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Nachtſtuͤcke



Zweiter Theil.


Berlin,: 1817.
In der Realſchulbuchhandlung.
[][[1]]

Das oͤde Haus.

Man war daruͤber einig, daß die wirklichen
Erſcheinungen im Leben oft viel wunderbarer ſich
geſtalteten, als alles, was die regſte Fantaſie zu
erfinden trachte. „Ich meine,“ ſprach Lelio,
„daß die Geſchichte davon hinlaͤnglichen Beweis
gibt und daß eben deshalb die ſogenannten hiſtori¬
ſchen Romane, worin der Verfaſſer, in ſeinem
muͤßigen Gehirn bei aͤrmlichem Feuer ausgebruͤtete
Kindereien, den Thaten der ewigen, im Univerſum
waltenden Macht beizugeſellen ſich unterfaͤngt, ſo
abgeſchmackt und widerlich ſind.“ „Es iſt,“ nahm
Franz das Wort, „die tiefe Wahrheit der uner¬
A[2] forſchlichen Geheimniſſe, von denen wir umgeben,
welche uns mit einer Gewalt ergreift, an der wir
den uͤber uns herrſchenden, uns ſelbſt bedingenden
Geiſt erkennen.“ „Ach!“ fuhr Lelio fort, „die
Erkenntniß, von der du ſprichſt! — Ach das iſt
ja eben die entſetzlichſte Folge unſerer Entartung
nach dem Suͤndenfall, daß dieſe Erkenntniß uns
fehlt!“ „Viele,“ unterbrach Franz den Freund,
„viele ſind berufen und wenige auserwaͤhlt! Glaubſt
Du denn nicht, daß das Erkennen, das bei¬
nahe noch ſchoͤnere Ahnen der Wunder unſeres
Lebens manchem verliehen iſt, wie ein beſonderer
Sinn? Um nur gleich aus der dunklen Region, in
die wir uns verlieren koͤnnten, herauf zu ſpringen
in den heitren Augenblick, werf' ich Euch das ſkurrile
Gleichniß hin, daß Menſchen, denen die Seher¬
gabe, das Wunderbare zu ſchauen, mir wohl wie
die Fledermaͤuſe beduͤnken wollen, an denen der ge¬
lehrte Anatom Spalanzani einen vortrefflichen
ſechsten Sinn entdeckte, der als ſchalkhafter Stell¬
vertreter nicht allein alles, ſondern viel mehr aus¬
[3] richtet, als alle uͤbrige Sinne zuſammengenommen.“
„Ho ho,“ rief Franz lachelnd, „ſo waͤren denn
die Fledermaͤuſe eigentlich recht die gebornen natuͤr¬
lichen Somnambulen! Doch in dem heitern Augen¬
blick, deſſen Du gedachteſt, will ich Poſto faſſen
und bemerken, daß jener ſechſte bewundrungswuͤr¬
dige Sinn vermag an jeder Erſcheinung, ſei es
Perſon, That oder Begebenheit, ſogleich dasjenige
exzentriſche zu ſchauen, zu dem wir in unſerm ge¬
woͤhnlichen Leben keine Gleichung finden und es
daher wunderbar nennen. Was iſt denn aber ge¬
woͤhnliches Leben? — Ach das Drehen in dem
engen Kreiſe, an den unſere Naſe uͤberall ſtoͤßt,
und doch will man wohl Courbetten verſuchen im
taktmaͤßigen Paßgang des Alltagsgeſchaͤfts. Ich
kenne jemanden, dem jene Sehergabe, von der wir
ſprechen, ganz vorzuͤglich eigen ſcheint. Daher
kommt es, daß er oft unbekannten Menſchen, die
irgend etwas verwunderliches in Gang, Kleidung,
Ton, Blick haben, Tagelang nachlaͤuft, daß er
uͤber eine Gegebenheit, uͤber eine That, leicht hin
A 2[4] erzaͤhlt, keiner Beachtung werth und von niemanden
beachtet, tiefſinnig wird, daß er antipodiſche Dinge
zuſammen ſtellt und Beziehungen heraus fantaſirt,
an die niemand denkt.“ Lelio rief laut: „Halt,
halt, das iſt ja unſer Theodor, der ganz was
beſonderes im Kopfe zu haben ſcheint, da er mit
ſolch ſeltſamen Blicken in das Blaue heraus ſchaut.“
„In der That,“ fing Theodor an, der ſo lange
geſchwiegen, „in der That, waren meine Blicke
ſeltſam, ſo lang darin der Reflex des wahrhaft
Seltſamen, das ich im Geiſte ſchaute. Die Erin¬
nerung eines unlaͤngſt erlebten Abentheuers“ —
O erzaͤhle, erzaͤhle, unterbrachen ihn die Freunde.
„Erzaͤhlen,“ fuhr Theodor fort, „moͤcht' ich wohl,
doch muß ich zufoͤrderſt Dir, lieber Lelio, ſagen,
daß Du die Beiſpiele, die meine Sehergabe dar¬
thun ſollten, ziemlich ſchlecht waͤhlteſt. Aus Eber¬
hards Synonymik mußt Du wiſſen, daß wun¬
derlich alle Aeußerungen der Erkenntniß und des
Begehrens genannt werden, die ſich durch keinen
vernuͤnftigen Grund rechtfertigen laſſen wunder¬
[5]bar aber dasjenige heißt, was man fuͤr unmoͤg¬
lich, fuͤr unbegreiflich haͤlt, was die bekannten
Kraͤfte der Natur zu uͤberſteigen, oder wie ich hinzu
fuͤge, ihrem gewoͤhnlichen Gange entgegen zu ſeyn
ſcheint. Daraus wirſt Du entnehmen, daß Du
vorhin Ruͤckſichts meiner angeblichen Sehergabe
das Wunderliche mit dem Wunderbaren verwech¬
ſelteſt. Aber gewiß iſt es, daß das anſcheinend
Wunderliche aus dem Wunderbaren ſproßt, und
daß wir nur oft den wunderbaren Stamm nicht
ſehen, aus dem die wunderlichen Zweige mit Blaͤt¬
tern und Bluͤthen hervor ſproſſen. In dem Aben¬
theuer, das ich Euch mittheilen will, miſcht ſich
beides, das Wunderliche und Wunderbare, auf, wie
mich duͤnkt, recht ſchauerliche Weiſe. Mit dieſen
Worten zog Theodor ſein Taſchenbuch hervor,
worin er, wie die Freunde wußten, allerley Noti¬
zen von ſeiner Reiſe her eingetragen hatte, und
erzaͤhlte, dann und wann in dies Buch hineinblik¬
kend, folgende Begebenheit, die der weiteren Mit¬
theilung nicht unwerth ſcheint.


[6]

Ihr wißt (ſo fing Theodor an), daß ich den
ganzen vorigen Sommer in ***n zubrachte. Die
Menge alter Freunde und Bekannten, die ich vor¬
fand, das freie gemuͤthliche Leben, die mannig¬
fachen Anregungen der Kunſt und der Wiſſenſchaft,
das Alles hielt mich feſt. Nie war ich heitrer, und
meiner alten Neigung, oft allein durch die Straßen
zu wandeln, und mich an jedem ausgehaͤngten
Kupferſtich, an jedem Anſchlagzettel zu ergoͤtzen,
oder die mir begegnenden Geſtalten zu betrachten,
ja wohl manchem in Gedanken das Horoskop zu
ſtellen, hing ich hier mit Leidenſchaft nach, da
nicht allein der Reichthum der ausgeſtellten Werke
der Kunſt und des Luxus, ſondern der Anblick der
vielen herrlichen Prachtgebaͤude unwiderſtehlich mich
dazu antrieb. Die mit Gebaͤuden jener Art einge¬
ſchloſſene Allee, welche nach dem ***ger Thore
fuͤhrt, iſt der Sammelplatz des hoͤheren, durch
Stand oder Reichthum zum uͤppigeren Lebensgenuß
berechtigten Publikums. In dem Erdgeſchoß der
hohen breiten Pallaͤſte werden meiſtentheils Waaren
[7] des Luxus feil geboten, indeß in den obern Stock¬
werken Leute der beſchriebenen Claſſe hauſen. Die
vornehmſten Gaſthaͤuſer liegen in dieſer Straße,
die fremden Geſandten wohnen meiſtens darin, und
ſo koͤnnt Ihr denken, daß hier ein beſonderes Leben
und Regen mehr als in irgend einem andern Theile
der Reſidenz Statt finden muß, die ſich eben auch
hier volkreicher zeigt, als ſie es wirklich iſt. Das
Zudraͤngen nach dieſem Orte macht es, daß man¬
cher ſich mit einer kleineren Wohnung, als ſein
Beduͤrfniß eigentlich erfordert, begnuͤgt, und ſo
kommt es, daß manches von mehreren Familien be¬
wohnte Haus einem Bienenkorbe gleicht. Schon
oft war ich die Allee durchwandelt, als mir eines
Tages ploͤtzlich ein Haus ins Auge fiel, das auf
ganz wunderliche ſeltſame Weiſe von allen uͤbrigen
abſtach. Denkt Euch ein niedriges, vier Fenſter
breites, von zwei hohen ſchoͤnen Gebaͤuden einge¬
klemmtes Haus, deſſen Stock uͤber dem Erdgeſchoß
nur wenig uͤber die Fenſter im Erdgeſchoß des nach¬
barlichen Hauſes hervorragt, deſſen ſchlecht ver¬
[8] wahrtes Dach, deſſen zum Theil mit Papier ver¬
klebte Fenſter, deſſen farbloſe Mauern von gaͤnz¬
licher Verwahrloſung des Eigenthuͤmers zeugen.
Denkt Euch, wie ſolch ein Haus zwiſchen mit ge¬
ſchmackvollem Luxus ausſtaffirten Prachtgebaͤuden
ſich ausnehmen muß. Ich blieb ſtehen und be¬
merkte bey naͤherer Betrachtung, daß alle Fenſter
dicht verzogen waren, ja daß vor die Fenſter des
Erdgeſchoſſes eine Mauer aufgefuͤhrt ſchien, daß
die gewoͤhnliche Glocke an dem Thorwege, der, an
der Seite angebracht, zugleich zur Hausthuͤre dien¬
te, fehlte, und daß an dem Thorwege ſelbſt nir¬
gends ein Schloß, ein Druͤcker zu entdecken war.
Ich wurde uͤberzeugt, daß dieſes Haus ganz unbe¬
wohnt ſeyn muͤſſe, da ich niemahls, niemahls, ſo
oft und zu welcher Tageszeit ich auch voruͤbergehen
mochte auch nur die Spur eines menſchlichen We¬
ſens darin wahrnahm. Ein unbewohntes Haus in
dieſer Gegend der Stadt! Eine wunderliche Er¬
ſcheinung und doch findet das Ding vielleicht darin
ſeinen natuͤrlichen einfachen Grund, daß der Be¬
[9] ſitzer auf einer lange dauernden Reiſe begriffen
oder auf fernen Guͤtern hauſend, dies Grundſtuͤck
weder vermiethen noch veraͤußern mag, um, nach
***n zuruͤckkehrend, augenblicklich ſeine Wohnung
dort aufſchlagen zu koͤnnen. — So dacht' ich, und
doch weiß ich ſelbſt nicht wie es kam, daß bey dem
oͤden Hauſe voruͤberſchreitend ich jedesmahl wie feſt¬
gebannt ſtehen bleiben und mich in ganz verwun¬
derliche Gedanken nicht ſowohl vertiefen, als ver¬
ſtricken mußte. — Ihr wißt es ja alle, ihr wackern
Kumpane meines froͤhlichen Jugendlebens, ihr wißt
es ja alle, wie ich mich von jeher als Geiſterſeher
gebehrdete und wie mir nur einer wunderbaren
Welt ſeltſame Erſcheinungen ins Leben treten woll¬
ten, die ihr mit derbem Verſtande wegzulaͤugnen
wußtet! — Nun! zieht nur Eure ſchlauen ſpitz¬
fuͤndigen Geſichter, wie Ihr wollt, gern zugeſtehen
darf ich ja, daß ich oft mich ſelbſt recht arg myſti¬
fizirt habe, und daß mit dem oͤden Hauſe ſich daſ¬
ſelbe ereignen zu wollen ſchien, aber — am Ende
kommt die Moral, die Euch zu Boden ſchlaͤgt,
[10] horcht nur auf! — Zur Sache! — Eines Tages
und zwar in der Stunde, wenn der gute Ton ge¬
bietet, in der Allee auf und ab zu gehen, ſtehe ich,
wie gewoͤhnlich, in tiefen Gedanken hinſtarrend vor
dem oͤden Hauſe. Ploͤtzlich bemerke ich, ohne ge¬
rade hinzuſehen, daß jemand neben mir ſich hinge¬
ſtellt und den Blick auf mich gerichtet hatte. Es
iſt Graf P., der ſich ſchon in vieler Hinſicht als
mir geiſtesverwandt kund gethan hat, und ſogleich
iſt mir nichts gewiſſer, als daß auch ihm das Ge¬
heimnißvolle des Hauſes aufgegangen war. Um
ſo mehr fiel es mir auf, daß, als ich von dem ſelt¬
ſamen Eindruck ſprach, den dies veroͤdete Gebaͤude
hier in der belebteſten Gegend der Reſidenz auf
mich gemacht hatte, er ſehr ironiſch laͤchelte, bald
war aber Alles erklaͤrt. Graf P. war viel weiter
gegangen als ich, aus manchen Bemerkungen,
Combinationen ꝛc. hatte er die Bewandtniß heraus¬
gefunden, die es mit dem Hauſe hatte, und eben
dieſe Bewandtniß lief auf eine ſolche ganz ſeltſame
Geſchichte heraus, die nur die lebendigſte Fantaſie
[11] des Dichters ins Leben treten laſſen konnte. Es
waͤre wohl recht, daß ich Euch die Geſchichte des
Grafen, die ich noch klar und deutlich im Sinn
habe, mittheilte, doch ſchon jetzt fuͤhle ich mich
durch das, was ſich wirklich mit mir zutrug, ſo
geſpannt, daß ich unaufhaltſam fortfahren muß.
Wie war aber dem guten Grafen zu Muthe, als
er mit der Geſchichte fertig, erfuhr, daß das ver¬
oͤdete Haus nichts anders enthalte, als die Zucker¬
baͤckerei des Conditors, deſſen prachtvoll eingerich¬
teter Laden dicht anſtieß. Daher waren die Fenſter
des Erdgeſchoſſes, wo die Oefen eingerichtet, ver¬
mauert und die zum Aufbewahren des Gebacknen
im obern Stock beſtimmten Zimmer mit dicken
Vorhaͤngen gegen Sonne und Ungeziefer verwahrt.
Ich erfuhr, als der Graf mir dies mittheilte, ſo
wie er, die Wirkung des Sturzbades, oder es
zupfte wenigſtens der allem Poetiſchen feindliche
Daͤmon den Suͤßtraͤumenden empfindlich und
ſchmerzhaft bey der Naſe. — Unerachtet der pro¬
ſaiſchen Aufklaͤrung mußte ich doch noch immer
[12] voruͤbergehend nach dem oͤden Hauſe hinſchauen,
und noch immer gingen im leiſen Froͤſteln, das mir
durch die Glieder bebte, allerley ſeltſame Gebilde
von dem auf, was dort verſchloſſen. Durchaus
konnte ich mich nicht an den Gedanken der Zucker¬
baͤckerei, des Marzipans, der Bonbons, der Tor¬
ten, der eingemachten Fruͤchte u. ſ. w. gewoͤhnen.
Eine ſeltſame Ideen-Combination ließ mir das Alles
erſcheinen wie ſuͤßes beſchwichtigendes Zureden.
Ungefaͤhr: „Erſchrecken Sie nicht, Beſter! wir
alle ſind liebe ſuͤße Kinderchen, aber der Donner
wird gleich ein bischen einſchlagen.“ Dann dachte
ich wieder: „Biſt du nicht ein recht wahnſinniger
Thor, daß du das Gewoͤhnlichſte in das Wunder¬
bare zu ziehen trachteſt, ſchelten deine Freunde dich
nicht mit Recht einen uͤberſpannten Geiſterſeher?“ —
Das Haus blieb, wie es bei der angeblichen Be¬
ſtimmung auch nicht anders ſeyn konnte, immer
unveraͤndert, und ſo geſchah es, daß mein Blick
ſich daran gewoͤhnte, und die tollen Gebilde, die
ſonſt ordentlich aus den Mauern hervor zu ſchweben
[13] ſchienen, allmaͤhlig verſchwanden. Ein Zufall
weckte alles, was eingeſchlummert, wieder auf. —
Daß, unerachtet ich mich, ſo gut es gehen wollte,
ins Alltaͤgliche gefuͤgt hatte, ich doch nicht unterließ,
das fabelhafte Haus im Auge zu behalten, das
koͤnnt Ihr Euch bei meiner Sinnesart, die nun
einmal mit frommer ritterlicher Treue am Wunder¬
baren feſt haͤlt, wohl denken. So geſchah es,
daß ich eines Tages, als ich wie gewoͤhnlich zur
Mittagsſtunde in der Allee luſtwandelte, meinen
Blick auf die verhaͤngten Fenſter des oͤden Hauſes
richtete. Da bemerkte ich, daß die Gardine an
dem letzten Fenſter dicht neben dem Conditorladen
ſich zu bewegen begann. Eine Hand, ein Arm kam
zum Vorſchein. Ich riß meinen Operngucker her¬
aus und gewahrte nun deutlich die blendend weiße,
ſchoͤn geformte Hand eines Frauenzimmers, an de¬
ren kleinem Finger ein Brillant mit ungewoͤhn¬
lichem Feuer funkelte, ein reiches Band blitzte an
dem in uͤppiger Schoͤnheit geruͤndeten Arm. Die
Hand ſetzte eine hohe ſeltſam geformte Kryſtallfla¬
[14] ſche hin auf die Fenſterbank und verſchwand hinter
dem Vorhange. Erſtarrt blieb ich ſtehen, ein ſon¬
derbar baͤnglich wonniges Gefuͤhl durchſtroͤmte mit
elektriſcher Waͤrme mein Inneres, unverwandt
blickte ich herauf nach dem verhaͤngnißvollen Fenſter,
und wohl mag ein ſehnſuchtsvoller Seufzer meiner
Bruſt entflohen ſeyn. Ich wurde endlich wach und
fand mich umringt von vielen Menſchen allerlei
Standes, die ſo wie ich mit neugierigen Geſichtern
herauf guckten. Das verdroß mich, aber gleich
fiel mir ein, daß jedes Hauptſtadtvolk jenem glei¬
che, das zahllos vor dem Hauſe verſammelt, nicht
zu gaffen und ſich daruͤber zu verwundern aufhoͤren
konnte, daß eine Schlafmuͤtze aus dem ſechsten
Stock herabgeſtuͤrzt, ohne eine Maſche zu zer¬
reißen. — Ich ſchlich mich leiſe fort, und der pro¬
ſaiſche Daͤmon fluͤſterte mir ſehr vernehmlich in die
Ohren, daß ſo eben die reiche, ſonntaͤglich geſchmuͤckte
Conditorsfrau eine geleerte Flaſche feinen Roſen¬
waſſers o. ſ. auf die Fenſterbank geſtellt. —
Seltner Fall! — mir kam urploͤtzlich ein ſehr
[15] geſcheuter Gedanke. — Ich kehrte um und gerade
zu ein, in den leuchtenden Spiegelladen des dem
oͤden Hauſe nachbarlichen Conditors. — Mit kuͤh¬
lendem Athem den heißen Schaum von der Choko¬
lade wegblaſend, fing ich leicht hingeworfen an:
In der That, Sie haben da nebenbei ihre Anſtalt
ſehr ſchoͤn erweitert. — Der Conditor warf noch
ſchnell ein paar bunte Bonbons in die Viertel-Tuͤte,
und dieſe dem lieblichen Maͤdchen, das darnach ver¬
langt, hinreichend, lehnte er ſich mit aufgeſtemmtem
Arm weit uͤber den Ladentiſch heruͤber und ſchaute
mich mit ſolch' laͤchelnd fragendem Blick an, als
habe er mich gar nicht verſtanden. Ich wieder¬
holte, daß er ſehr zweckmaͤßig in dem benachbarten
Hauſe ſeine Baͤckerei angelegt, wiewohl das da¬
durch veroͤdete Gebaͤude in der lebendigen Reihe der
uͤbrigen duͤſter und traurig abſteche. „Ei mein
Herr!“ fing nun der Conditor an, „wer hat Ih¬
nen denn geſagt, daß das Haus nebenan uns ge¬
hoͤrt? — Leider blieb jeder Verſuch es zu acquiri¬
ren vergebens, und am Ende mag es auch gut ſeyn,
[16] denn mit dem Hauſe nebenan hat es eine eigne
Bewandtniß.“ — Ihr, meine treuen Freunde,
koͤnnt wohl denken, wie mich des Conditors Ant¬
wort ſpannte, und wie ſehr ich ihn bat, mir mehr
von dem Hauſe zu ſagen. „Ja, mein Herr!“
ſprach er, „recht ſonderliches weiß ich ſelbſt nicht
davon, ſo viel iſt aber gewiß, daß das Haus der
Graͤfin von S. gehoͤrt, die auf ihren Guͤtern lebt
und ſeit vielen Jahren nicht in ***n geweſen iſt.
Als noch keins der Prachtgebaͤude exiſtirte, die jetzt
unſere Straße zieren, ſtand dies Haus, wie man
mir erzaͤhlt hat, ſchon in ſeiner jetzigen Geſtalt da,
und ſeit der Zeit wurd' es nur gerade vor dem gaͤnz¬
lichen Verfall geſichert. Nur zwei lebendige Weſen
hauſen darin, ein ſteinalter menſchenfeindlicher
Hausverwalter und ein graͤmlicher lebensſatter
Hund, der zuweilen auf dem Hinterhofe den Mond
anheult. Nach der allgemeinen Sage ſoll es in
dem oͤden Gebaͤude haͤßlich ſpuken, und in der That,
mein Bruder (der Beſitzer des Ladens) und ich, wir
beide haben in der Stille der Nacht, vorzuͤglich
zur[17] zur Weihnachtszeit, wenn uns unſer Geſchaͤft hier
im Laden wach erhielt, oft ſeltſame Klagelaute
vernommen, die offenbar ſich hier hinter der Mauer
im Nebenhauſe erhoben. Und dann fing es an ſo
haͤßlich zu ſcharren und zu rumoren, daß uns bei¬
den ganz graulich zu Muthe wurde. Auch iſt es
nicht lange her, daß ſich zur Nachtzeit ein ſolch
ſonderbarer Geſang hoͤren ließ, den ich Ihnen nun
gar nicht beſchreiben kann. Es war offenbar die
Stimme eines alten Weibes, die wir vernahmen,
aber die Toͤne waren ſo gellend klar, und liefen in
bunten Cadenzen und langen ſchneidenden Trillern
ſo hoch hinauf, wie ich es, unerachtet ich doch in
Italien, Frankreich und Deutſchland ſo viel Saͤn¬
gerinnen gekannt, noch nie gehoͤrt habe. Mir war
ſo, als wuͤrden franzoͤſiſche Worte geſungen, doch
konnt' ich das nicht genau unterſcheiden, und uͤber¬
haupt das tolle geſpenſtige Singen nicht lange an¬
hoͤren, denn mir ſtanden die Haare zu Berge.
Zuweilen, wenn das Geraͤuſch auf der Straße
nachlaͤßt, hoͤren wir auch in der hintern Stube tiefe
B[18] Seufzer, und dann ein dumpfes Lachen, das aus
dem Boden hervor zu droͤhnen ſcheint, aber das
Ohr an die Wand gelegt, vernimmt man bald,
daß es eben auch im Hauſe nebenan ſo ſeufzt und
lacht. — Bemerken Sie — (er fuͤhrte mich in
das hintere Zimmer und zeigte durch's Fenſter)
bemerken Sie jene eiſerne Roͤhre, die aus der
Mauer hervor ragt, die raucht zuweilen ſo ſtark,
ſelbſt im Sommer, wenn doch gar nicht geheizt wird,
daß mein Bruder ſchon oft wegen Feuersgefahr mit
dem alten Hausverwalter gezankt hat, der ſich aber
damit entſchuldigt, daß er ſein Eſſen koche, was
der aber eſſen mag, das weiß der Himmel, denn
oft verbreitet ſich, eben wenn jene Roͤhre recht ſtark
raucht, ein ſonderbarer ganz eigenthuͤmlicher Ge¬
ruch.“ — Die Glasthuͤre des Ladens knarrte, der
Conditor eilte hinein und warf mir, nach der hinein¬
getretenen Figur hinnickend, einen bedeutenden Blick
zu. — Ich verſtand ihn vollkommen. Konnte
denn die ſonderbare Geſtalt jemand anders ſeyn als
der Verwalter des geheimnißvollen Hauſes? —
[19] Denkt Euch einen kleinen duͤrren Mann mit einem
Mumienfarbnen Geſichte, ſpitzer Naſe, zuſammen¬
gekniffenen Lippen, gruͤn funkelnden Katzenaugen,
ſtetem wahnſinnigem Laͤcheln, altmodig mit aufge¬
thuͤrmtem Toupee und Klebeloͤckchen friſirtem ſtark
gepudertem Haar, großem Haarbeutel, Poſtillion
d'Amour, Kaffeebraunem altem verbleichtem, doch
wohlgeſchontem, gebuͤrſtetem Kleide, grauen
Struͤmpfen, großen abgeſtumpften Schuhen mit
Steinſchnaͤllchen. Denkt Euch, daß dieſe kleine
duͤrre Figur doch, vorzuͤglich was die uͤbergroßen
Faͤuſte mit langen ſtarken Fingern betrift, robuſt
geformt iſt, und kraͤftig nach dem Ladentiſch hin¬
ſchreitet, dann aber ſtets laͤchelnd und ſtarr hin¬
ſchauend nach den in Kryſtallglaͤſern aufbewahrten
Suͤßigkeiten mit ohnmaͤchtiger klagender Stimme
herausweint: „Ein Paar eingemachte Pomeran¬
zen — ein Paar Makronen — ein Paar Zucker¬
kaſtanien ꝛc.“ Denkt Euch das und urtheilt ſelbſt,
ob hier Grund war, Seltſames zu ahnen oder nicht.
Der Conditor ſuchte alles, was der Alte gefordert,
B 2[20] zuſammen. „Wiegen Sie, wiegen Sie, verehr¬
ter Herr Nachbar,“ jammerte der ſeltſame Mann,
holte aͤchzend und keuchend einen kleinen ledernen
Beutel aus der Taſche, und ſuchte muͤhſam Geld
hervor. Ich bemerkte, daß das Geld, als er es
auf den Ladentiſch aufzaͤhlte, aus verſchiedenen alten
zum Theil ſchon ganz aus dem gewoͤhnlichen Cours
gekommenen Muͤnzſorten beſtand. Er that dabey
ſehr klaͤglich und murmelte: „Suͤß — ſuͤß — ſuͤß
ſoll nun alles ſeyn — ſuͤß meinethalben; der Satan
ſchmiert ſeiner Braut Honig ums Maul — puren
Honig.“ Der Conditor ſchaute mich lachend an,
und ſprach dann zu dem Alten: „Sie ſcheinen nicht
recht wohl zu ſeyn, ja, ja das Alter, das Alter, die
Kraͤfte nehmen ab immer mehr und mehr.“ Ohne
die Miene zu aͤndern rief der Alte mit erhoͤhter
Stimme: „Alter? — Alter? — Kraͤfte abneh¬
men? — Schwach — matt werden! Ho ho —
ho ho — ho ho!“ Und damit ſchlug er die Faͤuſte
zuſammen, daß die Gelenke knackten und ſprang,
in der Luft eben ſo gewaltig die Fuͤße zuſammen,
[21] klappend, hoch auf, daß der ganze Laden droͤhnte
und alle Glaͤſer zitternd erklangen. Aber in dem
Augenblick erhob ſich auch ein graͤßliches Geſchrei,
der Alte hatte den ſchwarzen Hund getreten, der
hinter ihm her geſchlichen dicht an ſeine Fuͤße ge¬
ſchmiegt auf dem Boden lag. „Verruchte Beſtie!
ſataniſcher Hoͤllenhund,“ ſtoͤhnte leiſe im vorigen
Ton der Alte, oͤffnete die Tuͤte und reichte dem
Hunde eine große Makrone hin. Der Hund, der
in ein menſchliches Weinen ausgebrochen, war ſo¬
gleich ſtill, ſetzte ſich auf die Hinterpfoten und
knapperte an der Makrone wie ein Eichhoͤrnchen.
Beide waren zu gleicher Zeit fertig, der Hund mit
ſeiner Makrone, der Alte mit dem Verſchließen
und Einſtecken ſeiner Tuͤte. „Gute Nacht, ver¬
ehrter Herr Nachbar,“ ſprach er jetzt, reichte dem
Conditor die Hand, und druͤckte die des Conditors
ſo, daß er laut aufſchrie vor Schmerz. „Der alte
ſchwaͤchliche Greis wuͤnſcht Ihnen eine gute Nacht,
beſter Herr Nachbar Conditor,“ wiederholte er
dann und ſchritt zum Laden heraus, hinter ihm der
[22] ſchwarze Hund mit der Zunge die Makronenreſte
vom Maule wegleckend. Mich ſchien der Alte gar
nicht bemerkt zu haben, ich ſtand da ganz erſtarrt
vor Erſtaunen. „Sehn Sie,“ fing der Conditor
an, „ſehen Sie, ſo treibt es der wunderliche Alte
hier zuweilen, wenigſtens in vier Wochen zwey,
dreymahl, aber nichts iſt aus ihm heraus zu brin¬
gen, als daß er ehemahls Kammerdiener des Gra¬
fen von S. war, daß er jetzt hier das Haus ver¬
waltet, und jeden Tag (ſchon ſeit vielen Jahren)
die Graͤflich S — ſche Familie erwartet, weshalb
auch nichts vermiethet werden kann. Mein Bru¬
der ging ihm einmahl zu Leibe wegen des wunder¬
lichen Getoͤns zur Nachtzeit, da ſprach er aber ſehr
gelaſſen: „Ja! — die Leute ſagen alle, es ſpuke
im Hauſe, glauben Sie es aber nicht, es thut
nicht wahr ſeyn.“ — Die Stunde war gekommen,
in der der gute Ton gebot, dieſen Laden zu beſu¬
chen, die Thuͤr oͤffnete ſich, elegante Welt ſtroͤmte
hinein und ich konnte nicht weiter fragen. —


[23]

So viel ſtand nun feſt, daß die Nachrichten des
Grafen P. uͤber das Eigenthum und die Benutzung
des Hauſes falſch waren, daß der alte Verwalter
daſſelbe ſeines Laͤugnens unerachtet nicht allein be¬
wohnte, und daß ganz gewiß irgend ein Geheimniß
vor der Welt dort verhuͤllt werden ſollte. Mußte
ich denn nicht die Erzaͤhlung von dem ſeltſamen,
ſchauerlichen Geſange mit dem Erſcheinen des ſchoͤ¬
nen Arms am Fenſter in Verbindung ſetzen? Der
Arm ſaß nicht, konnte nicht ſitzen an dem Leibe
eines alten verſchrumpften Weibes, der Geſang
nach des Conditors Beſchreibung nicht aus der
Kehle des jungen bluͤhenden Maͤdchens kommen.
Doch fuͤr das Merkzeichen des Arms entſchieden,
konnt' ich leicht mich ſelbſt uͤberreden, daß vielleicht
nur eine akuſtiſche Taͤuſchung die Stimme alt und
gellend klingen laſſen, und daß eben ſo vielleicht
nur des, vom Graulichen befangenen, Conditors
truͤgliches Ohr die Toͤne ſo vernommen. — Nun
dacht' ich an den Rauch, den ſeltſamen Geruch, an
die wunderlich geformte Kryſtallflaſche, die ich ſah,
[24] und bald ſtand das Bild eines herrlichen, aber in
verderblichen Zauberdingen befangenen Geſchoͤpfs
mir lebendig vor Augen. Der Alte wurde mir
zum fatalen Hexenmeiſter, zum verdammten Zau¬
berkerl, der vielleicht ganz unabhaͤngig von der
Graͤflich S — ſchen Familie geworden, nun auf
ſeine eigne Hand in dem veroͤdeten Hauſe Unheil¬
bringendes Weſen trieb. Meine Fantaſie war im
Arbeiten und noch in ſelbiger Nacht nicht ſowohl im
Traum, als im Deliriren des Einſchlafens, ſah ich
deutlich die Hand mit dem funkelnden Diamant am
Finger, den Arm mit der glaͤnzenden Spange.
Wie aus duͤnnen grauen Nebeln trat nach und nach
ein holdes Antlitz mit wehmuͤthig flehenden blauen
Himmelsaugen, dann die ganze wunderherrliche
Geſtalt eines Maͤdchens, in voller anmuthiger Ju¬
gendbluͤthe hervor. Bald bemerkte ich, daß das,
was ich fuͤr Nebel hielt, der feine Dampf war, der
aus der Kryſtallflaſche, die die Geſtalt in den Haͤn¬
den hielt, in ſich kreiſelndem Gewirbel emporſtieg.
„O du holdes Zauberbild,“ rief ich voll Entzuͤcken,
[25] „o du holdes Zauberbild, thu' es mir kund, wo
du weilſt, was dich gefangen haͤlt? — O wie du
mich ſo voll Wehmuth und Liebe anblickſt! — Ich
weiß es, die ſchwarze Kunſt iſt es, die dich befan¬
gen, du biſt die ungluͤckſelige Sklavin des boshaf¬
ten Teufels, der herumwandelt kaffeebraun und
beharbeutelt in Zuckerladen und in gewaltigen
Spruͤngen alles zerſchmeißen will und Hoͤllenhunde
tritt, die er mit Makronen fuͤttert, nachdem ſie
den ſataniſchen Murki im fuͤnfachtel Takt abgeheult.
— O ich weiß ja Alles, du holdes, anmuthiges
Weſen! — Der Diamant iſt der Reflex innerer
Gluth! — ach haͤtt'ſt du ihn nicht mit deinem
Herzblut getraͤnkt, wie koͤnnt' er ſo funkeln, ſo tau¬
ſendfarbig ſtrahlen in den allerherrlichſten Liebes¬
toͤnen, die je ein Sterblicher vernommen. — Aber
ich weiß es wohl, das Band, was deinen Arm
umſchlingt, iſt das Glied einer Kette, von der der
Kaffeebraune ſpricht, ſie ſey magnetiſch — Glaub'
es nicht Herrliche! — ich ſehe ja, wie ſie herab¬
haͤngt in die, von blauem Feuer gluͤhende Retorte.
[26] — Die werf' ich um und du biſt befreit! — Weiß
ich denn nicht Alles — weiß ich denn nicht Alles,
du Liebliche? Aber nun, Jungfrau! — nun oͤffne
den Roſenmund, o ſage“ — In dem Augenblick
griff eine knotige Fauſt uͤber meine Schulter weg
nach der Kryſtallflaſche, die in tauſend Stuͤcke zer¬
ſplittert in der Luft verſtaͤubte. Mit einem leiſen
Ton dumpfer Wehklage war die anmuthige Geſtalt
verſchwunden in finſtrer Nacht. — Ha! — ich
merk es an Euerm Laͤcheln, daß Ihr ſchon wieder
in mir den traͤumeriſchen Geiſterſeher findet, aber
verſichern kann ich Euch, daß der ganze Traum,
wollt Ihr nun einmahl nicht abgehen von dieſer
Benennung, den vollendeten Charakter der Viſion
hatte. Doch da ihr fortfahrt, mich ſo im proſai¬
ſchen Unglauben anzulaͤcheln, ſo will ich lieber gar
nichts mehr davon ſagen, ſondern nur raſch weiter
gehen. — Kaum war der Morgen angebrochen als
ich voll Unruhe und Sehnſucht nach der Allee lief,
und mich hinſtellte vor das oͤde Haus! — Außer
den innern Vorhaͤngen waren noch dichte Jalouſien
[27] vorgezogen. Die Straße war noch voͤllig menſchen¬
leer, ich trat dicht an die Fenſter des Erdgeſchoſſes
und horchte und horchte, aber kein Laut ließ ſich
hoͤren, ſtill blieb es wie im tiefen Grabe. — Der
Tag kam herauf, das Gewerbe ruͤhrte ſich, ich
mußte fort. Was ſoll ich Euch damit ermuͤden,
wie ich viele Tage hindurch das Haus zu jeder Zeit
umſchlich, ohne auch nur das mindeſte zu entdecken,
wie alle Erkundigung, alles Forſchen zu keiner be¬
ſtimmten Notiz fuͤhrte, und wie endlich das ſchoͤne
Bild meiner Viſion zu verblaſſen begann. — End¬
lich, als ich einſt am ſpaͤten Abend von einem Spa¬
ziergange heimkehrend bey dem oͤden Hauſe heran¬
gekommen, bemerkte ich, daß das Thor halb geoͤff¬
net war; ich ſchritt heran, der Kaffeebraune guckte
heraus. Mein Entſchluß war gefaßt. „Wohnt
nicht der Geheime Finanzrath Binder hier in die¬
ſem Hauſe?“ So frug ich den Alten, indem ich
ihn beinahe zuruͤckdraͤngend in den, von einer Lam¬
pe matt erleuchteten Vorſaal trat. Der Alte blickte
mich an mit ſeinem ſtehenden Laͤcheln und ſprach
[28] leiſe und gezogen: „Nein, der wohnt nicht hier,
hat niemahls hier gewohnt, wird niemahls hier
wohnen, wohnt auch in der ganzen Allee nicht. —
Aber die Leute ſagen, es ſpuke hier in dieſem Hauſe,
jedoch kann ich verſichern, daß es nicht wahr iſt,
es iſt ein ruhiges, huͤbſches Haus, und morgen
zieht die gnaͤdige Graͤfin von S. ein und — Gute
Nacht, mein lieber Herr!“ — Damit manoͤvrirte
mich der Alte zum Hauſe hinaus, und verſchloß
hinter mir das Thor. Ich vernahm, wie er keu¬
chend und huſtend mit dem klirrenden Schluͤſſel¬
bunde uͤber den Flur wegſcharrte und dann Stufen,
wie mir vorkam, herab ſtieg. Ich hatte in der
kurzen Zeit ſo viel bemerkt, daß der Flur mit alten
bunten Tapeten behaͤngt, und wie ein Saal mit
großen, mit rothem Damaſt beſchlagenen Lehnſeſ¬
ſeln moͤblirt war, welches denn doch ganz verwun¬
derlich ausſah.


