[][][][][][][]
Also
sprach Zarathustra.


Ein Buch
für
Alle und Keinen.


2.


Chemnitz: 1883.
Verlag von Ernst Schmeitzner.

Paris
W. Fischbacher
33 Rue de Seine.
St. Petersburg
H. Schmitzdorff
(C. Roettger.)
Kais. Hof-Buchhandlung.
5 Newsky Prospekt.
Turin
(Florenz, Rom.)
Hermann Loescher
via di Po 19.
New-York
E. Steiger \& Co.
25 Park Place.
London
Williams \& Norgate
14 Henrietta Street,
Covent Garden.
[]

Druck von C. G. Naumann in Leipzig.

[]

„— und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet
habt, will ich euch wiederkehren.


Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder,
werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit
einer andern Liebe werde ich euch dann lieben“.


(Zarathustra, von der schenkenden Tugend (I. p. 112.)
)
[][1]

Das Kind mit dem Spiegel.


Hierauf gieng Zarathustra wieder zurück in das
Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle und ent¬
zog sich den Menschen: wartend gleich einem Säe¬
mann, der seinen Samen ausgeworfen hat. Seine
Seele aber wurde voll von Ungeduld und Begierde
nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen
noch Viel zu geben. Diess nämlich ist das Schwerste,
aus Liebe die offne Hand schliessen und als Schen¬
kender die Scham bewahren.


Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre;
seine Weisheit aber wuchs und machte ihm Schmerzen
durch ihre Fülle.


Eines Morgens aber wachte er schon vor der
Morgenröthe auf, besann sich lange auf seinem Lager
und sprach endlich zu seinem Herzen:


„Was erschrak ich doch so in meinem Traume,
dass ich aufwachte? Trat nicht ein Kind zu mir, das
einen Spiegel trug?


„Oh Zarathustra — sprach das Kind zu mir —
schaue Dich an im Spiegel!“


Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie
ich auf, und mein Herz war erschüttert: denn nicht
1[2] mich sahe ich darin, sondern eines Teufels Fratze
und Hohnlachen.


Wahrlich, allzugut verstehe ich des Traumes
Zeichen und Mahnung: meine Lehre ist in Gefahr.
Unkraut will Weizen heissen!


Meine Feinde sind mächtig worden und haben
meiner Lehre Bildniss entstellt, also, dass meine
Liebsten sich der Gaben schämen müssen, die ich
ihnen gab.


Verloren giengen mir meine Freunde; die Stunde
kam mir, meine Verlornen zu suchen!“ —


Mit diesen Worten sprang Zarathustra auf, aber
nicht wie ein Geängstigter, der nach Luft sucht,
sondern eher wie ein Seher und Sänger, welchen der
Geist anfällt. Verwundert sahen sein Adler und seine
Schlange auf ihn hin: denn gleich dem Morgenrothe
lag ein kommendes Glück auf seinem Antlitze.


Was geschah mir doch, meine Thiere? — sagte
Zarathustra. Bin ich nicht verwandelt! Kam mir
nicht die Seligkeit wie ein Sturmwind?


Thöricht ist mein Glück und Thörichtes wird es
reden: zu jung noch ist es — so habt Geduld mit ihm!


Verwundet bin ich von meinem Glücke: alle
Leidenden sollen mir Ärzte sein!


Zu meinen Freunden darf ich wieder hinab und
auch zu meinen Feinden! Zarathustra darf wieder
reden und schenken und Lieben das Liebste thun!


Meine ungeduldige Liebe fliesst über in Strömen,
abwärts, nach Aufgang und Niedergang. Aus schweig¬
samem Gebirge und Gewittern des Schmerzes rauscht
meine Seele in die Thäler.


[3]

Zu lange sehnte ich mich und schaute in die
Ferne. Zu lange gehörte ich der Einsamkeit: so ver¬
lernte ich das Schweigen.


Mund bin ich worden ganz und gar, und Brausen
eines Bachs aus hohen Felsen: hinab will ich meine
Rede stürzen in die Thäler.


Und mag mein Strom der Liebe in Unwegsames
stürzen! Wie sollte ein Strom nicht endlich den Weg
zum Meere finden!


Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer,
selbstgenugsamer; aber mein Strom der Liebe reisst
ihn mit sich hinab — zum Meere!


Neue Wege gehe ich, eine neue Rede kommt mir;
müde wurde ich, gleich allen Schaffenden, der alten
Zungen. Nicht will mein Geist mehr auf abgelaufnen
Sohlen wandeln.


Zu langsam läuft mir alles Reden: — in deinen
Wagen springe ich, Sturm! Und auch dich will ich
noch peitschen mit meiner Bosheit!


Wie ein Schrei und ein Jauchzen will ich über
weite Meere hinfahren, bis ich die glückseligen Inseln
finde, wo meine Freunde weilen: —


Und meine Feinde unter ihnen! Wie liebe ich
nun Jeden, zu dem ich nur reden darf! Auch meine
Feinde gehören zu meiner Seligkeit.


Und wenn ich auf mein wildestes Pferd steigen
will, so hilft mir mein Speer immer am besten hinauf:
der ist meines Fusses allzeit bereiter Diener: —


Der Speer, den ich gegen meine Feinde schleudere!
Wie danke ich es meinen Feinden, dass ich endlich
ihn schleudern darf!


1*[4]

Zu gross war die Spannung meiner Wolke:
zwischen Gelächtern der Blitze will ich Hagelschauer
in die Tiefe werfen.


Gewaltig wird sich da meine Brust heben, ge¬
waltig wird sie ihren Sturm über die Berge hinblasen:
so kommt ihr Erleichterung.


Wahrlich, einem Sturme gleich kommt mein
Glück und meine Freiheit! Aber meine Feinde sollen
glauben, der Böse rase über ihren Häuptern.


Ja, auch ihr werdet erschreckt sein, meine Freunde,
ob meiner wilden Weisheit; und vielleicht flieht ihr da¬
von sammt meinen Feinden.


Ach, dass ich's verstünde, euch mit Hirtenflöten
zurück zu locken! Ach, dass meine Löwin Weisheit
zärtlich brüllen lernte! Und Vieles lernten wir schon
mit einander!


Meine wilde Weisheit wurde trächtig auf ein¬
samen Bergen; auf rauhen Steinen gebar sie ihr
Junges, Jüngstes.


Nun läuft sie närrisch durch die harte Wüste und
sucht und sucht nach sanftem Rasen — meine alte
wilde Weisheit!


Auf eurer Herzen sanften Rasen, meine Freunde! —
auf eure Liebe möchte sie ihr Liebstes betten!


Also sprach Zarathustra.

[5]

Auf den glückseligen Inseln.


Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut
und süss; und indem sie fallen, reisst ihnen die rothe
Haut. Ein [Nordwind] bin ich reifen Feigen.


Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu,
meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr süsses
Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und
Nachmittag.


Seht, welche Fülle ist um uns! Und aus dem
Überflusse heraus ist es schön hinaus zu blicken auf
ferne Meere.


Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere
blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch.


Gott ist eine Muthmaassung; aber ich will, dass
euer Muthmaassen nicht weiter reiche, als euer schaffen¬
der Wille.


Könntet ihr einen Gott schaffen? — So schweigt
mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr
den Übermenschen schaffen.


Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber
zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch um¬
schaffen des Übermenschen: und Diess sei euer bestes
Schaffen! —


[6]

Gott ist eine Muthmaassung: aber ich will, dass
euer Muthmaassen begrenzt sei in der Denkbarkeit.


Könntet ihr einen Gott denken? — Aber diess
bedeute euch Wille zur Wahrheit, dass Alles ver¬
wandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-
Sichtbares, Menschen-Fühlbares! Eure eignen Sinne
sollt ihr zu Ende denken!


Und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch
geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer
Wille, eure Liebe soll es selber werden! Und wahrlich,
zu eurer Seligkeit, ihr Erkennenden!


Und wie wolltet ihr das Leben ertragen ohne
diese Hoffnung, ihr Erkennenden? Weder in's Un¬
begreifliche dürftet ihr eingeboren sein, noch in's
Unvernünftige.


Aber dass ich euch ganz mein Herz offenbare,
ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's
aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter.


Wohl zog ich den Schluss; nun aber zieht er
mich. —


Gott ist eine Muthmaassung: aber wer tränke alle
Qual dieser Muthmaassung, ohne zu sterben? Soll
dem Schaffenden sein Glaube genommen sein und
dem Adler sein Schweben in Adler-Fernen?


Gott ist ein Gedanke, der macht alles Gerade
krumm und Alles, was steht, drehend. Wie? Die
Zeit wäre hinweg, und alles Vergängliche nur Lüge?


Diess zu denken ist Wirbel und Schwindel mensch¬
lichen Gebeinen und noch dem Magen ein Erbrechen:
wahrlich, die drehende Krankheit heisse ich's, Solches
zu muthmaassen.


[7]

Böse heisse ich's und menschenfeindlich: all diess
Lehren vom Einen und Vollen und Unbewegten und
Satten und Unvergänglichen!


Alles Unvergängliche — das ist nur ein Gleich¬
niss! Und die Dichter lügen zuviel. —


Aber von Zeit und Werden sollen die besten
Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine
Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!


Schaffen — das ist die grosse Erlösung vom
Leiden, und des Lebens Leichtwerden. Aber dass der
Schaffende sei, dazu selber thut Leid noth und viel
Verwandelung.


Ja, viel bitteres Sterben muss in eurem Leben
sein, ihr Schaffenden! Also seid ihr Fürsprecher und
Rechtfertiger aller Vergänglichkeit.


Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu
geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein
wollen und der Schmerz der Gebärerin.


Wahrlich, durch hundert Seelen gieng ich meinen
Weg und durch hundert Wiegen und Geburtswehen.
Manchen Abschied nahm ich schon, ich kenne die
herzbrechenden letzten Stunden.


Aber so will's mein schaffender Wille, mein
Schicksal. Oder, dass ich's euch redlicher sage:
solches Schicksal gerade — will mein Wille.


Alles Fühlende leidet an mir und ist in Gefäng¬
nissen: aber mein Wollen kommt mir stets als mein
Befreier und Freudebringer.


Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille
und Freiheit — so lehrt sie euch Zarathustra.


[8]

Nicht-mehr-wollen und Nicht-mehr-schätzen und
Nicht-mehr-schaffen! ach, dass diese grosse Müdigkeit
mir stets ferne bleibe!


Auch im Erkennen fühle ich nur meines Willens
Zeuge und Werde-Lust; und wenn Unschuld in meiner
Erkenntniss ist, so geschieht diess, weil Wille zur
Zeugung in ihr ist.


Hinweg von Gott und Göttern lockte mich dieser
Wille; was wäre denn zu schaffen, wenn Götter —
da wären!


Aber zum Menschen treibt er mich stets von
Neuem, mein inbrünstiger Schaffens-Wille; so treibt's
den Hammer hin zum Steine.


Ach, ihr Menschen, im Steine schläft mir ein
Bild, das Bild meiner Bilder! Ach, dass es im här¬
testen, hässlichsten Steine schlafen muss!


Nun wüthet mein Hammer grausam gegen sein
Gefängniss. Vom Steine stäuben Stücke: was schiert
mich das?


Vollenden will ich's: denn ein Schatten kam zu
mir — aller Dinge Stillstes und Leichtestes kam einst
zu mir!


Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als
Schatten. Ach, meine Brüder! Was gehen mich
noch — die Götter an! —


Also sprach Zarathustra.

[9]

Von den Mitleidigen.


Meine Freunde, es kam eine Spottrede zu eurem
Freunde: „seht nur Zarathustra! Wandelt er nicht
unter uns wie unter Thieren?“


Aber so ist es besser geredet: „der Erkennende
wandelt unter Menschen als unter Thieren.“


Der Mensch selber aber heisst dem Erkennenden:
das Thier, das rothe Backen hat.


Wie geschah ihm das? Ist es nicht, weil er sich
zu oft hat schämen müssen?


Oh meine Freunde! So spricht der Erkennende:
Scham, Scham, Scham — das ist die Geschichte des
Menschen!


Und darum gebeut sich der Edle, nicht zu be¬
schämen: Scham gebeut er sich vor allem Leidenden.


Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen,
die selig sind in ihrem Mitleiden: zu sehr gebricht es
ihnen an Scham.


Muss ich mitleidig sein, so will ich's doch nicht
heissen; und wenn ich's bin, dann gern aus der Ferne.


Gerne verhülle ich auch das Haupt und fliehe davon,
bevor ich noch erkannt bin: und also heisse ich euch
thun, meine Freunde!


Möge mein Schicksal mir immer Leidlose, gleich
euch, über den Weg führen, und Solche, mit denen mir
Hoffnung und Mahl und Honig gemein sein darf!


[10]

Wahrlich, ich that wohl Das und Jenes an Leiden¬
den: aber Besseres schien ich mir stets zu thun, wenn
ich lernte, mich besser freuen.


Seit es Menschen giebt, hat der Mensch sich zu
wenig gefreut: Das allein, meine Brüder, ist unsre
Erbsünde!


Und lernen wir besser uns freuen, so verlernen
wir am besten, Andern wehe zu thun und Wehes
auszudenken.


Darum wasche ich mir die Hand, die dem Leiden¬
den half, darum wische ich mir auch noch die Seele ab.


Denn dass ich den Leidenden leidend sah, dessen
schämte ich mich um seiner Scham willen; und als ich
ihm half, da vergieng ich mich hart an seinem Stolze.


Grosse Verbindlichkeiten machen nicht dankbar,
sondern rachsüchtig; und wenn die kleine Wohlthat
nicht vergessen wird, so wird noch ein Nage-Wurm
daraus.


„Seid spröde im Annehmen! Zeichnet aus damit,
dass ihr annehmt!“ — also rathe ich Denen, die Nichts
zu verschenken haben.


Ich aber bin ein Schenkender: gerne schenke ich,
als Freund den Freunden. Fremde aber und Arme
mögen sich die Frucht selber von meinem Baume
pflücken: so beschämt es weniger.


Bettler aber sollte man ganz abschaffen! Wahrlich,
man ärgert sich ihnen zu geben und ärgert sich ihnen
nicht zu geben.


Und insgleichen die Sünder und bösen Gewissen!
Glaubt mir, meine Freunde: Gewissensbisse erziehn
zum Beissen.


[11]

Das Schlimmste aber sind die kleinen Gedanken.
Wahrlich, besser noch bös gethan, als klein gedacht!


Zwar ihr sagt: „die Lust an kleinen Bosheiten
erspart uns manche grosse böse That.“ Aber hier
sollte man nicht sparen wollen.


Wie ein Geschwür ist die böse That: sie juckt
und kratzt und bricht heraus, — sie redet ehrlich.


„Siehe, ich bin Krankheit“ — so redet die böse
That; das ist ihre Ehrlichkeit.


Aber dem Pilze gleich ist der kleine Gedanke:
er kriecht und duckt sich und will nirgendswo sein —
bis der ganze Leib morsch und welk ist vor kleinen
Pilzen.


Dem aber, der vom Teufel besessen ist, sage ich
diess Wort in's Ohr: besser noch, du ziehest deinen
Teufel gross! Auch für dich giebt es noch einen Weg
der Grösse!“ —


Ach, meine Brüder! Man weiss von Jedermann
Etwas zu viel! Und Mancher wird uns durchsichtig,
aber desshalb können wir noch lange nicht durch ihn
hindurch.


Es ist schwer, mit Menschen zu leben, weil Schwei¬
gen so schwer ist.


Und nicht gegen Den, der uns zuwider ist, sind
wir am unbilligsten, sondern gegen Den, welcher uns
gar Nichts angeht.


Hast du aber einen leidenden Freund, so sei
seinem Leiden eine Ruhestätte, doch gleichsam ein
hartes Bett, ein Feldbett: so wirst du ihm am besten
nützen.


[12]

Und thut dir ein Freund Übles, so sprich: „ich
vergebe dir, was du mir thatest; dass du es aber dir
thatest, — wie könnte ich das vergeben!“


Also redet alle grosse Liebe: die überwindet auch
noch Vergebung und Mitleiden.


Man soll sein Herz festhalten; denn lässt man es
gehn, wie bald geht Einem da der Kopf durch!


Ach, wo in der Welt geschahen grössere Thor¬
heiten, als beiden Mitleidigen? Und was in der Welt
stiftete mehr Leid, als die Thorheiten der Mitleidigen?


Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe
haben, welche über ihrem Mitleiden ist!


Also sprach der Teufel einst zu mir: „auch Gott
hat seine Hölle: das ist seine Liebe zu den Menschen.“


Und jüngst hörte ich ihn diess Wort sagen: „Gott
ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist
Gott gestorben.“ —


So seid mir gewarnt vor dem Mitleiden: daher
kommt noch den Menschen eine schwere Wolke!
Wahrlich, ich verstehe mich auf Wetterzeichen!


Merket aber auch diess Wort: alle grosse Liebe
ist noch über all ihrem Mitleiden: denn sie will das
Geliebte noch — schaffen!


