[]
Ueber
die neuere

Deutſche Litteratur.

[figure]

Erſte Sammlung
von Fragmenten.


Eine Beilage zu den Briefen, die neueſte
Litteratur betreffend.


1767.

[][]

Jnhalt der erſten Sammlung.


  • I.Einleitung: die von einem allgemeinen Gemaͤl-
    de der Deutſchen Litteratur traͤumt, und nach die-
    ſem Traume, die allgemeine Deutſche Bibliothek,
    die Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und die
    Briefe uͤber die neueſte Litteratur zu pruͤfen ver-
    ſucht.  S. 3.
  • II. Fragmente von Abhandlungen:
    • 1. Die Sprache iſt ein großer Theil der Litteratur:
      Allgemeines Projekt fuͤr einen Philoſophen uͤber
      die Deutſche Sprache.  19
    • 2. Ueber die verſchiednen Lebensalter einer Spra-
      che: von ihrem Poetiſchen, Proſaiſchen und Phi-
      loſophiſchen Zeitpunkte, von denen jener dem
      hoͤchſten Punkte der Schoͤnheit, der lezte der
      Stufe der Vollkommenheit ſich naͤhert: der
      mittlere das Alter der Behaglichkeit iſt.  23
    • 3. Hiedurch bekommen viele Urtheile uͤber den Zu-
      ſtand der Sprache eine andere Richtung: Probe
      an zween Klopſtockiſchen.  33
    • 4. Und noch mehr die Plane zur Verbeſſerung ei-
      ner Sprache.  38
    • 5. Ueber die Philoſophiſchen Sprachenverbeſſerer:
      inſonderheit uͤber die Sulzerſchen Vorſchlaͤge
      in dieſer Art.  40
    • 6. Jſt es gut, daß eine Sprache ihre Jdiotismen
      verliert? gut fuͤr die Nation? fuͤr den Sprach-
      weiſen? fuͤr die Schriftſteller? Was die Gott-
      ſchedianer, Schweizer, und neuere Virtuoſen der
      Deutſchen Sprache fuͤr Geſtalt gegeben?   44
    • 7. Parallele zwiſchen einer richtigen und reichen
      Sprache; in Vergleichung der Morgenlaͤndiſchen
      mit der unſrigen. Pruͤfung der Cramerſchen
      Pſalmen in Abſicht der Deutſchen-Morgenlaͤn-
      diſchen Wiederholungen.  53
    • 8. Ueber die Aeſthetiſchen Sprachenverbeſſerer, die
      Ueberſezzungen anpreiſen. Was koͤnnen wir aus
      dem Poetiſchen, Zeitalter der Griechen fuͤr unſre.
      Spra-
      []
      Sprache nuzzen? die Sylbenmaaße? die Lenkung
      des Perioden? die Jnverſionen? — Alles aus
      dem Geiſt des Zeitalters betrachtet: uͤber die
      Ueberſezzung Homers und Orpheus fuͤr unſre
      Sprache.  S. 62
      9. Ueber die Ueberſezzungen der Griechiſchen Proſe,
      fuͤr unſern Hiſtoriſchen und Dialogenſtil.   74
    • 10. Ueber die Ueberſezzungen aus dem Lateiniſchen:
      fuͤr den Poetiſchen und hiſtoriſchen Ausdruck, nach
      dem Genie der Sprache und Schriftſteller.   81
    • 11. Von neuern Sprachen: die Rauhigkeit der
      Deutſchen Sprache wird durch Doppellauter und
      inſonderheit Hauche gemildert. Geſchichte der Aſpi-
      rationen in verſchiednen Sprachen. Von der Deut-
      ſchen und Franzoͤſiſchen Ordnung der Worte.   87
    • 12. Allgemeine Ausſicht uͤber die Jnverſionen uͤber-
      haupt.   95
    • 13. Anwendung dieſer Ausſicht auf neuere Sprachen,
      die Deutſche und Franzoͤſiſche vornehmlich.   101
    • 14. Ueber den Deutſchen Hexameter, nach der Pro-
      ſodie und dem Genie unſrer Sprache.   108
    • 15. Vorſchlaͤge uͤber das Klopſtockiſche freie Syl-
      benmaas, fuͤr die Dithyrainben, Oden, Lyriſchen
      Gemaͤlde, Kantaten, das Theater und die De-
      klamation.   126
    • 16. Was haben wir von den Franzoſen zu lernen,
      um unſre langweilige oder dunkele Schreibart
      auszubeſſern? Koͤnnen ſie das Laͤcherliche beſ-
      ſer, als wir, ausdruͤcken?   132
    • 17. Klagen, daß wir ſo wenigen Vortheil von den
      Englaͤndern ziehen.   141
    • 18. Charakter unſerer Claßiſchen Schriftſteller:
      Winkelmanns, Hagedorns, Moſers, Abbts
      mit Zimmermann, Spaldings mit Acken ver-
      glichen, des Moſes, Leßings und des Verfaſ-
      ſers der Sokratiſchen Denkwuͤrdigkeiten.
        144
  • III.Beſchluß: von der Jdealſchoͤnheit unſrer Spra-
    che.   162


[[1]]

Ueber
die neuere deutſche
Litteratur.



[[2]][[3]]

Einleitung


(Die einen Traum von einem allgemeinen Ge-
maͤlde der deutſchen Litteratur enthaͤlt, und An-
laß gibt, die allgemeine deutſche Bibliothek, die
Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, und die
Litteraturbriefe zu pruͤfen.)



So ſehr die Schriftſteller der Journaͤle
ſich uͤber ihre Leſer erheben: ſo ſind
ſie doch beide mit einander Zwillinge eines
Schickſals. Beide jagt die liebe Goͤttin
Langeweile, die Mutter ſo vieler Menſchen
und menſchlichen Werke, in die Arme der
Muſen; beide fliehen aus Eckel uͤber Ar-
beit oder Muße, uͤber politiſche Neuig-
keiten und Schriftſtellerey, in den Schoos
der Goͤttin Critik, um ſich hier durch einen
wachenden Schlummer zu zerſtreuen und
zugleich auch zu ſammlen. Man wird ein
Verfaſſer, oder ein Leſer der Journaͤle, um
die Ruhe und Geduld zu erlangen, die einem
verwundeten Sohne des Mars oder der
Pallas ſehr eifrig zu empfehlen iſt*. Die
A 2Lit-
[4] Litteraturbriefe waren im Anfange ein
Zeitvertreib eines kranken Officiers, nach-
her des kranken Publikums, und oft auch
kranker und ermuͤdeter Verfaſſer, die vom
Buͤcherleſen muͤde, und aus dem Felde
des Autorruhms ſiech zuruͤckkamen.


Daher iſt auch unſre Zeit um ſo viel
reicher an Journaͤlen, als ſie an Original-
werken arm wird. Der junge Schrift-
ſteller nimmt alten Richtern das Brot vor
dem Munde weg, weil er glaubt, urtheilen
zu koͤnnen, ohne denken zu doͤrfen; Arbei-
ten ſchaͤzzen zu koͤnnen, ohne ſelbſt ein
Meiſter zu ſeyn. Der Leſer wiederum
lieſet Advokatenberichte, um nicht ſelbſt
richten zu duͤrfen; Auszuͤge und Critiken,
um keine Buͤcher durchzuſtudiren. Je
mehr Buͤcher, ſagt Rouſſeau, deſto weni-
ger Weisheit; je mehr Ehebruch, deſto
weniger Kinder: je mehr Journaͤle, deſto
minder wahre Gelehrſamkeit. Man laͤuft
auf die Maͤrkte, Neuigkeiten zu hoͤren:
der Kunſtrichter als ein Proſelyt der Ge-
rechtigkeit; der Leſer als ein Proſelyt des
Thors; und der wahren Buͤrger ſind ſo
we-
[5] wenig, daß man auch ſelbſt ſchon zu den
Neuigkeiten Fremde braucht.


Jndeſſen denke ich mir ein Journal,
das mehr als Briefe, Auszuͤge und Urtheile
zum Zeitvertreibe enthielte: ein Werk,
das ſich den Plan vorzeichnete zu einem
ganzen und vollendeten Gemaͤlde uͤber die
Litteratur, wo kein Zug ohne Bedeutung
auf das Ganze waͤre, er mag ſich im
Schatten verbergen, oder aus Licht her-
vortreten: zu einem Gemaͤlde, das die
Natur des Titian, mit der Grazie des
Correggio und der bedeutungsvollen Jdea
des Raphaels zu verbinden ſuchte: kurz!
ein Werk, das eine pragmatiſche Geſchichte
im gelehrten Staat wuͤrde, ſo wie die
Annales des Tacitus im politiſchen Staat
dieſen hohen Namen verdienen.


Man laſſe mich meinen Traum verfol-
gen! Dieſem allgemeinen und einzigen
Werke muͤſte eine Geſchichte der Littera-
tur
zum Grunde liegen, auf die es ſich
ſtuͤzzte. Auf welcher Stuffe befindet ſich
dieſe Nation? und zu welcher koͤnnte und
ſollte ſie kommen? Was ſind ihre Talente,
A 3und
[6] und wie iſt ihr Geſchmack? Wie ihr aͤuſ-
ſerer Zuſtand in den Wiſſenſchaften und
Kuͤnſten? Warum ſind ſie bisher noch
nicht hoͤher gekommen, und wodurch koͤnn-
te ihr Geiſt zum Aufſchwunge Freiheit und
Begeiſterung erhalten? Alsdenn ruffe
der Geſchichtſchreiber der Litteratur aus:
„Wohlan! Landesleute, dieſe Bahn lau-
fet, und jene Abwege und Steine vermei-
det: ſo weit habt ihr noch, um hierinn
den Kranz des Zieles zu erreichen!„ Man
ſtelle ihnen die Alten als Vorlaͤufer, die
Nachbarn als Nebenbuhler vor, und ſu-
che die Triebfeder des Nationalſtolzes ſo
rege zu machen, als man das National-
genie unterſucht hat. Kurz! eine ſolche
Geſchichte ſuche das, was ſie bey den Al-
ten war, zu werden: die Stimme der
patriotiſchen Weisheit und die Verbeſſe-
rin des Volks. Sie ſuche das in der Lit-
teratur zu ſeyn, was der Schaͤzzer der eng-
liſchen Sitten und Grundſaͤzze, der re-
publikaniſche Browne, fuͤr den Staat war:
eine Stimme patriotiſcher Weisheit, die
Verbeſſerin ſeines Vaterlandes.


Jetzt
[7]

Jetzt mache ich den Riß zu dem Ge-
baͤude auf dieſe Grundlage: wiefern wird
durch jede merkwuͤrdige Frucht des Gei-
ſtes ein neuer Stein und Pfeiler dazu ge-
bracht werden? wie jener ungluͤcklich ge-
bauet; dieſer das gutgebauete ungluͤcklich
niedergeriſſen? wie jener Handlanger ein
Baumeiſter, und dieſer Baumeiſter ein
Kalkloͤſcher ſeyn ſollte? wie viel unerkann-
tes Verdienſt jener ſtille Fleißige habe,
wie viel Aufmunterung dieſes Genie ver-
diene, um nicht im Fleiße zu erſticken;
wie viel Schaden jener Laͤrmer dem Gan-
zen zugefuͤget, und wie er auf beſſere We-
ge zu lenken ſey? Dies alles zeige ein
Kunſtrichter im Plan, der Gelehrte uͤbe
es aus, und der Pfleger der Wiſſenſchaf-
ten halte jene zur Ausuͤbung an, befoͤrdere
den Fleiß, und erwecke das Genie.


Wo iſt nun ein hundertaͤugiger Argos,
um dies alles zu uͤberſehen? Wo ein Bria-
reus mit hundert Haͤnden, um es auszu-
fuͤhren? Und wo ein Geſezzgeber, wider
den auch die eigenſinnigen Genies, die
Ziegenbaͤrtigen Grammatiker, und der
A 4Poͤ-
[8] Poͤbel von Ueberſezzern und Syſtemſchrei-
bern keine Widerrede haͤtte? Wir arbei-
ten in Deutſchland wie in jener Verwir-
rung Babels; Secten im Geſchmack, Par-
theien in der Dichtkunſt, Schulen in der
Weltweisheit ſtreiten gegeneinander: kei-
ne Hauptſtadt, und kein allgemeines Jn-
tereſſe: kein großer allgemeiner Befoͤrde-
rer und allgemeines geſezzgeberiſches Ge-
nie. Wenn im Homer die Verſammlung
der Griechen erſcheint: ſo bebt vom Ge-
murmel die Erde, und neun ſchreiende
Herolde laufen mit Staͤben umher, ſie zu
baͤndigen, daß ſie die Goͤtterſoͤhne, die Koͤ-
nige, hoͤren ſollen.


Da dies Werk fuͤr einen nicht iſt; ſo
theile man die Arbeit, oder den Plan.
Den Plan? Dies gienge nicht ſo fuͤglich
an. Ein großer Theil der Wiſſenſchaften
macht einen Koͤrper, wo man kein einzel-
nes Glied nach bloßem Gutduͤnken pfle-
gen kann, ohne dem Ganzen zu ſchaden:
und dieſer Theil traͤgt den Namen Litte-
ratur.
Ein weiter Name, deſſen Gebiet
ſich von den erſten Buchſtabierverſuchen
er-
[9] erſtreckt, bis auf die ſchoͤnſte Blumenleſe
der Dichtkunſt: von der Zuͤchtigung elen-
der Ueberſezzer nach der Grammatik und
dem Woͤrterbuch bis zu den tiefſten Be-
merkungen uͤber die Sprache: von der
Tropologie bis zu den Hoͤhen, die nur das
Sonnenpferd der Einbildungskraft auf
Fluͤgeln der Aurore erreicht: von den
Handwerksſyſtemen bis zu den Jdeen des
Plato und Leibniz, deren jede, wie ein
Sonnenſtral, ſiebenfarbichtes Licht ent-
haͤlt: Sprache, Geſchmackswiſſenſchaf-
ten,
Geſchichte und Weltweisheit ſind
die vier Laͤndereien der Litteratur, die ge-
meinſchaftlich ſich zur Staͤrke dienen, und
beinahe unzertrennlich ſind.


So theile man alsdenn die Arbeit? —
Nur theile man ſie recht, lenke ſie recht
zuſammen, und habe ſtets das Ganze im
Auge. Ein wahrer Kunſtrichter in ſol-
chem Journal muß nicht Buͤcher, ſondern
den Geiſt beurtheilen, ſie mit ihren Schwaͤ-
chen und Groͤßen gegen einander abwaͤgen,
und nicht ihr Syſtem ſondern ihr Urbild
verbeſſern. So lange man nicht Jdeen
A 5in
[10] in ihre Quelle zuruͤckzulenken weiß, in den
Sinn des Schriftſtellers: ſo ſchreibt man
hoͤchſtens wider ihn, und erregt — wenn
er ſich nicht in unſre Stelle zu ſezzen weiß —
ſtatt Ueberzeugung, Widerſpruch. Wie
ſchwer iſts, Proben zu Grundſaͤzzen zuruͤck-
zufuͤhren, und Verſuche zu Meiſterſtuͤcken
zu erheben; beſtaͤndig mit und ſtatt ſeines
Autors denken zu koͤnnen, ſtatt ſeiner zu
arbeiten, und das Ganze nicht aus der
Acht zu laſſen: wie ſchwer iſts, ſich und
ſeinem Schriftſteller, und dem Leſer und
der Schutzgoͤttin Litteratur ein Gnuͤge zu
thun? ſo ſchwer, daß mein Plan lange
ein Traum meiner Phantaſie bleiben wird.



Drey Werke ſind es, die mit dieſem
Grundriß eine Aehnlichkeit haben, und
die ich alſo darnach beurtheilen darf. Jſt
mein Jdeal eigenſinnig ſo zeichne ich,
wie es der Geſtalt und Schwaͤche meiner
Augen erſcheint. Sie erheben ſich uͤber
die uͤbrigen Journaͤle ſo ſehr, als nach
Virgils Gleichniß Rom uͤber die Schaͤfer-
huͤt-
[11] huͤtten und die Cypreſſen uͤber das Ge-
ſtraͤuch. Jndeſſen kann man doch auch
uͤber Rom urtheilen.


Die deutſche Bibliothek hat einen zu
weiten Plan, um allgemein zu ſeyn. Da
ſie ſich uͤber die erſt gezeichneten Graͤnzen
der Litteratur auch den ſogenannten hoͤhern
Wiſſenſchaften mittheilet: ſo muß ſie die
hoͤhern Handwerks- und Kunſtwerke nur
in einem philologiſchen Geſichtspunkte zei-
gen, der dem gemeinen Leſer zwar bequem,
aber dem Liebhaber dieſes Feldes viel zu
entfernt iſt. Entweder man befriedigt
alſo den leztern nicht, der ſie im ganzen
Licht erblicken will: oder man hat dem
groͤſten Theil der fremden Leſer die Fra-
ge vorzulegen: Verſteheſt du auch, was du
lieſeſt? Entweder man thut den Verfaſ-
ſern nicht gnug; oder fodert vom exote-
riſchen Leſer ein Pythagoraͤiſches αυτος
εφα, oder das Sokratiſche Urtheil, das er
uͤber Heraklits Schriften faͤllte: „auch,
was ich nicht verſtehe, iſt gut.„ Jch
koͤnnte aus jedem Theil ſolche Schriften
anfuͤhren, die oft blos aus einem Neben-
ge-
[12] geſichtspunkt betrachtet ſind, ja von de-
nen man gar nur ein allgemeines, und
einſeitiges Urtheil faͤllen konnte; weil es in
einer allgemeinen Bibliothek ſtehen ſollte.
Auf die Art bildet man unvollkommene
Polyhiſtors, aber keine Panſophen der
Litteratur: das Werk wird ungleich,
und mangelhaft: ex omnibus aliquid, ex
toto nihil.
Man ſieht es jedem Recen-
ſenten an, daß er uns mehr ſagen konnte;
allein um des Allgemeinen willen muſte
er ſich in der Gottesgelahrtheit auf Tole-
ranzpredigten, in der Arznei- und Rechts-
lehre
auf die Graͤnzen dieſer Wiſſenſchaf-
ten, und in der Aeſthetik auf Auszuͤge
einſchraͤnken.


Gewiß! Recenſionen allein, machen
noch keine allgemeine Bibliothek aus;
Vergleichungen und Ausſichten, Beob-
achtungen uͤber Fehler und Tugenden, dieſe
karakteriſiren den hohen kritiſchen Geiſt,
der zum Bibliothekar einer Nation gehoͤrt.
Das ganze Bild der himmliſchen Goͤttin
lebte ſtets in der Seele des Zev[x]es, da er
von ſeinen irrdiſchen Goͤttinnen Reize
borg-
[13] borgte. Was in jeder Schrift neu iſt,
und wozu Pfade eroͤfnet werden; fuͤr wel-
che Claſſe von Leſern jenes und dieſes Werk
iſt; was man wegzuwerfen und auszubeſ-
ſern habe, um den Bau des Ganzen zu
befoͤrdern — dies heißt eine allgemeine
Bibliothek. Und von dieſem doͤrfte man
bisher nicht eben viel neues in dem gedach-
ten Werk wahrgenommen haben.


Bloße Auszuͤge, mit einem fluͤchtigen
Urtheil uͤber einzelne Saͤzze; Auszuͤge, die
gegeneinander nicht immer Ebenmaas ha-
ben; Auszuͤge nach Geſezzen und Sazzun-
gen, nicht nach dem Genie des Verfaſſers,
und der Wichtigkeit der Sache; ſind eine
encykliſche Gelehrſamkeit, einer Spiral-
linie gleich, die um ihren Mittelpunkt laͤuft,
um ihn ſpaͤt zu erreichen.— Jch ſehe ſelbſt
die Schwuͤrigkeiten ein, die dieſen ſchoͤnen
Plan, im Lehnſtul ausgeheckt, ſchwer gnug
machen, allein unmoͤglich iſt er nicht fuͤr ei-
nen Ort, wie Berlin, fuͤr einen Verleger,
wie Nicolai iſt, und fuͤr Verfaſſer, wie die
meiſten bey der Bibliothek ſind.



Die
[14]

Die Briefe uͤber die N. Litteratur ha-
ben kein Lehrgebaͤude liefern wollen, doch
aber nennen ſie es ein Gemaͤlde der Litte-
ratur
* in den lezten Jahren. Vielleicht
koͤnnte man die Briefe uͤber den jetzigen
Zuſtand der ſchoͤnen Wiſſenſchaften
**
in Deutſchland fuͤr ihre Grundlage anſe-
hen; allein auch dieſe reden blos von
Stuͤckwerken von Betrachtungen, wie ich
von Fragmenten: und als Gebaͤude
wollen ſie alſo ihr Werk nicht beurthei-
len laſſen.


Man dankt es alſo den Verfaſſern,
daß ſie manchmal ihre Lieblingswendun-
gen ergreifen, um von einer Sache uͤber-
haupt zu ſchwazzen: Briefeingaͤnge, Praͤ-
ludien und Epiſoden, die mehr werth ſind,
als ganze Critiken.


Warum iſts nicht oͤfter geſchehen, daß
ſie die Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaf-
ten zur Baſis ihrer Briefe gemacht, wie
ſie es verſprachen. Oft wenn dieſe, ihres
Namens Bibliothek eingedenk, Auszuͤge
von
[15] von Buͤchern lieferte, die ich mir ſelbſt ma-
chen konnte und mußte, waͤre ein freies
Urtheil im Geſchmack der Litteraturbriefe
willkommen geweſen. Vielleicht waͤren
oft beider Urtheile verſchiedner gefallen,
wenn ſie ſich mehr bemerkt haͤtten: indeſ-
ſen bleiben beide Werke die Pendanten zu
einander, die manche Nachbarn nicht auf-
zuzeigen haben.


Die Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaf-
ten iſt in ihren Nachrichten von den Aus-
laͤndern uns voͤllig und noch mehr als ein
Journal étranger; daher ich bey dieſen
Nachrichten zu leſen anfange und alsdenn
die Bibliothek auf gut alt βουστρεφοδον zu-
ruͤckpfluͤge. Allein, wenn man dieſe fremde
Nachrichten mehr in Auszuͤge ausbreitete,
inſonderheit von Buͤchern die oft ſelbſt ei-
ne kleine Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften ſind? Wenn man einlaͤndiſche
Auszuͤge oft verkuͤrzte, von Buͤchern, die
man ſelbſt leſen muß? Wenn man bei die-
ſen ſich vorzuͤglich auf Urtheile, Beobach-
tungen und Ausſichten befliſſe? Wenn
die eignen Abhandlungen beſtaͤndig eine
nahe
[16] nahe Beziehung zum Titel des Buchs
Haͤtten? Wenn ſie oͤfters Gemaͤlde der
ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften in Laͤn-
dern und Gegenden enthielten, aͤhnliche
Schriftſteller verglichen, und einem Sul-
zer fertiges Baugeruͤſt zu ſeiner allge-
meinen Aeſthetik lieferten?
Wenn ſie an
dringender Kuͤrze und ſchoͤner Gruͤndlich-
keit den Moſesſchen, Winkelmanniſchen
und Hagedornſchen gleich kaͤmen, und in
ihrer Wahl fremder Stuͤcke genau waͤren;
wenn man die Nachrichten und Urtheile,
wie zerſtreuete Perlen in einen Halsſchmuck
ſammlen, und bei der Critik der Dichter
haͤrter ſeyn wollte — ich geſtehe es frei-
lich, daß man eher eine Reihe von Ein-
wendungen mit dem Worte Wenn ma-
chen, als dies Wenn ausbeſſern kann.


Die Litteraturbriefe haben mehr Urtheil;
allein ſchaͤzzen ſie nicht die Merkwuͤrdigkeit
gewiſſer Werke beinahe blos nach dem
Maas, wie ſie dabei Raum zum eignen
Urtheil, zur Strafe und Spekulationen fin-
den? Das Publikum war verwoͤhnt, bei
allen wichtigen Werken ihre Stimme zu
er-
[17] erwarten, und ihr Correſpondent wird doch
gewiß mit andern Journaͤlen haben buh-
len muͤſſen, um die Merkwuͤrdigkeiten alle
zu erfahren. — Jhre Philoſophie iſt
nach dem Ausſpruche Cicerons: „Philoſo-
phire! aber mit wenigem„ und dieſe Maͤſ-
ſigung hat ſie, als Leitband, vor dem Sin-
ken bewahrt. Jn deſſen faͤllt es mir ein,
daß einſt in Athen zween Kuͤnſtler ſtritten;
jener betrog die Voͤgel, und dieſer gar ſeinen
Miteiferer, der nach dem Vorhange grif,
und blos ein Gemaͤlde ertappete. Wenn
die Litteraturbriefe in ihren Urtheilen oft
einfaͤltige Leſer bei dem Naſchen zum be-
ſten haben, ſo geht dies noch hin; wenn
aber der Ordensbruder, der Philoſoph
ſelbſt, nach ihren allgemeinen Anmerkun-
gen greift und ſie verſchwinden; ſo iſts
beinahe wider die Zunftgeſezze.


Beide Werke, die ich ohngeachtet ihrer
Verſchiedenheit vergleiche, haben ſich in-
deſſen alle beide um den deutſchen Ge-
ſchmack ſehr verdient gemacht, und werden
merkwuͤrdig ſeyn, wenn gleich die Nach-
Brich-
[18] richten des einen und der homiletiſche Ei-
fer des andern nicht mehr zum Neueſten
der Litteratur
gehoͤren werden.



Jch liefere die vornehmſten Stellen der
Litteraturbriefe ausgezogen, und betrach-
tet: daher kann meine Arbeit vielleicht
fuͤr einen Realauszug aus denſelben gel-
ten. Wenn ich ihnen widerſpreche oder
beiſtimme, citire ich blos, und uͤberlaſſe
dem Leſer, der jenes Werk beſizzet, die Ci-
tationen ſelbſt aufzuſchlagen. So vermei-
de ich den Ton eines Tadlers und Lobred-
ners, und ſpreche mit einigen Verfaſſern
Pantomimiſch: wie es dort von jenem
Griechiſchen Orakel hieß: ουτε λεγει, ουτε
κρυπτει; αλλα σημαινει.



Frag-
[[19]]

Fragmente.



1.


Die Sprache iſt ein Werkzeug der Wiſſen-
ſchaften, und ein Theil derſelben: wer
uͤber die Litteratur eines Landes ſchreibt, muß
ihre Sprache auch nicht aus der Acht laſſen.


Ein Volk, das ohne poetiſche Sprache
große Dichter, ohne eine biegſame Sprache
gute Proſaiſten, ohne eine genaue Sprache
große Weiſe gehabt haͤtte, iſt ein Unding.
Wenigſtens muͤſten bei einer unausgebildeten
Sprache die Geiſter, die gebohren ſind, Hin-
derniſſe zu uͤberwinden, ſelbſt erfinden, ſie muͤſten
verwuͤſten und ſchaffen: ſchwaͤchere Nachfol-
ger aber quaͤlen ſich, ohne nachher zeigen zu
koͤnnen: das habe ich geliefert. Lernet alſo, ihr
Kunſtrichter! eure Sprache kennen: und ſucht
ſie zur Poeſie, zur Weltweisheit und zur Proſe zu
bereiten. Alsdenn ebnet ihr einen Boden, damit
er ein Gebaͤude trage. Oder noch mehr! ihr lie-
fert Werkzeuge fuͤr den Schriftſteller: fuͤr den
Dichter ſchmiedet ihr Donnerkeile; fuͤr den Red-
B 2ner
[20] ner glaͤnzet ihr ſeine Ruͤſtung; fuͤr den Welt-
weiſen ſchaͤrfet ihr die Waffen.


Sie iſt aber mehr als Werkzeug: Worte
und Jdeen ſind genau in der Weltweisheit
verwandt: wie viel haͤngt vom Ausdrucke
in der Critik der ſchoͤnen Wiſſenſchaften ab:
durch die Sprache lernen wir beſtimmt
denken, und bei beſtimmten, und lebhaften
Gedanken ſuchen wir deutliche und lebendige
Worte: unſre Waͤrterinnen, die unſre Zunge
bilden, ſind unſre erſte Lehrer der Logik.


Der Genius der Sprache iſt alſo auch
der Genius von der Litteratur einer Nation.
Die Sprache, ſagt Jſokrates, war die Be-
zaͤhmerin der alten Wilden, und man ſezze da-
zu auch die Bilderin jeder Nation in den
Wiſſenſchaften. Die Griechen, die Roͤmer,
wie arbeiteten ſie nicht in ihrer Sprache. Die
Araber, die die Grammatik das Salz der
Wiſſenſchaften benannten, hatten ſo viel Cri-
tiker, daß jener Rabbi 60 Camele mit Woͤr-
terbuͤchern bepacken konnte, wie ein arabiſcher
Schriftſteller mit arabiſcher Genauigkeit, be-
richtet.


Jhr
[21]

Jhr koͤnnt alſo die Litteratur eines Volks
ohne ihre Sprache nicht uͤberſehen, ihr koͤnnt
jene durch dieſe kennen lernen, ihr koͤnnt bei-
de durch einander ausbeſſern, denn ihre Voll-
kommenheit geht mit ziemlich gleichen Schrit-
ten fort.


Wir haben noch keinen ſprachkundigen Phi-
loſophen gehabt, der das fuͤr unſre Sprache
gethan haͤtte, was Michaelis*, in einigen
allgemeinen Exempeln der Akademie zeigte:
„daß die Sprachen einen Einfluß auf die
„Meinungen; die Meinungen auf die Spra-
„chen haͤtten, und wie eines durch das andere
„ verbeſſert werden koͤnnte.„ Folgende Auf-
gabe iſt vielleicht nicht unwuͤrdig unterſucht
und im Einzeln beſtaͤtigt zu werden.


„Wie fern hat auch die natuͤrliche Den-
„kungsart der Deutſchen einen Einfluß in
„ihre Sprache? Und die Sprache auf ihre
„Litteratur. Von ihren Elementen, ihrer
„Ausſprache und Sylbenmaas an. Wie viel
B 3„kann
[22] „kann aus der Beſchaffenheit ihrer Umſtaͤnde
„und Sprachwerkzeuge erklaͤrt werden? Wie
„fern kann ihr Reichthum und ihre Armuth
„nach den Zeugniſſen der Geſchichte von ihrer
„Denk- und Lebensart entſproſſen ſeyn? Wie-
„fern die Etymologie ihrer Woͤrter aus den
„Geſichtspunkten beſtimmt werden, die ih-
„nen mit andern Nationen gemein, oder ei-
„gen geweſen? Wiefern halten auch die
„Sprachregeln, mit den Geſezzen ihrer Denk-
„art eine Parallele? und wie koͤnnen die Jdio-
„tismen aus ihr erklaͤrt werden? Welche
„Revolutionen hat die deutſche Sprache in
„ihrem Weſentlichen erfahren muͤſſen? Und
„wie weit iſt ſie jezt fuͤr den Dichter, den
„Proſaiſten und den Weltweiſen?„ Eine große
Aufgabe! Denn das Wie fern fordert
nicht blos Exempel „daß ſo etwas ohnge-
„faͤhr ſeyn koͤnnte„ ſondern Beweiſe, Samm-
lungen von Beiſpielen, die das Allgemeine
zeigen, und philoſophiſche Beobachtungen, die
bis zu den Grundſaͤzzen heraufſteigen.


Man hat noch in der That wenig uͤber un-
ſre Sprache philoſophiret: Breitinger, Bod-
mer, Boͤdicker, Heinze, Oeſt, Klopſtock
ha-
ben
[23] ben zerriſſene Anmerkungen geliefert; und
von ſo vielen deutſchen Geſellſchaften haben
nur zwey oder drey gezeiget, daß ſie auch nur ſo
etwas zu liefern im Stande waͤren — Jch
kann verſchiedene Litteraturbriefe nennen, die
nuͤzliche Beobachtungen in dieſem Felde ge-
liefert: ich ſamle ſie, und ſchreibe meine Ein-
faͤlle dazu — weil nach dem Zuſtand unſerer
Philoſophie uͤber die deutſche Sprache, man
ſich nicht der Fuͤllſteine ſchaͤmen und noch lan-
ge nicht an ein ganzes Gebaͤude denken darf.



2.


