[][][][][][][[I]]
Geiſt des römiſchen Rechts
auf den
verſchiedenen Stufen ſeiner Entwicklung
.


Zweiter Theil.
Erſte Abtheilung.

Leipzig,:
Druck und Verlag von Breitkopf und Härtel.
1854.

[[II]][[III]]

Vorrede.


Nur ungern habe ich mich entſchloſſen, das zweite Buch
(zugleich den zweiten Band) meines Werks in zwei Abtheilungen
erſcheinen zu laſſen. Ich hatte auch für den zweiten Band aus
denſelben Gründen, die mich beim erſten Bande dazu beſtimm-
ten, die Methode des bogenweiſen Druckens beibehalten, und
ſchon im März 1853 den Druck der erſten Bogen beginnen laſ-
ſen. Ich durfte mich der Hoffnung hingeben, daß das zweite
Buch meines Werks im Sommerſemeſter dieſes Jahres fertig
werden würde. Allein ſeit Anfang des Semeſters bemächtigte
ſich meiner eine körperliche und geiſtige Abſpannung, die mich
zwar an meinen ſonſtigen Arbeiten nicht hinderte, ein eigentlich
produktives Arbeiten aber unendlich erſchwerte, und dies gerade
bei einem Punkt, der mehr als irgend ein anderer die ganze
Kraft in Anſpruch nahm. Es iſt das Kapitel über die juriſtiſche
Technik, mit dem die zweite Abtheilung beginnen wird. Daſſelbe
mit ſchwacher Hand und mit mattem Sinn zu bearbeiten oder
richtiger, da ich leider Monate lang nicht anders habe arbeiten
können, das ſo gearbeitete in den Druck zu geben, widerſtrebte
mir; dazu war mir der Gegenſtand ſelbſt zu lieb. Es blieb mir
[IV]Vorrede.
nichts übrig, als die Arbeit einige Zeit auszuſetzen, um mich
wieder etwas zu erholen. Um aber vor den Gedanken an das
Buch auf einige Zeit wirklich Ruhe zu haben, ſchien es mir ge-
rathen, das fertig gewordene zu publiciren, und da ſich gerade
ein paſſender Abſchnitt darbot, ſo habe ich mich hierzu entſchloſ-
ſen. Die zweite Abtheilung, welche minder ſtark werden dürfte,
als die erſte, übrigens mit fortlaufender Paginirung gedruckt
werden ſoll, hoffe ich im nächſten Jahre zu abſolviren. Im
dritten Bande wird ſodann das dritte Buch (das neuere römiſche
Recht enthaltend) folgen.


Gießen 14. October 1854.


[[V]]

Inhalt des zweiten Theils. *)
Erſte Abtheilung.


  • Zweites Buch.
    Das ſpezifiſch römiſche Rechtsſyſtem.
  • §. 22. Einleitung. S. 1—8.
  • Erſter Abſchnitt.
    Allgemeine Charakteriſtik des Rechtsſyſtems.
  • I.Aeußerer Eindruck der Rechtswelt. S. 9—20.
  • §. 23. Oeffentlichkeit des Rechtslebens — Plaſtik des Rechts.
  • II.Die Grundtriebe der Rechtsbildung. S. 20—320.
  • I.Der Selbſtändigkeitstrieb des Rechts. hiS. 20—86.
  • Vorbemerkung.
  • §. 24. Die praktiſche Selbſtändigkeit des Rechts — die beiden Extreme.
    S. 20—24.
  • 1. Erhebung des Rechts zu der ihm eigenthümlichen
    Form
    .
  • §. 25. Die Sitte und das Geſetz, geſchriebenes und ungeſchriebenes Recht —
    Bedeutung dieſes Gegenſatzes für die Selbſtändigkeit des Rechts —
    Verhalten des ältern Rechts zu dieſem Gegenſatz (Privatrecht —
    öffentliches Recht — die Volksgerichte). S. 24—47.
  • 2. Innerliches Zu-Sich-Kommen des Rechts.
  • §. 26. Ausſcheidung fremdartiger Elemente — abgeſonderte Befriedigung
    derſelben, des religiöſen im Fas, des moraliſchen und politiſch-öko-
    nomiſchen in der Cenſur — die Cenſur ein Ableiter für das Recht. —
    Scharfer Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral. S. 47—62.
  • 3. Selbſterhaltungs- und Erweiterungstrieb des
    geſchriebenen Rechts
    .
  • §. 27. Dauerhaftigkeit des Rechts der Zwölftafeln — Gründe dieſer Erſchei-
    nung. — Inneres Leben des Geſetzes — die alte Interpretatio.
    S. 62—74.
  • 4. Sicherheit und Unabhängigkeit der Verwirklichung
    des Rechts
    .
  • §. 28. Der Grundſatz der Unverletzlichkeit der jura quaesita — die Unab-
    hängigkeit der Juſtiz, innere und äußere — Verhältniß der Polizei
    und Verwaltung zur Juſtiz. S. 74—86.
  • II.Der Gleichheitstrieb. S. 86—123.
  • §. 29. Faktiſche und rechtliche Gleichheit — das Generaliſirungsſyſtem —
    Unterſchied zwiſchen rechtlichen Verſchiedenheiten und Ungleichheiten
    vor dem Geſetz — Weſen der altrömiſchen Gleichheit — Aeußerungen
    derſelben im öffentlichen und Privatrecht — Unterſchiede der Perſonen
    und Sachen — Stellung des Richters — Berechnung der Zeit und
    des Schadenserſatzes — Bleibende Bedeutung des Gleichheitstriebes
    für das römiſche Recht. S. 86—123.
  • III.Der Macht- und Freiheitstrieb. S. 123—320.
  • §. 30. I.Das Syſtem der Freiheit und Unfreiheit im All-
    gemeinen
    . hiS. 123—134.
  • II.Das römiſche Syſtem. S. 134—320.
  • A.Die Stellung des Individuums. S. 134—267.
  • 1. Die Freiheit und Macht das Ziel des ſubjektiven
    Willens
    .
  • §. 31. Die römiſche Herrſchſucht im Allgemeinen — die politiſche und perſön-
    liche Freiheit — die abſtracte privatrechtliche Freiheit und die effektive
    Gebundenheit des Subjekts. (Die Sitte und die Macht der öffent-
    lichen Meinung in Rom.) — Das Syſtem der privatrechtlichen Auto-
    nomie in ſeinen einzelnen Theilen. S. 134—164.
  • 2. Die hausherrliche Gewalt insbeſondere.
  • §. 32. Das Haus ein Aſyl — äußere und innere Abgeſchloſſenheit deſſelben
    — die drei Gewalten des Hauſes (über Sklaven, Kinder, Frauen) —
    abſtract-rechtlicher Inhalt derſelben — wirkliche Geſtalt derſelben im
    römiſchen Leben. — Der Einfluß der Familie. S. 164—222.
  • 3. Die Freiheit eine Eigenſchaft der Inſtitute und eine
    Schranke des ſubjektiven Willens
    .
  • §. 33. Die Gefahr der Selbſtvernichtung eine Klippe der ſubjektiven Freiheit
    — der Objektivismus in der Auffaſſung der Pflicht (die Freiheit eine
    Pflicht) — Nachweis derſelben im römiſchen Recht, namentlich am
    Eigenthum (Servituten). S. 222—239.
  • 4. Die Wohlfahrtsfrage und der Staat.
  • §. 34. Theilnahme des Staats für das Wohl des Individuums — die
    ſogenannte ſociale Frage — Quellen des Pauperismus (der Sklave
    der böſe Feind der römiſchen Geſellſchaft) — die Stellung der
    höheren Stände (ſociale Verpflichtung derſelben) — Maßregeln von
    Seiten des Staats. S. 239—267.
  • B.Der Macht- und Freiheitstrieb innerhalb der Magi-
    ſtratur
    .
  • §. 35. Das freie Walten der Perſönlichkeit in Verhältniſſen des öffentlichen
    Rechts — die Machtſtellung der römiſchen Magiſtrate — die
    Garantien gegen den Mißbrauch der Amtsgewalt — die ſtaatsrecht-
    liche Praxis — Bedeutung der Perſönlichkeit für die Magiſtratur.
    S. 267—303.
  • C.Hiſtoriſche Bedeutung des Syſtems der Freiheit.
  • §. 36. Die Abſtraction des Freiheitsbegriffes als Entdeckung des Privat-
    rechts — die Selbſtändigkeit der Abſtraction gegenüber dem Leben
    — die Produktität der autonomiſchen Bewegung des Verkehrs. —
    Die natürlich-ſittlichen Beziehungen des Syſtems zur römiſchen Welt.
    S. 303—320.
[[1]]

Zweites Buch.
Das ſpezifiſch römiſche Rechtsſyſtem.


Jhering, Geiſt des röm. Rechts. II. 1
[[2]][[3]]

Einleitung.


XXII. Die Aufgabe des vorliegenden Buchs beſteht in der
Charakteriſtik des ſpezifiſch römiſchen oder ſtrengen Rechtsſy-
ſtems (jus strictum). Es braucht wohl nicht erſt daran erin-
nert zu werden, wie ſich unſere Aufgabe zu der der römiſchen
Rechtsgeſchichte verhält, 1) daß es uns nämlich nicht abgeſehen
iſt auf eine Darſtellung der einzelnen Rechtsinſtitute, nicht
darauf, das Werden, die allmählige Entwicklung des Einzelnen
wie des Ganzen, kurz die hiſtoriſche Bewegung innerhalb des
Syſtems zu verfolgen. Wir erfaſſen vielmehr das Syſtem in
ſeiner Totalität und als fertige Thatſache und werden nur ver-
ſuchen, die leitenden Ideen, oder um einen frühern Ausdruck
zu gebrauchen, den pſychiſchen Organismus deſſelben zu ermit-
teln. Darum müſſen wir denn hier, wie überall, auf die römi-
ſche Rechtsgeſchichte als auf eine weſentliche Ergänzung unſeres
Verſuchs verweiſen.


1*
[4]Zweites Buch — das ſpezifiſch röm. Rechtsſyſtem.

Wie gelangen wir nun zu dieſem Syſtem? Es iſt zu dem
Zweck faſt durchgehends eine künſtliche Scheidung nöthig, eine
Anwendung jener Methode, die wir in der Einleitung angege-
ben und zu rechtfertigen verſucht haben, und deren Rechtferti-
gung alſo hier nicht erſt zur Frage ſteht. Aus dem, was ſicher
und unzweifelhaft der alten oder der neuen Zeit angehört, ſuchen
wir den verſchiedenen Bauſtyl beider Zeiten kennen zu lernen,
und nach dieſem Bauſtyl beſtimmen wir dann die Stücke, hin-
ſichtlich deren eine ſolche äußere Gewißheit nicht beſteht. Es iſt
ein gewaltiges Gebäude, das wir vor uns haben; wir wiſſen,
daß es zu zwei verſchiedenen Zeiten aufgeführt wurde, und es
kömmt darauf an, den urſprünglichen Bau — die feſte Burg
des strictum jus — unter dem modernen Ueberbau zu erkennen.
Iſt auch mancher Theil deſſelben völlig verändert, niedergeriſſen,
in Trümmer zerfallen: überall ragt doch noch das unverwüſt-
liche Mauerwerk der alten Zeit hervor und macht es uns mög-
lich, den Bauſtyl und den Plan des urſprünglichen Baus zu er-
kennen.


Eine feſte Burg haben wir dies alte Recht genannt, und
dieſer Vergleich mag geeignet ſein, den Eindruck zu bezeichnen,
den es hervorruft. Eckig und ſteif, eng und niedrig wie in den
Burgen des Mittelalters erſcheinen uns die Räume, die wir
dort antreffen, aber um ſo feſter und dauerhafter iſt das Mauer-
werk; was an Bequemlichkeit abging, erſetzte die Sicherheit.
Und wie in jenen Burgen, umfängt uns hier der Geiſt einer
Achtung gebietenden Vergangenheit, die Erinnerung eines ker-
nigen Geſchlechts, wilder, gewaltiger Kraft, und die Geſchichte
ſelbſt wird uns hier erſt recht lebendig und verſtändlich.


Der allmählige Ausbau jenes Syſtems, das Vordringen
deſſelben bis zu ſeinen äußerſten Conſequenzen hat ſich über
mehre Jahrhunderte hingezogen, und manche dieſer Conſequen-
zen mag erſt in der folgenden Periode ins Bewußtſein getreten
ſein, wie umgekehrt die Vorboten und Anfänge des folgenden
Syſtems ſchon in dieſe Periode fallen. Nach unſern in der Ein-
[5]Einleitung. §. 22.
leitung (§. 5) ausgeſprochenen methodologiſchen Grundſätzen
werden wir hier nun das ſyſtematiſche Moment auf Koſten des
chronologiſchen geltend machen, alſo uns das zweite Syſtem in
ſeiner ganzen Fülle und Ausdehnung zu vergegenwärtigen und
in ſeiner Eigenthümlichkeit zu ſchildern ſuchen. Bei dieſer Cha-
rakteriſtik nehmen wir auf einige Erſcheinungen, die dem Grund-
charakter des Syſtems nicht entſprechen, zunächſt keine Rückſicht,
werden dieſelben aber ſpäter (Abſch. I Kap. 4: Freiere Bildun-
gen) berühren, und dort wird der geeignete Ort ſein, um uns
wegen dieſes Verfahrens zu rechtfertigen. Wenn alſo mancher
Leſer bei der Ueberſicht des gegenwärtigen Syſtems eine Berück-
ſichtigung des jus gentium mit Befremden vermiſſen wird, ſo
werde ich ihn nur auf jenes Kapitel verweiſen können, wo er
das Nöthige darüber finden wird.


Nach welchen innern Kriterien ich nun das, was ich dem
ältern Syſtem vindicire, beſtimme, letzteres ſelbſt ſtofflich ab-
gränze, darüber kann ich hier gleichfalls noch keine Antwort
geben; ich müßte zu dem Zweck vieles anticipiren, was nur im
Zuſammenhange des Syſtems ſelbſt ſeine Rechtfertigung finden
kann. Auch hier muß ich alſo zunächſt die Antwort ſchuldig
bleiben.


Was die chronologiſche Abgränzung des Syſtems anbetrifft,
ſo habe ich bereits im §. 6 angegeben, daß ich die Bildung
deſſelben in die zweite Hälfte der Königszeit verlege, die Blüthe-
zeit deſſelben in das vierte bis ſechste Jahrhundert der Stadt,
die erſten Anfänge aber einer neuen freieren Rechtsbildung in
das ſiebente Jahrhundert. Nur für den völlig Unkundigen braucht
bemerkt zu werden, daß dieſer letzte Zeitpunkt nicht als Endpunkt
des zweiten Syſtems aufzufaſſen iſt, daß vielmehr über der Bil-
dung des dritten und der allmähligen Umgeſtaltung des gegen-
wärtigen Syſtems noch viele Jahrhunderte verfloſſen. Der Zeit
nach wird ſich alſo unſere Darſtellung von jetzt an vorzugsweiſe
in der Glanzperiode der römiſchen Republik verweilen, ohne daß
wir aber, wie bereits bemerkt, auf eine ſtoffliche Ergänzung des
[6]Zweites Buch — das ſpezifiſch röm. Rechtsſyſtem.
Syſtems vermittelſt eines uns erſt durch die ſpätere Zeit gebote-
nen Materials damit Verzicht leiſten wollten.


Daß wir fortan unſere Aufmerkſamkeit vorzugsweiſe dem
Privatrecht zuwenden, darüber wird ſchwerlich ein Kundiger
mit uns rechten. Es iſt nicht bloß die beſondere Beziehung
deſſelben zur modernen Welt, die uns dazu veranlaßt, ſondern
der Vorſprung, den das Privatrecht und der mit ihm in
engſter Verbindung ſtehende Prozeß vor den übrigen Theilen
des Rechts gewann, bringt dies von ſelbſt mit ſich. Dieſer Vor-
ſprung beſteht theils darin, daß dieſer Theil des Rechts ſich weit
mehr objektivirt, abgelagert hat (§. 24), theils in der bekann-
ten hohen wiſſenſchaftlichen Cultur, die ihm zu Theil geworden
iſt. Allerdings läßt ſich erſt in der folgenden Periode von einer
eigentlichen Wiſſenſchaft des Rechts ſprechen, aber das natür-
liche Genie des Volks hat doch bereits an dem gegenwärtigen
Syſtem ſich in einer Weiſe bethätigt, die vielleicht mehr unſere
Bewunderung zu erregen verdient, als die ausgezeichneten Lei-
ſtungen der ſpätern Jurisprudenz. Letztere ſteht unſerm heutigen
wiſſenſchaftlichen Bewußtſein näher, und daher rührt es, daß
ihr die Anerkennung in ſo reichem Maße zuſtrömt, während
das Verdienſt der frühern Zeit, die, wenn ich ſo ſagen darf,
die Dogmatik des Rechts erſt aus dem Groben herausarbeiten
mußte, weniger in die Augen ſpringt. Und doch war es dieſe
Arbeit, die über den Werth des römiſchen Rechts eigentlich ent-
ſchied, und der die ſpätere Wiſſenſchaft den urbaren, geebneten
Boden verdankte, ohne den ihre Erfolge ſich nicht hätten denken
laſſen. Ich hebe dies mit beſonderm Nachdruck hervor, weil ich
von vornherein der Meinung vorbeugen möchte, als verdanke
das römiſche Recht ſeine Größe der römiſchen Rechtswiſſenſchaft,
als beginne alſo auch die Glanzperiode der römiſchen Rechtsge-
ſchichte erſt mit unſerm dritten Syſtem. Sie beginnt ſchon jetzt,
und erheiſchte es auch nicht die hiſtoriſche Gründlichkeit, dem
ältern Recht die gebührende Beachtung zuzuwenden: der innere
Werth desſelben, ſein eigner geiſtiger Gehalt würde ſie ihm
[7]Einleitung. §. 22.
ſichern; es iſt ein Gegenſtand, der bei aller ſeiner Einfachheit
und Roheit doch dem geiſtigen Bedürfniß die vollſte Befriedi-
gung zu gewähren vermag.


Das vorliegende Buch zerfällt in drei Abſchnitte.


  • I. Allgemeine Charakteriſtik des Rechtsſyſtems.

Es ſollen in dieſem Abſchnitt die allgemeinen Charakterzüge
und leitenden Gedanken des ältern Rechts entwickelt werden,
und zwar wenden wir uns


  • 1) der Außenſeite der Rechtswelt zu, machen uns
    alſo zuerſt mit der äußern Erſcheinung des Rechts ver-
    traut (Oeffentlichkeit — Plaſtik). Die Eigenthümlichkeit
    des Rechts erſchließt ſich uns aber erſt, wenn wir
  • 2) die Grundtriebe deſſelben ins Auge faſſen, d. h. die
    höchſten, allgemeinſten Tendenzen, die daſſelbe verfolgt,
    die ſich alſo auch als die Ziele und Ideale des römiſchen
    Rechtsgefühls bezeichnen laſſen. Es ſind dies 1) der
    Selbſtändigkeitstrieb des Rechts, 2) der Gleich-
    heitstrieb
    , 3) der Macht- und Freiheitstrieb.

Während ſie uns das Wollen des römiſchen Geiſtes auf
dem Gebiete des Rechts bezeichnen, ſtellt uns, ganz ihren
Zwecken dienſtbar,


  • 3) die juriſtiſche Technik das intellektuelle Können
    deſſelben dar. Es iſt der Höhengrad der rationellen Er-
    faſſung und Behandlung des Stoffes, den wir hier zu
    beſtimmen haben, der Reichthum an Ideen und Mitteln,
    über den jene Technik gebietet, ihre Methode der Zer-
    ſetzung und Scheidung des Stoffs — die juriſtiſche Ana-
    lyſe — und ihr Kleben an der Aeußerlichkeit (Materialis-
    mus und Formalismus).

Nachdem wir hiermit die allgemeinſten Charakterzüge gefun-
den, werfen wir


  • 4) einen Blick auf einige irreguläre Erſcheinungen („freiere
    [8]Zweites Buch — das ſpezifiſch röm. Rechtsſyſtem.
    Verhältniſſe“) die die erſten Keime der ſpäteren
    Rechtsbildung enthalten.

In concreterer Geſtalt und in einem zuſammenhängenden
Bilde werden uns jene allgemeinen Ideen


  • II. in der Theorie des ſubjektiven Willens wieder
    vor Augen treten. Es iſt der Mikrokosmus der indivi-
    duellen Rechtsſphäre, zu dem wir hinabſteigen, die kleine
    Welt, deren Mittelpunkt das Subjekt ſelbſt iſt. Als bewe-
    gende und erhaltende Kraft derſelben erſcheint der ſubjek-
    tive Wille, und wenn uns bei der Betrachtung dieſes
    Willens einerſeits die allgemeinen Tendenzen in detaillirte-
    rer Weiſe wieder begegnen, ſo erſchließt uns andererſeits
    die Betrachtung deſſelben noch manche bisher nicht berührte
    Eigenthümlichkeiten des älteren Rechts. Wir unterſuchen
    das Ziel und Produkt des Willens: das Recht im ſub-
    jektiven Sinn, und lernen daſſelbe als That und Qua-
    lität
    der Perſon kennen (bei dieſer Gelegenheit die Untrenn-
    barkeit des Rechts von der Perſon, die Unzuläſſigkeit der
    Stellvertretung u. ſ. w.), ſodann die Thätigkeit des
    Willens, vor allem die Production des Rechts (dabei die
    Theorie des alten Rechtsgeſchäfts, die Einheit der Zeit und
    des Orts, der Urſache und der Wirkung u. ſ. w.).

Die abſtracten Rechtsſätze finden aber ihr Verſtändniß erſt
in der Wirklichkeit, und darum faſſen wir ſchließlich


  • III. das Recht im Leben ins Auge d. h. die Rückwirkungen,
    die die faktiſchen Verhältniſſe und Zuſtände auf das ab-
    ſtracte Recht ausübten, die Hülfsmittel, die das Leben ge-
    währte, die Beſchränkungen, die es auferlegte, die Milde-
    rungen, die die Sitte mit ſich brachte, den Gebrauch, den
    man von dem Rechte machte, kurz die Kritik und Ergän-
    zung des Rechts ſyſtems durch das Rechts leben.

Der Verfall des gegenwärtigen Syſtems wird am Anfang
des folgenden Buchs ſeine Stelle finden.


[[9]]

Erſter Abſchnitt.
Allgemeine Charakteriſtik des Rechtsſyſtems.


I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt.


Oeffentlichkeit des Rechtslebens — Plaſtik des Rechts.

XXIII. Wir ſuchen uns zunächſt des äußern Eindrucks be-
wußt zu werden, den das ältere Recht auf uns macht — bei
dem großen Contraſte, den daſſelbe zu dem der heutigen Zeit
bildet, eine nicht eben ſchwierige Aufgabe. Für die heutige Zeit
würde jener Geſichtspunkt kaum mehr als eine negative Aus-
beute liefern, nämlich die, daß das Recht äußerlich gar nicht
ſichtbar hervortritt. Man könnte ſagen, daß das Recht heutzu-
tage ſeine Einwirkungen auf dynamiſchem Wege ausübt, in
ſeiner Jugend aber auf mechaniſchem, alſo durch ſichtbare Vor-
richtungen und Operationen. Wie die Wärme oder Electricität
die Körper, ſo durchdringt heutzutage das Recht die Wirklichkeit;
es iſt derſelben völlig immanent, und ſeine Bewegung und
Wirkſamkeit entzieht ſich in der Regel dem Auge. Ein heutiges
Rechtsgeſchäft wie farblos iſt es in der Regel, wie wenig hat
es einen feſten, ſcharf abgegränzten Körper. Bald verſchwimmt
es als einzelner Moment eines Geſprächs, nichts verräth äußer-
lich, daß hier ein Rechtsgeſchäft hat abgeſchloſſen werden ſollen,
[10]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.
bald wird es unter Abweſenden auf brieflichem Wege errichtet,
bald ſogar muß ſeine Exiſtenz erſt durch Schlußfolgerungen ge-
wonnen werden. 2)


Dieſe Unſichtbarkeit der Bewegung und der Operationen des
heutigen Rechts, dieſe ſeine unplaſtiſche Natur ſoll uns hier als
Folie für das ältere römiſche Recht dienen, ohne daß wir im
übrigen verkennen wollen, daß jene Eigenſchaft, ähnlich wie der
abſtracte Charakter einer ausgebildeten Sprache eine höhere Bil-
dungsſtufe bezeichnet, als der plaſtiſche Charakter des Rechts
und die bildliche, concrete Ausdrucksweiſe der Sprache. Wie
aber letztere in dieſer ihrer unvollkommenen Geſtalt etwas un-
gemein Anziehendes hat, ſo auch das Recht. Bei beiden feſſelt
uns der Reiz der Jugendfriſche, man darf jene Eigenſchaft als
einen Vorzug der Jugend anerkennen, ohne gegen das Alter,
mit dem ſie ſich einmal nicht verträgt, ungerecht zu ſein.


Der phyſiognomiſche Ausdruck des ältern römiſchen Rechts,
den wir jetzt wieder zu geben verſuchen, iſt der Ausdruck der
Jugend des Rechts und hat daher Aehnlichkeit mit dem aller
Rechte auf derſelben Altersſtufe. Der Charakter deſſelben beſteht
namentlich in der Oeffentlichkeit des ganzen Lebens und in der
Plaſtik der Formen, in denen letzteres ſich bewegt.


Verſetzen wir uns jetzt in das alte Rom, ſo iſt das Erſte,
was uns in die Augen fällt, das helle Sonnenlicht der Oeffent-
lichkeit, das über die ganze Rechtswelt ausgebreitet iſt. Es
[11]I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Oeffentlichkeit — §. 23.
zieht uns zuerſt zum Forum hin, wo auf ſeinem Tribunal, unter
freiem Himmel und unter den Augen des römiſchen Volks der
Prätor Gerichtstag hält. Hier und nur hier arbeitet in älterer
Zeit die Civiljuſtiz; daß der Prätor auch in ſeinem Hauſe und
wo man ihn ſonſt traf, angegangen werden und Verfügungen
erlaſſen konnte, kam erſt in der ſpätern Zeit mehr auf. 3) Hier
verſammeln ſich die Partheien, begleitet von ihren Freunden
und rechtskundigen Beiſtänden. In eigner Perſon müſſen ſie
erſcheinen und ihre Anträge ſtellen, Stellvertretung oder gar
ſchriftliche Verhandlung widerſtrebt dem Geiſte des ältern
Rechts. Und zwar beide müſſen ſie erſcheinen, damit der Pro-
zeß den Anfang nehmen könne; ſtellt die Gegenparthei ſich nicht,
ſo miſcht der Prätor ſich nicht hinein (B. 1. S. 155). Bei dem
Eigenthumsprozeß müſſen ſogar die Sachen ſelbſt mitgebracht
werden, oder, ſind ſie unbewegliche, ſo verfügt der Prätor ſich
ſelbſt mit den Partheien an Ort und Stelle. Ebenſo müſſen
Perſonen und Sachen, über die unter Mitwirkung des Prätors
eine rechtliche Dispoſition getroffen werden ſoll, zur Stelle ge-
ſchafft werden. Den fernern Gang des Prozeſſes verfolgen wir
nicht; was auch geſchieht, erfolgt öffentlich, ſo z. B. auch die
Vernehmung der Zeugen. Im Exekutionsverfahren zeigt ſich
ſchließlich die Oeffentlichkeit noch in der dreimaligen öffentlichen
Ausſtellung des Verurtheilten, berechnet darauf, die Thatſache
ſeiner Verurtheilung zu Jedermanns Kunde zu bringen — eine
Anfrage an das Volk, ob Niemand geneigt iſt, ihn auszulöſen.
In einem noch höhern Grade beherrſchte die Oeffentlichkeit das
peinliche Verfahren. Wenn über dem Haupte eines Bürgers
das blutige Schwert der Gerechtigkeit ſchwebte, ſo war dies eine
Nationalſache. Das ganze Volk wird entboten, um zu Gericht
zu ſitzen, die Anklage vorher veröffentlicht, ſo daß Jeder, der et-
was von der Sache weiß, ſei es zur Ueberführung des Ange-
klagten oder zu ſeiner Entlaſtung, ſich melden kann. Der Ange-
[12]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.
ſchuldigte ſelbſt geht frei einher und benutzt die Zeit im Intereſſe
ſeiner Vertheidigung. Kein Kerker entzieht ihn der Oeffentlich-
keit, keine Scene des blutigen Dramas ſpielt bei verſchloſſenen
Thüren. Der Tag der Entſcheidung iſt gekommen, das Volk,
längſt vorbereitet über die Sache, ſitzt zu Gericht. Nie hat es
eine majeſtätiſchere richterliche Verſammlung gegeben, nie wohl
eine Oeffentlichkeit, die für die Lüge ſo erdrückend, für die Wahr-
heit ſo erhebend wirken mußte, wie dieſe. Die Verhandlungen
ſind beendet, und es erfolgt die Abſtimmung. Auch dieſer Akt iſt
charakteriſtiſch durch ſeine Oeffentlichkeit, d. h. er erfolgt münd-
lich; jeder hat den Muth, oder ſoll den Muth haben, ſeine Mei-
nung frei zu geſtehen. In ſpäterer Zeit änderte ſich dies; um
der Unſelbſtändigkeit der Stimmenden zu Hülfe zu kommen,
ward in der erſten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts ſowohl
bei den Volksgerichten als bei andern Volksverſammlungen die
heimliche d. h. ſchriftliche Abſtimmung (per tabellas) eingeführt.


Die Oeffentlichkeit des Rechts verkehrs4) iſt uns aus
frühern Ausführungen ſchon größtentheils bekannt; ich erinnere
an die öffentlich garantirten Geſchäfte (B. 1 S. 206 u. fl.),
die Vornahme derſelben vor der Volksverſammlung oder den
5 das Volk vertretenden Zeugen (mancipatio, nexum), und vor
dem Prätor (in jure cessio u. ſ. w.). 5) Als beſonders charak-
teriſtiſch hebe ich die Oeffentlichkeit der Teſtamente hervor, die
ſich, als die Errichtung der Teſtamente in den Comitien abge-
kommen, in vermindertem Maße noch in dem mündlichen Man-
[13]I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Oeffentlichkeit — §. 23.
cipationsteſtament erhielt. 6) Nirgends würde uns wohl die
Oeffentlichkeit ſo am unrechten Ort und ſo hinderlich erſcheinen,
als bei den Teſtamenten, und in ſpäterer Zeit war man aus
guten Gründen in Rom derſelben Anſicht. In der öffentlichen
Errichtung der Teſtamente erblicke ich ebenſo wie in der öffentli-
chen Abſtimmung einen Beweis moraliſcher Selbſtändigkeit. Es
liegt in der Natur letztwilliger Dispoſitionen, daß ſie häufig die
Anſprüche und Erwartungen, zu denen Verwandte und Freunde
des Teſtators ſich berechtigt halten, durchkreuzen, den Einen zur
Dankbarkeit verpflichten und dafür einen Andern verletzen. Die
Sitte, derartige Beſtimmungen öffentlich zu treffen, ſetzt alſo im
allgemeinen einen gewiſſen Muth voraus, den Muth, ſich dem Haß
und der Verfolgung der in ihren Erwartungen getäuſchten Per-
ſonen auszuſetzen. Das heimliche Teſtament iſt das Palladium
der Feigheit, in vielen Fällen ſogar der Deckmantel und dadurch
das Mittel des Betruges, 7) eine Mine, Perſonen gelegt, die
[14]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.
man in offener Weiſe nicht zu verletzen wagte, und die erſt ex-
plodirt, wenn der Urheber ſelbſt in Sicherheit iſt und unter den
Folgen nicht mehr zu leiden braucht. In der Kaiſerzeit dienten
ſie oft in dieſer Weiſe; ein in oſtenſibler Weiſe mündlich errich-
tetes Teſtament bedachte die Perſonen, deren Gunſt man ſich
erwerben wollte, ein hinterher errichtetes ſchriftliches hob, ohne
daß ſie etwas davon erfuhren, das frühere wieder auf, oder man
verſicherte dieſe Perſonen der geſchehenen Einſetzung, und erſt
der Tod enthüllte den ihnen geſpielten Betrug. 8)


Ich kann nicht unterlaſſen, noch auf zwei Einrichtungen auf-
merkſam zu machen, die beide — nur in verſchiedenen Regionen
— dieſelbe Beſtimmung haben, nämlich die Cenſusrollen und
die Hausbücher. Beide ſind hervorgegangen aus dem großen
Ordnungsſinn der Römer, und gehören inſofern hierher, als die
Cenſusrollen den Stand des Privatvermögens zur Kenntniß
des Staats bringen, die Hausbücher aber dem Eigenthümer
ſelbſt und unter Umſtänden auch dritten Perſonen eine beſtän-
dige Einſicht und Ueberſicht ſeiner Vermögensverhältniſſe ge-
währen. Solche Einrichtungen gedeihen nur bei allgemeiner
Gewiſſenhaftigkeit und Ehrlichkeit, ſie ſetzen Vertrauen und Zu-
verläßigkeit voraus; wo dieſe Eigenſchaften in der Maſſe fehlen,
wo man Urſache hat, das Tageslicht zu ſcheuen, erfüllen ſie
nicht ihren Zweck. Für das Syſtem des Perſonalcredits 9) haben
ſie ohne Zweifel eine große Bedeutung gehabt, und man darf
gewiß in dem allmähligen äußerlichen und innerlichen Abſterben
beider Einrichtungen die vorzüglichſten Urſachen erblicken, denen
das Realcredit-Syſtem ſeine in ſpäterer Zeit immer mehr Ueber-
hand nehmende Bedeutung und entſchiedene Präponderanz ver-
dankt. Letzteres iſt ebenſo ſehr wie die Heimlichkeit der Abſtim-
[15]I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Plaſtik des Rechts — §. 23.
mung und der Teſtamentserrichtung das Reſultat der Angſt und
des Mißtrauens — ebenſo ſehr ein Zeichen der ſpätern Zeit, wie
umgekehrt der Perſonalcredit mit ſeiner Publicität der Vermö-
gensverhältniſſe und die Oeffentlichkeit der Abſtimmung und
Teſtamentserrichtung ein Zeichen der frühern. Indem wir als
allgemein bekannt vorausſetzen, in welchem Grade die Oeffent-
lichkeit das ganze politiſche Leben der Römer durchdrang,
machen wir ſchließlich nur noch darauf aufmerkſam, wie dieſe
Eigenſchaft ſich auch in den Verbrechen äußerte. Das ältere
Rom kannte nicht die heimlichen Schurken und Verbrecher,
gegen die das ſpätere ſich zu wehren hatte, die Erbſchleicher,
Giftmiſcher, die Fälſcher, Betrüger, Denuncianten u. ſ. w.
Mord, Todtſchlag, Raub, Gewalt, Diebſtahl u. ſ. w. waren
die Verbrechen der alten Zeit.


So hat ſich uns alſo die Oeffentlichkeit als ein Grundzug
der alten Zeit bewährt. Es iſt wohl kaum nöthig, darauf hinzu-
weiſen, welches Streiflicht ſie auf den ſittlichen und ſocialen Zu-
ſtand des Volks wirft, und welche Vortheile ſie mit ſich führte.
Hervorgegangen iſt ſie, wie es mir ſcheint, aus der urſprünglichen
Innigkeit der Verbindung zwiſchen dem Individuum und der
Gemeinde, ſie iſt, dürfte man ſagen, nur die äußere Erſchei-
nungsform der primitiven Gemeinſchaftlichkeit des Lebens und
der Intereſſen. Sie ſetzte ein gutes Gewiſſen und moraliſchen
Muth voraus und führte eine große Sicherheit des Verkehrs
wie der Rechtspflege in ihrem Gefolge mit ſich.


Eine zweite Eigenſchaft, die uns bei der äußeren Betrach-
tung des ältern Rechts ſofort in die Augen ſpringt, iſt die Pla-
ſtik deſſelben. Die Plaſtik des Rechts äußert ſich in den für den
Rechtsverkehr vorgeſchriebenen Formen, und ihr praktiſcher
Nutzen
beſteht darin, die innerliche Verſchiedenheit äußerlich
darzuſtellen, das Innere gewiſſermaßen an die Oberfläche zu
rücken. Nur hiernach, nicht nach der Quantität und dem phy-
ſiognomiſchen Ausdruck und Zuſchnitt der verſchiedenen Formen
beurtheilt ſich ihr Werth vom praktiſchen Standpunkt aus. Es
[16]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.
kann alſo ein Recht einen unendlichen Reichthum an Formen,
ſymboliſchen Handlungen u. ſ. w. haben, und doch dieſen prak-
tiſchen Anforderungen der Plaſtik nicht entſprechen, wenn näm-
lich der äußerlichen Formen und Darſtellungsmittel mehr ſind,
als der inneren Unterſchiede, der Zeichen mehr, als der Begriffe.
Das innerlich Bedeutungsloſe erlangt hier eine äußere Anerken-
nung, die wenn auch fürs Leben nicht gerade nachtheilig wirkt,
doch die geiſtige Erfaſſung des Rechts erſchwert. Das germani-
ſche Recht gewährt uns ein Beiſpiel für dieſe überwuchernde
Kraft des plaſtiſchen Triebes; die Phantaſie, die ſinnige Natur
des germaniſchen Charakters hat hier auf Koſten des juriſtiſchen
Verſtandes ſich geltend gemacht.


Der praktiſche Werth jener Plaſtik beſtimmt ſich ferner nicht
nach dem Zuſchnitt der Formen. Die Formen ſollen weiter
nichts, als den Begriff ſignaliſiren; ob ſie dies aber, wie im
germaniſchen Recht, in poetiſcher, gemüthvoller Weiſe thun,
oder, wie im römiſchen, in proſaiſcher, höchſt nüchterner Weiſe,
ob ſie nebenbei zum ſymboliſchen Ausdruck tiefſinniger Gedan-
ken, inniger Gefühle u. ſ. w. benutzt werden, oder ſich einfach
auf den Dienſt beſchränken, den ſie leiſten ſollen, äußerliche Kri-
terien innerer Verſchiedenheiten zu ſein — dieſer Unterſchied iſt
für die Charakteriſtik des Volksgeiſtes bezeichnend, für den ju-
riſtiſchen Werth
jener Plaſtik aber völlig gleichgültig.


Wenn wir hiernach nun die Plaſtik des ältern römiſchen
Rechts beurtheilen, ſo beſchränkt ſich dieſelbe einfach auf den
angegebenen praktiſchen Geſichtspunkt. Die Formen, die ſie zu
dieſem Zweck verwendet, ſind der Zahl nach gering 10) und ihrem
[17]I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Plaſtik des Rechts — §. 23.
phyſiognomiſchen Ausdruck nach nüchtern und proſaiſch. Sie
enthalten wenig mehr, als was der juriſtiſche Zweck ſelbſt mit
ſich bringt (z. B. das perſönliche Erſcheinen der Partheien, die
Zuziehung und Anrufung der Zeugen, das Ausſprechen der For-
mel), oder was zum äußern Ausdruck des innern Vorganges er-
forderlich ſchien (z. B. das Berühren der Sache mit der Hand
zum Zeichen des beabſichtigten Eigenthumserwerbs, das zum
Schein vorgenommene Zuwägen des Erzes als äußere Motivi-
rung einer eingegangenen oder aufgehobenen Obligation, der
Scheinkampf bei der Vindikation (B. 1 S. 153), der Gebrauch
des Speres (B. 1 S. 110, 111) u. ſ. w. 11) Die beiden
Hauptgeſchäftsformen, die mancipatio und in jure cessio, laſſen
ſich ſogar rationell analyſiren, ſie enthalten keinen Zuſatz von
Symbolik, ſondern was dem ähnelt, wie z. B. die Wagſchaale
und das Einwerfen des Erzes, iſt nichts als ein vor der Ein-
führung des gemünzten Geldes nothwendiger, ſpäter durch die
Macht der Gewohnheit beibehaltener materieller Beſtandtheil des
Geſchäfts ſelbſt.


Der römiſche Verkehr bewegte ſich zum größten Theil in die-
ſen beiden Formen, und dieſe bei Eigenthumsübertragungen an
beweglichen wie unbeweglichen Sachen, beim Verkauf von Scla-
ven wie Hauskindern, bei der Adoption, der Ehe, der Emanci-
pation, Manumiſſion, der Errichtung des Teſtaments, der Ein-
gehung und Löſung der Nexus-Schuld u. ſ. w. immer wieder-
kehrende Solennität der mancipatio und in jure cessio gibt dem
Verkehr in ſeinem Aeußern etwas Monotones. Zur Charakteri-
ſtik der römiſchen Nationalität im Gegenſatz der deutſchen kann
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 2
[18]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.
man dies hervorheben und immerhin erſterer den Vorwurf der
Nüchternheit machen und letzterer den Vorzug „der Poeſie im
Recht“ laſſen. Aber es iſt ſchon oben bemerkt, daß dies den prak-
tiſchen Werth der Plaſtik des Rechts gar nicht berührt, und man
darf gerade in der Einfachheit, Nüchternheit und Dürftigkeit der
römiſchen Plaſtik eine Bethätigung der rein juriſtiſchen Anſchau-
ungsweiſe der Römer erblicken. Von welchem Nutzen die Spar-
ſamkeit im Recht iſt, 12) liegt auf der Hand; der Verkehr be-
herrſcht leichter zwei Formen, als zwanzig, und die Jurispru-
denz kann die Theorie derſelben um ſo ſchärfer und genauer aus-
bilden, je weniger ihrer ſind.


Wenn nun aber verſchiedene Geſchäfte mittelſt derſelben
Form abgeſchloſſen wurden, worin lag denn das Unterſcheidende
derſelben? In der Verſchiedenheit des Inhalts und der derſelben
entſprechenden Formel. Die Gefahr der Verwechslung war für
jeden, der das Geſchäft mit angeſehen und angehört hatte, un-
denkbar. Daß ein Rechtsgeſchäft vor ſich gehe, verkündete die
Form; welches, der Gegenſtand und Inhalt, und damit war
den Anforderungen des Verkehrs vollkommen genügt. Unſerm
heutigen Recht läßt ſich ein Gleiches nicht nachrühmen. Unſere
Formloſigkeit, vor der nur einige Geſchäfte wie das Teſtament und
der Wechſel ſich bewahrt haben, macht es oft ſehr ſchwer, wenn
nicht unmöglich, zu beſtimmen, ob ein Rechtsgeſchäft und wel-
ches
von den Partheien intendirt war. Auch bei den Römern ka-
men in älterer Zeit Geſchäfte vor, die nicht in eine rechtliche Form
eingekleidet zu werden pflegten; wir werden ſie an einer andern
Stelle betrachten und zu zeigen verſuchen, daß es keine Rechts-
geſchäfte im Sinne des ältern Rechts waren und der Beihülfe
deſſelben weder theilhaftig waren, noch auch derſelben bedurften.
Ein wahrhaftes Rechtsgeſchäft iſt für die ältere Zeit nur das,
was in Form Rechtens auftritt, äußerlich ſich als ſolches kund
gibt. Formloſigkeit widerſtrebt der innerſten Natur der alten
[19]I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Plaſtik des Rechts — §. 23.
Römer — dies lehrt uns das ganze römiſche Alterthum. Wer
daſſelbe einer Betrachtung in dieſer Rückſicht unterwerfen will,
wird finden, daß daſſelbe von der Tendenz beſeelt iſt, die innern
Unterſchiede durch äußere Zeichen ſichtbar zu machen, und wo
war dieſe Tendenz mehr am Platz, als gerade im Recht? So
wie der Senator, Ritter, der Freie, Mündige, Unmündige, der
Angeklagte u. ſ. w. an ſeinem Kleide kenntlich iſt, ſo ſoll auch
das Rechtsgeſchäft durch ſeine juriſtiſche Uniform, wenn ich
ſo ſagen darf, ſeine toga civilis äußerlich erkennbar ſein. Fehlt
dieſelbe, ſo liegt darin ausgeſprochen, daß die Partheien ein
Rechtsgeſchäft gar nicht intendirt haben, denn ſonſt würden
ſie daſſelbe in die erforderliche Form eingekleidet haben.


Es iſt oben die Unſichtbarkeit der Bewegung des heutigen
Rechtsverkehrs als die Folge der unplaſtiſchen Natur deſſelben
bezeichnet. Für das römiſche Recht können wir alſo umgekehrt
der eben erörterten Plaſtik deſſelben auch den Ausdruck der Sicht-
barkeit und Erkennbarkeit des Rechtsverkehrs geben. Es tritt
keine rechtliche Wirkung ein, die nicht eine äußere, mechaniſche
Urſache hätte. Das mindeſte, was verlangt wird, iſt doch das
Erſcheinen und die perſönliche Thätigkeit der Partheien ſelbſt,
wenn auch letztere, wie z. B. bei der Stipulation, ſich ohne
weitere äußerliche Handlung auf ein bloßes Ausſprechen von
Worten beſchränkt.


Wir wenden uns jetzt dem inneren Organismus des ältern
Rechts zu und zwar werden wir zuerſt (§. 24—30) den Verſuch
machen, die Grundtriebe der ganzen Rechtsbildung aufzufinden.
Dieſelben laſſen ſich ſubjektiv aus der Seele des römiſchen Volks
heraus auch als die Ideale des römiſchen Rechtsgefühls bezeich-
nen; was der ſubjektiven Anſchauung des Volks als zu erreichen-
des Ziel, als Ideal vorſchwebt, wird objektiv im Recht ſelbſt als
Tendenz der Rechtsbildung hervortreten. Was erſcheint nun dem
2*
[20]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
römiſchen Rechtsgefühl als letztes Ziel des ganzen Rechts, wel-
chen höchſten Anforderungen hat letzteres zu genügen — das iſt
die Frage, auf die uns die folgende Darſtellung eine Antwort
ertheilen ſoll. Ich beantworte jene Frage mittelſt der Annahme
von drei Grundtrieben, die ich in Ermangelung beſſerer Aus-
drücke den Selbſtändigkeitstrieb des Rechts, den Gleichheits-
trieb und den Macht- und Freiheitstrieb nenne, und zu deren
Betrachtung im Einzelnen wir jetzt übergehen.


II. Die Grundtriebe der Rechtsbildung.


I. Der Selbſtändigkeitstrieb des Rechts.

Vorbemerkung.
Die praktiſche Selbſtändigkeit des Rechts — die beiden Extreme.

XXIV. Die Selbſtändigkeit des Rechts bezeichnet uns viel-
leicht das ſchwierigſte Problem, das es ſowohl für die philoſo-
phiſche Erforſchung als die praktiſche Verwirklichung des Rechts
gibt. Die Philoſophie hat ſich viel damit beſchäftigt, die be-
griffliche Selbſtändigkeit des Rechts, den Unterſchied deſſelben
von der Moral u. ſ. w. nachzuweiſen; wir werden bei der vor-
liegenden Aufgabe dieſe gefährlichen Höhen der Spekulation
wenig berühren. Der Zielpunkt unſerer Bemühungen, die
praktiſche Selbſtändigkeit des Rechts, liegt niedriger, aber
bis jetzt führt noch keine gebahnte Straße hin, 13) und ich muß
[21]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. — Die Extreme. §. 24.
daher den Leſer um Entſchuldigung bitten, wenn der Weg, den
ich ihn führen werde, nicht der gangbarſte und kürzeſte iſt; um
dieſen zu finden, dazu bedarf es fortgeſetzter Verſuche verſchiede-
ner Perſonen. Möge der vorliegende Verſuch die Aufmerkſam-
keit auf dieſen Punkt hinlenken und bald durch einen beſſern
verdrängt werden! Ich will nur noch bemerken, daß ich es bei
dem von mir eingeſchlagenen Wege nicht habe vermeiden können,
manche Punkte bereits oberflächlich zu berühren, die wir erſt
ſpäter näher werden kennen lernen — was beiläufig geſagt ſich
im Verlauf dieſes Buchs noch öfter wiederholen wird und bei
der Natur des Themas, bei dem die Fäden des Geflechtes ſich
beſtändig kreuzen, unvermeidlich iſt.


Möge die Philoſophie nun immerhin ſich rühmen, uns die
Selbſtändigkeit des Rechts in der Idee nachgewieſen zu haben:
ein anderes Ding iſt es um das lebendige Recht der Wirklich-
keit, ein anderes Ding um die Idee, dieſen Schatten, den das
Recht der Wirklichkeit in die einſame Kammer des Philoſophen
wirft. Denn jenes iſt hineingeſtellt mitten in die Strömung des
Lebens, in den Kampf erbitterter Partheien und auf einander
prallender Gegenſätze, ausgeſetzt dem Sturm der Leidenſchaften,
die hier toben, beſtimmt, den Anforderungen, Intereſſen, Beſtre-
bungen des Lebens gerecht zu werden. Welche Schwierigkeiten
findet die der Idee des Rechts zukommende Selbſtändigkeit hier
vor, um ſich geltend zu machen, welche Schwankungen ſtatt
jenes ruhigen Gleichgewichts, in dem das Recht der Idee ſich
befindet!


Die zwei äußerſten Punkte, zwiſchen denen das Recht der
Wirklichkeit beſtändig oscillirt, ſind das Extrem der Unſelbſtän-
digkeit auf der einen, das Extrem der Selbſtändigkeit auf der
andern Seite. Bei der Neigung nach jener Seite fehlt dem
Recht, um es allgemein auszudrücken, das Vermögen der innern
Selbſtbeſtimmung und die Kraft, äußere Einflüſſe, die ſeiner
Natur widerſtreben, zurückzuweiſen, im Uebrigen aber kann dieſe
Unſelbſtändigkeit ihrem Grade, ihrer Art und ihren Urſachen nach
[22]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſehr verſchieden ſein. Es kann dem Recht fehlen an der innern
Freiheit, wenn es nämlich noch nicht zum Selbſtbewußtſein, zur
Scheidung ſeiner ſelbſt von Moral, Religion, Politik gelangt
iſt; an der äußern Freiheit, die freilich nur die Folge der ge-
ringen moraliſchen Achtung iſt, die das Recht genießt, wenn
nämlich die rohe Gewalt ihm die Spontaneität ſeiner Bewe-
gung verwehrt. Als Gründe, die eine Richtung nach dieſer
Seite hin herbeiführen, nenne ich z. B. eine vorwiegend reli-
giöſe Weltanſchauung des Volks, Charakterſchwäche, Mangel
des Gefühls der perſönlichen Freiheit, Unbeſtändigkeit, leiden-
ſchaftliche Reizbarkeit des Volkscharakters.


Während nun das Recht leicht nach dieſer Seite hingezogen
wird, iſt die Neigung deſſelben nach Seiten des entgegengeſetz-
ten Extrems ungleich weniger zu beſorgen. Letztere würde darin
beſtehen, daß das Recht ſich von ſeiner natürlichen Abhängigkeit
vom Leben loszumachen, ſich auf ſich ſelbſt zurückzuziehen und
ſich bloß aus ſich ſelbſt zu beſtimmen verſuchte. Die Reception
des römiſchen Rechts bei den neuern Völkern gewährt uns ein
Beiſpiel dafür. Es iſt merkwürdig, wie empfindlich die große
Maſſe für eine Deklination nach dieſer Seite iſt, während ſie
durch beträchtliche Abweichungen nach der andern Seite kaum
alterirt wird, und es zeigt, wie gering das Verſtändniß für die
Aufgabe des Rechts, wie verkehrt der Maßſtab iſt, den man an
daſſelbe anlegt. Als das normale Recht denkt man ſich das
„Recht, das mit uns geboren“ — jenes mephiſtopheliſche Trug-
bild, hinter dem ſich der Abgrund der Willkühr und Selbſtver-
nichtung öffnet; verlangt, daß das Recht gleichen Schritt halte
mit der Bewegung der Zeit, allen ihren Anforderungen gerecht
werde, alle ihre Einfälle legaliſire, und ahnt nicht, daß ein
ſolches alles eignen Halts entbehrendes, willen- und charakter-
loſes Recht bald zum feilen Werkzeug der augenblicklichen Ge-
walt herabſinken würde. Jene Exaggeration der Selbſtändigkeit
mit ihrer noch ſo weit getriebenen, man nenne es Starrheit,
Rückſichtsloſigkeit gegen die Intereſſen und Bedürfniſſe der Ge-
[23]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. — Die Extreme. §. 24.
genwart, tyranniſchen Handhabung der Rechtsconſequenz, ſie iſt
in der That nur die Uebertreibung einer Eigenſchaft, die den
Adel und die Hoheit des Rechts ausmacht, die Verirrung nach
Seiten der Kraft, von der eine Umkehr leicht möglich iſt, wäh-
rend das entgegengeſetzte Extrem der gefügigen Hingebung des
Rechts an die Bewegung des Lebens das Zeichen einer morali-
ſchen Aſthenie iſt. Daß Feſtigkeit, unerſchütterliche Ruhe, Rück-
ſichtsloſigkeit Cardinaltugenden des Rechts ſind, das hat der
Inſtinkt der Völker von jeher herausgefühlt; mit Stolz geden-
ken ſie der Vorfälle ihrer Geſchichte, wo das Recht dieſe Eigen-
ſchaften in eclatanter Weiſe bewährt und ſelbſt, ſo zu ſagen, mit
trotzigem Uebermuth dem Leben Hohn geſprochen hat.


Wie und woran ſich nun der Selbſtändigkeitstrieb des Rechts
äußert, das werden wir am ältern römiſchen Recht nachzuweiſen
verſuchen. Es hat vielleicht kein anderes gegeben, das ſo wie
dieſes vom Geiſte der Unabhängigkeit und ich möchte faſt hinzu-
fügen des Trotzes beſeelt geweſen iſt, und an dem man daher
das Walten jenes Selbſtändigkeitstriebes ſo gut ſtudiren könnte.
Worauf wir vor allem unſer Augenmerk zu richten haben wer-
den, iſt die innere Organiſation, die Technik und Methode, durch
die das Recht ſeine Selbſtändigkeit ſicherzuſtellen ſucht. Dieſer
Punkt iſt bisher viel zu wenig beachtet, und das Verſtändniß
dafür ſcheint nicht ſo leicht zu ſein, während der Zweck ſelbſt,
der durch jenes Mittel verfolgt wird, im Allgemeinen auch dem
ungebildeten Rechtsgefühl als Poſtulat vorſchwebt. Daß das
Recht unabhängig und ſelbſtändig ſich verwirklichen ſoll, daß
alſo z. B. das religiöſe und politiſche Glaubensbekenntniß, das
Anſehn, Verdienſt, die Würdigkeit der Perſon, die Stellung im
Leben Niemandem ſchaden oder nützen, Gunſt und Abneigung
keinen Einfluß äußern, das Recht gegen alle ein gleiches Maß
anwenden, daß die äußere Macht ſich keine Eingriffe in das
Rechtsgebiet erlauben ſolle u. ſ. w., das fühlt Jedermann.
Aber auffallend iſt es, daß nicht bloß das einfache Rechtsgefühl
ſich mit dem Wege, den das Recht zu jenem Zwecke einſchlägt,
[24]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
im Widerſpruch fühlt, ſondern daß ſelbſt die Wiſſenſchaft noch
bis zu einem gewiſſen Grade mit dieſem Gefühl zu ſympathiſi-
ren ſcheint, und darum werde ich mich hier ausführlicher er-
gehen, als das unmittelbare Verſtändniß des römiſchen Rechts
es erfordert.


Wir werden folgende vier Punkte ins Auge faſſen, von denen
die drei erſten die Selbſtändigkeit des Rechts hinſichtlich ſeiner
innern Entwicklung, der letztere die Selbſtändigkeit deſſelben
hinſichtlich ſeiner äußern Verwirklichung zum Gegenſtande hat.


  • 1. Erhebung des Rechts zu der ihm eigenthümlichen Form
    (§. 25).
  • 2. Innerliches Zu-Sich-Kommen des Rechts (§. 26).
  • 3. Selbſterhaltungs- und Erweiterungstrieb des geſchriebe-
    nen Rechts (§. 27).
  • 4. Sicherheit und Unabhängigkeit der Verwirklichung des
    Rechts (§. 28).

1. Erhebung des Rechts zu der ihm eigenthüm-
lichen Form
.

Die Sitte und das Geſetz, geſchriebenes und ungeſchriebenes Recht
— Bedeutung dieſes Gegenſatzes für die Selbſtändigkeit des
Rechts — Verhalten des ältern Rechts zu dieſem Gegenſatz (Pri-
vatrecht — öffentliches Recht — die Volksgerichte —).


XXV. Wir beginnen mit dem erſten und einfachſten Schritt,
den das Recht auf der Bahn der Selbſtändigkeit machen kann,
und der doch in ſeinen Folgen unendlich wichtiger iſt, als man
gewöhnlich annimmt, dem Fortſchritt deſſelben von dem Syſtem
des ungeſchriebenen zu dem des geſchriebenen Rechts, von der
Sitte und Gewohnheit zum Geſetz.


Die Frage von der Entſtehung des Rechts bildet einen
Hauptdivergenzpunkt zwiſchen der Lehre des vorigen und der
des jetzigen Jahrhunderts. Jener zufolge entſtand das Recht
auf regulärem Wege durch die Geſetzgebung und nur aus-
[25]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
nahmsweiſe auf gewohnheitsrechtlichem Wege. Der Geſetzgeber
verſorgt den Staat mit Geſetzen, das Recht iſt alſo im weſent-
lichen nur die Summe der erlaſſenen Geſetze, das Produkt legis-
lativer Willkühr oder Weisheit — dem Volk iſt es etwas von
vornherein Fremdes, äußerlich Angepaßtes oder Aufgedrunge-
nes. So die alte Lehre. Nach der neuern Anſicht iſt das Recht
urſprünglich ein Produkt der unmittelbaren Thätigkeit des Volks-
geiſtes. Das nationale Rechtsgefühl verwirklichte ſich durch die
That ſelbſt und ſtellte ſich äußerlich in der Sitte dar (Gewohn-
heitsrecht). Im Lauf der Zeit tritt als zweite Rechtsquelle die
Geſetzgebung hinzu, nicht gerade ſtets Neues ſchaffend, ſondern
oft nur das Beſtehende formulirend. Neben ihr dauert aber jene
erſte Quelle, das nationale Rechtsgefühl mit ſeiner unmittelbaren
Verwirklichung im Gewohnheitsrecht, als völlig gleichberechtigt
fort, und nicht etwa als eine unvollkommne, bloß tolerirte Art
der Rechtsbildung, ſondern als die eigentlich naturgemäße, nor-
male. Das Gewohnheitsrecht läßt ſich recht eigentlich als das
Schoßkind der neuern Jurisprudenz bezeichnen, und es ſcheint,
als ob man ſich verpflichtet gefühlt hätte, es für die Vernachläſ-
ſigung, die es früher erfahren, durch eine blinde Liebe zu ent-
ſchädigen. 14)


Das Neue und Verdienſtliche dieſer Anſicht beſteht darin,
daß ſie erſtens an die Stelle der bis dahin gelehrten äußeren me-
chaniſchen Produktion des Rechts durch legislative Reflexion
[26]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
eine unmittelbare, ſ. g. organiſche Entſtehungsweiſe deſſelben
ſetzte, ein Hervorquellen deſſelben aus dem Born des nationa-
len Rechtsgefühls, und ſodann daß ſie, indem ſie dem Recht
ſeine breite nationale Grundlage und damit ſeine ſittliche Würde
zurückgab, eine Verſöhnung des ſubjektiven Rechtsgefühls mit
der äußern Thatſache des objektiven Rechts anbahnte, es dem
ſubjektiven Geiſt, der ſich früher mit dieſer Thatſache nicht in-
nerlich eins fühlen konnte und ſich in unbefriedigter Sehnſucht
in die öden Wüſteneien des Naturrechts flüchtete, möglich machte,
ſich in dieſer äußern Welt heimiſch zu fühlen als in einer
Schöpfung, an der er ſelbſt mit arbeitet; ihn lehrte, in dieſer
Schöpfung nur den Ausdruck deſſen zu finden, was er ſelbſt
dunkel und unvollkommen in ſich trägt.


Wie aber ſo leicht eine neue Wahrheit im erſten Uebermuth
über ihr Ziel hinausſchießt und in Einſeitigkeiten verfällt, ſo
ſcheint es auch hier gegangen zu ſein, ohne daß ich damit
im mindeſten das hohe Verdienſt der Urheber und erſten Ver-
fechter der neuen Lehre ſchmählern will; jede neue tief eingrei-
fende Wahrheit hat meiner Anſicht nach bei ihrem erſten Auftre-
ten das Recht der Einſeitigkeit.


Der Vorwurf, den ich dieſer Lehre zu machen habe, beſteht
darin, daß ſie Gewohnheitsrecht und geſetzliches Recht auf eine
Stufe ſtellt und den ungeheuern Fortſchritt, den das Recht durch
ſeinen Uebergang von jenem zu dieſem macht, ignorirt. Um die-
ſen Fortſchritt nachzuweiſen, werden wir beide Exiſtenzformen
des Rechts miteinander vergleichen.


Jener primitive Zuſtand des Rechts, von dem aus das Recht
eines jeden Volks ſich erhoben hat, und der in vereinzelter Weiſe
noch heutzutage als Gewohnheitsrecht vorkommt, hat auf den
erſten Blick für die bloße Gefühlsbetrachtung etwas ſehr Ver-
führeriſches, und zwar aus demſelben Grunde, aus dem eine
nüchterne Kritik ihn als einen höchſt unvollkommnen zu bezeich-
nen hat. Dieſe ſcheinbare Vollkommenheit und wirkliche Unvoll-
kommenheit iſt die Harmonie und Einheit, die dieſen Zuſtand
[27]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
beherrſcht. Eins iſt hier das Recht mit dem Subjekt — es ent-
ſteht und lebt in dem Gefühl der Individuen —; eins mit dem
Leben — es geht ganz aus demſelben hervor; eins mit der
Zeit — es ſchreitet ſtets mit ihr fort, bleibt nicht, wie das Ge-
ſetz, hinter ihr zurück. Einig endlich in ſich iſt die ganze Rechts-
auffaſſung; kein Widerſpruch von Geſetzen. Die Entſcheidung
wird nicht genommen aus einem einzelnen Paragraphen, ſon-
dern aus der Fülle der totalen Rechtsanſchauung. Dieſe durch-
gehende Einheit, dieſer friedliche Zuſammenhang aber iſt gerade
das Zeichen der Unvollkommenheit; der Fortſchritt des
Rechts beſteht in der Zerſtörung jenes natürli-
chen Zuſammenhanges und in unausgeſetzter
Trennung und Iſolirung
.


Durch den Ausdruck: Gewohnheitsrecht hat man ſich die
unbefangene Auffaſſung vielleicht nicht wenig erſchwert. Die
Römer, die einerſeits freilich auch von einem jus, quod moribus
introductum est
ſprechen, gebrauchen doch andererſeits gern
die Ausdrücke: mores majorum, consuetudo, usus longaevus,
und in dieſen Ausdrücken, die ich am liebſten durch Sitte wie-
dergeben möchte, liegt der richtige Geſichtspunkt ausgeſprochen.
Auf der primitiven Stufe, die wir hier zu betrachten haben,
iſt das Recht, wenn auch ſubſtantiell, ſo doch noch nicht formell
vorhanden, d. h. nicht als ein ſelbſtändiger, von der Moral
qualitativ verſchiedener Begriff. An der Stelle des Dualismus
von Recht und Moral haben wir hier noch eine einzige ſittliche
Subſtanz, die ſich ſubjektiv als ſittliches Gefühl, äußerlich als
Sitte darſtellt. Jener Unterſchied des Rechts und der Moral
mag ſich ſubjektiv bereits in manchen Fällen als eine graduelle
Differenz in der Stärke des Pflichtgefühls ankündigen, allein
er iſt noch nicht im Ganzen vorhanden, noch nicht objektiv fixirt.
Das Gefühl, das der Sitte zu Grunde liegt, trägt vermöge
ſeiner Unbeſtimmtheit die Möglichkeit eines Schwankens nach
beiden Seiten in ſich. Es iſt die ſittliche Subſtanz im Zuſtande
der Flüſſigkeit, das Chaos, in dem die Elemente der ſittlichen
[28]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Welt noch ungeſchieden durcheinander wogen, und aus dem erſt
höchſt allmählig die einzelnen Bildungen ſich ablagern. Ein
Windſtoß, wenn man mir das Bild erlaubt, 15) treibt die flüſſige
Maſſe bald hierhin, bald dorthin, bald mehr nach Seiten des
Rechts, bald mehr nach Seiten der Moral; in dieſem Falle
äußert ſich das Gefühl als unbedingtes Gebot, in jenem Falle,
der an ſich gar nicht verſchieden war, als freie Anforderung.
Der Grund liegt darin, daß die ſittliche Subſtanz mit der Sub-
jektivität noch ganz zuſammenfällt, alſo wie alles rein Innerliche
den Schwankungen der ſubjektiven Stimmung unterworfen iſt.
Jene Gleichmäßigkeit, die wir oben als eine der Cardinaleigen-
ſchaften des Rechts hingeſtellt haben, iſt hier alſo noch nicht
vorhanden; es fehlt dem Recht noch die Feſtigkeit und Härte,
die gerade ſein Weſen ausmacht und es von der Moral unter-
ſcheidet. Dieſer Zuſtand der Flüſſigkeit, in dem es ſich befindet,
iſt der Zuſtand ſeiner höchſten Unſelbſtändigkeit, und es wäre
vielleicht am richtigſten, es noch gar nicht Recht zu nennen,
ſondern dieſen Zuſtand als den der Identität des Rechts
und Moral unter dem Namen der Sitte dem Recht
gegenüber zu ſtellen
.


Mit dieſer Vorſtufe hat nun, wie bereits bemerkt, das Recht
aller Völker begonnen, und nach Verſchiedenheit der Volksindi-
vidualitäten ſich bald länger, bald kürzer darauf verweilt. 16)
[29]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
Wir haben aber nicht nöthig, in die entlegenſten Zeiten der Ge-
ſchichte des Rechts zurückzuſteigen, um dieſe Vorſtufe kennen zu
lernen; das Schauſpiel der gewohnheitsrechtlichen Bildung
wiederholt ſich, wenn auch in vereinzelten Anwendungen, täg-
lich unter unſern Augen, und an ihm können wir von dem eben
Geſagten die Probe machen. Wie viele verſchiedenartige Motive
zur urſprünglichen Bildung einer Gewohnheit mitwirken können,
das Gefühl der Zweckmäßigkeit, der Verpflichtung, die vis iner-
tiae
u. ſ. w., will ich gar nicht in Anſchlag bringen. Die con-
ſtante Handlungsweiſe — das äußere Requiſit der gewohnheits-
rechtlichen Doctrin — ſei einmal unzweifelhaft vorhanden, ebenſo
das innere Requiſit, das in den handelnden Perſonen herr-
ſchende Gefühl der Nothwendigkeit. Nach der Theorie iſt jetzt
das Gewohnheitsrecht fertig. Aber wie, gibt es denn nicht
eine doppelte Art der Nothwendigkeit, eine rechtliche und ſitt-
liche? Wenn das unbeſtimmte Gefühl: „ſo müſſe es geſchehen“
ſich zu dem Bewußtſein rechtlicher Nothwendigkeit erho-
ben hat, dann freilich iſt die Sache einfach; der Prozeß der
gewohnheitsrechtlichen Bildung hat hier ſeinen äußerſten und
höchſten Punkt erreicht. Wie aber, wenn jenes Gefühl bloß das
der ſittlichen Verpflichtung war, oder wenn es die nähere
Beſtimmtheit darüber, welcher von beiden Arten es angehöre,
noch gar nicht gewonnen? Und letzteres iſt ja der gewöhnliche
Fall, wenigſtens werden die meiſten Gewohnheitsrechte, bevor
ſie jenen äußerſten Punkt erreicht haben, längere Zeit hindurch
ſich in dieſem Stadium befunden haben. Wie ſollen ſie auf
dieſer Stufe charakteriſirt werden? Soll man ſie aus dem Ge-
biete des Rechts ganz ausweiſen, weil ſie auf den Unterſchied
zwiſchen Recht und Moral, der für ſie ein Anachronismus iſt,
nicht reagiren? Ihnen aufgeben, innerlich nachzureifen und dann
ſich wieder zu ſtellen?


Wer ſelbſt aus eigner Erfahrung Verſuche des Beweiſes
eines ſpeziellen Gewohnheitsrechts kennt, wird mir einräumen,
daß hier überall das zu Tage kommt, was ich als das Weſen
[30]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
der Sitte oder des ungeſchriebenen Rechts bezeichnet habe: die
Unbeſtimmtheit. Er wird mir einräumen, daß je nach der Ver-
ſchiedenheit der Perſonen das Gefühl der Nothwendigkeit bald
ſchwerer, bald leichter empfunden wird d. h. bald mehr als
Rechtsgefühl, bald mehr als Glaube einer bloß moraliſchen
Verpflichtung. Und ebenſo lehrt die Erfahrung, daß je nach
Verſchiedenheit des Richters derſelbe Beweis des Gewohnheits-
rechts bald für erbracht, bald für mißlungen erklärt wird. Die
Theorie des Gewohnheitsrechts möge ſich noch ſo ſehr ihrer
vermeintlichen Beſtimmtheit rühmen, ſie möge ihr „Rechtsge-
fühl“ als Quelle des Gewohnheitsrechts in abſtracto noch ſo ſehr
zu dem Gefühl einer bloß moraliſchen Verpflichtung in Gegen-
ſatz ſtellen: im Leben ſchwimmen beide nur zu oft zu einem
Fluidum zuſammen, und Unbeſtimmtheit iſt der reguläre Cha-
rakterzug der gewohnheitsrechtlichen Bildung.


Je weniger nun dem Bisherigen nach das Recht in ſeinem
primitiven Zuſtand bereits innere Feſtigkeit und Beſtimmtheit
gewonnen hat, je mehr die Möglichkeit eines Schwankens in
ſeiner Natur begründet iſt, um ſo höhern Werth hat auf dieſer
Stufe die Tugend der Gerechtigkeit. In ihr erhebt ſich das
Recht zu dem Beſtreben, ſich frei zu machen von dem Wechſel der
Stimmungen, dem Einfluſſe aller perſönlichen Bezüge u. ſ.
w., und eine Gleichheit der rechtlichen Behandlung eintreten
zu laſſen; es iſt die erſte Regung des Selbſtändigkeitstriebes
des Rechts.17) Die Gerechtigkeit hat hier noch mit der ganzen
Gefühlsſubſtanz zu ringen, von der ſie umgeben iſt, und nur
ein ungewöhnlicher Grad von Einſicht und Charakterfeſtigkeit
iſt dieſer Aufgabe gewachſen. Daher auch die außerordentliche
Anerkennung, die ſie findet, und die für die ſpätern Entwick-
lungsſtufen des Rechts keinen Sinn haben würde. In unſerm
heutigen Recht iſt das Verdienſt der Gerechtigkeit ein unendlich
[31]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
geringeres; ſie liegt zum größten Theil ſchon in der Conſtruk-
tion unſeres Rechts, und was das Subjekt dazu thut, iſt nichts
beſonderes. Seitdem das Recht in ſich ſelbſt den Pro-
zeß der Ueberwindung des bloßen Gefühlsſtand-
punktes durchgemacht hat, iſt dieſe Arbeit dem ein-
zelnen Subjekt erſpart oder wenigſtens bedeutend
erleichtert
; was früher mühſam geſucht und gefunden wer-
den mußte und nur von Auserwählten gefunden ward, es liegt
jetzt offen da und läßt ſich erlernen ohne großes Talent.


In demſelben Maße, in dem nun ein Volk das Bedürfniß nach
Gerechtigkeit d. h. nach Gleichmäßigkeit empfindet, wird es den
Trieb in ſich fühlen, ſich von dem Zufall der bloß individuellen
Gerechtigkeit unabhängig zu machen, die Gerechtigkeit immer mehr
aus der Sphäre ſubjektiver Eingebung in das Recht ſelbſt hinein
zu verlegen. Das Mittel dazu iſt das Geſetz. Das Geſetz iſt der
Akt, wodurch das Recht aus dem Zuſtand der Naivität heraus-
tritt und in officieller Weiſe zum Selbſtbewußtſein gelangt.
Scheinbar iſt dieſer Vorgang nicht ſo ſehr bedeutend, und doch
ruft er in ſeiner Verallgemeinerung eine Reihe der wichtigſten
Veränderungen im Recht ſelbſt hervor. Jede einzelne dieſer Ver-
änderungen hat ihre Kehrſeite, und für den, der ſich an dieſe
Kehrſeiten hält und überſieht, daß kein Fortſchritt in der Welt
davon frei iſt, kann der Anſchein entſtehn, als ob jener primäre
Zuſtand doch das eigentliche Paradies, das Auftreten der Ge-
ſetzgebung aber den Sündenfall des Rechts bezeichne. Denn
nach allen jenen Seiten hin, nach denen früher im Recht Har-
monie und Einheit herrſchte, wird dieſelbe jetzt wie mit dem
Sündenfall zerriſſen. Eins war früher das Recht mit dem ſub-
jektiven Gefühl. Jetzt trennen ſich beide; an die Stelle des ſub-
jektiv Innerlichen tritt etwas objektiv Aeußerliches. Nicht das
iſt mehr Rechtens, was in der Bruſt des Subjekts lebt, ſondern
der todte Buchſtabe. Eins war früher das Recht mit dem Le-
ben; wie letzteres ſich bewegte und geſtaltete, ſo auch jenes, das
Recht war nie hinter der Zeit zurück, ſtand nie mit ihren Bedürf-
[32]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
niſſen in Widerſpruch. Mit dem Geſetz hört dieſe Einheit auf.
Das Recht ſteht nicht mehr innerhalb des Lebens, wenn ich ſo
ſagen darf, ſondern außerhalb deſſelben, außerhalb der Bewe-
gung und richtet von außen her ſeine Gebote an daſſelbe. Das
Geſetz erſtarrt in demſelben Moment, in dem es verzeichnet
wird, während das Leben in unausgeſetzter Bewegung bleibt,
und doch ſoll letzteres ſich der todten Satzung der Vergangen-
heit fügen!


Auch hinſichtlich der Art der Beurtheilung der concreten
Rechtsverhältniſſe bereitet ſich mit dem Syſtem des geſchriebe-
nen Rechts eine Veränderung vor, die gleichfalls ſcheinbar eine
große Verſchlechterung enthält. Das Rechtsgefühl war etwas
Ungetheiltes, Einiges, kein Theil deſſelben arbeitete für ſich
allein; es war ein Spiegel, der die concreten Rechtsverhält-
niſſe mit einem Male in ihrer ganzen Erſcheinung, in allen
ihren Bezügen, nach allen Seiten hin erfaßte. Wie aber jetzt?
Der Spiegel iſt in Stücken zerfallen, und aus den Splittern und
Stücken ſind die ſchmalen Paragraphen eines Geſetzes oder
Geſetzbuches gemacht. In ihnen hat der concrete Fall ſich abzu-
ſpiegeln, erſt in dieſem Paragraph von dieſer Seite, dann in
jenem von jener Seite. So alſo vollſtändige Zerſtücklung ſtatt
der Einheit!


Es iſt nun leicht, wie man ſieht, die Kehrſeiten des geſchrie-
benen Rechts aufzudecken und bei Schwärmern und Urtheils-
loſen eine Sehnſucht nach dem „Recht, das mit uns geboren,“
zu erregen. Die Wahrheit hat hier nicht ſo leichtes Spiel, denn
ſie befindet ſich von vornherein mit der Gefühlsnatur im Men-
ſchen in Widerſpruch. Die Tendenz des Rechts nach Selbſtän-
digkeit und Objektivität, als deren Ausfluß das Geſetz erſcheint,
hat ja von vornherein zum Zweck, die Herrſchaft des Ge-
fühls im Recht zu brechen
, und die ganze Methode, Tech-
nik, Conſtruktion des Rechts iſt darauf berechnet. Erklärlich, daß
das Gefühl, das ſich dadurch in ſeinem innerſten Weſen bedroht
fühlt, ſich dagegen ſträubt und daß, jemehr in einem Volke oder
[33]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
Individuum die Gefühlsnatur prävalirt, es ihm um ſo ſchwieriger
ſällt, ſich mit der ganzen Weiſe des Rechts zu befreunden. Man
ſieht, alle jene Veränderungen, die das Syſtem des geſchriebe-
nen Rechts hervorruft, beruhen auf Trennung und Iſolirung,
und wir haben hier Gelegenheit, die Wahrheit der obigen Be-
merkung, daß der Fortſchritt des Rechts in Trennung beſteht,
zu erproben. Wie das ſelbſtändige Leben des Kindes erſt durch
Trennung von der Mutter begründet wird, ſo auch das des
Rechts erſt durch die Ablöſung von dem nationalen Rechtsge-
fühl, in dem es ſeinen Urſprung fand. Dieſe Ablöſung vollzieht
das Geſetz. Allerdings erleidet das Recht jetzt eine gewiſſe Ein-
buße, es verliert jene Flüſſigkeit und Beweglichkeit, allein die
Einbuße ſteht in keinem Verhältniß zu dem Gewinn, d. i. der
Zunahme des Rechts an Feſtigkeit, Beſtimmtheit, Gleichmäßig-
keit, kurz an Selbſtändigkeit. Theils nämlich vermag auch das
geſchriebene Recht ſich eine gewiſſe Elaſticität zu erhalten — das
dritte Syſtem wird uns dies in lehrreicher Weiſe veranſchauli-
chen — und iſt ja im Stande, der Entwicklung des Verkehrs
und der nationalen Rechtsanſchauung durch entſprechende Aen-
derungen ſeiner ſelbſt zu folgen; theils aber iſt die Beſtimmtheit,
Sicherheit, Gleichmäßigkeit, Ruhe, Feſtigkeit des Rechts für das
Leben unendlich viel wichtiger, als die Fähigkeit, ſich letzterem
ſtets in jedem Augenblick und für jedes einzelne Verhältniß zu
akkommodiren. Denn die Verhältniſſe, in denen ſich das recht-
liche Leben der Gattung darſtellt, ſind nicht ſo individuell, daß
ſie ſich nicht typiſch durch das Geſetz normiren ließen; es kömmt
nur darauf an, daß das Geſetz in ſeiner Klaſſificirung weit ge-
nug ins Detail hinabſteigt. Und ebenſo wenig ſind ſie ſo ver-
änderlich, daß ſie ſich nicht ohne Zwang auf längere Zeit einer
und derſelben Regel fügen könnten.


Der poſitive Fortſchritt, den das Recht mit ſeiner Aufzeichnung
macht, läßt ſich mit einem Wort bezeichnen als Uebergang aus
der ſubjektiven Innerlichkeit zur objektiven Aeu-
ßerlichkeit
. Hiermit hat daſſelbe zunächſt die Selbſtändigkeit in
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 3
[34]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
der Form gewonnen. Die Sitte, in der es ſich früher darſtellte, war
eine ihm nichts weniger als eigenthümliche Form; auch das rein
Zweckmäßige, das zum Recht nicht die entfernteſte Beziehung
hat, kann Sitte ſein. Das Geſetz hingegen iſt die ausſchließliche
Form des Rechts. Was Sitte iſt, iſt nicht darum ſchon Recht,
wohl aber, was Geſetz iſt. So iſt alſo der Unbeſtimmtheit des
Rechts hinſichtlich der Form fortan ein Ende gemacht. Ferner
und vor allem aber iſt damit die wichtigſte Eigenſchaft des
Rechts, die Gleichmäßigkeit, angebahnt. Während früher das
Recht, wie das Bild im Waſſer, den Fluctuationen des reflekti-
renden Gegenſtandes mit unterworfen war, wird es jetzt reflec-
tirt aus einem Spiegel, der keiner Bewegung fähig iſt. Freilich
kömmt es auch bei dieſem Spiegel, wie bei jedem, darauf an,
wer hinein ſieht; auch das Geſetz ſchließt, wie alles Objektive,
wenn es vom Subjekt erfaßt wird, den Einfluß der ſubjektiven
Verſchiedenheiten und der Stimmungen deſſelben Subjekts nicht
völlig aus, aber es iſt doch ein objektiver Anhaltspunkt gewon-
nen, den Schwankungen der ſubjektiven Anſicht, den Einflüſſen
des Gefühls bis zu einem gewiſſen Grade ein Damm entgegen-
geſetzt. Aus einer Sache des Gefühls wird das Recht jetzt ein
Gegenſtand der Erkenntniß, es wird logiſch berechenbar, ob-
jektiv meßbar. Die Intuition macht folgeweiſe immer mehr dem
discurſiven Denken Platz. Das Mangelhafte der Beurtheilung
der Rechtsverhältniſſe nach dem Totaleindruck, von der oben
die Rede war, beſteht darin, daß auf die Hervorbringung des
Totaleindrucks leicht unbewußter Weiſe unberechtigte Einflüſſe
mitwirken. Eine genaue Vergleichung der verſchiedenen Fälle
iſt nicht möglich, wenn man ſie bloß in ihrer Totalität auffaßt,
ſondern es iſt wie bei der chemiſchen Vergleichung der Kör-
per eine Auflöſung derſelben in ihre Grundbeſtandtheile, ein
Zerlegen und ſtückweiſes Vergleichen und Abwägen derſelben er-
forderlich. Wir werden an einer ſpätern Stelle Gelegenheit er-
halten, die juriſtiſche Scheidekunſt in ihrer innerſten Werkſtätte zu
beobachten und gehen daher hier auf dieſen Punkt nicht weiter ein,
[35]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
kehren vielmehr jetzt zum ältern römiſchen Recht zurück, indem
wir daſſelbe unter dem Geſichtspunkt betrachten, der im bisheri-
gen entwickelt iſt.


Den Römern konnte es ihrer ganzen Natur nach nicht be-
ſchieden ſein, lange in dem naiven Zuſtande der Sitte zu
verharren. Für ein Recht, das wenigſtens nach ſeiner pri-
vatrechtlichen Seite hin, wie kein anderes, vom Selbſtändig-
keitstriebe beſeelt war, verſteht ſich eine entſchiedene Hinneigung
zum Syſtem des geſchriebenen Rechts ganz von ſelbſt. Es iſt in
dieſer Beziehung bezeichnend, daß die ſpätere Zeit die Einrich-
tungen der Urzeit, offenbare Naturprodukte, wenn ich ſo ſagen
darf, auf Geſetze des Romulus und Numa zurückführte. Dem
römiſchen Geiſt erſchien es als das Natürliche, daß die Reflexion
und das Bewußtſein die ſittliche Welt zu geſtalten oder das
Vorhandene wenigſtens in Form des Geſetzes zu erfaſſen und
darzuſtellen habe (B. 1 S. 93).


Jene älteſte Zeit mit ihren angeblichen Geſetzen liegt nun
außer unſerm Geſichtskreiſe. Dagegen gibt uns das Recht der
Republik das Bild einer regen Thätigkeit der Geſetzgebung, auf
die wir aber hier im Einzelnen begreiflicherweiſe nicht eingehen
können. Die hervorragendſte Erſcheinung dieſer Periode iſt die
Zwölftafelgeſetzgebung, die Grundlage des ganzen zweiten Sy-
ſtems. Im Weſentlichen enthält dieſelbe nur eine Codifikation
des beſtehenden Rechts, und war, wie ähnliche Erſcheinungen
bei andern Völkern z. B. bei den Germanen zur Zeit der Völker-
wanderung, durch eine fühlbar gewordene Unſicherheit des
Rechts veranlaßt, wenigſtens wird uns von ſpätern Referenten
dieſes Motiv angegeben.18) In der Regel ſind es bedeutende
Störungen der bisherigen Lebensverhältniſſe der Völker, die
eine ſolche Unſicherheit und mit ihr das Bedürfniß der Codifi-
kation herbeiführen, namentlich ſtarke Zuflüſſe neuer ethniſcher
3*
[36]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Elemente, Aenderungen in dem Compoſitionsverhältniß der
Volksſchichten u. ſ. w. In Rom lag der Grund in der durch
die Vertreibung der Könige verſchobenen Stellung der Patricier
und Plebejer, und die Plebs war es, auf deren Rechnung das
Verdienſt fällt, jene für die ganze römiſche Rechtsentwicklung
unendlich folgenreiche Maßregel der Codifikation des beſtehen-
den Rechts erzwungen zu haben. Die Abſicht war auf eine er-
ſchöpfende Formulirung des geſammten geltenden Rechts gerich-
tet, daß dieſelbe aber nur annäherungsweiſe zu erreichen war,
braucht kaum bemerkt zu werden (S. B. 1 S. 18 u. fl.) Ein
näheres Eingehen auf dieſes Zwölftafelngeſetz iſt hier nicht am
Ort, da dem Geſichtspunkt, den wir gegenwärtig verfolgen, mit
der Verweiſung auf die bloße Thatſache jener Codifikation ein
Genüge geſchehen iſt; nach andern Seiten hin werden wir noch
öfter auf jenes Geſetz zurückkommen müſſen.


Wir haben bisher dem ältern Recht im allgemeinen eine
Hinneigung zum Syſtem des geſchriebenen Rechts vindicirt,
dieſe Behauptung bedarf aber einer nähern Beſtimmung hinſicht-
lich der einzelnen Theile des Rechts. Auf dem Gebiete des Pri-
vatrechts und Civilprozeſſes tritt jene Tendenz am entſchieden-
ſten hervor, weniger im Staatsrecht, am wenigſten im Krimi-
nalrecht.


Auf jenem erſten Gebiete herrſchte dieſe Tendenz meiner An-
ſicht nach völlig exkluſiv d. h. das Geſetz war hier die einzige
Rechtsquelle, das Gewohnheitsrecht war prinzipiell ausgeſchloſ-
ſen.19) Dieſe Behauptung bedarf freilich, um nicht mißverſtan-
[37]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
den zu werden, einer nähern Erläuterung, und zwar wird letz-
tere ſich am einfachſten in der Weiſe geben laſſen, daß wir jene
Behauptung gegen die möglichen Einwürfe, auf die ſie gefaßt
ſein muß, vertheidigen. Man wird uns zuerſt einwenden, daß
vieles in der Sitte beſtand, wovon ſich im geſchriebenen Recht
keine Spur fand. Dies iſt allerdings unzweifelhaft, aber es
relevirt aus dem Grunde nichts, weil der Sitte oder Gewohn-
heit als ſolcher keine rechtlich verbindende Kraft zukam. Zugege-
ben, daß es z. B. ganz allgemein üblich war bei Ausübung des
jus necis ac vitae von Seiten des Vaters die Verwandten zu-
zuziehen (Familiengerichte, B. 1 S. 179), die formloſen Aufla-
gen des Teſtators an den Erben (die Fideicommiſſe) zu erfüllen:
wer im einzelnen Fall ſich über dieſe Sitte hinwegſetzen wollte,
mochte es thun. Der Prätor würde den verlacht haben, der
einen Anſpruch auf „das allgemein herrſchende und in der Ge-
wohnheit ſich ausprägende Gefühl rechtlicher Nothwendigkeit“
hätte ſtützen wollen. Es iſt nicht bedeutungslos, daß die Klagen
des ältern Rechts legis actiones heißen, die des ſpätern Rechts
actiones ſchlechthin. Eine lex iſt die normale Grundlage einer
jeden Klage des ältern Rechts,20) alle legis actiones beruhen auf
Geſetzen, theils auf den Zwölf Tafeln, theils auf ſpätern.21)
Die Bedeutung der Sitte für das ältere Recht werden wir im
letzten Abſchnitt dieſes Buchs ins Auge faſſen; ſie war eine
19)
[38]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſehr hohe, aber trotzdem beſtand zwiſchen der Sitte und dem
Recht eine unüberſteigliche Scheidewand, und ein Inſtitut der
Sitte (quod in facto consistit, magis facti quam juris est)
konnte nur durch ein Geſetz, nicht aber, was ja das Weſen des
Gewohnheitsrechts ausmacht, durch ſich ſelbſt und aus eigner
Autorität rechtliche Exiſtenz erlangen. Es iſt mir kein Beiſpiel
einer gewohnheitsrechtlichen Bildung aus dieſer Periode be-
kannt, während umgekehrt die meiſten wichtigen Aenderungen
im Civilrecht wie im Prozeß ſich auf Geſetze zurückführen laſſen.
Allerdings gab es eine reichhaltige Quelle der Rechtsbildung
neben dem Geſetz, die interpretatio (§. 27), aber ſie ſtellte ſich
nicht als ſelbſtändige Production außer und über, ſondern
als bloße Entwicklung des Geſetzes unter daſſelbe. Wir wiſ-
ſen, daß ſie manchen Rechtsſätzen das Leben gab, die im Geſetz
nicht enthalten waren, daß materiell alſo hier eine Art gewohn-
heitsrechtlicher Bildung Statt fand, aber formell und nach An-
ſicht der Römer prätendirte ſie dies nicht, ſondern ſtützte ſich
und ihre Reſultate auf das Geſetz ſelbſt, fügte ſich dem Sy-
ſtem des geſchriebenen Rechts als Ergänzung und Erläute-
rung ein.


Ich fürchte kaum, daß man meiner Anſicht den Vorwurf in-
nerlicher Unwahrſcheinlichkeit mache, in dem Sinne nämlich,
daß ja die ſtrenge Feſthaltung des Syſtems des geſchriebenen
Rechts dem Verkehr eine Feſſel auferlegt, ihn in ſeiner freien
Bewegung gehemmt hätte. Denn für alle Verhältniſſe, die der
Autonomie zugänglich waren, bot das Prinzip der Autonomie, das
im ältern Recht im ausgedehnteſten Maße Anerkennung gefun-
den, eine ausreichende Hülfe; hinſichtlich anderer Verhältniſſe
aber ſorgte theils die Interpretatio, theils die Geſetzgebung,
die ja, wenn irgendwo, ſo im ältern Rom, mit den Intereſſen
des Volks und Lebens völlig vertraut und ihnen dienſtbar war,
für die Befriedigung etwaiger rechtlicher Bedürfniſſe. Iſt doch
eine ſolche ausſchließliche Beſtreitung des rechtlichen Verkehrs-
bedürfniſſes mit Geſetzen auch anderwärts, wo die Verhältniſſe
[39]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
viel weniger günſtig ſind, zum Prinzip erhoben z. B. im öſter-
reichiſchen Geſetzbuch.


Die im bisherigen vertheidigte Anſicht wird ſich mit allge-
meinen Quellen-Aeußerungen weder erweiſen, noch widerlegen
laſſen.22) Für mich liegt der entſcheidende Grund in dem Cha-
rakter und der ganzen Tendenz des ältern Rechts, namentlich in
ſeinem Streben nach äußerer Beſtimmtheit und ſeinem Forma-
lismus. Wie es dem ältern Recht widerſtrebte, dem Vertrage
d. i. dem formloſen individuellen Willen eine juriſtiſche Wirk-
ſamkeit zuzugeſtehen, ſo war es auch ſeiner Natur zuwider, dem
formloſen allgemeinen oder ſ. g. objektiven Willen d. h. dem
Gewohnheitsrecht eine ſolche einzuräumen. Nicht darin, daß
beide formlos ſind, liegt ihre Unvollkommenheit, ſondern darin,
daß ihnen mit der Form auch die Beſtimmtheit abgeht. Ob Je-
mand ſich durch ein formloſes Verſprechen bloß moraliſch oder
juriſtiſch hat binden wollen, iſt unter Umſtänden ebenſo zwei-
felhaft, als ob einer Gewohnheit das Gefühl rechtlicher Noth-
wendigkeit oder das einer bloß moraliſchen Verpflichtung zu
Grunde liegt. Der Formalismus (§. 34) iſt einer der hervor-
ragendſten Grundzüge des ältern Rechts. Wie derſelbe nun im
Privatrecht zu den formellen Verträgen, im Prozeß zu den feſten
[40]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Klagformeln führte,23) ſo bei den Rechtsquellen, wenn er ſich
nicht hier allein verläugnen ſollte, zur Feſthaltung des Syſtems
des geſchriebenen Rechts gegenüber dem des ungeſchriebenen.24)


Unſere bisherige Ausführung hatte das Privatrecht und den
Civilprozeß zum Gegenſtande. In ungleich geringerem Grade
als bei ihnen zeigte ſich die Tendenz, von der hier die Rede iſt,
auf dem Gebiete des Staatsrechts. Während die weſentliche
Summe der für jene beiden Disciplinen geltenden Normen in
den Geſetzen, den Klagformeln und der Interpretatio fixirt war,
beſtand im Staatsrecht zwiſchen der Wirklichkeit deſſelben und
ſeiner geſetzlichen Formulirung eine beträchtliche Differenz. Das
römiſche Staatsrecht war noch zum großen Theil in der Sphäre
des Gefühls befangen und iſt darum auch mit den Römern un-
tergegangen. Man darf annehmen, daß dem römiſchen Magi-
ſtrat und Richter die Normen, nach denen er Recht zu ſprechen
hatte, wenn auch in objektiv unvollkommner, aber doch in
einer für ihn genügenden Weiſe vorgezeichnet waren. Ganz
anders war die Lage des römiſchen Magiſtrats in ſtaatsrechtli-
cher Beziehung. Denn wie er ſein Amt zu verwalten hatte, wie
weit ſich ſeine Macht erſtreckte u. ſ. w., das lehrten ihn die Geſetze
nur zum allergeringſten Theil, das mußte ihm ſein Takt ſagen,
oder mußte er der öffentlichen Meinung ablauſchen. Wir Neuern
[41]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
pflegen wohl über die Unbeſtimmtheit in der römiſchen Verfaſ-
ſung zu klagen, über den Mangel feſter Gränzen zwiſchen den
verſchiedenen Gewalten u. ſ. w., denn uns iſt das politiſche
Abcirklungs- und Abrichtungsſyſtem, das die Einſicht, den po-
litiſchen Takt und den guten Willen entbehrlich machen und
einer Verfaſſung die mechaniſche, unausbleibliche Regelmäßig-
keit eines Uhrwerkes geben will, zur zweiten Natur geworden.
Jene vielen politiſchen Wegweiſer, die in unſeren Verfaſſungen
aufgeſtellt ſind, jene Schlagbäume und Zäune u. ſ. w. ſie fan-
den ſich in der römiſchen Verfaſſung nicht verzeichnet; die Rö-
mer trafen von ſelbſt den rechten Weg. Den Beamten war ein
ſehr weiter Spielraum für ihre Gewalt eingeräumt, aber die
ſtillſchweigende Vorausſetzung dieſer Conceſſion war die takt-
volle, den Umſtänden angemeſſene Benutzung dieſer Gewalt.
Wie aber, wenn dieſe Erwartung ausnahmsweiſe nicht in Er-
füllung ging? Ein ſehr ausgedehntes Schutzmittel gewährte das
Veto der übrigen Magiſtrate und der Tribunen. Dies Veto war
der Ausdruck des lebendigen ungeſchriebenen römiſchen Staats-
rechts. Wie die ſittenrichterliche Gewalt des römiſchen Cenſors
eine Perſonifikation des römiſchen Sittlichkeitsgefühls enthielt,
durch keinen Buchſtaben gebunden, ſondern ganz dem perſönli-
chen Ermeſſen anheimgeſtellt, ſo jenes Veto eine Perſonifikation
des römiſchen Staatsrechts und der römiſchen Politik; wie die
Cenſur ein Correktiv und Temperament der privatrechtlichen
Gewalt des paterfamilias gewährte, ſo dies Veto das Correk-
tiv und Temperament der ſtaatsrechtlichen Gewalt der Beamten.
Um nun anderer Mittel z. B. der Auſpicien (B. 1 S. 329),
des Collegiums der Augurn, das wir früher (B. 1 S. 331) als
höchſten politiſchen Caſſationshof bezeichneten, der Oberaufſicht
des Senats u. ſ. w. nicht zu gedenken, ſo blieb als letztes und
äußerſtes Sicherungsmittel die Furcht vor einer nach Niederle-
gung des Amts drohenden Anklage und Unterſuchung. Nicht
bloß Uebertretungen der Geſetze, ſondern auch Handlungen, die
dem Geiſt der Verfaſſung zuwider liefen, eine Nicht-Achtung
[42]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
der öffentlichen Meinung, eine Nachläßigkeit, Ungeſchicklichkeit
u. ſ. w. enthielten, alſo z. B. eine mißbräuchliche Ausübung
des Veto25) zogen eine ſolche Anklage und Verurtheilung nach
ſich.26)


Der Grund der bisher erörterten Verſchiedenheit zwiſchen
dem Staatsrecht und Privatrecht liegt auf der Hand. Der pri-
vatrechtliche Verkehr läßt ſich ohne Nachtheil feſten, unbeugſa-
men Regeln unterordnen; er bewegt ſich in denſelben ſtereoty-
pen Formen, und Regelmäßigkeit, Sicherheit, Berechenbarkeit
iſt gerade das, was er erſtrebt; je genauer und beſtimmter ihm
alſo ſeine Bahnen vorgezeichnet werden, deſto vortheilhafter für
ihn. Anders der Staat und das öffentliche Leben. Die Lagen,
in die er hineingetrieben wird, ſo wie die zu ergreifenden Maß-
regeln ſind nicht im voraus berechenbar, er muß auf das Unge-
wöhnliche gefaßt ſein, muß alſo in ſeiner Verfaſſung die nöthige
Biegſamkeit und Elaſticität beſitzen, um dem Ungewöhnlichen
begegnen zu können. Iſt dies nicht der Fall, hat vielmehr eine
politiſche Kurzſichtigkeit ſeine Verfaſſung nach dem Muſter eines
Uhrwerks zugeſchnitten, ſo bringt ein ungewöhnliches Ereigniß
entweder eine Lähmung hervor oder wird die Veranlaſſung zum
gewaltſamen Umſturz der Verfaſſung. Es beweiſt den hohen
politiſchen Inſtinkt der Römer, daß ſie, ſo ſehr ſie auch von ih-
rem Privatrecht her an die größtmöglichſte Fixirung und Objek-
tivirung des Rechts gewöhnt waren, doch dieſer Richtung für
das Gebiet des öffentlichen Rechts nur in beſchränkter Weiſe
huldigten.


In einem noch höhern Grade, als vom Staatsrecht gilt
dieſe Bemerkung vom Kriminalrecht. Der eigentliche Ablage-
[43]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
rungsprozeß deſſelben begann erſt gegen das Ende der Republik
mit dem Aufkommen der die Volksgerichte vertretenden ſtändi-
gen Commiſſionen (quaestiones perpetuae). So lange das Volk
ſelbſt in ſeinen Comitien die Strafgerichtsbarkeit ausübte, war
dieſe Form des Prozeſſes einer Fixirung der materiellen ſtraf-
rechtlichen Grundſätze mindeſtens geſagt ungünſtig. Allerdings
enthielten die Zwölf Tafeln einige ſpezielle criminaliſtiſche Be-
ſtimmungen und namentlich den allgemeinen Grundſatz, daß
Kapitalſtrafen nur von den Centuriatcomitien erkannt werden
dürften, auch werden in einigen Fällen leges und mores als
Anhaltspunkte für die Anklage erwähnt,27) jedoch beweiſt die
Art und Weiſe, wie das Volk die ihm zuſtehende Gewalt aus-
übte, daß es ſich im allgemeinen durch Regeln nicht gebunden
erachtete, ſondern dem Totaleindruck des Falles, der Eingebung
des Augenblicks, ja, wir möchten von unſerm heutigen Stand-
punkt ſagen, der reinen Laune und Willkühr folgte. Wie
verſchieden ward oft ein und daſſelbe Verbrechen beſtraft, und
welche Gründe, die nach unſerer heutigen Auffaſſung mit der
Strafwürdigkeit des Angeklagten nichts gemein haben, gaben
hier nicht ſelten den Ausſchlag!28)


Man hat jene Strafgerichtsbarkeit des Volks als eine Ver-
einigung der geſetzgebenden und richterlichen Gewalt bezeichnet,
die Urtheile Geſetze für den einzelnen Fall genannt,29) und die-
[44]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſer Geſichtspunkt iſt allerdings zutreffend. Woher aber dieſe
Erſcheinung, daß das Volk des Rechts jene Trennung zwiſchen
Recht und Rechtsanwendung, die eins der erſten Requiſite für
die Selbſtändigkeit und Gleichmäßigkeit des Rechts iſt, auf dem
Gebiete des Kriminalrechts ſo ſpät vollzogen hat? daß, während
das ganze Civilrecht im höchſten Grade von der Tendenz nach
Feſtigkeit, Beſtimmtheit, Objektivität, Gleichmäßigkeit durch-
drungen iſt, das Kriminalrecht ſich ſo lange im gerade entgegen-
geſetzten Zuſtande der äußerſten Flüſſigkeit und völligen Befan-
genheit in der Subjektivität der Gefühlsſtimmung zu erhalten
vermochte? Es hängt dies, wie ich glaube, mit der antiken
Vorſtellungsweiſe von dem Verhältniß des Bürgers zum Staat
zuſammen. Nach unſerer heutigen Auffaſſung iſt dies ein bloß
rechtliches, d. h. der Staat verlangt von ſeinen Mitgliedern eine
äußere Handlungsweiſe, die Geſinnung, aus der ſie hervorgeht,
iſt ihm dabei nicht weſentlich. Der antike Staat hingegen ver-
langt nicht Handlungen, ſondern eine beſtimmte Geſinnung,
aus der die nöthigen Handlungen dann von ſelbſt im reichſten
Maße und in ſchönſter, edelſter Weiſe hervorquellen, die Ge-
ſinnung der vollſten Liebe und Hingebung. Seine Anforderung
iſt alſo ſittlicher, innerlicher Art, die des heutigen Staats
rechtlicher, äußerlicher. Nicht durch ein äußeres legales
Handeln konnte ſich der Grieche und Römer mit ſeinem Staat ab-
finden, nicht auf dem Fuße gegenſeitiger Abrechnung ſtanden ſie
zu einander, bei dem es wohl gar nicht einmal für unehrenhaft
gilt, den Staat zu übervortheilen, wie dies bei uns der Fall iſt;
ſondern der Bürger gehörte mit allem, was er war und hatte,
dem Staat an. Kein Geſetz brauchte ihn zu lehren, wie er ſich
äußerlich gegen den Staat zu verhalten habe, ſo wenig wie die
Liebe ſolcher äußeren Anweiſungen bedarf; das eigne Gefühl
29)
[45]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
ſagte ihm dies. Darum war denn auch die ſtrafrechtliche Cen-
ſur, die der Staat gegen die Bürger ausübte, nicht auf einzelne,
äußere Handlungen gerichtet, ſondern ſie umfaßte, wie der
Staat ſelbſt, das Individuum in ſeiner ganzen Perſönlichkeit,
und die ſtrafbare Handlung, die bei uns die Bedeutung hat,
Gegenſtand der Unterſuchung zu ſein, hatte im Alterthum
nur die, letztere zu veranlaſſen. Das Volk und der Verbrecher
ſtehen ſich hier in ihrer Totalität gegenüber; nicht einzelne Rechts-
ſätze und Handlungen. 30) Das Volk mit ſeiner ganzen Denk-
und Gefühlsweiſe iſt der Spiegel, worin der Verbrecher ſich
in ſeiner ganzen ſittlichen Exiſtenz beſchauen und zur Erkenntniß
ſeines Abfalls vom nationalen Weſen gelangen ſoll; es iſt das
nationale Gewiſſen, das hier in ſeiner ganzen Stärke an ihn
herantritt, und dem gegenüber er ſich nicht mit der Ausflucht der
Unkenntniß oder des Mangels an ausdrücklichen geſetzlichen Ver-
boten entſchuldigen kann. 31) Nicht die That wird ſchließlich an
ihm geſtraft, ſondern die Geſinnung aus der ſie gefloſſen, und
die mit der That keineswegs erſt entſtanden, ſondern nur bei
Gelegenheit derſelben offenkundig geworden iſt; nicht die Ueber-
eilung einer ſchwachen Stunde, ſondern der Werth des ganzen
Lebens wird einer Prüfung unterworfen.


Es hat nun dieſe ganze Behandlungsweiſe das Anziehende
und Beſtechende, das das Recht auf dem Gefühlsſtandpunkt
[46]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
überhaupt zu haben pflegt, auch hier aber ſoll man ſich nicht
darüber täuſchen, daß dieſe Behandlungsweiſe, ſo ſehr ſie auch
relativ berechtigt war, doch einer unvollkommneren Stufe der
Rechtsentwicklung angehörte. Jenes Recht, das für den einzel-
nen Fall zugleich geſchaffen und angewandt wurde, wie war es
doch von der augenblicklichen Stimmung des Volks, von poli-
tiſchen Rückſichten und Einflüſſen, kurz von Zufällen abhängig,
die mit der Strafwürdigkeit des Angeklagten nichts gemein hat-
ten! Wie das Gewiſſen des Einzelnen nicht zu jeder Zeit gleich
lebendig iſt, ſo auch nicht jenes perſönlich gewordne nationale
Gewiſſen; je nach Umſtänden bald erregt und reizbar, bald mehr
apathiſch, durch künſtliche Mittel, durch Rede und Gegenrede,
die ſich ganz conſequent vorzugsweiſe in der Gefühlsſphäre be-
wegten, excitirt oder beſänftigt gewährte es dem Angeſchuldigten
in der That nicht die Garantie der wahren d. i. ſich ſelbſt gleich
bleibenden Gerechtigkeit. Auch hier läßt ſich letztere nur feſtſtel-
len auf dem Wege der Scheidung, alſo der Aufhebung jener
Identität des Geſetzgebers und Richters, der Befreiung des
Rechts von den Einflüſſen der Politik, der augenblicklichen
Stimmung u. ſ. w. durch feſten objektiven Niederſchlag, der
Trennung der That von der Perſönlichkeit des Thäters — einem
Wege, den das römiſche Recht gegen das Ende der Republik
eingeſchlagen, die moderne Welt beibehalten hat, und den ſie
auch nie wieder verlaſſen wird.


Das Reſultat unſerer Prüfung des ältern Rechts beſteht
darin, daß das Maß, in dem der Trieb nach äußerer Fixirung
in demſelben hervortrat, nach den verſchiedenen Seiten des
Rechts ein verſchiedenes war, die rein privatrechtliche Seite deſ-
ſelben in eben dem Grade von dieſem Triebe beherrſcht ward,
als die öffentliche Seite deſſelben ihm Widerſtand leiſtete. In
dieſer Verſchiedenheit erblicke ich wiederum einen Hauptgrund
[47]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
des Vorſprunges, den die wiſſenſchaftliche Cultur des Privat-
rechts vor der des Kriminalrechts erlangt hat.32) Als letzteres
in den Geſetzen über die quaestiones perpetuae ſich abzulagern
begann, hatte erſteres bereits ſeit Jahrhunderten die Vortheile
des Zuſtandes der Feſtigkeit genoſſen, wozu noch kam, daß die-
ſer Ablagerungsprozeß dort in die Zeiten der Auflöſung der Re-
publik fiel, und daß auch die folgenden Jahrhunderte einer
ruhigen Entwicklung des Vorhandenen nichts weniger als gün-
ſtig waren, während das Privatrecht es in dieſer Beziehung ſehr
glücklich traf.