„Mich selber bringe ich meiner Liebe dar, und
meinen Nächsten gleich mir
“ — so geht die
Rede allen Schaffenden.


Alle Schaffenden aber sind hart. —


Also sprach Zarathustra.

[13]

Von den Priestern.


Und einstmals gab Zarathustra seinen Jüngern ein
Zeichen und sprach diese Worte zu ihnen:


„Hier sind Priester: und wenn es auch meine
Feinde sind, geht mir still an ihnen vorüber und mit
schlafendem Schwerte!


Auch unter ihnen sind Helden; Viele von ihnen
litten zuviel —: so wollen sie Andre leiden machen.


Böse Feinde sind sie: Nichts ist rachsüchtiger als
ihre Demuth. Und leicht besudelt sich Der, welcher
sie angreift.


Aber mein Blut ist mit dem ihren verwandt; und
ich will mein Blut auch noch in dem ihren geehrt
wissen.“ —


Und als sie vorüber gegangen waren, fiel Zarathustra
der Schmerz an; und nicht lange hatte er mit seinem
Schmerze gerungen, da hub er also an zu reden:


Es jammert mich dieser Priester. Sie gehen mir
auch wider den Geschmack; aber das ist mir das Ge¬
ringste, seit ich unter Menschen bin.


Aber ich leide und litt mit ihnen: Gefangene sind
es mir und Abgezeichnete. Der, welchen sie Erlöser
nennen, schlug sie in Banden: —


In Banden falscher Werthe und Wahn-Worte!
Ach dass Einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste!


[14]

Auf einem Eilande glaubten sie einst zu landen,
als das Meer sie herumriss; aber siehe, es war ein
schlafendes Ungeheuer!


Falsche Werthe und Wahn-Worte: das sind die
schlimmsten Ungeheuer für Sterbliche, — lange schläft
und wartet in ihnen das Verhängniss.


Aber endlich kommt es und wacht und frisst und
schlingt, was auf ihm sich Hütten baute.


Oh seht mir doch diese Hütten an, die sich diese
Priester bauten! Kirchen heissen sie ihre süssduftenden
Höhlen.


Oh über diess verfälschte Licht, diese verdumpfte
Luft! Hier, wo die Seele zu ihrer Höhe hinauf —
nicht fliegen darf!


Sondern also gebietet ihr Glaube: „auf den Knien
die Treppe hinan, ihr Sünder!“


Wahrlich, lieber sehe ich noch den Schamlosen,
als die verrenkten Augen ihrer Scham und Andacht!


Wer schuf sich solche Höhlen und Buss-Treppen?
Waren es nicht Solche, die sich verbergen wollten
und sich vor dem reinen Himmel schämten?


Und erst wenn der reine Himmel wieder durch
zerbrochne Decken blickt, und hinab auf Gras und
rothen Mohn an zerbrochnen Mauern, — will ich den
Stätten dieses Gottes wieder mein Herz zuwenden.


Sie nannten Gott, was ihnen widersprach und
wehe that: und wahrlich, es war viel Helden-Art in
ihrer Anbetung!


Und nicht anders wussten sie ihren Gott zu lieben,
als indem sie den Menschen an's Kreuz schlugen!


[15]

Als Leichname gedachten sie zu leben, schwarz
schlugen sie ihren Leichnam aus; auch aus ihren
Reden rieche ich noch die üble Würze von Todten¬
kammern.


Und wer ihnen nahe lebt, der lebt schwarzen
Teichen nahe, aus denen heraus die Unke ihr Lied
mit süssem Tiefsinne singt.


Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich
an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir
seine Jünger aussehen!


Nackt möchte ich sie sehn: denn allein die Schön¬
heit sollte Busse predigen. Aber wen überredet wohl
diese vermummte Trübsal!


Wahrlich, ihre Erlöser selber kamen nicht aus
der Freiheit und der Freiheit siebentem Himmel!
Wahrlich, sie selber wandelten niemals auf den
Teppichen der Erkenntnis!


Aus Lücken bestand der Geist dieser Erlöser;
aber in jede Lücke hatten sie ihren Wahn gestellt,
ihren Lückenbüsser, den sie Gott nannten.


In ihrem Mitleiden war ihr Geist ertrunken, und
wenn sie schwollen und überschwollen von Mitleiden,
schwamm immer obenauf eine grosse Thorheit.


Eifrig trieben sie und mit Geschrei ihre Heerde
über ihren Steg: wie als ob es zur Zukunft nur Einen
Steg gäbe! Wahrlich, auch diese Hirten gehörten
noch zu den Schafen!


Kleine Geister und umfängliche Seelen hatten
diese Hirten: aber, meine Brüder, was für kleine Länder
waren bisher auch die umfänglichsten Seelen!


[16]

Blutzeichen schrieben sie auf den Weg, den sie
giengen, und ihre Thorheit lehrte, dass man mit Blut
die Wahrheit beweise.


Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahr¬
heit; Blut vergiftet die reinste Lehre noch zu Wahn
und Hass der Herzen.


Und wenn Einer durch's Feuer geht für seine
Lehre, — was beweist diess! Mehr ist's wahrlich,
dass aus eignem Brande die eigne Lehre kommt!


Schwüles Herz und kalter Kopf: wo diess zu¬
sammen trifft, da entsteht der Brausewind, der „Er¬
löser.“


Grössere gab es wahrlich und Höher-Geborene,
als Die, welche das Volk Erlöser nennt, diese hin¬
reissenden Brausewinde!


Und noch von Grösseren, als alle Erlöser waren,
müsst ihr, meine Brüder, erlöst werden, wollt ihr zur
Freiheit den Weg finden!


Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt
sah ich Beide, den grössten und den kleinsten
Menschen: —


Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich,
auch den Grössten fand ich — allzumenschlich!


Also sprach Zarathustra.

[17]

Von den Tugendhaften.


Mit Donnern und himmlischen Feuerwerken muss
man zu schlaffen und schlafenden Sinnen reden.


Aber der Schönheit Stimme redet leise: sie schleicht
sich nur in die aufgewecktesten Seelen.


Leise erbebte und lachte mir heut mein Schild;
das ist der Schönheit heiliges Lachen und Beben.


Über euch, ihr Tugendhaften, lachte heut meine
Schönheit. Und also kam ihre Stimme zu mir: „sie
wollen noch — bezahlt sein!“


Ihr wollt noch bezahlt sein, ihr Tugendhaften!
Wollt Lohn für Tugend und Himmel für Erden und
Ewiges für euer Heute haben?


Und nun zürnt ihr mir, dass ich lehre, es giebt
keinen Lohn- und Zahlmeister? Und wahrlich, ich
lehre nicht einmal, dass Tugend ihr eigener Lohn ist.


Ach, das ist meine Trauer: in den Grund der
Dinge hat man Lohn und Strafe hineingelogen —
und nun auch noch in den Grund eurer Seelen, ihr
Tugendhaften!


Aber dem Rüssel des Ebers gleich soll mein Wort
den Grund eurer Seelen aufreissen; Pflugschar will
ich euch heissen.


2[18]

Alle Heimlichkeiten eures Grundes sollen an's
Licht; und wenn ihr aufgewühlt und zerbrochen in
der Sonne liegt, wird auch eure Lüge von eurer
Wahrheit ausgeschieden sein.


Denn diess ist eure Wahrheit: ihr seid zu reinlich
für den Schmutz der Worte: Rache, Strafe, Lohn,
Vergeltung.


Ihr liebt eure Tugend, wie die Mutter ihr Kind;
aber wann hörte man, dass eine Mutter bezahlt sein
wollte für ihre Liebe?


Es ist euer liebstes Selbst, eure Tugend. Des
Ringes Durst ist in euch: sich selber wieder zu
erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring.


Und dem Sterne gleich, der erlischt, ist jedes
Werk eurer Tugend: immer ist sein Licht noch unter¬
wegs und wandert — und wann wird es nicht mehr
unterwegs sein?


Also ist das Licht eurer Tugend noch unterwegs,
auch wenn das Werk gethan ist. Mag es nun ver¬
gessen und todt sein: sein Strahl von Licht lebt noch
und wandert.


Dass eure Tugend euer Selbst sei und nicht ein
Fremdes, eine Haut, eine Bemäntelung: das ist die
Wahrheit aus dem Grunde eurer Seele, ihr Tugend¬
haften! —


Aber wohl giebt es Solche, denen Tugend der
Krampf unter einer Peitsche heisst: und ihr habt mir
zuviel auf deren Geschrei gehört!


Und Andre giebt es, die heissen Tugend das
Faulwerden ihrer Laster; und wenn ihr Hass und
[19] ihre Eifersucht einmal die Glieder strecken, wird ihre
„Gerechtigkeit“ munter und reibt sich die verschlafenen
Augen.


Und Andre giebt es, die werden abwärts gezogen:
ihre Teufel ziehn sie. Aber je mehr sie sinken, um
so glühender leuchtet ihr Auge und die Begierde
nach ihrem Gotte.


Ach, auch deren Geschrei drang zu euren Ohren,
ihr Tugendhaften: „was ich nicht bin, das, das ist
mir Gott und Tugend!“


Und Andre giebt es, die kommen schwer und
knarrend daher, gleich Wägen, die Steine abwärts
fahren: die reden viel von Würde und Tugend, — ihren
Hemmschuh heissen sie Tugend!


Und Andre giebt es, die sind gleich Alltags-
Uhren, die aufgezogen wurden; sie machen ihr Tiktak
und wollen, dass man Tiktak — Tugend heisse.


Wahrlich, an Diesen habe ich meine Lust: wo ich
solche Uhren finde, werde ich sie mit meinem Spotte
aufziehn; und sie sollen mir dabei noch schnurren!


Und Andre sind stolz über ihre Handvoll Gerech¬
tigkeit und begehen um ihrerwillen Frevel an allen
Dingen: also dass die Welt in ihrer Ungerechtigkeit
ertränkt wird.


Ach, wie übel ihnen das Wort „Tugend“ aus dem
Munde läuft! Und wenn sie sagen: „ich bin gerecht,“
so klingt es immer gleich wie: „ich bin gerächt!“


Mit ihrer Tugend wollen sie ihren Feinden die
Augen auskratzen; und sie erheben sich nur, um Andre
zu erniedrigen.


2*[20]

Und wiederum giebt es Solche, die sitzen in ihrem
Sumpfe und reden also heraus aus dem Schilfrohr:
„Tugend — das ist still im Sumpfe sitzen.


Wir beissen Niemanden und gehen Dem aus dem
Wege, der beissen will; und in Allem haben wir
die Meinung, die man uns giebt.“


Und wiederum giebt es Solche, die lieben Gebärden
und denken: Tugend ist eine Art Gebärde.


Ihre Kniee beten immer an, und ihre Hände sind
Lobpreisungen der Tugend, aber ihr Herz weiss Nichts
davon.


Und wiederum giebt es Solche, die halten es für
Tugend, zu sagen: „Tugend ist nothwendig“; aber sie
glauben im Grunde nur daran, dass Polizei noth¬
wendig ist.


Und Mancher, der das Hohe an den Menschen
nicht sehen kann, nennt es Tugend, dass er ihr Niedriges
allzunahe sieht: also heisst er seinen bösen Blick
Tugend.


Und Einige wollen erbaut und aufgerichtet sein
und heissen es Tugend; und Andre wollen umgeworfen
sein — und heissen es auch Tugend.


Und derart glauben fast Alle daran, Antheil zu
haben an der Tugend; und zum Mindesten will ein
Jeder Kenner sein über „gut“ und „böse“.


Aber nicht dazu kam Zarathustra, allen diesen
Lügnern und Narren zu sagen: „was wisst ihr von
Tugend! Was könntet ihr von Tugend wissen!“ —


Sondern, dass ihr, meine Freunde, der alten Worte
müde würdet, welche ihr von den Narren und Lügnern
gelernt habt:

[21]

Müde würdet der Worte „Lohn,“ „Vergeltung,“
„Strafe,“ „Rache in der Gerechtigkeit“ —


Müde würdet zu sagen: dass eine Handlung gut
ist, das macht, sie ist selbstlos.“


Ach, meine Freunde! Dass euer Selbst in der
Handlung sei, wie die Mutter im Kinde ist: das sei
mir euer Wort von Tugend!


Wahrlich, ich nahm euch wohl hundert Worte
und eurer Tugend liebste Spielwerke; und nun zürnt
ihr mir, wie Kinder zürnen.


Sie spielten am Meere, — da kam die Welle und
riss ihnen ihr Spielwerk in die Tiefe: nun weinen sie.


Aber die selbe Welle soll ihnen neue Spielwerke
bringen und neue bunte Muscheln vor sie hin aus¬
schütten!


So werden sie getröstet sein; und gleich ihnen
sollt auch ihr, meine Freunde, eure Tröstungen haben
— und neue bunte Muscheln! —


Also sprach Zarathustra.

[22]

Vom Gesindel.


Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das
Gesindel mit trinkt, da sind alle Brunnen vergiftet.


Allem Reinlichen bin ich hold; aber ich mag die
grinsenden Mäuler nicht sehn und den Durst der
Unreinen.


Sie warfen ihr Auge hinab in den Brunnen: nun
glänzt mir ihr widriges Lächeln herauf aus dem
Brunnen.


Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer
Lüsternheit; und als sie ihre schmutzigen Träume
Lust nannten, vergifteten sie auch noch die Worte.


Unwillig wird die Flamme, wenn sie ihre feuchten
Herzen an's Feuer legen; der Geist selber brodelt und
raucht, wo das Gesindel an's Feuer tritt.


Süsslich und übermürbe wird in ihrer Hand die
Frucht: windfällig und wipfeldürr macht ihr Blick den
Fruchtbaum.


Und Mancher, der sich vom Leben abkehrte, kehrte
sich nur vom Gesindel ab: er wollte nicht Brunnen
und Flamme und Frucht mit dem Gesindel theilen.


Und Mancher, der in die Wüste gieng und mit
Raubthieren Durst litt, wollte nur nicht mit schmutzigen
Kameeltreibern um die Cisterne sitzen.


Und Mancher, der wie ein Vernichter daher kam
und wie ein Hagelschlag allen Fruchtfeldern, wollte
[23] nur seinen Fuss dem Gesindel in den Rachen setzen
und also seinen Schlund stopfen.


Und nicht das ist der Bissen, an dem ich am
meisten würgte, zu wissen, dass das Leben selber
Feindschaft nöthig hat und Sterben und Marter¬
kreuze: —


Sondern ich fragte einst und erstickte fast an meiner
Frage: wie? hat das Leben auch das Gesindel nöthig?


Sind vergiftete Brunnen nöthig und stinkende
Feuer und beschmutzte Träume und Maden im Lebens¬
brode?


Nicht mein Hass, sondern mein Ekel frass mir
hungrig am Leben! Ach, des Geistes wurde ich oft
müde, als ich auch das Gesindel geistreich fand!


Und den Herrschenden wandt' ich den Rücken,
als ich sah, was sie jetzt Herrschen nennen: schachern
und markten um Macht — mit dem Gesindel!


Unter Völkern wohnte ich fremder Zunge, mit
verschlossenen Ohren: dass mir ihres Schacherns
Zunge fremd bliebe und ihr Markten um Macht.


Und die Nase mir haltend, gieng ich unmuthig
durch alles Gestern und Heute: wahrlich, übel riecht
alles Gestern und Heute nach dem schreibenden Ge¬
sindel!


Einem Krüppel gleich, der taub und blind und
stumm wurde: also lebte ich lange, dass ich nicht
mit Macht- und Schreib- und Lust-Gesindel lebte.


Mühsam stieg mein Geist Treppen, und vorsichtig;
Almosen der Lust waren sein Labsal; am Stabe schlich
dem Blinden das Leben.


[24]

Was geschah mir doch? Wie erlöste ich mich
vom Ekel? Wer verjüngte mein Auge? Wie erflog
ich die Höhe, wo kein Gesindel mehr am Brunnen sitzt?


Schuf mein Ekel selber mir Flügel und quellen¬
ahnende Kräfte? Wahrlich, in's Höchste musste ich
fliegen, dass ich den Born der Lust wiederfände!


Oh, ich fand ihn, meine Brüder! Hier im Höchsten
quillt mir der Born der Lust! Und es giebt ein
Leben, an dem kein Gesindel mit trinkt!


Fast zu heftig strömst du mir, Quell der Lust!
Und oft leerst du den Becher wieder, dadurch dass
du ihn füllen willst!


Und noch muss ich lernen, bescheidener dir zu
nahen: allzuheftig strömt dir noch mein Herz ent¬
gegen: —


Mein Herz, auf dem mein Sommer brennt, der
kurze, heisse, schwermüthige, überselige: wie verlangt
mein Sommer-Herz nach deiner Kühle!


Vorbei die zögernde Trübsal meines Frühlings!
Vorüber die Bosheit meiner Schneeflocken im Juni!
Sommer wurde ich ganz und Sommer-Mittag!