Warum mag es doch ſo ſchwer ſeyn, uͤber
„den Urſprung der Sprachen mit einiger
„Gruͤndlichkeit zu philoſophiren? Jch weiß
„wohl, daß ſich von geſchehenen Dingen, da-
„von wir keine urkundliche Nachrichten ha-
„ben, ſelten mehr als Muthmaßungen her-
„ausbringen laſſen. Allein warum will den
„Weltweiſen auch keine Muthmaßung, keine
„Hypotheſe gluͤcken? Wenn ſie uns nicht ſa-
„gen koͤnnen, wie die Sprachen wirklich ent-
„ſtanden, warum erklaͤren ſie uns nicht we-
B 4„nig-
[24] „nigſtens, wie ſie haben entſtehen koͤnnen?
„Sollte es nicht daher kommen, weil uns die
„Sprachen ſo natuͤrlich geworden, daß wir
„nicht ohne dieſelben denken koͤnnen? So
„wenig die Augen in ihrem natuͤrlichen Zu-
„ſtande, das Werkzeug des Sehens, die Licht-
„ſtralen deutlich wahrnehmen: eben ſo we-
„nig mag vielleicht die Seele das Werkzeug
„ihrer Gedanken, die Sprache, bis auf ihren Ur-
„ſprung unterſuchen koͤnnen — Dies mag uns
„ſo lange zur Entſchuldigung dienen, bis ein
„gluͤcklicheres Genie die Entſchuldigungen un-
„noͤthig macht*. —„


Jch bin nicht dies gluͤckliche Genie, ſondern
ſezze, da ich von einer aͤhnlichen, nicht aber der-
ſelben Aufgabe ſchreiben will, dieſe Entſchuldi-
gungen zum Voraus, weil ich ihrer noͤthig habe.


Jm 13. Theil der Litt. Briefe** kommen
Bemerkungen vor, die ich gleichſam meinem
Geiſt entwandt glaubte: ſie gefielen mir aber
nicht ſo, daß ich nicht eine ſorgfaͤltigere Ent-
wikkelung, Auseinanderſezzung und Anwendung
fuͤr moͤglich gehalten haͤtte Mein Aufſazz,
wo ich dieſe Materie weitlaͤuftiger behandelt
hatte,
[25] hatte, war verlohren gegangen, und ich neh-
me alſo jene Worte zum Leitfaden, etwas uͤber
die Lebensalter einer und beſonders unſerer
Sprache zu ſagen. Hier iſt die Stelle:


„Das Genie einer Sprache iſt in ihrer Ju-
„gend nicht weiter beſtimmt, als durch die Bil-
„dung der Worte, ihre Abaͤnderungen und ih-
„re Reihen in einer gewiſſen Abhaͤngigkeit.
„Zu dem erſten Stuͤcke laͤßt ſich vermittelſt
„der Analogie, vieles dazu ſezzen: das an-
„dre Stuͤck bleibt wohl meiſt unwandelbar,
„aber der verſchiedene Gebrauch kann noch
„beſtimmt werden: und das dritte Stuͤck be-
„haͤlt zwar ſeine weſentlichen Zuͤge; aber die
„feinern Zuͤge koͤnnen noch hinzu gethan und
„veraͤndert werden, ohne daß das Geſicht zu
„einem andern Geſicht wird, als es urſpruͤng-
„lich war. — Ohne Verſuche, die mit dieſer
„Abſicht verknuͤpft ſind, kann keine rohe Spra-
„che vollkommen, kann kein Proſaiſte in der-
„ſelben vollkommen werden. Eine ausgear-
„beitete Sprache druͤckt ſchon die Namen der
„Begriffe aus, erhaͤlt Nachdruck und Reuig-
„keit durch die mannichfaltige Anordnung der
„Vorſtellungen; Deutlichkeit und Genauigkeit
B 5„durch
[26] „durch die Verſchiedenheit ihrer Beugungen;
„Kurze und Ernſt durch gut bezeichnete Ver-
„bindungen. Man gebe einem rohen Genie
„eine ganz rohe Sprache: es wird nichts
„vortrefliches hervorbringen koͤnnen, als das
„Drama, und zwar dieſes nur in ſeinen be-
„ſten Theilen. Zum Ausdruck der Leiden-
„ſchaften, zu lebhaften Bildern ſind alle Spra-
„chen in den Haͤnden eines Geniesreich. Aber
„der kaͤltere zierliche Vortrag; der ernſthafte
„hiſtoriſche Styl; die gute Verſifikation in
„der Dichtkunſt, dieſe erfordern eine ganz be-
„arbeitete Sprache. Daher erſcheinen auch
„die beſten Schriftſteller von den lezten Ar-
„ten nicht vor dieſer Periode, und wenn ſie
„in ihrer Landesſprache erſcheinen: ſo haben
„ſie dieſelbe erſt nach dem Muſter einer an-
„dern gefeilet. Die Roͤmer und Shakeſpea-
„re
und ſelbſt die griechiſche Litteratur, wenn
„wir vor Homers Zeiten etwas gewiſſers als
„Muthmaßungen von ihr wuͤſten; koͤnnen ſich
„in dieſem Punkte fuͤr mich verbuͤrgen.„


Wie fern ich mit dem Verfaſſer einerlei
Meinung bin, mag folgendes Fragment zeugen.



Von
[27]

Von den Lebensaltern einer
Sprache.



So wie der Menſch auf verſchiedenen Stuf-
fen des Alters erſcheinet: ſo veraͤndert die Zeit
alles. Das ganze Menſchengeſchlecht, ja die
todte Welt ſelbſt, jede Nation, und jede Fa-
milie haben einerlei Geſezze der Veraͤnderung:
vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum
Vortreflichen, vom Vortreflichen zum Schlech-
tern, und zum Schlechten: dieſes iſt der
Kreislauf aller Dinge. So iſts mit jeder
Kunſt und Wiſſenſchaft: ſie keimt, traͤgt Kno-
ſpen, bluͤht auf, und verbluͤhet. — So iſts
auch mit der Sprache. Daß man dies bis-
her ſo wenig als moͤglich unterſchieden, daß
man dieſe Zeitalter beſtaͤndig verwirret, wer-
den die Plane zeigen, die man ſo oft macht,
um eine Stuffe aus der andern ausbilden zu
wollen: man reifet das Kind zu fruͤh zum
Milchhaar des Juͤnglings; den muntern Juͤng-
ling feſſelt man durch den Ernſt des Mannes,
und der Greis ſoll wieder in ſeine vorige Kind-
heit zuruͤckkehren; oder gar eine Sprache ſoll
auf
[28] auf einmal die Tugenden aller Alter an ſich
haben. Verkehrte Verſuche, die ſchaͤdlich wuͤr-
den, wenn nicht die Natur mit vielen nach-
theiligen Entwuͤrfen einen Grad von Schwaͤ-
che verbunden haͤtte, der ſie zuruͤckhaͤlt. Ein
junger Greis, und ein Knabe, der ein Mann
iſt, ſind unleidlich, und ein Ungeheuer, das
alles auf einmal ſeyn will, iſt nichts ganz.


Eine Sprache in ihrer Kindheit bricht
wie ein Kind, einſylbichte, rauhe und hohe Toͤ-
ne hervor. Eine Nation in ihrem erſten wil-
den Urſprunge ſtarret, wie ein Kind, alle Ge-
genſtaͤnde an; Schrecken, Furcht und als-
denn Bewunderung ſind die Empfindungen,
derer beide allein faͤhig ſind, und die Sprache
dieſer Empfindungen ſind Toͤne, — und Ge-
berden. Zu den Toͤnen ſind ihre Werkzeuge
noch ungebraucht: folglich ſind jene hoch
und maͤchtig an Accenten; Toͤne und Geber-
den ſind Zeichen von Leidenſchaften und Em-
pfindungen, folglich ſind ſie heftig und ſtark:
ihre Sprache ſpricht fuͤr Auge und Ohr, fuͤr
Sinne und Leidenſchaften: ſie ſind groͤßerer
Leidenſchaften faͤhig, weil ihre Lebensart voll
Gefahr und Tod und Wildheit iſt: ſie ver-
ſtehen
[29] ſtehen alſo auch die Sprache des Affects mehr,
als wir, die wir dies Zeitalter nur aus ſpaͤ-
tern Berichten und Schluͤſſen kennen; denn
ſo wenig wir aus unſrer erſten Kindheit Nach-
richt durch Erinnerung haben, ſo wenig ſind
Nachrichten aus dieſer Zeit der Sprache moͤg-
lich, da man noch nicht ſprach, ſondern toͤnete;
da man noch wenig dachte, aber deſto mehr
fuͤhlte; und alſo nichts weniger als ſchrieb.


So wie ſich das Kind oder die Nation aͤn-
derte: ſo mit ihr die Sprache. Entſezzen,
Furcht und Verwunderung verſchwand all-
maͤlich, da man die Gegenſtaͤnde mehr ken-
nen lernte; man ward mit ihnen vertraut und
gab ihnen Namen, Namen, die von der Na-
tur abgezogen waren, und ihr ſo viel moͤglich
im Toͤnen nachahmten. Bei den Gegenſtaͤn-
den fuͤrs Auge muſte die Geberdung noch ſehr
zu Huͤlfe kommen, um ſich verſtaͤndlich zu ma-
chen: und ihr ganzes Woͤrterbuch war noch
ſinnlich. Jhre Sprachwerkzeuge wurden
biegſamer, und die Accente weniger ſchreyend.
Man ſang alſo, wie viele Voͤlker es noch
thun und wie es die alten Geſchichtſchreiber
durchgehends von ihren Vorfahren behaupten.
Man
[30] Man pantomimiſirte, und nahm Koͤrper und Ge-
berden zu Huͤlfe: damals war die Sprache in ih-
ren Verbindungen noch ſehr ungeordnet und
unregelmaͤßig in ihren Formen.


Das Kind erhob ſich zum Juͤnglinge: die
Wildheit ſenkte ſich zur politiſchen Ruhe: die Le-
bens- und Denkart legte ihr rauſchendes Feuer
ab: der Geſang der Sprache floß lieblich von
der Zunge herunter, wie dem Neſtor des Ho-
mers, und ſaͤuſelte in die Ohren. Man nahm
Begriffe, die nicht ſinnlich waren, in die Spra-
che; man nannte ſie aber, wie von ſelbſt zu
vermuthen iſt, mit bekannten ſinnlichen Namen;
daher muͤſſen die erſten Sprachen bildervoll,
und reich an Metaphern geweſen ſeyn.


Und dieſes jugendliche Sprachalter, war
blos das Poetiſche: man ſang im gemeinen
Leben, und der Dichter erhoͤhete nur ſeine
Accente
in einem fuͤr das Ohr gewaͤhlten
Rhythmus: die Sprache war ſinnlich, und
reich an kuͤhnen Bildern: ſie war noch ein
Ausdruck der Leidenſchaft, ſie war noch in
den Verbindungen ungefeſſelt: der Periode
fiel aus einander, wie er wollte — Seht! das
iſt die Poetiſche Sprache, der Poetiſche Perio-
de.
[31] de. Die beſte Bluͤthe der Jugend in der
Sprache war die Zeit der Dichter: jezt
ſangen die αοιδοι und ραψωδοι: da es noch
keine Schriftſteller gab, ſo verewigten ſie die
merkwuͤrdigſten Thaten durch Lieder: durch
Geſaͤnge lehrten ſie, und in den Geſaͤngen
waren nach der damaligen Zeit der Welt
Schlachten und Siege, Fabeln und Sitten-
ſpruͤche, Geſezze und Mythologie enthalten.
Daß dies bei den Griechen ſo geweſen, be-
weiſen die Buͤchertitel der aͤlteſten verlohrnen
Schriftſteller, und daß es bei jedem Volk ſo
geweſen, zeugen die aͤlteſten Nachrichten.


Je aͤlter der Juͤngling wird, je mehr ern-
ſte Weisheit und politiſche Geſeztheit ſeinen
Carakter bildet: je mehr wird er maͤnnlich,
und hoͤrt auf Juͤngling zu ſeyn. Eine Spra-
che, in ihrem maͤnnlichen Alter, iſt nicht ei-
gentlich mehr Poeſie; ſondern die ſchoͤne Proſe.
Jede hohe Stuffe neiget ſich wieder zum Ab-
fall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der
Sprache fuͤr den am meiſten poetiſchen an-
nehmen: ſo muß nach demſelben die Dicht-
kunſt ſich wieder neigen. Je mehr ſie Kunſt
wird, je mehr entfernet ſie ſich von der Na-
tur.
[32] tur. Je eingezogener und politiſcher die
Sitten werden, je weniger die Leidenſchaften
in der Welt wirken, deſto mehr verlieret ſie
an Gegenſtaͤnden. Je mehr man am Perio-
den kuͤnſtelt, je mehr die Jnverſionen ab-
ſchaffet, je mehr buͤrgerliche und abſtrakte
Woͤrter eingefuͤhret werden, je mehr Regeln
eine Sprache erhaͤlt: deſto vollkommener
wird ſie zwar, aber deſto mehr verliert die
wahre Poeſie.


Jezt ward der Periode der Proſe geboren,
und in die Runde gedrehet: durch Uebung und
Bemerkung ward dieſe Zeit, da ſie am beſten
war, das Alter der ſchoͤnen Proſe, die den
Reichthum ihrer Jugend maͤßig brauchte, die
den Eigenſinn der Jdiotismen einſchraͤnkte,
ohne ihn ganz abzuſchaffen, die die Freiheit
der Jnverſionen maͤßigte, ohne doch noch die
Feſſeln einer philoſophiſchen Conſtruction uͤber
ſich zu nehmen, die den poetiſchen Rhythmus
zum Wohlklang der Proſe herunter ſtimmte,
und die vorher freie Anordnung der Worte
mehr in die Runde eines Perioden ein-
ſchloß: — dies iſt das maͤnnliche Alter
der Sprache.


Das
[33]

Das hohe Alter weiß ſtatt Schoͤnheit
blos von Richtigkeit. Dieſe entziehet ihrem
Reichthum, wie die Lacedaͤmoniſche Diaͤt die At-
tiſche Wohlluſt verbannet. Je mehr die Gram-
matici den Jnverſionen Feſſeln anlegen; je
mehr der Weltweiſe die Synonymen zu unter-
ſcheiden, oder wegzuwerfen ſucht, je mehr er
ſtatt der uneigentlichen eigentliche Worte ein-
fuͤhren kann; je mehr verlieret die Sprache
Reize: aber auch deſto weniger wird ſie ſuͤn-
digen. Ein Fremder in Sparta ſiehet keine
Unordnungen und keine Ergoͤzzungen. Dies
iſt das Philoſophiſche Zeitalter der Sprache.



3.


Endlich kann ich Othem ſchoͤpfen, und unſ-
rer Sprache naͤher treten. Man ſiehet von
ſelbſt, daß dieſe Zeitalter ſo wenig zu einer
Zeit ſeyn koͤnnen bei der Sprache, als bei
dem Menſchen. Wenn ſie zur Poeſie am
hoͤchſten geſchickt iſt: ſo kann ſie nicht eine
hoͤchſt Philoſophiſche Sprache ſeyn. So
wie Schoͤnheit und Vollkommenheit nicht
einerlei iſt: ſo iſt auch die ſchoͤnſte und voll-
Ckommen-
[34] kommenſte Sprache nicht zu einer Zeit moͤg-
lich; die mitlere Groͤße, die ſchoͤne Proſe, iſt
unſtreitig der beſte Plaz, weil man von da
aus auf beide Seiten auslenken kann.


Hier zeigt ſich alſo der Lieblingsgedanke ſo
vieler neuen Sprachverbeſſerer in ſeinem fal-
ſchen Licht: „ſo lange eine Sprache die Mund-
art des ſinnlichen Volks war: ſo blieb ſie ein-
geſchloſſen und unvollkommen; das Denken,
Philoſophiren, die ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſ-
ſenſchaften brachten ſie zur Vollkommenheit.*
Ja zur Philoſophiſchen Vollkommenheit wohl;
aber zum Ungluͤck daß die ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften ein andres Hoͤchſtes haben: Schoͤn-
heit — und dieſer wurde durch jene entzogen.


So loͤſet ſich auch der Zweifel eines ſprach-
gelehrten Mannes hiemit leicht auf:** „Jch
„weiß nicht, ob es wahr iſt, was man in
„vielen Buͤchern wiederholet hat, daß bei al-
„len Nationen, die ſich durch die ſchoͤnen
„Wiſſenſchaften hervorgethan haben, die Poe-
„ſie eher, als die Proſe zu einer gewiſſen
„Hoͤhe
[35] „Hoͤhe geſtiegen ſey?„ Es iſt allerdings
wahr, was alle alte Schriftſteller einmuͤthig
behaupten, und was in den neuen Buͤchern
wenig angewandt iſt, daß die Poeſie, lange
vorher, ehe es Proſe gab,
zu ihrer groͤſten
Hoͤhe geſtiegen ſey, daß dieſe Proſe darauf
die Dichtkunſt verdrungen, und dieſe nie wie-
der ihre vorige Hoͤhe erreichen koͤnnen. Die
erſten Schriftſteller jeder Nation ſind Dich-
ter: die erſten Dichter unnachahmlich: zur
Zeit der ſchoͤnen Proſe wuchs in Gedichten
nichts als die Kunſt: ſie hatte ſich ſchon uͤber
die Erde erhoben und ſuchte ein Hoͤchſtes, bis
ſie ihre Kraͤfte erſchoͤpfte und im Aether der
Spitzfuͤndigkeit blieb. Jn der ſpaͤtern Zeit
hat man blos' verſificirte Philoſophie, oder
mittelmaͤßige Poeſie. Ueberhaupt bekommt
hierdurch die ganze ſchoͤne Abhandlung: wie
man den Poetiſchen Stil uͤber den Proſai-
ſchen erheben koͤnne?* durchaus eine an-
dere Wendung. Sein Grundſaz iſt: „Keine
„Nation iſt weder in der Poeſie noch in der
„Proſe vortreflich geworden, die ihre Poetiſche
„Sprache nicht ſehr merklich von der Proſai-
C 2„ſchen
[36] „ſchen unterſchieden haͤtte.„ Und nach den
Zeugniſſen der Alten, und nach einer Philoſo-
phiſchen Kaͤnntniß von der Verwandlung ei-
ner Sprache nach den Sitten heißt er ſo:
Jede Nation lieferte die vortreflichſte Meiſter-
ſtuͤcke der Poeſie, ehe ſich noch die Proſe von
jener getrennet und zu ihrer Runde ausgebil-
det hatte. Da die Sprache aus der Wild-
heit zur Politiſchen Ruhe trat, war ſie merk-
lich von der Proſaiſchen unterſchieden: die
ſtaͤrkſten Machtwoͤrter, die reichſte Frucht-
barkeit, kuͤhne Jnverſionen, einfache Parti-
ckeln, der klingendſte Rhythmus, die ſtaͤrkſte
Declamation — alles belebte ſie, um ihr ei-
nen ſinnlichen Nachdruck zu geben, um ſie zur
Poetiſchen zu erheben. Aber da die Proſe
aufkam, die zuerſt, wie Herodot, auch noch
ihren Perioden, ohne Schwung und Fuͤlle
zerfallen ließ da ſie ſich mehr zur Vollkom-
menheit
bildete, entfernte ſie ſich von der
ſinnlichen Schoͤnheit. Der Deutlichkeit we-
gen wurden die Machtwoͤrter umſchrieben,
die Synonyme ausgeſucht, beſtimmt, ausge-
muſtert, die Jdiotismen gemildert: ſo wie
das Voͤlkerrecht jezt im Staat zum Geſezz
ward:
[37] ward: ſo auch in der Sprache: man bilde-
te eine Sprache nach der andern, mit der ſie
umgieng. Es entſtand ein Adel, ein Poͤbel
und ein Mittelſtand unter den Woͤrtern, wie
er in der Geſellſchaft entſtand: die Beiwoͤrter
wurden in der Proſe Gleichniſſe, die Gleich-
niſſe Exempel: ſtatt der Sprache der Leiden-
ſchaft ward ſie eine Sprache des mittlern Wiz-
zes: und endlich des Verſtandes. So iſt Poeſie
und Proſe in ihrem Urſprunge unterſchieden.


Noch zehn Autoren haͤtte ich anzufuͤhren,
die dieſe ganz natuͤrliche Metempſychoſis der
Sprachen, uͤberall verfehlt, und nicht gnug
aus ihrem Laude in eine andere Zeit zuruͤck
zu gehen wiſſen, um von entfernten Altern
und abgelebten Sprachen zu urtheilen. Allein
alles dies gehoͤret nicht zu meinem Buch: hier
kann ich doch nicht, wie ich ſelbſt weiß, dieſe
ganze Wahrheit in ihrem voͤlligen Lichte zei-
gen, mit aller Aehnlichkeit zuſammenhalten
und gegen die Einwuͤrfe retten, die man uns
unſrer Zeit macht. — Jch rede alſo von den
Zeitaltern der Deutſchen Sprache, und verſpa-
re das uͤbrige auf eine andere Gelegenheit.



C 34. Wo
[38]

4.


Wo ſteht unſre Deutſche Sprache? Jn allen
Staaten iſt zu unſrer Zeit die Proſe die Spra-
che der Schriftſteller, und die Poeſie eine Kunſt,
die die Natur der Sprache verſchoͤnert, um
zu gefallen. Gegen die Alten und gegen die
wilden Sprachen zu rechnen, ſind die Mund-
arten Europens mehr fuͤr die Ueberlegung,
als fuͤr die Sinne und die Einbildungskraft.


Die Proſe iſt uns die einzig natuͤrliche
Sprache, und das ſeit undenklichen Zeiten ge-
weſen — nun ſollen wir dieſe Sprache aus-
bilden? Wie kann das ſeyn? Entweder zur
mehr dichteriſchen Sprache, damit der Stil
vielſeitig, ſchoͤn und lebhafter werde; oder zur
mehr Philoſophiſchen Sprache, damit er
einſeitig, richtig und deutlich werde; oder
wenn es moͤglich iſt, zu allen beiden.


Das lezte kann in einem gewiſſen Grade
geſchehen; und muß nach unſrer Zeit, Denk-
art und Nothwendigkeit auch geſchehen. Als-
denn werden wir zwar von beiden Seiten
nicht die hoͤchſte Stuffe erreichen, weil beide
Enden nicht einen Punkt ausmachen koͤnnen;
allein wir werden in der Mitte ſchweben,
und
[39] und von den ſinnlichen Sprachen durch Ue-
berſezzungen und Nachbilden borgen; andern-
theils durch Reflexionen der Weltweisheit das
geborgte haushaͤlteriſch anwenden. Wir wer-
den fuͤr neue Buͤrger Vortheile ausmachen;
und nicht dem Spartaniſchen Eigenſinn nach-
ahmen, der allen fremden Ankoͤmmlingen
und Gebraͤuchen den Eintritt verſagt; wir
werden aber auch, ſo wie die Akademie della
Cruſca, und Johnſon in ſeinem Woͤrterbuch,
die Landeskinder zaͤhlen, ordnen und gebrau-
chen, ſo daß die fremde Kolonien blos die
Maͤngel des Staats unterſtuͤzzen doͤrfen. —
Man bilde alſo unſre Sprache durch Ueber-
ſezzung und Reflexion.



Man ſehe die meiſten Vorſchlaͤge zur Bil-
dung der Sprache, und ſie fallen in ein Aeuſ-
ſerſtes, ſtatt das Mittel zu halten. Einige
entwerfen einen Plan zur Philoſophiſchen Spra-
che; andere wollen ſie allein auf die dichteri-
ſche Seite lenken. Daß, wenn beide etwas wir-
ken, beide einander die Stange halten, macht
das Gluͤck unſrer Sprachenverbeſſerung.



C 45. Unter
[40]

5.


Unter ſo vielen Philoſophiſchen Sprach-
verbeſſerern nehme ich einen, deſſen Lob ich
in den Litteraturbriefen gern unterzeichne:
Sulzer, in ſeinem beliebten Jnbegriff der
Wiſſenſchaften,
* in dem vielleicht kein Ar-
tikel aͤrmer iſt, als der uͤber die Sprache. Er
fordert zur Vollkommenheit einer Sprache


  • „1) einen hinlaͤnglichen Vorrath von Woͤrtern
    „und Redensarten, wodurch jeder Begriff
    „deutlich und beſtimmt ausgedruckt wird.„
    Nun! und wenn die Sprache einen uͤber-
    fluͤßigen
    Vorrath hat? So muß der Ue-
    berfluß fort! — Vollkommen fuͤr den Philoſo-
    phen, aber ſchlecht fuͤr den Dichter, der von
    dieſem Ueberfluß leben muß, der nicht Be-
    griffe deutlich und beſtimmt, ſondern Be-
    griffe und Empfindungen ruͤhrend und reich
    ausdruͤcken will. Wenn dieſer neue Plato
    eine Republik errichtet, wo Synonyme,
    und uneigentliche Woͤrter verbannt werden:
    lebet
    [41] lebet wohl, ihr Dichter! ihr muͤßt von ſelbſt
    Abſchied nehmen.
  • „2) Eine gnugſame Anzahl deutlicher Len-
    „kungen,„ und
  • „3) eine Biegſamkeit in der Zuſammenſez-
    „zung vieler Woͤrter in einen Sazz, damit
    „ein ganzer Gedauke richtig, beſtimmt und
    „nach Beſchaffenheit der Sache leicht und nach-
    „druͤcklich ausgedruckt werde.„ Hier ſteigt
    ſchon der Weltweiſe etwas herunter, weil er
    ſieht, daß ſeine Sprache von Menſchenkindern
    geredet werden ſoll. Wenn der Weiſe ſich
    ganz genau, ganz richtig und beſtimmt aus-
    drucken will: ſo braucht er keinen biegſamen,
    keinen leichten, keinen nachdruͤcklichen Perioden;
    die Richtigkeit iſt ſteif, die Gruͤndlichkeit veſt,
    und die Ueberzeugung ſtatt des Nachdrucks.
  • „4) Eine hinlaͤngliche Mannigfaltigkeit
    „langer und kurzer, hoher und tiefer, heller
    „und dunkler Sylben, und der daher entſte-
    „henden Fuͤße, Perioden und Versarten.„ Ei-
    ne vollkommene Sprache braucht dieſe gar
    nicht. Wenn wir blos als Geiſter einander
    Begriffe in die Seele reden: ſo fragen wir
    nicht nach hohen und tiefen Sylben: ſo we-
    C 5nig
    [42] nig als in den Buͤchern, wo dieſe Philoſophi-
    ſche Sprache allein gelten kann, die helle und
    dunkle Sylben ins Auge fallen.

Auf die Art gehe man das ganze Stuͤck von
der Sprache durch, und man findet in allen
Vorſchlaͤgen den nehmlichen Fehler, daß er
dem Schoͤnen der Sprache immer zu nahe
tritt. Ja waͤren wir ganz Geiſt: ſo ſpraͤchen
wir blos Begriffe, und Richtigkeit waͤre
das einzige Augenmerk; aber in einer ſinnli-
chen
Sprache muͤſſen uneigentliche Woͤrter,
Synonymen, Jnverſionen, Jdiotismen
ſeyn. Sein Plan, der Philoſophiſch ſeyn ſoll,
iſt alſo ein Hermaphrodit: die Philoſophiſche
Vollkommenheit erreicht er nicht, und der ſinn-
lichen Schoͤnheit thut er zu viel: als Plan,
was eine vollkommene Sprache ſeyn ſollte,
zu wenig; als Projekt, was irgend eine wirk-
liche Sprache ſeyn koͤnnte, viel zu viel: und
was die beſte Sprache waͤre, vielleicht nicht
getroffen.


Der Kunſtrichter in den Litteraturbrie-
fen
* ſtoͤßt auch auf dieſen Fehler. Sulzer
ſagt: „Es waͤre nuͤtzlich, wenn man eine all-
„gemeine
[43] „gemeine Philoſophiſche Grammatik haͤtte,
„welche Regeln gaͤbe, nach denen die Vollkom-
„menheit einer Sprache beurtheilt werden
„muͤßte; mit dieſen Regeln koͤnnten die, durch
„den Gebrauch eingefuͤhrten verglichen, und
„daraus gebeſſert, und vermehrt werden.„
Und der Recenſent ſezt dazu: „Jch weiß nicht,
„ob die ſchoͤuen Wiſſenſchaften von dieſer Ver-
„gleichung Vortheil haben wuͤrden. So wie
„die Sprachen jetzt ſind, hat eine jede, ſo zu
„ſagen, ihre Eigenſinnigkeit, die der ſchoͤne
„Geiſt vortreflich zu nutzen weiß. Er zieht
„aus dem Ueberfluͤßigen und Unregelmaͤßigen
„ſeiner Sprache oͤfters Schoͤnheiten, die eine
„richtige Philoſophiſche Sprache entbehren
„muß. Nur ein einziges Exempel anzufuͤh-
„ren: die Philoſophiſche Grammatik wuͤrde
„vermuthlich die Unterſcheidung der Geſchlech-
„ter bei lebloſen Dingen fuͤr uͤberfluͤßig er-
„klaͤren, und gleichwohl wuͤrden ſich die Fran-
„zoͤſiſchen und Deutſchen Dichter die Schoͤn-
„heiten ungern rauben laſſen, die ſie aus die-
„ſem unnoͤthigen Unterſcheide der Geſchlechter
„gezogen haben. Einige Sprachen unter-
„ſcheiden die Geſchlechter auch in der Conju-
„gation
[44] „gation der Zeitwoͤrter, welches ihren Schrif-
„ten zu einer beſondern Zierde gereicht *.„
Eine Anmerkung, die man oft in dieſem Frag-
ment wird wiederholen muͤſſen.



6.


Ueberhaupt wuͤrde dieſer weiſe Vorſchlag,
ſo wie jener andre **: „es ſollte keiner Schrift-
„ſteller werden, der nicht die Alten geleſen„
uns alle Originalſchriftſteller rauben. Jdio-
tismen ſind Patronymiſche Schoͤnheiten, und
gleichen jenen heiligen Oelbaͤumen, die riugs
um die Akademie bei Athen ihrer Schuzgoͤt-
tin Minerve geweiht waren. Jhre Frucht
dorfte
[45] dorfte nicht aus Attica kommen, und war
blos der Lohn der Sieger am Panathenaͤiſchen
Feſte. Ja da die Lacedaͤmonier einſt alles
verwuͤſteten: ſo ließ die Goͤttin es nicht zu,
daß dieſe fremde Barbaren ihre Haͤnde an die-
ſen heiligen Hain legten. Eben ſo ſind die
Jdiotismen Schoͤnheiten, die uns kein Nach-
bar durch eine Ueberſezzung entwenden kann,
und die der Schuzgoͤttin der Sprache heilig
ſind: Schoͤnheiten in das Genie der Sprache
eingewebt, die man zerſtoͤrt, wenn man ſie
austrennet: Reize, die durch die Sprache,
wie der Buſen der Phryne durch einen ſeid-
nen Nebel, durch das Waſſergewand der al-
ten Statuen, das ſich an die Haut anſchmie-
get, durchſchimmern. Wober lieben die
Britten ſo ſehr das Launiſche in ihrer Schreib-
art? Weil dieſe Laune unuͤberſezzbar und ein
heiliger Jdiotisme iſt. Warum haben Sha-
keſpear
und Hudibras: Swift und
Fielding ſich ſo ſehr das Gefuͤhl ihrer Na-
tion zu eigen gemacht? Weil ſie die Fund-
gruben ihrer Sprache durchforſchet, und ih-
ren Humour mit Jdiotismen, jeden nach
ſeiner Art und ſeinem Maas, gepaart haben.
War-
[46] Warum vertheidigen die Englaͤnder ihren
Shakeſpear, ſelbſt, wenn er ſich unter die
Concetti, und Wortſpiele verirrt — Eben die-
ſe Concetti, die er mit Wortſpielen ver-
maͤhlt, ſind Fruͤchte, die nicht in ein anderes
Clima entfuͤhrt werden koͤnnen: Der Dichter
wuſte den Eigenſinn der Sprache ſo mit dem
Eigenſinn ſeines Wizzes zu paaren, daß ſie fuͤr
einander gemacht zu ſeyn ſcheinen: hoͤchſtens
gleicht jener dem ſanften Widerſtande einer
Schoͤne, die blos aus Liebe ſproͤde thut, und
bei der ihre jungfraͤuliche Beſcheidenheit dop-
pelt reizet.


