondern
höchſtens ordnend und regelnd ein durch ſeine Beamte; dann gibt er
dem Bauernſtand zwar das Recht, das er im Grunde ſtets hatte,
ſeine Laſten abzulöſen, aber nicht, was er nicht hatte und ſich nicht
verſchaffen konnte, das Ablöſungskapital; es gibt noch keine Renten-
bank
; endlich, wo aus dieſem Grunde die Ablöſung nicht erfolgen
kann, begnügt er ſich mit dem Uebergang der ungemeſſenen Frohnden in
[206] gemeſſene, und viele meinten, daß damit das Höchſte erreicht ſei. Allein
auch in denjenigen Fällen, wo der Staat die Ablöſung vorſchreibt,
läßt er ſie weſentlich durch dasjenige Organ vornehmen, welches das
größte Intereſſe hat, ſie hinauszuſchieben oder geradezu zu verhindern,
den Erbgerichtsherrn. So wird thatſächlich aus der Ablöſung ein nur
im Einzelnen gelingender, im Ganzen aber mißlungener Verſuch. Auf
allen denjenigen Punkten aber, wo es ſich nicht um Laſten und Leiſtun-
gen, ſondern um andere Rechte aus dem alten Geſchlechternexus handelt,
tritt auch nicht einmal die Ablösbarkeit ein, ſondern das Verhältniß
bleibt geradezu unberührt. Dahin gehört namentlich der Lehnsnexus,
den dieſe ganze Epoche mit dem unbeſtimmten Begriff und Inhalt des
„Obereigenthums“ beſtehen läßt, und zweitens die Reallaſten und
Bannrechte aller Art, die in den meiſten Theilen Deutſchlands eben
ſo ungeſchmälert fortbeſtehen, wie früher, und wie neben ihnen die
ganze alte ſtändiſche Zunftverfaſſung. Das Geſammtergebniß iſt, daß
nicht das bäuerliche Eigenthum, ſondern nur die Produktivkraft der
bäuerlichen Wirthſchaften dem Gegenſtand der befreienden Thätigkeit
dieſer Epoche bilden; und das charakteriſtiſche Merkmal dafür iſt das
einfache Fortbeſtehen der Patrimonialgerichtsbarkeit.


Wenn das Verhältniß der Patrimonialgerichtsbarkeit bis zum
Jahre 1848 einmal eine eingehende, an die frühere Rechtsordnung ſich
anſchließende und den Geiſt des 19. Jahrhunderts verſtehende Dar-
ſtellung finden wird, ſo wird man erkennen, weßhalb Deutſchland
unter den großen Völkern Europas erſt jetzt den Rang einzunehmen
beginnt, der ihm zukommt. Ein Land und Volk, das das Privateigen-
thum an den wichtigſten Funktionen des inneren Staatslebens als ein
unerſchütterliches Recht anerkannte, konnte freilich bei den Engländern
und Franzoſen nur mit Spott und Mißachtung angeſehen werden. In
der That iſt es nur hiſtoriſch aus den wunderbar verwirrten geſell-
ſchaftlichen und ſtaatlichen Verhältniſſen Deutſchlands zu begreifen, daß
man nicht eben abſolute, ſondern auch verfaſſungsmäßig ſcheinbar voll-
ſtändig entwickelte Staaten fand, welche ohne alles Bedenken die ganze
Patrimonialgerichtsbarkeit des 18. Jahrhunderts in ſich forttrugen. Und
das Beachtenswertheſte iſt, daß die Hälfte aller Männer der Wiſſen-
ſchaft in ernſthafteſter Weiſe über die Grundentlaſtung ſchreiben und
ſprechen konnte, ohne auch nur zu ahnen, daß ſie ein ewig Unmög-
liches bleiben müſſe, ſo lange der alte Grundherr noch Erbgerichtsherr
blieb. Es iſt in der That etwas Naives in dieſer Erſcheinung, die
ſich nicht bloß bei den Gelehrten der Volkswirthſchaft, ſondern ſelbſt
bei den ſtrengſten Fachmännern, wie bei Thaer und Stüve, wiederholt.
Wir müſſen leider ſagen, daß dieſe Patrimonialgerichtsbarkeit nicht nur
[207] bleibt, ſondern daß ſie in Princip und Ausführung ganz und gar
auf dem Standpunkt des vorigen Jahrhunderts ſteht
. Einen
merkwürdigen Eindruck macht es, wenn man in unſerer Zeit den para-
graphirten, ſonſt ſo hoch achtbaren Codex des deutſchen Staats- und
Bundesrechts von Klüber (1. Auflage 1822, 4. 1840) mit dem
vergleicht, was Fiſcher 1785 über die Erbgerichtsbarkeit a. a. O. ſagt.
Da iſt dieſelbe bei dem erſteren wie bei dem letzteren „eine dingliche Be-
fugniß, die der Gerichtsherr im eigenen Namen, bei gehöriger Quali-
fikation auch in Perſon verwaltet, als eigenthümliches, immerwährendes
Vorrecht; ſie iſt (auch noch nach 1840) veräußerlich; begränzt wird ſie
durch die höchſte Aufſicht; jedoch derjenigen Gerichtsbarkeit, welche dem
Standesherrn zuſteht, ſind meiſt wieder enge Gränzen geſetzt“ (§. 368.
369). Den Patrimonialgerichtsherrn betrachtet man wie eine Art Orts-
oder Unterobrigkeit, ſeine Dienſtherrſchaft als „Gerichts- und Orts-
polizeiherrſchaft
“ (§. 370). Die Quellen für die Competenz, die
Klüber ziemlich ausführlich mittheilt, ſind eben deßhalb ausſchließlich
aus der Literatur des vorigen Jahrhunderts gebildet (ebd.).
Da darf uns dann freilich die Klage Sugenheims (S. 473—474)
nicht wundern, daß ſie es war, welche „einen ſehr weſentlichen Theil
der Schuld der Langſamkeit des Ablöſungsverfahrens trug;“ denn freilich
konnte ſie ſich keinen Augenblick verhehlen, daß ſie ſelbſt durch die voll-
zogene Ablöſung ſich ſelbſt unmöglich machte. Denn nur die beſchränkte
rein nationalökonomiſche Anſicht konnte die naive Meinung erzeugen,
die wir in den bedeutendſten Lehrbüchern wieder finden, daß es genüge,
den wirthſchaftlichen Vortheil der Entlaſtung auch für den Grundherrn
nachzuweiſen, um denſelben für die freiwillige Ablöſung zu beſtimmen.
Welchen Werth für den Herrſchenden die Herrſchaft als ſolche hat, das
freilich ließ ſich in keine volkswirthſchaftliche Berechnung aufnehmen.
Aber betrachtet man die Verhältniſſe von dieſem allgemeinen Stand-
punkt, ſo erklärt ſich nunmehr auch leicht die letzte Thatſache, daß
nämlich Deutſchland es bis zu 1848 zu keiner rechten Gemeinde-
verfaſſung
, ja nicht einmal zu einem formalen Begriff der Gemeinde
bringen konnte (vgl. Vollziehende Gewalt: Selbſtverwaltungskörper).
In der That ſind Gemeinden ohne Eigenthum der Bauern gar nicht
möglich; wie viel weniger bei dem Fortbeſtand der Patrimonialjuris-
diktion! Und wie konnte der Gedanke der Selbſtverwaltung in einem
Lande Raum finden, wo die Polizei und das Gericht nicht einmal dem
Staate, geſchweige denn dem freien Staatsbürgerthum gehörte!


Ueberblickt man nun von dieſer Grundlage die Reſte der Ge-
ſchlechterordnung in Deutſchland in der Zeit von 1800 bis 1848, ſo
iſt es ganz unmöglich, ein vollſtändiges und für alle Theile genügendes
[208] Bild dieſer auf allen Punkten im Werden begriffenen Verhältniſſe zu
geben. Denn in allen Staaten geſchah etwas, in keinem alles.
Begriffe und Rechte dieſer Verhältniſſe, Namen und Vorſtellungen
erſchienen wirklich als die „ewige Krankheit“ des Dichters, und es muß
genügen, einige wenige Andeutungen über den damaligen Zuſtand,
den Charakter und die Bewegung der Entlaſtung hier mitzutheilen,
indem wir die obigen Kategorien dabei zu Grunde legen.


Zuerſt muß man diejenige Gruppe ausſcheiden, welche bis zum
Jahre 1848 für die Befreiung des Bauernſtandes von Staatswegen
gar nichts gethan hat. Dahin gehören namentlich Oeſterreich und
Mecklenburg. Oeſterreich iſt dann 1848 ſo entſchieden in die Bahn des
Fortſchrittes hineingetreten, daß es den meiſten andern Staaten voran-
ſteht. In Mecklenburg dagegen herrſcht noch gegenwärtig das alte Syſtem
(Mecklenburg bei Sugenheim; Krünitz, Encyklopädie XVIII. 153—177).


Für die übrigen Staaten muß dann ferner die Zeit bis 1830
von der zweiten Epoche bis 1848 geſchieden werden. Im Allgemeinen
iſt es zutreffend, wenn man ſagt, daß bis 1830 ſo ziemlich in allen
deutſchen Bundesſtaaten die Leibeigenſchaft und die aus ihr her-
vorgehenden Abgaben und Leiſtungen unentgeltlich aufgehoben werden,
während die Grund- und Reallaſten in einigen Staaten der Ablöſung
auf freiwilligem Wege beginnt, während ſie in andern nicht einmal
verſucht wird, ſo daß der ganze Zuſtand ein höchſt ungleichartiger iſt,
und nach allen Richtungen hin beſtätigt, was wir bereits erwähnt,
daß der Charakter der großen Bewegung ein durchgreifend localer ge-
weſen iſt. Daſſelbe gilt von den Ablöſungen und Gemeinheitsthei-
lungen (ſ. ſpäter); das Jagdrecht dagegen bleibt ſo gut als ohne
Ausnahme auf ſeinem feudalen Standpunkte beſtehen.


Dabei tritt nun ein großer Unterſchied zwiſchen den Verfaſſungs-
ſtaaten des Südens, Preußen und den übrigen Mittel- und Klein-
ſtaaten auf den erſten Blick hervor. Preußen geht allen deutſchen
Staaten mit dem großartigen Princip ſeiner Geſetze von 1807 und
1811 voran, bleibt aber in der Ausführung ſo ſehr zurück, daß es
ſelbſt nach 1848 keineswegs ſeine Grundentlaſtung zu einer völligen
Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft erhoben hat. Die Verfaſſungs-
ſtaaten ſind in ihrer Entwicklung untereinander ſehr verſchieden; Würt-
temberg und Baden ſind am weiteſten voraus; Bayern bleibt gänzlich
zurück, Heſſen bedarf des Stoßes von 1830. Die übrigen Staaten
thun ſehr wenig; ſie ſtehen bis zum Jahre 1830 meiſt ganz ſtill und
gehen dann ſehr vorſichtig weiter, bis erſt das Jahr 1848 Klarheit
in Geſetzgebung und Verwaltung bringt. Alles das gilt nun ſowohl
für die Laſten ſelbſt, als für die Patrimonialjurisdiktion. Hätten
[209] dieſe Einzelheiten irgend eine Wichtigkeit für das Geſammtleben der
Nation, ſo würde es eine außerordentlich ſchwierige Aufgabe ſein, ſie
genau zuſammenzuſtellen. Wir halten nur feſt, daß die Art der Be-
handlung, welche Judeich eingeſchlagen, auch für das Ganze nicht
ausreicht, während wir ihm im Einzelnen Vieles verdanken. Doch wun-
dern wir uns billig über die Nichtberückſichtigung der Literatur, nament-
lich des Werkes von Sugenheim.


Eine kurze Zuſammenſtellung der poſitiven Reſultate ergiebt fol-
gendes Bild, bei dem wir erinnern, daß wir nicht im Stande waren,
genaue Angaben über die Patrimonialgerichte allenthalben zu finden.


Preußen. — Das Allgemeine Landrecht (1791) bleibt vollkom-
men unentſchieden, indem es ſich darauf beſchränkt, den Namen der
Leibeigenſchaft in den der Erbunterthänigkeit zu verwandeln und nur
vorſchreibt, die Hofdienſte ſo viel als möglich in gemeſſene Frohnden
umzuändern. Die Reſcripte vom 26. Mai 1795 und 18. Jan. 1796
beſtimmten nichts über die Quantität, ſondern nur über die Qualität
der zuzumeſſenden Prügel an die Erbunterthänigen (Sugen-
heim
S. 414 und 415). Erſt Friedrich Wilhelm III. erklärt, den
Bauern zu einem freien, ſelbſtändigen Staatsbürger machen zu wollen.
Erſter Verſuch, 1799, die Ablöſung der Frohnden auf den Domainen.
Weitere Anſtrengungen der Regierung 1802, 1805. Dann das ent-
ſcheidende Edikt vom 8. Oktober 1807, welches das Unterthä-
nigkeitsverhältniß
überhaupt aufhebt, während „alle Verbind-
bindlichkeiten, die den bisher Unterthänigen als freien Leuten ver-
möge des Beſitzes
eines Grundſtücks oder vermöge eines Vertrages
obliegen, in Kraft bleiben;“ doch regulirte die Verordnung vom
24. Oktober 1810 bereits die freiwillige Ablöſung. Jetzt war die
Perſon frei, das Gut blieb unfrei; es war noch nicht einmal Eigen-
thum. Da gab die Verordnung vom 27. Juli 1808 allen Do-
mainen
-Inſaſſen das volle und uneingeſchränkte Eigenthum un-
entgeltlich
, bis das entſcheidende Edikt vom 14. September 1811
allen, auch gutsherrlichen Bauern, dieß Eigenthum verlieh, mit dem
Rechte auf Abfindung der Laſten durch Abtretung von Land oder durch
eine Rente. Das war ein trefflicher Anfang; allein es mangelten die
Hauptſachen: erſtlich blieb die Patrimonialgerichtsbarkeit mit dem
Strafrecht für Polizeiübertretungen bis 14 Tagen Gefängniß oder
5 Thlr. Buße und die Leitung der Dorfangelegenheiten (Kamptz,
Annalen Bd. 34, S. 346; ſpeciell v. d. Heyde, die Patrimonial-
und Polizeigerichtsbarkeit, 5. Aufl. 1845; vgl. Sugenheim S. 471);
zweitens das Lehnsrecht und Obereigenthum; drittens das Jagd-
recht; viertens aber, was die Hauptſache war, war zwar die Ablöſung
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 14
[210] geſtattet, jedoch ohne jede Staatshülfe. Daher blieb der ganze
Fortſchritt in Preußen ein halber; der Adel behielt faſt ganz ſeine
frühere Stellung; die folgenden Geſetze von 1821, 1829 und 1840
änderten an dem Grunde dieſer Verhältniſſe nichts (vgl. Judeich,
Grundentlaſtung S. 36) und die Patrimonialgerichte machten das
Durchgreifen der Ablöſungen ſo ſchwer als möglich. Dazu kam end-
lich eine ſehr große, zum Theil principielle Verſchiedenheit in der
Durchführung je nach den einzelnen Provinzen, wodurch nicht bloß die
Ablöſung ſelbſt erſchwert, ſondern auch viel Unmuth durch Vergleichung
der beſſer Geſtellten mit den Zurückgeſetzten hervorgebracht ward. Eine
einfache Darſtellung wird dadurch ſo gut als unmöglich (vgl. Sugen-
heim
S. 486, 487, namentlich auch Weber, Handbuch der ſtaats-
wirthſchaftlichen Statiſtik der preußiſchen Monarchie, 1840, S. 367).
Daher denn die gewaltige Unzufriedenheit des Volkes in den vierziger
Jahren; Preußen hatte viel für ſeinen Bauernſtand, aber wenig für
deſſen Staatsbürgerthum gethan, und was das Schlimmſte war, es
trug die Verantwortung dafür, daß auch die übrigen Staaten Deutſch-
lands ſo weit als möglich hinter den Forderungen der Zeit zurück-
blieben.


In den Verfaſſungsſtaaten zuerſt kam man auch nur zum Theil
weiter. In Baden hob zwar die Verfaſſung von 1818 die Leib-
eigenſchaft
und die Laſten derſelben, gegen „einen angemeſſenen
Abkauffuß“ auf (§. 11) und eine Reihe von einzelnen Geſetzen, die
mit 1820 begannen, beſeitigen ſtückweiſe die einzelnen Rechte der
Geſchlechterherrſchaft; allein die wirkliche Ausführung dieſer Geſetze ließ
ſo viel zu wünſchen übrig, „daß die innere Staatsverfaſſung des
Großherzogthums während Karl Friedrichs († 10. Juni 1811) und
ſeines Nachfolgers Karl († 8. December 1818) Regierung zum Theil
immer noch auf der Grundlage der Leibeigenſchaft eines großen
Theiles der Einwohner fortberuhen
“ — ſo ſchreibt noch
Pfiſter, Geſchichtliche Entwicklung des Staatsrechts des Großherzog-
thums Baden, erſte Aufl. 1836, Bd. II. S. 12. (Vgl. dazu Sugen-
heim
S. 426.) Das wird wohl den gewaltigen Einfluß hinreichend
erklären, den Rotteck und Welcker in dieſem „verfaſſungsmäßigſten“
aller deutſchen Länder haben konnten. Erſt 1830 beginnt eine neue
Bewegung, indem durch Geſetz vom 28. Mai 1831 und 28. De-
cember 1831 alle Herren frohnden und erſt nach hartnäckigem Wider-
ſtande des Adels durch ein Geſetz vom 15. November 1833 auch die
ſeit 1819 vielfach beſprochenen Zehnten wirklich und zwar unter
wirkſamer Beihülfe der Staatskaſſe ablösbar erklärt worden. Die
Patrimonialgerichtsbarkeit war bereits durch Verordnung vom 1. Juni
[211] 1813 aufgehoben (Klüber, Oeffentliches Recht §. 369). Die Geſchichte
des Kampfes bis 1831 bei Rotteck, Geſchichte des badiſchen Landtags
von 1831. Dennoch blieb eine große Anzahl von einzelnen Lehns-
abgaben, die erſt nach 1848 fielen. Einzelne, nicht beherrſchte, An-
gaben bei Judeich, S. 111—119. Immer war Baden bis 1848 in
der erſten Linie der geſchlechterfreien Staaten.


Württembergs Geſchichte iſt in dieſer Beziehung ebenſo intereſſant,
als Bayerns Geſchichte unintereſſant iſt. Kaum zeigt ſich irgendwo
der eigenthümliche Kampf zwiſchen Staat und herrſchenden Geſchlechtern
greifbarer, als in der Bauernbefreiungsfrage Württembergs; die Be-
wegung von 1815 bis 1830 iſt in der That ein Stück Weltgeſchichte
im Kleinen. Die mediatiſirten Standesherren wollen das Königthum
und namentlich ſeine Regierungsrechte nicht anerkennen; das Königthum
wird dadurch gezwungen, ſich auf das Volk zu ſtützen, namentlich auf
den Bauernſtand. Das Edikt vom 18. November 1817 hebt die Leib-
eigenſchaft unentgeltlich auf, was die Verfaſſung von 1819, §. 25
beſtätigt. Dagegen die heftigſte Oppoſition der Standesherren, die
es bis zu einem förmlichen Bunde gegen den König bringt (Urkunde
vom 12. December 1815, bei Sugenheim, S. 427). Zwar unter-
liegt der Adel; allein bis zu einer zwingenden Maßregel zur Ablöſung
der Grundlaſten kam es nicht, trotz der Verordnung vom 13. September
1818, obgleich die Patrimonialjurisdiktion bereits 1809 aufgehoben war.
Auch hier gab nun die Revolution von 1830 der großen Unzufrieden-
heit des halbfreien Bauernſtandes einen neuen Anſtoß. Die Regierung
hatte ſich nach dem Erlaß der Verfaſſung im Weſentlichen mit der
Grundherrlichkeit verſöhnt, und das Entlaſtungswerk ſtand von dieſem
Augenblick an ſtill, ſo daß in Württemberg, wie faſt im ganzen
übrigen Deutſchland der Bauer perſönlich frei, wirthſchaftlich aber unter
ſeinen Frohnden, Beeden, Reallaſten und Lehnsrechten ungefähr eben
ſo unfrei war, wie im Anfange des Jahrhunderts. Der Blick auf
Baden und vielfach auch auf Frankreich ließ daher den Unmuth des
Volkes wachſen, und die Regierung mußte nach 1830 nachgeben. So
erſchienen die drei Geſetze vom 27., 28. und 29. Oktober 1836, von
denen das erſtere eine Reihe von öffentlichen Grundlaſten ablöste, das
zweite die grundherrlichen Frohnden auf Antrag der Pflichtigen unter
Hülfe des Staates ablösbar erklärte, das dritte den Reſt der Leib-
eigenſchaftslaſten gegen Entſchädigung beſeitigte. Allein die Reallaſten
blieben (Judeich, S. 86. 87) und Mohl konnte noch in ſeiner
PolizeiwiſſenſchaftII. 525 ſagen, daß „bis jetzt“ (1846) nur eine
„Beſchränkung und Milderung“ der alten Laſten eingetreten ſei. Auch
hier blieb daher der letzte Akt der geſellſchaftlichen Befreiung dem
[212] Jahre 1848 überlaſſen, trotz der offenbaren Unhaltbarkeit des doppel-
gearteten Zuſtandes. In Bayern dagegen erſchöpfte die Regierung
ihre Kraft mit der Aufhebung der Leibeigenſchaft durch Edikt vom
31. Auguſt 1808 und die Erklärung der Verfaſſung von 1818 (Tit. IV. 6),
daß dieſelbe nebſt allen ihren Wirkungen ohne Entſchädigung aufge-
hoben bleiben ſolle. Von einer Beſeitigung der Patrimonialjurisdiktion
dagegen war keine Rede; hat doch noch Pözl ſie in ſeinem bayeriſchen Ver-
faſſungsrecht bis auf den heutigen Tag neben der Staatsgerichtsbarkeit
fortführen zu müſſen geglaubt. Die Verordnung vom 8. Februar 1825
ſowie die Verordnung vom 19. Juni 1832 erklärten im Grunde nur die
Ablöſung für „erlaubt,“ und das bayeriſche Staatsrecht jener Zeit wie
das von Moy (II. 1. §. 108) enthielt das gemeine Recht der immer
noch unerſchütterten wirthſchaftlichen Unfreiheit des Bauernthums. Dem-
nach blieben auch die übrigen Staaten eben ſo weit zurück; viele bis
1830 noch viel weiter. Es klingt in unſeren Tagen faſt unglaublich,
daß erſt die Bewegung von 1830 in einem großen Theile Deutſchlands
die Leibeigenſchaft beſeitigte. So hat Kurheſſen erſt durch
ſeine Verfaſſung vom 5. Januar 1831 die Leibeigenſchaft aufgehoben;
noch bis 1830 mußte ſich dort der Bauer freikaufen! (Sugenheim,
S. 450—452 — war doch hier den Söhnen der Bauern und Bürger
bis dahin das Studiren verboten!) Zugleich wurden einige der ver-
haßteſten Frohnden und Dienſte ſogleich aufgehoben, andere in gemeſſene
umgewandelt, und mit Geſetz vom 23. Juni 1832 die Ablösbarkeit
überhaupt ausgeſprochen, ohne daß der Staat ſich der Sache weiter
angenommen hätte (Judeich S. 97—99). Im Großherzogthum
Heſſen
war die Leibeigenſchaft allerdings bereits durch die Verfaſſung
vom 17. December (Art. 25) beſeitigt, die ungemeſſenen Frohnden durch
Art. 26 abgeſchafft; die Frohnden konnten in Renten verwandelt
werden, blieben jedoch als Reallaſt; nur die Jagdfrohnden ſchaffte
man unentgeltlich ab. Erſt das Geſetz vom 27. Juni 1836 organiſirte
die Ablösbarkeit aller Reallaſten, aber die Patrimonialgerichtsbarkeit
blieb, ſo wie die meiſten Vorrechte der Standesherren. Im Königreich
Sachſen iſt die Leibeigenſchaft nie durch ein förmliches Geſetz auf-
gehoben, daher ſie auch noch in einigen Theilen bis 1830 beſtand
(Sugenheim, S. 450); dagegen hat Sachſen die Ablöſungsgeſetzgebung
mit den Mandaten von 1824, 1828 und vom 13. Auguſt 1830 be-
gonnen, die jedoch dieſelbe nicht zur Pflicht machten, ſondern nur die
freiwillige Ablöſung befördern ſollten. Erſt das Geſetz vom 17. März
1832 führte eine theilweiſe gezwungene Befreiung des Bauernſtandes
von Dienſten und Leiſtungen ein, zunächſt derjenigen, welche aus dem
„obſolet gewordenen“ Leibeigenſchaftsverhältniſſe herrührte; allein von
[213] einer eigentlichen Herſtellung eines freien Eigenthums war auch hier
bis 1848 um ſo weniger die Rede, als man die Patrimonialgerichts-
barkeit bis 1856 faſt unangetaſtet ließ (Judeich S. 61, Sugenheim
S. 450). Im Königreich Hannover hatte man ſeit 1800 gar nichts
geändert und gebeſſert. Die nordalbingiſchen Länder waren überhaupt
in einem etwas andern Verhältniß als die übrigen Theile Deutſch-
lands; hier fehlte einerſeits das bewegende Element des Stadtbürger-
thums, das freie des gewerblichen Kapitals, und der Bauer ſtand faſt
allein dem Gutsherrn gegenüber. Wie daher überhaupt jede Bewegung,
der Fortſchritt wie der Rückſchritt in jenen Gebieten ſehr langſam vor
ſich geht, ſo auch die der Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft.
Daß Mecklenburg noch in dieſem Augenblick das letzte Stück Mittel-
alter iſt, welches wir in Deutſchland beſitzen, iſt bereits erwähnt.
Hannover ſeinerſeits pflanzte die alte Hörigkeit, die Zwangsdienſte,
die Frohnden in unerſchütterter Ruhe fort bis zum Jahre 1830; es
konnte ſich beinahe mit Mecklenburg meſſen. Erſt der Stoß jener Re-
volution auf die ganze unfreie Geſchlechterordnung Deutſchlands traf
auch Hannover (vgl. Sugenheim, S. 444—450). Das Geſetz vom
10. November 1830 hob auch hier erſt die Leibeigenſchaft auf, und
zwar ohne Entſchädigung; das Geſetz vom 23. Juli 1833 erklärte dann
die Grundlaſten für ablösbar, jedoch unter den zwei entſcheidenden Be-
dingungen, daß erſtlich nur der Verpflichtete auf Ablöſung antragen
dürfe und zweitens, daß alle Erbpachtsverhältniſſe nur gegen Kapital-
zahlung ablösbar ſein ſollten. Gerade das machte den praktiſchen Er-
folg ſehr unbedeutend, um ſo mehr als die Patrimonialgerichtsbarkeit
unerſchüttert beſtehen blieb; doch hat Hannover bereits 1840 (Verord-
nung vom 8. September) eine Staatskreditanſtalt für die Ablöſung
gegründet, welche durch Verordnung vom 18. Juni 1842 zur Landes-
kreditanſtalt erhoben wurde (Judeich S. 51—58. Bening, die
hannoveriſche Landeskreditanſtalt in Rau und Hanſens Archiv Bd. IX.
S. 273—302. 1851.) Aehnlich blieb in Oldenburg die Patrimonial-
gerichtsbarkeit; doch war das Verhältniß Oldenburgs überhaupt viel
beſſer als dasjenige Hannovers, da hier der Bauernſtand durch den
30jährigen Krieg ſo gut als gar nicht gelitten hatte, und daher die Um-
wandlung der alten Hörigkeit bereits 1694 in eine höchſt mäßige Rente
ziemlich vollſtändig durchgeführt war; die letzten Reſte der alten Laſten
wurden 1820 ziemlich gründlich beſeitigt; hier blieb dem Jahre 1848
daher nur wenig zu thun übrig (Sugenheim, S. 442 nebſt Literatur).
In ganz gleichem Verhältniß war Schleswig-Holſtein, und zwar
nur für die Mitte und öſtliche Hälfte des Landes, während der Weſten
mit ſeinen urfreien Marſchen der Frieſen und Marſen niemals unter
[214] Adelsherrſchaft geſtanden, den Typus des alten, ſtolzen, freien Bauern
darboten. Was endlich die Mitte Deutſchlands betrifft, namentlich die
ſächſiſchen Herzogthümer aller Art, ſo ſtanden ſie im Großen
und Ganzen auf dem Standpunkt des Königreichs. Bis 1830 werden
zwar alle Laſten ablösbar erklärt (Sachſen-Weimar-Eiſenach, Geſetz
vom 2. März und 11. Mai 1821; Sachſen-Coburg-Gotha, Verfaſſung
von 1821 §. 17); allein erſt die Zeit nach 1830 griff tiefer hinein.
Zwar drang die Regierung in Sachſen-Weimar gegen den Adel nicht
durch (Judeich, S. 132); in Sachſen-Coburg-Gotha dagegen erſchien
das dem ſächſiſchen Geſetze nachgebildete Geſetz vom 16. Auguſt 1835,
in Sachſen-Meiningen das Geſetz vom 23. März 1846, in Sachſen-
Altenburg erkannte das Grundgeſetz vom 29. April 1831 ſogar alle
die Freiheit der Perſon oder des Eigenthums beſchränkenden Zwangs-
verhältniſſe ablösbar; wie weit das wirklich Effekt hatte, können wir
nicht ſagen (Judeich, S. 132 ff.). Am weiteſten gedieh die Entwick-
lung in Braunſchweig, wo ſich bekanntlich die franzöſiſche Revolution
im Kleinen wiederholte, wie in Württemberg der Kampf und die Ent-
wicklung des organiſchen Königthums. Hier wurden durch die neue Land-
ſchaftsordnung vom 12. Oktober 1832 alle Reallaſten für ablösbar
(§. 36), und alle Lehen für aufgehoben erklärt (§. 37); unter jenen der
Rottzehent ſogar ohne Entſchädigung. Die genaueren Beſtimmungen
enthält die Ablöſungsordnung vom 20. December 1834, mit Ergänzung
vom 29. Juli 1837 und 14. Mai 1840. Indeſſen gelang es der herr-
ſchenden Klaſſe dennoch, einige Reallaſten darunter für nicht ablösbar
zu erklären, namentlich gewiſſe Bannrechte. Auch das Jagdrecht blieb;
dagegen führte man nach dem Vorbild Hannovers das Landeskredit-
inſtitut zugleich mit der Ablöſungsordnung vom 20. December 1834
ein und bildete daſſelbe weiter aus (Geſetz vom 13. November 1837
und 7. März 1842. Judeich, S. 175—179). Ueber die kleineren
Bundesſtaaten, in denen dieſelben Grundverhältniſſe herrſchen, vergl.
Judeich, S. 183—223.


Faßt man nun das bisher Dargeſtellte in ſeinem Verhältniß
zu den elementaren Grundkräften der Geſchichte des 19. Jahrhunderts
zuſammen, ſo iſt bei aller oft unüberſehbaren Verwirrung im Einzelnen
das Geſammtergebniß klar. Die Idee des Staatsbürgerthums iſt nicht
mehr eine vage Abſtraktion der Freiheit, ſondern ſie hat ſich mit be-
ſtimmten Forderungen erfüllt. Dieſe nun laſſen ſich ihrerſeits auf zwei
feſte Kategorien zurückführen. Einerſeits will dieß Staatsbürgerthum
ſeinen organiſchen Antheil an der Bildung der Geſetze, es will eine
Verfaſſung; andererſeits will es den Einzelnen von ſeiner Abhängigkeit
von dem andern Einzelnen befreien, es will die Entlaſtung. Das erſte
[215] iſt nicht möglich ohne einen weſentlich andern Begriff vom Staate;
der Staat und ſeine Regierung ſollen nicht mehr außerhalb und als
anders geartete Gewalten über dem Volke ſtehen, ſondern ein lebendiger
Theil des organiſchen Volkslebens ſein; und es iſt klar, daß dieſer
tiefe Grundzug in der ſtaatlichen Auffaſſung unſeres Jahrhunderts den
Reſten der Staatsidee des vorigen tödtlich feind ſein mußte. Das
zweite aber iſt nicht möglich, auch als Forderung nicht, ohne eine
eben ſo gründlich geänderte Auffaſſung der Geſellſchaftsordnung
und mithin ihres Rechts
. In der Geſchlechterordnung ſowie in
der mit ihr verbundenen ſtändiſchen Ordnung ſteht eigentlich nirgends
ein Herr einem Diener und Knecht gegenüber, ſondern vielmehr ein
herrſchender Körper — der adelige Stand, die ſtändiſche Körper-
ſchaft — der beherrſchten geſchlechter- und ſtandesloſen Maſſe; jeder
Herr iſt nur Herr als Mitglied dieſes Standes, dieſer Körperſchaft; er
iſt nicht in ſeinem Recht, ſondern er iſt in dem Recht ſeines Ge-
ſchlechts, ſeines ſtändiſchen Berufs. Eine Aenderung dieſer Herrſchaft
über die beherrſchte Klaſſe iſt daher nicht etwa eine einfache Entwährung
von Rechten, ſondern geradezu eine Aufhebung des ganzen geſellſchaft-
lichen Grundgedankens; ſie iſt nur möglich durch eine andere Idee der
Geſellſchaft ſelbſt. Und dieſe iſt es, welche ſich in der erſten Hälfte
unſeres Jahrhunderts vollzieht. Die Herrſchaft des Grundgedankens
der Geſchlechterordnung iſt es, welche die franzöſiſche Revolution auch
für Deutſchland gebrochen hat. Die Idee der Gleichheit bedeutet für
das wirkliche Leben Deutſchlands niemals die franzöſiſche Egalité,
ſondern vielmehr die Aufhebung der Berechtigung der Geſchlechter als
Ganzen auf eine herrſchende Stellung, die Gleichſtellung der einzelnen
Glieder der Geſchlechterherren mit jedem Gliede der beherrſchten Klaſſe.
Das ſagt man ſich nicht in dieſer Weiſe, aber man fühlt und weiß es
darum nicht weniger; die größten hiſtoriſchen Wahrheiten fordern oft
am wenigſten die wiſſenſchaftliche Formulirung, um zu gelten. Der
Punkt aber, wo man das Daſein jener Auffaſſung am greifbarſten
erkennt, iſt eben das Verhältniß zwiſchen Grundherrn und Hörigen.
Die Grundlaſt aller Art hat durch jene Idee ihren Charakter geändert.
Sie erſcheint nicht mehr als eine Unterwerfung einer niederern Klaſſe
unter eine höhere, ſondern als eine Unterwerfung eines Einzelnen unter
einen andern Einzelnen. Der Grundherr iſt ein Individuum ge-
worden. Und das iſt der Widerſpruch. Kann ein Einzelner einem
Einzelnen unterworfen ſein? Und kann er es nicht, ſo muß die
Form, in welcher jene Unterwerfung noch fortdauert, aufgehoben werden.
Sie muß es für das perſönliche Recht, und ſo entſteht die Aufhebung
der Leibeigenſchaft; ſie muß es aber auch für das wirthſchaftliche Leben,
[216] und ſo entſteht die Beſeitigung der Reallaſten. Beide Gedanken ſind
daher die einfachen, aber nothwendigen Conſequenzen des Verſchwindens
der Geſchlechterordnung; in ihnen vollzieht ſich dieſelbe. Aber das
Organ, durch welches ſie ſich vollzieht, iſt der Staat. Der Staat aber
und ſeine Gewalt ſind noch in den Händen der Geſchlechter. Jetzt ent-
ſteht eine wunderbare Erſcheinung, wunderbar, obgleich ſie ſich ſo oft
wiederholt. Der Staat ſelbſt entwickelt ein Doppelleben.
Die höhere, reine Staatsidee tritt auf in den Geſetzen. Die Geſetze
wollen und befehlen die Aufhebung der Leibeigenſchaft, die Ablöſung
der Grundlaſten. Allein die herrſchenden Elemente der Geſellſchaft be-
ſitzen und dirigiren die vollziehende Gewalt, theils in den Aemtern,
theils in der Erbgerichtsbarkeit. Dieſe nun ſind zwar unvermögend,
das Geſetz zu beſeitigen; aber ſie vermögen ſeine Verwirklichung zu
hindern. So ſtockt alles, weil das, was die Deutſchen ihre Verfaſſung
nannten, nur die Ordnung der geſetzgebenden und nicht die der voll-
ziehenden Gewalt iſt. Dennoch arbeitet die große Idee der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft weiter; auch jenes Hemmniß in der Vollziehung
wird untergraben, zerbröckelt, überwunden. Die Geſchlechter, die Grund-
herren vom mediatiſirten Reichsſtand bis zum kleinſten Gutsherrn er-
kennen daher die Gefahr. Das Gemeingefühl ihrer geſellſchaftlichen
Stellung wird ihnen lebendig. Sie erheben ſich zum Kampfe gegen
ihren gefährlichſten Feind. Der iſt nicht in den Städten, nicht in
der Wiſſenſchaft, nicht in der Preſſe. Er iſt in der Forderung des
Bauernſtandes nach Gleichheit der ſocialen Stellung. Was ſind ſie,
die Herren, wenn ſie keine Dienſte, keine Hörigen, keine Reallaſten,
keine Patrimonialgerichtsbarkeit haben? Sie ſind nichts als Groß-
grundbeſitzer
. Der qualitative, der geſellſchaftliche Unterſchied iſt
hin, der quantitative, der wirthſchaftliche bleibt allein. Iſt nun Reich-
thum Herrſchaft? So wenig wie Brod Wein iſt. Daher gilt es das
Aeußerſte. Seit 1815 folgen ſich die nachdrücklichſten Verſuche des
Adels, ſeine „geheiligten“ Rechte durch das Königthum zu bewahren.
Allein das iſt nun umſonſt. Auch dießmal iſt die Zeit mächtiger als
die, welche in ihr leben. Die Geſetze, welche die Leibeigenſchaft auf-
heben und die Ablösbarkeit einführen, treten mit elementarer Gewalt
auf. Da geſchieht ein Anderes. Die herrſchende Klaſſe muß das
Princip der Gleichheit annehmen. Allein ſie nimmt es an, indem ſie
die geſellſchaftliche Frage nach der Geſchlechterherrſchaft in die privat-
rechtliche des Eigenthums hinüber trägt. Iſt einmal das Recht des
Herrn kein Geſchlechterrecht mehr, nun gut, ſo iſt es ein Privatrecht,
und Privatrechte ſind nur unter Zuſtimmung der Betheiligten
zu ändern. So wird zwar die Ablöſung ausgeſprochen, aber auf die
[217]Vereinbarung der Pflichtigen und Berechtigten angewieſen. Das iſt
der Kern des Standpunktes der erſten Hälfte dieſes Jahrhunderts; es
iſt die freie Grundentlaſtung. Und iſt ſie denn nicht ausreichend?
Wird nicht der wirthſchaftliche Vortheil den Werth des geſellſchaft-
lichen Unterſchiedes aufwiegen? So dachten viele; die meiſten nicht.
Denn der Widerſpruch, der auch in dieſer vereinbarten Entlaſtung fort-
lebte, iſt klar genug. Iſt einmal die wirthſchaftliche Freiheit ein
weſentliches Element der neuen Geſellſchaftsordnung, ſo darf und kann
ſie nicht von dem Ermeſſen des Einzelnen, nicht von ſeiner Anſicht
über Vortheil und Schaden abhängen. Wer Herr darüber iſt, ob die
Entlaſtung vor ſich gehen ſoll, iſt auch Herr über alle, die nicht ent-
laſtet ſind. Die vereinbarte Entlaſtung iſt daher im Widerſpruch mit
dem Princip der Entlaſtung ſelbſt; die Geſchlechterherrſchaft iſt in ihr
dem Grundſatz nach anerkannt, und ſoll der Thatſache nach von Fall
zu Fall aufgehoben ſein. Das iſt auf die Dauer nicht möglich. Um
ſo weniger, als die übrigen Elemente der Geſchlechterherrſchaft eben
deßhalb von jenem Princip theils gar nicht, theils nur halb beſeitigt
werden. Es bleibt in den meiſten Staaten das Lehnsweſen, es
bleiben viele Reallaſten, es bleiben Bannrechte, es bleiben Jagd-
rechte, es bleibt vor allem die Patrimonialgerichtsbarkeit; es bleibt
daher die Geſchlechterordnung, aber mitten in ihr lebt die ſtaatsbürger-
liche Geſellſchaft. Iſt das für die Dauer möglich? Nein. Und ſo be-
reitet ſich in den vierziger Jahren jene Gährung vor, die mit der Revo-
lution von 1848 zum Ausbruch kommt. Der Inhalt dieſer Revolution
aber iſt jetzt klar. Sie iſt die Herſtellung des vollen ſtaatsbürgerlichen
Eigenthums an Grund und Boden, der letzte Akt in der hiſtoriſchen
Bewältigung der alten Geſchlechterordnung. Und dieſen haben wir jetzt
zu charakteriſiren.


3) Die eigentliche Grundentlaſtung ſeit 1848.

Was nun ſeit 1848 in dieſer wichtigſten aller deutſchen Fragen ge-
ſchehen iſt, läßt ſich, denken wir, nunmehr ſehr kurz charakteriſiren. Auch
dabei können wir jetzt unbedenklich wiederholen, daß das Einzelne nur
einen localen Werth hat, und daher der Geſchichte der einzelnen Terri-
torien Deutſchlands anheimfällt. Die Aufgabe der Verwaltungslehre
hört auch hier auf dem Punkte auf, wo die der Geſetzeskunde anfängt.
Jener gehört der Geiſt, der das Geſetz erzeugte, dieſer die Entwicklung
des erzeugten in ſeiner Verwirklichung.


Die Bewegungen des Jahres 1848 haben im Großen und Ganzen
nur Eine dauernde Thatſache hinterlaſſen. Das iſt die Herſtellung des
[218] vollen individuellen Eigenthums am Grund und Boden, und die defini-
tive Beſeitigung des Geſchlechtereigenthums und ſeiner Rechte. Die
Geſchlechter ſind damit ſeit 1848 das, was ſie ſein ſollen, große
hiſtoriſche ſociale Thatſachen im geſellſchaftlichen und ſtaatlichen
Leben, aber nicht mehr geſellſchaftliche Rechtskörper. Die letzte Voll-
ziehung dieſes Gedankens iſt die eigentliche Grundentlaſtung. Mit ihr
geht die alte Geſchlechterordnung zu Grunde. Und neben dieſem Unter-
gang ſteht ein zweiter; das iſt der der ſtändiſchen Ordnung. Was die
Grundentlaſtung für den Grundbeſitz, das iſt die Gewerbefreiheit für
den gewerblichen Erwerb. Ein letzter Akt in dieſer großen Bewegung
ſteht noch bevor; es iſt die Beſeitigung der ſtändiſchen Kirche. Doch
das iſt ein Gebiet, das uns hier ferner liegt. Wir ſind noch nicht weit
genug, um darüber ohne Vorurtheil nachdenken zu können. Die Grund-
entlaſtung aber geht voran, wie die Geſchlechterordnung der ſtändiſchen.
Die Zukunft gehört dem Princip des Staatsbürgerthums; aber auch
dieſes Princip iſt nicht der Abſchluß der Geſchichte, denn es iſt mit
ſeinem tödtlichen Feinde, der Idee der ſocialen Bewegung, zugleich
groß geworden. Wir aber müſſen hier bei jenem ſtehen bleiben.


In jenem großen Proceß der endgültigen Herſtellung des freien
individuellen Eigenthums an der Stelle des unfreien Geſchlechtereigen-
thums tritt uns nun wieder der eigenthümliche Charakter Deutſchlands
in ſchlagender Weiſe entgegen. In Deutſchland iſt das Volksbewußt-
ſein ein gleichartiges und einheitliches Ganze, das Staatsleben dagegen
ein verſchiedenes und beſondertes. Die Principien gelten daher ſtets,
und ſo auch für die Entlaſtung, gleichmäßig für alle, aber die Geſetze,
durch welche ſie werwirklicht werden, ſind weder gleich durchgreifend,
noch auch gleichzeitig. Und dabei werden hier, wie immer, die letzteren
durch die erſteren überragt; es iſt ein tiefer Charakterzug des deutſchen
Lebens, daß eben dadurch das wirklich geltende Recht ſtets hinter den
Ideen zurückbleibt, welche im Volke leben. Dafür aber hat die
Wiſſenſchaft die nie erſchöpfte Aufgabe, dieſen Widerſtreit auszugleichen;
das iſt von jeher die praktiſche Aufgabe der letzteren geweſen und wird
es bleiben.


Jene allgemeinen Grundſätze der Grundentlaſtung ſeit 1848 ſind
ihrem tiefern Weſen nach von denen der erſten Hälfte unſeres Jahr-
hunderts eben ſo ſehr verſchieden, wie die Geſchlechterordnung von der
ſtaatsbürgerlichen. Es handelt ſich dabei nicht um einen Fortſchritt
von dem Einen zum Andern, ſondern vielmehr um eine ganz neue
Grundlage der Entwicklung. Die Geſetze ſeit 1848 haben nicht etwa
ausgeführt, was die früheren nicht vermocht, ſondern ſie haben etwas
feſtgeſtellt, was die früheren gar nicht gewollt. Während die bisher
[219] dargelegte Bewegung im Grunde nur die Geſchlechterrechte ſo weit
beſeitigen wollte, als ſie der Entwicklung des bäuerlichen Wohl-
ſtandes
entgegenſtanden, und da aufhörte, wo dieſe aufhörte eine
Frage zu ſein, handelt es ſich um das volle und unbeſchränkte Eigen-
thum
. Während daher die Geſetze vor 1848 des volkswirthſchaftlichen
Beweiſes bedürfen, und ihn ſuchen und finden, daß die möglichſte Frei-
heit des Bauernſtandes das Nützlichſte für die Geſammtheit ſei, ſtehen
die Geſetze nach 1848 auf dem Standpunkt, daß dieſe Freiheit an
und für ſich
als nothwendig erkannt werden müſſe. Während deß-
halb endlich der Schwerpunkt der Ablöſung vor 1848 in der Verein-
barung liegt, liegt er ſeit 1848 in dem Willen des Staats, dem Geſetze.
Der Bruch mit der früheren Epoche iſt ein principieller; und jetzt erſt
kann daher auch aus dieſer Befreiung des Bauernſtandes erſt die Selbſt-
verwaltung
hervorgehen. Daher ferner wird das Volksbewußtſein
Deutſchlands erſt ſeit dieſer Zeit für jenen Begriff empfänglich; daher
die charakteriſtiſche Erſcheinung, daß jetzt erſt die Zuſtände Englands
ſtudirt, das Intereſſe an der Vergleichung mit den übrigen Völkern
ein lebendiges wird; denn jetzt erſt fühlt ſich Deutſchland dieſen ſeinen
Nachbarn ebenbürtig. Und von dieſem Standpunkt muß das Princip
der vollen Grundentlaſtung aufgefaßt werden.


Darnach nun ergeben ſich die ſeit 1848 für dieſe eigentliche Grund-
entlaſtung geltenden allgemeinen Principien zugleich als Baſis für die
Vergleichung der betreffenden Geſetzgebungen in folgender Weiſe.


Zuerſt iſt die Entlaſtung nicht mehr ein Recht der Betheiligten,
ſondern ſie iſt eine geſetzliche Pflicht. Sie muß ſtattfinden. Aller-
dings hat die freie Vereinbarung über die Modalitäten den Vorrang;
allein die Entlaſtung ſelbſt iſt nicht von ihr abhängig; ſondern wenn
jene nicht ſtattfindet, tritt die geſetzliche ſelbſtthätig ein. Dieſer Grundſatz
bildet den Ausgangspunkt für eine Reihe anderer Beſtimmungen, welche
nur als die Conſequenzen deſſelben angeſehen werden müſſen. Zuerſt
folgt daraus die Aufſtellung eines eigenen amtlichen Organes mit
beſtimmten Inſtruktionen für ſeine Thätigkeit; zu dieſer gehört denn
auch die Prüfung, eventuell Beſtätigung der etwa vereinbarten Ver-
träge. Zweitens wird das Verfahren dabei ein möglichſt kurzes und
billiges ſein. Drittens können etwaige Rechtsanſprüche Dritter (wie
Pfandrechte und dingliche Servituten) den Proceß der Entlaſtung nicht
hindern; nur werden ihre Anſprüche ſicher geſtellt. Viertens aber,
und das iſt das Entſcheidende, erkennt der Staat die Nothwendigkeit
der Entlaſtung weſentlich dadurch an, daß er den Verpflichteten die
nöthigen Kapitalien in irgend einer Form darleiht, ſo daß die-
ſelbe nicht mehr, wie meiſtens vor 1848, von dem Kapitalbeſitze
[220] der meiſt unvermögenden Bauern abhängt, ſondern ein auf der ge-
ſteigerten Produktivkraft baſirtes Kreditſyſtem hergeſtellt wird, das
unter verſchiedenen Namen (Landeskreditanſtalt, Rentenbank, Grund-
entlaſtungsfonds) die Entſchädigungsſumme zu einer öffentlichen Schuld
macht, aber die Verzinſung und Rückzahlung dieſer Schuld auf die ent-
laſteten Grundſtücke legt. Erſt dadurch wird die Grundentlaſtung zu
einer Entwährung im obigen Sinne, und erſt dadurch gewinnt ſie jenen
organiſchen Charakter, der Deutſchlands Entlaſtungsweſen auszeichnet.
Sie hat gerade durch dieſe Entlaſtungskreditinſtitute nicht den revolu-
tionären Willen der Betheiligten, ſondern die Arbeit der Befreiten
zum Grunde gelegt, und das iſt ihr weſentlichſter Unterſchied von dem
Entlaſtungsweſen Englands und Frankreichs. — Fünftens endlich ſind
zwar diejenigen Laſten, welche den Charakter von Naturalſteuern haben,
von der Ablöſung ausgeſchloſſen, wie die Leiſtungen für Kirchen, Schulen,
Wege u. a. m.; allein alle verſtändigen Regierungen arbeiten kräftig
dahin, auch an die Stelle dieſer Naturalleiſtungen die rationellen Geld-
leiſtungen zu ſetzen, in dem mehr oder weniger klaren Gefühl, daß eine
tüchtige Selbſtverwaltung erſt dann möglich iſt, wenn alle Natural-
leiſtungen in Geldleiſtungen umgewandelt ſein werden.


In dieſen Punkten iſt nun das Verhältniß des Staats zur Grund-
entlaſtung gegeben. Die folgenden enthalten das Verhältniß deſſelben
zum ſtaatsbürgerlichen Eigenthumsrecht.


Dieß Verhältniß beruht nun auf dem allgemeinen Grundſatz, daß
gar keine aus der Geſchlechterordnung ſtammende Laſt auf dem Grunde
und Boden fortdauern, ſondern daß derſelbe von jetzt an ein vollkommen
freies Kapital ſein ſoll. Daraus gehen wieder gewiſſe Conſequenzen
hervor, die ihrerſeits nur durch die Grundformen der Geſchlechterordnung
ſelbſt recht verſtändlich werden. Zuerſt werden nämlich alle Laſten
und Beſchränkungen des Eigenthums aufgehoben, und zwar in der
Weiſe, daß die Gemeinheitstheilungen und Ablöſungen grundſätzlich
durchgeführt werden (ſ. unten), zweitens daß alle gutsherrlichen Real-
laſten beſeitigt werden, zunächſt alle Dienſte und Frohnden, dann die
aus dem Obereigenthum ſtammenden Giebigkeiten und Rechte, deren
Grundlage das Unterthansverhältniß iſt. Drittens daß — in manchen
Staaten erſt ſpät — auch die Idee und die praktiſchen Conſequenzen
des ſtaatlichen Obereigenthums, und mit ihnen Begriff und praktiſche
Bedeutung des Lehnsverhältniſſes aufgehoben werden. Endlich
aber drückt ſich das eigentliche Princip der vollen Grundentlaſtung vier-
tens
am klarſten darin aus, daß alle derartige Laſten niemals wieder
als unablösbare hergeſtellt werden dürfen, damit nicht vermöge
des Kapitalverkehrs und vielleicht vermöge der Noth der vertragsmäßige
[221] Wille des Einzelnen für Grund und Boden Rechtsverhältniſſe erſchaffe,
welche ſpäter dem Einzelwillen nicht mehr unterworfen, und daher
unfrei
ſind. Vereinzelte Ausnahmen in Hannover (nach Geſetz vom
23. Juli 1833), Naſſau (Geſetz vom 18. Juni 1853) und Anhalt-
Bernburg
(Geſetz vom 31. Auguſt 1859. Vgl. Judeich S. 7).
Das ſind die elementaren Beſtimmungen für die künftige ſtaatsbürger-
liche Freiheit des Grundbeſitzes.


Daran ſchließen ſich nun als dritter Theil der vollen Grundent-
laſtung die Grundſätze für die Entſchädigung. Und hier iſt aller-
dings die Uebereinſtimmung nicht vorhanden, welche in Beziehung auf
die Aufhebung jener Rechte allgemein feſtſteht. Dennoch geht durch
das Entſchädigungsrecht ein gemeinſamer Grundgedanke hindurch, von
dem die Abweichungen als Ausnahmen betrachtet werden müſſen.


Dieſer Grundgedanke iſt die Unterſcheidung zwiſchen denjenigen
Laſten, für welche die Entſchädigung ausgeſchloſſen iſt, und den-
jenigen, für welche ſie geleiſtet werden muß; ſo daß, ſtreng genom-
men, nur die letzteren der Lehre von der Entwährung angehören.


Allerdings nun iſt, da die Entſchädigungsfrage bereits durch die
Geſetze entſchieden iſt, dieſe Frage nicht eine unmittelbar praktiſche.
Dennoch ſind ihre Conſequenzen ſo bedeutſamer Natur, daß wir ſie
einen Augenblick berückſichtigen müſſen.


Offenbar nämlich ſcheint die Aufhebung eines Rechtes, das einen
wirthſchaftlichen Ertrag hat, ohne Entſchädigung mit dem Weſen des
Eigenthums im Widerſpruche zu ſtehen; und nur wenn man von dieſem
einfachen Standpunkt ausgeht, läßt es ſich erklären, wenn ſelbſt in
unſerer Zeit, wie früher von Stahl, Rechtsphiloſophie II. S. 336
und 538 ff., in neueſter Zeit von Roſcher (ſ. oben) die Entſchädigung
unbedingt gefordert wird. Die frühere Literatur iſt über die Ent-
ſchädigungsfrage höchſt einſeitig. Die ganze Reihe von Schriftſtellern
über die Agrarverfaſſung ſeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts be-
ſchäftigt ſich überhaupt nicht damit, ob die Entſchädigung eine Gränze
haben ſolle oder nicht, ſondern nur damit, wie ſie am zweckmäßigſten
hergeſtellt werden könne. Die Unklarheit über dieſen Punkt deckte man
mit der Bezeichnung zu, daß man für die Entwährung aller „wohl-
erworbenen Rechte,“ der jura quaesita, Entſchädigung zu fordern habe,
indem man in dem Doppelſinn dieſes Wortes eine doppelte Entſchädi-
gung vorbehielt, da es jetzt darauf ankam, den Begriff des „wohler-
worbenen Rechtes“ genau zu beſtimmen. Und jener Theorie galt jedes
öffentlich anerkannte Recht zugleich für ein „wohlerworbenes.“ Die
verſchiedenen Geſetzgebungen kümmerten ſich jedoch theils gar nicht um
dieſe Diſtinktion, theils aber nahmen ſie wirklich vor 1848 die Ent-
[222] ſchädigung für alle Rechte, auch für die aus der Leibeigenſchaft hervor-
gehenden auf, ſo daß erſt ſeit 1848 der Grundſatz feſtſtand, die letz-
teren von der Entſchädigung auszuſchließen. Die Frage ſelbſt iſt dann
von Laſſalle in ſeiner „Theorie der erworbenen Rechte“ im §. 7 weit-
läuftig, ſpeciell die Entſchädigungsfrage S. 225 wieder aufgenommen,
ohne daß ihm der Unterſchied der Entwährung von der Aenderung der
Rechte klar geworden wäre (ſ. oben). In der That aber iſt die Sache
ſehr einfach. Ein „wohlerworbenes“ Recht iſt offenbar nur ein ſolches,
welches als Recht des Einzelnen gegenüber dem Einzelnen überhaupt
hat erworben werden können. Um das zu können, müſſen beide
Parteien der rechtlichen Selbſtbeſtimmung fähig ſein; darüber iſt wohl
kein Zweifel möglich. Nun aber war eben der Leibeigene zu keinem Rechts-
geſchäfte fähig, und der Herr konnte alſo gar kein Recht gegen ihn er-
werben; die Laſten, die er ihm auferlegte, waren für den Leibeigenen
eine vis major, und von dem Erwerb eines Rechtes auf dieſelben konnte
an und für ſich keine Rede ſein. Eben ſo wenig konnte eine erwer-
bende Verjährung ſtattfinden, da der Begriff der Verjährung zwei
Rechtsſubjekte vorausſetzt, während hier nur eins — der Herr — vor-
handen war. Auch die Urtheile der Gerichte konnten aus einem Ver-
hältniß, welches an und für ſich ſelbſt formell, abgeſehen von dem
ethiſchen Widerſpruch mit dem Begriffe der Perſönlichkeit, kein Rechts-,
ſondern ein Gewaltsverhältniß war, niemals ein Recht ſchaffen. Der
Begriff der Leibeigenſchaft ſchloß daher den Begriff des Rechts auf alles
dasjenige aus, was aus der Leibeigenſchaft entfloß; die Einnahmen der
Grundherren aus dieſem Titel waren daher Thatſachen, aber keine
Rechte. Und es wäre daher an und für ſich falſch geweſen, eine
Entſchädigung zu fordern, wo ein Recht auf das zu Beſeitigende nie-
mals entſtehen konnte. Wunderlich, wie Laſſalle dieſe einfachen Sätze
nicht geſehen hat; noch wunderlicher, daß wir ſie gegen die oben er-
wähnten Anſichten noch jetzt vertheidigen müſſen! Die Geſetzgebungen
nach 1848 haben ihrerſeits niemals über die Sache Zweifel gehabt; ſie
haben unbedingt unter definitiver Aufhebung aller Unterthänigkeit
auch alle aus der Leibeigenſchaft und dem Unterthansverhältniß ent-
ſpringenden Laſten einſtimmig ohne Entſchädigung aufgehoben.