Ein Sommer im Höchsten mit kalten Quellen und
seliger Stille: oh kommt, meine Freunde, dass die
Stille noch seliger werde!


Denn diess ist unsre Höhe und unsre Heimat:
zu hoch und steil wohnen wir hier allen Unreinen
und ihrem Durste.


Werft nur eure reinen Augen in den Born meiner
Lust, ihr Freunde! Wie sollte er darob trübe werden!
Entgegenlachen soll er euch mit seiner Reinheit.


[25]

Auf dem Baume Zukunft bauen wir unser Nest;
Adler sollen uns Einsamen Speise bringen in ihren
Schnäbeln!


Wahrlich, keine Speise, an der Unsaubere mitessen
dürften! Feuer würden sie zu fressen wähnen und
sich die Mäuler verbrennen!


Wahrlich, keine Heimstätten halten wir hier bereit
für Unsaubere! Eishöhle würde ihren Leibern unser
Glück heissen und ihren Geistern!


Und wie starke Winde wollen wir über ihnen
leben, Nachbarn den Adlern, Nachbarn dem Schnee,
Nachbarn der Sonne: also leben starke Winde.


Und einem Winde gleich will ich einst noch
zwischen sie blasen und mit meinem Geiste ihrem
Geiste den Athem nehmen: so will es meine Zukunft.


Wahrlich, ein starker Wind ist Zarathustra allen
Niederungen; und solchen Rath räth er seinen Feinden
und Allem, was spuckt und speit: „hütet euch, gegen
den Wind zu speien!“


Also sprach Zarathustra

[26]

Von den Taranteln.


Siehe, das ist der Tarantel Höhle! Willst du sie
selber sehn? Hier hängt ihr Netz: rühre daran, dass
es erzittert.


Da kommt sie willig: willkommen, Tarantel!
Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und
Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner
Seele sitzt.


Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest,
da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein
Gift die Seele drehend!


Also rede ich zu euch im Gleichniss, die ihr die
Seelen drehend macht, ihr Prediger der Gleichheit!
Taranteln seid ihr mir und versteckte Rachsüchtige!


Aber ich will eure Verstecke schon an's Licht
bringen: darum lache ich euch in's Antlitz mein Ge¬
lächter der Höhe.


Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wuth
euch aus eurer Lügen-Höhle locke, und eure Rache
hervorspringe hinter eurem Wort „Gerechtigkeit.“


Denn dass der Mensch erlöst werde
von der Rache
: das ist mir die Brücke zur
[27] höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen
Unwettern.


Aber anders wollen es freilich die Taranteln.
„Das gerade heisse uns Gerechtigkeit, dass die Welt
voll werde von den Unwettern unsrer Rache“ — also
reden sie mit einander.


„Rache wollen wir üben und Beschimpfung an
Allen, die uns nicht gleich sind“ — so geloben sich
die Tarantel-Herzen.


Und „Wille zur Gleichheit“ — das selber fürder¬
hin der Name für Tugend werden; und gegen Alles,
was Macht hat, wollen wir unser Geschrei erheben!“


Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahn¬
sinn der Ohnmacht schreit also aus euch nach „Gleich¬
heit“: eure heimlichsten Tyrannen-Gelüste vermummen
sich also in Tugend -Worte!


Vergrämter Dünkel, verhaltener Neid, vielleicht
eurer Väter Dünkel und Neid: aus euch bricht's als
Flamme heraus und Wahnsinn der Rache.


Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne
zum Reden; und oft fand ich den Sohn als des Vaters
entblösstes Geheimniss.


Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das
Herz ist es, was sie begeistert, — sondern die Rache.
Und wenn sie fein und kalt werden, ist's nicht der
Geist, sondern der Neid, der sie fein und kalt macht.


Ihre Eifersucht führt sie auch auf der Denker
Pfade; und diess ist das Merkmal ihrer Eifersucht —
immer gehn sie zu weit: dass ihre Müdigkeit sich zu¬
letzt noch auf Schnee schlafen legen muss.


Aus jeder ihrer Klagen tönt Rache, in jedem
[28] ihrer Lobsprüche ist ein Wehethun; und Richter-sein
scheint ihnen Seligkeit.


Also aber rathe ich euch, meine Freunde: miss¬
traut Allen, in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig ist!


Das ist Volk schlechter Art und Abkunft; aus
ihren Gesichtern blickt der Henker und der Spürhund.


Misstraut allen Denen, die viel von ihrer Ge¬
rechtigkeit reden! Wahrlich, ihren Seelen fehlt es
nicht nur an Honig.


Und wenn sie sich selber „die Guten und Ge¬
rechten“ nennen, so vergesst nicht, dass ihnen zum
Pharisäer Nichts fehlt als — Macht!


Meine Freunde, ich will nicht vermischt und ver¬
wechselt werden.


Es giebt Solche, die predigen meine Lehre vom
Leben: und zugleich sind sie Prediger der Gleichheit
und Taranteln.


Dass sie dem Leben zu Willen reden, ob sie
gleich in ihrer Höhle sitzen, diese Gift-Spinnen, und
abgekehrt vom Leben: das macht, sie wollen damit
wehethun.


Solchen wollen sie damit wehethun. die jetzt die
Macht haben: denn bei diesen ist noch die Predigt
vom Tode am besten zu Hause.


Wäre es anders, so würden die Taranteln anders
lehren: und gerade sie waren ehemals die besten
Welt-Verleumder und Ketzer-Brenner.


Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht
vermischt und verwechselt sein. Denn so redet mir
die Gerechtigkeit: „die Menschen sind nicht gleich.“


Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre
[29] denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich an¬
ders spräche?


Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich
drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und
Ungleichheit soll zwischen sie gesetzt sein: so lässt
mich meine grosse Liebe reden!


Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie
werden in ihren Feindschaften, und mit ihren Bildern
und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den
höchsten Kampf kämpfen!


Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch
und Gering, und alle Namen der Werthe: Waffen
sollen es sein und klirrende Merkmale davon, dass
das Leben sich immer wieder selber überwinden muss!


In die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und
Stufen, das Leben selber: in weite Fernen will es
blicken und hinaus nach seligen Schönheiten, — darum
braucht es Höhe!


Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen
und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen
will das Leben und steigend sich überwinden.


Und seht mir doch, meine Freunde! Hier, wo der
Tarantel Höhle ist, heben sich eines alten Tempels
Trümmer aufwärts, — seht mir doch mit erleuchteten
Augen hin!


Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein
nach Oben thürmte, um das Geheimniss alles Lebens
wusste er gleich dem Weisesten!


Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der
Schönheit sei und Krieg um Macht und Übermacht:
das lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichniss.


[30]

Wie sich göttlich hier Gewölbe und Bogen
brechen, im Ringkampfe: wie mit Licht und Schatten
sie wider einander streben, die göttlich-Strebenden —


Also sicher und schön lasst uns auch Feinde sein,
meine Freunde! Göttlich wollen wir wider einander
streben! —


Wehe! Da biss mich selber die Tarantel, meine
alte Feindin! Göttlich sicher und schön biss sie mich
in den Finger!


„Strafe muss sein und Gerechtigkeit — so denkt
sie: nicht umsonst soll er hier der Feindschaft zu
Ehren Lieder singen!“


Ja, sie hat sich gerächt! Und wehe! nun wird
sie mit Rache auch noch meine Seele drehend machen!


Dass ich mich aber nicht drehe, meine Freunde,
bindet mich fest hier an diese Säule! Lieber noch
Säulen-Heiliger will ich sein, als Wirbel der Rachsucht!


Wahrlich, kein Dreh- und Wirbelwind ist Zara¬
thustra; und wenn er ein Tänzer ist, nimmermehr
doch ein Tarantel-Tänzer! —


Also sprach Zarathustra.

[31]

Von den berühmten Weisen.

Dem Volke habt ihr gedient und des Volkes
Aberglauben, ihr berühmten Weisen alle! — und nicht
der Wahrheit! Und gerade darum zollte man euch
Ehrfurcht.


Und darum auch ertrug man euren Unglauben,
weil er ein Witz und Umweg war zum Volke. So
lässt der Herr seine Sclaven gewähren und ergötzt
sich noch an ihrem Übermuthe.


Aber wer dem Volke verhasst ist wie ein Wolf
den Hunden: das ist der freie Geist, der Fessel-Feind,
der Nicht-Anbeter, der in Wäldern Hausende.


Ihn zu jagen aus seinem Schlupfe — das hiess
immer dem Volke „Sinn für das Rechte“: gegen ihn
hetzt es noch immer seine scharfzahnigsten Hunde.


„Denn die Wahrheit ist da: ist das Volk doch da!
Wehe, wehe den Suchenden!“ — also scholl es von
jeher.


Eurem Volke wolltet ihr Recht schaffen in seiner
Verehrung: das hiesset ihr „Wille zur Wahrheit,“ ihr
berühmten Weisen!


Und euer Herz sprach immer zu sich: „vom Volke
kam ich: von dort her kam mir auch Gottes Stimme.“
[32] Hart-nackig und klug, dem Esel gleich, wart ihr
immer als des Volkes Fürsprecher.


Und mancher Mächtige, der gut fahren wollte
mit dem Volke, spannte vor seine Rosse noch — ein
Eselein, einen berühmten Weisen.


Und nun wollte ich, ihr berühmten Weisen, ihr
würfet endlich das Fell des Löwen ganz von euch!


Das Fell des Raubthiers, das buntgefleckte, und
die Zotten des Forschenden, Suchenden, Erobernden!


Ach, dass ich an eure „Wahrhaftigkeit“ glauben
lerne, dazu müsstet ihr mir erst euren verehrenden
Willen zerbrechen.


Wahrhaftig — so heisse ich Den, der in götterlose
Wüsten geht und sein verehrendes Herz zerbrochen hat.


Im gelben Sande und verbrannt von der Sonne
schielt er wohl durstig nach den quellenreichen Eilanden,
wo Lebendiges unter dunkeln Bäumen ruht.


Aber sein Durst überredet ihn nicht, diesen Behag¬
lichen gleich zu werden: denn wo Oasen sind, da
sind auch Götzenbilder.


Hungernd, gewaltthätig, einsam, gottlos: so will
sich selber der Löwen-Wille.


Frei von dem Glück der Knechte, erlöst von
Göttern und Anbetungen, furchtlos und fürchterlich,
gross und einsam: so ist der Wille des Wahrhaftigen.


In der Wüste wohnten von je die Wahrhaftigen,
die freien Geister, als der Wüste Herren; aber in den
Städten wohnen die gutgefütterten, berühmten Weisen,
— die Zugthiere.


Immer nämlich ziehen sie, als Esel — des Volkes
Karren!


[33]

Nicht dass ich ihnen darob zürne: aber Dienende
bleiben sie mir und Angeschirrte, auch wenn sie von
goldnem Geschirre glänzen.


Und oft waren sie gute Diener und preiswürdige.
Denn so spricht die Tugend: „musst du Diener sein,
so suche Den, welchem dein Dienst am besten nützt!


„Der Geist und die Tugend deines Herrn sollen
wachsen, dadurch dass du sein Diener bist: so wächsest
du selber mit seinem Geiste und seiner Tugend!“


Und wahrlich, ihr berühmten Weisen, ihr Diener
des Volkes! Ihr selber wuchset mit des Volkes Geist
und Tugend — und das Volk durch euch! Zu euren
Ehren sage ich das!


Aber Volk bleibt ihr mir auch noch in euren
Tugenden,Volk mit blöden Augen, — Volk, das nicht
weiss, was Geist ist!


Geist ist das Leben, das selber in's Leben schnei¬
det: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne
Wissen, — wusstet ihr das schon?


Und des Geistes Glück ist diess: gesalbt zu sein
und durch Thränen geweiht zum Opferthier, — wuss¬
tet ihr das schon?


Und die Blindheit des Blinden und sein Suchen
und Tappen soll noch von der Macht der Sonne zeu¬
gen, in die er schaute, — wusstet ihr das schon?


Und mit Bergen soll der Erkennende bauen lernen!
Wenig ist es, dass der Geist Berge versetzt,— wusstet
ihr das schon?


Ihr kennt nur des Geistes Funken: aber ihr seht
den Ambos nicht, der er ist, und nicht die Grau¬
samkeit seines Hammers!


3[34]

Wahrlich, ihr kennt des Geistes Stolz nicht!
Aber noch weniger würdet ihr des Geistes Bescheiden¬
heit ertragen, wenn sie einmal reden wollte!


Und niemals noch durftet ihr euren Geist in eine
Grube von Schnee werfen: ihr seid nicht heiss genug
dazu! So kennt ihr auch die Entzückungen seiner Kälte
nicht.


In Allem aber thut ihr mir zu vertraulich mit dem
Geiste; und aus der Weisheit machtet ihr oft ein
Armen- und Krankenhaus für schlechte Dichter.


Ihr seid keine Adler: so erfuhrt ihr auch das
Glück im Schrecken des Geistes nicht. Und wer kein
Vogel ist, soll sich nicht über Abgründen lagern.


Ihr seid mir Laue: aber kalt strömt jede tiefe
Erkenntniss. Eiskalt sind die innersten Brunnen des
Geistes: ein Labsal heissen Händen und Handelnden.


Ehrbar steht ihr mir da und steif und mit geradem
Rücken, ihr berühmten Weisen! — euch treibt kein
starker Wind und Wille.


Saht ihr nie ein Segel über das Meer gehn, ge¬
ründet und gebläht und zitternd vor dem Ungestüm
des Windes?


Dem Segel gleich, zitternd vor dem Ungestüm
des Geistes, geht meine Weisheit über das Meer —
meine wilde Weisheit!


Aber ihr Diener des Volkes, ihr berühmten Weisen,
— wie könntet ihr mit mir gehn! —.


Also sprach Zarathustra.

[35]

Das Nachtlied.

Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden
Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender
Brunnen.


Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der
Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines
Liebenden.


Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will
laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir,
die redet selber die Sprache der Liebe.


Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre! Aber
diess ist meine Einsamkeit, dass ich von Licht um¬
gürtet bin.


Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig! Wie
wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen!


Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen
Funkelsterne und Leuchtwürmer droben! — und selig
sein ob eurer Licht-Geschenke.


Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke
die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen.


Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und
oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein
müsse, als Nehmen.


Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals
ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, dass ich
3*[36] wartende Augen sehe und die erhellten Nächte der
Sehnsucht.


Oh Unseligkeit aller Schenkenden! Oh Ver¬
finsterung meiner Sonne! Oh Begierde nach Begehren!
Oh Heisshunger in der Sättigung!


Sie nehmen von mir: aber rühre ich noch an ihre
Seele? Eine Kluft ist zwischen Geben und Nehmen;
und die kleinste Kluft ist am letzten zu überbrücken.


Ein Hunger wächst aus meiner Schönheit: wehe¬
thun möchte ich Denen, welchen ich leuchte, berauben
möchte ich meine Beschenkten: — also hungere ich
nach Bosheit.


Die Hand zurückziehend, wenn sich schon ihr die
Hand entgegenstreckt; dem Wasserfalle gleich zögernd,
der noch im Sturze zögert: — also hungere ich nach
Bosheit.


Solche Rache sinnt meine Fülle aus; solche Tücke
quillt aus meiner Einsamkeit.


Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken,
meine Tugend wurde ihrer selber müde an ihrem
Überflusse!


Wer immer schenkt, dessen Gefahr ist, dass er
die Scham verliere; wer immer austheilt, dessen Hand
und Herz hat Schwielen vor lauter Austheilen.


Mein Auge quillt nicht mehr über vor der Scham
der Bittenden; meine Hand wurde zu hart für das
Zittern gefüllter Hände.


Wohin kam die Thräne meinem Auge und der
Flaum meinem Herzen? Oh Einsamkeit aller Schenken¬
den! Oh Schweigsamkeit aller Leuchtenden!


[37]

Viel Sonnen kreisen im öden Raume: zu Allem,
was dunkel ist, reden sie mit ihrem Lichte, — mir
schweigen sie.


Oh diess ist die Feindschaft des Lichts gegen
Leuchtendes; erbarmungslos wandelt es seine Bahnen.


Unbillig gegen Leuchtendes im tiefsten Herzen,
kalt gegen Sonnen; — also wandelt jede Sonne.


Einem Sturme gleich fliegen die Sonnen ihre
Bahnen, das ist ihr Wandeln. Ihrem unerbittlichen
Willen folgen sie, das ist ihre Kälte.


Oh, ihr erst seid es, ihr Dunklen, ihr Nächtigen,
die ihr Wärme schafft aus Leuchtendem! Oh, ihr
erst trinkt euch Milch und Labsal aus des Lichtes
Eutern!


Ach, Eis ist um mich, meine Hand verbrennt sich
an Eisigem! Ach, Durst ist in mir, der schmachtet
nach eurem Durste!


Nacht ist es: ach dass ich Licht sein muss! Und
Durst nach Nächtigem! Und Einsamkeit!


Nacht ist es: nun bricht wie ein Born aus mir
mein Verlangen, — nach Rede verlangt mich.


Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden
Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender
Brunnen.


Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der
Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines
Liebenden. —


Also sang Zarathustra.

[38]

Das Tanzlied.


Eines Abends gieng Zarathustra mit seinen Jüngern
durch den Wald; und als er nach einem Brunnen suchte,
siehe, da kam er auf eine grüne Wiese, die von Bäumen
und Gebüsch still umstanden war: auf der tanzten
Mädchen mit einander. Sobald die Mädchen Zarathustra
erkannten, liesen sie vom Tanze ab; Zarathustra aber
trat mit freundlicher Gebärde zu ihnen und sprach
diese Worte:


„Lasst vom Tanze nicht ab, ihr lieblichen Mädchen!
Kein Spielverderber kam zu euch mit bösem Blick,
kein Mädchen-Feind.


Gottes Fürsprecher bin ich vor dem Teufel: der
aber ist der Geist der Schwere. Wie sollte ich, ihr
Leichten, göttlichen Tänzen feind sein? Oder Mädchen-
Füssen mit schönen Knöcheln?


Wohl bin ich ein Wald und eine Nacht dunkler
Bäume: doch wer sich vor meinem Dunkel nicht scheut,
der findet auch Rosenhänge unter meinen Cypressen.


Und auch den kleinen Gott findet er wohl, der
den Mädchen der liebste ist: neben dem Brunnen liegt
er, still, mit geschlossenen Augen.


[39]

Wahrlich, am hellen Tage schlief er mir ein, der
Tagedieb! Haschte er wohl zu viel nach Schmetter¬
lingen?


Zürnt mir nicht, ihr schönen Tanzenden, wenn
ich den kleinen Gott ein Wenig züchtige! Schreien
wird er wohl und weinen, — aber zum Lachen ist er
noch im Weinen!


Und mit Thränen im Auge soll er euch um einen
Tanz bitten; und ich selber will ein Lied zu seinem
Tanze singen:


Ein Tanz- und Spottlied auf den Geist der Schwere,
meinen allerhöchsten grossmächtigsten Teufel, von
dem sie sagen, dass er „der Herr der Welt“ sei.“ —


Und diess ist das Lied, welches Zarathustra sang,
als Cupido und die Mädchen zusammen tanzten.


„In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben! Und
in's Unergründliche schien ich mir da zu sinken.


Aber du zogst mich mit goldner Angel heraus;
spöttisch lachtest du, als ich dich unergründlich nannte.


„So geht die Rede aller Fische, sprachst du; was
sie nicht ergründen, ist unergründlich.


„Aber veränderlich bin ich nur und wild und in
Allem ein Weib, und kein tugendhaftes:


„Ob ich schon euch Männern „die Tiefe“ heisse oder
„die Treue“, „die Ewige“, die „Geheimnissvolle.“


„Doch ihr Männer beschenkt uns stets mit den
eignen Tugenden — ach, ihr Tugendhaften!“


Also lachte sie, die Unglaubliche; aber ich glaube
ihr niemals und ihrem Lachen, wenn sie bös von sich
selber spricht.


[40]

Und als ich unter vier Augen mit meiner wilden
Weisheit redete, sagte sie mir zornig: „Du willst, du
begehrst, du liebst, darum allein lobst du das Leben!“


Fast hätte ich da bös geantwortet und der Zornigen
die Wahrheit gesagt; und man kann nicht böser antworten,
als wenn man seiner Weisheit „die Wahrheit sagt.“


So nämlich steht es zwischen uns Dreien. Von
Grund aus liebe ich nur das Leben — und, wahrlich,
am meisten dann, wenn ich es hasse!


Dass ich aber der Weisheit gut bin und oft zu
gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an das
Leben!


Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr
goldnes Angelrüthchen: was kann ich dafür, dass die
Beiden sich so ähnlich sehen?


Und als mich einmal das Leben fragte: Wer ist
denn das, die Weisheit? — da sagte ich eifrig: „Ach
ja! die Weisheit!


Man dürstet um sie und wird nicht satt, man blickt
durch Schleier, man hascht durch Netze.


Ist sie schön? Was weiss ich! Aber die ältesten
Karpfen werden noch mit ihr geködert.


Veränderlich ist sie und trotzig; oft sah ich sie sich
die Lippe beissen und den Kamm wider ihres Haares
Strich führen.


Vielleicht ist sie böse und falsch, und in Allem
ein Frauenzimmer; aber wenn sie von sich selber
schlecht spricht, da gerade verführt sie am meisten.“


Als ich diess zu dem Leben sagte, da lachte es
boshaft und machte die Augen zu. „Von wem redest
du doch? sagte sie, wohl von mir?


[41]

Und wenn du Recht hättest, — sagt man das
mir so in's Gesicht! Aber nun sprich doch auch von
deiner Weisheit!“


Ach, und nun machtest du wieder dein Auge auf,
oh geliebtes Leben! Und in's Unergründliche schien
ich mir wieder zu sinken. —


Also sang Zarathustra. Als aber der Tanz zu
Ende und die Mädchen fortgegangen waren, wurde er
traurig.


„Die Sonne ist lange schon hinunter, sagte er
endlich; die Wiese ist feucht, von den Wäldern
her kommt Kühle.


Ein Unbekanntes ist um mich und blickt nach¬
denklich. Was! Du lebst noch, Zarathustra?


Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie?
Ist es nicht Thorheit, noch zu leben? —


Ach, meine Freunde, der Abend ist es, der so aus
mir fragt. Vergebt mir meine Traurigkeit!


Abend ward es: vergebt mir, dass es Abend ward!


Also sprach Zarathustra.

[42]

Das Grablied.


„Dort ist die Gräberinsel, die schweigsame; dort
sind auch die Gräber meiner Jugend. Dahin will ich
einen immergrünen Kranz des Lebens tragen.“


Also im Herzen beschliessend fuhr ich über das
Meer. —


Oh ihr, meiner Jugend Gesichte und Erscheinungen!
Oh, ihr Blicke der Liebe alle, ihr göttlichen Augen¬
blicke! Wie starbt ihr mir so schnell! Ich gedenke
eurer heute wie meiner Todten.


Von euch her, meinen liebsten Todten, kommt mir
ein süsser Geruch, ein herz- und thränenlösender.
Wahrlich, er erschüttert und löst das Herz dem einsam
Schiffenden.


Immer noch bin ich der Reichste und Bestzu¬
beneidende — ich der Einsamste! Denn ich hatte
euch doch, und ihr habt mich noch: sagt, wem fielen,
wie mir, solche Rosenäpfel vom Baume?


Immer noch bin ich eurer Liebe Erbe und Erd¬
reich, blühend zu eurem Gedächtnisse von bunten
wildwachsenen Tugenden, oh ihr Geliebtesten!


Ach, wir waren gemacht, einander nahe zu bleiben,
ihr holden fremden [Wunder]; und nicht schüchternen
[43] Vögeln gleich kamt ihr zu mir und meiner Begierde —
nein, als Trauende zu dem Trauenden!


Ja, zur Treue gemacht, gleich mir und zu zärt¬
lichen Ewigkeiten: muss ich nun euch nach eurer
Untreue heissen, ihr göttlichen Blicke und Augen¬
blicke: keinen andern Namen lernte ich noch.


Wahrlich, zu schnell starbt ihr mir, ihr Flücht¬
linge. Doch floht ihr mich nicht, noch floh ich euch:
unschuldig sind wir einander in unsrer Untreue.


Mich zu tödten, erwürgte man euch, ihr Sing¬
vögel meiner Hoffnungen! Ja, nach euch, ihr Liebsten,
schoss immer die Bosheit Pfeile — mein Herz zu
treffen!


Und sie traf! Wart ihr doch stets mein Herz¬
lichstes, mein Besitz und mein Besessen-sein: darum
musstet ihr jung sterben und allzu frühe!


Nach dem Verwundbarsten, das ich besass, schoss
man den Pfeil: das waret ihr, denen die Haut einem
Flaume gleich ist und mehr noch dem Lächeln, das
an einem Blick erstirbt!


Aber diess Wort will ich zu meinen Feinden reden:
was ist alles Menschen-Morden gegen Das, was ihr
mir thatet!


Böseres thatet ihr mir, als aller Menschen-Mord
ist; Unwiederbringliches nahmt ihr mir: — also rede
ich zu euch, meine Feinde!


Mordetet ihr doch meiner Jugend Gesichte und
liebste Wunder! Meine Gespielen nahmt ihr mir,
die seligen Geister! Ihrem Gedächtnisse lege ich
diesen Kranz und diesen Fluch nieder.


Diesen Fluch gegen euch, meine Feinde! Machtet
[44] ihr doch mein Ewiges kurz, wie ein Ton zerbricht
in kalter Nacht! Kaum als Aufblinken göttlicher
Augen kam es mir nun, — als Augenblick!


Also sprach zur guten Stunde einst meine Rein¬
heit: „göttlich sollen mir alle Wesen sein.“


Da überfielt ihr mich mit schmutzigen Gespenstern;
ach, wohin floh nun jene gute Stunde!


„Alle Tage sollen mir heilig sein“ — so redete
einst die Weisheit meiner Jugend: wahrlich, einer
fröhlichen Weisheit Rede!


Aber da stahlt ihr Feinde mir meine Nächte und
verkauftet sie zu schlafloser Qual: ach, wohin floh
nun jene fröhliche Weisheit?


Einst begehrte ich nach glücklichen Vogelzeichen:
da führtet ihr mir ein Eulen-Unthier über den Weg,
ein widriges. Ach, wohin floh da meine zärtliche
Begierde?


Allem Ekel gelobte ich einst zu entsagen: da
verwandeltet ihr meine Nahen und Nächsten in Eiter¬
beulen. Ach, wohin floh da mein edelstes Gelöbniss?


Als Blinder gieng ich einst selige Wege: da warft
ihr Unflath auf den Weg des Blinden: und nun
ekelte ihn des alten Blinden-Fusssteigs.


Und als ich mein Schwerstes that und meiner
Überwindungen Sieg feierte: da machtet ihr Die, welche
mich liebten, schreien, ich thue ihnen am wehesten.


Wahrlich, das war immer euer Thun: ihr ver¬
gälltet mir meinen besten Honig und den Fleiss meiner
besten Bienen.


Meiner Mildthätigkeit sandtet ihr immer die
frechsten Bettler zu; um mein Mitleiden drängtet ihr
[45] immer die unheilbar Schamlosen. So verwundetet ihr
meine Tugend in ihrem Glauben.


Und legte ich noch mein Heiligstes zum Opfer
hin: flugs stellte eure „Frömmigkeit“ ihre fetteren
Gaben dazu: also dass im Dampfe eures Fettes noch
mein Heiligstes erstickte.


Und einst wollte ich tanzen, wie nie ich noch
tanzte: über alle Himmel weg wollte ich tanzen. Da
überredetet ihr meinen liebsten Sänger.


Und nun stimmte er eine schaurige dumpfe Weise
an; ach, er tutete mir, wie ein düsteres Horn, zu
Ohren!


Mörderischer Sänger, Werkzeug der Bosheit, Un¬
schuldigster! Schon stand ich bereit zum besten
Tanze: da mordetest du mit deinen Tönen meine Ver¬
zückung!


Nur im Tanze weiss ich der höchsten Dinge
Gleichniss zu reden: — und nun blieb mir mein
höchstes Gleichniss ungeredet in meinen Gliedern!


Ungeredet und unerlöst blieb mir die höchste
Hoffnung! Und es starben mir alle Gesichte und
Tröstungen meiner Jugend!


Wie ertrug ich's nur? Wie verwand und überwand
ich solche Wunden? Wie erstand meine Seele wieder
aus diesen Gräbern?


Ja, ein Unverwundbares, Unbegrabbares ist an
mir, ein Felsensprengendes: das heisst mein Wille.
Schweigsam schreitet es und unverändert durch die
Jahre.


Seinen Gang will er gehn auf meinen Füssen, mein
[46] alter Wille; herzenshart ist ihm der Sinn und unver¬
wundbar.


Unverwundbar bin ich allein an meiner Ferse.
Immer noch lebst du da und bist dir gleich, Ge¬
duldigster! Immer noch brachst du dich durch alle
Gräber!


In dir lebt auch noch das Unerlöste meiner Jugend;
und als Leben und Jugend sitzest du hoffend hier
auf gelben Grab-Trümmern.


Ja, noch bist du mir aller Gräber Zertrümmerer:
Heil dir, mein Wille! Und nur wo Gräber sind, giebt
es Auferstehungen. —


Also sang Zarathustra. —

[47]

Von der Selbst-Ueberwindung.

„Wille zur Wahrheit“ heisst ihr's, ihr Weisesten,
was euch treibt und brünstig macht?


Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heisse
ich euren Willen!


Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen:
denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon
denkbar ist.


Aber es soll sich auch fügen und biegen! So will's
euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste
unterthan, als sein Spiegel und Widerbild.


Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein
Wille zur Macht; und auch wenn ihr vom Guten und
Bösen redet und von den Werthschätzungen.


Schaffen wollt ihr noch die Welt, vor der ihr
knien könnt: so ist es eure letzte Hoffnung und
Trunkenheit.


Die Unweisen freilich, das Volk, — die sind gleich
dem Flusse, auf dem ein Nachen weiter schwimmt:
und im Nachen sitzen feierlich und vermummt die
Werthschätzungen.


Euren Willen und eure Werthe setztet ihr auf
den Fluss des Werdens; einen alten Willen zur Macht
[48] verräth mir, was vom Volke als gut und böse ge¬
glaubt wird.


Ihr wart es, ihr Weisesten, die solche Gäste in
diesen Nachen setzten und ihnen Prunk und stolze
Namen gaben, — ihr und euer herrschender Wille!


Weiter trägt nun der Fluss euren Nachen: er muss
ihn tragen. Wenig thut's, ob die gebrochene Welle
schäumt und zornig dem Kiele widerspricht!


Nicht der Fluss ist eure Gefahr und das Ende
eures Guten und Bösen, ihr Weisesten: sondern jener
Wille selber, der Wille zur Macht, — der unerschöpfte
zeugende Lebens-Wille.


Aber damit ihr mein Wort versteht vom Guten
und Bösen: dazu will ich euch noch mein Wort vom
Leben sagen und von der Art alles Lebendigen.


Dem Lebendigen gieng ich nach, ich gieng die
grössten und die kleinsten Wege, dass ich seine Art
erkenne.


Mit hundertfachem Spiegel fieng ich noch seinen
Blick auf, wenn ihm der Mund geschlossen war: dass
sein Auge mir rede. Und sein Auge redete mir.


Aber, wo ich nur Lebendiges fand, da hörte ich
auch die Rede vom Gehorsame. Alles Lebendige ist
ein Gehorchendes.


Und diess ist das Zweite: Dem wird befohlen, der
sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Leben¬
digen Art.


Diess aber ist das Dritte, was ich hörte: dass Be¬
fehlen schwerer ist, als Gehorchen. Und nicht nur,
dass der Befehlende die Last aller Gehorchenden trägt,
und dass leicht ihn diese Last zerdrückt: —


[49]

Ein Versuch und Wagniss erschien mir in allem
Befehlen; und stets, wenn es befiehlt, wagt das Leben¬
dige sich selber dran.


Ja noch, wenn es sich selber befiehlt: auch da
noch muss es sein Befehlen büssen. Seinem eignen
Gesetze muss es Richter und Rächer und Opfer werden.


Wie geschieht diess doch! so fragte ich mich.
Was überredet das Lebendige, dass es gehorcht und
befiehlt und befehlend noch Gehorsam übt?


Hört mir nun mein Wort, ihr Weisesten! Prüft
es ernstlich, ob ich dem Leben selber in's Herz kroch
und bis in die Wurzeln seines Herzens!


Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur
Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich
den Willen, Herr zu sein.


Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu
überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres
Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entrathen.


Und wie das Kleinere sich dem Grösseren hin¬
giebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe:
also giebt sich auch das Grösste noch hin und setzt
um der Macht willen — das Leben dran.


Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wag¬
niss ist und Gefahr und um den Tod ein Würfelspielen.


Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke
sind: auch da ist Wille, Herr zu sein. Auf Schleich¬
wegen schleicht sich da der Schwächere in die Burg und
bis in's Herz dem Mächtigeren — und stiehlt da Macht.


Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu
mir. „Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer
selber überwinden muss
.


4*[50]

„Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder
Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren:
aber all diess ist Eins und Ein Geheimniss.


„Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem
Einen absagte; und wahrlich, wo es Untergang giebt
und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben — um
Macht!


„Dass ich Kampf sein muss und Werden und
Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen
Willen erräth, erräth wohl auch, auf welchen krummen
Wegen er gehen muss!


„Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe,
— bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe:
so will es mein Wille.


„Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und
Fusstapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille zur
Macht wandelt auch auf den Füssen deines Willens
zur Wahrheit!


„Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das
Wort nach ihr schoss vom „Willen zum Dasein“: diesen
Willen — giebt es nicht!


„Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was
aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein
wollen!


„Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht
Wille zum Leben, sondern — so lehre ich's dich —
Wille zur Macht!


„Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben
selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet —
der Wille zur Macht!“ —


[51]

Also lehrte mich einst das Leben: und daraus
löse ich euch, ihr Weisesten, noch das Räthsel eures
Herzens.


Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das
unvergänglich wäre — das giebt es nicht! Aus sich
selber muss es sich immer wieder überwinden.


Mit euren Werthen und Worten von Gut und
Böse übt ihr Gewalt, ihr Werthschätzenden: und diess
ist eure verborgene Liebe und eurer Seele Glänzen,
Zittern und Überwallen.


Aber eine stärkere Gewalt wächst aus euren
Werthen und eine neue Überwindung: an der zerbricht
Ei und Eierschale.


Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und
Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein
und Werthe zerbrechen.


Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte:
diese aber ist die schöpferische. —


Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich
schlimm ist. Schweigen ist schlimmer; alle ver¬
schwiegenen Wahrheiten werden giftig.


Und mag doch Alles zerbrechen, was an unseren
Wahrheiten zerbrechen — kann! Manches Haus giebt
es noch zu bauen!


Also sprach Zarathustra.


4*
[52]

Von den Erhabenen.

Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe
wohl, dass er scherzhafte Ungeheuer birgt!


Unerschütterlich ist meine Tiefe: aber sie glänzt
von schwimmenden Räthseln und Gelächtern.


Einen Erhabenen sah ich heute, einen Feierlichen,
einen Büsser des Geistes: oh wie lachte meine Seele
ob seiner Hässlichkeit!


Mit erhobener Brust und Denen gleich, welche
den Athem an sich ziehn: also stand er da, der Er¬
habene, und schweigsam:


Behängt mit hässlichen Wahrheiten, seiner Jagd¬
beute, und reich an zerrissenen Kleidern; auch viele
Dornen hiengen an ihm — aber noch sah ich keine
Rose.


Noch lernte er das Lachen nicht und die Schön¬
heit. Finster kam dieser Jäger zurück aus dem Walde
der Erkenntniss.


Vom Kampfe kehrte er heim mit wilden Thieren:
aber aus seinem Ernste blickt auch noch ein wildes
Thier — ein unüberwundenes!


Wie ein Tiger steht er immer noch da, der
springen will; aber ich mag diese gespannten Seelen
[53] nicht, unhold ist mein Geschmack allen diesen Zurück¬
gezognen.


Und ihr sagt mir, Freunde, dass nicht zu streiten
sei über Geschmack und Schmecken? Aber alles
Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken!


Geschmack: das ist Gewicht zugleich und Wag¬
schale und Wägender; und wehe allem Lebendigen,
das ohne Streit um Gewicht und Wagschale und
Wägende leben wollte!


Wenn er seiner Erhabenheit müde würde, dieser
Erhabene: dann erst würde seine Schönheit anheben,
— und dann erst will ich ihn schmecken und schmack¬
haft finden.


Und erst, wenn er sich von sich selber abwendet,
wird er über seinen eignen Schatten springen — und,
wahrlich! hinein in seine Sonne.


Allzulange sass er im Schatten, die Wangen
bleichten dem Büsser des Geistes; fast verhungerte
er an seinen Erwartungen.


Verachtung ist noch in seinem Auge; und Ekel
birgt sich an seinem Munde. Zwar ruht er jetzt, aber
seine Ruhe hat sich noch nicht in die Sonne gelegt.


Dem Stiere gleich sollte er thun; und sein Glück
sollte nach Erde riechen und nicht nach Verachtung
der Erde.


Als weissen Stier möchte ich ihn sehn, wie er
schnaubend und brüllend der Pflugschar vorangeht:
und sein Gebrüll sollte noch alles Irdische preisen!


Dunkel noch ist sein Antlitz; der Hand Schatten
spielt auf ihm. Verschattet ist noch der Sinn seines
Auges.


[54]

Seine That selber ist noch der Schatten auf ihm:
die Hand verdunkelt den Handelnden. Noch hat er
seine That nicht überwunden.


Wohl liebe ich an ihm den Nacken des Stiers:
aber nun will ich auch noch das Auge des Engels sehn.


Auch seinen Helden-Willen muss er noch verlernen:
ein Gehobener soll er mir sein und nicht nur ein
Erhabener: — Aether selber sollte ihn heben, den
Willenlosen!


Er bezwang Unthiere, er löste Räthsel: aber erlösen
sollte er auch noch seine Unthiere und Räthsel, zu
himmlischen Kindern sollte er sie noch verwandeln.


Noch hat seine Erkenntniss nicht lächeln gelernt
und ohne Eifersucht sein; noch ist seine strömende
Leidenschaft nicht stille geworden in der Schönheit.


Wahrlich, nicht in der Sattheit soll sein Verlangen
schweigen und untertauchen, sondern in der Schönheit!
Die Anmuth gehört zur Grossmuth des Grossgesinnten.


Den Arm über das Haupt gelegt: so sollte der
Held ausruhn, so sollte er auch noch sein Ausruhen
überwinden.


Aber gerade dem Helden ist das Schöne aller
Dinge Schwerstes. Unerringbar ist das Schöne allem
heftigen Willen.


Ein Wenig mehr, ein Wenig weniger: das gerade
ist hier Viel, das ist hier das Meiste.


Mit lässigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem
Willen: das ist das Schwerste euch Allen, ihr Er¬
habenen!


Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in's
Sichtbare: Schönheit heisse ich solches Herabkommen.


[55]

Und von Niemandem will ich so als von dir gerade
Schönheit, du Gewaltiger: deine Güte sei deine letzte
Selbst-Überwältigung.


Alles Böse traue ich dir zu: darum will ich von
dir das Gute.


Wahrlich, ich lachte oft der Schwächlinge, welche
sich gut glauben, weil sie lahme Tatzen haben!


Der Säule Tugend sollst du nachstreben: schöner
wird sie immer und zarter, aber inwendig härter und
tragsamer, je mehr sie aufsteigt.


Ja, du Erhabener, einst sollst du noch schön sein
und deiner eignen Schönheit den Spiegel vorhalten.


Dann wird deine Seele vor göttlichen Begierden
schaudern; und Anbetung wird noch in deiner Eitel¬
keit sein!


Diess nämlich ist das Geheimniss der Seele: erst,
wenn sie der Held verlassen hat, naht ihr, im Traume,
— der Über-Held.


Also sprach Zarathustra.

[56]

Vom Lande der Bildung.

Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: ein Grauen
überfiel mich.


Und als ich um mich sah, siehe! da war die Zeit
mein einziger Zeitgenosse.


Da floh ich rückwärts, heimwärts — und immer
eilender: so kam ich zu euch, ihr Gegenwärtigen, und
in's Land der Bildung.


Zum ersten Male brachte ich ein Auge mit für
euch, und gute Begierde: wahrlich, mit Sehnsucht im
Herzen kam ich.


Aber wie geschah mir? So angst mir auch war, —
ich musste lachen! Nie sah mein Auge etwas so
Buntgesprenkeltes!


Ich lachte und lachte, während der Fuss mir noch
zitterte und das Herz dazu: „hier ist ja die Heimat
aller Farbentöpfe!“ — sagte ich.


Mit fünfzig Klexen bemalt an Gesicht und Glie¬
dern: so sasset ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegen¬
wärtigen!


Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem
Farbenspiele schmeichelten und nachredeten!


Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske
[57] tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eignes Gesicht
ist! Wer könnte euch — erkennen!


Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangen¬
heit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen
Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen
Zeichendeutern!


Und wenn man auch Nierenprüfer ist: wer glaubt
wohl noch, dass ihr Nieren habt! Aus Farben scheint
ihr gebacken und aus geleimten Zetteln.


Alle Zeiten und Völker blicken bunt aus euren
Schleiern; alle Sitten und Glauben reden bunt aus
euren Gebärden.


Wer von euch Schleier und Überwürfe und Farben
und Gebärden abzöge: gerade genug würde er übrig
behalten, um die Vögel damit zu erschrecken.


Wahrlich, ich selber bin der erschreckte Vogel,
der euch einmal nackt sah und ohne Farbe; und ich
flog davon, als das Gerippe mir Liebe zuwinkte.


Lieber wollte ich doch noch Tagelöhner sein in
der Unterwelt und bei den Schatten des Ehemals! —
feister und voller als ihr sind ja noch die Unter¬
weltlichen!


Diess, ja diess ist Bitterniss meinen Gedärmen,
dass ich euch weder nackt, noch bekleidet aushalte,
ihr Gegenwärtigen!


Alles Unheimliche der Zukunft, und was je ver¬
flogenen Vögeln Schauder machte, ist wahrlich heim¬
licher noch und traulicher als eure „Wirklichkeit“.


Denn so sprecht ihr: „Wirkliche sind wir ganz,
und ohne Glauben und Aberglauben“: also brüstet ihr
euch — ach, auch noch ohne Brüste!


[58]

Ja, wie solltet ihr glauben können, ihr Bunt¬
gesprenkelten! — die ihr Gemälde seid von Allem,
was je geglaubt wurde!


Wandelnde Widerlegungen seid ihr des Glaubens
selber, und aller Gedanken Gliederbrechen. Unglaub¬
würdige
: also heisse ich euch, ihr Wirklichen!


Alle Zeiten schwätzen wider einander in euren
Geistern; und aller Zeiten Träume und Geschwätz
waren wirklicher noch als euer Wachsein ist!


Unfruchtbare seid ihr: darum fehlt es euch an
Glauben. Aber wer schaffen musste, der hatte auch
immer seine Wahr-Träume und Stern-Zeichen — und
glaubte an Glauben! —


Halboffne Thore seid ihr, an denen Todtengräber
warten. Und das ist eure Wirklichkeit: „Alles ist werth,
dass es zu Grunde geht.“


Ach, wie ihr mir dasteht, ihr Unfruchtbaren, wie
mager in den Rippen! Und Mancher von euch hatte
wohl dessen selber ein Einsehen.


Und er sprach: „es hat wohl da ein Gott, als ich
schlief, mir heimlich Etwas entwendet? Wahrlich,
genug, sich ein Weibchen daraus zu bilden!


Wundersam ist die Armuth meiner Rippen!“ also
sprach schon mancher Gegenwärtige.


Ja, zum Lachen seid ihr mir, ihr Gegenwärtigen!
Und sonderlich, wenn ihr euch über euch selber wundert!


Und wehe mir, wenn ich nicht lachen könnte über
eure Verwunderung, und alles Widrige aus euren
Näpfen hinunter trinken müsste!


[59]

So aber will ich's mit euch leichter nehmen, da
ich Schweres zu tragen habe; und was thut's mir,
wenn sich Käfer und Flügelwürmer noch auf mein
Bündel setzen!


Wahrlich, es soll mir darob nicht schwerer werden!
Und nicht aus euch, ihr Gegenwärtigen, soll mir die
grosse Müdigkeit kommen. —


Ach, wohin soll ich nun noch steigen mit meiner
Sehnsucht! Von allen Bergen schaue ich aus nach
Vater- und Mutterländern.


Aber Heimat fand ich nirgends: unstät bin ich
in allen Städten und ein Aufbruch an allen Thoren.


Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen,
zu denen mich jüngst das Herz trieb; und vertrieben
bin ich aus Vater- und Mutterländern.


So liebe ich allein noch meiner Kinder Land,
das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse
ich meine Segel suchen und suchen.


An meinen Kindern will ich es gut machen, dass
ich meiner Väter Kind bin: und an aller Zukunft —
diese Gegenwart!


Also sprach Zarathustra.

[60]

Von der unbefleckten Erkenntniss.

Als gestern der Mond aufgieng, wähnte ich, dass
er eine Sonne gebären wolle: so breit und trächtig
lag er am Horizonte.


Aber ein Lügner war er mir mit seiner Schwanger¬
schaft; und eher noch will ich an den Mann im Monde
glauben als an das Weib.


Freilich, wenig Mann ist er auch, dieser schüchterne
Nachtschwärmer. Wahrlich, mit schlechtem Gewissen
wandelt er über die Dächer.


Denn er ist lüstern und eifersüchtig, der Mönch
im Monde, lüstern nach der Erde und nach allen
Freuden der Liebenden.


Nein, ich mag ihn nicht, diesen Kater auf den
Dächern! Widerlich sind mir Alle, die um halbver¬
schlossne Fenster schleichen!


Fromm und schweigsam wandelt er hin auf Sternen-
Teppichen: — aber ich mag alle leisetretenden Manns¬
füsse nicht, an denen auch nicht ein Sporen klirrt.


Jedes Redlichen Schritt redet; die Katze aber
stiehlt sich über den Boden weg. Siehe, katzenhaft
kommt der Mond daher und unredlich. —


[61]

Dieses Gleichniss gebe ich euch empfindsamen
Heuchlern, euch, den „Rein-Erkennenden!“ Euch
heisse ich — Lüsterne!


Auch ihr liebt die Erde und das Irdische: ich
errieth euch wohl! — aber Scham ist in eurer Liebe
und schlechtes Gewissen, — dem Monde gleicht ihr!


Zur Verachtung des Irdischen hat man euren Geist
überredet, aber nicht eure Eingeweide: die aber sind
das Stärkste an euch!


Und nun schämt sich euer Geist, dass er euren
Eingeweiden zu Willen ist und geht vor seiner eignen
Scham Schleich- und Lügenwege.


„Das wäre mir das Höchste — also redet euer
verlogner Geist zu sich — auf das Leben ohne Be¬
gierde zu schaun und nicht gleich dem Hunde mit
hängender Zunge:


„Glücklich zu sein im Schauen, mit erstorbenem
Willen, ohne Griff und Gier der Selbstsucht — kalt
und aschgrau am ganzen Leibe, aber mit trunkenen
Mondesaugen!“


„Das wäre mir das Liebste. — also verführt sich
selber der Verführte — die Erde zu lieben, wie der
Mond sie liebt und nur mit dem Auge allein ihre
Schönheit zu betasten.


„Und das heisse mir aller Dinge unbefleckte
Erkenntniss, dass ich von den Dingen Nichts will:
ausser dass ich vor ihnen da liegen darf wie ein Spiegel
mit hundert Augen.“ —


Oh, ihr empfindsamen Heuchler, ihr Lüsternen!
Euch fehlt die Unschuld in der Begierde: und nun
verleumdet ihr drum das Begehren!


[62]

Wahrlich, nicht als Schaffende, Zeugende, Werde¬
lustige liebt ihr die Erde!


Wo ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung
ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat
mir den reinsten Willen.


Wo ist Schönheit? Wo ich mit allem Willen
wollen muss; wo ich lieben und untergehn will,
dass ein Bild nicht nur Bild bleibe.


Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewig¬
keiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum
Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen!


Aber nun will euer entmanntes Schielen „Beschau¬
lichkeit“ heissen! Und was mit feigen Augen sich
tasten lässt, soll „schön“ getauft werden! Oh, ihr
Beschmutzer edler Namen!


Aber das soll euer Fluch sein, ihr Unbefleckten,
ihr Rein-Erkennenden, dass ihr nie gebären werdet:
und wenn ihr auch breit und trächtig am Horizonte liegt!


Wahrlich, ihr nehmt den Mund voll mit edlen
Worten: und wir sollen glauben, dass euch das Herz
übergehe, ihr Lügenbolde?


Aber meine Worte sind geringe, verachtete,
krumme Worte: gerne nehme ich auf, was bei eurer
Mahlzeit unter den Tisch fällt.


Immer noch kann ich mit ihnen — Heuchlern die
Wahrheit sagen! Ja, meine Gräten, Muscheln und
Stachelblätter sollen — Heuchlern die Nasen kitzeln!


Schlechte Luft ist immer um euch und eure Mahl¬
zeiten: eure lüsternen Gedanken, eure Lügen und Heim¬
lichkeiten sind ja in der Luft!


[63]

Wagt es doch erst, euch selber zu glauben —
euch und euren Eingeweiden! Wer sich selber nicht
glaubt, lügt immer.


Eines Gottes Larve hängtet ihr um vor euch selber,
ihr „Reinen“: in eines Gottes Larve verkroch sich euer
greulicher Ringelwurm.


Wahrlich, ihr täuscht, ihr „Beschaulichen“! Auch
Zarathustra war einst der Narr eurer göttlichen Häute;
nicht errieth er das Schlangengeringel, mit denen sie
gestopft waren.


Eines Gottes Seele wähnte ich einst spielen zu
sehn in euren Spielen, ihr Rein-Erkennenden! Keine
bessere Kunst wähnte ich einst als eure Künste!


Schlangen-Unflath und schlimmen Geruch verhehlte
mir die Ferne: und dass einer Eidechse List lüstern
hier herumschlich.


Aber ich kam euch nah: da kam mir der Tag —
und nun kommt er euch, — zu Ende gieng des Mondes
Liebschaft!


Seht doch hin! Ertappt und bleich steht er da
— vor der Morgenröthe!


Denn schon kommt sie, die Glühende, — ihre Liebe
zur Erde kommt! Unschuld und Schöpfer-Begier ist
alle Sonnen-Liebe!