Nun gingen, wie geweckt, durch mein Eindrin¬
gen in das geheimnißvolle Haus, die Abenteuer
auf! — Denkt Euch, denkt Euch, ſo wie ich den
[29] andern Tag in der Mittagsſtunde die Allee durch¬
wandere und mein Blick ſchon in der Ferne ſich
unwillkuͤrlich nach dem oͤden Hauſe richtet, ſehe ich
an dem letzten Fenſter des obern Stocks etwas
ſchimmern. — Naͤher getreten bemerke ich, daß
die aͤußere Jalouſie ganz, der innere Vorhang halb
aufgezogen iſt. Der Diamant funkelt mir entge¬
gen. — O Himmel! geſtuͤtzt auf den Arm blickt
mich wehmuͤthig flehend jenes Antlitz meiner Viſion
an. — War es moͤglich in der auf und abwogen¬
den Maſſe ſtehen zu bleiben? — In dem Augen¬
blick fiel mir die Bank ins Auge, die fuͤr die Luſt¬
wandler in der Allee in der Richtung des oͤden
Hauſes, wiewohl man ſich darauf niederlaſſend dem
Hauſe den Ruͤcken kehrte, angebracht war. Schnell
ſprang ich in die Allee, und mich uͤber die Lehne
der Bank wegbeugend konnt' ich nun ungeſtoͤrt nach
dem verhaͤngnißvollen Fenſter ſchauen. Ja! Sie
war es, das anmuthige, holdſelige Maͤdchen, Zug
fuͤr Zug! — Nur ſchien ihr Blick ungewiß. —
Nicht nach mir, wie es vorhin ſchien, blickte ſie,
[30] vielmehr hatten die Augen etwas todtſtarres, und
die Taͤuſchung eines lebhaft gemahlten Bildes waͤre
moͤglich geweſen, haͤtten ſich nicht Arm und Hand
zuweilen bewegt. Ganz verſunken in den Anblick
des verwunderlichen Weſens am Fenſter, das mein
Innerſtes ſo ſeltſam aufregte, hatte ich nicht die
quaͤkende Stimme des italieniſchen Tabuletkraͤmers
gehoͤrt, der mir vielleicht ſchon lange unaufhoͤrlich
ſeine Waaren anbot. Er zupfte mich endlich am
Arm; ſchnell mich umdrehend, wies ich ihn ziem¬
lich hart und zornig ab. Er ließ aber nicht nach
mit Bitten und Quaͤlen. Noch gar nichts habe
ich heute verdient, nur ein Paar Bleifedern, ein
Buͤndelchen Zahnſtocher moͤge ich ihm abkaufen.
Voller Ungeduld, den Ueberlaͤſtigen nur geſchwind
los zu werden, griff ich in die Taſche nach dem
Geldbeutel. Mit den Worten: „Auch hier hab'
ich noch ſchoͤne Sachen!“ zog er den untern Schub
ſeines Kaſtens heraus, und hielt mir einen kleinen
runden Taſchenſpiegel, der in dem Schub unter
andern Glaͤſern lag, in kleiner Entfernung ſeitwaͤrts
[31] vor. — Ich erblickte das oͤde Haus hinter mir,
das Fenſter und in den ſchaͤrfſten deutlichſten Zuͤgen
die holde Engelsgeſtalt meiner Viſion — Schnell
kauft' ich den kleinen Spiegel, der mir es nun moͤg¬
lich machte, in bequemer Stellung, ohne den Nach¬
barn aufzufallen, nach dem Fenſter hinzuſchauen. —
Doch, indem ich nun laͤnger und laͤnger das Ge¬
ſicht im Fenſter anblickte, wurd' ich von einem ſelt¬
ſamen, ganz unbeſchreiblichen Gefuͤhl, das ich bei¬
nahe waches Traͤumen nennen moͤchte, befangen.
Mir war es, als laͤhme eine Art Starrſucht nicht
ſowohl mein ganzes Regen und Bewegen als viel¬
mehr nur meinen Blick, den ich nun niemahls mehr
wuͤrde abwenden koͤnnen von dem Spiegel. Mit
Beſchaͤmung muß ich Euch bekennen, daß mir jenes
Ammenmaͤhrchen einfiel, womit mich in fruͤher
Kindheit meine Wart'frau augenblicklich zu Bette
trieb, wenn ich mich etwa geluͤſten ließ, Abends
vor dem großen Spiegel in meines Vaters Zimmer
ſtehen zu bleiben und hinein zu gucken. Sie ſagte
nehmlich, wenn Kinder Nachts in den Spiegel
[32] blickten, gucke ein fremdes, garſtiges Geſicht her¬
aus, und der Kinder Augen blieben dann erſtarrt
ſtehen. Mir war das ganz entſetzlich graulich,
aber in vollem Grauſen konnt' ich doch oft nicht
unterlaſſen, wenigſtens nach dem Spiegel hin zu
blinzeln, weil ich neugierig war auf das fremde
Geſicht. Einmahl glaubt' ich ein paar graͤßliche
gluͤhende Augen aus dem Spiegel fuͤrchterlich her¬
ausfunkeln zu ſehen, ich ſchrie auf und ſtuͤrzte dann
ohnmaͤchtig nieder. In dieſem Zufall brach eine
langwierige Krankheit aus, aber noch jetzt iſt es
mir, als haͤtten jene Augen mich wirklich angefun¬
kelt. — Kurz alles dieſes tolle Zeug aus meiner
fruͤhen Kindheit fiel mir ein, Eiskaͤlte bebte durch
meine Adern — ich wollte den Spiegel von mir
ſchleudern — ich vermocht' es nicht — nun blick¬
ten mich die Himmelsaugen der holden Geſtalt an
— ja ihr Blick war auf mich gerichtet und ſtrahlte
bis ins Herz hinein. Jenes Grauſen, das mich
ploͤtzlich ergriffen, ließ von mir ab und gab Raum
dem wonnigen Schmerz ſuͤßer Sehnſucht, die mich
mit[33] mit elektriſcher Waͤrme durchgluͤht. „Sie haben
da einen niedlichen Spiegel,“ ſprach eine Stimme
neben mir. Ich erwachte aus dem Traum und war
nicht wenig betroffen, als ich neben mir von beiden
Seiten mich zweideutig anlaͤchelnde Geſichter er¬
blickte. Mehrere Perſonen hatten auf derſelben
Bank Platz genommen, und nichts war gewiſſer,
als daß ich ihnen mit dem ſtarren Hineinblicken in
den Spiegel und vielleicht auch mit einigen ſeltſa¬
men Geſichtern, die ich in meinem exaltirtem Zu¬
ſtande ſchnitt, auf meine Koſten ein ergoͤtzliches
Schauſpiel gegeben. „Sie haben da einen nied¬
lichen Spiegel,“ wiederholte der Mann, als ich
nicht antwortete, mit einem Blick, der jener Frage
noch hinzufuͤgte: „Aber ſagen Sie mir, was ſoll
das wahnſinnige Hineinſtarren, erſcheinen Ihnen
Geiſter“ ꝛc. Der Mann, ſchon ziemlich hoch in
Jahren, ſehr ſauber gekleidet, hatte im Ton der
Rede, im Blick etwas ungemein Gutmuͤthiges und
Zutrauen Erweckendes. Ich nahm gar keinen An¬
ſtand, ihm geradehin zu ſagen, daß ich im Spie¬
C[34] gel ein wundervolles Maͤdchen erblickt‚ das hinter
mir im Fenſter des oͤden Hauſes gelegen. — Noch
weiter ging ich, ich fragte den Alten, ob er nicht
auch das holde Antlitz geſehen. „Dort druͤben? —
in dem alten Hauſe — in dem letzten Fenſter?“
ſo fragte mich nun wieder ganz verwundert der Alte.
„Allerdings, allerdings,“ ſprach ich; da laͤchelte
der Alte ſehr und fing an: „Nun das iſt doch eine
wunderliche Taͤuſchung — nun meine alten Augen
— Gott ehre mir meine alten Augen. Ei ei,
mein Herr, wohl habe ich mit unbewaffnetem Auge
das huͤbſche Geſicht dort im Fenſter geſehen, aber
es war ja ein, wie es mir ſchien, recht gut und
lebendig in Oel gemahltes Portrait.“ Schnell
drehte ich mich um nach dem Fenſter, alles war ver¬
ſchwunden, die Jalouſie herunter gelaſſen. „Ja!“
fuhr der Alte fort, „ja, mein Herr, nun iſt's zu
ſpaͤt, ſich davon zu uͤberzeugen, denn eben nahm
der Bediente, der dort, wie ich weiß, als Caſtellan
das Abſteigequartier der Graͤfin von S. ganz allein
bewohnt, das Bild, nachdem er es abgeſtaͤubt,
[35] vom Fenſter fort und ließ die Jalouſie herunter.“
„War es denn gewiß ein Bild?“ fragte ich noch¬
mahls ganz beſtuͤrzt. „Trauen Sie meinen Au¬
gen,“ erwiederte der Alte. „Daß Sie nur den
Reflex des Bildes im Spiegel ſahen, vermehrte
gewiß ſehr die optiſche Taͤuſchung und — wie ich
noch in Ihren Jahren war, haͤtt' ich nicht auch
das Bild eines ſchoͤnen Maͤdchens, kraft meiner
Fantaſie, ins Leben gerufen?“ „Aber Hand und
Arm bewegten ſich doch,“ fiel ich ein. „Ja, ja,
ſie regten ſich, alles regte ſich,“ ſprach der Alte,
laͤchelnd und ſanft mich auf die Schulter klopfend.
Dann ſtand er auf und verließ mich, hoͤflich ſich
verbeugend, mit den Worten: „Nehmen Sie Sich
doch vor Taſchenſpiegeln in Acht, die ſo haͤßlich luͤgen.
— Ganz gehorſamſter Diener.“ — Ihr koͤnnt
denken, wie mir zu Muthe war, als ich mich ſo als
einen thoͤrichten, bloͤdſichtigen Fantaſten behandelt
ſah. Mir kam die Ueberzeugung, daß der Alte
Recht hatte, und daß nur in mir ſelbſt das tolle
Gaukelſpiel aufgegangen, das mich mit dem oͤden
C 2[36] Hauſe, zu meiner eignen Beſchaͤmung, ſo garſtig
myſtifizirte.


Ganz voller Unmuth und Verdruß lief ich nach
Hauſe, feſt entſchloſſen, mich ganz los zu ſagen
von jedem Gedanken an die Myſterien des oͤden
Hauſes, und wenigſtens einige Tage hindurch die
Allee zu vermeiden. Dies hielt ich treulich, und
kam noch hinzu, daß mich den Tag uͤber dringend ge¬
wordene Geſchaͤfte am Schreibtiſch, an den Abenden
aber geiſtreiche froͤhliche Freunde in ihrem Kreiſe
feſthielten, ſo mußt' es wohl geſchehen, daß ich
beinahe gar nicht mehr an jene Geheimniſſe dachte.
Nur begab es ſich in dieſer Zeit, daß ich zuweilen
aus dem Schlaf auffuhr, wie ploͤtzlich durch aͤußere
Beruͤhrung geweckt, und dann war es mir doch
deutlich, daß nur der Gedanke an das geheimni߬
volle Weſen, das ich in meiner Viſion und in dem
Fenſter des oͤden Hauſes erblickt, mich geweckt
hatte. Ja ſelbſt waͤhrend der Arbeit, waͤhrend der
lebhafteſten Unterhaltung mit meinen Freunden,
durchfuhr mich oft ploͤtzlich, ohne weitern Anlaß,
[37] jener Gedanke, wie ein elektriſcher Blitz. Doch
waren dies nur ſchnell voruͤbergehende Momente.
Den kleinen Taſchenſpiegel, der mir ſo taͤuſchend das
anmuthige Bildniß reflektirt, hatte ich zum pro¬
ſaiſchen Hausbedarf beſtimmt. Ich pflegte mir vor
demſelben die Halsbinde feſt zu knuͤpfen. So ge¬
ſchah es, daß er mir, als ich einſt dies wichtige
Geſchaͤft abthun wollte, blind ſchien, und ich ihn
nach bekannter Methode anhauchte, um ihn dann
hell zu poliren. — Alle meine Pulſe ſtockten, mein
Innerſtes bebte vor wonnigem Grauen! — ja ſo
muß ich das Gefuͤhl nennen, das mich uͤbermannte,
als ich, ſo wie mein Hauch den Spiegel uͤberlief,
im blaͤulichen Nebel das holde Antlitz ſah, das mich
mit jenem wehmuͤthigem, das Herz durchbohrendem
Blick anſchaute! — Ihr lacht? — Ihr ſeid mit
mir fertig, ihr haltet mich fuͤr einen unheilbaren
Traͤumer, aber ſprecht, denkt was ihr wollt, genug,
die Holde blickte mich an aus dem Spiegel, aber
ſo wie der Hauch zerrann, verſchwand das Geſicht
in dem Funkeln des Spiegels. — Ich will Euch
[38] nicht ermuͤden, ich will Euch nicht herzaͤhlen
alle Momente, die ſich, einer aus dem andern,
entwickelten. Nur ſo viel will ich ſagen, daß
ich unaufhoͤrlich die Verſuche mit dem Spiegel
erneuerte, daß es mir oft gelang, das geliebte
Bild durch meinen Hauch hervor zu rufen, daß
aber manchmahl die angeſtrengteſten Bemuͤhun¬
gen ohne Erfolg blieben. Dann rannte ich wie
wahnſinnig auf und ab vor dem oͤden Hauſe und
ſtarrte in die Fenſter, aber kein menſchliches Weſen
wollte ſich zeigen. — Ich lebte nur in dem Gedan¬
ken an Sie, alles uͤbrige war abgeſtorben fuͤr mich,
ich vernachlaͤſſigte meine Freunde, meine Studien.
— Dieſer Zuſtand, wollte er in mildern Schmerz,
in traͤumeriſche Sehnſucht uͤbergehen, ja ſchien es,
als wolle das Bild an Leben und Kraft verlieren,
wurde oft bis zur hoͤchſten Spitze geſteigert, durch
Momente, an die ich noch jetzt mit tiefem Entſetzen
denke. — Da ich von einem Seelenzuſtande
rede, der mich haͤtte ins Verderben ſtuͤrzen koͤnnen,
ſo iſt fuͤr Euch, Ihr Unglaͤubigen, da nichts zu
[39] belaͤcheln und zu beſpoͤtteln, hoͤrt und fuͤhlt mit
mir, was ich ausgeſtanden. — Wie geſagt, oft,
wenn jenes Bild ganz verblaßt war, ergriff mich
ein koͤrperliches Uebelbefinden, die Geſtalt trat,
wie ſonſt niemahls, mit einer Lebendigkeit, mit
einem Glanz hervor, daß ich ſie zu erfaſſen
waͤhnte. Aber dann kam es mir auf grauliche
Weiſe vor, ich ſey ſelbſt die Geſtalt, und von den
Nebeln des Spiegels umhuͤllt und umſchloſſen.
Ein empfindlicher Bruſtſchmerz, und dann gaͤnzliche
Apathie endigte den peinlichen Zuſtand, der immer
eine, das innerſte Mark wegzehrende Erſchoͤpfung
hinterließ. In dieſen Momenten mißlang jeder
Verſuch mit dem Spiegel, hatte ich mich aber er¬
kraͤftigt, und trat dann das Bild wieder lebendig
aus dem Spiegel hervor, ſo mag ich nicht leugnen,
daß ſich damit ein beſonderer, mir ſonſt fremder
phyſiſcher Reiz verband. — Dieſe ewige Span¬
nung wirkte gar verderblich auf mich ein, blaß wie
der Tod und zerſtoͤrt im ganzen Weſen ſchwankte
ich umher, meine Freunde hielten mich fuͤr krank,
[40] und ihre ewigen Mahnungen brachten mich endlich
dahin, uͤber meinen Zuſtand, ſo wie ich es nur
vermochte, ernſtlich nachzuſinnen. War es Ab¬
ſicht oder Zufall, daß einer der Freunde, welcher
Arzneikunde ſtudirte, bei einem Beſuch Reils
Buch uͤber Geiſteszerruͤttungen zuruͤckließ. Ich
fing an zu leſen, das Werk zog mich unwiderſtehlich
an, aber wie ward mir, als ich in allem, was
uͤber fixen Wahnſinn geſagt wird, mich ſelbſt wieder
fand! — Das tiefe Entſetzen, das ich, mich ſelbſt
auf dem Wege zum Tollhauſe erblickend, empfand,
brachte mich zur Beſinnung und zum feſten Ent¬
ſchluß, den ich raſch ausfuͤhrte. Ich ſteckte meinen
Taſchenſpiegel ein und eilte ſchnell zu dem Doktor
R., beruͤhmt durch ſeine Behandlung und Heilung
der Wahnſinnigen, durch ſein tieferes Eingehen in
das pſychiſche Prinzip, welches oft ſogar koͤrperliche
Krankheiten hervorzubringen und wieder zu heilen
vermag. Ich erzaͤhlte ihm Alles, ich verſchwieg
ihm nicht den kleinſten Umſtand und beſchwor ihn
mich zu retten, von dem ungeheuern Schickſal, von
[41] dem bedroht ich mich glaubte. Er hoͤrte mich ſehr
ruhig an, doch bemerkte ich wohl in ſeinem Blick
tiefes Erſtaunen. „Noch,“ fing er an, „noch iſt
die Gefahr keinesweges ſo nahe als Sie glauben
und ich kann mit Gewißheit behaupten, daß ich ſie
ganz abzuwenden vermag. Daß Sie auf unerhoͤrte
Weiſe pſychiſch angegriffen ſind, leidet gar keinen
Zweifel, aber die voͤllige klare Erkenntniß dieſes
Angriffs irgend eines boͤſen Prinzips giebt Ihnen
ſelbſt die Waffen in die Hand, ſich dagegen zu
wehren. Laſſen Sie mir Ihren Taſchenſpiegel,
zwingen Sie ſich zu irgend einer Arbeit, die Ihre
Geiſteskraͤfte in Anſpruch nimmt, meiden Sie die
Allee, arbeiten Sie von der Fruͤhe an, ſo lange
Sie es nur auszuhalten vermoͤgen, dann aber,
nach einem tuͤchtigen Spaziergange, fort in die Ge¬
ſellſchaft Ihrer Freunde, die Sie ſo lange vermißt.
Eſſen Sie nahrhafte Speiſen, trinken Sie ſtarken
kraͤftigen Wein. Sie ſehen, daß ich blos die fixe
Idee, das heißt, die Erſcheinung des Sie bethoͤren¬
den Antlitzes im Fenſter des oͤden Hauſes und im
[42] Spiegel vertilgen, Ihren Geiſt auf andere Dinge
leiten und Ihren Koͤrper ſtaͤrken will. Stehen
Sie ſelbſt meiner Abſicht redlich bei.“ — Es wur¬
de mir ſchwer, mich von dem Spiegel zu trennen,
der Arzt, der ihn ſchon genommen, ſchien es zu
bemerken, er hauchte ihn an und frug, indem er
mir ihn vorhielt: „Sehen Sie etwas?“ „Nicht
das Mindeſte,“ erwiederte ich, wie es ſich auch in
der That verhielt. „Hauchen Sie den Spiegel
an,“ ſprach dann der Arzt, indem er mir den
Spiegel in die Hand gab. Ich that es, das Wun¬
derbild trat deutlicher als je hervor. „Da iſt ſie,“
rief ich laut. Der Arzt ſchaute hinein und ſprach
dann: ich ſehe nicht das Mindeſte, aber nicht ver¬
heelen mag ich Ihnen, daß ich in dem Augenblick,
als ich in Ihren Spiegel ſahe, einen unheimlichen
Schauer fuͤhlte, der aber gleich voruͤberging. Sie
bemerken, daß ich ganz aufrichtig bin, und eben
deshalb wohl Ihr ganzes Zutrauen verdiene.
„Wiederholen ſie doch den Verſuch.“ Ich that es,
der Arzt umfaßte mich, ich fuͤhlte ſeine Hand auf
[43] dem Ruͤckenwirbel. — Die Geſtalt kam wieder,
der Arzt, mit mir in den Spiegel ſchauend er¬
blaßte, dann nahm er mir den Spiegel aus der
Hand, ſchauete nochmals hinein, verſchloß ihn in
dem Pult, und kehrte erſt, als er einige Sekunden
hindurch die Hand vor der Stirn ſchweigend da
geſtanden, zu mir zuruͤck. „Befolgen Sie,“ fing
er an, „befolgen Sie genau meine Vorſchriften.
Ich darf ihnen bekennen, daß jene Momente, in
denen Sie außer ſich ſelbſt geſetzt Ihr eignes Ich
in phyſiſchem Schmerz fuͤhlten, mir noch ſehr ge¬
heimnißvoll ſind, aber ich hoffe Ihnen recht bald
mehr daruͤber ſagen zu koͤnnen.“ — Mit feſtem,
unabaͤnderlichem Willen, ſo ſchwer es mir auch
ankam, lebte ich zur Stunde den Vorſchriften des
Arztes gemaͤß, und ſo ſehr ich auch bald den wohl¬
thaͤtigen Einfluß anderer Geiſtesanſtrengung und der
uͤbrigen verordneten Diaͤt verſpuͤrte, ſo blieb ich doch
nicht frei von jenen furchtbaren Anfaͤllen, die Mittags
um zwoͤlf Uhr, viel ſtaͤrker aber Nachts um zwoͤlf
Uhr ſich einzuſtellen pflegten. Selbſt in munterer
[44] Geſellſchaft bey Wein und Geſang war es oft, als
durchfuͤhren ploͤtzlich mein Inneres ſpitzige gluͤhende
Dolche, und alle Macht des Geiſtes reichte dann
nicht hin zum Widerſtande, ich mußte mich entfer¬
nen und durfte erſt wiederkehren, wenn ich aus
dem Ohnmachtaͤhnlichen Zuſtande erwacht. — Es
begab ſich, daß ich mich einſt bey einer Abendgeſell¬
ſchaft befand, in der uͤber pſychiſche Einfluͤſſe und
Wirkungen, uͤber das dunkle unbekannte Gebiet
des Magnetismus geſprochen wurde. Man kam
vorzuͤglich auf die Moͤglichkeit der Einwirkung eines
entfernten pſychiſchen Princips, ſie wurde aus vie¬
len Beiſpielen bewieſen, und vorzuͤglich fuͤhrte ein
junger, dem Magnetismus ergebener, Arzt an,
daß er, wie mehrere andere, oder vielmehr wie
alle kraͤftige Magnetiſeurs, es vermoͤge, aus der
Ferne bloß durch den feſtfixirten Gedanken und
Willen auf ſeine Somnambulen zu wirken. Alles
was Kluge, Schubert, Bartels u. m. dar¬
uͤber geſagt haben, kam nach und nach zum Vor¬
ſchein. „Das Wichtigſte,“ fing endlich einer der
[45] Anweſenden, ein als ſcharfſinniger Beobachter be¬
kannter Mediziner, an, „das Wichtigſte von Allem
bleibt mir immer, daß der Magnetismus manches
Geheimniß, das wir als gemeine ſchlichte Lebens¬
erfahrung nun eben fuͤr kein Geheimniß erkennen
wollen, zu erſchließen ſcheint. Nur muͤſſen wir frei¬
lich behutſam zu Werke gehn. — Wie kommt es
denn, daß ohne allen aͤußern oder innern uns be¬
kannten Anlaß, ja unſere Ideenkette zerreißend,
irgend eine Perſon, oder wohl gar das treue Bild
irgend einer Begebenheit ſo lebendig, ſo ſich unſers
ganzen Ichs bemeiſternd in den Sinn kommt, daß
wir ſelbſt daruͤber erſtaunen. Am merkwuͤrdigſten
iſt es, daß wir oft im Traume auffahren. Das
ganze Traumbild iſt in den ſchwarzen Abgrund ver¬
ſunken, und im neuen, von jenem Bilde ganz un¬
abhaͤngigen Traum tritt uns mit voller Kraft des
Lebens ein Bild entgegen, das uns in ferne Gegen¬
den verſetzt und ploͤtzlich ſcheinbar uns ganz fremd
gewordene Perſonen, an die wir ſeit Jahren nicht
mehr dachten, uns entgegenfuͤhrt. Ja, noch mehr!
[46] oft ſchauen wir auf eben die Weiſe ganz fremde un¬
bekannte Perſonen, die wir vielleicht Jahre nach¬
her erſt kennen lernen. Das Bekannte: Mein
Gott, der Mann, die Frau, kommt mir ſo zum
Erſtaunen bekannt vor, ich daͤcht' ich haͤtt' ihn, ſie,
ſchon irgendwo geſehen, iſt vielleicht, da dies oft
ſchlechterdings unmoͤglich, die dunkle Erinnerung
an ein ſolches Traumbild. Wie wenn dies ploͤtz¬
liche Hineinſpringen fremder Bilder in unſere
Ideenreihe, die uns gleich mit beſonderer Kraft zu
ergreifen pflegen, eben durch ein fremdes pſychiſches
Prinzip veranlaßt wuͤrde? Wie wenn es dem frem¬
den Geiſte unter gewiſſen Umſtaͤnden moͤglich waͤre,
den magnetiſchen Rapport auch ohne Vorbereitung
ſo herbei zu fuͤhren, daß wir uns willenlos ihm
fuͤgen muͤßten?“ „So kaͤmen wir,“ fiel ein An¬
derer lachend ein, „mit einem gar nicht zu großen
Schritt auf die Lehre von Verhexungen, Zauber¬
bildern, Spiegeln und andern unſinnigen aberglaͤu¬
biſchen Fantaſtereien laͤngſt verjaͤhrter alberner
Zeit.“ „Ei,“ unterbrach der Mediziner den Un¬
[47] glaͤubigen, „keine Zeit kann verjaͤhren und noch
viel weniger hat es jemahls eine alberne Zeit gege¬
ben, wenn wir nicht etwa jede Zeit, in der Men¬
ſchen zu denken ſich unterfangen moͤgen, mithin
auch die unſrige, fuͤr albern erkennen wollen. — Es
iſt ein eignes Ding, etwas geradezu weglaͤugnen zu
wollen, was oft ſogar durch ſtreng juriſtiſch gefuͤhr¬
ten Beweis feſtgeſtellt iſt, und ſo wenig ich der
Meinung bin, daß in dem dunklen geheimnißvollen
Reiche, welches unſeres Geiſtes Heimath iſt, auch
nur ein einziges, unſerm bloͤdem Auge recht hell
leuchtendes Laͤmpchen brennt, ſo iſt doch ſo viel
gewiß, daß uns die Natur das Talent und die
Neigung der Maulwuͤrfe nicht verſagt hat. Wir
ſuchen, verblindet wie wir ſind, uns weiter zu
arbeiten auf finſtern Wegen. Aber ſo wie der
Blinde auf Erden an dem fluͤſternden Rauſchen der
Baͤume, an dem Murmeln und Plaͤtſchern des
Waſſers, die Naͤhe des Waldes, der ihn in ſeinen
kuͤhlenden Schatten aufnimmt, des Baches, der
den Durſtenden labt, erkennt, und ſo das Ziel ſei¬
[48] ner Sehnſucht erreicht, ſo ahnen wir an dem toͤnen¬
den Fluͤgelſchlag unbekannter, uns mit Geiſterathem
beruͤhrender Weſen, daß der Pilgergang uns zur
Quelle des Lichts fuͤhrt, vor dem unſere Augen ſich
aufthun!“ — Ich konnte mich nicht laͤnger halten,
„Sie ſtatuiren alſo,“ wandte ich mich zu dem Medi¬
ziner, „die Einwirkung eines fremden geiſtigen Prin¬
zips, dem man ſich willenlos fuͤgen muß? „Ich
halte,“ erwiederte der Mediziner, „ich halte, um
nicht zu weit zu gehen, dieſe Einwirkung nicht allein
fuͤr moͤglich, ſondern auch andern, durch den magne¬
tiſchen Zuſtand deutlicher gewordenen Operationen
des pſychiſchen Prinzips fuͤr ganz homogen.“ „So
koͤnnt' es auch,“ fuhr ich fort, „daͤmoniſchen Kraͤf¬
ten verſtattet ſeyn, feindlich verderbend auf uns zu
wirken?“ „Schnoͤde Kunſtſtuͤcke gefallner Geiſter,“
erwiderte der Mediziner laͤchelnd. — „Nein, de¬
nen wollen wir nicht erliegen. Und uͤberhaupt
bitt' ich, meine Andeutungen fuͤr nichts anders zu
nehmen, als eben nur fuͤr Andeutungen, denen
ich noch hinzufuͤge, daß ich keinesweges an unbe¬
dingte[49]dingte Herrſchaft eines geiſtigen Prinzips uͤber
das andere glauben, ſondern vielmehr annehmen
will, daß entweder irgend eine Abhaͤngigkeit,
Schwaͤche des innern Willens, oder eine Wechſel¬
wirkung Statt finden muß, die jener Herrſchaft
Raum giebt.“ „Nun erſt,“ fing ein aͤltlicher
Mann an, der ſo lange geſchwiegen und nur auf¬
merkſam zugehoͤrt, „nun erſt kann ich mich mit
Ihren ſeltſamen Gedanken uͤber Geheimniſſe, die
uns verſchloſſen bleiben ſollen, einigermaßen be¬
freunden. Gibt es geheimnißvolle thaͤtige Kraͤfte,
die mit bedrohlichen Angriffen auf uns zutreten, ſo
kann uns dagegen nur irgend eine Abnormitaͤt im
geiſtigen Organism Kraft und Muth zum ſieghaften
Widerſtande rauben. Mit einem Wort, nur gei¬
ſtige Krankheit — die Suͤnde macht uns unter¬
than dem daͤmoniſchen Prinzip. Merkwuͤrdig iſt
es, daß von den aͤlteſten Zeiten her die den Men¬
ſchen im Innerſten verſtoͤrendſte Gemuͤthsbewegung
es war, an der ſich daͤmoniſche Kraͤfte uͤbten. Ich
meine nichts anders als die Liebesverzauberungen,
D[50] von denen alle Chroniken voll ſind. In tollen
Hexenprozeſſen kommt immer dergleichen vor, und
ſelbſt in dem Geſetzbuch eines ſehr aufgeklaͤrten
Staats wird von den Liebestruͤnken gehandelt, die
inſofern auch rein pſychiſch zu wirken beſtimmt ſind,
als ſie nicht Liebesluſt im Allgemeinen erwecken,
ſondern unwiderſtehlich an eine beſtimmte Perſon
bannen ſollen. Ich werde in dieſen Geſpraͤchen an
eine tragiſche Begebenheit erinnert, die ſich in mei¬
nem eignen Hauſe vor weniger Zeit zutrug. Als
Bonaparte unſer Land mit ſeinen Truppen uͤber¬
ſchwemmt hatte, wurde ein Obriſter von der italie¬
niſchen Nobelgarde bei mir einquartirt. Er war
einer von den wenigen Offizieren der ſogenannten
großen Armee, die ſich durch ein ſtilles beſcheidnes
edles Betragen auszeichneten. Sein todtbleiches
Geſicht, ſeine duͤſtern Augen zeugten von Krank¬
heit oder tiefer Schwermuth. Nur wenige Tage
war er bei mir, als ſich auch der beſondere Zufall
kund that, von dem er behaftet. Eben befand ich
mich auf ſeinem Zimmer, als er ploͤtzlich mit tiefen
[51] Seufzern die Hand auf die Bruſt, oder vielmehr
auf die Stelle des Magens legte, als empfinde er
toͤdtliche Schmerzen. Er konnte bald nicht mehr
ſprechen, er war genoͤthigt ſich in den Sopha zu
werfen, dann aber verloren ploͤtzlich ſeine Augen
die Sehkraft und er erſtarrte zur bewußtloſen Bild¬
ſaͤule. Mit einem Ruck wie aus dem Traume auf¬
fahrend, erwachte er endlich, aber vor Mattigkeit
konnte er mehrere Zeit hindurch ſich nicht regen
und bewegen. Mein Arzt, den ich ihm ſandte,
behandelte ihn, nachdem andere Mittel fruchtlos
geblieben, magnetiſch, und dies ſchien zu wirken;
wiewohl der Arzt bald davon ablaſſen mußte, da
er ſelbſt beim Magnetiſiren des Kranken von einem
unertraͤglichen Gefuͤhl des Uebelſeyns ergriffen
wurde. Er hatte uͤbrigens des Obriſten Zutrauen
gewonnen, und dieſer ſagte ihm, daß in jenen
Momenten ſich ihm das Bild eines Frauenzimmers
nahe, die er in Piſa gekannt; dann wuͤrde es ihm
als wenn ihre gluͤhenden Blicke in ſein Inneres
fuͤhren, und er fuͤhle die unertraͤglichſten Schmer¬
D 2[52] zen, bis er in voͤllige Bewußtloſigkeit verſinke.
Aus dieſem Zuſtande bleibe ihm ein dumpfer Kopf¬
ſchmerz, und eine Abſpannung, als habe er ge¬
ſchwelgt im Liebesgenuß, zuruͤck. Nie ließ er ſich
uͤber die naͤheren Verhaͤltniſſe aus, in denen er viel¬
leicht mit jenem Frauenzimmer ſtand. Die Trup¬
pen ſollten aufbrechen, gepackt ſtand der Wagen des
Obriſten vor der Thuͤre, er fruͤhſtuͤckte, aber in
dem Augenblicke, als er ein Glas Madera zum
Munde fuͤhren wollte, ſtuͤrzte er mit einem dum¬
pfen Schrei vom Stuhle herab. Er war todt.
Die Aerzte fanden ihn vom Nervenſchlag getroffen.
Einige Wochen nachher wurde ein an den Obriſten
adreſſirter Brief bey mir abgegeben. Ich hatte gar
kein Bedenken ihn zu oͤffnen, um vielleicht ein Naͤheres
von den Verwandten des Obriſten zu erfahren, und
ihnen Nachricht von ſeinem ploͤtzlichen Tode geben
zu koͤnnen. Der Brief kam von Piſa und enthielt
ohne Unterſchrift die wenigen Worte: Ungluͤckſe¬
liger! Heute, am 7. — um zwoͤlf Uhr Mittag
ſank Antonia, dein truͤgeriſches Abbild mit lieben¬
[53] den Armen umſchlingend, todt nieder! — Ich ſah
den Kalender nach, in dem ich des Obriſten Tod
angemerkt hatte und fand, daß Antonia's Todes¬
ſtunde auch die ſeinige geweſen.“ — Ich hoͤrte nicht
mehr, was der Mann noch ſeiner Geſchichte hinzu¬
ſetzte; denn in dem Entſetzen, das mich ergriffen,
als ich in des italieniſchen Obriſten Zuſtand den
meinigen erkannte, ging mit wuͤthendem Schmerz
eine ſolche wahnſinnige Sehnſucht nach dem unbe¬
kannten Bilde auf, daß ich davon uͤberwaͤltigt auf¬
ſpringen und hineilen mußte nach dem verhaͤngni߬
vollen Hauſe. Es war mir in der Ferne, als ſaͤh'
ich Lichter blitzen, durch die feſtverſchloſſenen Jalouſien,
aber der Schein verſchwand, als ich naͤher kam.
Raſend vor duͤrſtendem Liebesverlangen ſtuͤrzte ich
auf die Thuͤr; ſie wich meinem Druck, ich ſtand
auf dem matterleuchteten Hausflur, von einer
dumpfen, ſchwuͤlen Luft umfangen. Das Herz
pochte mir vor ſeltſamer Angſt und Ungeduld, da
ging ein langer, ſchneidender, aus weiblicher Kehle
ſtroͤmender Ton durch das Haus, und ich weiß
[54] ſelbſt nicht, wie es geſchah, daß ich mich ploͤtzlich
in einem mit vielen Kerzen hell erleuchteten Saale
befand, der in alterthuͤmlicher Pracht mit vergolde¬
ten Meublen und ſeltſamen japaniſchen Gefaͤßen
verziert war. Starkduftendes Raͤucherwerk wallte
in blauen Nebelwolken auf mich zu. „Willkom¬
men — willkommen, ſuͤßer Braͤutigam — die
Stunde iſt da, die Hochzeit nah!“ — So rief laut
und lauter die Stimme eines Weibes, und eben ſo
wenig, als ich weiß, wie ich ploͤtzlich in den Saal
kam, eben ſo wenig vermag ich zu ſagen, wie es
ſich begab, daß ploͤtzlich aus dem Nebel eine hohe
jugendliche Geſtalt in reichen Kleidern hervorleuch¬
tete. Mit dem wiederholten gellenden Ruf: „Will¬
kommen ſuͤßer Braͤutigam,“ trat ſie mit ausgebrei¬
teten Armen mir entgegen — und ein gelbes, von
Alter und Wahnſinn graͤßlich verzerrtes Antlitz
ſtarrte mir in die Augen. Von tiefem Entſetzen
durchbebt wankte ich zuruͤck; wie durch den gluͤhen¬
den, durchbohrenden Blick der Klapperſchlange feſt
gezaubert, konnte ich mein Auge nicht abwenden
[55] von dem graͤulichen alten Weibe, konnte ich keinen
Schritt weiter mich bewegen. Sie trat naͤher auf
mich zu, da war es mir, als ſei das ſcheußliche Ge¬
ſicht nur eine Maske von duͤnnem Flor, durch den
die Zuͤge jenes holden Spiegelbildes durchblickten.
Schon fuͤhlt' ich mich von den Haͤnden des Weibes
beruͤhrt, als ſie laut aufkreiſchend vor mir zu Bo¬
den ſank und hinter mir eine Stimme rief: „Hu
hu! — treibt ſchon wieder der Teufel ſein Bocks¬
ſpiel mit Ew. Gnaden, zu Bette, zu Bette, meine
Gnaͤdigſte, ſonſt ſetzt es Hiebe, gewaltige Hiebe!“
— Ich wandte mich raſch um und erblickte den
alten Hausverwalter im bloßen Hemde, eine tuͤch¬
tige Peitſche uͤber dem Haupte ſchwingend. Er
wollte losſchlagen auf die Alte, die ſich heulend
am Boden kruͤmmte. Ich fiel ihm in den Arm,
aber mich von ſich ſchleudernd rief er: „Donner¬
wetter, Herr, der alte Satan haͤtte ſie ermordet,
kam ich nicht dazwiſchen — fort, fort, fort.“ —
Ich ſtuͤrzte zum Saal heraus, vergebens ſucht' ich
in dicker Finſterniß die Thuͤr des Hauſes. Nun
[56] hoͤrt' ich die ziſchenden Hiebe der Peitſche und das
Jammergeſchrei der Alten. Laut wollte ich um
Huͤlfe rufen, als der Boden unter meinen Fuͤßen
ſchwand, ich fiel eine [Treppe] herab und traf auf
eine Thuͤr ſo hart, daß ſie aufſprang und ich der
Laͤnge nach in ein kleines Zimmer ſtuͤrzte. An dem
Bette, das jemand ſo eben verlaſſen zu haben ſchien,
an dem kaffeebraunen, uͤber einen Stuhl gehaͤngten
Rocke mußte ich augenblicklich die Wohnung des
alten Hausverwalters erkennen. Wenige Augen¬
blicke nachher polterte es die Treppe herab, der
Hausverwalter ſtuͤrzte herein und hin zu meinen
Fuͤßen. „Um aller Seligkeit willen,“ flehte er mit
aufgehobenen Haͤnden, „um aller Seligkeit willen,
wer Sie auch ſeyn moͤgen, wie der alte gnaͤdige
Hexenſatan Sie auch hieher gelockt haben mag,
verſchweigen Sie, was hier geſchehen, ſonſt kom¬
me ich um Amt und Brot! — Die wahnſinnige
Excellenz iſt abgeſtraft und liegt gebunden im Bette.
O ſchlafen Sie doch, geehrteſter Herr! recht ſanft
und ſuͤß. — Ja ja, das thun Sie doch fein —
[57] eine ſchoͤne warme Julius Nacht, zwar kein Mond¬
ſchein, aber begluͤckter Sternenſchimmer. — Nun
ruhige, gluͤckliche Nacht.“ — Unter dieſen Reden
war der Alte aufgeſprungen, hatte ein Licht genom¬
men, mich herausgebracht aus dem Souterrain,
mich zur Thuͤre hinausgeſchoben und dieſe feſt ver¬
ſchloſſen. Ganz verſtoͤrt eilt' ich nach Hauſe, und
Ihr koͤnnt wohl denken, daß ich, zu tief von dem
grauenvollen Geheimniß ergriffen, auch nicht den
mindeſten nur wahrſcheinlichen Zuſammenhang der
Sache mir in den erſten Tagen denken konnte.
Nur ſo viel war gewiß, daß, hielt mich ſo lange
ein boͤſer Zauber gefangen, dieſer jetzt in der That
von mir abgelaſſen hatte. Alle ſchmerzliche Sehn¬
ſucht nach dem Zauberbilde in dem Spiegel war
gewichen, und bald gemahnte mich jener Auftritt
im oͤden Gebaͤude wie das unvermuthete Hinein¬
gerathen in ein Tollhaus. Daß der Hausverwalter
zum tyranniſchen Waͤchter einer wahnſinnigen Frau
von vornehmer Geburt, deren Zuſtand vielleicht
der Welt verborgen bleiben ſollte, beſtimmt worden,
[58] daran war nicht zu zweifeln, wie aber der Spiegel
— das tolle Zauberweſen uͤberhaupt — doch wei¬
ter — weiter!