2. Innerliches Zu-Sich-Kommen des Rechts.

Ausſcheidung fremdartiger Elemente — abgeſonderte Befriedi-
gung derſelben, des religiöſen im Fas, des moraliſchen und poli-
tiſch-ökonomiſchen in der Cenſur — die Cenſur ein Ableiter für
das Recht. — Scharfer Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral.


XXVI. Wir haben im bisherigen bloß die Bedeutung der
Form des Rechts ins Auge gefaßt; aber mit der Form allein
iſt es nicht gethan. Was nützt der Uebergang von der Sitte
zum Geſetz, wenn nicht zugleich das Recht ſich innerlich zu ſich
ſelbſt erhebt, ſondern wenn, wie dies z. B. in den orientaliſchen
Geſetz- und Religionsbüchern der Fall iſt, der geſammte ſittliche
Stoff, der ſich im Volk entwickelt hat, ungeſichtet und unge-
trennt in das Geſetzbuch hinübergeleitet wird? Jener primitive
Zuſtand, von dem wir im vorigen Paragraphen geſprochen, ſoll
in der Weiſe ein Ende nehmen, daß die verſchiedenen Elemente
der ſittlichen Subſtanz: Religion, Recht, Moral u. ſ. w. ſich
innerlich ſcheiden; wo dies nicht der Fall iſt, dennoch aber jener
[48]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Fortgang von der mehr oder minder freien Sitte zu dem Geſetz
Statt findet, ſtiftet derſelbe mehr Schaden als Nutzen. Denn
es erſtarrt hier auch der Theil der ſittlichen Welt, der flüſſig
bleiben ſollte, auf dem der ſittliche Geiſt ſich frei muß bewegen
können;33) es iſt die Verſteinerung der ſittlichen Welt auf ihrer
niederſten Entwicklungsſtufe.


Wenn wir nun die Anforderung ſtellen, es ſolle das Recht ſich
frei machen von jener Gemeinſchaft und ſich zu ſich ſelbſt erheben,
ſo ſetzen wir damit voraus, daß das Recht ſein Maß und Ziel
in ſich ſelbſt trage, daß es alſo nicht eine bloße Form ſei,
deren Eigenthümlichkeit in dem äußern Zwange beſtehe, und
die jeden beliebigen Inhalt in ſich aufnehmen dürfe. Allerdings
iſt nicht zu läugnen, daß das Recht nach Verſchiedenheit der
Völker und Zeiten bald dieſen, bald jenen Inhalt hat, und im-
mer iſt der beſtimmte Inhalt in dem beſtimmten Staat Rechtens,
allein vom Standpunkt unſerer Anſicht aus werden wir uns bei
dieſer Thatſache nicht beruhigen, ſondern den Inhalt ſelbſt einer
Prüfung unterwerfen, ob er z. B. eigentlicher Rechtsſtoff, wenn
ich ſo ſagen darf, oder nur geſetzlich normirte Moral, Zweck-
mäßigkeit u. ſ. w. iſt. Wir werden darnach alſo die verſchiede-
nen Rechte und Geſetzgebungen in Hinſicht auf ihren ſpezifiſchen
Rechts-Gehalt mit einander vergleichen dürfen.


Unſere Darſtellung berührt hier einen bedenklichen Punkt;
es iſt das Kap Horn der Rechtsphiloſophie. Ich glaube mir
eher den Dank, als den Vorwurf des Leſers zu verdienen, wenn
ich mich dieſem Punkt nicht zu nahe wage, ſondern ihn vielmehr,
ſo weit unſer Zweck es verſtattet, in möglichſt weiter Entfer-
nung zu umſchiffen verſuche.34) Dies iſt in der Weiſe möglich,
[49]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
daß ich dem Leſer einige charakteriſtiſche Züge des ältern Rechts
vorführe, deren Bedeutung für unſere Frage ſich auch ohne lange
Vorrede begreifen läßt.


Für die innere Selbſtändigkeit des Rechts iſt nun zuerſt der
bereits früher (§. 18) entwickelte Gegenſatz zwiſchen jus und fas
bedeutungsvoll; es iſt auf dieſe Bedeutung ſchon an jener Stelle
(B. 1 S. 258) kurz hingewieſen. Die religiöſe Subſtanz, die
im primitiven Zuſtande das ganze Recht durchdringt, iſt ver-
mittelſt des fas extrahirt, und das jus damit nach dieſer Seite
hin frei geworden, von einem hemmenden fremdartigen Beſtand-
theil gereinigt. Jener Dualismus reicht unzweifelhaft weit über
Rom hinaus; er ſteht bereits an der Schwelle der Geſchichte
des eigentlichen römiſchen Rechts. Ob er zugleich ein ethniſcher
geweſen und durch das Zuſammentreffen zweier Völker, von denen
das eine das Recht als fas, das andere es als jus erfaßt hatte,
nach Rom gekommen, oder ob er das Werk Eines Volkes ge-
weſen, bleibe dahingeſtellt; für das römiſche Recht, das ihn be-
reits vorfand, war er eine außerordentlich werthvolle Mitgift.
Er verſetzte von vornherein den römiſchen Geiſt auf eine Höhe
der Rechtsanſchauung, zu der es manche orientaliſche Völker nie
gebracht haben.


Wie nun das urſprünglich im Recht vorhandene religiöſe
Element, wenn ich ſo ſagen darf, in das fas entwich, ſo das,
was nach Ausſcheidung dieſes Elements noch an fremdartigen
Subſtanzen und Motiven im Recht verblieb, in die Cenſur.
Hier wie dort ward das hemmende Element nicht einfach zur
Seite geſchoben und abgethan; der römiſche Inſtinkt fand ein
beſſeres Mittel, das Recht ſicher zu ſtellen. Er wies jenem Ele-
ment ein abgeſondertes Feld außerhalb des Rechts an, wo es
ſeine volle Befriedigung fand und eben darum nicht in Verſu-
chung kam, ſie ſich innerhalb des Rechts und auf Koſten deſſel-
ben zu verſchaffen. Was waren dies für fremdartige Sub-
ſtanzen? Die beſte Antwort wird uns darauf die Cenſur ſelbſt
Jhering, Geiſt des röm. Rechts. II. 4
[50]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ertheilen; ich brauche nicht zu bemerken, daß hier nur die ſitten-
richterliche Seite derſelben gemeint iſt.35)


Betrachten wir einmal die Fälle, in denen der Cenſor einzu-
ſchreiten pflegte.36) Als ſolche werden uns genannt: Meineid,
Ehebruch, leichtſinnige Eheſcheidung, Eheloſigkeit, Grauſam-
keit gegen Untergebene, z. B. auch gegen Sklaven, Schwelge-
rei, Verſchwendung, ſelbſt bloßer Luxus, Zerrüttung der ökono-
miſchen Verhältniſſe, unordentlicher Betrieb der Landwirthſchaft,
tadelnswerthes öffentliches Auftreten z. B. Haſchen nach Volks-
gunſt, Neuerungsſucht, Verletzung der der Obrigkeit ſchuldigen
Ehrfurcht u. ſ. w. Wie man aus dieſem Verzeichniß ſieht, be-
ſchränkte ſich die Rüge des Cenſors nicht bloß auf eigentliche
Unſittlichkeiten, ſondern ſie erſtreckte ſich auch auf Handlungen,
die ſich mehr als unverſtändige, denn als unſittliche bezeichnen
laſſen, als ſolche, deren der römiſche diligens paterfamilias ſich
zu enthalten pflegte. Es war nicht bloß der Geſichtspunkt der
Moral, den der Cenſor vertrat, ſondern auch der der öffentlichen
oder privaten ökonomiſchen Politik.


Dieſe beiden Geſichtspunkte meinte ich nun namentlich, wenn
ich von Motiven ſprach, die dem Recht fremdartig ſeien und in
der Cenſur ihre Befriedigung gefunden hätten. Es liegt mir
nichts daran, wenn man mir den Ausdruck: fremdartig beſtrei-
ten will; ich habe ihn nur gewählt, um den Gegenſatz dieſer
beiden Geſichtspunkte zum Rechtsprinzip recht ſcharf zu bezeich-
nen. Ich will nicht in Abrede ſtellen, daß in jedem Recht Be-
[51]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
ſtimmungen vorkommen, die dieſen Geſichtspunkten angehören,
aber wenn letztere ſich auf dem Rechtsgebiete in den Vorder-
grund drängen dürften, ſo wäre es um die rechtliche Freiheit und
folglich auch um das Recht ſelbſt geſchehen, denn die rechtliche
Freiheit beſteht eben darin, das Sittliche und Zweckmäßige aus
eignem Antriebe zu thun.


In der Cenſur tritt nun der Unterſchied jener beiden Prin-
zipien von Recht klar und äußerlich hervor. Berechtigt uns die
Cenſur durch ihren patriarchaliſchen Zuſchnitt einerſeits, ſie,
wie früher (B. 1 S. 176) geſchehen, als einen Ausläufer des
Familienprinzips zu bezeichnen, ſo dürfen wir andererſeits nicht
verkennen, daß ſie ſich weit über das Niveau deſſelben erhebt.
Denn gerade der Gegenſatz zwiſchen Recht und Sitte, der ihr
zu Grunde liegt, iſt dem Familienprinzip fremd. Die Familie
als die niederſte und engſte Form ſittlicher Gemeinſchaft um-
faßt die ſittliche Subſtanz in ihrer urſprünglichen Unterſchei-
dungsloſigkeit, und dies gilt auch, wie früher gezeigt, von der
römiſchen Gentil-Verfaſſung. In den Pflichten, die ſie mit ſich
führte, und in der Handhabung derſelben durch die Gentil-Ge-
richte, trat der Unterſchied zwiſchen Recht und Moral noch nicht
äußerlich hervor; die Gens umfaßte unterſchiedslos die ge-
ſammte ſittliche, rechtliche, religiöſe Exiſtenz ihrer Mitglieder.
Als nun aber das Privatrecht — wir haben früher (B. 1
S. 333) bemerkt, daß wir darin vorzugsweiſe ein Verdienſt
der Plebejer erblicken — ſich aus den Banden des Familien-
prinzips losriß, und das abſtracte Rechtsprinzip in ſeiner ganzen
Schärfe und Schroffheit zum Durchbruch kam, ward das Gleich-
gewicht zwiſchen Recht und Sitte, das bisher innerhalb des
Rechts ſelbſt lag, von außen durch das in der Cenſur geſchaffene
Gegengewicht erhalten. Nicht dahin ſchlug jetzt die Anſicht um,
als ob jene Freiheit, wie ſie das Recht proklamirte, in ihrer
ganzen Zügelloſigkeit ſich geltend machen ſolle; das Tempera-
ment des Rechts, das bisher im Recht ſelbſt gelegen, ward nur
4*
[52]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
verlegt. Nach wie vor ſollte die Ehe heilig gehalten werden,
ſollte der Vater ſich der Grauſamkeiten gegen ſeine Kinder ent-
halten, der Eigenthümer mit Maß und mit der ſeiner Familie
ſchuldigen Rückſicht ſich ſeines Eigenthums bedienen. Aber nur
als ſittliche, durch das öffentliche Organ des Cenſors an ihn
gerichtete Anforderung ward dieſe Erwartung ausgeſprochen;
das Recht erkannte ihm die Freiheit zu, das Gegentheil zu thun.
Die außerordentliche Ausdehnung, die man dieſer rechtlichen
Freiheit gegeben (S. darüber §. 30), zeigt das große ſittliche
Selbſtvertrauen der Zeit. Man könnte darin auch umgekehrt
den ſittlichen Indifferentismus des Volks erblicken wollen, allein
ſchon ein Blick auf die Cenſur ſollte dieſe Deutung unmöglich
machen, denn die Cenſur beweiſt ja ganz ſchlagend, welches In-
tereſſe der Staat an der Sittlichkeit nahm. Wenn letzterer trotz-
dem der rechtlichen Freiheit einen ſo ungewöhnlich weiten
Spielraum anwies, ſo berechtigt dies zu dem Schluſſe, den das
ältere Leben uns beſtätigt, daß er dies konnte d. h. daß die
Zeit ſittliche Kraft genug beſaß, um jene Freiheit mit Mäßigung
zu benutzen, und dem etwaigen Mißbrauch durch die Note des
Cenſors hinlänglich geſteuert werden konnte. Später mußte dies
durch geſetzliche Beſchränkungen geſchehen, und dieſe Verſchie-
denheit des Mittels, deſſen die frühere und die ſpätere Zeit
ſich zu demſelben Zweck bediente, iſt für beide ganz charakteri-
ſtiſch.


Der poſitive Charakter der Cenſur als Beſchirmerin und
Pflegerin der Sitte und ihr negativer Charakter, ihre Gegen-
ſätzlichkeit zum Recht, iſt nun in der ganzen Structur des In-
ſtituts feſtgehalten. Das Recht iſt feſt und geſchrieben, die
Sitte und das ihr zu Grunde liegende ſittliche Gefühl iſt flü-
ßig, und darum äußert ſich jener Trieb, der ſonſt in ſo hohem
Grade in der römiſchen Welt hervortritt, der Trieb nach Feſtig-
keit, Beſtimmtheit, alſo bei Normen, die im Leben zur Anwen-
dung kamen, nach Aufzeichnung, nicht auf dem Gebiete der cen-
[53]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
ſoriſchen Sittenpolizei.37) Warum entwickelte ſich nicht auch hier
in ähnlicher Weiſe wie in der Praxis der Prätoren ein edic-
tum perpetuum,
38) ein officieller römiſcher Sittlichkeitscodex?
Daran zeigt ſich wieder der römiſche Takt, daß er hier das We-
ſen der freien Sitte und des individuellen Sittlichkeitsgefühls
im Gegenſatz zu der Gebundenheit und Objektivität des Rechts
feſtzuhalten verſtand. Er war der Verſuchung gewachſen, die
in nicht geringem Grade in dem Charakter der Cenſur als einer
Staatsanſtalt lag, und der der Geiſt des Orients erlegen wäre,
der Verſuchung nämlich, die ſittlichen Grundſätze zu fixiren und
zu normiren und dadurch die freie Bewegung des ſittlichen Gei-
ſtes zu erſchweren. Die römiſche Religiöſität erſtarrte in dieſer
Weiſe, die römiſche Sittlichkeit nicht, und darum ſteht letztere
auch höher, als erſtere.39)


Wie Recht und Sitte, ſo ſtehen ſich auch der Richterſpruch
und das cenſoriſche Urtheil entgegen.40) Erſterer beruht nach
rechtlicher Fiction auf objektiver Wahrheit und iſt unumſtößlich,
ſo wie er erlaſſen. Das Urtheil des Cenſors hingegen enthält
den Ausdruck des ſubjektiven ſittlichen Gefühls und iſt wider-
ruflich. Der Spruch des Richters hat rechtliche Wirkungen, der
des Cenſors nicht. Was letzterer auch geboten und verboten
haben mag, rechtlich bindet es nicht.41) Das Mittel, das ihm
[54]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
zu Gebote ſteht, um zu ſtrafen oder durch Androhung deſſelben
abzuſchrecken und zu zwingen entſpricht gleichfalls dem Geſichts-
punkt, der die ganze Cenſur beherrſcht. Es beſteht nicht in Ver-
mögens-, Freiheits- oder Leibes-Strafe, ſondern es iſt daſſelbe
Mittel, vermöge deſſen auch ohne Cenſur das öffentliche Sitt-
lichkeitsgefühl überall gegen eine ihm zugefügte Verletzung rea-
girt. Die öffentliche Mißbilligung, die die nächſte Folge einer
ſolchen Verletzung iſt, geſtaltet ſich bei dem Cenſor zur nota cen-
soria,
der öffentlichen Rüge. Zu ihr geſellt ſich als höchſter
Grad cenſoriſcher Strafe die Ausſchließung aus dem politiſchen
Kreiſe, dem der Schuldige angehörte, dem Senat, Ritterſtande,
der Tribus; ſie hat gleichfalls ihr Vorbild an der faktiſchen
Ausſchließung von allen freien Gemeinſchaftsverhältniſſen, die
die öffentliche Meinung auch ohne Uebereinkunft über den ſitt-
lich Unwürdigen zu verhängen pflegt.


Es iſt hier begreiflicherweiſe nicht der Ort, um eine Schil-
derung von der Cenſur zu entwerfen; wir müſſen dies der
Rechtsgeſchichte überlaſſen und halten uns bloß an den Ge-
ſichtspunkt, von dem aus ſie uns hier intereſſirt, d. i. ihre Be-
deutung und Beziehung zu dem das römiſche Recht beherrſchen-
den Selbſtändigkeitstriebe. Es liegt nun zwar auf der Hand,
daß der Gegenſatz zwiſchen Recht und, ich will der Kürze wegen
ſagen, Moral, um in der Cenſur äußerlich zu werden, inner-
lich in der römiſchen Rechtsanſchauung bereits vorhanden ge-
weſen ſein muß, allein, wie alles Innerliche erſt dadurch feſten
Beſtand erlangt, daß es äußere Formen annimmt, wie letztere
erhaltend und kräftigend auf daſſelbe zurückwirken, ſo verhält es
ſich auch mit jenem Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral. Die
äußerliche Verkörperung der Moral in der Cenſur hielt bei der
Rechtsbildung und Rechtspflege den eigenthümlichen Geſichts-
41)
[55]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
punkt, den das Recht zu verfolgen habe, ſtets lebendig. Der
Juriſt, der die Rechtsgrundſätze entwickelte und zu ihren Conſe-
quenzen verarbeitete, der Richter, der ſie anzuwenden hatte,
weder ſie kamen in Verſuchung, den moraliſchen Geſichtspunkt
hineinzumiſchen, noch auch das Volk in Verſuchung, ihnen eine
Rolle zuzumuthen, die durch den Cenſor hinlänglich vertreten
war. Ich glaube, es iſt nicht zu viel geſagt, wenn man behaup-
tet: daß der Cenſor weſentlich dazu beitrug, Stellung und Auf-
gabe des römiſchen Richters ihm ſelbſt und dem Volk verſtänd-
lich zu machen; der Unterſchied der cenſoriſchen und der richter-
lichen Urtheilsfällung und damit die Rechtfertigung der letzte-
ren war jedem Römer geläufig.42) Wie ungleich ſchwieriger iſt
in dieſer Beziehung die Stellung des heutigen Richters; nicht
bloß, daß er ſelbſt leichter in Gefahr kömmt, dem moraliſchen
Gefühl einen Einfluß auf die Entſcheidung zu verſtatten, ſon-
dern die ſtrenge Feſthaltung des rechtlichen Geſichtspunktes iſt
gerade das, was man ihm heutzutage ſo oft zum Vorwurf
macht.


Eine Einrichtung der ſpätern Zeit, die mit der Cenſur eine
gewiſſe Aehnlichkeit hatte, waren die geiſtlichen Gerichte des
Mittelalters. Wie neben dem Prätor der Cenſor, ſo ſtanden ſie
neben den weltlichen Gerichten; beide verfolgten ſelbſtändig und
unabhängig ihren eigenen Weg und ihren eigenthümlichen Ge-
ſichtspunkt, den der ſittlichen Reinheit der Gemeinſchaft, nur
beim Cenſor mit mehr politiſcher, bei den geiſtlichen Gerichten
mit mehr religiöſer Färbung. Beide hatten als äußerſtes Straf-
mittel das der Ausſchließung aus der (politiſchen, religiöſen)
Gemeinſchaft. Beide vermittelten das abſtracte Recht mit den
Anforderungen der Sitte und des ſittlichen Gefühls. Auch darin
[56]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
trifft dieſer Vergleich zu, daß mit dem Verfall beider Anſtalten
das Recht, da es jetzt ſein äußeres Gegengewicht verlor, ſich in
ſich ſelbſt verändern und manche von den Grundſätzen aufneh-
men mußte, die früher durch jene Anſtalten zur Anwendung ge-
bracht worden waren. Dieſe mit dem Verfall der Cenſur eintre-
tende Aenderung im römiſchen Rechte gehört dem dritten Sy-
ſteme an und wird dort erörtert werden, aber es mag ſchon hier
die Bemerkung Statt finden, daß die Feſtigkeit und Klarheit des
Rechts nicht dadurch beeinträchtigt wurde. Der Kryſtalliſations-
prozeß deſſelben war beendet; was während deſſelben hätte ſchäd-
lich wirken können, vermochte dies nachher nicht mehr; mochte
man jetzt auch die ſtrenge Abſperrung des Rechts aufheben und
dem ſittlichen Element Eingang verſtatten: wohin letzteres auch
drang, es fand feſte, ſcharfe Formen vor, die ſich nicht mehr
auflöſen ließen.


In der Cenſur offenbarte ſich jener Gegenſatz zwiſchen Recht
und Moral, der im römiſchen Sittlichkeitsgefühl beſtand. Was
war aber der Grund dieſes Gegenſatzes? worin lag das conſti-
tutive Prinzip des Rechts? Als ſolches erſcheint mir das ſubjek-
tive Prinzip, wie ich es ſeinen urſprünglichen Keimen nach be-
reits früher (§. 10—12) geſchildert habe und in ſeiner genaue-
ren Geſtaltung in dieſem Buch vorführen werde. Die ſubjektive
Rechtsſphäre eine That und Produktion des Individuums und
darum lediglich ſeiner Autonomie anheimgeſtellt, die Unſtatthaf-
tigkeit aller Eingriffe in dieſelbe gegen den Willen des Berech-
tigten, ſei es von Seiten Einzelner, ſei es von Seiten des
Staats — das war die Quinteſſenz des römiſchen Rechtsge-
fühls. Die XII Tafeln hatten dieſe Autonomie in ihrer doppel-
ten Richtung auf Geſchäfte unter Lebenden und auf letztwillige
Verfügungen ausdrücklich anerkannt, und Jahrhunderte lang
betrachtete man dieſes Anerkenntniß als eine unantaſtbare Er-
rungenſchaft. So hatte das römiſche Gefühl einen beſtimmten
Maßſtab in ſich, was rechtliche, was ſittliche Pflicht ſei; als
erſtere galt nur die, die man durch eigne That und in rechtli-
[57]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
cher Form übernommen hatte. Und dieſe Form, in der ein ſo
leichtes Kriterium alles Rechtlichen lag, war in hohem Grade
ausgebildet, ſo daß das Rechtsgebiet wie durch ſein materielles
Prinzip, ſo auch durch ſeine formelle Aeußerlichkeit den unver-
kennbarſten Gegenſatz zu dem Reich der ſittlichen Pflichten bil-
dete. Wenn ein Römer eine Handlung vornahm z. B. ein Ver-
ſprechen ablegte, ſo war er ſich ſtets bewußt, auf welchem von
beiden Gebieten er ſich bewegte. Ein juriſtiſch und moraliſch
bindendes Verſprechen, wie weit lagen ſie in der Vorſtellung
der Römer auseinander, wie fließen ſie in unſerer heutigen Auf-
faſſung in einander über! Hat man doch für beide ein und das-
ſelbe Prinzip aufgeſtellt: ein gegebenes Verſprechen müſſe ge-
halten werden. Heutzutage iſt es möglich, daß Jemand etwas
verſpricht, ohne ſich darüber klar zu ſein, ob er ſich rechtlich oder
bloß moraliſch binden wolle, das Gebiet des Rechtlichen und
Moraliſchen iſt heutzutage nicht durch beſtimmte äußerlich er-
kennbare Gränzen geſchieden, die den Uebergang von dem einen
Gebiet zum andern nothwendigerweiſe ins Bewußtſein bringen.
Bei den Römern hingegen lagen dieſe Gebiete weit auseinan-
der, ihnen war der Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral im
Ganzen ſowohl wie in ſeiner Erſtreckung und Anwendung auf
die kleinſten Lebensverhältniſſe geläufig und ſtets gegenwärtig,
ſie konnten nie in Verſuchung kommen, eine ſittliche Pflicht kla-
geweis geltend zu machen oder ſich mit einer moraliſchen Ver-
pflichtung abfinden zu laſſen, wo ſie eine juriſtiſche hatten be-
gründen wollen.


Zu der Anſicht, von der wir hier ausgegangen ſind, daß
nämlich das Recht ſeinen Grund in ſich ſelbſt getragen habe,
ſteht eine neuerdings ausgeſprochene Behauptung43) im ent-
[58]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſchiedenſten Gegenſatz, die Behauptung nämlich, „daß nach rö-
miſcher Anſicht der Wille des Volks als einziger Grund des
Rechts gegolten habe, der Gedanke aber, daß es über dem
Willen des Volks noch eine dieſen Willen beherrſchende ſittliche
Potenz gebe, den römiſchen Juriſten völlig fremd geweſen ſei.“
Wenn zum Beweiſe dieſer Behauptung darauf verwieſen wird,
daß die römiſchen Juriſten das Recht als Produkt des Volks-
willens bezeichneten, daß ſie die verbindende Kraft des Gewohn-
heitsrechts auf die ſtillſchweigende Einwilligung des Volks ſtütz-
ten, daß es dieſelben wenig intereſſirt habe, was das Volk ge-
trieben habe, ſein Recht ſo oder ſo zu geſtalten, ſo läßt ſich darauf
einfach erwidern: ob denn jene Juriſten, wenn ſie den Begriff
des Geſetzes, Gewohnheitsrechts u. ſ. w. angeben wollten, ſich
auf eine ſpekulative Unterſuchung über die letzten Gründe des
Rechts hätten einlaſſen ſollen, und ob denn nicht in der ganzen
Welt der juriſtiſche Grund der Gültigkeit des poſitiven Rechts
darin liegt, daß er Wille dieſes Staats iſt, dieſe Gültigkeit nicht
aber davon abhängt, ob das Geſetz den ſubjektiven Vorſtellun-
gen des Richters von Sittlichkeit u. ſ. w. entſpricht. Daß aber
die Römer, wenn ſie auch den Willen des Volks als formalen
Grund der Gültigkeit der Geſetze bezeichneten und bezeichnen
mußten, dennoch nicht dieſen Volkswillen d. h. die Willkühr
als Prinzip des Rechts anſahen, nicht der Anſicht waren, „daß
das Recht erſt im Staate durch das Geſetz entſtehe,“ läßt ſich
bis zur Evidenz nachweiſen. Zuerſt erinnere ich an das Fas,
das in dem Willen der Götter ſeinen Grund hat und dem Prin-
zip nach der Volksſouveränetät eine unüberſteigliche Schranke
43)
[59]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
entgegenſetzt. Sodann aber: ſtützte ſich nicht auch das Jus wie
alles, was im römiſchen Staat beſtand und geſchah, wenigſtens
auf die Zuſtimmung der Götter, wenn es auch nur den
Willen des Volks zu ſeinem Inhalt hatte?44) Man nenne
immerhin die Einholung der Zuſtimmung der Götter durch die
Auſpicien eine leere Formalität, durch die das Volk ſich in ſei-
nem materiellen Wollen nicht beſchränkt finden konnte: erkann-
ten denn die Römer für dies Wollen nicht Rechtsprinzipien, alſo
objektive Schranken an? Ich erinnere zuerſt an die bekannte
Klauſel der Geſetzvorſchläge: si quid jus non esset rogari, ejus
ea lege nihilum rogatum
.45) Dieſe Klauſel allein, ſollte ich ſa-
gen, würde ſchon den Verſuch, die Idee von der Omnipotenz der
Volksſouveränetät aus der heutigen Zeit ins römiſche Alterthum
hinein zu übertragen, unmöglich machen. Man leſe dazu nun
die Ausführungen Ciceros, der mit klaren Worten jene Omni-
potenz der Volksgewalt in Abrede und ihr das Prinzip des ſub-
jektiven Rechts als unantaſtbare Schranke gegenüber ſtellt.46)
Auch an einer andern Stelle berührt er dieſelbe Frage, und man
kann nicht beſtimmter und deutlicher jene ganze Idee verwerfen,
[60]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
als er es hier thut.47) Aber ganz abgeſehen von ſolchen Aus-
ſprüchen der Römer ſelbſt bedarf es nur eines Blickes auf das
ſubjektive Prinzip (§. 10—12), um ſich von der Irrigkeit der
obigen Behauptung zu überzeugen.


In welchem Umfange ſich jenes Prinzip praktiſch bethätigen
durfte, hing allerdings von der Geſetzgebung ab, es exiſtirte prak-
tiſch nicht weiter, als die Geſetzgebung es anerkannt hatte, aber
ſo wenig der Richterſpruch darum als Grund und Quelle des
durch denſelben feſtgeſtellten ſubjektiven Rechts gilt, weil letzte-
res nicht weiter exiſtirt, als es rechtskräftig anerkannt iſt, eben-
ſowenig läßt ſich aus demſelben Grunde die geſetzgebende Ge-
walt des römiſchen Volks als Grund des Rechts bezeichnen.48)
Nicht das war die römiſche Vorſtellung, als ob das Recht erſt
mit dem Staat und der Geſetzgebung in die Welt gekommen;
nicht weil es Geſetz, war es Recht, ſondern weil es Recht, war
46)
[61]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
es Geſetz. Das concrete wie das abſtrakte Recht verdankt dem
Geſetz nicht ſeine Exiſtenz, ſondern bloß ſeine formelle Anerken-
nung.49) Das ältere Privatrecht, aus dem die Urſprünglichkeit,
Selbſtändigkeit, die gewaltige Kraft und der Trotz des indi-
viduellen Rechtsgefühls uns von allen Seiten anſchaut, und
jene moderne Idee, die ihm untergelegt werden ſoll — in der
That es kann kaum ſchneidendere Gegenſätze geben, und ein alter
Römer würde dieſe ihm angedichtete Vorſtellung, als wenn er
ſein Recht lediglich dem Staat verdanke, als ob die Rechts-
grundſätze, die einem Römer nicht minder hoch und theuer wa-
ren, als andern Völkern die religiöſen Glaubensſätze, ein Gegen-
ſtand des bloßen Volksbeliebens ſeien — willkührlich eingeführt,
willkührlich wieder aufzuheben — mit Entrüſtung zurückgewieſen
haben. Wie verfuhr denn das Volk, als es gezwungen war, die
privatrechtliche Autonomie hinſichtlich der Höhe der Legate zu
beſchränken? Es wählte dazu einen Weg, der uns in der That
durch das Uebermaß der Aengſtlichkeit faſt lächerlich erſcheint.
Es wurden nicht die Legate über den geſetzlich beſtimmten Betrag
für nichtig erklärt, ſondern dem Legatar die Annahme des Ueber
ſchuſſes indirekt unterſagt.50) Da dies praktiſch auf ein Verbot
höherer Legate hinauslief, ſo kann der Grund, warum das Volk
dieſen Zweck auf einem Umwege verfolgte, nur darin gefunden
werden, daß es ſich ſcheute, die privatrechtliche Autonomie direkt
zu beſchränken.


[62]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.

3. Selbſterhaltungs- und Erweiterungstrieb des
geſchriebenen Rechts
.

Dauerhaftigkeit des Rechts der Zwölftafeln — Gründe dieſer
Erſcheinung — Inneres Leben des Geſetzes — die alte
Interpretatio.


XXVII. Wir haben bis jetzt das Recht nach Seiten ſeiner
Form und ſeines Inhalts betrachtet, es bleibt uns ein anderes,
für die Selbſtändigkeit deſſelben nicht minder wichtiges Mo-
ment, die Dauerhaftigkeit deſſelben. Auch für das ungeſchrie-
bene Recht kömmt dieſes Moment in Betracht, wir beſchränken
uns jedoch auf das geſchriebene, da nur für dieſes die Verfol-
gung jenes Geſichtspunktes ein Intereſſe haben kann, und das
ältere Privatrecht nach unſerer obigen Darſtellung (§. 25) ent-
ſchieden dieſer Art des Rechts angehört.


Das Geſetz erhebt die Prätenſion, das Leben zu beherrſchen,
es in ſeiner Bewegung zu beſtimmen. Dieſe Prätenſion iſt
keine ſo ſchwierige, ſo lange Geſetz und Leben in Eintracht
ſtehen, alſo wenn erſteres bloß die rechtliche Formulirung des
letzteren iſt. Aber dieſe Eintracht wird oft nicht einmal von
vornherein vorhanden ſein, wenn nämlich das Geſetz irgend
eine Umgeſtaltung der bisherigen Verhältniſſe beabſichtigt, oft,
wenn ſie auch einmal beſtand, doch bald ein Ende nehmen, denn
das Leben eilt weiter, während das Geſetz unveränderlich und
unbeweglich bleibt. Hier gewinnt jene Prätenſion einen an-
dern Charakter, ſie führt, wenn ſie behauptet werden ſoll, zu
einem Kampfe zwiſchen dem Geſetz und dem Leben, und dem
einen oder andern von beiden Kämpfern muß Gewalt angethan
werden. Aber wem? Es wird Manchen als Paradoxie erſchei-
nen, wie man überhaupt nur einmal dieſe Frage aufwerfen
mag. Was wiſſen wir auf dem Continent — denn England
nehme ich aus — von der Anhänglichkeit an läſtig und unbe-
quem gewordene Geſetze! Die erſte Gelegenheit, und man ſchüt-
[63]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
telt das läſtige Joch ab. Es iſt ja ſo leicht und natürlich ein
Geſetz durch das andere zu beſeitigen oder zu ändern, und es
wäre ja thöricht, eine Laſt zu tragen, deren man ſich entledigen
kann! Das iſt leider eine heutzutage ſehr verbreitete Anſchauung;
in Geſetzen, die anfangen drückend zu werden, ſieht man nicht,
wie der Römer und Engländer, einen alten Freund, von dem
man höchſt ungern ſich trennt, den man daher ſo lange wie
möglich zu ertragen ſucht, ſondern einen Diener, den man ange-
ſtellt hat, weil man ihn braucht, und den man entläßt, wenn
man ſeiner überdrüßig geworden iſt. Mit dieſer nach Volk und
Zeit verſchiedenen Geneigtheit, ſich unbequem gewordener Ge-
ſetze zu entledigen, hängt eine Verſchiedenheit des moraliſchen
Anſehns, deſſen das Recht bei dem Volk und in der Zeit ſich er-
freut, inniger zuſammen, als man glaubt. Das Verhältniß des
Volks zu ſeinen Geſetzen iſt eine Ehe;51) wo ſie beim erſten
Zerwürfniß gelöſt wird, da kann das Verhältniß kein inniges
geweſen ſein, da iſt dies ein Zeichen, daß das Recht ſelbſt keine
große Macht über die Gemüther ausübt. Wo aber das Recht
dieſer Macht ſich erfreut, wird man auch die beſtehenden Geſetze
mit Liebe pflegen und dulden und zur Scheidung ſich nur im
äußerſten Fall entſchließen.


Die Dauerhaftigkeit der Geſetze ſteht nun mit der intenſiven
Kraft, die der Gedanke des Rechts über das Gemüth eines
Volks ausübt, in inniger Wechſelwirkung d. h. ſie hat in ihr
ihren Grund, aber ſie wirkt auch auf ſie zurück, ſowie umgekehrt
daſſelbe von der Hinfälligkeit der Geſetze gilt.52) Für die Selb-
ſtändigkeit des Rechts iſt jene Dauerhaftigkeit, eben weil ſie
[64]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
das moraliſche Anſehn des Geſetzes verſtärkt, von großer Be-
deutung. Denn beſteht jene Selbſtändigkeit darin, daß das
Recht den unrechtmäßigen Gelüſten des Lebens einen Damm
entgegenſtellt, ſo iſt die Widerſtandskraft eines alten Geſetzes
ungleich höher, als die eines neuen. Wie die phyſiſche Kraft
des Menſchen nach den Altersſtufen verſchieden iſt, ſo auch die
moraliſche Kraft der Geſetze; eine andere iſt ſie im Kindes-,
eine andere im Mannesalter. Wo die Geſetze bald nach der
Geburt hinzuſiechen pflegen — weil dieſe Geburt ſelbſt eine
verfrühte oder eine zu leichte war — können ſie nicht die Ach-
tung gebietende Stellung einnehmen, als wo ſie ſich einer dauer-
haften Conſtitution erfreuten und noch in ferne Zeiten wie ein
ehrwürdiges Stück Geſchichte des Volks hineinragen. An
ihnen wagt die Willkühr nicht ſo leicht zu rütteln, denn mit ih-
nen, die wie feſte Eichen ihre Wurzeln in alle Verhältniſſe hin-
eingetrieben, aufs innigſte mit dem Boden der geſammten na-
tionalen Anſicht und Sittlichkeit verwachſen ſind, würde ſie die-
ſen Boden ſelbſt erſchüttern, während die jungen Setzlinge neuer
Geſetze noch ſehr loſe mit dieſem Boden zuſammenhängen.


Die Zwölf Tafeln, die die Grundlage des gegenwärtigen
Syſtems bilden, liefern uns ein höchſt lehrreiches Beiſpiel der
Dauerhaftigkeit der Geſetze und ſind ganz geeignet, um dieſe
Lehre an ihnen zu ſtudieren, inſofern nämlich alle Geſichts-
punkte, die für dieſe Frage von einiger Bedeutung ſind, in der
Geſchichte des Zwölftafeln-Geſetzes hervortreten. Die Dauer-
haftigkeit dieſes Geſetzes im allgemeinen iſt ſo bekannt, daß ich
darüber nichts zu bemerken brauche.53) Dagegen fordern aber
die Gründe dieſer Dauerhaftigkeit ſowie die Bedeutung, die ſie
[65]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
für die Entwicklung des römiſchen Rechts hat, um ſo mehr zu
einem nähern Eingehen auf.


Was jene Gründe betrifft, ſo kamen zu der Eigenſchaft des
römiſchen Volks, die den allgemeinen Grund für die Dauerhaf-
tigkeit der römiſchen Rechtswelt überhaupt bildet, ſeiner conſer-
vativen Tendenz, (B. 1 S. 308) noch beſondere Gründe hinzu,
die ſich nur oder vorzugsweiſe auf das Zwölftafeln-Geſetz be-
ziehen und demſelben gleich von vornherein eine große Feſtigkeit
verliehen. Zuerſt die Art der Entſtehung. Für die phyſiſche wie
die moraliſche Welt gilt gleichmäßig der Satz, daß was mit
Schmerzen geboren wird, einen ganz andern Werth hat, als
was leicht erworben ward. Ueber das Schickſal der Ge-
ſetze entſcheidet nicht immer ihr Inhalt, ſondern
auch ihre Entſtehungsweiſe
, nicht bloß die Müheloſig-
keit oder Mühſamkeit derſelben, — was uns hier allerdings
allein intereſſirt — ſondern ihre Entſtehungsweiſe überhaupt;
auch für die Geſetze gibt es glückliche und unglückliche Sterne,
unter denen ſie geboren werden, und der Beruf des Geſetzge-
bers bewährt ſich nicht bloß daran, die rechte Saat, ſondern
auch die rechte Zeit der Ausſaat zu treffen.


Das Zwölftafeln-Geſetz war nun ein mühſam errungenes
Gut, das auch das ſpätere Geſchlecht an die Kämpfe erinnerte,
die es gekoſtet, ſo wie an den Werth, den man auf die Erlan-
gung deſſelben gelegt hatte. Es kömmt hinzu, daß die ganze Ent-
ſtehungsgeſchichte des Geſetzes ihm den Charakter einer von dem
einen Theil des Volks dem andern Theil gemachten Conceſſion
verlieh. Für das Intereſſe und die Liebe, mit der ein Geſetz um-
faßt werden ſoll, iſt aber der Geſichtspunkt ſehr wichtig, daß es
nicht in beziehungsloſer Allgemeinheit und Objektivität auftritt,
ſondern daß es ſich von vornherein, ſelbſt wenn es auch den
Charakter der Allgemeinheit an ſich trägt, doch an einen beſon-
dern Stand anſchmiegt, ihm vertragsmäßig zugewieſen wird.54)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 5
[66]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Selbſt wenn das Intereſſe des Standes nicht ausſchließlich
oder nicht gerade in hohem Grade bei der Erhaltung des Ge-
ſetzes betheiligt iſt, ſo macht doch jene Beziehung, jene Ehe bei-
der dieſe Erhaltung deſſelben zu einem Ehrenpunkt. Das Geſetz
wird zu einem Beſtandtheil des Standes, und ſelbſt wenn es
praktiſch werthlos geworden, doch gehütet wie eine theure Reli-
quie, ein ruhmvolles Erbſtück der Vorzeit. Für das abſtracte
Recht iſt alſo dieſe Form, durch die es mit der juriſtiſchen Be-
deutung eines Rechts im ſubjektiven Sinn (Privilegien, Frei-
heiten) zugleich perſönliches Leben, Liebe und Werthſchätzung,
Hand und Herz gewinnt, ein außerordentlich wichtiges Beför-
derungsmittel ſeiner Dauerhaftigkeit und Stärke.


Erklärt uns nun die Entſtehungsgeſchichte des Zwölftafel-
Geſetzes und ſeine Beziehung zu den Plebejern den Werth, den
man von vornherein auf daſſelbe legte, die Liebe, Anhänglich-
keit, Verehrung, die man für daſſelbe hegte, und die mit dem
Gegenſatz der Patricier und Plebejer nicht unterging, brachte
alſo das Geſetz ſchon bei ſeiner Geburt eine Ausſicht auf treue
und ſorgſame Pflege und langes Leben mit auf die Welt, ſo lag
in ſeinem Inhalt, in ſeiner eignen, wenn ich ſagen darf, geſun-
den Conſtitution ein nicht minderer Grund ſeiner Dauerhaftig-
keit. Zwar das Staatsrecht der Zwölf Tafeln ward bald anti-
quirt, da die Plebejer unaufhaltſam vorwärts drangen, allein
für das Privatrecht und den Prozeß kann das Geſetz als Funda-
ment des ganzen zweiten Syſtems betrachtet werden. Nicht als
ob nach dieſer Seite hin die Dauerhaftigkeit in Stagnation be-
ſtanden hätte, ſondern es fand eine reiche Entwicklung Statt,
aber eine Entwicklung, die ſich ganz an das Geſetz anſchloß, ein
inneres Leben, Wachſen und Gedeihen des Geſetzes ſelbſt. Dies
innere Leben der Geſetze hat etwas höchſt Anziehendes. Das
Geſetz ſcheint uns von Anfang an todt, den Buchſtaben nennen
54)
[67]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
wir ſtarr und unbeweglich, aber wenn die Zeit kommt und die
rechten Vorausſetzungen vorhanden ſind, werden die Buchſtaben
lebendig, im Geſetze regt es ſich wie im Samenkorn, aus dem
Samenkorn wird eine Pflanze und oft ein ſtattlicher Baum.
Die dürren Buchſtaben werden zu Begriffen, die Begriffe zeugen
neue Rechtsſätze (B. 1 S. 29) und ſo wird die Aufzeichnung
des Rechts, die daſſelbe ſcheinbar der Bewegung
beraubt, in der That ein Mittel, um ein reiche-
res Leben in demſelben zu erwecken
. Man darf die
Sache nicht ſo anſehen, als ob dieſe Entwicklung nichts Neues
zu Tage förderte, weil ſie nur eine Entfaltung des in das Geſetz
hineingelegten Inhalts ſei. Denn in Wirklichkeit bringt ſie eine
Reihe von Rechtsſätzen hervor, die bisher gar nicht exiſtirten,
weder in bewußter, noch unbewußter Weiſe. Das Geſetz erhebt
ſich hier alſo zu einem wahrhaft ſelbſtändigen und produktiven
Leben, es iſt die höchſte Blüthe deſſelben, der Triumph der
Selbſtändigkeitsidee. Allerdings greift mitunter das gebieteri-
ſche Bedürfniß des Lebens in den dialektiſchen Selbſtentfaltungs-
prozeß des Rechts ein, die „utilitas“ lehnt ſich gegen die „ratio
juris“
auf, allein nichts deſto weniger läßt ſich doch von einer
produktiven Kraft des Rechts ſelbſt ſprechen, von Rechtsſätzen,
die nicht auf dem Boden der realen Welt, ſondern auf dem der
idealen Welt des geſchriebenen Rechts gewachſen ſind. So zieht
ſich ein Theil der produktiven Kraft von der realen Welt in die
ideale zurück, und die Rechtsgeſchichte arbeitet nicht weniger auf
dem Papier, als auf der Bühne des Lebens. Nach dieſer Seite
hin öffnet ſich jener Abweg, den wir oben als die Ueberſpan-
nung des Selbſtändigkeitstriebes des Rechts bezeichnet haben,
und der darin beſteht, daß die logiſche Selbſtbeſtimmungskraft
des Rechts ſich auf Koſten des praktiſchen Bedürfniſſes geltend
macht.


Wie ſehr das Geſetz durch das innere Wachsthum, von dem
bisher die Rede war, auch an äußerer Feſtigkeit gewinnt, liegt
auf der Hand. Denn jenes Wachsthum hat nicht bloß zur Folge,
5*
[68]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
daß das Geſetz ſelbſt an Inhalt gewinnt, ſondern daß es auch
allſeitig Wurzeln treibt und mit der Totalität des Rechts ver-
wächſt. Anfänglich ein Ding für ſich, wie das Samenkorn, iſt
es, ſeitdem es Wurzeln geſchlagen, ein Theil des Ganzen ge-
worden, und darin liegt ſchon, daß es ſich nicht ſo leicht mehr
entfernen läßt.


Kehren wir jetzt zu dem Zwölftafeln-Geſetz zurück. Wir ſag-
ten oben, daß ſeine Dauerhaftigkeit zum Theil in ſeiner ge-
ſunden Conſtitution ihren Grund gehabt habe. Dies ſoll hei-
ßen, daß die Beſchaffenheit des Geſetzes ein ſolches inneres Ge-
deihen und Wachsthum, von dem eben die Rede war, in hohem
Grade möglich gemacht habe. Die innere Bildungsfähigkeit der
Geſetze iſt begreiflicherweiſe verſchieden; es kann Geſetze geben,
bei denen ſich das innere Leben nur ſehr mühſam in geringem
Maße entwickelt, und andere, für die das Entgegengeſetzte gilt.
Zu dieſer letzteren Klaſſe gehörte unſer Geſetz. Einen Haupt-
grund ſeiner Bildungsfähigkeit finde ich darin, daß daſſelbe das
Prinzip der Autonomie in ausgedehnteſter Weiſe anerkannt
hatte ſowohl für das individuelle Rechtsleben hinſichtlich der
ſolennen Rechtsgeſchäfte 55) unter Lebenden und der letztwilligen
Verfügungen, 56) als für das corporative Leben.57) Denn damit
war nicht bloß einerſeits die Gefahr, die der Bildungstrieb des
Lebens dem Geſetz hätte bereiten können, aus dem Wege ge-
räumt, da dieſem Triebe ja der weiteſte Spielraum geöffnet
war, ſondern andererſeits diente gerade die Bethätigung dieſes
Triebes recht zur Befeſtigung des Geſetzes, inſofern nämlich
der rechtliche Beſtand der Schöpfungen, die er hervorgebracht
[69]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
hatte, ſich auf die im Geſetz enthaltene Anerkennung des Prin-
zips der Autonomie gründete, letztere ſich nicht als etwas außer
dem Geſetz Exiſtirendes neben daſſelbe, ſondern als etwas
durch das Geſetz Exiſtirendes unter daſſelbe ſtellten.58) So
gewährte gerade das Neue eine Garantie des Alten!


Das Recht, das ſich auf dieſem Wege einer freien Entwick-
lung des Zwölftafeln-Geſetzes bildete, nennen die Römer jus ci-
vile
im engern Sinn, die Mitwirkung der Juriſten bei dieſem
Werke interpretatio. Es war dies aber nicht eine bloße Ausle-
gung des Geſetzes, ſondern, wie dies auch urſprünglich im Na-
men liegt, eine Vermittlung zwiſchen dem geſchriebenen Recht
und dem Leben. Alſo die Zurichtung des Rechts zum Zweck der
gerichtlichen Geltendmachung, die prozeſſualiſche Formulirung
deſſelben, die Verarbeitung deſſelben zum Zweck des Verkehrs,
die Ausarbeitung von Formularen für Contrakte, Rechtsge-
ſchäfte, letztwillige Dispoſitionen aller Art, die Entdeckung von
Mitteln und Wegen, um rechtliche Zwecke, deren unmittelbare
Verfolgung hätte zweifelhaft ſein können, auf indirekte Weiſe
möglich zu machen. Die interpretatio, wir wollen ſie die ältere
Jurisprudenz nennen, ſteht aber nicht da als eine bloße Diene-
rin des Rechtsverkehrs,59) ſondern zugleich als Zuchtmeiſterin
und Wegweiſerin deſſelben. Durch die Zuziehung der Juriſten
zu allen Geſchäften des römiſchen Lebens ward es denſelben
möglich — was heutzutage, freilich in unendlich verringertem
Maße, unſern Notaren gleichfalls möglich wäre — den einzel-
nen Arten der Rechtsgeſchäfte durch die Redaction einen gewiſſen
typiſchen Inhalt, eine conſtante Erſcheinungsform zu verleihen,
durch ſtete Anwendung derſelben Formel des Rechtsgeſchäfts im
[70]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
einzelnen Fall letzteres ſelbſt zu einem objektiven, abſtracten Da-
ſein zu erheben; ward es ihnen möglich, den Strom des Ver-
kehrslebens in beſtimmte und feſte Bahnen zu lenken, den Lauf
deſſelben zu überwachen und nöthigenfalls in geeigneter Weiſe
zu reguliren. In dem Rechtsleben herrſchte gewiß eine nicht ge-
ringere Disciplin, als im Lager; dem Sinn der alten Zeit für
ſtrenge und feſte Ordnung mochte ſie dort nicht weniger nöthig
erſcheinen, als hier.


Fiel nun der Jurisprudenz nach der einen Seite die Aufgabe
zu, in höchſt geeigneter, naturgemäßer Weiſe dieſe Disciplin zu
üben und Wächterin des Geſetzes zu ſein, ſo vertritt ſie anderer-
ſeits auch das Prinzip des Fortſchritts und der freien Bewegung
des Rechts.60) Das neue Recht, das in ihr zum Bewußtſein
und durch ſie zur Anwendung kam, war, wenn auch angelehnt
an die Zwölf Tafeln, doch kein unmittelbares Produkt einer eiſer-
nen logiſchen Nothwendigkeit, wie es eine jede Zeit unter an-
dern Verhältniſſen gleichfalls hätte gewinnen müſſen; ſondern
das Bedürfniß des römiſchen Lebens leitete offenbar Sinn und
Auge des Interpreten,61) und mancher Rechtsſatz mag ſich auf
[71]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
dieſe Weiſe gebildet haben, deſſen Verbindung mit ſeinem ge-
ſetzlichen Anknüpfungspunkt uns darum noch entgeht, weil dieſe
Verbindung eine etwas gezwungene war.62) In dem jus civile
fand alſo der rechtliche Bildungstrieb der Zeit bis zu einem ge-
wiſſen Grade ſeine Befriedigung, wie ſpäter im prätoriſchen
Edikt; über dieſen Grad hinaus half die Geſetzgebung nach.
Aber gewiß bedurfte es dieſes Mittels nur in ſeltenen Fällen,
wie denn von den Rechtsſätzen, deren Bildung dem gegenwärti-
gen Syſtem angehört, nur wenige auf Geſetze zurückgeführt
werden. Der bei weitem größte Theil derſelben hat ſich auf dem
Wege der interpretatio gebildet, iſt alſo die Frucht eines lang-
ſamen, beſonnenen Entwicklungsprozeſſes und wird in ähnlicher
Weiſe wie das prätoriſche Edikt in ſeiner ſchließlichen Geſtalt
das Reſultat einer unausgeſetzten Sichtung und Verbeſſerung
im Einzelnen geweſen ſein. Auch auf dem Gebiete des jus civile
mag wie auf dem des prätoriſchen Rechts mancher Gedanke auf-
getaucht ſein, der ſpäter ſpurlos verſchwunden iſt, mag die ſpä-
tere Zeit auch wohl von den traditionell gewordenen Interpre-
tationen und ſelbſtändigen Regeln der frühern Zeit abgegangen
ſein.63) Ich halte es für um ſo nöthiger dies hervorzuheben, als
man von dem Eindruck der Starrheit, welchen das ältere Recht
macht, leicht auf einen demſelben entſprechenden Charakter der
ältern Jurisprudenz ſchließen könnte. Gerade umgekehrt er-
ſcheint ſie mir, wie bereits bemerkt, als Repräſentantin der
Bewegung, als Vermittlerin des Fortſchrittes, und ich glaube
61)
[72]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
nicht, daß ſie je einem wirklichen Bedürfniß des Lebens dauernd
in den Weg getreten iſt.64)


Aber einen Punkt gab es allerdings, hinſichtlich deſſen ſie
unerbittlich war, das war das Streben nach Erhaltung der
Continuität in der Entwicklung des Rechts. Sie befriedigte ein
neues Bedürfniß nicht mit neuen Mitteln, ſo lange die alten
ſich durch geſchickte Benutzung, wenn auch in umſtändlicher
Weiſe 65) zu dem Zweck verwenden ließen. Und wenn etwas
Neues ſich den Zutritt erzwungen hatte, ſo ſuchte ſie doch daſſelbe
ſei es materiell, ſei es formell an das Alte anzuknüpfen. Daher
die Scheingeſchäfte, Umwege, Fiktionen des ältern Rechts, die
Beibehaltung alter bedeutungslos gewordener Formen,66) bei
wichtigen Reformen die Benutzung des Vorhandenen und die
Verjüngung deſſelben in zeitgemäßer Geſtalt u. ſ. w., kurz jene
Kunſt, deren bereits bei der conſervativen Richtung des römi-
ſchen Charakters (B. 1 S. 308) gedacht iſt. Wir verſchieben die
nähere Betrachtung derſelben auf das folgende Buch,67) da uns
letzteres nicht bloß den paſſendſten Standpunkt gewährt, um ſie
[73]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
in ihrem ganzen Verlauf zu überſchauen, ſondern die Bildung
des dritten Syſtems ihr mehr als irgend eine andere Thatſache
Veranlaſſung gab, ſich zu bethätigen.


In der gegenwärtigen Periode war nun dieſe Kunſt vor
allem geſchäftig, die neuen Rechtsbildungen in dieſer Weiſe an
das Zwölftafeln-Geſetz anzuknüpfen, letzteres beſtändig als den
Stamm hinzuſtellen, der vermittelſt jener Bildungen nur Zweige
getrieben und ſich mit Blättern und Blüthen bedeckt habe. In
dieſem Lichte erſchien den ſpätern Römern das Recht der Zwölf
Tafeln nicht als ein nackter, dürrer Stamm, wie er dies ur-
ſprünglich in der That war, ſondern als ein majeſtätiſcher, le-
bensvoller Baum, und von dieſer Anſchauung aus werden die
ungemeſſenen Lobſprüche verſtändlich, die ſie dem Geſetz ſpende-
ten, und die man unbegreiflich finden muß, wenn man letzteres
bloß in ſeiner urſprünglichen nackten Geſtalt ins Auge faßt.68)


Das ſchließliche Reſultat unſerer bisherigen Ausführung
beſteht alſo darin, daß ſich bei jenem Geſetz alles vereinigte, um
demſelben eine lange Dauer und eine ungeſchmählerte Herrſchaft
zu ſichern. In ſeiner Jugendzeit verlieh ihm ſeine Bedeutung
als einer Magna Charta der Plebejer wenigſtens hinſichtlich
aller Conceſſionen, die es enthielt, den Charakter der Un-
verletzlichkeit. Als mit dem Aufhören des praktiſchen Gegenſatzes
zwiſchen Patriziern und Plebejern dieſer Geſichtspunkt hinweg-
gefallen, war das Geſetz bereits aufs innigſte mit dem römiſchen
Leben verwachſen. Seine innere Bildungsfähigkeit ſowie die
Pflege von Seiten der Jurisprudenz erhielt daſſelbe noch lange
auf der Höhe des Lebens, und ſein Alter, anſtatt ſeinen Einfluß
[74]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
zu ſchwächen, ſicherte denſelben nur noch mehr, indem es das
Geſetz immer weiter aus der ſubjektiven Nähe in eine objektive
Ferne rückte.


4. Sicherheit und Unabhängigkeit der Verwirk-
lichung des Rechts
.

Der Grundſatz der Unverletzlichkeit der jura quaesita — die Un-
abhängigkeit der Juſtiz, innere und äußere — Verhältniß der Po-
lizei und Verwaltung zur Juſtiz.


XXVIII. Der Geſichtspunkt, der unſern bisherigen Aus-
führungen über den Selbſtändigkeitstrieb des Rechts (§. 25 —
27) zu Grund lag, war die Bethätigung deſſelben an der Rechts-
bildung oder dem abſtracten Syſtem der Rechtsſätze, die
Tendenz des Rechts alſo, den ihm innewohnenden Inhalt in
möglichſter Reinheit und Vollſtändigkeit aus ſich herauszutrei-
ben und objektiv-formell zu fixiren. Wir gehen jetzt zu einer an-
dern Seite des Selbſtändigkeitstriebes über, der Bethätigung
deſſelben an der Rechtsanwendung, alſo der Tendenz des
Rechts, jenen abſtracten Inhalt in concrete Wirklichkeit umzu-
ſetzen.


Ungehemmte Verwirklichung dieſes ſeines Inhalts iſt ein An-
ſpruch, der mit dem Recht ſelbſt geboren iſt, oder richtiger nicht
ein bloßer Anſpruch, ſondern es iſt das Recht ſelbſt, ſein We-
ſen, ſeine Wahrheit. Dieſe ſeine Verwirklichung beſteht aber in
ſeinem Siege über das bloße Factum, das den Gegenſatz zu
ihm bildet, in der Ueberwindung des etwaigen Widerſtandes,
den die äußere Gewalt ihm entgegenſetzen möchte; und da die
Gewalt nur durch Gewalt überwunden werden kann, ſo wird
damit vorausgeſetzt, daß das Recht des phyſiſchen Uebergewichts
ſicher iſt. Dieſes Uebergewicht befindet ſich nun im normalen
Zuſtande immer auf Seiten des Staats gegenüber den Privat-
perſonen. Abgeſehn alſo von Störungen dieſes normalen Ver-
[75]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
hältniſſes iſt die einzige Gewalt, die das Recht zu fürchten hat,
die des Staates ſelbſt; der Anſpruch des Rechts auf ungehemmte
Verwirklichung reducirt ſich mithin darauf, daß die Staatsge-
walt nicht in den Verwirklichungsprozeß des Rechts eingreife,
ihm kein Hinderniß in den Weg lege. Die Garantie für die
Erfüllung dieſes Anſpruches liegt im Recht ſelbſt, in der mora-
liſchen Kraft, die daſſelbe über das Gemüth des Volks ausübt;
je nach dem Maße dieſer moraliſchen Gewalt richtet ſich das
Maß der äußeren Sicherheit und Unabhängigkeit, deren ſich das
Recht zu erfreuen hat.


Es zeigt uns nun aber die Geſchichte aller Völker Beiſpiele
von Eingriffen der Staatsgewalt in die Rechtsordnung, und
dieſe Erſcheinung kann nicht einfach von uns als ein Verſtoß
gegen die Selbſtändigkeit des Rechts abgethan werden, ſondern
ſie kann und muß uns zu der Frage führen: ob denn die Selb-
ſtändigkeit des Rechts das abſolut Höchſte iſt, ob nicht vielmehr
das Recht dieſe ſeine Prätenſion zu ermäßigen habe. Die Ant-
wort darauf kann nicht zweifelhaft ſein. Es gibt Lagen im Le-
ben der Völker, wo eine Verletzung des Rechts als Akt der na-
tionalen Selbſterhaltung erſcheint, Fälle, wo Eingriffe der
Staatsgewalt in die Rechtsordnung zur hiſtoriſchen Nothwen-
digkeit geworden ſind, wo es gilt, wie beim Scheitern, das Ge-
ringere über Bord zu werfen, um das Werthvollere zu retten, —
ich möchte ſie die tragiſchen Momente im Leben des Rechts nen-
nen. Auf einen ſolchen Nothſtand ſtützen die Staatsſtreiche, Re-
volutionen, die Aufhebung der jura quaesita durch die Geſetz-
gebung ihre Berechtigung. Wehe aber einer Zeit, die in ſolchen
Lagen nicht bis zum äußerſten am Recht feſthält, die Rolle der
Vorſehung, ſo zu ſagen, ohne eine Aufforderung derſelben ſich
aneignet. Nur die Ueberzeugung der unüberwindlichen hiſtoriſchen
Nothwendigkeit kann das ſittliche Gefühl mit der am Recht ver-
übten Gewaltthat ausſöhnen; ohne ſie bedeutet jede Verletzung
der Rechtsordnung einen frevelhaften Schlag auf den Baum
des Rechts, der daſſelbe in ſeinem innerſten Mark, d. h. den
[76]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Glauben des Volks an die Unantaſtbarkeit und Heiligkeit des
Rechts verletzt und erſchüttert.


Faſſen wir jetzt das ältere römiſche Recht ins Auge, ſo wer-
den wir ſchon von vornherein, wenn wir uns der intenſiven Ge-
walt, die die Rechtsidee über den römiſchen Geiſt ausübte, erin-
nern (B. 1 S. 302 u. fl.), einen Schluß auf die äußere Unab-
hängigkeit des Rechts wagen dürfen. Die Geſchichte hat es uns
nicht an Beiſpielen dafür fehlen laſſen, wie empfindlich das rö-
miſche Volk gegen eine Verletzung der Rechtsordnung war. Der
Sturz des Königthums und Decemvirats läßt ſich als die ge-
waltige Reaction des verletzten nationalen Rechtsgefühls gegen
eine ſchnöde Nichtachtung von Privatrechten bezeichnen. Was
der Druck eines ſtrengen, unumſchränkten, dem ganzen Volk
fühlbaren Regiments nicht vermocht hatte, bewirkte ſofort ein ei-
ner einzelnen Perſon zugefügtes Unrecht.69) Daß nun im herben
Contraſt mit dieſer Erſcheinung „für das Volk ſelbſt und den mit
der Machtvollkommenheit des Volks bekleideten Inhaber der
Staatsgewalt der Grundſatz der Unverletzlichkeit der Rechte gar
nicht ſollte exiſtirt haben, daß der Begriff: „„wohlerworbene
Rechte,““ welche auch der Staat als ſolche zu reſpektiren verpflich-
tet wäre, dem Römer vollkommen fremd geweſen wäre“70)
dies iſt wenigſtens für das ältere Recht eine ganz entſchieden
unrichtige Behauptung. Wir können hier Bezug nehmen auf
unſere Ausführungen am Ende des §. 26, und die dort mitge-
theilten Ausſprüche Cicero’s über das Verhältniß des ſubjekti-
ven Rechts zu der legislativen Gewalt des Volks. Es waren
nicht Cicero’s individuelle Anſichten von dem, was Recht ſein
[77]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
ſollte und müßte; in der aus ſeiner Rede pro Balbo (Anm. 46)
mitgetheilten Stelle wird vielmehr der Grundſatz der Unverletz-
lichkeit des ſubjektiven Rechts als einer der Hauptpfeiler der
römiſchen Freiheit bezeichnet (haec sunt enim fundamenta fir-
missima nostrae libertatis, sui quemque juris et retinendi et
dimittendi esse dominum
) und das Alter deſſelben dem des rö-
miſchen Namens gleichgeſtellt (o jura praeclara atque divinitus
jam inde a principio Romani nominis a majoribus nostris com-
parata
). Auch die übrigen dort mitgetheilten Aeußerungen Ci-
cero’s zeigen, daß er an eine allgemein verbreitete Rechtsanſicht
appellirt.


Eingriffe der geſetzgebenden Gewalt in die Rechte des Ein-
zelnen hatten die Zwölf Tafeln ausdrücklich verboten,71) allein
mehr als einmal mußte ſich doch der römiſche Staat dazu ver-
ſtehen, durch novae tabulae den unter ſeiner Schuldenlaſt erlie-
genden ärmern Theil des Volks wieder aufzurichten. Jene novae
tabulae
bezeichnen bekanntlich einen Eingriff der geſetzgebenden
Gewalt in die beſtehenden Schuldverhältniſſe, ſei es Erlaß der
rückſtändigen Zinſen oder Kürzung des Kapitals namentlich
vermittelſt vorgeſchriebener Anrechnung der gezahlten Zinſen
aufs Kapital u. ſ. w. Der hohe Zinsfuß des Alterthums in
Verbindung mit Hemmniſſen der Erwerbfähigkeit, wie ſie uns
in der Ausdehnung unbekannt ſind (namentlich den häufigen
und für den Einzelnen koſtſpieligen Kriegen), machte ein ſo la-
winenartiges Anſchwellen der Schulden möglich, daß die Schuld-
ner unter der Laſt erlagen und an eine endliche Abtragung der
Schulden nicht denken konnten. Dieſer Zuſtand bedeutete aber,
wenn er, was ja gewöhnlich, in großer Ausdehnung beſtand,
die völligſte, nicht bloß privatrechtliche, ſondern auch politiſche
[78]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Abhängigkeit eines bedeutenden Theils des Volks von einer
verhältnißmäßig geringen Zahl von Wucherern und berührte
damit das Intereſſe des Staats ſelbſt in hohem Grade. Befrei-
ung der Schuldner von jenem Joch oder Erleichterung der Laſt
wenigſtens inſoweit, um ihnen die Möglichkeit der Tilgung
durch eigne Thätigkeit zu gewähren, konnte daher unter Um-
ſtänden ein Akt der Selbſterhaltung des Staats ſein,72) und ſo
haben auch die Römer ſelbſt die Sache angeſehen. Nicht alſo
als eine Maßregel, die im Prinzip der Volksſouveränetät ſchon
ihre Rechtfertigung finde, ſondern als ein durch die höchſte Noth
gebotenes Rettungsmittel,73) abgeſehen von dieſer Voraus-
ſetzung mithin als unverantwortliche Willkühr, als ſchreiendes
Unrecht.74) Die Achtung der Geſetzgebung vor beſtehenden
[79]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
Rechtsverhältniſſen zeigt ſich auch darin, daß die rückwirkende
Anwendung der Geſetze gewöhnlich durch einen ausdrücklichen
Zuſatz75) ausgeſchloſſen war.


Dem bisherigen nach, und ich glaube auch hinzufügen zu
dürfen, nach dem Totaleindruck des ganzen ältern Rechts wird
man letzterem unmöglich den Grundſatz der Unverletzlichkeit der
erworbenen Rechte abſprechen können. Dieſe erſte Anforderung
des natürlichen Rechtsgefühls konnte einem Volke, bei dem das
Rechtsgefühl ſo ſehr ſeinen Halt und Inhalt in ſich ſelbſt fand,
ſo ſtark pulſirte, wie bei dem römiſchen, unmöglich entgehen.
Den Römern war die moderne Abſtraction, daß das Einzel-
Recht ſeine ganze Exiſtenz dem objektiven Recht verdanke, völlig
fremd, und in einer Aufhebung der jura quaesita durch ein Ge-
ſetz konnten ſie nicht einen völlig berechtigten Vorgang, ſondern
nur ein von Seiten des Volks dem Einzelnen zugefügtes Unrecht
erblicken.


Neben dieſem bisher betrachteten Grundſatz kömmt nun für
die Unabhängigkeit der Verwirklichung des Rechts ein anderer
Punkt in Betracht, der für dieſe Frage überall von entſcheiden-
der Bedeutung iſt — die Garantie einer unabhängigen, gleich-
mäßigen und unbeſtechlichen Civil-Juſtiz.76) Die äußeren Ein-
richtungen der Gerichtsverfaſſung, die Formen des Verfahrens
und das materielle Recht vermögen durch ſich allein dieſe Ga-
rantie nicht zu verleihen, d. h. die moraliſche Integrität des
Richterſtandes nicht entbehrlich zu machen, aber wie ſie ſelbſt bei
der moraliſchen Verderbtheit des Volks und folglich auch der
Richter immer doch einen gewiſſen Schutz gewähren, ſo ſind ſie
auch für moraliſch unverdorbene Zeiten von hoher Wichtigkeit.
[80]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Die Gerichtsverfaſſung kann von der Art ſein, daß ſie unbe-
rechtigte Einflüſſe von Seiten der Staatsgewalt bald mehr,
bald weniger ausſchließt (Abſetzbarkeit oder Unabſetzbarkeit der
Richter u. ſ. w.), daß ſie die Richter ſonſtigen unbefugten Ein-
flüſſen bald in höherem, bald in geringerem Grade zugänglich
macht (Einzelnrichter, Richtercollegien, pekuniäre Situirung
derſelben u. ſ. w.), die Formen des Verfahrens von der Art,
daß ſie der Willkühr bald größeren, bald geringeren Spielraum
gewähren. Das Ideal der Civilrechtspflege, das den ältern
Römern vorſchwebte, war eine Rechts maſchine, d. h. ſie
charakteriſirt ſich durch die Eigenſchaften der Sicherheit, unaus-
bleiblichen Gleichmäßigkeit und folglich auch der Unfreiheit.
Der Einfluß des individuellen Ermeſſens (und damit auch die
Gefahr der Willkühr), den das ſpätere Recht in ſo weiter Aus-
dehnung zuließ, war im ältern Recht möglichſt beſchränkt; die
bei der Prozedur thätigen Perſonen des Prätors und der Rich-
ter waren Stücke einer Prozeßmaſchinerie, die ſich unabänder-
lich in derſelben Weiſe bewegte. Damit war zwar das rein
Aeußerliche der Form gewahrt, aber welche Garantie bot dieſe
Verfaſſung für die materielle Gerechtigkeit? Hinſichtlich der
Perſon des Prätors bedarf es nur eines Blicks auf deſſen Stel-
lung und Functionen, hinſichtlich der Richter und zwar des
Centumviralgerichts lege ich beſonders Gewicht auf das nume-
riſche Moment, die collegialiſche Organiſation deſſelben, hin-
ſichtlich des Einzelrichters verweiſe ich theils auf den Stand
der in die Liſten eingetragenen Richter, theils auf den Einfluß,
der den Partheien auf die Wahl des Richters eingeräumt war,
hinſichtlich aller aber auf die Oeffentlichkeit der Rechtspflege und
ihre Unabhängigkeit von irgend einer andern Macht, als der, die
gerade umgekehrt eine Garantie bot — der öffentlichen Meinung.
Die Theilung der Functionen zwiſchen Prätor und Richter, der
das Charakteriſtiſche des ſpätern Formularprozeſſes ausmacht und
in dem Verfahren dieſer Periode, dem Legisactionen-Prozeß,
ſchon ihren Urſprung hat, iſt für unſern Geſichtspunkt auch
[81]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
wohl nicht ohne Bedeutung, wenn ſie auch durch denſelben
nicht veranlaßt iſt.77) Jene Theilung gewährte inſofern eine
Garantie, als bis zu einem gewiſſen Grade der Prätor den
Richter, der Richter den Prätor beſchränkte und controllirte,
keiner den Rechtsſtreit ganz für ſich allein in der Hand hatte.
Den Ausſchlag gab inſofern immer der Richter, als er über den
Erfolg des geführten Beweiſes zu erkennen hatte, und bei dem
Einzelrichter mochte der Verſuch der Beſtechung noch am erſten
zu beſorgen ſein. Einen wirkſamen Schutz dagegen bot abgeſehen
von dem erwähnten Einfluß beider Partheien auf die Wahl die
Beſtimmung der Zwölf Tafeln, welche dem Richter, der ſich hatte
beſtechen laſſen, Todesſtrafe androhte.78)


In wie hohem Grade auch das materielle Recht durch ſeine
Geſtaltung dazu beitrug, die Sicherheit und Gleichmäßigkeit der
Rechtspflege zu fördern, darauf mag hier bereits hingedeutet
werden; der nähere Nachweis muß der innern Charakteriſtik des
materiellen Rechts vorbehalten werden, und ich verweiſe hier
namentlich auf die Ausführungen über den Gleichheitstrieb
(§. 29) und den Formalismus (§. 37) des ältern Rechts (ſ.
auch §. 25).


Auf Grund der bisherigen Darſtellung hin wird ſich die Be-
hauptung rechtfertigen, daß das ältere Recht in ſich ſelbſt ſo-
wohl wie in der zu ſeiner Verwirklichung beſtimmten Staats-
anſtalt in hohem Grade die nöthigen Vorausſetzungen zu einer
ſichern, gleichmäßigen Anwendung ſeiner ſelbſt beſaß. Aber Ein
Punkt bleibt doch noch übrig, nämlich das Verhältniß der Rechts-
pflege zur Staatsgewalt, und hier bieten ſich uns allerdings
zwei befremdende Erſcheinungen dar, nämlich einmal die Sus-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 6
[82]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
pendirung des civilprozeſſualiſchen Verfahrens und Zwanges
gegen die höhern Beamten während der Dauer ihres Amtes
und ſodann die unſern heutigen Ideen über die Unabhängig-
keit der Juſtiz durchaus widerſtrebende Zuläſſigkeit einer Ein-
wirkung der Magiſtrate und Tribunen auf die Rechtspflege.
Sie beruhte auf dem Veto, das denſelben gegen die Ver-
fügungen ihrer Collegen zuſtand, und inſoweit, aber auch
nur inſoweit, als es ſich um Verfügungen des Prätors
in Rechtsangelegenheiten handelte, konnten ſie dagegen ihren
Proteſt einlegen.79) Nicht alſo gegen den Richterſpruch; ſo
wie die Sache an den Richter gekommen, war ihre Einwir-
kung ausgeſchloſſen, und den Richterſpruch konnte in der äl-
tern Zeit keine Macht der Erde rechtlich umſtoßen, noch mochte
der Richter ſelbſt oder der Prätor ihn ändern oder zurückneh-
men. Auch wird uns meines Wiſſens nirgends berichtet, daß
in alter Zeit je von irgend einer Macht der Autorität eines
richterlichen Urtheils entgegengehandelt wäre. Ein mittelbarer
Einfluß der nicht mit der Rechtspflege betrauten Beamten auf
die Inſtruction des Prozeſſes ſowohl wie auf ſonſtige rechtliche
Verfügungen des Prätors war alſo möglich, und es liegt kein
[83]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
Grund vor, ihn erſt aus ſpäterer Zeit zu datiren. Es vermin-
dert ſich aber das Gewicht dieſer Eingriffe, wenn man bedenkt,
daß ſie nur negativer Art waren, die beabſichtigte rechtliche Ver-
fügung zwar vertagen, aber nicht eine andere an deren Stelle
ſetzen konnten, ſowie daß dem Einſpruch keine Rechtskraft zu-
kam, ſo daß alſo nicht nur der Nachfolger im Amt, ſondern der
Urheber ſelbſt ihn zurücknehmen konnte. Und ſodann hatte die
ganze Einrichtung nicht einen der Rechtspflege feindlichen Cha-
rakter, ſondern umgekehrt den Zweck, ihr zu dienen, eine
Partheilichkeit und Ungerechtigkeit des Prätors unſchädlich zu
machen. Im Anfange der Republik, als noch die Rechtspflege
ausſchließlich in den Händen der Patricier und den Einwir-
kungen des Partheiintereſſes ausgeſetzt war, mußte das Veto
der Tribunen auch in ſeiner Anwendung gegen rechtliche Ver-
fügungen patriciſcher Beamten für die Plebs unſchätzbar ſein.


Wie wenig die Römer in der That geneigt waren, das
Gebiet der Juſtiz zu verkürzen oder ſie in ihrer Selbſtändigkeit
zu beeinträchtigen, zeigt ſich ſchlagend an einem Punkt, der
ſonſt der eigentliche Tummelplatz der Conflikte zwiſchen Staats-
gewalt und Juſtiz zu ſein pflegt, nämlich an dem Verhältniß der
Juſtiz zur Polizei und Verwaltung. Während anderwärts die
Polizei ſo leicht zu Uebergriffen in das Gebiet der Juſtiz inklinirt,
hat ſie in Rom umgekehrt einen beträchtlichen Theil ihres Ge-
bietes an die Juſtiz abgetreten.80) Unſere heutigen Polizeicon-
traventionen81) bildeten nämlich in Rom, wenigſtens der Mehr-
zahl nach, den Gegenſtand eines ganz regulären Civilprozeſſes
zwiſchen dem Contravenienten und dem öffentlichen Kläger
(d. h. jedem aus dem Volk, der dieſe Rolle übernommen hatte).
Der Prätor wie der Richter befolgten hier durchaus die ſtrengen
Grundſätze des Civilrechts, und der Staat oder das Volk,
6*
[84]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
als deſſen Vertreter der Kläger gedacht wurde,82) ordnete ſich
alſo ganz der Juſtiz unter, kämpfte gegen den Beklagten mit
völlig gleichen Waffen.


Daſſelbe galt für einen der wichtigſten Zweige der Ver-
waltung, das Steuerweſen. Abgeſehen nämlich von der Erhe-
bung des Tributums nach dem Cenſus hatte der römiſche Staat
bekanntlich das Syſtem der Verpachtung der öffentlichen Ein-
künfte, der Steuern, Zehnten, Zölle u. ſ. w., was für den hier
in Rede ſtehenden Geſichtspunkt die wichtige Folge hatte, daß
an die Stelle des Staats oder ſeiner Beamten die Steuer-
pächter (publicani) als Steuererheber traten. Bei Streitigkeiten
zwiſchen letzteren und den Steuerpflichtigen ſtanden alſo nicht
Staat und Privatperſon, ſondern zwei Privatperſonen ſich ge-
genüber, die ihren Streit ganz im Wege des gewöhnlichen
Civilprozeſſes zu erledigen hatten. Ein Eingreifen der Verwal-
tungsbehörde fand hier mithin nicht Statt, und am Ausgang
des Prozeſſes hatte der Staat gar kein Intereſſe. Die einzige
Vergünſtigung, die den Publikanen ertheilt war, beſtand in
einer beſonders privilegirten Klage (der legis actio per pigno-
ris capionem
), eine Vergünſtigung, die für das Verhältniß
unentbehrlich und auch andern Forderungen beigelegt war, und
die andererſeits durch die Strafklage, die der Gegenparthei
für den Fall einer unrechtmäßigen Erpreſſung von Seiten der
Publikanen gegen ſie gegeben war, reichlich aufgewogen wurde.83)
An Einfluß und Macht war freilich der eine Theil dem andern
unendlich überlegen, und es iſt bekannt, daß dies faktiſche Ueber-
gewicht der Publikanen zur Zeit des Verfalls die rechtliche
Gleichheit wenigſtens in den Provinzen oft illuſoriſch machte.84)
[85]I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
Für die jetzige Periode und für Rom und Italien werden wir
dies nicht annehmen dürfen, jedenfalls kann dadurch das In-
tereſſe der Einrichtung, um die es ſich hier handelt, die recht-
liche Unterordnung eines großen Theils des Steuerweſens un-
ter die Juſtiz nicht vermindert werden.


Eine andere für den Geſichtspunkt, den wir hier verfolgen,
höchſt charakteriſtiſche Erſcheinung iſt die Vorliebe der Römer,
Streitigkeiten, die an und für ſich gar keine civilrechtliche Be-
deutung hatten, auf dem Wege des Civilprozeſſes zur
Entſcheidung zu bringen. Die sponsio praejudicialis, die pro-
zeſſualiſche Wette, gab hierfür eine Form von unbegränzter
Weite; das Anerbieten einer ſolchen Sponſion brauchte aller-
dings nicht angenommen zu werden, enthielt aber doch eine
Art von moraliſchem Zwang. Wir finden nun nicht bloß, daß
Privatperſonen ſich dieſes Mittels bedienten, ſondern auch Be-
amte unter ſich,85) Beamte gegen Privatperſonen86) und umge-
kehrt letztere gegen jene, um durch gerichtliche Erhärtung irgend
eines vorgeſchützten Entſchuldigungsgrundes den Lauf einer
gegen ſie verhängten Maßregel zu ſiſtiren.87) So diente dies
Mittel namentlich auch dazu, um den Grund oder Ungrund ge-
machter Beſchuldigungen zu conſtatiren, Jemanden auch ohne
oder noch vor dem judicium publicum eines Verbrechens zu
überführen, ſtaatsrechtliche Streitigkeiten zur Entſcheidung zu
bringen u. ſ. w.88)


Die Neigung der Römer für die Ausdehnung des civil-
prozeſſualiſchen Prinzips, die ſich hierin ſo recht ausſpricht,
84)
[86]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ging aber nicht ſo weit, daß die Beamten die Beſtreitung ihrer
Kompetenz oder die angefochtene Rechtmäßigkeit ihrer Verfü-
gungen der richterlichen Cognition hätten unterwerfen müſſen.
Für ſie, die von dem gewöhnlichen Gerichtsbann eximirt waren,
gab es eine andere Inſtanz, theils die Volksverſammlung, wenn
es ſich um Anfechtung ihrer Straferkenntniſſe oder nach Nieder-
legung ihres Amtes um Verantwortung wegen Mißbrauchs
ihrer Gewalt handelte, theils und zwar bei Verfügungen aller
Art die Interceſſion ihrer Kollegen — Garantien von ſo wirk-
ſamer Art, daß die Verſchließung des gewöhnlichen Civilrechts-
weges dagegen gar nicht in Betracht kam. Hierzu geſellte ſich noch
der Grundſatz, daß die Verfügungen der Beamten der Rechts-
kraft ermangelten, alſo von ihrem Urheber ſowohl wie vom
Nachfolger zurückgenommen werden konnten und die Durchfüh-
rung derſelben zwar den faktiſchen, nie aber den rechtli-
chen
Verluſt eines Privatrechts zur Folge haben konnte — ein
Grundſatz, der uns im dritten Buch bei Gelegenheit des präto-
riſchen Rechts ausführlich in Anſpruch nehmen wird, und auf
den wir daher, ſo ſehr wir ihn hier bereits betonen möchten,
doch an dieſer Stelle nicht weiter eingehen.


II. Der Gleichheitstrieb.

Faktiſche und rechtliche Gleichheit — Das Generaliſirungs-
ſyſtem — Rechtliche Verſchiedenheiten und Ungleichheiten vor
dem Geſetz — Weſen der altrömiſchen Gleichheit — Aeußerun-
gen derſelben im öffentlichen und Privatrecht — Unterſchiede der
Perſonen und Sachen — Stellung des Richters — Berechnung
der Zeit und des Schadenserſatzes — Bleibende Bedeutung des
Gleichheitstriebes für das römiſche Recht.

XXIX. Der zweite und dritte von unſern Grundtrieben
tragen die Namen jener Zwillingsworte, die ſeit mehr als einem
halben Jahrhundert die Welt in Bewegung ſetzen — einſt das
[87]II. Der Gleichheitstrieb. — Effektive u. rechtliche Gleichheit. §. 29.
Loſungswort der Edelſten und Beſten, bald das Feldgeſchrei
gerade der wildeſten Maſſen. Bedeckt vom Staube der Straßen,
noch rauchend von Blut, die verworrenſten Vorſtellungen von
der einen, die gehäſſigſten Erinnerungen von der andern Seite
erweckend, ſind ſie für den hiſtoriſchen Gebrauch wenig zu em-
pfehlen; das ganze Getöſe der Gegenwart, dem wir ſonſt
auf unſerm Gebiete ſo weit entrückt ſind, ſchallt mit jenen
Worten zu uns hinüber. Und doch können wir jene Worte
nicht entbehren, und doch können wir uns durch alle den ſchnö-
den Mißbrauch und Frevel, den man mit ihnen getrieben hat
und treibt, nicht abhalten laſſen, uns freudig zu ihnen zu be-
kennen, in ihnen die höchſten und edelſten Ideen zu preiſen, die
das Recht ſein nennt, und Diejenigen zu bedauern, deren Seele
für jene großen Gedanken zu eng iſt. Aber um ſo mehr thut es
Noth, uns über den Sinn zu verſtändigen, in dem dieſelben
allein eine Berechtigung in Anſpruch nehmen können; um ſo
mehr wollen wir die Gelegenheit benutzen, vom römiſchen Volk
zu lernen, wie ein charaktervolles und politiſch reifes Volk dieſe
Ideeen auffaßt und welche Früchte ſie hier tragen — der ſicherſte
Weg, um vor dem hohlen Freiheits- und Gleichheitsgeſchrei
einen unüberwindlichen Ekel zu bekommen.


Wie in der phyſiſchen Welt die Natur, ſo producirt in der
moraliſchen Welt die Geſchichte tagtäglich Ungleichheiten; je
mehr Kraftentwicklung, um ſo bunter die Mannigfaltigkeit.
Darin beſteht das Leben in der Natur und der Geſchichte, daß
beide aus der geringen Zahl der Elemente, mit denen ſie begon-
nen haben, einen unendlichen Reichthum der mannigfaltigſten
Gebilde hervorbringen. Dieſe Mannigfaltigkeit und Ungleich-
heit hinwegwünſchen, hieße Natur und Geſchichte zum Still-
ſtand, zum Tode verdammen. In Bezug auf die Natur wird
Niemand einen ſolchen Wunſch hegen, aber hinſichtlich der mo-
raliſchen Welt iſt derſelbe bereits zu verſchiedenen Zeiten laut
geworden. Alle jene Ungleichheiten in der Stellung der Men-
ſchen, die das unvermeidliche Reſultat der Geſchichte ſind, z. B.
[88]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
in Rang, Stand, Vermögen u. ſ. w. hat man als Wider-
ſprüche gegen die wahre Freiheit und Gerechtigkeit angeſehen
und verlangt, daß ſie dem Prinzip der abſtracten Gleichheit
aller Menſchen weichen ſollten. Den erſten hiſtoriſch bekannten
Verſuch zur praktiſchen Realiſirung einer ſolchen Auffaſſung
enthielt die lykurgiſche Geſetzgebung. Lykurg wollte die effek-
tive
Gleichheit von Spartas Bürgern, d. h. eine Gleichheit
derſelben nicht bloß in ihren Rechten, ſondern eine perſönliche
und ſociale, alſo in ihrer Erziehung, Bildung, Lebensweiſe,
ihrem Vermögen u. ſ. w. Eine ſolche geſetzlich erzwungene
Gleichheit ließ ſich nur errichten auf dem Grabe der Freiheit,
ſie war die äußerſte Tyrannei unter republikaniſchem Deckman-
tel, die bitterſte Satire auf die wahre Freiheit, denn ſie hob das
ureigenſte Recht des Subjekts auf freie Entfaltung ſeiner Indi-
vidualität völlig auf.


Es war daſſelbe Mißverſtändniß der Gleichheit, das in der
neuern Geſchichte ſich in dem Bauernkriege in ſo ſchrecklicher
Geſtalt wiederholte, und ſpäter mit der franzöſiſchen Revolu-
tion ſein blutiges Spiel von neuem begann.


Worin liegt das Mißverſtändniß? Dürfen wir das Prinzip
der Gleichheit überhaupt anerkennen, oder iſt es nicht von vorn-
herein aufzugeben, da ja die Geſchichte demſelben faktiſch die
Anerkennung verſagt? Die Antwort darauf kann uns das rö-
miſche Volk ertheilen. Die Gleichheit, die die Römer wollten,
hat mit der des Lykurg und unſerer heutigen Gleichheitsapoſtel
nichts gemein; letztere würden ſich im alten Rom ebenſo ent-
täuſcht und unbehaglich gefühlt haben, wie es ihnen im freien
England und Amerika zu ergehen pflegt.


Die römiſche Gleichheit geht Hand in Hand mit der wah-
ren Freiheit und darum auch mit dem auf Ungleichheiten gerich-
teten Bildungstriebe der Geſchichte, ja ſie läßt ſich als Ausfluß
der Freiheit ſelbſt betrachten. Frei ſoll ſich in Rom entwickeln
alles, was Lebenskraft in ſich trägt, und daß nicht Eine Kraft
hier auf Koſten der andern künſtlich d. h. durch Geſetz bevor-
[89]II. Der Gleichheitstrieb — Effektive u. rechtliche Gleichheit. §. 29.
zugt werde, das iſt es, was die römiſche Gleichheit will. Die
Ungleichheit des Reſultats, die die natürliche Folge der Ver-
ſchiedenheit der Kräfte iſt, oder die durch die Zwecke des Staats
bedingt wird, hat für die Römer nichts Verletzendes. Ungleich-
heit in der Lebensſtellung, Rang, Stand, Ehre, politiſchem
Einfluß, Vermögen u. ſ. w. erſchien dem Römer nicht als ein
Verſtoß gegen das republikaniſche Prinzip. Willig zollte er
jenen Vorzügen ſeine Achtung, und von einem Haſſe gegen die
Beſitzenden, dieſer traurigen Erſcheinung der heutigen Zeit,
findet ſich keine Spur. Der Grund lag darin, daß dieſe Ver-
ſchiedenheiten in Rom das natürliche Produkt freier Entwick-
lung waren. Wo ſie dies ſind, haben ſie nichts Gehäſſiges; ſie
können nur da in einem ſolchen Lichte erſcheinen, wo ſie durch
künſtliche Mittel d. h. durch Privilegien [hervorgerufen] oder ge-
ſchützt ſind, wo alſo das Uebergewicht des Einen durch eine
Zurückſetzung des Andern bewerkſtelligt iſt. Hier kann aller-
dings das an ſich völlig berechtigte Gefühl der Gleichheit, durch
die Mißachtung, die es erfährt, geſtachelt, ſich in Haß und Groll
gegen die Beſitzenden verkehren, das Phantom der falſchen, wi-
derſinnigen Gleichheit bei den Maſſen Eingang finden, wäh-
rend ein wahrhaft freies Volk von demſelben nichts zu befürch-
ten hat.


Die Gleichheit vor dem Geſetz iſt durch die Idee der Gerech-
tigkeit geboten; das ſeiner Natur nach Gleiche ſoll auch vom
Geſetz gleich behandelt werden. Aber was iſt gleich? Das ältere
römiſche Recht ſtrebt nicht weniger wie das neuere, die Gleich-
heit (aequum jus, aequitas)89) herzuſtellen, aber wie unendlich
verſchieden iſt die aequitas im Sinne des neuern Rechts von der
im Sinne des ältern (in jenem Sinn, in welchem Tacitus90) die
[90]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Zwölftafel-Geſetzgebung finis aequi juris nennt)! Hat doch das
ſpätere Recht dieſen Ausdruck ausſchließlich für ſich in Anſpruch
genommen, und iſt er es doch gerade, mittelſt deſſen daſſelbe
ſich als billiges Recht zu dem ſtrengen (strictum jus) der ältern
Zeit in Gegenſatz ſtellt. Das Urtheil, welches die ſpätere Zeit
über letzteres fällte, iſt in dem bekannten Satz: summum jus,
summa injuria
ausgedrückt, der Vorwurf nämlich, daß die
Gleichheitstendenz des ältern Rechts in Wirklichkeit die äußerſte
Ungleichheit zur Folge gehabt habe. Die Billigkeit des ſpätern
Rechts würde dagegen der ältern Zeit als eine aus übertriebener
Milde hervorgegangene Abweichung von der wahren Gleich-
heit haben erſcheinen müſſen, während ſie umgekehrt einem ver-
weichlichten Billigkeitsgefühl, vielleicht ſtellenweiſe noch den
Eindruck einer zu großen Strenge machen könnte.91)


Welche Bewandniß hat es nun mit dieſer Gleichheit, wo-
her die Erſcheinung, daß trotz des gleichmäßigen Strebens aller
Zeiten, die Gleichheit im Recht herzuſtellen, doch die Reſultate
ſo unendlich variiren? Dies hat nicht bloß darin ſeinen Grund,
daß die Gegenſtände ſelbſt, die, wenn ich ſo ſagen darf, auf der
Wage der Gerechtigkeit gewogen werden ſollen, ihr Gewicht
im Lauf der Zeit verändern, daß Unterſchiede, die in früher Zeit
kaum wahrnehmbar waren, ſpäterhin groß und bedeutend ge-
worden ſind, ſondern auch und vor allem darin, daß Wage und
Gewicht der verſchiedenen Zeiten ſo außerordentlich differiren.
Auf Unterſchiede, die, gemeſſen mit der feineren Wage dieſer
Zeit, ſich als ſehr beträchtlich herausſtellen, wird die rohe Wage
jener Zeit kaum reagiren.


Der Weg, auf dem ein jedes Recht die Gleichheit verfolgt
[91]II. Der Gleichheitstrieb — Generaliſirung, Unbilligkeit. §. 29.
und verfolgen muß, iſt Generaliſirung92) d. i. Bildung von
Klaſſen und Aufſtellung von Regeln für dieſelben. Dabei iſt
aber die Gefahr, daß das wirklich Ungleiche gleich behandelt
wird, gar nicht zu vermeiden. Möge das Recht bei dieſer Ge-
neraliſirung auch immer engere und engere Kreiſe ziehen, immer
weiter hinabſteigen in die Beſonderheiten:93) jene Gefahr iſt
nie ausgeſchloſſen. So wie die Generaliſirung relativ zu weit
iſt, ſtellt ſich der Conflikt der Gleichheitsidee mit ſich
ſelbſt d. i. die Unbilligkeit
heraus, d. h. das wirklich
Ungleiche wird als gleich behandelt, weil die kleine Differenz,
die es ungleich macht, im Geſetz nicht beachtet war. Dies er-
gibt ſich gewöhnlich zuerſt an einem einzelnen Fall, an dem
jene Differenz in beſonders auffälliger Weiſe ſich bemerklich
macht. Möge nun dieſer Fall auch zur Aufſtellung einer neuen
für die Zukunft geltenden Regel Veranlaſſung geben: er ſelbſt
wird noch der alten Regel zum Opfer fallen, wenn nicht das
Recht hier eine Vorrichtung hat, ſeine eigne an ſich anwendbare
Vorſchrift außer Kraft zu ſetzen — eine Selbſtcorrektur des
Rechts auf dem Wege des Individualiſirens. Hat ein
Recht ſich einmal das Ziel geſetzt, jenen Conflikt der Gleich-
heitsidee mit ſich ſelbſt, die Unmöglichkeit einer „Unbilligkeit“
nicht zu dulden, ſo bleibt allerdings kein anderes Mittel übrig.
Die Anwendung deſſelben läßt ſich in verſchiedener Weiſe den-
ken. Der Geſetzgeber kann ſich das Individualiſiren ſelbſt vorbe-
[92]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
halten94) oder auch dem Richter das Recht dazu einräumen, ſei
es in der Weiſe daß er von vornherein der Regel eine Dehn-
barkeit gibt, die dem richterlichen Ermeſſen einen völlig freien
Spielraum läßt, wo alſo die Regel ſelbſt gewiſſermaßen dem
Individuellen ſich anſchmiegt; oder in der Weiſe, daß dem
Richter unter gewiſſen Vorausſetzungen, Beſchränkungen und
Garantien verſtattet iſt, ſich über die Regel hinwegzuſetzen,
alſo legislative Function für den einzelnen Fall auszuüben.95)
Immer bleibt aber dies Mittel inſofern ein höchſt gewag-
tes und bedenkliches, als die rechtliche Beurtheilung damit
den feſten Boden der objectiven Rechtsregel verläßt und
ſich dem ſchwankenden Element ſubjektiver Eindrücke anver-
traut, einem Element, das recht eigentlich das der bewuß-
ten oder unbewußten Willkühr iſt.96) Im römiſchen Privat-
recht97) tritt dieſe individualiſirende Tendenz erſt mit dem drit-
ten Syſtem auf, dem Geiſt des ältern Rechts widerſtrebt ſie
durchaus, und der Eingang iſt ihr hier nach allen Seiten ver-
ſperrt. Weder ſoll der Geſetzgeber im einzelnen Fall Ausnah-
men von dem Geſetz anordnen oder eine beſondere Norm für
denſelben aufſtellen,98) noch darf der Richter (der Prätor ſo
[93]II. Der Gleichheitstrieb — Generaliſirung, Unbilligkeit. §. 29.
wenig wie der judex) ſich im einzelnen Fall über das Geſetz
hinwegſetzen, noch auch war der ganze Zuſchnitt des ältern
Rechts von der Art, daß dem richterlichen Ermeſſen ein großer
Spielraum gelaſſen wäre. Unter dem Deckmantel der Billigkeit
hätte ja die Willkühr und Partheilichkeit ſich geltend machen
können, und lieber opfert das ältere Recht die ganze Billigkeit,
ſetzt ſich alſo der Eventualität aus, daß ſeine Gleichheit im ein-
zelnen Fall zur äußerſten Ungleichheit führt, als daß es jene
Gefahr beſtehen ließe. Den alten Römern erſchien ihrer ganzen
Individualität nach jene Möglichkeit in einem ganz andern
Lichte, als uns heutzutage; die eiſerne Conſequenz, die in der
Gleichheit ſich ausſpricht, hatte als ſolche für ſie etwas Impo-
nirendes, machte ihnen die Reſultate, zu denen ſie führte, er-
träglich, und mit der vermeintlichen „Unbilligkeit“ einer Ent-
ſcheidung konnte auch den Betroffenen der Gedanke verſöhnen,
daß die Gerechtigkeit ſelbſt es ſo mit ſich bringe. Auch für das
Rechtsgefühl gibt es eine Abhärtung und Verweichlichung, und
die Römer waren am wenigſten das Volk, das, wo es große
Zwecke galt, zurückgebebt wäre, denſelben die Rückſichten auf
individuelles Wohl zu opfern. Die unausbleibliche Verwirk-
lichung des Geſetzes, die Ausſchließung jeglicher Partheilichkeit
und Willkühr, das waren Gedanken von ſolcher Gewalt über
das römiſche Gemüth, daß die etwaigen Nachtheile, die mit
dem Syſtem verbunden waren, dagegen gar nicht in Betracht
kamen.


Darum alſo — und dies iſt ein charakteriſtiſcher Zug des
ältern Rechts im Gegenſatz des neuern — rückſichtsloſe
Herrſchaft der Abſtraction, ausſchließliche Gül-
tigkeit des Syſtems der Generaliſirung, entſchie-
dene Abneigung gegen alles Individualiſiren im
Recht
.


98)


[94]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.

Iſt damit nun ſchon der Gleichheit vor dem Geſetz ein Ge-
nüge geſchehen? Gewiß nicht, denn es liegt ja auf der Hand,
daß der Geſetzgeber, wenn es ihm auch verwehrt iſt, im ein-
zelnen
Fall eine Ungleichheit, eine Ausnahme von der Regel
eintreten zu laſſen, dadurch doch an der Einführung einer ge-
nerellen
Ungleichheit vor dem Geſetz, z. B. durch geſetzliche
Bevorzugung oder Zurückſetzung gewiſſer Stände nicht behindert
wird. Es führt mich dies auf einen wichtigen Unterſchied, näm-
lich auf den, wie ich ihn ausdrücken möchte, der rechtlichen
Verſchiedenheiten und rechtlichen Ungleichheiten
.
Daß das Geſetz an gewiſſe natürliche Unterſchiede der Menſchen
und Sachen rechtliche Verſchiedenheiten knüpfen darf und ſoll,
wird, namentlich wo es ſich um rein privatrechtliche Beziehungen
handelt, ſofort einleuchten. Die Stellung der Frau bedingt andere
Rechtsſätze, als die des Mannes, das Kind kann rechtlich nicht
dem Erwachſenen gleich behandelt werden, und die natürliche
Verſchiedenheit des Gegenſtandes, z. B. die Eigenſchaft der
Beweglichkeit oder Unbeweglichkeit wird gleichfalls auf das Recht
nicht ohne Einfluß bleiben können. In politiſcher Beziehung
gilt ganz daſſelbe, und es gehört der gänzliche Mangel politi-
ſcher Einſicht und hiſtoriſcher Kenntniſſe dazu, um dies zu ver-
kennen. Von dieſen rechtlichen Verſchiedenheiten unterſcheide
ich nun Ungleichheiten vor dem Geſetz und verſtehe darunter
Abweichungen von der Regel des Rechts, die nicht durch objek-
tive Gründe, ſei es durch das Staatswohl oder durch innerliche
Verſchiedenheiten geboten ſind, ſondern lediglich das ſubjektive
Intereſſe eines Standes oder einer Klaſſe von Perſonen zum
Gegenſtande haben, eine Bevorzugung 99) deſſelben auf Koſten
anderer enthalten, und deren letzter Grund alſo nur in dem
Uebergewicht des Einfluſſes beſteht, den dieſer Stand auf die
[95]II. Der Gleichheitstrieb — Ungleichheit vor dem Geſetz. §. 29.
geſetzgebende Gewalt auszuüben und in ſeinem egoiſtiſchen
Intereſſe auszubeuten verſtand.


Daß ſie einen Verſtoß gegen die Idee der Gerechtigkeit
enthalten, eine Partheilichkeit und Willkühr, die mit der des
Richters auf völlig gleicher Stufe ſteht, iſt unſchwer zu erſehen.
Soll der Richter Niemanden bevorzugen, wie dürfte es der Ge-
ſetzgeber? Auch er ſoll ſeine Macht nur im Dienſt der Gerech-
tigkeit benutzen; wie könnte Gleichheit das höchſte Geſetz und
das Ziel der richterlichen Gewalt ſein, wenn ſie es nicht ſchon
für den Geſetzgeber ſelbſt wäre?


Dieſer Unterſchied zwiſchen rechtlichen Ungleichheiten und
Verſchiedenheiten iſt nun nicht bloß in der Idee begründet, ſon-
dern er lebt auch im Gefühl der Völker. In der Anwendung
deſſelben können ſie freilich ſehr divergiren; was dieſer Zeit
als eine durch innere und äußere Gründe gebotene rechtliche
Verſchiedenheit erſcheint, darin findet eine folgende vielleicht
eine ſchreiende Ungleichheit vor dem Geſetz. Der Grund dieſer
Differenz iſt einmal ein objektiver, nämlich die Verſchiedenheit
der hiſtoriſchen Vorausſetzungen; mit letzteren ſelbſt ſteht und
fällt die relative Berechtigung eines Inſtituts. Sodann aber iſt
der Grund auch ein ſubjektiver, nämlich die verſchiedene Reizbar-
keit und Empfänglichkeit des nationalen Rechtsgefühls. Es hat
vielleicht nie ein Volk gegeben, bei dem dieſelbe einen ſo hohen
Grad erreicht hätte, als bei den alten Römern. In ihrer Ab-
neigung gegen jede Ungleichheit vor dem Geſetz gingen ſie ſo-
weit, daß ſie ſelbſt natürlichen Unterſchieden, die wohl überall
rechtliche Beachtung gefunden haben, dieſelbe verſagten oder
wenigſtens möglichſt eng zumaßen. Darum kennt das ältere
Recht nicht bloß kein einziges Vorrecht, kein eigentliches Privi-
legium eines einzelnen Standes100) (von den Patriciern und
Plebejern wird gleich die Rede ſein), ſondern daſſelbe nimmt
[96]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
auch auf beſondere Lebenslagen (z. B. Abweſenheit, Armuth
u. ſ. w.) gar keine Rückſicht. Es iſt unter dieſem Eindruck des
ältern Rechts, daß Livius in der oben angeführten Stelle die
Decemvirn ſagen läßt: se omnibus summis infimisque jura
exaequasse.
Die ſtrenge Regel, die einmal gilt, ſchreckt vor kei-
nem Verhältniß zurück (z. B. die Perſonalexecution geht gegen
Verwandte mit derſelben Härte, wie gegen Fremde), Aus-
nahmen ſind dem ältern Recht faſt gänzlich unbe-
kannt
.


Der Gleichheitstrieb deſſelben äußert ſich alſo — und dies
iſt das zweite Moment zu ſeiner Beſtimmung — auch darin,
daß daſſelbe bei ſeiner Generaliſirung die möglichſte Allgemein-
heit und Weite erſtrebt, ſich möglichſt wenig zum Partikulari-
ſiren herabläßt. Während andere Rechte z. B. das germa-
niſche mehr das Moment der Partikularität und Beſonderheit
ins Auge faſſen, und darüber das der Gemeinſamkeit aus dem
Auge verlieren, macht das ältere römiſche Recht es gerade um-
gekehrt. Wenn wir nun den Gleichheitstrieb des ältern Rechts
als eine charakteriſtiſche Eigenſchaft deſſelben bezeichnet haben,
ſo bedarf der Sinn, in dem hier der Ausdruck Gleichheit genom-
men wird, dem bisherigen nach die nähere Beſtimmung, daß es
nicht die wahre und ächte Gleichheit iſt, jene Gleichheit, die ſich
eben dadurch als ſolche bewährt, daß ſie den Verſchiedenheiten
gerecht wird, daß ſie partikulariſirt und individualiſirt — ſon-
dern eine mechaniſche Gleichheit, bei der ſich die innern Ver-
ſchiedenheiten der rückſichtsloſen Durchführung allgemeiner Ab-
ſtractionen fügen und beugen müſſen.


Nachdem wir jetzt das Weſen der ältern Gleichheit im All-
gemeinen beſtimmt haben, wird es an der Zeit ſein, das Walten
derſelben im Einzelnen etwas näher ins Auge zu faſſen und
zwar zuerſt in politiſcher, ſodann in privatrechtlicher Beziehung.
In beiderlei Rückſicht war die Geſchichte des Kampfes der Pa-
tricier und Plebejer höchſt bedeutungsvoll, und wie es denn faſt
keine Seite der ältern Rechtsgeſchichte gibt, auf der dieſer Kampf
[97]II. Der Gleichheitstrieb. — Das öffentliche Recht. §. 29.
nicht ſeine Spuren zurückgelaſſen hätte, ſo glaube ich auch bei der
vorliegenden Frage eine ſolche Spur zu entdecken. Der Druck,
mit dem das patriciſche Uebergewicht ſo lange auf den Plebejern
gelaſtet, hatte nothwendigerweiſe einen eben ſo ſtarken Gegen-
druck hervorrufen müſſen, die bitter empfundene Ungleichheit
hatte das Gleichheitsgefühl nur um ſo höher ſpan-
nen müſſen
, höher, als es ohne dieſes Reizmittel vielleicht
der Fall geweſen ſein würde.