Allerdings entſtand aber dabei eine zweite, im Einzelnen gar nicht
mehr zu löſende Frage. Das war die Frage über die Gränze der-
jenigen Rechte oder vielmehr Laſten, welche nur als aus der alten
Leibeigenſchaft, bez. Unterthänigkeit auch wirklich entſprungen ſeien.
Und hier nun zeigte ſich, wie die bisherige Zeit eigentlich gearbeitet
hatte. Der langſame Proceß der Befreiung hatte faktiſch damit geendet,
daß er alle alten, meiſt ſo ſcharf zwiſchen den verſchiedenen Klaſſen
[223] der Geſellſchaft gezogenen Gränzlinien verwiſcht, und an ihre Stelle
eine große unklare Maſſe von Verhältniſſen und Rechten geſetzt hatte,
bei denen Urſprung und Umfang, Begriff und Titel, ja ſelbſt die
Ausdrücke und rechtlichen Definitionen nicht mehr klar erkennbar waren,
während dabei zugleich einzelne Reſte der alten Verhältniſſe noch ganz
deutlich als Trümmer einer zerbröckelten, ſtarren Klaſſenordnung,
namentlich in den Bezeichnungen der Bauernhöfe und ſelbſt in vielen
Einzelleiſtungen noch hervorragten. Die Folge war zuerſt, daß dadurch
jeder einzelne Staat gezwungen wurde, die Gränze zwiſchen den mit
und ohne Entſchädigung aufzuhebenden Rechten nach ſeinen hiſtoriſchen
Landesverhältniſſen ſelbſt aufzuſtellen; dann aber folgte ferner, was
für die Geſchichte dieſer Geſetzgebung ſehr wichtig iſt, daß man im erſten
Anlauf nur ausnahmsweiſe dazu gelangte, alle Reallaſten zugleich zu
beſeitigen. Es ergaben ſich faſt in allen Ländern nach der erſten Geſetz-
gebung eine Reihe von Rechten oder Laſten, die man durch nachträg-
liche Geſetze erſt aufheben und entwähren mußte. Daher hat eigentlich
auch nach 1848 in keinem Staate das erſte Grundentlaſtungsgeſetz
genügt; aber andererſeits muß die Geſchichte anerkennen, daß die ſpätere
Geſetzgebung weſentlich in demſelben Geiſte fortgeſchritten iſt; leider
nicht ohne Ausnahmen. Das Einzelne dabei muß der Einzelgeſchichte
überwieſen bleiben.


So ſtand der erſte Grundgedanke feſt, daß alle aus der Leib-
eigenſchaft fließenden Laſten ohne Entſchädigung, alle übrigen dagegen
mit Entſchädigung aufgehoben werden ſollten. Daran ſchloß ſich ein
zweites Princip, das ſeinerſeits einen mehr volkswirthſchaftlichen
Charakter hatte. Daſſelbe betraf die Form der Entſchädigung.


Für dieſe Form der Entſchädigung gab es drei Arten. Man konnte
ſie nach dem engliſchen Vorbild in Land geben; man konnte ſie als
feſtes Kapital beſtimmen, und man konnte Renten creiren. Die erſte
dieſer Formen ſchien ſchien am nächſten zu liegen; allein ſie hätte den Grund-
ſtamm der mittleren Beſitzungen zu vielfach vernichtet, und an ihrer
Stelle Latifundien hervorgerufen. Trotz des Beiſpiels von Preußen
ward dieſer Weg daher nirgends eingeſchlagen, und ſelbſt in Preußen
verläßt man ihn nach 1848. Eben ſo wenig konnte man die unmittel-
bare Auszahlung der Entſchädigung fordern, wenn es mit der Ablöſung
Ernſt ſein ſollte. Daher ward die Herſtellung einer Rente als Ent-
ſchädigungsform allgemein durchgeführt, und hier war es, wo die Regie-
rungen mit den Landescreditanſtalten eingriffen, die in der That die
wirkliche Durchführung der Entſchädigung erſt möglich gemacht haben.
Das war der zweite Punkt in dem Syſteme der Entlaſtung, in dem
alle deutſchen Staaten einig waren.


[224]

In ganz entſprechender Weiſe ſchloß ſich daran der dritte Grund-
ſatz, daß bei aller Grundentlaſtung auch die Verpflichtungen der Grund-
herren gegen die früheren Unterthanen wegfallen, und zwar natürlich
in der Weiſe, daß bei unentgeltlicher Aufhebung der Reallaſten jene
Verpflichtungen auch unentgeltlich wegfallen, bei Entſchädigungen da-
gegen ihre Werthe von der Entſchädigungsſumme abgerechnet werden.


So einfach und natürlich nun auch dieſer Satz daſteht, ſo hatte
er dennoch die größte Tragweite von allen. Denn in der That hatten
dieſe Verpflichtungen des Grundherren nicht etwa einfache Verpflich-
tungen deſſelben bedeutet, ſondern vielmehr die Stelle der Selbſt-
verwaltung der Gemeinde vertreten
. Der Gutsherr war
gerade durch jene Verpflichtungen die Seele und der Schutzherr der
Gemeinde geweſen. Sie waren es, auf die ſich die Gemeinde berief,
wenn die Ortsangelegenheiten, Schule, Wege, Polizei u. a. ſchlecht
beſtellt waren; ſie waren es, auf die ſich der Einzelne verließ, wenn
er in Noth kam; ſie waren der örtlich thätige und helfende Staat ge-
weſen; durch ſie hatte der Landmann gelernt, ſich um ſeine eigenſten
Angelegenheiten nicht mehr zu kümmern. Indem man ſie daher be-
ſeitigte, ſchuf man in der That eine Leere, die im Grunde aber die
wichtigſten Pflichten der Gemeinde enthielt, ohne einen Verpflichteten
an die Stelle des Herrn zu ſetzen. Dieſe Lücke mußte ausgefüllt wer-
den, und ſo entſtand der Schlußakt des großen welthiſtoriſchen Dramas
der Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft, der Uebergang der
alten jetzt in haltslos gewordenen Patrimonialjurisdiktion
in die neuen Gemeindeverfaſſungen
. Erſt damit iſt die Ent-
laſtung aus ihrem rein negativen Stadium in ihr poſitives hinüber-
getreten, und jetzt können wir ſagen, daß die Vollendung der
Grundentlaſtung
erſt mit der Herſtellung der Selbſtverwal-
tung
auf dem Lande gegeben iſt.


Auch dieſe letzte und höchſte Conſequenz der Grundentlaſtung iſt
nun nicht plötzlich entſtanden, ſondern eigentlich erſt ſtückweiſe den
Staaten und ihren Verwaltungen zum Bewußtſein gekommen. Es iſt
die Geſchichte der Gemeindeordnungen, welche hier — meiſt
ohne daß man die innere Verbindung zum klaren Bewußtſein brachte
— die Fortſetzung der Geſchichte der Entlaſtung bildet. Daher denn
die ſo hoch beachtenswerthe und doch ſo wenig beachtete Erſcheinung,
daß faſt alle deutſchen Staaten in dieſem Jahrhundert zweimal eine
Gemeindegeſetzgebung durchgemacht haben; die erſte vor 1848, un-
lebensfähig wie die unfertige Entlaſtung vor dieſer Zeit, die zweite
nach 1848, als erſte Verſuche der örtlichen Selbſtverwaltung. Ohne
hier darauf näher einzugehen, verſtatten wir uns als Baſis weiterer
[225] Unterſuchung hier nur die nackte Thatſache, ſchematiſch zu regiſtriren.
In der That iſt jedes Bild der Entlaſtung in Deutſchland ohne dieſelbe
unvollſtändig.


Natürlich iſt hier viel unvollſtändig; wir würden aber zu weit
gehen, wenn wir Einzelnes berückſichtigten. Nur das ſei als charak-
teriſtiſches Merkmal hervorgehoben: daß Mecklenburg, ohne Entlaſtung,
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 15
[226] auch noch ohne Gemeindeordnung iſt. Aber das ſteht feſt, daß die
Lehre vom Gemeindeweſen eine weſentlich andere werden wird, ſo wie
man das Weſen der Entlaſtung und das von ihr erzeugte Staatsbürger-
thum im Auge behält.


Auf dieſer Grundlage muß man nun die einzelnen Entlaſtungs-
geſetzgebungen Deutſchlands ſeit 1848 vergleichen. Das Bild, das ſich
hier zeigt, iſt nicht das eines gewaltigen, alles vor ſich niederwerfenden
Aufſchwunges des Volksgeiſtes, ſondern das einer langſamen, ſtück-
weiſe vorſchreitenden Arbeit. Der ganze Charakter Deutſchlands faßt
ſich in dieſer Arbeit ſeit 1848 zuſammen. Das Princip ſelbſt ward
von Deutſchland als einem Ganzen ausgeſprochen, die Ausführung
dagegen den einzelnen Theilen überlaſſen. Jenes iſt daher einfach
und klar; dieſe iſt zum großen Theil unfertig, vielfach unentſchieden,
periodenweiſe vor ſich vorgehend, in vielen weſentlichen Beſtimmungen
nicht einmal gleichartig, wenn auch nirgends mit den obigen allge-
meinen Principien im Widerſpruch. Der Gang dieſer Entwicklung iſt
folgender.


Die Verhältniſſe, die wir oben dargelegt, machen es erklärlich,
daß es eine der erſten Aufgaben des deutſchen Parlaments ſein mußte,
die freien Grundſätze der vollen Entlaſtung und damit den endlichen
Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft als ein Grundgeſetz des deutſchen
Reiches aufzuſtellen. So kam der betreffende Theil der Reichsverfaſſung
von 1849 zu Stande, der im Grunde nur die Principien der Racht
des 4. Auguſt 1789 wiederholt. Dieſelbe beſtimmt bekanntlich in §. 166
zuerſt das Aufhören jedes Unterthänigkeitsverbandes, dann die Auf-
hebung aller Patrimonialgerichtsbarkeit, aller grundherrlichen Polizei
und der aus denſelben fließenden Exemtionen und Abgaben, ſowie
aller aus dem gutsherrlichen Verbande fließenden perſönlichen Abgaben
und Leiſtungen, ſowohl der Verpflichteten als der Berechtigten (§. 167)
und zwar aller dieſer Laſten ohne Entſchädigung. Dagegen ſollen alle
Laſten von Grund und Boden, insbeſondere die Zehnten, ablösbar
ſein (§. 168). Die Jagdgerechtigkeit auf fremdem Grund und Boden,
wenn ſie nicht nachweisbar auf einem Vertrage beruht, wird ohne,
die letztere mit Entſchädigung aufgehoben (§. 169). Ebenſo ſoll der
Lehenverband aufgehoben werden (§. 171). Endlich ſoll jedes
Grundſtück einer Gemeinde gehören (§. 185). Das waren die Prin-
cipien der Reichsverfaſſung. Allein unmittelbar neben denſelben ſteht
der Grundſatz, daß die Durchführung den einzelnen Staaten über-
laſſen bleiben ſoll. Damit war denn das territoriale Recht und ſeine
Rechtsbildung wieder, gerade wie bisher, zur Hauptſache gemacht, und
die bedeutendſte innere Frage jener ganzen durch und durch unklaren
[227] Zeit von dem Organe der Einheit Deutſchlands freiwillig aus der Hand
gegeben. Nicht einmal zu dem Grundſatz erhob ſich dieſe Verſammlung,
daß die Entlaſtung eine Pflicht der Verwaltung ſein ſolle. Nirgends
zeigt ſich die politiſche Unfähigkeit dieſes Körpers ſo ſehr als auf dieſem
Punkte — er hatte wieder einmal den Schwerpunkt der Bewegung
aus ſich ſelbſt hinaus geſchoben, und in die einzelnen Regierungen
verlegt. Das Volk fühlte das ſehr deutlich, und wendete mit rich-
tigem Inſtinkt den ganzen Nachdruck ſeiner Forderungen eben gegen
ſeine einzelne Regierung. Jeder Staat hatte daher alsbald ſeine eigene
mehr oder weniger kräftige Revolution, jeder Staat wieder ſeine eigene
Geſetzgebung und Verwaltung der Entlaſtung; das was die Reichsver-
faſſung beſtimmt hatte, war bald nicht mehr ein hohes Ziel für das
deutſche Volk, ſondern das Minimum, unter welches kein Einzel-
ſtaat zurückgehen wollte und durfte; und indem daher dieſe Einzelſtaaten
alsbald mehr leiſteten, als jene Verfaſſung der deutſchen Theoretiker,
erzielten ſie alle, was jeder am meiſten wünſchte, daß das Volk ſich
nicht mehr an das Organ ſeiner Einheit, ſondern an die Territorialregie-
rung wendete, wo es ſich um ſein wichtigſtes Recht handelte. Von
dieſem Standpunkt aus muß die fernere Geſchichte dieſer Frage be-
trachtet werden. Merkwürdig, wie die Literatur ihn überſehen hat.
Zöpfl, der einzige, der überhaupt auf dieſe Dinge Rückſicht nimmt,
beſchränkt ſich auf die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung, ohne ſich
viel um das Territorialrecht zu kümmern, obgleich das wirkliche Recht
erſt durch dieſes gebildet ward; Sugenheim und Judeich kennen nur
das Territorialrecht, obgleich das allgemeine Princip deſſelben in der
Reichsverfaſſung lag, die Territorialſtaatsrechte von Rönne, Pözl,
Stubenrauch, Funke beſchränken ſich ſtrenge — zu ſtrenge — auf ihr
eigenes Gebiet, und ſo iſt hier für die innere Geſchichte im Grunde
nur das Material gegeben. Die Elemente der Entwicklung in den ein-
zelnen Staaten ſind nun folgende.


Ohne allen Zweifel muß man hier Oeſterreich mit ſeiner groß-
artigen und gründlichen, alle deutſche Staaten überragenden Grund-
entlaſtung an die Spitze ſtellen. Oeſterreich hatte die Grundentlaſtung
bis 1848 gar nicht in die Hand genommen. Um ſo rückſichtsloſer
brach dieſelbe ſich im Jahre 1848 Bahn. Das Dekret vom 18. Dec.
1846 hatte allerdings die freiwillige Ablöſung aufgeſtellt, jedoch die-
ſelbe einerſeits nur auf die Naturalfrohnden und Zehnten beſchränkt,
anderſeits ſie ſelbſt den Betheiligten überlaſſen, ſo daß der Schritt der
Regierung ein vollſtändig effektloſer blieb. Da kam die Revolution,
und eine ihrer erſten Aufgaben war, ſich der Grundentlaſtung wieder
zuzuwenden. Die beiden Dekrete vom 27. März und 9. Mai 1848
[228] machten einen ſchwachen Verſuch, auf der früheren Baſis der Frei-
willigkeit die große Frage zu erledigen. Es war umſonſt; der Bauern-
ſtand war zu mächtig in ſeiner Bewegung. So griff das entſcheidende
Patent vom 7. September 1848 die Sache an der Wurzel an, und ſtellte
mit Einem Schlage die Grundſätze als geltendes Recht auf, über deren
Interpretation und Gränzen man ſich in Frankfurt in langathmigen
Debatten erging. Dieß Patent iſt die erſte und vollſtändigſte Legali-
ſirung des vollen Syſtems der Grundentlaſtung; in dem Bewußtſein,
daß es für die verſchiedenartigſten Gebiete und Verhältniſſe gelten
ſolle, und daß ſein Erlaß allein im Stande ſein werde, die Ordnung
und Ruhe namentlich auf dem flachen Lande zu erhalten und die
Scenen der alten Bauernkriege zu vermeiden, hat es ſich weder bei
kleinen Detailfragen aufgehalten, noch dem Zufall oder der Willkür
der noch immer gewaltigen Grundherrlichkeit etwas überlaſſen dürfen.
Es iſt einfach und groß, und trotz alles Wandels in dem übrigen öffent-
lichen Recht hat die Regierung an dieſer wichtigſten ſocialen That des
Jahres 1848 unwandelbar zum Heile Oeſterreichs feſtgehalten.


Das Syſtem dieſer Entlaſtung iſt an ſich einfach. Erſtes Princip
iſt die völlige Aufhebung jedes Unterthansverhältniſſes, vollſtändige Be-
ſeitigung aller Patrimonialgerichtsbarkeit; zweites iſt die völlige Auf-
hebung jedes rechtlichen Unterſchiedes zwiſchen den Grundbeſitzungen,
und damit die Herſtellung des völlig freien Eigenthums; drittes iſt
die Anerkennung der Entſchädigung nur für ſolche Abgaben und Lei-
ſtungen, welche der Beſitzer eines Grundſtückes als ſolches zu leiſten hatte,
oder welche auf nachweisbarem Vertragsrecht beruhen; viertes iſt, daß
die ganze Ablöſung von Amtswegen geſchieht. Mit dieſen einfachen Grund-
ſätzen iſt nun die geſellſchaftliche Entwicklung Oeſterreichs in ein ganz neues
Stadium eingetreten. Auf allen Punkten iſt das Vorrecht beſeitigt und
eine neue Ordnung der Dinge beginnt, welche dieſem merkwürdigen Staate
die alte hohe Achtung Deutſchlands in vollem Maße zurückzugeben beſtimmt
iſt. Die weitere Ausführung jenes großen Geſetzes enthält nun zunächſt
das Patent vom 4. März 1849, welches das Verfahren für die Entſchädi-
gung beſtimmt; Entſchädigungsfuß iſt der zwanzigfache Betrag; die ganze
Entſchädigungsſumme wird dann in drei Theile getheilt, von denen der
eine von dem Kronlande übernommen, und der zweite dem Grund-
herrn ſelbſt abgeſchrieben wird, als Erſatz für die Leiſtungen des Guts-
herrn bei Empfang der Leiſtungen des Verpflichteten; erſt das letzte
Drittheil trägt der freigewordene Bauer ſelbſt. Um dieß nun auch
wirklich durchzuführen, wurde durch die Patente vom 25. September
1850 und 11. April 1851 für jedes Kronland ein ſogenannter
„Grundentlaſtungsfonds“ gebildet. Das Princip deſſelben iſt, daß die
[229] Entſchädigung als eine Angelegenheit jedes einzelnen Kronlandes be-
trachtet, und für Rechnung deſſelben verwaltet wird. Das Kronland zahlt
die Entſchädigungsſumme durch die Grundentlaſtungsobligationen aus,
nimmt die Jahreszahlungen der Verpflichteten entgegen und verzinst
jene Obligationen; die letzteren werden dann planmäßig eingelöst.
Damit war die Hauptſache erledigt; nur der Lehnsverband war ge-
blieben, und dieſer ward durch Geſetz vom 17. December 1862 gleich-
falls gegen Entſchädigung abgelöst. Ueber die eigentlichen Ablöſungen
ſ. unten. So hat Oeſterreich die geſellſchaftliche Frage entſchieden; es
iſt der wichtigſte Akt ſeiner Geſchichte ſeit einem halben Jahrhundert,
und der Anfang einer beſſeren Zeit in allen Gebieten ſeines Staats-
lebens. (Ueber das Einzelne vergleiche Judeich, S. 9—34; Sugen-
heim
, S. 488; Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. 445.)


In einem etwas andern Lichte ſtellt ſich Preußen dar. Es iſt
faſt, als ob mit der großen Bewegung im Anfange unſeres Jahr-
hunderts das, was wir die ſociale Kraft dieſes Staates nennen, er-
ſchöpft worden ſei, und als habe die Regierung, die den Muth hatte,
mit Napoleon den Kampf auf Leben und Tod zu eröffnen, nicht den
gehabt, ihr eignes Volk ganz frei zu machen. Allerdings gab ſie dem
gewaltigen Drucke des Volkes nach, und mit dem Geſetz vom 10. No-
vember 1849 beginnt die neue gegenwärtige Epoche des Entlaſtungs-
weſens, die ſich in vielen Punkten an die Vorgänge ſeit 1811 an-
ſchließen konnte, und die durch das entſcheidende Geſetz vom 2. März
1850 ihre definitive Geſtalt gewinnt. Dieß Geſetz iſt die Ausführung der
Artikel 40 und 41 der Verfaſſung vom 31. Januar 1850; ſeinen weſent-
lichen Beſtimmungen nach hebt es ohne Entſchädigung alle aus der
alten Erbunterthänigkeit hervorgehenden Laſten auf; dagegen werden
auch hier für die mit der Abhängigkeit des Grundes und Bodens ver-
bundenen Laſten Entſchädigungen gewährt, Rentenbanken errichtet und
ein amtliches Verfahren hergeſtellt. Ebenſo ward die Patrimonial-
gerichtsbarkeit definitiv aufgehoben durch Verordnung vom 2. Januar
1849 (ſ. Rönne, Staatsrecht I. §. 53), ſowie das Obereigenthum
des Staats und das Lehnsweſen durch die betreffenden Artikel der Ver-
faſſung von 1850. Allein ſchon 1851 traten Bedenken ein. Das Geſetz
vom 5. Juni 1851 hob nämlich die betreffenden Artikel 40—42 der
Verfaſſung auf
, ohne jedoch über alle in dieſen Artikeln berührten
Verhältniſſe neue Beſtimmungen zu geben. Das Geſetz vom 2. Juni
1852 ſchrieb dann allerdings vor, daß keine neuen Lehen errichtet
werden ſollen, und daß über Ablöſung der beſtehenden ein Geſetz er-
laſſen werden ſolle. Daraus entſtand dann die große Unſicherheit, die
dieſen Theil des öffentlichen Rechts in Preußen charakteriſirt (ſ. Rönne,
[230] Staatsrecht I. §. 95; Laſſalle, Theorie der erworbenen Rechte 1.
S. 133), und die, mit andern Erſcheinungen zuſammengehalten, wieder
jenes Schwanken in der Landgemeindeordnung hervorrief, das wir an
einer andern Stelle genauer darzuſtellen haben. Von zweifelhaftem
Werthe mußte unter dieſen Umſtänden die Beſtimmung erſcheinen, daß
die durch Geſetz vom 2. März 1850 creirten Rentenbanken ihre Ver-
mittlung zur Ablöſung der Grundlaſten mit dem Jahre 1859 einzu-
ſtellen haben (Geſetz vom 26. April 1858), was den Reſt der Ent-
laſtung nicht erleichtert hat (vgl. Judeich S. 48. 49). Es mangelt
in dieſer ganzen Bewegung ſomit jene großartige Sicherheit, welche
Willen und Ausführung als ein unzweifelhaftes Ganzes erſcheinen
läßt; den Eindruck, daß hier die Herrſchaft der Geſchlechter endgültig
beſeitigt ſei, hat man nicht, und die Statiſtik hat gerade auf dieſem
Gebiete zu wenig geleiſtet, um dieſen Eindruck durch definitive That-
ſachen herzuſtellen.


Im Allgemeinen jedoch wiederholt ſich nun derſelbe Proceß, deſſen
Charakter wir oben bezeichnet haben, in den Mittelſtaaten Deutſch-
lands. Bayern führte die Grundentlaſtung durch mit Geſetz vom
4. Juni 1848, welches fixirte Grundabgaben ſtatt der Naturaldienſte
und Giebigkeiten amtlich herſtellte, und dieſe Abgaben ablösbar
machte. Gleichzeitig werden durch zwei Geſetze von demſelben Datum
der Lehnsverband ablösbar erklärt, und eine Ablöſungskaſſe
errichtet. In Württemberg erſchien 1848 eine ganze Reihe von Ge-
ſetzen, die mit dem Geſetz vom 14. April 1848 beginnen, und als
deren Schlußſtein Judeich mit Recht das Geſetz vom 24. Auguſt 1849
bezeichnet. Es fehlt in dieſen Geſetzen die Einheitlichkeit der Auffaſſung;
und zwar iſt es kaum zweifelhaft, daß die württembergiſche Geſetz-
gebung im Grunde nur die Befreiung von den alten Unterthans-
leiſtungen wollte; zu der vollen Anerkennung der ſtaatsbürgerlichen
Freiheit des Grundbeſitzes hat Württemberg ſich nicht erheben können.
Allerdings konnte in Beziehung auf jene Laſten die Verordnung vom
14. December 1852 ſogar beſtimmen, daß alle bis zum 30. Juni 1854
nicht angegebenen Berechtigungen ohne allen Erſatz als aufgehoben
angeſehen werden ſollten; dagegen aber ſagt Judeich mit Recht (S. 95)
„der nicht bäuerliche Lehensverband, die Theilung des Eigenthums in
Ober- und Untereigenthum und erbliches Nützungsrecht, die in den
Grund-, Unterpfand- und Gerichtsbüchern vorgemerkten Realberech-
tigungen und ländlichen Dienſtbarkeiten dauern alſo fort“ —
trotz des letzten Geſetzes vom 26. März 1862, das allerdings hier
manches Einzelne gebeſſert hat. Der Blick auf dieſen Theil der würt-
tembergiſchen Zuſtände iſt ſomit kein wohlthuender; jene Reſte des
[231] vorigen Jahrhunderts ſind zu unbedeutend, um eine wirkliche Herr-
ſchaft der Geſchlechter zu erhalten, und doch bedeutend genug, ein Un-
behagen zu erwecken und in der Erinnerung an das Alte die Furcht
vor der Wiederkehr wach zu halten. Das Königreich Sachſen hatte
ſeinerſeits eigentlich wenig mehr zu thun, als ſein altes Recht von
1832 dahin auszubilden, daß der durch das Geſetz vom 17. März 1832
begonnene Proceß, ſoweit er noch nicht beendet war durch freie Ueber-
einkunft, jetzt zu einem gezwungenen Abſchluß gebracht werde. Das
war die Bedeutung des (Nachtrags-) Geſetzes vom 15. Mai 1851 mit
der Ausführungsverordnung vom 24. Oktober 1851; die Verordnung
vom 29. Oktober 1851 ſchloß die Sache ab durch die Beſtimmung,
daß jeder Anſpruch auf Entſchädigung, der nicht bis zum 31. Januar
1852 angemeldet ſei, als aufgegeben betrachtet werde. Das Genauere
ſehr klar bei Judeich (S. 59—78). In Baden war unterdeſſen in
Folge der großen Bewegung von 1830 ſo viel geſchehen, daß das Jahr
1848 nur wenig zu thun übrig fand. Der Reſt der Feudalrechte ward
durch Geſetz vom 10. April 1848 aufgehoben; das Jagdrecht dem
Grundbeſitz zurückgegeben (Geſetz vom 26. Juli 1848); die Beſitz-
veränderungsgebühr gegen den zwölffachen Betrag beſeitigt (Geſetz vom
13. Februar 1851); und der Lehnsverband nach Geſetz vom 21. April
1849 für ablösbar erklärt; die ſogenannten eigentlichen Lehen nach Geſetz
vom 19. April 1856; das Geſetz vom 9. Auguſt 1862 hat dann auch
für die Lehen an die Stelle der Vereinbarung die geſetzliche Ablöſungs-
pflicht aufgeſtellt. Hannover dagegen blieb im Weſentlichen bei
ſeiner Geſetzgebung von 1833 ſtehen; nur der Lehnsverband war durch
Geſetz vom 19. Juli 1848 und 24. Januar 1851 ablösbar, und das
Jagdrecht auf fremdem Boden beſeitigt durch Geſetz vom 29. Juli 1850;
dazu kam die Aufhebung der Bannrechte durch Geſetz vom 17. April
1852. Das Kurfürſtenthum Heſſen gab, wie die meiſten übrigen
Staaten, gleichfalls dem erſten Drucke der Revolution von 1848 nach,
und das Geſetz vom 26. Auguſt 1848 hob alle Lehnsrechte, ſowie den
ganzen gutsherrlichen Verband auf, ſowie durch Geſetz vom 1. Juli
1848 das Jagdrecht auf fremdem Grund. Das Geſetz vom 20. Juni
1850 erklärte dann, als zweites Stadium der Bewegung, die Grund-
laſten ausnahmslos für ablösbar. Allein zu einer Ablöſungspflicht
gedieh man nicht. Die Reaktion trat ſchon damals ſehr energiſch auf;
ſchon die Verordnung vom 26. Juni 1854 ſtellte das Jagdrecht wieder
her, und die Verordnung vom 21. Juni 1862 konnte die Verfaſſung
von 1852 aufheben, ſo daß die Zuſtände von 1831 wieder zur Geltung
kamen. Indeſſen haben die Ablöſungsgeſetze der dreißiger Jahre, die
Landeskreditkaſſe von 1833 und die Entlaſtungsgeſetze vom 1832 und
[232] 1837 fortgewirkt — wie weit, darüber fehlen uns die Nachweiſungen.
Im Großherzogthum Heſſen war ſeit 1836 eigentlich nur noch der
Reſt des Lehnsverbandes übrig. Das Geſetz vom 7. Auguſt 1848
hob alle Vorrechte der Standesherren auf (mit einer 1860 geordneten
Entſchädigung); das Geſetz vom 3. Oktober 1849 erklärte alle, 1836
nicht der Ablöſung unterzogene Laſten für ablösbar; das Geſetz vom
6. Auguſt 1848 führte das volle Eigenthum für die bäuerlichen Erb-
pächter ein; das Geſetz vom 2. Mai 1849 hob allen Lehnsverband
auf; das Geſetz vom 26. Juli 1848 hatte ſchon früher das Jagdrecht
beſeitigt; aber hier wie in Kurheſſen ward das alte Jagdrecht durch
Geſetz vom 2. Auguſt 1858 wieder hergeſtellt (Judeich S. 110). So
viel war noch in einem der freieſten Staaten Deutſchlands zu thun
übrig! In Oldenburg dagegen wurde durch das neue Staatsgrund-
geſetz vom 18. Februar 1849 die bisher freiwillige Ablöſung in eine
Entlaſtungspflicht umgewandelt, die Jagdrechte abgeſchafft, und der
Lehnsverband definitiv aufgehoben, was auch das revidirte Staats-
grundgeſetz vom 18. Nov. 1852 ungeändert beſtehen ließ; das Geſetz
vom 28. März 1852 hatte ſchon vorher die Aufhebung der Lehnsrechte
genauer geordnet. In Sachſen-Weimar geſchah im Weſentlichen
das Gleiche durch Geſetz vom 18. Mai 1848, welches gleichfalls die bis-
her freiwillige Ablöſung zur Pflicht machte; dieß Geſetz ward weiter
ausgeführt durch die weiteren Geſetze vom 6. und 17. Januar 1849,
welche das Jagdrecht — zuerſt ohne Entſchädigung, dann ward dieſelbe
nachträglich gewährt durch Geſetz vom 22. April 1862 — aufhob,
ferner durch die Geſetze vom 22. Oktober 1851 und 24. Februar 1852,
welche alle perſönlichen Laſten aus dem gutsherrlichen Verbande, ſo
wie alle Lehnsgelder aufheben; die definitive Aufhebung des Lehns-
verbandes erfolgte durch Geſetz vom 29. April 1851, und 1853 wurde
eine „Privatbank“ für die Ablöſung durch Statut vom 17. Sept. 1853
errichtet; endlich die Herſtellung neuer unablösbarer Laſten durch Geſetz
vom 30. April 1862 verboten. In Sachſen-Coburg wurde das
ganze Ablöſungsrecht des Geſetzes vom 16. Auguſt 1835 durch das Geſetz
vom 25. Januar 1849 und das Nachtragsgeſetz vom 21. December
1850 aufgehoben, und die volle Entlaſtung nebſt definitiver Beſeitigung
des Lehnsverbandes hergeſtellt. Das Jagdrecht, durch Geſetz vom
10. April 1848 ohne Entſchädigung aufgehoben, blieb hier beſeitigt im
Staatsgrundgeſetze vom 3. Mai 1852. In Sachſen-Gotha ſtellte
das Geſetz vom 20. Oktober 1848 die Entlaſtung als Princip auf
und beſtimmte zunächſt das Wegfallen aller perſönlichen Leiſtungen
ohne Entſchädigung; dennoch blieb ein Reſt des Lehnsverbandes als
grundbücherliche Laſt (Geſetz vom 28. Juni 1856). Dagegen blieb die
[233] Aufhebung des Jagdrechts nach den Geſetzen vom 24. November 1848
und 17. Auguſt 1849 im Staatsgrundgeſetz von 1852. Die Durchführung
der Entlaftung vermöge der Entſchädigung geſchah durch das Geſetz vom
5. November 1853. In Sachſen-Meiningen war die Entlaſtung
auf Grundlage des Geſetzes vom 6. Juni 1848 durch das umfaſſende
Geſetz vom 5. Mai 1850 durchgeführt, und die am 25. Auguſt 1849
hergeſtellte Landeskreditanſtalt durch Zuſatzgeſetz vom 6. Mai 1850 für
die Ablöſung beſtimmt. In Sachſen-Altenburg ging die Entlaſtung
ungefähr in gleicher Weiſe vor ſich; Aufhebung aller perſönlichen, ſeit
dem Geſetz vom 1837 noch übriggebliebenen Leiſtungen durch Geſetz
vom 16. Februar 1849; des Jagdrechts durch Verordnung vom 24. Sep-
tember 1848 (mit nachträglicher Entſchädigung, Geſetz vom 22. Februar
1854); endlich des geſammten Lehnsverbandes (Geſetz vom 1. April
1851). Doch iſt die Entlaſtung keine gezwungene. Die Rentenbank
funktionirt ſeit 1837. Nur Mecklenburg ſteht noch da als der
einzige Staat, der vergeblich verſucht hat, ſich aus den Banden der
alten Unfreiheit los zu machen. Allerdings hatte das vereinbarte
Staatsgrundgeſetz vom 10. Oktober 1849 das Unterthansverhältniß
aufgehoben und die Ablösbarkeit aller Grundlaſten ausgeſprochen (§. 45
bis 50); allein dieß Grundgeſetz ward laut Rechtsſpruch eines nur zu
bekannten, von Preußen und Hannover eingeſetzten Schiedsgerichtes
vom 11. September 1850 aufgehoben. „Seitdem iſt für perſönliche
Befreiung des Bauernſtandes, für Sicherſtellung des bäuerlichen Grund-
beſitzes und für Entlaſtung deſſelben etwas nicht geſchehen.“
(Judeich, S. 128.) Für die kleineren Staaten verweiſen wir auf
Judeich (S. 183—223); es gelten im Weſentlichen in denſelben die
allgemeinen, oben dargelegten Grundſätze.


So ſchließt nun der große Proceß, deſſen Inhalt die Auflöſung
der Geſchlechterherrſchaft und die Begründung der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft iſt. Auch hier wiederholt ſich das für alle Geſellſchaftsordnung
geltende Geſetz, daß der endgültige Fortſchritt von einem Zuſtande zum
andern immer erſt dann als ein abgeſchloſſener zu betrachten iſt, wenn
er in den Rechtsverhältniſſen des Beſitzes zur Geltung kommt. Wir
unſererſeits haben dieſen ganzen ſo unendlich wichtigen Theil der Ge-
ſchichte hier aufnehmen müſſen, weil nur ſo das eigentliche Weſen der
Entwährung als einer geſellſchaftlichen Aktion der Staatsidee voll-
ſtändig zur Erſcheinung gelangt. Das Gebiet, das wir hier in ſeinen
Umriſſen angedeutet haben, iſt ein Theil der Geſchichte der ſocialen
Bewegung in Deutſchland, tief verſchieden von der ſocialen Bewegung
Frankreichs und Englands in allem, was äußere Geſtalt, geſetzliche
Form, Thätigkeit des Staats und Vertheilung der Zeitepochen betrifft,
[234] und dennoch vollſtändig gleichartig im Princip und in den Folgen. Den
zweiten Theil bildet, wie bereits erwähnt, der Proceß, den wir kurz
als die Entſtehung der Gewerbefreiheit bezeichnen, und deſſen Ge-
ſchichte unter die Verwaltung der Gewerbe gehört. Beide zuſammen
geben in ihren Conſequenzen den gegenwärtigen geſellſchaftlichen Zuſtand
des deutſchen Volkes in ſeinen wichtigſten Elementen, als einen neuen
und durchgreifenden Beweis, daß die Verwaltungslehre nur durch die
Wiſſenſchaft der Geſellſchaft das Verſtändniß ihrer wahren Geſchichte
und zuletzt auch ihrer wahren Elemente zu finden im Stande iſt.


Die Ablöſungen.

I. Begriff und Berhältniß zu Entlaſtung und Gemeinheitstheilung.

Das zweite große Gebiet der Entwährung iſt nun dasjenige, welches
wir als die Ablöſungen und Gemeinheitstheilungen bezeichnen. Es iſt
daher nothwendig, zuerſt das Weſen derſelben gegenüber der Grund-
entlaſtung zu beſtimmen; und dieſer wahre Unterſchied beider von
einander, aus dem nicht bloß ein verſchiedenes wiſſenſchaftliches Syſtem,
ſondern auch eine beſonderte Geſchichte und Geſetzgebung derſelben
hervorgegangen iſt, liegt nun ſelbſt wieder in demjenigen, woraus beide
hervorgegangen ſind, im Weſen der Geſchlechterordnung und der von
derſelben erzeugten Agrarverfaſſung.


Formell iſt nun dieſer, für die innere Entwicklung keineswegs un-
wichtige Unterſchied nicht ſchwierig zu beſtimmen.


Während nämlich die Grundlaſten aller Art den allgemeinen, in
ganz Europa gültigen Ausdruck der Unfreiheit der beherrſchten bäuer-
lichen Klaſſe gegenüber der herrſchenden Klaſſe der Grundherren bilden,
und daher allenthalben mit demſelben weſentlichen Inhalt und faſt
unter denſelben Formen erſcheinen, tritt neben ihnen eine zweite große
Gruppe von Beſchränkungen des individuellen Eigenthums am Grund
und Boden auf, die nicht mehr für die ganze Klaſſe der beherrſchten
Landleute als ſolche gilt, ſondern vielmehr auf einzelnen und ört-
lichen
Verhältniſſen beruht, ſehr verſchieden in Umfang und Inhalt
iſt, und daher weder mit der bäuerlichen Unfreiheit im Allgemeinen
vermiſcht, noch auch in ſich als ein einheitliches Ganze behandelt
werden darf. Dieſe Gruppe theilt ſich nun ſelbſt wieder in zwei große
Theile. Der erſte dieſer Theile geht, wenigſtens ſeinem Hauptinhalt
nach, aus der Grundherrlichkeit hervor, oder verſchmilzt doch ſo innig
mit derſelben, daß er als ein integrirendes Moment ihrer Rechte da-
ſteht, und die Spuren eines andern Urſprunges faſt unkenntlich
[235] werden. Dieſen Theil bezeichnen zunächſt wir als die Bauernrechte;
denſelben Charakter hat das, was man die Realgerechtigkeiten
nennt. Dahin gehören endlich eine Anzahl von Dienſtbarkeiten,
die in den meiſten Fällen den Charakter von Grundlaſten annehmen,
und daher vielfach denſelben Grundſätzen unterworfen ſind, wie dieſe.
Der zweite Theil dagegen geht mit ſeinen hiſtoriſchen Grundlagen der
Gutsherrlichkeit noch voran, und knüpft ſich an die älteſte Form der
Geſchlechterordnung, die nur noch den Bauern und das Dorf kennt.
Daraus entſtehen die uralten Gemeindebeſitzungen, die von der
Grundherrlichkeit an ſich vollkommen unabhängig, dennoch mit der-
ſelben vielfach in Beziehung treten. Alle dieſe verſchiedenen Rechts-
verhältniſſe haben nur Ein gemeinſames Gebiet, durch welches ſie
nicht bloß der Geſchichte und dem Recht, ſondern auch der Verwaltungs-
lehre angehören; und wie ſie durch ihren Inhalt und ihre Geſtalt das
Bild der Rechtsordnung der Geſchlechter erfüllen und vervollſtändigen,
ſo ergeben ſie andererſeits das zweite und letzte Gebiet des Entlaſtungs-
weſens. Denn alle dieſe verſchiedenen Rechte erſcheinen als objektive
Beſchränkungen des freien Einzeleigenthums, in ähnlicher
Weiſe, wie die eigentlichen Grundlaſten. Sie ſind wie dieſe der Regel
nach nicht durch die freie Selbſtbeſtimmung der Betheiligten entſtanden,
ſondern Ausdrücke einer höheren Ordnung menſchlicher Dinge. Sie
werden daher auch nicht durch den freien Beſchluß der Betheiligten
beſeitigt, ſondern dauern wie eine geſchichtliche Thatſache durch ſich
ſelber fort. Sie beſchränken endlich die freie Verfügung der Einzelnen
über ihr Gut, und damit die volle Entwicklung der Geſammtheit, ohne
durch die Thätigkeit und den Willen der Betreffenden geändert werden
zu können. Sie ſind daher in der That kein bürgerliches Recht, ſondern
ſie ſind ein nicht unweſentlicher Theil des geſellſchaftlichen Rechtes
der Geſchlechterordnung, zum Theil auch der Ständeordnung. Sie ſtehen
ferner dadurch im Widerſpruch mit dem erſten Princip der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft, der individuellen Freiheit; die letztere kann nicht
zur vollen Geltung gelangen, ſo lange jene beſtehen; der Kampf gegen
ſie beginnt daher mit dem Kampfe gegen die Geſchlechterordnung ſelbſt,
geht mit ihm Schritt vor Schritt vorwärts, und es iſt naturgemäß,
daß er mit der geſetzlichen, definitiven Aufhebung der Geſchlechterord-
nung ſelber abſchließt. In dieſem Proceß der Befreiung von jenen
Rechten gelangt nun der an ſich ſehr weſentliche Unterſchied zwiſchen
jenen beiden Gruppen dieſer Rechtsverhältniſſe, die wir oben bezeichnet
haben, allerdings zur Geltung, aber nicht ſo ſehr in dem Streben
nach ihrer Beſeitigung, als in der Form, in der ſie geſchieht; und
dieſer Unterſchied ſelbſt wird wieder bedingt durch das Verhalten jeder
[236] dieſer Gruppen zum Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Die
erſte Gruppe enthält nämlich durchgehend in allen ihren Theilen eine
theilweiſe Unfreiheit des Grundbeſitzes und zum Theil des Erwerbes,
die zweite dagegen nur eine Beſchränkung des freien Verfügungs-
rechtes
. In der erſten ſteht ein einzelner Berechtigter den einzelnen
Verpflichteten gegenüber, wie bei den Reallaſten; in der zweiten da-
gegen iſt die Gemeinſchaft als ſolche das Berechtigte, und die einzelnen
Mitglieder die Gebundenen. In der erſten handelt es ſich meiſt um
gegenſeitige Leiſtungen, in der zweiten um gemeinſame Berechtigungen.
Daher kann der Proceß, der die Befreiung von dieſen Beſchränkungen
des individuellen Eigenthums zum Inhalt hat, nicht der gleiche ſein,
obgleich er in allen ſeinen Formen daſſelbe Ziel hat. In Beziehung
auf das Erſte ſchließt ſich vielmehr jene Befreiung einfach an die Ent-
laſtung an, erſcheint als Theil derſelben, ja als ihre letzte Erfüllung,
und nimmt daher auch die großen leitenden Grundſätze der Entlaſtung,
namentlich den der Entſchädigung mit ihrer Vorausſetzung der Werth-
ſchätzung und ihrer Baſis der Staatshilfe durch Rentenbanken u. ſ. w.
an. Bei dem zweiten dagegen handelt es ſich nicht um eine Entlaſtung,
ſondern vielmehr darum, das individuelle Eigenthum an die Stelle
des Geſammteigenthums zu ſetzen; daher iſt hier weder von einer Ent-
ſchädigung noch auch von einer eigentlichen Staatshülfe die Rede. End-
lich aber iſt auch das öffentliche Recht für beide aus demſelben Grunde
ein ſehr verſchiedenes. Die Beſeitigung der Rechtsverhältniſſe der erſten
Gruppe müſſen vom Staate gefordert werden; er kann dieſelbe
eben ſo wenig wie die Grundlaſten als ein dauerndes Element der Agrar-
verfaſſung anerkennen, weil er die geſellſchaftliche Herrſchaft einer
Klaſſe über die andere nicht dulden kann, ſobald er in das Stadium
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft tritt; die Nothwendigkeit der Auf-
hebung dieſer Rechte iſt daher ſchon von dem Augenblick an unzweifel-
haft, wo der Kampf mit der Grundherrlichkeit beginnt. Allein ganz
anders iſt es mit der zweiten Gruppe, die, wie geſagt, nicht mehr eine
Unfreiheit, ſondern nur eine Beſchränkung der Freiheit des Einzel-
eigenthums enthält. Beſchränkungen dieſer Freiheit aber gibt es im
ganzen Staatsleben. Während die Unfreiheit mit der Staatsidee daher
in entſchiedenem Widerſpruche ſteht, iſt es nicht an und für ſich noth-
wendig, daß es keine Beſchränkung des Einzeleigenthums durch irgend
eine Geſtaltung des gemeinſchaftlichen Eigenthums gebe; ja im Gegen-
theile iſt eben dieſe Gemeinſchaft des Eigenthums vielfach die einzige
Bedingung, um die Zwecke der Einzelnen zu erreichen. Daher denn
wird die Aufhebung dieſer Gemeinſchaft nicht an und für ſich durch
das Weſen des Staats, oder durch das der perſönlichen Freiheit
[237] gefordert; der Staat kann allerdings aus einer Reihe von Gründen
dieſelbe fordern, allein er kann ſie auch beſtehen laſſen, wenn die
Zwecke der wirthſchaftlichen Verwaltung beſſer durch ſie als durch
ihre Aufhebung gefördert werden. Und dieß wird ſich weiter unten
genauer zeigen. So ſind jene beiden Gruppen weſentlich von einander
verſchieden, trotz der Gleichartigkeit ihres Urſprungs und der Bewegung
ihres öffentlichen Rechts. In dieſem Sinne muß man nun auch das
öffentliche Recht derſelben ſcheiden, um ſo mehr als die Geſchichte des
erſteren, wie die der Entlaſtung eine abgeſchloſſene iſt, während die
zweite noch keineswegs als eine fertige anzuſehen iſt. Und auf dieſen
Grundlagen nennen wir das öffentliche Recht der erſten Gruppe die
Ablöſung, das der zweiten die Gemeinheitstheilung.


II. Die germaniſchen Grunddienſtbarkeiten und Verhältniß zur römiſchen
servitus.

Die ziemlich allgemeine Verwirrung in Begriffen und Ausdrücken,
welche einerſeits durch die faſt beſtändige Verwechslung der Worte und
Begriffe von Entlaſtung und Ablöſung, anderſeits durch die der ger-
maniſchen Bann- und Nutzungsrechte mit den römiſch-rechtlichen servi-
tutes praed. rustic.
entſtanden iſt, zwingt uns hier, als Grundlage dieſes
Theiles der Verwaltungslehre einen Schritt weiter zu gehen, und ſtatt
einfach das Verhältniß der Ablöſungen formell im Anſchluß an die Ent-
laſtung zu erledigen, vielmehr das Weſen ihres Rechtes mit dem Inhalt
deſſelben zu verbinden, und wo möglich die Frage nach den germaniſchen
(deutſchen) Dienſtbarkeiten und ihrem Verhältniß zu der römiſchen
servitus auf die ihr einzig entſprechende Baſis zurückzuführen.


Der formelle Begriff der Ablöſung iſt ein ſehr einfacher. Die
Ablöſung iſt die, durch freiwillige Vereinbarung oder durch Geſetz voll-
zogene Anwendung der Grundſätze der Entlaſtung auf die germaniſch-
(deutſch-)rechtlichen Dienſtbarkeiten.


Unter dem Begriff der „Dienſtbarkeit“ verſtehen wir auch hier
diejenigen Verpflichtungen, welche der Einzelne vermöge ſeines Grund-
beſitzes gegen den andern gleichfalls in Beziehung auf ſeinen Grund-
beſitz hat, ſo daß dieſe Dienſtbarkeiten vielmehr als Rechte des einen
Grundbeſitzes an dem andern erſcheinen, welche indem ſie durch den
Beſitzer des einen ausgeübt werden, für den Beſitzer des andern als
Beſchränkung ſeiner Freiheit ſind.


Jede Dienſtbarkeit iſt daher in der That das Eigenthum an einem
beſtimmten einzelnen Gebrauch eines beſtimmten Grundbeſitzes, das
aber, entſtanden durch die wirthſchaftlichen Bedürfniſſe des letzteren,
[238] auch nur als ein Inhalt des wirthſchaftlichen Lebens nicht der Perſon
des Beſitzers, ſondern des berechtigten Grundſtückes ſelbſt erſcheint, und
dadurch ein Theil des Eigenthums des letzteren wird.


Es ſind daher ſo viele Dienſtbarkeiten möglich, als es möglich iſt,
ſelbſtändige Benutzungsformen eines Grundſtückes durch ein anderes
zu unterſcheiden. Es iſt an ſich gar keine ſolche Benutzungsform
von dem Begriffe der Dienſtbarkeit ausgeſchloſſen. Es macht daher
an ſich gar keinen Unterſchied, ob der Weg (Gebrauch zum Uebergehen),
das Waſſerholen (Gebrauch des Waſſers, mit ſeiner Bedingung, dem
Weg zum Waſſer) u. ſ. w., oder die Benützung der Weide, oder die
des Waldes, als Eigenthum eines andern Grundſtückes hingegeben
werden. In dem Objekt — das iſt der Gebrauchsform — liegt daher
kein Unterſchied der germaniſchen und römiſchen Dienſtbarkeiten.


Eben ſo wenig beſteht dieſer Unterſchied in der Unauflöslichkeit
des in der Dienſtbarkeit gegebenen rechtlichen Verhältniſſes. Denn
mag man die Bezeichnung der germaniſchen und römiſchen Dienſtbar-
keiten ſonſt ſetzen wo man will, immer ſind ſie alle durch freie Ver-
einbarung der Betheiligten zu löſen. Darüber iſt kein Zweifel. Im
Gegentheil hört der Begriff der Dienſtbarkeit überhaupt da auf,
wo die Aufhebung eines ſolchen Rechtsverhältniſſes nicht mehr von
dem Willen der Einzelnen abhängt, und eben daher dem öffentlichen
Recht angehört, das iſt, eine von der Verwaltung geforderte, ſomit
öffentlich rechtliche Dienſtbarkeit iſt, wie z. B. der Leinpfad u. a. m.
Hier iſt wohl eine Verwechslung kaum möglich.


Wenn es daher einen wirklichen und tiefgreifenden Unterſchied
zwiſchen der germaniſchen und römiſchen Dienſtbarkeit gibt — und daß
es einen ſolchen gibt, iſt ja wohl nicht zweifelhaft — ſo muß dieſer
Unterſchied nicht im Weſen der Dienſtbarkeit an ſich liegen. Wir laſſen
hier die ganze, namentlich im vorigen Jahrhundert und auch noch im
gegenwärtigen ſo viel ventilirte Frage vorläufig bei Seite, ob die Real-
laſten servitutes in faciendo ſeien oder nicht — eine Frage, die nur
aus der Verzweiflung an einem klaren Begriffe und aus dem Mangel
der Kenntniß von der geſellſchaftlichen Grundlage des Rechts entſtehen
konnte. Daß aber auch in dem Gebiete der eigentlichen servitus bei
völliger Gleichheit aller übrigen Momente ein tiefer Unterſchied
zwiſchen germaniſchem und römiſchem Recht beſteht, iſt von jeher gefühlt.
Um ſeinen wahren Grund zu ſuchen, muß man allerdings den bisherigen
Standpunkt hier wie im ganzen Gebiete der Vergleichung beider
großer Rechtsbildungen aufgeben, und nicht einzelne Rechtsverhält-
niſſe vergleichen wollen. Man muß vielmehr dieſen wie jeden andern
Unterſchied des germaniſchen und römiſchen Rechts auf das Weſen,
[239] den lebendigen Kern beider Rechtswelten, zurückführen. Wir nun faſſen,
ohne hier auf tiefere Erörterung einzugehen, dieſen welthiſtoriſchen Unter-
ſchied in ſeine einfachſte Formel zuſammen; der Unterſchied zwiſchen der
germaniſchen und römiſchen Dienſtbarkeit und aller Folgeſätze ergibt
ſich dann, wie wir glauben, mit voller Klarheit aus jenem oberſten
Lebensprincip beider Rechte.


Das römiſche Recht iſt nämlich das großartigſte Rechtsſyſtem für
das Rechtsleben grundſätzlich freier und gleicher Individuen, alſo
für das vollſtändig freie Eigenthum und den vollſtändig freien Verkehr.
Das römiſche Recht iſt daher das Privatrecht der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaftsordnung
.


Das germaniſche (deutſche) Privatrecht dagegen enthält diejenigen
Beſchränkungen des an ſich für alle gleichen Privatrechts, welche aus
der Geſchlechterordnung entſtehen und die Principien und Forderungen
derſelben in Beziehungen auf Perſonen, Sachen und Verkehrsleben zur
Geltung bringen. Das germaniſche Privatrecht iſt daher das Privat-
recht der Geſchlechterordnung
. Das deutſche Privatrecht unter-
ſcheidet ſich von dieſem germaniſchen Privatrecht dadurch, daß es außer
den rechtsbildenden Elementen der Geſchlechterordnung auch noch die
der ſtändiſchen Ordnung aufnimmt, und mit den erſteren verarbeitet.
In dieſem Punkte ſind das deutſche Privatrecht und das franzöſiſche
droit coutumier nur zwei faſt ganz gleichartige Ausdrücke deſſelben
Rechtsſyſtems, während das engliſche Privatrecht nur die Geſchlechter-
ordnung enthält, und daher die reinſte Form der urſprünglichen Ele-
mente darſtellt.


Es iſt nun nicht Sache der Verwaltungslehre, die hiſtoriſchen
Verhältniſſe zu verfolgen, die ſich hieraus ergeben. Allein jedes Rechts-
gebiet, und ſo auch das der Dienſtbarkeiten, hat nun ſeit dem Mittel-
alter jene beiden Grundformen, die einander ebenſo unvermittelt be-
kämpfen, wie die Geſchlechter und die ſtändiſche Ordnung überhaupt.
Und das gilt nun auch von den Dienſtbarkeiten.


Die römiſch-rechtliche Dienſtbarkeit iſt nämlich darnach diejenige,
bei der als Entſtehungs- und damit als Rechtsgrund der Vertrag der
Betheiligten, oder eine den Vertrag erſetzende Verjährung angenommen
wird. Sie erſcheint daher niemals als Theil und Glied, als Erfüllung
und Conſequenz einer andern, größeren und allgemeineren Ordnung
des Grundbeſitzes; es iſt dem Römer gar nicht möglich ſie, wie wir
ſagen würden, als Theil einer Agrarverfaſſung zu denken. Da ſie
nun ihrerſeits auf einer ſolchen nicht beruht, ſo kann ſie auch ohne alle
Beziehung zu irgend einer andern allgemeinen Frage verſtanden und ju-
riſtiſch beurtheilt werden; man bedarf dazu gar nichts, als den Inhalt
[240] des Vertrages und die Natur des ganz ſpeciellen Gebrauches und bildet
aus beiden das Recht der Servituten. Eben ſo folgt, daß jede einzelne
und alle Servituten als Geſammtheit ohne irgend eine weitere Folge,
die über die Rechtsſphäre der Betheiligten hinausginge, aufgehoben
oder geändert werden können. Es iſt daher dem römiſchen Recht an
und für ſich undenkbar, daß die Geſetzgebung ſolche Servituten auf-
heben oder verbieten ſollte; ſie ſind eine einfache Erſcheinung des freien
Verkehrs zwiſchen freien und gleichen Individuen. Der Begriff der
römiſchen servitus ſchließt daher jeden Begriff der Ablöſung
aus
; weder der Gedanke noch das Wort können im corpus juris vor-
kommen; ja man würde die „Ablöſung“ eben ſo wenig ins Lateiniſche
überſetzen können, wie das „Lehen“ oder die „Grundentlaſtung.“


Die germaniſch und deutſch-rechtliche Dienſtbarkeit im weiteren
Sinne iſt dagegen ein Rechtsverhältniß zwiſchen Grundſtücken und Per-
ſonen, das entweder durch die Klaſſenverhältniſſe der Geſchlechterordnung
oder durch die Abtheilungen der Ständeordnung erzeugt wird, und
daher ohne Zuthun des Einzelnen entweder aus dem bevorrechteten
grundherrlichen Beſitz oder der bevorrechteten ſtändiſchen Körperſchaft
(Kirche, Zunft ꝛc.) hervorgeht. Der Grund und Inhalt dieſer Dienſtbar-
keiten im weiteren Sinne ruhen daher nicht auf einem Vertrage, denn
es gibt keinen Vertrag, aus dem die Grundherrlichkeit oder die Zunft
hervorgegangen wäre, ſondern auf der beſtimmten Geſtalt der Geſell-
ſchaft, indem ſie die Ober- und Unterordnung, den geſellſchaftlichen
Unterſchied, im Gebiete des Beſitzes und Erwerbes fortſetzen, und ihr
damit Natur und Form eines Privatrechts, eventuell eines durch den
Einzelnen gegen den Einzelnen geltend zu machenden Rechtes geben.
Die Beſeitigung dieſer Rechte iſt daher keineswegs eine Angelegenheit,
die zwiſchen einzelnen Contrahenten abgeſchloſſen werden könnte, ſondern
ſie iſt eine Angelegenheit der ganzen Geſellſchaftsordnung. Die Dienſt-
barkeit und das Bann- und Zunftrecht ſind in dieſem Sinne ſelbſt-
verſtändlich, denn ſie ſind mit der größeren Thatſache, der Geſellſchafts-
ordnung, von ſelbſt gegeben. Ihr Rechtsgrund iſt dieſe Ordnung ſelbſt.
Die Betheiligten können ſie daher auch gar nicht auflöſen, weil eine
ſolche Auflöſung das Princip der geſellſchaftlichen Ordnung ſelbſt er-
ſchüttern, eine Verletzung oder Bedrohung der mit den Aufhebenden
auf gleicher hoher ſocialer Stufe Stehenden ſein würde. Es war
gar nicht denkbar, daß die Zünfte die Arbeit Einzelner, oder daß die
Geſchlechter jede Dienſtbarkeit des Bauern hätten beſeitigen können;
denn auch die ſocialen Ordnungen können nicht gegen die eigene Natur
handeln. Das Juriſtenrecht dieſer Dienſtbarkeiten war daher nie die
Unterſuchung des Rechts- oder Entſtehungstitels ſolcher Rechte, ſondern
[241] nur die ihrer Gränze; die Vertheidigung dieſer Rechte war nicht eine
Vertheidigung von wirthſchaftlichen, ſondern von viel größeren ſocialen
Intereſſen. Die römiſch-rechtlichen Grundſätze über servitutes waren
daher hier principiell gar nicht anwendbar, ſo wenig wie bei den Grund-
laſten; denn der Römer verſtand weder die Unfreiheit des Beſitzes noch
die des Erwerbes. Und daher war es auch undenkbar, dieſe Dienſtbar-
keiten und Bannrechte einfach den Parteien zur Beſeitigung im Wege
der freien Vereinbarung zu überweiſen, wie das römiſche Recht es hätte
thun müſſen. Es war gleich anfangs vollkommen klar, daß ſie als
Ausflüſſe der beiden geſellſchaftlichen Ordnungen mit dieſen ſelbſt ſtehen
oder fallen mußten. So wie daher die ſtaatsbürgerliche Geſellſchafts-
ordnung beginnt, beginnt auch der Kampf gegen dieſelben; aber gleich-
zeitig iſt es, und zwar von Anfang an klar, daß dieſer Kampf nur
durch Staatsgeſetze zu Ende geführt werden kann. Die Aufhebung
jener Rechtsverhältniſſe tritt daher nothwendig erſt mit dem durch die
königliche Gewalt gegebenen Siege der neuen freien Geſchlechterordnung
ein, geht mit ihr Schritt für Schritt vorwärts, und während ſie in
England ſchon im 13. und 14. Jahrhundert ziemlich allgemein geſichert
iſt, iſt ſie in Frankreich und Deutſchland von Anfang an ein integri-
render Theil der Befreiung des Grundbeſitzes überhaupt, alſo ein Theil
der Entlaſtung. Daher hat man beide mit einander ſo oft zuſammen-
geworfen, und in der That ſind ſie in ihrer Selbſtändigkeit untrennbar,
namentlich wenn man die Ablöſung auf die Dienſtbarkeiten der Ge-
ſchlechterordnung begränzt, und wenn man eine ſcharfe äußere Gränze
ſtatt der inneren für Entlaſtung und Ablöſung fordert, die unfindbar
iſt, weil ſie nach der Natur der Geſchlechter und ſtändiſchen Unfreiheit
gar nicht exiſtiren kann. In jedem Falle aber ſcheint nun das klar,
daß eine Verſchmelzung des Begriffes und Weſens dieſer Rechtsverhält-
niſſe mit dem römiſchen Recht und ſeinen servitutes nicht möglich iſt.
Die germaniſch rechtlichen Dienſtbarkeiten haben ſehr oft einen ähn-
lichen materiellen Inhalt wie die römiſchen, wenn auch nicht immer;
ſtets aber haben ſie einen ganz andern Urſprung und eine ganz andere
Natur, denn ſie ſind entweder die Dienſtbarkeiten der Geſchlechter-
ordnung, das iſt die eigentlichen Herrenrechte (eigentliche Dienſt-
barkeiten), oder die Dienſtbarkeiten, die aus der ſtändiſchen Ordnung
in die Geſchlechterordnung übergehen, die Bannrechte, oder endlich
die rein ſtändiſchen Dienſtbarkeiten, die Realgewerbe. Alle dieſe
Dienſtbarkeiten ſtehen mit dem Begriff und Recht der freien ſtaats-
bürgerlichen Perſönlichkeit und ihrem freien Eigenthum im Widerſpruch,
haben aber als geſellſchaftliches Recht den Charakter einer öffent-
lichen Rechtsordnung und werden daher erſt durch Geſetze beſeitigt, die
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 16
[242] eine Aufhebung derſelben im Geiſte der neuen Geſellſchaftsordnung zur
Pflicht der Betheiligten machen, und die Entſchädigung dafür durch
Staatshülfe möglich machen. Dieſe Aufhebung heißt die Ablöſung.