Es muß auch wirklich ſchwer ſeyn, zu die-
ſen Geheimniſſen zu gelangen; weil wir ſo
wenige Deutſche Humoriſten haben. Rab-
ner
iſt kein voͤlliger National - Swift in
Deutſchland ſo wohl in Charakteren, als der
Schreibart. Von unſern komiſchen Schrift-
ſtellern vielleicht keiner, als Leßing — dieſer
aber in einem großen Grade. Keine Par-
thei hat auch in dieſem Stuͤck, dem wahren
Genie der Deutſchen Sprache ſo ſehr geſcha-
det, als die Gottſchedianer. Waren es
nicht noch einige Schimpfwoͤrter, und poͤbel-
hafte
[47] hafte Ausdruͤcke, die man beibehielt: ſonſt
wurde alles waͤſſerich, und eben, durch eine
gedankenloſe Schreibart, und durch ſchlechte
Ueberſezzungen Franzoͤſiſcher Buͤcher. Man
entmannete ſie voͤllig, die ſchon durch den
Weiſiſchen, Talandriſchen, und Menantiſchen
Stil wenig Mannheit behalten hatte: man
machte ſo wohl die Jnverſionen, als Jdiotis-
men der Schweizer laͤcherlich, ſtatt ſie zu pruͤ-
fen: Kurz, dieſe Sekte hat ſich der Deutſchen
Sprache mit Willen der irrdiſchen, nicht aber
himmliſchen Muſe angenommen, und von
ihr gilts, was jener Griechiſche Koͤnig auf ei-
nen ſchwindſuͤchtigen und doch gefraͤßigen
Bettler ſagte:


Αμφοτερους αδικεις, τον Πλουτεα, και Φαε-
ϑοντα;
Τον μεν, ετ’ εισοροων, τον δε απολειπο-
μενος.


„Beiden thuſt du Unrecht, dem Pluto, und
„Phaeton; dieſem, daß du ihn noch anblickſt;
„jenem, daß er dich noch nicht hat.„


Man muß den Schweizern wirklich das
Recht laſſen, daß ſie den Kern der Deutſchen
Sprache mehr unter ſich erhalten haben. So
wie
[48] wie uͤberhaupt in ihrem Lande ſich die alten
Moden und Gebraͤuche laͤnger erhalten, da ſie
durch die Alpen, und den Helvetiſchen Na-
tionalſtolz von den Fremden getrennet ſind:
ſo iſt ihre Sprache auch der alten Deutſchen
Einfalt treuer geblieben. Sie haben unſtrei-
tig manches uͤbertrieben; das uͤbertriebene
wird freilich durch den Harlekin am beſten
ausgedruckt; und ausgelacht hat man ſie zur
Gnuͤge; aber ihr Gutes iſt noch zu wenig
gepruͤft. Die Gottſchedianer haben ihre
Machtwoͤrter, ihre Jnverſionen ſo ziemlich
in ihren Pasquillen geſammlet; jetzt iſt die
Hitze des Streits verflogen, nun ſollte man
nicht mehr lachen, ſondern pruͤfen. Haͤtte
der patriarchiſche Bodmer auch kein andres
Verdienſt — wie hoch hat man Ramlern
und Leßingen ihren Logau angerechnet; —
und aus den alten Schwaͤbiſchen Poeſien iſt
doch, meinem Erachten nach, wenigſtens in der
Sprache weit mehr zu lernen, als aus Logau.
Nur freilich ſollten die Schweizer auch mehr
Muͤhe ſich dabei gegeben haben, die Jdiotis-
men zu zeigen, zu pruͤfen, und kritiſch einzu-
fuͤhren. Wenn ſie auch dieſe Woͤrter verſte-
hen;
[49] hen; wer Deutſches in lateiniſchen Lettern
leſen kann, iſt ja nicht deswegen ein
Schweizer!


Jch rede von ihren Deutſchen Verdien-
ſten, denn von ihren Nachbildungen aus dem
Griechiſchen muͤſte ich vielleicht anders ur-
theilen: ich rede von ihrem Verdienſt um die
Sprache, denn von ihrer Dichterei und von
ihrer Abneigung gegen die Philoſophie, gegen
die ſie aus den Zuͤrchiſchen freimuͤthigen Nach-
richten ſo lange Zeit Calefonium-Blizze ge-
ſandt, urtheile ich jetzt nicht; und in dieſem
eingeſchraͤnkten Geſichtspunkt kann ich ſelbſt
ihre Hizze entſchuldigen, die den Gottſchedia-
nern die Stange halten muſte. Zwei Geg-
ner, die auf beiden Seiten ausſchweifen, und
beide ohne Weltweisheit ſtreiten; — da kam
zum Gluͤck eine dritte Parthei, die Baumgar-
tenſche Schule, die Soͤhne des Deutſchen
Athens, und brachten ſie beide aus einander.


Jn der Dichtkunſt Ramler, Kleiſt, und
inſonderheit Gleim; in der Proſe Leßing
und Abbt; wenn man dieſe lieſet, wie be-
dauret man nicht den Sulzerſchen Einfall,
uns keine Jdiotismen zu laſſen. Gleims
DKriegs-
[50] Kriegslieder und ſein verſificirter Philotas
inſonderheit iſt voll von dieſer Deutſchen Staͤr-
ke. — Eine fleißige Seele in Liefland hat
einen Anhang zu Friſchens Woͤrterbuch,
aus der Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften, Litteraturbriefen, Leßings, Uz

und dergleichen Schriften gemacht; aus dem
ich, weil er doch zu gut iſt, um in einem
Winkel ohne Anwendung zu vermodern, wenn
er vollendet ſeyn wird, einen Auszug liefern
werde. Aus den Zeiten der Meiſterſaͤnger,
des Opitz und Logau, des Luthers u. ſ. w.
ſollte man die Jdiotismen ſammlen, und
inſonderheit mehr von Klopſtock lernen, die-
ſem Genie in Schoͤnheiten und Fehlern, der
ſelbſt in der Deutſchen Sprache ſich den Schoͤ-
pfungsgeiſt anmaaßte, und auch dieſen Geiſt
der Freiheit eigentlich in Deutſchland zuerſt
ausbreitete: wirklich ein Genie, das ſelbſt in
ſeiner Eccentricitaͤt groß iſt, und das, ſo wie
Alexander Macedonien, die damalige Deutſche
Sprache nothwendig fuͤr ſich zu enge finden
muſte.


Und ſind die Jdiotismen zu nichts gut: ſo
eroͤfnen ſie dem Sprachweiſen die Schach-
ten,
[51] ten, um das Genie der Sprache zu unterſu-
chen, und daſſelbe zuerſt mit dem Genie der
Nation zuſammen zu halten. Viele Jdiotis-
men fremder Voͤlker wuͤrden wir daraus er-
klaͤren: (z. E. warum die meiſten Nationen
der Sonne und die Mond ſagen; wir aber
umgekehrt; warum das Lateiniſche fuſus in
herba
immer fuͤr uns fremde klingt, koͤnnte
immer aus dem Zuſtande unſrer alten Urvaͤ-
ter bewieſen werden. Sie fingen bekannter
maßen von der Nacht zu rechnen an: hielten
in der Nacht ihre Zuſammenkuͤnfte, Kriegs-
und Friedensſchluͤſſe: und wuſten kein groͤße-
res Siegel der Vertraͤge, als das Klirren der
Degen, mit dem Zuruf: der Mond iſt Zeuge!
Eben daher iſt das: im Graſe hingegoſſen*
wohl ein zu wohlluͤſtiges Bild fuͤr das wal-
digte kalte Deutſchland, wie es vormals ge-
weſen.) Wie ſehr ſind nicht die alten Schot-
tiſchen Gedichte Abdruͤcke ihres Landes?


Auch die Kuͤhnheit in Jdiotismen bei einem
einzelnen Autor gibt Gelegenheit, auf ſein Ge-
D 2nie
[52] nie Acht zu haben. Derſelbe Blick, der die
Begriffe, wie die Farben im Sonnenſtral,
theilt, nimmt auch die Lichtbrechung in den
Nuancen der Sprache wahr. Der mittel-
maͤßige Scribent bequemt ſich, nach dem or-
dentlichen Wege, um ins Cabinett ſeines Fuͤr-
ſten zu gelangen; dieſer beſticht jener betriegt,
ein andrer ſchmeichelt: ein gewiſſer Deutſcher
Pythagoras laͤßt ſich beſchneiden, um hinter
die Vorhaͤnge der Weisheit zu kommen; das
kuͤhne Genie durchſtoͤßt das ſo beſchwerliche
Ceremoniel: findet und ſucht ſich Jdiotismen;
graͤbt in die Eingeweide der Sprache, wie in
die Bergkluͤfte, um Gold zu finden. Und be-
triegt es ſich auch manchmal mit ſeinen Gold-
klumpen: der Sprachenphiloſoph probire und
laͤutere es: wenigſtens gab er Gelegenheit zu
chymiſchen Verſuchen. Moͤchten ſich nur
viele ſolche Bergleute und Schmelzer in
Deutſchland finden, die, wenn die Deutſche
Sprache eine Berg- und Weidſprache iſt,
auch als Graͤber und Jaͤger ſie durchſuchten.
Caͤſar ſchrieb uͤber die Aehnlichkeit der Spra-
chen; Varro uͤber die Etymologie; Leibniz
ſchaͤmte ſich nicht, ein Sprachforſcher zu ſeyn,
und
[53] und wir, trotz unſrer Deutſchen Geſellſchaft,
haben hierinn wenig oder nichts gethan.



7.


Es bleibt uͤberhaupt wahr: „die Richtigkeit
„einer Sprache entzieht ihrem Reichthum:„ *
und wir duͤrfen, um dies in Augenſchein zu
ſezzen, die aͤlteſte Sprache, die Hebraͤiſche,
oder Arabiſche mit der Unſern in Abſicht auf
den Reichthum vergleichen; er iſt ſo unter-
ſchieden, wie die Haushaltung jener und un-
ſerer Gegenden. Sie ſamleten Vieh und
Knechte; wir ſamlen Gold und Hausgeraͤth:
ſo iſt auch der Reichthum beider Sprachen.


Jhre iſt reich an Vieh:) Naturna-
men
ſind in ihr haͤufig: im kleinen Buch der
Hebraͤer, das wir allein noch uͤbrig haben,
ſind ſchon 250 Botaniſche Woͤrter: Namen,
die unſre Sprache zwar kann ausdruͤcken,
aber nicht auszudruͤcken weiß;** weil die
D 3καλοι
[54] καλοι καγαϑοι unſerer buͤrgerlichen Welt
ſich auf nichts minder legen, als Hirtenkaͤnnt-
niſſe einzuziehen: weil unſre Naturphiloſo-
phen unter Buͤchern wohnen, und wieder zu
Lateiniſchen Buͤchern hinkehren Unſre Schaͤ-
ferdichter und Saͤnger der Natur koͤnnen al-
ſo die Blumen dieſer Kraͤuter nicht brechen:
haͤtte man auch Deutſche Namen: ſo waͤren
dieſe nicht bekannt gnug: ſie haͤtten nicht gnug
Poetiſche Wuͤrde: denn unſre Gedichte wer-
den nicht mehr fuͤr Hirten geſchrieben; ſon-
dern fuͤr ſtaͤdtiſche Muſen; unſre Sprache iſt
zur Buͤcherſprache eingeſchraͤnkt. — Hinge-
gen hat es ſchon Leibniz bemerkt, daß unſre
Sprache eine Weid- und Bergwerks-
ſprache iſt; ich glaube aber, zum Theil, ge-
weſen
iſt; weil viele dieſer Woͤrter theils
veraltet ſind; theils vor Kunſt- und Hand-
werkswoͤrter gelten, da unſre Lebensart nicht
mehr Jagd und Bergwerke iſt.


Wir bemuͤhen uns alſo mehr um Hausge-
raͤth:) Kunſtwoͤrter: buͤrgerliche Ausdruͤcke:
Redensarten des Umganges ſind die haͤufig-
ſten Scheidemuͤnzen im muͤndlichen und Buͤ-
chercommerz: die Alten hingegen wechſelten
mit
[55] mit Goldſtuͤcken: ſie ſprachen durch Bilder;
wir hoͤchſtens mit Bildern, und die bilder-
volle Sprache unſrer ſchildernden Dichter
verhaͤlt ſich zu den aͤlteſten Poeten, wie ein
Exempel zur Allegorie, wie eine Allegorie zum
Bilde in einem Zuge. Leſet den Homer, und
denn leſet Klopſtock; jener malet, indem er
ſpricht; er malet lebende Natur und Politi-
ſche Welt: dieſer ſpricht um zu malen, er
ſchildert; und um neu zu ſeyn: eine ganz
andre Welt; die Welt der Seele und der
Gedanken, da jener ſie hingegen in Koͤrper
kleidet und ſpricht: Laß ſie ſelbſt reden!


Die Oekonomie der Morgenlaͤnder war
reich an Knechten; ſo iſt es auch ihre Spra-
che.) Die Erfinder der Sprachen, ohne
Zweifel nichts minder als Philoſophen, druck-
ten natuͤrlicher Weiſe das durch ein neues
Wort aus, was ſie noch nicht unter einen
andern Begrif zu ordnen wußten. So ent-
ſtanden Synonyme, die dem Dichter eben
ſo vortheilhaft waren, als ſie dem Gramma-
tiſchen Philoſophen zum Aergerniß gereichen.
Der Arabiſche Dichter, der zum Loͤwen 500
Woͤrter hat, die verſchiedene Zuſtaͤnde deſſel-
D 4ben
[56] ben bedeuten, z. E. junger, hungriger Loͤwe ꝛc.
kann durch ein Wort malen, und durch die-
ſe mit einem Zuge entworfne Bilder vielſeiti-
ger
ſprechen, wenn er ſie gegen einander ſezzt;
als wir, die dieſen Unterſcheid blos durch da-
zu geſezzte Beſtimmungen deutlich machen.
Die Choͤre der Morgenlaͤnder koͤnnen ſich in
ihren beiden Gegenſaͤzzen beinahe wiederho-
len; allein das Bild, oder die Sentenz bekommt
durch eine Wendung, oder ein Wort Neu-
heit. Das Kolorit veraͤndert ſich, und dieſe
Veraͤnderung gefaͤllt dem Ohr der Morgen-
laͤnder; hingegen unſre Sprache, die an die-
ſen beinahe- Synonymen gefeſſelt iſt, muß
entweder die Wiederholungen ohne dieſen
Nebenzug
ausdruͤcken; und alsdenn ſind ſie
fuͤr unſer Ohr verdrießliche Tavtologien;
oder ſie druͤckt ſie gar ſchielend aus, und ver-
irrt ſich, wie ſehr oft in der Deutſchen Bibel-
uͤberſezzung, von der Hauptidee des Gemaͤl-
des. Der Fehler liegt wirklich in der Ver-
ſchiedenheit unſrer Sprachen, und iſt ſchwer
zu vermeiden.


Hieraus erklaͤrt ſich, glaube ich, die Be-
merkung unſers Philologiſchen Sehers in den
Orien-
[57] Orientaliſchen Sprachen: * „daß dieſe Tav-
„tologien, die dem Ohr der Morgenlaͤnder ge-
„fielen, unſerm unleidbar ſind„ jenen waren
ſie nicht Tavtologien,
denn Tavtologien
ſind immer eckelhaft, und koͤnnen wenigſtens
nie vergnuͤgen; ſondern wenn ein Chor das
andere erklaͤrte, beſtimmte, oder das vorge-
tragne Gemaͤlde mit Nebenzuͤgen neu machte:
ſo befriedigte dies Aug und Ohr. Jch glau-
be, Michaelis wird finden, daß es in der
Grundſprache ſelten voͤllige Wiederholungen
ſind; nur freilich in der Deutſchen Ueberſez-
zung, und am meiſten in den Crameriſchen
Pſalmen, da ſind es perpetuae tavtologiae,
Europae inuiſae, aures laedentes, pru-
dentioribus ſtomachaturis, dormitaturis
reliquis.


Cramer ſcheint ſich in ſeinen Predigten ſo-
wohl, als in den ſogenannten Oden; in
Cantaten und in der fließenden Proſe ſo ſehr
an dieſe Wiederholungen und Umſchreibungen
gewoͤhnt zu haben, daß er vergißt, ob das
Deutſche Ohr, das Kuͤrze fodert, und der Deut-
D 5ſch
[58] ſche Verſtand, der Nachdruck liebet, damit
zufrieden iſt. Seine ungemein gluͤckliche Leich-
tigkeit in der Verſifikation verfuͤhrt ihn ſo
ſehr, daß er vergißt, ob ſeine Wiederholun-
gen auch der Deutſchen Sprache angemeſſen
ſeyn. Seine Oden — und ſie waren vor
Klopſtock und Ramler das Muſter der
Deutſchen Oden — ſind ja oft ein Geklin-
gel von Reimen, und ich zweifle, ob ein Da-
vid
und Aſſaph, zu unſerer Zeit, in unſrer
Sprache Cramerſche Pſalmen geſchrieben haͤt-
te? „Er hat ſie ja aber uͤberſezzen, nicht
umbilden wollen?„ Gut! ſo uͤberſezze er
ſie als Orientaliſche Pſalmen, mit allem ih-
rem Licht und Schatten; nur umſchreiben
muß er nichts; alsdenn iſts weit natuͤrlicher
fuͤr unſer Genie und Sprache, ſie zuſammen
zu ziehen. Jch urtheile frei, weil ich glaube
ſo urtheilen zu koͤnnen und doͤrfen: Haͤtte
Michaelis Cramers Verſifikation, oder
Cramer Michaelis Geſchmack des Orients:
ſo wuͤrden wir erſt die Morgenlaͤndiſchen Ge-
dichte nach dem Genie unſrer Sprache, als
einen Deutſchen Schatz bewahren koͤnnen;
jetzt fehlt beiden was.


Aber
[59]

Aber meine Anmerkung verirret ſich zu weit
davon ab: daß die Grammatik und das Ver-
nuͤnfteln uͤber die Sprache, den Reichthum
geſchwaͤchet hat. Der haushalteriſche Philo-
ſoph fragte: warum ſind ſo viel unnuͤtze
Knechte? ſie ſtehen ſich im Wege! und er
hat ſie abgeſchaft; den uͤbrigen aber ihr ge-
naues Geſchaͤfte angewieſen, um nicht muͤßig
zu ſeyn. Jch will ohne Bilder reden! Da
man die Begriffe mehr unter einander ordnen
lernte: ſo druckte man das mit einer Beſtim-
mung (adiectiuum, participium, aduer-
bium
) aus, wozu man erſt ein neues Wort
ſezzte. — Noch blieben aber Synonymen!
Aber der Philoſoph ſuchte ſeine Unterſchiede
in ſie zu legen, und ſie alſo als neue, guͤltige
Woͤrter zu gebrauchen. Zum Beweiſe fuͤhre
ich im Deutſchen Wolf und Baumgarten
an. Durch die Deutſchen Schriften des er-
ſten ſind die Woͤrter, die unter dem Gebiet
der Philoſophie ſtehen, ſehr an Synonymen
vermindert, da er ſie genau zu beſtimmen ge-
ſucht. Und noch mehr Baumgarten: geht
ſeine Metaphyſik durch, und bemerkt, die un-
ten angezogne Deutſche Woͤrter: die Philo-
ſophie
[60] ſophie gibt den meiſten muͤßigen Synonymen
Arbeit und beſtimmte Poſten. Das iſt nun
aber die Sprache der Philoſophie: laſſet
Sulzern, der noch lebende Baumgarten,
die Woͤrter: angenehm, ſchoͤn, lieblich,
reizend, gefaͤllig,
in ſeiner Aeſthetik beſtim-
men; die Welt wird ihm vielen Dank wiſ-
ſen: laſſet andere auf der Bahn des Baum-
gartens fortgehen, und einen Kant in ſeinen
Beobachtungen uͤber das Schoͤne und
Erhabene,
ſeine Unterſchiede zwiſchen bei-
nahegleichen Woͤrtern bemerken: ſie arbeiten
fuͤr die Deutſche Philoſophie und Philoſophi-
ſche Sprache; aber nicht fuͤr die Sprachkunſt,
uͤberhaupt. Alle kannſt du nicht beſtimmen,
Philologiſcher Weltweiſe! Die wirſt du ver-
muthlich auswerfen wollen? Aber wirft ſie
auch die Sprache des Umganges aus? Nein!
ſo weit reicht noch nicht dein Gebiet, und
noch minder ins Land der Dichter — Der
Dichter muß raſend werden, wenn du ihm
die Synonyme raubſt; er lebt vom Ueber-
fluß.
— Und wenn du ſie beſtimmeſt? Ge-
ſezt, aber du kannſt es nicht: ſo faͤllt ſchoͤne
Proſe und ſchoͤne Poeſie ganz weg; alles wird
ein
[61] ein Roſenkranz abgezaͤhlter Kunſtwoͤrter. Jm-
mer ein Gluͤck fuͤr den Dichter, und ein Un-
gluͤck fuͤr den Weltweiſen, daß die erſten Er-
finder der Sprache nicht Philoſophen und die
erſten Ausbilder meiſtens Dichter geweſen ſind.


Unſere Sprache hat alſo die Synonyme
eingeſchraͤnkt und bemuͤhet ſich ſtatt Knechte,
Gold und Muͤnzen zu ſammlen. Man er-
laube mir die Woͤrter abſtrakter Jdeen damit
zu vergleichen. Beide werden willkuͤhrlich
gepraͤgt, und durch einen willkuͤhrlich feſtge-
ſezzten Werth gaͤng und gaͤbe; die ſolideſten
unter beiden werden als Schaͤzze aufbewahrt;
das kleinere wird Scheidemuͤnze. Auch auf
dieſer Seite verliert unſre Poeſie, in der der
eingebildete Werth ſchwindet, und blos der
natuͤrliche gilt; wo die abſtrakten Woͤrter
alſo blos gelten, nach dem Maas man ſie
ſinnlich darſtellen kann. — Durch unſre
Philoſophen kann die Dichtkunſt alſo nichts
gewinnen, und hat nichts gewonnen; ſo we-
nig als die Alten unſre Buͤcher-und Catheder-
ſprache in allen ihren Nuancen uͤberſezzen
koͤnnten: ſo wenig koͤnnen wir den Alten
nachſprechen.


Und
[62]

Und was folgt nun aus allem dieſem? Viel-
leicht viel — aber hier mag eins genug
ſeyn! — Es iſt immer ein Girard im
Deutſchen zu wuͤnſchen; recht ſehr zu wuͤn-
ſchen — aber ein Geſezgeber muß er nicht
durchaus werden. Jn einer nicht Jdeal-
Philoſophiſchen Sprache alle Synonymen ab-
ſchaffen zu wollen, gebuͤhret einem zweiten
Claudius und Chilperich, die neue Buch-
ſtaben einfuͤhren wollten, und Grammatiker
zu A B C Maͤrtirern machten.



8.


Von der andern Seite hat man, um unſre
Sprache auszubilden, ſo ſehr die Ueberſezzun-
gen angerathen, daß ich hieruͤber eine merk-
wuͤrdige Stelle der Litteraturbriefe anfuͤhre: *


„Der wahre Ueberſezzer hat eine hoͤhere
„Abſicht, als den Leſern fremde Buͤcher ver-
„ſtaͤndlich zu machen; eine Abſicht, die ihn zum
„Range eines Autors erhebt, und den kleinen
„Kraͤmer
[63] „Kraͤmer zum Kaufmann umſchnizzt, der
„wirklich den Staat bereichert.


„Dieſe Abſicht iſt nun keine andere, als
„ſeiner Mutterſprache vortrefliche Gedanken
„nach Muſter einer vollkommenern Sprache an-
„zupaſſen. So machte Apoll, daß Achilles
„Ruͤſtung Hektorn ſo gerecht war, als ob ſie
„auf ſeinen Leib verfertiget worden. Ohne
„Verſuche, die mit dieſer Abſicht verknuͤpft
„ſind, kann keine rohe Sprache vollkommen,
„kann kein Proſaiſte in derſelben vollkom-
„men werden.


„Zu eignen Verſuchen uͤber die Bildung
„der Sprache haben nur die oͤffentlichen Red-
„ner Anmunterung genug, und die groͤſte Zahl
„dieſer Verſuche iſt vergeblich; aber man
„thue es durch Verſuche nach einer beſſern
„Sprache. Dieſe ſtellt uns ſchon viele Be-
„griffe deutlich dar, dazu wir Worte ſuchen
„muͤſſen, und ſtellt dieſe Begriffe ſo ne-
„ben einander vor, daß uns neue Verbindun-
„gen noͤthig werden. Von dem Wohlklan-
„ge jetzt nicht zu reden, der beſſer gemeſſen
„werden kann, wenn immer das Ohr unmit-
„tel-
[64] „telbar vorher von einem Perioden ſehr rich-
„tig angefuͤllet geweſen.


„Was fuͤr anſehnliche Vortheile muͤßten
„nicht unſrer Sprache zuwachſen, wenn ſie
„ſich an die Griechiſche und Lateiniſche Spra-
„che, ſo viel als moͤglich, anſchmiegen lernte,
„und ihre Geſchmeidigkeit den Augen des
„Publikum zeigte! Dieſe Ueberſezzungen koͤnn-
„ten unſre Claßiſche Schriftſteller werden.
„An den Gedanken waͤre nichts auszuſezzen,
„weil auf dieſe laͤngſt das Siegel der Vor-
„treflichkeit gedruckt worden: und die Sorg-
„falt in Erhaltung der Harmonie ihres Aus-
„drucks, wuͤrde auch ſo viel Wohlklang in
„unſre Sprache uͤbertragen, als ihr Genie
„erlaubte. Geſellen ſie zu dieſen Alten noch ei-
„nige neuere Auslaͤnder; deren Genie bewaͤhrt,
„und deren Sprache mit der unſrigen verwandt
„iſt: was wuͤrden wir nicht unſern Ueber-
„ſezzern zu verdanken haben? und ſie wuͤr-
„den auch mit unſrer Dankbarkeit zufrieden
„ſeyn, woruͤber Ebert ihnen die Gewaͤhr lei-
„ſten kann, den wir als einen vortreflichen
„Ueberſezzer mit Recht unter unſre beſten
„Schriftſteller rechnen. Fehlt es uns denn
„an
[65] „an der Tugend, quae ſerit arbores, vt al-
„teri ſeculo proſint!


Der wahre Ueberſezzer ſoll alſo Woͤrter,
Redarten und Verbindungen ſeiner Mutter-
ſprache aus einer ausgebildetern anpaſſen:
aus der Griechiſchen und Lateiniſchen vorzuͤg-
lich, und denn auch aus neuern Sprachen.
Nun wollen wir hieruͤber nach unſern vor-
ausgeſezten Pramiſſen ſchwazzen:


Alle alte Sprachen haben, ſo wie die al-
ten Nationen, und ihre Werke uͤberhaupt, mehr
karakteriſtiſches, als das, was neuer iſt.
Von ihnen muß alſo unſre Sprache mehr ler-
nen koͤnnen, als von denen, mit welchen ſie
mehr verwandt iſt; oder der Unterſchied zwi-
ſchen beiden liefert wenigſtens den Sprach-
philoſophen eine Menge Stoff zu Betrach-
tungen. Wir wollen vom leztern etwas ver-
ſuchen.


So wie uns unſre beſten Heldenthaten, die
wir als Juͤnglinge thaten, aus dem Gedaͤcht-
niß verſchwinden: ſo entgehen uns aus dem
Juͤnglingsalter der Sprache jedesmal die be-
ſten Dichter, weil ſie vor der Schriftſtellerei
vorausgehen. Jm Griechiſchen haben wir
Eaus
[66] aus dieſer Zeit eigentlich nur den einzigen Ho-
mer, deſſen Rhapſodien durch einen gluͤckli-
chen Zufall viele Olympiaden nach ſeinem To-
de blieben, bis ſie geſamlet wurden: da alle
uͤbrige Dichter vor ihm, und viele nach ihm
verlohren ſind. Aeſchylus und Sophokles
und Euripides beſchloſſen die Poetiſche Zeit;
in ihrem Zeitalter erfand Pherecydes die
Proſe; Herodot ſchrieb ſeine Hiſtorie, noch
ohne Perioden; bald gab Gorgias der Rede-
kunſt die Geſtalt einer Wiſſenſchaft, die Welt-
weisheit fieng an oͤffentlich gelehrt zu werden,
und die Grammatik wurde beſtimmt. — Was
ſollen wir aus dieſer Zeit durch Ueberſezzun-
gen fuͤr unſre Sprache rauben?


Nur nicht die Sylbenmaaße! denn es
ergiebt ſich gleich, daß dieſe ſchwer nachzuah-
men ſeyn muͤſſen. Damals, als noch die
αοιδοι, und ραψωδοι ſangen; da man auch
im gemeinen Leben die Woͤrter in ſo hohem
Ton ausſprach, daß man nicht blos lange und
kurze Sylben, ſondern auch hohe und niedri-
ge
Accente deutlich hoͤren ließ, daß jedes Ohr
der Urteiler der Proſodie ſeyn konnte; damals
war der Rhythmus der Sprache noch ſo helle,
daß
[67] daß die Cadence, in der man die Verſe aus-
ſprach, oder nach dem Ausdrucke der Alten
ſang, den Gang eines Hexameters aus-
halten
konnte. Und dieſer war alſo das
gewaͤhlteſte Sylbenmaas, das die meiſte Har-
monie in ſich ſchloß, das ſo genau in ihrer
Sprache lag, als die Jamben unſerm Ge-
ſange natuͤrlich werden, und das ihrem Ohr
und ihrer Kehle am gemaͤßeſten war, weil ih-
re Melodie im Geſange, und Deklama-
tion
des gemeinen Lebens eine hoͤhere Ton-
leiter auf und nieder ſtieg, als unſere. Aber
wir reden mit wenigern Accenten monoto-
niſcher,
man mag es fließend oder ſchleichend
nennen; wir ſind alſo an die Menſur eines
Hexameters nicht gewoͤhnt. Gebet einem
guten geſunden Verſtande ohne Schulweisheit,
Jamben, Daktylen und Trochaͤen zu leſen;
er wird ſogleich, wenn ſie gut ſind, ſcandiren;
gebet ihm einen gemiſchten Hexameter — er
wird nicht damit fortkommen. Hoͤret den Ca-
deneen
bei dem Geſange der Kinder und der Nar-
ren zu; ſie ſind nie Polymetriſch; oder wenn
ihr daruͤber lacht; ſo geht unter die Bauern,
gebt auf die aͤlteſten Kirchenlieder acht; ihre
E 2Fall-
[68] Falltoͤne ſind kuͤrzer, und ihr Rhythmus ein-
foͤrmig:
dahingegen ſangen die Griechiſchen
Rhapſodiſten ihre lange Gedichte in immer-
waͤhrenden
Hexametern: ohne Zweifel, weil
der Hexameter ihrem Ohr
auch ſelbſt fuͤr
Gaſſenlieder nicht zu lang, und ihrer Spra-
che nicht zu Polymetriſch war: und weil ihre
Proſodie und Geſangweiſe jede Sylbe und Re-
gion gehoͤrig beſtimmte. Aber jetzt! wollt
ihr Griechiſche Hexameter leſen; lernet erſt
Proſodie, um die Sylben in ihre rechte Re-
gionen bringen zu koͤnnen. Jhr wollt Deutſche
Hexameter machen; machet ſie ſo gut ihr
koͤnnet, und alsdenn laſſet dem ohngeachtet
die Versart druͤber druͤcken, wie man es
Klopſtock rieth, oder bittet, wie Kleiſt, dies
Sylbenmaas als Proſe zu leſen. Koͤnnet ihr
Hexameter deklamiren? Wohl! ſo werdet ihr
auch wiſſen, daß das die beſte Deklamation
iſt, die ſeine Fuͤße am meiſten verbirgt, und
nur alsdenn hoͤren laͤßt, wenn ſie die Mate-
rie unterſtuͤzzen. Sehet! ſo wenig iſt der
Hexameter und die Polymetriſchen Sylben-
maaße unſrer Sprache natuͤrlich: bei den
Griechen foderte ihn die ſingende Deklama-
tion,
[69] tion, das an den Geſang gewoͤhnte Ohr,
die vieltrittige Sprache; bei uns verbeut
ihn, Sprache und Ohr und Deklamation.


