Die
Geſchichte
eines vornehmen Frauenzimmers,
Verlegts Abram Vandenhoͤck, Univerſitaͤts-Buchh.
1748.
Mit Koͤnigl. Pohln. und Churf. Saͤchß. allergnaͤdigſten
Privilegio.
[][]
Die Vorrede
des Ueberſetzers.
Es ſind die Geſchichte der Clariſſa dem
Verleger dieſer deutſchen Ueberſetzung,
ſo bald ſie in England heraus kamen, von
ſolchen Maͤnnern angeprieſen und ihm angera-
then worden eine deutſche Ueberſetzung davon
zu beſorgen, auf deren Urtheil er ſich voͤllig
verlaſſen konnte, und deren Nahmen, wenn
es noͤthig waͤre ſie bekannt zu machen, ihm
und der von ihm herausgegebenen Ueberſetzung
an ſtatt einer Schutz-Schrifft dienen koͤnnten.
Der eine unter denen, deſſen Rath er folge-
te, zog die Clariſſa der mit ſo vielem Beyfall
aufgenommenen Pamela vor: und weil die-
ſer Mann von dem groͤßeſten und beſten Theil
Deutſchlandes fuͤr den groͤßeſten Kunſtrichter
unſerer Zeit in den ſchoͤnen Wiſſenſchafften
angeſehen wird; und diejenigen Stuͤcke, die er
)( 2bis-
[]Vorrede.
bisher (obgleich ſparſam) zum Vergnuͤgen und
Beſſerung der Deutſchen herausgegeben hat,
von Dichtern ſowohl als von andern Leſern
bey nahe fuͤr canoniſch angeſehen ſind; und
uͤber das in den Schriften und Urtheilen die-
ſes Mannes die ſtrengeſten Grund-Saͤtze der
Tugend und der Religion herrſchen: ſo konnte
der Verleger nicht anders als vergnuͤgt ſeyn,
daß ihm dieſes Buch zuerſt in die Haͤnde ge-
fallen waͤre; und er ſahe ſich ſogleich nach ei-
nem Ueberſetzer um, von dem er hoffen koͤnnte,
daß er das Engliſche genugſahm verſtuͤnde,
ein ſo ſchweres Buch zu uͤberſetzen, und daß
er nicht durch eine allzu matte und ſteiffe
deutſche Schreib-Art den Leſer des Vergnuͤ-
gens berauben wuͤrde, das er bey einer Schrift
dieſer Art mit dem groͤſſeſten Rechte fodern
kann.
Es wird nicht noͤthig ſeyn ausfuͤhrlicher zu
melden, daß ſich der Verleger in Ausfindung
eines ſolchen Ueberſetzers Muͤhe gegeben, und
des Raths desjenigen Mannes dabey inſon-
derheit
[]Vorrede.
derheit bedienet hat, der ihm die Clariſſa als
ein Meiſterſtuͤck eines wohl geſchriebenen Eng-
liſchen Buchs angeprieſen hatte. Derſelbige
den er endlich erſucht hat, die Ueberſetzung des
gantzen Buchs zu uͤbernehmen, hat ſich ſelbſt
eine geraume Zeit in England aufgehalten,
und hoffet deswegen, daß ſich der Leſer deſto
eher auf ſeine Ueberſetzung werde verlaſſen
koͤnnen. Er hat dieſen Umſtand auf Verlan-
gen des Verlegers hier melden muͤſſen, und
er glaubt deſtoweniger, daß ihn ein ver-
nuͤnftiger Leſer deshalb einer Unbeſcheidenheit
beſchuldigen werde, weil er ſeine Ehre nie
darin geſucht hat, oder zu ſuchen gedenckt,
daß er ein guter Ueberſetzer heiße, ſondern
entſchloſſen iſt, ſich durch andere Mittel ein
guͤnſtiges Urtheil der Welt zu erwerben. Er
wuͤrde auch, da er mit anderer Arbeit uͤber-
haͤuft iſt, und nebſt einigen eigenen Schriften
die er unter der Feder hat, alle Tage
mehrere Stunden zu Vorleſungen auf
der hieſigen Univerſitaͤt anwendet, dieſe
Ueber-
[]Vorrede.
Ueberſetzung nicht uͤbernommen haben, zu welcher
er die Zeit von dem Umgang mit guten Freun-
den abbrechen mußte; wenn er nicht in der
Ueberſetzung dieſes Buchs der Welt einen wahr-
haften Dienſt zu leiſten geglaubt haͤtte, und
ſich einigermaßen unterſtuͤnde auf den Uhrhe-
ber dieſes Buchs die Zeilen zu deuten, die
ihm bey einer anderer noch erhabenern Gele-
genheit entfallen ſind:
Ein
[]Vorrede.
Ein ſolches Buch zu uͤberſetzen, konnte er fuͤr
keine Bemuͤhung anſehen, die unnuͤtz waͤre,
und ihn in dem Urtheil verſtaͤndiger Leute er-
niedrigen wuͤrde.
Er hat geſucht, die verſchiedene Schreib-
Art, die die Brieffe der verſchiedenen Perſo-
nen unterſcheidet, nachzuahmen: z. E. die lo-
ſen Beſchreibungen, welche die Fraͤulein
Howe zu machen pflegt; die gezwungen-witzi-
ge Schreib-Art des Jacob Harlowe, u. ſ. f.
Eine woͤrtliche Ueberſetzung iſt bey Buͤchern
unangenehm, die vergnuͤgen ſollen: er hat
daher die Freyheit gebraucht, die Worte im
deutſchen ſo zu ſetzen, wie ſie ſeiner Meinung
nach in dieſer Sprache am beſten lauteten.
Jnſonderheit hat er oft die allzulangen und
im deutſchen unangenehmen Periodos der
Englaͤnder in mehrere kurtze getheilt: auch
bisweilen doch ſelten einen Spaß, der im
Engliſchen und nicht im deutſchen lebhaft oder
gewoͤhnlich iſt, mit einem andern vertauſcht,
der ſich im deutſchen beſſer ſchickte.
Weil
[]Vorrede.
Weil er durch die Ueberſetzung Gelegenheit
gehabt hat, die Clariſſa genauer kennen zu
lernen: ſo nimt er ſich die Freyheit, dem Le-
ſer die Vorzuͤge zu entdecken, welche be-
reits dieſe erſten Theile vor der Pamela ha-
ben.
Die Schreib-Art der Haupt-Perſon iſt hier
gleich zu Anfang erhabener, als ſie in der
Pamela iſt, oder ſeyn durfte. Man hat nicht
mit ſo vielen Kleinigkeiten zu thun. Wer
kann zwar allen etwas recht machen? Es ha-
ben einige gemeint, die Clariſſa ſchreibe zierli-
cher als ein Frauenzimmer ſchreiben koͤnnte.
Wenn Frauenzimmer ſelbſt dieſen Einwurff
machen ſollten, ſo ruͤhret er gewiß entweder
von ihrer Demuth oder daher daß ſie nicht
Clariſſen ſind. Jn dem Munde einer Manns-
Perſon aber wird er weder hoͤflich noch be-
ſcheiden lauten: und es wird immer die Fra-
ge ſeyn, welche Frauenzimmer ein ſolcher
Tadler zum Muſter nehme? Sind es vorneh-
me
[]Vorrede.
me Frauenzimmer von Verſtand, von Bele-
ſenheit und Erziehung: ſo meine ich, daß es
manche ſolche Frauenzimmer den Manns-Per-
ſonen in der Schreib-Art zuvor thun. Des
Herrn von Buſſy Briefe ſind niemahls ſo hoch
geſchaͤtzt worden, als die von ſeiner Verwantin
der Frau von Sevigne. Der Ueberſetzer iſt
hierin ſo ſehr verſchiedener Meinung, daß er
ſich nicht unterſtanden hat, die Ode zu uͤber-
ſetzen, die im zweyten Theil Bl. 80 mangelt,
weil ſie nach dem Zeugniß des Engliſchen
Schriftſtellers von einem Frauenzimmer ver-
fertiget iſt, und dem gantzen Geſchlecht zur
Ehre gereicht.
Jn der Pamela wird mehr als einmahl ei-
ne Ohnmacht zu Entwickelung eines Knotens
gebraucht, und die Heldin dadurch von der
Gefahr errettet, die ihr drohete. Dieſes
ſcheint ein Fehler zu ſeyn, weil es die Wahr-
ſcheinlichkeit der Erzaͤhlung mindert. Denn
es iſt nicht vermuthlich, daß ein Frauenzim-
mer
[]Vorrede.
mer in den Umſtaͤnden der Pamela ſo oft mit
Ohnmachten uͤberfallen werden ſollte. Jn
den vier erſten Theilen der Clariſſa findet ſich
keine Ohnmacht, die einen Knoten aufzuloͤ-
ſen gleichſahm gerufen iſt: ob ſich gleich bis-
weilen Clariſſa eine ſo gefaͤllige Ohnmacht
wuͤnſchet, die ihr zu rechter Zeit aufwarten
ſolle.
Die Pamela verliert zuletzt das lebhafte,
muntere, reitzende und unerwartete. Der
vierte Theil wird ſo ernſthaft, daß ihn der
vielleicht kaum in einem Monathe durchlieſet,
der uͤber den erſten Theilen Naͤchte aufgeſeſſen
hatte. Bey der Clariſſa waͤchſt das lebhafte,
muntere, reitzende, und unerwartete. Wenn
ein Leſer ein ſo fluͤchtiges Hertz hat, daß ihm
einige Stellen der zwey erſten Theile zu ernſt-
haft vorkommen, und er nicht das rauſchen-
de Vergnuͤgen dabey empfindet, das er ſich
wuͤnſchet: ſo wird eben derſelbige Leſer bey
dem Anfang des dritten und bey dem Ende
des
[]Vorrede.
des vierten Theils das Buch nicht aus den
Haͤnden legen koͤnnen. Der Jnhalt der fol-
genden Theile traͤgt hiezu vieles bey.
Jch weiß nicht, ob ich dem Leſer den Ge-
fallen thun und von ihrem Jnhalt etwas mel-
den ſoll? oder ob es beſſer iſt, ihn in einer
angenehmen Ungewißheit zu laſſen, die hernach
durch Leſung dieſer unerwarteten Zufaͤlle deſto
mehr vergnuͤgt werden wird?
Doch nein! ich will den Fluch nicht auf
mich laden, mit dem mich die ungeſaͤttigte
Neugier zwiſchen hier und Oſtern verwuͤnſchen
koͤnnte.
Jm Anfang des dritten Theils findet man,
wie liſtig es Lovelace angefangen hat, die
Clariſſa dennoch dahin zu vermoͤgen, daß ſie
in ſeiner Geſellſchaft ihrer Eltern Haus ver-
ließ. Er hat bisweilen den aufrichtigſten
Vorſatz gegen ſie: allein ſie macht aus Furcht,
das
[]Vorrede.
das vierte Gebot zu uͤbertreten, Zweiffel, und
ſchiebt die Trauung auf. Er will ſie auf alle
moͤgliche Proben ſtellen, und wuͤnſcht ſie zu be-
ſiegen, ehe die Kirche ihren Seegen zu dem
Siege geſprochen haͤtte. Er macht aber doch
auch Anſtalten, wahre Anſtalten, zum Heyra-
then. Er iſt bisweilen ein eingefleiſchter Wi-
derſpruch von Treue und Untreue. Er bringt
ſie endlich ſo weit, daß ſie ſich nach London be-
giebt: und er miethet ſie in das Haus des
angeblichen Sinclair ein. Die Nymphen
dieſes Hauſes verwandeln ſich in Jungfern
von gutem Stande, von Tugend, und andern
guten Eigenſchaften; und Clariſſa meint, daß
ſie die Perſonen ſind, die ſie ſpielen. Bey al-
len dieſen Umſtaͤnden beobachtet er den Anſtand,
der erfodert ward, wenn Clariſſa dieſes Haus
fuͤr tugendhaft und ehrbahr halten ſollte.
Alle ſeine Liſt kann ſie nicht beſiegen: er zuͤn-
det endlich, um ſie weniger angekleidet zu ſe-
hen, das Haus des Nachts an; er erhaͤlt aber
nur einen kleinen Theil von ſeinem Endzweck.
Sie
[]Vorrede.
Sie fluͤchtet des folgenden Tages mit der
groͤſſeſten Klugheit: und der vierte Theil laͤßt
Lovelacen in der unausſprechlichſten Verwir-
rung.
Der fuͤnfte und ſechſte Theil hat das Licht
noch nicht geſehen. Der Doctor H. muß in
demſelben zuerſt auftreten, von dem die vier er-
ſten Theile nichts wiſſen. Vielleicht findet
man in dem ſieben und dreißigſten Briefe des
zweyten Theils eine Ahndung von dem fuͤrch-
terlichen Ende dieſes Trauer-Spiels. Ver-
muthlich werden dieſe Theile ſchon jetzt in Eng-
land in der Preſſe ſeyn: und wo dieſes iſt, ſo
liefert der Verleger die Ueberſetzung des drit-
ten und vierten Theils auf Oſtern 1749, und
den fuͤnften und ſechſten Theil auf Michaelis.
Goͤttingen den 20 Sept. 1748.
Clariſſa
der erſte Theil.
Erſter Brief
von
Fraͤulein Anna Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jch bin wegen der Unruhe, die Jhr Haus
ſeit kurtzen in Verwirrung geſetzet, ſehr
bekuͤmmert. Jch kan leicht dencken, wie emp-
findlich es Jhnen ſeyn muͤſſe, daß Jhrer in
allen oͤffentlichen Geſpraͤchen gedacht, wird: und
dennoch iſt es bey einer ſo bekant gewordenen Be-
gebenheit unmoͤglich, daß nicht ein jeder auf dasje-
nige aufmerckſam ſeyn ſollte, was ein junges
Frauenzimmer betrifft, deſſen ausnehmende Vor-
zuͤge jederman veranlaſſet haben, an ihren Bege-
benheiten Antheil zu nehmen. Jch bin begierig
von Jhnen ſelbſt die eigentlichen Umſtaͤnde eines
Verfahrens zu vernehmen, das man Sie wegen ei-
nes unverſchuldeten Zufalls empfinden laͤſſet, in
welchem, ſo viel ich erfahren kan, der leidende
Theil den Angriff gethan hat. Jch habe auf die
erſte Nachricht von der vorgegangenen Schlaͤgerey
Hrn. Diggs(*) ſogleich her bitten laſſen, um
Erſter Theil. Amich
[2]Die Geſchichte
mich aus Beſorgniß fuͤr ſie zu erkundigen, wie
ſich Jhr Bruder befinde. Er ſagte mir, die
Wunde ſey gar nicht gefaͤhrlich: allein das Fieber
koͤnte von ſchlimmen Folgen ſeyn, welches dem
Anſchein nach durch die hefftige Unruhe des Ge-
muͤths ſtaͤrcker geworden iſt. Herr Wyerley
tranck geſtern mit uns Thee: und ob er gleich,
wie ſehr zu vermuthen, gar nicht partheyiſch fuͤr
Herrn Lovelace iſt, ſo tadelt doch ſowohl er, als
Herr Symmes/ Jhre Familie ſehr, wegen ihres
ſonderlichen Betragens gegen Herrn Lovelace/
als er ſelbſt kam, um ſich nach dem Befinden Jhres
Bruders zu erkundigen, und ſeine Bekuͤmmerniß
wegen des vorgegangenen Ungluͤcks zu bezeigen.
Man ſagt, daß Herr Lovelace nicht umhin
gekonnt, ſeinen Degen zu ziehen: und daß entwe-
der Jhres Bruders Ungeſchicklichkeit oder Hitze
ihn ſchon bey dem erſten Gang voͤllig in die Ge-
walt ſeines Gegners geliefert habe. Wie mir
erzehlet worden, ſo hat er ſich darauf zuruͤck ge-
zogen und zu ihm geſagt: Behutſamer! Herr
Harlowe. Sie geben ſich durch ihre Hitze bloß!
Sie geben mir zu viel Vortheil! Jhrer Schwe-
ſter wegen vergebe ich alles: wenn ‒ ‒ ‒. Die-
ſes ſoll ihn nur verwegener gemacht haben, ſich
noch mehr Bloͤße und ſeinem Gegner mehr Vor-
theil zu geben, der ihn nach einer leichten Ver-
wundung am Arm entwaffnete.
Einige Leute, die auf Jhren Bruder, wegen ſei-
nes herrſch ſuͤchtigen Gemuͤths, und wegen ſeines
Hochmuths und Eigenſins nicht wohl zu ſprechen
ſind,
[3]der Clariſſa.
ſind, ſagen, daß ſich die Hitze des jungen Herrn
ſehr abgekuͤhlet, als er ſein Blut von dem Arm
haͤuffig herab flieſſen ſahe, und daß er die großmuͤ-
thigen Dienſte ſeines Gegners angenommen, der
ihm Rock und Weſte ausziehen half, und ihm den
Arm bis auf Ankunft des Wund-Artztes verband.
Er ſoll dieſes alles ſo geduldig gelitten haben, daß
dadurch der Beſuch, welchen ſein Gegner hernach
bey ihm abſtatten wollte, um ſich nach ſeinem Be-
finden zu erkundigen, weder fuͤr eine Verſpottung
noch fuͤr unzeitig konnte gehalten werden.
Doch dem ſey wie ihm wolle, jederman bedau-
ret Sie. So ſtandhaft und immer einerley in
Jhrer Auffuͤhrung! So begierig, wie Sie oft ge-
ſagt haben, unbemerckt durch das Leben hin-
durch zu ſchleichen, und welches ich noch hinzu
ſetzen moͤchte, in Jhren verborgenen Gutthaͤtigkei-
ten nicht erkannt und beobachtet zu werden, weil
Jhnen das bloſſe Bewuſtſeyn derſelben, der edelſte
und vortreflichſte Lohn ſchien! Nuͤtzlich ohne es
ſcheinen zu wollen! nach Jhrem wohl ausge-
ſuchten Wahlſpruch: Und dennoch auf einmahl
zu Jhrem groſſem Verdruß in die Nachrede der
Leute gebracht! und in ihrem eigenen Hauſe mit
der Schuld fremder Vergehungen belaͤſtiget!
Wie muß eine ſolche Tugend in jedem Stuͤcke lei-
den! Unterdeſſen muß man geſtehen, daß Jhre
Pruͤfung Jhrer Klugheit gemaͤß iſt.
Da Jhre Freunde auſſer Hauſe beſorget ſind,
daß ein ſo hefftiger Streit, deſſen ſich dem Anſchein
nach die beyden Haͤuſer annehmen und ihn zu ei-
A 2nem
[4]Die Geſchichte
nem Familien-Streit macheu, noch andere un-
gluͤckliche Folgen haben moͤchte: ſo erſuche ich Sie,
mich durch eine Nachricht von Jhrer eigenen Hand
in Stand zu ſetzen, daß ich Jhr Betragen bey ge-
gebener Gelegenheit rechtfertigen koͤnne.
Meine Mutter und wir alle reden gleich andern
Leuten bey nahe von niemand als von Jhnen und
von den Folgen, die die Rachgier eines ſo hitzigen
Kopfes als Hr. Lovelace iſt haben koͤnnte: denn
dieſer giebt vor, daß Jhres Vaters Bruͤder Jhm
auf das ſchimpflichſte begegnet ſind. Meine Mut-
ter will; daß Sie nunmehr ihn weder ſprechen,
noch einigen Brief-Wechſel mit ihm unterhalten
koͤnten, ohne den Wohlſtand aufs aͤuſſerſte aus
den Augen zu ſetzen. Jhres Vaters Bruder hat ſie
ſehr eingenommen, von dem Sie wiſſen, daß er
uns bisweilen beſucht. Er hat bey dieſem Vorfall
es als eine ſehr ſchwartze That einer Schweſter
vorgeſtellet, wenn ſie einem Liebhaber noch einige
Hoffnung machte, der den Weg zu Jhrem
Hertzen durch Jhres Bruders Blut neh-
men wollte. Dies war ſein Ausdruck.
Schreiben Sie mir demnach, mein Schatz, al-
les was von der Zeit an vorgefallen iſt, da Herr
Lovelace den erſten Zutrit in Jhr Hauß bekom-
men hat, inſonderheit das, was Jhre aͤlteſte
Schweſter und ihn betrifft. Denn hievon gehen
ſehr verſchiedene Reden: einige Leute glauben, daß
die juͤngere Schweſter wenigſtens durch ihre groſ-
ſe Vorzuͤge und Artigkeit der Aelteſten das
Hertz eines Liebhabers geſtohlen habe. Schreiben
Sie
[5]der Clariſſa.
Sie aber ſo vollſtaͤndig, daß auch ſolchen ein Ge-
nuͤge geſchehe, die von Jhren Umſtaͤnden nicht
ſo viel Nachricht haben, als ich. Sollte aus der
Hefftigkeit der Gemuͤther, mit denen Sie jetzt zu
thun haben, ein Ungluͤck entſtehen; ſo wird nichts
mehr zu Jhrer Rechtfertigung dienen koͤnnen, als
dieſe ſchon einige Zeit vorher gegebene Nachricht.
Sie ſehen, was Sie ſich dadurch fuͤr eine Laſt
aufgebuͤrdet haben, daß Sie alle Jhres Geſchlechts
uͤbertreffen. Ein jedes Frauenzimmer, daß Sie
kennet, oder von Jhnen gehoͤrt hat, maſſet ſich
gleichſam ein Recht an, Sie wegen Jhrer Auf-
fuͤhrung in einer ſo gefaͤhrlichen und empfindlichen
Begebenheit zur Rechenſchafft zu ziehen.
Jedermanns Auge iſt auf Sie gerichtet, und
erwartet von Jhnen ein Muſter dem man nachfol-
gen koͤnne. Jch wuͤnſchte, daß Sie Freyheit ha-
ben moͤchten Jhren eigenen Einſichten zu folgen:
alsdenn, hoffe ich, wuͤrde alles auf eine leichte und
anſtaͤndige Art geendiget werden. Jhre Fuͤhrer
und Fuͤhrerinnen ſetzen mich nur in Sorge; denn
obgleich Jhre Mutter alle Eigenſchafften an ſich
hat, andere zu regieren, ſo muß Sie ſich doch re-
gieren laſſen. Jhre Schweſter und Jhr Bruder
werden Sie gewiß hindern den Weg zu gehen, den
Sie ſelbſt waͤhlen wuͤrden.
Aber ich weiß Sie vergoͤnnen mir nicht, mich
uͤber dieſen letzten Punct weitlaͤuftiger zu erklaͤren.
Jch bitte mir Vergebung aus, und ſchlieſſe. Doch
was ſoll ich um Vergebung bitten? da Jhre
Sorge, meine Sorge iſt, und Jhre Ehre, meine
A 3Ehre
[6]Die Geſchichte
Ehre; da ich Sie ſo liebe, als nie Frauenzimmer
einander geliebet haben; und da Sie mir Erlaub-
niß gegeben haben, Sorge und Liebe mit Jhnen
zu theilen; und ſchon mehrere Jahre (wenigſtens
kann man ſie in einen ſo jungen Alter mehrere
nennen) einen Platz in der erſten Claſſe Jhrer
Freundinnen gegoͤnnet haben, Jhrer ewig danck-
baren und ergebenſten
Anna Howe.
P. S. Wollen Sie mir die Gefaͤlligkeit erzeigen,
mir eine Abſchrifft des Eingangs zu den in Jh-
res Groß-Vaters letzten Willen Jhrentwegen ge-
machten Clauſuln zu uͤberſenden? und mir erlau-
ben ſolche meiner Baſe Harman zu ſchicken? Sie
iſt ſehr begierig dieſen Eingang zu ſehen. Jedoch
iſt ſie von Jhuen ſo eingenommen, daß ob Sie
ihr gleich von Perſon unbekannt ſind, ſie doch
ſchon zum voraus billiget, daß Jhr Groß-Va-
ter Sie vorzuͤglich vor andern bedacht hat, ohne
die Urſachen noch zur Zeit zu wiſſen, die ihn hie-
zu bewogen haben.
Zweyter Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Wie uͤberhaͤuffen Sie mich mit einer rechten
Laſt von Hoͤflichkeit! Jch kan zwar an Jh-
rer
[7]der Clariſſa.
rer Aufrichtigkeit nicht zweifeln: allein Sie ſoll-
ten ſich doch billig in Acht nehmen, daͤß Jhre guͤ-
tige Partheylichkeit gegen mich nicht zum Nach-
theil ihrer Beurtheilungs-Kraft ausgeleget wer-
den moͤge. Sie unterſcheiden die vortrefflichen
Gedancken nicht, die ich Jhnen bisweilen abbor-
ge, und die Kunſt verſtehe ſie ſo anzubringen, als
waͤren es meine eigene. Denn in allem was Sie
thun, und was Sie reden, ja ſelbſt in Jhren ſo
lebhaften Blicken geben Sie, ohne es zu wiſſen,
einer Dienerin, die Sie ſo liebet, und ſo auf Sie
Acht giebet als ich es thue, lauter Lehren. Jch
bitte demnach, ſeyn Sie inskuͤnftige ſparſamer
mit Jhrem Lobe; damit nicht nach dieſem meinem
Geſtaͤndniß der Argwohn enſtehen moͤge, daß
Sie ſich ſelbſt heimlich in meinem Lobe zu loben
gedaͤchten.
Unſere Familie iſt in der That ſehr auſſer Ord-
nung gekommen-auſſer Ordnung! Nein ſie
iſt in der allergroͤſten Unordnung geweſen, ſeit
dem jene ungluͤckliche Begebenheit vorgefallen iſt.
Man hat alle Schuld auf mich geworfen: und ich
wuͤrde von ſelbſten mir dieſe Sache zu ſehr zu Ge-
muͤthe gezogen haben, wenn andere glimpflicher
und billiger mit mir umgegangen waͤren.
Es mag mein Wunſch die Frucht einer tadel-
haften Ungedult ſeyn, und daher entſtehen, daß
ich zu guͤtig erzogen bin gegen Beſchuldigung un-
empfindlich zu ſeyn, oder er mag daher kommen,
daß ich diejenigen um meinet willen nicht ohne
Verdruß kan tadeln hoͤren, die ich zu entſchuldi-
A 4gen,
[8]Die Geſchichte
gen, verbunden bin: ſo habe ich doch bisweilen
gewuͤnſchet, daß es GOtt gefallen haͤtte, mich in
meinem lctzten Fieber wegzunehmen, als ich mich
noch jedermanns Liebe und guter Meynung zu er-
freuen hatte; und noch oͤfter habe ich gewuͤnſchet,
daß mein Groß-Vater mir in ſeinem letzten Wil-
len nicht ſo viel zum voraus vermacht haͤtte. Denn
dieſe ſeine Guͤte hat, wie ich muthmaſſe, das Hertz
meines Bruders und meiner Schweſter von mir
abgewandt, und wenigſtens einigen Neid auf die
Gewogenheit meiner Vater-Bruͤder gegen mich
bey Jhnen erwecket, welcher Jhre Liebe biswei-
len verdunckelt.
Da mein Bruder von ſeinem Fieber gluͤcklich
wieder hergeſtellet iſt, und man in Anſehung ſei-
ner Wunde auch gute Hoffnung hat, ob er ſich
gleich noch nicht ausgewaget: ſo will ich in Er-
zaͤhlung unſerer Kleinigkeiten, ſo umſtaͤndlich
ſeyn, als Sie verlangen. Aber GOtt verhuͤte,
daß niemals ein neues Ungluͤck moͤge Anlaß ge-
ben, dieſe Nachricht zu dem Zwecke, deſſen Sie
ſo guͤtig erwaͤhnen, anderen vorzuzeigen.
Jch will Jhrem Befehl gemaͤß von der erſten
Bewerbung des Herrn Lovelace um meine
Schweſter den Anfang machen, und ſo kurtz ſeyn
als moͤgltch iſt. Jch will nur die Sachen erzaͤh-
len, und Jhnen uͤberlaſſen, von der Wahrheit des
Geruͤchts zu urtheilen, daß die juͤngere Schwe-
ſter der aͤltern ein Hertz geſtohlen habe. Es geſcha-
he zu folge einer Berathſchlagung zwiſchen dem
Lord M. und meines Vaters Bruder Anton/
daß
[9]der Clariſſa.
daß Herr Lovelace mit Erlaubniß meiner Eltern
meiner Schweſter Arabella die Aufwartung
machte. Mein Bruder hielt ſich damals in
Schottland auf, um die ſchoͤnen Guͤter zu beſe-
hen, dle ihm von ſeiner freygebigen Pathe nebſt
andern von gleichem Werth in der Grafſchafft
Yorck, vermacht waren. Jch befand mich damals
auf meiner ſo genannten Hollaͤnderey *), um
die Rechnungen des Gutes durchzuſehen, daß
mir mein Groß-Vater zum voraus vermacht hat-
te. Denn man erlaubet mir jaͤhrlich einmal die-
ſes Gut ſelbſt in Augenſchein zu nehmen, ob ich
es gleich gaͤntzlich meinem Vater zur Verwaltung
uͤberlaſſen habe.
Den naͤchſten Tag nach Herrn Lovelaces er-
ſten Zuſpruch beſuchte mich meine Schweſter da-
ſelbſt. Lovelace ſchien ihr ungemein wohl zu ge-
fallen, ſein Familie: ſein Vermoͤgen und zwey
tauſend Pfund jaͤhrlicher gewiſſer Einkuͤnfte, wie
der Lord M. meinem Vater Bruder Anton ver-
ſichert hatte: die ſtarcke Vermuthung, daß er die-
A 5ſes
[10]Die Geſchichte
ſes Herrn Erbe ſeyn werde; was er von Lady
Sara Sadleyr und Lady Lawrance zu hoffen
hat, als welche beyde nebſt dem Lord M. ſehr
wuͤnſchen ihn bald verheyrathet zu ſehen, weil er
der letzte von der Familie iſt: waren diſes nicht
Umſtaͤnde genug ihn meiner Schweſter angenehm
zu machen?
„So ein artiger Herr! O ihre liebe Clariſſa!
(denn damals konnte ſie mich ſehr zaͤrtlich lieben,
weil er ſie aufgeraͤumt und liebreich gemacht hatte)
„Er war nur gar zu artig fuͤr ſie! Sie hoffete
„ſeine Liebe ſtets zu behalten, wenn ſie nur eben
„ſo einnehmend waͤre, als ſonſt jemand!
„denn ſie hoͤrte er waͤre wild, ſehr wild und ſehr
„luſtig, und haͤtte ſehr gern mit Liebes-Sachen
„zu thun. Aber er waͤre jung und habe guten
„Verſtand: er wuͤrde ſeinen Jrthum einſehen,
„wenn ſie nur Gedult mit ſeinen Fehlern haben
„koͤnte, falls dieſe nicht ohnedem durch ſeine
„Verheyrathung wegfielen.
Solcher Sachen ſprach ſie noch mehrere, und
bat mich, daß ich doch den liebenswuͤrdigen
Herrn, wie ſie ihn nennete, auch ſehen moͤchte.
Aber von neuen uͤberfiel ſie eine Sorge, „daß ſie
„nicht artig genug fuͤr ihn waͤre: das waͤre aͤr-
„gerlich, hieß es, wenn der Mann in dieſem
„Stuͤck die Frau uͤbertreffen ſolte.„ Hierauf
trat ſie wieder vor den Spiegel und machte ſich
das Compliment, „ſie ſaͤhe gut genug aus.
„Man hielte manches Frauenzimmer fuͤr mittel-
„maͤßig ſchoͤn, das doch von ihr uͤbertroffen
„wuͤrde
[11]der Clariſſa.
„wuͤrde: man habe ihre Geſtalt ſtets fuͤr an-
„ſtaͤndig gehalten; wobey ich ihr ſagte, daß
Anſtaͤndigkeit nicht ſo viel in der Geſtalt als
Schoͤnheit verlieren koͤnnte, und bleiben wuͤrde,
wenn jene laͤngſt verwelcket waͤre. Hierauf
kehrte ſie ſich wieder zum Spiegel, „und be-
„merckte, daß ihre Geſichts-Zuͤge und ihre Au-
„gen nicht eben die ſchlimmſten waͤren, (ich er-
innere mich, daß ſie eben damahls ungewoͤhnlich
hell waren) „kurtz: Es waͤre nichts zu tadeln,
„obgleich auch nichts ſehr reitzendes an ihr zu fin-
„den waͤre. Sie war zweifelhafft: iſt was an
„mir auszuſetzen Claͤrgen?
Vergeben Sie mir, mein Hertz, ich habe nie
vorhin ſo umſtaͤndlich alle Kleinigkeiten geſchrie-
ben, auch ſelbſt nicht an Sie. Jetzt wuͤrde ich
eben ſo wenig eine ſo freye Beſchreibung von der
Auffuͤhrung meiner Schweſter machen, wañ Sie
ſich nicht gegen meinen Bruder ruͤhmte, daß Herr
Lovelace niemahls das Gluͤck gehabt habe, ihr
zu gefallen. Ueber dieſes befehlen Sie, daß ich
auch Kleinigkeiten in meine Beſchreibung mit ein-
flieſſen laſſen ſoll, und vergoͤnnen mir nicht die
Miene und die Art zu verſchweigen, womit eine
Sache die Nachdencken erwecken kan geſprochen
iſt: und in der That iſt Jhre Anmerckung richtig,
daß die Mienen unſere Gemuͤths-Faſſung oͤffters
beſſer ausdrucken, als die Worte ſelbſt.
Jch wuͤnſchte ihr Gluͤck zu ihrer Hoffnung.
Sie nahm meinen Gluͤckwunſch an, und ſchien
mit ſich ſelbſt ſehr wohl vergnuͤgt zu ſeyn.
Der
[12]Die Geſchichte
Der junge Herr gefiel ihr bey ſeinem naͤchſten
Beſuch noch beſſer. Und dennoch machte er ſich
nicht eben insbeſondere viel mit ihr zu thun, ob
ihm gleich Gelegenheit dazu gegeben ward. Man
wunderte ſich zwar hieruͤber, weil mein Vaters-
Bruder, der ihm den erſten Zugang in unſer Haus
verſchaffet hatte, deutlich geſaget hatte, daß er
meine Schweſter beſuchen wollte. Doch unſere
Eigenliebe macht uns immer ſehr willfaͤhrig, den
Schein des Kaltſinns bey ſolchen Perſonen zu ent-
ſchuldigen, denen wir gern gefallen moͤchten.
Meine Schweſter entdeckte auch eine fuͤr Herrn
Lovelace ſehr ruͤhmliche Urſache, warum er ſich
der gegebenen Gelegenheit ſo wenig bedienete. Jn
der That er war zu bloͤde, (dencken Sie ein-
mahl: Herr Lovelace ſoll bloͤde ſeyn) Jch muß
bekennen, daß ob er gleich munter und lebhaft iſt,
er doch nichts unverſchaͤmtes im Geſichte hat:
aber die Zeit muß wohl laͤngſtens vorbey ſeyn, da
er bloͤde geweſen iſt.
Doch auf dieſe Weiſe konnte meine Schweſter
damit fertig werden. „Auf ihr Wort, ſie glaub-
„te, daß Herr Lovelace die uͤble Nachrede
„in Abſicht ſeiner Auffuͤhrung gegen die Frauens-
„Leute nicht verdiene. Er war ihrer Meynung
„nach ein ſehr wohlgeſitteter Herr. Sie glaub-
„te er haͤtte gern ſeine Meynung frey heraus
„geſagt: aber ein oder zweymahl, da er das
„Wort ſchon auf der Zunge hatte, gerieth er in
„eine ſo liebenswuͤrdige Verwirrung, er ſchien
„ihr tiefe Hochachtung, und vollkommene Ehr-
erbie-
[13]der Clariſſa.
„erbietung zu erweiſen. Nichts gefiele ihr beſſer,
„als daß ein junger Herr, der ein Hertz erobern
„will, ſeiner Schoͤnen ehrerbietig begegne. „
Dieſes Gluͤck wuͤnſchen wir uns wohl alle; und
wir haben Urſache es uns zu wuͤnſchen: Denn in
manchen Familien habe ich bemercket, daß nach-
her ſehr wenig Ehrerbietung fuͤr das Frauenzim-
mer zu erwarten iſt. Sie ſagte meiner Baſe
Hervey: „ſie wolle das kuͤnfftige mahl nicht ſo
„ſehr zuruͤck halten: ſie waͤre keine ſolche Thoͤrin,
„daß ſie einen Liebhaber nur quaͤlen wollte, der
„nichts als Gegenliebe verdiente; und daß ſie
„ihn deſto mehr quaͤlen wollte, je hoͤher er ſie
„ſchaͤtzte. Nein ſo waͤre ſie nicht!„ Wenn ſie
nur nicht auf eine Perſon gezielt haͤtte, die mir
ungemein werth iſt, ſo daͤchte ich faſt, daß ſie mit
Grund einen Fehler unſers Geſchlechts getadelt
haͤtte. Jch nehme ein ungebuͤhrliches und hartes
Wort aus.
Arabella fuͤhrete ſich bey ſeinem dritten Beſuch
ſo guͤtig und vorſichtig auf als ſie ſich vorgenom-
men hatte: und ſie ſelbſt glaubte, nunmehr haͤtte
er ſein Anliegen frey heraus ſagen koͤnnen. Aber
er war noch bloͤde: er konnte ſeine unzeitige Ehr-
erbietung nicht uͤberwinden. Dieſer Beſuch hatte
demnach keinen andern Ausgang, als der vorige.
Aber nun fing ſie an uͤber ihn mißvergnuͤgt zu
ſeyn. Sie verglich ſeine gantze Gemuͤths-Beſchaf-
fenheit mit ſeinem Betragen gegen ſie ſelbſt; und
da ſich vorhin noch niemand um ſie beworben hat-
te, ſo geſtand ſie, ſie wiſſe gar nicht, wie ſie ſich ge-
gen
[14]Die Geſchichte
gen einen ſo ſeltſamen Liebhaber auffuͤhren ſolle.
„Was kan der Menſch fuͤr eine Abſicht haben?
„(ſagte ſie zu meiner Baſe) Mein Vaters
„Bruder hat deutlich geſagt, er braͤchte ihn als
„einen Freyer in unſer Haus.„ Es kan nicht
bloſſe Bloͤdigkeit ſeyn: (nun dachte ſie der Sache
weiter nach) „denn er haͤtte ja mit meines Va-
„ters Bruder reden koͤnnen, wenn er nicht das
„Hertz gehabt haͤtte, ſeine Erklaͤrung gegen mich
„zu thun. Jch frage nach ihm nicht viel. Es
„iſt doch aber wahthaftig billig, daß eine Manns-
„Perſon, daß Frauenzimmer nicht lange rathen
„laſſe ſondern ihr ſelbſt ſeine Abſicht zu verſtehen
„gebe. Allein in der That ich mercke, er ſuchet
„nicht ſo wohl meine als meiner Mutter Gunſt
„zu erlangen. Es iſt wahr, jedermann be-
„wundert meine Mutter wegen ihrer vortrefli-
„chen Auffuͤhrung: er wird ſich aber irren, wenn
„er dencket, daß er die Tochter durch die Mutter
„kriegen will. Wenigſtens ſolte er um ſeines
„eigenen Vortheils willen es meiner Wahl uͤber-
„laſſen, gegen ihn gefaͤllig zu ſeyn, wenn
„er ſich ſo auffuͤhret, daß er mir gefallen kan.
„Jch muß es geſtehen, daß ſeine entfernte und
„fremde Art des Umgangs deſto wunderbah-
„rer iſt, weil er ſeinen Beſuch fortſetzet und ein
„Verlangen bezeuget, mit der gantzen Familie
„Freundſchaft zu halten, da er doch wohl mer-
„chen muß, daß ich Verſtand habe, falls ich an-
„ders ſelbſt ſagen darf was die Welt von mir ur-
„theilet.„
Hier-
[15]der Clariſſa.
Hierbey wußte ſie zu erzaͤhlen, „daß er man-
„chen artigen Spaß, der ihr entfallen waͤre,
„wohl bemercket, und ſehr bewundert haͤtte. Es
„ſey zwar einem offenen und freyen Hertzen als ſie
„habe, ſehr beſchwerlich zuruͤck zu halten: allein
„ſie koͤnnte ihrer Baſe nicht verheelen, daß ſie
„niemals vergeſſen wuͤrde, was ſie ihrem Ge-
„ſchlecht, und was ſie ſich ſelbſt ſchuldig ſey,
„wenn auch wieder Herr Lovelaces Auffuͤhrung
„eben ſo wenig einzuwenden waͤre als wieder ſei-
„ne Geſtalt, und wenn er auch kuͤnftig ſeine Bit-
„te noch ſo eifrig anbraͤchte.„
Jch ward nicht mit zu Rathe gezogen. Jch
war noch immer verreiſet. Sie faſſete auf Anra-
then meiner Baſe Hervey den Schluß, bey dem
naͤchſten Beſuch gantz ernſthaft und zuruͤckhaltend
zu thun, wenn er nicht beſonders Gelegenheit ſuch-
te, mit ihr naͤher bekannt zu werden.
Meine Schweſter hatte die Sache nicht wohl
uͤberlegt. Der Erfolg wieß, daß dieſes nicht der
rechte Weg war, den man um einer bloſſen Un-
terlaſſung willen mit einem ſo klugen Mann als
Herr Lovelace haͤtte gehen ſollen. Ja auch gegen
einen andern haͤtte man nicht ſo verfahren ſollen;
denn wenn die Liebe nicht ſo tief gewurzelt iſt, daß
ſie bey der beſten Gelegenheit, die man dazu giebt,
eine Liebes-Erklaͤrung hervor bringt, ſo hat man
wenig Urſach zu hoffen, daß ſie gleichſam durch
den toͤdtenden Wind der Empfindlichkeit und
Rache wachſen werde. Ueber dieſes iſt meine ar-
me Schweſter von Natur nicht allzu aufgeraumt:
ich
[16]Die Geſchichte
ich erfahre dieſe Warheit leider zu oft, als daß
ich ſie ihnen verheelen koͤnte. Wenn ſie nun
mit Willen noch verdrießlicher hat ſcheinen wol-
len, als ſie gemeiniglich iſt, ſo muß dieſes ein gar
nicht vortheilhaftes Bild von ihr gegeben haben.
Jch weiß nicht was in dieſer Zuſammenkunft
vorgefallen iſt; der Ausgang ſollte einen faſt auf
die Gedancken bringen, daß Herr Lovelace ſo
loſe und faſt ſo niedertraͤchtig geweſen ſey, die Ge-
legenheit mit Fleiß zu ſuchen und zu gebrauchen,
welche ihm meine Schweſter dieſes mal gab. Es
beliebte ihm jetzund ſeine Bitte anzubringen: aber
ſie erzehlet, daß er ſie vorher, (ſie wuſte nicht,
auf welche Art und Weiſe?) ſo zum Unwillen ge-
reitzet, und ſo misvergnuͤgt gemacht habe, daß
ſie unmoͤglich ſo gleich wieder zu ſich ſelbſt habe
kommen koͤnnen. Dem ohngeachtet drang er mit
ſeiner Bitte in ſie, nicht anders, als wenn er ein
deutliches Ja erzwingen wollte, ließ ihr aber
nicht Zeit wieder aufgeraͤumt zu werden, und be-
muͤhete ſich nicht ſie zu beſaͤnftigen. Sie konnte
daher nicht anders, als ſeine Bitte abſchlagen;
ließ ihm aber dabey mercken, daß ihr nicht ſowohl
ſein Anbringen mißfiele, als die Art mit der er es
angebracht hatte: denn er habe ſich mehr um ihre
Mutter, als um ſie beworben, gerade als wenn
er gewiß wuͤßte, daß ſie ſogleich Ja ſagen wuͤrde
ſo bald es ihm beliebte.
Eine Verweigerung voller Ja-Worte! Von
gleicher Beſchaffenheit waren alle ihre uͤbrige Ein-
wendungen, nehmlich ſie habe nicht Luſt ſich
zu
[17]der Clariſſa.
zu veraͤndern; ſie ſey jetzt gluͤcklicher/ als ſie
jemals werden koͤnte. Sie brachte noch mehr
ſolcher bejahenden Verneinungen vor, ich
kan ſie wohl ſo nennen, ohne uͤber meine Schwe-
ſter zu ſpotten: denn was kan ein jung Maͤdgen
in ſolchen Umſtaͤnden anders ſagen, wenn es
fuͤrchten muß, daß es durch ein allzuwilliges Ja
ſich nur bey dem andern Geſchlechte veraͤchtlich
machen wuͤrde? Denn dieſes pflegt doch ſein
Gluͤck hoͤher oder geringer zu ſchaͤtzen, nachdem
ihm das Ja-Wort leichter, oder ſchwerer zu er-
halten geworden. Mir gefaͤllt die Antwort der
Fraͤulein Biddulf auf einige Verſe die von ei-
nem jungen Herrn herumgehen (*), der ſich uͤber
die Verſtellung des Frauenzimmers luſtig mach-
te. Sie werden nichts daran tadeln, als daß un-
ſere Fehler zu freymuͤthig bekannt werden.
Erſter Theil. B
[18]Die Geſchichte
Die Urſach, daß wir nicht ſo reden als wir
dencken.
Hier muß ich meine Feder niederlegen, ich werde
ſie aber bald wieder nehmen, um weiter zuſchreiben.
Der dritte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlove an Fraͤulein
Howe/
So hatte denn Herr Lovelace ſeine Antwort
von meiner Schweſter, nach der Erklaͤ-
rung, die er ihren Worten gab. Mit ſehr groſer
Betruͤbnis, (wie er vorgab) ließ er ſich ihren
Ausſpruch gefallen. Jch fuͤrchte mein Hertz, er
weiß ſich ſehr zu verſtellen. „Eine ſo geſetzte
„Unveraͤnderlichkeit, Eine ſo erhabene Stand-
„hafftigkeit fand er ſeinem Vorgeben nach bey
„meiner Schweſter, daß ihm keine Hoffnung
„uͤbrig blieb, ſie zur Aendrung ihres Entſchluſſes
„zu bewegen, den ſie mit voͤlliger Ueberlegung
„gefaſſet hatte. Er ſeuffzete, nach der Erzeh-
„lung meiner Schweſter, als er von ihr Ab-
„ſchied nahm! der Seufzer war recht tief: er
„umfaſſete ihre Hand, und kuͤſſete ſie recht feu-
„rig; er gieng darauf mit der ehrerbietigſten
„Miene weg. Als er ſo vor ihr ſtand, ſo trat
„ihrem Hertzen faſt ein Mitleiden gegen ihn an,
„ob er ſie gleich vorhin erzuͤrnet hatte.„ Gewiß ei-
ne gute Vorbereitung zum kuͤnftigen Ja-Wort,
wenig-
[19]der Clariſſa.
wenigſtens nach ihrer Abſicht: denn als ſie dis
Mitleiden empfand, ließ ſie ſich noch gar nicht
einfallen, daß er ſeine Bitte nicht abermals an-
bringen wuͤrde.
Er wartete meiner Mutter noch auf, und
klagte ihr ſein Ungluͤck mit vieler Ehrerbietung, ſo
wohl gegen meine Schweſter, als die gantze Fa-
milie, und ließ eine rechte ſtarke Bekuͤmmerniß
daruͤber blicken, daß er nicht das Gluͤck haben
ſollte, mit ihr naͤher verbunden zu werden. Die-
ſes machte bey allen einen ihm vortheilhaften
Eindruck, denn mein Bruder war damals noch
in Schottland: und man glaubte, er werde ſein
Gewerbe abermahls anzubringen ſuchen. Als
aber Herr Lovelace gleich nach London reiſe-
te, und ſich daſelbſt vierzehn Tage aufhielt, auch
gegen meinen Vaters Bruder Anton/ den er
dort antraf, ſich wegen des ihm betruͤbten Ent-
ſchluſſes meiner Schweſter, unverheyrathet zu blei-
ben, beklagte; ſo ſahe man wohl, daß in der Sa-
che weiter nichts zu thun ſeyn wuͤrde.
Bey dieſer Gelegenheit vergaß meine Schwe-
ſter nichts, ſich in den Vortheil zu ſetzen, und ſie
machte aus der Noth eine Tugend. Der Menſch
war nun in ihren Augen ein ganz anderer Menſch
geworden „ein eingebildeter Menſch! der ſeine
„eigene Vorzuͤge mehr als zu wohl kenne, und
„doch waͤren dieſe ſeine gute Eigenſchaften bey
„weiten nicht ſo groß, als ſie zu Anfang gehof-
„fet haͤtte. Er waͤre bald kalt, bald warm, und
„ſeine Liebe waͤre einem Fieber ſehr aͤhnlich.
B 2Ein
[20]Die Geſchichte
„Ein beſtaͤndiger Mann, der Tugend beſaͤſſe
„waͤre ihr lieber, als tauſend ſolche artige
„Flatterer. Vielleicht moͤchte ihre Schweſter
„Claͤrgen es der Muͤhe werth achten, ſich mit
„einem ſolchen Liebhaber abzugeben. Die haͤtte
„Gedult, die koͤnnte bitten und uͤberreden, und
„in der That das Maͤdgen haͤtte etwas aͤhnli-
„ches von Jemanden: ſie aber moͤge keinen
„Mann haben, wenn er auch die gantze Welt be-
„ſaͤſſe, auf deſſen Hertz ſie ſich nicht eine Stunde
„lang verlaſſen koͤnnte; Sie freue ſich von Her-
„tzen daß ſie ſich von ihm loß gemacht habe.„
Da Herr Lovelace wieder aufs Land kam,
that er meinem Vater und Mutter die Ehre, ſie
zu beſuchen. Er ſagte, er hoffe, daß es ihm er-
laubt ſeyn wuͤrde, beſtaͤndige Bekanntſchaft und
Freundſchaft mit einer Familie zu halten, die er
nie aufhoͤren wuͤrde zu verehren, ob er gleich ſo
ungluͤcklich geweſen waͤre, daß ihm die gehofte
Verbuͤndung abgeſchlagen ſey. Zu meinem Un-
gluͤck, ſo mag ich es wohl nennen, war ich da-
mals zu Hauſe und gegenwaͤrtig.
Man bemerkte alſobald daß er auf mich ein
Auge gerichtet hatte. So bald er weg gegan-
gen war, ſtellte ſich meine Schweſter, als haͤtte
ſie groſſe Lnſt ſeiner Anwerbung um mich befoͤr-
derlich zu ſeyn, falls er ſie deutlich vorbringen
wuͤrde. Dis ſollte eine großmuͤthige Verach-
tung heiſſen.
Meine Baſe Hervey war eben gegenwaͤrtig,
und ſagte, wir wuͤrden das artigſte Paar in ganz
Eng-
[21]der Clariſſa.
England ſeyn, wenn meine Schweſter nichts da-
gegen einzuwenden haͤtte. Nein wahrhaftig nicht,
ſtuͤrzte ſie mit hochmuͤthigen Geberden heraus! es
wuͤrde ſich dieſes Betragen zu dem Korbe gar
nicht ſchicken, den ich ihm mit voller Ueberlegung
gegeben habe.
Meine Mutter ſagte; das eintzige, was ſie
wider ſeine naͤhere Verbindung mit einer von
ihren beyden Toͤchtern einzuwenden habe, ſey
ſeine unordentliche Lebens-Art.
Mein Onkle Harlowe antwortete: ſeine
Tochter Claͤrgen (denn ſo hat er mich von
meiner Kindheit an gern genannt) wuͤrde ihn
bekehren, falls ihn irgend ein Frauenzimmer be-
kehren koͤnnte.
Der andere Bruder meines Vaters Anton/
gab ſeinen Beyfall ſehr nachdruͤcklich; Er ſetzte
aber hinzu, was Frau Hervey ſchon vorhin
erinnert hatte, daß man meiner Schweſter Mey-
nung beſonders hoͤren muͤſte.
Sie fing von neuem an, ihn zu veracheen; und
erklaͤrte ſich: ſie moͤchte ihn nicht nehmen, wenn
gleich alle Manns-Perſonen in England bis auf
ihn ausgeſtorben waͤren. Sie verſicherte im Ge-
gentheil, ſie ſey bereit, ſich aller ihrer Anſpruͤche
an ihn unter Hand und Siegel zu begeben, wenn
ſich Claͤrgen von ſeinem Flitter-Golde wollte
blenden laſſen, und wenn ſonſt alle damit zu-
frieden waͤren, daß er das Maͤdgen kriegte.
Mein Vater unterbrach endlich ſein langes
Stillſchweigen, weil ſein Bruder Anton ſehr in
B 3ihn
[22]Die Geſchichte
ihn drang, daß er ſeine Meynung eroͤfnen moͤchte.
Er ſagte: er habe von ſeinem Sohn Jacob ei-
nen Brief bekommen, den er geſchrieben, als er
gehoͤret haͤtte, daß ſich Herr Lovelace um ſeine
Schweſter Arabella bewuͤrbe: er habe dieſen
Brief niemanden, als meiner Mutter gezeiget,
weil doch bey deſſen Empfang die ganze Sache
ſchon vorbey geweſen ſey. Sein Sohn bezeuge
in dieſem Schreiben ein groſſes Misfallen an ih-
rer Verheyrathung mit Herrn Lovelace/ wegen
der uͤbeln Auffuͤhrung dieſes Mannes. Er wiſſe
zwar, daß ein alter Groll zwiſchen ihnen beyden
obwalte; aber er wolle ſich doch nicht eher uͤber
dieſe Sache erklaͤren, bis er von ſeinem Sohn
nach deſſen Zuruͤckkunft alles ſelbſt gehoͤret, was
er einzuwenden habe, weil er gern alle Gelegen-
heit zur Trennung und Feindſchaft in ſeiner Fa-
milie vermeiden wolle. Er ſey deſto geneigter
ſeinem Sohn dieſe Gefaͤlligkeit zu erweiſen, weil
die allgemeine Meynung die man von Herrn Lo-
velace habe, das Misfallen ſeines Sohnes an
der Heyrath nur allzuſehr rechtfertige. Er habe
gehoͤret, (er glaubte aber, jedermann muͤſte dis
auch gehoͤret haben) daß Lovelace ein ſehr aus-
ſchweifender Menſch ſey, und auf Reiſen viel
Schulden gemacht habe: er ſehe auch in der That
recht aus, als ein Verſchwender.
Dieſe Umſtaͤnde habe ich theils von meiner Ba-
ſe Hervey/ und theils von meiner Schweſter:
denn ich ward heraus gerufen, ſo bald man anfing
von der Sache zu ſprechen. Als ich wieder kam,
fragte
[23]der Clariſſa.
fragte mich mein Onckle Anton; wie mir Herr
Lovelace gefiele. Jedermann ſehe wohl, ſetzte
er hinzu, daß ich ein Hertz erobert haͤtte. Jch
antwortete ihm ohne mich zu bedenken: Ganz
und gar nicht! Er ſcheint von ſeiner Perſon und
Eigenſchaften eine ſo vortheilhafte Meynung zu
haben, daß er ſchwerlich gegen ſeine Frau die noͤ-
thige Achtung haben wird, er mag heyrathen,
welche er will.
Meine Schweſter war inſonderheit mit dieſer
Antwort vergnuͤgt, ſie beſtaͤtigte das was ich ge-
ſagt hatte, und ruͤhmete mein Urtheil: denn es
war zugleich ihr Urtheil.
Allein den folgenden Tag kam der Lord M. auf
unſer Gut, als ich eben nicht zu Hauſe war.
Er that in ſeines Vetters Namen einen foͤrmli-
chen Antrag, mit der Erklaͤrung ſeine ganze Fa-
milie wuͤnſche ſich die Ehre mit der Unſrigen ver-
wandt zu werden: und er hoffe, ſein Vetter werde
eine beſſere Antwort von der Juͤngern, als von der
aͤltern Schweſter bekommen.
Kurtz: es ward Herrn Lovelace verſtattet mich
zu beſuchen, weil man ihn fuͤr einen jungen Herrn
hielt, der von unſerer Familie alle gute Begeg-
nung verdienet haͤtte; doch behielt ſich in Abſicht
auf mich mein Vater bevor, daß er nichts ohne
ſeines Sohnes Beyrath beſchlieſſen wolle. Uebri-
gens verließ man ſich auf meine Vorſich tigkeit
und Klugheit; denn ich machte noch eben dieſel-
ben Einwendungen gegen Herrn Lovelace, und
wollte nicht einmahl, da wir beſſer bekannt ge-
B 4worden,
[24]Die Geſchichte
worden, einige Geſpraͤche anhoͤren, die mich ins
beſondere angingen, daher ich ihm die Gelegen-
heit abſchnitt, ſich mit mir allein zu unterreden.
Er ertrug dieſes mit mehr Gelaſſenheit, als
man von ſeiner Gemuͤthsbeſchaffenheit dencken
koͤnnen, denn man ſagt gemeiniglich, daß er ſehr
lebhaft und heftig ſey; und es ſcheint, daß er von
Kindheit auf nicht ſey gewoͤhnt worden, Wider-
ſpruch zu leiden, oder ſich in ſeinen Neigungen
Einhalt thun zu laſſen: eine Sache die in vor-
nehmen Familien, bey einzigen Soͤhnen gar zu ge-
woͤhnlich iſt, und ſeine Mutter hat auſſer ihm nie-
mahls ein ander Kind gehabt. Wie ich Jhnen
aber ſchon ſonſt erzaͤhlet habe, konnte ich dem ohn-
geachtet wohl merken, daß er von ſich eine viel zu
gute Meynung habe, und gar nicht zweifele, ſeine
Perſon und Artigkeit wuͤrde mich unvermerkt ein-
nehmen. Er ſagte zu meiner Baſe Hervey:
wenn er mich nur einmahl gewonnen haͤtte, ſo
hoffe er, von einem ſo ſtandhaftem Gemuͤthe, daß
meine Liebe gegen ihn deſto dauerhafter ſeyn wuͤr-
de. Meine Schweſter meinte ganz andere Urſa-
chen ſeiner Gedult zu finden, und ihr Urtheil wuͤrde
mehr Gewicht gehabt haben, wenn ſie weniger Ur-
ſache gehabt haͤtte, durch Vorurtheile gegen ihn
eingenommen zu ſeyn. Sie ſagte, der Menſch
moͤchte ſich vielleicht uͤberall nicht darnach ſehnen,
verheyrathet zu werden. Er moͤchte vielleicht ein
Dutzend Maitreſſen haben, und der Verzug ſey
eben ſo vortheilhaft fuͤr ſeine Ausſchweifungen,
als fuͤr meine ſehr wohlangenommene Kalt-
ſinnig-
[25]der Clariſſa.
ſinnigkeit. Dieſes waren ihre guͤtigen Aus-
druͤcke.
Was fuͤr Bewegungs-Gruͤnde er inzwiſchen
haben mogte, eine ihm ſo ungewoͤhnliche Gedult
zu beweiſen, ſonderlich bey einer Perſon, die von
ihm fuͤr ein hinlaͤngliches Gluͤck gehalten ward,
ſeine Begierde rege zu machen; ſo iſt doch dieſes
gewiß, daß er hiedurch manchen Verdrießlichkei-
ten und Kraͤnkungen entging. Denn weil mein
Vater ſeine Einwilligung bis zu meines Bruders
Ankunft aufſchob, ſo erwieß ihm jedermann die
Hoͤflichkeiten, die man ſeinem Stande ſchuldig
war. Wir hoͤrten zwar von Zeit zu Zeit uͤble Nach-
richten von ſeiner Lebensart, wir konnten ihn aber
wegen ihrer Richtigkeit nicht befragen, ohne ihm
einen groͤſſern Vortheil uͤber uns und mehr Recht
zu geben, als die Klugheit erlaubte. Denn allem
Anſehen nach war eine abſchlaͤgliche Antwort auf
ſeine Bitte wahrſcheinlicher als ein Ja.
Er behielt alſo einen freyen Zutritt in unſer
Haus, deſſen er ſich faſt bedienen konnte, wie er
nur ſelbſt wollte. Denn da meine Freunde in ſei-
nem Betragen lauter Ehrerbietigkeit wahrnah-
men, und keine ungeſtuͤme Heftigkeit bey ihn fan-
den, ſo ſchienen ſie recht vergnuͤgt mit ſeinem Um-
gang zu ſeyn. Jch aber ſahe ihn fuͤr weiter nichts,
als einen ordentlichen Gaſt an, und that nicht, als
wenn mich ſein Beſuch naͤher betraͤffe, als irgend
einen andern im Hauſe, war auch deswegen bey
ſeinem Kommen und Weggehen nicht mehr als
andere, bey der Hand.
B 5Allein
[26]Die Geſchichte
Allein dieſe meine Gleichguͤltigkeit hatte ſonft
fuͤr ihn erwuͤnſchte Folgen; denn hierdurch er-
hielt er die Erlaubniß, eines Briefwechſels mit
mir, wozu ich mich niemahls wuͤrde entſchloſſen
haben, wenn er ihn haͤtte anfangen wollen, nach-
dem die Feindſeligkeiten zwiſchen unſern Familien
ſchon ausgebrochen waren. Die Veranlaſſ[u]ng
des erwaͤhnten Briefwechſels war folgende.
Meinem Vetter Herrn Hervey war ein junger
Herr zur Aufſicht anvertrauet, den er ein oder
zwey Jahr in fremde Laͤnder ſchicken wollte, um
die ſo genannte groſſe Reiſe vorzunehmen. Da er
nun befand, daß Herr Lovelace von allem,
was ein Reiſender bey ſolcher Gelegenheit zu be-
obachten hat, gute Nachricht geben konnte, ſo
bat er ihn, eine Beſchreibung der Hoͤfe und Laͤn-
der, die er geſehen hatte, aufzuſetzen, und inſon-
derheit anzuzeigen, worauf ein Reiſender die mei-
ſte Aufmerckſamkeit zu richten haͤtte.
Er willigte hierin, doch mit der Bedingung,
daß ich ſeine Hand leiten moͤchte, wie er es nenne-
te. Da nun jedermann ſeine Schreib-Art hatte
ruͤhmen hoͤren, und man hoffete ſeine Erzaͤhlung
wuͤrde dienen, die langen Abende im Winter auf
eine angenehme Art zu vertreiben, und es eben
nicht ſchien, daß er dadurch Gelegenheit bekom-
men wuͤrde, an mich von Liebe zu ſchreiben, weil
die Briefe in der ganzen Geſellſchaft ſolten vor-
geleſen werden; ſo machte ich deſto weniger Ein-
wendungen, an ihn zu ſchreiben, und bald aller-
hand Anmerkungen zu machen, bald ihm Fragen
zur
[27]der Clariſſa.
zur Beantwortung vorzulegen. Vielleicht war
ich hiezu deſto williger, weil ich gern ſchreibe; und
die das Schreiben lieben, laſſen nicht leicht eine
Gelegenheit vorbey, da die Feder kann gebraucht
werden. Als endlich jedermann damit zufrieden
war, und Herr Hervey ſo gar darum bat; ſo
fuͤrchtete ich, daß wo ich allein eine Schwierigkeit
machte, ich den Schein geben duͤrfte, als haͤtte
ich ein beſonders Auge auf dieſen Herrn gerich-
tet, und daß ſolches von einem, der ſo viel Ei-
genliebe hat, leicht allzuvortheilhaft fuͤr ſich koͤn-
te gedeutet werden. Es wuͤrde auch meine
Schweſter ihre Anmerkungen bey ſolcher Gele-
genheit nicht geſparet haben.
Sie haben einige von ſeinen Briefen ſelbſt
geſehen, und die Nachrichten, die er von Per-
ſonen, Staͤdten, und andern Dingen gab, ge-
fielen Jhnen wohl: Sie waren gleicher Meynung
mit mir, daß er nicht unter die gemeinen Reiſen-
den gehoͤre, ſondern auf alles ſehr genau gemerkt
habe. Meine Schweſter ſelbſt geſtand, daß er
einen ziemlichen Anſatz zum ſchreiben, und be-
ſchreiben haͤtte: und mein Vater, der in ſeiner
Jugend gereiſet iſt, ſagte ſeine Anmerkungen
waͤren ſehr artig, und man koͤnnte daraus ſehen,
daß er viel Beleſenheit, Verſtand und guten
Geſchmack beſaͤſſe.
Auf dieſe Art entſtand zwiſchen mir und ihm
mit aller Bewilligung eine Art des Briefwechſels.
Jedermann verwunderte und vergnuͤgte ſich uͤber
die geduldige Ehrerbietung, die er gegen mich
blicken
[28]Die Geſchichte
blicken ließ, denn dieſes war der Name, den ſie
ſeinem Betragen gaben. Jndeſſen zweifelte man
nicht, daß er nicht bald mit mehrerer Ungeduld in
uns dringen ſolte; denn ſein Beſuch ward immer
haͤufiger, und er bekannte meiner Baſe Hervey,
daß er gegen mich eine heftige Zuneigung, und
zugleich eine Ehrfurcht habe, die er vorhin noch
nie empfunden: dieſer allein, koͤnne er den
Schein der Beruhigung zuſchreiben, damit er
bisheꝛ meines Vateꝛs ihm unangenehmen Willen,
und meine Art ihm noch fremde zu begegnen, er-
tragen haͤtte. Aber mein Herz, dieſes iſt vermuthlich
ſein gewoͤhnliches Betragen gegen alle unſeres Ge-
ſchlechts, denn hat nicht meine Schweſter zu An-
fang alle Art der Ehrerbietung von ihm geuoſſen?
Mein Vater erwartete indeſſen ungeſtuͤmere
Bitten, und hielt alle uͤble Nachrichten von ihm
in Bereitſchaft, um ſie ihm in ſolchem Falle als
Einwuͤrfe gegen ſeine Bitte vorzuhalten. Mir
war ſehr lieb, daß er dieſes that: und es wuͤrde
wunderlich geweſen ſeyn, wenn ich anders geſinnet
geweſen waͤre. Denn eben diejenige, die Herr
Wyerleys Antrag wegen ſeiner freyen Meynun-
gen abſchlug, waͤre nicht zu entſchuldigen gewe-
ſen, wenn ſie einen andern angenommen haͤtte,
deſſen Thaten und Lebens-Art frey waren.
Allein ich muß geſtehen, daß er in die Briefe,
die von der Hauptſache handelten, bisweilen ein
anderes Briefgen einſchloß, in welchem er ſeine
Liebe gegen mich zu erkennen gab, und ſich heftig
genug uͤber meine Schuͤchternheit beſchwerete. Jch
that,
[29]der Clariſſa.
that, als wenn ich dieſe Briefgen gar nicht em-
pfangen haͤtte: denn da ich nichts an ihn geſchrie-
ben, als was die Hauptſache unſers Briefwech-
ſels, die jeder wiſſen durfte, betraf, ſo hielt ich fuͤr
billig, was er von einer Nebenſache ſchrieb, ſo
vorbeygehen zu laſſen, als haͤtte ich es nie geleſen.
Jch muſte es auch deshalb ſo machen, weil der
allgemeine Beyfall, den ſeine Briefe erhielten, mir
keine Freyheit ließ, den Briefwechſel abzubrechen,
wenn ich nicht die wahre Urſach melden wollte, die
mich dazu bewogen. Ueber dieſes, konnte man
ohngeachtet aller ſeiner haͤufigen und ehrerbietigen
Aufwartung wohl ſehen, daß es wahr ſey, was
die Welt ohnehin von ihm ſagt, daß er einen
hochmuͤthigen und hitzigen Sinn habe: ich hatte
dieſe unbaͤndige Gemuͤths-Art an meinem Bru-
der ſchon zu gut kennen lernen, als daß ich Sie an
einer Perſon, die noch in ein naͤheres Band mit
mir treten wollte, haͤtte entſchuldigen koͤnnen.
Jch hatte eine kleine Probe von dieſer Ge-
muͤths-Art bey der eben gemeldeten Gelegenheit:
denn da er mir zum drittenmahl ein geheimes
Briefgen eingeleget hatte, fragte er mich bey dem
naͤchſten Beſuch; ob ich nicht noch einen beſon-
dern Brief von ihm bekommen haͤtte? Jch ſagte
ihm, ich wuͤrde nie einen Brief beantworten, der
auf dieſe Weiſe an mich kaͤme, und ich haͤtte nur
auf eine ſo gute Gelegenheit gewartet, als er mir
jetzt gaͤbe, nm ihn dieſe Erklaͤrung zu thun. Jch
baͤte ihn demnach nicht wieder, hievon zu ſchreiben:
ſonſt wuͤrde ich ihm beyde Briefe zuruͤck ſchicken,
und nie wieder eine Zeile ſchreiben.
Sie
[30]Die Geſchichte
Sie koͤnnen ſich kaum vorſtellen, was der
Menſch fuͤr ein trotzig Geſicht machte, nicht an-
ders, als wenn es ihn verdroͤſſe, daß ich nicht
mehr durch ihn geruͤhret waͤre; und was es ihm
fuͤr einen augenſcheinlichen Kampf koſtete, ſeine
hochmuͤthigen Geberden beſcheidener und ſanfter
zu machen, als er wieder zu ſich ſelbſt kam; wel-
ches ſo gleich geſchah. Allein ich that als merkte
ich beydes nicht: denn ich hielt fuͤr das beſte, ihn
durch meine Kaltſinnigkeit und Gleichguͤltigkeit,
damit ich ſeine fruͤhzeitige Hofnung abwieß, und
zugleich den Schein des Hochmuths zu vermeiden
ſuchte, zu uͤberzeugen, daß er bey mir noch nicht
hoch genug angeſehen ſey, mich uͤber ſeine Worte
oder Geberden zu aͤrgern, oder mit andern Wor-
ten, daß ich ihn nicht werth genug ſchaͤtzete, durch
ein laͤchelndes oder ſaures Geſichte ihn von an-
dern zu unterſcheiden. Er hatte in der That ſo
viel Verſtand, daß er mir einmahl, obgleich ohne
ſeinen Vorſatz, einen Unterricht gab, durch den
ich behutſamer ward. Deun er ſagte bey einer
gewiſſen Gelegenheit: wenn eine Manns-Perſon
ein Frauenzimmer nicht zu dem bekaͤnntniß
bringen koͤnnte, daß ſie eine Neigung gegen ihn
habe, ſo habe man doch eben ſo viel und oft noch
mehr gewonnen, wenn man ſie boͤſe machte.
Jch muß hier abbrechen: ich werde aber meine
Erzehlung, ſo bald es mir moͤglich iſt, fortſetzen.
Jndeſſen verharre ich
Dero
ergebenſte Dienerin
C. Harlowe.
[31]der Clariſſa.
Der vierte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jn dieſen Umſtaͤnden befand ich mich mit Herr
Lovelace/ als mein Bruder aus Schott-
land zuruͤck kam. So bald man gegen ihn etwas
von den Beſuchen dieſes Herrn erwaͤhnete, bezeu-
gete er ohne einiges Bedencken, und ohne ſich des-
halb zu entſchuldigen, ſein groſſes Mißfallen dar-
uͤber. Er fand ſehr merkliche Fehler in ſeiner
Lebens-Art, und nahm ſich die Freyheit mit duͤr-
ren Worten zu ſagen: er wundere ſich, wie es ei-
nem von ſeines Vaters Bruͤdern in den Sinn
kommen koͤnnen, dieſem Freyer die geringſte Hoff-
nung auf eine von ſeinen beyden Schweſtern zu
machen. Zugleich dankte er meinem Vater da-
fuͤr, daß er ſein Ja-Wort bis zu ſeiner Ankunft
nicht haͤtte geben wollen, faſt ſo als ein Vorgeſetz-
ter danken wuͤrde, wenn er einen geringern lobet,
weil er in ſeiner Abweſenheit ſeine Schuldigkeie in
Acht genommen hatte. Er bekannte ſeinen alten
Groll gegen ihn, aber er rechtfertigte denſelben
durch die uͤble Nachrede die Herr Lovelace uͤber-
all habe, und durch das, was er ſelbſt von ſeinen
Univerſitaͤts-Jahren wuͤſte. Er ſagte, er habe
ihn ſtets gehaſſet, und wuͤrde ihn immer haſſen:
und er wuͤrde ihn niemals fuͤr einen Bruder, noch
mich fuͤr eine Schweſter erkennen, wenn ich ihn
heyrathete.
Den
[32]Die Geſchichte
Den Anfang der Univerſitaͤts-Feindſchaft habe
ich auf dieſe Art erzehlen hoͤren: Herr Lovelace
war uͤberall als ein junger Menſch von Munter-
keit und Hertzhafftigkeit bekannt: und es ſcheint,
daß ſeine Geſchwindigkeit in Erlernung aller Thei-
le der Gelehrſamkeit eben ſo groß geweſen ſey, als
jene. Der Fleiß den er in den Studierſtunden
bewies hatte kaum ſeines gleichen. Das ſchei-
net ſein Haupt-Charackter auf Univerſitaͤten ge-
weſen zu ſeyn. Er erwarb ſich dadurch viel Freun-
de unter den Studenten, weil die, welche ihn nicht
liebten, ihn doch fuͤrchten mußten, indem er we-
gen ſeiner Munterkeit leicht aufzubringen war,
und Muth genug hatte, ſeine Sache auszufuͤhren.
Er bekam hiedurch ſo viel Anhaͤnger, unter den
unruhigen Koͤpfen auf der Univerſitaͤt, als er wol-
te. Jch weiß, Sie werden hiebey dencken, daß
dieſe Gemuͤthsbeſchaffenheit nicht all zu liebens-
wuͤrdig ſey. Allein mein Bruder hatte kein beſſe-
res Gemuͤth, ſein natuͤrlicher Hochmuth konnte
einen Vorzug, der ſo in die Augen fiel, nicht ertra-
gen: uͤber das pflegt leicht ein wuͤrcklicher Haß
zu entſtehen, wenn man einen mehr fuͤrchten als
lieben muß. Mein Bruder war wenig Herr uͤber
ſich ſelbſt, daher ward er von dem andern vielleicht
auf unanſtaͤndige Weiſe laͤcherlich gemacht. Sie
kamen alſo niemals zuſammen, ohne ſich zu zan-
cken, und weil jedermann aus Zuneigung oder aus
Furcht es mit Lovelace hielt, ſo hatte er viel ver-
drießliche Stunden, ſo lange ſie in einem Colle-
gio
[33]der Clariſſa.
gio (*) waren. Deſto weniger war es, demnach
zu verwundern, daß ein junger Menſch, von nicht
allzuſanftmuͤthiger Natur, einen ſo alten und ſo
tief eingewurzelten Groll zum Ausbruch kommen
ließ.
Meine Schweſter die nur auf Gelegenheit ge-
wartet hatte, war bereit, ſich mit ihm zu vereini-
gen, und die ihm vrrhaßte Perſon auch zu haſſen.
„Sie laͤugnete ſchlechterdings, daß ſie jemahls
„etwas von ihm gehalten habe, nie ſagte ſie haͤt-
„te er ihr gefallen. Seine Guͤter muſten gewiß
„ſehr verſchuldet ſeyn: Es koͤnnte nicht anders
„ſeyn, weil er ſo viel auf ſeine Wolluͤſte wendete.
„Er haͤtte nicht einmahl ein eigen Haus gemie-
„thet: er hielte nicht Kutſche und Pferde. Da
„nun niemand glaubte, daß er diß aus Demuth
„unterlieſſe, ſo ſey die wahre Urſache leicht zu er-
„rathen.„ Hierauf ruͤhmete ſie ſich gegen mei-
nen Bruder, und er lobete ſie, daß ſie dieſe Parthey
ausgeſchlagen haͤtte: beyde machten eine gemein-
ſchaftliche Sache daraus ihn bey aller Gelegenheit
herunter zu ſetzen, ja oͤfters machten ſie nur die
Gelegenheit; und ihre Feindſchafft gegen ihn ging
ſo
Erſter Theil. C
[34]Die Geſchichte
ſo weit, daß bey nahe ein jedes Geſpraͤch ſich mit
einer Erzaͤhlung ſeiner uͤbeln Eigenſchaften endigte.
Jch gab mir keine Muͤhe ihn zu vertheidigen,
wenn nur ihre Stiche nicht auch mich angingen.
Jch ſagte ihnen: ich ſchaͤtzte ihn nicht hoch genug,
ſeinetwegen einen Streit in der Familie anzufan-
gen. Da man glaubte, er habe nur allzuviel Ge-
legenheit gegeben, ſo uͤbel von ihm zu urtheilen, ſo
glaubte ich auch, es ſey nicht unrecht, wenn er die
Folgen ſeiner Handlungen empfaͤnde.
Jedoch bisweilen, wenn ich merckte, daß ſie
aus Hefftigkeit gantz unwahrſcheinliche Dinge
ſprachen, ſo hielt ich mich verpflichtet ein Wort
fuͤr ihn zu reden. Dies war ſchon genug, mir den
Vorwurf zuzuziehen, daß ich von ihm eingenom-
men waͤre, und es nur nicht bekennen wollte. Zu-
letzt kam es ſo weit, daß ich mich mit der Muſik
beſchaͤftigte, oder auf meine Stube ging, wenn
ich die Unterredung nicht auf etwas anders lencken
konnte.
Jhr Betragen gegen ihn war ſehr kaltſinnig und
unhoͤflich, wenn ſie ihm nicht gaͤntzlich aus den
Wege gehen konnten: indeſſen enthielten ſie ſich
doch noch aller Beleidigungen: deñ ſie hofften mei-
nen Vater dahin zu vermoͤgen, daß er ihm, den
Beſuch verbieten ſolte. Da aber in ſeiner Auffuͤh-
rung nichts unanſtaͤndiges war, wodurch ein ſol-
ches Verfahren gegen einen Mann von ſeiner
Herkunft und Stande haͤtte koͤnnen gerechtfertigt
werden, ſo richteten ſie nichts aus: hierauf drun-
gen ſie ſehr in mich, daß ich ihm den fernern Be-
ſuch
[35]der Clariſſa.
ſuch unterſagen ſolte. Jch fragte ſie: was ich
fuͤr Recht haͤtte mir dergleichen in meines Vaters
Hauſe anzumaſſen, ſonderlich da ich ſo fremd ge-
gen ihn waͤre, daß (ſie beyde nur ausgenommen)
er mehr ein Gaſt aller im gantzen Hauſe, als mein
Gaſt zu ſeyn ſchien? dagegen verſetzten ſie mir:
es waͤre zwiſchen uns beyden eine kuͤnſtliche
und abgeredete Verſtellung: wir verſtuͤnden ein-
ander beſſer, als wir haben wollten, daß es andere
glaubten. Endlich lieſſen ſie auf einmahl ihren
Leidenſchaften ſo den Zuͤgel daß an ſtatt weg zu-
gehen, wenn er kam, wie ſie vorhin gethan hat-
ten, ſie nunmehr ihm Recht mit willen in den
Weg kamen, um ſich an Jhm zu reiben (*)
Herr Lovelace verſchmertzte dieſes nicht gern,
wie ſie leicht dencken koͤnnen; doch that er wei-
ter nichts, als das er ſich mit vieler Empfind-
lichkeit daruͤber gegen mich beklagte. Sein
Ausdruck war, meines Bruders Verfahren
wuͤrde er unmoͤglich ertragen koͤnnen, wenn es
nicht um meinetwillen geſchaͤhe.
Es that mir Leid, daß er hiedurch ſeiner eig-
nen Meinung nach ein Verdienſt und Recht gegen
mich bekam, und dieſes um ſo viel mehr, weil ei-
nige Beleidigungen, die er ertrug, ſich gar nicht
entſchuldigen lieſſen. Jch antwortete ihm: ich ſey
veſt entſchloſſen, es mit meinem Bruder nicht zu
verderben, wenn ich es irgend vermeiden koͤnte,
ſeine
C 2
[36]Die Geſchichte
ſeine Fehler moͤchten auch ſo groß ſeyn, als ſie wol-
ten. Da einer den andern nicht mit Gelaſſenheit
ſehen koͤnte, ſo wuͤrde mir lieb ſeyn, wenn er mei-
nen Bruder nicht in den Weg kaͤme, und ich waͤ-
re gewiß verſichert, das mein Bruder ihn nicht ſu-
chen wuͤrde.
Dieſe Antwort verdroß ihn innerlich ſehr: er
ſagte aber weiter nichts, als dieſes: er muͤßte
alle Beleidigungen ertragen wenn ich es haben
wollte. Man habe ihm ſonſt Schuld gegeben,
daß er allzuheftig ſey: er hoffe aber bey dieſer Ge-
legenheit ſo viel Herrſchaft uͤber ſich ſelbſt zu be-
weiſen, als wenige von ſeinem Alter, bey glei-
chen Beleidigungen wuͤrden beweiſen koͤnnen. Er
zweifle nicht, daß eine Perſon von meiner Groß-
muth, und Einſicht ſeine Maͤßigung aus der wah-
ren Urſache herleiten wuͤrde.
Mein Bruder hatte eben vorher mit Genehm-
haltung meiner Vaters-Bruͤder einen Anver-
wandten eines von dem Lord M. abgedanckten
Verwalters, der auch einen Theil von Herrn Lo-
velace Vermoͤgen unter Haͤnden gehabt, und von
ihɯ den Abſchied bekommen hatte, gebraucht, ſich
nach deſſen Schulden, Geſellſchaft, Liebes-Hi-
ſtoͤrgen und dergleichen Dingen naͤher zu erkundi-
gen. Frau Hervey hat mir im Vertrauen folgende
Umſtaͤnde von der Ausſage dieſes Mañes entdecket.
„Er waͤre ein freygebiger Hauswirth:
„er ſparete an ſolchen Ausgaben nichts, die zu
„einer wahren Verbeſſerung ſeiner Guͤter gereich-
„ten: er haͤtte auf ſeine eigene Sachen Acht und
ver-
[37]der Clariſſa.
„verſtuͤnde ſie: auf Reiſen habe er zwar viel ver-
„than, und groſſe Schulden gemacht, (denn
„er mache nie ein Geheimniß daraus, wie ſeine
„Sachen ſtuͤnden), aber er habe hernach ſeine
„jaͤhrliche Ausgaben auf eine gewiſſe Summe
„eingeſchraͤnckt und keinen Staat gefuͤhret, da-
„mit er nicht noͤthig haben moͤchte, ſeinem Vet-
„ter und ſeinen Baaſen verbunden zu ſeyn: denn
„von dieſen wuͤrde er zwar Geld bekommen koͤn-
„nen, ſo viel er wollte, aber er waͤre darin
„ſehr eigenſinnig, daß er keine Einrede von ih-
„nen annehmen wollte: er verunwilligte ſich oft
„mit ihnen, und begegnete ihnen ſo frey, daß
„ſie ſich alle vor ihm fuͤrchteten. Es ſey aber
„nicht an dem, daß ſeine Guͤter, wie mein Bruder
„gehoͤret haͤtte, zur Hypothec verſchrieben waͤ-
„ren: ſein Credit ſey gut, und er wuͤrde jetzt
„vermuthlich faſt gaͤntzlich von ſeinen Schulden
„frey ſeyn. Er ſey ein wunderlicher Herr in Ab-
„ſicht auf Frauens-Leute. Wenn ſeine Paͤchter
„artige Toͤchter haͤtten, ſo pflegten ſie ihm dieſel-
„ben nicht gern ſehen zu laſſen. Er glaube nicht
„daß er eine eigene Maitreſſe halte, denn etwas
„neues ſey ſein hoͤchſtes Gut.„ (Dis war der
Ausdruck des Mannes)
„Er glaube nicht, daß er ſich verheyrathen
„werde, weil ihn ſeiu Vetter und ſeine Baſen
„allzuſehr plagten. Man habe ihn nie betrun-
„cken geſehen. Er habe groſſe Luſt zu neuen
„Haͤndeln, und ſchreibe gern. Er habe gehoͤrt,
„daß er in London ein ſehr wildes Leben fuͤhren
C 3„ſolle:
[38]Die Geſchichte
„ſolle: er habe ſechs oder ſieben Leute, mit denen
„er ſtets umgehe, und dieſe waͤren ſo arg als er.
„Er bringe ſie bisweilen mit auf das Land, und
„die gantze Gegend ſey froh, wenn ſie wieder
„wegreiſeten. Ob er gleich ſehr jachzornig ſey, ſo
„wollte er doch gern vor freundlich und aufge-
„raͤumt angeſehen ſeyn: er moͤchte gern einen
„Schertz austheilen, er nehme aber auch gern ei-
„nen Schertz ein, und pflegte bey Gelegenheit ſo
„frey uͤber ſich ſelbſt zu lachen, als irgend ein
„Menſch thun koͤnnte.
Dis war die Beſchreibung, die ein Feind von
ihm machte: denn, wie meine Baſe anmerckte, ſo
ward alles gute und lobenswuͤrdige mit Wider-
willen geſagt, und es hieß dabey allezeit: ich mnß
ſagen ‒ ‒ oder, um ihm Gerechtigkeit wi-
derfahren zu laſſen. Hingegen alles uͤbele
ward freywillig und gern ausgeſagt. Weil man
nun eine noch ſchlimmere Beſchreibung erwartet
hatte, ſo war dieſe obgleich ſchlimme Nachricht
dem Zweck des anfragenden nicht gemaͤß: es
wuchs daher die Sorge meines Bruders und mei-
ner Schweſter, daß ſeine Anwerbung Gehoͤr fin-
den moͤchte. Denn der ſchlimmſte Theil dieſer
Ausſage war bereits bekannt oder doch als richtig
angenommen, wie er die erſte Erlaubniß zum
Umgang mit meiner Schweſter bekam.
Allein uͤber ſein Betragen gegen mich muß
ich dieſe ihm nachtheilige Anmerckung machen:
Ohngeachtet er mir ſeine Gedult gegen meines
Bruders Unhoͤflichkeiten ſehr hoch anrechnete, hat
er
[39]der Clariſſa.
er doch keinen Verſuch gethan ſich mit ihm ans-
zuſoͤhnen, und mich durch eine Gefaͤlligkeit dieſer
Art ihm verbindlich zu machen. Jch glaube zwar
nicht, daß er etwas wuͤrde ausgerichtet haben,
wenn er ihm oder meiner Schweſter aach noch ſo
hoͤflich begegnet haͤtte: inzwiſchen ſollte man doch
von einem ſo artigen und wohlgezogenen jungen
Herrn vermuthen, daß er bey den Abſichten, die
er hatte, bereit geweſen waͤre, es wenigſtens zu
verſuchen. Aber ſtatt deſſen zeigete er in allen Hand-
lungen, daß er beyde recht von Hertzen verachtete,
davon ich immer etwas neues und ſchlimmers hoͤ-
ren muſte. Haͤtte ich ihm zu verſtehen geben wol-
len, daß er ſein Betragen gegen meinen Bruder
aͤndern moͤchte, ſo haͤtte er dieſes fuͤr eine vor-
theilhafte Erklaͤrung angeſehen, und ſich darauf
nicht wenig eingebildet. Das muͤſte ich gethan
haben! Jch zweiflelte auch nicht, daß da ihm nie-
mand einige Hoffnung machte, ſein Hochmuth
bald Feuer fangen und er von ſelbſt ſeinen Beſuch
einſtellen oder nach London reiſen wuͤrde; allwo er
ſich meiſtentheils aafzuhalten pflegte, ehe er mit
unſerer Familie bekannt ward. Jn dem letzten
Fall durfte er nicht hoffen, daß ich Briefe von
ihm annehmen, noch weniger, daß ich ſie beant-
worten wuͤrde, weil die Urſache nun aufgehoͤrt
hatte, die mich ehemals veranlaſſete, Briefe von
ihm anzunehmen.
Meines Bruders Widerwille gegen ihn konte
dieſe Zeit nicht abwarten. Nach verſchiedenen
groben Vergehungen, die Herr Loyelace eben
C 4ſo
[40]Die Geſchichte
ſo veraͤchtlich und hochmuͤthig abwieß, als der be-
leidigende Theil ſie unternahm, unterſtand ſich
mein Bruder, in die Thuͤr zu treten, da jener kam,
als wolte er ihm den Eingang verwehren. Als er
ſich nun nach mir erkundigte, fragte er ihn: was
er bey ſeiner Schweſter zu thun haͤtte.
Mein Bruder ſagt: Lovelace habe ausgeſe-
hen als wollte er ihn gleich heraus fodern, und ha-
be geantwortet: er waͤre bereit einem Cavalier
auf alle Fragen zu antworten. Er wuͤnſchte aber,
daß Herr Jacob Harlowe/ der ſeit einiger Zeit
ſo trotzig gethan, ſich erinnern moͤchte, daß er nicht
mehr auf der Univerſitaͤt waͤre.
Der redliche Doctor Levin/ der mich mit ſei-
nem Beſuch bisweilen zu beehren pflegt, hatte mich
eben in meiner eigenen Stube verlaſſen, und ging
nach der Thuͤr. Er hoͤrete ihren Wort-Wechſel,
und brachte ſie aus einander, da ſie beyderſeits
ſchon an den Degen gegriffen hatten. Er ſagte
hierauf Herrn Lovelace/ wo ich zu finden waͤre;
dieſer ſprang vor meinen Bruder vorbey mich auf-
zuſuchen. Sein Ausdruck war: er ſey ihm ent-
gangen, da er als ein gehetztes wildes Schwein im
Nachſetzen eben anbeiſſen wollen.
Dis ſetzte uns alle in Beſtuͤrtzuug. Mein
Vater gab Herrn Lovelace zu verſtehen, und ich
muſte auf ſeinen Befehl ihm deutlicher ſagen: er
wuͤnſche um Friede im Hauſe zu erhalten, daß er
ſeine Beſuche einſtellen moͤchte.
Herr Lovelace iſt nicht der Mann, der von
ſeinem Vorhaben leicht abſtehen wird, inſonder-
heit
[41]der Clariſſa.
heit in einer Sache die ſein Hertz ſo nahe, als er
es hier vorgiebt, angehet. Weil ihm nun der fer-
nere Beſuch nicht ſchlechterdings verboten war,
ſo ſetzte er ihn nach wie vor fort. Denn ob ich
mich gleich bemuͤhete, ſeinen Beſuch ſo oft ich
konnte zu vermeiden, ſahe ich doch, daß wenn ich
mich deſſelben gaͤntzlich entſchlagen wollte, ich die
Sache viel ſchlimmer machen wuͤrde: denn die
Beleidigungen und Zunoͤthigungen des einen
Theils verſchmertzte der andere blos aus Hochach-
tung gegen mich. Meines Bruders Heftigkeit
machte mich zur Schuldnerin ſeines Widerſa-
chers ſo unangenehm es mir auch war, ihm ver-
bindlich zu ſeyn.
Jndeß kamen die Vorſchlaͤge zu einer Verhey-
rathung mit Heern Symmes und Mullins da-
zwiſchen. Mein Bruder war ihrer beyder Frey-
werber, eines nach dem andern, und war die Zeit
uͤber etwas gelaſſener: denn da niemand glaubte,
daß ich Herrn Lovelace allzugeneigt waͤre, ſo
hoffete er meinen Vater oder deſſen Bruder dahin
zu bewegen, daß ſie ſich den Antrag eines von
beyden gefallen laſſen und durch ihn Herrn Love-
lace ausſchlieſſen ſollten. Allein er hoͤrete bald auf
Maaſſe zu halten, als er ſahe, daß ich noch
genug in unſer Familie vermochte, mich dieſer
beyden Freyer zu entſchlagen, ſo wie ich vorhin,
den Antrag des Herrn Wyerley abgelehnt hatte,
ehe er nach Schottland reiſete und ehe mich Herr
Lovelace beſuchte. Zufoͤrderſt warf er mir vor,
ich haͤtte fuͤr Herrn Lovelace ein ungegruͤndetes
C 5Vor-
[42]Die Geſchichte
Vorurtheil, welches er fuͤr ſtrafbar anſahe: und
endlich beſchimpfete er auch Herrn Lovelace per-
ſoͤnlich. Da dieſes in Herr Eduard Symmes(*)
Hauſe ein halbe Meile von hier geſchahe, und
kein redlicher Dr. Lewin zugegen war um ſich
ins Mittel zu legen: erfolgte die ungluͤckliche
Schlaͤgerey. Mein Bruder ward, wie Sie ge-
hoͤrt haben, entwafnet. Als man ihn nach Hauſe
gebracht hatte, und jederman die Wunde gefaͤhr-
licher hielt als ſie in der That war, auch ein
Wund-Fieber dazu ſchlug; ſo brach jederman
los, und alles ward mir zur Laſt gelegt.
Herr Lovelace ſchickte drey Tage nach einan-
der und zwar taͤglich zweymahl nach unſerm Hau-
ſe, um ſich nach dem Befinden meines Bruders
zu erkundigen. Ob er gleich harte und ſo gar an-
zuͤgliche Antworten bekam, ließ er ſich dieſes doch
nicht abſchrecken am vierten Taͤg verſoͤnlich Nach-
richt einzuziehen. Hier ward ihm von meines
Vaters Bruͤderu, die eben zugegen waren, noch
unhoͤflicher begegnet. Mein Vater ward mit Ge-
walt abgehalten, daß er nicht mit dem Degen in
der Fauſt auf ihn losging, ob er gleich das Po-
dagra hatte.
Jch fiel aus Schrecken in Ohnmacht, da ich ſa-
he, daß jederman es auf das aͤuſſerſte ankommen
laſſen wollte, und ich Herrn Lovelace ſchweren
hoͤrte: er wollte nicht weggehen, ohne daß er
mich geſprochen, oder wenigſtens meines Vaters
Bruder gezwungen habe, ihm die angethanen
Be-
[43]der Clariſſa.
Beſchimpfungen abzubitten. Jndeß war die Thuͤr
zwiſchen ihnen verſchloſſen und verriegelt: und
meine Mutter hielt mit aller Gewalt meinen Va-
ter auf. Meine Schweſter gab Herrn Love-
lace die ſchnoͤdeſten Worte, und zog auf mich los,
ſo bald ich wieder zu mir ſelbſt kam. Alß er aber
erfuhr, wie uͤbel ich mich befaͤnde, ging er mit ei-
nem Schwur ſich zu raͤchen aus dem Hauſe.
Herr Lovelace iſt ſtets bey unſern Bedienten
wohl angeſchrieben geweſen. Seine Guͤtigkeit
und Freygebigkeit gegen ſie, und daß er ſich her-
unter ließ, mit einem jeden auf eine artige und
ſchertzhafte Weiſe zu reden, hatte ihm aller Her-
tzen gewonnen. Jnſonderheit gaben ſie bey die-
ſem Vorfall den uͤbrigen allen Unrecht, wenn ſie
unter ſich davon redeten, und ruͤhmten ſeine Ge-
dult und anſtaͤndige Auffuͤhrung, bis er aufs aͤuſ-
ſerſte gereitzt ward, ſo ausnehmend, daß ich durch
ihre Erzehlungen, und durch die Furchr vor
ſchlimmern Folgen bewogen ward einen Brief
noch ſelbigen Abend von ihm anzunehmen, und
einige Tage nachher zu beantworten, weil er un-
gemein hoͤflich geſchrieben war, und Herr Love-
lace verſprach, die gantze Sache meiner Entſchei-
dung zu uͤberlaſſen, und ſich voͤllig nach meinem
Willen zu richten.
Auf eine ſo ungluͤckliche Weiſe ward er ge-
zwungen den vorigen Briefwechſel von neuen an-
zufangen. Doch ſchrieb ich nicht eher, bis ich
durch Hrn. Symmes Bruder erfahren, daß mein
Bruder ihn durch ſeine Beſchimpfung gezwungen
den
[44]Die Geſchichte
den Degen zu ziehen, und da er ſich deſſen aus
Hochachtung gegen mich gewegert, ihm gedrohet,
er wolle ihn fuͤr keinen ehrlichen Kerl halten, wenn
er nicht zoͤge: und bis ich mittelſt aller nur erſinn-
lichen Nachfragen voͤllig verſichert ward daß er
in den Haͤndeln mit meines Vaters Bruͤdern
abermals der angegriffene Theil geweſen, und
zwar auf eine noch gewaltthaͤtigere Weiſe, als
ich gemeldet habe.
Herr Symmes erzehlte zwar meinem Vater
und uͤbrigen Freunden eben dieſe Umſtaͤnde: aber
ſie hatten ſchon zu viel Theil an dem Streit ge-
nommen, als daß ſie mit Ehren haͤtten zuruͤck kom-
men oder vergeben koͤnnen. Mir ward daher ver-
boten, mit ihm Briefe zu wechſeln, oder mich einen
Augenblick in ſeiner Geſellſchaft finden zu laſſen.
Aber noch einen Umſtand muß ich im Ver-
trauen melden: denn meine Mutter hat mir ver-
boten, etwas davon zu erwaͤhnen. Meine Mutter
bezeugte gegen mich ihre Sorge wegen der uͤblen
Folgen ſo die Herrn Lovelace widerfahrne Be-
ſchimpfungen haben koͤnnten, und uͤberließ es mei-
ner eigenen Ueberlegung und Vorſichtigkeit, dem
bevorſtehenden Ungluͤck wenigſtens auf der einen
Seite vorzubeugen ſo viel ich koͤnnte.
Jch muß hier abbrechen: ich glaube aber daß
ich ihrem Befehl und Abſichten voͤlliges Gnuͤgen
geleiſtet habe. Es ſtehet ſonſt einem Kinde nicht
zu, daß es ſeine Auffuͤhrung gleichſam auf Un-
koſten derer rechtfertige, denen wir die groͤſte Ehr-
erbietung ſchuldig ſind: da ich aber weiß, daß jede
mich
[45]der Clariſſa.
mich betreffende Nachricht von Jhnen eben ſo an-
geſehen wird, als wenn ſie ihre eigne Angelegen-
heiten betraͤffe, und Sie andern nicht mehr als
zur Sache dienet eroͤffnen werden: ſo will ich fort-
fahren ſo umſtaͤndlich, als es unſere bisherige Ge-
wohnheit mit ſich bringt, an Sie zu ſchreiben,
wenn mir nur die Gelegenheit nicht abgeſchnitten
wird. Es iſt die reine Wahrheit, was ich ihnen ſo
oft geſagt habe, daß mein groͤſſeſtes Vergnuͤgen
in dem Umgang mit Jhnen beſtehet. Kann ich die-
ſes nicht perſoͤnlich genieſſen, ſo will ich es doch in
Briefen thun.
Jch muß inzwiſchen geſtehen, daß ich mit aͤuſ-
ſerſter Bekuͤmmerniß vernehme, daß aller Leute
Geſpraͤche von mir handeln. Sie und alle Welt
ſagen mir dieſes. Jn ihrer guͤtigen und vorſichtigen
Beſorgniß fuͤr meinen guten Nahmen, und in der
Gelegenheit, die Sie mir gegeben haben, meine Um-
ſtaͤnde vorher zu erzaͤhlen, ehe noch ein neues Un-
gluͤck, das GOtt abwenden wolle, die Sache ver-
ſchlimmert, erkenne ich recht das Bild meiner auf-
richtigſten Freundin der Fraͤulein Howe, und
werde zwiefach dadurch verbunden, ſtets zu behar-
ren,
Dero Danckbare und ergebenſte,
Clariſſa Harlowe.
Abſchrifft
des verlangten Eingangs der Clauſel in ihres
Gros-Vaters Teſtament, welche in dieſen Brief
auf Verlangen eingeſchloſſen war.
Da
[46]Die Geſchichte
Da das vorhin erwaͤhnte Gut eigentlich von mir
ſelbſt erworben iſt: und meine drey Soͤhne auſſer-
ordentlich gluͤcklich geweſen, und zu groſſem Reich-
thum gelanget ſind; der aͤlteſte nemlich durch die
unerwartete und reiche Ausbeute der neuen Berg-
wercke; der zweyte, durch die Erbſchafften, ſo er
von ſeiner Frauen Verwandten erhalten, des ſo
betraͤchtlichen Heyraths-Guts nicht zu gedencken;
und Anton durch ſeinen Oſt-Jndiſchen Handel
und gluͤcklich ausgefallene Reiſen: da ferner mein
Enckel Jacob durch ſeine guͤtige Pathe, Frau
Lovells, hinlaͤnglich verſorget werden wird, wel-
che in Ermangelung naher Anverwandten mich
verſichert hat, daß ſie ſo wohl durch eine Schen-
ckung unter dcn Lebendigen als durch ihren letzten
Willen ihm ihre Guͤter in Schottland und Eng-
land zuzuwenden geſinnet ſey; (denn, GOtt ſey
Danck, wenig Familien ſind in allen ihren Zwei-
gen ſo gluͤcklich geweſen, als die meinige) da al-
lem Anſehen nach mein zweyter Sohn Jacob
meinem Enckel und Enckelin Arabella dasjenige
erſetzen wird, was ihnen durch dieſen meinen letz-
ten Willen entgehet, (denn ich verlange im ge-
ringſten nicht, dieſer zu nahe zu treten, habe auch
keine Urſache dazu, denn ſie iſt ſtets gehorſahm
und ein Kind von guter Hoffnung geweſen) da
meine Soͤhne Johann und Anton nicht geneigt
ſcheinen, ſich zu verheyrathen, und folglich mein
Sohn Jacob allein mit Leibes-Erben geſeegnet
iſt, und Hoffnung hat, das Geſchicht fortzuſetzen:
da ich alles dieſes in Erwegung gezogen, und da
mei-
[47]der Clariſſa.
meine Liebſte und wertheſte Enckelin Clariſſa
Harlowe von Kindheit an in ihrem Gehorſahm
gegen mich ihres gleichen nicht gehabt hat, und
von allen die ſie gekannt haben als ein gantz auſ-
ſerordentliches Kind bewundert iſt: ſo will ich zu
meinem Vergnuͤgen ſie als mein eigenes Kind an-
ſehen, und zwar dieſes ohne jemandes Beleidi-
gung: ich hoffe auch, niemand werde dieſes als
eine Beleidigung anſehen, indem mein Sohn Ja-
cob ſeine Gewogenheit in gehoͤriger und groͤſſerer
Maſſe gegen Fraͤulein Arabellen und Juncker
Jacob bezeigen kann. Dieſes ſage ich ſind die
Urſachen, welche mich bewegen, obbemeldetes Gut
dieſem allerliebſten Kinde zu vermachen, welches
die Freude meines Alters iſt, und durch ihren lieb-
reichen Gehorſam und zaͤrtliche Ehrfurcht meine
Tage, wie ich allerdings glaube, verlaͤngert hat.
Solchemnach iſt dieſes mein ausdruͤcklicher
Wille und Gebot, und ich befehle meinen drey
Soͤhnen, Johann, Jacob, und Anton, mei-
nem Enckel Jacob und meiner Enckelin Ara-
bella, ſo lieb ihnen mein Seegen und Gedaͤcht-
niß iſt, und ſo als ſie verlangen, daß ihrem letzten
Willen nachgelebet werden ſolle, daß ſie mein Ver-
maͤchtniß zum beſten meiner Enckelin Clariſſa auf
keine Weiſe kraͤncken oder anfechten ſollen, wenn
ſolches gleich den Rechten nicht gemaͤß oder etwas
in den Ausdruͤcken verſehen ſeyn moͤchte, auch daß
Sie nicht zugeben ſollen, daß unter irgend einigem
Vorwand daruͤber geſtritten oder gerechtet werde.
Und in dieſer Zuverſicht u. ſ. w.
Der
[48]Die Geſchichte
Der fuͤnffte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe/ an Fraͤulein
Howe.
Jch bin gehindert worden, meinem Vorhaben
gemaͤß ein mehreres zu ſchreiben. Weder
die Nacht noch die Morgen-Stunden ſind mein
eigen geweſen. Meine Mutter hat ſich ſehr uͤbel
befunden, und wollte keine andere Waͤrterin ha-
ben, als mich: denn ſie war bettlaͤgrig, und zwey
Nachte erlaubte ſie mir, bey ihr zu ſchlafen.
Jhre Unpaͤßlichkeit beſtand in einer hefftigen
Colik. Der Streit ſo ungeſtuͤmer und allzu
maͤnnlicher Gemuͤther und die Furcht vor noch
mehrerem Ungluͤck, das aus der zunehmenden
Feindſchafft aller in unſerm Hauſe gegen Herrn
Lovelace, und aus ſeiner rachgierigen und hertz-
haften Gemuͤths-Art entſtehen koͤnnte, ſind ihr
unertraͤglich. Auch wird ihr guͤtiges und zaͤrtliches
Gemuͤthe, daß von Anfang an bey aller Gelegen-
heit ſeine eigene Zufriedenheit gern aufgeopfert hat,
um nur einiger maſſen den Haus-Frieden zu erhal-
ten, dadurch ſehr gekraͤncket, daß ſie befuͤrchtet,
es moͤge bereits der Grund zu Neid und Feindſchaft
in ihrer bisher ſo eintraͤchtigen und gluͤcklichen Fa-
milie gelegt ſeyn. Mein Bruder und meine
Schweſter, die ſonſt ſo oft mit einander zerfielen,
ſind jetzt ſo einig und ſo oft beyſammen, (ihr ent-
fiel das Wort, ſie machen eine Cabale) daß
ſie voller Furcht wegen der Folgen iſt. Jhre lieb-
reiche
[49]der Clariſſa.
reiche Bekuͤmmerniß iſt, daß dieſe Vereinigung
vielleicht zu meinem Nachtheil gereichen mochte,
indem ſie ſiehet, daß ſie ſich immer mehr gegen
mich fremde ſtellen und zuruͤck halten. Jedoch
wenn ſie ſich nur der Vorzuͤge mit Nachdruck ge-
brauchte, die ſie durch ihre vortrefliche Eigen-
ſchaften nothwendig haben muß, ſo wuͤrden dieſe
Familien-Streitigkeiten vielleicht in ihrer erſten
Geburt erſtickt werden und zwar dis um ſo viel
mehr, da ſie verſichert ſeyn kan, daß ich ſo viel
moͤglich iſt nachgeben werde, ſowohl weil meine
Geſchwiſter aͤlter ſind als jch, als auch aus Liebe
gegen eine ſo guͤtige und vortrefliche Mutter.
Denn wenn ich Jhnen, mein Hertz, ſchreiben
darf, was ich ſonſt niemand wuͤrde mercken laſſen,
ſo glaube ich, daß wenn ſie nicht ein ſo ſanftes
Gemuͤth gehabt, und weniger mit Gedult gelit-
ten haͤtte, ſo wuͤrden auch andere ihr weniger zu
leiden angemuthet haben. Ein ſchlechter Ruhm,
werden Sie dencken, fuͤr diejenigen, die eine ſo
herabgelaſſene Guͤtigkeit nur mißbrauchen, um ſie
zu kraͤncken und zu beunruhigen.
Bisweilen moͤchte ich faſt dencken, daß wir
uns nach unſerm Belieben in der Welt in Anſe-
hen ſetzen und anderer Furcht und Ehrerbietung
erlangen koͤnnen, wenn wir nur die Gabe haben,
eigenſinnig auf unſerm Kopf zu beſtehen, und mit
dieſem Vorſatz unſern erſten Auftritt in der Welt
machen. Man hat zwar alsdenn weniger Liebe
zu gewarten: aber das iſt es auch alles. Haben
wir nur Vermoͤgen die zu zwingen, mit welchen
Erſter Theil. Dwir
[50]Die Geſchichte
wir umgehen, ſo werden wir nicht einmal mer-
cken, daß wir weniger beliebt ſind: denn unſere
Schmeichler werden uns ehe alles als unſere
Fehler ſagen.
Haͤtte dieſe Anmerckung nicht ihre Rlchtigkeit,
wie waͤre es denn moͤglich, daß ſelbſt die Fehler
und unbeſonnene Hefftigkeit meines Bruders und
meiner Schweſter der gantzen Familie gleichſam
ſo wichtig und ehrwuͤrdig ſcheinen ſollten. Wird
meinem Sohn/ wird meines Bruders
Sohn/ dieſes Verfahren gefallen? was
wird er dazu ſagen? Dis ſind die Fragen,
die ſeine Vorgeſetzten zum voraus aufwerfen,
ehe ſie einen Entſchluß faſſen, obgleich ihr
Wille ſein Wille ſeyn ſollte. Mit Recht er-
wartet er ſolche Eherbietung von jedermann, da
ſelbſt mein Vater, der ſonſt ſeiner Herrſchafft
nichts vergiebt, ihm dieſelbe beſtaͤndig erweiſet:
und da die Guͤtigkeit ſeiner Pathe ein ſonſt ſchon
allzufreyes und zu wenig eingeſchraͤncktes Gemuͤth
noch mehr frey und zuͤgellos gemacht hat. Aber
wohin fuͤhret mich dieſe Betrachtung! Jch weiß,
daß Sie niemand von uns lieben, meine Mutter
und mich ausgenommen; und Sie wiſſen ſo wenig
von Verſtellung, daß Sie oͤfters als ich wuͤnſche
Jhre Abneigung von den andern gegen mich bli-
cken laſſen. Sollte ich denn wohl dieſe Abneigung
von ſolchen, denen Sie meinem Wunſch nach ge-
neigt ſeyn ſollen, noch groͤſſer machen? inſonder-
heit in Abſicht auf meinen Vater? Denn dieſer
arme Mann verdient einige Entſchuldigung, wenn
er
[51]der Clariſſa.
er eigenſinnig iſt. Er hat von Natur kein uͤbles
und hartes Gemuͤth: in ſeiner Perſon und Minen,
ja ſo gar in ſeinem Umgange, wenn er nur nicht
eben einen Anfall vom Podagra hat, kan man
ſeine Geburt und Erziehung wohl ſpuͤren.
Vielleicht muß ſich unſer Geſchlecht zum vor-
aus darauf gefaßt machen, einige Unhoͤflichkeit
von dem Manne zu erdulden, weil unſer Hertz
um die Zeit, da er noch unſer Liebhaber war ihm
den Vorzug vor allen andern gegeben hat. Man
ſage ſo viel man will, daß die Grosmuth eine
Tugend des maͤnnlichen Geſchlechts ſey: ich habe
im Gegentheil angemerckt, daß ſie bey dieſem
Geſchlecht wenigſtens zehnmahl ſeltener als bey
dem unſrigen anzutreffen ſey. Aber was mei-
nen Vater anlanget, ſo hat ihn ſeine ſchmertzhaf-
te Kranckheit zu einem gantz andern Manne ge-
macht, als er vorhin war. Sie uͤberfiel ihn auf
einmal in der Bluͤte ſeiner Jahre ſo heftig, daß
ſein lebhaftes Gemuͤthe alles Feuer und Munter-
keit verlohr, und ſchwerlich Zeit Lebens wieder be-
kommen wird. Sein munterer Geiſt ward gleich-
ſam gefeſſelt, und was ihm noch von Lebhaftig-
keit uͤbrig blieb, iſt jetzt nur ein Mittel, ſeine Un-
gedult zu vermehren, die vermuthlich durch ſeine
auſſerordentliche Gluͤckſeligkeit im Zeitlichen
waͤchſt. Denn es ſcheint, daß die, die am we-
nigſten des zeitlichen Segens ermangeln am aller
unzufriedenſten ſind, daß ſie noch eines eintzigen
ermangeln.
D 2Aber
[52]Die Geſchichte
Aber womit kan mein Bruder ſeinen Hoch-
muth und Unfreundlichkeit entſchuldigen? Er iſt
in der That (mir thut leid daß ich es ſagen muß)
ein junger Menſch von eigenſinnigem und ver-
drießlichem Gemuͤth, und begegnet bisweilen
meiner Mutter ‒ ‒ ‒ ich mag nicht ſagen, wie? ‒ ‒
Ob er gleich alles beſitzt, was er nur wuͤnſchen
mag, ſo verurſachet doch der Ehrgeitz der Jugend
den er ſchon mit den Laſtern des hohen Alters ver-
bindet, daß er nichts genieſſet, als ‒ ‒ ich haͤtte
bey nahe geſagt, ſeinen Eigenſinn und ſeinen
Hochmuth. Allein ich gebe Jhnen nur mehr
Urſache, mit uns mißvergnuͤgt zu ſeyn! Ehe-
mahls moͤchte es wol in Jhrer Macht geſtanden
haben, mein Schatz, ihn nach Jhrem Willen
umzuſchmeltzen. Ohaͤtten Sie meine Schweſter
werden koͤnnen; ſo haͤtte ich doch eine Schweſter,
die auch meine Freundin waͤre. Daß er aber
jetzt Sie nicht liebet, wundert mich nicht. Sie
erſtickten mit einer Verachtung, die allzunahe
mit ſeinem Hochmuth verwandt zu ſeyn ſcheint,
die erſten Bluͤten einer Liebe, die durch den Werth
der Geliebten gewiß wuͤrde heftiger geworden
ſeyn, und ihn einiger maſſen wuͤrdig haͤtte machen
koͤnnen, ſie zu beſitzen.
Aber nicht mehr hievon! Jn meinem naͤchſten
Schreiben gedencke ich meine vorgehabte Erzeh-
lung fortzuſetzen, und will gleich nach dem Fruͤh-
ſtuͤck wieder an meinen Schreib-Tiſch gehen. Die-
ſes ſende ich durch den Boten, den Sie mit ſo vie-
ler Guͤtigkeit geſchickt haben, um Sich wegen
mei-
[53]der Clariſſa.
meines Stillſchweigens nach unſerm Befinden zu
erkundigen. Jch verharre indes
Dero ergebenſte und verbundenſte Freundin
und Dienerin
Clariſſa Harlowe.
Der ſechſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Anna Howe.
Jch will meine Erzaͤhlung fortſetzen. Da es
ſich mit meinem Bruder zur Beſſerung an-
laͤſt, ſo iſt zwar ſeine Rachgier durch den erlitte-
nen Schimpf mehr gewachſen als verringert; aber
es fangen doch meine Freunde (nemlich mein Va-
ter und ſeine Bruͤder, nicht aber meine eigene Ge-
ſchwiſter) an, zu uͤberlegen, daß ſie mir ſehr un-
freundlich begegnet ſind. Meine Mutter hat die
Guͤtigkeit gehabt, ſeit Abſendung meines letzteren
mir dieſe Nachricht zu geben.
Sie moͤgen zwar allem Anſehen nach glauben,
daß ich noch Briefe von Herrn Lovelace bekom-
me. Da aber der Lord M. gewiß ſeinem Vet-
ter nicht abfallen wird, ſo ſind ſie dergeſtalt in
Sorgen, daß ſie mich gar nicht befragen, ob ich
mit ihm Briefe wechſele oder nicht. Man ſolte
D 3faſt
[54]Die Geſchichte
faſt dencken, daß ſie hiebey durch die Finger ſe-
hen wollen, und unſern Brief-Wechſel fuͤr das
eintzige noch uͤbrige Mittel halten, einen ſo ſehr ge-
reitzten und hitzigen Kopf zu beſaͤnftigen. Denn
er verlangt noch immer von meines Vaters Bruͤ-
dern eine Genugthuung. Vielleicht ſieht er die-
ſes fuͤr den ſicherſten Weg an, wieder mit Vor-
theil den Zutritt in unſer Haus zu erhalten: denn
an Kunſt-Griffen fehlt es ihm nicht. Jn der That
hat meine Baaſe Hervey meiner Mutter den
Vorſchlag gethan, ob es nicht gut ſey, meinen
Bruder zu der ſchon vorhin vorgehabten Reiſe
auf ſeine Guͤter in der Grafſchaft Yorck zu bewe-
gen, um ſich daſelbſt aufzuhalten bis ſich die Sa-
che verblutet haͤtte.
Aber dis iſt ſeine Meinung gar nicht. Er hat
von neuen zu verſtehen gegeben: er werde nie ver-
gnuͤgt ſeyn, bis er mich verheyrathet ſehe. Und
da weder Herr Symmes noch Herr Muͤllins
fuͤr anſtaͤndige Partheyen gehalten werden, ſo hat
er Herrn Wyerley noch einmahl in Vorſchlag ge-
bracht, und deſſen groſſe Zuneigung zu mir als
einen Bewegungs-Grund gebraucht. Jch habe
abermahls dieſen Antrag verworffen. Geſtern
erwaͤhnte er jemanden, der meinetwegen an ihn
geſchrieben haͤtte, und ſehr vortheilhafte Bedin-
gungen verſpreche. Dieſer iſt Herr Solmes,
der reiche Solmes, wie man ihn nennet. Aber
keine Seele hat dieſen Vorſchlag einer Ueberle-
gung gewuͤrdiget.
Weñ keiner von ſeinen Heyraths-Vorſchlaͤgen
zu
[55]der Clariſſa.
zu Stande kommt, ſo gedenckt er (wie ich unter
der Hand weiß) mich zu erſuchen, daß ich nach
Schottland reiſen, und, wie der hoͤfliche Antrag
lautet, ſeine Haushaltung eben ſo einrichten ſoll,
als unſere eingerichtet iſt. Meine Mutter will
dieſes um ihrer eigenen Bequemlichkeit willen ver-
bitten: denn da ſie meint, daß ich ihr bisher die
Laſt der Haushaltung abgenommen habe; und
meine Schweſter ſich nicht dazu ſchicket: ſo wuͤrde
nach meiner Abreiſe alle Laſt wieder auf ſie zuruͤck-
fallen. Wenn ſie auch dieſe Einwendung nicht
machen ſolte, ſo wuͤrde ich ſie machen. Denn
ſeyn Sie verſichert, ich habe wenige Luſt ſeine
Haͤushaͤlterin zu werden: und ich wuͤrde, wenn ich
mit ihm reiſete mehr Magd als Schweſter ſeyn
muͤſſen; vielleicht um deſto mehr, weil mich die
Geburt zu ſeiner Schweſter gemacht hat. Wenn
mir endlich Herr Lovelace gar nachfolgete, ſo
koͤnnten die Sachen aͤrger werden, als ſie jetzt
ſind.
Da meine Mutter ohnehin beſorget, daß Herr
Lovelace mich von neuen hier moͤchte beſuchen
wollen, und meines Vaters Bruͤder aus Furcht
vor ihm nie unbewaffnet und ohne bewaffnete Be-
dienten ausgehen, und mein Bruder bald mit ih-
nen wird ausgehen koͤnnen: ſo habe ich meine
Mutter gebeten, mir die Erlaubniß auszuwircken,
daß ich Sie auf vierzehn Tage beſuchen duͤrfe.
Was meynen Sie, mein Schatz, wird Jhre
Frau Mutter mir dieſes wol vergoͤnnen?
D 4Jch
[56]Die Geſchichte
Jch darf nicht Anſuchung thun, nach meinem
eigenen Gute zu reiſen. Denn ich fuͤrchte, man
wuͤrde mir dieſe Bitte ſo auslegen, als wolte ich
mich in die Freyheit ſetzen, zu der mir der letzte
Wille meines Gros-Vaters ein Recht giebt. Wie
jetzt die Sachen ſtehen, wuͤrde man dieſen Wunſch
fuͤr eine Folge einer Neigung gegen denjenigen
anſehen, auf den unſer Haus ſo ſehr erbittert iſt.
Aber wahrhaftig, wenn ich nur ſo vergnuͤgt und
gluͤcklich hier ſeyn koͤnte, als ich ſonſt zu ſeyn pfleg-
te, ſo wolte ich Herrn Lovelace und allen ſeines
Geſchlechts gern entſagen, und mich nie reuen laſ-
ſen, daß ich mein Gut der Gewalt meines Vaters
uͤbergeben habe.
Eben jetzt erfreuet mich meine Mutter mit der
Nachricht, daß mir meine Bitte zugeſtanden ſey.
Jedermann, nur nicht mein Bruder, haͤlt es ge-
nehm, daß ich Sie beſuchen ſoll. Er hat aber
zur Antwort bekommen: er muͤſſe nicht dencken,
daß er in allen Dingen regieren wolle. Jch werde
in den groſſen Saal geruffen werden, wo mir in
Gegenwart meiner Vaters-Bruͤder und meiner
Baſe Hervey dieſe Erlaubniß foͤrmlich ſoll er-
theilt werden. Sie wiſſen, daß man in unſerm
Hauſe viel Umſtaͤnde macht.
Man wird nicht leicht in einer gantzen Familie
ſo viel Eintracht finden, als in der unſrigen. Mei-
nes Vaters-Bruͤder ſehen uns an, als waͤren wir
ihre eigene Kinder, und erklaͤren ſich, daß ſie blos
aus Liebe zu uns ungeheyrathet bleiben. Daher
wird
[57]der Clariſſa.
wird alles, was uns angehen kann, mit ihnen
uͤberlegt. Deſtoweniger iſt es zu verwundern, daß
ſie bey dieſer Gelegenheit, da Herr Lovelace ent-
ſchloſſen iſt, in unſerm Hauſe einen freundſchaftli-
chen Beſuch abzulegen, (ich fuͤrchte, er wird ſich
auf Feindſchaft endigen) zu Rathe gezogen wer-
den, ob ich Erlaubniß haben ſolle, Sie zu beſuchen.
Hoͤren Sie denn, was bey der mir oͤffentlich
gegebenen Erlaubniß vorgegangen iſt: ob ich
gleich weiß, daß Jhnen dieſe Nachricht wenig
zuneigung und Hochachtung gegen meinen
Bruder erwecken werde. Allein hiefuͤr kann
ich nicht: ich ſelbſt bin nun auf ihn boͤſe. Ueber
dieſes iſt es noͤthig, daß Sie die Bedingungen
wiſſen, unter welchen mir erlaubt iſt, Jhr Gaſt
zu ſeyn.
So bald ich in den Saal trat, ſagte meine
Mutter: Claͤrchen, deine Bitte, die Fraͤulein
Howe auf einige Tage zu beſuchen, iſt in Ueberle-
gung gezogen, und zugeſtanden worden.
Gauz wider meine Neigung/ muß ich ſa-
gen, brach mein Bruder heraus, ehe ſie aus-
geredet hatte.
Mein Sohn Jacob! ſagte mein Vater
mit einer krauſen Stirn.
Er ließ ſich dieſes nicht anfechten. Er traͤgt
den Arm noch in einer Binde; und gebraucht ſich
oft der niedertraͤchtigen Liſt, auf dieſe Binde zu
ſehen, ſo bald etwas vorkommt, das einigermaſ-
ſen zu Herrn Lovelaces Vortheil gedeutet wer-
den,
[58]Die Geſchichte
den, oder auf eine Ausſoͤhnung mit ihm abzielen
kann. So verbiete man denn, ſprach er, dem
Maͤdgen (in ſeinem Munde bin ich ſehr oft das
Maͤdgen) den liederlichen Kerl zu ſprechen.
Niemand redete.
Er nahm ihr Stillſchweigen fuͤr eine Billigung
ſeiner Worte an, und fuhr fort: Hoͤrt ihr, Schwe-
ſter Claͤrchen? Jhr ſollt keinen Beſuch von des
Lord M. Vetter annehmen!
Das Stillſchweigen der uͤbrigen waͤhrete noch.
Merckt ihr, Fraͤulein, was euch erlaubt iſt?
fragte er.
Jch antwortete: ich wuͤrde mich freuen, wenn
ich mercken koͤnnte, daß ihr mein Bruder ſeyd;
und wenn ihr mercken wolltet, daß ihr weiter
nichts als mein Bruder ſeyd.
Er hub beyde Haͤnde auf, und ſagte auf eine
ſpoͤttiſche Weiſe: o die verliebte Seele!
Jch ſagte zu meinem Vater: ich beruffe mich
hier auf Jhre Billigkeit. Habe ich dergleichen Re-
den verdient, ſo ſchonen Sie meiner nicht. Soll
ich aber wegen der Heftigkeit Rechenſchaft geben ‒ ‒
Nicht weiter! nicht weiter von beyden Seiten!
ſagte mein Vater. Du ſollſt keinen Beſuch von
Lovelace annehmen! Wiewohl ‒ ‒ Und du
ſollſt keine empfindlichen Reden gegen deine
Schweſter gebrauchen. Sie iſt mein liebes Kind.
Jch habe weiter nichts zu ſagen, verſetzte er:
aber meiner Schweſter Ehre und die Ehre der gan-
tzen Familie liegt mir am Hertzen.
Und hieraus entſtehen eure unbruͤderlichen
Stiche? antwortete ich.
[59]der Clariſſa.
Er ſprach: bedenkt aber, daß nicht ich ſondern
euer Vater euch Lovelaces Umgang verbietet.
Meine Baſe Hervey antwortete: mein Vetter,
vergoͤnnen Sie mir zu ſagen, daß man ſich auf
Claͤrchens Vorſichtigkeit und Klugheit verlaſſen
kann. Meine Mutter bekraͤfftigte dieſes.
Aber, (verſetzte meine Schweſter) ich hoffe, es
werde nicht ſchaͤdlich ſeyn, daß man meiner Schwe-
ſter deutlich ſage, unter welchen Bedingungen ſie
zu der Fraͤulein Howe reiſen duͤrfe. Denn wenn
er es verſucht, ihr dort zuzuſprechen ‒ ‒
Mein Vaters-Bruder Harlowe fiel ihr in das
Wort: ſie koͤnnen verſichert ſeyn, daß er ſich be-
muͤhen wird, ſie dort zu beſuchen. Und Anton
ſetzte noch dazu: ein ſo unverſchaͤmter Mann wuͤr-
de es auch hier verſuchen. Und es iſt beſſer, daß es
dort, als daß es hier geſchehe.
Beſſer weder hier noch dort! ſagte mein
Vater. Jch befehle dir/ ſo lieb dir meine
Liebe iſt/ ihn gar nicht zu ſprechen.
Jch werde, ſprach ich, auf keine Weiſe Gele-
genheit dazu geben, dis verſichere ich. Jch werde
ihn ſchlechterdings nicht ſprechen, wenn ich es auf
eine anſtaͤndige Art vermeyden kann.
Meine Mutter berieff ſich darauf, daß ich bis-
her ſo kaltſinnig mit ihm umgegangen, und be-
kraͤfftigte von neuen das Urtheil der Frau Hervey,
daß man ſich auf meine Vorſichtigkeit verlaſſen
koͤnnte.
Mein Bruder ſtichelte mit dieſen drey Worten:
zum-Schein ‒ ‒ kaltſinnig!
Mein
[60]Die Geſchichte
Mein Sohn! ſagte mein Vater ganz ernſthaft.
Es iſt gut! antwortete er, und erinnerte mich
von neuen auf eine anzuͤgliche Weiſe an der Be-
dingung meiner Reiſe. Dis war das Ende unſe-
rer Unterredung.