Eine ſolche Spannung kann ſo weit getrieben werden, daß
die Saite reißt, und namentlich iſt dies der Fall, wenn ein
plötzlicher, gewaltſamer Umſchwung erfolgt. Wenn dies in
Rom nicht geſchah, wenn jenes Gefühl hier nicht in einen ſol-
chen Gleichheitsſchwindel und eine wilde Nivellirungsſucht aus-
artete, wie die Gegenwart ſie hat kennen lernen, ſo erblicke ich
den Grund nicht bloß in dem Charakter und der politiſchen
Bildung des römiſchen Volks, ſondern ebenſo ſehr in dem lang-
ſamen, höchſt allmähligen Verlauf jenes ſtändiſchen Ausglei-
chungsprozeſſes. Was die Plebs wollte und erreichte, war
rechtliche Gleichſtellung mit den Patriciern, Aufhebung der
Standes-Privilegien; fremd aber war dem Römer die Vor-
ſtellung, als dürfte es im Staat keine Höhen und Tiefen geben,
keine Gliederung der Gewalt, keine Ueberordnung und Unter-
ordnung. Unendlich hoch ragte vor wie nach Zulaſſung der
Plebejer zu den Magiſtraturen der Innhaber einer ſolchen über
den einfachen Bürger hervor, ſowohl hinſichtlich ſeiner Macht,
um die ihn mancher conſtitutionelle Fürſt hätte beneiden können,
als hinſichtlich der Achtung und Ehre, die er genoß. Daſſelbe
Volk, das ſo eben aus ſeiner Mitte einen Magiſtrat gewählt
hatte, huldigte ihm gleich darauf als Beamten mit aller Ehr-
erbietung und Unterwürfigkeit, und die königliche Hoheit und
Würde, die manche Beamten in ihr Benehmen gegen das Volk
zu legen wußten, und die geborner Herrſcher würdig geweſen
wäre, wirft von der andern Seite ein nicht minder charakteri-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 7
[98]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſtiſches Licht auf das Verhältniß, in dem ſie zum Volk zu ſtehen
glaubten.


Einen anderweitigen ſprechenden Beleg für die geſunde Be-
ſchaffenheit des politiſchen Gleichheitsgefühls der Römer ge-
währt die Fortdauer der ſervianiſchen Verfaſſung während der
gegenwärtigen Periode. Dieſelbe war bekanntlich eine Timo-
kratie, und der Gedanke der Gleichheit kam in ihr in der Weiſe
zur Anwendung, daß ein jeder in demſelben Maße politiſche
Rechte auszuüben hatte, in dem er an den Laſten des Staats par-
ticipirte — ein Grundſatz, der natürlich eine große Ungleichheit
in den politiſchen Rechten zur Folge hatte. Allerdings beſtanden
neben den auf dieſer Verfaſſung beruhenden Centuriatcomitien
auch die auf das Prinzip der Kopfzahl gegründeten Tributco-
mitien, allein das Uebergewicht des politiſchen Einfluſſes, die
eigentlich beſtimmende Kraft war doch lange entſchieden auf
Seiten der erſteren, denn außer der geſetzgebenden Gewalt, die
beiden gemeinſchaftlich war, und dem Uebergewicht in der Kri-
minaljurisdiktion beſaßen die Centuriatcomitien ausſchließlich
das Recht, die curuliſchen Magiſtrate zu wählen, über Krieg
und Frieden zu entſcheiden.


Andererſeits bewährte ſich die von den Plebejern errungene
politiſche Gleichheit in glänzender Weiſe daran, daß ſeit Gleich-
ſtellung der Stände auch dem geringſten Plebejer rechtlich kein
Hinderniß im Wege ſtand, die höchſten Stufen der Staatsverwal-
tung zu erklimmen und ſich und ſein Geſchlecht durch eigenes Ver-
dienſt zu nobilitiren. Der Zuwachs ſeines Vermögens, den er
durch Sparſamkeit und Betriebſamkeither beigeführt hatte, brachte
ihn aus einer niedern in eine höhere Cenſusklaſſe, mit dem Ver-
mögen mehrte ſich ſein politiſcher Einfluß, durch Auszeichnung
im Felde oder daheim konnte er die Augen des Volkes auf ſich
ziehn und durch deſſen Gunſt zu den höchſten Ehrenſtellen ge-
tragen werden. Auch in Rom wie überall beſtimmte nicht per-
ſönliche Tüchtigkeit allein die Erfolge des Ehrgeizes; auch hier
übte die Vergangenheit d. h. das Geſchlecht, ſociale Stellung,
[99]II. Der Gleichheitstrieb. — Das Privatrecht. §. 29.
Reichthum, Verbindungen u. ſ. w., kurz Vorzüge, die Jeman-
den ſchon durch die Geburt zufallen können, faktiſch einen unge-
heuren Einfluß aus und erſchwerten demjenigen, dem ſie ab-
gingen, die Concurrenz im hohen Grade. Aber rechtlich war
ihm dieſe Concurrenz möglich; jenes Uebergewicht ließ ſich
durch Glück, Energie, Tüchtigkeit paralyſiren und ward, an-
ſtatt ein Hemmniß der wahren Kraft, nur ein Sporn zur geſtei-
gerten Anſpannung derſelben.


Wie hier den Niedern kein rechtliches Hinderniß in ſeinem
Laufe hemmte, ſo hielt umgekehrt auch kein künſtliches Mittel
den Hochgeſtellten auf ſeiner Höhe; ſich auf derſelben zu be-
haupten, war ſeine eigne Sorge. Inſtitute wie z. B. die Fa-
milienfideicommiſſe, Lehen u. ſ. w., wodurch die neuere Rechts-
bildung das Herabfallen von der Höhe zu verhindern gewußt
hat, gab es in Rom nicht, ſo wenig wie Schranken, die den
Zugang zu derſelben verwehren ſollten; in Rom konnte jeder
durch eigne That ungehindert den Adel erwerben wie verlieren.


Wir gehen über zu dem Privatrecht. Nirgends iſt wohl die
Kluft zwiſchen der altrömiſchen und der germaniſchen Rechtsan-
ſchauung weiter und tiefer, als hier. Unſere germaniſche Rechts-
anſchauung hatte von jeher für die höchſte Mannigfaltigkeit pri-
vatrechtlicher Verſchiedenheiten Raum; jeder Stand, jeder Beruf,
jedes Lebensverhältniß — der lokalen Rechtsverſchiedenheiten
ganz zu geſchweigen — trieb ſich ſeine eigenthümlichen Inſtitutio-
nen und Rechtsſätze hervor, und dieſer partikuläre Bildungstrieb
wucherte ſo üppig, daß das Gemeinſame nicht ſelten völlig ver-
loren ging. Welche Fülle von rechtlichen Inſtitutionen knüpft
ſich im germaniſchen Rechte z. B. an die Unterſchiede des Bür-
gers, Bauers, Kaufmanns, Adligen! Von alle dem im ältern
römiſchen Recht keine Spur! Ein Recht gilt für alle Stände
und Berufsarten. Allerdings gibt es auch hier rechtliche Ver-
ſchiedenheiten, aber dieſelben ſchließen ſich faſt ſämmlich an die
natürlichen Unterſchiede des Geſchlechts, Alters, der Familie,
der Beweglichkeit und Unbeweglichkeit der Sachen u. ſ. w. an.
7*
[100]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Jene Unterſchiede hingegen, die ſich im germaniſchen Recht als
ſo außerordentlich ergiebig bewährt haben, die des Berufs, der
Lebensſtellung u. ſ. w. ſind hier ſo gut wie wirkungslos ge-
blieben. 101)


Was iſt der Grund? Hat man ſich die Sache ſo vorzu-
ſtellen, das deutſche Recht habe dem Partikulariſirungstriebe
des Lebens die gebührende Anerkennung gewährt, das römiſche
ſie ihm verſagt? Nichts wäre meiner Anſicht nach verkehrter.
Nicht weniger als in Deutſchland konnte ſich auch in Rom jedes
partikuläre Rechtsbedürfniß befriedigen, d. h. jeder Stand und
jede Berufsart konnte ſich auch hier ſeine Rechtsſphäre ganz
ſeinem Bedürfniß gemäß geſtalten, ſich völlig frei bewegen; es
war dies eine Folge des Prinzips der Autonomie, das in Rom
im weiteſten Umfange zugelaſſen war. Erheiſchte z. B. in Rom
wie in Deutſchland das Familienintereſſe des Adels für das
Erbrecht eine Bevorzugung der Söhne vor den Töchtern, des
Erſtgebornen vor dem Nachgebornen, ſo ließ ſich dies in jeder
Generation durch das Teſtament des jeweiligen Familienober-
hauptes bewerkſtelligen; bedurfte es für den Handelsverkehr
nach Art unſeres Wechſelrechts eines beſonders ſtrengen obliga-
toriſchen Bandes, ſo konnten die Contrahenten durch die Geſtal-
tung der Verträge dies Bedürfniß ſelbſt befriedigen; glaubten
Corporationen eigenthümliche Normen nöthig zu haben, ſo
[101]II. Der Gleichheitstrieb. — Die privatr. Verſchiedenheiten. §. 29.
mochten ſie dieſelben durch Statut feſtſetzen. 102) Es läßt ſich alſo
annehmen, daß im ältern Rom nicht weniger wie in Deutſch-
land die nach Rang, Stand, Beruf u. ſ. w. verſchiedenen In-
tereſſen ſich ihre entſprechende rechtliche Befriedigung verſchafften,
ſo daß das in Theſi für Alle gleiche Recht doch im Verkehr nach
Maßgabe jener Verſchiedenheiten eine verſchiedene typiſche Ge-
ſtaltung erhielt. Darin aber gehen nun die ältere römiſche und
germaniſche Rechtsbildung weit auseinander, daß dort dieſe
Produktivität der Autonomie ſich nur auf die Begründung der
erforderlichen concreten Rechtsverhältniſſe beſchränkte
und trotz der gleichmäßig wiederholten Procedur keine abſtracten
Rechtsſätze abwarf, ſtets im Zuſtande der Flüſſigkeit verblieb,
hier hingegen, begünſtigt durch die mangelnde Schärfe der Un-
terſcheidung zwiſchen Recht und Sitte, ſich raſch als Recht
dieſes Standes, Kreiſes u. ſ. w. fixirte. Die Römer erfaßten
den Unterſchied zwiſchen Recht und Sitte, und Recht im objekti-
ven und ſubjektiven Sinn zu ſcharf, als daß bei ihnen derſelbe
Hergang möglich geweſen wäre. Bei ihnen hätte es in älterer
Zeit 103) zu dem Zweck, um die rechtliche Sitte und Gewohnheit
eines Standes u. ſ. w. zum Recht deſſelben zu erheben, eines
Geſetzes bedurft, die Anwendung dieſes Mittels aber widerſtritt
dem Gleichheitstriebe des ältern Rechts und überhaupt dem
Geiſt deſſelben. Mochte jedes korporative oder partikuläre In-
tereſſe durch eigne Thätigkeit ſich die ihm nöthige Geſtaltung
ſelbſt verſchaffen; was ſollte die Geſetzgebung ſich hier hinein-
miſchen?


Die rechtlichen Verſchiedenheiten der Perſonen, die das
ältere Recht wirklich darbietet, und die ſich, wie bereits erwähnt,
vorzugsweiſe an natürliche Unterſchiede anknüpfen, ſind weder
[102]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
der Zahl noch ihrem intenſiven Gehalt nach bedeutend; das
Prinzip der abſtracten Gleichheit ſcheint auch ihnen eine freie
und breite Entwicklung verwehrt zu haben.


Der Gegenſatz der Freien und Sklaven ſcheidet zunächſt von
der Betrachtung aus, denn der Sklave iſt rechtlich keine Perſon,
es kann alſo nur bei den Freien von Unterſchieden der Perſon
die Rede ſein. 104) Den bei weitem bedeutendſten Unterſchied be-
gründet der Umſtand, ob die Perſon einer fremden Gewalt un-
terworfen iſt oder nicht (alieni oder sui juris). Es iſt hier nicht
der Ort, die verſchiedenen Gewaltverhältniſſe über freie Perſo-
nen (über die Ehefrau, die Kinder und die im Manzipium be-
findlichen Perſonen) zu erörtern, wir werden ſie, ſoweit es
nöthig iſt, in §. 31 berühren, müſſen ſie hier aber zunächſt als
bekannt vorausſetzen. Bemerkenswerth iſt für den gegenwärti-
gen Geſichtspunkt nur das, wie wenig die natürliche Ungleich-
heit in den Verhältniſſen der Ehefrau, der Kinder und der
Sklaven auf der einen Seite zu dem Innhaber der Gewalt auf
der andern Seite rechtliche Anerkennung gefunden hat. Die
Uebermacht der hausherrlichen Gewalt hatte jene drei Verhält-
niſſe in perſönlicher wie vermögensrechtlicher Hinſicht rechtlich
faſt auf ein und daſſelbe Niveau herabgedrückt; hinſichtlich der
Entfaltung ihrer ſittlichen Individualität waren ſie lediglich auf
den Schutz verwieſen, den Sitte und Cenſor gewährten.


Für Kinder in der väterlichen Gewalt begründete das Ge-
ſchlecht
nach älterm Recht keinen nachweisbaren Unterſchied.
Söhne und Töchter erbten zu gleichen Theilen; auch was Ent-
erbung und Präterition anbetrifft, ſtanden ſie urſprünglich ſich
gleich. 105) Der Einfluß des Geſchlechts auf die Adoption und
[103]II. Der Gleichheitstrieb. — Die privatr. Verſch. d. Perſonen. §. 29.
Emancipation ſtützte ſich nicht ſowohl auf die XII Tafeln ſelbſt,
als auf eine den zufälligen Ausdruck 106) urgirende Interpreta-
tion derſelben. Bei der Verheirathung der Kinder äußerte ſich
inſofern eine Verſchiedenheit, als die Tochter eine dos erhielt,
der Sohn nicht, und das Recht der dos iſt allerdings eins der
merkwürdigſten Inſtitute des ältern Rechts. Dagegen bewährte
ſich darin wieder die Gleichheit beider Geſchlechter, daß der
Vater die Kinder ganz wie er wollte in der Gewalt zurückbe-
halten oder aus derſelben entlaſſen konnte.


Einflußreicher war die Verſchiedenheit des Geſchlechts für ge-
waltfreie
Perſonen. Denn während das männliche Geſchlecht
mit erreichter Mündigkeit von der Tutel befreit war, blieb letz-
tere für das weibliche Geſchlecht lebenslänglich beſtehn, wenn
gleich in anderem Umfang und mit anderer Geſtaltung, als bei
den Unmündigen. Außer der tutela mulierum iſt namentlich
die ausſchließliche Befähigung des männlichen Geſchlechts zur
Innehabung der potestas über Kinder, zu der Verwaltung der
Vormundſchaft und der Functionirung als Solennitätszeuge
hervorzuheben. 107)


Für das öffentliche Recht verſteht ſich der Einfluß des Ge-
ſchlechts von ſelbſt. Je inniger aber urſprünglich das Pri-
vatrecht mit dem öffentlichen verwachſen war, um ſo weiter
mußte ſich folgeweiſe auch die privatrechtliche Unfähigkeit der
Weiber erſtrecken, namentlich alſo hinſichtlich aller Geſchäfte,
die früher vor der Volksverſammlung vorgenommen wurden. 108)
[104]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Je mehr das Privatrecht ſich dieſer Beziehungen entledigte —
und das war im weſentlichen bereits mit dem Beginn dieſer
Periode geſchehen — deſto mehr nahm damit auch die Fähigkeit
der Frauenzimmer zu, und zur Blüthezeit des gegenwärtigen
Syſtems gab es außer der Arrogation (Anm. 108) und theil-
weiſe dem Teſtament 109) ſchwerlich ein Geſchäft, das dieſelben
unter Aſſiſtenz ihrer Tutoren nicht hätten vornehmen können.


Der Einfluß des Alters auf das Recht war verhältnißmä-
ßig unbedeutend, er erſchöpfte ſich in der tutela impuberum, einem
Inſtitut, das nur höchſt unvollkommen der natürlichen Schutz-
bedürftigkeit des Mündels Genüge leiſtete. Abgeſehn von die-
ſem Schutzmittel galten für den Pupillen ganz die allgemeinen
[105]II. Der Gleichheitstrieb. — Rechtl. Verſchiedenheit d. Sachen. §. 29.
Grundſätze des Civilrechts, namentlich alſo — was für dieſes
Verhältniß gerade beſonders drückend war — die Grundſätze
über die Unzuläſſigkeit der Stellvertretung. Der Pupill mußte
ſelbſt handeln, der Tutor ertheilte nur die auctoritas; war jener
dazu noch nicht fähig, ſo konnte dieſer ihn nicht vertreten, die
Handlung mußte mithin unterbleiben. 110) Selbſt durch das
beſonders dringende Bedürfniß dieſes Verhältniſſes ließ ſich
alſo das ältere Recht nicht zu einer Ausnahme beſtimmen. Ein
Vorzug des Alters im Erbrecht, ein Recht der Erſtgeburt iſt
dem römiſchen Recht jeder Zeit fremd geblieben.


Die Verſchiedenheit der Sachen hat natürlich auch im äl-
tern römiſchen Recht nicht ohne rechtlichen Einfluß bleiben kön-
nen, allein derſelbe iſt hier doch mit dem, den er anderwärts,
z. B. im ältern deutſchen Recht ausübt, gar nicht zu vergleichen.
Von denjenigen rechtlichen Verſchiedenheiten, die eine noth-
wendige
Folge der natürlichen Verſchiedenheit des Gegen-
ſtandes ſind, z. B. daß Prädialſervituten nur an unbeweglichen
Sachen, Noxalklagen nur bei Thieren und Menſchen möglich
ſind, ein mutuum nur an Fungibilien, ein usus fructusnicht
an Conſumtibilien denkbar iſt, kann überall nicht die Rede ſein.
Dagegen hat ſich allerdings die wirthſchaftlich verſchiedene Be-
ſtimmung eines praedium urbanum und rusticum frucht-
bar erwieſen, in der dritten Periode freilich noch mehr, als
in der gegenwärtigen, für die ſich dies mit Sicherheit nur
hinſichtlich der Prädialſervituten und der actio aquae pluviae
arcendae
nachweiſen läßt. Ebenſo der Gegenſatz der res
mancipi
und res nec mancipi, jenes hiſtoriſche Räthſel,
von dem ſchon früher (B. 1 S. 109) die Rede war. Ferner
der Unterſchied der Sachen, an denen das jus postliminii zu-
[106]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſteht oder fehlt — der einzige Ort im römiſchen Recht, wo
das Heergeräthe111) eine, wenn auch beſcheidenere Rolle,
als im deutſchen Recht ſpielt. Der Unterſchied der beweg-
lichen
und unbeweglichen Sachen hat aber im ältern
römiſchen Recht bei weitem nicht den Einfluß ausgeübt, den
man von vornherein erwarten könnte. Wenn ſich gleich ein-
zelnes findet wie z. B. die Verſchiedenheit der Uſucapions-
zeit (1 u. 2 Jahr), und der Klagen, die die Abwehr oder den
Erſatz einer Beſchädigung zum Zweck haben (interd. quod vi
aut clam, cautio damni infecti, oper. novi nunciatio
auf der
einen, die act. legis Aquiliae auf der andern Seite), ſo ver-
ſchwindet dies doch gegenüber der ſonſtigen Einflußloſigkeit jenes
Unterſchiedes. Der Beſitz, 112) das Eigenthum, Pfandrecht,
Erbrecht, die obligatio ſind gegen denſelben im weſentlichen
völlig indifferent, ſowohl hinſichtlich der Formen, in denen ſie
ſich bewegen, als hinſichtlich ihrer materiellen Wirkſamkeit.
Um dies zu würdigen, erinnere man ſich der ungeheuern Rolle,
die das Grundeigenthum im ältern deutſchen Recht ſpielt, und
die ſo weit geht, daß man von einem verſchiedenen Sachenrecht
an Immobilien wie Mobilien ſprechen kann; 113) ja ſelbſt ein
Vergleich des ſpätern römiſchen Rechts iſt hier nicht ohne Nu-
tzen. 114) Es bewährt ſich an dieſem Beiſpiel wieder ſo recht die
[107]II. Der Gleichheitstrieb. — Rechtl. Verſchiedenheit d. Sachen. §. 29.
Conſequenz der römiſchen Abſtraction. Durch die natürlichen
Unterſchiede der Sachen hindurch dringt ſie zu dem Begriff
der Sache hinauf, und indem ſie fortan nur mit ihm operirt,
hat ſie den Einfluß des natürlichen Moments überwunden, und
folgeweiſe akkommodirt ſich nicht der Begriff (des Eigenthums,
Erbrechts, u. ſ. w.) der Sache, ſondern die Sache dem Be-
griff
. Eine Zerſplitterung des Grundbegriffes, wie im germa-
niſchen Recht, wo die Begriffe ſich ſo willig auflöſten und ſpalte-
ten, um an die natürlichen Unterſchiede der Perſonen und Sachen
als die eigentlichen Kerne des rechtlichen Kryſtalliſationspro-
zeſſes ſich anzuſchließen, eine ſolche Zerſplitterung widerſtrebte
der innerſten Natur des römiſchen Rechts. Wir werden auf
dieſen Gegenſatz noch am Schluß zurückkommen müſſen.


Dieſe prinzipielle Irrelevanz und völlige Unterordnung der
natürlichen Verſchiedenheiten der Sachen gegenüber dem Rechts-
begriff
fällt ſo ſehr ins Gewicht, daß die oben genannten
Fälle, wo dieſen Verſchiedenheiten unbeſchadet des Rechtsbe-
griffs irgend eine rechtliche Auszeichnung zu Theil geworden iſt,
gar nicht daneben in Betracht kommen können, und ſo dürfen
wir ſagen, daß die Tendenz der Gleichheit und Generali-
ſirung ſich an den Sachen nicht minder bewährt, als an den
Perſonen.


114)


[108]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.

Wir haben dieſe Idee jetzt noch nach einer ſehr wichtigen Seite
hin zu verfolgen, nämlich nach Seiten des Einfluſſes, den ſie auf
die Stellung des Richters (worunter ich hier auch den
Prätor verſtehe) ausgeübt hat. Es iſt oben (S. 80) die ältere
Civilrechtspflege als eine Rechts maſchine bezeichnet, die mit
möglichſter objektiver Berechenbarkeit, Gleichmäßigkeit und Si-
cherheit den Umſatz der abſtracten Regel in concrete Wirklichkeit
herbeiführen ſoll. Man könnte den alten Prozeß die dialektiſche
Selbſtbewegung des Geſetzes nennen, eine legis actio in die-
ſem
(ſubjektiv-genitiviſchen) Sinn. Darin liegt nun nicht bloß
eine möglichſte Einengung des Richters in prozeſſualiſcher
Beziehung (modus procedendi), ſondern eben ſowohl in mate-
rieller
Beziehung; alſo eine Geſtaltung des Rechts, die den
Einfluß des ſubjektiven Elements möglichſt ausſchließt. Nicht alſo
bloß die geſetzliche Formulirung des Rechts — hiervon war
ſchon bei Gelegenheit des Selbſtändigkeitstriebes die Rede —
ſondern ein ſolcher die formale Realiſirbarkeit des Rechts
(B. 1 S. 42 ff.) betreffender innerer Zuſchnitt der Rechts-
ſätze
, der ſie einer rein mechaniſchen, ſchablonenartigen An-
wendung fähig macht, es dem Richter ebenſowohl erſpart als
verwehrt, ſich in das rein Individuelle des ihm vorgelegten
Falles zu verſenken.


In dieſer Weiſe iſt nun das ältere römiſche Recht geſtaltet.
Abgeſehn von der Beweisfrage, hinſichtlich deren der Richter zu
jeder Zeit in Rom durch Regeln verhältnißmäßig ſehr wenig be-
ſchränkt war, waren ihm in allen andern Beziehungen die Hände
gebunden. Der Gang des Verfahrens ſchritt in unabwendlicher
Gleichmäßigkeit vorwärts, in denſelben ein für alle Mal feſtge-
ſetzten Friſten und gußeiſernen Formen, und die geringſte Ab-
weichung von der Regel z. B. die Erſetzung eines Wortes in
der Formel durch ein gleichbedeutendes hatte Nichtigkeit des
ganzen Verfahrens zur Folge. 115) Es war dies der Prozeß der
[109]II. Der Gleichheitstrieb. — Stellung des Richters. §. 29.
legis actiones116) — ein Ausdruck, der, wie Gajus IV. §. 11
bemerkt, entweder darin ſeinen Grund habe: quod legis actio-
nes legibus proditae erant, vel ideo quia ipsarum legum
verbis accommodatae erant et ideo immutabiles proinde
atque leges observabantur
.
Der Formularprozeß, den
wir im dritten Syſtem kennen lernen werden, wird uns Gele-
genheit geben, durch die Wirkung des Contraſtes das ältere
Verfahren in ein helleres Licht zu ſetzen, als es hier ohne bedeu-
tende Anticipirungen möglich iſt.


Auch für das materielle Recht wäre ein Vergleich des gegen-
wärtigen und dritten Syſtems äußerſt inſtruktiv, aber auch hier
müſſen wir auf das dritte Buch verweiſen, können jedoch nicht
umhin, wenigſtens an zwei gerade beſonders lehrreichen Bei-
ſpielen den Gegenſatz des ältern und neuern Rechts zu veran-
ſchaulichen und die obige Aeußerung über den innern Zu-
ſchnitt
der Rechtsſätze zu erläutern.


Als ſolches Beiſpiel diene uns zunächſt die rechtliche Be-
handlungsweiſe der Zeit. Die Friſten des ältern Rechts wurden
continue berechnet d. h. für alle Perſonen und Verhältniſſe
völlig gleich, ſo daß auf Verhinderung keine Rückſicht genommen
ward, und ſelbſt die Unmöglichkeit der Beachtung der Friſt nicht
gegen die nachtheiligen Folgen der Verſäumniß ſchützte. Bei
den Friſten hingegen, die in ſpäterer Zeit der Prätor für ſeine
Inſtitute einführte, trat die entgegengeſetzte Behandlung ein,
ſie wurden utiliter d. h. ganz individuell berechnet, die Zeit
alſo, in der ein Hinderniß für die Vornahme einer Handlung
beſtand, nicht in Anſchlag gebracht. Dieſelbe Tendenz, die ſich
hier in einer poſitiv neuen Bildung ungehindert äußern konnte,
blieb auch für die altcivilrechtlichen Friſten nicht wirkungslos.
[110]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Theils nämlich half der Prätor hinſichtlich ihrer im Falle ent-
ſchuldbarer Verſäumniß, z. B. wegen nothwendiger Abweſen-
heit, durch Wiedereinſetzung in den vorigen Stand, theils hielt
der Prätor im Geiſte der neuern Rechtsbildung ſich für ermäch-
tigt, die alten Friſten von vornherein je nach Umſtänden zu er-
weitern oder zu verengern. 117)


Ein anderes und zwar viel umfaſſenderes Gebiet, auf dem
ſich meiner Anſicht nach die Differenz des ältern und neuern
Rechts in hohem Maße bethätigt hat, iſt das Syſtem des Scha-
denserſatzes und Intereſſes (der richterlichen litis aestimatio).
Der Gegenſatz der abſtracten Gleichheitstendenz und der indivi-
dualiſirenden Behandlungsweiſe äußert ſich auf dieſem Gebiete
als der der objektiven oder abſoluten und ſubjektiven oder
relativen Aeſtimation (Intereſſe). Das heißt, eine ſchuldige
Leiſtung oder ein Schaden läßt ſich entweder rein nach dem ob-
jektiven Geldwerth des geſchuldeten, beſchädigten, vernichteten 118)
Objekts taxiren, ſo daß alſo die rein individuellen Momente
dieſes beſtimmten Forderungs verhältniſſes gar nicht mit in
Rechnung kommen, oder umgekehrt letztere bilden den Maßſtab
der Beurtheilung, ſo daß alſo der relative Werth einer Leiſtung
von dieſem Beklagten an jenen Kläger, die nachtheilige Ein-
wirkung der unterbliebenen Leiſtung oder des begangenen De-
likts auf dieſes beſtimmte Vermögen ermittelt werden muß.
Die objektive Aeſtimation gelangt ſtets zu demſelben Reſultat,
möge der Gläubiger dieſer oder jener ſein; ſie beſchränkt ſich ja
[111]II. Der Gleichheitstrieb. — Objektive Aeſtimation. §. 29.
lediglich auf den nächſt getroffenen Punkt, und die Rückwirkung
dieſes Punktes auf das ganze Vermögen — gerade der Umſtand,
der eine Verſchiedenheit des Schadens in den einzelnen Fällen
begründen könnte — iſt für ſie völlig gleichgültig. Die relative
Aeſtimation hingegen verfolgt die Schwingungen der in Frage
ſtehenden Thatſache innerhalb dieſes beſtimmten Vermögens,
und je nach den beſondern Vorausſetzungen reichen dieſe oft
weiter, oft weniger weit.


Dieſer Gegenſatz, der in der Natur der Sache begründet iſt,
iſt auch im römiſchen Recht anerkannt; gewiſſe Verhältniſſe
gehen auf ein „certum“ (ein ganz bezeichnender Ausdruck für
objektive Aeſtimation), gewiſſe auf ein incertum (relative Aeſti-
mation). Meiner feſten Ueberzeugung nach gehört dieſer Gegen-
ſatz aber noch nicht dem ältern Recht an, ſondern letzteres hat
lediglich die objektive Aeſtimation gekannt, und die relative iſt
erſt mit dem dritten Syſtem aufgekommen. Da dieſe Behaup-
tung auf großen Widerſpruch ſtoßen dürfte, und ſie mir doch für
die Charakteriſtik des ältern Rechts von großer Wichtigkeit iſt,
ſo bin ich gezwungen, ſie ausführlich zu rechtfertigen. Der Ver-
ſuch der Rechtfertigung wird uns, wie man über das Reſultat
deſſelben auch denken möge, jedenfalls bei charakteriſtiſchen,
hierher gehörigen Erſcheinungen des ältern Rechts vorbeiführen,
und dürfte alſo auch im ſchlimmſten Fall nicht ohne Nutzen ſein.


Es iſt erſichtlich, wie ſehr die abſolute Aeſtimation der gan-
zen Tendenz des ältern Rechts, die relative der des neuern ent-
ſpricht. Letztere, in das ältere Recht hineinverſetzt, würde hier
eine ganz fremdartige, völlig iſolirte Erſcheinung ſein, würde
hier einen Boden vorfinden, auf dem ſie nicht gedeihen könnte,
eine Umgebung, mit der ſie im Widerſpruch ſtände. Ein römi-
ſcher Richter der ältern Zeit, im übrigen ſo ganz und gar auf
die ſchablonenmäßige Anwendung des Rechts hingewieſen, der
Berückſichtigung des individuellen Moments in den Rechtsver-
hältniſſen ſo völlig ungewohnt und unzugänglich, hätte ſich hier
in das krauſe Gewirr rein individueller Vermögensbeziehungen
[112]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
vertiefen, einen Maßſtab anlegen ſollen, der ihm ſonſt grund-
ſätzlich unterſagt iſt?! Ich muß geſtehen, ich kann mir dies
mit meiner ganzen Auffaſſung des ältern Rechts nicht reimen.
Wenn der Richter die Zeitfriſten berechnet, ſo mißt er mit
dem abſtract-gleichen Maß, und es kümmert ihn das rein In-
dividuelle nichts, wenn er aber das Aequivalent für die ſchul-
dige Leiſtung berechnet, ſo ſollte er jenen Maßſtab aufgeben
und das Aequivalent mit Rückſicht auf das Intereſſe dieſes be-
ſtimmten Klägers ermitteln? Hinſichtlich des Gegenſatzes zwi-
ſchen dem tempus continuum und utile wiſſen wir, daß das
eine Glied deſſelben der ältern, das andere der ſpätern Zeit an-
gehört; ſollte es mit dem völlig gleichen Gegenſatz zwiſchen der
objektiven und relativen Aeſtimation eine andere Bewandniß
haben?


Wie will man ihn denn ſonſt erklären? Und einer Erklä-
rung bedarf er doch, denn eine ſolche zwieſpältige Behandlungs-
weiſe, ſo verſtändlich ſie wird, wenn man ſie auf den Conflikt
der Rechtsanſchauungen verſchiedener Zeiten zurückführen kann,
erſcheint abgeſehn davon höchſt befremdend. Man wird ſagen:
die Verſchiedenheit des Maßſtabes hatte ihren Grund in der
Verſchiedenheit der Verhältniſſe; nach Anſichten des Verkehrs
ſei bei gewiſſen Verhältniſſen nach dem Zweck und Bedürfniß
derſelben der abſolute Maßſtab ausreichend erſchienen, bei Ver-
hältniſſen anderer Art, von anderem Zweck und Inhalt habe
das Verkehrsbedürfniß den relativen Maßſtab erfordert. Ich
glaube dieſen möglichen Erklärungsverſuch als völlig unhaltbar
zurückweiſen zu können, und zwar mittelſt einer Erſcheinung
des ältern Rechts, die ich als das Syſtem der indirekten
Befriedigung des Intereſſes
bezeichnen möchte.


Mit dieſem Syſtem verhält es ſich folgendermaßen. Es gibt
ein bekanntes, höchſt brauchbares Mittel zur Erledigung der
Intereſſenfrage, welches darin beſteht, daß der Gläubiger ſich
für den Fall der nicht rechtzeitig oder überall nicht erfolgenden
Leiſtung eine beſtimmte Summe vom Schuldner verſprechen
[113]II. Der Gleichheitstrieb. — Objekt. Aeſtimation, Intereſſe. §. 29.
läßt. Es kann dieſe Vereinbarung mehr aus der Intention
hervorgehen, den Schuldner durch die Ausſicht auf ein größeres
Uebel zur Ertragung des kleineren, der Erfüllung ſeiner Ver-
bindlichkeit, zu veranlaſſen, alſo den Charakter einer Strafan-
drohung an ſich tragen, (Conventionalpön) — oder ſie kann mehr
den Sinn haben, daß die feſtgeſetzte Summe ein Aequivalent
des Intereſſes ſein ſoll. Wenn nun die Leiſtung unterbleibt, ſo
iſt dem Gläubiger der oft ſo ſehr ſchwierige Beweis des Inter-
eſſes völlig erſpart, denn er fordert gar nicht das Intereſſe, ſon-
dern ſtatt deſſen die verſprochene Summe. Der Zweck des Gläu-
bigers beſteht alſo in Deckung ſeines Intereſſes (incertum), die
juriſtiſche Form, in der er dies erreicht, iſt die des certum; die
richterliche Beurtheilung braucht hier alſo den Boden der objek-
tiven Aeſtimation gar nicht zu verlaſſen. Dieſen Weg ſchlug
nun in Rom ſowohl der Verkehr als auch die Geſetzgebung ein.
Was erſteren anbetrifft, ſo finden wir in ſpäterer Zeit dies
Mittel einer vorherigen vertragsmäßigen Veranſchlagung des
Intereſſes in ausgedehnteſter Weiſe benutzt, 119) ja ſelbſt im
Prozeß wußte man daſſelbe mit Erfolg anzuwenden. 120) Um
ſo eher läßt ſich nun dieſelbe Sitte für die ältere Zeit annehmen,
und es leuchtet ein, daß der Verkehr vermöge dieſes Mittels im
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 8
[114]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Stande war, das Syſtem der objektiven Aeſtimation ohne ſon-
derliche Nachtheile zu ertragen. Nur da war allerdings dies
Mittel nicht ausreichend, wo nach der Natur des Verhältniſſes
eine vorherige Stipulation ſich nicht denken ließ z. B. bei Delik-
ten, bei dem Anſpruch des Pupillen gegen den Vormund u. ſ. w.,
und hier bedurfte es der Beihülfe der Geſetzgebung. Ohne
dieſelbe würde der natürliche Anſpruch des Betheiligten auf
Leiſtung des Intereſſes bei der herrſchenden Weiſe der Aeſtima-
tion nicht zu ſeiner Befriedigung gelangt ſein; der Betheiligte
würde nur den objektiven Werth der Verletzung erhalten haben,
nicht den Erſatz der nachtheiligen Wirkungen der Verletzung auf
ſein Vermögen. Die Geſetzgebung leiſtete nun dieſe Beihülfe
in der obigen Form d. h. ſie gewährte ein vom Standpunkt der
objektiven Aeſtimation aus zu beſtimmendes und in der Regel
mehr als ausreichendes Surrogat für das Intereſſe. Gewiß
ſind uns nicht alle Beiſpiele erhalten, aber ſchon die vorhan-
denen genügen, um uns die Ueberzeugung zu gewähren, daß
wir es hier nicht mit einzelnen Beſtimmungen, ſondern mit
einem conſequent durchgeführten Syſtem zu thun haben.


Seine höchſte Spitze 121) erreicht dieſes Syſtem in der peku-
niären Tarifirung gewiſſer Delikte z. B. der Injurien, 122) des
Abhauens fremder Bäume. 123) Dies Mittel war jedoch nur
[115]II. Der Gleichheitstrieb. — Objekt. Aeſtimation, Intereſſe. §. 29.
in den wenigſten Fällen anwendbar, die Regel bildete vielmehr,
daß die Strafe in einem Mehrfachen des Werths der verletz en
Sache 124) oder in einem ſonſtigen objektiv beſtimmbaren Zu-
ſatz 125) zu demſelben beſtand.


Auf die Delikte war jedoch dies Syſtem keineswegs be-
ſchränkt, es erſtreckte ſich vielmehr auf Verhältniſſe aller Art.
Manche reiperſecutoriſche Klagen gingen von vornherein auf
das Doppelte 126) ſo z. B. die actio rationibus distrahendis des
Mündels gegen den Vormund, 127) die Klage gegen den, der
123)
8*
[116]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
eine Sache mancipirt hatte, wegen fehlender dicta promissa
und Evictionsleiſtung, 128) die actio de tigno juncto gegen
den, der wiſſentlich oder unwiſſentlich fremdes Baumaterial
verbaut hatte, und bei allen 129)in rem actiones wurde der Be-
klagte auf doppelte Früchte verurtheilt. Andere Klagen erhielten
erſt durch das Läugnen des Beklagten die Richtung auf das
Doppelte. 130) Eine beſondere Beachtung verdient die condictio
certi
auf baares Geld. Dem Gläubiger, dem es um rechtzeitige
Zurückzahlung ſeines Kapitals zu thun war, verſagte hier das
gewöhnliche Mittel einer Conventionalpön, 131) denn letztere
mußte ſich, wo es ſich um Geld handelte, innerhalb der Gränzen
der erlaubten Zinſen halten, 132) damit aber war ihre Wirkſam-
[117]II. Der Gleichheitstrieb. — Objekt. Aeſtimation, Intereſſe. §. 29.
keit ſehr geſchwächt und für den regulären Fall, daß Zinſen bis
zum Betrage des geſetzlichen Maximums verſprochen waren,
völlig aufgehoben. Hier lag das Bedürfniß einer Hülfe von
Seiten der Geſetzgebung vor. Dieſelbe ward aber nur für den
Fall gewährt, daß es wegen Läugnens des Beklagten zum Pro-
zeß kam, und zwar in Form der sponsio tertiae partis133) (wo-
durch der Kläger außer der Hauptſchuld noch ein Drittheil mehr
erhielt); gegen den geſtändigen Schuldner fiel dieſe Schärfung
hinweg. Jedoch ſcheint es auch Fälle gegeben zu haben, in
denen der geſtändige, aber ſäumige Schuldner zur Strafe
für ſeine Zögerung ein ſolches Plus zu entrichten hatte; in der
lex Julia municipalis iſt uns ein ſolcher Fall aufbewahrt. 134)


Handelt es ſich nun in allen dieſen Fällen um ein Surrogat
des Intereſſes und nicht viel mehr um eine Strafe? Es würde
verkehrt ſein, dieſe beiden Geſichtspunkte der Strafe und des
Intereſſes für das ältere Recht in einen ausſchließlichen Gegen-
ſatz ſich gegenüber zu ſtellen. In vielen Fällen nämlich ſind ſie
nur die zwei verſchiedenen Seiten eines und deſſelben Verhält-
niſſes. Vom Standpunkt des Beklagten aus ſtellt ſich das,
was er leiſtet, als eine Strafe dar, von dem des Klägers aus
[118]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
als eine Satisfaction im weiteſten Sinn d. h. eine Genug-
thuung ſowohl für die perſönliche Kränkung, die in der Rechts-
verletzung lag, als für ſeinen materiellen Verluſt. Wie wenig
der eine Geſichtspunkt den andern ausſchließt, erhellt am beſten
daraus, daß die Römer ſelbſt bei Klagen, die lediglich auf ein-
fache Leiſtung des Schadenserſatzes gerichtet ſind, den Geſichts-
punkt einer Strafe geltend machen. 135) Der eingeſtandene
Zweck der Klage iſt, dem Kläger ſein Intereſſe zu verſchaffen,
und doch wird ſie vom Standpunkt des Beklagten als Pönal-
klage bezeichnet. Es ließe ſich auch noch auf die Conventional-
pön verweiſen, die auch da, wo ſie nur den Zweck hat, dem
Kläger ein Surrogat für das Intereſſe zu gewähren, vom Stand-
punkt des Beklagten aus als poena bezeichnet wird. Mochte in
einigen der obigen Fälle immerhin der Geſichtspunkt der Strafe
der überwiegende ſein, ſelbſt hier wurde mindeſtens auch
der Erfolg erreicht, dem Kläger das Intereſſe zu verſchaffen. 136)
In manchen andern Fällen aber war umgekehrt der Geſichts-
punkt des Intereſſes der prinzipale, 137) der der Strafe der ſekun-
däre, ja letzterer wohl gar gänzlich ausgeſchloſſen. 138)


Fragen wir uns alſo, auf welche Weiſe befriedigte das äl-
[119]II. Der Gleichheitstrieb. — Objekt. Aeſtimation, Intereſſe. §. 29.
tere Recht den natürlichen Anſpruch eines jeden Verletzten auf
das Intereſſe, ſo kann die Antwort nur lauten: auf indirektem
Wege durch Zuwendung eines Averſionalquantums, nicht aber
auf direktem durch Zulaſſung der Liquidation deſſelben.


Dies iſt es aber allein, worauf es hier ankommt. Der
Schluß, den wir darauf bauen, iſt folgender. Jene indirekte
Befriedigung des natürlichen Anſpruchs auf das Intereſſe
zeigt einmal, daß das ältere Recht einen ſolchen Anſpruch als
begründet anerkannte — warum ſonſt in Fällen, wo von einer
Beſtrafung des Beklagten keine Rede ſein konnte, dem Kläger
ein mehres zuwenden als den einfachen objektiven Werth der
Sache? Sodann aber beweiſt die indirekte Art und Weiſe, in
der das ältere Recht dieſen Anſpruch befriedigte, daß der di-
rekte
Weg einer Liquidation des Intereſſes ihm noch wider-
ſtrebte, und dies Widerſtreben iſt eben aus einer der Grund-
tendenzen des ältern Rechts als nothwendig motivirt.


Der obige Einwand: Die Zwieſpältigkeit der richterlichen
Aeſtimation erkläre ſich aus dem verſchiedenen Zweck und Be-
dürfniß der Rechtsverhältniſſe, iſt alſo unhaltbar. Die innere
Natur der auf ein certum gerichteten Obligationen ſträubte ſich
keinesweges gegen die Berückſichtigung des Intereſſes, denn
mittelbar ward dem Anſpruch auf letzteres ja ein Genüge ge-
leiſtet. Man könnte eher umgekehrt ſagen: wenn bei ihnen in
jedem einzelnen Fall, ohne daß es noch eines beſondern Nach-
weiſes des Intereſſes bedurft hätte, ein Surrogat für daſſelbe
gewährt wurde, ſo liegt darin aufs deutlichſte, daß ſie in den
Augen der Römer einen gerechten Anſpruch auf Berückſichtigung
des Intereſſes begründeten. Warum aber ward derſelbe nur auf
einem Umwege befriedigt, warum ſtand dem Verletzten, wenn
der direkte Weg überhaupt bereits bekannt war, nicht auch letz-
terer offen? 139) Ich finde keine andere Antwort darauf als: weil
[120]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
der direkte Weg überhaupt noch nicht exiſtirte. Conſequenter-
weiſe bin ich zu der Annahme gezwungen, daß die Verhältniſſe,
bei denen ſich nach ſpäterm Recht die relative Aeſtimation findet,
entweder in der ältern Zeit noch gar nicht klagbar waren, oder
daß bei ihnen früher die objektive Aeſtimation zur Anwendung
kam. Der ſpätere Verlauf der Darſtellung wird uns zu einer
Betrachtung dieſer Verhältniſſe Veranlaſſung geben, und dort
werden wir auch auf dieſe Frage antworten, an der gegenwärti-
gen Stelle würde es zu weit führen.


Wir haben bis jetzt den Gleichheitstrieb in ſeinen haupt-
ſächlichſten einzelnen Aeußerungen verfolgt und bereits mehrfach
Gelegenheit gefunden, ihn in ſeiner Totalität als rechtshiſto-
riſche Thatſache zu würdigen, und es thut nicht Noth, das Ge-
ſagte hier zuſammen zu ſtellen. Dagegen iſt Ein Punkt im
bisherigen noch nicht berührt, und mit dem wollen wir unſere
139)
[121]II. Der Gleichheitstrieb. — Bleibender Werth deſſelben. §. 29.
Ausführung beſchließen, nämlich die bleibende Bedeutung,
die der Gleichheitstrieb für die techniſche Ausbildung des römi-
ſchen Rechts gewonnen hat.


Der Gegenſatz der bisher geſchilderten altrömiſchen und der
partikulariſirenden und individualiſirenden Behandlungsweiſe
des deutſchen Rechts läßt ſich als Gegenſatz der centripetalen
und centrifugalen Richtung bezeichnen. Dort wirft ſich die bil-
dende Kraft vorzugsweiſe auf das Centrum, hier auf die Pe-
ripherie. Nun kann man allerdings eben ſo wohl von der Pe-
ripherie zum Centrum, wie von dem Centrum zur Peripherie
gelangen, aber leichter und ſicherer iſt dieſer letzte Weg. Wirft
ſich die produktive Kraft des Rechts von vornherein auf die
Ausbildung des Partikulären und Beſonderen, ſo iſt es weit
ſchwieriger, von dieſem zum Generellen und Gemeinſamen hin-
aufzuſteigen, als umgekehrt, wenn zunächſt das allen gemein-
ſame Centrum kräftig entwickelt iſt, von dieſem zu den Beſon-
derheiten hinunterzuſteigen. Denn um dort dies Ziel zu errei-
chen, müſſen erſt ſämmtliche einzelne Partikularitäten, die viel-
leicht regellos auseinandergegangen ſind, in einen Kreis gerückt,
mühſam muß für ſie erſt ein Mittelpunkt geſucht und feſtgeſtellt
werden. Die Wiſſenſchaft des deutſchen Rechts gewährt uns
hierfür einen ſchlagenden Beleg, und die Nachtheile der überwie-
gend centrifugalen Richtung des deutſchen Geiſtes ſind auf ihrem
Gebiete nicht minder ſichtbar und fühlbar, als auf dem unſerer
politiſchen Geſchichte. 140) Wie es im Weſen des römiſchen Gei-
[122]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſtes lag zu centraliſiren (B. 1. S. 312, 313), ſo hat derſelbe
auch innerhalb des Rechts von Anfang an das centrale Moment
vorzugsweiſe kräftig ausgebildet. Die Summe der für alle In-
ſtitute, Verhältniſſe, Klaſſen von Perſonen u. ſ. w. gemeinſa-
men Rechtsſätze iſt hier ungewöhnlich groß, die Summe der den
einzelnen Inſtituten, Verhältniſſen u. ſ. w. eigenthümlichen
ungewöhnlich klein. Auf die Vortheile dieſer Behandlungs-
weiſe brauche ich kaum aufmerkſam zu machen. Eine kräftige
Entwicklung des Centrums kommt dem ganzen Kreiſe zu gute;
was an dieſem Punkte gewonnen wird, hat nicht bloß eine
punktuelle Bedeutung, ſondern eine univerſelle, es theilt ſich
ſofort nach allen Seiten hin mit. Nirgends alſo lohnt ſich der
Kraftaufwand mehr, als hier, nirgends iſt es leichter, das
Ganze zu überſehen, zu beherrſchen und zu geſtalten. Wohl
alſo der Jurisprudenz oder dem Recht, das von vornherein auf
dieſen günſtigſten Standpunkt der Wirkſamkeit verſetzt worden
iſt! Iſt es nun gar ein ſo bedeutendes juriſtiſches Talent, wie
in Rom, das von dieſem Punkt aus operirt, ſo kann es nicht
Wunder nehmen, daß die techniſche Ausbildung des Rechts,
ſelbſt bevor noch von einer eigentlich wiſſenſchaftlichen Cultur
140)
[123]III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.
die Rede ſein konnte, bereits einen ſo hohen Grad erreicht hatte.
Die alte Zeit mit ihrem Gleichheitstriebe ſtellte den einfachen,
ſoliden, unverwüſtlichen Grundbau des römiſchen Rechts, ohne
den alle Kunſt der ſpätern Zeit Stückwerk geblieben wäre. Weil
das Senkblei und Winkelmaß zur rechten Zeit ihre Schuldig-
keit gethan hatten, konnte man ſie ſpäterhin entbehren; der
Uebergang von dem mathematiſch Regelrechten zu freieren For-
men iſt ebenſo leicht, wie der entgegengeſetzte ſchwer.


Dieſer bleibende Gewinn, den das ſpätere Recht von dem
Gleichheitstriebe des ältern gezogen hat, würde mit vorüber-
gehenden Nachtheilen, die der Gleichheitstrieb für die ältere
Zeit hätte haben können, nicht zu theuer erkauft worden ſein.
Ich mache dieſe Bemerkung nur, um daran die Warnung zu
knüpfen, unſere heutige Anſchauungsweiſe nicht in jene Zeit zu
übertragen. Was für uns unerträglich ſein würde und auch in
Rom ſelbſt ſpäterhin unhaltbar ward, war der ältern Zeit nicht
bloß keine Laſt, ſondern ein theures Gut.


III. Der Macht- und Freiheitstrieb.

I. Das Syſtem der Freiheit und Unfreiheit im
Allgemeinen.

XXX. Mehr als irgendwo ſcheint es mir bei der vorlie-
genden Frage erforderlich zu ſein, der Darſtellung des ältern
Rechts eine Rechtfertigung des Geſichtspunktes vorauszuſchicken,
unter dem ich daſſelbe beurtheilen werde. Die Freiheit gehört
zwar zu den Worten, die jeder im Munde führt, ohne eine Ver-
ſtändigung für nöthig zu halten, trotzdem aber kann ich dem
Leſer eine Ausführung über die Bedeutung der Freiheit nicht
erſparen, denn die richtige Auffaſſung iſt keineswegs, ſelbſt
nicht einmal innerhalb der Wiſſenſchaft, ſo verbreitet, daß es
[124]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
genügte, einfach darauf Bezug zu nehmen. Es gilt namentlich
im folgenden einer Anſchauungsweiſe entgegen zu treten, die in
einem mangelnden Verſtändniß für das Weſen der Freiheit
ihren Grund hat, und die ſich nicht bloß in unſern Zuſtänden
und Einrichtungen ſeit geraumer Zeit verkörpert, ſondern —
was uns hier ja zunächſt berührt — für das römiſche Recht die
ſchiefſten und verkehrteſten Urtheile zur Folge gehabt hat. Wenn
ich nun zwar nur im Intereſſe des letzteren veranlaßt bin, gegen
jene Anſchauungsweiſe zu polemiſiren, ſo glaube ich mein Ziel
doch nicht beſſer erreichen zu können, als wenn ich den apologe-
tiſchen Zweck zunächſt außer Augen ſetze und jene Auffaſſungs-
weiſe ganz abgeſehn vom römiſchen Recht einer Kritik unter-
werfe.


Einer der fundamentalſten Divergenzpunkte in dem Recht der
verſchiedenſten Völker iſt die Art und Weiſe, wie die Geſetzge-
bung für die Zwecke und Aufgaben der Gemeinſchaft thätig wird.
Dieſe Thätigkeit kann nämlich, wenn man die Gegenſätze nimmt,
entweder mehr negativer und indirekter, oder mehr poſitiver und
direkter Art ſein. Dort beſchränkt die Geſetzgebung ſich im we-
ſentlichen darauf, die Vorausſetzungen für die Verfolgung
aller jener Aufgaben herzuſtellen und zu erhalten und höchſtens
eine indirekte Beihülfe zu gewähren, die eigentliche Arbeit aber
der freien Thätigkeit des Volks (der Einzelnen, Corporationen,
Gemeinden u. ſ. w.) zu überlaſſen, ſo daß alſo dieſe Thätigkeit
als die eigentliche vis agens des ganzen Syſtems erſcheint.
Dieſes Syſtem, das nach einer einzelnen Seite hin unter dem
Namen der Selbſtregierung bekannt iſt, nenne ich das Syſtem
der Freiheit. Den Gegenſatz dazu bildet ein Syſtem, bei dem
die Geſetzgebung und Regierung die eigentliche Arbeit ſelbſt in
die Hand nimmt, 141) poſitiv durch Geſetz und Zwang die Errei-
[125]III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.
chung jener Ziele zu bewerkſtelligen ſucht; ich nenne es das des
Zwanges oder der Unfreiheit. 142) Der Gegenſatz iſt begreif-
licherweiſe kein abſoluter, denn es hat weder einen Staat gege-
ben, der Alles, noch einen, der Nichts der freien Thätigkeit des
Volks hätte überlaſſen können. Aber eine ungeheure Verſchie-
denheit findet doch in dieſer Beziehung Statt, und um dieſelbe
beſtimmen zu können, wird es erlaubt ſein, jene beiden Syſteme
in ihrer imaginären Reinheit zu Endpunkten einer Skala zu
machen und in ihrer Gegenſätzlichkeit zu charakteriſiren.


Es gibt nun eine Auffaſſungsweiſe — und es iſt die, von der
oben die Rede war — bei der der Vergleich beider Syſteme un-
bedingt zu Gunſten des Syſtems der Unfreiheit ausfallen muß
— eine Auffaſſungsweiſe, die aus verſchiedenen Gründen viel
Verführeriſches hat und auf den erſten Blick den Schein einer
tief ſittlichen Würdigung des Rechts erregt. Ausgehend von
dem erhabenen ethiſchen Beruf des Staats findet ſie in dem
Syſtem der Freiheit lediglich das Walten der bloßen Subjekti-
vität, in dem der Unfreiheit hingegen die Herrſchaft objektiver
ſittlicher Prinzipien 143) — dort Indifferentismus des Staats
141)
[126]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
gegen ſeine höchſten Aufgaben, die Ueberantwortung derſelben
an den Zufall, inſofern ja der gute Wille der Individuen
Zufall iſt — hier die Hingabe des Staats an ſeinen wahren
Beruf, die praktiſche Anerkennung und Realiſirung jener objek-
tiven Prinzipien. Wenn es einmal, ſo könnte man argumen-
tiren, Aufgabe des Staats iſt, die höchſten Ideen, das Gute,
Wahre, Schöne, Zweckmäßige u. ſ. w. zu verwirklichen: warum
dieſelben noch erſt in Frage ſtellen, indem er ſie dem freien Wil-
len des Individuums oder Volks, alſo dem Zufall überläßt;
warum bloß wünſchen und hoffen, wenn der Staat den Erfolg,
wie er es ja auf dem kürzeſten und ſicherſten Wege durch das
Geſetz vermag, mit Nothwendigkeit herbeiführen kann? Was
könnte ihn abhalten? Etwa die Rückſicht auf das Individuum?
Aber das Individuum muß ja jene Prinzipien als für ſich ver-
bindlich anerkennen, und in demſelben Maße, in dem letztere
an Energie gewinnen, ſteigert ſich auch das individuelle Wohl
und der innere Frieden des Subjekts. So wird alſo durch jenes
Syſtem die Ordnung und das Gedeihen der ſittlichen Welt erſt
wahrhaft von dem Zufall des ſubjektiven Beliebens
emancipirt, zur objektiven Nothwendigkeit und zur Höhe
derphyſiſchen Weltordnung
erhoben. Sie iſt damit der
143)
[127]III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.
Eigenſchaften theilhaftig geworden, die wir an der letzteren mit
ſo vollem Recht bewundern — der Regelmäßigkeit, Sicherheit,
Berechenbarkeit.


Die Zeit liegt noch nicht fern, wo dieſe Anſchauungsweiſe
die Geſetzgebung wie die Wiſſenſchaft völlig beherrſchte, 144) wo
es als etwas Großes und Erhabenes erſchien, das friſche freie
Leben und Weben in der ſittlichen Schöpfung, die ſittlichen
Naturkräfte
, wenn ich ſo ſagen darf, zu verdrängen und
dafür den Mechanismus eines Uhrwerkes zu ſubſtituiren, bei
dem man ſich vermeintlich von allen nicht aktenmäßigen und ge-
ſetzlich conceſſionirten Kräften und Einflüſſen unabhängig ge-
macht hatte, die ganze Bewegung ſelbſt in der Hand zu haben
glaubte. Allerdings hat ſich ein Umſchwung vorbereitet, aber
wir ſtehen doch erſt am Anfang desſelben, denn jene Anſchau-
ungsweiſe hat ſich nicht bloß in unſern Einrichtungen, Zuſtän-
den, Geſetzen u. ſ. w., ſondern auch in der Anſicht des Volks
[128]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſowohl wie der Regierungen ſo eingewurzelt, 145) daß noch eine
lange, lange Zeit über dem Verlauf dieſes Prozeſſes verfließen
dürfte. Es handelt ſich hier um eine Veränderung nicht ſo-
wohl in der Anſicht, als dem Charakter und Rechtsgefühl des
Volks, und derartige Umwandlungen vollziehen ſich bekanntlich
nur ſehr langſam.


Verſuchen wir es jetzt, jene Anſchauungsweiſe des täuſchen-
den Scheines, mit dem ſie ſich umgibt, zu entkleiden und ſie in
ihrer wahren Geſtalt kennen zu lernen.


Zunächſt müſſen wir den obigen Vergleich der moraliſchen
und phyſiſchen Weltordnung als eine Entwürdigung der erſteren
entſchieden zurückweiſen. Denn das Weſen der erſteren iſt die
Freiheit, das der letzteren die Nothwendigkeit, und es kann nicht
Aufgabe der erſteren ſein, gerade dieſen ihren ſpecifiſchen Vorzug
aufzugeben, um damit die Regelmäßigkeit, Berechenbarkeit
u. ſ. w. der letzteren zu erkaufen. Der Staat als der Organis-
mus der Freiheit kann allerdings, um eben dies zu ſein, das
Moment der Nothwendigkeit nicht entbehren, er hat Eine Seite,
nach der er wirklich der Natur mit ihrer Nothwendigkeit ver-
wandt iſt, d. h. zu Geſetzen und äußerem mechaniſchen Zwang
ſeine Zuflucht nehmen muß. Aber je mehr er ohne die dringend-
ſten Gründe dieſe Seite entwickelt, alſo das Element der Frei-
heit in ſich verkürzt, um deſto mehr ſteigt er von der Höhe ſeiner
Beſtimmung, die ihn über die natürliche Welt erhebt, zu dem
niedern Standpunkt der letzteren hinunter. Die Nothwendigkeit
ſoll ihm nur den feſten, kräftigen Körperbau ſichern und den
Boden ebnen, auf dem dann die Freiheit producirt. Letztere iſt
die eigentliche Naturkraft des Staats, die freie Bewegung und
Produktion für ihn die natürliche, die gezwungene die un-
natürliche, künſtliche.


[129]III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.

Vom niedrigſten Utilitäts-Standpunkte aus betrachtet
möchte nun immerhin letztere ſich mit erſterer meſſen können,
der Wohlſtand des Volks, die äußere Ordnung und Moralität
u. ſ. w. unter ihr nicht minder gedeihen, als unter jener — ob-
gleich die Erfahrung bekanntlich das Gegentheil lehrt; denn
die Unfreiheit iſt nie weder des moraliſchen noch intellektuellen
Schwunges der Freiheit fähig; das Gängelband, in dem ſie
gehen muß, hindert ſie eben ſo oft an der Bewegung, als es ihr
dieſelbe erleichtert. Aber ſelbſt wenn ſie äußerlich glänzendere
Reſultate aufzuweiſen hätte, als die Freiheit, was würde dieſer
Mehrgewinn bedeuten, wenn er durch eine Einbuße an unſchätz-
baren innern Gütern und immateriellen Werthen erkauft wer-
den müßte, oder wenn die Rechtsidee gegen ſie Proteſt einlegte?


Und beides iſt der Fall. Einem Volke, das bisher unter
dem Syſtem der Freiheit gelebt hat, werde durch äußere Gewalt
das entgegengeſetzte aufgedrungen, und die nachtheiligſten Ein-
wirkungen auf den Charakter deſſelben werden nicht ausbleiben
können. Die Selbſtändigkeit des Volks, ſein Selbſtvertrauen,
ſein Unternehmungsgeiſt, ſeine Thatkraft werden abnehmen;
denn alle dieſe Eigenſchaften haben nur auf dem Boden der Frei-
heit ihr rechtes Gedeihen, weil ſie nur hier unentbehrlich ſind.


So wenig man hierüber ein Wort zu verlieren braucht, ſo
ſehr ſcheint mir der zweite Punkt, das Verhältniß des Syſtems
der Unfreiheit zur Rechtsidee, einer nähern Ausführung zu be-
dürfen.


Die Freiheit als bloßer Zuſtand des Nichtbeſtimmtwerdens
hat in dieſer ihrer bloßen Negativität keine Berechtigung, ge-
winnt dieſelbe vielmehr erſt dadurch, daß eine poſitiv ſchöpfe-
riſche Kraft, der Wille, ſie zu ihrer Vorausſetzung hat. Der
Wille iſt das ſchöpferiſch geſtaltende Organ der Perſönlichkeit,
in der Bethätigung dieſer Schöpferkraft erhebt dieſelbe ſich zur
Gottähnlichkeit. Sich als Schöpfer einer noch ſo kleinen Welt
wiſſen, ſich abſpiegeln in ſeiner Schöpfung als etwas, das vor
ihm nicht da war, das nur ihm gehört, die Objektivirung ſeiner
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 9
[130]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Perſönlichkeit enthält — das iſt das, wodurch der Menſch zum
Gefühl ſeines Werthes und zur Ahnung ſeiner Gottebenbild-
lichkeit gelangt.


Dieſe ſchöpferiſche Thätigkeit zu entfalten, iſt das höchſte
Recht des Menſchen und ein unentbehrliches Mittel zu ſeiner
ſittlichen Selbſterziehung. Sie ſetzt die Freiheit, alſo auch den
Mißbrauch derſelben, die Wahl des Schlechten, Zweckwidrigen,
Unverſtändigen u. ſ. w. voraus, denn als unſere Schöpfung
läßt ſich nur das betrachten, was frei aus der Perſönlichkeit
hervorgegangen iſt. Den Menſchen zum Guten, Vernünftigen
u. ſ. w. zwingen, iſt nicht ſowohl darum eine Verfündigung
gegen ſeine Beſtimmung, weil ihm damit die Wahl des Ent-
gegengeſetzten verſchloſſen, als weil ihm damit die Möglich-
keit, das Gute aus eignem Antriebe zu thun, entzogen wird.


Der Wille erlangt nun erſt im Staat die Möglichkeit ge-
ſicherter Verwirklichung, und es iſt eine Verpflichtung des
Staats, den produktiven Beruf des Willens als rechtliche
Macht und Freiheit
anzuerkennen und zu ſchützen. Aber in
welcher Ausdehnung? Die Erfahrung zeigt überall das Be-
ſtehen von geſetzlichen Beſchränkungen der Freiheit, die lediglich
vom Standpunkt des Individuums aus betrachtet nicht zu dedu-
ciren wären, zu denen alſo der Staat nicht berechtigt wäre,
wenn er bloß die Aufgabe hätte, die ſubjektive Freiheit zu rea-
liſiren. Daß dieſe letztere Suppoſition unrichtig iſt, daß alſo
dem Staat das Recht zu einem derartigen Eingreifen in die
individuelle Freiheitsſphäre nicht beſtritten werden kann, dar-
über braucht heutzutage kein Wort verloren zu werden. Aber
wie weit reicht es? Darf der Staat alles, was ihm gut, ſitt-
lich, zweckmäßig erſcheint, zum Geſetz erheben, ſo gibt es für
dieſes Recht keine Schranken, und das oben deducirte Recht der
Perſönlichkeit iſt in Frage geſtellt; die Bewegung, die er ihr
verſtattet, hat dann bloß den Charakter einer Conceſſion, iſt ein
reines Gnadengeſchenk. Dieſe Anſicht von der alles verſchlin-
genden und alles aus ſich erſt wieder gebärenden Omnipotenz
[131]III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.
des Staats iſt trotz der glänzenden Maske, durch die ſie ſo gern
zu täuſchen ſucht, aller jener hochtönenden Phraſen von Volks-
wohl, Verfolgung objektiver Prinzipien, Sittengeſetz — ſie iſt
und bleibt die wahre Ausgeburt der Willkühr, die Theorie des
Despotismus, möge ſie von einer Volksverſammlung oder einem
abſoluten Monarchen zur Anwendung gebracht werden. Sie
anzunehmen bedeutet für das Individuum einen Verrath an ſich
ſelbſt und ſeiner Beſtimmung, einen ſittlichen Selbſtmord! Die
Perſönlichkeit mit ihrem Anrecht auf freie ſchöpferiſche Thätig-
keit iſt nicht minder von Gottes Gnaden, als der Staat, und es
iſt nicht bloß ein Recht, ſondern eine heilige Pflicht des Indi-
viduums, dieſes Anrecht geltend zu machen und auszuüben.
Aber wie einerſeits der Staat dies Recht der Perſönlichkeit an-
zuerkennen hat, ſo umgekehrt auch das Subjekt die in der gött-
lichen Miſſion des Staats liegenden Rechte. Beide beſchränken
ſich alſo gegenſeitig, aber ſie ſchließen ſich weder aus, noch lei-
ten ſie ihre Rechte der eine vom andern ab, der Staat ſo wenig
das ſeinige von dem Individuum, wie einſt die naturrechtliche
Theorie lehrte, noch das Individuum vom Staat.


Die göttliche Miſſion des Staats! Iſt mit dieſem dehn-
baren Begriff nicht die Religion, die Sittlichkeit, der Wohl-
ſtand, die künſtleriſche und wiſſenſchaftliche Bildung u. ſ. w.,
kurz alles, was das Volk ſein und werden, haben und leiſten
kann, der Obhut und Pflege des Staats anvertraut? Gewiß;
aber alles kommt auf die Art an, wie er jene Miſſion begreift,
und damit langen wir wieder bei einem bereits berührten Punkt
an. Der Staat kann ſie nämlich in der Weiſe auffaſſen, daß er
ſelbſt alle jene höchſten Aufgaben des Gattungslebens poſitiv
und durch Gewalt zu verfolgen habe — dies iſt die Weiſe,
gegen die das Prinzip der perſönlichen Freiheit Proteſt einlegt,
weil letztere zu einer Arbeit gezwungen wird, in deren frei-
williger
Vollziehung gerade ihre Aufgabe und Ehre beſteht —
unſer Syſtem der Unfreiheit. Den Gegenſatz dazu bildet das
bereits oben bezeichnete Syſtem der Freiheit, bei dem der Staat
9*
[132]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſich darauf beſchränkt, die Erreichbarkeit jener Ziele bloß zu er-
möglichen
und zu erleichtern, die Verfolgung ſelbſt aber
dem freien Walten des ſittlichen Geiſtes und der nationalen und
individuellen Intelligenz anheimſtellt. In dieſem Syſtem
erſcheinen die Staatsidee und die Idee der Frei-
heit im Einklang, und dieſes Syſtem iſt daher das
abſolute Ideal, dem jedes Volk nachzuſtreben hat
.


Die bisherige Erörterung hatte zum Zweck, die Unvollkom-
menheit des Syſtems der Unfreiheit nachzuweiſen. Wie nun aber
das Unvollkommene relativ berechtigt ſein kann, ſo verhält es ſich
auch mit dieſem Syſtem. Nicht jedes Volk iſt für die Freiheit
reif, und ohne Reife hat das Syſtem der Freiheit keine ſittliche
Berechtigung. Es verhält ſich in dieſer Beziehung mit den Völ-
kern, wie mit den Individuen; auch ſie bedürfen der Zucht in den
Jahren der Unmündigkeit, und zu dieſem Zweck dient ihnen eben
unſer Syſtem der Unfreiheit. In inſtinktartigem Gefühl ihrer
Schwäche und ihres Bedürfniſſes erſcheint ihnen dann daſſelbe
nicht bloß nicht als eine Laſt, ſondern als etwas Natürliches
und Nothwendiges. Ihr Rechtsgefühl reicht über ihre
Kräfte nicht hinaus
und würde daher das entgegengeſetzte
Syſtem als ein berechtigtes gar nicht begreifen können. Dies iſt
z. B. im weſentlichen der Standpunkt der orientaliſchen Völker;
der Gedanke der perſönlichen in dem Subjekte ſelbſt wurzelnden
Freiheit iſt ihnen nie aufgegangen und würde ihnen in man-
chen Anwendungen, z. B. auf religiöſem Gebiete, geradezu ein
Gräuel ſein.


Die Kritik und Abwehr des Syſtems der Unfreiheit hat
uns zugleich poſitiv die Rechtfertigung des entgegengeſetzten
Syſtems gegeben, aber hinſichtlich des letzteren bedarf es doch
noch einer Bemerkung.


Wenn wir im Bisherigen nachzuweiſen verſucht haben, daß
gerade die ächte Sittlichkeit dies Syſtem der Freiheit poſtulire,
ſo iſt dies nicht ſo gemeint, als ob daſſelbe überall, wo es ſich
hiſtoriſch zeigt, aus einer ſolchen ſittlich würdigen Auffaſſung
[133]III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.
hervorgegangen ſei. Vielmehr kann es eben ſowohl ein Aus-
fluß der gerade entgegengeſetzten Anſchauung, ein Ausdruck ſitt-
licher
Rohheit und Willkühr ſein. Der ſittliche Menſch begehrt
die Freiheit, weil er das Gute aus eigenem Antrieb zu
thun wünſcht, der Schlechte, weil er ungehindert ſeinen böſen
Neigungen folgen will; dieſer haßt den Zwang, weil er ihn
zur Ordnung und zum Guten zwingt, jener, weil er
ihn dazu zwingt. So findet ſich denn das Syſtem der Frei-
heit ebenſo wohl bei der niedrigſten Stufe der Cultur und Sitt-
lichkeit, als bei der gerade entgegengeſetzten. Da die Darſtel-
lung des älteren Rechts uns die Theorie dieſes Syſtems in
anſchaulichſter Weiſe vorführen wird, ſo würde es überflüſſig
ſein, dieſelbe noch im voraus des weitern zu entwickeln. Es
läßt ſich alſo als eine weite abſtrakte Form bezeichnen, die des
verſchiedenartigſten concreten Inhaltes fähig iſt und nach Ver-
ſchiedenheit deſſelben in Wirklichkeit ebenſo wohl ein Syſtem
ſittlicher Willkühr und Rohheit, ökonomiſcher Indolenz u. ſ. w.,
als ein Syſtem hoher ſittlicher, politiſcher, ökonomiſcher Ent-
wickelung ſein kann. In beiden Fällen werden ſittliche Prin-
zipien und höhere Ideen in den Geſetzen nicht ſichtbar;
aber in dem einen Fall, weil ſie dem Volk fehlen, in dem
andern, weil ſie der Beihülfe des Geſetzes nicht bedürfen.
Dort ſteht das Syſtem der Freiheit ebenſo weit unter, als im
letzteren Falle weit über dem Syſtem der Unfreiheit, — eine
Skala von der Willkühr und Rohheit durch Zucht und Zwang
zur wahren Freiheit.


Da alſo dem Bisherigen nach der ſittliche Höhepunkt des
Syſtems der Freiheit ſehr variiren kann, ſo iſt es Sache der
hiſtoriſchen Forſchung, denſelben im einzelnen Fall zu ermit-
teln. Sie wird zu dem Zweck den Charakter, die Culturſtufe,
die religiöſen und ſittlichen Vorſtellungen dieſes Volks, vor
allem aber, wenn die Quellen dies möglich machen, die Sitte
ins Auge zu faſſen haben. Letztere iſt hier von unendlich höhe-
rer Bedeutung, als bei dem Syſtem der Unfreiheit, wie ſich dies
[134]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
bei Gelegenheit des ältern römiſchen Rechts am beſten wird nach-
weiſen laſſen. Für letzteres werden wir auf dieſem Wege das Re-
ſultat gewinnen, daß daſſelbe in Wirklichkeit nichts weniger als
ein Syſtem der Rohheit, Grauſamkeit und des ſittlichen Indif-
ferentismus war, 146) wie man daſſelbe nicht ſelten aufgefaßt
hat, ſondern ein Syſtem der Freiheit in dem Sinne, in dem
wir daſſelbe oben als ſittlich berechtigt nachzuweiſen verſuchten.


II. Das römiſche Syſtem.

A. Die Stellung des Individuums.

1. Die Freiheit und Macht das Ziel des ſubjek-
tiven Willens
.

Die römiſche Herrſchſucht im Allgemeinen. — Die politiſche und
perſönliche Freiheit. — Die abſtracte privatrechtliche Freiheit
und die effektive Gebundenheit des Subjekts. — (Die Sitte und
die Macht der öffentlichen Meinung in Rom.) — Das Syſtem
der privatrechtlichen Autonomie in ſeinen einzelnen Theilen.


XXXI. Während die beiden vorhergehenden Grundtriebe
Anforderungen an das Recht von mehr formaler Art enthielten,
erſchließt uns der gegenwärtige die eigentliche Subſtanz des
Rechts, ja des römiſchen Willens überhaupt — den Gedanken
[135]A. Stellung des Indiv. Die röm. Herrſchaft. §. 31.
der Macht und Herrſchaft, 147) jenen Gedanken, der die That-
kraft des Einzelnen wie des Staats in unausgeſetzter Thätigkeit
hielt und zur höchſten Entwickelung ſteigerte, und deſſen Ver-
wirklichung daher den vornehmlichſten Inhalt der römiſchen
Geſchichte bildet.


Nirgends hat die Herrſchſucht wohl ſolche Dinge vollbracht,
als in Rom, nirgends Leiſtungen von einer ſolchen univerſal-
hiſtoriſchen Bedeutung aufzuweiſen, als hier. Es ſind nament-
lich zwei: die Entdeckung des Privatrechts (denn ſo werden
wir es zu nennen haben, §. 36) und vermittelſt der Gründung
des römiſchen Weltreichs die Herſtellung eines Knotenpunktes
für die alte und die neue Geſchichte.


In ihrem äußeren Auftreten hat ſie nichts Gewinnendes.
Blutige Spuren, Opfer aller Art bezeichnen den Weg, den ſie
genommen; an dem Triumphwagen römiſcher Größe klebt das
Mark zermalmter Völker. Dieſe dunkle Kehrſeite läßt ſich nicht in
Abrede ſtellen, aber man hüte ſich, ſich dadurch zu einem unge-
rechten Urtheil gegen die Römer hinreißen zu laſſen und das
ſittliche Moment der römiſchen Herrſchſucht zu überſehen;
hinſichtlich ihrer Großartigkeit iſt dies kaum zu befürchten. Die
Liebe zur Herrſchaft iſt nicht ſchlechthin ſittlich unberechtigt.
Sie iſt es nur da, wo ſie nicht aus einem innern Beruf und Be-
dürfniß hervorgeht, ſich in kleine Seelen verirrt, denen es an
der moraliſchen Kraft gebricht, die ſie vorausſetzt, wo ſie nicht
um ihrer ſelbſt willen geliebt wird, ſondern nur als Mittel zur
Befriedigung der Genußſucht, Eitelkeit, Laune u. ſ. w. Es
gibt aber auch eine ſittlich berechtigte Liebe zur Herrſchaft, eine
Liebe derſelben um ihrer ſelbſt willen, eine Liebe, die aller
[136]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Opfer und Anſtrengungen fähig iſt, und die aus dem Gefühl
eines Berufs zum Herrſchen hervorgeht. Wo eine ungewöhn-
liche moraliſche Kraft vorhanden iſt, wird auch der Beruf zur
Geltendmachung derſelben empfunden werden, und was iſt hier
die Herrſchſucht anders, als die innere Stimme, die an den
Beruf mahnt?


Dieſer Art war die Herrſchſucht der Römer, bevor ſie dege-
nerirte. Nicht Genußſucht war es, was ihnen in ihrer guten
Zeit die Herrſchaft werth machte; ein müheloſer Beſitz würde
ſie gar nicht befriedigt haben. Für ſie hatte nicht bloß das
Ziel, ſondern der Weg ſelbſt einen Reiz; der Zuſtand der
äußerſten Anſpannung der Kräfte, das Erproben der eigenen
Stärke an den äußeren Hinderniſſen, die Gefahr, der Kampf
als ſolcher war ihnen ein Bedürfniß; man möchte ſagen, es
war eine Naturnothwendigkeit für ſie, der gewaltigen Kraft,
die in ihnen drängte und Auslaß begehrte, ſich zu entledigen.
Gleich als ob das Leben noch nicht genug Gelegenheit zur Be-
friedigung dieſes Bedürfniſſes dargeboten hätte, mußten ſelbſt
die Spiele in Rom dieſem Zweck dienen; ihr hauptſäch-
lichſter Reiz lag ja in der Aufregung und Spannung, die
die Gefahr ſelbſt für den unbetheiligten Zuſchauer mit ſich
bringt. Bei andern Völkern hat ſich daſſelbe Bedürfniß einer
Entlaſſung der überſchüſſigen Kraft nicht ſelten in orkanartigen
und darum weniger nachhaltigen Eruptionen zu befriedigen ge-
ſucht. An ein ſolches wildes Sich Retten vor ſich ſelbſt, das dem
blinden Walten der Naturkraft vergleichbar iſt, haben wir bei
den Römern nicht zu denken. Denn ihre Kraft ſchlägt geregelte
Bahnen ein, dient mit ſtets ſich gleich bleibender Anſpannung
einem bewußten Zweck, dem Zweck nämlich, den römiſchen
Staat in der Welt zur Herrſchaft zu bringen. Dieſe Herrſchaft
erſchien den Römern nicht als Uſurpation, ſondern als ein auf
ihrer moraliſchen Superiorität über die übrigen Völker beru-
hendes Recht, als der eigenthümliche Beruf Roms, bei deſſen
Verfolgung ſie der Zuſtimmung und Hülfe der Götter glaubten
[137]A. Stellung des Indiv. Die perſönl. Freiheit. §. 31.
ſicher zu ſein. Wie ſehr dieſes Streben nach Herrſchaft die römi-
ſche Selbſtſucht über das Niedrige und Gemeine des indivi-
duellen
Egoismus und eines bloßen Genußlebens zu höheren
Anſchauungen erhob; welche Fülle von Tugenden, von Selbſt-
verleugnung, Vaterlandsliebe, Standhaftigkeit, Tapferkeit,
würdigem Stolz u. ſ. w. es zum Vorſchein brachte, kurz wel-
chen ſittlichen Schwung es dem ganzen römiſchen Weſen ver-
lieh, das brauche ich hier nicht auszuführen. Iſt denn die
Herrſchſucht der Römer einmal ein Fehler zu nennen, ſo hat es
wohl nie einen Fehler gegeben, der eine ſo reiche Quelle von
nationalen Tugenden und großen Thaten geworden iſt.


Das Recht gibt uns die Gelegenheit, die Herrſchſucht ſo zu
ſagen in ihrer Häuslichkeit zu belauſchen. Es gibt kein an-
deres Gebiet geiſtiger Thätigkeit, das gerade ſo vorzugsweiſe
ihr gehört, und auf dem ſie ſolche unblutige Triumphe feiern
könnte, wie auf dieſem. In welchem Maße der römiſche Macht-
und Freiheitstrieb ſich auf dieſem Gebiet bethätigte, iſt
theilweiſe ſehr bekannt, und ſoll, ſo weit es dies iſt, hier nicht
weiter ausgeführt werden. Dahin rechne ich z. B. den Antheil,
den die römiſche Verfaſſung dem Bürger an der Verwaltung
des Staats einräumte, das jus suffragii und honorum, alſo
die Theilnahme an der geſetzgebenden und ſtrafrichterlichen Ge-
walt, an der Wahl der Beamten, ſelbſt an der Verwaltung der
Polizei 148) u. ſ. w., kurz das ganze republikaniſche Selbſtregi-
ment der Römer. Dahin zähle ich ferner den weiten Umfang,
in dem der Grundſatz der perſönlichen Freiheit in Rom zur An-
erkennung gelangt war. Ich will von ſolchen Ausflüſſen dieſes
Grundſatzes gar nicht reden, deren ſich die Römer ſelbſt nicht
bewußt waren, weil ihnen eine Beſchränkung nach dieſer Seite
hin als undenkbar erſchienen wäre (z. B. der Freiheit in der
Wahl des Lebensberufes), und für die man überhaupt erſt ein
Auge bekommt, wenn man ſieht, daß ſie anderwärts fehlen;
[138]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ich will nur diejenigen aufzählen, die die Römer ſelbſt als
werthvolle Garantien der perſönlichen Freiheit namhaft ma-
chen. Hierzu gehören namentlich: die Freizügigkeit, 149) die
man ſogar dem Inquiſiten bis zum Urtheilsſpruch zugeſtand, 150)
der Schutz gegen die Willkühr der Beamten, der durch das
Recht der Provokation an die Volksverſammlung, 151) das
Interceſſionsrecht der Tribunen und höheren Magiſtrate und
die Verantwortlichkeit der Beamten in umfaſſendſter Weiſe
gewährleiſtet war. Sodann der geſtaltende Einfluß, den die
Vorſtellung von der Würde des römiſchen Bürgers auf das
Kriminalrecht ausgeübt hat, z. B. die Ausſchließung der Tor-
tur, 152) der Leibes- und grauſamer Lebensſtrafen, 153) und eine
Reihe anderer nicht minder werthvoller Einrichtungen. 154)
[139]A. Stellung des Indiv. Die perſönl. Freiheit. §. 31.
Uebrigens hat jener Grundſatz der perſönlichen Freiheit erſt im
Laufe der Zeit die Ausdehnung bekommen, in der er gegen das
Ende der Republik galt, und die faſt das richtige Maß über-
ſchritt. Dieſe ſpätere Zeit erinnert mit ihren abſtracten Frei-
heits- und Gleichheitsideen an die Gegenwart; die ältere war
weit maßvoller, genügſamer, praktiſcher. Ihre Freiheit war ein
durch und durch hiſtoriſches Produkt, aus praktiſchen Motiven
hervorgegangen, mühſam und ſtückweiſe erkämpft; nicht der
Schulbegriff der Freiheit, ſondern der Druck, wo er beſonders
fühlbar geworden war, hatte ſie ins Leben gerufen. Sie war,
möchte man ſagen, nicht ſo ſehr ein Begriff, als eine Summe
von einzelnen beſonders wichtigen Rechten, daher nicht ohne
Lücken und ſcheinbare Inconſequenzen. Dieſe ihre durchaus
praktiſche Natur bewährte ſich daran, daß ſie ſich den Umſtän-
den fügte, z. B. im Fall der Noth ſelbſt eine vorübergehende
Suspendirung willig zuließ. 155) Höchſt bezeichnend für die
eigenthümliche Organiſation des ältern Freiheitsgefühls iſt
auch die Verträglichkeit deſſelben mit der Cenſur, einem Inſti-
tut, das uns bei unſeren heutigen Vorſtellungen von perſön-
licher Freiheit ganz unleidlich ſein würde. 156) Das Geſagte
beſtätigt ſich auch an einer Art der Freiheit, die in der neuern
154)
[140]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Geſchichte eine ſo große Rolle ſpielt, der religiöſen Freiheit.
So tolerant oder indifferent die römiſche Politik gegen die Culte
der unterworfenen Völker war, ja ſo bereitwillig die Römer
allen Göttern des geſammten Reichs einen Platz im Kapitol
gewährten, ſo wenig kannten ſie doch bei dem Charakter ihrer
Religion als Staatsreligion den Begriff der abſtracten religiö-
ſen Freiheit. Der Uebertritt zu einer andern Religion erſchien
ihnen nicht unter dem Geſichtspunkt, der uns ſo geläufig iſt,
nämlich als eine That und ein Recht des religiöſen Bedürf-
niſſes, ſondern als ein Abfall vom römiſchen Staat und Weſen,
und ohne daraus ein eignes Verbrechen zu bilden oder verein-
zelte Fälle zu beachten, pflegte man doch, wenn die Fälle ſich
mehrten, und das Uebel eine allgemeinere Ausdehnung gewann,
von Staatswegen einzuſchreiten. 157) Schwerlich wird irgend
ein Römer daran als an einem Eingriff in die religiöſe
Freiheit
Anſtoß genommen haben, ſchwerlich auf die Idee
verfallen ſein, daß man dem Prinzip der Freiheit auch eine
Ausdehnung auf religiöſe Angelegenheiten, ſowie überhaupt
eine Ausdehnung geben dürfe, bei der das Intereſſe des Staats
hätte leiden können. Den Grund, der es den Römern erſparte,
über jene Art der Freiheit zu reflektiren, erblicke ich darin, daß
die religiöſe Freiheit überall erſt durch den Druck ins Bewußt-
ſein gebracht wird, ein ſolcher Druck aber in den römiſchen re-
ligiöſen Einrichtungen gar nicht vorhanden war. Von dem
ärgſten Zwange, den es geben kann, dem Glaubenszwange, von
Inquiſition und Ketzergerichten (wovon ſich ja auch im Alter-
thum Spuren finden) war in Rom keine Rede; der Glaube
war frei, und die Verpflichtung zu dem äußern Cultus, den
156)
[141]A. Stellung des Indiv. Die perſönl. Freiheit. §. 31.
sacris, hatte mehr den Charakter einer vermögensrechtli-
chen
Laſt, als einer religiöſen Nöthigung. Kein Wunder,
daß der Römer ſich Jahrhunderte hindurch mit dieſem weiten
Maß religiöſer Freiheit leicht begnügen, daß ſelbſt der Unglaube
der ſpätern Zeit ſich damit vertragen konnte; erſt das Chriſten-
thum bereitete dem alten Syſtem ſeinen Untergang.


Indem wir nun die bisher genannten Ausflüſſe unſeres Prin-
zips im Weſentlichen als bekannt vorausſetzen, beſchränken wir
unſere Darſtellung auf zwei Punkte, die eines nähern Eingehens
beſonders würdig ſcheinen, nämlich die Verwirklichung unſeres
Grundtriebes innerhalb des Privatrechts (§. 31—34) und die
Einwirkung deſſelben auf die Geſtaltung, den Zuſchnitt und
Inhalt der öffentlichen Gewalten (§. 35); der abgeſonder-
ten Darſtellung beider Punkte werden wir ſchließlich (§. 36)
eine allgemeinere Betrachtung über die hiſtoriſche Bedeutung
des geſammten Freiheits-Syſtems folgen laſſen.


Für jenen erſten Punkt gibt uns der Verlauf unſeres Wer-
kes bereits mannigfache Anknüpfungspunkte, namentlich ver-
weiſe ich auf das Prinzip des ſubjektiven Willens (B. 1, S.
104 fl. 205 fl. B. 2, S. 57 fl.) und die geſetzliche Anerkennung
der ſubjektiven Autonomie in den XII Tafeln (B. 2, S. 68 fl.).
Daſſelbe Prinzip, das wir im erſten Syſtem in ſeiner ur-
ſprünglichen
Bedeutung als einen der Ausgangspunkte des
Rechts auf etwas künſtlichem und theilweiſe conſtructivem Wege
zu beſtimmen verſuchten, haben wir an der gegenwärtigen Stelle
wieder aufzunehmen, und zwar in ſeiner völlig entwickelten,
hiſtoriſch beglaubigten Geſtalt. Ich werde bei meinem Leſer
das Reſultat meiner früheren Ausführungen vorausſetzen dür-
fen, jenen Fundamentalſatz nämlich, daß das Subjekt die
Quelle und der Grund ſeines Rechtes iſt, der Staat alſo nicht
das Recht ſelbſt, ſondern nur die Anerkennung und den Schutz
deſſelben gewährt. Dieſe Grundanſchauung durchdringt das
römiſche Recht ſo ſehr nach allen Seiten hin, daß ein öfteres
Zurückkommen auf dieſelbe völlig unvermeidlich iſt. Für das
[142]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
gegenwärtige Syſtem haben wir dies Prinzip aus Gründen,
die ſpäter erhellen werden, an zwei verſchiedenen Stellen zu be-
handeln, bei Gelegenheit der Theorie des ſubjektiven Willens
und an der gegenwärtigen Stelle.


Aus unſerem Prinzip folgt für das Verhältniß des Staats
zu dem Recht des Subjekts zweierlei: einmal, daß er dies Recht
nicht willkührlich entziehen darf — davon iſt oben S. 59 bereits
die Rede geweſen 158) — ſodann, daß er den Inhalt deſſelben nicht
beliebig beſchränken darf, ſondern im Weſentlichen die ganze Fülle
der Machtbefugniß, die die Natur des Rechts mit ſich bringt,
dem Subjekt zu belaſſen hat. Daß nun das römiſche Recht dieſer
Anforderung entſprochen hat, ſoll jetzt nachgewieſen werden.


Das Prisma, durch welches das ältere Recht ſämmtliche
Verhältniſſe, in denen das individuelle Leben ſich bewegt, be-
trachtete, war der Gedanke der Herrſchaft. Mochten dieſelben
hinſichtlich ihrer eigentlichen Bedeutung und Beſtimmung für
das Leben auch noch ſo wenig durch dieſen Geſichtspunkt ge-
deckt oder ergriffen werden, für das Recht kam nur letzterer in
Betracht. Daraus darf man aber nicht folgern, als wenn die
Römer jene Verhältniſſe lediglich als rein rechtliche aufgefaßt,
die über das Recht hinausgehende höhere Beſtimmung derſelben
gar nicht bemerkt, ihren ſonſtigen Inhalt für gleichgültig oder
überflüſſig gehalten hätten; man denke z. B. an die Ehe, die
[143]A. Stellung des Indiv. Der Geſichtspunkt der Herrſchaft. §. 31.
väterliche Gewalt u. ſ. w. Jene Herrſchaft war das ſpezifiſch
rechtliche
Element der Verhältniſſe, auf deſſen Auffindung und
Beſtimmung die juriſtiſche Analyſe allein gerichtet ſein konnte.
So wenig wie ein Chemiker, deſſen Unterſuchung auf Auffindung
eines ganz beſtimmten Beſtandtheils eines Körpers gerichtet iſt,
Anlaß hat ſich über die Brauchbarkeit, die Beſtimmung des Ge-
genſtandes u. ſ. w. zu verbreiten, ſo wenig kann und darf der
Juriſt bei der juriſtiſchen Analyſe ſich ähnliche Abſchweifungen
von ſeiner Aufgabe erlauben. Er ſoll, wenn ich ſo ſagen darf,
den Procentgehalt der einzelnen Verhältniſſe an Rechtsſtoff be-
ſtimmen. Dieſer Rechtsſtoff findet ſich häufig vermiſcht mit an-
deren Elementen, und zwar in ſehr verſchiedener Proportion.
Bald bildet er nur einen ſehr unbedeutenden, bald den überwie-
genden, bald den einzigen Beſtandtheil des Verhältniſſes. 159)
Die juriſtiſche Unterſuchung hat ſich nun, wie geſagt, lediglich
auf die Auffindung dieſes Stoffes zu beſchränken; je reiner
ſie ihn darſtellt, je mehr ſie alſo die nicht-rechtlichen Elemente
ausſcheidet, um ſo vollkommener hat ſie ihre Aufgabe gelöſt.
In dieſer nothwendigen Beſchränkung eine Einſeitigkeit zu fin-
den, iſt wahrhaft abſurd; die Bedeutung jener nicht-rechtlichen
Elemente, des moraliſchen, national-ökonomiſchen, politiſchen
u. ſ. w., iſt damit doch nicht negirt, daß man ſich hütet, ſie an
der unrechten Stelle zu erörtern. An der rechten Stelle
darf und ſoll man ſie berückſichtigen, und es iſt eine der Haupt-
aufgaben einer jeden hiſtoriſchen Darſtellung des Rechts,
ſich dieſer Geſichtspunkte zu bemächtigen.


Das ſpezifiſch rechtliche Moment, wornach das ältere Recht
die Rechtsverhältniſſe beſtimmt, iſt alſo der Gedanke der Herr-
ſchaft, und ich ſollte meinen, daß daſſelbe damit das abſolut
Richtige getroffen hat. Der Inhalt eines jeden Rechtsverhält-
niſſes, wenn man daſſelbe des Beiwerks entkleidet und auf ſei-
[144]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
nen juriſtiſchen Kern zurückführt, iſt Willensmacht, Herrſchaft,
die Unterſchiede der Rechtsverhältniſſe ſind Unterſchiede der
Herrſchaft. Das Charakteriſtiſche der Rechtsverhältniſſe des
ältern Rechts kann alſo nicht darin geſucht werden, daß ſie reine
Herrſchaftsverhältniſſe ſind — es hieße weiter nichts als aus-
ſagen, daß die Römer zuerſt die Sache juriſtiſch erfaßt haben.
Das Charakteriſtiſche derſelben liegt vielmehr in der Fülle der
Machtbefugniß, die ſie gewähren; darin, daß dieſelbe eine bei-
nahe unbeſchränkte, eine abſolute Gewalt iſt. So mannigfaltig
ſich auch die Herrſchaft geſtalten mochte, namentlich nach Maß-
gabe der äußern Verſchiedenheit ihres Gegenſtandes (Perſon,
Sache) und ihrer Richtung gegen denſelben: in jenem Einen
Punkt kommen doch faſt ſämmtliche Herrſchaftsverhältniſſe über-
ein. Man möchte ſie im Weſentlichen als leere, abſtracte For-
men bezeichnen, die ihren Inhalt erſt von dem ſubjektiven Wil-
len erwarten, und die daher im einzelnen Fall je nach Verſchie-
denheit dieſes Inhaltes die mannigfaltigſte Geſtalt annehmen
können; eine abſtoßende ſowohl und das ſittliche Gefühl ver-
letzende, wie eine anziehende und dem ſtrengſten ſittlichen Urtheil
genügende. Bei dieſer ihrer Weite kommt alſo alles auf den
Inhalt an, den das römiſche Leben in ſie ergoß, und ein Urtheil
über ſie iſt ohne eine Unterſuchung deſſelben gar nicht möglich.


Dieſe Unterſuchung hält man nun häufig gar nicht einmal
für nöthig, um ein ſittliches Verdammungsurtheil über das
ganze Syſtem auszuſprechen. Die fixe Idee, von der man ſich
nicht losmachen kann, iſt die: ein Mißbrauch jener Gewalt war
rechtlich möglich, folglich fanden die Römer nichts Anſtößi-
ges darin. Unwillkührlich folgert man aus der rechtlichen
Möglichkeit des Mißbrauchs die reale Möglichkeit ja die Wirk-
lichkeit deſſelben. So entſteht ein Bild von den Römern und
der römiſchen Sittlichkeit, das von der Wahrheit unendlich ent-
fernt und eine wahre Fratze iſt. Es möge mir erlaubt ſein,
den Irrthum, den man hierbei begeht, durch einen Vergleich
anſchaulich zu machen. Jene abſtracten Formen des Rechts
[145]A. Stellung des Indiv. Geſichtspunkt der Herrſchaft. §. 31.
gewähren kein Bild der Inſtitute, wie ſie im Leben wirklich
beſtanden, ſondern eine bloße Silhouette. Die juriſtiſche
Abſtraction hat nur die juriſtiſchen Contouren jener Ver-
hältniſſe abzunehmen; mehr ſoll und darf ſie nicht, wie bereits
oben bemerkt ward. So weit wie die Silhouette von dem Por-
trät, ſo weit iſt dieſer juriſtiſche Schattenriß von einem treuen
Bilde des römiſchen Lebens entfernt. Hier iſt keine Farbe, kein
Licht, kein Schatten; der ganze phyſiognomiſche Ausdruck der
Inſtitute fehlt. Dächte man ſie ſich ſo in der Wirklichkeit, ſo
ſeelenlos, ſo ausdruckslos, ſo todt: gewiß, unſer Widerwille
wäre völlig begründet. Aber ein Römer würde uns wegen einer
ſolchen Vorſtellung verlacht haben; er wußte, wofür er jene
Silhouette zu halten habe, und das Bild, das er ſich von jenen
Inſtituten machte, und das er aus der Anſchauung des wirk-
lichen Lebens ſchöpfte, war ein völlig anderes, und enthielt eine
Menge von Nüancen und charakteriſtiſchen Merkmalen, die wir
zu überſehen pflegen. Von den mannigfachen Beſchränkun-
gen
der ſubjektiven Gewalt, von den beſonderen Voraus-
ſetzungen
, von denen die Ausübung gewiſſer Rechte nicht de
jure,
aber de facto abhing u. ſ. w., von alle dem nehmen wir
in der juriſtiſchen Theorie nichts wahr, aber der Römer hatte
dies alles vor Augen. Denn jene abſtracte Freiheit des Rechts
fand faktiſch im römiſchen Leben Maß und Ziel. So lange ſie
die richtigen Bahnen einhielt, ſo lange ſie dem verſtändigen
Gebrauch diente, ſtieß ſie auf keinen Widerſtand. Aber ſo wie
ſie ſich aus Uebermuth übernehmen, im Vertrauen auf ihre
rechtliche Unbeſchränktheit dieſelbe mißbrauchen wollte,
begegnete ihr Widerſtand von allen Seiten, und hier kamen
Ketten und Feſſeln zum Vorſchein, von denen freilich das Recht
nichts wußte, die aber nicht minder ſtark waren, als wenn das
Geſetz ſelbſt ſie geſchmiedet hätte. Ob eine geſetzliche Vor-
ſchrift uns zwingt, oder irgend eine andere Macht, der ſich
ebenſo wenig trotzen läßt, z. B. die öffentliche Meinung, die
herrſchenden Begriffe von Ehre u. ſ. w. iſt für das Reſultat
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 10
[146]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
einerlei. Es iſt nicht nöthig, daß alles, was unterbleiben ſoll,
gerade durch das Geſetz verboten werde, die Sitte kann hier
daſſelbe wirken, wie das Geſetz. Ja es gibt Verhältniſſe und
Zeiten, wo die Sitte eine weit höhere Macht ausübt, als an-
derwärts das Geſetz; 160) eine ſolche Zeit war die, in der wir
gegenwärtig ſtehen. Gerade im Syſtem der Freiheit ſcheint die
Sitte das beſte Gedeihen zu haben, oder richtiger, das Syſtem
der Freiheit iſt auf die Dauer nur da haltbar, wo die Sitte ſtark
genug iſt, den geſetzlichen Zwang zu erſetzen, und vorzugsweiſe
bei den Völkern, bei denen jenes Syſtem zur höchſten Entwick-
lung gekommen iſt, findet ſich als Gegengewicht und Tempera-
ment derſelben eine ſtrenge, ja oft despotiſche Herrſchaft der
Sitte. 161)Die Sitte iſt die Selbſtbeſchränkung der
Freiheit
; wo ſie nicht kräftig entwickelt und gut organiſirt iſt,
wo nicht die öffentliche Meinung den würdigen Gebrauch der
Freiheit zu einem Ehrenpunkt zu erheben und ihn zu erzwin-
gen
verſteht, da kann die Freiheit nicht gedeihen.


Die Mittel, über die die Sitte in Rom gebot, waren außer-
ordentlich wirkſame. Die natürliche Beſchützerin der Sitte, die
öffentliche Meinung, war hier weit machtvoller, als irgendwo
anders. Das reguläre Mittel, das ihr zu ihrer Geltendmachung
zuſteht, iſt die ſittliche Strafgewalt, die ſie ausübt, nament-
lich vermittelſt der Ehrenſtrafen. In Rom ließ die Wirk-
ſamkeit dieſes Mittels nichts zu wünſchen übrig, 162) denn die
römiſche Ehrenſtrafe, die infamia, hatte den Verluſt aller poli-
tiſchen Rechte zur Folge; 163) was aber politiſcher Tod für einen
[147]A. Stellung des Indiv. Beſchränkung durch die Sitte. §. 31.
Römer bedeutete, brauche ich nicht zu bemerken. Zu dieſem re-
gulären Mittel kamen nun in Rom manche eigenthümliche und
zwar höchſt wirkſame hinzu. Zunächſt das dem Volke zuſtehende
Recht der Wahl der Beamten. Bei uns kann Jemand, der mit der
öffentlichen Meinung gebrochen hat, zu Macht und Einfluß gelan-
gen; bei den Römern war dies in älterer Zeit undenkbar. Wer
ſich in ſeinem Privatleben ſowohl wie in ſeinem öffentlichen
Auftreten über die öffentliche Meinung hinweggeſetzt hatte, war
in Rom verloren. Bei der Oeffentlichkeit, die das ganze rö-
miſche Leben durchdrang, bei der Geſchäftigkeit der Gegner und
Mitbewerber mußte in Rom jeder, der ein öffentliches Amt
vom Volke begehrte, darauf rechnen, daß ſeine ganze Vergan-
genheit den Augen und der Kritik des Volks bloß gelegt wurde,
und wer ſich der Gunſt deſſelben unwürdig erwieſen hatte, was
hatte der zu hoffen? Rohheit und Grauſamkeit gegen Frau,
Kinder, Sklaven, Unbarmherzigkeit gegen Schuldner, die durch
Unglücksfälle inſolvent geworden waren, kurz Handlungen, die
dem Recht nach durchaus erlaubt waren, aber die die Volks-
ſtimme mißbilligte, die Sitte unterſagte, fielen hier ſchwer ins
Gewicht. Der ſchlagendſte Beweis hierfür liegt in dem Inſti-
tut der Cenſur, dem dritten Mittel, über das die öffentliche
Meinung disponirte. Wie empfindlich mußte das römiſche
Sittlichkeitsgefühl ſein, welches Gewicht mußten die Römer
auf das moraliſche Moment legen, wenn ſie trotz der höchſt
wirkſamen ſonſtigen Mittel zum Schutz der Sitte noch die
Cenſur für nöthig hielten und willig ertrugen! Die Fälle, in
denen der Cenſor einſchritt (S. 50), gewähren uns Auskunft
darüber, was in den Augen des Volks als anſtößig galt und
mithin von demſelben in Anſchlag gebracht ward, wo es ſelbſt
den ſittlichen Charakter eines Bürgers zu beurtheilen hatte.
Außer den Wahlcomitien fand ſich dazu Gelegenheit in den
Volksgerichten, und in letzteren beſaß die öffentliche Meinung viel-
leicht das wirkſamſte Mittel zu ihrer Realiſirung. Um das ganze
Gewicht deſſelben zu würdigen, muß man ſich der eigenthümli-
10*
[148]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
chen Geſtaltung des ältern Strafweſens erinnern. Es iſt oben
(S. 43) ausgeführt, daß das Verbrechen mehr die Veranlaſ-
ſung
, als den Gegenſtand der Unterſuchung bildete, die ganze
ſittliche Perſönlichkeit und Vergangenheit des Angeſchuldigten re-
gelmäßig den Ausſchlag gab. Dieſe criminelle Geltendma-
chung des ſittlichen Moments beſchränkte ſich aber keineswegs auf
die Fälle, wo ein eigentliches Verbrechen begangen war (wo dies
Moment alſo nur einen acceſſoriſchen Einfluß ausübte), ſon-
dern die eigenthümliche Organiſation dieſer Strafrechtspflege
machte es möglich, daß Jemand wegen Handlungen in Anklage-
zuſtand verſetzt und verurtheilt ward, die eine öffentliche Ent-
rüſtung erregt hatten, ohne aber unter die Kategorie eines
eigentlichen Verbrechens zu fallen. Dies Schickſal konnte Je-
manden treffen, der vom privatrechtlichen Geſichtspunkt aus
betrachtet durchaus in ſeinem Recht war, z. B. von ſeiner pa-
tria potestas
einen in moraliſcher Hinſicht unverantwortlichen
Gebrauch gemacht hatte. Eklatante Fälle dieſer Art konnten
das Volk in der Weiſe erbittern, daß es nicht einmal bis
zum Tage des Gerichts wartete, um ſeinen Gefühlen Luft zu
machen. 164) Auf jeden Fall aber war es höchſt gewagt, in ſol-
cher Weiſe das Volk zu reizen, ſowohl für den, der je noch das
Geringſte von demſelben erwartete, als auch für den, der die
Gunſt deſſelben gar nicht ambirte. Was half es ihm, auf ſein
abſtractes „Recht“ zu pochen, wenn das Volk, der lebendige
Träger der Rechtsidee, der Anſicht war, daß er ſich ſeines
Rechts in einer Weiſe bedient habe, die dem Sinne deſſelben
widerſtrebe? Sein Unrecht und ſeine Strafwürdigkeit lag darin,
daß er ſich über die Sitte und das ſittliche Urtheil hinweggeſetzt,
daß er, ſich iſolirend auf den beſchränkten Standpunkt ſeines
ſubjektiven Rechts, die ſchuldige Rückſicht gegen die Gemein-
[149]A. Stellung des Indiv. Beſchränkung durch die Sitte. §. 31.
ſchaft, die ihm den Schutz deſſelben verlieh, außer Acht gelaſſen
hatte.


Wie ſchrumpft nun aber, wenn man ſich dies alles verge-
genwärtigt, jene abſtracte Freiheit des Privatrechts zuſammen,
oder richtiger geſagt wie ſehr verliert ſie das Unnatürliche, durch
das ſie uns bei oberflächlicher Betrachtung ſo ſehr abſtößt. Die
leere Tafel der abſtracten Freiheit bedeckt ſich mit allerhand
Limitationen, Vorausſetzungen, Beſchränkungen, die nicht min-
der wirkſam ſind, als wenn das Geſetz ſelbſt ſie aufgeſtellt hätte.
Die energiſche Kraft der Sitte, der Cenſor, die Wahlcomitien,
die Volksgerichte, das geſammte römiſche Leben mit allen ſei-
nen thatſächlichen Gewalten bildet den in der Regel überſehe-
nen Subtrahend des abſtracten Rechts, und wir brauchen nur
die Subtraction vorzunehmen, um ein ſehr verſtändiges prak-
tiſches Reſultat zu gewinnen. Daſſelbe lautet folgendermaßen.
Der Einzelne hat die ihm anvertraute abſolute Gewalt nur zum
Zweck des richtigen, nicht zum Zweck des rein willkühr-
lichen
Gebrauchs. Der Staat verbietet aber den Mißbrauch
nur ſoweit, als derſelbe abſolut und unbedingt verwerflich
iſt, d. h. ſolche Aeußerungen der ſubjektiven Gewalt, die ſchlecht-
hin, mögen die Vorausſetzungen ſein, welche ſie wollen, 165)
nicht zu dulden ſind, nicht aber diejenigen, die nur hypothe-
tiſch
ſich als Mißbrauch qualificiren laſſen. 166) Um ſie zu
verbieten, müßte das Geſetz in ein unüberſehbares Detail
von Vorausſetzungen und Möglichkeiten eingehen und würde
doch Gefahr laufen, bald zu wenig, bald zu viel zu thun.
[150]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Ein richtiges Urtheil hierüber iſt nur im concreten Fall mög-
lich, bleibt alſo dem Urtheil des Subjekts überlaſſen. Ein
Mißbrauch dieſes dem Subjekt geſchenkten Vertrauens wird
zwar nicht durch das Geſetz verhindert oder beſtraft, aber die
Stelle des todten Geſetzes vertritt hier als lebendiges Geſetz,
das ſich ganz dem concreten Fall anſchmiegt, der Cenſor, das
Volk und, wie wir unten ſehen werden, hinſichtlich der fami-
lienrechtlichen Gewalten, die Familie.