Spaͤter begab es ſich, daß ich in zahlreicher
Geſellſchaft den Grafen P. fand, der mich in eine
Ecke zog und lachend ſprach: „Wiſſen Sie wohl,
daß ſich die Geheimniſſe unſeres oͤden Hauſes zu
enthuͤllen anfangen?“ Ich horchte hoch auf, aber
indem der Graf weiter erzaͤhlen wollte, oͤffneten ſich
die Fluͤgelthuͤren des Eßſaals, man ging zur Tafel.
Ganz vertieft in Gedanken an die Geheimniſſe, die
mir der Graf entwickeln wollte, hatte ich einer
jungen Dame den Arm geboten und war mechaniſch
der in ſteifem Zeremoniell ſich langſam daherſchrei¬
tenden Reihe gefolgt. Ich fuͤhre meine Dame zu
dem offnen Platz, der ſich uns darbietet, ſchaue ſie
nun erſt recht an und — erblicke mein Spiegelbild
in den getreuſten Zuͤgen, ſo daß gar keine Taͤu¬
ſchung moͤglich iſt. Daß ich im Innerſten erbebte,
koͤnnt Ihr Euch wohl denken, aber eben ſo muß ich
[59] Euch verſichern, daß ſich auch nicht der leiſeſte An¬
klang jener verderblichen wahnſinnigen Liebeswuth
in mir regte, die mich ganz und gar befing, wenn
mein Hauch das wunderbare Frauenbild aus dem
Spiegel hervor rief. — Meine Befremdung, noch
mehr, mein Erſchrecken muß lesbar geweſen ſeyn
in meinem Blick, denn das Maͤdchen ſah mich ganz
verwundert an, ſo daß ich fuͤr noͤthig hielt, mich
ſo, wie ich nur konnte, zuſammen zu nehmen, und
ſo gelaſſen als moͤglich anzufuͤhren, daß eine leb¬
hafte Erinnerung mich gar nicht zweifeln laſſe, ſie
ſchon irgendwo geſehen zu haben. Die kurze Ab¬
fertigung, daß dies wohl nicht gut der Fall ſeyn
koͤnne, da ſie geſtern erſt und zwar das erſte Mal
in ihrem Leben nach ***n gekommen, machte mich
im eigentlichſten Sinn des Worts etwas verbluͤfft.
Ich verſtummte. Nur der Engelsblick, den die
holdſeligen Augen des Maͤdchens mir zuwarfen,
half mir wieder auf. Ihr wißt, wie man bei
derlei Gelegenheit die geiſtigen Fuͤhlhoͤrner aus¬
ſtrecken und leiſe, leiſe taſten muß, bis man die
[60] Stelle findet, wo der angegebene Ton wieder klingt.
So macht' ich es und fand bald, daß ich ein zartes,
holdes, aber in irgend einem pſychiſchen Ueberreiz
verkraͤnkeltes Weſen neben mir hatte. Bey irgend
einer heitern Wendung des Geſpraͤchs, vorzuͤglich
wenn ich zur Wuͤrze wie ſcharfen Cayenne Pfeffer
irgend ein keckes bizarres Wort hineinſtreute,
laͤchelte ſie zwar, aber ſeltſam ſchmerzlich, wie zu hart
beruͤhrt. „Sie ſind nicht heiter, meine Gnaͤdige,
vielleicht der Beſuch heute Morgen.“ — So redete
ein nicht weit entfernt ſitzender Officier meine Dame
an, aber in dem Augenblick faßte ihn ſein Nachbar
ſchnell beim Arm und ſagte ihm etwas ins Ohr,
waͤhrend eine Frau an der andern Seite des Tiſches
Gluth auf den Wangen und im Blick laut der herr¬
lichen Oper erwaͤhnte, deren Darſtellung ſie in Paris
geſehen und mit der heutigen vergleichen werde. —
Meiner Nachbarin ſtuͤrzten die Thraͤnen aus den
Augen: „Bin ich nicht ein albernes Kind,“ wandte
ſie ſich zu mir. Schon erſt hatte ſie uͤber Migraine
geklagt. „Die gewoͤhnliche Folge des nervoͤſen
[61] Kopfſchmerzes,“ erwiderte ich daher mit unbefan¬
genem Ton, „wofuͤr nichts beſſer hilft, als der
muntre kecke Geiſt, der in dem Schaum dieſes
Dichtergetraͤnks ſprudelt.“ Mit dieſen Worten
ſchenkte ich Champagner, den ſie erſt abgelehnt, in
ihr Glas ein, und indem ſie davon nippte, dankte
ihr Blick meiner Deutung der Thraͤnen, die ſie
nicht zu bergen vermochte. Es ſchien heller gewor¬
den in ihrem Innern und alles waͤre gut gegangen,
wenn ich nicht zuletzt unverſehends hart an das vor
mir ſtehende engliſche Glas geſtoßen, ſo daß es in
gellender ſchneidender Hoͤhe ertoͤnte. Da erbleichte
meine Nachbarin bis zum Tode, und auch mich
ergriff ein ploͤtzliches Grauen, weil der Ton mir
die Stimme der wahnſinnigen Alten im oͤden Hauſe
ſchien. — Waͤhrend daß man Kaffee nahm, fand
ich Gelegenheit, mich dem Grafen P. zu naͤhern;
er merkte gut, warum. „Wiſſen Sie wohl, daß
Ihre Nachbarin die Graͤfin Edwine von S. war?
— Wiſſen Sie wohl, daß in dem oͤden Hauſe die
Schweſter ihrer Mutter, ſchon ſeit Jahren unheil¬
[62] bar wahnſinnig, eingeſperrt gehalten wird? —
Heute Morgen waren beide, Mutter und Tochter,
bey der Ungluͤcklichen. Der alte Hausverwalter,
der einzige, der den gewaltſamen Ausbruͤchen des
Wahnſinns der Graͤfin zu ſteuern wußte, und dem
daher die Aufſicht uͤber ſie uͤbertragen wurde, liegt
todtkrank, und man ſagt, daß die Schweſter end¬
lich dem Doktor K. das Geheimniß anvertraut,
und daß dieſer noch die letzten Mittel verſuchen wird,
die Kranke, wo nicht herzuſtellen, doch von der
entſetzlichen Tobſucht, in die ſie zuweilen ausbre¬
chen ſoll, zu retten. Mehr weiß ich vor der Hand
nicht.“ — Andere traten hinzu, das Geſpraͤch
brach ab. — Doktor K. war nun gerade derjenige,
an den ich mich, meines raͤthſelhaften Zuſtandes
halber, gewandt, und Ihr moͤget Euch wohl vor¬
ſtellen, daß ich, ſo bald es ſeyn konnte, zu ihm
eilte, und alles, was mir ſeit der Zeit widerfahren,
getreulich erzaͤhlte. Ich forderte ihn auf zu meiner
Beruhigung, ſo viel als er von der wahnſinnigen
Alten wiſſe, zu ſagen, und er nahm keinen Anſtand,
[63] mir, nachdem ich ihm ſtrenge Verſchwiegenheit
gelobt, folgendes anzuvertrauen.


Angelika, Graͤfin von Z. (ſo fing der Doktor
an) unerachtet in die Dreyßig vorgeruͤckt, ſtand
noch in der vollſten Bluͤthe wunderbarer Schoͤnheit,
als der Graf von S., der viel juͤnger an Jahren,
ſie hier in ***n bey Hofe ſah, und ſich in ihren
Reizen ſo verfing, daß er zur Stunde die eifrigſten
Bewerbungen begann und ſelbſt, als zur Som¬
merszeit die Graͤfin auf die Guͤter ihres Vaters
zuruͤck kehrte, ihr nachreiſte, um ſeine Wuͤnſche,
die nach Angelika's Benehmen durchaus nicht hoff¬
nungslos zu ſeyn ſchienen, dem alten Grafen zu
eroͤffnen. Kaum war Graf S. aber dort angekom¬
men, kaum ſah er Angelika's juͤngere Schweſter
Gabriele, als er wie aus einer Bezauberung er¬
wachte. In verbluͤhter Farbloſigkeit ſtand Angelika
neben Gabrielen, deren Schoͤnheit und Anmuth
den Grafen S. unwiderſtehlich hinriß, und ſo kam
es, daß er, ohne Angelika weiter zu beachten, um
Gabriele'ns Hand warb, die ihm der alte Graf Z.
[64] um ſo lieber zuſagte, als Gabriele gleich die entſchie¬
denſte Neigung fuͤr den Grafen S. zeigte. Angelika
aͤußerte nicht den mindeſten Verdruß uͤber die Un¬
treue ihres Liebhabers. „Er glaubt mich verlaſſen
zu haben. Der thoͤrichte Knabe! er merkt nicht,
daß nicht ich, daß er mein Spielzeug war, das
ich wegwarf!“ — So ſprach ſie in ſtolzem Hohn,
und in der That, ihr ganzes Weſen zeigte, daß es
wohl Ernſt ſeyn mochte mit der Verachtung des
Ungetreuen. Uebrigens ſah man, ſobald das
Buͤndniß Gabriele'ns mit dem Grafen von S. aus¬
geſprochen war, Angelika ſehr ſelten. Sie erſchien
nicht bey der Tafel und man ſagte, ſie ſchweife ein¬
ſam im naͤchſten Walde umher, den ſie laͤngſt zum
Ziel ihrer Spaziergaͤnge gewaͤhlt hatte. — Ein
ſonderbarer Vorfall ſtoͤrte die einfoͤrmige Ruhe, die
im Schloſſe herrſchte. Es begab ſich, daß die Jaͤger
des Grafen von Z., unterſtuͤtzt von den in großer
Anzahl aufgebotenen Bauern, endlich eine Zigeuner¬
bande eingefangen hatten, der man die Mordbren¬
nereien und Raͤubereien, welche ſeit kurzer Zeit ſo
haͤufig[65] haͤufig in der Gegend vorfielen, Schuld gab. An
eine lange Kette geſchloſſen brachte man die Maͤn¬
ner, gebunden auf einen Wagen gepackt die Weiber
und Kinder aus den Schloßhof. Manche trotzige
Geſtalt, die mit wildem funkelnden Blick, wie ein
gefeſſelter Tiger, keck umherſchaute, ſchien den ent¬
ſchloſſenen Raͤuber und Moͤrder zu bezeichnen, vor¬
zuͤglich fiel aber ein langes, hageres, entſetzliches
Weib, in einen blutrothen Shawl vom Kopf bis
zu Fuß gewickelt, ins Auge, die aufrecht im Wagen
ſtand, und mit gebietender Stimme rief: man
ſolle ſie herabſteigen laſſen, welches auch geſchah.
Der Graf von Z. kam auf den Schloßhof und be¬
fahl eben, wie man die Bande abgeſondert in den
feſten Schloßgefaͤngniſſen vertheilen ſolle, als mit
fliegenden Haaren, Entſetzen und Angſt in bleichem
Geſicht, Graͤfin Angelika aus der Thuͤr hinaus¬
ſtuͤrzte, und auf die Kniee geworfen mit ſchneidender
Stimme rief: „Dieſe Leute los — dieſe Leute los
— ſie ſind unſchuldig, unſchuldig — Vater: laß
dieſe Leute los! — ein Tropfen Blut's vergoſſen
E[66] an einem von dieſen und ich ſtoße mir dieſes Meſſer
in die Bruſt!“ — Damit ſchwang die Graͤfin ein
ſpiegelblankes Meſſer in den Luͤften und ſank ohn¬
maͤchtig nieder. „Ei mein ſchoͤnes Puͤppchen, mein
trautes Goldkind, das wußt ich ja wohl, daß du es
nicht leiden wuͤrdeſt!“ — So meckerte die rothe
Alte. Dann kauerte ſie nieder neben der Graͤfin
und bedeckte Geſicht und Buſen mit ekelhaften Kuͤſ¬
ſen, indem ſie fortwaͤhrend murmelte: „Blanke
Tochter, blanke Tochter — wach'auf, wach' auf,
der Braͤutigam kommt — hei hei blanker Braͤuti¬
gam kommt.“ Damit nahm die Alte eine Phiole
hervor, in der ein kleiner Goldfiſch in ſilberhellem
Spiritus auf und ab zu gaukeln ſchien. Dieſe Phiole
hielt die Alte der Graͤfin an das Herz, augenblick¬
lich erwachte ſie, aber kaum erblickte ſie das Zigeu¬
nerweib, als ſie aufſprang, das Weib heftig und
bruͤnſtig umarmte und dann mit ihr davon eilte in
das Schloß hinein. Der Graf von Z. — Gabriele,
ihr Braͤutigam, die unterdeſſen erſchienen, ſchauten
ganz erſtarrt und von ſeltſamen Grauen ergriffen, das
[67] Alles an. Die Zigeuner blieben ganz gleichguͤl¬
tig und ruhig, ſie wurden nun abgeloͤſt von der
Kette, und einzeln gefeſſelt in die Schloßgefaͤngniſſe
geworfen. Am andern Morgen ließ der Graf von
Z. die Gemeinde verſammeln, die Zigeuner wurden
vorgefuͤhrt, der Graf erklaͤrte laut, daß ſie ganz
unſchuldig waͤren an allen Raͤubereien, die in der
Gegend veruͤbt, und daß er ihnen freien Durchzug
durch ſein Gebiet verſtatte, worauf ſie entfeſſelt
und zum Erſtaunen aller mit Paͤſſen wohl verſehen
entlaſſen wurden. Das rothe Weib wurde ver¬
mißt. Man wollte wiſſen, daß der Zigeunerhaupt¬
mann, kenntlich an den goldnen Ketten um den
Hals und dem rothen Federbuſch an dem ſpaniſch
niedergekrempten Hut, Nachts auf dem Zimmer
des Barons geweſen. Einige Zeit nachher ward
es unbezweifelt dargethan, daß die Zigeuner an
dem Rauben und Morden in dem Gebiet umher in
der That auch nicht den mindeſten Antheil hatten.
— Gabriele's Hochzeit ruͤckte heran, mit Erſtau¬
nen bemerkte ſie eines Tages, daß mehrere Ruͤſt¬
E 2[68] wagen mit Meublen, Kleidungsſtuͤcken, Waͤſche,
kurz, mit einer ganz vollſtaͤndigen Hauseinrichtung
bepackt wurden und abfuhren. Andern Morgens
erfuhr ſie, daß Angelika begleitet von dem Kam¬
merdiener des Grafen S. und einer vermummten
Frau, die der alten rothen Zigeunerin aͤhnlich ge¬
ſehen, Nachts abgereiſet ſey. Graf Z. loͤſte das
Raͤthſel, indem er erklaͤrte, daß er ſich aus gewiſ¬
ſen Urſachen genoͤthiget geſehen, den freilich ſeltſa¬
men Wuͤnſchen Angelik'as nachzugeben, und ihr
nicht allein das in ***n belegne Haus in der Allee
als Eigenthum zu ſchenken, ſondern auch zu erlau¬
ben, daß ſie dort einen eignen, ganz unabhaͤngigen
Haushalt fuͤhre, wobei ſie ſich bedungen, daß kei¬
ner aus der Familie, ihn ſelbſt nicht ausgenommen,
ohne ihre ausdruͤckliche Erlaubniß das Haus betre¬
ten ſolle. Der Graf von S. fuͤgte hinzu, daß
auf Angelikas dringenden Wunſch er ſeinen Kam¬
merdiener ihr uͤberlaſſen muͤſſen, der mit gereiſet
ſey nach ***n. Die Hochzeit wurde vollzogen,
Graf S. ging mit ſeiner Gemahlin nach D. und
[69] ein Jahr verging ihnen in ungetruͤbter Heiterkeit.
Dann fing aber der Graf an auf ganz eigne Weiſe zu
kraͤnkeln. Es war, als wenn ihm ein geheimer
Schmerz alle Lebensluſt, alle Lebenskraft raube,
und vergebens waren alle Bemuͤhungen ſeiner Ge¬
mahlin, das Geheimniß ihm zu entreißen, das ſein
Innerſtes verderblich zu verſtoͤren ſchien. — Als
endlich tiefe Ohnmachten ſeinen Zuſtand lebensge¬
faͤhrlich machten, gab er den Aerzten nach und ging
angeblich nach Piſa. — Gabriele konnte nicht mit¬
reiſen, da ſie ihrer Niederkunft entgegen ſah, die
indeſſen erſt nach mehrern Wochen erfolgte. —
„Hier,“ ſprach der Arzt, „werden die Mittheilun¬
gen der Graͤfin Gabriele von S. ſo rhapſodiſch, daß
nur ein tieferer Blick den naͤheren Zuſammenhang
auffaſſen kann.“ — Genug — ihr Kind, ein
Maͤdgen, verſchwindet auf unbegreifliche Weiſe
aus der Wiege, alle Nachforſchungen bleiben verge¬
bens — ihre Troſtloſigkeit geht bis zur Verzweif¬
lung, als zur ſelbigen Zeit Graf von Z. ihr die
entſetzliche Nachricht ſchreibt, daß er den Schwie¬
[70] gerſohn, den er auf dem Wege nach Piſa glaubte,
in ***n und zwar in Angelika's Hauſe, vom Ner¬
venſchlage zum Tode getroffen, gefunden; daß An¬
gelika in furchtbaren Wahnſinn gerathen ſey und
daß er ſolchen Jammer wohl nicht lange tragen
werde. — So wie Gabriele von S. nur einige
Kraͤfte gewonnen, eilt ſie auf die Guͤter des Va¬
ters; in ſchlafloſer Nacht das Bild des verlornen
Gatten, des verlornen Kindes vor Augen, glaubt
ſie ein leiſes Wimmern vor der Thuͤre des Schlaf¬
zimmers zu vernehmen; ermuthigt, zuͤndet ſie die
Kerzen des Armleuchters bei der Nachtlampe an
und tritt heraus. — Heiliger Gott! niedergekauert
zur Erde, in den rothen Shawl gewickelt, ſtarrt das
Zigeunerweib mit ſtierem, lebloſem Blick ihr in die
Augen — in den Armen haͤlt ſie ein kleines Kind,
das ſo aͤngſtlich wimmert, das Herz ſchlaͤgt der
Graͤfin hoch auf in der Bruſt! — es iſt ihr Kind! —
es iſt die verlorne Tochter! — Sie reißt das Kind
der Zigeunerin aus den Armen, aber in dieſem
Augenblick kugelt dieſe um, wie eine lebloſe Puppe.
[71] Auf das Angſtgeſchrei der Graͤfin wird alles wach,
man eilt hinzu, man findet das Weib todt auf der
Erde, kein Belebungsmittel wirkt und der Graf
laͤßt ſie einſcharren. — Was bleibt uͤbrig, als nach
***n zur wahnſinnigen Angelika zu eilen, und
vielleicht dort das Geheimniß mit dem Kinde zu
erforſchen. Alles hat ſich veraͤndert. Angelika's
wilde Raſerei hat alle weibliche Dienſtboten ent¬
fernt, nur der Kammerdiener iſt geblieben. Ange¬
lika iſt ruhig und vernuͤnftig geworden. Als der
Graf die Geſchichte von Gabriele'ns Kinde erzaͤhlt,
ſchlaͤgt ſie die Haͤnde zuſammen, und ruft mit lau¬
tem Lachen: Iſt's Puͤppgen angekommen? — rich¬
tig angekommen? — eingeſcharrt, eingeſcharrt?
O Jemine, wie praͤchtig ſich der Goldfaſan ſchuͤt¬
telt! wißt ihr nichts vom gruͤnen Loͤwen mit den
blauen Gluthaugen? — Mit Entſetzen bemerkt der
Graf die Ruͤckkehr des Wahnſinns, indem ploͤtzlich
Angelika's Geſicht die Zuͤge des Zigeunerweibes an¬
zunehmen ſcheint, und beſchließt, die Arme mitzu¬
nehmen auf die Guͤter, welches der alte Kammer¬
[72] diener widerraͤth. In der That bricht auch der
Wahnſinn Angelika's in Wuth und Raſerei aus,
ſobald man Anſtalten macht, ſie aus dem Hauſe zu
entfernen. — In einem lichten Zwiſchenraum be¬
ſchwoͤrt Angelika mit heißen Thraͤnen den Vater, ſie
in dem Hauſe ſterben zu laſſen, und tiefgeruͤhrt bewil¬
ligt er dies, wiewohl er das Geſtaͤndniß, das dabei
ihren Lippen entflieht, nur fuͤr das Erzeugniß des
aufs neue ausbrechenden Wahnſinns haͤlt. Sie
bekennt, daß Graf S. in ihre Arme zuruͤckgekehrt,
und daß das Kind, welches die Zigeunerin ins
Haus des Grafen von Z. brachte, die Frucht dieſes
Buͤndniſſes ſey. — In der Reſidenz glaubt man,
daß der Graf von Z. die Ungluͤckliche mitgenommen
hat auf die Guͤter, indeſſen ſie hier tiefverborgen
und der Aufſicht des Kammerdieners uͤbergeben in
dem veroͤdeten Hauſe bleibt — Graf von Z. iſt ge¬
ſtorben vor einiger Zeit, und Graͤfin Gabriele von
S. kam mit Edmonden her, um Familienangelegen¬
heiten zu berichtigen. Sie durfte es ſich nicht ver¬
ſagen, die ungluͤckliche Schweſter zu ſehen. Bei
dieſem Beſuch muß ſich Wunderliches ereignet ha¬
[73] ben, doch hat mir die Graͤfin nichts daruͤber ver¬
traut, ſondern nur im Allgemeinen geſagt, daß es
nun noͤthig geworden, dem alten Kammerdiener die
Ungluͤckliche zu entreißen. Einmal habe er, wie
es herausgekommen, durch harte grauſame Mi߬
handlungen den Ausbruͤchen des Wahnſinns zu ſteu¬
ern geſucht, dann aber, durch Angelika's Vorſpieg¬
lung, daß ſie Gold zu machen verſtehe, ſich verlei¬
ten laſſen, mit ihr allerlei ſonderbare Operationen
vorzunehmen und ihr alles Noͤthige dazu herbeizu¬
ſchaffen. — „Es wuͤrde wohl (ſo ſchloß der Arzt
ſeine Erzaͤhlung) ganz uͤberfluͤſſig ſeyn, Sie,
gerade Sie auf den tiefern Zuſammenhang aller
dieſer ſeltſamen Dinge aufmerkſam zu machen. Es
iſt mir gewiß, daß Sie die Kataſtrophe herbeige¬
fuͤhrt haben, die der Alten Geneſung oder baldigen
Tod bringen wird. Uebrigens mag ich jetzt nicht
verhehlen, daß ich mich nicht wenig entſetzte, als
ich, nachdem ich mich mit Ihnen in magnetiſchen
Rapport geſetzt, ebenfalls das Bild im Spiegel
ſah. Daß dies Bild Edmonde war, wiſſen wir nun
beide.“ —


[74]

Eben ſo, wie der Arzt glaubte, fuͤr mich nichts
hinzufuͤgen zu duͤrfen, eben ſo halte ich es fuͤr ganz
unnuͤtz, mich nun noch daruͤber etwa zu verbreiten,
in welchem geheimen Verhaͤltniß Angelika, Ed¬
monde, ich und der alte Kammerdiener ſtanden,
und wie myſtiſche Wechſelwirkungen ein daͤmoniſches
Spiel trieben. Nur ſo viel ſage ich noch, daß
mich nach dieſen Begebenheiten ein druͤckendes, un¬
heimliches Gefuͤhl aus der Reſidenz trieb, welches
erſt nach einiger Zeit mich ploͤtzlich verließ. Ich
glaube, daß die Alte in dem Augenblick, als ein
ganz beſonderes Wohlſeyn mein Innerſtes durch¬
ſtroͤmte, geſtorben iſt. So endete Theodor ſeine
Erzaͤhlung. Noch Manches ſprachen die Freunde
uͤber Theodors Abenteuer und gaben ihm Recht, daß
ſich darin das Wunderliche mit dem Wunderbaren
auf ſeltſame grauliche Weiſe miſche. — Als ſie ſchie¬
den, nahm Franz Theodors Hand und ſprach, ſie
leiſe ſchuͤttelnd, mit beinahe wehmuͤthigem Laͤcheln:
Gute Nacht, du Spalanzaniſche Fledermaus!


[75]

Das Majorat.