Wollen Sie mir verſprechen, mein Hertz, daß
der ſo verhaßte Menſch ſich Jhrem Hauſe nicht
naͤhern ſoll? Aber wie ungereimt iſt dieſes? Da
man mir eben deswegen erlaubt, zu Jhnen zu rei-
ſen, weil man kein auder Mittel ſiehet, Herrn
Lovelaces Beſuch in unſerm eigenen Hauſe zu
vermeiden. Sollte er aber ja kommen, ſo bitte
ich Sie recht ernſtlich, daß Sie uns nie allein laſ-
ſen wollen.
Jch zweiffele nicht, daß ich von Jhrer Frau
Mutter Erlaubniß erhalten werde, Sie zu beſu-
chen. Jch will daher meine Sachen in Ordnung
bringen, und hoffe in zwey oder drey Tagen bey
Jhnen zu ſeyn. Jndeſſen verharre ich
Dero treu und ergebenſte
Clariſſa Harlowe.
Der ſiebente Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
(Nach ihrer Zuruͤckkunft.)
Jch bitte Sie um Vergebung, daß ich nicht
eher geſchrieben habe. Ach, mein Schatz,
es
[61]der Clariſſa.
es ſieht fuͤr mich ſchlimm aus. Meinem Bruder
und meiner Schweſter ſind alle ihre Abſichten ge-
lungen. Sie haben fuͤr mich einen neuen Liebha-
ber ausfuͤndig gemacht: einen recht heßlichen
Liebhaber! und dennoch haͤlt jederman ſeine Par-
they. Es iſt nunmehr kein Wunder, daß ich ſo
ſchleunig habe nach Hauſe kommen muͤſſen: eine
Stunde nach erhaltener Rachricht! Sie wiſſen
ſelbſt, daß ich von meiner Ruͤckreiſe keine Nach-
richt hatte, als bis der Wagen kam, der mich ab-
holen ſollte. Dis alles; wie ich hoͤre, geſchahe
aus Furcht (aus einer unanſtaͤndigen Furcht,) daß
ich mich mit Herrn Lovelace einlaſſen moͤchte,
wenn ich die Urſache wuͤſte, die meine Zuruͤckbe-
ruffung veranlaſſete. Es iſt offenbar, daß ſie
in Sorgen ſtunden, der neue Freyer moͤchte
mir nicht gefallen.
Mit recht konten ſie dieſes beſorgen. Denn
wer, dencken Sie, wer iſt mein Freyer? Kein
anderer als der Solmes! Haͤtten Sie das glau-
ben koͤnnen? Und dennoch haben alle ſich ſchon
veſt entſchloſſen, daß ich ihn nehmen muͤſſe, meine
Mutter nicht ausgenommen. Ach meine liebe und
vortrefliche Mutter! Jch kan nicht begreifen, wie
ſie ſich hierzu hat koͤnnen bewegen laſſen. Als der
erſte Vorſchlag in der Sache geſchahe, war ſie
noch ſo guͤtig gegen mich, daß ſie antwoꝛtete: wenn
Herr Solmes Oſt- und Weſt-Jndien beſaͤſſe und
es mir verſchreiben wollte, ſo glaubte ſie dennoch
nicht, daß er ihre Claͤrchen Harlowe verdiente.
Ob
[62]Die Geſchichte
Ob ich gleich drey Wochen abweſend gewe-
ſen war, ſo war doch der Willkommen ſo ver-
ſchieden von demjenigen, den ich mir ſonſt nach ei-
ner jeden kleinen Reiſe verſprechen konnte, daß ich
ſchon zum voraus merckte, ich wuͤrde fuͤr die ver-
gnuͤgte Zeit buͤſſen muͤſſen, die ich in Jhrem Um-
gange gehabt habe. Jch will Jhnen kurtz die
Umſtaͤnde erzehlen.
Mein Bruder kam mir entgegen, und bot mir
die Hand, als ich aus dem Wagen ſtieg. Er
buͤckte ſich recht tief, und ſagte: mit Erlaubniß/
Fraͤulein! Jch meynte daß er eben gut aufge-
raͤumt waͤre, fand aber bald, daß er meiner mit
Hoͤflichkeiten ſpotten wollte. Und ſo fuͤhrte er
mich recht foͤrmlich. Jch plauderte unterweges,
und erkundigte mich nach eines jeden Befinden,
den ich ſelbſt zu ſehen bekommen muſte, ehe er mir
antworten konnte. Jn dem groſſen Saal fand
ich meinen Vater und Mutter, meine beyden Va-
ters Bruͤder und meine Schweſter.
Jch ward gleich bey meinem Eintritt beſtuͤrtzt,
daß alle meine wertheſten Angehoͤrigen ſich ſo un-
gewoͤhnlich fremde bezeigeten. Sie blieben insge-
ſamt ſitzen. Jch lief zu meinem Vater und kniete
vor ihm nieder: nachher zu meiner Mutter. Von
beyden bekam ich einen kalten Kuß. Mein Vater
ſagte mit halb ausgeſprochenen Worten: GOtt
ſegne dich meine Tochter. Meine Mut-
ter nennete mich zwar Kind! aber ſie umar-
mete mich nicht mit der gewoͤhnlichen Zaͤrtlich-
keit.
Jch
[63]der Clariſſa.
Jch wandte mich hierauf zu meines Vaters
Bruͤdern und zu meiner Schweſter, die mich mit
einem ſauren und gezwungenen Geſicht willkom-
men hieß. Es ward mir befohlen, mich nieder-
zulaſſen. Jch war voller Kummer, und ſagte:
es ſey meine Schuldigkeit zu ſtehen, falls ich an-
ders eine ſo ernſtliche und ungewoͤhnliche Aufnah-
me ausſtehen koͤnnte. Jch muſte mein Geſicht
weg wenden, und mir mit dem Tuch einige Thraͤ-
nen abwiſchen.
Mein Bruder und Anklaͤger trat auf, und be-
ſchuldigte mich, daß ich bey Fraͤulein Howe nicht
weniger als fuͤnf oder ſechs mahl einen Beſuch
von der Perſon angenommen haͤtte, die ſie insge-
ſamt mit Recht haſſen muͤſten, (dis war ſein
Ausdruck) ohngeachtet mir das Gegentheil be-
fohlen waͤre. Jch ſollte es leugnen, wenn ich
koͤnnte.
Jch antwortete: ich ſey nicht gewohnt, die
Wahrheit zu verleugnen, und wollte es auch jetzt
nicht thun. Jch wollte gern bekennen, daß ich
die Perſon die er meynete in den naͤchſten drey
Wochen oͤfter als fuͤnf oder ſechs mahl geſprochen
haͤtte: (Laßt mich nur ausreden/ mein Bru-
der! muſte ich hier ſagen, weil er ſich nicht
laͤnger halten konnte) allein daß er ſtets nach
der gnaͤdigen Frau oder Fraͤulein Howe gefragt
habe. Beyde, ſetzte ich hinzu, wuͤrden gewiß
bey jetzigen Umſtaͤnden lieber ſeinen Beſuch ab-
gelehnt haben: Davon waͤre ich veſt verſichert.
Allein ſie haͤtten ſich mehr als einmahl damit
ent-
[64]Die Geſchichte
entſchuldiget, daß ſie ſeiner Geburt und Stande
alle Hoͤflichkeit ſchuldig waͤren, und daß ſie nicht
gleich Urſachen mit meinem Vater haͤtten, ihm
das Haus zu verbieten.
Sie ſehen, daß ich mich einiger Entſchuldigun-
gen nicht bedient habe, die ich wohl haͤtte gebrau-
chen koͤnnen.
Es ſchien daß mein Bruder eben losbrechen
wollte: und mein Vater nahm das Geſicht an,
das gemeiniglich einen nahen Sturm verkuͤndigt.
Seine Bruͤder fliſterten einander einige Worte in
die Ohren. Meine Schweſter hub beyde Haͤnde
auf, uͤber mein groſſes Verbrechen Klage zu fuͤh-
ren. Jch bat, daß man mich nur voͤllig hoͤren
moͤchte: und meine Mutter ſagte: ſo laßt denn
das Kind (dis war noch ihr guͤtiges Wort)
ausreden!
Jch redete hierauf weiter: ich hoffte, es waͤre
nichts ungebuͤhrliches geſchehen. Es wuͤrde ſich
fuͤr mich nicht geſchickt haben, der Frau oder der
Fraͤulein Howe vorzuſchreiben, von wem ſie Be-
ſuch annehmen ſollten. Frau Howe habe ſtets
ihre Luſt an dem ſchertzhaften Wortwechſel ihrer
Tochter und des Herrn Lovelace gehabt. Jch
haͤtte ja ihren Gaſt mit keinem Rechte fuͤr einen
ausgeben koͤnnen, der um meinet willen kaͤ-
me: und nichts anders als dieſes wuͤrde
ich doch gethan haben, wenn ich mich geweigert
haͤtte in ihre Geſellſchaft zu kommen, ſo oft er ſich
mit darin befunden haͤtte. Jch haͤtte ihn uͤber
dieſes nie anders geſprochen als in Gegenwart der
bey-
[65]der Clariſſa.
beyden Frauenzimmer, oder wenigſtens in Bey-
ſeyn einer von ihnen beyden: und als er einmahl
darauf gedrungen, mich nur einige Augenblicke
allein zu ſprechen, haͤtte ich ihm bedeutet, daß mir
ſeine Beſuche nie angenehm ſeyn koͤnnten, und ich
am wenigſten ihm eine ſolche Gelegenheit verſtat-
ten wuͤrde, ſo lange keine Verſoͤhnung zwiſchen
ſeiner und meiner Familie erfolgete.
Jch ſagte ihnen ferner: daß Fraͤulein Howe/
von meinen Gedancken ſo gut unterrichtet geweſen
waͤre, daß ſie mich nicht einen Augenblick mit ihm
allein gelaſſen haͤtte. Auch haͤtte ich mich nicht
herunter ruffen laſſen, wenn ich nicht ſchon bey
ſeiner Ankunft in dem Saal geweſen. Jch glaub-
te, daß es gezwungen lieſſe, und von ihm vor-
theilhaft ausgelegt werden koͤnnte, wenn ich die
Geſellſchaft verlaſſen, ſo oft er gekommen, oder
mich geweigert haͤtte in die Geſellſchafft zu gehen,
wenn ich geſehen, daß er einige Zeit da bleiben
wollte.
Mein Bruder hoͤrte mich mit einer ſolchen un-
geduldigen Art aus, daß ich ſchon zum voraus ſei-
nen Vorſatz mercken konnte, misvergnuͤgt uͤber
mich zu ſeyn, ich moͤchte nun ſagen, was ich woll-
te. Es ſchien, die andern waͤren wohl mit mir zu
frieden geweſen, wenn ſie mir nicht haͤtten eine
Furcht einjagen wollen, um etwas anders deſto
leichter durchzutreiben. Alles dieſes zeigte deut-
lich, daß ſie kein freywilliges Ja von mir erwar-
teten: und war ein ſtillſchweigendes Bekenntniß
davon, daß der Braͤutigam, den ſie mir vorſchla-
Erſter Theil. Egen
[66]Die Geſchichte
gen wollten, ſehr unangenehme Eigenſchafften
haben muͤſſe.
Kaum hatte ich ausgeredet, ſo ſchwor mein
Bruder in Gegenwart meines Vaters, der ihm
weder durch Worte noch durch ein ernſtliches Ge-
ſicht Einhalt that, daß er ſich niemahls mit dem
liederlichen Kerl ausſoͤhnen wollte, und er koͤnnte
mich nicht fuͤr ſeine Schweſter erkennen, wenn ich
einem, der ſie insgeſammt ſo ſehr beleidiget haͤtte,
die geringſte Hoffnuug machte.
Einem Menſchen, ſetzte meine Schweſter
mit einem Geſichte welches vor zuruͤck gehaltenem
Zorn berſten wollte, hinzu, Einem Menſchen,
der beynahe meines Bruders Moͤrder ge-
worden waͤre! Sie hat ohnehin ein ungeſtaltes
und plumpes Geſicht; falls Sie mir anders die-
ſen Ausdruck von meiner Schweſter zu gebrau-
chen, erlauben. Doch Sie vergeben mir dieſe Frey-
heit eher, als ich mir ſelbſt: allein iſt wol ein Wurm
der ſich nicht kruͤmmet, wenn er zertreten wird?
Mein Vater ſagte hierauf mit heftigen Geben-
den und Stimme, (Sie wiſſen, er hat eine fuͤrch-
terliche Stimme, wenn er zornig iſt) man habe
gegen mich allzu viel Nachſicht bewieſen, da man
mir erlaubt, bald dieſem bald jenem Herrn ab-
ſchlaͤgige Antwort zu geben. Die Reihe ſey nun
einmahl an ihm, Gehorſam zu fodern.
Dis iſt wahr! ſagte meine Mutter: ich hoffe,
daß ein Kind, dem wir ſo viel Liebe erwieſen ha-
ben, uns nicht wiederſprechen werde.
Um
[67]der Clariſſa.
Um mich zu uͤberzeugen, daß ſie alle gleicher
Meinung waͤren, ſagte mein Vetter Harlowe:
er hoffe, ſeine liebe Baaſe verlangte nur ihres Va-
ters Willen zu wiſſen, um eine Probe ihres Ge-
horſams geben zu koͤnnen. Und mein Vetter
Anton ſetzte nach ſeiner rauhen Art hinzu: ich
wuͤrde hoffentlich keine Urſache geben, zu fuͤrchten,
daß ich meines Grosvaters Guͤtigkeit misbrau-
chen wollte, mich von dem ſchuldigen Gehorſam
loos zu machen. Wenn ich dergleichen daͤchte,
ſo koͤnne er mir verſichern, daß man das Teſta-
ment meines Grosvaters umſtoſſen koͤnnte und
wuͤrde.
Jch erſtaunete: das koͤnnen Sie leicht dencken.
Jch konnte nicht begreiffen, auf wen alle dieſe
Vorbereitungen zieleten: ob Herr Wyerley von
neuen um mich angehalten haͤtte, oder ſonſt jemand
anders? Jungen Maͤdchens pflegen doch leicht
groſſe Vergleichungen einzufallen, wenn es ihre
eigene Sache betrifft: und mir kam dieſe Anwer-
bung, in weſſen Namen ſie auch geſchehen moͤch-
te, ſo vor, als die Anwerbung der Englaͤnder um
die Printzeßin von Schottland zu Zeit Koͤnig
Eduard des ſechſten. Wie koͤnnte ich mir aber
traͤumen laſſen, daß Herr Solmes der Freyer ſey,
den man mir aufdringen wollte?
Jch wuͤßte nicht, antwortete ich, daß ich Urſa-
che gegeben haͤtte, ſo hart mit mir zu verfahren.
Jch hoffete, daß ich gegen ihre viele Liebe nie un-
erkenntlich ſeyn wuͤrde; und uͤber dieſes wuͤrde ich
mich ſtets der Pflicht einer Tochter und einer
E 2Bru-
[68]Die Geſchichte
Bruders-Tochter kindlich erinnern. Allein die
gantz ungewoͤhnliche und unerwartete Art, mich
zu bewillkommen, haͤtte mich ſo beſtuͤrtzt gemacht,
daß ich mir Erlaubniß ausbitten muͤßte, wegzuge-
hen, und mich wieder zu erholen.
Da keiner etwas einwendete, machte ich ohne
weiter etwas zu ſagen meinen Reverentz und gieng
weg. Mir kam es vor, als verlieſſe ich meinen
Bruder und meine Schweſter recht vergnuͤgt, und
als wuͤrden ſie ſich einander Gluͤck wuͤnſchen,
daß durch ihre guͤtige Bemuͤhung endlich der An-
fang gemacht ſey, mir hart zu begegnen. Jn
meiner Cammer ließ ich gegen meine treue Han-
nichen meine Betruͤbniß daruͤber aus, daß der
neue Antrag, den man mir thun wollte, ſchon
zum voraus ein ſo ernſthafftes Anſehen gewon-
nen haͤtte.
Ehe ich noch wieder zu mir ſelbſt gekommen
war, ward ich zum Thee gerufen. Jch ließ mich
zwar durch mein Cammer-Maͤdchen entſchuldi-
gen: auf wiederholten Befehl aber ging ich mit ſo
froͤlichem Geſicht, als mir moͤglich war, hinun-
ter. Hier mußte ich mich von neuen verant-
worten: Denn mein Bruder (ſo reich iſt man an
Beſchuldigungen, wenn man einmahl entſchloſ-
ſen iſt, alles uͤbel auszulegen) mein Bruder,
ſage ich, gab mir deutlich und unhoͤflich genug
zu verſtehen, ich haͤtte blos aus Verdruß nicht
zum Thee kommen wollen, weil man einer Per-
ſon vorhin nicht in Ehren gedacht haͤtte, in die
ich verliebt waͤre.
Jch
[69]der Clariſſa.
Jch koͤnte euch leicht antworten (ſagte ich) wie
es dieſe Beſchuldigung verdient. Allein wenn ich
gleich an euch keinen Bruder habe, ſo ſollt ihr doch
ſtets an mir eine Schweſter behalten.
Eine artige Sanftmuth! wiſpelte meine
Schweſter mit verzogenen Lippen, und ſahe mei-
nen Bruder dabey an. Er befahl mir mit einem
vornehmen Geſicht, ſeine Liebe zu verdienen:
alsdenn ſollte ſie mir nicht entſtehen.
Nachdem wir uns geſetzt hatten, redete meine
Mutter mit der gewoͤhnlichen Artigkeit und Vor-
treflichkeit, die alle ihre Reden an ſich haben, von
der Liebe zwiſchen Geſchwiſtern, und verwieß es
meinem Bruder und meiner Schweſter glimpflich,
daß ſie ſich ſo leicht gegen mich haͤtten aufbringen
laſſen, wobey ſie auf eine beynahe liſtige Weiſe
fuͤr mich Buͤrge ward, daß ich dem Willen mei-
nes Vaters Folge leiſten wuͤrde. Mein Vater
ſagte: alsdenn wuͤrde alles gut ſeyn: mein
Bruder: denn wuͤrden ſie ſich in mich ver-
lieben: meine Schweſter: ſie wuͤrden mich ſo
lieb als jemahls haben: und meines Vaters
Bruͤder: denn wuͤrden ſie recht ſtoltz auf
mich ſeyn. Aller dieſer Verſprechungen werde
ich mich leider begeben muͤſſen.
So ward ich bewillkommet, als ich von Jh-
nen zuruͤck kam.
Ehe wir noch den Thee ausgetruncken hatten,
trat Herr Solmes in das Zimmer. Mein Va-
ters Bruder Anton fuͤhrte ihn zu mir, als eiren
Herrn, der ſein beſonders guter Freund ſey. Mein
E 3an-
[70]Die Geſchichte
anderer Vetter Harlowe brauchte eben ſo vor-
theilhafte Ausdruͤcke: und mein Vater ſagte:
Herr Solmes iſt mein Freund/ Clariſſa
Harlowe! Meine Mutter ſahe bald ihn bald
mich an, als er neben mir ſaß: mich duͤnckte, daß
ich in ihren Augen leſen konte, daß ſie meinet-
wegen beſorgt waͤre. Jch ſahe ſie an, und bat
um Mitleiden: bisweilen, wenn es ſich thun
ließ, gab ich ihm einen verdrießlichen Blick, um
ihn abzuſchrecken. Jn meines Bruders und mei-
ner Schweſter Munde war nichts als Herr Sol-
mes: Herr Solmes ward unaufhoͤrlich auf das
freundlichſte genannt. So ſchmeichelten alle
einem ſo elenden Kerl.
Jch thue weiter nichts hinzu, als daß ich
mich gegen Jhre Frau Mutter wegen der genoſ-
ſenen Guͤtigkeit gehorſamſt bedancke, wie ich denn
noch in einem an ſie ſelbſt gerichteten Briefe ſu-
chen werde mein danckbares Gemuͤth auszudruͤ-
cken; und daß ich verharre
Dero ſtets verpflichtete
Cl. Harlowe.
Der achte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe/
Man ſetzt die Sache mit einer recht unſinni-
gen Hitze durch. Jch glaube, Solmes
wohnt jetzt hier. Er ſchmeichelt ihnen, und wird von
Tage
[71]der Clariſſa.
Tage zu Tage bey ihnen beliebter. So vor-
trefliche Bedingungen! ſo ſchoͤne Ver-
ſchreibungen! ruft jedermann.
O mein Schatz, wenn ich dieſen Familien Feh-
ler nur nicht beweinen duͤrfte! dieſe unerſaͤttliche
Begierde nach mehrerem Reichthum, obgleich ſie
ſchon alle zuſammen mehr als reich ſind! gegen Sie
kan ich dreiſter hievon reden, weil wir uns bey-
de oft dieſe gemeinfchaftliche Noth geklagt haben.
Mein Vater und ſeine Bruͤder ſind in dieſem
Stuͤck gegen mich, was Jhre Frau Mutter gegen
Sie iſt. Sonſt iſt nichts an ihnen auszuſetzen.
Es laͤßt, als ob mein Vater alles ſein Recht
uͤber mich meinem Bruder uͤbergeben haͤtte; und
dieſer will dafuͤr angeſehen ſeyn, daß er mich jetzt
zaͤrtlicher liebe als jemals. Jch habe mich ge-
gen ihn deutlich und offenhertzig erklaͤrt: allein er
will aus meiner Erklaͤrung einen Spaß machen,
und ſtellet ſich, als koͤnte er gar nicht glauben,
daß ſeine Schweſter Claͤrchen/ das ſo gehorſame
und wohlgeartete Kind, ſich wider den Willen al-
ler der Jhrigen ſetzen werde. Jch zittere, wenn
ich an den Ausgang gedencke, den die Sache neh-
men koͤnte: denn ich ſehe, daß ſie in ihrem Ent-
ſchluß unbeweglich ſind.
Mein Vater und meine Mutter vermeiden mit
Fleiß alle Gelegenheit, die ich gebrauchen koͤnte,
mit ihnen allein zu ſprechen. Sie fragen mich nicht
um meine Meinung, ſondern wollen gern zum vor-
aus ſetzen, daß Jhr Wille auch mein Wille ſeyn
werde. Und doch kan ich nicht hoffen, bey irgend
einem andern als nur bey ihnen durch Bitten und
E 4Vorſtel-
[72]Die Geſchichte
Vorſtellungen etwas auszurichten: denn bey ih-
nen fallen die Urſachen weg, die meine Geſchwi-
ſter haben, mich zu einer Heyrath zu zwingen. Jch
widerſpreche ihnen jetzund weniger, und ſpare al-
les, was ich zu ſagen habe, auf eine Unterredung
mit meinem Vater allein, wenn er mich anders ge-
duldig anhoͤren will. Wie ſchwer wird es mir,
eine abſchlaͤgige Antwort zu geben, da beydes
Pflicht und Hertz machen, daß ich wuͤnſche meine
Eltern, durch Gehorſam zu erfreuen!
Dreymal habe ich ſchon einen Beſuch auf
meiner Stube von dieſem Mann ausſtehen muͤſ-
ſen, auſſer dem, daß ich bey ſeinem Beſuch, damit
er meine Eltern beehrt, auch gegenwaͤrtig bin. Er
iſt mir aber ſchlechterdings unertraͤglich. Er hat
nur nach Mundes-Maaſſe Verſtand: artige
Wiſſenſchaften und Beleſenheit hat er gar nicht:
er weiß nichts, als wie viel ſeine Guͤter einbringen,
und wie man ſie beſſer nuͤtzen koͤnnte, und was
ſonſt zur Haushaltung und zu dem Landweſen ge-
hoͤrt. Allein ich weiß nicht, wie ich bin! ich kom-
me mir gantz tumm und betaͤubt vor. Man hat
den Anfang gemacht, mir ſo hart zu begegnen, daß
ich kaum das Hertz habe, auf der abſchlaͤgigen
Antwort zu beſtehen, die ich doch geben muß.
Es ſcheint, ſie haben ſich bemuͤhet die gute
Frau Norton auf ihrer Seite zu bringen, ehe ich
nach Hauſe gekommen bin: ſo ſehr ſind ſie auf
alle Mittel bedacht, die Sache durchzutreiben.
Da aber Frau Norton nicht ſo geſinnet war, wie
ſie es wuͤnſchten, ſo ſagten ſie zu ihr ſie wuͤrde
wohl
[73]der Clariſſa.
wohl thun, ſich eine Zeitlang unſers Hauſes zu
enthalten. Und doch iſt ſie, naͤchſt meiner Mut-
ter, die eintzige in der Welt, die etwas bey mir
ausrichten wuͤrde, wenn die Forderungen der
meinigen billig waͤren, oder wenn ſie ihr auch
nur billig ſcheinen koͤnnten.
Meiner Mutter Schweſter hatte ſich verlauten
laſſen: ſie hielte es fuͤr unmoͤglich, mich dahin zu
bringen, daß ich Herrn Solmes liebete. Sie hat
aber eine andere Sprache lernen muͤſſen. Sie will
mich morgen beſuchen: und weil ich von meinem
Bruder und Schweſter nicht einmal habe anhoͤren
wollen, was mir Herr Solmes fuͤr herrliche Guͤ-
ter verſchreiben will, ſo ſoll ſie mir hievon Nach-
richt geben, und zugleich meine Antwort abholen.
Denn mein Vater (ſo heiſt es) kan ohnmoͤglich ſo
viel Gedult haben, ſich auch nur vorzuſtellen, daß
ich mich gegen ſeinen Willen ſetzen wollte.
Jnzwiſchen iſt mir angekuͤndiget: ich wuͤrde
wohl thun, wenn ich den naͤchſten Sonntag nicht
darauf daͤchte, in die Kirche zu gehen. Eben die-
ſen Befehl habe ich ſchon den vorigen Sonntag
bekommen. Denn ſie fuͤrchten, daß Herr Love-
lace in der Kirche ſeyn, und mich nach Hauſe be-
gleiten moͤchte.
Geben Sie mir, meine allerliebſte Fraͤulein
Howe/ nur etwas von Jhrer vortreflichen Hertz-
haftigkeit: ich brauche ſie jetzt am noͤthigſten.
Sie koͤnnen leicht dencken, daß Herr Solmes
ſich nicht eben ruͤhmen duͤrfte, daß er viel bey mir
ausgerichtet habe. Er hat nicht Verſtand genung,
E 5etwas
[74]Die Geſchichte
etwas vorzubringen, das zur Sache dienet. Er
bewirbt ſich in der That nur um die meinigen, und
mein Bruder fuͤhret ſich gegen mich auf, als waͤ-
re er ſe in Freywerber. Jch habe zwar meinem
Bruder deutlich meine Abgeneigtheit zu erkennen
gegeben; allein da ich mich verpflichtet halte, einem
Manne hoͤflich und anſtaͤndig zu begegnen, der
bey meiner gantzen Familie gelitten iſt, und mir
von ihr angeprieſen wird, ſo wollen ſie daraus
mit aller Gewalt ſchlieſſen, daß ich nur aus Bloͤ-
digkeit Nein ſage. Er kennet ſeine Maͤngel zu
wenig, und, wenn ich ihm, ſo viel ich nur kan,
aus dem Wege gehe, und gegen ihn fremde bin,
ſo glaubt er, meine Bloͤdigkeit ſey daran ſchuld.
Denn, da er ſich nur um die Gunſt der meinigen
bewirbet, ſo habe ich nicht einmahl Gelegenheit,
Nein zu ihm zu ſagen, denn er fraͤgt mich nie.
Er ſcheint daher mit einer maͤnnlichen Grosmuth
mehr das ſchuͤchterne Maͤdgen zu bedauren, als
eine abſchlaͤgige Antwort zu befuͤrchten.
Die Unterredung, die ich mit meiner Baſe
haben ſollte, iſt nun wuͤrcklich vor ſich gegangen.
Jch habe mir die Vorſchlaͤge meines Freyers von
ihr muͤſſen erzehlen laſſen, und ſie hat mir alle
Urſachen geſagt, warum ihm Gehoͤr gegebeu wird.
Jch kan nicht ohne Widerwillen erwaͤhnen, daß
er eben ſo ungerecht handelt, indem er ſo vieles
verſpricht, als diejenigen, denen ich doch Ehr-
furcht ſchuldig bin, indem ſie ſeine Verſprechun-
gen
[75]der Clariſſa.
gen annehmen. Jch haſſe ihn jetzt mehr, als vor-
hin. Ein ſchoͤnes Gut iſt ſchon zum Nachtheil,
der obgleich noch entfernten Anverwandten erhal-
ten, die kuͤnftig einen Anſpruch darauf machen
koͤnten, nemlich das Gut, das mein Bruder von
ſeiner Pathe geerbet hat. Hierauf bauen ſie eine
Hoffnung (vermuthlich in die Luft), daß ſie noch
mehreres erhalten wollen, und daß wenigſtens
mein Gut dereinſt wieder an die Familie fallen
werde. Mich duͤnckt die gantze Welt iſt nur eine
groſſe Familie: Wenigſtens war ſie dieſes bey ih-
rem Anfang. Wie ſoll ich denn dieſe eingennuͤtzi-
ge Abſichten kleiner Geiſter anders beſchreiben, als
daß man einer Verwandtſchaft vergißt, und ſich
einer andern erinnert?
Als ich ſchlechterdings mich weigerte, ihn zu
nehmen, die Bedingungen moͤchten auch ſo vor-
theilhaft ſeyn, als ſie immer wollten, ſo muſte
ich ein Verbot anhoͤren, das mir recht an das
Hertz tritt. Wie kan ich es ihnen ſchreiben?
Und ich muß es doch thun! Jch ſoll einen gantzen
Monath, oder bis ich von neuen Erlaubniß er-
halten habe, mit niemanden auſſer dem Hauſe
Briefe wechſeln. Mein Bruder kuͤndigte mir die-
ſes mit einem rechten Amts-Geſichte an, nachdem
Frau Hervey meine Antwort uͤberbracht hatte.
Sie hat zwar dieſes auf die gelindeſte Weiſe ge-
than, ja ſo gar, ohne Vollmacht von mir zu ha-
ben, einige entfernte Hoffnung gegeben, daß ich
mich kuͤnftig bequemen duͤrfte.
Jch fragte: darf ich denn auch nicht an
Fraͤulein Howe ſchreiben?
Nein
[76]Die Geſchichte
Nein/ gnaͤdige Fraͤulein/ ſagte er ſpoͤttiſch,
auch nicht einmahl an Fraͤulein Howe.
Denn ſie haben ja ſelbſt geſtanden/ daß
Lovelace der Liebling von der Fraͤuleiu
Howe ſey.
Sehen ſie es wohl, meine liebe Fraͤulein?
Meynet ihr aber, Bruder, ſagte ich, daß dis
der rechte Weg ſey?
Bekuͤmmert ihr euch darum? Wiſſet! man
wird eure Briefe auffangen, ich kans euch ver-
ſichern. Mit dieſen Worten lief er fort.
Meine Schweſter kam bald darauf zu mir,
und ſagte: Nun Klaͤrchen/ ich hoͤre ihr ſeyd
auf guten Wegen. Man hat aber Verdacht auf
einige Leute, daß ſie euch in eurem Ungehorſam
ſtaͤrcken, und deswegen ſoll ich euch ankuͤndi-
gen, daß man gerne ſehe, wenn ihr ein paar
Wochen lang, bis auf weitere Erlaubniß, kei-
nen Beſuch gebt, und auch keinen annehmet.
Befehlen das die, welche uͤber mich zu befeh-
len haben, ſagte ich?
Fragt ſie, fragt ſie, mein Kind! ſprach ſie,
und drohete mir mit dem Finger. Jch habe euch
das geſagt, was ich zu ſagen hatte. Euer Vater
verlangt Gehorſam von euch. Er hat die gute
Hoffnung von euch, daß ihr gehorſam ſeyn wer-
det, und wollte gern allen Verfuͤhrungen zum
Ungehorſam vorbeugen.
Jch antwortete: Jch weiß meine Pflicht.
Jch hoffe aber, daß man von mir nichts un-
moͤgliches fordern werde.
Hier-
[77]der Clariſſa.
Hierauf verſetzte ſie: Ein unverſchaͤmtes, eite-
les, eingebildetes junges Ding! Nach eurer tie-
fen Weisheit wiſſet ihr nur allein, was ſich ſchi-
cket, und was recht iſt. Jch fuͤr mein Theil habe
ſchon lange Zeit durch eure Larve hindurch geſehen,
und nun werdet ihr jedermann verrathen, wie
ihr im Hertzen beſchaffen ſeyd.
Jch kehrte Augen und Haͤnde gen Himmel, und
ſagte: liebe liebe Schweſter, warum ‒ ‒?
Nichts von liebe Schweſter! antwortete ſie.
Jch verſichre euch, ihr blendet mich nicht durch
eure Zauberey. Dis war ihr Ausdruck, und
damit lief ſie weg, und rief mir ruͤcklings zu: Es
wird euch bald ein jeder ſo gut kennen, als ich
euch kenne.
Behuͤte GOtt! dachte ich, was habe ich fuͤr
eine Schweſter? wodurch habe ich alles dieſes
verdient. Jch bedaurte hiebey von neuen, daß
mein Großvater mich aus allzu groſſer Liebe mei-
nen uͤbrigen Geſchwiſtern in der Erbſchaft vorge-
zogen hat.
Jch weiß nicht, was mein Bruder und meine
Schweſter wider mich moͤgen angebracht haben.
Mein Vater iſt ſehr zornig auf mich. Jch ward
zum Thee gerufen, und gieng mit einem froͤlichen
Geſicht hinunter: Allein ich hatte bald Urſach be-
truͤbt auszuſehen. Alle nahmen ein ernſihafftes
und vornehmes Geſicht an. Meine Mutter ſa-
he beſtaͤndig auf den Thee-Topf: wenn ſie ja auf-
ſahe,
[78]Die Geſchichte
ſahe, ſo war es, als wenn an ihren Augenliebern
ein Gewicht hinge, und ſie ſahe mich nie an.
Mein Vater ſaß halb zur Seite in ſeinem Lehn-
Stuhl, damit er mich nicht anſeſehen duͤrfte, und
hob die gefaltnen Haͤnde bald auf, bald nieder. Al-
le Finger des armen Mannes waren in Bewe-
gung, als wenn es ihm bis unter die Naͤgel krib-
belte. Meiner Schweſter ſchwollen alle Adern
auf; mein Bruder ſahe mich mit einer veraͤchtli-
chen Mine an, und maß mich mit ſeinen Augen
von Haupt bis auf die Fuͤſſe ſo bald ich in den
Saal trat. Meine Baaſe war auch da; mich
duͤnckte, ich konte in ihren Augen eine Guͤtigkeit
leſen, die ſie gerne verſtecken wollte. Sie blieb
ſitzen, und neigete ſich gantz kaltſinnig gegen mich.
Darauf wieß ſie mit den Augen auf meinen Bru-
der, und auf meine Schweſter. Dis erklaͤrte ich
ſo, als wollte ſie mir die Urſach ihres ungewoͤhn-
lichen Betragens zu verſtehen geben. Bewahre
GOtt! mein Schatz, warum ſuchten ſie ein
Hertz, das bisher nie fuͤr eigenſinnig oder knech-
tiſch gehalten iſt, mehr durch Furcht als durch
Liebe zu bewegen?
Jch ſetzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll
ich Thee-Waſſer aufgieſſen, ſagte ich zu meiner
Mutter? Sie wiſſen, dies iſt ſonſt mein Amt.
Nein! hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei-
ner Sylbe. Sie nahm die Thee-Kanne ſelbſt;
Meine Schweſter wollte ihr helffen, aber mein
Bruder hieß ſie gehen, u nd ſagte, daß er das
Waſſer ſelbſt aufgieſſen wollte. Das Hertz kam
mir
[79]der Clariſſa.
mir auf die Zunge. Jch wußte nicht, wie ich
mich faſſen ſolte. Was dachte ich, ſoll hieraus
werden?
Bey der zweyten Taſſe ſtund meine Mutter
auf: Nur ein Wort allein meine Schweſter, ſag-
te ſie zu Frau Hervey, und faßte ſie an die Hand.
Meine Schweſter verlohr ſich auch, zuletzt mein
Bruder, und ſo blieb ich allein bey meinem Va-
ter. Er ſahe ſo ernſthat aus, daß mir der Muth
fehlete, als ich mir zwey oder drey mahl vornahm
ihn anzureden, weil vorhin eine ſo groſſe Stille ge-
weſen war.
Endlich fragte ich ihn, ob er befoͤhle, daß ich
noch eine Taſſe einſchenckte. Jch bekam nichts
zur Antwort, als die eine verdrießliche Sylbe, die
ich ſchon von meiner Mutter vorher gehoͤrt hatte.
Er ſtand auf, und gieng in der Stube herum. Jch
ſtand auch auf, und wollte mich zu ſeinen Fuͤſſen
werffen; allein ſeine Ernſthaftigkeit ſetzte mich ſo
in Furcht, daß ich ihm nicht einmahl dieſes Zei-
chen der kindlichen Liebe geben konnte, davon mein
Hertz doch uͤberfloß.
Das Podagra zwang ihn, ſich an einen Stuhl
zu lehnen. Hier nahm ich mir etwas mehr Muth:
ich gieng zu ihm, und bat ihn, er moͤchte mir
doch ſagen, womit ich ihn beleidigt haͤtte. Er
kehrte mir den Ruͤcken zu, und ſagte mit ſtar-
cker Stimme: Jch fodere Gehorſam Clariſſa
Harlowe! Jch antwortete, behuͤte GOtt!
ſolt ich ungehorſam ſeyn? Jch habe mich noch
niemahls ihrem Willen widerſetzet.
Er
[80]Die Geſchichte
Er fiel mir in die Rede: Und ich mich nie
deinen thoͤrichten Einfaͤllen/ Clariſſa Har-
lowe. Laß mich nicht eben den Verdruß erfahren,
den alle erfahren, die gegen das Frauenvolck guͤtig
ſind. Denn je mehr wir nachgeben, je mehr wi-
derſprecht ihr uns.
Sie wiſſen, mein Schatz, daß mein Vater
eben ſo wenig als mein Bruder eine gute Meinung
von dem Frauenzimmer hat, obgleich meine Mut-
ter ſo viel nachgibt, als ſchwerlich eine Frau in der
Welt thun wird.
Jch wollte ihm eben Verſicherungen von mei-
nem Gehorſam geben. Er uuterbrach mich.
Keine Verſicherungen, Maͤdchen! Keine Worte!
Jch liebe kein Geſchwaͤtz. Du ſolt mir gehorchen.
Jch habe kein Kind. Jch will kein Kind ha-
ben, wenn es nicht gehorſam iſt.
Jch hoffe, ſie haben nicht Urſach gehabt ‒ ‒
Sage mir nicht, was ich nicht gehabt habe:
ſondern was ich jetzt habe, und haben ſoll.
Hoͤren ſie mich doch aus: Jch fuͤrchte mein
Bruder und meine Schweſter ‒ ‒.
Nichts gegen deinen Bruder und gegen deine
Schweſter! Die Ehre der Familie liegt ihnen am
Hertzen.
Jch hoffe auch ‒ ‒.
Hoffe nichts Maͤdchen. Sage mir nicht, was
du hoffeſt, ſondern was du thuſt. Jch fodere nichts
von dir, als was du thun kanſt, und thun mußt.
Jch will mich gern bequemen, aber ich hoffe ſie
werden ſo guͤtig ſeyn ‒ ‒.
Keine
[81]der Clariſſa.
Keine Einwendung! Kein Aber; Maͤdchen!
Keine Einſchraͤnckungen! Gehorſam ſolt du ſeyn,
und das noch dazu mit Freuden: Sonſt biſt du
mein Kind nicht.
Jch weinte.
Mein lieber und werther Vater (ſprach ich, und
fiel auf die Knie), darf ich nicht bitten, daß ich
nur ihrem und meiner Mutter Willen gehorchen
moͤge, und nicht dem Willen meines Bruders.
Jch wollte noch weiter reden: Aber er kehrte mir
den Ruͤcken zu, und ging mit den Worten weg:
Jch mag dich nicht anhoͤren, wenn du durch aller-
hand Liſt und Schul-Geſchwaͤtz das vierdte Ge-
bot ausmuſteren willſt. Gehorſam, Gehorſam!
Mein Hertz iſt ſo voll, daß ich meiner Pflicht
vergeſſen muͤßte, wo ich es gegen Sie ausſchuͤtten
ſolte. Jch will lieber die Feder niederlegen. Doch
ich darf ‒ ‒. Nein ich will die Feder gewiß nie-
derlegen.
Der neunte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Meine Baaſe iſt vergangene Nacht hier geblie-
ben, und hat mich heute fruͤh mit Anbruch des
Tages beſucht. Sie ſagt mir, daß man mich mit
Willen bey meinen Vater allein in der Stube ge-
Erſter Theil. Flaſſen
[82]Die Geſchichte
laſſen habe, damit er mich befragen koͤnnte, ob
ſeine Hoffnung, die er auf meinen Gehorſam geſe-
tzet, ihn nicht triegen wuͤrde? Allein er haͤtte ſelbſt
geſtanden, daß er ſeinen Zweck nicht haͤtte erreichen
koͤnnen, weil eine Erzaͤhlung ihm gar zu ſehr im
Gemuͤth gelegen, dadurch mich mein Bruder an-
geſchwaͤrtzet haͤtte, und weil es ihm unertraͤglich
geweſen waͤre, es ſich auch nur als moͤglich vorzu-
ſtellen, daß ein ſo gehorſams Kind ſich ſeinem
Willen in einer Sache wiederſetzen koͤnnte, die
das Beſte der gantzen Familie ſo ſehr betraͤfe.
Aus ein paar Worten, die ihr entfallen ſind,
mercke ich, daß man ſich auf mein lenckſames Ge-
muͤth gar zu ſehr verlaſſe. Die meinigen irren ſich
hierin. Jch habe mich genau unterſucht, und
ich finde eben ſo viel von meines Vaters Kopf in
mir, als ich Sanftmuth von meiner Mutter ge-
erbt habe.
Mein Onkle Harlowe wiederraͤth ſehr, mich
aufs aͤuſſerſte zu treiben: Allein ſeines Bruders-
Sohn, der vergeſſen hat, daß er mein Bruder
iſt, verſichert zum voraus, daß meine Ehrbegier-
de und die Grundſaͤtze, denen ich beſtaͤndig folge,
mich lehren wuͤrden meine Pflicht zu beob-
achten. Dis war ſein Ausdruck: vielleicht waͤ-
re es beſſer, daß ich dieſen Ausdruck nicht wuͤſte.
Meine Baaſe giebt mir den Rath, das gege-
bene Verbot genau zu beobachten, und Herrn
Solmes nicht ohne alle Hoffnung zu laſſen.
Dieſes letzte habe ich ſchlechterdings abgeſchlagen,
es mag auch daraus kommen, was will. Jch
habe
[83]der Clariſſa.
habe mich bequemet keinen Beſuch anzunehmen,
noch zu geben; Aber von dem Brief-Wechſel mit
Jhnen kan mich nichts abhalten, als blos die
Furcht, daß meine Briefe aufgefangen werden
moͤgten.
Sie glaubt daß mein Vater dieſen Befehl oh-
ne meine Mutter zu befragen gegeben habe, und
zwar blos aus Liebe gegen mich, damit ich nicht
eine Todſuͤnde gegen ihn begehen moͤchte. Denn
er befuͤrchtete daß mich andere Leute (das ſind
Sie, und Fruͤulein Lloyd) hiezu verfuͤhren
moͤgten, und daß ich es von ſelbſt nicht thun wer-
de. Denn er ſpricht noch ſehr wohl von mir, und
lobet mich, wie ſie ſaget, ungemein.
Das iſt Gnade! das iſt vaͤterliche Nachſicht!
So muß man es anfangen, wenn man nach Art
eines Koͤniges, der uͤbelgeſinnete Unterthanen von
einem Aufruhr abhalten will, wodurch ſie ſich aller
ihrer Guͤter verluſtig machen wuͤrden, ein hart-
naͤckiges Kind vor Ungehorſam und Verderben zu
bewahren ſucht. Dis iſt die Weisheit meines
jungen Herrn Bruders; eines Betriegers ohne
Kopf, und eines Bruders ohne Hertz.
Wie gluͤcklich haͤtte ich mit irgend einem andern
Bruder als Jacob Harlowe leben koͤnnen?
Und wie gluͤcklich mit irgend einer andern Schwe-
ſter, als mit ſeiner. Verwundrrn ſie ſich nicht
hieruͤber mein Schatz, daß ich jetzt mehr meine
Schuldigkeit, als Sie ſonſt die Liebe in der
Beurtheilung meiner Geſchwiſter aus den Augen
ſetze, da ich Jhnen ſo oft eine Straf-Predigt
F 2gehal-
[84]Die Geſchichte
gehalten, wenn Sie zu frey von den meinigen ge-
urtheilet haben. Der Gedancke iſt mir unertraͤg-
lich, daß man mich des allergroͤßten Vergnuͤgens
berauben will, das ich in meinem Leben genieſe:
ich meine des ſchriftlichen oder muͤndlichen Um-
gangs mit Jhnen. Und wer kann ſich ohne Wi-
derwillen von einer ſo niedertraͤchtigen Argliſtig-
keit betriegen laſſen, die noch dazu mit ſo viel Hef-
tigkeit und Hochmuth verbunden iſt.
Allein meine Liebſte Fraͤulein Howe koͤnnten
Sie mir wol ſo viel zu gefallen thun, daß Sie ſich
zu einem geheimen Briefwechſel mit miꝛ bequemen.
Wenn Sie dieſes thun wollen, ſo iſt mir ein Weg
beygefallen, wie ſolches ſicher geſchehen kann.
Sie wiſſen doch unſern ſo genannten gruͤnen
Gang an dem Holtzſtall und dem Hofe auf dem
wir das Feder-Vieh haben. Hier habe ich einige
Jndianiſche Huͤner, Faſanen und Pfauen, mit de-
nen ich mir zweymal des Tages die Zeit vertreibe.
Jch thue dieſes deſto lieber, weil ſie meinem ſeel.
Grosvater gehoͤrt haben, und er mir befohlen hat,
fuͤr ſie zu ſorgen: deswegen ich ſie auch von mei-
ner Hollaͤnderey nach ſeinem Tode hieher habe
bringen laſſen. Dieſer gruͤne Gang iſt niedriger
als der Boden des Holtz-Stalles, und in der
einen Seiten-Wand des Holtz-Stalles ſind
die Bretter an etlichen Orten eine halbe Elle weit
von der Erde auf gefault. Meine Hannichen
kann hier mit Kreite ein Zeichen machen, wo man
einen Brief oder Paquetchen unter den Straͤu-
chen einſtecken kann. Man kann dis wohl ſo
machen,
[85]der Clariſſa.
machen, daß es keinen Verdacht eines gehei-
men Briefwechſels giebet.
Jch bin eben an dem Orte geweſen, und ſehe,
daß er zu unſerm Zwecke bequem iſt; Es kan
demnach ihr ehrlicher Robert ohne ſich unſerm
Hauſe zu naͤhern nur thun, als gienge er durch
den gruͤnen Gang, der ohnedem der ordentliche
Weg nach zwey oder drey Vorwercken iſt. Mir
ſoll es lieber ſeyn, wenn er keine Lieverey an hat.
Er wird auf dieſe Weiſe gantz bequem meine
Briefe abholen, und Jhre bringen koͤnnen.
Es iſt dieſer Ort deſto bequemer, weil bey
nahe niemand dahin kommt, als ich und meine
Hannichen/ um das Federvieh zu futtern.
Denn hier iſt nur unſer groſſe Holtzſtall. Das
taͤgliche Brennholtz haben wir naͤher am Hauſe.
Eine Ecke iſt von dem uͤbrigen Hoͤfen fuͤr mein
Federvieh abgeſondert. Es kan daher weder
mir noch Hannichen an einem Vorwand feh-
len, oft dahin zu gehen.
Verſuchen Sie einmal, ob Sie auf dieſe Wei-
ſe einen Brief an mich bringen koͤnnen, und geben
Sie mir guten Rath, was ich bey ſo verworrenen
Umſtaͤnden anfangen ſoll. Schreiben Sie mir,
was ich mir Jhrer Meynung nach fuͤr Hoffnung
machen kan? und wie Sie ſich in gleichen Um-
ſtaͤnden verhalten wuͤrden. Doch muß ich mir
zum voraus von Jhnen ausbitten, daß Sie mir
ja nicht anrathen, Herrn Solmes zu nehmen.
Mir komt aber ſehr wahrſcheinlich vor, daß man
F 3durch
[86]Die Geſchichte
durch Jhre Frau Mutter verſuchen werde Sie
zu bewegen, daß Sie mir hiezu rathen moͤch-
ten, weil man wohl weiß, wie viel Jhr Rath
bey mir vermoͤge.
Doch Nein! nach weiterer Ueberlegung der
Sache bitte ich Sie mir Jhre voͤllige Meynung
zu ſchreiben, wenn Sie auch ſollten auf Herrn
Solmes Seite ſeyn. Jch habe zwar meine
Entſchlieſſung ſchon gefaßt, ich glaube, daß ſie
unveraͤnderlich ſeyn werde: ich will aber alles ge-
duldig anhoͤren, was man gegen meine Entſchlieſ-
ſ[u]ng [einwenden] kan. Denn ich verſichre Jhnen
auf mein Wort, daß wo ich mich anders ſelbſt
kenne, ich nicht ſo ſehr zaͤrtliche Blicke auf einen
gewiſſen andern werfe, als meine Geſchwiſter
mich beſchuldigen, und Sie ſelbſt nach Jhrer
Loſigkeit mir Schuld gaben, als er mich die letzten
mahle beſuchte. Wenn ich einige mehrere Nei-
gung gegen ihn, als gegen irgend eine andere Per-
ſon habe, ſo gruͤndet ſich dieſe Neigung nicht, auf
ſeine eigene Vorzuͤge, ſondern blos auf das Un-
recht, das er meinetwegen erlitten hat.
Jch habe ein kleines Schreiben an Jhre Frau
Mutter beygelegt, mich fuͤr alle Guͤte zu bedan-
cken, die ſie mich in der letzten ſo vergnuͤgten Zeit
hat genieſſen laſſen. Wie ſehr befuͤrchte ich, daß
ich in meinem Leben nie wieder eine ſo vergnuͤgte
Zeit haben werde! Dieſes Schreiben an Jhre
Frau Mutter ſoll der Ueberbringer vorzeigen,
wenn er nicht ohne Verdacht und Nachfrage aus
meinem Hauſe kommen kan, und ſoll ſich von
mei-
[87]der Clariſſa.
meinem Briefe an Sie nichts mercken laſſen. Un-
noͤthige Aufſicht und Zwang pflegen uns doch ge-
meiniglich zu Liſt und kleinen Schelm-Stuͤcken zu
gewoͤhnen. Jch wuͤrde gewiß einen Abſcheu vor
allem geheimen Briefwechſel haben, wenn ich
nicht dazu gezwungen wuͤrde: und noch jetzt
komt mir dieſe Sache ſo niedertraͤchtig vor, daß
ich mich kaum unterſtehe zu hoffen, daß Sie ei-
nigen Antheil daran nehmen werden.
Ach warum ſtoͤßt man mich mit Gewalt in
einen Stand, den ich zwar ehre, aber zu dem
ich keine Neigung habe? Warum verheyrathet
ſich mein Bruder nicht, der um ſo viel Jahre
aͤlter iſt als ich, da er ſo ſehr auf meine Verheyra-
thung dringet? Warum wird nicht meine aͤl-
tere Schweſter zuerſt verſorget?
Dis ſind ſchon meine Klagen gegen meiner
Mutter Schweſter geweſen. Allein ich breche
dieſe vergebliche Klagen ab, und verſichere, daß
ich ſtets bin und ſeyn werde
Dero ergebenſte
Clariſſa Harlowe.
Der zehnte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Was muͤſſen einige Leute fuͤr verkehrte Koͤpfe
haben! Fraͤulein Clariſſa Harlowe ſoll
F 4Herrn
[88]Die Geſchichte
Herrn Roger Solmes aufgeopfert werden!
Wie kan ſich einer etwas ſo ungereimtes ein-
fallen laſſen?
Sie verlangen von mir: ich ſoll Jhnen
nicht anrathen Herrn Solmes zu nehmen.
Jch ſollte faſt glauben mein Schatz, daß Sie in
der That zu der Familie gehoͤren, die ſich eine ſo
abgeſchmackte Parthey fuͤr Sie gefallen laſſen
koͤnnen: ſonſt haͤtten Sie ſich gar nicht vorſtel-
len koͤnnen, gaß ich Jhnen anrathen wuͤrde,
Herrn Solmes zu nehmen.
Bitten Sie mich nur einmahl, daß ich einen
Abriß von ihm mache. Sie wiſſen ja, daß ich
geſchickt bin ein eckelhaftes Bild zu mahlen.
Doch ich will lieber einige Zeit mit meiner Be-
ſchreibung warten: denn wer weiß, was ſich
noch endlich zutragen kan, da man ſo viel Hef-
tigkeit gebraucht, und da Sie ſo wenig Muth
beſitzen den Strom zu widerſtehen.
Sie wuͤnſchen ſich nur etwas von meinem
Muth. Jſt dis Jhr Ernſt? Er wuͤrde Jhnen jetzt
nichts mehr helfen, und wuͤrde Sie nicht einmahl
kleiden. Sie ſind Jhrer Mutter Tochter, Sie
moͤgen davon dencken was Sie wollen, und haben
es mit heftigen Gemuͤthern zu thun. Sie haͤtten
fruͤher etwas von meinem Muth annehmen ſollen:
nemlich damals, da Sie Jhr Gut ſolchen Leu-
ten in die Haͤnde ſpieleten, die glaubten ein naͤhe-
res Recht daran zu haben als Sie. Was ſind
Sie deſſen gebeſſert, daß der Praͤtendent auf Jhr
Gut Jhr Vater iſt? Hat er nicht zwey aͤltere
Kin-
[89]der Clariſſa.
Kinder? Sind ihm dieſe nicht viel aͤhnlicher als
Sie? Jch bekenne es, daß meine Fragen ſehr
frey ſind: allein verweiſen Sie mir ja dieſe
Freyheit nicht, ſonſt wuͤrde die Auslegung, die
Sie vorher machen muͤſten, eben ſo beiſſend
gegen die Jhrigen ſeyn, als meine Fragen ſelbſt
ſind.
Da ich mich einmal gewaget habe, frey zu
ſchreiben, ſo muͤſſen Sie mir noch ein paar
Zeilen von gleicher Art zu gute halten: hernach
will ich beſcheidener werden. Sollten Sie nicht
billig wiſſen, daß Geitz und Mißgunſt nie
dadurch beſaͤnftiget werden, wenn man dem
Geitzigen giebt was er haben will, und wenn
man den Neidiſchen an Verdienſten und eigenen
Vorzuͤgen uͤbertrifft. Beydes iſt nichts als
Zunder fuͤr unerſaͤttlichen Flammen.
Soll ich Jhnen Rath geben, ſo muͤſſen Sie
mir alle Urſachen ſchreiben, davon Sie wiſſen
oder vermuthen, daß ſie Jhre Geſchwiſter veran-
laſſen, Sie zu dieſer Heyrath zu zwingen.
Wenn Sie mir erlauben wollten, einen Auszng
aus Jhren Briefen zum Vergnuͤgen und Zeit-
vertreib meines Vetters auf der kleinen Jnſel zu
machen, der ſo ſehr begierig iſt, etwas von Jh-
ren Umſtaͤnden zu hoͤren: ſo wuͤrde ich es fuͤr
eine ſehr groſſe Gefaͤlligkeit anſehen.
Sie haben ſo viel Zaͤrtlichkeit gegen einige Leu-
te, die nichts von Zaͤrtlichkeit und Liebe, als blos
gegen ſich ſelbſt, wiſſen oder empfinden, daß ich
Sie beſchwoͤren muß, mir die Wahrheit rein
F 5heraus
[90]Die Geſchichte
herauszuſchreiben. Bedencken Sie, daß eine ſo
genaue Freundſchaft als die unſrige iſt, nicht er-
laubt, daß man einander etwas verberge. Sie
koͤnnen verſichert ſeyn, daß ich unpartheyiſch bin:
Sie duͤrfen nicht einmal anders von mir dencken,
ohne ſich einer Uebereilung zu beſchuldigen, nach-
dem Sie mich um Rath gefragt haben. Jch erin-
nere mich auch noch der Regel, die Sie mir ſelbſt
gegeben haben: daß die Freundſchaft nie den
Ausſchlag gegen die Gerechtigkeit geben
muͤſſe. Suchen Sie die Jhrigen zu entſchuldigen
wo Sie es koͤnnen. Jch will zufrieden ſeyn, wenn
die von ihnen getroffene Wahl gleich keinen voͤllig
hinlaͤnglichen Grund vor ſich hat, falls nur ein
Quentchen von Menſchen-Verſtande darin anzu-
treffen iſt. Jch weiß ſo viel von den Umſtaͤnden
Jhres Hauſes: und doch kan ich mir gar keinen
Begriff machen, wie es moͤglich ſey, daß alle, daß
ſo gar Jhre Frau Mutter und Jhre Frau Baſe
Hervey gegen das, was ſie ſelbſt vorhin von der
Sache geurtheilet, ſprechen und Jhnen Herrn
Solmes anpreiſen koͤnnen. Bey den uͤbrigen wer-
de ich mich nie uͤber die allerwunderlichſte Hand-
lung, die ſie vornehmen oder beſchlieſſen, verwun-
dern, wenn der Eigennutz dadurch befoͤrdert wird.
Sie fragen, warum ſich ihr Bruder nicht
verheyrathe? Jch kan Jhnen die Urſache leicht
melden: ſein ungeſtuͤmes Weſen und ſein Hoch-
muth iſt ſo bekant, daß ohngeachtet der ſchoͤnen
Guͤter die er ſchon jetzt beſitzt, und die er noch zu
hoffen hat, kein Frauenzimmer, auf das er et-
wan
[91]der Clariſſa.
man dencken wuͤrde, ihn nehmen wird. Seine
Guͤter, die er geerbet, haben nicht ſowohl ſeine
[Hochachtung] bey andern, als ſeinen Hochmuth
vermehrt. Er iſt mir der unertraͤglichſte Menſch,
den ich je geſehen habe. Sie tadeln mich zwar,
daß ich ihn ſo ſchnoͤde abgewieſen habe, allein er
verdiente nichts beſſers. Er bewarb ſich mit ei-
ner ſolchen Art und Miene um mich, als wenn
er mir eine Gnade zuwenden, und nicht als
wenn er um Gunſt und Liebe bitten wollte.
Nichts freuet mich mehr, als wenn ich hoch-
muͤthige und unverſchaͤmte Leute kraͤncken kan.
Was meynen Sie, woher kommt es anders,
daß ich Hickman um mich dulden kan? als
daher, daß er beſcheiden iſt, und es erkennet,
daß er meiner nicht werth iſt.
Auf die zweyte Frage, warum Jhre aͤltere
Schweſter nicht heyrathe? gebe ich zur Antwort:
erſtlich, ſie muß einen Freyer von groſſen und
unverſchuldeten Guͤtern haben; zum andern,
ſie hat noch eine juͤngere Schweſter. Jch bitte
Sie mein Kind, ſagen ſie mir doch, welcher
Cavalier der Guͤter ohne Schulden hat wird
an die aͤlteſte Schweſter dencken, ſo lange dieſe
juͤngere noch ledig iſt.
Sie ſind zu reich, mein Kind, als daß ſie
gluͤcklich ſeyn koͤnnten. Nach den Geſetzen, die
wenigſtens durch das Herkommen Jhrer Familie
beſtaͤtigt ſind, muß ein jeder, der zu ihrem Hauſe
gehoͤrt, noch reicher heyrathen als er ſelbſt iſt.
Kan man den Leuten wol verdencken, daß ſie das
immer
[92]Die Geſchichte
immer zu vermehren ſuchen, worin ihrer Mey-
nung nach ihr hoͤchſtes Gut und groͤſſeſter Vorzug
beſtehet? Hat Jhre Familie jemals ihre Abſichten
auf wahre Gluͤckſeligkeit gerichtet? Jſt nur je-
mand in Jhrer Familie, Sie allein ausgenom-
men, im Stande, ein Gluͤck auſſer dem Reich-
thum zu genieſſen? So moͤgen ſie denn murren,
und immer ſammeln; und wenn ſie dennoch mit
Verwunderung gewahr werden muͤſſen, daß ſie
bey allem Reichthum nicht gluͤcklich ſind, und nicht
wiſſen was ihnen fehlt, moͤgen ſie ſich einbilden,
daß blos der Mangel noch groͤſſerer Guͤter ſie miß-
vergnuͤgt mache. Sie werden immer mehr zu
ſammlen ſuchen, bis der Tod, der eben ſo un-
erſaͤttlich iſt als ſie, ihre Schaͤtze wegraffet.
Geben Sie mir nur Nachricht von den Bewe-
guugs-Gruͤnden, welche die Jhrigen vorwen-
den, und um deren willen Sie ſelbſt bekennen
dieſe Heyrath zu wuͤnſchen: ſo will ich Jhnen
bald mehr von ihren Abſichten entdecken helfen,
als Sie mir von ſelbſt melden werden. Jhre
Baſe Hervey hat Jhnen, wie Sie ſchreiben,
von dieſen Bewegungs-Gruͤnden Nachricht ge-
geben: Warum muß ich Sie aber erſt bitten,
mir auch einige Rachricht davon mitzutheilen,
da Sie mich doch um Rath fragen? Jch habe
Jhnen dieſes ſchon oben zu verſtehen gegeben.
Es iſt klug gehandelt, daß Jhnen der Brief-
wechſel mit mir verboten wird. Jch wundere
mich nicht daruͤber, und ich verdencke es auch den
Jhrigen nicht. Es iſt offenbar, daß ſie die Thor-
heit
[93]der Clariſſa.
heit ihrer Anſchlaͤge ſelbſt einſehen: und wenn ſie
dieſes thun, ſo muͤſſen ſie nothwendig das Urtheil
anderer uͤber dieſe Anſchlaͤge ſcheuen.
Jch freue mich, daß Sie einen Weg zum
Brief-Wechſel zwiſchen uns ausgefunden haben,
und ich billige Jhren Vorſchlag ſehr. Jch werde
ihn noch mehr billigen, wenn dieſes Schreiben
gluͤcklich zu Jhren Haͤnden kommt. Sollte es
aber auch in fremde Haͤnde gerathen, ſo wuͤrde ich
gantz und gar nicht daruͤber betreten ſeyn: nur um
Jhrentwillen wuͤrde es mir leyd ſeyn.
Noch vor Empfang Jhres Schreibens haben
wir freylich gehoͤrt, daß es zwiſchen Jhnen und
den Jhrigen bey Jhrer Ruͤckkunft nicht recht ge-
ſtanden habe: und daß Herr Solmes Sie nicht
ohne Hoffnung eines gluͤcklichen Ausganges be-
ſuchte. Jch meinte aber, es koͤnnte ein Jrrthum
in der Perſon ſeyn, und er wuͤrde nur um Fraͤulein
Arabella anhalten: denn die ſchien mir noch viel
zu gut fuͤr ihn zu ſeyn, wenn ſie nur ſo aufge-
raͤumt und von ſo ehrlichem Gemuͤthe waͤre, als
ſonſt das plumpe und ſchwerfaͤllige Frauenzimmer
zu ſeyn pflegt. Jch meinte ich haͤtte die gantze Sa-
che errathen, und meine allerliebſte Freundin waͤ-
re deshalb ſo ſchleunig nach Hauſe gefodert, daß
ſie die Zuſchickung zur Hochzeit machen helfen ſol-
te. Jch ſagte noch zu meiner Mutter: Wer
weiß/ ob nicht der Mann einen ertraͤgli-
chen Aufzug macht/ wenn er ſeine garſtige
gelbe Perucke/ und ſeinen groſſen Hut/ die
ich immer fuͤr ein Ueberbleibſel aus Crom-
wels
[94]Die Geſchichte
wels Zeiten gehalten habe/ ableget/ und
denn mit Fraͤulein Arabella nach der Kir-
che wackelt. Sie hat ſelbſt erkannt, daß
das Frauenzimmer die Manns-Perſon an
Schoͤnheit uͤbertreffen muͤſſe. Wenn ſie
immer bey eben den Gedancken bleibt/ ſo
wird ſie keine anſtaͤndigere Parthey als
Herrn Solmes antreffen. Jch blieb bey mei-
ner Vermuthung, wieder die gemeine Sage:
denn ich konnte nicht glauben, das die unverſtaͤn-
digſten Leute in England ſo unverſtaͤndig waͤren,
daß ſie ſich in den Sinn kommen lieſſen, Sol-
mes und Sie zu verheyrathen.
Wir hoͤrten, daß Sie keinen Beſuch annaͤhmen.
Hievon konnte ich keine andere Urſache errathen,
als daß man die Zubereitungen auf Jhrer Schwe-
ſter Hochzeit geheim halten wolte, und die Trau-
ung unvermuthet vor ſich gehen wuͤrde. Fraͤulein
Lloyd und Fraͤulein Biddulph beſuchten mich,
um ſich deshalb bey mir zu erkundigen. Jnſon-
derheit waren ſie begierig, zu wiſſen, um welcher
Urſache willen Sie den Sonntag nach Jhrer Zu-
ruͤckkunft beynahe hundert Anbeter vergeblich haͤt-
ten warten laſſen, (ſo ſagten ſie) und weder Vor-
mittags noch Nachmittags in der Kirche geweſen
waͤren? Hievon konte ich die Urſache, die Sie ſelbſt
melden ohne Muͤhe errathen: nemlich die Beſorg-
nis der Jhrigen, daß Herr Lovelace auch in der
Kirche ſeyn, und Sie nach Hauſe bringen moͤchte.
Meine Mutter hat ihre guͤtigen Ausdruͤcke in
dem uͤberſandten Briefe ſehr wohl aufgenommen.
Sie
[95]der Clariſſa.
Sie ſagte: „Fraͤulein Clariſſa Harlowe iſt
„ein Frauenzimmer das wenig ſeines gleichen hat.
„Ein jeder Beſuch von ihr iſt in der That eine
„Wohlthat: und man wird recht misvergnuͤgt
„wenn ſie Abſchied nimt.„ Jch bekam auch das
meinige: denn ſie ſetzte hinzu: „O meine Toch-
„ter, wenn du nur etwas von ihrem gefaͤlligen
„Weſen haͤtteſt!„
Doch das kraͤnckt mich nicht: denn Sie wurden
gelobet. Jch halte Sie fuͤr mich ſelbſt, und ich kitzel-
te mich an Jhrem Lobe. Soll ich die Wahrheit
ſchreiben, ſo freuete ich mich deſto mehr uͤber dieſes
Lob, weil ich glaubte, ich waͤre in Ermangelung
Jhrer lobenswuͤrdigen Eigenſchaften doch nicht
ungluͤcklicher als Sie. Denn haͤtte ich zwantzig
ſolche Bruͤder, und zwantzig ſolche Schweſtern,
als Sie haben, ſo wuͤrde ſich keiner von ihnen, ja ſie
alle zuſammen genommen nicht unterſtehen, ſo mit
mir umzugehen, als Jhr eintziger Bruder und Jh-
re eintzige Schweſter mit Jhnen umgehet. Wer
viel leiden kan, wird viel zu leiden haben: ſo iſt es
uͤberall in der Welt: und es iſt dieſes ihr eigner
Satz, denn Sie an einem ſehr merckwuͤrdigen
Beyſpiel in Jhrem eigenen Hauſe bemerckt und ge-
lernt, und dennoch bisher wenig angewandt haben.
Jch mache aus allem den Schluß: daß ich mich
beſſer in Dieſe Welt ſchicke als Sie, und Sie ſich
beſſer in die zukuͤnftige ſchicken als ich. Daß iſt
der Unterſchied zwiſchen uns. Allein um meinet-
willen, und um hundert anderer willen, wuͤnſche
ich, daß es lange, ſehr lange waͤhren mag, ehe
ſie
[96]Die Geſchichte
ſie uns verlaſſen, um eine Geſellſchafft zu genieſ-
ſen, die Jhnen aͤhnlicher und anſtaͤndiger iſt.
Jch habe meiner Mutter erzaͤhlt, wie unange-
nehm Sie zu Hauſe bewillkommet ſind: und was
fuͤr einen ungeſtalten Menſchen man Jhnen aus-
geſucht hat, und Sie zwingen will, ihn zu neh-
men. Sie ergriff die Gelegenheit, ihre Nach-
ſicht gegen mich zu ruͤhmen/ da ich mich
recht tyranniſch/ (den Namen gab ſie meinem
Betragen. Die Muͤtter haben immer ihren ei-
genen Kopf, und den muß man ihnen laſſen) ge-
gen einen Freyer auffuͤhrte/ den ſie mir doch
ſo ſehr anprieſe/ und gegen den ich keine ge-
rechte Einwendungen machen koͤnnte. Sie
redete noch ſonſt viel davon, daß ich wegen ihrer
Nachſicht deſto gefaͤlliger gegen ſie ſeyn ſolte. Auf
dieſe Weiſe werde ich ihr kuͤnftig nichts mehr von
Jhren Umſtaͤnden erzaͤhlen duͤrfen; denn ſie wuͤrde
ſo gar Jhren Brief-Wechſel mit mir und mit
Herrn Lovelace nicht billigen, und mit dem Na-
men des Ungehorſams oder unerlaubter und
heimlicher Streiche belegen: denn ſie redet
von nichts als von blindem Gehorſam. Ueber
dieſes iſt ſie ſehr aufmerckſam auf die Predigten
des alten ſteiffen Hageſtoltzens, ich meine Jhren
Onckle Anton: und ſie wird ſich ſehr bedencken
Jhnen Recht zu geben, wenn Sie gleich offenbar
Recht haben, weil ſie vermuthet, ihre eigene Toch-
ter werde ſich nach dem Exempel der Fraͤulein
Harlowe richten. Allein das heißt die Sache
nicht recht angegriffen: den wer andern nichts nach-
giebt,
[97]der Clariſſa.
giebt, denn geben andre auch nichts nach, und
wer zuviel erhalten will, der verliert alles.
Koͤnnen Sie wol rathen, mein Hertz, was
der alte lehreiche Knabe, der immer prediget, die
unempfindliche Seele von groben Sinnen, Jhr
Onckle Anton/ was der fuͤr eine Abſicht hat, die
ihn ſo oft in unſer Haus fuͤhret? Man ſieht nichts
als Freundlichkeit und Laͤcheln an ihm und meiner
Mutter: einer ruͤhmt immer des andern Haus-
haltung. „So fange ich das Ding an„ heißt
„es:„ und ſo mache ich es auch „‒ ‒„ ich
„freue mich/ mein Herr daß Jhnen meine
„Weiſe gefaͤllt/ „‒ ‒„ Sie ſehen recht ge-
„nau auf alles/ gnaͤdige Frau. „ ‒ ‒„ Ach!
„es wuͤrde nichts im Hauſe geſchehen/ al-
„les wuͤrde liegen bleiben/ wenn ich nicht
„da waͤre.„ Beyde ſchelten auf ihre Bedienten,
und ruͤhmen ihre eigene Klugheit in der Haushal-
tung. Man hoͤrt ſo viel von, mein Hertz! und,
in aller Welt ‒ ‒ ‒ um Gottes willen/ wie
verſtaͤndig fangen ſie es an! Bisweilen reden
ſie gantz leiſe, und wiſpern ſich noch etwas in die
Ohren, wenn ich uͤber ihrer Unterredung unver-
muthet in die Stube komme. Jn der That, das
Ding faͤngt mir an nur halb zu gefallen.
Mein eintziger Troſt iſt, daß die alten Haͤgeſtol-
tzen ſo viel Jahre Zeit brauchen, ſich auf das Hey-
rathen zu bedencken, als ſie etwan hoffen koͤnnen
noch in der Welt zu leben. Waͤre das nicht, ſo
wuͤrde ich Feuer geben, wenn er meine Mutter zu
oft beſucht: und wuͤrde lieber Herrn Hickman als
Erſter Theil. Geinen
[98]Die Geſchichte
einen Freyer, der ſich beſſer fuͤr meine Mutter
ſchickte, anzupreiſen ſuchen. Denn was ihm an
Jahren mangelt, das erſetzt er durch ſeine Ernſt-
haftigkeit. Wenn ich mich nicht fuͤrchtete, daß
Sie mir einen Berweiß geben moͤchten, ſo wollte
ich ſagen, daß beyde ein ſteifes und gezwungenes
Weſen haben, welches macht, daß ſie faſt von ei-
nem Alter zu ſeyn ſcheinen: und dieſes hat zuge-
nomme, ſeitdem er ſich in Hoffnung auf die Gunſt
meiner Mutter zu viel gegen mich herausgenom-
men hat, und ich ihn dafuͤr buͤſſen laſſe. Wenn
beyde gewahr werden, daß ich verdrießlich und
murriſch gegen ihn bin, ſo beſeufzen ſie ſein Ungluͤck
in der Stille, und haben ſo viel Mitleiden gegen
einander, daß ich ſie fuͤr verliebt halten muß, wenn
das Mitleiden die naͤchſte Stuffe zu der Liebe iſt.
Jch weiß, ſie werden mir einen ſtraͤfflichen
Blick geben. Allein nehmen Sie ſich in Acht,
daß ich Sie nicht ſelbſt angreiffe. Wir leſen
wenigſtens von dem Hannibal/ daß ſein
Kunſt-Griff geweſen ſey, die Roͤmer ſtets in
ihrem eignen Land anzugreifen.
Sie verſichern, und zwar noch dazu auf Jhr
Wort/, daß Sie keine ſolche Blicke (ein artiges
Wort, anſtatt Liebe) auf einen gewiſſen an-
dern werfen/ als Jhre Geſchwiſter Sie be-
ſchuldigen. Sie brauchen niemanden erſt zu ver-
ſtehen zu geben, mein Schatz, daß die beyden letz-
ten Monathe eine ſehr gluͤckliche Zeit fuͤr dieſen
gewiſſen andern geweſen ſind, da er ſeine Lang-
muth gegen die naͤchſten Anverwandten Jhnen als
eine Gefaͤlligkeit hat anrechnen koͤnnen.
Doch
[99]der Clariſſa.
Doch ich muß weiter gehen: Sie ſchreiben, ſo
ſehr zaͤrtliche Blicke. Wie ſehr ſind ſie, denn
zaͤrtlich. Darf ich eine Folge aus Jhren Worten
ziehen? Die Jhrigen glauben, ſie ſind ſehr zaͤrt-
lich: Sie ſcheinen aber nur ein weniges zu ge-
ſtehen. Werden Sie nicht boͤſe. Jch thue Jh-
nen kein Unrecht: denn Sie haben mir dieſes we-
nige von Zaͤrtlichkeit nicht bekennen wollen; und
nie werden wir doch neugieriger, als wenn man
etwas geheim halten will.
Allein es ſcheint, als wollten Sie ihr Wort
faſt wieder zuruͤcknehmen, und zweifelten ſelbſt an
dem was Sie geſchrieben hatten. Denn Sie ſetzen
dazu: wo ich mich anders ſelbſt kenne. War
dieſer Zuſatz in einem Briefe an mich noͤthig?
Brauchten Sie mir das auf Jhr Wort zu verſi-
chern? Vielleicht wiſſen ſie beſſer, was fuͤr Blicke
Sie auf ihn werfen! Doch nein, ich glaube dieſes
nicht. Der Anfang der Liebe iſt meiſtentheils un-
mercklich: und der dritte, der die Handlungen der
liebenden Perſon ſiehet, wird oft mehr davon ge-
wahr, wenn dasjenige Hertz, ſo von der Liebe be-
ſeſſen iſt (kan ich es nicht eine Beſitzung nennen)
noch nicht weiß, was fuͤr ein Geiſt in ihm wohnet.
Sie ſetzen hinzu: wenn Sie ja einige meh-
rere Neigung gegen ihn/ als gegen eine an-
dere Perſon haͤtten/ ſo gruͤnde ſich dieſe
Neigung nicht auf ſeine eigene Vorzuͤge/
ſondern blos auf das Unrecht/ das er Jh-
rentwegen erlitten habe. Jn der That, eine
großmuͤthige Erklaͤrung, und die dadurch glaub-
G 2wuͤr-
[100]Die Geſchichte
wuͤrdiger wird, weil ſie ſich zu Jhrer Gemuͤths-
Beſchaffenheit ſchickt. Allein verlaſſen Sie ſich
nicht zuviəl darauf: Sie ſind in Gefahr; Sie
moͤgen es wiſſen oder nicht, ſo will doch die Liebe
in Jhrem Hertzen Platz nehmen. Selbſt Jhre
angebohrne Grosmuth und Jhr edles Hertz ſetzen
Sie in Gefahr: und alle die Jhrigen ſtreiten fuͤr
ihn, wenn Sie auf eine unvernuͤnftige Weiſe
wider ihn ſtreiten. Jch will Leib und Leben da-
bey verpfaͤnden, daß Lovelace ungeachtet aller
ſeiner Beſtaͤndigkeit und Ehrerbietung doch ſchon
weiter geſehen hat, als ſeine Beſtaͤndigkeit und
Ehrerbietung, dieſe ſo gluͤcklich angenommene Ei-
genſchaften wenn er Jhr Hertz beſiegen will, ihm
erlauben werden, frey zu geſtehen. Er hat geſehen,
daß ſeine Feinde beſſer fuͤr ihn arbeiten, als er ſelbſt
zu thun im Stande ſeyn wuͤrde. Sie haben bey
andern bemerckt, daß nichts ſo ſcharfſichtig iſt, als
ein hochmuͤthiger Liebhaber, denn dieſer entdecke
ſo gar Zuneigung, wo keine iſt, und werde ſchwer-
lich die Zuneigung unbemerckt laſſen, wo ſie ſich in
der That befindet. Wer aber hat jemals Herrn
Lovelace fuͤr demuͤthig gehalten.
Kurtz, ich mache aus ſeinem freymuͤthigen Be-
tragen, und daraus, daß man keine Spur einer
Bekuͤmmerniß bey ihm wahrnimt, den Schluß,
daß er tiefer in ihr Hertz geſehen haben muͤſſe,
als ich; tiefer als Sie glauben daß man ſehen
koͤnne; ja tiefer als Sie ſelbſt ſehen. Denn da-
von bin ich verſichert, daß ſie es mir nicht wuͤr-
den
[101]der Clariſſa.
den verheelt haben, wenn Sie ſelbſt die Neigun-
gen bey ſich erkannt haͤtten, die er entdeckt hat.
Er hat Sie vermocht, insgeheim mit ihm Bri-
fe zu wechſeln, um ihn abzuhalten, daß er die Be-
ſchimpfungen, die ihm widerfahren ſind und noch
taͤglich widerfahren, nicht raͤchen moͤge. Jch
glaube gern, daß der Jnhalt Jhrer Briefe nicht
ſo beſchaffen ſey, daß er ſich deſſen ruͤhmen koͤnne.
Allein iſt nicht die Sache ſelbſt ſchon ein groſſer
Sieg, daß Sie ſeine Briefe annehmen und beant-
worten? Sie verlangen von ihm, daß er den
Brief-Wechſel geheim halten ſolle: folglich haben
Sie Ein Geheimniß, das Sie nicht gern of-
fenbart ſehen moͤchten, und er weiß dieſes Ge-
heimniß. Er ſelbſt iſt dieſes Geheimniß. Macht
dieſes nicht eine groſſe Vertraulichkeit zwiſchen
Jhnen, und Jhrem Anbeter? Macht es Sie
nicht fremde von Jhren Eltern?
Allein wer kann es Jhnen bey ſo geſtalten Sa-
chen verdencken? Sie haben durch Jhre Gefaͤllig-
keit gegen ihn bisher manchem Ungluͤck vorgebeu-
get; und Sie werden fortfahren muͤſſen, eben ſo
gefaͤllig zu ſeyn, ſo lange noch die Urſache nicht
gehoben iſt, die Sie bisher dazu genoͤthiget hat.
Jhr Schickſaal hat Sie wider Jhre Neigung in
dieſen Briefwechſel gezogen: allein die Gewohn-
heit Briefe mit ihm zu wechſeln, und der loͤbliche
Endzweck den Sie dabey haben, wird nicht allein
alles entſchuldigen was ſonſt unanſtaͤndig waͤ-
re, ſondern auch eine Neigung machen. Jch
rathe Jhnen ſo lieb es Jhnen iſt, in einer ſo
G 3ſchwe-
[102]Die Geſchichte
ſchweren Sache eine Probe von der Klugheit zu
geben, die alle Jhre uͤbrige Handlungen regieret,
daß Sie ſich vor einer genauen Unterſuchung aller
der wahren und eigentlichen Quellen nicht ſcheuen
wollen, aus denen Jhre großmuͤthige und recht
edle Geſinnung gegen dieſen gluͤcklichen Herrn ge-
floſſen iſt. Jch glaube gewiß, daß Sie finden wer-
den, die eigentliche Quelle ſey nichts anders als
Liebe. Fuͤrchten Sie ſich vor dem Worte nicht! ‒‒
Hat nicht Herr Lovelace ſelbſt ſo viel Einſicht in
dieſe Philoſophie, daß er Jhrer Baſe der Frau
Hervey die Anmerckung geben koͤnnen: es pflege
die Liebe in den ſtandhafteſten Gemuͤthern am tief-
ſten zu wurtzeln? Der Hencker hole ſeine Einſich-
ten, und ſeinen verſchmitzten Kopf! Es ſind ſchon
ſechs oder ſieben Wochen, da er dieſes geſagt und
gemerckt hat.
Sie wiſſen, daß ich aus Erfahrung rede. Bey
der allergenaueſten Pruͤfung habe ich die Zeit doch
nicht beſtimmen koͤnnen, in der meine Kranckheit
ihren Anfang nahm: Allein haͤtte ich nicht den Rath
von Jhnen damals bekommen, den ich ihnen jetzt
wieder gebe, ſo wuͤrde ich (wie man ſagt) ſterblich
verliebt geworden ſeyn. Und doch war mein Freyer
nur halb ſo: ‒ ‒ ſo? was denn, mein Schatz?
was meine ich wol, wie iſt er nicht geweſen? ‒ ‒ ‒
Jn der That Lovelace iſt ein Liebenswuͤrdiger
junger Herr: auch deñ waͤre er ſchon liebenswuͤrdig,
wenn er Jhr eintziger Freyer waͤre. Jch will Sie
nicht verliebt machen, wenn Sie meinen Brief le-
ſen. Nein in der That nicht. Finden Sie aber
nicht
[103]der Clariſſa.
nicht eben bey Durchleſung dieſer Zeilen eine un-
gewoͤhnliche Empfindung, die macht, daß Jh-
nen eine Roͤthe ausbricht, und daß ihr Hertz ſtaͤr-
cker ſchlaͤget? Es iſt nichts als Grosmuth,
mein Kind, von der Jhnen das Hertz pochen
wird! Allein ich dencke das, was der Roͤmiſche
Wahrſager zum Caͤſar ſprach: huͤte dich vor
dem funfzehenten Mertz!
Leben Sie wohl, und verzeihen mir mein freyes
Schreiben. Gebrauchen Sie ſich bald des gruͤ-
nen Ganges, um die Vergebung anzukuͤndigen
Jhrer ergebenſten
Anna Howe.
Der eilffte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe/ an Fraͤulein
Howe.
Das Ende ihres letzten Briefes hat mich verun-
ruhiget, und iſt mir etwas empfindlich ge-
weſen. Als ich es das erſte mahl uͤberlaß, ſo ſag-
te ich zu mir ſelbſt: du haſt es in einem Brief an
deine allerbeſte Freundin fuͤr unnoͤthig gehalten,
die Worte mit Fleiß ſo abzuwaͤgen, daß ſie zu kei-
nem Tadel Gelegenheit geben moͤchten. Allein ich
faßte mich bald wieder, und dachte, es koͤnne viel-
leicht etwas mehreres als die Loſigkeit einer ſo
muntern Feder dieſen Theil Jhres Briefes veran-
G 4laſſet
[104]Die Geſchichte
laſſet haben, ich moͤchte vielleicht eine Unvorſich-
tigkeit begangen haben: und ich entſchloß mich,
eine genaue Pruͤfung meiner ſelbſt anzuſtellen.
Jch habe aber nichts von dem Schlagen des Her-
tzens bey mir finden koͤnnen, deſſen Sie Erwaͤh-
nung thun. Sie koͤnnen mir dis auf mein
Wort glauben. Jch muß bekennen, daß die
Stellen meines vorigen Briefes, bey denen Jhr
Tadel entweder ſo luſtig oder ſo ernſtlich und ſtren-
ge iſt, Jhnen eine recht bequeme Gelegenheit gege-
ben haben, auf eine angenehme und artige Weiſe
auf mich zu ſticheln. Es iſt wahr, ſie geben Gele-
genheit dazu: und ich kan nicht begreiffen, wie mir
eben der Kopf muß geſtanden haben, als meine
Feder ſo wunderlich geſchrieben hat.
Allein ich bitte Sie, hat der Ausdruck viel zu
bedeuten, wenn man gegen keinen eine beſonde-
re Neigung hat, und man ſagt, man gebe eini-
gen einen Vorzug vor andern? Jſt es unrecht,
wenn man ſchreibt, man gebe denen den Vorzug,
denen unſre Anverwandten Grobheiten erzeiget
haben, und die um unſertwillen dieſe Grobheiten
verſchmertzt haben, die ſie ſonſt raͤchen wuͤrden?
Jch kan ja ohne Suͤnde ſagen: Herr Lovelace
verdient den Vorzug vor Herrn Solmes, und ich
ziehe ihn auch wircklich Hernn Solmes vor. Al-
lein hieraus folget noch keinesweges, daß ich in
ihn verliebt ſeyn muͤſſe.
Jch moͤchte in der That nicht gern in ihm ver-
liebt ſein: ich wolte die Welt nicht dafuͤr neh-
men! Denn erſtlich habe ich eine ſehr ſchlechte
Mie-
[105]der Clariſſa.
Meinung von ſeiner Tugend; und ich verdencke
es allen den meinigen, meinen Bruder ausgen om-
men, daß ſie ihm einen Zutritt in unſer Haus ver-
ſtattet haben, der ihm einige Hoffnung geben konte,
ohne daß mir Recht gehabt haͤtten, ihm ſeine Aus-
ſchweifungen vorzuhalten, weil die Hoffnung
noch ſehr entfernt war. Zum andern glaube ich,
daß er ein eingebildeter Menſch iſt, und wenigſtens
bey ſich ſelbſt und heimlich triumphirt, wenn er ein
Hertz beſieget zu haben glaubt. Zum dritten
ſcheint ſeine Beſtaͤndigkeit und Ehrerbitung, wel-
che Sie in Jhrem letztern Briefe ruͤhmen, et-
was hochmuͤthiges an ſich zu haben, gerade
als wenn man ihm dafuͤr dancken muͤßte, daß
er ſich um unſre Gunſt bewuͤrbe, und als wenn
das Hertz eines Frauenzimmers durch ſeine Be-
werbung um ſie ſchon zum voraus bezahlt waͤre.
So bald er nicht auf ſeiner Huth iſt, ſcheint er ſo
zu handeln, als waͤre ſeine Hoͤflichkeit nur etwas
uͤberfluͤßiges, dazu ihm blos ſein Herkommen und
gute Erziehung, und vielleicht die Erziehung mehr
als ſeine eigene Wahl, verbinden. Es hat recht
das Anſehen, als ſolte es nur eine herabgelaſſene
Hoͤflichkeit einer hoͤhern Perſon ſeyn. Sie ſcheint
etwas verborgenes und gezwungenes an ſich zu
haben, das man deſto ſorgfaͤltiger bemercken
muß, weil ihm ſonſt alles ſo gut anſtehet, und
er in allen Dingen ſo natuͤrlich und ungezwungen
iſt. Endlich ſo freundlich er gegen fremde Be-
dienten thun kan, daß ſeine Freundlichkeit ſo gar
bisweilen eine Vertraulichkeit zu werden ſcheint,
G 5die
[106]Die Geſchichte
die jedoch weil ſie etwas vornehmes an ſich hat,
nach Jhrem Urtheil einem Mann von Stande
nicht unanſtaͤndig iſt; ſo zornig kan er auf ſeine ei-
gene Bediente ſeyn. Ein Fluch entfaͤhrt ihm
dann und wann; und man kan den Bedienten an
den Augen abſehen, daß ſie ſich erſchrecken, und daß
er ſchlimmer mit ihnen umgegangen ſeyn wuͤrde,
wenn ich nicht zugegen geweſen waͤre. Er ſelbſt
pflegt auch ein Geſichte dazu zu machen, das einen
in dieſer Vermuthung beſtaͤrckt.
Wahrhaftig, mein Schatz, er iſt kein Mann
fuͤr mich. Jch habe viel gegen ihn einzuwenden.
Um ſeinetwillen wird mein Hertz nicht ſchlagen;
und ich werde im Geſicht nicht roth werden, es
waͤre denn aus Unwillen gegen mich, daß ich Jh-
nen Gelegenheit gegeben habe, dieſen Verdacht
auf mich zu werffen. Allein, meine allerliebſte
Freundin, Sie muͤſſen aus einer Danckbarkeit,
die man jederman ſchuldig iſt, nicht gleich Liebe
machen. Dieſer Gedancke iſt mir unertraͤglich.
Solte ich aber je ſo ungluͤcklich ſeyn, davon uͤber-
zeuget zu werden, daß es dennoch Liebe geweſen,
ſo verſpreche ich Jhnen auf mein Wort, das iſt
bey mir ſo viel als auf meine Ehre, daß ich es
Jhnen nicht verheelen will.
Sie verlangen daß ich den gruͤnen Gang bald
ſuchen ſoll, um Jhnen die Verſicherung zu geben,
daß ich Jhren artigen Schertz nicht uͤbel nehme. Jch
will daher dieſen Brief gleich ſchlieſſen: und ver-
ſpare die Nachricht von den Bewegungs-Gruͤnden
der meinigen, den Antrag des Herrn Solmes mit
ſo
[107]der Clariſſa.
ſo vieler Hefftigkeit durchzutreiben, auf mein
kuͤnfftiges Schreiben. Seyn ſie indes verſichert,
daß ich Jhren Brief nicht uͤbel aufnehme: ich
dancke Jhnen vielmehr von Hertzen fuͤr Jhre treuen
und freundſchaftlichen Erinnerungen und War-
nungen, ja ich bitte Sie, wie ich Sie ſchon oft ge-
beten habe, mir es deutlich zu ſagen, wenn Sie
einen Fehler an mir gewahr werden, den Jhre par-
theyiſche Liebe und Zuneigung zu mir gegen an-
dere entſchuldigen und bemaͤnteln wuͤrde. Denn
ich wollte auch dem Feinde nicht gern Gelegen-
heit geben, uͤbel von mir zu urtheilen. Wie ſoll
ich mich aber behutſam genug auffuͤhren, wenn
meine beſte Freundin mir nicht bisweileu einen
Spiegel vorhalten, und mir meine Maͤngel
entdecken will?
Faͤllen Sie nun ein ſo unpartheyiſches Urtheil
uͤber mich, als ein Fremder faͤllen wuͤrde, der eben
die Umſtaͤnde wuͤßte, die Jhnen bekant ſind. Viel-
leicht wird mir ihr Urtheil zu Anfang weh thun:
vielleicht werde ich erroͤthen, daß ich Jhrer
Freundſchaft unwuͤrdiger bin, als ich zu ſeyn ge-
wuͤnſcht und gehofft habe: allein Jhre guͤtigen
Erinnerungen werden mich doch gewiß zum Nach-
dencken bringen, und ich werde mich beſſern. Thue
ich dieſes nicht, ſo ſollen Sie mich wegen eines ſo
groſſen Vergehens ſchelten, und ich werde keine
Entſchuldigung haben. Wenn Sie mich dieſes
Vergehens ſchuldig befinden und Sie ſcheltẽ mich
nicht, ſo ſind Sie nicht eine ſo aufrichtige Freun-
din von mir, als ich von Jhnen geweſen bin:
denn
[108]Die Geſchichte
denn ich habe Jhrer bey gleicher Gelgenheit nicht
geſchont, wie Sie ſelbſt wiſſen.
Jch beſchlieſſe dieſen Brief um einen andern
anzufangen. Jch verſichere nur noch, daß ich
bin und ſtets ſeyn werde
Dero ergebenſte und danckbarſte
Clariſſa Harlowe.
Der Zwoͤlfte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Wahrhaftig/ Sie wollten nicht in Herrn
Lovelace verliebt ſeyn! ‒ ‒ Jhre Die-
nerin, mein Schatz! Jch wollte auch nicht gern,
daß Sie es waͤren: denn ohngeachtet aller Vor-
zuͤge, die ihm ſeine perſoͤnlichen Eigenſchaften,
ſeine Guͤter und ſein Stand geben, glaube ich nicht
daß er Jhrer auf einige Weiſe werth ſey. Dis iſt
meine Meinung, ſo wohl um der Urſachen willen,
die Sie ſelbſt erwaͤhnen, und die ich voͤllig fuͤr
richtig halte, als auch wegen einer Nachricht die
ich vor venigen Stunden von der Frau Forteſ-
cue, einer Freundin der Lady Lawrance/ ge-
hoͤrt habe, die ihn ſehr genau kennet. Erlauben Sie
mir anbey, Jhnen meinen ſchuldigen Gluͤckwunſch
abzuſtatten, daß Sie das erſte mir bekannt gewor-
dene
[109]der Clariſſa.
dene Frauenzimmer ſind, welches die Liebe, die
ſonſt ein Loͤwe zu ſeyn pflegt, in ein Schoos-
Huͤndchen hat verwandeln koͤnnen.
Sie wiſſen nichts von einem Schlagen des
Hertzens/ nichts von Roͤthe: Sie ſind nicht
verliebt. Dis hat ſeinen hinlaͤnglichen Grund:
denn Sie wollen/ Sie haben ſich einmahl ent-
ſchloſſen, nicht verliebt zu ſeyn. Was laͤßt ſich
mehr von der Sache ſagen? Nur, mein Schatz,
ich werde ſehr genau auf Sie Acht haben, und ich
hoffe, Sie werden ſich ſelbſt eben ſo ſcharf ſeyn:
denn es iſt noch kein Beweiß, daß man in der
That nicht verliebt ſey, weil man nicht will verliebt
ſeyn. Nur noch ein Wort Jhnen ins Ohr, mein
allerliebſter Schatz, ehe ich gantz aufhoͤre von der
Liebe zu ſchreiben, die ich Jhnen Schuld gebe.
Die Vorſichtigkeit befielt uns zu glauben, und
die gemeine Erfahrung beſtaͤrckt es, daß ein Zu-
ſchauer beſſer von dem Spiel urtheilen koͤnne, als
die Partheyen. Jſt es nicht moͤglich, daß Sie mit
ſo wunderlichen Koͤpfen zu thun gehabt haben,
daß Sie ſelbſt nicht darauf mercken koͤnnen, wenn
Jhnen das Hertz ſtaͤrcker geſchlagen hat?
Oder, da Jhnen das Hertz um zwey gantz verſchie-
dener Urſachen willen hat ſchlagen koͤnnen, iſt es
nicht moͤglich, daß Sie die gefuͤhlten Schlaͤge aus
der unrichtigen Urſache hergeleitet haben?
Sie moͤgen Herrn Lovelace hoch ſchaͤtzen, odeꝛ
nicht; ſo werden Sie doch nun ſchon ungeduldig
ſeyn, daß ich noch nichts von meiner Unterredung
mit Frau Forteſcue gemeldet habe. Jch will Sie
nicht laͤnger in Zweifel halten.
Sie
[110]Die Geſchichte
Sie weiß hundert wilde Streiche von ſeiner
Kindheit an, bis in ſein erwachſenes Alter: denn
ſie ſagt, weil ihm niemand durch den Sinn gefah-
ren waͤre, ſo haͤtte er eine Menge poßirlich und
albern Zeug angefangen, und waͤre eine rechte
Meer-Katze vom Jungen geweſen. Jch will alle
dieſe kindiſche Schelmereyen uͤbergehen, obgleich
ſich viel daraus ſchlieſſen laͤßt: und will nur ei-
nige Jhnen theils bekante theils unbekante Nach-
richten aus ihrem Munde erzehlen, und ein paar
Anmerckungen daꝛuͤber machen.
Frau Forteſcue geſtehet das, was jedermann
von ihm weiß, daß er ein Herr von ſehr luſtiger
Lebens-Att ſey, und das er dieſes ſelbſt nicht leugne.
Sie ſagt aber, wenn er ſich etwas angelegen ſeyn
laſſe, oder etwas unternehme, ſo ſey kein fleißigerer
und beſtaͤndigerer Menſch unter der Sonne zu
finden als er. Er pflegt eben ſo wie Sie nur ſechs
Stunden zu ſchlaffen. Schreiben, iſt ſein Ver-
gnuͤgen: wenn er ſeinen Onckle, oder Lady La-
wrance/ oder Lady Sadleir beſucht, ſo findet
man ihn immer mit der Feder in der Hand, ſo bald
er ſich aus der Geſellſchaft wegbegeben hat. Einer
von ſeinen beſten Bekannten hat ihr viel davon
erzehlt, daß er gern ſchreibe, mit dem Zuſatz: die
Gedancken floͤſſen ihm Stromweiſe in die
Feder. Sie wiſſen, daß wir uns einige mahl
daruͤber gewundert haben, daß er eine ſo ſchoͤne
Hand hat, ob er gleich ſo geſchwinde ſchreibt.
Er muß in der erſten Kindheit bereits einen un-
vergleichlichen Kopf gehabt, und alles ſehr leicht
gelernt
[111]der Clariſſa.
gelernt haben: denn ein ſo luſtiger und feuriger
junger Menſch hat ſich gewiß nicht viel Muͤhe ge-
geben, die Geſchicklichkeit zu erlangen, die er be-
ſitzt, und die man ſelten bey jungen Herren von
Stande und Vermoͤgen findet, ſonderlich bey de-
nen, die ſo viel Willen gehabt haben, als er.
Als er einmal wegen ſeiner Geſchicklichkeit
und wegen des ausnehmenden Fleiſſes gelobet
ward, den er mit einer ſo luſtigen Lebens-Art ver-
bindet, beging er die Schwachheit, ſich mit Ju-
lius Caͤſar zu vergleichen, der des Tages uͤber
groſſe Thaten gethan und ſie des Nachts aufge-
zeichnet haͤtte. Er meynte ſo gar, es fehle ihm
nichts als der erſte Auftrit/ den Julius Caͤ-
ſar in der Welt gehabt haͤtte: wenn er den
nur haͤtte/ ſo wollte er Aufſehens genug in
unſerer Zeit machen. Er ſagte dieſes zwar als
im Schertz: denn Frau Forteſcue machte eben
die Anmerckung uͤber ihn, die wir ſchon gemacht
haben, daß er die Kunſt beſaͤſſe, ſeine Prahlerey
auf eine luſtige Weiſe zu erkennen und ſich ſelbſt
damit aufzuziehen. Hiedurch entgeht er der Ver-
achtung, die ſonſt auf Prahlerey und Eigenliebe
zu folgen pflegt: und zugleich macht er doch an-
dern bey nahe weiß, daß er in der That den Ruhm
verdiene, den er ſich nur im Schertz giebt.
Jch will ſetzen, daß dieſer Ruhm wahr ſey,
und daß er die Stunden, die er vom Schlaf ab-
brechen kan, zum ſchreiben anwendet: ſo moͤch-
te ich doch wiſſen, was er fuͤr Materie zum ſchrei-
hen hat. Schreibt er ſeine eigenen Thaten auf,
wie
[112]Die Geſchichte
wie Julius Caͤſar: ſo muß er gewiß ein ſehr
gottloſer Menſch ſeyn, und ſich viel unerlaubtes
unterſtehen. Denn niemand hat ihn im Verdacht,
daß ernſthafte und gute Handlungen ein angeneh-
mer Zeitvertreib fuͤr ſein wildes Gemuͤth ſeyn.
So anſtaͤndig ſein Betragen in Geſellſchaft iſt,
ſo glaube ich doch nicht, daß ſeine Papiere ihm zu
Ehren und andern zum Beſten gereichen moͤchten,
wenn ſie ſollten geleſen werden. Er muß dieſes
ſelbſt wiſſen: denn Frau Forteſcur erzehlet: daß
er ohngeachtet ſeines ſtarcken Briefwechſels doch
mit ſeinen Briefen ſo heimlich ſey, als wenn lau-
ter Hoch-Verrath darin enthalten waͤre: und den-
noch zerbraͤche er ſich den Kopf nie uͤber Staats-
Sachen, ob er gleich die Abſichten der Hoͤfe ſehr
genau habe kennen lernen.
Es iſt kein Wunder, mein Schatz, wenn wir
beyde am Schreiben Vergnuͤgen finden, da wir,
ſo bald wir nur eine Feder in der Hand halten
konten, uns ſtets durch einen angenehmen Brief-
wechſel die Stunden verkuͤrtzt haben. Wir ha-
ben mit haͤußlichen Sachen zu thun: und wir koͤn-
nen das Papier mit hundert unſchuldigen Dingen
verderben, die uns deswegen angenehm ſcheinen,
weil ſie unſchuldig ſind, ob ſie gleich andern weder
zum Nutzen noch Vergnuͤgen gereichen wuͤrden,
wenn ſie in fremde Haͤnde fielen. Aber das iſt
mir unbegreiflich, daß ein lebhafter junger Herr,
der gern reitet, jaget, reiſet, ſich bey oͤffentlichen
Luſtbarkeiten befindet, und die Mittel hat, ſich ein
Vergnuͤgen zu machen, dennoch etliche Stunden
an
[113]der Clariſſa.
aneinander ſtille ſitzen und ſchreiben kan, wie er
nach ſeiner eigenen Erzehlung oͤfters thut.
Frau Forteſcue erzehlte noch ferner: er ſey
vollkommen Meiſter von der abgebrochenen
Schreib-Art. Was koͤnte doch einer, der ohne-
hin ſo geſchwind ſchreibt als er, fuͤr Urſachen
haben, noch die abgebrochene Hand zu lernen?
Sie ſagt: er habe ein erſtaunendes Gedaͤcht-
niß, und eine ſehr lebhafte Einbildungs-Kraft:
davon wir auch ſchon Proben gehabt haben.
Jndeſſen, was er auch ſonſt fuͤr Laſter haben
mag, ſo ſagt Frau Forteſcue von ihm, was ihm
jederman nachruͤhmet: daß er ſich nie im Trunck
uͤbernehme. Unter ſeine uͤbeln Eigenſchaften ge-
hoͤrt das Spielen nicht mit, dadurch andere Zeit
und Gut verſchwenden. Seine Ueberlegung kan
demnach ſo reif, und ſein Verſtand ſo aufgeklaͤrt
ſeyn, als es irgend ſein noch junges Alter und ſei-
ne natuͤrliche Munterkeit zulaͤßt: und weil er des
Morgens ſehr fruͤh aufſtehet, muß er viel Zeit
uͤbrig behalten, die er mit Schreiben oder mit
aͤrgern Beſchaͤftigungen zubringen kan.
Frau Forteſcue ſagt: daß er ſonderlich mit ei-
nem Herrn ſehr genau bekannt ſey, und mit ihm
einen ſehr vertrauten Brief-Wechſel unterhalte.
Jhnen wird hiebey die Nachricht einfallen die der
abgedanckte Paͤchter von ihm und ſeinen guten
Freunden gegeben hat. Je mehr ich von ihm
in Erfahrung bringe, deſto richtiger befinde ich
alles, was dieſer Mann von ihm geſagt hat.
Auch darin ſtimmet Frau Forteſcue mit jenem
Erſter Theil. HPaͤchter
[114]Die Geſchichte
Paͤchter uͤberein, daß ſich ſeine Anverwandten ſehr
vor ihm fuͤrchten, und daß ſein Hochmuth ihm
nicht zulaſſe, einige Gefaͤlligkeiten von ihnen an-
zunehmen, dadurch er ihnen verpflichtet wuͤrde.
Sie glaubt, daß er von Schulden gantz frey
ſey, und auch kuͤnftig keine wieder machen wer-
de: ohne Zweifel um eben der Urſache willen,
die ihn abhaͤlt, ſeinen Verwandten einigen
Danck ſchuldig zu ſeyn.
Wer geneigt iſt, das Beſte von ihm zu den-
cken, der wird ſagen: Ein braver/ gelehrter
und fleißiger Herr koͤnne unmoͤglich von Natur
laſterhaft ſeyn. Allein wenn er beſſer iſt, als ſeine
Feinde ſagen, (iſt er ſchlimmer, ſo iſt er wahrhaftig
ſchlimm genung) ſo iſt er deswegen nicht zu ent-
ſchuldigen, daß er fuͤr ſeine Ehre ſo unbeſorgt iſt.
Nur zwey Urſachen koͤnnen hievon angegeben wer-
den: Entweder ſein Gewiſſen muß ihm ſagen,
daß es wahr ſey, was man ihm boͤſes nachre-
det; oder er muß eine Ehre darin ſuchen, daß er
fuͤr laſterhaft gehalten wird. Sowol dieſes als
jenes iſt eine ſchlimme Anzelge. Das erſte zei-
get ein gantz ruchloſes Gemuͤth an, und in dem
zweyten Fall muß man den Schluß machen, daß
er ſich nicht ſchaͤmen werde, daß zu begehen,
wenn er Gelegenheit hat, was er ſich nachſagen
zu laſſen, nicht ſchaͤmet.
Alles zuſammen genommen, was wir ſonſt
wiſſen, und was ich von Frau Forteſcue gehoͤrt
habe, ſo muß Lovelace ein ſehr laſterhafter Menſch
ſeyn. Wir beyde haben die Meynung von ihm
ge-
[115]der Clariſſa.
gehabt, daß er viel zu luſtig, viel zu unbedaͤchtig
und wild, und viel zu wenig ein Heuchler ſey, als
daß man ihn nicht ſolte ausforſchen koͤnnen. Sie
ſehen, daß er ſeinen natuͤrlichen Hochmuth nie-
mals verborgen hat, und wen̄ ſich Jhr Bruder un-
gebuͤhrlich gegen ihn aufgefuͤhret hat: wen er eini-
ger Verachtung werth haͤlt, den bezahlt er mit der
aͤuſſerſten Verachtung, und er iſt nicht einmal ſo
hoͤflich geweſen, daß er Jhres Herrn Vaters Bruͤ-
der geſchonet haͤtte. Er mag aber auch noch ſo
tief und unergruͤndlich ſeyn, ſo wuͤrden Sie ihn
doch bald ausforſchen, wenn man Sie nur han-
deln lieſſe, wie Sie ſelbſt wollten. Sie wuͤrden
ſeinen eitelen Hochmuth als einen Schluͤſſel zu ſei-
nem Hertzen gebrauchen koͤnnen. Jch habe nicht
leicht einen Menſchen geſehen, der lieber geprahlt
hat; und doch kommt nicht leicht jemand mit ſei-
ner Prahlerey gluͤcklicher durch als er, welches auch
Frau Forteſcue anmerckte. Jn ſeinen Prahle-
reyen herrſcht ein lebhafter und luſtiger Schertz:
ein anderer wuͤrde unertraͤglich ſeyn, wenn er nur
halb ſo viel von ſich ſelbſt ſpraͤche, als er zu thun
pfleget, ſo oft er dazu aufgeraͤumt iſt.
Wenn man von dem Wolfe redet/ ſo kuckt
er durch die Hecken. Der muntere Schelm
hat mich beſucht, und iſt eben weggegangen. Er
iſt voll Ungedult und Rachgier, daß man mit Jh-
nen ſo uͤbel umgehet, und voller Furcht, daß Sie
ſich doch endlich werden uͤbertaͤuben laſſen. Jch
ſagte Jhm meine Meynung, daß Sie niemals an
H 2einen
[116]Die Geſchichte
einen ſolchen Menſchen, als Solmes iſt, nur
dencken wuͤrden, und daß Sie ſich vermuthlich
mit Jhren Verwandten vergleichen wuͤrden,
weder jenen noch ihn zu nehmen.
Er antwortete, er glaube nicht, daß jemahls
ein Mann von ſeinen Mitteln und Stande ſo
wenig Gunſt von einem Frauenzimmer habe
erhalten koͤnnen, um deren willen er doch ſo viel
ausgeſtanden haͤtte.
Jch ſagte ihm ſo frey, als ich zu thun pflege,
meine Meynung Allein, wer wird ſich ſelbſt
Unrecht geben? Er beklagte ſich, daß man Spio-
nen ausgeſchickt habe, die ſich nach ſeinen Um-
ſtaͤnden und Auffuͤhrung haͤtten erkundigen muͤſ-
ſen, und daß dieſes Jhr Bruder und Jhres
Herrn Vaters Bruͤder gethan haͤtten.
Jch ſagte: dieſes koͤnnte ihn nicht anders,
als ſehr verdrieſſen, weil vielleicht beydes in der
Pruͤfung ſchlecht beſtehen wuͤrde. Er antwortete
mit laͤcheln: Gehorſamer Diener! Die Gelegen-
heit war zu gut, als daß Fraͤulein Howe/ die
meiner nie geſchont hat, ſie vorbey gehen laſſen
ſollte: Aber GOtt ſey den armen Seelen gnaͤ-
dig! Koͤnnen ſie es wohl glauben? Sie hoffen an
mir zu Schelmen zu werden. Sie moͤgen ſich
in Acht nehmen, daß ich ſie nicht mit baarer
Muͤntze bezahle. Jhr Hertz iſt zu dergleichen
Raͤncken aufgelegter, als ihr Kopf.
Jch fragte ihn: machen ſie ſich etwan eine
Ehre daraus, daß ihr Kopf beſſer zu ſelchen
Raͤncken aufgelegt iſt?
Er
[117]der Clariſſa.
Er zog zuruͤck, und that weiter nichts, als
daß er von ſeiner Ehrfurcht und Liebe gegen Sie
redete. Der Gegenſtand derſelben iſt ſo vortreff-
lich, daß ich keinen Zweifel in ſeine Betheurun-
gen ſetzen kann.
Leben Sie wohl, meine wertheſte und vortreff-
liche Freundin. Jch liebe, und bewundere Sie
mehr, als ich es ausdruͤcken kan, wegen des recht
edlen Schluſſes ihres letzteren Briefes. Jch fing
dieſen Brief mit einem ausgelaſſenen Schertz an,
weil ich weiß, daß Sie meiner Thorheit viel zu
gute halten. Aber nie iſt ein Hertz mehr von
der zaͤrtlichſten Liebe angefeuret worden, als das
Hertz der
Jhnen
gantz eigenthuͤmlichen
Anna Howe.
Der dreyzehente Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe/
Jch ergreiffe die Feder wieder, um Jhnen die
Urſachen zu berichten, die alle meine Ver-
wandten bewogen haben, den Antrag des Herrn
Solmes mit ſo groſſer Hefftigkeit zu unterſtuͤ-
tzen.
H 3Jch
[118]Die Geſchichte
Jch werde in die vergangene Zeit zuruͤckgehen
muͤſſen, um dieſe Sache ins Licht zu ſetzen; und
vielleicht ſind Jhnen einige Umſtaͤnde ohnehin be-
kannt, die ich um des Zuſammenhanges willen
anfuͤhren muß. Mein jetziges Schreiben kan eine
Ergaͤntzung deſſen ſeyn, was ich in meinen Brie-
fen vom 15ten und 20ten Jan. ausgelaſſen habe.
Jch ſehe aus dem kurtzen Auszuge, den ich von
dieſen Briefen behalten habe, daß ich Jhnen be-
reits von der Unverſoͤhnlichkeit meines Bruders
und meiner Schweſter Nachricht gegeben habe,
wie auch von den mir bekannt gewordenen Kuͤn-
ſten, dadurch ſie ihn bey meinen uͤbrigen Verwand-
ten anzuſchwaͤrtzen geſucht haben. Jch habe unter
andern gemeldet, daß ſie ſich zu Anfang kaltſinnig
gegen ihn bewieſen haben, doch ohne ihn eigentlich
zu beleidigen: und daß ſie auf einmahl heftiger ge-
worden, und ihm auf das ſchimpflichſte begegnet
ſind, bis zuletzt die ungluͤckliche Schlaͤgerey zwi-
ſchen ihm und meinem Bruder erfolget iſt.
Jn meiner letzten Unterredung mit meiner Mut-
ter Schweſter habe ich erfahren, daß dieſe unver-
muthete Veraͤnderung in der Auffuͤhrung meines
Bruders und meiner Schweſter nicht aus einer
alten Univerſitaͤts-Feindſchafft, oder aus verach-
teter Liebe, ſondern aus andern und ſtaͤrckern Urſa-
chen herzuleiten iſt, nemlich aus einer Beyſorge,
daß meines Vaters Bruͤder dem Beyſpiel meines
Grosvaters in Abſicht auf mich zu folgen geneigt
ſeyn moͤchten, und daß ſie wenigſtens mehr thun
moͤchten, als mein Bruder und Schweſter wuͤnſch-
ten.
[119]der Clariſſa.
ten. Es ſcheinet, daß dieſe Furcht aus einer Un-
terredung zwiſchen meines Vaters Bruͤdern, mei-
nem Bruder, und meiner Schweſter entſtanden
ſey. Frau Hervey hat mir davon im Vertrauen
Nachricht gegeben, mich um deſto eher dahin zu
vermoͤgen, daß ich die von Herrn Solmes vorge-
ſchlagenen unvergleichlichen Bedingungen anneh-
men moͤchte. Sie haͤlt mir unter andern vor, daß ich
meines Bruders und meiner Schweſter Abſichten
zunichte machen, und meines Vaters, und meiner
Onckles Wohlgewogenheit unverruͤckt behalten
koͤnnte, wenn ich nur zu rechter Zeit gegeñ ſie ge-
faͤllig ſeyn wollte.
Jch will Jhnen den Jnhalt ihrer Erzaͤhlung
mittheilen, wenn ich vorher ein paar Anmerckun-
gen werde gemacht haben, die vielleicht Jhrenthal-
ben nicht noͤthig waͤren, wenn ſie nicht der Zuſam-
menhang meiner Erzaͤhlung erfoderte.
Sie wiſſen ſchon, worauf alle Abſichten der
meinigen gerichtet ſind, nemlich darauf, daß wir
unter den Geſchlechten des Koͤnigreichs ei-
nen Platz bekommen moͤgen: ein Ausdruck,
der unſerer Familie, die doch auch nicht ſchlecht
oder neu iſt, ſonderlich von meiner Mutter Seite,
wenig Ehre bringt. Jndes iſt es die gewoͤhnliche
Abſicht bemittelter Familien, die ohne Rang und
Titel nicht vergnuͤgt ſeyn koͤnnen. Meines Vaters
Bruͤder hatten die Abſicht, ein jedes von uns drey
Kindern unter dem hohen Adel zu ſehen: denn ſie
meinten, da ſie ſelbſt unverheyrathet waͤren, ſo
koͤnnten ſie uns ſo wohl verſorgen, und ſo vor-
theilhaft verheyrathen, daß wenigſtens unſere
H 4Nach-
[120]Die Geſchichte
Nachkommen dereinſt den erſten Rang in dem
Koͤnigreich erlangen moͤchten. Hingegen glaubte
mein Bruder, als der einzige Sohn, wir beyden
Maͤdchens waͤren uͤberfluͤßig reichlich bedacht,
wenn ein jedes zehn oder funfzehn tauſend Pfund
mit bekaͤme: und ſo wuͤrden die liegenden Gruͤnde
der Familie, die mein Grosvater, mein Vater und
deſſen Bruͤder beſaͤſſen, nebſt dem was noch ſonſt
an Barſchafft nach Abzug der uns zugedachten
funfzehntauſend Pfund uͤbrig blieb, mit dem Gu-
te ſeiner Pathe, darauf er die Anwartſchafft hat-
te, zuſammen genommen, ſo viel ausmachen, und
ihm ſo viel Anſehen und Freundſchaft erwerben,
daß er hoffen koͤnnte ein Lord zu werden. Denn
ohne dieſen Titel konnte ſein Ehrgeitz nicht befrie-
diget werden.
Bey dieſer Abſicht that er ſchon zum voraus
gantz vornehm. Er ließ ſich mercken: „daß ſein
„Grosvater und ſeines Vaters-Bruͤder nichts
„anders als ſeine Haushalter waͤren, die er ſich nie
„beſſer wuͤnſchen moͤchte. Die Toͤchter waͤren nur
„eine Laſt der Familien: ſie waͤren der Abzug
„vom Capital.„ Er hatte ſonderlich einen nieder-
traͤchtigen Ausdruck oft im Munde, und ſchien ſich,
ſo oft er ihn vorbrachte, ſo wohl zu gefallen, als ir-
gend Leute thun koͤnnen, die andern ihre gluͤckli-
chen Einfaͤlle mittheilen: „wer nemlich, Soͤhne
„erzoͤge, der futterte Huͤner auf ſeinen Tiſch:„ (ich
fragte ihn einmahl: ob er ihnen auch endlich den
Hals abſchneiden muͤßte, damit das Gleichniß
ſich recht ſchicken moͤchte?) „die Toͤchter aber
„waͤ-
[121]der Clariſſa.
„waͤren Huͤner fuͤr anderer Leute Tiſch.„ Er pfleg-
te noch die hoͤfliche Anmerckung dazu zu ſetzen:
„Man muͤſſe die Guͤter der Familien mit in den
„Kauf geben, damit ſie nur jemand nehmen moͤch-
„te.„ Dieſer Ausdruck pflegte meine aͤltere
Schweſter gantz auſſer ſich zu ſetzen: und ob es
gleich ſcheint, daß ſie jetzt dafuͤr haͤlt, es koͤnne nur
die juͤngſte Schweſter eine Laſt der Familie ſeyn, ſo
trug ſie mir doch damahls oft an, eine Parthey in
unſerm Hauſe gegen die unerſaͤttlichen Abſichten
meines Bruders zu machen. Jch wollte aber ſei-
ne freyen Reden blos fuͤr einen luſtigen Schertz
anſehen, und ſagte, es waͤre mir lieb, einen jungen
Menſchen, der ſelten aufgeraͤumt ſey, einmahl
ſchertzen zu hoͤren: oder hoͤchſtens hielt ich ſie fuͤr
eine Schwachheit, die man nicht mit Unwillen
ſondern mit Auslachen abweiſen muͤßte.
Mein Bruder ward ſehr ungehalten auf mich,
als das Teſtament meines Grosvaters einen Theil
der Guͤter, die er ſchon in Hoffnung beſaß, ver-
aͤuſſert hatte: denn der Theil des Teſtament in
welchem er mich bedacht hatte, war vorhin gantz
unbekannt, und ich ſelbſt hatte nichts davon ge-
wuſt. Es iſt wahr, niemand war voͤllig mit die-
ſem Willen meines Grosvaters zufrieden. Denn
ob ich gleich bey allen beliebt war, ſo meinten
doch Vater, Onckles, Bruder, Schweſter ins-
geſamt, ſie waͤren mir als dem juͤngſten Kinde
nachgeſetzt, und es waͤre wenigſtens ihren Rech-
ten zu nahe getreten, und ihnen die Haͤnde gebun-
den, daß ſie nicht mit dem Gute thun koͤnnten was
H 5ſie
[122]Die Geſchichte
ſie wollten. Und wer wuͤnſcht ſich nicht die Macht,
das was er fuͤr das ſeinige angeſehen hat wenig-
ſtens ſelbſt verſchencken oder vermachen zu koͤnnen.
Auch meinem Vater war es unertraͤglich, daß ich
nun vor mich ſolte leben koͤnnen, und ſeiner ſo zu
reden nicht noͤthig haͤtte: denn freylich machte
mich der Wille meines Grosvaters gantz frey und
ungebunden, da mir das Gut mit voͤlliger Gewalt
uͤbergeben ward, und ohne daß ich jemand Rechen-
ſchafft davon ſchuldig ſeyn ſollte. Daß dieſes die
Meinung des Teſtaments ſey, erkannten da-
mahls alle die meinigen.
Damit ich nun allen Verdruß vermeiden moͤchte,
ſo uͤbergab ich nicht nur das Gut der Aufſicht und
Verwaltung meines Vaters, ſondern auch das
mir vermachte Geld, welches die Haͤlfte des Gel-
des war, das mein Grosvater bey ſeinem Tode
baar in ſeinem Hauſe hatte; denn die andere Haͤlf-
te hatte er an meine Schweſter vermacht. Jch
wollte mit dem vergnuͤgt ſeyn, was mir mein Va-
ter aus bloſſer Guͤtigkeit wuͤrde zuflieſſen laſſen,
und ich verlangte nicht einmahl eine Zulage zu
meinem Taſchen-Gelde. Jch meinte, daß ich
allen Neid gleichſam eingewiget haͤtte: allein
mein Bruder und meine Schweſter wurden, wie
ich nun einſehe, nur noch neidiſcher auf die Liebe
die meines Vaters Bruͤder auf mich wurfen, und
auf das Vergnuͤgen, das ſie und mein Vater we-
gen der von meinem Gehorſam gegebenen Pro-
be bezeugeten. Bey aller Gelegenheit waren ſie
alſo bereit, mir heimlich Verdruß zu erwecken.
Jch
[123]der Clariſſa.
Jch ließ mich aber dis nicht ſehr anfechten: denn
ich meinte, nachdem die Urſache aus dem Wege
geraͤumet waͤre, die ſie hatten auf mich neidiſch
zu ſeyn, ſo waͤre alles nur eine Frucht des Muth-
willens, der meinem Bruder und meiner Schwe-
ſter ſo natuͤrlich iſt.
Bald darauf erbte mein Bruder das Gut ſei-
ner Pathe. Das war fuͤr uns alle ein Gluͤck:
und noch ein groͤſſeres Gluͤck war es, daß er nach
Schottland reiſete, um es in Beſitz zu nehmen,
und eine ſo angenehme Urſache hatte lange auszu-
bleiben. Der Lord M. that darauf den Antrag
wegen meiner Schweſter; und das war ein aber-
mahliges Gluͤck von kurtzer Dauer fuͤr uns alle,
denn meine Schweſter war damahls auſſerordent-
lich aufgeraͤumet, wie ich Jhnen ſchon gemeldet
habe.
Sie wiſſen, wie es mit dieſem Vorſchlage abge-
lauffen, und was an deſſen Stelle gekommen iſt.
So bald mein Bruder aus Schottland zuruͤck-
gekommen war, ſo war alles wieder uneinig. Mei-
ne Schweſter Arabella wuſte ſich gegeu meinen
Bruder anzuſtellen, als wenn ſie Herrn Love-
lace wegen ſeines unordentlichen Lebens abſchlaͤ-
gige Antwort gegeben haͤtte. Dieſes vereinigte
meinen Bruder und meine Schweſter, daß ſie
wieder mich gemeinſchaftliche Sache machen kon-
ten. Sie gaben ſich Muͤhe, Herrn Lovelace
und ſo gar ſeine Familie (welche doch gewiß alle
Hochachtung verdient) bey jeder Gelegenheit her-
unter zu ſetzen und veraͤchtlich zu machen. Die-
ſes
[124]Die Geſchichte
ſes veranlaſſete einigen Wortwechſel zwiſchen ih-
nen und meines Vaters Bruͤdern. Jch will Jh-
nen den kurtzen Jnhalt desjenigen melden, was
meines Vaters Bruͤder damals geſagt haben ſol-
len, und nur noch erinnern, daß dieſe Unterredung
kurtz vor der Schlaͤgerey meines Bruders, und
gleich nachher vorgefallen iſt, nachdem ſich mein
Bruder wegen der Umſtaͤnde des Herrn Lovelace
erkundigt, und eine beſſere Nachricht, als ihm lieb
war, ſeinetwegen eingezogen hatte.
Mein Bruder und meine Schweſter zogen heftig
auf Hrn. Lovelace loos, und fuͤgten einige neue
Erzaͤhlungen, die ihm zu ſchlechtem Ruhm gereich-
ten, als einen Beweis zu ihren Laͤſterungen gegen
ihn hinzu. Nachdem mein Onckle Anton ſie gedul-
dig ausgehoͤꝛt hatte, eꝛwiedeꝛte er: er glaube dieſer
Cavallier fuͤhre ſich auf/ wie ſichs fuͤr einen
Cavallier gebuͤhre: und Claͤrchen bewieſe
ſich recht verſtaͤndig. Er haͤtte ihnen ſchon
oft geſagt, daß man keine erwuͤnſchtere Par-
they ausdencken koͤnnte/ wenn man auf die
Ehre der Familie ſehen wollte. Herr Love-
lace haͤtte von ſeinem Vater ſchoͤne Guͤter
von denẽ ſelbſt ein Feind bezeuget haͤtte, daß
keine Schulden darauf hafteten. Er ſcheine
auch nicht ſo ſchlimm und laſterhaft zu ſeyn
als man ihn gemeiniglich abmahlte. Er ſey
zwar wild; allein es waͤren die Raſejahre bey
ihm noch nicht vorbey: und er ſey verſichert,
ſeines Bꝛudeꝛs Tochteꝛ wuͤꝛde keine Neigung
zu ihm haben, wenn ſie nicht mit Grund
glau-
[125]der Clariſſa.
glauben koͤnnte/ daß er ſich gebeſſert haͤt-
te/ oder ſich wenigſtens durch ihr Exem-
pel gewinnen laſſe und beſſern wuͤrde.
Meine Baſe erzehlet mir, daß er hiebey eine
Probe von Herrn Lovelaces Grosmuth ange-
fuͤhret habe, um zu beweiſen, daß er ſo ſchwartz
nicht ſeyn koͤnnte, als man ihn vorzuſtellen pfieg-
te, und daß er (wie mein Onckle es ausdruͤckte)
etwas gleiches mit mir im Gemuͤth haͤtte. Mein
Onckle ſtellete ihm nemlich einmal vor, daß ſeine
Guͤter des Jahrs drey bis vier hundert Pfund
mehr Pacht geben koͤnnten, und daß er dieſes von
dem Lord M. gehoͤrt haͤtte. Er antwortete aber:
„ſeine Paͤchter haͤtten bisher die Pacht richtig be-
„zahlt: und er wollte bey der Gewohnheit ſeiner
„Familie bleiben, den alten Pachtern und ihren
„Kindern die Pacht nicht ſo aufzutreiben, daß
„ſie Bettler werden muͤſten. Er habe ſeine
„Freude daran, wenn alle ſeine Paͤchter dick
„und fett wuͤrden, und vergnuͤgt ausſaͤhen.