Daß die ſubjektive Freiheit nicht aus einer ſolchen Anſchau-
ung hervorgegangen ſein mag, gebe ich gern zu, iſt aber
völlig gleichgültig; genug in der Blüthezeit der Republik er-
ſcheint ſie thatſächlich in dieſer Weiſe moderirt und ſittlich ge-
rechtfertigt, und wir werden bei einem ihrer Hauptausflüſſe, der
hausherrlichen Gewalt, die beſte Gelegenheit haben, zu zeigen,
wie weit die wahre praktiſche Geſtalt des Verhältniſſes von der
abſtracten juriſtiſchen Formulirung abwich. Daher erſchien
denn, um ein Beiſpiel für eine frühere Behauptung zu geben,
die patria potestas einem Römer, der dieſelbe aus dem Leben
kannte, nicht als das nackte und in ſeiner Nacktheit unſittliche
Recht, die Kinder zu verkaufen, enterben, tödten u. ſ. w., ſon-
dern als eine durch die thatſächlichen Vorausſetzungen des Le-
bens begränzte und beſtimmte Erziehungsgewalt und
Oberhoheit des Vaters. Ja das rechtliche und ſittliche Element
des Inſtituts waren hier für die gewöhnliche Vorſtellung gewiß
ſo miteinander verwachſen, und im natürlichen Lauf der Dinge
kam auch ein Anlaß, ſie ſcharf zu trennen, ſo ſelten vor, daß bei
einzelnen Einrichtungen wenigſtens der Laie zweifelhaft ſein
konnte, ob das Recht oder die Sitte es ſo mit ſich bringe. Einen
eklatanten Beleg für dieſe Behauptung gibt das römiſche Famili-
engericht, ein Inſtitut, deſſen amphibienartige Natur unverkenn-
bar iſt und unſeren Rechtshiſtorikern bei dem von vornherein
verkehrten Verſuch, die ſich daran knüpfenden Fragen in juriſti-
ſcher
Weiſe d. h. als Rechts fragen zu behandeln und ſcharf
zu beantworten, natürlich nicht wenig zu ſchaffen gemacht hat.


[151]A. Stellung des Indiv. Syſtem der Autonomie. §. 31.

Wir wollen jetzt das Syſtem der Autonomie 167) im Einzelnen
kennen lernen. Von den einzelnen Ausflüſſen werden wir vor-
zugsweiſe Einen, den die abſtracte Auffaſſungsweiſe ganz be-
ſonders entſtellt hat, und an dem die von uns verſuchte Be-
trachtungsweiſe ihre Probe wird beſtehen müſſen, zum Gegen-
ſtand einer eingehenderen Darſtellung machen, nämlich die
hausherrliche Gewalt. Die übrigen Ausflüſſe werden wir kür-
zer behandeln können.


Die XII Tafeln hatten die Autonomie, wie bereits S. 68
mitgetheilt ward, nach drei wichtigen Seiten hin anerkannt:
hinſichtlich der Rechtsgeſchäfte unter Lebenden für das Nexum
und die Mancipation (Cum nexum faciet mancipiumve, uti
lingua nuncupassit, ita jus esto
), hinſichtlich letztwilliger Ver-
fügungen in Form des Teſtaments (uti legassit super pecunia tu-
telave suae rei, ita jus esto
) und ſodann hinſichtlich des Aſſocia-
tionsweſens (wo uns zwar nicht die Worte, aber doch der Inhalt
derſelben erhalten iſt: potestatem facit lex, pactionem, quam
velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant
).
Einen ſo reichen Inhalt jene Worte des Geſetzes auch in ſich
ſchloſſen, ſo reichte doch das Syſtem der Autonomie unendlich
viel weiter, als es in jenem Geſetz ausdrücklich anerkannt
war. In manchen Beziehungen war es in der römiſchen
Anſicht ſo feſtgewurzelt, daß man gar nicht auf die Idee kom-
[152]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
men konnte, dies noch erſt auszuſprechen, und darum wird die
Darſtellung des Syſtems jene Sätze nicht einmal zu ihrem Aus-
gangspunkt wählen, ſondern ſie nur geeigneten Orts 168) be-
rückſichtigen.


Wir beginnen mit dem Eigenthum. In keinem andern
Recht iſt wohl der reine Eigenthumsbegriff d. h. der Gedanke
der abſoluten Herrſchaft über die Sache, mit ſolcher Conſequenz
durchgeführt, als im ältern römiſchen. Dieſe Conſequenz könnte
ſich bis zu einem Punkt verirren, wo ſie die praktiſche Brauch-
barkeit des Inſtituts gefährden würde. Für bewegliche Sachen
iſt dies freilich kaum zu befürchten, 169) wohl aber bei unbeweg-
lichen, bei denen die ſtarre Durchführung des Freiheitsbegriffs
eine Iſolirung derſelben herbeiführen müßte, während doch
unter ihnen eine natürliche Abhängigkeit des Einen Grundſtücks
vom andern und ein gegenſeitiges Bedürftigkeitsverhältniß Statt
findet. Das römiſche Recht überläßt nun zwar das gegenſeitige
Aushülfsſyſtem im allgemeinen ganz der verſtändigen Verein-
barung der Partheien, 170) und ſorgt nur dafür, daß es nicht
über Gebühr ausgedehnt werde und in ein gegenſeitiges Be-
ſchränkungsſyſtem ausarte (§. 33). Allein gewiſſe Beſchränkun-
gen des Einen Grundſtücks im Intereſſe des andern waren doch
mit abſoluter Nothwendigkeit geboten. 171) Strenge genommen
könnte jeder Eigenthümer dem Lauf des Regenwaſſers auf ſei-
nem Grundſtück die Richtung geben, die er für gut fände, und
darin Aenderungen treffen, ſo oft es ihm beliebte. Daß dies
[153]A. Stellung des Indiv. Syſtem der Autonomie. Eigenthum. §. 31.
namentlich in einem Lande mit unebenem, abſchüſſigem Terrain
unausführbar iſt, die unendlich wichtige Waſſerfrage mithin
nicht der Willkühr des Einzelnen überlaſſen bleiben kann, liegt
auf der Hand. Hier trafen bereits die XII Tafeln die nöthige
Vorſorge. 172) Ebenſo kann jeder Eigenthümer ſeine Gebäude
u. ſ. w. verfallen laſſen, und der Strenge nach würde das
dadurch im äußerſten Grade gefährdete Intereſſe des Nachbarn
keinen Gegengrund abgeben. Das ältere Recht ertheilte aber
dem dabei Intereſſirten ein Schutzmittel; von welcher Beſchaf-
fenheit, wiſſen wir nicht, nur läßt ſich annehmen, daß es
hierbei mit nicht geringerer Mäßigung gegen den Eigenthümer
der ſchadhaften Sache verfahren iſt, als das ſpätere. 173) Letzte-
res verpflichtete nämlich den Eigenthümer nicht unbedingt zur
Reparatur und nicht einmal zum Schadenserſatz, wenn derſelbe
nicht im voraus verſprochen war, ſondern es ſtellte ihm nur die
Alternative: entweder dem Nachbar, wenn er darauf drang,
wegen des künftigen Schadens Sicherheit zu gewähren (cautio
damni infecti
), oder ihm die Reparatur und das Gefahr drohende
Werk ſelbſt abzutreten. Eine andere Beſchränkung, die bereits in
den XII Tafeln enthalten war, bezog ſich auf das einen um den
andern Tag verſtattete Aufſammeln des auf das benachbarte
Grundſtück gefallenen Obſtes, ſowie auf das Beſchneiden der
dem angränzenden Grundſtücke zu nahe ſtehenden Bäume. 174)
Auf dieſe Beſtimmungen hat ſich übrigens die Rückſicht auf den
Nachbarn auch beſchränkt; darüber hinaus legt ſie dem Eigen-
[154]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
thümer keine Beſchränkungen auf. 175) Aus baupolizeilichen
Gründen ſollte nach den XII Tafeln zwiſchen den Häuſern ein
Zwiſchenraum von 5 Fuß 176) gelaſſen werden und verbautes
fremdes Material vom Eigenthümer nicht vindicirt werden dür-
fen, dafür ward letzterem aber eine Klage auf das Doppelte des
Werthes gegeben (act. de tigno juncto).


Damit haben wir die Beſchränkungen des Eigenthums,
die dem ältern Recht angehören, genannt. Um ſich zu überzeu-
gen, wie verhältnißmäßig unbedeutend ſie ſind, wie wenig dieſe
Seite der Gebundenheit des Eigenthums gegenüber der Frei-
heit deſſelben in Betracht kommt, braucht man letztere nur eines
Blickes zu würdigen. Zunächſt und vor allem iſt die freie Ver-
äußerlichkeit
des Eigenthums feſtgehalten, das ältere Recht
kannte keine Veräußerungsverbote, 177) wie das ſpätere, keine
Befugniß dritter Perſonen z. B. der Gläubiger im Con-
curſe 178) geſchehene Veräußerungen zu widerrufen. Ein Ge-
ſichtspunkt, der anderwärts mannigfache Beſchränkungen des
Veräußerungsrechts wenigſtens für unbewegliche Sachen zur
Folge gehabt hat, iſt die Rückſicht auf die Familie. Für das
älteſte Recht ſahen wir uns zu der Annahme veranlaßt (B. 1,
S. 188 fl.), daß der Familie ein gewiſſes Einſpruchsrecht zu-
geſtanden habe, für die gegenwärtige Periode hat ſich das Ei-
genthum von dem Einfluß des Familienprinzips im Allgemeinen
frei gemacht. Es ließen ſich etwa nur noch zwei Punkte als
[155]A. Stellung des Indiv. Syſtem der Autonomie. Eigenthum. §. 31.
Spuren des ältern Syſtems bezeichnen: die cura prodigi179)
und die tutela mulierum.180) Wenn aber jener Geſichtspunkt
im Recht auch nicht weiter ſichtbar wird, ſo würde man ſich
doch irren, wenn man glaubte, als ob er den Römern fremd
geweſen, nicht im römiſchen Leben in freier Weiſe ſich wirkſam
gezeigt hätte. Das Recht erfaßt die Perſon allerdings in ihrer
abſtracten Iſolirtheit als ein aus dem natürlichen Zuſammen-
hange der Familie und der Reihenfolge der Geſchlechter losge-
riſſenes ſelbſtändiges Atom, aber das iſt wieder bloß die ab-
ſtracte Behandlungsweiſe, mit der ſich die natürliche Anſchau-
ung von jenem Zuſammenhange und die Bethätigung derſelben
auf dem Wege der Autonomie ſehr wohl vertrug. Den Glanz
der Familie aufrecht zu erhalten und zu dem Zweck das Vermö-
gen zu conſerviren, vermehren und auf die Nachkommen zu ver-
erben, ſchwebte auch dem römiſchen Geſchlechtsſtolz als würdi-
ges Ziel vor, 181) wie denn für die Beſchränkung des Erbrechts
der Frauen und die Weiber-Tutel ſchwerlich ein anderer Grund
aufgefunden werden kann, als die Abſicht, das Vermögen der
Familie d. h. dem Mannsſtamm zu erhalten. 182) Nur der Weg,
auf dem man es erſtrebte, war ein anderer, als bei uns. Das
Vermögen für alle kommenden Generationen an die Familie zu
binden, mußte den Römern aus verſchiedenen Gründen (ſ. z. B.
[156]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
§. 34) als eine Unmöglichkeit erſcheinen; der Uebergang des
Vermögens von einer Generation auf die andere konnte alſo nur
in Folge eines freien Willensaktes des jeweiligen Innehabers
vor ſich gehen. Aber gerade das unbeſchränkte teſtamentariſche
Dispoſitionsrecht, in dem man ſo gern einen Verſtoß gegen das
Familienprinzip erblickt, konnte demſelben im hohen Grade
dienſtbar werden, zwar nicht in der Weiſe, daß der Teſtator die
Sache belaſtete und dadurch das Intereſſe der Familie gegen
demnächſtige nachtheilige Dispoſitionen ſicherſtellte, wohl aber
in der Weiſe, daß er einen Erben, von dem derartige Dispoſi-
tionen zu befürchten waren, vom Stammgut ausſchloß und
bloß mit Geld bedachte. 183)


Ein anderer Ausfluß der Eigenthumsfreiheit war die unbe-
gränzte Theilbarkeit des Grundeigenthums. Sie iſt in
Rom nie geſetzlich beſchränkt worden und ſcheint hier auch keine
nachtheiligen Wirkungen geäußert zu haben. 183a) Woran die
Römer litten, war das entgegengeſetzte Extrem, die Anhäufung
des Grundbeſitzes in Einer Hand, die Latifundien, oder anders
ausgedrückt: die Verdrängung des freien Bauernſtandes durch
eine geringe Zahl großer Grundherren, ein Uebel, das die Rö-
mer ſelbſt als die Grundurſache des Verfalls betrachteten. 184)
Ob wir den Urſprung dieſes Uebels ſchon in eine frühe Zeit zu
[157]A. Stellung des Indiv. Syſt. der Autonomie. Eigenthum. §. 31.
verſetzen haben, hängt weſentlich von der Auffaſſung ab, die
man von der lex Licinia de modo agri hat. Bezieht man das
Geſetz nicht bloß auf den ager publicus, ſondern auch auf das
Privateigenthum, 185) ſo hat jenes Uebel ſchon in früher Zeit
(387 der Stadt) einen bedrohlichen Charakter angenommen
gehabt, weil man ſich entſchloß, ein Heilmittel dagegen an-
zuwenden, das ſich doch nicht anders, denn als ein Eingriff
in die Freiheit des Eigenthumsrechts bezeichnen läßt. Eben die-
ſer letzte Umſtand könnte von vornherein gegen jene Deutung
des Geſetzes bedenklich machen, und der Geſichtspunkt, der uns
auf dieſes Geſetz bringt, würde uns am wenigſten für jene An-
ſicht einnehmen, allein nach der Beſchaffenheit der Quellenäuße-
rungen läßt ſich, wenn man den Totaleindruck derſelben im Auge
behält, die Richtigkeit derſelben kaum bezweifeln. Wir müſſen
alſo zugeben, daß die Conſequenz des Eigenthumsbegriffs von
der lex Licinia durchbrochen iſt, und werden von dieſer An-
nahme aus in dem Geſetz nur einen neuen Beleg dafür finden,
daß der abſtracte Freiheitsbegriff in Rom ſich nicht auf Koſten
des Lebens rückſichtslos geltend machte, vielmehr im Fall ächter
Noth ſich dem Bedürfniß deſſelben unterzuordnen verſtand.
Schon hier aber begegnet uns jene charakteriſtiſche Erſcheinung,
von der bereits oben S. 61 ein der folgenden Periode angehö-
riges Beiſpiel mitgetheilt wurde, und die wir erſt dort im Zu-
ſammenhang werden würdigen können, nämlich die Beſchöni-
gung und indirekte Art der Beſchränkung. Das Geſetz nämlich
machte eine Ueberſchreitung ſeines Maßes nicht juriſtiſch un-
möglich, ſondern es ſetzte nur eine Strafe darauf, 186) begreif-
licherweiſe hoch genug, um den erwünſchten Erfolg indirekt zu
erzwingen, aber immerhin doch eine Art von Conceſſion an die
[158]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Ideen über die Unabhängigkeit des Eigenthums, eine Wendung
zu Gunſten des ſubjektiven Prinzips.


Für das Obligationen recht war das Prinzip der Auto-
nomie in dem bereits mitgetheilten Satz der XII Tafeln aus-
drücklich und ohne Einſchränkung anerkannt. Auch hier aber
verſtanden ſich nach den ſonſtigen Grundſätzen des ältern Rechts
nicht bloß manche Beſchränkungen von ſelbſt, z. B. daß die
Obligation nur auf Geld und Geldeswerth gerichtet werden
konnte, 187) ſondern das Geſetz fügte ſelbſt eine außerordentlich
wichtige hinzu: das Zinsmaximum des foenus unciarium.188)
Es war dies ein Punkt, auf den auch die ſpätere Geſetzgebung
oft zurückkam. Das Uebel, das man hier zu bekämpfen hatte,
war bekanntlich ein ſehr hartnäckiges, 189) und der Wucher ſehr
erfinderiſch, die geſetzlichen Beſtimmungen zu umgehen. 190) Im
Intereſſe der Freiheit ſelbſt mußte hier dies Prinzip der abſtra-
cten Freiheit verlaſſen werden. Man würde die Bedeutung der
Frage viel zu gering anſchlagen, wenn man meinte, daß ſie
bloß das ökonomiſche Loos der bedürftigen Klaſſen betroffen
hätte; es handelte ſich hier vielmehr in der That um die poli-
tiſche Abhängigkeit oder Unabhängigkeit derſelben. Vor den
XII Tafeln exiſtirte kein ſolches geſetzliches Maximum; 191) es
läßt ſich erwarten, daß je größer die Bedrängniß und die Noth
des Anleihers, je zweifelhafter ſeine Zahlungsfähigkeit war, um
ſo höhere Zinſen gefordert und zugeſichert wurden. In demſel-
ben Maße aber als der Schuldner durch die in raſcher Progreſ-
ſion 192) ſteigende Schuldenlaſt zu Boden gedrückt ward und die
[159]A. Stellung des Indiv. Syſt. der Auton. Obligationenrecht. §. 31.
Hoffnung aufgab, die Schuld jemals zu tilgen, gerieth er in
perſönliche Abhängigkeit von ſeinem Gläubiger, und man müßte
die Römer nicht kennen, um nicht zu wiſſen, daß ſie ſich dieſes
Mittels zu politiſchen Zwecken mit großem Erfolg bedient haben
werden. Das Darlehn diente als Handgeld, durch deſſen Annahme
der Schuldner in vielen Fällen faktiſch ſeine politiſche Frei-
heit einbüßte und zu ſeinem Gläubiger in ein gewiſſes Dienſt-
barkeitsverhältniß trat. Bei der geringſten Widerſetzlichkeit von
ſeiner Seite hatte letzterer es ja in ſeiner Hand, ihn total zu
ruiniren, d. h. als Sklaven in die Fremde zu verkaufen. Darum
war das Zinsmaximum der XII Tafeln, ſo hoch es auch nach
unſern Begriffen immerhin ſein mag, doch eine wahre Wohlthat
und eine Maßregel von politiſcher Bedeutung, und daher
wird es erklärlich, daß Bewegungen politiſcher Art in Rom
regelmäßig auch eine Richtung nach dieſer ökonomiſchen Seite hin
hatten 193) oder durch dieſelbe veranlaßt wurden, 194) ja daß ein
radikaler Volkstribun ſogar auf die abentheuerliche Idee kom-
men konnte, das Zinſennehmen geſetzlich ganz verbieten zu laſ-
ſen. 195) Dieſe Beſchränkung hinſichtlich der Zinſen war übri-
gens, ſo viel uns bekannt, der einzige poſitive Eingriff in
das Freiheitsprinzip des Obligationenrechts. Daß der Begriff
der Obligation ſelbſt ſowie der Formalismus des ältern
Rechts 196) der abſoluten Willkühr gewiſſe Schranken zog, die
aber nicht als poſitive Beſchränkungen des Willens aufzufaſſen
ſind, braucht kaum bemerkt zu werden.


Die Macht, die die Obligation dem Gläubiger über den
192)
[160]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Schuldner gewährte, richtete ſich in conſequenter Erfaſſung und
Durchführung des Verhältniſſes lediglich gegen die Perſon deſ-
ſelben, äußerte aber auf das Vermögen deſſelben nicht die ge-
ringſte Wirkung. Dieſe Beſchränktheit jener Macht in exten-
ſiver Hinſicht ward aber durch ihre Intenſivität reichlich aufge-
wogen. Die Perſon an ihren Wurzeln erfaſſend, riß ſie die-
ſelbe, wenn es zur Exekution kam, unrettbar in den Abgrund.
Dieſer Abgrund war die totale Vernichtung der perſönlichen
Exiſtenz, und zwar in zwei Formen: Verkauf des Schuldners
als Sklaven in die Fremde (trans Tiberim d. i. mit Ausſchluß
des jus postliminii), wenn nur Ein Gläubiger vorhanden
war, Zerfleiſchen des Schuldners von Seiten der Gläubiger,
wenn ihrer mehre waren. Beide Exekutionsmittel gaben den
erbitterten Gläubigern Gelegenheit zu furchtbarer Rache, und
es iſt gewiß ſtatthaft, dieſen Geſichtspunkt der Rache mit
hervorzuheben, 197) aber nur nicht ausſchließlich, denn beide
verfolgen doch zunächſt den Zweck, den Schuldner durch die
Gefahr, die ſie ihm drohen, zur Befriedigung ſeines Gläubi-
gers zu veranlaſſen. Je unabhängiger der Schuldner hinſicht-
lich ſeines Vermögens dem Gläubiger gegenüber daſtand,
je weniger letzterer ein direktes Mittel hatte, doloſe Veräuße-
rungen ſeines Schuldners zu verhindern, um ſo mehr mußte er
auf indirektem Wege dagegen geſichert ſein; je weniger der
Gläubiger wider Willen des Schuldners Zahlung erzwingen
konnte, um ſo mehr bedurfte es eines ausreichenden Mittels,
auf den Willen des Schuldners einzuwirken. Böswillige und
betrügeriſche Machinationen zum Nachtheil der Gläubiger, die
heutzutage in den ſeltenſten Fällen vereitelt werden können,
fielen nach dem ältern römiſchen Exekutionsſyſtem auf den
Schuldner ſelbſt zurück. Es konnte hier gegen den Willen des
Gläubigers wenigſtens nie vorkommen, daß der Schuldige der
verdienten Strafe entging. Freilich konnte auch den völlig
[161]A. Stellung des Indiv. Syſt. der Auton. Obligationenrecht. §. 31.
Schuldloſen, der durch Unglücksfälle zahlungsunfähig gewor-
den war, dieſelbe Strafe treffen. Aber auch hier laſſe man ſich
durch die bloße abſtracte Möglichkeit nicht ſchrecken; es kommt
darauf an, wie es ſich im Leben machte. Und wie ganz anders
ſich die Sache im Leben geſtaltete, als es nach dem abſtracten
Rechte hätte ſein können, läßt ſich gerade hier an einem eklatan-
ten Beiſpiel nachweiſen. Jenes Zerfleiſchen des Schuldners ſoll
nach dem Bericht der Römer nie vorgenommen worden ſein. 198)
Erklärlich! denn die verborgenen Zahlungsmittel und Hülfs-
quellen des Schuldners brachte die bloße Drohung mit der „peinli-
chen Frage“ an den Tag, und wo nichts vorhanden war, wagten
die Gläubiger es in ihrem eigenen Intereſſe nicht, dem römiſchen
Volk das Schauſpiel einer unmotivirten unmenſchlichen Grau-
ſamkeit zu geben. Mit dem Verkauf in die Fremde hatte es wohl,
eine ähnliche Bewandniß. Als Schreckmittel für einen zahlungs-
fähigen, aber zahlungsunluſtigen Schuldner reichte er vollkom-
men aus, bei verſchuldeter Inſolvenz mochte er oft genug
wirklich zur Ausführung kommen, da hier eine Nachſicht von
Seiten der Gläubiger oder eine Beihülfe von Seiten der Ver-
wandten, Freunde u. ſ. w. vielleicht eben ſo ſelten, wie umge-
kehrt bei unverſchuldeter Inſolvenz regelmäßig zu erwar-
ten war. Damit wollen wir das Loos des Schuldners auch im
letzten Fall keineswegs mit ſchönen Farben malen, denn die
Ausſicht auf die Gefahr, die ihm drohte, brachte ihn ganz in
die Hand des Gläubigers, und daß die Römer ſich einer ſol-
chen Gewalt mit Schonung und Humanität bedient hätten,
wird auch dem eifrigſten Verehrer derſelben nicht einfallen zu
behaupten. Vielmehr iſt es begreiflich, daß der Gläubiger dem
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 11
[162]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Schuldner das wenige, was er beſaß und erwarb, entzog, 199)
ja ihn ſelbſt zu perſönlichen Dienſtleiſtungen zwang 200) — alles
nicht erſt in Folge der Exekution, ſondern vor und zur
Abwehr
derſelben. Für den Gläubiger gab es dabei nur Eine
198)
[163]A. Stellung des Indiv. Syſtem der Auton. Erbrecht. §. 31.
rechtliche Schranke, das Verbot des Wuchers,201) aber faktiſch
noch eine andere, über die er ebenſo wenig ſich ohne Gefahr hin-
wegſetzen konnte, unſere bekannte: die öffentliche Meinung. 202)


Das Erbrecht iſt das Gebiet des Privatrechts, auf dem
das Prinzip der Autonomie die am weiteſten reichende Geltung
gefunden hatte. Von dem oben mitgetheilten Satz der XII
Tafeln, der alles auf den Willen des Teſtators ſtellte, gab es
mehr als zwei Jahrhunderte hindurch keine Ausnahme. Am
anſtößigſten erſcheint uns dieſe unbeſchränkte Teſtirfreiheit in
ihrer Richtung gegen die Familie, vor allem gegen die Kinder,
die der Vater ohne allen Grund enterben, ſo wie umgekehrt mit
der Wirkung einſetzen konnte, daß ſie ohne und gegen ihren
Willen Erben wurden. Nach unſern obigen Ausführungen wird
es nicht nöthig ſein zu bemerken, welche Bewandniß es auch
mit dieſem Recht hatte. Man konnte doch zu dem Vater das
Vertrauen haben, daß er ſich deſſelben gegen ſeine eignen Kinder
nicht in willkührlicher Weiſe bedienen werde. Nur die Eine Be-
merkung möge mir noch verſtattet ſein, daß nämlich die münd-
liche
Form der Teſtamentserrichtung 203) eine nicht unbedeu-
tende Garantie gegen den Mißbrauch jenes Rechts darbot. 204)


11*
[164]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.

2. Die hausherrliche Gewalt insbeſondere.

Das Haus ein Aſyl — äußere und innere Abgeſchloſſenheit deſ-
ſelben — Die drei Gewalten des Hauſes (über Sklaven, Kinder,
Frauen) — abſtract-rechtlicher Inhalt derſelben — wirkliche
Geſtalt derſelben im römiſchen Leben. Der Einfluß der
Familie.


XXXII. Das Haus hat für die privatrechtliche Herrſchaft
eine hohe Bedeutung. Es iſt nicht bloß der Urſitz derſelben und
ihr urſprüngliches Territorium, ſondern es behält auch, nach-
dem ſie ſich weit über die engen Gränzen deſſelben ausgedehnt
hat, einen beſonders ausgezeichneten Charakter für ſie bei, der
ſich auch auf das Vermögen erſtreckt, das das Haus in ſich
birgt. In dieſer räumlichen Gemeinſchaft der Perſonen und
Sachen, in dieſer Beſtimmung der Sachen für die unmittel-
bare perſönliche Exiſtenz und das Familienleben liegt für die
Sache ſelbſt ein ſittliches Moment, das dem von dieſer Aeußer-
lichkeit losgeriſſenen Vermögen völlig abgeht. 205) Die hervor-
ragendſte Stelle nimmt aber das Haus ſelber ein.


An das Haus knüpft das natürliche Gefühl die Vorſtel-
lung eines beſondern Friedens, der hier herrſchen ſoll, eines
Aſyls, das dem Bewohner einen Schutz gegen die Außenwelt
gewähren ſoll. Das Verlangen nach Selbſtändigkeit und Un-
abhängigkeit, dem die Außenwelt ſo oft die Gewährung ver-
ſagt, hier ſucht und verlangt es um ſo mehr ſeine Befriedi-
gung; in dieſem Zuſtande der räumlichen Abgeſchiedenheit und
des natürlichen Für-Sich-Seins iſt auch das Gefühl der recht-
204)
[165]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Haus. §. 32.
lichen Abgeſchiedenheit und des rechtlichen Für-Sich-Seins
d. i. der rechtlichen Perſönlichkeit ganz beſonders wach
und rege. Nirgends empfindet die Perſönlichkeit Verletzungen ſo
ſchwer, als hier; je mehr dieſelben mit dem Frieden contraſtiren,
den wir hier gewohnt ſind zu finden, um ſo bitterer die Kränkung.


Dieſe Vorſtellung von dem Frieden des Hauſes hat in man-
chen Rechten in der geſetzlich anerkannten Unverletzlichkeit des
Hauſes ihren Ausdruck gefunden, und ſo auch im ältern römi-
ſchen Recht. Zu dem oben ausgeführten Geſichtspunkt geſellte
ſich für Rom noch ein anderer hinzu, der das römiſche Haus zu
einem Heiligthum im eigentlichen d. i. religiöſen Sinn machte
und ihm den Charakter eines durch die Religion geſchützten
Aſyls verlieh. Das römiſche Haus nämlich wird nicht bloß
von Menſchen bewohnt, ſondern auch von Göttern, den Haus-
göttern. Den Hausherrn, ihren Prieſter, mit Gewalt aus ſei-
nem Hauſe zu ziehen, wäre eine Verſündigung gegen ſie ſelbſt
geweſen, und war daher durch das fas wie das jus gleichmäßig
unterſagt. 206) Ja es war ſogar zweifelhaft, ob man Jemanden
auch ohne alle Anwendung von Gewalt aus ſeiner Wohnung
vor Gericht fordern dürfe. 206a)


Hausſuchungen ſchienen den Römern hiermit nicht in Wi-
derſpruch zu ſtehen, denn es hatte nicht bloß in dem der dritten
Periode angehörigen Verfahren der quaestiones perpetuae207)
[166]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
der öffentliche Ankläger das Recht, ſie überall vorzunehmen, wo
er relevante Dokumente und Hausbücher, deren Beſitz abge-
läugnet wurde, vermuthete, ſondern in den XII Tafeln ward
ein privatrechtlicher Fall derſelben ausdrücklich hervorgehoben,
die Hausſuchung nach geſtohlenen Gegenſtänden. 208) Den Fall
einer Weigerung des Verdächtigen, die Hausſuchung vorneh-
men zu laſſen, hatte das Geſetz gar nicht vorgeſehen; ging die
Meinung des Geſetzes etwa dahin, daß der Widerſtand durch
Anwendung von Gewalt beſeitigt werden ſolle? Ein ſolcher
gewaltſamer Einbruch in das Haus hat etwas höchſt wider-
ſtrebendes; das prätoriſche Edikt vermied ihn dadurch, daß es
den Widerſetzlichen als geſtändig behandelte und mit der höch-
ſten Strafe belegte, 209) wahrſcheinlich ſchloß es aber, wie bei
der Lehre vom furtum überhaupt210) ſo auch hier ſich nur einer
alten Praxis an.


Ob es in dem andern Fall zur Anwendung von Zwangs-
maßregeln kam, oder ob die Strafe, die dem Widerſetzlichen
auch hier gedroht war, 211) das alleinige, aber gewiß ausrei-
chende 212) Mittel war, ſeinen Widerſtand zu brechen, laſſe ich
dahingeſtellt.


Abgeſehn hiervon war nun die äußere Abgeſchloſſenheit
des Hauſes prinzipiell anerkannt. 213) Ich möchte ihr eine in-
[167]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Familia. §. 32.
nere aus der Verfaſſung des römiſchen Hauſes hervorgehende
zur Seite ſtellen; worin dieſelbe beſteht, wird ſich erſt angeben
laſſen, wenn wir jene Verfaſſung ſelbſt, wie im Folgenden ge-
ſchehen ſoll, haben kennen lernen.


Der geſammte Inhalt des Hauſes und mithin das Gebiet
der hausherrlichen Gewalt heißt: familia,214) Hausweſen, der
Herr derſelben pater familias. Seine Gewalt wird von den
Römern ſelbſt, im offenbaren Anſchluß von dominus an do-
mus,
215)dominium genannt, allein wenn auch dieſes Wort
urſprünglich die haus herrliche Gewalt ſollte bezeichnet haben,
[168]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſo iſt doch der ſpätere und namentlich techniſche Gebrauch deſ-
ſelben auf das eigentliche Eigenthum beſchränkt. 216) Der regu-
läre Ausdruck der ſpätern Zeit für jene Herrſchaft iſt potes-
tas;
217) wenn auch vorzugsweiſe bei der patria potestas und
der Gewalt über Sklaven in Uebung, kam er doch auch bei den
andern Arten 218) der hausherrlichen Gewalt ſowie in ganz ge-
nerellem Sinn vor. Die ältere Zeit hatte dafür noch einen an-
dern: manus,219) der aber ſpäterhin, wenigſtens für den ge-
wöhnlichen techniſchen Gebrauch, 220) eine engere Bedeutung
erhielt.


Die Bezeichnung der verſchiedenen Beſtandtheile des Hau-
ſes, der Perſonen und Sachen, durch den Einen Ausdruck fa-
milia
beweiſt, daß die Sprache ſie unter Einen gemeinſamen
Geſichtspunkt zuſammenfaßte, aber es würde voreilig ſein zu
ſagen, daß dies der der rechtlichen Herrſchaft ſei, denn es
kann auch der der häuslichen Gemeinſchaft, wie das Haus ſie
begründet, geweſen ſein. Daß aber in der That jene verſchiede-
nen Beſtandtheile urſprünglich unter einen gemeinſamen recht-
lichen
Geſichtspunkt und zwar den der völligen Unterordnung
unter den Hausherrn zuſammengefaßt wurden, iſt bereits von
[169]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. §. 32.
Andern 221) behauptet und läßt ſich noch aus manchen Spuren
erkennen. Theils aus der Bedeutung und dem Gebrauch von
potestas und manus, Ausdrücken, die gerade die rechtliche
Stellung jener Beſtandtheile zum Hausherrn betreffen; ihre
urſprüngliche gleichmäßige Anwendbarkeit auf alle Arten der
Gewalt und die ſpätere Beſchränkung derſelben auf einzelne Arten
vergegenwärtigt ſprachlich dieſelbe Erſcheinung, die in der ma-
teriellen Entwickelung der einzelnen Inſtitute wiederkehrt, näm-
lich die Ablöſung der einzelnen Gewalten vom gemeinſamen
Stamm, das Zerfallen der urſprünglichen Einheit in einzelne
beſonders geſtaltete Herrſchaftsverhältniſſe. Mit dieſem letzten
Vorgange, den ich übrigens nicht erſt in das gegenwärtige Sy-
ſtem verlege, hörte die hausherrliche Gewalt auf ein juriſtiſch
nothwendiger und brauchbarer Begriff zu ſein. Wenn auch im
Leben die urſprüngliche Anſchauung von derſelben nicht ganz
untergehen mochte, und ſich ſelbſt in dem juriſtiſchen Ausdruck:
homines alieni juris (mit dem das Verhältniß aller haus-
unterthänigen Perſonen zu ihrem Herrn bezeichnet wird) erhal-
ten hat, ſo drängten doch für die juriſtiſche Betrachtung die
einzelnen Arten den Gattungsbegriff in den Hintergrund. Dies
muß um ſo erklärlicher erſcheinen, wenn man bedenkt, daß bei
der urſprünglichen Gleichheit ihres Inhalts, doch eine Ver-
ſchiedenheit hinſichtlich der Begründung (Erbeutung, Ge-
burt, Kauf) von jeher bei ihnen gegeben war, und daß der Ge-
ſichtspunkt der Entſtehungsweiſe für die römiſche Betrach-
tungsweiſe überall von beſtimmendem Einfluß geweſen iſt.


Es weiſt aber ſodann auch die innere Verwandtſchaft und
die ſpätere Geſchichte der einzelnen Gewalten auf eine urſprüng-
liche Einheit derſelben hin. Die innere Verwandtſchaft — denn
es iſt überall derſelbe Grundbegriff, der ſich in ihnen abſpiegelt,
nur nach Verſchiedenheit des Gegenſtandes etwas verſchieden
[170]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
gebrochen. So verſchieden die Perſon von der Sache iſt, ſo
ſehr, was erſtere anbetrifft, die natürliche Stellung der Frau
eine andere iſt, als die der Kinder, die der Kinder eine andere,
als die der Sklaven, ſo bedeutend endlich die Differenz iſt in
ſtaatsrechtlicher Hinſicht: in privatrechtlicher Beziehung ſind
nicht bloß die Perſonen unter ſich, 222) ſondern auch mit den
Sachen darin gleich, daß beide im weſentlichen ganz dem Wil-
len des Hausherrn anheimgegeben ſind, der ganze Ertrag und
Nutzen beider ihm zufällt. Er hat an jenen Perſonen nicht
Rechte, ſondern ihr ganzes Sein wird von ſeiner Gewalt er-
griffen und abſorbirt, wie ſich dies auch in der Bezeichnung der
hausunterthänigen Perſonen als homines alieni juris ausſpricht.
Dieſe ungeheure Gewalt des Hausherrn iſt nichts ſpezifiſch Rö-
miſches; das Römiſche ſteckt nur darin, daß ſie ſich in Rom
länger als anderwärts in ihrer urſprünglichen Fülle erhalten
hat. Sie iſt vielmehr nur ein Ausfluß patriarchaliſcher An-
ſchauungsweiſe, wie er ſich auch in andern Rechten findet, na-
mentlich auch im germaniſchen, und zwar hier in einer mit
der römiſchen Hausherrſchaft ſo unverkennbar verwandten Ge-
ſtalt, 223) daß man darin einen Reſt der urſprünglichen Rechts-
gemeinſchaft der indogermaniſchen Völker erblicken muß.


[171]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. §. 32.

Ich ſagte: auch die ſpätere Geſchichte der einzelnen Gewal-
ten weiſe auf die urſprüngliche Einheit hin. Dies nämlich in-
ſofern, als man von der Richtung, in der ſie ſpäter ſich bewe-
gen, auf die frühere zurückſchließen darf. Sie ſind divergirende
Linien, die im Laufe der Zeit immer weiter aus einander gehen,
deren Entfernung im gegenwärtigen Syſtem aber noch eine ſehr
unbedeutende iſt. Verlängert man die Linien rückwärts, ſo
trifft man bald den Punkt, wo ſie ſich ſchneiden, — den von
uns angenommenen gemeinſamen Ausgangspunkt der haus-
herrlichen Gewalt.


223)


[172]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.

Im dunkeln Gefühl jener urſprünglichen Einheit hat man
derſelben hie und da den verkehrten Ausdruck gegeben, das äl-
tere Recht behandle die Frau und Kinder als Sachen, die ma-
nus mariti
und die patria potestas ſeien Anwendungsfälle des
Eigenthumsbegriffs. 224) Die Abſurditäten, zu denen dies füh-
ren würde, 225) hätten eine ſolche Idee in der Geburt erſticken
müſſen. Die Sache iſt einfach die: das Eigenthum war nur
eine Spezies des Gattungsbegriffes, hatte alſo mit den übrigen
Spezies natürlich das Gattungsmerkmahl, abſolute Gewalt
des Hausherrn, gemein, aber nichts berechtigt uns, das Eigen-
thum auch nur als Prototyp der übrigen Gewalten hinzuſtellen,
geſchweige gar letztere im Eigenthumsbegriff aufgehen zu laſſen.
Nur der Sklav war Eigenthumsobjekt, ſtand alſo rechtlich der
Sache gleich.


Indem wir jetzt zur Darſtellung der einzelnen Gewalten
über die Hausangehörigen übergehen, wird es am geeignetſten
ſein, mit der über die Sklaven zu beginnen, weil ſich bei ihr
[173]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sklaven. §. 32.
der urſprüngliche Charakter der hausherrlichen Gewalt am rein-
ſten erhalten hat; bei den übrigen wird die Angabe der Punkte
genügen, hinſichtlich deren bei ihnen eine Abweichung Statt
fand.


1. Die herrſchaftliche Gewalt über die Sklaven.

Es laſſen ſich an jedem dieſer Gewaltverhältniſſe zwei Sei-
ten unterſcheiden, die perſönliche und vermögensrechtliche. Letzte-
re, die bei allen völlig gleich iſt, beſteht darin, daß die unterwor-
fene Perſon alles dem Herrn erwirbt, ſelbſt nichts Eignes ha-
ben kann. Dieſelbe iſt juriſtiſch, ſo zu ſagen, reiner Leitapparat
für den Herrn, durch den der Erwerb ſofort und ohne eine
Spur zurückzulaſſen, auf letztern übergeht. Von dem Willen
des Herrn iſt dieſe Wirkung völlig unabhängig, ſie tritt als
Conſequenz des ganzen Verhältniſſes mit Rechtsnothwendigkeit
ein und läßt ſich daher auch durch Verzicht von ſeiner Seite gar
nicht ausſchließen. Ein ſolcher Verzicht oder eine Ueberlaſſung
eines Vermögenstheils an die unterworfene Perſon (Peculium)
iſt daher, ſo ſehr der Herr immerhin ſich ſubjektiv dadurch ge-
bunden halten möge, rechtlich etwas völlig unwirkſames, ein
bloßes Faktum, das er in jedem Moment wieder aufheben kann.
Dieſer Geſichtspunkt der völligen rechtlichen Bedeutungsloſig-
keit des Pekuliums wurde im ältern Recht 226) nur bei einer
einzigen Gelegenheit, die nur bei Sklaven eintreten konnte, und
von der nachher die Rede ſein wird, außer Acht gelaſſen. Es
verſteht ſich demnach von ſelbſt, daß die juriſtiſche Unmöglich-
keit von Rechtsgeſchäften zwiſchen dem Gewaltinnehaber und
dem Untergebenen auch durch die Einräumung eines Pekuliums
nicht gehoben wurde. 227)


Unter der perſönlichen Seite jener Gewaltverhältniſſe
[174]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
verſtehen wir die perſönliche Unterordnung des Hausangehöri-
gen unter den Herrn. Letztere war bei dem Sklaven eine völlig
abſolute. 228) Man kann, um ſich den ungeheuern Inhalt der-
ſelben zu vergegenwärtigen, einzelne Dispoſitionen, die aus
dem abſoluten Belieben folgen, hervorheben, z. B. das Recht,
den Sklaven nach Luſt und Laune zu verheirathen, von Weib
und Kind zu trennen, zu verkaufen, verleihen, züchtigen, tödten;
ein anderes Intereſſe hat eine ſolche Aufzählung nicht. Das
Dürfen reichte hier wie bei einer Sache ſo weit, als das
Können.


Demnach ließ ſich die Gewalt über den Sklaven geradezu
als Eigenthum bezeichnen, und dies iſt von den Römern auch
geſchehen. 229) Conſequenzen, an denen ſich vorzugsweiſe die
praktiſche Realität dieſer Auffaſſung bewährt, da dieſe bei den
andern Gewaltverhältniſſen undenkbar ſind, ſind z. B. die Mög-
lichkeit des Miteigenthums, der bonae fidei possessio, der Thei-
lung des quiritariſchen und bonitariſchen Eigenthums, der Be-
ſtellung von jura in re am Sklaven, 230) der Dereliktion u. ſ. w.


Dieſe Gleichſtellung des Sklaven mit der Sache hatte aber
doch ihre Gränze, ſie bezog ſich nämlich nur auf die gleich-
mäßige Unterordnung beider unter den unbeſchränkten Willen
des Herrn; darüber hinaus verläugnete ſich ſelbſt im Sklaven
der Menſch nicht. So galten z. B. für die Sklaven-Ehe auch
die Verwandtſchaftsverbote, ſo war eine Injurie des Sklaven
möglich, 231) vor allem aber äußert ſich die Verſchiedenheit in
[175]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sklaven. §. 32.
der Möglichkeit der Freilaſſung des Sklaven. Das Recht
der Freilaſſung iſt ein für die Charakteriſtik der herrſchaftlichen
Gewalt höchſt bedeutungsvolles Moment. Der freie Entſchluß
des Herrn macht aus einem Gegenſtand, der bisher kaum etwas
anderes war als eine Sache, eine Perſon, einen römiſchen
Bürger, ja möglicherweiſe ſogar das Mitglied einer römiſchen
Familie. 232) So iſt nicht bloß die Tiefe, zu der jene Gewalt
die unterworfene Perſon herabdrückt, ſondern ebenſo wohl die
Höhe, zu der ſie dieſelbe erheben kann, gleich charakteriſtiſch.
Die Entfernung zwiſchen dieſen beiden Endpunkten iſt bei keiner
andern Gewalt eine ſo ungeheure, und es gibt kein zweites
Beiſpiel, woran die Vollgewalt des ſubjektiven Willens ſich in
ſo glänzender Weiſe bethätigte, als hier, wo derſelbe einſeitig
über eines der höchſten Güter der römiſchen Welt verfügte —
über das römiſche Bürgerrecht.


Dieſe Verwandlung der Sache zur Perſon war bei der ge-
wöhnlichen Freilaſſung Sache des Moments. Es konnte aber
auch, und zwar bei dem Legat der Freiheit unter einer Bedin-
gung eine Art von Mittelſtufe zwiſchen Perſon und Sache ein-
treten, und dieſes Uebergangsſtadium von der Sklaverei zur
Freiheit hat etwas höchſt Intereſſantes. Man mußte hier die
gewöhnlichen Grundſätze über die herrſchaftliche Gewalt ver-
laſſen, wenn der Zweck, um den es ſich handelte, erreicht wer-
den ſollte. Dem Erben jene Gewalt ungeſchmählert zuzuſprechen,
war undenkbar, beſonders wenn die Bedingung in einer Hand-
lung des Sklaven beſtand; 233) der Erbe hätte ihm dann ja die
231)
[176]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Vornahme der Handlung nur zu verbieten brauchen, um die
Freiheit zu verhindern. Als Bedingung war häufig das Auf-
bringen eines Löſegeldes geſetzt, und wenn nicht das Gegentheil
verordnet war, durfte der Sklav daſſelbe aus ſeinem Pekulium
nehmen; 234) es liegt aber auf der Hand, daß der Erbe durch
Entziehung des Pekulium die Erfüllung der Bedingung hätte
vereiteln können. Man ſieht, es bedurfte hier zur Erreichung
des Zweckes einer gewiſſen Selbſtändigkeit des Sklaven gegen-
über ſeinem jetzigen Herrn. Aber wie ließ ſich, ohne aller juri-
ſtiſchen Auffaſſung Hohn zu ſprechen, ein „Recht“ des Skla-
ven annehmen? Die Römer halfen ſich in dieſem Dilemma,
was zunächſt den Erben anbetrifft, in der Weiſe, daß ſie eine
objektive Gebundenheit deſſelben (ohne ein gegenüberſtehendes
Recht des Sklaven) herausbrachten, und zwar dadurch, daß ſie
eine Verhinderung der Erfüllung der Bedingung von Seiten
des Erben der Erfüllung derſelben gleich ſtellten. 235) Was ſo-
dann den Sklaven anbetrifft, ſo ließ ſich die ihm vortheilhafte
Dispoſition in der Weiſe an ihm befeſtigen, daß man ſie zu
einer rechtlichen Qualität des Sklaven als bloßer Sache nie-
derſchlagen ließ. 236) Dem Erfolg nach war alſo der Sklav dem
Erben gegenüber, ſoweit nöthig, ſelbſtändig.


[177]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sklaven. §. 32.

Die rechtliche Qualität der Sache war die Schale, die
den Keim der Perſon in ſich barg und ſchützte. 237)


Bei dieſer Gelegenheit mußte auch der vermögensrechtliche
Verkehr zwiſchen Herrn und Sklaven, der ſonſt vom Recht als
etwas rein Faktiſches völlig ignorirt wurde, rechtliche Bedeu-
tung gewinnen. Schulden und Forderungen zwiſchen Herrn und
Sklaven waren juriſtiſch ein Unding, konnten mithin auch nie vor
Gericht zur Sprache gebracht werden. Aber bei dieſer Gelegen-
heit, wo dem Pekulium des Sklaven, wenn die Abſicht des Teſta-
tors nicht völlig vereitelt werden ſollte, eine rechtliche Unverletz-
lichkeit zuerkannt werden mußte, 238) verhielt ſich dies anders, und
hier begegnen wir der intereſſanten Erſcheinung, jenen Verkehr
zwiſchen Herrn und Sklaven förmlich nach den Civilrechtsregeln
beurtheilt zu ſehen. 239) Man ſuchte zwar dieſe gewaltige Ab-
weichung von der Conſequenz der herrſchaftlichen Gewalt da-
durch etwas zu verdecken, daß man hier nur von obligationes
naturales
zwiſchen Herrn und Sklaven ſprach, 240) allein dies
war in der That nur eine Form; der Sache nach wurden bei
236)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 12
[178]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
dieſer 241) Gelegenheit Forderungen und Gegenforderungen an-
erkannt, der Sklav konnte alſo z. B., wenn es ſich um die
Abtragung der ihm auferlegten Summe handelte, Auslagen für
den Erben, wie umgekehrt letzterer Vorſchüſſe u. ſ. w. in Anrech-
nung bringen. Die Zeugniſſe, deren wir uns bedient haben,
gehören zwar erſt dem ſpätern Recht an, das Verhältniß ſelbſt
aber dem älteſten Recht. Die XII Tafeln enthielten bereits
eine darauf bezügliche Entſcheidung, 242) und wenn immerhin
die vollſtändige civiliſtiſche Durchbildung des Verhältniſſes erſt
ein Werk ſpäterer Zeiten ſein mag, ſo läßt es ſich auch für die
älteſte Zeit in ſeinen weſentlichen Grundzügen nicht anders
denken, als es hier geſchildert iſt.


Was dies Verhältniß der bedingten Freilaſſung für un-
ſern
Zweck beſonders intereſſant macht, iſt der Umſtand, daß
hier die Sklaverei gewiſſermaßen über ſich ſelbſt hinausgeht,
die abſolute Gewalt des Herrn über die Sache ſich an letzterer
ſelbſt bis zu einem gewiſſen Grade bricht. 243)


So das abſtracte Recht der Sklaverei! Hält man ſich nun
bloß hieran, wie es die herrſchende Anſicht thut, ſo muß
man nothwendigerweiſe zu einem völlig verkehrten Urtheil
über dies Inſtitut gelangen. So hat man ſich das Loos eines
römiſchen Sklaven wie das eines heutigen Negerſklaven vorge-
ſtellt 244) und ſich zu der Annahme verleiten laſſen, als ob das
[179]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sklaven. §. 32.
Inſtitut erſt in ſpäterer Zeit einen menſchlicheren Charakter an-
genommen habe, weil erſt in der Kaiſerzeit eine humane An-
ſchauungsweiſe innerhalb der Geſetzgebung ſichtbar
wird. Das Verhältniß möchte in Wirklichkeit gerade das ent-
gegengeſetzte geweſen ſein. Die Sitte ſicherte dem Sklaven in
alter Zeit ein weit beſſeres Loos, als es die Geſetzgebung ſpä-
terhin nur irgend vermochte. 245) Meiner Anſicht nach müſſen
wir in der Geſchichte der römiſchen Sklaverei zwei Perioden
unterſcheiden, nicht nach dem untergeordneten Geſichtspunkt,
wie die Geſetzgebung ſich zu dieſem Inſtitut verhalten, ſon-
dern nach dem Zuſchnitt und Charakter, den daſſelbe zu den
verſchiedenen Zeiten im Leben an ſich trug.


Dieſe Verſchiedenheit des realen Charakters der Sklaverei
in früherer und ſpäterer Zeit hatte ihren Grund theils in Mo-
menten, die der Sklaverei eigenthümlich waren, theils in den
allgemeinen Unterſchieden der frühern und ſpätern Zeit rück-
ſichtlich des Volkscharakters, der Sitte u. ſ. w.


Ein Umſtand, der für die faktiſche Geſtaltung der Sklaverei
in Amerika von größtem Einfluß iſt, inſofern er zwiſchen Herrn
und Sklaven eine unüberſteigliche Kluft offen hält, beſteht be-
kanntlich in der Racen-Verſchiedenheit zwiſchen Herrn und
Sklaven. Im ältern Rom war eine ſolche nicht vorhanden.
Der Sklav gehörte in der Regel einem benachbarten, nicht ſel-
ten einem ſtammverwandten Volke an, ſtand mit ſeinem Herrn
auf derſelben Bildungsſtufe, vielleicht gar auf einer höhern,
kurz der Abſtand zwiſchen beiden betraf nur das Rechtliche in
ihrer Stellung, nicht das rein Menſchliche. Wie änderte ſich
244)
12*
[180]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
dies aber in ſpäterer Zeit! In demſelben Maße, in dem die
beiden Hauptquellen, aus denen Rom ſeine Sklaven bezog, der
Krieg und der Sklavenhandel, ſich aus der Nähe von Italien
entfernten und nach Aſien, Afrika u. ſ. w. wandten, 246) wurde
der natürliche Abſtand zwiſchen Herrn und Sklaven ein im-
mer größerer. Es war nicht eine bloße Verſchiedenheit der
Sprache, Religion, Sitte u. ſ. w., die beide trennte, ſondern
ſehr häufig 247) die viel weitere Kluft zwiſchen Bildung und
Rohheit, zwiſchen Civiliſation und Barbarei, eine Kluft, die
nicht blos die Annäherung zwiſchen Herrn und Sklaven in
hohem Grade erſchweren, ſondern mit pſychologiſcher Nothwen-
digkeit die im Charakter des Herrn etwa vorhandene Härte,
Schroffheit, Willkühr u. ſ. w. entfeſſeln mußte. Die Herr-
ſchaft über Völker wie Individuen wird überall einen verſchie-
denen Charakter tragen, je nachdem die Beherrſchten aus dem-
ſelben oder aus einem andern Stoffe ſind, wie der Herrſcher.
Der amerikaniſche Sklav würde ein ganz anderes Loos haben,
wenn er dieſelbe Farbe trüge, wie ſein Gebieter!


Ein zweites unendlich wichtiges Moment war der Umſtand,
daß Kriegsgefangenſchaft urſprünglich und lange Zeit
die hauptſächlichſte Quelle der Sklaverei war. Von welchem
Einfluß dieſer Umſtand ſein mußte, liegt auf der Hand. Ein-
mal nämlich galt hinſichtlich der Kriegsgefangenſchaft völker-
rechtlich der Grundſatz der Reciprocität; die Römer erkannten
[181]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sklaven. §. 32.
den Satz, daß Kriegsgefangenſchaft Sklaverei begründe, auch
gegen ſich an. Ein Loos aber, das bei den Wechſelfällen des Krie-
ges auch den vornehmſten Römer jeden Augenblick treffen konnte,
ein Verhältniß, in das Tauſende von Römern gerathen waren und
immer wieder geriethen, mußte von vornherein ſchon mit ganz
andern Augen betrachtet werden, als das Verhältniß eines heuti-
gen Negerſklaven, in dem ja die in Amerika herrſchende Anſicht
nichts als den Zuſtand einer geringgeſchätzten, zum Dienen be-
ſtimmten Menſchenklaſſe erblickt. Der Geſichtspunkt einer Waare,
eines Handelsobjekts mochte juriſtiſch noch ſo ſehr begründet
ſein, faktiſch, meine ich, mußte dieſe Auffaſſung etwas Wider-
ſtrebendes haben. Faktiſch konnte ein Römer den kriegsgefan-
genen Feind, der in ſeiner Heimath vielleicht eine hervorragende
Stellung eingenommen, der ihm noch vor kurzem auf dem
Schlachtfelde als freier Mann und würdiger Gegner gegenüber ge-
ſtanden, der möglicherweiſe in nächſter Zeit ſchon durch ſeine Ver-
wandten eingelöſt ward, um zu dem Genuß aller ſeiner Rechte,
Würden u. ſ. w. zurückzukehren — faktiſch konnte ein Römer
einen Solchen nicht mit der Rückſichtsloſigkeit behandeln, nicht
mit der Verachtung auf ihn herabſehen, die die Sklaverei der
ſpätern römiſchen Zeit und vor allem die der Gegenwart charak-
teriſirt. 248) Es kommt hinzu, daß auch hinſichtlich der fakti-
ſchen
Behandlung des kriegsgefangenen Sklaven unter den in
Krieg verflochtenen Völkern ohne Zweifel eine Reciprocität
Statt fand, daß alſo die Römer darauf gefaßt ſein mußten, ſich
ſelbſt als Kriegsgefangene mit derſelben Strenge und Grau-
ſamkeit behandelt zu ſehen, die ſie gegen die gefangenen Feinde
übten. So begreift es ſich, daß der römiſche Senat aus
Gründen der Politik (aus Gründen der Menſchlichkeit that es
der Cenſor) Veranlaſſung nehmen konnte, ſich des Looſes der
[182]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Sklaven anzunehmen. 249) Die Unmenſchlichkeit eines einzelnen
Römers gegen ſeinen Sklaven konnte allen in feindlicher Ge-
walt befindlichen Römern die bitterſten Früchte tragen, ja Ur-
ſache werden, daß die faktiſche Geſtaltung der Sklaverei bei
allen benachbarten Völkern einen ſchrofferen Charakter annahm.


Ein drittes einflußreiches Moment war für die alte Zeit die
geringe Zahl der Sklaven. 250) Der Herr kannte jeden ein-
zelnen derſelben, was in ſpäterer Zeit oft abſolut unmöglich
war, er war mit ſeinen Schickſalen und ſeinen perſönlichen Zu-
ſtänden vertraut, und leicht ſtellte ſich ein Intereſſe für den
Sklaven, wohl gar ein genaueres Verhältniß zwiſchen beiden
ein. Als mit dem Ende der Republik und in der Kaiſerzeit die
Zahl der in dem Beſitz eines Einzelnen befindlichen Sklaven
ins Ungeheure wuchs, 251) mußte dies nothwendig einen ganz
andern Ton in das Verhältniß bringen. Der mildernde Ein-
fluß der perſönlichen Beziehungen fiel hinweg oder kam wenig-
ſtens nur der verhältnißmäßig kleinen Zahl derjenigen zu gute,
die die Aufmerkſamkeit des Gebieters erregt hatten oder durch
ihren Dienſt in ſeine Nähe gebracht wurden; die übrigen ſtan-
den ihm, ſo zu ſagen, als fungible, abſtracte Weſen fremd und
fern gegenüber.


Wichtiger noch als dieſes Moment iſt ein anderes, auf das
auch die Römer ſelbſt 252) für die alte Zeit ein entſcheidendes
Gewicht legen, nämlich die Gemeinſamkeit der Arbeit und
[183]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sklaven. §. 32.
des häuslichen Lebens. Der Sklav der ſpätern Zeit war ein
Diener, der der alten ein Gehülfe des Herrn. Darin liegt
aber außerordentlich viel. So lange noch der Römer gemein-
ſchaftlich mit Sklaven und Kindern das Feld beſtellte, war der
äußere Abſtand zwiſchen Herrn und Sklaven kein ſo hoher.
Jeder Tag führte ſie zuſammen, jede gemeinſame Arbeit näherte
ſie einander und brachte ſie in ein vertrauteres und trauliches
Verhältniß. Die eigene Anſtrengung lehrte den Herrn, dem
Sklaven nichts unmögliches zumuthen ſowie die Brauchbar-
keit und Tüchtigkeit des Sklaven beurtheilen und anerkennen.
Eingeweiht in das Innerſte des Familienlebens, gegenwärtig
ſelbſt beim Hausgottesdienſt, die Leiden und Freuden der Fa-
milie theilend, den Kindern von früh auf nahe und für ihr
ganzes Leben ein Gegenſtand der Anhänglichkeit, war der Sklav
in der That ein Glied der Familie und ward auch als ſolches
angeſehen und behandelt. 253) Daß die herrſchaftliche Gewalt
aber bei dieſer Geſtaltung des Verhältniſſes nicht das Ge-
häſſige 254) haben konnte, das wir heutzutage in völlig un-
hiſtoriſcher Weiſe in ſie hineintragen, bedarf kaum der Er-
wähnung.


[184]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.

Wenn dies nun, wie hiſtoriſch unzweifelhaft, das wahre
Verhältniß der Sache iſt, ſo können wir uns ſelbſt ſagen, unter
welchem Geſichtspunkt die öffentliche Meinung eine grauſame,
unmenſchliche Behandlung des Sklaven auffaſſen mußte, näm-
lich nicht als einen gleichgültigen Akt und als bloßen Ge-
brauch
der herrſchaftlichen Gewalt, ſondern als einen ſittlich
verwerflichen Mißbrauch derſelben. Den ſchlagendſten Be-
weis dafür lieferte auch hier wieder der Cenſor, der die Herren
in einem ſolchen Fall zur Verantwortung zog. 255) Mancherlei
Einflüſſe, Rückſichten, Umſtände waren auch hier thätig, um
die Gewalt in Wirklichkeit auf ein ganz verſtändiges Maß zu-
rückzuführen. Wie manches, was der Herr gern hätte thun
mögen und rechtlich hätte thun dürfen, mochte er in alter Zeit
unterlaſſen aus Scheu ſei es gegen die öffentliche Meinung, ſei
es gegen den Sklaven ſelbſt. Die Sitte hatte auch hier einmal
gewiſſe Normen aufgeſtellt, von denen der Einzelne, ohne ſich
dem öffentlichen Gerede auszuſetzen, nicht abgehen konnte,
ſo z. B. hinſichtlich der Beköſtigung 256) und der Bekleidung der
Sklaven. 257) Die scriptores rei rusticae enthalten über die Be-
handlung und das Loos der zum Landbau verwandten Sklaven
manche bemerkenswerthe Notizen. Ueberall wird die gerechte,
anſtändige und rückſichtsvolle Behandlung derſelben einge-
254)
[185]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sklaven. §. 32.
ſchärft, 258) namentlich auch dem abweſenden Herrn zur Pflicht
gemacht, die Vorgeſetzten der Sklaven ſtreng zu controli-
ren und den Sklaven häufig Gelegenheit zu geben, ihre Be-
ſchwerden vorzubringen. Selbſt an einer gewiſſen perſönlichen
Unabhängigkeit und Behaglichkeit fehlte es, in manchen Stel-
lungen wenigſtens, dem Sklaven nicht. So warnte Cato, 259)
die Frau des Aufſehers (villica) ſolle nicht zu großen Luxus,
nicht zu lebendigen Verkehr mit den Nachbarinnen treiben,
nicht auswärts zu Tiſch gehen.


Beſondere Hervorhebung verdient das Pekulium. Es lag
ganz im Geiſte der römiſchen Sparſamkeit und Erwerbſucht,
daß man dieſe Eigenſchaften auch bei Sklaven zu erwecken ſuch-
te. Dies war aber nur unter der Vorausſetzung möglich, daß
der Sklav die Ausſicht hatte, das erworbene Vermögen zu be-
halten. Sicherlich galt es in Rom als ehrenrührig, dem Skla-
ven das Pekulium ohne die dringendſten Gründe zu entziehen. 260)
Den Grund zu demſelben legte entweder ein Geſchenk oder Vor-
ſchuß des Herrn 261) oder die häusliche Erſparniß des Sklaven
[186]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
an Speiſe und Trank; der Betriebſamkeit und fortgeſetzten Spar-
ſamkeit deſſelben blieb es überlaſſen, es zu vermehren. Sorg-
loſigkeit in dieſer Beziehung galt als ein ſchlechtes Zeichen. 262)
Wenn es nun dem Sklaven damit glückte, ſo bot ihm das Pe-
kulium theils Gelegenheit ſich loszukaufen 263) (häufig mochte
der Herr ihm ſchon im voraus die Summe bezeichnet haben),
theils ſich ſeine Lage behaglicher zu machen z. B. durch Ankauf
eines vicarius, der zu ihm im Verhältniß des Dieners zum
Herrn ſtand. 264) Es kam auch vor, daß der Herr den Sklaven
ganz ſich ſelbſt überließ und ſich mit Miethzins oder einer Tan-
tieme vom Verdienſt begnügte. 265) Beſondere Conceſſionen von
Seiten des Herrn wurden auch wohl eigens erkauft; ſo ließ
Cato ſich z. B. den Heirathsconſens bezahlen. Aus allem die-
ſen geht aber hervor, daß man dem Sklaven faktiſch eine Art
vermögensrechtlicher Selbſtändigkeit zugeſtand, das Pekulium
im Leben als ſein Vermögen reſpektirte. Der Sklav ſelbſt
mochte ſich in dem Beſitz deſſelben ſeinem Herrn gegenüber eben
ſo ſicher und berechtigt fühlen, wie die Beſitzer des ager publi-
cus
oder des solum provinciale gegenüber dem Staat. Dem
abſtracten Recht nach ſtand der Provincialgrund und Boden im
Eigenthum des Staats, und die Beſitzer deſſelben hätten weder
rechtlich noch faktiſch die Einziehung ihres Beſitzes von Seiten
des Staats verhindern können; aber eine ſolche kam eben nicht
vor, und Niemand beſorgte ſie. Und ſo war es gewiß auch mit
dem Eigenthum des Herrn am Pekulium des Sklaven, wenig-
ſtens bei allen Leuten von Ehre und Rechtlichkeit. Es begriffe ſich
ſonſt ja nicht, wie ein Herr darauf hätte kommen können von
[187]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sklaven. §. 32.
ſeinem Sklaven zu leihen, anſtatt ihm einfach das Geld, das
er nöthig hatte, wegzunehmen.


Daß die Lage der Sklaven keine ſo bemitleidenswerthe war,
wie man ſich denkt, geht ſchließlich noch aus dem großen Vertrauen
hervor, das man ihnen erwies, indem man ſie z. B. mit Geldſen-
dungen und andern werthvollen Transporten über See und in
weite Ferne ſchickte. Wenn das Loos der Sklaven ein ſo gräßli-
ches geweſen, ſo hätte man das in der That doch nicht wagen
können. 266) Es geht dies ferner hervor aus den rührendſten Zü-
gen der Anhänglichkeit, die die Sklaven ihren Herrn bewieſen
und zwar in Verhältniſſen bewieſen, wo effektiv die Macht der Her-
ren über ſie gebrochen war, ſie ſelbſt alſo völlig frei waren. 267)


Ein anderer Punkt, der den Geiſt, in dem die Sklaverei bei
den Römern gehandhabt wurde, charakteriſirt, iſt die Häufigkeit
der Freilaſſungen. Für die folgende Periode iſt das Material
für dieſe Frage ſehr reichhaltig, für die gegenwärtige dürftig.
Es war in ſpäterer Zeit herkömmlich, unter gewiſſen Voraus-
ſetzungen dem Sklaven die Freiheit zu ſchenken, 268) ja es galt als
Ehrenpunkt, recht viel Freigelaſſene zu haben; es artete die Ge-
neigtheit zur Freilaſſung in eine wahre Sucht aus, der die
Geſetzgebung entgegentreten mußte. Welch bedeutenden Bruch-
theil der römiſchen Bevölkerung in ſpäterer Zeit die Freigelaſſe-
nen bildeten, geht aus manchen Zügen hervor. Ich will einen
namhaft machen. Unter den 21 Grammatikern, die Sueton in
ſeiner Schrift de grammaticis (c. 3—24) aufführt, befinden
ſich nicht weniger als 13, bei denen ausdrücklich erwähnt wird,
daß ſie Freigelaſſene geweſen ſeien. Er berichtet ebendaſelbſt
[188]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
(c. 3) von Einem derſelben, der für die unglaubliche Summe
von 700000 Seſtertien (ungefähr 30000 Thlr.) gekauft und
gleich darauf von ſeinem Herrn freigelaſſen wurde. Daß aber
ſchon in alter Zeit die Zahl der Freilaſſungen eine nicht unbe-
deutende geweſen ſein muß, geht daraus hervor, daß die vice-
sima manumissionum,
die im Jahre der Stadt 398 eingeführt
wurde, ſchon von vornherein eine beträchtliche Einnahmsquelle
des Aerars bildete. 269)


Es war bei der vorliegenden Darſtellung nicht ſowohl
darum zu thun, eine bisher in der Regel falſch beurtheilte Seite
des römiſchen Lebens im richtigen Lichte zu zeigen, als vielmehr
den wahren Sinn der herrſchaftlichen Gewalt zu ermitteln, zu
zeigen nämlich, daß letztere nicht den Zweck habe, die Rohheit
und Willkühr des Herrn gegenüber einem wehrloſen Sklaven
zu legaliſiren, ſondern den Zweck, dem Herrn im Vertrauen auf
ſeine Gerechtigkeit und Menſchlichkeit und unter der durch den
Cenſor geübten Oberaufſicht des Staats ein auch für die exor-
bitanteſten Fälle vollkommen ausreichendes Hausregiment
über ſein Geſinde zu geben. Erkennt man in der Gewalt des
römiſchen Vaters über den Sohn heutzutage mit Recht eine Art
Strafgerichtsbarkeit, ſo möge man auch für die herrſchaftliche
Gewalt eine gleiche Beſtimmung 270) annehmen und damit der-
ſelben ein ſittliches Motiv und einen ſittlichen Charakter ver-
leihen, der uns zwar mit der Thatſache der Sklaverei nie
wird ausſöhnen können, wohl aber bis zu einem gewiſſen
[189]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Die patr. pot. §. 32.
Maße mit der gerade am meiſten angefochtenen Unbe-
ſchränktheit
jener Gewalt im ältern Recht.


2. Die väterliche Gewalt.

Der rechtliche Zuſchnitt der väterlichen Gewalt 271) war, wie
bemerkt, bis auf weniges derſelbe, wie der der herrſchaftlichen,
und wir werden daher nur die Differenzpunkte beider zu erwäh-
nen haben.


Es iſt aber wohlgemerkt nicht vom Unterſchiede der Kinder
und Sklaven in abſoluter Beziehung 272) die Rede, ſondern nur
von der etwaigen Differenz hinſichtlich ihres relativen Verhält-
niſſes zum Herrn. Trotz der gewaltigen Verſchiedenheit beider
in erſter Beziehung war doch dieſes ihr relatives Verhältniß ur-
ſprünglich ganz daſſelbe. Auch die Kinder alſo konnten nichts
Eigenes haben, 273) auch ſie waren dem jus necis ac vitae des
[190]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Vaters unterworfen, auch ſie konnte er verkaufen, freilaſſen
oder lebenslänglich in der Gewalt zurückbehalten, ſie verhei-
rathen und die Ehe wieder trennen u. ſ. w. Worin beſtand
denn jene Differenz? Es läßt ſich für das ältere Recht nur eine
einzige wirklich nennenswerthe nachweiſen, nämlich die in den
XII Tafeln enthaltene Beſchränkung des Veräußerungsrechts:
der Sohn, den der Vater drei Mal verkauft habe, ſolle fortan
frei ſein. Wie konnte von einem dreimaligen Verkauf die Rede
ſein? war nicht der Sohn bereits mit dem einmaligen definitiv
aus der Gewalt herausgekommen? Die Sache iſt die, daß das
in dieſer Weiſe (nicht alſo durch noxae datio) begründete
Mancipium am Sohn mit jedem Luſtrum (dem Abſchluß der
Cenſusperiode) aufhörte. 274) Wenn aber der Vater nur für ein
Luſtrum verkaufen konnte, ſo ließ ſich der Verkauf nicht als eine
definitive Entäußerung der väterlichen Gewalt betrachten, ſon-
dern nur als eine zeitweiſe Suspendirung derſelben, d. h. alſo
mit dem Wegfallen des Mancipiums wachte die väterliche Ge-
walt wieder auf. Die wohlthätige Intention jener liberirenden
Wirkung des Cenſus ließ ſich aber durch ſtets wiederholten Ver-
kauf völlig vereiteln; verhindert, das Kind mit Einem Male
auf Lebenszeit zu verkaufen, veräußerte der Vater es mit jedem
Luſtrum von neuem. Hier griffen nun die XII Tafeln in das
Recht des Vaters ein, indem ſie es auf dreimalige Ausübung
beſchränkten. Da ſie nur des Sohnes Erwähnung gethan
hatten, ſo wandte die Interpretation die Beſtimmung auf Töch-
ter und Enkel nicht an, legte vielmehr hinſichtlich ihrer ſchon
dem einmaligen Verkauf die Wirkung bei, die patria potestas
zu konſumiren.


Dieſer Eingriff des Geſetzes in die patr. pot. hat etwas
Lehrreiches. Es muß nämlich auffallen, daß das Geſetz den
Sohn gegen ein verhältnißmäßig geringes Uebel ſicher ſtellte,
ihn aber gegen weit größere Gefahren völlig ſchutzlos ließ.
[191]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Die patr. pot. §. 32.
Eben dieſe Erſcheinung aber muß auf den richtigen Geſichts-
punkt führen, unter dem die väterliche Gewalt aufzufaſſen iſt.
Sie zeigt nämlich, daß das Geſetz gegen das Loos der Kinder
nicht theilnahmlos iſt. Die Verwerthung des Kindes durch
ein- und zweimaligen Verkauf konnte unter Umſtänden ſich als
gerechtfertigt oder verzeihlich denken laſſen, die dreimalige Aus-
übung dieſes Rechts hingegen erſchien dem Geſetz als ein ab-
ſolut verwerflicher, ſchmählicher Mißbrauch der väterlichen Ge-
walt, der den Innehaber fortan derſelben unwürdig und ver-
luſtig machte. Alſo: das Geſetzerkannte es als Pflicht
des Vaters an, ſich dieſes Mißbrauchs zu enthal-
ten
. Einen Mißbrauch des jus necis ac vitae würde das Geſetz
viel weniger gebilligt haben; warum verbot es ihn nicht, wenn
es den geringeren verbot? Offenbar weil es ihn nicht be-
fürchtete.


Die Römer ſcheinen eine Löſung des Bandes zwiſchen Vater
und Sohn, ſei es durch Verkauf, ſei es durch Freilaſſung, ſei
es durch Uebertragung der patr. pot. auf einen Andern (in adop-
tionem datio
) nicht mit günſtigen Augen angeſehen zu haben.
Nach der Form dieſer beiden letzten Rechtsgeſchäfte zu ſchließen,
haben ſich dieſelben erſt nach den XII Tafeln gebildet, 275) und
wenn man bedenkt, daß ſie gegenüber der Bedeutung und Auf-
faſſung der Familie in alter Zeit etwas Unnatürliches enthal-
ten, läßt ſich dies auch wohl begreifen.


Der Zuſtand, in den das Mancipium den Sohn brachte,
hatte nach Ausſage der Römer eine gewiſſe Aehnlichkeit mit der
Sklaverei, allein mehr faktiſch, als rechtlich. Denn in rechtlicher
Beziehung beſtanden ſehr weſentliche Verſchiedenheiten zwi-
ſchen beiden Verhältniſſen, namentlich die Verantwortlichkeit
[192]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
des Mancipatars 276) und die Unübertragbarkeit des Manci-
piums. 277)


3. Die eheliche Gewalt.

Es gab bekanntlich zwei Arten der Ehe, die Ehe mit manus
und ohne manus. Erſtere enthielt im weſentlichen nur einen
Anwendungsfall der hausherrlichen Gewalt. Die Stellung der
Frau unterſchied ſich in vermögensrechtlicher Beziehung in
nichts von der der Sklaven und Hauskinder, 278) es bedarf alſo
nur die perſönliche Seite des Verhältniſſes einer Berückſich-
tigung.


Daß die manus auch in dieſer Beziehung im weſentlichen
[193]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Ehe mit manus. §. 32.
der patr. pot. gleich geweſen, wird von Manchen bezweifelt.
So meint man namentlich, daß die Ausübung des jus necis ac
vitae
hier nicht bloß der Sitte, ſondern dem Recht nach an
die Zuziehung des Verwandtengerichts geknüpft geweſen ſei.
Ich halte dies für unrichtig und werde dieſen Punkt unten bei
Gelegenheit des mildernden Einfluſſes der Sitte behandeln.
Hinſichtlich der Dauer dieſes Gewaltverhältniſſes verläugnet
ſich die Conſequenz der hausherrlichen Gewalt auch darin nicht,
daß nur der Mann, nicht aber die Frau das Verhältniß auf-
heben konnte. Möglich, daß die Scheidung bei einer confarre-
irten Ehe 279) urſprünglich mit Schwierigkeiten verbunden war;
für die gegenwärtige Periode läßt ſich das unbeſchränkte Schei-
dungsrecht des Mannes auch hinſichtlich der confarreirten Ehe
nicht bezweifeln.


Nur hinſichtlich Eines Punktes ſind Zweifel möglich, die
ich nicht zu entſcheiden wage, nämlich darüber, ob der Mann
die Frau, ſei es zum Zweck des Verkaufs oder der noxae datio
habe ins Mancipium geben können. Daß die Sitte dies als
einen ſchmählichen Frevel gegen die Heiligkeit der Ehe verpönt
haben mag, läßt ſich begreifen, und das angebliche Verbot des
Romulus 280) hat wohl keinen andern Sinn. Davon iſt aber
die Frage von der rechtlichen Statthaſtigkeit jener Maßregel
wohl zu unterſcheiden. Für die Annahme derſelben ſpricht der
Umſtand, daß der Scheinverkauf der Frau in ſpäterer Zeit auf
die Möglichkeit eines ernſtlichen Verkaufs in früherer Zeit hin-
zuweiſen ſcheint; gegen dieſelbe, daß Gajus dem Manne das
Recht der noxae datio ſeiner Frau ausdrücklich abſpricht, ohne
anzudeuten, daß darin eine Singularität zu finden ſei. Das
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 13
[194]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Weſen der hausherrlichen Gewalt gewährt uns hierfür keine
Anhaltspunkte, weil hier ein Geſichtspunkt eingreift, der den
Mangel des Verkaufsrechts völlig erklären würde. Wenn, wie
wir oben geſehen haben, der Verkauf des Sohnes nur ein rein
perſönliches, unübertragbares Recht des Käufers begründete,
ſo konnte derſelbe Geſichtspunkt möglicherweiſe auch für die
Uebertragung der Tochter in die manus des Schwiegerſohnes
aufgeſtellt, auch hier der Verkauf 281) in derſelben Weiſe inter-
pretirt werden; das Moment des perſönlichen Vertrauens zu
dem Empfänger waltete hier in noch höherem Grade ob. Mit
allgemeinen Gründen läßt ſich daher ſchwerlich etwas aus-
richten.


Bis hieher hat ſich uns alſo bei den einzelnen Gewaltver-
hältniſſen noch nichts dargeboten, was als eine weſentliche Ab-
weichung von dem Grundtypus der hausherrlichen Gewalt gel-
ten könnte. So lange letztere dauerte, waren Frau, Kinder,
Sklaven ihr im weſentlichen in gleicher Weiſe unterworfen.
Nur bei dem bürgerlichen oder natürlichen Tode des Hausherrn
ging das privatrechtliche Schickſal dieſer Perſonen weit ausein-
ander. Die Sklaven und die in mancipio Befindlichen blieben,
was ſie waren, paſſive Beſtandtheile der familia, und wechſel-
ten nur ihren Herrn, die Enkel und Enkelinnen fielen unter die
potestas ihrer Väter, die übrigen Perſonen wurden sui juris.
Aber mit Unterſchied; denn die unmündigen Kinder und die
Frau kamen unter die Tutel der nächſten Agnaten, alſo der
mündigen Brüder und Söhne, die mündigen Söhne aber wur-
den völlig ſelbſtändig. Uns intereſſirt an dieſer Auflöſung der
familia nur der Einfluß, den der Hausherr durch teſtamenta-
riſche Anordnung auf das Schickſal der familia nach ſeinem
Tode ausüben konnte. Dieſer Einfluß äußerte ſich nach drei
Richtungen hin, nämlich einmal in der unbeſchränkteſten Dis-
poſition über das Vermögen, ſodann in der Freilaſſung der
[195]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Ehe ohne manus. §. 32.
Sklaven und in mancipio befindlichen Perſonen und endlich in
der Ernennung von Tutoren für die Frau, Töchter und die un-
mündigen Söhne. Den mündigen Söhnen hingegen konnte der
Vater ihre perſönliche Selbſtändigkeit durch keine Anordnung
verkümmern; hinſichtlich der freien Perſonen läßt ſich alſo die
tutela testamentaria als die letzte Nachwirkung der hausherr-
lichen Gewalt bezeichnen.


Es verbleibt uns noch die Ehe ohne manus. Die Manus-
Ehe hatte für den Fall, daß ein Frauenzimmer, das sui juris
war, heirathen wollte, ihre Anſtände; nicht ſowohl der Frau,
als ihrer geſetzlichen Tutoren wegen. Denn die capitis de-
minutio,
welche die Frau durch Eintritt in die manus erlitt,
hatte die Wirkung, daß die Tutel erloſch und das Vermögen
der Frau, welches nach ihrem Tode an die Tutoren gefallen
wäre, und deſſen Conſervirung der weſentliche Zweck der Tutel
war, 282) auf den Mann überging. Für die Frau hatte dieſe
Veränderung nichts Nachtheiliges, im Gegentheil konnte ſie
dieſelbe nur wünſchen, denn auf dieſem Wege gelangte bei
ihrem und ihres Mannes Tode das Vermögen an die Kinder,
im andern Fall hingegen an die Tutoren als die nächſten
Agnaten. Aus demſelben Grunde aber waren letztere aufs
höchſte dabei intereſſirt, daß die Frau keine Manus-Ehe ein-
ging, und da es dazu ihrer Autoritas bedurfte, 283) ſie zur Er-
theilung derſelben aber nicht gezwungen werden konnten, 284) ſo
13*
[196]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
hatten ſie es ſelbſt in der Hand, jene Ehe zu verhindern. Bei
dieſem Conflikt der Intereſſen der Agnaten und der Mündel gab
es nur Ein Auskunſtsmittel, die Eingehung einer Ehe ohne
manus, und es iſt wohl keine zu kühne Hypotheſe, 285) daß dieſe
Art der Ehe an dieſem Punkt, wo ſie ein völlig unab-
weisbares Bedürfniß war
, 286) zuerſt zum Vorſchein ge-
kommen und vorzugsweiſe für dieſes Verhältniß beſtimmt ge-
weſen ſei. Was ſollte ſonſt der Grund der Ehe ohne manus
geweſen ſein? Wenn man von der durch gar nichts belegten
Annahme, 287) daß der Gegenſatz der Ehe mit und ohne manus
auf einen ethniſchen Gegenſatz zurückzuführen ſei, abſtrahirt, ſo
bleibt nur die Anſicht zu berückſichtigen, daß die Ehe ohne ma-
nus
in dem Streben des weiblichen Geſchlechts nach größerer
Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit ihren Grund gehabt habe.
Allein die Suppoſition, von der man dabei ausgeht, daß näm-
lich die Stellung der Frau bei dieſer Art der Ehe eine freiere
geweſen, iſt erſt für die Zeit richtig, als die Geſchlechtsvor-
mundſchaft ihre alte Strenge verloren hatte, d. h. erſt für das
folgende Syſtem. 288) Für die frühere Zeit aber beruht dieſe
284)
[197]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Ehe ohne manus. §. 32.
Anſicht auf einem Irrthum. Die Frau war bei der Ehe ohne
manus ebenſo unſelbſtändig, wie bei der mit manus; nur daß
ſie dort in vermögensrechtlicher Beziehung nicht von ihrem
Manne, ſondern von andern Perſonen (dem Vater oder den
Tutoren) abhing. In beiden Fällen richtete ſich das Maß der
faktiſchen Selbſtändigkeit, die ſie genoß, ganz nach dem Einfluß,
den ſie ſich über ihre Machthaber zu verſchaffen wußte; ob aber
habgierige Agnaten einem ſolchen Einfluß zugänglicher waren,
als der Mann, und ob alſo die Frau, wenn ſie die Wahl ge-
habt hätte, von den Tutoren oder von ihrem Manne abhängig
zu ſein, ſich für jene entſchieden haben ſollte, das möge ſich
jeder ſelbſt beantworten.


Wollen wir die Stellung der Frau bei der Ehe ohne manus
etwas näher ins Auge faſſen, ſo müſſen wir unterſcheiden, ob
die Frau in väterlicher Gewalt oder unter Vormundſchaft ſtand.
Im erſten Fall war ihre rechtliche Stellung ganz die der Haus-
tochter, die väterliche Gewalt erlitt durch die Ehe keine Modi-
fikation und bei einem Conflikt zwiſchen dem Recht des Vaters
und des Mannes ging daher erſteres vor, ſo daß alſo der Vater
z. B. die Ehe 289) wider den Willen beider Gatten jeden Augen-
blick trennen konnte. Aus den Quellen läßt ſich die Frage nicht
mit Sicherheit beantworten, wie es ſich hier mit dem jus necis
ac vitae
über die Frau verhalten, ob Vater und Mann con-
currirten, oder ob Einer von ihnen es allein hatte. Die Con-
ſequenz ſpricht dafür, daß auch hier das Recht des Mannes der
patr. pot. nachging.


Es ergibt ſich ſchon aus jenem zweifelloſen Recht des Va-
ters, wie höchſt unangemeſſen das Verhältniß war, wie ſehr
288)
[198]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
es der alten Zeit mit ihren Vorſtellungen vom Hausregiment
widerſtreben mußte. Eine fremde Gewalt reichte hier in das
römiſche Haus hinein, durchkreuzte die Herrſchaft des Ehe-
manns und ſtellte den Beſtand der Ehe jeden Augenblick in
Frage. Und wozu dieſe Abnormität? Ein vermögensrechtliches
Intereſſe des Vaters der Frau iſt kaum abzuſehen, denn wenn
letztere gleich, ſo lange ſie filia familias blieb, alles, was ihr
zufiel, ihm erwarb, ſo frage man ſich, was konnte dies viel
ſein, da Schenkungen unter Ehegatten nichtig, Erwerb von
dritten Perſonen mindeſtens eine Seltenheit ſein mußte. 290)
Ein Intereſſe des Vaters anderer Art läßt ſich denken z. B.
weil er einem Mann, den er nicht näher kannte, die volle und
unwiderrufliche Gewalt über die Tochter nicht anvertrauen,
vielmehr mit der Ehe ohne manus erſt einen weniger gefährli-
chen Verſuch machen wollte, um, wenn derſelbe gelang, nach-
träglich auch die manus zu verleihen oder durch usus eines Jah-
res übergehen zu laſſen. Jedenfalls aber dürfen wir uns die
Ehe ohne manus bei einer Haustochter, abgeſehen von einem
ſolchen Transitorium, alſo als dauernden Zuſtand, nicht als
etwas Häufiges vorſtellen.


Ganz anders machte ſich die Sache in dem zweiten Fall,
wenn nämlich das Frauenzimmer sui juris war. Einmal näm-
lich war hier nicht bloß ein ungleich gewichtigerer Grund für
die Ehe ohne manus vorhanden, ſondern andererſeits fiel der
hauptſächlichſte Gegengrund hinweg. Denn da die Tutoren
nur das Vermögen der Frau zu bewachen hatten, die Frau
ihnen aber in perſönlicher Beziehung gar nicht untergeordnet
[199]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Ehe ohne manus. §. 32.
war, 291) ſo fand ein Eingreifen einer fremden Gewalt in das
römiſche Haus, wie es eben hinſichtlich der patr. pot. bemerkt
wurde, hier gar nicht Statt. Der Mann übte abgeſehen von der
vermögensrechtlichen Seite die Herrſchaft über ſeine Frau wahr-
ſcheinlich ebenſo aus, wie bei einer Frau in manu,292) und eine
rechtlich begründete Einſprache ihrer Verwandten hatte er in
dieſer Beziehung nicht zu beſorgen. So erklärt es ſich, daß man
vom Standpunkt des ſpätern Rechts aus die manus als rein ver-
mögensrechtliches
Inſtitut betrachten konnte und unab-
hängig von der Ehe zur Anwendung brachte, 293) ſo ferner, daß
man bei der Ehe mitmanus den Grund des perſönlichen
Abhängigkeitsverhältniſſes der Frau nicht ſowohl in der manus,
als in der Ehe fand.


Die Ehe ohne manus kam alſo meiner Anſicht nach vorzüg-
lich in zwei Anwendungen vor, einmal nämlich als vorüber-
gehender
Zuſtand bei einer filia familias; das Inſtitut des
usus gab es in ihre Hand, 294) die manus mit Ablauf Eines
Jahres entſtehen zu laſſen, die usurpatio durch trinoctium
aber bot ihr das Mittel, ſich dagegen zu ſchützen. Sodann als
dauernder Zuſtand bei einer bevormundeten Perſon, wenn
die geſetzlichen Tutoren ihre Zuſtimmung zur Eingehung einer
Ehe mit manus verweigerten. Sie ſicherten ſich auf dieſe Weiſe
ihre Erbanſprüche auf das Vermögen ihrer Mündel, waren
aber durch die Sitte 295) verpflichtet, eine dos zu beſtellen. Daß
[200]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
der usus ohne ihre Einwilligung nicht möglich war, verſtand
ſich von ſelbſt. 296) Es hätte ja ſonſt von der Frau abgehan-
gen, die Tutoren der Rechte zu berauben, die das Geſetz ihnen
mittelſt der Tutel hatte ſichern wollen.


Das legislative Problem, das die Geſetzgebung hinſichtlich
der Familie zu löſen hat, iſt kein leichtes. Nirgends liegen
Mißgriffe ſo nahe, als hier, nirgends kann das Irrlicht des
falſchen „Ethos“ den Geſetzgeber ſo leicht vom rechten Wege ab-
führen. Das Verhältniß, das er vor ſich hat, iſt ein unendlich
zartes, das die Blicke der Welt ſcheut und in ſtiller Abgeſchie-
denheit am beſten gedeiht; ein Heiligthum der Liebe, das nur
von letzterer die wahre Geſtaltung und Weihe erhalten, durch
unſanfte Berührung von Seiten des Geſetzgebers aber leicht in
der empfindlichſten Weiſe verletzt werden kann. Stellt letzterer
ſich zur Aufgabe, dem Verhältniß die poſitive Geſtalt, die er
für die entſprechende hält, ſelbſt zu verleihen, das freie Walten
des ſittlichen Geiſtes entbehrlich zu machen, ſo gilt hiervon
nicht blos alles, was im §. 30 über das Syſtem der Unfreiheit
im allgemeinen geſagt worden iſt, ſondern es kommt noch hin-
zu, daß nirgends die praktiſche Verwirklichung deſſelben, die
Controle von Seiten des Staats, das Urtheil von Seiten des
Richters u. ſ. w. auf ſolche Schwierigkeiten ſtößt, als hier, wo
es zu dem Zweck erforderlich iſt, in das Geheimniß des Fami-
lienlebens einzudringen, die Perſönlichkeit gewiſſermaßen auf
ihrer Lagerſtätte zu belauſchen und zu beunruhigen. Wo wäre
die Oppoſition von Seiten des Angegriffenen natürlicher und
vorausſichtlicher, wo ſchwieriger zu vereiteln? Nirgends zieht
295)
[201]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sinn derſelben. §. 32.
die Verfolgung und Verwirklichung des Rechtsgeſichtspunktes
ſo leicht wirkliche Anſtößigkeiten nach ſich, nirgends kann das
„Ethos“ ſo leicht in moraliſchen Schlamm und Schmutz gera-
then, als hier. 297) Je tiefer die Zartheit des Verhältniſſes
empfunden, je edler und reiner es in der Wirklichkeit gehalten
wird, um ſo mehr wird eine ſolche Entweihung deſſelben das
Gefühl verletzen, kurz: je weniger das Geſetz es für
nöthig hält oder nöthig hat ſich hineinzumiſchen,
deſto beſſer
.


Im ältern römiſchen Recht beſchränkt ſich jenes Eingreifen
des Geſetzes auf ein Minimum. Das römiſche Haus iſt
ein der Herrſchaft der todten Rechtsregeln exi-
mirtes Gebiet der Liebe und freien Sittlichkeit
.
Das innere Leben der Familie ſoll nach römiſcher Anſicht ſich
frei aus ſich ſelbſt entwickeln. Die dürre Proſa des Rechts ſoll
nicht in das römiſche Haus hineindringen; das Leben, das ſich
hier entfaltet, die Verhältniſſe, die hier beſtehen, die Streitig-
keiten, die ſich hier entſpinnen — für ſie alle iſt das Recht un-
anwendbar. Das Haus iſt ja die Schöpfung des Hausherrn;
ſein Geiſt, ſeine Einſicht, ſeine Autorität geben doch ſchließ-
lich den Ausſchlag, wie und was es wird; der Einfluß des Ge-
ſetzes könnte dem gegenüber nur ein höchſt unbedeutender ſein.
So überläßt denn das Geſetz ihm auch rechtlich die Macht,
die er faktiſch in der Regel haben wird.


Was heißt aber dieſe Macht? Nicht das, daß ſeine Laune
und Willkühr hier frei ſchalten möge — ſo wenig wie man
das Weſen der abſoluten Monarchie in Laune und Willkühr
wird ſetzen wollen, obgleich letztere rechtlich möglich iſt — ſon-
[202]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
dern jene Gewalt ſoll den Hausherrn in Stand ſetzen, nach eig-
ner Einſicht das Richtige und den individuellen Verhältniſſen
Angemeſſene ungehindert zu wählen. Ihm die potestas zuzu-
erkennen hieß nichts, als das römiſche Haus zu dem zu erhe-
ben, wie wir es eben bezeichnet haben — dem freien Heilig-
thum der Liebe. Die potestas gibt ihm das rechtliche Mittel,
um dieſe Beſtimmung des Hauſes zu verwirklichen, den Un-
frieden, möge er von draußen anpochen oder im Innern laut
werden, fern zu halten oder zu erſticken. Sie enthält negativ
ausgedrückt den Satz: „kein Dritter hat ein Recht, ſich in un-
ſere Angelegenheiten zu miſchen,“ und ſodann: „Zwiſtigkeiten
im Innern der Familie ſollen rechtlich ſich nicht über das rö-
miſche Haus hinaus erſtrecken.“ Eine Klage zwiſchen den
Hausgenoſſen, ſei es des Herrn gegen die Seinen 298) oder der
letztern gegen ihn oder der letztern untereinander iſt ein juriſti-
ſches Unding. Es iſt Sache des Hausherrn, alle dieſe Strei-
tigkeiten zu ſchlichten; kann er es nicht, ſo trägt er ſelbſt die
Schuld und den Schaden, denn hätte er von Anfang an die
rechte Zucht in ſeinem Hauſe gehandhabt, ſo würde es ihm an
der nöthigen Autorität nicht gefehlt haben. Dieſe Autorität iſt
von dem Uebergewicht der phyſiſchen Kraft völlig unabhän-
gig 299) (es iſt nicht das Moment der phyſiſchen Kraft, die
„Stärke des Arms,“ auf das jene Gewalt ſich gründet, ſonſt
müßte ſie ja auch mit derſelben untergehn), ſondern ſie iſt mo-
raliſcher Art und durch die Volksanſicht von vornherein in dem
[203]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sinn derſelben. §. 32.
Maße mit der Stellung des Hausherrn verbunden, daß ſie im
einzelnen Fall durch eklatante Unfähigkeit zwar faktiſch verſcherzt
werden kann, aber nicht erſt erworben zu werden braucht. Auch
wenn ſie wankend geworden iſt, kann der Hausherr, wenn er
ſich ſeiner Macht bedienen will, ſich ſelber helfen; von einer
Beihülfe des Staats war conſequenterweiſe keine Rede. Thät-
liche
Widerſetzlichkeit des Kindes gegen die Eltern galt als
furchtbarer, die Sacertät nach ſich ziehender Frevel. 300)


Die ganze Geſtaltung des Verhältniſſes brachte es nothwen-
dig mit ſich, daß der Hausherr der Schutzherr und Vertreter
der ihm unterworfenen Perſonen war. Ein Unrecht, das ſie
von Fremden erlitten hatten, berechtigte nur ihn zur Klage, er
ſelbſt galt juriſtiſch als der Verletzte. Aber ebenſo richtete ſich
die Klage gegen ihn, wenn ſie Dritten Unrecht zugefügt hatten.
In beiden Fällen ſtand es bei ihm, ob es zur Klage kommen
ſollte, nur mußte er im letzten Fall, wenn er ihre Defenſion
ablehnte, ſie dem Gegner zur Satisfaktion überantworten (noxae
dedere
). Auch nach dieſer Seite hin hatte er es mithin in
ſeiner Hand, dem Recht den Eintritt über die Schwelle des
Hauſes zu verſagen, in ſeiner Perſon den Angriff aufzufangen.


So läßt ſich alſo das römiſche Haus als eine durch die
hausherrliche Gewalt in ſich abgeſchloſſene ſelbſtändige Welt
bezeichnen — eine Daſe innerhalb der dürren Rechtsſchöpfung.
Wie die Natur die zarteſten Theile gern mit ſchirmender Decke
umgibt, ſo hat hier die rauhe und harte Schale jener Gewalt
nur den Zweck, die zarteſten Verhältniſſe der ſittlichen Exiſtenz
gegen alle äußern Eingriffe zu ſchützen, jede nachtheilige Be-
rührung mit der Außenwelt, jeden proſaiſch-juriſtiſchen Luftzug
abzuwehren und die freieſte Entfaltung des innerlichen Lebens
zu ermöglichen.


Das iſt es, was wir unter der innern, aus der Verfaſ-
ſung des römiſchen Hauſes folgenden Abgeſchloſſenheit deſſelben
[204]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
verſtehen, die wir oben S. 167 der dort geſchilderten äußern
Abgeſchloſſenheit deſſelben entgegenſetzten. Erſt durch ſie wird
der Charakter des Hauſes als einer Stätte des Friedens und
eines unantaſtbaren Zufluchtsortes vollſtändig verwirklicht.


Dieſe Behandlungsweiſe, bei der die hausherrliche Gewalt
dem Recht den Zutritt zur Familie verſperrt, hat etwas unge-
mein Schönes und Anziehendes, vorausgeſetzt, daß der ächte
ſittliche Geiſt die an ſich todten Formen beſeelt; ob dies im
ältern Rom der Fall war, wird ſofort unterſucht werden. Unſer
heutiges und ſchon das ſpätere römiſche Recht hat jene unbe-
ſchränkte hausherrliche Gewalt aufgegeben oder, was daſſelbe
ſagen will, es iſt in das Innere der Familie eingedrungen. Ich
will die relative Berechtigung dieſer Aenderung nicht verkennen,
aber wir mögen uns andererſeits nur klar werden, daß wir
nicht ſo gar hohe Urſache haben uns mit derſelben zu brüſten.
Einem Römer wäre unſer heutiges Syſtem nicht minder an-
ſtößig geweſen, als uns das ſeinige. Daß von der Geburt
an das Kind dem Vater mit getrenntem Vermögen gegenüber
ſtehen kann, das Kind reich, der Vater arm; daß erſteres wegen
beliebiger Gründe gegen ihn, wie gegen jeden Dritten prozeſſi-
ren kann; 301) daß der Vater kein rechtliches Mittel mehr in
Händen hat, den ſelbſtändig gewordenen pflicht- und ehrvergeſ-
ſenen Sohn zur Zucht und Ordnung zu zwingen; daß der
Richter dem Mann zu Hülfe kommen muß, um die Frau zur
Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten u. ſ. w., das alles wäre
einem Römer als eine unnatürliche Rechtsſatzung erſchienen.


[205]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.

Das beſte Mittel nun, um uns über den wahren Sinn und
die wahre Beſtimmung der hausherrlichen Gewalt aufzuklären,
beſteht darin, daß wir dieſelbe in ihrer wirklichen Geſtalt im
römiſchen Leben kennen lernen. Es gilt hier, uns von den
herrſchenden Vorurtheilen hinſichtlich des römiſchen Familien-
lebens los zu machen. Es iſt unglaublich, wie ſehr das ab-
ſtracte Recht Philologen und Philoſophen 302) nicht minder, als
Juriſten in ihrem Urtheil über das römiſche Familienleben irre
geführt hat. Daß ſich unter der Knecht-Ruprechts-Maske der
patria potestas und manus ein menſchliches Geſicht verbergen
ſollte, ſchien von vornherein unglaublich. Und allerdings, wenn
[206]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
man ſich ſeine Vorſtellung vom römiſchen Volkscharakter ledig-
lich nach dem öffentlichen Auftreten der Römer, ihrer Härte und
Schonungsloſigkeit gegen Feinde und Unterthanen, ihrer Rück-
ſichtsloſigkeit im bürgerlichen Verkehr u. ſ. w. zuſchneidet, dann
mag man ſich der Unterſuchung überhoben glauben, ob der Schluß
vom Familien-Recht auf das Familien-Leben zutreffend iſt.
Es iſt aber bekanntlich eine häufige Erſcheinung gerade bei kräf-
tigen Naturen, daß eine Art Theilung ihres Charakters eintritt:
der öffentliche ſtarr, unbeugſam, ſchroff, der Privatcharakter
milde, weich. Das Gemüth zieht ſich in demſelben Maße in
die engern und engſten Kreiſe der Familienliebe zurück, je weni-
ger es da draußen Gelegenheit findet ſich zu bethätigen. Gerade
dieſe Comprimirung des Gemüths gibt demſelben für den klei-
nen Raum, auf den es zuſammengepreßt iſt, nicht ſelten eine
Innigkeit, eine Intenſität und eine überraſchende Zartheit des
Ausdrucks, nach dem man bei jenen Naturen, bei denen das
Gemüth allgegenwärtig iſt, vergebens ſucht. Daß ich von die-
ſem pſychologiſchen Erfahrungsſatz eine Anwendung auf die
Römer machen will, mag bei manchem meiner Leſer ein gelin-
des Staunen hervorrufen; ich muß es der folgenden Darſtel-
lung vorbehalten, daſſelbe zu mäßigen.


Der Römer nach außen hin d. h. im Geſchäftsleben ſowohl
wie in der Politik und der Römer im Innern der Familie ſind
zwei ganz verſchiedene Leute. Dort kennt er keine Schonung;
rückſichtslos verfolgt der römiſche Egoismus den einmal vorge-
zeichneten Weg. Aber im Innern der Familie? Hier lernen
wir ihn von einer Seite kennen, die uns mit den Römern wie-
der ausſöhnen muß und das moraliſche Gleichgewicht mit an-
dern Völkern z. B. den Griechen reichlich wieder herſtellt.


Das feſte Zuſammenhalten der Familienmitglieder, die
Pflege des Familienverbandes iſt von altersher ein Grundzug
des römiſchen Weſens geweſen, 303) und in der in dem vorigen
[207]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
Buche geſchilderten Gentilverfaſſung erſcheint dieſer Gedanke
geradezu als ſtaatsrechtlich-conſtitutives Prinzip. Gleichgültig-
keit der Römer gegen die Familie! — es läßt ſich kaum etwas
ſo ausgeſucht Verkehrtes denken. Bei den Römern, wo der
Uebergang in eine fremde Familie und der Austritt aus der
bisherigen eine capitis deminutio begründete! Was heißt das
denn anders, als: die Familie iſt der Inbegriff alles Glückes
und Rechts, Familie verloren, alles verloren? Bei den Rö-
mern, wo die Verwandten im Leben einen durch die Sitte ge-
ſicherten Einfluß ausübten, von dem wir, die wir auf unſere
„Familienliebe“ pochen, keine Ahnung mehr haben? Aber gerade
dies Moment der Liebe, wird man ſagen, dies gebricht
den Römern. Als ob jener Familienverfaſſung der älteſten
Zeit nicht ein ſittliches Motiv der Anhänglichkeit, Treue, kurz
der Familienliebe zu Grunde läge, und als ob, ganz abgeſehen
hiervon, die Liebe ſich in den Geſetzen zeigen müßte! In ihnen
iſt allerdings für das gegenwärtige Syſtem von Liebe nichts
zu entdecken, ſondern ſie halten ſich an die abſtracte, aller
ſittlichen Beziehungen zu der Familie entbundene Perſon. Von
der Continuität der Geſchlechter, von dem Zuſammenhange der
Familie u. ſ. w. iſt in dem abſtracten Recht keine Rede; hier galt
als höchſte Aufgabe, das Sublimat der reinen, atomiſti-
ſchen Perſönlichkeit
zu gewinnen, alle fremdartigen Sub-
ſtanzen aber zu verflüchtigen. Aber nicht etwa in der Meinung,
um die römiſche Welt mit ſolchen abſtracten Perſonen, richtiger
Kobolden zu bevölkern, die dieſelbe ſofort dem Untergange entge-
gengeführt haben würden, ſondern um dem freien Walten des
ſittlichen Geiſtes eine Aufgabe zu überlaſſen, die auch eine noch
ſo ſchulmeiſterliche Geſetzgebung nicht ganz wird entbehrlich
machen können, die Aufgabe nämlich, aus jenen dürren Ske-
letten Menſchen, Römer, aus dem Aggregat der Atome ſittliche
Gemeinſchaften zu machen.