Dem Geſtade der Oſtſee unfern liegt das Stamm¬
ſchloß der Freiherrlich von R..ſchen Familie,
R..ſitten genannt. Die Gegend iſt rauh und oͤde,
kaum entſprießt hin und wieder ein Grashalm dem
bodenloſen Triebſande, und ſtatt des Gartens, wie
er ſonſt das Herrenhaus zu zieren pflegt, ſchließt
ſich an die nackten Mauern nach der Landſeite hin
ein duͤrftiger Foͤhrenwald, deſſen ewige, duͤſtre
Trauer den bunten Schmuck des Fruͤhlings ver¬
ſchmaͤht, und in dem, ſtatt des froͤhlichen Jauch¬
zens der zu neuer Luſt erwachten Voͤgelein nur
das ſchaurige Gekraͤchze der Raben, das ſchwirrende
[76] Kreiſchen der Sturmverkuͤndenden Moͤven wieder¬
hallt. Eine Viertelſtunde davon aͤndert ſich ploͤtzlich
die Natur. Wie durch einen Zauberſchlag iſt man
in bluͤhende Felder, uͤppige Aecker und Wieſen ver¬
ſetzt. Man erblickt das große, reiche Dorf mit
dem geraͤumigen Wohnhauſe des Wirthſchaftsin¬
ſpektors. An der Spitze eines freundlichen Erlen¬
buſches ſind die Fundamente eines großen Schloſſes
ſichtbar, das einer der vormaligen Beſitzer aufzu¬
bauen im Sinne hatte. Die Nachfolger, auf ihren
Guͤtern in Curland hauſend, ließen den Bau liegen,
und auch der Freiherr Roderich von R., der wie¬
derum ſeinen Wohnſitz auf dem Stammgute nahm,
mochte nicht weiter bauen, da ſeinem finſtern, men¬
ſchenſcheuen Weſen der Aufenthalt in dem alten,
einſam liegenden Schloſſe zuſagte. Er ließ das ver¬
fallene Gebaͤude, ſo gut es gehen wollte, herſtellen,
und ſperrte ſich darin ein, mit einem graͤmlichen
Hausverwalter und geringer Dienerſchaft. Nur
ſelten ſah' man ihn im Dorfe, dagegen ging und
ritt er oft am Meeresſtrande hin und her, und
[77] man wollte aus der Ferne bemerkt haben, wie er
in die Wellen hineinſprach und dem Brauſen und
Ziſchen der Brandung zuhorchte, als vernehme er
die antwortende Stimme des Meergeiſtes. Auf
der hoͤchſten Spitze des Wartthurms hatte er ein
Cabinett einrichten und mit Fernroͤhren — mit
einem vollſtaͤndigen aſtronomiſchen Apparat verſehen
laſſen; da beobachtete er Tages, nach dem Meer
hinausſchauend, die Schiffe, die oft gleich weißbe¬
ſchwingten Meervoͤgeln am fernen Horizont vor¬
uͤberflogen. Sternenhelle Naͤchte brachte er hin
mit aſtronomiſcher, oder, wie man wiſſen wollte,
mit aſtrologiſcher Arbeit, worin ihm der alte Haus¬
verwalter beiſtand. Ueberhaupt ging zu ſeinen
Lebzeiten die Sage, daß er geheimer Wiſſenſchaft, der
ſogenannten ſchwarzen Kunſt, ergeben ſey, und daß
eine verfehlte Operation, durch die ein hohes Fuͤr¬
ſtenhaus auf das empfindlichſte gekraͤnkt wurde, ihn
aus Curland vertrieben habe. Die leiſeſte Erinne¬
rung an ſeinen dortigen Aufenthalt erfuͤllte ihn mit
Entſetzen, aber alles ſein Leben verſtoͤrende, was
[78] ihm dort geſchehen, ſchrieb er lediglich der Schuld
der Vorfahren zu, die die Ahnenburg boͤslich ver¬
ließen. Um fuͤr die Zukunft wenigſtens das Haupt
der Familie an das Stammhaus zu feſſeln, be¬
ſtimmte er es zu einem Majoratsbeſitzthum. Der
Landesherr beſtaͤtigte die Stiftung um ſo lieber,
als dadurch eine, an ritterlicher Tugend reiche Fa¬
milie, deren Zweige ſchon in das Ausland heruͤber¬
rankten, fuͤr das Vaterland gewonnen werden
ſollte. Weder Roderichs Sohn, Hubert, noch der
jetzige Majoratsherr, wie ſein Großvater Roderich
geheißen, mochte indeſſen in dem Stammſchloſſe
hauſen, beide blieben in Curland. Man mußte
glauben, daß ſie, heit'rer und lebensluſtiger geſinnt,
als der duͤſtre Ahnherr, die ſchaurige Oede des
Aufenthalts ſcheuten. Freiherr Roderich hatte zwei
alten, unverheiratheten Schweſtern ſeines Vaters,
die mager ausgeſtattet in Duͤrftigkeit lebten, Woh¬
nung und Unterhalt auf dem Gute geſtattet. Dieſe
ſaßen mit einer bejahrten Dienerin in den kleinen
warmen Zimmern des Nebenfluͤgels, und außer
[79] ihnen und dem Koch, der im Erdgeſchoß ein großes
Gemach neben der Kuͤche inne hatte, wankte in den
hohen Zimmern und Saͤlen des Hauptgebaͤudes nur
noch ein abgelebter Jaͤger umher, der zugleich die
Dienſte des Caſtellans verſah. Die uͤbrige Diener¬
ſchaft wohnte im Dorfe bei dem Wirthſchaftsin¬
ſpektor. Nur in ſpaͤter Herbſtzeit, wenn der erſte
Schnee zu fallen begann, und die Wolfs- die
Schweinsjagden aufgingen, wurde das oͤde, ver¬
laſſene Schloß lebendig. Dann kam Freiherr Ro¬
derich mit ſeiner Gemahlin, begleitet von Verwand¬
ten, Freunden und zahlreichem Jagdgefolge heruͤber
aus Curland. Der benachbarte Adel, ja ſelbſt
jagdluſtige Freunde aus der nahe liegenden Stadt
fanden ſich ein, kaum vermochten Hauptgebaͤude
und Nebenfluͤgel die zuſtroͤmenden Gaͤſte zu faſſen,
in allen Oefen und Kaminen kniſterten reichlich zu¬
geſchuͤrte Feuer, vom grauen Morgen bis in
die Nacht hinein ſchnurrten die Bratenwender,
Trepp' auf, Trepp' ab liefen hundert luſtige Leute,
Herren und Diener, dort erklangen angeſtoßene
[80] Pokale und froͤhliche Jaͤgerlieder, hier die Tritte
der nach gellender Muſik Tanzenden, uͤberall lautes
Jauchzen und Gelaͤchter, und ſo glich vier bis ſechs
Wochen hindurch das Schloß mehr einer praͤchtigen,
an vielbefahrner Landſtraße liegenden Herberge,
als der Wohnung des Gutsherrn. Freiherr Ro¬
derich widmete dieſe Zeit, ſo gut es ſich nur thun
ließ, ernſtem Geſchaͤfte, indem er, zuruͤckgezogen
aus dem Strudel der Gaͤſte, die Pflichten des
Majoratsherrn erfuͤllte. Nicht allein, daß er ſich
vollſtaͤndige Rechnung der Einkuͤnfte legen ließ, ſo
hoͤrte er auch jeden Vorſchlag irgend einer Verbeſſe¬
rung, ſo wie die kleinſte Beſchwerde ſeiner Unter¬
thanen an, und ſuchte alles zu ordnen, jedem Un¬
rechten oder Unbilligen zu ſteuern, wie er es nur
vermochte. In dieſen Geſchaͤften ſtand ihm der
alte Advokat V., von Vater auf Sohn vererbter
Geſchaͤftstraͤger des R..ſchen Hauſes und Juſti¬
tiarius der in P. liegenden Guͤter, redlich bei,
und V. pflegte daher ſchon acht Tage vor der be¬
ſtimmten Ankunft des Freiherrn nach dem Majo¬
rats¬[81] ratsgute abzureiſen. Im Jahr 179 — war die
Zeit gekommen, daß der alte V. nach R..ſitten
reiſen ſollte. So lebenskraͤftig der Greis von ſieb¬
zig Jahren ſich auch fuͤhlte, mußte er doch glauben,
daß eine huͤlfreiche Hand im Geſchaͤft ihm wohlthun
werde. Wie im Scherz ſagte er daher eines Tages
zu mir: „Vetter!“ (ſo nannte er mich, ſeinen
Großneffen, da ich ſeine Vornamen erhielt) „Vet¬
ter! — ich daͤchte, du ließeſt dir einmal etwas
Seewind um die Ohren ſauſen und kaͤm'ſt mit mir
nach R..ſitten. Außerdem, daß du mir wacker
beiſtehen kannſt in meinem manchmal boͤſen Ge¬
ſchaͤft, ſo magſt du dich auch einmal im wilden
Jaͤgerleben verſuchen und zuſehen, wie, nachdem du
einen Morgen ein zierliches Protokoll geſchrieben,
du den andern ſolch trotzigem Thier, als da iſt ein
langbehaarter, graͤulicher Wolf, oder ein zahn¬
fletſchender Eber, ins funkelnde Auge zu ſchauen,
oder gar es mit einem tuͤchtigen Buͤchſenſchuß zu er¬
legen verſteheſt.“ Nicht ſo viel Seltſames von der
luſtigen Jagdzeit in R.ſitten haͤtte ich ſchon hoͤren,
F[82] nicht ſo mit ganzer Seele dem herrlichen alten
Großonkel anhaͤngen muͤſſen, um nicht hocherfreut
zu ſeyn, daß er mich diesmal mitnehmen wolle.
Schon ziemlich geuͤbt in derlei Geſchaͤften, wie er ſie
vorhatte, verſprach ich mit tapferm Fleiß ihm alle
Muͤhe und Sorge abzunehmen. Andern Tages
ſaßen wir in tuͤchtige Pelze eingehuͤllt im Wagen
und fuhren durch dickes, den einbrechenden Winter
verkuͤndendes Schneegeſtoͤber nach R..ſitten. —
Unterwegs erzaͤhlte mir der Alte manches Wunder¬
liche von dem Freiherrn Roderich, der das Majorat
ſtiftete und ihn ſeines Juͤnglingsalters ungeachtet zu
ſeinem Juſtitiarius und Teſtamentsvollzieher er¬
nannte. Er ſprach von dem rauhen, wilden We¬
ſen, das der alte Herr gehabt, und das ſich auf die
ganze Familie zu vererben ſchiene, da ſelbſt der jetzi¬
ge Majoratsherr, den er als ſanftmuͤthigen, bei¬
nahe weichlichen Juͤngling gekannt, von Jahr zu
Jahr mehr davon ergriffen werde. Er ſchrieb mir
vor, wie ich mich keck und unbefangen betragen
muͤßte, um in des Freiherrn Augen was werth zu
[83] ſeyn und kam endlich auf die Wohnung im Schloſſe,
die er ein fuͤr allemal gewaͤhlt, da ſie warm, be¬
quem und ſo abgelegen ſey, daß wir uns, wenn
und wie wir wollten, dem tollen Getoͤſe der jubili¬
renden Geſellſchaft entziehen koͤnnten. In zwei
kleinen, mit warmen Tapeten behangenen Zim¬
mern, dicht neben dem großen Gerichtsſaal im
Seitenfluͤgel, dem gegenuͤber, wo die alten Fraͤu¬
leins wohnten, da waͤre ihm jedesmal ſeine Reſi¬
denz bereitet. Endlich nach ſchneller, aber beſchwer¬
licher Fahrt kamen wir in tiefer Nacht nach R..ſit¬
ten. Wir fuhren durch das Dorf, es war gerade
Sonntag, im Kruge Tanzmuſik und froͤhlicher
Jubel, des Wirthſchaftsinſpektors Haus von unten
bis oben erleuchtet, drinnen auch Muſik und Ge¬
ſang; deſto ſchauerlicher wurde die Oede, in die
wir nun hineinfuhren. Der Seewind heulte in
ſchneidenden Jammertoͤnen heruͤber und, als habe
er ſie aus tiefem Zauberſchlaf geweckt, ſtoͤhnten die
duͤſtern Foͤhren ihm nach in dumpfer Klage. Die
nackten ſchwarzen Mauern des Schloſſes ſtie¬
F 2[84] gen empor aus dem Schneegrunde, wir hielten an
dem verſchloſſenen Thor. Aber da half kein Rufen,
kein Peitſchengeknalle, kein Hammern und Pochen,
es war, als ſey alles ausgeſtorben, in keinem Fen¬
ſter ein Licht ſichtbar. Der Alte ließ ſeine ſtarke
droͤhnende Stimme erſchallen: „Franz — Franz!
— Wo ſteckt ihr denn? — Zum Teufel, ruͤhrt
Euch! — Wir erfrieren hier am Thor! Der
Schnee ſchmeißt einem ja das Geſicht blutruͤnſtig
— ruͤhrt Euch, zum Teufel.“ Da fing ein Hof¬
hund zu winſeln an, ein wandelndes Licht wurde
im Erdgeſchoſſe ſichtbar, Schluͤſſel klapperten und
bald knarrten die gewichtigen Thorfluͤgel auf. „Ei
ſchoͤn willkommen, ſchoͤn willkommen Herr Juſti¬
tiarius, ei in dem unſaubern Wetter!“ So rief
der alte Franz, indem er die Laterne hoch in die
Hoͤhe hob, ſo daß das volle Licht auf ſein ver¬
ſchrumpftes, zum freundlichen Lachen ſonderbar
verzogenes Geſicht fiel. Der Wagen fuhr in den
Hof, wir ſtiegen aus und nun gewahrte ich erſt
ganz des alten Bedienten ſeltſame, in eine altmo¬
[85] diſche, weite, mit vielen Schnuͤren wunderlich aus¬
ſtaffirte Jaͤgerlivrei gehuͤllte Geſtalt. Ueber die
breite weiße Stirn legten ſich nur ein Paar graue
Loͤckchen, der untere Theil des Geſichts hatte die
robuſte Jaͤgerfarbe, und unerachtet die verzogenen
Muskeln das Geſicht zu einer beinahe abenteuerlichen
Maske formten, ſoͤhnte doch die etwas duͤmmliche
Gutmuͤthigkeit, die aus den Augen leuchtete und
um den Mund ſpielte, alles wieder aus. „Nun,
alter Franz,“ fing der Großonkel an, indem er ſich
im Vorſaal den Schnee vom Pelze abklopfte, „nun,
alter Franz, iſt alles bereitet, ſind die Tapeten in
meinen Stuben abgeſtaubt, ſind die Betten hinein¬
getragen, iſt geſtern und heute tuͤchtig geheitzt wor¬
den?“ „Nein,“ erwiederte Franz ſehr gelaſſen,
„nein, mein wertheſter Herr Juſtitiarius, das iſt
alles nicht geſchehen.“ „Herr Gott!“ fuhr der
Großonkel auf, „ich habe ja zeitig genug geſchrie¬
ben, ich komme ja ſtets nach dem richtigen Datum;
das iſt ja eine Toͤlpelei, nun kann ich in eiskalten
Zimmern hauſen.“ „Ja, wertheſter Herr Juſti¬
[86] tiarius,“ ſprach Franz weiter, indem er ſehr ſorg¬
lich mit der Lichtſcheere vom dem Docht einen glim¬
menden Raͤuber abſchnippte und ihn mit dem Fuße
austrat, „ja ſehn Sie, das alles, vorzuͤglich das
Heizen haͤtte nicht viel geholfen, denn der Wind
und der Schnee, die hauſen gar zu ſehr hinein,
durch die zerbrochenen Fenſterſcheiben, und da“ —
„Was,“ fiel der Großonkel ihm in die Rede, den
Pelz weit auseinander ſchlagend und beide Arme
in die Seiten ſtemmend, „was, die Fenſter ſind
zerbrochen und Ihr, des Hauſes Caſtellan, habt
nichts machen laſſen?“ „Ja, wertheſter Herr Ju¬
ſtitiarius,“ fuhr der Alte ruhig und gelaſſen fort,
„man kann nur nicht recht hinzu, wegen des vielen
Schutt's und der vielen Mauerſteine, die in den
Zimmern herum liegen.“ „Wo zum Tauſend
Himmel Sapperment kommen Schutt und Steine
in meine Zimmer,“ ſchrie der Großonkel. „Zum
beſtaͤndigen froͤhlichen Wohlſeyn, mein junger
Herr!“ rief der Alte, ſich hoͤflich buͤckend, da ich
eben nieſte, ſetzte aber gleich hinzu: „es ſind die
[87] Steine und der Kalk von der Mittelwand, die von
der großen Erſchuͤtterung einfiel.“ „Habt ihr ein
Erdbeben gehabt,“ platzte der Großonkel zornig
heraus.“ „Das nicht, wertheſter Herr Juſtitia¬
rius,“ erwiederte der Alte mit dem ganzen Geſicht
laͤchelnd, „aber vor drei Tagen iſt die ſchwere, ge¬
taͤfelte Decke des Gerichtsſaal's mit gewaltigem
Krachen eingeſtuͤrzt.“ „So ſoll doch das“ — Der
Großonkel wollte, heftig und aufbrauſend, wie er
war, einen ſchweren Fluch ausſtoßen; aber indem
er mit der Rechten in die Hoͤhe fuhr und mit der
Linken die Fuchsmuͤtze von der Stirn ruͤckte, hielt
er ploͤtzlich inne, wandte ſich nach mir um und
ſprach laut auflachend: „Wahrhaftig Vetter! wir
muͤſſen das Maul halten, wir duͤrfen nicht weiter
fragen; ſonſt erfahren wir noch aͤrgeres Unheil,
oder das ganze Schloß ſtuͤrzt uns uͤber den Koͤpfen
zuſammen.“ „Aber,“ fuhr er fort, ſich nach dem
Alten umdrehend, „aber, Franz, konntet Ihr denn
nicht ſo geſcheut ſeyn, mir ein anderes Zimmer rei¬
nigen und heitzen zu laſſen? Konntet Ihr nicht
[88] irgend einen Saal im Hauptgebaͤude ſchnell einrich¬
ten zum Gerichtstage?“ „Dieſes iſt auch bereits
Alles geſchehen,“ ſprach der Alte, indem er freund¬
lich nach der Treppe wies und ſofort hinauf zu ſteigen
begann. „Nun ſeht mir doch den wunderlichen
Kauz,“ rief der Onkel, indem wir dem Alten
nachſchritten. Es ging fort durch lange hochgewoͤlbte
Corridore, Franzens flackerndes Licht warf einen
wunderlichen Schein in die dicke Finſterniß. Saͤu¬
len, Capitaͤler und bunte Bogen zeigten ſich oft wie
in den Luͤften ſchwebend, rieſengroß ſchritten unſere
Schatten neben uns her und die ſeltſamen Gebilde
an den Waͤnden, uͤber die ſie wegſchluͤpften, ſchie¬
nen zu zittern und zu ſchwanken, und ihre Stim¬
men wiſperten in den droͤhnenden Nachhall unſerer
Tritte hinein: Weckt uns nicht, weckt uns nicht,
uns tolles Zaubervolk, das hier in den alten Stei¬
nen ſchlaͤft! — Endlich oͤffnete Franz, nachdem
wir eine Reihe kalter, finſtrer Gemaͤcher durchgan¬
gen, einen Saal, in dem ein hellaufloderndes Ka¬
minfeuer uns mit ſeinem luſtigen Kniſtern wie mit
[89] heimathlichem Gruß empfing. Mir wurde gleich,
ſo wie ich eintrat, ganz wohl zu Muthe, doch der
Großonkel blieb mitten im Saal ſtehen, ſchaute
rings umher und ſprach mit ſehr ernſtem, beinahe
feierlichem Ton: „Alſo hier, dies ſoll der Ge¬
richtsſaal ſeyn?“ — Franz, in die Hoͤhe leuchtend,
ſo daß an der breiten dunkeln Wand ein heller Fleck,
wie eine Thuͤre groß, ins Auge fiel, ſprach
dumpf und ſchmerzhaft: „Hier iſt ja wohl ſchon
Gericht gehalten worden!“ „Was kommt Euch ein,
Alter.“ rief der Onkel, indem er den Pelz ſchnell ab¬
warf und an das Kaminfeuer trat. „Es fuhr mir
nur ſo heraus,“ ſprach Franz, zuͤndete die Lichter
an und oͤffnete das Nebenzimmer, welches zu unſrer
Aufnahme ganz heimlich bereitet war. Nicht lange
dauerte es, ſo ſtand ein gedeckter Tiſch vor dem
Kamin, der Alte trug wohlzubereitete Schuͤſſeln
auf, denen, wie es uns beiden, dem Großonkel
und mir, recht behaglich war, eine tuͤchtige Schale
nach aͤcht nordiſcher Art gebrauten Punſches folgte.
Ermuͤdet von der Reiſe, ſuchte der Großonkel, ſo
[90] wie er gegeſſen, das Bette; das Neue, Seltſame
des Aufenthalts, ja ſelbſt der Punſch, hatte aber
meine Lebensgeiſter zu ſehr aufgeregt, um an
Schlaf zu denken. Franz raͤumte den Tiſch ab,
ſchuͤrte das Kaminfeuer zu und verließ mich mit
freundlichen Buͤcklingen.


Nun ſaß ich allein in dem hohen, weiten Rit¬
terſaal. Das Schneegeſtoͤber hatte zu ſchlackern,
der Sturm zu ſauſen aufgehoͤrt, heitrer Himmel
war's geworden und der helle Vollmond ſtrahl¬
te durch die breiten Bogenfenſter, alle finſtre
Ecken des wunderlichen Baues, wohin der duͤſtre
Schein meiner Kerzen und des Kaminfeuers nicht
dringen konnte, magiſch erleuchtend. So wie man
es wohl noch in alten Schloͤſſern antrifft, waren
auf ſeltſame alterthuͤmliche Weiſe Waͤnde und Decke
des Saals verziert, dieſe mit ſchwerem Getaͤfel,
jene mit fantaſtiſcher Bilderei und buntgemahltem,
vergoldetem Schnitzwerk. Aus den großen Ge¬
maͤhlden, mehrentheils das wilde Gewuͤhl blutiger
Baͤren, und Wolfsjagden darſtellend, ſprangen in
[91] Holz geſchnitzte Thier- und Menſchenkoͤpfe hervor,
den gemahlten Leibern angeſetzt, ſo daß, zumal bei
der flackernden, ſchimmernden Beleuchtung des
Feuers und des Mondes, das Ganze in graulicher
Wahrheit lebte. Zwiſchen dieſen Gemaͤhlden waren
lebensgroße Bilder, in Jaͤgertracht daher ſchreiten¬
de Ritter, wahrſcheinlich der jagdluſtigen Ahn¬
herren, eingefugt. Alles, Mahlerei und Schnitz¬
werk, trug die dunkle Farbe langverjaͤhrter Zeit; um
ſo mehr fiel der helle kahle Fleck an derſelben Wand,
durch die zwei Thuͤren in Nebengemaͤcher fuͤhrten,
auf; bald erkannte ich, daß dort auch eine Thuͤr
geweſen ſeyn muͤßte, die ſpaͤter zugemauert worden,
und daß eben dies neue, nicht einmal der uͤbrigen
Wand gleichgemahlte, oder mit Schnitzwerk ver¬
zierte Gemaͤuer auf jene Art abſteche. — Wer
weiß es nicht, wie ein ungewoͤhnlicher, abenteuer¬
licher Aufenthalt mit geheimnißvoller Macht den
Geiſt zu erfaſſen vermag, ſelbſt die traͤgſte Fantaſie
wird wach in dem, von wunderlichen Felſen um¬
ſchloſſenen Thal — in den duͤſtern Mauern einer
[92] Kirche o. ſ., und will ſonſt nie Erfahrnes ahnen.
Setze ich nun noch hinzu, daß ich zwanzig Jahr
alt war und mehrere Glaͤſer ſtarken Punſch getrun¬
ken hatte ſo wird man es glauben, daß mir in
meinem Ritterſaal ſeltſamer zu Muthe wurde als
jemals. Man denke ſich die Stille der Nacht, in
der das dumpfe Brauſen des Meers, das ſeltſame
Pfeifen des Nachtwindes wie die Toͤne eines
maͤchtigen, von Geiſtern geruͤhrten Orgelwerks er¬
klangen — die voruͤberfliegenden Wolken, die oft,
hell und glaͤnzend, wie vorbeiſtreifende Rieſen durch
die klirrenden Bogenfenſter zu gucken ſchienen —
in der That, ich mußt' es in dem leiſen Schauer
fuͤhlen, der mich durchbebte, daß ein fremdes Reich
nun ſichtbarlich und vernehmbar aufgehen koͤnne.
Doch dies Gefuͤhl glich dem Froͤſteln, das man bei
einer lebhaft dargeſtellten Geſpenſtergeſchichte em¬
pfindet und das man ſo gern hat. Dabei fiel mir ein,
daß in keiner guͤnſtigeren Stimmung das Buch zu
leſen ſey, das ich, ſo wie damals jeder, der nur
irgend dem Romantiſchen ergeben, in der Taſche
[93] trug. Es war Schillers Geiſterſeher. Ich las
und las, und erhitzte meine Fantaſie immer mehr
und mehr. Ich kam zu der mit dem maͤchtigſten
Zauber ergreifenden Erzaͤhlung von dem Hochzeit¬
feſt bei dem Grafen von V. — Gerade wie Jero¬
nimo's blutige Geſtalt eintritt, ſpringt mit einem
gewaltigen Schlage die Thuͤr auf, die in den
Vorſaal fuͤhrt. — Entſetzt fahre ich in die Hoͤhe,
das Buch faͤllt mir aus den Haͤnden — Aber in
demſelben Augenblick iſt alles ſtill und ich ſchaͤme
mich uͤber mein kindiſches Erſchrecken! — Mag es
ſeyn, daß durch die durchſtroͤmende Zugluft, oder
auf andere Weiſe die Thuͤr aufgeſprengt wurde.
— Es iſt nichts — meine uͤberreizte Fantaſie bil¬
det jede natuͤrliche Erſcheinung geſpenſtiſch! — So
beſchwichtigt, nehme ich das Buch von der Erde
auf und werfe mich wieder in den Lehnſtuhl — da
geht es leiſe und langſam mit abgemeſſenen Tritten
quer uͤber den Saal hin, und dazwiſchen ſeufzt und
aͤchzt es, und in dieſem Seufzen, dieſem Aechzen
liegt der Ausdruck des tiefſten menſchlichen Leidens,
[94] des troſtloſeſten Jammers — Ha! das iſt irgend
ein eingeſperrtes krankes Thier im untern Stock.
Man kennt ja die akuſtiſche Taͤuſchung der Nacht,
die alles entfernt toͤnende in die Naͤhe ruͤckt — wer
wird ſich nur durch ſo Etwas Grauen erregen laſſen
— So beſchwichtige ich mich aufs neue, aber nun
kratzt es, indem lautere, tiefere Seufzer, wie in
der entſetzlichen Angſt der Todesnoth ausgeſtoßen,
ſich hoͤren laſſen, an jenem neuen Gemaͤuer. — „Ja,
es iſt ein armes eingeſperrtes Thier — ich werde
jetzt laut rufen, ich werde mit dem Fuß tuͤchtig auf
den Boden ſtampfen, gleich wird alles ſchweigen,
oder das Thier unten ſich deutlicher in ſeinen natuͤr¬
lichen Toͤnen hoͤren laſſen!“ — So denke ich, aber
das Blut gerinnt in meinen Adern — kalter
Schweiß ſteht auf der Stirne, erſtarrt bleib ich im
Lehnſtuhle ſitzen, nicht vermoͤgend aufzuſtehen, viel
weniger noch zu rufen. Das abſcheuliche Kratzen
hoͤrt endlich auf — die Tritte laſſen ſich aufs Neue
vernehmen — Es iſt, als wenn Leben und Re¬
gung in mir erwachte, ich ſpringe auf und trete
[95] zwei Schritte vor, aber da ſtreicht eine eiskalte
Zugluft durch den Saal, und in demſelben Augen¬
blick wirft der Mond ſein helles Licht auf das Bild¬
niß eines ſehr ernſten, beinahe ſchauerlich anzuſe¬
henden Mannes, und als ſaͤusle ſeine warnende
Stimme durch das ſtaͤrkere Brauſen der Meeres¬
wellen, durch das gellendere Pfeifen des Nachtwin¬
des, hoͤre ich deutlich: — Nicht weiter — nicht
weiter, ſonſt biſt du verfallen dem entſetzlichen
Graus der Geiſterwelt! Nun faͤllt die Thuͤr zu
mit demſelben ſtarken Schlage wie zuvor, ich hoͤre
die Tritte deutlich auf dem Vorſaal — es geht die
Treppe hinab — die Hauptthuͤr des Schloſſes
oͤffnet ſich raſſelnd und wird wieder verſchloſſen.
Dann iſt es, als wuͤrde ein Pferd aus dem Stalle
gezogen, und nach einer Weile wieder in den Stall
zuruͤckgefuͤhrt — dann iſt alles ſtill! — In dem¬
ſelben Augenblick vernahm ich, wie der alte Gro߬
onkel im Nebengemach aͤngſtlich ſeufzte und ſtoͤhnte,
dies gab mir alle Beſinnung wieder, ich ergriff die
Leuchter und eilte hinein. Der Alte ſchien mit
[96] einem boͤſen, ſchweren Traume zu kaͤmpfen. „Er¬
wachen Sie — erwachen Sie,“ rief ich laut, indem
ich ihn ſanft bei der Hand faßte und den hellen
Kerzenſchein auf ſein Geſicht fallen ließ. Der Alte
fuhr auf mit einem dumpfen Ruf, dann ſchaute er
mich mit freundlichen Augen an und ſprach: „Das
haſt du gut gemacht, Vetter! daß du mich weckteſt.
Ei, ich hatte einen ſehr haͤßlichen Traum, und
daran iſt blos hier das Gemach und der Saal
Schuld, denn ich mußte dabei an die vergangene
Zeit und an manches Verwunderliche denken, was
hier ſich begab. Aber nun wollen wir recht tuͤchtig
ausſchlafen!“ Damit huͤllte ſich der Alte in die
Decke und ſchien ſofort einzuſchlafen. Als ich die
Kerzen ausgeloͤſcht und mich auch ins Bette gelegt
hatte, vernahm ich, daß der Alte leiſe betete. —
Am andern Morgen ging die Arbeit los, der Wirth¬
ſchaftsinſpector kam mit den Rechnungen, und Leute
meldeten ſich, die irgend einen Streit geſchlichtet,
irgend eine Angelegenheit geordnet haben wollten.
Mittags ging der Großonkel mit mir heruͤber in
den[97] den Seitenfluͤgel, um den beiden alten Baroneſſen
in aller Form aufzuwarten. Franz meldete uns,
wir mußten einige Augenblicke warten und wurden
dann durch ein ſechzigjaͤhriges gebeugtes, in bunte
Seide gekleidetes Muͤtterchen, die ſich das Kam¬
merfraͤulein der gnaͤdigen Herrſchaft nannte, in das
Heiligthum gefuͤhrt. Da empfingen uns die alten,
nach laͤngſt verjaͤhrter Mode abenteuerlich geputz¬
ten Damen mit komiſchem Ceremoniell, und vor¬
zuͤglich war ich ein Gegenſtand ihrer Verwunderung,
als der Großonkel mich mit vieler Laune als einen
jungen, ihm beiſtehenden Juſtizmann vorſtellte.
In ihren Mienen lag es, daß ſie bei meiner Jugend
das Wohl des R..ſittenſchen Unterthanen gefaͤhr¬
det glaubten. Der ganze Auftritt bei den alten
Damen hatte uͤberhaupt viel Laͤcherliches, die
Schauer der vergangenen Nacht froͤſtelten aber noch
in meinem Innern, ich fuͤhlte mich wie von einer
unbekannten Macht beruͤhrt, oder es war mir viel¬
mehr, als habe ich ſchon an den Kreis geſtreift, den
zu uͤberſchreiten und rettungslos unterzugehen es
G[98] nur noch eines Schritt's beduͤrfte, als koͤnne nur
das Aufbieten aller mir inwohnenden Kraft mich
gegen das Entſetzen ſchuͤtzen, das nur dem unheilba¬
ren Wahnſinn zu weichen pflegt. So kam es, daß
ſelbſt die alten Baroneſſen in ihren ſeltſamen hoch¬
aufgethuͤrmten Friſuren, in ihren wunderlichen ſtoff¬
nen, mit bunten Blumen und Baͤndern ausſtaffirten
Kleidern mir ſtatt laͤcherlich, ganz graulich und ge¬
ſpenſtiſch erſchienen. In den alten gelbverſchrumpften
Geſichtern, in den blinzenden Augen wollt' ich es
leſen, in dem ſchlechten Franzoͤſiſch, das halb durch
die eingekniffenen blauen Lippen, halb durch die ſpitzen
Naſen herausſchnarrte, wollt' ich es hoͤren, wie
ſich die Alten mit den unheimlichen, im Schloſſe
herumſpukenden Weſen, wenigſtens auf guten Fuß
geſetzt haͤtten, und auch wohl ſelbſt Verſtoͤrendes
und Entſetzliches zu treiben vermoͤchten. Der Gro߬
onkel, zu allem Luſtigen aufgelegt, verſtrickte mit
ſeiner Ironie die Alten in ein ſolches tolles Ge¬
waͤſche, daß ich in anderer Stimmung nicht gewußt
haͤtte, wie das ausgelaſſenſte Gelaͤchter in mich
[99] hineinſchlucken, aber wie geſagt, die Baroneſſen
ſammt ihrem Geplapper waren und blieben geſpen¬
ſtiſch, und der Alte, der mir eine beſondere Luſt
bereiten wollte, blickte mich einmal uͤbers andere
ganz verwundert an. So wie wir nach Tiſche in
unſerm Zimmer allein waren, brach er los: „Aber,
Vetter, ſag mir um des Himmelswillen, was iſt
dir? — Du lachſt nicht, du ſprichſt nicht, du iſſeſt
nicht, du trinkſt nicht? — Biſt du krank? oder
fehlt es ſonſt woran?“ — Ich nahm jetzt gar kei¬
nen Anſtand ihm alles Grauliche, Entſetzliche, was
ich in voriger Nacht uͤberſtanden, ganz ausfuͤhrlich
zu erzaͤhlen. Nichts verſchwieg ich, vorzuͤglich
auch nicht, das ich viel Punſch getrunken und in
Schillers Geiſterſeher geleſen. „Bekennen muß
ich dies,“ ſetzte ich hinzu, „denn ſo wird es glaub¬
lich, daß meine uͤberreizte arbeitende Fantaſie all
die Erſcheinungen ſchuf, die nur innerhalb den
Waͤnden meines Gehirns exiſtirten“ Ich glaubte,
daß nun der Großonkel mir derb zuſetzen wuͤrde
mit koͤrnigten Spaͤßen uͤber meine Geiſterſeherei,
G 2[100] ſtatt deſſen wurde er ſehr ernſthaft, ſtarrte in den
Boden hinein, warf dann den Kopf ſchnell in die
Hoͤhe und ſprach, mich mit dem brennenden Blick
ſeiner Augen anſchauend: „Ich kenne dein Buch
nicht, Vetter! aber weder ſeinem, noch dem Geiſt
des Punſches haſt du jenen Geiſterſpuk zu verdan¬
ken. Wiſſe, daß ich daſſelbe, was dir widerfuhr,
traͤumte. Ich ſaß, ſo wie du (ſo kam es mir vor),
im Lehnſtuhl bei dem Kamin, aber was ſich dir nur
in Toͤnen kund gethan, das ſah ich, mit dem innern
Auge es deutlich erfaſſend. Ja! ich erblickte den
graulichen Unhold, wie er hereintrat, wie er kraft¬
los an die vermauerte Thuͤr ſchlich, wie er in
troſtloſer Verzweiflung an der Wand kratzte, daß
das Blut unter den zerriſſenen Naͤgeln heraus¬
quoll, wie er dann hinabſtieg, das Pferd aus dem
Stalle zog und in den Stall zuruͤckbrachte. Haſt
du es gehoͤrt, wie der Hahn im fernen Gehoͤfte
des Dorfes kraͤhte? — Da weckteſt du mich und
ich widerſtand bald dem boͤſen Spuk des entſetzlichen
Menſchen, der noch vermag, das heitre Leben
[101] grauenhaft zu verſtoͤren.“ Der Alte hielt inne,
aber ich mochte nicht fragen, wohlbedenkend, daß
er mir alles aufklaͤren werde, wenn er es gerathen
finden ſollte. Nach einer Weile, in der er tief in
ſich gekehrt da geſeſſen, fuhr der Alte fort: „Vet¬
ter, haſt du Muth genug, jetzt nachdem du weißt,
wie ſich alles begiebt, den Spuk noch einmal zu
beſtehen? und zwar mit mir zuſammen?“ Es war
natuͤrlich, daß ich erklaͤrte, wie ich mich jetzt dazu ganz
erkraͤftigt fuͤhle. „So wollen wir,“ ſprach der
Alte weiter, „in kuͤnftiger Nacht zuſammen wa¬
chen. Eine innere Stimme ſagt mir, daß meiner
geiſtigen Gewalt nicht ſowohl, als meinem Muthe,
der ſich auf feſtes Vertrauen gruͤndet, der boͤſe
Spuk weichen muß, und daß es kein freveliches
Beginnen, ſondern ein frommes, tapferes Werk iſt,
wenn ich Leib und Leben daran wage, den boͤſen
Unhold zu bannen, der hier die Soͤhne aus der
Stammburg der Ahnherrn treibt. — Doch! von
keiner Wagniß iſt ja die Rede, denn in ſolch' feſtem
redlichen Sinn, in ſolch' frommen Vertrauen,
[102] wie es in mir lebt, iſt und bleibt man ein ſiegrei¬
cher Held. — Aber ſollt' es dennoch Gottes Wille
ſeyn, daß die boͤſe Macht mich anzutaſten vermag,
ſo ſollſt du, Vetter! es verkuͤnden, daß ich im red¬
lichen chriſtlichen Kampf mit dem Hoͤllengeiſt, der
hier ſein verſtoͤrendes Weſen treibt, unterlag! —
Du! — halt dich ferne! — dir wird dann nichts
geſchehen! —


Unter mancherlei zerſtreuenden Geſchaͤften war
der Abend herangekommen. Franz hatte, wie
geſtern, das Abendeſſen abgeraͤumt und uns Punſch
gebracht, der Vollmond ſchien hell durch die glaͤn¬
zenden Wolken, die Meereswellen brauſten und der
Nachtwind heulte und ſchuͤttelte die klirrenden
Scheiben der Bogenfenſter. Wir zwangen uns,
im Innern aufgeregt, zu gleichguͤltigen Geſpraͤ¬
chen. Der Alte hatte ſeine Schlaguhr auf den
Tiſch gelegt. Sie ſchlug zwoͤlfe. Da ſprang mit
entſetzlichem Krachen die Thuͤr auf und wie geſtern
ſchwebten leiſe und langſam Tritte quer durch den
Saal und das Aechzen und Seufzen ließ ſich ver¬
[103] nehmen. Der Alte war verblaßt, aber ſeine Augen
erſtrahlten in ungewoͤhnlichem Feuer, er erhob ſich
vom Lehnſtuhl, und indem er in ſeiner großen Ge¬
ſtalt, hochaufgerichtet, den linken Arm in die Seite
geſtemmt, den rechten weit vorſtreckend nach der
Mitte des Saals da ſtand, war er anzuſehen, wie
ein gebietender Held. Doch immer ſtaͤrker und
vernehmlicher wurde das Seufzen und Aechzen,
und nun fing es an abſcheulicher als geſtern an der
Wand hin und her zu kratzen. Da ſchritt der Alte
vorwaͤrts, gerade auf die zugemauerte Thuͤr los,
mit feſten Tritten, daß der Fußboden erdroͤhnte.
Dicht vor der Stelle, wo es toller und toller kratz¬
te, ſtand er ſtill und ſprach mit ſtarkem, feierlichem
Ton, wie ich ihn nie gehoͤrt: „Daniel, Daniel!
was machſt du hier zu dieſer Stunde!“ Da kreiſchte
es auf grauenvoll und entſetzlich, und ein dumpfer
Schlag geſchah, wie wenn eine Laſt zu Boden
ſtuͤrzte. „Suche Gnade und Erbarmen vor dem
Thron des Hoͤchſten, dort iſt dein Platz! Fort mit
dir aus dem Leben, dem du niemals mehr angehoͤ¬
[104] ren kannſt!“ — So rief der Alte noch gewaltiger
als vorher, es war als ginge ein leiſes Gewimmer
durch die Luͤfte und erſterbe im Sauſen des Sturms,
der ſich zu erheben begann. Da ſchritt der Alte
nach der Thuͤr und warf ſie zu, daß es laut durch
den oͤden Vorſaal wiederhallte. In ſeiner Sprache,
in ſeinen Gebehrden lag etwas uͤbermenſchliches,
das mich mit tiefem Schauer erfuͤllte. Als er ſich
in den Lehnſtuhl ſetzte, war ſein Blick wie verklaͤrt,
er faltete ſeine Haͤnde, er betete im Innern. So
mochten einige Minuten vergangen ſeyn, da frug
er mit der milden, tief in das Herz dringenden
Stimme, die er ſo ſehr in ſeiner Macht hatte:
„Nun, Vetter?“ Von Schauer — Entſetzen —
Angſt — heiliger Ehrfurcht und Liebe durchbebt
ſtuͤrzte ich auf die Kniee und benetzte die mir darge¬
botene Hand mit heißen Thraͤnen. Der Alte
ſchloß mich in ſeine Arme, und indem er mich innig
an ſein Herz druͤckte, ſprach er ſehr weich: „Nun
wollen wir auch recht ſanft ſchlafen, lieber Vetter!“
— Es geſchah auch ſo, und als ſich in der folgenden
[105] Nacht durchaus nichts Unheimliches verſpuͤren ließ,
gewannen wir die alte Heiterkeit wieder, zum Nach¬
theil der alten Baroneſſen, die, blieben ſie auch in
der That ein wenig geſpenſtiſch, mit ihrem aben¬
teuerlichen Weſen, doch nur ergoͤtzlichen Spuk trie¬
ben, den der Alte auf poſſierliche Weiſe anzuregen
wußte.


Endlich, nach mehreren Tagen, traf der Baron
ein mit ſeiner Gemahlin und zahlreichem Jagdge¬
folge, die geladenen Gaͤſte ſammelten ſich und nun
ging in dem ploͤtzlich lebendig gewordenen Schloſſe
das laute wilde Treiben los, wie es vorhin beſchrie¬
ben. Als der Baron gleich nach ſeiner Ankunft in
unſern Saal trat, ſchien er uͤber unſern veraͤnder¬
ten Aufenthalt auf ſeltſame Weiſe befremdet, er
warf einen duͤſtern Blick auf die zugemauerte
Thuͤr, und ſchnell ſich abwendend, fuhr er mit
der Hand uͤber die Stirn, als wolle er irgend eine
boͤſe Erinnerung verſcheuchen. Der Groß-Onkel
ſprach von der Verwuͤſtung des Gerichtsſaals und
der anſtoßenden Gemaͤcher, der Baron tadelte es,
[106] daß Franz uns nicht beſſer einlogirt habe, und for¬
derte den Alten recht gemuͤthlich auf, doch nur zu
gebieten, wenn ihm irgend etwas in dem neuen
Gemach, das doch viel ſchlechter ſey, als das, was
er ſonſt bewohnt, an ſeiner Bequemlichkeit abginge.
Ueberhaupt war das Betragen des Barons gegen
den alten Großonkel nicht allein herzlich, ſondern
ihm miſchte ſich eine gewiſſe kindliche Ehrfurcht bei,
als ſtehe der Baron mit dem Alten in verwandt¬
ſchaftlichem Reſpektsverhaͤltniß. Dies war aber
auch das Einzige, was mich mit dem rauhen, ge¬
bieteriſchen Weſen des Barons, das er immer mehr
und mehr entwickelte, einigermaßen zu verſoͤhnen
vermochte. Mich ſchien er wenig oder gar nicht zu
beachten, er ſah in mir den gewoͤhnlichen Schrei¬
ber. Gleich das erſte Mal, als ich eine Verhand¬
lung aufgenommen, wollte er etwas in der Faſſung
unrichtig finden, das Blut wallte mir auf und ich
war im Begriff, irgend etwas Schneidendes zu er¬
wiedern, als der Großonkel das Wort nehmend,
verſicherte, daß ich denn nun einmahl alles recht
[107] nach ſeinem Sinne mache und daß dieſer doch nur
hier in gerichtlicher Verhandlung walten koͤnne.
Als wir allein waren, beſchwerte ich mich bitter
uͤber den Baron, der mir immer mehr im Grunde
der Seele zuwider werde. „Glaube mir, Vetter!“
erwiederte der Alte, „daß der Baron trotz ſeines
unfreundlichen Weſens der vortrefflichſte, gut¬
muͤthigſte Menſch von der Welt iſt. Dieſes Weſen
hat er auch, wie ich dir ſchon ſagte, erſt ſeit der
Zeit angenommen, als er Majoratsherr wurde,
vorher war er ein ſanfter, beſcheidener Juͤngling.
Ueberhaupt iſt es denn doch aber nicht mit ihm ſo
arg, wie du es machſt, und ich moͤchte wohl wiſſen,
warum er dir ſo gar ſehr zuwider iſt.“ Indem der
Alte die letzten Worte ſprach, laͤchelte er recht hoͤh¬
niſch, und das Blut ſtieg mir ſiedend heiß ins Ge¬
ſicht. Mußte mir nun nicht mein Innres recht
klar werden, mußte ich es nicht deutlich fuͤhlen,
daß jenes wunderliche Haſſen aufkeimte aus dem
Lieben, oder vielmehr aus dem Verlieben in ein
Weſen, das mir das holdeſte, hochherrlichſte zu
[108] ſeyn ſchien, was jemahls auf Erden gewandelt?
Dieſes Weſen war niemand, als die Baroneſſe
ſelbſt. Schon gleich als ſie angekommen und in
einem ruſſiſchen Zobelpelz, der knapp anſchloß an
den zierlich gebauten Leib, das Haupt in reiche
Schleier gewickelt, durch die Gemaͤcher ſchritt,
wirkte ihre Erſcheinung auf mich wie ein maͤchtiger
unwiderſtehlicher Zauber. Ja, ſelbſt der Umſtand,
daß die alten Tanten in verwunderlicheren Kleidern
und Fontangen, als ich ſie noch geſehen, an beiden
Seiten neben ihr her trippelten und ihre franzoͤſi¬
ſchen Bewillkommungen herſchnatterten, waͤhrend
ſie, die Baronin, mit unbeſchreiblich milden Blik¬
ken um ſich her ſchaute, und bald dieſem, bald jenem
freundlich zunickte, bald in dem rein toͤnenden Cur¬
laͤndiſchen Dialekt einige deutſche Worte dazwiſchen
[floͤtete], ſchon dieſes gab ein wunderbar fremdarti¬
ges Bild, und unwillkuͤrlich reihte die Fantaſie
dies Bild an jenen unheimlichen Spuk, und die
Baroneſſe wurde der Engel des Lichts, dem ſich
die boͤſen geſpenſtiſchen Maͤchte beugen. — Die
[109] wunderherrliche Frau tritt lebhaft vor meines Gei¬
ſtes Augen. Sie mochte wohl damals kaum neun¬
zehn Jahre zaͤhlen, ihr Geſicht eben ſo zart, wie
ihr Wuchs, trug den Ausdruck der hoͤchſten Engels¬
guͤte, vorzuͤglich lag aber in dem Blick der dunklen
Augen ein unbeſchreiblicher Zauber, wie feuchter
Mondesſtrahl ging darin eine ſchwermuͤthige Sehn¬
ſucht auf; ſo wie in ihrem holdſeligen Laͤcheln ein
ganzer Himmel voll Wonne und Entzuͤcken. Oft
ſchien ſie ganz in ſich ſelbſt verloren, und dann gin¬
gen duͤſtre Wolkenſchatten uͤber ihr holdes Antlitz.
Man haͤtte glauben ſollen, irgend ein verſtoͤrender
Schmerz muͤſſe ſie befangen, mir ſchien es aber,
daß wohl die duͤſtere Ahnung einer truͤben, Ungluͤcks¬
ſchwangeren Zukunft es ſey, von der ſie in ſolchen
Augenblicken erfaßt werde, und auch damit ſetzte
ich auf ſeltſame Weiſe, die ich mir weiter gar nicht
zu erklaͤren wußte, den Spuk im Schloſſe in Ver¬
bindung. — Den andern Morgen, nachdem der
Baron angekommen, verſammelte ſich die Geſell¬
ſchaft zum Fruͤhſtuͤck, der Alte ſtellte mich der Ba¬
[110] roneſſe vor, und wie es in ſolcher Stimmung, wie
die meinige war, zu geſchehen pflegt, ich nahm
mich unbeſchreiblich albern, indem ich auf die ein¬
fachen Fragen der holden Frau, wie es mir auf dem
Schloſſe gefalle u. ſ., mich in die wunderlichſten
ſinnloſeſten Reden verfing, ſo daß die alten Tanten
meine Verlegenheit wohl lediglich dem profunden
Reſpekt vor der Herrin zuſchrieben, ſich meiner
huldreich annehmen zu muͤſſen glaubten, und mich
in franzoͤſiſcher Sprache als einen ganz artigen und
geſchickten jungen Menſchen, als einen garçon
très joli
anprieſen. Das aͤrgerte mich, und ploͤtz¬
lich mich ganz beherrſchend, fuhr mir ein Witzwort
heraus in beſſerem Franzoͤſiſch, als die Alten es
ſprachen, worauf ſie mich mit großen Augen an¬
guckten und die langen ſpitzen Naſen reichlich mit
Tabak bedienten. An dem ernſteren Blick der Ba¬
roneſſe, mit dem ſie ſich von mir ab zu einer andern
Dame wandte, merkte ich, daß mein Witzwort hart
an eine Narrheit ſtreifte, das aͤrgerte mich noch
mehr, und ich verwuͤnſchte die Alten in den Ab¬
[111] grund der Hoͤlle. Die Zeit des ſchaͤferiſchen
Schmachtens, des Liebesungluͤcks in kindiſcher
Selbſtbethoͤrung hatte mir der alte Großonkel laͤngſt
weg ironirt, und wohl merkt' ich, daß die Baronin
tiefer und maͤchtiger, als noch bis jetzt eine Frau,
mich in meinem innerſten Gemuͤth gefaßt hatte.
Ich ſah, ich hoͤrte nur ſie, aber bewußt war ich
mir deutlich und beſtimmt, daß es abgeſchmackt,
ja wahnſinnig ſeyn wuͤrde, irgend eine Liebelei zu
wagen, wiewohl ich auch die Unmoͤglichkeit einſah,
wie ein verliebter Knabe von weitem zu ſtaunen und
anzubeten, deſſen ich mich ſelbſt haͤtte ſchaͤmen muͤſ¬
ſen. Der herrlichen Frau naͤher zu treten, ohne
ihr nur mein inneres Gefuͤhl ahnen zu laſſen, das
ſuͤße Gift ihrer Blicke, ihrer Worte einſaugen
und dann fern von ihr, ſie lange, vielleicht immer¬
dar im Herzen tragen, das wollte und konnte ich.
Dieſe romantiſche, ja wohl ritterliche Liebe, wie
ſie mir aufging in ſchlafloſer Nacht, ſpannte mich
dermaßen, daß ich kindiſch genug war, mich ſelbſt
auf pathetiſche Weiſe zu haranguiren und zuletzt
[112] ſehr klaͤglich zu ſeufzen: Seraphine, ach Seraphi¬
ne! ſo daß der Alte erwachte und mir zurief: „Vet¬
ter! — Vetter! ich glaube du fantaſirſt mit lauter
Stimme! — Thu's bei Tage, wenn's moͤglich iſt,
aber zur Nachtzeit laß mich ſchlafen!“ Ich war
nicht wenig beſorgt, daß der Alte, der ſchon mein
aufgeregtes Weſen bei der Ankunft der Baronin
wohl bemerkt, den Namen gehoͤrt haben und mich mit
ſeinem ſarkaſtiſchen Spott uͤberſchuͤtten werde, er ſagte
am andern Morgen aber nichts weiter, als bei dem
Hineingehen in den Gerichtsſaal: „Gott gebe Je¬
dem gehoͤrigen Menſchenverſtand und Sorglichkeit
ihn in gutem Verſchluß zu halten. Es iſt ſchlimm,
mir nichts dir nichts ſich in einen Haſenfuß umzu¬
ſetzen.“ Hierauf nahm er Platz an dem großen
Tiſch und ſprach: „Schreibe fein deutlich, lieber
Vetter! damit ich's ohne Anſtoß zu leſen vermag.