Jch ſelbſt habe eben dergleichen einmal aus
ſeinem Munde gehoͤrt: und mir hat er nie beſ-
ſer gefallen, als da er es ſagte, nur ein eintziges
mahl ausgenommen.
Ein ungluͤcklich gewordener Paͤchter ſuchte bey
meinem Onckle Anton um Nachſicht an, als Herr
Lovelace eben zugegen war: er muſte aber mit
einer abſchlaͤgigen Antwort weggehen. Herr
Lovelace ſtellete hierauf ſeine Sache ſo gut und
nachdruͤcklich vor, daß mein Onckle ihn wieder
herein ruffen ließ, und ihm ſeine Bitte zugeſtand:
darauf
[126]Die Geſchichte
darauf folgte er ihm ohne viel Umſtaͤnde zu ma-
chen bis auf den Vorſaal nach, und gab ihm vors
erſte zu ſeiner Nothdurft zwoͤlf Thaler; denn der
Mann hatte ſich verlauten laſſen, er habe alles in
allem keine zwey Gulden mehr uͤbrig.
Bey dieſer Gelegenheit erzehlte Herr Lovelace
ohne einigen Schein der Prahlerey das gute
Werck, deſſen ich vorhin gedachte. Er ſahe einen
alten Paͤchter mit ſeiner Frau ſehr ſchlecht gekleidet
in der Kirche. Des andern Tages fragte er ihn um
die Urſache eines ſo ſchlechten Aufzuges, weil er
wuſte, daß der Mann keine ſchwere Pacht haͤtte.
Er antworte: er habe in guter Meynung eine
groſſe Thorheit begangen, die ihn ſo zuruͤck ge-
bracht haͤtte, daß er die Pacht nicht wuͤrde haben
bezahlen koͤnnen, wenn er ſich beſſer haͤtte kleiden
wollen. Herr Lovelace erkundigte ſich, wie viel
Zeit er etwan brauchte, um die Thorheit gut zu
machen, und ſich wieder zu erholen. Der Paͤchter
meinte: ohngefaͤhr zwey oder drey Jahr. Wohl!
ſagte er: Jch will ihm ſieben Jahr lang alle
Jahr fuͤnf Pfund an der Pacht erlaſſen/
aber er ſoll es fuͤr ſich und ſeine Frau an-
wenden/ daß man des Sonntags an der
Kleidung ſehen koͤnne/ daß er mein Paͤch-
ter iſt. Unterdeſſen nehme er dieſes weni-
ge an (er zog fuͤnf Guineas aus der Taſche)
um ſich gleich beſſer kleiden zu koͤnnen. Den
kuͤnftigen Sonntag muß ich ihn und ſeine
Frau als ein liebes Paar in der Kirche
ſehen: und ich bitte ihn/ daß er nach
dem
[127]der Clariſſa.
dem Gottes-Dienſt bey mir vorlieb
nimmt.
Dis gefiel mir ſehr wol, weil er in dieſer
Handlung ſich freygebig und doch auch verſtaͤndig
auffuͤhrte, und, wie'mein Onckle ſehr richtig an-
merckte, die jaͤhrliche Pacht des Gutes nicht her-
unterſetzte. Dem ohngeachtet ſchlug mir das Hertz
nicht dabey, und ich bekam keine Roͤthe ins Ge-
ſicht. Sie koͤnnen mir auf mein Wort glau-
ben. Aber das muß ich Jhnen geſtehen, daß ich
heimlich zu mir ſagte: wenn es mein Verhaͤngniß
waͤre, dieſen Mann zu kriegen, ſo wuͤrde er mich
nicht abhalten mir durch Wohlthaten ein Ver-
gnuͤgen zu machen. Es iſt Schade, daß ein
Herr, der ſo viel gutes an ſich hat, nicht in
allen Stuͤcken tugendhaft iſt.
Vergeben Sie mir, daß ich mich bey einem Ne-
ben-Umſtande ſo weitlaͤufftig aufgehalten habe.
Jch komme wieder auf die Unterredung meines
Onckles mit meinen Geſchwiſtern: Er ſagte noch
weiter: Herr Lovelace habe auſſer ſeinem
Stamm-Gute noch ſehr ſchoͤne Erbſchaff-
ten zu erwarten. Als er um Arabellen ange-
halten/ habe ihm der Lord M. geſagt/ was
ſowohl er ſelbſt als ſeine beyden Halbſchwe-
ſtern fuͤr ihn zu thun geſinnet waͤren/ um
ihn deſto mehr in den Stand zu ſetzen/
daß er ſich dereinſt dem Titel gemaͤß auffuͤh-
ren koͤnnte/ der durch den Tod des Lord
M. verloͤſcht/ und den ſie nachher auf ihn
zu bringen hoffen. Ja ſie haͤtten noch
groͤſſere
[128]Die Geſchichte
groͤſſere Abſichten/ nemlich ihm den weit
hoͤhern Rang und Titel zu verſchaffen/ der
verloſchen ſey/ als der Vater ſeiner Halb-
Schweſtern ohne maͤnnliche Erben geſtor-
ben. Dieſe Abſicht machte eben/ daß ſeine
Verwandten ſo ernſtlich auf ſeine Vermaͤh-
lung daͤchten. Er ſelbſt wuͤſte keine beſſere
Parthey fuͤr Herrn Lovelace auszuſinnen:
und unſere Familie haͤtte Mittel genug/ den
Staat drey vornehmer Haͤuſer davon zu
fuͤhren. Er koͤnnte alſo nicht leugnen/
daß er dieſe Vermaͤhlung ſehr gern ſehen
wuͤrde: weil ihn Herrn Lovelaces Herkom-
men und Mittel hoffen lieſſen/ daß ſeine
Claͤrchen dereinſt in den hohen Adel des
Koͤnigreichs kommen koͤnnte. Bey dieſer
Hoffnung (hier iſt die Wunde, die eben den em-
pfindlichſten Ort getroffen hat) hielte er fuͤr
dienlich/ ſolche Anſtalten zu machen/ daß
ſich Claͤrchen ihrem Stande gemaͤß moͤchte
auffuͤhren koͤnnen.
Der andre Bruder meines Vaters ſtimmet
dieſen Abſichten vollkommen bey. Er ſagte: die
uͤble Lebens-Art/ welche man Herrn Love-
lace ſchuld gebe/ ſey das eintzige/ ſo gegen
ihn eingewendet werden koͤnnte. Denn
ſonſt koͤnnte mein Vater genugſam fuͤr
meinen Bruder und fuͤr meine Schweſter
ſorget; und mein Bruder haͤtte ohnehin
ſchon ein anſehnliches Gut von ſeiner
Pathe geerbet.
Wenn
[129]der Clariſſa.
Wenn ich dieſes eher gewuſt haͤtte, ſo wuͤrde ich
mich in die Auffuͤhrung meines Bruders und mei-
ner Schweſter leichter haben finden koͤnnen, und
ich wuͤrde mehr auf meiner Hut geweſen ſeyn, als
ich bisher fuͤr noͤthig gehalten habe.
Sie koͤnnen dencken, wie meinem Bruder bey
dieſer Unterredung zu Muthe geweſen ſeyn muß.
Er konte gewiß nicht anders als ſehr mißvergnuͤgt
ſeyn, da ſich ſeine zwey Haushaͤlter ſo verfaͤngli-
che Worte in ſeiner Gegenwart verlauten lieſſen.
Sein ungeſtuͤmes Weſen hatte ihm beynahe von
ſeiner Kindheit an die Furcht und Ehrerbietung
aller im Hauſe zuwege gebracht. Selbſt mein
Vater pflegte ihm, als dem eintzigen Sohn und
Stammhalter ſchon vorhin nachzugeben, ehe er
noch durch die erhaltene Erbſchaft unleidlicher und
eigenſinniger ward. Er hatte alſo wenig Urſache,
eine Gemuͤths-Beſchaffenheit zu beſſern, die ihm ſo
viel Anſehen und Vorzuͤge gab: und ſo brach er
dieſes mahl in Gegenwart meiner Onckles mit
Ungeſtuͤm in die Worte aus: Merckt ihr wohl,
Arabelle/ wie es ſtehet? wir muͤſſen uns in
Acht nehmen. Dieſe Syrene wird uns un-
ſers Vaters Bruͤder eben ſo gut als unſern
Grosvater abſpaͤnnſtig machen.
Je mehr ich auf alle Umſtaͤnde zuruͤck dencke,
deſto mehr werde ich gewahr, daß ſich mein Bru-
der und meine Schweſter von dieſer Zeit an gegen
mich ſo aufgefuͤhrt haben, als wenn ſie glaubten,
daß ich ihnen in ihren Abſichten hinderlich waͤre,
und bisweilen, als wenn ich mit ihrem gemein-
Erſter Theil. Jſchaft-
[130]Die Geſchichte
ſchaftlichen Feinde in einem genauen Buͤndniß
ſtuͤnde. Hingegen haben ſie ſeit der Zeit ſtets ge-
meinſchaftliche Sache gemacht, und alles was ſie
vermochten angewandt, die Heyrath zu hintertrei-
ben, die ihren Abſichten ſo ſehr im Wege ſtand.
Allein ſchien dieſes nicht unmoͤglich, nachdem
ſich meines Vaters Bruͤder ſo deutlich erklaͤrt hat-
ten? Nein! mein Bruder wußte Mittel zu finden,
und meine Schweſter leiſtete ihm allen Beyſtand.
Sie machten, daß die Einigkeit in unſerm Hau-
ſe geſtoͤrt, und ein jeder mißvergnuͤgt gemacht
ward. Herrn Lovelace ward nach und nach
immer kaltſinniger von jedermann begegnet: und
da er ſich durch bloſſe Kaltſinnigkeit nicht abwei-
ſen laſſen wollte, ſo erfolgten bald allerhand
ſchimpfliche und unanſtaͤndige Begegnungen; es
kam ſo weit, daß man ihn faſt herausfoderte:
und endlich erfolgte die Schlaͤgerey. Dieſes
Mittel that die gehoffte Wirckung. Will ich ih-
nen nunmehr nicht zu Gefallen ſeyn, ſo will man
wegen des grosvaͤterlichen Guts einen Proceß
mit mir anfangen, und, ſo wenig ich auch geſucht
habe mich der Freyheit zu bedienen, die ich durch
das Teſtament meines Grosvaters haͤtte erlan-
gen koͤnnen, ſo will man mich doch in den Stand
ſetzen: daß ich mich ſo vollkommen nach
meines Vaters Willen richten muͤſſe/ als
es bey einer Tochter noͤthig iſt/ die iht eig-
nes Beſtes nicht verſteht. Dis iſt die Spra-
che, die jetzt i n unſerm Hauſe geredet wird.
Aber o wie gluͤcklich werden wir insgeſamt nach
dem
[131]der Clariſſa.
dem Vorgeben meiner Geſchwiſter ſeyn, wenn ich
gutem Rath folge? Jch ſoll ſo ſchone Geſchencke
bekommen: ſo ſchoͤne Juwelen: ich weiß nicht
was ſonſt noch mehr. Alle zuſammen wollen mich
beſchencken. Auch hat Herr Solmes ſo groſſe
Mittel, und verſpricht mir ſo viel (denn nach allen
ſeinen Verwandten fragt er nichts) daß ich noth-
wendig durch ihn reich und gluͤcklich werden muß,
wenn man auch die gute Geſinnung der meinigen
nicht in Betrachtung ziehen wollte. Die Abſicht,
die meine Geſchwiſter haben, iſt ihr Vergroͤſſe-
rungs-Glas, dadurch ſie ſo vortrefliche Eigenſchaf-
ten an mir wahrnehmen koͤnnen, die alle Verſpre-
chungen und Verſchreibungen meines Freyers voͤl-
lig bezahlen, und noch uͤberdieſes ihn ſo wohl als
meine Anverwandten verpfiichten, daß ſie ſich
gegen mich danckbar erzeigen muͤſſen, wenn ich nur
in dieſer Sache folgſam und gefaͤllig bin. Er ſelbſt
ſoll dis glauben: ſo geringſchaͤtzig iſt er in ihren
und in ſeinen eigenen Augen.
Wie gluͤcklich, wie reich, wie geehrt koͤnnen wir
drey Geſchwiſter werden, wenn dieſe unvergleich-
lichen Abſichten zu Stande kommen! Und wie
ſehr werde ich mir alle meine Anverwandten ver-
bindlich machen! und zwar dieſes blos durch eine
Probe meines Gehorſams, die ſich zu meiner gan-
tzen Auffuͤhrung und Gemuͤths-Art vollkommen
ſchickt, wo ich anders das wohlgezogene, arti-
ge, gehorſame Kind bin, dafuͤr man mich bisher
gehalten hat.
So wird die Sache auf der guten Seiten vorge-
J 2ſtellt,
[132]Die Geſchichte
ſtellt, um meinen Vater und ſeine Bruͤder zu ge-
winnen: allein ich befuͤrchte, daß meines Bru-
ders und meiner Schweſter Abſicht iſt, mich gaͤntz-
lich bey ihnen ſchwartz zu machen, es koſte was es
will. Sonſt wuͤrden ſie ja bey meiner Zuruͤck-
kunft von der Reiſe mich eher durch Liebe als durch
Furcht zu bewegen geſucht haben, duß ich mir den
Vorſchlag gefallen laſſen moͤchte, den ſie mit aller
Gewalt durchtreiben wollen.
Allen Bedienten iſt inzwiſchen anbefohlen wor-
den, daß ſie Herrn Solmes mit der groͤſſeſten
Ehrerbietung begegnen ſollen. Bey einigen in
unſerm Hauſe heiſt er nunmehr, der grosmuͤ-
thige Herr Solmes. Solte dies nicht ein ſtill-
ſchweigendes Bekaͤntniß ſeyn, daß er ſich durch
ſeine Eigenſchafften keine Ehrerbietung erwerben
koͤnne, wenn man es den Leuten anbefehlen muß,
Ehrerbietung fur ihn zu haben?
So oft er uns beſucht, wird er von der Herr-
ſchaft auf das freundlichſte empfangen, und die Be-
diente ſchmiegen und biegen ſich vor ihm und war-
ten auf ſeinen Befehl. Jn aller Munde ſchallen die
edlen und vortrefflichen Verſchreibungen.
Edel und vortrefflich ſind die Worte, da-
mit ſie die unedlen Anerbietungen eines Menſchen
ſchmuͤcken, der ſo niedertraͤchtig und gottlos iſt,
daß er ſich nicht ſchaͤmt, frey zu bekennen, er haſſe
ſeine eigenen Anveꝛwanten; und der ihnen, ſo noͤthig
ſie auch ſeiner Huͤlfe haben, das rauben will worauf
ſie eine gegruͤndete Anwartſchaft hatten. Mir
will er alles verſchreiben; und wenn ich eben ſo
wie
[133]der Clariſſa.
wie ſeine vorigen Frauens ohne Kinder ſterbe,
ſo ſoll es an meine Familie fallen. Dis ſind
die edlen und vortrefflichen Vorſchlaͤge.
Eine ſolche Ungerechtigkeit gegen ſeine Angehoͤ-
rigen waͤre mir ſchon Urſache genung, wenn ich
ſonſt keine Urſache haͤtte, den gemeinen Kerl zu
verachten. Jch nenne ihn mit Recht einen gemei-
nen Kerl: denn er iſt nicht einmal dazu gebohren,
ſo reich zu ſeyn; ſondern der ungeheure Reichthum
iſt immer von einem Knicker einem andern Knicker
mit Uebergehung des naͤchſten Erben vermacht
worden, weil er das groſſe Verdienſt hatte, ein
Knicker zu ſeyn. Wuͤrden Sie nicht glauben,
daß die Annehmung ſolcher ungerechten Verheiſ-
ſungen eben ſo niedertraͤchtig bey mir ſeyn wuͤrde,
als die Anbietung derſelben bey ihm iſt, wenn ich
mich uͤberwinden koͤnnte, meine Haͤnde mit ſol-
chem Gut zu beſchmutzen, und wenn ich die Hoff-
nung das ſeinige dereinſt zu beſitzen den allerge-
ringſten Einfluß in meine Wahl haben lieſſe? Es
betruͤbt mich wahrhaftig ſehr, daß meine Anver-
wandten ſeinen Antrag wegen ſolcher Urſachen zu
befoͤrdern ſuchen, die bey einem gewiſſenhaften
Menſchen nichts gelten koͤnnen.
Allein es ſcheint, daß dieſes das eintzige Mittel
war, Herrn Lovelace gaͤntzlich zu verbannen,
und dennoch alle die Endzwecke zu erreichen, die
meine Anverwandten in Abſicht auf uns veſt ge-
ſetzt haben. Man hoffet, daß ich durch meine
Verweigerung ein ſo groſſes Gluͤck fuͤr unſre Fa-
milie nicht werde zernichten wollen. Man hat
J 3ſchon
[134]Die Geſchichte
ſchon entdeckt, daß es moͤglich ſey, (Sie muͤſſen
wiſſen, daß die unerſaͤttliche Begieꝛde meines Bꝛu-
ders aus der Moͤglichkeit gleich eine Wahr-
ſcheinlichkeit macht) daß meines Grosvaters
Gut, und die noch wichtigern Guͤter, die Hert
Solmes beſitzet, dereinſt an unſer Haus fallen
koͤnnten. Man weiß zu erzehlen, daß noch ent-
ferntere Anwardtſchafften bisweilen erlediget, und
denen Erben zu Theil worden ſind, an die man
nie gedacht haͤtte: und meine Schweſtər erinnert
ſich hiebey des alten erbaulichen Sprichworts:
Es iſt gut, wenn man mit einem Gute
verwandt werden kan. Jch glaube, daß
Solmes heimlich uͤber die Schloͤſſer, die ſie in
die Lufft bauen, lachen muß. Er verſpricht, und
dadurch macht er ſie zu allen Dienſten willig. Er
ſieht im Geiſte mein Gut, das mir ſo viel Neid
erwecket, ſchon als das ſeinige an. Es liegt zwi-
ſchen zwey andern Guͤtern die ihm gehoͤren, und
er kan es wegen dieſer Lage noch einmal ſo hoch
nutzen, als irgend ein andrer thun koͤnnte. Jch
zweifele gar nicht mehr daran, daß er in mein
Gut und nicht in mich verliebt ſey.
Dis ſind die Bewegungs-Gruͤnde, welche die
meinigen vermocht haben, das Anſuchen des
Herrn Solmes ſo hefftig zu unterſtuͤtzen. Jch
muß von neuen uͤber die Erb-Suͤnde unſerer Fa-
milie klagen, durch welche dieſe Bewegungs-
Gruͤnde ſo wichtig und unuͤberwindlich werden.
Mein Bruder und meine Schweſter haben durch
Herrn Solmes Antrag ihre Abſichten gegen mich
erreicht
[135]der Clariſſa.
erreicht, es mag die Sache ausfallen wie ſie
will. Sie haben meinen Vater uͤberredet, es
zu ſeiner eigenen Sache zu machen, und als ei-
nen kindlichen Gehorſam von mir zu fodern,
daß ich mein Ja-Wort von mir gebe.
Meine Mutter hat ſich nie den Willen mei-
nes Vaters widerſetzt, wenn er ſeinen Entſchſuß
ſchon voͤllig gefaßt hatte.
Meine Onckles ſind harte, eigenſinnige, und
allzubeguͤterte Hageſtoltzen, ob ſie gleich ſonſt
uͤberhaupt brave und verehrens-wuͤrdige Maͤnner
ſind. Sie rechnen ſehr viel zu den kindlichen
Pflichten, und zu dem Gehorſam den eine Frau
dem Manne ſchuldig ſey: vermuthlich hat das
guͤtige und nachgebende Weſen meiner Mutter
ſie in ihrer Meynung wegen des letzten Puncts
beſtaͤrckt, und ihnen Gelegenheit gegeben, ſich
auf den Gehorſam ihrer, Tochter deſto groͤſſere
Hoffnung zu machen.
Frau Hervey/ die ſelbſt nicht allzugluͤcklich
in der Heyrath geweſen, und vielleicht gegen
meinen Bruder eine kleine Verpflichtung hat,
iſt uͤbertaͤubt worden, und will ſich nicht unter-
ſtehen gegen den ſo veſten Entſchluß meines Va-
ters und ſeiner Bruͤder ein Wort, das zu mei-
nem wahren Beſten gereichen koͤnnte, zu reden.
Eben daraus, daß weder ſie noch meine Mutter
ſich bemuͤhet mir zu Huͤlfe zu kommen, muß ich
ſchlieſſen, daß mein Vater in ſeinem Willen un-
beweglich und unerbittlich ſey. Die unhoͤfliche
Auffuͤhrung gegen Frau Norton iſt ein neuer
J 4Be-
[136]Die Geſchichte
Beweiß hievon. Einer ſo verſtaͤndigen Frau, die
alle Hochachtung verdienet, und deren gute Eigen-
ſchafften auch von allen erkannt werden, die aber
arm iſt, und deswegen nicht genug Gewicht hatte
ihren Rath mit Nachdruck wieder eine mit Ge-
walt getriebene Sache zu geben, wird angedeutet,
daß ſie unſer Haus meiden, und daß ſie nicht
einmahl an mich ſchreiben ſolle! Denn die-
ſen Zuſatz habe ich noch heute erfahren.
Allein der Haß gegen Lovelace/ die Ver-
groͤſſerung unſerer Familie, und ſonderlich der
ſtarcke Bewegungs-Grund, die Rechte eines
Vaters/ ſind eine ſolche vereinigte Macht, der
ich nicht widerſtehen kan: ein jedes allein ge-
nommen wuͤrde ſchon unuͤberwindlich ſeyn.
Ein ſo fuͤrchterliches Anſehen hat der Antrag
des eckelhaften Mannes gewonnen.
Mein Bruder und meine Schwefer freuen ſich
uͤber ihren Sieg. Der Ausdruck iſt, ſie haͤtten
mich unter ſich gekriegt/ wie ihn meine Han-
nichen neulich im Vorbeygehen aufgefangen hat.
Die Sache iſt gantz richtig, nur erinnere ich mich
nicht, daß ich jemals auf eine unerlaubte Weiſe
oben gelegen habe. Entweder bin ich ge-
zwungen, zu meinem eigenen Ungluͤck noch Ja
zu ſagen, und denn werde ich in ihren Haͤnden
ein Mittel der Rache an Herrn Lovelace; oder
ich zerfalle mit meiner gantzen Familie.
Jch kan mich nun nicht weiter daruͤber ver-
wundern, wenn die Hof-Leute, denen die Arg-
liſtigkeit in einem doppelten Maaß gegeben iſt,
hinter
[137]der Clariſſa.
hinter einander her ſind, und allerhand Cabalen
machen, nachdem unſre kleine Familie nicht ein-
mal von dieſem Uebel frey iſt, da doch nur drey
unter uns mit einander ſtreitende Abſichten ha-
ben koͤnnen, und die eine unter dieſen dreyen
uͤber niedertraͤchtige und eigennuͤtzige Abſichten
hinweg zu ſeyn hoffet.
Mich kraͤnckt nichts ſo ſehr, als daß meiner
Mutter Gemuͤth bey dieſen Umſtaͤnden ungemein
viel wird leiden muͤſſen. Wie kan doch ein
Mann, und noch dazu ein Mann von gutem Ge-
muͤth (aber ach der Name eines Mannes ſchließt
allzuviel Rechte und Vorzuͤge in ſich ein!) wie
kan er ſage ich ſo eigenſinnig und bey allen Vor-
ſtellungen ſo unuͤberwindlich gegen eine Perſon
ſeyn, durch welche doch ſo viel Mittel an unſer
Haus gekommen ſind, deren Werth die meinigen
ſo hoch ſchaͤtzen, und eben deshalb ſchuldig waͤ-
ren, meine Mutter deſto hoͤher zu ſchaͤtzen?
Jch kan nicht ſchlechterdings leugnen, daß die
meinigen meine Mutter hochſchaͤtzen: allein ſie hat
dieſe Hochachtung blos durch Nachgeben erkaufen
muͤſſen, da ſie doch ſo viel eigene Vorzuͤge beſitzt,
die von ſelbſt Hochachtung verdienen, und ſo viel
Verſtand und Klugheit hat, daß man billig ihren
Einſichten folgen, und andre ihr, nicht aber ſie
andern nachgeben ſollte.
Aber wie ſchweift meine Feder aus? Soll ich
verkehrtes Maͤdchen mich unterſtehen, von meinen
Anverwandten, denen ich Ehrfurcht ſchuldig bin,
und gegen die ich Ehrfurcht habe, ſo frey zu ſchrei-
J 5ben?
[138]Die Geſchichte
ben? Doch die Umſtaͤnde ſind ſo verworren,
daß ich ſelbſt ihre Maͤngel offenbaren muß,
um ihre tadelhaften Handlungen einiger maſſen
zu entſchuldigen!
Da Sie wiſſen, wie zaͤrtlich ich meine Mutter
liebe und verehre, ſo werden Sie am beſten ur-
theilen koͤnnen, wie dringend die Urſachen ſind,
die mich bewegen koͤnnen, mich den von ihr
gebilligten Abſichten meiner Geſchwiſter zu wi-
derſetzen. Allein ich muß es thun. Es iſt ohn-
moͤglich, daß ich Ja zu dieſen Abſichten ſage:
und ich muß mich bald und deutlich daruͤber erklaͤ-
ren, daß ich nimmer Ja ſagen werde, wenn ich
meine Umſtaͤnde nicht noch verworrener machen
will. An eben dem Tage, an welchem ich dieſen
Brief ſchreibe, iſt ein Advocate wegen der Sicher-
heit die man bey Herrn Solmes Verſchreibun-
gen haben koͤnnte, um Rath gefragt worden.
Wie gluͤcklich waͤre ich, wenn wir Papiſten
waͤren! Alsdenn wuͤrde ein Kloſter alle Abſichten
meiner Geſchwiſter erfuͤllen koͤnnen. Wie gluͤck-
lich waͤre ich, wenn nicht eine Perſon, die Sie ge-
nau kennen, einen gewiſſen Antrag ausgeſchlagen
haͤtte. Alles wuͤrde ſchon zur Richtigkeit geweſeu
ſeyn, ehe mein Bruder haͤtte aus Schottland zu-
ruͤck kommen, und die Sachen verderben koͤnnen.
Denn wuͤrde ich eine Schweſter gehabt haben, da
ich jetzt keine habe: und zwey Bruͤder von glei-
chem Ehrgeitz und von gleichem Range, an denen
ich nur das hochgeſchaͤtzt haben wuͤrde, was ein
Stuͤck ihres wahrhaften Adels iſt.
Jch
[139]der Clariſſa.
Jch muß mich wundern, daß ſich mein Bru-
der durch ſo weit ausſehende eigennuͤtzige Abſich-
ten regieren laͤßt. Der geringſte Zufall kan ſeine
Hoffnung zu Waſſer machen: ein jedes Fieber,
dazu der Saame ſchon in ſeinem hitzigen und un-
ruhigen Gebluͤt liegt, ein jeder ungluͤcklicher Stich
eines gereitzten Widerſachers, iſt hinlaͤnglich alle
ſeine Abſichten zu vereiteln. Jch will meinen
Brief abbrechen. Wenn ich gleich noch ſo frey
von meinen Anverwandten ſchreibe, ſo bin ich doch
verſichert, daß Sie es guͤtig auslegen werden.
Jch traue Jhnen auch zu, daß Sie die Stellen
meiner Briefe andern weder vorleſen noch in Ab-
ſchrifft uͤberſchicken werden, in denen ich zu frey
von meinen Eltern und Geſchwiſtern geurtheilet
habe, und die Gelegenheit geben moͤchten, mich
des Mangels der kindlichen Ehrfurcht und
ſchweſterlichen Liebe, oder jene eines Unverſtan-
des und einer uͤbereilten Auffuͤhrung zu beſchul-
digen. Dieſe Hoffnung heget
Dero ergebenſte
Clariſſa Harlowe.
Der vierzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Als Hannichen meinen langen Brief, den ich
geſtern angefangen und wegen mancher Hin-
derun-
[140]Die Geſchichte
derungen erſt vor einer Stunde geſchloſſen ha-
be, an den beſtimmten Ort legte, ſo fand ſie
Jhr heutiges Schreiben. Jch bin Jhnen fuͤr
Jhre guͤtige Bemuͤhung verbunden. Dieſe Ant-
wort darauf ſoll ſo bald an Ort und Stelle ge-
bracht werden, daß Jhr Diener ſie hoffentlich zu-
gleich mit dem vorigen Briefe uͤberbringen wird.
Es wird aber nichts darin ſtehen, als ein Danck
fuͤr Jhre Liebe und Freundſchaft gegen mich, und
die betruͤbte Wahrheit, daß meine Beſorgniß
von Tage zu Tage zunimmt.
Jch muß nothwendig Gelegenheit ſuchen, mit
meiner Mutter allein zu ſprechen, und ſie um ein
guͤtiges Vorwort fuͤr mich zu bitten: ſonſt ſtehe ich
in Gefahr, duß ein gewiſſer Tag zur Hochzeit veſt
geſetzt und der Eckel, mit dem ich an Solmes
dencke, fuͤr die Frucht der Bloͤdigkeit gehalten
wird. Sollten ſich Schweſtern nicht als Schwe-
ſtern gegen einander auffuͤhren? Sollten ſie nicht
bey einer ſolchen Gelegenheit, als dieſe iſt, gemein-
ſchaftliche Sachen machen, und es als eine Sache
anſehen, die ein jedes Frauenzimmer angehet?
Allein meine Schweſteꝛ hat die eigeñuͤtzigen Abſich-
ten meines Bruders, mit dem ſie vermuthlich alles
abgeredet hatte, zu befoͤrdern geſucht, und in Ge-
genwart der gantzen Familie ſo ernſtlich, als ſie
zu ſeyn pflegt, wenn ſie etwas durchaus haben
will, darauf gedrungen, daß man mir einen Tag
beſtimmen, und mir drohen muͤſte, daß ich mein
gantzes Erbtheil und die Liebe aller meiner Ange-
hoͤrigen verlieren ſollte, wenn ich nicht Gehorſam
leiſten
[141]der Clariſſa.
leiſten wuͤrde. Sie brauchte ſich nur halb ſo viel
Muͤhe zu geben. Mein Bruder vermag ohnehin
genug, und er hat Mittel gefunden, die gantze Fa-
milie gegen mich zu vereinigen. Nachdem ent-
weder ein neuer Verdruß vorgefallen, oder eine
neue Nachricht von Herrn Lovelace eingezogen
iſt, (denn ich weiß nicht genau, wie die gantze Sa-
che zuſammen haͤngt) ſo haben ſich alle miteinan-
der verbunden, und wollen ſich durch Unterſchrift
uud Siegel verbinden (was ſoll ich armes Kind
doch anfangen!) mir Herrn Solmes aufzu-
dringen, und die Rechte meines Vaters die man
vorſchuͤtzt, gegen mich zu behaupten, es mag ko-
ſten was es will. Sie verſprechen auch ſich ge-
gen Herrn Lovelace auf alle Weiſe zu ſetzen,
weil er ein liederlicher Menſch und ein Feind der
Familie ſeyn ſoll. Jſt es nicht eben ſo viel, als
wenn ſie ſich mit deutlichen Worten wider mich
verbunden haͤtten? Aber wie unverſtaͤndig han-
deln ſie, daß ſie diejenigen zwingen, gemeinſchaft-
liche Sache miteinander zu machen, die ſie doch zu
trennen ſuchen.
Die Nachricht des abgedanckten Pachters war
ſchlimm genug, und was Frau Forteſcue von
Hrn. Lovelace meldet, bekraͤftigt jene Nachricht,
und zwinget mich, noch ſchlimmere Dinge zu den-
cken. Meine Freunde haben etwas erfahren, da-
von Jungfer Barnes meiner Hannichen geſagt
hat, er ſey ſo ſchwartz, daß kein aͤrgerer Menſch
als er unter der Sonne ſeyn koͤnte. Meinetwe-
gen moͤgen ſie ihn gar aufhaͤngen: was geht er mich
an?
[142]Die Geſchichte
an? und was wuͤrde ich mit ihm zu thun haben,
wenn der verzweifelte Solmes nicht in der Welt
waͤre. O mein Schatz, wie verhaßt iſt mir die-
ſer Kerl, wenn er mein Braͤutigam ſeyn ſoll!
Meine ſaͤmmtlichen Anverwandten fuͤrchten ſich
vor Herrn Lovelace: und tragen doch kein Be-
dencken, ihn durch Beleidigung zur Rache zu
reitzen. Wie ſehr bin ich verwickelt, da i ch um
ihrentwillen gezwungen bin, mit Herrn Love-
lace Briefe zu wechſeln. GOtt verhuͤte nur, daß
ihre Heftigkeit mich nie zwingen moͤge, es um
mein ſelbſt Willen zu thun. Sie werden mir
doch endlich nachgeben. Jch kan wenigſtens ih-
nen [...] nachgeben. Die folgſamſten Ge-
muͤ [...][und]d die unveraͤnderlichſten, wenn man ſich
ohne Noth und auf eine harte Art zu ihnen drin-
get: denn da ſie ſich nicht leichtſinnig entſchlieſſen,
ſo macht ſelbſt die viele vorhergegangene Ueberle-
gung, daß ſie ihre einmahl gefaßten Meinungen
am wenigſten aͤndern. Wenn man endlich gantz
deutlich ſiehet, daß man ſo und nicht anders han-
deln muͤſſe, ſo iſt es unertraͤglich, es erſt mit an-
dern als eine zweifelhafte Sache uͤberlegen und
daruͤber ſtreiten zu ſollen.
Jch kriege Verhinderung, und ich kan nur eil-
fertig und mit vieler Furcht wegen meines kuͤnff-
tigen Schickſaals verſichern, daß was man auch
ſonſt aus mir machen will, ich doch ſtets ſeyn werde,
mehr die Jhrige, als meine eigene
Clariſſa Harlowe.
Der
[143]der Clariſſa.
Der funfzehnte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jch habe Jhre beyden Briefe zugleich erhalten
Es iſt ein Ungluͤck, daß da Sie nach dem
Willen der Jhrigen ſich ſchlechterdings veraͤndern
ſollen, ein veraͤchtlicher Menſch nach dem andern
ſich unterſteht, um ein ſo ſchaͤtzbares Kleinod an-
zuhalten. Man kann dieſe Leute durch nichts
anders als durch ihre Unverſchaͤmtheit und Eigen-
liebe entſchuldigen. Daß aber dieſe unverſchaͤmten
Leute Jhren Anverwandten viel ertraͤglicher ſchei-
nen als andern Leuten, kom̃t daher, weil ſie Fehler
an ſich haben, die jenen etwas weniger anſtoͤßig
ſind. Und auch hievon kan man die Urſache erra-
then. Soll ich ſie Jhnen nennen? Die Jhrigen fin-
den etwas aͤhnliches von ſich an dieſen Leuten.
Vielleicht muß ich auch hier der Demuth Jhrer
Geſchwiſter und Onkles nicht vergeſſen, denn wie
koͤnnen ſie glauben daß ihre Schweſter oder ihres
Bruders Tochter ein Engel ſey? Jch mag mich
nicht deutlicher ausdrucken, um Sie nicht boͤſe
zu machen. Wo wird ſonſt wol eine Manns-Per-
ſon, bey welcher die Eigenliebe noch nicht alles
noͤthige Mißtrauen gegen ſich ſelbſt ausgeloͤſchet
hat, ſich unterſtehen koͤnnen, auf Fraͤulein Cla-
riſſa Harlowe zu hoffen? Hoͤchſtens wird einer
kuͤhn genug ſeyn, ſeine Wuͤnſche auf Sie zu rich-
ten.
[144]Die Geſchichte
ten. Wer demnach unverſchaͤmt und unbeſonnen
iſt, der wagt es, um Sie anzuhalten: und Leute
von wahrhaftigen Vorzuͤgen haben zu viel Be-
ſcheidenheit und Ehrerbietung, als daß ſie ſich un-
terſtehen ſolten, ihre Wuͤnſche zu erkennen zu ge-
ben. Darum uͤberfaͤllt Sie ein Symmes, ein
Byron, ein Mullins, ein Wyerley, der noch
unter den uͤbrigen ſchlechten der beſte iſt, und ein
Solmes, einer nach dem andern: lauter ſolche
Kerls, die ſich Hffnung auf einen gluͤcklichen
Ausgang ihres Geſuchs machen duͤrffen, wenn ſie
den Reſt Jhrer Familie betrachten; aber nicht oh-
ne Verwegenheit von Jhnen ſelbſt ein Ja-Wort
hoffen koͤnnen.
Jch fuͤrchte aber deñoch, daß alle Bemuͤhungen,
welche Sie anwenden die Sache zu hintertreiben,
vergeblich ſeyn werden. Sie muͤſſen, und faſt
bin ich beſorget Sie wollen ſich einem ſo eckel-
haften Mann aufopfern laſſen: denn die Lock-
Speiſe die er gebraucht ſcheint den Jhrigen allzu
reitzend. O meine allerliebſte Freundin, ſollen ſo
unvergleichliche Eigenſchafften, und ſolche recht
eigene Vorzuͤge die Sie uͤber andere ſo ſehr erhe-
ben, durch eine ſolche Ehe heruntergeſetzt werden?
Jhr Onkle ſagt zu meiner Mutter: Sie muͤßttn
ſich nicht unterſtehen die Auctoritaͤt Jhrer An-
verwandten zu ſchwaͤchen! Wahrhaftig ein ſehr
ſtarckes Wort in dem Munde einer Perſon, die
bey kleinen Einſichten den Vorzug hat, daß ſie
dreyßig Jahr fruͤher in der Welt geweſen! Jch
meine dieſes nur von Jhres Vaters-Bruͤdern:
denn
[145]der Clariſſa.
denn die Auctoritaͤt und Rechte der Eltern
halte ich allerdings fuͤr heilig. Nur ſollten El-
tern nichts ohne vernuͤnfftige Urſache befehlen.
Verwundern Sie ſich nicht, daß Jhre Schwe-
ſter bey dieſer Gelegenheit vergißt, daß ſie eine
Schweſter ſey. Jch weiß noch einen Umſtand,
wenn man den und Jhres unbaͤndigen Bruders
Abſichten und Bewegungs-Gruͤnde zuſammen
nimmt, ſo kan einem ihre Hefftigkeit nicht mehr
unbegreiflich ſeyn. Sie ſelbſt haben mir gemel-
det, daß die Artigkeit, die Herr Lorelace in ſei-
ner Bildung und Auffuͤhrung beſitzt, zu Anfang
das Auge Jhrer Schweſter ſehr geruͤhrt habe, ob
ſie gleich jetzt vorgiebt, daß ſie ihn verachte, nnd
von ihm auf das aͤuſſerſte verachtet wird. Jch
weiß aber, daß die Liebe gegen ihn noch in ihrem
Hertzen iſt, und daß ſie ihm den Vorzug vor allen
ſeines Geſchlechts giebt. Arabella hat einen un-
erhoͤrten Hochmuth, und ſehr viel Niedertraͤchtig-
keit bey ihrem Hochmuth. Aus Liebe ſind ihre
verdrießlichen Tage, ihre ſchlafloſen Naͤchte,
und ihre Rache gegen ihre liebe Eliſabeth Bar-
nes entſtanden. Sich einem Cammer-Maͤdchen
anzuvertrauen! Jſt das nicht Unverſtand! Allein
wie groſſe Seelen ihres gleichen ſuchen, ſo pflegen
auch kleine Geiſter ihres gleichen zu ſuchen und zu
finden. Sie hat in groſſem Vertrauen ihre Nei-
gung gegen Herrn Lovelace dem Cammer-Kaͤtz-
gen anvertrauet: das Geheimniß hat die Runde
unter dem Frauenzimmer gemacht, wie es
Herr Lovelace nennt, wenn er ſich bey gleichen
Erſter Theil. KGe-
[146]Die Geſchichte
Gelegenheit uͤber unſer Geſchlecht aufhalten will.
Eliſabeth machte ſich eine Ehre daraus, wenn
ſie ein Geheimniß wuſte, und ſie konnte auch ih-
ren Eifer gegen Herrn Lovelaces Untreue, (wie
ſie es wenigſtens nennete) nicht laͤn ger zuruͤck hal-
ten: ſie erzehlte alſo das Geheimniß einer von ih-
ren Vertrauten: Dieſe ſagte es der Jungfer Har-
riot/ die in Dienſten bey Fraͤulein Lloyd iſt,
und bat ſehr, es ja nicht weiter zu ſagen: die
Harriot erzehlte es ihrer Fraͤulein, und Fraͤulein
Lloyd mir. Jch melde es Jhnen, und gebe
Jhnen Erlaubniß, das Geheimniß anzuwenden,
wie Sie es ſelbſt fuͤr gut finden. Sie duͤrffen ſich
nun nicht ɯehr verwundern, wenn Jhre Schwe-
ſter ſich nicht als eine Schweſter, ſondern als eine,
deren Liebe um Jhrentwillen verſchmaͤht iſt, gegen
Sie auffuͤhret: Sie werden auch die Worte, Zau-
berey/ Syrene und andere von gleicher Art, die
ſie gegen Sie ausgeſtoſſen hat, nun voͤlliger ver-
ſtehen, wie auch dieſes, daß ſie ſo hefftig darauf
gedrungen, den Tag veſt zu ſetzen, an welchem
Sie durch Herrn Solmes ungluͤcklich gemacht
werden ſollten. Mit einem Worte, alle Grob-
heiten und Hefftigkeiten Jhrer Schweſter werden
nun begreiflicher. Wie ſuͤß wird ihr die Rache
gegen Sie und gegen Herrn Lovelace ſeyn, wenn
ſie es dahin bringen kan, daß ihre unvergleich-
liche, und zu ihrem Verdruß allzu liebenswuͤrdige
Schweſter an einen ihr verhaßten Mann gegeben
wird, und alſo nie demjenigen zu Theil werden
kan, den ſie ſelbſt liebet, es ſey nun mit oder
ohne
[147]der Clariſſa.
Hoffnung einiger Gegen-Liebe, und von dem
ſie glaubet, daß er von ihrer Schweſter geliebet
werde. Da verſchmaͤhete Liebe ſonſt ſich nicht
geſcheuet hat, Gifft und Dolch zu Kuͤhlung ih-
rer Rachgier anzuwenden: ſo duͤrffen Sie ſich
nicht wundern, wenn die Verbindung zwiſchen
den naͤchſten Bluts-Freunden in ſolchem Falle
aufhoͤrt, und eine Schweſter vergißt, daß ſie
eine Schweſter iſt.
Dieſer geheime Bewegungs-Grund, der deſto
ſtaͤrckere Wirckungen hat, je mehr ihn Jhre
Schweſter aus Hochmuth zu verbergen ſucht, ſetzt
mich Jhrentwegen in Sorge, wenn ich dabey be-
dencke, mit wie neidiſchen Augen Jhre Schweſter
Sie ſchon vorhin angeſehen hat, und was fuͤr
Bewegungs-Gruͤnde man ganz ohngeſcheuet vor-
bringt; und inſonderheit, daß ein Bruder, der
ſo viel bey der gantzen Familie gilt, deſſen Eigen-
nutz und Rachgier, ſeine zwey liebſten und herr-
ſchenden Leidenſchafften, beyde zu Jhrem Ungluͤck
arbeiten, mit Jhrer Schweſter gemeine Sache
macht. Beyde haben jetzt die Ohren Jhrer El-
tern und Anverwandten allein, und ſtellen alles,
was Sie reden und thun, auf der ſchlimmen
Seite vor. Sie haben immer eine gehaͤßige Ma-
terie, die ſie noch ſchwaͤrtzer machen koͤnnen, als
ſie iſt, nemlich die Schlaͤgerey, und die uͤble
Lebens-Art des Herrn Lovelace. Wie wollen
Sie einer ſo ſtarcken und vereinigten Macht wi-
derſtehen! Jch ſehe gewiß zum voraus, daß ſie
uͤber ein ſo ſanftes Hertz, das ſo wenig von Wi-
K 2der-
[148]Die Geſchichte
derſpenſtigkeit weiß als das Jhrige, ſchon gewiß
zum voraus. Man ſage es nicht zu Gath! Sie
muͤſſen eine Beute fuͤr Herrn Solmes werden.
Sie werden auch nun errathen koͤnnen, von
welcher Gegend her die ehemals erwaͤhnte Nach-
richt gekommen iſt, daß die juͤngere Schweſter der
aͤltern ein Hertz geſtohlen habe. Denn Eliſabeth
ſchwatzte unter der Hand, zu eben der Zeit, da ſie
das uͤbrige ausplauderte, daß weder Sie noch Herr
Lovelaee es verantworten koͤnnten, wie ſie mit
ihrer Fraͤulein umgegangen waͤren. Jſt es nicht
eine Grauſamkeit von Jhnen, mein Schatz, daß
Sie der armen Arabellen den eintzigen Liebhaber
entwandten, den ſie in ihrem gantzen Leben gehabt
hat? und dieſes eben zu der Zeit, da ſie ſich ruͤh-
mete, daß ſie nun endlich es in ihrer Gewalt haͤt-
te, ihr eigenes holdſeliges Hertz zu vergnuͤgen,
und noch uͤber dieſes andre Thoͤrinnen ihres Ge-
ſchlechts (unter denen ihre Gnaden Fraͤulein Ho-
we vermuthlich eine der vornehmſten ſeyn ſoll)
durch guten Vorgang zu lehren, wie man einen
Liebhaber am ſeidenen Strick fuͤhren und ohne
einen Kapp-Zaum lencken koͤnne?
Jch habe bey dieſen Umſtaͤnden ferner nicht
den geringſten Zweifel uͤbrig, daß nicht die
Gunſt der Jhrigen gegen den elenden Solmes
unveraͤnderlich ſeyn werde; und daß ſie ſich
nicht auf eine Jhnen ſchaͤdliche Weiſe auf
Jhren ſanften und nachgebenden Sinn, und
auf Jhre Achtung fuͤr Jhre eigene Ehre und fuͤr
die Liebe der Jhrigen verlaſſen. Jch werde im-
mer
[149]der Clariſſa.
mer mehr uͤberzeugt, daß mein ehemaliger Rath
gut und noͤthig geweſen: Sie ſolten das Gut ſelbſt
behalten, das Jhnen Jhr Grosvater vermacht hat.
Haͤtten Sie dieſes gethan, ſo wuͤrde man wenig-
ſtens aͤuſſerlich einige Achtung und Hoͤflichkeit ge-
gen Sie bewieſen, und den Unwillen und Neid
verborgen haben, welche jetzt aus der engen Bruſt
Jhres Bruders und Jhrer Schweſter nothwen-
dig ausbrechen muͤſſen.
Jch muß noch ein Wort in dieſem Ton reden.
Mercken Sie nicht, daß Jhr Bruder ſeit der Zeit
mehr Einfluß als Sie in Jhre gantze Familie
hat, nachdem er ſelbſt ſo anſehnliche Guͤter geer-
bet, und Sie jemanden Luſt gemacht haben,
noch laͤnger in dem Beſitz und Genuß Jhres
Gutes zu bleiben, wenn Sie nicht ſeine Vorſchrif-
ten mit unuͤberlegtem Gehorſam annehmen? Jch
weiß, was fuͤr loͤbliche Urſachen Sie hiezu hatten:
und wer ſolte damals gedacht haben, daß Sie
ſich auf einen Vater, der Sie ſo zaͤrtlich liebete,
nicht mit Recht verlaſſen koͤnten? Allein was
meynen Sie, wuͤrde wol Jhr Bruder, der uͤber
das grosvaͤtterliche Teſtament murrete, und mit
neidiſchen Augen das Vermaͤchtniß als ſein Eigen-
thum anſahe, weil er ein eintziger Sohn war, ſich
unterſtanden haben, wircklich dahin zu trachten,
daß er es Jhnen wider entwenden moͤchte; wenn
Sie ſich in den Beſitz des Jhrigen geſetzt, die Ein-
kuͤnffte genoſſen, und ſich auf Jhrem Gut aufge-
halten haͤtten? Die Geſellſchaft der tugendhaſten
und verſtaͤndigen Frau Norton, die Sie zu ſich
K 3neh-
[150]Die Geſchichte
nehmen wollten, wuͤrde Sie ohngeachtet der Bluͤ-
te Jhrer Jugend vor uͤbler Nachrede in Sicherheit
geſetzt haben. Jch habe Jhnen ſchon vor einiger
Zeit geſchrieben, daß ich Jhre Pruͤfung nicht fuͤr
groͤſſer anſehe, als Jhre Klugheit: aber denn wer-
de ich ſagen, daß Sie mehr ſind als ein Frauen-
zimmer, wenn Sie ſich mit Ehren aus einem ſo
verworrenen Handel wickeln koͤnnen; da Sie mit
einigen ſo heftigen und niedertraͤchtigen und mit
andern ſo herrſchſuͤchtigen Gemuͤthern zu thun ha-
ben. Jn der That, wenn Sie ſich uͤberwinden,
Hn. Solmes zu nehmen, ſo halte ich nichts mehr
fuͤr ohnmoͤglich, und die Welt wird Sie wegen
Thres blinden Gehorſams, und wegen Jhrer gaͤnz-
lichen Verleugnung alles deſſen was Wille heiſſen
kan, noch mehr als bisher bewundern muͤſſen.
Was Sie von Hn. Lovelaces Guͤtigkeit ge-
gen ſeine Paͤchter, und von ſeinem kleinen Geſchenk,
damit er Jhres Onkels Pachter erfreuete, gemel-
det haben, gefaͤllt mir ſehr wohl. Frau Forteſcue
ruͤhmt, daß er ein ſehr guͤtiger Herr gegen ſeine
Leute ſey: ich haͤtte Jhnen auch dieſes ſchreiben
koͤnnen, wenn ich Jhnen eine gute Meinung von
ihm haͤtte beybringen wollen. Er hat einige gu-
te Eigenſchaften an ſich, die Hoffnung machen,
daß er ein ertraͤglicher Mann ſeyn wird, wenn er
erſt aͤlter als funfzig Jahr iſt. Aber GOtt ſey den
Weibern gnaͤdig, die ihm vorher durch das
Schickſaal beſtim̃et ſind. Den Weibern, ſage
ich: denn ich glaube, daß er wenigſtens ein halbes
Dutzend vorher zu Tode quaͤlen wird. Doch, ich
ver-
[151]der Clariſſa.
vergeſſe, was ich ſchreiben wollte. Muß man
nicht des armen Pachters Ehrlichkeit und Danck-
barkeit ruͤhmen, wenn man bisweilen in Geſell-
ſchaften hoͤrt, daß der arme Mann Jhren Onckle
herausgeruffen und ihme alſobald die zwoͤlf Tha-
ler auf Abſchlag bezahlt hat? Aber was kan man
von dem Herrn ſagen, der wußte, daß der Paͤchter
in der aͤuſſerſten Duͤrftigkeit war, und dennoch
das Geld annehmen konte? der ſich nichts davon
mercken ließ, ſo lange als Herr Lovelace noch da
blieb, und ſo bald er den Ruͤcken gewandt hatte,
es andern erzaͤhlte, und die Ehrlichkeit des Paͤch-
ters ruͤhmte? Wenn dieſes wahr waͤre, und der
Herr kein naher Verwandter meiner beſten Freun-
din waͤre, wie veraͤchtlich wuͤrde er mir vorkom-
men! Doch die Erzaͤhlung kan verbeſſert ſeyn.
Jedermann redet von geitzigen Leuten uͤbel: man
kan es auch nicht aͤndern; denn ihre gantze Sorge
geht nur auf das, was ſie hoͤher als alle gute
Nachrede ſchaͤtzen. Sie wuͤrden unmenſchlich
geitzig ſeyn, wenn ſie beydes haben wollten, da
ſie keines von beyden verdienen.
Jch warte mit Schmertzen auf Jhren kuͤnffti-
gen Brief. Jch dencke an nichts anders, als an
Sie und an Jhre Sache: denn ich bin, und werde
ſtets mit groͤſter Zaͤrtlichkeit ſeyn,
Dero gantz eigene
Anna Howe.
Der
[152]Die Geſchichte
Der ſechsszehente Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
(vor Empfang des vorigen geſchrieben.)
Jch habe einen harten Tag gehabt: eine Ver-
ſuchung uͤber die andere! eine Unterredung
uͤber die andere! Welches Geſetz, welche Ceremo-
nie, kan jemanden ein Anrecht an ein ſolches
Hertz geben, das unter allen Geſchoͤpfen GOttes
kein eintziges ſo verabſcheuet, als ihn?
Jch hoffe, daß meine Mutter etwas zu meinem
Beſten ausrichten wird. Jch will Jhnen alles
ſchreiben, wenn ich auch die gantze Nacht aufſi-
tzen ſolte: denn ich habe ſehr viel zu ſchreiben, und
wollte gern in meiner Erzaͤhlung ſo umſtaͤndlich
ſeyn, als moͤglich iſt.
Jn meinem letzten Briefe erwaͤhnte ich nur eil-
fertig und voller Schrecken, die Beſorgniß in die
mich einige zwiſchen meiner Mutter und ihrer
Schweſter gefallene Worte ſetzten, die meine
Hannichen gehoͤrt hatte. Jch brauche Jhnen
hievon nichts zu erzaͤhlen: denn ich werde Jhnen
jetzt ausfuͤhrliche Nachricht von dem geben, was
ich ſelbſt in wenigen Stunden mit meiner Mutter
habe reden muͤſſen. Und in dieſem iſt alles ent-
halten, was mir Hannichen erzaͤhlte.
Jch
[153]der Clariſſa.
Jch mache alſo den Anfang.
Als das Fruͤh-Stuͤck fertig war, ging ich heute
Morgen mit einem ſchweren Hertzen hinunter,
weil mich das noch beunruhigte, was ich den Tag
vorher von Hannichen gehoͤrt hatte. Jch wuͤnſch-
te mir indeſſen eine Gelegenheit, mit meiner Mut-
ter allein zu reden, weil ich ſie zu gewinnen hoffete,
daß ſie ſich meiner annehmen moͤchte: und nahm
mir vor, es zu verſuchen, wenn ſie nach dem
Fruͤh-Stuͤck in ihre eigene Stube gehen wuͤrde.
Zu allem Ungluͤck aber fand ich hier den eckelhaf-
ten Solmes, der ſich mit einem dreiſten Geſicht
in dem man ſeine gewiſſe Hoffnung wahrnehmen
konte, zwiſchen meine Mutter und Schweſter
gelagert hatte. Doch Sie wiſſen, mein Hertz,
daß Leute die wir nicht leiden moͤgen uns nichts
recht machen koͤnnen.
Es waͤre noch angegangen, wenn er ſitzen ge-
blieben waͤre. Aber das krumme breitſchulterige
Ungeheuer mußte nothwendig aufſtehen, und ſich
nach dem Stuhl hinbewegen, welcher gleich bey
dem meinigen ſtand. Jch ſchob ihn eine Ecke
weg, als wenn ich Platz fuͤr meinen Stuhl ma-
chen wollte, und ſetzte mich geſchwind und ver-
drießlich genug (wie ich fuͤrchte) nieder, denn al-
les was ich gehoͤrt hatte lag mir noch im Gemuͤth.
Dis war noch nicht genug ihn abzuſchrecken: er
iſt ein Kerl voll guter Zuverſicht und Verwegen-
heit. Jn der That, mein Hertz, der Mann iſt
ſehr zuverſichtlich. Er nahm den weggehobenen
Stuhl, und ſetzte ihn ſo nahe an meinen, daß er
K 5mir
[154]Die Geſchichte
mir den Reif-Rock druͤckcte, als er ſein abſcheu-
liches Gewicht in den Stuhl zu ſencken beliebte.
Dis verdroß mich ſo, da mir noch alles, was ich
gehoͤrt hatte, im Gemuͤthe lag, daß ich mich
auf einen andern Stuhl ſetzte. Jch bekenne es,
daß ich hier zu wenig auf meiner Huth war: ich
gab meinem Bruder und meiner Schweſter allzu
vielen Vortheil, deſſen ſie ſich auch gewiß gebrauch-
ten. Allein ich that es nicht mit Willen: ich
konte es nicht laſſen, und wußte ſelbſt nicht was
ich that. Mein Vater war ſehr ungehalten: und
Sie wiſſen, daß man ihm jeden Unwillen deutlich
im Geſichte anſehen kan. Er ſagte mit einer har-
ten Stimme: Clariſſa Harlowe! und hielt
inne. Jch neigete mich, und ſagte: was be-
fehlen Sie? Jch zitterte hiebey, zog meinen
Stuhl etwas naͤher, und ſetzte mich nieder. Die-
ſes mahl fuͤhlte ich, daß mir das Geſicht uͤber und
uͤber gluͤete.
Beſorge den Thee/ mein Kind: ſagte
meine guͤtige Mutter: ſetze dich zu mir/ mein
Hertz/ und thue Thee ein. Jch ſetzte mich
mit Frenden auf den Stuhl, den Solmes vorhin
verlaſſen hatte, und erholte mich bald, da ſie ſo
guͤtig war, mir etwas zu thun zu geben. Um
das vorige bey meinem Vater wieder gut zu ma-
chen, that ich unter dem Thee-trincken ein paar
Fragen auf eine hoͤfliche und freundliche Art an
Herrn Solmes. Meine Schweſter wiſperte mir
uͤber die Schulter mit einer hoͤhniſchen und froh-
lockenden Mine die Worte zu: man kan den
Hoch-
[155]der Clariſſa.
Hochɯuth doch endlich zwingen. Jch kehr-
te mich aber nicht an ſie.
Meine Mutter war ungemein guͤtig gegen
mich. Jch fragte ſie: ob der Thee ſo recht waͤ-
re? ſie ſagte gantz leiſe: mir iſt alles recht/ mein
Hertz/ was du thuſt. Jch bildete mir auf dieſes
guͤtige Wort recht viel ein: und ich hoffte, daß
auch mein Vater alles Mißvergnuͤgen haͤtte fah-
ren laſſen, denn er redete auch ein paar mahl
freundlich mit mir. Es ſind Kleinigkeiten, da-
mit ich Sie bemuͤhe: allein dieſe Kleinigkeiten wa-
ren Vorbereitungen zu Dingen, die fuͤr mich von
groſſer Wichtigkeit ſind.
Noch vor Endigung des Fruͤhſtuͤcks ging mein
Vater mit meiner Mutter hinaus, unter dem
Vorwand, daß er ein Wort mit ihr allein zu re-
den haͤtte. Meine Schweſter und meiner Mutter
Schweſter verlohren ſich auch eine nach der an-
dern. Mein Bruder gab mir einige ſpoͤttiſche
Blicke, die ich genug verſtand, allein Herr Sol-
mes merckte nichts davon. Endlich ſtand er auch
auf, und ſagte zu mir: ich habe etwas rares/
das ich euch gern zeigen wollte. Jch will
es holen. Er ging gleich hinaus, und ſchlug die
Thuͤr hinter ſich zu. Jch merckte l[eic]ht, was die Ab-
ſicht waͤre. Jch ſtand auf, eben da der Solmes ei-
nige Sylben heraus brachte, die der Anfang ei-
ner Rede werden ſolten, und die krummen Fuͤſſe
ſo ſetzte, als wolte er naͤher zu mir kommen. Jn
der That, alles was er thut iſt mir verhaßt. Jch
unterbrach ihn: ich will meinen Bruder der
Muͤhe
[156]Die Geſchichte
Muͤhe uͤberheben/ ſeine Raritaͤt herzubrin-
gen: machte meinen Reverentz, und ſagte: ihre
Dienerin mein Herr. Er ſahe aus wie ein Nar-
re, und rief ein paar mahl: Madame! Madame!
Jch ließ ihn ſtehen, und ſuchte meinen Bruder
auf, um mein Wort zu halten, der mit meiner
Schweſter in den Garten gegangen war, obgleich
das Wetter nicht eben das beſte war. Nun war
es deutlich, daß er ſeine Raritaͤt bey mir in der
Stube gelaſſen hatte, und mir keine andere zu
zeigen gedachte.
Jch war kaum in meine Stube getreten, und
hatte mir vorgenommen, mir durch meine Hanni-
chen die Erlaubniß ausbitten zu laſſen, daß ich
meine Mutter allein ſprechen koͤnte, wozu mir ihre
vorhin bewieſene Guͤtigkeit noch mehr Muth
machte: ſo kam Schorey ſchon, und brachte
mir Befehl von ihr, mich in ihrem Cloſet (*) ein-
znfinden.
Jch erfuhr durch Hannichen, daß mein Va-
ter eben mit einem ernſtlichen und zornigen Geſich-
te aus meiner Mutter Stube gegangen war. Jch
furchte mich deshalb eben ſo ſehr vor einer Un-
terre-
[157]der Clariſſa.
terredung mit meiner Mutter, als ich ſie vorhin
gewuͤnſcht hatte. Jch ging aber dennoch hin-
unter: und meine Furcht machte, daß ich mit
Zittern zu ihr trat, und ſie ſehen konnte, wie
mir das Hertz ſchlug.
Sie ſahe, daß ich voller Furcht waͤre, und
oͤffnete mir ihre liebreichen Armen mit denen ſie
mich umfing. Komm mein Kind/ ſagte ſie,
und kuͤſſe mich. Warum zittert mein Klei-
nod ſo? Dieſe Guͤtigkeit, damit ſie mich auf
das zubereitete, was ſie unangenehmes zu ſagen
hatte, und die Freundlichkeit, die ich kurtz vorhin
von ihr genoſſen hatte, benahmen mir meine
Furcht einiger maſſen: Sie ſahe wol, daß ſie
die bittere Pille verſilbern muͤſte.
Jch konnte nichts weiter zu ihr ſagen, als:
o meine Mutter! Jch ſchlug meine Arme um
ihren Hals, und ließ mein Geſicht in ihren Buſen
ſincken. Sie ſpꝛach: mein Kind/ mein Kind/
du kanſt gar zu beweglich thun. Brauche
dich jetzt deines Veꝛmoͤgens nicht, ſonſt wer-
de ich mich mich nicht wagen duͤrfen, bey diꝛ
allein zu bleiben. Wir weinten beyde: Jhre Thraͤ-
nen fielen auf meinen Hals, und meine in ihren Bu-
ſen. O muͤſſen alle dieſe guͤtige Worte, davon ihre
Lippen uͤberfloſſen, vergeblich ausgeſprochen ſeyn!
Hebe doch dein liebes Geſicht auf: ſagte ſie
noch weiter: mein beſtes Kind! meine eigene
Tochter! meine Claͤrchen Harlowe! meine
allerliebſte Tochter! hebe doch das Geſicht
auf/ das ich ſtets ſo ſehr geliebet habe.
Was
[158]Die Geſchichte
Was ſollen dieſe Seuffzer! Soll die bloſſe
Furcht, daß ich dich zum Gehorſam er-
mahnen muß/ dich in ſolche Unruhe ſetzen,
daß du ehe ich noch anfange zu reden ‒ ‒ ‒
Es iſt mir lieb/ mein Hertz/ daß du nun
ſchon rathen kanſt/ was ich zu ſagen ha-
be. Jch bin nun der Muͤhe uͤberhoben/
dir das zu eroͤffnen/ was mir wuͤrde ſo
ſchwer geworden ſeyn/ und was ich doch
uͤber mich genommen hatte/ dir zu ſagen.
Hierauf ſtund ſie auf, um einen Stuhl herbey
zu ziehen. Jch muſte mich, ſo wie ich war, da
ich mir aus Furcht vor dem was ſie zu ſagen
hatte, und aus Danckbarkeit gegen ihr muͤtterli-
ches Hertz, der Thraͤnen nicht enthalten konnte,
bey ihr niederſetzen. Seuffzer blieben noch die
eintzige Sprache, die ich reden konnte. Sie zog
ihren Stuhl noch naͤher an meinen, und umfaſ-
ſete mich mit ihren zaͤrtlichen Armen, und druͤck-
te meinen gluͤenden Hals, den ſie mit Thraͤnen
befeuchtet hatte, an den ihrigen: laß mich denn
reden/ mein Kind/ weil du doch nicht re-
den willſt. Hoͤre mir denn zu; und falle
mir nun auch nicht in die Rede.
Du weißt/ mein Kind/ was ich taͤglich
auszuſtehen habe/ um Frieden zu erhalten.
Dein Vater iſt ein guter Mann und mei-
net es recht gut: aber er will ſich weder
einreden/ noch ſich uͤberreden laſſen. Du
haſt bisweilen mit mir Mitleiden gehabt/
daß ich in allen Dingen nachgeben mnß.
Der
[159]der Clariſſa.
Der arme Mann! Er hat wenig Ehre/
und ich habe deſto mehr Ehre davon/ wenn
ich nachgebe: ich wollte aber lieber dieſe
Ehre nicht haben/ da ſie mir und ihm ſo
theur zu erkauffen wird. Dn biſt ein ge-
horſames/ ein verſtaͤndiges Kind/ (ver-
muthlich wollte ſie mich durch dieſes Lob erſt ſo ge-
horſam und verſtaͤndig machen, als ſie mich zu
ſehen wuͤnſchte) ich weiß gewiß/ du wirſt
meine Unruhe nicht vergroͤſſern wollen: du
wirſt den Haus-Frieden nicht ſtoͤren wol-
len/ der deiner Mutter bisher ſo viel geko-
ſtet hat. Gehorſam iſt beſſer denn Opfer.
O meine Claͤrchen Harlowe/ erfreue mich/
und ſage mir/ daß ich bisher eine unnoͤthige
Furcht deinetwegrn gehabt habe. Jch ſe-
he deine Bekuͤmmersiß! ich ſehe deine Ver-
wirrung wohl! Jch ſehe/ wie du mit dir
ſelbſt zu ſtreiten haſt. Jch will dich einen
Augenblick allein laſſen. Hier zog ſie ihre
Arme von meinem Halſe ab, und ſtund auf, damit
ich ihre eigene Bekuͤmmerniß und Mitleiden nicht
wahrnehmen moͤchte. Jch wollte reden, und fiel
ſo gleich, da ſie mich loßgelaſſen hatte, auf mei-
ne Kniee, als wollte ich ſie um Huͤlfe und Mit-
leiden anflehen. Aber ſie ſagte: Antworte mir
nicht. Jch habe mich noch nicht gefaſſet/
deine unuͤberwindlichen Bitten und Klagen
anzuhoͤreu. Jch will dich allein laſſen/
damit du dich beſſer faſſen kanſt. So lieb
dir deiner Mutter Segen iſt/ ſo ſehr bitte
ich
[160]Die Geſchichte
ich dich/ laß nicht alle meine muͤtterliche
Zaͤrtlichkeit an dir verſchwendet ſeyn. Sie
ging hierauf in die Stube, und wiſchte ſich die
Augen ab, da meine von Thraͤnen uͤberfloſſen, und
und mein Hertz alles verſtand und fuͤhlte, was
ſie mir hatte ſagen wollen.
Sie kam bald wieder, nachdem ſie ſich haͤr-
ter gemacht hatte, und fand mich noch auf mei-
nen Knieen. Das Geſicht hatte ich auf den
Stuhl gelegt, auf dem ſie geſeſſen hatte.
Siehe mich doch an/ ſprach ſie, meine
Claͤrchen Harlowe. Jch hoffe/ du wirſt
nicht muͤrriſch und eigenſinnig leyn.
„Nein!„ ſagte ich: „gewiß nicht.„ Jch ſtand
auf: und fiel abermals vor ihr auf die Knie. Sie
richtete mich auf: Kein knien gegen mich!
als nur durch Gehorſam und Nachgeben.
Dein Hertz/ und nicht deine Knie muͤſſen
ſich beugen. Die Sache iſt einmal ausge-
macht. Schicke dich/ deinem Vater ſo zu
begegnen/ wenn er zu dir kommen wird/
als er es wuͤnſcht. Auf dieſer eintzigen
Viertel-Stunde beruht meine kuͤnfftige
Ruhe und Gluͤckſeligkeit/ das Vergnuͤgen
unſerer Familie/ und deine eigene Sicher-
heit. Denn du weißt/ wie hefftig dein Va-
ter iſt. Jch ſage dir endlich/ daß du/ ſo
lieb dir mein Segen iſt/ dich darein erge-
ben ſollſt/ Herrn Solmes zu nehmen.
Nun ging mir der Stich an das Hertz. Jch
fiel nieder: und da ich wieder zu mir ſelbſt kam,
be-
[161]der Clariſſa.
befand ich mich in den Haͤnden meiner Hanni-
chen und des Cammermaͤdchens meiner Schwe-
ſter, die mir die Haͤnde offen hielten. Sie hatten
mir die Naͤthe an den Kleidern aufgeſchnitten, und
meine Mutter war weggegangen. Waͤre meine
Mutter vorhin nicht ſo guͤtig gegen mich geweſen,
und haͤtte ſie den verhaßten Namen gar nicht, oder
nach einiger vorhergegangenen Vorbereitung ge-
nannt, ſo wuͤrde ich den ſchrecklichen Ton ohne
eine ſo merckliche Gemuͤths-Bewegung haben an-
hoͤren koͤnnen. Aber was fuͤr ein hartes Wort
einer Mutter, gegen die ich ſo viel kindliche Liebe
und Ehrfurcht hege, war es nicht, daß ſie mir
bey Verluſt ihres Segens befohl, daß ich mich
darein ergeben ſollte, Herrn Solmes zu neh-
men?
Schorey brachte mir darauf in meiner Mut-
ter Namen auf eine recht foͤrmliche Art dieſes Com-
pliment: die gnaͤdige Frau iſt wegen ihrer
Unpaͤßlichkeit ſehr bekuͤm̃ert. Sie wuͤnſcht
ſie nach einer Stunde wieder bey ſich zu ſe-
hen/ und hat mir noch aufgetragen ihnen
zu ſagen: daß ſie alsdenn alles von ihrem
Gehorſam erwartet. Jch ließ nichts wieder
beſtellen. Denn was konte ich ſagen? Hanni-
chen muſte mich in meine eigene Stube fuͤhren.
Sie werden leicht dencken, wie ich hier den groͤſſe-
ſten Theil meiner Zeit zugebracht habe.
Jndeſſen kam meine Mutter zu mir herauf.
Sie ſagte: ich will lieber in dieſe Stube kommen.
Erſchrick dich nur nicht, mein Kind: zittere
Erſter Theil. Lnicht
[162]Die Geſchichte
nicht. Bin ich nicht deine Mutter? Bin ich nicht
deine guͤtige, deine liebe Mutter? Mache mich
nicht durch deine Unruhe auch unruhig. Jch will
dich gern vergnuͤgt machen; mache du mich nicht
misvergnuͤgt. Komm, mein Kind, wir wollen
in deine Buͤcher-Stube gehen.
Sie faßte meine Hand, ging voran, und hieß
mich bey ihr niederfitzen. Nachdem ſie ſich nach
meinem Befinden erkundiget hatte, fing ſie ſo an
zu reden, als glaubte ſie, daß ich die Bedenckzeit
dazu angewandt haͤtte, alle meine Zweifel zu uͤber-
winden.
Sie beliebte zu ſagen, daß mein Vater und ſie
um meine natuͤrliche Beſcheidenheit zu ſchonen,
die gantze Sache uͤber ſich genommen haͤtten.
Hoͤre mich aus/ und denn rede. (denn ich
wollte eben losbrechen und mich verantworten.)
Du weißt wohl was Herr Solmes fuͤr eine
Abſicht gehabt hat/ um welcher willen er
unſer Haus bisher ſo oft beſucht hat.
Liebſte Mutter! ſagte ich.
Hoͤre mich aus/ und denn rede. Er hat
zwar nicht alle Eigenſchaften/ die ich ihm
wuͤnſchen moͤchte. Allein er iſt ein tugend-
hafter Mann/ und er hat keine Laſter.
Keine Laſter?
Hoͤre mich aus Kind. Du haſt in deiner
Auffuͤhrung gegen ihn nicht allerdings ge-
fehlt. Wir haben mit Vergnuͤgen geſehen/
daß du nicht ‒ ‒
Soll
[163]der Clariſſa.
Soll ich itzo noch nicht reden?
Jch werde gleich ausgeredet haben. Ein
ſo tugendhaftes und ſrommes Kind/ be-
liebte ſie zu ſagen/ kan einen Ertz-Boͤſewicht
ohnmoͤglich lieben. Du haſt viel zu viel Lie-
be fuͤr deinen Bruder/ als daß du jemanden
zu heyrathen wuͤnſchen ſolteſt/ der ihn bey
nahe getoͤdtet haͤtte/ der deines Vaters
Bruͤdern drohet/ und der uns allen trotzet.
Du haſt ſechs oder ſieben mal deinen Wil-
len gehabt. Wir wollen uns jetzt nur in
Sicherheit ſetzen/ daß du nie einem ſo lie-
derlichen Menſchen zu Theil werden moͤ-
geſt. Sage es mir. Jch darf es doch
wohl wiſſen: ob du dieſen Kerl allen uͤbri-
gen vorzieheſt? GOtt behuͤte mich/ daß
du nicht mit Ja antworteſt. Denn eine
ſolche Erklaͤrung wuͤrde uns alle ungluͤck-
lich machen. Doch ſage es mir/ biſt du
in dieſen Mann verliebet?
Jch wußte wohl, was darauf folgen wuͤrde,
wenn ich nein geſaget haͤtte.
Du ſtockeſt. Du antworteſt mir nicht:
du kanſt mir nicht antworten. (Sie ſtand
auf) Jch will dich nie wieder anſehen.
O Liebſte Mutter/ Toͤdten ſie mich nicht
durch ihren Unwillen. Jch wollte nicht/
ich koͤnte nicht einen Augenblick ſchweigen/
wo ich nicht eine Folge vermuthen muͤßte/
wenn ich ſo antwortete/ wie ſie es gerne
L 2ſehen.
[164]Die Geſchichte
ſehen. Allein es mag meine Antwort fuͤr
eine Folge haben/ welche ſie will/ ſo zwin-
get mich ihre Drohung doch zu reden. Jch
ſage es frey heraus/ daß ich mein eigen Herz
nicht kenne/ wenn es nicht ganz frey von
Liebe iſt. Jch bitte liebſte Mutter/ laſſen
ſie mich doch fragen/ womit habe ich es deñ
in meiner Auffuͤhrung verſehen/ daß ich wie
ein leichtſinnigkes Maͤdchen ſoll zum Hey-
rathen gezwungen werden/ um mich ich
weiß nicht wo vor zu bewahren. Darf ich
ſie nicht bitten/ daß ſie fuͤr meine Ehre be-
ſorgt ſeyn wollen? Laſſen ſie ihre Clariſſa
nicht zu einer Verbindung gezwungen wer-
den/ von der ſie gern ihr Lebe-Tage frey
bleiben moͤchte es ſey auch mit wem es wol-
le. Zwingen ſie mich doch nicht/ aus der
uͤberfluͤßigen Beyſorge/ daß ich mir ſonſt
ſelbſt eine Parthey ausſuchen und meine
Familie beſchimpfen moͤchte.
Sie vergaß auf die Bewegungs-Gruͤnde, die
ich vorgebracht hatte, zu antworten: Gut! ſagte
ſie, Claͤrchen/ wenn dein Hertz frey iſt ‒ ‒ ‒
„Meine liebe Mutter, laſſen ſie jetzt ihrem guͤti-
„gen und edlen Hertzen Freyheit, daß es ein Wort
„fuͤr mich bey ihnen ſprechen darff. Ziehen ſie
„nicht die Folge aus meinen Worten, die ich vor-
„hin beſorgte, und mich deshalb ſcheuete zu ant-
„worten.„
„Jch will mir nicht immer in die Rede fallen
„laſſen, Claͤrchen. Du ſieheſt in meiner Auf-
fuͤh-
[165]der Clariſſa.
„fuͤhrung gegen dich muͤtterliche Zaͤrtlichkeit. Du
„kanſt wol mercken, daß ich nicht gern von einer
„dir verdrießlichen Sache mit dir zu reden uͤber
„mich genommen habe, weil ich ſelbſt den Mann
„in einigen Stuͤcken noch beſſer wuͤnſchte, und
„weil ich weiß, daß du an einem Braͤutigam eine
„uͤbertriebene Vollkommenheit ſucheſt.
„Halten ſie mir nur dieſes mahl, ſagte ich,
„entſchuldiget. Jſt denn einige Gefahr, daß
„ich etwas unbeſonnenes in Abſicht auf denje-
„nigen, auf welchen ſie zielen, vornehmen werde.
„Noch einmal in die Rede gefallen! Sollſt du
„mich denn fragen, und die Sache mit mir aus-
„fechten? du weißt, daß wird an einem andern
„Orte nicht angehen: wahrhaftig es wird nicht
„angehen. Was haſt du unartiges Maͤdchen denn
„fuͤr Urſachen, es gegen mich zu verſuchen, als
„weil du meynſt, ich ſey ſo guͤtig, daß du es
„mir wohl bieten duͤrfeſt.„
„Was ſoll ich ſagen? was ſoll ich thun?
„Was kan doch fuͤr eine Urſache dazu vorhan-
„den ſeyn, daß keine Vorſtellung von mir an-
„genommen werden ſoll?
„Noch einmahl, Clariſſa Harlowe?
„Vergeben Sie mir, allerliebſte Mutter. Jch
„habe ſtets meine Ehre und mein Vergnuͤgen
„darin geſucht, daß ich ihnen Gehorſam gelei-
„ſtet habe. Aber ſehen ſie doch den Mann nur
„an! wie ungeſtalt! wie unangenehm!
L 3„Nun
[166]Die Geſchichte
„Nun ſehe ich, Claͤrchen/ auf wen du ein
„Auge wirfſt. Herr Solmes iſt nur in Ver-
„gleichung gegen einen andern unangenehm, weil
„er nicht ſo viel angenehmes hat als ein anderer,
„der dir beſſer in die Augen faͤllt.„
Aber, erwiederte ich, „ſind nicht ſeine Sit-
„ten eben ſo unangenehm? Jſt nicht ſeine aͤuſſere
„Geſtalt eine wahre Abbildung ſeines Gemuͤths?
„Jch frage nach dem andern Mann gar nichts,
„und will nichts nach ihm fragen. Erloͤſen ſie
„mich nur von dieſem, vor dem mein Hertz einen
„naturlichen Abſcheu hat.„
„Unterſtehe dich nur, deinem Vater ſolche
„Bedingungen vorzuſchreiben! Glaubſt du,
„daß es ihm wird ertraͤglich ſeyn, ſich mit dir
„in einen ſolchen Wortwechſel einzulaſſen? Habe
„ich dich nicht beſchworen, gehorſam zu ſeyn,
„ſo lieb es dir iſt, daß ich noch eine ruhige Stunde
„habe? Was habe ich in der Welt, daß ich
„nicht aufopfere? Selbſt die Arbeit die ich jetzt
„uͤbernehme, weil ich beſorgte du moͤchteſt dich
„nicht ſo leicht bewegen laſſen, iſt mir wahrhaftig
„eine ſchwere Arbeit. Wilſt du denn gar nichts
„aufopfern? Haſt du nicht alle Partheyen aus-
„geſchlagen, die dir angetragen ſind? Wenn wir
„keinen Argwohn haben ſollen, daß du dabey ei-
„ne geheime Abſicht gehabt haſt, ſo bequeme dich
„jetzt. Denn gehorchen muſt du, oder du wirſt
„dafuͤr angeſehen werden, als wollteſt du der
„gantzen Famile trotzen.„
Als ſie dis geſagt hatte, ſtand ſie auf, und
ging
[167]der Clariſſa.
ging weg. Allein in der Thuͤr blieb ſir noch ſtehen,
und kehrte ſich mit den Worten um: ich will drun-
ten nicht erzehlen, in was fuͤr einer Gemuͤths-Faſ-
ſung ich dich verlaſſen habe. Ueberlege alles wohl.
Die Sache iſt einmal beſchloſſen. Wenn du dei-
nes Vaters und deiner Mutter Segen und das
Vergnuͤgen der gantzen Familie hochſchaͤtzeſt, ſo
gib nach. ich laſſe dich auf einige Augenblick al-
lein, und komme bald wieder. Mache, daß ich
dich ſo finde, als ich dich gern finden wollte. Wenn
dein Hertz frey von Liebe iſt, ſo laß es durch Gehor-
ſam regiert werden.
Nach einer halben Stunde kam meine Mutter
wieder. Sie faßte mich an die Hand, und ſagte:
„iſt es mir beſcheert, daß ich mich immer ſelbſt
„wegen meiner Fehler beſtrafen muß? Jch fuͤrch-
„te, daß ich mir durch die Art, mit der ich mei-
„nen Vortrag anbrachte, ſelbſt deine abſchlaͤgige
„Antwort zugezogen habe. Jch fing ſo an mit
„dir zu reden, als wenn ich eine abſchlaͤgige Ant-
„wort befuͤrchtete, und durch dieſe Gelindigkeit
„habe ich dich dreiſte gemacht, ſie mir zu geben.
„Sagen ſie das nicht, wertheſte Mutter!„
Sie fuhrt fort: „wenn ich ſelbſt die Gelegen-
„heit zu unſerm Streit gegeben haͤtte; ja wenn
„es nur in meiner Macht ſtuͤnde, nachzugeben:
„ſo weiſt du wohl, wie viel du bey mir ausrich-
„ten kanſt. ‒ ‒„
Was meynen Sie, liebſte Fraͤulein Howe/
kan man Luſt zum heyrathen bekommen, wenn
man gewahr wird, daß ein ſo artiges und edles
L 4Gemuͤth
[168]Die Geſchichte
Gemuͤth als meiner Mutter ihres entweder da-
durch ungluͤcklich oder alles Vermoͤgens beraubet
werden muß, ſeinen guͤtigen Trieben zu folgen?)
„‒ ‒ Jch wollte das vorige mahl deine Gruͤnde
„nicht einmahl anhoͤren, weil ich doch ſchon zum
„voraus wuſte, daß ſie nichts ausrichten wuͤrden.
„Auch hierin habe ich gefehlt. Denn von ei-
„nem jungen Kinde, das gewohnt iſt, alles zu
„uͤberlegen, und ſich durch Gruͤnde uͤberzeugen
„zu laſſen, muß man billig alle Einwendungen
„anhoͤren. Jch komme aber zum dritten mahl,
„und bin bereit, alles anzuhoͤren, was du zu
„ſagen haſt. Aber laß dich doch durch meine
„Gedult zur Danckbarkeit, ich will ſo gar ſagen,
„zur Großmuth reitzen! denn mit dir ſpreche
„ich jetzund, die du ſonſt ein ſo großmuͤthiges
„Hertz gehabt haſt. Wenn dein Hertz in der
„That durch keine andere Liebe gebunden iſt,
„ſo zeige mir einmal, wie viel du mir zu Gefallen
„thun kanſt. Sey nur ſo beſcheiden in deinen
„Reden, als du ſonſt zu ſeyn pflegeſt, ſo will
„ich alles anhoͤren: aber wiſſe zum voraus, du
„magſt ſagen was du wilſt, ſo wird es nichts
„fruchten.„
„Wie fuͤrchterlich iſt dieſe Vorbereitung?„
ſagte ich. „Jndeſſen wuͤrden doch meine Reden
„etwas fruchten, wenn ich Sie nur zum Mitlei-
„den bewegen koͤnte.„
„Mein Mitleiden und meine Liebe haſt du
„vollkommen. Allein Claͤrchen/ was fragt
„ein ſo verſtaͤndiges Kind, deſſen Hertz ſonſt durch
„nichts
[169]der Clariſſa.
„nichts gebunden iſt, nach dem aͤuſſerlichen
„Anſehen?„
„Soll denn aber mein Auge gleich durch das
„erſte Anſehen beleidiget werden, um mein Hertz
„zu gewinnen? koͤnnen Sie darauf dencken, daß
„ich einen heyrathen ſoll, bey deſſen Anblick ſich
„gleich das Herz im Leibe vor Eckel umkehren muß,
„ſonderlich wenn eine jede Unterredung mit ihm
„mich daꝛin bekꝛaͤftiget, daß mein Eckel geꝛecht ſey?
„Das ſind nur vorgefaßte Meynungen, Claͤr-
„chen. Laß mich nicht ſo weit getrieben wer-
„den, daß ich die edle Standhaftigkeit bey dir
„fuͤr einen Fehler anſehen muß, die ich ſonſt fuͤr
„deine Ehre hielt, und darauf ich mir mit mei-
„ner Tochter recht viel einbildete. Jn dieſem
„Fall wuͤſte ich es nicht anders als Hartnaͤckigkeit
„und Ungehorſam zu nennen. Haſt du nicht ge-
„gen etliche allerhand Einwendungen gemacht ‒ ‒
„Die Einwendungen gingen auf ihr Gemuͤth,
„oder auf ihre Begriffe von der Religion. Aber
„dieſer Mann ‒ ‒
„Jſt ein ehrlicher Mann, Claͤrchen. Er
„hat ein gut Gemuͤth. Er iſt ein tugendhafter
„Mann.„
„Er ſoll ein ehrlicher Mann ſeyn? Sein Ge-
„muͤth gut? Er ein tugendhafter Mann?„
„Niemand hat ihm dieſen Ruhm je abgeleug-
„net.„
„Kan das ein ehrlicher Mann ſeyn, der an
„allen ſeinen Anverwanten zum Raͤuber werden,
„und ihnen ihre gerechte Anwardtſchaften entzie-
L 5„hen
[170]Die Geſchichte
„hen will? kan der ein gutes Gemuͤth haben?„
„Aus Liebe zu dir, Claͤrchen/ verſpricht er
„eben ſo vieles. Du biſt die allerletzte, die ihm
„ſeine Guͤtigkeit gegen dich vorwerfeu darf.„
„Vergoͤnnen Sie mir dis zu ſagen. Wer
„wahre Gluͤckſeligkeit hoͤher ſchaͤtzt, als Geld,
„wie ich thue, die ich nicht einmal ſo viel brauche
„als ich habe, und das meinige zum Zeichen mei-
„nes Gehorſams fahren laſſen kan ‒ ‒„
„Nichts mehr! nichts mehr von deinen guten
„Wercken. Du weißt, daß du durch die Probe,
„die du mit Freuden von deinem Gehorſam ge-
„geben haſt, nichts verlieren ſondern gewinnen
„wirſt. Du haſt nur dein Brod uͤber das
„Waſſer fabren laſſen. Sage alſo nichts mehr
„davon. Es ſieht es nicht jedermann fuͤr ein
„gures Werck an: ob ich es gleich fuͤr ein ſehr
„gutes Werck halte. Und ſo urtheilten auch dein
„Vater und ſeine Bruͤder damahls davon.„
Damahls! „ſagen ſie. O wie niedertraͤch-
„tig handelt mein Bruder und meine Schweſter,
„weil ſie beſorgen, daß die Liebe, die alle noch
„vor kurtzen auf mich wurfen ‒ ‒„
„Jch hoͤre keine Klage gegen deinen Bruder
„und Schweſter an. Was fuͤr Streitigkeiten in
„unſerer Familie ſehe ich zu einer Zeit zum voraus,
„in welcher ich hoffete, daß ihr alle der Troſt,
„meiner zunehmenden Jahre werden ſolltet!„
„GOtt gebe ſein Gedeyen zu allen großmuͤ-
„thigen Abſichten meines Bruders und meiner
„Schweſter! Jch will keine Streitigkeiten in der
„Familie
[171]der Clariſſa.
„Familie veranlaſſen, wenn ich ihnen nur vor-
„beugen kan. Sie ſollen mir ſelbſt befehlen,
„was ich von ihnen tragen ſoll: und das will ich
„tragen. Allein laſſen ſie meine Handlungen fuͤr
„mich reden, und richten ſie ſich nicht nach den
„falſchen Auslegungen, die jene daruͤber machen.
„Denn ich bin gewiß verſichert, daß dieſes
„mein Ungluͤck geweſen iſt. Aus den harten
„und unangenehmen Verboten, die mir neulich
„gegeben ſind, habe ich es wohl mercken koͤnnen.
Eben kam mein Vater herauf. Seine ernſt-
hafte Mine machte mich zitternd. Er ging zwey
oder dreymahl in meiner Stuben auf und nieder,
und ſagte darauf zu meiner Mutter, die bey ſei-
nem Eintritt in die Stube aufhoͤrte zu reden:
„du biſt lange ausgeblieben. Das Eſſen iſt
„bald fertig. Was du zu ſagen hatteſt, brauch-
„te nicht viel Worte: ſondern du brauchteſt nur
„ihr deinen und meinen Willen kund zu thun.
„Vielleicht aber haſt du etwas von der Zuberei-
„tung auf die Hochzeit abzureden gehabt. Komm
„bald herunter, und bringe deine Tochter mit,
„wenn ſie anderſt dieſen Namen verdient.„ Als
er wegging, gab er mir einen ſo ernſthaften Blick,
daß ich nicht im Stande war, ein Wort mit ihm
zu reden, ja ich konte eine halbe Viertel-Stunde
gegen meine Mutter aus Beſtuͤrtzung kein Wort
vorbringen.
Konte einen dieſes Betragen nicht einen Schre-
cken einjagen? Meine Mutter ſchien mit meiner
Bekuͤmmerniß Mitleiden zu haben. Sie kuͤſſete
mich,
[172]Die Geſchichte
mich, nennete mich ihr liebes Kind/ und ſag-
te mir: mein Vater ſollte nichts davon erfahren,
daß ich mich ſeinem Willen eine Zeitlang wider-
ſetzt haͤtte. Er haͤtte uns auf eine Ausflucht ge-
holfen, damit ſie ihr langes Auſſenbleiben ent-
ſchuldigen koͤnnte. Komm mein Hertz/ ſag-
te ſie, das Eſſen wird gleich aufgetragen
werden. Wir wollen hinunter gehen.
Mit dieſen Worten ergriff ſie meine Hand.
Hieruͤber erſchrack ich, und ſagte: „Wie? ich
„ſoll mit Jhnen hinunter gehen, um meinen
„Vater in der Meynung zu beſtaͤrcken, daß wir
„von Vorbereitungen zur Hochzeit geredet haben.
„O meine liebe Mutter, befehlen ſie mir nicht,
„mit ihnen zu gehen, wenn dieſe Auslegung dar-
„uͤber gemacht werden ſoll.
„Du ſiehſt, mein Kind, antwortete ſie, daß
„dein Vater uͤber unſer laͤngeres Auſſenbleiben
„die noch ſchlimmere Auslegung machen wird,
„als wollteſt du uͤber etwas ſtreiten und rechten,
„was doch ſchlechterdings deine Schuldigkeit iſt.
„Sey verſichert, daß ihm dieſes unertraͤglich
„ſeyn wird. Hat er dir nicht ſelbſt vor einigen
„Tagen geſagt, daß er Gehorſam fodert? Jch
„will dich zum dritten mahl verlaſſen. Jch muß
„etwas zu deiner Entſchuldigung erdencken:
„ſoll ich ſagen, daß deine Bloͤdigkeit bey dieſer
„Gelegenheit ‒ ‒
„Jch bitte ſie, ſagen ſie nichts von Bloͤdig-
„keit bey einer ſolchen Gelegenheit. Dadurch
„wuͤrde ich Anlaß geben zu hoffen ‒ ‒
Wilſt
[173]der Clariſſa.
„Willſt du denn nicht Anlaß geben zu hoffen,
„verkehrtes Maͤdchen?„ Sie ſtand auf, und
ging eilig weg: „nimm dir Bedenck-Zeit! Es
„iſt noͤthig, daß du dir Bedenck-Zeit nimmſt.
„Wenn ich wieder komme, ſo laß mich hoͤren,
„ob ich wegen meiner Geduld gegen dich mich
„ſelbſt beſtraffen, und von deinem Vater taͤglich
„mir es vorwerffen laſſen ſoll, daß ich dich ver-
„zogen habe.„
Sie blieb noch ein wenig in der Thuͤr ſtehen,
und ſchien zu erwarten, daß ich mich bedencken
und ſie bitten ſolte, einige Entſchuldigung und
guͤtige Auslegung meines Auſſenbleibens vorzu-
bringen. Denn ſie ſagte zu mir: ich glaube/
du wirſt verbitten/ daß ich nicht ſagen
ſoll/ was ‒ ‒
Jch unterbrach ſie: wo ſoll ich auf Liebe
und Zaͤrtlichkeit hoffen/ wenn ich meiner
Mutter Hertz verlohren habe?
Sie ſehen leicht ein, daß eine Bitte, mein Auſ-
ſenbleiben guͤtig zu deuten, in der That ſo viel
wuͤrde geweſen ſeyn, als wenn ich uͤber die Fra-
ge, wegen welcher ich mich ſchon voͤllig entſchloſ-
ſen hatte, noch handeln wollte, und daß ich dadurch
den meinigen Gelegenheit gegeben haben wuͤrde zu
hoffen, daß ich noch einiger maſſen zweifelhaft
waͤre. Meine Mutter ging demnach allein hin-
unter.
Hier will ich meine Erzaͤhlung ſchlieſſen, und
ſie an Ort und Stelle bringen. Sie beehren mich
mit einer ſo zaͤrtlichen Liebe, daß ich nicht fuͤrch-
ten
[174]Die Geſchichte
ten darff, daß ſie meine Erzaͤhlung von Kleinig-
keiten, die jedoch meine Ehre und Gluͤckſeeligkeit
betreffen, fuͤr allzu umſtaͤndlich halten. Jch wer-
de daher meine kuͤnftige Briefe eben ſo einrichten,
als dieſen. Jch bin in ſo mißlichen Umſtaͤnden,
daß ich frey und offenhertzig geſchriebene Nach-
richten nicht gern unter meinen Papieren behalten
mag. Jch bitte Sie, laſſen Sie Robert taͤg-
lich zuſehen, ob ich einen Brief hingelegt habe,
wenn er gleich bisweilen vergeblich kommen ſollte.
Jch werde mich aber freuen, wenn Sie ihn nicht
mit leerer Hand nach dem gruͤnen Gange ſchicken.
Was fuͤr eine Guͤte gegen mich wird es ſeyn, wenn
die Freundſchaft Sie ſo fleißig im Brief-Wechſel
macht, als mich mein Ungluͤck! Wenn die Briefe
weggenommen ſind, ſo halte ich mich verſichert,
daß ſie zu Jhren Haͤnden gekommen ſind. Da
ich ſchreiben werde, ſo oft ich Gelegenheit habe,
ſo darf ich kuͤnftig den Titel und die Unterſchrifft
weglaſſen. Denn Sie wiſſen ohnehin ſchon, mit
wie vieler Ergebenheit ich bin,
Dero ergebenſte
Clariſſa Harlowe.
Der ſiebzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe/
Meine Mutter kam gleich nach dem Eſſen
wieder zu mir, und erzaͤhlte mir: „mein
Va-
[175]der Clariſſa.
„Vater habe ſie befragt, ob ich mit Freuden ge-
„horſam waͤre?„ (es ſcheint, an dem Gehorſam
ſelbſt zweifelt man nicht, ſondern nur an meiner
Freude bey dem Gehorſam) „Sie habe geant-
„wortet: ſie haͤtte einem Kinde, das ſie ſo viel
„Urſache haͤtte zu lieben„ (ihr Ausdruck war,
ſie haͤtte ſich nicht entbrochen dis zu bekennen)
„gern Freyheit laſſen wollen, alles zu ſagen, was
„ihm auf dem Hertzen laͤge, damit der Gehorſam
„deſto williger und ungezwungener ſeyn moͤchte.
„Sie haͤtte eben meine Einwendungeu geduldig
„angehoͤrt, als er in die Stube getreten ſey: und
„ſie faͤnde, daß ich uͤberall nicht Luſt haͤtte, mich
„zu verheyrathen.„
Mein Vater hat hierauf mit Unwillen geant-
wortet: ſie mag ſich in Acht nehmen! Sie mag
ſich ja in Acht nehmen, damit ſie ſich nicht bey
mir verdaͤchtig macht, als wenn ihr Hertz an ei-
nem andern haͤnget. Allein du kanſt ſie aushoͤ-
ren, wenn ſie blos ihr Hertz ausſchuͤtten, und ſich
nicht gegen meinen Befehl auflehnen will. Mei-
ne Mutter erzaͤhlte mir dieſes, mit dem Zuſatz:
„ich bin mit eben der Gemuͤthsfaſſung wieder zu
„dir gekommen, wenn du mich durch deinen Ei-
„genſinn nicht zwingeſt, daß ich meine Auffuͤh-
„rung gegen dich aͤndern muß.„
„Sie haben mir Gerechtigkeit wiederfahren
„laſſen, ſagte ich, wenn Sie bezeuget haben, daß
„ich ſchlechterdings keine Luſt habe, mich zu ver-
hey-
[176]Die Geſchichte
„heyrathen. Jch hoffe, ich ſey bisher nicht ſo
„unnuͤtz in meines Vaters Hauſe geweſen, daß ‒ ‒
„Erzaͤhle mir deine Verdienſte nicht, Claͤr-
„chen. Du biſt ein gutes Kind geweſen, und
„haſt mir die Haushaltungs-Sorgen abgenom-
„men: mache mir aber jetzt nicht mehrere Sorgen,
„als du mir jemals abgenommen haſt. Die Ehre,
„die dir deine Geſchicklich keit in der Haushaltung
„erworben hat, hat deine Muͤhe reichlich bezahlet.
„Allein es wird nun die Huͤlfe, die ich von dir
„haben kan, bald ihr Ende erreichen. Denn
„wenn du heyratheſt, ſo iſt dis ihr natuͤrliches
„und zugleich ein uns allen angenehmes Ende,
„falls nemlich deine Heyrath nach unſerm Sinn
„iſt: denn deine eigene Haushaltung wird deine
„Aufſicht erfodern. Schlaͤgſt du aber dieſe Par-
„they aus, ſo iſt deine Huͤlffe doch am Ende,
„aber nicht auf die natuͤrliche Weiſe. Du verſtehſt
„mich wohl, mein Kind!„ Jch weinte. Sie
fuhr fort: „ich habe mich ſchon nach einer Haus-
„haͤlterin umgeſehen. Jch haͤtte gern deine ehr-
„liche Frau Norton gehabt: aber ich glaube
„daß du ſelbſt wuͤnſchen wirſt, dieſe brave Frau
„bey dir zu haben. Jſt das dein Wunſch, ſo
„will ich dir gern hierin gefaͤllig ſeyn.
„Allein warum liebſte Mutter, warum ſtoͤßt
„man die juͤngere Schweſter in einen Stand,
„in den ich uͤberall zu treten nicht Luſt habe.„
„Jch glaube, du wilſt mich fragen, warum
„man bey Herrn Solmes Antrag nicht auf dei-
„ne Schweſter dencke.„
„Ja,
[177]der Clariſſa.
„Ja, das meyne ich auch, wenn mir er-
„laubt iſt dis zu fragen.
„Die Antwort darauf kanſt du von deinem
„Vater erhalten. Herr Solmes hat ſeine
„Urſachen darum er dich ihr vorziehet.„
„Und ich habe meine Urſachen, darum ich
„ihn nicht haben will. Warum ſoll ich ‒ ‒
Sie unterbrach mich: „die Hitze, mit der
„du mir antworteſt, iſt unertraͤglich. Jch will
„weggehen, dein Vater mag kommen, denn ich
„ich ſehe, ich kan nichts bey dir ausrichten.„
Jch will lieber ſterben, als ‒ ‒„
Sie legte mir die Hand auf den Mund. „Re-
„de kein Wort, Claͤrchen, bey dem du nicht
„wieder zuruͤck kanſt. So bald du mit einem
„Worte ſageſt, daß du nicht nachgeben willſt,
„ſo bald iſt unſre Unterhandlung aus.„
Jch weinte vor Kummer: „dis ſind alle
„meines Bruders Anſtalten. Das iſt die
„Frucht ſeiner unerſaͤttlichen Abſichten.„
„Tadele deinen Bruder nicht: ihm liegt nichts
„am Hertzen, als die Ehre der Familie.„
„Jch will meine Familie eben ſo wenig be-
„ſchimpfen, als mein Bruder.„
„Das glaube ich gern: aber du wirſt hoffent-
„lich deinem Vater, mir, und deinen Onckles
„zutrauen, daß wir am beſten wiſſen, was der
„Familie Ehre oder Schande macht.„
Jch erbot mich abermals unverheyrathet zu
bleiben, odeꝛ wenigſtens nicht ohne alleꝛ voͤllige Be-
willigung eine Parthey zu erwaͤhlen. Allein ich
Erſter Theil. Mbekam
[178]Die Geſchichte
bekam zur Anewort: „wenn ich Proben meines
„Gehorſams geben wollte, ſo muͤſten ſie und
„nicht ich ſelbſt beſtimmen, worin dieſe Pro-
„ben beſtehen ſollten.„
Jch antwortete: „ich hoffete, ich haͤtte mich
„ſtets ſo aufgefuͤhret, daß eine ſolche Probe
„meines Gehorſams, als man mir jetzt auf-
„legte, nicht noͤthig waͤre.
Ja, ſagte ſie, „du haſt dich ſehr wohl auf-
„gefuͤhret. Allein dein Gehorſam iſt bisher
„noch nie auf die Probe geſtellet worden, und
„ich hoffe, du wirſt in dieſer Probe gut beſtehen
„wollen. So lange die Kinder klein ſind, gefaͤllt
„den Eltern alles was ſie thun. Du biſt frey-
„lich in deiner gantzen Auffuͤhrung ein gutes
„Kind geweſen: wir aber haben dir mehr nach-
„gegeben, als du uns. Jetzt iſt die rechte Probier-
„Zeit, da du in die Jahre getreten biſt, daß wir
„auf deine Verheyrathung dencken koͤnnen: ſon-
„derlich da dein Gros-Bater dich bey nahe in
„Freyheit geſetzt, und dich dabey denen vorgezo-
„gen hat, welche eine naͤhere Anwardtſchafft auf
„das Gut hatten.„
„Mein Gros-Vater wuſte ja zum voraus,
„daß mein Vater dieſen Abgang meinem Bru-
„der und meiner Schweſter erſetzen moͤchte; und
„er verlanget dieſes ſo gar in ſeinem letzten Wil-
„len. Jch habe nichts gethan, um mir ſeine
„Liebe zu erwerben, als was meine Schuldigkeit
„war. Es war ſein Vermaͤchtniß nicht ſowohl
„ein Vortheil fuͤr mich, als ein Zeichen ſeiner
„Liebe.
[179]der Clariſſa.
„Liebe. Jch ſuche mich ja auch nicht von dem
„Gehorſam gegen meine Eltern loos zu reiſſen:
„wenn ich Koͤnigin von der gantzen Welt waͤre,
„ſo wollte ich meine Pflicht gegen ſie und gegen
„meinen Vater nie aus den Augen ſetzen; ich
„wollte mir ihren Segen kniend ausbitten, wenn
„auch millionen Menſchen zugegen waͤren. Alſo ‒ ‒
„Jch mag dir nicht gern in die Rede fallen,
„Claͤrchen/ ob du gleich fertig genug biſt mir
„in die Rede zu fallen. Du biſt noch jung,
„und der Sinn iſt dir nicht gebrochen. Bey
„allem Ruhm, den du von deinem Gehorſam
„machſt bitte ich dich, mir etwas mehr Ehrer-
„bietung zu erzeigen, wenn ich rede.
„Jch bitte ſie um Vergebung, und um Ge-
„dult, mich in einer ſo wichtigen Sache zu
„hoͤren. Wenn ich nicht ernſtlich redete, ſo
„wuͤrde es ſcheinen, als haͤtte ich nur einige
„Grillen, nach Art der Maͤdchens, im Kopf,
„da mir doch der Mann gaͤntzlich unertraͤglich iſt.
Clariſſa Harlowe!
„Liebſte, allerliebſte Mutter, erlauben ſie mir
„nur dieſes mahl, daß ich ſagen darf, was ich
„auf dem Hertzen habe. Es iſt etwas hartes
„fuͤr mich, daß ich ihnen nicht einmal die Ur-
„ſache alles meines Ungluͤcks nennen darf.
„Denn ich ſoll kein unehrerbietiges Wort von
„einer gewiſſen Perſon reden, die mich fuͤr eine
„Hinderniß ihrer weitlaͤufftigen und gierigen
„Abſichten haͤlt, und ſich gegen mich auffuͤh-
„ret, als wenn ich ein Sclave waͤre.
M 2„Wie
[180]Die Geſchichte
„Wie weit gehſt du, Claͤrchen?
„Liebſte Mutter, gegen meinen Vater habe
„ich zuviel Hochachtung und Ehrfurcht. Jch
„kan ihn nicht fuͤr ſo hart und herriſch halten,
„daß er gegen ſie geſtuͤnde, er wolle ſchlechter-
„dings als ein Herr mit mir umgehen.
„Was nun Claͤrchen? ‒ ‒ Maͤdchen!
„Jch bitte nur um Gedult. Sie ſelbſt belieb-
„ten ja zu ſagen, ſie wollten mich mit Gedult
„aushoͤren. Das aͤuſſerliche Anſehen ſoll bey
„mir ein Nichts ſeyn, weil man mich fuͤr ver-
„ſtaͤndig haͤlt! Mein Auge ſoll beleidiget, und
„mein Verſtand nicht uͤberzeuget werden!
„Maͤdchen! Maͤdchen!
„So will man mich durch die guten Eigen-
„ſchafften ſtraffen, deren man mich beſchuldigt.
„Jch ſoll ein Ungeheuer heyrathen.
„Jch komme auſſer mir. Redeſt du noch
„Clariſſa Harlowe?
„Meine liebe Mutter, in meinen Augen iſt
„er ein Ungeheuer. ‒ ‒ Damit ich zu dieſer Be-
„gegnung nicht ſauer ſehen moͤge, ruͤhmt man
„mich einmal, daß mein Hertz noch frey von
„Liebe ſey. Ein anderes mahl giebt man mir
„Schuld, daß ich mich in einem jungen Herrn
„verliebt habe, gegen deſſen Auffuͤhrung ſehr
„viel einzuwenden iſt. Jch werde eingeſperret,
„als wenn ich ein liederliches Maͤdchen waͤre,
„und mit dieſem Menſchen davon lauffen, und
„die gantze Familie beſchimpfen wollte. Wer
„kan Gedult behalten, wenn ihm ſo begegnet
„wird?
„Nun
[181]der Clariſſa.
„Nun hoffe ich wirſt du mir auch erlauben zu
„ſprechen, Claͤrchen: denn ich meine, daß ich
„mit dir Geduld gehabt habe. Haͤtte ich den-
„cken koͤnnen ‒ ‒ doch ich will mich kurtz faſſen.
„Deine Mutter ſoll dir ein Exempel der Geduld
„geben, die du ſo dreiſte von ihr foderſt, und doch
„ſelbſt nicht beweiſeſt.„
Dieſe Herablaſſung meiner Mutter machte
mich recht bekuͤmmert, und ging mir weit mehr
zn Hertzen, als Schaͤrffe und Haͤrte haͤtte thun
koͤnnen. Allein ſie wuſte und ich glaube ſie uͤber-
legte auch, daß ſie etwas ſehr hartes und unange-
nehmes zu beſtellen uͤbernommen hatte, ja ich mag
ſagen, etwas ungerechtes: ſonſt wuͤrde ſie nicht ſo
viel Geduld mit mir gehabt haben.
„Du muſt wiſſen, fuhr ſie fort, daß auf eine
„kurtze Zeit, darinn du dich beſinnen kannſt,
„alles ankommet: das hat mir dein Vater mit
„den Worten geſagt. Bisher biſt du ein ge-
„horſames Kind geweſen, wie du mir ſo oft vor-
„ruͤckeſt. Du haſt aber auch nicht Urſache ge-
„habt ungehorſam zu ſeyn: denn es hat nicht
„leicht ein Kind mehr Liebe genoſſen als du. Bey
„dir ſteht es nun, was du zu thun gedenckſt.
„Willſt du alle deine vorigen guten Wercke
„ſchwartz machen? Willſt du zu der Zeit, da
„man von dir erwartet, daß du deinen kindlichen
„Gehorſam durch die groͤſſeſte Probe croͤnen wer-
„deſt, da du ſageſt, daß dein Hertz frey von Lie-
„be ſey, uns dieſe ſo gewuͤnſchte Probe geben?
„Oder haſt du die Abſicht, frey und ungebunden
M 3nach
[182]Die Geſchichte
„nach deinem eigenen Sinne zu handeln? (Denn
„ſo wird man es nehmen, Claͤrchen/ wenn du
„es auch nicht ſo meineſt) Wilſt du machen, daß
„einer den du vielleicht heimlich liebeſt, die Un-
„gebundenheit die dir dein eigenes geerbtes Ver-
„moͤgen zu geben ſcheint wider uns alle fuͤr dich
„oder vielmehr wider ſich ſelbſt anwendet? Wilſt
„du mit uns allen brechen? und einem ſo eiferſuͤch-
„tigen Vater trotzen, der vielleicht ohne Noth
„eiferſuͤchtig iſt, wenn es auf die Vorrechte ſeines
„Geſchlechts uͤber unſeres ankommt, aber war-
„lich noch zehnmal ſtrenger ſeyn wird, die Rech-
„te eines Vaters zu behaupten? Das iſt die
„Sache, die wir jetzt miteinander zu uͤberlegen
„haben. Du weißt, daß dein Vater einmal
„ſeinen Schluß gefaſſet hat, und daß er noch
„niemals nachgegeben hat, wo er glaubte, daß
„er Recht haͤtte die Sache durchzutreiben.
Nur allzu wahr! dachte ich bey mir ſelbſt.
Mein Bruder hat einmal meinen Vater auf ſei-
ner Seite, und ſo hat ſein Vorſchlag ſchon Haͤnde
und Fuͤſſe, und wird gehen, ohne daß er ſich wei-
ter bemuͤhet. Denn nun heißt es meines Va-
ters Befehl, dem ich mich widerſetzte, und
nicht meines Bruders gewinnſuͤchtige Abſichten.
Jch ſchwieg ſtille, und ich muß bekennen, daß
etwas Eigenſinn in meinem Stillſchweigen war.
Mein Hertz war mir zu beklemmt, und es kam mir
hart vor, daß meine Mutter mich ſelbſt gleich-
ſam aufgegeben hat, und den unbaͤndigen Wil-
len meines Bruders auch zu ihrem Willen ge-
macht
[183]der Clariſſa.
macht hat. Allein mein Stillſchweigen half mir
noch weniger: ſie ſagte: „ich ſehe, Kind, du biſt
„uͤberzeugt. Nun biſt du mein gutes Kind, nun
„habe ich dich lieb, meine Claͤrchen. Jch will
„mich nicht einmahl mercken laſſen, daß du mir
„widerſprochen haſt, ſondern alle Schuld auf
„deine Beſcheidenheit ſchieben, die dir ſo beſon-
„ders eigen iſt. Deine Verleugnung und Ge-
„horſam ſoll dir bey deinem Vater als ein voͤl-
„liges gutes Werck angeſchrieben werden.„
Jch weinte. Sie wiſchte mir die Thraͤnen
zaͤrtlich aus den Augen, und kuͤſſete mich. „Dein
„Vater wartet darauf, daß du mit einem froͤ-
„lichen Geſicht hinunter kommen ſolſt: ich will
„dich aber noch entſchuldigen. Du ſiehſt, daß
„ich allen deinen Einwuͤrffen mit recht muͤtter-
„licher Liebe und Geduld begegnet bin. Jch
„freue mich in der Hoffnung, daß du nun uͤber-
„zeuget biſt. Das iſt mir ein Beweis der er-
„freulichen Wahrheit, daß dein Hertz noch un-
„gebunden iſt.„
Jſt dieſes nicht beynahe eine Grauſamkeit von
einer ſo guͤtigen Mutter? Es wuͤrde gottlos ſeyn
(waͤre es nicht gottlos, mein Schatz?) wenn ich
glauben wollte, daß meine Mutter gegen mich
Raͤncke ſpielen koͤnnte. Allein ſie wird gezwun-
gen, und muß ſich allerhand Wege gefallen laſſen,
vor denen ihr Hertz einen Abſcheu hat. Sie ſucht
blos mein beſtes, denn ſie ſiehet ſchon zum voraus,
daß meine Einwendungen bey gewiſſen andern
Ohren gar kein Gehoͤr finden werden.
M 4Sie
[184]Die Geſchichte
Sie ſagte: „ich will hinunter gehen, und
„dich entſchuldigen, daß du dieſen Nachmittag
„nicht zum Thee kommſt: denn ich ſehe wohl,
„daß noch etwas Ueberwindung bey dir erfodert
„wird. Jch verdenke dir dieſes nicht, und ich will
„auch mit deiner natuͤrlichen Bloͤdigkeit Geduld
„haben. Du ſolſt alſo nicht herunter kommen,
„wenn du nicht ſelbſt wilſt. Dis eintzige verlan-
„ge ich, daß du mich durch deine Auffuͤhrung
„nicht zur Luͤgnerin machen ſolſt, wenn du zum
„Abendeſſen kommen wirſt. Fuͤhre dich auch ge-
„gen deinen Bruder und Schweſter nicht anders
„auf, als du ſonſt gethan haſt: denn aus deinem
„Betragen gegen ſie werden wir abnehmen, ob
„du uns mit Freuden gehorſam biſt, oder nicht.
„Du ſiehſt, daß ich dir als eine Freundin rathe, da
„ich dir als Mutter befehlen koͤnte. Lebe wohl,
„mein Hertz.„ Mit dieſen Worten kuͤſſete ſie
mich, und wollte weggehen.
„Meine liebſte Mutter,„ ſagte ich, „ver-
„geben ſie mir: ihr Hertz kan gewiß nicht glau-
„ben, daß ich jemals ſo einen Mann haben
„will.„
Sie ward ſehr ungehalten, und man konte
an ihr mercken, daß es ſie verdroß, ſich in ihrer
Hoffnung betrogen zu ſehen. Sie drohete mir,
ſie wollte mich alles allein mit meinem Vater und
ſeinen Bruͤdern ausmachen laſſen. Sie hielt mir
offenhertzig und freymuͤthig vor: ich ſolte beden-
cken, wie ich meinem Bruder und meiner Schwe-
ſter das Schwerdt in die Haͤnde gaͤbe, wenn ſie
mich
[185]der Clariſſa.
mich aus eigennuͤtzigen Abſichten bey meines Va-
ters Bruͤdern anzuſchwaͤrtzen ſuchten. Sie ſag-
te: ſie haͤtte fruͤhzeitig genug alle moͤgliche Ein-
wendung gegen den jetzigen Vorſchlag angebracht,
weil ſie zum voraus befuͤrchtet haͤtte, daß ich keine
Luſt da zu haben wuͤrde, nachdem ich einige Par-
theyen ausgeſchlagen haͤtte, bey denen das aͤuſſer-
liche viel angenehmer geweſen waͤre. Haͤtte ſie
durchdringen koͤñen, ſo wuͤrde ich gar nichts davon
gehoͤrt haben. Da ſie aber nichts haͤtte ausrich-
ten koͤnnen, ſo duͤrffte ich mir noch viel weniger
Hoffnung dazu machen. Sie haͤtte ſo wohl um
meines eigenen beſten willen, und damit ich die all-
gemeine Liebe der meinigen beybehalten moͤchte,
die ich bisher genoſſen, als auch um ihrer Ruhe
und um des Friedens willen, es uͤbernommen, mit
mir zu reden. So bald ich mich weigerte zu ge-
horchen, wuͤrde mein Vater in Feuer und Flam-
men ausbrechen. Seine Bruͤder waͤren eben ſo
unbeweglich als er, weil ſie feſt glaubten, daß die-
ſe Heyrath ein Mittel zu ihrer Haupt-Abſicht, der
Vergroͤſſerung und Erhebung unſerer Familie,
ſeyn wuͤrde. Jhre Schweſter Frau Hervey, und
Herr Hervey waͤren gleicher Meinung: und es
waͤre harte wenn ich mich nach dem einſtimmigen
Rath von Vater, Mutter, Onckles und Baſe
in meiner Wahl nicht richten wollte. Sie fuͤr ihr
Theil ſey zwar verſichert, daß ich nicht aus der
Urſache eine Abneigung von dieſer Parthey haͤtte,
weil ſie die Familien-Abſichten befoͤderte: allein
ſie koͤnne mich verſichern, daß jedermann dieſe An-
M 5mer-
[186]Die Geſchichte
merckung uͤber meine abſch laͤgige Antwort machen
wuͤrde, als ſuchte nur die ſo ſehr verlangte Ver-
groͤſſerung der Familie zu hindern. So viel ich
auch davon ſagte, daß ich unverheyrathet zu blei-
ben gedaͤchte, ſo wenig wuͤrde davon geglaubt
werden, da der Mann, der ſie alle auf das em-
pfindlichſte beleidigt haͤtte, noch unverheyrathet
bliebe, und immer um mich herum brauſete/
wie ſie es nannte. Wenn Herr Lovelace ein
Engel waͤre, und mein Vater haͤtte es ſich ein-
mal in den Kopf geſetzt, daß ich ihn nicht haben
ſolte, ſo koͤnte ich glauben, daß ihm alle Vor-
ſtellungen gegen ſeinen Willen unertraͤglich ſeyn
wuͤrden. Es kaͤme dazu, daß man glaubte, ich
wechſelte noch Briefe mit Hn. Lovelace: und
dieſer Argwohn, nebſt dem Verdacht als wenn
die Briefe von beyden Seiten durch die Haͤnde der
Fraͤulein Howe gingen, ſey die Urſache des wider
ihren Willen mir verbotenen Brief-Wechſels mit
der Fraͤulein Howe.
Jch beantwortete alles was ſie geſagt hatte,
und ich bin gewiß, daß ſie mit meiner Antwort
wuͤrde zufrieden geweſen ſeyn, wenn ſie ihren ei-
genen Urtheil haͤtte folgen duͤrffen. Uber das mir
unangenehme und harte Verbot beklagte ich mich
bitterlich.
Sie antwortete: ich koͤnnte aus dieſem Verbot
ſehen, wie ernſtlich es mein Vater in der Sache
meynte. Es koͤnte mir aber die Freyheit Briefe
zu wechſeln wieder gegeben werden, ſo bald ich es
ſelbſt fuͤr ſchicklich hielte, und glaubte, daß kein
Schade
[187]der Clariſſa.
Schade daraus entſtehen wuͤrde. Jch ſeuffzete
und weinete, ohne ein Wort zu reden. Sie ſag-
te: „Claͤrchen, ſoll ich deinem Vater ſagen, daß
„dieſes Verbot in der That ſo uͤberfluͤßig ſey, als
„ich es gleich Anfangs gehalten haͤtte? daß du
„deine Pflicht wiſſeſt, und dich ſeinem Willen
„nicht widerſetzen wilſt? Was ſagt mein liebes
„Kind hierzu?
Was kan ich, ſagte ich, „auf ſo guͤtige
„Fragen antworten? Jch weiß meine Pflicht,
„und niemand kan williger ſeyn als ich, ſie zu
„beobachten. Allein nehmen ſie mir nicht uͤbel,
„wenn ich lieber mich auf noch laͤngere Zeit dem
„Verbot unterwerfen als es ſo theuer abkauf-
„fen will.„
Meine Mutter nennete mich hierauf ein eigen-
ſinniges und verkehrtes Maͤdchen: und nachdem
ſie zwey oder dreymal in der Stube auf und nie-
der gegangen war, ſagte ſie: „dein Hertz waͤre
„ungebunden, Claͤrchen! Wie kanſt du mir
„daß weiß machen wollen? Eine ſo ungewoͤhn-
„lich ſtarcke Abneigung von einer Perſon kan
„keine andere Quelle haben, als eine eben ſo ſtar-
„cke Zuneigung gegen eine andere Perſon. Sage
„mir Claͤrchen, und ſage mir aufrichtig, ob
„du noch mit Hn. Lovelace Briefe wechſelſt?
Jch antwortete: „allerliebſte Mutter, ſie
„wiſſen ja, was mich dazu gezwungen hat. Jch
„beantwortete ſeine Briefe um groͤſſeres Ungluͤck
„zu verhuͤten: und unſere Beſorgniß iſt ja noch
„nicht voruͤber.
Jn
[188]Die Geſchichte
„Jch geſtehe dir gern, ob ich es gleich nicht
„gern andre wiſſen laſſen wollte, daß ich vorhin
„geglaubt habe, es waͤre rathſam ſo heftige Ge-
„muͤther zu beſaͤnftigen. Jch glaubte damals,
„daß alles durch des Lord M. und ſeiner bey-
„den Schweſtern Vermittelung wieder ins ſeine
„gebracht werden wuͤrde. Aber da dieſe alle em-
„pfindlich ſind und ſich das anziehen, was ihrem
„Vetter begegnet iſt; da ihr Vetter uns allen
„trotzt: und da ein anderer ſolche Bedingungen
„angeboten hat, als wir nie haͤtten fodern koͤn-
„nen, durch die vermuthlich deines Grosvaters
„Gut bey der Familie bleibt, und noch groͤſſerer
„Reichthum an die Familie gebracht werden
„kan: ſo ſehe ich nicht, wie ein fernerer Brief-
„Wechſel verſtattet werden koͤnte. Jch verbie-
„te ihn dir von nun an, bey Verluſt aller meiner
„Liebe.
„Aber geben ſie mir nur einen Rath, wie ich
„ohne meinen Bruder und Onkles in neue Gefahr
„zu ſetzen den Brief-Wechſel abbrechen ſoll.
„Wollte GOtt, man haͤtte dem Mann, der bey
„allen ſo verhaßt iſt, nicht durch harte und grobe
„Auffuͤhrung da er eine Verſoͤhnung ſuchte den
„allerbeſten Vorwand gegeben ſich zu raͤchen: ſo
„haͤtte es ſtets in meiner Macht geſtanden, den
„Brief-Wechſel abzubrechen, und ſeine unor-
„dentliche Lebens-Art wuͤrde mir zu aller Zeit zur
„Entſchuldigung gedienet haben. Da aber mein
„Bruder und meine Onckels gar nicht Maaſſe
„halten; da er ihre Abſichten weiß, und ich mit
gutem
[189]der Clariſſa.
„gutem Grunde vermuthe, daß blos ſeine
„Werthſchaͤtzung fuͤr mich ihn abgehalten, ſich
„und ſeine Familie nicht zu raͤchen: ſo frage
„ich ſie ſelbſt, wie ſoll ich es anfangen? Wol-
„len ſie, daß ich ihn deſperat mache?
„Die Geſetze werden uns ſchuͤtzen, mein Kind,
„die Obrigkeit wird ‒ ‒
„Aber kan nicht vorher ein Ungluͤck vorgehen?
„Die Geſetze ſchlaffen, ſo lange ſie niemand
„uͤbertrit.
„Du haſt mir ein Verſprechen gegeben, wenn
„ich nur dieſen Zweifel heben koͤnnte. Jſt das
„dein Ernſt, Claͤrchen? Willſt du wuͤrcklich den
„Briefwechſel mit Herrn Lovelace unter dieſer
„Bedingung voͤllig abbrechen. Das ſage mir!
„Ja es iſt mein Ernſt: ich will es thun.
„Sie koͤnnen ſelbſt alle Briefe ſehen, die wir
„gewechſelt haben. Sie werden ſehen, daß
„ich ihm nicht die geringſte Hoffnung, die mit
„dem kindlichen Gehorſam nicht beſtehen koͤnn-
„te, gemacht habe. Nach Durchleſung dieſer
„Briefe werden ſie mir beſſer ſagen koͤnnen, wie
„ich unſere ſchrifftliche Unterhandlung ſicher
„abbrechen koͤnne.„
„Jch halte dich bey deinem Worte, Claͤr-
„chen/ gib mir ſeine Briefe an dich, und die
„Aufſaͤtze von deinen Briefen an ihn.
„Jch hoffe, ſie werden ſo guͤtig ſeyn, es fuͤr
„ſich allein zu behalten, was ich geſchrieben
„habe, und uͤberhaupt, daß ich mit ihm Briefe
„wechſele ‒ ‒ ‒ ‒
„Keine
[190]Die Geſchichte
„Keine Bedingungen bey deiner Mutter!
„du kanſt dich auf meine Vorſichtigkeit verlaſ-
„ſen.„
Jch bat ſie um Vergebung, und erſuchte ſie,
daß ſie ſelbſt den Schluͤſſel zu einem beſondern
Kaͤſtchen in meinem Schreib-Tiſch nehmen moͤch-
te, in welchem die Briefe lagen, damit ſie ſelbſt
ſehen moͤchte, daß ich nichts vor ihr geheim hielte.
Sie that dieſes und nahm alle ſeine und meine an
ihn geſchriebene Briefe heraus. Ob ich ſie
gleich ohne Bedingung bekommen habe/
ſagte ſie, ſo ſollſt du ſie doch wieder ha-
ben/ und niemand ſoll ſie ſehen. Jch danck-
te ihr fuͤr ihre Guͤtigkeit. Sie ging weg um ſie
zu leſen, mit dem Verſprechen, nach deren Durch-
leſung wieder zu mir zu kommen.
Sie haben alle zwiſchen ihm und mir vor
meiner letzten Reiſe gewechſelten Briefe geſehen,
und Sie wiſſen, daß kein Ausdruck darin war,
deſſen er ſich ruͤhmen kan. Jch habe ſeit der
Zeit durch die Jhnen muͤndlich gemeldete Gele-
genheit drey andere Briefe bekommen, von de-
nen ich einen noch nicht beantwortet habe.
Der Jnhalt dieſer Briefe komt mit den vori-
gen ziemlich uͤberein. Er bittet um Gegenliebe
von meiner Seiten, und giebt mir die ſtaͤrckſten
Verſicherungen von der Aufrichtigkeit ſeiner Nei-
gung gegen mich. Er beklagte ſich uͤber die nie-
dertraͤchtigen und ſchimpflichen Reden, die mein
Bruder in allen Geſellſchafften gegen ihn ausſtoͤßt,
uͤber die Drohungen und den recht feindſeligen
Auf-
[191]der Clariſſa.