Das nun iſt das Weſen dieſer Rechte und die Natur ihrer Be-
ſeitigung. Und jetzt dürfte es ſehr leicht ſein, ohne daß es auch hier
wie bei der Grundentlaſtung nothwendig wäre, tiefer in die hiſtoriſchen
Verhältniſſe einzugreifen, im einfachen Anſchluß an die Grundherrlich-
keit und Unfreiheit das Weſen dieſer einzelnen Rechte zu beſtimmen,
und die Geſchichte ihrer Ablöſung an die der Entlaſtung anzuſchließen.
Wir bleiben zu dieſem Ende am beſten bei der obigen Eintheilung.


III. Die Grunddienſtbarkeiten und ihre Ablöſung.

Unter den Grunddienſtbarkeiten verſtehen wir diejenigen Dienſt-
barkeiten (im allgemein wiſſenſchaftlichen, nicht im römiſch-rechtlichen
Sinne), welche aus der Unfreiheit der reinen Geſchlechterordnung in
ihrer Beziehung auf den Grundbeſitz hervorgehen. Sie unterſcheiden
ſich von den Grundlaſten dadurch, daß ſie nicht in Dienſten der un-
freien Beſitzer beſtehen, und auch nicht das ganze Grundſtück umfaſſen,
oder auf demſelben als ein immanenter Theil ſeines Rechts ruhen, ſon-
dern nur einen ganz beſtimmten Gebrauch des dienenden Grundſtücks
gegenüber dem herrſchenden enthalten, oder aber umgekehrt dem un-
freien Grundſtück ein Gebrauchsrecht an dem herrſchenden geben.


Die tiefere hiſtoriſche Grundlage dieſer Herrenrechte beſteht nun
darin, daß ſie im Grunde eine beſtimmte Geſtalt der Gemeinſchaft
des Grundbeſitzes aus der alten Geſchlechterordnung ſind; nur mit dem
weſentlichen Unterſchied, daß ſie das Eigenthumsrecht des Grund-
herrn
an dem urſprünglich gemeinſchaftlichen Grund und Boden ent-
halten und zum Ausdrucke bringen. Das wird von großer Bedeutung
auch für die Form der Entſchädigung. Jene Rechte erſcheinen nun faſt
ausſchließlich in drei Formen: der Weidegerechtigkeit des Grund-
herrn (Blumenſuchrecht u. ſ. w.), der Jagdgerechtigkeit deſſelben,
und drittens in den Wald- und Forſtgerechtigkeiten der dienen-
den Grundſtücke an dem Walde, wo derſelbe, anfänglich früher im
Geſammteigenthum der Markgenoſſen, ſpäter zum Privateigenthum der
Grundherren wird. Alle drei Rechte ſind die Fortſetzung der Gemein-
ſchaft des Eigenthums der Markgenoſſen, aber in ihrer unfreien Form,
und hängen ebenſo auf das Engſte mit der Gemeinweide, dem Gemein-
wald und der Gemeinjagd zuſammen. Sie bedeuten, daß der Herr bei
dem Erwerb des Privateigenthums an dem nichtvertheilten Grund und
Boden ſich jene drei Rechte bei der Herſtellung der (unfreien) Grund-
[243] beſitzungen zurückbehalten hat. Sie weiſen daher nicht auf einen
beſondern Rechtstitel hin, ſondern ſie ſind immanente Theile des herr-
ſchaftlichen Rechts, und werden daher unbedingt von den Grund-
herren in Anſpruch genommen, ohne daß dieſelben einen Beweis für
ihre Berechtigung führen, ſondern dieſelbe als ſelbſtverſtändlich an-
nehmen; wie Freidank an einer bekannten Stelle ſingt: (76. 5.)


„Die vürsten twingent mit gewalt

uelt, steine, wazzer unde walt,

dar zuo wilt unde zam

si taeten lufte gerne alsam

der muoz uns noch gemeine sin.

möhtens uns der sonnen schin

verbieten, wint unde regen,

man müssen zins mit gelde wegen.“

Daß dieß nun zum Theil mit Recht geſchah, da wo die Herren
(vürsten) Hinterſaßen auf ihrem grundherrlichen Boden niederließen und
ſich jene Rechte wirklich vorbehielten, zum großen Theile aber mit Un-
recht, wo der Grundherr auch den urſprünglich freien Bauern jenen
Rechten eben in der von uns bezeichneten Epoche der gewaltſamen Ver-
ſchmelzung der beiden beherrſchten Klaſſen unterwarf, iſt leichtverſtänd-
lich; daher der Unmuth der „Bauern“ über Jagd- und Weiderecht,
und daher auch das rückſichtsloſe Durchgreifen der Herren in dieſer Be-
ziehung ſeit den Bauernkriegen. Eben ſo natürlich iſt die Geſtalt der
Wald- und Forſtſervituten der Grundholden gegenüber dem Walde des
Grundherrn; denn weder der eigentliche Bauer noch ſelbſt der Leib-
eigene verlor jemals ganz die Vorſtellung, daß der Wald als nicht auf
getheiltes [Gemeindegut] im Grunde den Gemeindemitgliedern eben ſo
gut als der Herrſchaft gehöre, und daher jeder Inſaſſe das Recht habe,
ſeinen Bedarf an Holz gerade aus dem ſpäter rein herrſchaftlichen Walde
zu holen. Die vielfachen Streitigkeiten über alle jene Rechte enthielten
daher ſelten einen Streit über das Rechtsprincip, ſondern waren meiſtens
Verſuche, jenen Rechten eine feſte Gränze zu geben; und man kann
im Allgemeinen ſagen, daß dieß mit dem Beginne des 18. Jahrhunderts
geſchieht. Das iſt nun aber auch zugleich die Zeit, in der der Kampf
gegen dieſelben beginnt. Es iſt nicht zu überſehen, daß die Frage nach
dieſen Rechten, ſo viel wir ſehen, niemals in den von uns charakteri-
ſirten Streit über die Unfreiheit der Bauern im Allgemeinen und über
die gemeſſenen und ungemeſſenen Frohnden einbezogen iſt (ſ. oben).
Denn bei ihnen trat der Charakter des Privateigenthums viel zu ſehr
in den Vordergrund, namentlich in Analogie des römiſchen Servituten-
[244] rechts. Von Seiten der Rechtswiſſenſchaft beſchränkt ſich, und zwar
bis auf die neueſte Zeit, die Theilnahme an dieſer Bewegung zur Frei-
heit weſentlich auf die Conſtatirung der rechtlichen Beſchränkung jener
Dienſtbarkeiten. Erſt mit dem Entſtehen der Nationalökonomie beginnt
der Zweifel, ob ein Aufſchwung der Landwirthſchaft, wie ihn die Phyſio-
kraten forderten, ohne Beſeitigung oder doch möglichſt enge Beſchrän-
kung jener Rechte möglich ſei. Damit ſchließt ſich dieſe Frage ſo enge
an die Bewegung für die Grundentlaſtung an, daß ſie mit derſelben
faſt allenthalben zu einem Ganzen verſchmilzt. Doch erhielt namentlich
die Lehre des deutſchen Privatrechts auch theoretiſch das Bewußtſein,
daß dieſelben im Grunde doch ſelbſtändig zu beachten ſeien, während
andererſeits die praktiſche Nationalökonomie die verderblichen Folgen
jener Servituten theils für die eigentliche Land-, theils für die Forſt-
wirthſchaft ſpeciell behandeln lehrte. (Als Hauptbeiſpiele beider Rich-
tungen Mittermaier, deutſches Privatrecht, §. 166 ff., und Rau,
Verwaltungspflege, §. 72 ff.) Dieſe Selbſtändigkeit kam nun zum Vor-
ſchein, als die wirkliche Entlaſtung begann. Denn hier war es ſogleich
klar, daß man den Entſchädigungsmaßſtab der Entlaſtung ſchon aus
wirthſchaftlichen Gründen an jene Herrenrechte nicht einfach anlegen
könne, ohne zu großer Härte gegen die letzteren zu gelangen. Schließt
man dieſe Anmerkung an die obige Geſchichte der Entlaſtung, ſo ergiebt
ſich, daß die Ablöſung naturgemäßſtets dem letzten Abſchnitt
des Entlaſtungsweſens angehört
. Es iſt das Gefühl verbreitet,
daß das Beſtehen dieſer Herrenrechte keinen direkten Widerſpruch mit
der Freiheit des Eigenthums enthalte, und daß die Ablöſung als
volkswirthſchaftliche Entwährungsmaßregel aus der Ent-
laſtung als geſellſchaftlicher Entwährung ſich von ſelbſt
ergeben werde
. Daher denn die Erſcheinung, daß die Ablöſungen
(alſo wohl zu unterſcheiden von den Entlaſtungen, obwohl die Ent-
laſtungsgeſetze bekanntlich vielfach Ablöſungen hießen) vor 1848 ſo gut
als gar nicht zur Geltung kommen, dagegen ſeit 1848 entweder in die
neuen Entlaſtungsgeſetze inbegriffen ſind, oder als ganz ſelbſtändige Ge-
ſetze erſcheinen. Sie gehören damit in dieſelbe Kategorie wie die Auf-
hebung des eigentlichen Lehenrechts, welche gleichfalls erſt ſucceſſiv nach
der Entlaſtung in vielen Staaten auftritt (ſ. oben.) Ebenſo erklärt
es ſich aus dieſer Natur der eigentlichen Ablöſung, daß die Geſetzgebung
über dieſelbe ſchon vor der wirklichen Entwährung zum Rechte vielfach
als „Landeskulturgeſetze“ namentlich auf Grundlage der Nothwendig-
keit einer tüchtigen Wieſenkultur erſcheint. (Vgl. für Preußen Rönne,
Staatsrecht II. §. 377. u. a. O.) Es wird gleichfalls auch hier keiner
eingehenden Darſtellung bedürfen, daß aus den gleichen Gründen die
[245] Geſchichte der Ablöſung zugleich eine weſentlich territoriale iſt, ſich
anſchließend an die mehr oder weniger ausgebildete Entwickelung der
Verwaltung der Volkswirthſchaft oder, wie ſie gewöhnlich heißt, der
Landeskultur, und daher auch in die unbeſtimmte Gruppe der „Agrar-
verfaſſungen“ aufgenommen wird. Das, was alle dieſe vereinzelten
und zum Theil ſehr verſchiedenen Erſcheinungen der Ablöſung indeß
zuſammenhält und ſie für die Verwaltungslehre als ein Ganzes erſcheinen
läßt, iſt nun die eben bezeichnete Verbindung mit dem Proceß der Ent-
laſtung. Faſt ausnahmslos iſt daher die Ablöſung ſeit 1848 der Ent-
laſtung gefolgt, und das Recht derſelben iſt wie die folgenden faſt aus-
nahmslos nur noch als hiſtoriſche Thatſache zu betrachten. Wir glauben
daher unſerm Zwecke zu genügen, wenn wir kurz die betreffende Geſetz-
gebung hier angeben.


Was zunächſt Oeſterreich betrifft, ſo hatte allerdings ſchon das
Patent vom 7. September 1848 auch die Ablöſungen in Ausſicht ge-
ſtellt, und das Weiderecht (Blumenſuchrecht der Obrigkeit = Grund-
herren) ſo wie die gegenſeitige Brachweide ohne Entſchädigung auf-
gehoben. Allein die vollſtändige und eigentliche Ablöſung begann
erſt mit dem Patent vom 5. Juli 1853, dem die Ausführungsverord-
nung vom 3. September 1855 und 31. Oktober 1857 folgten, durch
welche eigene — noch jetzt thätige — Commiſſionen zur Ablöſung, zum
Theil aber auch, namentlich bei Forſtdienſtbarkeiten, zur ſtrengen Re-
gulirung eingeführt wurden. Die Ablöſung zeigt hier vielleicht am
deutlichſten in ganz Deutſchland ihren ſpecifiſchen, von der Entlaſtung
verſchiedenen Charakter, indem trotz der entſchiedenen Durchführung der
letzteren für die erſtere die Regulirung ſtatt der Ablöſung ein-
treten kann, wenn höhere Rückſichten der Landeskultur oder genügendes
Einverſtändniß der Berechtigten und Verpflichteten der Ablöſung entgegen
ſtehen. Dabei iſt das Jagdrecht vollſtändig aufgehoben, und die Ein-
führung neuer ähnlicher Rechte nur unter der ausdrücklichen und behörd-
lich genehmigten Beſtimmung der künftigen Ablösbarkeit geſtattet worden
(Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. 446. 448. Judeich S. 30).


Denſelben Charakter trägt nun, wenn auch in ganz andern Formen,
die Ablöſungsgeſetzgebung Preußens. Preußens Recht zeichnet ſich
dadurch aus, daß hier jeder der drei Theile der Ablöſung wieder ſeine
eigene Geſchichte hat. Die Forſtſervituten nämlich ſind bereits im
vorigen Jahrhundert unter den Geſichtspunkt der verwaltungsrechtlichen
Forſtpflege oder der ſog. „Forſtpolizei“ gebracht, und ohne Rückſicht
auf Grundherrlichkeit und Bauernrecht den adminiſtrativen Beſtimmungen
unterworfen, ſo daß hier für die eigentliche Ablöſung, das Verhältniß
zwiſchen Grundherrn und Eigenen, nur wenig übrig blieb. Die
[246] Geſchichte der Forſtdienſtbarkeiten ordnet ſich daher gänzlich dem Forſt-
verwaltungsrecht unter, und die Geſetzgebung betreffs der letzteren iſt,
obwohl eine faſt ausſchließlich principielle, dennoch, namentlich ſeit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts, eine höchſt fruchtbare. (Die einzelnen
Forſtordnungen — die erſte für die Neumark von 1500, bei Rönne
Staatsrecht II. §. 382.) Die definitive Aufhebung der letzten Forſt-
ſervituten fällt dann zuſammen mit der Ablöſungsordnung der Dienſt-
barkeiten überhaupt, welche dann wieder mit der Gemeinheitstheilung
durch die Gemeinheitstheilungsordnung vom 7. Juni 1821 hergeſtellt
ward. Das Princip dieſer Ablöſungen aller Forſt-, Acker- und Weide-
ſervituten iſt nun ein vorzugsweiſe landwirthſchaftliches; das ſociale
Element des Gegenſatzes von freien und unfreien Grundſtücken kommt
dabei anfänglich weder zur Erſcheinung noch zum Bewußtſein. Die
Ablöſung ſelbſt hat daher mehr den Charakter einer actio communi divi-
dundo;
ſie findet ſtatt auf Antrag der Berechtigten wie bei der Gemein-
heitstheilung, und die Entſchädigung ſelbſt iſt in der That mehr eine
Theilung als eine Entſchädigung, indem die Ablöſung der Regel nach
durch Land geſchehen ſoll. Dabei blieben denn allerdings manche Punkte
unerledigt, welche erſt im Jahre 1850 entſchieden wurden. Das Geſetz
von 1850 hob das Jagdrecht ohne Entſchädigung auf, und das Gemein-
heitstheilungsgeſetz vom 19. Mai 1851 führte die Grundſätze der alten
Theilungsordnung von 1821 theils in einzelnen Gebieten ein, wo ſie
noch gegolten hatte, theils ordnete ſie unerledigte Punkte. Im Ganzen
erſcheint alſo das Ablöſungswerk, obgleich viel früher als in Oeſterreich
begonnen, doch auch in Preußen erſt nach 1848 (Judeich S. 43.
RönneII. §. 370. 381. 382). Ebenſo wurden in Bayern die Weide-
gerechtigkeiten erſt durch Geſetz vom 28. Mai 1852 ablösbar gemacht, jedoch
nur auf Majoritätsbeſchluß der Pflichtigen; die Forſtſervituten, die
nicht den Charakter von Gegenleiſtungen an ſich tragen, ohne, die
übrigen gegen Entſchädigung aufgehoben, und zwar wie in Preußen
nicht als geſellſchaftliche, ſondern als forſtwirthſchaftliche Maßregel im
Forſtgeſetz vom 28. Mai 1852 (Pözl, Verwaltungsrecht §. 60. 73.
Judeich S. 84). Was Württemberg betrifft, ſo wurde das Jagd-
recht ohne Entſchädigung aufgehoben durch Geſetz vom 7. Auguſt 1849
und 27. Oktober 1855, eben ſo die meiſten Feldſervituten; jedoch ſchei-
nen hier manche einzelne noch zu beſtehen (Judeich S. 95. 96). Baden
hob alle Weiderechte gegen Entſchädigung durch Geſetz vom 31. Juli
1848 auf, das Jagdrecht durch Geſetz vom 10. April und 26. Juli
1848. Das Königreich Sachſen hatte dagegen alle Weiderechte bereits
1832 für ablösbar erklärt; das Jagdrecht wurde jedoch erſt in Gemäßheit
der Publikation der deutſchen Grundrechte vom 2. März 1849 ohne
[247] Entſchädigung aufgehoben, doch die Entſchädigung durch Geſetz vom
25. November 1858 wieder eingeführt. In Hannover: Aufhebung
des Jagdrechts (Geſetz vom 29. Juli 1850), Ablösbarkeit der Forſtſervi-
tuten (Geſetz vom 13. Februar 1850), der Weidegerechtigkeit (auf An-
trag der Verpflichteten) nach Geſetz vom 8. November 1856. Im
Kurfürſtenthum Heſſen wurden dagegen bereits durch Geſetz vom
29. Februar 1832 alle Jagd- und Forſtgerechtigkeiten ablösbar gemacht,
das Jagdrecht durch Geſetz vom 1. Juli 1848 gegen eine kleine Ent-
ſchädigung aufgehoben; dagegen durch Verordnung vom 26. Januar
1854 gegen Rückzahlung der Entſchädigungsbeträge wiederhergeſtellt!
Die Weidegerechtigkeiten fallen unter das Ablöſungsgeſetz vom 20. Juni
1850. Im Großherzogthum Heſſen trat die Ablösbarkeit der Weide-
rechte durch Geſetz vom 7. Mai 1849 ein, das Jagdrecht ohne Ent-
ſchädigung durch Geſetz vom 26. Juli 1848 aufgehoben, jedoch nicht bei
nachweisbar oneroſem Erwerb; das Geſetz vom 2. Auguſt 1858 ſtellte
dagegen das Jagdrecht wieder her! Oldenburg hob die Forſtſervi-
tuten ohne Entſchädigung auf im Geſetz vom 1. März 1851; doch iſt
die weitere geſetzliche „Regulirung der beſtehenden Holz-, Maſt-, Wald-
ſtreu und Holzleſeberechtigungen“ weiteren geſetzlichen, bis jetzt nicht
erfolgten Beſtimmungen vorbehalten. Sachſen-Weimar hat die
nicht durch oneroſen Vertrag erworbenen Jagdrechte durch Geſetz vom
1. März 1850 gegen Entſchädigung aufgehoben, die Trift- und Hutungs-
befugniſſe durch Geſetz vom 22. Oktober 1853 für ablösbar erklärt,
Sachſen-Gotha das Jagdrecht durch Geſetz vom 24. November 1848
und 17. Auguſt 1849 aufgehoben, die Trift- und Hutungsbefugniſſe
ſind nach dem Ablöſungsgeſetz vom 5. November 1853 ablösbar, ebenſo
in Sachſen-Meiningen. Geſetz vom 1. September 1848, Jagd-
recht; Geſetz vom 5. Mai 1850, Weiderechte. In Naſſau Auf-
hebung des Jagdrechts ohne Entſchädigung durch Geſetz vom 15. Juli
1848, auch hier hergeſtellt durch Verordnung vom 20. September
1855 und Geſetz vom 9. Juni 1860; die Weiderechte fallen unter die
allgemeine Ablöſung. In Braunſchweig iſt dagegen das Jagdrecht
definitiv aufgehoben, jedoch gegen eine mäßige Entſchädigung, durch Geſetz
vom 8. September 1848 und 16. April 1852; die Felddienſtbarkeiten ſind
bereits ſeit 20. December 1834, in fernerer Ausführung durch Geſetz
vom 18. Februar 1860, nebſt den Forſtſervituten für ablösbar erklärt.
Die Ablöſung geſchieht durch Kapital oder Rente. Ueber das Forſtrecht
Geſetz vom 3. Juli 1851 und 7. Februar 1857, welche für das alte
Recht des Geſammteigenthums an den großen „Communionharzforſten“
und den Sieg der ſtaatlichen Verwaltung über das gemeinſchaftliche
Forſteigenthum viele höchſt beachtenswerthe Geſichtspunkte darbieten.
[248] Die übrigen kleinen Staaten ſ. bei Judeich S. 183 ff., wo aber
oft die genaueren Angaben im Einzelnen nicht vollſtändig zu finden ſind.
Im Weſentlichen jedoch gelten die allgemeinen Grundſätze hier wie bei
der Entlaſtung.


Uebrigens können wir nicht umhin, die Frage nach der Aufhebung
des Jagdrechts in ihrem Verhältniß zu den daraus entſtandenen neuen
Grundſätzen für die Verwaltung der Jagd hier zu bezeichnen.


Jene Frage nach der Aufhebung des Jagdrechts in ſeiner alten
Geſtalt iſt weſentlich auch in Folge dieſer ziemlich entgegengeſetzten
Bewegungen in der deutſchen Geſetzgebung ſeit dem letzten Jahrzehent
wieder vielfach angeregt und zugleich vom Standpunkt des Privatrechts
unterſucht worden. Ein Hauptwerk für die hiſtoriſche Darſtellung des
grundherrlichen Jagdrechts bleibt Stiegleben, Geſchichtliche Darſtel-
lung der Eigenthumsverhältniſſe an Wald und Jagd in Deutſchland
(1832). Stiegleben ſagt ſchon damals die Aufhebung des Jagdrechts
auf fremdem Boden als die natürliche Conſequenz der Aufhebung des
Unterthanverhältniſſes voraus. Der Standpunkt, den die deutſchen
Geſetze im Allgemeinen in Beziehung auf die freie Jagd einnehmen,
iſt allerdings ſeit 1848 nicht der der bloßen Ablöſung der grundherr-
lichen Rechte, ſondern zugleich die Organiſirung des Jagdrechts nach
volkswirthſchaftlichen Principien, mit dem Streben, den Wildſtand gegen
die Vernichtung durch unregelmäßige Benutzung der Jagdfreiheit zu
ſchützen, und dieſe Beſtimmungen gehören daher unter das Verwal-
tungs-Recht der Jagd. Doch mögen hier die leitenden Gedanken, welche
als allgemeines Jagdrecht Deutſchlands angeſehen werden können, Platz
finden. Die grundſätzlichen Beſchränkungen ſind theils auf die perſön-
liche Ausübung der Jagd gerichtet (Jagdſcheine, Waffenpäſſe), theils
beſchränken ſie ſachlich die Ausübung, namentlich indem ſie eine gewiſſe
Größe oder Geſchloſſenheit der Grundſtücke fordern, endlich indem ſie
die Ausübung der Jagd den Gemeinden im Wege der Verpachtung
vorſchreiben. Die Hauptbeſtimmungen dafür ſind in den Ablöſungs-
geſetzen enthalten. Oeſterreich, Patent vom 7. März 1849. Preußen,
Jagdpolizeigeſetz vom 7. März 1850. Bayern, Geſetz vom 30. März
1856. Hannover, Geſetz vom 29. Juli 1850. Baden, Geſetz vom
2. December 1850. Württemberg, Geſetz vom 27. Oktober 1855.
Königreich Sachſen, Verordnung vom 13. Auguſt 1849 und Geſetz
vom 13. Mai 1851. Mit Recht bemerkt Brünnek im Archiv für
Civilpraxis Bd. 648. Heft 1. S. 80 ff., daß die deutſchen Geſetze zum
großen Theil die franzöſiſche Geſetzgebung als Muſter gehabt haben;
doch iſt das Geſetz vom 30. April 1790 noch reine Ablöſung, während
[249] die Decrete vom 11. Juli 1810 und 4. Mai 1811 die Grundlagen der
Verwaltung enthalten, die dann das Geſetz vom 3. Mai 1844 in
einem förmlichen Syſtem abſchließt. Die Verordnung vom 8. Februar
1854 für Schleswig-Holſtein hat die Jagd an die Grundherren
zurückgegeben, jedoch mit der geſetzlichen Anerkennung der Ablösbarkeit,
welche hier ſpeciell auf die Ablöſung durch die Gemeinden beſchränkt iſt.


IV. Die Bannrechte.

Einen weſentlich verſchiedenen Inhalt von den Grunddienſtbarkeiten
haben die Bannrechte. Die formale Bezeichnung derſelben iſt be-
kannt genug. Die Bannrechte enthalten die Verpflichtung der Grund-
ſaſſen einer beſtimmten Oertlichkeit, gewiſſe Produkte nur von einem
einzeln beſtimmten Gewerbe zu kaufen, und ſomit die eigene Produktion
dieſer Produkte nicht vorzunehmen. Dieſe Bannrechte empfangen Art
und Namen nach den Arten dieſer Produktion: Mühlenbann, Brauerei-,
Brennerei-, oft auch Weinzwang (Schenkgerechtigkeit, Propination). Es
iſt kein Zweifel, daß dieſe Bannrechte nur zum Theil durch die Grund-
herrlichkeit, zum Theil aber auch durch freie Verabredungen der Ge-
meinden entſtanden ſind. Sie gehören daher nur zum Theil der Ge-
ſchlechterordnung an, und bilden diejenige Form der wirthſchaftlichen
Unfreiheit, welche bereits unter die gewerbliche Unfreiheit gezählt werden
muß, nur daß ſie vielfach aus der Abhängigkeit des Grundes und Bo-
dens entſtanden ſind, und daher auch, abgeſehen von der Befreiung
des Gewerbes, mit derjenigen der Grundſaſſen Hand in Hand gehen
mußten. Bei ihnen gilt jedoch noch mehr wie bei den Grunddienſtbar-
keiten, daß man ſie nicht als einen immanenten Theil der Entlaſtung
aus dem obigen Grunde betrachtete, ſondern ihre Aufhebung war viel-
mehr die Ausdehnung des Princips des freien Eigenthums auf den
freien Erwerb, ein Theil des Kampfes mit der ſtändiſchen Unfreiheit,
die erſt durch die Gewerbefreiheit gänzlich beſeitigt wird. Allein ihre
Verbindung mit der Abhängigkeit des Grundbeſitzes hat ſie dennoch
mit der Geſchichte der Entlaſtung verbunden und zwar als das zweite
Gebiet der Ablöſung; nur daß hier die Entſchädigungsfrage zuerſt die-
jenige Geſtalt bekommt, welche bereits die Gränze der Entwährung be-
zeichnet. Es fragt ſich nämlich bei ihnen, was bei der Entlaſtung und
der Ablöſung an ſich gar nicht zweifelhaft iſt, ob überhaupt ein wirth-
ſchaftlich beſtimmt berechenbarer Werth dieſer Rechte vorhanden iſt,
und ob daher auch bei voller Anerkennung des Princips der Entſchä-
digung eine ſolche überhaupt ſtattfinden kann. Von dieſen Geſichts-
punkten aus iſt die Geſchichte der Aufhebung der Bannrechte zu beur-
theilen. Die leitenden Grundſätze für dieſes, gleichfalls bereits hiſtoriſch
[250] beinahe ganz beſeitigte Syſtem der Unfreiheit der ländlichen Gewerbs-
produktion ſind folgende.


Bereits im vorigen Jahrhundert beginnen die Regierungen, wenn
auch nicht im Namen der bäuerlichen und geſellſchaftlichen Freiheit, ſo
doch im Namen des volkswirthſchaftlichen Wohles der Bevölkerung,
dieſen Bannrechten ſo weit als möglich Grenzen zu ſetzen. Dieſe
Grenzen werden anfänglich nur auf die juriſtiſche Natur jener Rechte
begründet. Es wird der Grundſatz aufgeſtellt, daß daß Vorhandenſein
der Bannrechte bewieſen werden müſſe (Mittermaier §. 531, Runde
§. 279); es wird ausdrücklich erklärt, daß aus der Conceſſion eines
Privilegiums, z. B. zur Errichtung einer Mühle, noch kein Bann-
recht folge (Runde §. 282). Der Berechtigte muß die Anſtalt in gutem
Stande erhalten, und wo dieß nicht der Fall iſt, kann der Verpflichtete
ſich anderer Anſtalten bedienen (Bad. Landrecht §. 710). Der Einzelne
hat auch gegenüber dem Bannrechte das Recht, ſeine eigenen Bedürf-
niſſe durch eigene Arbeit zu befriedigen (Preußiſches Landrecht §. 14—49)
und andere Punkte. Allein alle dieſe Beſtimmungen mußten ſich, da
ſie doch am Ende nur durch koſtſpielige Proceſſe verwirklicht werden
konnten, als unpraktiſch erweiſen; das wahre Bedürfniß, die Nothwen-
digkeit vollkommen freier gewerblicher Bewegung, mußte von einer andern
Seite kommen. Hier nun brach Preußen unter Stein die Bahn. Der
Charakter der Stein’ſchen Verwaltung iſt es überhaupt, daß die ſtaats-
bürgerliche Freiheit zunächſt als bürgerliche Gewerbsfreiheit zur Geltung
kommt, und die Freiheit des Grundbeſitzes erſt in zweiter Linie ein-
tritt. Die Anwendung dieſes Princips auf die Bannrechte lag nahe.
Das Edikt vom 28. Oktober 1810 hob ganz einfach alle Bannrechte
(Mühlen-, Brau-, Brenn- und Schenkzwang) auf, und zwar ohne
Entſchädigung, „da die Theorie und die Erfahrung beweiſen, daß die
Aufhebung der Zwangs- und Bannrechte in der Regel keineswegs die
Einnahmen der früher Berechtigten mindert,“ nur bei merklichem Schaden
ſoll eine Entſchädigung eintreten. Dieſem erſten Schritte folgte jedoch
um ſo weniger ein zweiter, als überhaupt die Entlaſtung ſeit den Be-
freiungskriegen in Stillſtand gerieth; ſelbſt in Preußen kam erſt mit
dem 31. Oktober 1825 eine Inſtruktion für das ſchiedsrichterliche Ver-
fahren in ſolchen ſtreitigen Fällen zu Stande, und jene Befreiung ward
ausdrücklich nur auf die alten Landestheile beſchränkt (Kabinetsordre
vom 23. März 1836). Indeſſen dauerte in dieſer ganzen Zwiſchenzeit
der theoretiſche Kampf um die Aufhebung jener Bannrechte fort (Rau,
Volkswirthſchaftspflege §. 204); das Princip der Entſchädigung griff an der
Stelle der urſprünglichen Entſchädigungsloſigkeit Platz, und ward theils
als bloße Ablösbarkeit der Bannrechte ausgeſprochen (Königreich Sachſen,
[251] Geſetz vom 27. März 1835), theils als wirkliche, wenn auch nur
theilweiſe Aufhebung gegen Entſchädigung (Großherzogthum Heſſen,
Geſetz vom 25. Februar 1818 und 15. Mai 1819; Oldenburg, Geſetz
vom 17. April 1819; Goldmann, die Geſetzgebung von Heſſen
S. 101 ff.), theils als Verpflichtung neben unbedingter Aufhebung des-
ſelben (Preußiſche Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845; Hoffmann,
die Befugniß zum Gewerbebetrieb; Rau a. a. O.), theils freilich, wie
in Baden, unbedingt geläugnet (Verhandlungen der badiſchen Kammer
von 1835 I. 73, II. 100, und Geſetz vom 28. Auguſt 1835). Die
Unſicherheit in allen dieſen Beziehungen zeigte deutlich, daß die Bann-
rechte ſo gut wie die Grunddienſtbarkeiten, am Ende dennoch nur ein
Ausdruck der alten Geſchlechterunfreiheit, erſt mit der definitiven Bewäl-
tigung der letzteren ſelbſt zu bewältigen ſeien. So kam denn auch hier
erſt mit dem Jahre 1848 die Entſcheidung. Seit 1848 iſt die Auf-
hebung der Bannrechte neben der Ablöſung der Grunddienſtbarkeiten
ein integrirender Theil der Entlaſtung geworden. In Oeſterreich
wurden alle Bannrechte mit dem Patent vom 7. September 1848 ein-
fach beſeitigt; in Preußen war, wie geſagt, durch die Gewerbeord-
nung von 1845 nicht viel mehr zu thun übrig (Rönne, Staatsrecht
§. 390). Hannover hob alle Zwangs- und Bannrechte ohne Ent-
ſchädigung auf (Geſetz vom 17. April 1852), wenn nicht eine privatrecht-
liche Begründung nachgewieſen werden kann. Das Königreich Sachſen
vervollſtändigte die bereits durch Geſetz vom 27. März 1838 (Bierzwang
und Mahlzwang gegen mäßige Entſchädigung) begonnene Ablöſung durch
Geſetz vom 19. Februar 1850, welches alle Bannrechte ohne Ent-
ſchädigung beſeitigte (Judeich S. 70, 71). Bayern kam erſt durch
die Gewerbeordnung vom 21. April 1862 ſo weit, die Bannrechte
nebſt den Realgerechtigkeiten definitiv aufzuheben; das Kurfürſtenthum
Heſſen hatte die Aufhebung bereits in der Verfaſſungsurkunde von
1831 §. 36 zugeſichert; das Mühlenbannrecht ward davon ſpeciell durch
Geſetz vom 30. December 1839 gegen Entſchädigung beſeitigt (Beſtehen
noch Bannrechte? Judeich S. 98). Im Großherzogthum Heſſen
hob das Geſetz vom 30. Juli 1848 dieſelben mit allen Handels- und
Gewerbsprivilegien zugleich auf; Entſchädigung trat nur ein bei one-
roſem Vertrag (Geſetz vom 15. September 1851). Baden gab, unter
Aufhebung des Reſtes der alten Bannrechte, durch Geſetz vom 20. März
1853 eine mäßige Entſchädigung; ebenſo Oldenburg mit Geſetz vom
8. April 1851. Sachſen-Weimar ließ das Ablöſungsgeſetz vom
1. April 1848 analog anwenden, hob jedoch die Reſte der Bannrechte
ohne Entſchädigung, wo nicht beſondere Rechte nachgewieſen werden
konnten, wie durch die Gewerbeordnung vom 30. April 1862 auf (§. 42);
[252]Sachſen-Coburg-Gotha durch das Staatsgrundgeſetz vom 3. Mai
1852, §. 53; Sachſen-Gotha durch Geſetz vom 1. Oktober 1859;
die Entſchädigungen werden regulirt durch Geſetz vom 21. März
1863; Sachſen-Meiningen durch Geſetz vom 16. Juni 1862;
Sachſen-Altenburg dagegen ohne Entſchädigung durch Geſetz vom
16. Februar 1849. In Braunſchweig hatte das Geſetz vom 19. Mai
1840 einen Mittelweg getroffen, bis das Geſetz vom 6. Februar 1862
die Freiheit der Gewerbebetriebe allgemein einführte, gegen eine ſehr
mäßige Entſchädigung. Die übrigen Staaten bei Judeich S. 179 ff.
— Das neueſte Geſetz iſt das Ablöſungsgeſetz für Schleswig-Hol-
ſtein
(Verordnung vom 1. Oktober 1867). Die Grundſätze ſind folgende:
die auf privatrechtlichem Titel beruhenden Zwangs- und Bannrechte
werden abgelöst, bis zur Ablöſung bleiben ſie noch beſtehen, die Ab-
löſung wird aber ſo raſch als möglich gefördert werden. Bei einer
Reihe von Gewerben: Apothekern, Hebammen, Landmeſſern, Schiffern
und Lootſen u. ſ. w. hat es bei den beſtehenden Verordnungen ſein
Bewenden. Bei mehreren Kategorien, Schauſpielunternehmern, Auctio-
natoren, Maurern, Dachdeckern, Zimmerleuten, Wirthen und Kleinhänd-
lern mit geiſtigen Getränken, bedarf es der Conceſſionirung. Wirthe
und geiſtige Getränke ſcheinen der Regierung beſonders unangenehm zu
ſein, die einſchlägigen Beſtimmungen ſind ſehr ſcharf. Alle anderen ge-
werblichen Beſchränkungen ſind aufgehoben. Es bedarf nur noch der
Anzeige, daß man dieſes oder jenes betreiben wolle, und den Nachweis
dreier Bedingungen: Volljährigkeit, Dispoſitionsfähigkeit, feſter Wohn-
ſitz in den Herzogthümern. So iſt auch dieſer Theil, die Verbindung
der Geſchlechterunfreiheit mit der gewerblichen, durch die große Bewegung
des Jahres 1848 beſeitigt. Daſſelbe gilt von dem letzten Punkte der
Ablöſung, den Realgerechtigkeiten.


V. Die Realgerechtigkeiten.

Die Realgerechtigkeiten bilden den Uebergang von der Geſchlechter-
zur ſtändiſchen Unfreiheit. Sie beſtehen in den ſtädtiſchen Gewerben,
deren Betriebsrecht mit dem Beſitze eines Grundſtücks verbunden, und
unterſcheiden ſich von den Banngerechtigkeiten dadurch, daß ſie zwar
das Recht auf den Betrieb für die Beſitzer, nicht aber irgend welche
Verpflichtung Dritter, ſich durch dieſe Betriebe verſorgen zu laſſen, ent-
halten. Daher können dieſelben Rechte, aus welchen Bannrechte gebildet
wurden, wie das Brauerei- und Mühlengewerbe, an andern Orten
auch bloße Realgerechtigkeiten ſein (Mittermaier §. 523). Ihre Be-
ſeitigung hat daher mit der Entlaſtung nur eine ſehr indirekte Beziehung;
[253] ihr Verhältniß zur Ablöſung aber charakteriſirt ſich dadurch, daß bei
Freigebung der Produktion eine Ablöſung überhaupt nicht begründet
erſcheint, da die Realgerechtigkeit überall keine Ausſchließlichkeit des
Gewerbes enthielt, und die Gewerbefreiheit nur Allen gab, was ſie
keinem Einzelnen zu nehmen brauchte. Sie verſchwinden daher von
ſelbſt, aber nicht durch die Entlaſtung, ſondern durch die Einführung
der Gewerbefreiheit, und gehören dem Ablöſungsweſen, ja der ganzen
Entwährungslehre nur in dem entferntern Sinne an, als ſie einen
letzten Ausdruck des Princips bilden, daß das Gewerbe in jeder Hin-
ſicht von der alten ſtändiſchen Verbindung mit dem Grundbeſitz be-
freit wird.


Die Gemeinheitstheilungen.

I. Weſen und Verhältniß zur Geſchlechterordnung der Dorfverfaſſung.

Die Gemeinheitstheilungen bilden eines von jenen Gebieten der
Verwaltungslehre, die durch Inhalt und Geſchichte verſchiedenen Theilen
der letzteren zugleich angehören. Sie ſind ein Theil der Landwirth-
ſchaftspflege, ſofern man dieſe für ſich betrachtet; ſie ſind ein Theil der
Verwaltung der geſellſchaftlichen Ordnung und Entwicklung, und end-
lich gehören ſie auch der Entwährungslehre an. Wir nun ſtellen ſie
hier unter die letztere, weil ſie eine Seite der großen ſocialen Erſchei-
nung bilden, die wir bisher dargeſtellt haben, und das Bild der letz-
teren ſowohl an ſich als in Beziehung auf das, was der Staat gethan
und zu thun hat, ohne ſie ein unvollſtändiges ſein würde; vorzüglich
aber deßhalb, weil das bisher Dargeſtellte am beſten Alles verſtändlich
macht, was ſich auf die Gemeinheitstheilung als einen Theil desjenigen
Proceſſes bezieht, durch welchen ſich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft aus
der Geſchlechterordnung entwickelt.


Faßt man jene Erſcheinung von dieſem Standpunkt aus auf, ſo
werden alle Verhältniſſe deſſelben ſehr einfach.


Das Objekt der Gemeinheitstheilung, die Allmend, Gemeindeflur
und Wald, iſt nicht etwa identiſch mit dem Begriffe des Gemeindever-
mögens, obgleich es natürlich einen Theil deſſelben bildet. Es hängt
aufs Innigſte mit der alten Dorfſchaft zuſammen. Wir ſetzen als be-
kannt voraus, daß dieſer Gemeindebeſitz der vermöge der alten Dorf-
ſchafts- und Markenverfaſſung nicht aufgetheilte Theil der Gemeinde-
mark iſt; daß derſelbe daher der Gemeinſchaft aller Bauern des Dorfes
gehört, und daher diejenige Form des Eigenthums enthält, in welcher
die alte Geſchlechterordnung der Bauern dorfſchaftsweiſe Eigenthümerin
[254] iſt. Die Bedeutung dieſes älteſten Geſchlechterbeſitzes kommt nun auch
während der Entwicklung der neuen Geſtalt der Geſchlechterordnung
durch das Hinzutreten und die Herrſchaft der Grundherrlichkeit nicht
weiter zur Geltung. Nur eine Frage entſteht dabei, und dieſe Frage
iſt in den verſchiedenen Ländern Europas allerdings verſchieden beant-
wortet und hat daher auch zu denjenigen Beſtimmungen Anlaß gegeben,
welche formell die ganze Gemeinheitstheilung mit der Entlaſtungslehre
in äußern Zuſammenhang bringen. Nachdem die Grundherren nämlich
die Herrſchaft über die Gemeinde der altfreien Bauern gewonnen, mußte
an vielen Punkten der Zweifel entſtehen, ob der nicht aufgetheilte Theil
der Gemarkung dem Dorfe — der alten Gemeinſchaft der Bauern-
geſchlechter — oder dem Gutsherrn als Eigenthum gehöre. Die Ent-
ſcheidung dieſer Frage aber iſt eine örtliche. Zunächſt empfing ohne
Zweifel auch die ganze Allmend den rechtlichen Charakter derjenigen
bäuerlichen Beſitzungen, welchen ſie gehörte; ſie war mit ihnen ganz
frei, wie bei den Freidörfern, Lehen bei den Lehnbauern, Eigenthum
des Herrn bei den aus Hinterſaſſen beſtehenden Dörfern. Dann aber
ſcheint es allgemein gegolten zu haben, daß alle urſprüngliche Allmend,
ſo weit ſie nicht von den Bauernſchaften wirklich in Beſitz genommen,
bei den Waldungen neben den Grundherren vielfach vom Landesherrn,
bei den Gemeindefluren dagegen meiſtens ausſchließlich von den Grund-
herren als Eigenthum angeſehen und in Anſpruch genommen ward. Es
entſtand daher vielfach ein doppeltes, eigenthümliches und nur hiſtoriſch
erklärbares Verhältniß für Waldland und Fluren der Allmend. Was
dabei zunächſt die Gemeindeflur oder Gemeindeweide betrifft, ſo ſind
hier die Grundverhältniſſe in Europa folgende.


Zuerſt folgte aus der alten Markgenoſſenſchaft der Dorfgeſchlechter,
daß die Geſammtheit der anſäßigen Bauern die eigentliche Allmend mit
ihrem Vieh unbeſchränkt beweiden konnte. Dann erhielt ſich aber
jene Idee des Geſammtgutes in vielen Ländern darin, daß alle Dorf-
genoſſen ein gegenſeitiges Weiderecht auf den eigenen Feldern und
zwar naturgemäß nach der Ernte hatten. In dieſe Grundverhältniſſe
der Bauerngeſchlechterordnung tritt nun drittens die Grundherrlichkeit
ein und ändert dieß Recht in zwei Beziehungen. Zuerſt nimmt der
Grundherr als der größte Mitbeſitzer der Gemeindemark bei urſprüng-
lich freien Bauern daſſelbe Recht für den Gemeindeacker in Anſpruch,
das jeder Bauer hatte — er trieb ſein Vieh auf die Gemeinweide; und
da er nur zu oft faſt allein einen bedeutenden Viehſtand hatte, ſo ward
die Weideſervitut des Grundherrn zu einem Haupttheile ſeines
grundherrlichen Rechts. Dann gelang es dem Grundherrn in ſehr
vielen Gebieten, jenes Weideſervitut auch auf das Eigenthum der
[255] Bauern ſelbſt
auszudehnen; ſo entſtand das Weide- und Blumen-
ſuchrecht des grundherrlichen Viehes, das ſtets als etwas von den
Grundlaſten Verſchiedenes betrachtet wurde, und daher (ſ. oben) auch
nicht ſtets unmittelbar unter die Entlaſtung begriffen, ſondern vielfach
in beſonderer Ablöſung beſeitigt ward. Bei dem Walde dagegen war
das Verhältniß umgekehrt. Hier behielt die Bauernſchaft allerdings oft
einen ihr ſpeciell als Gemeindemark zugetheilten Wald, den Gemeinde-
wald, und hat denſelben bis auf den heutigen Tag im Eigenthum;
wo aber der große Waldbeſtand nicht aufgetheilt war, und die einzige
Benützung noch in der Jagd beſtand, da nahm entweder der Landes-
herr als Inhaber des Jagdregals, oder der Grundherr als Jagdherr
— oft auch vermöge des Jagdregals — das Eigenthum der Waldung
überhaupt ohne Weiteres in Anſpruch, oft im ſtärkſten Gegenſatze zu
der Rechtsanſchauung und Tradition ſeiner Dörfer. Das alte Dorf-
markenrecht an allem unaufgetheilten Gut blieb dann nur noch in der
Geſtalt des Rechtes der Bauern, aus dem Walde ſich ihren Bedarf an
Holz zu holen und zwar urſprünglich gewiß für jede Form des Bedarfs,
für Bau- und Brennbedarf aller Art, wobei zugleich der Wald für
Vieh und namentlich für Schweine als Gemeindeweide galt und benützt
ward. Mit der immer größeren Entwicklung der adelichen Jägerei und
zum Theil wohl auch mit der allmälig beginnenden örtlichen Entwal-
dung begann denn auch hier der Kampf zwiſchen dem Rechte des
Grundherrn und dem der Bauernſchaft, ein Kampf, der einerſeits zum
Jagdrecht des Herrn führte und ſogar auf urſprünglich freiem Boden
das Jagdrecht für den Grundherrn meiſt gewaltſam gewann, wogegen
die alten freien Bauern durch Wilderei kämpften, andrerſeits aber zu
einer an vielen Orten genau beſtimmten Berechtigung der Bauern-
ſchaften an der Waldbenützung führten und zwar meiſt in Beziehung
auf das Holz, dann aber oft auch in Beziehung auf die Waldweide.
So war die Geſtalt dieſer Dinge mit dem 18. Jahrhundert geworden;
die Walddienſtbarkeiten oder Forſtſervituten, die in Deutſchland erſt
mit der Mitte des 19. Jahrhunderts abgelöst worden, können ohne
Zurückbeziehung auf die alte Markgenoſſenſchaft nicht richtig beurtheilt
werden. In Beziehung auf beide Formen des Gemeingutes aber, die
Flur und den Wald, gilt im Allgemeinen, daß erſtlich die alte Dorf-
flur der urſprünglich freien Bauern ſo weit ihr Eigenthum bleibt, als
dieſelbe wirklich und nachweisbar von der Dorfſchaft in Beſitz genom-
men iſt, und daß zweitens das Verhältniß zwiſchen Bauernſchaft und
Gemeindeherrlichkeit in hundert verſchiedenen, örtlich und hiſtoriſch ent-
ſtandenen Fällen, aber dennoch auf der gemeinſamen geſellſchaftlichen
Grundlage in den Weide- und Waldſervituten zum Ausdruck kommt.
[256] Dieß iſt im Großen und Ganzen der Zuſtand des 18. Jahrhunderts,
bei welchem nun derjenige Proceß beginnt, den wir die Gemeinheits-
theilung nennen.


Die Grundlage dieſes Proceſſes iſt nun aber für die beiden oben
bezeichneten Verhältniſſe nicht gleich. Man muß ſie vielmehr ſtrenge
unterſcheiden. Während nämlich die Dienſtbarkeiten zugleich als Theil
der grundherrlichen Herrſchaft und der bäuerlichen Unfreiheit erſcheinen,
und daher weſentlich dem Proceſſe der Entlaſtung angehören, wie wir
bereits gezeigt in der Form der Ablöſung neben derjenigen der Grund-
entlaſtung, fällt das Element der Unfreiheit bei dem, im Beſitze
der Dorfſchaften wirklich vorhandenen Gemeindegut weg. Bei dieſem
Gemeindegute handelt es ſich nicht wie bei jenem um Freiheit oder
Unfreiheit; das Verfahren der Staatsregierungen hat hier daher nicht
wie bei jenen einen ſocialen Hintergrund; es iſt nicht das Princip der
ſtaatsbürgerlichen und rechtlichen Gleichheit, das die letzteren zur Gel-
tung zu bringen haben, und daher ſind auch Urſprung und Geſchichte
dieſer Maßregeln weſentlich andere, als bei den Dienſtbarkeiten. Mit
gutem Recht iſt daher auch die Darſtellung der Gemeintheilungen in
den deutſchen Bearbeitungen der Volkswirthſchaftslehre ſtets von der
Entlaſtung und Ablöſung getrennt behandelt; die franzöſiſche national-
ökonomiſche Literatur dagegen hat ſich um das ganze Verhältniß nicht
gekümmert, ſondern aus Gründen, die wir unten darlegen werden, das-
ſelbe der öffentlich-rechtlichen Jurisprudenz überlaſſen; auch in England
hat ſich keine Literatur darüber gebildet, ſondern die ganze Frage iſt
in den betreffenden Parlamentsverhandlungen erſchöpft worden (ſ. unten);
erſt J. J. Mill hat die Frage vom ſocialen Standpunkte aufgenom-
men, und eben deßhalb die in Deutſchland ſo viel beſprochenen Thei-
lungsprincipien nicht berückſichtigt. Man kann daher ſagen, daß die
ganze theoretiſche und nationalökonomiſche Gemeinheitstheilungs-
literatur Europas faſt ausſchließlich eine deutſche iſt. Der Anſtoß zu
der wirklichen Theilung der Gemeindegüter aber mußte dieſer ihrer Natur
nach von den ſpeciellen Elementen ausgehen, die in ihnen ſelbſt liegen.


Dieſe Elemente nun ſind doppelt. Das erſte und greifbarſte war
das rein volkswirthſchaftliche, das zweite dagegen das adminiſtrative.
Dieſe beiden Elemente haben ihrerſeits die Geſchichte der Gemeinheits-
theilung in ganz Europa ſo ſehr beſtimmt, daß wir die erſte große
Epoche derſelben als die volkswirthſchaftliche, die zweite als die com-
munale bezeichnen können. Allerdings iſt nun dieſe Geſchichte je nach
den einzelnen Ländern wieder im Einzelnen ſehr verſchieden, allein die
Grundlagen derſelben ſind allenthalben gleich, und laſſen ſich trotz des
vielfachen Ineinandergreifens recht wohl unterſcheiden.


[257]

Die volkswirthſchaftliche Epoche der Gemeinheitstheilung beruht
zunächſt auf dem Zuſtand der Landwirthſchaft, wie ſie weſentlich durch
die Natur der Gemeindeweiden bedingt ward, wobei man die Wald-
verhältniſſe faſt gänzlich zur Seite liegen ließ. Dieſe landwirthſchaft-
liche Bedeutung der Gemeindeweiden iſt namentlich in Deutſchland ſo
oft und ſo gründlich behandelt, daß die Verwaltungslehre bei der
Charakteriſirung ihrer beiden Hauptmomente ſtehen bleiben darf. Zu-
erſt nämlich erzeugen ſie ein weites, zum Theil unſchätzbares Gebiet
an Ackerland, das aber vermöge ſeiner Gemeinſchaft niemals ordentlich
bearbeitet ward, und daher faſt ganz ſeine Produktivität verlor. „Ge-
ſammtgut, verdammt Gut.“ Eine Entwicklung des Volksreichthums
iſt daher unter dem einfachen Fortbeſtehen der Geſammtweide ſo gut
als unmöglich. Zweitens aber haben dieſe Geſammtweiden einen eben
ſo entſcheidenden Einfluß auf die Einzelwirthſchaft der Bauerngüter.
Denn ſie ſind es weſentlich, auf denen die Dreifelderwirthſchaft beruht,
ohne daß doch jemals bei ihnen eine tüchtige und nahrhafte Viehweide
möglich wäre.


So wie daher, und zwar namentlich durch den direkten und in-
direkten Einfluß der Phyſiokraten, die Erkenntniß allgemein wird, daß
die Landwirthſchaft die Grundlage des Volkswohlſtandes iſt, ſo ſchließt
ſich an dieſe Ueberzeugung dasjenige, was wir die Lehre von der ratio-
nellen Landwirthſchaft nennen. Die rationelle Landwirthſchaft beruht
nun in allen ihren Punkten auf zwei leitenden Principien. Zuerſt
darauf, daß jede vorhandene Naturkraft vollſtändig ausgebeutet werden
ſoll; dann darauf, daß dies nur durch Verwendung eines beſtimmten
Kapitals auf den Grund und Boden geſchehen kann. Die erſte dieſer
Forderungen kann nun unter dem Beſtande der alten Gemeinweiden
nicht einmal für die einzelnen Mitbeſitzer, geſchweige denn für die Ge-
meinweide ſelbſt erfüllt werden; die zweite iſt bei dieſem Beſtande ju-
riſtiſch unmöglich. Mit dem Entſtehen der rationellen Landwirthſchaft,
dieſer großen europäiſchen, praktiſchen Conſequenz des phyſiokratiſchen
Syſtems muß daher ein Kampf gegen die Gemeinweide beginnen. Wir
verfolgen hier dieſen Kampf nicht auf ſein landwirthſchaftliches Gebiet;
wohl aber iſt ſeine öffentlich-rechtliche Seite von entſcheidender Be-
deutung.


In der That haben nämlich alle jene Folgen der beſtehenden Ge-
meinweide Einen gemeinſamen tiefen Grund, den ſich die Landwirthe,
Thaer an der Spitze, ſo wenig klar formulirten, wie die ſpäteren
Nationalökonomen. Die erſte und unbedingte Vorausſetzung alles wirth-
ſchaftlichen Wohlergehens, alſo auch desjenigen der Landwirthe und
Bauern, iſt die Individualität des wirthſchaftlichen Lebens. Der
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 17
[258] wahre Fortſchritt fängt an bei der auf ſich ſelbſt angewieſenen Perſön-
lichkeit, wie er in ihr endet. Das gilt von der Landwirthſchaft ſo gut
als von jedem andern Theile der Volkswirthſchaft. Allerdings ſchließt
dieſe Selbſtändigkeit des Einzelnen keinesweges die Gemeinſchaft aus;
im Gegentheil wird ſie die letztere vielmehr auf vielen Punkten erzeugen.
Allein das Weſentliche iſt eben, daß ſie nicht als eine rein objektive,
unveränderliche Thatſache daſtehe, ſondern daß ſie fähig ſei, ſich nach
Bedürfniß und Willen des Einzelnen zu geſtalten; das iſt, daß ſie nicht
als ein gegebenes hiſtoriſches Recht, ſondern als ein freier Vertrag der
Betheiligten erſcheine. Die Gemeinſchaft muß frei ſein, wie die Ein-
zelnen, welche ſie bilden. Dieſer Selbſtändigkeit der Einzelnen, dieſer
Freiheit der individuellen Bauernwirthſchaft ſtand nun die Gemeinde-
weide als eine gegebene, unabänderliche Geſtalt des Eigenthums gegen-
über. Es war keinesweges nothwendig, dieſe in ihr vorhandene Ge-
meinſchaft unbedingt aufzuheben, und in der That hat die neueſte
Zeit dieſelbe vielmehr aufrecht erhalten. Wohl aber war es nothwendig,
ihr gegenüber und in ihr vor allen Dingen jene wirthſchaftliche Selbſt-
ſtändigkeit der Einzelnen herzuſtellen, und damit die unabweisbare
Baſis eines beſſern Zuſtandes zu gewinnen. Dieſe Selbſtändigkeit aber
iſt das große Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Daſſelbe hatte
ſeine Conſequenzen im gewerblichen Leben der Städte, aber es hatte
nicht minder ſeine Conſequenzen für den Landwirth. Die erſte war
allerdings die Herſtellung der ſtaatsbürgerlichen Freiheit des Grund-
beſitzes überhaupt; die zweite nicht minder wichtige war die Herſtellung
des individuellen Grundbeſitzes an der Stelle der geſchichtlichen Gemein-
ſchaft deſſelben in der Gemeindemark, wie ſie aus der Geſchlechterord-
nung hervorgegangen war. Und die Herſtellung dieſes individuellen
Grundbeſitzes, der Sieg des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
nicht mehr in dem Verhältniß zwiſchen Bauern und Grundherrn, ſon-
dern zwiſchen Bauern und Bauern iſt die Gemeinheitsthei-
lung
. Die Gemeinheitstheilung läßt das principielle Einzeleigenthum
an die Stelle des hiſtoriſchen Geſammteigenthums treten, und erſt wenn
dieß geſchehen iſt, können die Forderungen der rationellen Landwirth-
ſchaft und mit ihr die Begründung einer weiteren Entwicklung des Volks-
reichthums zur Geltung kommen. Das iſt daher das Verhältniß der
hier zuſammenwirkenden Elemente, daß die Gemeinheitstheilung alle
ihre Gründe aus der Volkswirthſchaft hernimmt, aber ihr wahres Ziel
die Schöpfung des Staatsbürgerthums auch in der bäuerlichen Gemeinde
iſt. Und ſo gehört dieſelbe, wenn auch nicht in Objekt und Motivi-
rung, ſo doch in Zweck und Erfolg demſelben Proceſſe an, den wir
in Entlaſtung und Ablöſung, in Gewerbefreiheit und Aufhebung der
[259] Privilegien mit dem 18. Jahrhundert entſtehen und mit dem 19. ſich voll-
ziehen ſehen, dem Proceß der Herſtellung der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaftsordnung
an der Stelle der Geſchlechter- und
Ständeordnung.