Die Sitte alſo iſt es, die richten muß. Und wenn wir dann
fragen, wie war das Familienleben der Römer in alter Zeit,
[208]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſollte uns nicht ſchon die altrömiſche Sittlichkeit überhaupt auf
den rechten Weg weiſen können? Die Familie iſt einmal die
Quelle der Sittlichkeit; iſt ſie vergiftet, ſo iſt es auch letztere;
iſt aber letztere rein und geſund, ſo muß es auch erſtere geweſen
ſein. Der Zuſammenhang der Moralität mit der Familie war
im ältern Rom gerade ein beſonders inniger, die meiſten alt-
römiſchen Tugenden ſtehen augenſcheinlich zum Familienleben
in innigſter Beziehung. Die Einfachheit und Sparſamkeit, die
Keuſchheit und Treue u. ſ. w., ſie gruppiren ſich um das Haus
und die Familie als um ihren eigentlich belebenden Mittelpunkt;
die Familie gewährte ſelbſt dem römiſchen Egoismus ein ſittli-
ches Motiv. Das Familienverhältniß muß durchaus ſich einer
geſunden normalen Organiſation erfreut haben, wenn es ſolche
Früchte getragen hat. Man wird mir antworten, daß ſich dies
immerhin mit einer großen Liebloſigkeit, Härte und Rohheit gegen
die Familienangehörigen ſehr wohl vertrage. Es gibt für dieſe
Frage einen ſichern Maßſtab, nämlich die Stellung des weib-
lichen Geſchlechts. 304) Ob nun den Römern von allen Völkern
allein die Liebe zu den Frauen und Kindern gefehlt, ob ſtatt
der Liebe hier Rohheit, Brutalität u. ſ. w. das Verhältniß
beherrſcht habe, das, meine ich, muß ſich, auch wenn uns ein
Blick in ein altrömiſches Herz verſagt iſt, an jenem Punkt
vollſtändig erkennen laſſen. Wie war nun die Stellung des
weiblichen Geſchlechts in Rom? Eine ganz andere, als bei
irgend einem Volk der alten Welt, auch die Griechen nicht aus-
genommen, 305) ja ich bezweifle, ob die civiliſirteſten Völker der
[209]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
Gegenwart das weibliche Geſchlecht höher ſtellen, demſelben
eine größere Achtung und Verehrung erweiſen können, als die
vermeintlich ſo rohen Römer. Das weibliche Geſchlecht war ih-
rer Anſicht nach dem männlichen nicht bloß völlig ebenbürtig und
daher in ſocialer Beziehung nicht zurückgeſetzt, 306) wie bei allen
vorrömiſchen Völkern, ſondern es war ein Gegenſtand höhe-
rer
Achtung, es ſtand eine Stufe über dem männlichen. Die
Strenge, mit der man darauf hielt, daß das Dekorum ſo-
wohl gegen Frauenzimmer, 307) als von denſelben 308) bewahrt
wurde, die Empfindlichkeit, die man in letzterer Beziehung be-
wies, die höhere ſittliche Reinheit und Fleckenloſigkeit, 309) die
305)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 14
[210]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
man von ihnen verlangte, der Einfluß, den man ihnen zuge-
ſtand, der Grundſatz der Monogamie, der den Römern von al-
tersher eigen war, kurz dieſe und andere Züge weiſen deutlich
auf eine idealere Erfaſſung von dem Beruf und der Würde der
Frau hin. In beſonders anſchaulicher Weiſe tritt uns dies an
der Rolle entgegen, die die Frauen in der römiſchen Geſchichte
ſpielen. Dankbar verherrlichte die römiſche Erinnerung das An-
denken von Frauen, die glänzende Beiſpiele der Treue, Keuſchheit
und anderer weiblichen Tugenden geliefert hatten, und die rö-
miſche Sage und Geſchichte, trotzdem daß ſie wie keine andere
Gelegenheit hatte, ſpezifiſch männliche Tugenden zu preiſen,
ſuchte doch mit ganz entſchiedener Vorliebe die wichtigſten Ereig-
niſſe mit Frauen in Beziehung, ja in Cauſalnexus zu ſetzen. 310)
Roms erſter Krieg entbrennt um ſie; er droht Rom im Keim
zu erſticken, aber die geraubten Frauen, durch Liebe zu ihren
Männern getrieben, retten Rom und lehnen es ab zu den Ihri-
gen zurückzukehren. Nach der Sage beſtand ihr Lohn darin,
daß die Kurien die Namen der Frauen erhielten; wahr
oder falſch, jedenfalls ein höchſt charakteriſtiſcher Zug. Die
Vertreibung der Könige knüpft an die Lukretia, der Sturz des
Decemvirats an die Virginia an — das Maß der Entrüſtung
lief erſt über, und der Unwille brach in Empörung aus, als die
Willkühr ſich gegen ein Weib wandte. Die Abwehr des Corio-
lan, von der das Heil Roms abhing, erfolgte nach fruchtloſer
Erſchöpfung aller Mittel durch ſeine Mutter 311) und die römi-
309)
[211]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
ſchen Matronen. Die Zulaſſung der Plebejer zum Conſulat,
eins der wichtigſten Ereigniſſe der Republik, ward ihrem letzten
perſönlichen Motiv nach nicht ſowohl auf Licinius Stolo ſelbſt,
als auf ſeine ehrgeizige Frau zurückgeführt. 312) Ein anderes
höchſt erbauliches Beiſpiel lieferte der Einfluß, den das ſchöne
Geſchlecht bei Gelegenheit der Aufhebung des oppiſchen Ge-
ſetzes (über den Luxus der Frauen) ausübte, und dem gegen-
über ſelbſt die Autorität eines Cato ſich machtlos erwies. 313)


Bei einem Volke nun, bei dem das weibliche Geſchlecht als
ſolches ſchon eine ſo hervorragende Stellung einnahm, kann
311)
14*
[212]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
unmöglich das eheliche Verhältniß den Sinn gehabt haben, die
Frau nach orientaliſcher Weiſe zur Sklavin des Mannes zu
machen. Wenn irgendwo, ſo mußte der Einfluß der Frau ſich
gerade innerhalb des Hauſes bethätigen, ſo mußte die Achtung,
die man ihr als ſolcher zollte, in geſteigertem Maße der Gattin
und Mutter zu Theil werden, ſo muß ferner das Weſen der
Ehe in Rom nicht, wie man uns glauben machen will, ver-
kannt, ſondern würdiger und reiner erfaßt worden ſein, als bei
irgend einem der frühern Völker. Und dies war in der That
der Fall. Abſtrahiren wir nur vorläufig von der abſtract recht-
lichen Geſtaltung des Verhältniſſes und halten uns an die Er-
ſcheinung deſſelben im Leben und die natürliche Auffaſſung, die
die Römer ſelbſt damit verbanden. Die Ehe galt als ein heili-
ges Verhältniß, ſie begründete eine religiöſe Gemeinſchaft zwi-
ſchen beiden Gatten, und darum erhielt ſie auch bei ihrer Ein-
gehung eine religiöſe Weihe. 314) Auf dieſe alte Ehe paßte
die bekannte römiſche Definition der Ehe, 315) eine Definition,
von der ein Unkundiger glauben ſollte, daß ſie die chriſtliche
Auffaſſung der Ehe enthalte; für die alte Zeit war ſie eine
Wahrheit, für die ſpätere, die ſie uns aufbewahrt hat, eine
bloße Reminiscenz. Der ungeheure Contraſt in dem ehelichen
Leben dieſer beiden Zeiten, der alten ſtrengen Sitte und Treue
und der ſpätern Frivolität, grauenhaften Verwilderung und
Zügelloſigkeit iſt bekannt. Dort trotz der rechtlichen Trennbar-
keit der Ehe doch faktiſch die äußerſte Seltenheit der Eheſchei-
dungen, 316) hier trotz aller Geſetze Ehebruch und Eheſcheidung
[213]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
an der Tagesordnung. Es bewährt ſich auch hieran wieder
die Richtigkeit der oft gemachten Bemerkung, daß die Ehe der
Barometer der Sittlichkeit eines Volkes iſt. Nach der natür-
lichen Anſicht, wie ſie im römiſchen Leben herrſchte und ſogar
in juriſtiſche Deduktionen hinüberſpielt, 317) galt die Frau als
die eigentliche Herrin des Hauſes, 318) und jene Eigenthums-
unfähigkeit derſelben, von der die Theorie redete, ward faktiſch
gar nicht fühlbar für ſie, kam ihr vielleicht kaum zum Bewußtſein.
Die Sachen, die ſie dem Manne zur dos mitbrachte, betrachtete
ſie nach wie vor als ihr Eigenthum, 319) ja was ihm gehörte,
ſah ſie auch als das Ihrige an, kurz jene ſcharfe vermögens-
rechtliche Trennung beider hatte für die Ehegatten in ihrem
Verhältniß zu einander kaum eine praktiſche Realität; 320) nur
dritten Perſonen gegenüber konnte ſie bedeutſam werden.
Welche Bewandniß es mit dem jus necis ac vitae des Mannes
hatte, wird ſich am beſten in einem andern Zuſammenhange
zeigen laſſen.


So viel, hoffe ich, wird nun aus der bisherigen Darſtel-
lung hervorgehen, daß der Grund der eheherrlichen Gewalt un-
möglich in einer ſittlich niedrigen Auffaſſung der Ehe gefunden
werden kann, und daß alle jene Phraſen von der Rohheit, dem
[214]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Mangel des Moments der Liebe 321) u. ſ. w. nur die völlige Un-
bekanntſchaft mit dem römiſchen Volk und Leben dokumentiren.
Bei den Römern ſelbſt findet man auch in ſpäterer Zeit, ſo viel
mir bekannt iſt, nicht einmal eine Andeutung, daß eine ſolche
Auffaſſung nur denkbar ſei; keine Anklage, keine Rechtfertigung,
ſelbſt bei Gelegenheiten, wo es ſich um die angeblichen oder
wirklichen Rohheiten des ältern Rechts handelt. 322) Und doch
hatte in der That die ſpätere Zeit jene unendlich niedrige Cul-
turſtufe, als deren Ausfluß man die eheherrliche Gewalt charak-
teriſiren will, bereits lange hinter ſich, und es wäre unerklär-
lich, wie eine Zeit, die ſonſt ſo hoch ſtand, ſich einen ſolchen
Reſt einer barbariſchen Vorzeit hätte gefallen laſſen können.
Allerdings wurde jenes Gewaltverhältniß ſchon in den letzten
Zeiten der Republik etwas gelockert, aber anſtatt, wie es nach
der entgegengeſetzten Anſicht der Fall ſein müßte, darin ei-
nen Fortſchritt zum Beſſern zu finden, erblickten gerade die
ſittlichen Naturen darin, und mit vollem Recht, ein Zeichen der
Demoraliſation. 323)


Für die väterliche Gewalt braucht nun die Frage, die
wir ſo eben hinſichtlich der eheherrlichen behandelt haben, nicht
noch beſonders behandelt zu werden. Entweder iſt es uns ge-
lungen, das Vorurtheil von der Rohheit und Unnatürlichkeit des
altrömiſchen Familienlebens zu zerſtören, und dann bedarf es
keiner Anſtrengung mehr, oder es iſt dies nicht der Fall, und
dann wird es uns auch hier nicht gelingen.


Daß die römiſche Zucht und Kinder-Erziehung eine ſtrengere
geweſen iſt, als die heutige, iſt unläugbar, hat aber mit jenem
[215]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
Vorwurf nichts gemein, denn gerade hierin bethätigte ſich nicht
ein Verkennen der Pflichten des Vaters, ſondern umgekehrt
eine ſittlich ernſte Erfaſſung ſeines wahren Berufes. Von wie
heilſamen Folgen es für den Staat war, daß in der Familie
eine ſtrenge Disciplin herrſchte, daß bereits hier eine Gewöh-
nung an Ordnung, Gehorſam u. ſ. w. begann, darüber brauche
ich kein Wort zu verlieren. Wäre das römiſche Haus der Schau-
platz der Willkühr und Ungerechtigkeit geweſen, es hätten nicht die
gerade entgegengeſetzten Tugenden daraus hervorgehen können.


Daß die patr. pot. nicht dazu da ſei, um die Kinder zu ty-
ranniſiren, daß die Liebe das belebende Prinzip des Verhält-
niſſes ſei, daß der Vater eine Erziehungspflicht habe u. ſ. w.,
alles das ſollen die Römer ſich verhehlt haben, weil in ihren
Geſetzen nichts darüber zu finden? Das römiſche Volk
müßte ja eine moraliſche Abnormität geweſen ſein, wenn man
das für möglich hält. Wäre die patr. pot. in Wirklichkeit eine
Herrſchaft der Willkühr geweſen: wer hätte ſich arrogiren laſſen,
freiwillig ſeine Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit gegen das
Loos eines Sklaven vertauſchen mögen? Zum Ueberfluß ſollen
in der Note einige Zeugniſſe mitgetheilt werden, aus denen
ſich ergibt, wie die Römer ſelbſt über das Verhältniß dachten,
und was die juriſtiſche Unſelbſtändigkeit der Kinder faktiſch
zu bedeuten hatte. 324)


[216]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.

Wir haben einen entſcheidenden Geſichtspunkt, der unſere bei-
den Verhältniſſe erſt ins rechte Licht ſetzt, bis zuletzt aufgeſpart.
Zu den oben (S. 146 u. fl.) angegebenen Einflüſſen, durch welche
die rechtliche Unbeſchränktheit des Subjekts faktiſch moderirt
und beſtimmt erſchien, geſellt ſich nämlich für das Familienleben
noch ein unendlich wichtiger und einflußreicher Faktor hinzu,
das iſt die Familie ſelbſt. Der natürlich-ſittliche Zuſammen-
hang des Einzelnen mit ſeiner Familie, der in der Gentilver-
faſſung rechtliche Geſtaltung gewonnen hatte, in dem Recht
der gegenwärtigen Periode aber der abſtracten Perſönlichkeit
geopfert worden war, ward durch die Sitte wieder zur Geltung
gebracht. Die Bande, die das Recht fallen ließ, um die reine,
zu ihrem abſoluten Für-Sich-Sein gebrachte Rechtsperſönlich-
keit zu gewinnen, die Sitte nahm ſie auf, um ſie nur um ſo
feſter wieder zu knüpfen, um der Familie einen Antheil an dem
324)
[217]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
Leben des Einzelnen und einen Einfluß auf daſſelbe zu gewäh-
ren, wie er ihr nicht häufig zu Theil geworden iſt.


Wir haben es hier alſo mit einem Inſtitut der Sitte zu
thun, und die Unbeſtimmtheit und Biegſamkeit, die wir oben
(§. 25) als den Charakterzug der Sitte haben kennen lernen,
äußert ſich hier in mannichfacher Weiſe. Theils nämlich hin-
ſichtlich des Begriffs der Familie, es iſt nicht der juriſtiſche,
der der Agnaten, ſondern der der natürlichen Familie, 325) der
Kreis der Blutsverwandten, ja ſo wenig iſt dieſer Kreis abge-
ſchloſſen, daß auch die nähern Freunde 326) zu ihm hinzugezogen
werden. Man könnte ſagen: es iſt die ethiſche Umgebung
des Subjekts
, der Umkreis, innerhalb deſſen ſeine ſittlich
häusliche Exiſtenz ihre Wurzeln treibt, der Chor, der, wie
im griechiſchen Drama, ihn durch Billigung und Mißbilligung
bei ſeinen Handlungen beſtimmen ſoll, und von deſſen Gunſt
oder Ungunſt, Beiſtand oder Theilnahmloſigkeit die Behaglich-
keit ſeiner Exiſtenz abhängt. Wer dieſen Chor mit bildet, ob
alle Verwandte, oder nur bis zu einem gewiſſen Grade, ob
auch die Freunde u. ſ. w., darüber hat die Sitte keine Norm;
möge der Einzelne im einzelnen Fall ſelbſt beſtimmen, wen er
zu den propinqui, necessarii, amici u. ſ. w. rechnet. Die Un-
beſtimmtheit des Inſtituts äußert ſich ferner darin, daß die un-
terlaſſene Zuziehung jener Perſonen in Fällen, wo dieſelbe hätte
Statt finden ſollen, bald als arger Verſtoß gegen die Sitte all-
[218]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
gemeine Mißbilligung erfuhr und ſchwere Folgen für den Wi-
derſpenſtigen nach ſich zog, bald aber auch nicht. Die Sache
verhält ſich folgendermaßen. Der häufigſte Fall, 327) in dem
die Zuziehung der Verwandten und Freunde berichtet wird,
war die Ausübung des jus necis ac vitae über Ehefrauen
und Kinder. Der Ehemann oder Vater 328) berief hier die Ver-
wandten zuſammen, legte ihnen den Fall vor und ſprach und
vollzog das in Gemeinſchaft mit ihnen 329) gefundene Urtheil.
Aber auch bei andern wichtigen die Familienverhältniſſe betref-
fenden Handlungen des Gewaltinnehabers erforderte die Sitte
eine Berathung mit den Verwandten; ſo wird uns dies z. B.
ausdrücklich hinſichtlich der Eheſcheidung bezeugt. 330) Ueber-
haupt mochte kein wichtiges Ereigniß im Innern der Familie
vorkommen, an dem ſie nicht Theil nahmen, ſei es zur Verherr-
lichung des Aktes, wie bei Anlegung der toga virilis, bei Ver-
lobungen u. ſ. w., 331) ſei es um ihre Billigung einzuholen. Sie
[219]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
waren die natürlichen Beſchützer aller ſchutzbedürftigen Perſonen
innerhalb der Verwandtſchaft, 332) und ihr Urtheil, ihre Für-
ſprache und Einſprache fand bei der kräftigen Entwicklung des
Familienſinns in alter Zeit wohl eine ganz andere Beachtung,
als heutzutage. Wir dürfen ihre Stellung und ihr Auftreten
nicht nach heutigen Ideen beurtheilen; ihre Prätenſionen wa-
ren keine Anmaßung, ſondern Anſprüche, die in der römiſchen
Auffaſſung des Verhältniſſes begründet lagen, und die ſich
ohne Aufſehen und öffentliches Aergerniß nicht zurückweiſen lie-
ßen. Ich will ein belehrendes Beiſpiel mittheilen, das dies
Auftreten der Verwandten in ein helleres Licht ſetzt, als die
weitläuftigſte Ausführung es könnte. Der Sohn von Scipio
Afrikanus dem ältern, dem Vater in jeder Weiſe unähnlich,
war trotz ſeiner Unwürdigkeit vom Volk zum Prätor erwählt
und machte als ſolcher ſeinem Amt und ſeiner Familie die größte
Unehre. Hier hielten es die Verwandten für ihre Pflicht, die
Ehre des Geſchlechts zu wahren; ſie machten ihm jede Amts-
handlung unmöglich und zogen ihm ſogar den Ring mit dem
Bildniß des Vaters von ſeinem Finger. 333) Dies geſchah gegen
einen römiſchen Prätor und gegen einen Mann, der ſich aus
dem Urtheil der Welt nichts machte und der alſo ſchwerlich ſich
einem ſolchen Einſchreiten der Familie gefügt haben würde,
wenn er ſich mit Erfolg dagegen hätte auflehnen können.


So wenig nun die Zuziehung der Verwandten bei Ausübung
des jus necis ac vitae rechtlich vorgeſchrieben war, ſo mißlich
war es doch in der Regel, dieſelbe zu unterlaſſen. Es lag der
Verdacht zu nahe, daß man ſich nicht getraut habe, ihnen die
Sache vorzulegen, und nur wo die Schuld des zu beſtrafenden
[220]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Kindes ganz außer allem Zweifel war, mochte Jemand es ohne
Nachtheil wagen, ſich über die Sitte hinwegzuſetzen. 334) Jeden-
falls war es aber für den Gewaltinnehaber ſelbſt unter allen
Umſtänden das Gerathenſte, die Sitte zu beachten, denn es
ließ ſich nicht berechnen, ob nicht ſchon der Cenſor, ganz abge-
ſehn von der Gerechtigkeit des gefällten Spruches, die Ver-
letzung des Herkommens rügen und ſtrafen würde. 335) Ein
wirklicher Mißbrauch der Gewalt aber konnte noch ganz andere
Folgen haben. Von einem über die Hausangehörigen verhäng-
ten und vollzogenen Todesurtheil unterſchied die öffentliche
Meinung ſehr wohl einen Todtſchlag derſelben. Wer ſich letz-
tern hatte zu Schulden kommen laſſen, konnte vor die Volks-
verſammlung geſtellt werden, und das Pochen auf ſein jus
necis ac vitae,
in dem jener Unterſchied allerdings nicht zu
Tage lag, konnte ihm bei der Geſtaltung und dem Geiſt der
ältern Strafrechtspflege (S. 43) wenig nützen; die ſittliche
Entrüſtung des Volks ließ ſich dadurch nicht beſchwichtigen. 336)
Wird uns doch ſogar von einem Fall berichtet, wo ein Vater
angeklagt ward, weil er ſeinen Sohn, der durch Talent und
Geſchlecht zu Höherem beſtimmt ſei, ausſchließlich zur Feld-
arbeit verwende und ihm dadurch die politiſche Laufbahn ver-
ſchließe. 337) Daß auch das Vaterland ein Anrecht auf die Kin-
[221]A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
der habe, war ein Geſichtspunkt, den der Vater bei Ausübung
ſeiner patr. pot. nicht außer Acht laſſen ſollte. Von ſeinem
Standpunkte aus betrachtet war ſeine Strafgewalt ein reines
Privatrecht, vom Standpunkte des Staats aus ein im allge-
meinen Intereſſe als Mittel der Erziehung und Zucht verliehe-
nes Amt. Darum unterlag der cenſoriſchen Rüge nicht minder,
wer die Zügel des Hausregiments zu laſch, als wer ſie ſtraff
angezogen hatte. Vollkommen in Stand geſetzt, die Seinen
zur Zucht und Ordnung anzuhalten, mußte er in den Augen
des Volks auch für die gute Aufführung derſelben verantwort-
lich erſcheinen,338) und von ihm konnte man, wenn dieſelben
ein Verbrechen begingen, zunächſt erwarten, daß er die ver-
diente Strafe über ſie verhängen und ſich ſelbſt von der mora-
liſchen Mitſchuld losſagen würde. Der Staat hatte aber gewiß
nur in den ſeltenſten Fällen nöthig, ſelbſt einzuſchreiten;339) die
römiſchen Väter und Männer wußten in alter Zeit, was ihre
Pflicht war und beſaßen Seelenſtärke genug, um ſie zu erfüllen.


So wenig nun dieſer Geſichtspunkt der Pflicht in der ju-
riſtiſchen
Conſtruction der hausherrlichen Gewalt Berückſich-
tigung fand: in der Wirklichkeit war er der beſtimmende; be-
ſtimmend nicht bloß für die Handhabung derſelben, ſondern
nicht minder für die ganze Auffaſſung derſelben. In dem Bilde,
das wir heutzutage von der hausherrlichen Gewalt entwerfen,
würde ein alter Römer dieſelbe kaum wieder erkannt und
ſchwerlich es begriffen haben, wie eine Inſtitution, auf die
Rom ſtolz ſein konnte, und die wie keine andere die Quelle alt-
[222]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
römiſcher Kraft und Tugend und der wirkſamſte Hebel römi-
ſcher Größe war, dermaleinſt ſeinem Volke in ſittlicher Bezie-
hung zum ſchweren Vorwurf gemacht werden würde.


3. Die Freiheit eine Eigenſchaft der Inſtitute
und eine Schranke des ſubjektiven Willens
.

Die Gefahr der Selbſtvernichtung eine Klippe der ſubjektiven
Freiheit — der Objektivismus in der Auffaſſung der Freiheit
(die Freiheit eine Pflicht) — Nachweis deſſelben im römiſchen
Recht, namentlich am Eigenthum (Servituten).


XXXIII. Ein Punkt, an dem die Auffaſſung des Freiheits-
begriffs wie an keinem andern ihre Probe beſtehen kann, iſt die
im Begriff der Freiheit ſcheinbar enthaltene Möglichkeit einer
Selbſtvernichtung derſelben. Das Recht frei zu ſein, hat man
oft geſagt, ſchließt mit Nothwendigkeit die Möglichkeit in ſich,
die Freiheit ganz oder theilweiſe aufzugeben; iſt letztere ein
Recht, warum ſollte ich nicht darauf verzichten, iſt der Wille frei,
warum ſollte ſeine Thätigkeit nicht auch darin beſtehen können,
ſich ſelbſt zu beſchränken und nach allen Seiten hin zu binden
und feſſeln? So trüge alſo die Freiheit den Keim der Unfreiheit
in ſich, und es wäre ſehr leicht möglich, daß aus der Ausſaat
der Freiheit ein Reich der äußerſten Unfreiheit hervorginge.
Das deutſche Recht liefert uns hier ein lehrreiches Beiſpiel.
Bewußt oder unbewußt iſt daſſelbe von dieſer ſcheinbar conſe-
quenten Auffaſſung des Freiheitsbegriffs ausgegangen und hat
faſt überall die Unfreiheit geärndtet, wo es die Freiheit geſäet
hatte. Der freie Mann konnte durch Vertrag ſeine perſön-
liche Freiheit
aufgeben oder beſchränken d. h. Sklave oder
Leibeigner werden, durch Reallaſten, die er auf ſein Grundſtück
legte, durch Familienfideicommiſſe u. ſ. w. die Freiheit des
Eigenthums
für ewige Zeiten verkümmern und zu Boden
drücken, durch Erbverträge die teſtamentariſche Freiheit
opfern u. ſ. w. Kurz die Inſtitute, die der Freiheit dienen
[223]A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
ſollten, wurden in Wirklichkeit zu Werkzeugen der Unfreiheit,
zu Ketten und Banden, unter denen die ſubjektive Freiheit zu
erliegen drohte.


Dieſe Möglichkeit einer Selbſtvernichtung ſcheint, wie ge-
ſagt, im Weſen der Freiheit begründet, und damit der Beweis
erbracht, daß die Freiheit in ihrer vollen Conſequenz praktiſch
unausführbar, einer Beſchränkung von Seiten der legislativen
Gewalt bedürftig iſt. Das iſt aber nur Schein; er verſchwin-
det, ſowie man nur den Freiheitsbegriff richtig erfaßt. Der
Anſpruch des Individuums auf die rechtliche Freiheit ſtützte
ſich, wie wir §. 30 nachzuweiſen verſuchten, auf eine ethiſche
Grundlage, — den ſchöpferiſchen Beruf der Perſönlichkeit. Dar-
aus ergibt ſich zunächſt für das Individuum der Geſichtspunkt,
daß ſein Recht auf Freiheit zugleich eine Pflicht iſt, für den
Staat aber, daß er nur dieſe wahre, ethiſch berechtigte Freiheit
des Subjekts anzuerkennen und zu verwirklichen hat. Seine
Aufgabe der Freiheit des Subjekts gegenüber iſt alſo nicht eine
bloß negative, ein Gewährenlaſſen, ein Nichteingreifen in ein
fremdes Gebiet, ſeine Stellung nicht die des indifferenten Zu-
ſchauers; ſondern ſeine Aufgabe iſt weſentlich poſitiver Art:
Verwirklichung der rechtlichen Freiheit, Sicherſtellung derſelben
gegen die Gefahr einer Unterdrückung oder Entziehung, drohe
dieſelbe von außen oder von Seiten des Subjekts ſelbſt (Selbſt-
vernichtung der Freiheit). Darin eine dem Begriff der Freiheit
widerſtrebende Bevormundung von Seiten des Staats zu erbli-
cken, iſt nur möglich, wenn man weder der Freiheit, noch dem
Staat eine ſittliche Beſtimmung zuſchreibt.


Das römiſche Recht gewährt uns für die vorliegende Frage
ein höchſt inſtructives Beiſpiel, das uns aller ferneren allgemei-
nen Betrachtungen überhebt; man möge daran zugleich erkennen,
mit welcher Gedankenloſigkeit und Oberflächlichkeit man mitunter
über daſſelbe abgeurtheilt hat. Blinde Lobredner des germani-
ſchen Rechts, die den Balken im eigenen Auge überſahen und
den Splitter im Auge des Nächſten erkannten, haben gerade die
[224]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Behandlung des Freiheitsprinzips als einen Punkt erwählt, an
dem ſie glaubten nachweiſen zu können, wie hoch hier das ger-
maniſche, und wie niedrig das römiſche Recht ſtehe. Und doch
hat es wohl kein Recht gegeben, das dieſes Prinzip in ſo wür-
diger und ſo wahrhaft überraſchend edler Weiſe erfaßt hat, wie
das römiſche. Jene Gefahr der Selbſtvernichtung der Freiheit,
an der die falſche Auffaſſung der Freiheit ſtranden muß, und die
dem deutſchen Recht ſo gefährlich ward, gerade im römiſchen
Recht iſt ſie in meiſterhafter Weiſe erkannt und abgewehrt. Und,
was ich gleich von vornherein wohl feſtzuhalten bitte, nicht etwa
vermittelſt äußeren Zwanges, d. h. durch geſetzliche Be-
ſchränkung, ſondern vermöge der eigenen angeborenen geſunden
Conſtitution des römiſchen Freiheitsbegriffes. Das heißt: die
Beſchränkungen, die wir im folgenden kennen lernen werden,
ſind der Freiheit nicht von außen her auferlegt, ſondern aus ihr
ſelbſt abgeleitet; die Römer haben dieſelben nicht aus dem Prin-
zip der Zweckmäßigkeit, politiſchen Nothwendigkeit u. ſ. w. ent-
nommen, ſondern aus dem Weſen der Freiheit ſelbſt, wie ſie
daſſelbe von altersher inſtinctiv richtig erfaßt hatten.


Die römiſche Anſchauungsweiſe und damit die Quinteſſenz
der folgenden Ausführung läßt ſich vielleicht am bezeichnendſten
dahin angeben, daß ſie in der Freiheit nicht bloß ein Gut oder
eine Eigenſchaft der Perſon erblickt, ſondern auch eine objek-
tive
, vom Willen der Perſon unabhängige, unzerſtörbare
Eigenſchaft der Rechtsinſtitute.


Die privatrechtlichen Inſtitute ſind die Formen, in denen
das Freiheitsbedürfniß des individuellen Lebens ſich befriedigt.
In ihrer Geſammtheit repräſentiren ſie uns die ſämmtlichen
Seiten und Richtungen, nach denen hin die ſubjektive Freiheit
ſich zu bewegen vermag; jedem einzelnen dieſer Verhältniſſe
wohnt der Geſichtspunkt eines beſtimmten Freiheitsbedürfniſſes
und Freiheitszweckes inne. Dieſen Geſichtspunkt hat nun das
römiſche Recht richtig erfaßt und durchgeführt, d. h. der Zweck
des Inſtituts iſt das Maß für die dem Subjekt innerhalb
[225]A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
deſſelben zu verſtattende freie Bewegung. Die abſtracte Frei-
heit des Subjekts findet alſo an der in dem einzelnen Inſtitut
enthaltenen objektiven Freiheit ihr Ziel und Maß vor, eine
Bahn, die ſie einhalten muß und ſoll, damit ſie nicht mit ſich
ſelbſt in Widerſpruch gerathe; die Freiheitstheorie der einzelnen
Inſtitute ließe ſich als die Disciplin des abſtracten Freiheits-
gefühls charakteriſiren. Dispoſitionen, die dem Zweck des In-
ſtituts widerſtreiten, ſind daher nichtig und unwirkſam.


An der gegenwärtigen Stelle können wir dieſen Geſichts-
punkt nicht nach ſeiner ganzen Ausdehnung verfolgen,340) ſon-
dern nur nach einer ganz beſtimmten Seite hin, nämlich rückſicht-
lich der Unwirkſamkeit von Verträgen und Dispoſitionen, durch
die das Freiheitselement des einzelnen Inſtituts dahin gegeben
werden ſoll, bei denen alſo die ſubjektive Freiheit des Disponen-
ten mit der objektiven Freiheit des Inſtituts in Conflikt geräth.


Wir wollen jetzt dieſe Beſchränkung des ſubjektiven Willens
an den einzelnen Inſtituten nachweiſen. Zuerſt an der perſön-
lichen Freiheit ſelbſt.


Daß die vertragsmäßige Aufgabe der Freiheit nach römi-
ſchem Recht unmöglich iſt, darf ich als bekannt vorausſetzen.
Zur Strafe konnte die Freiheit verloren gehen z. B. für den
Dieb, den inſolventen Schuldner u. ſ. w., aber ein Verzicht
auf dieſelbe, ein Vertrag, wodurch Jemand ſich zum Sklaven
eines Andern machen wollte, war nach römiſchem Recht undenk-
bar.341)


Wie weit war eine Beſchränkung der perſönlichen Frei-
heit möglich? Jede Obligation enthält eine Belaſtung der Per-
ſon. Hätten die Römer nun die ihnen mitunter angedichtete
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 15
[226]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Vorſtellung von der unbedingt verbindenden Kraft des obliga-
toriſchen Willens wirklich gekannt, ſo würde die Obligation das
Mittel dargeboten haben, die Freiheit dem Effekt nach völlig zu
untergraben, z. B. durch Uebernahme lebenslänglicher Dienſt-
barkeit, durch das Verſprechen ſich nie vom Ort zu entfernen,
ohne Willen des andern ſich nicht zu verheirathen, nichts zu ver-
äußern u. ſ. w. Dieſe Vorſtellung war aber den Römern völlig
fremd. Ihre Obligation hatte zunächſt eine ausſchließliche Be-
ziehung und Richtung auf das Vermögen; eine Abweichung
von dieſer ihrer Bahn war in alter Zeit ſchon durch die objek-
tive Aeſtimation des ältern Rechts (S. 113) unmöglich ge-
macht. Das ältere Recht kannte nach der dort geäußerten An-
ſicht keine Obligationen auf Dienſtleiſtungen, ſondern nur auf
Sachen. Es wird ſich ſpäter die Gelegenheit finden, dieſe
Anſicht noch genauer zu begründen; an dieſer Stelle hebe ich
nur die Beziehung hervor, in der ſie zu unſerer Frage ſteht.
Geld und Sachen ſind Stücke des Vermögens, Dienſtleiſtungen
Produkte der Perſon. Ich kann mir denken, daß ein kräftiges
Freiheitsgefühl Anſtoß daran nahm, letztere zu Gegenſtänden des
Verkehrs zu machen342) und daß, nachdem die Macht der Ver-
hältniſſe dieſen Fortſchritt erzwungen, man dennoch ſich ſträubte,
einen direkten Zwang auf Vornahme der Handlung zu ſtatui-
ren. So würde denn der Grundſatz des römiſchen Prozeſſes,
daß jede Verurtheilung auf Geld lauten müſſe, eine befriedi-
gende Erklärung finden.


Es gab aber ein Mittel, durch deſſen Anwendung man dem
Erfolg nach die perſönliche Freiheit nach allen Seiten hin hätte
beſchränken und verkümmern können, die Conventionalpön
(S. 113). Hätte man hier die Sache rein formell behandelt, ſo
[227]A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
würde man ein Verſprechen, wodurch Jemand für den Fall, daß
er ſich z. B. verheirathe, ſein Domicil wechſle, zur Zahlung ei-
ner Summe verbindlich machte, als vollkommen gültig haben
anerkennen müſſen. Hier aber zeigt ſich eben, daß die Römer die
objektive Idee der perſönlichen Freiheit höher ſtellten, als das
Prinzip der abſtracten ſubjektiven Willensfreiheit; denn derartige
Verträge waren nichtig.343) Eine Parallele dazu findet ſich im
Erbrecht. Der Teſtator, der die perſönliche Freiheit des Erben
auf direktem Wege durch Verbote und Gebote nicht zu beſchränken
vermochte, konnte auf die Idee verfallen, es indirekt durch An-
ordnung bedingter Vermächtniſſe zu bewirken (z. B. wenn mein
Erbe ſich verheirathet, ſoll er dem A 1000 zahlen; ein Legat
mit dem Zweck einer Conventionalpön, daher legatum poenae
nomine relictum
). In der Kaiſerzeit ward ein ſolches Legat
ſchlechthin für ungültig erklärt,344) einerlei ob die Handlung,
zu der der Erblaſſer den Erben durch die Ausſicht auf den Ver-
luſt veranlaſſen, oder von der er ihn abhalten wollte, unter den
Geſichtspunkt einer Beſchränkung der perſönlichen Freiheit fiel
oder nicht. Für das ältere Recht exiſtirte ein ſolches abſolutes
Verbot nicht, aber im Geiſte deſſelben darf man annehmen, daß
von einem ſolchen Straflegat daſſelbe galt, wie von der Con-
ventionalpön, d. h. Nichtigkeit für den Fall, daß die perſönliche
Freiheit des Erben dadurch beeinträchtigt werden ſollte.


Im Eherecht bewährt ſich unſer Geſichtspunkt an der Un-
klagbarkeit aller Verträge, die der vom römiſchen Recht als
15*
[228]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Prinzip aufgeſtellten Freiheit der Ehe widerſtreben würden,
z. B. der Verträge, durch die man direkt oder mittelbar unter
dem Verſprechen einer Conventionalpön ſich anheiſchig machte,
eine Ehe zu ſchließen oder nicht zu ſchließen, zu trennen oder
nicht zu trennen.345) Streitig iſt nur, ob nicht die Sponſalien
im ältern Recht klagbar geweſen ſeien; für das neuere Recht
ſteht das Gegentheil feſt.346) Betrachtet man die Frage von
vornherein, ſo muß die angebliche Klagbarkeit derſelben höchſt
bedenklich erſcheinen. Die Ehe frei und jeden Moment lösbar,
die Sponſalien bindend — das wäre ein ſeltſamer Widerſpruch.
Woher käme den Sponſalien eine ſtärkere Kraft, als der Ehe,
während man doch eher das Entgegengeſetzte erwarten ſollte?
Und welchen praktiſchen Nutzen hätte ſie gehabt? Wenn der
Bräutigam oder der Vater der Braut ſich der Eingehung der
Ehe widerſetzten, ſo hätten ſie, meint man, mit der act. ex
sponsu
gezwungen werden können.347) Allein was half denn
der Zwang, da beide gleich hinterher die Ehe wieder trennen
konnten (§. 32)? Damit war ja der Weg gewieſen, um die
Klagbarkeit der Sponſalien völlig zu vereiteln, und ich meine,
den Römern ſollte man am wenigſten ein ſo nutzloſes Spiel mit
einer Klage zutrauen. Die Idee der Klagbarkeit ſtützt ſich na-
mentlich auf die Autorität des Varro, es läßt ſich aber erklären,
wie er darauf gekommen. Der Ausdruck spondere, sponsio be-
zeichnete zu ſeiner Zeit einen civilrechtlich obligirenden Akt, die
[229]A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
Stipulation, und für einen Etymologen und Nichtjuriſten lag
der Irrthum nahe, den Umſtand, daß jener Ausdruck auch bei
dem Verlöbniß wiederkehrte (sponsalia, despondere, sponsus
u. ſ. w.) und daß das Verlöbniß in Form der Stipulation ab-
geſchloſſen ward (spondesne gnatam tuam? spondeo), durch die
Annahme zu erklären, daß die Sponſalien urſprünglich ganz die
Kraft der gewöhnlichen sponsio gehabt hätten.348) Dazu kam,
daß dieſer poſtulirte Rechtsſatz in der That in Latium bis zur
lex Julia (664) Geltung gehabt hatte,349) was dem Varro, der
ſein Werk de lingua latina kaum 50 Jahre ſpäter ſchrieb (früh-
ſtens 706) nicht unbekannt geweſen ſein mag. Daß jene beiden
Momente den Schluß nicht begründen, läßt ſich leicht zeigen.
Denn sponsio bezeichnet urſprünglich keineswegs eine civilrecht-
liche, ſondern eine religiöſe Verpflichtung (Bd. I. S. 264),
und daß das Recht Latiums ihm eigenthümlich geweſen und
in Rom gar nicht gegolten habe, geht aus der Darſtellung
des Gellius deutlich hervor. Daß aber Varro bei dieſer Frage
nur Schlüſſe machte, nicht berichtete, und daß ſeine Auto-
rität hier eine höchſt problematiſche iſt, wird ſich ſchwerlich
in Abrede ſtellen laſſen. Im §. 71 ſpricht er von der verbinden-
den Kraft der Sponſalien als von einem Rechtsſatz, der mit
den Einrichtungen der früheren Zeit zuſammengehangen habe,
und deutet damit an, daß derſelbe zu ſeiner Zeit nicht mehr
gelte. Im §. 72 aber behandelt er die act. ex sponsu als eine
noch zu ſeiner Zeit praktiſche Klage (qui dixit … cum eo non
potest agi ex sponsu
), während dies doch nach dem Zeugniß
von juriſtiſchen Gewährsmännern, wie Servius und Nera-
tius350) entſchieden falſch iſt.351)


[230]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.

Die Freiheit des Erbrechts beſteht in dem Recht der
beliebigen Errichtung oder Aenderung letztwilliger Dispoſitio-
nen.352) Alle Verträge oder Aenderungen, welche zum Zweck
hatten, dieſes Recht zu entziehen oder zu verkümmern, waren
nichtig.353)


Eins der intereſſanteſten Beiſpiele bietet das Eigenthum,354)
351)
[231]A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
und unſere Frage hat hier eine ungemein hohe ſowohl natio-
nalökonomiſche als politiſche Bedeutung. Ob ein Recht die
Freiheit des Eigenthums feſthält, wie es das römiſche that, oder
ſie Preis gibt, wie unſer deutſches, iſt für eine Reihe der wich-
tigſten Verhältniſſe z. B. die Landwirthſchaft, den Grundadel
u. ſ. w. von entſcheidendem Einfluß.


Das Eigenthum gewährt die Möglichkeit der unbeſchränk-
ten Benutzung und Verfügung über die Sache. Die Freiheit
des Eigenthums würde ſich alſo daran zu bewähren haben,
daß Dispoſitionen des Eigenthümers, die eine Verkümmerung
dieſer Vollgewalt beabſichtigten, nichtig ſein müßten. Nicht aber
etwa Dispoſitionen, wodurch der Eigenthümer nur ſich
ſelbſt bindet oder ſein Recht aufgibt z. B. Verkauf, Tradition
der Sache, — mittelſt ihrer bethätigt er ja gerade ſeine Herr-
ſchaft als Eigenthümer — ſondern nur diejenigen, wodurch das
Eigenthum ſelbſt ergriffen, die Sache belaſtet, gebunden wird.
Der Unterſchied liegt auf der Hand; dort betrifft die Verfügung
nur das relative Verhältniß dieſes Eigenthümers zur Sache,
der abſolute Gehalt des Eigenthums aber wird gar nicht ver-
mindert, ja der Nachfolger hat ein völlig ungeſchwächtes und
unverkürztes Eigenthum; hier hingegen würde die Wirkung der
Dispoſition, die Gültigkeit derſelben vorausgeſetzt, in einer
Verminderung des abſoluten Eigenthumsgehaltes beſtehen, das
Recht des gegenwärtigen wie zukünftigen Eigenthümers ein un-
vollſtändiges und verkümmertes werden. Dieſe Verkürzung des
Eigenthumsgehalts könnte entweder das Veräußerungsrecht
zum Gegenſtand haben (gänzliche Entziehung oder Erſchwerung
deſſelben z. B. Familienfideikommiſſe, bedingte Uebertragung
354)
[232]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſeiner Ausübung = Pfandrecht) oder das Nutzungsrecht (totale
oder partielle Uebertragung deſſelben auf einen andern z. B.
ususfructus, servitutes praediorum, Zehnten u. ſ. w.). Einen
weiteren Schritt auf dieſer Bahn hat das deutſche Recht ge-
macht, indem es nicht bloß Dispoſitionen, wodurch etwas dem
Eigenthum Angehöriges von demſelben losgelöſt wird, ohne
Beſchränkung anerkennt (was ſich immer noch unter den Ge-
ſichtspunkt einer Verminderung des Eigenthums bringen läßt),
ſondern ſelbſt ſolche, die dem Eigenthum einen ihm fremden
negativen Beſtandtheil aufbürden, nämlich eine Obligation,
die der jedesmalige Eigenthümer zu tragen hat (Reallaſten)
oder gar eine die perſönliche Freiheit deſſelben alterirende Be-
ſchränkung (Leibeigenſchaft).


Was iſt nun von dieſem Syſtem der Beſchränkung des Ei-
genthums355) zu halten? Man hat demſelben eine vortheilhafte
Seite abzugewinnen gewußt, indem man den Geſichtspunkt
einer hier Statt findenden reicheren Entwicklung des Eigenthums-
begriffs geltend machte. Gewiß; in demſelben Sinn, in wel-
chem ein Mediciner eine recht gefährliche Krankheit höchſt in-
tereſſant finden kann. Aber es frägt ſich, ob jenes Syſtem für
das Leben ein Uebel oder eine Wohlthat genannt werden ſoll,
und da lautet das Urtheil doch etwas anders. Wenn der Ei-
genthümer der Sache Laſten auflegt, ſo bewegt er ſich ſchein-
bar nur innerhalb des Eigenthumsbegriffs, in der That aber
verſündigt er ſich gegen die Idee des Eigenthums. Das An-
recht auf Freiheit des Eigenthums, das die folgenden Genera-
tionen mitbringen, iſt durch den frühern Innehaber in einer
leichtſinnigen Stunde conſumirt; er hat eine Anleihe gemacht
auf ihre Koſten, ihnen eine Laſt aufgebürdet, von der ſie ſich
nicht mehr befreien können; eine Uebereilung, ein Mißgriff
[233]A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
ſchleppt ſich fortan durch alle Jahrhunderte durch. Man ſchlage
die Folgen nicht zu gering an. Ich lege das Hauptgewicht nicht
ſowohl auf die pekuniäre, als auf die moraliſche Werthver-
minderung der Sache. Der moraliſche Einfluß, den das Grund-
eigenthum auf den Eigenthümer ausüben kann und ſoll, die
Hervorbringung und Unterhaltung eines würdigen Freiheits-
und Unabhängigkeitsgefühls, die Verkettung der Perſon mit
der Sache, die Liebe und Anhänglichkeit an ihr kann durch das
Recht der Einmiſchung und des Einſpruchs, das einem Dritten
gegeben iſt, ganz verkümmert werden. Ein freier Mann ein
freies Gut; ein unfreies Gut ein dauerndes Zerwürfniß des
Beſitzers mit ſeinem Beſitzthum und ein Hemmſchuh guter Land-
wirthſchaft. Dem Beſitzer zu verſtatten, beliebig ſein Gut zu
verkaufen, hat für den Staat keinen Nachtheil; es wechſelt nur
die Perſon, die Sache bleibt, wie ſie war. Ihm aber zu er-
lauben, den nöthig gewordenen Verkauf dadurch zu umgehen,
daß er intellektuelle Werththeile deſſelben veräußert, ſich durch
Auflage von ewigen Renten, Laſten u. ſ. w. auf die Sache
Geld verſchafft, dieſe innere Entnervung und Abſchwächung
des Eigenthums und das Maß, bis zu dem ſie getrieben
werden ſoll, ganz ſeinem Belieben anheimzuſtellen, involvirt
von Seiten der Geſetzgebung eine unglaubliche Kurzſichtigkeit
und Sorgloſigkeit. Es findet hier nicht eine bloße Theilung des
Grundwerths Statt, ſo daß der Empfänger des idealen Werth-
theils ebenſo viel erhielte, als der Geber verlöre, ſondern es
geht hier ein beträchtlicher Theil geradezu verloren, ebenſo als
wenn Jemand z. B. von einem Kunſtwerk ein Stück abreißen
und verkaufen wollte, um nicht genöthigt zu ſein, das Ganze
zu veräußern. Der wahre Preis, um den das beſchränkende
Recht des Dritten erkauft wird, iſt ein verkümmertes, krüppel-
haftes, moraliſch und ökonomiſch ſieches Eigenthum.


Dies die Gefahren und Nachtheile, die mit dem Syſtem der
Eigenthumsbelaſtung, wenn es ſich, wie dies bei uns in Deutſch-
land der Fall war, in unbeſchränkter Weiſe entwickeln kann,
[234]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
unzertrennlich verbunden ſind. In dieſer ſeiner vollſtändigen
Entfeſſelung wird es zu einem wahren Krebs des Eigenthums,
der ſich hinterher nur noch durch Gewaltmaßregeln exſtirpiren
läßt. Es ſoll damit aber keineswegs auch der richtige, behut-
ſame Gebrauch jenes Syſtems verworfen werden. Worin be-
ſteht derſelbe? Die entſcheidenden Geſichtspunkte ſind theils das
Maß der Belaſtung, theils die Dringlichkeit des zu erreichenden
Zwecks: ein wirkliches Bedürfniß des Verkehrs. Das ältere rö-
miſche Recht liefert uns in dieſer Beziehung ein ſehr lehrreiches
Beiſpiel. Die Römer mit ihrem wunderbaren Inſtinkt haben
von altersher die feine Gränzlinie entdeckt, die hier das Rechte
vom Verkehrten ſcheidet. Die einzige Art der Belaſtung des
Grundeigenthums, die das ältere Recht kennt, ſind die Servi-
tuten;356) und ſie waren (nicht durch ein äußeres Gebot, ſon-
dern durch meiſterhafte Erkennung ihres wahren Weſens, durch
die treffende Formulirung des Begriffes ſelbſt) auf ein Maß zu-
rückgeführt, in dem ſie nie eine dem Eigenthum gefährliche Rich-
tung gewinnen konnten. Bei den Perſonalſervituten, die relativ
ſpätern Urſprungs zu ſein ſcheinen,357) lag die Schranke in ih-
rem vergänglichen Charakter; ſie erloſchen mit dem Tode oder
einer capitis deminutio des Berechtigten. Die Prädialſervituten
tragen gerade den entgegengeſetzten Charakter, ja derſelbe iſt
ihnen ſo weſentlich, daß ſie auf vorübergehende Zeit gar nicht
errichtet werden können. Die Römer gehen von der Idee aus,
die gegenſeitige Aushülfe unbeweglicher Sachen verdient nur
dann in Form der Servitut vermittelt zu werden, wenn ſowohl
[235]A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
das Intereſſe von Seiten des einen, als die Leiſtungsfähigkeit von
Seiten des andern Grundſtücks dauernder358) Art iſt; für
[236]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
vorübergehende Verhältniſſe dieſer Art iſt die Obligatio ebenſo
ſehr die entſprechende Form, wie ſie bei ihrer Empfindlichkeit
gegen den Wechſel der Beſitzer und der Generationen für jene
Verhältniſſe durchaus ungeeignet ſein würde. Die Garantie,
die bei den Perſonalſervituten ganz abgeſehn von allem Inhalt
in dem Moment der Vergänglichkeit lag, mußte hier bei den
Prädialſervituten durch Beſchränkung des Inhalts der Ser-
vitut erreicht werden, und zwar geſchah dies in der Weiſe, daß
man den Geſichtspunkt feſthielt: die Prädialſervituten haben
nicht den Zweck, dem Beſitzer Vortheile zuzuwenden, die von
dem Beſitz eines Grundſtücks unabhängig ſein könnten, die ihm
bloß perſönlich einen Gewinn oder eine Annehmlichkeit gewäh-
ren würden, ſondern ſie ſollen ein Intereſſe der Sache
ſelbſt befriedigen, ihr, ſo zu ſagen, behülflich ſein, ihre öko-
nomiſche Beſtimmung
zu erreichen. Welcher Servituten-
inhalt nach dieſem Geſichtspunkt möglich ſei, hatte die Praxis
entſchieden; es läßt ſich denken, daß auch hier wie überall eine
allmählige Entwicklung Statt fand, daß man die Servitut ur-
ſprünglich mehr auf die Fälle eines eigentlichen Bedürfniſſes
einſchränkte (Weggerechtigkeiten und Waſſerſervituten), ſpäter
aber jenen Geſichtspunkt mit größerer Freiheit handhabte.359)
[237]A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
Das Bedürfniß des herrſchenden Grundſtücks kam nur dann
zur Sprache, wenn es ſich um das Maß einer concreten, dem
Inhalt nach nicht genau abgegränzten Servitut handelte; nicht
aber als Bedingung für die Errichtung einer Servitut über-
haupt. 360) Darin, daß die Servitut, wenn ſie zwei Jahre hin-
durch nicht ausgeübt war, unterging, lag nur eine Conſequenz
des oberſten Geſichtspunktes, denn es ließ ſich mit gutem Grunde
annehmen, daß eine Servitut, deren der Berechtigte ſich zwei
Jahre hindurch nicht bedient hatte, durch ein wirkliches Be-
dürfniß fernerhin nicht mehr geboten oder es von Anfang an
nicht geweſen war.


Die Servitut war nun das einzige Verhältniß, mittelſt deſ-
ſen der Eigenthümer die Freiheit des Eigenthums beſchrän-
ken konnte, und ganz treffend redete die Sprache hier von einem
Zuſtand der Unfreiheit der Sache ſelbſt (servit praedium,
servitus
), wie bei Aufhebung deſſelben von einer Wiederher-
ſtellung der Freiheit (usucapio libertatis, praedium liberum). 361)
Die Dispoſitionsbefugniß des Eigenthümers war hier in ſo
enge Gränzen eingeſchloſſen, daß dem Eigenthum eine erheb-
liche Gefahr nicht drohte. Abgeſehen von dieſem einzigen Ver-
hältniß hatte aber der Eigenthümer über die Freiheit des Ei-
genthums keine Macht; ſich ſelbſt konnte er binden und ruini-
ren, das Eigenthum und den zukünftigen Eigenthümer nicht.
[238]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Die Verſchiedenheit, die in dieſer Beziehung zwiſchen dem rö-
miſchen und dem modernen Recht beſteht, iſt namentlich für das
Erbrecht intereſſant. Die Gegenſätze zwiſchen Freiheit und Ge-
bundenheit haben ſich hier in eigenthümlicher Weiſe vertheilt.
Nach römiſchem Recht beſchränkt ſich die teſtamentariſche Dis-
poſitionsbefugniß lediglich auf das relative Verhältniß des
Eigenthümers zum Eigenthum; ſein Recht kann er vermachen,
wem er Luſt hat, in dieſer Beziehung iſt er völlig unbeſchränkt.
Dagegen den abſoluten Gehalt des Eigenthums kann er ab-
geſehn von der Anordnung von Servituten nicht verkürzen, der
Erbe bekömmt das Eigenthum in der ganzen Freiheit, die der
Eigenthumsbegriff mit ſich bringt, kann alſo unter Lebenden
wie im Teſtament ganz nach eignem Belieben disponiren. Bei
den modernen Völkern gerade umgekehrt; dort Beſchränkungen
der Dispoſitionsbefugniß, hier eine Erweiterung derſelben bis
zu dem Grade, daß der Wille des Teſtators das Eigenthum für
alle Zeiten, ſo zu ſagen, lahm legen kann (Familienfideikom-
miſſe u. ſ. w.). Ich will die Trifftigkeit des Motivs dieſer Ver-
ſchiedenheit nicht verkennen, nämlich die Rückſicht auf die Fa-
milie, und am wenigſten hinſichtlich des erſten Punktes. Was
aber den zweiten betrifft, ſo muß man, um ein richtiges Urtheil
über denſelben zu gewinnen, ſich nur vergegenwärtigen, wohin
es führen würde, wenn nicht bloß ein einzelner Stand, ſondern
alle Klaſſen des Volks in größerem Maßſtabe von jener Befug-
niß Gebrauch machen würden. Das ganze Eigenthum im Staat
könnte auf dieſe Weiſe einer rechtlichen Erſtarrung anheim fal-
len, die Freiheit des Verkehrs für ewige Zeiten gelähmt, der
Fortſchritt namenlos erſchwert, ja vielfach völlig unmöglich ge-
macht werden. Sollte ein ſolches widerſinniges Reſultat —
vom nationalökonomiſchen Geſichtspunkt ganz zu ſchweigen —
dem Prinzip der Gerechtigkeit angemeſſen ſein? Sollte die Ge-
genwart das Recht haben, der Zukunft Feſſeln anzulegen und
ſie unter eine cura prodigi zu ſtellen? Man möge eine ſolche
Inſtitution aus politiſchen Gründen als Privilegium eines
[239]A. Stellung des Indiv. Die Wohlfahrtsfrage. §. 34.
einzelnen Standes rechtfertigen — darauf will ich mich nicht
einlaſſen; aber man möge aufhören, uns dieſelbe vom recht-
lichen
Standpunkt aus zu rühmen und dem römiſchen Recht
einen Vorwurf daraus zu machen, daß es dieſelbe nicht gedul-
det hat. Gerade hier hat das römiſche Recht in meiſterhafter
Weiſe das der Idee des Rechts Entſprechende gefunden, und
nirgends zeigt ſich wohl die Hohlheit aller jener Phraſen von
dem unſittlichen Charakter des römiſchen Freiheitsbegriffs ſo ſehr
in ihrer wahren Geſtalt, als bei dem Geſichtspunkt, den wir in
dem gegenwärtigen Paragraphen durchgeführt haben, und den
wir ſchließlich in den Satz zuſammenfaſſen wollen:
daß die Freiheit als Bedingung ſittlicher
Entwicklung etwas über dem Menſchen Er-
habenes iſt, ein Gut, das er rechtlich weder
ſich ſelbſt, noch ſeinen Nachkommen verküm-
mern kann
.


4. Die Wohlfahrtsfrage und der Staat.

Theilnahme des Staats für das Wohl des Individuums — die
ſ. g. ſociale Frage — Quellen des Pauperismus (der Sklave der
böſe Feind der römiſchen Geſellſchaft) — die Stellung der höhern
Stände (ſociale Verpflichtung derſelben) — Maßregeln von Sei-
ten des Staats.


XXXIV. Nachdem wir jetzt das Syſtem der ſubjektiven
Freiheit nach ſeinem Inhalt und Umfang haben kennen lernen,
bleibt uns noch eine Frage übrig, die für die richtige Beurthei-
lung deſſelben von entſcheidender Bedeutung iſt, und die wir
kurz dahin ausdrücken können: beruhte dies Syſtem auf einem
negativen Verhalten des Staats zum Individuum oder auf dem
poſitiven Willen deſſelben? Mit andern Worten: ging der rö-
miſche Staat von der Vorſtellung aus, daß die ſubjektive Rechts-
ſphäre, ſoweit nicht ſein eignes unmittelbares Intereſſe ins
Spiel komme, für ihn etwas Gleichgültiges ſei, daß er wenig-
[240]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſtens nicht das Recht oder den Beruf habe, im Intereſſe der
privaten Wohlfahrt beſchränkend in dieſelbe einzugreifen? Oder
aber: unterließ er letzteres, weil er poſitiv dieſe Freiheit wollte,
weil ſie ihm unentbehrlich erſchien? In erſterem Fall würde
ſich der Indifferentismus des Staats gegen das individuelle
Wohl als der Umſtand bezeichnen laſſen, dem unſer Syſtem
ſein eigentliches Gedeihen zu verdanken gehabt hätte, und es
bedarf nicht der Bemerkung, daß daſſelbe unter dieſer Voraus-
ſetzung eine ſehr rohe Auffaſſung vom Beruf des Staats bekun-
den, der culturhiſtoriſche Höhenpunkt deſſelben mithin ein ſehr
niedriger ſein würde. Ich halte dieſe Auffaſſung für entſchieden
verkehrt und hoffe ſie im folgenden vollſtändig widerlegen zu
können. Sie iſt zwar meines Wiſſens noch von Niemanden ge-
radezu als Theſis aufgeſtellt und vertheidigt — man würde ſich
dann wohl von ihrer Unhaltbarkeit überzeugt haben — aber
Anklänge an dieſelbe ſind mir doch nicht ſelten begegnet, und
ganz abgeſehen davon iſt die Frage ſelbſt für unſere ganze Unter-
ſuchung zu wichtig, als daß wir ihr aus dem Wege gehen
dürften.


Schon unſere bisherige Darſtellung ſetzt uns in Stand, uns
von der Irrigkeit jener Auffaſſungsweiſe zu überzeugen. Der
Geſichtspunkt nämlich, den wir im vorigen Paragraphen gefun-
den haben, dokumentirt eine poſitive Pflege der Freiheit von
Seiten des Staats, lehrt uns, daß dieſelbe nicht als etwas
lediglich dem ſubjektiven Belieben Anheimfallendes angeſehen,
ſondern in ihrer Gegenſätzlichkeit zur ſubjektiven Laune und Will-
kühr richtig erkannt und geſchätzt ward, mit andern Worten, daß
ſie einen objektiven Gedanken des Rechts bildete.


Es ſoll jetzt noch auf anderem Wege die Irrigkeit jener Auf-
faſſung nachgewieſen werden, dadurch nämlich, daß wir die
Frage aufwerfen und beantworten, ob denn der römiſche Staat
das Subjekt ganz ſeinem Schickſal überlaſſen, ſich um das Wohl
und Wehe deſſelben, um die Privatintereſſen und das Leben
und Treiben innerhalb der privaten Rechtswelt gar nicht ge-
[241]A. Stellung des Indiv. Die Wohlfahrtsfrage. §. 34.
kümmert habe. Gelingt es uns das Gegentheil nachzuweiſen,
ſo wird damit jeder Zweifel über das wahre Verhältniß des
Staats zum Syſtem der Freiheit beſeitigt ſein.


Daß das Verhältniß des Bürgers zum Staat in Rom ein
viel innigeres war, als heutzutage, iſt bekannt. Das römiſche
Rechtsgefühl wußte allerdings das Recht des Einzelnen von dem
des Staats ſehr wohl zu trennen, und wenn wirklich die natur-
rechtliche Doktrin, wie neuerdings behauptet iſt, den Gedanken
einer ſolchen Scheidung erſt dem römiſchen Recht hätte entneh-
men müſſen, ſo brauchten wir dieſe Entlehnung nicht zu be-
dauern, ſondern uns nur zu ſchämen, die einfache Wahrheit,
daß die Perſönlichkeit ihr Recht mit auf die Welt bringt, ein
Recht von Gottes Gnaden, das jeder Staat reſpektiren ſoll,
nicht von ſelbſt gefunden zu haben. Mit dieſer Abgränzung der
Rechtsſphären des Staats und des Einzelnen vertrug ſich aber
in Rom das innigſte Verhältniß beider ſehr wohl, ſo wie die
rechtliche Verſchiedenheit zweier Perſonen der völligen Einigung
derſelben in der Liebe nicht im Wege ſteht. Die Liebe verlangt
nicht, daß die rechtliche Scheidelinie hinwegfalle, denn für ſie
exiſtirt dieſe Schranke nicht, ſie überſpringt ſie. So poſtulirte
das römiſche Rechtsgefühl jene Demarkationslinie zwiſchen
dem Recht des Subjekts und dem des Staats, aber nicht, da-
mit ſich eine egoiſtiſche, engherzige Geſinnung in Sicherheit
hinter dieſelbe zurückziehe, ſondern damit die freie Hingabe
und Aufopferung ihren Werth und ihre Ehre habe. Wie kalt,
wie fremd, wie liebeleer iſt im allgemeinen das heutige Ver-
hältniß des Bürgers zum Staat; wie warm, wie innig, wie
von wirklicher Liebe beſeelt in Rom! Der heutigen Vorſtellung
erſcheint der Staat als abſtracte dem Einzelnen gegenüber
ſtehende Perſönlichkeit, der römiſchen als die höhere, den Ein-
zelnen umfaſſende und durch ihn mitgebildete Einheit. 362)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 16
[242]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Die Intereſſen des Staats ſind daher nicht bloß mittelbar, ſon-
dern unmittelbar ſeine eignen, ſo wie es die der Societät für
den Geſellſchafter ſind; Hingabe an den Staat iſt folglich nicht
Hingabe an etwas Fremdes, ſondern Unterordnung der rein
partikulären Zwecke unter die gemeinſamen, des niedern Guts
unter das höhere.


Bei dieſem Verhältniß zwiſchen dem Staat und ſeinen Bür-
gern, bei dieſer innigen Verſchlingung ihrer beiderſeitigen In-
tereſſen verſtand ſich die Fürſorge des Staats für das Wohl des
Bürgers eigentlich ganz von ſelbſt. Die Energie, mit der er die
Rechte ſeiner Bürger nach außen hin vertrat, iſt bekannt, dürfte
hier aber am wenigſten ſchwer ins Gewicht fallen; wir werden
alſo nur die Thätigkeit des Staats in ihrer Richtung nach innen
hin einer nähern Betrachtung zu unterwerfen haben, namentlich
die Sorge für das ökonomiſche Loos der ärmern Klaſſen.


Von altersher gab es in den römiſchen Zuſtänden Einen
höchſt bedenklichen Punkt, vielleicht läßt er ſich geradezu als der
Todeskeim bezeichnen, an dem Rom ſpäter zu Grunde gegangen
iſt. Es war dies die ſchadhafte Geſtaltung des Syſtems der
Gütervertheilung und Vermögenscirculation. Die Ungleich-
heit in der Vertheilung der Güter iſt das unausbleibliche Re-
ſultat des freien Verkehrs, und vermöge der Anziehungskraft,
die das größere Vermögen auf das kleinere ausübt, wiederholt
ſich überall die Erſcheinung, daß das Vermögen vorzugsweiſe
zu den Theilen hinſtrömt, an denen es ſich bereits in größeren
Maſſen angeſammelt hat. In Rom war aber dieſer Andrang
nach einzelnen Theilen durch eigenthümliche Verhältniſſe in un-
gewöhnlicher Weiſe geſteigert und umgekehrt das Rückſtrömen
des Vermögens in die entblößten Theile äußerſt erſchwert. Nir-
gends ward der Reiche ſo leicht Millionär, der Unbemittelte ſo
362)
[243]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Quellen d. Pauperismus. §. 34.
leicht Bettler, als hier; nirgends war die Gränzlinie zwiſchen
beiden Extremen ſo ſchmal, ſo ſchwer zu behaupten; ein Schritt
nach der einen oder andern Seite, und lawinenartig wuchs die
Noth oder der Ueberfluß.


Der Grund dieſer Erſcheinung lag zunächſt in der unglei-
chen Vertheilung des Druckes, den die Kriege auf die ökono-
miſche Lage der wohlhabenden und ärmeren Klaſſe ausübten.
Die Kriege riefen allerdings den Reichen nicht minder, als den
Armen von ſeinen Feldern, aber mit dem ungeheuern Unter-
ſchied, daß die des Armen inzwiſchen unbebaut liegen blieben,
die des Reichen aber von Sklaven bebaut wurden. 363) In älte-
ſter Zeit freilich, als die Kriege mehr den Charakter von Raub-
zügen trugen, mochte die Feldarbeit kaum darunter leiden; ſie
wurden in der Regel in Zeiten verlegt, wo es auf dem Felde
nichts zu thun gab. In demſelben Maße aber, als die Kriege
an Bedeutung gewannen, der Kriegsſchauplatz ein entfernterer,
die Dauer des Feldzuges eine längere ward, in demſelben Maße
mußte die Landwirthſchaft dies verſpüren. Aber, und dies iſt
der entſcheidende Punkt: nicht ſchlechthin — das hätte zwar den
Wohlſtand des geſammten Volks beeinträchtigen, nicht aber das
Verhältniß des Beſitzſtandes der einzelnen Klaſſen ſo völlig ver-
ändern können. Entſcheidend ward hier jener Unterſchied in
der Bewirthſchaftung des Landes: ob nämlich der Beſitzer ſeine
Felder ſelbſt beſtellte, oder ſie durch Sklaven verſehen ließ. Der
letztern Methode der Bewirthſchaftung war der Krieg ungefähr-
lich, da er ihr keine Arbeitskräfte entzog, für die erſtere hinge-
gen bedeutete jeder Krieg von längerer Dauer eine Störung,
16*
[244]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
wohl gar einen völligen Stillſtand der Cultur. Daß aber jene
Bewirthſchaftungsmethode für kleinere Grundſtücke, die nur den
Mann ſelbſt nährten, die Haltung eines Sklaven alſo weder
erforderten, noch ertrugen, ebenſo unanwendbar, wie ſie für
größere Güter geboten war, braucht kaum geſagt zu werden.


Dieſe Eine Differenz war nun äußerſt folgenreich. Es iſt be-
kannt, daß jeder Ausfall in der Aerndte ein Steigen der Preiſe zur
Folge hat. Die Entwicklung des heutigen Handels, die Sicher-
heit, Raſchheit, Leichtigkeit unſeres Transportſyſtems bewirken,
daß dieſe Steigerung ſich heutzutage über die weiteſten Kreiſe ver-
theilt und dadurch für die von dem Ausfall betroffenen Gegen-
den verhältnißmäßig auf ein Minimum reducirt wird. Ganz
anders im Alterthum. Der Kornhandel ward allerdings auch
damals ſchon mit einer gewiſſen Großartigkeit betrieben, aber
er hatte doch weder die Univerſalität hinſichtlich ſeiner Ausdeh-
nung, noch auch die innere Organiſation gewonnen, daß er eine
ſolche wohlthätige Wirkung in größerm Maßſtabe hätte aus-
üben können. Der Kornwucher, der heutzutage durch die mo-
derne Geſtalt des Kornhandels in die engſten Gränzen einge-
ſchloſſen iſt, konnte ſich aus dem Grunde im Alterthum zu
furchtbarer Höhe ſteigern. 364) Dazu kam ganz abgeſehn von
der Unvollkommenheit des Transportſyſtems die völkerrechtliche
Unſicherheit des Handels, die letzteren verhinderte mit ſo ge-
ringen Koſten und mit der Regelmäßigkeit und Sicherheit zu
operiren, wie es der heutige Kornhandel kann. Daher dann der
lokale Charakter der Theuerungen und das enorme und faſt un-
glaubliche Schwanken der Getraidepreiſe. 365)


[245]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Quellen d. Pauperismus. §. 34.

Machen wir davon nun die Anwendung auf unſere vorlie-
gende Frage, ſo können wir uns ſelbſt ſagen, wie der durch die
Kriege veranlaßte Ausfall in der Aerndte wirken mußte. Die
Preiſe gingen ſofort in unverhältnißmäßiger Weiſe in die Höhe,
die Reicheren, die allein im Stande geweſen wären, im größe-
ren Maßſtabe Kornzufuhren zu bewerkſtelligen und dadurch die
Preiſe herunterzudrücken, hatten ein Intereſſe daran, daß dies
nicht geſchah, 366) denn gerade ſie waren in dem Fall zu verkau-
fen und beuteten in jeder Weiſe die Conjunctur aus — finan-
ziel und politiſch. 367) Daher ihr Haß gegen den Sp. Mälius,
365)
[246]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
der ihnen in einem ſolchen Fall ihre Spekulationen vereitelt
hatte. Die gegen ihn erhobene Anſchuldigung, daß er nach dem
Königthum ſtrebe, war mehr ein Vorwand zur Rache, als der
wahre Grund derſelben. 368)


Die Lage der Aermeren war bei ſo bewandten Umſtänden
ganz unhaltbar. 369) Bei unſern heutigen Verhältniſſen kann Ein
gutes Jahr allen Schaden des vorhergehenden ſchlechten Jah-
res für den Landwirth wieder ausgleichen. In Rom war dies
nicht möglich. Denn in einem Jahr des Ueberfluſſes, wo auch
der Aermere volle Scheunen hatte und ans Verkaufen denken
konnte, ſtanden die Preiſe natürlich am niedrigſten, vielleicht
um das Vierfache und Mehrfache niedriger, als zu dem er ſelbſt
gezwungen geweſen war zu kaufen. Um das Kaufgeld aufzu-
treiben, hatte er zu enormen Zinſen Geld aufnehmen müſſen.
Die nächſte Aerndte ſollte Kapital und Zinſen decken; kam da-
gegen abermals ein Kriegs- oder Nothjahr, ſo brachte daſſelbe
ſtatt Hülfe nur dieſelben Drangſale, alſo doppelte Laſten. Man
hat den Grund der ſteten Verſchuldung der Plebs in dem hohen
Zinsfuß finden wollen. Letzterer war aber nur eine Wirkung
des Uebels, nicht das Uebel ſelbſt; ohne die angedeuteten Ver-
hältniſſe würde der kleine Grundbeſitz dem großen Grundbeſitz
und Kapital nicht tributär geworden, der Zinsfuß ſelbſt folge-
weiſe kein ſo hoher geweſen ſein.


[247]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Quellen d. Pauperismus. §. 34.

Jenes unnatürliche Uebergewicht, das dem bisherigen nach
der reiche Grundherr über den kleinen Mann ausübte, ward
noch dadurch erhöht, daß erſterer in der Lage war, letzteren von
der Concurrenz an den Vortheilen des ager publicus faſt gänz-
lich auszuſchließen. Aber ganz abgeſehen hiervon war jenes
Uebergewicht ſchon bedeutend genug, um uns die bekannte That-
ſache zu erklären (S. 156), daß der kleine Grundbeſitz ſich
neben dem großen nicht recht zu halten vermochte, und zum gro-
ßen Theil von ihm abſorbirt wurde. 370) Das Mittel, das die
lex Licinia dagegen ergriff, reichte nicht aus und, wie einmal
die Verhältniſſe lagen, gab es keins dagegen. Denn das ein-
zige, das hätte helfen können, das Verbot der Bewirthſchaftung
durch Sklaven, war natürlich undenkbar; es hätte die Sklaverei
ſelbſt aufgehoben werden müſſen! Die Beſtimmung des Ge-
ſetzes, welche die Verwendung einer gewiſſen Anzahl freier Leute
neben dem unfreien Geſinde vorſchrieb, mochte den Nutzen ha-
ben, daß ſie wenigſtens einem Theile des ländlichen Proleta-
riats ein angemeſſenes Unterkommen ſicherte und die Bewirth-
ſchaftung der großen Güter um etwas vertheuerte, das Ueber-
gewicht in der Concurrenz mit dem kleinen Grundbeſitz alſo um
ein geringes verminderte. Aber, wie ſchon geſagt, eine Abhülfe
des Uebels ſelbſt gewährte ſie nicht, denn die Sklavenwirth-
ſchaft behielt immer zwei Vortheile, die ſich durch nichts wieder
ausgleichen ließen, einmal die größere Billigkeit der Arbeit und
folglich der Produktion, ſodann der oben hervorgehobene Um-
ſtand, auf den ich ein noch höheres Gewicht legen möchte, daß
nämlich ein Krieg die Wirthſchaft des kleinen Bauern ſtörte,
auf die des großen Grundbeſitzers aber ohne allen nachtheiligen
Einfluß war. 371) Daß die lex Licinia ein Maximum des
[248]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Grundbeſitzes (500 Jugera) und des Viehſtandes (100 Stück
Großvieh, 500 Kleinvieh) feſtſetzte, war für die eigentliche Kar-
dinalfrage gleichfalls gleichgültig. Ein Gut von jenem Umfang
war ein großes in unſerm Sinn, 372) an einer Ausdehnung deſ-
ſelben über dieſe Gränze hinaus lag nicht viel. Die Maßregel
konnte ſchließlich nur dem großen Grundbeſitz zu gute kommen,
denn wenn auch alles überſchüſſige Land urſprünglich in kleinen
Parcellen an ärmere Leute verkauft worden wäre, ſo mußte das-
ſelbe nach dem oben entwickelten Geſetz zum größten Theil bald
wieder zu größeren Complexen von 500 Jugera zuſammenſchie-
ßen. Das einzige alſo, was die lex Licinia durch dieſe Be-
ſtimmung wirklich erreichte, war der Erfolg, daß ſie die Zahl
der großen Grundbeſitzer vermehrte, im Intereſſe der wohl-
habenden
Klaſſe die Millionäre verhinderte, ihr Vermögen in
Grundbeſitz anzulegen. Uebrigens ſtieß es ſchon von Anfang an
auf ſo heftigen Widerſpruch, daß es nicht einmal ſeine be-
ſchränkten Intentionen erreichte. 373)


Den Gefahren, die aus der Verdrängung oder der beträcht-
lichen Verminderung des freien Bauernſtandes erwachſen muß-
ten, hätte man begegnen können, wenn man denſelben als Päch-
terſtand wieder an den Grund und Boden gefeſſelt hätte. Allein
das Syſtem der Verpachtung der Güter in kleinen Parcellen, 374)
wie es z. B. in England beſteht, war hier den Verhältniſſen we-
niger entſprechend. Dieſelben Gründe, die die Lage des kleinen
371)
[249]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Quellen d. Pauperismus. §. 34.
Bauern ſo ſehr erſchwerten, mußten dieſelben Wirkungen äu-
ßern, wenn er ſein früheres Eigenthum pachtete. Mit dem
großen Grundbeſitzer konnte nur der große Pächter konkurri-
ren. So dürfen wir annehmen, daß das Syſtem der eignen
Bewirthſchaftung das bei weitem vorherrſchende blieb, 375) we-
nigſtens ſo lange, als in den bisherigen Verhältniſſen nicht eine
Veränderung eintrat. Die Bildung des Colonats datirt aus
weit ſpäterer Zeit, das uralte Verhältniß der patronatiſchen
Landleihe an den Klienten (Bd. 1, S. 234) tritt in der gegen-
wärtigen Periode ſo wenig hervor, daß wir ihm eine erhebliche
Bedeutung für die vorliegende Frage nicht beilegen können.


Zu dem ſocialen Schaden, den wir bisher behandelt haben,
geſellte ſich noch ein anderer, nicht minder folgenreicher, der
gleichfalls mit eigenthümlich römiſchen Verhältniſſen zuſammen-
hing. Es war dies die außerordentliche Beſchränktheit des Sy-
ſtems der Erwerbsquellen, eine Erſcheinung, die hier nicht, wie
anderwärts, die natürliche Folge eines unentwickelten Verkehrs
und einer niedern Culturſtufe war, ſondern das Werk ſocialer
Vorurtheile. Für den Unbemittelten nämlich gab es in Rom
Jahrhunderte lang nur Ein anſtändiges Erwerbsmittel, den
Krieg. Der Römer faßte den Krieg als Erwerbsquelle auf, und
es begreift ſich von dieſem Geſichtspunkt aus, daß man in dem
Kriegsdienſt nicht eine Laſt, ſondern einen Vortheil erblickte, an
dem man die Unmündigen nicht participiren ließ. Das Heer
nahm die Vertheilung der Beute als Recht in Anſpruch, und
die Ueberweiſung derſelben an den Schatz erſchien demſelben als
ein Raub an ſeinen Rechten. 376) Hinſichtlich dieſer Erwerbs-
quelle beſtand eine ſcheinbare Gleichheit aller Stände, aber in
[250]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Wirklichkeit waren doch die Reichen im Vortheil, dadurch daß
ſie nämlich die Nutzung des eroberten Landes, das ager publi-
cus
geworden war, vorzugsweiſe in ihre Hände zu bringen
wußten. Die übrigen durch die römiſche Sitte als anſtändig be-
zeichneten Erwerbszweige ſetzten ſämmtlich Vermögen voraus,
und zwar, um mit Erfolg betrieben zu werden, ein bedeutendes.
Hinſichtlich der Landwirthſchaft iſt dies ſo eben gezeigt worden,
dieſelbe Erſcheinung aber wiederholt ſich überall, wo das Kapi-
tal arbeitet. Dem kleinen Kapital war der Zutritt zu den mei-
ſten Geſchäften, zum eigentlichen Geldmarkt ſo gut wie ver-
ſchloſſen; es ſah ſich beſchränkt auf den Kleinhandel und das
Zinsgeſchäft. Die Uebermacht, die das große Kapital an und
für ſich ſchon hat, war in Rom durch ein eigenthümliches
Moment noch außerordentlich verſtärkt, nämlich durch die ſo-
ciale Geſtaltung der Macht der Geldariſtokratie zu einem eignen
Stande, dem der Ritter. Die Baſis und das Motiv dieſes
Standes beſtand im Kapitalreichthum als ſolchem im Gegen-
ſatz zu dem Grundbeſitz. Rührigkeit, Betriebſamkeit, Unterneh-
mungsgeiſt ſind die Eigenſchaften, die ihn auszeichnen, er iſt
das einzige Element der römiſchen Geſellſchaft, das ſich ſowohl
was ſeine äußere Stellung zwiſchen der Ariſtokratie und dem
Proletariat als ſeine Sinnesweiſe und ſeinen Lebensberuf an-
betrifft, mit dem heutigen Bürgerſtande vergleichen ließe. Darin,
daß die Geldmacht ſich hier zu einem eignen compakten, von
corporativem Geiſt beſeelten Stande abgeſchloſſen hatte, zu ei-
nem Stande, der in der Staatsverfaſſung ſelbſt ſeine beſtimmte
Stellung angewieſen erhalten hatte und durch ſein feſtes Zu-
ſammenhalten und ſeine ausgedehnten Verbindungen eine un-
widerſtehliche Macht ausübte — darin liegt ſchon ausgeſprochen,
daß an eine Concurrenz mit ihm nicht zu denken, er vielmehr
überall wohin er ſeine Spekulationen ausdehnen wollte, ein ab-
ſolutes Monopol mitbrachte. Der Großhandel, die Pachtung
der öffentlichen Abgaben, Uebernahme ausverdungener öffent-
licher Lieferungen und Arbeiten, Geldgeſchäfte im größeren Maß-
[251]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Quellen d. Pauperismus. §. 34.
ſtabe z. B. mit Staaten und Communen u. ſ. w. bildeten be-
kanntlich die Hauptgegenſtände ſeiner Thätigkeit. Einer eigent-
lichen Achtung erfreute ſich aber dieſelbe nicht; der wahre rö-
miſche Ariſtokrat hielt ſie ſeiner für unwerth, 377) er tolerirte ſie
beim Ritterſtande, aber ohne ſie zu äſtimiren.


Was für Erwerbsquellen blieben nun außer den bisher ge-
nannten noch übrig? Dieſe Frage bringt uns auf den eben er-
wähnten zweiten Grundſchaden der römiſchen Zuſtände. Heut-
zutage ringt das Talent und die Arbeit in tauſend Formen mit
dem Kapital. Die Kunſt, die Wiſſenſchaft, die Kirche, der
Staatsdienſt, der Kriegsdienſt, das Handwerk, der Handel,
die Fabrikation nehmen Tauſende in Anſpruch und gewähren
Tauſenden ihre Subſiſtenz. In Rom beſtand aber hinſichtlich
aller dieſer Berufsarten und Erwerbszweige das eigenthümliche
Verhältniß, daß ſie, wenn ſie nach Brode gingen, verachtet wa-
ren, und wenn ſie geehrt waren, nicht nach Brode gingen. Zur
erſten Klaſſe gehören der Staatsdienſt, die Kunſt und Wiſſen-
ſchaft; der Kriegsdienſt war in alter Zeit kein eigner Lebens-
beruf, ſondern allgemeine Bürgerpflicht, und die wenigen fun-
dirten geiſtlichen Stellen kommen kaum in Betracht. Auf die
eigentliche Handarbeit aber und ſelbſt auf den Kleinhandel hatte
das ſociale Vorurtheil oder die Empfindlichkeit des republikani-
ſchen Stolzes einen Makel geworfen. 378) Hier war die zweite
[252]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Gelegenheit, wo ſich das Inſtitut der Sklaverei an den Römern
in einer nicht minder empfindlichen Weiſe rächte, als beim
Grundbeſitz. Wenn man die Sklaverei die Folie der römiſchen
Freiheit genannt hat, wenn man das Sklaventhum als einen
Abzugskanal bezeichnen könnte, in den die römiſche Freiheit alles
Unſaubere, Unwürdige, alles, was das Gefühl der Ehre und
Würde eines römiſchen Bürgers hätte beeinträchtigen können,
entließ, ſo liegt darin zugleich, daß alle niedere Arbeit, die aus-
ſchließlich oder vorzugsweiſe dem Sklaven zugewieſen war, der
Ehre verluſtig ging, daß die Fertigkeit und Kunſt ſelbſt dadurch
eine ars illiberalis ward d. h. eines Freien unwürdig. Mit
dem Sklaven hierin zu rivaliſiren, ſich über die herrſchenden Vor-
urtheile hinwegſetzen, hieß auf Rang und Stellung im Leben
378)
[253]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Quellen d. Pauperismus. §. 34.
verzichten, ſich degradiren. Aber wer ſich durch die Noth auch
hierzu beſtimmen ließ, ein wie ungünſtiges Terrain fand er vor!
Ueberall trat ihm die Concurrenz der billigen Sklavenarbeit
hindernd in den Weg. Die grobe Handwerkerarbeit, alles, was
zum regulären Lebensbedarf gehört, ward mit ſehr unbedeuten-
den Ausnahmen in jedem größeren Hauſe durch Sklaven be-
ſorgt. 379) Der Abſatz war nach dieſer Seite alſo vorzugsweiſe
auf die untern Klaſſen beſchränkt, mithin wenig ergiebig. Für
die Handwerke aber, die eine höhere Geſchicklichkeit und Uebung
verlangten, gab es Officinen und Fabriken, die mit Sklaven
betrieben wurden, neben denen alſo der freie Arbeiter, ganz ab-
geſehen von dem erforderlichen Betriebskapital, bei gleicher Ge-
ſchicklichkeit gar nicht, bei einem höhern Grade der Geſchicklich-
keit nur ſehr ſchwer beſtehen konnte. Im allgemeinen mußte
ſogar der Sklave den Vorſprung größerer Uebung und Fertigkeit
voraushaben, aus dem einfachen Grunde, weil er ſich ungeſtört
und unausgeſetzt ſeinem Geſchäfte widmen konnte, während der
freie Handwerker oft darin unterbrochen ward. Wenn der Sklav
freigelaſſen ward, ſo ſetzte er das Gewerbe fort, und ihm mit
ſeinen geringen Anſprüchen, ſeiner größeren Uebung und der
Protektion eines mächtigen Patrons mochte daſſelbe ein beſchei-
denes Auskommen gewähren, das dem freien Arbeiter weder
ſicher, noch vielleicht genügend, keinenfalls aber verführeriſch
genug war, um Viele zu veranlaſſen, den Trotz und Stolz eines
müßigen Proletariers mit der demüthigen Stellung eines ſol-
chen Arbeiters zu vertauſchen. Der Uebergang von einer höhern
geſellſchaftlichen Stufe zu einer niedern hat etwas höchſt wider-
ſtrebendes; wie heutzutage der verarmte Adlige „es für nobler
hält, als ariſtokratiſcher Proletarier zu vegetiren, denn als tüch-
[254]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
tiger Bürger ſich einem ehrenwerthen Erwerb hinzugeben“ und
ſelbſt innerhalb des Bürgerſtandes ein Individuum aus ſ. g.
guter Familie lieber Abentheurer, Schauſpieler u. ſ. w., als
Handwerker wird, ebenſo im alten Rom.


Wohin aber auch abgeſehen vom Handwerk der Arbeit ſu-
chende Freie ſich wandte, überall begegnete er demſelben Erbfeind,
dem Sklaven. So in der Schifffahrt,380) im Handel,381) im
Steuerweſen,382) ſelbſt in den untern Stellen der Staats- und
Communal-Verwaltung (die servi publici). In allen dieſen Fäl-
len geſellte ſich zu der größeren Billigkeit der Sklavenarbeit noch
ein anderer Grund hinzu, der dem Sklaven vor dem Freien den
Vorzug gab, der Umſtand nämlich, daß man nach Grundſätzen
des ältern Rechts zwar durch hausunterthänige, nicht aber durch
dritte freie Perſonen erwerben konnte. Darin lag, daß in allen
Verhältniſſen, die den Abſchluß von Rechtsgeſchäften durch
Mittelsperſonen mit ſich brachten, die Verwendung des Skla-
ven als Mittelsperſon vor der des Freien entſchieden den Vor-
zug verdiente. Auf Umwegen ließ ſich zwar auch im letztern Fall
das gewünſchte Reſultat erreichen, aber der direkte Weg hatte
hier nicht bloß den Vortheil der Einfachheit, ſondern auch den
der größeren Sicherheit. Die Uebertragung des erworbenen
Rechts erforderte dort einen eignen Willensakt der Mittelsper-
ſon, konnte alſo verzögert, verweigert, vereitelt werden u. ſ. w.,
hier erfolgte ſie von ſelbſt; dort hatte die Mittelsperſon vollſtän-
dige Dispoſitionsbefugniß über das erworbene Recht, hier nicht.


[255]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Quellen d. Pauperismus. §. 34.

Selbſt alſo innerhalb des Rechtsgebiets wiederholt ſich für
den Freien die Schwierigkeit einer Concurrenz mit dem Sklaven!


Die bisherige Darſtellung wird das Urtheil, welches wir
oben (S. 249) über das Syſtem der Erwerbsverhältniſſe und
Gütercirculation in Rom fällten, gerechtfertigt haben. Es fehlte
dieſem Syſtem an dem erforderlichen Gleichgewicht der Kräfte;
das Talent und die perſönliche Erwerbsfähigkeit war dem Ver-
mögen gegenüber völlig machtlos und das große Vermögen
(Grundbeſitz wie Kapital) hatte über das kleine ein unverhält-
nißmäßiges Uebergewicht. Der Mittelſtand, der bei einer ge-
ſunden Geſtaltung der Verhältniſſe den eigentlichen Schwer-
punkt und Mittelpunkt der Geſellſchaft abzugeben hat, konnte
dieſe Aufgabe in Rom nicht erfüllen; während die beiden Ex-
treme, zwiſchen denen er ſeine Stellung hat, täglich in ſtets fort-
ſchreitender Progreſſion an Ausdehnung gewannen, nahm er
ſelbſt eher ab, als zu. Auf der einen Seite häufte ſich immer
maſſenhafter der Reichthum an, auf der andern die Menge der
Proletarier; was dort einem Einzelnen zufloß, hätte bei richti-
ger Vertheilung genügt, um Tauſenden eine ehrenhafte Exiſtenz
zu gewähren. Dieſes Mißverhältniß erreichte zwar erſt gegen
das Ende der Republik ſeinen Culminationspunkt, und ſeine
ganze Gefährlichkeit und Verderblichkeit wird erſt hier recht klar,
aber im mindern Grade war es von jeher vorhanden.383)


Aus dem bisherigen ergibt es ſich, daß das Proletariat für
Rom eine unvermeidliche Folge ſeiner Einrichtungen war. Aus
begreiflichen Gründen drängte daſſelbe von allen Seiten Ita-
[256]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
liens vorzugsweiſe nach Rom zuſammen, denn Rom war eine
Stadt für Proletarier, wie ſie nie dageweſen. Hier war es
möglich mit Nichts und ohne Arbeit eine in gewiſſem Sinn be-
hagliche Exiſtenz zu führen, hier gab es ewige Zerſtreuungen,
Spiele, Feſte, Spenden von Seiten des Staats und der Rei-
chen. Hier war wenigſtens das Elend glänzend, denn auch
der Aermſte ſonnte ſich in dem Glanz und der Herrlichkeit der
römiſchen Macht, an der ja auch ihm ein Theil gebührte; auch
der Bettler kam hier zu dem Gefühl ſeines Werthes als römi-
ſchen Bürgers, und konnte in den Tributcomitien ſein Stimm-
recht ausüben und — verkaufen.


Die Verantwortlichkeit für eine ſolche Exiſtenz konnte der
Einzelne zu einem beträchtlichen Theil von ſich ablehnen und
dem Staat oder den ſocialen Einrichtungen zuſchieben. Was
geſchah nun von Seiten des Staats, um das Uebel zu heben
oder zu lindern? Bevor wir dieſe Frage beantworten, ſoll noch
auf eine Erſcheinung des römiſchen Lebens aufmerkſam gemacht
werden, die hiermit im engſten Zuſammenhang ſteht, und die
denſelben Grund und Zweck hatte, wie die Fürſorge von Seiten
des Staats, ich meine die Liberalität der römiſchen Großen ge-
gen die untern Stände. Dieſelbe gewann im Lauf der Zeit eine
ſo koloſſale Ausdehnung, daß uns jeder Vergleich dafür fehlt.
Den Grund derſelben kann ich nicht in dem bloßen Streben nach
Volksgunſt und der Beſtechung des Volks zum Zweck der Wah-
len erblicken — warum wiederholte ſich die Erſcheinung nicht in
andern Republiken? — und noch weniger läßt ſie ſich aus dem
Motiv der Wohlthätigkeit ableiten, denn dieſe Eigenſchaft lag
bekanntlich nicht im Charakter der Römer. Der tiefere Grund
dieſer Erſcheinung iſt vielmehr in den oben geſchilderten Ver-
hältniſſen zu ſuchen. Es galt als ſociale Pflicht der vermögen-
den Klaſſe, das Uebergewicht, das jene Einrichtungen ihr ge-
währten, durch Freigebigkeit gegen die Klaſſe, welche darunter
zu leiden hatte, wieder auszugleichen, das Unrecht, das darin
enthalten war, einigermaßen aufzuheben und erträglich zu
[257]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Privatunterſtützung. §. 34.
machen. Welche Motive auch den Einzelnen beſtimmen mochten:
das objektive Motiv war die Verſöhnung des verletzten
Gefühls der untern Stände mit einem ſocialen
Unrecht.
Daher die Richtung jener Freigebigkeit auf eine
ganze Klaſſe des Volks, daher die Bezeichnung derſelben als
einer förmlichen Standespflicht und die Schimpflichkeit einer
Ablehnung oder Umgehung derſelben.384) Mit vollem Recht;
es war ein Zeichen gemeiner, ſchmutziger Geſinnung, die Vor-
theile einer bevorzugten Stellung auszubeuten, ohne die ent-
ſprechenden Pflichten tragen zu wollen. „Auf jedem größern
Beſitz haftet, wie ein neuerer Schriftſteller ſagt,385) gleichſam
die moraliſche Schuldverpflichtung, einen Theil deſſelben neben
dem egoiſtiſchen eigenen Genuſſe zum Beſten der Geſammtheit,
der Geſellſchaft in Umlauf zu ſetzen.“ Die ariſtokratiſche Frei-
gebigkeit diente in Rom weſentlich zur Ergänzung des Syſtems
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 17
[258]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
des Güter-Umlaufs, indem ſie nämlich das Rückſtrömen des
Vermögens in die leeren Theile, das durch die unvollkommene
Organiſation jenes Syſtems in nicht genügender Weiſe vermit-
telt ward, beförderte, der übermäßigen Anhäufung an den be-
vorzugten Punkten wenigſtens in etwas abhalf.


Jene Freigebigkeit hatte alſo ein durchaus ſociales, kein
eigentlich moraliſches Motiv; ſie ſteht auf gleicher Linie mit un-
ſern heutigen Standesausgaben, nur daß letztere freilich hin-
ſichtlich des Maßes und der Ausdehnung gar nicht mit ihr ver-
glichen werden können. Das eigne Intereſſe der höhern Stände
erheiſchte ſie als ein weſentliches Mittel zur Behauptung der
Stellung, als eine Bethätigung ächt ariſtokratiſcher Geſinnung,
die dem Volk imponirte und den Neid entwaffnete. Die untern
wie die höhern Stände waren alſo gleichmäßig dabei betheiligt,
jene Liberalität dem ſubjektiven Belieben zu entziehen und zu
einer Anforderung der Sitte zu erheben.386) Die hauptſäch-
lichſte Veranlaſſung, an die die Volksanſicht eine Erfüllung die-
ſer Pflicht knüpfte, war die Bekleidung des ädilitiſchen und
ſpäter auch des quäſtoriſchen387) Amtes, der erſte Schritt,
den man in der Regel zu machen hatte, um die höheren Stu-
fen der Staatsverwaltung zu erſteigen. Der zukünftige Be-
amte hatte hier bei ſeinem Eintritt in den Staatsdienſt ge-
wiſſermaßen ſein Eintrittsgeld zu entrichten,388) die Liberalität
[259]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Privatunterſtützung. §. 34.
des Einzelnen war hier die ſtillſchweigende Vorausſetzung
einer erfolgreichen Führung des Poſtens, mittelſt dieſes Amts
alſo als weſentliches Element in den Organismus der Staats-
verwaltung aufgenommen. Ein Aedil, der ſich der mühſam-
ſten perſönlichen Mühwaltung unterzogen, aber es ſich nichts
hätte koſten laſſen wollen, das munus patrimonii als ein per-
sonale
behandelt hätte, würde nicht bloß die Gunſt der getäuſch-
ten untern Stände, ſondern die Achtung des geſammten Volks
verloren und auf immer ſeine Ausſichten auf Einfluß und aber-
malige Wahl verſcherzt haben. Der Fall, in dem jene Verpflich-
tung der Aedilen ſich zuerſt und am natürlichſten ausbilden
konnte, mag die Beſorgung der öffentlichen Spiele geweſen ſein.
Der Staat ſchoß eine Summe dazu her (für die ludi magni
500,000 As), es verſtand ſich aber von ſelbſt, daß wenn die
Aedilen mit derſelben nicht reichten, ſie den Ausfall zu decken
hatten, da es ihre Sache geweſen wäre, die Spiele von vorn-
herein billiger einzurichten. Ebenſo hat auch für die übrigen
Ausgaben, die das ädilitiſche Amt mit ſich brachte z. B. Liefe-
rung von Getraide, Oel ans Volk unter dem Einkaufspreis,
Bewirthung deſſelben, Anlegung von Häfen, Waſſerleitungen,
Straßen, Theatern das öffentliche Geld urſprünglich den Stamm
abgegeben, zu dem ſich die eignen Auslagen des Aedilen nur
als Zuſchüſſe verhielten. Jene öffentlichen Fonds beſtanden
theils aus Geldern, die für irgend einen beſtimmten einzelnen
Zweck aus dem Aerar bewilligt waren, theils — und hier mit
freierer Dispoſitionsbefugniß für die Aedilen — aus Strafgel-
dern, die dieſelben ſelbſt erkannt und beigetrieben hatten.389)
Es begreift ſich leicht, daß die Beiſteuer der Aedilen ſelbſt im
Lauf der Zeit eine immer größere ward; ein ehrgeiziger, eitler,
verſchwenderiſcher Vorgänger zwang durch ſein Beiſpiel den
Nachfolger, wenigſtens nicht gar zu weit hinter ihm zurückzu-
17*
[260]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
bleiben, und ſo ſteigerte ſich der Aufwand ſchon frühzeitig390)
zu einer ungeheuren Höhe.391)


Auch von andern Beamten und ſelbſt von Privatperſonen
werden uns Beiſpiele einer großartigen Munificenz gegen das
Volk erwähnt.392) Gegen das Ende der Republik finden wir
das Syſtem des ariſtokratiſchen Aufwandes in ſeiner vollen
Blüthe, wir werden daſſelbe im folgenden Buch berühren; ein
näheres Eingehen auf daſſelbe iſt für unſern gegenwärtigen
Zweck nicht geboten.


Wir kehren jetzt zu unſerer obigen Frage zurück: nämlich
was geſchah von Seiten des Staats, um das materielle Loos
der untern Klaſſen zu erleichtern? Das Uebel, an dem die Ge-
ſellſchaft litt, war das Inſtitut der Sklaven. Eine gründliche
Abhülfe deſſelben d. h. die Abſchaffung dieſes Inſtituts war
unmöglich, Rom hätte nicht der alten Welt angehören müſſen.
Dagegen gewährten die römiſchen Eroberungen dem Staat die
Mittel, dies Uebel, deſſen Quellen man nicht verſtopfen konnte,
wenigſtens zu beſchwichtigen oder zu lindern. Es ſoll jetzt eine
[261]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Oeffentl. Maßregeln. §. 34.
Ueberſicht der hauptſächlichſten Maßregeln folgen, die der Staat
zu dem Zweck ergriff, und die uns alſo auf den Ausgangspunkt
unſerer Darſtellung, die römiſche Wohlfahrtspolizei, zurück-
bringen.


1) Anweiſung von Ländereien an die beſitzloſe Maſſe,
ſei es durch Anlegung von Colonien oder durch Aſſignation aus
dem ager publicus. Unter allen Mitteln ſtand dieſes in ſocialer
wie politiſcher Beziehung oben an; es ſchaffte einen Theil der
beſitzloſen und unruhigen Maſſe aus der Stadt und gewährte
dieſem die Baſis einer ſittlichen Exiſtenz. Die Römer betrach-
teten insbeſondere die Ausführung einer Colonie als eine Art
von Aderlaß,393) und es iſt die Frage, ob der ſociale Orga-
nismus Roms ohne das Syſtem ſolcher periodiſcher Aderläſſe
nicht bereits früher ſeinem innern Fehler erlegen wäre. Die An-
wendung dieſes Mittels reicht in die älteſten Zeiten hinauf,394)
und da während der Dauer der Republik die Eroberungen mit
der Vermehrung des Proletariats gleichen Schritt hielten, ſo
war ein ſtets wiederholter Gebrauch möglich, ohne daß das
Mittel erſchöpft worden wäre.


Eine andere hierhin gehörige Maßregel war


2) die Einführung des Soldes.


Je weiter ſich die Kriege von Rom entfernten, und je länger
folgeweiſe ihre Dauer ward, um ſo mehr ſteigerte ſich der Druck,
mit dem dieſelben gerade auf dem ärmern Theil des Volks la-
ſteten. Vermochte man auch die Verhältniſſe, in denen dies ſei-
nen Grund hatte, nicht zu ändern, ſo konnte man doch durch
jene Maßregel dies Mißverhältniß etwas ausgleichen oder we-
[262]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
nigſtens den Druck einigermaßen vermindern. Im Jahre 348
der Stadt gab die herrſchende Parthei den darauf gerichteten
Anforderungen der ärmeren Klaſſe nach.395)


Ein Punkt von äußerſter Wichtigkeit war


3) das Getraideweſen.396)


Die Bemühungen der Staatsbehörde mußten in dieſer Be-
ziehung namentlich darauf gerichtet ſein, einen möglichſt gleich-
mäßigen Preis herſtellig oder wenigſtens die Schwankungen der
Getraidepreiſe für die niederen Klaſſen unſchädlich zu machen.397)
[263]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Oeffentl. Maßregeln. §. 34.
Für gewöhnliche Zeiten gehörte das Getraideweſen zur Kompe-
tenz der Aedilen, für beſondere Nothzuſtände ward wohl ein
eigner Beamter (praefectus annonae) oder eine Commiſſion er-
nannt. Die Fürſorge dieſer Perſonen äußerte ſich zunächſt darin,
daß ſie dem verderblichen Wirken des Kornwuchers entgegentra-
ten,398) ſodann darin,399) daß ſie auswärts auf eigne oder auf
Koſten des Staats Getraide aufkaufen und daſſelbe zu einem mä-
ßigen Preis an die Bedürftigen verabfolgen ließen. Völlig unent-
geltliche Vertheilung des Getraides, wie gegen das Ende der Re-
publik in Gemäßheit eines Geſetzes von Clodius kam anfänglich
nicht vor. Daß aber der Staat oder der Beamte dennoch ſchenkte
d. h. unter dem Einkaufspreis verkaufte, wird nicht bloß aus-
drücklich bezeugt,400) ſondern es läßt ſich auch von vornherein an-
nehmen, daß er bei einem Preiſe von Einem As und darunter für
den Modius, wie er uns für verſchiedene Zeiten bezeugt wird,401)
nicht ſeine Rechnung finden konnte.402) Dieſe Sorge für das
397)
[264]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Getraideweſen reicht in die älteſten Zeiten hinauf,403) nur be-
ſchränkte ſie ſich anfänglich auf wirkliche Nothfälle. Die etwai-
gen Koſten fielen damals noch ausſchließlich der Staatskaſſe zur
Laſt, und es läßt ſich begreifen, daß der Senat nur bei dringen-
den Veranlaſſungen Zuſchüſſe aus dem Aerar bewilligte, und
nicht ohne ſich das Geſchenk bezahlen zu laſſen.404) Es war
alſo eine weſentliche Verbeſſerung für die niedern Klaſſen, daß
ſpäter die Aedilen anfingen, auf eigne Koſten billiges Getraide
zu liefern. Außer dieſen Lieferungen ward noch im Tempel der
Ceres, der gewiſſermaßen das Amtslokal der Aedilen bildete, an
diejenigen, die hierhin ihre Zuflucht genommen hatten, unent-
geltlich Brod verabreicht.405)


Im Laufe der Zeit dehnte ſich die Fürſorge der Staatsbehör-
den auch auf andere Gegenſtände des leiblichen Bedürfniſſes
aus, z. B. Salz, Oel, Bäder, Waſſerleitungen. Was na-
mentlich das Salz anbetrifft, ſo ward ſchon in den erſten Jahren
der Republik die Salzregie eingeführt, nicht aber in der Abſicht,
um darin eine neue Einnahmequelle für den Staat zu eröffnen,
ſondern um der künſtlichen Theurung, die der Handel hinſicht-
lich dieſes Artikels zu bewirken gewußt hatte, ein Ende zu ma-
chen.406) Im ſechsten Jahrhundert legten zwei Cenſoren, von
402)
[265]A. Stellung d. Ind. Die Wohlfahrtsfrage. Oeffentl. Maßregeln. §. 34.
denen der eine, M. Livius, daher den Beinamen Salinator er-
hielt, eine Steuer auf das Salz, und zwar in der Weiſe, daß
die Lieferung des Salzes zu einem nach den verſchiedenen Ge-
genden Italiens differirenden Preiſe verpachtet ward, wobei für
Rom der bisherige Preis innegehalten werden mußte.407)


4) Das Schuldenweſen.


Daß das Schuldenweſen für Rom eine ganz eigenthümliche
ſociale408) Bedeutung hatte, bedarf wohl keines nähern Nach-
weiſes. Für die Gegenwart kann von einer ſolchen Bedeutung
kaum die Rede ſein; es gibt keinen Stand der Geſellſchaft, der
heutzutage vorzugsweiſe dem Looſe der Verſchuldung ausgeſetzt
wäre, oder dem umgekehrt die Verſchuldung der andern Klaſſen
zu gute käme. Ganz anders in Rom; die Schuldfrage war hier
eine durchaus ſociale. Die Verſchuldung läßt ſich hier als eine
Epidemie bezeichnen, der die untern Schichten vermöge ihrer
ungünſtigen ökonomiſchen Situation faſt ausſchließlich ausge-
ſetzt waren, und von der nicht Einzelne, ſondern der ganze
Stand in furchtbarer Weiſe und mit periodiſcher Regelmäßigkeit
heimgeſucht ward.


Auf die Frage, wie der Staat ſich dieſer Thatſache gegen-
über verhielt, können wir durch Verweiſung auf frühere Aus-
führungen (S. 77 u. S. 158 u. flg.) antworten; es möge nur
noch ein Zuſatz Platz finden, zu dem ſich dort nicht die Gelegen-
406)
[266]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
heit darbot. Er betrifft einen Fall, den Livius uns aufbewahrt
hat.409) Im Jahre 403, als die Schuldenlaſt wieder einmal
eine unerträgliche Höhe erreicht habe, berichtet er, habe ſich der
Staat ins Mittel gelegt, um eine Abtragung der Schulden zu
bewirken. Es ſei eine Commiſſion zu dem Zweck ernannt, der-
ſelben ein Fonds aus dem Aerar zur Verfügung überwieſen, und
ſodann ein Theil der Forderungen im Namen des Staats ab-
getragen und auf ſeine Rechnung übernommen, ein anderer da-
durch erledigt, daß die Commiſſion einen Accord zwiſchen Gläu-
biger und Schuldner, namentlich durch Abtretung von Sachen
gegen billige Taxe zu Stande gebracht habe. So ſei zur Zufrie-
denheit aller Theile und ohne nennenswerthe Einbuße für den
Staat eine ungeheure Schuldenmaſſe getilgt worden.


Die Fürſorge und Beihülfe des Staats beſchränkte ſich nicht
einmal auf allgemeine, eine ganze Klaſſe des Volks betreffende
Maßregeln, ſondern ſtieg mitunter in die engen Kreiſe des in-
dividuellen Bedürfniſſes hinab. So ſehen wir den Senat nach
dieſer Seite hin in einer faſt väterlichen Weiſe thätig werden
z. B. den Töchtern verdienter, aber unbemittelter Männer aus
Staatsmitteln eine Dos beſtellen, ſich des Hausweſens abwe-
ſender Beamten annehmen u. ſ. w.410)


Aus dem bisherigen ergibt ſich zur Genüge, daß die Idee
von einem indifferenten Verhalten des Staats gegenüber dem
Individuum durchaus verkehrt iſt, daß alſo, um auf unſere obige
Frage (S. 240) zurückzukommen, das Syſtem der ſubjek-
tiven Freiheit auf dem poſitiven Willen des Staats
beruhte.