Aufzug der Bruͤder meines Vaters, und uͤber die
Kuͤnſte welcher ſie ſich bedienen ihn uͤberall ſchwartz
zu machen. Er erklaͤrt ſich endlich alſo: „weder
„ſeine Ehre noch die Ehre ſeiner Familie (welcher
„man ebenfalls nicht ſchonete, ſo oft man ſeiner
„im uͤbeln gedaͤchte, und das Andencken einer un-
„gluͤcklichen Schlaͤgerey erneuerte, der er gern aus
„dem Wege gegangen waͤre) erlaubten ihm ei-
„nen Schimpf nach dem andern geduldig hinzu-
„nehmen. Er muͤſſe das Betragen meines Bru-
„ders noch hoͤher empfinden, da er gewiß ver-
„ſichert ſey, daß wenn ich ihm gleich nicht guͤn-
„ſtig waͤre, ich doch auch gegen den in den Wurff
„gebrachten Solmes keine Neigung haͤtte, oder
„haben koͤnnte. Mein Bruder geſtuͤnde ſeinen
„Grimm und Bosheit gegen jedermann: und
„ruͤhmte ſich oͤffentlich, daß er Hoffnung habe,
„durch dieſen Solmes mich zu kraͤncken, und
„ſich an ihm zu raͤchen. Wenn auch keine noch
„viel ſtaͤrckere Urſache ihn antriebe, ſo wuͤrde er
„doch nicht unterlaſſen koͤnnen, gegen einen arg-
„liſtigen Streich zu arbeiten, durch den man ihn
„eigentlich zu beleidigen ſuchte. Jch muͤſte ihm er-
„lauben, daß er mit Hrn. Solmes ſelbſt ein Wort
„von dieſer Sache ſpraͤche. Jnſonderheit dringt
„er ſehr darauf, daß ich ihm erlauben moͤchte,
„meine Onckels oder gar meine Eltern in Geſell-
„ſchafft des Lord M. zu beſuchen: und ver-
„ſpricht mir, alle Beleidigungen, die ihm bey
„ſolcher Gelegenheit gegeben werden moͤchten, mit
„Gedult zu ertragen, wenn ſie anders von der
„Art
[192]Die Geſchichte
„Art waͤren, daß ſie ein Menſch ertragen koͤnn-
„te.„ (Fuͤr dieſen Umſtand moͤcht ich in der
That nicht gern Buͤrge ſeyn.)
Jn meiner Antwort widerholte ich, was ich
ihm ſchon ſo oft geſchrieben habe: „daß er ſchlech-
„terdings keine Liebe von mir ohne Bewilligung
„der meinigen erwarten ſoll. Jch wuͤſte gewiß,
„daß ſie ſeinen Beſuch nicht annehmen wuͤrden.
„Jch wuͤrde nie ſo ungehorſam und ſo unver-
„ſtaͤndig ſeyn, daß ich aus Liebe zu irgend jeman-
„den, wer es auch ſeyn moͤchte, mich von mei-
„ner Familie trennen lieſſe. Jch waͤre ihm we-
„gen der Gedult keine Verpflichtung ſchuldig, die
„ein hitziger Kopf auf meine Bitte gegen einen
„andern hitzigen Kopf haͤtte: denn ich baͤte ihn
„um nichts, als wozu ihn Klugheit, Gerechtig-
„keit und die Landes-Geſetze ohnehin verbinden,
„Er betroͤge ſich, wenn er hoffete, daß lich um
„dieſer Gefaͤlligkeit willen eine Neigung gegen
„ihn haͤtte: ich haͤtte ihm ſchon oft gemeldet, daß
„ich mich gar nicht zu verheyrathen gedaͤchte.
„Jch koͤnnte auch einen heimlichen Briefwechſel
„mit ihm nicht laͤnger fortſetzen: denn es wuͤrde
„nidertraͤchtig und ungehorſam von mir gehan-
„delt ſeyn, und gaͤbe noch uͤber dieſes einen boͤſen
„Schein, den man nicht fuͤglich entſchuldigen
„koͤnnte. Er moͤge ſich daher keine Hoffnung
„machen, daß ich noch ferner Briefe mit ihm
„wechſeln wollte.„
Hierauf antwortete er in ſeinem letzten Schrei-
ben unter andern: „wenn ich wircklich entſchloſ-
„ſen
[193]der Clariſſa.
„ſen waͤre, allen Brief-Wechſel mit ihm aufzu-
„heben, ſo muͤſte er daraus ſchlieſſen, daß ich
„mich in der That bequemen wollte einen Kerl zu
„nehmen, den kein Frauenzimmer von Stande
„und Mitteln fuͤr ertraͤglich halten koͤnnte. Jn
„ſolchem Fall moͤchte ich ihm vergeben, daß er
„mir deutlich ſchreiben muͤſte: der Gedancke ſey
„ihm gantz unertraͤglich, daß er diejenige auf
„ewig ſich ſolte entreiſſen laſſen, auf die alle ſeine
„jetzige und zukuͤnftige Hoffnung gehe; und daß
„er das unbaͤndige Frolocken meines Bruders
„uͤber dieſen Sieg ohnmoͤglich wuͤrde erdulden
„koͤnnen. Er wollte zwar jetzt nicht drohen, ſich
„an meinem Bruder oder an dieſem Menſchen
„zu vergreiffen: er wuͤrde aber ſeine Entſchlieſ-
„ſungen alsdenn ſo nehmen muͤſſen, wie ihn eben
„ſein Gemuͤth antreiben wuͤrde, wenn ein ſo
„ſchwartzer und ungluͤcklicher Tag es wild und
„zuͤgellos machte. Wenn er wuͤßte, daß alles
„mit meinem guten Willen geſchehen ſey, ſo
„wuͤrde er ſuchen muͤſſen ſein unvermeidliches
„Schickſaal ſo viel moͤglich mit Geduld zu ertra-
„gen: allein wenn Zwang und Gewalt gegen
„mich gebraucht wuͤrden, ſo wollte er fuͤr die
„Folgen nicht ſtehen, die ein ſolches Verfah-
„ren haben koͤnten.„
Jch will Jhnen die Briefe ſelbſt nach einigen
Tagen zum Durchleſen ſchicken. Jch wollte ſie
jetzt mit beylegen, wenn ich nicht beſorgt waͤre,
daß ein unvermutheter Zufall meine Mutter noͤ-
thigen moͤchte, ſie noch einmal von mir zu ver-
Erſter Theil. Nlangen.
[194]Die Geſchichte
langen. Sie werden in ſeinen Briefen die Kunſt-
Griffe bald bemercken, dadurch er mich zwingen
will, den Brief-Wechſel fortzuſetzen.
Meine Mutter kam nach Veflieſſung einer
Stunde wieder zu mir. Sie ſagte: „da haſt
„du deine Briefe wieder, Claͤrchen! ich habe
„nichts daran auszuſetzen, alle Worte ſind mit
„Behutſamkeit gewaͤhlt. Du haſt ſo geſchrieben,
„daß du dir das noͤthige Anſehen und Vorrecht
„nicht vergiebeſt, und den Wohlſtand in nichts
„beleidigeſt: und haſt ihm genugſam zu verſte-
„hen gegeben, daß du uͤber ſeine Drohungen
„und harten Ausdruͤcke empfindlich biſt. Allein
„kanſt du dieſes fuͤr eine anſtaͤndige Verbin-
„dung halten, da der eine Theil ſeinen Haß und
„der andere ſein Trotzen und Verachtung nicht
„einmal zu verbergen trachtet? Kanſt du glau-
„ben, daß es ſich ſchicket, einem Menſchen die
„geringſte Hoffnung auf dich zu machen, der
„fich mit deinem Bruder geſchlagen hat, wenn
„er auch noch ſo viele Zuneigung gegen dich zu ha-
„ben vorgiebt, und die allerſchoͤnſten Mittel hat?
„Nein! ſagte ich: das kan ich auch nicht
„glauben: und ſie werden geſehen haben, daß
„ich dieſes zu verſtehen gegeben habe. Allein da
„ſie nun alle Briefe geleſen haben, ſo bitte ich
„mir ihren Befehl aus, nach dem ich mich in ei-
„ner ſo verworrenen Sache zu richten begierig
„bin.
„Jch
[195]der Clariſſa.
„Jch will dir ein Wort ſagen, Claͤrchen.
„Allein wenn ich nicht an deinem guten Gemuͤ-
„the zweiffeln ſoll, ſo mnſt du es weder in dei-
„nem Hertzen noch in deinen Reden gegen mich
„gebrauchen. Es hat mir ſo wohl gefallen, daß
„du den Schluͤſſel mir auf eine ſo zuverſichtliche
„Weiſe gegeben haſt, und daß ich dich in dei-
„nen Briefen ſo verſtaͤndig und behutſam finde,
„daß ich gern die gantze Sache deinem eignen
„Gutbefinden anheim ſtellen, und mir nur die
„Freyheit vorbehalten wollte, kuͤnfftig deine
„Briefe zu ſehen und das noͤthige dabey zu er-
„innern, unter der Bedingung, daß der Brief-
„Wechſel gantz aufhoͤrte, ſo bald es thunlich
„ſeyn wird: wenn ich es nur dahin bringen
„koͤnnte, daß die uͤbrigen im Hauſe, oder we-
„nigſtens dein Vater mit mir hierin einerley
„Meinung waͤren. Aber da ich dieſes nicht er-
„halten kan, und zum voraus weiß, daß dein
„Vater alle Geduld verlieren wuͤrde, wenn es
„herauskaͤme, daß du noch nach geſchehenem
„Verbot mit Herrn Lovelace Briefe gewech-
„ſelt haſt, oder ſie gar noch ferner wechſelteſt:
„ſo verbiete ich dir das Schreiben gantz und gar.
„Da aber die Frage ſo ſchwer und verworren
„iſt, ſo wuͤnſche ich von dir ſelbſt einen guten
„Vorſchlag zu hoͤren; weil, wie du ſageſt, dein
„Hertz ungebunden iſt, und du ſelbſt bekenneſt, du
„koͤnteſt bey dieſen Umſtaͤnden nicht glauben,
„daß die Verbindung mit einem Menſchen, der
„uns alle ſo empfindlich beleidiget hat, geziemend
N 2„ſey.
[196]Die Geſchichte
„ſey. Was ſcheint dir das rathſamſte zu ſeyn?
„Sage mir deine Gedancken von der gantzen
„Frage, mein Claͤrchen.„
Jch ſahe wohl, daß dieſes eine neue Verſu-
chung waͤre, und antwortete, ohne mich lange zu
bedencken: „Mein Vorſchlag iſt dieſer: Jch
„will an Herrn Lovelace, deſſen letzter Brief
„noch unbeantwortet iſt, ſchreiben: er habe nicht
„noͤthig, ſich um das zu bekuͤmmern, was
„zwiſchen meinem Vater und mir vorgehet; ich
„verlangte und brauchte ſeinen Rath nicht; weil
„er aber glaubte, er werde durch meines Bru-
„ders Geſchwaͤtz, und dadurch, daß dieſer
„Hrn. Solmes Antrag ihm zum Trotz durch-
„zutreiben ſuche, berechtigt, ſich in meine Haͤn-
„del zu miſchen, ſo verſicherte ich ihn, daß ich die-
„ſen Mann nie nehmen wuͤrde. Er muͤſſe die-
„ſes aber nicht ſo auslegen, als wenn es aus
„einiger Zuneigung gegen ihn geſchehe.„ Jch
fuhr fort: „Wenn mir erlaubt iſt, ihm dieſe
„Verſicherung zu geben, und wenn dem zu
„folge Herr Solmes mit ſeinem Geſuch ab-
„gewieſen wird: ſo mag hernach Lovelace zu-
„frieden ſeyn oder nicht, ich werde mich doch
„nicht mit ihm einlaſſen, und keine Zeile mehr
„an ihn ſchreiben, ja ihn mein Lebetage nicht
„wider ſprechen, wenn ich es vermeiden kan.
„Jch werde alsdenn eine gute Entſchuldigung
„haben, die meiner Familie keine Feindſchaft
„von ihm zuziehen kan.
„Aber
[197]der Clariſſa.
„Aber, mein Hertz, was ſoll ich gegen die
„vortheilhaften Bedingungen einwenden, die
„Herr Solmes antraͤgt? Durch dieſe hat er je-
„dermann eingenommen. Er hat deinem Bruder
„Hoffnung zu Vertauſchung einiger Guͤter ge-
„macht, oder wenigſtens dazu, daß er das Gut
„in Schottland an ſich kauffen wolle; denn du
„muſt wiſſen, daß die Abſicht unſerer Familie iſt,
„in dieſer Gegend mehr Guͤter anzukauffen. Dein
„Bruder hat einen Entwurf aufgeſetzt, der uns
„allen auſſerordentlich wohl gefallen hat: und eine
„ſo reiche Familie, die ihre Abſicht auf Ehre ge-
„richtet hat, kan nicht anders als mit Vergnuͤ-
„gen eine nahe Hoffnung vor ſich ſehen, daß
„ſie unter den Vornehmſten im Koͤnigreich einen
„Platz bekommen koͤnne.
„Allein ſoll ich denn um dieſer Abſichten wil-
„len, und um dieſen Entwurf meines Bruders
„wahr und wuͤrcklich zu machen, einer mir uner-
„traͤglichen Perſon aufgeopfert werden? Aller-
„liebſte Mutter, erretten ſie mich, wenn es anders
„moͤglich iſt, von dieſem groſſen Ungluͤck! Jch
„wlll mich lieber lebendig begraben laſſen, als
„ihn nehmen.„
Sie verwieß mir meine Hefftigkeit, allein ſie
verſprach mir zugleich, eine Gelegenheit zu ſuchen,
daß ſie mit meinem Onckle Harlowe meinetwegen
reden koͤnnte. Wenn es dieſer fuͤr rathſam hielte
und mit fuͤr mich ſprechen wollte, ſo verſprach ſie
auch mit meinem Vater zu reden: und ich ſollte des
andern Morgens weitere Nachricht haben. Sie
N 3ging
[198]Die Geſchichte
ging hierauf hinunter, und verſprach guͤtigſt mich
zu entſchuldigen, wenn ich von dem Abend-Eſſen
weg bliebe. Jch ergriff ſo gleich die Feder, dieſe
Nachrichten fuͤr Sie aufzuzeichnen.
Wie quaͤlend iſt es, wenn man ſich dem Wil-
len einer ſolchen Mutter widerſetzen muß? Jch
dencke oft bey mir ſelbſt: warum iſt doch eben ſo
ein Mann als Solmes auf mich gefallen, und
warum will er nicht von mir ablaſſen? er, der ein-
tzige Mann in der Welt, der ſo viel anbieten und
ſo wenig verdienen konnte?
Jn der That, er verdient recht wenig: in ſei-
ner Gemuͤths-Beſchaffenheit iſt nichts, das ihm
Ehre bringt. Er iſt wegen ſeiner Knickerey in
aller Leute Munde. Seine Niedertraͤchtigkeit
iſt nicht blos ein Laſter, ſondern ein unbegreiflicher
Unverſtand: denn wenn er es klug anfinge, ſo wuͤr-
de es ihn jaͤhrlich nicht mehr als funfzig Pfund
mehr koſten, anſtatt deſſen, daß ihn ein jeder fuͤr
karg und gemein halt, den Ruhm der Freygebig-
keit zu erlangen. Jhnen koſtet eine allgemeine gute
Nachrede viel weniger: und er koͤnnte ſich deswe-
gen mit geringen Unkoſten deſto beliebter machen,
weil er von einem ſolchen Geitzhals, als der
Ritter Oliver war, ſein erſtaunliches Vermoͤgen
geerbt hat. Allein ſeine Auffuͤhrung macht, daß
der Mund aller Leute das Sprichwort auf ihn
deutet: So lange Solmes lebet/ iſt Oliver
nicht todt.
Man ſagt zwar die Welt rede gern von Leuten
uͤbel. Allein ich finde, daß das Urtheil der Welt
richtiger
[199]der Clariſſa.
richtiger iſt als man denckt: denn die Welt ur-
theilt nach dem Gefuͤhl, und die, welche ſich am
meiſten uͤber die Tadelſuch der Welt beſchweren,
moͤchten lieber in ſich als auſſer ſich die Urſache
aufſuchen, warum ſie getadelt werden.
Das Hertz iſt mir leichter geworden, weil ich
ſahe, daß meine Mutter etwas gutes fuͤr mich
auszurichten, und mich von dieſem Mann zu er-
loͤſen ſuchen wird. Alsdenn werde ich Luſt ha-
ben, dergleichen Betrachtungen uͤber die Sitten
der Menſchen anzuſtellen, als mir vorhin aus
der Feder fielen. Wenn ſie aber auch nichts
ausrichtet, ſo will ich aus Gehorſam gegen Jh-
ren Befehl dennoch bey Gelegenheit mit auf-
ſchreiben, was mir von dergleichen Gedancken
beyfaͤllt. Denn wenn ich auch in viel betruͤb-
tern Umſtaͤnden nichts von dieſer Art in meine
Briefe einflieſſen lieſſe, ſo wuͤrde es ſcheinen, als
ſchriebe ich meine Briefe blos aus Eigenliebe,
und nicht um dem Verlangen einer ſo werthen
Freundin zu Dienſten zu ſeyn. Jch koͤnnte
zwar zur Entſchuldigung anbringen, daß dis
ſehr natuͤrlich ſey: allein iſt nicht ſelbſt dieſes
natuͤrliche ſchon ein Fehler, wenn es uns hindert,
einer Freundin eine Gefaͤlligkeit zu erweiſen, und
uns ſelbſt ſchrifftlich eine Lehre zu geben.
Der
[200]Die Geſchichte
Der achtzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe/
Haͤtte man nicht hoffen ſollen, daß ich etwas
erhalten wuͤrde, da ich mich zu ſo vielem
erbot, und da meiner Meynung nach das Mittel
ſo bequem war, einen Brief-Wechſel als aus ei-
genem Triebe abzubrechen, von dem ich mich
ſonſt nicht loos machen kan, ohne meine Fami-
lie in Gefahr zu ſetzen? Aber der Entwurff mei-
nes Bruders, und meines Vaters Unleidlichkeit
gegen allen Widerſpruch, ſind nnuͤberwindliche
Bollwercke. Jch habe mich vergeblich bemuͤhet,
von jenem Entwurff eine Abſchrifft zu erhalten:
ich wollte ihn ſonſt aus einander geſetzt und bey
Gelegenheit in ſeiner Bloͤſſe vorgeſtellet haben.
Jch bin dieſe gantze Nacht nicht zu Bette ge-
weſen, und dennoch bin ich nicht ſchlaͤffrich. Furcht,
Hoffnung und Zweifel (dieſe unruhige Geſell-
ſchafft) haben mir den Schlaf aus den Augen
gewiſcht. Jch ging des Morgens zu gewoͤhnli-
cher Zeit hinunter, und ordnete das noͤthige in
der Haushaltung an, damit niemand mercken
moͤchte, daß ich die Nacht nicht geſchlafen habe.
Um acht Uhr kam Schorey/ und ſagte mir
von wegen meiner Mutter, ich ſollte zu ihr in die
Stube kommen. Jch konnte meiner Mutter an
den Augen anſehen, daß ſie geweint hatte. Sie
ſchien
[201]der Clariſſa.
ſchien mir nicht ſo zaͤrtlich gegen mich zu ſeyn
als geſtern: und dieſer Anblick ſchlug mich gleich
ſehr nieder.
Sie ſagte: ſetze dich nieder/ Clariſſa Har-
lowe; ich will gleich mit dir reden: und
kramte in einem Leinewands-Kaſten, ohne daß
man ſehen konnte, ob ſie beſchaͤfftiget waͤre oder
nicht. Nach einiger Zeit fragte ſie mich gantz
kaltſinnig: was ich in der Haushaltung angeord-
net haͤtte? Jch gab ihr den Kuͤchen-Zettel von
dem heutigen und folgenden Tage, und fragte ſie:
ob ſie damit zufrieden waͤre? Sie machte einige
kleine Veraͤnderungen darin, allein mit einer ſo
kaltſinuigen und ſteifen Mine, daß meine Unruhe
dadurch vergroͤſſert ward:
Sie ſagte: Herr Harlowe gedenckt heute auſ-
ſern Hauſe bey ſeinem Bruder Anton zu ſpeiſen.
Jch dachte bey mir ſelbſt: heißt der Mann
Herr Harlowe? Habe ich denn keinen Vater
mehr?
Setze dich nieder/ wenn ich es dir ſage!
Jch ſetzte mich nieder.
Du ſiehſt wunderlich aus/ Claͤrchen.
Jch will es nicht hoffen: ſagte ich.
Wenn Kinder Kinder blieben/ ſo wuͤr-
den auch Eltern ‒ ‒ hier hielt ſie inne, und
ging vor den Nacht-Tiſch, ſah in den Spiegel,
ließ einen halben Seufzer fahren, und verhuſtete
die andere Haͤlffte, als wenn es ihr leid waͤre,
daß ſie geſeufzt hatte. Jch mag das Maͤdchen
nicht ſo murriſch ſehen! ſagte ſie.
N 5Jch
[202]Die Geſchichte
Jch antwortete: ich bin gewiß nicht murriſch.
Mich duͤnckt, ich konnte in dem Spiegel ſehen,
daß meine Mutter ſich mit einem zaͤrtlichen Auge
nach mir umſahe: allein ihre Worte ſtimmeten
nicht damit uͤberein:
Es iſt eins der unertraͤglichſten Dinge in
der Welt/ wenn Leute uͤber das ſchreyen
und jammern/ was ſie vermeiden koͤnnen.
Jch wuͤnſchte/ daß es in meinem Ver-
moͤgen ſtuͤnde: antwortete ich mit ſeufzen.
Buß-Thraͤnen/ und Seufzer vor Trotz
ſchicken ſich trefflich gut zuſammen! Du
kanſt nach deiner Stube hinauf gehen:
ich werde bald zu dir kommen und weiter
mit dir reden.
Jch machte einen ehrerbietigen Reverentz: ſie
ſagte aber: ſpotte mich nicht durch die aͤuſ-
ſerlichen Zeichen der Ehrerbietnug. Dein
Hertz iſt es/ was ich verlange/ Claͤrchen.
Sie haben es auch gantz und gar. Es
iſt nicht ſo voͤllig mein/ als es ihnen ergeben
iſt.
Die Worte ſind gut. Wenn die Wor-
te der Geborſam ſelbſt waͤren/ ſagt jemand/
ſo wuͤrde kein gehorſameres Kind ſeyn als
Clariſſa Harlowe.
GOtt vergebe es dem jemand/ wer es
auch iſt. GOtt vergebe es ihm! Jch mach-
te nochmals einen Reverentz, und ging nach ih-
rem Befehl weg. Sie ſchien ſich hieruͤber zu
verwundern, und wollte ungehalten auf mich wer-
den.
[203]der Clariſſa.
den. Sie kehrte mir den Ruͤcken zu, und rief
mit Hefftigkeit: wo nun hin/ Clariſſa Har-
lowe?
Sie befohlen mir ja/ auf meine Stube
zu gehen.
Jch finde dich ſehr bereitwillig/ da
wegzugehen/ wo ich bin. Geſchieht es
aus Trotz/ oder aus Gehorſam? Du biſt
ſebr willfaͤhrig/ mich zu verlaſſen.
Jch konnte mich nicht laͤnger halten, ſondern
muſte mich zu ihren Fuͤſſen werfen: Meine al-
lerliebſte Mutter/ ſagen ſie mir zum vor-
aus/ was ich alles leiden/ und was aus mir
werden ſoll. Jch will es ertragen/ wenn
ich es nur ertragen kan: aber das iſt mir
unertraͤglich/ wenn ſie auf mich unwillig
ſind.
„Laß mich allein, Clariſſa Harlowe! Kein
„knien kan ich leiden! was fuͤr beugſame Ge-
„lencke, und was fuͤr ein unbeugſames Hertz!
Stehe auf, das ſage ich dir!
„Jch kan nicht aufſtehen. Jch muß meiner
„Mutter ungehorſam werden, wenn ſie mir be-
„fielt, von ihr zu gehen, ehe ſie mir vergeben
„hat. Hier iſt kein murriſches Weſen! Keine
„Unart! ſondern etwas ſchlimmers, nemlich
„offenbarer Ungehorſam. Sie koͤnnen ſich
„nicht von mir losreiſſen.„ (Jch umfaſſete ſie
im knien, und ſie wollte ſich losmachen. Mein
Geſicht hielt ich in die Hoͤhe, und ſahe ſie mit
weinenden Augen an, die gewiß die Sprache
mei-
[204]Die Geſchichte
meines Hertzens nicht geredet haͤtten, wenn etwas
anders als Ehrerbietung und Unterwerfung in ih-
nen befindlich geweſen waͤre.) Sie ſollen ſich
nicht von mir losreiſſen. (Denn ſie ſuchte
noch immer von mir zu kommen, und ſahe bald
auf dieſe bald auf jene Seite mit einer liebens-
wuͤrdigen Verwirrung, als wenn ſie nicht wuͤſte,
was ſie ſelbſt anfangen ſollte.) Jch will nicht
aufſtehen/ nicht weggehen/ ſie nicht los-
laſſen/ bis ſie ſagen/ daß ſie nicht unwil-
lig auf mich ſind.
Sie ſchlug ihre lieben Arme um meinen Hals,
wie ich die meinigen um ihre Knie, und ſagte:
„o du allzubewegliches Kind fuͤr mein Hertz!
„Warum ward mir dieſe Arbeit ‒ ‒ Aber laß
„mich jetzt allein! Jch kan es nicht ausſpre-
„chen in was fuͤr Unruhe ich jetzt bin. Jch will
„nicht ungehalten auf dich ſeyn, wenn ich es un-
„terlaſſen kan, und wenn du ein gutes Kind ſeyn
„willſt.„
Jch ſtund mit Zittern auf, und wuſte kaum
was ich that, oder wie ich ſtand und wegging.
Meine Hannichen kam gleich zu mir auf meine
Stube, als ſie hoͤrte, daß ich von meiner Mut-
ter weggegangen war, und brachte mir friſches
Waſſer, damit ich nicht ohnmaͤchtig werden
moͤchte. Das war alles, was ſie ausrichten
konnte. Denn es waͤhrte zwey Stunden, ehe ich
ſo viel wieder zu mir ſelbſt kam, daß ich die Feder
ergreifen konnte, um Jhnen den betruͤbten Aus-
gang meiner Hoffnung zu meldeu.
Mei-
[205]der Clariſſa.
Meine Mutter ging hinunter zum Fruͤhſtuͤck.
Jch war nicht im Stande dabey zu erſcheinen: ich
glaube aber auch nicht, daß ich geruffen ſeyn wuͤr-
de, wenn ich gleich beſſer geweſen waͤre, weil
mein Vater, da er neulich auf meiner Stube war,
den nachdencklichen Befehl gegeben hatte, mich
mit hinunter zu bringen, wenn ich des Namens
einer Tochter werth waͤre. Denn werde ich aber
ſeiner Meinung nach nie verdienen, wenn er ſeine
Meinung in Abſicht auf den Solmes nicht aͤn-
dert.
Der neunzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
(Eine Antwort auf den funfzehenten Brief.)
um 12. Uhr.
Jetzt eben bringt mir Hannichen von dem ab-
geredeten Ort den Brief, mit dem Sie mich
geſtern beſchenckt haben. Der Jnhalt hat mich
ſehr tiefſinnig gemacht, und ich werde ſehr ernſt-
haft darauf antworten. Solte ich Herrn Sol-
mes noch nehmen? Nein! nimmermehr. Jch
wollte lieber ich weiß nicht was ‒ ‒ doch ich will
vorher den uͤbrigen Jnhalt Jhres Briefes be-
antworten, damit ich dieſen Theil deſſelben mit
mehrerer Gelaſſenheit beruͤhren koͤnne.
Was Sie von der Zuneigung meiner Schweſter
gegen
[206]Die Geſchichte
gegen Herrn Lovelace melden iſt mir nicht ſo neu,
daß es mich in Verwunderung ſetzen koͤnte. Sie
giebt ſich ſo viel Muͤhe, andere zu bereden, daß er
ihr niemals gefallen haͤtte, und niemals gefal-
len koͤnte, daß man eben hiedurch auf einen
Verdacht kommen muß. Niemals erzaͤhlt ſie
ihren Abſchied von ihm, und daß ſie ihm ab-
ſchlaͤgige Antwort gegeben, ohne die Farbe zu
veraͤndern, und ohne einen hoͤhniſchen Blick auf
mich zu werfen. Die hochmuͤthige Geberde,
die ſie annimt, iſt mit einen unruhigen Zorn ver-
miſchet: und beyde Leydenſchaften, die aus ihren
Augen brechen, ſcheinen anzuzeigen, daß ſie ei-
nem Freyer abſchlaͤgige Antwort gegeben hat, den
ſie eines Ja-Worts wuͤrdig ſchaͤtzet. Was haͤtte
ſie ſonſt fuͤr Urſach, boͤſe zu werden, oder groß
zu thun? Die arme Arabella! Man muß Mit-
leiden mit ihr haben. Zuneigung und Abneigung
bleiben beyde bey ihr in keinen Schrancken. Jch
wollte ihr von Hertzen goͤnnen daß alle ihre Wuͤn-
ſche erfuͤllet waͤren.
Was meinen ehemaligen Entſchluß anlanget,
die Verwaltung meines Gutes meinem Vater zu
uͤbergeben, ſo wiſſen Sie, daß an den Gruͤnden,
die mich hiezu bewogen, nichts auszuſetzen war.
Jhr Rath, das Gegentheil deſſen zu thun, was
ich gethan habe, gruͤndete ſich ſo viel ich mich er-
innern kan, auf Jhre gute Meinung von mir, in-
dem Sie glaubten, ich wuͤrde von meiner unge-
bundenen Freyheit keinen tadelhaften Gebrauch
machen: denn keine von uns beyden konte da-
mals
[207]der Clariſſa.
mals vorher ſehen, was jetzt erfolget iſt, und am
wenigſten daß ſich das Gemuͤth meines Vaters
gegen mich ſo ſehr veraͤndern wuͤrde; obgleich Sie
jetzt faſt ſo mit mir reden, als haͤtten Sie damals
eine Gabe der Weiſſagung gehabt. Meines Bru-
ders Abſichten wieder mich, oder vielmehr ſeine
eigennuͤtzige Liebe zu ſich ſeibſt, erregten zwar
damals ſchon einem Verdacht bey Jhnen: aber
ich habe von meinen Geſchwiſteꝛn nie eine ſo ſchlim-
me Meinung gehabt, als Sie ſtets geaͤuſſert ha-
ben. Sie haben nie eine Zuneigung gegen ſie ge-
habt; und wem man nicht guͤnſtig iſt, den ſieht
man immer von der ſchlimmſten Seite an, ſo wie
die Liebe oft bey wahrhaften Fehlern blind iſt. Jch
will die Urſachen die mich damals bewogen zu
thun, was ich that, kuͤrtzlich wiederholen.
Jch fand, daß ſich Neid und Verdruß in aller
Hertzen regete, wo vorhin Liebe und Eintracht ge-
herrſchet hatte: man tadelte meinen lieben ſeeligen
Gros-Vater, und gab ihm Schuld, er waͤre
kindiſch geworden, und ich haͤtte mir ſeine
Schwachheit zu Nutze gemacht. Jch dachte bey
mir ſelbſt: in jungen Jahren wuͤnſchen ſich alle
die Freyheit, nur iſt bey einigen die Begierde nach
Freyheit groͤſſer als bey andern; und die, ſo ſich
am meiſten darnach ſehnen, ſind gemeiniglich die
ungeſchickteſten, ſich und andere zu regieren. Es
iſt in der That ein groſſes und ungewoͤhnliches
Vermaͤchtniß fuͤr ein ſo junges Kind, das ich von
meinem Grosvater erhalten habe. Allein man
muß ſich nicht alles Rechts gebrauchen, das man
hat;
[208]Die Geſchichte
hat; und wenn man alles annimmt, was uns
Guͤtigkeit und all zu gutes Zutrauen zuwendet,
ſo iſt es ein Zeichen, daß man ſich nicht maͤßigen
koͤnne, und unerſaͤttlich ſey. Man macht ſich
eben hiedurch eines ſo guͤtigen Zutrauens unwuͤr-
dig, und giebt ſchlechte Hoffnung, daß man das
wohl anwenden werde, was uns zugefallen iſt.
Jch habe mir zwar, (dachte ich) allerhand ſuͤſſe
Gedancken gemacht, daß andere durch mein
Gluͤck auch gluͤcklich werden ſolten, wenn ich
mich als eine gute Haushaͤlterin auf meinem
Gute auffuͤhrte. (Denn ſollen wir nicht alles
das unſrige mit ſolchen Augen anſehen, als wenn
wir nur Haushalter daruͤber waͤren?) Allein ich
will mich ſelbſt genau unterſuchen. Jſt nicht
vielleicht Hochmuth und Ruhm-Begierde die
wahre Quelle meiner vermeinten Menſchen-Liebe
geweſen? Soll ich nicht billig gegen mein eigenes
Hertz argwoͤhniſch ſeyn? Wenn ich mich durch
andere gute Meinung aufblaſen laſſe, und mich
unterſtehe mir ſelbſt zu rathen; ſo koͤnnen an-
dere mich meinem Unverſtande uͤberlaſſen. Aller
Augen ſind auf ein junges Maͤdchen, das ſeine
Freyheit hat, gerichtet, auf deſſen Auffuͤhrung,
Beſuche, und auf die Herren, die bey ihr Be-
ſuch abſtatten: und der Abſchaum des andern
Geſchlechts wagt ſich eben an ſie, ſie zu verfuͤh-
ren. Wenn ich auch in der beſten Meinung et-
was verſehen ſolte, o wie manche wuͤrden uͤber
mich ihr Hohngelaͤchter anſtellen, und wie weni-
ge wuͤrden mit mir Mitleiden haben? Je mehr
ich
[209]der Clariſſa.
ich geſucht habe, andere zu uͤbertreffen, deſto
mehr wuͤrden von jener und deſto weniger von
dieſer Art ſeyn.
Dieſes ſind einige von den Betrachtungen, die
ich damals anſtellete. Jch wuͤrde noch jetzt in
eben den Umſtaͤnden bey reifer Ueberlegung eben
ſo handeln. Wer kan kuͤnftige Zufaͤlle vorher
ſehen? Wir koͤnnen nichts weiter thun, als die
Sache nach den Umſtaͤnden uͤberlegen, unter denen
ſie ſich uns in der gegenwaͤrtigen Zeit vorſtellet,
und unſer Urtheil darnach einrichten. Habe ich
gefehlet, ſo habe ich durch meinen Fehler bewie-
ſen, daß ich an der Klugheit dieſer Welt einen
Mangel habe. Wenn man dadurch in Ungluͤck
geraͤth, daß man ſeiner Schuldigkeit gemaͤß und
ſogar großmuͤthig gehandelt hat, ſo dient es ei-
nem zur Beruhigung, daß man ſiehet, der Feh-
ler ſey nicht bey uns ſondern in der Niedertraͤch-
tigkeit anderer zu ſuchen. Jch will lieber Urſache
haben, andere fuͤr hart zu halten, als daß ich ih-
nen ſollte Urſache geben, mich fuͤr ungehorſam
und Pflicht-vergeſſen zu halten: und ich bin ver-
ſichert, daß Sie eben ſo geſinnet ſind.
Jch komme nun auf den wichtigſten Theil Jh-
res Briefes. Sie meynen, ich wuͤrde bey dieſen
Umſtaͤnden nothwendig Herrn Solmes zu Theil
werden muͤſſen. Jch will nicht hitzig und vorei-
lig ſeyn, das Gegentheil zu behaupten: aber ich
glaube, es kan und ſoll nimmer geſchehen. Jch
weiß, daß man ſich auf meinen nachgebenden
und beugſamen Sinn verlaͤßt: ich habe Jhnen
Erſter Theil. Oaber
[210]Die Geſchichte
aber ſchonſt ſonſt geſchrieben, daß ich nicht blos
meiner Mutter Art an mir habe, ſondern daß ſich
auch meines Vaters Blut in mir reget. Gewiß
wenn ich auf das Acht gebe, was in unſerm Hau-
ſe vorgehet, ſo macht es mir wenig Luſt, meiner
Mutter in ihrer Sanfftmurh und Verleugnung
auf eine blinde Weiſe nachzufolgen. Hat ſie mir
nicht ſelbſt geſtehen muͤſſen, daß es ihr beſcheert
ſey, daß ſie ſich immer Unrecht geben und tra-
gen muß, was ihr andere auflegen. Bey mei-
ner Mutter wird das wahr, was Sie zu ſagen
pflegen: weil ſie viel dulden kan, ſo muß ſie
auch viel dulden. Was kan man erdencken (ſie
ſelbſt geſteht es) daß ſie nicht aufgeopfert hat, um
Frieden zu erhalten? Hat ſie aber durch ſo viele
Opfer diejenige Ruhe und Zufriedenheit, die ſie
doch ſo ſehr verdient, erkauffen koͤnnen? Nichts
weniger: ich fuͤrchte vielmehr, daß Mißvergnuͤ-
gen und Unruhe ihr Lohn geweſen iſt. Wie oft
hat ſie mir Gelegenheit gegeben, die Anmerckung
zu machen, daß wir armen Menſchen durch un-
ſere uͤbermaͤßige Bemuͤhung, unſere natuͤrliche
Gemuͤths-Faſſung ungeſtoͤrt zu behalten, das-
jenige verlieren, was eben die Frucht und das
angenehme davon ſeyn ſollte. Denn wer eine
Abſicht gegen uns hat, der merckt unſere Schwach-
heit aus, und giebt auf desjenige Acht, wofuͤr
wir alles andre aufopfern wollen: er beſtuͤrmet
uns von dieſer ſchwachen Seite, und gebraucht
unſere Hoffnung und Furcht als Waffen gegen
uns, dadurch er uns gewiß uͤberwaͤltigen kan.
Mein
[211]der Clariſſa.
Mein frommer Herr D. Lewin hat mir die
Lehre gegeben: die Standhaftigkeit, eine Tugend
welche die Tadelſucht einiger unartigen Leute un-
ſerm Geſchlecht abſprechen will, erwerbe dem Ehr-
furcht der ſie beweiſe, und ſetze ihn ſo hoch, daß
niedertraͤchtige Gemuͤther ſich nicht unterſtuͤnden
etwas gegen ihn zu unternehmen, wenn ſie ein-
mahl ſeine Standhaftigkeit erfahren haben: nur
muͤſſe ſie nicht anders bewieſen werden, als wenn
man uͤberzeugt iſt, daß man Recht habe, und
wenn die Sache wichtig iſt; ſonſt wuͤrde es nicht
Standhafftigkeit ſondern Eigenſinn ſeyn. Er hat
mich daher oͤfters ermahnt, bey einem Entſchluß,
von dem ich gewiß verſichert ſeyn wuͤrde, daß er
lobenswuͤrdig ſey, Standhafftigkeit zu beweiſen.
Bin ich nicht jetzt auf eine Probe geſetzt, in wel-
cher ich dieſe Tugend billig zeigen ſoll, wenn ich
ſie anders beſitze? Jch habe mich vorhin erklaͤrt:
es koͤnnte und es ſollte nicht geſchehen, daß ich
Herrn Solmes nehme. Jch wiederhole es hier:
es ſoll billig nicht geſchehen! Denn warum ſollte
ich die kuͤnfftige Gluͤckſeligkeit meines gantzen Le-
bens den hochmuͤthigen und weit auſſehenden Ab-
ſichten meines Bruders aufopfern? Warum ſoll-
te ich mich zum Werckzeuge gebrauchen laſſen, die
Anverwandten des Herrn Solmes ihrer Erb-
ſchafften und Anwardtſchafften zu berauben, um
eine Familie (es iſt zwar die meinige) noch rei-
cher zu machen, die ohnehin groſſen Reichthum
beſitzet? Denn wenn dieſe Familie auch erlanget,
was ſie jetzt ſuchet, ſo wird ſie doch mit eben dem
O 2Recht
[212]Die Geſchichte
Recht, daruͤber mißvergnuͤgt ſeyn, daß ſie keine
regierende Familie iſt, als ſie jetzt ſich verunru-
higt, den Titel eines Lords zu erhalten. Denn
was Sie von dem Geitz ſchreiben, das gilt gewiß
auch von dem Ehrgeitz: er wird nie geſaͤttiget, wenn
er ſeine Abſichten erreicht. Jch ſoll billig deſto-
weniger mich zum Werckzeuge der Abſichten mei-
nes Bruders misbrauchen laſſen, weil ſie mir ſo
ſehr veraͤchtlich ſcheinen, und weil ich keine Luſt zu
einem hoͤheren Stande und groͤſſern Guͤtern habe,
indem ich voͤllig uͤberzeugt bin, daß Gluͤckſelig-
keit und Reichthum zwey ſehr verſchiedene Dinge
ſind, die man ſehr ſelten beyſammen findet.
Allein vor dem Widerſtande den ich werde thun
muͤſſen, und vor dem Kampf den ich zu uͤberneh-
men habe, fuͤrchte ich mich ſchon zum voraus. Es
iſt moͤglich, daß mich die Beobachtung der Lehre
des frommen Doctors ungluͤcklicher macht, als ich
geweſen ſeyn wuͤrde, wenn ich nachgeben koͤnnte.
Denn was ich Standhafftigkeit nenne, das
wird fuͤr Trotz, fuͤr Eigenſinn, fuͤr vorgefaſſete
Meynungen von denen gehalten, die das Recht
haben, meine Auffuͤhrung nach ihrer Willkuͤhr zu
deuten.
Wenn wir auch vollkommen und gantz ohne
Fehler waͤren, das wir doch nie werden koͤnnen,
ſo wuͤrden wir doch in dieſem Leben nicht gluͤckſelig
ſeyn, wenn nicht andere, mit denen wir zu thun
haben, und inſonderheit die, welche etwas uͤber
uns zu befehlen haben, ebenſals von der Vernunft
und richtigen Grund-Saͤtzen belebet und regieret
werden.
[213]der Clariſſa.
werden. Uns bleibt demnach keine andere Arbeit
uͤbrig, als unſere Wahl nach richtigen Grundſaͤ-
tzen anzuſtellen, und dabey Standhaftigkeit zu
beweiſen; den Ausgang aber der Vorſehung zu
uͤberlaſſen. So will ich mich bey gegenwaͤrtigem
Vorfall zu verhalten ſuchen, wenn Sie es billi-
gen: und bitte Sie, mich nicht ohne Unterricht zu
laſſen, wenn Sie den Weg nicht billigen den ich
mir vorſetze.
Allein wie werde ich es bey mir ſelbſt verantwor-
ten koͤnnen, daß meine Mutter um meinetwillen
viel auszuſtehen haben wird? Jch dencke, folgen-
de Betrachtung ſey nicht ungegruͤndet: ihr Lei-
den kan nicht lange waͤhren, wenigſtens nicht laͤn-
ger als bis der jetzige Streit auf eine oder andere
Weiſe geendiget iſt: dahingegen mein Ungluͤck,
wenn ich nachgebe, dauren wuͤrde ſo lange ich leb-
te, indem ich meinen Eckel vor Herrn Solmes
ohnmoͤglich uͤberwinden kan. Da ich uͤber dieſes
eine gegruͤndete Vermuthung habe, daß ſie ſich wi-
der ihren Willen in die Abſichten der uͤbrigen von
der Familie hat ziehen laſſen, ſo wird es ſie deſto
weniger bekuͤmmern, wenn dieſe Abſichten nicht
den Erfolg haben, den ſie nach meiner Meinung
billig nicht haben ſollen.
Jch bin in kurtzer Zeit ſehr weit gegangen: al-
lein die Wunde traf mein Hertz. Aus den An-
merckungen, die ich gegen Sie uͤber das vorge-
gangene gemacht habe, werden Sie nur allzu viel
Standhaftigkeit von mir erwarten, wenn ich eine
abermalige Unterredung mit meiner Mutter ha-
O 3ben
[214]Die Geſchichte
ben werde. Jch ſehe dieſer ſehr nahe entgegen.
Sie hat mir geſagt, daß mein Vater und mein
Bruder dieſen Mittag bey meinem Onckle An-
ton zu Gaſte ſind: vermuthlich geſchiehet dieſes,
um beſſere Gelegenheit zu einer abermaligen und
ausfuͤhrlichen Unterredung zu machen.
Hannichen ſagt mir, daß mein Vater unge-
halten geweſen waͤre, als er von meiner Mutter
Abſchied genommen, und daß er unfreundlich mit
ihr geredet habe: vielleicht deswegen, weil ſie
zu viel auf meiner Seite iſt. Hannichen hatte
ſie mit einer weinenden Stimme ſagen hoͤren:
du machſt mich in der That recht beklemmt.
Das arme Maͤdchen verdient nicht ‒ ‒ Mehr
konte ſie nicht hoͤren, als dieſe Worte, und daß er
ſagte: er wolle jemanden den Sinn brechen.
Mein Sinn wird es ſeyn ſollen, nicht meiner
Mutter Sinn: hoffe ich.
Weil heute niemand bey meiner Mutter ſpeiſet,
als meine Schweſter, ſo hoffete ich, ich wuͤrde zu
Tiſche geruffen werden: allein meine Mutter
ſchickte mir das Eſſen. Jch habe beſtaͤndig ge-
ſchrieben, und konte keinen Biſſen anruͤhren.
Damit es aber nicht laſſen moͤchte, als waͤre es
aus Eigenſinn geſchehen, ſo befahl ich Hanni-
chen davon zu eſſen.
Eher ich dieſen Brief ſchlieſſe, will ich erwarten,
ob ich ins geheim auf eine oder andere Weiſe
Nachrichten einziehen kan, die werth ſind, hinzu-
geſetzt zu werden; und will deswegen nach dem
Holtzſtall und in dem Garten gehen.
Jch
[215]der Clariſſa.
Jch habe meinen Vorſatz nicht bewerckſtelligen
koͤnnen, darum ſoll Hannichen dieſen Brief zur
Stelle bringen. Meine Mutter hat nach mir
gefragt, und ihr befohlen, mir zu ſagen, daß
ſie zu mir kommen, und in meinem eigenen
Cloſet mit mir reden wollte. Sie kommt eben!
ich ſchlieſſe.
Der zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Der Beſuch iſt vorbey, aber meine Sachen
ſtehen ſchlimmer als vorhin. Da meine
Mutter ſich gegen mich erklaͤret hat, daß dieſes
der letzte Verſuch waͤre, mich in Guͤte zu uͤberre-
den, ſo will ich deſto umſtaͤndlicher in meiner Er-
zaͤhlung ſeyn.
Gleich bey dem Eintritt in die Stube ſagte ſie:
ich habe fruͤher als gewoͤhnlich geſpeiſet, und bald
abgegeſſen, damit ich mit dir reden koͤnnte: und
ich verſichere dir, daß dieſes die letzte Unterredung
ſeyn wird, die man mir vergoͤnnen wird und die
ich Luſt haben werde von dieſer Sache anzuſtellen,
wenn du ſo eigenſinnig ſeyn ſolteſt, als ſich ei-
nige einbilden, die du hoffentlich zu Schanden
machen wirſt; und wenn du mir zeigen wirſt,
O 4daß
[216]Die Geſchichte
daß ich und mein Rath bey dir nicht ſo viel gelte,
als ich durch meine Guͤtigkeit verdient zu haben
glaube.
Dein Vater ſpeiſet Mittags und Abends bey
ſeinem Bruder, um uns dieſe Gelegenheit zu ge-
ben: und nach ſeiner Ruͤckkunft wird er nach der
Nachricht, die ich ihm aufrichtig von allem geben
werde, ſeine Einrichtung zu machen wiſſen.
Jch wollte reden; aber ſie ſagte: Hoͤre erſt,
Clariſſa, was ich dir zu ſagen habe, und alsdenn
rede: es waͤre denn, daß du mir haͤtteſt ſagen wol-
len, du wollteſt gehorſam ſeyn. Sage mir, war
das deine Meinung? Wenn es dis geweſen iſt,
ſo darffſt du reden.
Jch ſchwieg ſtille.
Sie ſahe mich mit einem beſorgten und zorni-
gen Geſicht an. Jch finde gar kein Nachge-
ben! Es iſt bisher ein ſo gehorſames Kind
geweſen! Wilſt du oder kanſt du das nicht
ſagen/ was ich gern hoͤren wollte? Sie
machte eine Bewegung mit der Hand, als
wenn ſie mich wegweiſen und aufgeben wollte:
nun ſo bleibe ſtumm! weder ich noch dein
Vater kan deine offenbare Widerſetzung
dulden.
Sie hielt in, als erwartete ſie von mir eine
beſſere Antwort. Jch blieb noch ſtumm: und
ſahe mit thraͤnenden Augen vor mich nieder.
„Du unbewegliches Maͤdchen! Sage, rede
„frey heraus: willſt du dich uns allen in einer
„Sache widerſetzen, die uns am Hertzen liegt?
„Jſt
[217]der Clariſſa.
„Jſt es mir erlaubt, mich zu beklagen?„
„Warum willſt du dich gegen mich beklagen:
„Clariſſa? dein Vater iſt unbeweglich. Ha-
„be ich dir nicht geſagt, daß keine Aenderung zu
„hoffen iſt, weil es das Beſte und die Ehre der
„Familie betrifft? Sey artig! du biſt es ja ſonſt
„immer geweſen, auch ſo gar mit deiner Unbe-
„quemlichkeit und Schaden. Wer wird endlich
„nachgeben muͤſſen? Wir alle dir? Oder du uns
„allen? Wenn du nun doch endlich nachgeben
„mußt, und ſieheſt, daß du uns nicht zum Nach-
„geben bringen kanſt; ſo thue es doch jetzt, da
„es artig laͤßt. Denn nachgeben mußt du, oder
„du biſt unſer Kind nicht.„
Jch weinte, weil ich nicht wuſte was ich ſagen
ſolte, oder vielmehr, wie ich das einkleiden ſolte,
was ich zu ſagen haͤtte.
„Wiſſe, daß ſich bey deines Grosvaters Te-
„ſtament Einwendungen machen laſſen! Du
„wirſt keinen Groſchen von dem Gut behalten,
„wenn du nicht nachgiebſt. Dein Grosvater
„vermachte es dir als eine Belohnung deines Ge-
„horſams gegen ihn und gegen uns: und du ver-
„lierſt es mit Recht, wenn ‒ ‒
„Nehmen Sie mir nicht uͤbel, wenn ich frey
„ſage, ich will das gantze nicht haben, wenn
„ich es mit Unrecht beſitze. Jndeſſen will ich hof-
„fen, daß man Herrn Solmes die Einwendun-
„gen, die gemacht werden koͤnten, nicht verhal-
„ten wird.„
Sie ſagte: dis waͤre ſehr dreiſte geredet: ich
O 5ſolte
[218]Die Geſchichte
ſolte bedencken, daß wenn ich mich dieſes Guts
durch meinen Ungehorſam verluſtig machte, ich
zugleich das Hertz meines Vaters voͤllig verlieren
wuͤrde. Jch ſolte uͤberlegen, in was fuͤr aͤuſſerſte
Armuth ich alsdenn gerathen wuͤrde, daß ich weder
mir helffen noch an andern Wercke der Liebe uͤben
koͤnte, die ich mir ſo oft vorgenommen haͤtte.
Jch ſagte: ich wuͤrde mich nach meinen Um-
ſtaͤnden richten muͤſſen. Nur von dem werde viel
gefodert, dem viel gegeben ſey. Jch muͤſte GOtt
danckbar ſeyn, fuͤr das was er mir gegeben haͤtte:
und ich wuͤnſchte ihr und der Frau Norton See-
gen dafuͤr, daß ſie mich ſo erzogen haͤtten, daß ich
mit wenigem vergnuͤgt ſeyn koͤnte: ich wollte wol
ſagen, mit noch viel wenigerm, als meines Va-
ters Guͤtigkeit mir jaͤhrlich ausgeſetzt hatte. Jch
daͤchte oft an jenen alten Roͤmer, und an ſein Lin-
ſen-Gerichte.
Meine Mutter antwortete: was fuͤr ein ver-
kehrter Sinn iſt das? Wenn du deine Hoffnung
auf einen von deinen beyden Onkels ſetzeſt, ſo wird
dich die Hoffnung betriegen. Sie werden gantz
von dir ablaſſen, und nichts mehr mit dir zu thun
haben wollen, ſo bald es dein Vater thut.
Jch ſagte; es thaͤte mir leyd, daß ich zu we-
nig gutes an mir haͤtte, einen tieffern Eindruck in
ihre Gemuͤther zu machen, und eine beſtaͤndigere
Wohlgewogenheit zu verdienen. Jch wuͤrde ſie
dem ohngeachtet lieben und ehren, ſo lange ich lebte.
Sie ſchrieb alles dieſes gewiſſen Vorurtheilen
zu, und ſchloß daraus, daß ich mich durch je-
mand
[219]der Clariſſa.
mand haͤtte einnehmen laſſen. Mein Bruder und
meine Schweſter koͤnten faſt nicht aus dem Hauſe
treten, ohne hievon etwas neues zu hoͤren.
Jch ſagte, es thaͤte mir leyd, daß ich in der
Leute Rede kommen muͤßte. Jch bate aber, ſie
moͤchte darauf Acht geben, ob das nicht einerley
Leute waͤren, die mich in unſerm Hauſe ſchwartz
zu machen ſuchten, die in Geſellſchafften mich fuͤr
verliebt ausgeben, und die das zu Hauſe wieder
erzaͤhlten, was in Geſellſchafften vorgefallen ſeyn
ſolte.
Sie verwieß mir dieſe Anmerckung ernſtlich:
und ich hoͤrte ihren Verweiß an, ohne mich zu ver-
antworten.
Du trotzeſt, Clariſſa/ ſagte ſie: ich ſehe es
daß du trotzeſt. Und darauf ging ſie ein paar
mal mit Unwillen in der Stube auf und nieder.
Sie wandte ſich abermals zu mir und ſagte: ich
ſehe, daß dir dieſe Beſchuldigung gantz ertraͤglich
iſt. Du bemuͤheſt dich nicht einmal, etwas zu
deiner Rechtfertigung zu ſagen. Jch ſcheuete
mich Anfangs, dir alles zu ſagen, was mir an
dich zu beſtellen aufgetragen war, wenn du dich
nicht uͤberreden laſſen wollteſt: allein ich ſehe, ich
habe dein Gemuͤth zaͤrtlicher und empfindlicher ge-
halten als es iſt. Einem ſo ſtandhaften und un-
beweglichen Kinde, als du biſt, wird es nicht viel
Unruhe verurſachen, wenn ich dir hiemit ſage:
daß der Heyraths-Contract ſchon aufgeſetzt iſt,
und daß du in wenigen Tagen wirſt herunter ge-
fodert werden, um ihn zu leſen und zu unterzeich-
nen.
[220]Die Geſchichte
nen. Denn es iſt unmoͤglich, daß du den ge-
ringſten Einwurf dagegen machen koͤnteſt, wenn
dein Hertz frey iſt: du muͤßteſt denn dis eintzige
dagegen einwenden, daß er fuͤr dich und die gantze
Familie zu vortheilhaft ſey.
Jch blieb noch gantz ſprachlos. Obgleich mein
Hertz ſo voll Kummer war, daß es ſich nicht halten
konte, ſo konte ich doch weder Thraͤnen noch
Worte von mir geben.
Sie ſagte, es betruͤbe ſie, daß ich ſo abgeneigt
von dieſer Heyrath ſey. (Sie beliebte es ſchon
eine Heyrath zu nennen) Es betraͤffe doch das
Wohl und die Ehre der gantzen Familie, wie mir
ihre Schweſter bereits geſagt haͤtte: und ich muͤß-
te nachgeben.
Jch blieb noch ſprachlos.
Sie umfaſſete die warme Statuͤe (wie ſie
mich zu nennen beliebte) mit beyden Armen, und
bat mich um GOttes willen, und um ihr ſelbſt-
willen, daß ich nachgeben ſolte.
Nun bekam ich auf einmal die Gabe der Thraͤ-
nen und der Worte. Jch fiel vor ihr nieder, und
faltete meine aufgehobenen Haͤnde: ſie haben mir,
ſagte ich, das Leben gegeben, das bisher durch ih-
re und meines Vaters Guͤtigkeit ein gluͤckliches
und vergnuͤgtes Leben fuͤr mich geweſen iſt. Ma-
chen ſie mich doch nicht in dem gantzen Ueberreſt
meines Lebens ungluͤcklich!
Sie antwortete: dein Vater will dich gar nicht
ſehen, wenn du nicht das gehorſame Kind biſt,
das er bisher an dir gehabt hat. Du biſt bisher
noch
[221]der Clariſſa.
noch nie auf eine Probe geſtellet worden, welche
den Namen einer Probe verdienet haͤtte. Die
Muͤhe, die ich jetzt anwende dich zu bewegen,
wird und ſoll die letzte ſeyn. Gib mir doch nur
einige Hoffnung, mein liebes Kind: es betrifft
meine Ruhe und Zufriedenheit. Jch will mit
einer bloſſen Hoffnung zufrieden ſeyn; da dein
Vater einen blinden Gehorſam, den du mit
Freuden leiſten ſollſt, als eine Schuldigkeit fo-
dert. Gib mir nur Hoffnung mein Kind!
Jch ſagte: wenn ich einer ſo guͤtigen und lie-
ben Mutter Hoffnung mache, ſo iſt es eben ſo
viel, als wenn ich alles einwilligte. Handle ich
aufrichtig, wenn ich ihnen Hoffnung zu etwas
mache, das ich nicht halten kan?
Sie ward ſehr ungehalten, und nannte mich
abermals ein verkehrtes Maͤdchen. Sie warff
mir vor, daß ich blos meinem Triebe folgete, und
weder ihre Ruhe noch meine Pflicht vor Augen
haͤtte. Sie ſagte: „es ſey eine verdrießliche
„Sache fuͤr Eltern, die an einer Tochter in den
„erſten Kinder-Jahren und in der gantzen Erzie-
„hung ihr Vergnuͤgen gehabt haͤtten, weil ſie ſich
„haͤtten Hoffnung machen koͤnnen, daß ſie der-
„einſt ein recht danckbares und gehorſames Kind
„werden wuͤrde, wenn ſie endlich zu der Zeit, da ſie
„ihre Wuͤnſche und Hoffnung erfuͤllet ſehen woll-
„ten, gewahr werden muͤſten, daß ſie ihrem eigenen
„Gluͤck im Wege ſtehe, ihren Eltern keine Freu-
„de machen wolle, die beſten Vorſchlaͤge und
„Verſchreibungen verwerfe, und ihre bekuͤm-
„merten
[222]Die Geſchichte
„merten Freunde in Sorgen ſetze, daß ſie das
„Eigenthum eines liederlichen und niedertraͤchti-
„gen Frey-Geiſtes werden wolle, der der gantzen
„Familie trotze, (es moͤge nun die Schuld der
„Feindſchafft liegen auf welcher Seite ſie wolle)
„und wuͤrcklich ſeine Haͤnde mit dem Blute ihres
„Bruders beflecket habe.„
Sie widerholte gegen mich: „daß mein
„Vater einmal ſeinen Sinn darauf geſetzt, und
„ſich ſo gar erklaͤrt haͤtte, er wolle lieber gar kei-
„ne Tochter haben, als eine Tochter, mit der
„er nicht zu ihrem eigenen Beſten machen koͤnnte
„was er wollte. Jch haͤtte ja vorgegeben, daß
„mein Hertz ungebunden ſey; und durch meinen
„Gehorſam werde das Beſte ſeiner gantzen Fa-
„milie befoͤrdert. Er habe bey ſo haͤuffigen
„Anfaͤllen vom Podagra, deren einer immer ge-
„faͤhrlicher ſchiene als der andere, keine groſſe
„Hoffnung noch lange in der Welt zu leben,
„oder hier viel Vergnuͤgen und gute Tage zu ge-
„nieſſen. Er hoffe doch, daß ich, von der mein
„Gros-Vater vorgegeben haͤtte, daß ich durch
„meinen Gehorſam etwas zur Verlaͤngerung
„ſeines Lebens beygetragen haͤtte, meines Va-
„ters Leben durch meinen Ungehorſam nicht
„verkuͤrtzen wollte.„
Dis muſte mir nothwendig ſehr zu Hertzen ge-
ben. Jch weinte ohne ein Wort zu ſagen, denn ich
konte nicht reden. Meine Mutter fuhr fort: „was
„kan dein Vater fuͤr Urſachen haben, darum
„er dieſe Sache ſo ernſtlich treibet, als weil er
„ſiehet,
[223]der Clariſſa.
„ſiehet, daß ſie zum Beſten und Aufnahme der
„gantzen Familie gereichet, die ſchon ſo viel Mittel
„hat, als bey einer Familie vom hoͤchſten Stan-
„de erfodert werden, und deshalb nach einem hoͤ-
„hern Range trachten muß. So geringe dir die-
„ſe Abſichten vorkommen, ſo wichtig werden ſie
„von deinem Vater und von allen deinen Freun-
„den geſchaͤtzt: und dein Vater wird gewiß die
„Frage ſelbſt entſcheiden wollen, was zu ſeiner
„Kinder Beſten gereichet oder nicht. Deine all
„zu philoſophiſche Verachtung des Ranges, die
„andere eine gezwungene Philoſophie nen̄en,
„ſchmeckt ſo ſehr nach den beſondern Grillen
„eines eigenen Kopfes, daß wir nicht Luſt haben,
„uns darnach zu richten. Die wahre Demuth
„und Beſcheidenheit wuͤrde dich vielmehr lehren,
„ein Mißtrauen in deine eigene Einfaͤlle zu ſetzen,
„und nicht Abſichten zu tadeln, die das Exempel
„der gantzen Welt rechtfertigt.„
Jch antwortete noch nicht. Sie redete fort:
„dein Vater hat wegen der guten Meynung, die
„er von deiner Klugheit, Gehorſam und Danck-
„barkeit hat, ſein Wort an deiner Stelle von ſich
„gegeben, als du noch bey der Fraͤulein Howe
„wareſt, und allerhand Contracte gemacht, die
„ſich auf deine Verheyrathung mit Herrn Sol-
„mes gruͤnden, und nunmehr nicht umgeſtoſſen
„werden koͤnnen.„
Jch dachte hiebey; warum ſuchte man mich
denn bey meiner Zuruͤckkunfft durch eine ſo ſonder-
bare und ernſthaffte Bewillkommung in Furche
zu
[224]Die Geſchichte
zu ſetzen? Gewiß dieſer Bewegungs-Grund
kommt nicht von meiner Mutter her, ſondern
ſie muß ihn, wie alles das uͤbrige, denen nach-
beten, die ſie abgeſchickt haben.
„Dein Vater ſagt: deine unerwartete Wi-
„derſetzung und Herrn Lovelaces fortwaͤhren-
„de Drohungen uͤberzeugten ihn von Tage zu
„Tage mehr, daß er einen nicht allzuentfernten
„Tag ausſetzen muͤſſe, um aller Hoffnung je-
„nes Menſchen und ſeiner eigenen Beſorgniß,
„dazu ein ſo zaͤrtlich geliebtes Kind durch ſeinen
„Ungehorſam Anlaß gebe, ein Ende zu machen.
„Er habe deswegen ſchon um Proben von den
„reichſten Stoffen nach London geſchrieben.„
Jch erſchrack uͤber dieſe Uebereilung der-
maſſen, daß ich gantz auſſer Athem kam: ich
wollte eben mit Nachdruck und Hitze dagegeu
reden. Jch wuſte wohl, in weſſen Gehirn die-
ſe gluͤckliche Erfindung jung geworden war:
denn mein Bruder hatte ſich einmal verlauten
laſſen: wenn man die Maͤdchens nur ſo weit
gebracht haͤtte, daß ſie es in Ueberlegung
nehmen/ ob ſie ſich veraͤndern wollten, ſo
pflegte der Anblick der Anſtalten zur Hochzeit
bald den Ausſchlag zu geben/ weil ſie in die
Augen fielen, und die Maͤdchens ſich gleich da-
bey die Herrlichkeit vorſtelleten, als Frau zu be-
fehlen zu haben. Allein meine Mutter redete
ſo geſchwind weiter fort, daß ich nicht zu Wor-
te kommen konnte, um mein Mißvergnuͤgen zu
bezeugen.
Dein
[225]der Clariſſa.
„Dein Vater kan weder um deinet noch um
„ſeiner ſelbſt willen laͤnger in einem Zweifel blei-
„ben, der ihm ſo viel Unruhe macht. Als ich
„vor dich bat, ſo antwortete er mir: ich ſolte mei-
„ne Auctoritaͤt gegen dich gebrauchen, ſo lieb
„mir meine eigene Ruhe waͤre, (wie hart war
der Ausdruck gegen eine ſo gute Frau?) und ſo
„lieb es mir waͤre, den Verdacht bey ihm zu ver-
„meiden, als wenn ich ſelbſt heimlich den An-
„trag des liederlichen Kerls zu befoͤrdern trach-
„tete: denn ein liederlicher Menſch finde bey al-
„lem Frauens-Volck, bey dem tugendhaften
„eben ſo wohl als bey dem laſterhaften, ſehr
„viel Gunſt. Jch koͤnte auch deſto eher ernſt-
„lich mit dir reden, weil du bekannt haͤtteſt (da
„kommt der Fall-Strick wieder zum Vorſchein,
„den man mir gelegt hat) daß dein Hertz unge-
„bunden waͤre.„
(Sind das nicht unanſtaͤndige Beſchuldigun-
gen gegen unſer gantzes Geſchlecht? ſonderlich in
Abſicht auf meine Mutter, die unter mehreren
Partheyen, deren Umſtaͤnde eben ſo gut waren,
meinen Vater blos deswegen gewaͤhlt hat, weil
man von der Lebens-Art der uͤbrigen nicht die beſte
Meinung hatte?)
„Dein Vater hat mit dem Befehl von mir Ab-
„ſchied genommen: ich ſolte gleich von dir gehen,
„wenn ich faͤnde, daß ich nichts bey dir ausrich-
„ten koͤnte, und ſolte dich allein laſſen, um dich
„an den Folgen deines doppelten Ungehorſams zu
„erquicken.„
Erſter Theil. PHier-
[226]Die Geſchichte
Hierauf bat ſie mich mit dem groͤſſeſten Ernſt
und Herablaſſung, ich moͤchte meinen Vater bey
ſeiner Zuruͤckkunft von meinem willigen Gehor-
ſam verſichern, und das moͤchte ich ſowohl um
ihrent als um meinet willen thun.
Die Guͤtigkeit meiner Mutter gegen mich, und
ihr Verlangen, daß ich wenigſtens um ihrent-
willen nachgeben moͤchte, ruͤhrte mich ſo ſehr, und
der Verdacht, daß die mir ſo eckelhafte Perſon
mir deswegen nicht gefiele, weil ich zu einer andern
ihnen verhaßten Perſon eine beſondere Zuneigung
haͤtte, war mir ſo empfindlich: daß ich wuͤnſch-
te, gehorſam ſeyn zu koͤnnen. Jch hielt deswegen
inn, ich bedachte mich, ich uͤberlegte alles, und re-
dete ziemlich lange nichts. Jch konnte es mei-
ner Mutter an den Augen abſehen, daß ſie hoffete
mein Stillſchweigen wuͤrde ſich mit einer vergnuͤg-
lichern Antwort endigen. Als ich mich aber be-
ſann, daß alles auf Anſtifften meines Bruders
und meiner Schweſter geſchehe, die von Neid
und Eigennutz beſeſſen waͤren: daß ich nicht ver-
dienet haͤtte, daß man mir ſo begegnete, als ſeit
kurtzem geſchehen iſt: daß man ſchon in allen Ge-
ſellſchafften von meinem Ungluͤck rede: daß jeder-
mann wuͤſte, was ich fuͤr eine Abneigung gegen
dieſen Mann habe, und daß daher mein Nachge-
ben weder den Meinigen noch mir Ehre bringen
wuͤrde: daß es kein Zeichen des Gehorſams, ſon-
dern eines knechtiſchen und niedertraͤchtigen Ge-
muͤths ſeyn wuͤrde, weñ man den Verluſt zeitlichen
Guͤter durch Verſchertzung der wahren kuͤnftigen
Gluͤck-
[227]der Clariſſa.
Gluͤckſeligkeit und Zufriedenheit abkauffen wolte:
daß mein Bruder und meine Schweſter gewiß
uͤber den Sieg frolocken wuͤrden, den ſie uͤber
mich und uͤber Hn. Lovelace dadurch erhielten:
daß, ſo wenig er mich ſonſt anginge, dieſes Frolo-
cken meines Bruders uͤber ihn ein ſehr ſchlechtes
Ende nehmen koͤnte: als ich mir Hn. Solmes
unangenehme und eckelhafte Bildung und ſeine
noch eckelhafteren Sitten vorſtellete; ſeinen Man-
gel des Verſtandes, in dem billig die Ehre und
der Vorzug einer Manns-Perſon beſtehen ſoll, ein
Mangel, den man an dem Haupt der Familie de-
ſto weniger uͤberſehen kan, weil er die beſte Frau
verhindert, diejenige Ehrerbietung gegen ihn
zu haben, ohne welche ſie von ihrer getroffenen
Wahl keine Ehre haben kan: da ich uͤberlegte,
daß Herr Solmes in dieſem wichtigen Stuͤcke
(ich kan dieſes an Sie ohne mich ſelbſt zu erhe-
ben ſchreiben) mir ſo ungleich ſey, daß ein jeder
der uns jetzt oder kuͤnfftig kennete oder kennen wuͤr-
de, bald mercken muͤſte, was fuͤr niedertraͤchtige
Abſichten mich verleitet haͤtten, ihn zu waͤhlen:
Da alle dieſe Betrachtungen, die mir ſtets im
Gemuͤthe ſchweben, ſich mir auf einmal vorſtel-
leten: ſo ſagte ich mit gerungenen Haͤnden, und
recht von Hertzens-Grunde: ich wolte gern die
grauſamſte Marter ausſtehen, und das Leben laſſen,
wenn es zu ihrer Beruhigung etwas beytragen
koͤnte. Allein dieſer Mann wird mir jedesmal
eckelhafter, wenn ich gern auf ihren Befehl eine
Zuneigung gegen ihn faſſen wollte. Sie koͤnnen
P 2ſich
[228]Die Geſchichte
ohnmoͤglich vorſtellen, wie ſehr ihm meine gantze
Seele zuwider iſt. Und ſie wollen von einem ge-
ſchloſſenen Ehe-Contract reden! von Proben!
von einem nahe bevorſtehenden Tage! Liebſte
Mutter retten ſie ihr Kind von dieſem groſſen
und unertraͤglichen Ungluͤck!
Es kan der Kummer nicht lebendiger abgemahlt
werden, als er ſich in ihrem Geſicht zeigete, ob-
gleich ſie ihn zu verbergen und an deſſen ſtatt ei-
ne eine zornige Gebaͤrde anzunehmen ſuchte. Die-
ſe behielt endlich den Platz in ihrem Geſichte; ſie
wandte die Augen gen Himmel, trat hart auf den
Boden, und kehrte mir mit den Worten: eine
unerhoͤrte Verkehrtheit! den Ruͤcken zu. Jch
ergriff ſie bey dem Rocke, und ich glaube, daß
ich beynahe ausgeſehen haben muß, als wenn ich
unſinnig waͤre. Haben ſie doch Geduld mit mir,
liebſte Mutter: ſagte ich. Verlaſſen ſie mich
nicht gaͤntzlich! Wenn ſie ſich ja von ihrem Kinde
trennen muͤſſen, ſo bitte ich, daß ſie mir ihr Hertz,
ſo viel an ihnen iſt, nicht ſchlechterdings entziehen.
Meine Onkles moͤgen immerhin hart, und mein
Vater unerbittlich ſeyn! Meines Bruders hoch-
muͤthige Abſichten, und der Neid meiner Schwe-
ſter mag mein Leiden immerhin vergroͤſſern!
Wenn ich mich nur meiner Mutter Liebe, oder
wenigſtens ihres Mitleydens getroͤſten kan.
Sie kehrte ſich mit einem freundlicherem Ge-
ſichte zu mir, und ſagte: Du haſt alle meine
Liebe! du haſt alles mein Mitleiden. Al-
lein/ gutes Maͤdchen/ ich habe deine Liebe
und dein Mitleiden nicht.
Wahr-
[229]der Clariſſa.
„Wahrhaftig, ſie haben beydes. Sie ha-
„ben alle meine Ehrerbietung, und alle meine
„Danckbarkeit. Nur in dieſem eintzigen Stuͤcke
„‒ ‒ ‒ kan ich denn in dieſem eintzigen Stuͤcke
„nichts erhalten? Will man denn gar keinen
„Vorſchlag annehmen? War nicht mein Vor-
„ſchlag in Abſicht auf die verhaßte Perſon ſo be-
„ſchaffen, daß man ihn annehmen koͤnnte?„
Jch wuͤnſchte um meinet und um deinet
willen/ du unbewegliches Maͤdchen/ daß
ich dieſe Frage entſcheiden duͤrfte. Allein
warum quaͤlſt du mich ſo durch deine Fra-
gen/ da du doch weißt/ daß ich ſie nicht
beantworten kan? Es iſt nur die Haͤlffte
von dem/ was die deinigen verlangen/ daß
du Herrn Lovelace gaͤntzlich entſagen ſollſt:
und wenn du ihm noch ſo ernſtlich entſa-
geſt/ ſo wirſt du doch bey niemand/ als
vielleicho bey mir/ Glauben finden. So
lange du unverheyrathet bleibeſt/ hat Herr
Lovelace noch Hoffnung: und jedermann
wird glauben/ daß du noch Zuneigung ge-
gen ihn habeſt.
„Erlauben ſie mir die Wahrheit zu ſagen.
„Jhre Guͤtigkeit, ihre Gedult gegen mich, ihre
„Ruhe und Zufriedenheit, gelten bey mir mehr
„als alle andere Bewegungs-Gruͤnde. Denn
„ob gleich mein Bruder, und auf deſſen Anſtiff-
„ten auch mein Vater mit mir umgehet, als
„wenn ich eine Sclavin und nicht Tochter im
„Hauſe waͤre: ſo habe ich doch kein ſclaviſch
P 3„Hertz
[230]Die Geſchichte
„Hertz. Sie haben mich nicht ſo erzogen, daß
„ich niedertraͤchtig ſeyn kan.
So Claͤrchen! du willſt deinem Vater
trotzen? Jch habe ſchon vorhin befuͤrchtet/
daß es ſo weit kommen wuͤrde. Was wird
endlich daraus werden? Jch/ ſprach ſie mit
einem Seuffzer, muß mir ſelbſt manchen Ein-
fall gefallen laſſen.
„Das thut mir eben leid, liebſte Mutter.
„Meynen ſie nicht, daß eben das, was ich an
„ihrem Exempel geſehen habe, und die Furcht
„vor dem, was man von einem noch haͤrteren Ge-
„muͤthe, das kaum halb ſo viel Verſtand beſitzt,
„als mein Vater, in dem Eheſtande erwarten
„muß, einen Eindruck bey mir gemacht hat?
„Kan ich dadurch Luſt bekommen, mich zu ver-
„heyrathen? Es iſt noch eine Erleichterung,
„wenn man dem Eigenſinn eines verſtaͤndigen
„Mannes folgen muß: und ich erinnere mich
„uͤber dieſes von ihnen gehoͤrt zu haben, daß
„mein Vater vor mehreren Jahren ein aufge-
„raͤumter und munterer Mann geweſen iſt, ge-
„gen deſſen Geſtalt und Auffuͤhrung nichts ein-
„zuwenden war. Aber der Mann, den man
„mir aufdringen will ‒ ‒„
Halte dich nicht uͤber deinen Vater auf.
(Kan man das wol nennen, ſich uͤber ſeinen Va-
ter aufhalten? Jch habe mich bemuͤhet, Jhnen
von Wort zu Wort zu melden, was ich ſagte.)
Jch muß es nochmahls ſagen/ du koͤnnteſt
nicht ſo unbeweglich in deiner Abneigung
von
[231]der Clariſſa.
von dieſem Manne ſeyn/ wenn du gegen
alle andere Manns-Perſonen gleich geſin-
net waͤreſt. Dein Eigenſinn und Hals-
ſtarrigkeit macht mich endlich muͤde/du biſt
das allerhallſtarrigſte Maͤdchen/ das ich
je geſehen habe. Du bedenckſt nicht/ daß es
dem Vater anfangen wird/ wo ich es laſſen
werde; und daß ich mich gaͤntzlich deines
Umgangs enthalten muß/ wenn du nicht
nachgiebſt. Jch will es dir noch einmal
antragen. Kanſt du dich entſchlieſſen/
deinen Vater zum Zorn zu reitzen/ und ihm
zu trotzen? und deinen Onckels auch zu
trotzen? Willſt du lieber mit uns insge-
ſamt zerfallen/ als Herrn Solmes/
oder mir nur einige Hoffnung geben?
„Wie ſchwer wird mir die Wahl? Allein
„was ſoll ich antworten, wenn ich aufrichtig ant-
„worten will? Kan nicht meine ewige Gluͤck-
„ſeligkeit durch eine Antwort, die ich gern ge-
„ben wollte, in Gefahr geſetzt werden? Wird
„nicht jeder Schatten der Hoffnung, die ich ſo
„gern geben wollte, unvermuthet durch eine dar-
„uͤber gemachte Auslegung in eine Gewißheit
„verwandelt werden? Sucht man mich nicht zu
„fangen, und ſucht man nicht ſelbſt mein Ver-
„langen, Gehorſam zu leiſten, gegen mich an-
„zuwenden, wenn ich mich uͤbereilte einige Ant-
„wort zu geben, daraus man eine Hoffnung
„machen koͤnnte? Vergeben ſie, daß ein Kind
P 4ſo
[232]Die Geſchichte
„ſo dreiſte redet, wenn es die Sache erfodert.
„Der Ehe-Contract iſt ſchon entworfen! Die
„Proben ſind ſchon verſchrieben! Es ſoll ein Tag
„zur Hochzeit angeſetzt werden! wie kan ich bey
„ſolchen Umſtaͤnden einige Hoffnung geben,
„wenn ich nicht entſchloſſen bin, mich dieſem
„Manne aufzuopfern?„
Sage nicht mehr/ Maͤdchen/ daß dein
Hertz frey iſt. Du betriegeſt dich ſelbſt/
wenn du es denckſt.
„So weit werde ich getrieben,„ ſagte ich mit
gerungenen Haͤnden, „weil es ein Bruder voll
„eigennuͤtziger und unendlicher Abſichten haben
„will; und eine Schweſter‒‒„
Wie oft muß ich dir verbieten/ Claͤrchen/
dich ſolcher Ausdruͤcke zu bedienen/ die
ſich fuͤr eine Schweſter nicht ſchicken. Jſt
nicht dein Vater/ ſind nicht deine Onckles/
iſt nicht jedermann auf Herrn Solmes Sei-
te? Jch muß dir ſagen/ undanckbares
Maͤdchen/ (du biſt eben ſo undanckbar als
unbeweglich) ich muß dir nochmals ſa-
gen/ daß ich glaube/ du koͤnnteſt nimmer
ſo eigenſinnig ſeyn/ wenn du nicht verliebt
waͤreſt. Du kanſt leicht dencken/ was dei-
nes Vaters erſte Frage ſeyn wird/ wenn er
nach Hauſe kommt. Jch werde ihm ſagen
muͤſſen/ daß ich nichts ausgerichtet habe.
Jch habe das meinige gethan. Wenn du
dich beſinneſt/ ehe er nach Hauſe kommt/ ſo
komm zu mir/ und gib mir Nachricht da-
von.
[233]der Clariſſa.
von. Du haſt noch einige Zeit/ weil er
zum Abend-Eſſen bleiben wird. Jch will
zu dir nicht wieder kommen. Mit dieſen
Worten ging ſie weg.
Was konnte ich anders thun, als weinen?
Wegen meiner Mutter bin ich am meiſten bekuͤm-
mert; mehr als um mein ſelbſt willen. Sie ver-
dient, wenn ich alles uͤberlege, noch mehr Mit-
leiden als ich, inſonderheit deswegen, weil ſie ge-
gen ihre eigene Einſicht handeln muß. Sie iſt
ein unvergleichliches Frauenzimmer! und es iſt
betruͤbt, daß ihre Sanfftmuth und Herablaſſung
nicht durch die natuͤrlichen Folgen dieſer liebens-
wuͤrdigen Eigenſchafften belohnt wird. Allein
es wuͤrde nie ſo weit gekommen ſeyn, wenn ſie ſich
fruͤh in Acht genommen haͤtte, daß hefftige Ge-
muͤther nicht haͤtten mercken koͤnnen, was ſie fuͤr
Gewalt uͤber ſie haben.
Meine Feder verfuͤhrt mich zum ſchreiben: und
ich vergeſſe unterdeſſen, daß meine Mutter auf
mich warten kan, und vielleicht wegen ihrer ei-
genen Umſtaͤnde auf mich ungehalten iſt. Sie
hat mir zu verſtehen gegeben, ich muͤſte zu ihr
kommen, wenn ich meine Entſchlieſſung aͤnderte:
das iſt in der That ſo viel als ein Verbot, bey
der Geſinnung die ich jetzt habe, zu ihr zu kom-
men. Allein ſie iſt im Unwillen von mir gegan-
gen: und ſo hat es ein trotziges Anſehen, und laͤſt
bey nahe als wenn ich mich ihrer Vorſprache und
Vermittelung begeben wollte, wenn ich nicht zu
ihr gehe, und ſie erſuche, Mitleiden mit mir zu
P 5ha-
[234]Die Geſchichte
ben, und meinem Vater alles auf der beſten
Seite vorſtellen.
Jch entſchlieſſe mich, zu ihr zu gehen. Jch
will lieber, daß die gantze Welt auf mich boͤſe
iſt, als meine Mutter. Damit aber nichts von
Papieren auf meiner Stuben bleiben moͤge, ſo ſoll
Hannichen dieſen Brief zur Stelle bringen.
Wenn Sie vielleicht auf einmal zwey oder drey
Briefe von mir bekommen, ſo ſind ſie ein Tage-
Regiſter der Bekuͤmmerniß Jhrer ungluͤcklichen
aber ſtets ergebenen und getreuen Freundin
Cl. Harlowe.
Der ein und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jch bin hinunter geweſen: aber ich bin un-
gluͤcklich in allem was ich vornehme, wenn
ich auch noch ſo eine gute Abſicht habe. Sie
werden aus meiner Erzehlung ſehen, daß ich die
Sache verſchlimmert habe, da ich ſie verbeſſern
wollte.
Meine Mutter und meine Schweſter waren
in dem Saal, als ich zu ihnen kam. Das arti-
ge Geſicht meiner Mutter gluͤete dergeſtalt, daß
ich faſt mercken konnte, ſie muͤſſe mit einiger Ge-
muͤths-Bewegung gegen ihr ungluͤckliches Kind
geredet
[235]der Clariſſa.
geredet haben: und meiner Schweſter Geſicht
ſchien dieſes zu bekraͤfftigen, das ebenfals gantz
gluͤend war, nur daß es brauner und eigenſinni-
ger ausſahe. Vielleicht hatte ſie von dem, was
vorgegangen war, eine umſtaͤnndliche Nachricht
gegeben, um meine Schweſter und durch dieſe
meinen Bruder und Onckels zu uͤberzeugen, daß
ſie alles moͤgliche bey mir angewandt haͤtte.
Jch glaube, ich bin als ein Uehelthaͤter, den
ſein Gewiſſen niederſchlaͤgt, in den Saal getreten.
Jch bat mir Erlaubniß aus, mit ihr allein zu
ſprechen: ſie gab mir aber die Antwort in ſolchen
Worten und mit ſolchen Geberden, daß meine
Vermuthung ſehr beſtaͤrcket ward.
Sie nahm eine Ernſthafftigkeit an, die ſich zu
ihrem guͤtigen Geſichte niemals ſchicket, und ſag-
te: Clariſſa Hatlowe/ du ſiehſt mir gar nicht
aus, als wenn du nachgeben, ſondern als wenn
du um etwas bitten wollteſt. Wenn ich mich
irre, ſo ſage es mir: und alsdenn bin ich bereit,
mit dir zu gehen, wohin du beliebeſt. Doch dem
ſey wie ihm wolle, du kanſt alles in deineꝛ
Schweſter Gegenwart ſagen.
Jch dachte, meine Mutter haͤtte wohl mit mir
allein gehen koͤnnen, da ſie genugſam weiß, daß
meine Schweſter gar nicht meine Freundin iſt.
Jch antwortete: ich ſey herunter gekommen,
um mir bey ihr Vergebung wegen deſſen aus zu-
bitten, worin ich mich gegen ſie ſelbſt bey der vo-
rigen Unterredung vergangen haben moͤchte, und
um ſie zu erſuchen, daß ſie ſich bemuͤhen moͤchte,
meinen
[236]Die Geſchichte
meinen Vater zu beſaͤnftigen, wenn ſie ihm Nach-
richt von dem braͤchte, was vorgegangen ſey.
Was fuͤr ein Geſicht machte mein Schweſter
hiebey! recht als wenn ich eine Tod-Suͤnde be-
gangen haͤtte. Wie erhub ſie Augen und
Haͤnde! wie runtzelte ſie die Stirne!
Meine Mutter war ohnehin ſchon ungehalten
genug auf mich: und fragte mich: warum ich
zu ihr herunter kaͤme, wenn ich noch ungehorſam
waͤre? Sie hatte das Wort kaum ausgeredet, ſo
kam Schorey/ und meldete Herrn Solmes der
unterdeſſen in den groſſen Saal getreten war.
Was trieb den eckelhafften Menſchen bey ſpaͤtem
Abend, da es ſchon gantz finſter war, in unſer
Haus. Jch glaube, es war ſo veranſtaltet,
daß er des Abends hier eſſen ſollte, damit er
erfuͤhre, was meine Muter bey mir wuͤrde ha-
ben ausrichten koͤnnen, und damit uns mein
Vater beyſaɯmen finden moͤchte, wenn er nach
Hauſe kaͤme.
Jch wollte mich davon machen: allein meine
Mutter befahl mir, nicht aus der Stelle zu gehen,
weil ich doch einmahl herunter gekommen waͤre
ihrer zu ſpotten. Jch ſollte mich, ſetzte ſie hinzu,
ſo gegen ihn betragen, daß ſie dadurch Muth be-
kommen moͤchte, meinem Vater eine ſo gute
Nachricht von mir zu geben, als ich ſie vorhin
erſucht haͤtte.
Meine Schweſter frolockete hieruͤber, und
mich verdroß es, daß ich mich ſelbſt ſo gefangen
hatte, und einen ſo ſcharfen und empfindlichen
Ver-
[237]der Clariſſa.
Verweiß anhoͤren muſte, bey welchem meine
Mutter mehr meiner ſtichelnden Schweſter als ei-
ner guͤtigen Mutter gleich zu ſehen ſchien, wenn ich
mich anders unterſtehen darf, ſo von ihr zu ſchrei-
ben. Denn es hatte faſt das Anſehen, als wenn
ſich meine Mutter daruͤber freuete, daß ich ſo uͤber-
eilt ward.
Der Mann ſtieg in die Stube herein. Sie
wiſſen, daß er gehet, als wenn er Pauſen machen
muͤßte, und als wenn er aus Armuth an Gedan-
cken um ſich die Zeit zu vertreiben ſeine Schritte
zaͤhlete, ſo wie der von Dryden vorgeſtellete un-
geſchickte Bauer zu pfeiffen pflegte. Er beehrte
erſtlich meine Mutter mit ſeinem ungeſchickten
Buͤckling, nachher meine Schweſter, endlich
mich; nicht anders als wenn ich ſchon ſeine Frau
waͤre, und er gegen mich am wenigſten Hoͤflich-
keit noͤthig haͤtte. Darauf ſetzte er ſich neben mir
nieder, und benachrichtigte uns, was es fuͤr Wet-
ter ſey. Er machte es ſehr kalt: allein ich war
heiß genug. Er wandte ſich darauf zu mir, frag-
te mich, wie ich das Wetter faͤnde, und wollte
mich bey der Hand faſſen. Jch zog die Hand
veraͤchtlich genug zuruͤck. Meine Mutter ſahe
ungehalten dazu aus, und meine Schweſter bis
ſich auf die Lippen.
Jch konte mich nicht laͤnger halten: und ich
glaube, daß ich in meinem Leben nicht ſo dreiſte
geweſen bin. Denn ich fuhr fort meine Mutter
zu bitten, als wenn Herr Solmes gar nicht zu-
gegen geweſen waͤre.
Mei-
[238]Die Geſchichte
Meine Mutter veraͤnderte die Farbe im Ge-
ſichte, und ſahe bald ihn, bald meine Schweſter,
bald mich an. Meine Schweſter kriegte groͤſſere
Augen, als ich ſie jemahls an ihr wahrgenommen
habe.
Diesmahl konte mich der Mann verſtehen. Er
huſtete: er ſetzte ſich von einem Stuhl auf den an-
dern. Jch fuhr fort, meine Mutter um eine ge-
neigte Erzaͤhlung des vorgegangenen zu erſuchen.
Nichts, fing ich an, als blos eine unuͤber-
windliche Abneigung ‒ ‒
Was will das Maͤdchen? ſagte ſie. Was
Claͤrchen! Schicken ſich die Reden hieher?
Jſt dis ‒ ‒ iſt dis ‒ ‒ iſt dis eine Zeit ‒ ‒
Sie ſahe abermals auf Herrn Solmes.
Wenn ich zuruͤck dencke, ſo thut es mir leyd,
daß ich meine Mutter in ſolche Noth geſetzt habe.
Es war in der That ſehr unartig von mir gehandelt.
Jch bat ſie um Vergebung; doch mit dem Zu-
ſatz; weil mein Vater bald nach Hauſe kom-
men wuͤrde/ ſo waͤre dieſes die eintzige Ge-
legenheit/ die ich haͤtte/ meine Bitte/ an-
zubringen. Da ſie mir verboten haͤtte/
wegzugehen/ ſo haͤtte ich geglaubt, ich muͤ-
ſte mir nicht durch Hn. Solmes Zuſpruch
eine Gelegenheit entziehen laſſen/ auf die
mir ſo vieles ankaͤme: und ich koͤñte ihm
(hiebey ſahe ich auf ihn) zu gleicher Zeit zeigen,
daß die Muͤhe die er ſich gaͤbe vergeblich
ſey/ wenn er ſeine Beſuche in unſer Haus
um meinet willen fortſetzte.
Jſt
[239]der Clariſſa.
Jſt das Maͤdchen toll! ſagte meine Mutter,
um meinem reden ein Ende zu machen.
Meine Schweſter that, als wenn ſie meiner
Mutter etwas heimlich in die Ohren ſagen wollte,
und ſprach mit einer ſpoͤttiſchen Miene: „ſie ſpot-
„tet ihrer, weil ſie ihr nicht erlauben wollten,
„wegzugehen.„
Jch gab ihr nur einen Blick, und wandte mich
wieder zu meiner Mutter: Erlauben ſie mir/
das ich meine Bitte wiederholen darf. Jch
habe weder Bruder noch Schweſter/ wenn
ich meiner Mutter Hertz verliere/ ſo bin
ich gantz verlohren.
Herr Solmes ſetzte ſich wieder auf ſeinen er-
ſten Platz, und fing an den Kopf ſeines Spani-
ſchen Rohrs, der faſt eben ſo runtzelicht und un-
geſtalt ausſiehet als ſein eigener, zu nagen. Jch
haͤtte nicht gedacht, daß der Mann ſo empfindlich
waͤre.
Meine Schweſter ſahe im Geſicht wie ein ro-
thes Tuch aus. Sie ging zu dem Tiſche, auf
welchem der Fechtel lag, und ohngeachtet es nach
Herrn Solmes Anmerckung kalt war, wehete ſie
doch heftig damit, um ſich abzukuͤhlen.
Meine Mutter faßte mich voller Ungeduld bey
der Hand, und fuͤhrete mich aus ihrem Saal in
den meinigen, der gleich daran ſtoͤßt, wie Sie
wiſſen. Was denckſt du Claͤrchen? Jſt das
nicht eine verwegene, eine unertraͤgliche Auffuͤh-
rung?
[240]Die Geſchichte
Jch bitte ſie um Vergebung, antwortete ich,
wenn ſie es ſo genommen haben. Allein ſcheint
es nicht, daß Schlingen fuͤr mich gelegt ſind?
Jch kenne meinen Bruder wohl: wenn ich ein gu-
tes Wort ſage, ſo wird er es gleich auslegen, als
wenn ich zu allem Ja ſagte, und es mir gefallen
lieſſe, daß er mich austreiben will. Mein Bru-
der und meine Schweſter duͤrfften ſich nur halb ſo
viel Muͤhe geben.
Meine Mutter wollte mit Unwillen von mir
gehen. Jch bat ſie aber, noch zu warten: „nur
„eine einzige Guͤtigkeit, meine liebſte Mutter ha-
„be ich mir noch von ihnen ausbitten.
Was will das Maͤdchen?
Jch ſehe, wie jedermann zu Wercke gehet.
„Jch kann nie darauf dencken, Herrn Solmes
„zu nehmen: und ich ſehe zum Voraus, wie
„unruhig mein Vater werden wird, wenn er
„dieſe Nachricht bekommt. Daraus, daß ſie
„bisher geneigt geweſen ſind, meine Bitten an-
„zuhoͤren, werden die uͤbrigen ſchlieſſen, daß ſie
„gegen ihr armes Kind, das von allen verban-
„net zu ſeyn ſcheint, noch ein muͤtterliches Hertz
„haben. Es werden daher die andern ſuchen,
„mich einzuſperren, und der Gegenwart aller
„derer gaͤntzlich zu berauben, die mich bisher
„geliebet haben.„ (Man drohet in der That,
dieſes zu thun.) „Wenn es ſo weit kommt, wenn
„mir die Gelegenheit benommen wird, meine
„Sache vorzuſtellen, und mich inſonderheit an
„ſie und an meinen Onkle Harlowe zu wenden;
ſo
[241]der Clariſſa.
„ſo ſehe ich ſchon zum voraus, daß aller Ohren
„zu meinem Nachtheil offen ſtehen werden, und
„daß alle Luͤgen gegen mich das Haupt erheben
„werden. Jch bitte deswegen demuͤthig, daß ſie
„nicht zugeben wollen, wo ſie es anders hindern
„koͤnnen, daß zu meinen bisherigen unangeneh-
„men Einſchraͤnckungen noch dieſe hinzu kom̃me.„
Deine Hannichen hat gehorchet/ und dir
dieſe/ wie mehrere andere Nachrichten ge-
geben.
Meine Hannichen horcht nicht. Meine Han-
nichen. ‒ ‒ ‒
Entſchuldige ſie nicht weiter. Es iſt be-
kannt/ daß ſie nicht viel gutes anrichtet:
es iſt ſchon bekannt. Aber nicht mehr von
dem geſchaͤfftigen Maͤdchen/ das ſich in al-
les menget. Es iſt wahr/ dein Vater hat-
te vor/ dich auf deine Stube einzuſperren/
wenn du nicht gehorchen wuͤrdeſt/ um deſto
gewiſſer verſichert zu ſeyn/ daß du mit de-
nen/ die dich zum Ungehorſam verfuͤhren/
keine Briefe wechſeln koͤnneſt. Er trug mir
auf/ als er aus dem Hauſe ging/ dir dieſes
zu ſagen/ wenn ich dich ungehorſam faͤn-
de: allein ich hatte nicht Luſt/ dir eine ſo
harte Nachricht zu ſagen/ und ich hoffete
noch immer/ daß du endlich nachgeben
wuͤrdeſt. Jch glaube Hannichen hat ge-
horchet/ und dir dieſes wieder erzehlt: und
vielleicht auch das/ daß er geſagt hat/ er
wollte lieber dein Hertz kraͤncken/ als leiden/
Erſter Theil. Qdaß
[242]Die Geſchichte
daß du ſein Hertz kraͤncken ſollteſt. Und ich
ſage dir hiemit/ du wirſt eingeſperret wer-
den/ und man wird ferner nicht zugeben/
daß du einem von uns mit deinem Klagen
und Winſeln in den Ohren liegeſt. Wir
wollen ſehen/ wer wird nachgeben muͤſſen:
du uns? oder wir insgeſammt dir?
Jch wollte Hannichen entſchuldigen, und
thun, als wenn ich meine Nachricht durch Eliſa-
beth Barnes/ die der Widerſchall von meiner
Schweſter iſt, erfahren haͤtte: denn dieſe hat es
gegen eine andere Magd geruͤhmet. Allein-ſie
befahl mir abermals, davon ſtille zu ſchweigen.
Jch wuͤrde bald finden, daß andere eben ſo uner-
bittlich ſeyn koͤnnten, als ich eigenſinnig und un-
beweglich waͤre. Da ſie ſaͤhe, daß ich mich auf
ihre Gelindigkeit verlieſſe, und nichts darnach
fragte, daß ſie um meinet willen mit ihrem
Manne, mit ſeinen Bruͤdern und mit ihren uͤbri-
gen Kindern in Uneinigkeit geriethe, ſo wollte ſie
mir ein fuͤr alle mahl verſichern, daß ſie eben ſo ſehr
wider Herrn Lovelace und fuͤr Herrn Solmes
waͤre, und daß ihr die Vergroͤſſerung unſerer Fa-
milie eben ſo ſchr am Hertzen laͤge, als irgend ei-
nem andern. Sie wuͤrde zu keinem Mittel Nein
ſagen, das man fuͤr noͤthig halten moͤchte, um
ein widerſpenſtiges Kind zum Gehorſam zu zwin-
gen.
Als ich bey nahe umfallen wollte, bot ſie mir
den Arm, und hielt mich.
Jſts
[243]der Clariſſa.
Jſts das alles, was ich von meiner Mutter
erwarten kan? „ſagte ich.
„Ja! das iſts alles. Aber, Claͤrchen/ ich
„will dir noch eine Bedenck-Zeit geben. Gehe
„wieder zu Herrn Solmes hinein, und fuͤhre
„dich verſtaͤndig auf, damit euch dein Vater bey-
„ſammen finde, wenn er nach Hauſe kommt, und
„ſehe, daß du dem Manne zum wenigſten hoͤf-
„lich begegneſt.„
Meine Fuͤſſe gingen von ſich ſelbſt, wie es mir
vor kam, von dem Saal weg, und nach der Trep-
pe zu: bey der Treppe ſtand ich ſtille.
Wenn du dir denn vorgenommen haſt/
fuhr ſie fort, uns allen zu trotzen/ ſo magſt
du mir nach deiner Stube gehen/ wie du im
Sinne zu haben ſcheineſt. Allein ſo ſey dir
GOtt gnaͤdig!
„GOtt ſey mir gnaͤdig! ich kan ohnmoͤg-
„lich ſo handeln, daß man bewogen werde eine
„Hoffnung von mir zu faſſen, die hernach nicht
„erfuͤllet wird. Allein beten ſie nur fuͤr mich:
„wie ich fuͤr ſie beten werde, die Schuld an
„meinem Ungluͤck ſind.„
Jch fing an fortzugehen.
So wilſt du doch hinauf gehen/ Claͤr-
chen?
Jch ſahe ſie an. Die Thraͤnen kamen mir
eben zu rechter Zeit in die Augen, fuͤr mich zu
ſprechen; dann ich ſtand ſtille, ohne ein Wort
ſagen zu koͤnnen.
Du gutes Maͤdchen/ mache mir nicht ſo
Q 2vielen
[244]Die Geſchichte
vielen Kummer! du liebes gutes Kind/
mache mir nicht ſo vielen Kummer! ſagte
ſie mit ausgehaltener Hand, und ſtand gleich-
fals ſtille.
„Was kan ich thun? Was iſt mir noch
„moͤglich weiter zu thun?„
Gehe wieder hinein/ Kind! Gehe wie-
der in die Stube/ mein liebes Kind! da-
[mi]t dein Vater euch nur beyſammen fin-
den moͤge.
„Soll das geſchehen, um ihm eine falſche
„Hoffnung zu machen? um Herrn Solmes
„Hoffnung zu machen?
Sie wieß mich mit der Hand von ſich, und
ſagte mit einem zornigen Geſichte: hartnaͤckige/
verkehrte/ ungehorſame Clariſſa Harlowe!
ſo folge denn deinem Kopfe/ und gehe hin
wo du hin willſt. Allein unterſtehe dich
nicht wieder ohne Erlaubniß herunter zu
kommen: (ich befehle es dir!) ſo lange dein
Vater ſeinen Entſchluß deinetwegen noch
nicht kund gemacht hat.
Sie verließ mich in groſſem Unwillen, und ich
ging mit einem ſchweren Hertzen, und mit eben
ſo ſchweren Fuͤſſen die Treppe hinauf.
Mein Vater iſt nach Hauſe gekommen, und
hat meinen Bruden mitgebracht. Ob es gleich
ſpaͤt iſt, ſo ſitzen ſie doch noch alle beyſammen
und haben ſich eingeſchloſſen: es geht keine Thuͤr
auf, und keine Seele kommt aus der Stube
Wen
[245]der Clariſſa.
Wenn Hannichen auf und nieder geht, ſo huͤten
ſich alle vor ihr, als wenn ſie die Peſt haͤtte.
Endlich geht die erzuͤrnte Geſellſchafft ausein-
ander. Es ſind Boten an meine beyden Onkles
und an meiner Mutter Schweſter geſchickt, wie
ich glaube, um ſie auf Morgen zum Fruͤhſtuͤck
hieher zu bitten. Denn werde ich auch wol mein
Urtheil bekommen. Es iſt ſchon uͤber eilfe, und
ich kriege Befehl, zu Bette zu gehen.
um 12. Uhr.
Dieſen Augenblick werden mir die Schluͤſſel
abgefodert. Jch ſolte herunter geruffen werden,
allein mein Vater ſagte, er koͤnte mich nicht vor
ſeinen Augen dulden. Wie ſehr hat ſich alles in
wenig Wochen geaͤndert. Schorey uͤberbrach-
te mir den Befehl, die Schluͤſſel abzugeben: die
Thraͤnen ſtunden ihr dabey in den Augen.
Sie ſind gluͤcklich, mein Schatz. Moͤgen Sie
nur immer ſo gluͤcklich bleiben! ſo werde ich doch
nicht gantz ungluͤcklich ſeyn.
Der zwey und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Sontag Morgens den 5. Maͤrtz.
Hannichen hat mir eben aus der abgelegenen
Oeffnung in der Garten- Mauer einen
Q 3Brief
[246]Die Geſchichte
Brief von Herrn Lovelace gebracht, den der
Lord M. mit unterzeichnet hatte. Er war ge-
ſtern Abend hingelegt.
Er meldet mir: „Herr Solmes ruͤhme ſich
„oͤffentlich, daß er in wenig Tagen mit einem ſo
„ſcheuen Frauenzimmer, als in gantz England
„nicht zu finden ſey, getrauet werden wuͤrde.
„Mein Bruder mache die Auslegung daruͤber,
„und verſichere allen und jeden, daß ſeine juͤng-
„ſte Schweſter ſehr bald Herrn Solmes Frau
„ſeyn wuͤrde.„ Er berichtet mir auch, daß
die Proben verſchrieben ſind, davon meine Mut-
ter Erwaͤhnung that.
Es kan doch nichts, was in dieſem Hauſe vor-
gehet oder geredet wird, vor ihm verborgen blei-
ben!
Er ſchreibt: „Meine Schweſter ſtimmete in
„ihren Reden voͤllig mit meinem Bruder uͤberein,
„und hielte ſich dabey ſo empfindlich uͤber ihn auf,
„daß es ihn nothwendig ſehr verdrieſſen muͤß-
„te. Die Sache ſelbſt und die Art ſie vorzu-
„bringen, gehe ihm zu Hertzen.„ Er druͤcket
„ſich hieruͤber ſehr heftig aus.
„Es iſt ihm unbegreiflich, was die Meinigen
„fuͤr Urſachen haben koͤnnen, ihm einen ſolchen
„Menſchen als Solmes iſt vorzuziehen. Wenn
„es auf vortheilhafte Ehe-Pacten ankaͤme, ſo
„ſolte gewiß Solmes nichts verſprechen koͤn-
„nen, daß er nicht auch zu thun bereit ſey.„
„Was ſeine Guͤter und Familie anlangte, ſo
„koͤnte gegen jene niemand etwas einwenden,
und
[247]der Clariſſa.
„und dieſe wolte er nicht gern dadurch beſchim-
„pfen, daß er ſie mit der Familie des Solmes
„nur vergliche. Er berufft ſich auf den Lord M.
„der von ihm bezeugen koͤnne, wie ſehr er ſich
„ſeit der Zeit, da er um mich mit einiger Hoff-
„nung angehalten, gebeſſert habe.„ Jch glau-
be, daß eben deswegen der Brief von ſeiner Gna-
den unterzeichnet iſt, damit ich dieſes als eine Art
eines guten Zeugniſſes fuͤr Herrn Lovelace anſe-
hen moͤchte.
„Er bittet mich um Erlaubniß, daß er in
„Geſellſchaft des Lord M. meinem Vater oder
„meinen Onckels zuſprechen, und ihnen Vor-
„ſchlaͤge thun duͤrfte, die ſie gewiß annehmen
„wuͤrden, wenn ſie ſie nur hoͤren wollten: und
„er verſpricht, alle Mittel zur Ausſoͤhnung, die
„ich nur vorſchreiben wollte, anzuwenden.„
Er unterſteht ſich dabey, ſehr ernſtlich zu bitten,
daß ich mich mit ihm in meines Vaters Garten
insgeheim bey Nacht-Zeit unterreden wollte: er
wollte noch eine Perſon, welche ich befehlen wuͤr-
de, mitbringen.
Jn der That, wenn Sie den Brief ſehen
ſolten, ſo wuͤrden Sie glauben, daß ich ihm ent-
weder groſſe Hoffnung gemacht haͤtte, und daß
unſere Sachen beynahe zur Richtigkeit waͤren:
oder daß er zum voraus wiſſen muͤßte, daß mich
meine Anverwandten noͤthigen wuͤrden bey Frem-
den Schutz zu ſuchen. Denn er unterſteht ſich, mir
im Namen ſeiner Gnaden anzutragen, daß ich zu
dem Lord M. fluͤchten moͤchte, wenn man um
Q 4Sol-
[248]Die Geſchichte
Solmes willen hart und unertraͤglich mit mir
verfahren ſollte.
Jch glaube, daß uns die Manns-Perſonen da-
durch zu fangen ſuchen, daß ſie allerhand dreiſte
und verwegene Hoffnung zu haben vorgeben, und
uns unverſchaͤmte Anerbietungen machen. Sie
dencken, wir ſollen zu bloͤde oder zu hoͤflich ſeyn,
ihnen die Wahrheit dafuͤr zu ſagen: und wenn
wir dieſes unterlaſſen, ſo nehmen ſie unſer Still-
ſchweigen fuͤr ein Ja-Wort und fuͤr eine Gewaͤh-
rung ihrer Bitte an.
Es ſind noch andere beſondere Umſtaͤnde in die-
ſem Briefe enthalten, die ich ihnen melden muß:
ich will Jhnen den Brief ſelbſt, oder eine Abſchrift
davon zuſchicken.
Jch dencke mit vieler Bekuͤmmerniß daran,
daß ich auf der einen Seite ſo weit hinein gezogen
und von der andern Seite ſo weit getrieben bin,
einen heimlichen Brief-Wechſel fortzuſetzen, der
in der That verliebt zu ſeyn ſcheint, und daruͤber
mich mein eigenes Gewiſſen ſtraffet.
Wenn ich dieſen Brief-Wechſel nicht bald ab-
breche, ſo bekommt Herr Lovelace durch meine
traurigen Umſtaͤnde taͤglich neuen Vortheil, und
ich werde meyr und mehr verſtrickt. Wenn ich
ihn aber abbreche, ehe ich die Verſicherung erhal-
ten habe, daß Herr Solmes ferner nicht gehoͤret
werden ſoll, ſo ‒ ‒ Waͤre es nicht am beſten,
mein Hertz, daß ich ihn noch einige Zeit fortſetzte?
in Hoffnung, daß ich ihn endlich unter einer vor-
theilhaften Bedingung, die mir die Meinigen
machen
[249]der Clariſſa.
machen muͤßten, aufgeben kan. Wen kan ich
hieruͤber auſſer Jhnen um Rath fragen?
Alle meine Verwandten ſind nun verſammlet,
und fruͤhſtuͤcken miteinander. Jch bin ſo unru-
hig, daß ich die Feder niederlegen muß.
Sie gehen miteinander nach der Kirche. Han-
nichen ſagt, man koͤnne ihnen den Verdruß und
die Unruhe an der Stirne anſehen: und ſie glaubt,
es muͤſſe ein Endſchluß gefaſſet ſeyn.
Sonntag Mittags.
Nichts iſt quaͤlender, als zwiſchen Furcht und
Hoffnung zu ſchweben. Jch will mir Erlaubniß
ausbitten, dieſen Nachmittag in die Kirche zu ge-
hen. Jch ſehe zwar einer abſchlaͤgigen Antwort
ſchon entgegen; allein wenn ich nicht bitte, ſo wird
es heiſſen, die Schuld ſey mein eigen, daß ich zu
Hauſe bleiben muͤßte.
Jch verlangte Schorey zu ſprechen. Als ſie
kam, erſuchte ich ſie, meine Mutter in meinem
Namen um Erlaubniß zu bitten, daß ich dieſen
Nachmittag in die Kirche gehen duͤrffte. Was
meynen Sie, was bekam ich fuͤr Antwort? Sie
muß ihren Bruder bitten/ wenn ſie etwas
zu bitten hat. So bin ich denn an meinen
Bruder verkaufft.
Jch war dennoch entſchloſſen, ihn darum zu
bitten. Als mir das Eſſen geſchickt ward, gab
ich einen Brief mit, in welchem ich mich an ihn
Q 5wandte,
[250]Die Geſchichte
wandte, und durch ihn meinen Vater um Erlaub-
niß anſprach dem Gottesdienſt beyzuwohnen.
Jch erhielt aber dieſe veraͤchtliche Antwort von
ihm: ſagt ihr wieder/ daß wir ihr Geſuch
morgen uͤberlegen wollen. Alſo ſoll es mor-
gen uͤberlegt werden, ob ich heute zur Kirchen
gehen ſoll! Geduld iſt die beſte Verantwortung
gegen einen ſolchen Spott: allein wahrhaftig
durch dieſe Mittel werden die Meinigen bey ihrer
Clariſſa Harlowe nicht viel ausrichten. Jch
glaube, daß dieſes nur der Anfang von dem ſey,
was ich noch kuͤnfftig von meinem Bruder zu er-
warten habe, nachdem ich einmal in ſeine Hand
verkauft bin.
Nach Uberlegung der Sache hielt ich fuͤr rath-
ſam, meine Bitte zu wiederholen. Jch that
es: und hier folget die Abſchrifft meiner Bitte,
und der mir ertheilten Antwort:
„Jch weiß nicht, wie ich die Antwort verſte-
„hen ſoll, die ihr mir auf meine Bitte, daß ich
„dieſen Nachmittag in die Kirche gehen duͤrffte,
„ertheilet habt. Wenn ihr habt zeigen wollen,
„daß ihr luſtig und aufgeraͤumt waͤret, ſo hoffe
„ich, daß ihr noch jetzund aufgeraͤumt ſeyn, und
„mir deſto leichter zugeſtehen werdet, was ich bit-
„te. Jhr wiſſet, daß ich niemals bey geſun-
„den Tagen die Kirche verſaͤumt habe, ausge-
„nommen die beyden letzten Sonntage, da mir
„angedeutet ward, daß ich wohl thun wuͤrde,
„mich
[251]der Clariſſa.
„der Kirche zu enthalten. Meine Umſtaͤnde ſind
„ſo beſchaffen, daß ich niemals mehr als jetzt
„der Wohlthat des oͤffentlichen und gemein-
„ſchafftlichen Gebetes benoͤthiget war. Jch will
„heilig verſprechen, nur hin und wieder zuruͤck
„zu gehen, und ich hoffe, man wird mich ohne-
„hin nicht einmal im Verdacht haben, daß ich
„einen andern Endzweck haͤtte. Mein niederge-
„ſchlagenes Weſen wird das genugſam entſchul-
„digen, daß ich keinen Beſuch annehme. Jch
„will die Hoͤflichkeits-Bezeigungen aller derer,
„die mich kennen, nur auf eine entfernte Weiſe
„ewiedern. Wenn mein Ungluͤck zu ſeinem En-
„de eilet, ſo braucht es nicht noch der gantzen
„Welt vorher kund gemacht und gleichſam
„ausgeruffen zu werden. Jch bitte mir alſo
„dieſe Gewogenheit um meines guten Namens
„willen aus, und damit ich mich in der Nachbar-
„ſchaft kuͤnftig moͤge ohne Schaam ſehen laſſen
„koͤnnen, wenn ich alle Bedraͤngniſſe noch uͤber-
„lebe, die gedrohet werden.„
„Eurer ungluͤcklichen Schweſter
„Cl. Harlowe.
An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
„Es iſt wunderlich, daß ein Maͤdchen ſo viel
„aus dem Kirchengehen macht, und zu glei-
„cher Zeit ihren Eltern in einer Sache ungehor-
„ſam
[252]Die Geſchichte
„ſam iſt an der ihnen und der gantzen Familie
„ſo viel gelegen iſt. Man giebt euch den Rath,
„Fraͤulein, euch durch den Gottesdienſt auf eu-
„rer Cammer zu erbauen: und ich wuͤnſche, daß
„dieſer einen guten Einfluß in das Gemuͤthe ei-
„nes ſo hartnaͤckigen und ungehorſamen Kindes
„haben moͤge, als ich bisher auſſer euch noch nicht
„geſehen habe. Den Zweck hievon will ich euch
„nicht verhalten: es iſt dieſer, daß ihr moͤ-
„get gekraͤncket und eben hiedurch gezwungen
„werden, Gehorſam zu leiſten. Unſere Nach-
„barn, bey denen ihr in gutem Anſehen zu ſte-
„hen wuͤnſchet, wiſſen ſchon von eurem Trotz.
„Wenn ihr alſo wahrhaftig fuͤr euren guten
„Namen beſorgt ſeyd, ſo zeiget dieſe Sorge
„auf die rechte Art und Weiſe: denn noch iſt
„es in eurer Gewalt, ihn zu erhalten, oder zu
„verlieren.
Jacob Harlowe.
So hat mich mein Bruder in ſein Garn be-
kommen; und es geht mir als einem tummen
Voͤgelchen, das die Schlinge dichter zuziehet,
je mehr es ſich loszumachen ſuchet.
Der
[253]der Clariſſa.
Der drey und zwantzigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe/ an Fraͤulein
Howe.
Meine Angehaͤrigen haben es recht darauf
geſetzt, mich zu betruͤben. Meine arme
Hannichen hat den Abſchied bekommen, und
zwar dieſes auf eine ſchimpfliche Weiſe. Es
geſchahe alſo:
Eine halbe Stunde, nachdem ich ſie hinunter
geſchickt hatte, mein Fruͤhſtuͤck zu holen, kam
das verwegene Menſch die Eliſabeth Barnes/
meiner Schweſter geheimte Raͤthin und Maͤdchen
herauf: (wenn ich anders die fuͤr ein Dienſt-
Maͤdchen ausgeben kan, die zugleich eine vertrau-
te Freundin und geheimte Raͤthin iſt.) Was
befehlen ſie zum Fruͤhſtuͤck? fing ſie an.
Jch verwunderte mich: was ich zum Fruͤh-
ſtuͤck haben will/ Eliſabeth! Wie? was
iſt vorgegangen? Wie kommt das? Jch
nannte darauf Hannichen. Jch wuſte ſelbſt
nicht, was ich ſagen ſollte.
Verwundern ſie ſich nicht, Fraͤulein: ſie werden
Hannichen hier im Hauſe nicht wieder ſehen.
GOtt behuͤte! Hat Hannichen ein Un-
gluͤck gehabt! Was iſt mit Hannichen vor-
gegangen.
Wie? Fraͤulein! Kurtz und gut; ihr Herr
„Vater meynt, daß Hannichen lange genug
„im Hauſe geweſen iſt, loſe Haͤndel anzufangen,
darum
[254]Die Geſchichte
„darum hat er ſie weggejagt, und ich ſoll ihnen
„kuͤnftig aufwarten.„
Jch konnte mich der Thraͤnen nicht enthalten.
„Jch habe nichts, darin ich ihr mit aufwarten
„koͤnnt, Eliſabeth; gantz und gar nichts.
„Allein wo iſt dann Hannichen? Kan ich das
„arme Maͤdchen nicht ſprechen? Sie hat noch
„ein halbes Jahr Lohn zu fodern. Kan ich das
„ehrliche Maͤdchen nicht zu ſehen bekommen, um
„ihr den Lohn, zu bezahlen? Vielleicht ſehe ich ſie
„nie wieder: denn ich mercke wohl, daß es alle
„darauf geſetzt haben, mich zu betruͤben.„
„Und alle dencken (ſagte ſie), Fraͤulein, daß ſie
„es darauf geſetzt haben, ſie zu betruͤben. So
„koͤnnen ſie eins fuͤr das andre rechnen,„
Jch nannte ſie, unverſchaͤmt: und fragte ſie,
ob ſie mir auf eine ſo zuverſichtliche Weiſe aufzu-
warten gedaͤchte?
Jch drang ſo ſehr darauf, das arme Maͤdchen
zu ſprechen, daß ſie mir zu Gefallen (wie ſie es
nannte) hinunter ging, und meine Bitte anbrach-
te. Das gute Maͤdchen, war eben ſo voll Be-
gierde mich zu ſprechen: und es ward endlich er-
laubt, doch daß es in Gegenwart der Schorey
und Eliſabeth geſchehen ſollte.
Als ſie kam, danckte ich ihr fuͤr ihre bisherigen
treuen Dienſte. Sie konnte ſich vor Kummer
nicht halten, und fing an, ihre Treue und Liebe ge-
gen mich zu verſichern, und ſich zu entſchuldigen,
daß ſie keine loſen Haͤndel angefangen haͤtte.
Jch ſagte ihr: diejenigen, die ſie aus dem
Dien-
[255]der Clariſſa.
Dienſte trieben, zweifelten an ihrer Treue nicht: es
geſchaͤhe nur um mir einen Verdruß anzuthun. Es
ginge mir nahe: indeſſen hoffete ich, daß ſie eben
ſo einen guten Dienſt wieder finden wuͤrde.
Niemals, niemals, ſagte ſie mit gerungenen
Haͤnden, wuͤrde ſie eine Herrſchafft ſo lieben koͤn-
nen. Das ehrliche Maͤdchen fing darauf an,
mich aus allen Kraͤfften zu loben, und ihre Liebe
gegen mich zu bezeugen.
Wir ſind immer geneigt, unſere Wohlthaͤter
daruͤber zu ruͤhmen, daß ſie uns Wohlthaten er-
zeigt haben: gerade als wenn ein jeder in ſo fern
recht oder unrecht thaͤte, als er gegen uns guͤtig
oder unguͤtig iſt. Allein dieſes Maͤdchen ver-
diente es, daß man ihr guͤtig begegnete: und es iſt
kein gutes Werck von mir, daß ich gegen eine guͤ-
tig geweſen bin, die ich entweder hervor ziehen
und lieben oder mich einer Undanckbarkeit ſchul-
dig machen muͤſte.
Jch ſchenckte ihr etwas Linen-Zeug, Spitzen
und andere ſchlechte Dinge: und vor vier Pfund,
die ich ihr ſchuldig war, gab ich ihr zehn Gui-
neas. (*) Jch ſetzte dazu: ſo bald ich wieder
in den Stand kaͤme, zu thun was ich wollte, ſo
wuͤrde ich an keine andere dencken als an ſie.
Eliſabeth ſagte der Schorey einige neidiſche
Worte in die Ohren.
Hannichen ſagte mir, weil ſie keine andere
Gelegenheit hatte, in beyder Gegenwart: ſie waͤ-
re
[256]Die Geſchichte
re befragt worden, ob ſie Briefe an mich oder von
mir bey ſich haͤtte. Sie haͤtte ſich gantz von Fraͤu-
lein Harlowe durchſuchen laſſen, um ſie zu uͤber-
zeugen, daß ſie keine Briefe haͤtte. Hierauf gab
ſie mir Nachricht, wie viel Phaſanen und Jndia-
niſche Huͤner auf dem Hofe befindlich waͤren: und
ich antwortete, ich wollte ſelbſt dafuͤr ſorgen, daß
ſie gefuttert wuͤrden, und taͤglich zwey oder drey
mahl hingehen.
Wir beweinten uns untereinander bey dem
Abſchied. Das Maͤdchen wuͤnſchte noch jedwedem
im Hauſe namentlich alles Gute was es wuſte.
Es iſt eine ſchmertzliche Sache, ſich einer ſo
treuen Bedientin auf eine ſo unanſtaͤndige Weiſe
beraubt zu ſehen. Jch konnte mich nicht enthal-
ten zu ſagen: dieſe Mittel waͤren zwar hinlaͤnglich
mich zu betruͤben, allein ſehr unzulaͤnglich zu allen
andern Endzwecken meiner Verfolger.
Eliſabeth ſagte zwar hiebey zu der Schorey
mit einem verdrießlichen Hohngelaͤchter: man
wuͤrde ſehen wie kuͤnſtlich ein jeder waͤre.
Jch that aber nicht, als wenn ich es hoͤrte. Wenn
die Hexe meynt, daß ich ihrer Fraͤulein ein Hertz
geſtohlen habe, wie ſie geſagt hat; ſo haͤlt ſie es
wohl fuͤr ihre Schuldigkeit, gegen mich grob zu
ſeyn.
Auf dieſe Weiſe habe ich mich von meiner gu-
ten Hannichen ſcheiden muͤſſen. Wenn Sie
einen anſtaͤndigen Ort fuͤr ſie wiſſen, ſo verſorgen
Sie das Maͤdchen aus Liebe gegen mich.
Der
[257]der Clariſſa.
Der Vier und zwantzigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jetzt eben erhalte ich beykommenden Brief.
Mein Bruder hat uͤberall gewonnene Sache.
Jch uͤberſende Jhnen auch eine Abſchrift meiner
Antwort. Mehr kan ich dieſes mahl nicht ſchrei-
ben.
„Auf Eures Vaters und Eurer Mutter
„Befehl ſchreibe ich dieſe Zeilen an Euch, um
„Euch zu verbieten, daß Jhr ihnen nicht un-
„ter die Augen kommen ſollt, auch nicht ein-
„mal in den Garten, wenn ſie darin ſind. Jhr
„ſollt auch ſonſt nicht ohne in Begleitung der
„Eliſabeth Barnes in den Garren kommen:
„es waͤre denn, daß es Euch erlaubt oder be-
„fohlen wuͤrde.
„So lieb Euch ihr Seegen iſt, ſo ernſtlich
„wird Euch unterſagt, daß ihr keine Briefe mit
„dem liederlichen Lovelace wechſeln ſollet.
„Man weiß wohl, daß Jhr dieſes bisher durch
„Huͤlfe Eurer liſtigen Hannichen gethan habt:
„und daher ruͤhrt es, daß ſie ſo ploͤtzlich wegge-
„jagt iſt: wie denn billig war.„
„Jhr ſollt auch nicht an Fraͤulein Howe
„ſchreiben, die ſich ſeit einiger Zeit viel einzubil-
Erſter Theil. Rden
[258]Die Geſchichte
„den ſcheint, und vielleicht Euren Brief-Wech-
„ſel mit jenem liederlichen Menſchen befoͤrdern
„moͤchte. Kurtz, Jhr ſollt ohne Erlaubniß an
„niemanden ſchreiben.„
„Jhr ſollt auch keinem von Euren Onckles vor
„die Augen kommen, ohne beſondere Erlaub-
„niß von ihnen zu haben. Es geſchieht aus
„Guͤtigkeit gegen Euch, daß Eure Eltern Euch
„nicht ſehen wollen, nachdem Jhr ihnen ſo uͤbel
„begegnet ſeyd.„
„Auch ſollt Jhr Euch nicht ungeruffen in ir-
„gend einem Zimmer des Hauſes ſehen laſſen, in
„dem Jhr bisher nach Belieben habt ſchalten
„und walten koͤnnen.„
„Kurtz, Jhr muͤßt Euch in Eurer Stube auf-
„halten, und duͤrfft nicht aus derſelben kom-
„men, als nur bisweilen Morgens und Abends,
„um in Begleitung der Eliſabeth Barnes
„in dem Garten ſpatzieren zu gehen. Allein
„auch denn muͤſſet Jhr ohne Euch vor den Zim-
„mern aufzuhalten die Hintertreppe gleich und
„ohnverweilt auf und nieder gehen, damit der
„Anblick eines ſo verkehrten Maͤdchens die Be-
„truͤbniß nicht vermehren moͤge, die Jhr jeder-
„mann verurſachet habt.„
„Die beſtaͤndigen Drohungen Eures Love-
„laces und Eure unerhoͤrte Hartnaͤckigkeit wer-
„den die Mittel zu denen wir ſchreiten muͤſſen,
„bey Euch rechtfertigen. Wie viel hat Eure
„guͤtige und geduldige Mutter mit Euch zu thun
„gehabt, die ſo lange Euer Wort redete, und
alles
[259]der Clariſſa.
„alles fuͤr Euch verſprach, als andere ſchon daran
„verzweifelten, daß Jhr Euch wuͤrdet lencken
„laſſen, weil Jhr ſo ſonderbar zu Wercke gin-
„get. Wie verkehrt muß Eur Sinn ſeyn, wenn
„er eine ſolche Mutter zwinget, Euch fahren
„zu laſſen! Sie glaubt, daß ſie recht hieran
„thue: und ſie will Euch nicht wieder anneh-
„men, bis Jhr durch Gehorſam den erſten
„Schritt zu ihr thut.
„Von mir moͤgt Jhr vielleicht die ſchlimmſte
„Meinung haben; und ich troͤſte mich, daß Jhr
„dieſe ſchlimmen Meinungen von mir mit einer
„andern Perſon gemein habt. Jch habe indeſſen
„den Rath gegeben: man ſolte Euch vergoͤnnen,
„daß Jhr Eurem eigen Kopfe folgen duͤrftet, (wel-
„ches fuͤr einige Leute die groͤſſeſte Straffe iſt,)
„und daß man das Haus nicht durch eine Perſon
„belaͤſtigen ſolte, die uns deſto mehr Muͤhe macht,
„weil ſie uns in die Nothwendigkeit geſetzt hat,
„ihr aus dem Wege zu gehen, ob wir gleich mit
„ihr unter einem Dache ſind.
„Wenn Euch der Jnhalt meines Briefes hart
„vorkommt, ſo habt Jhr es noch in Eurer
„Macht, allem was Euch beſchwerlich iſt durch
„ein eintziges Wort abzuhelfen. Allein ich weiß
„nicht, ob Jhr dieſes immer in Eurer Macht ha-
„ben werdet.