Dieſem höheren Weſen derſelben entſpricht nun auch der hiſtoriſche
Gang, den ſie in dieſer ihrer erſten Epoche vorzugsweiſe in dem Lande
der adminiſtrativen Reflexion, in Deutſchland, genommen hat, während
ſie in weſentlich anderen Formen in England und Frankreich auftritt.
Es iſt für die letzteren charakteriſtiſch, daß zunächſt die Theorie die Ge-
meinheitstheilung unbedingt fordert. Es kommt ihr noch gar nicht in
den Sinn, daß jene Gemeinſchaft denn doch auch hochbedeutende Elemente
beſitzt, welche über die einzelnen Gründe für die Auftheilung weit hin-
ausgehen. Ihr erſcheint, wie jeder neuen Idee, alles was gegen ſie
in Erwägung kommt, nicht als Ausdruck eines gleichberechtigten, höhern
Geſichtspunktes, ſondern als ein Verſuch den alten Standpunkt gegen
die neue Ordnung vertheidigen, die Geſchlechterordnung in der ſtaats-
bürgerlichen aufrecht halten zu wollen. Sie iſt daher vollſtändig negativ
gegen die Dauer des Gemeindeguts. Die Verwaltungen ſtimmen damit
vollkommen überein, und greifen um ſo leichter durch, als ſie hier keinem
Gegenintereſſe der herrſchenden Klaſſe begegnen. Die Schwierigkeit, die
ſie zu bewältigen hat, liegt bei der Gemeinheitstheilung auf einem ganz
andern Punkt, als bei der Entlaſtung und Ablöſung. Hier liegt ſie
in dem Bauernſtande ſelbſt. Das Ziel und der Werth derſelben beruht
eben in der ſelbſtändigen Einzelperſönlichkeit — und dieſe war es, welche
dem Bauernſtande fehlte. Theils war derſelbe geiſtig noch mitten in
der alten Geſchlechterordnung, und vermochte ſich nicht von ihrer Tra-
dition loszumachen; theils fehlte ihm die Bildung, die wirthſchaftlichen
Erfolge der Auftheilung zu erkennen; theils die geiſtige Zuverſicht, mit
der er die neue Geſtalt des Beſitzes und die daraus folgende neue Ord-
nung der Wirthſchaft allein mit Vortheil hätte beherrſchen können; theils
aber auch fehlte ihm das Kapital, um namentlich die letztere herzuſtellen.
Die Verwaltung ſtand daher weit höher als das Volk, und der Zwiſchen-
raum zwiſchen ihr und dem letzteren war noch weder durch die Volks-
bildung noch durch Kreditanſtalten oder andere Maßregeln ausgefüllt.
So entſtand hier die Oppoſition gegen die Auftheilung. Zum großen
Theile blieb die letztere auf dem Papier. Die hiſtoriſche Schwerkraft
des Beſtehenden war mit dem beſten Willen und der glänzendſten Land-
wirthſchaftslehre nicht zu bewältigen. Langſam und ſtückweiſe geht die
Auftheilung vor ſich; umſonſt iſt vielfach das Mühen und Streben der
Aemter, die Energie der Geſetze, die landwirthſchaftliche Literatur und
ihr Beweis des Nutzens der Theilungen. Leider fehlt uns die Statiſtik
[260] der wirklich geſchehenen Auftheilung, nicht bloß aus dem vorigen, ſon-
dern auch aus dem gegenwärtigen Jahrhundert; aber die letzten Maß-
regeln zeigen, daß die wirklich aufgetheilten Gemeinden faſt allenthalben
in der Minderzahl geweſen ſein müſſen. Das 19. Jahrhundert tritt
daher noch mit einer ſehr bedeutenden Maſſe ungetheilter Güter auf;
vielfach war daran auch die Schwierigkeit Schuld, ſich mit den Herren
in ihren Antheilen zurecht zu finden; endlich traten überhaupt die Ent-
laſtungen in den Vordergrund; und ſo blieb für die neue Zeit und ihren
Standpunkt noch genug übrig, um der zweiten Epoche eine beträchtliche
Subſtanz für die Anwendung ihres neuen Princips darzubieten.


In der That nämlich hatte ſchon das 18. Jahrhundert in der
wirklich geſchehenen Auftheilung einen juriſtiſchen Punkt in den Vorder-
grund gedrängt, der eigentlich ſchon damals auf weiter gehende Er-
wägungen hätte hinleiten müſſen. Nach welchem Maßſtab ſoll denn
eigentlich getheilt werden? Sollen nur die Beſitzenden an dem Beſitze
ein Recht haben? Mit welchem Grunde will man die Beſitzloſen aus-
ſchließen, da der Gemeindegrund denn doch der Dorfſchaft im Ganzen
— der alten Geſchlechtergenoſſenſchaft als ſolcher — und nicht gerade
den Ganz- und Halbhufnern gehört? Iſt es vernünftig, den Gemeinde-
grund nach dem vorhandenen Viehbeſtande zu theilen, der freilich das
Maß der Benutzung, aber doch nicht das Maß des Rechts abgibt? Iſt
es vernünftig, ihn nach dem möglichen Beſtande zu vertheilen, der doch
beſtändig wechſeln muß? Iſt es richtig, eine Theilung eintreten zu laſſen,
die dem Bauern Beſitzungen gibt, welche durch ihre Kleinheit oder ihre
Entfernung werthloſer für ſie werden, als das Recht der Gemeindeweide
es ſelbſt war? Und iſt es denn endlich richtig, die ganze Gemeinde
geradezu vermögenslos, und damit die Aufbringung der künftigen Ge-
meindelaſten von der Zahlungsfähigkeit der einzelnen Glieder abhängig
zu machen? Und wenn man die Theilung durchführt, was entſteht?
Man erzeugt aus der Gemeinſchaft des Dorfes und allen Momenten,
die ſich an dieſelbe knüpfen, eine Reihe von Einzelwirthſchaften, denen
man das Intereſſe an dem Dorfe ſelbſt genommen hat, ohne ihnen
etwas anderes dafür zu geben
. Die Gemeindetheilung wird aller-
dings die Baſis der individuellen Selbſtändigkeit, aber auch die der
Atomiſirung, der Scheidung des Zuſammengehörigen, der Auflöſung
einer vielleicht falſch verwalteten, gewiß aber in vieler Beziehung heil-
ſamen Gemeinſchaft. Iſt das unbedingt richtig, und unbedingt ein
Erſatz für das frühere Geſammtgut?


An dieſe Fragen knüpft ſich nun das erſte Moment, das die Geſetz-
gebung unſeres Jahrhunderts gegenüber dem Recht des vergangenen
charakteriſirt. Das Princip der unbedingten Verpflichtung zur Auf-
[261] theilung tritt zurück vor dem der bedingten; und dieſe Bedingung
wird der Wille der Betheiligten, der Beſchluß der Gemeindemajorität.
Das preußiſche Gemeinheitstheilungsgeſetz von 1820 iſt das erſte auf
dem Continente, das dieſen Grundſatz ausſpricht; England hat denſelben
ſchon im vorigen Jahrhundert anerkannt (ſ. unten.) Allein auch dieſer
Standpunkt hat nicht minder große Bedenken. Soll und kann die rein
quantitative Majorität eines Augenblicks über die ganze Zukunft der
Gemeinde entſcheiden? Iſt es richtig, die auf einem ganz andern Stand-
punkt ſtehenden römiſchen Begriffe und Rechtsſätze der actio communi
dividundo
hier gelten zu laſſen? Iſt es wahr, daß die Intereſſen Aller
am beſten gewahrt werden, wenn die Intereſſen der Majorität zur
Geltung kommen? Ohne Zweifel iſt es ein großer Fortſchritt, daß die
Stimme der Gemeinde überhaupt gehört wird; aber iſt denn dieſe Ge-
meinde in der That nichts anderes, als die Summe der Beſitzenden
in der Gemeinde? Und enthält jenes preußiſche Princip nicht die Ent-
ſcheidung über die ernſteſte aller Vorfragen, ob denn wirklich nur die
Grundbeſitzenden eine Berechtigung an dem Eigenthum haben, das faſt
immer das einzige Eigenthum der Gemeinde ſelbſt iſt?


Es iſt, wenn man dieſe Geſichtspunkte vorurtheilsfrei erwägt, kaum
zweifelhaft, daß hier ein neuer Faktor in den Vordergrund tritt, der
mit der ganzen Entwicklung des inneren Lebens der Staaten Europas
und ihrer Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft im inneren, tiefen
Zuſammenhang ſteht. Das iſt eben das Weſen der Gemeinde ſelbſt.
Die Dorfgemeinde der Geſchlechterordnung iſt eigentlich mit wenig Aus-
nahmen eine andere Form der Herrſchaft; ſie hat als öffentlich recht-
liches Organ ſo gut als gar keine Stellung und Stimme; ſie hat ſo
gut als gar keine Funktionen, ſo gut als gar keine Rechte. Zwiſchen
ihr und dem Staate ſteht der Grundherr, er iſt der Träger, der Be-
ſitzer der örtlichen Regierung und all ihrer Thätigkeit. Die Land-
gemeinde iſt zwar ein Objekt, aber ſie iſt als ſolche kein Organ der
Verwaltung.


Das nun iſt es, was ſich mit dem 19. Jahrhundert ändert. Auch
die Landgemeinde löst ſich allmählig in Deutſchland von der Grund-
herrſchaft los; wir haben geſehen, wie die Entlaſtung, wenn auch ſtück-
weiſe und unvollkommen, zu wirken beginnt; ſie ſelbſt aber iſt nicht
bloß negativ die Befreiung von den Grundlaſten, ſie iſt eben ſo ſehr
poſitiv die Schöpfung eines ſelbſtändigen Verwaltungskörpers in den
neuen Gemeinden mit freien, aber eben dadurch auch für die Aufgaben
der inneren Verwaltung verantwortlichen Gemeindegliedern. Der Guts-
herr iſt beſeitigt, aber mit ihm iſt nun auch derjenige beſeitigt, auf
dem mit dem Rechte zugleich die Laſt der Verpflichtungen lag, welche
[262] die Landgemeinde zu leiſten hatte. Und dieſe Verpflichtungen bleiben
bei der höheren Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nicht
etwa einfach bei der früheren Funktion der Gemeinde ſtehen; im Gegen-
theil ſie ſteigern und vermehren ſich von Jahr zu Jahr. Immer größer
werden die Laſten; immer neue treten hinzu; die Landgemeinde einſt
von der Verwaltung faſt ganz vernachläſſigt, wird allmählig gleich-
bedeutend an Wichtigkeit mit der Stadtgemeinde. Wenn ſie nicht mehr
völlig ihre Schuldigkeit thut, ſo leidet die Verwaltung des ganzen
Staats. Und wird ſie dazu die Kraft haben? Wird ſie ſie namentlich
dann haben, wenn die materielle Baſis der Gemeinſchaft, das Ge-
meindegut, durch Auftheilung beſeitigt iſt? Wird ſie gute Schulen, gute
Wege, gute Brücken, gutes Armen- und Hülfsweſen haben, wenn ſie
nichts beſitzt, als die Beiträge ihrer Mitglieder? Und wie nun, wenn
ohnehin durch die Befreiung des Grundes und Bodens die Selbſtändigkeit
der Bauernwirthſchaft hinreichend gefördert erſcheint, und ohnehin
das ſpecifiſche Element der landwirthſchaftlichen Individualität, die
Stallfütterung, eintritt, und die wirthſchaftliche Geſtalt der Landwirth-
ſchaft in der Geſchlechterordnung, die Dreifelderwirthſchaft ohnehin mit
der Entlaſtung aufhört, und der Bauer ohnehin anfängt, den Frucht-
wechſel und die Stallfütterung zu treiben, weil er jetzt ein freier Mann
iſt, wozu dann die Gemeinheitstheilung? Denn was wird ſie dann
ſein und bedeuten? Sie wird, wo ohnehin die rationelle, individuelle
Landwirthſchaft der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft durch die Freiheit
des Grundbeſitzes eingetreten iſt, alsdann nur den einzelnen Beſitzer
reicher, aber die Gemeinde als Geſammtheit arm machen. Und iſt
denn das wünſchenswerth, wo doch die Anforderungen nicht bloß an
den Beſitzer, ſondern an die ganze Gemeinde gehen? Es iſt klar, ſo
wie durch die Entlaſtung die neue ſtaatsbürgerliche Stellung der Ge-
meinde als Verwaltungskörper eintritt, und die Selbſtändigkeit der
Einzelnen ohnehin gewahrt iſt, iſt der alte Grund zur Gemeinheits-
theilung verſchwunden, und das Princip kehrt ſich geradezu um, die
ſtaatsbürgerliche Verwaltung muß im Gegenſatze zu der polizeilichen
wünſchen, daß die Gemeinde als ſolche ein Vermögen beſitze,
um den neuen Anforderungen immer genügen zu können; ſie muß
fordern, daß die Verwaltung dieſes Vermögens nicht bloß in der Hand
der Majorität der Intereſſenten liege, weil dieß Vermögen jetzt ein
Faktor der Staatsverwaltung wird; ſie muß daher die Verpflichtung
zur Gemeinheitstheilung beſeitigen, und muß an ihre Stelle jetzt im
Geiſte der neuen Idee der organiſchen Verwaltung des Staats, den
Grundſatz ſetzen, daß die Veräußerung der Güter der Gemeinde über-
haupt
, alſo auch die Hingabe der Gemeindeweide an die Einzelnen
[263] ins Eigenthum derſelben, als öffentlich rechtliche Verwaltungsangelegen-
heit nur unter ausdrücklicher Zuſtimmung der Regierung geſchehen
dürfe. Für dieſe aber handelt es ſich jetzt nicht mehr bloß um die
Selbſtändigkeit und Individualität der Bauernwirthſchaften, wie im
vorigen Jahrhundert, ſondern um die allgemeinen Verwaltungsaufgaben
der Gemeinden; und ſo wie man dieſe ins Auge faßt, wird jede ver-
ſtändige Regierung den Grundſatz feſthalten, daß die ſocialen Elemente
und Aufgaben der Gemeindeverwaltung, die Sorge des Ganzen für
die niederen Klaſſen, eine ihrer weſentlichen Grundlagen gerade im
Gemeindegut habe. Sie wird daher in dem Grade ſich negativer gegen
die Auftheilung verhalten, in welchem das Gemeindeleben ſelbſt freier
und höher ſteht; und wie im vorigen Jahrhundert die Gemeinheits-
theilungen aus landwirthſchaftlichen Gründen entſtanden ſind, ſo werden
ſie jetzt durch das Zuſammenwirken intelligenter Gemeinden und vor-
ſichtiger Regierungen verſchwinden, und an ihre Stelle eine Ver-
waltung des Gemeindeguts treten, welche ſeine Erhaltung mit der
möglichſt großen Ertragsfähigkeit deſſelben zu verbinden ſucht. So
geſtaltet ſich die zweite Epoche des Princips der Gemeinheitstheilungen.
Der Grundſatz derſelben iſt ausgeſprochen in faſt allen Gemeindegeſetzen
des Continents: „keine Veräußerung des Gemeindevermögens ohne
Zuſtimmung der Regierung,“ alſo keine Gemeinheitstheilung; dagegen
möglichſt tüchtige und freie, öffentliche Verwaltung deſſelben, das
iſt Verwendung ſeines Ertrages für die Verwirklichung der Zwecke der
Verwaltung innerhalb der örtlichen Sphäre des Gemeindelebens.


Dieß ſind die leitenden Grundſätze für das Gemeintheilungs-
weſen in Beziehung auf die Gemeindeflur. In Beziehung auf den
Gemeindewald dagegen treten andere Erwägungen ein, die freilich bei
demſelben Reſultate anlangen. Der Wald hat in unſerem Jahrhundert
eine andere Stellung als im vorigen. Seine Exiſtenz iſt als Bedingung
der Geſammtproduktion erkannt. Das Recht Einzelner muß ſich dieſer
Forderung unterordnen, alſo auch das Recht der Gemeinde. Der Ge-
meindewald wird daher überhaupt kein Gegenſtand der Theilung, ſon-
dern der öffentlichen Verwaltung und tritt als Glied und Gebiet unter
die Forſtverwaltung überhaupt. Damit beginnt hier eine neue Epoche,
welche mit dem Auftheilungsweſen gar nichts zu thun hat, ſondern
der Verwaltungslehre der Forſten angehört; und dieß wiederholt ſich
faſt in ganz Europa.


So iſt nun wenigſtens für die Gemeindeweide der Gang der Dinge
zu demſelben Ergebniß gelangt, wie bei der Entlaſtung, wen auch mit
weſentlich verſchiedenem Objekt und Recht. Es iſt derſelbe Proceß, voll-
zogen durch daſſelbe große Element der europäiſchen Geſchichte. Die
[264] Geſchlechterordnung iſt auch für die Dorfſchaft bewältigt, und das
Princip des freien Einzeleigenthums an ihre Stelle getreten. Allein
auch dieſer letzte negative Standpunkt iſt bereits überwunden, und die
neue Gemeinſchaft der Landgemeinde an die Stelle der alten Geſchlechter-
gemeinſchaft des Bauerndorfes getreten. Das Gemeingut iſt künftig
ein Gemeindegut
und der Gemeindewald ein öffentlich rechtliches
Eigenthum, deſſen Benützung der Gemeinde gehört. Der Abſchluß
der alten Epoche wird zum Beginne einer neuen, und an die Stelle
der Auftheilung tritt für die Verwaltungslehre die Lehre vom Gemeinde-
leben und ſeiner Verwaltung.


Dieß nun ſind die allgemeinen Geſichtspunkte für den Urſprung und
die Bedeutung des Gemeindetheilungsweſens. Es iſt durch den innigen
Anſchluß deſſelben an die Geſchichte und die gegebene Ordnung der
Geſellſchaft leicht klar, daß die poſitive Geſtalt dieſer Bewegung in
den einzelnen Ländern Europas eine ſehr verſchiedene geweſen iſt und
noch iſt. Es iſt gänzlich einſeitig und zum Theil geradezu falſch, mit
den Nationalökonomen auch der neueſten Zeit, wie Rau (Volkswirth-
ſchaftspflege §. 85 ff.), Roſcher (Syſtem §. 79 ff.), oder mit der Polizei-
wiſſenſchaft (Mohl, II. §. 113 ff.) einerſeits bloß bei dem Geſichts-
punkte der Theilung, ihres Nutzens und ihrer Grundſätze ſtehen zu
bleiben, anderſeits nur Deutſchland im Auge zu behalten und höchſtens
mit Roſcher die tiefliegende Beſonderheit Englands und Frankreichs
durch einige Notizen zu erledigen. Es iſt keinem Zweifel unterworfen,
daß der alte rein nationalökonomiſche, ja ſogar beſchränkt landwirth-
ſchaftliche Standpunkt des vorigen Jahrhunderts ein in unſerer Zeit
durchaus überwundener iſt, und daß man die Gemeinheitstheilung in
der Gegenwart eben ſo wenig als ein actuelles Rechtsverhältniß oder
eine dauernde Frage der Volkswirthſchaft fortführen kann, wie die
Entlaſtungslehre. Beide gehören, wie wir gezeigt, der Geſchichte der
Geſellſchaft; und wieder zeigt es ſich hier, was wir bei jeder größeren
Thatſache zu conſtatiren nicht müde werden dürfen, daß das Ver-
waltungsrecht der großen Völker nur auf Grundlage ihrer geſellſchaft-
lichen Verhältniſſe einerſeits verglichen, andererſeits in ſeiner Indivi-
dualität recht erkannt werden könne.


Wir werden daher auch hier verſuchen, England, Frankreich und
Deutſchland als die drei großen Repräſentanten der geſellſchaftlichen
Bewegung Europas für das Gemeinheitstheilungsweſen zu charakteriſiren,
und die Geſchichte deſſelben mit der allgemeinen inneren Geſchichte dieſer
drei Völker in Verbindung zu bringen.


[265]
II. Englands Gemeinheitstheilung.

(Die Enclosures, die Enclosure Act und Commission.)


Das Gemeinheitstheilungsrecht Englands wird nur dann verſtänd-
lich, wenn dasjenige, was dort das feodal system heißt, klar vorliegt.
Wir berufen uns dabei auf unſere frühere Darſtellung. Bis zur Er-
oberung gilt in ganz England ausſchließlich das alte germaniſche Recht
der Geſchlechterdörfer mit Hufen und Almend. Es war Niemanden zweifel-
haft, daß die letztere das Geſammtgut der Bauern im eigentlichen Sinne
des Wortes ſei; von einem Miteigenthum der Unfreien an derſelben
war keine Rede, und konnte es nicht ſein, ſo wenig in England als
ſonſt irgendwo. Dieß einfache Verhältniß ward nun durch die Er-
oberung weſentlich umgeſtaltet, anders als in Frankreich und Deutſch-
land. In England wird der König Obereigenthümer aller Grund-
beſitzungen, alſo auch der Almenden. Jeder Grundbeſitzer hält ſeinen
Grundbeſitz, alſo auch die mit demſelben verbundenen Rechte, im
Namen des Königs. Der Lord aber iſt tenant in capite, als Vertreter
dieſes königlichen Obereigenthums. Es iſt daher die ſtreng juriſtiſche
Conſequenz dieſes Verhältniſſes, daß allenthalben, wo kein perſönlicher
Eigenthümer bis dahin eingetreten iſt, das durch den Lord vertretene per-
ſönliche Eigenthum des Königs eintritt; alſo auch bei den Almenden.
Daraus zunächſt geht dann der Grundſatz hervor, der ſo viel Grimm und
Empörung im engliſchen Bauernſtande hervorgerufen, daß der König per-
ſönlicher Eigenthümer aller Forſte ſei; die zweite Conſequenz iſt aber,
daß der Lord mit ſeiner tenancy in capite da eintritt, wo der König
ſich das Land nicht, wie bei den Forſten, perſönlich reſervirt; die Acker-
und Weidealmend wird tenancy des Lords und gehört dem Manor.
Nur bleiben auf derſelben Rechtsbaſis die Berechtigungen der Bauern
an der Almend, denn auch ſie ſind eigentlich königliche Rechte, die dem
Lord nicht anheimfallen, da er ſelbſt dem Könige gegenüber ja kein
perſönliches Grundeigenthum hat, wie der Freiherr des Continents.
Das, was wir auf dem Continent das Gemeindegut nennen, erſcheint
daher in England nicht als eine abgeſchloſſene Flur, ſondern als ein
Syſtem namentlich von Weidedienſtbarkeiten der alten Bauern, free-
holders
oder copyholders, an der früheren Almend gegen die Lords,
als tenantes in capite. Da aber die Könige die Almend dem Lord
verliehen hatten, ſo gut wie ſeinen eigentlichen Manor, ſo ſchien auch
die erſtere als dem Lord gehörig, und heißt daher noch bei Blackſtone
„the waste of the lord.“ Der Lord konnte daher auf dieſer urſprüng-
lichen Almend gewiß unbedenklich ſeinen tenants at will niederlaſſen,
[266] ſoweit nicht die free- oder copyholders ihre Dienſtbarkeit dadurch be-
einträchtigt glaubten, und das wird ausdrücklich von Blackſtone als
ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt; praktiſch war die Frage kaum, da bei
der dünnen Bevölkerung immer genug Weideland übrig blieb; die Ent-
ſcheidung der Gerichte bei etwaigem Streit darüber, ob die Aufſtellung
einer tenants at will, ſei es aus der Klaſſe der Freien, ſei es aus der
der villeins, das Recht der alten Bauernbeſitzungen beeinträchtige,
mußte naturgemäß dahin lauten, daß eine ſolche Beeinträchtigung nicht
ſtattgefunden habe, ſo lange der Reſt des waste of the lord für
die Weidebedürfniſſe der letztere ausreiche (Blackſtone, II. Ch. 3). Dieß
war das im Grunde ſehr einfache Verhältniß bis auf das bekannte
Stat. 12. Ch. II. 24.


Als nun dieß Statut Karls II. allen tenants in capite anſtatt
ihrer bisherigen tenancy das volle Eigenthum verlieh, mußte die Frage
entſtehen, ob die Verleihung dieſes Eigenthums auch die Almend, an
welcher die Bauern ihre Servituten hatten, mitumfaßte. Da nun aber
überhaupt der Begriff des Privateigenthums an Grund und Boden
durch das feodal system Englands aufgehoben war, und die Bauern
in jenes Statut gar nicht aufgenommen waren, alſo auch kein Eigen-
thum erwarben, ſo mußte man jetzt (nicht immer, wie Roſcher
§. 82. S. 15 ſagt) zu der Conſequenz kommen, daß auch die Almend,
die unter dem Manor einbegriffen war, dem Lord als Eigenthum
gehöre. Dieß ward ſeit 1676 allerdings allgemeiner Grundſatz; allein
in vielen Fällen hatten auch die freeholders, die engliſchen Freibauern,
an der Almend das alte Gemeinderecht ſich erhalten, und waren daher
jetzt mit dem Lord ſelbſt Miteigenthümer, während die copyholders
Servitutberechtigte waren, und die tenants at will oder die ſpäteren
leaseholders, oder Pächter, jene Servitute als integrirenden Theil ihrer
Pacht anſahen. So entſtand eine große Verwirrung der Begriffe und
des Rechts, und dieſe ward um ſo größer, als man, wie ſchon er-
wähnt, trotz des Stat. 24. Ch. II. 12 fortfuhr und fortfährt, den
Begriff und Namen der tenancy auch da zu gebrauchen, wo es ſich,
wie bei dem freeholder, gar nicht mehr um tenancy, ſondern um
wirkliches, volles Eigenthum handelte, und daher das Recht der copy-
holders
auf die Weidedienſtbarkeit an der früheren Almend dem Namen
nach mit dem Eigenthum des Lord und des freeholders an der letzteren
gleichſtellte. So kam es, daß man alle dieſe Verhältniſſe mit dem
Geſammtnamen der „joint tenancy“ bezeichnete; und jetzt wird es
leicht verſtändlich, weßhalb unter dieſen Umſtänden, bei ſo verſchiedenen
und doch ungeſchiedenen Rechten und Rechtstiteln, die einander auf allen
Punkten kreuzten, und bei der Schwerfälligkeit und Koſtſpieligkeit der
[267] engliſchen Proceſſe, alle Betheiligten lieber die ganze Almend ganz un-
bebaut liegen ließen, als daß ſie unter Cultur genommen wäre. Damit
erklärt ſich, daß bis zum 18. Jahrhundert für das ganze Gebiet der
alten Almende nichts geſchah, und England mit ungeheuren Länder-
ſtrecken, bis vor die Thore Londons, bedeckt war, die noch am Ende
des vorigen Jahrhunderts von dem Parlamentscommittee für die erſten
Verſuche zur Verkoppelung auf nicht weniger als 7,800,000 Acres an-
geſchlagen wurden (Thaer, Engliſche Landwirthſchaft 11. Bd. 2. Abth.
S. 355). Unterdeſſen ſtieg die Bevölkerung, namentlich in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und die Theuerung ward um ſo
größer, als die engliſche Korngeſetzgebung durch das in den Händen
der Lords befindliche Unterhaus an dem Kornſchutzzoll rückſichtslos feſt-
hielt (Kurze Geſchichte dieſer Geſetzgebung bei Thaer a. a. O. S. 114
bis 252). Dieſe Hartnäckigkeit hatte das Gute, daß man begann, den
Grund des Uebels da zu ſuchen, wo er wirklich lag, nämlich eben in
jener joint tenancy, in dem alten Gemeindegut. Schottland war
in dieſer Beziehung mit einem glänzenden Beiſpiele vorangegangen.
Hier war bereits 1665 das erſte Theilungsgeſetz Europas erlaſſen,
das die Theilung „auf den Willen eines jeden Intereſſenten“ zuließ,
für die Vornahme derſelben eine „Commiſſion“ anordnete, und jedem
einen Antheil „nach Verhältniß ſeines bisherigen Eigenthums“ zuwies
(das Geſetz bei Thaer S. 349). Das Geſetz hat die Wirkung gehabt,
daß am Ende des 18. Jahrhunderts alle Gemeinheiten in Schottland
(nach Thaer) wirklich aufgetheilt waren. Dieß Beiſpiel Schottlands
begann nun im Laufe des 18. Jahrhunderts auch in England Nach-
ahmung zu finden. In einzelnen Gegenden verſtändigten ſich die Be-
rechtigten über die, bald gänzliche, bald theilweiſe Auftheilung der
Gemeinden freiwillig und nach Mac Culloch (Statist. Accounts.
I.
556), wurden unter Anna 1439, unter Georg I. 17,660, unter
Georg II. 318,778 Acres, unter Georg III. bis 1797 endlich 2,804,000
Acres wirklich getheilt. Die durch dieſe Theilungen entſtehenden Einzel-
beſitze hießen dann im Gegenſatz zu der offenen, ungetheilten Gemein-
weide (open fields) die „inclosures,“ was Thaer mit „Verkoppelung“
überſetzt. Allerdings nun war das Ergebniß dieſer inclosures ein außer-
ordentlich günſtiges, obgleich die Koſten der Einhegung nach Thaer (S. 352)
ſehr groß waren; allein die wahre Schwierigkeit der Sache beſtand denn
doch in zwei andern Elementen, das eine war das Recht jedes einzelnen
Betheiligten, ſich der Auftheilung zu widerſetzen, ein Recht, das noch
immer durch kein Auftheilungsgeſetz beſeitigt war; das zweite aber war
dagegen die Nothwendigkeit, den ganzen Wirthſchaftsplan der engliſchen
Landwirthſchaft gründlich zu ändern, und ſtatt der Dreifelderwirthſchaft,
[268] die nach Auftheilung der open fields in inclosures nicht mehr möglich
war, die Stallfütterung einzuführen, wie ſchon Thaer a. a. O. hervor-
hebt. Die letztere Schwierigkeit verurſachte es denn auch wohl, daß
man doch nur langſam vorwärts ging, ſo lange es ſich um freiwillige
Auftheilungen handelte, bis man endlich begann, ganz im Charakter
der engliſchen Verwaltung überhaupt, das Princip der Gemeinheits-
theilungsgeſetze durch Parlamentsbeſchlüſſe für jede einzelne Vertheilung
zu erſetzen, die inclosure bills, die nach der Natur des engliſchen Par-
laments nichts anderes ſind, als in der Form der Geſetze erlaſſene
Verordnungen der im Parlamente gegebenen Regierungsgewalt, denen
ſich die Einzelnen zu unterwerfen hatten. Wann dieſe inclosure bills
entſtanden ſind und welchen Inhalt ſie haben, habe ich nicht finden
können. Leider hat Thaer nichts darüber. Allein auch dieſe Parlaments-
verordnungen hatten große Uebelſtände. Während Thaer, dem wir
die erſte — bisher einzige — gründliche Darſtellung aller dieſer Verhältniſſe
verdanken, die Schwierigkeiten der freien Theilungen vollkommen klar
macht, mit tiefem Blick in die ganze engliſche Agrarverfaſſung, die
niemand beſſer verſtand, als er (S. 333—338), ſagt er über die in-
closure bills
mit gutem Recht, daß denſelben „die Koſtſpieligkeit die-
ſelben zu erwirken, dann die zweifelhafte Art, wie die verſchiedenen An-
ſprüche von den Parlamentscommiſſarien werden geſchätzt und befriedigt
werden, häufig im Wege ſtehen“ (S. 338), weßhalb ſie nur bei großen
Theilungen praktiſch waren. (Die Koſten bei einer Theilung von 800
Acres in Somerſetſhire betrugen nach dem Report S. 57. 1040 Pf.
mit Einſchluß der Einfriedigungen, der Wege u. ſ. w. 2485 Pf., wobei
freilich das Endergebniß war, daß die Werthvermehrung per Acre auf
30 Pf., alſo die des Ganzen auf 24,000 Pf. geſchätzt ward.) Dabei
gab es keine feſten Grundſätze darüber, wie die verſchiedenen Anſprüche
der Gemeinde abgefunden werden ſollen, und faſt alles kam auf die
Darlegung der betreffenden Intereſſen und der verwickelten Rechts-
verhältniſſe an. Da nämlich ſeit 24. Ch. II. 12 die Lords ſich als Eigen-
thümer der open fields und das Recht der Commune nur als Dienſt-
barkeit anſahen, ſo ward es Grundſatz, bei Ausfertigung jeder in-
closure bill
die Einwilligung des Lord ſtets als erſte Bedingung zu
fordern, deſſen Anſprüche ſehr willkürlich geſchätzt wurden (Thaer,
S. 343). Ebenſo ſchwierig war die Abfindung oder eine Regulirung
der tithes. Und ſo kann man mit gutem Recht ſagen, daß nur der emi-
nent praktiſche Sinn der Engländer überhaupt die Sache weiter brachte,
ohne zur rechten Entſcheidung zu gelangen. Die trüben agrariſchen
Verhältniſſe am Ende des vorigen Jahrhunderts, zum Theil wohl auch
der Reflex der franzöſiſchen Bewegung und das Vorbild Schottlands
[269] ließen dann in den neunziger Jahren das Parlament unter John
Sinclair einen umfaſſenden Anlauf zum Erlaß eines eigentlichen Ge-
meinheitstheilungsgeſetzes machen. Es ward eine eigene Committee vom
Parlamente für die ganze Frage niedergeſetzt, und eine große Bewegung
gab ſich kund. Theils wurden eine Menge von Vorſchlägen dieſem
Committee vorgelegt, theils ward eine das ganze Land umfaſſende
Enquête veranſtaltet, die durch eine, dem Board of agriculture unter-
ſtellte Committee einen großen Report über die open fields, die bereits
ſtattgefundenen inclosures und die durch die letztere geſteigerte Werth-
vermehrung nach den einzelnen shires ausarbeitete. Der Auszug aus
dieſem Report bei Thaer (S. 357—370). Allein die Sache blieb
dennoch ohne durchgreifenden Erfolg, obgleich die Zahl der Theilungen
zunahm und die Ertragsfähigkeit der gewonnenen insclosures eben
durch die hohen Kornzölle ein glänzender war. (Wie war es für Roſcher
möglich, dieſe Folge der Korngeſetzgebung ganz zu überſehen?) Die
hohen Kornzölle wurden in der That für England erſt dann ein wirk-
licher Nachtheil, als durch die, mit unſerem Jahrhundert raſch fort-
ſchreitenden inclosures der ganze Boden allmählig dem Pfluge unter-
worfen, und die offene Hüthung in Stallfütterung umgewandelt ward;
denn ohne jene Kornzölle hätten die in England nicht weniger großen
Hinderniſſe dieſelben gewiß nicht zu Stande kommen laſſen. So aber
waren von den 7,800,000 Acres von 1797 bis zum Jahre 1832 nach
Mac Culloch wieder neue 2,800,000 open fields verkoppelt, ſo daß jetzt
kaum noch ein Drittel des alten waste of the lord unurbar blieb. Und
jetzt konnte man, bei der beſtändig ſteigenden Bevölkerung und dem
ſteigenden Pachtpreiſe der einzelnen Grundſtücke, noch einmal ernſtlich
daran denken, die ganze Verkoppelungsgeſetzgebung in die Hand zu
nehmen. So entſtand die Enclosure Act von 1845 (8. 9. Vict. 118).
Dieſe Acte umfaßt nicht bloß die eigentliche Gemeinweide (pastures),
ſondern auch den Reſt der Walddienſtbarkeiten (estouers) und alle anderen
Berechtigungen der commons. Der leitende Grundſatz dabei war, daß man
die Theilung (nach dem preußiſchen Muſter von 1820)? durch Auftheilung
des Landes an die Berechtigten erzielte, bei kleinen Antheilen jedoch Geld-
ablöſungen zuließ. Das ſind die allotments, die Loſe. Daneben ward
das Syſtem der allotments auch auf die armen householders ausge-
dehnt, von denen jedem ¼ Acre als Hausgarten angewieſen, und für die
Vertheilung dieſer allotmėnts eigene allotment-wardens eingeſetzt wurden;
auf dieſe allotments aber wird kein Eigenthum, ſondern nur ein Be-
nützungsrecht der kleinen Häusler erworben, und die wardens verfügen
darüber. Der ganze Proceß ſteht unter der, zu dieſem Zwecke eigens
gebildeten Enclosure Commission, die mit 12 Special Commissioners zu
[270] arbeiten hat. Die Theilung ſelbſt wird auf ſchriftlichen Antrag von
einem Drittheil der Intereſſenten begonnen; die Enclosure Commission
entſcheidet über die Zuläſſigkeit, ſowie über den, durch die zu
dem Ende berufene Generalverſammlung der Betheiligten beſchloſſenen
Theilungsplan und ſendet daher eigene Commissioners ab, welche dem
ganzen Geſchäfte vorſtehen. Gegen den Ausſpruch dieſer Commissioners
geht die Appellation an die Enclosure Commission ſelbſt. Das Re-
ſultate, mit dem ganzen Theilungsplan, wird dann noch einmal der
Generalverſammlung vorgelegt. Wenn dieſe ihre Zuſtimmung mit zwei
Drittheilen
der Stimmen gibt, ſo geht der ganze Vorſchlag an das
Parlament, das ihn als Public Act dann beſtätigt; der Lord muß
jedoch ausdrücklich ſeine Zuſtimmung geben. Dabei hat dieſe Enclosure
Act
den Grundſatz durchgeführt, daß von der Auftheilung ausgenommen
ſind alle Plätze, die der Gemeinde zur öffentlichen Erholung dienen
(Towns und Village Greens u. ſ. w.). Die Koſten dieſer Verkoppelung
betragen nach Gneiſt bis zur Erledigung des Public Act des Parla-
ments nur 20 Pf. Weßhalb durch 16. 17. Vict. 79 beſchloſſen iſt,
daß die Enclosure Commission keine neuen Verkoppelungen ohne Zu-
ſtimmung des Parlaments beginnen ſoll, iſt im Grunde nicht abzuſehen;
ſind es die Mindereinnahmen der Parlamentsglieder, die daran Schuld
ſind? In der That iſt der praktiſche Erfolg kein beſonders großer
geweſen; bis 1853 waren wirklich aufgetheilt 80,238 Acres, in Ver-
handlung begriffen 298,228 Acres (Gneiſt, Engliſches Verfaſſungs-
und Verwaltungsrecht I. §. 117. Andere Angaben bei Rau, Ver-
waltungspflege 85 nach Porter und Couling).


III. Das Gemeindegut, die Weide- und die Walddienſtbarkeiten in
Frankreich.

(Die Allotissements, die vaine pâture, der parcours, die droits d’usage und
das Cantonnement.)


Ein ganz anderes, in vieler Beziehung höchſt eigenthümliches Bild
bietet nun das Gemeindegut Frankreichs dar. Hier hat ſich auf der
gleichen Baſis wie in England und Deutſchland, auf der Grundlage
des Geſammteigenthums der Dorfſchaft an der ganzen Dorfmark und
ſeines Gegenſatzes, dem Einzeleigenthum, ein noch gegenwärtig gelten-
des Syſtem gebildet, das durch den ſog. Code rural und forestier im
Einzelnen geordnet und wenig bekannt iſt, obgleich es in der That dem
großen Entwickelungsgange des geſellſchaftlichen Grundeigenthums und
ſeines Rechts durch und durch angehört, und uns zeigt, wie reich die
[271] Geſtaltungen ſind, die durch die Hand der Geſchichte aus denſelben
Elementen bei den verſchiedenen Völkern ſich zu bilden vermögen.


Das Recht des Gemeindeguts in Frankreich iſt nämlich zwar im
Grunde ſehr einfach; aber es kann nur ganz verſtanden werden, wenn
man in allen ſeinen Punkten eben auf jene Elemente zurückgeht.


Wir glauben die Zuſtände der Gemeinden vor der Revolution hier
nicht weiter erörtern zu ſollen; ſie ſind im Weſentlichen den deutſchen
gleich. Die Revolution aber mit ihrem Princip des ſelbſtändigen Staats-
bürgerthums führt das letztere nicht langſam und ſchrittweiſe mit ein-
zelnen Beſtimmungen auch für die Gemeindegüter durch, ſondern ſie
will mit Einem Schlage auf allen Punkten dies gleiche und freie Recht
herſtellen. Sofort begegnet ſie nun der Frage, ob und wie weit es
für die landwirthſchaftliche Gemeinde überhaupt möglich, oder auch
nur zweckmäßig ſei, die alte Gemeinſchaft von Beſitz und Recht, wie
ſie aus der urſprünglichen Genoſſenſchaft des Geſchlechterdorfes hervor-
gegangen, vollſtändig in lauter ſelbſtändige Grundbeſitzungen der ein-
zelnen Bauern aufzulöſen. Und hier nun ergibt es ſich, daß eine ſolche
vollſtändige Auflöſung und Aufhebung der Gemeinſchaft nicht thunlich
iſt. Der eine Faktor des Rechts des franzöſiſchen Gemeindeguts iſt
daher die Erhaltung der alten Gemeinſchaft in jenem Grundbeſitz
der urſprünglichen Dorfgenoſſenſchaft. Dagegen hielt die Revolution
feſt an dem Princip des vollkommen freien Einzeleigenthums, in dem,
wenn auch abſtrakten, ſo doch klaren Bewußtſein, daß die Durchfüh-
rung deſſelben eine erſte Bedingung für ihre eigene Sicherheit ſei. Es
genügt ihr dabei natürlich nicht, die Freiheit des Bauerngutes von jeder
Grundlaſt unbedingt und rückhaltslos herzuſtellen; ſie will auch für das
Gemeindegut denſelben Gedanken durchführen, wenigſtens ſo weit dies
thunlich iſt. Und ſo entſteht nun der zweite Faktor jenes Rechts, der
das ganze Syſtem der Gemeindeverwaltung durchziehende Gedanke,
mitten in jener Gemeinſchaft dennoch das Einzeleigenthum wieder
herzuſtellen. Das Zuſammenwirken dieſer beiden Faktoren iſt es nun,
welches das eigenthümliche Syſtem des franzöſiſchen Rechts der Ge-
meindegüter bildet, das als eine Frankreich allein angehörige Ver-
mittlung zwiſchen den beiden Principien
der vollen Selbſt-
ſtändigkeit des Einzelnen und der Erhaltung der Gemeinſchaft, aber
der nothwendigen Reſte der Markgenoſſenſchaft angeſehen werden muß.


Dieß Syſtem findet nun zwei Formen des gemeinſamen Beſitzes
vor, und hat daher auch zwei Geſtaltungen. Die erſte Form iſt die
des eigentlichen Gemeindeguts, aus dem die allotissements entſtehen, die
zweite Form iſt der große und höchſt beachtenswerthe Reſt der urſprüng-
lichen Markgenoſſenſchaft mit dem parcours und der vaine pâture.


[272]
1) Die Allotissements.

Die allotissements beruhen darauf, daß die franzöſiſche Revolution
und ſpeciell der berühmte Code rural (Loi de 28 Sept. 6 Oct. 1791
sur la police rurale)
zwar jedes Eigenthum frei machte, „libre comme
les personnes qui l’habitent“;
allein es fiel ihm natürlich nicht ein,
den Gemeinden ihr Gemeindegut zu nehmen. Das Recht dieſer Gemeinde-
güter hatte nun bisher unter dem alten Feudalrecht geſtanden. Jetzt
war es eine ſtaatsbürgerliche Gütergemeinſchaft; und damit mußte es
ſich fragen, ob das Recht derſelben ein bloßes Privat- oder zugleich ein
öffentliches Recht ſein ſolle.


Hier nun zuerſt treten uns jene beiden oben erwähnten Faktoren
entgegen, und ergänzen das franzöſiſche Syſtem des Gemeindegutes,
nach welchem das Eigenthum deſſelben der Gemeinde, die Benutzung
aber den Einzelnen übergeben wird. Und es iſt die Stellung und
das Weſen der neuen ſtaatsbürgerlichen Gemeinde, welche für Frankreich
und damit für Deutſchland maßgebend wird.


Die Commune der Revolution iſt nämlich keine Genoſſenſchaft mit
den ſpecifiſchen Unterſchieden des Beſitzenden in Voll- und Halbbauern,
Käthnern, Tagelöhnern, Handwerkern und ſo weiter, alſo kein kleiner
geſellſchaftlich in ſich organiſirter Körper, ſondern ſie iſt eine adminiſtrative
Einheit von lauter ganz gleichberechtigten Staatsbürgern, bei denen
Art und Maß des Beſitzes durchaus für alle Rechtsverhältniſſe gleich-
gültig ſind. Die Gemeinde iſt daher jetzt nur das unterſte, ſelbſtändige,
aber als Einheit aufgefaßte Organ der Verwaltung. Daraus folgt
denn erſtlich, daß ſie ſelbſt als dieſe Einheit, und nicht mehr ihre ein-
zelnen Mitglieder, perſönliche Eigenthümerin des Gemeindegutes iſt,
zweitens, daß ſie mit der Verwaltung dieſes Gemeindegutes unter den-
ſelben Grundſätzen ſteht, wie mit allen übrigen Zweigen ihrer Ver-
waltung. Das leitende Princip für dieſe Verwaltung iſt nur die Selbſt-
beſtimmung unter der Oberaufſicht der höheren Behörde. Die Haupt-
äußerung dieſer Oberaufſicht erſcheint aber darin, daß jede auf die Dauer
berechnete Maßregel der Gemeindeverwaltung der ausdrücklichen Zu-
ſtimmung dieſer Behörde bedarf. Natürlich gehört dann zu dieſen, auf
die Dauer berechneten Gemeindebeſchlüſſen weſentlich auch jede Verfü-
gung über das Gemeindegut. Das Gemeindegut ſelbſt aber iſt perſön-
liches Eigenthum der juriſtiſchen Perſönlichkeit der Gemeinde ſelbſt;
damit iſt die alte Idee einer Gemeinſchaft der Bauern als Eigenthümer
an dieſem Gute im Princip gebrochen; das Gemeindevermögen aber
wird jetzt als die wirthſchaftliche Baſis der Leiſtungen dieſer Gemeinde
als Ganzes betrachtet, und ſo ergeben ſich die beiden erſten Grundſätze
[273] für das Gemeindevermögen, welche Frankreichs Organisation commu-
nale
aufnimmt und welche von Frankreich aus zum Theil wörtlich in
die Gemeindeordnungen Deutſchlands übergegangen ſind: daß das Ge-
meindegut als perſönliches, einheitliches, und natürlich damit untheil-
bares
Vermögen der Gemeinde verwaltet und für die Bedürfniſſe der
Gemeinde als Ganzes verwendet werden ſoll; und daß die Gemeinde
über die Subſtanz dieſes Vermögens nur unter der Zuſtimmung der
höheren Behörden verfügen darf. Dieſe Untheilbarkeit des Gemeinde-
gutes iſt nicht bloß an ſich entſchieden anerkannt, ſondern ſogar jede
Verfügung verboten, welche eine Theilung des Eigenthums als Conſe-
quenz nach ſich ziehen könnte und den Präfekten ausdrücklich zur Pflicht
gemacht, ſie zu verhindern (Avis du Conseil d’Etat vom 21. Februar
und 21. November 1838). Gemeindewaldungen dürfen ohnehin unter
keiner Bedingung aufgetheilt werden (Code forestier, art. 92). In dieſen
beiden elementaren Beſtimmungen iſt der Unterſchied zwiſchen Stadt- und
Landgemeinde aufgehoben, und ſtatt der Principien der Gemeinheits-
theilungen vielmehr der Grundſatz der Selbſtverwaltung der Gemeinde-
gründe zum Zwecke der Gemeinde grundſätzlich anerkannt. Die Ge-
meindeweide oder -Flur ſteht jetzt unter denſelben Grundſätzen, wie eben
die Schulhäuſer, Magiſtratsgebäude, Hallen, Kapitalien u. ſ. w. Das
ſchien nun wohl ſehr einfach.


In der Praxis jedoch geſtaltete ſich das ganze Verhältniß vermöge
der Natur der Gemeindefluren weſentlich anders. Nachdem der Grund-
ſatz des untheilbaren Vermögens anerkannt war, kam es darauf an,
die Gemeindeflur nun auch praktiſch zum Ertrag zu bringen. Und hier
nun traten die Verhältniſſe der vaine pâture und des parcours, von
dem wir ſogleich reden werden, in entſcheidender Weiſe ein. Da dieſe
nämlich das Recht auf eine Gemeinde weide wenigſtens zum Theil über-
flüſſig machten, ſo konnte eine Benutzung der Gemeindeflur weſentlich
nur durch Verleihung von beſtimmten Antheilen an die Mit-
glieder der Dorfgemeinde
ausgeübt werden. Dieſe Verleihung
war daher wohl ſo alt, als jene vaine pâture und der parcours ſelbſt.
Für dieſe eben beſtanden deßhalb ſchon aus der früheren Zeit alte
Ordnungen, und es war gar nicht die Abſicht des Code rural, an
denſelben principiell etwas Weſentliches zu ändern. Dieß zum Theil
alte, zum Theil neugeordnete Syſtem der Vertheilung der Benutzung
hieß und heißt das Syſtem der „allotissements.“ Nach demſelben wird
die ganze Gemeindeflur in Looſe — allotissements — getheilt; zum
großen Theil ſind dieſelben bereits ſeit unvordenklichen Zeiten beſtimmt.
Dieſe allotissements theilten ſich ſchon vor der Revolution in drei
Kategorien. Sie waren theils erblich, theils auf Lebenszeit, theils für
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 18
[274] beſtimmte Jahre gegeben; allein es ward grundſätzlich feſtgehalten, daß
das Eigenthum der Gemeinde bleibe, ſelbſt bei den erblichen lots, ſo
daß bei Ausſterben der berechtigten Familie dieß lot wieder an die Ge-
meinde zurückfiel; natürlich in gleicher Weiſe bei den lots à vie. Das
Recht der Einzelnen an den lots war daher eine Dienſtbarkeit des Ge-
meindeguts, und ward wohl ſchon früher gegen eine beſtimmte, wenn
auch nur kleine redevance annuelle überlaſſen. Die Bedingung für
den Anſpruch auf ein lot war die Anſäſſigkeit (être établir ou tenir
ménage dans la commune);
der Einzelne verlor das lot, ſowie er die
Gemeinde ſelbſt verließ. Die einzelnen Beſtimmungen über die Größe
und Vertheilung dieſer lots waren dann nach den Provinzen, und in
den Provinzen wieder nach den Ortſchaften verſchieden; ſie ſind aber
in den Coutumes ſelten verzeichnet, weil dieſe weſentlich das Rechts-
verhältniß zwiſchen Grundherren und Bauernſchaft, und nicht ſo ſehr
die eigentlich bäuerlichen Rechte, zum Inhalte hatten. Die franzöſiſche
Revolution traf nun auf dieſe Weiſe ziemlich geordnete Rechtsverhält-
niſſe des Gemeindegutes an, und es war natürlich, daß die neue
Organisation communale dieſelben nicht angriff. Allein in denſelben
war Ein Punkt, der mit dem obigen Princip, Untheilbarkeit des Gemeinde-
guts, in tiefem Gegenſatz ſtand. Das war die Erblichkeit und die
Verleihung der lots auf Lebenszeit, welche die freie Benutzung und
Verwaltung der biens communaux durch die Gemeinde ſelbſt hinderten.
Daher ſind eine Reihe von Beſtimmungen erlaſſen, welche jene Rechte
aufzuheben trachten, und das freie Verfügungsrecht der Gemeinde her-
ſtellen ſollen. Erbliche Verleihungen ſind namentlich ausdrücklich ver-
boten (Arr. vom 10. April 1852); neue Verleihungen auf Lebenszeit
dürfen nicht ſtattfinden; die allotissements ſollen in Terminen von drei,
ſechs, neun, und nur dann auf 30 Jahre ſtattfinden, wenn der Gemeinde-
rath keine andere Verwerthung zu treffen weiß. Für die lots wird ein
jährlicher Pacht gezahlt. Das Conseil municipal beſchließt über die Ver-
theilung und die Pacht der lots; er hat auch das Recht, Beſtimmungen
über den Gebrauch derſelben vorzuſchreiben, „pour faire participer plus
également
les habitants à ces avantages;“
kein neues Gemeindeglied
hat die Pflicht, für das Recht auf Betheiligung an dieſen Gemeinde-
allotissements etwas zu zahlen; die Jurisprudence hat auch feſtgeſtellt,
daß dazu ein einjähriger Aufenthalt nicht nothwendig ſei. Die Frage,
ob jemand zur Theilnahme an den biens communaux berechtigt ſei
oder nicht, wird nicht durch adminiſtrative Behörden, ſondern durch die
Gerichte entſchieden (Arr. vom 30. November 1850 und 8. December 1853);
nur das Eine wird vorausgeſetzt, daß die Zutheilung der lots nur an
Hausbeſitzer ſtattfinden dürfe (distribution par feux); im Uebrigen hat
[275] das Conseil municipal vollkommen freie Hand. In eigenthümlicher
Weiſe ſchließt ſich daran das Recht der biens des sections. Dies tritt
da ein, wo ein gewiſſer Theil der Gemeindeglieder gemeinſam gewiſſe
Rechte an den biens communaux ausübt. Dieſer Theil wird als
juriſtiſche Perſon behandelt; im Uebrigen ſind dieſe sections Ausnahmen,
und werden nicht mit günſtigen Augen betrachtet (vgl. Cass. vom 25. April
1855 und den vortrefflichen Artikel Organisation communale bei Block,
Dict.
). Ganz conſequent ſchließt ſich daran der weitere Grundſatz, daß,
wenn verſchiedene Gemeinden eine gemeinſame Gemeindeflur haben,
dafür der Grundſatz des Code civ. art. 815 gilt, nach welchem niemand
gezwungen werden kann, im ungetheilten Gut zu bleiben. Die Par-
tages entre communes
gehen daher nach den allgemeinen Grundſätzen
der actio communi dividundo vor ſich; ſpeciell auch die Theilung der
Wälder zwiſchen den Gemeinden nach dem Code forestier art. 92.


2) Der parcours und die vaine pâture.

Auf dieſe Weiſe iſt die ſyſtematiſche Benutzung der alten Gemeinde-
weide durch die allotissements an die Stelle der Auftheilung getreten.
Allein daneben erhält ſich nun ein zweites Verhältniß, deſſen Urſprung
nur in der alten Dorfgenoſſenſchaft geſucht werden kann. Es war
Grundſatz faſt in allen Coutumes, daß nach geſchehener Ernte die
Bauern ihre Heerden gegenſeitig auf die Gründe der Nachbardörfer
ſchicken durften, der Regel nach de clocher à clocher, aber nur für
bestiaux de leur crû, et non de leur usage (Orléans 145), wodurch
namentlich die Viehhändler von der Benutzung dieſes Rechts ausge-
ſchloſſen wurden. Zu dem Zweck mußte jeder Grundbeſitzer den Vieh-
trieb des Nachbarn und ſelbſt des benachbarten Dorfes durch ſeine Aecker
geſtatten. Das erſte Recht nannte man das droit de vaine pâture,
das zweite das droit de parcours. Von der vaine pâture war die
grasse pâture (Blumenſuchrecht) unterſchieden, die ſich auf das Weide-
recht vor den Heuernten bezog (Glossaire du droit français bei Loisel
a. a. O. 2. Bd. v. pâture) und ſtets nur den communiers de la paroisse
zuſtand, wobei der Regel nach der seigneur gleiches Recht mit dem
communiers ſelbſt hatte (Loiſel, Institutes coutumières von Dupin
und Laboulaye 1846. Bd. I. §. 247—249). Da dieß Recht offenbar
kein grundherrliches Vorrecht, ſondern ein bäuerliches Genoſſenſchafts-
recht der urſprünglichen Geſchlechterordnung war, und außerdem mit der
ganzen Ordnung der Landwirthſchaft aufs Engſte zuſammen hing, ſo
konnte man es aus dem erſten Grunde recht füglich beſtehen laſſen,
und mußte es aus dem zweiten nothwendig erhalten.


[276]

So blieben jene beiden Verhältniſſe auch nach der Revolution,
als der letzte und doch hochbedeutſame Reſt der alten Geſchlechter-Mark-
ordnung, und beſtehen noch gegenwärtig fort. Sie ſpielen aber in der
ganzen franzöſiſchen Markverfaſſung eine ſo bedeutſame Rolle, daß der
erwähnte Code rural von 1791 ſie faſt zur Hauptſache ſeiner Beſtim-
mungen gemacht hat (Tit. I. Sect. IV.) und ohne ſie irgendwie auf-
zuheben, ſich weſentlich damit beſchäftigt, die aus beiden entſpringenden
Rechtsverhältniſſe zu ordnen. Hier nun aber trat das allgemeine Princip
des freien Privateigenthums in eigenthümlicher Weiſe jenen Rechten
gegenüber in Geltung. Der Art. I. der Sect. IV. des Geſetzes vom
28. September bis 6. Oktober nämlich erklärt, daß die „servitude de
parcours de commune à commune, qui entraîne avec elle le droit
de vaine pâture, continuera provisoirement, fondés sur un titre
ou sur une possession autorisée par les lois et les coutumes.
Die
vaine pâtureallein (die nur innerhalb der Gemeinde beſteht), ſoll
nach den règles et usages locaux ausgeübt werden, unter den ſehr
genauen Beſtimmungen, welche das Geſetz ſelbſt gibt. Namentlich ſind
alle künſtlichen Wieſen ſchon damals von beiden Dienſtbarkeiten aus-
geſchloſſen (art. 9). Die Zahl des Viehes, zu dem jeder Chef de famille
als Minimum berechtigt iſt, iſt genau beſtimmt (six bêtes à laine et
une vache avec son veau) — „sans entendre préjudicier aux lois,
coutumes et usages locaux et de temps immémorial, qui leur accor-
derait un plus grand avantage“ (art. 14).
Dagegen tritt nun das
Recht des freien Eigenthums auf in dem Grundſatz der clôture und
ſeinen Folgen. Jeder Grundbeſitzer hat das Recht, ſein Grundſtück
einzuhegen„le droit de clore et de déclore ses héritages ré-
sulte essentiellement de celui de propriété“ (art. 4).
So wie der
Einzelne ſein Grundſtück eingehegt hat, hört die vaine pâture und der
parcours auf (Art. 5—7). Eingehegt (clos) iſt das Grundſtück (héri-
tage
), wenn die Einhegung vier Fuß hoch iſt; auch genügt ein Graben
von vier Fuß Breite (Art. 6). Neben dieſer erſten Anerkennung des
Einzeleigenthums ſteht die zweite, daß jedes Recht der vaine pâture
zwiſchen Einzelnen ablösbar iſt, rachetable (Geſetz vom 6. Oktober
1791), wobei jedoch die vaine pâture für die Gemeinden ſelbſt als
unablösbar erklärt wurde (Cass. vom 27. Januar 1829. Block a. a. O.
Art. 141), ja das Conseil municipal hat nicht einmal das Recht,
die vaine pâture durch ſeinen Beſchluß zu beſchränken (Cass. vom
4. Mai 1848). Doch hat daſſelbe das Recht, die Anzahl des Viehes
zu beſtimmen, wenn keine coutume locale entgegen ſteht (Cod. rur.
art.
30). Nur hat man zugegeben, daß wenn die Intereſſenten die
Entſcheidung dem Präfekten übertragen, derſelbe dadurch zur Entſcheidung
[277] competent wird (Arr. vom 19. Oktober 1853). Zugleich aber ergab
ſich, daß derjenige, der durch die clôture ſeinen Grund der vaine pâture
und dem parcours entzogen hat, auch im Verhältniß das Recht verliert,
ſelbſt Vieh auf die vaine pâture zu ſchicken.