Seht doch hin, wie sie ungeduldig über das Meer
kommt! Fühlt ihr den Durst und den heissen Athem
ihrer Liebe nicht?


Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich
in die Höhe trinken: da hebt sich die Begierde des
Meeres mit tausend Brüsten.


[64]

Geküsst und gesaugt will es sein vom Durste
der Sonne; Luft will es werden und Höhe und Fuss¬
pfad des Lichts und selber Licht!


Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben
und alle tiefen Meere.


Und diess heisst mir Erkenntniss: alles Tiefe soll
hinauf — zu meiner Höhe!


Also sprach Zarathustra.

[65]

Von den Gelehrten.

Als ich im Schlafe lag, da frass ein Schaf am
Epheukranze meines Hauptes, — frass und sprach
dazu: „Zarathustra ist kein Gelehrter mehr.“


Sprach's und gieng stotzig davon und stolz. Ein
Kind erzählte mir's.


Gerne liege ich hier, wo die Kinder spielen, an
der zerbrochnen Mauer, unter Disteln und rothen
Mohnblumen.


Ein Gelehrter bin ich den Kindern noch und auch
den Disteln und rothen Mohnblumen. Unschuldig sind
sie, selbst noch in ihrer Bosheit.


Aber den Schafen bin ich's nicht mehr: so will
es mein Loos — gesegnet sei es!


Denn diess ist die Wahrheit: ausgezogen bin ich
aus dem Hause der Gelehrten: und die Thür habe ich
noch hinter mir zugeworfen.


Zu lange sass meine Seele hungrig an ihrem
Tische; nicht, gleich ihnen, bin ich auf das Erkennen
abgerichtet wie auf das Nüsseknacken.


Freiheit liebe ich und die Luft über frischer Erde;
lieber noch will ich auf Ochsenhäuten schlafen, als auf
ihren Würden und Achtbarkeiten.


Ich bin zu heiss und verbrannt von eigenen
Gedanken: oft will es mir den Athem nehmen. Da
5[66] muss ich in's Freie und weg aus allen verstaubten
Stuben.


Aber sie sitzen kühl in kühlem Schatten: sie
wollen in Allem nur Zuschauer sein und hüten sich
dort zu sitzen, wo die Sonne auf die Stufen brennt.


Gleich Solchen, die auf der Strasse stehn und die
Leute angaffen, welche vorübergehn: also warten sie
auch und gaffen Gedanken an, die Andre gedacht
haben.


Greift man sie mit Händen, so stäuben sie um
sich gleich Mehlsäcken, und unfreiwillig: aber wer
erriethe wohl, dass ihr Staub vom Korne stammt und
von der gelben Wonne der Sommerfelder?


Geben sie sich weise, so fröstelt mich ihrer kleinen
Sprüche und Wahrheiten: ein Geruch ist oft an ihrer
Weisheit, als ob sie aus dem Sumpfe stamme: und
wahrlich, ich hörte auch schon den Frosch aus ihr
quaken!


Geschickt sind sie, sie haben kluge Finger: was
will meine Einfalt bei ihrer Vielfalt! Alles Fädeln
und Knüpfen und Weben verstehn ihre Finger: also
wirken sie die Strümpfe des Geistes!


Gute Uhrwerke sind sie: nur sorge man, sie richtig
aufzuziehn! Dann zeigen sie ohne Falsch die Stunde
an und machen einen bescheidnen Lärm dabei.


Gleich Mühlwerken arbeiten sie und Stampfen:
man werfe ihnen nur seine Fruchtkörner zu! — sie
wissen schon, Korn klein zu mahlen und weissen Staub
daraus zu machen.


Sie sehen einander gut auf die Finger und trauen
sich nicht zum Besten. Erfinderisch in kleinen Schlau¬
[67] heiten warten sie auf Solche, deren Wissen auf lahmen
Füssen geht, — gleich Spinnen warten sie.


Ich sah sie immer mit Vorsicht Gift bereiten; und
immer zogen sie gläserne Handschuhe dabei an ihre
Finger.


Auch mit falschen Würfeln wissen sie zu spielen;
und so eifrig fand ich sie spielen, dass sie dabei schwitzten.


Wir sind einander fremd, und ihre Tugenden gehn
mir noch mehr wider den Geschmack, als ihre Falsch¬
heiten und falschen Würfel.


Und als ich bei ihnen wohnte, da wohnte ich
über ihnen. Darüber wurden sie mir gram.


Sie wollen Nichts davon hören, dass Einer über
ihren Köpfen wandelt; und so legten sie Holz und
Erde und Unrath zwischen mich und ihre Köpfe.


Also dämpften sie den Schall meiner Schritte:
und am schlechtesten wurde ich bisher von den
Gelehrtesten gehört.


Aller Menschen Fehl und Schwäche legten sie
zwischen sich und mich: — „Fehlboden“ heissen sie
das in ihren Häusern.


Aber trotzdem wandele ich mit meinen Gedanken
über ihren Köpfen; und selbst, wenn ich auf meinen
eignen Fehlern wandeln wollte, würde ich noch über
ihnen sein und ihren Köpfen.


Denn die Menschen sind nicht gleich: so spricht
die Gerechtigkeit. Und was ich will, dürften sie nicht
wollen!


Also sprach Zarathustra.


5*
[68]

Von den Dichtern.


„Seit ich den Leib besser kenne, — sagte Zara¬
thustra zu einem seiner Jünger — ist mir der Geist
nur noch gleichsam Geist; und alles das „Unvergäng¬
liche“ — das ist auch nur ein Gleichniss.“


„So hörte ich dich schon einmal sagen, antwortete
der Jünger; und damals fügtest du hinzu: „aber die
Dichter lügen zuviel.“ Warum sagtest du doch, dass
die Dichter zuviel lügen?


„Warum? sagte Zarathustra. Du fragst warum?
Ich gehöre nicht zu Denen, welche man nach ihrem
Warum fragen darf.


Ist denn mein Erleben von Gestern? Das ist lange
her, dass ich die Gründe meiner Meinungen erlebte.


Müsste ich nicht ein Fass sein von Gedächtniss,
wenn ich auch meine Gründe bei mir haben wollte?


Schon zuviel ist mir's, meine Meinungen selber
zu behalten; und mancher Vogel fliegt davon.


Und mitunter finde ich auch ein zugeflogenes
Thier in meinem Taubenschlage, das mir fremd ist,
und das zittert, wenn ich meine Hand darauf lege.


Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die
Dichter zuviel lügen? — Aber auch Zarathustra ist
ein Dichter.


[69]

Glaubst du nun, dass er hier die Wahrheit redete?
Warum glaubst du das?“


Der Jünger antwortete: „ich glaube an Zarathustra.“
Aber Zarathustra schüttelte den Kopf und lächelte.


„Der Glaube macht mich nicht selig, sagte er,
zumal nicht der Glaube an mich.


Aber gesetzt, dass Jemand allen Ernstes sagte,
die Dichter lügen zuviel: so hat er Recht, — wir
lügen zuviel.


Wir wissen auch zu wenig und sind schlechte
Lerner: so müssen wir schon lügen.


Und wer von uns Dichtern hätte nicht seinen Wein
verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in
unsern Kellern, manches Unbeschreibliche ward da
gethan.


Und weil wir wenig wissen, so gefallen uns von
Herzen die geistig Armen, sonderlich wenn es junge
Weibchen sind!


Und selbst nach den Dingen sind wir noch be¬
gehrlich, die sich die alten Weibchen Abends erzählen.
Das heissen wir selber an uns das Ewig-Weibliche.


Und als ob es einen besondren geheimen Zugang
zum Wissen gäbe, der sich Denen verschütte, welche
Etwas lernen: so glauben wir an das Volk und seine
„Weisheit.“


Das aber glauben alle Dichter: dass wer im Grase
oder an einsamen Gehängen liegend die Ohren spitze,
Etwas von den Dingen erfahre, die zwischen Himmel
und Erde sind.


Und kommen ihnen zärtliche Regungen, so meinen
die Dichter immer, die Natur selber sei in sie verliebt:

[70]

Und sie schleiche zu ihrem Ohre, Heimliches hinein
zu sagen und verliebte Schmeichelreden: dessen brüsten
und blähen sie sich vor allen Sterblichen!


Ach, es giebt so viel Dinge zwischen Himmel und
Erden, von denen sich nur die Dichter Etwas haben
träumen lassen!


Und zumal über dem Himmel: denn alle Götter
sind Dichter-Gleichniss, Dichter-Erschleichniss!


Wahrlich, immer zieht es uns hinan — nämlich
zum Reich der Wolken: auf diese setzen wir unsre
bunten Bälge und heissen sie dann Götter und Über¬
menschen: —


Sind sie doch gerade leicht genug für diese Stühle!
— alle diese Götter und Übermenschen.


Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde,
das durchaus Ereigniss sein soll! Ach, wie bin ich
der Dichter müde!


 

Als Zarathustra so sprach, zürnte ihm sein Jünger,
aber er schwieg. Und auch Zarathustra schwieg; und
sein Auge hatte sich nach innen gekehrt, gleich als
ob es in weite Fernen sähe. Endlich seufzte er und
holte Athem.


Ich bin von Heute und Ehedem, sagte er dann;
aber Etwas ist in mir, das ist von Morgen und Über¬
morgen und Einstmals.


Ich wurde der Dichter müde, der alten und der
neuen: Oberflächliche sind sie mir Alle und seichte
Meere.


Sie dachten nicht genug in die Tiefe: darum sank
ihr Gefühl nicht bis zu den Gründen.


[71]

Etwas Wollust und etwas Langeweile: das ist
noch ihr bestes Nachdenken gewesen.


Gespenster-Hauch und -Huschen gilt mir all ihr
Harfen-Klingklang; was wussten sie bisher von der
Inbrunst der Töne! —


Sie sind mir auch nicht reinlich genug: sie trüben
Alle ihr Gewässer, dass es tief scheine.


Und gerne geben sie sich damit als Versöhner:
aber Mittler und Mischer bleiben sie mir und Halb-
und-Halbe und Unreinliche! —


Ach, ich warf wohl mein Netz in ihre Meere und
wollte gute Fische fangen; aber immer zog ich eines
alten Gottes Kopf herauf.


So gab dem Hungrigen das Meer einen Stein.
Und sie selber mögen wohl aus dem Meere stammen.


Gewiss, man findet Perlen in ihnen: um so ähn¬
licher sind sie selber harten Schalthieren. Und statt
der Seele fand ich oft bei ihnen gesalzenen Schleim.


Sie lernten vom Meere auch noch seine Eitelkeit:
ist nicht das Meer der Pfau der Pfauen?


Noch vor dem hässlichsten aller Büffel rollt es
seinen Schweif hin, nimmer wird es seines Spitzen¬
fächers von Silber und Seide müde.


Trutzig blickt der Büffel dazu, dem Sande nahe
in seiner Seele, näher noch dem Dickicht, am nächsten
aber dem Sumpfe.


Was ist ihm Schönheit und Meer und Pfauen-
Zierath! Dieses Gleichniss sage ich den Dichtern.


Wahrlich, ihr Geist selber ist der Pfau der Pfauen
[und] ein Meer von Eitelkeit!


[72]

Zuschauer will der Geist des Dichters: sollten's
auch Büffel sein! —


Aber dieses Geistes wurde ich müde: und ich sehe
kommen, dass er seiner selber müde wird.


Verwandelt sah ich schon die Dichter und gegen
sich selber den Blick gerichtet.


Büsser des Geistes sah ich kommen: die wuchsen
aus ihnen.


Also sprach Zarathustra.

[73]

Von grossen Ereignissen.

Es giebt eine Insel im Meere — unweit den glück¬
seligen Inseln Zarathustra's — auf welcher beständig
ein Feuerberg raucht; von der sagt das Volk, und
sonderlich sagen es die alten Weibchen aus dem Volke,
dass sie wie ein Felsblock vor das Thor der Unterwelt
gestellt sei: durch den Feuerberg selber aber führe
der schmale Weg abwärts, der zu diesem Thore der
Unterwelt geleite.


Um jene Zeit nun, als Zarathustra auf den glück¬
seligen Inseln weilte, geschah es, dass ein Schiff an
der Insel Anker warf, auf welcher der rauchende Berg
steht; und seine Mannschaft gieng an's Land, um
Kaninchen zu schiessen. Gegen die Stunde des Mittags
aber, da der Capitän und seine Leute wieder beisammen
waren, sahen sie plötzlich durch die Luft einen Mann
auf sich zukommen, und eine Stimme sagte deutlich:
„es ist Zeit! Es ist die höchste Zeit!“ Wie die Gestalt
ihnen aber am nächsten war — sie flog aber schnell
gleich einem Schatten vorbei, in der Richtung, wo
der Feuerberg lag — da erkannten sie mit grösster
Bestürzung, dass es Zarathustra sei; denn sie hatten
[74] ihn Alle schon gesehn, ausgenommen der Capitän
selber, und sie liebten ihn, wie das Volk liebt: also dass
zu gleichen Theilen Liebe und Scheu beisammen sind.


„Seht mir an! sagte der alte Steuermann, da
fährt Zarathustra zur Hölle!“ —


Um die gleiche Zeit, als diese Schiffer an der
Feuerinsel landeten, lief das Gerücht umher, dass
Zarathustra verschwunden sei; und als man seine
Freunde fragte, erzählten sie, er sei bei Nacht zu Schiff
gegangen, ohne zu sagen, wohin er reisen wolle.


Also entstand eine Unruhe; nach drei Tagen aber
kam zu dieser Unruhe die Geschichte der Schiffsleute
hinzu — und nun sagte alles Volk, dass der Teufel
Zarathustra geholt habe. Seine Jünger lachten zwar
ob dieses Geredes; und einer von ihnen sagte sogar:
„eher glaube ich noch, dass Zarathustra sich den
Teufel geholt hat.“ Aber im Grunde der Seele waren
sie Alle voll Besorgniss und Sehnsucht: so war ihre
Freude gross, als am fünften Tage Zarathustra unter
ihnen erschien.


Und diess ist die Erzählung von Zarathustra's Ge¬
spräch mit dem Feuerhunde.


Die Erde, sagte er, hat eine Haut; und diese Haut
hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heisst zum
Beispiel: „Mensch.“


Und eine andere dieser Krankheiten heisst „Feuer¬
hund“: über den haben sich die Menschen Viel vor¬
gelogen und vorlügen lassen.


Diess Geheimniss zu ergründen gieng ich über das
Meer: und ich habe die Wahrheit nackt gesehn,
wahrlich! barfuss bis zum Halse.


[75]

Was es mit dem Feuerhund auf sich hat, weiss
ich nun; und insgleichen mit all den Auswurf- und
Umsturz-Teufeln, vor denen sich nicht nur alte Weib¬
chen fürchten.


Heraus mit dir, Feuerhund, aus deiner Tiefe! rief
ich, und bekenne, wie tief diese Tiefe ist! Woher ist
das, was du da heraufschnaubst?


Du trinkst reichlich am Meere: das verräth deine
versalzte Beredsamkeit! Fürwahr, für einen Hund
der Tiefe nimmst du deine Nahrung zu sehr von der
Oberfläche!


Höchstens für den Bauchredner der Erde halt' ich
dich: und immer, wenn ich Umsturz- und Auswurf-
Teufel reden hörte, fand ich sie gleich dir: gesalzen,
lügnerisch und flach.


Ihr versteht zu brüllen und mit Asche zu ver¬
dunkeln! Ihr seid die besten Grossmäuler und lerntet
sattsam die Kunst, Schlamm heiss zu sieden?


Wo ihr seid, da muss stets Schlamm in der Nähe
sein, und viel Schwammichtes, Höhlichtes, Einge¬
zwängtes: das will in die Freiheit.


„Freiheit“ brüllt ihr Alle am liebsten: aber ich
verlernte den Glauben an „grosse Ereignisse,“ sobald
viel Gebrüll und Rauch um sie herum ist.


Und glaube mir nur, Freund Höllenlärm! Die
grössten Ereignisse — das sind nicht unsre lautesten,
sondern unsre stillsten Stunden.


Nicht um die Erfinder von neuem Lärme: um die
Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt;
unhörbar dreht sie sich.


[76]

Und gesteh es nur! Wenig war immer nur geschehn,
wenn dein Lärm und Rauch sich verzog. Was liegt
daran, dass eine Stadt zur Mumie wurde, und eine
Bildsäule im Schlamme liegt!


Und diess Wort sage ich noch den Umstürzern
von Bildsäulen. Das ist wohl die grösste Thorheit,
Salz in's Meer und Bildsäulen in den Schlamm zu werfen.


Im Schlamme eurer Verachtung lag die Bildsäule:
aber das ist gerade ihr Gesetz, dass ihr aus der Ver¬
achtung wieder Leben und lebende Schönheit wächst!


Mit göttlicheren Zügen steht sie nun auf und
leidendverführerisch; und wahrlich! sie wird euch noch
Dank sagen, dass ihr sie umstürztet, ihr Umstürzer!