„Eliſabeth Barnes hat Befehl, Euch in
„allen Dingen zu gehorchen, die nicht mit Jh-
„rer ſo wohl als mit Eurer Pflicht ſtreiten.
Jacob Harlowe.
R 2An
[260]Die Geſchichte
Mein Bruder,
„Jch will weiter nichts melden, als daß Jhr
„Urſache habt, Euch zu freuen, daß Euch
„Eure Abſichten gelungen ſind, und Jhr nun
„von mir ſagen koͤnt was Jhr beliebet, indem
„ich mich ſo wenig verantworten kan, als wenn
„ich ſchon wircklich todt waͤre. Jch will mir
„aber doch noch dieſe eintzige Gewogenheit aus-
„bitten: veranſtaltet nicht, daß man haͤrter
„mit mir umgehe, als noͤthig iſt, die Endzwe-
„cke zu erreichen, die Jhr etwan haben moͤchtet
„gegen
Eure ungluͤckliche Schweſter
Clariſſa Harlowe.
Der fuͤnf und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Aus meinem letzten Briefe werden Sie erſehen
haben, wie ich herumgetrieben werde, und
wie ſehr ich eine Gefangene bin, ohne daß ein-
mahl meiner Ehre geſchonet wird. Sie wiſſen
alles was vorgegangen iſt: was urtheilen Sie
nun davon? Sind das bequeme Mittel, mich zu
beſaͤnftigen? Allein dieſes iſt auch nicht die Mei-
nung,
[261]der Clariſſa.
Meinung, ſondern mit Gewalt und durch Furcht
wollen ſie mich zwingen, meines Bruders Abſich-
ten zu erfuͤllen. Meine eintzige Hoffnung iſt,
daß ich mich ſo lange werde halten koͤnnen, bis
mein Vetter Morden von Florentz ankommt:
denn man erwartet ihn ſehr bald. Wenn aber
ein naher Tag veſt geſetzt wird, ſo fuͤrchte ich, daß
er zu ſpaͤt kommen wird, mich zu retten.
Aus meines Bruders Briefe iſt klar, daß mei-
ne Mutter in der Nachricht, die ſie von unſerer
Unterredung geben mußte, meiner nicht geſcho-
net hat. Sie gab mir einen Winck, daß mein
Bruder Aſichten haͤtte, die ich zu vernichten ſu-
chen ſollte. Allein ſie hatte einmal verſprochen
eine aufrichtige Nachricht von allem dem zu
geben was zwiſchen ihr und mir vorfallen wuͤr-
de: und es war leidlicher ſich von einer Tochter
loszuſagen, als mit dem Manne und mit al-
len im Hauſe zu zerfallen.
Sie meynen nun, daß ſie gewonnen haben,
nachdem ich meiner armen Hannichen beraubet
bin. Allein ſo lange ich noch Freyheit habe in
den Garten zu gehen, und mein Feder- Vieh zu
beſehen; irren ſie ſich in ihrer Hoffnung.
Jch fragte Eliſabeth: ob ſie auf mich Ach-
tung geben oder mit mir gehen ſolte? und ob
ich von ihr Erlaubniß haben muͤßte, wenn ich
in den Garten gehen oder mein Feder- Vieh be-
ſuchen wolle?
Um Gottes willen, ſagte ſie, was ſoll die
Frage bedeuten? Sie geſtand indeſſen, ſie habe
R 3ge-
[262]Die Geſchichte
gehoͤrt, daß ich nicht in den Garten gehen ſolte,
wenn meine Eltern oder Onckels darin waͤren.
Weil ich mich aber noch mehr hievon verſichern
wollte, ſo ging ich gleich hinunter, und blieb eine
Stunde aus, ohne daß mir ein Wort geſagt
ward. Und doch ging ich eine gute Zeit unter
meines Bruders Studir-Stube gerade ſeinem
Fenſter gegen uͤber auf und ab, und er befand
ſich eben mit meiner Schweſter auf der Stube.
Daß ſie mich geſehen haben konte ich aus dem
lauten Gelaͤchter ſchlieſſen, dazu ſie ſich zwungen
um mich zu kraͤncken.
Es iſt alſo dieſer Theil von meines Bruders
Briefe ohne Befehl meines Vaters geſchrieben,
und nur ein Verſuch ſich ſeiner Herrſchafft zu be-
dienen. Er kan ihn vielleicht kuͤnfftig geltend
machen. Doch das will ich nicht hoffen.
Dienſtag Abends.
Seit dem ich obiges geſchrieben, habe ich es
gewagt durch Schorey einen Brief an meine
Mutter zu ſchicken. Jch trug ihr auf, ihn in
ihre eigene Haͤnde zu lieffern, wenn niemand
dabey waͤre.
Jch lege die Abſchrifft bey. Jch ſuchte es da-
hin zu bringen, daß man im Hauſe glauben moͤch-
te, ich haͤtte gar kein Mittel zum Brief-Wechſel
mehr uͤbrig, nachdem Hannichen aus dem Hau-
ſe geſchafft iſt. Jch halte nicht alles fuͤr recht,
was ich thue. Jch fuͤrchte, daß dieſes eine un-
erlaubte Liſt geweſen iſt. Allein dieſes ſind nach-
folgende Gedancken, da der Brief ſchon weg war.
Hoch-
[263]der Clariſſa.
„Da ich Jhnen bekant habe, daß ich Briefe
„von Herrn Lovelace erhalten habe, in denen
„er von nichts als Rache redete, und daß ich ſie
„blos um Ungluͤck zu vermeiden beantwortet ha-
„be; und da ich Jhnen meine Antworten in Ab-
„ſchrift gezeiget habe, deren Jnhalt ſie zwar
„nicht misbilligten, allein dennoch fuͤr noͤthig
„hielten, mir den fernern Brief-Wechſel mit
„ihm zu verbieten: ſo halte ich meine Schuldig-
„keit zu ſeyn, zu berichten, daß mir ſeit der Zeit
„noch ein Brief von ihm zu Haͤnden gekommen
„iſt, in welchem er mich ſehr ernſtlich und nach-
„druͤcklich bittet, daß ich ihm erlauben moͤchte
„meinen Vater, oder Sie, oder meine Onckles
„in Begleichtung des Lord M. auf eine friedfer-
„tige Weiſe zu beſuchen. Und dieſes iſt es, woruͤ-
„ber ich mir Jhre Befehle ausbitten muß.
„Jch geſtehe, wenn mir nicht der Brief-
„Wechſel von neuen unterſagt, und Hannichen
„ſo ſchleunig aus dem Hauſe geſchaffet waͤre, ſo
„wuͤrde ich deſto weniger Bedencken getragen
„haben zu antworten, und ihm die Antwort ſo
„bald als moͤglich durch ſie zuzuſchicken, um ihm
„dieſen Beſuch zu widerrathen, weil ich fuͤrchte,
„daß etwas bey ſolcher Gelegenheit vorgehen
„koͤnte, daran ich nicht ohne zittern gedencken
„kan.
„Jch kan nicht umhin Jhnen meinen Kum-
„mer zu bezeugen, daß alle Strafe und alle uͤble
„Nachrede auf mich kommt, da ich doch, wie ich
R 4mei-
[264]Die Geſchichte
„meine, manchem Ungluͤck vorgebeuget habe,
„und an keinem Schuld geweſen bin. Denn
„wer konte von mir fodern, daß ich die Gemuͤ-
„ther dieſer Herren regieren und lencken ſollte?
„Uber den einen habe ich zwar in der That einige
„Gewalt gehabt, und ihm dennoch bisher keine
„Gelegenheit gegeben, zu glauben, daß ich ihm
„deshalb verbunden bin. Allein wer kan ſich
„ruͤhmen, daß er bey dem andern etwas auszu-
„richten im Stande ſey?
„Es thut mir in meinem Hertzen leid, daß ich
„meinem Bruder ſo viele Schuld geben muß, ob-
„gleich meine Ehre und Freyheit bisher ein Opfer
„ſeiner Rache und ſeiner weitlaͤufftigen Abſichten
„geworden ſind. Jſt es mir indeſſen nicht ver-
„goͤnnet, mich frey zu beklagen, da ich ſo vie-
„les gelitten habe?
„Da ich Jhnen dieſe Nachricht ſo freywillig
„und mit einem ſo kindlichen Hertzen und guten
„Abſichten ertheile; ſo unterſtehe ich mich zu hof-
„fen, daß Sie nicht begehren werden, den Brief
„ſelbſt zu ſehen. Ehre und Klugheit verbieten
„mir dieſes, weil die Schreib-Art gar zu hefftig
„iſt. Er hat nemlich (nicht durch mich, auch
„nicht durch meine Hannichen) erfahren, wie
„hart mit mir umgegangen wird; und er glaubt
„Urſache zu haben, ſich alles dieſes anzuziehen,
„nachdem einige meiner Verwandten eben ſo hef-
„tige Reden gegen ihn ausgeſtoſſen haben.
„Wenn ich ihm nicht antworte, ſo wird er
„ſeiner ſelbſt nicht mehr maͤchtig ſeyn, und ſich
berech-
[265]der Clariſſa.
„berechtigt halten, (ſo wenig ich ihn auch dafuͤr
„halte) ſich wegen der Auffuͤhrung zu raͤchen,
„uͤber die er ſich ſo heftig beklagt. Wenn ich ihm
„aber antworte, und er aus Hochachtung fuͤr
„mich ſich einer Rache enthaͤlt die er fuͤr recht-
„maͤßig anſiehet: ſo bedencken Sie einmal, in
„was fuͤr Schuld und Verpflichtung ich hiedurch
„wenigſtens nach ſeiner Meinung geſetzt werde.
„„Wenn ich ſo von ihm eingenommen waͤre,
„als mir Schuld gegeben wird, ſo wuͤrde ich Sie
„nicht bitten, dieſes zu bedencken. Und um
„noch deutlicher zu zeigen, daß ich nicht von ihm
„eingenommen bin, bitte ich Sie zu uͤberlegen, ob
„nicht der Vorſchlag den ich gethan habe, Zeit
„Lebens unverheyrathet zu bleiben, (ein Verſpre-
„chen das ich heilig halten will) das allerbeſte
„Mittel ſey, ſeiner mit Ehren und auf eine gu-
„te Art loszuwerden. Wenn ich ihm mein
„Nein! gebe, und mich doch nicht von dem an-
„dern losſage, ſo wird er den Schluß machen,
„daß ich mich entſchloſſen habe jenen zu nehmen,
„weil ich von den meinigen gezwungen bin.
„Wenn dieſes nicht den erwarteten Erfolg hat,
„ſo mag man die ſonderbaren Mittel zur Hand
„nehmen, die mein Bruder vorſchlaͤgt, und ich
„will mich meinem Schickſal mit ſo vieler Be-
„ruhigung meines Gemuͤths unterwerffen, als
„mir GOtt auf mein Gebet ſchencken wird. Jch
„uͤberlaſſe alles Jhrer Klugheit, ob Sie mit mei-
„nem Vater und Onckels hieruͤber zu Rathe ge-
„hen wollen, oder nicht? und ob ich Herrn Lo-
velace
[266]Die Geſchichte
„velace antworten oder nicht antworten ſoll?
„Soll ich ihm antworten, ſo bitte ich mir Jh-
„ren Befehl aus, wen ich zu Beſtellung des Brie-
„fes gebrauchen ſoll. Jch aber verbleibe
Hochzuehrende Frau Mutter/
Jhre ungluͤckliche aber ſtets gehorſame
Tochter
Clariſſa Harlowe.
Mittewochens Morgens.
Eben erhalte ich Antwort. Meine Mutter
hat mir zwar in dem Briefe befohlen, ihn zu
verbrennen: allein da Sie ihn wohl verwahren
[und] niemanden ſehen laſſen werden, ſo wird ih-
re Abſicht eben ſo gut erreichet, wenn ich Jh-
nen den Brief zuſchicke. Er war ohne Aufſchrift
und ohne Unterſchrift.
„Sage nicht, daß alle Straffe und uͤble Nach-
„rede auf dich faͤllt: ich muß von beyden eben
„ſo viel uͤber mich nehmen als du, ob ich gleich
„weit mehr unſchuldig bin. Da du eben ſo hart-
„naͤckig biſt, als andere hitzig ſind, ſo tadele dei-
„nen Bruder nicht. Jch ſehe wir haben recht
„darin gehabt, daß Hannichen deine Brief-
„traͤgerin waͤre. Wir ſind nun in einem Stuͤcke
„ruhiger nachdem ſie weg iſt, und du nicht mehr
„(wenigſtens wir dencken dieſes) an Fraͤulein
„Howe ohne unſere Erlaubniß ſchreiben kanſt.
Jch
[267]der Clariſſa.
„Jch habe kein Mißverg nuͤgen uͤber Hanni-
„chens Auffuͤhrung gehabt, ob ich ihr gleich
„dieſes nicht ſagte, als ſie Abſchied von mir
„nahm; denn es war jemand in der Naͤhe, der
„alles hoͤren konte. Jch gab ihr mit erhabener
„Stimme die Warnung, ſich wohl in Acht zu
„nehmen, wenn ſie wieder in ein Haus kaͤme in
„dem unverheyrathetes Frauenzimmer waͤre, in
„ihrer Auffuͤhrung untadelhaft zu ſeyn, und kei-
„ne Briefe zu tragen. Jch ſteckte ihr aber zwey
„Guinneas unvermerckt in die Hand; und es
„gefaͤllt mir gantz wohl, daß du noch freyge-
„biger gegen ſie geweſen biſt.
„Jch weiß nicht was ich dir in Abſicht auf
„die Antwort ſchreiben ſoll, die dem unbaͤndi-
„gen Menſchen zu geben iſt. Was denckſt du da-
„von, daß eine ſolche Familie als die unſrige iſt
„eine ſolche Zucht-Ruthe haben ſoll? Jch vor
„mein Theil habe gegen niemand geſtanden, daß
„ich es wuͤßte, daß du mit ihm Briefe gewech-
„ſelt haſt. Allein deine Dreiſtigkeit iſt ſo groß,
„daß ich beſorgt bin, du moͤchteſt dich wol gar
„auf meine Erlaubniß beruffen, und dadurch
„das Mißverſtaͤndniß zwiſchen deinem Vater
„und mir noch groͤſſer machen. War es nicht
„eine unglaubliche Dreiſtigkeit, in Herrn Sol-
„mes Gegenwart noch weiter von dem zu reden,
„was ich ſchon hatte abbrechen muͤſſen, als ich
„noch oben bey dir war? Du warſt ſonſt mein
„Troſt, und erleichterteſt mir allen Kummer:
„aber nun ‒ ‒ ‒ Allein ich ſehe wohl, du laͤſſeſt
dich
[268]Die Geſchichte
„dich durch nichts bewegen, und ich will es nicht
„einmal weiter verſuchen hievon zu reden. Denn
„jetzt biſt du unter deines Vaters Hand, und
„er wird ſich weder etwas vorſchreiben noch ſich
„bitten laſſen.
„Jch wuͤrde mich gefreuet haben, wenn ich
„auch dieſen Brief, ſo wie die uͤbrigen, haͤtte
„ſehen koͤnnen. Allein du ſchreibeſt, daß die
„Ehre und Klugheit dieſes verbieten. O Claͤr-
„chen, wie kommt dir das vor? Briefe zu em-
„pfangen, die Ehre und Klugheit einem Kinde
„verbieten ſeiner Mutter zu zeigen? Jch mag
„aber den Brief auch nicht ſehen, wenn du ihn
„mir nun gleich zeigen wollteſt. Jch will um eure
„Geheimniſſe nicht wiſſen. Jch will nicht ein-
„mal wiſſen, daß ihr Briefe gewechſelt habt.
„Jn Abſicht auf die Antwort folge deinen eige-
„nen Gedancken; allein laß ihn wiſſen, daß es
„der letzte Brief ſeyn ſoll, den er von dir erhal-
„ten werde. Schreibſt du, ſo mag ich den
„Brief nicht leſen: ſiegele ihn zu, und gib ihn
„an Schorey. Sie ‒ ‒ ‒ dencke aber nicht,
„daß ich dir erlaube zu ſchreiben.
„Wir gedencken ihm gar keine Bedingungen
„zu zugeſtehen, und das ſollſt du auch nicht thun.
„Dein Vater und deine Onckels wuͤrden ohn-
„moͤglich Geduld haben koͤnnen, wenn er ſie be-
„ſuchen wollte. Warum willſt du dich ihm da-
„durch gefaͤllig machen, daß du zu Herrn Sol-
„mes Nein ſageſt? Wird nicht dieſes Nein
„ſeiner Hoffnung ein neues Leben geben? Und
koͤn-
[269]der Clariſſa.
„koͤnnen wir ruhig oder ſicher vor ihm ſeyn, ſo lan-
„ge er noch einige Hoffnung hat? Geſetzt, dein
„Bruder hat Schuld, ſo iſt es einmal nicht zu
„aͤndern, und ſo ſoll die Schweſter nicht Briefe
„wechſeln, daruͤber der Bruder in Gefahr kom̃t.
„Allein dein Vater tritt deinem Bruder bey, und
„was dein Bruder gegen Lovelace hat, das
„hat er auch gegen ihn, und ich auch, und deine
„Onckles, und ſonſt jedermann. Es kommt
„nicht darauf an, wer es zuerſt gegen ihn gehabt
„hat.
„Durch deine Halsſtarrigkeit haſt du es mir
„ohnmoͤglich gemacht, etwas fuͤr dich zu thun.
„Dein Vater will ſelbſt alle Folgen verantwor-
„ten, die aus ſeinen Endſchlieſſungen entſte-
„hen koͤnten. Du muſt daher kuͤnftig keine Bit-
„ten an mich bringen. Jch werde mich bemuͤ-
„hen nur eine Zuſchauerin bey allem, was vor-
„gehet, abzugeben, und wie wuͤnſchte ich, ei-
„ne ſolche Zuſchauerin zu ſeyn, die alles dieſes
„nicht anginge und nicht ruͤhrete! Als ich noch
„Vermoͤgen hatte, etwas zu thun, lieſſeſt du
„mich dieſes Vermoͤgen nicht ſo gebrauchen, als
„ich wollte. Meine Schweſter wird ſich auch
„in die Sache nicht weiter mengen, als nur wenn
„ihr dein Vater etwas auftraͤgt. Du wirſt al-
„ſo einen harten Stand haben. Haſt du etwas
„zu hoffen, ſo iſt es von deinen beyden On-
„ckles, allein ich glaube, daß ſie eben ſo unbe-
„weglich ſind, denn ſie haben einmahl den
„Grund-Satz, (ach! die Maͤnner wiſſen nicht
was
[270]Die Geſchichte
„was Kinder ſind: ſie haben ſelbſt keine gehabt,)
„daß man ein Kind verlohren geben muͤſſe, das
„in Heyraths-Sachen ſeinen Eltern nicht folget.
„Jch befehle dir, laß dieſen Brief in nieman-
„des Haͤnden kommen. Verbrenne ihn. Es
„iſt gar zu viel vom Mutter-Hertzen darin, ob-
„gleich die Tochter ſo wenig kindlichen Gehorſam
„uͤbet. Schreibe keinen neuen Brief an mich:
„denn ich kan doch nichts zu deiner Erleichte-
„rung thun; alles, was dazu gereichen kan, ſte-
„het in deiner eigenen Gewalt.
Nun will ich meine betruͤbte Erzaͤhlung fortſe-
tzen. Sie werden glauben, daß mir dieſer Brief
wenig Hoffnung uͤbrig gelaſſen hat, unmittelbar
von meinem Vater etwas zu erhalten. Jch hielt
es aber dennoch fuͤr meine Schuldigkeit, an ihn
zu ſchreiben, wenn es auch nur deswegen ſeyn ſol-
te, damit ich mir kuͤnftig nicht vorzuwerfen haͤt-
te, daß ein Mittel zu meiner Ausſoͤhnung ver-
ſaͤumet waͤre. Jch ſchrieb demnach alſo an
ihn:
„Jch unterſtuͤnde mich nicht meinem Vater zu
„widerſprechen, ich baͤte nur um Erbarmen und
„Verſchonen in dieſem eintzigen Stuͤcke, von wel-
„chem alle meine jetzige und vielleicht meine kuͤnf-
„tige Gluͤckſeeligkeit abhinge. Jch erſuche ihn,
„daß er ſein Kind nicht wegen einer unuͤberwind-
„lichen Abneigung verſtoſſen moͤge; und daß er
„mich nicht wegen gewiſſer ſehr entfernten Ab-
„ſichten, die noch auf manche ungewiſſe Faͤlle
„ankaͤmen, aufopfern wolte. Jch beklage mich dar-
uͤber,
[271]der Clariſſa.
„uͤber, daß es mir ſchmertzlich ſey von ſeiner Ge-
„genwart ausgeſchloſſen und auf meine Stube
„verbannet zu ſeyn. Jch verſpreche in allen uͤbri-
„gen Dingen, dieſes eintzige ausgenommen, ei-
„nen gantz blinden Gehorſam und voͤllige Ver-
„leugnung meines Willens. Jch wiederhole
„mein voriges Anerbieten, unverheyrathet zu
„bleiben, und frage ihn, ob ich ihm in mei-
„nem gantzen Leben je Anlaß gegeben habe, an
„der Wahrheit meiner Worte zu zweiffeln? Jch
„bitte um Erlaubniß, wieder vor ihn und vor
„meine Mutter zu kommen, und meinen Wan-
„del unter ihrer eigenen Aufſicht zu fuͤhren: und
„es ſey dieſes deſto noͤthiger, weil ich mit Grun-
„de glaubte, daß Schlingen fuͤr mich gelegt
„waͤren, und daß auch Laͤſterungen und Luͤgen
„nicht geſparet wuͤrden, um Worte von mir
„herauszulocken, die man wider mich gebrau-
„chen koͤnne, da es mir ohnmoͤglich gemacht
„ſey, mich zu verantworten. Den Schluß
„mache ich mit dem Ausdruck: ich hoffete, es
„werde meinem Bruder nicht gelingen, einem
„ungluͤcklichen Kinde ſeinen Vater zu rauben.
Hier folgt die grauſame Antwort, die ich
ohne Aufſchrifft und unverſiegelt aus Eliſa-
beths Haͤnden annehmen mußte. Sie uͤber-
gab mir das Blat mit ſolchen Geberden, als
wenn ihr der Jnhalt nicht unbekant waͤre.
Mitte-
[272]Die Geſchichte
„Jch ſchreibe zwar, verkehrtes Gemuͤth, allein
„ich ſchreibe mit alle dem Unwillen, den deine
„Halsſtarrigkeit verdienet. Es iſt eine unerhoͤrte
„Frechheit, die ich nicht unbemerckt und unge-
„ahndet laſſen kan, um Vergebung zu bitten,
„wenn man noch den Vorſatz hat in ſeinem Un-
„gehorſam zu beharren. Du trotzeſt mir, und
„kraͤnckeſt meine eigene Rechte. Deine Schmaͤ-
„hungen gegen einen Bruder, der die Crone un-
„ſerer Familie iſt, verdienen unſer aller ſchaͤrfſte
„Ahndung. Jch mercke es, wie wenig du nach
„aller Bluts-Freundſchaft frageſt: und ob ich
„gleich die Urſache wohl errathen kan, ſo iſt mir
„doch der Gedancke, der mir bey dieſer Betrach-
„tung aufſteigen muß, unertraͤglich. Deine
„Auffuͤhrung gegen eine allzuguͤtige Mutter ‒ ‒
„Doch ich habe keine Geduld mehr zu ſchreiben.
„Bleibe von mir verbannet, als ein ungehor-
„ſames Kind, bis du deine Pflicht lerneſt. Un-
„danckbares Maͤdchen, dein Brief wirfft mir
„in der That vor, daß ich ſonſt auf eine unver-
„ſtaͤndige Weiſe guͤtig gegen dich geweſen bin.
„Schreibe nicht weiter an mich, bis du dich
„beſſer beſonnen haben wirſt, und bis du weißt,
„daß du Gehorſam ſchuldig biſt, deinem
mit Recht erzuͤrntem Vater.
Mit dieſem empfindlichen Briefe erhielt ich zu-
gleich noch einen von meiner Mutter ohne Siegel
und
[273]der Clariſſa.
und ohne Aufſchrifft. Diejenigen, die ſich ſo viel
Muͤhe geben ein Buͤndniß der gantzen Familie
gegen mich zu ſtifften, noͤthigten ſie ohne Zweifel,
ein Zeugniß wider ihr armes Kind zu geben.
Es iſt dieſer Brief weiter nichts als eine
Widerholung einiger harten Worte, die zwiſchen
meiner Mutter und mir vorgefallen ſind: da ich
Jhnen nun hievon ſchon Nachricht gegeben habe,
ſo brauche ich von dem Jnhalt des Briefes nichts
zu melden, als nur dieſes, daß ſie meinen Bru-
der ſehr lobet, und mir es verweiſet, daß ich ſei-
ner nicht in Ehren gedencke.
Der ſechs und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jch habe ſchon wieder einen Brief von Love-
lace/ obgleich ſein voriger noch nicht beant-
wortet iſt. Wie es zugehen mag, das mag GOtt
wiſſen; er erfaͤhrt alles was in unſerm Hauſe
vorgenommen wird: meine Gefangenſchaft; daß
Hannichen abgeſchaft iſt; daß mein Vater, mei-
ne Onckles und mein Bruder immer mehr erbit-
tert werden: und von ihren Entſchlieſſungen
weiß er beynahe mehr, als ich ſelbſt, und faſt den
Augenblick, wenn ſie kaum gefaſſet ſind. Er kan
dieſe Nachrichten ohnmoͤglich durch gute Wege
bekommen.
Erſter Theil. SEr
[274]Die Geſchichte
Es iſt voller Unruhe wegen deſſen, was er ge-
hoͤrt hat, und braucht die ſtaͤrckſten Ausdruͤcke
ſeine Liebe gegen mich und ſeine Empfindlichkeit
gegen jene an den Tag zu legen. Er bittet mich
„ſehr, ich ſoll ihm auf meine Ehre verſprechen,
„daß ich Herrn Solmes nie nehmen will.„
Jch dencke, daß ich ihm dieſes leicht verſprechen
kan.
Er bittet ferner,„ ich moͤchte nicht glauben, daß
„er ſich durch Herunterſetzung anderer bey mir
„einzuſchmeicheln gedaͤchte: er hoffe vielmehr es
„dahin zu bringen, daß er ſelbſt einen guͤnſtigern
„Blick von mir verdienete. Er ſuche ſich auch
„nicht durch Furcht meine Liebe zu erwerben.
„Allein er meldet, es werde die Auffuͤhrung mei-
„ner Familie gegen ihn ſo unertraͤglich, daß er
„ſich ſeine Gedult beſtaͤndig vorwerfen laſſen
„muͤſte. So wohl der Lord M. und ſeine
„beyden Baſen, als auch alle ſeine uͤbrigen
„Freunde thaͤten dieſes. Wenn alle ſeine Hoff-
„nung auf mich verſchwinden ſolte, ſo koͤnte er
„nicht zum voraus ſagen, was ein verzweifel-
„ter Menſch fuͤr Dinge vornehmen moͤchte.
„Seine Anverwanten und inſonderheit dieſe
„beyden Frauenzimmer riethen ihm zwar den
„Weg des Rechts an. Allein wie kan einer
„ſein Recht vor Gerichte ſuchen, der durch
„Worte beleidiget iſt, und Erlaubniß hat den
„Degen zu tragen?
Sie werden ſehen, daß meine Mutter eben ſo
voll Furcht iſt als ich, und mir auf eine etwas
krum-
[275]der Clariſſa.
krumme Art ihre Schorey dazu anbietet, mei-
nen Brief an Herrn Lovelace zu bringen.
Er ſchreibt ſehr viel von der Hochachtung, die
das Frauenzimmer in ſeiner Familie gegen mich
hat, ob ich ihnen gleich von Perſon weiter nicht
bekannt bin, als daß ich die Fraͤulein Patty
Mantague bey Frau Knollys geſprochen
habe.
Es iſt natuͤrlich, daß man ſucht neue Freunde
zu bekommen, wenn man die alten verliert. Ob
ich nun gleich vielmehr wuͤnſchete, von den meini-
gen und von Jhnen, meine liebe Fraͤulein, fuͤr
liebenswuͤrdig gehalten zu werden, als von irgend
ſonſt jemand in der Welt; ſo haben doch jene
Perſonen ſo viel Hochachtung bey jederman, daß
man ſich wuͤnſchen muß, bey ihnen wohl ange-
ſchrieben zu ſeyn. Koͤnnen Sie nicht auf eine
verdeckte Weiſe durch Frau Forteſcue oder durch
Herrn Hickman/ welcher den Lord M. kennet,
erfahren, was ſie von den Umſtaͤnden meiner Fa-
milie dencken moͤgen, nachdem ſo wenige Hoff-
nung uͤbrig iſt, daß die Verbindung, die ſie ſonſt
gebilliget haben, jemals zu Stande kommen
werde? Eine ſo gute Meynung kan ich von mir
ſelbſt nicht faſſen, daß ich glauben ſolte, als
wuͤnſchten ſie daß eꝛ bey ſo vielen Widꝛigkeiten und
Verachtung ſeine voꝛigen Abſichten noch beybehal-
ten ſolte. Mir waͤre zwar nichts daran gelegen,
wenn ſie ihm nunmehr abriethen. Daraus, daß
der Lord M. ſeinen Brief unterzeichnet hat;
aus den Verſicherungen des Herrn Lovelaces
S 2von
[276]Die Geſchichte
von der Hochachtung der ſeinigen gegen mich;
und aus andern Nachrichten, ſcheint es faſt, als
wenn ich noch wohl bey ihnen ſtehe. Allein es
wuͤrde mir doch lieb ſeyn, wenn ich dieſes durch
eine unpartheyiſche Perſon aus ihrem eigenen
Munde erfahren koͤnte: inſonderheit da bekannt
iſt, daß ſie es fuͤr ein Gluͤck fuͤr andere halten,
mit einer ſo angeſehenen und reichen Familie, als
die ihrige iſt, verbunden zu werden, und da ſie es
ſehr hoch empfinden, und zwar dieſes billig, daß
unſere Familie die Verachtung die ſie gegen ihren
Vetter hatte auch auf ſie ausgedaͤhnet hat.
Jch thue jetzt dieſe Frage blos aus Neugier,
und ich hoffe nicht, daß mich je eine ſtaͤrckere Ur-
ſache dazu dringen wird, ſo vielen Argwohn Sie
auch auf mein Hertzklopfen werfen. Selbſt als-
denn, wenn weniger Einwendungen wider Herrn
Lovelace zu machen waͤren, wuͤrde ich doch nur
aus Neugier fragen.
Jch habe ſeine Briefe beantwortet. Wenn er
mich bey meinem Worte faſſet, ſo werde ich noch
weniger Urſache haben, mich darum zu bekuͤm-
mern, was ſeine Anverwandten von mir dencken
moͤgen, ob man gleich billig wuͤnſchen ſoll, bey ſo
ſchaͤtzbaren Perſonen in Achtung zu ſtehen.
Hier folgt der Jnhalt meines Briefes.
„Jch bezeuge ihm meine Verwunderung daruͤ-
„ber, daß er alles ſo fruͤhzeitig erfaͤhrt, was hier im
„Hauſe vorgehet. Jch gebe ihm die Verſicherung,
daß
[277]der Clariſſa.
„daß wenn er auch nicht in der Welt waͤre ich
„doch nie an Solmes dencken wolte.
„Jch melde ihm, daß ich es weder fuͤr ein
„Zeichen ſeiner guten Erziehung noch ſeiner
„Werthachtung gegen mich anſehen kan, daß
„er (wie ich merckte) dem Trotz und der Ver-
„achtung der meinigen eben ſo viel Trotz und
„Verachtung entgegen ſetzt. So bald ich hoͤren
„wuͤrde, daß er einen unter meinen Freunden
„wider deſſen Willen beſucht, ſo wuͤrde ich mich
„entſchlieſſen, ihn nie wieder zu ſehen, wenn
„ich. es anders vermeiden koͤnte.
„Jch ſchreibe ihm, es ſey mir vergoͤnnet wor-
„den, dieſen Brief an ihn gelangen zu laſſen, oh-
„ne daß jemand den Jnhalt deſſelben geleſen
„haͤtte: es ſey aber unter der Bedingung ge-
„ſchehen, daß es der letzte Brief ſeyn ſolte. Jch
„haͤtte ihm ſchon mehr als einmal zu erkennen
„gegeben, daß ich geneigt waͤre, unverheyrathet
„zu bleiben, ehe noch Herr Solmes uͤber unſere
„Schwelle getreten waͤre mich zu beſuchen.
„Hr. Wyerley und andere Herren haͤtten ſchon
„lange vorhin dieſe meine Entſchlieſſung gewuſt,
„ehe er ſelbſt in unſerm Hauſe bekannt geworden
„waͤre. Jch wuͤrde nie von ihm eine Zeile von
„dergleichen Jnhalt angenommen haben, wenn
„ich nicht geglaubt haͤtte, eꝛ habe ſich gegen meinen
„Bruder nicht niedertraͤchtig aufgefuͤhret, und
„habe dem ohngeachtet von den meinigen eine
„ſehr unartige Auffuͤhrung ertragen muͤſſen.
S 3Wenn
[278]Die Geſchichte
„Wenn aber auch die meinigen auf ſeiner Seite
„geweſen waͤren, und ich haͤtte meine Neigung
„zu dem unverehlichten Stande, den ich ſo ſehr
„vorziehe, uͤberwindeu koͤnnen; ſo wuͤrde ich doch
„gegen ihn noch ſehr viel einzuwenden gehabt
„haben. Jch wuͤrde ihm auch dieſes gewiß ge-
„ſagt haben, wenn ich ſeinen Beſuch fuͤr etwas
„mehr als einen ordentlichen und gewoͤhnlichen
„Beſuch gehalten haͤtte. Jn Betrachtung alles
„dieſes bitte ich ihn, daß das der letzte Brief ſeyn
„moͤge, den er als eine Antwort auf dieſen Brief
„an den gewoͤhnlichen Ort bringen moͤchte, um
„mich darin zu verſichern, daß er ſich bey mei-
„ner gefaſſeten Entſchlieſſung wenigſtens ſo
„lange beruhigen wolte, bis ſich die Zeiten aͤn-
„derten.„
Dieſes letzte habe ich deswegen einflieſſen laſ-
ſen, damit er nicht gantz deſperat werden moͤchte.
Wenn er mich aber bey meinem Worte haͤlt,
ſo bin ich einer Qual los geworden.
Jch habe Jhnen verſprochen, Jhnen alle ſeine
Briefe nebſt meiner Antwort vorzulegen, und ich
widerhole dieſes Verſprechen, und bin eben des-
halb in meinen Auszuͤgen aus dieſen Briefen kuͤr-
tzer. Allein ich kan nicht oft genug mein Un-
gluͤck bejammern, daß die Auffuͤhrung der meini-
gen mich zwinget, Briefe zu beantworten die vol-
ler Liebes-Erklaͤrungen und voller Hoffnung ſind,
und von einem Manne kommen, gegen den ich ſo
wichtige Einwendungen habe, daß ich ihm nie die
geringſte Hoffnung zu geben geneigt geweſen bin.
Ha-
[279]der Clariſſa.
Haben Sie je einen Menſchen geſehen, der in
ſeiner Hoffnung ſo dreiſte geweſen iſt? So wie die
Schul-Leute oft in einem alten Schriftſteller
Schoͤnheiten finden, an die er ſelbſt niemals ge-
dacht haben mag: ſo danckt er mir auf das ver-
bindlichſte fuͤr meine Guͤtigkeit und Geneigtheit,
die ich ihm noch niemals zugedacht habe. Er
zwingt mich oft dadurch, ihm zu erkennen zu ge-
ben, daß ich von dieſer Guͤtigkeit und Geneigtheit
ſelbſt nichts weiß: denn ich wuͤrde mir ſelbſt ver-
aͤchtlicher vorkommen, wenn ſeine Erklaͤrungen
meiner Ausdruͤcke richtig waͤren.
Es geht einem mit ihm, als mit einem hart-
maͤuligen Pferde, da einem Hand und Arm lahm
wird, wenn man es im Zuͤgel halten will. Wenn
Sie ſeine Briefe leſen, ſo muͤſſen Sie ja kein Ur-
theil faͤllen, bis Sie meine auch geleſen haben;
ſonſt werden Sie gewiß glauben, daß Sie in al-
lem Recht haͤtten, was Sie von meinem Selbſt-
Betruge/ von Hertz-Pochen von Roͤthe im
Geſicht bisweilen ſchreiben. Zu anderer Zeit be-
ſchwert ſich dieſe eingefleiſchte Contradiction dar-
uͤber, daß ich gegen ihn ſo wenig Geneigtheit erzei-
ge, und die meinigen ſo viel Widerwillen und
Groll, als wenn er in der Schlaͤgerey mit meinem
Bruder der angreiffende Theil geweſen waͤre, und
alles Ungluͤck wircklich erfolget waͤre, welches haͤt-
te erfolgen koͤnnen.
Wenn er bey dieſer Abwechſelung von Klagen
uͤber meine Kaltſinnigkeit, und von Frohlocken
uͤber meine eingebildete Guͤtigkeit, etwan die Ab-
S 4ſicht
[280]Die Geſchichte
ſicht haben ſolte, daß ich gegen ſeinen hoͤflichen
Danck widrum hoͤflich, und wegen ſeiner Klagen
etwas gefaͤlliger werden ſoll; wenn nicht Fluͤch-
tigkeit und Unordnung die Urſache dieſes Wider-
ſpruchs iſt: ſo muß er ſo unergruͤndlich ſeyn, und
ſo viel Erfahrung und Uebung in dergleichen
Kuͤnſten erlanget haben, als irgend ein Menſch
auf der Welt. Wuͤſte ich dieſes gewiß, ſo wol-
te ich ihn noch mehr haſſen als Solmes ſelbſt.
Allein genug von einem ſo bundſcheckigten Ge-
ſchoͤpffe.
Der ſieben und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jch verliere alle Gedult gegen die Leute, unter
denen Sie leben muͤſſen. Jch weiß nicht,
was ich Jhnen rathen ſoll. Woher wiſſen Sie,
daß Sie darin nicht ſtrafbar ſind, da Sie obgleich
zu Jhrem eigenen Schaden Anlaß geben, daß
Jhres Gros-Vaters Teſtament unerfuͤllet bleibet?
der letzte Wille eines Sterbenden ſoll billig heilig
gehalten werden: ſo dencken ſelbſt die, die durch
dieſes Teſtament zu ihrem Schaden Jhnen nach-
geſetzt ſind.
Jch habe nichts gegen die rechten edlen Ge-
dancken einzuwenden, denen Sie damals folgten.
Da
[281]der Clariſſa.
Da aber eine ſo groſſe Probe des kindlichen Ge-
horſams unbelohnt geblieben iſt: ſo ſehe ich kei-
ne Urſache, warum Sie nicht wieder in Jhre er-
ſten Rechte treten wollten.
Jhr Gros-Vater kannte die Erb-Suͤnde der
Familie wohl; und er wuſte, was fuͤr ein edles
und gutthaͤtiges Hertz Sie haben. Vielleicht hat
er ſelbſt (vergeben Sie mir den Einfall) in ſeinem
Leben zu wenig gutes gethan; und wollte Jhnen
deswegen Mittel geben, dieſen Mangel der gan-
tzen Familie zu erſetzen. Wenn ich es waͤre, ſo
wollte ich warlich wieder in meine Rechte treten.
Sie werden ſagen, Sie koͤnten das nicht thun,
ſo lange Sie in Jhres Vaters Hauſe ſind. Hierin
habe ich andere Einſichten. Koͤnnen ſie ſchlimmer
mit Jhnen umgehen, als bisher geſchehen iſt?
Jſt es nicht Jhr Recht, was Sie fordern ſollen.
Jhr Onckle Harlowe und der Obriſte Morden
ſollen fuͤr die Erfuͤllung des Teſtaments ſtehen.
Fodern Sie Jhr Recht von Jhrem Onckle, und
ſchreiben Sie an den andern. Sie werden ſehen,
daß ſich die Auffuͤhrung der Jhrigen gleich aͤndern
wird.
Was hat Jhr unverſchaͤmter Bruder uͤber Sie
zu befehlen? Wenn er mit mir zu thun haͤtte (das
wolte ich wol einen Monath lang wuͤnſchen, und
nicht laͤnger) ſo ſolte er den Unterſcheid ſehen.
Jch wolte mich in meinem eignen Hauſe aufhal-
ten, und alle meine guten Abſichten erfuͤllen, meine
Bekanten und Nachbarn gluͤcklich zu machen.
Jch wolte meinen eigenen Wagen und Pferde
S 5hal-
[282]Die Geſchichte
halten, und ſie beſuchen, wenn ſie es verdieneten.
Wenn aber mein Bruder und meine Schweſter
vornehm thaͤten, ſo wolte ich ſie mercken laſſen,
daß ich ihre Schweſter und nicht ihre Magd ſey.
Wenn ſie ſich nicht beſſerten, ſo wolte ich ihnen
mein Thor zuſchlieſſen, und ihnen zu verſtehen
geben, ſie moͤchten ſich untereinander die Zeit
vertreiben.
Das muß ich geſtehen, daß das enge Hertz Jh-
res Bruders und Jhrer Schweſter Urſache finden
muß, Jhnen uͤbel zu begegnen, wenn es ſei-
ner Natur gemaͤß handeln ſoll. Ohne an die
verſchmaͤhete Liebe Jhrer Schweſter, und an den
Geitz Jhres Bruders zu gedencken, ſo muß ihnen
dieſes ſchon eine groſſe Kraͤnckung geweſen ſeyn,
daß ſie von einer juͤngern Schweſter ſo ſehr uͤber-
troffen werden. Wie werden ſolche Nacht-Fa-
ckeln bey einer ſolchen Sonne verdunckelt! und
wie kan ihnen dieſes ertraͤglich ſeyn? die Jhrigen
muͤſſen Sie als eine Mis-Geburt in ihrer Fami-
lie anſehen, die ſie bewundern aber nicht lieben
koͤnnen, ſo ſehr ſind Sie ihnen aus der Art ge-
ſchlagen. Der Unterſcheid iſt unermeßlich. Mit
Verdruß mit Schmertzen der Augen muͤſſen ſie
Sie anſehen. Jhre vollkommenen Vorzuͤge, die
dem vollen Tage gleich ſind, ſetzen jene in allzu-
groſſen Schatten. Koͤnnen wir uns denn wol
daruͤber verwundern, daß jene die erſte die beſte
Gelegenheit ergriffen haben, Sie herunter zu
ſetzen, damit Sie ihnen etwas aͤhnlicher werden
moͤchten.
Glau-
[283]der Clariſſa.
Glauben Sie mir gewiß, es wird Jhnen noch
mehr zu tragen aufgelegt werden; und je mehr
Sie tragen, deſto ſchwerer wird man die Buͤrde
machen.
Ueber Jhre Abneigung von dem eckelhaften
Solmes kan ich mich nicht verwundern. Es
iſt nicht noͤthig Jhnen noch einen groͤſſern Wider-
willen gegen ihn beyzubringen, da er Jhnen ohne-
hin unertraͤglich iſt. Allein wer kan ſein Pfund
vergraben? mein Pfund ſcheint darin zu beſtehen,
daß ich ein eckelhaftes Gemaͤhlde machen kan.
Soll ich dieſe meine Gabe jetzt gebrauchen? Ja
ich will es thun! und zwar deſto lieber, weil ich
dadurch Jhre Abgeneigtheit von Solmes/ und
Jhre Beſtaͤndigkeit rechtfertige, welche letzte ich
an einem ſo ſanften Hertzen bewundere und immer
bewundern werde.
Zweymal bin ich mit ihm in Geſellſchaft ge-
weſen. Das eine mahl war Jhr Lovelace mit
zugegen: und ich werde Jhnen nicht ſagen duͤrfen,
daß zwiſchen beyden ein himmel-weiter Unterſcheid
war, Jhnen, die Sie jetzt bisweilen eine ſo artige
Neugier haben, ob es gleich weiter nichts als ei-
ne bloſſe Neugier iſt.
Lovelace unterhielt nach ſeiner lebhaften Art
die gantze Geſellſchaft, und jederman muſte uͤber
ſeine Schwaͤncke lachen. Damals hatte noch
niemand darauf gedacht, Sie mit dieſem Unmen-
ſchen zuſammen zu ſchmiden. Solmes war lu-
ſtig, und lachte hertzlich mit. Allein es war ſein
eigenes Gelaͤchter. Jch glaube, er hat die drey
er-
[284]Die Geſchichte
erſten Jahre ſeines Lebens nichts gethan als
Schreyen, und ſeine Muskeln ſind des Heulens
ſo gewohnt geworden, daß ſie den Mund nicht
zum Lachen ziehen koͤnnen. Selbſt ſein Laͤcheln
(das Sie nie geſehen, und zum wenigſten nie ver-
anlaſſet haben) iſt ſeiner Geſichts-Bildung ſo
fremde und unnatuͤrlich, daß es ihn faſt kleidet,
als wenn einer aus boͤſem Muthe lachet.
Jch war ſehr aufmerckſam auf ihn, wie ich auf
alle ſolche Wunder-Thiere zu ſeyn pflege: und er
kam mir ſchon damals eckelhaft und unertraͤglich
vor. Jch erinnere mich noch, daß ich recht froh
war, als ſein Lachen aufhoͤrte, und ſein Geſicht
ſich wieder in die vorigen verdrieslichen Falten
legte; wiewohl dieſes ſo langſam geſchahe, als
wenn die Muskeln, die die Geſichts-Verzerrung
veranlaſſet hatten, durch lauter verroſtete Trieb-
Federn beweget wuͤrden.
Was fuͤr eine fuͤrchterliche Sache muß ſelbſt
die Liebe eines ſolchen Mannes ſeyn? Wenn ich
ſeine Frau waͤre (was habe ich aber geſuͤndiget,
daß ich mir zur Zuͤchtigung nur einen ſolchen moͤg-
lichen Fall erdencke) ſo wuͤrde ich kein anderes
Vergnuͤgen haben, als daß er abweſend waͤre,
oder daß ich mich mit ihm zanckete. Ein me-
lancholiſches Frauenzimmer, das nicht leben
kan ohne auf jemand zu keiffen, moͤchte mit ihm
vergnuͤgt leben koͤnnen: denn jeder Anblick wuͤrde
ihr Gelegenheit geben, ſich uͤber ihn zu ereifern,
und die Bedienten wuͤrden Urſache haben, ihren
Herrn in ihrem Hertzen dafuͤr zu ſegnen, daß er
ihr
[285]der Clariſſa.
ihr genugſame Urſache gaͤbe ſich uͤber ihn zu aͤr-
gern. Allein wie beſchwerlich wuͤrde es einer Frau
ſeyn, die nur ein wenig artig iſt, wenn ſie jemals
ſollte uͤberzeuget werden, daß ſie aus Verſehen
ihm etwas zu Gefallen gethan haͤtte!
So viel von ſeinem aͤuſſerlichen. Jn Abſicht
auf ſein Gemuͤth ſagt man von ihm, daß er auf
das demuͤthigſte kriechen und ſchmeicheln koͤnne,
wo er etwas zu gewinnen hoffet; ſonſt aber tro-
tzig und unertraͤglich ſey. Sind nicht alle nieder-
traͤchtige Gemuͤther ſo beſchaffen? Wenn ihn nur
eine eintzige Perſon beleidiget hat, ſo ſoll er des-
wegen voll Verachtung und Rachgier gegen die
gantze Familie ſeyn: und ſo ſoll er faſt gegen al-
le ſeine Anverwandten geſinnet ſeyn. Man hat
mir geſagt, daß keiner unter ihnen ſo ſchlimm ſey
als er: und vielleicht iſt dieſes die Urſache davon,
daß er ſie enterben will.
Meine Kytti hat von einem ſeiner Bedienten
gehoͤrt, daß ihm alle ſeine Paͤchter feind ſind, und
daß er noch niemals einen Bedienten gehabt
haͤtte, der wohl von ihm redete. Er ſoll recht
niedertraͤchtig-argwoͤhniſch ſeyn, daß ſie ihn be-
triegen moͤchten, und darum ſchaft er ſie bald ab.
Es ſcheint, daß er von andern nach ſich ſelbſt
urtheilet.
Seine Taſchen ſollen immer mit Schluͤſſeln an-
gefuͤllet ſeyn. Wenn er einen Gaſt hat (einen
Fꝛeund hat er in deꝛ Welt nicht, aus genom̃en einen
aus Jhrer Familie) ſo muß er ſo lange ſuchen,
und fragen, welches der rechte Schluͤſſel zu jedem
Din-
[286]Die Geſchichte
Dinge iſt: daß unter der Zeit ſein knickeriſches
Gaſt-Gebot bey nahe zu Ende ſeyn koͤnte. Wenn
Wein vorfallen ſoll, ſo holt er ihn immer ſelbſt:
allein dieſes giebt ihm wenig Muͤhe, weil er kei-
nen andern Beſuch hat, als den Geſchaͤfte oder
die aͤuſſerſte Noth in ſein Haus treiben. Denn
wer nur umhin kan, der wuͤrde lieber unter frey-
em Himmel bleiben, als bey ihm einkehren.
Das iſt der Mann, der aus eben ſo gewinn-
ſuͤchtigen und poͤbelhaften Abſichten ausgeſucht
iſt, der Braͤutigam, d. i. der Herr und Tyrann
von Fraͤulein Clariſſa Harlowe zu werden.
Vielleicht iſt er nicht voͤllig ſo ſchlimm, als
man ihn abmahlet. Ein allzuvortheilhaftes oder
allzuſchlimmes Bild, ſo man von dem Gemuͤthe
anderer hat, pflegt ſelten recht aͤhnlich zu ſeyn:
bey jenem hat oͤfters die Neigung und bey dieſem
der Widerwille allzuviele Nebenſtriche gemacht.
Als meine Mutter gegen Jhren Onckle Anton
ſeines Geitzes gedachte, ſo ſagte dieſer: man
wuͤrde ihn nach Jhrem Willen zu binden
ſuchen. (Das wird beſſer mit einem Strick von
Hanff, als durch die Bande der Ehe geſchehen.)
Jſt dieſes nicht ein deutliches Zeugniß, daß ſelbſt
diejenigen, die fuͤr ihn ſind, ſchlechte Gedancken
von ſeinem Gemuͤthe haben? und daß man wol
gar daruͤber mit ihm einen Contract ſchlieſſen muß,
daß er Jhnen die Nothdurft nicht ſoll mangeln
laſſen? doch genug, und mehr als genug, von
einem ſolchen Menſchen! Sie ſollen ihn nicht neh-
men, mein Hertz! davon bin ich hinlaͤnglich uͤber-
zeuget:
[287]der Clariſſa.
zenget: allein ich ſehe nur nicht, wie Sie es ver-
meiden wollen, ihn zu nehmen, falls Sie ſich
nicht der Freyheit bedienen wollen, die Jhnen
Jhr Gut und Eigenthum giebt.
Bis hieher hatte ich geſchrieben; ſo kam mei-
ne Mutter unvermuthet herein, und wolte mei-
nen Brief ſehen. Jch war ſo albern, daß ich
ihr die Beſchreibung vorlaß, die ich von Herrn
Solmes gemacht habe.
Sie geſtand, daß man ſich wol einen beſſern
Mann wuͤnſchen koͤnte, und daß er nicht ſonder-
lich ausſaͤhe. Allein ſie fragte mich, was doch
bey Manns-Perſonen an der Schoͤnheit gelegen
ſey? Jch bekam einen Verweiß, daß ich Jhnen
gerathen hatte, Jhren Eltern ungehorſam zu
ſeyn. Hierauf folgte eine Predigt von dem Vor-
zuge eines Mannes, der niemand etwas ſchuldig
waͤre, und das ſeinige zu Rathe hielte, vor einem
wilden Verſchwender. Sie wiſſen, wie reich die-
ſe Materie iſt, es mag nun auf jemand insbe-
ſondere gezielt werden, oder nicht. Allein war-
um zwingen uns dieſe allzuweiſe Eltern, dadurch
daß ſie von einigen Leuten allzuviel boͤſes ſagen,
dieſe Leute zu vertheidigen? Lovelace iſt kein
Verſchwender, und niemanden etwas ſchuldig.
Wild genug iſt er, das leugne ich nicht. So
bald wir dieſen Leuten Gerechtigkeit widerfahren
laſſen, ſo heißt es gleich, wir waͤren von ihnen
eingenommen. Dieſe Beſchuldigung macht uns
erſt neugierig/ was eine ſolche Perſon oder ihre
Ver-
[288]Die Geſchichte
Verwandten von uns halten moͤgen, und endlich
entſtehet daraus eine vorzuͤgliche Neigung/
oder etwas, das einer Neigung ſehr aͤhnlich iſt.
Meine Mutter befahl mir, die letzte Seite zu
aͤndern und von neuen abzuſchreiben. Allein mei-
ne Mutter mag mir das vergeben; ich will mein
Gemaͤhlde nicht umſonſt gemacht haben: dazu
wird mich nichts bewegen koͤnnen. Meine Fe-
der ſchrieb von ſelbſt; und alles was mir bis-
her von meinen Aufſaͤtzen gefallen hat, das hat
auch das Gluͤck gehabt, Jhren Beyfall zu
erhalten. Die Urſache laͤßt ſich leicht errathen:
wir haben nur ein Hertz. Unſer eintziger Unter-
ſcheid iſt, daß Sie mir ein wenig zu ernſthaft,
und ich Jhnen ein wenig zu munter vorkomme.
Selbſt dieſe unſere Verſchiedenheit mag wol die
Urſache einer ſo zaͤrtlichen Liebe zwiſchen uns ſeyn,
daß (nach dem Ausdruck der Frau Norris) nichts
drittes erdacht werden kan, das uns eben ſo
zaͤrtlich liebete. Denn jede von uns hat einen
kleinen Fehler, den die andere wahrnimt, und wie
haben wir uns ſo lieb, daß wir es einander nicht
uͤbel nehmen, wenn wir uns dieſen Fehler vor-
halten. Keine von uns beyden verlangt ihren
Fehler zu verbeſſern. Dieſes macht, daß keine
Eiferſucht zwiſchen uns entſtehet, die uns erſt
heimlich verdrießlich, denn neidiſch machen, und
endlich in einen Widerwillen ausbrechen koͤnte.
Wenn ich hierin recht gerathen habe, ſo wollen
wir beyde unſere Fehler behalten: ſie ſind uns
nuͤtzlich, und wir koͤnnen uns immer mit unſerm
Tempe-
[289]der Clariſſa.
Temperament entſchuldigen. Was fuͤr ein Held
oder Heldin muͤſte das ſeyn, der ſeine Schoos-
Suͤnde, ſeinen Temperaments-Fehler ausrotten
koͤnte? es ſey nun der Geitz, (den ich um einiger
Willen nicht nennen darff) oder die allzugroſſe
Ernſthaftigkeit meiner beſten Freundin, oder
die uͤbertriebene Munterkeit der Perſon, die
ich nicht noͤthig habe zu nennen.
Jch kan Jhnen nicht verhalten, daß ich die
Neugierde meiner Mutter befriedigen, und ihr
einige Stellen aus Jhren Briefen zeigen mußte.
Meine Mutter iſt ſo neugierig als jemand ſeyn
kan.
Jch bin zwar verhindert worden. Jch will
Jhnen aber bald melden, was zwiſchen mir und
meiner Mutter vorgefallen iſt, als ſie ihr Maͤd-
chen, ihren theuren Hickmann, und Lovela-
ce auf einmal in den Gedancken hatte.
Sie ſagte: „wenn ich alles uͤberlege, ſo kan ich
„nicht leugnen, daß ich einige Haͤrte darin finde,
„wie mit der Fraͤulein Harlowe verfahren wird:
„und dennoch iſt es wahr, was ihre Frau Mut-
„ter ſagt, daß es ſehr empfindlich ſey, ein Kind
„zu haben, das wegen ſeines Gehorſams gegen
„ſeine Eltern in geringern Dingen bekant iſt,
„und ſich nun in der wichtigſten Sache ihrem
„Willen widerſetzt. Jch muß beyden Theilen
„ihr Recht widerfahren laſſen: Es iſt Schade,
„daß der Braͤutigam, den die Jhrigen haben
Erſter Theil. Twol-
[290]Die Geſchichte
„wollen, nicht die Vorzuͤge hat, die ein Gemuͤth
„von ſo zaͤrtlichen und verwehnten Geſchmack an
„einem Freyer ſuchen moͤchte. Allein der Mann
„iſt doch wahrhaftig beſſer, als ein Boͤſewicht:
„ein Boͤſewicht, der ſich noch dazu mit ihrem
„eigenen Bruder geſchlagen hat. So wuͤrden
„die Eltern dencken, wenn auch dieſer letzte Um-
„ſtand nicht dazu kaͤme: und es waͤre wunderlich
„wenn die Eltern es nicht beſſer verſtehen ſolten,
„als die Tochter.„
Freylich, dachte ich bey mir ſelbſt, das ſolten ſie
thun, weil ſie mehr Erfahrung haben: wenn nur
nicht bisweilen einige kleine und ſchmutzige Abſich-
ten ſie mit Vorurtheilen fuͤr einen Freyer einneh-
men, da ſie es ihren Toͤchtern verdencken, daß ſie
ihrer Meinung nach Vorurtheile zum Vortheil
des andern haben: und wenn nur kein alter, krie-
chender, verſchimmelter Onckle Anton in den Fa-
milien waͤre, der die Vorurtheile der Eltern noch
ſtaͤrcker macht, wie er es bey meiner Mutter zu
machen pflegt. Der elende, kriechende Geiſt!
der ſich nicht einreden noch uͤberfuͤhren laͤſt! Was
hat ſo ein alter vermuckter Hageſtoltz mit Eltern
von den Pflichten der Kinder aus dem vierten
Gebot zu ſchwatzen, da er gar keinen Begriff
von den Pflichten hat, welche die Eltern hinwie-
derum ihren Kindern ſchuldig ſind? allein Jhre
Frau Mutter hat durch ihre traͤge Geduld (ich
kan ſie mit keinem andern Namen benennen) alle
drey Bruͤder verdorben.
Du
[291]der Clariſſa.
„Du wirſt aber den Unterſchied ſehen, mein
„Kind (fuhr meine Mutter fort) wenn du be-
„denckſt, wie ich mit dir umgehe. Jch preiſe
„dir einen der tugendhafteſten Maͤnner in Eng-
„land an, der zugleich einer der artigſten iſt
(Meiner Mutter Einſichten in die Artigkeit und
Auffuͤhrung einer Manns-Perſon gelten bey mir
ſehr wenig. Sie urtheilet fuͤr ihre Tochter nach
eben den Regeln, nach welchen ſie vor zwantzig
Jahren fuͤr ſich ſelbſt geurtheilet haben wuͤrde:
denn von dieſem alten Schrot und Korn ſcheint
mir Hickman zu ſeyn, wenn ich auf ſein Gemuͤth
ſehe. Sie werden ſelbſt nicht leugnen koͤnnen,
daß er allzupuͤnctlich und gezwungen, und viel zu
voll von Complimenten iſt.)
„Einen Mann (fuhr meine Mutter fort) von
„guter Familie, der artige, unverſchuldete und
„eintraͤgliche Guͤter hat. (Eine Haupt-Betrach-
tung, die meine Mutter mit gewiſſen andern
Leuten gemein hat) „Jch bitte und flehe dich,
„ihm einige Hoffnung zu geben, und ihm zum
„wenigſten nicht deswegen unartiger zu begeg-
„nen, weil er ſo folgſam gegen dich iſt.„
(Das waͤre eben recht, wenn ich ihm freundlich
begegnete. Er wuͤrde mir bald vertraulich be-
gegnen wollen. Fremde muß man gegen die
dreiſten Manns-Leute thun!)
„Alles dieſes richtet bey dir nicht ſo viel aus,
„daß du meinem Willen folgeteſt. Was wuͤrdeſt
„du ſagen, wenn dir ſo begegnet wuͤrde, als der
„Fraͤulein Harlowe von ihrem Vater und Mut-
„ter?„
T 2Was
[292]Die Geſchichte
Was ich ſagen wollte? antwortete ich:
das iſt leicht zu beantworten. Jch woll-
te nichts ſagen. Koͤnnen ſie ein ſolch Be-
tragen gegen ein ſolches Frauenzimmer fuͤr
ertraͤglich halten?
„Komm, meine Tochter, uͤbereile dich nicht
„ſo. Du haſt nur die eine Parthey gehoͤrt: und
„aus den Stellen, die du mir vorgeleſen haſt, ſehe
„ich, daß ſich noch viel von der Sache reden laͤßt.
„Es ſind ihre Eltern: ſie muͤſſen es am beſten
„verſtehen. Fraͤulein Harlowe iſt zwar ein
„artiges Kind: allein ſie muß etwas geredet,
„oder gethan, oder ſonſt verſehen haben, daß
„ihr ihre Eltern ſo aufſaͤtzig geworden ſind.
„Du weißt ſelbſt, wie ſehr ſie ſonſt ihr Kind
„liebeten.„
Allein wie wenn ſie gar nichts verſehen
haͤtte? Wie ſehr haben alsdenn ihre Eltern
Unrecht?
Jch mußte hierauf von Solmeſens groſſen
Guͤtern hoͤren, von ſeiner trefflichen Haushaltung:
„ein wenig zu genau ſey er zwar„ (dis war
ihr ſanfter Ausdruck. Wie zaͤrtlich drucken ſich
doch die von dem Geitz aus, die das Geld uͤber-
maͤßig lieben! Wiewohl in Vergleichung gegen
Herrn Solmes fuͤhret ſich meine Mutter wie
eine Fuͤrſtin auf.) „Was koͤnnen nicht verlieb-
„te Vorurtheile bey jungen Frauenzimmer aus-
„richten?„
Jch weiß nicht, mein Schatz, wie es zugehet,
daß ſich die Leute ſo viel Muͤhe geben, ein verlieb-
tes
[293]der Clariſſa.
tes Paar auszufinden. Erweckt etwan eine
Neugier die andre? Jch glaube, daß dieſes die
Urſache iſt.
Sie fuhr fort Herrn Lovelaces Geſtalt, ſeine
natuͤrliche Gaben, und ſeine durch Fleiß erwor-
bene Geſchicklichkeit zu ruͤhmen. Allein das Ur-
theil war doch endlich das Urtheil einer Mutter,
das ſich eine Tochter ungern gefallen laͤſt. Sie
konte aber wider Jhr Anerbieten, mit ihm zu bre-
chen, und unverheyrathet zu bleiben, nichts ein-
wenden; wenn nur, wenn (drey oder viermal
wenn, wo einmal genug geweſen waͤre) wenn
man ſich nur darauf verlaſſen koͤnte.
Endlich bleibt doch der blinde Gehorſam das
Ende vom Liede in meiner Mutter Reden, ich mag
ſagen was ich will. Die Lehre kriege ich ſowol
als Sie,
Jch kan nicht leugnen, daß der Gehorſam
gegen die Eltern eine wichtige und in Gottes
Augen angenehme Pflicht eines Kindes ſey: al-
allein ich dancke GOtt, daß ich nicht Jhre Probe
von dieſer Pflicht abzulegen habe. Wir alle ſind ſo,
ſo lange gut, als wir keine Verſuchung zum Boͤ-
ſen haben: das aber weiß ich, daß wenige jun-
ge Frauenzimmer, die ſich noch dazu ſelbſt hel-
fen koͤnnen, dasjenige ertragen wuͤrden was Sie
ertragen.
Jch will nicht alles ſchreiben, was ich in mei-
nem Hertzen von dem Verfahren Jhres Vaters,
Jhrer Onckels, und Jhrer uͤbrigen Anverwand-
ten dencke, um Sie nicht zu beleidigen. Jch bilde
T 3mir
[294]Die Geſchichte
mir aber jetzt auf die Richtigkeit meiner Urtheile
noch einmal ſo viel ein, als ſonſt, weil ich nie-
mals einen aus Jhrer gantzen Familie habe auf-
richtig lieben koͤnnen, Sie allein ausgenommen.
Jch bin nicht zur Freundſchaft mit dieſen Leu-
ten gebohren: allein gegen meine Freundin auf-
richtig zu ſeyn erfodert meine Schuldigkeit, und
wenn Fraͤulein Clariſſa Harlowe dieſes be-
denckt, ſo wird ſie jene freymuͤthigen Erklaͤrun-
gen ihrer Anna Howe entſchuldigen. Jch haͤt-
te billig Jhre Frau Mutter mit ausnehmen ſol-
len, die alle meine Ehrerbietung und jetzt auch
mein Mitleiden verdienet. Wie viel muß ſie
ausgeſtanden haben ehe ſie ſich dergeſtalt hat un-
ter das Joch bringen laſſen? der gute ſeelige
Burggraf hat es ſich wol nie laſſen in die Ge-
dancken kommen, daß ſich ſein Kind ſo wuͤrde
buͤcken muͤſſen, als er dieſe ſeine liebe ſeine eintzige
Tochter an einen dem Anſchein nach ſo artigen
Herrn gab, den ſie ſelbſt gewaͤhlet hatte. Ein
anderer wuͤrde Jhren Vater einen Tyrannen
nennen, wenn Sie ſich ſcheuen den Namen von
ihm zu gebrauchen: und wenn Sie Jhre Frau
Mutter lieben, ſo haben Sie nicht Urſache mit
der Welt dieſes Urtheils wegen zu zuͤrnen. Dem
ohngeachtet habe ich weniger Mitleiden mit
Jhrer Frau Mutter, wenn ich bedencke, daß ſie
ſich zu niedrig fuͤr ihre Geburt und uͤbrigen Vor-
zuͤge aufgefuͤhrt hat, es mag nun das Podagra
oder was ſonſt will die Urſache ſeyn, daß Jhr Va-
ter ſo hart und verdrießlich iſt; und daß ſie ſol-
chen
[295]der Clariſſa.
chen Leuten, die immer weiter greiffen (verſtehen
Sie nur Jhren Bruder, wenn ſie nicht gern auf
jemand auders dencken wollen) allzu viel nachge-
geben hat, um fuͤr ſich einen Frieden von kurtzer
Dauer zu erhalten, der deswegen nicht werth iſt,
daß ihm etwas aufgeopfert wird, weil er den Ei-
genſinn der uͤbrigen ſtaͤrckete, ſie ſelbſt aber der-
geſtalt ſchwaͤchete, daß ſie endlich gantz und gar
unter das Joch gebracht iſt, welches haͤrter ward
je mehr ſie es mit Gedult ertrug. Wie kan
man es endlich entſchuldigen, wenn ſie wider ihre
eigene Einſichten ein ſo unvergleichliches Kind
verlohren giebt, daß es den eigennuͤtzigſten Ab-
ſichten der allergeringſchaͤtzigſten Leute aufgeopfert
werden ſoll? Allein ich fliehe von dieſer Materie.
Jch mag wol ſchon mehr davon geſagt haben,
als Sie mir vergeben koͤnnen, und ich habe doch
noch bey weiten nicht alle Klagen ausgeſchuͤttet,
die mein Hertz wider die allzugeduldige Perſon
einzubringen hat.
Herr Hickman wird dieſen Abend von London
zuruͤck erwartet. Jch habe ihn gebeten, ſich nach
Herrn Lovelaces Auffuͤhrung und Umgang in
der Stadt zu erkundigen: und ich werde ſehr boͤ-
ſe auf ihn ſeyn, wenn er es nicht gethan hat.
Erwarten Sie ja keine allzu gute Nachrichten: er
iſt ein Kopf voll boͤſer Erfindungen, und der zu
verworrenen Haͤndeln Luſt hat.
Mir iſt dieſes gantze Geſchlecht ſehr veraͤchtlich.
Wenn doch die Manns-Leute unſere Eltern gehen
lieſſen, und ſie nicht zu unſerer Plage mit guͤlde-
T 4nen
[296]Die Geſchichte
nen Verſprechungen, mit Liebes-Erklaͤrungen,
mit Entwuͤrffen vortheilhafter Ehe-Pacten, und
wie ſonſt der praͤchtige Unverſtand Namen haben
mag, plagten! Wie vergnuͤgt koͤnten Sie und
ich mit einander leben, und jener insgeſamt la-
chen! allein wir muͤſſen durch Schmeicheleyen in
die Schlinge gebracht werden, wie ein unbedacht-
ſames Voͤgelchen: einige Wochen werden wir
als Printzeßinnen verehret, um auf Lebens-lang
Sclavinnen zu werden. Was Sie von Sol-
mes ſagen, das muß ich von allen dieſen Leuten
ſagen, daß ſie mir unertraͤglich ſind. Wenn aber
Jhre Anverwandten, (Freunde ſollen ſie in mei-
nen Briefen nie wider heiſſen, denn ſie ſind des
Namens unwuͤrdig) von einem ſolchen Kerl das
Kauf-Geld annehmen, das er fuͤr Sie bietet,
wenn ſie zugeben, daß er alles das ſeinige ſeiner
eigenen Familie auf ewig entwendet; o wie muß
alsdenn ein nur mittelmaͤßig-billiges Hertz vor
ihren Anſchlaͤgen einen Abſcheu haben!
Herr Hickmann ſoll ſich bey dem Lord M.
Jhrer Frage wegen unter der Hand erkundigen.
Jch kan Jhnen aber wol zum voraus melden, was
er und ſeine Schweſtern ſagen werden. Wer
ſollte es ſich nicht fuͤr eine Ehre ſchaͤtzen, mit
Fraͤulein Clariſſa Harlowe verwandt zu wer-
den? Frau Forteſcue hat mir ſonſt erzaͤhlet,
daß ſie insgeſamt groſſe Bewunderer von Jh-
nen ſind.
Wenn mein Rath vorhin nicht deutlich genug
geweſen iſt, ſo kan ich ihn mit einem Worte oh-
ne
[297]der Clariſſa.
ne Umſchweif ausdrucken: er beſteht in weiter
nichts, als in widernehmen. Wenn Sie ihr
Gut nur wiedernehmen, ſo wird ſich das uͤbrige
von ſelbſt geben.
Wir haben hier Nachricht, daß ſo wohl Frau
Norton als Jhre Baſe Hervey fuͤr den blinden
Gehorſam iſt. Jch wollte mich von Hertzen mit
ihr zancken, wenn ſie das verdauen kan, daß die
Bemuͤhung und der Fleiß ſo ſie auf Jhre Erzie-
hung gewandt hat, und Jhre eigene vortrefflichen
Natur-Gaben und uͤbrigen Vorzuͤge, verſchwen-
det, und einem ſo unwuͤrdigen Menſchen als
Solmes iſt Preis gegeben werden ſollen. Sie
moͤgen vielleicht glauben, daß ich hiedurch die gu-
te Frau bey Jhnen herunter zu ſetzen ſuche: und
Sie haben nicht gantz unrecht hierin. Denn ich
liebe Frau Norton (wie mich duͤnckt) etwas
weniger, als ich thun wuͤrde, wenn Jhre Liebe
gegen ſie nicht allzu groß und mercklich waͤre, und
ich mit voͤlliger Gewißheit glauben koͤnte, daß
Sie mich mehr liebten, als ſie.
Jhre Frau Mutter ſagt Jhnen zum voraus,
daß Sie viel auszuſtehen haben werden, und daß
Sie jetzt unter Jhres Vaters Zucht ſind? (Das
ſind Worte, die mir ſchon eine Perſon veraͤcht-
lich machen koͤnnen, welche ſich ihrer bedinet.)
Daß ſie Jhnen nicht weiter helffen kann? daß
was Sie gutes zu erwarten haben von Jhren
Onckles zu erwarten iſt? Jch hoffe, mein Schatz,
Sie werden zu dieſen unverſtaͤndigen Ausdruͤcken
die Anmerckung hinzu ſchreiben: nachdem ich
T 5mei-
[298]Die Geſchichte
meine Onckles nicht mehr ſprechen darff.
Jſt es moͤglich, daß eine ſolche Gemahlin, eine
ſolche Schweſter, eine ſolche Mutter, nichts bey
den Jhrigen ausrichten kan? Wer will denn,
(wie Sie ſelbſt geſagt haben) heyrathen, wenn es
zu aͤndern ſtehet? Jch mercke, daß mein Zorn
von neuen aufwachet. Nehmen Sie Jhr Gut
wieder, mein Schatz: mehr will ich nicht ſchrei-
ben, um Sie nicht zu betruͤben, da ich Jhnen
doch nicht helfen kan. Nur dieſes noch! ich
bin
Jhre wahrhafftig ergebene Freundin
und Dienerin
Anna Howe.
Der acht und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe/
Sie werden mir vergoͤnnen, ein paar Stellen
Jhres neulichen angenehmen Briefes zu
ahnden, die mir ſehr empfindlich ſind.
So niedergeſchlagen ich auch bin, ſo kan ich
Jhnen doch nicht verheelen, daß ich auf Sie ſehr
ungehalten bin, weil Sie die meinigen allzuheftig
tadeln, ſonderlich meinen Vater; und weil Sie ſo
gar meines Gros-Vaters in der Erde nicht ſcho-
nen. Selbſt Jhre Frau Mutter kan Jhrem
ſcharffen Tadel nicht entgehen. Man kan ſich
zwar
[299]der Clariſſa.
zwar bisweilen ſelbſt nicht enthalten, von denen
frey zu reden und zu ſchreiben, die man liebet,
wenn einem der Schmertz allzu ſehr zu Hertzen
dringet: allein man will doch nicht, daß ſich an-
dere eben die Freyheiten heraus nehmen. Sie
koͤnnen ſich auch ſo ſtarck ausdrucken, wenn Sie
uͤber jemand misvergnuͤgt ſind, daß ich mich ſelbſt
anklagen muß, ſo bald ich bey kuͤhlen Blute aus
Jhren allzuſtrengen Briefen ſehe, wie wenig ich
der meinigen geſchonet haben muͤſſe. Erlauben
Sie mir, daß ich mich nach Befinden der Um-
ſtaͤnde bey Jhnen uͤber die meinigen beklage: ſu-
chen Sie aber durch einen guten Rath, den ich,
von niemand beſſer als von Jhnen erhalten kan,
mein aufgebrachtes Gemuͤth zu beſaͤnftigen; da
Sie wiſſen, wie viel ihr Rath und Zurede bey
mir vermoͤgen.
Jch kan zwar nicht leugnen, daß es mir lieb
iſt, daß Sie wegen der Verachtung die Herr
Solmes von mir verdienet mit mir einerley
Meinung ſind: allein ich muß doch ſagen, daß
er nicht voͤllig ein ſolches Ungeheuer iſt, als Sie
aus ihm machen. Jch verſtehe dieſes von ſeiner
Geſtalt: denn von ſeinem Gemuͤth haben Sie
nach allen dem, was ich gehoͤrt habe, ein ſehr
aͤhnliches und richtiges Bild gemacht. Allein
Sie haben eine ſolche Gabe, eckelhafte Bilder zu
mahlen, und ſo viel Lebhaftigkeit: daß Jhre Be-
ſchreibungen oͤfters daruͤber die Wahrſcheinlichkeit
verlieren. Kurtz, ich weiß, daß Sie bisweilen
mit dem Zweck die Feder ergreiffen, alles zu
ſchrei-
[300]Die Geſchichte
ſchreiben, was Jhnen Jhre lebhafte Erfindungs-
Kraft eingiebt, wenn es gleich nicht voͤllig mit
der Sache uͤbereinſtimmet. Man koͤnnte zwar
erwarten, daß ich weniger hievon ſagen ſollte,
weil Sie aus Liebe zu mir auf jenen ungehalten
ſind. Sollten wir uns aber nicht billig beſtreben,
ſo von uns und allem dem was uns betrifft zu
urtheilen, als wir mit Recht glauben koͤnnen,
daß andere von uns und von unſern Handlun-
gen urtheilen werden?
Was Jhren Rath anlangt, das meinige wider
zu nehmen, ſo bin ich einmal veſt entſchloſſen, kei-
nen Proceß mit meinem Vater anzufangen, es
mag auch daraus kommen, was da will. Jch
werde Jhnen vielleicht zu anderer Zeit eine voll-
ſtaͤndigere Antwort auf dieſe Jhre Gedancken ge-
ben koͤnnen: jetzt will ich blos die Anmerckung
machen, daß Herr Lovelace es ſchwerlich der
Muͤhe werth achten wuͤrde, ſich um mich zu be-
werben, wenn er dieſe meine Entſchlieſſung
wuͤßte. So viel auch die Manns-Perſonen
ſchmeicheln, ſo haben ſie doch immer ihre Abſich-
ten auf dasjenige gerichtet, was ihnen beſtaͤndig
bleibt. Sie thun recht daran. Es muͤſte einem
die Liebe ſehr thoͤricht vorkommen, wenn man am
Ende wider zuruͤckſaͤhe, und ſie haͤtte Leute, die
zum Ueberfluß geboren ſind, in Duͤrfftigkeit ge-
ſetzt, und ein erhabenes Gemuͤth in die Umſtaͤnde
gebracht, daß es anderer Gnade leben muͤſte.
Sie haben einen ſehr artigen Einfall; daß der
Unterſcheid unſerer Gemuͤther macht, daß wir
uns
[301]der Clariſſa.
uns deſto mehr lieben. Jch bekenne es, daß ich
hierauf ſonſt nicht gedacht haͤtte: und es kan
doch wohl etwas daran ſeyn. Jch will dieſes
nicht ausmachen, aber ſo viel verſichern, daß
ich Sie um eines jeden Verweiſes willen, den
Sie mir geben, deſto mehr lieben will, ſobald
ſich nur die erſte Hitze abgekuͤhlt haben wird.
Verſchonen Sie meiner demnach nie, wenn Sie
Unarthen an mir bemercken. Jch liebe Jhre an-
genehme Satyre: und Sie wiſſen daß ich dieſes
immer gethan habe. Wenn ich gleich Jhrer
Meinung nach allzu ernſthaft bin, ſo habe ich Sie
doch noch nie fuͤr allzu leichtſinnig gehalten,
wie Sie es auszudruͤcken belieben. Eine der er-
ſten Bedingungen unſerer Freundſchaft war,
daß wir einander unſere Meinung frey entdecken
ſollten, ohne deswegen auf einander ungehalten
zu werden: und ohne dieſe Bedingung kan kei-
ne Freundſchaft beſtehen.
Jch wuſte ſchon zum voraus, daß Jhre Frau
Mutter von einem Kinde blinden Gehorſam
verlangen wuͤrde. Jch bedaure, daß ich in ſol-
chen Umſtaͤnden bin, in denen mir der Gehorſam
unmoͤglich faͤllt; wie meine Frau Norton ſagt,
daß es meine Schuldigkeit ſey, zu gehorchen,
wenn ich koͤnte. Sie ſind gluͤcklich, da Sie
nichts zu uͤberwinden haben, als Jhre angeneh-
me aber ſondernbaren Einfaͤlle, um die Bitte
Jhrer Frau Mutter zu erfuͤllen, und Herrn
Hickmann zu waͤhlen. Wie vergnuͤgt wollte
ich ſeyn, wenn mir mit ſo vieler Gelindigkeit be-
gegnet
[302]Die Geſchichte
gegnet wuͤrde. Jch wuͤrde ſchamroth werden,
wenn meine Mutter ſagte, daß ſie mich baͤte und
flehete, und doch alles vergeblich, einem Herrn,
wie Herr Hickman iſt, gegen den ich nichts ein-
wenden koͤnte, einige Hoffnung zu machen.
Jch ſchaͤme mich ſelbſt, meine liebe Fraͤu-
lein, wenn Jhre Frau Mutter in Abſicht
auf mich gegen Sie ſaget: was koͤnnen nicht
verliebte Vorurtheile bey jungem Frauenzimmer
ausrichten? dieſes ruͤhret mich deſto mehr weil
Sie ſo fertig ſind, durch Jhre Ueberredun-
gen dergleichen Vorurtheile bey mir zu erwecken
und zu ſtaͤrcken. Es waͤre mir zu verdencken,
wenn ich vor Jhnen die geheimſte Neigung, die
ich bey mir entdecke, geheim halten wollte: und
ich muß geſtehen, daß dieſer Menſch, dieſer
Lovelace mir gut genug anſtehen wuͤrde, wenn
er ſolche gute Eigenſchaften an ſich haͤtte, als
Herr Hickman, ja wenn nur einige Hoffnung
zu ſeiner Beſſerung uͤbrig waͤre. Aber das
Wort, Liebe/ ſo kurtz es iſt, klinget doch gar
zu ſtarck und lang in meinen Ohren. Jndeſſen
finde ich, daß ich durch die gewaltſameu Gegen-
Mittel der Meinigen Schritt vor Schritt ſo weit
getrieben werden koͤnte, daß ich endlich etwas
bey mir fuͤhlte, ‒ ‒ ich weiß nicht wie ich es
nennen ſoll: eine Zuneigung unter gewiſſen Be-
dingungen? das Wort Liebe bedeutet zwar in
gewiſſen Faͤllen eine ſehr rechtmaͤßige und liebens-
wuͤrdige Sache, wenn es von den Pflichten un-
ter Menſchen, und ſo gar von unſerer Pflicht ge-
gen
[303]der Clariſſa.
gen das allerhoͤchſte Weſen gebraucht wird.
Man kan in ſolchem Verſtande die Liebe etwas
goͤttliches nennen. Allein in dieſem beſondern,
engen, eigennuͤtzigen Verſtande hat es fuͤr meine
Ohren einen unertraͤglichen Klang. Schreiben
Sie deswegen in andern Stuͤcken ſo frey als Sie
wollen, ſo werde ich Sie um Jhrer Vertraulich-
keit willen nur deſto mehr lieben: allein wegen
der Ehre unſeres Geſchlechts wuͤnſchete ich, daß
nur dieſe Beſchuldigung Jhrer Feder oder Jhren
Lippen nicht ſo leicht entfahren moͤchte, wenn ich
auch nicht die beſchuldigte Perſon waͤre. Denn
das audere Geſchlecht wuͤrde daruͤber doppelt
frohlocken koͤnnen, daß ein Frauenzimmer von
Jhrer Artigkeit, ein Frauenzimmer, das alle
Manns-Perſonen ſo hertzlich verachtet, als Sie
haben wollen, daß man es von Jhnen glauben
ſoll, an einer Freundin verliebte Zuneigung
mit einem kleinen Hohn-Gelaͤchter entdecket.
Jch koͤn[t]e noch mehr Anmerckungen uͤber den
Jnhalt Jhrer beyden letzten Briefe machen, wenn
mein Gemuͤth etwas freyer waͤre. Zu dieſen we-
nigen war ich allzu ſehr gereitzt, und ich konte
mich nicht enthalten, die Dinge etwas zu ahn-
den, die mich dazu reitzten.
Jch werde Sie in dem naͤchſten Briefe von
dem weiteren Betragen der meinigen benachrich-
tigen.
Der
[304]Die Geſchichte
Der neun und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jch habe von meinem Bruder und von mei-
ner Schweſter ſo empflndliche Complimen-
te bekommen, und ſo offenhertzige Verſprechun-
gen deſſen, was ich von ihnen zu erwarten habe,
wenn ich nicht nachgeben werde, (und dieſes alles
hat noch dazu die Eliſabeth Barnes mit ihrer
gewoͤhnlichen Grobheit an mich beſtellen muͤſſen)
daß ich fuͤr noͤthig hielt, etwas freyer mit ihnen
zu ſprechen, ehe ich mich an meine Onckles, dem
von meiner Mutter gegebenen Winck gemaͤß,
wendete. Jch habe es aber auf eine ſolche Weiſe
gethan, daß Sie dadurch groſſen Vortheil uͤber
mich und Gelegenheit mich zu tadeln erhalten wer-
den, wenn Sie eben ſo davon urtheilen wollen, als
Sie uͤber den Jnhalt eines Theils meiner vorigen
Briefe geurtheilet haben. Kurtz, Sie werden ſa-
gen, daß ich ſehr verliebt bin, wenn nicht die Urſa-
chen die mich bewogen haben, meine Schreibart
in Abſicht auf Herrn Lovelace zu aͤndern, Jh-
nen ein beſſere Meinung von mir beybringen.
Denn ich habe geglaubt, es ſey am beſten, dieſe
Leute bey ihren fuͤnf Augen zu laſſen; und da ſie es
einmal behaupten wollen, daß ich eine vorzuͤgliche
Neigung gegen Herrn Lovelace habe, ihnen
Urſache zu dieſem Verdacht zu geben.
Die-
[305]der Clariſſa.
Dieſes ſind kuͤrtzlich die Urſachen meiner ver-
aͤnderten Schreib-Art.
Erſtlich; der wichtigſte Bewegungs-Grund,
den ſie mir vorgelegt haben, war dieſer: ich
geſtuͤnde ſelbſt/ daß mein Hertz [frey] und
ungebunden waͤre. Da ſie nun hieraus
ſchlieſſen, daß ich keinen andern Freyer, der mir
beſſer gefaͤllt, verleugnen darf, ſo kommt ihnen
meine Auffuͤhrung eigenſinnig und hartnaͤckig
vor; und ſie glauben, daß meine Abneigung ge-
gen Herrn Solmes uͤberwunden werden koͤnne,
und muͤſſe, weil ich billig meinem Vater gehor-
chen, und die Abſichten und Ehre meiner Fa-
mile befoͤrdern helfen ſoll.
Zum andern; ob ſie gleich dieſe Schluͤſſe ma-
chen, um mich zum Stilleſchweigen zu bringen,
ſo ſcheinen ſie mir doch keinen Glauben beyzumeſ-
ſen, ſondern begegnen mir ſo hart und ſo ſchim-
pflich, als wenn ich mich in einen Laquaien mei-
nes Vaters verliebt haͤtte. Es hat mir alſo nichts
genutzet, daß ich bereit geweſen bin, unter einer
gewiſſen Bedingung gaͤntzlich von Herrn Lo-
velace abzulaſſen.
Ferner, ſo glaube ich nicht, daß mein Bruder
eine gegruͤndete Urſache hat, ihn zu haſſen.
Seine unordentliche Neig[u]ng gegen unſer Ge-
ſchlecht wird unter ſeinen Laſtern immer oben an
geſetzt, und ich muß davon beſtaͤndig hoͤren, ich
leugne auch nicht, daß dieſes ein groſſer Fehler
an ihm ſey: kommt es aber aus Liebe zu mir, daß
meinem Bruder dieſes Laſter des Herrn Lovelace
Erſter Theil. Uuner
[306]Die Geſchichte
unertraͤglich iſt? Nein gewiß nicht! Sein gan-
tzes Betragen zeiget deutlich, daß er mich als eine
Perſon anſiehet, die ihm im Wege ſtehet.
Die Gerechtigkeit ſelbſt giebt mir einen Beruf,
fuͤr einen Mann zu reden, den mein Bruder ge-
nug gereitzt hat, und der dennoch nicht alles ge-
than hat, was er thun konte, und was mein
Bruder gethan haben wuͤrde. Jch glaube des-
wegen, es wuͤrde nicht ſchlimm ſeyn, ihnen ein
kleines Schrecken einzujagen, und ſie mercken zu
laſſen, daß die bisher angewandten Mittel ihrem
Endzweck gerade zuwider waͤren.
Jſt es endlich wol eine groſſe Schmeicheley
oder ein Lob fuͤr Herrn Lovelace/ wenn ich geſte-
he, daß ich ihn dem Menſchen vorziehe, mit dem
ſie mich bisher geſchrecket haben. Fraͤulein Howe
(dachte ich) tadelt mich deswegen, daß ich mich
andern allzuſehr zu Fuͤſſen werfe, und mir durch
meine Gedult mehr Beleidigungen von meinem
Bruder zuziehe. Jch will mir jetzt dieſe werthe
Freundin zum Muſter vorſtellen; und um aller
vorhin erwaͤhnten Urſachen willen es verſuchen,
ob ich etwas dadurch gewinnen werde, wenn ich
ein wenig von ihrem Muth annehme, es mag
mich auch ſo ſonderbar kleiden als es will.
So dachte ich, und ſchrieb folgendermaſſen
an meinen Bruder, und an meine Schweſter.
Da mir ſo begegnet wird, wie mir bisher be-
gegnet iſt, und da ihr groſſentheils, wo nicht
ein-
[307]der Clariſſa.
eintzig und allein Urſache daran ſeyd: ſo muͤßt
ihr mir erlauben, daß ich euch meine Meynung
frey entdecke. Jch verlange nicht, etwas euch
unangenehmes zu ſchreiben, allein ich werde auf-
richtig und offenhertzig gegen euch ſeyn muͤſſen.
Die Sache ſelbſt erfodert dieſes.
Vergoͤnnet mir zufoͤrderſt, euch zu melden,
daß ich eure Schweſter und nicht eure Dienſt-
Magd bin. Es ſchickt ſich deswegen eben ſo
wenig fuͤr mich, die bittern und ſchimpflichen
Complimente, die ihr mir bey einer Gelegenheit
ſagen laſſet, dabey ihr nichts zu befehlen habt, zu
ertragen und ungeahndet zu laſſen; als es ſich
fuͤr euch ſchickt, euch dergleichen zu unterfangen.
Setzet den Fall, daß ich den Mann heyrathe-
te, der euch misfallig iſt, und daß ich keinen
hoͤflichen und liebreichen Gemahl an ihm haͤtte:
werdet ihr dadurch berechtiget, ein unhoͤflicher
und liebloſer Bruder zu ſeyn? Warum wolt
ihr mir dieſes Ungluͤck zum voraus empfinden
laſſen, wenn es ja mein Schickſaal iſt, daß ich
es kuͤnftig empfinden ſoll? Gewiß der Mann
muͤſte ein Unmenſch ſeyn, der ſeiner Frau ſchlim-
mer begegnen koͤnte, als ihr ſeit einiger Zeit
eurer Schweſter begegnet habt.
Befraget euch ſelbſt, ob ihr euch wuͤrdet unter-
ſtanden haben, eurer Schweſter Arabella das
zu bieten, wenn ihr die Perſon, welche ihr haſ-
ſet, angeſtanden haͤtte? Jch wolte euch ſonſt wol
den Rath geben, euer Betragen nicht darnach ein-
zurichten, was ihr meynt, das ich leiden kan,
U 2ſon-
[308]Die Geſchichte
ſondern was billig iſt mir aufgelegt zu wer-
den.
Wie wuͤrdet ihr es empfinden, wenn ihr einen
Bruder haͤttet, und er wolte in eben dem Falle
ſo mit euch umgehen, als ihr mit mir? Koͤnt
ihr euch noch der Laconiſchen Antwort erinnern,
die ihr meinem Vater gabt, als er euch die
Fraͤulein D'Oily vorſchlug? Jch kan ſie nicht
leiden! waren eure Worte; und dieſe Antwort
ward damals fuͤr zulaͤnglich gehalten.
Jhr muͤſt genugſam wiſſen, daß mir der Ur-
heber meines ſchimpflichen Ungluͤcks nicht un-
bekant ſeyn kan. Jch darf mich nur erinnern,
wie guͤtig ſonſt mein Vater gegen mich geweſen
iſt, und mir erlaubet hat, andere Partheyen aus-
zuſchlagen. Jch werde wol rathen koͤnnen, von
wem es herkommt, daß man eine gemeinſchaftli-
che Sache daraus macht, mir einen Freyer auf-
zudringen, gegen deſſen Perſon und Sitten mehr
einzuwenden iſt, als gegen irgend einen der
Herren, deren Antrag ich habe verbitten duͤrfen.
Jch verlange die beyden Leute nicht mit ein-
ander zu vergleichen: und in der That iſt auch
keine Vergleichung moͤglich. Der gantze Unter-
ſcheid, der dem einen zum Nachtheil gereicht, be-
trifft nur einen eintzigen Punct. Dieſer iſt zwar
wichtig genug: allein fuͤr wen iſt er am wichtig-
ſten? Jch dencke doch, fuͤr mich! (wenn ich an-
ders Luſt zu ihm haͤtte) und nicht fuͤr euch.
Jndeſſen ſolt ihr finden, daß ich dieſem Herrn
eben ſo voͤllig entſagen will, als dem andern,
wenn
[309]der Clariſſa.
wenn ihr nur nicht durch eure ſonderbare Klug-
heit ihn und mich naͤher verbindet, und uns durch
ein gemeinſchaftliches Leiden zwinget, es mit
einander zu halten. Jch habe ſchon einen Vor-
ſchlag dieſes Jnhals gethan. Jch hoffe nicht,
daß ihr mir neue Urſache geben werdet, zu glau-
ben, daß ihr die Annehmung meines Vorſchlages
hintertrieben habt.
Es iſt betruͤbt, daß ich an euch einen Bruder,
aber nicht einen Freund habe: ohngeachtet ich
mir nicht bewuſt bin, euch in einigem Stuͤcke be-
leidiget zu haben.
Jhr werdet euch vielleicht nicht ſo weit herab-
laſſen, daß ihr einer albernen Schweſter von
eurer bisherigen Auffuͤhrung Rede und Antwort
gebet. Wenn ich aber um eur ſelbſt und um
meines Geſchlechts willen keine Hoͤflichkeir von
euch erwarten darf: ſo werde ich doch Gerech-
tigkeit und Billigkeit fodern duͤrfen.
Der vornehmſte Zweck, deswegen ein junger
Cavallier die Univerſitaͤt beziehet, iſt dieſer, daß
er ſoll richtig dencken und ſeine Affecten im Zaum
halten lernen. Jch hoffe, mein Bruder, ihr wer-
det nicht wollen, daß wer uns beyde kennet, das
Urtheil faͤllen ſoll, als haͤtte ich das zweyte Stuͤck,
das ich vorhin erwaͤhnte, bey der Neh-Nadel
beſſer gelernt, als ihr auf der Univerſitaͤt. Es
thut mir wahrhaftig leid, daß ich oft habe von
andern hoͤren muͤſſen, daß eure ungeſtuͤmen Affe-
cten fuͤr eure Erziehung und Stand eine ſchlechte
Ehre ſeyn ſollen.
U 3Jch
[310]Die Geſchichte
Jch hoffe, ihr werdet mir die Freyheit verge-
ben, die ich mir gegen euch nehme. Jhr habt
mich dazu gezwungen, und ihr habt euch viel
groͤſſere Freyheiten gegen mich erlaubt, ohne
Urſache dazu zu haben. Wenn ihr ja ungehalten
ſeyn wolt, ſo ſeyd es nicht auf die Folgen eurer
Handlungen, ſondern auf eure Handlungen
ſelbſt, welche die Urſachen dieſer Folgen ſind.
Alsdenn wird euch eine genaue Pruͤfung eurer
ſelbſt lehren, das zu unterlaſſen, was die Urſache
hiezu geweſen iſt, und mein Bruder wird einer
der allerartigſten jungen Herren werden.
Jch gebe euch dieſen Winck aus einer aufrich-
tigen ſchweſterlichen Liebe, ſo lieblos ihr euch
auch bisher gegen mich aufgefuͤhrt habt, und
nicht aus einer naſeweiſen Tadelſucht, die ihr mir
bisher beſtaͤndig habt Schuld geben wollen.
Erlaubt mir, eure nun vielleicht widerkehrende
Liebe anzuruffen, mein eintziger Bruder/ und
gebt mir Urſache, euch auch einen mitleidigen
Freund von mir zu nennen. Denn ich bin,
und will ewig ſeyn
Eure liebreiche und ergebenſte Schweſter
Cl. Harlowe.
Hier folgt meines Bruders Antwort.
Jch weiß, daß kein Ende eures albernen
Schreibens ſeyn wird, wenn ich mich nicht uͤber-
winde, an euch zu ſchreiben. Jch thue es alſo:
allein
[311]der Clariſſa
allein ich will mich mit einem ſo naſeweiſen Maͤd-
chen, das mir prediget und Fragen zur Beant-
wortung vorlegt, in keinen ſchrifftlichen Streit
einlaſſen, ſondern euch nur verbieten, mich ferner
mit eurem wohlgeſchriebenen artigen Unverſtande
zu quaͤlen. Jch weiß gar nicht, wozu der
Witz den Frauens-Leuten nutzt, als dazu, daß ſie
ſich erheben, und andere neben ſich verachten.
Jhr, Fraͤulein Naſeweis/ ſeyd dadurch uͤber
Pflicht und Gehorſam hinaus gekommen, und
wolt weder Rath noch Befehl von euren Eltern
und von andern Leuten annehmen. Fahret nur
ſo fort, man wird euch deſto mehr zu kraͤncken
ſuchen: das wird der gantze Nutzen davon ſeyn.
Kind. Jch werde dieſes zu thun ſuchen, wenn
ich anders kan, ſo lange ihr den abſcheulichen
Lovelace liebet, den eure gantze Familie mit
Recht haſſet. Aus eurem Briefe ſehen wir deut-
lich, was wir vorhin nicht ohne Urſache befuͤrch-
tet haben, daß ſich eur unbeſonnenes Hertz von
ihm mehr als zu ſehr hat feſſeln laſſen. Allein
je ſtaͤrcker ihr gefeſſelt ſeyd, deſto mehr Gewalt
muß man anwenden die Feſſeln zu zerreiſſen, da-
mit ein ſolches abgefallenes Kind gebunden iſt.
Seyd verſichert, daß wir es daran nicht werden
ermangeln laſſen. Ohngeachtet eurer muͤrriſchen
und gehaͤßigen Predigten ſolt ihr doch an mir
einen Freund und einen Bruder haben, wenn ihr
nicht beydes ſelbſt verſchertzet. Wenn ihr aber
Lovelacen zu heyrathen gedenckt, ſo bitte ich
euch, haltet fuͤr keins von beyden
Jacob Harlowe.
[312]Die Geſchichte
Nun will ich Jhnen auch die Abſchrifft des
Briefes an meine Schweſter, nebſt ihrer unar-
tigen Antwort mittheilen.
Womit habe ich euch beleidiget, liebe Schwe-
ſter, daß ihr mit einem ſo harten Hertzen nicht
allein meinen Vater ſondern auch meine Mutter
noch mehr gegen mich aufzubringen ſucht, anſtatt
daß ihr euch bemuͤhen ſoltet, ſie zu beſaͤnftigen?
Jch wuͤrde dieſes gewiß thun, wenn ihr euch in
meinen ungluͤcklichen Umſtaͤnden befinden ſoltet.
Stellet euch nur an meine Stelle, liebe Arabella;
ſtellet es euch vor, daß man euch zwingen wolte,
Herrn Lovelace zu heyrathen, gegen den ihr
einen Widerwillen gefaſſet habt; wuͤrde euch die-
ſer Befehl nicht ungemein hart ſcheinen? Und
gewiß eur Widerwillen gegen Herrn Lovelace
kan ohnmoͤglich groͤſſer ſeyn, als meiner gegen
Herrn Solmes iſt. Liebe und Abneigung ſte-
hen ja nicht bey uns: wir koͤnnen ſie bey uns
nicht erwecken und nicht daͤmpfen.
Vielleicht haͤlt es mein Bruder fuͤr ein Zeichen
eines maͤnnlichen Gemuͤths, nichts von den ſanf-
tern Gemuͤths-Bewegungen zu wiſſen. Er hat
ſich ſelbſt in unſerer Gegenwart geruͤhmet, daß er
noch niemals eine beſondere Liebe zu einer Per-
ſon empfunden habe: und er wird ſie auch wol
kuͤnftig nicht empfinden, weil ihn andere Nei-
gungen ſtaͤrcker beherrſchen, und ſein erſter Ver-
ſuch zu lieben ſchlecht ablief. Da er noch von
Univerſiaͤten raucht, und kaum unter dem Hoff-
meiſter
[313]der Clariſſa.
meiſter zu ſtehen auſgehoͤrt hat; ſo mag er Luſt
haben, ſelbſt den Hoffmeiſter uͤber unſer Geſchlecht
zu ſpielen, das in Sitten und Art zu dencken
gaͤntzlich von ihm verſchieden iſt. Denn was
ſind nach ſeiner Erzehlung die Collegia auf der
Univerſitaͤt anders, als Stuffen der Tyranney, da
die aͤltern Studenten die Tyrannen der neuange-
kommenen, und die Hoffmeiſter wieder die Tyran-
nen uͤber dieſe ſind? Es iſt nicht ſo ſehr zu ver-
wundern, daß er bey einem ſolchen allzu maͤnn-
lichen Geiſte ſich bemuͤhet, eine arme Schweſter
zu unterdruͤcken und uͤber ſie zu herrſchen, ſonder-
lich wenn ihn der Groll gegen jemand und ſeine
eigennuͤtzigen Abſichten (die ihr ſelbſt ſonſt an ihm
getadelt habt) dazu antreiben. Allein daß es
eine Schweſter nicht mit ihrer Schweſter haͤlt,
ſondern mit ihm Parthey macht, um Vater und
Mutter ihr abgeneigt zu machen, und zwar dieſes
in einer Sache in der es ſonſt die Frauens-Leute
mit einander zu halten pflegen: das iſt gewiß
nicht artig von euch gehandelt.
Jch erinnere mich der Zeit noch wohl, in der
man an Herrn Lovelaces Beſſerung gar nicht
verzweifelte, und es fuͤr keine vergebene’ oder
tadelhafte Bemuͤhung hielt an ihm zu arbeiten,
um einen ſo klugen Mann wieder auf den Weg
der Ehre und Tugend zu bringen. Jch verlange
die Probe nicht ſelbſt zu machen: Jch muß aber
dem ohngeachtet bekennen, daß, wenn ich auch
ſonſt keine Neigung gegen ihn haͤtte, die ſchim-
pflichen Zwangs-Mittel, die fuͤr einen Solmes
U 5ange-
[314]Die Geſchichte
angewandt werden, eine Neigung gegen ihn bey
mir erwecken koͤnten.
Legt einmal auf eine Stunde alle Vorurtheile
bey Seite, und ſtellet zwiſchen den beyden Leuten
in Abſicht auf Geburt, Erziehung, Verſtand,
Auffuͤhrung, Anſehen, und ihr gantzes Betragen
eine Vergleichung an; und faͤllet euer Urtheil von
beyden. Dem ohngeachtet will ich bey meiner
ſo oft gegebenen Erklaͤrung bleiben, und den un-
verheyratheten Stand erwaͤhlen, wenn man da-
mit zufrieden iſt.
Jch kan ohnmoͤglich in ſolchem Mißverſtaͤnd-
niß mit den meinigen leben: ich wolte ſie mir
gern alle zu Freunden machen, wenn ich nur
koͤnte. Wuͤrde es aber nicht unrecht, wuͤrde es
nicht ſchimpflich ſeyn, einen Mann zu nehmen,
der mir unertraͤglich iſt. Da ich ſonſt nie ge-
wohnt geweſen bin, mich dem Willen meines
Vaters zu widerſetzen, ſondern im Gehorſam
meine Freude geſucht habe: ſo koͤnt ihr eben
daraus abnehmen, wie ſtarck meine Abneigung
gegen dieſen Mann ſeyn muß, die mich zwinget,
mich ſeiner auf eine Art zu erwehren, welche mit ſo
vielen unangenehmen Folgẽ fuͤr mich verknuͤpft iſt.
Habt denn, liebe Arabelle/ meine Schweſter,
meine Freundin, meine Geſellſchafft, meine
Rathgeberin in meinen ehemaligen gluͤcklichern
Umſtaͤnden, habt einiges Mitleiden, und macht
durch eure Vorbitte wiedrum gemeinſchafftliche
Sache, mit
Eurer ſtets ergebenen
Clariſſa Harlowe.
[315]der Clariſſa.
Die Antwort auf dieſen Brief.
Jhr moͤget es nach eurer Weisheit fuͤr artig
oder fuͤr unartig erklaͤren, ſo will ich doch meine
Meynung von euch und von eurer Auffuͤhrung in
Abſicht auf Herrn Lovelace frey ſchreiben. Jhr
ſeyd ein verliebtes albernes Maͤdchen bey aller
eurer Weisheit. Das beweiſet eur Brief in
mehr denn zwantzig Stellen. Niemand glaubt
euch, wenn ihr das alte Lied anſtimmet, daß ihr
unverheyrathet bleiben wolt. Das iſt nur eine
Ausflucht, die ihr erfindet, um eurer Pflicht und
dem Gehorſam gegen Eltern aus dem Wege zu
gehen, die ſo guͤtig gegen euch geweſen ſind, als
Eltern in der Welt ſeyn koͤnnen. Nun genieſſen
ſie den Danck fuͤr ihre Guͤtigkeit.
Wir alle haben ehemals geglaubt, daß ihr
ein ſanftes und liebreiches Hertz haͤttet. Aber
woher kam es? Niemand hatte euch widerſpro-
chen, alles ging nach eurem Kopf. So bald ihr
aber erfahret, daß man ſich euren Wuͤnſchen wi-
derſetzt, wenn ihr euch an einen liederlichen Kerl
hengen wolt, ſo zeiget ihr euch in eurer wahren
Geſtald. Der Vorwand iſt: ihr koͤnt keine
Liebe zu Herrn Solmes faſſen. Schweſter,
Schweſter, ich muß euch die Urſache entdecken:
Herr Lovelace hat eur verliebtes Hertz gefeſſelt,
ein Boͤſewicht, den wir alle mit Recht haſſen,
und an deſſen Haͤnden noch eures Bruders Blut
klebet. Den Kerl wolt ihr zu einem Verwanten
von uns machen. Woltet ihr doch das wol
thun?
Jch
[316]Die Geſchichte
Jch verliere alle Gedult, daß ihr es nur als
moͤglich anſehen koͤnt, daß ein ſolcher Kerl mir
gefallen koͤnte.
Was das anlanget, daß ihr meynet, es ſey
ihm ehemals in unſerm Hauſe eine Hoffnung
gegeben worden; ſo war dieſes vorher, ehe wir ihn
kannten. Allein der Beweiß, der uns uͤberzeugt
hat, ſolte auch billig einige Kraft bey euch haben,
und wuͤrde ſie gehabt haben, wenn ihr nicht ein
albernes und unbedaͤchtliches Maͤdchen waͤret,
welches jedermann bey dieſer Gelegenheit ſiehet.
Wie gelaͤuffig iſt euch die Feder, wenn ihr den
liederlichen Menſchen erhebet! Geburt, Erzie-
hung, Anſehen, Verſtand, Auffuͤhrung, Mine,
Vermoͤgen, alles wird heraus geſtrichen: und
das allzu vollſtaͤndige Regiſter ſeiner Vollkom̃en-
heiten muß noch dadurch vermehret werden, daß
ihr einer Sache mehr als einen Namen gebt.
Was fuͤr eine Kette von verliebten Lobes-Erhe-
bungen! Und doch wolt ihr unverheyrathet blei-
ben! Ja das kan ich glauben! Da ſo viel einge-
bildete Vollkommenheiten eures verliebten Rit-
ters vor euren verblendeten Augen herum ſchwer-
men! Nicht mehr hievon! Allein laßt euch die
gute Meynung von eurem eigenem Verſtande
nicht dahin bringen, daß ihr alle andere Leute fuͤr
Narren haltet; und meynt nicht, daß wir alle
nach eurer Pfeiffe tantzen werden, wenn ihr einen
klaͤglichen Ton anſtimmet.
Jhr habt Erlaubniß, ſo oft an mich zu ſchrei-
ben, als es euch belieben wird. Dis ſoll die
letzte
[317]der Clariſſa.
letzte Antwort und die letzte Nachricht von Em-
pfang eurer Briefe ſeyn, die ihr in dieſer Materie
und Umſtaͤnden erhalten werdet von
Jch hatte ſchon Briefe an meine beyden Onck-
les fertig. Meines Onckles Harlowe Diener
begegnete mir in dem Garten, und ich gab ihm
beyde, um ſie zu beſtellen. Wenn ich aus der
Antwort meines Bruders und meiner Schweſter
auf ſie ſchlieſſen ſoll, ſo werde ich von ihnen nicht
viel troͤſtliches zu erwarten haben. Allein ich
werde mir die ungluͤcklichen Folgen der Sache de-
ſto weniger Schuld geben durfen, wenn ich vor-
hin alle moͤgliche Mittel verſuche. Sie ſollen
beyde Briefe in Abſchrifft zu ſehen bekommen,
wenn ich erſt weiß, was ſie ausgerichtet haben,
falls ſie anders einiger Antwort gewuͤrdigt
werden.
Der dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe/ an Fraͤulein
Howe.
Der Menſch, der Lovelace macht mir vielen
Kummer. Seine Dreiſtigkeit und Ueber-
eilung iſt ſehr groß. Er iſt dieſen Nachmittag
in unſerer Kirche geweſen, vermuthlich, um mich
zu
[318]Die Geſchichte
zu ſehen. Wenn er das gehoffet hat, ſo muß
ihm dieſes mahl ſein Spion ausgeblieben ſeyn.
Schorey war in der Kirche, und ihr meiſtes
Augenmerck war auf ſeine hochmuͤthige Geberden
gerichtet geweſen, als er ſich aus ſeinem Stuhl
nach dem Stuhl umſahe, in dem wir zu ſitzen pfle-
gen. Mein Vater, meine beyden Onckles, mei-
ne Mutter und Schweſter waren gegenwaͤrtig.
Zum Gluͤck war mein Bruder nicht in der Kirche.
Sie kamen voller Unruhe nach Hauſe. Die gan-
tze Verſammlung hatte auf niemand als auf ihn
geſehen; denn dieſes war das erſtemal nach der
ungluͤcklichen Schlaͤgerey, daß er unſere Kirche
beſuchte.
Wozu kan er doch gekommen ſeyn? Wolte
er trotzen, und gleichſam durch ſeine Geberden
die Meinigen herausfodern, wie Schorey ſagt,
und wie es andere aus ſeinen Geberden geſchloſ-
ſen haben? Kam er um meinet willen, und mey-
nete er, daß er durch eine ſolche Auffuͤhrung gegen
meine Verwanten mir einen Dienſt thaͤte? Er
weiß wie groß ihr Haß gegen ihn iſt: und er wird
ſich keine Muͤhe geben, dieſen Haß zu beſaͤnftigen,
wenn es auch moͤglich waͤre.
Wir haben beyde ſonſt von ſeinem Hochmuth
mit einander geredet/ und Sie haben ihm dieſes
Laſter im Schertz empfindlich genug vorgewor-
fen: allein an ſtatt ſich zu entſchuldigen hat er es
ihnen frey geſtanden, gerade als wenn dieſes Ge-
ſtaͤndniß genug waͤre.
Jch
[319]der Clariſſa.
Jch glaubte immer ſein Stoltz ſey kein ſolcher
Fehler, aus dem ein Schertz gemacht werden
koͤnte. Bey Leuten von Stande und Mittein
iſt der Stoltz ein allzu thoͤrichtes und baͤuriſches
Laſter. Wenn ſie Ehre verdienen ſo werden ſie
ſie gewiß haben auch ohne daß ſie die Welt darum
mahnen. Wer durch ſeine hochmuͤthige Geber-
den und Betragen Ehrerbietung zu erlangeu ſucht,
der ſcheint ein Mistrauen in ſeine Verdienſte zu
ſetzen, und zu geſtehen, daß ſeine uͤbrigen Hand-
lungen ihm keine Ehrerbietung erwerben werden.
Ueber den vornehmen Stand und Rang moͤgen
die hochmuͤthig ſeyn, denen dieſe Vorzuͤge neu
ſind: ſie werden aber dadurch bey andern ver-
aͤchtlich werden, und die Nachrede von Bauren-
Stoltz hoͤren muͤſſen, damit ſie ſich ihres Gluͤckes
nicht allzuſehr uͤberheben.
Jſt es zu entſchuldigen, daß dieſer Herr hoch-
muͤthig und vornehm thun will, der es deſto we-
niger noͤthig haͤtte, weil er noch ſo viel Artigkeit
in Geſtalt und Bildung hat, und ſo viel gelernt
haben ſoll. Seine eigenen Geſichts-Zuͤge be-
ſtraffen ihn. Wie ſehr iſt er ohne Entſchuldi-
gung! Was macht ihn ſtoltz? gewiß nicht ſeine
guten Thaten, auf die man allein ſich mit Recht
etwas einbilden kan. Sind es ſeine aͤuſſern
Vorzuͤge? Muͤſſen nicht andere von den innern
Vorzuͤgen einer Perſon ſchlechte Gedancken be-
kommen, die ihren Hochmuth auf eine Sache
von ſo kurtzer Dauer gruͤndet? Einige Leute moͤ-
gen vielleicht in Sorgen ſtehen, daß andere auf
ſie
[320]Die Geſchichte
ſie mit Fuͤſſen treten wuͤrden, wenn ſie ſich nicht
bruͤſteten. Eine niedertraͤchtige und gemeine
Beyſorge! Denn wer eine ſolche Meynug von
ſich hat, der trit ſich ſelbſt mit Fuͤſſen. Allein
Lovelace koͤnte verſichert ſeyn, daß Beſcheiden-
heit und Demuth ihn recht zieren wuͤrde.
Er hat Gemuͤths-Gaben: allein dieſe, und die
Artigkeit ſeiner Perſon, ſind Schlingen geweſen,
dadurch er ſich hat fangen laſſen. Man ſiehet
daraus, daß wenn ſeine Maͤngel und Vorzuͤge
gegen einander abgewogen werden ſolten, der
Ausſchlag ſehr auf die Seite der erſteren fallen
wuͤrde.
Wenn ſich meine Freunde noch laͤnger auf mei-
ne Vorſichtigkeit verlaſſen haͤtten, die ſie mir
nicht abſprechen, und darauf ſie ſich zu Anfang
verlieſſen, ſo glaubte ich, daß ich Herrn Lovelace
ausgemercket haben wuͤrde. Jch wuͤrde alsdenn
eben ſo fertig geweſen ſeyn, ihm den Korb zu ge-
ben, als andern, und als ich jetzt entſchloſſen bin,
Herrn Solmes niemals zu nehmen. Wenn die
meinigen mein Hertz nur kenneten! Es wird ge-
wiß ehe entzwey brechen, als mich zu etwas verlei-
ten, das fuͤr mich, fuͤr mein Geſchlecht oder fuͤr
meine Familie ein Flecken ſeyn koͤnte.
Nehmen Sie mir nicht uͤbel, daß ich in meinen
Briefen gleichſam ſoliloquia mache. Wie bin
ich von einem Gedancken auf den andern gera-
then! Allein die Veranlaſſung dazu iſt mir in
allzu friſchem Gedaͤchtniß.
Unten iſt alles in Bewegung.
Scho-
[321]der Clariſſa.
Schorey ſaget, Herr Lovelace habe beſtaͤn-
dig meiner Mutter Augen gewahret, und ſich ge-
gen ſie gebeuget: ſie haͤtte ihm auch gedanckt. Er
hat ſonſt meine Mutter immer bewundert. Jch
glaube, ſie wuͤrde ihn auch nicht haſſen, wenn es
ihr nicht befohlen waͤre, und wenn ſie die Schlaͤ-
gerey nicht entruͤſtet haͤtte.
Der D. Lewin war in der Kirche. Als er
ſahe was alle Leute ſahen, nemlich daß unſere Fa-
milie uͤber Herrn Lovelaces Gegenwart ſich ſo
unruhig bezeigete, war er ſo guͤtig, ſich mit ihm in
ein Geſpraͤch einzulaſſen, und ihn aufzuhalten bis
ſie ſich in die Kutſchen geſetzt hatten.
Es ſcheint, daß mein Vater alle Tage hitziger
gegen mich wird, und meine Onckles gleichfalls.
Dieſen Morgen haben ſie meine Briefe bekom-
men. Wenn ſie mich einer Antwort wuͤrdigen, ſo
wird ſie (ich befuͤrchte es) zeigen, daß Herr Love-
lace ſehr zur Unzeit in die Kirche gekommen iſt.
Auf meine Mutter moͤgen ſie auch (wie ich hoͤre)
ungehalten ſeyn, weil ſie Hn. Lovelace gedanckt
hat. Was fuͤr ein Widerſacher auch ſo gar von
der Welt-uͤblichen Hoͤflichkeit iſt der Haß! obgleich
durch die Hoͤflichkeit der mehr Ehre erlanget, der
ſie erzeiget, als dem ſie erzeiget wird. Es ſagen
nunmehr alle meine Freunde, ſie ſaͤhen nur Einen
Weg vor ſich, aller Unruhe und allem Pochen des
Menſchen ein Ende zu machen. Jch ſoll alſo dar-
unter leiden. Was richtet der unvorſichtige
Menſch doch aus? Gewinnen ſeine Sachen ein
beſſeres Anſehen, als vorhin?
Erſter Theil. XJch
[322]Die Geſchichte
Jch fuͤrchte ſehr, daß ſeine Geſpenſt-maͤßige
Erſcheinung eine Bedeutung hat, und der Vor-
bote einer noch groͤſſern Uebereilung iſt. Wenn
er in unſer Haus kommt, (wie er mich denn ſehr
bittet ihm das zu erlauben) ſo fuͤrchte ich, daß
Mord und Todſchlag daraus entſtehet. Wenn
ein ſolches Ungluͤck nicht anders vermieden werden
kan, ſo wollte ich mich lieber lebendig begraben
laſſen.
Es wird jetzt groſſer Rath gehalten. Jch glau-
be daß meine Briefe in Erwaͤgung gezogen wer-
den. Es iſt dieſes ſchon heute fruͤh geſchehen, und
das war eben die Veranlaſſung, daß meine Onck-
les in unſere Kirche kamen. Jch will Jhnen, wie
ich neulich verſprach, die Abſchriften dieſer Briefe
ſchicken, ſo bald ich ſehe, ob ich ihnen auch die Ant-
wort darauf uͤberſenden kan. Dieſer mein jetzi-
ger Brief iſt nicht geſchrieben, um Jhnen Nach-
richten zu geben, ſondern er iſt blos die Wirckung
meiner Furcht, und meines Unwillens gegen den,
der mir ſo viel Furcht verurſachet hat. Sechs
Zeilen waͤren ſchon genug geweſen, Jhnen alles zu
melden, was ich zur Sache gehoͤriges geſchrieben
habe.
Cl. H.
Siehe den ſechs und dreißigſten Brief/
in welchem Herr Lovelaces eigene Er-
zaͤhlung der Urſachen zu finden iſt/ die
ihn bewogen haben in die Kirche zu
kommen.
Der
[323]der Clariſſa.
Der ein und dreyßigſte Brief
von
Hrn. Lovelace an Juncker Johann Belford.
Umſonſt umſonſt quaͤlſt du mich mit deinen
Bruͤdern, (*) daß ich nach London reiſen
ſoll: ſo lange ich noch ungewiß bin, ob ich dieſe
ſtoltze Schoͤne beſiegen werde. Alles was ich bis-
her ausgerichtet habe, kan ich mir nicht zuſchrei-
ben, ſondern eintzig und allein ihrer Vorſorge fuͤr
die Sicherheit mir verhaßter und mit Recht ver-
haßter Leute.
Du befiehlſt; ich ſoll dir ſchreiben, ob ich kom-
men will? Das kan ich thun. Jch kan mit
einem Unterthanen und ohne Unterthanen kom-
men. Meine Erzaͤhlung ſoll dir das Raͤthſel er-
klaͤren.
Der boshafte Bruder meiner Schoͤnen hat ei-
nen andern Freyer auf die Bahn gebracht: das
habe ich dir ſchon bey Herrn Hall erzaͤhlet. Es iſt
der allerſchlechteſte, wenn man auf Geſtalt und ei-
gene Vorzuͤge ſiehet: allein ſeine Verſprechungen
machen ihn zum fuͤrchterlichſten Gegner, den ich
bisher gehabt habe.
Keine
X 2
[324]Die Geſchichte
Keine Seele der Harlowiſchen Familie hat
ſeinen Verheiſſungen widerſtehen koͤnnen. Keine
Seele! was ſage ich? Gerade als wenn jemand
aus dieſer Familie, meine Goͤttin aus genommen,
eine Seele hatte! Sie widerſteht ihnen allen, und
wird deswegen eingeſperret, und auf andere Wei-
ſe hart gehalten. Ein finſterer Vater, von unuͤber-
windlichem Eigenſinn, thut dieſes auf Anſtifften
eines aufgeblaſenen und eigennuͤtzigen Bruders.
Du kenneſt die Leute: ich will das Papier durch
eine ſolche Beſchreibung nicht beſudeln.
Was fuͤr eine verworrene Sache, die zu lieben,
deren Vater, deren Bruder, deren Onckels, de-
ren Familie ich ewig verachten muß? Und, (der
Teufel!) die Liebe waͤchſt mit ihrer ‒ ‒ Verach-
tung? ‒ ‒ Hochmuth? ‒ ‒ Uebermuth einer ange-
beteten Abgoͤttin? Nein! ſo kan ich es nicht nen-
nen. Blos ihre Tugend iſt es, die mir meine
Wuͤnſche ſo ſchwer macht. Jch werde dafuͤr ge-
ſtraft, daß ich kein ſchleichender Suͤnder, kein
Heuchler bin; daß ich weniger fuͤr meinen guten
Namen beſorat geweſen bin, und der Laͤſterung er-
laubt habe, ihren Mund gegen mich zu oͤffnen. Jſt
es aber einem ſolchen, als ich bin, noͤthig ein Heuch-
ler zu werden? mir, der ich alle Bitten erhielt, die ich
je gethan habe? Der ich niemals Furcht erweckte,
ohne daß man eine herrſchende Liebe dabey gewahr
werden konte? Der Poet hat Recht:
[325]der Clariſſa.
Allein es ſcheinet, daß ich dieſe Kunſt nachma-
chen muß, wenn ich dieſes unvergleichliche Kind
gewinnen will. Warum aber ſoll ich ſie nach-
machen? Kan ich mich nicht in der That beſſern?
Jch habe nur ein eintziges Laſter. Habe ich meh-
rere, Kerl? du kenneſt mein Hertz, wenn es ein
Menſch auf der Welt kennet: du kenneſt es, wenn
ich mich anders ſelbſt kenne. Allein mein Hertz iſt
ein verfluchter Betruͤger: es hat ſeinen Herrn oft
betrogen. Seinen Herrn! Jetzt bin ich nicht
Herr von meinem Hertzen. Jch habe von dem
Augenblick an aufgehoͤrt, Herr daruͤber zu ſeyn, da
ich dieſen Engel geſehen habe; ohngeachtet ich vor-
hin ſchon ſo viel von ihr gehoͤrt hatte, daß es
ſchien, die Reuigkeit und das Unerwartete wuͤr-
de mich nicht ruͤhren koͤnnen. Denn was muͤſte
das fuͤr ein Gemuͤth ſeyn, das die Tugend nicht bey
andern anbetet, wenn es gleich ſelbſt nicht tugend-
haft iſt? Du weiſt, daß ich mich nur aus Verwech-
ſelung der Perſonen an eine, die Arabelle hieß,
machte: der verworrene Kopf, der alte Onckle,
war Schuld daran. Jch kam eben von Reiſen,
und er ſolte mir den Zugang zu einer Goͤttin ver-
ſchaffen: allein er fuͤhrte mich zu einem ſehr ſterb-
lichen Bilde. Mein Frauenzimmer, war ſo guͤ-
tig und ſo bereitwillig, daß ich nicht wenig Muͤhe
hatte, mich vor ihrem Ja zu bewahren, ohne es
mit der Familie gantz zu verderben, die mir meine
Goͤttin geben ſollte.
Jch habe damit geprahlt, daß ich ſonſt ver-
liebt geweſen bin. Jch meinte es ſelbſt, daß
das Liebe waͤre. Jch hatte kaum angefangen mich
X 3zu
[326]Die Geſchichte
zu fuͤhlen: die Hochgeborne Hure nahm mich da-
mals ein, deren Untreu ich an allen Frauenzim-
mern raͤchen will, die ich in meine Macht be-
komme. Meine Nemeſis iſt ſchon in mehr als
einem Lande wenigſtens durch eine Hecatombe
ſolcher Opfer verehret worden. Wenn ich aber
uͤberdencke, was ich damals war, und was ich
jetzt bin, ſo muß ich bekennen, daß ich vorhin
nie verliebt geweſen bin.
Was war denn das, fragſt du mich, daß ich
faſt von Verſtande kam, als ich mich von jener
betrogen fand? Wohlan, ich will es dir ſagen,
ſo gut ich es mich erinnern kan. Es war ‒ ‒
ja was? ich kan kaum ſagen was es war. Mich
duͤnckt, es war ein heftiger Trieb zur Neuigkeit.
Die verworrenen Poeten, die in ihren Beſchrei-
bungen Gottheit und Menſchheit zuſammen ſetzen,
hatten eben ſo viel Theil daran, als das Frauen-
zimmer: ſie feureten meine Einbildungs-Kraft an,
und ich wollte durchaus der Schoͤpfer einer
Goͤttin werden. Jch muſte die Fluͤgel probieren,
die mir kaum gewachſen waren, und mich in Son-
net, Elegy, Madrigal und ſo weiter verſuchen.
Jch muſte eben ſo wohl meine Cynthia, meine
Stella, meine Sachariſſa haben, als der beſte
unter ihnen: ich muſte meinen Cupido mit Pfei-
len, mit Flammen, und der Teufel weiß womit noch
mehr bewafnen. Jch muſte die Schoͤnheit ſchaf-
fen, und ihr befehlen da zu ſeyn, wo ſie ſonſt nie-
mand finden konte. Wie oft war ich verlegen,
die Goͤttin zu finden, die meine Lieder anbeten
ſoll-
[327]der Clariſſa.
ſolten, wenn meine neu erſchaffene Goͤttin guͤtiger
gegen mich war, als ich mir in meinem Klage-Lie-
de, das an Felſen gerichtet ſeyn muß, mercken
laffen durfte.
Es war noch eine andere Art der Eitelkeit die
Urſache meiner Liebe. Jch fand, daß ich uͤberhaupt
bey dem Frauenzimmer wohl gelitten war: und
es kam mir vor, als ſey es eine artige Tyranney,
wie ſie ſonſt das Frauenzimmer uͤber uns zu uͤben
pflegt, wenn ich eine vor andern hervorzoͤge, um
zehn andere neidiſch und eiferſuͤchtig zu machen.
Jch kan dir ſagen, daß es nicht ohne Wuͤrckung
blieb: manches Auge habe ich mit eiferſuͤchtigen
Flammen gefuͤllet; manche Backen habe ich gefaͤr-
bet: manche Schoͤne ward von der andern mit
dem Fechtel geſchlagen: es folgte auch wohl eine
loſe und beiſſende Anmerckung, daß ſie mit einem
wilden jungen Menſchen allein geweſen war, weil
nicht beyde zugleich mit ihm allein ſeyn konten.