Der Proceß der Gemeinheitstheilung iſt daher in Frankreich ſo gut
vorhanden als in England und Deutſchland, nur hat er eine ganz
andere Geſtalt. Und es iſt jetzt nicht ſchwer, dieſen Proceß zu charak-
teriſiren, ſo weit er die Gemeindefluren und Weiden betrifft. Das
Eigenthum bleibt, aber die Benutzung kann individuell werden durch
das allotissement; die Geſammtſervituten bleiben, aber ſie können
durch die individuelle clôture des héritages aufgehoben werden. So
verhält es ſich mit Acker und Weide; etwas anders iſt die Geſtalt
dieſer Rechte für die Gemeindewaldung.


3) Die Droits d’usage und das Cantonnement.

Auch bei der franzöſiſchen Gemeindewaldung treten die beiden
Grundformen auf, welche wir in Deutſchland finden, und die mit dem
alten Grundbeſitzweſen der Dorfſchaft einerſeits und des Königthums
anderſeits innig zuſammenhängen, oder hier vielmehr auf dieſem Gebiet
zum Ausdruck bringen. Die erſte dieſer Grundformen iſt das Verhält-
niß zu den Staatswaldungen, das zweite dasjenige zu den Gemeinde-
waldungen.


Was das erſtere betrifft, ſo iſt zwar der König als Haupt des
ganzen Volkes Obereigenthümer an allem nicht aufgetheilten Grund-
beſitz, aber das Recht der Benutzung für die eigenen Zwecke ſteht den-
noch der Gemeinde und ihren Bauern ſo weit zu, als der eigene Wald
nicht ausreicht. Die daraus entſpringenden Walddienſtbarkeiten der
Staatsforſten hießen nun ſchon vor der Revolution die „droits d’usage.“
Dieſe droits d’usage waren nun in den verſchiedenen Provinzen und
ſelbſt Orten ſehr verſchieden; indeß hatte die Natur der Sache ſie in
zwei Hauptkategorien getheilt, die wieder in Unterformen zerfielen.
Die erſte dieſer Kategorien war das Holzungsrecht, die zweite war
das Recht der Waldweide. Das Holzungsrecht enthielt wieder theils
das Recht auf Bauholz (die marronnage oder pesselage), theils das
Recht auf Brennholz (affouage, affuagium von affuare, Feuer
machen), welches letztere theils als Recht auf Fällung von Bäumen
(chauffage), theils als Recht auf das bois mort, sec et gisant erſchien.
Die Waldweide ihrerſeits iſt wieder entweder das Recht, Hornvieh in
den Wald zu ſchicken (panage oder pacage, pascasium) oder Schweine
(glanage, oder paisson, pesson et panage, paix et glandée) zur
[278] Eichelmaſt. Die beſtimmte Ordnung dieſer Rechte war nun ſchon ſeit
Jahrhunderten ein ſo wichtiger Theil der bäuerlichen Landwirthſchaft
geworden, daß die Geſetzgebung der Revolution nicht daran dachte, hier
einzugreifen. Erſt als die franzöſiſche Verwaltung begann, die hohe
allgemeine Bedeutung der Waldungen zu erkennen, und deßhalb das
große Forſtgeſetz vom 21. Mai 1827, der ſog. Code forestier, er-
laſſen wurde, mußten auch dieſe Verhältniſſe definitiv beſtimmt werden.
Die Waldſervitutenordnung Frankreichs oder das droit d’usage (dans
les forêts de l’État)
iſt daher eigentlich eben ſo wenig ein Ablöſungs-
als ein Gemeintheilungsrecht, ſondern nichts anderes als eine Forſt-
ordnung
. Dennoch ſind die leitenden Grundſätze derſelben innig mit
der bisher dargeſtellten Auffaſſung der Gemeinde ſo wie des Einzel-
eigenthums verknüpft. Der erſte Grundſatz dafür war der, daß es
jedem Einzelnen frei ſtehen ſoll, ſeine Walddienſtberechtigung gegen
Uebernahme eines beſtimmten individuellen Antheils an dem Walde
abzulöſen, der dann ſein Privateigenthum wird. Dieſe Abtheilung heißt
das cantonnement und die Regeln dafür ſind durch eigene Erlaſſe be-
ſtimmt (Code for. art. 63, wornach jedoch nur die Forſtverwaltung das
Recht hat, auf Ablöſung der Servitute durch cantonnement zu provo-
ciren; die Auftheilung erfolgt „de gré à gré, et en cas de contestation,
par les tribunaux.“
Neuere Entſcheidungen bei Block, v. Cantonne-
ment
). Der zweite Grundſatz war ſtrenge forſtpolizeiliche Beſchränkung
in der Ausübung jener Dienſtbarkeiten, namentlich der Weiderechte;
Aufſtellung des Unterſchiedes der bois defensables, Verbot der Ziegen,
genauere Bezeichnung der Thiere (Code for. art. 61—85). Der dritte
Grundſatz geht wieder von der neuen Idee der Gemeinde aus und
bezieht ſich auf die Brennholzgerechtigkeit. Hier erſcheint nicht der Ein-
zelne etwa vermöge ſeines Grundbeſitzes berechtigt, ſondern es wird der
ganzen Gemeinde ihr Antheil auf gefälltes oder geſammeltes Brenn-
holz angewieſen, und dieß nach Vorſchlag des Maire vertheilt (Code
for. art.
82). Da, wo die Privatwaldungen, namentlich die der alten
Grundherren, unter ſolchen Dienſtbarkeiten ſtehen, iſt die Anwendbarkeit
aller Grundſätze des droit d’usage auf die Berechtigten ausdrücklich
ausgeſprochen (Code for. T. VIII.). Auf dieſe Weiſe iſt das eigentliche
droit d’usage, die gegenwärtig beſtehende Form der germaniſchen Wald-
dienſtbarkeit in Frankreich geregelt.


Was nun zum Schluß die eigentliche Gemeindewaldung, die
bois des communes, oder bois en jouissance commune betrifft, ſo
iſt hier die Untheilbarkeit grundſätzlich ausgeſprochen wie bei der Ge-
meindeflur; nur findet eine Auftheilung auf Verlangen ſtatt, wo meh-
rere Gemeinden gemeinſame Waldungen haben (Code for. art. 92).
[279] Die Gemeindewaldungen ſind unbedingt dem allgemeinen Forſtgeſetz
unterworfen; die öffentlichen Forſtbeamteten haben die Verwaltung der
coupes, die Gemeinde die Forſtpolizei durch die gardes forestiers. Doch
hat die Gemeinde daſſelbe Recht wie der Staat, ſich durch cantonnements
von den Holzdienſtbarkeiten zu befreien (Code for. art. T. 112). Die
Ertragsverwaltung des Holzes geſchieht durch den Maire für die Gemeinde;
die Waldweide wird von demſelben unter genauer Angabe der Zahl
der Thiere und der Weidezeit, der Wege und der Benutzung für die
Gemeindeglieder beſtimmt; Ziegen ſind auch hier unbedingt verboten.
(Code for. T. VI.Block a. a. O. 122, ein kurzer und klarer Artikel
bei demſelben, v. droits d’usage, von Taſſy).


IV. Deutſchlands Gemeinheitstheilungsweſen.

1) Die hiſtoriſchen Grundlagen.

Wir haben bereits oben dargelegt, wie in ganz Europa wohl
Deutſchland dasjenige Land iſt, in welchem die Gemeinheitstheilung
weſentlich auf Grundlage der rationellen Verwaltungsprincipien, ohne
klares Bewußtſein ihrer ſocialen Bedeutung vor ſich gegangen iſt, und
welches ihre Grundlagen waren. Es wird jetzt namentlich im Vergleich
zu England und Frankreich nicht ſchwierig ſein, den Charakter dieſes
Theiles der deutſchen Geſchichte ohne Zurückgehen auf die allgemeinen
hiſtoriſchen Grundlagen zu bezeichnen.


Dabei iſt es wohl von nicht geringem Intereſſe, dieſen Proceß
auch hier in ſeine großen geſchichtlichen Epochen einzutheilen. Erſt da-
durch iſt die vollſtändige Beurtheilung des Standpunktes möglich, auf
dem Theorie und Geſetzgebung unſerer Gegenwart ſtehen; und es zeigt
ſich hier wieder nur um ſo deutlicher, daß Deutſchland mit ſeinen Ge-
meinheitstheilungsprincipien wie mit ſeinem Entlaſtungsweſen hinter
England ſo wie hinter Frankreich weſentlich zurückſteht; hinter England,
indem das Princip des freien individuellen Rechts in Deutſchland eben
wegen des Mangels eines vollkommen freien Bauernſtandes bis 1848
nicht zur Geltung kam, hinter Frankreich, indem es aus demſelben
Grunde keine wahre Landgemeindeordnung beſaß. Die Literatur ſteht
daher auch jetzt noch mit wenigen Ausnahmen auf dem beſchränkten
landwirthſchaftlichen Standpunkt der Nothwendigkeit der Auftheilung,
ohne die Bedeutung der Gemeindefrage zu ahnen; von einem hiſtori-
ſchen Bewußtſein iſt dabei keine Rede, und leider haben ſelbſt die Land-
wirthſchaftslehrer ſich um die Sache wenig gekümmert, denen allerdings
der Geſichtspunkt der Gemeinde ferner lag. Betrachtet man aber dem
[280] gegenüber die allgemeine Bewegung der Gegenwart, ſo iſt es kein
Zweifel, daß wir einer neuen Geſtalt dieſer Frage entgegen gehen.


Was nun die Perioden betrifft, in denen der bisherige Proceß
verläuft, ſo wird man die Mitte des vorigen Jahrhunderts bis gegen
das Ende deſſelben als die der rein polizeilichen, gezwungenen, die
des gegenwärtigen als die der vereinbarten Auftheilung bezeichnen.
Gemeinſam iſt beiden die Vorſtellung, daß die Auftheilung eine von
der Landwirthſchaftspflege geforderte Maßregel ſei, daß die Ver-
waltung ſie ſo viel als möglich zu unterſtützen und zu fördern habe,
ſo wie der faſt gänzliche Mangel an jedem Verſtändniß des Gemeinde-
lebens. In beiden Epochen geht auch hier die Literatur mit der Ge-
ſetzgebung Hand in Hand, und bei aller Beſonderheit iſt doch der
Charakter der Entwicklung in allen Theilen Deutſchlands im Weſent-
lichen gleich. Der ſtoffliche Inhalt beider Perioden iſt im Weſentlichen
folgender.


2) Die Zeit der polizeilichen Auftheilungen. Juſti. FriedrichII.
Wöllner. Runde. Frank.

Es iſt höchſt wahrſcheinlich der Anſtoß zu der ganzen Frage von
der phyſiokratiſchen Schule ausgegangen, die überhaupt viel mehr Be-
deutendes angeregt hat, als man gewöhnlich annimmt. Doch läßt ſich
äußerlich ein Einfluß nicht nachweiſen. Feſt ſteht nur, daß der erſte (?),
der ſich auf das Entſchiedenſte für die Gemeinheitstheilung ausſprach,
wieder der eigentliche Vater der eudämoniſtiſchen Polizeiwiſſenſchaft,
Juſti, iſt, der zugleich der ganzen Frage diejenige Stellung gab, welche
ſie bis auf die Gegenwart behalten hat. Er verband ſie einerſeits mit
der Landwirthſchaftspflege überhaupt, andererſeits mit dem Hauptprincip
der geſammten Agrarverfaſſung. Bei ihm tritt bereits die Frage nach
den großen und kleinen Gütern, die Zuſammenſetzung und Verkoppe-
lung, zugleich mit der Frage der Entlaſtung (ſ. oben) und der Ge-
meinheitstheilung auf (Grundfeſten der Polizeiwiſſenſchaft Bd. I. Buch V.
Hauptſt. 2. Abſchn. von der Eintheilung der Aecker in gewiſſe Felder.
1760, §. 191). Er ſpricht ſich entſchieden für die Auftheilung aus,
und zwar mit ganz beſtimmter Begründung durch die Nachweiſung der
Nachtheile der Dreifelderwirthſchaft, an deren Stelle er bereits
die Einzelfütterung fordert; namentlich weist er zuerſt die großen Nach-
theile der „Hut- und Triftgerechtigkeit“ nach (§. 202), und iſt der erſte,
der England als Beiſpiel des Nutzens der Verkoppelung aufführt
(§. 204), was ihm bis auf Thaer und auch noch jetzt vielfach ohne
gründliches Eingehen auf die Sache nachgeſprochen wird; ebenſo eifert
[281] er bereits gegen die Zwergwirthſchaft (§. 205), und man hat ihn wohl viel-
fach nur deßhalb vergeſſen, weil man eben wenig Beſſeres zu ſagen wußte.
Aber unmittelbar an ihn ſchließt ſich die ſpecielle Gemeinheitstheilungs-
Literatur des vorigen Jahrhunderts, die durch Wöllners Schrift:
„Aufhebung der Gemeinheiten in der Mark Brandenburg, nach ihren
großen Vortheilen ökonomiſch betrachtet“ (Berlin 1766) und durch die
(anonymen) „Gemeinnützigen Anmerkungen über vorſtehenden Traktat,“
(Berlin 1766) eingeleitet wird. Dieſe Literatur, die, ohne viel Neues
zu bringen, bis zu den vierziger Jahren dieſes Jahrhunderts fortgeht,
nimmt mit den zwanziger Jahren ſeit dem preußiſchen Gemeinheits-
theilungsgeſetz allerdings die beſtehenden Geſetze in ſich auf, hat ſich
aber von jenem Standpunkt nie weſentlich entfernt. Die einzelnen
kleinen Abhandlungen bei Koch, Agrarverfaſſung des preußiſchen Staates,
Vorrede S. X V. — Es iſt zu bedauern, daß derſelbe, der vielleicht
allein das ganze Material in Händen hatte, das uns unerreichbar blieb,
ſich auf die einfache Nomenclatur der Schriftſteller beſchränkt hat. Von
wie großem Werthe für die neuere Geſchichte dieſer Frage wäre es ge-
weſen, wenn der Verfaſſer dabei eine kurze Charakteriſtik der einzelnen
Schriften von irgend einem allgemeinen Standpunkt hinzugefügt hätte!
Von den allgemeinen Werken hat Koch leider überhaupt keine Notiz
genommen, wie von Juſti, Frank, Thaer u. a. m. Und wie lange
werden wir noch die Gelehrſamkeit in Anführungen ſuchen, in der unſere
Bücher zuletzt doch hinter jedem Bibliothekskatalog zurückſtehen? —
Unterdeſſen war mit Juſti das Princip im Allgemeinen ausgeſprochen,
mit Wöllner in ſpecieller Anwendung auf den Staat der ſtrengen
bureaukratiſchen Verwaltung angewendet, und galt nun von da an als
ein unzweifelhafter Grundſatz, bei dem es ſich nur noch um die richtige
Modalität der Ausführung handelte. In dieſer Weiſe nahmen die
größern Werke denſelben auf; doch iſt dabei der landwirthſchaftlich-
polizeiliche Standpunkt von dem juriſtiſchen wohl zu unterſcheiden.


In erſterer Beziehung können wir als Repräſentanten der allgemein
wiſſenſchaftlichen Auffaſſung wohl am beſten J. Ph. Frank (Syſtem
der landwirthſchaftlichen Polizey mit beſonderer Hinſicht auf Teutſch-
land 1791), z. B. im Bd. II. Buch 2, Cap. 3 anführen, bei dem die
kleine Literatur von Wöllner bis BenkendorfsOeconomia forensis
angegeben iſt, S. 191—192, und S. 202 — warum hat Koch denn
nicht wenigſtens Franks Angaben einfach abgeſchrieben? (Sie fehlen
bei ihm faſt alle.) Der Standpunkt Franks iſt einfach und trocken der
Juſti’ſche. „Ueberhaupt gereichen jegliche Gemeindegüter, nur Wal-
dungen, Steinbrüche, Erdgruben und öffentliche Gebäude ausgenommen,
ſowohl dem Staate als den Gemeinden zum Schaden“ (§. 2), was
[282] dann im Einzelnen durchgeführt wird. Von ganz anderer Bedeutung
war es freilich, daß Friedrich II. ſich nicht bloß ebenſo entſchieden für
dieſelben ausſprach, ſondern namentlich, wie Juſti, mit geiſtvollem Nach-
druck auf die — allerdings vielfach vermeintliche — Blüthe der eng-
liſchen Landwirthſchaft „nach Aufhebung der Gemeinheiten“ hinwies.
(Oeuvr. posth. V. S. 129 u. 151 ff.) Aber die für die ganze Frage
entſcheidende That waren dennoch die großen Werke Thaers (1800),
des erſten Mannes in Deutſchland, der wirklich praktiſche Anſchauungen
deutſcher und engliſcher Landwirthſchaftszuſtände mit ſicherer, vollkom-
men richtiger und geiſtvoller Auffaſſung der ſocialen Verhältniſſe beider
Völker verband, und deſſen Werke auch in Beziehung auf die Gemein-
heitstheilungen durchſchlagen. Von da an iſt in der deutſchen Literatur
mehr als vierzig Jahre hindurch kein Zweifel mehr; wer konnte einem
ſolchen Fachmann widerſprechen? Erſt in den vierziger Jahren ge-
winnt das Element wieder Raum, das Thaer gar nicht geſehen hat,
die Idee der Gemeinde neben und über dem einzelnen Bauern, und
Liſt und Knaus, ſo vereinzelt wie ſie ſtehen, haben dennoch für die
Sache ſelbſt nicht geringere Bedeutung als Juſti und Thaer. Doch
gehören ſie der folgenden Periode.


Was nun neben der Landwirthſchaftspolizei die juriſtiſche Literatur
betrifft, ſo muß man auch hier wieder die ſtaatswiſſenſchaftliche von
der rein juriſtiſchen Richtung trennen. Die ſtaatswiſſenſchaftliche Rich-
tung nahm allerdings die Nothwendigkeit und den Werth der Aufthei-
lung als ziemlich ausgemacht an; allein, und das ließ ſie zu keinem
ſpeciellen Reſultat über die letztere gelangen, gleich von Anfang an mit
beſtimmter Beziehung auf die Frage der Zerſtückelung der Grundſtücke,
die Zuſammenlegung und Verkoppelung, kurz als einen Theil der Agrar-
verfaſſung überhaupt, wie Juſti es a. a. O. gethan. Dasjenige,
was von dieſer Seite zu geſchehen hatte, fiel daher im Allgemeinen
unter die Landesökonomie-Collegien des vorigen Jahrhunderts, und
findet ſeine Darſtellung in der eigentlichen Landwirthſchaftspflege. Die
ſtreng juriſtiſche Frage aber entſtand durch das Auftreten der preußi-
ſchen und öſterreichiſchen Verwaltung, welche die Gemeinheitstheilungen
im Namen des großen von ihnen zu erwartenden Vortheiles den be-
treffenden Gemeinden zur Pflicht machen wollten. Dadurch entſtand
dann die Frage, ob der polizeiliche Zwang zur Auftheilung der Ge-
meinſchaften auch juriſtiſch zu rechtfertigen ſei; und die Art und Weiſe,
wie dieſe Frage behandelt und entſchieden ward, iſt von entſcheidender
Bedeutung für die Gemeinheitstheilungsgeſetze des 19. Jahrhunderts
geworden. Die Theorie nämlich begann zu unterſcheiden: „Unbebaute
und ganz unbenutzte Gemeinheitsgüter können Gemeindegliedern
[283] zur Cultur, jedoch nicht zum Eigenthum, unbedenklich eingeräumt
werden;“ ſo hatte ſchon das bayriſche Culturmandat von 1723 jeder-
mann eingeladen, die als „Staatseigenthum“ erklärten öden Strecken
in Beſitz zu nehmen und urbar zu machen (Roſcher a. a. O. §. 81,
Note 1); ganz ähnlich die badiſche Geſetzgebung (Willich, Auszug VI.
604, 605. Berg, Polizeirecht 3. Bd. S. 267). Allein dabei galt denn
doch erſtlich als Grundſatz, daß „wohlerworbene und hergebrachte Ge-
rechtſame, die die Unterthanen ohne weſentlichen Nachtheil ihres Wohl-
ſtandes und Behuf ihres Haushaltes nicht wohl entrathen können,“
nicht einſeitig aufgehoben werden ſollen (kurbraunſchweigiſche
Verordnung
, wie in Landesökonomie-Angelegenheiten zu verfahren,
vom 22. Nov. 1768, §. 2; hannover’ſcher Landtagsabſchied Art. 18;
bei Berg a. a. O. S. 266—267). Wenn aber dennoch das Landes-
intereſſe eine ſolche Entziehung für öffentliche Zwecke nothwendig mache,
ſo ſoll „die Landesherrſchaft der Sache ſelbſt ſich unterziehen und die
Eigenthümer verhältnißmäßig entſchädigen“ (Moſer, die Landeshoheit
in Anſehung Erde und Waſſers S. 165, 166). Offenbar war es nun
ſchwer, in dieſem Gegenſatz zwiſchen Einzelrecht und öffentlichem Intereſſe
die rechte Grenze zu finden, denn zu den Schwierigkeiten der Sache an
ſich kam „nicht ſelten die zur andern Natur gewordene Gewohnheit des
Landmannes, ſolche Gemeindegüter auf eine unwirthſchaftliche Art zu
gebrauchen“ (Berg, Polizeirecht a. a. O. S. 266). Die Frage ent-
ſtand nun, ob die Landespolizei das Recht habe, durch ihre Maßregeln
den Widerſtand der Bauernſchaften zu brechen. Und hier kam man zu
dem juriſtiſch eigenthümlichen Reſultate, „daß kein Machtſpruch des
Landesherrn bloß wegen der Gemeinnützigkeit der Aufhebung der Ge-
meinheit, und eben ſo wenig der Beifall, den er der Stimmenmehrheit,
die hier nicht gilt, etwa geben möchte, für die Aufhebung der Ge-
meinheit entſcheiden,“ ſondern nur „der wahre Nothſtand als Erhaltung
des Staats“ (Berg a. a. O. S. 272). Zugleich aber „kann, wenn
ein oder das andere Gemeindemitglied ohne erhebliche Urſache (?) ſeine
Einwilligung verweigert, dieſe nach vorgängiger Unterſuchung aus
landesherrlicher Macht ergänzt werden.“ Dieſer letzte Satz war das
Reſultat eines längern juriſtiſchen Kampfes, den Runde in ſeinem
„Rechtsgutachten, im Namen des Göttingiſchen Spruch-Collegii, ab-
gefaßt im Jahr 1797,“ zum Abſchluß brachte (ſ. Deſſen Beiträge zur
Erläuterung rechtlicher Gegenſtände Bd. I. N. 1), und daß daher „das
Amt der landwirthſchaftlichen Polizei ſich darauf beſchränkt, die Vor-
theile der Gemeinheitstheilung allgemein bekannt zu machen, die Ge-
meinden dazu zu ermahnen und durch Belohnungen und zeitliche Befreiung
von Abgaben aufzumuntern (Berg a. a. O. S. 272). Offenbar war
[284] dieß ein juriſtiſcher Widerſpruch; denn galt die Stimmenmehrheit nicht,
ſo konnte auch die Landespolizei ſie nicht herſtellen. Allein dem prak-
tiſchen Bedürfniß genügten die obigen Sätze weſentlich auch darum,
weil es ungemein ſchwer war, das Eigenthumsrecht bei den großen zum
Theil wüſt liegenden Strecken jedesmal nachzuweiſen, und der Landes-
herr das Recht in Anſpruch nehmen konnte, wie es in Bayern und
Baden geſchah, dieſelben als bona vacantia ſeinerſeits zu vertheilen.
Dieſe Standpunkte der Theorie wurden dann auch für die poſitiven
Verwaltungsmaßregeln maßgebend.


Preußens Geſetzgebung ging in dieſer Beziehung voran, wenn
gleich zum Theil oft mit Willkür. Die erſte Verordnung iſt das
Reſcript vom 29. Juli 1763, dem eine Reihe anderer Verordnungen
folgten (bei Fiſcher, Cameral- und Polizeirecht III. §. 902). Den
Beamten wurde die möglichſte Betreibung der Auftheilung eingeſchärft;
der König ließ ſich zu dem Ende eigene Liſten alle drei Monate vor-
legen, ertheilte den Gemeinden, „die ſich ſelbſt auseinander geſetzt haben,“
Prämien bis zu 30 Thalern; die Abgaben durften durch die Aufthei-
lungen in keiner Weiſe erhöht werden; zur Beſchleunigung der Sache
wurden eigene Commiſſarien mit beſonderer Inſtruktion für den Fall
eingeſetzt, daß die Gemeinden nicht ſelbſt damit zu Stande kämen;
ſpeciell ward vorgeſchrieben, daß die Commiſſarien „mit aller Wachſam-
keit jede Unterdrückung und Vervortheilung der gemeinen Bauersleute
verhindern“ und daß, wo ganze Gutsherrſchaften an der Auseinander-
ſetzung Theil genommen haben, die Juſtizcollegien die Akten ſich vor-
legen laſſen und dieſelben genau prüfen ſollen (Kabinetsordre vom
19. Mai 1770 und Reſcript vom 25. December 1770. Fiſcher a. a. O.
§. 903—905). In ähnlicher Weiſe betrieb Bayern die Gemeinheits-
theilung (Kulturedikt von 1762, Sammlung der bayriſchen Generalien
von 1771 S. 449, Moſer, Landeshoheit in Anſehung Erde und
Waſſers S. 108), wobei die zweckmäßige Benutzung der überflüſſi-
gen
Weideplätze zu Wieſe oder Ackerfeld ausdrücklich vorgeſchrieben war;
hier ebenſo wie in Baden wurde denen, welche ſolche Verbeſſerungen
vornahmen, gemeiniglich auf mehrere Jahre Zehent- und Schatzungs-
freiheit bewilligt (badiſche Verordnung vom 10. October 1770 und
13. Auguſt 1771. Inhalt der badiſchen Geſetzgebung N. 605. Berg
a. a. O. S. 208). In Braunſchweig ward die Angelegenheit mit
gleichem Eifer betrieben (kurbraunſchweigiſche Verordnung, wie in
Landesökonomie-Angelegenheiten zu verfahren vom 22. November 1768.
Willich a. a. O. II. 384. Berg a. a. O. 266.) In Oeſterreich
wurde dagegen, ganz im Sinne der Maßregel, welche den neuen Ka-
taſter einführen wollte, die Auftheilung der Hutweiden unbedingt
[285] nach vorhergegangener Aufmeſſung (bis Ende 1769) eingeführt, wofür
den neuen Beſitzern die Zehentbefreiung auf dreißig Jahre zugeſtanden
ward; daher ward 1770 eine eigene Commiſſion nach dem Muſter der
preußiſchen beſtellt; das Patent vom 14. März 1775 beſtimmte nament-
lich den Antheil der Grundherren an der Gemeindeweide (die Hälfte
bei bisherigem gemeinſchaftlichem Gebrauch). Stubenrauch Verwal-
tungsgeſetzeskunde II. §. 447. Indeſſen haben alle dieſe und ähnliche
Vorſchriften jener immerhin höchſt ſtrebſamen Zeit einen gemeinſamen
Charakter; die Gemeinheitstheilung erſcheint nämlich ſtets nicht ſo ſehr
als ein ſelbſtändiger Akt, ſondern vielmehr als ein Theil des großen
Verſuches der Verwaltung, überhaupt die weiten, damals öde liegen-
den Landſtrecken unter Cultur zu ſetzen, die niedergelegten Bauernhöfe
wieder anzubauen und ſo nur überhaupt erſt einmal die Landescultur
wieder lebendig zu machen, die durch den ſiebenjährigen Krieg furchtbar
gelitten hatte. Die Gemeinheitstheilungen wurden offenbar weſentlich
nur aufgenommen, inſofern das Gemeindeland ſelbſt öde und unbe-
nutzt lag; der Gedanke, daß dieſe an und für ſich, auch bei regel-
mäßiger Benützung, ſtattfinden ſollen, kommt nicht zur Geltung; von
den Aufgaben der Gemeinde als ſolcher iſt noch keine Rede, und dieſe
Standpunkte faßt denn am beſten das preußiſche Landrecht zu-
ſammen in dem Satz, der den Uebergang zum 19. Jahrhundert bildet:
„Die von mehreren Dorfseinwohnern oder benachbarten Gutsbeſitzern
bisher auf irgend eine Art gemeinſchaftlich ausgeübte Benützung der
Grundſtücke ſoll, zum Beſten der allgemeinen Landescultur, ſo
viel als möglich aufgehoben werden. In allen Fällen findet jedoch
dergleichen Auseinanderſetzung nur in ſo weit ſtatt, als dadurch die
Landescultur im Ganzen befördert und gebeſſert wird“ (Preußi-
ſches allgemeines Landrecht I. 17. §. 311, 313). Das Geſammtreſultat
der vierzigjährigen Arbeit, die mit Friedrich II. beginnt, iſt daher am
Schluſſe des vorigen Jahrhunderts das: im Allgemeinen ſcheint die
Auftheilung wünſchenswerth für die Entwicklung der Landwirthſchaft;
in jedem beſondern Falle aber muß einerſeits das Intereſſe der ein-
zelnen Gemeinde
und das Recht der Berechtigten die Entſchei-
dung haben. Einen Zwang zur unbedingten Auftheilung gibt es daher
nicht; die Regierung kann die Sache höchſtens anerkennen und indirekt
befördern.


3) Die Gemeinheitstheilung des 19. Jahrhunderts. Knaus.

Von dieſem an ſich einfachen Standpunkt geht nun die Geſetz-
gebung des 19. Jahrhunderts aus. Auch ihr kommt der Begriff und
[286] die Aufgabe der Gemeinde als ſolcher noch gar nicht zum Bewußtſein,
da es bei der zum Theil noch beſtehenden Leibeigenſchaft und der all-
gemein beſtehenden Grundherrlichkeit mit Patrimonialjurisdiktion, wie
oben gezeigt, eben noch keine Landgemeinde gab. Daß die wahre
Frage der Gemeinheitstheilung erſt nach der vollzogenen Ent-
laſtung
eintreten könne, wurde weder von der Geſetzgebung noch von
der Theorie erkannt. Und ſo läßt ſich jetzt der weſentliche Inhalt aller
jener den Befreiungskriegen folgenden Geſetzgebungen im einfachen An-
ſchluß an die obige hiſtoriſche Entwicklung leicht dahin beſtimmen, daß
ſie geſetzlich zuerſt die Form feſtſtellten, unter der jenes Intereſſe der
Gemeinde ſeinen Geſammtausdruck finden ſolle, und zweitens den
Modus der wirklichen Theilung, wenn die Gemeinde zum Beſchluß der-
ſelben in ihrem Intereſſe gelangt iſt.


Indeſſen hat es in Deutſchland nicht bloß dieſe, aus der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaftsordnung hervorgehende rein negative Richtung
gegeben. Neben jener Geſetzgebung ſtehen zu gleicher Zeit Männer,
welche mit klarem Blick in die Zukunft die großen Bedenken der Thei-
lung feſt ins Auge faßten und ſich nachdrücklich gegen dieſelbe erklärten.
An der Spitze derſelben ſtehen Fr. Liſt und Knaus, welche die
landläufige Nationalökonomie vergeſſen zu haben ſcheint. Liſt hat
allerdings nicht die Gemeinde in ſeinen Geſichtskreis gezogen, wohl
aber die große landwirthſchaftliche Frage nach den Bedenken gegen die
Verkleinerung der Grundbeſitze und ihren ernſten volkswirthſchaftlichen
Folgen in ſeiner trefflichen Abhandlung „Die Ackerverfaſſung, die Zwerg-
wirthſchaft und die Auswanderung“ (1842. In den geſammelten Schrif-
ten von Häuſſer Bd. II. S. 150, namentlich S. 195 ff.) Dagegen iſt
Knaus, ſo viel wir ſehen, der Einzige, der die Frage zugleich vom
wirthſchaftlichen, adminiſtrativen und ſocialen Standpunkt gründlich be-
handelt: „Die politiſche Landgemeinde als Grundeigenthümerin“ (Tüb.
Vierteljahrſchrift 1844 S. 441) und zu dem nach allen Seiten hin
wohlerwogenen Reſultate gelangt, daß die Auftheilung an und für ſich
nicht wünſchenswerth und nicht nützlich, ſondern daß im Gegentheil
der Gemeindegrund ein weſentliches Element für die ganze Zukunft des
Gemeindeweſens ſei. Es iſt das eine der vortrefflichſten Arbeiten auf
dieſem ganzen Gebiet; und namentlich machen wir auf Punkt 5 auf-
merkſam, wo der Beweis geführt wird, „daß Gemeindegrundeigenthum
durch eine kluge Verwaltung und Verwandlung gegen die Gefahr des
Unbeſchäftigtſeins des ärmeren Theiles der Gemeinde-
genoſſen ſchütze
“ (S. 474 ff.). Knaus blieb mit ſeinen Darſtel-
lungen allein; noch umſchwebte den Gemeindegrund die Vorſtellung
einer feudalen Genoſſenſchaft; wie ganz anders würde ein ſolches Werk
[287] zehn Jahre ſpäter gewirkt haben! Doch wird die Zeit bald genug kom-
men, wo man den hohen Werth ſolcher zugleich fachmänniſch begrün-
deten Anſichten nicht mehr wie Roſcher (§. 83) mit einem wenig
wiſſenſchaftlichen Stoßſeufzer erledigt (ohne Knaus zu citiren). Aber
trotz dieſer Arbeiten ging die Geſetzgebung ihren Weg nach den beiden
angegebenen Richtungen.


Den erſten dieſer Punkte entſcheidet nun die Geſetzgebung des
19. Jahrhunderts dahin, daß zunächſt die gezwungene Auftheilung grund-
ſätzlich aufgegeben wird. An ihre Stelle tritt dann entweder, wie
namentlich in Oeſterreich, ein vollkommener Stillſtand des Aufthei-
lungsgeſchäftes, oder aber ein zweiter Grundſatz, der jene Intention
des vorigen Jahrhunderts dahin formulirt, daß die Auftheilungen Sache
des freien Beſchluſſes der Intereſſenten ſein ſollen, und zwar ſo,
daß die Majorität derſelben über die Auftheilung zu entſcheiden habe.
Natürlich war dabei die Frage nach der Conſtituirung dieſer Majorität
die Hauptſache; und hier iſt kein eigentlich durchgreifendes Princip zu
erkennen. Die Majorität iſt vielmehr ſtets eine örtliche; doch überwiegt
bei weitem der Gedanke, daß das Recht der Stimmen nach dem Beſitze
beſtimmt wird. Man ſieht daher auf allen Punkten den Gedanken
durchgreifen, daß es ſich bei der ganzen Auftheilung weſentlich um die
Herſtellung des individuellen Eigenthums an der Stelle des Geſammt-
eigenthums handle, und zwar immer mit beſonderer Rückſicht auf die
„Landescultur.“ Von einem Intereſſe der Gemeinde als ſolcher iſt bis
zum Jahre 1848 noch keine Rede; erſt ſeit der Herſtellung der wahren
Landgemeinde wird daſſelbe von Bedeutung, und zwar theils indem
das ganze Gemeindegut der Auftheilung entzogen bleibt (Oeſterreich),
theils indem man wenigſtens gewiſſe Theile deſſelben als dauerndes
Gemeindevermögen erhält (Preußen). Von da an tritt in Beziehung
auf das obige Princip eine neue Epoche ein, deren weſentlicher Cha-
rakter darin beſteht, daß man jetzt die ganze Auftheilungsfrage ſtets
mit den Grundſätzen über die Verwaltung des Gemeindevermögens in
Verbindung bringt; die geſetzlichen Vorſchriften über die Theilung treten
vor den neuen Gemeindeordnungen der fünfziger Jahre in den Hinter-
grund, und dieſelbe ſcheint, wie es die Natur der Sache fordert, im
Allgemeinen in Stillſtand zu gerathen. Leider fehlen uns ſtatiſtiſche
Nachrichten über dieſen Theil des Gemeindelebens wie über das Ge-
meindeleben überhaupt
; wir müſſen uns daher einfach an die
Geſetze ſelbſt halten. Wir können jedoch nicht umhin, dabei auf einen
geiſtvollen Aufſatz von Lette in Fauchers Vierteljahrsſchrift 1866
1. Bd.: „Die ländliche Gemeinde als Genoſſenſchaft“ hinzuweiſen, der
die alte Markgenoſſenſchaft mit Recht als Nutzgenoſſenſchaft betrachtet
[288] und ſich zur Aufgabe ſtellt, „den Auflöſungsproceß des bisherigen länd-
lichen Gemeindeweſens zur Anſchauung zu bringen“ (S. 38). Wenn
dieſer hochbedeutende Fachmann zugleich die poſitive Geſetzgebung und
das ſich in ihr entwickelnde Princip mit demſelben richtigen Blick ver-
folgte und ſeine Unterſuchungen nicht bloß auf Preußen beſchränkte, ſo
würden wir wohl einen entſcheidenden Beitrag zu den Anſichten von
Knaus und zum Theil von Liſt zu erwarten haben.


Der zweite der obigen Punkte, die Modalität der wirklichen Ver-
theilung, mußte wie natürlich eine vielbeſtrittene Frage bilden, ſowohl
im Princip als in der Ausführung. Im Princip war es zuerſt fraglich,
ob man die Auftheilung bloß als eine divisio einer communitas, oder
zugleich als ein Mittel, die Lage des kleineren Beſitzers zu verbeſſern,
anſehen wolle (Rau a. a. O. §. 87); zweitens ob bloß Grundbeſitzer
oder auch andere Gemeindeglieder daran Theil nehmen ſollten. In der
Ausführung war es fraglich, ob man nach dem Grundbeſitz oder nach
der Benutzung durch Viehſtand theilen wolle. Da nun die Auftheilung
an und für ſich falſch war, ſo war es auch geradezu unmöglich, theo-
retiſch oder praktiſch zu einem gemeingültigen Reſultate zu gelangen.
Die Theorie griff nach allen Seiten umher, ohne ein definitives Ergebniß
zu finden, wie namentlich Rau’s gerade auf dieſem Punkte ſonſt treff-
liche Darſtellung der ganzen Frage zeigt. Roſcher iſt keinen Schritt
weiter gekommen, hat im Gegentheil die Gemeinheitstheilung in ihrer
ſelbſtändigen Bedeutung keineswegs genugſam gewürdigt (a. a. O. Bd. II.
Cap. 6). Die Praxis hielt an örtlichen Verhältniſſen feſt und ein klares
Bild läßt ſich daher hier kaum geben. — Nur das ſteht allgemein feſt,
daß die Waldungen entweder gar nicht, oder doch nur ausnahms-
weiſe und ſtellenweiſe auf Grund beſonderer Verhältniſſe getheilt werden
dürfen.


Dieß nun iſt der Charakter des deutſchen Auftheilungsweſens im
Gegenſatz zu dem engliſchen und franzöſiſchen. Die geltenden Geſetze,
ſo weit ſie uns erreichbar waren, ſind im Weſentlichen folgende.


Oeſterreich zuerſt gab den Standpunkt des Zwanges der Gemein-
heitstheilung bereits im Anfange dieſes Jahrhunderts auf; das Hof-
decret vom 14. Oktober 1808 beſtimmte, daß die Behörden ſich auf das
bloße Anrathen der Auftheilung beſchränken ſollten, was dann das
Hofdecret vom 26. December 1811 wiederholte. Der Grund dieſer Be-
ſtimmung lag jedoch weſentlich in dem Kampfe der Grundherrlichkeit
gegen jene Beſtimmung, welcher das letztere namentlich als eine Be-
drohung ihrer Weideſervituten erſchien. Es fehlen alle ſtatiſtiſchen Nach-
weiſungen über das, was in dieſer Beziehung geſchehen iſt. Die Ge-
meindeordnung vom 17. März 1849 dagegen verpflichtet umgekehrt, wie
[289] ſchon bemerkt, die Gemeinde vielmehr, alles Eigenthum der Gemeinden
unter genaues Inventar zu nehmen, und für die möglichſt große Er-
tragsfähigkeit zu ſorgen (§. 73); die Veräußerung iſt grundſätzlich unter-
ſagt (§. 74), und darf nur ausnahmsweiſe von der Statthalterei
bewilligt werden (vgl. Stubenrauch a. a. O. §. 447). Die Gemeinde-
wälder ſind ebenſo für untheilbar erklärt, und unter die gleiche Ober-
aufſicht der Landesſtelle geſetzt (Forſtgeſetz vom 3. December 1852. §. 21.
Ueber die frühere Zeit Schopf, die öſterreichiſche Forſtverfaſſung 1835.
Stubenrauch §. 455). Dieſe Beſtimmungen gelten auch grundſätzlich
noch nach den neuen Gemeindeordnungen. Das was hier nun mangelt,
iſt demnach nicht mehr das Princip, ſondern irgend eine beſtimmte Regel
für die Ausführung; denn die Berechnung des Ertrages und die Mo-
dalitäten der Verwendung der Gemeindeflur ſind weſentlich den einzelnen
Gemeinden ſelbſt überlaſſen. Das Mittel der Abhilfe und das Element
des Fortſchrittes liegt hier jedoch nicht in der Geſetzgebung, ſondern
vielmehr in der praktiſchen Thätigkeit der Landesausſchüſſe, die in der
Vollziehungsgewalt ihre Stelle finden.


In Preußen erſchien die große, noch jetzt im Weſentlichen gel-
tende Gemeinheitstheilungs-Ordnung vom 7. Juni 1821, nebſt
Ausführungsgeſetz von demſelben Datum, und Ausdehnung des ganzen
Geſetzes auf die einzelnen Geſammtſervituten, die durch jenes Geſetz
nicht begriffen waren, durch Geſetz vom 2. März 1850. Dieſelbe hat
jedoch im Großen und Ganzen nur die Grundſätze des allgemeinen
Landrechts (ſ. oben) zur weiteren Entwicklung gebracht. Auch nach
dieſem Geſetze ſoll die Gemeinſchaft „möglichſt“ aufgehoben, oder doch
möglichſt unſchädlich gemacht werden, wo ſie beſteht, und zwar ohne Rück-
ſicht darauf, ob die Gerechtſame auf einem gemeinſchaftlichen Eigenthum
oder auf einſeitigen oder wechſelſeitigen Dienſtbarkeiten beruhe. Grundſatz
iſt, daß jeder Einzelne das Recht hat, auf die Theilung anzutragen —
hier griff der römiſche Begriff durch; wenn jedoch mit der wirklichen
Theilung ein Umtauſch der Ländereien verbunden iſt, ſo ſoll ſie erſt
Platz greifen, wenn die Beſitzer des vierten Theiles der Ländereien,
welche durch den Umtauſch betroffen werden, einverſtanden ſind. Dieß
Syſtem der Vertheilung hat nun allerdings die weſentliche Beſchränkung,
daß bei einſeitigen Dienſtbarkeiten die Berechtigten ſich jede Art der
Entſchädigung gefallen laſſen müſſen (Art. 86. 96). Werden die Berech-
tigten nun über die Theilung nicht einig, oder fordern ſie dieſelbe gar
nicht, ſo ſoll wenigſtens jeder Verpflichtete das Recht haben, auf eine
möglichſt ſtrenge Beſchränkung der Gemeinheiten und ihrer Benützung
anzutragen (Geſetz von 1821, Abſchnitt II.). Iſt eine Entſchädigung
dabei an Land nicht möglich, ſo kann ſie auch in Renten oder Geld
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 19
[290] geleiſtet werden (Art. 176). (Das Geſetz ſelbſt mit allen Novellen bei
Koch, Agrargeſetz des preußiſchen Staats S. 131—197. Vgl. Rönne,
Staatsrecht II. §. 370. Rau, §. 86 ff.) Die Gemeindewaldungen
ſtehen in dieſer Theilungsordnung unter einem doppelten Recht. Die-
ſelbe läßt die Naturaltheilung zu, ſo lange die einzelnen Antheile forſt-
mäßig benützt werden können; ſonſt fällt die Waldbenutzung unter die
Theilungsordnung ſelbſt. Betrachtet man dieß Geſetz genauer, ſo
erſcheint es in der That viel mehr als eine Fortſetzung der Ablöſungen,
denn als eine eigentliche Gemeinheitstheilungsordnung; der Begriff der
Gemeinde iſt vollſtändig in dem der Gemeinheit untergegangen, und
die eigentliche Aufgabe iſt noch die beſchränkte Herſtellung des Einzel-
eigenthums an der Stelle des Geſammteigenthums. Das Regulativ
vom 30. Juni 1836 ordnete die Vertheilung der Koſten, nebſt der In-
ſtruktion vom 25. April 1836 (Koch, S. 432 ff.). Allein ſchon die
Verordnung vom 28. Juli 1838 begann, die hier geſtattete unbegränzte
Berechtigung zur Provokation auf Theilung zu beſchränken; von ent-
ſcheidender Bedeutung ward dagegen die Deklaration vom 26. Juli
1847, nach welcher alles Gemeindevermögen, welches zur Beſtreitung der
Laſten der Stadt- und Landgemeinden beſtimmt iſt, durch Gemeinheits-
theilung nie in Privatvermögen verwandelt werden darf; eben ſo wenig
ſoll derjenige Theil des Vermögens, deſſen Nutzungen den einzelnen
Gemeindemitgliedern vermöge dieſer ihrer Eigenſchaft zukommen, der
Gemeinheitstheilung unterworfen werden. In dieſen beiden Geſetz-
gebungen iſt offenbar der Gegenſatz zu Tage getreten, von welchem wir
eben geredet; es iſt keine Frage, daß dieß ganze Verhältniß noch nicht
zu einem definitiven, innerlichen und äußerlichen Abſchluß gelangt iſt.


Man kann nun wohl in Beziehung auf die übrigen deutſchen Geſetz-
gebungen ſagen, daß ſie im Weſentlichen denſelben, meiſt ziemlich un-
klaren Zwitterpunkt des preußiſchen Rechts vertreten; einerſeits den
Wunſch, durch die Gemeinheitstheilung die Selbſtändigkeit des Einzel-
eigenthums und damit die rationelle Landwirthſchaft herzuſtellen, ander-
ſeits aber auch der Gemeinde ihr Vermögen zu laſſen, um ihr die Mittel
für ihre immer wachſenden Aufgaben zu geben, ohne daß man auch
hier zu einem definitiven Abſchluß in Princip und Ausführung gelangt
wäre. Es iſt bereits oben erwähnt, wie enge dieß ganze Verhältniß
mit der geſammten Bildung des Gemeindeweſens zuſammenhängt. Das
Hauptintereſſe an dieſen einzelnen Geſetzgebungen, die auf keinem Punkte
zur rechten Klarheit gediehen ſind, iſt demgemäß ein vorzugsweiſe lokales.
Wir müſſen unſrerſeits für die Verwaltungslehre dagegen den Grundſatz
feſthalten, daß die wahre Entſcheidung über die ganze Frage erſt dann
richtig iſt, wenn in Folge der großen Wirkungen der Grundentlaſtung
[291] in den Landgemeinden ſich die intelligente Selbſtverwaltung
ausgebildet haben wird
, und daß man bis dahin den Auftheilungs-
proceß ſo viel als mit unabweisbaren Intereſſen vereinbar iſt, ſtatt zu
befördern, vielmehr zurückhalten ſoll. Da das Auftheilungsweſen
von dieſem Standpunkte ohne eine ſpecielle fachmänniſche Arbeit nicht
erledigt werden kann, ſo muß uns die Hoffnung genügen, daß Thaers
großartige Auffaſſung vom rein landwirthſchaftlichen Standpunkt einen
ſocialen Nachfolger haben möge; möge ein Mann mit der Fachkunde
Knaus’ und mit ſeinem vorurtheilsfreien und großartigen Blick zu den
Gedanken, die er ausgeſprochen, die beiden Elemente hinzufügen, deren
wir in unſerer Zeit bedürfen, die hiſtoriſche Anknüpfung an die alten
Rechte und die neuere organiſche Vergleichung der beſtehenden legislato-
riſchen Beſtimmungen. Erſt dann wird die Verwaltungslehre auf dieſem
Punkte zur Abgeſchloſſenheit ihrer Anſichten gelangen können. Die be-
treffenden Materialien für das poſitive Recht aber ſind, der Unſicherheit
des gegenwärtigen Standpunkts entſprechend, noch ſehr zerſtreut. Für
Bayern hatte das revidirte Gemeinde-Edikt §. 25 die Theilung nur
wegen „überwiegender Vortheile“ geſtattet, mit einem ganzen unklaren
Apparat von begutachtenden Organen (Moy, bayeriſches Verfaſſungs-
recht II. §. 103). Nach der Verordnung vom 11. März 1814 ſollte
dabei ein Gutachten ſachverſtändiger Landwirthe maßgebend ſein. Be-
ſtimmter iſt das Geſetz vom 1. Juli 1834; darnach müſſen drei Viertel
der Gemeindemitglieder übereinſtimmen, unter welchen jedoch drei Viertel
der Großgrundbeſitzer und Schäfereiberechtigten begriffen ſein ſollen (Rau,
§. 87). Doch iſt die Veräußerung des „Gemeindevermögens“ nicht ge-
ſtattet, wobei nicht beſtimmt iſt, was eigentlich dieß Gemeindevermögen
iſt (Pözl, Verwaltungsrecht §. 96). Die badiſche Gemeindeordnung vom
31. December 1831 und Gemeindeordnung vom 5. November 1858, ſowie
das ſächſiſche Geſetz über Ablöſungen vom 17. März 1832 ſtehen
weſentlich auf dem preußiſchen Standpunkt. Ueber die in Württemberg
herrſchende durchgreifende Oertlichkeit und große Verſchiedenheit des
Gemeindebezirks und ſeines Rechts, die ſo weit geht, daß man nur mit
Mühe „von Regel und Ausnahme“ reden kann, vgl. Mohl, württembergi-
ſches Verwaltungsrecht II. §. 170. Das preußiſche Princip der Majorität,
unter verſchiedenen Modifikationen, iſt angenommen von der großherzoglich
heſſiſchen Theilordnung vom 7. September 1814, der gothaiſchen
Theilordnung vom 2. Januar 1832; Hannover begann, wahrſcheinlich
auf Thaers Veranlaſſung, ſein Gemeindetheilungsweſen bereits mit der
lüneburgiſchen Theilordnung vom 25. Juni 1802, deren Grundſätze
dann für die andern Provinzen durch die Geſetze vom 30. April 1824
und 26. Juli 1825 zur Geltung gebracht wurden (vgl. Rau, §. 86 ff.)


[292]
Die Enteignung.

Während nun die Entlaſtungen, Ablöſungen und Gemeinheits-
theilungen derjenige Theil des Entwährungsweſens ſind, welche auf
dem Gebiete des Beſitzes und des mit ihm verbundenen öffentlichen
Rechtszuſtandes die Unfreiheit der Geſchlechterordnung beſeitigen, er-
ſcheint die Enteignung als diejenige Form der Entwährung, welche es
mit keiner ſocialen Frage mehr zu thun hat, ſondern ſich innerhalb der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung ſelbſt vollzieht. Sie iſt daher
die reine ſtaatsbürgerliche Entwährung, in dem Sinne, den
wir bereits oben dargelegt haben.


Eben darum iſt der Gegenſatz dieſer Entwährungsform mit dem
Weſen des perſönlichen Eigenthums ein viel ſchärferer, als bei den
obigen Erſcheinungen. Denn während bei den letzteren die Eigenthums-
verhältniſſe nur als Conſequenz eines öffentlich rechtlichen Fortſchrittes,
als der nothwendige und unabweisbare Inhalt einer großen, das ganze
Leben der Völker unwiderſtehlich erfaſſenden Umgeſtaltung der Geſell-
ſchaftsordnung erſcheinen und ſo die Löſung des größern Widerſpruches
uns mit dem Auftreten des kleinern verſöhnt, tritt in der Enteignung
in der That ſcheinbar nur ein Intereſſe dem andern gegenüber, das
Geſammtintereſſe dem Einzelintereſſe; in dieſem Gegenſatz unterliegt das
letztere, und in dieſem Unterliegen muß es um des Intereſſes willen
dasjenige zum Opfer bringen, was an ſich für das Intereſſe unantaſt-
bar erſcheinen ſollte, das Recht des Einzeleigenthums — gerade das-
jenige Recht, deſſen Herſtellung die Grundlage der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaftsordnung zu ſein beſtimmt iſt. Bei der Enteignung treten
uns daher ſcheinbar ganz andere Faktoren und Fragen entgegen als bei
der Entlaſtung; ſie iſt es, welche die Fundamente der ſtaatsbürgerlichen
Ordnung zu erſchüttern droht; ſie ſcheint daher auch einer ganz andern
Erklärung, eines ganz andern Princips zu bedürfen; als jene; mit ihr
ſcheint es, als ob wir auf ein ganz anderes Gebiet verſetzt würden.


Daher denn auch die Erſcheinung, daß die Literatur einerſeits, die
Geſetzgebung andererſeits Entlaſtungen und Enteignungen ſtets als ein-
ander ganz fremde Gebiete betrachtet haben. Allerdings liegt der
gemeinſame Ausgangspunkt in der vagen Vorſtellung vom „öffentlichen
Wohle“, und allerdings umfaſſen die allgemeinen Theorien des vorigen
Jahrhunderts beide Entwährungsgebiete ihrem Keime nach. Allein ſo
wie dieſelben feſte Geſtalt gewinnen, entfremden ſie ſich ſo gründlich
von einander, daß von einer Gegenſeitigkeit gar keine Rede mehr iſt.
Die Rechtsphiloſophie, deren nächſte Aufgabe es geweſen wäre, den
höheren Standpunkt inne zu halten, kennt vielmehr lange Zeit hindurch
[293] alle beide nicht. Die Geſetzgebung hat für die Entlaſtung ſo tief ver-
ſchiedene Regeln von denjenigen aufzuſtellen, welche für die Enteignung
gelten müſſen, daß ein Zuſammenbringen beider großen Gruppen von
Geſetzen nicht wohl denkbar iſt; die Juriſten, von keiner Rechtsphilo-
ſophie geleitet, halten ſich einfach an die geltenden, ohne Beziehung zu
einander ſtehenden Beſtimmungen; die Hiſtoriker, auch die der deutſchen
Reichs- und Rechtsgeſchichte, haben mit der Enteignung ſich überhaupt
nicht zu befaſſen, weil ſie eben in der Wirklichkeit noch gar nicht exiſtirt,
und eine Verwaltungslehre, welche in einen organiſchen Gedanken beide
zuſammengefaßt hätte, gibt es nicht. So war es denn natürlich, daß
die tiefen Verſchiedenheiten, welche allerdings in Entlaſtung und Ent-
eignung liegen, die allgemeine Vorſtellung begründeten, daß beide mit
einander gar nichts zu thun haben. Dazu kam endlich, daß die Ent-
laſtungslehre, wie wir geſehen, an Geſetzgebung und Literatur durch
die Zeitverhältniſſe in hohem Grade reichhaltig und praktiſch unendlich
wichtig ward, während man kaum Anlaß hatte, von der Enteignung
überhaupt zu reden. So iſt es denn gekommen, daß die ganze Lehre
von der Enteignung nicht bloß an und für ſich etwas dürftig geblieben
iſt, ſondern daß ſie weſentlich heimathslos in der ganzen Wiſſenſchaft
daſteht, von dem bürgerlichen Rechte bei Seite geſchoben, ohne Geſchichte,
auf die Exegeſe der zum Theilung höchſt unvollkommenen Geſetzgebung
beſchränkt, ohne Platz in irgend einem Syſtem und damit ohne orga-
niſche Begründung ihres Inhalts. Das iſt der gegenwärtige Zuſtand
dieſes ſo wichtigen Gebietes des Verwaltungsrechts.


Die Vorausſetzung jedes Fortſchrittes für daſſelbe ſcheint es nun
wohl zu ſein, daß wir zunächſt die Gemeinſamkeit des höheren Geſichts-
punktes deſſelben in dem allgemeinen Begriffe der Entwährung feſthalten,
und den Satz zur Geltung bringen, daß auch die Enteignung nicht ein
bürgerliches und nicht ein ſtaatliches, ſondern eben ſo wie die Entlaſtung
ein geſellſchaftliches Recht iſt. Und demgemäß iſt es die Aufgabe
des Folgenden, dieſen Satz in ſeinem Begriff, ſeiner Rechtsbildung,
und ſeinen Conſequenzen durchzuführen, und wieder hier die Haupt-
völker und ihr Enteignungsrecht als die großen Individualiſirungen
jener Idee in ihrem Enteignungsrechte zu bezeichnen. Damit dürfte
daſſelbe dasjenige finden, was es am meiſten entbehrt, ſeine organiſche
Stelle in der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechts.


I. Der Begriff der Enteignung. Entwicklung aus dem geſellſchaftlichen Recht.

Es wird auch wohl hier nicht viel nützen, eine formale Definition
an die Spitze zu ſtellen. Das Leben der Völker hat die Enteignung
[294] in ihrem Weſen und ihrem Recht erzeugt, das Leben derſelben muß ſie
auch zum Verſtändniß bringen.


Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft beruht darauf, daß jeder Einzelne
aus ſich ſelbſt heraus zur vollen und freien Entwicklung ſeiner Perſön-
lichkeit gelange. Sie iſt daher jedem Zuſtande und jedem Rechte feindlich,
die ſich dieſer freien individuellen Entwicklung entgegen ſtellen. In dem
Bewußtſein, daß ſie damit ein höchſtes perſönliches Princip vertritt, deſſen
Verwirklichung zuletzt die höchſte Verwirklichung aller im Weſen der
Perſönlichkeit liegenden Idee enthält, macht ſie aus denjenigen Forde-
rungen, welche ſich als unabweisbare Conſequenzen jener Idee ergeben,
ſelbſtändige Rechtsſätze, denen ſie jedes andere Recht unterordnet,
und das Weſen der Enteignung wird daher auch ſeinerſeits ſeine Be-
gründung und Entwicklung in dieſem Principe zu finden haben.


Die Wirthſchaftslehre zeigt nun, daß die erſte Bedingung der voll-
ſtändigen wirthſchaftlichen Entwicklung jedes Einzelnen in der vollen
Freiheit des Erwerbes liegt. Jeder Zuſtand, der dieſe volle Frei-
heit des individuellen Erwerbes beſchränkt, iſt daher ein Widerſpruch
mit dem Grundprincip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Die Auf-
hebung eines ſolchen Zuſtandes wird mithin zum Princip des wirth-
ſchaftlichen Rechts derſelben, dem ſich jedes andere Recht des wirth-
ſchaftlichen Lebens unterwirft, weil es ſeine ſittliche Berechtigung eben
nicht im Weſen des Einzelrechts, ſondern in der höchſten Natur der
Perſönlichkeit findet. Im Namen dieſes Rechts hebt die ſtaatsbürger-
liche Geſellſchaftsordnung die alte Form des Geſammteigenthums der
Geſchlechter- und Ständeordnung auf, und ſetzt an ihre Stelle das
freie Einzeleigenthum; wir haben bisher geſehen, in welchen Formen
ſie dieß thut, und es iſt kein Zweifel, daß hier der Punkt iſt, wo die
Enteignung der Entlaſtung zu folgen hat.