Was ſollen wir denn aus dieſer Zeit nach-
ahmen? Die Lenkung des Perioden? Auch
nicht! Homer ſang und wurde ſpaͤt geſamm-
let! Die Tragoͤdien des Aeſchylus und So-
phokles wurden, wie die Alten gemeinſchaft-
lich bezeugen, auf der Buͤhne durchaus ab-
geſungen. Die Sprache ſtuͤzzte ſich alſo damals
maͤchtig auf eine Deklamation, die fuͤr uns
ganz ausgeſtorben iſt, und die ihr damals
Geiſt und Leben gab. — Mit dieſer Deklama-
tion verlieren wir alſo auch den Gebrauch vieler
Partikeln, Verbindungen, und Fuͤllwoͤrter, die
zur damaligen Deklamation gehoͤren. Das
Αλλ οταν, womit jedesmal die Orakel an-
fiengen, das αλλα, δε und αυταρ des Ho-
mers, womit er die Glieder ſeiner Perioden
verbindet, wuͤrden, da wir an Proſaiſche Perio-
den gewoͤhnt ſind, ſehr wunderlich in der Ueber-
ſezzung klingen; eben ſo laͤcherlich, als wenn
der ehrliche blinde Saͤnger aufſtuͤnde, uns
ſeine 24 Buchſtaben vorzuſingen.


E 3Nach
[70]

Nachahmen koͤnnen wir hievon alſo nichts;
aber doch gehoͤrt es dazu, um die Alten die-
ſes Zeitalters Poetiſch zu leſen. Wenn ich
den Homer leſe, ſo ſtehe ich im Geiſt in Grie-
chenland auf einem verſammleten Markte, und
ſtelle mir vor, wie der Sanger Jo, im Plato
die Rhapſodien ſeines goͤttlichen Dichters mir
vorſinget, wie er „voll von goͤttlicher Be-
„geiſterung ſeine Zuhoͤrer ſtaunen macht, wie,
„wenn er ſich ſelbſt entriſſen, von dem Ulyſ-
„ſes redet, da er ſich ſeinen Feinden zu er-
„kennen giebt, oder da Achilles den Hektor
„anfaͤllet, er bei jedem Fuͤrchterlichen, die Haa-
„re aufrecht ſtehen, und das Herz ſchlagen
„macht; wie er jedem die Thraͤnen in die
„Augen lockt, wenn er von dem Ungluͤck der
„Andromache, der Hekuba, des Priamus ſin-
„get. Wie die Corybanten, von der Melodie
„des Gottes, der ſie begeiſtert, entzuͤckt, ihre
„trunkene Freude in Worten und Geberden
„zeigen; ſo begeiſtert ihn Homer, und macht
„ihn zum goͤttlichen Boten der Goͤtter.„ Jn
dieſer Entzuͤckung erfuͤllet die ganze Harmonie
des Hexameters, und die ganze Pracht ſeines
Perioden mir Ohr und Seele; jede Verbin-
dung
[71] dung, und jedes Beiwort wird lebendig, und
traͤgt zum Pomp des Ganzen bei: und wenn
ich mich wieder zuruͤck in mein Vaterland fin-
de: ſo beklage ich die, ſo den Homer in einer
Ueberſezzung leſen wollen, wenn es auch die
richtigſte waͤre. Jhr leſet nicht mehr Ho-
mer, ſondern etwas, was ohngefaͤhr wieder-
holet, was Homer in ſeiner Poetiſchen Spra-
che unnachahmlich ſagte.


Sollen wir unſre Sprache durch die Jn-
verſionen
bereichern, die damals in ihrer
biegſamen Sprache jedem Wink der Leiden-
ſchaft und des Nachdrucks nachgaben? Ver-
ſucht es; unſrer Sprache, ſelbſt dem freieſten
und verworrenſten Klopſtockiſchen Hexameter
ſind Feſſeln der Conſtruktion angelegt worden,
die die Harmonie des Griechiſchen Perioden
meiſtens zerſtoͤren werden. Oder ſollen wir
unſre Sprache in Bildung der Machtwoͤr-
ter,
nach dem Griechiſchen uͤben? Verſucht
es; wenn ihr gleich ein Schweizer ſeyd, wer-
det ihr die Beiwoͤrter im Homer, Aeſchy-
lus
und Sophokles, oft genug umſchrei-
ben muͤſſen.


E 4Jch
[72]

Jch halte die Hymnen des Orpheus fuͤr
nicht ſo alt, daß ſie, ſo wie ſie ſind, bis an den
Orpheus reichen ſollten; aber, ſo wie unſre
Kirchenſprache, und Kirchenpoeſie, beſtaͤndig
Jahrhunderte zuruͤckbleiben: ſo zeigen ſie,
nach meiner Meinung, am beſten, wie die aͤl-
teſte Sprache der Poeſie, zur Zeit des hohen
Stils geweſen iſt. Wohlan nun! verſucht,
dieſe Hymnen ſo ins Deutſche zu verpflanzen,
als Skaliger ſie in Altlatein uͤberſezte: ihr
werdet, ohngeachtet aller Staͤrke doch oft das
alte Deutſche vermiſſen, das bei den alten
Druiden in ihren heiligen Eichenwaͤldern Or-
pheiiſch geklungen haben mag! — Solche kuͤh-
ne Verſuche mache ein junges munteres Ge-
nie fuͤr unſre Sprache; aber es laſſe auch al-
te unparteiiſche Philologen daruͤber urteilen.


Homer, Aeſchylus, Sophokles ſchuf-
fen einer Sprache, die noch keine ausgebildete
Proſe hatte, ihre Schoͤnheiten an; ihr Ueber-
ſezzer pflanze dieſe Schoͤnheiten in eine Spra-
che, die auch ſelbſt im Sylbenmaas und —
wie wir bewieſen zu haben glauben — ſelbſt
im Hexameter Proſe bleibt, daß ſie ſo wenig
als moͤglich verlieren. Jene kleideten Ge-
danken
[73] danken in Worte, und Empfindungen in Bil-
der; der Ueberſezzer muß ſelbſt ein ſchoͤpferi-
ſches Genie ſeyn, wenn er hier ſeinem Original
und ſeiner Sprache ein Gnuͤge thun will. Ein
Deutſcher Homer, Aeſchylus, Sophokles, der
im Deutſchen eben ſo klaßiſch iſt, als jene in
ihrer Sprache, errichtet ein Denkmal, das
weder einem Klein - noch Schulmeiſter ins
Auge faͤllt, das aber durch ſeine ſtille Groͤſ-
ſe und einfaͤltige Pracht das Auge des Wei-
ſen feſſelt, und die Aufſchrift verdienet:
Der Nachwelt und Ewigkeit heilig!


Ein ſolcher Ueberſezzer iſt unſtreitig viele
Koͤpfe groͤßer, als ein anderer, der aus ei-
ner naͤhern Zeit, aus einer verwandten
Sprache, aus einem Volke, das mit uns
einerlei Denkart und Genie hat, ein Werk
uͤberſezzt, das im leichteſten Poetiſchen Ton,
Didaktiſch, geſchrieben iſt, und das dem ohn-
geachtet doch in der Ueberſezzung ſein beſtes
Colorit
verlieret — ſollte dieſer Ueberſezzer
auch Ebert ſelbſt ſeyn. — Sein Young haͤt-
te im Deutſchen, zu unſrer Zeit, nach unſern
Sitten und Religion, immer ſeine Naͤchte
E 5ſchrei-
[74] ſchreiben koͤnnen; aber jene ihre Werke in
unſrer Sprache? in unſrer Zeit? bei unſern
Sitten? — Niemals! So wenig als wir
Deutſchen je einen Homer bekommen wer-
den, der das in allen Stuͤcken fuͤr uns ſey,
was jener fuͤr die Griechen war.



9.


So ſehr verzweifle ich alſo an Ueberſez-
zung der aͤlteſten Griechiſchen Dichter; aber
deſto mehr ſuche man von der Griechiſchen
Proſe eines Platons und Xenophons, ei-
ues Thucydides und Polybius, und die
ſpaͤtern Griechiſchen Dichter zu nuzzen. Zu
dieſer Zeit lebten die κἀλοι κἀγαϑοι der
Wiſſenſchaften, die mit dem Genie unſerer
Zeit naͤher verwandt ſind; der Periode war
in ſeinem beſten Glanze, und die Jdiotismen
milderten ſich. Von dieſen Schriftſtellern
kann die Deutſche Sprache unſtreitig viel
lernen; weil ſie ſich in die Griechiſche eher
und biegſamer ſchicken kann, als in die Latei-
niſche; weil die Griechiſche es auch unſtreitig
mehr
[75] mehr verdient, und weil fuͤr die Deutſchen
eine ausgebildete Poeſie und Proſe des gu-
ten Verſtandes,
ohnſtreitig die beſte Spra-
che iſt.


Heilmann, der Ueberſezzer des Thucydi-
des,
der gewiß ſeinen Autor, und die Kunſt zu
uͤberſezzen gekannt hat: ſcheint die Biegſamkeit
der Deutſchen Sprache nicht genug in ſeiner
Gewalt gehabt zu haben, um ſie mit der Grie-
chiſchen zuſammen zu paſſen. Jndeſſen hat
freilich dieſer Baumgartenſche Philolog noch
ziemlich ſeinen Mann gewaͤhlt, da er uns den
koͤrnichten Thucydides liefert, deſſen Schreib-
art er uns mit Meiſterzuͤgen geſchildert hat: *


„Man ſiehet uͤberall die Miene des großen,
„des vornehmen Mannes, der als ein Staats-
„mann ſchreibt, der aber auch nur fuͤr Staats-
„leute ſchreiben will; der nichts weniger im
„Sinne hat, als ein klaßiſcher Schriftſteller
„zu werden, aus welchem einmal kuͤnftig Red-
„ner Beiſpiele zu ihren Vorſchriften ſamm-
„len ſollten. Er ſiehet alſo uͤberall nur auf
„die Wuͤrde in den Gedanken, und auf den
„Adel
[76] „Adel im Ausdruck. Er faſſet jene kurz und
„buͤndig, und in dieſem ſucht er ſich beſtaͤn-
„dig von dem gemeinen zu entfernen. Er
„hatte in ſeiner Jugend ohnfehlbar die Grund-
„ſaͤzze der Beredſamkeit gefaſſet; allein er be-
„hielt ſie hernach, um ſie zu brauchen, und
„nicht ſich daran zu binden. — Er iſt ein
„Schriftſteller, der aus den Gedanken alles,
„und aus dem Ausdruck nur ſo viel macht,
„als zu jenen noͤthig iſt; der ſeine Jdeen ge-
„nau und buͤndig faſſet und ſie durchaus ſo, wie
„er ſie gefaſſet, ausdrucken will: und hiernach
„muͤſſen ſich Ausdruck, Saͤtze, und deren Ver-
„bindungen, Perioden und deren Beziehungen
„und alles richten. — Seine Schreib- und
„Denkungsart iſt im hoͤchſten Grade Pathetiſch.
„Er iſt ſeiner Sprache vollkommen kundig,
„das Bluͤhende, das er durch den Reichthum
„des Ausdrucks, welcher ihm voͤllig fehlet,
„haͤtte erhalten koͤnnen, durch die Wahl der
„nachdruͤcklichſten Woͤrter, und durch die Ener-
„giſche Beugung und Verbindung derſelben
„zu erhalten; und er iſt dreuſt genug, der-
„gleichen zu machen, wo er es nicht vor ſich
„findet. Aus dieſen Stuͤcken zuſammenge-
„nom-
[77] „nommen erwaͤchſt eine Schreibart, die in
„Anſehung ganzer Ausſpruͤche, ſchwer, ge-
„drungen und in einander gewunden, in An-
„ſehung der Wortfuͤgungen ſonderbar und oft
„unregelmaͤßig, in Anſehung des Ausdrucks
„ſehr fruchtbar, aber auch neu und unge-
„woͤhnlich iſt. Er iſt der Schoͤpfer ſeiner
„ganzen Schreibart. Dieſes erhellet daraus
„am deutlichſten, daß ſich das beſondre dar-
„inn nirgends mehr zeigt, als in ſolchen Stel-
„len, worinn er blos ſelbſt denkt, in ſeinen
„Reden und eingemiſchten Betrachtungen.
„Hier ſind die Perioden oft von ungewoͤhnli-
„cher Laͤnge; denn er ſchließt nicht eher, bis
„ſeine Reihe von Gedanken zu Ende iſt. Hier
„ſind die Wortfuͤgungen ſehr verſteckt, und
„durch haͤufige Einſchaltungen unterbrochen;
„denn er will jeden Begrif durchaus an dem
„Orte, in dem Verhaͤltniſſe ausdrucken, wo
„er ſich in dem zuſammengeſezten Bilde ſei-
„ner Jdeen befindet; hier ſind die einzelnen
„Ausdruͤcke von der gewoͤhnlichen Bedeutung
„und Gebrauch entfernt, weil das Gewoͤhn-
„liche das Ebenmaas ſeiner Begriffe nicht
„genau ausdruͤckte, und eine Umſchreibung
„ihm
[78] „ihm zu langweilig duͤnkte.„ — So ka-
rakteriſiret Heilmann des Thucydides Schreib-
art — und vielleicht die ſeinige ſelbſt mit, ſo
wie er ſie durch dieſe Ueberſezzung und das
Leſen der Baumgartenſchen Schriften gebildet
hatte. Wie ſticht dieſe Schilderung ab, ge-
gen die, ſo Geddes vom Thucydides macht:
er als ein Schulmeiſter, und Heilmann als
ein Mann von Geſchmack. Schade fuͤr die
Deutſche Litteratur, daß Heilmann ihr ſo
fruͤh entriſſen worden.


GriechiſcheUeberſezzer von ſolchem Geſchmack
finden ſich ſelten; und ſie ſollten ſich doch finden,
weil der Deutſche hiſtoriſche Stil am mei-
ſten durch die Griechen gebildet werden kann.
Und dieſer muß vorzuͤglich gebildet werden:
„denn eine Sprache, die wenig Unterſchied
„in den Zeiten angiebt, die wenig ohne Huͤlfs-
„woͤrter thun, nicht leicht einen Modus fuͤr
„den andern ſezzen, und wenig Aenderung in
„der Reihe der Worte anbringen kann; eine
„ſolche Sprache iſt nicht ſonderlich geſchickt
„zur Geſchichte; und hier muß man ihr alſo die
„groͤßte Huͤlfe geben. *, Und ſo iſt die Deutſche.



„Fer-
[79]

„Ferner! * Die groſſe Manier im Dia-
„logiren ſollen wir auch zu erreichen ſtre-
„ben, die wir an den Alten bewundern?
„Sie wuſten einen Diſcurs mit vieler Ge-
„ſchicklichkeit, aber doch natuͤrlich herbeizu-
„fuͤhren, die Materie unter die unterreden-
„de Perſonen gluͤcklich zu vertheilen, jede Per-
„ſon karaktergemaͤß denken, und gelegent-
„lich ſprechen zu laſſen, und gleichwohl war
„ihr Augenmerk auf das Ganze mit ge-
„richtet. Die Einheit des Endzweckes fuͤg-
„te die mannichfaltige Theile ſo gluͤcklich an
„einander, daß man dem Faden der Unter-
„redung ohne Verwirrung folgen, und den
„Weg, den man zuruͤckgelegt, ganz uͤberſe-
„hen konnte. Sokrates hatte ſeine eigene
„Weiſe. Er wuſte ſeinen Gegner durch
„geſchickte Umwege dahin zu locken, wo er
„ihn haben wollte; und wenn ein Mißtrauen
„entſtand, ſo erlaubte er ihm zuruͤck zu
„kehren, und wenn er es noͤthig findet, ſich
„beſſer vorzuſehen. Seine groͤßte Kunſt aber
„ſezte er daran, die wichtigen Lehren, davon
„er
[80] „er uͤberzeugen wollte, in ihre Elementtheile
„aufzuloͤſen, ſo wie man die harten Speiſen
„zerhackt, um ſie fuͤr ſchwaͤchliche Magen
„etwas verdaulicher zu machen. Er fieng
„ſodann von dem Bekannteſten an, das
„ſein Gegner einzuraͤumen nicht umhin konn-
„te, lockte ihm ein Geſtaͤndniß nach dem an-
„dern ab, und ganz unvermerkt befand er
„ſich am Ziele. Es gehoͤrt freilich kein ge-
„meines Talent dazu, ſich dieſe Manier ei-
„gen zu machen, und ſelbſt einem Cicero iſt
„ſie nicht ſonderlich gelungen.„ Freilich ge-
hoͤrt zu ihr kein gemeines Talent, und unter
den Neuern weiß ich vorzuͤglich nur einen
Shaftesburi, der ſie vom Plato ziemlich
abgelernet, ſo wie er ſelbſt wieder der Lehrer
des Diderot zu ſeyn ſcheint. Warum wol-
len wir aber nicht aus der Quelle ſelbſt ſchoͤ-
pfen, da dieſe Art zu dialogiren der Sprache
ſelbſt viele Biegſamkeit, Abwechſelung und
Munterkeit ertheilt? Unter den Deutſchen
bat ſie Leßing vorzuͤglich in ſeiner Gewalt:
ſowohl in den Luſtſpielen, als der Fabel.



10. Und
[81]

10.


Und nun die Ueberſezzer aus dem Lateini-
ſchen!
Eine nuͤtzliche Bemerkung ſchreibe ich
her, * uͤber die Verſchiedenheit des Lateini-
ſchen und Deutſchen Perioden.


„Jm Deutſchen iſt ein Stil ſchon Perio-
„diſch, wenn auch die Bindewoͤrter der La-
„teiner nicht ſo genau dazwiſchen geſtellet,
„und die Abſaͤzze ſo an einander gekettet ſind.
„Die Roͤmer muſten dieſes, wegen der Kuͤrze
„ihrer Worte thun, wenn ſie nicht in den
„abgeſchnittenen Stil verfallen wollten. Oh-
„ne Artikel, ohne Huͤlfswoͤrter, reich an Par-
„ticipien, fuͤgte ſich ihre Sprache ſo an einan-
„der, daß immer ein Satz in wenigen Worten
„da ſtand. Weil die Seele alſo wenige Zei-
„chen zu faſſen hatte: ſo konnten auch die
„folgenden Begriffe eher angehaͤngt werden,
„wenn nicht die Wichtigkeit der Betrachtung
„den Autor zwang, lieber dem Geiſte viel
„Ruheplaͤzze zu verſchaffen, als das Ohr zu
„fuͤllen. Jm Deutſchen aber, welcher Un-
„ter-
F
[82] „terſchied! wenn wir die Perioden nicht
„ſchleppen wollen, muͤſſen wir ſie mannich-
„mal trennen, und wenn wir nicht ganz zu-
„ruͤckbleiben wollen, muͤſſen wir unſrer Spra-
„che Huͤlfe geben. Es iſt wahr! es iſt dem
„Ueberſezzer nicht erlaubt, den alten Roͤmer
„zum witzigen Franzoſen zu machen, und
„ſeine Lehren in Antitheſen zu verwandeln;
„allein ſeine Lebhaftigkeit muß er ihm erhal-
„ten. Wir ſind nicht ſo albern, daß wir
„einem Tullius, wenn er unter uns aufſtehen
„koͤnnte, nicht anders als friſert zu erſcheinen
„erlaubten: aber ſeinen muntern Blick und
„ſein os rotundum wollten wir auch nicht
„gerne entbehren. Jndeſſen iſt der Unter-
„ſchied zwiſchen dem Lateiniſchen und Deut-
„ſchen Perioden ein neuer Grund, warum die
„Bekanntſchaft mit den Griechen, und auch
„die Ueberſezzungen aus ihnen, faſt noch mehr
„anzurathen ſind, als die Uebungen mit den
„Lateinern. Kann ich wohl dieſes laut ge-
„nug ruffen, damit man mich in Deutſch-
„land allenthalben hoͤre?„ —


Wenn ich aus dem Lateiniſchen Ueberſez-
zungen riethe; ſo waͤre es erſt ihrer Poeti-
ſchen
[83]ſchen Sprache, denn ihres hiſtoriſchen
Stils wegen. Die Poetiſche Sprache!
Ein Deutſcher Horaz wuͤrde unſre Sprache
gewiß bereichern, und unſern Perioden der
Ode beſtimmen, daß er ganz das Ohr fuͤl-
let. Da Ramler das lezte im Deutſchen
am beſten getroffen und uͤberhaupt viele
Kaͤnntniß des Antiken und Deutſchen Wohl-
klanges zu haben ſcheint: von wem ſollen wir
uns einen Deutſchen Horaz lieber wuͤnſchen,
als von ihm? Horaz iſt ſeiner Sprache ganz
Meiſter. Sein Periode wird ein Gemaͤlde,
wo jedes Wort, jedes triftige Beiwort, an
denen er gluͤcklich iſt, eine Figur ausmachet:
die Anordnung dieſer Figuren erhebet dabei
das ganze Gemaͤlde: man verſuche es, Woͤr-
ter aus ihrer Stelle, aus ihrer Region zu
ruͤcken, und das Bild leidet allemal: dies iſt
ein Odendichter, der in jedes Wort Bedeu-
tung legt. Jn der That, es kommt mir vor,
daß Horaz den Griechen das meiſte unter
den Lateiniſchen Dichtern abgelernt: ſeine
Freiheit in Bildung ſchoͤner Graͤciſmen, und
ſein wirklich Griechiſcher Wohlklang wuͤrden
uns in der ſchwerſten Gattung der Gedichte
F 2zei-
[84] zeigen koͤnnen, wie man eine andere Sprache
nachzuahmen haͤtte, wenn nicht Alcaͤus und
Sappho und die uͤbrigen Lyriſchen Griechen
verlohren waͤren.


Die hiſtoriſche Ueberſezzungen waͤren
wieder fuͤr unſern Stil unentbehrlich. „Der
„hiſtoriſche Stil will Kuͤrze, und uns man-
„geln viele Participien; er fodert Sprach-
„naivitaͤten, und das Deutſche giebt ſie nicht.
„Mit wie vielem Reize brauchen nicht die
„Lateiner ihre Jnfinitiven, wenn wir uns im-
„merfort mit unſerm Imperfecto ſchleppen
„muͤſſen: Ille hoſtem aggredi \&c. Die
„Franzoſen haben dies in ihre Sprache uͤber-
„tragen. Unſre Huͤlfswoͤrter, die wir zur
„Bildung des Perfecti brauchen, machen
„den Stil zu weitſchweifig. Die Franzoſen
„haben ihr erzaͤhlendes Perfectum; wir un-
„ſer Imperfectum, aber ſie haben es ja auch.
„Folglich kommen wir immer zu kurz. Jn
„einem Stil, der durch wenig Zierrathen
„abgewechſelt wird, wo die Perioden nicht
„gedehnt, und durch praͤchtige Worte voll-
„geſtopft werden, kommt unendlich viel auf
„ſolche Abaͤnderungen an. Hier muͤſſen wir
„un-
[85] „unſerer Sprache zu helfen ſuchen, und wenn
„ſie uns ihre Huͤlfe entzieht, doch Wendun-
„gen ausdenken, dadurch dieſer Mangel er-
„ſezzt wird. *„ — Jn dieſem Geſichts-
punkt — wie manche Vorzuͤge um das Ver-
gnuͤgen im Leſen, um das Deutſche Ohr,
und die Deutſche Sprache, hat nicht der
Magdeburgiſche Ueberſezzer des Tacitus vor
dem Hamburger.


Und Tacitus iſt mehr fuͤr unſre Zeiten
ein Muſter, als Livius. Jn ſeinem Geiſt
der Erzaͤhlung? gewiß: denn die ſorgfaͤltigen
Erzaͤhlungen von allerlei Wunderzeichen ge-
hoͤrten zu des Livius Zeiten zur Geſchichte,
die ihre Religion unterſtuͤzzen ſollte: die vie-
len eingeſtreueten Reden ſchmecken auch nach
dem Geiſt der damaligen Zeit, wo Beredſam-
keit eine nothwendige Eigenſchaft des Buͤr-
gers war: die enthuſiaſtiſchen Wunder der
Tapferkeit von Perſonen beiderlei Geſchlechts,
belebten einen Roͤmer, einen Republikaner
auch zu einem Patriotismus, der in unſrer
Zeit eine andre Wendung genommen. Hin-
gegen Tacitus mit ſeinen Reflexionen, die in
F 3den
[86] den Geiſt der Begebenheiten dringen, iſt ein
Geſchichtſchreiber fuͤr Deutſche. Und in ſei-
nem Stil auch mehr, als jener. * „Der
„Stil kann durch die verſchiednen Zeiten auch
„beſtimmt werden. Dies iſt eine Anmer-
„kung, die ich dem Gordon aus ſeinen Be-
„trachtungen uͤber den Tacitus abborge.
„Einige Zeiten koͤnnen eine ſtarke braune Far-
„be uͤber die meiſten Gemaͤlde verbreiten,
„wenn andre Zeiten ein hoͤherés und bren-
„nenderes Colorit geben. Gordon erklaͤrt
„daraus den Unterſchied zwiſchen dem Stil
„des Livius und Tacitus. Vielleicht wuͤrde
„ſich auch in den gegenwaͤrtigen Zeiten der
„Stil mehr dem Tacitus als Livius naͤ-
„hern duͤrfen. Unſre Sprache, die ohnehin
„viel weitſchweifiger iſt, als die Lateiniſche,
„fodert dies mit deſto ſtaͤrkerm Rechte. Man
„hat den hiſtoriſchen Stil mit einem ſanften
„Bach verglichen, der ohne Geraͤuſch ſeinen
„gleichen Lauf fortmurmelt: aber man muß
„nur dabei bedenken, daß dieſer Bach immer
„ſeine gehoͤrige Tiefe behalten muß; weil ſich
„ſonſt
[87] „ſonſt das Auge nicht mehr an der Durch-
„forſchung vergnuͤgt, und alſo keine Schoͤn-
„heiten mehr findet.„ Ueberhaupt kleidet
auch eine Nachdrucksvolle Schreibart die
Deutſchen am beſten. Die Points; die
Epigrammatiſche Einfaͤlle; die Wendungen,
und der blendende Witz des Seneka und
Plinius, ſind mehr fuͤr die Franzoſen; und
ein Beaumelle, der in mes penſées ſo
gluͤcklich iſt, kann auch Penſées de Seneque
ſchreiben.



11.


Geſellen Sie nun zu dieſen Alten noch ei-
„nige neuere Auslaͤnder; deren Genie bewaͤhrt,
„und deren Sprache mit der unſrigen ver-
„wandt iſt: was wuͤrden wir nicht unſern
„Ueberſezzern zu verdanken haben?„ Dieſe
neuere Auslaͤnder ſind ohne Zweifel Franzo-
ſen und Englaͤnder, zwiſchen welchen der
Deutſche in der Mitte ſteht.


So wie die Franzoſen vormals von der
Litteratur unſrer Nation urtheilten: ſo urtheil-
F 4ten
[88] ten ſie auch von unſrer Sprache; ich darf
die unwiſſende Urtheile des Mauvillon und
ſo vieler andern nicht wiederholen; ſie laſſen
uns jetzt mehr Gerechtigkeit wiederfahren,
ſeitdem das Journal étranger unſerm Stil,
Premontval und andere ſogar unſerer Spra-
che haben Gerechtigkeit wiederfahren laſſen.
Dem ohngeachtet aber macht die wirklich zu
große Verſchiedenheit der Nationen, ihrer
Denk - und Schreibart, ihrer Sitten und
Sprache bei ihnen noch immer Jrrungen,
die wir ihren mindern Kaͤnntniſſen zuzuſchrei-
ben haben.


Deutſches Ohr, Deutſche Haͤrte,
„Deutſche Rauhigkeit! heißt es noch immer!
„Unſere Sprache ſoll etwas barbariſches
„an ſich haben: ſo wohl wegen der vielen
„Conſonanten, mit denen ſie uͤberhaͤuft iſt,
„als wegen der ſonderbaren (biſarren) Con-
„ſtruktion ihrer Redensarten, die dem Schrift-
„ſteller keines Weges mehr Freiheit, oder
„mehr Huͤlfsmittel gibt, ſondern nur ohne
„Noth die Metaphyſiſche Ordnung der Wor-
„te ſtoͤret.„ Wir wollen dieſe Stelle etwas
beherzigen.


Un-
[89]

Unſere Sprache hat wegen der Conſonanten
etwas barbariſches an ſich:)* und die Fran-
zoͤſiſche wegen der oͤftern Eliſionen, wegen
der vielen unnuͤtzen Woͤrter, die halb ver-
ſchluckt werden, wegen der laufenden Aus-
ſprache, keinen gewiſſen Tritt. Aber das
erhebt ja nicht unſre Sprache, wenn die
andre an einer andern Seite leidet? Nein!
aber die unſere leidet darinn nicht ſo, wie
ein Franzoſe glaubt. Damit unſre Laute
ſich nicht unter den Conſonanten verlieren
moͤgen: haben wir mehr Doppellauter, und
ſtaͤrkere Vokale, als ſie: ſo daß unſre
Sprache eine gewiſſe Doriſche Fuͤlle bekommt,
die in ſtarken Monologen des Trauerſpiels,
in dem vollen Chor einer Cantate, im maͤnn-
lichen Schwunge einer Ode; noch mehr aber
im ernſthaften Lehrgedicht, und in nachdruͤck-
lichen Betrachtungen ſich unſerm Charakter
ſehr anſchmieget. Moͤchte uͤberhaupt nur dieſe
Doriſche Rauhigkeit ſo viel Einfluß in das
Jnnere unſerer Sprache haben, als die Do-
riſche Haͤrte deſto vollere Schoͤnheiten in die
F 5Oden
[90] Oden des Pindars, und in die Aeoliſche
Schriftſteller hat einweben koͤnnen: ſo woll-
ten wir zu den Franzoſen laut ſagen, was
wir ſeit kurzem haben anfangen koͤnnen zu
ſagen: Jhr ſagt! meine Sprache ſchaͤnde
mich! ſehet zu, daß ihr nicht die eurige ſchaͤn-
det: wie einſt der Koͤnigl. Scythe Anachar-
ſis, gegen die Griechen ſein Vaterland ver-
theidigte.


Zweitens: wir haben mehr Hauche in un-
ſerer Sprache, als ſie: und die Aſpiration
gehoͤrt ſo ſehr zum Lieblichen der Rede, als
der Seufzer zu den zaͤrtlichen Worten des
Liebhabers, als der ſchmeichelnde Weſt, zum
Ergoͤtzen des Fruͤhlings: denn mit dieſen hat
ſie einige Aehnlichkeit. Gehet die lieblichen,
zaͤrtlichen, angenehmen
Woͤrter durch: ſie
empfehlen ſich alle durch ein ſanftes h oder ch,
das uns die rauhern Voͤlker ſo uͤbel nachſpre-
chen koͤnnen, die das H, wie z. E. die Ruſ-
ſen, in ein ſcharfes G, das weiche ch, in ein
rauhes cch, faſt wie das Ain der Hebraͤer aus-
ſtoßen muͤſſen: daher das H bei einigen Voͤl-
kern das Schibolet iſt, woran man kennen
kann, daß ſie gebohrne Gergeſener ſind: da
die
[91] die Letten z. E. Jmmel und Eute (ſtatt Him-
mel und Heute) ausſprechen. — Das H
iſt uͤberhaupt die Graͤnze zwiſchen Laut und
Mitlauter: es gibt, nach Gellius Bemer-
kung, dem Worte Haltung, und dem Schalle
Munterkeit: es nimmt dem Vokal etwas vom
Laute, und gibt dem Mitlauter etwas dazu:
es verhindert die gar zu große Oeffnung des
Mundes bei den Vokalen, und die Zerrung
bei den Conſonanten: daher die Griechen,
die die Hauche (Spiritus) bei ihrer Sprache
ſo ſehr brauchten, um inſonderheit das Ypſi-
lon fortzuſtoßen; im Phyſiſchen Verſtande
den Ausſpruch des Horaz verdienen:


‘— Grajis dedit ore rotundo
Muſa loqui.
()

Und doch reicht die Griechiſche Sprache
hierinn nicht an die Morgenlaͤndiſchen, deren
Aſpirationen, (z. E. bei den Hebraͤern das
[...], [...], [...] und [...]) kaum mehr zu beſtimmen ſind.
Die Roͤmer, die ihre Sprache ſo Griechiſch
als moͤglich machen wollten, nahmen daher
auch die Hauche auf, um ihre alte Mundart
zu mildern. Quintilian fuͤhrt an, die Alten
haͤt-
[92] haͤtten aedus, ircus (ſtatt haedus, hircus)
geſprochen: man haͤtte aus dem Griechiſchen
aber das H dazu genommen: ja, wenn man
das Catulliſche Epigramm kennet, das uͤber
hinſidias und hionios (ſtatt inſidias und
ionios) ſpottet: ſo weiß man, daß die Klein-
meiſter von lieblichem Ton ihn endlich zu all-
gemein auch bei den ſanften Vokalen, die ihn
nicht noͤthig hatten, machen wollten. Cicero
aͤrgert ſich, daß er dem Volk zu gefallen,
pulcher und triumphus, ſtatt pulcer und
triumpus ausſprechen muͤſte, und Quinti-
lian
aͤrgert ſich, daß man ſchon ausſchweif-
te, um chorona und praecho zu ſchreiben. *
Die
[93] Die Nordlichen Voͤlker verſchlingen die Aſpi-
ration der Kehle durch den ſtarken Gebrauch
der Zunge, Lippen und des Gaumens, und da
ſie die Lateiniſchen Laͤnder uͤberſchwemmten:
ſo fanden ſie das H unausſprechlich. Es
verlor ſich alſo aus der Jtaliaͤniſchen und
meiſtens auch aus der Franzoͤſiſchen Sprache.
Unſrer Deutſchen Sprache, als einer Origi-
nalmundart blieb es, und mildert alſo recht
ſehr ihre Barbarey der Conſonanten.