Die Hochachtung, ja die kindliche Ehrfurcht,
die der Baron meinem alten Großonkel erzeigte,
ſprach ſich in Allem aus. So mußte er auch bei
Tiſche[113] Tiſche den ihm von vielen beneideten Platz neben
der Baroneſſe einnehmen, mich warf der Zufall
bald hier bald dorthin, doch pflegten gewoͤhnlich ein
paar Offiziere aus der nahen Hauptſtadt mich in
Beſchlag zu nehmen, um ſich uͤber alles Neue und
Luſtige, was dort geſchehen, recht auszuſprechen
und dabei wacker zu trinken. So kam es, daß ich
mehrere Tage hindurch, ganz fern von der Ba¬
roneſſe, am untern Ende des Tiſches ſaß, bis mich
endlich ein Zufall in ihre Naͤhe brachte. Als der ver¬
ſammelten Geſellſchaft der Eßſaal geoͤffnet wurde,
hatte mich gerade die Geſellſchafterin der Baronin,
ein nicht mehr ganz junges Fraͤulein, aber ſonſt
nicht haͤßlich und nicht ohne Geiſt, in ein Geſpraͤch
verwickelt, das ihr zu behagen ſchien. Der Sitte
gemaͤß mußte ich ihr den Arm geben, und nicht
wenig erfreut war ich, als ſie der Baronin ganz
nahe Platz nahm, die ihr freundlich zunickte. Man
kann denken, daß nun alle Worte, die ich ſprach,
nicht mehr der Nachbarin allein, ſondern hauptſaͤch¬
lich der Baronin galten. Mag es ſeyn, daß meine
H[114] innere Spannung Allem, was ich ſprach, einen
beſondern Schwung gab, genug, das Fraͤulein
wurde aufmerkſamer und aufmerkſamer, ja zuletzt
unwiderſtehlich hineingezogen in die bunte Welt
ſtets wechſelnder Bilder, die ich ihr aufgehen ließ.
Sie war, wie geſagt, nicht ohne Geiſt, und ſo
geſchah es bald, daß unſer Geſpraͤch, ganz unab¬
haͤngig von den vielen Worten der Gaͤſte, die hin
und her ſtreiften, auf ſeine eigene Hand lebte und
dorthin, wohin ich es haben wollte, einige Blitze
ſandte. Wohl merkt' ich nemlich, daß das
Fraͤulein der Baronin bedeutende Blicke zuwarf,
und daß dieſe ſich muͤhte uns zu hoͤren. Vorzuͤglich
war dies der Fall, als ich, da das Geſpraͤch ſich
auf Muſik gewandt, mit voller Begeiſterung von
der herrlichen, heiligen Kunſt ſprach und zuletzt
nicht verheelte, daß ich, trockner, langweiliger Ju¬
riſterei, der ich mich ergeben, unerachtet, den Fluͤ¬
gel mit ziemlicher Fertigkeit ſpiele, ſinge und auch
wohl ſchon manches Lied geſetzt habe — Man war
in den andern Saal getreten, um Kaffee und
[115] Liqueure zu nehmen, da ſtand ich unverſehens, ſelbſt
wußte ich nicht wie, vor der Baronin, die mit dem
Fraͤulein geſprochen. Sie redete mich ſogleich an,
indem ſie, doch freundlicher und in dem Ton, wie
man mit einem Bekannten ſpricht, jene Fragen,
wie mir der Aufenthalt im Schloſſe zuſage u. ſ.,
wiederholte. Ich verſicherte, daß in den erſten
Tagen die ſchauerliche Oede der Umgebung, ja ſelbſt
das alterthuͤmliche Schloß mich ſeltſam geſtimmt
habe, daß aber eben in dieſer Stimmung viel Herr¬
liches aufgegangen und daß ich nur wuͤnſche, der
wilden Jagden, an die ich nicht gewoͤhnt, uͤberho¬
ben zu ſeyn. Die Baronin laͤchelte, indem ſie
ſprach: „Wohl kann ich's mir denken, daß Ihnen
das wuͤſte Treiben in unſern Foͤhrenwaͤldern nicht
eben behaglich ſeyn kann. — Sie ſind Muſiker,
und taͤuſcht mich nicht Alles, gewiß auch Dichter! —
Mit Leidenſchaft liebe ich beide Kuͤnſte! — ich ſpiele
ſelbſt etwas die Harfe, das muß ich nun in R..ſit¬
ten entbehren, denn mein Mann mag es nicht, daß
ich das Inſtrument mitnehme, deſſen ſanftes Getoͤn
H 2[116] ſchlecht ſich ſchicken wuͤrde zu dem wilden Halloh,
zu dem gellenden Hoͤrnergetoͤſe der Jagd, das ſich
hier nur hoͤren laſſen ſoll! — O mein Gott! wie
wuͤrde mich hier Muſik erfreun!“ Ich verſicherte,
daß ich meine ganze Kunſt aufbieten werde, ihren
Wunſch zu erfuͤllen, da es doch im Schloſſe unbe¬
zweifelt ein Inſtrument, ſey es auch nur ein alter
Fluͤgel, geben werde. Da lachte aber Fraͤulein
Adelheid (der Baronin Geſellſchafterin) hell auf
und frug, ob ich denn nicht wiſſe, daß ſeit Men¬
ſchen Gedenken im Schloſſe keine andern Inſtru¬
mente gehoͤrt worden, als kraͤchzende Trompeten,
im Jubel lamentirende Hoͤrner der Jaͤger und hei¬
ſere Geigen, verſtimmte Baͤſſe, meckernde Hoboen
herumziehender Muſikanten. Die Baronin hielt
den Wunſch, Muſik und zwar mich zu hoͤren,
feſt, und beide, ſie und Adelheid, erſchoͤpften ſich
in Vorſchlaͤgen, wie ein leidliches Fortepiano her¬
beigeſchafft werden koͤnne. In dem Augenblick
ſchritt der alte Franz durch den Saal. „Da haben
wir den, der fuͤr alles guten Rath weiß, der alles
[117] herbeiſchafft, ſelbſt das Unerhoͤrte und Ungeſehene!“
Mit dieſen Worten rief ihn Fraͤulein Adelheid heran
und indem ſie ihm begreiflich machte, worauf es an¬
komme, horchte die Baronin mit gefalteten Haͤn¬
den, mit vorwaͤrts gebeugtem Haupt, dem Alten
mit mildem Laͤcheln ins Auge blickend, zu. Gar
anmuthig war ſie anzuſehen, wie ein holdes, lieb¬
liches Kind, das ein erſehntes Spielzeug nur gar
zu gern ſchon in Haͤnden haͤtte. Franz, nachdem
er in ſeiner weitlaͤufigen Manier mehrere Urſachen
hergezaͤhlt hatte, warum es denn ſchier unmoͤglich
ſey, in der Geſchwindigkeit ſolch ein rares Inſtru¬
ment herbeizuſchaffen, ſtrich ſich endlich mit behag¬
lichem Schmunzeln den Bart und ſprach: „Aber
die Frau Wirthſchaftsinſpectorin druͤben im Dorfe
ſchlaͤgt ganz ungemein geſchickt das Clavizimbel,
oder wie ſie es jetzt nennen mit dem auslaͤndiſchen
Namen, und ſingt dazu ſo fein und lamentabel,
daß einem die Augen roth werden, wie von Zwie¬
beln und man huͤpfen moͤchte mit beiden Beinen —
„Und beſitzt ein Fortepiano!“ fiel Fraͤulein Adel¬
[118] heid ihm in die Rede. „Ei freilich,“ fuhr der
Alte fort, „direkt aus Dresden iſt es gekommen
— ein“ — „O das iſt herrlich,“ unterbrach ihn die
Baronin. — „ein ſchoͤnes Inſtrument,“ ſprach der
Alte weiter, „aber ein wenig ſchwaͤchlich, denn als
der Organiſt neulich das Lied: In allen meinen
Thaten, darauf ſpielen wollte, ſchlug er alles in
Grund und Boden, ſo daß“ — „O mein Gott,“
riefen beide, die Baronin und Fraͤulein Adelheid,
„ſo daß,“ fuhr der Alte fort, „es mit ſchweren
Koſten nach R — geſchafft und dort reparirt wer¬
den mußte.“ „Iſt es denn nun wieder hier,“
frug Fraͤulein Adelheid ungeduldig. „Ei freilich,
gnaͤdiges Fraͤulein! und die Frau Wirthſchaftsinſpec¬
torin wird es ſich zur Ehre rechnen“ — In dieſem Au¬
genblick ſtreifte der Baron voruͤber, er ſah ſich wie
befremdet nach unſerer Gruppe um und fluͤſterte
ſpoͤttiſch laͤchelnd der Baronin zu: „muß Franz wie¬
der guten Rath ertheilen?“ Die Baronin ſchlug er¬
roͤthend die Augen nieder, und der alte Franz ſtand
erſchrocken abbrechend, den Kopf gerade gerichtet,
[119] die herabhaͤngenden Arme dicht an den Leib gedruͤckt,
in ſoldatiſcher Stellung da. — Die alten Tanten
ſchwammen in ihren ſtoffnen Kleidern auf uns
zu und entfuͤhrten die Baronin. Ihr folgte Fraͤu¬
lein Adelheid. Ich war wie bezaubert ſtehen geblieben.
Entzuͤcken, daß ich nun ihr, der Angebeteten, die
mein ganzes Weſen beherrſchte, mich nahen werde,
kaͤmpfte mit duͤſterm Mißmuth und Aerger uͤber
den Baron, der mir als ein rauher Deſpot erſchien.
War er dies nicht, durfte dann wohl der alte eis¬
graue Diener ſo ſklaviſch ſich benehmen? — „Hoͤrſt
du, ſieh'ſt du endlich,“ rief der Großonkel mir
auf die Schulter klopfend; wir gingen hinauf in
unſer Gemach. „Draͤnge dich nicht ſo an die Ba¬
ronin,“ ſprach er, als wir angekommen, „wozu
ſoll das, uͤberlaß es den jungen Gecken, die gern
den Hof machen und an denen es ja nicht man¬
gelt.“ — Ich erzaͤhlte, wie alles gekommen und
forderte ihn auf mir nun zu ſagen: „ob ich ſeinen
Vorwurf verdiene,“ er erwiederte aber darauf
nichts als: „Hm hm“ — zog den Schlafrock an,
[120] ſetzte ſich mit angezuͤndeter Pfeife in den Lehnſtuhl
und ſprach von den Ereigniſſen der geſtrigen Jagd,
mich foppend uͤber meine Fehlſchuͤſſe. Im Schloſſe
war es ſtill geworden, Herren und Damen beſchaͤf¬
tigten ſich in ihren Zimmern mit dem Putz fuͤr die
Nacht. Jene Muſikanten mit den heiſern Geigen,
mit den verſtimmten Baͤſſen und den meckernden
Hoboen, von denen Fraͤulein Adelheid geſprochen,
waren nemlich angekommen und es ſollte fuͤr die
Nacht nichts geringeres geben, als einen Ball in
beſtmoͤglichſter Form. Der Alte, den ruhigen
Schlaf ſolch faſelndem Treiben vorziehend, blieb in
ſeinem Gemach, ich hingegen hatte mich eben zum
Ball gekleidet, als es leiſe an unſere Thuͤr klopfte
und Franz hineintrat, der mir mit behaglichem Laͤ¬
cheln verkuͤndete, daß ſo eben das Clavizimbel von
der Frau Wirthſchaftsinſpektorin in einem Schlitten
angekommen und zur gnaͤdigen Frau Baronin ge¬
tragen worden ſey. Fraͤulein Adelheid ließe mich
einladen nur gleich heruͤber zu kommen. Man
kann denken, wie mir alle Pulſe ſchlugen, mit
[121] welchem innern ſuͤßen Erbeben ich das Zimmer oͤff¬
nete, in dem ich ſie fand. Fraͤulein Adelheid kam
mir freudig entgegen. Die Baronin, ſchon zum
Ball voͤllig geputzt, ſaß ganz nachdenklich vor dem
geheimnißvollen Kaſten, in dem die Toͤne ſchlum¬
mern ſollten, die zu wecken ich berufen. Sie
ſtand auf, ſo in vollem Glanz der Schoͤnheit ſtrah¬
lend, daß ich keines Wortes maͤchtig ſie anſtarrte.
„Nun Theodor (nach der gemuͤthlichen Sitte des
Nordens, die man im tieferen Suͤden wiederfindet,
nannte ſie jeden bei ſeinem Vornamen), Nun, Theo¬
dor,“ ſprach ſie freundlich, „das Inſtrument iſt ge¬
kommen, gebe der Himmel, daß es ihrer Kunſt nicht
ganz unwuͤrdig ſeyn moͤge.“ So wie ich den Deckel
oͤffnete, rauſchten mir eine Menge geſprungener Sai¬
ten entgegen, und ſo wie ich einen Akkord griff,
klang es, da alle Saiten, die noch ganz geblieben,
durchaus verſtimmt waren, widrig und abſcheulich.
„Der Organiſt iſt wieder mit ſeinen zarten Haͤnd¬
chen druͤber her geweſen,“ rief Fraͤulein Adelheid
lachend, aber die Baronin ſprach ganz mißmuthig:
[122] „das iſt denn doch ein rechtes Ungluͤck! — ach, ich
ſoll denn hier nun einmal keine Freude haben!“ —
Ich ſuchte in dem Behaͤlter des Inſtruments und
fand gluͤcklicher Weiſe einige Rollen Saiten, aber
durchaus keinen Stimmhammer! — Neue Kla¬
gen! — „Jeder Schluͤſſel, deſſen Bart in die Wir¬
bel paſſe, koͤnne gebraucht werden,“ erklaͤrte ich;
da liefen beide, die Baronin und Fraͤulein Adel¬
heid, freudig hin und wieder, und nicht lange
dauerte es, ſo lag ein ganzes Magazin blanker
Schluͤſſelchen vor mir auf dem Reſonanzboden.


Nun machte ich mich emſig druͤber her —
Fraͤulein Adelheid, die Baronin ſelbſt muͤhte ſich
mir beizuſtehen, dieſen — jenen Wirbel probirend
— Da zieht einer den traͤgen Schluͤſſel an, „es
geht, es geht!“ riefen ſie freudig — Da rauſcht
die Saite, die ſich ſchier bis zur Reinheit herange¬
aͤchzt, geſprungen auf und erſchrocken fahren ſie
zuruͤck! — Die Baronin handthiert mit den klei¬
nen zarten Haͤndchen in den ſproͤden Drathſaiten,
[123] ſie reicht mir die Nummern, die ich verlange, und
haͤlt ſorgſam die Rolle, die ich abwickle; ploͤtzlich
ſchnurrt eine auf, ſo daß die Baronin ein ungedul¬
diges Ach! ausſtoͤßt — Fraͤulein Adelheid lacht
laut auf, ich verfolge den verwirrten Knaͤuel bis in
die Ecke des Zimmers, und wir alle ſuchen aus ihm
noch eine gerade unzerknickte Saite herauszuziehen,
die dann aufgezogen zu unſerm Leidweſen wieder
ſpringt — aber endlich — endlich ſind gute Rollen
gefunden, die Saiten fangen an zu ſtehen und aus
dem mißtoͤnigen Sumſen gehen allmaͤhlig klare,
reine Akkorde hervor! „Ach es gluͤckt, es gluͤckt


— das Inſtrument ſtimmt ſich!“ ruft die Baro¬
nin, indem ſie mich mit holdem Laͤcheln anblickt!


— Wie ſchnell vertrieb dies gemeinſchaftliche Muͤ¬
hen alles Fremde, Nuͤchterne, das die Convenienz
hinſtellt; wie ging unter uns eine heimiſche Ver¬
traulichkeit auf, die, ein elektriſcher Hauch mich
durchgluͤhend, die verzagte Beklommenheit, welche
wie Eis auf meiner Bruſt lag, ſchnell wegzehrte.
Jener ſeltſame Pathos, wie ihn ſolche Verliebtheit,
[124] wie die meinige, wohl erzeugt, hatte mich ganz
verlaſſen und ſo kam es, daß, als nun endlich das
Pianoforte leidlich geſtimmt war, ich, ſtatt, wie ich
gewollt, meine innern Gefuͤhle in Fantaſien recht
laut werden zu laſſen, in jene ſuͤße liebliche Canzo¬
netten verfiel, wie ſie aus dem Suͤden zu uns her¬
uͤber geklungen. Waͤhrend dieſer Senza di te
dieſer: Sentimi idol mio, dieſer Almen se non
poss'io
und hundert morir mi sento's und Addio's
und Oh dio's wurden leuchtender und leuchtender
Seraphinens Blicke. Sie hatte ſich dicht neben
mir an das Inſtrument geſetzt, ich fuͤhlte ihren
Athem an meiner Wange ſpielen; indem ſie ihren
Arm hinter mir auf die Stuhllehne ſtuͤtzte, fiel ein
weißes Band, das ſich von dem zierlichen Ballkleide
losgeneſſelt, uͤber meine Schulter und flatterte von
meinen Toͤnen, von Seraphinens leiſen Seufzern
beruͤhrt hin und her, wie ein getreuer Liebesbote!
— Es war zu verwundern, daß ich den Verſtand
behielt! — Als ich mich auf irgend ein neues Lied
beſinnend in den Akkorden herumfuhr, ſprang
[125] Fraͤulein Adelheid, die in einer Ecke des Zimmers
geſeſſen, herbei, kniete vor der Baronin hin, und
bat, ihre beide Haͤnde erfaſſend und an die Bruſt
druͤckend: „O liebe Baronin — Seraphinchen, nun
mußt du auch ſingen!“ — Die Baronin erwiederte:
„Wo denkſt du aber auch hin, Adelheid! — wie mag
ich mich denn vor unſerm Virtuoſen da mit mei¬
ner elenden Singerei hoͤren laſſen!“ — Es war
lieblich anzuſchauen, wie ſie, gleich einem fromm¬
verſchaͤmten Kinde, die Augen niederſchlagend und
hocherroͤthend mit der Luſt und mit der Scheu
kaͤmpfte. — Man kann denken, wie ich ſie anfleh¬
te, und, als ſie kleine kurlaͤndiſche Volkslieder er¬
waͤhnte, nicht nachließ, bis ſie mit der linken Hand
heruͤberlangend einige Toͤne auf dem Inſtrument
verſuchte, wie zur Einleitung. Ich wollte ihr
Platz machen am Inſtrument, ſie ließ es aber nicht
zu, indem ſie verſicherte, daß ſie nicht eines einzi¬
gen Akkordes maͤchtig ſey, und daß eben deshalb
ihr Geſang ohne Begleitung ſehr mager und unſicher
klingen werde. Nun fing ſie mit zarter, glocken¬
[126] reiner, tief aus dem Herzen toͤnender Stimme ein
Lied an, deſſen einfache Melodie ganz den Charak¬
ter jener Volkslieder trug, die ſo klar aus dem In¬
nern herausleuchten, daß wir in dem hellen Schein,
der uns umfließt, unſere hoͤhere poetiſche Natur
erkennen muͤſſen. Ein geheimnißvoller Zauber liegt
in den unbedeutenden Worten des Textes, der zur
Hieroglyphe des Unausſprechlichen wird, von dem
unſere Bruſt erfuͤllt. Wer denkt nicht an jene ſpa¬
niſche Canzonetta, deren Inhalt den Worten nach
nicht viel mehr iſt, als: Mit meinem Maͤdchen
ſchifft' ich auf dem Meer, da wurd' es ſtuͤrmiſch, und
mein Maͤdchen wankte furchtſam hin und her.
Nein! — nicht ſchiff' ich wieder mit meinem Maͤd¬
chen auf dem Meer! — So ſagte der Baronin
Liedlein nichts weiter: Juͤngſt tanzt' ich mit meinem
Schatz auf der Hochzeit, da fiel mir eine Blume
aus dem Haar, die hob er auf, und gab ſie mir und
ſprach: Wenn, mein Maͤdchen, gehn wir wieder
zur Hochzeit? — Als ich bei der zweiten Strophe
dies Liedchen in harpeggirenden Akkorden begleitete,
[127] als ich in der Begeiſterung, die mich erfaßt, die Melo¬
dien der folgenden Lieder gleich von den Lippen der Ba¬
ronin wegſtahl, da erſchien ich ihr und der Fraͤulein
Adelheid wie der groͤßte Meiſter der Tonkunſt, ſie
uͤberhaͤuften mich mit Lobſpruͤchen. Die angezuͤndeten
Lichter des Ballſaals im Seitenfluͤgel brannten hin¬
ein in das Gemach der Baronin, und ein mißtoͤni¬
ges Geſchrei von Trompeten und Hoͤrnern verkuͤn¬
dete, daß es Zeit ſey, ſich zum Ball zu verſam¬
meln. „Ach, nun muß ich fort,“ rief die Baro¬
nin, ich ſprang auf vom Inſtrument. „Sie haben
mir eine herrliche Stunde bereitet — es waren die
heiterſten Momente, die ich jemals hier in R..ſit¬
ten verlebte.“ Mit dieſen Worten reichte mir die
Baronin die Hand; als ich ſie im Rauſch des hoͤch¬
ſten Entzuͤckens an die Lippen druͤckte, fuͤhlte ich
ihre Finger heftig pulſirend an meiner Hand an¬
ſchlagen! Ich weiß nicht, wie ich in des Großon¬
kels Zimmer, wie ich dann in den Ballſaal kam.
— Jener Gaskogner fuͤrchtete die Schlacht, weil
jede Wunde ihm toͤdtlich werden muͤſſe, da er ganz
[128] Herz ſey! — Ihm mochte ich, ihm mag jeder in
meiner Stimmung gleichen! jede Beruͤhrung wird
toͤdtlich. Der Baronin Hand, die pulſirenden
Finger hatten mich getroffen wie vergiftete Pfeile,
mein Blut brannte in den Adern! — Ohne mich
gerade auszufragen, hatte der Alte am andern
Morgen doch bald die Geſchichte des mit der Ba¬
ronin verlebten Abends heraus, und ich war nicht
wenig betreten, als er, der mit lachendem Munde
und heitrem Tone geſprochen, ploͤtzlich ſehr ernſt
wurde und anfing: „Ich bitte dich, Vetter, wi¬
derſtehe der Narrheit, die dich mit aller Macht er¬
griffen! — Wiſſe, daß dein Beginnen, ſo harm¬
los wie es ſcheint, die entſetzlichſten Folgen haben
kann, du ſtehſt in achtloſem Wahnſinn auf duͤnner
Eisdecke, die bricht unter dir ehe du dich es ver¬
ſiehſt und du plumpſt hinein. Ich werde mich huͤ¬
ten, dich am Rockſchoß feſtzuhalten, denn ich weiß,
du rappelſt dich ſelbſt wieder heraus und ſprichſt
zum Tode erkrankt: das bischen Schnupfen bekam
ich im Traume, aber ein boͤſes Fieber wird zehren
an[129] an deinem Lebensmark, und Jahre werden hinge¬
hen, ehe du dich ermannſt. — Hol der Teufel
deine Muſik, wenn du damit nichts beſſeres anzu¬
fangen weißt, als empfindelnde Weiber hinauszu¬
trompeten aus friedlicher Ruhe.“ „Aber,“ unter¬
brach ich den Alten, „kommt es mir denn in den
Sinn, mich bei der Baronin einzuliebeln?“ „Affe!“
rief der Alte, „wuͤßt' ich das, ſo wuͤrfe ich dich hier
durchs Fenſter!“ — Der Baron unterbrach das
peinliche Geſpraͤch, und das beginnende Geſchaͤft riß
mich auf aus der Liebestraͤumerei, in der ich nur
Seraphinen ſah und dachte. In der Geſellſchaft
ſprach die Baronin nur dann und wann mit mir ei¬
nige freundliche Worte, aber beinahe kein Abend
verging, daß nicht heimliche Botſchaft kam von Fraͤu¬
lein Adelheid, die mich hinrief zu Seraphinen. Bald
geſchah es, daß mannigfache Geſpraͤche mit der Mu¬
ſik wechſelten. Fraͤulein Adelheid, die beinahe nicht
jung genug war, um ſo naiv und drollig zu ſeyn,
ſprang mit allerley luſtigem und etwas konfuſem
Zeuge dazwiſchen, wenn ich und Seraphine uns zu
I[130] vertiefen begannen in ſentimentale Ahnungen und
Traͤumereien. Aus mancher Andeutung mußt' ich bald
erfahren, daß der Baronin wirklich irgend etwas Ver¬
ſtoͤrendes im Sinn liege, wie ich es gleich, als ich
ſie zum erſten Male ſah, in ihrem Blick zu leſen
glaubte, und die feindliche Wirkung des Hausge¬
ſpenſtes ging mir ganz klar auf. Irgend etwas
Entſetzliches war oder ſollte geſchehen. Wie oft
draͤngte es mich, Seraphinen zu erzaͤhlen, wie mich
der unſichtbare Feind beruͤhrt, und wie ihn der Alte,
gewiß fuͤr immer, gebannt habe, aber eine mir ſelbſt
unerklaͤrliche Scheu feſſelte mir die Zunge im Au¬
genblick als ich reden wollte.


Eines Tages fehlte die Baronin bei der Mit¬
tagstafel; es hieß, ſie kraͤnkle, und koͤnne das Zim¬
mer nicht verlaſſen. Theilnehmend frug man den
Baron, ob das Uebel von Bedeutung ſey. Er laͤ¬
chelte auf fatale Art, recht wie bitter hoͤhnend, und
ſprach: „Nichts als ein leichter Katarrh, den ihr
die rauhe Seeluft zugeweht, die nun einmal hier kein
ſuͤßes Stimmchen duldet, und keine andern Toͤne
[131] leidet, als das derbe Halloh der Jagd.“ — Bei
dieſen Worten warf der Baron mir, der ihm ſchraͤg
uͤber ſaß, einen ſtechenden Blick zu. Nicht zu dem
Nachbar, zu mir hatte er geſprochen. Fraͤulein
Adelheid, die neben mir ſaß, wurde blutroth; vor
ſich hin auf den Teller ſtarrend und mit der Gabel
darauf herumkritzelnd lispelte ſie: „Und noch heute
ſiehſt du Seraphinen, und noch heute werden deine
ſuͤßen Liederchen beruhigend ſich an das kranke Herz
legen.“ — Auch Adelheid ſprach dieſe Worte fuͤr
mich, aber in dem Augenblick war es mir, als ſtehe
ich mit der Baronin in unlauterm verbotenem Lie¬
besverhaͤltniß, das nur mit dem Entſetzlichen, mit
einem Verbrechen, endigen koͤnne. — Die Warnun¬
gen des Alten fielen mir ſchwer aufs Herz. — Was
ſollte ich beginnen! — Sie nicht mehr ſehen? —
Das war, ſo lange ich im Schloſſe blieb, unmoͤglich,
und durfte ich auch das Schloß verlaſſen, und nach
K. zuruͤckgehen, ich vermochte es nicht. Ach! nur
zu ſehr fuͤhlt' ich, daß ich nicht ſtark genug war,
mich ſelbſt aufzuruͤtteln aus dem Traum, der mich
J 2[132] mit fantaſtiſchem Liebesgluͤck neckte. Adelheid er¬
ſchien mir beinahe als gemeine Kupplerin, ich wollte
ſie deshalb verachten — und doch, mich wieder be¬
ſinnend, mußte ich mich meiner Albernheit ſchaͤmen.
Was geſchah in jenen ſeligen Abendſtunden, das nur
im mindeſten ein naͤheres Verhaͤltniß mit Seraphi¬
nen, als Sitte und Anſtand es erlaubten, herbei¬
fuͤhren konnte? Wie durfte es mir einfallen, daß
die Baronin irgend etwas fuͤr mich fuͤhlen ſollte,
und doch war ich von der Gefahr meiner Lage uͤber¬
zeugt! — Die Tafel wurde zeitiger aufgehoben,
weil es noch auf Woͤlfe gehen ſollte, die ſich in dem
Foͤhrenwalde, ganz nahe dem Schloſſe, hatten blicken
laſſen. Die Jagd war mir recht in meiner aufge¬
regten Stimmung, ich erklaͤrte dem Alten, mitziehn
zu wollen, er laͤchelte mich zufrieden an, ſprechend:
„das iſt brav, daß du auch einmal dich herausmachſt,
ich bleibe heim, du kannſt meine Buͤchſe nehmen,
und ſchnalle auch meinen Hirſchfaͤnger um, im Fall
der Noth iſt das eine gute ſichre Waffe, wenn man
nur gleichmuͤthig bleibt.“ Der Theil des Waldes,
[133] in dem die Woͤlfe lagern mußten, wurde von den
Jaͤgern umſtellt. Es war ſchneidend kalt, der
Wind heulte durch die Foͤhren, und trieb mir die
hellen Schneeflocken ins Geſicht, daß ich, als nun
vollends die Daͤmmerung einbrach, kaum ſechs
Schritte vor mir hinſchauen konnte. Ganz er¬
ſtarrt verließ ich den mir angewieſenen Platz, und
ſuchte Schutz tiefer im Walde. Da lehnte ich
an einen Baum, die Buͤchſe unterm Arm. Ich
vergaß die Jagd, meine Gedanken trugen mich
fort zu Seraphinen ins heimiſche Zimmer. Ganz
entfernt fielen Schuͤſſe, in demſelben Moment
rauſchte es im Roͤhricht, und nicht zehn Schritte
von mir erblickte ich einen ſtarken Wolf, der voruͤ¬
ber rennen wollte. Ich legte an, druͤckte ab, —
ich hatte gefehlt, das Thier ſprang mit gluͤhen¬
den Augen auf mich zu, ich war verloren, hatte
ich nicht Beſonnenheit genug, das Jagdmeſſer
herauszureißen, das ich dem Thier, als es mich
packen wollte, tief in die Gurgel ſtieß, ſo daß
das Blut mir uͤber Hand und Arm ſpritzte. Ei¬
[134] ner von den Jaͤgern des Barons, der mir unfern
geſtanden, kam nun mit vollem Geſchrey heran¬
gelaufen, und auf ſeinen wiederholten Jagdruf
ſammelten ſich alle um uns. Der Baron eilte
auf mich zu: „Um des Himmels willen. Sie
bluten? — Sie bluten — Sie ſind verwundet?“
Ich verſicherte das Gegentheil; da fiel der Baron
uͤber den Jaͤger her, der mir der naͤchſte geſtanden,
und uͤberhaͤufte ihn mit Vorwuͤrfen, daß er nicht
nachgeſchoſſen, als ich gefehlt, und, unerachtet die¬
ſer verſicherte, daß das gar nicht moͤglich geweſen,
weil in derſelben Sekunde der Wolf auf mich
zugeſtuͤrzt, ſo daß jeder Schuß mich haͤtte treffen
koͤnnen, ſo blieb doch der Baron dabei, daß er
mich, als einen minder erfahrnen Jaͤger, in be¬
ſondere Obhut haͤtte nehmen ſollen. Unterdeſſen
hatten die Jaͤger das Thier aufgehoben, es war
das groͤßte der Art, das ſich ſeit langer Zeit hatte
ſehen laſſen, und man bewunderte allgemein mei¬
nen Muth und meine Entſchloſſenheit, unerachtet
mir mein Benehmen ſehr natuͤrlich ſchien, und ich
[135] in der That an die Lebensgefahr, in der ich
ſchwebte, gar nicht gedacht hatte. Vorzuͤglich be¬
wies ſich der Baron theilnehmend, er konnte gar
nicht aufhoͤren zu fragen, ob ich, ſey ich auch nicht
von der Beſtie verwundet, doch nichts von den
Folgen des Schrecks fuͤrchte. Es ging zuruͤck
nach dem Schloſſe, der Baron faßte mich, wie
einen Freund, unter den Arm, die Buͤchſe mußte
ein Jaͤger tragen. Er ſprach noch immer von
meiner heroiſchen That, ſo daß ich am Ende ſelbſt
an meinen Heroismus glaubte, alle Befangenheit
verlor, und mich ſelbſt dem Baron gegenuͤber als
ein Mann von Muth und ſeltener Entſchloſſenheit
feſtgeſtellt fuͤhlte. Der Schulknabe hatte ſein Exa¬
men gluͤcklich beſtanden, war kein Schulknabe
mehr, und alle demuͤthige Aengſtlichkeit des Schul¬
knaben war von ihm gewichen. Erworben ſchien
mir jetzt das Recht, mich um Seraphinens Gunſt
zu muͤhen. — Man weiß ja, welcher albernen Zu¬
ſammenſtellungen die Fantaſie eines verliebten
Juͤnglings faͤhig iſt. — Im Schloſſe, am Kamin
[136] bei dem rauchenden Punſchnapf, blieb ich der Held
des Tages; nur der Baron ſelbſt hatte außer mir
noch einen tuͤchtigen Wolf erlegt, die uͤbrigen
mußten ſich begnuͤgen, ihre Fehlſchuͤſſe dem Wet¬
ter — der Dunkelheit zuzuſchreiben, und grau¬
liche Geſchichten von ſonſt auf der Jagd erlebtem
Gluͤck und uͤberſtandener Gefahr zu erzaͤhlen. Von
dem Alten glaubte ich nun gar ſehr gelobt und
bewundert zu werden; mit dieſem Anſpruch er¬
zaͤhlte ich ihm mein Abenteuer ziemlich breit,
und vergaß nicht, das wilde, blutduͤrſtige Anſehn
der wilden Beſtie mit recht grellen Farben auszu¬
malen. Der Alte lachte mir aber ins Geſicht,
und ſprach: „Gott iſt maͤchtig in den Schwa¬
chen!“ —