In der That nämlich kann es nun im wirthſchaftlichen Leben Fälle
geben, wo eben dieß, auf dieſe Weiſe gewonnene Einzeleigenthum an
einem beſtimmten Grundbeſitze zum Hinderniß für die volle Entwicklung
des Erwerbes aller Anderen wird. Das Einzeleigenthum kann daher
unter dieſer Bedingung in Widerſpruch mit dem höchſten Princip der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft überhaupt gerathen, aus der es doch eben
hervorgegangen iſt. Das Einzelrecht tritt in ſolchem Falle in unauf-
löslichen Gegenſatz — nicht mehr mit dem Begriffe der ſtaatsbürger-
lichen Freiheit und Gleichheit, wie in der Entlaſtung und der Auf-
hebung der Privilegien — ſondern mit dem Rechte Aller auf das, was
die Bedingung der wirthſchaftlichen Entwickelung jedes Einzelnen iſt.
Auf dieſem Punkte bildet daher die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſich
ein neues Recht. Dieſes Recht, als ſtrenge Conſequenz des Weſens
[295] der letzteren, hat zum Inhalt, daß da, wo das Einzeleigenthum an
einem beſtimmten Gute ein Hinderniß der allgemeinen Entwicklung des
freien Erwerbes aller Einzelnen iſt, dieß Einzeleigenthum aufgehoben
werden muß, in ſo fern
und in ſo weit dieſe Aufhebung die Be-
dingung jener wirthſchaftlichen Entwicklung Aller iſt. Mit dieſem
Rechtsſatze vollendet ſich das wirthſchaftliche Rechtsſyſtem der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft; er iſt in der That ein immanentes Element
in demſelben; er kommt allerdings erſt mit dieſer Geſellſchaftsordnung
langſam zum Bewußtſein, aber er gelangt deßhalb nicht weniger un-
widerſtehlich zur Geltung. In dieſer ſeiner Geltung hat er dieſelbe
Natur wie die Entlaſtung. Er verwirklicht ſich nicht einfach, wie das
Urtheil eines Gerichts, ſondern er erſcheint vielmehr als ein Proceß,
deſſen Baſis das Bewußtſein der wirthſchaftlichen Geſammtentwicklung,
deſſen Inhalt die Beſtimmung des Objects iſt, deſſen Eigenthum um
dieſer Geſammtentwicklung willen aufgehoben werden ſoll, und deſſen
Schluß in der wirklichen Entziehung dieſes Eigenthums beſteht. Und
dieſen, auf jenem geſellſchaftlichen Rechtsſatze beruhenden Proceß nennen
wir die Enteignung.


Indem wir auf dieſe Weiſe das Weſen und damit auch den Rechts-
begriff der Enteignung eben ſo wie den der Entwährung im Anfange
unſerer Darſtellung auf den Begriff und das Weſen der Geſellſchaft
zurückführen, möge es uns geſtattet ſein, die Unmöglichkeit einer anderen
Begründung dieſes Begriffes kurz nachzuweiſen.


Man hat verſucht, und zwar gleich von Anfang an, das Recht
auf Enteignung in das Weſen des Staats zu legen; freilich gewöhnlich
ohne weitere Begründung einfach durch die Behauptung, daß der Staat
das Recht habe, das Einzeleigenthum aufzuheben, wo ſeine Aufhebung
eine Bedingung des „öffentlichen Wohles“ ſei. Nun iſt es klar,
daß ſowohl der Staat als auch der Begriff des öffentlichen Wohles
zunächſt auf der Grundlage aller Entwicklung, der unverletzlichen und
ſelbſtändigen Einzelperſönlichkeit, beruhen. Die „Unfreiheit“ und das
öffentliche Verderben beginnen eben da, wo der Einzelne dem Ganzen
gegenüber grundſätzlich als rechtlos und unſelbſtändig gilt; weder Staat
noch öffentliches Wohl genügen daher, um ihre eigene Baſis, das freie
und ſelbſtändige Individuum, um deſſentwillen beide da ſind, desjenigen
zu berauben, das ſein Weſen ausmacht, ſeine individuelle Selbſtändigkeit.
Von dieſem Standpunkt iſt daher die Enteignung nicht zu erklären,
wenn man nicht behaupten will, was man beweiſen ſoll. Eben ſo un-
klar iſt die Berufung darauf, daß die Enteignung dadurch ein Recht werde,
weil das Geſetz ſie vorſchreibt. Abgeſehen davon, daß Wort und Begriff
[296] des Geſetzes nicht das Recht, ſondern nur der Gültigkeit deſſelben bedeuten,
und man aufhören ſollte das Recht mit dem Elemente der Gültigkeit zu
verwechſeln — jedermann weiß, wie viel Rechte es gibt und von jeher ge-
geben hat, die niemals zum Geſetz geworden ſind — iſt es klar, daß das
Geſetz das rechtliche Weſen der Verhältniſſe zum Ausdruck bringt, daß
alſo das letztere da ſein muß, ehe das erſte erſcheint. Worin liegt alſo
dieß rechtliche Weſen der Enteignung, das ich ſelbſtändig muß finden können,
ſchon damit ich es durch das Geſetz zum geltenden Recht machen könne?
Offenbar, die Thatſache, daß die Enteignung Geſetz iſt, erklärt mir nicht,
wie die Enteignung ein Recht ſein könne; und gerade das wird geſucht.


Es erſcheint dabei kaum nöthig, den Unterſchied zwiſchen der Ent-
eignung und den Steuern und ſonſtigen Leiſtungen der Einzelnen an
den Staat noch ſpeciell nachzuweiſen; denn dieſe beſtehen aus Prä-
ſtationen des Einzelnen, für welche der Staat jedem Einzelnen die Be-
dingungen ſeiner eigenen Entwicklung, ſo weit ſie eben in der Gemein-
ſchaft liegen, herſtellt, ſo daß jeder die von ihm gezahlten Steuern als
eine allgemeine (Regie) Auslage für ſeine eigene Wirthſchaft betrachten
muß; der Staat verwaltet daher in der That nur die gemeinſamen
Leiſtungen zum Beſten jedes Einzelnen. Bei der Enteignung dagegen
handelt es ſich um die Leiſtung eines Einzelnen, ohne daß dabei ſein
eigenes Wohlergehen der letzte Zweck war, ſondern das aller Anderen.
Darin liegt der Unterſchied der Enteignung von der Steuer, und nicht
in der Gleichheit der letzteren gegenüber der Individualität der erſteren.
Denn es hat auch ſehr ungleiche Steuern gegeben, und Enteignungen
haben ganze Volksgruppen umfaßt. Eben ſo wenig kann man die Ent-
eignung mit dem eigentlichen Nothrecht des Staats, dem jus eminens
(ſ. unten) zuſammenſtellen, da es ſich bei dem letzteren um die Exiſtenz
des Staats ſelber handelt, die für jeden eine unabweisbare Bedingung
ſeiner eigenen Exiſtenz iſt. So iſt jede Begründung der Enteignung, die
am letzten Ort darauf beruht, daß das Einzeleigenthum am Grund und
Boden durch die Perſönlichkeit ſelbſt gegeben, und mithin ein im Weſen
der letzteren liegendes Recht ſei, ein unlösbarer Widerſpruch mit dieſem
Weſen des Rechts ſelber. Eine logiſche Auflöſung deſſelben iſt nur
da möglich, wo dieß Einzeleigenthum am Grund und Boden ſelbſt
wieder das Ergebniß derjenigen Potenz iſt, welche die Aufhebung dieſes
halben Eigenthums auf derſelben Grundlage fordert, von der aus
ſie ſelbſt dieß Eigenthum erzeugt hat, der freien individuellen Entwick-
lung Aller. Nur indem man erkennt, daß die ſtaatsbürgerliche Geſell-
ſchaft dieß Einzeleigenthum in Entlaſtung, Ablöſung und Auftheilung
hergeſtellt hat, kann man die Conſequenz ziehen, daß ſie auch be-
rechtigt ſei, es wieder aufzuheben. Denn jede Geſellſchaftsordnung
[297] erzeugt nicht bloß ihre, ihr eigenthümlichen Conſequenzen für die Ordnung
des Grundbeſitzes, ſondern mit demſelben Rechte fordert ſie auch, daß
der von ihr geſchaffene Einzelgrundbeſitz ſeinerſeits die Bedingungen
herſtelle, auf denen ſie ſelber beruht. Und die wahre Rechtsbaſis aller
Enteignung iſt es daher, daß ſie als eine Bedingung für das Princip
der vollen Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den freien
individuellen Erwerb, erſcheine. Es iſt daher gänzlich hoffnungslos,
die Enteignung als einen Rechtsbegriff aus dem Weſen von Recht und
Staat entwickeln zu wollen; und alle, welche auf dieſen Standpunkt
ſtehen, ſind daher auch von dem Gefühl durchdrungen, daß, wenn
überhaupt die Enteignung aus dem „Recht“ entſtehen kann, das Recht
ſelbſt damit zuletzt zu Grunde gehen müſſe, wie das noch neulich Hä-
berlin
(a. a. O. unten) ſo lebhaft gezeigt hat. Unfertiger wie Laſſalle
kann man allerdings kaum ſein, der einerſeits behauptet, daß bei der
Enteignung „von einer Rückwirkung, von irgend welcher Kränkung er-
worbener Rechte gar nicht die Rede ſein könne“ (Syſtem der erworbenen
Rechte I. S. 198), weil „ja das Individuum ſich und Andern nur in
ſo weit und auf ſo lange Rechte ſichern kann, in ſo weit und in ſo
lange die jederzeit beſtehenden Geſetze dieſen Rechtsinhalt als einen
erlaubten anſehen“ (S. 194), und doch wieder den Satz anerkennt, daß
es „gegen das Recht kein Recht gibt.“ Hier iſt Alles klar, bis auf
das, worauf es ankommt, nämlich das „Recht“ ſelbſt, denn dieß Recht
liegt dieſer Theorie nicht im Weſen der Perſönlichkeit, ſondern in der
Anerkennung durch das Geſetz; die Gültigkeit des Rechts iſt mit dem
Weſen des Rechts verwechſelt. Daher hat Laſſalle ſich die entſcheidende
Frage gar nicht geſtellt, welcher Natur denn ein erworbenes Recht iſt,
über welches ſich überhaupt ein Geſetz niemals ausgeſprochen hat.
Denn wenn das Geſetz die Bedingung des Erwerbes des Guts iſt, und
fehlt, aus welchen Elementen heraus ſoll man denn das ſo weder mit
noch gegen das Geſetz, ſondern einfach ohne daſſelbe entſtandene Recht
erkennen? Ergibt ſich aber das Weſen deſſelben aus der Perſönlichkeit,
ſo tritt derſelbe Gegenſatz auf, der eben die Enteignung ſo ſchwierig
macht, der Gegenſatz zwiſchen dem perſönlichen und dem geſetzlichen
Rechtsbegriff; und da genügt es wahrlich nicht, einfach dem Geſetze
das Recht der Aufhebung des perſönlichen Rechts zuzuſprechen, weil
„das letztere gar nicht hätte erworben werden können, wenn das
ſpätere Geſetz ſchon dageweſen wäre.“ Denn damit würde es zuletzt
gar kein gegenwärtiges Recht, auch nicht das aus einem Geſetze fol-
gende, geben, weil immer ein anderes Geſetz kommen kann, welches
das alte Recht und Geſetz aufhebt. Auf dieſe Weiſe dreht ſich die
Dialektik in einem unauflöslichen Cirkel: Das Einzeleigenthum iſt kein
[298] unaufhebbares Recht, weil es gar nicht hätte erworben werden können,
wenn der Erwerb nicht geſetzlich zugelaſſen wäre; nun hat das Geſetz den
Erwerb zugelaſſen, unter der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, ihn wieder
aufzuheben; der Grund, warum das Geſetz aber dieſe mögliche Wieder-
aufhebung, die Enteignung, feſthält, iſt der, daß das Einzeleigenthum
wieder aufgehoben werden kann. Das iſt ein leerer Kreis. Wir werden
daher auch von dieſer Seite auf die Quelle aller zeitlichen Rechtsbildung,
die Geſellſchaftsordnungen, zurückgewieſen. Wie die Geſchlechterordnung
das gemeinſchaftliche Eigenthum des Grundes und Bodens mit gleichem
Recht ihrer Mitglieder, die ſtändiſche Ordnung das körperſchaftliche mit
organiſcher Vertheilung der Benutzung deſſelben erzeugt, unter Auf-
hebung jedes Einzeleigenthums, ſo erzeugt ihrerſeits die ſtaatsbürger-
liche Geſellſchaftsordnung alle diejenigen Rechtsgrundſätze, welche die
volle Freiheit der individuellen Entwicklung zum Inhalt haben. Für
ſie iſt daher die Aufhebung des Einzeleigenthums an Grund und
Boden kein Widerſpruch, weil das Einzeleigenthum ſelbſt ihre eigne
Conſequenz iſt, und mithin in jedem Falle nur ſo weit geht, als der
Grund es zuläßt, aus dem es ſelbſt hervorgegangen. Tritt es daher
in Gegenſatz mit jener freien individuellen Entwicklung, ſo wird es ein-
fach durch dieſes höhere Princip ſo weit aufgehoben, als das letztere es
fordert, wie es hergeſtellt iſt eben durch ſeine Forderung ſelbſt. Und
dieß iſt um ſo klarer, als in demſelben Gedanken auch die Gränze der
Enteignung liegt. In der That nämlich bildet das Einzeleigenthum
am Werthe niemals einen Gegenſatz zu der allgemeinen Entwicklung,
ſondern iſt vielmehr das wahre Gebiet der vollkommen freien individuellen
Thätigkeit. Die Enteignung kann daher nie das Eigenthum am Werthe
des Gutes aufheben, das heißt der Werth muß dem Eigenthümer in
ſeiner ſelbſtändigen Geſtalt, als Geld, zurückgegeben, oder es muß der
Einzelne entſchädigt werden; und darum war es ſo natürlich, daß
die meiſten Theoretiker in der Entſchädigung dasjenige Moment ſahen,
das die Enteignung rechtlich möglich mache, obwohl auch ſie allerdings,
wie die Enteignung ſelbſt, nur eine Conſequenz des Weſens des geſell-
ſchaftlichen Rechts einerſeits und des Werthes andererſeits iſt. Es muß
endlich die jüngſte Anſicht hervorgehoben werden, welche, obwohl ſie
mit dem ſpecifiſchen Begriff der Enteignung eigentlich nichts zu thun
hat, doch als ſittliche Baſis derſelben, wir möchten ſagen halb in Ver-
zweiflung über die ganze Frage, aufgeſtellt worden iſt. Am ſchärfſten
hat dieſelbe J. H. Fichte in ſeinem „Syſtem der Ethik“ (Bd. II. Abth. 2.
S. 76. 77) ausgeſprochen. Der Staat hat darnach das Recht „den
Einzelnen durch Maßregeln der Geſetzgebung und Verwaltung zur höchſt
möglichen Benützung des Eigenthumes anzutreiben,“ und dieß Princip
[299] iſt „nicht anders auszudrücken, als daß es ſchon nach der gegenwärtig
üblichen durchaus unentbehrlichen Praxis gar kein abſolutes Recht des
Privateigenthums gibt.“ Die Enteignung iſt daher nicht mehr eine ganz
beſtimmte Verwaltungsmaßregel, welche eine ganz beſtimmte Bedingung
der allgemeinen Entwicklung herſtellt, ſondern ſie iſt das höchſte Princip
der Volkswirthſchaftspflege ſelbſt. In ähnlicher Weiſe hat Röder, Grund-
züge des Naturrechts (S. 556), den alten römiſchen Satz „expedit rei-
publicae, ne sua re quis male utatur“
aufgefaßt, und mit weiteren
Beiſpielen belegt. Er hat nicht geſehen, daß dieſer Grundſatz ein Rechts-
princip der Geſchlechterordnung iſt, und ſich daher nur auf den Grund
und Boden bezieht; Fichte aber hat überhaupt das Eigenthum bloß
als den „durch das Recht anerkannten und damit durch die öffentliche
Rechtsmacht geſchützten Beſitz“ aufgefaßt (S. 72 ff.). Es iſt klar,
daß wir hier demſelben Widerſpruch wie bei Laſſalle begegnen. Kommt
jenes Recht aus dem Weſen der Perſönlichkeit, wie kann es überhaupt
„kein abſolutes Recht des Privateigenthums“ geben? Es gäbe ja dann
keine Perſönlichkeit als die der Gemeinſchaft — ungefähr die Laſſalle’ſche
Vorſtellung, die allerdings den großen Fehler der Hegel’ſchen Lehre
trifft. Gibt es aber eine ſolche, wie verhält ſich dann ihr Recht zu
dem Geſammtwillen? Und ſollte wirklich die ganze Weltgeſchichte, die
nie ohne Einzelperſönlichkeit und Eigenthum geweſen iſt, ſo entſchieden
alles Weſen beider mißverſtanden haben? — Offenbar läßt ſich auf
dieſe Grundlagen, die das Einzelrecht überhaupt nicht anerkennen,
auch keine Lehre von der Enteignung des Einzelrechts bauen, ſo wenig
wie aus dem Begriff des Rechts das Recht auf Aufhebung des Rechts
folgt. Biſchof (a. a. O. S. 51) hofft, daß ſich das Fichte-Princip
„unter einem reifern Geſchlecht Bahn brechen werde,“ während die
Stahl’ſche Auffaſſung an der Perſönlichkeit ſo feſt hält, daß ſie wieder
die Enteignung an und für ſich aufhebt (Philoſophie des Rechts,
3. Aufl. Bd. II. §. 15—18). — Es iſt klar, daß keiner dieſer Wege
das Weſen derſelben zum Verſtändniß zu bringen vermag.


II. Das Princip des Enteignungsrechts.

Aus dieſem Weſen des Enteignungsrechts folgt nun auch das,
was wir das Princip deſſelben nennen. In dem Enteignungsrechte
nämlich ſtehen ſich die geſellſchaftliche Forderung an den Einzelnen, ſein
Eigenthum aufzugeben, und das eben ſo beſtimmte Princip der ſtaats-
bürgerlichen Ordnung, daß dem Einzelnen die ſelbſtändige Unverletz-
lichkeit erhalten werden ſolle, einander gegenüber. Das Princip des
Enteignungsrechts iſt nun der Grundſatz, der in dieſer Beſchränkung des
[300] Einzelrechts durch die geſellſchaftliche Entwicklung die rechtliche und
wirthſchaftliche Selbſtändigkeit des Einzelnen ſo weit aufrecht hält,
als dieß überhaupt für die Erreichung der geſellſchaftlichen Forderung
möglich iſt. Aus dem Streben, das Gebiet dieſer Beſchränkung des
Einzelrechts auf ihr äußerſtes Maß zurückzuführen, und dadurch das
zweite große Element der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den freien
Einzelnen, zu erhalten, ergibt ſich nun das, was wir das Syſtem
des Enteignungsrechts nennen. Die Grundlage dieſes Syſtems iſt
demnach der Satz, daß der Staat nie dasjenige Gut nehmen darf,
welches er ſich ſelbſt hätte erwerben können, und daß er, wo er das
Gut nimmt, nie mehr nehmen darf, als für ſeine Aufgabe unabweis-
bar nothwendig iſt. Das erſte ſchließt die Enteignung unbedingt aus,
ſo lange ein freier Erwerb auch des nöthigen Gutes wirthſchaftlich
möglich iſt; das zweite erzeugt die [Nothwendigkeit], das zu enteignende
Gut erſtlich genau zu beſtimmen, und zweitens in demſelben nur das
zu nehmen, was der Staat ſich nicht ſelbſt ohne den Eigner geben
konnte; das aber iſt die Subſtanz des Gutes, der Stoff deſſelben,
während das zweite organiſche Element des Gutes, der Werth des-
ſelben, dem Eigner als Entſchädigung zurückgegeben werden muß. Aus
dieſen Momenten entſteht nun das Recht der Enteignung.


Das Recht der Enteignung enthält und bezeichnet demgemäß die
Gränze des individuellen Eigenthums, welche die Enteignung bei der
Aufhebung deſſelben aufrecht zu halten hat. Das Recht der Enteignung
kommt daher weder im Begriffe des Privatrechts, noch in dem der
Volkswirthſchaft zur Erſcheinung, ſondern es ſcheint vielmehr als die,
aus dem obigen Weſen der Enteignung fließende Gränze für diejenige
Thätigkeit des Staats, welche das individuelle Eigenthum wirklich ent-
zieht; und für dieſen Begriff des Enteignungsrechts iſt es mithin
vor der Hand ganz gleichgültig, ob dieß Recht ein geſetzliches, verord-
nungsmäßiges, oder bloß ein Recht an ſich iſt. Denn es wird, da das
Weſen der Sache ſelbſt immer daſſelbe iſt, auch ſtets immer das gleiche
Recht ſein; und dieß Recht iſt mithin das Recht der Wiſſenſchaft.


Allein eine weſentlich verſchiedene Frage iſt nun allerdings die,
ob und wie weit ſich dieß Recht an ſich durch das Zuſammenwirken
von Geſetzgebung, Verwaltung und Wiſſenſchaft bereits zu einem
geltenden Recht ausgebildet hat
. Die Darlegung dieſes Pro-
ceſſes des Werdens eines geltenden Rechts aus dem Recht an ſich bildet
dann die Rechtsgeſchichte des Enteignungsrechts.


[301]
III. Die Elemente der Geſchichte des Enteignungsrechts.

(Die drei Epochen. Die Epoche des dominium eminens und der Regalität.
Die Epoche des Verordnungsrechts mit dem Uebergange in die bürgerlichen
Geſetzbücher. Die Epoche des Verfaſſungsrechts. Uebergang in die Verfaſſungs-
urkunden. Entſtehung der Enteignungsgeſetze.)


Wenn es richtig iſt, daß die Enteignung ein geſellſchaftlicher Mo-
ment und ihr Recht ein geſellſchaftliches Recht iſt, das nur durch die
Verwaltung verwirklicht wird, ſo wird die Grundlage der Geſchichte des
Enteignungsweſens zugleich in den großen Epochen der geſellſchaftlichen
Entwicklung Europas verlaufen. Und in der That iſt dieß wie bei dem
Entlaſtungs- ſo auch bei dem Enteignungsweſen in ſo ſchlagender Weiſe
der Fall, daß dieſe Geſchichte ihrerſeits als ein keineswegs unbedeutender
Beitrag zur Geſchichte der Geſellſchaft erkannt werden muß.


Es ergibt ſich daraus zunächſt, daß von einer eigentlichen Ent-
eignung unter der Geſchlechter- und Ständeordnung gar keine Rede
ſein kann. Sie beginnt erſt da, wo die ſtaatsbürgerliche Geſellſchafts-
ordnung ihrerſeits ſich aus jenen beiden Formen loszumachen beginnt;
und auch hier findet ſie ihre erſte und natürliche Vertretung in der neu
entſtehenden Gewalt der Landesregierungen. Die unbedeutenden An-
knüpfungen an das Expropriationsrecht, die wir als Spuren im römi-
ſchen Rechte finden, ſind von Wendt und ſpäter von Häberlin an-
geführt; die Pandekten-Jurisprudenz hat ſie unverſtanden gelaſſen; jeden-
falls ſind ſie zu keinem juriſtiſchen Syſtem geworden. Die Rechtslehre
Europas konnte daher an dieſe Quelle hier nicht anknüpfen. Sie mußte
einen andern Weg einſchlagen. Dieſer lag vor im Gebiete des dominium
eminens,
auf deſſen Geſchichte wir hier verweiſen; allein zu einem Be-
griff und Rechte der Enteignung konnte das dominium eminens nicht
führen, und es iſt gänzlich falſch, wenn Biſchof (S. 60) und zu-
letzt Thiel (S. 1) ohne weiteres das dominium eminens als Grund-
lage oder gar Synonimum der Expropriatio der ſpätern Zeit, oder als
die Geſtalt derſelben in der Lehnsepoche anſehn. Denn der weſentliche
Unterſchied zwiſchen dominium eminens und expropriatio beſteht darin,
daß aus jenem Recht als einem Eigenthum der Krone zwar das Recht
der Eigenthumsentziehung, nicht aber das der Entſchädigung folgen
kann. In der That ſtehen ſich in dem dominium eminens die Krone
und der Einzelne nicht als zwei Gleichberechtigte gegenüber, der letztere
iſt vielmehr der erſteren unterworfen, und das dominium eminens ent-
hält daher eigentlich gar nicht den Gedanken, daß der dominus dem
Andern deſſen Recht entziehe, ſondern nur den daß er ſein eignes Recht
gegen den Inhaber geltend macht, was den Begriff der Enteignung
[302] an ſich ausſchließt. (Vergl. oben die Darſtellung des dominium eminens.)
Noch verkehrter iſt es, wenn man mit Biſchof (S. 73) dieß dominium
eminens
mit dem jus eminens, dem Staatsnothrecht, oder gar mit dem
alten Verordnungsrecht, der plenitudo summae potestatis zuſammenſtellt.
Wir werden ſpäter Gelegenheit haben, auf die letzteren zurückzukommen.
Die Enteignung beginnt erſt da, wo nicht mehr die Krone und der Ein-
zelne, ſondern der Staat als Einzelner dem Einzelnen in Beziehung auf
einen öffentlichen Zweck entgegen tritt. Und eben deßhalb iſt das Auftreten
der Idee der Enteignung auch von Anfang an mit dem Princip der Ent-
ſchädigung verbunden, was bei dem dominium eminens nicht der Fall iſt.
Das Gebiet nun, auf welchem in dieſem Sinne zuerſt die Enteignung auf-
tritt, iſt das der Regalität, und zwar ſpeciell das Bergwerksregal.
Es iſt nun allerdings klar, daß das Eigenthum des Staats an den
Gütern unter der Erde nicht das Eigenthum an denjenigen Grund-
ſtücken enthält, welche den Zugang und Abbau jener Güter möglich
machen; das dominium der erſteren gibt daher kein dominium an den
letzteren, und die Regalität des Bergbaues enthält daher an ſich eben
ſo wenig ein Recht auf Enteignung der Grundbeſitzer in der Lehnszeit,
als dieß im römiſchen Recht je der Fall war. Aber hier ließ das
Recht auf den erſteren ſtillſchweigend das Recht zur letzteren als ſelbſt-
verſtändlich entſtehen, ohne daß man ſich über dieſen Bruch des Privat-
eigenthums Rechenſchaft ablegte. Im Bergwerksregal erſcheint daher
der erſte Sieg, den das volkswirthſchaftliche Unternehmen über das
Einzeleigenthum davon trägt; die erſte Rechtsbildung der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft. Bergwerke können nicht betrieben werden, ohne eine
Enteignung der Beſitzer der Oberfläche. So wie daher das Bergwerks-
regal die Geſtalt eines öffentlichen Rechts der Montan-Unternehmungen
annimmt, entſteht auch der öffentlich rechtliche Grundſatz, daß der „Grub-
meiſter“ den Beſitzer in ſo weit enteignen dürfe, als er dieſes Beſitzes für
den Bergbau unbedingt bedarf; ſpeciell darf er Wege anlegen und Holz
nehmen für ſeine Zwecke gegen Entſchädigung. Dieſer Grundſatz tritt
ſchon im 14. Jahrhundert in einzelnen Fällen auf, und wird dann mit
dem 15. und 16. zu einem ziemlich allgemeinen Princip des deutſchen
Rechts. Wagner in ſeinem Corpus juris metallici hat dieß zuerſt be-
merkt (Vorrede S. XI.) und Häberlin hat aus Wagners Samm-
lung den Grundſatz nachgewieſen, daß, da man den Bergbau ſelbſt,
wenn er von Privatperſonen ausgeübt ward, „vermöge ſeines öffent-
lichen Nutzens als eine öffentliche Angelegenheit anſah“ (S. 8) dem-
gemäß „vermöge der Regalität der Bergwerke jeder Grundbeſitzer ver-
pflichtet war, den zum eigentlichen Grubenbau nöthigen Grund und
Boden abzutreten“ (S. 28), ein Satz, der ſich dann gleichſam als ſelbſt-
[303] verſtändlich in den Bergordnungen des 18. Jahrhunderts erhält und bis
auf die neueſte Zeit fortpflanzt. Dieſe Bergordnungen (die bayeriſche
von 1784, die Joſephiniſche von 1781 und das preußiſche allgemeine
Landrecht Th. II. Tit. 16, bei Wagner S. 389 ff., Häberlin
S. 24—31) bilden eigentlich das erſte Syſtem des Enteignungsrechts;
doch kommt bei demſelben weder Name noch Begriff der Expropriations-
rechte zur Geltung. Der Grund davon liegt offenbar in der Vorſtel-
lung, daß dieſe Enteignungen noch nicht eben ein allgemeines ſtaats-
bürgerliches Rechtsverhältniß enthalten, ſondern immer nur auf ein-
zelne
, ganz örtliche Unternehmungen angewendet werden, und daher
den Charakter des Ausnahmerechts an ſich tragen, und daher auch
meiſtens auf den Rechtstitel der Regalität zurückgeführt werden. Dieſer
Standpunkt bleibt, als im 18. Jahrhundert daſſelbe Princip auch auf
andere Verhältniſſe, namentlich auf das Waſſerrecht und ſpeciell auf
die öffentliche Benutzung von Flüſſen und ſchiffbaren Gewäſſern An-
wendung findet. Auch hier erſcheint allerdings der Grundgedanke der
Waſſerregalität. Allein die Gewäſſer ſind denn doch viel allgemeiner
als die Bergwerke, und die Anerkennung der Nothwendigkeit, eine Ent-
eignung als Bedingung für die Benutzung ſolcher Gewäſſer eintreten
zu laſſen, nimmt daher gleich anfangs den Charakter eines Princips
der allgemeinen Enteignung an. Der Hauptvertreter dieſer Richtung
iſt Ch. Fritſch (Jus fluviatium, Jenae 1672); zu einem ausgearbeiteten
Syſteme wird dieſelbe erhoben durch Cancrin, Abhandlungen von
dem Waſſerrecht (4 Bde. Halle 1789—1800), ein Werk aus jener gründ-
lichen Zeit, in der man nicht glaubte, das Verwaltungsrecht als Po-
lizeiwiſſenſchaft mit einigen allgemeinen Phraſen erledigen zu können.
(Vgl. Häberlin S. 31.) Aber auch jetzt noch kommt man noch nicht
zu dem Begriffe und Recht einer eigentlichen Enteignung; man ſieht es
den Schriftſtellern an, daß ſie ſich ſcheuen, den Rechtstitel der Enteig-
nung in einem allgemeinen Grundſatz zu ſuchen; ihre Kategorien ſind
noch immer die des Privatrechts; die ſtaatsbürgerliche Verwaltung iſt
noch nicht durchgedrungen; es ſind noch die erſten vereinzelten Schritte
für die Herſtellung eines allgemeinen Rechtsſyſtems, und in dieſer Ver-
einzelung der Anwendung des Enteignungsrechts weſentlich auf Grund-
lage der Regalität beſteht der Charakter dieſer erſten Epoche der Ge-
ſchichte der Expropriation.


Allein ſchon in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat die ganze
Auffaſſung des Staats und ſeiner Aufgabe ſich eine neue Bahn ge-
brochen. Der Eudämonismus, die Idee, daß der Staat die Pflicht
und mithin auch das Recht habe, die Bedingungen des allgemeinen
Wohles herzuſtellen, wendet ſich jetzt ganz allgemein dem Einzelrecht zu.
[304] Die Idee des dominium eminens verſchwindet, aber die des Staats
tritt an ihre Stelle. Die Verwaltung jener Zeit erkennt, daß ſie, ſoll
ſie überhaupt ihre Aufgabe erfüllen, an den Schranken des Einzel-
beſitzes nicht ſtehen bleiben darf. Dieſer Gedanke liegt ſchon unent-
wickelt in dem Gegenſatz zwiſchen den beiden Begriffen des imperium
und des dominium eminens. Wir können hier nur darauf aufmerkſam
machen, daß jene Idee des imperium in der That den Staat und ſeine
neue Stellung bedeutet, und den Rechtstitel der Handlungen des Staats
in dem ethiſchen Weſen derſelben ſucht, während das dominium die-
ſelben auf das hiſtoriſche, feudale Obereigenthum zurückführt, und damit
dieſes Recht auch da begränzt, wo das Obereigenthum aufhört, wäh-
rend das imperium eine ſolche Grenze nur in der Idee des Staates
ſelbſt findet. Der Vater des wiſſenſchaftlichen Begriffes des imperium
iſt Hobbes; von ihm geht derſelbe nach Deutſchland hinüber, und
findet ſeine Subſtanz an dem bekannten Gegenſatz zwiſchen Kaiſer und
Landesherrn; er erzeugt namentlich in der letzten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts jenen heftigen Kampf, an deſſen Spitze die bedeutendſten pu-
bliciſtiſchen Schriften des 17. Jahrhunderts ſtehen, der berühmteſte von
allen, der noch immer nicht gehörig ausgenutzte Hippolitus a La-
pide
: Diss. de ratione status in imperio nostro Romano-Germanico
(Freiſtadt 1647) und ſeine großen Nachfolger, der „Monzambano“ von
Pufendorf und LeibnitzsCaesarinus Furstenerius. Die Anwen-
dung der in dieſen großen publiciſtiſchen Schriften vertretenen Grund-
ſätze der, in der Idee des Kaiſerthums liegenden Idee des Staats auf
ſpecielle Rechtsfragen iſt in einer Reihe von Schriften enthalten, die
Biſchof (S. 73) anführt. Die klarſte Auffaſſung des ganzen Ver-
hältniſſes ſchon bei Multz(Repraesentatio Imperii p. 468): „Nemini
suum auferendum, nisi cum inde universi plus utilitatis praeci-
piunt, quam ille solus damnum patitur. Quod tamen ita commu-
nibus impensis resarciendum, ut ipsi sua quoque pars imputetur.“

Hier ſind die Elemente des Enteignungsverfahrens bereits im Weſent-
lichen angedeutet, jedoch immer nur theils als Theorie, theils als Aus-
nahmsfälle, dem Staatsnothrecht unterworfen (vergl. Biſchof S. 63 f.)
Erſt mit dem 18. Jahrhundert formuliren ſich dieſe Vorſtellungen zu
einem beſtimmten, allgemeinen Princip, das zwar den Begriff des Noth-
rechts oder des jus eminens von dem der Enteignung noch nicht
recht zu ſcheiden weiß, aber über die Sache ſelbſt vollkommen klar iſt.
Am beſten wohl bezeichnet die damalige Auffaſſung Kreitmayr (vergl.
Bayeriſche Städte- und Marktordnung von 1748 bei Häberlin S. 37)
in ſeinen Bemerkungen zum Cod. Max. Bavaricus. Kap. vom Eigen-
thum (Th. II. C. 2. § 2). „Im gleichen gehört das ſogenannte dominium
[305] eminens
daher, kraft deſſen die Landesherrſchaft der Unterthanen
Güter im Fall der Noth wegnehmen, und zum gemeinen Beſten
verwenden kann, denn, obwohl dieſe Benennung, welche von Hugo
Grotius auf das Tapet gebracht worden, etwas hart klingt, und in-
ſonderheit zwiſchen Hornio (de dominio eminente), dann Leysero (in
Diss. de imperio contra dominium eminens) großer Streit entſtanden,
ſo läuft doch das Meiſte hierbei auf eine bloße Logomachie hinaus.
Im Hauptwerk läugnet der Landesherrſchaft obverſtandene
Gewalt
, ſo weit ſie in gehörigen Schranken bleibt, Niemand ab,
liegt alſo im Ueberreſt nicht viel daran, wie das Kind getauft werde,
und ob es eigentlich dominium eminens oder imperium heißen ſoll.“
Es war eben der Sieg eines ganz neuen Princips über die alte Vor-
ſtellung, und dieſes Princip findet nun in der Geſetzgebung am Schluſſe
des 18. Jahrhunderts eine ganz beſtimmte, wenn auch nur noch all-
gemein gehaltene geſetzliche Anerkennung. Für die Anlage von Wegen
und Chauſſeen bereits durch Edikt vom 18. April 1792 in Preußen
ausgeſprochen, und in andern Wegeordnungen des 18. Jahrhunderts
angedeutet (Häberlin S. 37—39), wird es mit den beiden großen
bürgerlichen Geſetzgebungen des 18. Jahrhunderts, dem öſterreichiſchen
bürgerlichen Geſetzbuche §. 365 und dem preußiſchen allgemeinen Landrecht,
namentlich Tit. 11, ausdrücklich als allgemeiner Rechtsgrundſatz
anerkannt
. Damit ſchließt die zweite Epoche. Es macht nicht viel
aus, daß das erſte dieſer beiden Geſetzbücher kurz, das zweite in ſeiner
gewöhnlichen Weiſe breit iſt; gemeinſam bleibt beiden, und mit ihnen
der ganzen deutſchen Jurisprudenz der Satz, daß jede Regierung das
Recht zur Enteignung für den allgemeinen Nutzen nach ihrem Ermeſſen
gegen angemeſſene Schadloshaltung haben ſolle.


Es iſt nun wohl klar, daß in dieſem Grundſatz zwar einerſeits
die große Idee der Verwaltung zur Geltung kommt, daß aber auch
andererſeits damit das Einzeleigenthum gegenüber dem ſouveränen Ver-
waltungsrecht der Staaten faſt als ſchutzlos erſcheint. Es liegt in jener
geſetzlich formulirten Berechtigung des Staats der Keim eines tiefen,
die ganze ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft in ihrer erſten Grundlage, der
Selbſtändigkeit des Einzelnen, beſtändig bedrohenden Widerſpruchs. Die
Verwaltung allein entſcheidet darüber, nicht bloß ob und was enteignet
werden ſoll, ſondern eben ſo gut über die Zwecke, für welche die Ent-
eignung ſtattfindet. Das Enteignungsweſen beruht hier daher ganz auf
der einſeitigen Auffaſſung der Verwaltung, und wir nennen es dem-
nach das verordnungsmäßige Enteignungsrecht, in formeller
Unterſcheidung von der folgenden Epoche. Dieß Enteignungsrecht iſt
in der That eine ernſte Gefahr für den Staatsbürger. Denn die
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 20
[306] Grenze für jedes Einzeleigenthum iſt jetzt jener unbeſtimmte und unbe-
ſtimmbare allgemeine Nutzen; der vagen Vorſtellung deſſelben beugt ſich
jeder Staatsbürger; aber wenn jenes „allgemeine Wohl“ das Staats-
bürgerthum in ſeiner materiellen Grundlage ſelbſt, dem Beſitze, eigent-
lich ohne alle Grenzen bedroht, ſo iſt in Wahrheit die Rechtsbildung
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bei dem Punkte angelangt, wo ſie
ihre eigene Grundlage angreift, die Freiheit des Einzelnen. So organiſch
und nothwendig daher an ſich das Rechtsprincip der Enteignung iſt,
ſo fordert es dennoch, einmal anerkannt, auch ſeine Grenze. Damit
tritt denn die Epoche ein, welche aus dem rein verordnungsmäßigen ein
Syſtem des geſetzmäßigen Enteignungsrechts bilden will, indem
ſie das Verfahren der Verwaltung bei der Enteignung geſetzlich formulirt
und ſomit die große Frage zu löſen ſucht, wo auf jedem einzelnen
Punkte jene Grenze zwiſchen den Forderungen des „allgemeinen Wohles“
und der individuellen Selbſtändigkeit zu ſetzen ſei. Und die Löſung dieſer
Aufgabe bildet den Inhalt der dritten Epoche des Enteignungsrechts.


Wir nennen dieſe dritte Epoche wohl am beſten die des ver-
faſſungsmäßigen Enteignungsrechts
. Denn die erſte Forde-
rung dieſer Zeit iſt es, die Aufhebung des Einzeleigenthums nicht mehr
von dem rein ſubjektiven Ermeſſen der Behörde abhängig zu machen,
ſondern das ganze Enteignungsweſen zu einem geſetzlichen Ver-
waltungsrecht
zu erheben. Erſt nachdem die abſtrakte Forderung
feſtſteht, daß jede Enteignung auf Grundlage eines Geſetzes geſchehen
müſſe, tritt die zweite Frage ein, welchen Inhalt dieſes Geſetz haben
ſolle. Der Proceß nun, vermöge deſſen ſich aus jenem Princip eine
ſyſtematiſche, das ganze Enteignungsweſen umfaſſende Geſetzgebung ge-
bildet hat, bezieht ſich demgemäß zuerſt auf das Princip der Geſetz-
mäßigkeit der Enteignung, dann auf die Entwicklung dieſes Princips
zu einer ſyſtematiſchen Enteignungsgeſetzgebung. Demgemäß hat
derſelbe zwei Hauptabſchnitte, die zwar verſchiedene Geſtalt, aber doch
im Weſentlichen denſelben Inhalt haben. Auch hier daher muß das
vollſtändige Bild erſt durch die Darſtellung der einzelnen Rechtsbildungen
in den einzelnen Staaten gegeben werden, was wir unten verſuchen
werden. Dennoch iſt es keine Frage, daß in wenig andern Gebieten
des Verwaltungsrechts eine ſolche Gleichartigkeit der ganzen Rechts-
bildung ſtattgefunden hat, als hier. Und es iſt daher zur richtigen
Beurtheilung dieſes wichtigen Gebietes der europäiſchen Rechtsgeſchichte
von entſcheidender Wichtigkeit, die allgemeinen Elemente und Stadien
ſeiner Entwicklung feſtzuſtellen, als den großen Hintergrund, auf welchem
ſich die Individualität der einzelnen Staaten dann mit voller Klarheit
abzeichnet.


[307]

Es liegt nun im Weſen der Enteignung, daß dieſelbe da zuerſt zu
einem geſetzlichen Recht wird, wo das principiell freie Staatsbürger-
thum die Verwaltung des Staats ſich gegenüber ſieht; in dem Gegen-
ſatze beider entwickelt ſich erſt das verfaſſungsmäßige Enteignungsrecht.
Die franzöſiſche Revolution war es nun, welche einerſeits die ſtaats-
bürgerliche Freiheit, andererſeits aber auch die Gewalt und Berechtigung
der ſtaatsbürgerlichen Verwaltung in Europa zuerſt zum Bewußtſein
brachte. Sie nahm daher den allgemeinen Grundſatz der Enteignung,
wie ſich derſelbe aus dem 18. Jahrhundert ausgebildet hatte, unbedenk-
lich auf; allein ſie ſtellt ihn nicht voran, ſondern ſie macht ſein Gegen-
theil, das individuelle Eigenthum, aus einem bisher unmittelbaren und
nie beſtrittenen Rechtsaxiom zu einem Grundſatze des verfaſſungs-
mäßigen Staatsbürgerrechts
. Sie ſagt damit im Grunde nichts
Anderes, als was niemand bezweifelt; aber indem ſie dieſes Eigen-
thumsrecht zu einem Recht der Verfaſſung erhebt, macht ſie es noth-
wendig, daß die wirkliche Enteignung nicht mehr kraft einer Verord-
nung, ſondern nur noch kraft eines Geſetzes erfolgen könne. Darin
liegt die Bedeutung der Geſchichte des franzöſiſchen droit d’expropria-
tion
. Und dieſem Vorgange ſind die continentalen Staaten faſt aus-
nahmslos gefolgt. Schon die Déclaration des droits de l’homme vom
26. Auguſt 1789 ſpricht, im weſentlichen Unterſchied von dem Stand-
punkt des 18. Jahrhunderts, den verfaſſungsmäßigen Grundſatz der
ſogenannten „Heiligkeit des Eigenthums“ aus. „La propriété étant
un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé, si ce n’est
lorsque la nécessité publique, légalement constatée, l’éxige évidemment,
et sous la condition d’une juste et préalable indemnité“
(art. 17; faſt
wörtlich wiederholt in der Declaration von 1793, Art. 19). Der Unter-
ſchied dieſes Princips von dem des 18. Jahrhunderts beſteht in der
That nur in den Worten „légalement constatée.“ Die Baſis der Ge-
ſchichte des Enteignungsrechts iſt von da an die Geſetzgebung über die
Art und Weiſe, wie die „nécessité publique“geſetzlich feſtgeſtellt
werden ſoll; die Bildung dieſes Rechts beginnt mit dem erſten Expro-
priationsgeſetz von 1810 und ſchließt mit dem definitiven Geſetze von
1841. Die deutſchen Staaten haben genau denſelben Weg eingehalten;
faſt alle Verfaſſungen haben mit beinahe wörtlicher Wiederholung jener
Artikel der Declaration oder des Art. 545 des Code civil jene Heilig-
keit des Eigenthums feierlich anerkannt, zugleich aber meiſtens nach
demſelben Vorgange den Grundſatz gleichfalls verfaſſungsmäßig ausge-
ſprochen, daß bei Erforderniſſen des öffentlichen Wohles die Enteignung
eintreten könne. Dieſe verfaſſungsmäßigen Beſtimmungen ſind nun
mehr oder weniger ausführlich; am ausführlichſten bleibt in dieſer ganzen
[308] Epoche noch immer das preußiſche allgemeine Landrecht; im Großen
und Ganzen aber iſt es der gemeinſame Charakter dieſer Beſtimmungen,
daß ſie den Grundſatz der Enteignung zum verfaſſungsmäßigen Recht
erheben, ohne jedoch ſchon eine eigentliche Enteignungsgeſetzgebung
daran anzuſchließen. Und die Entſtehung dieſer letzteren aus dem allge-
meinen Princip des erſteren bildet nun den Inhalt des zweiten Theiles
dieſer Geſchichte.


Hier iſt nun der Ort, den Charakter und die Entwicklung dieſer
eigentlichen Enteignungsgeſetzgebung und damit auch die Stelle zu be-
ſtimmen, welche dieſelbe im Syſteme des öffentlichen Rechts einzu-
nehmen hat.


Wenn nämlich einmal der Grundſatz der Enteignung geſetzlich aner-
kannt iſt, ſo iſt es klar, daß die Anwendung deſſelben auf den einzel-
nen Fall Sache der vollziehenden Gewalt iſt. Wenn daher über die
Art und Weiſe, wie die letztere dabei vorzugehen hat, kein weiteres
Geſetz beſteht, ſo kann die Regierung nur auf dem Wege der Ver-
ordnung
vorgehen. Dieſes Verordnungsrecht der Regierung beginnt
nun, wie es in der Natur der Sache liegt, der Regel nach mit der
Verfügung für das Verfahren im einzelnen, concreten Fall. Die
Gleichartigkeit ſolcher Fälle läßt dann aus den Verfügungen und der
aus ihnen entſtehenden Uebung eine allgemeine Verordnung über
das Verfahren bei der Enteignung entſtehen, dem in den einzelnen
Fällen nachzukommen iſt. Meiſt nun werden ſolche allgemeine Verord-
nungen für beſtimmte gleichartige Kategorien erlaſſen, namentlich für
die Enteignung bei Eiſenbahnen. Die Jurisprudenz nimmt dieſe Ver-
ordnung als geltendes Recht, und bildet daraus eine Theorie des Ent-
eignungsrechts, ohne ſich weiter um den Unterſchied von Geſetz und
Verordnung zu kümmern. In vielen Staaten gibt es überhaupt noch
keinen durchgreifenden Unterſchied zwiſchen Geſetzgebung und Verord-
nung; man läßt ſich einfach mit dem Begriffe des geltenden Rechts
genügen, und geltendes Recht iſt ja auch die Verordnung. Für
Deutſchland iſt daher die Zeit, welche der verfaſſungsmäßigen Aner-
kennung des Enteignungsrechtes folgt, die Rechtsbildung durch das Ver-
ordnungsrecht. Und dieß Verordnungsrecht iſt ſeinem Inhalte nach gar
nicht ſchlecht; im Gegentheil hat daſſelbe im Weſentlichen das ganze
Syſtem des Enteignungsrechts gründlich und tüchtig vorgebildet. Es
muß daher die Frage entſtehen, was denn nun noch eigentlich zu wün-
ſchen ſei, nachdem das Princip des Rechts geſetzmäßig anerkannt und
die Ordnung für die Vollziehung verordnungsmäßig feſtgeſtellt waren.
In der Antwort auf dieſe Frage liegt eigentlich der Charakter der-
jenigen Rechtsbildung, in der wir uns gegenwärtig befinden.


[309]

Dieſe nun glauben wir mit Einem Worte bezeichnen zu können.
Es ſoll aus dem verordnungsmäßigen Enteignungsrecht, unter beinahe
vollſtändiger
Beibehaltung ſeines Inhalts, ein geſetzmäßiges ge-
macht werden. Der Grund dieſer Forderung wird nirgends klar aus-
geſprochen, iſt aber dennoch unzweifelhaft. So lange jenes Recht näm-
lich Verordnungsrecht iſt, iſt die Behörde ihrerſeits berechtigt, ſtets neue
Verordnungen zu erlaſſen, und in jedem Falle nach ihrem Ermeſſen das
Verfahren zu ändern; und zweitens gibt es bei dieſem Verordnungsrecht
kein Klagrecht vor dem Gericht, ſondern nur ein Beſchwerderecht vor
der höheren Behörde. Iſt ein ſolcher Zuſtand nun ſchon überhaupt kein
wünſchenswerther, ſo iſt er es am wenigſten da, wo es ſich um Eigen-
thum und Beſitz handelt. Hier genügt es offenbar nicht, daß das Ent-
eignungsrecht principiell anerkannt ſei, ſondern es muß auch das Ver-
fahren beſtimmten Geſetzen unterworfen ſein, und in dieſer Geſetzmäßigkeit
die Sicherung des Eigenthums gegenüber der Verwaltung gefunden und
durch die Möglichkeit der Klage ſanctionirt werden. Das iſt die zweite
Aufgabe der Rechtsbildung; erſt in dritter Linie erſcheint die Detailaus-
arbeitung der einzelnen Punkte. Und die ganze geſchichtliche Entwicklung
Deutſchlands geht deßhalb dahin, eben dieſes Recht des Verfahrens bei
der wirklichen einzelnen Enteignung zu einem geſetzlichen zu machen.


Das Enteignungsrecht iſt daher ein Geſetz für das Verfahren
der Verwaltungsorgane bei den einzelnen Enteignungen
.
Es iſt daher kein Zweifel, daß es keinem andern Rechtsgebiete als dem
des innern Verwaltungsrechts angehört; und wie es im innern
Zuſammenhange mit der ganzen Entwährung ſteht, iſt bereits oben
nachgewieſen. Dieſer Proceß der Rechtsbildung iſt nun allerdings
etwas verſchieden in den verſchiedenen Ländern Europas geſtaltet; wir
wollen verſuchen, wenigſtens die drei Grundformen deſſelben hier an-
zuſchließen.


IV. Englands Enteignungsrecht.

Die Lands Clauses Act 8. Vict. 18. 1845.


Was hier zuerſt England betrifft, ſo müſſen wir zunächſt den Irr-
thum berichtigen, den alle uns bekannte Autoren über das Enteignungs-
recht, und zuletzt wieder Thiel begehen, indem ſie meinen, als habe
England keine Enteignungsgeſetzgebung. Allerdings iſt es richtig, daß
England das Princip der Heiligkeit des Eigenthums und eben ſo wenig
den Rechtsgrundſatz der Enteignung für öffentliche Zwecke niemals an-
erkannt und bis 1845 auch im einzelnen Falle nicht zugelaſſen hat.
Wie aber daſſelbe die Entlaſtung, Ablöſung und Auftheilung vom
[310] Continent bei ſich aufgenommen und in ſeiner Weiſe verarbeitet hat, ſo
hat es auch die Grundſätze der Enteignung, noch dazu in faſt ganz
gleicher Form bei ſich recipirt, wie die Geſetzgebung des Continents.
Nur muß man dabei von der Stellung des Parlaments ausgehen. Wir
haben in der vollziehenden Gewalt bereits auf das Weſen und die
Function des engliſchen Parlaments als oberſten Organes zugleich der
Verwaltung und Geſetzgebung hingewieſen, und bemerkt, daß die Be-
ſchlüſſe deſſelben bei den Private Bills das Weſen von Geſetz und Ver-
ordnung ſo innig vermiſchen, daß es unmöglich iſt zu ſagen, ob ſie
das eine oder das andere ſind. Man kann deßhalb ſagen, daß in
England
jede Private Bill eine Special-Geſetzgebung iſt; man kann
aber auch ſagen, daß ſie eine Verordnung der geſetzgebenden Gewalt
iſt, wie früher die Verordnungen der abſoluten Monarchie. Doch iſt
ein ſolcher Streit werthlos. Gewiß iſt gagegen, daß bis zum Jahre
1845 gar kein allgemeines Geſetz über die Enteignung in England
beſtand. Allerdings hatte niemals eines der engliſchen Grundgeſetze „die
Heiligkeit des Eigenthums“ ausgeſprochen, allein daſſelbe ward ohnehin
aufrecht gehalten, und das Parlament, das, wie wir oben geſehen, es
erſt ſpäter als ſelbſt die Deutſchen zu einer Entlaſtungsgeſetzgebung
gebracht, gelangte daher auch nicht zu der Anerkennung oder Ausführung
der Enteignung. Im Gegentheil mußten alle Unternehmungen ſich die
erforderlichen Grundſtücke ſelbſt kaufen, und in den meiſten Fällen war
es für die Erzielung einer Private Bill ſogar Grundſatz, daß der bereits
geſchehene Erwerb ſchon nachgewieſen werden mußte, um nur die Con-
ceſſion vom Parlamente zu erhalten. So hatte England bis auf die
neueſte Zeit nicht einmal das allgemeine Princip der Enteignung an-
erkannt, geſchweige denn ein Specialgeſetz für Enteignung oder gar ein
allgemeines Enteignungsgeſetz.


Es iſt nun wohl ſchwer zu ſagen, ob es der ungeheure Aufſchwung
des Eiſenbahnweſens, oder auch hier das von England faſt eben ſo
oft ſtillſchweigend als von Deutſchland laut präconiſirt nachgeahmte
glänzende Beiſpiel Frankreichs war, vermöge deſſen England den erſten,
allerdings höchſt vorſichtigen Schritt aus ſeiner beſchränkten Auffaſſung
heraus that und ſich eine Enteignungsgeſetzgebung erſchuf. Das war
die Lands Clauses Act von 1845, 8. Vict. c. 18. Nur war auch dieſe
wieder eine halbe, und die Einſeitigkeit derſelben hängt auf das Engſte
mit der Stellung des engliſchen Parlaments zuſammen.


Hält man nämlich an der Unterſcheidung des Rechts der eigent-
lichen Enteignung als Aufhebung des Eigenthums und des Rechts der
Entſchädigung feſt, ſo iſt der Zuſtand des engliſchen Enteignungsrechts
in Folge dieſer Land Clauses Act folgender.


[311]

Die Land Clauses Act hat nämlich das Recht, über die Zuläſſig-
keit von Unternehmungen zu entſcheiden, welche der Expropriation be-
dürfen, dem Parlament nach wie vor gelaſſen, und das ganze Ver-
fahren zum Zwecke der Genehmigung einer ſolchen Unternehmung durch
eine Private Bill iſt demnach mit all ſeinen Schwierigkeiten, Koſten und
faſt unabſehbaren Weitläuftigkeiten geblieben. Das Parlament agirt
für ſolche Conceſſionen als oberſte Verwaltungsbehörde nach wie vor.
Allein der Grundſatz, daß eine ſolche Parlaments-Conceſſion erſt dann
gegeben werden dürfe, wenn die erforderlichen Grundſtücke bereits er-
worben ſeien, ward aufgehoben, und die Land Clauses Act entwickelte
nunmehr in der der engliſchen Geſetzgebung unſyſtematiſchen aber ge-
ſchäftskundigen Weiſe zwei Principien. Erſtlich daß eine gerichtliche
Enteignung (durch justices oder jury) für das nöthige Land von Fall
zu Fall vom Parlamente bewilligt werden kann, und zweitens daß
ein regelmäßiges Verfahren der Entſchädigung in ſolchen Fällen ſtatt-
zufinden habe. Es iſt in dieſem Geſetze ein ſtrenges Feſthalten an dem
ſpecifiſch-franzöſiſchen Princip nicht zu verkennen, nach welchem die höchſte
oberſte Verwaltungsbehörde den öffentlichen Nutzen einer ſolchen Unter-
nehmung ausſpricht, und im Namen deſſelben den Unternehmern das
Recht verleiht, die beſtehenden Grundſätze über Enteignung und Ent-
ſchädigung für diejenigen Grundſtücke anzuwenden, deren ſie bedürfen,
während der Act der Aufhebung des Eigenthums wiederum von einem
Gericht ausgeht, die Geſchwornen dagegen die Entſchädigungsbeträge
beurtheilen. Der Mangel eines Grundbuchsweſens hat dabei den ganzen
Theil wegfallen laſſen, der ſich auf das Grundbuchsrecht der Enteignung
bezieht. Andrerſeits hat England ſtrenge feſtgehalten an dem Recht,
daß die Bewilligung zu dieſer Enteignung der Land Clauses Actnie
von der Regierung, ſondern nur vom Parlamente ausgehen dürfe; ſelbſt
in dem Gebiete, wo es am nächſten lag, die Sache der competenten
Behörde zu überweiſen, in dem Gebiete des Eiſenbahnbaues. Denn die
neueſte Rail ways Construction facilities Act 1864 (27. 28. Vict. 121)
gibt allerdings dem Board of trade das Recht, Eiſenbahn-Conceſſionen
einſeitig ohne Private Bill zu ertheilen (d. h. das Certificate zu geben),
allein das board of trade hat nicht das Recht, der Unternehmung die
Rechte der Land Clauses Act, das iſt, das Recht der Enteignung zu
geben, ſondern die Unternehmer müſſen, ehe ſie um das Certificate des
board of trade einkommen, nachweiſen, daß ſie alle Grundſtücke, die
erforderlich ſind, bereits gekauft haben (Art. 6). Nur die Erleich-
terung iſt ausdrücklich gewährt, daß wenn das Certificate von dem
board of trade nicht ertheilt wird, die Kaufverträge in Beziehung auf
die Grundſtücke nicht gültig ſein ſollen (Art. 52). Selbſt da, wo die
[312] Aufnahme der ganzen Land Clauses Act in eine ſolche Conceſſion, wenn
ſie durch den board of trade geſchieht (incorporation of the land clauses
act with the certificate),
geſchehen iſt, wird genau beſtimmt, daß alle
Grundſätze, welche die Land Clauses Act über die Enteignung enthält
(Art. 16—68), nicht in das Certificate aufgenommen ſein ſollen (Art. 23).