„Das Deutſche hat aber ſo biſarre Conſtruk-
„tionen, daß die Metaphyſiſche Ordnung der
„Worte ohne Noth geſtoͤrt wird, und der
„Schriftſteller doch keine Freiheit mehr hat. *
„Zum Exempel! die Metaphyſiſche Ordnung
„der Worte wird geſtoͤrt: denn wie laͤcher-
„lich klingts: Hier au ſoir vint le Comte
„ici par;
und doch ſagen die Deutſchen:
„Geſtern Abend kam der Graf hier an!„ —
Wer von den Deutſchen iſt von dieſem Exem-
pel nicht ſo getroffen, als von einem Blitze,
daß
*
[94] daß er ſo gleich den Eigenſinn der Franzoͤſi-
ſchen Sprache, und ihre Ungelenkigkeit fuͤr
die wahre, einzige Metaphyſiſche Ordnung
der Woͤrter haͤlt, und kuͤnftig immer den
Franzoſen zu Gefallen, und zu Ehre der
Sprachenphiloſophie folgende Conſtruktions-
ordnung einfuͤhret: „weil ihr nicht uns da-
„von habt nicht heute wollen thun den Ge-
„fallen: wir euch ihn werden thun.„ Denn
dies iſt die aͤchte Franzoͤſiſche Conſtruktions-
ordnung (puisque vous ne nous en avez
pas aujourd’hui voulû faire la grace; nous
vous la ferons
); und der Eigenſinn der Franzoͤ-
ſiſchen Conſtruktion, iſt doch die Metaphyſiſche
Ordnung ſelbſt. Wenn man ſich doch ſcheuen
wollte, Sachen in die Welt zu ſchreiben, von
denen man nicht die gehoͤrige Kaͤnntniß haben
kann.


„Jn wie fern Jnverſionen nuͤtzlich oder
„ſchaͤdlich ſind, muß gewiß, aus ganz andern
„Gruͤnden, als ſolchen woͤrtlichen Ueberſez-
„zungen eroͤrtert werden; und die Urſache,
„warum dergleichen Partikeln in der Deutſchen
„Sprache ſo und nicht anders geſezzt werden,
„mag ſich doch wohl koͤnnen Philoſophiſch erklaͤ-
„ren
[95] „ren laſſen.„ Jch verſuche es, ſie Philoſophiſch
zu erklaͤren; — aber nicht die Partikel —
denn jede Sprache hat ihren Eigenſinn; ſon-
dern die Jnverſionen uͤberhaupt: ſo wird ſich
ihre Erlaubniß und Nutzen von ſelbſt zeigen.



12.


Das Hauptgeſez bei der Verbindung der
Worte zu einer ganzen Jdee iſt folgendes: *
„Man laſſe mehrere Jdeen, die zuſammen ei-
„nen Gedanken ausmachen ſollen, in der Ord-
„nung folgen, die der Faßlichkeit des Gedan-
„kens, und dem jedesmaligen Zwecke des Re-
„denden gemaͤß iſt. Nun kann der Zweck des
„Redenden in tauſend Faͤllen einerlei ſeyn;
„alſo wird es eine gewiſſe allgemeine Con-
„ſtruktionsordnung geben. Hundert mal
„aber gibt es einen beſondern Zweck des Red-
„ners, und denn iſt die Sprache die beſte,
„welche raͤumig gnug aufgeſchuͤrzt iſt, um ih-
„re Ordnung nach dieſem Zwecke wenden zu
„koͤnnen.„


Stel-
[96]

Stellet euch zwei Geiſter vor, die ſich ein-
ander ihre Gedanken, und blos Gedanken un-
mittelbar mittheilen; ſo wird die Ordnung,
in der das eine Weſen ſie denket, auch zugleich
die ſeyn, in der ſie das andere erblicket. So
wie die Jdeen bei dem einen ſich entweder
aus ſeinem innern Grunde hervorwickeln,
oder ſo wie es ſie aus den Dingen außer ſich
ſchoͤpfet: ſo theilet es dieſelben auch mit.
Eine ruhige Venunft, die nichts als Gedan-
ken einer andern Vernunft ſaget: gehet alſo
den gewoͤhnlichen Pfad der Zuſammenſezzung
der Begriffe; ſie zeiget den Gegenſtand zuerſt
und ihr Urtheil daruͤber an. Hier iſt alſo
der Bau eines Perioden ſo regelmaͤßig be-
ſtimmt, daß, nach der Arabiſchen Proſodie zu
reden, jedes Wort einen Pfoſten und Saͤule
ausmacht, der eben hier an ſeinem Orte ſtehet.


Betrachtet eine Philoſophiſche Sprache;
waͤre ſie von einem Philoſophen erdacht: ſo
huͤbe ſie alle Jnverſionen auf: kaͤme eine
allgemeine Sprache zu Stande: ſo waͤre bei
ihren Zeichen nothwendig jeder Plaz und jede
Ordnung ſo beſtimmt, als in unſrer Deka-
dik. So lange wir aber noch keine durch-
aus
[97] aus Philoſophiſche Sprache haben, die blos
fuͤr die Weltweisheit erfunden waͤre: ſo nehmt
die, die am meiſten zur Weltweisheit ge-
braucht wird, die Lateiniſche, nehmt ſie, wie ſie
in den Buͤchern der Weltweisheit iſt, wenn
ſie Lehrſaͤzze und trockene Beweiſe vortraͤgt;
wie iſt ſie? ohne Jnverſionen meiſtentheils.


Nun ſtellet euch zwei ſinnliche Geſchoͤpfe
vor, davon der eine ſpricht, der andre hoͤret:
Dem erſten iſt das Auge die Quelle ſeiner
Begriffe; und jeden Gegenſtand kann er in
verſchiedenen Geſichtspunkten ſehen; dem
andern zeiget er dieſen Gegenſtand, und es kann
auf eben ſo verſchiedenen Seiten geſchehen.
Nun betrachtet die Rede, als ein Zeichen die-
ſer Gegenſtaͤnde: ſo habt ihr den Urſprung
der Jnverſionen. Je mehr ſich alſo die Auf-
merkſamkeit, die Empfindung, der Affekt auf
einen Augenpunkt heftet; je mehr will er dem
andern auch eben dieſe Seite zeigen, am er-
ſten
zeigen, im helleſten Lichte zeigen — und
dies iſt der Urſprung der Jnverſionen. Ein
Beiſpiel: Fleuch die Schlange! ruft mir
jemand zu, der mein fliehen zu ſeinem Haupt-
augenmerk hat, wenn ich nicht fliehen wollte. —
GDie
[98]Die Schlange fleuch! ruft ein anderer,
der nichts geſchwinder will, als mir die Schlan-
ge zeigen; fliehen werd ich von ſelbſt, ſo bald
ich von ihr hoͤre. — Er hat mir das Geld
geſtohlen; und kein anderer; Er hat mir
das Geld geſtohlen; ich weiß es gewiß; das
Geld
hat er mir geſtohlen (und keinen Ring);
Mir hat er das Geld geſtohlen, und keinem
andern; geſtohlen hat er mir das Geld (nicht
abgeborgt): wie viel Veraͤnderung macht hier
nicht die Jnverſion in der Wendung des Ge-
dankens.


Entſpringt alſo die Jnverſion von der ſinn-
lichen Aufmerkſamkeit: ſo muß bei einer noch
ganz ſinnlichen Nation ihre Sprache unregel-
maͤßig und voll Veraͤnderungen ſeyn: wie die
Gegenſtaͤnde ins Auge fallen, ſo ſaget ſie die-
ſelbe; eine Grammatikaliſche Conſtruction iſt
noch nicht eingefuͤhrt. So ſind noch jetzt die
Sprachen der Wilden, und alle alte Spra-
chen, die urſpruͤnglich ſind, und das Gepraͤ-
ge der erſten ſinnlichen Lebensart fuͤhren, ſind
voll Jnverſionen. Geberden, und Accent
kommt zu Huͤlfe, um dies Chaos von Worten
verſtaͤndlich zu machen. — Noch immer ſpricht
man
[99] man von den aͤlteſten Sprachen, als waͤren
ſie von GOtt, oder einem Philoſophen erfun-
den, und waͤren aus ſeinem Gehirn mit aller
Ruͤſtung geſprungen, wie Pallas aus dem Ge-
hirn des Jupiters. Alles, was wir ſchoͤnes
in den aͤlteſten Sprachen finden: iſt erſt ſpaͤ-
ter in ſie gekommen, nur wir kennen die er-
ſten unfoͤrmlichen Zeiten nicht; daher ſchei-
nen ſie uns gleich im Anfange im Glanz.
Nehmet das ſinnreichſte Spiel, wo ein Euler
durch die Berechnung der Faͤlle der Wahr-
ſcheinlichkeit die weiſeſte Anordnung entdeckt;
iſt es im Anfange ſo geweſen — nichts als ei-
ne Zuſammenhaͤufung ungefaͤhrer Wuͤrfe; ei-
ne Folge von Verſuchen, bis Verſuche endlich
Kunſt in daſſelbe brachten —


So bald gewiſſe Dinge mit beſtimmten
Worten fortgepflanzt
wurden; wie dies
durch die erſten Lieder geſchahe; ſo fieng ſich
dieſes unordentliche Chaos an zu ſenken; man
ſuchte die Ordnung der Worte aus, die dem
Lernenden am faßlichſten waren; das Syl-
benmaas muſte ſie einpaſſen, und ſo ward ſie
zwar kein Geſez, keine Regel, aber ein Muſter,
ein Praͤjudicat: und man weiß, daß alle Voͤl-
G 2ker
[100] ker nach bloßen Gebraͤuchen leben, ehe ſie Ge-
ſezze haben. Die Gebraͤuche werden zu
Gewohnheiten, und ſo ward auch die Con-
ſtruktionsordnung dazu, doch daß ihre Ueber-
tretung noch keine Suͤnde war.


Endlich naͤherte ſie ſich dem Anſehen ei-
nes Geſezzes, da die Buͤcherſprache auf-
kam; jezt fiel die Aktion weg, die vorher die
Jnverſionen erlaͤutert hatte. „Denn dem
„Sprechenden helfen ſeine Gebaͤrden und der
„Ton der Stimme den wahren Verſtand be-
„ſtimmen; da hingegen alles dies im Buche
„wegfaͤllt.„ * Man muſte alſo einer ge-
wiſſen Ordnung folgen, um dem Leſenden
verſtaͤndlich zu werden; indeſſen war dieſe
noch ſehr frei, wie die urſpruͤnglichen aͤlteſten
Griechiſchen und Roͤmiſchen Dichter bezeugen,
denen keine neuere Sprache ihre Veraͤndrun-
gen nachmachen kann.


Man beſtimmte die Ordnung der Wor-
te
ſo lange, bis man endlich den Proſaiſchen
Perioden herausdrechſelte, der der Ordnung
der Jdeen, ſo wie ſie ſich der Verſtand bildet,
folg-
[101] folgte, und doch auch das Ohr und das Auge
zu Rathe zog. Und er ward alſo in ſeiner
Struktur eine Anordnung von Bildern, ſo
wie ſie ſich dem Auge darſtellen wuͤrden, von
Jdeen, wie ſie ſich der Verſtand denkt,
von Toͤnen, wie ſie das Ohr fodert, daß
es mit Wohlluſt erfuͤllet werde. Der bloße
Verſtand, der nichts mit Auge und Oho
zu thun hat, folgt blos der Ordnung der
Jdeen, und hat alſo keine Jnverſionen; ſo
iſt der Logiſche Periode. Er verwirft jede
Veraͤnderung, weil das Einfache das einzige
Deutliche iſt, und jede Jnverſion wenigſtens
einen moͤglichen Fall macht, daß eine dop-
pelte Beziehung entſpringen kann.



13.


Nun unterſuchen wir hiernach die neuern
Sprachen. Je mehr eine derſelben von Gram-
matikern und Philoſophen gebildet worden;
deſto haͤrtere Feſſeln traͤgt ſie: je mehr ſie
ihrem urſpruͤnglichen Zuſtande nahe iſt; deſto
freier wird ſie ſeyn. Je mehr ſie lebt: deſto
G 3mehr
[102] mehr Jnverſionen; je mehr ſie zur todten Buͤ-
cherſprache zuruͤckgeſezzt iſt; deſto mindere.
Alles beweiſet die Franzoͤſiſche Sprache:
Diderot klagt, daß ihr die Grammatiker der
mittlern Zeiten, die ihre Sprachkunſt gebildet,
Feſſeln angelegt, unter denen ſie auch wirklich
noch jetzt ſeufzet. Wegen dieſes einfoͤrmigen
Ganges mag es vielleicht ſeyn, daß man ſie
eine Sprache der Vernunft nennet; daß ſie
eine ſo ſchoͤne Buͤcherſprache zum Leſen iſt.
Aber fuͤr das Poetiſche Genie iſt dieſe Spra-
che der Vernunft ein Fluch, und dieſe ſchoͤne
Buͤcherſprache hat, um im Reden nicht zu
ſchleppen, den fluͤchtigen und ungewiſſen Tritt
annehmen muͤſſen, der fuͤr die hohe Deklama-
tion dieſe galante Sprache Nervenlos macht.
Wenn es von unſern jetzigen Sprachen gilt,
„daß wir eine Menge beſonderer Zwecke gar
„nicht durch die Wortfuͤgung anzuzeigen ver-
„moͤgend ſind: ſondern ſie nur muͤſſen aus
„dem Zuſammenhange errathen laſſen:„ * ſo
iſt dieſe Unvollkommenheit gewiß vorzuͤglich
bei der Franzoͤſiſchen Sprache.


Aber
[103]

Aber ſo iſt doch ihre Sprache eine Spra-
che der Vernunft, weil ihre Ordnung der
Metaphyſiſchen Reihe getreuer bleibt? Es
ſey ſo! getreuer! aber getreu bleibt ſie ihr
nie, und keine menſchliche Sprache ſinnlicher
Geſchoͤpfe kann ihr treu bleiben; denn die
Franzoͤſiſche Sprache hat ſo gut, wie jede an-
dere, unphiloſophiſchen Eigenſinn — und nun
ſchlieſſe ich mit einemmal! ihre Ordnung iſt
ſchlechter, als die unſere, weil die unſrige raͤu-
miger aufgeſchuͤrzt iſt, um ihre Ordnung nach
jedem Zwecke lenken zu koͤnnen. Vollkom-
menheit
kann keine Sprache erreichen; die
groͤßte Poetiſche Schoͤnheit auch nicht: ſie
bleibt alſo in der Mitte, und ſucht: Behag-
lichkeit,
* — und zu der gehoͤren auch Jn-
verſionen.


Die Sprache hat den Punkt der Behag-
lichkeit
getroffen, die Poeten, Proſaiſten,
und Philoſophen ein leichtes Werkzeug iſt; die
beiden erſten nutzen von den Jnverſionen:
wenn nun ihr Nutzen dem dritten nicht
G 4nach-
[104] nachtheilig iſt; ſo koͤnnen und muͤſſen ſie
bleiben.


Ja! aber beweiſe, daß ſie ihm nutzen! Der
Franzoſe leugnet ſchlechterdings, daß ſie ihm
Freiheit und Huͤlfsmittel verſchaffen: und denn
beweiſe auch, daß ſie dem Weltweiſen nicht
ſchaden: ſonſt muß man einen kleinern Nutzen
dem groͤßern aufopfern. Jch will es verſuchen.


Jch fange vom leichteſten an. Das Ohr
will einen Perioden, der es durch ſeinen Wohl-
klang fuͤllet, der gnug abwechſelt, und nicht zu
oft wiederkommet. Kann dies eine Rede ohne
Jnverſionen erreichen? Schwerlich! ein
Periode ſchließt ſich, wie der andre, wenn er
ſeine Meinung geſagt hat; das ſtolze Ohr
wird durch einerlei Cadencen gequaͤlt: es em-
pfindet es, die Jnverſionen in der Sprache ſind
eben ſo noͤthig, als das Unebenmaaß in der
Malerei, und in der Muſik der Mißlaut. Die
Franzoͤſiſche Sprache hat ja noch immer viele
Jnverſionen — und doch wird ein Griechiſches
Ohr in ihrem Poetiſchen und gewoͤhnlichen
Proſaiſchen eine große Monotonie bemerken,
die oft bei dem leztern d[en] Conſtructionen un-
ſers Canzleiſt[il]s gleicht.


Dies
[105]

Dies gienge endlich wohl noch hin — aber
der Schriftſteller, der fuͤrs Auge, fuͤr die
Einbildungskraft ſchreibt, der durch die Ein-
bildungskraft, Aufmerkſamkeit, Empfindung, ja
oͤfters Leidenſchaft erregen will — der braucht
ſie nothwendiger. Er malet der Einbildungs-
kraft ein Gemaͤlde hin, wo jedes Wort von
ſeinem Orte Schoͤnheit erhaͤlt — und die Ord-
nung der Phantaſie iſt doch gewiß nicht die
Ordnung der kalten Vernunft. Dieſe Jn-
verſion iſt, um die Aufmerkſamkeit zu erregen,
jene, um ſie zu erhalten; dieſe uͤberraſchet,
jene beweget die ganze Seele: dieſe gehoͤrt
zum Hinterhalt, um unverſehens hervor zu
brechen; jene gehoͤren zur Schlachtordnung,
daß jedes Wort an ſeinem Orte trift, und in
ſeinem Lichte erſcheint. Hiedurch bekommt
die Proſe Munterkeit, die Poeſie Feuer; und
die muntern Franzoſen haben es bis zur mun-
tern Proſe des Umganges gebracht; und die
Jnverſionen, die ſich unſre gute Poeten haben
erlauben koͤnnen; gehoͤren mit zur Deutſchen
Freiheit. *


G 5Aber
[106]

Aber wie? leidet nicht die Philoſophiſche
Sprache der Deutſchen darunter? Was das
anbetrift: ſo fuͤhlen wir weit eher Feſſeln in
der Dichteriſchen, als Philoſophiſchen Sprache;
auch wir fuͤhlen es: „daß wir eine Menge
„beſonderer Zwecke gar nicht durch die ordent-
„liche Wortfuͤgung anzeigen koͤnnen; die wir
„nur muͤſſen aus dem Zuſammenhange errathen
„laſſen.„ Unvollkommenheit unſrer Sprache
von der ſinnlichen Seite; aber voll der Seite
der Vernunft?„


„Zur Weltweisheit * ſcheint die Deutſche
„Sprache, mehr als irgend eine von den le-
„bendigen Sprachen, ausgebildet zu ſeyn. Sie
„iſt beſtimmt und reich genug, die feinſten
„Gedanken des Metaphyſikers in ihrer nack-
„ten Schoͤnheit vorzutragen, und von der
„andern Seite nachdruͤcklich und bilderreich
„genug, die abgezogenſten Lehren durch den
„Schmuck der Dichtkunſt zu beleben. Je-
„nes hat ſie Wolfen und dieſes Hallern zu
„danken. Zwei ſolche Schriftſteller ſind genug,
„einer Sprache von einer gewiſſen Seite die
„gehoͤrige Ausbildung zu geben. Die Na-
„tion
[107] „tion hat ihnen auch ſo zu ſagen das Muͤnz-
„recht zugeſtanden; denn die mit ihrem Stem-
„pel bezeichnete Ausdruͤcke, ſind in dem Ge-
„biete der Weltweisheit nunmehr gaͤng und
„gaͤbe worden.


„Der Philoſophiſche Geiſt hat ſich bei uns
„auf alle Theile der Gelehrſamkeit verbrei-
„tet, und giebt unſern ſchoͤnen Schriften
„ſelbſt eine gewiſſe Teinture von Ernſt und
„Gruͤndlichkeit, die uns eigenthuͤmlich iſt, und
„einem Auslaͤnder den Karakter der Nation
„zu erkennen geben muß. Hingegen muͤſſen wir
„von auswaͤrtigen Leſern aus eben der Urſach der
„Dunkelheit beſchuldigt werden, ſo lange ſie
„noch mit unſerer Litteratur nicht genug be-
„kannt ſind. Wenn uns Deutſchen die
„Schriften eines Paſcal, Fontenelle, Mon-
„tesquieu
und einiger andern Franzoͤſiſchen
„Weltweiſen nicht bekannt waͤren; ſo wuͤr-
„den wir uns in die neuern Schriften dieſer
„Nation gleichfalls nicht zu finden wiſſen.
„Und wie viel mehr muß dieſes den Auslaͤndern
„in Anſehung unſrer Litteratur wiederfahren,
„da bei uns die Philoſophie eine merkliche
„Gewalt uͤber die Sprache gewonnen, und
„wir
[108] „wir zur Verbeſſerung der ſchoͤnen Wiſſen-
„ſchaften, ſo zu ſagen, den Weg uͤber die
„Metaphyſik genommen haben.„


Jn dieſen Geſichtspunkten hat unſre Spra-
che vor der Franzoͤſiſchen voraus, und ſollte
es alſo Gelehrten noͤthig geſchienen haben,
dieſe Freiheiten aufzuopfern: „ſeit dem ſie
„Philoſophie und Franzoͤſiſche Sprache ſtudirt
„haͤtten.„* Philoſophie und Franzoͤſiſche
Sprache — ein Paar, was ſich hier ſehr
fremde zuſammen findet.



14.


Es iſt gut, daß ein Franzoſe es nicht unter-
nimmt, uͤber unſre Sylbenmaaſſe zu urthei-
len: ſein Ohr iſt zu einer Monotonie ver-
woͤhnt, und es wuͤrde ihm, wie einem unge-
lenkigen Alten, gehen, der ſeinen muntern Kna-
ben das Springen verbeut, weil er ſelbſt nicht
mit ſpringen kann. Einem Franzoſen kann
man es ſchwerlich begreiflich machen, „daß
„unſre lange und kurze Sylben von ſo ver-
„ſchiedener Art ſind, daß man, um dieſe Nuan-
„cen
[109] „cen richtig zu bezeichnen, auſſer dem gewoͤhn-
„lichen ⏑ und ̅ wenigſtens noch drei ver-
„ſchiedene Zeichen haben muͤſte, daß unſer
„Hexameter alſo durch die Kraft eines Ge-
„nies ſich dem Hexameter der Alten unge-
„mein naͤhern koͤnne.„*


Jch wollte, da ich von der Ueberſezzung
aus den Alten redete, die Materie nicht zer-
reißen: jezt ſezze ich die vornehmſten Bemer-
kungen der Litteraturbriefe mit einigem Kriti-
ſchen Urtheil hieher:


Ueber den Hexameter.


Der Deutſche Ueberſezzer des Rabelais,
„Huldrich Ellopoſcleros
(wahrſcheinlich
„Johann Fiſchart; denn ελλοπος κληρος
„heißt, einer, den das Loos der Fiſche getrof-
„fen, und die Ueberſezzung des Philipp von
Marnix von Fiſchart, iſt dem Deutſchen
Rabelais ſehr gleich) hat unter ſeinen Zu-
„ſaͤzzen, den Anfang eines ſcherzhaften Hel-
„dengedichts in gereimten Deutſchen Hexa-
„metern,
[110] „metern, und eine Zueignung an die Deutſche
„Nation in Hexametern und Pentametern, wo
„ſich nicht blos Pentameter mit Pentameter,
„ſondern auch jedes Hemiſtichion mit dem an-
„dern reimet. Das war 1617. Einige
„Jahre nachher gab Alſted in ſeiner voll-
„ſtaͤndigen Ausgabe der Encyklopaͤdie ein Mu-
„ſter von Deutſchen Hexametern. Von Al-
„ſted bis auf Heraͤus iſt des Deutſchen Hexa-
„meters ſelbſt nicht in den Lehrbuͤchern der
„Dichtkunſt gedacht, wo doch Muſter in an-
„dern Lateiniſchen Sylbenmaaſſen, in dem
„Alcaiſchen z. E. vorkommen.* Nach He-
„raͤus
gaben bald Omeis, bald Gottſched
„nach allen ihren Kraͤften Beiſpiele davon; bis
„endlich andere Maͤnner ins Spiel traten, die
„der Sache nicht durch ihren Kritiſchen Rich-
„terſpruch, ſondern durch ihren ſtillſchweigen-
„den Gebrauch den Ausſchlag gaben. Der
„Verfaſſer des Meßias und des Fruͤhlings
„ſchienen ſich das Wort gegeben zu haben, und
„traten faſt zu gleicher Zeit mit Werken in
„dieſer Versart hervor, auf deren noch im-
„mer wachſenden Beifall, ich allein die Hoff-
„nung
[111] „nung gruͤnde, daß ſich der Deutſche Hexa-
„meter erhalten werde. Man ſezze aber, das
„Ungluͤck haͤtte es gewollt, und der Verfaſ-
„ſer des Nimrods waͤre jenen beiden Dich-
„tern im Gebrauch deſſelben zuvorgekommen
„(wie er ſich deſſen auch in allem Ernſte ruͤh-
„met). Wuͤrde er wohl einen einzigen Nach-
„folger bekommen haben, wenn ſeine Hexa-
„meter auch ſchon zehnmal richtiger und wohl-
„klingender geweſen waͤren, als ſie in der
„That nicht ſind?„*


Klopſtock ſezzte vor ſeinen Meßias, eine Ab-
handlung von der Nachahmung des Grie-
chiſchen Sylbenmaaſſes im Deutſchen,

ein Fragment, „das in ſeiner Art kein ſchlech-
„teres Fragment, als bisher der Meßias
„ſelbſt iſt, worinn zwar nicht alles geſagt
„wird, aber was geſagt wird, iſt vortreflich.
„Nur muß man ſelbſt uͤber die alten Syl-
„benmaaſſe nachgedacht haben, wenn man
„alle die ſeinen Anmerkungen verſtehen will,
„die Herr Klopſtock mehr im Vorbeigehen
„als mit Vorſaz zu machen ſcheinet. Der
„Pro-
[112] „Proſaiſche Vortrag des Dichters gefaͤllt mir
„ſehr wohl, und die ganze Abhandlung iſt
„ein Muſter, wie man von Grammatikaliſchen
„Kleinigkeiten ohne Pendanterie ſchreiben
„ſoll.„ * Kurz! wenn einige Grammati-
ker die Abhandlung des Dionys von Hali-
karnaß guͤlden genannt: ſo kann man die bei-
den vor dem Meßias, und die uͤber den Poe-
tiſchen Stil mit mehrerem Rechte ſo nennen.
Klopſtock fand es hierinn moͤglich, dem Grie-
chiſchen und Lateiniſchen Hexameter ſo nahe
zu kommen, daß er groͤßern Werken einen
Vorzug gaͤbe, den wir durch unſre gewoͤhnli-
che Sylbenmaaße nicht erreichen koͤnnen. Er
fand es moͤglich, ohne doch der Proſodie der
Alten ſo genau nachkommen zu doͤrfen, als
Uz in ſeinem Gedichte: der Fruͤhling, und oh-
ne ihm die Vorſchlagsſylbe geben zu muͤſſen, die
Kleiſt in ſeinem Fruͤhlinge der Welt ein-
fuͤhrte.


Nirgends ward er ſo ſehr Mode, als in
der Schweiz: ſie ſahen ihn vor ſo vollkom-
men an, „daß es nichts weiter bedoͤrfe, als
„ihn zu gebrauchen, um ſich der ſeltenſten
„Wirkun-
[113] „Wirkungen des Wohlklanges und des Poe-
„tiſchen Ausdrucks zu verſichern. Sie
„wuͤnſchten ſich unter einander Gluͤck, daß
„eben dieſelben Genien, die den Muth ge-
„habt, die erhabenſten Wahrheiten der irr-
„diſchen Wiſſenſchaft zum Gegenſtande ihres
„Geſanges zu nehmen, und ſich in die Olym-
„piſchen Sphaͤren, den Wohnplaz hoͤherer
„Naturen, zu ſchwingen; uns auch den wah-
„ren heroiſchen Vers, den Hexameter der
„Griechen und Roͤmer, in aller ſeiner Ver-
„ſchiedenheit und ſchoͤnſten Harmonie hervor-
„gebracht haben.„ * Ein Gedicht in He-
xametern folgte auf das andere. Noah und
Jacob und Joſeph und Rahel und Abraham
und Telemach und Suͤndfluthen und Frag-
mente, und Hymnen, und Briefe, lebendige
und todte — keinem Menſchen kam es ein,
ihn gegen den Hexameter der Alten recht zu
pruͤfen — bis es der that, der vielleicht ſelbſt
die haͤrteſten unter allen geſchrieben hatte:
Oeſt, der Verfaſſer des Siechbettes.


Hier
H
[114]

Hier iſt der Titel ſeiner neuen Ausgabe:
Oeſts Verſuch einer Kritiſchen Proſodie:
oder Anmerkungen und Regeln uͤber das Syl-
benmaas der Alten, vornehmlich Griechen
und Lateiner, nebſt einer Beurtheilung des
neuern Deutſchen Hexameters und der ver-
miſchten feineren Sylbengroͤßen bei einigen
unſerer juͤngern Dichter: 1765. Der Ver-
faſſer hat eine groͤßere Kenntniß der Deut-
ſchen Sprache, als alle Beurtheiler der Syl-
benmaaße vor ihm; ein genaues Gefuͤhl der
Rhythmik der Alten; eine große Beleſenheit
und eine Geduld, die nicht jedermanns Ding
iſt. Allein bei allem dieſen iſt ſeine Kritiſche
Proſodie wuͤſte; Finſterniß auf der Tiefe,
und Winde, die das Gewaͤſſer bewegen. Eine
dunkle affektirte Schreibart, in der die Jdeen
ſelbſt nicht im gehoͤrigen Licht erſcheinen.
Weitlaͤuftigkeiten, wo Kuͤrze zugereicht haͤtte:
Unordnung in den Stuͤcken, und Stuͤcke, die
kein Ganzes ausmachen. Vielleicht waͤre es
alſo beſſer geweſen, wenn der Herr Pfarrer:
Johann Peter Muͤller ſeines Herrn Ober-
inſpectors Anmerkungen nicht blos herausge-
geben,
[115] geben, ſondern, geordnet, gefeilt, und er-
leuchteter herausgegeben haͤtte.


Ramler, einer der einſichtvolleſten
„Kunſtrichter Deutſchlandes, dem — und
„dem faſt allein — wir die feinſten Anmer-
„kungen uͤber den Wohlklang Deutſcher Ge-
„dichte zu danken haben, nahm ihn unter
„ſein Feld der Beobachtung, theils im Bat-
„teux,
theils (wenn ich mich nicht irre) im
„18ten Theil der Litteraturbriefe.* Und
„dieſe haben hin und wieder ſo davon geur-
„theilt.