Als ich des Trinkens, der Geſellſchaft uͤberdruͤſ¬
ſig, durch den Corridor nach dem Gerichtsſaal ſchlich,
ſah ich vor mir eine Geſtalt, mit dem Licht in
der Hand, hineinſchluͤpfen. In den Saal tretend
erkannte ich Fraͤulein Adelheid. „Muß man nicht
umher irren wie ein Geſpenſt, wie ein Nacht¬
[137] wandler, um Sie, mein tapferer Wolfsjaͤger, auf¬
zufinden! —“ So lispelte ſie mir zu, indem ſie
mich bei der Hand ergriff. Die Worte: „Nacht¬
wandler — Geſpenſt,“ fielen mir, hier an dieſem
Orte ausgeſprochen, ſchwer aufs Herz; augenblick¬
lich brachten ſie mir die geſpenſtiſchen Erſcheinun¬
gen jener beiden graulichen Naͤchte in Sinn und
Gedanken, wie damals heulte der Seewind in
tiefen Orgeltoͤnen heruͤber, es knatterte und pfiff
ſchauerlich durch die Bogenfenſter, und der Mond
warf ſein bleiches Licht gerade auf die geheimni߬
volle Wand, an der ſich das Kratzen vernehmen
ließ. Ich glaubte Blutflecke daran zu erkennen.
Fraͤulein Adelheid mußte, mich noch immer bei der
Hand haltend, die Eiskaͤlte fuͤhlen, die mich durch¬
ſchauerte. „Was iſt Ihnen, was iſt Ihnen“ ſprach
ſie leiſe, „Sie erſtarren ja ganz? — Nun ich will
Sie ins Leben rufen. Wiſſen Sie wohl, daß die
Baronin es gar nicht erwarten kann. Sie zu ſe¬
hen? — Eher glaubt ſie nicht, daß der boͤſe Wolf
Sie wirklich nicht zerbiſſen hat. Sie aͤngſtigt ſich
[138] unglaublich! — Ey, ey, mein Freund, was haben
Sie mit Seraphinchen angefangen! Noch niemals
habe ich ſie ſo geſehen. — Hu! — wie jetzt der Puls
anfaͤngt zu prickeln! — wie der todte Herr ſo ploͤtz¬
lich erwacht iſt! — Nein, kommen Sie — fein
leiſe — wir muͤſſen zur kleinen Baronin!“ — Ich
ließ mich ſchweigend fortziehen; die Art, wie Adel,
heid von der Baronin ſprach, ſchien mir unwuͤrdig,
und vorzuͤglich die Andeutung des Verſtaͤndniſſes
zwiſchen uns gemein. Als ich mit Adelheid ein¬
trat, kam Seraphine mir mit einem leiſen Ach!
drey — vier Schritte raſch entgegen, dann blieb ſie,
wie ſich beſinnend, mitten im Zimmer ſtehen, ich
wagte, ihre Hand zu ergreifen, und ſie an meine
Lippen zu druͤcken. Die Baronin ließ ihre Hand
in der meinigen ruhen, indem ſie ſprach: „Aber
mein Gott, iſt es denn ihres Berufs, es mit
Woͤlfen aufzunehmen? Wiſſen Sie denn nicht,
daß Orpheus, Amphions fabelhafte Zeit, laͤngſt
voruͤber iſt, und daß die wilden Thiere allen Re¬
ſpekt vor den vortrefflichſten Saͤngern ganz ver¬
[139] loren haben?“ — Dieſe anmuthige Wendung, mit
der die Baronin ihrer lebhaften Theilnahme ſo¬
gleich alle Mißdeutung abſchnitt, brachte mich au¬
genblicklich in richtigen Ton und Takt. Ich weiß
ſelbſt nicht, wie es kam, daß ich nicht, wie ge¬
woͤhnlich, mich an das Inſtrument ſetzte, ſondern
neben der Baronin auf dem Kanapee Platz nahm.
Mit dem Wort: „Und wie kamen Sie denn in
Gefahr?“ erwies ſich unſer Einverſtaͤndniß, daß es
heute nicht auf Muſik, ſondern auf Geſpraͤch ab¬
geſehen ſey.“ Nachdem ich meine Abenteuer im
Walde erzaͤhlt, und der lebhaften Theilnahme des
Barons erwaͤhnt, mit der leiſen Andeutung, daß
ich ihn deren nicht fuͤr faͤhig gehalten, fing die
Baronin mit ſehr weicher, beinahe wehmuͤthiger
Stimme an: „O wie muß Ihnen der Baron ſo
ſtuͤrmiſch, ſo rauh vorkommen, aber glauben Sie
mir, nur waͤhrend des Aufenthalts in dieſen fin¬
ſtern unheimlichen Mauern, nur waͤhrend des
wilden Jagens in den oͤden Foͤhrenwaͤldern aͤndert
er ſein ganzes Weſen, wenigſtens ſein aͤußeres Be¬
[140] tragen. Was ihn vorzuͤglich ſo ganz und gar ver¬
ſtimmt, iſt der Gedanke, der ihn beſtaͤndig ver¬
folgt, daß hier irgend etwas Entſetzliches geſche¬
hen werde: daher hat ihn Ihr Abenteuer, das
zum Gluͤck ohne uͤble Folgen blieb, gewiß tief er¬
ſchuͤttert. Nicht den geringſten ſeiner Diener will
er der mindeſten Gefahr ausgeſetzt wiſſen, viel
weniger einen lieben neugewonnenen Freund, und
ich weiß gewiß, daß Gottlieb, dem er Schuld gibt,
Sie im Stiche gelaſſen zu haben, wo nicht mit
Gefaͤngniß beſtraft werden, doch die beſchaͤmende
Jaͤgerſtrafe dulden wird, ohne Gewehr, mit einem
Knittel in der Hand, ſich dem Jagdgefolge an¬
ſchließen zu muͤſſen. Schon, daß ſolche Jagden,
wie hier, nie ohne Gefahr ſind, und daß der Ba¬
ron, immer Ungluͤck befuͤrchtend, doch in der Freude
und Luſt daran, ſelbſt den boͤſen Daͤmon neckt,
bringt etwas Zerriſſenes in ſein Leben, das feind¬
lich ſelbſt auf mich wirken muß. Man erzaͤhlt
viel Seltſames von dem Ahnherrn, der das Ma¬
jorat ſtiftete, und ich weiß es wohl, daß ein duͤ¬
[141] ſteres Familiengeheimniß, das in dieſen Mauern
verſchloſſen, wie ein entſetzlicher Spuk, die Beſitzer
wegtreibt, und es ihnen nur moͤglich macht, eine
kurze Zeit hindurch im lauten wilden Gewuͤhl aus¬
zudauern. Aber ich! — wie einſam muß ich mich in
dieſem Gewuͤhl befinden, und wie muß mich das Un¬
heimliche, das aus allen Waͤnden weht, im Innerſten
aufregen! Sie, mein lieber Freund! haben mir
die erſten heitern Augenblicke, die ich hier verlebte,
durch ihre Kunſt verſchafft! — wie kann ich Ih¬
nen denn herzlich genug dafuͤr danken! —“ Ich
kuͤßte die mir dargebotene Hand, indem ich erklaͤrte:
daß auch ich gleich am erſten Tage, oder vielmehr
in der erſten Nacht, das Unheimliche des Aufent¬
halts bis zum tiefſten Entſetzen gefuͤhlt habe. Die
Baronin blickte mir ſtarr ins Geſicht, als ich jenes
Unheimliche der Bauart des ganzen Schloſſes, vor¬
zuͤglich den Verzierungen im Gerichtsſaal, dem ſau¬
ſenden Seewinde u. ſ. w. zuſchrieb. Es kann ſeyn,
daß Ton und Ausdruck darauf hindeuteten, daß ich
noch etwas anderes meine, genug, als ich ſchwieg,
[142] rief die Baronin heftig: „Nein, nein — es iſt
Ihnen irgend etwas Entſetzliches geſchehen in jenem
Saal, den ich nie ohne Schauer betrete! — ich be¬
ſchwoͤre Sie — ſagen Sie mir Alles! —


Zur Todtenblaͤſſe war Seraphinens Geſicht ver¬
bleicht, ich ſah wohl ein, daß es nun gerathener ſey,
alles, was mir widerfahren, getreulich zu erzaͤhlen,
als Seraphinens aufgeregter Fantaſie es zu uͤberlaſ¬
ſen, vielleicht einen Spuk, der, in mir unbekannter
Beziehung, noch ſchrecklicher ſeyn konnte, als der
erlebte, ſich auszubilden: Sie hoͤrte mich an, und
immer mehr und mehr ſtieg ihre Beklommenheit
und Angſt. Als ich des Kratzens an der Wand er¬
waͤhnte, ſchrie ſie auf: „das iſt entſetzlich — ja, ja
— in dieſer Mauer iſt jenes fuͤrchterliche Geheim¬
niß verborgen! —“ Als ich dann weiter erzaͤhlte,
wie der Alte mit geiſtiger Gewalt und Uebermacht
den Spuk gebannt, ſeufzte ſie tief, als wuͤrde ſie
frey von einer ſchweren Laſt, die ihre Bruſt ge¬
druͤckt. Sich zuruͤcklehnend, hielt ſie beide Haͤnde
vor's Geſicht. Erſt jetzt bemerkte ich, daß Adelheid
[143] uns verlaſſen. Laͤngſt hatte ich geendet, und da Se¬
raphine noch immer ſchwieg, ſtand ich leiſe auf, ging
an das Inſtrument, und muͤhte mich, in anſchwel¬
lenden Akkorden troͤſtende Geiſter heraufzurufen, die
Seraphinen dem finſtern Reiche, das ſich ihr in mei¬
ner Erzaͤhlung erſchloſſen, entfuͤhren ſollten. Bald
intonirte ich ſo zart, als ich es vermochte, eine
jener heiligen Canzonen des Abbate Steffani. In
den wehmuthsvollen Klaͤngen des: Ochi, perchè
piangete
— erwachte Seraphine aus duͤſtern
Traͤumen, und horchte mild laͤchelnd, glaͤnzende
Perlen in den Augen, mir zu. — Wie geſchah
es denn, daß ich vor ihr hinkniete, daß ſie ſich
zu mir herabbeugte, daß ich ſie mit meinen Ar¬
men umſchlang, daß ein langer gluͤhender Kuß
auf meinen Lippen brannte? — Wie geſchah es
denn, daß ich nicht die Beſinnung verlor, daß ich
es fuͤhlte, wie ſie ſanft mich an ſich druͤckte, daß
ich ſie aus meinen Armen ließ, und ſchnell mich
emporrichtend an das Inſtrument trat? Von mir
abgewendet ging die Baronin einige Schritte nach
[144] dem Fenſter hin, dann kehrte ſie um, und trat
mit einem beinahe ſtolzen Anſtande, der ihr ſonſt
gar nicht eigen, auf mich zu. Mir feſt ins Auge
blickend, ſprach ſie: „Ihr Onkel iſt der wuͤrdigſte
Greis, den ich kenne, er iſt der Schutzengel un¬
ſerer Familie — moͤge er mich einſchließen in ſein
frommes Gebet!“ — Ich war keines Wortes
maͤchtig, verderbliches Gift, das ich in jenem Kuſſe
eingeſogen, gaͤhrte und flammte in allen Pulſen,
in allen Nerven! — Fraͤulein Adelheid trat her¬
ein — die Wuth des innern Kampfes ſtroͤmte
aus in heißen Thraͤnen, die ich nicht zuruͤck zu
draͤngen vermochte! — Adelheid blickte mich ver¬
wundert und zweifelhaft laͤchelnd an — ich haͤtte
ſie ermorden koͤnnen. Die Baronin reichte mir
die Hand und ſprach mit unbeſchreiblicher Milde:
„Leben Sie wohl, mein lieber Freund! — Leben
Sie recht wohl, denken Sie daran, daß vielleicht
niemand beſſer, als ich, ihre Muſik verſtand. —
Ach! dieſe Toͤne werden lange — lange in mei¬
nem Innern wiederklingen.“ — Ich zwang mir
einige[145] einige unzuſammenhaͤngende alberne Worte ab, und
lief nach unſerm Gemach. Der Alte hatte ſich ſchon
zur Ruhe begeben. Ich blieb im Saal, ich ſtuͤrzte
auf die Knie, ich weinte laut — ich rief den Na¬
men der Geliebten, kurz, ich uͤberließ mich den Thor¬
heiten des verliebten Wahnſinns trotz einem, und
nur der laute Zuruf des uͤber mein Toben aufge¬
wachten Alten: „Vetter, ich glaube du biſt verruͤckt
geworden, oder balgſt dich aufs neue mit einem
Wolf? — Schier dich zu Bette, wenn es dir ſonſt
gefaͤllig iſt.“ — Nur dieſer Zuruf trieb mich hinein
ins Gemach, wo ich mich mit dem feſten Vorſatz
niederlegte, nur von Seraphinen zu traͤumen. Es
mochte ſchon nach Mitternacht ſeyn, als ich, noch
nicht eingeſchlafen, entfernte Stimmen, ein Hin-
und Herlaufen, und das Oeffnen und Zuſchlagen
von Thuͤren zu vernehmen glaubte. Ich horchte
auf, da hoͤrte ich Tritte auf dem Corridor ſich na¬
hen, die Thuͤr des Saals wurde geoͤffnet, und bald
klopfte es an unſer Gemach. „Wer iſt da,“ rief ich
laut; da ſprach es draußen: „Herr Juſtitiarius —


K[146]

Herr Juſtitiarius, wachen Sie auf — wachen Sie
auf!“ — Ich erkannte Franzens Stimme, und
indem ich frug: „Brennt es im Schloſſe,“ wurde der
Alte wach, und rief: „Wo brennt es? — wo iſt
ſchon wieder verdammter Teufelsſpuk los ?“ „Ach,
ſtehen Sie auf, Herr Juſtitiarius,“ ſprach Franz,
„ſtehen Sie auf, der Herr Baron verlangt nach Ih¬
nen!“ „Was will der Baron von mir,“ frug der
Alte weiter, „was will er von mir zur Nachtzeit? —
weiß er nicht, daß das Juſtitiariat mit dem Juſti¬
tiarius zu Bette geht, und eben ſo gut ſchlaͤft, als
er?“ „Ach,“ rief nun Franz aͤngſtlich, „lieber
Herr Juſtitiarius, ſtehen Sie doch nur auf — die
gnaͤdige Frau Baronin liegt im Sterben!“ — Mit
einem Schrey des Entſetzens fuhr ich auf. „Oeffne
Franzen die Thuͤr,“ rief mir der Alte zu; beſin¬
nungslos wankte ich im Zimmer herum, ohne Thuͤr
und Schloß zu finden. Der Alte mußte mir beiſte¬
hen, Franz trat bleich mit verſtoͤrtem Geſicht
herein, und zuͤndete die Lichter an. Als wir
uns kaum in die Kleider geworfen, hoͤrten wir
ſchon den Baron im Saal rufen: „Kann ich
[147] Sie ſprechen, lieber V.?“ — „Warum haſt du dich
angezogen, Vetter, der Baron hat nur nach mir
verlangt?“ frug der Alte, im Begriff herauszutre¬
ten. Ich muß hinab — ich muß ſie ſehen und
dann ſterben, ſprach ich dumpf und wie vernichtet
vom troſtloſen Schmerz. „Ja ſo! da haſt du Recht,
Vetter!“ Dies ſprechend warf mir der Alte die
Thuͤr vor der Naſe zu, daß die Angeln klirrten,
und verſchloß ſie von draußen. Im erſten Augen¬
blick, uͤber dieſen Zwang empoͤrt, wollt' ich die Thuͤr
einrennen, aber mich ſchnell beſinnend, daß dieſes
nur die verderblichen Folgen einer ungezuͤgelten Ra¬
ſerei haben koͤnne, beſchloß ich, die Ruͤckkehr des
Alten abzuwarten, dann aber, koſte es was es wolle,
ſeiner Aufſicht zu entſchluͤpfen. Ich hoͤrte den Alten
heftig mit dem Baron reden, ich hoͤrte mehrmals
meinen Namen nennen, ohne weiteres verſtehen zu
koͤnnen — Mit jeder Sekunde wurde mir meine
Lage toͤdtlicher. — Endlich vernahm ich, wie dem
Baron eine Botſchaft gebracht wurde, und wie er
ſchnell davon rannte. Der Alte trat wieder in das
K2[148] Zimmer — „Sie iſt todt“ — mit dieſem Schrey
ſtuͤrzte ich dem Alten entgegen — „Und du biſt naͤr¬
riſch!“ fiel er gelaſſen ein, faßte mich, und druͤckte
mich in einen Stuhl. Ich muß hinab, ſchrie ich,
ich muß hinab, ſie ſehen, und ſollt' es mir das Le¬
ben koſten! — „Thue das, lieber Vetter,“ ſprach
der Alte, indem er die Thuͤr verſchloß, den Schluͤſ¬
ſel abzog und in die Taſche ſteckte. Nun flammte
ich auf in toller Wuth, ich griff nach der geladenen
Buͤchſe, und ſchrie: „Hier vor Ihren Augen jage
ich mir die Kugel durch den Kopf, wenn Sie nicht
ſogleich mir die Thuͤr oͤffnen.“ Da trat der Alte
dicht vor mir hin, und ſprach, indem er mich mit durch¬
bohrendem Blick ins Auge faßte: „Glaubſt du,
Knabe, daß du mich mit deiner armſeligen Drohung
erſchrecken kannſt? — Glaubſt du, daß mir dein
Leben was werth iſt, wenn du vermagſt, es in kin¬
diſcher Albernheit, wie ein abgenutztes Spielzeug,
wegzuwerfen? — Was haſt du mit dem Weibe des
Barons zu ſchaffen? — wer gibt dir das Recht,
dich, wie ein uͤberlaͤſtiger Geck, da hinzudraͤngen,
[149] wo du nicht hin gehoͤrſt, und wo man dich auch gar
nicht mag? — Willſt du den liebelnden Schaͤfer
machen in ernſter Todesſtunde?“ — Ich ſank ver¬
nichtet in den Lehnſtuhl — Nach einer Weile fuhr
der Alte mit milderer Stimme fort: „Und damit
du es nur weißt, mit der angeblichen Todesgefahr
der Baronin iſt es wahrſcheinlich ganz und gar
nichts — Fraͤulein Adelheid iſt denn nun gleich au¬
ßer ſich uͤber alles; wenn ihr ein Regentropfen auf
die Naſe faͤllt, ſo ſchreit ſie: Welch ein ſchreckli¬
ches Unwetter! — Zum Ungluͤck iſt der Feuerlaͤrm
bis zu den alten Tanten gedrungen, die ſind unter
unziemlichem Weinen mit einem ganzen Arſenal von
ſtaͤrkenden Tropfen — Lebenselixiren, und was weiß
ich ſonſt, angeruͤckt — Eine ſtarke Anwandlung von
Ohnmacht“ — Der Alte hielt inne, er mochte be¬
merken, wie ich im Innern kaͤmpfte. Er ging ei¬
nige Mal die Stube auf und ab, ſtellte ſich wieder
vor mir hin, lachte recht herzlich, und ſprach: „Vet¬
ter, Vetter! was treibſt du fuͤr naͤrriſches Zeug?
— Nun! — es iſt einmal nicht anders, der Satan
[150] treibt hier ſeinen Spuk auf mancherlei Weiſe, du
biſt ihm ganz luſtig in die Krallen gelaufen, und er
macht jetzt ſein Taͤnzchen mit dir“ — Er ging wie¬
der einige Schritte auf und ab, dann ſprach er wei¬
ter: „Mit dem Schlaf iſt's nun einmal vorbey,
und da daͤcht' ich, man rauchte eine Pfeife, und
braͤchte ſo noch die paar Stuͤndchen Nacht und Fin¬
ſterniß hin!“ — Mit dieſen Worten nahm der Alte
eine thoͤnerne Pfeife vom Wandſchrank herab, und
ſtopfte ſie, ein Liedchen brummend, langſam und
ſorgfaͤltig, dann ſuchte er unter vielen Papieren, bis
er ein Blatt herausriß, es zum Fidibus zuſammen¬
knetete und anſteckte. Die dicken Rauchwolken von
ſich blaſend, ſprach er zwiſchen den Zaͤhnen: „Nun
Vetter, wie war es mit dem Wolf?“ — Ich weiß
nicht, wie dies ruhige Treiben des Alten ſeltſam
auf mich wirkte. — Es war, als ſey ich gar nicht
mehr in R. — ſitten — die Baronin weit — weit
von mir entfernt, ſo daß ich ſie nur mit den gefluͤ¬
gelten Gedanken erreichen koͤnne! — Die letzte Frage
des Alten verdroß mich. „Aber,“ fiel ich ein, „finden
[151] Sie mein Jagdabenteuer ſo luſtig, ſo zum Beſpoͤtteln
geeignet? „Mit nichten,“ erwiderte der Alte, „mit
nichten Herr Vetter, aber du glaubſt nicht, welch'
komiſches Geſicht ſolch ein Kiek in die Welt, wie du,
ſchneidet, und wie er ſich uͤberhaupt ſo poſſierlich da¬
bei macht, wenn der liebe Gott ihn einmal wuͤrdigt,
was beſonderes ihm paſſiren zu laſſen. — Ich hatte
einen akademiſchen Freund, der ein ſtiller, beſonne¬
ner, mit ſich einiger Menſch war. Der Zufall ver¬
wickelte ihn, der nie Anlaß zu dergleichen gab, in
eine Ehrenſache, und er, den die mehreſten Burſchen
fuͤr einen Schwaͤchling, fuͤr einen Pinſel hielten,
benahm ſich dabei mit ſolchem ernſtem entſchloſſenem
Muthe, daß alle ihn hoͤchlich bewunderten. Aber
ſeit der Zeit war er auch umgewandelt. Aus dem
fleißigen beſonnenen Juͤnglinge wurde ein prahlhaf¬
ter, unausſtehlicher, Raufbold. Er kommerſchirte
und jubelte, und ſchlug, dummer Kinderei halber,
ſich ſo lange, bis ihn der Senior einer Landsmann¬
ſchaft, die er auf poͤbelhafte Weiſe beleidigt, im Duell
niederſtieß. — Ich erzaͤhle dir das nur ſo, Vetter,
[152] du magſt dir dabei denken, was du willſt! — Um
nun wieder auf die Baronin und ihre Krankheit zu
kommen“ — Es ließen ſich in dem Augenblick leiſe
Tritte auf dem Saal hoͤren, und mir war es, als
ginge ein ſchauerliches Aechzen durch die Luͤfte! —
„Sie iſt hin!“ — der Gedanke durchfuhr mich wie
ein toͤdtender Blitz! — Der Alte ſtand raſch auf,
und rief laut: „Franz — Franz!“ — „Ja, lie¬
ber Herr Juſtitiarius,“ antwortete es draußen!
„Franz,“ fuhr der Alte fort, „ſchuͤre ein wenig das
Feuer im Kamin zuſammen, und iſt es thunlich, ſo
magſt du fuͤr uns ein Paar Taſſen guten Thee be¬
reiten!“ — „Es iſt verteufelt kalt,“ wandte ſich der
Alte zu mir, „und da wollen wir uns lieber draußen
am Kamine was erzaͤhlen.“ Der Alte ſchloß die
Thuͤr auf, ich folgte ihm mechaniſch. „Wie gehts
unten,“ frug der Alte. „Ach,“ erwiderte Franz,
„es hatte gar nicht viel zu bedeuten, die gnaͤdige
Frau Baronin ſind wieder ganz munter, und
ſchieben das bischen Ohnmacht auf einen boͤſen
Traum!“ — Ich wollte aufjauchzen vor Freude
[153] und Entzuͤcken, ein ſehr ernſter Blick des Alten
wies mich zur Ruhe. — „Ja,“ ſprach der Alte,
„im Grunde genommen waͤr's doch beſſer, wir leg¬
ten uns noch ein paar Stuͤndchen aufs Ohr —
Laß es nur gut ſeyn mit dem Thee, Franz!“ —
„Wie Sie befehlen, Herr Juſtitiarius,“ erwiderte
Franz, und verließ den Saal mit dem Wunſch einer
geruhſamen Nacht, unerachtet ſchon die Haͤhne
kraͤhten. „Hoͤre, Vetter!“ ſprach der Alte, indem
er die Pfeife im Kamin ausklopfte, „hoͤre, Vet¬
ter! gut iſt's doch, daß dir kein Malheur paſſirt
iſt mit Woͤlfen und geladenen Buͤchſen!“ — Ich
verſtand jetzt alles und ſchaͤmte mich, daß ich dem
Alten Anlaß gab, mich zu behandeln wie ein un¬
gezogenes Kind.


„Sey ſo gut,“ ſprach der Alte am andern
Morgen, „ſey ſo gut, lieber Vetter, ſteige herab
und erkundige dich, wie es mit der Baronin ſteht.
Du kannſt nur immer nach Fraͤulein Adelheid fra¬
gen, die wird dich denn wohl mit einem tuͤchtigen
[154] Bulletin verſehen.“ — Man kann denken, wie ich
hinab eilte. Doch in dem Augenblick, als ich leiſe an
das Vorgemach der Baronin pochen wollte, trat mir
der Baron raſch aus demſelben entgegen. Er blieb
verwundert ſtehen und maß mich mit finſterm,
durchbohrenden Blick. „Was wollen Sie hier!“
fuhr es ihm heraus. Unerachtet mir das Herz im
Innerſten ſchlug, nahm ich mich zuſammen und er¬
wiederte mit feſtem Ton: „Mich im Auftrage des
Onkels nach dem Befinden der gnaͤdigen Frau erkun¬
digen.“ „O es war ja gar nichts — ihr gewoͤhn¬
licher Nervenzufall. Sie ſchlaͤft ſanft, und ich
weiß, daß ſie wohl und munter bei der Tafel er¬
ſcheinen wird! — Sagen Sie das — Sagen Sie
das“ — Dies ſprach der Baron mit einer gewiſſen
leidenſchaftlichen Heftigkeit, die mir anzudeuten
ſchien, daß er um die Baronin beſorgter ſey, als
er es wolle merken laſſen. Ich wandte mich, um
zuruͤckzukehren, da ergriff der Baron ploͤtzlich mei¬
nen Arm und rief mit flammendem Blick: „Ich
habe mit Ihnen zu ſprechen, junger Mann!“ —
[155] Sah' ich nicht den ſchwerbeleidigten Gatten vor
mir, und mußt ich nicht einen Auftritt befuͤrchten,
der vielleicht ſchmachvoll fuͤr mich enden konnte?
Ich war unbewaffnet, doch im Moment beſann ich
mich auf mein kuͤnſtliches Jagdmeſſer, das mir der
Alte erſt in R..ſitten geſchenkt und das ich noch
in der Taſche trug. Nun folgte ich dem mich raſch
fortziehenden Baron mit dem Entſchluß keines Le¬
ben zu ſchonen, wenn ich Gefahr laufen ſollte, un¬
wuͤrdig behandelt zu werden. Wir waren in des
Barons Zimmer eingetreten, deſſen Thuͤr er hinter
ſich abſchloß. Nun ſchritt er mit uͤbereinanderge¬
ſchlagenen Armen heftig auf und ab, dann blieb er
vor mir ſtehen und wiederholte: „Ich habe mit
Ihnen zu ſprechen, junger Mann!“ — Der ver¬
wegenſte Muth war mir gekommen, und ich wie¬
derholte mit erhoͤhtem Ton: „Ich hoffe, daß es
Worte ſeyn werden, die ich ungeahndet hoͤren
darf!“ Der Baron ſchaute mich verwundert an,
als verſtehe er mich nicht. Dann blickte er finſter
zur Erde, ſchlug die Arme uͤber den Ruͤcken und
[156] fing wieder an im Zimmer auf und abzurennen.


— Er nahm eine Buͤchſe herab und ſtieß den Lade¬
ſtock hinein, als wolle er verſuchen, ob ſie geladen
ſey oder nicht! — Das Blut ſtieg mir in den
Adern, ich faßte nach dem Meſſer und ſchritt dicht
auf den Baron zu, um es ihm unmoͤglich zu ma¬
chen, auf mich anzulegen. „Ein ſchoͤnes Gewehr,“
ſprach der Baron, die Buͤchſe wieder in den Win¬
kel ſtellend. Ich trat einige Schritte zuruͤck und
der Baron an mich heran; kraͤftiger auf meine
Schulter ſchlagend, als gerade noͤthig, ſprach er
dann: „Ich muß Ihnen aufgeregt und verſtoͤrt
vorkommen, Theodor! ich bin es auch wirklich von
der in tauſend Aengſten durchwachten Nacht. Der
Nervenzufall meiner Frau war durchaus nicht ge¬
faͤhrlich, das ſehe ich jetzt ein, aber hier — hier
in dieſem Schloß, in das ein finſt'rer Geiſt gebannt
iſt, fuͤrcht' ich das Entſetzliche, und dann iſt es auch
das erſte Mal, daß ſie hier erkrankte. Sie —
Sie allein ſind Schuld daran!“ — „Wie das
moͤglich ſeyn koͤnne, davon haͤtte ich keine Ah¬
[157] nung,“ erwiderte ich gelaſſen. „O,“ fuhr der
Baron fort, „o waͤre der verdammte Ungluͤckskaſten
der Inſpektorin auf blankem Eiſe zerbrochen in tau¬
ſend Stuͤcke, o waͤren Sie — doch nein! — nein!
Es ſollte, es mußte ſo ſeyn, und ich allein bin
Schuld an Allem. An mir lag es, in dem Augen¬
blick, als Sie anfingen in dem Gemach meiner
Frau Muſik zu machen, Sie von der ganzen Lage
der Sache, von der Gemuͤthsſtimmung meiner
Frau zu unterrichten“ — Ich machte Miene zu
ſprechen — „Laſſen Sie mich reden,“ rief der Ba¬
ron, „ich muß im Voraus Ihnen alles voreilige
Urtheil abſchneiden. Sie werden mich fuͤr einen
rauhen, der Kunſt abholden Mann halten. Ich
bin das keinesweges, aber eine, auf tiefe Ueberzeu¬
gung gebaute Ruͤckſicht noͤthigt mich, hier wo
moͤglich ſolcher Muſik, die jedes Gemuͤth, und
auch gewiß das meinige ergreift, den Eingang zu
verſagen. Erfahren Sie, daß meine Frau an einer
Erregbarkeit kraͤnkelt, die am Ende alle Lebens¬
freude wegzehren muß. In dieſen wunderlichen
[158] Mauern kommt ſie gar nicht heraus aus dem er¬
hoͤhten, uͤberreitzten Zuſtande, der ſonſt nur mo¬
mentan einzutreten pflegt, und zwar oft als Vor¬
bote einer ernſten Krankheit. Sie fragen mit
Recht, warum ich der zarten Frau dieſen ſchauerli¬
chen Aufenthalt, dieſes wilde verwirrte Jaͤgerleben
nicht erſpare? Aber nennen Sie es immerhin
Schwaͤche, genug, mir iſt es nicht moͤglich ſie
allein zuruͤckzulaſſen. In tauſend Aengſten und
nicht faͤhig Ernſtes zu unternehmen wuͤrde ich ſeyn,
denn ich weiß es, die entſetzlichſten Bilder von aller¬
lei verſtoͤrendem Ungemach, das ihr wiederfahren,
verließen mich nicht im Walde, nicht im Gerichts¬
ſaal — Dann aber glaube ich auch, daß dem ſchwaͤch¬
lichen Weibe gerade dieſe Wirthſchaft hier wie ein
erkraͤftigendes Stahlbad anſchlagen muß — Wahr¬
haftig, der Seewind, der nach ſeiner Art tuͤchtig
durch die Foͤhren ſauſt, das dumpfe Gebelle der
Doggen, der keck und munter ſchmetternde Hoͤrner¬
klang muß hier ſiegen uͤber die verweichlenden,
ſchmachtelnden Pinſeleien am Clavier, das ſo kein
[159] Mann ſpielen ſollte, aber Sie haben es darauf an¬
gelegt, meine Frau methodiſch zu Tode zu quaͤ¬
len!“ — Der Baron ſagte dies mit verſtaͤrkter
Stimme und wildfunkelnden Augen — das Blut
ſtieg mir in den Kopf, ich machte eine heftige Be¬
wegung mit der Hand gegen den Baron, ich wollte
ſprechen, er ließ mich nicht zu Worte kommen.
„Ich weiß, was Sie ſagen wollen,“ fing er an,
„ich weiß es und wiederhole es, daß Sie auf dem
Wege waren meine Frau zu toͤdten, und daß ich
Ihnen dies auch nicht im mindeſten zurechnen kann,
wiewohl Sie begreifen, daß ich dem Dinge Einhalt
thun muß. — Kurz! — Sie exaltiren meine
Frau durch Spiel und Geſang, und als ſie in dem
bodenloſen Meere traͤumeriſcher Viſionen und Ah¬
nungen, die Ihre Muſik wie ein boͤſer Zauber her¬
aufbeſchworen hat, ohne Halt und Steuer umher¬
ſchwimmt, druͤcken Sie ſie hinunter in die Tiefe
mit der Erzaͤhlung eines unheimlichen Spuks, der
Sie oben im Gerichtsſaal geneckt haben ſoll. Ihr
Großonkel hat mir Alles erzaͤhlt, aber ich bitte
[160] Sie, wiederholen Sie mir Alles, was Sie ſahen oder
nicht ſahen — hoͤrten — fuͤhlten — ahnten.“
Ich nahm mich zuſammen und erzaͤhlte ruhig, wie
es ſich damit begeben, von Anfang bis zu Ende.
Der Baron warf nur dann und wann einzelne
Worte, die ſein Erſtaunen ausdruͤckten, dazwiſchen.
Als ich darauf kam, wie der Alte ſich mit frommen
Muth dem Spuk entgegengeſtellt und ihn gebannt
habe mit kraͤftigen Worten, ſchlug er die Haͤnde zu¬
ſammen, hob ſie gefaltet zum Himmel empor und
rief begeiſtert: „Ja, er iſt der Schutzgeiſt der
Familie! — ruhen ſoll in der Gruft der Ahnen
ſeine ſterbliche Huͤlle!“ — Ich hatte geendet.
„Daniel, Daniel! was machſt du hier zu dieſer
Stunde!“ murmelte der Baron in ſich hinein, in¬
dem er mit uͤbereinander geſchlagenen Armen im
Zimmer auf und abſchritt. „Weiter war es alſo
nichts, Herr Baron?“ frug ich laut, indem ich
Miene machte mich zu entfernen. Der Baron
fuhr auf wie aus einem Traum, faßte freundlich
mich bei der Hand und ſprach: „Ja — lieber
Freund![161] Freund! meine Frau, der ſie ſo arg mitgeſpielt
haben, ohne es zu wollen, die muͤſſen Sie wie¬
der herſtellen, — Sie allein koͤnnen das.“ Ich
fuͤhlte mich erroͤthend, und ſtand ich dem Spiegel
gegenuͤber, ſo erblickte ich gewiß in demſelben ein
ſehr albernes verdutztes Geſicht. Der Baron ſchien
ſich an meiner Verlegenheit zu weiden, er blickte
mir unverwandt ins Auge mit einem recht fata¬
len ironiſchen Laͤcheln. „Wie in aller Welt ſollte
ich es anfangen,“ ſtotterte ich endlich muͤhſam her¬
aus. „Nun, nun,“ unterbrach mich der Baron,
„Sie haben es mit keiner gefaͤhrlichen Patientin
zu thun. Ich nehme jetzt ausdruͤcklich Ihre Kunſt
in Anſpruch. Die Baronin iſt nun einmal her¬
eingezogen in den Zauberkreis Ihrer Muſik, und
ſie ploͤtzlich heraus zu reißen, wuͤrde thoͤrigt und
grauſam ſeyn. Setzen Sie die Muſik fort. Sie
werden zur Abendſtunde in den Zimmern meiner
Frau jedesmal willkommen ſeyn. Aber gehen Sie
nach und nach uͤber zu kraͤftigerer Muſik, verbin¬
den Sie geſchickt das Heitere mit dem Ernſten —
L[162] und dann, vor allen Dingen, wiederholen Sie die
Erzaͤhlung von dem unheimlichen Spuk recht oft.
Die Baronin gewoͤhnt ſich daran, ſie vergißt, daß
der Spuk hier in dieſen Mauern hauſet, und die
Geſchichte wirkt nicht ſtaͤrker auf ſie, als jedes an¬
dere Zaubermaͤrchen, das in irgend einem Roman,
in irgend einem Geſpenſterbuch, ihr aufgetiſcht
worden. Das thun Sie, lieber Freund!“ — Mit
dieſen Worten entließ mich der Baron — Ich
ging — Ich war vernichtet in meinem eignen
Innern, herabgeſunken zum bedeutungsloſen, thoͤ¬
rigten Kinde! — Ich Wahnſinniger, der ich glaubte,
Eiferſucht koͤnne ſich in ſeiner Bruſt regen; Er
ſelbſt ſchickt mich zu Seraphinen, er ſelbſt ſieht
in mir nur das willenloſe Mittel, das er braucht
und wegwirft, wie es ihm beliebt! — Vor wenig
Minuten fuͤrchtete ich den Baron, es lag in mir
tief im Hintergrunde verborgen das Bewußtſeyn
der Schuld, aber dieſe Schuld ließ mich das hoͤ¬
here, herrlichere Leben deutlich fuͤhlen, dem ich zu¬
gereift; nun war alles verſunken in ſchwarze Nacht,
[163] und ich ſah nur den albernen Knaben, der in kin¬
diſcher Verkehrtheit die papierne Krone, die er ſich
auf den heißen Kopf ſtuͤlpte, fuͤr aͤchtes Gold ge¬
halten. — Ich eilte zum Alten, der ſchon auf
mich wartete. „Nun Vetter, wo bleibſt du denn,
wo bleibſt du denn?“ rief er mir entgegen. „Ich
habe mit dem Baron geſprochen,“ warf ich ſchnell
und leiſe hin, ohne den Alten anſchauen zu koͤn¬
nen. „Tauſend Sapperlot!“ — ſprach der Alte
wie verwundert, „Tauſend Sapperlot, dacht' ich's
doch gleich! — der Baron hat dich gewiß her¬
ausgefordert, Vetter?“ — Das ſchallende Gelaͤch¬
ter, das der Alte gleich hinterher aufſchlug, be¬
wies mir, daß er auch dieſes Mal, wie immer,
ganz und gar mich durchſchaute — Ich biß die
Zaͤhne zuſammen — ich mochte kein Wort erwi¬
dern, denn wohl wußt' ich, daß es deſſen nur be¬
durfte, um ſogleich von den tauſend Neckereien
uͤberſchuͤttet zu werden, die ſchon auf des Alten
Lippen ſchwebten.