Dieß iſt der Standpunkt des engliſchen Enteignungsrechts. Da die
ſpeciellen Grundſätze weſentlich mit dem franzöſiſchen übereinſtimmen,
ſo können wir ſie einfach in das folgende Syſtem aufnehmen, Es iſt
aber kein Vorzug für England, daß es auch hier ſeinen geſetzgebenden
Körper mit ſolchen verwaltungsrechtlichen Functionen betraut hat; nicht
bloß daß die Klagen über die unerhörten Koſten der Conceſſionserwerbung
in derſelben unvernünftigen Weiſe ſich ſteigern, wie bei den Gemeinheits-
theilungen, auch das ganze Eiſenbahnweſen leidet unter dieſen Verhält-
niſſen, wie wir ſpäter bei der Darſtellung des Communicationsweſens
zeigen werden.


V. Frankreichs Expropriationsgeſetzgebung.

Es iſt nun wohl gar kein Zweifel, daß, während Deutſchland zuerſt
das allgemeine Princip der Enteignung anerkannt und es bereits im
18. Jahrhundert formulirt, Frankreichs Geſetzgebung nicht bloß zuerſt
dem Enteignungsweſen ſein verfaſſungsmäßiges Recht, ſondern auch ſeine
erſte organiſche Geſetzgebung gegeben hat. Der Gang dieſer franzöſiſchen
Geſetzgebung auf dieſem Gebiet aber bietet mehrfaches, nicht geringes
Intereſſe.


Nachdem bereits die Déclaration des droits den Grundſatz der
Heiligkeit des Eigenthums neben dem der Enteignung auf geſetzlichem
Wege ausgeſprochen, formulirte der Code civ. das eigentliche Ent-
eignungsrecht im Art. 545 bekanntlich dahin: „Nul ne peut être con-
traint de céder sa propriété, si ce n’est pour cause d’utilité publi-
que, et moyennant une indemnité préalable.“
Das große Geſetz vom
16. September 1807 entwickelte dieſen Grundſatz zuerſt zu einer förm-
lichen Geſetzgebung über das ganze Enteignungsweſen; jedoch iſt das
letztere hier noch nicht ein eigenes, ſelbſtändiges Gebiet des Verwaltungs-
rechts. Das Geſetz vom 16. September 1807 iſt vielmehr das eigentliche
Landescultur-Geſetz des Kaiſerreiches, und in ihm erſcheint die Ent-
eignung im T. XI als eine Maßregel der Landescultur, namentlich
bei Entwäſſerungen, Eindeichungen, ſelbſt bei Mühlen und Werkſtätten;
zugleich wird die Enteignung zum Zweck der Anlage von Wegen, Sand-
und Kiesgräben zum öffentlichen Gebrauch u. ſ. w. als Grund der Ent-
eignung anerkannt. Es iſt dieß Geſetz der erſte große Verſuch, ſich
[313] über Weſen und Umfang der „utilité publique“ klar zu werden. Die
Nothwendigkeit der Enteignung wird noch durch die Ingénieurs des
ponts et chaussées
feſtgeſtellt; die Entſchädigung geht vorauf. Das
Geſetz vom 30. März 1831 bezog ſich weſentlich auf die Enteignung
zu militäriſchen Zwecken, und gehört durch den Nachdruck, den es auf
die „urgence“ legt (Art. 2), bereits zum Theil dem Staatsnothrecht
an. Weſentlich iſt, daß dieſe Nothwendigkeit durch die Ordonnance
royale
ausgeſprochen werden muß; das Geſetz von 1831 iſt daher der
Punkt, auf welchem ſich das Element des verordnungsmäßigen Ent-
eignungsrechts von dem geſetzmäßigen ſcheidet; und die folgenden Geſetze
haben damit die Aufgabe, dieſe Scheidung durchzuführen, und darauf
das eigentlich franzöſiſche Enteignungsrecht zu begründen. Dies geſchieht
durch das Geſetz vom 7. Juli 1833 und durch die Ordonnance vom
18. Februar 1834. Das Geſetz von 1833 nämlich enthält bereits das
ganze Syſtem des geſetzlichen Enteignungsrechts; die Verordnung von
1834 dagegen beſtimmt das Verfahren der Behörde, und den Antheil,
den dieſelbe an der Enteignung zu nehmen hat, wozu noch die Ordonnanz
vom 23. Auguſt 1835 hinzugerechnet werden muß. Die Beſtimmungen
des Geſetzes von 1833 werden dann in dem großen Geſetz vom 3. Mai
1841, dem eigentlichen Enteignungsgeſetze Frankreichs, mit mehreren
Modificationen revidirt und codificirt, und dieſes Geſetz iſt jetzt das
geltende Recht Frankreichs. Die Expropriationsgeſetzgebung des übrigen
Europas hat ſich theils bereits an das Geſetz von 1833, theils an das
von 1841 angeſchloſſen. Der Charakter dieſer Geſetzgebung iſt einfach.
Wir heben ihn hervor, weil er ſeinerſeits das natürliche Syſtem des
ganzen Enteignungsrechts begründet. Das Enteignungsverfahren zer-
fällt darnach in drei Abtheilungen. Das erſte Stadium deſſelben ent-
hält die Feſtſtellung des „utilité publique“ für das Unternehmen, das
der Enteignung bedarf; und dieſe wird entweder durch ein eigenes
Geſetz (Geſetz von 1833 und 1841 Art. 2), oder durch eine Verordnung
des Königs (Ordonnanz von 1834 Tit. II und Geſetz von 1833 und
1841 bei Departementalwegen, Ordonnanz von 1835 mit beſtimmten
Formalitäten auch bei Gemeindewegen) ausgeſprochen. Das zweite
Stadium iſt die Feſtſtellung der zu enteignenden Beſitzungen, auf welche
dann das gerichtliche Enteignungsurtheil folgt. Das dritte iſt die Ver-
theilung der Entſchädigung. Man darf ſagen, daß in der That im
Großen und Ganzen damit das Enteignungsrecht erſchöpft iſt; der
deutſchen Rechtsbildung blieb nichts anderes übrig, als ſich derſelben
im Weſentlichen anzuſchließen.


[314]
VI. Das Enteignungsrecht in Deutſchland. Charakter des gegenwärtigen
Zuſtandes.

Dennoch iſt bei aller Gleichartigkeit in Weſen und Princip dieſe
deutſche Rechtsbildung weder der franzöſiſchen gleich nachgefolgt, noch
auch iſt ſie ſelbſt in Form und Umfang gleichartig. Und das hängt
wieder mit dem ganzen öffentlichen Recht der vollziehenden Gewalt in
Deutſchland zuſammen.


Während nämlich alle deutſchen Staaten das Rechtsprincip der
Enteignung und der Entſchädigung als ein unzweifelhaftes anerkannten,
war beinahe ausnahmslos der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verord-
nung und mithin die Frage nach Aufgabe und Gränze des geſetz- und
des verordnungsmäßigen Enteignungsrechts nicht zur Entwicklung ge-
diehen. Namentlich in den beiden Hauptſtaaten, Oeſterreich und Preußen,
gab es überhaupt bis 1848 keine Verfaſſung, alſo auch kein Geſetz, und
man hatte daher weder Luſt noch Willen, den franzöſiſchen Unterſchied
zwiſchen loi und ordonnance auf das Enteignungsrecht anzuwenden.
Da nun aber die andern Staaten — der Süden ſeit 1818, die Mitte
und ein Theil des Nordens ſeit 1830 — zu wirklichen geſetzgebenden
Körpern gelangt waren, ſo konnten dieſe Staaten auch die Enteignungs-
geſetzgebung bei ſich weiter ausbilden. Allein dieſe Ausbildung war,
da man auch hier vielfach über das Weſen und Recht von Geſetz und
Verordnung unklar blieb oder bleiben wollte, eine ſehr verſchiedene. Man
kann daher allerdings die beiden oben bezeichneten Perioden in den
deutſchen Staaten recht wohl unterſcheiden, die Periode des Princips
und die der Durchführung des geſetzlichen Enteignungsrechts; allein der
Entwicklungsgang iſt dennoch ein ſehr verſchiedener. In einigen Staaten
blieb man ganz bei der allgemeinen Anerkennung des Enteignungsrechts
ſtehen; namentlich in Oeſterreich und Preußen, deren bürgerliche Geſetz-
bücher auszureichen ſchienen. Hier behielt die Regierung daher aus-
ſchließlich das Recht der Genehmigung der Enteignung in ihrer Hand
und leitete das Verfahren gleichfalls auf dem Wege der Verordnung.
In den Staaten der erſten Verfaſſungsperiode (Bayern, Verfaſſung
1818 §. 8 Abſ. 4, dem die Verordnung vom 14. Auguſt 1815 vorauf-
geht, Württemberg 1819 §. 30, Baden 1818 §. 14 Abſ. 4, Heſſen-
Darmſtadt
1820 §. 27) wird derſelbe Grundſatz, den das Allgem.
Preuß. Landrecht Tit. 17 und das Oeſterreichiſche bürgerliche Geſetzbuch
Art. 345 ausſprechen, zwar in die Verfaſſungen aufgenommen, allein
von einer Aufrufung des Geſetzes oder von einer Beſtimmung der
gerichtlichen Funktion neben der der Regierung iſt anfänglich noch gar
keine Rede; man erkennt deutlich, daß dieſe Geſetzgebungen noch ziemlich
[315] ohne Bewußtſein über das wahre Weſen dieſes Rechts geblieben, und
nicht weiter ſind als jene bürgerlichen Geſetzbücher. Die Julirevolution
und das franzöſiſche Expropriationsgeſetz von 1833 greifen alsdann
allerdings maßgebend hinein. Diejenigen Staaten, welche nach 1830
zu Verfaſſungen gelangen, nehmen das Princip der Expropriation in
ihre Verfaſſungsurkunden auf (Sachſen 1831 §. 31, Braunſchweig
1832 §. 33, Altenburg 1832 §§. 54. 55, Hannover 1840 §. 35).
Selten iſt die Unklarheit, die über Begriff und das Weſen der Geſetze
herrſcht, deutlicher hervorgetreten, als hier; namentlich iſt der §. 35
der hannoveriſchen Verwaltungsgeſetze bezeichnend, die „Behörden“ ſollen
nach dem „Geſetze“ urtheilen, wenn ein ſolches über (beſtimmte) Ent-
eignungen vorhanden iſt; beſteht ein ſolches Geſetz nicht, ſo entſcheidet
die obere Verwaltungsbehörde, gegen Recurs an das Miniſterium des
Innern, von dieſem an den König. Wenn aber die Behörden gegen
ein beſtehendes Geſetz entſcheiden, ſo iſt offenbar auch nichts anderes
übrig, als dieſer „Recurs.“ Wozu iſt dann in der That ein Geſetz
vorhanden? Daß die Gerichte in ſolchem Falle über die Action der
Behörden zu entſcheiden haben, das fiel niemanden ein. — Neben dieſer
Gruppe von abſtrakt-verfaſſungsmäßigen Expropriationsbeſtimmungen
— es wird uns wohl der Ausdruck hier geſtattet ſein — erzeugt nun
aber einerſeits das franzöſiſche Geſetz von 1833 eine förmliche Geſetz-
gebung für die Enteignung, und andrerſeits tritt mit dem ſich ent-
wickelnden Eiſenbahnweſen die Nothwendigkeit ein, gewiſſe allgemeine
Grundſätze wenigſtens für die Anlage von Eiſenbahnen aufzuſtellen. So
entſteht jetzt allmählig diejenige Geſtalt des geltenden Expropriations-
rechts, die wir als die noch gegenwärtig geltende bezeichnen müſſen. Das
Princip wird auch nach 1848 in allen Verfaſſungen abſtrakt aner-
kannt, oft mit den Zuſätzen der erſten Rechtsbildung, wie ſie ſchon im
Preuß. Allgem. Landrecht gegeben iſt (Preußiſche Verfaſſung 1850 Art. 9,
Heſſen-Kaſſel 1852 §. 22, Coburg-Gotha 1852 §. 49, Olden-
burg
1851 Art. 60, Schwarzburg-Sondershauſen 1 49 §. 38,
Anhalt-Bernburg 1850 §. 41, Reuß 1852 §. 24, Lübeck 1851
§. 53, Bremen 1854). Eine ſelbſtändige Ausführung zu einem all-
gemeinen Enteignungsgeſetze (im oben angeführten Sinn) geben zuerſt
Großherzogthum Heſſen, Expropriationsgeſetz vom 6. Juni 1821
(nach dem franzöſiſchen Geſetz von 1810, mit Anwendung auf Provinzial-
ſtraßen, Geſetz vom 12. Oct. 1830, und auf Privat-Eiſenbahnen, Geſetz
vom 18. Juli 1836), Königreich Sachſen, Geſetz vom 3. Juli 1835,
Baden, Expropriationsgeſetz vom 15. Juni 1835, Frankfurt 1836,
Bayern 17. Nov. 1837. Specielle Enteignungsgeſetze erſcheinen da-
gegen in Preußen und Oeſterreich, und zwar für die Eiſenbahnen
[316] in den erſten Eiſenbahngeſetzgebungen (Preußen 1838, Oeſterreich,
Eiſenbahngeſetzgebung von 1851 und 1854). Dieß iſt im Weſentlichen
der Zuſtand des geltenden Rechts der Enteignung in Deutſchland. Es
iſt kein Zweifel, daß von einer ſelbſtändigen deutſchen Geſetzgebung hier
noch keine Rede iſt; mit Ausnahme von Sachſen-Meiningen (Enteig-
nungsgeſetz vom 28. März 1855) hat ſich bisher unſeres Wiſſens kein
Staat mit dieſem wichtigen Gebiete ernſtlich befaßt, nicht einmal die
franzöſiſche Geſetzgebung von 1841 hat dazu angeregt.


Von um ſo größerer Bedeutung ſollte dagegen die Literatur des
Enteignungsweſens ſein, indem ſie den Mangel der Geſetzgebung erſetzte.
Indeß hat dieſelbe offenbar noch keine Heimath gefunden, weſentlich
wohl deßhalb, weil man die Natur des Enteignungsrechts nicht klar
genug erkannte und daher die erſte Vorausſetzung jeder größern Arbeit,
das Bewußtſein von dem Punkt, wo ſie ſich an das Ganze anſchließt,
nicht gefunden ward. Wir werden daher auch wohl erſt dann ein-
greifende Werke darüber beſitzen, wenn wir den leitenden Gedanken des
ganzen Rechts da ſuchen, wo er allein zu finden iſt, in der Lehre vom
Verwaltungsrecht, und zunächſt in ſeinem organiſchen Zuſammenhange
mit der ganzen Entwährungslehre. Die deutſche Literatur hat bisher
von Frankreich auf dieſem Gebiete faſt Alles empfangen, Geſetz und
Theorie zugleich; was wir Frankreich zurückzugeben haben, iſt der höhere
hiſtoriſche und ſyſtematiſche Geſichtspunkt; und dazu an unſerem Theile
beizutragen, war die eigentliche Hauptaufgabe des Folgenden, während
wir eine Erſchöpfung des Gegenſtands wohl auf eine eigene Arbeit ver-
weiſen müſſen.


Es darf uns demnach nicht wundern, wenn wir das Enteignungs-
recht in der deutſchen Literatur an vielen Stellen zugleich finden. Man
muß die Enteignungsliteratur ſuchen theils in einzelnen heimathloſen,
aber ſehr guten Abhandlungen, theils in der Darſtellung des territorialen
öffentlichen Rechts, theils in wir möchten ſagen gelegentlichen Anfüh-
rungen bei Juriſten und Nationalökonomen, wie bei Beſeler und
Gerber (Deutſches Privatrecht), Klüber (Oeffentliches Recht), Rau,
Roſcher
u. a. Die beiden erſten Gruppen weiſen folgende Arbeiten auf.


Das Hauptwerk iſt noch immer v. Wendt, Neueſter Expropriations-
Codex oder vergleichende Darſtellung der wichtigſten (?) älteren und
neueren Geſetze und Verordnungen über Enteignung, Kanal- und
Straßenbau, Eiſenbahnbau u. ſ. w. (Nürnberg 1837). Da ſeitdem mit
Ausnahme Bayerns keine bedeutenden Geſetze erſchienen ſind und die
Verfaſſungen von 1848 ſich mit der principiellen Anerkennung des
Rechts genügen laſſen, ſo beſitzen wir in Wendts Arbeit ein faſt
vollſtändiges Material, das freilich nur den juriſtiſchen Standpunkt zur
[317] Geltung bringt, und natürlich weder die preußiſche noch die öſterreichiſche
Eiſenbahnenteignung, noch das franzöſiſche Geſetz von 1841 kennen
konnte. Die umfaſſende Arbeit von W. Goldmann, die Geſetzgebung
des Großherzogthums Heſſen in Beziehung auf Befreiung des Grund-
eigenthums u. ſ. w. (1831, mit Fortſetzung 1841), hat ſich leider auf das
Enteignungsrecht nicht weiter eingelaſſen. Die Entlaſtungs- und Ab-
löſungsgeſetze ſind hier vollſtändig bis 1841 mitgetheilt.


Die erſte eingehende Behandlung iſt der Aufſatz von Treichler
(Zeitſchrift für deutſche Rechtswiſſenſchaft XII, S. 123—166) „Ueber
zwangsweiſe Abtretung von Eigenthum und andern Rechten“ (Expro-
priation). Sehr kurz ſind die kleinen Abhandlungen von Mittermaier
(Staatslexikon. 2. Aufl. B. V.) und Bopp (Expropriation), Weiske’s
Rechtslexikon B. IV und der Art. „Expropriation“ im Staatswörterbuch
von Pözl, Bd. 3. Gründlich und umſichtig, aber auch weſentlich
juriſtiſch gehalten iſt die Arbeit von Häberlin (Die Lehre von der
Zwangsenteignung, Arch. für civ. Praxis B. XXIX, Heft 1 und 2), der
zuerſt die Zwangsenteignung des alten Bergregals zur Geltung gebracht
hat. Kaleſſa hat in der Zeitſchrift für öſterreichiſche Rechtswiſſenſchaft,
1846, II, S. 470, mehrere einzelne Fragen in ſeinen „Betrachtungen
über Expropriation“ namentlich in Bezug auf das Entſchädigungs-
verfahren behandelt. Die Abhandlung von Dr. H. Biſchof („Das
Nothrecht der Staatsgewalt in Geſetzgebung und Regierung“ in Linde
Archiv für das öffentliche Recht des deutſchen Bundes, 1860, B. III,
Heft 3) hat das Enteignungsrecht nur als Theil und Moment des Noth-
verordnungsrechts, das iſt als Beantwortung der Frage aufgefaßt, ob
und wie weit die Regierung in Nothfällen das Recht habe, die An-
wendung von Geſetzen durch ihre Verordnung aufzuheben; die ganze
gründliche aber ſyſtemloſe Arbeit hat 168 Seiten; Enteignungsrecht iſt
S. 47—57 behandelt. Was Mayer in ſeinen „Grundſätzen des Ver-
waltungsrechts“ (1862, §. 102) ſagt, iſt viel zu kurz und unklar, um
brauchbar zu ſein. — Erſt mit der wiſſenſchaftlichen Eiſenbahnliteratur
wird das Expropriationsrecht ernſtlicher behandelt. Freilich nur mit
ſpecieller, oder doch vorwiegender Rückſicht auf den Eiſenbahnbau. Hier hat
v. Reden (die Eiſenbahnen Deutſchlands, 1843) das preußiſche (1838),
bayriſche (1837), ſächſiſche (1835) und badiſche (1835) Enteignungsgeſetz
wörtlich mitgetheilt, bis W. Koch in ſeinem gründlichen Werke „Deutſch-
lands Eiſenbahnen, Verſuch einer ſyſtematiſchen Darſtellung der Rechts-
verhältniſſe aus der Anlage und dem Betriebe derſelben“ (1858, 2 Bde.)
im 1. Bd. (S. 8—133) eine vollſtändige Bearbeitung des Enteignungs-
weſens gegeben hat. Wir bedauern nur, daß dieſe ſchöne und gründ-
liche Arbeit für die Rechtswiſſenſchaft offenbar halb verloren gegangen
[318] iſt, da weder Biſchof noch Thiel ſie gekannt haben; wahrſcheinlich
weil Koch die Enteignung nur als Theil des Eiſenbahnrechts auffaßt,
was jedenfalls nicht ausreicht. Das letztere gilt in noch höherem Grade
von der Behandlung der Sache in Beſchorner, „das deutſche Eiſen-
bahnrecht mit beſonderer Berückſichtigung des Actien- und Expropriations-
rechts,“ gleichfalls 1858 (Abth. III, S. 42 ff.). Ein paar Abhand-
lungen von Michaelis in Fauchers Vierteljahrsſchrift (1866, 1. B.)
über Eiſenbahnen und Expropriationen halten ſich ſehr in allgemeinen
Sätzen, ohne auf die Sache ſelbſt einzugehen. Das neueſte Werk
Ad. Thiel „Das Expropriationsrecht und das Expropriationsverfahren,“
1866, iſt die ausführlichſte Behandlung des Gegenſtandes; es iſt aber
nicht zu verkennen, daß die ſyſtematiſche Ordnung und Beherrſchung des
Stoffes neben ſcharfer juriſtiſcher Gründlichkeit in den einzelnen Fragen
fehlt, während merkwürdiger Weiſe jede Berückſichtigung der Literatur
mangelt, und eben ſo jede hiſtoriſche Aufklärung; namentlich vermißt
man mit Verwunderung jede Vergleichung mit den deutſchen Enteig-
nungsgeſetzen. Gemeinſam iſt dieſer ganzen Literatur, daß ſie den
Zuſammenhang der Enteignung mit der Entwährung nirgends erkennt.


Was nun die zweite literariſche Gruppe betrifft, ſo erſcheint das
Expropriationsrecht hier allerdings in vielen Territorialrechten; natürlich
aber ſind die Angaben meiſt kurz und ohne inneren Zuſammenhang
mit den verwandten Gebieten. Nachdem Klüber im öffentlichen Recht
des deutſchen Bundes §. 552 die Expropriation in das öffentliche Recht
aufgenommen, folgte zunächſt Mohl in ſeinem württembergiſchen Staats-
recht, der die „Abtretung“ in dem Verfaſſungsrecht noch als eine „Sicher-
ſtellung wohl erworbener Rechte gegen Eingriffe des Staats“ be-
handelt (unter Allgem. Staatsbürgerrecht I, §. 76). Ihm folgt K. E.
Weiß, Syſtem des öffentlichen Rechts im Großherzogthum Heſſen
(1837); bei ihm iſt die Enteignung eine „bürgerliche Pflicht der Heſſen“
„zu dinglichen Leiſtungen“ (§. 75). Pözl hat dann im bayriſchen
Verfaſſungsrecht
die „Zwangsabtretung“ als ſpeciellen Theil der
„Sicherheit des Vermögens“ behandelt; die genauere Entwicklung des
bayeriſchen Geſetzes von 1837 bei Dollmann (Geſetzgebung Bayerns).
Stubenrauch gibt in ſeiner öſterreichiſchen Verwaltungsgeſetzkunde nur
ganz kurz die für Eiſenbahnen geltenden Beſtimmungen (II, S. 722).
Rönne ſtellt das preußiſche Syſtem der einzelnen Beſtimmungen wieder
unter die Kategorie der „Freiheit und Sicherheit des Eigenthums“
(II, §. 94). Zöpfl, deſſen Grundſätze des gemeinen deutſchen Staatsrechts
im Grunde nur Excerpte der Territorialrechte ſind, hat das Enteignungs-
recht an drei Stellen zugleich behandelt und viel Material zuſammen-
gebracht, freilich faſt nur aus den Verfaſſungsurkunden, §. 295, §. 433,
[319] 434 und §. 489. Man iſt ſich alſo weder über Umfang noch über die
Stelle einig, welche das Enteignungsrecht einnimmt, und hält noch
immer an Mohls Auffaſſung feſt, der es zuerſt in die Verfaſſung ge-
bracht hat. In der That aber müſſen wir feſthalten, daß dieſe ganze,
neben den Arbeiten über das Entlaſtungsweſen höchſt dürftige Literatur
erſt ihre natürliche Entwicklung finden wird, wenn man ihr ihre natür-
liche Stellung im Verwaltungsrecht zuweist.


VII. Syſtem des Enteignungsrechts.

Geht man nun, dem Obigen gemäß, davon aus, daß die Enteig-
nung das, auf dem allgemeinen Rechtsprincip der Entwährung beruhende
Verfahren der Verwaltung iſt, durch welches ſie das Einzelgut dem
Einzeleigenthum für einen öffentlichen Zweck gegen Entſchädigung ent-
zieht, und daß das Recht der Enteignung die Geſammtheit von Be-
ſtimmungen enthält, welche für dieſes Verfahren gelten, ſo iſt das
Syſtem des Enteignungsrechts wohl ein ſehr einfaches. Daſſelbe ent-
hielt zuerſt das Rechtsprincip der Enteignung an ſich, und zweitens
die Beſtimmungen für das Verfahren bei der wirklichen Enteignung.
Das erſte beſtimmt das rechtliche Weſen und die Stellung der Enteig-
nung im öffentlichen Recht, das zweite die Pflichten und Ordnungen
für die Thätigkeit der Verwaltungsbehörde bei der Anwendung des Ent-
eignungsprincips auf einen beſtimmten Fall. Dieſer zweite Theil hat
dann zwei, vollkommen klar geſchiedene Abtheilungen, die durch die
beiden naturgemäßen Aufgaben dieſes Verfahrens gegeben ſind. Die
erſte Abtheilung enthält die Ordnung und das Recht desjenigen Ver-
fahrens, welches das Einzeleigenthum an Güter aufhebt, die eigent-
liche Enteignung
; die zweite die rechtliche Ordnung, welche für die
Rückgabe des Werthes dieſer Güter gilt, oder die Entſchädigung.
In dieſe beiden Kategorien ordnen ſie alle bei der Enteignung vor-
kommenden Rechts- und Funktionsfragen in einfachſter Weiſe hinein;
ihr innerer und äußerer Zuſammenhang aber bedarf wohl keiner wei-
teren Darlegung.


Das Rechtsprincip des Enteignungsverfahrens.

(Die Enteignung als ein Akt der innern Verwaltung. Enteignungsgeſetz und
Enteignungsverordnung. Stellung des Gerichts und ſeiner Thätigkeit. Die
rechtliche Natur der Enteignung.)


Man darf ohne Bedenken behaupten, daß in wenigen Gebieten
der Rechtslehre der Mangel eines ſelbſtändigen Verwaltungsrechts ſo
[320] entſcheidend eingewirkt hat, als gerade bei der Lehre — ja zum Theil
auch bei den Geſetzen — über das Enteignungsrecht. Nirgends aller-
dings liegt die Vorſtellung ſo nahe, daß die Zweckmäßigkeit und die
Anſicht über das öffentliche Bedürfniß den Rechtstitel für die Aktion
der Verwaltung erſetzen dürfe und ſelbſt müſſe, und daß eben dadurch
die Baſis aller individuellen, ſtaatsbürgerlichen Selbſtändigkeit, das
Eigenthum, dem Gutachten der Verwaltung anheimgegeben ſei. Die
natürliche Folge iſt davon geweſen, daß Literatur und Geſetzgebung
beide gleich ſehr ihren Schwerpunkt mehr in dem Schutze des Privateigen-
thums gegen die Verwaltung, als in der genauen Beſtimmung für das
Verfahren der letzteren geſucht haben. Eben daraus erklärt es ſich ferner,
weßhalb man ſowohl in Frankreich als in Deutſchland beſtändig daran
feſtgehalten hat, ſo viel als nur irgend thunlich ſchien, die Gerichte
und ihre Funktion in das Enteignungsverfahren hineinzuziehen, in
Frankreich, weil dort die Verwaltung grundſätzlich viel mächtiger iſt
als anderswo, in Deutſchland weil der durchgehende Mangel guter
Enteignungsgeſetze dem Verordnungsrecht einen viel zu großen Spielraum
gelaſſen hat, und das Beſchwerdeverfahren noch in den unklarſten An-
fängen iſt. Es wird deßhalb einige Schwierigkeit finden, den folgen-
den Standpunkt zur Geltung zu bringen. Und dennoch müſſen wir
ihn für den einzig richtigen und zugleich für den einfachſten halten, da
er, ſo viel wir ſehen, nicht bloß die einzelnen Fragen leicht zur Löſung
bringt, ſondern auch neben dem Rechte des Einzeleigenthums die Funktion
der Verwaltung zu ihrer natürlichen Geltung bringt. Auch müſſen wir
an der Ueberzeugung feſthalten, daß nur auf dieſem Wege die Verwir-
rung, welche durch ganz verſchiedene Specialgeſetzgebungen in das Ent-
eignungsrecht gekommen iſt, leicht gelöst, und der Jurisprudenz eine
feſte Baſis gegeben werden kann. Freilich muß man dabei ſich über
das Weſen von Geſetz und Verordnung einerſeits, und über die Auf-
gabe und Competenz von Verwaltung und Gericht andererſeits klar und
einig ſein. Die Principien des Enteignungsrechts auf dieſer Grundlage
ſind folgende.


Da die Enteignung, im ſchärfſten Gegenſatze zum Einzeleigenthum,
aus dem Begriffe und Weſen des bürgerlichen Rechtes nicht erklärt
werden kann, ſo erſcheint ſie ihrem ganzen Weſen nach als eine
Funktion der Verwaltung, und ihr ganzes Recht iſt Verwaltungs-
recht. Sie kann daher auch nur von den Organen der Verwaltung
vollzogen werden. Dieſe Vollziehung derſelben durch die Verwaltungs-
organe ſteht nun wieder unter dem geſetzlichen Recht. Die Geſetzgebung
kann aber dabei auf einem ſehr verſchiedenen Standpunkt ſtehen. Sie
kann ſich entweder begnügen mit der allgemeinen Anerkennung des
[321] Princips der Enteignung, wie der Code civil und das öſterreichiſche
bürgerliche Geſetzbuch, oder ſie kann daneben das Verfahren der Ver-
waltungsbehörden bei der Enteignung überhaupt ordnen, wie die Ex-
propriationsgeſetze Frankreichs, Badens, Bayerns, Sachſens, oder nur
einzelne leitende Vorſchriften dafür geben, wie das preußiſche allgemeine
Landrecht, oder endlich das Enteignungsrecht nur für einzelne beſtimmte
Arten der Enteignung ausführen, wie das namentlich für Eiſenbahnen
in Deutſchland vielfach geſchehen iſt. Wie nun immer das geſetzliche
Recht geſtaltet ſein möge, ſo iſt es gewiß, daß die Regierung ihrerſeits
das Recht hat, den Mangel der Geſetzgebung durch ihre Verordnung
zu erſetzen, ſo daß Geſetz und Verordnung zuſammen das öffentlich
geltende Recht der Enteignung bilden. Dieß iſt namentlich in Deutſch-
land ſehr verſchieden, und es iſt einer der großen Mängel des deutſchen
Rechtslebens, daß auch hier keine gemeinſchaftliche und gleichartige Rechts-
bildung ſtattgefunden hat. Es iſt Sache der Wiſſenſchaft, dieſen Mangel
zu erſetzen.


Während nun auf dieſe Weiſe die Grundſätze für die Thätigkeit
der Verwaltung zum geltenden Recht werden, erſcheint die einzelne
Enteignung offenbar als die ſpecielle Anwendung deſſelben auf den
einzelnen Fall. Die Funktion der Behörde dabei iſt das Enteignungs-
verfahren. Das Enteignungsverfahren beſteht daher aus einer Reihe
von Verordnungen, Verfügungen und wirklichen Thätigkeiten, deren
Inhalt ſtets die Anwendung des beſtehenden geltenden Rechts der
Geſetze oder der Verordnungen auf den einzelnen Fall der Enteignung
iſt; d. h. die wirkliche Enteignung iſt und bleibt in jedem einzelnen Falle
ein Akt der vollziehenden Gewalt. Die Aufgabe der vollziehen-
den Gewalt, beziehungsweiſe ihrer Organe und Behörden, beſteht dann
darin, ſich in ihrer Aktion den beſtehenden Geſetzen conform zu erhalten.
Daraus entſpringt dann das Recht der wirklichen Enteignung, welches
mithin die geltenden Beſtimmungen für das Verfahren der
Behörde bei der einzelnen Enteignung enthält. Das Recht dieſes Verfah-
rens iſt daher nichts anderes, als die beſondere Anwendung des all-
gemeinen Princips des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts auf die
Thätigkeiten der enteignenden Behörde. Es folgt daraus, daß nach
den Principien dieſes Rechts in allen den Fällen, wo das Verfahren
dieſer Behörde mit dem Enteignungsgeſetz in Widerſpruch ſteht, von
Seiten des Betheiligten die Klage, wo es dagegen mit der Verordnung
im Widerſpruche ſteht, die Beſchwerde eintritt. Klage und Beſchwerde
haben hier genau dieſelbe Funktion wie immer. Sie dienen dazu, die
Uebereinſtimmung der Aktion der Verwaltung im einzelnen Fall mit
dem allgemein gültigen Rechte herzuſtellen. Wenn nun, wie in Oeſterreich
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 21
[322] und vielen andern Staaten Deutſchlands, ein Enteignungsgeſetz gänz-
lich mangelt, oder wie in Preußen eine Einheit in der Geſetzgebung
nicht vorhanden iſt, ſo iſt es allerdings richtig, daß dem Einzelnen
vielfach der gerichtliche Schutz gegen das Verfahren der Behörde fehlt,
und derſelbe bloß auf die Beſchwerde bei den höheren Behörden ange-
wieſen iſt. Dieſer Mangel wird um ſo mehr empfunden werden, je
weniger man ein geſetzliches Beſchwerdeverfahren hat, und der Einzelne
wird dadurch unabweisbar den oft ganz individuellen Anſichten der
einzelnen Behörde in der Enteignung unterworfen ſein. Das iſt ganz
richtig; allein das iſt kein Fehler der Regierung und des Verwaltungs-
rechts, ſondern es iſt einfach ein Mangel der Geſetzgebung. Es
iſt Sache der Geſetzgebung, an die Stelle des Verordnungsrechts das
geſetzliche Recht zu ſetzen, und damit ein Klagerecht vor den Gerichten
möglich zu machen. So lange das nicht geſchehen iſt, iſt die Regierung
unbedingt darauf angewieſen und in ihrem vollen Recht, wenn ſie
ganz nach ihrem Ermeſſen handelt. Von dieſem Standpunkt muß man
bei dieſem Theile des Verwaltungsrechts ausgehen.


Nun hat man verſucht, dem ſich daraus ergebenden Bedenken da-
durch vorzubeugen, daß man den Gerichten einen Theil der Funktion
der Verwaltung bei der einzelnen Enteignung hat überweiſen wollen.
Es iſt klar, daß dieß ſchon principiell falſch iſt; die Gerichte haben
ihrem ganzen Weſen nach mit der Enteignung gar nichts zu thun; ſie
treten erſt da auf, wo durch die Thätigkeit der Behörde ein geſetzliches
Recht des Einzelnen für verletzt erklärt wird, und ihre einzige Funktion
kann und ſoll nur die ſein, in ſolchem Falle auch gegen die Be-
hörde
die rechtliche Haftung auszuſprechen und zur Geltung zu bringen.
In der That wäre es ein abſoluter Widerſpruch, durch Thätigkeit und
Urtheil des Gerichts die mangelnde Geſetzgebung erſetzen, und dadurch
die verordnende Gewalt der Regierung beſchränken zu wollen. Deſto
ſchlimmer für den Einzelnen, wenn er durch den Mangel eines Geſetzes
unter falſchen Funktionen der Behörde leidet; aber das Gericht zu einem
geſetzgebenden oder verwaltenden Organe zu machen, würde alle orga-
niſche Entwicklung des Staates ſtören. In Wahrheit aber iſt jene
Aufgabe des Gerichts, durch ſein Urtheil die Verwaltung für die richtige
Ausführung der Geſetze haftbar zu machen, ohnehin eine hinreichend
ſchwierige; es iſt nur ein Mangel an Vertrauen zur Geſetzgebung, wenn
man ihm noch weitere Funktionen übergeben will, und das Folgende
wird dieß im Einzelnen zeigen. — Die weitere Conſequenz einer ſolchen
Herbeiziehung des Gerichts iſt aber eben deßhalb eine unvermeidliche
Unklarheit über das ganze Enteignungsrecht, wie es das franzöſiſche
Geſetz von 1841 zeigt, wo es ganz unthunlich iſt, den Sinn des Art. 1:
[323]„L’expropriation s’opère par autorité de justice“ mit dem Weſen der
Enteignung in rechte Harmonie zu bringen, da auf allen Punkten die
geſetzliche Funktion des Gerichts durch die unabweisbare der Verwal-
tungsbehörden durchbrochen und vertreten wird. Eben ſo unvollkommen
iſt der engliſche Grundſatz, nach welchem die wirkliche Enteignung Sache
des Einzelnen, und die Genehmigung durch die Private Bill, beziehungs-
weiſe die Beſtimmungen der Lands Clauses Act (ſ. unten) nur den
Klagtitel des zur Enteignung Befugten gegen den Enteigneten bilden,
ſo daß der Enteigner eventuell erſt einen Proceß gegen den letzteren
führen muß, um die Enteignung in Folge eines Rechtsſpruches zu voll-
ziehen. Denn damit ſteht das Weſen des öffentlichen Bedürfniſſes im
Widerſpruch, das dem Enteignungsrecht zum Grunde liegt, und das
die Vollziehung deſſelben von der Verwaltung fordert, ſelbſt wenn man
davon abſehen wollte, daß damit den Chicanen und Koſten eines Pro-
ceſſes Thor und Thür geöffnet würde. Der Grundſatz, daß die Ver-
waltung die Enteignung auf dem Wege der Verordnung und Verfügung
durchzuführen, und daß das Gericht die Rechte des Einzelnen gegen
Rechtsverletzungen dabei zu ſchützen habe, iſt daher der einzig richtige,
und wir dürfen hinzufügen, daß er in Deutſchland auch als der grund-
ſätzlich geltende daſteht; was uns in Deutſchland fehlt, iſt auch hier
nicht das franzöſiſche Princip des Rechts, ſondern das des wohlgeord-
neten Beſchwerdeverfahrens.


Von dieſem Standpunkt aus ergibt ſich nun auch ſehr leicht die
richtige Beurtheilung der Frage nach der Natur des Enteignungsrechts.
Das an ſich achtungswerthe Streben, das Privatrecht des Einzelnen
gegen die vollziehende Gewalt zu ſchützen, iſt wohl der Grund, weßhalb
man vielfach angenommen hat, daß die Enteignung ein Kaufgeſchäft
enthalte, eine Anſicht, die bekanntlich zunächſt auf eine unglückliche
Formulirung des preußiſchen allgemeinen Landrechts beruht. (Vgl. über
dieſe Auffaſſung Häberlin, S. 200, mit den dortigen Angaben, und
Thiel, S. 2. 3, welche beide dieſe Auffaſſung „das Zwangsenteignungs-
geſchäft (?) iſt ein auf einem Geſetze beruhender nothwendiger Ver-
kauf
“ Häberlin; ebenſo Beſeler, deutſches Privatrecht II. 101. Gründ-
lich iſt die Frage dagegen behandelt bei Koch, Eiſenbahnen Deutſchlands
Bd. I. S. 45 ff., der uns ein klares Bild der Verwirrung gibt, die
entſtehen muß, wenn man durchaus den hier unmöglichen Begriff des
Kaufs — eventuell ſogar als den logiſchen Unſinn eines „Zwangs-
kaufes
“ gelten laſſen will. Es iſt nur durch den Mangel an einem
richtigen Begriff des öffentlichen Rechts überhaupt zu erklären, daß man
dieſe Anſicht hat vertreten können. Wie kann die Enteignung, —
ein Geſchäft iſt ſie überhaupt nie, da ſie grundſätzlich weder den
[324] Vortheil des Einen noch den des Andern im Auge haben darf, nicht
einmal nach Häberlins eigener ganz richtiger Anſicht das lucrum cessans
— ein Verkauf ſein, wenn ſie kein Vertrag iſt? Und ſie iſt nie
ein Vertrag, weil ſie eben erſt dann eintritt, wenn die vertragsmäßige
Unterlaſſung ſich als nicht thunlich erwieſen hat. Sie hat allerdings
alles mit dem Verkaufe gemein, nur die beiden Hauptſachen nicht, die
wirthſchaftliche, das Kaufgeſchäft, und die juriſtiſche, den Vertrag. Sie
iſt eben eine Verwaltungsmaßregel, vermöge deren ſehr häufig
ein, dem Kaufe äußerlich ganz ähnlicher Uebergang des Eigenthums
vom Einen zum Andern geſchieht; aber ſo wie man auch nur einen
Blick auf weiter gehende Verhältniſſe, auf die Auflage von Laſten,
auf die Enteignung von Fideikommiſſen, auf das Recht der Hypothekar-
gläubiger, auf die Enteignung von Servituten und ſo manches Andere
wirft, ja ſelbſt auf die geſetzlichen Vorſchriften über die Zahlungsformen,
ſo iſt es klar, daß dieſe Verwaltungsmaßregel nicht einmal der Regel
nach
die äußeren Formen eines Kaufes hat, ſondern daß im Gegen-
theil der Regel nach neben den Vorſchriften über Kauf und Verkauf
eine ganze Reihe andrer rechtlicher Grundſätze zur Geltung gelangen.
Die Enteignung iſt daher vielmehr ein ganz ſelbſtändiges Rechts-
verhältniß
, das eben als Ganzes betrachtet ſein will, und das dem
bürgerlichen Recht überhaupt nicht angehört, ſondern einen
Theil des Verwaltungsrechts bildet, dem wiederum in den verſchiedenen
Staaten ſehr verſchieden entwickelte Geſetze zum Grunde liegen, ſo daß
der Charakter des geltenden Enteignungsrechts, bei weſentlicher Gleich-
artigkeit der leitenden Grundſätze, in dem Antheil beſteht, den je nach den
einzelnen Staaten Geſetz und Verordnung an dem geltenden Recht haben.


Auf dieſer Grundlage entſteht nun das wiſſenſchaftliche Syſtem
des Enteignungsrechts, und zwar in der Weiſe, daß jeder einzelne
Theil des Verfahrens ſein eigenes Princip hat, das wir kurz an-
deuten werden. Die Vergleichung des poſitiven Rechts wird dann
darin beſtehen, daß man für jeden einzelnen Staat unterſucht, ob und
wie weit dieß ſpecielle Princip anerkannt wird, und ob dieſe Aner-
kennung durch die Geſetze oder durch Verordnungen ſtattgefunden hat.


Erſter Theil.
Das Enteignungsverfahren und ſein Recht.

Das Enteignungsverfahren enthält die Geſammtheit der Thätig-
keit der Verwaltung, durch welche für einen beſtimmten öffentlichen
Zweck ein beſtimmtes Gut dem Eigenthum eines Einzelnen entzogen,
und der für jenen Zweck berechtigten Unternehmung überwieſen wird.


[325]

Die Aufgabe des Enteignungsverfahrens iſt es demnach, zuerſt
den Zweck als einen ſolchen anzuerkennen, um deſſentwillen das Privat-
eigenthum überhaupt aufgehoben werden ſoll; dann die Güter einzeln
zu beſtimmen, deren Enteignung dafür nothwendig iſt; und endlich das
Eigenthum wirklich aufzuheben und zu übertragen.


Das ganze Enteignungsverfahren iſt daher eine Funktion der Ver-
waltung. Das Recht deſſelben beſteht in den Vorſchriften, welche die
Verwaltung in jedem einzelnen Theile dieſes Verfahrens für ihre Ver-
ordnungen, Verfügungen und wirklichen Thätigkeiten inne zu halten
hat. So weit dieſe letzteren kein Privatrecht und Intereſſe betreffen,
iſt es Sache der höheren Behörden, die Innehaltung des beſtehenden
Rechts zu überwachen. Wo dagegen der Einzelne ſich verletzt glaubt,
hat er entweder das Klage- oder das Beſchwerderecht, je nach der be-
ſtehenden Geſetzgebung, um jene Thätigkeit der vollziehenden Behörde
auf das öffentliche Recht zurückzuführen.


Das Syſtem dieſes Enteignungsverfahrens und ſeines Rechts iſt
daher folgendes.


1) Die Genehmigung des Unternehmens.

Die Genehmigung oder Conceſſion des Unternehmens iſt nun für
das Enteignungsverfahren die Erklärung (Verfügung oder Erlaß) der
vollziehenden Gewalt, vermöge deren der Zweck des Unternehmens als
ein ſolcher anerkannt wird, dem vermöge des allgemeinen Princips der
Enteignung das Recht der Enteignung einzelner nothwendiger Güter
zugeſprochen wird.


Es verſteht ſich dabei von ſelbſt, daß wenn dieß Recht auf Ent-
eignung als ſelbſtverſtändlich für die Unternehmung erſcheint, wie bei
Eiſenbahnen, die Genehmigung der Enteignung nicht ausdrücklich her-
vorgehoben zu werden braucht, ſondern das Enteignungsverfahren hier
ſogleich unter den folgenden Punkt fällt.


Dagegen iſt es hier die erſte Aufgabe der vollziehenden Gewalt,
darüber zu entſcheiden, ob die betreffende Unternehmung wirklich einem
Zwecke dient, der an ſich nothwendig, nur durch Enteignung verwirklicht
werden kann.


Die vollziehende Gewalt hat ſich dabei an das beſtehende Geſetz
zu halten. Wo dieß Geſetz ganz allgemein den „öffentlichen Nutzen“
fordert, bleibt es dem Ermeſſen der vollziehenden Gewalt
ausſchließlich überlaſſen
, jene Genehmigung zu geben. Wo da-
gegen (wie im bayeriſchen Expropriationsgeſetz) ſpecielle Gruppen von
Unternehmungen aufgeſtellt ſind, welche das Enteignungsrecht fordern
[326] ſollen, da entſteht die Frage, ob und bei welchem Organe die Bethei-
ligten gegen eine Entſcheidung der vollziehenden Gewalt auftreten
können. Selbſtverſtändlich iſt, daß ſie das Recht der Beſchwerde gegen
jede Genehmigung haben, wenn dieſelbe von der unteren Behörde aus-
gegangen iſt. Iſt ſie aber von der höchſten Behörde beſtätigt, ſo iſt
eine weitere Beſchwerde unmöglich, und eine Klage bei Gericht eben
nur in dem Falle der bayeriſchen Geſetzgebung denkbar, welches darüber
entſcheiden müßte, ob das Unternehmen unter einen der geſetzlich auf-
geſtellten (ſiebzehn!) Geſichtspunkte fällt oder nicht. Es iſt einleuchtend,
daß dieß zu gänzlich unpraktiſchen Reſultaten führen würde; und mit
gutem Recht haben ſich die Rechtslehrer, wenn auch aus unbeſtimmteren
Gründen, einſtimmig gegen eine ſolche Specifikation erklärt. (Mitter-
maier, Treichler, Häberlin; ſ. d. letztere a. a. O. S. 157 und 200).
Hier erſcheint daher auch in Frankreich die Thätigkeit des Gerichts trotz
des Art. 1 von 1841 gänzlich ausgeſchloſſen.


Welches Organ der vollziehenden Gewalt nun zum Ausſprechen
der Genehmigung überhaupt competent ſein ſoll, ſollte von den
Geſetzen genau ausgeſprochen werden. Princip ſollte ſein, daß dieſe
Competenz davon abhängig gemacht wird, ob die Unternehmung ſich
örtlich über die Grenzen der Behörde ausdehnt. Oft ſind jedoch die
Competenzen für verſchiedene Arten der Unternehmungen nach der Natur
der letzteren auch örtlich verſchieden, z. B. für Bergwerke, Waſſerbauten
u. ſ. w. In dieſem Falle ſollte die Competenz zur Entſcheidung über
die Genehmigung in der Hand der über beiden ſtehenden höheren Be-
hörde liegen. Sehr rationell iſt die franzöſiſche Beſtimmung, daß die
Entſcheidung ein arrêt motivé des Präfecten ſein muß, der das Vor-
handenſein der utilité publique an und für ſich conſtatirt und auf
Grund dieſer Thatſache die Conceſſion gibt. Gänzlich unpraktiſch iſt
es, wenn Häberlin S. 168 und Thiel von „Specialgeſetzen“ reden,
welche „im einzelnen Falle beſtimmen ſollen, ob eine Anlage von
öffentlichem Intereſſe verlangt werde;“ alſo welche die Genehmigung
von Statuten u. ſ. w. zu übernehmen haben. Allerdings hat ſich das
engliſche Parlament vorbehalten, ſolche Conceſſionen zu ertheilen, und
zwar mit dem Enteignungsrecht (Lands Clauses Act a. I.), und dieß
Recht dem Board of trade ausdrücklich verweigert (ſ. oben). Allein
über das höchſt Unzweckmäßige dieſes Verfahrens dürfte man um ſo
mehr einig ſein, als die folgenden Grundſätze das Einzeleigenthum wohl
ohnehin ſicher genug ſtellen. Die deutſchen Geſetzgebungen ſind ſich
keineswegs klar, wie ſchon Häberlin klagt. Doch haben ſie faſt aus-
ſchließlich, ſoweit nicht Specialenteignungsgeſetze, wie für Eiſenbahnen,
vorlagen, mit richtigem Tact jede begriffliche oder formale Beſtimmung
[327] des öffentlichen Nutzens weggelaſſen und ſtatt deſſen ſich mit der Feſt-
ſtellung des Organs begnügt, das über das Vorhandenſein deſſelben im
einzelnen Falle zu entſcheiden hat. In der preußiſchen Geſetzgebung
ſind bei den verſchiedenen Unternehmungen einerſeits und den verſchie-
denen für das ganze Enteignungsweſen geltenden zwölf bis vierzehn
Geſetzgebungen die Competenzen von Fall zu Fall feſtzuſtellen (vrgl.
darüber Rönne, Staatsrecht II. §. 91). Thiel kommt zu keiner recht
beſtimmten Angabe (S. 76, 77. 96, 97). Was heißt die „Leitung der
Unternehmung“ bei ihm? Im Großherzogthum Heſſen entſcheidet die
Regierungsbehörde, in Kurheſſen das Miniſterium, im Königreich
Sachſen das Miniſterium des Innern, in Baden das Staatsmini-
ſterium (Wendt, Expropr. Codex p. 108—149. Häberlin S. 165,
166), in Oeſterreich die Statthalterei (Stubenrauch II. S. 722. Eiſen-
bahngeſetz von 1854). Es ſcheint uns klar, daß es hier weſentlich an
einem feſten Principe mangelt, indem man mehr die Arten und den
Umfang der Unternehmungen, als die Entſcheidung über den öffentlichen
Nutzen ins Auge faßt. Gibt es nicht auch einen örtlichen öffentlichen
Nutzen (Straßen-, Wege-, Brückenbau, Gasanlagen ꝛc.) und genügt es
nicht, wenn gegen die Entſcheidung der unteren Behörde die Beſchwerde
gegen die höhere offen ſteht? Wir ſehen daher kein Bedenken im Princip
der örtlichen Competenz im obigen Sinne aufgefaßt.


2) Die Genehmigung des Enteignungsplanes.

Der Enteignungsplan enthält nun die genaue Angabe der
beſtimmten Grundſtücke oder Beſitzungen, welcher die betreffende Unter-
nehmung für ihre Ausführung wirklich bedarf. Die Genehmigung dieſes
Enteignungsplanes iſt ihrerſeits diejenige Verordnung der Behörde,
durch welche die materielle Nothwendigkeit der Enteignung jener be-
ſtimmten einzelnen
Güter von der Verwaltung ausgeſprochen wird.


Das leitende Princip für dieſe (verordnende und genehmigende)
Entſcheidung der Behörde und mithin die Aufgabe, welche ſie dabei zu
erfüllen hat, beſteht nun darin, daß erſtlich der Umfang dieſer Ent-
eignung im Namen des Princips des Privateigenthums ſo eng als
möglich gezogen, und zweitens darin, daß das Einzelne darin ganz be-
ſtimmt angegeben werde. Die Verwaltung hat bei der Genehmigung
des Enteignungsplanes daher für jedes einzelne Gut die Frage zu be-
antworten, ob daſſelbe für das Entſtehen und den Betrieb unum-
gänglich erforderlich
iſt. Grundſatz iſt daher, daß erſtlich nur ſo
viel Enteignung zugelaſſen werde, als das Inslebentreten des Betriebes
nach Maßgabe des wahrſcheinlichen Umfanges deſſelben fordert, und
[328] daß mithin die Enteignung von jedem Gute ausgeſchloſſen werde, deſſen
Beſitz nur als Vortheil für die Unternehmung erſcheint; — zweitens
ſoll nichts der Enteignung unterworfen werden, was ſich die Unter-
nehmung durch etwas Anderes würde erſetzen können. Alle Thätigkeit
der genehmigenden Behörde ſteht unter den angegebenen Regeln; um
ſie damit conform zu machen, gibt es aber kein anderes Mittel, als
das der Beſchwerde, die auch hier wieder ihre hohe Wichtigkeit zeigt.


Es folgt daraus, daß jede Unternehmung, die der Enteignung be-
darf, die Detailpläne der Behörde vorlegen muß. Es folgt aber ferner,
daß da, wo dieſe Detailpläne nicht gemacht werden können, ohne frem-
den Grund zu betreten, die Genehmigung für dieſes Betreten zum
Zweck des Aufſtellens der Detailpläne vorausgehen kann (Vorgenehmi-
gung, Vorconceſſion). Es folgt aber endlich, daß die Vorlage ſich
nicht bloß auf die Enteignung eines Gutes, ſondern auch auf Enteig-
nung einzelner Momente deſſelben beziehen kann, namentlich auf Her-
ſtellung und Ablöſung von Dienſtbarkeiten, Aenderung derſelben, auf
die Benützung von Gruben und Aehnliches. Die Behörde hat dabei
unzweifelhaft das Recht, eben ſo wohl die Enteignung ſolcher einzelner
Momente, als des ganzen Gutes auszuſprechen, indem ſie die folgenden
Grundſätze für ihr Verfahren dabei betrachtet.


Allein während die Verwaltung auf dieſe Weiſe ſich ihr eignes
Urtheil bildet über die Einzelobjekte der Enteignung, tritt nun ein
zweites Moment hinzu, welches dazu beſtimmt iſt, den obigen Grund-
ſatz der Beſchränkung der Enteignung auf das Nothwendige eben im
Einzelnen durchzuführen. Das iſt die Organiſirung der Betheiligung
der Einzelnen an der Beſtimmung der Enteignungsobjekte. Dieſe
Organiſirung beſteht darin, daß — am beſten natürlich gemeindeweiſe
— die Detailpläne ausgelegt und die durch die Enteignung Betroffenen
aufgefordert — oder doch zugelaſſen werden, ihre Aeußerungen über die
Anforderungen der Unternehmung abzugeben. Dieſe Aeußerungen werden
amtlich protocollirt und bei der ſchließlichen Detailgenehmigung ver-
werthet. Grundſatz ſoll ſein, daß jede Einwendung gegen eine Einzel-
enteignung mit begründetem Erlaß der betreffenden Behörde erledigt
werde; die Beſchwerde gegen den Erlaß ſteht frei. Die Bedeutung dieſer
öffentlichen Betheiligung beruht darauf, daß die örtliche Nothwendigkeit
örtlich am beſten erkannt, und das örtliche und Einzelintereſſe gegen-
über dem Intereſſe der Unternehmung zur vollen Geltung gebracht
werde, während die Behörde, allein ſtehend, nur den oft ſcheinbaren
techniſchen Bedarf beurtheilen kann. In dieſer Anziehung der Bethei-
ligten iſt gleichſam das Element der Selbſtverwaltung vertreten, und
die Art und Weiſe, wie ſie eingerichtet wird und zur Geltung gelangt,
[329] iſt von großer Bedeutung. Darum ſollte auch die bloße Einführung
deſſelben nicht genügen, ſondern es ſollte eine möglichſt allgemein gültige
Inſtruction für die untern Beamten in Betreff der Abhaltung erlaſſen
werden. Die Frage, welche Folge Nichtabhaltung der geſetzlich vorge-
ſchriebenen öffentlichen Ladung, beziehungsweiſe die Nichtinnehaltung der
geſetzlichen Formen derſelben haben ſoll, iſt nirgends entſchieden. Da
es ſich aber hiebei offenbar nicht um das Recht, ſondern um die zur
Geltung gelangenden Intereſſen handelt, ſo kann eine Klage oder Be-
ſchwerde — je nachdem jene Vorſchrift ſelbſt Geſetz oder Verordnung
iſt — nicht die Ungültigkeit der gegebenen Genehmigung, ſondern nur
die Haftung der unterlaſſenden Behörde bis zum Betrage des nachweis-
baren Intereſſes zur Folge haben.


— Erſt wenn auf dieſe Weiſe die Verwaltung das Material der
techniſchen und Intereſſenfragen in Beziehung auf die einzelnen Grundſtücke
geſammelt und zur endgültigen Entſcheidung bereitet hat, tritt der Act
ein, der die wirkliche Enteignung der einzelnen Güter zum Inhalte hat.