Mit einem Wort, mehr Hochmuth war es als
Liebe, was mich zwang eine ſo wunderliche Troſt-
Reiſe vorzunehmen, als ich die vornehme Betrie-
gerin verlohren geben muſte. Jch meynte, ſie
liebte mich zum wenigſten eben ſo ſehr als ich ſie
liebete: und ich war ſo von mir eingenommen, daß
ich meinte, ſie koͤnte mich nicht weniger lieben.
Meine Freunde waren mit meiner Wahl zufrie-
den: ſie wolten mich gern gefeſſelt ſehen. Denn ſie
traueten mir ſchon fruͤhzeitig in Abſicht auf das an-
dere Geſchlecht nicht viel gutes zu. Sie ſahen,
daß das tantzende, das ſingende, das muſicaliſche
X 4Frauen-
[328]Die Geſchichte
Frauenzimmer Vergnuͤgen an meiner Geſellſchaft
fand: denn wer tantzte, wer ſung, wer ſpielte beſ-
ſer als dein Freund? (Jch habe jetzt eben Luſt,
Wind zu machen.)
Jch kan kein ſolcher Heuchler ſeyn, daß ich
das an mir nicht erkennen ſolte, was ein jeder er-
kennet. Das iſt eine niedertraͤchtige Heucheley,
dadurch man Ruhm zu ſtehlen ſucht! Es iſt mir
veraͤchtlich, ſich das auf eine gezwungene Weiſe
abzuſprechen, was man beſitzt, und dem Lobe gleich-
ſam Netze zu ſtellen! Soll ſich aber meine Eitel-
keit blos bey den aͤuſſern Vorzuͤgen aufhalten? bey
der Geſtalt, bey der Freundlichkeit und Muth, ſo
das Geſicht verſpricht? Dieſe ſind es, die wir
uns ſelbſt geben und uns ſelbſt lehren Meines
Verſtandes wegen ruͤhme ich mich nicht. Viel-
leicht antworteſt du: ich haͤtte es auch richt Urſa-
che. Das kan wahr ſeyn: wenn ich aber auch
einige Vorzuͤge des Verſtandes haͤtte, ſo iſt das
nicht mein eigenes von mir erworbenes Gut.
Was iſt es aber anders, als ſich mit der Kraͤhe in
fremden Federn bruͤſten, wenn man uͤberdas ſtoltz
wird, davon uns der Misbrauch zugerechnet, der
rechte Gebrauch aber nicht als ein Verdienſt ange-
rechnet werden kan.
Allein um wieder auf meine ſchoͤne Betruͤgerin
zu kommen, ſo war es mir unertraͤglich, daß das
erſte Frauenzimmer, welches mich mit ſeidenen
Feſſeln gefeſſelt hatte, (nicht mit eiſernen, wie
meine jetzigen ſind) mir einen Cornet vorziehen
ſolte: und als der Vogel einmal weggeflogen
war,
[329]der Clariſſa.
war, hielt ich ihn theurer, als da ich ihn noch
in dem Bauer hatte, und ihn ſehen konte ſo oft
ich wollte.
Nun aber bin ich in der That verliebt. Jch
kan an ſonſt nichts dencken, als an meine goͤttliche
Clariſſa Harlowe. Harlowe! wie bleibt mir
das verhaßte Wort im Halſe ſtecken! Jch muß
ſie umtauffen, und ihr den Namen der Liebe
geben.(*)
Haͤtteſt du je gedacht, daß ich, der ich ſonſt
zum hoͤchſten glaubte daß meine Gegenliebe eben
ſo groß ſeyn koͤnte als die Liebe der Schoͤnen;
daß ich, der ich um dieſes goͤttlichen Kindes wil-
len mir es gar habe in den Sinn kommen laſſen,
das Leben in Feſſeln dem Leben der Ehre
vorzuziehen: daß ich auch dem Otway dieſe all-
zuzaͤrtlichen Zeilen jemals abborgen wuͤrde.
Jch muß mich ſelbſt ſchelten. Dryden ſchreibt:
Ein anders Feuer iſt die Lieb in andernSeelen:
Der
X 5
[330]Die GeſchichteDer laͤchelt bey dem Schmertz/ der raſ’tbey ihrem Quaͤlen.Jn einer ſanften Bruſt gleicht ihre ſtilleGluthDem Weyrauch des Altars darauf wirGoͤtter ehren.Ein brauſendes Gemuͤth/ ein Sturm-gebaͤhrend BlutFuͤhlt ſie den Flammen gleich/ die einenWald verzehren/Wenn aus dem heilgen Hayn ein Sturm-Wind Wuͤſten macht.Es traͤgt ſie der Orcan/ und zwiſchendicken EichenBrauſ’t eine See von Feur. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒So brauſt die Liebe auch in ſtuͤrmeriſcherBruſt/Mit Hochmuth ſteigt ſie auf/ mit Racheſchlaͤgt ſie Flammen:Der Leydenſchaften Wind blaͤßt in diewilde Luſt:Stoltz/ Frevel/ Eiferſucht ſtuͤrmt eineGluth zulammenDie keine Loͤſchung kennt/
Jch finde, daß ich die erſten Zeilen uͤberſchlagen
muß, und daß die letzten meiner ungeſtuͤmen Seele
aͤhnlicher ſind. Mit Rache ſchlaͤgt ſie Flam-
men: das ſoll bey mir wahr werden. Denn kanſt
du glauben, daß ich ſo viele Beſchimpfungen ver-
ſchmerzen wolte, wenn es nicht des wegen geſchaͤhe,
weil
[331]der Clariſſa.
weil ich hoffe, daß dieſe tumme Familie mit ver-
einigten Kraͤfften fuͤr mich arbeitet? Kanſt du dir
einbilden, daß ich mir ſo wollte trotzen und drohen
laſſen, und zwar von Leuten, die ſich fuͤrchten wann
ſie mich ſehen, und noch dazu von dieſem Vieh
vom Bruder, dem ich das Leben ſchenckte, weil es
nicht ſo viel werth war, daß ich es ihm ohne meinen
Schimpf haͤtte nehmen koͤnnen; weñ nicht daduꝛch
mein Hochmuth gekitzelt wuͤrde, daß ich ihn durch
ſeinen eigenen Spion brauchen kan, wozu ich will,
daß ich ſeine Leidenſchaften anfeuren und abkuͤhlen
kan, wie es zu meinem Endzweck erfodert wird,
indem ich ſeinem zweymal-beſtochenen Vertrau-
ten erlaube, ſo viel Boͤſes von mir zu ſagen, daß
er ſich bey ihm voͤllig einſchmeichelt, damit ich Ge-
legenheit bekomme den uͤberklugen Schelm nach
meiner Pfeiffe tantzend zu machen?
Dieſes macht, daß der Hochmuth bey mir die
Rachgier uͤberwieget. Durch dieſe Machine, die
ich oft genug ſchmiere, damit ſie im Stande bleibt,
kan ich die Marionetten in Bewegung ſetzen.
Der alte Schiff-Knecht der Onckle, iſt blos mein
Abgeſandter an die Koͤnigin Annabella Howe,
durch den ich ſie bewege, daß ſie nm ihrer Prin-
zeßin Tochter ein gutes Exempel zu geben es mit
der Harlowiſchen Familie haͤlt, und die Rechte
mit verfechten hilft, ohne die ich, (ſie moͤgen
Recht oder Unrecht ſeyn) nichts ausrichten koͤnte.
Du fragſt, was meine Abſichten hiebey ſind?
‒‒‒ Daß meine Geliebte ſonſt keinen Schutz als
bey meiner Familie finden moͤge! denn wenn ich
ihre
[332]Die Geſchichte
ihre Familie kenne, ſo muß ſie entweder fliehen,
oder den Mann nehmen, den ſie haſſet. Dieſes
wird ſie zu der meinigen machen, ihrer gantzen Fa-
milie und ihrem eigenen unbeweglichen Hertzen
zum Trotz, wenn ich nur meine Anſtalten recht ma-
che, und mir die Meinigen in den Stuͤcken zu Huͤl-
fe kommen, darin es noͤthig iſt. Sie muß ohne
Bedingung die Meinige werden, ohne daß ich
Beſſerung verſpreche, vielleicht auch ohne daß ich
noͤthig habe, ſie lange zu belagern. Sie ſoll noch
zur Heuchlerin werden, und ſich ſtellen als wenn
ſie zweifelte, daß ſie meiner werth waͤre; und noch
ungewiß ſeyn, ob ‒ ‒ denn ſoll die gantze ſchelmi-
ſche Familie mir zu Fuͤſſen fallen: ich will ihnen
gebieteriſch vorſchreiben, und ihr ſchmutziger vor-
nehmer Bruder ſoll noch auf dem Fuß-Schemel
meines Throns knien.
Alle meine Furcht entſtehet daher, daß ich nur
noch ſo wenig Antheil an dem Herzen dieſer unver-
gleichlichen froſtigen Schoͤnheit erlanget habe.
So roth gefaͤrbte, ſo artige Geſichts-Zuͤge! ſo helle
Augen! ſo ausnehmend ſchoͤn gebildete Glieder! ei-
ne ſo bluͤhende Geſundheit und Jugend! ein ſo be-
lebter Blick! und dennoch ein ſo verwahrtes und
unuͤberwindliches Hertz! Wie iſt das moͤglich?
ſonderlich da ich dieſes Herz zu erobern ſuche, der ich
ſonſt immer ſo gluͤcklich geweſen bin. Warlich es
giebt Leute, und ich ſelbſt habe einige davon geſpro-
chen, die ſich erinnern koͤnnen, daß dieſe Goͤttin
gebohren iſt: ihre Frau Norton! ruͤhmt ſich
noch, ſie in der erſten Kindheit gewartet und nach-
her
[333]der Clariſſa.
her erzogen zu haben. Es kan alſo durch glaub-
wuͤrdige Zeugen bewieſen werden, daß ſie nicht
vom Himmel kam, und nicht gleich ein Engel ge-
weſen iſt. Wie kommt es denn, daß ſie ſo un-
uͤberwindlich, ſo unerforſchlich iſt?
Hier ſteckt der Jrrthum, den ſie ſich nicht will be-
nehmen laſſen. Sie glaubt, daß der Menſch, den
ſie ihren Vater nennet, (an der Mutter waͤre nichts
auszuſetzen, wenn ſie ihn nicht genommen haͤtte,)
daß die Leute, die ſie Onckels nennet, daß der Kerl,
den ſie ihren Bruder nennet, daß das arme veraͤcht-
liche Gemaͤchte, das ſie ihre Schweſter nennet, in
der That ihr Vater, ihre Onckels, ihr Bruder und
ihre Schweſter ſind, und daß ſie ihnen Gehorſam,
Ehrerbietung oder Liebe ſchuldig iſt, ſie moͤgen auch
mit ihr umgehen, wie ſie wollen. Poͤbelhafte Ban-
de! Lauter Aberglauben, der ſich noch von der Wie-
ge herſchreibet! Denn wenn nicht die Natur ihr
dieſe Anverwandten zur ungluͤcklichen Stunde ge-
geben haͤtte, oder wenn ſie ſelbſt ihre Freunde haͤtte
waͤhlen koͤnnen, ſo frage ich dich, ob wohl einer von
dieſen Leuten mit ihr verwandt ſeyn wuͤrde?
Wie empoͤret ſich mein Hertz, wenn ich daran
dencke, daß ſie ſolche Leute mir vorziehen kan, ſon-
derlich nachdem ſie weiß, daß mir von ihnen
Unrecht geſchehen iſt! Sie weiß, daß eine ſolche
Verbindung eine Ehre fuͤr die gantze Familie ſeyn
muͤſte, ſich ſelbſt allein ausgenommen: denn ihr
iſt jedermann Verehrung ſchuldig, und ein fuͤrſt-
liches Geſchlecht wuͤrde durch ſie geehret werden.
Und wie ſehr wird ſich mein Hertz empoͤren, wenn
ich
[334]Die Geſchichte
ich finde, daß ſie nur einen Augenblick zweifelhaft
iſt, (wie ſehr man auch immer mit Zwangs-Mit-
teln, in ſie dringet) ob ſie mich dem vorziehen will,
von dem ſie nicht leugnet, daß ſie ihn haſſet! Doch
nein! ſie kan ohnmoͤglich ſo niedertraͤchtig han-
deln, und die Freundſchaft der Jhrigen ſo theuer
erkauffen. Sie kan ohnmoͤglich eine Handlung
vornehmen, dadurch boshafte Anſchlaͤge gerecht-
fertiget werden: Anſchlaͤge, die der Eigennutz auf
ihre Unkoſten gemacht hat, den ſie doch an andern
verachtet, und mich hier verachten muß, damit
man ſie nicht fuͤr eine Harlowe halten moͤge.
Aus dieſem Geſchmier ohne Zuſammenhang
wirſt du leicht mercken, daß ich noch ſo bald nicht
kommen werde. Denn ich muß erſt eine Verſiche-
rung von meiner Geliebten haben, daß ich nicht
einem ſolchen Kerl, als Solmes iſt, aufgeopfert
werden ſoll. Wehe dem artigen Kinde, wenn es
je gezwungen wird, ſich unter meine Herrſchaft zu
begeben, (denn daß ſie es willig thun werde hoffe
ich nicht einmal) und ſie alsdenn noch eine
Schwierigkeit macht, mich deshalb auſſer Zwei-
fel zu ſtellen.
Meine Ketten werden mir dadurch empfindli-
cher, weil ich nicht ſehe, daß ihre Kaltſinnigkeit ge-
gen mich daher ruͤhret, daß ſie irgend einen andern
vorzuͤglich liebet. Allein nim̃ dich in Acht, unver-
gleichliches Kind, nim̃ dich in Acht, du edelſtes Ge-
muͤth, das ich bisher bey einem Frauenzimmer ge-
funden habe. Wie erniedrigeſt du dich, daß du es
deinen Verwanten erlaubeſt, aus Haß und Bosheit
gegen
[335]der Clariſſa.
gegen mich einen ſolchen Mit-Buhler aufzuſtel-
len. Du wirſt ſagen, daß ich unſinnig bin. Jch
glaube es ſelbſt.
Jch will verdammet ſeyn/ wenn ich
mein Kind nicht liebe.
Wie koͤnte ich ſonſt die Beſchimpfungen ihrer
unverſoͤhnlichen Familie ertragen? Wie koͤnte ich
ſonſt als ein Dieb, nicht um ihres hochmuͤthigen
Vaters Haus, nein um ſeinen Thier-Garten und
Garten-Mauer herumſchleichen? und doch noch
eine halbe Viertel-Stunde von ihr entfernt ſeyn,
ohne Hoffnung nur ihren Schatten zu erblicken?
Wie koͤnte ich ſonſt ſo vergnuͤgt ſeyn, und mei-
ne Muͤhe fuͤr reichlich belohnt halten, wenn ich vier
fuͤnf oder ſechs Mitternaͤchte durch unwegſame Ge-
genden herumgeſtreift bin, und Donen und Hecken
uͤberſtiegen habe, und endlich einige kalte Zeilen
finde? Zeilen deren Jnhalt ich ſchon zum voraus
weiß, nemlich, daß ſie den veraͤchtlichſten Ab-
ſchaum ihrer veraͤchtlichen Famile hoͤher ſchaͤtzt als
mich, und gar nicht ſchreiben wuͤrde, wenn es
nicht geſchaͤhe, um mich zu ermahnen, daß ich
feindſeelige Beſchimpfungen erdulden ſoll, durch
deren Erduldung ich aufhoͤre ein Kerl zu ſeyn.
Dabey muß ich, um in der Naͤhe zu ſeyn, in ei-
ner verwuͤnſchten Bierſchencke wohnen, und mich
ſo auskleiden, daß die Nachbarn glauben, ich haͤtte
mich ordentlich da eingemiethet. Die Bewirthung
iſt ohngefaͤhr ſo gut, als ich ſie auf meiner Reiſe
durch Weſtphalen genoſſen habe. Das beſte iſt
noch, daß nicht ihre Verachtung oder Herrſchſucht
ſon-
[336]Die Geſchichte
ſondern ein Zwang der ſie ſelbſt druͤcket mich hie-
zu zwinget.
Welcher Ritter muß in der Romaine mehr aus-
ſtehen? Das nehme ich aus, wenn ihm der
herrſchſuͤchtige Muthwille befiehlt mit Rieſen oder
mit Drachen zu kaͤmpfen! Guͤter, und Geſchlecht,
und Stand, und Ehre die kuͤnftig auf mich erbet,
habe ich auf meiner Seite: und ſoll ſo einen Mit-
Buhler haben? Muß ich nicht ein verdorbener
Liebes-Kruͤppel ſeyn, daß ich ſolche Schwierigkei-
ten finde, und ſolche Verachtung erdulden muß?
Bey meiner Seele, ich ſchaͤme mich vor mir ſelbſt:
ich der ich meineydig bin, und ein aͤlteres Geluͤbde
breche, wenn ich einem Frauenzimmer meine Ge-
luͤbde halte!
Allein wie kan ich ſagen, daß ich mich ſchaͤme?
Jſt es nicht eine Ehre, dieſes Wunder zu lieben,
gegen das ein jeder der es ſiehet, entweder Liebe,
oder Ehrfurcht, oder beydes zugleich empfinden
muß? Dryden ſagt:
Man kan den aͤchten Grund der Liebe
niemals zeigen.
Das Liebenswuͤrdige iſt nicht der Zuͤgen
eigen
Die man bewundert. Nein! nur der ver-
liebten Hertz
Schafft ihren Grund aus nichts.
Cowley haͤlt die Schoͤnheit fuͤr ein Hirn-Ge-
ſpenſt, und unterſteht ſich ſie alſo anzureden:
O
[337]der Clariſſa.
O Schoͤnheit/ Affe aller Thoren/Die du die Mode traͤgſt/ ſo ein Phan-taſt erdacht/Und jede Kleidung waͤhlſt/ die jedesLand erkohren;Hier weiß als wie der Tag/dort ſchwartzals wie die Nacht;Bald ſcheckigt/und bald braun/hier gelb,und da mit FarbenGeſchminckt/ hier glatt und weich/ dortvoll gemahlter Narben;Du Schmeichlerin/ die blos auf unſerUrtheil ſchielt/Du fluͤchtig Nichts/ das niemand fuͤhlt.
Haͤtten aber beyde in unſerer Zeit gelebt, und mei-
ne Clariſſa geſehen, ſo wuͤrden ſie ihren Jrrthum
geſtanden haben. Geſtalt, Gemuͤth, Auffuͤhrung,
alles zuſam̃en genom̃en, wuͤrden ſie gezwungen ha-
ben, dem allgemeinen Urtheil der Welt beyzutreten.
Wie manche Schoͤne hab’ ich nichtEntzuͤcket angeſtarrt! wenn Doris rei-tzend ſpricht,Wenn Liebe/Ton und Kunſt ihr Wortzum Liede machen/So feſſelte ſie oft mein aufmerckſamesOhr/Daß ich bey ihrem Schertz/ bey deingewuͤrtzten Lachen/Der Arbeit und des Ernſtes Zeit verlohr.Wie mancher Vorzug ſchoͤner Kinder/Hat mir vorhin mein Hertz entwandt:Bey jeder/ die ich recht gekannt.
Erſter Theil. YVer-
[338]Die GeſchichteVerlarvte doch die Tugend nur denSuͤnder:Und was die WeltUntadlich nennt/ wird doch durch ei-nen Fleck verſtellt.An ihr/ an ihr/ dem Wunder der Natur/Dem edelſten geſchaffner Dinge/Durch das ich mich entfuͤhrt zum Him-mel aufwaͤrts ſchwinge/Entdeckt man keines Fehlers Spur:Jn ihrer Art ſteht ſie nur eintzeln da.
Du fragſt mich, ob ich nicht bald ein neues Spiel
anfangen will? und ob ſich ein ſo allgemeiner Lieb-
haber ſo lange mit einer begnuͤgen laſſen kan? ‒ ‒ ‒
Du muſt dieſe angenehme Schoͤne nicht kennen,
daß du mir eine ſolche Frage vorlegen kanſt: oder
du muſt dir einbilden, mich beſſer zu kennen als
du mich in der That kenneſt. Alles was man ſich
bey dem andern Geſchlecht vortrefliches vorſtellen
kan.
Jch kan an keine andere gedencken, ehe ich nicht
durch den vertraulichen Umgang des Ehe-Bettes,
oder durch einen Umgang der mich eben ſo genau
mit ihr bekannt macht, ausgefunden habe, daß ſie
nicht voͤllig ein Engel ſey. Ueber dieſes findet ein
ſolches Gemuͤth, als das meiuige iſt, bey dieſem
Liebes-
[339]der Clariſſa.
Liebes-Handel noch auſſer der Liebe ſo viel reitzen-
des. Welch ein weites Feld fuͤr Erfindungen, fuͤr
Kunſt-Stuͤcke, fuͤr alles was man unter dem
Wort Intrigue verſtehet, (und du weiſſeſt, daß ich
mich in dieſes Wort verliebt habe) habe ich vor
mir? Dencke an das Ende, das meine Arbeit be-
lohnen ſoll; mit einem ſolchen Maͤdchen davon zu
gehen! alle ihre wachſamen und unverſoͤhnlichen
Anverwandten blind zu machen! und dabey einen
ſolchen Verſtand, als ich noch bey keinem Frauen-
zimmer gefunden habe, zu uͤberliſtigen! Was iſt
das fuͤr ein Sieg! Was fuͤr ein Sieg uͤber das
gantze Geſchlecht! Endlich eine ſolche Ragier zu
kuͤhlen, die ich jetzt nur aus Abſichten verbergen
muß, damit ſie dereinſt deſto heftiger ausbrechen
koͤnne! Kanſt du glauben, daß es moͤglich iſt, daß
ein Gedancke bey mir aufſteiget, der nicht auf ſie
gerichtet und ihr nicht ergeben iſt?
Den Augenblick bekomme ich Nachrichten, die
deine Gegenwart noͤthig zu machen ſcheinen. Hal-
te dich fertig, auf meinen erſten Befehl dich einzu-
ſtellen.
Belton/Mowbray und Tourville moͤgen
ſich auch in Bereitſchaft ſetzen. Jch habe groſſe
Luſt, ein Stuͤck zu erdencken, den jungen Jacob
Harlowe auf Reiſen zu ſchicken, daß er beſſere
Sitten lernt: niemals hat es ein ungezogener
Dorff-Juncker noͤthiger gehabt. Zu erdencken/
ſage ich? Es iſt ſchon erdacht, es iſt ſchon fertig:
wenn ich es nur in das Werck richten koͤnte, ohne
Y 2daß
[340]Die Geſchichte
daß der Argwohn auf mich fiele. Das iſt aber
mein veſter Entſchluß: Kan ich ſeine Schweſter
nicht haben, ſo will ich ihn haben.
Doch dieſes ausgeſetzte ſo ſcheint jetzt die be-
ſte Gelegenheit zu ſeyn, etwas recht ruͤhmwuͤr-
diges Boͤſes vorzunehmen. Vor einiger Zeit
ward eine Bande gegen mich gemacht: von nun
an werden die Onckles und der Bruder ſtets zwey
Bedienten um ſich haben, anſtatt daß ſie vorhin
Einen hatten; und dieſe Bedienten ſollen doppelt
bewafnet ſeyn wenn ihre Herren den Fuß aus dem
Hauſe ſetzen. Dis iſt ein Zeichen ihrer unver-
ſoͤhnlichen Feindſchaft gegen mich, und ihrer un-
zertrennlichen Freundſchaft mit Solmes.
Der widerholte Befehl, dieſe kriegeriſche Ruͤ-
ſtung anzulegen, iſt dem zuzuſchreiben, daß ich ge-
ſtern, in ihrer Kirche geweſen bin: einem Orte, der
ſich am beſten ſchickte, den Anfang zur Ausſoͤhnung
zu machen, wenn die Leute Chriſten waͤren, und
bey ihrem Gebet einige Gedancken haͤtten. Jch
hoffete, daß man mich erſuchen oder mir zum we-
nigſten erlauben wuͤrde, den alten muͤrriſchen Jun-
cker nach Hauſe zu begleiten, damit ich meine
Goͤttin einmal zu ſehen bekommen moͤchte: denn
ich dachte, man wuͤrde ſich nicht unterſtehen, gegen
mich unhoͤflich zu ſeyn. Allein es ſchien, daß ſie
alle ſo bald ich in die Kirche trat mit Schrecken er-
fuͤllet wurden, und ſie konten dieſes Schrecken we-
der uͤberwinden noch verbergen. Jn ihrem Geſichte
konte ich leſen, daß ſie einen traurigen Ausgang er-
warteten: und der ſolte auch gewiß erfolget ſeyn,
wenn
[341]der Clariſſa.
wenn ich nur von der Gewogenheit der Tochter
einiger maſſen verſichert geweſen waͤre. Und
doch verlange ich kein Haar auf ihren tummen
Koͤpfen zu kruͤmmen.
Jhr alle ſolt euren Befehl ſchrifftlich erhalten,
wenn ich euch noͤthig habe. Es wird aber kaum
mehr noͤthig ſeyn, als daß ihr eur Geſicht in mei-
ner Geſellſchaft zeiget. Vier Kerls, die ſo ausſe-
hen, hat noch niemand beyſam̃en gehabt: Mow-
bray ſo brav und ſo kriegeriſch: Belton ſo dreiſte
und ſo finnicht: Tourville ſo huͤbſch und ſo kin-
diſch: und du ſo rauh und wild, und dem erſten
Anblick nach ein Wagehals. Wenn ich eur An-
fuͤhrer bin, wer wird nicht vor uns erzittern, wenn
er auch gleich auf Feindſeligkeiten ausgehet?
Was fuͤr ein Hertz muͤſte der haben? ſonderlich
wenn jeder unter uns einen oder ein Paar Be-
dienten bey ſich hat, die er vor vielen Jahren we-
gen ihrer Gleichheit mit ihm gewaͤhlt hat?
Jch habe denn geſchrieben, weil du es haben
wolteſt: von Etwas und voͤn Nichts/ von dem
Dinge und Undinge; von Rache die ich liebe,
von Liebe die ich haſſe, weil ſie uͤber mich herr-
ſchet, und der Teufel weiß wovon ſonſt noch:
denn wenn ich meinen Brief durchblaͤttere muß ich
mich wundern, daß er ſo lang gerathen iſt. Du
magſt ihn durchleſen: ich moͤchte es nicht thun
wenn ich einen guͤldenen Berg verdienen koͤnte.
Allein du haſt verſprochen zufrieden zu ſeyn, wenn
ich nur ſchreibe, es mag auch ſo liederlich ge-
ſchrieben ſeyn als es will.
Y 3So
[342]Die Geſchichte
So laß dir es denn gefallen zu leſen. Dis iſt
mein Befehl: nicht um des ſchreibenden, nicht um
des geſchriebenen willen, ſondern um dein Wort
zu halten. Mit Koͤniglich-grosmuͤthiger Gnade
(denn bin ich nicht in der groſſen Sache, die wir
ausfuͤhren wollen, eur Koͤnig oder Kayſer?) bleibe
ich dir gewogen, und wuͤnſche dir von Hertzen
Lebe wohl.
Der zwey und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe/
Jch uͤberſchicke Jhnen die Abſchrifft meiner
Briefe an meine Onckles/ nebſt ihrer Ant-
wort. Die letzten bitte ich mir das naͤchſte mahl
wider zuruͤck zu ſchicken. Anmerckungen moͤgen
Sie ſelbſt daruͤber machen: ich will keine machen.
Erlauben Sie mir, mein zweyter Vater, (ein
Name, den Sie mich in meinen begluͤckten Um-
ſtaͤnden ſelbſt gelehrt haben) erlauben Sie mir,
Sie um Jhre Vorſprache bey meinem Vater an-
zuflehen, daß er einen Befehl aufheben moͤge, der
mir alle freye Wahl raubet, und mich auf meine
Lebens-Zeit ungluͤcklich macht.
Jch
[343]der Clariſſa.
Jch ſage nochmals: auf meine Lebens-Zeit.
Jſt das eine Kleinigkeit, darin ich etwan nach-
geben kan? Soll ich nicht meine Lebens-Zeit mit
dem Menſchen zubringen? Will es ein anderer an
meiner Stelle thun! Jſt es denn unbillig, wenn
ich ein Wort dazu ſagen will, ob ich mit ihm ver-
gnuͤgt leben kan oder nicht?
Wenn ich bey ihm misvergnuͤgt bin, kan ich
es wol jemand klagen, ohne unverſtaͤndig zu han-
deln? Und bey wem wuͤrde ich gegen einen Mann
Huͤlfe ſuchen koͤnnen, ohne mich ſelbſt tiefer in das
Ungluͤck zu ſtuͤrtzen? Wuͤrde nicht die unuͤberwind-
liche Abneigung, die ich bisher gegen ihn oͤffentlich
bezeuget habe, alle Haͤrte rechtfertigen, mit der er
mir begegnen koͤnte, ſo bald ich die ſeinige waͤre,
wenn ich mich ihm gleich zu Fuͤſſen wuͤrfe. Und
ſolte ich je die ſeinige werden, ſo muͤſte es gewiß
aus Furcht und nicht aus Liebe geſchehen.
Jch widerhole es nochmals: es iſt dis nicht
eine Kleinigkeit, darin ich nachgeben kan. Es
betrifft meine gantze Lebens-Zeit. Warum ſoll ich
mein gantzes Leben ungluͤcklich zubringen? War-
um ſoll ich alles Troſtes beraubt werden, den ein-
tzigen ausgenommen, den mir die Hoffnung ge-
ben wuͤrde, daß mein elendes Leben nicht lange
waͤhren koͤnte?
Der Eheſtand iſt ein ſo heiliges, ein ſo unwie-
derrufliches Buͤndniß, daß einer jungen Perſon mit
Recht eine Furcht ankommen muß, wenn ſie auch
bey beſſerer Hoffnung ernſthaft daran gedencket.
Das Eigenthum eines Fremden werden: in eine
frem-
[344]Die Geſchichte
fremde Familie eingepfropft werden: den Namen
ſogar veraͤndern, und dadurch ein Zeugniß ablegen,
daß ſie das vollkommene Eigenthum des Mannes
ſey: dieſem fremden Vater, Mutter und jedermañ,
wie er Namen haben mag, vorziehen muͤſſen: ſich
bequemen, ſeine Grillen ihren eigenen Einſichten
vorzuziehen, oder mit ihm in beſtaͤndigem Zanck
leben, ſo oft ſie handeln will, als haͤtte ſie einen
freyen Willen, und dabey den Vorwurf hoͤren,
daß ſie ein vor dem Altar-gethanes Geluͤbde breche:
an keinen Ort ohne ſeinen Willen gehen: keine
Bekandtſchaft machen, und die aͤlteſte und beſte
Freundſchaft aufgeben, wie er es haben will, es
mag ihr vernuͤnftig oder unvernuͤnftig vorkom-
men: das ſind in der That harte Forderungen.
Jſt es billig, daß ein Frauenzimmer dergleichen
Bedingungen einem andern zu Liebe eingehet, als
dem ſie ſelbſt ihr williges Ja-Wort giebt? Wenn
Sie das billig nennen koͤnnen, wie ungluͤcklich iſt
denn eine ſolche Perſon? wie muͤhſelig muß ihr
Leben ſeyn, wenn es anders noch des Namens des
Lebens werth iſt?
Jch wuͤnſchte, daß ich Jhnen insgeſamt ge-
horchen koͤnte. Wie vergnuͤgt wuͤrde ich daruͤber
ſeyn! Einer von meinen beſten Freunden gab die
Regel: erſt zu Heyrathen: die Liebe wuͤrde
ſich hernach ſchon finden. Ein fuͤrchterlicher
und widerſinniſcher Rath! Wo anfaͤnglich noch
ſo viel Liebe und Zaͤrtlichkeit iſt, koͤnnen tauſend
Dinge dazwiſchen kommen, die dieſen Stand ſo
beſchwerlich machen, daß es kaum zu ertragen iſt.
Allein
[345]Der Clariſſa.
Allein wie unertraͤglich muß er ſeyn, wenn der
Mann nicht glauben darf, daß ihn die Frau liebe,
ſondern gar Urſache hat das Gegentheil zu glau-
ben, weill ſie ihm einen andern Freyer vorgezogen
haben wuͤrde, wenn ſie ſelbſt haͤtte waͤhlen duͤrfen.
Was fuͤr Zweifel, was fuͤr Verdacht, was fuͤr
vorgefaſte Meynungen muͤſſen den Eheſtand un-
gluͤcklich machen, der alſo angefangen wird? Wie
uͤbel wird jeder Blick, jede noch ſo unſchuldige
Handlung gedeutet werden? Und durch alles die-
ſes wird der andere Theil noch kaltſinniger wer-
den, und es ſich weniger angelegen ſeyn laſſen,
ſich gefaͤllig zu erzeigen. Nichts als die Furcht
wird verhuͤten, daß nicht aller aͤuſſerlicher Wohl-
ſtand, der billig eine Frucht der Liebe ſeyn ſolte,
aus den Augen geſetzt wird.
Ueberlegen Sie dieſes ernſtlich, mein lieber On-
ckle, und ſtellen Sie es meinem Vater ſo nach-
druͤcklich vor, als die Sache es erfodert: ſo nach-
druͤcklich als es ſich fuͤr ein Frauenzimmer von mei-
nen Jahren, und das ſo wenig Erfahrung hat,
nicht ſchickt, es vorzuſtellen. Wenden Sie alle
Kraͤfte an, Jhre arme Baſe zu retten, damit ſie
nicht ein ſo langes und anhaltendes Elend zu er-
tragen gezwungen werde.
Jch habe mich erboten, zu verſprechen, daß ich
gantz und gar nicht heyrathen will, wenn man
mir nur dieſe Freyheit zugeſtehet. Wie ſchimpflich
iſt es fuͤr mich, von aller Geſellſchaft ausgeſchloſ-
ſen, und von meinen Eltern verbannet zu ſeyn,
und von Jhnen und meinem andern lieben Onckle
Y 5ſo
[346]Die Geſchichte
ſo geringſchaͤtzig gehalten zu werden? ja ſo gar
von dem oͤffentlichen Gottes-Dienſt abgeſondert
zu werden, der doch ein Mittel meiner Beſſerung
ſeyn wuͤrde, wenn ich bisher meine Pflicht ver-
geſſen haͤtte? koͤnnen Sie glauben, daß dieſes die
Mittel ſind, ein freyes und erhabenes Hertz zu
lencken? Muß ich nicht hiedurch mehr verhaͤrtet
als uͤberzeuget werden? Es iſt mir unertraͤglich,
unter ſolchen Beſchimpfungen zu leben, da ſelbſt
die Bedienten, denen ich noch vor kurtzen zu befeh-
len hatte, ſich kaum unterſtehen mit mir zu reden,
da mein eigenes Cammer-Maͤdchen mit Unwillen
und wegen allerhand verſteckter und zweydeutiger
Beſchuldigungen aus dem Hauſe geſchaft, und
meiner Schweſter Cammer-Maͤdchen an ihrer
Stelle uͤber mich geſetzt iſt.
Die Sache kan zu weit getrieben werden: und
es kan noch allen die Reue ankommen, daß ſie
mit dazu geholfen haben.
Jſt es mir erlaubt, einen Vorſchlag zu thun?
‒ ‒ Geſetzt, ich ſoll bewacht, eingeſperret, verbannet
ſeyn; koͤnte nicht alles dieſes lieber in Jhrem Hau-
ſe geſchehen? Alsdenn wuͤrden ſich die Adelichen in
der Nachbarſchaft weniger verwundern, daß eine
Perſon, von der ſie ſonſt ſo guͤtige Gedancken
hatten, nicht in der Kirche erſcheinet, und keinen
Beſuch annimt.
Jch hoffe, daß hiergegen keine Enwendung ge-
macht werden kan. Als ich noch gluͤcklich war
pflegten Sie mich gern in ihren Hauſe zu bewir-
then. Wollen Sie mir nicht in meinem Ungluͤck
in eben dieſem Hauſe eine Zuflucht verſtatten, bis
die
[347]der Clariſſa.
die ſchwartze Wolcke voruͤber gehet? Jch will
nicht uͤber die Schwelle treten, wenn Sie es
mir verbieten; ich will niemand ohne Jhrer Er-
laubniß ſprechen; wenn Sie mir nur zuſagen,
daß Sie Herrn Solmes nicht erlauben wollen,
mich in Jhr Haus zu verfolgen.
Wuͤrcken Sie mir nur dieſe Wohlthat aus,
wenn es unmoͤglich iſt, etwas mehreres, nemlich
eine voͤllige Ausſoͤhnung zu erhalten. Jch gebe
indeſſen dieſe Hoffnung noch nicht verlohren,
wenn Sie ein Vorwort fuͤr mich einlegen wollen.
Hiedurch werden Sie die Wohlthat und die Guͤ-
tigkeit ungemein erhoͤhen, dadurch Sie ſich bis-
her verpflichtet haben, und alsdenn unendlich ver-
pflichten werden,
Jhre gehorſamſte und ergebenſte Baſe
Cl. Harlowe.
Liebſte Fraͤulein Baſe/
Es thut mir leid, daß ich Jhnen eine Bitte ab-
ſchlagen muß. Es muß aber geſchehen: denn
Sie duͤrfen nicht erwarten, daß Sie und wir in
eben dem Verhaͤltniß gegen einander ſtehen wer-
den, darin wir bisher geſtanden haben, wenn Sie
ſich nicht entſchlieſſen, uns in einer Sache gefaͤllig
zu ſeyn, die wir ſchon auf unſere Ehre verſprochen
haben, ehe wir uns eines ſo eigenſinnigen Wider-
ſpruchs vermuthen ſeyn konten.
Kurtz wir halten jetzt alle veſt zuſammen, und
ſind ein Phalanx in Schlacht-Ordmmg. Sie
ſind
[348]Die Geſchichte
ſind ſo beleſen, daß Sie alles verſtehen und
wiſſen, das eintzige ausgenommen, was ſie bil-
lig wiſſen ſolten. Sie werden folglich aus mei-
nem Ausdruck leicht mercken, daß Sie uns durch
Ueberredungen, durch Bitten, und Widerſpaͤn-
ſtigkeit nicht von einander trennen koͤnnen. Wir
haben uns entſchloſſen, daß wir entweder alle
wollen beweglich ſeyn, oder daß es keiner ſeyn
ſoll, einer wird ohne den andern nicht nachge-
ben. Sie wiſſen Jhr Schickſaal, und es iſt
weiter nichts uͤbrig, als daß Sie ſich darunter
bequemen.
Sie muͤſſen wiſſen, daß der Gehorſam alsdenn
keine Tugend iſt, wenn man Gefaͤlligkeiten durch
Gefaͤlligkeiten erkauft. Wenn Sie aber Jhre
Neigung verleugnen, ſo iſt dieſes ein gefaͤlliger
Gehorſam, der unſern Danck verdienet.
Was Jhren Vorſchlag anbetrift, ſo muß ich
Jhnen melden, daß Sie nicht in mein Haus kom-
men koͤnnen, obgleich dieſes eine Bitte iſt, von der
ich nie gedacht haͤtte, daß ich Sie Jhnen wuͤrde
abſchlagen muͤſſen. Denn wenn Sie auch Jhr
Wort hielten, niemand ohne unſere Bewilligung
zu ſprechen, ſo koͤnten Sie doch an jemand ſchrei-
ben, und von ihm Briefe empfangen. Man
weiß allzuwohl, daß Sie das thun koͤnnen, und
daß auch das wircklich geſchehen iſt, was moͤg-
lich war. Deſſen ſchaͤmen wir uns, und betruͤ-
ben uns daruͤber.
Sie erbiethen ſich unverheyrathet zu bleiben.
Wir aber wuͤnſchen Sie verheyrathet zu ſehen.
Weil
[349]der Clariſſa.
Weil Sie aber den Menſchen nicht kriegen koͤn-
nen, der Jhr Hertz eingenommen hat, ſo glaube
ich wohl, daß Sie den auch nicht haben wollen,
den wir Jhnen vorſchlagen. Wir wiſſen, daß Sie
mit ihm auf eine oder die andere Art Briefe wech-
ſeln, oder wenigſtens gewechſelt haben, ſo lange
Sie es thun konten: er trotzt uns, und das wuͤr-
de er nicht thun, wenn er nicht zu unſerm groſſen
Verdruß Jhrer Zuneigung verſichert zu ſeyn
glaubte: wir wollen ihm deswegen ſeine Hoff-
nung zu Schanden machen, und lieber uͤber ihn
triumphiren, als daß er uͤber uns ein Sieges-Lied
ſingen ſolte. Das ſage ich Jhnen ein fuͤr allemal.
Erwarten Sie demnach nicht, daß ich Jhr Fuͤr-
ſprecher werde. Jch werde es nicht thun, das iſt
genug geſchrieben von
Jhrem unwilligen Onckle/
Johann Harlowe.
P. S. Jch beziehe mich auf meines Bruders Brief.
Hochgeehrteſter Onckle/
Da Sie Herrn Solmes gewuͤrdiget haben,
ihn mir auf eine ſo beſondere und nachdruͤckliche
Art anzupreiſen, und Jhn ſogar unter die Zahl Jh-
rer auserleſenſten Freunde zu rechnen, fuͤr den Sie
gleichfals von mir Freundſchaft und Zuneigung
erwarten: ſo muß ich Sie um Gedult bitten,
wenn
[350]Die Geſchichte
wenn ich mich unterſtehe unter vielen Dingen, die
ich gegen ihn einzuwenden habe, einige wenige
auszuſuchen, und ſie Jhnen zu ernſtlicher Ueberle-
gung anheim zu geben, nachdem er mich durch
ſeine Anwerbung (wenu ich ja das Wort ge-
brauchen ſoll) hiezu zwinget.
Man beſchuldiget mich, daß ich von einem an-
dern eingenommen bin. Jch bitte, erinnern Sie
ſich doch, daß dieſem andern vor [meines] Bruders
Zuruͤckku [...]s Schottland Hoffnung gegeben,
und mir i [...]ringſten nicht verboten ward, ſeinen
Beſuch anzunehmen. Jſt es mir denn ſo ſehr zu
verdencken, wenn ich einen Freund, den ich ein
Jahr gekannt habe, einer vor zwey Monathen er-
langten Bekanntſchaft vorziehe? Jch will nicht
hoffen, daß jemand iſt, der unter beyden in Abſicht
auf das Herkommen, Erziehung, oder perſoͤnli-
che Eigenſchaften eine Vergleichung fuͤr moͤglich
haͤlt. Jch will mich blos unterſtehen Sie zu ſra-
gen, ob jemals an den andern gedacht ſeyn wuͤr-
de, wenn er ſich nicht zu ſolchen Bedingungen er-
boten haͤtte, die ich auf beyden Seiten fuͤr unrecht-
maͤßig halte, auf ſeiner ſie anzutragen, und auf
meiner ſie anzunehmen, und von denen ich gewiß
glaube, daß ſich mein Vater nie wuͤrde unterſtan-
den haben, ſie von ihm zu begehren, wenn er ſie
nicht ſelbſt zuerſt auf die Bahn gebracht haͤtte!
Es ſcheint, man wirft dem einen Fehler vor.
Jſt aber der andere frey von Fehlern? Die Haupt-
Beſchuldigung gegen Herrn Lovelace iſt eine la-
ſterhafte Liebe, und es iſt wahr, es iſt dieſes eine
ſehr
[351]der Clariſſa.
ſehr groſſe Beſchuldigung: allein iſt nicht bey dem
andern ein eben ſo laſterhafter Haß die Haupt-Un-
tugend? Jſt nicht ſeine Liebe ebenfals ein Laſter?
wenn es anders noch wahr bleibt, daß die Liebe
des Geldes eine Wurtzel alles Uebels iſt.
Wenn ich nun aber von einem andern einge-
nommen bin, was hat denn Herr Solmes fuͤr
Hoffnung? Warum ſoll er noch weiter anhalten?
Was muß ich von einem Manne gedencken, der
mich wieder meinen Willen in ſeine Gewalt zu be-
kommen ſucht? Jſt es nicht etwas ungereimtes,
daß mich meine Freunde zwingen wollen, einen zu
nehmen, den ich nicht lieben kan, und ſich doch
nicht ausreden laſſen wollen, daß ein anderer
Mann mit mir bekannt ſey, den ich liebe.
So wie mir begegnet wird, muß ich entweder
jetzt oder niemals den Mund aufthun, und von
dem Hertzen wegſprechen. Jch will alles die Mu-
ſterung paßiren laſſen, worauf Herr Solmes
hoffen kan. Meynet er, daß der Schimpf, den
ich um ſeinetwillen erdulde, ihn miꝛ beliebteꝛ macht?
Meynet er, meine Hochachtung dadurch zu erlan-
gen, daß meine Onckles verdrießlich gegen mich
ſind, daß mein Bruder mir veraͤchtlich begegnet,
daß meine Schweſter unfreundlich iſt, daß mir
verboten iſt Beſuch zu geben oder anzunehmen,
ja ſo gar mit meiner beſten Freundin Briefe zu
wechſeln, ob ſie gleich eine Perſon meines Ge-
ſchlechts iſt, gegen deren Verſtand u. Auffuͤhrung
ſich nichts einwendẽ laͤſt, daß ich eingeſperret u. be-
ſchimpfet weꝛde, daß man ſogaꝛ oͤffentlich voꝛgiebt,
es
[352]Die Geſchichte
es geſchehe dieſes mich zu kraͤncken und mich muͤr-
be zu machen; daß mir die Haushaltung genom-
men iſt, die ich mit deſto groͤſſerem Vergnuͤgen
verwaltete, weil ich meiner Mutter dadurch die
Muͤhe erleichterte; daß man mich aus meiner
Ordnung bringt, da mir die Zeit ſo lange waͤh-
ret, und ich weder Luſt noch Erlaubniß habe mich
mit demjenigen zu beſchaͤftigen womit ich ſonſt
meine haͤusliche Arbeit zu wuͤrtzen und auf eine an-
genehme Weiſe zu verwechſeln pflegte? Sind
dieſe Mittel unentbehrlich, um mich ſo zu erniedri-
gen, daß ich eine Frau dieſes Mannes werden koͤn-
ne? Auf andere Mittel kan er ſich unmoͤglich ver-
laſſen: wenn er aber dieſe Mittel fuͤr hinlaͤnglich
haͤlt, ſo muß er wiſſen, daß er ein wohlgeartetes
und williges Gemuͤth von einem knechtiſchen
und niedertraͤchtigen Hertzen noch nicht un-
terſcheiden kan.
Jch bitte Sie, uͤberlegen Sie die angebohrnen
Eigenſchaften ſeines und meines Hertzens. Was
hat er an ſich, dadurch er meine Hochachtung zu
gewinnen hoffet? Mein allerliebſter Onckle, wenn
ich ja gezwungen werden ſoll, einen Mann zu neh-
men, den ich ſelbſt nicht waͤhlen wuͤrde, ſo muͤſte
es doch ein ſolcher ſeyn, der leſen und ſchreiben,
und von dem ich etwas lernen kan! Was muß
das fuͤr eine Ehre geben, wenn der Mann weiter
nichts gelernt hat, als zu befehlen, und ſelbſt den
Unterricht noch noͤthig hat, den er zu geben im
Stande ſeyn ſolte?
Es
[353]der Clariſſa.
Es kan Hochmuth bey mir ſeyn; mein bischen
Beleſenheit kan vielleicht machen, daß ich mir zu
viel einbilde: es kan ſeyn, daß mich das ſtoltz
macht, daß ich ein wenig ſchreiben kan, wie ich
mir ſeit einiger Zeit habe muͤſſen vorwerfen laſſen.
Allein deſto ungeſchickter iſt der Vorſchlag, einen
ſolchen Mann zu nehmen. Je beſſer die Meinung
iſt, die ich von mir ſelbſt habe, deſto geringere Ge-
dancken muß ich von ihm haben, und deſto weniger
ſchicken wir uns vor einander.
Jch kan es nicht verhehlen; ich habe immer ge-
glaubt, daß mich meine Anverwandten hoͤher
ſchaͤtzten. Mein Bruder gab ſonſt vor, daß er
aus Werth-Achtung gegen mich es dahin gebracht
haͤtte, daß Herr Lovelace mit ſeinem Geſuch
abgewieſen waͤre. Kan das wahr ſeyn, wenn
man mich durch einen ſolchen Mann, als Herr
Solmes iſt, zu beſchimpfen gedencket?
Was die vortheilhafte Eheſtiftung und die ſchoͤ-
nen Verſchreibungen anlangt, ſo hoffe ich, daß ich
Jhren Unwillen nicht vermehren werde, wenn ich
das frey heraus bekenne, was alle ohnedem fuͤr mei-
ne Meinung halten muͤſſen, die mich kennen, und
was ich mir ſchon von einigen habe vorruͤcken laſ-
ſen muͤſſen, nemlich, daß ich ſolche Bewegungs-
Gruͤnde von Hertzen verachte. Mein liebſter On-
ckle, was kan doch eine Perſon nach Verſchrei-
bungen fragen, die ſo viel eigenes beſitzet, als ſie
ſich nur wuͤnſchen kan? und die als eine ledige
Perſon ſchon mehr hat, als ſie aller Vermuthung
nach im verehlichten Stande unter ihrer eigenen
Erſter Theil. ZHand
[354]Die Geſchichte
Hand haben wird? deren Ausgaben und deren
Begierden gemaͤßiget ſind; und die, wenn ſie ja
etwas uͤberfluͤßiges haͤtte, es nicht beylegen und
ohne Gebrauch laſſen, ſondern den Nothduͤrftigen
mittheilen wuͤrde? Wenn demnach ſolche kleine
poͤbelhafte Abſichten auch alsdenn von ſo weniger
Kraft bey mir ſind, wenn ſie meinen eigenen Vor-
theil betreffen: kan denn wohl die entfernte und
ungewiſſe Abſicht, unſere Familie zu bereichern,
(und zwar die Familie, die einen ſolchen Bruder
zum Stamm-Vater haben wird,) einige Wir-
ckung bey mir haben?
Mein Bruder hat ſelbſt ſo wenig Achtung fuͤr
das Beſte ſeiner Familie gehabt, daß er lieber ſein
Leben wagen wollte, (ein Leben das der gantzen
Familie billig theuer ſeyn muß, weil er der eintzige
Stammhalter iſt) als die Leidenſchaften uͤberwin-
den, die er ſich nie zu uͤberwinden unterſtehet, und
die (wenn ich es ſagen darf) von ſeinen Eltern
mehr verzaͤrtelt ſind, als es ihm und andern nuͤtz-
lich iſt. Hat denn wohl dieſer Bruder entweder
durch ſeine uͤbrige Auffuͤhrung oder durch ſeine
Achtung fuͤr unſere Familie, es um mich verdienet,
daß ich meine zeitliche und wol gar meine ewige
Gluͤckſeligkeit ihm aufopfern ſoll, um einen win-
digten Vorſchlag zur Wircklichkeit zu bringen,
von dem ich mich unterſtehen will, deutlich zu er-
weiſen, daß er, wo nicht albern doch hoͤchſt unge-
wiß iſt, und ſich auf lauter zum voraus geſetzte un-
wahrſcheinliche Dinge grundet.
Jch
[355]der Clariſſa.
Jch fuͤrchte, daß Sie mich wegen meiner Hitze
ſchelten werden; allein erfordert es nicht die Sa-
che, daß ich hitzig ſchreiben muß? Es ſcheinet, das
ich blos durch meine allzugroſſe Maͤßigung bey
Gebung einer abſchlaͤgigen Antwort andern Ge-
legenheit und Muth gegeben habe, ſo weit zu ge-
hen, als ſie gegangen ſind. Sie muͤſſen uͤber die-
ſes einem durch ſo viele Beſchimpfungen aufge-
brachten und erbitterten Gemuͤthe etwas zu gute
halten, da ich dieſe Beſchimpfungen nicht verdient
habe, wenn ich anders mein Hertz kenne.
Allein was ſchreibe ich ſo vieles, um mich des-
wegen zu entſchuldigen, daß man mich beſchuldi-
get, ich ſey von Herr Lovelacen eingenommen,
nachdem ich mich gegen meine Mutter erklaͤret ha-
be, und mich hiemit abermals gegen Sie erklaͤre,
daß wenn man mir nur keinen Mann und inſon-
derheit dieſen Solmes nicht aufdringet, ich hin-
wiederum auf das heiligſte verſprechen will, weder
Lovelacen noch irgend einen andern ohne ihren
Willen zu nehmen? d. i. keinen zu nehmen, ohne die
Einwilligung von Vater, Mutter, Onckels/ und
meinem Vetter Morden zu haben, weil dieſem
von meinem Grosvater aufgetragen iſt, die Erfuͤl-
lung ſeiner letzten Guͤtigkeit gegen mich zu beſorgen.
Von meinem Bruder kan ich in der That nicht ſa-
gen, daß er ſich bisher ſo bruͤderlich gegen mich auf-
gefuͤhrt hat, daß er mehr von mir erwarten koͤnnte,
als die gemeine Hoͤflichkeit: und wenn wir von der
reden ſolten, ſo moͤchte er ſehr in meiner Schuld
ſeyn. Nehmen Sie mir den Gedancken nicht un-
guͤtig.
Z 2Viel-
[356]Die Geſchichte
Vielleicht habe ich mich in Abſicht auf meine
Abneigung von Herrn Solmes bisher nicht ſo
deutlich erklaͤret, daß man hat mercken koͤnnen,
daß keine Zuneigung zu einem andern die Urſache
dieſer Abneigung ſey. Jch erklaͤre mich alſo hiemit,
daß ich ihn nicht nehmen wollte, wenn auch kein
ſolcher Menſch als Lovelace in der Welt waͤre.
Es iſt noͤthig, daß ich in einem meiner Briefe an
meine wertheſten Angehoͤrigen dieſes ſo deutlich
ſchreibe, daß niemand mehr einen Zweifel daran
haben koͤnne: und gegen wen kan ich eine ſo offen-
hertzige Erklaͤrung mit mehrerem Recht und mit
groͤſſerer Zuverſicht thun, als gegen einen Herrn,
der ſich die groͤſſeſte Ehre daraus machet, in allen
Worten und Handlungen eine Aufrichtigkeit ohne
viele Umſchweiffe blicken zu laſſen, und gerade zu-
zugehen?
Um eben dieſer Urſache willen darf ich auch eini-
ge Einwendungen, die ich gegen ihn habe, Jhnen
deſto deutlicher und umſtaͤndlicher melden.
Herr Solmes ſcheinet mir (ich koͤnte wohl ſa-
gen, er ſcheint jedermann) ein ſehr kleines und nie-
dertraͤchtiges Hertz zu haben, und dabey wenig
Verſtand zu beſitzen. Er hat gar nichts artiges
und angenehmes an ſich, und iſt in ſeinen Sitten
eben ſo rauh als er ausſiehet: er iſt nicht allein
genau, ſondern auch geitzig, und ob er gleich groſ-
ſes Vermoͤgen beſitzet, ſo genießt er es doch nicht,
und hat kein ſolches Hertz, das ſich anderer Noth
und Elend kan jammern laſſen. Muß nicht ſei-
ne Schweſter ein ungluͤckliches und kuͤmmerliches
Leben
[357]der Clariſſa.
Leben fuͤhren, welches er ihr durch einen kleinen
Theil deſſen, was er uͤbrig hat, leicht verſuͤſſen koͤn-
te? Er kan es mit geduldigen Augen und ohne
ſich zu ſchaͤmen anſehen, daß ſein alter Onckle,
der Bruder ſeiner leiblichen Mutter, fremden fuͤr
den nothduͤrftigen Unterhalt dancken muß, den ihm
ein halb dutzend gutthaͤtige Familien zuflieſſen laſ-
ſen. Sie kennen mein offenes, mein bewegliches
und mitleydiges Hertz. Wie ungluͤcklich wuͤrde
ich ſeyn, wenn der karge Wille eines ſolchen Men-
ſchen, der an niemand als an ſich ſelbſt denckt,
mein Geſetz ſeyn ſollte? Er iſt einmal in einem
folchen engen Circkel der Freundſchaft und Men-
ſchen-Liebe gerathen, aus welchem ihn ſein teufli-
ſcher Geitz eben ſo wenig ſchreiten laͤßt, als ein Be-
ſchwerer aus ſeinem Zauber-Crayſe treten darf:
und er wuͤrde eben ſo wenig zulaſſen, daß ich dieſe
Graͤntzen uͤbertraͤte.
Solte ein ſolcher Menſch wol wiſſen, was Liebe
iſt? Meines Grosvaters Gut mag er vielleicht lie-
ben, welches (wie er andern Leuten geſagt hat)
ihm ſo bequem lieget, daß er einige ſeiner Guͤter
doppelt wuͤrde nutzen koͤnnen, wenn er es dazu haͤt-
te. Er hat nicht einmal ſeinem Geitz ſo viel wi-
derſtehen koͤnnen, daß er mir dieſes nicht mit der
vergnuͤgten Mine ſolte zu verſtehen gegeben haben,
die ein niedertraͤchtiges Hertz auf der Stirne zu
mahlen pflegt, weñ es an ſeinen Eigennutz gedenkt,
und den ſchon fuͤꝛ einen hinlaͤnglichen Bewegungs-
Grund anſiehet, daß ihm andere ſeine Bitte ge-
waͤhren ſollen. Dieſes Gut, und die Ehre die
Z 3ein
[358]Die Geſchichte
ein finſterer gemeiner und poͤbelhafter Menſch von
einer ſolchen Verbindung zu erwarten haͤtte, moͤ-
gen vielleicht machen, daß er glaubt, er koͤnne lie-
ben, und ſich endlich einbildet, er liebe in der
That. Allein zum hoͤchſten wird es doch nur eine
Liebe vom zweyten Range ſeyn. Der Reichthum
iſt und bleibt doch ſein hoͤchſtes Gut. Ein Knicker
vermachte ihm den Reichthum, weil er glaubte,
daß er ihm gleich waͤre: und ich wuͤrde entweder
das angenehmſte Vergnuͤgen in meinem Leben ab-
ſchweren und ſo niedertraͤchtig werden muͤſſen, als
er iſt, oder ich wuͤrde mein Ungluͤck nicht uͤberſehen
koͤnnen. Vergeben Sie es mir, daß ich ſo nach-
druͤcklich ſchreibe. Wenn ein verhaßter Menſch
mehr geruͤhmt wird als er verdienet, ſo fuͤhlt man
auch einen Trieb, mehr von ihm herauszuſagen,
als man ſonſt gethan haben wuͤrde. Entſchuldi-
gen Sie mich damit, daß er mir mit ſolcher Ge-
walt aufgedrungen wird, und ich keine Freyheit zu
waͤhlen behalten ſoll.
Jch mag in meinem Urtheil etwas zu hart ſeyn,
oder nicht, ſo iſt es doch ohnmoͤglich, daß ich ihn
in der Verhaͤltniß gegen mich ertragen kan, in der
man mir ihn aufdringen will, ſo lange ich dieſes
Urtheil fuͤr richtig halte. Wenn man aber auch
erweiſen koͤnte, daß er zehnmal beſſer waͤre, als
ich ihn hier abgeſchildert habe, und ihn mir in der
That vorſtelle: ſo wuͤrde er mir dennoch zehnmal
ſo eckelhaft ſeyn, als irgend ein anderer Menſch
in der Welt, den ich bisher geſehen habe. Jch
bitte Sie deswegen; werden Sie ein Fuͤrſprecher
fuͤr
[359]der Clariſſa.
fuͤr Jhres Bruders Kind, und wuͤrcken Sie aus,
daß ich nicht das Opfer eines mir ſo eckelhaften
Mannes werde.
Sie und mein anderer Onckle koͤnnen viel bey
meinem Vater ausrichten, wenn Sie nur ſo guͤtig
ſeyn wollen. Glauben Sie, das es nicht ein Ei-
genſinn iſt, ſondern ein natuͤrlicher ein unuͤber-
windlicher Widerwille. Denn ſo oft ich aus Ge-
horſam gegen meinen Vater mit mir ſelbſt habe
ſtreiten und mich uͤberreden wollen, Folge zu lei-
ſten, ſo hat ſich mein gantzes Hertz empoͤret, und
ich habe einen Widerwillen gegen mich ſelbſt dar-
uͤber empfunden, daß ich mir einen Menſchen, der
nicht das geringſte Gute an ſich hat, als ertraͤglich
vorzuſtellen geſucht habe: einen Menſchen, der
ohnmoͤglich bey ſeiner Anwerbung beharren koͤn-
te, nachdem er meine Abneigung wuͤſte, wenn er
etwas maͤnnliches oder etwas adliches in ſeinem
Gemuͤth haͤtte.
Wenn Sie einſehen, daß der Jnhalt dieſes
Briefes nicht unvernuͤnftig iſt, ſo bitte ich Sie
um Jhr guͤtiges Vorwort: wo nicht, ſo bin ich
hoͤchſt-ungluͤcklich. Es iſt indeſſen meine Schul-
digkeit geweſen, ſo zu ſchreiben, daß Herr Sol-
mes wiſſen koͤnte, woran er ſey.
Entſchuldigen Sie dieſen meinen verdrießlichen
Brief, und goͤnnen Sie ihm, daß er etwas aus-
richtet: ſo werden Sie ewig verbinden,
Jhre gehorſamſte und ergebenſte Baſe
Clariſſa Harlowe.
Z 4Herrn
[360]Die Geſchichte
Meine Baſe Claͤrchen/
Es wuͤrde beſſer geweſen ſeyn, wenn Sie nicht
an uns, an keinen von nns beyden geſchrieben haͤt-
ten. Jnſonderheit haͤtten Sie wohl gethan, wenn
Sie nie die Feder angeſetzt haͤtten, an mich in ei-
ner ſolchen Sache zu ſchreiben. Nach dem Aus-
ſpruch des weiſen Mannes ſcheint der zwar
Recht zu haben/ der ſeine Sache zuerſt an-
bringt; allein ſein Naͤchſter kommt auch/
und unterſucht ihn. Jch will jetzt Jhr Naͤch-
ſter ſeyn, und den Grund und Boden Jhres Her-
tzens unterſuchen: ich will unterſuchen, ob Jhr
Brief Jhnen von Hertzen gehe. Jch weiß wol,
was ich mir fuͤr eine Arbeit aufbuͤrde, weil Sie
wegen Jhrer fertigen Feder bekant ſind. Allein
es waͤre ſchlimm, wenn einer der die Rechte der
Eltern vertheidigen will, und der vor die Wohl-
ſart und Ehre ſeiner Familie beſorgt iſt, nicht al-
les das zu Boden ſchlagen koͤnte, was eine rebelli-
ſche Tochter (wie ungern ſchreibe ich das von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe! vorbringen kan,
ihren Eigenſinn zu entſchuldigen.
Erklaͤren Sie ſich nicht deutlich genug, daß Sie
den Menſchen vorziehen, den wir alle haſſen, und
der uns eben ſo ſehr haßt? Jſt das nicht das Wi-
derſpiel von dem, was Sie ihrer Mutter geſagt
haben? Wie mahlen ſie einen braven rechtſchaf-
nen Cavallier ab? Jch wundere mich, daß Sie
ſich
[361]der Clariſſa.
ſich unterſtehen, ſo frey von einem Herrn zu ſchrei-
ben, den wir alle werth ſchaͤtzen. Allein vielleicht
geſchiehet es eben deshalb, damit es uns verdrieſſen
ſoll.
Wie fangen Sie Jhren Brief an? weil Herr
Solmes mein guter Freund iſt/ ſo wollen
Sie deſto freyer auf ihn losziehen. Das iſt
die klare Meinung, Fraͤulein. Jch bin ſo tumm
nicht, daß ich das nicht mercken ſollte. ‒ ‒ Ein of-
fenbarer und beruͤchtigter Huren-Hengſt ſoll ei-
nem Manne vorgezogen werden, der das Geld
liebet! das ſchickt ſich ſchlecht fuͤr eine ſo artige
Fraͤulein, als ich Sie bisher angeſehen habe. Was
meynen Sie, wer thut andern am meiſten Unrecht:
ein Verſchwender, oder ein ſparſamer Mann? Der
eine legt ſein eignes Geld bey; der andere verpraſ-
ſet fremder Leute Vermoͤgen. Allein Jhr Lieb-
ling iſt ein rechter Ertz-Boͤſewicht: und ſuͤndiget
auf anderer Leute Rechnung.
Der Teufel muß euch Maͤdchens allen im Her-
tzen ſtecken. Gott vergebe mir meine ſchwere Suͤn-
de! Das beſte und artigſte Maͤdchen verliebt ſich
immer am erſten in einen H ‒ ‒ ‒ Jch glaube, ich
darf das Wort nicht noch einmal ſchreiben: denn
manche ſchaͤmt ſich vor dem Namen des Laſters,
und verliebt ſich doch in den Laſterhaften. Jch
wuͤrde nicht ſo lange unveꝛheyrathet geblieben ſeyn,
wenn ich nicht eine ſolche Menge von widerſpre-
chenden und mit einander ſtreitenden Leidenſchaf-
ten bey euch allen gefunden haͤtte. Jhr ſeyd alle
Z 5Muͤcken-
[362]Die Geſchichte
Muͤcken-Saͤuger und Cameel-Schlucker/
wie euch die heilige Schrift nennet.
Wie wunderliche Namen kan der Eigenſinn
den Dingen geben! Ein kluger Mann, der nie-
mand gern betriegen will, muß geitzig heiſſen. Ein
verflugter Galgen-Schwengel wird umgetauft,
und ein braver Mañ, ein artiger Herr genañt.
Jch glaube gewiß, daß Lovelace nicht ſo viel
aus Jhnen machen wuͤrde, als er jetzt den Schein
haben will, wenn nicht zwey Urſachen zum Grun-
de laͤgen. Und was fuͤr Urſachen? Zum erſten, er
thut es uns zum Trotz: zum andern, er weiß daß
Sie eigene Mittel haben, die nicht von Jhren El-
tern herkommen. Jch wuͤnſchte, daß Jhr lieber
ſeliger Grosvater das, was er Jhnen vermacht
hat, nicht ſo voͤllig Jhrer Gewalt uͤberlaſſen haͤt-
te. Allein er dachte nicht daran, daß ſeine liebe
Enckelin ſich allen Jhren Freunden ſo widerſetzen
wuͤrde als bisher geſchehen iſt.
Was kan ſich aber Herr Solmes fuͤr
Hoffnung machen, wenn Sie von einem
andern eingenommen ſind? Das will bald gut
werden! Sind Sie das, die ſo redet, Claͤrchen?
Kan er ſich denn keine Hoffnung darauf ma-
chen, daß Jhnen Vater, Mutter, und Onckels
zu ihm rathen? Nein! gar keine Hoffnung, wie
es ſcheint. Das iſt brav. Jch haͤtte gedacht, die-
ſes waͤre genug geweſen, von einem gehorſamen
Kinde das Jawort zu erhalten. Wir gingen
ſo weit, weil wir uns auf Jhren Gehorſam ver-
lieſſen: und nun laͤßt ſich die Sache nicht mehr
aͤn-
[363]der Clariſſa.
aͤndern. Denn wir wollen uns in unſere Hoff-
nung nicht betrogen ſehen; und unſern Freund eben
ſo wenig als uns.
Wenn Jhr Gut ihm wohl gelegen iſt, ſo iſt ja
das kein Ungluͤck. Jſt das ein Beweiß, naſeweiſes
Kind, daß er Sie nicht lieb hat. Sollte der nicht
etwas Vermoͤgen mit Jhnen bekommen, der ſo
wenig von Jhnen zu erwarten hat? Mercken
Sie das! Allein iſt nicht dieſes Gut in gewiſſer
maſſen unſer Gut? Haben wir nicht alle ein naͤhe-
res Recht dazu, wenn es auf das Recht ankom-
men ſolte? War es nicht blos die Guͤtigkeit eines
alten abgelebten Mannes (GOtt habe ihn ſelig!)
dadurch dieſes Gut vor uns vorbey gegangen und
an Sie gekommen iſt? Wohlan! duͤrfen wir
denn nicht ein Wort dazu ſagen, wer es erheyra-
then ſoll? Koͤnnen Sie es uͤber das Hertz bringen,
daß es ein liederlicher Kerl, der uns allen feind iſt,
auf den Hin ‒ ‒ ‒ haͤngen ſoll? Jch ſoll das erwaͤ-
gen, was Sie ſchreiben. Erwaͤge dieſes, Maͤd-
chen! ſo wird ſich finden, daß wir mehr Recht zu
ſprechen haben, als Sie dencken.
Die Haͤrte, (wie Sie es nennen) damit Jhnen
begegnet iſt, haben Sie ſich ſelbſt zu dancken. So
bald Sie nur wollen, wird alles harte ein Ende ha-
ben. Das ruͤhrt mich alſo nicht, was Sie davon
ſchreiben. Sie ſind nicht eher eingeſperret und
von Jhren Eltern verbannet worden, als bis man
alle Mittel in der Guͤte verſucht hatte. Mercken
Sie das! Herr Solmes iſt an Jhrem Ungehor-
ſam unſchuldig. Mercken Sie das auch!
Aus
[364]Die Geſchichte
Aus Beſuch und Gegen-Beſuch haben Sie
ſonſt nicht viel gemacht. Die Namen werden
nur genannt, um das Regiſter der Leiden groͤſſer
zu machen. Der Schimpf iſt uns eben ſo ſchmertz-
lich als Jhnen. So ein artiges junges Kind!
deſſen wir uns ſonſt immer zu ruͤhmen pflegten!
Und alles dieſes ſtehet blos bey Jhnen, ob Sie es
aͤndern wollen oder nicht! Allein ihr Hertz empoͤrt
ſich, wenn Sie ſich uͤberreden wollen, Jhren El-
tern zu gehorchen. Die Beſchreibung iſt artig:
iſt ſie nicht? Mehr als zu wahr, wenn Sie ſo fort-
fahren. Jch weiß aber, daß Sie ihn lieben koͤn-
ten, wenn Sie nur wollten. Jch haͤtte faſt Luſt,
Jhnen zu befehlen, daß Sie ihn haſſen ſollten:
vielleicht wuͤrde er Jhnen denn beſſer gefallen.
Denn ich habe bey Jhrem Geſchlechte immer ei-
nen ſolchen widerſinniſchen Trieb gefunden, als
man ihn in den Romainen beſchrieben findet. Das
iſt Eſſen und Trincken und Kleidung des Frauen-
Volcks, wenn ſie das thun und lieben koͤnnen, was
ſie nicht thun und nicht lieben ſollen.
Jch bin voͤllig einerley Meynung mit Jhrem
Bruder, daß Maͤdchens Witz genug aber nicht
wahren Verſtand und Beurtheilungskraft genug
zum Buͤcher Leſen und zum Schreiben haben. Sie
ſtellen es ſich als moͤglich vor, daß Sie hochmuͤ-
thig und eingebildet ſeyn moͤchten: daß ſind Sie
in der That, weil Jhnen dieſer Herr ſo veraͤchtlich
vorkommt. Er kan ſo gut leſen und ſchreiben,
als die meiſten Edelleute. Wer hat Jhnen geſagt,
daß Herr Solmes nicht leſen und nicht ſchreiben
koͤnte?
[365]der Clariſſa.
koͤnte? Allein Sie wollen einen Mann haben,
von dem Sie etwas lernen koͤnnen! Jch wuͤnſchte,
daß Sie Jhre Pflicht eben ſo gut kennen moͤchten,
als es ſcheint, daß Sie Jhre Geſchicklichkeit ken-
nen. Das iſt die Sache die Sie lernen muͤſſen,
und folglich wird Herr Solmes noch etwas ha-
ben, darin er Sie unterrichten kan. Jch mag
ihm Jhren Brief nicht zeigen, ob das gleich Jhre
Abſicht zu ſeyn ſcheinet: denn ich fuͤrchte, er moͤch-
te dadurch bewogen werden, ein allzuſtrenger Lehr-
Meiſter gegen Sie zu ſeyn, wenn Sie erſt die ſei-
nige ſind.
Allein ich dencke jetzt daran: Sie ſind fertiger in
der Feder als er. Eine deſto nuͤtzlichere Frau wer-
den Sie fuͤr ihn ſeyn. Denn wo findet er eine ſo
gute Haushaͤlterin, als Sie ſind? Sie koͤnnen
ihm alle Rechnungen fuͤhren, daß er keinen Haus-
halter braucht. Jch kan Jhnen ſagen, daß dieſes
ein groſſer Vortheil in der Haushaltung iſt: denn
oft ſind die Haushaͤlter ſchlimme Kerls, und wiſ-
ſen um alle Umſtaͤnde ihres Herrn, wenn er ſelbſt
nicht weiß, wo er recht zu Hauſe iſt: ich weiß, daß
ihnen mancher ſein eigenes Geld hat verzinſen muͤſ-
ſen. Jch weiß nicht, warum eine brave Frau vor
dergleichen Arbeit zu vornehm ſeyn ſolte. Es iſt
doch beſſer, als halbe Tage im Bette zu liegen;
niedliches Eſſen ausſuchen, und in Charten ſpielen
bis in die ſpaͤte Nacht; und ſich zu allen nuͤtzlichen
Geſchaͤften in der Haushaltung unbrauchbar ma-
chen; wie es jetzt die Mode bey euch Weibs-Leu-
ten iſt. Der Hencker hole euch alle davor! Das
ſage
[366]Die Geſchichte
ſage ich von Hertzen. Das beſte iſt, daß ich
(GOtt ſey Danck) Junggeſellẽ geblieben bin. ‒ ‒ ‒
Dieſes iſt ein Geſchaͤfte, dazu Sie ſich unvergleich-
lich ſchicken. Es iſt Jhnen empfindlich, daß Jh-
nen die Haushaltung genommen iſt: wohlan
Fraͤulein, ſo werden Sie in Herꝛn Solmes Hau-
ſe Jhnen ſelbſt und Jhren Kindern zum Beſten ei-
ne nuͤtzliche Arbeit haben, wenn Sie Rechnung
fuͤhren. Bey dem andern moͤchten Sie zwar auch
wol Rechnungen zu fuͤhren haben, von dem was er
zum Teufel gehen laͤſt, was er borget, was er ſchul-
dig iſt, und nie zu bezahlen gedencket. Kommen
Sie nur meine liebe Baſe: Sie kennen die Welt
noch nicht. Ein Mann iſt ein Mann: mit einem
artigen Mann koͤnnen Sie viel koſtbare gute
Freunde bekommen, die Jhnen aufeſſen helfen
was da iſt. Wenn ich handeln ſolte, ſo kauffte
ich Herrn Solmes, und ich hoffe Sie werden eben
ſo klug ſeyn.
Allein Herr Solmes iſt nicht artig genug: er
iſt nicht nach Jhrem zaͤrtlichen Geſchmack; weil er
ſich nicht wie ein Stutzer kleidet, und einen nicht
durch den nichts-bedeutenden Unſinn von Com-
plimenten ermuͤdet, der eben das Gift fuͤr das
Frauenzimmer iſt. Er hat aber Verſtand: das
kan ich ſagen. Uns gefallen keines Mannes Re-
den beſſer als ſeine: allein Sie fliehen ſo vor ihm,
daß er bisher noch nicht Gelegenheit gehabt hat,
Jhnen in ſeinen Reden zu gefallen. Ein verlieb-
ter Menſch ſieht immer wie ein Schaaf aus, ſon-
derlich wenn ſeine Liebe verachtet wird, und wenn
man
[367]der Clariſſa.
man ihm ſo begegnet, als Sie Herrn Solmes
das letzte mahl begegneten.
Was ſeine Schweſter anlanget, ſo hat ſich die
wider ſeinen Willen und Warnung an einen Kerl
gehangen; ſo wie Sie auch Luſt haben zu thun.
Er hat ihr zum voraus geſagt, was ſie von ihm
zu gewarten haͤtte, wenn ſie die Heyrath thaͤte.
Er haͤlt ſein Wort, und das muß ein ehrlicher
Mann thun. Wer gewarnt iſt, und doch ſuͤn-
digt, der muß dafuͤr buͤſſen. Nehmen Sie ſich
in Acht, daß es Jhnen nicht auch ſo gehet. Mer-
cken Sie ſich das.
Sein Onckle hat es um ihn nicht verdient, daß
er ihm Wohlthaten erzeigen ſolte: denn er haͤtte
ihn gern ausgeſtochen; und den alten Ritter Oli-
ver dahin vermocht, daß er ihm den Reichthum
vermachen moͤchte, den er immer Willens geweſen
war, Herrn Solmes zu vermachen, und ihn in
dieſer Hoffnung hatte aufwachſen laſſen. Wer
allzubald vergiebt, dem geben andere etwas
zu vergeben: das iſt die kluge Regel Jhres lieben
Vaters. Es wuͤrden nicht ſo viel eigenſinnige
Toͤchter in der Welt ſeyn, wenn dieſe Regel fleißi-
ger beobachtet wuͤrde. Die Strafe iſt eine Wohl-
that fuͤr den Suͤnder! und Belohnungen gehoͤren
fuͤr niemanden, als fuͤr den, der ſie verdienet.
Jene muͤſſen ſcharf und ſchwer ſeyn, wenn die
Suͤnde muthwillig begangen iſt.
Jch komme auf ſeine Liebe zu Jhnen. Davon
hat er bisher groͤſſere Proben gegeben, als Sie
es durch Jhre neuliche Auffuͤhrung gegen ihn ver-
dient
[368]Die Geſchichte
dient haben das kan ich Jhnen nicht verhalten.
Das iſt ſein Ungluͤck: und es kan kuͤnfftig auch
Jhr Ungluͤck ſeyn.
Auch ein Wort von ſeiner Sparſamkeit, die
Sie mit dem gottloſen Beynamen, teuffeliſch,
belegen: ein freyer Ausdruck, der ſich in ihren
Mund nicht allzuwohl ſchicket. Sie haben unter
allen Menſchen in der Welt die wenigſte Urſache,
ihm dieſes Laſter vorzuwerffen, da er aus eigener
Bewegniß alles was er in der Welt hat Jhnen zu-
zuwenden gedencket: ein deutlicher Beweis, daß
er Sie mehr liebet, als das Geld, wie ſehr er auch
immer das Geld lieben mag. Damit Sie aber
deſto weniger Einwendungen machen koͤnnen, ſo
wollen wir ihm Bedingungen vorſchreiben, wie
Sie es verlangen, und es mit in die Eheſtifftung
ruͤcken, daß er Jhnen viertheiljaͤhrig ein anſehnli-
ches ausſetzen ſolle, damit Sie nach eigenem Be-
lieben ſchalten und walten koͤnnen. Das iſt Jhnen
ſchon vorhin geſagt worden; und ich habe es der
Frau Howe, der rechtſchaffenen ehrwuͤrdigen Ma-
trone, in Gegenwart ihrer hochmuͤthigen Tochter
erzaͤhlt, damit Sie es auch durch die wieder erfah-
ren moͤchten.
Um den Vorwurf von ſich abzulehnen, als wenn
Sie von Herrn Lovelace eingenommen waͤren,
erbieten Sie ſich, ihn nie ohne unſere Bewilligung
zu nehmen. Was heiſt das anders, als: Sie wol-
len noch im̃er fortfahren, auf unſere Einwilligung
zu hoffen, und uns ſo lange quaͤlen, bis mir ſie
endlich geben, um der Qual los zu ſeyn? Er
wird auch beſtaͤndig fortfahren zu hoffen, ſo
lange
[369]der Clariſſa.
ge Sie unverheyrathet bleiben; und wir muͤßen
immer den Verdruß haben, wie wir ihn bisher
gehabt haben, daß Sie uns plagen, wir aber Sie
immer bewachen und huͤten muͤſſen, und daß er
uns dabey drohet und trotzet. Dencke nur an den
vorigen Sonntag, Maͤdchen! Was fuͤr Ungluͤck
haͤtte entſtehen koͤnnen, wenn dein Bruder mit ihm
zuſammen gekommen waͤre? ‒ ‒ Mit einem ſolchen
Kopf, als Lovelace hat, werden Sie auch nicht
ſo auskommen koͤnnen, als mit Herrn Solmes.
Dieſer wird vor Jhnen zittern, und vor dem an-
dern muͤſſen Sie beben. Mercken Sie ſich das.
Sie werden ſich bey ihm weder zu rathen noch zu
helffen wiſſen. Wenn zwiſchen Jhnen und Herrn
Solmes einiges Mißverſtaͤndniß entſtehen ſollte,
ſo wuͤrden wir alle uns der Sache annehmen, und
ohne Zweiffel im Stande ſeyn, etwas auszurich-
ten: aber bey dem andern wuͤrde es heißen, wer
die Wahl hat der mag auch die Qual haben:
niemand wuͤrde Luſt haben, ein Wort fuͤr Sie
zu reden, und niemand wuͤrde es ſich nur unter-
ſtehen duͤꝛfen. Laſſen Sie ſich nicht durch eine Furcht
vor dem Eye-Zanck und Haus-Kriegen ſchuͤch-
tern machen. Die Flitter Woche waͤhret heut zu
Tage nicht lange: und, ſo viel ich weiß, hat noch
niemand Anſpruch auf die Speck-Seite gemacht,
obgleich andere vorgeben, daß es einmahl geſche-
hen ſey. Der Ehe-Stand iſt ein Zanck-Leben,
die Che-Leute moͤgen ſich einander ſelbſt gewaͤhlt
haben, oder nicht. Unter uns drey Bruͤdern hat
nur einer das Hertz gehabt, zu heyrathen: und
Erſter Theil. A awas
[370]Die Geſchichte
was meinen Sie war die Urſache? Wir wurden
durch anderer Schaden klug.
Verachten Sie das Geld nicht ſo ſehr. Sie
koͤnnen in die Umſtaͤnde kommen, daß Sie es hoͤ-
her achten lernen. Dis iſt noch etwas, das Sie ler-
nen koͤnnen, und Herr Solmes wird nach dem
Begriff, den Sie von ihm haben, ſehr geſchickt
ſeyn, es Sie zu lehren.
Jhre Hitze kann ich in der That nicht loben,
ich kann Sie auch nicht durch die Beſchimpfungen
entſchuldigen, die Sie ſich ſelbſt zugezogen haben.
Wenn ich ſie fuͤr unverſchuldet hielte, ſo wollte ich
Jhr Fuͤrſprecher werden: allein ich habe immer die
Meinung gehabt, das Kinder keine Einwendun-
gen gegen den Willen ihrer Eltern machen muͤßen.
Als Jhnen Jhr ſeel. Gros-Vater ſein Gut ver-
machte, ob er gleich drey lebendige Soͤhne hinter.
ließ, und Jhr aͤlterer Bruder und aͤltere Schweſter
noch vor Jhnen waren, ſo ließen wir uns es alle ge-
fallen. Und warum das? Weil es unſers Vaters
Wille war. Folgen Sie unſerem Exempel. Wenn
Sie das nicht thun wollen, ſo haben Sie bey de-
nen am wenigſten Entſchuldigung, die Jhnen mit
ſo gutem Exempel vorgegangen ſind. Mercken
Sie ſich das, meine Baſe.
Von Jhrem Bruder reden Sie gar zu veraͤcht-
lich: und in Jhrem Brieffe an ihn ſo wohl als an
Jhre Schweſter brauchen Sie zu wenig Reſpect.
Er iſt Jhr Bruder, und um ein Drittheil aͤlter als
Sie; und noch dazu eine Manns-Perſon. Wenn
Sie ſo viel aus einer Bekantſchaft, die ein Jahr
alt
[371]der Clariſſa.
alt iſt, machen, ſo ſeyn Sie ſo guͤtig, und vergeſ-
ſen nicht, was Sie einem Bruder ſchuldig ſind,
der nach uns dreyen das Haupt der Familie iſt,
und der den Nahmen des Geſchlechts erhalten ſoll.
Auf Jhrem Gehorſahm beruhet jetzt die Ausfuͤh-
rung des beſten und gewuͤnſchteſten Vorſchlages
der jemahls zum Aufnehmen und zur Ehre einer
Familie, der Sie das Leben zu dancken haben, haͤt-
te erdacht werden koͤnnen. Und wird nicht dir Ehre
Jhrer Familie Jhre eigene Ehre ſeyn? Wenn
Sie nicht der Meinung ſind, ſo ſind Sie nicht
werth von einer ſolchen Familie zu ſeyn. Sie ſol-
len den gantzen Entwurff unſerer Anſchlaͤge und
Verabredungen ſehen, wenn Sie verſprechen wol-
len (Sie moͤgen Recht haben oder nicht) ihn oh-
ne Vorurtheil zu leſen. Wenn Sie nicht durch
den andern Menſchen bethoͤret ſind, ſo bin ich ge-
wiß, daß dieſer Entwurff Jhren Beyfall erhalten
wird: wenn aber jenes iſt, ſo wird Herr Solmes
bey Jhnen nichts ausrichten, wenn er auch ein En-
gel vom Himmel waͤre; denn der Teuffel iſt die Lie-
be, und die Liebe iſt der Teuffel, wenn ſie euch
Maͤdchens einmahl in den Kopf kommt. Jch
habe Exempel genug davon geſehen.
Wenn auch kein ſolcher Menſch als Lo-
velace in der Welt waͤre, ſo wollen Sie doch
Herrn Solmes nicht nehmen. Fraͤulein! ‒ ‒
Das iſt artig geredet! Wir mercken es, wie ſehr
Jhr Gemuͤth erbittert iſt. Wundern Sie ſich
nicht, wenn Sie von nicht wollen reden, daß
die, welche uͤber Sie zu befehlen haben, ſagen: Sie
A a 2ſollen
[372]Die Geſchichte
ſollen ihn nehmen. Jch bin einer davon.
Mercken Sie das. Und wenn es ſich fuͤr Sie
ſchicket, von dem Hertzen wegzureden, Fraͤu-
lein, ſo will es ſich fuͤr uns nicht ſchicken, unſere
Meinung auf dem Hertzen zu behalten. Die
Bruͤhe die ſich zu der Gans ſchickt, die ſchickt ſich
auch zum Ganſert. Ueberlegen Sie das.
Meiner geringen Einſicht nach hat Herr Sol-
mes ein maͤnnliches und ein adliches Hertz:
und ich wollte Jhnen deshalb den Rath geben, ihn
nicht zu reitzen. Sein Mitleyden mit Jhnen iſt
eben ſo groß, als ſeine Liebe zu Jhnen. Er ſagt,
er wolle Sie durch die That von ſeiner Liebe uͤber-
zeigen, weil Sie ihm die Gelegenheit abſchneiden,
es durch Worte zu thun. Er jetzt alle ſeine Hoff-
nung auf Jhr edles Hertz, das ihm kuͤnftig ſeine
jetzige Muͤhe und Kummer vergelten werde. Wir
hoffen, daß er ſich in ſeiner Hoffnung nicht betrie-
gen werde: und wir beſtaͤrcken ihn darin. Hie-
durch bekommt er immer von neuem Muth. Sei-
ne Beſtaͤndigkeit haben Sie alſo eigentlich Jhren
Eltern und Onckles zu dancken: und dieſes wird
die zweyte Probe Jhres Gehorſahms ſeyn.
Mercken Sie nicht, daß Sie uns alle und ſelbſt
Jhre Eltern ſchelten, wenn Sie ſich verlauten
laſſen, Sie koͤnnten die Verſchreibungen, die Jh-
nen angeboten werden nicht mit gutem Gewiſſen
annehmen? Ueber eine ſolche Dreiſtigkeit von Jh-
nen wuͤrden wir uns ſonſt gewundert haben: jetzt
aber wundern wir uns nicht mehr daruͤber.
Es
[373]der Clariſſa.
Es ſind noch viele andere anſtoͤßige Stellen in
Jhrem ſehr frey geſchriebenen Brieffe: wir muͤſ-
ſen ſie aus Jhrem erbitternten Gemuͤth herlei-
ten. Jch freue mich, daß Jhnen das Wort einge-
fallen iſt, ſonſt wuͤrde ich keinen Nahmen zu der
Sache haben finden koͤnnen. Jch wuͤrde gewiß
keine Urfache gehabt haben, einen gelindern Nah-
men dafuͤr zu ſuchen.
Jch habe ſie noch hertzlich lieb. Ob Sie
gleich meines Bruders Tochter ſind, ſo ſcheue ich
mich doch nicht zu ſagen, daß Sie die ſchoͤnſte
Fraͤulein ſind, die ich jemahls geſehen habe. Allein
auf mein Gewiſſen! ich glaube, Sie ſollten Jhren
Eltern geborchen, und mir und meinem Bruder
Hans gefaͤllig ſeyn: denn Sie wiſſen wohl, daß
uns nichts als ihr Beſtes am Hertzen liegt; Jhr
Beſtes, ſo wie es mit unſerem Beſten und mit un-
ſerer Ehre beſtehen kann. Was muͤſſen wir von
einem ſolchen Gliede der Familie dencken, daß das
gemeine Beſte nicht befoͤrdern helffen will? und
das zwiſchen den Gliedern Partheyen und Streit
anzurichten ſucht? GOtt behuͤt uns in Gnaden!
ſage ich dazu. Sie ſehen, daß ich fuͤr das gemei-
ne Beſte bin. Was kann ich fuͤr Vortheil davon
haben, es gehe auch wie es gehe? Brauche ich
oder verlange ich von jemand etwas fuͤr mich?
Oder thut es mein Bruder Hans?
Ach aber Sie koͤnnen keine Liebe zu Herrn
Solmes faſſen! Jch antworte: Sie wiſſen ſelbſt
A a 3nicht
[374]Die Geſchichte
nicht, was Sie koͤnnen oder nicht koͤnnen. Sie
zwingen ſich nur dazu ihm abgeneigt zu werden.
Sie erlauben es Jhrem Hertzen, (daß ich nie fuͤr ſo
trotzig angeſehen haͤtte) daß es ſich empoͤren darff.
Verſuchen Sie es einmahl, und treiben Sie Jhr
Hertz zuruͤck, ſo oft es ſich empoͤret, (wie wir es
im See-Gefechte und in Schlachten auf dem veſten
Lande machen muͤſſen, und unſer Schif-Volck und
Soldaten mit uns, wenn wir nicht dem Feinde zur
Beute werden wollen) ſo werden Sie es bald uͤber-
winden. Thun Sie das, weil es Jhre Schuldig-
keit iſt: dafuͤr halten wir es zum wenigſten, was
Sie auch dazu dencken moͤgen. Weſſen Gedan-
cken ſollen nun mehr gelten? Sie moͤgen mehr
Witz haben, als wir: wenn Sie aber auch mehr
Verſtand und Einſicht haͤtten, ſo muͤßten einige
unter uns vergeblich dreyßig oder viertzig Jahr
laͤnger die Welt geſehen haben als Sie.
Jch habe eben ſo einen langen Brieff geſchrie-
ben, als Sie. Jch mag wohl nicht eine ſo artige
und lebhaffte Schreib-Art haben, als meine Fraͤu-
lein Baſe; allein die Sache ſelbſt, und was gruͤnd-
liches geſagt werden kann, habe ich auf meiner Sei-
ten; und Sie werden mir eine große Gefaͤlligkeit
erzeigen, wenn Sie durch Jhr Nachgeben zeigen,
daß Sie dieſes auch glauben. Wollen Sie das
nicht thun, ſo muͤßen Sie nicht erwarten, daß ich
Jhr Vorſprecher werden, oder Jhr Freund blei-
ben ſoll, ſo hertzlich ich Sie auch liebe. Es wird
mir alsdenn leyd thun, daß ich bin Jhr Onckle
Donnerſtags fruͤh um 2. Uhr. Anton Harlowe.
P. S.
[375]der Clariſſa.
P. S. Sie muͤſſen nicht mehr an mich ſchreiben,
es waͤre denn, daß Sie ſich bequemen wollten.
Doch ich brauche Jhnen das Schreiben nicht zu
verbiethen: denn ich bin gewiß, daß Sie meinen
Brieff nicht beantworten koͤnnen. Jch habe faſt
Tag und Nacht vom Sontag Morgen an bis jetzt
geſchrieben, nur die Kirch Zeit, und die Zeit ande-
rer eben ſo noͤthigen Verrichtungen ausgenom-
men. Dis iſt der letzte Brieff, den Sie erhal-
ten werden.
von
A. H.
Der Drey und Dreyßigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Nachdem meine Bitten bey meinen Anverwan-
ten ſo wenig ausgerichtet haben, ſo habe ich
etwas unternommen, daruͤber Sie ſich verwunden
wer en. Jch habe an Herrn Solmes ſelbſt ge-
ſchrieben: ich habe auch ſchon eine Antwort von
ihm. Er muß ſich gewiß dabey haben helfen laſ-
ſen: denn ich habe einen Brieff von ihm geſehen,
darin die Ausdruͤcke eben ſo ſchlecht waren, als
die Orthographie. Die Aufſchrifft aber iſt gewiß
von ihm, denn er pflegt viel Umſtaͤnde und Com-
plimente zu machen. Jch will noch einen Brieff
beylegen, den mir mein Bruder bey Gelegenheit
A a 4mei-
[376]Die Geſchichte
meines Brieffes an Solmes zugeſandt hat. Jch
meinte es waͤre moͤglich, den Menſchen muthloß
zu machen, daß er die Sache liegen ließe und ver-
lohren gaͤbe: als denn wuͤrden alle meine Wuͤnſche
erfuͤllet ſeyn. Es verlohnet ſich der Muͤhe, es zum
wenigſten zu verſuchen. Sie werden aber ſehen,
daß alle Mittel vergeblich ſind Mein Bruder
hat ſich auf allen Seiten allzuwohl vorgeſehen.
Mein Herr
Sie werden ſich daruͤber verwundern, daß Sie
einen Brieff von mir erhalten; und noch dazu ei-
nen Brieff von einem ſo ungewoͤhnlichen Jnhalt.
Allein die Nothwendigkeit der Sache wird mich
entſchuldigen, (wo nicht nach Jhrem doch nach
meinem Urtheil) darum will ich meinen Brieff
nicht mit einer weitlaͤuffigen Schutz-Schrifft an-
fangen.
Als Sie zuerſt in meines Vaters Hauſe bekannt
wurden, fanden Sie mich in den gluͤcklichſten und
vergnuͤgteſten Umſtaͤnden von der Welt. Meine
lieben und guͤtigen Eltern liebeten mich zaͤrtlich,
und freueten ſich daruͤber, daß mich zwey vaͤterlich-
geſinnete Onckles mit ihrer Gewogenheit, und faſt
alle Fremde mit ihrer Hochachtung beehrten.
Allein wie ſehr iſt dieſes Luſt-Spiel zum Trauer-
Spiel geworden! Sie beliebten ein guͤnſtiges Auge
auf mich zu werfen: Sie eroͤffneten dieſes meinen
Ereunden, und dieſe billigten Jhre Vorfchlaͤge oh-
ne
[377]der Clariſſa.
ne mich daruͤber zu hoͤren; gleich als waͤre meine
eigene Wahl und das kuͤnftige Vergnuͤgen meines
Lebens nur eine Kleinigkeit. Diejenigen, die ein
Recht hatten in allen billigen Dingen Gehorſahm
von mir zu erwarten, drungen auf einen unum-
ſchraͤnckten und blinden Gehorſahm. Jch war ſo
ungluͤcklich, andere Gedancken zu hegen als ſie:
faſt gleich zu Anfang zeigte ſich ſchon die Verſchie-
denheit unſerer Gedancken. Jch bat ſie, in einer
Sache die meine eigene kuͤnftige Wohlfahrth anbe-
trifft mit mir Geduld zu haben: allein es war al-
les umſonſt. Hierauf ſagte ich Jhnen ſelbſt mei-
ne Meinung in das Geſicht, weil ich glaubte, daß
mich die Aufrichtigkeit hiezu verbaͤnde. Jch ſagte
Jhnen ſogar, daß mein Hertz ſchon vergeben ſey.
Allein zu meinem Leydweſen und Verwunderung
blieben Sie bey Jhrer Anfoderung, und bleiben
noch dabey.
Die Folgen hievon ſind fuͤr mich ſo betruͤbt ge-
weſen, daß ich ſie nicht widerhohlen mag. Sie
haben einen ſo freyen Zutritt in unſerem Hauſe, daß
ſie Jhnen mehr als zu bekannt ſeyn muͤſſen: mehr
als zu bekannt, ſo wohl in Abſicht auf meine Ehre,
als auf den Begriff, den ich mir daher von Jhrem
Gemuͤthe machen muß. Jch muß mir dergleichen
Dinge gefallen laſſen, als ich vorhin nie gewohnt
geweſen bin zu ertragen, und auch jetzt nicht zu
verdienen meine. Die harte und unmoͤgliche Be-
dingung, unter welcher ich die Gunſt der Meini-
gen wider erhalten ſoll, iſt, daß ich die eintzige
A a 5Perſon
[378]Die Geſchichte
Perſon, die ich unter allen andern am wenigſten
lieben kann, allen andern vorziehen ſoll.
Da ich ſo geaͤngſtiget und ungluͤcklich gemacht
werde, und zwar das alles um Jhrent willen, und
wegen Jhrer grauſamen Beſtaͤndigkeit, ſo ſchrei-
be ich an Sie, um von Jhnen die Gemuͤths-Ruhe
wider zu fodern, die Sie mir geraubet haben: um
die Liebe ſo vieler werthen Freunde mir von Jhnen
auszubitten, der Sie mich verluſtig machen: und
(falls Sie anders ein ſo edles Hertz haben, als
man bey einer Manns-Perſon und bey einem Ca-
vallier erwarten ſollte) um Sie zu beſchweren, daß
Sie von einem Geſuch abſtehen, das mit ſo uner-
traͤglichen Folgen gegen die, welche Sie zu lieben
vorgeben, verknuͤpft geweſen iſt.
Wenn Sie mich in der That werth ſchaͤtzen,
wie mich meine Freunde bereden wollen, und Sie
ſelbſt vorgeben, ſo muß es doch eine ſehr eigennuͤ-
zige Werthſchaͤtzung ſeyn: eine Werthſchaͤtzung
die mich zu keiner Danckbarkeit verpflichten kann,
weil ſie fuͤr mich die ungluͤcklichſten Wuͤrckungen
hat. Um Jhrer und nicht um meinetwillen moͤ-
gen Sie mich werth ſchaͤtzen: und ſelbſt in dieſer
Abſicht irren Sie ſich. Denn wird ein kluger
Mann wuͤnſchen, eine ſolche Perſon zu heyrathen,
die kein Hertz zu vergeben hat? Die ihn nicht lie-
ben kann? Die eine ſchlimme Frau werden muß?
Und wie grauſam iſt es, ein arm es Kind, das
gern eine gute Frau werden wollte, dazu zwingen,
daß ſie eine ſchlimme Frau werden muß?
Wenn
[379]der Clariſſa.
Wenn ich mich in meinem Urtheil nicht betriege,
ſo ſind unſere Neigungen ſehr verſchieden. Ein je-
des anderes Frauenzimmer wird Sie gluͤcklicher
machen koͤnnen als ich. Das was ich Jhrentwe-
gen leyde, und die Hartnaͤckigkeit (nach dem Aus-
ſpruch meiner Freunde) damit ich dieſes leyden er-
trage, koͤnnten Sie ſchon hievon uͤberzeugen; wenu
ich auch nicht im Stande waͤre, eine ſo gegruͤnde-
te Urſache meiner wunderlich ſcheinenden Auffuͤh-
rung anzugeben, als dieſe iſt, daß ich mich nicht
entſchlieſſen kann einen Mann zu nehmen, fuͤr den
ich keine Werth-Achtung habe.
Wenn Sie aber nicht ſo viel edles in Jhrem
Gemuͤth haben, daß Sie aus Liebe zu mir von
Jhrem Geſuch ablaſſen koͤnnen: ſo beſchwoͤre ich
Sie, aus Liebe zu ſich ſelbſt und um Jhrer kuͤnfti-
gen Ruhe und Wohlfarth willen dieſes zu thun,
und ihre Liebe auf eine Perſon zu richten, die es
wuͤrdiger iſt. Denn warum wollten Sie verlan-
gen, mich ungluͤcklich zu machen, ohne doch ſelbſt
gluͤcklich zu werden? Sie werden hiedurch das
Jhrige zu meiner Ausſoͤhnung mit meinen Anver-
wandten beytragen: und wenn die zu Stande
kommt, ſo werden Sie mich in eben ſo gluͤcklichen
Umſtaͤnden verlaſſen, als Sie mich gefunden haben.
Sie brauchen nur zu ſagen: Sie ſaͤhen keine
Hoffnung mich zu gewinnen: wie Sie es viel-
leicht aus Hoͤflichkeit auszudruͤcken belieben wer-
den; (und in der That kann auch keine gewiſſere
Wahrheit ſeyn, als dieſe) Sie wollten deswegen
nicht weiter an mich gedencken, ſondern ſich nach
einer andern Parthey umſehen.
Wenn
[380]Die Geſchichte
Wenn Sie dieſe Bitte erfuͤllen, ſo werden Sie
mich Jhnen durch eine ſo edle Grosmuth unend-
lich verbinden, und ich werde mit den heiſſeſten
Wuͤnſchen fuͤr ihre Wohlfahrth ſeyn.
Jhre gehorſamſte Dienerin
Cl. Harlowe.
demuͤthigſt zu uͤberreichen.
Allerliebſte Fraͤulein,
Jhr Brieff hat bey mir eine gantz andere Wir-
ckung gehabt, als Jhre Abſicht dabey war. Er
hat mich zwiefach von der Vortreflichkeit Jhres
Hertzens und von der Ehre uͤberzeugt, die ich davon
haben wuͤrde, wenn ich Sie dereinſt die Meinige
nennen duͤrffte. Nennen Sie dieſes Eigennutz,
Eigenliebe, oder wie Sie ſonſt wollen, ſo muß
ich doch bey meiner Bitte beharren: und wie gluͤck-
lich wuͤrde ich ſeyn, wenn meine Geduld, meine
Unterthaͤnigkeit und meine Beſtaͤndigkeit endlich
alle Schwuͤrigkeiten uͤberwindet.
Da ihre lieben Eltern und Onckles und Jhre
uͤbrigen Anverwanten voͤllig beſchloſſen haben,
daß Sie mit ihrem Willen Herrn Lovelace nie
bekommen ſollen; und da mir niemand auſſer ihm
(wie ich glaube) im Wege ſtehet: ſo will ich mit
Geduld den Ausgang der Sache abwarten. Ver-
geben Sie mir was ich ſchreibe, liebſte Fraͤulein:
ich
[381]der Clariſſa.
ich wuͤrde mich eher bewegen laſſen, einem alles
mein Vermoͤgen als ein Zeichen meiner Edelmuͤ-
thigkeit zu ſchencken, wenn er ohne daſſelbe nicht
gluͤcklich ſeyn kaͤnnte; als daß ich einen viel un-
ſchaͤtzbarern Schatz ſollte fahren laſſen, um die
Gluͤckſeeligkeit eines andern zu befoͤrdern, und es
ihm leichter zu machen, daß er mich um denſelben
bringen koͤnnte.
Vergeben Sie mir, meine liebe Fraͤulein, daß
ich mich gezwungen ſehe, beſtaͤndig zu bleiben, ob
es mir gleich ſehr leyd thut, das Sie um meinet-
willen leyden muͤſſen, wie Sie es wenigſtens an-
ſehen. Jch habe nie vorhin ein Frauenzimmer
geſehen, das ich lieben konnte. So lange alſo
noch einige Hoffnung iſt, und ſo lange Sie an kei-
nen gluͤcklichen Freyer verſaget ſind, werde und
muß ich ſtets bleiben,
Jhr treuer und gehorſahmſter Bewunderer
Roger Solmes.
Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Was fuͤr ein artiger Einfall von Euch iſt das,
einen Brieff an Herrn Solmes zu ſchreiben, und
von ihm zu begehren, daß er ſeine Anſpruͤche an
Euch aufgeben moͤge. Unter allen Romaneſquen
Schwuͤngen, die Eure Luſt immer geweſen ſind,
iſt dieſes der hoͤchſte und ſonderbahrſte. Jch will
der Dinge nicht gedencken, die uns alle gegen Euch
entzuͤn-
[382]Die Geſchichte
entzuͤnden, nehmlich daß Jhr euch ſo guͤnſtig und
geneigt gegen den Boͤſewicht erklaͤret, und mir und
eurer Schweſter und Onckles ſo grob begegnet,
von denen aber der eine zur Verantwortung ge-
kommen iſt. Allein wie koͤnnt Jhr dasjenige Be-
tragen Eurer Freunde, daruͤber Jhr ſo bittere Kla-
gen fuͤhret, dem Herrn Solmes Schuld geben?
Jhr wiſſet ja, kleines Naͤrrichen, daß eur verliebtes
Hertz, ſo von Lovelacen eingenommen iſt, Euch
alle dieſe unangenehmen Dinge zuziehet; die ge-
wiß nicht unterblieben ſeyn wuͤrden, wenn gleich
Herr Solmes Euch nie die Ehre gethan haͤtte, an
Euch zu dencken.
Da ihr hievon ſelbſt uͤberzeuget ſeyn muͤſſet, ſo
uͤberlegt einmahl, artige witzige Fraͤulein, (wenn
Euch anders die Liebe noch Ruhe laͤßt, etwas zu
uͤberlegen) wie artig das laſſen muß, wenn Jhr
mit uns allen ſcheltet, und Herrn Solmes ſo
hefftig beſchuldiget als Jhr koͤnnt. Wie gut ſchickt
es ſich fuͤr Euch, Eure vorige Gluͤckſeeligkeit von
ihm wider zu fodern; wie Jhr es zu nennen beliebet?
Denn ein bloſſes Wort iſt das Wort Gluͤck ſee-
ligkeit in Eurem Munde. Wenn Jhr unſere
Liebe fuͤr eine Gluͤckſeeligkeit hieltet, ſo wuͤrdet Jhr
ſie Euch ſelbſt wider geben, da dieſes in Eurer
Macht ſtehet. Schreibt deswegen nur halb ſo nach-
druͤcklich, Fraͤulein Naſeweiß, wo es ſo ſchlecht
angebracht iſt. Seyd verſichert, Jhr moͤget Herrn
Solmes bekommen oder nicht, ſo ſollt Jhr doch
nie Eur Hertz-Blaͤttchen, den liederlichen Love-
lace, haben, wenn Eltern, wenn Onckles, wenn
ich
[383]der Clariſſa.
ich, wenn wir alle es noch hindern koͤnnen. Nein,
mein gefallener Engel. Jhr ſollt Eure Eltern
nicht durch einen ſolchen Sohn, und mich nicht
durch einen ſolchen Bruder, als Lovelace der Ertz-
Boͤſewicht ſeyn wuͤrde, beſchimpfen. Beruhiget
alſo lieber Eur Hertz, und laſſet alle Gedancken
von ihm fahren, wenn Jhr Vergebung, Verſoͤh-
nung und Werthachtung von einem eintzigen un-
ter uns, und inſonderheit von demjenigen erwar-
ten wollet, der ſich jetzt noch nennet
Euren Bruder
Jacob Harlowe.
P. S. Jch weiß, was Jhr fuͤr eine Fertigkeit im
Schreiben habt. Wenn Jhr mir eine Antwort
zuſchickt, ſo ſollt Jhr ſie unerbrochen wider bekom-
men, denn in einer ſo deutlichen Sache verlange
ich nicht Streit-Schrifften mit Euch verkehrten
Maͤdchen zu wechſeln. Jch wollte Euch nur Ein
vor allemahl wegen Herrn Solmes beßer beleh-
ren: dem ich es im uͤbrigen ſehr verdencke, daß er
ſich um Euch Muͤhe giebt.
Der vier und dreyßigſte Brieff.
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford
Jch erhalte mit großem Veꝛgnuͤgen die baldigen
u. froͤlichen Verſicherungen eurer Pflichtmaͤſ-
ſigen
[384]Die Geſchichte
ſigen Treue und Liebe. Gib meinen beſten Freun-
den, deren Nahmen ich in dem vorigen Brieffe
ſchrieb, hievon Nachricht.
Jch wollte, daß du zu mir kaͤmeſt, ſo bald es
dir moͤglich ſeyn wird: ich glaube nicht, daß ich
der uͤbrigen ſo bald benoͤthigt ſeyn werde. Sie
koͤnnen aber wol nach dem Gute des Lord M. rei-
ſen. Jch will mich auch dort einfinden, nicht ſo
wohl ſie zu empfangen, als nur den Lord M. zu
beruhigen und ihn zu verſichern, daß kein neuer
Streich vor iſt, der ihm zum zweyten mahl Muͤhe
und Ungelegenheit machen koͤnnte.
Du ſelbſt mußt beſtaͤndig um mich ſeyn: nicht
zu meiner Sicherheit, denn die gantze Familie
kann weiter nichts als prahlen. Sie bellen nur,
wenn ſie nicht zu nahe ſind. Jch verlange es blos
von dir zu meinem Vergnuͤgen, damit du durch
deine Beleſenheit und durch die kraͤftigſten Stel-
len der ſchoͤnſten Lateiniſchen und Engliſchen
Schriftſteller mein vor Liebe krantzes Hertz wider
erpuicken moͤgeſt.
Es waͤre mir am beſten, wenn du in deinem
atten Corporals Rock zu mir kaͤmeſt, und deinen
Diener ohne Montur mitbraͤchteſt. Er koͤnnte
etwas freyer mit dir umgehen, und fuͤr einen weit-
laͤufftigen Anverwanten ausgegeben werden, fuͤr
den du oben (†) ſorgen wollteſt. Jch meine
nicht im Himmel: eine ſo falſche Auslegung wirſt
du nicht machen. Du wirſt mich in einer kleinen
Bier-
[385]der Clariſſa.
Bier-Schencke, die die Leute ein Wirths-Haus
nennen, antreffen. Das Zeichen iſt zum weiſſen
Hirſch. Dieſer Hirſch iſt ſehr verwundet, doch
nur durch das Wetter. Es liegt in einem arm-
ſeeligen Dorfe eine gute Meile von Harlowe-
Burg. Jedermann kennet Harlowe-Burg:
denn es iſt ſeit kurtzer Zeit, ſo wie Verſailles,
beynahe aus einem Miſt-Hauffen entſtanden,
und wer ein wenig bey Jahren iſt, kann ſich des
vorigen Zuſtandes noch erinnern. Jnſonderheit
pflegen es alle Nothduͤrftige zu kennen; doch nur
ſeit einigen Jahren, ſeitdem ſich ein gewiſſer En-
gel unter den Soͤhnen und Toͤchtern der Men-
ſchen hat blicken laſſen.
Die Leute in dem weiſſen Hirſch ſind arm, aber
ehrlich. Jch habe es ihnen in den Kopf geſetzt,
daß ich von groſſem Stande bin, und mich ver-
kleidet habe: nun laͤßt ſich ihre Ehrfurcht und
Demuth gar nicht einſchraͤncken. Es iſt eine klei-
ne freundliche Tochter im Hauſe, die vor ſechs Ta-
gen ſiebenzehn Jahr alt ward: ich nenne ſie nur
mein Roſen-Knoͤſpchen. Sie hat keine Mut-
teram Leben: Die Gros-Mutter, eine reinliche
alte Frau, ſo gut als je eine auf dem Lande gewe-
ſen iſt, hat mich gebeten Mitleyden mit dem armen
Maͤdchen zu haben, und es nicht zu verfuͤhren.
Sie hat mich auf der rechten Seite angegriffen.
Manches kleinen ſchelmiſchen Maͤdchens wuͤrde
ich geſchont haben, wenn mein Vermoͤgen es zu
verfuͤhren erkannt, und ich fruͤh genug um Barm-
hertzigkeit gebeten waͤre. Mein Wahlſpruch ſoll
Erſter Theil. B bimmer
[386]Die Geſchichte
immer das Depellare ſuperbas ſeyn, wenn ich mich
wider in eine neue Liebe einlaſſen kann.
Unterdeſſen daß ich Wind und Wetter uͤber
meinem Kopfe brauſen laſſe, und um die Mauren
und Forſten von Harlowe-Burg herum ſchlei-
che, wirſt du dir manches Vergnuͤgen mit dem
kleinen unſchuldigen Maͤdchen machen koͤnnen.
Sie hat eine unſchuldige Einfalt an ſich, die dir
ſehr wohl gefallen wird: ſie iſt lauter Demuth,
lauter Dienſtfertigkeit, lauter Unſchuld; und ſie
gefaͤllt mir wegen dieſer Eigenſchaften und ſel bſt
wegen ihrer Unſchuld wohl. Du wirſt in ihrem
Gemuͤth alles das entdecken koͤnnen, was das
vornehme Frauenzimmer verſtecken lernt, und
eben durch dieſe Kunſt gezwungen und unange-
nehm wird.
Allein ich warne dich zum voraus, daß du dich
nicht unterſtehſt zu thun, was ich ſelbſt fuͤr die gan-
tze Welt nicht thun wollte, nehmlich, mein Ro-
ſen-Knoͤſpchen abzubrechen. Sie iſt die eintzige
ſchoͤne Blume, die in zehn Jahren in dieſer gan-
tzen Gegend gewachſen iſt, und in den kuͤnftigen
zehn Jahren wachſen wird. Denn ich habe alle
verwelckte und alle ſproſſende Roſen genau ange-
ſehen, da ich vor langer Weile oft nicht weiß,
was ich anfangen ſoll.
Jch bin lange Zeit nicht ſo tugendhaft geweſen:
ich kann wol ſagen, ſeit dem ich inſeribirt bin. Es
iſt mir auch zu rathen, daß ich tugendhaft bin.
Mein Aufenthalt koͤnnte auf eine oder andere
Weiſe ausgekundſchaftet werden; und man koͤn-
te
[387]der Clariſſa.
te glauben, daß mein Roſen-Knoͤſpchen der Ma-
gnet waͤre, der mich hieher zoͤge. Wenn mir ſo
liebenswuͤrdige und einfaͤltige Leute ein gutes
Zeugniß geben, ſo kann ich dadurch ein anderes
Hertz gewinnen: auf das Zeugniß der Groß-
Mutter kann man immer einen Eyd ablegen; und
der Vater iſt ein guter ehrlicher Mann, der keine
andere Freude hat als ſein Roſen-Knoͤſpchen.
Schone mir deshalb dieſes Roſen-Knoͤſpchen:
ich werde dich oft allein laſſen muͤſſen. Beobach-
te in Abſicht auf mein Roſen-Knoͤſpchen das Ge-
ſetz, von dem ich nie abgewichen bin, ohne daß es
mir eine lange Reue gekoſtet hat: nehmlich, kein
Maͤdchen ungluͤcklich zu machen, das ſich auf
nichts als auf ihre Unſchuld und Ehrlichkeit ver-
laſſen kann; und das ſich durch Vermoͤgen vor
dem Spott boshafterer Gemuͤther und vor der
aͤuſſerſten Armuth nicht in Sicherheit ſetzen kann.
Ein ſolches Maͤdchen wird ſich nur heimlich graͤ-
men, und um den Laͤſterungen der Welt zu ent-
fliehen aus einer verbotenen Quelle trincken, oder
das Strumpf-Band zu Huͤlffe nehmen; welchen
Entſchluß vermuthlich die ungluͤckliche und ver-
laſſene Liebe zuerſt unter den Menſchen bekannt
gemacht hat. Mein Roſen-Knoͤſpchen wird dei-
ner Geſchicklich keit in der Verfuͤhrung nicht Trotz
bieten: ſie wird ſich nicht auf ihre eigene Staͤrcke
verlaſſen, noch auf dich ein wachſahmes und arg-
woͤhniſches Auge werfen, dadurch du am meiſten
gereitzet werden wuͤrdeſt, alle deine Argliſtigkeit
an ihr zu zeigen. Ohne an die Gefahr zu dencken,
B b 2wird
[388]Die Geſchichte
wird dieſes Lamm ſeinen Hals kaum vor deinem
Meſſer zuruͤck ziehen. Allein werde ja an mei-
nem Lamm nicht zum Schlaͤchter.
Werde es um ſo viel weniger um der Urſache
willen, die ich Dir jetzt melden will. Jhr artiges
Hertz empfindet etwas von Liebe: ihre ſanfte
Bruſt ſchwillt von Etwas, dem ſie noch keinen
Nahmen zu geben weiß. Jch belaurete ſie ein-
mahl, als ſie einem jungen Tiſcher, deſſen Mut-
ter eine Witwe in der Nachbarſchaft iſt, beſtaͤn-
dig nachſahe, der nach ihrer Redens-Art in dem
kleinen weiſſen Hauſe uͤber den Weg wohnt.
Es ſcheint ein artiger junger Menſch zu ſeyn, ohn-
gefaͤhr drey Jahr aͤlter als ſie. Da ſie beyde
Spiel-Cameraden geweſen ſind, er bis in das
achtzehnte und ſie bis in das fuͤnfzehnte Jahr, ſo
muͤſſen ſie jetzt deſto fremder thun, obgleich in ih-
ren Hertzen der Grund zu einer viel naͤhern Be-
kantſchaft lieget, als ſie jemahls gehabt haben.
Denn ich habe bald gemerckt, daß ſie ſich von bey-
den Seiten lieben. Jch ſahe von ihm immer ei-
nen Kratz-Fuß und Buͤckling, ſo bald er ſein arti-
ges Kind gewahr ward, und er kehrte ſich oft um,
ihrem Auge, das ſeinem Ruͤcken nachfolgete, ei-
nen Blick zu geben. Wenn ein krummer Gang
ihn verhinderte ſie zu ſehen, ſo beugete er den gan-
tzen Leib herum, und nahm den Huth deſto ehrer-
bietiger ab. Sie beantwortete dieſes, ohne mich
zu ſehen, weil ich mich hinter ihr verborgen hatte,
mit einem tieffen Knix, und mit einem Seufzer,
den er nicht hoͤren konnte. Du gluͤcklicher
Schelm!
[389]der Clariſſa.
Schelm! dachte ich bey mir ſelbſt, und machte
mich davon. Mein Roſen-Knoͤſpchen trat bald
ſo froͤlich in das Haus herein, als wenn es mit
dem ſtummen Anſehen ſchon vergnuͤgt waͤre, und
nichts weiter wuͤnſchete.
Jch habe ihr kleines Hertzchen erforſchet; ſie
hat mich zu ihrem Vertrauten erwaͤhlt. Sie ge-
ſteht mir, ſie moͤchte Haͤnschen Bartons recht
gern leyden: und Haͤnschen Bartons haͤtte ihr
auch geſagt, er moͤchte kein Maͤdchen ſo gern ley-
den, als ſie. Allein es ſey nicht daran zu dencken.
‒ ‒ ‒ Warum denn nicht daran zu dencken? fragte
ich. ‒ ‒ Ach, ſie wuͤſte es nicht: und mit dem Worte
kam ein Seufzer. Der junge Barton haͤtte eine
alte Baſe, die wollte ihm hundert Pfund ſchen-
cken, wenn er ausgelernt haͤtte. Jhr Vater aber
koͤnnte ihr weiter nichts mitgeben, als einige Klei-
nigkeiten von Hausgeraͤthe zur Ausſtattung.
Haͤnschens Mutter ſagte zwar, ſie wuͤßte keine
huͤbſchere und artigere Frau fuͤr Haͤnschen. Aber
(ein neuer Seufzer) was hilft das ſagen? Jch
wollte nicht, daß Haͤnschen um meinetwillen un-
gluͤcklich und duͤrftig wuͤrde. Das wuͤrde mir
anch nichts nuͤtzen.
Was wollte ich darum geben, daß ich ein ſo
aufrichtiges und unſchuldiges Hertz haͤtte als
mein Roſen-Knoͤſpchen und ihr Haͤnschen? Bey
meiner Seele, mein Engel bekehrt mich noch,
wenn uns nicht der unverſoͤhnliche Unverſtand
der thoͤrichten Familie beyde ungluͤcklich macht.
Jch glaube, ich habe ſelbſt von Natur ein ver-
B b 3wor-
[390]Die Geſchichte
worrenes und gefaͤhrliches Hertz. Dann und
wann ſteigt ein guter Gedancke darin auf, allein
er ſtirbt bald wider. Die Liebe zur Intrigue, und
ein Kopf der an hoͤſen Erfindungen reich iſt, toͤdtet
ihn. Das Gluͤck hat mich in Umſtaͤnde geſetzt, die
mir Muth machen, Streiche zu ſpielen; und die
gute Geſundheit traͤgt auch das ihrige dazu bey-
Doch was ſoll ich den Schelm bemaͤnteln! Jch
waͤre ein Ertz-Schelm geworden, wenn ich auch
zum Pfluge gebohren waͤre.
Der Teuffel ſteckt in den Frauens Leuten. Sie
ſind ewige Verfuͤhrerinnen. Wer iſt jemahls wi-
der tugendhaft geworden, nachdem er einmahl
geſuͤndiget hat? Wir Frey-Geiſter ſuchen die
Tugend gleichſahm auszurotten, und verſchwoͤ-
ren uns gegen ſie: allein was iſt das Ziel unſerer
Wuͤnſche in Abſicht auf das Frauenzimmer oh-
ne Tugend? Die Vorbereitungen und die Hof-
nung ſind faſt unſer gantzes Vergnuͤgen: das
Zuruͤckdencken an unſern Sieg kann auch ver-
gnuͤgen wenn das Hertz ſchon verhaͤrtet iſt, und
keins Empfindung von vergangenen Uebelthaten
bat. Allein der Genuß ſelbſt iſt ein fluͤchtiges
nichts. Und dieſes iſt doch der Endzweck, ohne
den ſich unſere Natur nicht befriedigen laͤßt.
Du ſieheſt, was fuͤr ernſthaffte Gedancken ein
unſchuldiges Kind bey mir erwecken kann. Jch
freue mich, wenn ich mercke, daß meine Beſſerung
noch nicht unmoͤglich iſt: allein ich glaube, ich
werde beſſere Geſellſchaft ſuchen muͤſſen, als ich
bisher gehabt habe.
Wir
[391]der Clariſſa.
Wir verderben und verhaͤrten einer den an-
dern. Werde deswegen nicht betruͤbt, Junge.
Jch werde Zeit genug haben, es dir und deinen
Bruͤdern ſo fruͤh zum voraus zu ſagen, wenn ich
mich beßeru will, daß ihr einen andern Anfuͤhrer
waͤhlen koͤnnt. Und wen wird die Wahl anders
treffen, als dich?
Es iſt meine Regel, ein gutes Werck zu thun,
und gleichſahm ein Opfer zu bringen, wenn ich
mir einer Ausſchweiffung bewuſt bin, die unter
die Tod-Suͤnden gehoͤren kann. Da ich nun jetzt
ziemlich in Schuld von dieſer Art bin, ſo habe ich
mich entſchloßen, das unſchuldige Paar gluͤcklich
zu machen, und noch andere hundert Pfund zu
den hundert Pfund des jungen Bartons hinzu
zu thun, ehe ich dieſe Gegend verlaße. Gluͤcklich
und nach Wunſch hoffe ich ſie zu verlaſſen: oder
es wird ſchwer halten, daß mich die Rachgier
nicht verleiten ſollte noch einmahl ſo viel Ungluͤck
anzurichten: aber kein Ungluͤck fuͤr mein Roſen-
Knoͤſpchen. Darum, Darum, noch ein halb
Dutzend Darum verſchone ja mein Roſen-
Knoͤſpchen.
Jch werde geſtoͤrt. Jch ſchreibe bald einen an-
dern Brief; und ich will beyde zugleich ſchicken.
Der fuͤnf und dreyßigſte Brief
von
Herrn Lovelaee an Herrn Johann Belford.
Durch meinen aufmerckſahmen Spion erfahre
ich alles, was ſowohl mein unvergleichliches
B b 4Kind
[392]Die Geſchichte
Kind als ihre Anverwanten vornehmen. Er iſt
meinem Hertzen eine Labung, wenn ich mir vor-
ſtelle, wie die Onckles und der Bruder mit dem
Schelm ſo freundſchaftlich umgehen, und ihn in
alle ihre Geheimnuͤſſe ſehen laſſen, und er handelt
doch in allen Stuͤcken nur nach meiner Vor-
ſchrift. Jch habe ihm inzwiſchen bey Verluſt
ſeines woͤchentlichen Soldes und aller meiner
Gunſt, befohlen, mit aller moͤglichen Sorgfalt zu
verhuͤten, daß weder meine Schoͤne noch irgend
ein auderer in der Familie einigen Verdacht auf
ihn werfen moͤge. Er ſoll zwar auf die Gaͤnge
meiner Goͤttin Acht geben, allein blos um andere
Bedienten abzuhalten, daß ſie ihr nicht nachſpuͤ-
ren: er ſoll ſich aber ſelbſt nicht vor ihr ſehen laſſen.
Er hat dem Bruder erzaͤhlen muͤſſen: das liebe
Kind habe ihn beſtechen wollen, (ob es gleich nie
daran gedacht hat) einen Brief (den es nie ge-
ſchrieben hat) an die Fraͤulein Howe zu bringen.
Er vermuthe, es wuͤrde auch einer an mich einge-
ſchloſſen geweſen ſeyn. Er haͤtte es ihr aber abge-
ſchlagen, und baͤte, ſie moͤchten ſich nichts davon
gegen die Fraͤulein mercken laſſen. Dieſe Nach-
richt brachte ihm einen gantzen halben Gulden
und ſehr viel Lob zu wege. Es erfolgete darauf ein
Befehl an alle Bedienten, ſehr wach ſahm zu ſeyn,
damit die Fraͤulein nicht auf ein oder andere Wei-
ſe den Brief beſtellen moͤchte. Nach Verlauf ei-
ner Stunde ward ihm befohlen, ihr in den Weg
zu kommen, und es ihr abzubitten, daß er vorhin
den Brief nicht haͤtte beſtellen wollen: nebſt dem
Aner-
[393]der Clariſſa.
Anerbieten, ihn zu uͤberbringen. Fuͤr ihn wird
wol das rathſamſte ſeyn, vorzugeben, ſie haͤtte
ihm nunmehr auch den Brieff nicht anvertrauen
wollen.
Kannſt du mercken, wie viele Endzwecke ich
durch dieſes eintzige Mittel erreiche?