L 2[164]

Die Baronin kam zur Tafel im zierlichen
Morgenkleide, das, blendend weiß, friſch gefalle¬
nen Schnee beſiegte. Sie ſah matt aus und ab¬
geſpannt, doch als ſie nun leiſe und melodiſch
ſprechend die dunkeln Augen erhob, da blitzte ſuͤ¬
ßes, ſehnſuͤchtiges Verlangen aus duͤſterer Glut,
und ein fluͤchtiges Roth uͤberflog das lilienblaſſe
Antlitz. Sie war ſchoͤner als jemals — Wer er¬
mißt die Thorheiten eines Juͤnglings mit zu hei¬
ßem Blut im Kopf und Herzen! — Den bittern
Groll, den der Baron in mir aufgeregt, trug ich
uͤber auf die Baronin. Alles erſchien mir wie
eine heilloſe Myſtifikation, und nun wollt' ich be¬
weiſen, daß ich gar ſehr bey vollem Verſtande ſey,
und uͤber die Maßen ſcharfſichtig. — Wie ein
ſchmollendes Kind vermied ich die Baronin, und
entſchluͤpfte der mich verfolgenden Adelheid, ſo
daß ich, wie ich gewollt, ganz am Ende der Ta¬
fel zwiſchen den beiden Offizieren meinen Platz
fand, mit denen ich wacker zu zechen begann.
Beim Nachtiſch ſtießen wir fleißig die Glaͤſer zu¬
[165] ſammen, und, wie es in ſolcher Stimmung zu
geſchehen pflegt, ich war ungewoͤhnlich laut und
luſtig. Ein Bedienter hielt mir einen Teller
hin, auf dem einige Bonbons lagen, mit den
Worten: „von Fraͤulein Adelheid.“ Ich nahm,
und bemerkte bald, daß auf einem der Bonbons
mit Silberſtift gekritzelt ſtand: „Und Seraphine?“
— Das Blut wallte mir auf in den Adern. Ich
ſchaute hin nach Adelheid, die ſah mich an mit
uͤberaus ſchlauer, verſchmitzter Miene, nahm das
Glas und nickte mir zu mit leiſem Kopfnicken.
Beinahe willkuͤhrlos murmelte ich ſtill: „Sera¬
phine,“ nahm mein Glas und leerte es mit einem
Zuge. Mein Blick flog hin zu ihr, ich gewahrte,
daß ſie auch in dem Augenblick getrunken hatte,
und ihr Glas eben hinſetzte — ihre Augen tra¬
fen die meinen, und ein ſchadenfroher Teufel
raunte es mir in die Ohren: „Unſeliger! — Sie
liebt dich doch!“ — Einer der Gaͤſte ſtand auf,
und brachte, nordiſcher Sitte gemaͤß, die Geſund¬
heit der Frau vom Hauſe aus — Die Glaͤſer er¬
[166] klangen im lauten Jubel — Entzuͤcken und Verzweif¬
lung ſpalteten mir das Herz, — die Glut des Weins
flammte in mir auf, alles drehte ſich in Kreiſen, es
war, als muͤßte ich vor Aller Augen hinſtuͤrzen zu
ihren Fuͤßen, und mein Leben aushauchen! — „Was
iſt Ihnen, lieber Freund?“ Dieſe Frage meines
Nachbars gab mir die Beſinnung wieder, aber Se¬
raphine war verſchwunden. — Die Tafel wurde
aufgehoben. Ich wollte fort, Adelheid hielt mich
feſt, ſie ſprach allerley, ich hoͤrte, ich verſtand kein
Wort — ſie faßte mich bei beiden Haͤnden, und rief
mir laut lachend etwas in die Ohren — Wie von
der Starrſucht gelaͤhmt, blieb ich ſtumm und re¬
gungslos. Ich weiß nur, daß ich endlich mecha¬
niſch ein Glas Likoͤr aus Adelheids Hand nahm, und
es austrank, daß ich mich einſam in einem Fenſter
wiederfand, daß ich dann hinausſtuͤrzte aus dem
Saal, die Treppe hinab, und hinaus lief in den
Wald. In dichten Flocken fiel der Schnee herab,
die Foͤhren ſeufzten vom Sturm bewegt; wie ein
Wahnſinniger ſprang ich umher in weiten Kreiſen,
[167] und lachte und ſchrie wild auf: Schaut zu, ſchaut
zu! — Heiſa! der Teufel macht ſein Taͤnzchen mit
dem Knaben, der zu ſpeiſen gedachte total verbotene
Fruͤchte! — Wer weiß, wie mein tolles Spiel geen¬
det, wenn ich nicht meinen Namen laut in den Wald
hinein rufen gehoͤrt. Das Wetter hatte nachgelaſ¬
ſen, der Mond ſchien hell durch die zerriſſenen Wol¬
ken, ich hoͤrte Doggen anſchlagen, und gewahrte eine
finſtere Geſtalt, die ſich mir naͤherte. Es war der
alte Jaͤger. „Ei, ei, lieber Herr Theodor!“ fing
er an, „wie haben Sie ſich denn verirrt in dem boͤ¬
ſen Schneegeſtoͤber, der Herr Juſtitiarius warten
auf Sie mit vieler Ungeduld!“ — Schweigend
folgte ich dem Alten. Ich fand den Großonkel im
Gerichtsſaal arbeitend. „Das haſt du gut gemacht,“
rief er mir entgegen, „das haſt du ſehr gut gemacht,
daß du ein wenig ins Freie gingſt, um dich gehoͤrig
abzukuͤhlen. Trinke doch nicht ſo viel Wein, du biſt
noch viel zu jung dazu, das taugt nicht.“ — Ich
brachte kein Wort hervor, ſchweigend ſetzte ich mich
hin an den Schreibtiſch. „Aber, ſage mir nur, lie¬
[168] ber Vetter, was wollte denn eigentlich der Baron
von dir?“ — Ich erzaͤhlte alles, und ſchloß da¬
mit, daß ich mich nicht hergeben wollte zu der
zweifelhaften Cur, die der Baron vorgeſchlagen.
„Wuͤrde auch gar nicht angehen,“ fiel der Alte
mir in die Rede, „denn wir reiſen morgen in al¬
ler Fruͤhe fort, lieber Vetter!“ — Es geſchah
ſo, ich ſah Seraphinen nicht wieder! —


Kaum angekommen in K. klagte der alte
Großonkel, daß er mehr als jemals ſich von der
beſchwerlichen Fahrt angegriffen fuͤhle. Sein muͤr¬
riſches Schweigen, nur unterbrochen von heftigen
Ausbruͤchen der uͤbelſten Laune, verkuͤndete die
Ruͤckkehr ſeiner podagriſtiſchen Zufaͤlle. Eines Ta¬
ges wurd' ich ſchnell hingerufen, ich fand den Al¬
ten, vom Schlage getroffen, ſprachlos auf dem
Lager einen zerknitterten Brief in der krampfhaft
geſchloſſenen Hand. Ich erkannte die Schriftzuͤge
des Wirthſchafts-Inſpektors aus R — ſitten, doch,
von dem tiefſten Schmerz durchdrungen, wagte ich
es nicht, den Brief dem Alten zu entreißen, ich
[169] zweifelte nicht an ſeinem baldigen Tod. Doch,
noch ehe der Arzt kam, ſchlugen die Lebenspulſe
wieder, die wunderbar kraͤftige Natur des ſiebzig¬
jaͤhrigen Greiſes widerſtand dem toͤdtlichen Anfall,
noch deſſelben Tages erklaͤrte ihn der Arzt außer
Gefahr. Der Winter war hartnaͤckiger als je¬
mals, ihm folgte ein rauher, duͤſterer Fruͤhling,
und ſo kam es, daß nicht jener Zufall ſowol, als
das Podagra, von dem boͤſen Klima wohl gehegt,
den Alten fuͤr lange Zeit auf das Krankenlager
warf. In dieſer Zeit beſchloß er, ſich von jedem
Geſchaͤft ganz zuruͤck zu ziehen. Er trat ſeine Ju¬
ſtitiariate an andere ab, und ſo war mir jede
Hoffnung verſchwunden, jemals wieder nach R — ſit¬
ten zu kommen. Nur meine Pflege litt der
Alte, nur von mir verlangte er unterhalten, auf¬
geheitert zu werden. Aber wenn auch in ſchmerz¬
loſen Stunden ſeine Heiterkeit wiedergekehrt war,
wenn es an derben Spaͤßen nicht fehlte, wenn es
ſelbſt zu Jagdgeſchichten kam, und ich jeden Augen¬
blick vermuthete, meine Heldenthat, wie ich den
[170] greulichen Wolf mit dem Jagdmeſſer erlegte, wuͤrde
herhalten muͤſſen; niemals — niemals erwaͤhnte
er unſeres Aufenthalts in R — ſitten, und wer
mag nicht einſehen, daß ich, aus natuͤrlicher Scheu,
mich wohl huͤtete, ihn geradezu darauf zu brin¬
gen. — Meine bittere Sorge, meine ſtete Muͤhe
um den Alten, hatte Seraphinens Bild in den
Hintergrund geſtellt. So wie des Alten Krank¬
heit nachließ, gedachte ich lebhafter wieder jenes
Moments im Zimmer der Baronin, der mir wie
ein leuchtender, auf ewig fuͤr mich untergegange¬
ner Stern erſchien. Ein Ereigniß rief allen em¬
pfundenen Schmerz hervor, indem es mich zu¬
gleich, wie eine Erſcheinung aus der Geiſterwelt,
mit eiskalten Schauern durchbebte! — Als ich
naͤmlich eines Abends die Brieftaſche, die ich in
R — ſitten getragen, oͤffne, faͤllt mir aus den auf¬
geblaͤtterten Papieren eine dunkle, mit einem wei¬
ßen Bande umſchlungene Locke entgegen, die ich
augenblicklich fuͤr Seraphinens Haar erkenne! Aber,
als ich das Band naͤher betrachte, ſehe ich deut¬
[171] lich die Spur eines Blutstropfens! — Vielleicht
wußte Adelheid in jenen Augenblicken des bewußt¬
loſen Wahnſinns, der mich am letzten Tage er¬
griffen, mir dies Andenken geſchickt zuzuſtellen,
aber warum der Blutstropfe, der mich Entſetzli¬
ches ahnen ließ, und jenes beinahe zu ſchaͤfermaͤ¬
ßige Pfand zur ſchauervollen Mahnung an eine
Leidenſchaft, die theures Herzblut koſten konnte,
hinaufſteigerte? — Das war jenes weiße Band,
das mich, zum erſten Mal Seraphinen nahe, wie
im leichten loſen Spiel umflatterte, und dem nun
die dunkle Nacht das Wahrzeichen der Verletzung
zum Tode gegeben. Nicht ſpielen ſoll der Knabe
mit der Waffe, deren Gefaͤhrlichkeit er nicht er¬
mißt! —


Endlich hatten die Fruͤhlingsſtuͤrme zu toben
aufgehoͤrt, der Sommer behauptete ſein Recht,
und war erſt die Kaͤlte unertraͤglich, ſo wurd' es
nun, als der Julius begonnen, die Hitze. Der
Alte erkraͤftigte ſich zuſehends, und zog, wie er
ſonſt zu thun pflegte, in einen Garten der Vor¬
[172] ſtadt. An einem ſtillen lauen Abende ſaßen wir
in der duftenden Jasminlaube, der Alte war un¬
gewoͤhnlich heiter, und dabei nicht, wie ſonſt, voll
ſarkaſtiſcher Ironie, ſondern mild, beinahe weich
geſtimmt. „Vetter,“ fing er an, „ich weiß nicht,
wie mir heute iſt, ein ganz beſonderes Wohlſeyn,
wie ich es ſeit vielen Jahren nicht gefuͤhlt, durch¬
dringt mich mit gleichſam elektriſcher Waͤrme. Ich
glaube, das verkuͤndet mir einen baldigen Tod.“
Ich muͤhte mich, ihn von dem duͤſtern Gedanken
abzubringen. „Laß es gut ſeyn, Vetter,“ ſprach
er, „lange bleibe ich nicht mehr hier unten, und
da will ich dir noch eine Schuld abtragen! —
Denkſt du noch an die Herbſtzeit in R — ſitten?“
— Wie ein Blitz durchfuhr mich dieſe Frage des
Alten, noch ehe ich zu antworten vermochte, fuhr
er weiter fort: „Der Himmel wollte es, daß du
dort auf ganz eigne Weiſe eintratſt, und wider
deinen Willen eingeflochten wurdeſt in die tiefſten
Geheimniſſe des Hauſes. Jetzt iſt es an der Zeit,
daß du alles erfahren mußt. Oft genug, Vetter!
[173] haben wir uͤber Dinge geſprochen, die du mehr
ahnteſt, als verſtandeſt. Die Natur ſtellt den Cy¬
klus des menſchlichen Lebens in dem Wechſel der
Jahreszeiten ſymboliſch dar, das ſagen ſie Alle, aber
ich meine das auf andere Weiſe als Alle. Die Fruͤh¬
lingsnebel fallen, die Duͤnſte des Sommers ver¬
dampfen, und erſt des Herbſtes reiner Aether zeigt
deutlich die ferne Landſchaft, bis das Hienieden ver¬
ſinkt in die Nacht des Winters. — Ich meine, daß
im Hellſehen des Alters ſich deutlicher das Walten
der unerforſchlichen Macht zeigt. Es ſind Blicke
vergoͤnnt in das gelobte Land, zu dem die Pilger¬
fahrt beginnt mit dem zeitlichen Tode. Wie wird
mir in dieſem Augenblick ſo klar das dunkle Ver¬
haͤngniß jenes Hauſes, dem ich durch feſtere Bande,
als Verwandtſchaft ſie zu ſchlingen vermag, ver¬
knuͤpft wurde. Wie liegt alles ſo erſchloſſen vor mei¬
nes Geiſtes Augen! — doch, wie ich nun alles ſo
geſtaltet vor mir ſehe, das Eigentliche, das kann ich
dir nicht mit Worten ſagen, keines Menſchen Zunge
iſt deſſen faͤhig. Hoͤre mein Sohn das, was ich
[174] dir nur wie eine merkwuͤrdige Geſchichte, die ſich
wohl zutragen konnte, zu erzaͤhlen vermag. Be¬
wahre tief in deiner Seele die Erkenntniß, daß die
geheimnißvollen Beziehungen, in die du dich viel¬
leicht nicht unberufen wagteſt, dich verderben konn¬
ten! — doch — das iſt nun voruͤber!“ —


Die Geſchichte des R***ſchen Majorats, die
der Alte jetzt erzaͤhlte, trage ich ſo treu im Gedaͤcht¬
niß, daß ich ſie beinahe mit ſeinen Worten (er ſprach
von ſich ſelbſt in der dritten Perſon) zu wiederholen
vermag.


In einer ſtuͤrmiſchen Herbſtnacht des Jahres
1760 weckte ein entſetzlicher Schlag, als falle das
ganze weitlaͤuftige Schloß in tauſend Truͤmmer zu¬
ſammen, das Hausgeſinde in R — ſitten aus tiefem
Schlafe. Im Nu war alles auf den Beinen, Lich¬
ter wurden angezuͤndet, Schrecken und Angſt im
leichenblaſſen Geſicht keuchte der Hausverwalter mit
den Schluͤſſeln herbei, aber nicht gering war jedes
Erſtaunen, als man in tiefer Todtenſtille, in der
[175] das pfeifende Geraſſel der muͤhſam geoͤffneten Schloͤſ¬
ſer, jeder Fußtritt, recht ſchauerlich wiederhallte,
durch unverſehrte Gaͤnge, Saͤle, Zimmer, fort und
fort wandelte. Nirgends die mindeſte Spur irgend
einer Verwuͤſtung. Eine finſtere Ahnung erfaßte
den alten Hausverwalter. Er ſchritt hinauf in den
großen Ritterſaal, in deſſen Seitenkabinet der Frei¬
herr Roderich von R. zu ruhen pflegte, wenn er
aſtronomiſche Beobachtungen angeſtellt. Eine zwi¬
ſchen der Thuͤr dieſes und eines andern Kabinets an¬
gebrachte Pforte fuͤhrte durch einen engen Gang
unmittelbar in den aſtronomiſchen Thurm. Aber
ſo wie Daniel (ſo war der Hausverwalter geheißen)
dieſe Pforte oͤffnete, warf ihm der Sturm, abſcheu¬
lig heulend und ſauſend, Schutt und zerbroͤckelte
Mauerſteine entgegen, ſo daß er vor Entſetzen weit
zuruͤckprallte, und, indem er den Leuchter, deſſen
Kerzen praſſelnd verloͤſchten, an die Erde fallen ließ,
laut aufſchrie: „O Herr des Himmels! der Ba¬
ron iſt jaͤmmerlich zerſchmettert!“ — In dem Au¬
genblick ließen ſich Klagelaute vernehmen, die aus
[176] dem Schlafkabinet des Freiherrn kamen. Daniel
fand die uͤbrigen Diener um den Leichnam ihres
Herrn verſammelt. Vollkommen und reicher geklei¬
det als jemals, ruhigen Ernſt im unentſtellten Ge¬
ſichte, fanden ſie ihn ſitzend in dem großen reich ver¬
zierten Lehnſtuhle, als ruhe er aus von gewichtiger
Arbeit. Es war aber der Tod, in dem er aus¬
ruhte. Als es Tag geworden, gewahrte man, daß
die Krone des Thurms in ſich eingeſtuͤrzt. Die gro¬
ßen Quaderſteine hatten Decke und Fußboden des
aſtronomiſchen Zimmers eingeſchlagen, nebſt den nun
voran ſtuͤrzenden maͤchtigen Balken, mit gedoppel¬
ter Kraft des Falles das untere Gewoͤlbe durchbro¬
chen, und einen Theil der Schloßmauer und des en¬
gen Ganges mit fort geriſſen. Nicht einen Schritt
durch die Pforte des Saals durfte man thun, ohne
Gefahr wenigſtens achtzig Fuß hinab zu ſtuͤrzen in
tiefe Gruft.


Der alte Freiherr hatte ſeinen Tod bis auf die
Stunde vorausgeſehen, und ſeine Soͤhne davon be¬
nachrichtigt. So geſchah es, daß gleich folgenden
[177] Tages Wolfgang Freiherr von R., aͤlteſter Sohn
des Verſtorbenen, mithin Majoratsherr, eintraf.
Auf die Ahnung des alten Vaters wohl bauend,
hatte er, ſo wie er den verhaͤngnißvollen Brief
erhalten, ſogleich Wien, wo er auf der Reiſe ſich
gerade befand, verlaſſen, und war, ſo ſchnell es
nur gehen wollte, nach R — ſitten geeilt. Der
Hausverwalter hatte den großen Saal ſchwarz
ausſchlagen, und den alten Freiherrn in den Klei¬
dern, wie man ihn gefunden, auf ein praͤchtiges
Paradebette, das hohe ſilberne Leuchter mit bren¬
nenden Kerzen umgaben, legen laſſen. Schwei¬
gend ſchritt Wolfgang die Treppe herauf, in den
Saal hinein, und dicht hinan an die Leiche des
Vaters. Da blieb er mit uͤber die Bruſt ver¬
ſchraͤnkten Armen ſtehen, und ſchaute ſtarr und
duͤſter, mit zuſammengezogenen Augenbrauen, dem
Vater ins bleiche Antlitz. Er glich einer Bild¬
ſaͤule, keine Thraͤne kam in ſeine Augen. End¬
lich, mit einer beinahe krampfhaften Bewegung,
den rechten Arm hin nach der Leiche zuckend,
M[178] murmelte er dumpf: „Zwangen dich die Geſtirne,
den Sohn, den du liebteſt, elend zu machen?“ —
Die Haͤnde zuruͤckgeworfen, einen kleinen Schritt
hinter ſich getreten, warf nun der Baron den
Blick in die Hoͤhe, und ſprach mit geſenkter, bei¬
nahe weicher Stimme: „Armer, bethoͤrter Greis!
— Das Faſtnachtsſpiel mit ſeinen laͤppiſchen Taͤu¬
ſchungen iſt nun voruͤber! — Nun magſt du er¬
kennen, daß das kaͤrglich zugemeſſene Beſitzthum
hienieden nichts gemein hat mit dem Jenſeits uͤber
den Sternen — Welcher Wille, welche Kraft
reicht hinaus uͤber das Grab?“ — Wieder ſchwieg
der Baron einige Sekunden — dann rief er hef¬
tig: „Nein, nicht ein Quentlein meines Erden¬
gluͤcks, das du zu vernichten trachteteſt, ſoll mir
dein Starrſinn rauben,“ und damit riß er ein
zuſammengelegtes Papier aus der Taſche, und
hielt es zwiſchen zwey Fingern hoch empor an
eine dicht bei der Leiche ſtehende brennende Kerze.
Das Papier, von der Kerze ergriffen, flackerte
hoch auf, und als der Wiederſchein der Flamme
[179] auf dem Geſicht des Leichnams hin und her zuckte
und ſpielte, war es, als ruͤhrten ſich die Muskeln
und der Alte ſpraͤche tonloſe Worte, ſo daß, der
entfernt ſtehenden Dienerſchaft tiefes Grauen und
Entſetzen ankam. Der Baron vollendete ſein Ge¬
ſchaͤft mit Ruhe, indem er das letzte Stuͤckchen
Papier, das er flammend zu Boden fallen laſſen,
mit dem Fuße ſorglich austrat. Dann warf er
noch einen duͤſtern Blick auf den Vater, und eilte
mit ſchnellen Schritten zum Saal hinaus.


Andern Tages machte Daniel den Freiherrn
mit der neuerlich geſchehenen Verwuͤſtung des
Thurms bekannt, und ſchilderte mit vielen Wor¬
ten, wie ſich uͤberhaupt alles in der Todesnacht
des alten ſeligen Herrn zugetragen, indem er da¬
mit endete, daß es wohl gerathen ſeyn wuͤrde, ſo¬
gleich den Thurm herſtellen zu laſſen, da, ſtuͤrze
er noch mehr zuſammen, das ganze Schloß in
Gefahr ſtehe, wo nicht zertruͤmmert, doch hart
beſchaͤdigt zu werden.


M 2[180]

„Den Thurm herſtellen?“ fuhr der Freiherr
den alten Diener, funkelnden Zorn in den Au¬
gen, an, „den Thurm herſtellen? — Nimmer¬
mehr! — Merkſt du denn nicht,“ fuhr er dann
gelaſſener fort, „merkſt du denn nicht Alter, daß
der Thurm nicht ſo, ohne weitern Anlaß, einſtuͤr¬
zen konnte? — Wie, wenn mein Vater ſelbſt die
Vernichtung des Orts, wo er ſeine unheimliche
Sterndeuterey trieb, gewuͤnſcht, wie, wenn er ſelbſt
gewiſſe Vorrichtungen getroffen haͤtte, die es ihm
moͤglich machten, die Krone des Thurms, wenn
er wollte, einſtuͤrzen, und ſo das Innere des
Thurms zerſchmettern zu laſſen? Doch dem ſey
wie ihm wolle, und mag auch das ganze Schloß
zuſammenſtuͤrzen, mir iſt es Recht. Glaubt ihr
denn, daß ich in dem abenteuerlichen Eulenneſte
hier hauſen werde? — Nein! jener kluge Ahn¬
herr, der in dem ſchoͤnen Thalgrunde die Funda¬
mente zu einem neuen Schloß legen ließ, der hat
mir vorgearbeitet, dem will ich folgen.“ „Und ſo
werden,“ ſprach Daniel kleinlaut, „dann auch
[181] wohl die alten treuen Diener den Wanderſtab zur
Hand nehmen muͤſſen.“ „Daß ich“ erwiderte der
Freiherr, „mich nicht von unbehuͤlflichen ſchlotter¬
beinigten Greiſen bedienen laſſen werde, verſteht
ſich von ſelbſt, aber verſtoßen werde ich keinen.
Arbeitslos ſoll Euch das Gnadenbrod gut genug
ſchmecken.“ „Mich,“ rief der Alte voller Schmerz,
„mich, den Hausverwalter, ſo außer Aktivitaͤt —
Da wandte der Freiherr, der dem Alten den Ruͤk¬
ken gekehrt, im Begriff ſtand, den Saal zu ver¬
laſſen, ſich ploͤtzlich um, blutroth im ganzen Ge¬
ſichte vor Zorn, die geballte Fauſt vorgeſtreckt,
ſchritt er auf den Alten zu, und ſchrie mit fuͤrch¬
terlicher Stimme: „Dich, du alter heuchleriſcher
Schurke, der du mit dem alten Vater das un¬
heimliche Weſen triebſt dort oben, der du dich,
wie ein Vampir, an ſein Herz legteſt, der viel¬
leicht des Alten Wahnſinn verbrecheriſch nuͤtzte,
um in ihm die hoͤlliſchen Entſchluͤſſe zu erzeugen,
die mich an den Rand des Abgrunds brachten —
Dich ſollte ich hinausſtoßen wie einen raͤudigen
[182] Hund!“ — Der Alte war vor Schreck uͤber dieſe
entſetzlichen Reden, dicht neben dem Freiherrn, auf
beide Knie geſunken, und ſo mochte es geſchehen, daß
dieſer, indem er vielleicht unwillkuͤhrlich, wie denn
im Zorn oft der Koͤrper dem Gedanken mechaniſch
folgt, und das Gedachte mimiſch ausfuͤhrt, bei den
letzten Worten den rechten Fuß vorſchleuderte, den
Alten ſo hart an der Bruſt traf, daß er mit einem
dumpfen Schrey umſtuͤrzte. Er raffte ſich muͤhſam
in die Hoͤhe, und indem er einen ſonderbaren Laut,
gleich dem heulenden Gewimmer eines auf den Tod
wunden Thieres, ausſtieß, durchbohrte er den Frei¬
herrn mit einem Blick, in dem Wuth und Verzweif¬
lung gluͤhten. Den Beutel mit Geld, den ihm der
Freiherr im Davonſchreiten zugeworfen, ließ er un¬
beruͤhrt auf dem Fußboden liegen. —


Unterdeſſen hatten ſich die in der Gegend befind¬
lichen naͤchſten Verwandten des Hauſes eingefunden,
mit vielem Prunk wurde der alte Freiherr in der
Familiengruft, die in der Kirche von R — ſitten be¬
findlich, beigeſetzt, und nun, da die geladenen Gaͤſte
[183] ſich wieder entfernt, ſchien der neue Majorats-
Herr, von der duͤſtern Stimmung verlaſſen, ſich
des erworbenen Beſitzthums recht zu erfreuen. Mit
R., dem Juſtitiarius des alten Freiherrn, dem er
gleich, nachdem er ihn nur geſprochen, ſein volles
Vertrauen ſchenkte, und ihn in ſeinem Amt beſtaͤ¬
tigte, hielt er genaue Rechnung uͤber die Einkuͤnfte
des Majorats, und uͤberlegte, wie viel davon ver¬
wandt werden koͤnne zu Verbeſſerungen und zum
Aufbau eines neuen Schloſſes. V. meinte, daß der
alte Freiherr unmoͤglich ſeine jaͤhrlichen Einkuͤnfte
aufgezehrt haben koͤnne, und daß, da ſich unter den
Briefſchaften nur ein paar unbedeutende Capitalien
in Bankoſcheinen befanden, und die in einem eiſer¬
nen Kaſten befindliche baare Summe tauſend Thaler
nur um weniges uͤberſtiege, gewiß irgendwo noch
Geld verborgen ſeyn muͤſſe Wer anders konnte
davon unterrichtet ſeyn, als Daniel, der, ſtoͤrriſch
und eigenſinnig wie er war, vielleicht nur darauf
wartete, daß man ihn darum befrage. Der Baron
war nicht wenig beſorgt, daß Daniel, den er ſchwer
[184] beleidigt, nun nicht ſowol aus Eigennutz, denn was
konnte ihm, dem kinderloſen Greiſe, der im Stamm¬
ſchloſſe R — ſitten ſein Leben zu enden wuͤnſchte, die
groͤßte Summe Geldes helfen, als vielmehr, um
Rache zu nehmen fuͤr den erlittenen Schimpf, ir¬
gendwo verſteckte Schaͤtze lieber vermodern laſſen,
als ihm entdecken werde. Er erzaͤhlte V. den gan¬
zen Vorfall mit Daniel umſtaͤndlich, und ſchloß da¬
mit, daß nach mehreren Nachrichten, die ihm zuge¬
kommen, Daniel allein es geweſen ſey, der in dem
alten Freiherrn einen unerklaͤrlichen Abſcheu, ſeine
Soͤhne in R — ſitten wiederzuſehen, zu naͤhren ge¬
wußt habe. Der Juſtitiarius erklaͤrte dieſe Nach¬
richten durchaus fuͤr falſch, da kein menſchliches We¬
ſen auf der Welt im Stande geweſen ſey, des alten
Freiherrn Entſchluͤſſe nur einigermaßen zu lenken,
viel weniger zu beſtimmen, und uͤbernahm es uͤbri¬
gens, dem Daniel das Geheimniß, wegen irgend in
einem verborgenen Winkel aufbewahrten Geldes, zu
entlocken. Es bedurfte deſſen gar nicht, denn kaum
fing der Juſtitiarius an: „Aber wie kommt es
[185] denn, Daniel, daß der alte Herr ſo wenig baares
Geld hinterlaſſen?“ ſo erwiderte Daniel mit widri¬
gem Laͤcheln: „Meinen Sie die lumpigten paar
Thaler, Herr Juſtitiarius, die Sie in dem kleinen
Kaͤſtchen fanden? — das uͤbrige liegt ja im Gewoͤlbe
neben dem Schlafkabinet des alten gnaͤdigen Herrn!
— Aber das Beſte,“ fuhr er dann fort, indem ſein
Laͤcheln ſich zum abſcheulichen Grinſen verzog, und
blutrothes Feuer in ſeinen Augen funkelte, „aber
das Beſte, viele tauſend Goldſtuͤcke liegen da unten
im Schutt vergraben!“ — Der Juſtitiarius rief
ſogleich den Freiherrn herbei, man begab ſich in das
Schlafkabinet, in einer Ecke deſſelben ruͤckte Daniel
an dem Getaͤfel der Wand, und ein Schloß wurde
ſichtbar. Indem der Freiherr das Schloß mit gieri¬
gen Blicken anſtarrte, dann aber Anſtalt machte, die
Schluͤſſel, welche an dem großen Bunde hingen, den
er mit vielem Geklapper muͤhſam aus der Taſche ge¬
zerrt, an dem glaͤnzenden Schloſſe zu verſuchen, ſtand
Daniel da hoch aufgerichtet, und wie mit haͤmiſchem
Stolz herabblickend auf den Freiherrn, der ſich nie¬
[186] dergebuͤckt hatte, um das Schloß beſſer in Augen¬
ſchein zu nehmen. Den Tod im Antlitz, mit be¬
bender Stimme, ſprach er dann: „Bin ich ein
Hund, hochgnaͤdiger Freiherr! — ſo bewahr' ich
auch in mir des Hundes Treue.“ Damit reichte
er dem Baron einen blanken ſtaͤhlernen Schluͤſſel
hin, den ihm dieſer mit haſtiger Begier aus der
Hand riß, und die Thuͤr mit leichter Muͤhe oͤff¬
nete. Man trat in ein kleines, niedriges Ge¬
woͤlbe, in welchem eine große eiſerne Truhe mit
geoͤffnetem Deckel ſtand. Auf den vielen Geldſaͤk¬
ken lag ein Zettel. Der alte Freiherr hatte mit
ſeinen wohlbekannten großen altvaͤteriſchen Schrift¬
zuͤgen darauf geſchrieben:


Einmal hundert und funfzig tauſend Reichs¬
thaler in alten Friedrichsd'or erſpartes Geld
von den Einkuͤnften des Majoratsgutes R — ſit¬
ten, und iſt dieſe Summe beſtimmt zum Bau
des Schloſſes. Es ſoll ferner der Majorats¬
herr, der mir folgt, im Beſitzthum von die¬
ſem Gelde auf dem hoͤchſten Huͤgel oͤſtlich
[187] gelegen, dem alten Schloßthurm, den er ein¬
geſtuͤrzt finden wird, einen hohen Leuchtthurm,
zum Beſten der Seefahrer, auffuͤhren, und
allnaͤchtlich feuern laſſen. R — ſitten in der
Michaelisnacht des Jahres 1760.


Roderich Freiherr von R.


Erſt als der Freiherr die Beutel, einen nach
dem andern, gehoben, und wieder in den Ka¬
ſten fallen laſſen, ſich ergoͤtzend an dem klirren¬
den Klingen des Goldes, wandte er ſich raſch zu
dem alten Hausverwalter, dankte ihm fuͤr die be¬
wieſene Treue, und verſicherte, daß nur verlaͤum¬
deriſche Klaͤtſchereien Schuld daran waͤren, daß er
ihm Anfangs uͤbel begegnet. Nicht allein im
Schloſſe, ſondern in vollem Dienſt als Hausver¬
walter, mit verdoppeltem Gehalt, ſolle er bleiben.
„Ich bin dir volle Entſchaͤdigung ſchuldig, willſt
du Gold, ſo nimm dir einen von jenen Beuteln!“
— So ſchloß der Freiherr ſeine Rede, indem er
mit niedergeſchlagenen Augen, vor dem Alten ſte¬
[188] hend, mit der Hand nach dem Kaſten hinzeigte,
an den er nun aber noch einmal hintrat und die
Beutel muſterte. Dem Hausverwalter trat ploͤtz¬
lich gluͤhende Roͤthe ins Geſicht, und er ſties je¬
nen entſetzlichen, dem heulenden Gewimmer eines
auf den Tod wunden Thiers aͤhnlichen, Laut aus,
wie ihn der Freiherr dem Juſtitiarius beſchrieben.
Dieſer erbebte, denn was der Alte nun zwiſchen
den Zaͤhnen murmelte, klang, wie: Blut fuͤr Gold!“
— Der Freiherr, vertieft in dem Anblick des
Schatzes, hatte von Allem nicht das mindeſte be¬
merkt; Daniel, den es, wie im krampfigten Fie¬
berfroſt, durch alle Glieder geſchuͤttelt, nahte ſich
mit gebeugtem Haupt in demuͤthiger Stellung dem
Freiherrn, kuͤßte ihm die Hand, und ſprach mit
weinerlicher Stimme, indem er mit dem Taſchen¬
tuch ſich uͤber die Augen fuhr, als ob er Thraͤ¬
nen wegwiſche: „Ach, mein lieber gnaͤdiger Herr,
was ſoll ich armer, kinderloſer Greis mit dem
Golde? — aber das doppelte Gehalt, das nehme
[189] ich an mit Freuden, und will mein Amt verwal¬
ten ruͤſtig und unverdroſſen!“


Der Freiherr, der nicht ſonderlich auf die Worte
des Alten geachtet, ließ nun den ſchweren Deckel der
Truhe zufallen, daß das ganze Gewoͤlbe krachte und
droͤhnte, und ſprach dann, indem er die Truhe ver¬
ſchloß, und die Schluͤſſel ſorgfaͤltig auszog, ſchnell
hingeworfen: „Schon gut, ſchon gut Alter! —
Aber du haſt noch,“ fuhr er fort, nachdem ſie ſchon
in den Saal getreten waren, „aber du haſt noch von
vielen Goldſtuͤcken geſprochen, die unten im zerſtoͤr¬
ten Thurm liegen ſollen?“ Der Alte trat ſchwei¬
gend an die Pforte, und ſchloß ſie mit Muͤhe auf.
Aber ſo wie er die Fluͤgel aufriß, trieb der Sturm
dickes Schneegeſtoͤber in den Saal; aufgeſcheucht
flatterte ein Rabe kreiſchend und kraͤchzend umher,
ſchlug mit ſchwarzen Schwingen gegen die Fenſter,
und ſtuͤrzte ſich, als er die offne Pforte wieder ge¬
wonnen, in den Abgrund. Der Freiherr trat hin¬
aus in den Corridor, bebte aber zuruͤck, als er kaum
einen Blick in die Tiefe geworfen. „Abſcheulicher
[190] Anblick — Schwindel,“ ſtotterte er, und ſank, wie
ohnmaͤchtig, dem Juſtitiarius in die Arme. Er
raffte ſich jedoch wieder gleich zuſammen, und frug
den Alten mit ſcharfen Blicken erfaſſend: „Und
da unten?“ — Der Alte hatte indeſſen die Pforte
wieder verſchloſſen, er druͤckte nun noch mit ganzer
Leibeskraft dagegen, ſo daß er keuchte und aͤchzte,
um nur die großen Schluͤſſel aus den ganz verroſte¬
ten Schloͤſſern loswinden zu koͤnnen. Dies endlich
zu Stande gebracht, wandte er ſich um nach dem
Baron, und ſprach, die großen Schluͤſſel in der Hand
hin und her ſchiebend, mit ſeltſamen Laͤcheln: „Ja,
da unten liegen tauſend und tauſend — alle ſchoͤnen
Inſtrumente des ſeligen Herrn — Teleskope, Qua¬
dranten — Globen — Nachtſpiegel — alles liegt
zertruͤmmert im Schutt zwiſchen den Steinen und
Balken!“ — „Aber, baares Geld, baares Geld,“
fiel der Freiherr ein, „du haſt von Goldſtuͤcken ge¬
ſprochen, Alter?“ — „Ich meinte nur“ erwiderte
der Alte, „Sachen, welche viele tauſend Goldſtuͤcke
[191] gekoſtet.“ — Mehr war aus dem Alten nicht heraus¬
zubringen. —


Der Baron zeigte ſich hoch erfreut, nun, mit
einem Mal, zu allen Mitteln gelangt zu ſeyn, deren
er bedurfte, ſeinen Lieblingsplan ausfuͤhren, naͤmlich
ein neues praͤchtiges Schloß aufbauen zu koͤnnen.
Zwar meinte der Juſtitiarius, daß, nach dem Wil¬
len des Verſtorbenen, nur von der Reparatur, von
dem voͤlligen Ausbau des alten Schloſſes, die Rede
ſeyn koͤnne, und daß in der That jeder neue Bau
ſchwerlich die ehrwuͤrdige Groͤße, den ernſten einfa¬
chen Charakter des alten Stammhauſes, erreichen
werde, der Freiherr blieb aber bei ſeinem Vorſatz,
und meinte, daß in ſolchen Verfuͤgungen, die nicht
durch die Stiftungsurkunde ſanktioniert worden, der
todte des Dahingeſchiedenen weichen muͤſſe. Er gab
dabei zu verſtehen, daß es ſeine Pflicht ſey, den
Aufenthalt in R — ſitten ſo zu verſchoͤnern, als es
nur Klima, Boden und Umgebung zulaſſe, da er ge¬
denke, in kurzer Zeit, als ſein innig geliebtes Weib
[192] ein Weſen heimzufuͤhren, die in jeder Hinſicht der
groͤßten Opfer wuͤrdig ſey.