[267]B. Stellung der Magiſtratur. — Das Bedürfniß der Freiheit. §. 35.

Die Vorſtellung, die wir bisher bekämpft haben, hat ihren
Grund in der Wahrnehmung, daß der römiſche Staat bei ſo
manchen Verhältniſſen, in die der heutige durch beſchränkende
Geſetze oder Veranſtaltungen anderer Art z. B. Controle, Mit-
wirkung von Seiten der Obrigkeit u. ſ. w. einzugreifen pflegt,
ſich völlig paſſiv verhielt. Dem Eindruck dieſer Verſchiedenheit
wird ſich Niemand entziehen können, der z. B. das Verhalten
des ältern römiſchen und des heutigen Staats zur Vormund-
ſchaft und Familie ins Auge faßt. Aber übereilt iſt der Schluß:
dem römiſchen Staat ſei die Geſtaltung dieſer Verhältniſſe
gleichgültig geweſen. Der wahre Grund lautet vielmehr: die
Staatsgewalt miſchte ſich nicht weiter ein, als es nöthig ſchien.
So weit es unerläßlich war, hat auch der römiſche Staat ſich
nicht geſcheut, beſchränkend oder nachhelfend einzugreifen, dar-
über hinaus aber unterließ er es, während der moderne Polizei-
Staat von der fixen Idee ausging, als ob ohne ſeine Leitung,
Controle u. ſ. w. alles ins Stocken kommen würde und darum
ſich für verpflichtet hielt, überall ſeine Sorgfalt zu bethätigen.


B. Der Macht- und Freiheitstrieb innerhalb der
Magiſtratur.

Das freie Walten der Perſönlichkeit in Verhältniſſen des öffent-
lichen Rechts — Die Machtſtellung der römiſchen Magiſtrate —
Die Garantien gegen den Mißbrauch der Amtsgewalt — Die
ſtaatsrechtliche Praxis — Bedeutung der Perſönlichkeit für die
Magiſtratur.

XXXV. Der Gegenſatz des Syſtems der Freiheit und Un-
freiheit, der in §. 30 aufgeſtellt ward, erſtreckt ſich eben ſowohl
auf das öffentliche als das Privatrecht. Wenn der Leſer ſich der
obigen Darſtellung erinnern will, ſo wird er wiſſen, daß ich die
Freiheit im öffentlichen Recht keineswegs mit der republikani-
ſchen Verfaſſung identificire. Der Geiſt der wahren Freiheit iſt
an keine Staatsform gebannt; er hat nicht ſelten die Republi-
[268]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ken geflohen und in einer abſoluten Monarchie ſich niedergelaſ-
ſen. Wo die Staatsgewalt ſich zur ausſchließlichen Quelle
alles Rechts und aller Kraft gemacht, die Freiheit und Bewe-
gung, die über den ganzen Organismus ausgebreitet ſein ſollte,
ſich allein zugeeignet hat und nur von ſich aus entläßt, da hört
der Raub, den die Staatsgewalt hier an der wahren Freiheit
begangen, dadurch nicht auf es zu ſein, daß die republikaniſche
Form der Verfaſſung jedem Einzelnen ſeinen homöopathiſch
verdünnten Antheil an demſelben verſtattet.


Darum gilt mir dieſe Form der römiſchen Staatsverfaſſung
an und für ſich noch nicht als Beweis, daß der Geiſt ächter
Freiheit ſie beſeelt habe. Aber es genügt wohl ein Blick auf die
römiſche Welt, um dieſe Ueberzeugung in ſich hervorzurufen,
und ich würde mir ſchwerlich den Dank des Leſers verdienen,
wenn ich alle die Momente, auf die ſich dieſelbe ſtützen läßt,
hier zuſammenſtellen wollte; ich müßte zu dem Zwecke Dinge
anführen, die theils allbekannt, theils bereits an verſchiedenen
Stellen der bisherigen Darſtellung (S. z. B. S. 137 fl.) berührt
worden ſind. Ich will mich lieber beſchränken auf einen einzigen
Punkt, aber einen Punkt, der zu den intereſſanteſten, lehrreich-
ſten und doch am wenigſten gewürdigten Parthien der römi-
ſchen Verfaſſung gehört.


Das Prinzip der Civilrechtspflege iſt die Gerechtigkeit d. i.
die Gleichmäßigkeit, und als Mittel zur Erreichung dieſes
Zweckes haben wir früher (S. 31 fl.) die möglichſte Objektivi-
rung der anzuwendenden Rechtsnormen kennen lernen. Je
ſchärfer, beſtimmter, detaillirter dieſelben bezeichnet werden kön-
nen, je mehr der Einfluß des perſönlichen Elements auf die
Rechtspflege dadurch zurückgedrängt wird, deſto beſſer.411) Ganz
[269]B. Stellung der Magiſtratur. — Das Bedürfniß der Freiheit. §. 35.
anders hinſichtlich der ſonſtigen Thätigkeit der Staatsgewalt.
Das Ziel der Verwaltung im Gegenſatz zur Juſtiz iſt nicht das
Gleiche, ſondern das Beſte, und da das Beſte ſich nicht immer
im voraus beſtimmen läßt, ſo darf ihr die nöthige Freiheit der
Entſcheidung nicht durch ein nach Art des Privatrechts zuge-
ſchnittenes Syſtem beſtimmter und detaillirter Regeln verküm-
mert werden. Das Recht wird ſich mithin mehr darauf zu be-
ſchränken haben, ihr negativ die Punkte, über die ſie nicht hin-
aus darf, als poſitiv den Weg zu weiſen, den ſie gehen ſoll.
Die Staatsgewalt iſt alſo nach dieſer Seite hin weſentlich
Gewalt, Selbſtbeſtimmung, Freiheit.


Dieſe Freiheit hat wie die Freiheit überhaupt eine bedenk-
liche Seite, die Möglichkeit des Mißbrauchs. In der
abſoluten Monarchie gibt es gegen dieſe Gefahr rechtlich
kein Schutzmittel, obſchon dieſelbe hier faktiſch in einem weit
höheren Grade ausgeſchloſſen ſein kann, als es ſich in anderen
Verfaſſungen durch Sicherungsmittel rechtlicher Art irgend be-
werkſtelligen läßt. Was letztere anbetrifft, ſo kann man prinzipiell
eine doppelte Richtung derſelben unterſcheiden, das Präventiv-
und das Reſponſabilitätsſyſtem. Jenes beſteht darin,
daß die Geſetzgebung die Gefahr des Mißbrauchs von vornherein
durch detaillirte Anweiſungen, erſchwerende Formen, Mitwirkung
verſchiedener Behörden zu einem und demſelben Zweck, kurz durch
Sicherheitsmaßregeln prophylaktiſcher Art auszuſchließen ſucht.
Eine Verantwortlichkeit iſt auch hier nicht ausgeſchloſſen, aber
ſie bezieht ſich im weſentlichen nur auf die Uebertretung
der Geſetze.
Worin das Reſponſabilitätsſyſtem beſteht,
ergibt ſich aus dem Gegenſatz. Auch hier ſoll der rechte Ge-
brauch der Gewalt geſichert, der Mißbrauch ausgeſchloſſen wer-
den, aber ohne Beeinträchtigung der Freiheit. Die Frage, was
rechter Gebrauch, was Mißbrauch ſei, bleibt hier der Einſicht
des Handelnden überlaſſen, die Möglichkeit des Mißbrauchs
offen, damit die des rechten Gebrauchs nicht verkümmert werde.
Die Verpflichtung geht hier alſo nicht bloß auf ein äußerliches
[270]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
legales Verhalten, ſondern auf angemeſſenen umſichtigen Ge-
brauch der Gewalt und Mißgriffe ziehen hier nicht minder eine
Strafe nach ſich, als dort die Uebertretung der Geſetze.


Den Gegenſatz beider Syſteme können wir auch ſo faſſen: je-
nes iſt das des Mißtrauens, dieſes das des Vertrauens, dort ruht
alles Gewicht auf der todten Norm und Anſtalt, hier auf der
lebendigen Wirkſamkeit der Perſönlichkeit. Das alte Rom gibt
uns Gelegenheit letzteres, unſere heutige Zeit erſteres kennen
zu lernen. Durch alle unſere Inſtitutionen geht ein Zug des
Mißtrauens, überall flößt uns die volle Gewalt Angſt ein, und
wir ruhen nicht eher, bis wir ihr die Möglichkeit des Miß-
brauchs entzogen haben. Es iſt jene Flucht vor der Perſönlich-
keit und die Ueberſchätzung der todten Regel und Anſtalt, die
ich ſchon früher als einen Charakterzug unſerer Zeit bezeichnet
habe, und der ſich in allen Verhältniſſen, nicht bloß in denen
des öffentlichen Rechts, nachweiſen läßt. Man nehme unſer
Beamtenweſen. Wie erdrückt iſt es durch die Laſt von Geſetzen,
Verordnungen, Inſtructionen, die den Beamten wie einen Blin-
den bei dem kleinſten Schritt, den er macht, lenken ſollen! Und
wo das todte Geſetz eine Lücke läßt und damit die Gelegenheit
bietet, der perſönlichen Einſicht der Beamten die Entſcheidung
zu überlaſſen, entzieht das Mißtrauen ihm dieſelbe wieder, in-
dem ſie ihn darauf beſchränkt zu berichten und die Entſcheidung
von oben zu holen. Man nehme ferner unſer Corporations-
leben. Wie hat man hier aus Angſt das Selbſtregiment und
die Selbſtändigkeit der Corporation untergraben und das Sy-
ſtem der Bevormundung von Seiten des Staats an die Stelle
geſetzt! Und gar unſere heutige Vormundſchaft, welch ein Zerr-
bild iſt ſie! Wie gelähmt iſt der Vormund durch die Obervor-
mundſchaft bei jedem Schritt und Tritt, den er beabſichtigt!
Anſtatt alles Gewicht auf die Perſönlichkeitsfrage zu
legen, dafür zu ſorgen, daß nur ſolche Individuen zu Vormün-
dern genommen werden, die Vertrauen verdienen, anſtatt die
nöthigen Garantien in ihrer Perſönlichkeit, ihrer Solvenz u. ſ. w.
[271]B. Stellung der Magiſtratur. — Das Bedürfniß der Freiheit. §. 35.
zu ſuchen, hat man dem ganzen Inſtitut der Vormundſchaft
einen Zuſchnitt gegeben, der, auf völlig unfähige Vormünder
berechnet, den tüchtigen aller Orten hemmt und lähmt und ihm
alle Luſt und Freude an ſeinem Amt verkümmert.


Die abſurdeſte Conſequenz, zu der es dieſe Politik der Angſt
gebracht, war wohl die, daß man den Feldherrn, der dem
Feinde gegenüberſtand, unter die Leitung einer entfernten
Kriegskanzlei ſtellte, ihn anwies, ſich von ihr die Autoriſation
zur Schlacht und die Genehmigung des Schlachtplanes einzu-
holen.


Es iſt nun nicht meine Abſicht, dieſes unſer heutiges Syſtem
ſchlechthin einer Kritik zu unterwerfen, ſondern nur von einem
ganz beſtimmten Geſichtspunkte aus. Ich habe es früher als
das Recht und Bedürfniß der Perſönlichkeit bezeichnet, ſich in
freier, ſchöpferiſch geſtaltender Weiſe zu bethätigen. Das Be-
dürfniß einer ſolchen Thätigkeit beſchränkt ſich aber nicht auf
den engen Kreis der privatrechtlichen Exiſtenz, ſondern wohin
die Perſönlichkeit ſich wendet, im öffentlichen Leben, in Kunſt
und Wiſſenſchaft, da bringt ſie dieſen Trieb mit ſich, und in
demſelben Maße, in dem ſie Gelegenheit findet, ihn zu befriedi-
gen, ſtellt ſich jene Liebe zum Beruf ein, die gerade in der Hin-
gebung, die ſie bewähren, und den Opfern, die ſie bringen
darf, ihre Befriedigung und ihr Glück findet. Dieſes heilige
Feuer wahrer Liebe, dieſer höhere Schwung der Perſönlichkeit
wird aber nur durch die Ekſtaſe, in die das Schaffen, das freie
Wirken ſie verſetzt, geweckt. Beraubt die Perſönlichkeit der Frei-
heit, umgebt ſie von allen Seiten mit einem Netz von Beſchrän-
kungen, — und jener ganze Reichthum ſittlicher Kräfte, die in
der Perſönlichkeit ſchlummern, geht für die Aufgabe, die ihr
geſtellt iſt, verloren. Allerdings gibt es im Staat wie auf dem
Gebiete des Geiſtes Stellungen und Aufgaben, die ihrer Natur
nach ein freies Wirken und eine ſchöpferiſche Thätigkeit aus-
ſchließen und lediglich Handlangerdienſte erfordern und zulaſſen:
ſie machen das Weſen des ſubalternen Berufs aus. Wer ſich
[272]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ihnen unterzieht, verzichtet von vornherein auf freie Thätigkeit;
in der Stellung und Aufgabe ſelbſt liegt Nichts, was ein An-
recht darauf ertheilen, Nichts mithin, was das Subjekt inner-
lich mit ihr entzweien könnte. Anders aber, wenn die Aufgabe
ihrer Natur nach eine ſelbſtändige Thätigkeit vorausſetzt, dieſe
Selbſtändigkeit aber aus Mißtrauen ſo viel wie möglich be-
ſchränkt und beſchnitten iſt, und das iſt ja der Fall, von dem
wir hier reden. Eine Gewalt und damit die Anſprüche, die ſie
erweckt, zu gewähren oder zu dulden, ihr aber von allen Seiten
die Möglichkeit einer ſpontanen Bewegung abzuſchneiden und
ſie dadurch ſich ſelbſt zu verleiden; die Luſt, Liebe und Hin-
gebung an die Aufgabe in der Geburt zu erſticken; in dem ge-
wöhnlichen Charakter die Macht der Perſönlichkeit zu ertödten
und das Gefühl, Stück einer Maſchine, willenloſes Werkzeug
des Geſetzes oder eines höhern Willens zu ſein, an die Stelle
zu ſetzen; in dem kräftigen Charakter einen ewigen Groll über
den innern Widerſpruch zwiſchen der Aufgabe und den Mitteln,
dem Sollen und dem Dürfen und einen beſtändigen Reiz zur
Uebertretung der Beſchränkungen zu unterhalten — dahin führt
die kurzſichtige Politik jenes Syſtems, von dem hier die Rede iſt.


Die römiſche Politik war hier weitſichtiger. Die Römer
wußten, daß ein mächtiger Staat kraftvoller Werkzeuge bedarf,
ein Staat mit gebundenen Gliedern nichts Großes zu leiſten
vermag, und weder die Angſt vor der Möglichkeit des Miß-
brauchs, noch ihr Freiheitsgefühl hielt ſie ab, die Magiſtratu-
ren dem entſprechend mit der genügenden Gewalt auszuſtatten.
In allen Verhältniſſen an eine energiſche Machtentwickelung
gewohnt, würden ſie am wenigſten an der Spitze ihres Gemein-
weſens die Schwäche und Ohnmacht ertragen haben. Nicht
ein devotes, ängſtliches, anſpruchsloſes Auftreten, ſondern ein
gebieteriſches, königliches Benehmen wünſchte das Volk von
ſeinen Beamten; die Macht und Majeſtät des Staats ſelbſt
ſollte in ihnen ſichtbar werden. Darum räumte es ihnen bereit-
willig zu dieſem Zwecke die nöthige Macht und Stellung ein,
[273]B. Stellung der Magiſtratur. — Machtfülle. §. 35.
und Polybius konnte die Bemerkung machen, daß der römiſche
Staat, wenn man die Magiſtraturen ins Auge faſſe, den Ein-
druck einer Monarchie mache.412) Die Machtfülle, mit der das
Beamtenthum von altersher ausgeſtattet war, blieb ſeit dem
vierten Jahrhundert bis zu Ende der Republik nicht bloß unver-
mindert, ſondern auch völlig unangefochten beſtehen; denn die
Demokratie gefiel ſich hier nicht, wie bei uns, darin, die Macht
der Regierung zu ſchwächen und die Autorität des Beamten-
thums im vermeintlichen Intereſſe der Volksſouveränetät herab-
zuſetzen. Wie günſtig der Boden für das Gedeihen der Macht
der Beamten war, zeigte ſich namentlich daran, daß es den Ma-
giſtraturen, die erſt ſeit Anfang des vierten Jahrhunderts ins
Leben gerufen wurden, möglich war, ihr urſprüngliches Macht-
gebiet ohne Hülfe der geſetzgebenden Gewalt bloß durch eigene
Kraft im weiteſten Maße auszudehnen.


Dieſe Popularität der Gewalt und dieſe Autorität des Be-
amtenthums in Rom erklärt ſich zur Genüge aus dem angebor-
nen Sinn der Römer für Macht, Disciplin und Unterordnung,
und es thut nicht Noth, zur Erklärung dieſer Thatſache zu dem
Königthum zurückzugreifen. Es gibt bekanntlich eine Auffaſſung
des römiſchen Königthums, die in demſelben eine theokratiſche
Inſtitution, ein Hohenprieſterthum erblickt, ja, bei der Betrach-
tung deſſelben in eine Art von religiöſer Verzückung geräth.413)
Von der Idee ausgehend, als ob die einfach ſittlich-natürliche
Anſchauung der Verhältniſſe es nicht zu dem Gedanken der
Nothwendigkeit der Autorität und Obrigkeit zu bringen ver-
möge, hat ſie hier nun jenes Königthum zu Hülfe genommen,
um die Magiſtratur daran anzulehnen und ſie auf dieſe Weiſe
mit dem Nimbus göttlicher Weihe auszuſtatten. Selbſt wenn
ich den Glauben an jenes Königthum theilen würde, ſo könnte
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 18
[274]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ich doch dieſe Art der Verwendung deſſelben für unſern Zweck
weder für nöthig, noch für ſtatthaft halten. Neben den Con-
ſuln, die man als die eigentlichen Erben der königlichen Würde
bezeichnen kann, kamen nach und nach noch andere Magiſtra-
turen auf, die darum kein geringeres Anſehen und Einfluß be-
ſaßen, daß es für ſie keine alten religiöſen Traditionen und kein
Königthum gab, das ihnen die nöthige Weihe hätte verleihen
können. Und ſodann ward ja die eigentlich prieſterliche Fun-
ction des römiſchen Königthums von der Magiſtratur getrennt
und dem rex sacrificulus überwieſen. Welch’ klägliche Rolle
aber ſpielte dieſer religiöſe Schattenkönig!


Wir wollen jetzt die Machtſtellung der römiſchen Beamten
an einigen ſchlagenden Beiſpielen erläutern. Höchſt beachtens-
werth iſt zunächſt die Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit der
Magiſtrate in ihrem Verhältniß zum Volke. Das Volk beſtellte
ſich in dem Beamten nicht einen Diener, ſondern einen Herrn
magis-stratus). Der Umſtand, daß er durch die Wahl des Volkes
berufen und nach Niederlegung des Amts vor demſelben zur Ver-
antwortung gezogen werden konnte, hatte auf die ihm anvertraute
Gewalt ſelbſt gar keinen Einfluß. Sowie er ſein Amt angetreten,
änderte ſich ſein Verhältniß zum Volk völlig; kurz vorher noch
hinauf blickend zu demſelben, blickte er jetzt auf daſſelbe hin-
unter
. Der Wille des Volks konnte ihm jetzt nichts mehr ent-
ziehen — er war für die Dauer ſeines Amtsjahres rechtlich un-
abſetzbar — noch auch ihn hindern, in ſeiner Amtsführung ganz
ſeiner eigenen Ueberzeugung zu folgen. Der Volkswille er-
ſcheint alſo nur als rein transitoriſches Moment bei der Magi-
ſtratur, er erſchöpft ſich mit dem Einen Akt der Wahl und tritt
ſodann ein ganzes Jahr wieder in den Hintergrund. Es iſt
begreiflich, daß die Beamten auf den Willen und die Wünſche
des Volkes Gewicht legten, aber kein höheres, als etwa in einer
monarchiſchen Verfaſſung der Fürſt. Wo ſie anderer Ueber-
zeugung waren, nahmen ſie nicht den geringſten Anſtand, ſich
über denſelben hinwegzuſetzen, ja es werden uns in dieſer Be-
[275]B. Stellung der Magiſtratur. — Machtfülle. §. 35.
ziehung Züge und Aeußerungen berichtet,414) die eine faſt ab-
ſolutiſtiſche Geſinnung athmen.


Was die einzelnen Magiſtraturen anbetrifft, ſo nimmt hin-
ſichtlich der Fülle der Machtbefugniß die Diktatur bekanntlich
die erſte Stelle ein. Sie läßt ſich als eine vorübergehende An-
leihe der Republik bei dem abſoluten Königthum bezeichnen und
enthält das Zugeſtändniß, daß die republikaniſche Verfaſſung
zwar für gewöhnliche Zuſtände durchführbar, für ungewöhnliche
Verhältniſſe aber die Concentrirung der geſammten Staatsge-
walt in die Hand eines einzigen abſoluten Herrſchers nöthig
ſei — die Anerkennung der relativen Berechtigung des Abſolu-
tismus ſelbſt innerhalb eines Freiſtaats. Die Macht der Con-
ſuln war beſchränkter, namentlich durch das Recht der Provo-
kation an die Volksverſammlung; aber welche Befugniſſe ſchloß
doch auch ſie in ſich! Nicht bloß daß es de jure vom Conſul
abhing, ob und wie oft er Volks- und Senatsverſammlun-
gen415) berufen wollte — wider ſeinen Willen waren beide
nicht möglich — welche Gegenſtände zur Verhandlung kommen
ſollten, ob er, wenn die Stimmung ihm nicht günſtig erſchien,
die Verſammlung wieder entlaſſen wollte; ſondern er war recht-
lich ſogar befugt, die unter ſeiner Leitung für das nächſte Jahr
getroffenen Wahlen des Volkes umzuſtoßen, indem er ſich wei-
gerte, die Namen der Gewählten zu proklamiren.416) Als ein
höchſt merkwürdiges Recht verdient namentlich auch die freie
18*
[276]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Dispoſitionsbefugniß über das Aerar bezeichnet zu werden; an
die Mitwirkung des Senats war die Ausübung deſſelben nicht
geknüpft. Wir werden hierauf unten bei Gelegenheit der Stel-
lung der Magiſtraturen zum Senat zurückkommen.


An poſitiver Macht kamen den Conſuln am nächſten die
Cenſoren. Ihre Strafgewalt war zwar hinſichtlich der Strafart
beſchränkt, allein im übrigen nicht minder ausgezeichnet durch
ihre Ausdehnung, als durch ihre Befreiung von dem Recht der
Provokation an die Volksverſammlung. Vermöge dieſer Ge-
walt konnten ſie bekanntlich Jemanden aus der Tribus, dem
Ritterſtande, dem Senat ausſtoßen. Sodann hatten ſie das
Recht, nach eigner Wahl den Senat zu ergänzen, Steuern
aufzulegen417) u. ſ. w., kurz Rechte, die ein ganz und gar ab-
ſolutiſtiſches Gepräge tragen. Die Macht der Tribunen war
urſprünglich vorwiegend negativer Natur, ein Einſpruchsrecht
gegen willkührliche Maßregeln der patriciſchen Magiſtrate. Im
Lauf der Zeit aber wußten ſie nicht bloß dieſem ihrem Ein-
ſpruchsrecht die weiteſte Ausdehnung zu geben, ſondern ſie er-
warben ſich auch höchſt wirkſame poſitive Rechte hinzu, nament-
lich das jus prendendi. Während ihnen daſſelbe anfänglich ſogar
in ſeiner Richtung gegen Privatperſonen patriciſchen Stan-
des beſtritten war, ſetzten ſie daſſelbe ſpäter ſelbſt gegen die
Conſuln durch.418) „Die tribunitiſche Gewalt, um mit Niebuhr
zu reden, überflog Conſuln, Senat und das Volk ſelbſt, und
die Tribunen waren nicht ſowohl Repräſentanten der Nation
gegenüber der höchſten Gewalt, ſondern für die Dauer ihrer
[277]B. Stellung der Magiſtratur. — Machtfülle, Sinn derſelben. §. 35.
Zeit ernannte Tyrannen.“ Ließ doch Einer einſt den Conſul,
der ihn in der Rede unterbrochen, ins Gefängniß werfen, ein
anderer gar beide Conſuln, ein dritter neun ſeiner Collegen le-
bendig verbrennen!419)


Das Ueberraſchende an dieſen Gewaltverhältniſſen iſt nicht
ſowohl die außerordentlich weite Erſtreckung der Gewalt, als
der Umſtand, daß ſelbſt die exorbitanteſten Befugniſſe an gar
keine Vorausſetzungen geknüpft ſind. Es gilt hier dieſelbe Be-
merkung, die ich S. 149 hinſichtlich der gleichen Erſcheinung
auf dem Gebiete des Privatrechts gemacht habe.420) Die ſtill-
ſchweigende Bedingung für die Ausübung aller jener Befugniſſe
iſt die, daß in dem concreten Fall die Vorausſetzungen vorlie-
gen, die einen Gebrauch derſelben rechtfertigen. Wie aber die
Vorausſetzungen beſchaffen ſein ſollen, und ob ſie wirklich vor-
handen ſind, das iſt auch hier lediglich dem Urtheil des Inne-
habers der Gewalt anheimgeſtellt. Er kann einen Mißgriff be-
gehen — gewiß — aber dafür iſt ihm andererſeits auch die
Möglichkeit der Wahl des „Beſten“ d. h. einer rein individuel-
len, durch keine Geſetze beſchränkten Beurtheilung des einzelnen
Falls offen gelaſſen. Selbſt wenn jene Gefahr nicht durch
Gründe, von denen gleich die Rede ſein wird, um ein beträcht-
liches vermindert worden wäre, ſo mochten ſich die Römer mit
dem Geſichtspunkt tröſten, den Cicero bei der Beurtheilung der
tribunitiſchen Gewalt aufſtellte, nämlich daß das Schlechte der
[278]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Kaufpreis des Guten iſt.421) Gegen den Mißbrauch der tribu-
nitiſchen Gewalt gab es gerade die wenigſten verfaſſungsmäßi-
gen Garantien, gegen den Mißbrauch des Veto gar keine, und
von allen Gewalten hatte gerade dieſe ſich am meiſten überho-
ben und vergangen, und doch findet Cicero ſelbſt für ſie in je-
nem Geſichtspunkt einen ausreichenden Grund zu ihrer Recht-
fertigung. Fateor, ſagt er, in ista ipsa potestate inesse
quiddam mali, sed bonum quod est quaesitum in ea, sine
isto malo non haberemus
.
In der That aber verliert
jene Gefahr des Mißbrauchs bei näherer Betrachtung ein er-
kleckliches von dem Schreckhaften, das ſie vom abſtracten Stand-
punkte aus zu haben ſcheint. Daß ein Tribun aus Uebermuth
den Conſul ins Gefängniß werfen läßt, der Cenſor aus Chi-
kane Senatoren und Ritter aus der Liſte ſtreicht und ſeine Krea-
turen in den Senat bringt, daß der Conſul die Schätze des
Aerars zu nichtigen Zwecken vergeudet oder aus perſönlicher
Abneigung ſich weigert, die vom Volke gewählten Magiſtrate
des folgenden Jahrs zu proklamiren, daß die Augurn im poli-
tiſchen Partheiintereſſe wegen angeblicher Formfehler in den
Auſpicien die Wahlen und andere ſtaatsrechtliche Akte caſſiren
— alles das war abſtract genommen durchaus möglich und
kam ſpäterhin, als die Willkühr ſich aller Scham entband und
ſelbſt vor offenbaren Verletzungen der Geſetze nicht zurückbebte,
wirklich vor. Freilich blieb denn auch die nothwendige Folge
der Ausſchweifung nicht aus — die Selbſtvernichtung, wie wir
im folgenden Buch zeigen werden. Wir ſtehen aber hier noch
in der alten Zeit, und für ſie gilt etwas anderes. Auf die
verfaſſungsmäßigen Garantien lege ich kein entſcheidendes Ge-
wicht; ſie beſtanden auch ſpäter, ohne daß ſie dem Uebel hätten
[279]B. Stellung der Magiſtratur. — Garantien. §. 35.
Einhalt thun können, zum beſten Beweiſe alſo, daß ein anderes
Moment den Ausſchlag gab. Ich brauche daſſelbe kaum zu
nennen. Es war mit Einem Wort bezeichnet der Geiſt der
alten Zeit. Wenn ein ſchlechter Geiſt ſie beſeelt, ſind alle
rechtlichen Formen lahm und unwirkſam, und wenn die Par-
theilichkeit und Beſtechlichkeit zu Gericht ſitzt, werden die
ſtrengſten Geſetze über Verantwortlichkeit der Willkühr nicht
ſteuern. Darum möge man auch für die alte Zeit immerhin
die Garantien, die die Verfaſſung hier gewährte, namhaft
machen — aber nur als einzelne äußere Mittel, die erſt in
Verbindung mit dem Geiſt, der die alte Zeit erfüllte, ihren
Zweck erreichen konnten.


Dieſe Garantien lagen einmal in der den Beamten nach
Niederlegung ſeines Amts treffenden Verantwortlichkeit und ſo-
dann in der Interceſſion der Tribunen und höheren Magiſtrate.
Jene Verantwortlichkeit beſchränkte ſich, wie kaum bemerkt zu
werden braucht, nicht auf die Verletzung der Verfaſſung und
Uebertretung von Geſetzen, ſondern erſtreckte ſich auch auf Hand-
lungen wie Unterlaſſungen, die dem Intereſſe des Staats wi-
derſtrebten, mochten ſie äußerlich auch noch ſo legal ſein. Ich
habe dieſe nothwendige Conſequenz des Reſponſabilitätsſyſtems
oben bereits berührt, und ein näheres Eingehen auf das Hiſto-
riſche iſt bei dieſem Punkte um ſo weniger erforderlich, als das
Weſentliche allgemein bekannt und gerade ihm neuerdings eine
ausgezeichnete Bearbeitung zu Theil geworden iſt.422) Ebenſo
wenig werde ich mich bei der Interceſſion aufzuhalten haben.
Sie gehört bekanntlich zu den merkwürdigſten Eigenthümlich-
keiten der römiſchen Verfaſſung. Dem rein Negativen, der hem-
menden Kraft iſt mittelſt ihrer ein Einfluß zugeſtanden worden,
wie nirgends anders, und es läßt ſich erwarten, daß dies Mit-
tel in der Regel ſeinen Zweck, das entſchieden Schlechte zu ver-
[280]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
hindern, erreicht haben wird — wenigſtens innerhalb der
Stadt Rom. Eher früge es ſich, ob daſſelbe nicht umgekehrt
einen lähmenden Einfluß ausgeübt, manches Gute verhindert
habe. Es hing begreiflicherweiſe alles von dem Geiſte ab, in
dem dies Recht geübt ward. Ward das Veto, wie es im Sinn
der Verfaſſung lag, nur als ein Schutzmittel gegen abſolut ver-
werfliche Maßregeln angeſehen und gehandhabt, ſo konnte darin
eine Gefahr für die Selbſtändigkeit der Magiſtrate nicht erblickt
werden, im entgegengeſetzten Fall, wenn alſo eine bloße Mei-
nungsverſchiedenheit oder gar die Chikane ſich der Interceſſion
bedient hätte, würde dies Mittel den Ruin aller Selbſtändigkeit
der Magiſtrate enthalten haben, und das Uebel, das in ihm
ſelbſt gelegen, wäre größer geweſen, als das, gegen welches es
hätte helfen ſollen. Es iſt bekannt, daß das Mittel nach Einer
Seite hin nicht ſelten zu einem ihm an ſich fremden Zwecke ge-
mißbraucht wurde, nämlich von den Tribunen, um durch Ein-
ſpruch gegen nothwendige Maßregeln z. B. eine Aushebung,
Ausſchreibung der Kriegsſteuer, politiſche Conceſſionen zu er-
trotzen,423) allein daß im übrigen die ganze Einrichtung der
Selbſtändigkeit der Magiſtraturen Eintrag gethan, läßt ſich
meiner Anſicht nach nicht behaupten. Es begreift ſich dies auch
ſehr wohl. Eine leichtſinnige Benutzung des Veto enthielt nicht
weniger einen Mißbrauch der Amtsgewalt und zog nicht weni-
ger Verantwortung und Strafe nach ſich, als ein tadelnswer-
ther Gebrauch der poſitiven Befugniſſe.424) Sodann aber war
die Interceſſion auch faktiſch nicht ſo leicht, wie man ſie ſich
vorſtellen könnte.425) Sie warf dem Magiſtrat, gegen den ſie
[281]B. Stellung der Magiſtratur. — Garantien. §. 35.
gerichtet war, gewiſſermaßen den Fehdehandſchuh hin und
ohne Noth entſchloß man ſich ſchwerlich zu einem ſo gehäſſigen,
Aufſehen erregenden Schritt. Ein leichtſinniger Intercedent
hatte der öffentlichen Meinung und den Gewalten des Lebens
gegenüber keinen leichteren Stand, als jeder andere Beamte bei
ſeinen poſitiven Maßregeln,426) es kam nicht bloß darauf an,
den Widerſpruch zu erheben, ſondern auf ihm zu beharren, und
ein unmotivirter Widerſpruch konnte ſeinem Urheber die De-
müthigung eintragen, ihn ſelbſt wieder zurückzunehmen. Auch
hier alſo war die Gewalt in Wirklichkeit nicht ſo gefährlich, als
ſie in ihrer abſtracten Geſtalt erſcheint.


Ich habe geſagt, daß ich auf die beiden bisher beſprochenen
verfaſſungsmäßigen Garantien gegen den Mißbrauch der Amts-
gewalt nicht das entſcheidende Gewicht lege. Die beſte Garantie
lag vielmehr außerhalb der Verfaſſung — in dem Geiſt der
Zeit, dem Charakter des Volks, den Verhältniſſen und thatſäch-
lichen Gewalten des römiſchen Lebens. Ich will hier nicht wie-
derholen, was ich ſchon oben (S. 146) bei Gelegenheit des
Privatrechts ausgeführt habe; ein jeder wird ſich ſagen kön-
nen, daß alles dort Geſagte in verſtärktem Maße auf den vor-
liegenden Fall Anwendung findet. Was von der rein privat-
rechtlichen Gewalt galt, die der Einzelne aus eignem Recht
hatte, und die ſich im Innern des römiſchen Hauſes verbarg,
um wie viel mehr mußte es gelten von der öffentlichen, die ihm
nur zur Verwaltung anvertraut war und ſich ſtets im vollen
Licht der Oeffentlichkeit bewegte, bei allen ihren Schritten der
Controle und Kritik von Mit- und Nachwelt ausgeſetzt, von
[282]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
allen Seiten zugänglich und durch Einflüſſe, Rückſichten aller
Art temperirt.427) Frei dem Recht nach, war der Beamte um-
geben von einer unſichtbaren Gewalt, die ihn am Guten nicht
hinderte, aber bei jedem Verſuch zum Schlechten zurückſtieß. In
dieſer unſichtbaren Gewalt und in dem Geiſt der Vaterlands-
liebe, Selbſtverläugnung, Achtung gegen das Althergebrachte
u. ſ. w., den man bei dem Magiſtrat vorausſetzen mußte und
konnte, ſteckte das beſte Theil der römiſchen Verfaſſung, und erſt
ſie machten ſie zu dem, was ſie war. Abſtrahiren wir von ihnen,
halten wir uns lediglich an den äußern Mechanismus der Ver-
faſſung, an das abſtracte Recht, dann freilich muß uns dieſe
Verfaſſung als eine der unvollkommenſten erſcheinen, die es je
gegeben hat, und die ſchlechteſte von unſeren modernen Conſti-
tutionen würde ſie unendlich übertreffen. Wüßten wir es nicht
ſonſt ſchon zur Genüge, ſo könnten wir uns hieraus die Lehre
entnehmen, daß der Werth einer Verfaſſung nicht durch die
Planmäßigkeit und Vollendung ihrer Structur, ſondern den
Geiſt bedingt iſt, in dem ſie gehandhabt wird. Dieſer Geiſt iſt
bekanntlich durch kein Geſetz zu bannen oder zu geſtalten, denn
er iſt das Volk und die Zeit ſelber. Wo er der rechte iſt, hat
die Geſetzgebung leichtes Spiel, und das war eben im ältern
Rom der Fall.


So brauchte ſie namentlich alſo auch die Beamten nicht zu
unterweiſen, was der rechte Gebrauch ſei, unter welchen Vor-
ausſetzungen er ſich dieſes und jenes Rechts zu bedienen habe
u. ſ. w. Daß nun in der That das Staatsrecht in dieſer Be-
ziehung der Einſicht der Beamten faſt alles überließ, darauf
müſſen wir jetzt noch näher eingehen, als bisher geſchehen
konnte.


Wenn ich zunächſt behaupte, daß das geſchriebene Recht,
[283]B. Stellung der Magiſtratur. — Mangel an Geſetzen. §. 35.
ſowohl was die Zahl als den Inhalt der Geſetze anbetrifft, in
Bezug auf dieſen Punkt äußerſt dürftig war, ſo wird dieſe Be-
hauptung ſchwerlich auf Widerſpruch ſtoßen. Es iſt an einem
andern Ort (S. 40) bereits darauf hingewieſen, daß die Ten-
denz nach Fixirung und Objektivirung des Rechts auf dem Ge-
biete des öffentlichen Rechts überhaupt in unendlich geringerem
Grade ſich geltend machte, als auf dem des Privatrechts. Den
Grund davon dürfen wir theils in der bereits an jener Stelle
angegebenen innern Verſchiedenheit zwiſchen beiden Rechtsthei-
len erblicken, theils aber auch in den ganz beſonderen Verhält-
niſſen der römiſchen Verfaſſungsgeſchichte, namentlich in dem
Dualismus des Patricier- und Plebejerthums. Nach und nach
fand ſich in der römiſchen Verfaſſung das Verſchiedenartigſte
zuſammen, Reſte aus der Königszeit mit Inſtitutionen von rein
republikaniſchem Gepräge, ariſtokratiſche mit demokratiſchen
Ideen, drei verſchiedene Volksverſammlungen, kurz ein höchſt
buntſcheckiges Gemiſch. Es wäre für die Geſetzgebung eine
äußerſt ſchwierige Aufgabe geweſen, das Ineinandergreifen aller
dieſer Gewalten und ihre Competenzverhältniſſe genau zu be-
ſtimmen, namentlich auch bei Einführung neuer Gewalten die
Rückwirkung, die die Aenderung auf das Ganze ausüben mußte,
im voraus zu überſehen und zu reguliren. Abgeſehen von dem
mit dem Sturz des Decemvirats wieder beſeitigten ſtaatsrecht-
lichen Syſtem der XII Tafeln haben die Römer es aber nie ver-
ſucht, ihre Verfaſſung in ihrem Geſammtzuſammenhang legis-
lativ zu formuliren. Was nun ſpeziell die Magiſtratur be-
trifft, ſo begnügte die Geſetzgebung ſich damit, ſie hie und da
zu beſchränken (z. B. hinſichtlich der oft wiederholten Beſtim-
mung über die Provocation an die Volksverſammlung, hin-
ſichtlich des Maßes der multa u. ſ. w.), bei Einführung neuer
Gewalten aber that ſie kaum etwas mehr, als daß ſie ihnen, ſo
zu ſagen, das nackte Leben gab. Wie ſie in das Ganze ein-
zugreifen, wie ſie ſich zu ihrer Umgebung zu ſtellen und ihre
Gewalt zum Beſten des Staats zu verwenden hatten, alles das
[284]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
blieb ihnen ſelbſt d. h. dem Takt ihrer Träger, der Macht der
Umſtände und der Praxis überlaſſen. Gegenüber der Fülle und
Vielſeitigkeit ſtaatsrechtlicher Entwickelung in Rom verſchwindet
daher der Stoff, den die Geſetzgebung dazu lieferte, faſt in ein
Nichts zuſammen; aus den unſcheinbarſten Keimen, die ſie ge-
pflanzt hatte, entwickelten ſich unter dem Einfluß des Lebens die
mächtigſten Bildungen, wie z. B. bei der Cenſur, wo die Rö-
mer ſelbſt auf dieſen Geſichtspunkt aufmerkſam machen.428)


Man wird mir nun entgegnen, daß das Gewohnheitsrecht
hier wie ſo oft die Lücken des ungeſchriebenen Rechts ergänzt
habe. Mit dieſem Einwande berühre ich einen Punkt, der für
die richtige Einſicht in das römiſche Staatsrecht überhaupt, ſo
wie die Stellung der Magiſtrate insbeſondere von der äußerſten
Wichtigkeit iſt, und bei dem ich der herrſchenden Anſicht aufs
entſchiedenſte entgegentreten muß. Der Fehler, den man hier
begeht, beſteht darin, daß man die Sitte, das Herkommen (mos,
mores majorum
) mit Gewohnheitsrecht verwechſelt. Das ge-
wohnheitsrechtliche und geſetzliche Recht unterſcheiden ſich be-
kanntlich nur durch die Art ihrer Entſtehung, ihre verbindende
Kraft aber iſt ganz dieſelbe, eine Uebertretung enthält bei bei-
den eine Illegalität und bewirkt Nichtigkeit. Dem Gewohn-
heitsrecht geht aber ein Zuſtand der Unbeſtimmtheit voraus, den
ich bereits früher (S. 27) geſchildert und mit dem Namen der
Sitte belegt habe. Dieſer Zuſtand, der für die Normen, die ſich
zu eigentlichem Gewohnheitsrecht verdichten, nur als vorüber-
gehende Entwickelungsphaſe erſcheint, iſt für manche andere ein
bleibender, ſie kommen nie über ihn hinaus. Aeußerlich ſehen
das Gewohnheitsrecht und die Sitte ſich völlig gleich; bei bei-
[285]B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
den findet ſich die conſtante Handlungsweiſe, und beide werden
durch einzelne Ausnahmsfälle nicht ausgeſchloſſen. Aber inner-
lich ſind ſie durchaus verſchieden, denn ſo zwingend immerhin
die Macht der Sitte ſein kann, ſie iſt nicht rechtlicher Art, die
Uebertretung der Sitte begründet mithin keine Rechtswidrigkeit.


Dem Gewohnheitsrecht gegenüber erſcheint die Sitte als
etwas Unvollkommenes, noch nicht Fertiges, aber in dieſer Un-
vollkommenheit liegt zugleich ein eigenthümlicher Vorzug der-
ſelben vor dem Gewohnheitsrecht. Für gewiſſe Verhältniſſe iſt
gerade ſie das allein zutreffende, überall da nämlich, wo zwar
die Beobachtung einer gewiſſen Norm die Regel bilden, die
Möglichkeit einer motivirten Abweichung von derſelben aber
offen bleiben muß. Es iſt alſo nicht Zufall, daß gewiſſe Nor-
men ſtets im Stadium der Sitte verharren; ſie würden ihre
eigenthümliche Brauchbarkeit einbüßen, ſowie ſie zu eigentli-
chen Rechtsſätzen erhoben würden. Dieſe Bemerkung bezieht
ſich ebenſowohl auf die Verhältniſſe des öffentlichen Rechts, als
auf die des Privatrechts, und gerade das Beiſpiel des ältern
Rom (wie aus der Gegenwart das von England) iſt recht ge-
eignet, uns die Bedeutung der Sitte für das öffentliche Recht
zu veranſchaulichen. In dem conſervativen Element des römi-
ſchen Charakters lag es begründet, daß man den ſtaatsrechtli-
chen Vorgängen, Präcedentien (exempla majorum) einen gro-
ßen Einfluß einräumte,429) und daß ſich folglich hier leicht eine
[286]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſtaatsrechtliche Praxis ausbildete. Hatte ſchon die Praxis für
die Civilrechtspflege nicht ſchlechthin verbindliche Kraft (unge-
achtet der Grundſatz der Gleichheit, wie oben bemerkt ward,
für ſie eine ganz andere Bedeutung hat, als für die Verwal-
tung) ſo konnte dies für die Verhältniſſe des öffentlichen Rechts
noch weniger der Fall ſein. Allerdings gab es dort wie hier
gewiſſe Einrichtungen, Regeln u. ſ. w., die, ohne durch Geſetz
vorgeſchrieben zu ſein, doch von der Praxis unabänderlich zur
Anwendung gebracht wurden, aber es würde verkehrt ſein,
daſſelbe von allen Sätzen der Praxis anzunehmen. Wir un-
terſcheiden vielmehr auch für das Staatsrecht das eigentliche
Gewohnheitsrecht (z. B. Unfähigkeit der Frauen zur Be-
kleidung von Staatsämtern, Nothwendigkeit der Beachtung
der Auſpicien, rechtliche Unmöglichkeit einer Volksverſamm-
lung ohne Berufung von Seiten eines Magiſtrats u. ſ. w.)
und die bloße ſtaatsrechtliche Sitte und Praxis
ſchlechthin.


Die Stellung des Magiſtrats der Praxis gegenüber war
weder eine freie noch völlig unfreie. Keine völlig freie, denn
die ſtillſchweigende Erwartung, unter der ihm ſeine Gewalt an-
vertraut war, war die, daß er, wenn keine beſonderen Gründe
zu einer Abweichung vorlägen, die bisherigen Bahnen inne-
halte. Keine völlig unfreie, denn es war ſeinem Ermeſſen über-
laſſen, dieſe Bahnen aus gerechten Gründen ausnahmsweiſe
zu verlaſſen.430) Es lag in der Weiſe der Römer, daß dies
429)
[287]B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
nur aus den dringendſten Gründen geſchah; eine unmotivirte,
leichtſinnige Abweichung von der bisherigen Sitte war in alter
Zeit eine große Seltenheit und gab beim Volk vielleicht kaum
geringern Anſtoß, als eine Verletzung der Geſetze.431) Aber
juriſtiſch waren beide Fälle, wie bemerkt, unendlich verſchieden,
denn wenn auch hier wie dort den Thäter hinterher eine Strafe
treffen konnte, ſo war doch die Handlung dort gültig, hier
nichtig. Der Unterſchied in der verbindenden Kraft der eigent-
lichen Rechtsſätze und der Praxis läßt ſich mit den Ausdrücken
necesse esse und opus esse bezeichnen. So kommt bei Ci-
cero432) die Wendung vor: legem curiatam consuli ferri opus
esse
(er ſoll es thun) necesse non esse (aber die Unterlaſſung
begründet keine Nichtigkeit).


Es war nun Sache des Beamten im einzelnen Fall zu prü-
fen, ob es räthlicher, dem Wohl des Staats zuträglicher ſei,
das Herkommen zu verlaſſen oder zu befolgen. Dies erforderte
eine ſorgſame Abwägung der individuellen Verhältniſſe. Denn
es konnte ihm nicht entgehen, daß das innere Gewicht der in
der bisherigen Praxis befolgten Normen ein ſehr verſchiedenes
war. Manche mußten ihm mehr als löblicher Brauch erſchei-
nen, der ſo und anders ſein konnte (wie z. B. die Reihenfolge
der Abſtimmung im Senat), andere hingegen als Ausdruck po-
litiſcher Nothwendigkeit (z. B. Befolgung der Beſchlüſſe des
430)
[288]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Senats). Es war mithin auch das Gegengewicht der Gründe
verſchieden, die von der andern Seite in die Wagſchale gewor-
fen werden mußten, um hier und dort eine Abweichung zu
rechtfertigen. Begreiflich, daß hierbei die Individualität des
Beamten, ſeine Aengſtlichkeit oder Entſchloſſenheit, ſeine poli-
tiſche Richtung und Anſicht vom größten Einfluß waren. Im-
mer aber mußte er ſich ſagen, daß die Abweichung von der
Sitte ein Schritt ſei, der Aufſehn mache und der Rechtfertigung
bedürfe, und daß ihn, auch wenn er nach beſter Ueberzeugung
gehandelt hatte, Tadel und demnächſt Anklage und Strafe tref-
fen könne. Wer von ächter Vaterlandsliebe beſeelt war, ließ
ſich durch dieſe Rückſicht nicht abhalten, aber ohne Noth, ohne
entſchiedenes Uebergewicht auf der andern Seite trat auch er
nicht mit der bisherigen Sitte in Widerſpruch. So war es
möglich, daß manche Normen Jahrhunderte lang ausnahmslos
beachtet wurden, bis eine ungewöhnliche Complication der Ver-
hältniſſe einen entſchloſſenen Magiſtrat veranlaßte, ſich hierin
von der Praxis loszuſagen. Hätte letztere abſolut verbindende
Kraft gehabt, ſo enthielt eine ſolche Handlung eine entſchiedene
Illegalität, zu der der Magiſtrat ohne die äußerſte Noth und
ohne die Autorität des Senats ſich nicht entſchloſſen haben
würde. Die Art, wie die römiſchen Schriftſteller derartiger
Beiſpiele gedenken, ſo wie die Verhältniſſe, unter denen ſie vor-
kamen, zeigt, daß eine ſolche Auffaſſung den Römern fremd war.


Es kommt jetzt darauf an, die bisher entwickelte Anſicht zu
beweiſen. Es iſt nun zunächſt mit allgemeinen Ausſprüchen der
Römer über die mos und mores majorum, z. B. daß die mos
als Geſetz beachtet werde, nichts gewonnen. Will man mit
ſolchen Argumenten kämpfen, ſo könnte auch ich von meiner
Seite darauf Gewicht legen, daß mos nicht bloß Gewohnheits-
recht, ſondern auch die Sitte in unſerem Sinn bezeichnet. 433)
[289]B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
Der einzige Weg, der zum Ziele führen kann, iſt der, daß man
die römiſche ſtaatsrechtliche Praxis ins Auge faßt. Dieſer Weg
iſt freilich ein unendlich weitläuftiger, und ich muß mich, wenn
ich den Zweck der Schrift nicht außer Acht laſſen will, darauf
beſchränken, einige Beiſpiele anzuführen, im übrigen aber auf
das eigne Studium jenes Gegenſtandes verweiſen.


Den Conſuln war durch keine ausdrückliche geſetzliche Beſtim-
mung vorgeſchrieben, die Reſultate der von ihnen abgehaltenen
Wahlcomitien zu proklamiren, es braucht aber kaum bemerkt zu
werden, daß dies nach dem Geiſt der Verfaſſung nicht Sache ihres
guten Willens ſein konnte. Es mußte dies vielmehr als Pflicht
gelten, und dieſe Pflicht fand in der Praxis ihren Ausdruck;
ein Jahrhundert konnte vergehen, ohne daß ein Conſul es ge-
wagt hätte, die Wahl zu verwerfen. Aber es war keine abſolut
verbindende, keine eigentliche Rechtspflicht, ſondern eine Pflicht
der Sitte; der Conſul konnte ſich weigern, ihr nachzukommen,
ohne daß man ihn einer Illegalität hätte zeihen können, und
einzelne derartige Fälle ſind uns aufbewahrt (Anm. 416).


Die Conſuln ſollten vom Volk gewählt werden; dies war
aber nicht abſolut Rechtens, ſondern nur Herkommen. So
konnte es denn in Nothfällen vorkommen, daß die bisherigen
Conſuln ohne Wahl von Seiten des Volks ihre Nachfolger
proklamirten. 434) Ebenſo war es ganz entſchieden gegen das
Herkommen, daß die Magiſtrate ſich ihr Amt prolongiren ließen,
allein während des puniſchen Krieges ſetzte ſich ein Conſul in
433)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 19
[290]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
beſter Abſicht über dies Bedenken hinweg, und ſeine Hand-
lungsweiſe fand allgemeine Billigung. 435) Dem Herkommen
nach konnte nur der Conſul einen Diktator ernennen; die
Augurn aber verſtatteten es auch den Militärtribunen. 436) Nur
der Senat ſollte einen Triumph bewilligen; als er aber aus Chi-
kane dem Poſtumius den verdienten Triumph verweigert hatte,
dekretirte dieſer ihn ſich ſelbſt, und ein Theil der Tribunen un-
terſtützte ihn. 437) Die Tribunen machten wie die mit imperium
verſehenen Magiſtrate das Recht geltend, während der Dauer
ihres Amts nicht vor Gericht gezogen zu werden, und das Her-
kommen hatte ſich allerdings dahin gebildet; allein in einzelnen
Fällen, wo ein Tribun ſich in höchſt verwerflicher Weiſe auf
dies Privilegium berufen, ließen ſeine eigenen Collegen ihn im
Stich und dekretirten, daß das Herkommen hier nicht beachtet
werden ſolle. 438) Hinſichtlich der Abſtimmung im Senat war
ſeit altersher eine beſtimmte Ordnung hergebracht, allein dies
hinderte nicht, daß manche Conſuln ſich darüber hinwegſetz-
ten. 439) Ebenſo nahm der Senat, wo es nöthig ſchien, keinen
Anſtand, das Herkommen zu verlaſſen, 440) ja ſelbſt der Ponti-
fex maximus
mußte ſich auf Wunſch des Volkes mit widerſtre-
bendem Herzen dazu entſchließen. 441) Eine unmotivirte Abwei-
chung vom Herkommen, eine eigentliche Mißachtung deſſelben
[291]B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
erregte in Rom die größte Mißbilligung (Anm. 431), allein ſelbſt
bei der ſchärfſten Kritik ward die Anklage doch nicht auf die
Rechtswidrigkeit der Handlung geſtellt, wenigſtens von
Seiten ſolcher Schriftſteller, die die Sache kannten und einen
ungenauen Ausdruck vermieden. 442) Daß andere Schriftſteller
das Herkommen und die Praxis leicht mit dem Recht verwech-
ſeln konnten, liegt auf der Hand, und es wäre daher ein Wun-
der, wenn ſich nicht unter den Berichterſtattern manche bloß
hierdurch veranlaßte Differenzen über ſtaatsrechtliche Fragen
finden ſollten. Wo namentlich griechiſche Berichterſtatter, wie
Polybius, Dionyſius, Plutarch, nach der Anſchauung des
gewöhnlichen Lebens eine rechtliche Verpflichtung annah-
men, 443) konnte der mit der altrömiſchen nationalen Anſchau-
ungsweiſe vertrautere einheimiſche Schriftſteller eine ſolche nicht
erblicken; was dem Einen alſo als Rechtsverletzung erſchien,
darin fand der Andere eine wenn auch anſtößige, tadelnswerthe,
doch aber formell legale Handlung. Ich brauche nicht zu be-
merken, wie gerade dieſe Differenz zwiſchen den Berichterſtat-
tern die Richtigkeit meiner ganzen Auffaſſung beſtätigt. An
dieſer Differenz, oder allgemeiner an dem Eindruck der Unbe-
ſtimmtheit, Zweifelhaftigkeit u. ſ. w., der uns auf dem Gebiete
des römiſchen Staatsrechts keinen Augenblick verläßt, zeigt es
ſich deutlich, daß hier die Sitte, deren Weſen ja gerade die Un-
beſtimmtheit iſt, ihr Spiel treibt. 444)


19*
[292]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.

Es gab in Rom Eine Gewalt, an der die Macht der Sitte
ſich wie an keinem andern Punkt bethätigte, den römiſchen Se-
nat, und unſere Aufgabe verſtattet uns, wenigſtens nach einer
Seite einen Blick auf ihn zu werfen, nämlich was ſein Verhält-
niß zu den Magiſtraten, namentlich den Conſuln anbetrifft. 445)
Daß dem Rechte nach der Senat nur eine rein berathende Be-
hörde war und nicht über, ſondern unter den Conſuln ſtand,
darüber würde wahrſcheinlich gar kein Zweifel herrſchen, wenn
hier nicht wiederum die Geſtaltung, die dies Verhältniß in der
Sitte gewonnen hatte, irre geleitet hätte. Die Formen, in die
der Senat ſeine Beſchlüſſe einkleidete, 446) ſollten allein ſchon
auf den rechten Weg weiſen, und außerdem fehlte es nicht an
hiſtoriſchen Thatſachen und Aeußerungen der Römer, die jenes
Verhältniß des Senats in das klarſte Licht ſetzen. 447) Es be-
444)
[293]B. Stellung der Magiſtratur. — Verhältniß zum Senat. §. 35.
greift ſich aber, daß das Gutachten und der Antrag einer Kör-
perſchaft, die aus den durch ihre ſociale Stellung, politiſche
Einſicht und Erfahrung hervorragendſten Männern beſtand, für
den Conſul ſowohl wie in den Augen des Volks eine hohe mo-
raliſche Autorität haben mußte. Ganz abgeſehen davon mußte
ſchon das eigene Intereſſe den Conſul beſtimmen, alle wichti-
gen Maßregeln mit dem Senat zu berathen und ein möglichſt
gutes Vernehmen mit ihm zu unterhalten, um an ihm dem
Volk gegenüber einen moraliſchen Rückhalt zu haben. Konnte
er bei Maßregeln, die vorausſichtlichermaßen auf Widerſtand
ſtoßen würden, ſich die Zuſtimmung des Senats verſchaffen, 448)
ſo lenkte er nicht bloß das Odium und die Gefahr einer dem-
nächſtigen Verurtheilung 449) von ſich ab, ſondern die Maßregel
ſelbſt fand von vornherein eine ganz andere Aufnahme, als
wenn er einſeitig aus eigner Machtvollkommenheit ſie verhängt
hatte. 450) Dazu kommt ferner, daß die Bewilligung der Pro-
vinzen, Legionen, Triumphe u. ſ. w. vom Senat abhing, ein
ehrgeiziger Magiſtrat alſo allen Anlaß hatte, ſich den Senat
geneigt zu machen. So begreift es ſich, daß die Senatsbe-
447)
[294]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſchlüſſe in der Regel bei dem Conſul dieſelbe Beachtung fanden,
wie in der Kaiſerzeit die orationes principis beim Senat, und
daß dem Effekt nach der Senat eine der einflußreichſten ſtaats-
rechtlichen Gewalten war, ungeachtet er der Form, der abſtract-
rechtlichen Stellung nach eine bloß berathende Stimme hatte.
Man darf aber die Sache nicht ſo anſehen, als ob das abſtract-
rechtliche Moment hier ein Begriff ohne alle praktiſche Realität
geweſen, ein Moment, das bei der ſtaatsrechtlichen Charakteri-
ſtik des Senats außer Acht gelaſſen werden dürfte. Selbſt für
die Zeiten, als der Senat den Gipfel ſeiner Macht erreicht
hatte, würde dies nicht zu billigen ſein, geſchweige für die frü-
heren. Die praktiſche Realität jenes Moments zeigt ſich darin,
daß in Wirklichkeit manche Fälle vorkamen, wo die Beamten
nicht bloß die wichtigſten Maßregeln ohne Zuziehung des Se-
nats aus eigener Machtvollkommenheit vornahmen, ſondern ſich
auch mit der erklärten Meinung des Senats in Widerſpruch
ſetzten, die Beſchlüſſe deſſelben mißachteten 451) (non esse in
autoritate senatus
), ohne daß eine ſolche Handlungsweiſe als
illegal und nichtig, ja nur einmal ſtets als tadelnswerth ge-
golten hätte. Hatte z. B. der Senat ſich durch Partheileiden-
ſchaft zu ſeinem Beſchluß verleiten laſſen, 452) ſo warf das mo-
raliſche Uebergewicht der öffentlichen Meinung ſich auf Seiten
des Beamten, und letzterer trug formell wie moraliſch einen Sieg
über den Senat davon. Abgeſehen hiervon aber hatte derſelbe
dem Senat gegenüber einen ſchweren Stand, und bei einer
Oppoſition in ſchlechter, dem Staat verderblicher Abſicht keine
Ausſicht auf Erfolg. Denn wenn der Senat gleich rechtlich
keine Gewalt über ihn hatte, ſo fehlte es ihm doch nicht an
[295]B. Stellung der Magiſtratur. — Verhältniß zum Senat. §. 35.
Mitteln, ſeinen Willen durchzuſetzen. Das nächſtgelegene war,
daß er ſich der Mitwirkung eines andern Magiſtrats verſicherte,
der vermöge ſeiner amtlichen Stellung den Widerſpenſtigen zu
zwingen vermochte. In dieſem Verhältniß ſtanden z. B. der
Dictator und die Tribunen zu allen Beamten, der Conſul zu
allen andern mit Ausnahme dieſer beiden. War alſo z. B. der
Conſul ſelbſt nicht in autoritate senatus, ſo ward ſein College
beauftragt, einen Dictator zu ernennen. 453) Führte dieſer den
Auftrag aus, ſo war die Gewalt der Conſuln erloſchen und damit
der Widerſtand gebrochen. Führte er den Auftrag nicht aus,
oder machte er von Anfang an gemeinſchaftliche Sache mit ſei-
nem Collegen, ſo konnte der Senat die Tribunen angehen und
dieſelben erſuchen, von ihrem Zwangsrecht gegen die Conſuln
Gebrauch zu machen, um letztere zu der gewünſchten Maßregel
oder zur Niederlegung ihres Amts (unmittelbar durch Abdika-
tion oder mittelbar durch Ernennung eines Dictators) zu zwin-
gen. 454) Auch ſie wie der Conſul ſelbſt waren rechtlich nicht
verpflichtet, den Auftrag anzunehmen, aber es iſt begreiflich,
daß ſie gern bereit waren, es zu thun. Im äußerſten Fall blieb
dem Senat noch das Mittel, den Beamten für einen Feind des
Vaterlandes 455) und damit ſeines Amtes für verluſtig zu er-
klären. Abgeſehen davon konnte aber der Senat ihn nicht ſeines
Amts entſetzen (bekanntlich konnte dies ſelbſt das Volk nicht)
und eignete ſich daher der Fall nicht zu einer äußerſten Maßregel,
und verweigerten die Tribunen ihre Hülfe, ſo blieb dem Senat
[296]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
nichts übrig, als auf das Ende des Amtsjahrs und auf größere
Willfährigkeit der Nachfolger zu hoffen.


Die bisherigen Beiſpiele mögen genügen, um meine obige
Behauptung von der eigenthümlichen Kraft der ſtaatsrechtlichen
Sitte zu erläutern und zu beweiſen. Was ich aber nicht beweiſen
kann, iſt das quantitative Verhältniß der Sätze der ſtaats-
rechtlichen Sitte zu denen des Staatsrechts; ein ſolcher Be-
weis wäre mit einer Darſtellung des geſammten römiſchen
Staatsrechts gleichbedeutend. In dieſer Beziehung muß ich
mich alſo auf das bloße Behaupten beſchränken, im übrigen
aber auf das Urtheil ſachkundiger Richter provociren. Meine
Behauptung geht nun dahin, daß der bei weitem größte Theil
der Normen, die im öffentlichen Leben der Römer zur Anwen-
dung kamen, nicht Staatsrecht, ſondern Staats ſitte geweſen.
Die ſtaatsrechtliche Subſtanz befand ſich in Rom, einige
wenige feſte Niederſchläge abgerechnet, ſtets im Zuſtande der
Flüſſigkeit. 456) Dieſer Zuſtand machte es möglich, dem wechſeln-
den Bedürfniß der Zeiten gerecht zu werden, ohne ſtets erſt die Ge-
ſetzgebung zu Hülfe zu rufen, ſowie er es andererſeits dem Hiſto-
riker freilich unendlich erſchwert, der Bewegung zu folgen, jenes
faſt ununterbrochene Wachſen und Abnehmen, Ausdehnen und
Zuſammenziehen der verſchiedenen Gewalten, jenes Wogen,
Schieben und Stoßen der verſchiedenen Elemente zu ſchildern.
Dieſe Biegſamkeit der Sitte, dieſe rechtliche Möglichkeit, publi-
ciſtiſche Normen und Maximen in Fällen, wo ihre Anwendung
[297]B. Stellung der Magiſtratur. — Perſönlichkeit des Beamten. §. 35.
dem wahren Wohl des Staats widerſtreben würde, ausnahms-
weiſe zur Seite zu ſchieben — ſie überhob die Römer jener
traurigen Nothwendigkeit, in die wir heutzutage uns ſo oft ver-
ſetzt ſehen, nämlich bei einem Conflikt zwiſchen den beſtehenden
Geſetzen und der Noth des Augenblicks, dem Bedürfniß des
individuellen Falls zu Liebe entweder das Geſetz zu ändern oder
zu übertreten oder aber das Bedürfniß dem Geſetz zu opfern.
Wenn es uns bei der Schilderung der privatrechtlichen Verhält-
niſſe vorzugsweiſe darum zu thun war zu zeigen, wie die Sitte
beſchränkend auf die abſtracte Freiheit einwirkte, ſo kam es
uns bei dem vorliegenden Gegenſtand umgekehrt darauf an,
nachzuweiſen, wie die Sitte trotz ihres beſchränkenden Einfluſſes
immer doch noch der Freiheit einen großen Spielraum ließ.
Dort hat man nämlich ebenſo ſehr den Einfluß der Sitte zu
gering, wie hier zu hoch angeſchlagen. Der Grund dieſer Ver-
ſchiedenheit liegt in der Beſchaffenheit unſerer Quellen, näm-
lich in der Dürftigkeit derſelben rückſichtlich des rein privat-
rechtlichen, der Reichhaltigkeit derſelben rückſichtlich des öffent-
lichen Lebens. Die Juriſten, die das Privatrecht behandelten,
ſchloſſen das Element der Sitte mit vollem Recht von der Be-
trachtung aus. Wer aber das römiſche Staatsrecht darzuſtellen
hatte, konnte ſich nicht in gleicher Weiſe auf den abſtract-recht-
lichen Geſichtspunkt beſchränken, ſondern mußte das geſammte
öffentliche Leben zum Gegenſtand der Darſtellung machen.


Kurz das Staatsrecht war Geſchichte und Statiſtik, das
Privatrecht eine abſtracte Theorie. Für jenes beſteht die Auf-
gabe darin, den Geſichtspunkt des abſtracten Rechts nicht über
der Sitte — für dieſes, die Sitte nicht über dem abſtracten
Recht zu überſehen.


Wir haben jetzt die einzelnen objektiven Momente, die zur
Charakteriſtik der Magiſtratur nöthig ſind, kennen lernen: die
abſtract-rechtliche Freiheit auf der einen, das Maß und die Art
ihrer Gebundenheit auf der andern Seite. Ein weſentliches
Moment zu dieſer Charakteriſtik fehlt uns noch, es iſt das rein
[298]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſubjektive der Perſönlichkeit des Beamten, und obgleich die
Conſequenz des Bisherigen ſchon von ſelbſt darauf führen
müßte, ſo darf ich es doch nicht unterlaſſen, die Bedeutſamkeit
dieſes Moments mit allem Nachdruck hervorzuheben. Wir be-
trachten zu dem Zweck die Magiſtratur ſchließlich unter dem
Geſichtspunkt ihrer Beziehung zur Perſönlichkeit.


Die meiſten Gewaltverhältniſſe des öffentlichen Rechts laſ-
ſen ſich ganz wie die des Privatrechts (S. 144) als weite, ela-
ſtiſche Formen bezeichnen, die der Perſon die freieſte Regung
verſtatten und erſt mit und an der Perſönlichkeit ihres Trägers
ihren eigentlichen Inhalt bekommen. Sie ſind alſo das gerade
Gegentheil von dem, was man in neuerer Zeit ſo gern aus
ihnen hat machen wollen, das iſt nämlich Mechanismen, die
von der Perſönlichkeit des Subjekts möglichſt unabhängig ſein,
bei aller Verſchiedenheit derſelben doch die möglichſt gleichen
Reſultate hervorbringen ſollen, enge, feſte, ſtarre Formen und
Gehäuſe, die ſich nicht der Perſönlichkeit, ſondern denen ſie
ſich akkommodiren muß. Jene römiſchen Gewaltverhältniſſe
aber, wie ſie einerſeits das entſcheidende Gewicht auf die Per-
ſönlichkeit werfen, von dem freien Schwunge derſelben alles
hoffen und erwarten, ſind in ihren Reſultaten, ja in ihrem je-
weiligen Machtgehalt weſentlich von der Perſon abhängig. Sie
richten ſich nach der Größe ihres Trägers; weit oder elaſtiſch
genug, um auch dem mächtigſten Charakter die nöthige Aus-
dehnung zu verſtatten, ſchrumpfen ſie zuſammen, wie das Kleid
in der Sage, am Körper des Kleinen. Dem abſtrakten Recht
nach hätte die Macht einer und derſelben Magiſtratur dieſelbe
ſein müſſen, wer ſie auch bekleidete, allein in Wirklichkeit rich-
tete ſich das Maß dieſer Macht weſentlich nach der moraliſchen
Kraft ihres Trägers. Ein ſchwacher, ängſtlicher, zaghafter
Charakter, in Beſitz dieſer Gewalt verſetzt, wagte es nicht,
ſie in ihrer ganzen Wucht geltend zu machen, und konnte es
auch nicht, denn um dies zu können, bedurfte es eines ent-
ſchloſſenen Muthes und eines feſten Armes. Hier alſo verliert
[299]B. Stellung der Magiſtratur. — Perſönlichkeit des Beamten. §. 35.
die Magiſtratur an Kraft, ſie fügt ſich, wo ſie es nicht nöthig
hätte, 457) vermeidet den Streit, und wo ſie ihn dennoch auf-
nimmt, unterliegt ſie. Aber wenn dann einmal wieder ein gan-
zer Mann, ein eiſerner Charakter, ein wahrer Herrſcher an ihre
Stelle trat, wie ſchwoll dann die Würde an, zu welcher Ge-
waltigkeit und Majeſtät! Rechte, die die Vorgänger ſeit Jahr-
hunderten nicht mehr gewagt hatten zu benutzen, wurden der
Vergeſſenheit entriſſen,458) neue Anſprüche, oder ſolche, die
bisher ohne Erfolg erhoben waren, geltend gemacht und durch-
geſetzt, der Glanz des Amts wiederhergeſtellt und erhöht, kurz
das Amt nahm einen mächtigen Aufſchwung, und noch lange
Jahre nachher zehrten die Nachfolger von dem Gewinn dieſes
Einen Amtsjahres. Man erinnere ſich z. B. der Cenſur. Was
war ſie bei ihrer Einführung, was ein Jahrhundert ſpäter!
Und wodurch? Nicht durch Unterſtützung und Beihülfe von
Seiten der Geſetzgebung, ſondern Alles durch die Macht der
Perſönlichkeit. Mit jedem großen Charakter, den man mit die-
ſem anfänglich ſo unbedeutenden Amt bekleidet hatte, dehnte
und weitete ſich daſſelbe, jeder ächte Cenſor war „Mehrer des
Reichs“, ein Stück Cenſur. Kein Geſetz hätte ein ſolches In-
[300]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſtitut ſchaffen können, ſo wenig wie es daſſelbe zu halten ver-
mochte, als die alten Cenſoren immer mehr ausſtarben. Das
innere Mark des Inſtituts, in dem ſeine Kraft und Stärke ruhte,
und ohne das es nichts war, kam durch die Cenſoren ſelbſt
hinein, war das Reſultat der Unerſchrockenheit und Strenge,
des ſittlichen Ernſtes und der eignen ſittlichen Würdigkeit, durch
die ſie dem Volk imponirt hatten. Wenn wir heutzutage zu
ſagen pflegen: Das Amt macht den Mann, ſo können wir für
die römiſche Welt den Satz dahin umdrehen: der Mann machte
das Amt. 459)


Ich habe oben geſagt, daß die Amtsgewalt ſich weſent-
lich nach der moraliſchen Kraft ihres Trägers richtete. Am
auffallendſten zeigt ſich dies an dem Verhältniß der verſchiede-
nen Staatsgewalten zu einander. Es wird aus dem bisherigen
klar geworden ſein, daß daſſelbe ein außerordentlich fruchtbarer
Boden für Conflikte der mannichfaltigſten Art ſein mußte.
Denn die Machtgebiete der einzelnen aus ſo heterogenen politi-
ſchen Elementen gebildeten Gewalten durchkreuzten ſich in ſelt-
ſamer Weiſe, die Gränzen waren vielfach ſehr unbeſtimmt, und
ſelbſt der Beſitzzuſtand, ſoweit er ſich auf ſtillſchweigende Con-
vention und Herkommen ſtützte, ſchloß nicht die Möglichkeit
einer Erweiterung der Macht auf Koſten anderer Gewalten
aus. Dazu kam, daß das Interceſſionsrecht die Befugniß ge-
währte, ſelbſt in das zweifelloſe Gebiet einer andern Macht
hinüber zu greifen. Es begreift ſich, daß bei einer ſolchen Ge-
458)
[301]B. Stellung der Magiſtratur. — Perſönlichkeit des Beamten. §. 35.
legenheit zu Conflikten 460) unendlich viel darauf ankam, welche
Charaktere ſich einander gegenüberſtanden, und daß je nach
Verſchiedenheit derſelben der Ausgang des Conflikts ſelbſt ein
verſchiedener war. Einer imponirenden Perſönlichkeit ver-
ſtattete man, was man einer andern nie eingeräumt hätte,
und Maßregeln, die man gegen letztere unbedenklich ergriff,
wagte man gegen erſtere nicht zur Anwendung zu bringen. So
z. B. ward einſt von zwei Cenſoren wegen einer und derſelben
Amtshandlung der eine in Anklagezuſtand verſetzt, an dem an-
dern, der durch ſeine Stellung und Perſönlichkeit imponirte,
wagte man ſich nicht zu vergreifen, und nur dem entſchloſſenen
Auftreten deſſelben hatte jener es zu verdanken, daß er losge-
ſprochen ward. 461) So beſtimmte ſich namentlich auch der Er-
folg der Drohungen, durch die der eine Magiſtrat den andern
einzuſchüchtern verſuchte, ganz nach dem Verhältniß der ſich ge-
genüberſtehenden moraliſchen Kraft. Während ſie in dieſem
Fall machtlos war und verlacht ward, erreichte ſie dort ihren
Zweck. 462) Bald zwingt mittelſt ihrer ein Tribun den Conſul,
bald wieder ein Conſul den Tribun und den eignen Collegen
[302]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
zum Nachgeben; 463) bald wird der Drohung von der einen eine
Drohung von der andern Seite entgegengeſetzt. So ſucht ein
Dictator die Plebs von ihren Vorſätzen abzuſchrecken, indem
er ankündigt, daß er eine Aushebung veranſtalten und die un-
ruhige Mannſchaft aus der Stadt führen werde, und die Tri-
bunen ihrerſeits antworten ihm darauf mit einem Plebiſcit,
wodurch ihm für dieſen Fall eine Strafe von einer halben Mil-
lion auferlegt ward. 464) Bald wieder wagt der Beamte nicht
mit ſeiner Drohung Ernſt zu machen und läßt geſchehen, was
er verhindern wollte, bald weicht er keinen Schritt zurück und
ſetzt ſeinen Zweck durch. 465) Die Cenſoren hatten bekanntlich
das Recht, die Liſte des Senats anzufertigen, und es behielt
bei ihrer Redaction ſein Bewenden. Als dieſe Liſte aber einſt
nach Gunſt und Willkühr entworfen war, erklärten die Con-
ſuln, daß ſie ſich nicht daran binden würden, und griffen zu
einer frühern zurück. 466) Die Prätoren hatten das Amt, Recht
zu ſprechen. Als aber einſt ein Prätor, während er ſein Amt
verwaltete, ſich nicht erhob, indem der Conſul Aemilius Scau-
rus, ein Mann von gewaltigem Charakter vorüberging, ließ
derſelbe ihm nicht allein das Kleid am Leibe zerreißen und ſei-
nen Seſſel zerſchlagen, ſondern er erließ ein Edikt, daß Nie-
mand fortan bei ihm Recht nehmen ſolle, das heißt alſo im
Grunde: er nahm ihm das Amt, das das Volk ihm gegeben
hatte. 467) In dieſen beiden letzteren Fällen war die formelle
Berechtigung zu einer ſolchen Maßregel wohl mehr als zwei-
felhaft.


Ich will die Beiſpiele nicht mehr häufen, um ſo weniger,
da ſchon unſere frühere Darſtellung Gelegenheit hatte, an zwei
[303]C. Hiſtor. Bedeutung des Syſtems.
wichtigen Punkten, dem Herkommen und dem Verhältniß des
Magiſtrats zu dem Senat die Bedeutung des perſönlichen Mo-
ments für die Magiſtratur hervorzuheben. Wir haben damit unſer
Ziel erreicht und den Gedanken der Macht und Freiheit,
als den pſychologiſch nothwendigen und ſittlich
berechtigten Ausdruck des Perſönlichkeitsgefühls

nicht minder im öffentlichen als im Privatrecht verwirklicht ge-
funden. Wenn der Leſer durch den langen Weg, den ich ihn ge-
führt habe, ermüdet iſt, ſo möge mich zweierlei entſchuldigen.
Einmal, daß jener Gedanke ſich als innerſter Kern des ganzen
römiſchen Rechtsgefühls bezeichnen läßt, daß er, möge man auf
die Verfaſſung des Hauſes oder die des Staats ſehen, eine Be-
achtung verlangte, wie kein anderer, ja daß alles andere nur ſeinet-
wegen da iſt, um ihn zu ſchützen und zu verwirklichen. Sodann
aber, daß es zugleich meine Abſicht war, in dem Bilde, das ich
hier entworfen, einer Zeit, wie der unſrigen, die in Wiſſen-
ſchaft und Leben das Recht und die Macht der Perſönlichkeit
nicht ſelten ſo gründlich mißachtet hat, einen Spiegel vorzuhal-
ten, aus dem ſie erkennen kann, wie ſie iſt, und was ihr fehlt.
Daß ich nicht der Anſicht bin, als könnte und ſollte ſie das
altrömiſche Syſtem copiren, daß ich vielmehr ſehr wohl weiß,
wie ſehr letzteres in ſeiner ganzen Eigenthümlichkeit an das alte
Rom mit ſeinen Menſchen und Zuſtänden geknüpft war, —
dies zu bemerken, wird mir die Schlußbetrachtung des folgen-
den Paragraphen eine paſſendere Gelegenheit geben.


C. Hiſtoriſche Bedeutung des Syſtems der Freiheit.

Die Abſtraction des Freiheitsbegriffs als Entdeckung des Privat-
rechts — Die Selbſtändigkeit der Abſtraction gegenüber dem
Leben — Die Produktivität der autonomiſchen Bewegung des
Verkehrs — Die natürlich-ſittlichen Beziehungen des
Syſtems zur römiſchen Welt.

XXXVI. Wir ſind jetzt auf dem Punkt angelangt, um das
[304]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Syſtem der Freiheit in ſeiner Totalität überſchauen und beur-
theilen zu können. Indem ich es dem Leſer glaube überlaſſen
zu dürfen, ſich die Züge, die die bisherige Darſtellung geliefert
hat, zu einem Geſammtbilde zu vereinigen, benutze ich den ge-
wonnenen Standpunkt nur, um unſer Syſtem als eine einzelne
hiſtoriſche Erſcheinung in ſeinen höhern Zuſammenhang einzu-
reihen und die hiſtoriſche Bedeutung zu beſtimmen, die es von
dieſem Standpunkt aus in Anſpruch nehmen kann.


Bei der Auffaſſung des Syſtems der Freiheit haben wir
uns, wie bereits früher bemerkt, gleichmäßig vor zwei Einſeitig-
keiten zu hüten, nämlich einmal über dem abſtracten Recht nicht
die Sitte und die reale Wirklichkeit des Lebens, und ſodann
über letzterer nicht das abſtracte Recht außer Acht zu laſſen. Es
iſt nicht minder unerläßlich, die rechtliche Freiheit in der ganzen
Nacktheit des abſtracten Begriffs zur Anſchauung zu bringen,
zunächſt alſo von allen ſittlichen Bezügen, Einflüſſen und Ban-
den, durch die ſie mit dem Leben verknüpft war, zu abſtrahiren,
als andererſeits hinterher dieſen thatſächlichen Gewalten die
vollſte Anerkennung zu Theil werden zu laſſen. Beide Geſichts-
punkte und Aufgaben aber ſoll man aufs ſchärfſte aus einander
halten, und gerade dies iſt ein Punkt, wo wir nicht genug von
den Römern lernen können, denn dieſe Scheidung iſt eins ihrer
unſterblichſten Verdienſte, der erſte und weſentlichſte
Schritt zur Entdeckung des Privatrechts
. Zu die-
ſem Zweck war es erforderlich, daß ſie ſich bei der abſtract-
rechtlichen Formulirung des Freiheitsbegriffs durch die ſittlich-
natürliche Lebensanſchauung, von der ſie durchdrungen waren,
durch die äußere Erſcheinung der Freiheit im Leben, durch die
tauſenderlei Einflüſſe und Beſchränkungen, denen letztere hier
ausgeſetzt war, in nichts beirren ließen.


Ich habe mich früher (S. 142—144) ſchon dahin ausge-
ſprochen, daß die Römer hier das abſolut Richtige getroffen
haben, denn die einſeitige Geltendmachung und Durchführung
[305]C. Hiſtor. Bedeutung d. Syſtems. Entdeckung d. Privatrechts. §. 36.
des Geſichtspunktes der Macht und Herrſchaft, die Betrachtung
des geſammten Privatrechts und aller ſeiner Verhältniſſe unter
dieſem Einen Geſichtspunkt iſt eben das abſolut Richtige. Ju-
riſtiſch dieſe Verhältniſſe zu betrachten heißt nichts anderes, als
den abſtract-rechtlichen Machtgehalt derſelben ausſcheiden und
zur Darſtellung bringen. Jedes Recht iſt ein Stück concret ge-
wordener und beſtimmt geſtalteter Willensmacht; nur die Ver-
hältniſſe ſind juriſtiſche und nur ſoweit ſind ſie es, als in ihnen
dieſer Beſtandtheil ſich findet; was ſie ſonſt noch enthalten an
andern Stoffen, an ſittlichen, politiſchen, ökonomiſchen Ideen
u. ſ. w., kommt für die juriſtiſche Betrachtung gar nicht in
Betracht. Wenn die Römer nun die Rechtsverhältniſſe von
vornherein unter dieſem excluſiven juriſtiſchen Geſichtspunkt
auffaßten, ſo finde ich den Grund davon in unſerm Macht- und
Freiheitstriebe, in der Gewalt, die der Gedanke der Herrſchaft
auf das römiſche Gemüth ausübte, in der Einſeitigkeit und
Energie, mit der ſie ihn als letzten Endzweck überall verfolgten.
Ich meine nicht, als ob es nicht höhere Endzwecke gebe, als die-
ſen römiſchen — aber was die Römer bei Verfolgung desſelben
gefunden, das darf und ſoll der Welt zu gute kommen. Ob es
niedrige Gewinnſucht war, die den Handel in ferne Länder und
zu neuen Entdeckungen führte, was gilt es uns? die Entdeckung
ſelbſt werden wir darum nicht verſchmähen. So möchte der
Höhepunkt der römiſchen Sittlichkeit noch ſo tief liegen, un-
gleich tiefer, als ich ihn im bisherigen angenommen habe, er
lag aber gerade in der richtigen Höhe, daß man von hier aus
eine Entdeckung machen konnte und mußte, die man von einem
wirklich oder vermeintlich höheren Punkte aus nicht gemacht
haben würde — die Entdeckung des Privatrechts. Dieſe
Errungenſchaft kann und ſoll jedes Volk ſich zu Nutze machen,
ohne im übrigen auch nur die geringſte Aehnlichkeit mit den
Römern zu haben. Nur mißverſtehe man mich nicht. Es iſt
neuerdings die Behauptung aufgeſtellt, das römiſche Recht ſei
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 20
[306]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
das abſolute Recht. 468) Das iſt eine arge Uebertreibung, bei
der eine richtige Ahnung zu Grunde liegen mag. In dem römi-
ſchen Recht ſowohl der gegenwärtigen wie der folgenden Periode
ſteckt viel national Römiſches, und die Oppoſition, die dies
Recht von jeher erfahren hat, iſt namentlich hierdurch veranlaßt
und meiner Anſicht nach inſoweit durchaus berechtigt. Um das
Privatrecht zu gewinnen, haben wir das römiſche recipirt,
es wäre aber falſch zu glauben, als ob die hiſtoriſche Form, in
der der abſolut richtige Gedanke zuerſt zur Welt kam, gleichfalls
die abſolute wäre und ihn ſelbſt für ewige Zeiten bedingte. Der
abſolut richtige Gedanke iſt: alle privatrechtlichen Verhältniſſe
ſind Machtverhältniſſe, Willensmacht iſt das Prisma der privat-
rechtlichen Auffaſſung, und die ganze Theorie des Privatrechts
hat nur die Aufgabe, das Machtelement in den Lebensverhält-
niſſen aufzudecken und zu beſtimmen. Das Römiſche und mit-
hin Vergängliche iſt das Maß und die Ausdehnung, in der die
Römer die Macht innerhalb der verſchiedenen Verhältniſſe zu-
gelaſſen haben. Ich will beide Behauptungen noch einer nähe-
ren Betrachtung unterwerfen.


Jener erſte Satz iſt weit entfernt ſich der allgemeinen Zu-
ſtimmung zu erfreuen. Es gereicht unſerem wiſſenſchaftlichen
Bewußtſein gerade nicht zur Ehre, daß eine Wahrheit, die der
einfache geſunde Menſchenverſtand in Rom längſt entdeckt hatte,
von Manchen nicht bloß aus den Augen verloren, ſondern ge-
radezu als Irrthum und als ein Mangel des römiſchen Rechts
bezeichnet werden konnte. Man hat letzterem nämlich den Vor-
wurf gemacht, daß es bei der Conſtruction ſeiner Rechtsver-
hältniſſe das ſittliche Moment ganz außer Acht gelaſſen und
nennt es Romaniſiren, wenn man bei den deutſchrechtlichen
Verhältniſſen dieſelbe Methode befolgt. Ein ſolcher Tadel
bezweckt geradezu die Negation jeder Jurisprudenz, denn das
[307]C. Hiſtor. Bedeutung d. Syſtems. — Entdeckung d. Privatrechts. §. 36.
Weſen der letzteren beſteht gerade darin, daß ſie von allem Nicht-
juriſtiſchen in den Verhältniſſen abſtrahirt, und Nicht-juriſtiſch
iſt alles, was auf den Geſichtspunkt der Macht nicht reagirt.


Daß ganz verſchiedenartige Ideen und Rückſichten bei der
legislativen Geſtaltung eines Herrſchaftsverhältniſſes mitwir-
ken können z. B. die Rückſicht auf das öffentliche Wohl, die
Sittlichkeit u. ſ. w., wird Niemand läugnen, aber juriſtiſch ge-
ſprochen beſteht dieſer Einfluß nicht darin, daß ſie in das In-
nere des Verhältniſſes eine fremdartige Subſtanz brächten, den
Inhalt deſſelben qualitativ zu etwas anderem machten, als
Willensmacht, ſondern daß ſie, ſo zu ſagen, von außen ge-
gen die Wände des Rechtsverhältniſſes drücken und dadurch den
Machtgehalt deſſelben beſchränken, die Herrſchaft mehr oder
weniger comprimiren. Wie ſehr immerhin die ſittliche Auf-
faſſung eines und deſſelben Inſtituts zu verſchiedenen Zeiten
variirt, wie ſehr dieſe Verſchiedenheit in der rechtlichen Geſtal-
tung des Inſtituts ſich verwirklicht haben mag — vom juriſti-
ſchen Standpunkte aus dürfen wir dieſer Thatſache keinen andern
Ausdruck geben, als: der Machtgehalt des Inſtituts war
hier ein weiterer, dort ein geringerer
. Die Unter-
ſchiede alſo z. B. zwiſchen der Vormundſchaft, dem Verhältniß
des Vaters zu den Kindern, des Mannes zur Frau u. ſ. w. im
ältern römiſchen und heutigen Recht reduciren ſich, wenn man
ſie juriſtiſch bezeichnen will, auf eine quantitative Differenz in
dem Machtgehalt jener Verhältniſſe und die Begründung einer
gegenüberſtehenden Macht (des Mündels, Kindes, der Frau); es
heißt wie ein Laie ſprechen, wenn man ſagt, daß jene Verhält-
niſſe nicht mehr Gewaltverhältniſſe ſeien, der nüchterne Gedanke
der Macht hier vielmehr irgend einem edlern das Feld geräumt
oder ſich mit ihm zu irgend einem höhern, den Römern unbe-
kannten, verbunden habe.


Man laſſe ſich dadurch nicht täuſchen, daß der Zweck des
Verhältniſſes nicht immer in dem ſelbſtnützigen Genuß der
Macht beſteht. Der Beamte hat ſeine Macht nicht ſeinetwegen,
20*
[308]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſondern im Intereſſe des Staats, aber wer würde ihm die Macht,
ſoweit ſie reicht, darum abſprechen? So ſollte der altrömiſche
Vormund das Beſte ſeines Mündels verſehen, und es war
dafür geſorgt, daß er es mußte (postulatio suspecti tutoris,
actio rationibus distrahendis,
Infamie 469)) und trotzdem ward
die Tutel als jus ac potestas in capite libero definirt. So
mag alſo auch das heutige Recht dem Vater eine Gewalt über
die Kinder nur im Intereſſe ihrer Erziehung anvertrauen und
durch Veranſtaltungen verſchiedener Art dafür ſorgen, daß er
ſie nur in dieſem Sinne benutze; dadurch iſt das Recht des
Vaters zu der römiſchen patria potestas allerdings in einen
merklichen Gegenſatz getreten, allein es läßt ſich doch nicht an-
ders definiren, als eine Macht, die ſich ſo und ſo weit erſtreckt,
dieſen und jenen Beſchränkungen ausgeſetzt iſt u. ſ. w.


So viel zur Begründung meiner erſten Theſis. Was nun
die zweite anbetrifft, ſo geht aus dem bisherigen hervor, daß die
Ausdehnung, die das ältere Recht der ſubjektiven Macht einge-
räumt hat, für die Hauptfrage ſelbſt gleichgültig iſt. Für die
Charakteriſtik des ältern Rechts dagegen iſt dies Moment aller-
dings ein höchſt intereſſantes. Wenn wir den Gedanken der Macht
als das eigentlich privatrechtliche Prinzip haben kennen lernen,
ſo dürfen wir das ältere Recht den Triumph der abſtracten
Privatrechts-Idee nennen. Jener Gedanke hat ſich hier einmal
in ſeiner ganzen Einſeitigkeit und Ungebundenheit verſuchen,
ſich ſelbſt von Seiten ſeiner praktiſchen Möglichkeit auf die
Probe ſtellen wollen, man möchte es die Keckheit und Friſche
eines neuen hiſtoriſchen Gedanken nennen. Daß jener Ver-
ſuch gelang, hatte in Vorausſetzungen ſeinen Grund, die ſich
in Rom fanden, aber nicht überall wiederholen. Beides, dieſe
Vorausſetzungen wie die praktiſche Möglichkeit einer ſo exceſſi-
ven Verfolgung der Macht, iſt ſpäter hinweggefallen — es
[309]C. Hiſtor. Bedeutung d. Syſtems. — Entdeckung d. Privatrechts. §. 36.
war das ſpecifiſch Römiſche, das der Zeit Angehörige, das mit
der Zeit abſterben konnte und mußte, ohne daß damit auch die
reife und unvergängliche Frucht der Nachwelt verloren zu gehen
brauchte. Die relative Nothwendigkeit dieſer Einſeitigkeit will
ich damit nicht in Abrede ſtellen. Wo ein großer Gedanke ent-
deckt und zur praktiſchen Exiſtenz und Herrſchaft gebracht wer-
den ſoll, iſt ein ſchroffes und einſeitiges Auftreten nicht bloß
verzeihlich, ſondern nicht ſelten ein nothwendiges Mittel zum
Zweck. Der ſpätern Zeit bleibt es vorbehalten und fällt es
nicht ſchwer, die Uebertreibung auf das rechte Maß zurückzu-
führen. Ob bei einem Volk, wo der Gedanke der Macht von
vornherein in maßvoller, beſcheidener Geſtalt aufgetreten, je
die Entdeckung gemacht worden wäre, daß das ganze Privat-
recht nichts iſt, als das Syſtem dieſer Macht — ich laſſe es
dahin geſtellt. Daß aber die Römer bei dem ganzen Trotz und
Uebermuth, mit dem dieſer Gedanke ſich bei ihnen verwirklichte,
ihn fanden — das, meine ich, kann uns kaum Wunder nehmen.


Schlagen wir übrigens das Verdienſt dieſer Leiſtung nicht
zu gering an. Es kam nicht bloß auf das einmalige Finden
und Abſtrahiren an, ſondern auf ein fortgeſetztes Pflegen und
Vertheidigen des Gefundenen. Das Leben iſt den juriſtiſchen
Abſtractionen keineswegs günſtig. Denn die Geſtalt, in der die
Verhältniſſe im Leben auftreten, und nach der folglich die vul-
gäre Auffaſſung derſelben ſich beſtimmt, iſt oft eine ganz an-
dere, als ſie dem abſtracten Recht nach ſein könnte, und iſt
die juriſtiſche Auffaſſung hier nicht ſtets auf ihrer Hut, ſo
kommt ſie leicht in Gefahr, die Wirklichkeit und Sitte mit dem
Recht zu verwechſeln, wie die vulgäre Auffaſſung es thut. Die
ſtrenge Unterſcheidung zwiſchen Sitte und Recht iſt einer der beſten
Prüfſteine für die juriſtiſche Begabung der verſchiedenen Völker
und Zeiten, denn ſie ſetzt eine unabläſſige Thätigkeit und Anſpan-
nung des Abſtractionsvermögens und eine geiſtige Freiheit und
Unabhängigkeit von der äußern Erſcheinung voraus. Wo dieſer
Unterſchied ſcharf erfaßt und praktiſch gehandhabt wird, wie
[310]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
im römiſchen Recht, iſt damit die Bildung des Gewohnheits-
rechts ſehr erſchwert; wo es nicht der Fall, im Halbdunkel alſo
zwiſchen Recht und Sitte, findet umgekehrt das Gewohnheits-
recht ein ungehindertes, üppiges Gedeihen. Dieſer Punkt, den
ich hier berühre, bezieht ſich zwar nicht ausſchließlich auf das
Syſtem der Freiheit, und iſt in ſeinen anderweitigen Beziehun-
gen bereits an verſchiedenen Stellen zur Sprache gebracht,
allein die Bedeutung deſſelben für die Frage, die uns gegen-
wärtig beſchäftigt, iſt doch eine ſo hohe, daß ich noch etwas
länger bei ihm verweilen muß.


Wir haben früher öfters Gelegenheit gehabt, die Differenz
der abſtracten Freiheitsformen und ihrer juriſtiſchen Auffaſſung
auf der einen, und der realen Erſcheinung derſelben und ihrer
natürlich-ſittlichen Auffaſſung im Leben auf der andern Seite an-
zugeben. Verlegen wir nun, wie meiner Meinung nach gar nicht
anders möglich iſt, unſer abſtractes Freiheitsſyſtem in den An-
fang der römiſchen Rechtsgeſchichte, ſo haben wir die frappante
Erſcheinung, daß daſſelbe viele Jahrhunderte lang im weſent-
lichen unverändert aufrecht erhalten worden iſt, ungeachtet
— und dies iſt das Entſcheidende — die faktiſche Erſchei-
nung deſſelben in der Sitte eine ſo völlig an-
dere war
. Wie auch im Leben die verſchiedenen Gewalten
des öffentlichen und Privatrechts ſich praktiſch geſtalteten, welche
Bahnen ſie inne zu halten pflegten und faktiſch innehalten
mußten: die abſtracte Auffaſſung erblickte darin nur etwas
Faktiſches. Zwiſchen dem abſtracten Recht und dem thatſäch-
lichen Leben, zwiſchen der abſtract-rechtlichen und natürlich-
ſittlichen Auffaſſung alſo eine ungeheure Kluft!


In unſerer deutſchen Rechtsentwickelung iſt der Uebergang
des Thatſächlichen zum Rechtlichen ein ſehr leichter geweſen;
die Sitte, vom Recht wenig unterſchieden, ward unvermerkt
zum Recht. In Rom hingegen blieb die Sitte, mochte ſie auch
Jahrhunderte lang beſtanden haben, darum doch, was ſie war,
bloße Sitte. Die Beſchränkungen, die ſie auferlegte und prak-
[311]C. Hiſtor. Bedeutung d. Syſtems. — Entdeckung d. Privatrechts. §. 36.
tiſch durchſetzte, die Geſtalt, die ſie den reinen Rechtsinſtituten
gab, die poſitiven Inſtitute, die ſie ſelbſt hervorgebracht hatte
— alles das waren Thatſachen, die jeder kannte und reſpek-
tirte, denen man aber trotz alle dem eine rechtliche Bedeutung
fortwährend verſagte. So konnte denn der abſtract-rechtliche
Zuſchnitt der Gewaltverhältniſſe Jahrhunderte lang in ſeiner
Urſprünglichkeit und begrifflichen Reinheit unverändert erhal-
ten werden. Was auch das Leben aus ihnen machte, wie auch
ihr praktiſches Verhalten und die ſittlichen und politiſchen
Ideen, ſo wie die thatſächlichen Gewalten, die ſie in dieſem
Verhalten beſtimmten, wechſeln mochten — der abſtracte Be-
griff blieb, ſoweit nicht das Geſetz eine Aenderung traf, über
allen Wechſel erhaben, immer derſelbe. Für das Leben hatte
dieſe ſtarre Unveränderlichkeit des abſtracten Rechts keinen
Nachtheil, da einerſeits die abſtracten Formen weit genug wa-
ren, um allen Strömungen des Lebens freien Spielraum zu
gewähren, und andrerſeits das Leben ſelbſt einen hinlänglichen
Reichthum an Kräften und Mitteln beſaß, um das, was Noth
that, auch ohne eine Aenderung des Rechts zu erzwingen. Erſt
als dieſe Kräfte ſchwach wurden, ward dieſer Zuſtand unhalt-
bar und das Recht gezwungen, ſich dem zu akkommodiren.
Wie ſehr dieſe frühere Stabilität des Rechts ſeiner Cultur för-
derlich ſein mußte, darüber brauche ich wohl kaum ein Wort zu
verlieren. Die Freiheit, die das Recht dem Subjekt
eingeräumt hatte, hat für letzteres ſelbſt reichliche
Früchte getragen
.


Während nun nach dieſer Seite hin das abſtracte Recht
von der Bewegung innerhalb des Lebens gar nicht berührt
ward, gibt es allerdings Einen Punkt, wo dieſe Bewegung auf
das Recht ſelbſt einen nicht unwichtigen Einfluß äußerte und
einen Niederſchlag von abſtract-rechtlichem Material zur Folge
hatte. Es war dies die rechtliche Produktivität der autono-
miſchen Bewegung des Vermögens-Verkehrs
.


Die autonomiſche Thätigkeit des Verkehrs wird überall das
[312]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
abſtracte Recht ſelbſt bereichern, weniger indem ſie Sätze zu ge-
wohnheitsrechtlicher Geltung bringt, die der äußern Autorität
bedürfen, um zu gelten, als indem ſie Sätze, Begriffe, rechtliche
Mittel und Wege auffindet, die nur von dem juriſtiſchen Be-
wußtſein in Beſitz genommen
zu werden brauchen. Es
iſt, ſo zu ſagen, eine auf Veranlaſſung des praktiſchen Bedürf-
niſſes unternommene Entdeckungsreiſe des Verkehrs auf dem Ge-
biete der Autonomie; was er hier findet, ſind verborgene Parthien
des Rechts ſelbſt, die mit der Autonomie bereits gegeben ſind
— aprioriſch zu beſtimmende Combinationen des Vermögens-
austauſches, in der Natur der Sache gelegene Unterſchiede, kurz
die natürliche Gliederung und innere Logik der Verhältniſſe, in
denen der Verkehr ſich bewegt.


Das ältere Recht hatte den Verkehr im weſentlichen ſich
ſelbſt überlaſſen und zwar in dem Maße, daß es ihm nicht ein-
mal mit ſogenannten dispoſitiven (ſubſidiären, die Autono-
mie ergänzenden) Beſtimmungen zu Hülfe kam. Jedes einzelne
Rechtsgeſchäft, das abgeſchloſſen ward, mußte mithin außer
ſeinem materiellen Inhalt zugleich ſämmtliche Normen aufſtel-
len, nach denen es ſich beurtheilt wiſſen wollte; die lex, leges
contractus
mußten die leges de contractibus erſetzen. Ohne
allen geſetzlichen Anhaltspunkt hätte ſich alſo der Verkehr in
eine endloſe Maſſe verſchiedener Rechtsgeſchäfte zerſplittern kön-
nen, allein es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß einmal
die Gleichmäßigkeit der innern Motive des Verkehrs (der
menſchlichen Bedürfniſſe) mit Nothwendigkeit dahin führt, daß
gewiſſe, im weſentlichen ſich gleich bleibende Grundformen von
Geſchäften ſich wiederholen, und daß andrerſeits das Bedürfniß
und der inſtinktive Zug des Verkehrs nach Ordnung ihn auch
abgeſehen davon zur Innehaltung gewiſſer Bahnen veranlaßt.
So nun auch in Rom. Die Claſſifikation der hauptſächlichſten
Geſchäfte, des Geldgeſchäfts, des Kauf-, Mieth-Contrakts
u. ſ. w. verſteht ſich ſchon für die älteſten Zeiten von ſelbſt,
wenn auch die Form derſelben eine vielfach andere war, als ſpä-
[313]C. Hiſtor. Bedeutung d. Syſtems. — Produktivität der Autonomie. §. 36.
terhin (davon an einer andern Stelle). Für die allmählige ty-
piſche Geſtaltung der verſchiedenen Geſchäfte nach Form und In-
halt, ihre Abrundung und detaillirtere Ausbildung trug eine Ein-
richtung außerordentlich viel bei, zu der der Verkehr in der Bil-
dungsperiode der Rechtsgeſchäfte überall zu greifen pflegt, ich
meine den Gebrauch der Formulare. Für alle Arten von Geſchäf-
ten gab es in Rom beſtimmte, höchſt ſorgfältig ausgearbeitete
Formulare (actiones, leges rerum vendendarum u. ſ. w.), 470)
die durch die fortgeſetzte Probe, welche ſie im Leben zu beſtehen
hatten, und ein ſtets wiederholtes Feilen und Nachbeſſern einen
ſehr hohen Grad der Brauchbarkeit erlangt hatten. Sowie
irgend eine neue Art von Geſchäften aufkam, ward für dieſelbe
ein Formular ausgearbeitet d. h. das Geſchäft von vornherein
in eine beſtimmte geregelte Bahn gewieſen. Da die Benutzung
des Formulars nichts Obligatoriſches hatte, ſondern ganz vom
individuellen Ermeſſen abhing, da ferner die in demſelben ent-
haltenen Stipulationen, mochten ſie auch täglich wiederkehren,
nur als ſubjektiver Willensinhalt in Betracht kommen,
ſo konnte man das rechtliche Material, welches in dieſen For-
mularen aufgeſchichtet war, nicht eigentlich als Beſtandtheil
des Rechts bezeichnen. Wenn dies aber dennoch geſchah (z. B.
das jus Flavianum, Aelianum), ſo begreift es ſich ſehr wohl.
Die Sammlungen von Formularen waren die Vorläufer, Sur-
rogate
und Quellen des dispoſitiven Rechts. In ihnen
war bereits die Aufgabe gelöſt, mit der ſich dieſer Theil des Rechts
zu beſchäftigen hat: die Claſſifikation der Rechtsgeſchäfte, na-
mentlich die Scheidung der verſchiedenen Verträge und die Er-
findung und richtige Formulirung naturgemäßer Rechtsregeln
[314]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
für die einzelnen Arten derſelben. Als in ſpäterer Zeit die Wiſ-
ſenſchaft und Legislation (namentlich das prätoriſche Recht) ſich
der Ausbildung des dispoſitiven Rechts zuwandten, fanden ſie
in jenen Sammlungen ein reiches Material, von dem ſie Vieles
unverändert aufnehmen konnten, und wir ſind zu der Annahme
befugt, daß das ſpätere Recht dieſe Quelle im vollſten Maße
benutzt hat. Die meiſten Rechtsſätze, die daſſelbe nach dieſer
Seite hin enthält, werden aus den Formularſammlungen hin-
übergenommen ſein — ein Geſichtspunkt, der ſich bereits für
manche Fragen (z. B. beim pact. pignerat.) als fruchtbar be-
währt hat und für manche andere ſich gewiß noch mit Erfolg
wird benutzen laſſen.


Der Sache nach alſo waren die Elemente jenes Rechtstheils
durch die Autonomie des Verkehrs bereits zu Tage gefördert. Es
war dies dieſelbe Bildung des Abſtracten aus dem Concreten her-
aus, für die uns in der dritten Periode die Entwicklungsgeſchichte
des prätoriſchen Rechts ein ſo intereſſantes Beiſpiel liefern
wird. Aus den Atomen der einzelnen, concreten Rechtsgeſchäfte,
die ſich im weſentlichen ſtets in derſelben Form und mit demſel-
ben Inhalt wiederholten, bildete ſich ein abſtracter Nieder-
ſchlag — der Begriff des beſtimmten Rechtsgeſchäfts — ein
Vorgang, den die Sprache durch Bezeichnung deſſelben mit
einem beſtimmten Namen zu markiren pflegte. Das Material,
das auf dieſe Weiſe gewonnen ward, hatte aber, wie ge-
ſagt, in der gegenwärtigen Periode noch keine formell recht-
liche Bedeutung, es war nichts als eine Anweiſung zum
rechten Gebrauch der Autonomie vermittelſt Darlegung der
Zwecke und Wege, die der Verkehr verfolgte, nebſt Angabe der
Form, deren er ſich dabei zu bedienen pflegte. Vom formellen
Rechtsſtandpunkt aus war dies „Pflegen“ des Verkehrs nicht
minder bedeutungslos, wie das der Sitte, d. h. es kam keiner
von den vorräthigen Sätzen ohne ausdrückliche Aufnahme deſ-
ſelben in das einzelne Rechtsgeſchäft zur Anwendung, während
ja das Weſen des dispoſitiven Rechts darin beſteht, daß die
[315]C. Hiſtor. Bedeutung d. Syſtems. — Produktivität der Autonomie. §. 36.
Beſtimmungen deſſelben eine Lücke, die die Autonomie gelaſſen
hat, ergänzen ſollen. Nur in Einem Punkt mag die Thätigkeit
der Autonomie bereits in der gegenwärtigen Periode Nieder-
ſchläge objektiv-rechtlicher Art geliefert haben. Die Wahl der
Ausdrücke, in denen man die weſentlichen Beſtimmungen eines
Rechtsgeſchäfts treffen wollte, war urſprünglich gewiß völlig
frei, es begreift ſich aber, daß der Verkehr die treffendſten und
unzweideutigſten herausſuchte und daß für manche Geſchäfte
gewiſſe Schlagwörter in Gebrauch kamen ſo z. B. bei der Er-
theilung der tutoris auctoritas, der Antretung der Erbſchaft, der
sponsio, vor allem aber bei Anordnung letztwilliger Verfügun-
gen. Wir wiſſen nun aus Mittheilungen ſpäterer Juriſten, daß
der Gebrauch dieſer Schlagwörter zu ihrer Zeit obligatoriſcher
Art war, ſo daß alſo die unterlaſſene Benutzung derſelben Nich-
tigkeit des Geſchäfts begründete. An eine Aufſtellung dieſes Re-
quiſits durch Geſetz wird Niemand denken; es war alſo ein
Werk des Verkehrs, und wir dürfen dieſen Vorgang unbedenk-
lich in die ältere Zeit verlegen und ihn uns in folgender Weiſe
erklären. Eine an den Worten klebende, ängſtliche Interpreta-
tion mochte die auf Abſchließung eines beſtimmten Geſchäfts
gerichtete Abſicht in Zweifel ziehen, wenn ſie die Ausdrücke ver-
mißte, deren man ſich regelmäßig bei dieſem Geſchäft bediente;
das beſtimmte Wort galt ihr als Merkmal des beſtimmten
Willens. Hieraus ergab ſich denn für den Verkehr die praktiſche
Nothwendigkeit einer Benutzung des Worts; dem Erfolg
nach
hatte alſo die Interpretation damit eine wirkliche Rechts-
norm durchgeſetzt.