Die Fraͤulein behaͤlt dadurch, ohne die Urſa-
che zu wiſſen, die Freyheit allein in dem Garten
herum zu gehen. Des Lehmanns Erzaͤhlung
beſtaͤrckt die Jhrigen in der Meinung, daß ſie
nun keine Briefe mehr wechſeln koͤnne, nachdem
ſie ihr Cammer-Maͤdchen abgeſchaft haben: denn
ſonſt wuͤrde ſie es nicht gewagt haben, dieſen Be-
dienten zu beſtechen, der keiner von ihren Ver-
trauten iſt: ſie kann demnach ihren Brief-Wech-
ſel mit mir und der Fraͤulein Howe ohne einigen
Verdacht fortſetzen.
Vielleicht bekomme ich auch durch eben dieſes
Mittel eine Gelegenheit, mich mit ihr zu unterre-
den. Jch dencke jetzt eben darauf, wie ich mir ei-
ne ſolche Gelegenheit machen will, ſie mag es bil-
ligen oder nicht, nachdem ich durch meinen
Spion, der alle andere Bedienten abhalten
kann erfahren habe, daß ſie alle Morgen und
Abends nach einem abgelegenen Holtz-Behaͤlt-
niß unter dem Vorwand gehet, einige Bantami-
ſche Huͤner von ihres Gros Vatters Zucht, an
denen ſie noch ſehr viel Vergnuͤgen findet, und ei-
niges andere artige Feder-Vieh zu ſehen und zu
ſuͤttern. Jch weiß alle ihre Tritte und Schritte
an dieſem Orte: und es kommt mir vor, daß hier
B b 5ihr
[394]Die Geſchichte
ihr Poſt-Contoir an die Fraͤulein Howe iſt,
nachdem ſie mir geſtanden hat, daß ſie mit dieſer
Briefe wechſele.
Dieſe Unterredung ſoll ſie hoffentlich dazu
bringen, mir dieſe Freyheit noch mehrmahls zu
geſtatten. Denn wenn ſie gegen den Ort unſe-
rer erſten Zuſammenkunft eine Einwendung hat,
ſo kann ich ihr in dem ſchattigten Theil des Gar-
tens, der nach Hollaͤndiſchen Geſchmack angelegt
iſt, aufwarten, ſo bald ſie es befiehlt; denn der
vorhin erwaͤhnte Lehmann hat mir Gelegenheit
verſchaft, mir zwey Schluͤſſel zu der Garten-Thuͤr
machen zu laſſen, die nach dem unrichtigen
Waͤldchen fuͤhrt, in dem es, wie die Leute meinen,
ſpuͤckt, weil ſich einer vor zwantzig Jahren darinn
erhenckt hat. Den einen Schluͤſſel habe ich ihm
aus gewiſſen Abſichten zuruͤck gegeben. Er hat
mir verſprochen auf meinen erſten Winck die
Thuͤr inwendig aufzuriegeln.
Jch habe ihm aber zum voraus auf meine Eh-
re verſprechen muͤſſen, daß ich mich dieſes Ein-
gangs in den Garten nicht zum Schaden meiner
Feinde bedienen will. Denn er ſagt: er haͤtte ſei-
ne Herrſchaft lieb; und wenn er mich nicht fuͤr ei-
nen ehrliebenden Herrn hielte, und glaubte, daß
eine Verbindung mit mir ſeiner Herrſchaft eine
Ehre ſeyn wuͤrde, und daß ſie es ſelbſt dafuͤr hal-
ten wuͤrde, wenn nur erſt die Vorurtheile bey
Seite gelegt waͤren: ſo wollte er die Welt nicht
nehmen, um das zu thun was er jetzt thaͤte.
Jch habe nie einen Schelm gekannt, der nicht
ſeine
[395]der Clariſſa.
ſeine Ausflucht haͤtte. Was fuͤr eine Ehre fuͤr die
Ehrlichkeit, daß ein jeder ehrlich ſeyn will,
wenn er gleich weiß, daß er denſelben Augenblick
Wege gehet, die ihn vor der gantzen Welt und
vor ſeinem eigenen Gewiſſen zum Schelm ma-
chen werden!
Was kann aber die tumme Familie fuͤr Urſa-
chen haben, mich zu ſolchen Mitteln zu zwingen?
Jch kann es nicht begreiffen. Liebe und Rache
uͤberwerfen ſich bey mir: und bald iſt dieſe bald
jene der andern uͤberlegen. Wenn meine Liebe
ungluͤcklich iſt, ſo wird das mein eintziger Troſt
ſeyn, daß ich meine Rache kuͤhlen kann: und
wahrlich ſie ſoll ihnen empfindlich genug ſeyn,
wenn ich auch mein Vaterland hernach auf ewig
raͤumen muͤßte.
Jch will meinem unvergleichlichen Kinde un-
vermuthet in den Weg kommen: zweymahl ha-
be ich es vergeblich zu thun geſucht. Jch werde
alsdenn ſehen, was ich zu hoffen habe: wenn ich
mercke, daß ich nichts bey ihr ausrichten kann, ſo
haͤtte ich wohl Luſt ſie zu entfuͤhren. Das waͤre
eine Entfuͤhrung, die wuͤrdig iſt von dem Jupiter
begangen zu ſeyn.
Allein alles was ich bey dieſem erſten Beſuch
vornehme, ſoll ſanft ſeyn: alle meine Bitten an
ſie demuͤthig und ehrerbietig. Blos ihre Hand
ſoll einen Druck von meinen Lippen empfinden;
von meinen bebenden Lippen; denn ſie ſollen, und
ich weiß ſie werden von ſelbſt beben. Meine
Seufzer ſollen ſo ſanfte und gelaſſen ſeyn, als die
Seufzer
[396]Die Geſchichte
Seufzer meines Roſen-Knoͤſpchens. Durch mei-
ne demuͤthige Unterthaͤnigkeit will ich ihr ein Zu-
trauen zu mir machen. Die Abgelegenheit des
Ortes will ich mir gar nicht zu Nutze machen;
denn mein eintziger Zweck iſt, ihr die Furcht vor
mir zu benehmen, und zu machen, daß ſie ſich
kuͤnſtig auf mein Wort und auf meine Ehrlich-
keit verlaͤßt. Jch will mich nur ſehr wenig uͤber
ihre Anverwante beklagen, und denen gar nicht
drohen die mir drohen: allein ſo wie Drydens
Loͤwe, damit ich meine ſchoͤne Beute deſto gewiſ-
ſer bekommen moͤge, oder (wo das nicht geſchie-
het) meinen Muth deſto mehr kuͤhlen koͤnne.
Erwacht
[397]der Clariſſa.
Der ſechs und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jch bin vor Schrecken außer mir; und ich
kann noch nicht wieder zu Athem kommen.
Die Urſache iſt dieſe. Jch ging unter dem ge-
woͤhnlichen Vorwand hinunter und hoffte etwas
von Jhnen zu finden. Es that mir Leyd, daß ich
mich betrogen ſehen mußte; und als ich aus dem
Holtz-Stall zuruͤck ging ſo hoͤrte ich ein Geraͤuſch,
als wenn jemand hinter dem Holtz verſteckt waͤ-
re. Jch wunderte mich ungemein, als jemand
hinter dem Holtze hervor kam. Ach! dachte ich
ſo gleich: das iſt die Frucht des verbotenen Brief-
wechſels.
So bald ich ihn ſahe, bat er mich, ich moͤchte
mich nicht erſchrecken. Als er naͤher kam ſo er-
oͤffnete ſich ein Ueberrock von einem Pferde-
Knecht: und wer meinen Sie, wer ſteckte darin,
als Herr Lovelace? Jch wollte ruffen, ſobald ich
ſahe,
[398]Die Geſchichte
ſahe, daß es eine Manns-Perſon war, und
abermahls als ich ſahe wer es war. Allein ich hat-
te keine Stimme. Wenn ich mich nicht an ei-
nen alten Staͤnder gehalten haͤtte, ſo wuͤrde ich
zu Boden geſuncken ſeyn.
Sie wiſſen daß ich ihm bisher nicht erlaubt ha-
be, mir ſo nahe zu kommen, oder frey und be-
kannt gegen mich zu thun. Dencken Sie nun
ſelbſt, wie groß mein Schrecken geweſen ſeyn
muͤße, als ich wieder zu mir ſelbſt kam, und mir
alles was ich von jederman in unſerm Hauſe ge-
gen ihn gehoͤrt hatte beyfiel. Jch wuſte, daß ich
es mit einem Menſchen zu thun haͤtte, der alles
wagen koͤnnte, und ich war in einem vom Hauſe
entfernten Ort bey ihm, der nahe bey einem ab-
gelegenem Fuß-Steige war. Allein er war ſo
ehrerbietig, daß alle dieſe Furcht ſehr bald ver-
ſchwand, und die Furcht entdeckt und von mei-
nem Bruder uͤberfallen zu werden an deren Stel-
le kam. Jch konnte leicht zum voraus ſehen, was
die Folgen hievon ſeyn wuͤrden, wenn auch kein
weiteres Ungluͤck daraus entſtuͤnde: nehmlich,
daß man mich beſchuldigen wuͤrde, als haͤtte ich
Herrn Lovelace an den Ort hin beſchieden, das
man mich noch enger einſchraͤnckte, meinen
Briefwechſel mit Jhnen voͤllig hinderte, und An-
laß naͤhme noch ſchaͤrffere Zwangs-Mittel gegen
mich zu gebrauchen. Dieſe Gedancken machten
mich ſehr misvergnuͤgt uͤber ihn, daß er ſich un-
terſtand mir auf eine ſo ungebetene Weiſe ſeine
Aufwartung aufzudringen.
So
[399]der Clariſſa.
So bald ich wider reden konnte, gab ich ihm
meinen Unwillen ſehr nachdruͤcklich zu erkennen.
Jch ſagte: er ſchiene ſich wenig darum zu bekuͤm-
mern, ob er alle die Meinigen gegen mich auf-
braͤchte, wenn er nur ſeine ungeſtuͤmen Begierden
erfuͤllen koͤnnte. Jch verlangte, er moͤchte mich
den Augenblick verlaßen. Jch wollte hierauf ei-
lig weglauffen: er warff ſich aber in den Weg
und vor meine Fuͤße nieder, und bat mich nur ei-
nen Augenblick zu warten: er habe ſich dieſer Ue-
bereilung, wenn ich es ja ſo nehmen wollte, ſchul-
dig gemacht, um eine noch viel ſchaͤndlichere Ue-
bereilung nicht zu begehen. ‒ ‒ Denn, es kurtz zu
ſagen, er koͤnnte die Beſchimpfungen nicht laͤnger
verſchmertzen, die er von meiner Familie faſt alle
Stunden erlitte, wenn er fuͤrchten muͤßte, ſo
wenig Antheil an meinem Hertzen zu haben, und
vor ſich ſaͤhe, daß er zum Lohn ſeiner Gedult mich
endlich auf ewig verlieren, und daruͤber verſpot-
tet und laͤcherlich werden wuͤrde.
Sie wißen, wle beugſahm ſeine Knie ſind: daß
Sie ſo gar im Spaß geſagt haben: er thue klug
daran, wenn er oft in Kleinigkeiten etwas verſe-
he, damit er ſeine gelencken Glieder zu zeigen
Gelegenheit habe.
Er fuhr fort davon zu reden, daß er fuͤrchtete:
ein ſo artiges und gefaͤlliges Gemuͤth als ich haͤt-
te, und gegen alle (nur ihn ausgenommen) be-
wieſe, wuͤrde ſich doch endlich uͤberwinden laſ-
ſen, den Mann zu nehmen, den man mir aus
Boßheit und Rachgier geben wollte: aus Rach-
gier gegen mich, wegen des Teſtaments meines
Groß-
[400]Die Geſchichte
Groß-Vaters; und aus Rachgier gegen ihn,
weil er dem das Leben geſchenckt haͤtte, der ihm
das Leben haͤtte nehmen wollen, und der ihm ietzt
eine Hoffnung rauben wollte, die er hoͤher als das
Leben ſchaͤtzte. Er wiße wohl, daß mich der Ge-
horſahm gegen meine Eltern, darin ich andern
ein Muſter waͤre, geneigt machte, gegen andere
meine Pflicht zu erfuͤllen, wenn ſie gleich ihrer
Pflicht gegen mich vergaͤßen.
Jch antwortete ihm: er koͤnnte veſt verſichert
ſeyn, daß die Meinigen durch Haͤrte ihren Zweck
bey mir nicht erreichen wuͤrden. Ob ich gleich von
gantzem Hertzen und aufrichtig geſonnen waͤre,
lieber unverheyrathet zu bleiben; und ob ich gleich
heilig verſprechen koͤnnte; wenn ich ja heyrathen
ſollte, und ſie mir nur meine Freyheit ließen, daß
ich alsdenn die Perſon nie waͤhlen wolle, die ih-
nen misfaͤllig waͤre ‒ ‒
Er fiel mir in die Rede: ich wuͤrde ihm verge-
ben! er koͤnnte ſeinen groſſen Kummer nicht ver-
heelen, wenn er nach ſo vielen Proben ſeiner Lie-
be und recht folgſahmen Ergebenheit ‒ ‒ ‒
Mit Erlaubniß, daß ich ihnen wider in die Re-
de falle! (ſagte ich) warum behaupten ſie nicht
mit deutlichern Worten, daß ich ihnen ſehr ver-
pflichtet bin? Warum ſagen ſie nicht eben ſo
nachdruͤcklich, als ſie es jetzt zu verſtehen gaben,
daß ich ihnen fuͤr ihre Beſtaͤndigkeit, daruͤber ich
mit allen den Meinigen zerfallen bin, ſehr vielen
Danck ſchuldig bin, und daß es fuͤr eine Undanck-
barkeit anzuſehen ſey, wenn ich dieſe Beſtaͤndig-
keit nicht nach ihrem Wunſch belohne?
Er
[401]der Clariſſa.
Er antwortete: er wuͤrde ſich nie eine Wuͤr-
digkeit als in Vergleichung anderer, die meiner
noch unwuͤrdiger waͤren, anmaſſen. Er glaubte
nicht, daß ein Menſch auf der Welt wuͤrdig ſey,
mich zu beſitzen. Allein unter dieſer Einſchraͤn-
ckung muͤßte ich ihm verzeyhen, daß er auf etwas
mehr Gewogenheit gehoffet haͤtte, wenn er ſolche
Mit-Buhler haͤtte, als Symmes, Wyerley,
und ein ſo nichtswuͤrdiges Ungeziefer als Sol-
mes, den ich ſelbſt abgewieſen haͤtte. Jch redete
von ſeiner Beſtaͤndigkeit, und ſaͤhe ſie als die Ur-
ſache meines Ungluͤcks an. Es ſey ihm zwar
ohnmoͤglich, nicht beſtaͤndig zu ſeyn: indeſſen
koͤnnte ich gewiß glauben, daß wenn er auch nicht
in der Welt waͤre, ich dennoch eben ſo ſehr mit
meinen Anverwanten wuͤrde zerfallen ſeyn. Er
naͤhme ſich die Freyheit zu ſagen, daß einige Ge-
wogenheit gegen ihn mein Ungluͤck nicht vergroͤſ-
ſern, ſondern vielmehr der ſicherſte Ausgang aus
demſelben ſeyn wuͤrde. Sie haͤtten es einmahl
ſo weit getrieben, (wie ſehr fuͤrchte ich, daß dieſes
nichts als die Wahrheit iſt) daß ich ihnen nicht
anders gefaͤllig ſeyn koͤnte, als wenn ich mich Sol-
meſen aufopferte, Sie wuͤſten uͤber dieſes gar
zu wohl, was fuͤr ein Unterſcheid zwiſchen ihm und
Solmes ſey. Jenen hoffeten ſie bey der Naſe
herumzufuͤhren; und er wuͤrde vermuthlich im
Stande ſeyn, mich zu verthey digen, wenn mir Un-
recht geſchehe: nicht zu gedencken, daß ihm die
Geburt eine viel beſſere Hoffuung gaͤbe, einen hoͤ-
Erſter Theil. C chern
[402]Die Geſchichte
hern Rang zu erlangen, als ſich mein Bruder
machen koͤnnte, wenn er Schloͤſſer in die Lufft
bauete.
Wie weiß der Mann alle unſere Thorheiten ſo
genau? Jch wundere mich noch mehr, wie er dar-
auf gekommen iſt, mich an dieſem Orte zu ſuchen.
Jch war ſehr unruhig, und wollte nicht laͤnger
bleiben, ſonderlich deswegen, weil die Nacht an-
brach. Jch konnte aber nicht von ihm loskom-
men, bis ich noch mehr von ſeinem Anliegen ge-
hoͤrt hatte.
Weil er hoffete, daß ich mich noch endlich be-
wegen laſſen wuͤrde, ihn zu dem gluͤcklichſten Men-
ſchen unter der Sonnen zu machen: ſo koͤnnte ich
ihm eine ſolche Sorgfalt fuͤr meinen guten Nah-
men zutrauen, daß er eben ſo wenig etwas anra-
then wuͤrde, das auch nur einen Schatten auf mei-
ne Ehre werffen koͤnnte, wenn es ihm gleich noch
ſo vortheilhaft waͤre, als ich einem ſolchen Rath
folgen wuͤrde. Da ich nicht Erlaubniß erhalten
koͤnnte, unverheyrathet zu bleiben, ſo moͤchte ich
ſelbſt bedencken, ob ich mehr als einen Weg vor
mir ſehe, mich von einem Zwange zu retten, der
meinen Neigungen ſo ſehr zuwider ſey? Mein Va-
ter ſaͤhe alles Nachgeben fuͤr eine Verletzung ſeiner
Rechte an: meine beyden Onckles haͤtten eben die
Art zu dencken als er: mein Bruder und meine
Schweſter braͤchten einander nur noch mehr ge-
gen mich auf: Solmeſens Vorſchlaͤge bezauber-
ten jedermann: die Mutter der Fraͤulein Howe
mache beynahe gemeinſchaftliche Sache mit den
Mei-
[403]der Clariſſa.
Meinigen, damit ihre Tochter ein gutes Exem-
pel an mir haben ſolle.
Er fragte mich hierauf ob ich einen Brief von
der Frau Lawrance annehmen wollte, wann ſie
bey dieſer Gelegenheit an mich ſchriebe. Frau
Satleir haͤtte kuͤrtzlich ihr eintziges Kind verloh-
ren, und bekuͤmmerte ſich faſt nicht mehr um dieſe
Welt, als nur daß ſie ihn gern verheyrathet ſehen
moͤchte, und zwar am allerliebſten mit mir.
Es iſt in der That vieles von dem wahr, was
der Mann ſagte. Jch darff doch dieſes an Sie
ſchreiben, ohne daß Sie mich von neuem beſchul-
digen, daß ich vor Liebe roth wuͤrde oder das
Hertz mir ſchluͤge? Jch antwortete ihm dem ohn-
geachtet: ob ich gleich viel Ehrerbietung gegen das
vornehme Frauenzimmer damit er verwant waͤre,
und inſonderheit gegen ſeine beyden Tanten haͤtte;
ſo wuͤrde ich doch wiſſentlich keinen Brief anzu-
nehmen wuͤnſchen, der auf eine Abſicht zielete, die
ich nicht befoͤrdern helfen wollte. So viel ich auch
leyden muͤßte, ſo ziemete es ſich doch fuͤr mich, al-
les zu dulden, alles zu hoffen, und alles moͤgliche
zu verſuchen. Wenn mein Vater ſaͤhe, wie ſtand-
haft ich waͤre, und daß ich lieber ſterben als Herrn
Solmes nehmen wollte; ſo wuͤrde er vielleicht
nachgeben. ‒ ‒ ‒
Er unterbrach meine Rede, und ſtellete mir die
Unwahrſcheinlichkeit meiner Hoffnung vor, die mir
ſelbſt in die Augen fallen muͤßte, wenn ich auf die
Handlungen der Meinigen Acht gaͤbe. Er erzaͤhlte
dieſe nach der Reihe: daß ſie Frau Howe gegen
C c 2mich
[404]Die Geſchichte
mich eingenommen haͤtten, zu der ich haͤtte fliehen
koͤnnen, wenn es auf das aͤuſſerſte gekommen waͤ-
re: daß mein Bruder meinem Vater beſtaͤndig
in den Ohren laͤge; der Obriſte Morden wuͤrde
bald ankommen, und wuͤrde darauf dringen, daß
ich nach dem Jnhalt des grosvaͤterlichen Teſta-
ments von meinem Gut Beſitz naͤhme, dadurch
ich in den Stand kommen wuͤrde, frey und un-
gebunden zu handeln: meine ſchimpfliche Gefan-
genſchaft: daß ſie mein Cammer-Maͤdchen ſo
ploͤtzlich abgeſchaft, und meiner Schweſter Cam-
mer- Maͤdchen uͤber mich geſetzt haͤtten: daß ſie
meine Mutter vermocht haͤtten, wider ihre eigene
Einſicht Parthey mit ihnen zu machen: alles die-
ſes waͤre ein Sonnen-klarer Beweiß, daß ihnen
nichts zu ungereimt und hart vorkommen wuͤr-
de, wenn es nur ein Mittel zu ihrem Endzweck
waͤre: und eben hieruͤber ſey er ſo unruhig.
Er fragte mich: ob ich mich erinnern koͤnnte,
daß mein Vater jemahls von einer gefaſſeten
Entſchlieſſung wider abgegangen waͤre? inſonder-
heit wenn er haͤtte glauben koͤnnen, daß ſeine Rech-
te dadurch verletzt wuͤrden? Seine Bekanntſchaft
mit unſerer Familie ſetzte ihn in den Stand, einige
Beyſpiele davon zu geben, daß mein Vater eine
ſo unumſchraͤnckte Herrſchaft uͤbete, als kaum in
fuͤrſtlichen Haͤuſern gewoͤhnlich waͤre: (alleine ſie
moͤchten mir vielleicht zu empfindlich ſeyn) eine
Herrſchaft die meine unvergleichliche Mutter all
zu ſehr fuͤhlete.
Er
[405]der Clariſſa.
Er wollte noch weiter in gleichem Ton fortfah-
ren; ich ſagte ihm aber auf eine empfindliche Art:
ich koͤnnte nicht zugeben, daß mein Vater in mei-
ner Gegenwart durchgezogen wuͤrde. Ob ich gleich
ſeine Haͤrte nicht verdienet haͤtte, ſo waͤre ſie doch
keine hinlaͤngliche Urſache fuͤr mich, mich von mei-
ner kindlichen Pflicht loszureiſſen.
Er ſagte: er haͤtte gar nicht Luſt etwas vor-
zubringen, das ſo ausgelegt werden koͤnnte. Denn
ob ihm gleich ſo begegnet waͤre, daß er ſich eini-
germaſſen fuͤr berechtiget halten koͤnnte, auch ſeine
Anmerckungen uͤber die Auffuͤhrung der Meinigen
zu machen: ſo wuͤßte er doch wohl, wie unertraͤg-
lich es mir ſeyn wuͤrde, wenn er ſich dieſe Freyheit
herausnehmen wollte. Es wuͤrde ihm zwar ſchwer,
ſich ſo zu buͤcken, und bey ſolchen Beſchimpfungen
ſtumm zu bleiben, da man bey ihm eben ſowohl
als bey andern der Jugend und der Hitze der Ley-
denſchaften etwas zu gute halten koͤnnte, und
er ſich ſonſt ſtets eine Ehre daraus gemacht haͤtte,
ſeine Meinung frey heraus zu ſagen Dem ohnge-
achtet wollte er aus Hochachtung gegen mich ſich
nicht unterſtehen etwas an meinem Vater zu ta-
deln, als nur ſolche Handlungen, die niemand
leugnete, und uͤber deren Richtigkeit man gar nicht
ſtreiten koͤnnte. Jch koͤnnte alſo mit Recht nicht
unwillig werden, wenn er dieſen Schluß machte:
wenn mein Vater ſich ſo gegen eine Gemahlin be-
traͤgt, die gegen ſeine eingebildeten Rechte, in die er
ſich ſo ſehr verliebt hat, keine Einwendung macht:
was hat denn eine Tochter zu hoffen, die ſeinen
C c 3Be-
[406]Die Geſchichte
Befehl nicht erfuͤllen will, den er doch mit gantzer
Macht durchzutreiben und zu behaupten geſinnet
iſt? wenn ihn noch dazu ein Vortheil und Ver-
groͤſſerung der gantzen Familie unbeweglicher
macht? wenn ein ungegruͤndeter Groll und Ab-
neigung des Vaters, wenn die Rachgier und ei-
gennuͤtzigen Abſichten meines Bruders und meiner
Schweſter, meine Umſtaͤnde noch ſchwerer ma-
chen? wenn meine Verbannung mich verhindert
meine Sache nicht muͤndlich vorzuſtellen, und um
Gelindigkeit und Verſchonen zu bitten?
Wie ungluͤcklich iſt es fuͤr mich, mein Schatz,
daß dieſe Anmerckungen nebſt dem daraus gezoge-
nen Schluſſe nur allzurichtig ſind? Er ſagte alles
dieſes auf eine viel ſanftere Weiſe, und mit viel
groͤſſerer Ehrerbietigkeit gegen meine Familie, als
man von einem Herrn haͤtte vermuthen koͤnnen,
der von den Meinigen auf das aͤuſſerſte gere itzt iſt,
und den jedermann fuͤr heftig und ungeſtuͤm haͤlt.
Sie werden mich abermahls fragen: ob mir das
Hertz nicht klopfet? wenn ich daraus, daß er aus
Liebe zu mir ſeine Hitze baͤndigen kann, den Schluß
mache, daß Bewegungs-Gruͤnde von ſeiner jetzi-
gen und kuͤnfftigen Wohlfahrt hergenom̃en etwas
bey ihm ausrichten wuͤrden, wenn es moͤglich waͤ-
re, daß ſich meine Freunde mit ihm ausſoͤhneten.
Er ſtellete mir vor: die gantze Welt wuͤßte es,
daß ich auf eine ſo ſchimpfliche Weiſe eingeſper-
ret ſey. Mein Bruder und meine Schweſter truͤ-
gen nicht die geringſte Scheu, mich uͤberall als eine
verzaͤrtelte Tochter abzumahlen, die alle Liebe der
ihrigen
[407]der Clariſſa.
ihrigen durch vorſaͤtzlichen Ungehorſahm belohne.
Jndeſſen gaͤben mir alle, die mich nur kenneten,
Recht, und billigten meine Abneigung von einem
Manne, von dem jedermann glaubte, daß er mei-
ner auf keine Weiſe werth ſeyn koͤnnte, und daß
er ſich beßer fuͤr meine Schweſter als fuͤr mich
ſchickte So ungluͤcklich er auch darin waͤre, daß er
meine Gewogenheit bisher nicht habe erlangen
koͤnnen, ſo verſchenckte mich doch die Sage der Leu-
te an ihn. Selbſt ſeine Feinde haͤtten nicht mehr als
eine Einwendung gegen ihn; denn gegen ſein Her-
kommen und Vermoͤgen ſey nichts zu erinnern;
die Perſon die er kuͤnfftig in der Welt ſpielen und
der Rang den er hoffentlich erhalten koͤnnte, ſey
einer von den allervornehmſten. Er haͤtte es naͤchſt
GOtt meinem Beyſpiel zu dancken, daß dieſe eintzi-
ge Einwendung bald gantz wegfallen wuͤrde. Er
haͤtte ſeine Vergehungen erkannt, und waͤre ſeines
bisherigen Lebens von Hertzen muͤde, ob dieſes
gleich ſo arg nicht waͤre, als es Bosheit und Neyd
abzumahlen ſuchten. Allein er wollte hievon nichts
mehr ſagen, denn er wollte ſich lieber durch Werck
und That, als durch Geluͤbde meine gute Meinung
erwerben. Er lobte hierauf meine Geſtalt, verſi-
cherte mich aber, daß ihn mein Gemuͤth noch viel
mehr gefeſſelt haͤtte; wie er denn immer die Tugend
hoch geſchaͤtzt haͤtte, ob er gleich ſelbſt nicht tugend-
haft geweſen ſey. Er muͤßte frey geſtehen, ehe er
mich habe kennen lernen, habe er nie eine Perſon
gefunden, deren Treflichkeiten ſein ungluͤckliches
Vorurtheil gegen den Eheſtand uͤberwunden haͤt-
C c 4ten,
[408]Die Geſchichte
ten, welches Vorurtheil bisher gemacht haͤtte,
daß er gegen alle Wuͤnſche und Ermahnungen
ſeiner Anverwanten unbeweglich geweſen ſey.
Sie ſehen, mein Schatz, daß er kein Bedencken
traͤgt, eben ſo von ſich zu reden, als ſeine Feinde
von ihm reden. Seine Offenhertzigkeit in der-
gleichen Umſtaͤnden macht in der That, daß ich
ſeinen uͤbrigen Verſicherungen deſto eher Glauben
beymeſſen kann. Jch daͤchte, daß ich einen Heuch-
ler bald entdecken wollte, und ihn inſonderheit, der
ſich ſonſt ſo viel Freyheiten in ſeinem Leben und
Wandel vergoͤnnet hat. Jch wuͤrde groſſen Ver-
dacht auf ihn werfen, wenn er vorgaͤbe, daß er auf
einmahl andere Einſichten bekommen und ſich in
dieſen Jahren ſo gleich geaͤndert haͤtte: denn ich
glaube nicht, daß ſich boͤſe Gewohnheiten ſo bald
ablegen laſſen. Sie haben oͤfters mit mir die An-
merckung gemacht, daß er ſeine Meinung frey
heraus zu ſagen pflegt, wenn es gleich bisweilen
etwas unhoͤflich laſſen ſollte; und daß ſein Betra-
gen gegen meine Familie ein Beweiß iſt, daß er ſich
nie aus Abſichten auf eine niedertraͤchtige Weiſe
herunterlaſſen und demuͤthigen kan. Jſt es nicht
Schade, daß ſo viel Gutes durch andere Laſter er-
ſticket und beflecket wird! Wir haben gehoͤrt, daß
ſein Kopf beſſer ſeyn ſoll, als ſein Hertz: koͤñen Sie
aber wol glauben, daß Herr Lovelace ein boͤ-
ſes Hertz hat? Sollte nicht in dem Blut der
Menſchen etwas eigenes ſtecken, ſo wie in
dem Blut, der Thiere? Gegen niemand in
ſeiner gantzen Familie iſt etwas einzuwenden,
ihn allein ausgenommen: das Frauenzim-
mer,
[409]der Clariſſa.
mer, mit dem er verwandt iſt, hat den groͤßeſten
Ruhm eines tugendhaften und erhabenen Ge-
muͤths. Jedoch ich werde mich des Vorwurfs
ſchuldig machen, denn ich zu vermeiden ſuche. Al-
lein wie ſtrenge, wie uͤbertrieben ſtren ge ſcheint es
zu ſeyn, wenn Sie mich deswegen zur Rechen-
ſchaft fodern, weil ich jemanden Gerechtigkeit wi-
derfahren laſſe, und zu ſeiner Entſchuldigung die
Schluͤſſe mache, die ein jeder wuͤrde gelten laſſen,
wenn ich ſie fuͤr den unbekannteſten und fremde-
ſten Menſchen machte?
Er bat mich abermahls, einen Brief von der
Frau Lawrance anzunehmen, wenn ſie mir eine
Zuflucht in ihrem Hauſe anboͤte. Leute von
Stande pflegten eben ſowohl eine gewiſſe An-
ſtaͤndigkeit zu beobachten, als ſehr tugendhafte
Perſonen: wiewohl in der That der Stand dem
man gemaͤß lebe ſo viel ſey als Tugend, und
Tugend eben ſo viel als Stand; Stand und Tu-
gend waͤren nur verſchiedene Nahmen einer Sa-
che, und deſto weniger ſey es zu verwundern, wenn
beyde eine Anſtaͤndigkeit der Handlungen erfoder-
ten: (wie kommt der Menſch zu ſo richtigen Begrif-
fen) ſonſt wuͤrde ſeine Baſe an mich geſchrieben ha-
ben. Allein ſie wuͤnſchte zum voraus verſichert zu
ſeyn, daß ihr Anerbieten von mir wol aufgenom-
men werden wuͤrde, da es meinen Anverwanten
ſehr misfaͤllig ſeyn moͤchte, und ſie blos durch mei-
ne harten Bedraͤngniſſen, die ich jetzt litte, und die
ich kuͤnftig noch haͤrter zu leyden haben wuͤrde be-
wogen wuͤrde, mir eine Zuflucht anzubieten.
C c 5Jch
[410]Die Geſchichte
Jch antwortete ihm: ich ſey zwar der Frau
Eliſabeth Lawrance fuͤr ein ſo guͤtiges Anerbie-
ten ungemein verbunden, wenn es von ihr ſelbſt
herkaͤme: allein ich ſaͤhe die Folgen allzuwohl ein.
Es moͤchte vielleicht den Schein eines Hochmuths
geben, wenn ich Argwohn ſchoͤpfte, daß er einen ſo
ſtarcken und dringenden Bewegungs Grund nur
deswegen auf die Bahn gebracht haͤtte, damit ich
zu tief verwickelt und um meine Freyheit gebracht
werden moͤchte. Allein ich wuͤrde mich ſelbſt durch
Koͤnigliche Titel nicht blenden laſſen. Tugend
gaͤlte bey mir eben ſo viel als vornehmer Stand:
und der ungemeine Ruhm, den ſich dieſe vorneh-
me Frauenzimmer ſelbſt erworben haͤtten, machte
bey mir einen viel tiefferen Eindruck, als dieſes,
daß ſie Halb-Schweſtern des Lord M. und Toͤch-
ter eines Grafen waͤren. Wenn meine Freunde
ihm eben ſo guͤnſtig geweſen waͤren, als er ſie ab-
geneigt faͤnde, ſo wuͤrde ich mich deswegen nicht
beſſer gegen ihn erklaͤret haben, wenn er weiter
keine Verdienſte gehabt haͤtte, als daß er mit die-
ſen vornehmen Perſonen verwant ſey. Jn ſol-
chem Fall wuͤrde vielmehr eben die Urſache, um
welcher willen ich ſie bewunderte, eine Einwen-
dung gegen ihren Verwanten geweſen ſeyn.
Jch bezeugte ihm hierauf, wie leyd es mir thaͤte,
daß ich in einen Brief-Wechſel mit ihm hineinge-
zogen waͤre, nachdem mir inſonderheit dieſer Brief-
wechſel unterſaget waͤre. Der eintzige mir angeneh-
me Gebrauch, den ich von dieſem unerwarteten und
ungebetenen Beſuch machen koͤnnte, ſey dieſer,
ihm
[411]der Clariſſa.
ihm zu ſagen, daß ich von nun an dieſen Brief-
wechſel aufheben muͤßte. Jch hoffete nicht, daß er
mich durch Drohungen gegen meine Anverwan-
ten zwingen wollte, ihn fortzuſetzen.
Es war noch helle genug, daß ich ſehen konnte,
wie ernſthaft ſein Geſichte bey dieſer Antwort ward.
Er waͤre (antwortete er) ſo ſehr vor meine freye
Wahl, und wuͤnſchte ſich ſo ſehr meine ungezwun-
gene Zuneigung zu erlangen, daß er ſich ſelbſt haſ-
ſen wuͤrde, wenn er bey ſich eine Abſicht merckte,
mir durch ſolche Mittel eine Furcht einzujagen. Er
hielte es fuͤr allzu niedertraͤchtig fuͤr ſich, dem Sol-
mes in Anwenduug einiger Zwangs-Mittel gleich
zu werden. Allein zwey Dinge waͤren doch in Er-
waͤgung zu zi ehen. Erſtlich: die ausgelaſſenen
und unbeſonnenen Reden, die man gegen ihn fuͤh-
rete; die Spionen die man auf ihn hielte, von
denen er einen zu ertappen das Gluͤck gehabt haͤt-
te; die ſchimpfliche Art, damit meine Anverwan-
ten ſeiner Familie begegneten; was ich ſelbſt zu ley-
den haͤtte, und zwar blos aus offenbahrem Haß der
Meinigen gegen ihn; denn ſonſt wuͤrde er ſich nicht
unterſtehen, ſich ohne meinen Befehl zu meinem
Vertheydiger aufzuwerfen: (wie kuͤnſtlich beugete
er vor, daß ich ihn nicht konnte ablauffen laſſen!)
alle dieſe Beleydigungen verpflichteten ihn, ſich zu
raͤchen. Er uͤberlieſſe es mir ſelbſt, ob er, wenn
er noch einiges Hertz haͤtte, dergleichen ungeahndet
koͤnnte hingehen laſſen, wo er es nicht um meinet
willen verſchmertzete? Jch moͤchte zum andern
uͤberlegen, ob bey meinen Umſtaͤnden, da ich ge-
fangen
[412]Die Geſchichte
fangen gehalten wuͤrde, und die Meinigen ent-
ſchloſſen waͤren mich eheſtens zu zwingen, daß ich
einem nichtswuͤrdigen Manne meine Hand vor
dem Altar geben ſollte, ich moͤchte wollen oder
nicht, ob bey ſolchen Umſtaͤnden noch Zeit zu ver-
ſaͤumen ſey? und ob ich nicht bald auf die Mit-
tel dencken muͤßte, mich zu retten, wenn es auf das
aͤuſſerſte kommen ſollte? Dadurch daß ich zu ſei-
ner Baſe fluͤchtete, wuͤrde ich ja noch nicht noth-
wendig die ſeinige, wenn ich hernachmahls in
ſeiner Auffuͤhrung etwas bemerckte, das mir ei-
nen billigen Zweifel gegen ihn machen koͤnnte.
Allein (fragte ich ihn) was wird die Welt den-
cken? was wird ſie mir fuͤr eine Entſchlieſſung
andichten, wenn ich mich in den Schutz ihrer
Anverwanten begebe?
Er fragte mich hinwiederum: ob die Welt jetzt
etwas weniger daͤchte, als daß ich von den Mei-
nigen ſo eingeſchraͤnckt wuͤrde, um mich abzuhal-
ten, daß ich dieſe Entſchlieſſung nicht in das Werck
richten moͤchte? Sie muͤſſen uͤberlegen, Fraͤulein,
daß Sie hierin keine Wahl mehr haben und be-
dencken, wer daran Schuld iſt, daß Sie nicht mehr
waͤhlen koͤnnen. Sie ſind in der Gewalt ſolcher Leu-
te (Eltern wolte ich nicht gern ſagen) die voͤllig
entſchloſſen ſind, Jhnen keine Wahl zu laſſen. Mein
gantzer Vorſchlag laͤufft bloß da hinaus, daß Sie
auf alle Faͤlle eine ſolche Zuflucht annehmen, aber
nicht ehe gebrauchen ſollen, bis alle andere Mit-
tel vergeblich angewandt ſind, ſich ohne dieſe
Zuflucht zu helffen. ‒ ‒ Erlauben Sie mir,
noch
[413]der Clariſſa.
noch Eins zu ſagen. Wenn der Brieffwechſel,
auf den ich meine gantze Hoffnung gruͤnde, zu ei-
ner ſo gefaͤhrlichen Zeit abgebrochen wird; und
wenn Sie ſich nicht zum voraus auf alle Faͤlle in
Sicherheit ſetzen wollen: ſo ſehe ich zum voraus,
daß Sie ſich dem Ungluͤck Preiß geben wollen.
Fuͤr mich allein, nicht fuͤr Sie, wird es ein Ungluͤck
ſeyn. Und denn! ‒ ‒ (er ſtieß ſich mit zuſammen-
gefaßter Fauſt hiebey vor die Stirne.) Wie ſoll
ich den Gedancken verdauen? denn werden Sie
ein Eigenthum des Solmeſens werden? Aber
bey allem was heilig iſt, er, und ihr Bruder, und
Jhre Onckles ſollen die Freude nicht haben. Jch
will verdammet ſeyn, wenn ſie dieſen Sieg er-
langen ſollen.
Seine Hefftigkeit ſetzte mich in Schrecken. Jch
ward ſo empfindlich uͤber ſeine Drohungen, daß
ich von ihm gehen und ihn allein laſſen wollte. Al-
lein er warff ſich wieder zu meinen Fuͤſſen: verlaſſen
Sie mich nicht ſo, liebſte Fraͤulein, verlaſſen Sie
mich nicht ohne Hoffnung. Jch knie nicht aus
Reue uͤber das, was ich in einem gewiſſen uner-
traͤglichen Fall angelobt habe. Jch gelobe es aber-
mahls zu ihren Fuͤſſen. (Er wiederhohlte ordent-
lich ſein Geluͤbde.) Allein dencken Sie nicht, daß
es eine Drohung iſt, und daß ich Sie durch Furcht
zur Liebe zu zwingen ſuche. Wenn Sie Jhr Hertz
geneigt finden (fuhr er fort, und ſtund dabey auf)
Jhrem Vatter oder vielmehr Jhrem Bruder zu
gehorchen und Herrn Solmes zuͤnehmen ſo will
ich zwar meinen und meiner Familie Schimpf an
denen
[414]Die Geſchichte
denen raͤchen, die mich beſchimpft haben: allein ich
wollte, wo moͤglich, mir ſelbſt das Hertz aus dem
Leibe reiſſen, wenn es ſich noch einen Augenblick
bedaͤchte, von einem Frauenzimmer das ſo waͤh-
len koͤnnte auf ewig abzulaſſen.
Jch ſagte ihm, er naͤhme jetzt eine ſehr hohe
Sprache an. Er koͤnnte verſichert ſeyn, daß ich
Herrn Solmes nie nehmen wuͤrde, allein dieſes
ſagte ich nicht aus Gefaͤlligkeit gegen ihn. Jch haͤt-
te mich ſchon eben ſo gegen meine Verwanten mit
dem Zuſatz erklaͤret, daß dieſes mein veſter Ent-
ſchluß ſeyn wuͤrde, wenn auch kein Lovelace in der
Welt waͤre.
Wollen Sie mir verſprechen (antwortete er
hierauf) daß Sie mich noch ferner mit Jhrem
Briefwechſel beehren wollen? Jch kann mich ohn-
moͤglich darein ſchicken, daß, da ich eben einen
ſtaͤrckern Beweiß Jhrer Guͤtigkeit gegen mich zu
erbitten hoffe, ich den eintzigen Beweiß, den ich
je davon gehabt habe, verlieren ſoll.
Jch ſagte: er moͤchte ſich durch die Rachgier
gegen meine Familie nicht uͤbereilen laſſen: ſo
wollte ich wenigſtens einige Zeit, bis ich das En-
de der Sachen ſaͤhe, einen Briefwechſel fortſetzen,
den mein Hertz verdammete. ‒ ‒ ‒
Und meins mich auch (fiel mir der dreiſte
Menſch in die Rede) daß ich das dulde, was ich
dulde. Denn nicht Sie ſetzen mich in die Noth-
wendigkeit, es zu dulden; ſonſt wollte ich das und
tauſendmahl mehr mit Freuden erdulden: ſon-
dern Leute ‒ ‒ ‒ Hier hielt er ein.
Jch
[415]der Clariſſa.
Jch ſagte: er haͤtte alles dieſes niemand als ſich
ſelbſt zu dancken, weil er ſich durch ſeine Leichtſin-
nigkeit ſelbſt einen Vorwurf gemacht haͤtte. Es
waͤre nicht mehr als billig, daß man von einem
Menſchen uͤbel redete, der ſelbſt nicht beſorgt
waͤre, ſeinen guten Nahmen zu erhalten.
Er wollte ſich rechtfertigen; allein ich ſagte ihm,
ich wuͤrde ſeiner eigenen Vorſchrift folgen, und
ihn nicht nach ſeinen Worten ſondern nach ſeinen
Wercken beurtheilen.
Er antwortete: wenn ſeine Feinde nicht ſo
viel Gewalt in Haͤnden haͤtten, und ſo unbe-
weglich waͤren; wenn ſie nicht, bereits ſo harte
Zwangs-Mittel gebraucht haͤtten, aus denen man
ſchlieſſen muͤßte, daß ſie alles wagen wollten;
wenn ſie mir die Erlaubniß geben wollten, ſelbſt
zu waͤhlen, oder unverheyrathet zu bleiben: ſo
wollte er gern eine Probe-Zeit von einem Jahr
und noch laͤnger aushalten. Allein er wuͤßte ge-
wiß, daß ein eintziger Monath entweder alle Ab-
ſichten der Meinigen erfuͤllen oder zernichten
wuͤrde. Jch wuͤrde ſelbſt am beſten wiſſen, ob
ich einige Hoffnung haͤtte, daß mein Vater nach-
geben wuͤrde. Er glaubte nicht, daß ich die ge-
ringſte haͤtte.
Jch ſagte: ich wollte alle Mittel verſuchen, die
mir der Gehorſahm und die Liebe der Meinigen
gegen mich uͤbrig lieſſen, ehe ich einen fremden
Schutz ſuchte. Wenn alle Mittel fruchtlos waͤ-
ren, ſo wollte ich mich des Gutes, das mir ſo viel
Neyd
[416]Die Geſchichte
Neyd erweckte, begeben: und ich wuͤßte gewiß,
daß dieſes Mittel ſeine Wirckung haben wuͤrde.
Jch bin es zufrieden! ich will erwarten (ant-
wortete er) was dieſes Mittel fuͤr Wuͤrckung ha-
ben wird. Jch habe ſchon oft geſagt, daß ich nicht
verlange, daß Sie ſich in einen fremden Schutz
begeben, wenn nicht die aͤuſſerſte Noth Sie dazu
dringet. Mein allerliebſtes Hertz (hiebey ergriff er
meine Hand, und druͤckte ſie an ſeine Lippen) wenn
Sie ſich durch Aufopferung Jhres Gutes loskauf-
fen koͤnnen, ſo begeben Sie ſich deſſen, und werden
Sie nur mein. Von gantzem Hertzen will ich Jh-
ren Verzicht alsdenn rechts-kraͤftig machen helfen.
War das nicht artig geredet, mein Schatz? Al-
lein was reden die Manns-Leute nicht, um ſich
unſer Vertrauen zu erwerben, und ſich unſers
Hertzens zu bemeiſtern?
Jch verſuchte einigemahl wegzugehen, und es
ward ſo finſter, daß ich nicht ohne Sorge war.
Seine Auffuͤhrung war nicht Schuld daran Jch
habe in der That eine viel beſſere Meinung von
ihm: denn er hat nicht allein Ehrerbietung ſondern
auch Ehrfurcht gegen mich blicken laſſen, ſo lange
unſere Unterredung daurete. Er brach zwar ein-
mahl in hefftige Worte aus, wenn Solmes ſei-
nen Zweck erhalten ſollte. Allein er ſetzte eine
ſolche Bedingung zum voraus, bey der man ei-
nen Verliebten am erſten entſchuldigen kann,
wenn er ſeinen Unwillen nicht verbergen kann.
Er brachte nur das, was er ſagte, ſo vor, daß ich
es nicht ungeahndet laſſen konnte.
Bey
[417]der Clariſſa.
Bey dem Abſchied empfohl er ſich zwar ſehr
nachdruͤcklich, aber auch ſehr demuͤthig, meiner Ge-
wogenheit. Er wollte mir keine Bedingungen vor-
ſchreiben: er gab mir aber doch zu verſtehen, daß
er mich wol noch einmahl zu ſprechen wuͤnſchte.
Jch verbot ihm aber ſchlechterdings, mich jemahls
wieder an dieſem Orte aufzuſuchen.
Jch kann vor Jhnen mit Recht nichts verber-
gen, was in meinem Hertzen vorgehet: und Jh-
nen muß ich bekeunen; daß die Gruͤnde die er an-
fuͤhret, (nehmlich die ſchimpfliche Art, damit mir
meine Freunde begegnen) mich ſehr beſorgt machen,
daß ich entweder die ſeinige, oder das Eigenthum
des andern werden muß. Soll eins von beyden
ſeyn, ſo hoffe ich, Sie werden mich nicht tadeln,
wenn ich ſage, welchen von beyden ich waͤhlen will.
Sie haben ſich ſchon daruͤber erklaͤrt, wen ich nicht
waͤhlen muͤſſe. Allein, mein Schatz, wie viel beſſer
waͤre es, wenn ich unverheyrathet bleiben koͤnnte!
Jch hoffe noch auf den Seegen, daß es mir erlaubt
ſeyn werde, dieſe Wahl zu treffen.
Jch kam unbemerckt wider in das Haus. Die
Furcht aber die ich hatte, daß ich moͤchte entdeckt
werden, hatte mich ſo verunruhiget, daß ich mei-
nen Brief auf eine verworrene Weiſe anfing, als
ich um ſeines Zuſpruchs willen Urſache gehabt
haͤtte. Jch nehme das aus, daß mich ſein erſter
Anblick beſtuͤrtzt machte: denn damahls war es ein
groſſes Gluͤck, daß ich nicht an dem abgelegenen
Orte, und da ich mich bey ihm allein befand, in
Ohnmacht fiel.
Erſter Theil. D dJch
[418]Die Geſchichte
Jch habe eins zu melden vergeſſen. Jch hielt
ihm ſeine Auffuͤhrung vom vergangenen Sonntage
in der Kirche vor. Er verſicherte mir aber auf
das heiligſte, daß ich unrecht berichtet ſey. Er
haͤtte gar nicht erwartet, mich in der Kirche zu ſe-
hen: hingegen gehoffet, eine gute Gelegenheit zu
finden, mit meinem Vater zu ſprechen zu kommen,
und ihn nach Hauſe zu begleiten. Allein der red-
liche D. Levin haͤtte ihm abgerathen, einen der
Meinigen anzureden; und ihm vorgeſtellet, in mas
fuͤr Bewegung und Aufruhr unſer gantzer Kirch-
ſtuhl bey ſeinem Eintritt in die Kirche gerathen
waͤre. Er koͤnnte verſichern, daß er mit Willen
keine hochmuͤthige Gebaͤrde angenommen haͤtte;
blos der Widerwille der Meinigen, der leyder un-
uͤberwindlich waͤre, haͤtte in ſeinem Geſichte leſen
koͤnnen, was der gantzen Gemeinde unſichtbar ge-
weſen waͤre. Als er ſich vor meiner Mutter ge-
neiget haͤtte, ſo haͤtte er es gegen alle zu thun ge-
meint, die in dem Stuhl waren, und nicht blos
gegen meine Mutter, die er ſonſt aufrichtig hoch-
ſchaͤtzte.
Wenn ich ihm glauben darf, (und iſt es wohl
wahrſcheinlich, daß er mit dem Zweck in die Kir-
che gekommen iſt, meiner Familie Trotz zu bieten,
und doch noch auf Gewogenheit von mir hoffen
ſollte?) ſo kann man ſehen, wie verkehrt uns der
Haß die Handlungen unſers Naͤchſten vorſtellet.
Allein warum erzehlt auch Schorey die Sache zu
ſeinem Nachtheil? Vielleicht auf Befehl? Er
berief ſich gegen mich auf das Zeugniß des D. Le-
vins
[419]der Clariſſa.
vins. Seine gantze Unterredung mit ihm habe
blos davon gehandelt, daß er verſuchen wollte, in
dem Angeſicht der gantzen Gemeinde den Anfang
der Ausſoͤhnung mit den Meinjgen zu machen:
dagegen aber dieſer Geiſtliche ihm abgerathen ha-
be, oͤffentlich einen ſolchen Verſuch zu thun, ſo
lange er nicht wuͤßte, wie es aufgenommen werden
wuͤrde. Allein ich habe keine Gelegenheit, dieſen
rechtſchaffenen Mann zu ſprechen, oder irgend
ſonſt jemand, der mir in meinen verworrenen Um-
ſtaͤnden einen guten Rath geben koͤnnte.
Wuͤrde aber wol jemand in der Welt der ſchul-
dig iſt ſchuldig befunden werden, wenn jeder Be-
klagte ſeine Geſchichte ſelbſt erzaͤhlen, und einigen
Glauben finden ſollte?
Jch habe einen ſehr langen Brief geſchrieben.
Wenn man von einer Unterredung eine ſo um-
ſtaͤndliche Nachricht geben ſoll, als Sie verlangen,
ſo iſt es ohnmoͤglich, ſich kurtz zu faſſen. Jch ſetze
nur noch die Verſicherung hinzu, daß ich bin und
immer ſeyn werde,
Dero ergebenſte und getreue Freundin
und Dienerin
Cl. Harlowe.
Seyn Sie ſo guͤtig, und erinnern ſich, daß Jhr
letzter Brief den 9ten dieſes geſchrieben war.
Der
[420]Die Geſchichte
Der ſieben und dreyßigſte Brieff.
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Jch bitte um Verzeihung, daß ich meine liebſte
Freundin gezwungen habe, mich an der Zeit
zu erinnern, da ich meinen letzten Brief geſchrieben
habe. Jch wuͤnſchte ſo viele Nachrichten von Jh-
rer verſtaͤndigen Auffuͤhrung in der verworrenſten
Sache vor mir zu haben, ais moͤglich waͤre; indem
ich gewiß glaubte, daß um dieſe Zeit der eine oder
der andere Theil ſchon wuͤrde nachgegeben haben:
damit ich meine Anmerckungen und mein Urtheil
auf einen veſten Grund bauen koͤnnte. Was kann
ich auch ſchreiben, das ich nicht ſchon geſchrieben
habe? Sie wiſſen ſelbſt, daß mir weiter nichts
gegeben iſt, als auf Jhre unverſtaͤndigen Verfolger
zu ſchelten. Allein das betruͤbt Sie. Jch habe
Jhnen gerathen, Jhr Gut in Beſitz zu nehmen:
das wollen Sie nicht thun. Sie koͤnnen ohnmoͤg-
lich daran dencken, eine Beute des Solmes zu
werden: und Lovelace iſt veſt entſchloſſen, Sie
als die ſeinige zu haben, andere moͤgen dazu ſagen
was ſie wollen. Jch glaube, Sie koͤnnen es
nicht aͤndern, einen von beyden zu nehmen. Wir
wollen erwarten, was fuͤr einen Schritt beyde
Theile nun thun werden. Wenn Lovelace ſei-
ne eigenen Handlungen erzaͤhlt, wenn er ſich ſo
untadelhaft bey ſeinem ungebetenen Zuſpruch im
Holtz
[421]der Clariſſa.
Holtz-Stall auffuͤhret, wenn er mit einer ſo lobens-
wuͤrdigen Abſicht in die Kirche gehet: wer kann
denn etwas an ihn auszuſetzen finden? Gottloſe
Leute ſind es, daß ſie ſich gegen ein ſo unſchuldi-
ges Blut verſchwoͤren, und aus Einem Munde ge-
gen ihn luͤgen. Jedoch, wie ich ſchon geſagt habe
wir wollen abwarten, was fuͤr einen Schritt beyde
Theile nun thun werden, und wie Sie ſich dabey
verhalten: alsdenn werden wir mehr Licht in der
Sache bekommen.
Was das anlanget, daß Sie den Anfang ge-
macht haben, ſich gegen ihre Onckles und Geſchwi-
ſter anders als vorhin zu erklaͤren, nachdem dieſe
doch ein fuͤr allemahl Jhnen Schuld geben wolten,
daß Sie in Herrn Lovelacen verliebt waͤren,
und nur ſchaͤrffere Pfeile gegen Sie daraus drech-
ſelten, wenn Sie es leugneten: ſo haben Sie hier-
in das gethan, was ich auch wuͤrde gethan haben.
Jch ſelbſt wuͤrde ihnen Stoff zum Argwohn gege-
ben haben, um zu ſehen, was dieſes ausrichtete.
Wenn aber ‒ ‒ wenn aber ‒ ‒! Sie muͤſſen mir
hier ein wenig zu gute halten. Sie ſelbſt fanden
es noͤthig, eine kleine Schutz-Schrift an mich vor-
an zu ſchicken, ehe Sie mir von dieſen Briefen
Nachricht gaben. Und ſo lange, bis Sie gegen
Jhre Freundin, an deren Ergebenheit Sie nicht
zweiffeln koͤnnen, ſo deutlich als eine Freundin re-
den, werde ich Sie ein wenig plagen muͤſſen.
Meine Feder mag demnach nur ſchreiben; weil ſie
Luſt zu ſchreiben hat.
D d 3Wenn
[422]Die Geſchichte
Wenn alſo eine Urſache, die Sie nicht Luſt ge-
habt haben mir zu melden, dieſe veraͤnderten Er-
klaͤrungen vergroͤſſert haben ſollte: ſo wachen Sie
uͤber ſich ſelbſt, wie ich Jhnen ſchon ehemahls ge-
rathen habe) und mercken Sie genau, wie die Ur-
ſache einer ſolchen Veraͤnderung nach und nach
entſtehet. Denn warum ſollte ſie ſich unbemerckt
von Jhnen in Jhr Hertz ſtehlen duͤrfen?
Wenn jemand eine ſtarcke Verkaͤltung, ein
Fluß-Fieber bekommt, ſo ſetzt er ſich nieder, und
denckt nach, wie es anfing, und wie er es bekom-
men hat. Wenn er das erſt weiß, ſo iſt er ver-
gnuͤgt, und laͤßt dem Fieber ſeine Zeit, und nimmt
etwas zu ſchwitzen ein, oder ſonſt eine Quackſalbe-
rey, um es wider los zu werden, wenn es ihm all-
zu beſchwerlich iſt. Ehe alſo die Kranckheit, die
Sie wiſſen und nicht wiſſen, ſo hefftig wird, daß
Sie ſuchen muͤſſen ſie zu vertreiben, bemercken Sie
nach meinem Rath, wie ſich dieſe Kranckheit an-
faͤngt. Denn ich weiß ſo gewiß zum voraus, als
ich dis ſchreibe, daß die unverſtaͤndige Haͤrte der
Jhrigen, und ſein einnehmendes artiges Weſen,
es noch ſo weit bey Jhnen bringen, und fuͤr Love-
lacen alles ausrichten wird, wenn er nicht unver-
ſtaͤndiger iſt, als ich ihn anſehe.
Doch dis auf die Seite geſetzt. Wenn es ent-
weder Herr Lovelace oder Herr Solmes ſeyn
ſoll, ſo kann kein Streit uͤber die Wahl ſeyn.
Wenn aber alles wahr iſt, was erzaͤhlet wird, ſo
wollte ich den ſchlechteſten unter Jhren vorigen
Freyern dem beſten unter dieſen beyden vorziehen,
ſo
[423]der Clariſſa.
ſo wenig ſie auch Jhrer werth ſind. Allein wer
kann werth ſeyn, die Fraͤulein Clariſſa Harlowe
zu beſitzen.
Jch wuͤnſche nur, daß Sie mir nicht vorwer-
fen moͤgen, daß meine Briefe immer einerley ent-
halten. Jch wuͤrde mir dieſes ſelbſt verdencken,
(ſonderlich nachdem ich mich unterſtehe, mir ein-
zubilden, daß meine Beſchuldigung gegen Sie aus-
ſer allem Zweifel richtig iſt, und ich wol funfzig
Stellen zum Beweiß aus Jhren Briefen anfuͤhren
koͤnnte, wenn ein Beweiß gefuͤhrt werden muͤßte)
wenn Sie nur freymuͤthig geſtehen wollten, daß ‒ ‒
Geſtehen? werden Sie ſagen. Wie?
Meine Anna Howe wird ja nicht glauben,
daß ich wuͤrcklich verliebt bin.
Nein gewiß nicht! Wie kann ein ſolcher Ge-
dancke in Jhrer Anna Howe aufſteigen? Liebe
iſt zwar ein kleines Wort, allein es begreifft
gar zu viel unter ſich. Wohlan wie ſollen wir es
denn nennen. Sie haben mich eine beßere Redens-
Art gelehrt, die dem Schalle nach nicht ſo viel
unter ſich zu begreiffen ſcheint, und doch in der
That eben das ſagt: eine bedungene Neigung.
Das iſt es! O mein Hertz! Wenn ich nicht allzu
wohl wuͤßte, wie ſehr Sie die gezwungene Sproͤ-
digkeit einiger Frauenzimmer verachten. Doch
Sie ſtnd zu jung und zu liebenswuͤrdig, als daß
Sie gezwungen ſproͤde ſeyn koͤnnten.
Jch will mich ſo harter Nahmen enthalten; und
Jhnen nur die Sache wiederhohlen, die ich Jh-
nen ſchon vorhin geſchrieben habe. Jch glaube,
daß
[424]Die Geſchichte
daß ich recht habe misvergnuͤgt uͤber Sie zu ſeyn,
wenn Sie mir in Jhren Briefen einige Geheim-
niſſe ihres Hertzens zu verheelen ſuchen.
Wenn Sie mir deutlich und ohne Umſchweiff
melden wollten, wie viel Antheil Lovelace an
Jhrem Hertzen hat oder nicht hat, ſo wuͤrde ich
Jhnen beſſer als jetzt rathen koͤnnen, was Sie
thun ſollen. Sie ſind ſo beruͤhmt deswegen,
daß Sie kuͤnftige Dinge vorher ſehen koͤnnen, daß
kein Frauenzimmer einen ſtaͤrckern Anſpruch auf
die Gabe der Weiſſagung (wenn ich es ſo nennen
duͤrffte) machen kann, als Sie. Sollten Sie
denn nicht in Jhrem Hertzen uͤberlegt haben, wie
gluͤcklich oder ungluͤcklich Sie bey ihm ſeyn wuͤr-
den, wenn Sie die ſeinige werden ſollten? Ohne
Zweiffel haben Sie dieſes auch in Abſicht auf
Herrn Solmes gethan: daher kommt eben Jhr
Widerwille gegen den einen, und Jhre bedungene
Neigung zu dem andern. Wollen Sie mir nun er-
oͤffnen, wie er Jhnen auf der beſten und ſchlim-
meſten Seite vorgekommen iſt? was fuͤr Urſachen
Sie finden, ihn zu waͤhlen oder zu verwerſen? Wir
wollen alsdenn beydes gegen einander waͤgen, um
zu ſehen, auf welche Seite ſich der Ausſchlag kuͤnftig
lencken moͤchte, oder ſchon jetzt lenckt. Nichts gerin-
geres als die Anvertrauung der geheimſten Rath-
ſchluͤſſe Jhres Hertzens, wird meine Liebe und meine
Freundſchaft gegen Sie befriedigen koͤnnen. Sie
werden ſich nicht ſcheuen, ſich ſelbſt ein Geheimniß
von dieſer Art anzuvertrauen: wenn Sie ſich aber
ſelbſt nicht trauen ſollten, ſo koͤnnten Sie freylich
mit
[425]der Clariſſa.
mit groͤſſerm Recht einen Zweifel in meine Ver-
ſchwiegenheit ſetzen. Sie werden aber keins von
beyden Nahmen haben wollen, und ich hoffe auch
nicht, daß Sie Urſache zu einem ſolchem Mis-
trauen haben.
Belieben Sie ſich zu erinnern, daß ſo oft ich
eine ſolche Art von Spaß in meine Briefe habe
einflieſſen laſſen, dadurch Sie wie es ſcheint ver-
unruhigt ſind, ohngeachtet Jhre Umſtaͤnde einer
Freundin die das groͤſſeſte Mitleyden mit Jhnen
hat ernſthaft zu ſeyn befehlen; ich nicht uͤber die-
jenigen Stellen Jhrer Briefe geſpaaſſet habe, in
denen Sie ſich vielleicht aus Verſchen ſo deutlich
erklaͤren, (werden Sie hieruͤber nicht abermahls
unruhig) daß faſt kein Zweiffel uͤbrig zu bleiben
ſcheint, ſondern uͤber die Stellen, in denen Sie
zuruͤck halten wollen; wenn Sie z E. bekannten
Dingen neue Nahmen geben, oder von Neugier,
von bedungener Zuneigung, von Vorſichtigkeit
bey einer Leydenſchaft die jedermann unvorſichtig
macht, reden wollen. Jch ſehe alles dieſes fuͤr einen
offenbahren Bruch des heiligen Bandes der
Freundſchaft an, die wir uns einander zugeſagt
haben.
Eriñern Sie ſich, daß ich Jhnen meine Schwaͤ-
che nicht einen Augenblick verheelen konnte. Sie
befragten mich: und ich geſtand Jhnen aufrichtig,
daß ich gegen meinen Liebhaber keine andere Ein-
wendung haͤtte, als die, ſo mein Hochmuth mach-
te: denn es ſchien mir zu veraͤchtlich zu ſeyn, daß
ein lebendiger Menſch es in ſeiner Gewalt haben
ſollte, mich einen Augenblick unruhig zu machen.
D d 5Mein
[426]Die Geſchichte
Mein Liebhaber hatte nicht eben die Eigenſchaften,
die der Jhrige hat: ich muͤßte alſo meine Unbe-
dachtſamkeit eben ſo ſehr und noch mehr anklagen,
als die Macht die er uͤber mein Hertz hatte. Allein
Jhre Macht uͤber mein Hertz war ſtaͤrcker. Denn
Sie redeten mir zuerſt meine Neugier aus dem
Sinn; und als meine Zuneigung aufhoͤrte un-
bedungen zu ſeyn, ſo ſchlug mir auch das Hertz
nicht mehr ſeinetwegen.
Jch bitte Sie nun (mit Jhrem Worte) nach-
dem ich geſtanden habe, daß mein Liebhaber nicht
ſo artig ausſahe als Jhrer, ſo laſſen Sie mich,
und die Fraͤulein. Biddulph, Lloyd, und Cam-
pion Jhre Meinung daruͤber vernehmen, in wie
fern ein Frauenzimmer auf die Geſtalt der Manns-
Perſon zu ſehen habe. Allein dencken Sie dabey
an ſich ſelbſt. Mercken Sie ſich das! wie Jhr
Onckle Anton ſaget. Jnſonderheit beantworten
Sie dieſe Frage auf den Fall, wenn ſich die Manns-
Perſon etwas auf ihre Geſtalt einbildet, weil man
doch von den innerlichen Vorzuͤgen einer
Perſon ſchlechte Gedancken hegen muß, die
ihren Hochmuth auf eine Sache von ſo kur-
tzer Dauer gruͤndet, wie Sie mich ſelbſt belehrt
haben. Sie, unſer liebenswuͤrdiges Muſter,
haben bey der angenehmſten Bildung des Leibes
und Geſichts nichts von dieſem Hochmuth; und
haben deswegen ohne ſich ſelbſt zu beſchaͤmen be-
haupten koͤnnen, daß er nicht einmahl an einem
Frauenzimmer zu entſchuldigen ſey.
Wir
[427]der Clariſſa.
Wir haben uͤber der vorhin erwaͤhnten Frage
bey der letzten Zuſammenkunft einen ſcharfen
Streit gehabt; und die Fraͤulein Lloyd verlangte,
daß ich Sie um Jhre Meinung, die wir immer
fuͤr eine Entſcheidung zu halten pflegten, befragen
moͤchte Jch will nicht hoffen, daß Sie ſo mit wich-
tigern Sorgen uͤberhaͤuft ſind, daß Sie entweder
keine Zeit oder keine Luſt uͤbrig behalten, dieſe Ar-
beit aus Gefaͤlligkeit gegen eine Freundin zu uͤber-
nehmen. Sie wiſſen, wie ſehr wir Jhren Aus-
ſpruch uͤber dergleichen Fragen zu bewundern pfle-
gen, der immer etwas unerwartetes und etwas
Lehr-reiches zu enthalten pflegt. Sagen Sie uns
doch auch Jhre Meinung daruͤber, warum Jhr
Anbeter ſein von der Natur ſchon genug geſchmuͤck-
tes Anſehen noch auf allerley Art zu ſchmuͤcken
ſucht, und es doch ſo klug anfaͤngt, daß ihn nie-
mand fuͤr einen Stutzer ausgeben kan? Jch wuͤn-
ſche, daß dieſe Frage nebſt der Jhnen aufgegebe-
nen Arbeit Jhnen zum Vergnuͤgen und nicht zur
Beſchwerde gereichen mag. Eine eintzige Sache,
ſie mag ſo wichtig ſeyn als ſie will, wird doch nie
Jhr gantzes Gemuͤth beſchaͤftigen. Wenn ich Jh-
nen aber auch Beſchwerde verurſachen ſollte, ſo er-
innern Sie ſich, wie oft Sie mir eine Grobheit
vergeben haben, und ſagen Sie einmahl im Un-
willen: es iſt ein abgeſchmacktes Maͤdchen;
und ich habe ſie doch lieb, ſie bleibt doch
meine
Anna Howe.
Der
[428]Die Geſchichte
Der acht und dreysſigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jhr letzter Brief ruͤhrt mich ſo ſehr, daß ich
alles andere hinten anſetzen muß, um ihn
zu beantworten. Es ſoll dieſes Stuͤck vor Stuͤck
und mit aller der Offenhertzigkeit geſchehen, die
unſere Freundſchaft erfodert.
Jch muß danckbahr erkennen, daß Sie mit mir
ſo grosmuͤthig umgegangen ſind, als es Jhre Na-
tur mit ſich bringt, wenn Sie bey funfzig Stellen,
in denen ich unleugbare Proben meiner Hochach-
tung gegen Herrn Lovelace gegeben habe, mei-
ner blos deswegen geſchonet haben, weil ich offen-
hertzig geweſen bin.
Was meinen Sie aber: ſollte wol ein Menſch
auf der Welt ſo laſterhaft ſeyn, mit dem ein zwei-
felhaftes Gemuͤth nicht einmahl beſſer als das an-
dere mahl zu Frieden ſeyn muͤßte? Und iſt es nicht
billig, daß man ſich um ſolche Zeit ſeinen Einſich-
ten gemaͤß ausdruͤckt? Jch muß doch dem, der ſich
um mich bewirbt, eben die Gerechtigkeit widerfah-
ren laſſen, die ich dem ſchuldig bin, der ſich nicht um
mich bekuͤmmert. Mir kommt es ſo tyranniſch, ſo
niedertraͤchtig vor, einem der ſonſt keine Geringſchaͤ-
tzung verdient deswegen ſchlimmer zu begegnen,
weil er uns hoch ſchaͤtzt, daß ich nicht Luſt habe, mich
durch eine ſolche Auffuͤhrung herunter zu ſetzen.
Ob
[429]der Clariſſa.
Ob nun gleich meine Meinung allein dieſe iſt,
nicht ungerecht gegen ihn zu ſeyn ſo glaube ich doch
gern, daß Leute, die ſeine Abſichten wiſſen, hier-
aus ſchlieſſen werden, daß ich ihm beſonders geneigt
bm. Jch muß dieſes inſonderheit befuͤrchten, wenn
eine ſcharſſichtige Zuſchauerin ehemahls ſelbſt eine
Ruͤhrung empfunden hat, und gern daruͤber froh-
locken wollte, daß ihre Freundin eben ſo wenig rein
von dieſer Kranckheit ſey als ſie. Erhabenen Ge-
muͤthern, die eiferſuͤchtig auf ihre Vorzuͤge ſind,
(welches an und vor ſich keine Unvollkommenheit
iſt, wenn die Eiferſucht auf wahre Vorzuͤge gerich-
tet iſt) ſolchen Gemuͤthern, ſage ich, muß man es
nicht verargen, wenn ſich ein gewiſſer edler Neid
bey ihnen reget.
Wenn dieſer Gedancke eine kleine Rache uͤber,
ſo iſt es doch blos eine Rache in dem allergelinde-
ſten Verſtande. Jch liebe Jhre Munterkeit, wie
ich Jhnen ſchon oft geſagt habe. wenn man gleich
nicht gantz unempfindlich dabey iſt, ſo wird doch
ein wohlgeartetes Gemuͤth nichts als Danckbar-
keit in ſich herrſchen laßen, ſo oft es gleichſahm mehr
Zuͤge von dem warnenden Freunde als von den
ſpottenden Zuſchauer in den Geſicht oder in der
Schreib-Art ſeines Tadlers gewahr wird. Es
wird dahinaus lauffen, daß ich vielleicht noch bey
dieſem Brieffe den Schmertz von Jhren ſanften
Schlaͤgen empfinde, hingegen in dem folgenden
Brieffe und zeit Lebens Jhnen dafuͤr dancke, daß
Sie mich errinnert haben.
Auf
[430]Die Geſchichte
Auf dieſe Art werden Sie mich entſchuldigen,
wenn Sie im Anfange und vielleicht in dem
Fortgange meines Briefes einige Empfindlichkeit
gewahr werden. Sie erinnern mich oͤfters durch
Jhr, das iſt durch das beſte Exempel, daß ich
Jhrer in meinen Urtheilen nicht ſchonen ſoll.
Jch bin mir nicht bewuſt, etwas von dieſem
Manne geſchrieben zu haben, das nicht mehr zu
ſeinem Nachtheil als zu ſeinem Lobe gereichte. Er
hat ſolche Eigenſchaften, daß ich mich ſelbſt fuͤr
tadelhaft halten und zur Rechenſchaft fodern wuͤr-
de, wenn ich anders geſchrieben haͤtte. Wenn Sie
andere Gedancken haben, ſo verlange ich nicht,
daß Sie eben den Beweiß fuͤhren ſollen, wie
Sie es nennen. Jch werde vielmehr glauben,
daß meine Auffuͤhrung zum wenigſten einen boͤſen
Schein hat, und ich werde mich zu beſſern ſuchen.
Allein das verſichere ich Jhnen, daß ich nie den
Vorſatz gehabt habe, zuruͤck zu halten, wenn gleich
meine Worte eine andere Erklaͤrung leyden moͤch-
ten. Jch habe jedes mahl geſchrieben, was mir
mein Hertz eingab. Wenn ich haͤtte zuruͤck hal-
ten wollen, oder wenn ich Urſache hiezu gehabt
haͤtte; ſo wuͤrde ich Jhnen vielleicht keine Gelegen-
heit gegeben haben, uͤber meine Neugier in
Abſicht auf die Meinung der ſeinigen von mir,
uͤber meine bedungene Zuneigung und dergleichẽ
Redens-Arten, Betrachtungen anzuſtellen. Was
ich durch jenen Ausdruͤck ſagen wollte, das habe
ich Jhnen damahls alles rein geſtanden; Jch
beziehe mich auf meinen damahligen Brieff: und
bey
[431]der Clariſſa.
bey dem zweiten Ausdruck mag ich vielleicht auf
das gedacht haben, was ſich fuͤr eine Perſon von
meinem Geſchlecht und Character alsdenn ſchicket,
wenn man ihr die Liebe als einen Ungehorſahm und
folglich als ein Laſter anrechnet, und der Mann,
den ſie ſonſt lieben koͤnnte ſich eine Freye Lebens-
Art hat geluͤſten laſſen. Jch hoffe Sie werden
mir nicht uͤbel deuten, daß ich mich bemuͤhet habe,
fuͤr dieienige gehalten zu werden, die ich billig ſeyn
ſoll; waͤre es auch nur deswegen geſchehen, damit
ich Jhre Wohlgewogenheit nicht verſchertzen
moͤchte.
Damit ich aber in der That beweiſe, daß ich
nicht zuruͤck halte ‒ ‒ ‒ Allein, mein Schatz, ich
muß hier abbrechen.
Der neun und dreysſigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Dieſer Brieff wird mich entſchuldigen, daß ich
meine Antwort auf Jhren geſtrigen Brieff
ſo unvermuthet abbrechen mußte. Jch werde die
beſagte Antwort Jhnen nicht eher geendiget zu-
ſchicken koͤnnen als morgen oder uͤbermorgen, weil
ich noch viel auf Jhre Frage zu ſchreiben habe;
Jetzt will ich Jhnen von einem abermahligen Ver-
ſuch der Meinigen, mich durch Frau Norton
auf
[432]Die Geſchichte
auf andere Gedancken zu bringen, Nachricht
geben.
Es ſchien, daß ſie geſtern erſucht war, dieſen
Tag in unſerm Hauſe zu ſeyn, um die Meinung
meiner Freunde recht zu faſſen, und alsdenn zu
verſuchen, was ſie bey mir ausrichten koͤnnte. Sie
mochten zum wenigſten dieſen Nutzen davon hof-
fen, daß ich in den Augen der Frau Norton alle
Entſchuldigung verlieren wuͤrde, und daß ſie die
Vorſtellungen, die ſie bisweilen meiner Mutter zu
meinem Beſten gethan haͤtte, fuͤr uͤberfluͤßig und
unverdient anſehen moͤchte.
Meine Erklaͤrung daß mein Hertz ungebunden
ſey, ward von Jhnen als ein Beweiß meiner
Hartnaͤckigkeit und meines Eigenſinnges ge-
braucht Denn, hieß es, nichts anders als ein bloſ-
ſer Eigenſinn koͤnnte mich antreiben, mich ihrem
Willen zu widerſetzen, wenn ich keine beſondere
Zuneigung zu einem andern haͤtte. Nun ich ihnen
dieſen Beweiß zu nichte zu machen ſuche, und ih-
nen Anlaß gegeben habe zu glauben, daß ich eine
Neigung auf einen andern geworfen habe; ſo ſind
ſie entſchloſſen, der Sache ein baldiges Ende zu
machen. Jn dieſer Abſicht ward die gute Frau
zu mir geſchickt, gegen die ich (wie den Meinigen
wohl bekannt iſt) eine kindliche Liebe und Ehrfurcht
habe.
Als ſie der Einladung zu folge in unſer Haus
kam, fand ſie meinen Vater, Mutter, Bruder,
Schweſter, und meine beyden Onckles nebſt Frau
Hervey beyſammen.
Mein
[433]der Clariſſa.
Mein Bruder gab ihr Nachricht von dem, was
vorgegangen war, ſeit dem ſie mich zuletzt hatte
ſprechen duͤrfen: inſonderheit von meinen Brie-
f[e] darin ich, nach ſeiner Auslegung, meine Liebe
zu Lovelacen geſtand; von dem Jnhalt ihrer Ant-
wort darauf, und von dem Entſchluß den ſie ge-
faſſet haͤtten.
Hierauf redete meine Mutter. Den Jnhalt
erzaͤhlte mir die gute Frau folgender maſſen:
Nachdem ſie davon geredet hatte, wie viel mir
zu gute gehalten ſey, daß ich einige Partheyen haͤt-
te ausſchlagen duͤrfen; wie viel Muͤhe ſie ſich ge-
geben haͤtte, mich zu uͤbereden, daß ich doch unter
ſechs mahlen einmahl aus Gefaͤlligkeit gegen mei-
ne gantze Familie Ja ſagen moͤchte; und wie unbe-
weglich ich geweſen waͤre: ſo ſetzte meine liebe Mut-
ter hinzu: haͤtten ſie jemahls geglaubt, Frau Nor-
ton, daß meine, daß ihre Claͤrchen ſich gegen den
Willen ſo guͤtiger Eltern ſo verhaͤrten koͤnnte?
Sehen ſie zu, was ſie bey ihr ausrichten koͤnnen.
Die Sache iſt ſchon ſo weit gekommen, daß wir
unſerer Seiten nicht wider zuruͤck gehen koͤnnen.
Jhr Vater zweifelte an ihrem Gehorſahm nicht,
und brachte deswegen alles mit Herrn Solmes
in Richtigkeit. Dencken ſie doch, ſo eine vortheil-
hafte Eheſtiftung! und ſo vortheilhafte Bedin-
gungen fuͤr die gantze Familie! Kurtz, ſie hat jetzt ei-
ne Gelegenheit, uns alle durch dieſe Gefaͤlligkeit
zu erfreuen und zu verpflichten. Hr. Solmes weiß,
daß ſie tugendhaft und verſtaͤndig iſt, und er hoffet
ſie jetzt durch ſeine Geduld und kuͤnftig dadurch,
Erſter Theil. E edaß
[434]Die Geſchichte
daß er ihr wohl begegnet, zur Danckbarkeit und
endlich zur Liebe zu bewegen. Er will deswegen
alles vergangene uͤberſehen.
(Alles uͤberſehen! mein Schatz. Herr
Solmes ſoll alles uͤberſehen! Das iſt ein ar-
tiger Ausdruck.)
Sie ſind doch uͤberzeuget, Frau Norton, daß
es die Pflicht eines Kindes iſt, ſich in groſſen ſo
wohl als kleinen Dingen dem Willen ſeiner El-
tern zu unterwerfen. Verſuchen ſie es, ob ſie
etwas bey ihr ausrichten koͤnnen. Jch kann nichts
ausrichten: ihr Vater auch nicht: ihre Onckles
eben ſo wenig: ob es gleich ihr eigenes Beſtes ſeyn
wird, wenn ſie ſich gefaͤllig gegen uns erweiſet.
Denn in ſolchem Falle iſt ihr grosvaͤterliches Gut
kaum die Haͤlfte von dem, was wir ihr bey Leben
und Sterben zugedacht haben. Wenn noch je-
mand etwas bey ihr ausrichten kann, ſo ſind ſie
es: und ich hoffe, daß ſie ſich Muͤhe geben wer-
den, es zu thun.
Sie fragte: ob ihr erlaubt waͤre, ihnen einige
Einwendungen zu machen, ehe ſie zu mir hin-
auf ginge?
Mein hochmuͤthiger Bruder antwortete ihr: ſie
waͤre gefodert, mich zu uͤberzeugen, und nicht ſie.
Und das, gute Frau, (bey ihm heißt ſie immer,
gute Frau) koͤnnen ſie ihr nur ſagen. Die Sa-
chen ſind ſo weit gediehen, daß an keine Aende-
rung zu gedencken iſt. Jhre Einwendungen koͤn-
nen jetzt eben ſo wenig mehr gehoͤrt werden, als
meiner Schweſter Einwendungen.
Seyn
[435]der Clariſſa.
Seyn ſie verſichert (ſagte mein Vater mit
einer zornigen Stimme) daß wir uns von ihr
nicht eintreiben laſſen wollen. Wir verlangen uns
nicht laͤcherlich zu machen, und das Anſehen zu
haben, als koͤnnten wir einer Tochter nicht befehlen.
Kurtz ein verfluchter Boͤſewicht, der bey nahe den
eintzigen Sohn ermordet haͤtte, ſoll uns keine
Tochter abtrotzen. Sie wuͤrde alſo kluͤger thun,
wenn ſie ſo Gehorſahm leiſtete, daß man es ihr
Danck wiſſen koͤnnte: denn Gehorſahm muß und
ſoll ſie leiſten, wenn ich das Leben behalte, ob ſie ſich
gleich einbildet, daß meines Vaters unbedachtſa-
me Guͤtigkeit ſie in den Stand ſetzet ihres Vaters
nicht noͤthig zu haben. Wahrlich ſeit der Zeit iſt ſie
das Kind nicht mehr, das ſie vorhin war. Ein un-
gerechtes Vermaͤchtniß! und wie es das Anſehen
hat, ſo wird auch ſchlechter Seegen darauf ru-
hen. Wenn ſie den liederlichen Lovelace heyra-
thet, ſo ſoll ſie uͤber einen jeden Gulden mit mir
einen Proceß zu fuͤhren haben. Sagen ſie ihr das:
und bedeuten ſie ihr, daß das Teſtament umge-
ſtoſſen werden kan und ſoll.
Meine Onckles pflichteten ihm mit eben ſo
vieler Hitze bey.
Mein Bruder, meine Schweſter waren beyde
ungemein hitzig.
Meine Baſe Hervey ſagte: es waͤre kein
Stuͤck, darin es ſo heilſahm ſey, daß ſich Kinder
nach dem Willen der Eltern richteten, als in
Heyraths-Sachen. Es ſey ſehr billig, daß ich
meinen Eltern etwas zu Gefallen thaͤte.
E e 2Die
[436]Die Geſchichte
Die brave Frau kam zu mir herauf, nachdem
ſie genug in der Schule der Meinigen unterrich-
tet war, was ſie ſagen ſollte. Sie erzaͤhlte mir alles
was vorgegangen war, und drang ſehr in mich,
daß ich gehorchen ſollte. Sie richtete ihre Sache
ſo gut aus, daß ich in der That mehr als jemahls
glaubte, ſie waͤre einer Meinung mit jenen gewor-
den. Als ſie aber ſahe, daß meine Abneigung un-
uͤberwindlich war, ſo bedaurte ſie mit mir, daß
die Meinigen ſo unbeweglich auf ihrem Vorſatz
beharreten. Sie ſuchte darauf Gewißheit zu erlan-
gen, ob es mein aufrichtiger Ernſt ſey, daß ich un-
verheyrathet bleiben wollte, wenn ich Soſmeſen
durch dieſes Verſprechen abkauffen koͤnnte. Als
ich ihr das verſichert hatte, ſo ſahe ſie ein, daß
ein ſolches Anerbieten, welches Lovelacen eben
ſo vollkommen alle Hoffnung wuͤrde benommen
haben, Annehmens-wuͤrdig ſey. Sie wollte ſo
gar hinunter gehen, und gleichſahm Buͤrge fuͤr die
Aufrichtigkeit meiner Erklaͤrung werden, ob ich
ihr gleich ſagte, daß ich dieſen Antrag fchon mehr
als einmahl vergeblich gethan haͤtte.
Sie ging hinunter, kam aber bald mit Thraͤnen
zuruͤck, weil ſie uͤber ihr Gewerbe hart angelaſſen
war. Es hieß: ſie haͤtten Recht auf den Gehor-
ſahm zu dringen, den ſie foderten, und nicht den
ich anzubieten Luſt haͤtte. Mein Vorſchlag ſey
nut ein Kunſtgriff, damit ich Zeit gewinnen woll-
te: ſie waͤren mit keiner andern Bedingung zu-
frieden, als daß ich Herrn Solmes heyrathete:
ſie haͤtten mir dieſes ſchon vorhin geſagt: und
ſie
[437]der Clariſſa.
ſie koͤnnten nicht ruhig ſeyn, bis es geſchehen waͤ-
re, denn ſie wuͤßten allzuwohl, wie ſehr Lovelace
mein Hertz gefeſſelt haͤtte. Jch haͤtte es beynahe
ohne Umſchweif in meinen Briefen an meine
Onckles und an meine Geſchwiſter geſtanden, ob
ich gleich ſo unartig geweſen waͤre gegen meine
Mutter eine andere Sprache zu fuͤhren. Jch ver-
lieſſe mich auf ihre Guͤtigkeit, und ich wuͤßte gar zu
wohl, was ich bey ihnen ausrichten koͤnnte: Sie
wuͤrden mir auch nicht verboten haben, zu ihnen zu
kommen, und mit ihnen zu ſprechen, wenn ſie ſich
nicht allzuwohl bewußt waͤren, daß ſie mehr Liebe
fuͤr mich haͤtten, als ich fuͤr ſie. Sie wollten ein-
mahl vor allemahl Gehorſahm haben, oder ich ſoll-
te nie mit ihnen ausgeſoͤhnet werden, es moͤchte
auch daraus entſtehen, was da wollte.
Mein Bruder entbloͤdete ſich nicht der rechtſchaff-
nen Frau ins Geſichte zu ſagen ſie verhaͤrtete mich
nur durch ihr unverſtaͤndiges nichts bedeutendes
Winſeln. Bey allen Frauens-Leuten fuͤnde man
eine gewiſſe Unart, einen Hochmuth aus der Tra-
goedie, der ſolche junge Maͤdchens die an Ro-
mainen ihre Luſt haͤtten, geſchickt machte, alles zu
unternehmen, wenn ſie nur bey jemand Mitley-
den faͤnden. Alter und Gemuͤth waͤren bey mir
zum Liebes-Fieber geneigt: Und meine Betruͤb-
niß, davon ſie ſo viel redete, wuͤrde mir das Hertz
nicht abſtoſſen. Eher moͤgte meiner guͤtigen,
meiner allzuguͤtigen Mutter das Hertz dabey bre-
chen. Sie moͤgte indeß ſo gut ſeyn, und noch-
mahl zu mir heraufgehn: wenn ſie alsdenn auch
E e 3nichts
[438]Die Geſchichte
nichts ausrichtete, ſo wuͤrde er Argwohn ſchoͤpfen,
daß der verhaßte Mann ein Mittel gefunden haͤt-
te, ſie ſelbſt zu gewinnen.
Es verwieſen ihm alle dieſe unverdiente Be-
ſchuldigung, daruͤber die gute Frau von Hertzen
betruͤbt war, er ſetzte indeſſen noch hinzu, und
niemand widerſprach ihm darin: wenn ſie bey ih-
rem ſuͤſſen Kinde nichts ausrichten koͤnnte, ſo
wuͤrde es am beſten ſeyn, daß ſie wieder nach
Hauſe gienge, und zu Hauſe bliebe, bis ſie ge-
ruffen wuͤrde: ſie koͤnnte alsdenn ihr ſuͤſſes Kind,
unter der Zucht ſeines Vaters laſſen. (es ſcheint
ſie muß mich aus Liebe ſo genannt haben.)
Jch glaube nicht, daß ein ſo unverſchaͤmter und
ſo unbarmhertziger Bruder, als meiner, zu finden
iſt. So viel Verleugnung wird von mir erwar-
tet! So viel Hochmuth und Grobheit gegen eine
ſo brave und verſtaͤndige Frau wird an ihm uͤber-
ſehen und entſchuldigt.
Sie antwortete ihm: ſo laͤcherlich er es auch
vorſtellen moͤgte, daß ſie mich ein ſuͤſſes Kind
genannt haͤtte, ſo koͤnnte ſie doch wohl ſagen, daß
kein Frauenzimmer dieſes Nahmens wuͤrdiger
waͤre. Sie haͤtte immer gefunden, daß man
durch ſanfte Mittel alles bey mir ausrichten
koͤnnte, ſelbſt alsdenn, wenn ich von anderer
Einſicht und Meinung waͤre.
Meine Baſe Hervey ſagte hierauf: es ſey
werth das weiter zu uͤberlegen, was Frau Nor-
ron geſagt haͤtte: es ſey ihr ſelbſt bisweilen ein
Zweifel aufgeſtiegen, ob man zu Anfang die Mit-
tel
[439]der Clariſſa.
tel bey mir verſucht haͤtte, die bey edlen Gemuͤ-
thern etwas ausrichten koͤnnten, wenn ihre Nei-
gungen und der Wille ihrer Freunde mit ein-
ander ſtreiten.
So wohl mein Bruder als meine Schweſter
widerſprachen ihr hierin, und beriefen ſich auf
meine Mutter, ob ſie mir nicht ſo gelinde begeg-
net waͤre, als ſchwerlich eine Mutter thun wuͤrde?
Meine Mutter ſagte: ſie von ihrer Seite haͤt-
te es an gelinden Vorſtellungen nicht ermangeln
laſſen: allein ſie muͤßte es bekennen, und haͤtte es
oft bekannt, daß ſie mit der Art unmoͤglich zufrie-
den ſeyn koͤnnte, damit man mich empfangen, und
mir Herrn Solmes Antrag kund gethan haͤtte,
als ich von der Fraͤulein Howe zuruͤck gekommen
waͤre. Jch haͤtte damahls nicht die geringſte Ge-
legenheit gehabt ihn kennen zu lernen, und
man haͤtte mir gar keine Freyheit zu waͤhlen ge-
laſſen.
Sie war bald zum Stillſchweigen gebracht;
durch wen? das werden Sie ſelbſt errathen koͤn-
nen. Mein Kind, Mein Kind ‒‒‒ du haſt immer
eine Entſchuldigung fuͤr das wiederſpaͤnſtige
Maͤdchen. Erinnere dich, wie ſie dir, wie ſie mir
begegnet iſt; Erinnere dich, daß der Kerl,
dem wir alle mit Recht feind ſind, laͤngſt von
ſeinem Verlangen wuͤrde abgeſtanden haben,
wenn ſie ihm nicht Hoffnung gemacht, und
ſich gegen uns halsſtarrig bewieſen haͤtte.
Frau Norton (ſagte er mit Unwillen zu
ihr) gehen ſie noch einmahl hinauf, und
E e 4wenn
[440]Die Geſchichte
wenn ſie dencken, daß durch Gelindigkeit etwas
kann ausgerichtet werden, ſo trage ich ihnen auf
gelinde zu ſeyn. Wenn aber alles vergeblich iſt,
ſo gebrauchen ſie dieſe Entſchuldigung nicht weiter.
Ach meine liebe Norton, ſagte meine Mutter,
verſuchen ſie was ſie bey ihr ausrichten koͤnnen.
Jch will mit meiner Schweſter hinauf gehen, und
wir wollen ſie an unſerer Hand hinunter fuͤhren,
den Seegen ihres Vaters zu empfangen, und von
allen ihren Anverwanten umarmet zu werden,
wenn ſie ſich will erweichen laſſen. Wir wollen
ſie alsdenn wegen ihrer angewandten Muͤhe dop-
pelt lieb haben.
Sie kam zu mir herauf, und erzaͤhlte mir alles
dieſes mit Thraͤnen. Allein ich ſagte ihr, ſie koͤnn-
te aus unſerer vorigen Unterredung ſchon ſchlieſſen,
daß es mir unmoͤglich waͤre, die Abſichten zu er-
fuͤllen, die blos von meinem Bruder herkaͤmen, und
gegen die ich eine ſo groſſe Abneigung haͤtte. Sie
druͤckte mich feſt an ihre muͤtterliche Bruſt, und
ſagte: ich verlaſſe ſie liebſte Fraͤulein, ich verlaſſe
ſie, weil ich muß. Jch bitte ſie nur, uͤbereilen ſie
ſich nicht, und nehmen ſie nichts vor, das ſich fuͤr
ein ſo artiges Gemuͤth nicht ſchickt. Wenn alles
wahr iſt, was die Leute ſagen, ſo kann Herr Love-
lace ihrer in Ewigkeit nicht werth ſeyn. Jſt es
ihnen moͤglich nachzugeben, ſo bedencken ſie, daß
es ihre Schuldigkeit iſt. Jch geſtehe es, daß man
nicht ſo mit ihnen umgehet, wie man mit einem
edlen Gemuͤth umgehen muß. Allein bedencken ſie
daß ihr Gehorſahm aufhoͤren wuͤrde Gehorſahm
zu
[441]der Clariſſa.
zu ſeyn, wenn ſie nichts dabey verleugneten. Be-
dencken ſie auch, was man von einer ſo auſſeror-
dentlichen Perſon, als ſie ſind, erwartet. Beden-
cken ſie, daß es jetzt bey ihnen ſtehet, ob Trennung
oder Eintracht in ihrer Familie ſeyn ſoll. Wenn
es ihnen ſchon itzt unangenehm iſt, ſich zwingen
zu laſſen, ſo wird doch ihre Klugheit und eine
reiffe Uberlegung der Sachen ſie in den Stand
ſetzen, alle vorgefaßte Meinungen gegen den einen,
und alle allzuguͤtigen Vorurtheile fuͤr den andern
zu uͤberwinden. Sie werden ihre gantze Familie
hierdurch verpflichten: dieſes wird nicht allein ein
ſehr verdienſtliches Werck ſeyn, ſondern ihnen
auch ſelbſt in wenig Monathen zu eben ſo vie lem
Vergnuͤgen, als Ehre gereichen.
Ueberlegen ſie, meine liebe Mutter Norton,
(ſagte ich) uͤberlegen ſie, daß es nicht eine Kleinig-
keit von kurtzer Dauer iſt, die man von mir fodert:
ſondern daß es auf meine gantze Lebens-Zeit an-
koͤmmt. Ueberlegen ſie, daß alles dieſes nur die
Anſtalten eines herrſchſuͤchtigen Bruders ſind,
nach welchem ſich alle richten. Ueberlegen ſie, daß
ich ſo bereit bin, ihnen eine Gefaͤlligkeit zu erzeigen,
wenn ſie damit zufrieden waͤren, daß ich unverhey-
rathet bliebe, und meinen Brief-Wechſel mit dem-
jenigen, den ſie haſſen, weil ihn mein Bruder
haſſet, abbraͤche.
Jch uͤberlege das alles, meine liebſte Fraͤulein.
Allein uͤberlegen ſie auch auſſer dem, was ich ſchon
geſagt habe, daß wenn ſie ihrem eigenen Willen fol-
gen, und ſich dem Willen ihrer Eltern widerſetzen,
E e 5und
[442]Die Geſchichte
und es ungluͤcklich ablauffen ſollte, ſie alles des
Troſtes beraubet ſeyn werden den die haben, die
ihren Eltern gefolget ſind, und es nicht ſo getrof-
fen haben, als ſie es wuͤnſchen moͤchten.
Jch muß gehen, (ſagte ſie nochmahls, und mit
Thraͤnen) damit ihr Bruder nicht vorgiebt, ich
verhaͤrte ſie durch mein nichtsbedeutendes Win-
ſeln. Es iſt in der That hart, wenn den Einfaͤllen
des einen Kindes ſo viel nachgeſehen und auf die
Neigung des andern gar nicht geachtet wird. Al-
lein ich widerhole es: wenn ſie nachgeben koͤnnen,
ſo iſt es ihre Schuldigkeit nachzugeben: denn ihr
Herr Vater hat einmahl ihres Bruders Willen
durch ſeinen Befehl bekraͤftiget, und ihn zu ſeinem
eigenen Willen gemacht. Herr Lovelace iſt nicht
der Mann, der ihre Wahl mehr rechtfertigen wird,
als die Abneigung der Jhrigen. Man ſiehet gar
zu deutlich, daß ihr Bruder die Abſicht hat, ſie
um die Liebe der Jhrigen, und inſonderheit ihrer
Onckles zu bringen: eben deswegen ſollten ſie
nachgeben, um ſeine niedertraͤchtigen Abſichten
zu zernichten. Jch will fuͤr ſie beten, das iſt alles
was ich thun kann. Jch muß jetzt hinunter gehen,
und erzaͤhlen, daß ſie ſich entſchloſſen haben, Herrn
Solmes nicht zu nehmen. Soll ich es thun? Ue-
berlegen ſie es Fraͤulein: ſoll ich?
Ja! gantz gewiß! ſie ſollen. Allein das ver-
ſichere ich ihnen, daß ich nie etwas vornehmen
werde, das ſie bewegen koͤnnte, ſich des Antheils,
den ſie an meiner Erziehung gehabt haben, zu
ſchaͤmen. Jch will alles geduldig leiden, nur das
nicht
[443]der Clariſſa.
nicht, wenn man meine Hand mit Gewalt einem
Manne geben will, der nie einigen Antheil an mei-
nem Hertzen haben kann. Jch will ſuchen ſie alle
durch Geduld, Gehorſahm und Demuth zu uͤber-
winden. Allein ich will lieber den Tod in ſeiner
allertraurigſten Geſtalt waͤhlen, als den Mann.
Jch fuͤrchte mich, Fraͤulein, eine ſo geſetzte und
unumſtoͤßliche Antwort hinunter zu bringen. Sie
werden mich nicht mit Geduld anhoͤren koͤnnen.
Jch will ihnen einen Gedancken zuruͤck laſſen, und
ich bitte ſie, daß ſie ihn ſtets in ihrem Gemuͤth
behalten wollen: Die Vorſicht GOttes hat Per-
ſonen von auſſerordentlichen Gaben und Verſtan-
de, (wie ſie beſitzen) in der Welt ausgeſtreuet, daß
ſie durch ihr Vorbild die Religion und die Tugend
unter dem groſſen Hauffen der Menſchen beliebt
machen und ehren ſollen. Wie groß muß die Ver-
ſuͤndigung ſeyn, wenn ſolche Perſonen wiſſentlich
und vorſaͤtzlich fehlen! wie ſehr muß ſie den GOtt
betruͤben, der ihnen ſo auſſerordentliche Gaben
verliehen hat! was fuͤr ein Verluſt iſt dieſes fuͤr
die Welt! und was fuͤr eine Wunde empfaͤngt
dadurch die Tugend ſelbſt! Jch hoffe, daß die-
ſes nie von Fraͤulein Clariſſa Harlowe geſagt
werden ſoll.
Jch konnte nicht anders als durch Thraͤnen
antworten: und da ſie wegging, kam es mir
vor, als haͤtte ſie die groͤſſeſte Haͤlfte meines Her-
tzens mit ſich genommen.
Jch horchte, wie ſie unten empfangen wuͤr-
de. Jch hatte nichts befuͤrchtet, das nicht ge-
ſchahe.
Will
[444]Die Geſchichte
Will ſie Herrn Solmes nehmen, oder will
ſie nicht? keine winſelnde Umſchreibungen und
Umſſchweiffe, Frau Norton! Will ſie ihren El-
tern gehorchen, oder will ſie nicht? (Sie wer-
den leicht errathen wer dieſes ſagte.)
Dieſes Wort ſchnitt alles ab was ſie ſich vor-
genoemmen hatte zu ſagen.
Wenn ich es denn kurtz ſagen ſoll: die Fraͤulein
will lieber ſterben, als ‒ ‒
einen andern als Lovelacen heyrathen!
(ſchrie mein Bruder dazwiſchen) das das iſt ihre
ſanfftmuͤthige Tochter! das iſt das ſuͤſſe Kind
von Frau Norton! Wohlan, gute Frau, ſie kann
nur wieder nach Hauſe gehen. Jch habe Befehl
ihnen zu verbieten, daß ſie einen Monathlang nicht
den geringſten Brieff-Wechſel, oder was dem
gleich iſt, mit dem verkehrten Maͤdchen haben ſol-
len, ſo lieb es ihnen iſt, mit der gantzen Familie
und mit allen Gliedern derſelben wohl zu ſtehen.
Er ſagte dieſes, ohne daß jemand ihm einredete,
und wieß ihr darauf die Thuͤr; Jch zweiffele nicht,
daß er nicht ſollte alle veraͤchtlichen und empfindli-
chen Geberden angenom̃en haben, damit ein hoch-
muͤthiger Reicher den armen und geringen betruͤ-
ben kan, wenn er das Ungluͤck hat ihm zu misfallen.
Jch bin demnach des Raths dieſer ſo klugen
und gewiſſenhafften Frau beraubet, wenn ich deſ,
ſen auch noch ſo ſehr benoͤthigt ſeyn ſollte.
Jch glaube zwar, daß ich ihre Brieffe an Sie
mit einſchlieſſen duͤrffte, und daß Sie ihr eben die-
ſe Erlaubniß geben wuͤrden. Allein wenn es ihr
auch
[445]der Clariſſa.
auch nur um ſie aus zufragen vorgehalten werden
ſollte, daß ſie Briefe mit mir wechſelt, ſo bin ich
gewiß verſichert, daß ſie ſich um aller Welt Guͤter
willen durch keine Unwahrheit, ja nicht einmahl
durch eine zweydeutige Rede wuͤrde heraushelfen
wollen. Wenn ſie es aber geſtuͤnde, ſo haͤtte ſie ge-
wiß die Gunſt meiner Mutter auf ewig verſchertzt.
Jch habe in meiner letzten ſchweren Kranckheit
meine Mutter zu dem Verſprechen bewogen,
wenn ich ſterben ſollte, ehe ich ſelbſt etwas zum Be-
ſten der redlichen Frau thun koͤnnte, ſie in ſolche
Umſtaͤnde zu ſetzen, daß ſie nicht Mangel leyden
duͤrfte, wenn ſie aus Abnahme des Geſichts oder
wegen Kranckheit ſich nicht mehr mit der Nadel
naͤhren koͤnnte.
Was fuͤr Mittel werden nun zunaͤchſt erdacht
werden? ‒‒ Werden ſie nicht nachgeben, wenn
ſie uͤberzeugt werden, daß blos ein allzutieff gewur-
zelter Wiederwille ein ſonſt beugſahmes Gemuͤth
unbeweglich macht?
Leben Sie wohl, mein Schatz! Leben Sie gluͤck-
lich. An Jhrem Gluͤcke mangelt nichts, als daß
Sie ſich Jhres Gluͤcks nicht voͤllig zu gebrauchen
wiſſen.
Cl. Harlowe.
Der viertzigſte Brieff.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
(Eine Fortſetzung des 38ſten Briefes.)
Es
[446]Die Geſchichte
Es kommt mir kein Schlaaf in die Augen,
und ob es gleich jetzt Mitternacht iſt, ſo
will ich doch den Brieff fortſetzen, den ich ſo un-
vermuthet abbrechen muſte, um den Befehl, den
Sie nebſt den Fraͤuleins Lloyd Campion und
Biddulph mir gegeben haben, ſo gut zu erfuͤl-
len, als es meine Zerſtreuung zulaͤßt.
Um die ſchwere Beſchuldigung zu widerlegen,
daß ich gegen eine ſo werthe Freundin verſteckt ſeyn
ſoll bekenne ich, was ich ſchon mehr als einmahl
bekant habe, daß meine verworrene Umſtaͤnde wol
verurſachen koͤnnen, daß mir Herr Lovelace er-
traͤglich vorkommt: alleine keine andere als die ge-
meldete Urſache liegt zum Grunde. Haͤtten ihm
die Meinigen einen Mann entgegen geſetzt, der
Verſtand, Tugend, und ein edles Hertz haͤtte, der
Ehre bey ſeinem Vermoͤgen gehabt haͤtte, und ſo
viel Zaͤrtlichkeit und Mitleyden mit der Noth an-
derer, daß ich haͤtte hoffen koͤnnen, meine Gefaͤl-
ligkeiten mit Danckbarkeit belohnt zu ſehen:
haͤtten ſie, ſage ich ihm einen ſolchen Mann mit
eben dem Ernſt als Solmeſen entgegen geſetzt:
ſo wuͤrden ſie, (wo ich mich kenne) jetzt nicht Urſa-
che haben, ſich uͤber meinen Eigenſinn zu beſchwe-
ren, das aͤuſſerliche Anſehen des Mannes moͤchte
auch noch ſo ſchlecht geweſen ſeyn. Denn ich
glaube, daß ein Frauenzimmer auf das Hertz ſei-
nes Freyers ſehen muͤſſe, weil ihr dieſes allein ge-
gruͤndete Hoffnung geben kann, daß ſie in allen
Umſtaͤnden vergnuͤgt mit ihm leben werde.
Jch
[447]der Clariſſa.
Jch bekenne indeſſen gegen Sie, daß, ſeit
dem ich ſo verfolget und geaͤnſtiget bin, es mir bis-
weilen hat ſchwer fallen wollen, die Abneigung
gegen Herrn Lovelace wegen ſeiner uͤbeln Ei-
genſchaften die ich mir wuͤnſchte, zu behalten,
wenn ich auf ſeine mittelmaͤßig guten Eigenſchaf-
ten gedacht habe.
Sie meinen, daß ich mir ſeine gute und ſeine
ſchlimme Seite ſchon auf dem Fall, wenn ich die
ſeinige werden ſolte, vorgeſtellet haben muͤſſe. Jch
geſtehe es, daß ich dieſes gethan habe: und auf den
Befehl meiner beſten Freundin will ich melden,
was dabey in meinem Gemuͤth vorgegangen iſt.
Zuerſt kommt ſeine gute Seite, und alle die
Betrachtungen, die zu ſeinem Vortheil gereichen.
Als er den erſten Zutrit in unſerm Hauſe be-
kam, ward er deswegen gelobet, weil er gewiſſe
Laſter nicht an ſich hat. Er iſt kein Spieler:
kein Pferde-Wetter: kein Jaͤger von Handwerck:
kein Trunckenbold. Fran Hervey hatte uns im
Vertrauen von dieſem letzten Laſter einen ſolchen
Begriff gemacht, daß wir davon viel unange-
nehme Folgen beſorgeten, die eine Frau am mei-
ſten treffen: und die geſunde Vernunft lehrete
uns, daß man bey einer zu treffenden Wahl ge-
wiß hauptſaͤchlich auf die Tugend der Maͤßigkeit
zu ſehen haͤtte, da aus der Trunckenheit taͤg-
lich ſo vieles Ungluͤck entſtehet. Jch erinnere mich
noch, daß meine Schweſter dieſen vortheilhaften
Umſtand von groſſer Wichtigkeit zu ſeyn glaubte,
ſo lange ſie noch auf ihn hoffete.
Nie-
[448]Die Geſchichte
Niemand hat ihn je fuͤr einen Knicker gehalten:
niemand hat ihm das Lob der Freygebigkeit abge-
ſprochen. So genau man ſich auch um ſeine Um-
ſtaͤnde bekuͤmmerte, ſo kam doch nicht heraus,
daß er ein Verſchwender ſey. Sein Hochmuth, der
in ſo fern loͤblich iſt, bewahrte ihn vor dieſen La-
ſtern. Wenn er ſich vergangen hatte, ſo ließ er ſich
uͤberzeugen, und geſtand ſeinen Fehler. Er machte
aus goͤttlichen Wahrheiten kein Geſpoͤtte, wie der
armſeelige Wyerley, der zu glauben ſchien, daß
der Witz darin beſtuͤnde, w[en]n man etwas vor-
bringen koͤnnte, daruͤber ſich ein ernſthaftes Ge-
muͤth entſetzen muͤßte. Gegen ſeine Auffuͤhrung
in unſerm Hauſe war nichts einzuwenden: man
konnte ſagen, daß er recht zuͤchtig ſey. Seine uͤbri-
ge Auffuͤhrung mochte beſchaffen ſeyn, wie ſie
wollte; ſo ſahe man doch, daß er durch gute
Geſellſchaft gebeſſert werden koͤnnte, und daß er
in boͤſer Geſellſchaft mehr der Verfuͤhrte als der
Verfuͤhrer ſeyn muͤſſe. Eine noch neue Geſchichte,
was nehmlich am vorigen Sonnabend vorge-
gangen iſt, hat mir in Abſicht auf ſeine untadel-
hafte und recht maͤnnliche Auffuͤhrung einen noch
viel beſſern Begriff von ihm beygebracht.
Jn Abſicht auf das Herkommen und Geburt
hat er den Vorzug vor allen denen, die fuͤr mich
in Vorſchlag gebracht ſind, wenn man ihn nach
ſeiner eigenen Regel, die Jhnen ſo wohl gefiel, be-
urtheilen ſoll: wer von wahrhaftig hohem
Herkom̃en ſey, und Verſtand habe, der mache
ſo wenig Geraͤuſch mit ſeinem Stande,
als
[449]der Clariſſa.
als er mit den Handſchuhen: (ein ihm eigener
Ausdruck, den er auf die ungezwungenſte Weiſe
vorzubringen pflegt) hingegen die reichen Erd-
Schwaͤmme die hoch gewachſen, waͤren an
dem Bauren-Stoltz bald zu kennen. Wenn
wir ihn hiernach beurtheilen ſollen, ſo werden wir
das ihm guͤnſtige Urtheil faͤllen muͤſſen, daß er
weiß, was fuͤr eine Auffuͤhrung Leuten von Stande
geziemet, er mag nach ſeiner Einſicht handeln oder
nicht. Jndeſſen beſtehet ſchon die halbe Beſſerung
in Erlangung richtiger Einſichten.
Das Vermoͤgen, das er wircklich beſitzt, iſt ar-
tig; und was er noch zu erwarten hat, das iſt ſehr
groß und anſehnlich. Hievon braucht alſo weiter
nichts geſagt zu werden.
Einige wenden gegen ihn ein: er wuͤrde ohn-
moͤglich ein liebreicher und zaͤrtlicher Ehemann ſeyn
koͤnnen. Fuͤr diejenigen ſchickt es ſich ſchlecht, ei-
ne ſolche Einwendung zu machen, die mir einen
Menſchen wie Solmes auf gewaltſahme Art
aufdringen wollen. Allein nun muß ich Jhnen
auch melden, was mir fuͤr eine Antwort gegen
dieſe Einwendung beygefallen iſt: denn Sie muͤſ-
ſen ſich erinnern, daß ich noch bey dem Theil ſeiner
Eigenſchaften bin, die zu ſeinem Lobe oder Ent-
ſchuldigung gereichen.
Es wird groſſentheils auf ſeine Frau ankom-
men, was ſie fuͤr Zeit bey ihm hat. Sie muß viel-
leicht es verſprechen und halten, daß ihr Wille ei-
nem Manne, der ſo wenig gewohnt iſt, ſich einre-
den zu laſſen, unterworffen ſeyn ſoll, und ſie muß
Erſter Theil. F fſuchen
[450]Die Geſchichte
ſuchen ihm gefaͤllig zu ſeyn. Allein wo iſt ein
Ehemann, der das nicht fodert? ſonderlich, wenn
er ſich nicht ſchmeicheln kann, daß ihn die Frau in
dem unverheyratheten Stande geliebet und allen
uͤbrigen Freyern vorgezogen hat. Wie viel leich-
ter muß ihr aber ſeyn, einem Mann den ſie
ſelbſt gewaͤhlt hat, wenn er auch mannigmahl un-
billige Dinge fodern ſollte, Gehorſahm zu leiſten,
als einem ſolchen, den ſie gewiß nicht wuͤrde ge-
nommen haben, wenn ſie es haͤtte aͤndern koͤnnen?
Manns-Leute haben das Trauungs-Formular
aufgeſetzt, und den Gehorſahm als eine Pflicht
der Frauens-Leute mit hinein geruͤckt. Mich duͤnckt
daher, wenn eine Frau verſtaͤndig handeln will, ſo
muß ſie ihre Pflichten nicht uͤbertreten, es mag ihr
auch dieſes Stuͤck derſelben ſo laͤcherlich und unge-
reimt vorkommen als es will: damit es dem Man-
ne, der doch in ſeiner eigenen Sache Richter iſt,
nicht einfallen moͤge, andere Pflichten auch auf die
leichte Schulter zu nehmen, an denen ihr mehr ge-
legen iſt. Jn der That aber glaube ich, daß uns
kein vor dem Altar gethanes Geluͤbde geringe
ſcheinen muß.
Was muͤßte das aber fuͤr ein Unmenſch ſeyn,
der einer Frau hart begegnen koͤnnte, die nach die-
ſen Grundſaͤtzen handelt? Wird Lovelaces Frau
die eintzige ungluͤckliche Perſon in der Welt ſeyn,
der er undanckbahr und unhoͤflich begegnen kann?
Man leugnet nicht, daß er ein braver Mann ſey,
der Hertz im Leibe hat: wo iſt aber ein Mann der
beydes Hertz und Verſtand gehabt hat, gantz boͤſe
und
[451]der Clariſſa.
und laſterhaft geweſen? Wie unentbehrlich aber
die Zaͤrtlichkeit unſeres Geſchlechts und die Art
wie wir erzogen werden, uns einen muthigen Be-
ſchuͤtzer und eine edelmuͤthige Geſellſchaft macht,
dadurch wir aufgerichtet und nicht niedergeſchla-
gen werden, kann man unter andern daraus ſehen,
daß wir ſchon von Natur in dieſen Character ver-
liebt ſind, wenn wir ihn bey Manns-Perſonen
antreffen.
Werde ich zu befuͤrchten haben, daß er mich
auf meine Stube einſperret? daß er mir den Um-
gang und den Briefwechſel mit meinen beſten
Freundinnen unterſaget? daß er mir die Haushal-
tung nimmt, wenn ich nichts darin verſehen habe?
daß er eine Magd uͤber mich ſetzt, und ihr erlaubt
mich zu kraͤncken. Da er ſelbſt keine Schweſter hat,
wird er etwa den Fraͤuleins Montague erlauben,
uͤber mich mit harter Hand zu herrſchen? oder wer-
den dieſe eine ſolche Erlaubniß annehmen und ge-
brauchen? das darf ich alles nicht befuͤrchten. Jch
werde deswegen oft heimlich unwillig uͤber meine
grauſahmen Freunde, daß ſie mich in Verſuchung
fuͤhren, mir eine Erfahrung von dem Unterſcheid
ihrer und ſeiner Auffuͤhrung gegen mich zu wuͤn-
ſchen.
Jch finde endlich in meinem Hertzen ein gehei-
mes Vergnuͤgen, das ſich daruͤber regen wuͤrde,
wenn ich einen ſolchen Mann wider auf den Weg
der Tugend bringen koͤnnte; und wenn ich dadurch,
daß ich die Seinige wuͤrde, ein Neben-Mittel zu
ſeiner Errettung und zur Verhuͤtung ſo vieles Un-
gluͤcks wuͤrde, das ſonſt von einem ſo dreiſten und
F f 2alles
[452]Die Geſchichte
alles wagenden Menſchen zu befuͤrchten iſt.
So oft ich ihn auf dieſer guten Seiten angeſe-
hen, und bedacht habe, daß ein verſtaͤndiger Mann
ſeinen Jrrthum eher einſehen wird, als ein ande-
rer; ſo muß ich ihnen geſtehen, daß ich groſſe
Verſuchung gehabt habe, das zu thun, wovon
man mich auf eine ſo gewalſahme Weiſe abhaͤlt.
Alle Herrſchaft uͤber mein Gemuͤth, welche man
fuͤr die Haupt-Tugend angeſehen hat, die ich in ſo
jungen Jahren beſaͤſſe, iſt kaum hinlaͤnglich ge-
weſen, mich zuruͤck zu halten.
Die Liebe ſeiner Anverwanten gegen mich, un-
ter denen keiner iſt gegen den etwas einzuwenden
waͤre, ihn allein ausgenommen, hat viel dazu
beygetragen, den Ausſchlag auf die gute Seite
zu lencken.
Allein nun folget auch die ſchlimme Seite,
und alles das was in meinem Gemuͤth gegen ihn
ſtreitet. Wenn ich das Verbot meiner Eltern
bedencke, das liederliche Anſehen, das es vor der
Welt haben wuͤrde, wenn meine Wahl ihn traͤffe;
die Unwahrſcheinlichkeit, daß jemahls die Wiedrig-
keit auf hoͤren wird, die durch die Schlaͤgerey ſtaͤr-
cker geworden iſt, und noch taͤglich durch meines
Bruders Kunſt zunimmt; die Nothwendigkeit,
auf ewig mit den Meinigen im Streit zu leben,
und zu ihm zu fluͤchten und ihn faſt auf die Art zu
nehmen, als wenn ich dieſe Verbindung fuͤr eine
Wohlthat und Gluͤck anzuſehen haͤtte; ſeinen Wi-
derwillen gegen uns, der eben ſo ſtarck iſt, als der
Widerwille der Meinigen gegen ihn; den Haß der
ſeine und unſere Familie um ſeinet willen trennet;
ſei-
[453]der Clariſſa.
ſeinen uͤblen Charackter in Abſicht auf unſer Ge-
ſchlecht, welcher macht, daß ich den Gedancken, mich
mit ihm zu verbinden, ſchon vor eine groſſe Befle-
ckung des Gemuͤts halten muß; ſeine Jugend und
ungebrochenen Kopf und Leydenſchaften, ſeine
Heftigkeit, die doch nicht ohne Liſt iſt, und wie ich
fuͤrchte auch nicht ohne Rachgier; die Gefahr, daß
ein ſolcher Mann mir andere Grundſaͤtze beybrin-
gen koͤnnte, dadurch ich meine ewige Wohlfarth
verſchertzen wuͤrde: den wenigen Eingang den die
Ermahnungen ſeiner tugendhaften Baſen und ei-
nes Onckles bey ihm haben, ob er gleich von ihnen
ſo viel zu gewarten hat: daß alle ſeine mittelmaͤßig-
guten Eigenſchaften Fruͤchte des Hochmuths und
nicht der Tugend ſind; daß er zwar nichts gegen
die Sitten-Lehre ſaget, und kuͤnftige Belohnun-
gen und Straffen glaubet, dabey aber ſo handelt,
als wenn er jene verſchmaͤhete, und dieſen trotzen
wollte; daß dieſe freye Lebens-Art ſehr leicht auf
ſeine Nach kommen fortgepflantzet werden kan; und
endlich, daß ich, da ich alles dieſes weiß, weniger
Entſchuldigung haben werde, als eine andere, die
es nicht weiß, weil eine wiſſentliche Vergehung im-
mer weit ſtraffbarer iſt, als eine Unwiſſenheits-
Suͤnde: wenn ich alles dieſes uͤberlege, ſo finde ich
mich gezwungen Sie zu beſchwoͤren, daß Sie fuͤr
mich und mit mir beten ſollen, daß ich nicht moͤge
getrieben werden, aus Verzweiffelung einen
Schritt zu thun, den ich vor meinem eigenen Ge-
wiſſen nicht entſchuldigen koͤnnte. Denn auf deſſen
Ausſpruch kommt es hauptſaͤchlich an: das Ur-
F f 3theil
[454]Die Geſchichte
theil der Welt kann auch mit in Betrachtung
gezogen werden, allein es bleibt nur eine Ne-
ben-Betrachtung.
Jch habe ihm zum Ruhm nachgeſagt, daß er
ſeine Fehler gern erkennet. Allein ich habe oſt
von dieſem Lobe einen groſſen Abzug machen muͤſ-
ſen, weil ich befuͤrchte, daß dieſe Bereitwilligkeit
und Auſrichtigkeit aus zweyen Quellen herzuleiten
iſt, die ihm zu ſchlechtem Ruhm gereichen. Viel-
leicht haben ſeine Untugenden ſich der Herrſchaft
uͤber ihn ſo bemeiſtert, daß er ſich nicht mehr unter-
ſteht, ſie zu beſtreiten: vielleicht giebt er auch aus
Verſchlagenheit einen Theil ſeines guten Nah-
mens verlohren, um den andern Theil dadurch zu
retten, weil er auch den nicht verdienet. Denn durch
Erkaͤnntniß ſeiner Fehler kann er mancher Nach-
rede den Mund verſtopfen, die er zu beantworten
nicht im Stande iſt; und er erhaͤlt dadurch den
Ruhm der Aufrichtigkeit, weil er keinen andern
Ruhm erhalten kann. Vielleicht kaͤme noch mehr
Boͤſes von ihm heraus, wenn er auf Beweiß drin-
gen wolte. Dieſes iſt zwar ein ſehr ſtenger und ta-
delſuͤchtiger Verdacht: allein es kann nicht alles
falſch ſeyn, was ſeine feinde von ihm ſagen.
Jch will bald weiter fort fahren.
Wir haben ihn oft fuͤr einen Menſchen von
munterm Verſtande allein ohne viel Nachdencken
und tieffe Abſichten angeſehen: allein zu anderer
Zeit kam er uns ſo unergruͤndlich vor, als irgend
ein Menſch von der Welt ſeyn kann. Wenn wir
bey
[455]der Clariſſa.
bey dem einen Beſuch glaubten ihn gantz ausge-
forſchet zu haben, ſo mußten wir das naͤchſtemahl
unſere Muͤhe fuͤr verlohren anſehen. Dieſes gehoͤrt
gewiß mit zu ſeiner ſchwartzen Seite. Sie ſind in
der Haupt-Sache in ſofern auf ſeiner Seite gewe-
ſen, daß Sie eine allzugroſſe Freymuͤthigkeit fuͤr
ſeinen Haupt-Fehler ausgegeben haben, nebſt ei-
ner allzugroſſen Nachlaͤßigkeit ſeinen guten Nah-
men zu erhalten, und einer Leichtſinnigkeit, die ihn
verhindert verſteckt zu ſeyn. Sie glaubten, daß
ſein Hertz um die Zeit gut ſey, wenn er etwas gu-
tes redet: alleine ſeine Leichtſinnigkeit und Veraͤn-
derlichkeit haͤtten den Grund in ſeiner Leibes-Be-
ſchaffenheit und guten Geſundheit, und in einer
Seele, die ſich zu ſo einem Leibe unvergleichlich
ſchickte und vollkommen mit ihm zufrieden ſey. Sie
machten hieraus den Schluß, wenn nur dieſe Ue-
bereinſtimmung des Leibes und der Seelen eine
gute Richtung bekommen koͤnnte, d. i. wenn ſeine
Lebhaftigkeit nur durch die Sitten-Lehre einge-
ſchraͤnckt wuͤrde; ſo wuͤrde man in ſeiner Ge-
ſellſchaft das Leben vergnuͤgt zubringen koͤnnen.
Jch habe oft geantwortet, und ich bin noch jetzt
der Meinung, daß er nicht das gute Hertz hat,
das er haben ſollte: und wenn ihm dieſes mangelt,
ſo mangelt ihm alles. Fehler, die bloß Jrrthuͤ-
mer des Kopfes ſind, koͤnnen gebeſſert werden:
allein wer kann ein beſſers Hertz geben, weñ es dar-
an fehlet? Bloß eine ſolche goͤttliche Gnade, die ei-
nem Wunderwercke ſehr nahe kommt, kann ein
boͤſes Hertz aͤndern. Sollte man nicht billig vor dem
F f 4Manne
[456]Die Geſchichte
Manne fliehen, den man nur in einem ſolchem
Verdacht haben muß? Wie uͤbel, wie unver-
antwortlich handeln Eltern, wenn ſie ein Kind
zwingen, beſſere Gedancken von einem Manne
zu faſſen, den es ſonſt kaum fuͤr mittelmaͤßig
angeſehen haben wuͤrde, damit es eine unertraͤg-
lichere Parthey vermeyden moͤge!
Jch habe geſagt, daß ich ihn fuͤr rachgierig an-
ſehe. Es iſt mir in der That oft der Gedancke
beygefallen, das vielleicht ſeine Beſtaͤndigkeit in
der Zuneigung zu mir dadurch vermehrt worden
ſey, weil er findet, daß dieſes den Meinigen
ſehr verdruͤßlich iſt. Von der Zeit an, da er dieſes
gemerckt hat, iſt er viel eyfriger geworden, ohne
ſich um die Gunſt der Meinigen zu bewerben,
denen er vielmehr Trotz bietet. Er will zwar, daß
ich hieraus ſchlieſſen ſoll, daß er keine gewinnſuͤch-
tigen Abſichten habe: denn das kann er nicht ver-
langen, daß ich es fuͤr ein Zeichen ſeiner Wohlge-
zogenheit anſehen ſoll. Zu jenem giebt ihm das
einen Vorwand, daß er wohl weiß, daß die Mei-
nigen im Stande ſind eine demuͤthige Hoͤflichkeit
genugſahm zu belohnen. Es iſt wahr, er ſagt mit
gutem Grunde, daß die allerdemuͤthigſte Unter-
werffung von den Meinigen nicht angenomen wer-
den wuͤrde: (und wenn dieſes nicht waͤre, ſo waͤre
es mir auch nicht moͤglich, mit ihm Geduld zu ha-
ben) er erbietet ſich auch um meinetwillen dazu, daß
er eine Ausſoͤhnung ſuchen wollte, wenn ich glaub-
te daß er etwas erhalten koͤnnte. Sein Betragen
in der Kirche ſcheint mir nicht voͤllig untadelhaft
zu
[457]der Clariſſa.
zu ſeyn: wenn gleich ſeine Abſicht demuͤthig genug
war, ſo muß er doch in Gebeerden hochmuͤthig ge-
weſen ſeyn, ſonſt wuͤrde es Schorey, die ſeine
Wiederſacherin nicht iſt, ihm nicht Schuld gege-
ben haben.