„Haben wir den Griechiſchen oder Roͤmi-
„ſchen Hexameter in aller ſeiner Verſchie-
„denheit und ſchoͤnſten Harmonie? Leute ſoll-
„ten dies wenigſtens nicht behaupten, die die
„Natur der Griechiſchen und Roͤmiſchen Poe-
„ſie und auch die Natur der unſrigen kennen
„wollen. Jene haben ein Sylbenmaas, das
„aufs genaueſte beſtimmet, und gleichſam aus-
„gerechnet iſt, ſie haben wenige Sylben, die
„lang und kurz koͤnnen gebraucht werden,
„ſchon der Zuſammenſtoß zweier Conſonanten
H 2„wird
[116] „wird von ihnen gehoͤrt und macht eine Syl-
„be lang u. ſ. w. Wir haben nichts derglei-
„chen; wir richten uns blos nach einer zu-
„weilen ziemlich unbeſtimmten Ausſprache.
„Faſt alle einſylbichte Woͤrter, deren wir ei-
„ne ſehr große Menge haben, koͤnnen nach Be-
„lieben lang oder kurz gebraucht werden; hiezu
„kommt, daß wir gezwungen ſeyn, uns an-
„ſtatt der Spondaͤen mehrentheils der Tro-
„chaͤen zu bedienen, daß wir ſehr wenige Dak-
„tylen haben u. ſ. w.„ Blos dieſe beide lezte
Punkte beweiſen, daß ein Vers, wo es einer-
lei iſt ̅ ̅ oder ̅ ⏑; entweder ̅ ⏑ ⏑ oder
̅ ⏑ ̅ oder gar ̅ ̅ ⏑ zu ſezzen, ohnmoͤglich
eben derſelbe Vers der Alten ſeyn kann, in-
dem jedes Sylbenmaas aufs genaueſte be-
ſtimmt war.


„Wir koͤnnen alſo blos den alten Hexame-
„ter auf gewiſſe Weiſe nachahmen, und da
„unſre Tonmeſſung in vielen Stuͤcken noch
„gar nicht unter gehoͤrige Regeln gebracht
„iſt: ſo muß indeſſen das Ohr hauptſaͤchlich
„die Richtigkeit des Deutſchen Hexameters
„entſcheiden. Dieſes muß am ſicherſten be-
„ſtimmen, ob ein Wort an einem gewiſſen
„Orte
[117] „Orte vortheilhafter lang oder kurz gebraucht
„werden koͤnne: dieſes muß uns lehren, daß
„man auf einen Trochaͤen nicht einen Dakty-
„lus muͤſſe folgen laſſen, deſſen erſte Sylbe
„lang oder kurz ſeyn kann, weil ſonſt das
„Sylbenmaas verwirrt wird, und derglei-
„chen mehr; alsdenn erfolget ſtatt der Har-
„monie eine unausbleibliche Verwirrung, und
„das Ohr wird weit mißvergnuͤgter, als bei
„einer noch ſo unharmoniſchen Proſe.


„Folgendes ſind alſo die allgemeinen Re-
„geln des Deutſchen Hexameters. Die Laͤnge
„und Kuͤrze muß nach dem Accente, der Aus-
„ſprache gemaͤß, genau beobachtet werden;
„die Daktylen muͤſſen insbeſondere, ſo viel
„moͤglich, rein ſeyn; keine Endung muß einer
„andern, oder der Mitte des Verſes allzuſehr
„aͤhnlich ſeyn; kein Hexameter muß auf zwei-
„erlei Art koͤnnen ſcandiret werden. Der
„Abſchnitt muß, ſo viel moͤglich, im dritten
„Fuß und maͤnnlich ſeyn.


„Wir haben in unſerer Sprache einen
„Mangel an Spondaͤen, und dieſer Mangel
„entzieht dem Deutſchen Theater keinen gerin-
„gen Theil von dem geſezten Wohlklange, den
H 3„die
[118] „die Griechiſchen und Lateiniſchen Hexameter
„haben. Solten wir alsdenn die Spondaͤen,
„die uns die Sprache noch giebt, nicht ſorg-
„faͤltig zu Rath halten? Unſre lange Sylben
„werden ganz genau durch das Zeitmaas der
„Ausſprache beſtimmt; und dieſes hangt ent-
„weder von der Natur der Sylbe ſelbſt ab,
„welche eine merklich laͤngere Zeit zum Aus-
„ſprechen erfodert, oder von dem Accent, den
„wir in der Ausſprache drauf legen. Muͤſ-
„ſen wir nun nicht zweiſylbige Woͤrter, de-
„ren Sylben einerlei Laͤnge des Zeitmaaßes
„haben, als natuͤrliche Spondaͤen anſehen,
„dafuͤr wir der Sprache Dank ſchuldig ſind?
„z. E. Umgang, Schickſal, Ungluͤck, Aufruhr,
„Freundſchaft ꝛc. Dieſe muͤſſen wir alſo nie
„als Trochaͤen und noch weniger als Dakty-
„len gebrauchen.


„Aus Mangel der Spondaͤen muͤſſen wir
„oft Trochaͤen gebrauchen. Das Ohr ver-
„liert etwas dabei, und der Hexameter be-
„kommt einen weniger maͤnnlichen Klang,
„wir muͤſſen ihn alſo durch Trochaͤen ſo voll-
„klingend zu machen ſuchen, als es moͤglich
„iſt. Die Trochaͤen muͤſſen ſich alſo mit ei-
„ner
[119] „ner beſtimmten langen Sylbe anfangen, daß
„der Leſer nie verleitet werde, ſie Jambiſch zu
„leſen: die Daktylen, die wir mit einmiſchen,
„muͤſſen ſehr rein ſeyn, und dem Ohr die dop-
„pelte kurze Sylbe merklich zu vernehmen
„geben. Durch dieſen geſchwindern Fall
„werden die Trochaͤen gleichſam kontraſtirt
„und gehoben, ihr langſamer Gang faͤllt
„deutlicher ins Gehoͤr, und naͤhert ſich dem
„Spondaͤiſchen. Wenn man aber Trochaͤen
„nach dem Sylbenmaas Jambiſch leſen muß,
„wenn man eine natuͤrlich lange Sylbe bald
„im Trochaͤen lang, bald wieder in Dakty-
„len kurz gebraucht findet: ſo verſchwindet
„dem Leſer die Harmonie des Verſes.


„Man hat es ſich auch, wie mich duͤnkt,
„zu leichtſinnig angewoͤhnt, die einſylbigen
„Woͤrter als gleichguͤltig in der Proſodie zu
„betrachten. Allein die Ausſprache, oder
„der Accent, den der Nachdruck der Rede
„auf ein einſylbiges Wort legt, beſtimmt ſeine
„Laͤnge oder Kuͤrze in den meiſten Faͤllen ganz
„genau, und das Ohr wird ſehr beleidigt,
„wenn es Sylben kurz hoͤren muß, die doch
„der Nachdruck und die Ausſprache lang
H 4„macht
[120] „macht — und ſo umgekehrt. Je groͤßern
„Vorrath nun unſre Sprache an einſylbigen
„Woͤrtern hat; deſto genauer muͤſſen wir in
„Beobachtung der Proſodiſchen Regeln ſeyn.
„Hier darf uns die Proſodie der Griechen
„und Roͤmer, die uͤberdem auf unſere ſchwer-
„faͤlligere und vollſylbige Sprache nicht ap-
„plikabel iſt, gar nicht zur Regel dienen. Die
„einſylbigen Woͤrter, die ſie in ihrer Sprache
„als gleichguͤltig anſahen, moͤgen wirklich in
„ihrer Ausſprache ein mitleres Maas gehabt
„haben: oder das Maas aller uͤbrigen Syl-
„ben war auch ſo genau beſtimmt, daß die
„wenigen ancipites keinen Mißklang in der
„Harmonie machen konnten. Dies iſt bei-
„des aber nicht bei uns. Die Natur unſrer
„Sprache ſcheint auch ſelbſt das Tonmaas
„zu beſtimmen, und vielleicht auf folgende
„Weiſe: Alle einſylbige Nomina ſind immer
„lang; die einſylbige Verba auch, nur iſt
„und hat ſcheint davon eine Ausnahme zu
„machen, das lang und kurz iſt; die einſyl-
„bigen Nomina mit ihrem Artikel, und die
Verba mit ihrem Vorwort ſind offenbar
„Jamben, und ein einſylbiges Adiectiuum,
„das
[121] „das kurz gebraucht wird, beleidigt faſt alle-
„zeit das Ohr. Unter allen uͤbrigen einſyl-
„bigen Woͤrtern, die Partikeln und Vorwoͤr-
„ter ſind, gibts wenige lange; die meiſten
„ſind kurz, es ſei denn, daß der Nachdruck
„der Rede einen Accent darauf legt.„



Dies ſind die grammatikaliſche Regeln,
die die Litteraturbriefe zum Bau des Hexa-
meters gegeben; ich ſezze eine Philologiſche
Bemerkung dazu, ohne mich in die Gramma-
tik einzulaſſen, die blos aus dem Genie der
Sprache die Sache betrachtet.


Fraͤgt man denn: koͤnnen wir Hexameter
machen? Nein! wir haben ja ſchon gnug!
Fraͤgt man: koͤnnen wir welche nach der Pro-
ſodie der Alten machen? Nein! denn das
koͤnnen hat Uz gezeigt! Sondern iſts unſrer
Sprache natuͤrlich, Hexameter zu machen?
Und wie weit muͤſſen wir Zwang großen
Zwecken aufopfern? Natuͤrlich! und wie
iſt das zu ſehen? Entwoder aus der Natur
der Sprache, oder aus Verſuchen. Aus
dem erſten Geſichtspunkt merke man:


H 5Nach
[122]

Nach Lowths Bemerkung iſt ſelbſt die
Hebraͤiſche Sprache zu feurig und in ihren
Formen zu einfach, als daß ſie ſo einem ab-
gemeſſenen Polymetriſchen Numerus, als die
Griechen nachher hatten, ſich haͤtte bequemen
koͤnnen. Und trift nicht das Gegentheil auf
unſere Sprache vielleicht? Viel zu volltoͤnig
und in ihren Formen zu zerſtuͤckt und zu-
ſammengeſezt,
als daß ſie ſich dem Polyme-
triſchen Numerus bequemen koͤnnte. Jene,
und unſere halten beide, Extreme, nur beide
entfernen ſich von der Mitte.


Zu volltoͤnig;) da die Sprache der Grie-
chen hochtoͤnend war, und außer langen und
kurzen auch hohe und niedrige Accente hat-
te; einen Unterſchied, den wir entbehren.
Aber fuͤr Hexameter nicht entbehren koͤnnen,
denn bei unſerm niedrigen vollen Accent erhoͤ-
het man ſich ja wenig zum Daktylus, ohne
einſylbige Woͤrter als Flickwoͤrter in der Rhyth-
mik noͤthig zu haben; wie kann die Sprache
aber Polymetriſch ſeyn, die eigentlich nur zu
Jamben und Trochaͤen eine Hoͤhe und Tiefe
hat; die ſich ſelten in Spondaͤen erhalten
kann,
[123] kann, weil ſie dieſe nicht mit den kurzen Syl-
ben zu compenſiren weiß.


Zu zerſtuͤckt in ihren Formen;) Dies zei-
gen die vielen einſylbigen Woͤrter, und unſe-
re ganze Flexion. Unſer ganzer Periode be-
kommt alſo, da die meiſten dieſer Woͤrter lang
ſind, was ſteifes, oder Proſaiſches. Woher
aber ſind ſie lang? Weil unſre volltoͤnige
Sprache, die die hoͤheren Accente entbehrt,
ſie durch mehrere erſezzen muß, und alſo fal-
len die Griechiſchen ατονα im Deutſchen
fort, die den Ton auf die vorhergehende Syl-
be ſchoben; theils fallen die Lateiniſchen anci-
pites
weg, die den Ton, der nach einem
hohen folgte, ungewiß laſſen konnten. Unſere
Sprache mag in der Wendung des Perioden
noch ſo biegſam ſeyn; ihre Beſtandtheile kann
ſie doch ſchon nicht aͤndern, und ſelbſt unſre
Vaͤter im Poetiſchen Zeitalter aͤhnlicher Spra-
chen, die Skaldrer, ſie haben nie auf Griechi-
ſche Art Polymetriſch geſungen; hoͤchſtens
Sapphiſch, und das iſt noch immer die leichtſte
Griechiſche Versart fuͤr uns.


Hiezu ſezze man nun noch Verſuche?
Nicht in Hexametern, ſondern in einem freien
Syl-
[124] Sylbenmaas, um zu ſehen, was fuͤr Fuͤße
am meiſten in unſrer Sprache liegen? Ob,
wenn man den Gedanken den Zuͤgel laͤßt, man
Pindariſche Oden und Tragiſche Choͤre erbli-
cken werde, oder einfoͤrmigere Cadencen?
Und ich glaube alsdenn; tanzt unſer Deut-
ſches nicht einmal nach Griechiſchen Sylben-
maaßen ungebunden; wie viel minder,
wenn es in Metriſchen Feſſeln ſo tanzen muß.


Ramler that dies in einer andern Abſicht:
er loͤſete die Proſe Geßners und Eberts in ihre
natuͤrliche Sylbenmaaße auf, um den Wohl-
klang zu zeigen. Vielleicht haͤtte er feurigere
Stellen zergliedern ſollen, die nicht mehr ge-
leſen, ſondern deklamirt werden muͤſſen, um
alsdenn gewiß mehr als Proſaiſche Harmonie
zu entdecken — und ich glaube, wenn man
dies thut: ſo wird man immer weniger
Polymetriſches finden, als man zu finden
glaubt.


Jch darf nicht mehr verſuchen: es hat es
ein andrer gethan: Klopſtock hat „ſeine
„Poetiſche Empfindungen ſo frei ausgedruͤckt,
„daß ſie ſich ſelbſt in ſymmetriſche Zeilen ge-
„ordnet zu haben ſcheinen, die voller Wohl-
„klang
[125] „klang ſind, aber kein beſtimmtes Sylben-
„maas haben.„ Er hebt am Feſt der Sou-
veraͤnitaͤt in Daͤnnemark an:


We̅ht ſan̅ft, au̅f ih̅ren⏑ Gruͤ̅ften⏑, ih̅⏑r Wi̅nde⏑!

Un⏑d ha̅t e⏑in u⏑nw̅iſſen⏑der⏑ Ar̅m

De⏑r P̅atr⏑iot̅en⏑ Stau̅b wo⏑ au̅sge⏑gra̅be⏑n,

Ve⏑rwe̅ht ih⏑̅n ni̅cht!

Ver⏑ach̅t ih̅n, Le̅yer⏑, we̅r ſie̅ ni̅cht ehr̅t,

Un⏑d ſtam̅mt’ er⏑ au̅ch au̅s al̅tem⏑ Hel̅den⏑ſtam̅me⏑,

Ver⏑ach̅t ih̅n!

Si⏑e ha̅be⏑n un̅s de⏑r hu̅nde⏑rtkoͤ̅pfi⏑ge⏑n Her̅rſchſu̅cht

e⏑ntri̅ſſen⏑

Un⏑d e̅inen⏑ Koͤ̅ni⏑g ge⏑ge̅ben⏑.

Man ſezze dies fort: Spondaͤen, Trochaͤen
und Jamben wird jedes Naturgenie antref-
fen; Daktylen — wird es nur in Partici-
pien und wenig andern Woͤrtern finden; und
zu den uͤbrigen vielſylbigen Tritten, ſind unſre
ein-
[126] einſylbige Woͤrter wirklich zu unbeſtimmt,
und Proſaiſch.



15.


Doch gnug von dieſen grammatiſchen Schwuͤ-
rigkeiten, die einem Genie immer verdrießlich
ſeyn muͤſſen: um vielleicht einige ſolche ver-
drießliche Genies zu verſoͤhnen, ſezze ich fol-
gende Anmerkung dazu, von der ich wuͤnſche,
angewandt zu werden.


Das Klopſtockiſche angefuͤhrte Sylben-
maas ſoll dazu Gelegenheit geben. Bei dem
erſten Anblick ſogleich ſchien es mir ſehr aͤhn-
lich zu ſeyn mit dem Numerus der Hebraͤer,
ſo viel wir von ihm wiſſen, und mit dem Syl-
benmaas der Barden. Jch ſahe, daß es
Klopſtock, einem Meiſter in der Deutſchen
Sprache, oft ſehr wohl, und ſeinen Nachah-
mern meiſtens elend gelungen. Jch wuſte
nicht, ob dieſe neue gluͤckliche Versart nicht
eher die natuͤrlichſte und urſpruͤnglichſte
Poeſie * genannt werden koͤnnte, „in alle
„klei-
[127] „kleinen Theile ihrer Perioden aufgeloͤſet, de-
„ren jeden man als einen einzelnen Vers ei-
„nes beſondern Sylbenmaaßes betrachten
„koͤnnte„ ſtatt daß ihn die Litteraturbriefe eine
kuͤnſtliche Proſe nannten. Jch uͤberließ
mich meinen Gedanken, und glaubte endlich,
daß dies Sylbenmaaß uns vielleicht von vie-
lem Uebel erloͤſen, und viel Auſſchluß und
Bequemlichkeit bringen koͤnnte. Man hoͤre
mich an:


Erſtens: Haͤtten wir einen Dithyrambi-
ſchen Dichter, der wirklich von dem Bliz-
ſtrahle des Bacchus getroffen, trunken, und
begeiſtert toͤnen wuͤrde: — natuͤrlich waͤre
kein gefeſſeltes Sylbenmaaß fuͤr ihn; er zer-
reißt es, wie Simſon die Baſtſeile, als
Zwirnsfaͤden. Allein dieſe Verſe ſind Pinda-
riſche Pfeile in der Hand des Starken: die,
mit Pindar zu reden, blos fuͤr die Mitver-
ſtaͤndige klingen, dem großen Haufen der Aus-
leger aber, wie eine dunkle Wolke ſcheinen.
Unſer mißgluͤckter Dithyrambenſaͤnger kann
dieſer Bemerkung, durch ſeinen Jkariſchen
Fall ein Gewicht beilegen.


Zwei-
[128]

Zweitens: Die hohen Oden des Affekts
werden natuͤrlich ihre Empfindungen aufloͤſen,
ſie moͤgen in kurzem Odem jauchzen, oder
donnern, oder ſeufzen und weinen. Dies
Sylbenmaaß kann, nach jener Scythiſchen
Zeichenſprache zu reden, wie ein Pfeil treffen,
ſich wie ein Adler aufſchwingen, es kann die
Sprache durchgraben, und ſich wieder, ohne
zu ſinken, ſchwimmend erhalten. Wenn
man manche Deutſche Lehroden in ihrem
gewoͤhnlichen Sylbenmaaße anſieht, ſo ſollte
man beinahe denken, daß das gewoͤhnliche
Strophenmaaß der Graͤnzſtein eines Para-
graphen ſeyn ſollte. Das geht denn nun ſo
hin, aber ſollen dieſe Oden Affekt ſingen —
ein Geſang nach einer Kirchenmelodie.


Drittens: Die Gemaͤlde der Einbil-
dungskraft
koͤnnen ein gefeſſeltes Sylben-
maaß nicht ertragen, ohne daß ſie, oder
das Sylbenmaaß leidet. Bei Pindar und
Horaz laͤuft die Periode und das Gleich-
niß uͤber die Strophe; bei den meiſten Deut-
ſchen Dichtern ſind ſie zahm genug. ſich in
die Strophe einzuſchließen. Eine Karſchin,
die jetzt nichts weniger, als den Perioden der
Ode
[129] Ode trift, wuͤrde in dieſem Sylbenmaaße
ihre ganze Phantaſie ausſchuͤtten, und freilich
auch allen unregelmaͤßigen Wuſt derſelben. —
Will man alſo Klopſtocks Poetiſche Stuͤcke
von dieſer Art, auch nicht Oden nennen; am
Namen liegt nichts: ſo laſſet es Lyriſche Ge-
maͤlde ſeyn, zu denen die Griechen den Na-
men ειδος hatten.


Ferner: Auf dem Orcheſter kann die Mu-
ſikaliſche Sprache in dieſem Leitbande freier
und ſicherer gehen. Vornehmlich in den
Recitativen, wo der Muſikus „die Harmonie
wieder zerſtoͤren muß, die dem Dichter ſo un-
ſaͤgliche Muͤhe gekoſtet hat: wo der Proſai-
ſche Wohlklang entweder von dem Muſikali-
ſchen verſchlungen wird, oder wohl gar durch
die Colliſion leidet, und Wohlklang zu ſeyn
aufhoͤret.„ Jn den Arien, wo ein Sylben-
maas ſeyn muß, koͤnnten die rimes aſſonan-
tes
der Spanier den Reim erſezzen, und vie-
le Freiheit dem Dichter verſchaffen. Ram-
ler in ſeiner Muſikaliſchen Jdylle: der May,
in der ihm die zwei Schweſtern der Harmo-
nie zur Seite geſtanden, hat hier mehr ge-
zeigt,
als ich ſagen kann.


JUnd
[130]

Und fuͤr das Theater? Es kann ſich die-
ſer Vers ſo Proſaiſch als moͤglich machen;
und dies iſt in den erſten Auftritten noͤthig,
wo das Sylbenmaas oft unleidlich wird.
Er kann ſich aber auch hernach zum hoͤch-
ſten Tragiſchen Affekt erheben, und dem Brau-
ſen des Sturmes nachahmen, der im Virgil
auf den Wogen reitet. Er kann die Thea-
tergemaͤlde beleben, die Diderot will, und
kann die heftigen kurzen Doppelgeſpraͤche fuͤl-
len, die die Alten auf ihren Buͤhnen ſo ſehr
liebten, und die bei uns ſo ſehr ausarten
(auch vielleicht des Sylbenmaaßes wegen),
daß bei Franzoſen und ihren Nachahmern,
den Deutſchen, ein Wort, das den Vers un-
vermuthet ſchließen ſoll, aber oft durch ei-
nige gedehnte Verſe deutlich gnug zu erra-
then gegeben wird, ein beſonderes Kunſtſtuͤck
iſt. Das Jch, oder Du, oder Nein! u. ſ. w.
das alsdenn ſo hergeſchraubt wird, gehoͤrt
in ein Epigramm, nicht in ein Trauerſpiel.


Wenn nun in dieſem Sylbenmaas ſo viel
Schazz von Sprache, Leidenſchaft, Einbil-
dungskraft und Muſik liegt; ſo muß es auch
ein Muſter der Deklamation ſeyn. Lies ei-
ne
[131] ne hinkende Deutſche Alcaͤiſche Ode; dekla-
mire ſie gut: verbirg ihre Fehler: laß die
Schoͤnheiten des lebendigen Wohlklanges hoͤ-
ren; — es iſt nicht mehr Alcaͤiſche Ode, es
iſt eine Sprache, in dieſe Verſe zerſtuͤckt.
Hoͤre einen Redner in ſeinem Feuer. brauſen,
oder zerſchmelzen; du wirſt einige Fußſta-
pfen dieſer Abſchnitte in ſeiner Deklamation
hoͤren; hoͤre einen Garrick in einem Selbſt-
geſpraͤche mit ſich ſelbſt kaͤmpfen, faſt unter-
liegen und dennoch ſiegen; ſein Affekt wird
die Sprache aufloͤſen: er wird einen Takt
halten, der dich an das Kunſtſtuͤck der Al-
ten erinnern wird, ihren Akteurs Noten und
Ton mitzugeben. —


Wie waͤre es nun? wenn dies Sylben-
maas in den Oden die Griechiſchen Verſe,
und in der Affektſprache die Poetiſche Proſe
etwas einſchraͤnkte? Wenn ein Dithyramben-
dichter, ein Pindar, ein Barde unter uns
in dieſem Feierkleide ſich ſehen ließe? Wenn
ein Deutſcher Shakeſpear — oder wenig-
ſtens, wenn man den Engliſchen Shakeſpear
in dieſer Tracht bei uns einfuͤhrte; den wir
jezt, ohngeachtet der Ueberſezzung, noch ſo we-
J 2nig
[132] nig kennen: wenn Ebert den Poetiſchen
Perioden des Youngs mit allem ſeinem Ko-
lorit
in dies Sylbenmaas uͤbertruͤge — Der
Kunſtrichter ſchreibt vor: Genies, ihr muͤßt
die Regeln durch euer Exempel guͤltig machen!



16.


Jn dem Barbariſchen unſrer Sprache, in den
Jnverſionen, in den Sylbenmaaßen haben
wir nichts von den Franzoſen zu lernen; wir
ſind vor ihnen voraus; worinn denn?
in ihrer muntern Proſe, und in ih-
ren kritiſchen Bemerkungen uͤber die
Sprache.


Unſere witzige Proſe hat, nach den meiſten
Buͤchern zu rechnen, noch den Ton der alten
Wochenſchriften, deutlich, und bis zum Gaͤh-
nen deutlich zu ſeyn. Weil unſer Publikum
nicht vor gar zu langer Zeit entweder ſo bloͤd-
ſichtig war, daß es blos einen Flecken ſahe,
wo andere ein fein gezeichnetes Gemaͤlde er-
blickten; ſo bequemten ſich die Schriftſteller
nach dem Leſer. Das Buch ward das beſte,
was
[133] was ihnen die angenehme Ruhe ließ, im Le-
ſen wenig zu denken, was ihnen das Ver-
gnuͤgen ſchaffte, hie und da ein Bluͤmchen zu
finden, ohne ſich beſtaͤndig buͤcken zu doͤrfen,
was ſie in den ſuͤßen Traum einwiegte, das
hier zu leſen, was ſie ſelbſt ſchon gedacht zu
haben glaubten. Das Buͤcherſchreiben ward
von Verlegern ausgepachtet, und man be-
quemt ſich nach dem Geſchmack ſeines Lehn-
herrn. Das Publikum beſtand aus einigen
Journaliſten, die nicht zu denken, wohl aber
zu recenſiren Zeit hatten; von dieſen ward
das Publikum angefuͤhrt und gleichſam ge-
bildet. Hier und da fand ſich ein Mecaͤn,
der aber blos Arbeiten liebte, und lobte, und
lohnte, die ihm nicht viel Kopfbrechens ma-
chen — nun denke man ſich dieſe Reihe von
Leſern; man wird entweder die Feder aus der
Hand werfen, oder man wird ſie eintunken,
nicht wie jener Grieche in Verſtand, ſondern
in waͤſſerichtes, Phlegmatiſches Gehirn; dies
hat wie der Mond eine ſympathetiſche Ein-
wirkung auf leere Koͤpfe. Willſt du ein
Kirchenvater bei Toiletten und Ruhebetten
ſeyn; entmanne deinen Stil, wie jener Orige-
J 3nes
[134] nes ſich ſelbſt, um des Himmelreichs willen:
alsdenn wirſt du allen allerlei, wenn die An-
dachtsſeufzer ſich bei dem Leſen deiner Schrif-
ten mit dem Gaͤhnen ſatter und bequemer
Zuhoͤrer vermiſchen koͤnnen. O wenn man
die Stoͤße von Deutſchen Monats-und Wo-
chen- von Lehr und Troſt-und Erbauungs-
und Luſtreichen Schriften ſiehet, die vormals
und auch noch jetzt gelobt, geſucht und ge-
ſchmiert werden: muß man nicht ausrufen:


O curas hominum, quantum eſt in rebus inane!

Heic aliquis, cui circum humeros hyacinthina

laena eſt,

Rancidulum quiddam balba de nare locutus

Phyllidas, Hypſipilas, vatum et plorabile ſi quid

Eliquat, et tenero ſupplantat verba palato

Aſſenſere viri ‒ ‒ ecce inter pocula quaerunt

Romulidae ſaturi, quid dia poemata narrent.

Daher traͤgt ein Chriſt am Sonntage,
und ſo viel Baͤnde Andachten, und Erholun-
gen und Zerſtreuungen, und Briefe, und —
den Preis wegen der Deutlichkeit davon: ſie
ſchreiben fuͤr die lange Weile des Publikum:
ihre Buͤcher ſind alſo des Cedernoͤls und Mar-
morbandes werth, und auf ihrem Grabe
werden,
[135] werden, nach dem Spott des Perſius, Ro-
ſen und Violen wachſen. Jch fuͤhre keine
namentlich an; ich muͤßte Aerzte, und Auf-
ſeher
und Greiſe ꝛc. auch nennen, und fuͤr
dieſen Staͤnden habe ich alle gehoͤrige und
moͤgliche Ehrfurcht.


Koͤnnte unſer Publikum in ſolchen Schrif-
ten denn nicht wenigſtens Franzoͤſiſch ausge-
bildet werden? Uns fehlen freilich witzige
Aebte, Damen, die den Ton angeben, Mode-
ſchoͤnheiten, denen man zu Gefallen, wie Car-
teſius ſeine Wirbel, Einfaͤlle erfinden kann!
Aber das alles koͤnnte man entbehren, oder
ſich anſchaffen, wenn man nur wollte;
aber —


Wo bliebe alsdenn die Deutſche Gruͤndlich-
keit? Ja! das hatte ich vergeſſen! Nun muß
man wahrhaftig die Augenbraunen zu einer
Wolke zuſammenziehen, um der Pallas nach-
zuahmen, wenn ſie bei den Griechen, als
Erregerin des Volks erſchien


‒ ‒ γλαυκωπις Αϑηνη

Η σειουσα λαον ‒ ‒

J 4Die
[136]

Die Schriftſteller des ernſten Helvetiens,
Sveviens, und Frankenlandes muͤſſen in dem
Toil ihrer Vaterſtadt ſchreiben, und nicht wie
die Menſchenkinder in ganz Deutſchland. Jn
religioͤſen Geſpraͤchen, vornehmlich wenn ſie
im Reiche der Todten ſind, in Spartaniſchen
Betrachtungen uͤber die Lykurgiſche Geſezge-
bung, darf ſich der Verfaſſer freilich nur de-
nen verſtaͤndlich machen, die ihn verſtehen
ſollten (nicht wollten; hier liegts nicht an
jemandes Wollen oder Laufen, ſondern am
Praͤdeſtinirten Sollen). So erſcheint die Py-
thiße, in einer heiligen Rauchwolke: die
Haare ſtraͤuben ſich: der Mund murmelt
Worte, nur denen verſtaͤndlich, die ſie ver-
ſtehen ſollten:


Obſcurum verborum ambage novorum

Ter nouies carmen magico de murmurat ore.

Jndeſſen, wir arme, ungeweihete Leſer!
denken, als λογωδεου μενοι uͤber dieſe Dun-
kelheit folgendes:


Entweder es iſt ein eigenſinniger Zwang,
gruͤndlich zu ſcheinen, wie jenes Pferd die
Epilepſie bekam, um ein Elendthier zu wer-
den,
[137] den, und mancher ein Hyp-Hypochondriſt iſt,
um ein Philoſoph zu ſeyn. Dieſem Herrn
rufen wir doch endlich zu:


‘Jch wußt es wohl, daß es ein ‒ ‒ ‒ war.’ ()

Oder es ſind wirkliche Urſachen der Dun-
kelheit, die an dem Verfaſſer liegen: und die-
ſe ſind: die Dunkelheit ſeiner Begriffe
ſelbſt: die kann man meiſtens, zehn gegen
eins, angeben, wenn auch dem Ganzen des
Werks Anlage, und der Beſtimmung der
Jdeen Genauigkeit fehlt:


Cui lecta potenter erit res,

Non facundia deſeret hunc, nec lucidus ordo.

Alles dies entſpringt alsdenn aus einer
Quelle: man ſieht den Geiſt des Verfaſſers,
in dem, wie im Chaos des Ovids noch die
Elemente der Jdeen, in einiger harmoniſchen
Uneinigkeit ſchlummern, und in einer uneini-
gen Harmonie ſich zur Bildung draͤngen.
Jſt ein ſolcher Schriftſteller noch ein junges
Genie, ſo iſt es nicht zu verwundern. Es
iſt ein Blinder, der noch Menſchen als Baͤu-
me ſieht: der Kunſtrichter verſuche die ge-
duldige Cur, ſeine Augen zum Licht zu ge-
J 5woͤh-
[138] woͤhnen. Die Kinder ſollen deſto beſſer re-
den, die ſpaͤt, und ſchwer lernen, und ſolche
Dunkelheit iſt dreimal beſſer, als jenes lang-
weilige Plappern, mit vielen deutlichen Wor-
ten nichts zu ſagen. — Einem Alten iſt nun
freilich der Staar ſchwerer zu ſtechen.