Der Geſichtspunkt, von dem aus wir im bisherigen die
Bedeutung unſeres Syſtems zu beſtimmen verſucht haben, war
der abſtract-juriſtiſche, und nach dieſer Seite hin haben wir un-
ſerem Syſtem eine unvergängliche und univerſalhiſtoriſche Be-
deutung vindiciren müſſen. Es bleibt uns jetzt noch übrig, daſ-
[316]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſelbe von Seiten ſeines natürlich-ſittlichen Zuſammenhanges
mit der römiſchen Welt ins Auge zu faſſen. Ich will in
dieſer Beziehung zuerſt des Einfluſſes unſeres Syſtems auf das
römiſche Volk gedenken. Der Quellpunkt unſeres ganzen Sy-
ſtems war die Idee der Perſönlichkeit, das Endziel deſſelben:
der Perſönlichkeit in allen Verhältniſſen des privaten wie des
öffentlichen Lebens die rechtliche Möglichkeit einer freien Ent-
faltung ihrer ſelbſt und aller ihrer Kräfte zu gewähren. Das
ganze Recht war ein praktiſcher Hymnus auf den Werth und
den Beruf der Perſönlichkeit, die Moral deſſelben: Entwick-
lung und Bethätigung der Perſönlichkeit. Dem Römer ward
durch ſein Recht von früh auf die Lehre gepredigt, daß der
Mann dazu da iſt, ſich ſelbſt ſeine Welt zu gründen, ſelbſt
für ſich einzuſtehen, ſelbſt die Entſcheidung zu treffen, daß jeder
der Herr ſeiner Thaten und der Schmied ſeines Glückes iſt.
Für einen ſchwachen Charakter war die römiſche Welt nicht ge-
macht. Wer ſich hier mit Erfolg bewegen wollte, dem durfte das
Eiſen im Charakter und die Selbſtändigkeit in der Anſicht nicht
fehlen. So nicht bloß hinſichtlich der Verhältniſſe des öffent-
lichen, ſondern ebenſowohl hinſichtlich der des Privatrechts.
Uns heutzutage beſchirmt und beſchützt das Recht von der Ge-
burt an bis zum Tode; es verſchafft uns das Vermögen der
Eltern, indem es ſie zwingt, uns daſſelbe zu hinterlaſſen, es
bewahrt uns daſſelbe wider unſern Willen bis zur erreichten
Volljährigkeit, es gewährt uns Hülfe, wenn wir uns haben
betrügen oder zwingen laſſen, und macht es uns möglich, unſere
eignen wie fremde Handlungen, die uns nachtheilig geworden
ſind, anzufechten, Verſehen, Verſäumniſſe ungeſchehen zu ma-
chen. Von alle dem iſt im ältern römiſchen Recht keine Spur.
Wer ſich hat zwingen laſſen, trägt ſelbſt die Schuld — der
Mann läßt ſich nicht zwingen; etiamsi coactus, attamen vo-
luit.
471) Wer betrogen iſt, gleichfalls; denn der Mann, wie ihn
[317]C. Hiſt. Bedeutung d. Syſtems. — Einfluß auf d. Volkscharakter. §. 36.
das Recht will und im Auge hat, ſieht ſich vor; ihn betrügt
man nicht. Ebenſo begeht er keine Verſäumniſſe und ficht ſeine
eignen Handlungen nicht an und darum auch keine fremden:
jus civile vigilantibus scriptum est.472) Mit der Pubertät wird
Jeder Herr ſeines eignen Vermögens, die Schutzanſtalten der
Cura und restitutio in integrum ſind dem alten Recht unbe-
kannt, die lex Plaetoria gehört erſt dem Ende des fünften Jahr-
hunderts an. Das heißt aber nichts anderes, als die ſpätern
Römer wurden ſpäter ſelbſtändig, als die früheren — eine Er-
ſcheinung, die nichts auffälliges hat, denn die Cultur und Ci-
viliſation verzögert den Eintritt der praktiſchen Reife. Wer
mannbar iſt, iſt in alter Zeit auch Mann und hat die nöthige
Selbſtändigkeit, um ins praktiſche Leben zu treten; hätte er ſie
nicht gehabt, ſo würde das alte Recht ihn anders behandelt
haben. Ich werde bei der Theorie des ſubjektiven Willens noch
Gelegenheit haben, Nachträge zu liefern, namentlich zu zeigen,
wie ſehr das ganze ältere Recht auf das eigne Handeln des
Subjekts berechnet war, und will vorläufig ſchon hier darauf
verweiſen.


Daß nun ein Recht dadurch, daß es überall eine männliche
Selbſtändigkeit vorausſetzt, dieſe Eigenſchaft im Volk unterhal-
ten und erzeugen muß, bedarf wohl kaum der Bemerkung.
Wenn die Geſchichte Roms eine ſo beneidenswerthe Menge her-
vorragender Perſönlichkeiten und grandioſer Charaktere aufzu-
weiſen hat, ſo werden wir den letzten Grund davon allerdings
nicht in irgendwelchen Einrichtungen, die ja ihrerſeits nichts
als Produkte des Volksgeiſtes ſind, ſondern in dem römiſchen
Volk ſelbſt zu ſuchen haben. Aber den Einfluß der äußeren Ein-
richtungen auf die Befeſtigung der nationalen Sinnesweiſe, die
Ausbildung und Steigerung der angebornen Anlage werden
wir darum nicht minder zugeſtehen müſſen. Hätte die römiſche
Kraft, Selbſtändigkeit, Charakterfeſtigkeit ſich nicht durch per-
[318]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſönlichen Contakt von einer Generation auf die andere vererbt,
hätten dieſe Eigenſchaften mit irgendeiner Generation unter-
gehen können — ich glaube, ſie hätten zum großen Theil aus
dem Recht, aus dem Vorrath gebundener römiſcher Kraft, der
in ihm ſteckte, ſich wieder neu erzeugen können. Einen Nicht-
römer, der in dies Recht hineintrat, mußte es anwehen mit
friſchem, ſtärkendem Hauch. Die Luft, die in dieſem Recht
herrſchte, war geſchwängert mit römiſcher Stärke, und wer ſie
dauernd einathmete, auf den ging unvermerkt etwas von einem
Römer über. Den Verfall der römiſchen Kraft vermochte freilich
das Recht nicht abzuwenden, weil überhaupt keine Einrichtung
den Geiſt, aus dem ſie hervorgegangen iſt, dauernd bannen
kann. Aber nichts deſto weniger bleibt es wahr, daß das Recht,
indem es die genannten Eigenſchaften zu Poſtulaten des
praktiſchen Lebens
erhob, der Fortdauer derſelben bedeu-
tenden Vorſchub geleiſtet hat.


Noch eine andere römiſche Eigenſchaft iſt es, die aus unſe-
rem Freiheitsſyſtem ihre Hauptnahrung zog und ſich täglich an
ihm verjüngte, ich meine den römiſchen Stolz und das Gefühl
der Würde eines römiſchen Bürgers. Wenn der Römer mit
Stolz auf andere Völker ſah, ſo ſtützte ſich dieſer Stolz nicht
bloß auf das Gefühl der Ueberlegenheit römiſcher Kraft und
das Uebergewicht des römiſchen Staats nach außen hin, ſondern
ebenſo wohl auf die rechtliche Stellung des römiſchen Bürgers
im Innern; nicht minder auf den Klang und die Wirkung, die
die Worte: civis Romanus sum daheim, als die ſie im Aus-
lande hatten. Ein angeſehener Römer durfte ſich mächtiger
und feſter in dem Beſitz ſeiner Macht dünken, als mancher
König der damaligen Zeit, und ſelbſt dem Geringſten gewährte
ja die Verfaſſung einen gewiſſen Antheil am Weltregiment.
Aber höher als alle politiſche Macht und Berechtigung ſtand
doch die rechtliche Sicherheit und Unverletzbarkeit der Perſon,
die Herrſchaft über das Haus und die Unantaſtbarkeit der er-
worbenen Rechte. Daß die Würde und das Recht der Perſön-
[319]C. Hiſtor. Bedeutung des Syſtems. — Reife zur Freiheit. §. 36.
lichkeit in Rom in einer Weiſe praktiſch anerkannt und geſchützt
war, wie ſonſt nirgends, daß die Baſis der ganzen perſönlichen
Exiſtenz, das Recht, eine felſenfeſte war, und jeder Römer ſich
innerhalb des Fleckes Erde, der ihm hier beſchieden, abſolut
ſicher und als unumſchränkter Gebieter betrachten durfte — das,
meine ich, war das Werthvollſte und Schönſte, deſſen ein Rö-
mer ſich rühmen konnte.


Der Stolz, den die Freiheit verleiht, iſt ein durchaus be-
rechtigter, denn er iſt nicht ein Stolz auf den bloßen Beſitz oder
Genuß derſelben, ſondern auf das eigne Verdienſt. Die Frei-
heit iſt bekanntlich kein Geſchenk der Götter, ſondern ein Gut,
das jedes Volk ſich ſelbſt verdankt und das nur bei einem ge-
wiſſen Maß moraliſcher Kraft und Würdigkeit gedeiht. Mit
der bloßen Liebe zur Freiheit iſt es nicht gethan; ſelbſt wenn
dieſe Liebe, wie es nicht anders ſein kann, eine werkthätige und
opferfähige iſt, ſo geſellt ſich noch ein anderes weſentliches Re-
quiſit hinzu — die Kunſt, die Freiheit zu gebrauchen, und dieſe
Kunſt iſt eine ſehr ſchwere. Denn das erſte Gebot derſelben iſt
Mäßigung. Kein Gut reizt ſo ſehr zur Unmäßigkeit und geht
ſo leicht und ſo unausbleiblich dadurch verloren, als gerade das
höchſte, die Freiheit. Der Begriff der politiſchen Reife und
Unreife der Völker iſt unſerer heutigen Zeit ſehr geläufig, aber
man ſetzt denſelben viel zu ſehr in die intellektuelle Bildungs-
ſtufe der Völker und viel zu wenig in die moraliſche Qualifica-
tion derſelben. Handelte es ſich bloß um ein intellektuelles Ver-
ſtändniß der Freiheit, ſo müßten die gebildetſten Völker die
höchſte Reife zur Freiheit beſitzen, während umgekehrt das Stei-
gen der Cultur und Civiliſation nicht ſelten mit der Abnahme
jener Reife verbunden iſt, wie z. B. in Rom ſelbſt.


Dieſe moraliſche Qualifikation des ältern römiſchen Volks
zur Freiheit kann ich nun nicht genug betonen. Unſer ganzes
Syſtem ſtand und fiel mit ihr:
Moribus antiquis stat res Romana virisque.
Der Verfall der römiſchen Sittlichkeit war zugleich der Ver-
[320]Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
fall der römiſchen Freiheit. Die praktiſche Möglichkeit aller
Freiheitsverhältniſſe ſowohl des öffentlichen als des Privat-
rechts war bedingt dadurch, daß der rechte Geiſt ſie be-
ſeelte; ſowie dieſer Geiſt wich, ſowie die Willkühr, Laune,
Zuchtloſigkeit ſich ihrer bemächtigte, hatten ſie ihren Sinn und
ihre Berechtigung verloren, und an die Stelle des freien Gei-
ſtes, der ſich nicht beſchwören ließ, trat überall das Geſetz
und die Beſchränkung. Darum darf, wer ein Urtheil über das
Freiheitsſyſtem der alten Zeit fällen, wer den Sinn und Zweck
der Inſtitute deſſelben begreifen will, keinen Moment die alte
Sittlichkeit und die ganze Zeit außer Augen laſſen. Die alte
Sitte iſt der unentbehrliche Schlüſſel zum Verſtändniß des alten
Rechts; zeigt uns letzteres die abſtracte Freiheit, ſo erſtere die
Selbſtbeſchränkung der Freiheit, und dieſe Selbſt-
beſchränkung war eine ſtillſchweigende Vorausſetzung des gan-
zen Rechts. Wenn einſt Tacitus es an den alten Germanen
pries, daß die Sitte bei ihnen mehr vermöchte, als anderwärts
die Geſetze, ſo dürfen wir daſſelbe Lob auch für die alten Rö-
mer in Anſpruch nehmen — weil ſie ſich ſelbſt ein Geſetz waren,
konnten ſie in ſo vielen Punkten der Geſetze entbehren. Das
ältere Recht hat die Anlegung des ſittlichen Maßſtabes nicht zu
ſcheuen; nur vergeſſe man dabei nicht, daß die alte Freiheit,
durch und durch bedingt und moderirt wie ſie war, durch die
thatſächlichen Vorausſetzungen, die ſie in Rom vorfand, nur
aus dem Leben heraus verſtanden werden kann. Wer dieſen
Geſichtspunkt feſthält, der wird nicht umſonſt nach dem „ſittli-
chen Geiſt“ der altrömiſchen Einrichtungen ſuchen, während
dieſer Geiſt allerdings demjenigen, der ohne eine Anſchauung
römiſchen Lebens, römiſcher Denkart und Sinnesweiſe ſich an
die Aufgabe gewagt hat, niemals erſcheinen wird.


[][][]
Notes
*)
Die Ueberſicht über das Syſtem des zweiten Buchs findet ſich auf S. 7 und 8.
Ich würde dies Inhaltsverzeichniß des zweiten Bandes bis zum Erſcheinen der zweiten
Abtheilung aufſchieben, wenn ich nicht glaubte, daß es manchem Leſer wünſchenswerth
ſein dürfte, ſich einen Ueberblick über die erſte Abtheilung zu verſchaffen. Das vollſtändige
Inhaltsverzeichniß wird am Ende des zweitens Bandes ſeinen Platz finden, und das vor-
ſtehende hat alſo nur eine interimiſtiſche Beſtimmung.
1).
Es iſt nicht meine Schuld, wenn das Verhältniß der von mir in die-
ſem Werk verfolgten Aufgabe zu der der römiſchen Rechtsgeſchichte nicht Je-
dem klar geworden iſt z. B. nicht meinem Recenſenten in den Heidelb. Jahr-
büchern (Herrn Brackenhoeft). Ich habe jenes Verhältniß in der Einleitung
möglichſt deutlich angegeben, für den genannten Herrn ſcheint aber noch ein
höherer Grad von Deutlichkeit nöthig zu ſein, als man ihn füglich, ohne
ſeine Leſer zu beleidigen, anwenden darf.
2).
Daß die Bemerkung im Text auch auf den Prozeß Anwendung findet,
braucht wohl nicht erſt bemerkt zu werden. Der Kriminalprozeß hat freilich
durch die bekannten Reformen der Gegenwart ein anderes Aeußere bekommen,
aber noch vor kurzer Zeit führte er ſowohl wie noch heutzutage der Civilpro-
zeß eine bloß papierne Exiſtenz. Auf dem Papiere begonnen, auf dem Papiere
entſchieden boten beide kein dramatiſches Moment dar und traten ſichtbar nur in
ihren Wirkungen hervor. Man hätte der Juſtiz ſtatt des Schwertes eine Feder
zum Attribut geben mögen, denn einem Vogel waren die Federn kaum nöthi-
ger, als ihr, nur daß ſie bei ihr die entgegengeſetzten Wirkungen hervorbrach-
ten, die Schnelligkeit im umgekehrten Verhältniß zum Federn-Aufwand ſtand.
3).
Puchta Inſtitutionen Bd. 2 §. 158.
4).
Gneiſt (Die formellen Verträge des neuern römiſchen Obligationen-
rechts S. 483—485) hat mit Recht auf den Gegenſatz aufmerkſam gemacht,
den in dieſer Beziehung das griechiſche Recht bildet, „deſſen üblichſte Form
(Deponirung verſchloſſener Urkunden) offenbar darauf berechnet war, das Ge-
ſchäft nöthigenfalls den Augen Dritter zu verbergen.“
5).
Als einzelnes Beiſpiel möge noch genannt ſein die bei der Bürgſchaft
vorgeſchriebene Oeffentlichkeit; ſ. Gajus III §. 123: praedicat palam et de-
claret et de qua re satis accipiat et quot sponsores aut fidepromissores
in eam obligationem accepturus sit.
6).
Die Einführung ſchriftlicher Teſtamente, mittelſt deren eine Verheim-
lichung des letzten Willens möglich ward, gehört meiner Anſicht nach der ſpä-
tern Zeit an. Für dieſe Anſicht berufe ich mich hier nur auf die Herrſchaft der
Oeffentlichkeit in dieſem Syſtem. Die tabulae des Teſtaments paſſen in die
ältere Zeit ebenſowenig, als die tabellae bei der Abſtimmung in den Comi-
tien. Eine weitere Begründung würde hier zu weit führen.
7).
Dieſer Geſichtspunkt wird im Titel 16 §. 1 der Novellen Theodos II
(Hänel Novellae constitutiones imperatorum etc.
S. 61) ausdrücklich an-
erkannt. Die Compilatoren Juſtinians haben dieſen Paſſus bei ihrem Auszuge
in der L. 21 Cod. de test. (6. 23) weggelaſſen. Natura, heißt es dort, ta-
lis est hominum, ut quosdam diligant, alios timeant, quibusdam sint
officiosae gratiae debitores, alios suspicentur, quorundam fidem intelli-
gant eligendam, aliis nihil credendum existiment, nec tamen au-
deant, de singulis quae sentiant, confiteri. Ideo
veteres
testamenta scripta testibus offerebant oblatarumque eis tabularum per-
hiberi testimonium postulabant. Sed .... eo res processit, — ut dum
sua quisque nonnunquam judicia publicare formidat,
dum testibus testamenti sua non audet secreta commit-
tere, ne suis facultatibus inhiantes offendat, intesta-
tus mori, quam sua mentis arcana periculose patiatur
exprimere
.
8).
Schon dem Auguſt wurde ein ähnlicher Streich geſpielt, wie Valerius
Maximus lib. III c.
8 §. 6 mittheilt, woſelbſt noch mehre derartige ächte
Schurkenſtreiche berichtet werden.
9).
Mit dem vielleicht auch die für die Bürgſchaft im ältern Recht vorge-
ſchriebene öffentliche Verkündigung zuſammenhängt. S. Note 5.
10).
Wohl zu beachten die Formen, die rechtlich nöthig waren. Das
römiſche Leben kannte eine Menge Formen, denen jene Bedeutung nicht zu-
kam; um ein Beiſpiel anzuführen, ſo waren die Eingehung und Aufhebung
der Ehe ſpäterhin nicht an die Beachtung der Hochzeitsgebräuche, beziehungs-
weiſe die Zurückgabe und die Zurückforderung der Schlüſſel gebunden, unge-
achtet man im Leben dieſe Form beobachtete. Von manchen juriſtiſchen Ge-
bräuchen mag uns übrigens auch keine Kunde erhalten ſein.
11).
Es verdiente dieſer Gegenſtand wohl eine neue Bearbeitung. Es
exiſtirt darüber eine Schrift von Everard Otto de jurisprudentia symbolica
exercitationum trias Traj. ad Rhen.
1730, die den Vorläufer eines meines
Wiſſens nicht erſchienenen größeren Werkes bilden ſollte. Für das deutſche
Recht hat Reyſcher in ſeinen Beiträgen zur Kunde des deutſchen Rechts Heft 1
(über die Symbolik des deutſchen Rechts) Tübingen 1833 eine dankenswerthe,
aber der Vermehrung fähige Zuſammenſtellung geliefert.
12).
In §. 27 werden wir darauf zurückkommen.
13).
Ueber die „Unabhängigkeit der Juſtiz oder die Freiheit des Rechts in
England und den Vereinigten Staaten“ exiſtirt eine Broſchüre von einem
Bogen von Franz Lieber (Prof. der Staatsphiloſophie und des Staatshaus-
haltes an der Univerſität von Süd-Carolina) Heidelb. 1848, die manche be-
herzigungswerthe Bemerkungen für das heutige Recht enthält, mir für meine
Zwecke aber gar keine Förderung gewähren konnte.
14).
Indem ich dieſe Bogen zum Druck abſchicke, bringt mir die Tages-
preſſe eine intereſſante Beſtätigung dieſes Urtheils, nämlich ein Bruchſtück
aus einer Rede Stahls über die Aufhebung der Gemeinde-Ordnung vom
11. März 1850, welches nach der Augsb. Allg. Zeitung 1853 Nr. 15 S. 228
alſo lautet: „Die Form der Codifikation zerſtört oder lockert wenigſtens über-
all die feſten ſtetigen Rechtsverhältniſſe, das feſte ſtetige Rechtsbewußtſein;
ſie zerſtört jedenfalls die Naivität des Rechtsbewußtſeins; ſie iſt darum
am ſchädlichſten für die ländliche Bevölkerung, denn wenn dieſe aus ſolcher
Unſchuld geriſſen und zu der Reflexion aufgefordert wird, ob nicht ganz ent-
gegengeſetzte Zuſtände beſtehen könnten, als gegenwärtig, dann iſt für ſie
kein Halt mehr und keine Ehrfurcht vor dem Rechte.“
15).
Eine Bitte, die ich ganz beſonders an meinen geſtrengen bilderſtürme-
riſchen Kritikus an der Moldau gerichtet haben will, der mich im Leipziger
Centralblatt wegen zu unmäßigen Bilder-Verbrauchs in Behandlung genom-
men hat. Um ihm zu zeigen, daß ich, wenn auch zu ſchwach, um die mir ver-
ſchriebene Bilder-Diät oder Enthaltſamkeit inne zu halten, es doch an dem
nöthigen Reſpekt nicht fehlen laſſe, ſo erkläre ich hiermit feierlichſt, daß fortan
bei jedem Bilde, das ich gebrauchen werde, und mithin auch bei dem Wind-
ſtoß im Text, durch den ich ihn vielleicht in höchſt bedenklicher Weiſe erſchreckt
haben werde, mit Rückſicht auf ihn hinzugedacht werden ſoll: mit Erlaubniß
zu ſagen.
16).
Die griechiſche Bezeichnung des Rechts, δίκη (S. B. 1 S. 204
Anm. 114) iſt dieſem Grund und Boden entwachſen.
17).
Liegt dies nicht auch in dem römiſchen Ausdruck Iustitia? Die
Ständigkeit, Selbſtändigkeit des Rechts iſt ja das Ziel der Gerechtigkeit.
18).
Pomponius in L. 2 §. 3 de orig. jur. (1. 2) iterumque coepit
populus Romanus incerto magis jure et consuetudine uti, quam per le-
gem latam.
19).
Puchta Gewohnheitsrecht B. 1 S. 16 ſcheint gerade entgegengeſetz-
ter Anſicht zu ſein, der rechtshiſtoriſchen Compendien, in denen natürlich für
jede Periode die Wirkſamkeit des Gewohnheitsrechts vorausgeſetzt wird, gar
nicht zu gedenken. Puchta meint ſogar, bei den Römern habe der Gegenſatz
zwiſchen geſetzlichem und Gewohnheitsrecht durchaus nicht die Wirkſamkeit
erhalten, welche ihm in unſerer Zeit zu Theil geworden ſei. Wenn er ſich
dafür aber auf die interpretatio beruft, welche nur als eine Fortſetzung des
20).
Gaj. IV. §. 11 … quia legibus proditae erant.
21).
Gaj. IV. §. 11—29. Nur die legis actio per pignoris capionem
ſtand in einem Fall moribus zu, Gaj. IV. §. 27, aber es iſt nicht außer Acht
zu laſſen, daß ſie keine Klage war und nicht einmal vor Gericht vorgenommen
werden mußte, Gaj. ibid. §. 29.
19).
geſchriebenen Rechts betrachtet worden ſei, ſo ſpricht dies eher gegen, als
für ſeine Meinung; und er ſelbſt erkennt (S. 24) auch den „Vorzug des ge-
ſetzlich niedergeſchriebenen Rechts der Zwölf Tafeln an, an welches alles an-
dere Recht angeſchloſſen wurde, wodurch es denn allerdings als ein damit
identiſches anerkannt wurde, andererſeits aber eine ſekundäre Stelle
gegen das geſetzliche
erhielt.“ Wir werden in §. 27 auf die interpre-
tatio
zurückkommen.
22).
Lt eres alſo z. B. nicht dadurch, daß ſpätere Referenten im allge-
meinen von mores majorum ſprechen. Die richtige Art der Widerlegung
wäre die durch Beiſpiele von gewohnheitsrechtlichen Bildungen, die erwieſe-
nermaßen aus dieſer Periode ſtammen (wohin ich die querela inofficiosi nicht
rechne, ſ. drittes Syſtem). Will man mit allgemeinen Quellen-Aeußerungen
operiren, was meiner Anſicht nach zu nichts führt, ſo könnte ich mich z. B.
berufen auf Pomponius, der die Aufhebung des unſichern Ge-
wohnheitsrechts
als Motiv der Zwölf-Tafeln-Geſetzgebung angibt
(L. 2 §. 4 de orig. juris), und für die Zeit nach den Zwölf Tafeln zwar
die interpretatio, nicht aber das eigentliche Gewohnheitsrecht als Beſtand-
theil des Rechts anführt. Er nennt §. 6 drei Beſtandtheile des Rechts: die
XII, die interpretatio und die legis actiones, und bei der Tripertita des Ae-
lius (§. 38)
kehren ſie und nur ſie wieder; von einem Gewohnheitsrecht keine
Rede.
23).
Dem Willen des Volks war hier in der Form eine beſtimmte, feſte
Gränze geſetzt, wie Pomponius ſich in der L. 2 §. 6 de orig. jur. ausdrückt:
quas actiones ne populus, prout vellet, institueret, certas
solennesque esse voluerunt.
Ausſchließung des bloß materiellen formlo-
ſen Volkswillens iſt aber in höchſter Potenz ausgedrückt: Ausſchließung des
Gewohnheitsrechts.
24).
Die Ausſprüche der ſpätern Juriſten über das Gewohnheitsrecht ſind
für die ältere Zeit nicht zu benutzen. Der Grund, mit dem z. B. Julian die
Kraft des Gewohnheitsrechts rechtfertigen will: nam quid interest suffragio
suo populus voluntatem suam declaret an rebus ipsis et factis (L. 32 de
legib.)
charakteriſirt ihn und ſeine Zeit. Zur Blüthezeit des Formalismus
würde kein Juriſt ſo gefragt haben. Den Geiſt jener ſpätern Zeit werden wir
im dritten Syſtem kennen lernen.
25).
Z. B. Livius V. 29.
26).
Auf die Volksgerichte werden wir gleich übergehen. Beiſpiele der
Verurtheilung von Beamten auf Grund ſolcher Handlungen ſ. bei E. Platner
Quaestiones de jure criminum Romano.
S. 14 u. fl.
27).
Liv. XXVI. 3 … quominus seu legibus, seu moribus mallet,
anquireret.
28).
S. hierüber die in Note 26 citirte Schrift von Platner quaest. I und
Geib Geſchichte des römiſchen Kriminalprozeſſes S. 125—128.
29).
Geib a. a. O. S. 126: „Gleich wie nach griechiſchen Rechtsbe-
griffen war es auch in Rom entſchiedener Grundgedanke, daß die Richter in
Criminalſachen nicht bloß Diener des Geſetzes ſeien und als ſolche unter
denſelben ſtünden, ſondern daß ſie zugleich gewiſſermaßen als deſſen Be-
herrſcher betrachtet werden müßten und daher ſo oft dies die Umſtände ver-
langten, ſogar über daſſelbe ſich erhoben, gleichſam die Geſetzgeber für den
einzelnen Fall vorſtellen ſollten.“ S. 127: „Das Volk war nicht bloß überall
der Sache nach Geſetzgeber und Richter, ſondern es vermengte auf dieſe
29).
Weiſe auch ſehr häufig der Zeit nach jene beiden Eigenſchaften, und dieſelben
floſſen eben daher ſo ſehr zuſammen, daß ſie ſelbſt im Begriff ſich kaum von
einander unterſcheiden laſſen.“.
30).
Ein auf gleicher Stufe ſtehendes germaniſches Inſtitut war das der
Eideshelfer, inſofern nämlich als auch in ihm ſich die Trennung zwiſchen That
und Thäter noch nicht vollzogen hatte, die Eideshelfer vielmehr in derſelben
Weiſe, wie das Volk in den judiciis publicis ſtatt der That den Charakter
des Thäters ins Auge faßte, ſtatt der zu beweiſenden Handlung die Glaub-
würdigkeit des Beweisführers beſchworen.
31).
Civem, ſagt Platner a. a. O. S. 8, scire debere ex notione
reipublicae, cui adscriptus est, quae peccata sint fugienda, si in poe-
nam incurrere nolit. Legem hic omnino deesse dici nequit, verum enim
vero lex, qua poena infligitur, est illa omnium civium communis con-
scientia, quae cum uno quoque quasi nascitur et adolescit, ita ut a ne-
mine ignorari possit, qui vinculo reipublicae illigatus teneatur.
32).
In Deutſchland haben entgegengeſetzte Urſachen entgegengeſetzte
Wirkungen zur Folge gehabt, wenigſtens finde ich den Grund, warum das
Kriminalrecht in ſeiner wiſſenſchaftlichen Ausbildung das deutſche Privatrecht
überflügelt hat, vorzugsweiſe in der gemeinrechtlichen Fixirung deſſelben durch
die Carolina.
33).
Der Orient gewährt ſchlagende Belege. S. namentlich die meiſter-
hafte Schilderung des Orients in Hegels Philoſophie der Geſchichte.
34).
Ich bemerke, daß ich mich, was den Unterſchied von Recht und Mo-
ral anbetrifft, zu der Anſicht von Stahl Rechtsphiloſ. 2. Aufl. B. II. Abth. 1
S. 161 bekenne.
35).
Die Verbindung derſelben mit der cenſualen Seite iſt nicht ſo auf-
fällig, als es auf den erſten Blick ſcheinen möchte. Nach dieſer letzten Seite
hin hatte die Cenſur die Statiſtik der Nationalkraft zu ihrem Gegenſtande,
und damit war die Brücke zu ihrer andern Seite geſchlagen, nämlich zu der
Sorge für die Erhaltung der Nationalkraft. Letztere iſt aber nicht bloß phy-
ſiſcher und materieller, ſondern auch ſittlicher Art.
36).
S. Jarke Verſuch einer Darſtellung des cenſoriniſchen Strafrechts
der Römer. Bonn 1824. Cap. 2.
37).
Varro de lingua lat. lib. V. p. 58. Praetorium jus ad legem,
censorium judicium ad aequum aestimabatur.
38).
Es werden Edikte der Cenſoren erwähnt, wodurch gewiſſe Arten des
Luxus unterſagt wurden, Plinius hist. natur. lib. VIII c. 77, 78, 82, lib.
XIII c. 5,
allein daß ſie keine Antwort auf die im Text aufgeworfene Frage
enthalten, brauche ich kaum zu bemerken.
39).
Daß die Religiöſität und Sittlichkeit in Rom ſich gegenüberſtellen
laſſen, darüber habe ich mich ſchon im 1. B. S. 316 ausgeſprochen.
40).
Cicero pro Cluentio c. 42: Majores nostri (animadversionem et
auctoritatem censoriam) nunquam neque judicium nominaverunt, neque
perinde ut rem judicatam observaverunt.
41).
So bedeutend auch der Einfluß des Cenſors, ſo hoch die Achtung war,
deren er genoß, ſo würde er doch nie gewagt haben, die Prätenſion zu erhe-
41).
ben, daß ſeinen Verfügungen rechtliche Wirkſamkeit zuſtehen z. B. ein Kauf-
contrakt über irgend einen Luxusartikel nichtig ſein ſolle, weil er, der Cenſor,
in ſeinen Edikten den Handel mit ſolchen Luxusartikeln verboten habe.
42).
S. z. B. in dem Rechtsfall bei Gellius XIV. 2 die Argumentation
der Beklagten: quod de utriusque autem vita atque factis diceretur,
frustra id fieri atque dici; rem enim de petenda pecunia apud judicem
privatum agi, non apud censores de moribus
.
43).
C. A. Schmidt der prinzipielle Unterſchied zwiſchen dem römiſchen
und germaniſchen Rechte. S. 66, 67. Es iſt vielleicht ſelten ein verkehr-
teres Urtheil über das römiſche Recht gefällt, und bedürfte es für mich einer
Rechtfertigung meines ganzen Unternehmens, ich würde ſie ſchon darin finden
43).
können, daß heutzutage noch ſolche Urtheile möglich ſind. Daß ſie möglich
ſind, iſt inſofern Schuld der Wiſſenſchaft, als ſie dieſe und ähnliche allgemei-
nere Fragen bisher gar nicht zu berühren pflegte, wenn ich gleich damit den
genannten Schriftſteller nicht von aller Schuld frei ſprechen will, denn ſo
ſchwer fällt es in der That nicht, ſich aus den Quellen über dieſe Frage zu
belehren, und bei einer ſolchen Fundamentalfrage hätte das römiſche Recht
dies wohl von ihm erwarten können.
44).
Ich habe bei der folgenden Widerlegung manche Gründe, die ſich uns
im Verlauf der ſpätern Darſtellung noch ergeben werden, gar nicht geltend
gemacht. Ihre Benutzung an dieſer Stelle würde ein näheres Eingehen er-
fordern, als es mit dem Grade der Beachtung, die die Schmidt’ſche Idee be-
anſpruchen darf, im Verhältniß ſtehen würde.
45).
Brisson. de voc. ac. form. Lib. II. c. 19.
46).
Cic. pro Caecina c. 33: Quid est, quod jus non sit, quod populus
jubere aut vetare non possit? Ut ne longius abeam
(d. h. alſo: um nicht
anderer Gründe, deren es mithin gibt, zu gedenken) declarat ista adscriptio
esse aliquid. Nam nisi esset, hoc in omnibus legibus non adscriberetur.
Sed quaero abs te, putesne si populus jusserit, me tuum aut item te meum
servum esse, id jussum ratum atque firmum futurum? Perspicis hoc
nihil esse. Primum illud concedis: non quidquid populus jus-
serit, ratum esse oportere
; pro Balbo c. 13: O jura praeclara
atque divinitus jam inde a principio Romani nominis a majoribus nostris
comparata, ne quis .... invitus civitate mutetur, neve in civitate ma
47).
pro domo c. 29: Scilicet cum hoc juris a majoribus proditum sit,
ut nemo civis Romanus aut libertatem aut civitatem possit amittere,
nisi ipse autor factus sit .... quaero, si aut negasses aut tacuisses
(der
zu Arrogirende bei Vornahme der Arrogation), si tamen id XXX curiae
jussissent, num id jussum esset ratum? Certe non. Quid ita? quia jus
a majoribus nostris, qui non ficte et fallaciter populares, sed vere et
sapienter fuerunt, ita comparatum est, ut civis Romanus libertatem
nemo posset invitus amittere … c. 30: majores nostri … de civitate
et libertate ea jura sanxerunt, quae nec vis temporum, nec potentia ma-
gistratuum, nec res judicata, nec denique universipopuli Romani
potestas
, quae ceteris in rebus est maxima, labefactare possit. c. 40:
Quid? non exceperas, ut si quod jus non esset rogare, ne esset rogatum?
Jus igitur statuetis esse, unius cujusque vestrum sedes, aras, focos,
deos penates subjectos esse libidini Tribunitiae?
48).
Dieſelbe Verwechſlung, die der oben genannte Schriftſteller ſich hier
hat zu Schulden kommen laſſen, brachte vor Jahren Savigny’n wegen ſeiner
Lehre über die Entſtehung des Rechts den Vorwurf der demokratiſchen Ten-
denz ein. S. über dieſe Verwechſlung Stahl Rechtsphiloſ. Aufl. 2. B. 2.
Abth. 1. S. 193.
46).
neat invitus. Haec sunt enim fundamenta firmissima nostrae libertatis,
sui quemque juris et retinendi et dimittendi esse dominum.
49).
Man vergleiche z. B. die bekannte Stelle bei Cicero pro Caecina
c. 26: fundus a patre relinqui potest, at usucapio fundi, hoc est
finis sollicitudinis ac periculi litium non a patre relinquitur, sed a le-
gibus
. Aquae ductus, haustus, iter, actus a patre, sed rata auc-
toritas harum rerum omnium a jure civili sumitur
.
50).
Das Legat war und blieb ſeinem ganzen Betrage nach gültig und
klagbar, aber der Legatar, der ſich die Kürzung deſſelben auf das geſetzliche
Maximum nicht hatte gefallen laſſen, daſſelbe vielmehr zum ganzen Betrage
eingeklagt hatte, mußte zur Strafe dem Erben den vierfachen Werth des
Ueberſchuſſes zahlen.
51).
In der ältern Rechtsſprache bezeichnet Ehe (Bund) bekanntlich das
Recht ſelbſt, aber an ein dadurch ausgedrücktes ſittliches Verhältniß iſt wohl
weniger zu denken, als an die bindende Kraft des Rechts, ähnlich wie bei jus
ſ. B. 1 S. 204.
52).
Aus den Mortalitätstabellen und der mittleren Lebensdauer der Ge-
ſetze ließe ſich alſo, von beſondern Verhältniſſen abgeſehen, ein Schluß auf
die moraliſche, dem Recht innewohnende Kraft machen.
53).
Livius ſagt in der bekannten Stelle III. 34 von dieſem Geſetz: qui
nunc quoque in hoc immenso aliarum super alias acervatarum legum
cumulo fons omnis publici privatique est juris
. Noch zu Ciceros Jugend-
zeit pflegten die Knaben die Zwölf Tafeln auswendig zu lernen (de legib. II.
23), und die klaſſiſchen Juriſten ſchrieben noch zwei Jahrhunderte ſpäter
Commentare zu denſelben.
54).
Der dieſem beſondern Stand zur Ehrenpflicht gemachte Schutz des
54).
Geſetzes kann natürlich auch andern Ständen zu Gute kommen, wovon be-
kanntlich das Mittelalter manche Beiſpiele liefert.
55).
Cum nexum faciet mancipiumve, uti lingua nuncupassit, ita jus
esto.
56).
Uti legassit super pecunia tutelave suae rei, ita jus esto.
57).
L. 4 de colleg. (47. 22) Gajus Lib. 4 ad leg. XII tab. Sodales
sunt, qui ejusdem collegii sunt, quam Graeci
ἑταιϱίαν vocant. His au-
tem potestatem facit lex, pactionem, quam velint, sibi ferre, dum ne
quid ex publica lege corrumpant
.
58).
Nicht alſo als Gewohnheitsrecht, wie Puchta meint, ſondern als
geſetzliches Recht.
59).
Wir werden auf die Jurisprudenz als auf ein weſentliches Element
des römiſchen Rechtslebens im letzten Abſchnitt dieſes Buches: „das Recht
im Leben“ zurückkommen.
60).
Wie das in höherm oder geringerm Grade die Jurisprudenz einer
jeden Zeit thut. Das Recht der Wiſſenſchaft vertritt die Seite der Flüſſigkeit
und Beweglichkeit des Rechts, und Geſetzgeber, die durch das Verbot wiſſen-
ſchaftlicher Verarbeitung des Rechts die Sicherheit deſſelben zu befeſtigen ver-
meinten, haben nicht bedacht, daß der Verkehr ſelbſt, dem ſie damit dienen
wollten, am meiſten unter der Durchführung dieſes Verbots, wenn ſie mög-
lich wäre, gelitten haben würde.
61).
Ich erinnere z. B. an die Einſchränkung des agnatiſchen Erbrechts
der Weiber auf den Grad der consanguineae Gaj. III. §. 14, 23. Ulpian
XXVI. 6. Paul. sent. rec. IV. 8. §. 22: … idque jure civili vo-
coniana ratione videtur effectum; ceterum lex XII tabularum nulla
discretione sexus cognatos admittit
. S. auch L. 120 de V. S. (50. 16)
Verbis legis XII tabularum ....... latissima potestas tributa videtur
… sed id interpretatione coangustatum est vel legum vel auctori-
tate jura constituentium
. Wegen dieſer ihrer nicht weniger produk-
tiven als interpretativen Thätigkeit verdienen denn die Veteres, wie ſie ge-
62).
Es wäre ein verdienſtliches Unternehmen, mit dieſer Rückſicht einmal
die Rechtsſätze des ältern Rechts durchzugehn.
63).
So z. B. bei der usucapio pro herede (Gaj. IV. §. 54: .. olim
ipsae hereditates usucapi credebantur … postea creditum est, ipsas
hereditates usucapi non posse)
hinſichtlich der Annahme eines furtum an
unbeweglichen Sachen, hinſichtlich der Auslegung des Verbots der Uſucapion
von res furtivae.
61).
wöhnlich ſchlechthin heißen, den Zuſatz, der auch vorkömmt: qui tunc jura
condiderunt, constituerunt
.
64).
Cicero’s Diatribe gegen die Juriſten in der bekannten Stelle pro Mu-
rena c.
12 enthält ein ſprechendes Zeugniß für die obige Anſicht: Nam
quum permulta praeclare legibus essent constituta, ea jurisconsultorum
ingeniis pleraque corrupta ac depravata sunt
. In der dritten Periode ward
das Verhältniß der progreſſiven und conſervativen Mächte ein anderes, und
damit auch die Stellung der Jurisprudenz eine andere. Hier fiel namentlich
dem Prätor die Rolle des Fortſchritts zu, und damit war die Jurisprudenz
mehr auf die Erhaltung angewieſen.
65).
S. z. B. die von Cicero in jener Stelle angeführten Beiſpiele: mu-
lieres omnes propter infirmitatem consilii majores in tutorum potestate
esse voluerunt; hi invenerunt genera tutorum, quae potestate mulierum
continerentur
(Scheinehe, coemtio cum extraneo fiduciae causa). Sacra
interire illi noluerunt; horum ingenio senes ad coemptiones faciendas
interimendorum sacrorum causa reperti sunt
(derſelbe Akt). Ferner die
sponsio praejudicialis u. a.
66).
Z. B. des Zuwägens des Erzes bei der mancipatio, das ſeine Be-
deutung ſeit dem Aufkommen des gemünzten Geldes verloren hatte.
67).
In dem Abſchnitt über die Technik der neuern Rechtsbildung.
68).
Cicero de orat. I. c. 44: Bibliothecas mehercule omnium philo-
sophorum unus mihi videtur XII tabularum libellus, si quis legum fon-
tes et capita viderit, et auctoritatis pondere et utilitatis ubertate supe-
rare ..... Quantum praestiterint nostri majores prudentia ceteris gen-
tibus, tum facillime intelligetis, si cum illorum Lycurgo et Dracone et
Solone nostras leges conferre volueritis. Incredibile est enim, quam sit
omne jus civile praeter hoc nostrum inconditum ac paene ridiculum
.
69).
Ich erinnere ferner an die Vorgänge bei Erlaß der lex Poetelia Pa-
piria Liv. VIII. 28: victum eo die ob impotentem injuriam unius
ingens vinculum fidei
.
70).
Schmidt in der öfter angeführten Schrift S. 152. Wenn man ein-
mal, wie der Verf. es thut, von der Idee ausgeht, daß die moderne Lehre
von der Volksſouveränetät aus dem römiſchen Recht ſtammt, ſo ergibt ſich
die im Text berührte Anſicht als nothwendige Conſequenz.
71).
Die bekannte Stelle der XII Tafeln über die privilegia. Cicero de
leg. III. 19: leges praeclarissimae de XII tabulis translatae duae, qua-
rum altera privilegia tollit .... in privos homines leges ferri noluerunt
i. e. enim privilegium; quo quid est injustius? quum legis haec vis sit,
scitum est jussum in omnes? pro Sextio c. 30.
72).
Ich verweiſe namentlich auf die ausführlichere Rechtfertigung dieſer
Maßregeln bei Niebuhr röm. Geſch. B. 2 S. 23 fl. (bei Gelegenheit der
liciniſchen Rogationen).
73).
Cicero de republ. II. c. 34: .... quum plebes publica calamitate
impendiis debilitata deficeret, salutis omnium causa aliqua sub-
levatio et medicina quaesita est. Sueton Jul. Caesar c. 42.
74).
Cicero de offic. II. c. 22: qui autem populares se esse vo-
lunt, ob eamque causam aut agrariam rem tentant, ut possessores suis
sedibus pellantur aut pecunias creditas debitoribus condonandas putant,
ii labefactant fundamenta reipublicae ...... deinde ae-
quitatem, quae tollitur omnis, si habere suum cuique non licet. Id enim
est proprium civitatis atque urbis, ut sit libera et non sollicita suae rei
cujusque custodia. Atque in hac pernicie reipublicae etc.
Ci-
cero hatte in den 10 Jahren, die zwiſchen der einen und andern Aeußerung
lagen, ſchwerlich ſeine Anſicht verändert, wie Niebuhr annimmt (röm. Geſch.
B. 1 S. 640 Note 1347), ſondern die eine bezieht ſich auf den weiſen Ge-
brauch, die andere auf den Mißbrauch des Mittels. — Wie Schmidt S. 153
Anm. 1 darin, „daß das römiſche Recht die Aufhebung der Civilrechte durch
einen Akt der Staatsgewalt als einen durch vis major oder casus herbeige-
führten Rechtsverluſt betrachte,“ eine Conſequenz der von ihm dem römiſchen
Recht ſupponirten Auffaſſung erblicken kann, iſt mir völlig unbegreiflich. Ich
ſollte ſagen, daß das Gegentheil nicht hätte klarer ausgedrückt ſein können,
denn vis major, casus bildet ja den Gegenſatz zum Recht, jene Aufhebung
wird dadurch alſo als eine gewaltſame bezeichnet.
75).
Z. B. Ne quis post hanc legem rogatam (L. pr. ad leg. Falc.
(35. 2), ne quis posthac (L. 12 ad leg. Jul. de adult. (48. 5).
76).
Die eigenthümliche Beſchaffenheit der römiſchen Kriminaljuſtiz iſt
bereits früher (§. 25) entwickelt, auf letztere braucht daher an dieſer Stelle
keine Rückſicht mehr genommen zu werden.
77).
Die heutzutage verlangte ſchroffe Trennung der Juſtiz und Admini-
ſtration war dagegen den Römern unbekannt, (Keller röm. Civilprozeß §. 1),
wir werden bei dem vierten Kapitel des gegenwärtigen Abſchnitts darauf zu-
rückkommen, die weitere Ausführung aber dem dritten Buch vorbehalten
müſſen.
78).
Gellius XX. c. 1.
79).
S. Puchta Curſ. der Inſtitut. B. 2. §. 180 a. E. In der tempo-
rären Abberufung des Richters von Seiten des Tribunen, die Cicero pro
Cluentio c.
27 erwähnt, wird man ſchwerlich eine Beeinträchtigung des Rich-
teramtes finden wollen. Sonſt aber iſt mir kein Fall bekannt, wo ein Tribun
oder Magiſtrat in den Gang des Verfahrens vor dem Judex eingegriffen
hätte (daß der Prätor vermöge ſeines Aufſichtsrechts es durfte [Keller Civil-
prozeß §. 68], ſteht damit nicht in Widerſpruch). Die Stellen, die man an-
führt (Klenze Fragm. leg. Serv. p. 84 not. 5, Keller Civilprozeß S. 350
Anm. 979), ſprechen gar nicht von Civilgerichten, ſondern von judiciis
publicis,
die L. 58 de jud. (5. 1) freilich von erſteren, aber von einem majus
imperium in eadem jurisdictione.
Die lex Gall. cisalp. col. I.
vers.
51 verbietet ausdrücklich die Interceſſion bei einem Civilverfahren.
Zur Unterſtützung möge noch angeführt werden, daß letztere bei einer quaestio
perpetua
mindeſtens entſchieden verwerflich war (Geib Kriminalprozeß S.
289) oder wohl geradezu in der betreffenden lex verboten (ſ. z. B. lex Ser-
vilia c.
21).
80).
Ueber den letzten hiſtoriſchen Grund dieſer Erſcheinung habe ich
früher (B. 1. S. 186—188) meine Meinung geäußert.
81).
Beiſpiele ſind bereits an der citirten Stelle Note 97 angegeben.
82).
In manchen Geſetzen, die eine ſolche actio popularis einführten,
hieß es geradezu: populo dare damnas esto und ſodann ejus pecuniae
petitio ei sit, qui volet.
83).
Ueber dieſe Klagen ſ. Cicero in Verrem III. 11, Gaj. IV. §. 28.
32. Tit. Pand. de publ. (39. 4).
84).
Quantae audaciae, ruft Ulpian für ſeine Zeit aus (L. 12 pr. de
85).
Der bekannte Fall bei Valer. Max. II. 8. 2 über den Anſpruch auf
einen Triumph.
86).
Liv. III. 56, 57.
87).
Val. Max. VI. 1. 10.
88).
Keller Civilprozeß §. 26 und die dort citirten Semestria deſſelben.
84).
public.) quantae temeritatis sint publicanorum factiones, nemo est qui
nesciat; iccirco Praetor ad compescendam eorum audaciam hoc edic-
tum proposuit.
89).
Aequitas, quae paribus in causis paria jura desiderat. Cicero
Topic. c. 4.
90).
Annal. III. 27. In demſelben Sinn, in welchem Liv. III. 34 die
Decemvirn von den XII Tafeln ſagen läßt: se omnibus summis infimisque
jura exaequasse.
91).
Die Relativität des Begriffs der Billigkeit iſt von Thöl in ſeiner Ein-
leitung in das deutſche Privatrecht §. 18 mit gewohnter Schärfe und Klar-
heit hervorgehoben worden; nirgends wohl fand er bei ſeiner höchſt aner-
kennenswerthen Antipathie gegen alle unklaren Vorſtellungen ein ſo dank-
bares Objekt für ſeine Thätigkeit, einen ſolchen Augiasſtall vor, als bei dem
Kapitel von der Billigkeit.
92).
Oder wie Thöl a. a. O. §. 37 es nennt: Klaſſificirung.
93).
Man könnte dies das Partikulariſiren, die entgegengeſetzte
Richtung des Rechts das Centraliſiren nennen — zwei allerdings ſehr
relative Begriffe, aber zur hiſtoriſchen Charakteriſtik unentbehrlich. Ver-
wandt mit dem Partikulariſiren iſt der Richtung nach das Individuali-
ſiren
, von dem nachher im Text die Rede iſt, dem Begriff nach aber ſehr
verſchieden, denn es bildet ja den Gegenſatz zum Generaliſiren. Wo nichts
darauf ankommt, beide in Gegenſatz zu ſtellen, kann man gern den Sprach-
gebrauch, der beide unter dem einen Ausdruck Individualiſiren zuſammenfaßt,
beibehalten, denn letzterer bezeichnet ja die Steigerung der partikulariſirenden
Richtung über ſich ſelbſt hinaus, involvirt alſo letztere.
94).
Constantin. L. 1 Cod. de leg. (1. 14) Inter aequitatem jusque
interpositam interpretationem nobis solis et oportet et licet inspicere.

Das Recht der Begnadigung u. ſ. w.
95).
Dieſen Weg einer Mittelſtraße zwiſchen rein richterlicher und rein
legislativer Thätigkeit ſchlug bekanntlich in ſpäterer Zeit die prätoriſche Juris-
diktion ein (Ertheilung von restit. in integrum, Exceptionen, Verweigerung
von Klagen u. ſ. w.) und die römiſche Jurisprudenz beſtärkte den Prätor da-
rin und ertheilte ihm Rathſchläge und Aufforderungen in Bezug auf eine der-
artige Wirkſamkeit.
96).
Was die römiſche Jurisprudenz ſich nicht verhehlte und verhehlen
konnte; ſ. z. Paulus in L. 91 §. 3 de V. O. (45. 1) … esse hanc quae-
stionem de bono et aequo, in quo genere plerumque sub juris auc-
toritate perniciose erratur
.
97).
Ueber das Kriminalrecht ſ. oben S. 42 ff.
98).
Die XII Tafeln enthielten eine ausdrückliche, hierauf bezügliche Be-
98).
ſtimmung: Cicero pro domo c. 17: vetant XII tabulae leges privis ho-
minibus irrogari, pro Sextio c. 30. de legib. III. c. 19: privilegia tollit
.
99).
Der Kürze wegen habe ich im Text nur auf Bevorzugungen (ſ. g.
privilegia favorabilia) Rückſicht genommen; was von ihnen geſagt iſt, gilt
aber ebenſo wohl von Zurückſetzung (ſ. g. privil. odiosa).
100).
Daß die Ehrenrechte der weltlichen und geiſtlichen Beamten damit
nicht in Widerſpruch ſtehen, braucht wohl kaum bemerkt zu werden. Was
ſonſt an Privilegien ſich etwa aufführen ließe, wird unten berückſichtigt werden.
101).
Es ließen ſich etwa nennen die Vorrechte der Soldaten (pignoris
capio Gaj. IV. §. 27;
das testamentum in procinctu war im Grunde ein
Teſtament vor der Volksverſammlung), der Publikanen (pign. capio Cicero in
Verrem III. 11. Gaj. IV.
§. 32.), der veſtaliſchen Jungfrauen und des
flamen dialis, aber wie unbedeutend ſind dieſe Privilegien ſelbſt gegenüber
denen des ſpäteren römiſchen Rechts! Die wenigen Eigenthümlichkeiten des
römiſchen Handels rechts (das agere cum compensatione des argentarius
Gaj. IV. §. 64,
die gegen ihn ſtatt findende act. receptitia Theophilus IV,
6 §. 8,
die actio gegen den socius des argentarius, Auct. ad Heren. II.
c. 13,
die actio exercitoria und institoria) fallen gewiß in eine ſpätere
Zeit.
102).
S. Seite 68, Anm. 57.
103).
Im dritten Rechtsſyſtem iſt dies anders geworden, und von manchen
Rechts ſätzen läßt es ſich dort nachweiſen, daß ſie nur die Ablagerung einer
conſtanten autonomiſchen Geſtaltung concreter Rechtsverhältniſſe enthalten.
104).
In servorum conditione nulla est differentia §. 5 I. de jure pers.
(1. 3) L. 5 pr. de statu hom.
(1. 5.)
105).
S. Schrader zu Instit. de exh. lib. (2. 13), nämlich 1. Enterbung;
L. 4 Cod. de lib. praet. (6. 28) scimus antea omnes inter ceteros exhe-
redatos scribere esse concessum.
2. Präterition; die Wirkung derſelben
war noch zu Ciceros Zeit keineswegs ausgemacht. Cic. de orat. I. 38.
106).
„Filius“; Ulpian. X. 1 … id enim lex XII tab. jubet his ver-
bis: si pater filium ter venunduit, filius a patre liber esto.
Weil
das Geſetz nur des filius Erwähnung thut, ſo begnügte man ſich bei Töchtern
und Enkeln mit einem einmaligen Verkauf.
107).
Hinſichtlich der veſtaliſchen Jungfrauen galten beſondere Rechts-
grundſätze, z. B. was den Austritt derſelben aus der väterlichen Gewalt, die
testamenti factio (Gellius l. 12.), die Befreiung derſelben von der Tutel
anbetrifft (Gaj. I. §. 145).
108).
Gellius V. 19 … neque mulier arrogari potest, quoniam et
cum feminis nulla comitiorum communio est.
109).
Der Fähigkeit der Frauenzimmer zu teſtiren ſtand bei dem test.
comit. cal.
die Form entgegen, mit dem testam. per aes et libr. fiel das
Hinderniß hinweg, denn der mancipatio waren ſie fähig. Man behielt aber
den alten Rechtsſatz bei, der jetzt alſo nur noch durch materielle Gründe ge-
tragen ſein konnte, und dieſe wird man wohl nur in der Tendenz finden kön-
nen, das Vermögen der Familie zu erhalten. Durch Austritt aus der Fa-
milie, der das Frauenzimmer durch Geburt angehörte, wie ſie bei der Ehe
mit manus erfolgte, hörte jene Rückſicht auf; umgekehrt konnte jetzt, wenn
die Frau durch Tod ihres Mannes sui juris geworden war, das Teſtament
dazu dienen, ihr Vermögen in ihre urſprüngliche Familie zurückzubringen,
während daſſelbe nach Inteſtaterbrecht an die angeheiratheten Agnaten und
Gentilen gefallen wäre. Das Teſtament konnte hier alſo in der That der
Familie jenen Dienſt erweiſen, in dem wir B. 1 S. 191 das urſprüngliche
Motiv des römiſchen Teſtaments geſucht haben. So erklärt ſich der Rechts-
ſatz, den Cic. Topica c. 4 und Gaj. I. §. 115 a uns berichten, daß nur ein
Frauenzimmer, das eine capitis deminutio erlitten (Cic.) oder eine coemptio
eingegangen (Gaj.) die test. fact. habe. Als die dem weiblichen Geſchlecht
günſtigere Stimmung einer ſpätern Zeit ſich für die materielle Ausdehnung
der test. factio auf alle Frauenzimmer entſchieden hatte, vermittelte man
dies formell nach bekannter römiſcher Weiſe dadurch, daß man die noch in
ihrem urſprünglichen Familienverbande lebenden Frauenzimmer eine Schein-
Coemption vornehmen und dadurch aus dieſem Verbande heraustreten ließ.
Formell ließ ſich jetzt das Teſtament als ein Mittel bezeichnen, wodurch die
der urſprünglichen Familie nachtheiligen Folgen der coemptio in deren In-
tereſſe wieder beſeitigt werden konnten. Durch ein Senatusconſult unter Ha-
drian wurde dieſer weitläuftige Umweg erlaſſen Gaj. loc. cit.
110).
Die entgegengeſetzte Anſicht hat weder Quellenzeugniſſe noch den
Geiſt des ältern Rechts für ſich, und man kann daher mit v. Scheuerl Bei-
träge, B. 2 S. 11, allerdings ſeine „Verwunderung“ darüber äußern, daß
eine Autorität wie Keller ſich noch neuerdings in ſeinem Civilproceß S. 233
Anm. 641 dafür erklären konnte.
111).
Dieſen glücklichen Geſichtspunkt, unter den ſich alle jene Sachen
mit Ausnahme des Grundſtücks, das ja zum Heergeräthe nicht gezählt werden
kann, ungezwungen unterordnen, hat zuerſt, ſoviel ich weiß, Haſe das Jus
postliminii
S. 47 aufgeſtellt.
112).
Ob die poſſeſſoriſchen Interdikte, hinſichtlich deren jener Unterſchied
allerdings wichtig wird, bereits dem ältern Recht angehören, iſt mir mehr als
fraglich; es iſt hier nicht der Ort darauf einzugehn, wir werden bei einer an-
dern Gelegenheit auf dieſe Frage zurückkommen.
113).
S. z. B. Gerber deutſches Privatrecht §. 74. Das römiſche Ei-
genthum dagegen, die Uſucapio, das Pfandrecht u. ſ. w. iſt ganz derſelbe
Begriff für bewegliche wie unbewegliche Sachen.
114).
S. das dritte Syſtem. Einzelnes will ich hervorheben. 1. Heim-
liche Apprehenſion verſchaffte früher den Beſitz ſowohl bei beweglichen wie
114).
bei unbeweglichen Sachen, ſpäter nur bei erſteren. L. 7 de poss. l. 47 ibid.
Savigny Recht des Beſitzes §. 31. 2. Auch an unbeweglichen Sachen war
früher ein furtum möglich (Gaj. II. §. 51. Gellius XI. 18 … nach einer
Notiz aus Sabinus de furtis: sed fundi quoque et aedium fieri furtum),
nach ſpäterm Recht nicht. 3. Nach neuerm erfordert das Depositum eine be-
wegliche Sache, nach älterm wird es wohl eben ſo wie das Kommodat (L. 1
§. 1 commodati
13. 6) an unbeweglichen Statt gefunden haben. 4. Ver-
äußerungsverbote: fundus dotalis, praedia rustica und suburbana be-
vormundeter Perſonen. 5. Requiſit der Präſenz der Sache bei der Mancipa-
tion hinſichtlich der unbeweglichen ſpäterhin aufgegeben (Gajus I. §. 121
.. praedia vero absentia solent mancipari
). Das nähere darüber bei der
Theorie der Rechtsgeſchäfte. 6. Das Syſtem der poſſeſſoriſchen Interdikte,
das meiner Anſicht nach erſt der ſpätern Zeit angehört (ſ. Note 112).
115).
Gaj. IV. §. 11 gibt ein bekanntes Beiſpiel.
116).
Einzelne legis actiones ſind bereits im erſten Band erwähnt und
an die Ausgangsprinzipien des römiſchen Rechts angeknüpft, nämlich die
manus injectio und pignoris capio S. 147 ff., die legis actio sacramento
S. 265 ff.
117).
z. B. hinſichtlich der Execution. Recht der XII Tafeln: Gellius
Lib. 20 c.
1 (30 und 60 Tage), neueres Recht: Ulpian. in L. 2 de re jud.
(42. 1): qui pro Tribunali cognoscit, non semper tempus judicati servat,
sed nonnumquam arctat, nonnumquam prorogat pro causae quali-
tate et quantitate vel personarum obsequio vel con-
tumacia
.
118).
Bei Beſchädigungen der objektive Betrag derſelben d. h. die Dif-
ferenz im Preiſe der Sache vor und nach der That. Bei der act. quanti mi-
noris
tritt eine ähnliche Differenzberechnung ein.
119).
Jede Seite der juſtinianeiſchen Pandekten gibt Beiſpiele dafür.
Beim Verkauf werthvoller Sachen war die stipulatio duplae für den Fall
der Eviction ſo allgemein, daß ſie, wenn unterlaſſen, fingirt ward. Auch für
die objektive Aeſtimation von Sachen ſtellte ſich der Verkehr im voraus ſicher
durch Vereinbarung über den demnächſt zu Grunde zu legenden Taxwerth der
Sache z. B. bei der dos (ſ. g. aestimatio taxationis causa) und (wenn
auch gewiß weniger häufig) bei der societas, dem commodatum, depositum
u. ſ. w. L. 52 §. 3 pro socio (17. 2) L. 7. § 5, L. 52 de don. i. V. et
U.
(42. 1.)
120).
z. B. bei der fructus licitatio der interdicta retinendae posses-
sionis
(Puchta Inſtit. Bd. 2 §. 169), bei den prätoriſchen Stipulationen,
deren Faſſung auf beſtimmte Summen von den Juriſten ſehr anempfohlen
ward. L. ult. de praet. stip. (46. 5): quoniam difficilis probatio est,
quanti cujusque intersit.
121).
Solche für alle Perſonen und Fälle ſich gleich bleibende Summen
finden ſich auch anderwärts im ältern Recht z. B. bei der legis actio sacra-
mento
50 und 500 ass., bei der lex Furia die 1000 ass. Es braucht wohl
kaum bemerkt zu werden, daß die ſcheinbare Gleichheit, die ſie herſtellen, in
der That zur äußerſten Ungleichheit führen kann. Für die Tendenz der ab-
ſtracten, mechaniſchen Gleichheit des ältern Rechts iſt nichts bezeichnender,
als daß der Reichſte ſowohl wie der Aermſte eine Injurie mit 25 ass. be-
zahlte und bezahlt erhielt, und daß die größte Verſchiedenheit in den Vermö-
gensverhältniſſen für dies durch die lex Furia limitirte Maximum der Legate
einflußlos war.
122).
Nach den XII Tafeln 25 ass.; bei ſchweren Körperverletzungen für
Freie 300 ass., für Sklaven 150 ass.
123).
25 ass. nach demſelben Geſetz. Plinius H. N. 17 c. 1. — Auch das
neuere Recht bediente ſich in manchen Fällen dieſes ganz zweckmäßigen Mit-
124).
Das Duplum, Triplum, Quadruplum, wie z. B. beziehungsweiſe
bei der actio furti nec manifesti, furti concepti et oblati, furti manifesti,
den Klagen gegen den Wucherer (Cato de re rustica. Prooem.) bei der de-
dicatio rei litigiosae L. 3 de litig. (44. 6) (Gajus lib. 6 ad leg. XII
tabul.)
u. ſ. w.
125).
z. B. bei der act. legis Aquiliae, die urſprünglich nicht auf das
Intereſſe, ſondern auf den objektiven Werth des letzten Jahres, beziehungs-
weiſe Monates ging, §. 10 I. ad leg. Aq. (4. 3) Illed non ex verbis
legis
, sed ex interpretatione placuit etc.
was ſich auch ohne dieſe
Notiz aus andern Gründen deduciren ließe.
126).
Das Doppelte des Sachwerths erſchien den Römern als vollſtän-
diges Aequivalent des Intereſſes, in der ältern ſowohl wie der neuern Zeit.
Ich erinnere z. B. an die cautio duplae beim Kauf, die Beſtimmung der lex
Julia de adult.
in L. 27 pr. ad leg. Jul. (48. 5.) Hiermit hängt auch das
Verbot der usurae supra alterum tantum und Juſtinians bekannte Beſtim-
mung über das Duplum beim Intereſſe (L. un. Cod. de sententiis quae pro
eo, quod interest
) zuſammen.
127).
Sie war keine Pönal-, ſondern eine reiperſecutoriſche Klage,
L. 55 §. 1 de admin. tut. (26. 7) v. Savigny Obligationenrecht B. 1
S. 207. Denſelben Charakter hatte die aufs Doppelte gerichtete Klage
gegen die Publikanen wegen Erpreſſung unzuſtändiger Abgaben L. 5, 6 de
publicanis
(39. 4). Mit der actio depositi, von der Paulus Sentent. Rec.
II.
12 §. 11 berichtet, daß ſie nach den XII Tafeln aufs Doppelte gegangen
ſei, hatte es, wie ich an einem ſpätern Ort zu zeigen verſuchen werde, wohl
eine beſondere Bewandniß.
123).
tels der Tarifirung z. B. L. 42 de aed. ed. (21. 1) L. 1 pr. de his qui effud.
(9. 3) L. 47 pr. de man. vind. (40. 4) L. 3 pr. de sep. viol. (47. 21)
L. 3 pr. de term. moto
(47. 21) u. a.
128).
Varro de re rust. II. c. 10. Paul. Sent. Rec. II. 17 §. 3: si
evincatur, auctoritatis venditor duplotenus obligatur. Cicero de offic.
III. 16: Nam cum ex XII tabulis satis esset ea praestari, quae essent
lingua nuncupata, quae qui esset infitiatus
(nicht: wer dies in Abrede ge-
ſtellt hat, ſondern: wer dabei d. h. bei der Nuncupation die Unwahrheit ge-
ſprochen, eine falſche Verſicherung ertheilt hat) dupli poenam subiret. Daß
dieſer Fall nicht zu den Litiscrescenzfällen gehört, hat Rudorff Zeitſchr. für
geſch. Rechtsw. B. 14 S. 423—455 überzeugend dargethan.
129).
So wie bei der act. ad exhibendum. S. Bachofen Pfandrecht
B. 1 S. 214 Anm. 6.
130).
Es gehören dahin z. B. namentlich die act. depensi des Bürgen
gegen den Schuldner, die act. judicati, das Nexum, das Damnationslegat,
das damnum injuria datum. Gaj. IV. §. 171. Es iſt übrigens ſchon im
erſten Bande S. 149, 150 ein Verſuch zur Erklärung dieſer Litiscrescenz ge-
macht.
131).
Beim Nexum hatte das Geſetz dem Gläubiger Macht genug über
den Schuldner eingeräumt, um denſelben auf dem Wege der Vereinbarung
zur Leiſtung des Intereſſes zu zwingen. Gell. XX. 1 .. erat autem in-
terea jus paciscendi:
ähnlich wie beim furtum (B. 1 S. 125 ff.). Der
Schuldner mußte ſich hier wie dort loskaufen (pacisci), und gerade dieſer
Umſtand machte das Nexum vielleicht ſo beſonders drückend, in ähnlicher
Weiſe wie die lex commissoria das Pfand.
132).
Ich nehme wenigſtens keinen Anſtand, den Ausſpruch von Paulus
in L. 13 §. 26 de act. emti (19. 1) und von Papinian in Vat. fragm. §. 11
auch auf die ältere Zeit zu beziehen.
133).
Gaj. IV. §. 13, 171. Cic. pro Rosc. Com. c. 4, 5.
134).
Lex Jul. munic. vers. 40—44. Wer ſeine Wegbaulaſt nicht er-
füllt, auf deſſen Koſten wird die Reparatur verdungen. Si is, qui adtributus
erit, eam pecuniam diebus XXX proxumis, quibus ipse aut procurator
ejus sciet adtributionem factam esse, ei, cui adtributus erit, non solverit
neque satisfecerit, is quantae pecuniae adtributus erit, tantam pecu-
niam et ejus dimidium ei cui adtributus erit dare debeto inque eam
rem is quocunque de ea re aditum erit, judicem judiciumque ita dato,
uti de pecunia credita (judicem) judiciumque dari
oportebit
.
Eine Sponsio von Seiten des geſtändigen Schuldners wird
in der lex Rubria c. 21 erwähnt. Es werden dort zwei Fälle unterſchieden:
1) si is eam pecuniam in jure debere se confessus erit neque id, quod
confessus erit, (a) solvet satisvefaciet aut (b) se sponsione judicio-
que uti oportebit non defendet 2) sive is in jure non responderit neque
sponsionem faciet neque judicio
u. ſ. w. War dies unſere sponsio?
135).
Die von Savigny ganz im Geiſt der römiſchen Auffaſſung ſo be-
zeichneten: einſeitigen Strafklagen. Gegen die Erben konnten ſie nur in quan-
tum ad eos pervenit
gerichtet werden, und hierin äußerte ſich namentlich ihre
pönale Natur. Beiſpiele gewährt jedes Pandekten-Compendium bei Gelegen-
heit der Transmiſſion der Klagen z. B. Puchta §. 88 not g.
136).
Die auf die dedicatio einer res aliena in sacrum geſetzte poena
dupli
— eine reine poena — motivirt Gajus in der L. 3 de litig. (44. 6)
in folgender Weiſe: ut id veluti solatium habeat pro eo, quod poten-
tiori adversario traditus est.
137).
So z. B. bei der act. rationibus distrahendis, bei der Klage
gegen die Publikanen. Anm. 127.
138).
Ich verweiſe z. B. auf die actio de tigno juncto — wie hätte der,
welcher unwiſſentlich fremdes Material verbaute, beſtraft werden können?
— auf die fructus dupli und ſolche Fälle, wo der Beklagte um die Exiſtenz
des klägeriſchen Rechts nicht wußte und nicht wiſſen konnte.
139).
Als der direkte Weg eingeſchlagen wurde, behielt man, wie es ein-
mal in der conſervativen Weiſe der Römer lag, für viele Verhältniſſe die Be-
139).
handlungsart des ältern Rechts bei. Beim mutuum ließ ſich auch im neuern
Recht nicht das Intereſſe liquidiren, während dies bei einem depositum irre-
gulare
von Geldſtücken möglich war (ſ. L. 3 de in lit. jur. (12. 3) — Bei
einigen Verhältniſſen aber ging man von der objektiven zur relativen Aeſtima-
tion über z. B. bei der act. injuriarum (aestimatoria d. h. Berückſichti-
gung der individuellen Verhältniſſe ſtatt der ein für alle Mal beſtimmten
25 ass. des ältern Rechts) und zwar geſchah es hier durch den Prätor. So-
dann bei der act. leg. Aquiliae (ſ. Note 125). Hier vermittelte die Jurispru-
denz den Fortſchritt auf rein innerlichem Wege, nämlich durch eine freiere
Interpretation. Dieſe letzte Erſcheinung wird auch einen ähnlichen Vorgang
bei der act. furti, nämlich den dort hervortretenden Conflikt zwiſchen der ob-
jektiven und relativen Aeſtimation (cf. L. 50 pr. de furtis (47. 2) mit L. 27,
L. 67. §. 1, 80 §. 1 ibid.
) ins rechte Licht ſetzen, jedoch muß ich darauf ver-
zichten, dieſen Nebenpunkt hier weiter auszuführen. Für die in rem actiones
bezeichnet die arbitraria formula gegenüber dem Verfahren durch legis actio
sacramento
und sponsio denſelben Fortſchritt. In welchem Maße dieſe Bei-
ſpiele eines Ueberganges von der objektiven zur relativen Aeſtimation die im
Text verfochtene Anſicht unterſtützen, brauche ich wohl nicht erſt zu bemerken.
140).
Man könnte das Verhältniß der einzelnen Inſtitute des deutſchen
Rechts mit dem der deutſchen Bundesſtaaten vergleichen. Dort wie hier
daſſelbe aus denſelben Gründen hervorgegangene Verhältniß eines bloßen
Bundes (hinſichtlich der erſteren könnte man mitunter in Verſuchung kom-
men zu ſagen: eines Bandes im Sinn von Einband), und der Weg zur wah-
ren Einheit, die Ausbildung des centralen Moments iſt bei beiden gleich weit
und ſchwierig. Der wiſſenſchaftlichen Erforſchung des deutſchen Rechts ſteht
gewiß noch eine große Ausbeute an „centralen“ Geſichtspunkten bevor, an
latenten höhern Rechtsprinzipien, die in den einzelnen Inſtituten ſich verwirk-
140).
licht haben, für die aber noch die rechte Formel nicht gefunden iſt. Mit jeder
ſolcher neuen Entdeckung wird die Kraft des deutſchen Rechts ſich verdoppeln
und wird ein Stück des römiſchen Rechts von uns abfallen, ohne daß der
Geſetzgeber zu dem Zweck ſeine Hand zu rühren hätte. Die Stärke der römi-
ſchen, die Schwäche der germaniſchen Jurisprudenz liegt in der Ausbildung
des centralen Moments, und hier iſt der Punkt, wo letztere den Kampf aufzu-
nehmen hat, und wo ſie ihn mit großem Erfolg wird führen können. Da-
durch daß unſer Recht nach dieſer Seite hin zu ſchwach war, iſt das römiſche
Herr über uns geworden; wollen wir uns von letzterem befreien, ſo iſt das
nicht der rechte Weg, die Differenz zwiſchen unſerer partikulariſirenden und
individualiſirenden Rechtsanſchauung und der römiſchen centraliſirenden zu
conſtatiren — denn das heißt ja gerade deduciren, wie nöthig uns das römi-
ſche Recht war — ſondern umgekehrt das centrale Moment der deutſchen
Rechtsanſchauung zu cultiviren, nachzuweiſen, daß wir nicht ſo arm ſind, als
man glaubte, nicht nöthig haben, unſern Bedarf an centralen Geſichtspunkten
lediglich vom römiſchen Recht zu borgen.
141).
Von den modernen Völkern repräſentirt vorzugsweiſe das engliſche
das erſte, das franzöſiſche das zweite. Spiegelt ſich derſelbe Gegenſatz nicht
142).
Von der Staatsform, ob dieſelbe eine Monarchie oder Republik iſt,
ſind beide Syſteme unabhängig, das Syſtem der Unfreiheit iſt eben ſowohl
in einer Republik möglich (wie das Beiſpiel Spartas in alter Zeit und der
franzöſiſchen in neuerer Zeit zeigt), als das der Freiheit in einer Monarchie,
z. B. in England. Es zeigt ſo recht die Unreife und innere Unwahrheit des
Freiheitsgefühls, wenn man zu gleicher Zeit für die Republik ſchwärmen und
doch dabei mit dem Syſtem der Unfreiheit harmoniren kann. Man würde
gleichgültiger gegen die Form der Staatsverfaſſung ſein, wenn man für die
wahre Freiheit mehr Sinn hätte.
143).
Ich wähle die Ausdrücke, deren Schmidt ſich in ſeinem Buch über
den prinzipiellen Unterſchied zwiſchen dem römiſchen und germaniſchen Recht
bedient. So wenig ich verkenne, daß jenes Werk einzelne treffende Bemer-
kungen enthält, ſo beruht doch meiner Anſicht nach der Grundgedanke deſſel-
141).
auch in den engliſchen und franzöſiſchen Gärten ab? Dort dient die Kunſt
der Natur, hier die Natur der Kunſt, und dies iſt ja auch der Gegenſatz beider
Syſteme, ſo daß man das eine als das natürliche, das andere als das künſt-
liche bezeichnen könnte.
143).
ben auf eben jenem grandiöſen Trugſchluß, den ich im Text aufzudecken ver-
ſucht habe. Es ſtände ſchlimm um die germaniſchen Völker, und ſie würden
mit China und den orientaliſchen Völkern auf Eine Stufe rangiren, wenn ſie
in ihrem Recht das „Prinzip der Subjektivität“ nicht anerkannt hätten. Man
ſollte nach dem Schmidtſchen Buch glauben, als ob nicht Gott, ſondern der
Teufel den Trieb nach Freiheit in des Menſchen Bruſt gepflanzt habe. Denn
wenn erſteres, gehört dann nicht das Prinzip der Freiheit mit zu den objek-
tiven Prinzipien, verträgt es ſich nicht mit dem Schmidtſchen „Sittengeſetz“?
Einer ſolchen Anſicht gegenüber, die ſich den Schein einer tief ſittlichen zu
geben verſucht, hielt ich es nicht für überflüſſig, für die legitime Abſtammung
der Freiheit aus der Sittlichkeit eine Lanze zu brechen, ohne aber meinem
Gegner dabei in ſeinen Irrgängen, bei denen der rechtliche und moraliſche
Geſichtspunkt in unglaublicher Weiſe durcheinander geworfen werden, wei-
ter folgen zu können.
144).
Die Philoſophie ſympathiſirte darin mit der Jurisprudenz. Auch
ihr war auf ihrem Gebiet die Freiheit nicht weniger unbequem, als der Ju-
risprudenz auf dem des Rechts, auch ihr galt das Geſetz, die logiſche, dialek-
tiſche Nothwendigkeit als das Höchſte, dem ſie willig die Perſönlichkeit zum
Opfer brachte. So läugnete ſie die Perſönlichkeit und Freiheit Gottes,
drückte in der Philoſophie der Geſchichte die Perſönlichkeiten zu bloßen Mo-
menten des dialektiſchen Prozeſſes herab u. ſ. w. Das ſittliche Univerſum,
wie ſie es ſich conſtruirte, verdiente es nicht mit ganz anderm Recht, als die
Natur, die Schillerſchen Vorwürfe:
Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr

Dient ſie knechtiſch dem Geſetz der Schwere

Die entgötterte Natur?

Kann es Wunder nehmen, daß in einer ſolchen Zeit, die gleichmäßig in der
Wiſſenſchaft wie im Recht die Perſönlichkeit bekriegte, die Perſönlichkeiten
und Charaktere nicht gedeihen wollten, wenigſtens da nicht, wo ſie dem anti-
perſönlichen Luftzug der Zeit vorzugsweiſe ausgeſetzt waren? Oder müſſen
wir das Cauſalverhältniß hier umdrehen? Die Philoſophie hat hieran wieder
bewährt, daß ſie ſich mit Recht als „die Zeit in Form des Bewußtſeins“
charakteriſirt, und ſie dürfte daher auch in demſelben Maße, in dem das
Moment der Freiheit und Perſönlichkeit reell an Bedeutung gewinnt, daſſelbe
auf ihrem Gebiete zur Anerkennung bringen.
145).
Die Charakteriſtik des ältern römiſchen Rechts wird mir zu manchen
Seitenblicken auf die heutige Zeit Gelegenheit geben, und die Behauptung
des Textes wird ſich dort, wie ich hoffe, rechtfertigen.
146).
Wie verkehrt alſo der Schluß iſt, daß dieſe Prinzipien, weil es
einem Forſcher nicht gelang, ſie an dieſer Stelle zu entdecken, einem Volk
überall nicht zu eigen geweſen ſeien, erhellt hieraus von ſelbſt, wenn es nicht
ſchon aus der ganzen bisherigen Entwickelung hervorginge. Wenn Schmidt
in ſeinem citirten Werk dies beachtet und die von ihm vermißten Prinzipien
da geſucht, wo ſie zum Vorſchein kommen, und nicht da, wo ſie ſich einmal
wenigſtens im alten römiſchen Recht nicht zeigen, ſo würde ſein Urtheil über
daſſelbe wohl etwas anders ausgefallen ſein.
147).
Daß die Herrſchaft die Freiheit in ſich ſchließt, iſt bereits im vori-
gen § bemerkt, es wird daher im Folgenden von der Freiheit nur da aus-
drücklich die Rede ſein, wo es darauf ankommt, die negative Seite jenes Ge-
dankens für ſich allein ins Auge zu faſſen.
148).
Die act. populares ſ. B. 1, S. 187. B. 2, S. 83.
149).
Cic. pro Balbo c. 13. ſ. oben S. 59, Anm. 46.
150).
Die Verhaftung des Angeklagten war rechtlich möglich, wenn auch
nicht nöthig, ſie ließ ſich jedoch, wenn ſie verfügt war, durch die Interceſſion
eines Tribunen abwenden oder in Freilaſſung gegen Kaution verwandeln.
Zu dem freien Exulationsrecht des Angeklagten (Sallust. Catil. 51) paßte
ſie nicht recht, und es iſt daher erklärlich, daß ſie, wenn auch rechtlich nicht
aufgehoben, ſich doch in der Praxis verlor und zur äußerſten Seltenheit ward.
Geib, Geſchichte des röm. Kriminalproz. S. 119, 120.
151).
Cic. de orat. II. 48 .. patronam illam civitatis ac vindicem
libertatis. Liv. III. 55: unicum praesidium libertatis.
Ich erinnere ferner
an das den Beamten geſetzte Maximum der Multa Gell. XI. 1.
152).
Geib, S. 138 fl.
153).
Liv. X. 9. Cic. in Verr. II. V. c. 54—57. pro Rabirio c. 4, 5:
carnifex vero et obductio capitis et nomen ipsum crucis absit non modo
a corpore civium Rom., sed etiam a cogitatione, oculis, auribus. Ha-
rum enim omnium rerum non solum eventus atque perpessio, sed
etiam conditio, exspectatio, mentio ipsa denique in-
digna cive Romano atque homine libero est
.
154).
z. B. der Grundſatz der quarta accusatio (Geib, S. 116 fl. und
die neueſte Unterſuchung darüber von Lange: die oskiſche Inſchrift der Ta-
bula Bantina
u. die röm. Volksgerichte. S. 65—86), inſofern er einmal
dem Angeklagten die Gelegenheit gab, die öffentliche Meinung für ſich zu ge-
winnen, und andererſeits der momentan erregten Leidenſchaft des Volks Zeit
ließ, ſich abzukühlen. Ferner der Grundſatz, daß die Ausſagen der Sklaven
gegen ihre Herren nicht angenommen werden ſollten (Geib, S. 142). Die
155).
Ernennung eines Diktators, SCtum: videant consules, ne quid
detrimenti capiat respublica.
156).
Man erinnere ſich (S. 50), daß der Cenſor Jemanden zur Rechen-
ſchaft zog z. B. wegen nachläſſigen Betriebs der Landwirthſchaft oder un-
ordentlicher Wirthſchaft, wegen Luxus und übertriebenen Aufwandes (eines
Fehlers, gegen den mit dem Ende des ſechſten Jahrhunderts, als die Macht
des Cenſors nicht mehr ausreichte, die Geſetzgebung ſelbſt mittelſt der be-
kannten leges sumtuariae zu Felde zog). Mit unſeren Ideen von perſönli-
cher Freiheit verträgt ſich dies alles ſehr wenig, und ſelbſt dem „germaniſchen
154).
entſchiedene Tendenz der ſpätern Zeit (von den XII Tafeln läßt ſich ein Glei-
ches nicht behaupten) zu milden Strafen (Platner quaest. de jure crimin.
Rom.
S. 75—82) iſt von den Römern ſelbſt rühmend hervorgehoben, z. B.
von Liv. I. 28: nulli gentium mitiores placuisse poenas, Cic. pro Rabir.
c. 3 … vestram libertatem non acerbitate suppliciorum infestam, sed
lenitate legum munitam esse voluerunt.
157).
Es gehörte dies zu den Obliegenheiten des Senats, der vorkom-
menden Falls die Beamten damit beauftragte. Valer. Max. I. 3. de pere-
grina religione rejecta. Liv. IV. 30: datum inde negotium aedilibus, ut
animadverterent, ne qui nisi dii Romani neu quo alio more quam patrio
colerentur. XXV. 1. XXXIX.
13 fl.
156).
Ethos“ des Herrn Schmidt möchte mit einer ſolchen Ausdehnung des „ob-
jektiven Prinzips“ ein Genüge gethan ſein.
158).
Ich füge nachträglich nur noch einige Zeugniſſe für die dort ver-
fochtene Anſicht bei, nämlich Liv. XXXI. 13 (das muſterhafte Verfahren
des Staats gegen die Staatsgläubiger), ſodann Val. Max. VI. 2. 12. (recht-
liche Auffaſſung politiſcher Gewaltmaßregeln), Expropriationen gegen Ent-
ſchädigung: das SC. de aquaeduct. bei Frontin: de aquaed. c. 125 (bei
Briss. de form. lib. II. c. 81), und die intereſſante Aeußerung Frontins c.
128: .. cum majores nostri admirabili aequitate ne ea quidem eripuere
privatis, quae ad modum publicum pertinebant. Sed cum aquas perdu-
cerent, si difficilior possessor in parte vendenda fuerat, pro toto agro
pecuniam intulerunt, et post determinata necessaria loca rursus eum
agrum vendiderunt, ut in suis finibus proprium jus tam res
publica, quam privata haberent
. Val. Max. V. 6. 8, L. 12 pr.
de relig. (11. 7)
.
159).
Man vergleiche z. B. die Ehe mit den Obligationen, eine Miſſions-
geſellſchaft mit einer Handelsgeſellſchaft u. ſ. w.
160).
Der bekannte Ausſpruch von Tacitus: Plusque valent ibi boni
mores, quam alibi bonae leges.
161).
z. B. in England, Nordamerika, wo dies von manchen Anhängern
der abſtracten Freiheit nicht ſelten mit naivem Erſtaunen und großer Unbe-
haglichkeit vermerkt worden iſt.
162).
Cic. pro Rosc. c. 6 … nennt die Frage von der Infamie eine
summae existimationis et paene dicam capitis (Exiſtenzfrage), pro Quint.
c. 8. capitis causa.
163).
Savigny Syſtem B. 2. §. 79—81.
164).
So z. B. Seneca de clementia I. c. 14. Erixonem equitem Ro-
manum memoria nostra, quia filium suum flagellis occiderat, populus in
foro graphiis confodit. Vix illum Augusti Caesaris auctoritas infestis
tam patrum, quam filiorum manibus eripuit.
165).
Derartige Beſchränkungen ſind die über den Verſchwender verhängte
Entziehung der Vermögensverwaltung, die Beſchränkung des dem Vater zu-
ſtehenden Rechts, den Sohn zu verkaufen, auf dreimalige Ausübung, das
Zinsmaximum u. a. m.
166).
z. B. Verhängung der Todesſtrafe über den Sohn von Seiten des
Vaters, Auflöſung der Ehe von Seiten des Mannes u. ſ. w. können durch-
aus gerechtfertigt und umgekehrt gar nicht zu entſchuldigen ſein; jenes, wenn
der Sohn ein todeswürdiges Verbrechen begangen, die Frau die Ehe ge-
brochen, dieſes, wenn gar kein oder kein hinreichender Grund vorliegt.
167).
Wenn ich mich entſchloſſen habe, dieſen nicht unbedenklichen Ausdruck
zu gebrauchen, ſo geſchah es nur aus Gründen der Darſtellung, namentlich
weil kein anderer Ausdruck ſo ſehr unſern Geſichtspunkt wiedergibt, daß das
Subjekt Grund und Quelle ſeines Rechts iſt (αὐτὸς νόμος). Im übrigen aber
hat mich die lichtvolle Abhandlung Gerbers über den Begriff der Autonomie
im Archiv für civ. Praxis B. 37, S. 35, die ſo eben in meine Hände kommt,
überzeugt, daß der eigenthümliche Begriff, den Manche nach Puchta’s
Vorgange mit dieſem Ausdruck haben verbinden wollen, eine dogmatiſche
Wahrheit überall nicht beanſpruchen kann. In dem von mir hier zu Grunde
gelegten vulgären Sinn iſt er nur ein anderer Ausdruck für Freiheit des
rechtlichen Willens, Dispoſitionsbefugniß u. ſ. w., aber nur für den vorliegen-
den Zweck bei der angegebenen Begriffsnüancirung, die er enthält, beſonders
brauchbar.
168).
d. h. ſoweit ſie für das Privatrecht, auf das wir uns beſchränken
werden, in Betracht kommen, alſo den letztgenannten nicht.
169).
Hinſichtlich ihrer würde nur beim Miteigenthum die ſtrenge Conſe-
quenz des Eigenthumsbegriffs (die einen Zwang zur Theilung ausſchließt)
zu einem praktiſch undenkbaren Reſultat führen und iſt darum im römiſchen
Recht auch verlaſſen (act. comm. dividundo).
170).
Die Ausnahme in L. 12 pr. de relig. (11. 7) gehört erſt der Kai-
ſerzeit an.
171).
Dirkſen über die geſetzl. Beſchränkungen des Eigenthums nach röm.
Rechte in der Zeitſch. für geſch. Rechtswiſſ. B. 2. Nr. 16.
172).
L. 21 de statulib. (40. 7) .. verba legis XII tabul: si aqua plu-
via nocet.
173).
Man hatte ſpäter die Wahl zwiſchen dem Wege des ältern Rechts
(legis actio) und dem des neuern, zog aber den letztern vor, weil er das
commodius und plenius jus enthalte (Gaj. IV. §. 31.), alſo war der
ältere, wenn für den Kläger weniger vortheilhaft, für den Beklagten minder
drückend.
174).
Außerdem ließe ſich von Beſtimmungen im landwirthſchaftlichen
Intereſſe die act. de tigno juncto in ihrer Anwendbarkeit auf die zum Wein-
bau verwandten fremden Pfähle nennen.
175).
Er kann alſo z. B. dem Nachbarn Licht und Ausſicht verbauen (L. 9
de S. P. U. 8. 2
), ihm das Quellwaſſer abgraben (L. 24 §. ult. L. 26 de
damn. inf. 39. 2
) u. ſ. w.
176).
Auch bei Ländereien (finis), aber hier hatte er eine religiöſe Be-
deutung. Dirkſen S. 413.
177).
Nur ſo lange ein Prozeß über die Sache ſchwebt, ſoll ſie nicht den
Göttern geweiht werden (L. 3 de litig. 44. 6). Das Uebertreten des Ver-
bots hatte die poena dupli zur Folge.
178).
Ein ſehr wirkſames Sicherungsmittel gegen böswillige Veräuße-
rungen des Schuldners lag für ſie übrigens in der alten Perſonalexekution.
179).
S. B. 1, S. 179. Es iſt nicht das Verwerfliche der Verſchwen-
dung als ſolcher, durch das dieſe cura motivirt wird, ſondern einer Ver-
ſchwendung des Familienguts (quando „bona paterna avitaque
disperdis“
), das auf die Deſcendenten hätte übergehen können („liberos-
que tuos ad egestatem perducis.“
So die Formel bei Paul. Sent. rec. III.
4 a.
§. 7).
180).
Von ihr wird §. 32 die Rede ſein.
181).
So z. B. Val. Max. III. 5. 2: … dolenter enim homines fere-
bant, pecuniam, quae Fabiae gentis splendori servire debebat,
flagitiis disjici.
Nach Ascon. in orat. de toga cand. p. 84. Orelli ward
C. Antonius von den Cenſoren aus dem Senat geſtoßen, weil er Schulden
halber ſeinen Grundbeſitz veräußert hatte.
182).
Labonlaye Recherches sur la condition civile et. politique des
femmes. Paris 1843
. S. 25, 65 fl.
183).
So iſt z. B. in der in Anmerk. 181 citirten Stelle von Val.
Max.
die Rede von der nimia indulgentia eines Vaters, der ſeinen
verſchwenderiſchen Sohn zum Erben eingeſetzt hatte, während er ihn im In-
tereſſe der gens hätte enterben ſollen: quem nimia patris indulgentia here-
dem reliquerat, publica severitas exheredavit
(d. h. durch die cura prodigi).
183a).
Roßbach Unterſ. über die röm. Ehe S. 429 macht beiläufig darauf
aufmerkſam, daß die alten Landlooſe von 7 Jugera ſich bis in die ſpäte Zeit
ungetheilt erhielten. Val. Max. IV. 4. §. 6, 7, 8, 11. Daraus aber, daß
„ſelbſt nach dem Tode des Vaters ſich häufig die Söhne mit ihren Familien
nicht von einander trennten, gemeinſam das Erbgut bebauten“ u. ſ. w. (Plut.
Aem. Paul. c. 5, Cato maj. 24, Val. Max. IV, 4, 8
) läßt ſich dies nicht
erklären, denn ein ſolches Gemeinſamkeitsverhältniß ließ ſich zur Noth zwei
bis drei Generationen fortſetzen, nicht aber Jahrhunderte lang.
184).
Plin. H. N. 18. 7: Latifundia perdidere Italiam.
185).
Ich verweiſe auf die bekannte Schrift von Huſchke: Ueber die
Stelle des Varro von den Liciniern. Die beiden andern Beſchränkungen die-
ſes Geſetzes werden in §. 34 berückſichtigt werden.
186).
Das Geſetz war alſo eine lex imperfecta. Huſchke a. a. O. S.
15. Anm. 33.
187).
Davon wird an einer andern Stelle die Rede ſein.
188).
Man verſteht es bekanntlich als 8⅓ p. C. (jährlich ein Zwölftheil,
uncia, des Kapitals).
189).
Sane vetus urbi foenebre malum. Tacit. Ann. VI. 16.
190).
Tac. ibid: multisque plebiscitis obviam itum fraudibus, quae
toties repressae miras per artes rursus oriebantur.
z. B. Liv. II. 31.
XXXV.
7.
191).
Tac. ibid: cum antea ex libidine locupletium ageretur.
192).
Vor allem durch die Zinſeszinſen (Anatocismus), z. B. Liv. VI. 14
193).
z. B. die novae tabulae (S. 78). Daher auch z. B. der Haß der
Patricier gegen den M. Manlius, deſſen Beſtrebungen für die ökonomiſche
Lage der Plebs einen politiſchen Endzweck hatten. (Liv. VI. 14—20.)
194).
z. B. Liv. II. 23. VI. 14.
195).
Genucius. Liv. VII. 42.
196).
Von ihnen wird darum an einer andern Stelle die Rede ſein.
192).
multiplici jam sorte soluta mergentibus semper sortem usuris ob-
rutum foenore esse.
W. Sell, Ueber das Verbot der Zinſen supra duplum
in ſeinen und K. Sells Jahrbüchern. B. 1, Nr. 1.
197).
Wie bereits B. 1, S. 122 geſchehen und bei der Theorie des ſub-
jektiven Willens näher motivirt werden wird.
198).
Gell. XX. 1. Nihil profecto immitius, nihil immanius, nisi ut re
ipsa apparet eo consilio tanta immanitas poenae denunciata est, ne ad
eam unquam perveniretur .... dissectum esse antiquitus neminem
equidem neque legi, neque audivi
(dem Africanus in den Mund gelegt).
199).
Von einer ſolchen dem Rechte nach unwirkſamen, aber faktiſch
den Zweck erreichenden Beſchlagnahme des Vermögens der Schuldner, na-
mentlich der abweſenden, iſt bei Livius öfter die Rede, ſo z. B. II. 24 .. ne
quis militis, donec in castris esset, bona possideret aut venderet.
200).
Sei es bloß zu vorübergehenden einzelnen, wodurch die Freiheit
nicht afficirt wurde, ſei es zu einem dauernden Zuſtand der Dienſtbarkeit, der
den Genuß der politiſchen Rechte ſuspendirte. Varro de re rust. I. 17 ſagt,
man gebrauche zum Landbau außer den Sklaven auch freie Perſonen, und zwar
Tagelöhner; oder: ii quos obaeratos (al. obaerarios, nicht Verurtheilte,
Addicirte, ſondern Verſchuldete) nostri vocitaverunt et etiam nunc sunt
in Asia atque Aegypto et in Illyrico complures. Varro L. L. VII. 5.
§. 105: Liber qui suas operas in servitute pro pecunia quadam de-
bebat, dum solveret, nexus vocatur ut ab aere obaeratus.
Auch die
Kinder der Schuldner nahm man in Ermangelung ihrer ſelbſt, Liv. II. 24 ..
neve liberos nepotesve moraretur. VIII. 28: cum ob aes alienum pater-
num se nexum dedisset
und liberumque suorum respectu. Von der beim
alten Exekutionsverfahren vorübergehend vorkommenden Feſſelung ohne
Verpflichtung
zur Dienſtbarkeit war dieſer dauernde durch Vertrag
(nur freilich nicht Selbſtmancipation) begründete, die Exekution abwehrende
Zuſtand der Dienſtbarkeit innerlich verſchieden, wenn gleich äußerlich ſehr ähn-
lich, da auch die Feſſeln der XII Tafeln hier nicht fehlten. Die lex Poetelia
Papiria
(Liv. VIII. 28) hob das nexum in dieſem Sinn (nicht in dem
einer liquiden Schuld) auf; ſoweit die Schuldner auch jetzt noch durch Dienſt-
leiſtungen an den Gläubiger ihre Schuld abzuverdienen ſuchten, woran ſie
Niemand hinderte, blieben ſie wenigſtens frei, behielten den Genuß ihrer
politiſchen Rechte und konnten, wenn der Gläubiger ſie ſchlecht behandelte,
jeden Augenblick die Dienſtleiſtungen ſiſtiren. Zu einer ähnlichen Anſicht ge-
langt auch Burchardi, Lehrbuch des röm. Rechts. Th. 2. §. 129.
198).
War es denn nicht am Ende eine leere Drohung? Es wäre einem Schuldner
nicht zu rathen geweſen, ſich darauf zu verlaſſen, denn wenn er auch ein
eigentliches Viertheilen nicht ernſtlich zu beſorgen hatte, ſo konnte doch, wenn
er trotzig blieb, der eine oder der andere von ſeinen Gläubigern den Verſuch
machen, welchen Eindruck das Abſchneiden einzelner Theile, der Finger, Naſe,
Ohren u. ſ. w. auf ihn machen würde, und der Schuldner und deſſen Ver-
wandte, Freunde u. ſ. w. ließen es ſchwerlich zur wirklichen Probe kommen.
201).
Als Strafe des Wuchers wird genannt eine öffentliche Anklage und
ſchwere Geldſtrafe Liv. X. 23, und eine Privatklage aufs Vierfache mit ma-
nus injectio (Gaj. IV. 23. Cato de re rust. in praef.).
202).
Eine Verletzung derſelben durch Grauſamkeit und Willkühr gegen
die Schuldner führte nicht ſelten zu Unruhen und Aufläufen, die für die
Gläubiger ſehr gefährlich werden konnten. So z. B. Liv. II. 27: metusque
omnis et periculum libertatis in creditores a debitoribus verterat. VI,
14. VIII,
28.
203).
S. oben S. 13.
204).
Bei der alſo der Teſtator ſeinen letzten Willen den Zeugen zu offen-
baren hatte. Man denke ſich aber nur die Sache, wie ſie ſich von ſelbſt
machen mußte. Die Zeugen, die der Teſtator zuzog, waren doch keine wild-
fremden Leute, ſondern näher ſtehende Perſonen, die ſein Vertrauen be-
ſaßen, mit denen er ſich beſprach und die ihm zureden konnten, ja die ſich im
äußerſten Fall weigern mochten, zu einem Teſtament von ſolchem Inhalt mit-
zuwirken. Freilich konnten ſie ihn nicht hindern, ſeinen Willen, wenn er dabei
205).
Beruht auf dieſer Vorſtellung vielleicht der Gegenſatz der beiden
Ausdrücke, mit denen das ältere Recht das Vermögen bezeichnet, familia
(Ausgangspunkt: das Haus ſ. Note 214) und pecunia (Ausgangspunkt: pe-
cus
)? Vom Vermögen des Volks wird nur pecunia gebraucht, nicht fami-
lia,
es hat keine Beziehung zur hausherrlichen Gewalt, iſt ein bloßes Werth-
objekt (wie das peculium des Sklaven).
204).
beharrte, auch durchzuſetzen, aber es war doch vorher Gelegenheit gegeben
auf ihn einzuwirken. Die alte Teſtamentsform erſetzte vielleicht die querela
inofficiosi testamenti,
wie umgekehrt das Aufkommen ſchriftlicher Teſta-
mente auf die Einführung dieſer Klage einen großen Einfluß geübt haben mag.
206).
Durch das fas ſ. die ſchöne Stelle von Cicero pro domo c. 41:
Quid est sanctius, quid omni religione munitius, quam domus uniuscu-
jusque civium? Hic arae sunt, hic foci, hic dii penates, hic sacra, reli-
giones, caeremoniae continentur. Hoc perfugium est ita sanctum, ut
inde abripi neminem fas sit.
Durch das jus: L. 18 de in jus voc. (2. 4.)
Plerique putaverunt nullum de domo sua in jus vocari licere, quia do-
mus tutissimum cuique refugium atque receptaculum sit eumque, qui
inde in jus vocaret, vim inferre videri. L. 21 ibid. Sed etsi qui domi est
interdum vocari in jus potest, tamen de domo sua nemo extrahi debet.
206a).
S. die L. 18 in der vorhergehenden Note.
207).
Geib, Geſchichte des röm. Krim. Prozeſſ. S. 354. Die Beiſpiele ſind
aus Ciceros Zeit, aber nichts deutet darauf hin, daß es früher anders geweſen.
208).
Gaj. III. §. 186 fl. Das Geſetz kannte zwei Arten: die unfeier-
liche, die, wenn ſie die Auffindung der geſtohlenen Sache zur Folge gehabt,
die Strafe des triplum nach ſich zog (act. furti concepti. Davon die §.
186, 187) und die feierliche (per linteum et lancem), die nur eintrat, wenn
der Verdächtige ſelbſt es wünſchte, dafür aber die Strafe des quadruplum
nach ſich zog (§. 192, 193).
209).
Gaj. III. §. 192.
210).
z. B. Gaj. III. §. 190, 191. B. 1, S. 129.
211).
In der öffentlichen Vollmacht des Anklägers (lex, Geib, S. 285).
212).
Cic. in Verr. IV. 66 … Ille contradicere … Quid multa?
nisi vehementius homini minatus essem, nisi legis sanctionempoe-
namque
recitassem, tabularum mihi potestas facta non esset.
213).
Eine ſinnreiche Anwendung iſt davon kürzlich auf die servitus one-
ris ferendi
gemacht von Rud. Elvers, Servitutenlehre B. 1, S. 61.
214).
Auch das Vermögen allein (z. B. familiae erciscundae judicium,
ex familia Cassia Liv. II.
41) und die Familie allein. Die richtige etymo-
logiſche Ableitung des Wortes ſ. bei Roßbach Unterſuchungen über die rö-
miſche Ehe S. 14 (Sanskr.: dhâ ſetzen, dhâman Sitz, Wohnſitz, Haus;
Uebergang des dh in f wie anderwärts z. B. ϑήϱ in fera. Alſo familia der
Hausſtand, das Hausweſen, familiaris und famulus der Hausgenoſſe, Haus-
Freund. So iſt daher die Ueberſetzung von paterfamilias, filiusfamilias,
Hausvater, Haus ſohn ganz zutreffend. Aehnlich im Griechiſchen οἶκος
das Haus und ſodann 1. Vermögen, 2. Familie; οἰκέται Frau, Kinder,
Sklaven. Daher amicus (ἅμα οἶκος) Hausfreund nach der Ableitung von
Ballhorn-Roſen zur Vorgeſch. des röm. Rechts I. S. 14.
215).
z. B. in L. 195 §. 2 de V. S. (50. 16) paterfamilias, qui in domo
dominium
habet. Ennius
bei Cic. de off. I. 39: O, domus antiqua, heu,
quam dispari dominare domino; nec domo dominus, sed domino domus
honestanda. de finib. I. 18: nec in discordia dominorum domus.
Ich
würde trotzdem Bedenken tragen dominus von domus abzuleiten, da nach
Festus: Dubenus apud antiquos dicebatur, qui nunc dominus. Freund
Wörterbuch Artikel: dominus erklärt ſich aber dafür. Eine Ableitung, die
in dieſen Tagen verſucht iſt (Ballhorn-Roſen a. a. O. S. 105 fl. δῶ,
δόμενος, dare sc. thura, vinum, exta, victimam u. ſ. w. = opfern,
dominus = der Opfernde) erinnert an die Erklärung von opus (sc.
apium)
als Honig. Ebenſo gut könnte man aus dominus einen Schrei-
benden, Rathgeber, Beſtraften machen (dare sc. literas, consilium, poe-
nas).
Bei ſolcher Methode iſt es freilich leicht, wie der Verf. ſich vorgeſetzt
zu haben ſcheint, das ganze alte Recht mit einem roſenrothen Heiligenſchein
zu übergießen und die lateiniſche Sprache mit einem Reichthum von Aus-
drücken für „opfern“ zu bereichern, mit dem ein Dutzend andere Sprachen zu-
ſammengenommen es nicht würden aufnehmen können.
216).
Ebenſo ſcheint der Ausdruck herus (unſer „Herr“), mit dem noch
bei Plautus die Sklaven durchgehends ihren Herrn bezeichnen, und der
auch in der lex Aquilia vorkam (L. 11 §. 6 ad leg. Aq. 9. 2), ſich auf
das Eigenthum beſchränkt zu haben; für den Ehemann kommt er nur Ein
Mal vor, Catull. 81, 116.
217).
potis der Ernährer (potus der Trank u. ſ. w.), Herr, δεσπότης.
218).
z. B. Vermögen (in dieſem Sinn in der lex Atinia über die Uſuca-
pion der res furtivae: in potestatem reverti. L. 4 §. 6 de usurp. (41. 31.)
Tutel (vis ac potestas in capite libero. §. 1 I. de tutel. [1. 13]). Eheliche
Gewalt (in potestatem viri cedit. Serv. ad Aen. 4. 103) ſ. Roßbach a. a.
O. S. 28.
219).
S. B. 1, S. 112.
220).
Aber abgeſehn von den Compoſitis manumittere, mancipium
u. ſ. w. auch hie und da in ſeiner ältern und weitern Bedeutung vorkommt.
S. Beweisſtellen bei Roßbach a. a. O.
221).
z. B. von Chriſtianſen dem Aeltern die Wiſſenſchaft der röm. Rechts-
geſchichte B. 1, S. 136 fl. und jetzt auch, wie es ſcheint ohne Kenntniß ſei-
nes Vorgängers, von Roßbach, S. 10—41.
222).
Darum heißt es ja von der Frau in mann geradezu: ſie ſei filiae
familias loco Gaj. III.
24 d. h. die manus wirkt daſſelbe Verhältniß, wie
die patr. pot.
223).
Das deutſche Munt, Mundium iſt das römiſche manus, Hand;
beide haben urſprünglich dieſelbe Bedeutung und denſelben Inhalt gehabt.
Grimm Rechtsalterthümer S. 447: „Die ächte im Mundium des Mannes
gründende Ehe hat ganz die Wirkungen der römiſchen conventio in manum.
S. 450: „Aus dem Mundium der Frau fließen noch andere Rechte, er durfte
ſie gleich ſeinen Knechten und Kindern züchtigen, verkaufen, tödten.“
Alſo gerade dieſelbe Ausdehnung der Gewalt, die der neueſte Verfechter ſpe-
zifiſch germaniſcher Sittlichkeit, Schmidt in dem öfter angeführten Werk, an
dem römiſchen Recht ſo ächt römiſch-unſittlich findet. Um ein für alle Mal
an einem recht eklatanten Beiſpiel zu zeigen, mit welcher Befangenheit der
Verf. zu Werke geht, mit wie ganz andern Augen er das römiſche und das
deutſche Recht betrachtet, will ich ſeine Charakteriſtik der römiſchen und deut-
223).
ſchen Familiengewalten wählen. Daß manus und munt etymologiſch und
ſachlich urſprünglich Zwillingsſchweſtern waren, ſcheint ihm nicht bekannt ge-
weſen zu ſein; bei ihm erinnert nichts auch nur an die Denkbarkeit einer Aehn-
lichkeit zwiſchen beiden. „Die Natur des Herrſchaftsverhältniſſes, das der
Mann in der ſtrengen Ehe über die Frau hat, ſpricht ſich auch in dem tech-
niſchen Wort manus aus, das eben nichts anderes bezeichnet, als die auf
der phyſiſchen Stärke des Arms beruhende faktiſche Herrſchaft (und die
munt?!); die Ehefrau iſt in manu mariti heißt wörtlich: ſie iſt in der
Hand des Mannes.“ Schrecklich! wer malt ſich nicht mit Schaudern und
Grauen dieſes Bild weiter aus?
Wie geht es nun aber der glücklicheren Schweſter, der guten deutſchen
Munt? In naiver Unbefangenheit hat ſie ihre Abkunft und die eigentliche
Bedeutung ihres Namens vergeſſen, verräth uns alſo nicht mehr, daß auch
die Germanen ihre Frauen „in der Hand“ gehabt haben (was ſonſt vielleicht
auf die Idee gebracht haben würde, daß die manus der Römer nicht minder
wie die Munt der Germanen nicht bloß zum Prügeln, ſondern auch zum
Schützen verwandt worden ſein mag). Die deutſche Munt hat das Glück
uns in einem Compoſitum erhalten zu ſein, das für ſie ſofort das günſtige Vor-
urtheil eines edlen ſittlichen Charakters erweckte, in dem der Vormundſchaft.
Das iſt nun ein unendlich ergiebiges Moment zur Charakteriſtik des deutſchen
Familienrechts. Dadurch nämlich, daß die väterliche Gewalt und die Ehe
vom Verf. als Fälle der Vormundſchaft angeführt werden (S. 197, 202),
hat er ſich mit dieſem Einen Wort einen Born erſchloſſen, aus dem die
Charakteriſtik dieſer Inſtitute ſchöpfen kann, ohne etwas anderes nöthig zu
haben, hat er einen Ton angeſchlagen, der in verwandten Ohren lange nach-
hallt und allein ſchon genügt, um das ganze Geklingel germaniſcher Sitt-
lichkeits-Melodien hervorzurufen. — Ob ein ſolches Verfahren die Behand-
lung verdient, die ich demſelben hier habe angedeihen laſſen, glaube ich getroſt
dem Urtheil des Leſers anheimſtellen zu dürfen.
224).
Wenn man dafür außer der innern Aehnlichkeit des Eigenthums
und jener Gewaltverhältniſſe, von der in der folgenden Note die Rede ſein
wird, auch derartige Gründe geltend macht, wie z. B., daß die XII Tafeln
in dem Satz: uti legassit u. ſ. w. unter sua res ſelbſt Kinder und Frau ver-
ſtanden, ſie alſo als res angeſehen hätten, ſo iſt dies nichts beſſer, als wenn
ein gelehrter Forſcher kommender Jahrhunderte unſerer heutigen Zeit wegen
des Gebrauchs ähnlicher Worte, z. B. Haus („Ich und mein Haus wollen“
u. ſ. w.), Eigen („Ach, wenn Du wärſt mein eigen!“) eine ähnliche An-
ſchauungsweiſe unterlegen wollte!
225).
Man denke z. B. an das Miteigenthum (alſo mehre Ehemänner
derſelben Frau, mehre Väter deſſelben Kindes!), an letztwillige Verfügungen
über das Eigenthum (alſo Legat der manus und patr. pot.!), Occupation,
Dereliktion, Litis Aeſtimation u. ſ. w. Daß die mancipatio (bei der Ehe
als coemptio), in jure cessio, usus (zwar bei der manus, aber nicht bei der
patr. pot.), die Vindicatio (condictio furtiva bei Sachen und Sklaven, aber
nicht bei Kindern L. 38 §. 1 de furtis) u. ſ. w. auch auf jene Gewaltverhält-
niſſe angewandt werden, kann nur für den etwas Verführeriſches haben, der
von der fixen Idee ausgeht, daß dieſe Formen und Rechtsmittel zuerſt beim
Eigenthum ausgebildet und von dieſem auf die andern Gewalten übertragen
worden ſeien — eine Idee, die keine Widerlegung verdient.
226).
Im neuern auch zu Gunſten der Gläubiger — die act. de peculio
des prätoriſchen Edikts.
227).
Wie es faktiſch ſich machte, davon nachher.
228).
Ebenſo für das ältere deutſche Recht, Grimm Rechtsalterth. S.
342 fl. Daher die Rechtsparömie: er iſt mein eigen, ich mag ihn ſieden oder
braten (daſ. S. 345) — die ſchwerlich im römiſchen Recht hätte vorkommen
dürfen, ohne daß man darin einen ſchlagenden Beweis der empörenden Un-
ſittlichkeit des römiſchen Rechts erblickt hätte.
229).
Ulp. XIX. 20.
230).
L. 24—27 comm. div. (10. 3) — L. 26 de usufr. L. 9 in quib.
caus. pign.
(20. 2).
231).
L. 1 §. 3 de injur. (47. 10). Juriſtiſch mußte ſie unter den Geſichts-
punkt einer mittelbaren Injurie gegen den Herrn gebracht werden, aber wenn
232).
Gell. V. 19: Alioquin si juris ista antiquitas servetur (nach
neuerm Recht nämlich war es unpraktiſch) etiam servus a domino per Prae-
torem dari in adoptionem potest, idque ait (Masurius Sabinus) pleros-
que juris veteris auctores posse fieri scripsisse.
233).
L. 3 §. 3 de statul. (40. 7).
231).
der Sklav hier nur als Thier gegolten hätte, ſo hätte z. B. bei Körperver-
letzung nicht die Injurienklage, ſondern die act. leg. Aquiliae gegeben wer-
den müſſen.
234).
L. 3 §. 1 de statulib. (40. 7): Et parvi refert, de peculio ei
offerat an ab alio accepta, receptum est enim, ut servus peculiares quo-
que nummos dando perveniat ad libertatem.
235).
Die alte Regel: quotiens per eum fit, cujus interest conditio-
nem non impleri, quominus impleatur, perinde habendum est, ac si im-
pleta conditio fuisset, L. 161 de R. J.
(50. 17) ſcheint urſprünglich gerade für
dieſen Fall aufgeſtellt und erſt ſpäter auf andere Verhältniſſe ausgedehnt worden
zu ſein. Fest. sub voc. statuliber. Ulp. fr. II. §. 5, 6. L. 24 de cond. (35. 1).
236).
Der Verkauf von Seiten des Erben ſchadete alſo nichts, denn die
Sache behielt ihre rechtliche Qualität (d. h. unter einer Bedingung Perſon zu
werden) auch beim Käufer bei. Bei den res publicae wurde die rechtliche
Beſtimmung derſelben für den allgemeinen Gebrauch in derſelben Weiſe er-
wirkt. Auch bei ihnen nämlich verlegte man das Recht, welches dem Sub-
jekt (allen Bürgern) zugedacht, aber als ſolches juriſtiſch nicht zu conſtruiren
war, in die Sache hinein, erreichte den gewünſchten Zweck, indem man der
237).
Das Gegenſtück zu dieſem Anfang der Perſon tritt beim Ende der-
ſelben ein, nämlich der Uebergang der Perſon zur Sache. Unter der Schale
der Perſon (fingirte Perſönlichkeit der hered. jac., ein durch die hiſtoriſchen
Prämiſſen der römiſchen Jurisprudenz nöthig gewordener Geſichtspunkt) ver-
birgt ſich hier eine Sache: das Vermögen.
238).
L. 17 de statul. (40. 7.) .. haec mens fuit constituentium, ut
quasi ex patrimonio suo dandi eo nomine servo potestas esset.
239).
z. B. hinſichtlich der Frage, ob eine Forderung entſtanden, L. 49
§. 2 de pec. (15. 1). Ut debitor vel servus domino vel dominus servo
intelligatur, ex causa civili computandum est … nuda ratio
(der bloße
Wille, Schuldner zu ſein) eum non facit debitorem, hinſichtlich des Er-
werbs der Sachen das Requiſit der Tradition, L. 8 ibid; ferner L. 21. pr.
de statul.
(40. 7).
240).
Factum magis demonstramus, quam ad jus civile referimus
obligationem. L. 41 de pec.
(15. 1).
236).
Sache eine abſolute und unvertilgbare rechtliche Qualität
zuſchrieb.
241).
Wie ſpäter bei der dem dritten Syſtem angehörenden act. de pe-
culio.
242).
Ulp. fr. II. §. 4 .. emptori dando pecuniam ad libertatem per-
veniet idque lex XII tab. jubet. L. 25, L. 29 §. 1 de statul.
(40. 7).
243).
Ein anderes Verhältniß, in dem in Einer Beziehung wenigſtens die
abſolute Rechtloſigkeit der Sklaven hintenangeſetzt wurde, war das der servi
publici;
ſie hatten nämlich das Recht über die Hälfte ihres Vermögens zu
teſtiren, Ulp. fr. XX. §. 16, aber ſchwerlich gehört dieſe Singularität ſchon
dem ältern Recht an.
244).
z. B. Schweppe röm. Rechtsgeſch. §. 343, der letzteres ſogar noch
245).
Die Beiſpiele ſchmählicher Grauſamkeit und Unmenſchlichkeit, nach
denen man ſich ſeine Vorſtellung von der römiſchen Sklaverei zuſchneidet,
rühren, ſoweit ich ſehen kann, alle erſt aus der ſpätern Zeit.
244).
für milder hält! Auch Zimmern Geſch. des röm. Privatr. §. 180 läßt erſt
„nach und nach den Zeitgeiſt mildernd eingreifen.“
246).
Gallus von Becker. Aufl. 2. von Rein. B. 2, S. 87 fl. (Abh.
von Rein).
247).
Bei den griechiſchen Sklaven ſtellte ſich das Verhältniß bekanntlich
oft gerade umgekehrt, aber der natürliche Einfluß der Bildung verläugnete
ſich auch bei ihnen nicht. Zwiſchen einem feingebildeten griechiſchen Sklaven,
der dem Herrn als Vorleſer, Sekretär, Erzieher ſeiner Kinder u. ſ. w. diente,
und einem rohen Barbaren, der nur zu knechtiſchen Dienſtleiſtungen verwandt
werden konnte, war zwar im Recht kein Unterſchied vorhanden, aber hin-
ſichtlich ihrer faktiſchen Stellung ein ungeheurer.
248).
Bezeichnend für die ſociale Stellung der Sklaven in alter Zeit iſt,
daß Serv. Tullius nach der Sage das Kind einer Sklavin geweſen ſein ſoll,
ebenſo daß das ältere Recht die Adoption eines Sklaven kannte.
249).
Dionys. VII. 73. Plutarch. Coriolan. 25.
250).
S. die Belege bei Gallus von Becker. Aufl. 2. B. 2, S. 91.
(Abh. von Rein.)
251).
Plinius Hist. nat. XXXIII. 10 berichtet von einem Römer zur
Zeit des Auguſt, der, obgleich er in den Bürgerkriegen viel verloren, doch
über 4100 Sklaven hinterließ. Aehnliche Zahlen kommen öfter vor. Becker
a. a. O. S. 92, 93.
252).
Plutarch. Coriolan. c. 24.
253).
Sie aßen mit der Familie an demſelben Tiſch. Becker a. a. O. S.
117. Andere Züge hat Roßbach in dem genannten Werke S. 24 fl. geſam-
melt, bei dem ſich überhaupt eine richtige Anſchauung des Verhältniſſes findet,
was man von Becker nicht rühmen kann. Roßbach hat namentlich auch die reli-
giöſe Beziehung des Sklaven zum römiſchen Hauſe hervorgehoben (z. B. der
Sklav konnte Opfer verrichten, nahm die Luſtration des Ackers vor, die villica
richtete an gewiſſen Tagen ein Gebet an die Laren, die Diana war die Schutz-
göttin der Sklaven, die Grabſtätte der Sklaven war locus religiosus u. ſ. w.).
Dies möchte um ſo eher zu beherzigen ſein, als in dieſen Tagen ein Verſuch
gemacht iſt, den Unterſchied zwiſchen Freiheit und Sklaverei, wie überhaupt
faſt das ganze alte Recht, etymologiſch auf den religiöſen Geſichtspunkt zu-
rückzuführen (liber der libirende, ſpendende, servus alſo die Negation). Ein
helles Licht auf das Verhältniß wirft auch die ſchöne Sitte, daß an den Sa-
turnalien die Sklaven von ihren Herren bedient wurden.
254).
Seneca V. 6. Ne illud quidem videtis, quam omnem invi-
255).
Dionys. XX. 3.
256).
z. B. Cato c. 57 über die Weinration. Val. Max. IV. 3. 7 (von
ſeiner Zeit): a servis vix impetrari potest, ne eam supellectilem fasti-
diant, qua tunc consul uti non erubuit.
Die Rationen waren ſo zugemeſ-
ſen, daß ein Sklav durch Verkauf des Ueberſchuſſes ſich etwas erübrigen
konnte, und dies war ihm in der Regel unverwehrt.
257).
z. B. L. 15 §. 2 de usufr. (7. 1) sufficienter autem alere et
vestire debet (usufructuarius) secundum ordinem et dignitatem
mancipiorum
.
254).
diam nostri dominis, contumeliam servis detraxerint; dominum pa-
trem familias appellaverunt, servos, quod etiam in mimis adhuc durat,
familiares.
258).
Varro I. 17. Colum I. 8. Der Herr ſolle ſie zutraulich behandeln,
mit ihnen ſcherzen, ſie um Rath fragen, den Verwalter an Feſttagen zur
Tafel ziehen u. ſ. w.
259).
c. 143.
260).
So erklärt es ſich, daß es ihm auch beim Verkauf gelaſſen zu wer-
den pflegte, Varro II. c. 10 peculium solet accedere, und ſelbſt bei Frei-
laſſungen war dies ſo gewöhnlich, daß dafür eine rechtliche Vermuthung auf-
geſtellt ward. Vat. fragm. §. 261.
261).
Für die familia rustica räth Varro I. 17 dem Herrn an, dem Skla-
ven zu verſtatten, ein Stück Vieh mit auf die Weide zu treiben. — Es möge
erlaubt ſein, an dieſer Stelle für die im erſten Bande S. 235 verſuchte Er-
klärung des Pekuliums einige poſitive Zeugniſſe nachzutragen, nämlich Varro
de lingua lat. V. §. 95 (ed. Müller) peculatoriae oves aliudve quid, id
enim peculium primum. Varro de re rust. I. c. 2: non solum adimis
domino pecus, sed servis peculium, quibus domini dant ut pascant