Jch glaube nicht, daß er das menſchliche Hertz
und die Sitten-Lehre ſo gut verſtehet, als einige
von ihm glauben. Erinnern Sie ſich noch wohl, wie
ihn die gewoͤhnliche Anmerckung in Verwunde-
rung ſetzte, die er aus einem jeden Sitten-Leh-
rer haͤtte lernen koͤnnen; als er ſich auf eine dro-
hende Weiſe uͤber die uͤbeln Nachreden beklagte,
die man gegen ihn ausſprengete. Jch ſagte ihm
damahls: „wenn er unſchuldig waͤre, ſo koͤnnte er
„dieſe Nachrede verachten: waͤre er aber ſchuldig,
„ſo wuͤrde er durch die Rache nicht unſchuldig
„werden. Der Degen koͤnnte nicht als ein
„Schwamm gebraucht werden. Es ſtuͤnde bey
„ihm ſelbſt, durch Verbeſſerung des Fehler[ſ], den
„ihm ein Feind Schuld gaͤbe, den Feind als einen
„Freund zu gebrauchen, und zwar wider deſſen
„Willen, welches eben die edelſte Rache ſey.
„Denn ſein Feind wuͤnſchte wahrhaftig nicht,
„daß er von den Fehlern rein ſeyn ſollte, die er an
„ihm tadele.„
Er antwortete: der Vorſatz ſeines Feindes ſey
ſchon eine Wunde fuͤr ihn. Und ich fragte ihn:
„wie das ſeyn koͤnnte? Der bloſſe Vorſatz ohne
„Nachſatz koͤnne ja nicht verwunden! Sein Feind
„halte den Degen gleichſahm in der Hand, er
„aber richte ihn auf die Bruſt! Ob er Urſache
„haͤtte uͤber den boͤſen Wille n ſeines Feindes bis
F f 5„auf
[458]Die Geſchichte
„auf den Tod zu zuͤrnen, wenn ihm dieſer boͤſe
„Wille Lebens-lang nuͤtzlich ſeyn koͤnnte?„
Wie kan der ſo viel nuͤtzliche Beleſenheit haben,
als man man von ihm ſaget, der ſich uͤber ſo ge-
meine Regeln der Sitten-Lehrer verwundert?
Es kann nicht fehlen, er flndet ein Vergnuͤgen
in der Rache, ob er gleich die Rachgier an andern
tadelt. Er iſt nicht der eintzige, der das Laſter
an andern in ſeiner ſchwarzen Geſtalt ſiehet, das
er bey ſich fuͤr keinen Fehler achtet.
Um dieſer Urſachen und um dieſes Ausſchlages
willen ſchrieb ich ehe mahls, daß ich um aller Welt
willen in ihn nicht verliebt ſeyn moͤchte. Jch uͤber-
ſchritt vielleicht ſchon die Gebote der Klugheit,
als ich gleichſahm mit ihnen handeln, und mir ei-
ne bedungene Neigung zu ihm vergoͤnnen woll-
te, daruͤber Sie ſich ſo ſehr luſtig gemacht haben.
Mich duͤnckt ich hoͤre ſchon, daß Sie antwor-
ten: was dient alles dieſes zur Sache? Diß ſind
die Gruͤnde auf beyden Seiten: bin ich aber ver-
liebt, ſo bleibe ich ihrer ohngeachtet verliebt. Mit
der Liebe iſt es eben ſo als mit der Schwermuth:
je weniger man die Urſachen davon angeben kann,
deſto tieffere Wurtzel hat ſie geſchlagen. Sie wer-
den mich alſo von neuen ermahnen, keine Geheim-
niſſe zu machen, ſondern frey heraus zu beichten.
Wenn Sie es denn einmahl haben wollen, ſo
geſtehe ich, daß er mir ohngeachtet aller ſeiner uͤber-
wiegenden Fehler dennoch beſſer gefaͤllt, als ich ge-
dacht hatte, daß er mir jemahls gefallen wuͤrde;
und vielleicht beſſer, als mir ein Mann der ſo viel
Fehler
[459]der Clariſſa.
Fehler an ſich hat billig gefallen ſollte. Jch halte
es fuͤr moͤglich, daß meine Verfolger mich dahin
bringen, daß er mir kuͤnftig noch beſſer gefaͤllt:
ſonderlich nachdem ich mich unſerer letztern Unter-
redung zu ſeinem Vortheil erinnern kann, und
ich von der andern Seite taͤglich neue Proben der
Tyranney erfahre. Mit einem Wort, ich will
es frey geſtehen, (weil Sie doch nichts was ich ſage
fuͤr gar zu deutlich und offenhertzig halten koͤnnen)
daß ich ihn jetzt allen Manns-Perſonen, die ich je-
mahls geſehen habe, vorziehen wuͤrde, wenn ich ihn
nur fuͤr tugendhaft halten koͤnnte.
Das iſt denn doch nur eine bedungene Nei-
gung! werden Sie ſagen. Jch hoffe auch nicht,
daß meine Neigung weiter gehet. Jch bin noch
nie verliebt geweſen, darum werden Sie beſſer als
ich entſcheiden koͤnnen, ob ich jetzt verliebt zu nen-
nen ſey. Bin ich aber jetzt verliebt, ſo ſcheint mir
die Liebe nicht eine ſo unuͤberwindliche Macht zu
haben, als man ihr gemeiniglich zuſchreibet; oder
man muß ihr erſt mehr Freyheit gelaſſen haben als
ich, wenn ſie unuͤberwindlich wird. Denn
ich weiß gewiß, daß ich mich von dem einen
Freyer, um den andern zugleich los zu werden, los
ſagen koͤnnte, ohne daß mir das Hertz ein eintziges-
mahl dabey ſchlagen ſollte.
Allein den Schertz bey Seite geſetzt: haͤtten ja
meine ungluͤcklichen und bedraͤngtẽ Umſtaͤnde mich
zu einer Neigung gegen Lovelacen getrieben
oder verleitet, und waͤre aus dieſer Neigung eud-
lich gar eine Liebe geworden: ſo haͤtten Sie doch
Jhre
[460]Die Geſchichte
Jhre ungluͤckliche Freundin durch Jhren loſen
Schertz uͤber eine ſo empfindliche Sache nicht ſo
aͤngſtigen ſollen, als Sie gethan haben; Sie, de-
ren Hertz empfindet was Zaͤrtlichkeit und Freund-
ſchaft iſt, die Sie ſo hohe Begriffe von der Ehre
unſeres Geſchlechtes haben, und die Noth Jhrer
Freunde als Jhre eigene Noth anſehen. Haͤtten
Sie das wohl thun ſollen? Da ich mich nicht
einmahl verſtecken wollte, und mich nicht huͤte,
wol funfzig Stellen in meine Briefe einflieſſen
zu laſſen, die mich verrathen? Es wuͤrde Jhrer
Art mehr gemaͤß geweſen ſeyn, mich muͤndlich
durch Jhren freundſchaftlichen Spott zu aͤngſti-
gen, wenn die Gefahr und Bedraͤngniß ſchon
uͤberſtanden geweſen waͤren, und ich meine ge-
zwungene Sproͤdigkeit noch nachher haͤtte an-
nehmen wollen. Allein dergleichen jetzt zu ſchrei-
ben, und (wie ich Sie im Geiſte ſehe) mit einem
tadelnden Auge voll Hohn gelaͤchter zu ſchreiben,
ſcheint mir in der That nicht allzu artig zu ſeyn,
ſonderlich wenn es von einer ſo artigen Fraͤulein
in einer ſo empfindlichen Sache geſchiehet. Jch
ſchreibe dieſes nicht um mein ſelbſt willen, denn
ich liebe Jhren Schertz, ſondern um Jhres eige-
nen edlen Hertzens willen.
Jch lege die Feder hier nieder, und bitte Sie,
auch etwas im Leſen einzuhalten, und das erſt zu
uͤberdencken, was ich geſchrieben habe.
Nunmehr bin ich im Stande, die Feder wider
zu ergreiffen, und Jhnen meine Meinung auf die
Frage zu geben, wie viel unſer Geſchlecht bey ei-
ner
[461]der Clariſſa.
ner zu treffenden Wahl auf das aͤuſſere und auf
die Geſtalt ſehen muͤſſe. Jch will die Frage erſt
uͤberhaupt, und denn inſonderheit in Abſicht auf
Herrn Lovelacen beantworten. Sie werden hier-
aus abnehmen koͤnnen, ob meine Freunde Recht
oder Unrecht haben, wenn ſie mir ein Vorurtheil
zum Vortheil des einen und zum Nachtheil des
andern vorwerfen, welches ſich auf die Geſtalt der
beyden Freyer gruͤndet. Allein die Anmerckung
muß voran gehen: wenn die Meinigen ſelbſt Lo-
velacen und Solmeſen mit einander vergleichen,
ſo finden ſie allzuſtarcken Grund zu glauben, daß
die Geſtalt beyder einen Eindruck bey mir machen
koͤnnte: und hieraus ſchlieſſen ſie, daß ſie wuͤrcklich
einen Eindruck gemacht habe.
Es erhaͤlt zum wenigſten die Wahl eines Frau-
enzimmers den Beyfall der meiſten Leute, und ge-
reicht dem Frauenzimmer zur Ehre, wenn ſich bey
der gewaͤhlten Manns-Perſon auch eine angeneh-
me Geſtalt findet. Die Geſtalt giebt uns ein gu-
tes Vorurtheil von dem Jnneren der Perſon, das
man richtig zu befinden wuͤnſchet: und wenn die-
ſes Vorurtheil bekraͤftiget wird, ſo freuen wir uns,
daß unſer Urtheil richtig geweſen iſt, und die Per-
ſon gefaͤllt uns eben deswegen deſto beſſer, weil ſie
unſerer Geſchicklichkeit, in dem Geſichte das Ge-
muͤth zu leſen, zum Ruhm gereicht. Dem ohnge-
achtet habe ich mir die Regel gemacht, auf allzu
ſchoͤne Geſichter beyder Geſchlechter einen Ver-
dacht zu werfen: und ich habe mich nicht leicht in die-
ſer Regel betrogen, inſonderheit bey dem andern Ge-
ſchlecht,
[462]Die Geſchichte
ſchlecht, welches am meiſten Urſache hat, ſeinen
Ruhm nicht in der Geſtalt ſondern in den Vorzuͤ-
gen des Gemuͤths zu ſetzen. Denn was unſer Ge-
ſchlecht anbetrifft, ſo wird die Welt ein ſchoͤnes
Frauenzimmer doch immer entſchuldigen, wenn es
ſich durch das Lob der Welt zur Eitelkeit und zum
Hochmuth verleiten laͤßt, und weniger bekuͤmmert
iſt, die dauerhafteren Vorzuͤge des Gemuͤths zu
erlangen. Denn, ich weiß nicht wie es zugehet,
eine ſchoͤne Thoͤrin gefaͤllt uns doch in allem was
ſie thut und redet wohl.
Wer wollte einer ſolchen artigen kleinen Thoͤrin
ihre kurtze Zeit des Vergnuͤgens verderben! Jhr
Sommer, indem ſie wie ein Butter-Vogel pran-
get, laͤufft doch mehr als zu bald zum Ende, und
es folgt darauf ihr Winter, indem ſie durch Al-
ter und Runtzeln ungeſtalt wird, und es empfindet,
daß ſie ihren edelſten Theil nicht geſchmuͤcket hat.
Alsdenn wird ihr der Spiegel ein unertraͤglicher
Tadler werden; und wenn ſie weiter nichts iſt
als eine alte Frau, ſo wird ſie alle Verachtungen,
die einem bey dieſem Nahmen einfallen, auszuſte-
hen haben. Bey einem verſtaͤndigen Frauenzim-
mer hingegen, das Tugend, Klugheit und nuͤtzli-
che Erfahrung in die ſpaͤtern Jahre des Lebens
mitnimmt, trit eine wahrhafte Ehrfurcht an die
Stelle der Bewunderung, die es vorhin genoſſen
hatte, und erſetzt allen Verluſt uͤberfluͤßig.
Wie weibiſch laͤßt es fuͤr eine Manns-Perſon,
wenn ſie ſich etwas auf ihre Geſtalt einbildet?
Wenn ein ſolcher Menſch Gemuͤths-Gaben hat, ſo
pflegt
[463]der Clariſſa.
pflegt er ſich doch mit Sachen, die den Verſtand
angehen nicht ſehr zu beſchaͤſtigen. Das aͤuſſer-
liche raubt ihm alle ſeine Sorgfalt und Aufmerck-
ſamkeit; ſein Nachdencken wird blos zu Erfindun-
gen angewandt, die aͤuſſere Geſtalt zu ſchmuͤcken,
oder vielleicht in der That ſie laͤcherlich zu machen.
Alles was er thut, das thut er um ſein ſelbſt wil-
len: alles was er bewundert, das iſt er ſelbſt: ſo
oft auch die Schau-Buͤhne den Stutzer laͤcherlich
abzubilden und dadurch zu beſſern ſucht, ſo pflegen
ſolche Leute ſich doch gemeiniglich durch dieſe Thor-
heit zu erniedrigen, und werden dadurch bey dem
einen Geſchlecht veraͤchtlich, und bey dem andern
der Zeit-Vertreib, wenn es ſich uͤber ſie luſtig macht.
So geht es gemeiniglich mit den geputzten arti-
gen Mannsleuten; darum widerhohle ich mein
Urtheil, daß die bloſſe Geſtalt der Mannsleute ein
Bewegungs-Grund der Zuneigung zu ihnen ſey,
deſſen ſich ein Frauenzimmer billig ſchaͤmen ſoll.
Wenn aber ein Mann auſſer dem guten Anſehen
auch ſo viel gelernt hat, und ſo viel andere Vor-
zuͤge beſitzt, daß er auch bey ſchlechterem Anſehen
dadurch geehret werden wuͤrde: ſo iſt die Geſtalt
ein Neben-Vorzug. Er verdient alsdenn in der
That Hochachtung, wenn er kein allzu groſſer An-
beter von ſich ſelbſt iſt, und Tugend beſitzet.
Herr Lovelace hat in der That einen guten
Geſchmack, und weiß, ſo viel ich mercken kann, von
allem was zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften gehoͤrt
wohl zu urtheilen. Ob er aber gleich einen Spaß
uͤber ſich ſelbſt machen, und dadurch ſeine Einbil-
dung
[464]Die Geſchichte
dung gluͤcklich genug verbergen kann; ſo bildet er
ſich doch auf ſeine Geſtalt, Geſchicklich keit und ſelbſt
auf ſeine Kleidung nicht wenig ein; wiewohl er
die letztere ſo ungezwungen zu waͤhlen weiß, daß er
faſt gar nicht darauf zu dencken ſcheint. Was
aber jene anlangt, ſo wuͤrde ich es mir nicht ver-
geben koͤnnen, wenn ich durch meine Bewunde-
rung veranlaſſete, daß er ſich in den Dingennoch
beſſer gefiele, aus denen er jetzt allzu viel zu machen
ſcheint.
Darff ich Sie nun fragen: ob ich Jhre Erwar-
tung erfuͤllet habe? Jſt es noch nicht geſchehen,
ſo will ich Sie voͤllig zu vergnuͤgen ſuchen, wenn
ich aufgeraͤumter ſeyn werde. Denn mich duͤnckt,
daß alle meine Gedancken etwas ſchweres und lah-
mes haben, daß meine Schreib-Art kriechend iſt,
und alle Lebhaftigkeit der Einbildungs-Kraft ver-
ſchwindet. Jch habe kaum die Luſt, noch etwas
zu ſchreiben, als nur dieſes, daß alles was ich
noch bin und habe meiner lieben Fraͤulein Howe
zu Dienſten ſtehet.
Cl, Harlowe
P. S. Die unverſchaͤmte Eliſabeth hat mich
von neuen dadurch aufgebracht, daß ſie mir fol-
genden Ausdruck des eckelhaften Solmes erzaͤhle-
„te: er waͤre wegen des ſproͤden Maͤdchens auſſer
„Sorgen, und es ſollte ihm dieſer Sieg nicht viel
„Muͤhe koſten. Wenn ich ihm zum voraus noch
„ſo abgeneigt waͤre, ſo koͤnnte er ſich doch auf
„meine Tugend verlaſſen, und es ſollte ihm eine
„rechte Freude ſeyn zu ſehen, wie es ſo artig
„laſſen
[465]der Clariſſa.
„laſſen wuͤrde, wenn ich es nach und nach naͤ-
„hern Kauff gaͤbe. (Der abſcheuliche Kerl) Der
„alte Ritter Oliver haͤtte die Welt vollkommen
„gekannt, und haͤtte immer geſagt, Furcht
„ſey ein beßeres Mittel als die Liebe eine Frau zu
„Beobachtung ihrer Schuldigkeit anzuhalten.
„Er wollte inzwiſchen bey einer ſo artigen Per-
„ſon zum wenigſten einige Wochen lang verſuchen
„was die Liebe ausrichten wuͤrde. Denn er
„wollte das nicht gern glauben, was der alte
„Herr zu ſagen pflegte, daß die Liebe mehr ſchlim-
„me als gute Weiber machte.
Was duͤnckt Jhnen zu einem ſolchen Men-
ſchen? Der noch dazu die Spruͤche des alten Fein-
des aller Frauenzimmer des Ritter Olivers fuͤr
goͤttlich haͤlt.
Der ein und viertzigſte Brief.
von
Fraͤultin Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Wie gern wuͤrde ſich meine Mutter guͤtig gegen
mich erzeigen, wenn es ihr nur erlaubt waͤre.
Jch bin gewiß verſtchert, daß alle meine jetzigen
Verfolgungen wegfallen wuͤrden, wenn man gegen
ſie die Achtung bewieſe, die ihr ſchoͤner Verſtand
verdient. Jch weiß nicht ob ich es ihr, oder ihrer
Erſter Theil. G gSchwe-
[466]Die Geſchichte
Schweſter oder beyden beymeſſen ſoll, daß die Guͤ-
te nochmahls bey mir verſucht iſt. Dieſen mor-
gen uͤberbrachte mir Schorey folgenden guͤtigen
Brief.
So muß ich dich noch nennen. Denn du biſt
mir nicht allein lieb, ſondern auch theuer, ich mag
das Wort nehmen in welchem Verſtande ich will.
Wir haben einige Reden uͤberlegt, die der Frau
Norton geſtern entfallen ſind, als haͤtten wir uns
nicht genugſahm zu dir herabgelaſſen, und waͤren
dir nicht ſo guͤtig und freundlich als ſonſt begegnet,
da wir dir den Antrag des Herrn Solmes eroͤfne-
ten. Sollten wir auch dieſes nicht gethan haben,
ſo gereicht es nicht zu deiner Entſchuldigung, da
du deine Pflicht vergeſſen und dich dem Willen
deines Vaters in einer Sache, darin er nicht mehr
mit Ehren zuruͤckgehen konnte, widerſetzt haſt. Al-
lein es kann noch alles wider gut werden. Auf
deinen Willen kommt jetzt unſere gantze Gluͤckſee-
ligkeit und Ruhe an.
Dein Vater giebt mir die Erlaubniß, dir zu
melden, daß alles vergangene ſo vergeſſen werden
ſoll, als waͤre es nie geſchehen, wenn du von nun an
ſeine Hoffnung in Gehorſahm erfuͤlleſt. Allein ich
ſoll dir auch ſchreiben, daß dir dieſes jetzt zum letz-
ten mahl angeboten wird.
Du wirſt dich erinnern, daß ich dir ſchon vor-
hin geſagt habe, daß Proben von den reichſten
Stoffen verſchrieben ſind. Dieſe ſind angekom-
men; und dein Vater will haben, daß ich ſie dir
ſchi-
[467]der Clariſſa.
ſchicken ſoll, damit du ſehen moͤgeſt, wie veſt er ſei-
nen Entſchluß gefaſſet hat. Jch wollte wuͤnſchen,
daß ich nicht noͤthig gehabt haͤtte, ſie mit dieſem
Briefe zu uͤberſenden. Doch daran liegt ſo viel
nicht. Jch kann dir nicht verhalten, daß ich nicht
mehr glaube, daß man ſich ſo ſehr an deine Zaͤrtlich-
keit kehren muͤſſe, als ich mir ſonſt eingebildet habe.
Dieſe Proben ſind von der neueſten Mode und
von den reichſteu Zeugen, die zu finden waren, ſo
wie ſie ſich fuͤr unſern Stand und Mittel ſchicken,
und zu dem was wir dir noch uͤber dein Gros-vaͤ-
terliches Gut, und uͤber die Vortheile die dir Herr
Solmes bewilliget, von deinem vaͤterlichen mit-
zugeben gedencken.
Dein Vater hat dir Stoffen zu ſechs vollſtaͤn-
digen Anzuͤgen zugedacht, davon drey voͤllig verar-
beitet werden ſollen. Du haſt noch einen gantz
neuen Anzug Kleider, und einen den du nicht mehr
als zweymahl wirſt getragen haben, wo ich mich
recht erinnere. Weil der gantz neue Anzug auch
von reichen Stoffen iſt, ſo ſteht dir frey, ob du den
unter die ſechs Kleidungen rechnen wilſt. Jn ſol-
chem Falle wird dir dein Vater an deſſen Stelle
ſechs hundert Rthlr. ſchencken.
Herr Solmes gedenckt dich mit Juwelen zu be-
ſchencken: da du aber noch deine und deiner Gros-
Mutter Juwelen haſt, ſo ſteht es abermahls bey
dir, ob du ſie von neuen nach der Mode ſe-
tzen laſſen und gebrauchen willſt. Alsdenn will
dir Herr Solmes an ihrer Stelle eine betraͤchtli-
che Summe Geldes geben, die voͤllig dein eigen
G g 2ſeyn
[468]Die Gſchichte
ſeyn ſoll, ohne das was er dir jaͤhrlich unter dem
Nahmen der Spiel-Gelder bewilliget hat. Du
ſieheſt hieraus, wie wenigen Grund deine Einwen-
dungen gegen ſein Gemuͤth haben, welches du dir
doch auch ſchlimmer vorſtelleſt, als es in der That
iſt: denn du wirſt ſo wenig ſeiner Gnade leben
duͤrfen, daß ich die Einrichtung die wir gemacht
haben ſelbſt nicht billigen wuͤrde, wenn ich mich
nicht darauf verlieſſe, daß du verſtaͤndig biſt, und
es nicht misbrauchen wirſt. Jch habe zu Anfang
und nachher groͤſſere Mittel in die Familie gebracht,
als Herr Solmes mit dir bekommen wird: allein
du weiſſeſt, daß mir bey weiten nicht ſo viel Spiel-
Gelder ausgeſetzt ſind, als wir von Herrn Solmes
fuͤr dich erhalten haben. Wenn man nach eigener
Wahl heyrathet, ſo pflegt man ſich am wenigſten
zum voraus zu bedingen. Es ſollte mir indeſſen
leyd thun, wenn du aus Liebe zu uns allen deine
Abneigung nicht uͤberwinden koͤnnteſt.
Wundere dich nicht, Claͤrchen, daß ich ſo
deutlich und ohne alle Umſchweiffe von dieſer Sa-
che ſchreibe. Deine Auffuͤhrung hat mich bisher
gehindert, von dieſen Dingen ausfuͤhrlicher mit dir
zu ſprechen. Du kannſt aber doch keinen Zweifel
mehr haben, was geſchehen werde oder ſolle, nach-
dem ich dir muͤndlich ſo viel geſagt, und deine On-
ckles ſich ſchrifftlich gegen dich erklaͤrt haben. Ent-
weder, mein Kind, der Gehorſahm gegen uns
muß wegfallen, oder du mußt von deinen Ein-
faͤllen abſtehen. Daß wir das erſtere zugeben
ſollen, wirſt du doch nicht erwarten: wir aber ha-
ben
[469]der Clariſſa.
ben alle Urſachen in der Welt, zu erwarten, daß
das letztere geſchehe. Du weißt, daß ich es dir
mehr als einmahl geſagt habe: du mußt dich ent-
weder entſchließen, Herrn Solmes zu nehmen,
oder du mußt aufhoͤren, unſer Kind zu ſeyn.
Die Eheſtifftung kannſt du zu ſehen bekommen,
ſo bald es dir ſelbſt beliebet. Wir glauben, daß
es nicht moͤglich iſt, Einwendungen dagegen zu er-
dencken. Es ſind noch einige Bedingungen zum
Vortheil unſerer Familie eingeruͤckt, die zu An-
fang nicht in der Eheſtifftung geſtanden haben, als
meine Schweſter mit dir davon geredet hat: Be-
dingungen, die wir uns nicht wuͤrden unterſtanden
haben zu fodern. Wenn du im Durchleſen findeſt,
daß eine Veraͤnderung noͤthig ſeyn moͤchte, ſo ſoll
ſie gemacht werden. Mein liebes Kind, ſchicke
doch heute oder morgen zu mir, oder hohle lieber
ſelbſt die Eheſtiftung bey mir ab.
Du mußt dich nicht wundern, daß die Hochzeit
bald angeſetzt iſt: nachdem jemand ſich in unſerer
Kirche hat blicken laßen, und allerhand Dinge
vorgiebt, dadurch wir in große Unruhe und
Sorge geſetzt ſind; und dieſe unſere Unruhe von
Tage zu Tage zunehmen muß, ſo lange du unver-
heyrathet bleibeſt. Wir haben auf heute uͤber
vierzehn Tage die Hochzeit anzuſetzen gedacht, wenn
du keine Einwendung dagegen haſt, die ich billi-
gen kann. Wenn du dich in der Hauptſache ſo
entſchlieſſeſt, als wir es wuͤnſchen, ſo ſoll es uns
auf eine Woche nicht ankommen.
G g 3Dein
[470]Die Geſchichte
Dein aͤnſſerliches kann zwar verurſachen, daß
einigen dieſe Parthey zu ungleich und zu ſchlecht
vorkommt. Allein ich hoffe, daß du nicht in deine
eigene Geſtalt verliebt ſeyn wirſt: ich wuͤrde mich
ſonſt weniger daruͤber wundern, wenn man ſagt,
daß die Geſtalt eines andern Mannes dich einge-
nommen habe; ſo wenig auch ſonſt bey einer
gluͤcklichen Heyrarh auf die Geſtalt ankommt.
So muͤſſen wir Eltern davon urtheilen. Wir ha-
ben unſere beyden Toͤchter gleich lieb: warum ſoll-
te denn Claͤrchen eine Parthey fuͤr ſich fuͤr zu
ſchlecht anſehen, die fuͤr Arabellen nach ihrem o-
der nach unſerm Urtheil nicht zu ſchlecht geweſen
ſeyn wuͤrde, wenn die Anwerbung an ſie gekom-
men waͤre? Du wirſt dieſes verſtehen, ohne daß
ich mich deutlicher erklaͤren darf.
Melde uns demnach, daß du unſern Wunſch
als ein gehorſahmes Kind erfuͤllen willſt. Deine
Gefangenſchaft ſoll ſogleich zum Ende ſeyn: alle
deine vorige Halsſtarrigkeit und Ungehorſahm ſoll
vergeben und abgethan ſeyn; und du wirſt uns von
neuen durch dich gluͤcklich machen, einer wird uͤber
den andern froͤlich ſeyn. Du darfſt in ſolchem
Fall nur gerade zu deinem Vater und zu mir in
deines Vaters Studier-Stube herunter kommen,
um uns deine Meinung von den Proben zu ſagen,
und unſere Vergebung und Seegen zu empfangen.
Komm, ſey ein gutes Kind, meine Claͤrchen,
wie du ſonſt immer geweſen biſt. Ungeachtet mich
dein voriges Betragen haͤtte abſchrecken koͤnnen,
u. ungeachtet deſſen, daß jemand meint es ſey nichts
bey
[471]der Clariſſa.
bey dir auszurichten; ſo habe ich es doch noch ein-
mahl gewaget, fuͤr dich gut zu ſagen. Mache mei-
ne Hoffnung nicht zu Schanden mein liebes Kind.
Jch habe verſprochen niemahls widerum Mittle-
rin zwiſchen deinem Vater und dir zu werden,
wenn dieſer Verſuch fruchtlos ablauffet. Jch er-
warte dich unten, meine Liebe: und dein Vater er-
wartet dich auch. Allein laß ihn nicht in einer Mine
mercken, daß du ungern Gehorſahm leiſteſt.
Wenn du kommſt, ſo will ich dich mit ſo vieler
Freude an meine muͤtterliche Bruſt druͤcken, als ich
noch niemahls empfunden habe. Du glaubſt nicht,
was ich in den vergangenen Wochen habe aus-
ſtehen muͤſſen, und du wirſt es auch nicht glauben
koͤnnen, bis du ſelbſt in meine Umſtaͤnde kommſt,
und weißt wie einer liebreichen Mutter zu Muthe
iſt, die Nacht und Tag dafuͤr betet und ſich darum
bemuͤhet, den Frieden und die Einigkeit ihres Hau-
ſes zu erhalten, wenn ihn andere haͤrtere Gemuͤ-
ther ſtoͤren.
Du weißt die Bedingungen. Nahe dich uns
nicht, wenn du ungehorſahm bleiben willſt. Doch
das kannſt du nicht ſeyn, wenn du dieſen Brief
lieſeſt.
Wenn du ſo gleich kommſt, und mit einer ſo
froͤhlichen Gebeerde, in der ein gehorſahmes Hertz
abgemahlet iſt, (denn du weißt, daß du mir geſagt
haſt dein Hertz ſey ungebunden) ſo will ich dir die
zaͤrtlichſten Proben davon geben, daß ich bin
Deine wahrhaͤftig liebreiche Mutter
G g 3Sie
[472]Die Geſchichte
Sie koͤnnen dencken, wie ſehr mich dieſer Brief
ruͤhren muſſte, deſſen fuͤrchterlicher Jnhalt mir ſo
liebreich an das Hertz geleget ward. Setzen Sie
ſich einmahl an meine Stelle. Jch dachte mit
Schmertzen bey mir ſelbſt: warum ſoll ich einen ſo
beſchwerlichen Kampf zwiſchen der Unmoͤglichkeit
dieſen Befehl zu erfuͤllen, und zwiſchen ſo guͤtigen,
ſo herabgelaſienen, ſo beweglichen Worten einer
Mutter, erfahren. Jch glaube, ich haͤtte mich
gern laſſen vor den Altar fuͤhren, wenn ich nur zum
voraus verſichert ſeyn koͤnnte, daß ich vor dem Al-
tar ſterben wuͤrde, ehe die Trauung vollzogen waͤ-
re, und dem Solmes ein Recht uͤber mich gege-
ben haͤtte. Allein wenn ich daran dencke, daß ich
mit einem Manne mein Leben zubringen ſoll, und
fuͤr einen Mann leben ſoll, der mir unleydlich iſt!
wie hart iſt das!
Wie kann man die Pracht der Kleider fuͤr einen
Bewegungs-Grund halten, dadurch ich geruͤhret
werden ſoll? da ich immer geglaubt habe, daß ei-
ne rechtſchaffene Frau ihren Leib in keiner andern
Abſicht mit Kleidern ſchmuͤcken muͤſſe, als ihrem
Manne zu gefallen, und ſeine Wahl bey andern
die ſie ſehen zu rechtfertigen; und daß ſie ſich dabey
huͤten ſoll, nicht anderer Augen auf ſich zu ziehen.
Muͤſſen nicht ſelbſt dieſe reichen Stoffe meinen Un-
muth veremehren? Wer kann ohne Misvergnuͤgen
darauf dencken, ſich zu putzen um Herrn Solme-
ſens werth zu ſeyn?
Es war mir ohnmoͤglich auf die vorgeſchriebene
Bedingung hinunter zu gehen. Koͤnnen Sie es
fuͤr
[473]der Clariſſa.
fuͤr moͤglich halten? Wenn ich haͤtte ſchreiben wol-
len, und wenn mein Brief wuͤrdig geachtet waͤre
geleſen zu werden; ſo frage ich, was konnte ich
ſchreiben, das Eingang finden koͤnnte, und das ich
nicht ſchon vergeblich geſchrieben haͤtte? Jch gieng
in der Stube auf und nieder, und warf die Pro-
ben mit Unmuth hin. Bald gieng ich in mein
Cloſet, und bald wieder heraus, bald warf ich
mich auf das Canapee, denn auf dieſen bald
auf einen andern Stuhl, und ging von einem
Fenſter zum andern. Jch wußte nicht was ich
anfangen ſollte, und da ich in ſolcher Verwirrung
den Brief nochmahls las, kam Eliſabeth und
erinnerte mich auf Befehl, daß meine Eltern auf
mich in meines Vaters Studier-Stube warteten.
Jch antwortete: ſagt meiner Mutter wieder, ich
baͤte mir die Ehre aus, ihr entweder hier, oder wo
ſie es ſonſt befehlen wuͤrde, auf einen Augenblick
allein aufzuwarten.
Jch horchete oben an der Treppe, was erfolgete.
Jch hoͤrete meinen Vater mit einer zornigen Stim-
me rufen: da ſiehſt du es, mein Kind! Alle deine
Herablaſſung iſt jetzt eben ſo uͤbel angewandt, als
vorhin deine Guͤtigkeit. Du beſchuldigeſt deinen
Sohn, daß er allzu heftig ſey, wie du es nenneſt:
(dieſes zu hoͤren gereichte mir noch zu einem heim-
lichen Vergnuͤgen) allein du ſiehſt, daß auf ande-
re Weiſe nichts bey ihr auszurichten iſt. Du ſollſt
ſie nicht allein ſprechen. Darf das verwegene Maͤd-
chen darum eine Einwendung machen, nicht zu
kommen, weil ich mit dabey bin?
G g 5Meine
[474]Die Geſchichte
Meine Mutter ſagte darauf zu Eliſabeth: ant-
wortet ihr, ſie wuͤßte ſchon unter welchen Bedin-
gungen ſie zu uns kommen duͤrfte. Unter andern
Bedingungen verlangte ich ſie nicht zu ſprechen.
Sie brachte mir dieſe Antwort. Jch wollte
Schreiben. Allein ich zitterte ſo, daß ich nicht ſchrei-
ben konnte: und wenn auch meine Finger haͤtten
ſchreiben koͤnnen, ſo wußte ich doch nicht, was ich
ſchreiben ſollte. Endlich brachte mir Eliſabeth
folgende Zeilen von meinem Vater.
Jch ſehe daß du durch keine Herablaſſung zu
bewegen biſt. Deine Mutter ſoll und ich will
dich nicht ſprechen. Mache dich aber dem ohnge-
achtet bereit, Gehorſahm zu leiſten. Du weißt
unſern Willen. Dein Onckle Anton, dein Bru-
der und deine Schweſter, und deine Vertraute die
Norton, ſollen dabey ſeyn, wenn du in der Ca-
pelle auf Antons Gute und in der Stille getrauet
wirſt. Wenn Herr Solmes dich zu uns beglei-
tet, und du in einer Gemuͤths-Faſſung biſt, wie
wir ſie wuͤnſchen, ſo vergeben wir das vielleicht ſie-
ner Frau, was wir unſerer unartigen Tochter nie-
mahls vergeben koͤnnen. Da alles in der Stille
geſchehen ſoll, ſo kann fuͤr Kleidung und andere
Nothwendigkeiten nachher geſorget werden. Ma-
che dich alſo fertig, im Anfang der kuͤnftigen Wo-
che nach meines Bruders Gut zu reiſen. Wir
wollen dich nicht ſehen, bis alles vorbey iſt: und
wir haben deswegen eine kuͤrtzere Zeit angeſetzt,
damit
[475]der Clariſſa.
damit deine wohlverdiente Gefangenſchaft, u. un-
ſere Unruhe die uns ein widerſpaͤnſtiges Kind macht
nicht lange mehr waͤhren moͤge. Jch will keine
Einwendungen anhoͤren: keine Briefe mehr anneh-
men: von keinen Klagen wiſſen. Du ſollſt auch
von mir weiter nichts hoͤren, bis du den Nahmen
traͤgſt, den du tragen ſollſt. Das ſchreibt dir,
Dein erzuͤrnter Vater.
Wenn es bey dieſer Entſchlieſſung bleibt, ſo
werde ich meinen Vater gar nicht wider zu ſehen
bekommen. Denn ich will nimmer des Solme-
ſens Frau werden. Jch will ſterben ehe es ge-
ſchiehet.
Er, der Solmes, kam nach unſerm Hauſe,
als ich kaum meines Vaters Brief erhalten hatte:
und ließ ſich bey mir melden. Jch muß mich wun-
dern, daß erſo zuverſichtlich iſt. Jch antworte-
te der Eliſabeth: er mag vorher ein verlohrnes
Kind bey Vater und Mutter wider ausſoͤhnen:
hernach kann ich vielleicht anhoͤren, was er zu ſagen
hat. So lange mich aber die Meinigen um ſeinet-
wihen nicht ſprechen wollen, ſo lange will ich ihn
auch nicht ſprechen, wenn er ſein Gewerbe anzu-
bringen hat.
Eliſabeth ſagte: ich will nicht hoffen, Fraͤu-
lein, daß ich das unten ausrichten ſoll. Er iſt
bey ihren Eltern.
Jch:
[476]Die Gſchichte
Jch: ich bin aufs aͤuſſerſte getrieben. Jch
kann nichts haͤrteres mehr zu gewarten haben. Jch
will ihn nicht ſprechen.
Mit dieſer Antwort gieng ſie hinunter. Es
ſchien, ſie ſtellete ſich, als wollte ſie nicht gern aus-
richten, was ich geſagt hatte: es ward ihr darauf
befohlen, nichts zu verheelen; und ſie gab ihnen
meine Antwort auf das vollſtaͤndigſte und nach-
druͤcklichſte.
Wie fieng mein Vater an zu donnern! Es
ſchien, daß ſie alle in ſeiner Studir-Stube bey-
ſammen waren. Mein Bruder rieth, man ſollte
mich gleich aus dem Hauſe jagen, und mich Lo-
velacen und meinem Schickſaal uͤberlaſſen. Mei-
ne Mutter legte ein guͤtiges Wort fuͤr mich ein:
ich konnte aber nicht verſtehen, was es war: nur
hoͤrte ich dieſe Antwort darauf: mein Kind, eine
Frau von deinem Verſtande kann nichts uner-
traͤglicheres ſagen, als dis. Cin ungehorſohmes
Kind eben ſo zu lieben, als wenn es gehorſahm waͤ-
re! Wer kann dabey Luſt bekommen, gehorſahm
zu ſeyn? Habe ich ſie nicht ſonſt eben ſo lieb ge-
habt, als du? und warum habe ich mich geaͤndert?
Ach wenn doch Frauens-Leute einen Unterſcheid zu
machen wuͤßten! Eine liebreiche Mutter wird im-
mer eine hartnaͤckige Tochter haben.
Sie verwieß es der Eliſabeth, (wie das Maͤd-
chen ſelbſt geſtand) daß ſie meine Antwort ſo voll-
ſtaͤndig wider geſagt haͤtte. Allein mein Vater
ſagte, ſie waͤre dafuͤr zu loben.
Sie
[477]der Clariſſa.
Sie ſagt, er haͤtte im heftiſten Zorn zu mir
herauf kommen wollen, als er gehoͤret haͤtte, daß ich
Herrn Solmes nicht ſprechen wollte. Allein
mein Bruder und meine Schweſter haͤtten ihn
vermocht, es nicht zu thun.
Jch wuͤnſchte, daß er es gethan, ja daß er mich
umgebracht haͤtte, wenn es ohne Verſuͤndigung
von ſeiner Seiten haͤtte geſchehen koͤnnen.
Herr Solmes ließ es ſich gefallen, (ich bin ihm
ſehr verbunden!) fuͤr mich zu bitten.
Alles iſt in Unruhe. Jch kann das Ende nicht
uͤberſehen. Jch bin des Lebens uͤberdruͤßig. So
gluͤcklich vor einigen Wochen, und jetzt ſo ungluͤck-
lich! ‒ ‒ ‒ Meine Mutter hat mit Recht geſagt,
daß ich einen harten Stand haben wuͤrde.
P. S. Mein Bruder und meine Schweſter ha-
ben ſich das einfaͤltige ungezogene Maͤdchen aus-
gebeten; und verlangen, daß ich ihrer Zucht ſoll
uͤbergeben werden. Mein Vater hat es ſchon be-
williget, allein nicht meine Mutter: was fuͤr Grau-
ſamkeit aber habe ich von ihrem Neid, Eiferſucht
und Bosheit zu gewarten, wenn ſie dieſe Bitte
erhalten! Jch werde es bald mercken koͤnnen,
wenn ſie ihnen ſoll zugeſtanden werden. Meine
Baſe Dorothea Hervey hat mir dieſes ſchriſtlich
geſteckt, und das Zettelchen unweit von dem Holtz-
Stalle hingelegt. Das liebe Kind will mich gern
ſprechen? allein es iſt ihr unterſagt, mich anders
als Frau Solmes oder als Herr Solmes Braut
zu ſprechen. Die Beſtaͤndigkeit und Unbeweg-
lichkeit
[478]Die Geſchichte
lichkeit der Meinigen ſoll mir wahrhaftig zum
Vorbilde dienen.
Der zwey und viertzigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Jch habe mit meiner Schweſter einen heftigen
Wortwechſel gehabt, und mich beynahe mit
ihr geſcholten. Haͤtten Sie wol geglaubt, daß ich
ſchelten koͤnnte? Als ich Herrn Solmes den Be-
ſuch abſchlug, ſo ward ſie zu mir geſchickt, oder
vielmehr auf mich losgelaſſen. Denn es geſchahe
ohne einige Abſicht, die Sache zu beſſern. Jch
ſehe ſchon, daß ich mit allgemeiner Einwilligung
meines Bruders und meiner Schweſter Zuͤcht-
ling werden ſoll.
Jch will nicht uͤbergehen, was ſie mir ſagte,
das von einigem Gewicht haͤtte ſeyn koͤnnen. Da
ich mir Jhr Urtheil uͤber meine Handlungen, die
ich Jhnen melde, ausbitte, ſo wuͤrde es ein Zeichen
einer ſchlimmen Sache ſeyn, wenn ich meinen
Richter zu betruͤgen ſuchte.
Sie ſtellete mir zuerſt die Ge fahr vor, in der
ich geweſen ſeyn wuͤrde, wenn mein Vater zu mir
herauf gekommen waͤre. Herr Solmes haͤtte ihn
unter andern abgehalten, es nicht zu thun. Sie
gab der rechtſchaffenen Frau Norton auch einen
Stich, und gab zu verſtehen, daß ſie mich zu
ver-
[479]der Clariſſa.
verhaͤrten ſchiene. Sie ſuchte mich daruͤber laͤcher-
lich zu machen, daß ich mich ihrer Meinung nach
in Herrn Lovelacen verliebt haͤtte. Sie wunder-
te ſich, daß die witzige, die kluge, die gehorſah-
me die gott ‒ ‒ ‒ ſee ‒ ‒ ‒ lige Claͤrchen, (das letzte
Beywort konnte ſie ſo ſpoͤttiſch ziehen) ſich in einen
ſo liederlichen Boͤſewicht ſo ſterblich verliebt haͤt-
te, daß ihre Eltern ſie einſperren muͤßten, damit
ſie nicht mit ihm davon gienge. Jch darff euch
doch wol fragen, Schweſter, wie ihr jetzt eure
Eintheilung der Stunden des Tages beobachtet?
wie viel Stunden unter vier und zwantzigen ihr naͤ-
het? wie viel ihr GOtt widmet? wie viel ihr zum
Brieff-Schreiben anwendet? und wie viele zu
der Liebe? Jch fuͤrchte ich fuͤrchte, mein kleines
liebes Ding, die Liebe ſt bey dir wie Aharons Stab,
und verſchlinget das uͤbrige alles. Jſt es nicht
ſo? ſagt es mir doch.
Jch antwortete: es ſey fuͤr mich eine doppelte
Kraͤnckung daß ich einem Manne, dem ich kei-
nen Danck ſchuldig ſeyn wollte, meine Sicherheit
vor dem Zorn meines Vaters zu dancken haͤtte.
Jch ſuchte hierauf die ehrliche Frau Norton zu
entſchuldigen; und das that ich mit ſolchem Eifer,
als ihre Verdienſte es erforderten. Mit gleicher
Hefftigkeit beantwortete ich ihre ungeziemenden
Schmaͤhungen, damit ſie mich in Abſicht auf Herrn
Lsvelace belegte. Was die Eintheilung meiner
Stunden anlangt, ſo ſagte ich, es wuͤrde ſich
beßer fuͤr ſie geſchickt haben, mit einer ungluͤckli-
chen Schweſter Mittleiden zu haben, als uͤber ſie
zu
[480]Die Geſchichte
zu frohlocken, inſonderheit da ich ein groſſes Theil
meines Ungluͤcks ihren ſchlaaffloſen Naͤchten zu-
zuſchreiben haͤtte.
Ueber dieſen Stich ward ſie aus der Maaßen
verdrießlich und unwillig. Sie erinnerte mich, ich
ſollte bedencken, wie guͤtig die Meinigen und mei-
ne Mutter inſonderheit mir begegnet haͤtten, ehe eſ
auf das aͤuſſerſte gekommen waͤre Jch haͤtte ein
ſolches Gemuͤth gezeiget, als man nie bey mir ge-
ſucht haͤtte. Wenn ſie mich fuͤr eine ſolche Fechte-
rin gehalten haͤtten, ſo wuͤrde es niem and gewaget
haben, ſich mit mir einzulaſſen. Nun waͤre es
aber einmahl fuͤr allemahl ſo weit gekommen, daß
man nicht wider zuruͤck koͤnnte. Es ſey jetzt bloß
ein Streit des Gehorſahms und des Eigenwil-
lens uͤber die Frage, ob der Eltern Willen den
Einfaͤllen einer hartnaͤckigen Tochter vor oder nach-
gehen ſollte. Jch muͤßte biegen oder brechen. Das
iſt das Ende vom Liede, mein Kind.
Jch ſagte: Jch wuͤnſchte, daß die Sache mir er-
laubte munter zu ſeyn, und ihre luſtigen Reden
mit eben ſo luſtigen Reden zu beantworten. Wenn
Herr Solmes allen und ihr inſonderheit ſo wohl
gefiele, ſo daͤchte ich, er koͤnnte ja eben ſo gut mein
Bruder als mein Mann werden!
O GOtt! Kind! das iſt wol ſo munter geſchertzt,
als ich immer habe ſchertzen koͤnnen. Nun fange
ich an, gute Hoffnung von dir zu haben. Kannſt
du dencken, daß ich meiner Schweſter einen ſo de-
muͤthigen Anbeter rauben will? Haͤtte er ſich zu-
erſt um mich beworben, ſo waͤre noch etwas von
der
[481]der Clariſſa.
der Sache zu reden: aber das zu nehmen, was
meine juͤngere Schweſter nicht haben will! Nein
mein Kind! nein! ſo weit iſt es noch nicht mit
mir gekommen. Das waͤre eben ſo viel, als ei-
nem andern, den du wol kenneſt, einen Zugang
zu deinem Hertzen laſſen, dem wir gern die Thuͤr
verriegeln wollten. Kurtz (hier veraͤnderten ſie
Stimme und Geſicht) waͤre ich ſo geneigt gewe-
ſen, als ſonſt jemand, mich dem liederlichſten
Menſchen in gantz England in die Arme zu wer-
fen der ſeinen Anſpruch an mich mit meines Bru-
ders Blut haͤtte unterzeichnen wollen; ſo haͤtte
meine Familie Recht gehabt, zuſammen zu tre-
ten, und mich aus den Klauen eines ſolchen Bu-
ben zu retten; denn haͤtten ſie eilen koͤnnen, ſo
ſehr ſie gewollt haͤtten, mich an einen braven Hrn.
der ſich eben zur rechten gelegenen Stunde ge-
zeigt haͤtte, zu geben. Es iſt alles zum Ende Claͤr-
chen: richte dich darnach.
Verdiente das nicht eine beiſſende Antwort.
Jch wollte gern, daß Sie ja ſagten, damit ich mei-
ne Antwort entſchuldigen koͤnnte! Jch ſagte: ach
fuͤr meine arme Schweſter! ‒ ‒ Der Menſch
iſt doch nicht immer ſo liederlich geweſen.
Wie wahr finde ich das Sprichwort: ver-
ſchmaͤhete Liebe bringt bittern Haß!
Jch dachte faſt ſie wuͤrde mich ſchlagen. Jch
ſuhr aber fort zu reden: ich habe oft von der Le-
bens-Gefahr meines Bruders, und von meines
Bruders Moͤrder hoͤren muͤſſen. Darf ich nicht
auch frev heraus reden, da man mit mir ſo wenig
Erſter Theil. H hUm-
[482]Die Geſchichte
Umſtaͤnde macht? Suchte er nicht ſelbſt dem an-
dern das Leben zu nehmen, wenn er es nur haͤtte
thun koͤnnen? Wuͤrde er ihm wol das Leben ge-
ſchenckt haben, wenn es in ſeiner Macht geſtan-
den haͤtte? Der angreiſfende Theil hat kein
Recht ſich zu beſchweren. Von eurer rechten ge-
legenen Stunde ein Wort! Wenn doch nur der
Himmel gewollt haͤtte, daß ſich jemand fuͤr eine
andere Perſon zur rechten gelegenen Stunde ge-
zeiget haͤtte! Jch bin nicht Schuld daran, Ara-
belle, wenn die Freyer nicht zur rechten gelegenen
Stunde kommen wollen.
Haͤtten Sie mehr Muth beweiſen koͤnnen, als
ich bewieß? Jch fuͤrchtete mich ſchon, daß ſie mich
ihre Hand wuͤrde fuͤhlen laſſen: denn ſie hielt ſie
in die Hoͤhe, und kam ſo auf mich zu. Die Bos-
heit machte ſie ſtumm; und ſie lief die Treppe
halb herunter, und denn wieder herauf. Jhr er-
ſtes Wort, als ſie wider ſprechen konnte, war:
GOtt verleyhe mir Geduld.
Unten! (ſagte ich) Jhr ſeht Arabelle, wie
ungedultig ihr uͤber die Antwort werdet, die ihr
mir abgenoͤthigt habt. Wollt ihr mir ſo aufrich-
tig vergeben, und mich wider eine Schweſter an
euch finden laſſen, als es mir leyd thut, wenn
ihr mit einigem Recht dencket, daß meine Ant-
wort ſich fuͤr keine Schweſter ſchickte?
Sie ſtuͤrmete nur heftiger auf mich zu, weil ſie
meine Gelaſſenheit fuͤr einen Spott anſahe. Sie
ſagte, ſie wollte allen im Hauſe erzaͤhlen, wie ich
des gottloſen Lovelaces Parthey wider meinen
Bruder genommen haͤtte.
Jch
[483]der Clariſſa.
Jch antwortete: ich wuͤnſchte, daß ich die Ent-
ſchuldigung fuͤr mich gebrauchen koͤnnte, die ſie
haͤtte. Mein Zorn, und nicht das was ich geſagt
haͤtte, ſey ſtrafbar. Jch glaubte, ſie haͤtte noch
eine Abſicht, deswegen ſie mich beſuchte, die ſie
mir aber noch nicht geſagt haͤtte. Sie ſollte mir
nur ſagen, ob ſie etwas auszurichten haͤtte, darein
ich willigen koͤnnte, und dadurch meine eintzige
Schweſter widerum meine Freundin werden
koͤnnte.
Als ſie vorhin meine Sanftmuth laͤcherlich zu
machen ſuchte, antwortete ich ihr, ob ich mich
gleich nach dem Ruhm der Sanftmuth und De-
muth beſtrebte, ſo verlangte ich doch nicht fuͤr
niedertraͤchtig und kriechend angeſehen zu wer-
den. Sie erinnerte mich deſſen jetzt wider auf ei-
ne ſpoͤttiſche Weiſe.
Jch ſagte: ihr Spaaß ſey mir zwar angeneh-
mer, als wenn ich ſie zornig ſehen muͤßte; allein
ich wuͤnſchte doch den eigentlichen Endzweck ih-
res Beſuchs zu wiſſen, der bisher noch ſo wenig
freundſchaftlich zu ſeyn ſchiene.
Sie verlangte in aller Nahmen zu wiſſen, ob
ich nachgeben wollte, oder nicht? Ein Wort fuͤr
zehn! meine Anverwanten brauchen gegen ein ſo
unartiges Maͤdchen nicht unendliche Geduld zu
haben.
Jch ſagte: ſo viel wollte ich thun: ich wollte
gaͤntzlich mit demjenigen brechen, gegen den ſie
alle einen ſo geſetzten Widerwillen haͤtten; allein
unter der Bedingung, daß mir weder Solmes
H h 2noch
[484]Die Geſchichte
noch irgend ein anderer Befehls-Weiſe aufge-
drungen wuͤrde.
Sie fragte mich: ob das mehr waͤre, als wozu
ich mich ſchon vorhin erboten haͤtte? Jch laͤutete
immer eine Klocke, und ginge doch keinen Schritt
weiter.
Wenn ich nur wuͤßte (erwiderte ich) was ich
fuͤr andere Vorſchlaͤge thun koͤnnte, die ihnen an-
genehm waͤren, und mich von einem mir ſo eckel-
haften Liebhaber erloͤſen koͤnnten, ſo wollte ich
ſie thun. Jch haͤtte mich freylich ſchon vorhin er-
klaͤrt, niemahls wider meines Vaters Willen
zu heyrathen. ‒ ‒ ‒
Sie unterbrach mich: das geſchaͤhe alles des-
wegen, weil ich mich auf mein kuͤnſtliches Win-
ſeln verlieſſe, und meine Eltern dahin zu bringen
hoffte, wohin ich ſie haben wollte.
Ein ſchlechtes Verlaſſen! ſagte ich. Jhr wiſ-
ſet wohl, wer meine Hoffnung mir zu Waſſer
machen wuͤrde. ‒ ‒ ‒
Du wuͤrdeſt ſie (fuhr ſie fort) vermuthlich nach
deiner Pfeiffe tantzend gemacht haben, und mei-
nen Onckle Harlowe und Frau Hervey gleich-
fals, wenn dir nicht verboten waͤre, ſie zu ſprechen.
Allein das hat dich gehindert, dein Hockus Po-
ckus zu machen.
So gebt ihr mir doch endlich zu verſtehen,
Schweſter, (ſagte ich) wem ich es zu dancken ha-
be, daß Vater und Mutter und jedermann ſo
hart mit mir verfaͤhret. Allein ihr ſtellet doch alle
dieſe Leute ſehr ſchwach und unverſtaͤndig vor.
Wenn
[485]der Clariſſa.
Wenn unbekannte Leute uns reden hoͤrten, ſo
wuͤrden ſie entweder glauben daß ich ſehr liſtig
oder daß ihr ſehr hoͤhniſch ſeyd.
Liſtig genug ſeyd ihr, (fiel ſie mir mit Unwillen
in die Rede) eins der allerliſtigſten Geſchoͤpfe
das ich je geſehen habe. Und hierauf folgete die
niedertraͤchtige, die einer Schweſter ſo unanſtaͤn-
dige Beſchuldigung: ich bezauberte faſt jeder-
mann durch mein ſchmeichlendes Weſen. Wo
ich hinkaͤme, da gaͤlten andere Leute nichts, ſon-
dern muͤſten als Nullen da ſtehen. Wie oft habe
ich und eur Bruder geredet, und jedermann hoͤr-
te uns zu, bis ihr mit eurem bezaubernden ſanf-
ten Stoltz und aufgeblaſener Demuth herein
tratet. Denn ſtopften uns andere den Mund, in-
dem ſie der Fraͤulein Claͤrchen Meinung verneh-
men wollten? oder wir muſten uns ſelbſt den
Mund ſtopfen, wenn wir nicht mit den Waͤnden
reden wollten.
Sie hoͤrte auf zu reden, und erhohlte ſich wider.
Es ſchien als wolte ſie nur neuen Athem ſchoͤpfen.
Fahrt doch fort, liebe Arabelle: ſagte ich.
Das will ich auch thun. Habt ihr nicht euren
Gros-Vater bezaubert. Konnte ihm etwas ge-
fallen, daß ihr nicht thatet oder ſagtet? Wie hing
er an eurer guͤldenen Zunge, an euren goͤttlichen
Reden, bis der alte verliebte Geck euch wider ei-
nen Schmatz geben konnte! Und was ſagtet ihr,
das wir nicht auch haͤtten ſagen koͤnnen? Was
thatet ihr, daß wir nicht auch gern wuͤrden gethan
haben! Allein, warum geſchahe das alles? Die
H h 3Wir-
[486]Die Geſchichte
Wirckung zeigte es: als das Teſtament geoͤffnet
ward, da ſahe man, wozu eure ſuͤſſe Schmeicheley
ihn vermocht hatte. Da vermachte er alles Ver-
moͤgen, das er ſelbſt erworben hatte, nicht ſeinen
Soͤynen, ſondern ſeines Sohnes Kinde, dem
juͤngſten Kinde, ſo gar einer Tochter. Alle Ge-
Gemaͤhlde der Familie gingen auch vor ſeinen
Soͤhnen vorbey, und kamen an euch, weil ihr da-
mit ſpielen konntet, und ſie mit euren ſchmutzigen
Haͤnden abwuſchet und reinigtet, ohne in ihre
Fuß-Tapfen zu treten. Das viele Silber-Ge-
ſchirr, das noch von dem dritten Geſchlecht her iſt,
durfte auch nicht umgegoſſen werden, weil ſein
theures Kind ſich nach ſeinem alt-modiſchen Ge-
ſchmack zu richten und es zu bewundern wuſte,
um es alles ſelbſt zu bekommen.
Dieſe Reden waren allzuniedertraͤchtig, als
daß ſie mich haͤtten zum Unwillen reitzen koͤnnen.
Jch ſagte nur: o meine arme Schweſter, es iſt ein
Ungluͤck, daß ihr Kunſt und Natur nicht unter-
ſcheiden koͤnnt oder wollt. Wenn ich andern ha-
be gefaͤllig ſeyn koͤnnen, ſo ſchaͤtzte ich dieſes ſchon
fuͤr ein Gluͤck, und dachte auf keine weitere Beloh-
nung. Mein Hertz verachtet die Abſichten, die
ihr mir andichtet. Jch wuͤnſchte von gantzem
Hertzen, daß mich mein Gros-Vater andern nicht
vorgezogen haͤtte. Er ſahe zum voraus, daß mein
Bruder in und auſſer unſerer Familie reichlich
duͤrfte verſorgt werden: er verlangte, daß mein
Vater euch deſto mehr zuwenden moͤchte: und es
iſt kein Zweiſſel, daß nicht beydes geſchehen ſollte.
Jhr
[487]der Clariſſa.
Jhr wiſſet ja wohl, daß das Gut, das mir mein
Gros-Vater vermachte, bey weiten nicht die Helf-
te ſeines wircklichen Vermoͤgens betrug.
Was iſt alles das, Claͤrchen, antwortete ſie, in
Vergleichung eines Gutes, das euch gleich zu voͤl-
ligem Beſitz vermacht ward, und zwar mit ſolchen
Worten die euch anderer Leute gute Meinung in
einem viel hoͤhern Grad erwurben, als ihr ſie ver-
dienetet?
Das iſt eben, wie ich fuͤrchte, die Quelle mei-
nes Ungluͤcks. Darum beneydet ihr mich Arabel-
le. Habe ich mich aber des wircklichen Beſitzes die-
ſes Guts nicht auf die allerbeſte Weiſe begeben? ‒
Ja! (fiel ſie mir in die Rede) Eben fuͤr dieſe al-
lerbeſte Weiſe, muß ich euch feind ſeyn. Kleine
betruͤgeriſche Hexe! durch eure allerbeſte Weiſe,
die voller Liſt und Abſichten iſt, wuͤrde niemand
haben hindurch ſehen koͤnnen, wenn man nicht oh-
ne auf eure Schmeicheleyen zu achten, auf deut-
liche Erklaͤrung gedrungen haͤtte. Darum muſte
man euch nicht geſtatten, eure winſelnden Kuͤnſte
zu gebrauchen, und um eure Mutter wie eine
Schlange herum zu kriechen, die euch nichts ab-
ſchlagen konnte, worauf einmahl eur kleines ei-
genſinniges Hertz beſtand.
Mein eigenſinniges Hertz? Arabelle.
Ja eur eigenſinniges Hertz. Habt ihr jemahls
in einer Sache nachgegeben? Wuſtet ihr nlcht die
Kunſt, eure Eltern glaubend zu machen, daß alles
billig waͤre, was ihr fodertet, obgleich mir und
meinem Bruder Bitten abgeſchlagen wurden, die
nicht von groͤſſerer Wichtigkeit waren.
Jch
[488]Die Geſchichte
Jch erinnere mich nicht, Arabelle, jemahls et-
was unbilliges gefodert zu haben. Jch habe ſelten
fuͤr mich ſondern meiſtentheils fuͤr andere gebeten.
Jch mußte hieruͤber tadelſuͤchtig heißen.
Alles das, wovon ihr redet, Arabelle, ſind alte
Sachen. Jch kann jetzt nicht auf alle Thorheiten
meiner Kinder-Jahre zuruͤckgehen. Jch habe nie
gedacht, daß eur Widerwille gegen mich, der ſeit
kurtzen ausgebrochen iſt, ſchon ſo alt waͤre.
Jch war wider tadelſuͤchtig. So eine muͤrri-
ſche empfindliche Sanfftmuth! Solche allerbe-
ſte Weiſe! Solche gifftige Worte! Claͤrchen,
Claͤrchen, Claͤrchen, du biſt immer ein doppel-
ſichtiges Maͤdchen geweſen.
Niemand hat mir ein zwiefaches Geſicht zuge-
ſchrieben, als ich alles das meinige der Gewalt
meines Vaters uͤbergab, und meine wenigen Ta-
ſchen-Gelder nach wie vor fuͤr eine Guͤtigkeit von
ihm anſahe und aus ſeiner Hand ohne einen Gro-
ſchen Zulage zu verlangen annahm.
Ja, du liſtiges Ding! das war auch einer von
deinen Streichen. Brachteſt du nicht dadurch
deinen allzu guͤtigen Vater dahin, und konnteſt
du nicht zum voraus ſehen, daß du ihn dahin brin-
gen wuͤrdeſt, daß er ſich erklaͤrte; er wolle zur Be-
lohnung dieſes ihm angenehmen Gehorſahms die
Einkuͤnffte des Gutes zu eurem kuͤnfftigen Ge-
brauch beylegen, und weiter nichts als eur Haus-
halter ſeyn, und ihr ſolltet von ihm noch alles zu
genieſſen haben, was ihr vorhin genoßen hattet?
Das war wider einer von euren Griffen. Alle
eure
[489]der Clariſſa.
eure Ausſchweiffungen koſteten euch nichts: eur
Vater mußte das Geld dazu hergeben.
Meine Ausſchweiffungen? Arabelle! Hat
mir mein Vater jemahls etwas gegeben, das
er euch nicht auch gegeben hat?
Ja Claͤrchen; ich habe freylich durch euch
mehr bekommen, als ich mit gutem Gewißen von
meinem Vater haͤtte fodern koͤnnen. Jch habe
aber doch noch etwas davon das ich aufweiſen
kann. Was habt ihr? Was koͤnnt ihr aufwei-
ſen. Sollten es wol fuͤnfzig Stuͤcke ſeyn? Jch
glaube es nicht!
Nein! nicht ſo viel!
Jch glaube es euch gern! Eure Mutter Nor-
ton ‒ ‒ aber Mum! mum! mum!
Gemeines Gemuͤth! die redliche Frau iſt zwar
in armſeeligen Umſtaͤnden, ſie hat aber gewiß ein
erhabenes Hertz: ein viel vornehmeres Hertz, als
die, welche ſie einer Niedertraͤchtigkeit beſchuldi-
gen wollen, dazu ſie nicht aufgelegt iſt.
Was habt ihr mit dem vielen Gelde angefan-
gen, das euch von Kindheit an zum Vertaͤndeln
gegeben iſt? Laſt mich doch auch etwas davon
wiſſen. (Sie wollte recht liſtig ausſehen.) Hat,
hat, hat, Lovelace, hat euer Schelm es auf Zin-
ſen ausgeliehen?
Wenn mich doch meine Schweſter nicht zwin-
gen wollte, fuͤr ſie roth zu werden! Es iſt auf Zin-
ſen ausgethan! ‒ ‒ Jch hoffe es wird mir Zinſen
uͤber Zinſen bringen: beſſere Zinſen, als wenn
es der Roſt in meinem Kaſten verzehrte, wie ibr
es machet!
H h 5Jch
[490]Die Geſchichte
Jch verſtehe euch, was ihr ſagen wollt. Wenn
ihr eine Manns-Perſon waͤret, ſo glaubte ich, daß
ihr die Graffſchafft gewinnen wolltet. (*) Es iſt
freylich etwas angenehmes fuͤr euch, wenn euch
jedermann ſeegnet ſo oft ihr in die Kirche fahret,
und wenn aller Augen auf niemanden als auf
euch gerichtet ſind. Jhr prediget auf den Daͤ-
chern. Jhr verſteckt wahrhaftig eur Licht nicht
unter den Scheffel. Allein koͤmmt es euch nicht
hart vor, daß ihr jetzt gehindert werdet, es des
Sonntages vor den Leuten leuchten zu laſſen? und
daß ihr eure Liebe nicht zeigen koͤnnt?
Das ſind in der That ſehr empfindliche Reden
von euch, Arabelle, da ihr ſo vielen Antheil an
meiner Gefangenſchafft habt. Fahrt aber nur
fort: ihr werdet euch bald aus dem Athem geredet
haben. Jch will mir nicht wuͤnſchen, daß ich im
Stande ſeyn moͤge, gleiches mit gleichem zu ver-
gelten. Arme Arabelle! (Jch glaube, daß ich
hierbey veraͤchtlicher gelachet haben mag, als es
ſich fuͤr eine Schweſter ſchickt.)
Keine veraͤchtliche Gebeerden! (ſagte ſie mit ei-
ner erhabenern Stimme) Nichts von arme Ara-
belle! keine ſolche Reden, damit ſich die juͤngere
Schweſter uͤber die aͤltere hinweg ſetzt!
Wohlan denn: reiche Arabelle! (mit einem
tieffen Knix) das wird euch doch beßer gefallen.
Der
[491]der Clariſſa.
Der Nahme ſchickt ſich auch beßer zu den Schaͤ-
tzen, deren ihr euch ruͤhmet.
Seht Claͤrchen (mit aufgehobener Hand ſag-
te ſie dieſes) wenn ihr nicht etwas niedertraͤchti-
ger und kriechender bey eurer Sanfftmuth und
Demuth werdet; wenn ihr eurer aͤltern Schwe-
ſter nicht werdet Ehrerbietung erweiſen; ſo ſollt
ihr erfahren ‒ ‒ ‒
Was denn? doch nicht dieſes, daß ihr mir
ſchlimmer als bisher geſchehen iſt begegnen wollt?
das waͤre wol nicht moͤglich: ihr muͤßtet denn eu-
re aufgehabene Hand auf mich herab fallen laſſen.
Das wuͤrde ſich aber ſo wenig fuͤr euch ſchicken, es
zu thun, als fuͤr mich, es zu leyden.
Fromme, ſanfftmuͤthige Seele! ‒ ‒ Allein ihr
habt vorhin von Vorſchlaͤgen geredet. Es wer-
den ſich alle wundern, daß ich ſo lange bey euch
bleibe. Sie werden meinen, daß etwas gutes aus-
zurichten ſtehe. Das Eßen wird gleich fertig ſeyn.
Hiebey wollte mir eine Thraͤne entfallen, und
ich ſagte mit Seufzen: wie gluͤcklich bin ich ſonſt
des Abends geweſen, da ich noch die Tiſch-Ge-
ſpraͤche aller meiner lieben Anverwanten anhoͤren
konnte!
Mein Seufzer zog mir nichts als Verachtung
zu. Arabelle hat ein unempfindliches und fuͤhl-
loſes Hertz. Sie iſt nicht im Stande das groͤſſe-
ſte Vergnuͤgen dieſes Lebens zu genieſſen, allein
ihre Haͤrtigkeit erſpart ihr auch manchen Kum-
mer. Allein ich fuͤr mein Theil wollte um dieſes
Kummers willen mich des Vergnuͤgens nicht
gern
[492]Die Geſchichte
gern beraubet ſehen, welches das Gefuͤhl der
Menſchen-Liebe mit ſich bringt.
Als ich mich von ihr wandte, fragte ſich mich,
ob ſie unten ſagen ſollte, daß ich mich bequemen
wuͤrde.
Jhr moͤget ſagen, daß ich mich zu allem beque-
men will, was ſie fodern, wenn ich nur von
Herrn Solmes erloͤſet werde.
Jſt das alles, was ihr jetzt verlanget, Schlei-
cherin? (Was fuͤr Worte hat meine Schwe-
ſter.) Wird aber nicht der andere Feuer und
Flammen ſpeyen, und gantz erſchrecklich bruͤllen,
wenn ihm ſeine gewiſſe Beute aus den Klauen
geriſſen wird.
Jch muß euch auf eure Weiſe reden laſſen,
ſonſt werden wir uns einander nie verſtehen koͤn-
nen. Jch will nach ſeinem Bruͤllen (mit euch zu
reden) nicht viel fragen. Jch will ihm verſprechen,
daß wenn ich ja einen andern heyrathe, es nicht
geſchehen ſoll, ſo lange er unverheurathet iſt.
Wenn er damit nicht zufrieden ſeyn will, ſo wird
er es ſeyn muͤſſen, und ich will genugſahme Ver-
ſicherung davon geben, daß ich weder Briefe mit
ihm wechſeln noch ihn ſprechen will. Dieſes
wird doch genug ſeyn.
Allein ich hoffe, ihr werdet nichts gegen einen
blos hoͤflichen Umgang mit Herrn Solmes als
einem guten Freunde eures Vaters einzuwenden
haben.
Nein! Es muß mir frey ſtehen, mich zu entfer-
nen, wenn er kommt. Jch will mit dem einen ſo
wenig
[493]der Clariſſa.
wenig Umgang haben, als mit dem andern Brie-
fe wechſeln. Herr Lovelace wuͤrde alsdenn glau-
ben, ich haͤtte mit ihm gebrochen, um Herrn Sol-
mes zu nehmen; und er koͤnnte hiedurch zu uͤber-
eilten Handlungen bewogen werden.
So ſoll der gottloſe Menſch ſo viel Macht
uͤber euch haben, daß ihr eures Vaters Freunden
in unſerm Hauſe nicht hoͤflich begegnen wollt, um
ihn nicht zu erzuͤrnen? Wenn ich das unten vor-
ſtelle, ſo bitte ich euch, was erwartet ihr fuͤr
Folgen davon?
Alles oder Nichts erwarte ich davon; nach-
dem es von euch vorgeſtellet wird. Seyd ſo gut
Arabelle, und unterſtuͤtzt es durch euren Rath.
Setzet noch dazu, daß ich entſchloſſen bin, alles
was ich nach dem gros-vaͤterlichen Teſtament ha-
be, meinem Vater, oder meinen Onckles oder
ſelbſt meinem Bruder auf die beſte und rechts-
kraͤftigſte Weiſe die moͤglich ſeyn wird zu uͤber-
machen, damit es ihnen zu einer Sicherheit die-
nen koͤnne, daß ich jenes Verſprechen erfuͤllen
werde. Da ich von meinem Vater nicht das ge-
ringſte zu erwarten haben kann, wenn ich das
Verſprechen breche, ſo wird hieraus folgen, daß
ich das aͤrmſte Kind ſeyn wuͤrde, ſobald ich wider
ſeinen Willen zu heyrathen gedaͤchte, das zu neh-
men ohnmoͤglich jemand Luſt haben kann. So
ſchlimm mir auch mein Bruder begegnet iſt, ſo
will ich doch in der Stille auf ſeine Schottlaͤndi-
ſchen Guͤter ziehen, und ſeine Haushaͤlterin ſeyn,
nachdem ich ſehe, daß man meiner hier nicht mehr
noͤthig
[494]Die Geſchichte
noͤthig hat, wenn er nur verſpricht, nicht ſchlim-
mer mit mir umzugehen als er mit einer gemiethe-
ten Haushaͤlterin thun wuͤrde. Oder ich will nach
Florentz zu meinem Vetter Morden reiſen,
wenn er noch ſo lange in Jtalien bleibt. Wenn
ich zu dem einen von beyden reiſe, ſo kann nur vor-
gegeben werden, daß ich zu dem andern gereiſet
bin, oder daß ich mich an dem Ende der Welt
aufhalte. Jch frage nichts darnach, was man
von mir ſagt.
Darf ich euch fragen, Kind, ob ihr mir euren
artigen Vorſchlag ſchriftlich geben wollt.
Ja! von Hertzen gern. Jch ging nach meinem
Cloſet, und ſchrieb das, was ich vorhin geſagt hat-
te nebſt ein paar Zeilen an meinen Bruder, darm
ich meine Bekuͤmmerniß bezeugte, daß ich ihn be-
leydiget haͤtte, und ihn bat, er moͤchte meinem
Vorſchlage durch ſeinen Beyfall das noͤthige Ge-
wicht geben. Jch hielte es fuͤr allzu klein, Kuͤnſte
und Ausfluͤchte zu gebrauchen: er moͤchte ſelbſt
den Aufſatz machen, durch deſſen Unterſchrift ich
mich zu allem vorhin gemeldeten verbindlich ma-
chen ſollte. Was an der Kraft Rechtens fehlete,
daß ſollte mein unbeweglicher Vorſatz erſetzen.
Er koͤnnte mehr als irgend ein anderer dazu bey-
tragen, daß ich wider mit meinen Eltern ausge-
ſoͤhnet wuͤrde, und ich wuͤrde ihm unendlich ver-
pflichtet ſeyn, wenn er ſo viel bruͤderliche Liebe fuͤr
mich haͤtte, mir dieſen groſſen Liebes-Dienſt zu
erzeigen.
Was meinen Sie, wie wandte meine Schwe-
ſter
[495]der Clariſſa.
ſter ihre Zeit unterdeſſen an, daß ich ſchrieb? Sie
ſpielte gantz gelaſſen auf meinem Fluͤgel, und ſang
die Melodey dazu, um mir zu zeigen, wie wenig
ſie ſich um mich bekuͤmmerte.
Als ich mich ihr mit dem geſchriebenen Blat
nahete, ſtund meine grauſame Schweſter mit ei-
ner leichtſinnigen Mine auf. Wie? Kind! habt
ihr ſchon geſchrieben? Wahrlich ihr habt ſchon
geſchrieben! Wie fertig ſeyd ihr doch in der Fe-
der! Darf ich es denn wol leſen?
Wenn es euch beliebt, Arabelle.
Sie laaß es, und zwang ſich zu einem ausge-
laſſenen Gelaͤchter: wie kann man doch auch die
klugen Voͤgel fangen! Mercktet ihr denn nicht,
daß ich nur geſchertzt habe? Und ihr wolltet mir
anmuthen ſeyn, daß ich dieſen artigen zierlich ge-
ſchriebenen Unſinn mit hinunter naͤhme.
Macht nicht Arabelle, daß ich mich uͤber eine
Auffuͤhrung verwundern muß, die ſich ſo ſchlecht
fuͤr eine Schweſter ſchickt. Jch hoffe, ihr ſtellet
euch nur ſo. Jn dergleichen Schertz kann doch
kein Witz ſtecken.
Was fuͤr Unverſtand! Claͤrchen. Wie natuͤr-
lich iſt es doch den Leuten, wenn ſie einmahl ihr
Hertz auf etwas gerichtet haben, daß ſie glauben,
jedermann muͤſſe die Sache mit ihren Augen an-
ſehen. Jch frage euch, mein Kind, was wird aus
dem Gehorſahm werden, den eur Vater von euch
fodern kann? Wer giebt hier nach? der Vater
oder das Kind? Wie reimt ſich dieſer Vorſchlag
zu den Vorſchlaͤgen, daruͤber eur Vater ſchon mit
Herrn Solmes eins geworden iſt? Was haben
wir
[496]Die Geſchichte
wir fuͤr Sicherheit, daß eur Boͤſewicht euch nicht
bis an das Ende der Welt nach folgen wird. Jch
bitte dich nim es zuruͤck, und lege es auf dein ver-
liebtes Hertz. Glaube niemahls, daß ich mich dir
zu Gefallen daruͤber auslachen laſſen will, daß ich
mich durch dein nichts bedeutendes Winſeln ha-
be einnehmen laſſen. Jch kenne dich beſſer,
Schaͤtzgen. Sie ſchlug noch ein hoͤhniſches Ge-
laͤchter auf, warf meinen Aufſatz auf den Tiſch;
und ging mit den Worten weg: Verachtung fuͤr
Verachtung. Das iſt die Bezahlung fuͤr euer:
arme Arabelle.
Jch ſiegelte dem ohngeachtet das zu, was ich
geſchrieben hatte, und ſchickte es mit ein paar Zei-
len an meinen Bruder. Jch meldete ihm in ſo
gelinden Worten als moͤglich war das Betragen
meiner Schweſter, dadurch ich gezwungen war,
es an ihn zu ſchicken, aus Furcht, daß ſie mich et-
wan in der Hitze nicht recht verſtanden haͤtte, und
meinem Aufſatz eine ſchlimmere Geſtalt geben
moͤchte, als er verdient. Dieſes iſt die Antwort,
die ich erhielt, als ich mich eben zu Bette legen
wollte: denn die Leydenſchaften ließen ihm keine
Ruhe bis an den andern Morgen.
An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Jch wundere mich, daß ihr euch unterſtehet an
mich zu ſchreiben, auf den ihr alle eure weiblichen
Pfeile zu verſchieſſen pflegt. Jch kann laͤnger kei-
ne Gedult mit euch haben, da ihr euch unterſteht,
mich in einer Schlaͤgerey fuͤr den angreiffen-
den Theil auszugeben, zu der ich blos aus Liebe
zu
[497]der Clariſſa.
zu euch und aus Vorſorge fuͤr eure Ehre ge-
zwungen ward.
Jhr habt eure Zuneigung gegen einen Boͤſe-
wicht ſo deutlich geſtanden, daß alle eure An-
verwanten euch billig auf ewig entſagen ſollten.
Jch fuͤr mein Theil werde keiner Frauens-Perſon
etwas glauben, was ſie verſpricht, und doch vor-
giebt, daß es wider ihre Neigung ſey, Das eintzige
Mittel eur Verderben zu verhuͤten iſt, wenn man
es euch unmoͤglich macht, in euer Ungluͤck zu ren-
nen. Jch wollte nicht an euch ſchreiben, allein eure
allzu guͤtige Schweſter hat mich dazu vermocht.
Jhr wollt nach Schottland reiſen: dieſe Gnaden-
Zeit iſt nun verſaͤumet. Jch wollte auch nicht ra-
then, daß man euch nach Florentz ſchicken ſollte,
um es bey dem Vetter anzufangen, wo ihr es bey
dem Gros-Vater gelaſſen habt. Der brave Herr
koͤnnte auch leicht um euret willen in einen un-
gluͤcklichen Streit verwickelt werden, und er wuͤr-
de alsdenn der angreiffende Theil heiſſen muͤſſen.
Jhr habt euch in ſeine Umſtaͤnde geſetzt, daß
ihr ſelbſt den Vorſchlag thun muͤßt, euch vor eu-
rem Boͤſewicht zu verbergen, und durch Huͤlffe der
Unwahrheit vor ihm verborgen zu bleiben. Auf
ſolche Weiſe iſt eure Gefangenſchaft das groͤſſeſte
Gluͤck, das euch haͤtte begegnen koͤnnen. Die
Auffuͤhrung eures Helden in der Kirche, da er
ſich nach euch umſahe, iſt ein genugſames Anzei-
gen, wie viel Vermoͤgen er uͤber euch hat, wenn
ihr es auch nicht auf eine ſo ſchimpfliche Weiſe
geſtanden haͤttet.
Erſter Theil. J iEin-
[498]Die Geſchichte
Einmahl fuͤr allemahl, wenn ich meine Abſicht
nicht zur Ehre der Familie durchtreiben kann, ſo
will ich mich nach Schottland begeben, und keinen
den. Meinigen jemahls wider ſehen.
Jacob Harlowe.
Das iſt ein Bruder! das iſt ein recht kindliches
Hertz gegen Vater, Mutter und Onckles. Allein
er ſieht, wie viel aus ihm gemacht wird, und er
weiß ſich auch darnach zu halten, und aus einem
hohen Ton zu reden.
Der drey und viertzigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Frau Hervey ’hat die vergangene Nacht hier
geſchlafen, und iſt eben von mir weggegan-
gen. Sie kam mit meiner Schweſt er zu mir;
denn man wollte ihr nicht trauen, wenn ſie nicht
unter den Augen einer ſo uͤbelgeſinneten Zeugin
waͤre. Als ſie in die Stube trat, ſagte ich ihr: ich
ſehe dieſen Beſuch fuͤr eine ſehr groſſe Guͤtigkeit
gegen eine arme Gefangene an. Jch kuͤßte ihr
die Haͤnde, und ſie mir den Mund, mit den Wor-
ten: wie thun ſie ſo fremde gegen eine Mutter-
Schweſter, die ſie ſo zaͤrtlich liebet?
Sie
[499]der Clariſſa.
Sie geſtand: daß ſie um des Friedens der gan-
tzen Familie willen mir eine ernſtliche Vorſtellung
zu thun haͤtte. Es kaͤme ihr unmoͤglich vor, daß
ich, die ich ſonſt ſo viel angenehmes in Gemuͤth
und Auffuͤhrung haͤtte, in einer Sache die meinem
Vater und allen meinen Freunden am Hertzen laͤge
ſo unbeweglich ſeyn ſollte, wenn ich nicht glaubte,
daß mir zu hart begegnet ſey. Meine Mutter
ſo wohl als ſie wollten gern meine Entſchlieſſung
fuͤr weiter nichts als fuͤr eine Folge der allzuſten-
gen Art anſehen, damit mir meiner Eltern Wille
zu Anfang kund gemacht waͤre, oder fuͤr eine Folge
der Einbildung, daß mein Bruder zuerſt an Herrn
Solmeſens Antrag mehr Antheil gehabt haͤtte, als
mein Vater oder meine uͤbrigen Verwanten! Jch
ſahe wohl, daß ſie mir gern eine Entſchuldigung
an Hand gegeben haͤtte, damit ich mit guter Art
zuruͤck kommen koͤnnte. Meine ſchweſter brum-
mete indeſſen allerhand Melodeyen, und eroͤffnete
bald dieſes bald jenes Buch, ohne etwas zu ſagen.
Nachdem ſie mich zu bedeuten geſucht hatte, daß
alle meine Widerſetzung nichts helfen wuͤrde, weil
mein Vater einmahl ſein Wort von ſich gegeben
haͤtte, ſo machte ſie den Beſchluß mit Ermahnun-
gen zum Gehorſahm, die vielleicht nicht ſo nach-
druͤcklich geweſen ſeyn wuͤrdē, wenn meine Schwe-
ſter nicht dabey geweſen waͤre. Wenn ich Jhnen
alles melden wollte, was auf beyden Seiten vor-
gefallen iſt, ſo wuͤrde ich eben das widerhohlen
muͤſſen, was ich ſchon oft genug geſchrieben habe:
J i 2ich
[500]Die Geſchichte
ich will Jhnen alſo nur das berichten, was ei-
niger maſſen neu ſcheinen kann.
Als ſie mich, wie ſie es nannte, unbeweglich
fand, ſagte ſie: wenn ich weder Herrn Solmes
noch Herrn Lovelace haben ſollte, und doch hey-
rathen muͤßte um meine Freunde zu beruhigen, ſo
kaͤme es ihr nicht uͤbel vor, auf Herrn Wyerley
zu dencken: was ich denn zu Herrn Wyerley
ſagte?
Ja Claͤrchen, (fing meine Schweſter an)
was ſagt ihr zu Herrn Wyerley?
Jch ſahe den Fallſtrick bald. Man wollte
mich uͤberzeugen, daß ich eine unbedungene Zu-
neigung zu Herrn Lovelace haͤtte. Da nun Herr
Wyerley uͤberall von ſeiner Hochachtung und
bey nahe Ehrfurcht gegen mich redet, und gegen
ſeine Perſon und Gemuͤth viel weniger als gegen
Solmes einzuwenden iſt; ſo wollte ich mir dieſes
zu Nutze machen, und verſuchen, ob man wol
Herrn Solmes mit ſeinen vortheilhaſten Bedin-
gungen abweiſen wuͤrde, da es ohnmoͤglich iſt,
gleiche Bedingungen von Wyerley zu erhalten?
Jch verlangte deswegen eine Erklaͤrung, ob ich
von Herrn Solmes erloͤſet werden koͤnte, wenn
meine Antwort fuͤr Herrn Wyerley ausfiele?
Denn ich waͤre dieſem nicht ſo abgeneigt als
jenem.
Sie antwortete: es ſey ihr nicht aufgetragen,
dieſen Vorſchlag zu thun. Sie wuͤßte nur ſo viel,
daß mein Vater und meine Mutter nicht ruhig
ſeyn wuͤrden, bis Herrn Lovelaces Hoffnung
gaͤntzlich zernichtet waͤre.
Ein
[501]der Clariſſa.
Ein liſtiges Thier! ſagte meine Schweſter.
Daraus, daß ſie ihr Wort mit zu der Frage gege-
ben hatte, merckte ich eben, daß es eine Schlinge
fuͤr mich ſeyn ſollte.
Jch ſagte darauf: legen ſie mir doch keine
Fragen vor, Frau Baſe, die zu nichts anders
dienen koͤnnen, als meines Bruders Abſichten zu
befoͤrdern. Jſt aber einige Hofnung ein Ende mei-
ner Truͤbſaal zu ſehen, ohne daß mir dieſer eckel-
haffte Menſch aufgedrungen wird? kann das
nicht angenommen werden, wozu ich mich erboten
habe? Jch daͤchte es muͤßte angenommen werden.
Wie Claͤrchen? Halten ſie ſich von ihrer
Pflicht gegen ihre Eltern frey, wenn keine ſolche
Hofnung iſt?
Ja! (ſagte meine Schweſter) ich glaube ge-
wiß, daß es Claͤrchens Abſicht iſt, wo nicht
zu Lovelacen zu fliehen, doch ihr Gut in ihre
Haͤnde zu bekommen, und ſich daſelbſt in aller
der uneingeſchraͤnckten Freyheit aufzuhalten, auf
die ſie alle ihre Hoffnung ſetzt. Du lieber GOtt!
wie werdet ihr da eur Licht leuchten laſſen! Jhr
werdet gewiß eure Mutter Norton, eur Orackel
bey euch, und die Thuͤren mit Armen beſetzt ha-
ben, und euch mit niedertraͤchtigem Hochmuth mit
den Lumpen-Hunden gemein machen. Durch eure
prahleriſche Freygebigkeit werdet ihr allem vor-
nehmen Frauenzimmer in der Nachbarſchaft einen
Vorwurff machen, wenn ſie euch nicht nachfolgen.
Unterdeſſen daß die Armen auſſer Hauſe euch ei-
nen guten Nahmen machen, wird euch Lovelace
J i 3im
[502]Die Geſchichte
im Hauſe einen Schand-Fleck anhaͤngen: und was
ihr mit der einen Hand bauet, werdet ihr mit der
andern niederreiſſen. O was fuͤr vortrefliche An-
ſchlaͤge! Allein kleiner Fluͤchtling ich, kann euch ſa-
gen, daß eures Vaters Wille, der am Leben iſt,
den Willen des verſtorbenen Gros-Vaters um-
ſtoſſen wird: und das Gut wird ſo angewandt wer-
den, wie es mein ſeel. Gros-Vater ohne Zweifel
gewollt haben wuͤrde, wann er eine ſolche Veraͤn-
derung an ſeinem theuren Kinde erlebt haͤtte.
Mit einem Wort, es ſoll in eure Haͤnde nicht kom-
men, bis mein Vater ſiehet, daß ihr verſtaͤndig ge-
nug ſeyd es wohl zu gebrauchen, oder bis ihr gehor-
ſahmes Kind es ihm durch den Weg des Rechtens
abtrotzen koͤnnt.
Fy! Fraͤulein Harlowe! das ſchickt ſich nicht
g[e]gen eure Schweſter! ſagte Frau Hervey.
Nein! Frau Baſe, ich bitte, ſtoͤren ſie ſie nicht.
Jch habe noch mehr von ihr ertragen. Entweder
ihr eigener Neid, oder meine Oberen denen ich
mich unterwerfen muß, haben ihr aufgetragen,
uͤbel mit mir umzugehen. Was hinderte mich,
wenn ich mein Gut wider haben wollte? Jch weiß
mein Recht; allein ich dencke nicht daran, mich
deßen zu bedienen. Jch bitte ſie, ſagen ſie meinem
Vater; es moͤgen die Folgen fuͤr mich noch ſo
ſchlimm ſeyn, er mag mich aus dem Hauſe ſtoſſen,
(und das waͤre mir allerdings lieber, als mich ſo
eingeſperret und verſpottet zu ſehen) und ſolte ich
auch bis auf die aͤuſſerſte Armuth herunterkommen;
ſo will ich keine Mittel zu leben ſuchen, die ſeinem
Willen zu wider ſind.
Nein
[503]der Clariſſa.
Nein Kind, (antwortete ſie) wenn ſie heyra-
then, ſo muͤßen ſie in dieſem Stuͤcke thun, was
ihr Mann haben will. Jſt Herr Levelace ihr
Mann, ſo wird er ſich freuen, wenn er der Fa-
milie einen Verdruß anthun kan. Wenn er
gegen ſie die Hochachtung in der That haͤtte, die
er vorgiebt, ſo wuͤrde er gewiß nicht ſo trotzig ge-
gen die Jhrigen ſeyn. Er iſt wegen ſeiner Rach-
gier bekannt: wenn ich Fraͤulein Harlowe waͤre,
ſo wuͤrde ich fuͤrchten, daß er an mir die Rache
uͤben wollte, die er der Familie drohet, ob ich ihn
gleich ſelbſt nicht beleydiget haͤtte.
Wenn Herr Lovelace Rache drohet, ſo thut
er es, weil man ihm drohet. Nicht jedermann
iſt geſchickt Unrecht zu ertragen, wie ich ſeit eini-
ger Zeit habe thun muͤßen.
(Wie konnte man bey dieſen Worten den Grim̃
in dem Geſicht meiner Schweſter leſen!)
An Herrn Lovelace (fuhr ich fort) wuͤrde gar
nicht mehr gedacht werden, wenn man beſſer mit
mir umginge.
Meine Schweſter ſagte etwas mit groſſer Hef-
tigkeit: ich hoͤrte aber nicht, was es war, weil
ich gern wollte gehoͤrt werden, und deswegen
laut ſagete: wuſte man denn nicht ſchon von Herr
Lovelacen daß er ein wilder Menſch waͤre, als
er den erſten Zutrit in unſer Haus bekam? Allein
damahls redete man vom wilden Hafer(*) und
ſchwar-
[504]Die Geſchichte
ſchwartzen Ochſen: und die Ehe nebſt einer
klugen Frau ſollten Wunder thun. Allein,
Schweſter, ich ſehe wohl, daß ich ſchon zu viel
geredet habe.
Du gottloſe Tadlerin! (ſagte ſie) Woher kam
es, daß ich einen Abſcheu vor ihm bekam, als
von den Proben ſeiner Liederlichkeit, die bey euch
auch einen Eindruck gemacht haben ſollten, wenn
ihr nur halb ſo fromm waͤret, als ihr vorgebet?
Proben? (ſagte ich) Schweſter. Jch habe
nicht gemeint, daß ihr Proben davon gehabt
haͤttet. Jhr muͤßt es ſelbſt am beſten wiſſen.
(War das nicht allzu ſpoͤttiſch geredet?)
Claͤrchen! ‒ ‒ tauſend Pfund wollte ich dir
gern geben, wenn du mir alles ſagen wollteſt,
was jetzt in deinem bittern tadelſuͤchtigen Hertzen
iſt?
Vor viel weniger Geld koͤnnt ihr das zu erfah-
ren kriegen, ohne daß ich mich fuͤrchten darf, daß
ihr mir ſchlimmer begegnen werdet, als geſche-
hen iſt.
Fraͤuleins es thut mir leyd, daß ihr beyde ſo
hitzig werdet. Sie wiſſen, Claͤrchen, daß ſie
nicht ſo wuͤrden eingeſperret ſeyn, wenn ihre
Mutter durch Guͤte oder ihr Vater durch Ernſt
etwas haͤtte ausrichten koͤnnen. Wenn ein Theil
nachgeben ſoll, wie koͤnnen ſie erwarten, daß es
von jener Seiten geſchehen ſoll? Wenn mein
Dortbchen, die nicht den hundertſten Theil von
ihrem Verſtande hat, ſich meinem Willen in einer
ſo wichtigen Sache ſo gerade zu widerſetzen woll-
te, ſo wuͤrde ich es ihr gewiß ſehr uͤbel nehmen.
Jch
[505]der Clariſſa.
Jch glaͤube dis kaum, Frau Baſe. Wenn die
Fraͤulein Hervey eben einen ſolchen Bruder,
und eben eine ſolche Schweſter haͤtte: (ihr koͤnnt
mich immerhin anſehen, Arabelle!) und wenn
beyde ihren Eltern eben ſo in den Ohren laͤgen,
als meine Geſchwiſter: ſo moͤchten ſie vielleicht
eben ſo mit ihr umgehen, als jetzt mit mir um-
gegangen wird. Wenn ſie den Freyer der ihr
angetragen wuͤrde, mit eben ſo groſſem Recht
haſſete, als ich Solmeſen,
(und einen Frey-Geiſt, einen Schelm eben
ſo liebete, als ihr Lovelacen, ſchriee meine Schwe-
ſter dazwiſchen)
ſo koͤnnte ſie es verbitten, in der Sache nicht
Gehorſahm zu leiſten. Wenn ſie aber dieſes
thaͤte, und dabey die ſtaͤrckſten und kraͤftigſten
Verſicherungen gaͤbe, nie ohne ihren Willen zu
heyrathen, ſo bin ich gewiß verſichert, daß ihr
Vater und ihre Mutter vergnuͤgt ſeyn, und ſie zu
nichts zwingen wuͤrden.
Meine Schweſter hob beyde Haͤnde auf, und
ſagte: nun kriegen Vatter und Mutter auch ihr
Theil.
Wenn ich aber wuͤßte, (ſagte meine Baſe)
daß ſie einen liederlichen Menſchen liebte, und
nur Zeit gewinnen wollte, um mich ſo lange zu
ermuͤden, daß ich auch Ja ſagen ſollte ‒ ‒ ‒
Jch bitte um Vergebung, daß ich ihnen in die
Rede falle. Wenn nun Fraͤulein Hervey ihr
Ja nicht erhalten koͤnnte, was wuͤrde weiter
darans werden?
J i 5Es
[506]Die Geſchichte
Es iſt wahr, Kind! allein ſie ſollte es auch nie
erhalten.
So wuͤrde es auch nie geſchehen, Frau Baſe.
Daran zweiffele ich noch, Claͤrchen.
Wenn ſie aber daran zweifeln, meinen ſie denn,
daß durch Gefangenſchaft, und harte Begegnung
einer Uebereilung vorgebeugt werden kann?
Mein Kind, ſie machen mich faſt durch ihre
Reden beſorgt, als koͤnnte man ſich nicht auf ſie
verlaſſen, nachdem wir einmahl wiſſen, wohin ihre
Neigung geht.
Dieſe Beſorgniß ſcheint entſtanden zu ſeyn, ehe
ich dergleichen Reden gefuͤhrt, oder die geringſte
Gelegenheit dazu gegeben habe. Woher kaͤme
ſonſt meine ſchimpfliche Gefangenſchaft? Alles[!];,
was ich bisher habe erdulden muͤſſen, ſcheint nur
die Abſicht zu haben, mich dadurch zu ſchrecken, da
man wußte, daß ich allzu guten Grund zu meiner
Verweigerung hatte, und iſt nicht einem in mich
geſetzten Mistrauen zuzuſchreiben. Denn um die
Zeit, da ſich mein Leyden anfing, hatte ich noch
nicht die geringſte Gelegenheit zum Mißtrauen ge-
geben; und es ſollte auch noch keine Urſache dazu
vorhanden ſeyn, wenn man ſich auf meine Vor-
ſichtigkeit haͤtte verlaſſen wollen.
Meine Frau Baſe bedachte ſich ein wenig was
ſie ſagen wollte; darauf ſprach ſie: allein beden-
cken ſie was fuͤr Verwirrung ſie in ihrer Familie
verewigen werden, wenn ſie den verhaßten Love-
lace heyrathen.
Und
[507]der Clariſſa.
Und bedencken ſie (antwortete ich) wie ich mein
Elend verewigen werde, wenn ich den verhaßten
Solmes heyrathe.
Manches Maͤdchen hat nie geglaubt, daß es ei-
nen Mann lieben koͤnnte, bey dem es nachher ſehr
giuͤcklich geweſen iſt. Sehr wenig Frauenzimmer
bleiben bey ihrer erſten Liebe.
Vielleicht kommt es daher, daß man ſo wenige
gluͤckliche Ehen ſiehet.
Allein ſehr ſelten machen ſolche Perſonen den er-
ſten Eindruck bey einem Frauenzimmer, zu denen
man ihnen rathen kann.
Jch fuͤrchte das auch, Frau Baſe. Jch habe ei-
ne ſehr ſchlechte Meinung von dem erſten Eindruck.
Allein ich habe ſchon oft geſagt, daß mein gantzes
Verlangen darauf gehet, unverheyrathet zu bleibẽ.
Das kann aber in der That nicht geſchehen,
Fraͤulein. So lange ſie nicht verheyrathet und vor
Herrn Lovelacen voͤllig geſichert ſind, koͤnnen
ihre Eltern keine ruhige Stunde haben. Jch hoͤre,
ſie haben gar den Vorſchlag, ihm Bedingungen
zu bewilligen, (ſo weit ſoll es zwiſchen ihnen beyden
gekommen ſeyn) daß ſie keinen andern heyrathen
wollen, wenn ſie ihn nicht kriegen.
Jch bekenne es frey, ich weis kein beſſeres Mit-
tel, auf beyden Seiten Ungluͤck zu vermeiden.
Wenn ich von ihm abgehe, ſo iſt kein anderer in der
Welt, gegen den ich eine Zuneigung faſſen kann.
Jch wolte indeſſen alle meine zeitlichen Guͤter da-
fuͤr geben, daß er eine andere Perſon heyrathete.
Das iſt meine wahre Meinung, ob ihr gleich ſo un-
glaͤubig dazu laͤchelt, Arabelle!
Es
[508]Die Geſchichte
Es kan ſeyn Claͤrchen. Jch will abẽr doch
laͤcheln.
Wenn ſie von ihm abgehen? (ſagte meine
Baſe) So ſehe ich doch woran wir ſind. Jch
will hinunter gehen: ſoll ich ihnen nachfolgen,
Fraͤulein Harlowe? Jch will ihren Herrn Va-
ter zu bewegen ſuchen, daß meine Schweſter
ſelbſt herauf kommen darf. Vielleicht gedeyhet
die Sache alsdenn zu einem beſſeren Ende.
Meine Schweſter ſagte: ſeyn ſie gewiß verſi-
chert, es wird nichts daraus kommen, als daß ſie
und meine Mutter beyderſeits mit verſchiedenem
Erfolg weinen: meine Mutter wird beſaͤnftigt
und mit einem zerbrochenen Hertzen herunter
kommen; und ihr liebes Kind wird ſich nur mehr
verhaͤrten, weil es ſeiner Mutter Hertz hat verun-
ruhigen koͤnnen. Das war eben die Urſache,
deswegen das Maͤdchen auf ſeine Stube ver-
bannet iſt.
Sie redete noch mehr dergleichen, als ſie die
Treppe hinunter ging.
Der vier und viertzigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Mein Hertz ſchlug mir vor Hoffnung und
Furcht, daß ich meine Mutter ſehen ſollte,
und vor Bekuͤmmerniß, daß ich ihr ſo viel Un-
ruhe verurſachet hatte. Beydes war uͤberfluͤßig: ſie
durfte
[509]der Clariſſa.
durfte nicht kommen. Meine Baſe hatte allein
die Guͤtigkeit unter Aufſicht meiner Schweſter
zuruͤck zu kommen: ſie faſſete mich bey der Hand,
und befahl mir, mich bey ihr nieder zu ſetzen.
Sie ſagte: ſie kaͤme noch einmahl aus einer
vielleicht allzugroſſen Dienſtfertigkeit, denn ſie
thaͤte es wider den Rath meines Vaters. Allein
ſie fuͤrchtete ſich allzu ſehr vor den Folgen, die
meine Widerſpenſtigkeit nach ſich ziehen koͤnnte.
Hierauf erzaͤhlte ſie mir, was meine Freunde von
mir erwarteten; wie reich Herr Solmes ſey;
daß er in der That dreymahl ſo viel im Ver-
moͤgen haͤtte, als er bisher geſchaͤtzt waͤre; von
Herrn Lovelaces uͤbler Nachrede, und der Feind-
ſchaft der gantzen Familie gegen ihn. Alles dieſes
ſtellte ſie mir nachdruͤcklich vor, allein nicht nach-
druͤcklicher, als es mir meine Mutter ſchon vor-
hin vorgeſtellet hatte. Meine Mutter mußte ihr
nicht alles erzaͤhlt haben, was zwiſchen ihr und
mir vorgegangen war: ſonſt wuͤrde meine Baſe
nicht manche Sachen wiederholt haben, die ihre
Schweſter ſchon vorhin ſtaͤrcker und dennoch
fruchtlos vorgeſtellet hatte.
Sie hielt mir vor: mein Vater wuͤrde ſich dar-
uͤber graͤmen, daß es ſchiene, als koͤnnte er ſeiner
Tochter nicht befehlen, und zwar in einer Sache,
die ſeiner Einſicht nach zu ihrem Beſten gereichte:
einer Tochter, von der er immer ſo viel gehalten
haͤtte. Liebſte, liebſte Fraͤulein (beſchloß ſie) ich
bitte ſie um meinet willen, um ihrent willen,
um hundert anderer Urſachen willen, uͤberwinden
ſie
[510]Die Geſchichte
ſie ihre Abneigung, und laſſen ſie ihre Vorurtheile
fahren. Machen ſie uns alle nochmahls gluͤcklich
und vergnuͤgt. Jch wollte wol vor ihnen nieder-
knien. Ja! ich will wircklich vor ihnen nieder-
knien.
Hierauf fiel ſie wircklich vor mir nieder, und ich
vor ihr, indem ich ſie bat, nicht zu knien. Jch
umpfieng ſie mit meinen Armen, und wuſch ihren
Buſen mit Thraͤnen. Stehen ſie auf meine liebe
Frau Baſe (ſagte ich) ſtehen ſie auf. Sie ver-
wunden mein Hertz durch ihre Herablaſſung und
Guͤtigkeit allzu ſehr.
So verſprechen ſie mir denn, liebſte Claͤrchen,
daß ſie alle ihre Anverwanten erfreuen wollen. Jch
bitte ſie, thun ſie es, wenn ſie uns lieb haben.
Wie kann ich etwas verſprechen, dafuͤr ich lie-
ber in den Tod gehen will?
So ſagen ſie mir denn, ob ſie es uͤberlegen wol-
len? Wollen ſie ſich ſelbſt die Gruͤnde vorhalten?
Geben ſie uns nur einige Hofnung! Laßen ſie mich
nicht ſo vergeblich bitten. (Denn ſie knieete noch,
und ich knieete ihr gegen uͤber.)
Wie uͤbel bin ich dran! Wenn ich nur zweif-
feln koͤnnte, ſo wolte ich bald uͤberwinden. Was
meine Freunde fuͤr einen Bewegungs-Grund an-
ſehen, das gilt bey mir gantz und gar nicht. Wie
oft muß ich einerley Sache wiederhohlen. Laſſen
ſie mich doch unverheyrathet bleiben! Kann ich
denn mein Leben nicht unverheyrathet zubringen?
Schicken ſie mich nach Schottland, nach Florentz,
wohin ſie wollen: Jch habe den Vorſchlag ſchon
gethan
[511]der Clariſſa.
gethan. Schicken ſie mich als eine Leibeigene nach
Weſt-Jndien, ich will mir alles gefallen laſſen.
Allein ich kann nicht, ich kann gar nicht daran
dencken, einem Mann, der mir unertraͤglich iſt,
eine ewige Treue und Liebe zu verſprechen.
Sie ſtand auf, und ſagte: wohlan, ich ſehe,
ich kann ſie nicht bewegen, uns zu erfreuen. Ara-
belle beſtrafte abermahls meinen vermeinten Ei-
genſinn mit aufgehobenen Haͤnden.
Was kann ich thun, allerliebſte Frau Her-
vey? Was kann ich thun? Wenn ich zu etwas
Hofnung machen wolte, das ich nicht erfuͤllen kann,
ſo wollte ich ſagen, daß ich mich auf ihren guͤtigen
Rath bedenken wollte. Allein ich will lieber fuͤr
halsſtarrig als fuͤr falſch angeſehen werden. Jſt
denn alſo keine Mittel-Straße uͤbrig. Kann
nichts erdacht werden? will man keine andere Be-
dingung annehmen, als die, daß ich einen heyra-
then ſoll, der mir deſto unangenehmer iſt, weil
die Bedingungen, die er anbietet, ungerecht
ſind?
Meine Schweſter ſagte: wen ſtraft ihr nun?
uͤberlegt das!
Legt meine Worte nicht nachtheilig aus, Ara-
belle. Es mag vielleicht nicht ein jeder dieſe Be-
dingungen von eben der Seite anſehen. Bey ei-
nem ungerechten Geſchencke ſind eigentlich die
ſtrafbar die es geben und die es annehmen. So
lange es mir ungerecht vorkommt, ſo lange wuͤrde
ich keine Entſchuldigung haben, wenn ich es an-
nehme. Allein warum will ich mir den Fall nur
als
[512]Die Geſchichte
als moͤglich vorſtellen? Mein Hertz empoͤret ſich
gegen den Mann, wann ich ihn auch von der
beſten Seite anſehe. Welcher Vater auſſer mei-
nem wird eine Cheſtiftung machen, wenn er keine
Zuneigung hoffen kann? ja wenn aus dem Ge-
gentheil gar kein Geheimniß gemacht wird, ohne
daß nur ein Schatten einer Veraͤnderung zu ſpuͤ-
ren iſt. Allein wenn ich auf den Grund der Sa-
che ſehe, ſo thut das alles mein Vater nicht. O
mein grauſamer Bruder! der macht, daß man
Gewaltthaͤtigkeiten gegen mich gebraucht, unter
denen er nicht die geringſte Gedult behalten wuͤr-
de, wenn er an meiner Stelle waͤre.
Meine Schweſter ſagte: Frau Hervey ſie ſe-
hen das Maͤdchen wird in ſeinen Gedancken im-
mer groͤſſer. Es ſcheut keinen Menſchen mehr.
Jch bitte ſie, geben ſie ihr doch zu verſtehen, was
ſie zu erwarten hat. Es iſt nichts bey ihr aus-
zurichten. Jch bitte ſie, machen ſie ihr doch ihr
Urtheil bekant.
Meine Baſe ging weinend an das Fenſter, und
hatte meine Schweſter an der Hand. Sie ſagte
zwar ſanfte, allein doch ſo, daß ich alle Worte ver-
nehmen konnten zu ihr: ich kann nicht, Fraͤulein
Harlowe: ich kann es gewiß nicht thun. Das
was man ihr zumuthet iſt ſehr hart. Sie iſt
doch ein unvergleichliches Kind. Es iſt Schade,
daß es ſchon ſo weit gekommen iſt: allein man
muß Herrn Solmes ſagen, daß er ablaͤßt.
Meine Schweſter wiſperte ihr ſo laut ſie konn-
te in die Ohren haben ſie ſich auch durch die kleine
Syrene
[513]der Clariſſa.
Syrene einnehmen laſſen? Meine Mutter hat
wohl gethan, daß ſie nicht mitgekommen iſt. Jch
glaube faſt, daß ſich mein Vater von ihr wuͤrde
haben herum lencken laſſen, wenn der erſte Zorn
voruͤber geweſen waͤre. Niemand kann etwas
bey ihr ausrichten, als mein Bruder allein.
Der weiß wie er es angreiffen ſoll.
Dencken ſie ja nicht darauf (ſagte meine Baſe
noch mit leiſer Stimme) daß ihr Bruder herauf
kommen ſoll. Er kann ſich gar zu wenig halten.
Jch ſehe bey ihr keine Hartnaͤckigkeit, keine Unart.
Wenn ihr Bruder herauf kommt, ſo mag ich fuͤr
die Folgen nicht ſtehen; denn ich dachte ohnehin
ein paar mahl, daß ſie ohnmaͤchtig merden wuͤrde.
Ach Frau Baſe, ſie hat ein hartes Hertz. Sie
ſahen, daß ſie auch durch ihr Knien nichts bey ihr
ausrichten konnten.
Meine Schweſter ließ ſie darauf allein am Fen-
ſter ſtehen, wo ſie in Gedancken blieb, und uns
den Ruͤcken zukehrte. Hievon nahm meine Schwe-
ſter Anlaß, mich noch empfindlicher auszuſpotten.
Denn ſie hohlte aus meinem Cloſet die Proben,
die meine Mutter geſchickt hatte, und legte ſie auf
dem Stuhl neben mir auseinander, hielt ſie dar-
auf nach der Reihe auf ihren Ermel und Schul-
ter, und ſagte mit einer angenommenen Gelaſſen-
heit, und ſo daß es Frau Hervey nicht hoͤren konn-
te: Das, Claͤrchen, iſt eine artige Probe, allein
jene ſieht recht allerliebſt aus. Jch wollte euch ra-
then, das Braut-Kleid davon zu waͤhlen. Wenn
ich an eurer Stelle waͤre, ſo ſollte dieſes mein
Abend-Kleid am Hochzeit-Tage ſeyn. Hievon
Erſter Theil. K kſollte
[514]Die Geſchichte
ſollte der zweyte Anzug kleiner ſeyn. Wolt ihr
nicht anordnen mein Hertz, daß eurer Gros-Mut-
ter Juwelen umgeſetzt und aufgeputzt werden?
oder wollt ihr lieber in den neuen Juwelen erſchei-
nen, die euch Herr Solmes zugedacht hat? Er
redet von zwey bis drey tauſend Pfund, die auf
Geſchencke gehen ſollen. Alle mein Wunder, wie
koſtbar werdet ihr angeputzet ſeyn! Was? ſagt
ihr nichts, ſuͤſſer Schatz der Mutter Norton?
Noch immer ſtille? Allein wollt ihr euch nicht lie-
ber in Sammet kleiden? das wuͤrde in einer Kir-
che auf dem Lande ein groſſes Aufſehen machen;
und einen Monath lang wird es noch wegen des
Wetters angehen. Karmeſin-roth ſollte huͤbſch
laſſen. Ey! bey ſo einer ſchoͤnen Farbe, als ihr
habt, ſollte es treflich ſtehen. Was fuͤr eine artige
Roͤthe wuͤrde es euch geben! Huchey! (ans Spott,
weil ich eben ſeufzete, daß ich ſo mit mir ſpielen
laſſen muſte) Und ihr ſeufzt, Hertzchen? Aber wie!
was denckt ihr zu ſchwartzen Sammet? weil es
doch eine oͤffentliche Hochzeit iſt. Schwartzer
Sammet! ‒ ‒ und ſo ein ſchoͤn Geſicht, mit ſo hel-
len Augen, die wie die Sonne im April durch eine
Regenwolcke ſcheinen! Sagt euch das nicht Lo-
velace auch, daß ihr ſchoͤne Augen habt? Wie
liebenswuͤrdig werdet ihr emander vorkommen!
Noch immer ſtumm? Aber die Spitzen, Claͤrchen-
Sie wollte noch weiter reden, wenn nicht Frau
Hervey auf uns zugegangen waͤre, da ſie noch im
Gehen die Augen abwiſchete. Was ſagt ihr euch
einander ins Ohr, Fraͤuleins! (fing ſie an.) Sie
ſehen ſo vergnuͤgt und ruhig zu ihrer geheimen
Un
[515]der Clariſſa.
Unterredung aus, Fraͤulein Harlowe, daß ich
Hofnung habe gute Botſchaft hinunter zu bringẽ.
Jch ſage ihr nur meine Meinung von den Pro-
ben. Sie hat mich zwar nicht gefragt: allein aus
ihrem Stillſchweigen mercke ich doch, daß ſie mei-
ner Meinung iſt.
O Arabelle! Wenn es doch Lovelacen nie
eingefallen waͤre, euch bey eurem Worte zu faſſen.
Jhr haͤttet alsdenn in eurer eigenen Sache eure
Einſicht gebrauchen koͤnnen: und ich ſo wohl als
ihr, wir beyde waͤren gluͤcklich geweſen. War ich
daran Schuld Arabelle, daß es anders ging?
(Wie verdrießlich ward ſie hierbey!) Es iſt nicht
artig an euch, daß ihr ſo gern empfindliche Reden
austheilet, und ſie doch ſo ungern wider einnehmet
Die arme Arabelle ließ ſich ſo weit herunter,
Schimpf-Woͤrter gegen mich zu gebrauchen.
Ey Schweſter (fuhr ich fort) ihr werdet ſo un-
gebalten, als wenn meine Worte noch in einem
andern Verſtande wahr waͤren, als darin ich ſie
vielleicht gebraucht haben moͤchte. Mein Wunſch
war aufrichtig. Um unſer beyder willen, und um
unſerer Familie willen wuͤnſchte ich dieſes. Was
habe ich denn Boͤſes geſaget! Gebt mir nicht Ur-
ſache zum Argwohn, daß ich jetzt die wahre Urſa-
che eures unanſtaͤndigen Betragens gegen mich
getroffen habe; eines Betragens zwiſchen Schwe-
ſtern, dazu ich bisher keinen Grund habe finden
koͤnnen.
Fy! Fy! Fraͤulein Claͤrchen! ſagte meine Ba-
ſe. Meine Schweſter ward immer wuͤthender.
Es iſt beſſer (ſagte ich) verſpottet zu werden,
K k 2als
[516]Die Geſchichte
als andere zu verſpotten. Allein ich bitte euch,
Arabelle, haltet euch den Spiegel einmahl vor,
und ſehet, wie ſchlecht euch die Kleidung anſtehet,
die ihr mir ſo unbarmhertzig anlegen wollt.
Fy! Fy! Fraͤulein Claͤrchen; ſagte meine Ba-
ſe noch einmahl.
Sie wuͤrden auch zu meiner Schweſter Fy! ge-
ſagt haben, wenn ſie ihren unertraͤglichen Spott
uͤber mich mit angehoͤrt haͤtten.
Laſſen ſie uns gehen! (ſagte meine Schweſter)
Sie mag von ihrem eigenen Gifft ſchwellen bis ſie
berſtet. Sie findet mich auf dem Sinne, daß die-
ſes das letzte mahl iſt, daß ich ihr nahe komme.
Jch antwortete: es iſt ſo leicht euch mit euren
eigenen Waffen zu uͤberwinden, wenn ich nieder-
traͤchtig genug ſeyn wollte, eurem boͤſen Exempel
zu folgen, daß ich mich wundere, daß ihr mich rei-
tzet. Weil ihr aber doch hinunter gehen wollt,
Arabelle, (denn ſie ging nach der Thuͤr zu) ſo ver-
gebt mir vorher: ich will euch auch vergeben. Jhr
habt gedoppelte Urſache dieſes zu thun: weil ihr
aͤlter ſeyd als ich, und weil ihr mich in meinem
Unguͤck ſo muthwillig betruͤbt habet. Seyd ihr
gluͤcklich! das wuͤnſche ich, wenn mein Gluͤck gleich
verſchertzt ſeyn ſollte. Habt nie die Haͤlfte von
meinem Leyden auszuſtehen! Es ſey eur Troſt,
daß ihr keine Schweſter habt, die euch vergelten
kann, was ihr mir gethan habt. Und ſo ſeegne
euch GOtt.
O du biſt ein ‒ ‒ Sie ſagte nicht was ich waͤre,
ſondern flog weg.
Jch fiel vor meiner Baſe nieder, und umfaſſete
ihre
[517]der Clariſſa.
ihre Knie: erlauben ſie mir, ſagte ich, ſie noch ei-
nen Augenblick aufzuhalten. Jch will nichts von
meiner armen Schweſter ſagen; ſie ſtraft ſich
ſelbſt. Jch will mich nur bey ihnen fuͤr ſo viele Guͤ-
tigkeit und Herablaſſung bedancken. Jch bitte ſie
nur, das nicht fuͤr eine Hartnaͤckigkeit anzuſehen,
daß ich mich von einer ſo zaͤrtlichen und liebrei-
chen Baſe nicht habe bewegen laſſen: und mir al-
les zu vergeben, was ich in Worten und That in
ihrer Gegenwart verſehen habe. Es iſt gewiß
nicht aus Haß gegen die arme Arabelle hergekom-
men. Jch unterſtehe mich zu ſagen, daß weder ſie,
noch mein Bruder, noch ſelbſt mein Vater das
Hertz kennen, welches ſie blutend machen.
Jch ſahe zu meiner Aufrichtung, was fuͤr gute
Wuͤrckungen es fuͤr mich hatte, daß meine
Schweſter weggegangen war. Stehen ſie auf,
mein edles Gemuͤthe! mein liebes Kind! Knien
ſie nicht vor mir! (Das waren ihre guͤtigen Aus-
druͤcke.) Behalten ſie das bey ſich, was ich ihnen
jetzt ſagen werde. Jch bewundere ſie mehr, als ich
es mit Worten ausdruͤcken kann. Wenn ſie ſich
enthalten koͤnnen, ihr Gut wider zu fodern, und
wenn ſie ſich entſchlieſſen koͤnnen, Lovelacen nicht
zu nehmen, ſo ſind ſie das groͤſſeſte Wunder, das
ich in ihren Jahren geſehen habe. Jch muß jetzt
ihrer Schweſter nacheilen. Dis ſind meine letz-
ten Worte an ſie: ſchicken ſie ſich in ihres Vaters
Willen, wenn es moͤglich iſt. Was fuͤr ein lo-
benswuͤrdiger Gehorſahm wuͤrde dieſes ſeyn? Be-
ten ſie zu GOtt, daß er ihnen Gnade dazu gebe.
Sie wiſſen vielleicht nicht, was geſchehen kann.
Sie wollte gehen.
K k 3Nur
[518]Die Geſchichte
Nur noch ein eintziges Wort, meine liebſte Frau
Baſe. Reden ſie alles was ſie koͤnnen zum Be-
ſten der armen Frau Norton. Jhre zeitliche
Umſtaͤnde ſind ſchlecht: wenn ſie kranck wuͤrde, ſo
wuͤrde ſie nicht ohne meiner Mutter Huͤlfe leben
koͤnnen. Jch habe keine Mittel ihr zu helffen,
denn ich will ehe der Nothdurft entbehren, als
mein Recht gerichtlich behaupten. Jch verſiche-
re Jhnen, ſie hat ſo viel zu mir geſagt, mich zu
uͤberreden, daß ich meines Vaters Willen fol-
gen moͤchte, daß ihre Gruͤnde ein groſſes dazu
beygetragen haben, mich von Erwaͤhlung der aͤuſ-
ſerſten Mittel abzuhalten, zu denen ich nur wuͤn-
ſche nicht zuletzt gezwungen zu werden. Und den-
noch berauben ſie mich ihres guten Raths, und
hegen von einer ſo vortreflichen Frau niedertraͤch-
tige Gedancken.
Jch freue mich, daß ich dieſes von ihnen hoͤre.
Jch nehme noch dieſen, noch dieſen Kuß, noch
dieſen Kuß von ihnen weg, allerliebſtes Kind:
(ſo nannte ſie mich beynahe alle Augenblicke, und
kuͤſſete und umarmete mich auf das liebreichſte.)
GOtt ſchuͤtze und leite ſie. Allein ſie muͤſſen ſich
unterwerfen: ſie muͤſſen wahrhaftig. Ein Tag
in dieſem Monath iſt alles woruͤber ſie noch eine
freye Wahl haben.
Jch glaube, daß dieſes das Urtheil war, wel-
ches meine Schweſter ſie noͤthigen wollte auszu-
ſprechen. Es war aber nicht ſchlimmer, als das
was ſchon vorhin uͤber mich ausgeſprochen war.
Sie ſprach dieſe letzten Worte lauter als die
vorigen, und ſetzte hinzu: bedenckell ſie Fraͤulein,
daß
[519]der Clariſſa.
daß es ihre Schuldigkeit iſt, Gehorſahm zu leiſten.
Hiemit ging ſie hinunter, und verließ mich mit ei-
nem gekraͤnckten Hertzen und uͤberfließenden Au-
gen. Selbſt die Widerhohlung dieſer Geſchichte
kraͤnckt mich von neuen. Jch kann vor Thraͤnen
nicht mehr ſchreiben, die mir die Augen ſo verdun-
ckeln, daß ich alles durch Wolcken ſehe-
Mittwochens um 5. Uhr.
Jch will noch ein paar Zeilen hinzu thun. Un-
ten an der Treppe ward Frau Hervey von meiner
Schweſter empfangen, die ſich einzubilden ſchien,
daß ſie lange nach ihr bey mir geblieben waͤre Sie
hatte ihre letzte Ermahnung zum Gehorſahm ge-
hoͤrt; und lobete ſie davor: predigte aber noch mit
dem Ausdruck wider mich: haben ſie je ſo viel ver-
kehr ten Eigenſinn erlebt? Haͤtten ſie dencken koͤn-
nen daß das hinter Claͤrchen, hinter ihrer Claͤr-
chen ſteckte? Wer ſoll nachgeben? Sie oder ihr
Vater? Es war gantz recht, daß ſie ihr dieſes
ſagten.
Meine Baſe gab ihr eine Antwort, und es
ſchien, als wollte ſie ihr Mitleyden bezeugen. Jch
konnte aber nur den Ton und nicht die Worte
hoͤren.
So eine wunderliche Beſtaͤndigkeit bey ſo un-
billigen Forderungen! Allein mein Bruder und
meine Schweſter ſtellen alles, was ich thue und
rede auf der ſchlimmen Seite vor: und ich habe
keine Gelegenheit mich zu verantworten. Meine
Schweſter ſagt: niemand wuͤrde ſich mit mir
gewagt haben, wenn ſie mich fuͤr eine ſolche
K k 4Fech-
[520]Die Geſchichte
Fechterin gehalten haͤtten. Nun ſie nicht wiſ-
ſen, wie ſie meine Widerſetzung mit meiner uͤbri-
gen Gemuͤths-Art reimen ſollen, ſo ſcheint es, daß
ſie mich durch Veraͤnderung der angewandten
Mittel endlich zu ermuͤden ſuchen. Mein Bru-
der, wie Sie ſehen, iſt veſt entſchloſſen, die Sache
durchzutreiben, oder Harlowe-Burg auf ewig
zu verlaſſen. Mein Vater muß alſo entweder ei-
nen Sohn verlieren, oder eine Tochter bezwingen;
und zwar die unartigſte und undanckbarſte, die
Eltern jemahls gehabt haben. Auf der Seite
ſtellt er die Sache vor: und verſpricht mich zu
zwingen, wenn man ſeinem Rath folget. Man
wird es noch weiter verſuchen, davon bin ich
uͤberfuͤhrt. Allein wer kann rathen, auf welches
Mittel ſie nun fallen werden?
Jch ſchicke mit dieſem Brieffe die Antwart auf
ihr Schreiben vom Sonntage, die ich den Mon-
tag angefangen und noch nicht geendiget habe.
Sie iſt zum Abſchreiben zu lang: ich habe jetzt kei-
ne Zeit darzu. Jch bin in einigen Stellen ſehr frey
mit Jhnen umgegangen: es gefaͤllt mir ſelbſt
nicht alles was ich geſchrieben habe, ich will es
aber doch ſtehen laſſen. Mein Hertz iſt nicht frey
genug, Brieffe zu ſchreiben. Seyn Sie nicht
ungehalten auf mich. Wenn Sie ein paar Stel-
len entſchuldigen koͤnnen, ſo kommt es blos da-
her, weil ſie geſchrieben ſind, von
Jhrer
Clariſſa Harlowe.
Ende des erſten Theils.
[[521]][[522]][[523]][[524]][[525]]
ihre uͤbrigen Freunde ſie miſſen konten, erlaubte er
ihr eine kleine Hollaͤnderey, ſo wie ſie es ſelbſt fuͤr gut
finden wuͤrde anzulegen. Als dieſe fertig war, ſand
ſie wegen ihrer ungekuͤnſtelten Zierlichkeit und Be-
quemlichkeit ſo viel Bewunderer, daß das gantze Gut,
ſo vorhin der Lage wegen der Hayn geheiſſen hatte,
nunmehro unter dem Nahmen der Hollaͤnderey be-
kannt ward. Jhrem Groß Vater geſchahe insbe,
ſondere ein Gefalle, wenn man es ſo nannte.
das iſt, oͤffentliche Gebaͤude, in denen die Studenten
wohnen, und Privat-Unterricht genieſſen. Lovela-
ce und Harlowe ſind demnach nichi bloß auf eine
Univerſitaͤt, ſondern auch in ein gemeinſchaftliches
Wohngebaͤude von dem Verfaſſer dieſer Nachrichten
geſetzet worden.
Brief ſehen.
beybehalten, weil ich kein deutſches Wort finde, das
die Sache recht ausdruckt. Die Engliſchen Haͤuſer ruͤ-
cken gemeiniglich auf der Seite des Hofes ein gantz
kleines Neben-Gebaͤude etwan 4 bis 5. Ellen lang und
breit hinaus: in demſelben iſt in jedem Stockwerck ein
Cabinet ohne Camin, in welches man aus der Stube
gehet, dieſes nennen ſie Cloſet.
chen 60. Rthlr.
nach der Roͤmiſchen Schreibart ein: und nahmen
ſich einander keine Freyheit vor uͤbel, wenn ſie in
dieſe Schreibart eingekleidet war.
Anfang des Namens Lovelace iſt.
Hauſes als abgeordnete der Graffſchafften erwaͤhlt wer-
den wollen, ſuchen ſich durch Freygebigkeit unter dem
Volck eine Parthey zu machen.
wilden Hafer ſaͤen von einem Menſchen der ſehr aus-
geſchweift iſt, und ſich hernach beſſert.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Clarissa. Clarissa. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnvq.0