Diesen Rath aber rathe ich Königen und Kirchen
und Allem, was alters- und tugendschwach ist — lasst
euch nur umstürzen! Dass ihr wieder zum Leben
kommt, und zu euch — die Tugend! —


Also redete ich vor dem Feuerhunde: da unter¬
brach er mich mürrisch und fragte: „Kirche? Was
ist denn das?“


Kirche? antwortete ich, das ist eine Art von
Staat, und zwar die verlogenste. Doch schweig still,
du Heuchelhund! Du kennst deine Art wohl am
besten schon!


Gleich dir selber ist der Staat ein Heuchelhund;
gleich dir redet er gern mit Rauch und Gebrülle, —
dass er glauben mache, gleich dir, er rede aus dem
Bauch der Dinge.


Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf
Erden sein, der Staat; und man glaubt's ihm auch. —


[77]

Als ich das gesagt hatte, gebärdete sich der
Feuerhund wie unsinnig vor Neid. „Wie? schrie er,
das wichtigste Thier auf Erden? Und man glaubt's
ihm auch?“ Und so viel Dampf und grässliche
Stimmen kamen ihm aus dem Schlunde, dass ich
meinte, er werde vor Ärger und Neid ersticken.


Endlich wurde er stiller, und sein Keuchen liess
nach; sobald er aber stille war, sagte ich lachend:


Du ärgerst dich, Feuerhund: also habe ich über
dich Recht!


Und dass ich auch noch Recht behalte, so höre
von einem andern Feuerhunde: der spricht wirklich
aus dem Herzen der Erde.


Gold haucht sein Athem und goldigen Regen:
so will's das Herz ihm. Was ist ihm Asche und
Rauch und heisser Schleim noch!


Lachen flattert aus ihm wie ein buntes Gewölke;
abgünstig ist er deinem Gurgeln und Speien und
Grimmen der Eingeweide!


Das Gold aber und das Lachen — das nimmt er
aus dem Herzen der Erde: denn dass du's nur weisst, —
das Herz der Erde ist von Gold.“


Als diess der Feuerhund vernahm, hielt er's nicht
mehr aus, mir zuzuhören. Beschämt zog er seinen
Schwanz ein, sagte auf eine kleinlaute Weise Wau!
Wau! und kroch hinab in seine Höhle. —


Also erzählte Zarathustra. Seine Jünger aber
hörten ihm kaum zu: so gross war ihre Begierde, ihm
von den Schiffsleuten, den Kaninchen und dem fliegen¬
den Manne zu erzählen.


[78]

„Was soll ich davon denken! sagte Zarathustra.
Bin ich denn ein Gespenst?


Aber es wird mein Schatten gewesen sein. Ihr
hörtet wohl schon Einiges vom Wanderer und seinem
Schatten?


Sicher aber ist das: ich muss ihn kürzer halten, —
er verdirbt mir sonst noch den Ruf.“


Und nochmals schüttelte Zarathustra den Kopf
und wunderte sich. „Was soll ich davon denken!“
sagte er nochmals.


Warum schrie denn das Gespenst: es ist Zeit!
Es ist die höchste Zeit!


Wozu ist es denn — höchste Zeit?“ —


Also sprach Zarathustra.

[79]

Der Wahrsager.

„— und ich sahe eine grosse Traurigkeit über
die Menschen kommen. Die Besten wurden ihrer
Werke müde.


Eine Lehre ergieng, ein Glauben lief neben ihr:
„Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“


Und von allen Hügeln klang es wieder: „Alles
ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“


Wohl haben wir geerntet: aber warum wurden
alle Früchte uns faul und braun? Was fiel vom bösen
Monde bei der letzten Nacht hernieder?


Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein
geworden, böser Blick sengte unsre Felder und
Herzen gelb.


Trocken wurden wir Alle; und fällt Feuer auf
uns, so stäuben wir der Asche gleich: — ja das Feuer
selber machten wir müde.


Alle Brunnen versiegten uns, auch das Meer wich
zurück. Aller Grund will reissen, aber die Tiefe will
nicht schlingen!


„Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken
könnte“: so klingt unsre Klage — hinweg über flache
Sümpfe.


[80]

Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu
müde; nun wachen wir noch und leben fort — in
Grabkammern!“ —


Also hörte Zarathustra einen Wahrsager reden;
und seine Weissagung gieng ihm zu Herzen und ver¬
wandelte ihn. Traurig gieng er umher und müde;
und er wurde Denen gleich, von welchen der Wahr¬
sager geredet hatte.


Wahrlich, so sagte er zu seinen Jüngern, es ist
um ein Kleines, so kommt diese lange Dämmerung.
Ach, wie soll ich mein Licht hinüber retten!


Dass es mir nicht ersticke in dieser Traurigkeit!
Ferneren Welten soll es ja Licht sein und noch fernsten
Nächten!


Dergestalt im Herzen bekümmert gieng Zara¬
thustra umher; und drei Tage lang nahm er nicht
Trank und Speise zu sich, hatte keine Ruhe und
verlor die Rede. Endlich geschah es, dass er in einen
tiefen Schlaf verfiel. Seine Jünger aber sassen um
ihn in langen Nachtwachen und warteten mit Sorge,
ob er wach werde und wieder rede und genesen sei
von seiner Trübsal.


Diess aber ist die Rede, welche Zarathustra sprach,
als er aufwachte; seine Stimme aber kam zu seinen
Jüngern wie aus weiter Ferne.


Hört mir doch den Traum, den ich träumte, ihr
Freunde, und helft mir seinen Sinn rathen!


Ein Räthsel ist er mir noch, dieser Traum; sein
Sinn ist verborgen in ihm und eingefangen und fliegt
noch nicht über ihn hin mit freien Flügeln.


[81]

Allem Leben hatte ich abgesagt, so träumte mir.
Zum Nacht- und Grabwächter war ich worden, dort
auf der einsamen Berg-Burg des Todes.


Droben hütete ich seine Särge: voll standen die
dumpfen Gewölbe von solchen Siegeszeichen. Aus
gläsernen Särgen blickte mich überwundenes Leben an.


Den Geruch verstaubter Ewigkeiten athmete ich:
schwül und verstaubt lag meine Seele. Und wer hätte
dort auch seine Seele lüften können!


Helle der Mitternacht war immer um mich, Ein¬
samkeit kauerte neben ihr; und, zudritt, röchelnde
Todesstille, die schlimmste meiner Freundinnen.


Schlüssel führte ich, die rostigsten aller Schlüssel;
und ich verstand es, damit das knarrendste aller
Thore zu öffnen.


Einem bitterbösen Gekrächze gleich lief der Ton
durch die langen Gänge, wenn sich des Thores Flügel
hoben: unhold schrie dieser Vogel, ungern wollte er
geweckt sein.


Aber furchtbarer noch und herzzuschnürender war
es, wenn es wieder schwieg und rings stille ward,
und ich allein sass in diesem tückischen Schweigen.


So gieng mir und schlich die Zeit, wenn Zeit es
noch gab: was weiss ich davon! Aber endlich geschah
das, was mich weckte.


Dreimal schlugen Schläge an's Thor, gleich
Donnern, es hallten und heulten die Gewölbe dreimal
wieder: da gieng ich zum Thore.


Alpa! rief ich, wer trägt seine Asche zu Berge?
Alpa! Alpa! Wer trägt seine Asche zu Berge?


6[82]

Und ich drückte den Schlüssel und hob am Thore
und mühte mich. Aber noch keinen Fingerbreit stand
es offen:


Da riss ein brausender Wind seine Flügel aus
einander: pfeifend, schrillend und schneidend warf er
mir einen schwarzen Sarg zu:


Und im Brausen und Pfeifen und Schrillen zer¬
barst der Sarg und spie tausendfältiges Gelächter aus.


Und aus tausend Fratzen von Kindern, Engeln,
Eulen, Narren und kindergrossen Schmetterlingen
lachte und höhnte und brauste es wider mich.


Grässlich erschrak ich darob: es warf mich nieder.
Und ich schrie vor Grausen, wie nie ich schrie.


Aber der eigne Schrei weckte mich auf: — und
ich kam zu mir. —


Also erzählte Zarathustra seinen Traum und
schwieg dann: denn er wusste noch nicht die Deutung
seines Traumes. Aber der Jünger, den er am meisten
lieb hatte, erhob sich schnell, fasste die Hand Zara¬
thustra's und sprach:


„Dein Leben selber deutet uns diesen Traum, oh
Zarathustra!


Bist du nicht selber der Wind mit schrillem
Pfeifen, der den Burgen des Todes die Thore aufreisst?


Bist du nicht selber der Sarg voll bunter Bos¬
heiten und Engelsfratzen des Lebens?


Wahrlich, gleich tausendfältigem Kindsgelächter
kommt Zarathustra in alle Todtenkammern, lachend
über diese Nacht- und Grabwächter, und wer sonst
mit düstern Schlüsseln rasselt.


[83]

Schrecken und umwerfen wirst du sie mit deinem
Gelächter; Ohnmacht und Wachwerden wird deine
Macht über sie beweisen.


Und auch, wenn die lange Dämmerung kommt
und die Todesmüdigkeit, wirst du an unserm Himmel
nicht untergehn, du Fürsprecher des Lebens!


Neue Sterne liessest du uns sehen und neue Nacht¬
herrlichkeiten; wahrlich, das Lachen selber spanntest
du wie ein buntes Gezelt über uns.


Nun wird immer Kindes-Lachen aus Särgen
quellen; nun wird immer siegreich ein starker Wind
kommen aller Todesmüdigkeit: dessen bist du uns
selber Bürge und Wahrsager!


Wahrlich, sie selber träumtest du, deine
Feinde: das war dein schwerster Traum!


Aber wie du von ihnen aufwachtest und zu dir
kamst, also sollen sie selber von sich aufwachen —
und zu dir kommen!“ —


So sprach der Jünger; und alle Anderen drängten
sich nun um Zarathustra und ergriffen ihn bei den
Händen und wollten ihn bereden, dass er vom Bette
und von der Traurigkeit lasse und zu ihnen zurück¬
kehre. Zarathustra aber sass aufgerichtet auf seinem
Lager, und mit fremdem Blicke. Gleichwie Einer,
der aus langer Fremde heimkehrt, sah er auf seine
Jünger und prüfte ihre Gesichter; und noch erkannte
er sie nicht. Als sie aber ihn hoben und auf die
Füsse stellten, siehe, da verwandelte sich mit Einem
Male sein Auge; er begriff Alles, was geschehen
war, strich sich den Bart und sagte mit starker Stimme:
6*[84] „Wohlan! Diess nun hat seine Zeit; sorgt mir aber
dafür, meine Jünger, dass wir eine gute Mahlzeit
machen, und in Kürze! Also gedenke ich Busse zu
thun für schlimme Träume!


Der Wahrsager aber soll an meiner Seite essen
und trinken: und wahrlich, ich will ihm noch ein Meer
zeigen, in dem er ertrinken kann!“


Also sprach Zarathustra. Darauf aber blickte er
dem Jünger, welcher den Traumdeuter abgegeben
hatte, lange in's Gesicht und schüttelte dabei den
Kopf. —

[85]

Von der Erlösung.

Als Zarathustra eines Tags über die grosse
Brücke gieng, umringten ihn die Krüppel und Bettler,
und ein Bucklichter redete also zu ihm:


Siehe, Zarathustra! Auch das Volk lernt von dir
und gewinnt Glauben an deine Lehre: aber dass es
ganz dir glauben soll, dazu bedarf es noch Eines — du
musst erst noch uns Krüppel überreden! Hier hast
du nun eine schöne Auswahl und wahrlich, eine Ge¬
legenheit mit mehr als Einem Schopfe! Blinde kannst
du heilen und Lahme laufen machen; und Dem, der
zuviel hinter sich hat, könntest du wohl auch ein
Wenig abnehmen: — das, meine ich, wäre die rechte
Art, die Krüppel an Zarathustra glauben zu machen!“


Zarathustra aber erwiderte Dem, der da redete,
also: Wenn man dem Bucklichten seinen Buckel
nimmt, so nimmt man ihm seinen Geist — also lehrt
das Volk. Und wenn man dem Blinden seine Augen
giebt, so sieht er zuviel schlimme Dinge auf Erden:
also dass er Den verflucht, der ihn heilte. Der aber,
welcher den Lahmen laufen macht, der thut ihm den
grössten Schaden an: denn kaum kann er laufen, so
gehn seine Laster mit ihm durch — also lehrt das
[86] Volk über Krüppel. Und warum sollte Zarathustra
nicht auch vom Volke lernen, wenn das Volk von
Zarathustra lernt?


Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter
Menschen bin, dass ich sehe: „Diesem fehlt ein Auge
und Jenem ein Ohr und einem Dritten das Bein, und
Andre giebt es, die verloren die Zunge oder die Nase
oder den Kopf.“


Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei
so Abscheuliches, dass ich nicht von Jeglichem reden
und von Einigem nicht einmal schweigen möchte:
nämlich Menschen, denen es an Allem fehlt, ausser
dass sie Eins zuviel haben — Menschen, welche
Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein
grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend etwas
Grosses, — umgekehrte Krüppel heisse ich Solche.


Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum
ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich
meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und
sagte endlich: „das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross
wie ein Mensch!“ Ich sah noch besser hin: und
wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas,
das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig
war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf
einem kleinen dünnen Stiele, — der Stiel aber war
ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm,
konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen
erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am
Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse
Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser
Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke
[87] niemals, wenn es von grossen Menschen redete — und
behielt meinen Glauben bei, dass es ein umgekehrter
Krüppel sei, der an Allem zu wenig und an Einem
zu viel habe.“


Als Zarathustra so zu dem Bucklichten geredet
hatte und zu Denen, welchen er Mundstück und Für¬
sprecher war, wandte er sich mit tiefem Unmuthe zu
seinen Jüngern und sagte:


Wahrlich, meine Freunde, ich wandle unter den
Menschen wie unter den Bruchstücken und Glied¬
maassen von Menschen!


Diess ist meinem Auge das Fürchterliche, dass ich
den Menschen zertrümmert finde und zerstreuet wie
über ein Schlacht- und Schlächterfeld hin.


Und flüchtet mein Auge vom Jetzt zum Ehemals:
es findet immer das Gleiche: Bruchstücke und Glied¬
maassen und grause Zufälle — aber keine Menschen!


Das Jetzt und das Ehemals auf Erden — ach!
meine Freunde — das ist mein Unerträglichstes; und
ich wüsste nicht zu leben, wenn ich nicht noch ein
Seher wäre, dessen, was kommen muss.


Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine
Zukunft selber und eine Brücke zur Zukunft — und
ach, auch noch gleichsam ein Krüppel an dieser
Brücke: das Alles ist Zarathustra.


Und auch ihr fragtet euch oft: „wer ist uns Zara¬
thustra? Wie soll er uns heissen?“ Und gleich mir
selber gabt ihr euch Fragen zur Antwort.


Ist er ein Versprechender? Oder ein Erfüller? Ein
Erobernder? Oder ein Erbender? Ein Herbst? Oder
eine Pflugschar? Ein Arzt? Oder ein Genesener?


[88]

Ist er ein Dichter? Oder ein Wahrhaftiger? Ein
Befreier? Oder ein Bändiger? Ein Guter? Oder ein
Böser?


Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken
der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue.


Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass
ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruch¬
stück ist und Räthsel und grauser Zufall.


Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn
der Mensch nicht auch Dichter und Räthselrather und
der Erlöser des Zufalls wäre!


Die Vergangnen zu erlösen und alles „Es war“
umzuschaffen in ein „So wollte ich es!“ — das hiesse
mir erst Erlösung!


Wille — so heisst der Befreier und Freudebringer:
also lehrte ich euch, meine Freunde! Aber nun lernt
diess hinzu: der Wille selber ist noch ein Gefangener.


Wollen befreit: aber wie heisst Das, was auch den
Befreier noch in Ketten schlägt?


„Es war“: also heisst des Willens Zähneknirschen
und einsamste Trübsal. Ohnmächtig gegen Das, was
gethan ist — ist er allem Vergangenen ein böser
Zuschauer.


Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die
Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde, —
das ist des Willens einsamste Trübsal.


Wollen befreit: was ersinnt sich das Wollen
selber, dass es los seiner Trübsal werde und seines
Kerkers spotte?


Ach, ein Narr wird jeder Gefangene! Närrisch
erlöst sich auch der gefangene Wille.


[89]

Dass die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein In¬
grimm; „Das, was war“ — so heisst der Stein, den er
nicht wälzen kann.


Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmuth
und übt Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm
und Unmuth fühlt.


Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehe¬
thäter: und an Allem, was leiden kann, nimmt er Rache
dafür, dass er nicht zurück kann.


Diess, ja diess allein ist Rache selber: des
Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr „Es war.“


Wahrlich, eine grosse Narrheit wohnt in unserm
Willen; und zum Fluche wurde es allem Menschlichen,
dass diese Narrheit Geist lernte!