und ibid. c. 17 .. concessioneve, ut peculiare aliquid in fundo pas-
cere liceat.
262).
z. B. Virgil. Ecloga I. 33 nec spes libertatis erat nec cura pe-
culii. Cic. in Verr. III.
28.
263).
Daher die Verbindung der spes libertatis und des peculium, wie
in der Stelle der vorigen Note und beim statuliber.
264).
Hor. Sat. II. 7, 79. Vicarius est, qui servo paret. S. Becker
a. a. O. S. 94, 95. Es kommen ſehr reiche Sklaven vor. Becker, S. 120.
265).
z. B. L. 14 pr. de statul. (40. 7).
266).
So wird es erklärlich, was Suet. de grammaticis c. 21 berichtet, daß
der Grammatiker Cajus Melissus permansit in statu servitutis praesen-
temque conditionem verae origini
(er war frei geboren, aber von ſeinen
Eltern ausgeſetzt worden) anteposuit.
267).
z. B. zur Zeit der Bürgerkriege die Sklaven der Proſcribirten. Val.
Max. VIII. 8 de fide servorum.
268).
Siehe z. B. was Columella I. 8 von ſich berichtet.
269).
In dieſer Vorausſetzung ward ſie eingeführt, Liv. VII. 16: Pa-
tres, quia ea lege haud parvum vectigal inopi aerario additum fuis-
set, auctores fuerunt.
Dieſes Geld (aurum vicesimarium) wurde im aera-
rium sanctius
für Nothfälle aufbewahrt. Im Jahre 543 nahm man nicht
weniger als 4000 Pfd. Gold daraus. Liv. XXVII. 10.
270).
Daß ein römiſcher Juriſt ſich auch hier nur an das abſtract Recht-
liche hält, iſt ganz in der Ordnung. Aber bei Nichtjuriſten findet ſich doch
jene Vorſtellung z. B. Seneca ep. V. 6, wo er der Saturnalien gedenkt,
als an welchen die Sklaven die Rolle der Herren ſpielten und zwar honores
illis in domo gerere, jus dicere permiserunt.
271).
Die patr. pot. betrachteten die Römer der ſpätern Zeit als etwas
ganz beſonderes, was ſich nur bei ihnen finde (Gaj. I. §. 55), während daſ-
ſelbe Maß der Gewalt gegenüber den Sklaven ihnen als etwas ganz regulä-
res, überall vorkommendes erſchien (Gaj. I. §. 52) und umgekehrt die ſpätere
Beſchränkung deſſelben als etwas eigenthümliches (Gaj. I. §. 53).
272).
Der Freiheit und Unfreiheit. Daher die Kinder die Freien, liberi,
genannt. Der Unterſchied äußerte ſich bei Lebzeiten des Herrn nur in ſtaats-
rechtlicher Beziehung, erſt mit dem Tode deſſelben auch in privatrechtlicher.
Denn die Sklaven blieben, was ſie waren, die Kinder hingegen wurden sui
juris
und ſetzten als ſolche, wenn der Vater ſie nicht enterbt hatte, die fa-
milia
fort, der ſie bisher nur paſſiv angehört hatten.
273).
Nicht bloß kein Vermögen, ſondern auch keine Gewalt über Perſo-
nen. Hinſichtlich der patr. pot. iſt dies zweifellos, hinſichtlich der manus be-
ſtritten, aber gewiß mit Unrecht. Denn wenn von einer manus des Sohnes
über ſeine Frau die Rede iſt, z. B. bei Gaj. II. §. 148, III. §. 3. Ulp. fragm.
XXII.
§. 14, ſo iſt dies nicht anders zu verſtehen, als: „wenn unſer Sohn,
den wir in der Gewalt haben, eine Ehe mitmanus eingegangen iſt,“ ohne
daß aber er ſelbſt damit als Innehaber der manus bezeichnet werden ſollte.
Die Hauptwirkung der manus, nämlich die vermögensrechtliche, war ja in
ſeiner Perſon völlig undenkbar. S. Gellius XVIII. 6: quae in mariti manu
mancipioque aut in ejus, in cujus maritus manu mancipioque esset.
274).
Gaj. I. §. 140.
275).
Wenn man jene Rechtsgeſchäfte ſchon in früherer Zeit kannte und
alſo auch eine Form dafür beſaß, wie konnte man auf den künſtlichen, durch
Worte der XII Tafeln, die hierauf gar keinen Bezug hatten, veranlaßten
Umweg (Gaj. I. §. 132) verfallen?
276).
Geltend gemacht durch die injuriarum actio Gaj. I. §. 141. Wann
und von wem ſie angeſtellt werden konnte, wird hier nicht geſagt; daß der
Sohn ſelbſt nicht klagen konnte, ſo lange er nicht sui juris geworden, läßt
ſich aber wohl als unzweifelhaft betrachten, bis dahin blieb alſo nur der
Mancipant als denkbares Subjekt der Klage übrig. Böcking, Inſtitut. §. 47.
277).
Als Mancipanten werden bei Gajus überall nur die parentes und
coemptionatores genannt, und der Mancipatar konnte nicht einmal zum
Zweck der noxae datio das Mancipium auf einen andern übertragen. Gaj.
IV.
§. 75, 80. Es erklärt ſich dieſe Eigenthümlichkeit ſehr wohl, wenn man
bedenkt, von welcher Wichtigkeit für Vater und Sohn die Perſon des Manci-
patars ſein mußte. Mit der Veränderung der Perſon hätte das Verhältniß
ſelbſt ſeinen Inhalt verändert, das Vertrauen, das man zu dieſer Perſon
hegte, hatte man nicht zu jeder andern u. ſ. w. Der juriſtiſchen Conſtruktion
nach lag hier ein Analogon der tutela cessitia (Ulp. fragm. XI. §. 7) vor,
für die neuerdings von Scheurl Beitr. B. 2. Abh. 1 ganz zutreffend der Ge-
ſichtspunkt einer rein perſönlichen Subſtitution aufgeſtellt iſt. Hinſichtlich der
Unübertragbarkeit iſt die Gleichheit beider Verhältniſſe unläugbar, ebenſo be-
währt ſie ſich daran, daß wenn das Recht des Mancipatars mit Ablauf des
Luſtrums erloſch, das des Cedenten, wie bei der tutela cessitia, wieder auf-
wachte. Wie weit ſie im übrigen ging, darüber laſſen ſich nur Vermuthungen
äußern.
278).
Daß die Frau kein Pekulium hätte haben können, iſt eine alles
Grundes entbehrende Idee. Plaut. Cas. II. 2, 26: nam peculii probam nihil
habere addecet clam virum
(alſo mit Einwilligung des Mannes wohl),
daß es aber bei ihr unendlich viel ſeltener vorkommen mußte, als bei Haus-
ſöhnen und Sklaven, lehrt doch wohl ein Blick auf das Verhältniß.
279).
Bekanntlich eine ſehr beſtrittene Frage. K. Wächter über Eheſchei-
dungen bei den Römern S. 63 fl. Haſſe Güterrecht der Ehegatten S. 133 fl.
u. 475 fl. Zimmern Rechtsgeſch. B. 2, S. 561.
280).
Plut. Rom. c. 22. Roßbach S. 134. Anm. 450 will die Worte
gar nicht einmal von der Mancipatio, ſondern von der Eheſcheidung verſtehen.
281).
Die coemptio. S. darüber Roßbach a. a. O. S. 67 u. fl.
282).
Gaj. I. §. 192.
283).
Cic. pro Flacco. c. 34.
284).
Gajus I. §. 192 berichtet, die geſetzlichen Tutoren (ſeiner Zeit) könn-
ten dem ſelbſtnützigen Zwecke der Geſchlechtstutel gemäß nur ausnahmsweiſe
zur Ertheilung ihrer Autoritas gezwungen werden. Ob das ältere Recht
ſchon ſolche Ausnahmen gekannt habe, möchte ich ſehr bezweifeln, ſchwerlich
aber wird der Fall im Text zu den Ausnahmen gehört haben. Man verge-
genwärtige ſich nur die Conſequenzen! Unter dieſer Vorausſetzung wäre
nicht die Frau in der Hand der Tutoren geweſen, wie uns für die ältere Zeit
bezeugt wird, ſondern umgekehrt die Tutoren in der Hand der Frau. Mit der
Drohung ſich zu verheirathen, hätte die Frau alles von ihnen erreichen kön-
285).
Ich finde ſie angedeutet bei Laboulaye Recherches sur la condi-
tion civile et politique des femmes. Paris
1842. S. 34, auch muß ſie nach
einem Citat bei Roßbach S. 242 vertheidigt ſein in einer Schrift, die mir
unbekannt iſt, nämlich Dorn-Seilfen de feminarum conditione apud Rom.
p.
12. 17. Die Idee von Roßbach ſelbſt halte ich nicht für richtig.
286).
Ein anderer Fall von weit geringerem Intereſſe, in dem gleichfalls
die Ehe ohne manus dadurch motivirt werden konnte, daß eine Ehe mit ma-
nus
nicht denkbar war, war der, wenn der Vater der Frau wahnſinnig oder
in feindlicher Gefangenſchaft war.
287).
Gegen die ſich jetzt auch Roßbach a. a. O. S. 162 u. fl. erklärt,
und die er durch die gediegene Kritik, der er ſie unterwirft, hoffentlich für im-
mer beſeitigt hat.
288).
Cicero pro Murena c. 12: Später handelte es ſich nicht mehr um
vermögensrechtliche Abhängigkeit vom Manne oder vom Tutor, ſondern um
eine wirkliche Abhängigkeit von jenem oder eine ſcheinbare von dieſem,
284).
nen, ſie hätte es ſtets in ihrer Macht gehabt, den ganzen Zweck der Tutel, die
Erhaltung des Vermögens in der Familie zu vereiteln.
289).
Bei den Komikern wird oft darauf Bezug genommen, ſ. Roßbach
a. a. O. S. 43, im ſpätern Recht ward dieſe Ausübung der patr. pot. bei
einem bene concordans matrimonium verboten. Paul. S. Rec. V. 6 §. 15.
L. 1 §. 5, L. 2 de lib. exh.
(43. 20).
288).
und bei dieſer Alternative begreift es ſich, daß die Frauen bei dem Geiſt der
ſpätern Zeit ſich für letztere d. h. für die Ehe ohne manus entſchieden.
290).
Ab intestato konnte die filia familias, ſo lange der Vater lebte,
nichts erben, teſtamentariſche Zuwendungen von dritten Perſonen kamen ge-
wiß kaum vor (ſie waren ja im Grunde nur Zuwendungen an den Vater
ſelbſt), alſo blieb nicht viel übrig, als die beiden Erwerbsquellen, welche
Plautus Casina III. 2. 28 nennt .. quin viro subtrahat aut stupro inve-
nerit.
Hierauf fußte auch die praesumtio Muciana.
291).
Das wird zwar nicht ausdrücklich geſagt, ergibt ſich aber doch
aus manchen Gründen, man denke z. B. nur an den ganzen Zweck dieſer
Tutel, wie er uns von den Römern ſelbſt bezeugt wird.
292).
Zimmern Röm. Rechtsgeſch. B. 2 §. 140.
293).
Die coemptio fiduciae causa.
294).
Einwilligung des Vaters war nicht nöthig (worauf die entgegenge-
ſetzte Behauptung von Roßbach a. a. O. S. 147 ſich ſtützen will, vermag
ich nicht einzuſehen) und ſelbſt der bloße Widerſpruch des Vaters ſchloß
ſchwerlich den usus aus, aber die patr. pot. bot ihm freilich das Mittel, die
Frau zur nsurpatio zu zwingen.
295).
Ich erinnere an die bekannten Vorſtellungen der Römer über undo-
296).
Cic. pro Flacco c. 34.
295).
tirte Frauen, ſ. z. B. Plaut. Trinum. III. 2. 64 .. infamis ne sim … in
concubinatum sic sine dote dedisse magis quam in matrimonium.
Be-
ſtellte doch ſogar mitunter bei Töchtern verdienter, aber armer Männer der
Senat aus dem Aerar eine dos. Val. Max. X. 4. 10.
297).
Man denke ſich z. B. das Capitel über das debitum conjugale als
Gegenſtand rechtlicher Regulirung (in der kaſuiſtiſchen Literatur der Tal-
mudiſten und Jeſuiten iſt darin unglaubliches geleiſtet) oder als Gegenſtand
der Verhandlung vor Ehegerichten; man erinnere ſich der Beſtimmung eines
neuern Geſetzbuchs, daß die Mutter die Tochter bei erreichter Mannbarkeit
über den geſchlechtlichen Beruf des Weibes aufzuklären habe u. ſ. w.
298).
L. 16 de furt. (47. 2.) Ne cum filio familias pater furti agere
possit, non juris constitutio, sed natura rei impedimento est, quod non
magis cum his, quos in potestate habemus, quam no-
biscum ipsi agere possumus
.
299).
Cic. de senect. 11. Quatuor robustos filios, quinque filias, tan-
tam domum, tantas clientelas Appius regebat et senex et caecus
… tenebat non modo auctoritatem, sed etiam imperium in suos, me-
tuebant servi, verebantur liberi, carum omnes habebant; vigebat illa in
domo patrius mos et disciplina.
300).
Festus sub plorare.
301).
Eine Klage des emancipirten Kindes war auch in Rom mög-
lich, und die Conſequenz hätte erfordert, ſie unbeſchränkt zuzulaſſen, allein
das römiſche Pietäts- und Schicklichkeitsgefühl war doch mächtiger, als ſelbſt
die römiſche Conſequenz. Die Klagen gegen die Eltern bedurften erſt der
ausdrücklichen Erlaubniß des Prätors L. 4 §. 1—3, L. 6—8 pr. de in jus
voc.
(2. 4) und wo ſie etwas für das Gefühl Verletzendes enthielten, ward
ihnen dieſelbe gewiß nicht zu Theil. Den Römern erſchien es erträglicher,
daß die Kinder von ihren Eltern Unrecht erduldeten, als daß letztere ohne die
dringendſten Gründe von ihnen vor Gericht gezogen würden.
302).
Von den Juriſten, die nur gewohnt ſind ſich an die Rechtsabſtractio-
nen zu halten, kann man es nicht anders erwarten, aber Philoſophen und
Philologen hätten hierin doch eher das Richtige treffen ſollen. Es kann aber
kaum etwas Verkehrteres geben, als was z. B. Hegel Philoſ. der Geſchichte.
Aufl. 2. S. 348 hierüber ſagt: „Im griechiſchen Leben war doch Fami-
lien-Liebe und Familien-Band vorhanden .... Dieſer Anfang des römiſchen
Lebens in verwilderter Rohheit mit Ausſchluß der Empfindungen der natür-
lichen Sittlichkeit bringt das Eine Element deſſelben mit ſich, die Härte gegen
das Familienverhältniß, eine ſelbſtiſche Härte, welche die Grundbeſtimmung
der römiſchen Sitten und Geſetze für die Folge ausmacht … S. 350: „So
entartet und entſittlicht ſehen wir hier die Grundverhältniſſe der Sittlichkeit.“
Aehnliche Urtheile bei Philologen. Daß Ruperti Handbuch der röm. Al-
terthümer. Thl. 1, S. 270 der Meinung iſt: „Auch das Familienleben konnte
die feinern Gefühle nicht wecken und beleben, denn nicht das zarte
Band der Liebe umſchlang und einigte die Glieder der Fa-
milie
(!), ſondern der Vater ſtand als dominus, als Herr ſeinem Hauſe
vor,“ wird man begreiflich finden, wenn man die Unſelbſtändigkeit des Verf.
kennt, aber daß ſelbſt ein ſo gründlicher Forſcher und genauer Kenner des rö-
miſchen Alterthums wie Rein (in der zweiten Ausgabe von Beckers Gallus
B. 2, S. 47 fl.) ſich hinſichtlich der patr. pot. von dem gewöhnlichen Vor-
urtheil nicht losreißen kann, beweiſt, wie feſt letzteres gewurzelt iſt. Uebri-
gens will ich mich feierlichſt verwahren, irgend einem Juriſten, Philoſophen
oder Philologen, der ohne mein Wiſſen eine richtigere Anſchauung des Ver-
hältniſſes dargelegt haben ſollte, mit der obigen Bemerkung zu nahe treten zu
wollen; es kam mir nur darauf an zu zeigen, welche verkehrten Vorſtellungen
im allgemeinen hier heimiſch ſind und damit einen Beleg für das B. 1, S. 47
über die herrſchende Methode gefällte Urtheil zu liefern.
303).
Das Zuſammenleben der 16 Aelier in einem Hauſe, von dem Val.
Max. IV.
4, 8 berichtet, gibt ein Beiſpiel ſeltenſter Art dafür.
304).
Ich hatte gehofft in der Schrift von Laboulaye Recherches sur
la condition
u. ſ. w. des femmes Aufſchlüſſe hierüber zu finden, allein der
Verf. ſcheint ſich bei Abfaſſung jener Schrift (1841) zu der richtigen Be-
handlungsweiſe römiſcher Zuſtände, die er ſpäter in ſeiner trefflichen Schrift
über die Verantwortlichkeit der römiſchen Magiſtrate (S. §. 35) mit ſo vielem
Erfolg in Anwendung gebracht hat, noch nicht aufgeſchwungen zu haben; er
ſteht hier noch ganz und gar auf dem Boden der abſtract-juriſtiſchen Auffaſſung.
305).
Die Römer waren ſich dieſer Eigenthümlichkeit gegenüber den Grie-
chen ſehr wohl bewußt. So z. B. Cornel. Nepos Praef.: quem enim Ro-
306).
Gallus von Becker B. 2, S. 6.
307).
Bei K. Wächter über Eheſcheidungen bei den Römern S. 11 u. fl.
ſind mehre Züge mitgetheilt, z. B. man ſollte ihnen auf der Straße aus dem
Wege gehen, der Liktor konnte jeden, ſelbſt den Vater des Conſuln, aus dem
Wege räumen, nur Matronen nicht; es war ſtreng verboten, in ihrer Gegen-
wart etwas Unanſtändiges zu ſagen oder zu thun; bei der in jus vocatio
durfte man ſie nicht berühren u. ſ. w.
308).
Von der ungewöhnlichen Strenge in dieſer Beziehung gibt Val.
Max. VI.
3. 9—12 mehre eklatante Proben. Die Römer waren überhaupt,
was den äußern Anſtand und den guten Ton anbetrifft, weit empfindlicher, als
man ſie ſich vorſtellt, vielleicht in höherem Grade, als wir es ſind. So ward
z. B. ein Senator vom Cenſor aus dem Senat geſtoßen, weil er ſeine Frau ge-
küßt hatte in Gegenwart ſeiner erwachſenen Tochter. Plut. Cato major c. 17.
Cic. de off. I. 35. Val. Max. II. 1. 7 … nec pater cum filio pubere, nec
socer cum genero lavabatur .. quia inter ista tam sancta vincula non
minus quam in aliquo sacrato loco nudare se nefas esse credebatur.
So
ferner ibid. VI. 1. 8 promissorum matrifamilias nummorum gratia (stu-
prosa mente) diem ad populum dixit eumque hoc uno crimine damnando.
309).
Keuſchheit verlangt auch der Orientale von ſeiner Frau, aber nicht
in ihrem, ſondern in ſeinem Intereſſe. In Rom begehrte man die Keuſchheit
der Frau ihrer ſelbſt wegen, der Verluſt derſelben galt für ein ſchlimmeres
Uebel, als der des Lebens, darum tödtete Virginius ſeine Tochter, darum
305).
manorum pudet uxorem ducere in convivium, aut cujus non mater-
familias primum locum tenet aedium atque in celebritate versatur?
Quod multo fit aliter in Graecia, nam neque in convivium adhibetur nisi
propinquorum, neque sedet nisi in interiore parte aedium, quae
γυναικω-
νῖτις appellatur, quo nemo accedit nisi propinqua cognatione conjunctus.
310).
Deſſen waren die Römer ſich ſelbſt ſehr wohl bewußt. Cato der
Aeltere, dem man eben keine enthuſiaſtiſche Verehrung des weiblichen Ge-
ſchlechts vorwerfen kann, hatte in ſeinen origines darauf aufmerkſam ge-
macht (Liv. XXXIV. 5) und den Satz durch eine Reihe von Beiſpielen er-
läutert. Bei den Verhandlungen über die Aufhebung des oppiſchen Geſetzes
(Liv. ib. 2—7) mußte er es erleben, daß ſeine Gegner jener Schrift die
Waffen zu ſeiner eignen Bekämpfung entlehnten.
311).
Peter Geſch. Roms B. 1, S. 148 verweiſt hierauf mit Recht als
auf eine Sage, in der ſich „die hohe Vorſtellung der Römer von der Würde
309).
manche Väter nach ihm ihre Töchter, welche ſich vergangen hatten, z. B. Val.
Max. VI.
1. 3 u. 6.
312).
Liv. VI. 34. Etwas ähnliches erzählt die Sage von der Tanaquil,
der Frau des Tarquinius Priscus Liv. I. 34. Ebenſo bei Tarquinius Super-
bus Liv. I. c. 46: sed initium turbandi omnia a femina ortum est.
313).
Man ſehe die ergötzliche Schilderung der weiblichen Agitation bei
Livius XXXIV. c. 1. Matronae nulla nec auctoritate, nec verecun-
dia, nec imperio virorum contineri limine poterant, omnes vias
urbis aditusque in forum obsidebant .... etiam ex oppidis conciliabu-
lisque conveniebant. Jam et consules praetoresque et alios magistratus
adire et rogare audebant. c. 8… aliquanto major frequentia mulierum
postero die sese in publicum effudit unoque agmine omnes tribunorum
januas obsederunt, qui collegarum rogationi intercedebant, nec ante ab-
stiterunt quam remissa intercessio ab tribunis esset!
Ich möchte den
Bericht, den Livius hierüber gibt, allen denen, die ſich über den vermeintli-
chen Druck, unter dem die Frauen in Rom lebten, beunruhigen ſollten, zur
Lektüre anempfehlen; man wird daraus die troſtreiche Ueberzeugung entneh-
men können, daß auch den Römern hinſichtlich ihrer eheherrlichen Gewalt die-
ſelben Erfahrungen nicht erſpart blieben, die wir bei uns hinſichtlich des bi-
bliſchen Satzes: „und Er ſoll Dein Herr ſein“ machen müſſen. Livius läßt
dort z. B. Cato ſagen c. 3: recensete muliebria jura, quibus omnibus
constrictas vix tamen continere potestis. c. 4: Simul lex modum sumti-
bus uxoris tuae facere desierit, tu numquam facies!
Man ſehe ferner die
Zugeſtändniſſe der Ehemänner und ihre Klagen über das Auftreten der
Frauen bei Plautus Asin. I. 1, 73. Aulul. III, 5, 14—62.
311).
der Frauen und insbeſondere von dem großen Anſehn und dem bedeutenden
Einfluß der Mütter in der Familie einen Ausdruck gegeben hat. Wie hätte
Coriolan einen ſtärkern Beweis ſeiner kindlichen Liebe zu der Mutter geben
können, als dadurch, daß er ihr mehr Gewalt über ſich einräumte, als ſelbſt
der Vaterlandsliebe.“
314).
Nicht bei der confarreatio allein. S. Roßbach a. a. O. Abſchn. IV.
315).
L. 1 de R. N. (23. 2): consortium omnis vitae, divini et hu-
mani juris communicatio. §. 1 I. de patr. pot. (1. 9) individuam vitae
consuetudinem continens. L. 4 Cod. de crim. expil. her. (9. 32). Livius I.

9 läßt Romulus das matrimonium als societas fortunarum omnium civita-
tisque
bezeichnen, ebenſo Dionys. II. 25 κοινωνία ἱεϱῶν καὶ χϱημάτων.
316).
So viel folgt mindeſtens aus der bekannten Sage, daß die Eheſchei-
dung des Sp. Carvilius (U. C. 520) die erſte geweſen ſein ſoll. Gell. XVII.
21. Val. Max. II.
1, 4.
317).
L. 1 rer. amot. (25. 2) .. quibusdam existimantibus, ne qui-
dem furtum eam facere, ut Nerva, Cassio, quia societas vitae quodam-
modo dominam eam faceret.
318).
Macrob. Saturn. I. 15 .... postridie autem nuptam in domo
viri dominium incipere oportet apisci et rem facere divinam. Dio-
nys. II.
25.
319).
Plaut. Asin. I. 1, 72: dotalem servum adduxit uxor tua,
cui plus in manu sit, quam tibi. Miles glor. IV. 6. 62, 63. Quin tua
causa exegit virum a se — Quid? qui id facere potuit? — Quia aedes
dotales hujus
sunt.
Die bekannte L. 30 Cod. de jure dot. (5. 12) ..
et naturaliter permanserunt in ejus dominio. L. 3 §. 5 de minor. (4. 4)
ipsius filiae proprium patrimonium. L. 71 de evict. (21. 2). L. 75 de
jure dot. (23. 3). L. 4 de coll. bon. (37. 6).
320).
So verfügen z. B. die Matronen ſelbſtändig über das Gold, das
ſie beſitzen, Liv. V. 25, 50. Festus matronis.
321).
An ſchönen Zügen der innigſten Liebe fehlte es der Römerwelt nicht,
wohl aber mir an dem Beruf, ſie hier zuſammenzuſtellen. Ich will beiſpiels-
weiſe einen Fall hervorheben, den Valerius Max. V. 6, 2 mittheilt: morte
uxoris audita doloris impotens pectus suum gladio percussit.
322).
z. B. in der bekannten Kritik des ältern Rechts durch Favorinus
bei Gellius XX. 1.
323).
z. B. Cato in ſeiner Rede für die lex Oppia Liv. XXXIV, c. 2—4.
324).
Liv. I. 9: nihil carius humano generi. Ueber den Geiſt, in
dem ſie zu handhaben iſt, ſ. L. 5 de leg. Pomp. de parr. (48. 9) ..
patria potestas in pietate debet, non in atrocitate consistere. Te-
rent. Adel. I. sc.
1. Ueber die faktiſche Stellung der Kinder in vermö-
gensrechtlicher Beziehung L. 11 de lib. et posth. (28. 2). In suis here-
dibus evidentius apparet, continuationem dominii eo rem per-
ducere, ut nulla videatur hereditas fuisse, quasi olim hi do-
mini essent
, qui etiam vivo patre quodammodo domini existiman-
tur … Itaque post mortem patris non hereditatem percipere videntur,
sed magis liberam bonorum administrationem consequun-
tur. Boeth.
zu Cicero Top. c. 4 (Orelli p. 303) quare quoniam quod ex
dote conquiritur, liberorum est, qui in patria potestate
324).
sunt, id apud virum necesse est permanere. Daher werden die Kinder ſelbſt
domini und heri genannt z. B. bei Plautus Capt. Prolog. 18: Domo quem
profugiens dominum abstulerat, vendidit, Asin. II. 2, 63 heres ma-
jor … minor hic est intus, Capt III. 5, 49 herum servavi
(den Sohn) ..
cui me custodem addiderat herus major meus. Daher auch die cura pro-
digi
im Intereſſe der Kinder. — Mit dem peculium verhält es ſich hier, wie
bei den Sklaven, nur daß es oft unendlich größer war. Manche römiſche
filiifamilias hatten bereits bei Lebzeiten ihres Vaters ein bedeutendes Ver-
mögen in Händen, führten einen eignen Haushalt und machten großen Auf-
wand, ohne daß ihre Unfähigkeit, eignes Vermögen zu beſitzen, je eine prak-
tiſche Folge gehabt hätte. Man denke ſich, daß ein Vater ſeinem Sohn, der
eine hervorragende Stellung im Leben einnahm, die höchſten Ehrenämter be-
kleidete, eigne Familie hatte u. ſ. w. plötzlich aus reiner Laune ſein Vermö-
gen hätte entziehen ſollen! So etwas iſt auf dem Papiere leicht geſagt, aber
im Leben ſtellt ſich die Sache doch etwas anders. Ein ſolcher ſelbſtändiger
Haushalt und faktiſche Unabhängigkeit des erwachſenen Sohnes kam ſchon in
älteſter Zeit vor, z. B. erwähnen einige Autoren bereits beim Sp. Cassius,
dem Urheber der erſten lex agraria (U. C. 261) ein peculium. Val. Max.
V. 8. 2. VI. 3. 1 (domum). Liv. II. 41 (.. signum inde factum et in-
scriptum: ex cassia familia datum). Dionys. VIII.
78 nimmt Anſtoß
daran, daß ſeine Quellen dem Caſſius nach der Vorſtellung des gewöhnlichen
Lebens Eigenthum beilegten, und macht ihn darum zum paterfamilias.
325).
Darauf weiſen nicht bloß die Ausdrücke propinqui, amici, cognati
u. ſ. w. hin, ſondern hinſichtlich des Verwandtengerichts über die Ehefrau in
manu
verſtand es ſich von ſelbſt, daß man die Verwandten von ihrer Seite,
alſo die Cognaten nicht übergehen konnte.
326).
Mitunter ſogar fern ſtehende Perſonen von Rang z. B. Auguſt bei
Seneca de clement. c. 15. Ja bei Val. Max. V. 9, 1 wurde ein großer
Theil des Senats zugezogen. Nach Klenze in der Zeitſch. VI. S. 31 „ge-
winnt das ganze Hausgericht erſt eine feſte Geſtalt durch feſte Regeln über
die Berufung der Richter.“ Als ob es ſich hier um etwas Feſtes, um ein
Rechtsinſtitut handelte!
327).
Es bedarf für dieſe ſehr bekannte Sache keiner Belegſtellen. Ich
verweiſe auf Klenze Zeitſch. für geſch. Rechtsw. B. VI. S. 25 fl. und Geib
Geſch. des röm. Krim.-Proz. S. 84 fl.
328).
Auch hinſichtlich der reinen Rechtsfrage, wer im concreten Fall
zur Ausübung des jus necis ac vitae berufen war, und wer folglich die Ver-
wandten zum Gericht zu entbieten hatte, ward es im Leben wohl nicht ſo
genau genommen. So ſpricht z. B. bei Cic. de finib. I. 7 der Vater, der
ſeinen Sohn in Adoption gegeben hatte, ſtatt des jetzigen Innehabers der po-
testas,
das Urtheil, ſo mochte über die Ehefrau, die noch in der patr. pot.
ihres Vaters, alſo nicht in der manus des Mannes ſtand, letzterer häufiger
das Gericht berufen, als erſterer.
329).
Daß er juriſtiſch nicht an ihre Anſicht gebunden war, verſteht
ſich von ſelbſt, und es verräth ein Verkennen der ganzen Einrichtung, wenn
man dies in Frage ſtellt, aber ebenſo ſehr liegt auf der Hand, daß das Ur-
theil der Verwandten faktiſch in der Regel den Ausſchlag gegeben haben wird.
330).
Val. Max. II. 9, 2. Die Cenſoren ſtießen Jemanden, der es unter-
laſſen, aus dem Senat. So erklärt bei Plautus, Stichus I. 2, 71, ein Va-
ter, der die Ehe ſeiner Tochter vermöge der patr. pot. trennen will: mihi
auctores ita sunt amici
, ut vos hinc abducam domum.
331).
Cic. ad Quint. II. 6. Appian. bell. civ. IV. 30.
332).
Namentlich führten ſie auch die Aufſicht über den Tutor und trugen
durch die act. susp. tutoris auf ſeine Remotion an — überhoben alſo den
Staat der Mühe, ſich darum zu bekümmern — ſtellten im Intereſſe der Kin-
der des Verſchwenders den Antrag, eine cura prodigi anzuordnen u. ſ. w.
333).
Val. Max. III. 5, 1. Nur braucht man dabei nicht an ein eigent-
liches Verwandtengericht zu denken.
334).
S. z. B. Val. Max. V. 8, 3 .. ne consilio quidem necessario-
rum indigere se credidit. id. VI. 3, 9. Sall. Catil.
39.
335).
Wie in dem Fall der Anm. 330.
336).
Fälle bei Orosius III. 9 exstitit parricida, .. filium enim suum
peremit
u. V. 15 (16): Q. Fabius Maximus filium suum … cum duobus
servis parricidii ministris interfecit … Die dicta Cn. Pompejo accu-
sante damnatus est. Seneca de clem. I.
14. Ein anderer Fall, in dem der
Angeklagte für ſchuldlos erkannt und freigeſprochen wurde ſ. bei Plin. Hist.
nat. XIV. 14. Valer. Max. VI.
3, 9 u. a. Ob dieſer Fall, den Plinius
unter Romulus verlegt, mythiſch iſt, relevirt nichts für die allein weſentliche
Frage, wie die Römer die Sache auffaßten, und daß ſie die im Texte ihnen
untergelegte Unterſcheidung wirklich machten, geht aus Plinius hervor: eum-
que caedis esse absolutum.
337).
Val. Max. V. 4, 3.
338).
Hinſichtlich der Frauen erkennt Cicero in einem Fragmente aus lib.
IV. de republica (Nonius de num. et cas. p.
499) dies ausdrücklich an:
nec vero mulieribus praefectus praeponatur, qui apud Graecos creari
solet, sed sit Censor, quivirosedoceat mulieribus moderari.
339).
Hinſichtlich der Frauen werden einige Fälle erwähnt, wo die Strafe
von Staatswegen gefällt, die Vollziehung derſelben aber den Verwand-
ten überlaſſen wurde. Val. Max. VI. 3, 7. Liv. XXXIX. 18. Sueton.
Tiber. 35.
340).
Was wir hier übergehen und bei einer andern Gelegenheit nachho-
len wollen, iſt die Beſchränkung des Willens durch das logiſche Element
der Inſtitute.
341).
Es ließe ſich etwa das auctoramentum als Ausnahme anführen,
allein welche nähere Bewandniß es damit hatte (Schulting Jurisp. antiq. No-
ten zur Collatio leg. mos. tit. IV. §. 3, IX. §. 52) iſt mir wenigſtens nicht klar.
342).
Cicero de offic. I. 42: Illiberales autem et sordidi quaestus
mercenariorum omniumque, quorum operae, non artes emuntur. Est
enim in illis mercesauctoramentum servitutis … Opifices-
que omnes in sordida arte versantur, nec enim quidquam ingenuum
potest habere officina. ibid. II. 6: quae est sordidissima ratio.
343).
L. 71 §. 2 de cond. (35. 1) . . non esse locum cautioni, per
quam jus libertatis infringitur.
Wilh. Sell, die Lehre von den
unmöglichen Bedingungen. S. 189 fl.
344).
Durch Anton. Pius. Capitol. in vita Ant. Pii c. 8. In dieſer
Allgemeinheit ward das Verbot durch Juſtinian wieder aufgehoben und da-
mit das frühere Recht, in dem der Charakter der dem Erben zugemutheten
Handlung über die Gültigkeit des Legats entſchied, wieder hergeſtellt. Die
Behauptung, daß Antonin jenes Verbot nicht ſowohl erweitert, als erſt
eingeführt habe, iſt ein Irrthum; ſchon Sabinus kannte es. §. 36 I. de
leg.
(2. 20.)
345).
L. 134 pr. de V. O. (45. 1). Inhonestum visum est vinculo
poenae matrimonia obstringi sive futura sive jam contracta. L. 2 Cod.
de inut. stip. (8. 39.) Libera matrimonia esse antiquitus placuit. L. 14
Cod. de nupt. (5. 4). L. 19. L. 71 §. 1 de V. O. (45. 1).
346).
Eine indirekte Beſtärkung durch arrha war auch hier möglich, ent-
hielt aber keine Ausnahme, inſofern ja die Wirkſamkeit dieſes Mittels die Er-
hebung einer Klage nicht erforderte. L. 38 pr. de R. N. (23. 2) Isidor.
Orig. IX.
8. §. 4, 5.
347).
Hinſichtlich des Vaters kann man ſich auf ein ausdrückliches Zeug-
niß von Varro de L. L. VI. §. 72 berufen, allein wie gering die Autorität
des Varro bei dieſer Frage iſt, wird nachher gezeigt werden.
348).
Isidor. IX. 8, 3 geht gleichfalls von der Idee aus, daß das spondere
hier eine juriſtiſche Verbindlichkeit habe begründen ſollen, bezieht es aber
auf die Ehegatten und läßt den sponsus sponsores dafür beſtellen §. 4 ibid.
349).
Gellius IV, 4.
350).
In der Stelle von Gellius, wo ſie nämlich bemerken, daß das eigen-
thümliche Recht Latiums mit der lex Julia abgekommen ſei.
351).
Was die ſonſtigen für die Klagbarkeit der Sponſalien geltend ge-
352).
Ambulatoria est voluntas defuncti usque ad vitae supremum
exitum. L. 4 de adim. leg.
(34. 4).
353).
L. 34 Cod. de transact. (2. 4). L. 4 Cod. de inut. stip. (8. 39).
L. 15 Cod. de pact. (2. 3) .. libertatem testamenti faciendi. L. 61
de V. O. (45. 1). L. 17 pr. ad Sc. Trebell.
(36. 1). Eingehung einer
Societät zu dieſem Zweck L. 52 §. 9 pro socio (17. 2). Verträge, wo-
durch Jemand für den Fall, daß ihm eine Erbſchaft anfallen ſollte, ſich zur
Annahme oder Ausſchlagung derſelben im voraus verpflichtet, ſind gleichfalls
ungültig, L. 4 Cod. de inut. stip. (8. 39). L. 3 Cod. de collat. (6. 20).
L. 16 de suis et leg.
(38. 16), aber ob der Geſichtspunkt, daß die Freiheit
des Entſchluſſes dem berufenen Erben nicht verkümmert werden dürfe, hier
der entſcheidende war, laſſe ich dahin geſtellt.
354).
Auch aus dem Beſitz läßt ſich eins anführen, L. 12 de precar.
(43. 26): Cum precario aliquid datur, si convenit, ut in Calendas Julias
351).
machten Gründe anbetrifft, ſo wird man, wenn man weiß, was die Römer
unter fides verſtanden (ich erinnere an fideicommissa d. h. ins Gewiſſen
geſchobene, alſo rechtlich nicht verbindende Auflagen) in der Stelle aus
Feſtus: consponsos antiqui dicebant fide mutua colligatos nur die zu-
treffende Charakteriſtik des Verhältniſſes als eines rein moraliſchen er-
blicken, es aber ſchwer begreifen können, wie ein namhafter neuerer Rechts-
hiſtoriker in der fides mutua eine Andeutung von gegenſeitigen Stipulationen
hat finden wollen. — Einer Exception bedurfte es im ältern Recht gegen
eine angebliche act. ex sponsu ebenſo wenig, wie gegen jede Klage, die
ipso jure nicht begründet war. Gegen die Einklagung der Conventionalſtrafe
ſichert freilich Paulus den Vater in der L. 134 pr. de V. O. (45. 1) durch
eine exceptio. Daß aber eine stipulatio contra bonos mores (und eine
ſolche nimmt Paulus hier an) nur auf dieſem Wege hätte entkräftet werden
können (unter dieſer Vorausſetzung alſo im ältern Recht nicht, Gai. IV. §. 108)
iſt bekanntlich unrichtig, ja in der Regel wird ſie geradezu als nichtig erklärt
(ein Beiſpiel aus dem Eherecht ſ. in L. 19 ibid.), und ſchwerlich wird man
doch ſich zu der Annahme entſchließen, daß das ältere Recht alle Stipula-
tionen einer Conventionalpön ohne Unterſchied ihrer Tendenz für gültig er-
klärt habe.
354).
precario possideat, numquid exceptione adjuvandus est, ne ante ei pos-
sessio auferatur? Sed nulla vis est hujus conventionis, ut
rem alienam domino invito possidere liceat.
Im Beſitz liegt das Recht
der Ausſchließung jedes andern, es iſt dies die Freiheit, die der Beſitz mit
ſich bringt, folglich ein Vertrag, der dieſe Freiheit aufgibt, vom Stand-
punkt des Beſitzes aus
unwirkſam. L. 2 §. 2 ibid.
355).
Ich habe im folgenden nur das unbewegliche Eigenthum im Auge;
die Natur der beweglichen Sachen, die Vergänglichkeit und mangelnde lokale
Gebundenheit derſelben bringt es mit ſich, daß die Frage für ſie nur ein höchſt
untergeordnetes praktiſches Intereſſe haben kann.
356).
Denn von dem Pfandrecht kann nicht die Rede ſein, da die fidu-
cia
eine Uebertragung, das alte pignus aber keine Belaſtung des Eigen-
thums enthält, und ſchwerlich bei Grundeigenthum vorgekommen ſein mag.
Nur die Subſignation der Grundſtücke beim Aerar von Seiten der Staats-
ſchuldner (Bachofen Pfandrecht B. I. S. 217 fl.) würde hier zu nennen ſein,
wenn ſie bereits dem ältern Recht angehörte, wofür mir jedoch kein Zeugniß
bekannt iſt.
357).
Bd. 1. S. 207.
358).
Hinſichtlich der Dauer findet eine Verſchiedenheit derſelben Statt,
beſtimmt durch die verſchiedene Dauerhaftigkeit der praedia rustica und ur-
bana.
Bei beiden hat der Untergang der, ſo zu ſagen, berechtigten Sache den
Untergang der Servitut zur Folge, alſo z. B. das Abbrennen des Hauſes,
arg. L. 20 §. 2 de S. P. U. (8. 2). Wollte man einer für ein Haus beſtimm-
ten Servitut z. B. einer serv. altius non toll. eine von dem Untergang
des Hauſes unabhängige Exiſtenz geben, ſo hieß das, ſie ſtatt an die super-
ficies
an das solum knüpfen (L. 3 de serv. [3. 1]); umgekehrt konnte man
eine in der Regel an das solum gekettete Servitut an die superficies knüpfen
(L. 13 pr. de S. P. R. [8. 31]), z. B. eine Weggerechtigkeit, wovon die
Folge war, daß die Servitut mit dem Untergang des Quaſi-Subjekts, des
Hauſes, hinwegfiel. Wenn nicht geſagt war, wie die Partheien ſich das
Verhältniß gedacht hatten (z. B. ein Hausbeſitzer läßt ſich einen Weg über
den benachbarten Hof beſtellen: inhärirt die Servitut der superficies oder
dem solum?), ſo präſumirte man je nach Verſchiedenheit des Inhalts bald
das eine, bald das andere, und mit Rückſicht hierauf hatte die Praxis eine
Klaſſifikation der verſchiedenen möglichen Servituten vorgenommen; wir be-
ſitzen ſie in der bekannten Liſte der Servitutes Praediorum urbanorum und
rusticorum. Dies war meiner Anſicht nach der praktiſche Zweck jener Ein-
theilung. Ebenſo präſumirte man, wenn aus der Zahl jener Servituten
eine beſtellt war ohne Angabe, ob ſie ihm ſchlechthin (als Perſonalſervitut)
oder ihm nur in ſeiner Qualität als Eigenthümer dieſes Grundſtücks zuſtehen
ſolle, für letzteres. Das Motiv, das ich hiermit der Eintheilung der Servi-
tuten unterſchiebe, beruht auf einem praktiſchen Bedürfniß, das ſich überall
geltend machen wird. Eine nähere Ausführung wäre hier nicht am Platz, ich
bitte aber jeden, der meine Anſicht einer Prüfung würdigen will, die in der
ganzen römiſchen Servitutentheorie mit Nothwendigkeit liegende Conſequenz,
daß die S. P. U. mit dem praed. urbanum untergehn muß, nicht außer Acht
zu laſſen. Eine S. P.U. beſtellen hieß bei den Römern eine Servitut auf die
Dauer eines Gebäudes beſchränken.
In das Bewußtſein der heutigen Praxis iſt jene Conſequenz, daß mit dem
Gebäude auch die demſelben zuſtehende Servitut untergeht, nicht übergegangen;
bei uns werden im Zweifel alle Prädialſervituten als S. P. R. behandelt und
bloß in dem Fall, wenn die Partheien die Servitut nachweisbar nur für dies
beſtimmte Gebäude, ſo lange es als ſolches exiſtirt, beſtimmt haben, kömmt
bei uns eine S. P. U. im römiſchen Sinn vor. Für eine ſolche würde unſere
heutige Jurisprudenz, ſo wie ſie jenen Unterſchied der S. P. U. und R. auf-
zufaſſen pflegt, gar keine Bezeichnung haben.
359).
So daß alſo namentlich die servitutes praed. urban. ſpätern Ur-
ſprungs wären, was ich ſchon aus dem Bd. 1. S. 207 angegebenen Grunde
für wahrſcheinlich halte. Ich meine, man muß bei den Servituten davon
ausgehen, daß ein unmittelbares Bedürfniß ſie hervorgetrieben hat, dies
iſt bei den im Text genannten der Fall; die übrigen S. P. R., ſo wie ſämmt-
liche S. P. U. konnten höchſtens auf ein hypothetiſches Bedürfniß fußen (d. h.
wenn ich gerade ſo und gerade an dieſer Stelle bauen, für mein Vieh nicht
auf meinem eigenen Landgut Waiden einrichten wollte u. ſ. w.), alſo auf
einen Grund, der in der Hand der Parthei ſelbſt lag. Der Strenge des alten
Rechts gegenüber kann ich darin nur Conceſſionen gegen eine nach freierer
Bewegung und größerer Behaglichkeit verlangenden Zeit erblicken. Dieſe An-
ſicht iſt übrigens bereits von Andern ausführlicher begründet, und genügt es
hier Bezug zu nehmen auf E. Zachariä v. Lingenthal über die Unterſcheidung
zwiſchen servit. rust. und urb. und R. Elvers die Servitutenlehre Bd. 1
S. 1—16.
360).
Das Inſtitut hätte dadurch an praktiſcher Brauchbarkeit unendlich
eingebüßt. Die Rückſicht auf die formale Realiſirbarkeit (Bd. 1. S. 42)
machte es nöthig, daß man die Frage von dem Bedürfniß, Intereſſe u. ſ. w.
der Servitut in abstracto erörterte und feſtſtellte und ſich damit der Noth-
wendigkeit einer Beantwortung derſelben für den concreten Fall überhob,
d. h. man fragte: welche Servituten ſind für den Verkehr ein Bedürfniß,
nicht aber ob z. B. dieſer Weg für dieſes Grundſtück unentbehrlich oder ent-
behrlich geweſen ſei.
361).
Der Ausdruck servitus blieb auf dies Verhältniß beſchränkt (S. jedoch
L. 86 §. 4 de leg. I [30]), auch nachdem im neuern Recht andere Arten der Eigen-
thumsbeſchränkung hinzugekommen waren, eine Erſcheinung, die ſich im römi-
ſchen Recht bekanntlich öfter wiederholt (z. B. contractus, delicta u. ſ. w.).
362).
Daher auch die Auffaſſung vom Vermögen des Staats eine ſo völ-
lig verſchiedene. Uns erſcheint daſſelbe als Eigenthum des Subjektes Staat,
alſo als fremdes, dem Römer als ſein eignes, ihm mit ſeinen Genoſſen ge-
362).
meinſchaftliches, die res publicagehört ihm mit. Einen intereſſanten Be-
leg für dieſe Bd. 1, S. 195 entwickelte Auffaſſung ſ. bei Cicero Tuscul.
III.
20.
363).
Hierauf legt auch Appian. de bello civili I. c. 7 allen Nachdruck,
nur hat er, was die Folgen dieſes Unterſchiedes anbelangt, nicht den eigentlich
entſcheidenden Punkt getroffen, ſondern ſich an ein weniger weſentliches Mo-
ment gehalten. Er motivirt nämlich den Reichthum der großen Grundbeſitzer
dadurch, daß ihre familia rustica ſich wegen ihrer Befreiung vom Kriegsdienſt
ins Unermeßliche habe vermehren können, während die freie Bauernbevölke-
rung durch die Kriege decimirt worden ſei.
364).
S. darüber z. B. Böckh Staatshaushaltung der Athener Bd. 1,
Buch 1. §. 15 (der erſten Ausg.; die zweite iſt mir nicht zur Hand).
365).
Hinſichtlich Griechenland iſt dies von Böckh a. a. O. nachgewieſen.
In Athen, wo der Medimnus unter Solon 1 Drachme gekoſtet hatte, ſtieg
er einmal auf 16. Für Rom hat C. F. L. Schultz Grundlegung zu einer
geſch. Staatswiſſenſchaft der Römer S. 502 u. fl. das Gegentheil behaup-
tet, allein für die ältere Zeit gewiß mit Unrecht. Allerdings trat ſpäterhin in
366).
Plin. Hist. nat. XVIII, 4 deutet auf ihren nachtheiligen Einfluß
in dieſer Beziehung hin (latifundia) singulorum arcentium vicinos. Kein
Wunder, daß ein Zuſtand eintrat, der faſt der Abſperrung gleich kam. Liv. II.
34 caritas annonae ex incultis per secessionem agris, fames deinde,
qualis clausis foret.
367).
Liv. IV. 12 .. regno prope per largitionis dulcedinem in cer-
vices accepto
. Darauf ging auch die Abſicht des Coriolan. Liv. II, 34: si
annonam veterem volunt, jus pristinum reddant Patribus
. Um die zeit-
weiſe Nachgiebigkeit und politiſche Apathie der Plebs zu begreifen, darf man
den Einfluß dieſes Zwangsmittels nicht außer Acht laſſen.
365).
demſelben Maße, als Rom ſeine Herrſchaft erweiterte, und als damit der
Kornhandel an äußerer Sicherheit und geographiſcher Ausdehnung gewann,
eine größere Gleichmäßigkeit der Kornpreiſe ein, allein ſelbſt auch noch für
dieſe Zeit weiß die Geſchichte von auffallenden Schwankungen der Preiſe zu
berichten. Im Jahr 544 koſtete nach Polyb. IX, 44 der Medimnus (6 Modii)
ſiciliſchen Getraides in Rom 15 Denare, der Modius alſo, da der Denar
damals 16 As galt, 40 As. Sechs Jahre ſpäter war der römiſche Markt
dermaßen überfüllt (Liv. XXX. 38), daß den Schiffern die Ladung für die
Fracht überlaſſen ward. Der Satz, für den Sicilien den Römern das Korn
zu liefern hatte, war 3 und 4 Sefterzen für den Modius. Bei den öffentlichen
Getraideſpenden ward der Modius für 1 As und darunter abgegeben (ſ. u.).
Von dem Aedilen C. Sejus, der bei einer Theurung dieſen Preis innegehal-
ten, berichtet Cicero de off. II. 17, daß er keinen ſo ſehr großen Schaden
dabei gehabt habe. Im Jahre 314 war einmal durch beſondere Umſtände
(Liv. IV. 12—16) der Marktpreis an drei aufeinander folgenden Markttagen
auf 1 As herabgedrückt (Plin. Hist. Nat. XVIII, 4), und ein ähnliches Fal-
len kam ſpäterhin noch einige Male vor. S. Niebuhr röm. Geſch. B. 1.
Aufl. 4. S. 483.
368).
Liv. II. 12—16. Aehnlich verhielt es ſich wohl in ähnlichen Fällen
z. B. bei Sp. Caſſius, M. Manlius. Das eigentliche Motiv des Haſſes lag
nicht in den politiſchen Tendenzen des Gegners, ſondern in den ſocialen Be-
ſtrebungen deſſelben, in den materiellen Nachtheilen, die man von ſeinen Neue-
rungen befürchtete. Man ſchob dann den Staat als den bedrohten Theil vor,
während es doch nur der Geſellſchaft gegolten hatte.
369).
Ein Seitenſtück zu dem im Text geſchilderten Verhältniß findet ſich
auch heutzutage, nämlich im Weinbau, nur mit dem Unterſchiede, daß die
Urſachen, die hier dem großen Producenten ein ſo bedeutendes Uebergewicht
über den kleinen geben, nicht in äußern Verhältniſſen, ſondern in der Natur
des Weinbaues und Weinhandels ihren Grund haben. S. darüber Riehl.
die bürgerliche Geſellſchaft. Stuttg. 1851. S. 60 fl.
370).
Plinius H. N. XVIII. 7. Appian. I, 7. Bei Cicero de off. II, 21
die Aeußerung des Tribunen: non esse in civitate duo millia hominum,
qui rem haberent. Liv. VII. 22 … solutio aeris alieni multarum rerum
mutaverat dominos
.
371).
Im Mittelalter war das Verhältniß das gerade entgegengeſetzte.
372).
d. h. auf Sklavenwirthſchaft angewieſen. Das normale Maß des
kleinen Grundbeſitzes war bekanntlich 7 Jugera, in den älteſten Zeiten ſogar
nur 2.
373).
Appian. I, 8.
374).
Ueber die verſchiedenen Pachtſyſteme, die zur Zeit der Republik vor-
kamen, ſ. K. W. Nitzſch die Gracchen und ihre nächſten Vorgänger. Berl.
1847. S. 188—190.
371).
Der große Grundbeſitzer, den vorzugsweiſe die Laſt der Kriegsführung traf,
wäre durch den kleinen total ruinirt worden, wenn er nicht durch das Inſtitut
der Leibeigenſchaft und das Verpachtungsſyſtem und andere Mittel das Gleich-
gewicht wieder hergeſtellt hätte.
375).
Die Römer waren der Verpachtung gar nicht geneigt. S. z. B.
Columella I, 7, der ſie nur ausnahmsweiſe und unter beſondern Voraus-
ſetzungen zulaſſen will.
376).
Liv. II. 42 .. malignitate patrum, qui militem praeda frauda-
vere
. Wie ergiebig dieſe Quelle mitunter war, geht aus Liv. XLII, 32:
quia locupletes videbant
u. ſ. w. hervor.
377).
Daher ward z. B. den Senatoren der Betrieb der Rhederei unter-
ſagt. Liv. XXI, 63: legem tulerat, ne quis senator quive senatoris pater
(muß wohl heißen cuive senatorius) fuisset, maritimam navem, quae plus
quam 300 amphorarum esset, haberet. Id satis habitum ad fructus ex
agris vectandos; quaestus omnis patribus indecorus visus
.
S. auch Ciceros Aeußerung über den Großhandel in der folgenden Note.
378).
Cicero de off. I, 42. Illiberales et sordidi quaestus mercena-
riorum omnium, quorum operae, non quorum artes emuntur: est enim
in illis ipsa merces auctoramentum servitutis. Sordidi etiam
putandi, qui mercantur a mercatoribus, quod statim vendant, nihil enim
proficiunt, nisi admodum mentiantur … opificesque omnes in sordida
arte versantur, nec enim quidquam ingenuum habere pot-
378).
est officina .... mercatura autem … sin magna et copiosa,
multaque undique apportans multisque sine vanitate impertiens non est
admodum vituperanda. Dionys. IX, 25. Liv. XXII, 25 … loco non hu-
mili, sed etiam sordido natus. Patrem lanium fuisse ferunt, ipsum in-
stitorem mercis filioque hoc ipso in servilia ejus artis ministeria
usum. Aur. Vict. de viris illustr. c. 72 .. nam pater ejus, quamvis
patricius, ob paupertatem carbonarium negotium exercuit. Ipse
primo dubitavit, honores peteret an
(alſo als unvereinbare Gegenſätze ge-
dacht) argentariam faceret. Zu den Geſchäften, qui in odia hominum in-
currunt et improbantur,
zählt Cic. de off. l c. 42 auch die der foenerato-
res,
und ibid. II c. 25 läßt er Cato auf die Frage: quid fenerari antwor-
ten: quid hominem occidere? — Es gab gewiſſe Gewerbe, die die Stif-
tung ihrer Innung auf Numa zurückführten Plutarch. Numa p. 71. Huſchke
Verf. des Serv. Tullius S. 149, Th. Mommsen de collegiis et sodaliciis
Romanorum Kil. 1843. p. 27 sq.
Daraus läßt ſich auf das Alter dieſer In-
nungen ſchließen, nicht auf ihr Anſehn. Die Handwerker-Centurien der
Servianiſchen Verfaſſung (Tibicines, Cornicines und Fabri) waren keine
Zünfte, ſondern nichts anders als unſere heutigen Handwerkercompagnien
und Regiments-Muſikchöre beim Militär, wie ein Blick auf den militäriſchen
Zweck jener Verfaſſung lehrt. Die Annahme, „es habe ihnen dadurch ein
höheres Anſehn im Staat verliehen werden ſollen“ (Ruperti Handb. der röm.
Alterth. Bd. 1, S. 471), ſcheint mir nicht viel beſſer, als wenn man meinte,
der heutige Staat wolle die Muſik dadurch ehren, daß er die Regimenter mit
Tambouren, Horniſten und Trompetern verſehe.
379).
Dies iſt bekannt. Ich verweiſe auf Gallus von Becker. Bd. 2 u. 3
der Ausg. von Rein. Eine Perſiflage dieſer Einrichtung ſ. bei Petronius
Satiricon c. 38: Nec est, quod putes, illum quidquam emere, omnia
domi nascuntur etc.
380).
Man nahm nicht bloß Sklaven zu Matroſen (einmal ſogar auf der
Kriegsmarine Liv. XXIV, 11. XXVI, 35), ſondern auch zur Stelle des
Kapitän, wie aus der act. exercitoria hervorgeht.
381).
Es beſtand nicht bloß das dienende Perſonal häufig aus Sklaven
(die act. institoria), ſondern oft hatten letztere auch ſelbſt einen kleinen Han-
del (act. tributoria); dort verſperrten ſie den Freien den Platz, hier machten
ſie ihnen eine gefährliche Concurrenz.
382).
Daſſelbe erforderte ein großes Unterperſonal; die Publikanen fan-
den es begreiflicherweiſe am vortheilhafteſten dazu Sklaven zu nehmen (fami-
liae publicanorum
).
383).
Mit Recht bemerkt Peter Geſchichte Roms Bd. 1, S. 103, daß aus
den Nachrichten über den Cenſus des Servius Tullius zu entnehmen ſei, daß
„in der damaligen Zeit ſchon eine verhältnißmäßig bedeutende Ungleichheit
des Beſitzes beſtand. Das Normalvermögen der letzten Klaſſe verhält ſich
zu dem der erſten, wie 1 zu 10; wie es aber viele Bürger gab, die den ge-
ringſten Satz der unterſten Klaſſe nicht erreichten, ebenſo fehlte es gewiß nicht
an ſolchen, die den Satz der erſten Klaſſe und zwar theilweiſe um ein ſehr
Bedeutendes überſtiegen.“
384).
S. Cicero de offic. II. c. 16, 17.
385).
Riehl die bürgerliche Geſellſchaft. Stuttg. u. Tübingen 1851,
S. 178. Der Verfaſſer macht davon eine ſehr zu beherzigende Anwendung auf
die Stellung des begüterten Adels, die ich mir nicht verſagen kann mitzuthei-
len. „Wenn der Ariſtokrat als Wahrer des ererbten feſten Beſitzes nur in der
Weiſe auftritt, daß er ſeine Rente lediglich im Intereſſe perſönlicher Genuß-
ſucht verzehrt, ſo iſt das durchaus nicht edelmänniſch gehandelt. Mit Recht
ſtellt die Sitte an den Edelmann die Anforderung, daß er über den Privat-
genuß hinaus zum gemeinen Beſten in gewiſſem Grade depenſire. Es liegt
dieſer Sitte mehr als die Verſchwenderlaune der Hoffart zu Grunde, es ſteckt
der würdige Gedanke darin, daß es ſich nicht zieme, einen feſten Beſitz todt
liegen zu laſſen, ohne zum Frommen der Geſammtheit einen ſteten Zins ab-
zutragen .... Dadurch wird der natürliche Neid, wie ihn immer der müh-
ſelig Erwerbende dem bereits im Behagen des ruhigen Beſitzes Gebetteten
nachträgt, verſöhnt und entkräftet .. Wenn knickerige Oekonomie wohl gar
als ein Mittel angeführt wird, um dem Anſehn des Adels wieder aufzuhel-
fen, ſo zeugt dies für eine gänzliche Verkennung des ariſtokratiſchen ſocialen
Berufs.“ Auch hier hatten die Römer das Rechte richtig erkannt, beſſer, als
unſere heutige Ariſtokratie wenigſtens in manchen Gegenden Deutſchlands;
der Adel des vorigen Jahrhunderts, der es mit der bürgerlichen Moral ſehr
leicht nahm, hat, wie Riehl mit Recht bemerkt, dieſe Pflicht der ſocialen
Moral viel mehr gewürdigt und erfüllt.
386).
Cicero de off. II. 16 … tota ratio talium largitionum genere
vitiosa est
(es ſpricht der homo novus aus ihm) temporibus neces-
saria.
ibid. 17. Mamerco homini ditissimo praetermissio aedilitatis
consulatus repulsam attulit.
387).
Auct. de vir. ill. c. 74. Lucullus .... munus quaestorium am-
plissimum dedit. Suet. Domit. c. 4 … quaestoriis muneribus, quae
olim omissa revocaverat.
Nach dem Bericht von Tacitus erhob Claudius
jene Pflicht der Sitte förmlich zum Geſetz, indem er die Quäſtoren verpflich-
tete, auf eigene Koſten Gladiatorenſpiele zu veranſtalten.
388).
So faßt auch Cicero in der angeführten Stelle das Verhältniß auf,
indem er meint, im Vergleich zu den Ehren, die ihm ſpäter zu Theil gewor-
den, ſei ihm das Eintrittsgeld nicht ſo hoch gekommen.
389).
Decreta in eam rem pecunia und pecunia multatitia ſ. z. B.
Livius X, 23, 47. XXXI, 50. XXXIII, 42. XXXVIII, 35. XXXIX, 44.
390).
Wie Cicero de off. II, 16 ſagt: intelligo in nostra civitate in-
veterasse jam bonis temporibus, ut splendor aedilitatum ab opti-
mis
viris postuletur.
391).
Dies iſt bekannt, und darf ich mich auf einige Beiſpiele beſchränken:
Getraide- und Oellieferung ans Volk zu einem enorm niedrigen Preiſe
Liv. XXXIII, 42. Plin. H. N. XV, 1, Anlegung von 170 Bädern auf eigne
Koſten, Plin. H. N. XXXVI, 15, von Theatern Vellej. Paterc. II, 130
(munera Pompeji)
u. ſ. w. In vielen Fällen, wo die römiſchen Berichter-
ſtatter der Anlagen und Leiſtungen gedenken, durch die ein Aedil ſich den Dank
und die Anerkennung des Volks erworben habe, bemerken ſie nicht, ob er es
auf eigne Koſten gethan, wir werden annehmen dürfen, daß letzteres gemeint
und das Verdienſtliche vorzugsweiſe hierin geſetzt worden ſei.
392).
Getraideſpenden Liv. IV, 13, viscerationes (Vertheilung von
Fleiſch) Liv. VIII, 22; XXXIX, 46. Auct. de vir. illustr. c. 32. Aus-
löſen von Schuldknechten. Dionys. IV, 9, 10. Liv. VI, 20. Eine Menge
von Beiſpielen, die auf Inſchriften vorkommen, ſ. bei Kuhn über die Munera
der römiſchen Gemeinden in der Zeitſchrift für Alterthumswiſſ. von Cäſar.
1854. H. 1. S. 11—15.
393).
Liv. X, 6: Romae quoque plebem quietam et exoneratam de-
ducta in colonias multitudo praestabat. V, 24 … multiplex seditio
erat, cujus leniendae causa coloniam in Volscos, quo 3000 civium Rom.
scriberentur, deducendam censuerant.
Wachsmuth die ältere Geſchichte des
röm. Staats. S. 326 u. fl.
394).
Engelbregt de legib. agrariis ante Gracchos. Lugd. Batav.
1842. p. 31.
395).
Liv. IV, 59. Einführung des Soldes, Vertheilung des ager pu-
blicus
und Ausführung von Colonien werden um die Zeit als die Deſiderien
der Plebs und folglich als Lockſpeiſe für ſie gemeinſchaftlich genannt. S. Liv.
IV, 36. Agri publici dividendi coloniarumque deducendarum ostentatae
spes et … in stipendium militum erogandi aeris.
396).
Erſt während des Druckes habe ich aus Marquardt’s Fortſetzung
des Beckerſchen Handbuchs der römiſchen Alterthümer, Thl. 3. Abth. 2. S. 88
die neueſte Literatur über dieſen Gegenſtand erfahren, ohne daß es mir mög-
lich geweſen wäre, ſie noch zu benutzen. Soweit ich aus der Relation von
Marquardt ſchließen darf, würde mir die Benutzung derſelben jedoch keinen
Anlaß gegeben haben, die folgende Darſtellung zu ändern. Was ich bei Ael-
tern gefunden habe, z. B. bei Contarini de frumentaria Roman. largitione
(Graev. thes. tom. VIII. p. 933 sqq.)
iſt ungenügend. Dagegen will ich
zu Marquardt einen Beitrag machen, den er ſelbſt bei dem Erſcheinen ſeiner
Schrift noch nicht berückſichtigen konnte, nämlich die meiſterhafte Abh. von
Rubino de Serviani census summis disputatio partic. I. (Marburger Lek-
tionskatalog für das Sommerſem. 1854.) Der Verf. hat hier S. 24 flg. nach-
gewieſen, daß die in asses angeſetzten Preiſe der leges frumentariae vom
Pfund-As (in der Praxis in der Regel nach einem abſichtlich ſehr ermäßigten
Anſatz zu einem Seſterz gerechnet) zu verſtehen ſind. Der unglaublich nie-
drige Preis der Stellen in Anm. 401 hatte Schultz Grundlegung zu einer ge-
ſchichtlichen Staatswiſſ. der Römer S. 509 zu dem willkührlichen Vorſchlag
verleitet, ſtatt aeris: sestertiis zu leſen; Rubine hat uns jetzt die richtige
Löſung gegeben, und es iſt keins der geringſten Verdienſte jener kleinen, aber
höchſt werthvollen Gelegenheitsſchrift.
397).
Hinſichtlich der Municipien macht Kuhn in der Anm. 392 citirten
Abh. S. 20 auf eine hierher gehörige Einrichtung aufmerkſam. „Eine Laſt
der Landgüter war ferner die Verpflichtung, welche auf den Grundbeſitzern
mancher Gemeinden haftete, daß ſie jährlich einen beſtimmten Theil der von
ihnen erzeugten Früchte zu einem ermäßigten Preiſe an das Municipium ab-
398).
Theils durch polizeiliche und kriminelle Verfolgung deſſelben, Liv.
XXXVIII, 35. IV, 12: et objiciendo irae populi frumentarios,
Rein
Kriminalrecht der Römer S. 829, theils dadurch, daß ſie mittelſt der im Text
beſprochenen Concurrenz die Preiſe herabdrückten Plin. H. N. XVIII, 4.
399).
In der äußerſten Noth ergriff einmal ein Praefectus annonae ein
ſehr gewaltſames Mittel, das freilich wie alle derartige Eingriffe ſeinen Zweck
völlig verfehlte; er verordnete nämlich, daß jeder ſeine Vorräthe angeben und,
ſoweit ſie den Bedarf eines Monats überſtiegen, verkaufen ſolle, Liv. IV, 12.
400).
Plin. H. N. XVIII, 4 .. frumentum populo in modios assibus
donavit.
401).
Außer den Beiſpielen auf S. 244, Anm. 365 ſ. Liv. XXX, 26.
XXXI, 4 (quaternis aeris
4/12 As) XXX, 50 und XXXIII, 42 (binis
aeris
2/12 As). Epitome LX. (lex frumentaria des C. Gracchus: ut se-
misse et triente
[⅚ As] frumentum plebi daretur).
402).
Der Preis war ein ſehr niedriger, denn der Marktpreis des Wei-
zens betrug in guten Zeiten etwa 3 Seſterzen für den Modius, alſo dreimal
ſo viel als der Modius dem Volk abgelaſſen ward, wenn man das Pfund-As
nur zu einem Seſterz rechnete. Nach Rubino’s plauſibler Annahme (a. a. O.
397).
laſſen mußten (L. 27 §. 3 de usufr. L. 18 §. 25 de muner). Sie ſteht mit
der Sorge für die Wohlfeilheit der Lebensmittel in den Municipien in Ver-
bindung“ u. ſ. w.
403).
Liv. II, 9 (a. U. C. 246). 34 (262. si veterem annonam vo-
lunt). Dionys. IV, 22. Auct. de vir. ill. c. 7.
404).
Darauf zielte der Vorſchlag des Coriolan, Liv. II, 34. 35. Liv.
IV, 12 regno prope per largitionis dulcedinem in cervices accepto.
405).
Non. Marc. de propr. serm. I. §. 209. s. v. pandere.
406).
Liv. II, 9. Salis quoque vendendi arbitrium, quia impenso
402).
p. 25, Note 5) wäre dieſe niedrige Berechnungsweiſe des aes grave gerade
bei den Getraidevertheilungen zuerſt aufgekommen. Mit dem Modius (un-
gefähr ⅙ berl. Scheffel) reichte eine erwachſene Perſon, auch wenn ſie ſehr
wenig andere Nahrung zu ſich nahm, eine Woche. Soldaten erhielten im
Monat 4 Modii, die Bürger bei der ſpätern Getraidevertheilung 5, die Skla-
ven im Winter 4, im Sommer bei der härteren Arbeit 4½, der villicus, weil
ſeine ſonſtige Koſt beſſer war, nur 3. Cato de re rust. 56. Polyb. VI, 39.
Welch geringen Werth der As ſchon in alter Zeit hatte, und wie ſehr derſelbe
ſich ſpäterhin noch verminderte, kann hier nicht weiter ausgeführt werden.
407).
Liv. XXIX, 37. Worauf ſich die Behauptung von Ruperti Handb.
der röm. Alterth. 2. Th. S. 838 ſtützt, daß das Salzmonopol in Italien
aufgehoben worden ſei, kann ich nicht einſehen; Belege hat er nicht hinzu-
gefügt.
408).
Die politiſche Seite dieſer Frage iſt bereits S. 158 berührt.
406).
pretio venibat, in publicum omni sumtu, ademtum privatis. Livius hätte
ſich kaum deutlicher ausdrücken können, und die Auffaſſung des Textes wird
keiner Rechtfertigung bedürfen, es iſt aber unglaublich, wie man ihn mißver-
ſtanden und an den Worten gekünſtelt und experimentirt hat. S. Dracken-
borch
zu dieſer Stelle. Eine Salzſteuer wird ſchon dem Ancus Martius zu-
geſchrieben, Auct. de vir. ill. c. 5, ebenſo die erſte Einrichtung der Salinen
und das erſte Geſchenk von Salz an das Volk. Plin. H. N. XXXI, 41.
409).
Liv. VII, 21.
410).
Val. Max. IV, 4 §. 6 u. 10. Front. Stratag. IV, 3 §. 15. Auct.
de vir. illustr. c.
40. (Alimente an die Frau und Kinder des Regulus) ibid.
c. 18, 24, 33.
(Geſchenk eines Hauſes, einer Bau-, Begräbnißſtelle) Val.
Max. V.
1. 1 (Begräbniß auf Koſten des Staats). Mitunter geſchah ſo
etwas durch eine öffentliche Collekte des Volks z. B. Auct. de viris illustr.
c. 18, 32.
411).
Darum war denn auch die Stellung des Prätors in der Rechts-
pflege eine ganz andere, als die der übrigen römiſchen Beamten, und alles,
was von letzteren in der Folge geſagt werden wird, bezieht ſich, wie ich ſchon
hier bemerken will, nur auf ſie, nicht auf den Prätor. Die Stellung des
letztern iſt bereits früher (S. 80 u. 108) berührt.
412).
VI. 11, 5. 12, 9.
413).
Gerlach u. Bachofen. Geſchichte der Römer. B. 1. Abth. 2.
414).
Val. Max. III. 7, 3: Tacete quaeso, Quirites, plus enim ego,
quam vos, quid reipublicae expediat, intelligo. Ibid. VI. 2, 3. VI. 4, 1,
2. Auct. de vir. illustr. 58. §. 8.
415).
Hinſichtlich der Sitzungen des Senats beſtand eine Pflicht der
Sitte (ſ. unten).
416).
Liv. VIII, 15. XXIV, 7—9. Val. Max. III, 8. 3. Vell. Paterc.
II, 92. juravit, etiamsi factus esset consul suffragiis populi, tamen
se eum non renuntiaturum.
417).
Wie z. B. Livius Salinator (S. 265. Anm. 407) die Salzſteuer.
418).
Jenes bei Liv. II, 56, dieſes bei Liv. III, 26 (wo der Senat ſelbſt
ihrer Uſurpation in die Hände arbeitete). Gell. XIII, 12. Sie verſuchten es
auch, wie uns Gellius XIII, 12 berichtet, ſich das jus vocationis, das den
Magiſtraten mit imperium zuſtand, zuzueignen, ja ſie hatten es ſogar gegen
die Conſuln auszuüben gewagt, allein hier hatte ihre Uſurpation nicht den
gewünſchten Erfolg, die vocatio ward ihnen nie zugeſtanden.
419).
Val. Max. VI. 3, 2. IX. 5, 2. Cic. de leg. III. c. 9. Aur. Vict.
de vir. ill. 66. §. 9.
420).
Ich könnte hier noch auf die Vormundſchaft des ältern Rechts ver-
weiſen, deren ich dort zu gedenken keine Veranlaſſung fand. Die Charakte-
riſtik der öffentlichen Gewalten paßt faſt Zug für Zug auch auf ſie. Sie war
bekanntlich im ältern Recht ein Gewaltverhältniß (jus in capite libero), und
zwar ein rechtlich ſehr freies, der Vormund war durch keine Vorſchriften und
Beſchränkungen gebunden und konnte erſt nach Niederlegung ſeines Amts zur
Verantwortung gezogen werden.
421).
De leg. III. c. 10. Sed iniqua est in omni re accusanda prae-
termissis bonis malorum enumeratio vitiorumque selectio. Nam isto
quidem modo vel consulatus vituperabilis est, si consulum, quos enume-
rare nolo, peccata collegeris.
422).
E. Laboulaye. Essai sur les lois criminelles des Romains con-
cernant la responsabilité des magistrats. Paris 1845.
423).
So verhinderten ſie ſogar fünf Jahre lang (379—383) die Wahl
der patriciſchen Beamten, um die Zulaſſung der Plebejer zum Conſulat zu
ertrotzen. Liv. VI, 35.
424).
S. z. B. Liv. V, 29.
425).
Man ſehe z. B. Vellej. Paterc. II, 44: Bibulus, collega Caesa-
ris, cum actiones ejus magis vellet impedire, quam posset
(d. h.
er wagte es nicht) majore parte anni domi se tenuit.
426).
Liv. XLV, 21 .... persaepe evenisset, ut .. qui ad interceden-
dum venissent, desisterent victi auctoritatibus suadentium legem.
Bei
Liv. IV, 60 legten die Tribunen ihr Veto ein gegen die Ausſchreibung der
Kriegsſteuer, allein es ward ihnen hier die Beſchämung zu Theil, daß bei
Arm und Reich spreto tribunitio auxilio certamen conferendi (tributi)
est ortum.
427).
Selbſt durch den Einfluß der Familienverhältniſſe z. B. die patria
potestas (Val. Max. V. 4, 5. V. 8, 3. Liv. II, 41)
die Agnaten und Gen-
tilen (ſ. z. B. Anm. 333).
428).
Liv. IV, 8 .. rei a parva origine ortae, quae deinde tanto
incremento aucta est, ut morum disciplinaeque Romanae penes eam regi-
men, senatus equitumque centuriae decoris dedecorisque discrimen sub
ditione ejus magistratus, publicorum jus privatorumque locorum vecti-
galia populi Romani sub nutu atque arbitrio essent.
429).
Es iſt eine grandioſe Uebertreibung, wenn in der Geſchichte der
Römer von Gerlach und Bachofen B. 1. Abth. 2. S. 208: „die Präce-
dentien zur einzigen Grundlage des ſpätern Zuſtandes und zur einzigen Norm
ſeiner Beurtheilung“ erhoben werden. Wäre ein ſolcher Zuſtand irgendwo
denkbar, ſo verdiente das Volk, bei dem er ſich fände, nur mit einer Schaaf-
heerde, die dem Hammel nachſpringt, verglichen zu werden. Bisher möchte
aber dies Volk nur einem Verehrer des abſoluten Stillſtandes in ſeinen Vi-
ſionen erſchienen ſein, daſſelbe aber nach Rom zu verſetzen, müßte Einem, der
etwas von Rom gehört hat, meine ich, ſelbſt im Schlaf nicht möglich ſein.
Was hieße denn jener Götzendienſt mit Präcedentien anders, als der ſünd-
430).
Dies möchte ich namentlich gegen Laboulaye a. a. O. S. 73 ein-
wenden, der im übrigen das Verhältniß treffend charakteriſirt. En droit, le
magistrat était tout-puissant; mais la coutume l’emprisonait dans un
cercle de précédents dont il lui était comme impossible de sortir. Free
by law, slave by custom
: cette devise du citoyen anglais était
429).
hafteſte Quietismus, die ſchmählichſte Apathie und eine blinde Unterordnung
der Einſicht aller folgenden Zeiten unter das Urtheil der erſten und zugleich
letzten ſelbſtdenkenden Perſon — des Präcedentien-Adams?
431).
So ward es z. B. bei Tarquinius Superbus ſtets als Zeichen ſei-
ner deſpotiſchen Geſinnung angeführt, daß er die Zuziehung eines consilium
bei der Fällung von Straferkenntniſſen unterlaſſen. Mit dieſer Zuziehung
hatte es aber keine andere Bewandniß, als mit der des Verwandtenraths bei
Ausübung der Strafgerichtsbarkeit von Seiten des Vaters. Unter denſelben
Geſichtspunkt fällt meiner Meinung nach auch der Vorwurf, den man ihm ſo
wie den Decemvirn machte, daß ſie ſich über die Sitte, den Senat zuſammen-
zuberufen, hinweggeſetzt hätten.
432).
Ad famil. I. 9, §. 25.
430).
aussi celle du magistrat romain, qui se glorifiait de son respect pour la
tradition et considérait la coutume comme une des bases les plus so-
lides de l’État.
433).
Einrichtungen ſocialer Art, Sätze der traditionellen römiſchen Mo-
ral u. ſ. w. werden ebenſowohl auf die mos geſtützt, als Einrichtungen rein
434).
Liv. epit. lib. 80.
433).
rechtlicher Art. Bei einer ſo bekannten Sache bedarf es kaum der Zeugniſſe;
beiſpielsweiſe verweiſe ich auf Cie. de leg. II, 24. de offic. I, 35. II, 19. Gel-
lius V,
19. Dürfte man auf das durch Servius uns aufbewahrte Zeugniß
des Varro Gewicht legen, ſo würde gar mos nur die Sitte in unſerem Sinn,
consuetudo aber die Steigerung derſelben zum eigentlichen Gewohnheitsrecht
ausdrücken. Serv. ad Aeneid. VII, 601: morem esse communem con-
sensum omnium simul habitantium, qui inveteratus consuetudi-
nem facit
.
435).
Liv. XXIV, 9. Tempus ac necessitas belli ac discrimen sum-
mae rerum faciebant, ne quis aut in exemplum exquireret etc.
436).
Liv. IV, 31.
437).
Liv. X, 37. novo exemplo.
438).
Val. Max. VI, 1, 7. VI, 5, 5.
439).
Gell. XIV, 7. In dem Fall, von dem Gellius ſpricht, geſchah es
per ambitionem gratiamque, allein das Recht dazu ward darum dem Con-
ſul nicht beſtritten.
440).
Val. Max. II, 7. §. 15. tribuno plebis adversante, ne
adversus morem majorum animadverteret. Liv. XXIV,
9 u. a.
441).
Liv. IX, 46. quum more majorum negaret nisi consulem
ant imperatorem posse templum dedicare.
442).
z. B. Cic. in Vat. c. 14. in omni memoria omnino inauditum.
Liv. XLV, 21. novo maloque exemplo.
443).
z. B. hinſichtlich der Frage, ob der Conſul ohne einen Senats-
beſchluß Gold aus dem Aerar nehmen dürfe. Polyb. VI, c. 12. §. 5, c. 15.
Zonar. VII,
13. Da unſere neueren Schriftſteller den im Text angegebenen
Geſichtspunkt nicht beachtet haben, ſo ſetzte ſich denn auch unter ihnen, wie
bei dieſer Frage (Rubino Unterſuchungen, S. 178. Becker Handbuch der
röm. Alterth. Bd. 2. Abth. 2. S. 110), ſo bei vielen andern die Differenz
fort, und alle Bemühungen, die ſcheinbaren Widerſprüche der Quellen zu ver-
einigen, werden hier ſo lange erfolglos bleiben, bis man ſich entſchließt, den
obigen Geſichtspunkt zu Grunde zu legen.
444).
Es wäre ein verdienſtliches Unternehmen, anſtatt wie bisher bei der
445).
Faſt alle Normen, die ſich in Bezug auf den Senat entwickelt hat-
ten, waren meiner Anſicht nach Praxis und Sitte, z. B. die Verpflichtung
zur Berufung des Senats, zur Einhaltung einer beſtimmten Reihenfolge bei
der Abſtimmung, die Wirkung der senatus autoritas, daß ſie den Beam-
ten, der dieſer autoritas gefolgt war, gegen eine Anklage vor dem Volk ſicher
ſtellte u. ſ. w.
446).
Senatui placere, videri, senatum existimare, arbitrari, aequum
censere etc. Brisson. de voc. ac form. lib. II, c.
73—78. Daher auch
der Beſchluß ſelbſt: Senatus consultum.
447).
z. B. Dionys. excerpta XVI, 16, wo der Conſul einen Senats-
beſchluß mit den Worten zurückwies: οὐ τὴν βουλὴν ἄϱχειν ἑαυτοῦ, ἕως
ἐστιν ὕπατος, ἀλλ̛ αὐτὸν τῆς βουλῆς, ferner ſolche Scenen, wie z. B. bei
Val. Max. VI, 2. 2. IX, 5. 1, 2, wo der Senat ſich dem Conſul gegenüber
aufs Bitten legte, und letzterer ihn nicht einmal einer Antwort würdigte,
oder der Conſul in der Sitzung des Senats an ein Mitglied Hand anlegen
444).
Bearbeitung des römiſchen Staatsrechts ſich durch den Zweck leiten zu laſ-
ſen, überall beſtimmte und ſichere Rechtsgrundſätze zu gewinnen, umgekehrt
einmal die Controverſen deſſelben zu ſammeln. Es iſt mir hier nicht möglich
das Material, das ich mir geſammelt, mitzutheilen, ganz abgeſehen davon,
daß es noch bei weitem nicht vollſtändig iſt. Aber ich kann auf Grund deſſel-
ben Jedem, der ſich zu einer ſolchen Arbeit entſchließen wollte, im voraus
eine ſehr reiche Ausbeute in Ausſicht ſtellen.
448).
Aus demſelben Grunde fühlte ſich der Senat veranlaßt, Fragen,
die er verfaſſungsmäßig allein entſcheiden konnte, an das Volk zu bringen.
So z. B. Liv. V, 36. Itaque ne penes ipsos culpa esset …, cog-
nitionem .. ad populum rejiciunt
und VII, 20. IX, 30. Rubino a. a. O.
S. 273, 274.
449).
Liv. V, 29. Hier wurden zwei Tribunen, die auf Veranlaſſung des
Senats intercedirt hatten, dennoch hinterher verurtheilt, aber wie Livius
ſagt: pessimo exemplo, und gerade dieſer Fall zeigt deutlich, welchen Schutz
die Autoritas senatus gewährte. Die Conſuln wurden aufs bitterſte ge-
tadelt, daß ſie es gelitten hätten: fide publica decipi tribunos, qui
senatus auctoritatem sequuti essent.
450).
Es werden Fälle erwähnt, wo der Magiſtrat, weil ihm dieſe mora-
liſche Unterſtützung des Senats fehlte, ſeine durchaus legalen Intentionen
nicht durchſetzen konnte, z. B. Liv. VIII, 15.
447).
ließ. S. außerdem die von Rubino Unterſuchungen u. ſ. w. S. 145 u. 146
beigebrachten Stellen.
451).
Beiſpiele bei Appian. de bello civ. I, 19. Liv. XLII, 22. XLIII,
2. Rubino a. a. O. S. 128. Anm. 3 u. Laboulaye S. 34. 36.
452).
Wie z. B. gegen den Poſtumius. Anm. 437, oder den Metellus,
Auct. de vir. illustr. c. 45 quum per calumniam triumphus ei a senatu
negaretur, de sua sententia in Albano monte triumphavit.
453).
Liv. XXX, 24.
454).
Liv. IV, 26: ut dictatorem dicere consules pro potestate vestra
cogatis.
Der hier erwähnten Aufforderung von Seiten des Senats hatten
die Tribunen die Möglichkeit einer Ausdehnung ihrer prensio gegen die Con-
ſuln zu verdanken. Liv. V, 9: et collegae aut facient, quod censet senatus
aut si pertinacius tendent, dictatorem extemplo dicam, qui eos abire
magistratu cogat.
455).
z. B. Appian. de bello civili I, 65.
456).
Dies wird man in einem geringern Maße ſelbſt vom Standpunkt
der bisherigen Auffaſſung aus uns zugeben müſſen, denn das Gewohnheits-
recht entſteht bekanntlich nicht über Nacht, ſondern ſetzt einen längern Bil-
dungsprozeß voraus. Man laſſe ſich durch die Feſtigkeit, Sicherheit, Be-
ſtimmtheit, die dem fertig gewordenen Rechtsſatz auch bei der gewohnheits-
rechtlichen Entſtehung zu Theil wird, nicht verleiten, den Mangel dieſer
Eigenſchaften bei dem noch nicht Fertigen zu überſehen; zu vergeſſen,
daß alles Sein ein Werden vorausſetzt, und daß gerade beim Gewohn-
heitsrecht die Periode des Werdens oft von ſehr langer Dauer ſein kann.
457).
So z. B. bei Liv. III, 26 die Conſuln rückſichtlich des von den
Tribunen in Anſpruch genommenen jus prensionis; wenn damals andere
Männer dies Amt bekleidet hätten, ſie würden die tribunitiſche Anmaßung
gewiß verdientermaßen zurückgewieſen haben. — Wie verſchieden benutzten
manche Conſuln die ihnen vom Volk oder Senat ertheilte Autoriſation zum
Abſchluß eines Friedens! Einige ſchloſſen ohne Vorbehalt und ohne vorherige
Anzeige an den Senat nach eigenem Gutdünken den Vertrag ab (Beiſpiele
bei Rubino a. a. O. S. 267, 268), andere wagten von ihrer Vollmacht kei-
nen Gebrauch zu machen, ſondern behielten dem Volk die ſchließliche Ent-
ſcheidung vor. Liv. XXX, 43. 44.
458).
Ein höchſt intereſſantes Beiſpiel gewährt hier Liv. XXVII, 8.
(B. 1. S. 317.) Der flamen Dialis hatte von altersher Sitz und Stimme
im Senat, allein mehre Menſchenalter hindurch war dies Recht „ob indigni-
tatem priorum flaminum“
nicht zur Ausübung gekommen, bis einmal eine ge-
achtete und entſchloſſene Perſönlichkeit dieſen Poſten bekleidete und es wagte,
459).
Liv. IV, 8 legt den Patriciern bei Einführung den Cenſur dieſe
Erwägung unter: id, quod evenit, futurum credo etiam rati, ut mox opes
eorum, qui praeessent, ipsi honori jus majestatemque
adjicerent
.
458).
von jenem Recht Gebrauch zu machen und den Widerſpruch, der anfäng-
lich entgegengeſetzt ward, beſiegte. Mit dieſem Einen zurückeroberten Rechte
hatte das Amt ſelbſt unendlich viel gewonnen. Daß aber lediglich die Per-
ſönlichkeit des damaligen flamen den Ausſchlag gegeben habe (magis sancti-
tate vitae, quam sacerdotii jure rem obtinuisse
), darüber war, wie Livius
berichtet, nur eine Stimme.
460).
Uebrigens verdient hier die treffende Bemerkung von Laboulaye
a. a. O. S. 75 wohl beherzigt zu werden: Ces pouvoirs indépendants, ſagt
er, les consuls, les tribuns, le sénat, s’entendaient comme aujourd’hui
les chambres et le pouvoir exécutif; les consuls essayaient de se main-
tenir constamment in auctoritate senatus, et le sénat, de son côté, s’ef-
forçait de conserver la bonne intelligence entre les tribuns et les con-
suls. On était tout-puissant par l’union, mais chacun était sans
force dès que l’accord n’existait plus. Il fallait donc
à tout prix conserver cette harmonie
, et c’est ce qui ex-
plique comment tout se faisait par une suite des transactions,
de concessions mutuelles, de tempéraments perpétuels
.
461).
Auct. de vir. illustr. c. 57: ob quod a populo collega ejus Clau-
dius (nam ipsum autoritas tuebatur) reus factus et quum eum
duae classes condemnassent Tiberius juravit, se cum illo in exsilium
iturum; ita reus absolutus est.
462).
Man vergleiche z. B. Liv. IV, 26 mit V, 9.
463).
S. z. B. Florus epit. II, 2. §. 17. Liv. II, 56. IV, 26.
464).
Liv. VI, 38.
465).
Man vergleiche z. B. Liv. VIII, 15 mit Vellej. Paterc. II, 92.
und Gell. VI, 9.
466).
Liv. IX, 30.
467).
Auct. de vir. illustr. c. 72.
468).
G. Lenz über die geſchichtliche Entſtehungsweiſe des Rechts.
Greifswald u. Leipz. 1854.
469).
Die act. tutelae gehört erſt dem ſpätern Recht an, wie an einer
andern Stelle gezeigt werden ſoll.
470).
L. 2 §. 7, 33. 38 de orig. jur. (1. 2.) Cic. de orat. I, 57. 58.
III,
33. Varro de re rustica theilt an jeder Stelle ſeines Werkes, wo er
irgend einen Contrakt z. B. den Verkauf von Sklaven, Vieh, der Wein-
ärndte u. ſ. w., das Verdingen einer Arbeit u. a. erwähnt, die betreffenden
Formulare mit.
471).
L. 21 §. 5 quod met. (4. 2.)
472).
L. 24 quae in fr. cred. (42. 8.)

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CC-BY-4.0
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Jhering, Rudolf von. Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnww.0