Noch oͤfter ruͤhrt dieſe Dunkelheit her, von
einer Stubengelehrſamkeit, die durch den
muͤndlichen Vortrag nicht hat lebendig wer-
den koͤnnen. Durch den muͤndlichen Vor-
trag wird man deutlich: man lernt den be-
ſten Geſichtspunkt, faßlich zu ſeyn, bemerken:
ſo lernte Sokrates von ſeiner Aſpaſie Weis-
heit und Vortrag: ſo lerne es der Lehrer in
dem Kreiſe ſeiner Zuhoͤrer, wenn er ſie nicht
als Maſchinen behandeln will: ſo trete der
Gelehrte in die große Welt, um ſich ſeiner
Cathederſprache zu entwoͤhnen: er erinnere
uns nicht ſo oft, daß er vor ſeinem Schrei-
bepult ſizzet; er geſelle die Deutſche Arbeit-
ſamkeit und Genauigkeit zur Franzoͤſiſchen
Freiheit; denn wird er mehr ſeyn, als ein
Franzoͤſiſcher Abbe, mehr als ein fader Kan-
zelredner, mehr als ein Zeitungsſchreiber;
kurz! mehr als eine waſchhafte Sibylle, die
wohl-
[139] wohlriechende, oder heilige, oder neue und ra-
re Kraͤuter zum Verkauf traͤgt; er wird mehr,
aber doch nicht auf Koſten der Deutlichkeit.


Man ſagt auch, daß eine gewiſſe Deutſche
Beſcheidenheit, die kurz ſeyn, die nicht belei-
digen, die durch Mienen, nicht Worte ſpre-
chen will, Schuld an mancher Dunkelheit
ſeyn ſoll; und hier iſts alſo noͤthig, den
Schriftſteller aus dieſer Verlegenheit zu zie-
hen: und unſere Staatsverfaſſung in der Lit-
teratur ſo unabhaͤngig und republikaniſch zu
machen, als moͤglich. Bei den Alten war
die Wahrheit, nach Cupers * Briefen, oh-
ne aͤuſſere Verehrung, aber das Haupt und
der Mund der Weiſen war ihr heilig: bei
uns hat ſie Tempel und Altaͤre gnug; jeder
Kunſtrichter raͤuchert ihr, aber als einer Alle-
goriſchen Perſon. Gute Goͤttin! die du die
Schuzgoͤttin Deutſchlandes ſeyn ſollteſt:


Si qua Dea es, tua me in ſacraria dono! ()

Wir wollen die Franzoͤſiſche Munterkeit,
und Freiheit in unſere Abhandlungen einfuͤh-
ren,
[140] ren, und mit dem Deutſchen Nachdruck be-
gleiten. Der Vorredner des Journal étran-
ger
ſchrieb unter andern der Franzoͤſiſchen
Sprache einen groͤßern Vorrath von Aus-
druͤcken fuͤr das Laͤcherliche zu; * er glaubte,
die Deutſche Sprache haͤtte daran Mangel;
der Kunſtrichter leugnet es; auch ich, und
jenem gebe ich doch den Vorzug der Franzoͤ-
ſiſchen Sprache zu, weil ich es ſelbſt erfah-
ren. Jch habe ſeit einiger Zeit meine Ne-
benſtunden auf eine Unterſuchung des Laͤcher-
lichen
in Sitten, und des Laͤcherlichen in
der Vorſtellung und dem Ausdruck, nach
ſeinem Hauptbegrif und ſeinen vielerlei
Arten, gewandt: und habe im Franzoͤſiſchen
wirklich mehr Worte gefunden, weil dieſe
Nation, die ohnedas mehr und lieber lacht,
als die Deutſchen; mehr Bemerkung aus der
Cultur des Umganges zieht, als wir, und
ſich uͤberhaupt mehr zu erklaͤren weiß, wie
die Seele durch den Koͤrper ſpricht, als un-
ſere Sprache. Man gehe auch nur das Ver-
zeichniß durch, was Girard und Mauvillon
von Woͤrtern dieſer Art geſammlet: ſo wird
man
[141] man dem Arnaud recht geben.— Und
uͤberhaupt hat unſere Sprache durch Ueber-
ſezzungen von der Franzoͤſiſchen Proſe des Um-
ganges ſeit einigen Jahren ſchon merklich viel
gewonnen.



17.


Aber Engliſche Ueberſezzungen haben ihnen
das Gleichgewicht gehalten, und auch dies
zum Vortheil der Denkart, weil unſer Ge-
nie ſich mehr auf die Brittiſche Seite neigt,
und wir durch die Engliſche Staͤrke die Fran-
zoͤſiſche Leichtigkeit nahrhaft machen. Da
die erſten Ueberſezzungen aus dieſer Sprache,
die ſo voll von Beiwoͤrtern und Schilde-
rungen iſt, Poetiſche Proſe enthalten muſten:
ſo ward dadurch wider Willen der Ueberſez-
zer jener holprichte Proſaiſch-Poetiſche Stil
eingefuͤhrt, der unſrer Sprache gar nicht an-
gemeſſen iſt. Ganz Deutſchland theilte ſich
in drei Haufen: die Hexametriſten, als Reuter
mit ſchweren Cuiraſſen, und ſchwerem Gange;
die
[142] die Proſaiſchen Poeten, Dragoner, zu Pferde
und Fuß ſtreitbar.


Great on the Bench, great in the Saddle

That cou’d as well bind o’er, as ſwaddle

So ſome Rats, of amphibious Nature

Are either for the Land or Water.

Und denn die Franzoͤſirenden leichten Voͤl-
ker, die in Critiſchen Briefen, und Arz-
neien
und Poſſen, mit Franzoͤſiſchen Mo-
deausdruͤcken um ſich warfen, und als Schmet-
terlinge umherſchwaͤrmten.


Wenn wird unſer Publikum aufhoͤren, die-
ſes dreykoͤpfichte Apokalyptiſche Thier, ſchlecht
Griechiſch, Franzoͤſiſch und Brittiſch auf ein-
mal zu ſeyn? Wenn wird man den Plaz
einnehmen, den unſere Nation verdient,
Proſe des guten geſunden Verſtandes,
und Philoſophiſche Poeſie zu ſchreiben?
Oder vorher frage man, wenn wird man
aufhoͤren, die beſten Engliſchen Schriftſteller
durch Ueberſezzungen zu verunſtalten, und
Prior, Milton, Young, in elende oder
mittelmaͤßige Hexameter zu uͤberſezzen: ein
Sylben-
[143] Sylbenmaas, an das ſie nicht im Traume
gedacht haben? Wie lange wird man Popen
in waͤſſerichter Proſe, und Shakeſpear im
ungleichſten, faſt nie getroffenen Ton uͤberſez-
zen? Wie viel koͤnnten wir von den Britten
lernen, und wie wenig haben wir gelernt!
Jhr arbeitſamen Deutſchen! Ein Deutſcher
Johnſon fehlt uns noch, der das fuͤr die
Deutſche Sprache wage, was jener fuͤr
die ſeinige! Die Philoſophie, das Nach-
denken, das Sammlen iſt ja euer Theil, und
wir ſtehen den Britten auch in unſerm Eigen-
thume nach? Wird es bald ſeyn, daß ihr eure
Sprache durch Unterſuchungen „ihr Weltwei-
ſen! durch Sammlung und Critik, ihr Phi-
lologen! durch Meiſterſtuͤcke, ihr Genies! zu
derjenigen macht, die nach dem Plinius, „alten
„Sachen Neuheit; neuen das Anſehen des Al-
„terthums; verroſteten Glanz; dunkeln Licht;
„widerlichen Reiz; zweifelhaften Glaubwuͤr-
„digkeit; allen aber Natur„ verſchaffen kann.
Werden die Deutſchen bald aufhoͤren, durch
ihre langweilige Proſe, gegen die Franzoſen
ſolche gute Alte vorzuſtellen, als Terenzens
Chremes gegen ſeinen Darus? Werden
auch
[144] auch bei ihren Brittiſchen Schriftſtellern bald
die Fehler wegfallen, da die Fuͤlle der Ge-
danken und der Vorrath von Bildern, aus
Mangel der Oekonomie, in dem Perioden in
Verwirrung geraͤth; ſo wie Verſchwen-
dung nicht den wirklichen, ſondern ſcheinba-
ren Reichthum begleitet? Werden die beſten
Deutſchen Schriftſteller zu ihrer Titelvignette,
bald die drei Gratien, als Sinnbild haben
koͤnnen: die Thalia mit ihrem Fuͤllhorn voll
Fruͤchte, die leichte, gefaͤllige Euphroſyne, und
die bezaubernde Aglaja. Laſſet uns einige
neuere
Originalſchriftſteller anfuͤhren, die
dieſen Gratien geopfert haben, und die Ehre
unſrer Deutſchen Litteratur ſind:



18.


1. Winkelmann,* der Ruhm der Deutſchen
ſelbſt unter dem Roͤmiſchen Himmel, den die
Muſe des Alterthums und der Geſchichte, die
unſterbliche Clio, hat laſſen geboren werden,
um, wie jener, der auf dem Cithaͤron gefun-
den
[145] den wurde, die Kunſt der Alten zu erklaͤren.
Jch fuͤhre es nicht an, wie er die beſten Bluͤ-
then jeder Antiken Schoͤnheit in ſeine Seele
geſammlet: wie er hier unter Schriften, dort
unter Denkmaͤlern ſein Auge und ſeinen Geiſt
gebildet: wie er ſeine Werke, ſo wie Raphael
ſeine Gemaͤlde, mit Feuer entwarf, und mit
einem gluͤcklichen Phlegma vollendete: wie er
eine Syſtematiſche Geſchichte unter Ruinen und
Ueberbleibſeln liefern konnte: ſondern ich muß
mich hier blos auf die Schreibart einſchraͤn-
ken. So wie die Attiſchen Juͤnglinge an
dem Altar der Pallas Aglavros ihrem Va-
terlande den Eid der Liebe ſchwuren: ſo hat
die Muſe auch auf ſeine Schriften geſchrie-
ben: dem Vaterlande geweihet. Wenn ich
mir zum Gebaͤude des Koͤrpers die weiſe Ein-
falt des Sokrates, des Lehrers der Gratie
denke, wenn ich dieſem Koͤrper das Gewand
der Natur von dem einen Schuͤler des So-
krates, dem Xenophon, und ihm von dem
andern, die Fluͤgel hoher Jdeen gebe: ſo ſte-
het ein Bild vor mir, als wenn es die Muſe
der Winkelmanniſchen Schriften waͤre. Ein-
faͤltig im Vortrage: natuͤrlich in der Aus-
Kfuͤh-
[146] fuͤhrung, und erhaben in den Schilderungen,
ſind ſie Werke der Unſterblichkeit wuͤrdig, und
der Name unſers Jahrhunderts.


2. Hagedorn* hat der Goͤttin der Ge-
maͤlde einen Altar von weißem Marmor er-
richtet, und mit vieler Annehmlichkeit um ihn
Blumen zu ſtreuen gewußt: das ganze Werk
zeiget vielen Geſchmack des Kuͤnſtlers, noch
mehr Kaͤnntniß des Werkmeiſters, und die
feinſte Critik des Coſtume: das Bildniß der
Goͤttin ſelbſt aber iſt dem Fleiß, der Muͤh-
ſamkeit und Dauer nach, eine aͤchte Moſaiſche
Arbeit — — Doch ich rede frei und ohne
Schleier. Der Verfaſſer verraͤth viele Be-
kanntſchaft in den Kunſtſaͤlen von hohem Ge-
ſchmack, und in den Malerakademien nach
dem Ueblichen; aber vielleicht etwas mindere
in dem heiligen Haine der ſchoͤnen Natur;
daher ſeine Philoſophiſche Betrachtungen uͤber
das Schoͤne ꝛc. in der Kunſt nie das Weſen
erreichen. Fuͤr Lehrlinge iſt ſein Lehrbuch
eine zu dunkle und in den Schoͤnheiten zu
verſchloſſene Encyklopaͤdie der Malerei; deſto
an-
[147] angenehmer aber einem Leſer, der eben ſo ſehr
Werkmann ſeyn will, als er leichte und ga-
lante Betrachtungen anhoͤren, gelehrte und
Weltuͤbliche Anſpielungen verſtehen, und den
ganzen Zuſchnitt bis auf die kleinſte Nuance
Hofmaͤßig bemerken kann. Caͤſar trug be-
ſtaͤndig das Bild der Venus bei ſich, deren
Sohn, ein zweiter Aeneas! er ſeyn wollte:
ſie war nach Roͤmiſchem Geſchmack bewafnet;
aber die Griechiſche Venus, wenn ſie die Pal-
las uͤberwinden will, iſt nackt, und mit den Zier-
rathen ihrer irdiſchen Schweſter nicht be-
harniſcht. So kann auch ein Verfaſſer der
Sohn der irrdiſchen bekleideten Schoͤnheit ſeyn,
bei der man von dem ſchoͤnen Gewande auf das
darunter Verhuͤllte, und von dem ſchoͤnen
Anſtande auf die Seele ſchließt; allein viel-
leicht wuͤrde ein Proxenides uͤber ſein Kunſt-
ſtuͤck
urtheilen: fuͤhre dieſen Paris in die
Eleuſiniſchen Heiligthuͤmer, daß er die Schoͤn-
heit nackt erblicke, und nackt ſage. Jndeſ-
ſen wer kann ſo genau die Graͤnze finden, daß
der Fleiß nicht Muͤhſamkeit verriethe, der
Geſchmack ſich nicht manchmal mit einem
kleinen ſchoͤnen Eigenſinn paarete, und der
K 2Un-
[148] Unterricht nicht oft nach Grundſaͤzzen eine
Luͤſternheit uͤbrig ließe. Jch urtheile, wie
ein Deutſcher! ihr Deutſche! haltet ein Werk
werth, an dem der Franzoſe blos etwas vom
Geſchmack; der Britte vom Fleiß, und der
Waͤlſche vom Unterricht abborgen kann: das
uͤbrige iſt euer!


Von den Denkmaͤlern der Kunſt komme
ich zu denen, die den Buͤrger bilden! Und da
ſteht ein Deutſcher Browne!


3. Moſer* kennet das Schroot und Korn
der Deutſchen Sprache: der alten Lutheri-
ſchen Religion, der alten Freiheit, Ehrlich-
keit, und geſunden Vernunft unſerer Vaͤter:
und er kann mit mehrerem Rechte unſer Deut-
ſcher Browne ſeyn; als Jſelin mit ſeinen
Platoniſchen Traͤumen, und Wegelin mit
ſeiner Hypochondriſchen Fuͤlle von Tugend,
in der Schweiz. Wie Parrhaſius dort
den Geiſt der Athenienſer malte, „der ver-
„aͤnderlich, rachſuͤchtig, ungerecht, unerbittlich
„und gnaͤdig, ruhmraͤthig, erhaben und nie-
„drig, wild und feige, und alles zugleich war„
ſo
[149] ſo kann Moſer den Geiſt der Deutſchen ma-
len, wie er war, und ſeyn ſollte. Alsdenn
aber muß auch in dem Geſchmack der Er-
findung keine fromme Miſanthropie, in der
Zuſammenſezzung kein ungeſunder Ueberfluß,
in der Zeichnung kein ſchiefer Geſchmack herr-
ſchen, der halb Franzoͤſiſch und halb Brittiſch
iſt. Er liefere ſein Werk auch der Form
nach mit allen Deutſchen Vollkommenheiten
geſchmuͤckt: tiefſinnig, reich, und wahr in
der Erfindung; voll Bedeutung in der Zu-
ſammenſezzung, maͤnnlich in der Zeichnung,
und in der Ausfuͤhrung vollendet. Jetzo
muß der ehrliche Deutſche Leſer bei allen Mo-
ſeriſchen Schriften ſaͤmtlich und ſonders be-
dauren: daß Moſes keinen Aaron hat: daß
der Miniſter zu ſichtbar diktire, der Welt-
weiſe nicht Zeit gnug, zu verdauen, und der
Schriftſteller nicht Muße gnug, ſelbſt zu ſchrei-
ben, und anzuordnen habe. Haͤtte der Ver-
faſſer irgend in Deutſchland einen andern
Amphitruon, der die Macht und Geſchick-
lichkeit beſaͤße, ſeine zerſtreute Gedanken zu
verbinden; und die Waſſerſuͤchtige Fuͤlle in
einen Koͤrper zu verwandeln, wo volle geſun-
K 3de
[150] de Adern unter einer ſeinen Haut ſich verber-
gen: ein zweiter Moſer, der auch bisweilen
ſein Antipode ſeyn koͤnnte, um viele ſchwer-
muͤthige Klagen mit leichtem und geſundem
Blut zu leſen, und ihn endlich davon ab-
braͤchte: ein Prediger in der Wuͤſte zu ſeyn,
wie jener, der nur ein Vorbote von dem war,
der kommen ſollte, und ganz anders als ſein
Vorlaͤufer ſeyn muſte. — Sollte es nicht mit
zur Deutſchen Nationalfreiheit gehoͤren, daß
ein Genie, welches ſelbſt nicht Mutter ſeyn
kann, fremde, wohlgebildete aber ausgeſtoße-
ne Kinder, aufnaͤhme, und ſich an ihnen Mut-
terverdienſt erwuͤrbe? Ein Patriot fuͤr drei
Zeitalter in Deutſchland verdient dies!


4. Jezt ein Cenſor, aber ein munterer
Cenſor der Verdienſte! Abbts Schriften *
ſind fuͤr die Deutſchen Original: der gute
geſunde Menſchen- und Buͤrgerverſtand,
der in ihnen herrſchet, iſt das Erbſtuͤck unſrer
Nation: die Analytiſche Aufloͤſung der Be-
griffe iſt die beſte Methode Deutſcher Philo-
ſophie; die Laune ſeiner Schreibart, die ſtatt
der
[151] der Franzoͤſiſchen Karaktere, und der Britti-
ſchen erdachten Beiſpiele, durch Geſchichte
lehrt, naͤhrt unſern Geiſt, und ſeine Schreib-
art unſere Einbildungskraft. Das Feuer
der Phantaſie, in dem der Verfaſſer dach-
te, und ſchrieb, aber nicht haͤtte leſen ſol-
len; gluͤht jeden Leſer an, der es verſteht,
ein Buch in eine Perſon, und todte Buchſta-
ben in Sprache zu verwandeln; alsdenn hoͤrt
man, und denkt, und fuͤhlt mit dem Autor.
Kannſt du aber, lieber Leſer! nichts als leſen,
nicht die Luͤcken, die dir uͤberlaſſen wurden,
in Gedanken ſelbſt ausfuͤllen, nicht weiter den-
ken, wo dir Ausſichten eroͤfnet werden: ſo
wirſt du inne werden, was vielleicht eben der
Verfaſſer ſagt: „dem Sprechenden helfen
„ſeine Geberden, und der Ton der Stimme
„den Verſtand beſtimmen: da dies alles hin-
„gegen in einem Buche wegfaͤllt.„ * Wenn
K 4ich
[152] ich dieſen Schriftſteller mit Zimmermann
vergleiche: ſo bemerke ich freilich an dem lez-
ten mehr Fleiß in der Auswahl der Gedan-
ken und Worte; aber einen gewiſſen Franzoͤ-
ſiſchen Geſchmack, einen Reichthum von An-
fuͤhrungen, der dem Verfaſſer ſelbſt weniger
uͤbrig laͤßt als er liefern koͤnnte. —


5. Jezt ein Schriftſteller, nicht blos des
Vaterlandes, ſondern auch der Menſchheit:
Spalding.* So wie ſeine Wahrheiten
ſich zwiſchen Philoſophie und gemeine Beob-
achtungen ſtellen; ſo graͤnzt auch ſein Vor-
trag mit Genauigkeit und Aufwand: ſein ge-
ſezter
Stil nimmt hie und da die Miene des
Tiefſinns an, und ſein bluͤhender Stil ſcheint
ſich in den Luxus zu verlieren; aber man
trete naͤher! Selbſt der Aufwand wird als-
denn ein Stuͤck des Nothwendigen, und die
Schreibart ſchließt ſich der Denkart ſo an,
wie
*
[153] wie die naſſen Gewaͤnder der Alten den Koͤr-
per durchſchimmern ließen. Dies geht ſo
weit, daß, wie ich glaube, die dem Verfaſſer
bisweilen muͤhſam gewordene Denkart im-
mer durchblickt; er mag ſie ſo ſehr mit Blu-
men beſtreuen, als er will. Aber eben dies
verbuͤrgt auch die Treue, mit der er ſeine
Seele entdeckt: und die in den Materien,
worinn er ſchreibt, und in unſerer Zeit ein
ſeltenes Muſter iſt. Vielleicht gelingt es
Spalding, geſunden Menſchenverſtand in den
Kanzelvortrag zu bringen, der das Mit-
tel zwiſchen gelehrter Weisheit und unver-
ſtaͤndlicher Wortkraͤmerei haͤlt, der den Juͤ-
diſchen und gelehrten Griechiſchen Ton mit ei-
nerlei Vorſicht vermeidet, der die Kanzel er-
niedrigt, aber weder zum Moſaiſchen Stuhl
eines Rabbi, noch zu einem Philoſophiſchen
Catheder — zu dem Rednersorte eines
Freundes, eines Vertrauten, eines Seelen-
ſorgers. Vielleicht wird es ihm gelingen,
in die Theologie ein Denken einzufuͤhren, das
eben ſo wenig Deiſmus und Freigeiſterei,
als nachgebetete Formel iſt. — Welch ein
Unterſchied, wenn ich Spalding mit einem
K 5eben-
[154] ebenfalls denkenden, gelehrten, und beredten
Theologen vergleiche; es iſt kein andrer, als
Acken. Wenn ich die Predigten dieſes Man-
nes, als erbauliche Abhandlungen anſehe:
ſo verbinden ſie Philoſophiſche Genauigkeit,
Deutſchen Nachdruck, und Griechiſche Schoͤn-
heiten mit einander bis zu den kleinſten Thei-
len: zu leſen ſind ſie vielleicht die beſten
Deutſchen Predigten, die die meiſten Fran-
zoſen an Gruͤndlichkeit, die Englaͤnder an fei-
nen Verzierungen, und ſeine Landsleute an
nachdruͤcklicher Kuͤrze in dieſer Art von Schrif-
ten hinter ſich laſſen. Daruͤber wundere ich
mich alſo nicht, daß ſie wider ihr Verdienſt
unbekannt geblieben; denn ſie ſind ja keine
Poſtillen, und keine blendende Sermons;
aber daruͤber wundere ich mich, wie dieſer
Deutſche Chryſoſtom in ſeinem Pathmos ſich
ſo hat verirren koͤnnen, um vom Urſprung
der Opfer auf eine ſo myſtiſche Art zu
ſchreiben:


Infert ſe tectus nebula. Mirabile dictu! ()

6. Sokrates fuͤhrte die Weltweisheit
unter die Menſchen; hier iſt der Philoſophi-
ſche
[155] ſche Schriftſteller unſerer Nation, der ſie mit
der Schoͤnheit des Stils vermaͤlt haben ſoll:
der Verfaſſer der Philoſophiſchen
Schriften.
* Ja er iſts, der ſeine Welt-
weisheit in ein Licht der Deutlichkeit zu ſtel-
len weiß; als haͤtte es die Muſe ſelbſt geſagt:
er denkt da, wo andere ſich begnuͤgen, Schoͤn-
heiten zu empfinden: er hat unter den Deut-
ſchen die Critik der ſchoͤnen Wiſſenſchaften
ausgebreitet, die Baumgarten in Abſicht
der Lateiniſchen Schriftſteller ſo vorzuͤglich
bewies; und —


Jch fuͤhle es doch bei ſeinen Philoſophi-
ſchen Schriften manchmal, was er ſelbſt
fuͤhlte: „ich bekenne es, daß ſich zu blos ſpe-
„kulativen Unterſuchungen kein Vortrag beſ-
„ſer ſchickt, als der ſtrenge Syſtematiſche. Jch
„trauete mir aber das Vermoͤgen und die Fer-
„tigkeit nicht zu, meine Gedanken beſtaͤndig
„an eine ſo ſtrenge Ordnung zu kehren.„
Man hat ihm hieruͤber, als uͤber ein Kompli-
ment, Gegenkomplimente gemacht; allein wenn
Moſes unter dem Syſtematiſchen Vortrage
mehr
[156] mehr als eine aͤußere Mathematiſche Lehrart
verſtehet, ſo wird jeder ſeine Entſchuldigung
fuͤr Wahrheit annehmen. Jugendliche Ein-
kleidungen in Briefe, und Geſpraͤche; die
Epiſoden in den Briefen, und die fremden
Eingaͤnge in den Geſpraͤchen: ſcheint mir ein
Putz, den die Philoſophiſche Wuͤrde nicht
braucht. Denkende Leſer fuͤhrt er von der
Betrachtung der Wahrheit ſelbſt ab: ſie muͤſ-
ſen ſich von den Spazziergaͤngen nachher wie-
der zuruͤck finden: und wer blos wegen die-
ſer Einkleidungen lieſet — fuͤr den hat Mo-
ſes nicht geſchrieben: eine Braut blos wegen
ihres Putzes lieben, iſt laͤcherlich. Der Weiſe
ſehe ſeinen Gegenſtand ſo helle als Moſes;
er zeige ihn im rechten Geſichtspunkte, er lei-
te die Jdeen natuͤrlich fort, er habe die Er-
laͤuterungen, und die Sprache in ſeiner Ge-
walt: ſo wird eine ſimple Abhandlung draus
werden, ohne Trockenheit und fremden
Schmuck; ſie wird ihren ganzen Zweck er-
reichen, einem Leſer, der Wahrheit ſucht und
liebt, ohne Zwang und Umwege, ein Geleits-
mann zu ſeyn — wozu? nicht zu lernen, ſon-
dern ſelbſt zu denken. So ſind die Abhand-
lun-
[157] lungen im 2ten Theil der Philoſophiſchen
Schriften; einige Litteraturbriefe, die eigene
Betrachtungen liefern, vielleicht von eben
dem Verfaſſer, und — die Leßingſchen Ab-
handlungen.


7. Leßing* leider! daß ich von ihm
ein einziges ausgearbeitetes Proſaiſches Werk
anfuͤhren kann, da doch das Publikum laͤngſt
eine neue veraͤnderte Ausgabe ſeiner Schriften
erwartet hat, die, in Betracht ſeiner Talente
in Wiz und Phantaſie; in Betracht ſeines
Scharfſinns im Zergliedern, und ſeines gluͤck-
lichen Ausdrucks, die Worte zur Aufſchrift
verdienen wird: „ſo viel that er: Nachwelt!
„ſchließe draus, was er thun konnte!„ **


8. Wir haben noch einige niedliche Abhand-
lungen in der Litteratur, die lezten Jahre her
erhalten: unter denen ich die Moͤſerſchen ***
Schriftgen: Harlekin, oder vom Groteske-
Komiſchen,
ſein Brief an den Savoyiſchen
Vi-
[158]Vikar u. ſ. w. nenne. — Es iſt uͤbrigens
zu beklagen, daß man einige der beſten Deut-
ſchen Poeten, nicht ſonderlich im Proſaiſchen
Stil loben will; wie ich dies bei dreien in-
ſonderheit bemerkt zu haben glaube, denen es
nicht gleich gut gelingt, Briefe und Lieder,
Fabeln und Abhandlungen zu ſchreiben.


9. Darf ich unſre Schriftſteller mit ei-
nem Autor beſchließen, der nach dem erſten
Urtheil der Litteraturbriefe mit Winkel-
mann
eine Aehnlichkeit hatte, und nach dem
lezten Richterſpruche ſein Antipode gewor-
den: der erſt ein Heiligthum unſrer Zeit
(αναϑημα) war, und nachher zum Zeichen
des Schreckens (αναϑεμα) wurde: es iſt
der Verfaſſer der Sokratiſchen Denkwuͤr-
digkeiten:
* wer ihn nicht als Geſtirn be-
trachten will in unſerer Litteratur: ſehe ihn
als Meteor an; ein Phoͤnomenon bleibt er
doch immerfort.


Der Kern ſeiner Schriften enthaͤlt viele
Samenkoͤrner von großen Wahrheiten, neuen
Beobachtungen und einer merkwuͤrdigen Be-
leſen-
[159] leſenheit: die Schale derſelben iſt ein muͤh-
ſam geflochtenes Gewebe von Kernausdruͤ-
cken, Anſpielungen und Wortblumen. Der
Philolog hat, damit ich mich ſeines eigenen
Zeugniſſes bediene:


Geleſen:) und allerdings, ſehr viel, ſehr
weitlaͤuftig und mit Geſchmack geleſen (multa
et multum legit
); allein die Balſamduͤfte
vom Aetheriſchen Tiſch der Alten, mit eini-
gen Vapeurs der Gallier und dem Brodem
der Brittiſchen Laune vermiſcht, ſind zu einer
Wolke geworden. Dieſe umhuͤllt ihn, er mag
ſtrafen, oder weißagen (die beiden Verrich-
ungen ſeiner Schriften), wie die Juno, wenn
ſie den Ehebrecher belauſcht, oder die Pythiſ-
ſe, wenn ſie Weißagungen in Kabbaliſtiſcher
Proſe murmelt. Seine Beleſenheit iſt alſo
zuſammen gefloſſen, ſo wie die Koͤnigliche
Schrift, auf unzuſammenhaͤngend Papier ge-
ſchrieben, dies zuerſt thut. — Jndeſſen
wuͤrde oft freilich eine kleine naͤhere Anzeige
der Spruchſtelle, woruͤber er commentirt,
vieles entraͤzeln, aber auch verrathen; und
da ich ſelbſt unter die ſtummen Leſer ſeiner
Schriften gehoͤre; ſo bin ich nicht in der La-
ge,
[160] ge, hier Errathungen fuͤr Geſichtspunkte an-
geben zu koͤnnen.


Beobachtet) Seine Bemerkungen vereini-
gen eine ganze Ausſicht in einen Geſichts-
punkt: hier ſtehe aber ein Leſer, der dieſen
Punkt treffe, der ſein Auge, der ſeine Laune
zu Beobachtungen hat — ſonſt ſieht er ver-
zogne Stellungen, und Schimmel ſtatt eines
Mikroſcopiſchen Waͤldchens. Leſer, der du
bieſe hingeworfne Beobachtungen verſtehen,
brauchen, ergaͤnzen kannſt: du haſt ſie er-
funden!


Gedacht:) wie es ſcheint, uͤber Schriften,
die ihm ein Aergerniß oder eine Augenweide
geweſen — und uͤber Vorfaͤlle, dazu er al-
lein den Schluͤſſel behaͤlt. Weil er aber die
Spinnengewebe der Syſteme haßt: ſo iſt je-
der Gedanke eine unaufgefaͤdelte Perle; jeder
Gedanke iſt in ein Wort eingekleidet, ohne
welches er ihn nicht denken und ſagen konnte.


Angenehme Worte geſucht und gefunden.)
Seine Annehmlichkeiten ſind keine Folgen von
gelernten Regeln: ſeine Fehler ſind ſo gar,
bis auf die Einkleidungen, Anſpielungen und
Licht und Schatten, bei ihm regelmaͤßig.
Viel-
[161] Vielleicht hat ihn alſo der ehrliche Fulbert
Kulmius,
umſonſt zum Schuͤler der Baum-
gartenſchen Aeſthetik zu machen geſucht, und
vielleicht haͤtte ihn der 254ſte Litteraturbrief
nicht eben nach allen Regeln zum Verbrecher
des Stils machen doͤrfen. Erfindung und
Zeichnung ſind Fruͤchte der Denk-und Seh-
art, die vielleicht einer gewiſſen Sokratiſchen
Unwiſſenheit aͤhnlich ſeyn moͤgen, wie er ſie
beſchreibt. Eine Zunge kann ſtammlen,
wenn die Seele gewiſſe Jdeen nicht zu ver-
knuͤpfen und auszudruͤcken weiß. — Baroc-
ci
malte gruͤnes Fleiſch: und Guercius
ein trauriges Colorit: Von den Schriften
dieſes Verfaſſers gilt es alſo vermuthlich,
was Plinius vom Maler Eutykrates ſagt:
auſtero maluit genere, quam iucundo
placere.


Seine Nahrung von ferne gebracht:) oft
woher und wo es niemand vermuthete, und
dachte. Wo der ehrwuͤrdige Satyr, Swift,
leichtfertige Traͤumer und fromme Seleni-
ten fand; im Monde; da findet ein anderer
Ritter und Rieſen:


LJch
[162]
Jch hieb viel tauſend Feinde nieder,

Jn allen Neſſeln, die ich fand

Da lagen denn die kleinen Leichen u. ſ. w.