Der Geist der Rache: meine Freunde, das war
bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo
Leid war, da sollte immer Strafe sein.


„Strafe“ nämlich, so heisst sich die Rache selber:
mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes
Gewissen.


Und weil im Wollenden selber Leid ist, darob
dass es nicht zurück wollen kann, — also sollte Wollen
selber und alles Leben — Strafe sein!


Und nun wälzte sich Wolke auf Wolke über den
Geist: bis endlich der Wahnsinn predigte: „Alles ver¬
geht, darum ist Alles werth zu vergehn!“


„Und diess ist selber Gerechtigkeit, jenes Gesetz
der Zeit, dass sie ihre Kinder fressen muss“: also
predigte der Wahnsinn.


[90]

„Sittlich sind die Dinge geordnet nach Recht
und Strafe. Oh wo ist die Erlösung vom Fluss der
Dinge und der Strafe „Dasein“? Also predigte der
Wahnsinn.


„Kann es Erlösung geben, wenn es ein ewiges
Recht giebt? Ach, unwälzbar ist der Stein „Es war“:
ewig müssen auch alle Strafen sein!“ Also predigte
der Wahnsinn.


„Keine That kann vernichtet werden: wie könnte
sie durch die Strafe ungethan werden! Diess, diess
ist das Ewige an der Strafe „Dasein“, dass das Dasein
auch ewig wieder That und Schuld sein muss!


„Es sei denn, dass der Wille endlich sich selber
erlöste und Wollen zu Nicht-Wollen würde —“: doch
ihr kennt, meine Brüder, diess Fabellied des Wahnsinns!


Weg führte ich euch von diesen Fabelliedern, als
ich euch lehrte: „der Wille ist ein Schaffender.“


Alles „Es war“ ist ein Bruchstück, ein Räthsel,
ein grauser Zufall — bis der schaffende Wille dazu
sagt: „aber so wollte ich es!“


— Bis der schaffende Wille dazu sagt: „Aber so
will ich es! So werde ich's wollen!“


Aber sprach er schon so? Und wann geschieht
diess? Ist der Wille schon abgeschirrt von seiner
eignen Thorheit?


Wurde der Wille sich selber schon Erlöser und
Freudebringer? Verlernte er den Geist der Rache und
alles Zähneknirschen?


Und wer lehrte ihn Versöhnung mit der Zeit, und
Höheres als alle Versöhnung ist?


[91]

Höheres als alle Versöhnung muss der Wille
wollen, welcher der Wille zur Macht ist —: doch wie
geschieht ihm das? Wer lehrte ihn auch noch das
Zurückwollen?“


— Aber an dieser Stelle seiner Rede geschah es,
dass Zarathustra plötzlich innehielt und ganz einem
Solchen gleich sah, der auf das Äusserste erschrickt.
Mit erschrecktem Auge blickte er auf seine Jünger;
sein Auge durchbohrte wie mit Pfeilen ihre Gedanken
und Hintergedanken. Aber nach einer kleinen Weile
lachte er schon wieder und sagte begütigt:


„Es ist schwer, mit Menschen zu leben, weil
Schweigen so schwer ist. Sonderlich für einen Ge¬
schwätzigen.“ —


Also sprach Zarathustra. Der Bucklichte aber
hatte dem Gespräche zugehört und sein Gesicht dabei
bedeckt; als er aber Zarathustra lachen hörte, blickte
er neugierig auf und sagte langsam:


„Aber warum redet Zarathustra anders zu uns als
zu seinen Jüngern?“


Zarathustra antwortete: „Was ist da zum Ver¬
wundern! Mit Bucklichten darf man schon bucklicht
reden!“


„Gut, sagte der Bucklichte; und mit Schülern
darf man schon aus der Schule schwätzen.


Aber warum redet Zarathustra anders zu seinen
Schülern — als zu sich selber?“ —

[92]

Von der Menschen-Klugheit.


Nicht die Höhe: der Abhang ist das Furchtbare!


Der Abhang, wo der Blick hinunter stürzt und
die Hand hinauf greift. Da schwindelt dem Herzen
vor seinem doppelten Willen.


Ach, Freunde, errathet ihr wohl auch meines
Herzens doppelten Willen?


Das, Das ist mein Abhang und meine Gefahr,
dass mein Blick in die Höhe stürzt, und dass meine
Hand sich halten und stützen möchte — an der Tiefe!


An den Menschen klammert sich mein Wille, mit
Ketten binde ich mich an den Menschen, weil es mich
hinauf reisst zum Übermenschen: denn dahin will mein
andrer Wille.


Und dazu lebe ich blind unter den Menschen;
gleich als ob ich sie nicht kennte: dass meine Hand
ihren Glauben an Festes nicht ganz verliere.


Ich kenne euch Menschen nicht: diese Finsterniss
und Tröstung ist oft um mich gebreitet.


Ich sitze am Thorwege für jeden Schelm und
frage: wer will mich betrügen?


Das ist meine erste Menschen-Klugheit, dass ich
mich betrügen lasse, um nicht auf der Hut zu sein vor
Betrügern.


[93]

Ach, wenn ich auf der Hut wäre vor dem Menschen:
wie könnte meinem Balle der Mensch ein Anker sein!
Zu leicht risse es mich hinauf und hinweg!


Diese Vorsehung ist über meinem Schicksal, dass
ich ohne Vorsicht sein muss.


Und wer unter Menschen nicht verschmachten
will, muss lernen, aus allen Gläsern zu trinken; und
wer unter Menschen rein bleiben will, muss ver¬
stehn, sich auch mit schmutzigem Wasser zu waschen.


Und also sprach ich oft mir zum Troste: „Wohlan!
Wohlauf! Altes Herz! Ein Unglück missrieth dir:
geniesse diess als dein — Glück!“


Diess aber ist meine andre Menschen-Klugheit:
ich schone die Eitlen mehr als die Stolzen.


Ist nicht verletzte Eitelkeit die Mutter aller Trauer¬
spiele? Wo aber Stolz verletzt wird, da wächst wohl
etwas Besseres noch, als Stolz ist.


Damit das Leben gut anzuschaun sei, muss sein
Spiel gut gespielt werden: dazu aber bedarf es guter
Schauspieler.


Gute Schauspieler fand ich alle Eitlen: sie spielen
und wollen, dass ihnen gern zugeschaut werde, — all
ihr Geist ist bei diesem Willen.


Sie führen sich auf, sie erfinden sich; in ihrer
Nähe liebe ich's, dem Leben zuzuschaun, — es heilt
von der Schwermuth.


Darum schone ich die Eitlen, weil sie mir Ärzte
sind meiner Schwermuth und mich am Menschen fest
halten als an einem Schauspiele.


[94]

Und dann: wer ermisst am Eitlen die ganze Tiefe
seiner Bescheidenheit! Ich bin ihm gut und mitleidig
ob seiner Bescheidenheit.


Von euch will er seinen Glauben an sich lernen;
er nährt sich an euren Blicken, er frisst das Lob aus
euren Händen.


Euren Lügen glaubt er noch, wenn ihr gut über
ihn lügt: denn im Tiefsten seufzt sein Herz: „was
bin ich!“


Und wenn das die rechte Tugend ist, die nicht
um sich selber weiss: nun, der Eitle weiss nicht um
seine Bescheidenheit! —


Das ist aber meine dritte Menschen-Klugheit, dass
ich mir den Anblick der Bösen nicht verleiden lasse
durch eure Furchtsamkeit.


Ich bin selig, die Wunder zu sehn, welche heisse
Sonne ausbrütet: Tiger und Palmen und Klapper¬
schlangen.


Auch unter Menschen giebt es schöne Brut heisser
Sonne und viel Wunderwürdiges an den Bösen.


Zwar, wie eure Weisesten mir nicht gar so weise
erschienen: so fand ich auch der Menschen Bosheit
unter ihrem Rufe.


Und oft fragte ich mit Kopfschütteln: Warum
noch klappern, ihr Klapperschlangen?


Wahrlich, es giebt auch für das Böse noch eine
Zukunft! Und der heisseste Süden ist noch nicht
entdeckt für den Menschen.


Wie Manches heisst jetzt schon ärgste Bosheit, was
doch nur zwölf Schuhe breit und drei Monate lang ist!
Einst aber werden grössere Drachen zur Welt kommen.


[95]

Denn dass dem Übermenschen sein Drache nicht
fehle, der Über-Drache, der seiner würdig ist: dazu
muss viel heisse Sonne noch auf feuchten Urwald
glühen!


Aus euren Wildkatzen müssen erst Tiger geworden
sein und aus euren Giftkröten Krokodile: denn der
gute Jäger soll eine gute Jagd haben!


Und wahrlich, ihr Guten und Gerechten! An
euch ist Viel zum Lachen und zumal eure Furcht vor
dem, was bisher „Teufel“ hiess!


So fremd seid ihr dem Grossen mit eurer Seele,
dass euch der Übermensch furchtbar sein würde in
seiner Güte!


Und ihr Weisen und Wissenden, ihr würdet vor
dem Sonnenbrande der Weisheit flüchten, in dem der
Übermensch mit Lust seine Nacktheit badet!


Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge be¬
gegnete! das ist mein Zweifel an euch und mein heim¬
liches Lachen: ich rathe, ihr würdet meinen Über¬
menschen — Teufel heissen!


Ach, ich ward dieser Höchsten und Besten müde:
aus ihrer „Höhe“ verlangte mich hinauf, hinaus, hin¬
weg zu dem Übermenschen!


Ein Grausen überfiel mich, als ich diese Besten
nackend sah: da wuchsen mir die Flügel, fortzu¬
schweben in ferne Zukünfte.


In fernere Zukünfte, in südlichere Süden, als je
ein Bildner träumte: dorthin, wo Götter sich aller
Kleider schämen!


[96]

Aber verkleidet will ich euch sehn, ihr Nächsten
und Mitmenschen, und gut geputzt, und eitel, und
würdig, als „die Guten und Gerechten,“ —


Und verkleidet will ich selber unter euch sitzen,
— dass ich euch und mich verkenne: das ist nämlich
meine letzte Menschen-Klugheit.


Also sprach Zarathustra.

[97]

Die stillste Stunde.


Was geschah mir, meine Freunde? Ihr seht mich
verstört, fortgetrieben, unwillig-folgsam, bereit zu
gehen — ach, von euch fortzugehen!


Ja, noch Ein Mal muss Zarathustra in seine Ein¬
samkeit: aber unlustig geht diessmal der Bär zurück
in seine Höhle!


Was geschah mir? Wer gebeut diess? — Ach,
meine zornige Herrin will es so, sie sprach zu mir:
nannte ich je euch schon ihren Namen?


Gestern gen Abend sprach zu mir meine stillste
Stunde
: das ist der Name meiner furchtbaren Herrin.


Und so geschah's,— denn Alles muss ich euch sagen,
dass euer Herz sich nicht verhärte gegen den plötzlich
Scheidenden!


Kennt ihr den Schrecken des Einschlafenden? —
Bis in die Zehen hinein erschrickt er darob, dass
ihm der Boden weicht und der Traum beginnt.


Dieses sage ich euch zum Gleichniss. Gestern,
zur stillsten Stunde, wich mir der Boden: der Traum
begann.


7[98]

Der Zeiger rückte, die Uhr meines Lebens holte
Athem —, nie hörte ich solche Stille um mich: also
dass mein Herz erschrak.


Dann sprach es ohne Stimme zu mir: „Du weisst
es
, Zarathustra?“ —


Und ich schrie vor Schrecken bei diesem Flüstern,
und das Blut wich aus meinem Gesichte: aber ich
schwieg.


Dann sprach es abermals ohne Stimme zu mir:
„Du weisst es, Zarathustra, aber du redest es nicht!“ —


Und ich antwortete endlich gleich einem Trotzigen:
„Ja, ich weiss es, aber ich will es nicht reden!“


Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: „Du
willst nicht, Zarathustra? Ist diess auch wahr? Ver¬
stecke dich nicht in deinen Trotz!“ —


Und ich weinte und zitterte wie ein Kind und
sprach: „Ach, ich wollte schon, aber wie kann ich
es! Erlass mir diess nur! Es ist über meine Kraft!“


Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: „Was
liegt an dir, Zarathustra! Sprich dein Wort und
zerbrich!“ —


Und ich antwortete: „Ach, ist es mein Wort?
Wer bin ich? Ich warte des Würdigeren; ich bin
nicht werth, an ihm auch nur zu zerbrechen.“


Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: „Was
liegt an dir? Du bist mir noch nicht demüthig genug.
Die Demuth hat das härteste Fell.“ —


Und ich antwortete: „Was trug nicht schon das
Fell meiner Demuth! Am Fusse wohne ich meiner
Höhe: wie hoch meine Gipfel sind? Niemand sagte
es mir noch. Aber gut kenne ich meine Thäler.“

[99]

Da ſprach es wieder ohne Stimme zu mir: „Oh
Zarathustra, wer Berge zu versetzen hat, der versetzt
auch Thäler und Niederungen.“ —


Und ich antwortete: „Noch versetzte mein Wort
keine Berge, und was ich redete, erreichte die Menschen
nicht. Ich gieng wohl zu den Menschen, aber noch
langte ich nicht bei ihnen an.“


Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: „Was
weisst du davon! Der Thau fällt auf das Gras, wenn
die Nacht am verschwiegensten ist.“ —


Und ich antwortete: „sie verspotteten mich, als
ich meinen eigenen Weg fand und gieng; und in
Wahrheit zitterten damals meine Füsse.


Und so sprachen sie zu mir: du verlerntest den
Weg, nun verlernst du auch das Gehen!“


Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: „Was
liegt an ihrem Spotte! Du bist Einer, der das Gehorchen
verlernt hat: nun sollst du befehlen!


Weisst du nicht, wer Allen am nöthigsten thut?
Der Grosses befiehlt.


Grosses vollführen ist schwer: aber das Schwerere
ist, Grosses befehlen.


Das ist dein Unverzeihlichstes: du hast die Macht,
und du willst nicht herrschen.“ —


Und ich antwortete: „Mir fehlt des Löwen
Stimme zu allem Befehlen.“


Da sprach es wieder wie ein Flüstern zu mir:
„Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm
bringen. Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen,
lenken die Welt.


7*[100]

Oh Zarathustra, du sollst gehen als ein Schatten
dessen, was kommen muss: so wirst du befehlen und
befehlend vorangehen.“ —


Und ich antwortete: „Ich schäme mich.“


Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: „Du
musst noch Kind werden und ohne Scham.


Der Stolz der Jugend ist noch auf dir, spät bist
du jung geworden: aber wer zum Kinde werden will,
muss auch noch seine Jugend überwinden.“ —


Und ich besann mich lange und zitterte. End¬
lich aber sagte ich, was ich zuerst sagte: „Ich will
nicht.“


Da geschah ein Lachen um mich. Wehe, wie diess
Lachen mir die Eingeweide zerriss und das Herz auf¬
schlitzte!


Und es sprach zum letzten Male zu mir: „Oh
Zarathustra, deine Früchte sind reif, aber du bist nicht
reif für deine Früchte!


So musst du wieder in die Einsamkeit: denn du
sollst noch mürbe werden.“ —


Und wieder lachte es und floh: dann wurde es
stille um mich wie mit einer zwiefachen Stille. Ich
aber lag am Boden, und der Schweiss floss mir von
den Gliedern.


— Nun hörtet ihr Alles, und warum ich in meine
Einsamkeit zurück muss. Nichts verschwieg ich euch,
meine Freunde.


Aber auch diess hörtet ihr von mir, wer immer
noch aller Menschen Verschwiegenster ist — und es
sein will!


[101]

Ach meine Freunde! Ich hätte euch noch Etwas
zu sagen, ich hätte euch noch Etwas zu geben!
Warum gebe ich es nicht? Bin ich denn geizig?“ —


Als Zarathustra aber diese Worte gesprochen
hatte, überfiel ihn die Gewalt des Schmerzes und
die Nähe des Abschieds von seinen Freunden, also
dass er laut weinte; und Niemand wusste ihn zu
trösten. Des Nachts aber gieng er allein fort und
verliess seine Freunde.


[[102]][103]

INHALT.

  • Das Kind mit dem Spiegel  1
  • Auf den glückseligen Inseln  5
  • Von den Mitleidigen  9
  • Von den Priestern  13
  • Von den Tugendhaften  17
  • Vom Gesindel  22
  • Von den Taranteln  26
  • Von den berühmten Weisen  31
  • Das Nachtlied  35
  • Das Tanzlied  38
  • Das Grablied  42
  • Von der Selbst-Ueberwindung  47
  • Von den Erhabenen  52
  • Vom Lande der Bildung  56
  • Von der unbefleckten Erkenntniss  60
  • Von den Gelehrten  65
  • Von den Dichtern  68
  • Von grossen Ereignissen  73
  • Der Wahrsager  79
  • Von der Erlösung  85
  • Von der Menschen-Klugheit  92
  • Die stillste Stunde  97
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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Also sprach Zarathustra. Also sprach Zarathustra. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnwn.0