Es iſt bekannt, daß das franzöſiſche Recht zuerſt den Gedanken
ausgeführt hat, daß nicht bloß der Regierung ein genauer Detailplan
vorgelegt werden, ſondern daß auch die Ladung der Betheiligten ge-
meindeweiſe unter möglichſter Oeffentlichkeit geſchehen müſſe. Schon
das Geſetz vom 7. Juli 1833 enthält in T. II. die genauen Vorſchriften
über das Verfahren dabei, das auf der Niederſetzung einer eigenen
Commiſſion beruht, welche ihr Gutachten über die betreffenden Einwen-
dungen zu geben, eventuell ſelbſt Vorſchläge über die gemachten Vor-
lagen zu machen hat. Das Geſetz von 1841 hat das Geſetz von 1833
faſt wörtlich mit einigen Aenderungen wiedergegeben. Grundſatz iſt,
daß wenn dieſe Commiſſion Einwendungen macht, die Entſcheidung als-
dann vom Miniſterium, ſtatt vom Präfekten erfolgen muß, mit Aus-
nahme von reinen Gemeindeenteignungen. Dieſe Grundſätze ſind im
Weſentlichen in die deutſche Expropriationsgeſetzgebung übergegangen.
Das engliſche Recht ſteht hier jedoch auf einem ganz anderen Stand-
punkt. Die Detailpläne ſind ihm weder Sache der Verwaltung noch
der Gemeinden, ſondern ſie erſcheinen ganz im Geiſte des engliſchen
Rechts überhaupt vollkommen als eine Privatangelegenheit zwiſchen dem
Unternehmer und den einzelnen Eigenthümern, um welche ſich die
genehmigende Gewalt (das Parlament oder der board of trade) durch-
aus nicht kümmert, ſondern überhaupt erſt zur Genehmigung ſchreitet,
wenn die Unternehmer die Sache vorher ſelbſt abgemacht haben. Vor
der Lands Clauses Act war eine ſolche Detailgenehmigung um ſo
weniger denkbar, als die Unternehmer gezwungen waren, die eventuelle
Zuſtimmung aller Grundbeſitzer, deren Parcellen ſie enteignen mußten,
[330] ihrem Conceſſionsgeſuch bereits beizulegen. Es war daher ihre
Sache, den Detailplan zu entwerfen, beziehungsweiſe durch freiwilliges
Zugeſtändniß der einzelnen Betheiligten (by agreement) ſich das Recht
zum Betreten der Grundſtücke zu erwerben. Die Lands Clauses Act
hat nur dieſen letztern Punkt geändert und im Art. 81 ff. beſtimmt,
daß die Gründer ſolcher Unternehmungen (the promoters of the under-
taking
) erſt dann dieß Recht des Betretens haben ſollen, wenn ſie
entweder den Parteien den Schätzungswerth der Grundſtücke wirklich
bezahlt, oder aber dieſen Werth in der Bank deponirt und die Depo-
ſitenſcheine den Parteien übergeben haben (making deposit and giving
bond
). Dann können ſie auch gegen den Willen der Parteien den
Grund betreten; thun ſie das außerdem, ſo zahlen ſie 10 L. Buße. Im
Uebrigen beſteht der alte Grundſatz auch jetzt noch in voller Kraft. Die
deutſchen Geſetzgebungen, welche es noch nicht zu eignen Enteignungs-
geſetzen gebracht haben, haben dieſe ganze Rechtsfrage nur in Beziehung
auf die Eiſenbahnen unterſucht und entſchieden; in Oeſterreich
gibt die Vorconceſſion jenes Recht der Betretung gegen einfachen
Schadenserſatz beim Bahnbau (Stubenrauch II. S. 722); in Preußen
gelten darüber ebenfalls keine für das ganze Enteignungsweſen beſtehen-
den Vorſchriften; was Thiel über die ganze Sache meint, iſt nicht
recht klar (S. 94—98). Seine Darſtellung des obigen Rechtsverhält-
niſſes iſt gegeben unter dem Ausdruck „Techniſche Vorarbeiten und
Feſtſtellung des Parcellenplanes.“ Die übrigen Schriftſteller haben die
Frage nicht unterſucht. — Die Frage nach der Herbeiziehung der Be-
theiligten iſt in den Expropriationsgeſetzen der deutſchen Staaten faſt
ganz nach dem an ſich vollkommen richtigen Vorgang der franzöſiſchen
Geſetzgebung entſchieden; ſehr gut und genau das badiſche Geſetz
§. 36; das bayriſche Art. 10; Kurheſſen §. 13; Sachſen-Mei-
ningen
98. 3. Vgl. Häberlin a. a. O. S. 189, 190. In Preußen
iſt noch nichts zur Entſcheidung gekommen. S. Könne a. a. O.
Thiel bleibt deßhalb — unter merkwürdiger Nichtbeachtung jener ſehr
guten ſüddeutſchen Geſetzgebung — auf dem Standpunkt der Theorie
(Ladung der Intereſſenten, Legitimation, Vollmacht derſelben S. 98 ff.
und S. 109 ff., die Feſtſtellung des Verfahrens dabei und die Rechte
derſelben). Derſelbe hat dabei für die Verwaltungsbehörde eine weſent-
liche Miſſion feſtgehalten; die franzöſiſche Geſetzgebung vergißt zwar die
große Bedeutung der Ingenieure nicht, allein dieſe ingenieurs des
ponts et chaussées
ſind eben wieder Beamtete.


Was nun die Frage betrifft, ob und wie weit die Pflicht zur Her-
gabe eines Theiles eines Gutes oder ſeines Gebrauches das Recht für
den Enteigneten erzeuge, eine Enteignung für den Reſt des Gutes,
[331] oder für die Subſtanz deſſelben, und damit die Entſchädigung für das
Ganze zu fordern, obwohl das letztere in dem Detailplan nicht auf-
genommen iſt, ſo hat von jeher die Schwierigkeit darin beſtanden,
hiefür eine ſcharfe geſetzliche Gränze aufzuſtellen. Das franzöſiſche Syſtem
iſt, vielleicht eben wegen der ſtarken Parcellirung der Grundſtücke, bei
dem Satz ſtehen geblieben, daß der Eigenthümer ein Recht auf die Ent-
eignung des Ganzen nur dann habe, wenn der Detailplan einen Theil
eines Gebäudes enteignet; bei Grundſtücken ſoll dagegen das Recht nur
dann eintreten, wenn das zu enteignende Grundſtück durch den Detail-
plan bis auf dreiviertel ſeines Umfanges reducirt wird (Art. 50), wäh-
rend alle übrigen Fragen durch den Grundſatz der vollen Entſchädigung
ausgeglichen werden. Im Weſentlichen ſind dem franzöſiſchen Geſetz
die deutſchen gefolgt (vgl. Häberlin 177—179, Mittermaier und
Treichler a. a. O. Auch Thiel bleibt ziemlich allgemein bei dem
Begriffe der „vollen Entſchädigung“ ſtehen, ohne genauer auf die Sache
einzugehen S. 21 ff.). Eben ſo hat die engliſche Geſetzgebung in der
Lands Clauses Act die Enteignung des Ganzen gefordert, wenn bei
Durchſchneidung von Grundſtücken auf einer Seite weniger als ½ statute
acre
übrig bleibt (Art. 93), für Gebäude gilt das franzöſiſche Geſetz
(Art. 97). Wir nun halten daran feſt, daß dabei weder die franzöſiſchen
noch die analog formulirten Beſtimmungen des badiſchen und heſſiſchen
Expropriationsgeſetzes, am wenigſten die unbeſtimmte Faſſung des bayeri-
ſchen genügen, ſondern daß man davon ausgehen muß, daß der Be-
griff des „Ganzen“ nicht in dem Umfang und der Subſtanz des Gutes,
ſondern in ſeinem Werthe zu ſuchen iſt. Wird der Werth des Gutes
um die Hälfte verringert, ſo iſt es wirthſchaftlich ſchon nicht daſſelbe
Gut mehr, und der Enteignete hat das Recht, die Enteignung des
Ganzen zu fordern, ein Satz, der im Grunde ſchon im preußiſchen all-
gemeinen Landrecht (I, 11, 9) anerkannt iſt, und ähnlich im preußiſchen
Entwurf (§. 7). Damit, glauben wir, wären alle die Schwierigkeiten ge-
hoben, die hieraus entſtehen könnten; die Beſtimmung des Werthes
richtet ſich dann nach den Grundſätzen über die Feſtſtellung der Ent-
ſchädigung, und die Enteignung iſt auf ihre wahre Baſis, die Her-
ſtellung des vollen Werthes, zurückgeführt. Selbſtverſtändlich beſteht
damit noch keine Nöthigung für den Enteigneten, ſondern nur eine
Berechtigung deſſelben. Gerade hiefür iſt dann die Ladung der In-
tereſſenten von Wichtigkeit.


An dieſe Beſtimmungen ſchließt ſich nun der letzte Punkt: der
(öffentlich rechtliche) Grundſatz, daß nach der Publicirung des Detail-
planes keine Aenderungen mit den zur Enteignung beſtimmten Grund-
ſtücken vorgenommen, namentlich keine Hypotheken und Servituten
[332] auferlegt werden dürfen (vgl. Thiel zum franzöſiſchen und ſchweizeriſchen
Expropriationsgeſetz, ſowie die preußiſchen Beſtimmungen S. 129 ff.).
Davon ſollten jedoch die Arbeiten und Veränderungen des regelmäßigen
wirthſchaftlichen Betriebes ausgenommen ſein, außer dem was Thiel
(S. 130) mit Recht bemerkt.


3) Der Enteignungsſpruch und der Uebergang des Eigenthums.

Der dritte Akt in der Enteignung iſt nun der Ausſpruch, durch
welchen, nach feſtgeſtelltem Detailplan, das Einzeleigenthum an dem
beſtimmten Gute wirklich aufgehoben und dem Unternehmer übertragen
wird. Die beiden Rechtsverhältniſſe, auf die es dabei ankommt, ſind
die Sicherung der Entſchädigung und die Competenz zum Enteignungs-
ſpruch.


Was zunächſt die Frage betrifft, ob die Entſchädigung bereits ge-
leiſtet
ſein muß, ehe die wirkliche Enteignung ſtattfindet, ſo war das
erſte Gefühl, das die Geſetzgebung bei der Entſtehung der Enteignung
als einer regelmäßigen Aufgabe hatte, daß die Leiſtung der Entſchädi-
gung der Enteignung voraufgehen müſſe — die indemnité préalable
der droits de l’homme. Das praktiſche Leben zeigte bald die Schwierig-
keiten, die damit verbunden ſind, während andrerſeits die völlige Sicher-
heit der wirklichen Entſchädigung denn doch eine der Hauptbedingungen
aller Enteignung bleiben muß. Das franzöſiſche Recht entſchied dieſe
Frage in einer, wie wir glauben, nicht richtigen Weiſe. Es macht
zunächſt die Enteignung von der Entſchädigung unabhängig, indem
das Jugement d’expropriation der Detailplans-Genehmigung folgt,
und die Verwaltung nur die Pflicht hat, binnen 6 Monaten die Ent-
ſchädigungsfrage zu Ende zu führen (T. V, Art. 55). Iſt vorher die
Entſchädigung entſchieden, ſo ſoll der Betrag vor der Beſitzanweiſung
gezahlt werden (Art. 53). Natürlich hat das den Uebelſtand, daß unter
Umſtänden, wenn der Enteigner zahlungsunfähig wird, nachdem er ſchon
Eigenthum erworben hat, der Enteignete auf einen Proceß mit ihm
angewieſen iſt. Das engliſche Recht ſchickt gleichfalls nicht bloß die
Beſtimmung der Entſchädigungsſumme, ſondern auch die wirkliche Be-
zahlung derſelben der Enteignung vorauf, und zwar mit derſelben Be-
ſtimmung, wie das franzöſiſche Recht, daß die Depoſition bei verweigerter
Annahme genüge (s’ils se refusent à les recevoir, la prise de possession
aura lieu après offres et consignation. Art.
53). Nach der Lands Clauses
Act
haben die promoterszuerſt den ganzen Betrag der Entſchädigung
in die Bank zu geben, nachdem man ſich über dieſelben einig geworden
(agreed) oder dieſelbe durch Schätzung feſtgeſtellt iſt (awarded, ſ. unten).
[333] Iſt das geſchehen, ſo ſoll die Bank einen Depoſitenſchein mit der aus-
drücklichen Erklärung geben, daß dieſe Summe zu dieſer Entſchädigung
beſtimmt ſei. Dann ſoll der Eigenthümer oder ſonſt Berechtigte
auf Aufforderung der Unternehmer das Grundſtück denſelben übergeben
(the owner of such lands shall, when required to do so by the pro-
moters of the undertaking duly convey such land to the promoters)

Art. 75, vgl. 76. 77. Das continentale Syſtem der behördlichen Ueber-
tragung iſt entſchieden beſſer, da es den Enteigner viel mehr vor Chikanen
ſichert. Wie leicht dieſe in England ſind, ſieht man ſchon aus dem
Art. 79 der Lands Clauses Act.


Das bisherige preußiſche Recht iſt über dieſe Frage nichts weniger
als klar (vgl. Rönne a. a. O. namentlich in Beziehung auf die Eiſen-
bahnen). Der neue preußiſche Entwurf will weſentlich nach franzöſiſchem
Muſter die Enteignung ſelbſt zwar von der Einzahlung der Entſchädigung
unabhängig machen, aber die Beſitzeinweiſung durch die Bezirks-
regierung erſt nach der Zahlung, reſp. Deponirung der Entſchädigungs-
ſumme zulaſſen (§. 25. 30). Es iſt klar, daß damit nur verwirrte Ver-
hältniſſe zwiſchen Eigenthum und Beſitz entſtehen können; es genügt
nicht, mit den Motiven zum preußiſchen Entwurf einfach zu conſtatiren,
daß damit ein „Interimiſticum“ entſtehe; denn das Interimiſticum iſt
eben zu vermeiden; wie denn, wenn der Enteigner vor der Zahlung
der Entſchädigung Concurs macht? Auch hilft hier das rechtskräftige
Urtheil Thiels (S. 147) gar nichts, da es ſich für den Enteigneten
ja nicht mehr um ſein Recht auf die Entſchädigung, ſondern um die
wirkliche Zahlung derſelben handelt. Es iſt daher das einfachſte und
im ganzen Weſen des Verfahrens liegende Mittel zu beſtimmen, daß
der Entſchädigungsſpruch über das beſtimmte Gut nach dem Detailplan
erſt dann gefällt werden darf, wenn das competente Amt vorher von
dem Enteigner für den ganzen Betrag der Entſchädigung ſicher ge-
ſtellt iſt
. Man muß feſthalten, daß wenn das Amt das Eigenthum
kraft ſeiner Competenz aufhebt, es auch für die wirkliche Entſchädigung
zu haften hat; denn die ganze Enteignung, alſo auch die Entſchädi-
gung, gehören dem Verwaltungsrecht und nicht dem Privatrecht. Es
iſt daher Sache der Verwaltungsbehörde, ſich für den entfallenden
Betrag der Entſchädigung ſicher zu ſtellen, und Sache des Enteigners,
dieſe Sicherſtellung zu leiſten; ſobald die erſtere glaubt, daß die letztere
genügt, kann ſie auf eigene Verantwortung den Enteignungsſpruch fällen
und es dann darauf ankommen laſſen, daß das Entſchädigungsverfahren
zu Ende geführt werde, womit dem Amte nicht das Recht beſchränkt
wird, auch eine höhere Sicherheit, und andrerſeits auch gar keine be-
ſondere zu fordern, wenn es eben nur die Haftung für die Entſchädigung
[334] übernimmt. Die Klarheit über dieſen Punkt hängt jedoch weſentlich von
der über den folgenden ab.


Mag nämlich über die Sicherheit oder Auszahlung der Entſchädigung
beſtimmt ſein was da will, immer bleibt die Frage, welches Organ zum
Ausſpruch über die Enteignung competent ſei, und wie es bei der-
ſelben zu verfahren habe. Hier ſind nun der franzöſiſche, der engliſche
und der deutſche Standpunkt weſentlich verſchieden. Nach franzöſiſchem
Recht gibt zwar die Verwaltungsbehörde (der Préfet) ihr Arrêt über den
Detailplan, aber die Aufhebung des Eigenthums ſowie die Uebertragung
deſſelben an den Enteigner geſchieht durch ein richterliches Urtheil;
wenn aber das gefällt iſt, wird wieder die Beſitzanweiſung von der
politiſchen Behörde, dem Maire, vollzogen. Nach engliſchem Recht iſt
die Enteignung eigentlich mit dem Uebergeben der Entſchädigung, be-
ziehungsweiſe des bank bond, vollzogen, und der Eigner hat die Pflicht,
den Beſitz zu übertragen (ſ. oben). Der Enteigner ſteht damit in der
Lage eines jeden andern Käufers. Es iſt ſeine Sache, auf Grundlage
der Lands Clauses Act den Beſitz zu erſtreiten; die Behörde hat mit
dieſem ſeinem Privatrecht gar nichts weiter zu thun. Die Gefahren
dieſes Princips liegen auf der Hand. Nach deutſchen Begriffen dagegen
ſpricht die Verwaltungsbehörde die Enteignung aus, ohne Inter-
vention des Gerichts, das nur bei den Entſchädigungen thätig wird,
und übergibt mit dem Eigenthum auch den Beſitz — letztern meiſt, wenn
die Entſchädigungsſumme gezahlt iſt. Nach dem preußiſchen Entwurf
(§. 25. 30.) enthält der Enteignungsſpruch zugleich die Enteignung
und die Beſitzeinweiſung durch die Bezirksregierung. Nach öſterreichi-
ſchem Recht iſt daſſelbe der Fall, nur wird das Recht des Eigenthums
und des Beſitzes hier vielfach durch den ſogenannten Patentar-Beſitz
normirt, indem erſt die Eintragung in das Grundbuch das volle Eigen-
thum gibt, was namentlich bei Eiſenbahnparcellen oft geradezu unthun-
lich wird. Man hilft ſich, indem man das Enteignungsurtheil in
das Grundbuch eintragen läßt, ohne eine grundbücherliche Zuſchreibung
der enteigneten Parcellen in die meiſtens gar nicht exiſtirenden Folien
der Bahnen zu fordern. Nach ſchweizeriſchem Recht verliert der Eigen-
thümer ſofort das Recht auch auf den Beſitz, ſowie die Behörde den
Enteignungsſpruch gethan (Thiel S. 147. 148). Bei Häberlin u. a.
iſt die Frage gar nicht behandelt.


Offenbar iſt nun die autorité judiciaire hier etwas an ſich durch-
aus Ueberflüſſiges und vielmehr die Sache Hinderndes. Es iſt gar nicht
abzuſehen, was denn hier eigentlich das Objekt des Richterſpruches
ſein ſoll. Hat die Behörde den Enteignungsſpruch gethan, ſo haftet
ſie für die Entſchädigung, und es iſt daher gar kein Grund, die Beſitz-
[335] einweiſung ferner zu verhindern, ſo wie aus der Fortdauer des Beſitzes
dem Enteigneten auch gar kein Vortheil erwächst. Conſtatiren kann
das Gericht den amtlichen Spruch nicht; ändern kann es ihn auch
nicht; ihn aufhalten, heißt nur den Gang der Sache verzögern;
unterſuchen, ob das Amt die Entſchädigung geſichert hat, iſt mit
dem Weſen des Amts, das den Staat vertritt, im Widerſpruch. Was
alſo das franzöſiſche gerichtliche Erkenntniß eigentlich ſoll, iſt in der
That nicht abzuſehen. Es hat dagegen den poſitiven Uebelſtand, daß
es Beſchwerde und Klage über Unregelmäßigkeiten in dem Verfahren
des Amts vor weg nimmt, ohne daß die Betheiligten Zeit gehabt
hätten, ſich ſelbſt über den amtlichen Gang des Geſchäfts zu informiren.
Dagegen iſt es richtig, daß den Betheiligten ein Rechtsmittel gegen
jenen Enteignungsſpruch der (untern) Behörde zuſtehen muß. Und
daraus nun ergeben ſich folgende einfache Grundſätze.


Die Betheiligten haben das Recht, ſich nach geſchehenem Enteig-
nungsſpruch mit Beſchwerde an die höhere Stelle zu wenden, wo
keine Verletzung des Geſetzes vorliegt, ſondern da, wo ſie das Ergeb-
niß
des Verfahrens, den Inhalt des Spruches, angreifen. Wo es ſich
dagegen um die Verletzung der geſetzlich vorgeſchriebenen Formen des
Verfahrens handelt, da haben dieſelben das Recht der Klage bei dem
Gericht, welches natürlich auch auf Nichtigkeit des ganzen Verfahrens
erkennen kann. Zu dem Ende muß für den Enteignungsſpruch eine
Friſt zur Gewinnung der Rechtskraft gegeben werden; und zwar
in der Weiſe, daß bei der Beſchwerde die Eingabe keinen Suſpenſiv-
effect hat, ſondern die volle Enteignung mit ihren Folgen ſofort ein-
tritt, während die Behörde für den aus ihrem Verfahren entſtehenden
Schaden haftet. Die Klage dagegen muß Suſpenſiveffekt haben. Nach
Ablauf der Friſt muß der Enteignungsſpruch volle Rechtskraft haben
und Beſitz und Eigenthum müſſen ſofort übergehen. Die Entſchädigungs-
frage iſt dann als völlig unabhängig anzuſehen und geht ihren Weg
unter Haftung der amtlichen Stelle. Darin liegt die einzig richtige
Betheiligung der gerichtlichen Aufgabe an der Enteignung; nur der
Mangel an ausreichenden Enteignungsgeſetzen kann das Verlangen nach
größerer Theilnahme der Gerichte motiviren.


Endlich folgt aus dem ganzen Weſen des Enteignungsverfahrens,
daß das für den Enteigner auf dieſe Weiſe gewonnene Recht zugleich
einer beſtimmten, der Enteignung ſpeciell zukommenden Verjährung
unterworfen ſein muß, wohl zu unterſcheiden von der Verjährung der
Anſprüche auf Entſchädigung. Denn die Grundlage der Enteignung
iſt doch der in der Unternehmung bezweckte öffentliche Nutzen; wird er
nicht hergeſtellt, und unterbleibt die Unternehmung, ſo verliert der
[336] Unternehmer mit dem Rechtsgrunde ſein Recht, der Enteignungsſpruch
iſt aufgehoben, und die Wiedereignung tritt ein. Die Geſetzgebung
ſollte daher eine Friſt als Maximum beſtimmen; die in der Genehmigung
enthaltene Verordnung muß das Recht haben, nach der Natur des
Unternehmens dieſe Friſt auch zu verkürzen. In ganz gleicher Weiſe
fällt mit dem Wegfalle des Unternehmens überhaupt auch das Recht
der Enteignung weg und die bereits enteigneten Güter können von
dem Enteigneten zurückgefordert werden unter Beſtimmung des Werthes
durch die Organe der Entſchädigung; nach franzöſiſchem Recht darf die
Summe für die Wiedereignung nie größer ſein, als die der Entſchädi-
gung bei der Enteignung (Geſetz von 1841, Art. 60; weſentlich ſo das
Schweizer Geſetz von 1850; vgl. Thiel S. 61—64). Warum das
letztere daher wieder den Begriff des Rückkaufes aufſucht, iſt nicht
abzuſehen; hier ſo wenig wie bei der Enteignung findet überhaupt
ein Kaufvertrag ſtatt, ſondern eine Action der Verwaltung mit Ver-
waltungsrecht.


Zweiter Theil.
Das Entſchädigungsverfahren und ſein Recht.

Es iſt mehrfach, namentlich von Mittermaier, der Ausſpruch ge-
than, daß die Entſchädigungsfrage die ſchwierigſte im ganzen Enteig-
nungsweſen ſei. Das iſt in der Praxis allerdings oft der Fall; für die
Wiſſenſchaft ſcheint ſie jedoch ziemlich einfach.


Die Aufgabe der Entſchädigung iſt es nämlich, dem Enteigneten
den Werth des enteigneten Gutes zurückzugeben. Dieſe Aufgabe iſt
ohne Zweifel nicht bloß eine Angelegenheit, ſondern auch eine Pflicht
der Verwaltung, und das erſte Rechtsprincip der Entſchädigung ſollte
daher darin beſtehen, daß die Verwaltung, welche ihrerſeits durch ihren
Spruch das Eigenthum nimmt, auch für die Entſchädigung nach
bürgerlichem Recht zu haften habe
. Es iſt durchaus kein Grund
denkbar, welcher politiſch oder juriſtiſch dieſer erſten Forderung des
Einzelrechts gegenüber der Enteignung entgegenſtände. In der That
bilden alle einzelnen Beſtimmungen des Entſchädigungsverfahrens die
Anerkennung dieſes Princips und ſeine praktiſche Ausführung im Ein-
zelnen; es müßte daher auch mit Recht gefordert werden, daß die Ge-
ſetze dieſe Verpflichtung ausdrücklich anerkannten. Es iſt ein — wenn
auch mehr principieller Mangel dieſer ganzen Geſetzgebung, daß dieß
nicht geſchieht, ſondern daß die Entſchädigung vielmehr den Charakter
eines durch die Verwaltung vermittelten Kaufpreiſes hat. Das
widerſpricht eben ſo ſehr dem Weſen der Enteignung, als die Verwen-
dung des Gerichts dem Principe des Entſchädigungsverfahrens. Aber
[337] auch die Literatur hat dieſen Standpunkt nicht hervorgehoben, ſondern
ſich faſt ausſchließlich auf die juriſtiſche Seite der Frage geſtellt. Der
Grund davon iſt der Mangel an richtigem Verſtändniß der Verwaltung
gegenüber der Rechtspflege. Vielleicht daß die folgende Auffaſſung hier
zu einem richtigeren Standpunkt führt.


Gewiß iſt nämlich, daß das obige Princip, wenigſtens indirekt,
in ſo weit nirgends bezweifelt wird, als kein Enteignungsrecht das
Entſchädigungsverfahren ganz den Einzelnen überläßt, und daß andrer-
ſeits die Frage nach dem amtlichen Entſchädigungsverfahren genau wie
jede Verwaltungsmaßregel erſt da eintritt, wo die Entſchädigung durch
gütliche Vereinbarung nicht zu Stande kommt. Das allgemeinſte
Rechtsprincip aller Entſchädigung iſt daher der Grundſatz, daß das
amtliche Entſchädigungsverfahren erſt als ſubſidiäres Verfahren ein-
zutreten hat, daß aber in dieſem Falle das Amt auch zur Einleitung,
Ordnung und Beendigung deſſelben verpflichtet iſt.


Dieſe Verpflichtung nun iſt es, aus der das Syſtem des Ent-
ſchädigungsverfahrens hervorgeht. Daſſelbe nämlich bezieht ſich aus-
ſchließlich auf den Werth und ſein Eigenthum, während das Enteig-
nungsverfahren ſich auf das Gut bezog, und kann ſomit immer erſt
dann eintreten, wenn über das letztere entſchieden iſt. Seine Aufgabe
iſt es, zuerſt den Werth feſtzuſtellen, und ihn dann dem Berechtig-
ten zu übergeben. In dieſen zwei einfachen Theilen verläuft das
ganze Entſchädigungsverfahren.


1) Die Feſtſtellung der Entſchädigung.

Die Feſtſtellung der Entſchädigung als erſte Aufgabe der Verwal-
tung beruht auf drei Punkten. Zuerſt muß beſtimmt ſein, welches
Organ den Werth des enteigneten Gutes beſtimmen ſoll; dann müſſen
die Regeln, nach welchen dieſe Werthbeſtimmung ſtattzufinden hat,
feſtgeſtellt werden; endlich muß der Entſchädigungsſpruch in Rechts-
kraft
erwachſen.


a) Was zuerſt das competente Organ betrifft, ſo muß man da-
von ausgehen, daß es nur die Aufgabe dieſes Organes iſt und ſein
ſoll, den Werth des enteigneten Objekts feſtzuſtellen. Die Vor-
ſtellung, daß dieß oder gar das ganze Entſchädigungsverfahren „ganz
entſchieden vor die Gerichte gehöre, da es ſich hier nicht mehr um Zweck-
mäßigkeit ſondern um Rechtsfragen handle,“ wie Häberlin S. 213
meint, iſt entſchieden falſch, und zugleich unklar. Denn die obige Be-
ſtimmung des Werthes iſt weder eine Sache der Zweckmäßigkeit noch
eine Rechtsfrage. Die Funktion des Gerichts iſt auch hier eine ganz
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 22
[338] andere. Für die Beſtimmung des Organs aber gelten zwei Syſteme.
Das eine läßt die beeideten Schätzer von der Behörde beſtimmen, das
andere ſetzt eigene Geſchworene dafür ein. Jenes iſt das deutſche, das
bereits im preußiſchen Landrecht a. a. O. aufgeſtellt und in dem preußi-
ſchen Eiſenbahngeſetz von 1838 genauer, wenn auch nur für Eiſen-
bahnen, wiederholt worden iſt; eben daſſelbe gilt in Oeſterreich; im
Grunde gehört auch das ſchweizeriſche Verfahren dahin, da nach dem
Schweizer Expropriationsgeſetz das Bundesgericht Einen, der Bundes-
rath den zweiten, die Kantonalregierung den dritten „Experten“ ernennt;
nur iſt dabei der Grundſatz nachahmungswerth, daß dieſe Experten
Sachverſtändige und Gemeindemitglieder herbeiziehen können. Das
franzöſiſche Syſtem dagegen hat bekanntlich das Syſtem der Entſchä-
digungsgeſchworenen durchgeführt (franzöſiſches Geſetz von 1841, Art. 41).
Vgl. Thiel, S. 132 ff. Die Lands Clauses Act hat dagegen die
Abweichung, daß Beträge unter 50 L. von zwei Friedensrichtern ent-
ſchieden werden; bei größern Beträgen hat dagegen auf ſchriftliches
Verlangen einer Partei (Art. 23) eine Jury einzutreten, jedoch iſt das
Verfahren dabei ohne Zweifel die rationellſte Vereinigung des deutſchen
und franzöſiſchen Princips, und in jeder Beziehung beachtenswerth.
Wenn nämlich die Parteien nicht einig werden, ſo müſſen ſie zuerſt
Schätzmänner (arbitrators) wählen, welche ihren Ausſpruch (award)
thun; bei Enteignungen für Eiſenbahnen kann das Board of trade
einen arbitrator wählen, wenn eine Partei im Rückſtande iſt. Die
Schätzmänner wählen einen Vorſitzenden (umpire) und legen ihre
Schätzung den Parteien vor. Erſt wenn die letzteren dieſe Schätzung
nicht annehmen, haben ſie nach zehn Tagen durch den sheriff die Jury
berufen zu laſſen, bei deren Verfahren der sheriff den Vorſitz führt.
Die Jurys werden ſpeciell vereidet; doch hat jede Partei das Recht,
auf eine special jury zu provociren. Das Verdikt der Jury iſt dann
maßgebend (Lands Clauses Act art. 22—68). Wir wüßten unſerer-
ſeits zu dieſem Geſetz nichts hinzuzufügen, als unſer Bedenken gegen
Art. 38, nach welchem wegen Formfehler der Ausſpruch der Schätzleute
nicht angegriffen werden ſoll. Was Thiel gegen die Geſchwornen an-
führt, iſt eben ſo wenig ſtichhaltig, als ſein wunderliches Mißverſtändniß
daß ſie „ein Gericht“ ſeien. Sie ſind nichts als die beſte Form der
Schätzung, ſollten aber weder wie in Deutſchland ganz wegfallen, noch
wie in Frankreich immer funktioniren, ſondern die höhere Inſtanz der
Schätzleute bilden. Was das Gericht mit der Schätzung zu thun haben
ſoll, iſt in der That nicht abzuſehen; am wenigſten iſt es verſtändlich,
wenn man von den Schätzleuten an die Gerichte appelliren darf,
wie in Oeſterreich, da doch das Gericht nur durch neue Schätzleute
[339] einſchreiten könnte. Eine inſtanzloſe Schätzung wie bei der franzöſiſchen
Jury hat gleichfalls ihre Bedenken. Wir ſehen daher als das unzweifel-
haſt beſte Mittel das engliſche Syſtem an, das wir der künftigen
Geſetzgebung dringend empfehlen.


b) Schwieriger iſt die Frage, nach welchen Regeln dieß Schätzungs-
organ vorzugehen hat. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß jedem Organ die
Elemente und Akten zum Zwecke der Schätzung vorgelegt werden müſſen.
Fraglich ſind eigentlich nur zwei Punkte. Erſtlich handelt es ſich
darum, was als Gegenſtand der Schätzung aufgenommen werden ſoll;
namentlich ob das Schätzungsorgan über den Verkehrswerth des
Gutes hinausgehen und als Gegenſtand der Entſchädigung auch die
Nachtheile, welche die Enteignung indirekt bringt, oder die möglichen künf-
tigen Vortheile gelten dürfen. Es iſt nun wohl kaum zweifelhaft, daß
die erſteren nicht ausgeſchloſſen werden dürfen, während die letzteren
nicht aufgenommen werden können; denn die Schätzung ſoll den Werth
beſtimmen, den das enteignete Gut in ſeiner Qualität als Theil des
wirthſchaftlichen Ganzen nachweisbar
beſitzt, dem es angehört.
Auch hier entfällt allerdings die ganze Frage, ſo wie man zu den Ge-
ſchwornen greift, und an ihre Stelle tritt die formelle Regel des
Schätzungsverfahrens. Die eingehenden Unterſuchungen Häberlins
S. 179 ff. kommen am Ende doch nicht weiter als bis zu dem, von
den deutſchen Geſetzgebungen allgemein angenommenen Princip der
„vollen“ oder „vollſtändigen Entſchädigung;“ die von Treichler zuerſt
hervorgehobene Vorſtellung von dem „Schaden,“ den die Enteignung
bringt (a. a. O. 153 ff.), bedeutet im Grunde nichts anderes als den
Werth, den der Reſt des Gutes durch die Enteignung des Theiles
verliert, und iſt daher der Sache nach richtig, in der Form jedoch ge-
fehlt, weil er nicht berechnet, ſondern nur als wirthſchaftlich wahrſchein-
lich angenommen werden kann, was den juriſtiſchen Begriff des Schadens
wieder ausſchließt. Wir müſſen daher wirthſchaftlich an dem obigen
Begriffe des wirthſchaftlichen Werthes des Ganzen feſthalten, der auch
vollkommen ausreicht, und zuletzt nur die klarſte Interpretation der
„vollſtändigen“ Entſchädigung enthält. Was nun zweitens die Form
für das Verfahren betrifft, ſo iſt dieſe allerdings Gegenſtand genauer
Vorſchriften und mit Recht, da ſie es weſentlich iſt, in der die Inter-
eſſen zur Geltung gelangen. Das franzöſiſche Geſetz (Art. 29 ff.) iſt
darüber ſehr genau; es iſt aber das Verfahren vor den Geſchwornen
keiner Appellation fähig, und daher iſt der Akt der Schätzung ſelbſt
ohne Vorſchriften; die Jury entſcheidet geheim unter ſelbſtgewähltem
Präſidenten. Im deutſchen Recht dagegen herrſcht die Vorſtellung von
einem gerichtlichen oder doch amtlichen Verfahren, daher das Princip
[340] der Protokollsaufnahme (vgl. namentlich Thiel, S. 142—144). Das
engliſche Geſetz beſtimmt, daß die Geſchwornen ihr Verdict nie im
Allgemeinen, ſondern für jede einzelne der Entſchädigung unter-
liegende Frage abgeben ſollen (separately for the sum of money for
the purchase of the land, or of any interest therein belonging to
the party. Lands Clauses Act art.
49). Wir halten dafür, daß
dieſer Grundſatz, für die Schätzleute feſtgehalten, der richtige iſt;
natürlich wird jedes Verfahren vor der Jury, wie es in Frankreich
und England der Fall iſt, wieder berechtigt ſein neue Zeugen zu ver-
nehmen u. ſ. w. Doch ſollte man beſtimmen, daß vor der Jury keine
neuen Geſichtspunkte aufgeführt werden dürfen, wie bei der Appellation
im gerichtlichen Verfahren. Den Schluß des ganzen Verfahrens bildet
die Rechtskraft.


c) Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die Rechtskraft eine andere iſt, je
nachdem eines der drei obigen Syſteme zum Grunde gelegt wird. Ge-
meinſam jedoch muß der Grundſatz gelten, daß der Spruch, ſei es nun
der der Schätzmänner oder der der Geſchwornen, eine gewiſſe Friſt
zur Erlangung der Rechtskraft fordert. Eben ſo ſelbſtverſtändlich iſt,
daß der Geſchwornenſpruch nur durch die Caſſation angegriffen werden
kann, wie in Frankreich (Geſetz von 1841, Art. 42). In England iſt
auch dieſe bekanntlich nicht zuläſſig. Scheidet man Schätzung und
Geſchworene, ſo iſt es kein Zweifel, daß die natürliche Inſtanz für die
erſtere in den zweiten liegt, wie in England; wo dagegen geſetzliche
Regeln für die erſtere beſtehen — in England nicht, ſ. oben — da
muß man conſequent zwar keine Appellation, wohl aber eine Klage vor
Gericht zulaſſen. Wichtig iſt nur die Frage, ob das Verfahren eine
Präcluſion für ſolche enthalten ſoll, welche ſich entweder überhaupt
nicht, oder nicht mit ihren Forderungen und Gründen gemeldet haben.
Eine ſolche Präcluſion iſt zweckmäßig, und erſcheint in dem Grade mehr
motivirt, als das ganze Verfahren ein öffentliches iſt; die franzöſiſchen
Vorſchriften (Geſetz von 1841, Theil III.) ſind ſehr zweckmäßig. Thiel
(S. 157—164) vertritt die „Legalpräcluſion“ mit vielem Geſchick und
guten Gründen. Einen Termin für die Verhandlung wegen Hypotheken
zuzulaſſen, iſt bei guten Grundbüchern nicht nothwendig; doch iſt eben
ſo wenig ein Grund vorhanden, die Auszahlung ſofort zu befehlen
(ſ. unten). Alle anderen Realrechte fallen unter die allgemeinen Regeln.


2) Das Auszahlungsverfahren.

Bei dem Auszahlungsverfahren handelt es ſich zunächſt um das
Organ, und dann um die Form der Auszahlung.


[341]

Das natürliche Organ der Auszahlung iſt ſelbſtverſtändlich daſſelbe,
welches für die richtig geſchehene Auszahlung haftet, die Behörde. Es
iſt ihre Sache, die Entſchädigungsſummen zu empfangen, und ſie dem
Berechtigten zu übergeben. Es iſt auch ihre Sache, die Identität der
Letzteren zu beſtimmen, da ſie eben haften muß. Sie kann eben deß-
halb die Auszahlung verweigern, aber kann wieder dafür gerichtlich
belangt werden. Wozu hier eine Intervention des Gerichts dienen
ſoll, iſt nicht abzuſehen, um ſo weniger als die Enteigneten in dem
Enteignungsverfahren eben durch die Behörde feſtgeſtellt werden.


Was ſchließlich die Form der Auszahlung betrifft, ſo muß als
Regel gelten, daß mit der erwachſenen Rechtskraft des Entſchädigungs-
ſpruches auch die Auszahlung fällig iſt. Die Vorſchriften der preußi-
ſchen Geſetzgebung und Thiels Vorſchläge (Kapitel VI. und S. 149 ff.)
ſind noch immer auf eine große Bevormundung berechnet. Fraglich iſt
es dadurch geworden, ob bei der Auszahlung auf dritte Gläubiger
Rückſicht zu nehmen ſei. Dieß iſt offenbar nur in dem Falle denkbar,
wo das Recht des Gläubigers mit dem beſtimmten Gute in Verbindung
ſteht; namentlich alſo bei Pfandgläubigern. Hier ſind zwei Fälle mög-
lich. Der erſte und einfachſte iſt der, daß das ganze belaſtete Gut
enteignet wird. Die Grundlage des Verfahrens in dieſem Falle iſt
einfach; ſie beſteht darin, daß die ganze Hypothek als gekündigt gilt
und mit der Entſchädigungsſumme ausgezahlt wird. Das iſt ſo lange
einfach, als die letztere die erſtere deckt. Wo dieß nicht der Fall iſt,
fordert Wendt (Expropriations-Codex, S. 254) die Subhaſtation,
Häberlin erklärt ſich jedoch mit vollem Recht gegen dieſelbe (S. 196),
da die Subhaſtation die Enteigner zwingen würde, jede Summe zu
zahlen, das iſt die Enteignung ſelbſt um ihren Charakter zu bringen.
In der That iſt das Pfandrecht als Eigenthum des Werthes ſubſtanz-
los, wo der Werth aufhört; und derſelbe hört auf, wo die Schätzung
endet. Der zweite Fall iſt jedoch der, wo nur ein Theil eines Gutes
enteignet wird, auf dem eine Hypothek im Ganzen haftet. Die Geſetze
ſind darüber ſehr ungenau (Thiel, S. 149—151). Es gibt dafür
kaum einen andern und einfachern Weg als die Beſtimmung, daß in
einem ſolchen Falle die Hypothekengläubiger von der Enteignung ſo wie
von der Entſchädigungsſumme verſtändigt werden, und daß zugleich
den Schätzungsorganen aufgetragen wird, zu beſtimmen, ob und in
wie weit durch die theilweiſe Enteignung der Werth des ganzen Gutes
ſo viel leidet, daß die intabulirte Pfandſchuld damit angegriffen wird.
Wo ein ſolcher Fall vorkommt, iſt dieß eine von den Fragen, über
welche ſich die Schätzungsorgane ſpeciell zu äußern haben. Aeußern
ſie ſich bejahend, ſo wird der Hypothekargläubiger von dieſem Spruch
[342] vom Amte verſtändigt, mit dem Bedeuten, daß er den betreffenden
Betrag gegen Quittung in Empfang nehmen könne. Dieſe Quittung
wird dem Grundbuch beigelegt, und die Schuld um dieſen Betrag ver-
mindert erklärt. Auf dieſem Wege iſt jedes Recht und jedes Intereſſe
geſichert.


Das Staatsnothrecht.

I. Weſen deſſelben.

Den Schluß des ganzen Entwährungsweſens bildet nun dasjenige,
was wir das Staatsnothrecht nennen, und bei welchem es, im
Hinblicke auf das bisher Dargeſtellte, weſentlich nur noch auf genaue
Beſtimmung des Begriffes ſelbſt ankommt, da hier weder neue Princi-
pien noch neue Rechtsbegriffe eintreten.


Das Staatsnothrecht iſt ſeinem formalen Begriffe nach das Recht des
Staats, die Enteignung im kurzen Wege da vorzunehmen, wo die
Verfügung über ein beſtimmtes Gut durch ein plötzliches, unabweis-
bares, und durch nichts anderes zu befriedigendes Bedürfniß des Staats
gefordert wird.


Der Begriff des Staatsnothrechts entſteht nun gleichzeitig mit dem
Begriffe des Staates ſelbſt, und wird mit zwei Worten bezeichnet, welche
gleich anfangs die beiden Hauptrichtungen bedeuten, in denen aus der
Noth des Staats demſelben das Recht entſteht, in die öffentliche Ordnung
einzugreifen. Das erſte iſt die summa potestas, auch oft mit impe-
rium
gleichbedeutend genommen, das zweite iſt das jus eminens. Die
summa potestas bedeutet das Recht des Staatsoberhaupts, im Namen
der höchſten Staatsgewalt und ihren unabweisbaren Anforderungen das
beſtehende öffentliche Recht zu ändern. Das jus eminens dagegen
enthält von Anfang an die Fälle, wo der Staat im Namen der Noth in
das Privateigenthum hineingreift. Allerdings ſind im 17. Jahrhundert
dieſe beiden Begriffe und Verhältniſſe eben ſo wenig klar, als ſie es noch
jetzt ſind; doch hat ſchon Hugo Grotius den Grund zu derjenigen
Unterſcheidung gelegt, welche dieſem Gebiete ſeine Selbſtändigkeit im
öffentlichen Recht hätte ſichern ſollen, wenn die folgenden Verhältniſſe
überhaupt eine weitere Unterſuchung zugelaſſen hätten. Das iſt die Unter-
ſcheidung des jus eminens vom dominium eminens oder dominium
supremum,
das wir oben dargeſtellt haben. Während nämlich das letztere
aus dem poſitiven Rechtsverhältniſſe eines wirklich beſtehenden Ober-
eigenthums
das Recht der Staatsgewalt als Oberlehensherrn her-
leiten will, geht daneben ſchon Hugo Grotius auf den Begriff der
Noth ein und legt bei „certum periculum“ des Staats, und der daraus
[343] entſtehenden „necessitas“ demſelben das Recht an und für ſich bei,
das Privateigenthum für ſeine Zwecke zu benützen; natürlich hauptſäch-
lich im Falle einer äußern, im Kriege gegebenen Noth (L. II. T. 6. 9).
Dieß „jus supereminens domini“ wird dann als ein ſolches bezeichnet,
„quod ad omnes spectat res subditorum“ (III. c. XIX). Damit iſt
denn allerdings das Staatsnothrecht auf ſeine wahre Baſis, den Be-
griff und das Weſen des Staats (natura civitatis), zurückgeführt; allein
zu der Unterſcheidung dieſes jus supereminens von der summa potestas
gelangt Hugo Grotius noch nicht, weil die Elemente des Unterſchiedes
zwiſchen Geſetz und Verordnung ihm noch gänzlich fehlen. Dieſe nun
bilden ſich erſt im Laufe des 17. Jahrhunderts in dem großen Gegen-
ſatze zwiſchen Kaiſer und Reich aus; das Reich iſt der Träger der Idee
des Geſetzes, das Kaiſerthum der der Verordnungsgewalt, und ſchon
jetzt bedeutet die summa potestas die Frage, ob der Kaiſer das Recht
habe, einſeitig — wir würden ſagen im Verordnungswege — in die
Rechtsverhältniffe des Reiches gegen die Geſetze deſſelben (Reichsabſchiede,
Wahlinſtitutionen u. A.) einzugreifen, wenn die Noth des Reiches, die
necessitas imperii, es fordert. Hätte nun das 18. Jahrhundert es in
den Reichslanden zu einer Territorialgeſetzgebung gebracht, ſo würde jene
Frage, die als eine ſpecielle Frage zwiſchen Kaiſer und Reich aufgeworfen
ward (ſ. oben), wahrſcheinlich in das Staatsrecht überhaupt, und zwar mit
ihrem ganz beſtimmten Inhalt als das Recht der Nothverordnung über-
gegangen ſein. Allein da überhaupt keine Geſetzgebung zu Stande kam,
ſo verſchmolz, wie wir es in der vollziehenden Gewalt dargelegt haben, die
geſetzgebende Gewalt mit der verordnenden, die Verordnung ward
Geſetz
, die Vorſtellung von einem Gegenſatz zwiſchen Verordnung und
Geſetz, und mit ihr die von einer summa potestas ex titulo necessitatis
verſchwand, und man wußte daher von einem auf das öffentliche Recht
bezüglichen jus eminens ſich keine klare Vorſtellung zu machen. Da-
gegen aber erzeugte die ſich immer weiter entwickelnde Verwaltung den
Grundſatz des Entwährungsrechts, und ſpeciell den der Enteignung.
Selbſtverſtändlich ſuchte man nun dieſen Grundſatz an das jus naturae
anzulehnen, und fand hier den alten Begriff des jus eminens, der
unklar Enteignung und Staatsnothrecht zuſammenfaßte. Es war daher
ganz natürlich, daß man nunmehr dieſen Ausdruck fortgebrauchte, das
Enteignungsrecht als ein jus eminens des Staates bezeichnete, und
das letztere mit dem Anfang unſers Jahrhunderts dann als „Staats-
nothrecht“ deutſch überſetzte. Als nun das Enteignungsrecht ſich zu ſelbſt-
ſtändiger Geſetzgebung entwickelte, wußte man mit dem jus eminens und
dem Staatsnothrecht nichts Rechtes anzufangen, da man zwar das
richtige Gefühl hatte, daß es dem Enteignungsrecht auf das Engſte
[344] verwandt ſei, aber doch nicht ganz daſſelbe bedeute, während man
andererſeits bei dem Mangel des Begriffes und Inhalts des verfaſſungs-
mäßigen Verwaltungsrechts und der Verordnung gegenüber dem Geſetze,
wieder das Nothverordnungsrecht und die Lehre von der Verantwort-
lichkeit und der Indemnity nicht ganz durchſchaute. So iſt es gekom-
men, daß das „Staatsnothrecht“ in den Lehrbüchern des Staatsrechts
ein unklares Daſein fortführt, vielfach mit der Expropriationslehre
verſchmolzen, wie bei Klüber, vielfach äußerlich mit derſelben ver-
bunden, wie bei Zachariä und Zöpfl, vielfach ganz weggelaſſen,
wie bei Pölitz, Aretin und Mohl. Die Theorie der Expropriation
hat daſſelbe, mit Ausnahme Häberlins, der einige Worte darüber
ſagt, ohne genauer auf die Sache einzugehen (a. a. O. S. 217. 218)
bei Seite liegen laſſen, obgleich die Geſetzgebungen Anlaß genug boten.
Die Darſtellung der „zwangsweiſe vorübergehenden Benützung frem-
den Eigenthums“ bei Koch, Deutſchlands Eiſenbahnen Tit. II. S. 129
bezieht ſich nur auf das, was wir oben die Enteignung des Gebrauches
genannt haben. Erſt Thiel hat demſelben unter dem nicht glücklichen
Titel: „Außergewöhnliches Expropriationsverfahren“ (S. 167 ff.) einen
eigenen eingehenden Abſchnitt gewidmet, bei dem jedoch die Beziehung
auf die früheren Rechtsbegriffe fehlt. Dagegen hat H. Biſchof: Das
Nothrecht der Staatsgewalt in Geſetzgebung und Regierung (Linde,
Archiv des deutſchen Bundes, Bd. III. Heft 3. 1860) unter faſt gänz-
licher Zurückſetzung des Expropriationsrechts die erſte gründliche Be-
handlung des Nothverordnungsrechts der Regierung, freilich nicht
gerade von ſtreng verfaſſungsmäßigem Standpunkt der Verantwortlich-
keit gegeben (ſ. vollziehende Gewalt). — Durch beide Arbeiten iſt nun
das Material, wenn auch nicht für die Geſchichte dieſes wichtigen Be-
griffes, ſo doch für ſeinen Inhalt, gegeben. Indem wir unſererſeits
für die erſtere auf das bereits Angeführte uns beziehen, glauben wir
demnach jetzt mit der Charakteriſirung des Syſtems dieſer Lehre hier
unſerer Aufgabe genügen zu können.


II. Unterſchied des Nothverordnungsrechts vom eigentlichen Staatsnothrecht,
und des Staatsnothrechts von der Enteignung. Geſetzgebung.

Das Nothverordnungsrecht iſt demnach dasjenige Recht der Regie-
rung, vermöge deſſen ſie auf Grundlage der unabweisbaren Nothlage
des Staats Verordnungen erläßt, welche das geſetzliche Recht des Staats
aufheben, und die Befolgung ſolcher Verordnung mit denſelben Mitteln
erzwingt, mit denen ſie die verfaſſungsmäßigen Verordnungen vollzieht.
Das Rechtsprincip dieſer Nothverordnung iſt dabei die Haftung der
[345] verordnenden Organe, aber nicht vor dem Gericht, ſondern vor der
geſetzgebenden Gewalt, welche über ſolche Verordnungen und ihre Dauer
entſcheidet. Die ganze Frage gehört demnach in die Lehre von der
vollziehenden Gewalt (wo ſie neben andern in zweiter Auflage ihren
Platz finden wird).


Das Staatsnothrecht dagegen im engern Sinne iſt nichts
anderes, als diejenige Anwendung des Enteignungsrechts, bei der die
plötzliche Gefährdung des Staats und ſeiner organiſchen Funktion das
Eintreten eines regelmäßigen Enteignungsverfahrens, möge daſſelbe
nun ſonſt geordnet ſein wie es will, nicht zuläßt, während alle
Grundſätze der Enteignung ſowohl in Beziehung auf die Aufhebung
des Eigenthums am Gute als in Beziehung auf die Rückerſtattung des
Werthes durch die Entſchädigung, in voller Geltung bleiben.


Das oberſte Rechtsprincip alles Staatsnothrechts ergibt ſich damit
dahin, daß im Falle der Gefahr allerdings die Regierung das Recht
hat
, die Enteignung auch ohne die geſetzlichen Vorſchriften über das
Enteignungsverfahren vorzunehmen; daß ſie aber die Nichtberückſichti-
gung dieſer geſetzlichen Vorſchriften nur ſo weit eintreten laſſen darf,
als die wirkliche Gefahr es ihr unmöglich macht, ſie zu befolgen,
und daß ſie für das Vorhandenſein einer ſolchen Beſchränkung des geſetz-
lichen Rechts durch die Noth dem Enteigneten haftet.


Daß nun ein ſolches Staatsnothrecht im Weſen des Staats liege
und daß mithin das formelle Enteignungsrecht nicht ausreiche, iſt
wohl von jeher anerkannt worden. Allein natürlich konnte man zum
Bewußtſein von dieſer Unterſcheidung erſt da gelangen, wo man eben
das Enteignungsrecht ſelbſt zum Gegenſtande einer ſyſtematiſchen Geſetz-
gebung machte. Es iſt daher durchaus erklärlich, daß erſt die franzö-
ſiſche Expropriations-Geſetzgebung das Staatsnothrecht ſyſtematiſch vom
Expropriationsrecht ſchied (1833); dieſem Vorgange folgten dann mehrere
deutſche Geſetzgebungen, wie Baden und Heſſen, während die übrigen
Staaten, überhaupt einer Enteignungsgeſetzgebung entbehrend, auch
jenen Unterſchied auf ſich beruhen ließen. Dieß iſt noch der Fall in
Oeſterreich, während Preußen daſſelbe nach Frankreichs Muſter in ſeinen
neueſten Entwurf aufgenommen hat. Englands Recht kennt weder den
Begriff noch die Sache.


Das Syſtem des Staatsnothrechts bietet jedoch einige Punkte dar,
welche auch für das Enteignungsrecht nicht ohne Bedeutung ſind.


III. Das Syſtem des Staatsnothrechts.

Auch das Staatsnothrecht muß als ſeine Grundlage den Unter-
ſchied des Enteignungs- und des Entſchädigungsverfahrens erkennen, da
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 23
[346] ſein Inhalt grundſätzlich nur die durch die Noth gebotene Abkürzung
des Verfahrens enthält.


1) Die Enteignung des Staatsnothrechts.

Der Unterſchied dieſer Enteignung von der ordentlichen iſt nun
merkwürdiger Weiſe ſchon von der franzöſiſchen Geſetzgebung durch das
Geſetz vom 30. März 1831 weſentlich auf Enteignung für militäriſche
Zwecke bezogen, was der preußiſche Entwurf (§. 35. 40) wiederholt
hat. Erſt das Geſetz von 1841 nahm die Enteignung aus Noth als
Theil des Enteignungsrechts überhaupt auf, als urgence de prendre
possession,
und ordnete dafür die Erklärung einer Ordonnance royale
an; doch ſollte das jugement d’expropriation bleiben; es iſt mithin
eigentlich nur das Entſchädigungsverfahren kürzer geworden (Tit. VII.).
Mit Recht bemerkt Thiel, daß das Geſetz dabei weſentlich dauernde
militäriſche Anlagen im Auge habe (S. 179); mit Unrecht läßt er weg,
daß im Grunde gar kein denkbares Motiv vorhanden iſt, für
militäriſche Anlagen andere Arten des Verfahrens als für alle andern
öffentlichen Zwecke für nöthig zu erachten, ganz gleichviel, ob es ſich
um militäriſche Bauten, Befeſtigungen oder etwas anderes handelt.
Eben ſo wenig iſt ein Grund vorhanden, etwas anderes als das regel-
mäßige Enteignungsverfahren bei „zeitweiligen Militärzwecken“ (d. h.
vorübergehenden militäriſchen Bedürfniſſen), z. B. Schieß- und Exercier-
plätzen u. ſ. w. eintreten zu laſſen, wenn die Zeit ausreicht, mit dem
gewöhnlichen Verfahren vorzugehen. Daſſelbe muß für jeden öffent-
lichen Zweck gelten. Die ſummariſche Enteignung tritt erſt da ein, wo
eben dieſe Zeit nicht ausreicht, wie bei durchmarſchirenden Truppen,
bei Anſtrengungen in Feuers- und Waſſersgefahren, bei Maßregeln der
Sicherheitspolizei bei Volksaufſtänden u. ſ. w. Daß auch hier das
Enteignungsrecht ſtattfinden muß, iſt klar. Die Hauptfrage bleibt dabei
die, welches Organ dazu competent iſt, und welches die Grenze ſeiner
Competenz ſein muß. Und hier möchten wir folgende Grundſätze auf-
ſtellen. Jedes Organ, welches eine plötzliche äußere Gefahr zu bekämpfen
hat, hat nicht bloß das Recht, die Enteignung für die ihr durchaus
nothwendigen Sachen auszuſprechen, ſondern auch unter einfacher amt-
licher Erklärung davon eventuell, nach Maßgabe der Gefahr, Beſitz zu
ergreifen. Allein erſtlich ſoll daſſelbe niemals das Eigenthum an dem
betreffenden Gute aufheben, ſondern ſein Enteignungsrecht geht nur
auf den Gebrauch deſſelben für den plötzlich aufgetretenen Zweck,
allerdings in der Weiſe, daß der Gebrauch das Gut vernichten kann.
Das Eigenthum ſoll ſtets nur auf dem Wege der regelmäßigen Ent-
[347] eignung aufgehoben werden können. Zweitens haftet das betreffende
Organ dafür, daß das Unterlaſſen des Enteignungsverfahrens wirklich
durch die Noth und nicht durch Willkür geſchehen iſt; es darf ſtets
nur ſo viel von dem erſtern bei Seite gelaſſen werden, als nach Art
und Größe der Gefahr nicht zur Anwendung gelangen konnte. Drittens
findet gegen jedes ſolches Verfahren allerdings auch Beſchwerde ſtatt;
allein dieſelbe kann natürlich keinen Suſpenſiveffekt haben. Es iſt dabei
viertens Sache der Behörde, die zum öffentlichen Gebrauch in Anſpruch
genommenen Güter zu beſtimmen, ohne daß vorher ein Plan vorgelegt
wäre (man denke nur an Niederreißen von Häuſern beim Feuer, bei
Gefechten u. ſ. w.), allein ſie hat zugleich die Verpflichtung, wo mög-
lich vorher oder gleichzeitig, jedenfalls aber nachher ein genaues Ver-
zeichniß der enteigneten Güter aufzuſtellen, und bei dieſem Verzeichniß
muß der Enteignete das Recht haben, in zweifelhaften Fällen gericht-
lichen Beweis herzuſtellen. Was die Militärverwaltung dabei weiter
zu thun hätte, iſt uns trotz Thiel nicht einleuchtend geworden. Ueber
das Organ, welches die (Gebrauchs-) Enteignung verfügt, läßt ſich gar
nichts weiter ſagen; es iſt nur feſtzuhalten, daß das militäriſche Recht
hier keine beſondere Beſtimmungen fordert. Eben ſo wenig ſehen wir
einen weſentlichen Unterſchied in den beiden von Thiel (S. 176) auf-
geſtellten Gruppen. Daß der franzöſiſche Gedanke eines gerichtlichen
Urtheils in allen Nothfällen ohnehin gänzlich unpraktiſch iſt, liegt auf
der Hand. Im Gegentheil muß man ſagen, daß allenthalben, wo ein
ſolches noch möglich iſt, der Beweis geliefert iſt, daß für das regel-
mäßige Verfahren Zeit genug, und alſo keine Noth, mithin auch kein
Staatsnothrecht vorhanden war.


2) Die Entſchädigung des Staatsnothrechts.

Das Eigenthümliche für das Entſchädigungsverfahren des Staats-
nothrechts beſteht nun einfach darin, daß daſſelbe nicht auf einer
Schätzung des Gutes beruht, ſondern in einer Schätzung auf Grund-
lage eines, von dem Enteigneten zu führenden Beweiſes über die
Güter oder Nutzungen, welche durch die Nothenteignung entzogen wer-
den, beſtehen muß. Es iſt nämlich gar kein Grund vorhanden,
andere Grundſätze für das Entſchädigungsverfahren beim Staatsnoth-
recht als bei der eigentlichen Enteignung zu fordern; nur auf dem
einzigen Punkte iſt die Gleichheit nicht möglich, und das iſt der, daß
die Schätzleute das Gut nicht vor der Enteignung zu ſchätzen Zeit
finden. Im Staatsnothrecht tritt daher die Nothwendigkeit ein, die
Identität und etwa die Eigenſchaften des enteigneten Gutes nach-
[348] träglich
vor den Schätzleuten beweiſen zu müſſen, die dann nach
dieſem Beweis ihren Wahrſpruch thun. Alle übrigen Grundſätze der
Entſchädigung und ſeines Verfahrens müſſen auch für das Staats-
nothrecht einfach beibehalten werden, da hier das Moment der dringen-
den Gefahr verſchwindet. Das franzöſiſche Geſetz wie der preußiſche
Entwurf würden viel klarer geworden ſein, hier wie in den übrigen
Gebieten, wenn ſie ſtrenge das Entſchädigungs- von dem Enteignungs-
verfahren geſchieden hätten, wie es die Wiſſenſchaft fordert.

[][][]

Lizenz
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Stein, Lorenz von. Die Verwaltungslehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnxq.0