ſ. Gedichte von Karſchin.

Haͤtte unſer jezo ebentheuerlicher Sokrat,
eine Aſpaſia, ſeine Gedanken auszudruͤcken,
und einen Alcibiad, ſie auszubilden; viel-
leicht haͤtte er Schuͤler und Nachkommen, bis
alsdenn vielleicht im dritten Gliede ein Ariſtote-
les, Socratis et Platonis peior progenies,
ein Syſtem errichtete, in der Philologie und
Aeſthetik, woran ſein Großvater nicht ge-
dacht hatte.



Beſchluß, uͤber das Jdeal der
Sprache.
*


Wenn man Werkzeuge nicht ſo vollkommen
„haben kann, als man ſie wuͤnſchet: ſo
„muß man aus den vorraͤthigen zu machen
„ſuchen, was ſich daraus machen laͤßt. Leib-
„nizens gelehrte Sprache iſt nicht zu bekom-
„men: wie koͤnnten wir uns der Deutſchen
„z. E.
[163] „z. E. noch am bequemſten zu den Wiſſen-
„ſchaften bedienen? Dieſe Frage doͤrfte al-
„lenfalls eine andre als Vorlaͤuferin haben,
„welche unter denen in Europa recht bekannt
„gewordenen Sprachen der Jdealvollkom-
„menheit einer Sprache, die Worte braucht,
„am naͤchſten koͤmmt. Eine gar nicht weit-
„laͤuftige Metaphyſik der Sprache, wuͤrde
„uns dieſe Jdealvollkommenheit wenigſtens
„einigermaſſen kennen lernen.„ Wir wol-
len zu dieſen angegebenen Stuͤcken von Jdeal-
vollkommenheit einige Anwendungen auf die
Deutſche Sprache dazuſezzen; erinnern unſern
Leſer aber zuruͤck an den Unterſchied, den wir
zwiſchen Jdealſchoͤnheit, mittlern Bequemlich-
keit, und wirklichen Vollkommenheit gemacht,
und den der Verfaſſer dieſes Briefes hie und
da verfehlt hat.


„Man kann die Sprache unter zwei Aug-
„punkten betrachten, in ſofern ſie einmal un-
„verbundene, und unzuſammenhaͤngende Be-
„griffe vorſtellt; hernach ſo fern ſie dieſe Be-
„griffe in Verbindungen anzeigt.„


„Vom erſten Stuͤcke haͤngt der Reichthum,
„und der Wohlklang und auch das Bilder-
L 2„reiche
[164] „reiche der Sprache ab.)„ Der Reichthum
kann ſeyn in Namen der Sachen, oder in
Zeichen der Begriffe; der erſte macht ei-
ne Sprache ſinnlich oder Bilderreich; der
zweite abſtrackt oder Gedankenreich; und
den Unterſchied von beiden hat das 7te Frag-
ment zu zeigen geſucht. — Der Wohlklang
hat mit Begriffen keine Verbindung, ſondern
muß aus der Natur der Sprach-und Hoͤr-
werkzeuge erklaͤrt werden: eine Anwendung
auf unſre Sprache hat das 11te und 14te Frag-
ment verſucht.


„Das erſte Stuͤck iſt ſolcher Vollkommen-
„heiten faͤhig, die mit dem Tode der Sprache,
„wenn ſie aufhoͤrt, Landesſprache zu ſeyn, ver-
„loͤſchen.)„ Nicht blos mit dem Tode der
Sprache, ſondern mit jedem Lebensalter ge-
hen gewiſſe Vollkommenheiten verloren, die
durch Vollkommenheiten eines andern Lebens-
alters erſezzt werden. So lange ſich eine
Sprache bildet, als Sprache der Nothwen-
Digkeit,
iſt bei allen Ungemaͤchlichkeiten der
Armuth ihr Vortheil Staͤrke: wenn die
Sprache noch nicht Buͤcher-aber Liederſpra-
che iſt: ſo hat ſie Reichthum an Bildern, und
den
[165] den hoͤchſten Wohlklang: Wird ſie Sprache
des ſittlichen Volks: ſo bekommt ſie mehr
Reichthum an Politiſchen Ausdruͤcken, allein
der hohe Wohlklang und das Bildervolle mil-
dert ſich: Als Buͤcherſprache wird ſie rei-
cher an Begriffen; allein der Poetiſche Wohl-
klang wird Proſe; das Bild wird Gleichniß:
die malenden klingenden Beiwoͤrter verlie-
ren ſich: Als Philoſophiſche Sprache wird
ſie beſtimmt, aber arm; verliert Synonymen;
und Bilder und Wohlklang achtet ſle nicht.
Dichteriſch iſt eine Sprache am vollkom-
menſten, ehe ſie; und Philoſophiſch am voll-
kommenſten, wenn ſie blos geſchrieben wird:
am brauchbarſten und bequemſten, wenn
ſie geſprochen und geſchrieben wird. Die An-
wendung auf die Deutſche Sprache macht
das 3te bis 5te und 8te Fragment.


„Es iſt doch unſtreitig, daß auſſer den fuͤnf
„Selbſtlautern noch viele Zwiſchenlaute haͤt-
„ten angebracht werden koͤnnen; ſo wie die
„vorhergehende und nachfolgende Bewegung
„der Redewerkzeuge zu ſolchen Lauten noch
„weit mannichfaltiger einzurichten waͤre.)„
Nach der Bewegung der Redewerkzeuge ha-
L 3ben
[166] ben wir wirklich mehr Selbſtlauter, als fuͤnfe:
weil dieſe fuͤnfe mit verſchiedener Hoͤhe und Tie-
fe, Laͤnge und Kuͤrze ausgedruckt werden.
Daß wir nun nicht fuͤr dieſe Zwiſchenlaute
neue Zeichen, wenigſtens Unterſcheidungen ha-
ben; iſt eine große Unvollkommenheit unſrer
Orthographie, die unter allen mir bekannten
Europaͤiſchen Sprachen die lezte und fuͤr ei-
nen Lehrling die ſchwerſte ſeyn doͤrfte. Wer
wird Meer und mehr, Zehn, Zeen, Zaͤhn, zaͤ-
he u. ſ. w. als Fremdling beſtimmt finden?
Was wir bei J zuviel an Zeichen haben, iſt
bei A und E zu wenig. — Und brauchen wir
Accente nicht noch immer, obgleich unſre Spra-
che kurzſylbig und eintoͤnig iſt? Der Laͤcherli-
che Fehler mit Géſ-pen-ſtern, ſtatt Ge-
ſpénſtern;
mit vérg-lich, ſtatt ver-glìch;
mit Enter-bẽter, ſtatt Ent-érbeter: iſt
doch bei Lehrlingen immer moͤglich, da er uns
gebohrnen Deutſchen manchmal in Gedanken
und bei verzerrtem Druck, oder verzerrter
Hand anwandeln kann. Bei vielen Woͤrtern
aͤndert ſich ja die Bedeutung ſelbſt; z. E.
Unterhálten (entreténir) und únterhalten
(ſuppoſer), uͤberſézzen (vertere) und í eber-
ſezzen
[167]ſezzen (traiicere), Ueberſézzer (translateur)
und Uéberſezzer (Bootsknecht) ſind ja him-
melweit verſchieden. Zu dem Hebraͤiſchen
Schin fehlt uns gar das Zeichen, weil ich
Geſchmack als ein Fremder immer eher Geſ-
chmack
leſen werde. Der Mangel an
punctis diaereticis macht auch inſonderheit
fremde Namen verwirrt; und uͤberhaupt kann
man den Mangel unſrer Zeichenſchrift am
beſten aus Reiſe- und Erdbeſchreibungen
ſehen, wenn die Namen fremder Sprachen
in unſern Buchſtaben ſich kaum mehr erken-
nen. — Soll unſer Hexameter ausſtehlich
werden; ſo muß er Accente haben, und der
erſte Dichter, der ſich die Muͤhe geben wird,
wahre Hexameter zu machen, wird ſich auch
der Accente nicht ſchaͤmen, weil er ſie vor
allen am wenigſten braucht. Sollte unſre
Sprache ſterben; Himmel! wie ſchlecht wuͤr-
de man ſie aus Buͤchern lernen; um ſie aus-
zubilden, ſtelle man ſie ſich todt vor; man
nutze die Provinzialismen, um ſie zu beſtimmen.


„Bei der Verbindung der Begriffe komme
„es hauptſaͤchlich an: 1) ob man ſie durch bloße
„Abaͤnderung des Ausdrucks fuͤr eine jede
L 4„Jdee;
[168] „Jdee; oder 2) durch Zwiſchenſezzung kleiner
„Worte, oder 3) durch die bloße Stellung der
„Jdeen anzeigen wolle. Denn dieſe drei
„Faͤlle ſind, glaube ich, blos moͤglich.„ Der
erſte Fall iſt der einfachſte, und bei dem An-
fange jeder Sprache der geradeſte geweſen;
er iſt daher noch bei den heutigen Sprachen
von antikem Karakter ſehr ſichtbar; gut fuͤr
Dichter, aber unphiloſophiſch. Der mit-
telſte iſt am uͤblichſten, bei der Deutſchen
Sprache ſehr gebraͤuchlich; und fuͤr die Spra-
che des gemeinen Lebens bequem. Aber weil
dieſe zwiſchengeſchobene kleine Worte nicht Ac-
cent gnug haben, und doch nicht wie die
wenigen Woͤrterchen der alten Griechen, auch
nicht ganz ohne Accent ſind; ſo entſtehet dar-
aus die Unbeſtimmtheit der Proſodie, die un-
ſern neuen Sprachen ſo laͤſtig faͤllt. — Der
dritte Fall iſt der philoſophiſchvollkommene;
und wenn Leibnizens allgemeine Sprache
ja moͤglich waͤre; ſo waͤre es eine Algebra,
wo die Verbindung der Jdeen ſehr von ihren
Stellung abhienge.


„2) Was fuͤr Geſezze man zur Folge einer
„gewiſſen Anzahl von Jdeen, die in Verbin-
„dung
[169] „dung ſtehen, annehmen wolle. Hier iſt das
„Hauptgeſezz; man laſſe ſie in der Ordnung
„folgen, die der Faßlichkeit des Gedanken
„und dem jedesmaligen Zweck des Redenden
„gemaͤß iſt. Nun kann der Zweck des Re-
„denden in tauſend Faͤllen nur einerlei [ſey]n;
„alſo wird es eine gewiſſe allgemeine Con-
„ſtruktionsordnung geben; hundertmal aber
„gibt es einen beſondern Zweck des Redners,
„und denn iſt diejenige Sprache die beſte,
„welche raͤumig genug geſchuͤrzt iſt, um ihre
„Ordnung nach dieſem Zweck wenden zu koͤn-
„nen. Ein geringes Nachdenken uͤberzeugt
„uns, daß wir in unſern jezzigen Sprachen
„eine Menge beſondrer Zwecke gar nicht durch
„die Wortfuͤgung anzuzeigen vermoͤgend ſind,
„ſondern ſie nur aus dem Zuſammenhange
„unſrer Gedanken muͤſſen errathen laſſen.
„Unvollkommenheit der Sprache!„ Ueber
dieſen Philoſophiſchen Artikel kann das 11-
13te Fragment ein Commentar ſeyn, der un-
ſern Nachtheil nach der Griechiſchen und La-
teiniſchen, aber Vortheil vor der Franzoͤſi-
ſchen Sprache zeigt.


L 5Man
[170]

Man muß die Worte ſo ordnen, daß ſie
bei aller moͤglichen Kuͤrze keine doppelte Be-
ziehung der Abhaͤngigkeit leiden:) Dieſe Zwei-
deutigkeit iſt am erſten in Sprachen zu beſor-
gen, die wenige Caſus z. E. den Nominativ
und Accuſativ gleich haben; die nach dem
vorigen zweiten Fall mit Zuſchiebung kleiner
Woͤrter flectiren, und bei denen die Conſtruk-
tionsordnung wenig beſtimmt iſt. Die erſte
Unvollkommenheit aͤuſſert ſich bei der Fran-
zoͤſiſchen; die zweite bei dem ſchleppenden
Perioden der Deutſchen, und die dritte bei
den elenden Lateiniſchen Perioden neuerer Buͤ-
cher, die ſich jede Jnverſion erlauben, weil ſie
die Geſezze der alten Roͤmer in ihrem vortrefli-
chen Perioden nicht kennen, der nichts unbe-
ſtimmt laͤßt, und doch fuͤr das Auge und
Ohr zugleich ſchreibt.


„Nach dieſer Vorſchrift muͤſſen wir die
„Sprache der Schriftſteller ausbilden: denn
„dem Sprechenden helfen Geberden und der
„Ton der Stimme, den wahren Verſtand be-
„ſtimmen, da hingegen alles dies im Buche
„wegfaͤllt.)„ Eine Sprache hat alſo ganz an-
dere Geſezze und Freiheiten, wenn ein Volk
ſie
[171] ſie ſtammlet, ſinget, ſpricht, ſchreibet, und
nicht mehr ſpricht, ſondern allein ſchreibt.
Und hierauf gruͤndet ſich mein Fragment von
den Zeitaltern, und den Graͤnzen der Nach-
ahmung alter Sprachen. (Fragm. 2. und
8.) Jezt ſezze ich folgende wahre Beobachtung
Samuel Johnſons dazu: „Es giebt Wor-
„te, deren Sinn allzufein iſt, als daß man ihn
„mit Worten ſollte faſſen, und in eine Umſchrei-
„bung bringen koͤnnen. Das ſind diejenigen
„Worte, welche die Sprachlehrer particulas
„expletivas,
oder ausfuͤllende Woͤrter nennen.
„Jn todten Sprachen uͤberſieht man ſie als
„leere Toͤne; als Toͤne, die zu anders
„nichts dienen, als einen Vers auszufuͤllen,
„oder einen Perioden wohlklingender zu ma-
„chen. Aber in lebenden Sprachen wird
„man bald inne, daß dergleichen Woͤrter
„mehr, als ausfuͤllende Woͤrter ſind, daß
„ſie Kraft und Leben haben, ob man gleich
„ihren Nachdruck mit andern Worten nicht
„ausdrucken kann.„ Dies wird jedem bei
dem Leſen Homers unzaͤhliche mal bei-
fallen; wenige Fuͤllwoͤrter, aber deſto oͤfter
und kraͤftiger: die ſpaͤtern Dichter mehr; die
ſpaͤ-
[172] ſpaͤtern Proſaiſten noch mehr, und Plutarchs
Stil kommt mir in Betracht deſſen gegen He-
rodot,
vor, als eine Kanzleiſchrift voll alldie-
weil, ſintemalen
und anerwogen, gegen
die fluͤſſende gemeine Sprache. Wie unrecht
denken die alſo, die Orientaliſch zu ſchreiben
glauben, wenn ſie das Und vor jeden Perio-
den, und jedes Glied deſſelben ſezzen; und
unausſtehlich im Deutſchen werden, ohne den
Schatten des Morgenlandes zu gewinnen.


„Durch was fuͤr Kuͤnſte haben es die Fran-
„zoſen dahin gebracht, daß man ihre Sprache,
„die Sprache der Vernunft nennet?)„ Jch
glaube, drei Urſachen dazu angeben zu koͤnnen.
Jhre Sprache hat bei ihrer Bildung, durch
welche Urſachen es auch ſeyn moͤge, eine ge-
wiſſe Regelmaͤßigkeit ſich eingedruͤckt, die un-
ſere Sprache nicht hat. Da ihre Conſtruk-
tionsordnung ſehr beſtimmt iſt: ſo kommt man
minder in die Verlegenheit, ſich ſchielend aus-
zudruͤcken. Zweitens: in den mitlern Zei-
ten hat man an ſie ſo viel Politur angewandt,
als nicht viel andere Sprachen erhalten ha-
ben: zu einer Zeit, da Deutſchland noch Bar-
bariſch oder Lateiniſch ſchrieb, feilte man
ſchon
[173] ſchon ſehr die Franzoͤſiſche Sprache, weil die
Franzoſen immer lieber fuͤr ein Publikum und
ſchoͤnes Publikum ſchreiben, wenn der Deutſche
fuͤr Studirſtuben und Katheder ſchrieb. So
wie ſchon die alten Gallier zur hoͤchſten
Obrigkeit ein Weiberrathhaus gehabt haben:
ſo iſt das ſchoͤne Geſchlecht auch immer
der Mittelpunkt ihres gelehrten Kreiſes ge-
blieben: man ſah die Buͤcher immer mehr
fuͤr ſchriftliche Geſpraͤche, fuͤr Unterredungen
im ſchoͤnen Ton an: und gab ſich alſo die un-
terhaltende Miene eines Vernuͤnftlers. Statt
daß ich drittens an alle die oͤffentliche An-
ſtalten gedenken ſollte, die der Sprache auf-
geholfen, will ich blos dazu ſezzen, daß die
Franzoͤſiſche Sprache auch nichts waͤre, wenn
ſie nicht dies Lob erbeutet haͤtte: zur Muſik
elend; waͤſſerich, Nervenlos, unharmoniſch
fuͤr die Poeſie; zu unbeſtimmt fuͤr die hohe
Weltweisheit, hat ſie ihr Gluͤck eben durch
eine Mittelmaͤßigkeit gemacht, die weder in
Weltweisheit noch Dichtkunſt eine hohe
Stuffe erreicht. Premontval* urtheilt
nicht
[174] nicht unbillig: „ſoll ich bei ihrem großen
„Gluͤcke einen Vorzugstitel fuͤr ſie ausfinden:
„ſo wuͤrde ich ihn in einer gewiſſen Gleichung
„mittelmaͤßiger Eigenſchaften ſuchen. Richt
„ſo ſanft, als die Jtaliaͤniſche; nicht ſo
„majeſtaͤtiſch, als die Spaniſche; weniger
„zuſammengedraͤngt, als die Engliſche; an
„Nachdruck weit unter der Deutſchen; an
„Reichthum, an Ueberfluß faſt unter jeder
„Sprache Europens; hat ſie doch bei ihrer
„Armuth, Mittel, Nachdruck, Kuͤrze, Maje-
„ſtaͤt und Suͤßigkeit gnug, um ein ſehr
„ſchaͤzbares Werkzeug der menſchlichen Ge-
„danken zu ſeyn. Jnſonderheit legt die Klar-
„heit und Politeſſe/ die ſie karakteriſiren,
„ihr großen Werth bei.„ So wie nun ein
huͤbſcher, artiger Menſch, deutlich und ver-
nuͤnftig in Geſpraͤchen, im Umgange mehr
gelitten wird, als ein tiefſinniger, ſtiller Mann,
ſo hat auch die Franzoͤſiſche Sprache fuͤr der
Deutſchen ſich das Lob des Verſtandes geben
laſſen, da die unſrige ſich den Titel einer
Sprache der Vernunft anmaaſſen koͤnnte.


„Stellt eine Philoſophiſche Materie, die
„ungefaͤhr mit gleicher Genauigkeit in zwo
„Sprachen
[175] „Sprachen vorgetragen worden, in der ei-
„nen ſich klaͤrer, netter und uͤberzeugender
„dar, als in der andern?)„ Ja! und Exem-
pel beſtaͤtigen dies allerdings. Eine tiefe
Philoſophiſche Materie kann ſich in der alten
reinen Lateiniſchen Sprache nicht ſo klar, ſo
nett, ſo uͤberzeugend ausdruͤcken, als in ei-
ner gewiſſen neuern Lateiniſchen Sprache,
die eben deswegen noch nicht Barbariſch iſt,
weil ſie von den Worten der Alten abgeht.
Jn den Schriften des Philoſophen Baumgar-
ten herrſcht ein gewiſſer aͤchter Roͤmiſcher
Geiſt, ſeine Blumen, die gleichſam ſelbſt aus
ſeiner Weltweisheit zu wachſen ſcheinen;
und nicht uͤber dieſelbe geſtreuet ſind: eine
ſo nachdruͤckliche Kuͤrze, daß jeder Gedanke
ſich ein Wort ſelbſt zu ſchaffen ſcheint: kurz
eine Sprache, die nicht netter und uͤberzeu-
gender und fuͤr den denkenden Leſer klaͤrer
ſeyn kann. Jch habe mich gezwungen, mir
dieſen Eigenſinn auszureden, weil andre ſie
eben fuͤr Barbariſch, oft ſpielend und dunkel
hielten: ich fieng an, ſie in das flieſſende
Latein der Schriften des Cicero zu uͤberſez-
zen, zu umſchreiben, zu verſchoͤnern; und der
Geiſt
[176] Geiſt der Philoſophie war weg. Nun verſu-
che man gar die Ueberſezzung in eine andere
Sprache: und es wird immer noch mehr ver-
lieren. Die Urſache davon liegt in dem
Karakter der Sprache, die zu dieſer Materie
gleichſam die Fugen ihrer Gelenkigkeit ge-
bildet hat, und an dem geſchickten Schrift-
ſteller, der ſich in dieſe Fugen zu ſchicken
weiß. „Das alſo Dinge in der einen
„Sprache ſich beſſer ausdruͤcken laſſen, als
„in der andern, kann eines Theils von der
„Subtilitaͤt der Gedanken herkommen; zwei-
„tens, daß man an ihre trockne Bezeichnung
„bei dem einen Volk mehr gewoͤhnt iſt,
„als bei dem andern.„ Theils von dem
Schriftſteller ſelbſt, der als Erfinder der
Gedanken, auch zugleich ein gewiſſes Haus-
und Herrnrecht uͤber den Ausdruck hat, in
dem ſelten ein Ueberſezzer ihm nachfolgen kann
und darf; weil er theils nicht mit dem Feuer
des Schriftſtellers ſelbſt denkt, theils lieber
aus Furcht den Gedanken dem Worte auf-
opfert. Nach dieſen drei Urſachen muß ſich
ſo ziemlich eine Landkarte entwerfen laſſen,
wiefern gewiſſe Materien in gewiſſen
Sprachen
[177] Sprachen ſich vorzuͤglich ſchoͤn behandeln
laſſen.


Materien der Weltweisheit theilen ſich
am leichtſten jeder ausgebildeten Sprache mit,
weil man hier vorzuͤglich die Richtigkeit und
Deutlichkeit der Begriffe zum Hauptaugenmerk
hat, und dieſe ſich in jeder uͤber das Sinnli-
che erhabenen Sprache, obgleich nicht uͤber-
all gleich leicht erreichen laͤßt. Daß man an
die neuere Lateiniſche Sprache hierinn ſo viel
Werth geknuͤpfet, die Weltweisheit gleichſam
nach ihren Worten bequemet, und den Be-
grif einem Ausdruck zu gut erfunden: iſt zwar
durch eine langwierige Gewohnheit uns faſt
zur zweiten Natur geworden, und eher nuͤz-
lich als ſchaͤdlich. Man glaubt mit gewiſſen
geerbten Worten Schaͤzze zu beſitzen, und
hat Huͤlſen ſtatt des Kerns. Man machte
z. E. einem neuern Gottesgelehrten den Ein-
wurf, daß, wenn er ſeine Dogmatik Lateiniſch
geſchrieben, viele Heterodoxien weggefallen
waͤren; ich gebe es zu, beklage aber eine Or-
thodoxie, die ſo ſehr von einer Sprache ab-
haͤngt, daß ſie in derſelben, wie in ihrem
MHauſe,
[178] Hauſe, maͤchtig iſt. Jch betrachte hier die
Sache blos aus dem Geſichtspunkt der Phi-
loſophie, zu der doch auch unſre Sprache
vorzuͤglich ſich gebildet hat.


„Eine Sprache, die wenig Unterſchied in
„den Zeiten angeben, wenig ohne Huͤlfs-
„woͤrter thun, nicht leicht einen Modus fuͤr
„den andern ſezzen kann, iſt nicht ſonderlich
„zur Geſchichte geſchickt, wie z. E. die
„Deutſche. Wir haben gar keinen Begrif
„von den temporibus der Griechiſchen
„Sprache. Der Deutſche hat ſelten das
„Gefuͤhl von dem Unterſchiede der beiden tem-
„porum praeteritorum
der Franzoſen, daß
„aus der Verwechſelung oft laͤcherliche Miß-
„verſtaͤndniſſe entſtehen.„ Jndeſſen iſt dieſe
Ungemaͤchlichkeit nicht ohne Huͤlfe, und unbe-
traͤchtlich ſo gar. Sie iſt nur in einzelnen
Theilen des Perioden: in ganzen Jnverſio-
nen haben wir ſogar vor dem Franzoſen vie-
le Vortheile, und wenn einige große Maͤnner
bei uns die hiſtoriſche Periode in Gang brin-
gen, und ſelbſt als Originale vorleuchten
und locken werden; wenn man ſtatt der Aus-
zuͤge
[179] zuͤge es unternehmen wird, einzelne Zeitpunkte
der Geſchichte mit allem Fleiß zu bearbeiten:
ſo wird unſere Sprache ſo leicht Muſter im
hiſtoriſchen Stil bekommen, als ſie ſchon in
der Weltweisheit hat.


Schoͤne Proſe iſt ſchon mehr in die
Jdiotismen verwebt; und unſre Sprache
hat alſo in dieſer Schreibart viel von der
Franzoͤſiſchen gewonnen. Poeſie iſt beinahe
in ihren Schoͤnheiten unuͤberſezzbar, weil
hier der Wohlklang, der Reim, einzelne Thei-
le der Rede, Zuſammenſezzung der Worte,
Bildung der Redarten, alles Schoͤnheit giebt.


Aus alle dieſem folgt, daß unſre Sprache
unſtreitig von vielen andern was lernen kann,
in denen ſich dies und jenes beſſer ausdruͤ-
cken laͤßt (ſollte es auch nur das Schim-
pfen ſeyn, wozu den Critikern gemeiniglich
das ſchoͤnſte Latein gedienet); daß ſie von
der Griechiſchen die Einfalt und Wuͤrde
der Ausdrucks, von der Lateiniſchen die
Nettigkeit des mittlern Stils, von der
Engliſchen die kurze Fuͤlle, von der Fran-
zoͤſiſchen die muntere Lebhaftigkeit, und
M 2der
[180] der Jtaliaͤniſchen ein ſanftes Maleriſche
lernen koͤnne. Allein, man ſieht auch, daß
in jeder Gattung der Schreibart kein Genie
ſich ſeiner Mutterſprache ſchaͤmen, oder ſich
uͤber ſie beklagen darf, weil uͤberhaupt fuͤr
einen jeden vortreflichen Schriftſteller die
Gedanken Soͤhne des Himmels, die
Worte, Toͤchter der Erde ſind.



Ueber
Notes
*
S. Vorrede zu den Litter. Br.
*
ſ. Schluß der Litt. Br.
**
Breslau 1755.
*
S. Litter. Br. Th. 4. p. 366.
*
Litter. Br. Th. 4. p. 366.
**
p. 100.
*
Breitingers Crit. Dichtk. Th. 2. durchgaͤngig.
**
Klopſtocks Abhandl. uͤber die Poet. Sprache
Litt. Br. Th. 6.
*
Litt. Br. Th. 3. p. 305.
*
Litter. Br. Th. 4. p. 230.
*
Litter. Br. Th. 4. p. 230.
*
So iſts fuͤr die Orientaliſche Dichter eine be-
queme und vortheilhafte Schoͤnheit, daß ſie,
die bei ihren Kaͤnntniſſen in der Botanik ver-
muthlich auch das Geſchlecht der Pflanzen ſchon
gekannt haben, in ihrer Sprache auch das Ge-
ſchlecht unterſcheiden, ja ſo gar fuͤr eine Pflan-
ze, die Jungfer und Ehefrau iſt, verſchiedne
Namen haben. So haben die Griechiſchen und
Roͤmiſchen Dichter, alle unuͤberſezbare Schoͤn-
heiten, aus dem Eigenſinn ihrer Sprache ge-
zogen, und in ihn verwebt.
**
Litt. Br. Th. 4. p. 232.
*
ſ. Klopſt. Abhandl. von der Poet. Spr. im 1. Th.
des Nord. Aufſ.
*
Litter. Br. Th. 15. p. 179.
**
ſ. Michaelis Reflexions ſur l’influence des opi-
nions etc.
*
Michael, praef. in Lowth. lectiones P. I.
*
Th. 13. p. 98.
*
ſ. Litt. Br. Th. 3. p. 202.
*
Litter. Br. Th. 17. p. 187.
*
Litt. Br. Th. 7. p. 24.
*
Litt. Br. Th. 13. p. 120. und 130.
*
Th. 9. p. 127. und Th. 17. p. 187.
*
Litt. Br. Th. 10. p. 213.
*
Litt. Br. Th. 16. p. 20.
*
Hier im Vorbeigehen eine kleine Schulanmer-
kung, die unſrer neuen Orthographie noͤthig iſt.
Die Alten hatten ſich ſo in das H verliebt,
daß ſie es gerne ſprachen, ſelbſt wo ſie es nicht
ſchreiben dorften, und auch nicht ſchrieben.
Uns neuern iſt ſo wenig an dieſem Muſikali-
ſchen Buchſtaben gelegen, daß wir ihn im Schrei-
ben ſo gern wegwerfen, da wo wir ihn doch
nothwendig, und inſonderheit bei einſylbigen
Woͤrtern ſehr unterſcheidend ſprechen muͤſſen.
Die Orthographie des Denſo und vieler an-
dern iſt mir alſo unausſtehlich: die bewonen,
Lon, Son
ſchreiben: bald wird man alſo auch
Geen
(ſtatt geben), aben ſtatt haben, und An,
ſtatt
*
Litt. Br. Th. 16. p. 20. 21.
*
ſtatt Hahn ſchreiben. Schade fuͤr unſre Spra-
che, wenn man zwei Menſchenalter nach uns
ſo ſpricht, als dieſe Sprachverderber ſchreiben.
*
Litt. Br. Th. 17. p. 184.
*
Litt. Br. Th. 17. p. 186.
*
Litter. Br. Th. 17. p. 186.
*
Man erlaube mir dies Wort, das ein Claßiſcher
Schriftſteller unter uns, wenn ich nicht irre,
gerechtfertiget hat: der Verf. der Phil. Schr.
*
Litter. Br. Th. 16. p. 8.
*
Th. 7. p. 163.
*
Th. 16. p. 20.
*
Litter. Br. Th. 16. p. 24.
*
Litter. Br. Th. 1. p. 110. ꝛc.
*
Litter. Br. Th. 2. p. 305.
*
Litter. Br. Th. 1. p. 108. 109.
*
Th. 10. p. 355.
*
p. 119-180.
*
Litt. Br. Th. 3. p. 103.
*
Litter. Br. Th. 4. p. 362.
*
Litter. Br. Th. 16. p. 8.
*
Th. 12. u. 16.
*
Th. 23. p. 3.
*
Th. 5. 11. 18. 20.
*
Litt. Br. Th. 11. p. 39.
*
Da Abbt in ſeiner Vorrede den werthen Herrn
Claville nennt: ſo fuͤhre ich einen andern Fran-
zoͤſiſchen Schriftſteller unſers Jahrhunderts an:
Tr[a]ité du merite p. Monſ. l’Abbé de Vaſſez:
1703. und die zweite Ausgabe 1704. der aber
uͤber das Verdienſt ſehr Franzoͤſirt zu haben
ſcheint: da er von den Verdienſten eines bel-
eſprit,
*
Th. 18. p. 3.
*
eſprit, von den ſinnlichen Verdienſten viel zu
ſchwazzen weiß, etwas was Abbt p. 284-287. in
ſeiner Bloͤße darſtellt. Magre Diſcourſe uͤber
den Vorzug des Verdienſts vor Geburt und
Reichthum ſcheinen das A und O dieſes Werks
zu ſeyn, das ich nur aus Recenſionen kenne.
*
Th. 23. p. 59.
*
Th. 4. p. 327. und Th. 16. p. 51.
**
Nach der Zeit, da ich dies geſchrieben, iſt
ſein Laokoon erſchienen, von dem ich zur andern
Zeit reden werde.
***
Th. 23. p. 14. und Th. 12. p. 331.
*
Th. 6. und 1[9].
*
Litter. Br. Th. 17. p. 180.
*
Premontval préſervatif contre la corru-
ption P.
1.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnw1.0