Die geheimnißvolle Art, wie der Freiherr ſich
uͤber das vielleicht ſchon ins Geheim geſchloſſene
Buͤndniß aͤußerte, ſchnitt dem Juſtitiarius jede weitere
Frage ab, indeſſen fand er ſich durch die Entſchei¬
dung des Freiherrn in ſofern beruhigt, als er wirk¬
lich in ſeinem Streben nach Reichthum mehr die
Begier, eine geliebte Perſon, das ſchoͤnere Vater¬
land, dem ſie entſagen mußte, ganz vergeſſen zu
laſſen, als eigentlichen Geiz, finden wollte. Fuͤr
geizig, wenigſtens fuͤr unausſtehlich habſuͤchtig
mußte er ſonſt den Baron halten, der, im Golde
wuͤhlend, die alten Friedrichsd'or beaͤugelnd, ſich
nicht enthalten konnte, muͤrriſch aufzufahren: „Der
alte Hallunke hat uns gewiß den reichſten Schatz
verſchwiegen, aber kuͤnftigen Fruͤhling laß' ich den
Thurm ausraͤumen unter meinen Augen. —


Baumeiſter kamen, mit denen der Freiherr weit¬
laͤuftig uͤberlegte, wie mit dem Bau am zweckmaͤßig¬
[193] ſten zu verfahren ſey. Er verwarf Zeichnung auf
Zeichnung, keine Architektur war ihm reich, gro߬
artig genug. Nun fing er an, ſelbſt zu zeichnen,
und, aufgeheitert durch dieſe Beſchaͤftigungen, die
ihm beſtaͤndig das ſonnenhelle Bild der gluͤcklich¬
ſten Zukunft vor Augen ſtellten, erfaßte ihn eine
frohe Laune, die oft an Ausgelaſſenheit anſtreifte,
und die er allen mitzutheilen wußte. Seine Frei¬
gebigkeit, die Opulenz ſeiner Bewirthung, wider¬
legte wenigſtens jeden Verdacht des Geizes. Auch
Daniel ſchien nun ganz jenen Tort, der ihm ge¬
ſchehen, vergeſſen zu haben. Er betrug ſich ſtill
und demuͤthig gegen den Freiherrn, der ihn, des
Schatzes in der Tiefe halber, oft mit mißtraui¬
ſchen Blicken verfolgte. Was aber allen wunder¬
bar vorkam, war, daß der Alte ſich zu verjuͤngen
ſchien von Tage zu Tage. Es mochte ſeyn, daß
ihn der Schmerz um den alten Herrn tief ge¬
beugt hatte, und er nun den Verluſt zu verſchmer¬
zen begann, wohl aber auch, daß er nun nicht,
wie ſonſt, kalte Naͤchte ſchlaflos auf dem Thurm
N[194] zubringen, und beſſere Koſt, guten Wein, wie es
ihm gefiel, genießen durfte, genug, aus dem Greiſe
ſchien ein ruͤſtiger Mann werden zu wollen mit
rothen Wangen und wohlgenaͤhrtem Koͤrper, der
kraͤftig auftrat, und mit lauter Stimme mitlachte,
wo es einen Spaß gab — Das luſtige Leben in
R — ſitten wurde durch die Ankunft eines Man¬
nes unterbrochen, von dem man haͤtte denken ſol¬
len, er gehoͤre nun gerade hin. Wolfgangs juͤn¬
gerer Bruder, Hubert, war dieſer Mann, bei deſ¬
ſen Anblick Wolfgang, im Antlitz den bleichen Tod,
laut aufſchrie: „Ungluͤcklicher, was willſt du hier!“
— Hubert ſtuͤrzte dem Bruder in die Arme, die¬
ſer faßte ihn aber, und zog ihn mit ſich fort und
hinauf in ein entferntes Zimmer, wo er ſich mit
ihm einſchloß. Mehrere Stunden blieben beide
zuſammen, bis endlich Hubert herab kam mit ver¬
ſtoͤrtem Weſen, und nach ſeinen Pferden rief.
Der Juſtitiarius trat ihm in den Weg, er wollte
voruͤber; V., von der Ahnung ergriffen, daß viel¬
leicht gerade hier ein toͤdtlicher Bruderzwiſt enden
[195] koͤnne, bat ihn, wenigſtens ein paar Stunden zu
verweilen, und in dem Augenblick kam auch der
Freiherr herab, laut rufend: „Bleibe hier, Hu¬
bert! — Du wirſt dich beſinnen!“ — Huberts
Blicke heiterten ſich auf, er gewann Faſſung, und
indem er den reichen Leibpelz, den er, ſchnell ab¬
gezogen, hinter ſich dem Bedienten zuwarf, nahm
er V — s Hand, und ſprach mit ihm, in die Zim¬
mer ſchreitend, mit einem verhoͤhnenden Laͤcheln:
„Der Majoratsherr will mich doch alſo hier lei¬
den.“ V. meinte, daß gewiß ſich jetzt das un¬
gluͤckliche Mißverſtaͤndniß loͤſen werde, welches
nur bei getrenntem Leben habe gedeihen koͤnnen.
Hubert nahm die ſtaͤhlerne Zange, die beim Ka¬
min ſtand, zur Hand, und, indem er damit ein
aſtiges, dampfendes Stuͤck Holz auseinander klopfte,
und das Feuer beſſer aufſchuͤrte, ſprach er zu V.:
„Sie merken, Herr Juſtitiarius, daß ich ein gut¬
muͤthiger Menſch bin, und geſchickt zu allerlei
haͤuslichen Dienſten. Aber Wolfgang iſt voll der
wunderlichſten Vorurtheile, und — ein kleiner
N 2[196] Geizhals.“ — V. fand es nicht gerathen, weiter
in das Verhaͤltniß der Bruͤder einzudringen, zu¬
mal Wolfgangs Geſicht, ſein Benehmen, ſein Ton
den durch Leidenſchaften jeder Art im Innerſten
zerriſſenen Menſchen ganz deutlich zeigte.


Um des Freiherrn Entſchluͤſſe in irgend einer
das Majorat betreffenden Angelegenheit zu ver¬
nehmen, ging V. noch am ſpaͤten Abend hinauf
in ſein Gemach. Er fand ihn, wie er die Arme
uͤber den Ruͤcken zuſammengeſchraͤnkt, ganz verſtoͤrt
mit großen Schritten das Zimmer maß. Er
blieb ſtehen als er endlich den Juſtitiarius er¬
blickte, faßte ſeine beiden Haͤnde, und duͤſter ihm
ins Auge ſchauend, ſprach er mit gebrochener
Stimme: „Mein Bruder iſt gekommen! — Ich
weiß,“ fuhr er fort, als V. kaum den Mund zur
Frage geoͤffnet, „Ich weiß, was Sie ſagen wol¬
len.“ „Ach, Sie wiſſen nichts. Sie wiſſen nicht,
daß mein ungluͤcklicher Bruder — ja ungluͤcklich
nur will ich ihn nennen — daß er, wie ein boͤſer
Geiſt, mir uͤberall in den Weg tritt, und meinen
[197] Frieden ſtoͤrt. An ihm liegt es nicht, daß ich
nicht unausſprechlich elend wurde, er that das Sei¬
nige dazu, doch der Himmel wollt' es nicht —
Seit der Zeit, daß die Stiftung des Majorats
bekannt wurde, verfolgt er mich mit toͤdtlichem
Haß. Er beneidet mich um das Beſitzthum, das
in ſeinen Haͤnden wie Spreu verflogen waͤre. Er
iſt der wahnſinnigſte Verſchwender, den es gibt.
Seine Schuldenlaſt uͤberſteigt bei weitem die Haͤlfte
des freien Vermoͤgens in Curland, die ihm zu¬
faͤllt, und nun, verfolgt von Glaͤubigern, die ihn
quaͤlen, eilt er her, und bettelt um Geld.“ —
„Und Sie, der Bruder, verweigern“ — wollte
ihm V. in die Rede fallen, doch der Freiherr rief,
indem er V — s Haͤnde fahren ließ, und einen
ſtarken Schritt zuruͤcktrat, laut und heftig: „Hal¬
ten Sie ein! — ja! ich verweigere! Von den
Einkuͤnften des Majorats kann und werde ich kei¬
nen Thaler verſchenken! — Aber hoͤren Sie, wel¬
chen Vorſchlag ich dem Unſinnigen vor wenigen
Stunden vergebens machte, und dann richten Sie
[198] uͤber mein Pflichtgefuͤhl. Das freie Vermoͤgen in
Curland iſt, wie Sie wiſſen, bedeutend, auf die
mir zufallende Haͤlfte wollt' ich verzichten, aber
zu Gunſten ſeiner Familie. Hubert iſt verheira¬
thet in Curland an ein ſchoͤnes armes Fraͤulein.
Sie hat ihm Kinder erzeugt, und darbt mit ih¬
nen. Die Guͤter ſollten adminiſtrirt, aus den
Revenuͤen ihm die noͤthigen Gelder zum Unter¬
halt angewieſen, die Glaͤubiger, vermoͤge Abkom¬
mens, befriedigt werden. Aber was gilt ihm ein
ruhiges, ſorgenfreies Leben, was gilt ihm Frau
und Kind! — Geld, baares Geld in großen Sum¬
men will er haben, damit er in verruchtem Leicht¬
ſinn es verpraſſen koͤnne! — Welcher Daͤmon hat
ihm das Geheimniß mit den einhundert und funf¬
zig tauſend Thalern verrathen, davon verlangt er
die Haͤlfte nach ſeiner wahnſinnigen Weiſe, be¬
hauptend, dies Geld ſey, getrennt vom Majorat,
als freies Vermoͤgen zu achten — Ich muß und
werde ihm dies verweigern, aber mir ahnt es,
mein Verderben bruͤtet er aus im Innern.“ —


[199]

So ſehr V. ſich auch bemuͤhte, dem Freiherrn
den Verdacht wider ſeinen Bruder auszureden,
wobei er ſich freilich, uneingeweiht in die naͤheren
Verhaͤltniſſe, mit ganz allgemeinen moraliſchen,
ziemlich flachen Gruͤnden behelfen mußte, ſo ge¬
lang ihm dies doch ganz und gar nicht. Der
Freiherr gab ihm den Auftrag, mit dem feindſeli¬
gen geldgierigen Hubert zu unterhandeln. V. that
dies mit ſo viel Vorſicht, als ihm nur moͤglich
war, und freute ſich nicht wenig, als Hubert end¬
lich erklaͤrte: „Mag es dann ſeyn, ich nehme die
Vorſchlaͤge des Majoratsherrn an, doch unter der
Bedingung, daß er mir jetzt, da ich auf dem
Punkt ſtehe, durch die Haͤrte meiner Glaͤubiger,
Ehre und guten Namen auf immer zu verlieren,
tauſend Friedrichsd'or baar vorſchieße, und erlaube,
daß ich kuͤnftig, wenigſtens einige Zeit hindurch,
meinen Wohnſitz in dem ſchoͤnen R — ſitten bei
dem guͤtigen Bruder nehme.“ — „Nimmermehr!“
ſchrie der Freiherr auf, als ihm V. dieſe Vor¬
ſchlaͤge des Bruders hinterbrachte, „nimmermehr
[200] werde ich's zugeben, daß Hubert auch nur eine
Minute in meinem Hauſe verweile, ſobald ich mein
Weib hergebracht! — Gehen Sie, mein theurer
Freund, ſagen Sie dem Friedenſtoͤrer, daß er
zweitauſend Friedrichsd'or haben ſoll, nicht als
Vorſchuß, nein als Geſchenk, nur fort — fort!“
V. wußte nun mit einem Mal, daß der Freiherr
ſich ohne Wiſſen des Vaters ſchon verheirathet
hatte, und daß in dieſer Heirath auch der Grund
des Bruderzwiſtes liegen mußte. Hubert hoͤrte
ſtolz und gelaſſen den Juſtitiarius an, und ſprach,
nachdem er geendet, dumpf und duͤſter: „Ich
werde mich beſinnen, vor der Hand aber noch ei¬
nige Tage hier bleiben!“ — V. bemuͤhte ſich,
dem Unzufriedenen darzuthun, daß der Freiherr
doch in der That alles thue, ihn, durch die Ab¬
tretung des freien Vermoͤgens, ſo viel als moͤg¬
lich, zu entſchaͤdigen, und daß er uͤber ihn ſich
durchaus nicht zu beklagen habe, wenn er gleich
bekennen muͤſſe, daß jede Stiftung, die den Erſt¬
gebornen ſo vorwiegend beguͤnſtige, und die andern
[201] Kinder in den Hintergrund ſtelle, etwas Gehaͤſſi¬
ges habe. Hubert riß, wie einer, der Luft machen
will der beklemmten Bruſt, die Weſte von oben
bis unten auf; die eine Hand in die offne Buſen¬
krauſe begraben, die andere in die Seite geſtemmt,
drehte er ſich, mit einer raſchen Taͤnzerbewegung, auf
einem Fuße um, und rief mit ſchneidender Stimme:
„Pah! — das Gehaͤſſige wird geboren vom Haß“ —
dann ſchlug er ein gellendes Gelaͤchter auf, und ſprach:
„Wie gnaͤdig doch der Majoratsherr dem armen
Bettler ſeine Goldſtuͤcke zuzuwerfen gedenkt.“ —
V. ſah nun wohl ein, daß von voͤlliger Ausſoͤhnung
der Bruͤder gar nicht die Rede ſeyn koͤnne.


Hubert richtete ſich in den Zimmern, die ihm in
den Seitenfluͤgeln des Schloſſes angewieſen worden,
zu des Freiherrn Verdruß, auf recht langes Bleiben
ein. Man bemerkte, daß er oft und lange mit dem
Hausverwalter ſprach, ja daß dieſer ſogar zuweilen
mit ihm auf die Wolfsjagd zog. Sonſt ließ er ſich
wenig ſehen, und mied es ganz, mit dem Bruder
allein zuſammen zu kommen, welches dieſem eben
[202] ganz recht war. V. fuͤhlte das Druͤckende dieſes
Verhaͤltniſſes, ja er mußte ſich es ſelbſt geſtehen, daß
die ganz beſondere unheimliche Manier Huberts in
allem, was er ſprach und that, alle Luſt recht gefliſ¬
ſentlich zerſtoͤrend, eingriff. Jener Schreck des Frei¬
herrn, als er den Bruder eintreten ſah, war ihm
nun ganz erklaͤrlich.


V. ſaß allein in der Gerichtsſtube unter den Ak¬
ten, als Hubert eintrat, ernſter, gelaſſener, als
ſonſt, und mit beinahe wehmuͤthiger Stimme ſprach:
„ich nehme auch die letzten Vorſchlaͤge des Bruders
an, bewirken Sie, daß ich die zweitauſend Fried¬
richsd'or noch heute erhalte, in der Nacht will ich
fort — zu Pferde — ganz allein — „Mit dem
Gelde?“ frug V. — „Sie haben Recht,“ erwi¬
derte Hubert, ich weiß, was Sie ſagen wollen —
die Laſt! — Stellen Sie es in Wechſel auf Iſak
Lazarus in K.!“ — Noch in dieſer Nacht will
ich hin nach K. Es treibt mich von hier fort,
der Alte hat ſeine boͤſen Geiſter hier hinein ge¬
hext!“ — „Sprechen Sie von Ihrem Vater,
[203] Herr Baron?“ frug V. ſehr ernſt. Huberts
Lippen bebten, er hielt ſich an dem Stuhl feſt,
um nicht umzuſinken, dann aber, ſich ploͤtzlich er¬
mannend, rief er: „Alſo noch heute, Herr Juſti¬
tiarius,“ und wankte, nicht ohne Anſtrengung, zur
Thuͤr hinaus. „Er ſieht jetzt ein, daß keine Taͤu¬
ſchungen mehr moͤglich ſind, daß er nichts vermag
gegen meinen feſten Willen,“ ſprach der Freiherr,
indem er den Wechſel auf Iſak Lazarus in K.
ausſtellte. Eine Laſt wurde ſeiner Bruſt entnom¬
men durch die Abreiſe des feindlichen Bruders,
lange war er nicht ſo froh geweſen, als bei der
Abendtafel. Hubert hatte ſich entſchuldigen laſ¬
ſen, alle vermißten ihn recht gern. —


V. wohnte in einem etwas abgelegenen Zim¬
mer, deſſen Fenſter nach dem Schloßhofe heraus¬
gingen. In der Nacht fuhr er ploͤtzlich auf aus
dem Schlafe, und es war ihm, als habe ein fer¬
nes, klaͤgliches Wimmern ihn aus dem Schlafe
geweckt. Mochte er aber auch horchen, wie er
wollte, es blieb alles todtenſtill, und ſo mußte er
[204] jenen Ton, der ihm in die Ohren geklungen, fuͤr
die Taͤuſchung eines Traums halten. Ein ganz
beſonderes Gefuͤhl von Grauen und Angſt bemaͤch¬
tigte ſich ſeiner aber ſo ganz und gar, daß er nicht
im Bette bleiben konnte. Er ſtand auf und trat
ans Fenſter. Nicht lange dauerte es, ſo wurde
das Schloßthor geoͤffnet, und eine Geſtalt, mit
einer brennenden Kerze in der Hand, trat heraus
und ſchritt uͤber den Schloßhof. V. erkannte in
der Geſtalt den alten Daniel, und ſah, wie er die
Stallthuͤr oͤffnete, in den Stall hinein ging, und
bald darauf ein geſatteltes Pferd heraus brachte.
Nun trat aus der Finſterniß eine zweite Geſtalt
hervor, wohl eingehuͤllt in einen Pelz, eine Fuchs¬
muͤtze auf dem Kopf. V. erkannte Hubert, der
mit Daniel einige Minuten hindurch heftig ſprach,
dann aber ſich zuruͤckzog. Daniel fuͤhrte das Pferd
wieder in den Stall, verſchloß dieſen, und eben ſo
die Thuͤr des Schloſſes, nachdem er uͤber den Hof,
wie er gekommen, zuruͤckgekehrt. — Hubert hatte
wegreiten wollen, und ſich in dem Augenblick ei¬
[205] nes andern beſonnen, das war nun klar. Eben ſo
aber auch, daß Hubert gewiß mit dem alten Haus¬
verwalter in irgend einem gefaͤhrlichen Buͤndniſſe
ſtand. V. konnte kaum den Morgen erwarten, um
den Freiherrn von den Ereigniſſen der Nacht zu un¬
terrichten. Es galt nun wirklich, ſich gegen An¬
ſchlaͤge des boͤsartigen Hubert zu waffnen, die ſich,
wie V. jetzt uͤberzeugt war, ſchon geſtern in ſeinem
verſtoͤrten Weſen kund gethan.


Andern Morgens zur Stunde, wenn der Frei¬
herr aufzuſtehen pflegte, vernahm V. ein Hin- und
Herrennen, Thuͤr auf, Thuͤr zu ſchlagen, ein ver¬
wirrtes Durcheinanderreden und Schreien. Er trat
hinaus, und ſtieß uͤberall auf Bediente, die, ohne
auf ihn zu achten, mit leichenblaſſen Geſichtern ihm
vorbei — Trepp auf — Trepp ab — hinaus — hin¬
ein durch die Zimmer rannten. Endlich erfuhr er,
daß der Freiherr vermißt, und ſchon Stunden lang
vergebens geſucht werde. — In Gegenwart des Jaͤ¬
gers hatte er ſich ins Bette gelegt, er mußte dann
aufgeſtanden, und ſich im Schlafrock und Pantof¬
[206] feln, mit dem Armleuchter in der Hand, entfernt
haben, denn eben dieſe Stuͤcke wurden vermißt. V.
lief, von duͤſterer Ahnung getrieben, in den verhaͤng¬
nißvollen Saal, deſſen Seitenkabinet gleich dem
Vater Wolfgang zu ſeinem Schlafgemach gewaͤhlt
hatte. Die Pforte zum Thurm ſtand weit offen,
tief entſetzt ſchrie V. laut auf: „Dort in der Tiefe
liegt er zerſchmettert!“ — Es war dem ſo. Schnee
war gefallen, ſo daß man von oben herab nur den
zwiſchen den Steinen hervorragenden ſtarren Arm
des Ungluͤcklichen deutlich wahrnehmen konnte. Viele
Stunden gingen hin, ehe es den Arbeitern gelang,
mit Lebensgefahr, auf zuſammengebundenen Leitern,
herab zu ſteigen, und dann den Leichnam an Stricken
heraufzuziehen. Im Krampf der Todesangſt hatte
der Baron den ſilbernen Armleuchter feſt gepackt, die
Hand, die ihn noch feſt hielt, war der einzige un¬
verſehrte Theil des ganzen Koͤrpers, der ſonſt durch
das Anprallen an die ſpitzen Steine auf das graͤ߬
lichſte zerſchellt worden.


[207]

Alle Furien der Verzweiflung im Antlitz ſtuͤrzte
Hubert herbei, als die Leiche eben hinaufgeborgen,
und in dem Saal, gerade an der Stelle auf einen
breiten Tiſch gelegt worden, wo vor wenigen Wochen
der alte Roderich lag. Niedergeſchmettert von dem
graͤßlichen Anblick heulte er: „Bruder — o mein
armer Bruder — nein, das hab' ich nicht erfleht
von den Teufeln, die uͤber mir waren!“ — V. er¬
bebte vor dieſer verfaͤnglichen Rede, es war ihm ſo,
als muͤſſe er zufahren auf Hubert, als den Moͤrder
ſeines Bruders — Hubert lag von Sinnen auf dem
Fußboden, man brachte ihn ins Bette, und er er¬
holte ſich, nachdem er ſtaͤrkende Mittel gebraucht,
ziemlich bald. Sehr bleich, duͤſtern Gram im halb
erloſchnen Auge, trat er dann bei V. ins Zimmer,
und ſprach, indem er vor Mattigkeit, nicht faͤhig zu
ſtehen, ſich langſam in einen Lehnſtuhl niederließ:
„Ich habe meines Bruders Tod gewuͤnſcht, weil der
Vater ihm den beſten Theil des Erbes zugewandt
durch eine thoͤrigte Stiftung — jetzt hat er ſeinen
Tod gefunden auf ſchreckliche Weiſe — ich bin Ma¬
[208] joratsherr, aber mein Herz iſt zermalmt, ich kann,
ich werde niemals gluͤcklich ſeyn. Ich beſtaͤtige Sie
im Amte, Sie erhalten die ausgedehnteſten Voll¬
machten, Ruͤckſichts der Verwaltung des Majorats,
auf dem ich nicht zu hauſen vermag!“ — Hubert
verließ das Zimmer, und war in ein paar Stunden
ſchon auf dem Wege nach K. Es ſchien, daß der
ungluͤckliche Wolfgang in der Nacht aufgeſtanden
war, und ſich vielleicht in das andere Kabinet, wo
eine Bibliothek aufgeſtellt, begeben wollen. In der
Schlaftrunkenheit verfehlte er die Thuͤr, oͤffnete ſtatt
derſelben die Pforte, ſchritt vor, und ſtuͤrzte hinab.
Dieſe Erklaͤrung enthielt indeſſen immer viel Erzwun¬
genes. Konnte der Baron nicht ſchlafen, wollte er
ſich noch ein Buch aus der Bibliothek holen, um zu
leſen, ſo ſchloß dieſes alle Schlaftrunkenheit aus,
aber nur ſo war es moͤglich, die Thuͤr des Kabinets
zu verfehlen, und ſtatt dieſer die Pforte zu oͤffnen.
Ueberdem war dieſe feſt verſchloſſen und mußte erſt
mit vieler Muͤhe aufgeſchloſſen werden. „Ach,“ fing
endlich, als V. dieſe Unwahrſcheinlichkeiten vor ver¬
[209] ſammelter Dienerſchaft entwickelte, des Freiherrn
Jaͤger, Franz geheißen, an: „Ach, lieber Herr
Juſtitiarius, ſo hat es wohl ſich nicht zugetragen!“
— „Wie denn anders?“ fuhr ihn V. an. Franz,
ein ehrlicher treuer Kerl, der ſeinem Herrn haͤtte ins
Grab folgen moͤgen, wollte aber nicht vor den an¬
dern mit der Sprache heraus, ſondern behielt ſich
vor, das, was er davon zu ſagen wiſſe, dem Ju¬
ſtitiarius allein zu vertrauen. V. erfuhr nun, daß
der Freiherr zu Franz ſehr oft von den vielen Schaͤtzen
ſprach, die da unten in dem Schutt begraben laͤgen,
und daß er oft, wie vom boͤſen Geiſt getrieben, zur
Nachtzeit noch die Pforte, zu der den Schluͤſſel
ihm Daniel hatte geben muͤſſen, oͤffnete und mit
Sehnſucht hinabſchaute in die Tiefe nach den ver¬
meintlichen Reichthuͤmern. Gewiß war es nun
wohl alſo, daß in jener verhaͤngnißvollen Nacht der
Freiherr, nachdem ihn der Jaͤger ſchon verlaſſen,
noch einen Gang nach dem Thurm gemacht und ihn
dort ein ploͤtzlicher Schwindel erfaßt und herabge¬
ſtuͤrzt hatte. Daniel, der von dem entſetzlichen
O[210] Tode des Freiherrn auch ſehr erſchuͤttert ſchien,
meinte, daß es gut ſeyn wuͤrde, die gefaͤhrliche
Pforte feſt vermauern zu laſſen, welches denn auch
gleich geſchah. Freiherr Hubert von R., jetziger
Majoratsbeſitzer, ging, ohne ſich wieder in R — ſitten
ſehen zu laſſen, nach Curland zuruͤck. V. erhielt
alle Vollmachten, die zur unumſchraͤnkten Verwal¬
tung des Majorats noͤthig waren. Der Bau des
neuen Schloſſes unterblieb, wogegen ſo viel moͤglich
das alte Gebaͤude in guten Stand geſetzt wurde.
Schon waren mehrere Jahre verfloſſen, als Hubert
zum erſtenmal zur ſpaͤten Herbſtzeit ſich in R — ſitten
einfand, und nachdem er mehrere Tage mit V. in
ſeinem Zimmer eingeſchloſſen zugebracht, wieder
nach Curland zuruͤckging. Bei ſeiner Durchreiſe
durch K. hatte er bei der dortigen Landesregierung
ſein Teſtament niedergelegt.


Waͤhrend ſeines Aufenthalts in R — ſitten ſprach
der Freiherr, der in ſeinem tiefſten Weſen ganz
geaͤndert ſchien, viel von Ahnungen eines nahen
Todes. Dieſe gingen wirklich in Erfuͤllung; denn
[211] er ſtarb ſchon das Jahr darauf. Sein Sohn, wie
er Hubert geheißen, kam ſchnell heruͤber von Cur¬
land, um das reiche Majorat in Beſitz zu nehmen.
Ihm folgten Mutter und Schweſter. Der Juͤng¬
ling ſchien alle boͤſen Eigenſchaften der Vorfahren in
ſich zu vereinen; er bewies ſich als ſtolz, hochfah¬
rend, ungeſtuͤm, habſuͤchtig gleich in den erſten
Augenblicken ſeines Aufenthalts in R — ſitten. Er
wollte auf der Stelle vieles aͤndern laſſen, welches
ihm nicht bequem, nicht gehoͤrig ſchien; den Koch
warf er zum Hauſe hinaus; den Kutſcher verſuchte
er zu pruͤgeln, welches aber nicht gelang, da der
baumſtarke Kerl die Frechheit hatte, es nicht leiden
zu wollen; kurz, er war im beſten Zuge, die Rolle
des ſtrengen Majoratsherrn zu beginnen, als V.
ihm mit Ernſt und Feſtigkeit entgegen trat, ſehr
beſtimmt verſichernd: Kein Stuhl ſolle hier geruͤckt
werden, keine Katze das Haus verlaſſen, wenn es
ihr noch ſonſt darin gefalle, vor Eroͤffnung des
Teſtaments. „Sie unterſtehen ſich hier, dem Ma¬
joratsherrn“ — fing der Baron an. V. ließ den
O 2[212] den vor Wuth ſchaͤumenden Juͤngling jedoch nicht
ausreden, ſondern ſprach, indem er ihn mit durch¬
bohrenden Blicken maß: „Keine Uebereilung, Herr
Baron! — Durchaus duͤrfen Sie hier nicht regie¬
ren wollen vor Eroͤffnung des Teſtaments; jetzt bin
ich, ich allein hier Herr, und werde Gewalt mit
Gewalt zu vertreiben wiſſen. — Erinnern Sie ſich,
daß ich kraft meiner Vollmacht als Vollzieher des
vaͤterlichen Teſtaments, kraft der getroffenen Ver¬
fuͤgungen des Gerichts berechtigt bin, Ihnen den
Aufenthalt hier in R — ſitten zu verſagen, und ich
rathe Ihnen, um das Unangenehme zu verhuͤten,
ſich ruhig nach K. zu begeben.“ Der Ernſt des Ge¬
richtshalters, der entſchiedene Ton, mit dem er
ſprach, gab ſeinen Worten gehoͤrigen Nachdruck,
und ſo kam es, daß der junge Baron, der mit gar
zu ſpitzigen Hoͤrnern anlaufen wollte, wider den
feſten Bau die Schwaͤche ſeiner Waffen fuͤhlte, und
fuͤr gut fand, im Ruͤckzuge ſeine Beſchaͤmung mit
einem hoͤhniſchen Gelaͤchter auszugleichen.


[213]

Drei Monate waren verfloſſen und der Tag ge¬
kommen, an dem, nach dem Willen des Verſtorbe¬
nen, das Teſtament in R., wo es niedergelegt
worden, eroͤffnet werden ſollte. Außer den Ge¬
richtsperſonen, dem Baron und V. befand ſich noch
ein junger Menſch von edlem Anſehn in dem Ge¬
richtsſaal, den V. mitgebracht, und den man, da
ihm ein eingeknoͤpftes Aktenſtuͤck aus dem Buſen
hervorragte, fuͤr V..s Schreiber hielt. Der Baron
ſah ihn, wie er es beinahe mit allen uͤbrigen machte,
uͤber die Achſel an, und verlangte ſtuͤrmiſch, daß
man die langweilige uͤberfluͤſſige Ceremonie nur
ſchnell und ohne viele Worte und Schreiberei ab¬
machen ſolle. Er begreife nicht, wie es uͤberhaupt
in dieſer Erbangelegenheit, wenigſtens Hinſichts des
Majorats, auf ein Teſtament ankommen koͤnne,
und werde, in ſo fern hier irgend etwas verfuͤgt
ſeyn ſolle, es lediglich von ſeinem Willen abhaͤngen,
das zu beachten oder nicht. Hand und Siegel des
verſtorbenen Vaters erkannte der Baron an, nach¬
dem er einen fluͤchtigen muͤrriſchen Blick darauf ge¬
[214] worfen, dann, indem der Gerichtsſchreiber ſich zum
lauten Ableſen des Teſtaments anſchickte, ſchaute er
gleichguͤltig nach dem Fenſter hin, den rechten Arm
nachlaͤſſig uͤber die Stuhllehne geworfen, den linken
Arm gelehnt auf den Gerichtstiſch, und auf deſſen
gruͤner Decke mit den Fingern trommelnd. Nach
einem kurzen Eingange erklaͤrte der verſtorbene Frei¬
herr Hubert von R., daß er das Majorat niemals
als wirklicher Majoratsherr beſeſſen, ſondern daſſelbe
nur Nahmens des einzigen Sohnes des verſtorbenen
Freiherrn Wolfgang von R., nach ſeinem Gro߬
vater Roderich geheißen, verwaltet habe; dieſer ſey
derjenige, dem nach der Familien-Succeſſion durch
ſeines Vaters Tod das Majorat zugefallen. Die
genaueſten Rechnungen uͤber Einnahme und Aus¬
gabe, uͤber den vorzufindenden Beſtand u. ſ. w.
wuͤrde man in ſeinem Nachlaß finden. Wolfgang
von R., ſo erzaͤhlte Hubert in dem Teſtament,
lernte auf ſeinen Reiſen in Genf das Fraͤulein Julie
von St. Val kennen, und faßte eine ſolche heftige
Neigung zu ihr, daß er ſich nie mehr von ihr zu
[215] trennen beſchloß. Sie war ſehr arm, und ihre
Familie, unerachtet von gutem Adel, gehoͤrte eben
nicht zu den glaͤnzendſten. Schon deshalb durfte er
auf die Einwilligung des alten Roderich, deſſen
ganzes Streben dahin ging, das Majorathaus auf
alle nur moͤgliche Weiſe zu erheben, nicht hoffen.
Er wagte es dennoch, von Paris aus dem Vater
ſeine Neigung zu entdecken; was aber voraus zu
ſehen, geſchah wirklich, indem der Alte beſtimmt
erklaͤrte, daß er ſchon ſelbſt die Braut fuͤr den Ma¬
joratsherrn erkohren, und von einer andern niemals
die Rede ſeyn koͤnne. Wolfgang, ſtatt, wie er ſollte,
nach England hinuͤberzuſchiffen, kehrte unter dem
Nahmen Born nach Genf zuruͤck, und vermaͤhlte
ſich mit Julien, die ihm nach Verlauf eines Jahres
den Sohn gebahr, der mit dem Tode Wolfgangs
Majoratsherr wurde. Daruͤber, daß Hubert, von
der ganzen Sache unterrichtet, ſo lange ſchwieg,
und ſich ſelbſt als Majoratsherr gerirte, waren ver¬
ſchiedene Urſachen angefuͤhrt, die ſich auf fruͤhere
Verabredungen mit Wolfgang bezogen, indeſſen
[216] unzureichend und aus der Luft gegriffen ſchie¬
nen. —


Wie vom Donner geruͤhrt ſtarrte der Baron
den Gerichtsſchreiber an, der mit eintoͤniger ſchnar¬
render Stimme alles Unheil verkuͤndete. Als er
geendet, ſtand V. auf, nahm den jungen Menſchen,
den er mitgebracht, bei der Hand, und ſprach, in¬
dem er ſich gegen die Anweſenden verbeugte: „Hier,
meine Herren, habe ich die Ehre, Ihnen den Frei¬
herrn Roderich von R., Majoratsherrn von R — ſitten
vorzuſtellen!“ Baron Hubert blickte den Juͤng¬
ling, der, wie vom Himmel gefallen, ihn um das
reiche Majorat, um die Haͤlfte des freien Vermoͤ¬
gens in Curland brachte, verhaltenen Grimm im
gluͤhenden Auge, an, drohte dann mit geballter
Fauſt, und rannte, ohne ein Wort hervorbringen
zu koͤnnen, zum Gerichtsſaal hinaus. Von den
Gerichtsperſonen dazu aufgefordert, holte jetzt Ba¬
ron Roderich die Urkunden hervor, die ihn als die
Perſon, fuͤr die er ſich ausgab, legitimiren ſollten.
Er uͤberreichte den beglaubigten Auszug aus den
[217] Regiſtern der Kirche, wo ſein Vater ſich trauen
laſſen, worin bezeugt wurde, daß an dem und dem
Tage der Kaufmann Wolfgang Born, gebuͤrtig aus
K., mit dem Fraͤulein Julie von St. Val, in Ge¬
genwart der genannten Perſonen, durch prieſterliche
Einſegnung getraut worden. Eben ſo hatte er ſei¬
nen Taufſchein (er war in Genf als von dem Kauf¬
mann Born mit ſeiner Gemahlin Julie, geb. von
St. Val, in guͤltiger Ehe erzeugtes Kind getauft
worden), verſchiedene Briefe ſeines Vaters an ſeine
ſchon laͤngſt verſtorbene Mutter, die aber alle nur
mit W. unterzeichnet waren.


V. ſah alle dieſe Papiere mit finſterm Geſichte
durch, und ſprach, ziemlich bekuͤmmert, als er ſie
wieder zuſammenſchlug: „Nun, Gott wird hel¬
fen!“ —


Schon andern Tages reichte der Freiherr Hubert
von R. durch einen Advokaten, den er zu ſeinem
Rechtsfreunde erkohren, bei der Landesregierung in
K. eine Vorſtellung ein, worin er auf nichts weniger
antrug, als ſofort die Uebergabe des Majorats
[218] R — ſitten an ihn zu veranlaſſen. Es verſtehe ſich
von ſelbſt, ſagte der Advokat, daß weder teſtamen¬
tariſch, noch auf irgend eine andere Weiſe, der ver¬
ſtorbene Freiherr Hubert von R. habe uͤber das
Majorat verfuͤgen koͤnnen. Jenes Teſtament ſey
alſo nichts anders, als die aufgeſchriebene und ge¬
richtlich uͤbergebene Ausſage, nach welcher der Frei¬
herr Wolfgang von R. das Majorat an einen Sohn
vererbt haben ſolle, der noch lebe, die keine hoͤhere
Beweiskraft, als jede andere irgend eines Zeugen
haben, und alſo unmoͤglich die Legitimation des
angeblichen Freiherrn Roderich von R. bewirken
koͤnne. Vielmehr ſey es die Sache dieſes Praͤten¬
denten, ſein vorgebliches Erbrecht, dem hiemit aus¬
druͤcklich widerſprochen werde, im Wege des Pro¬
zeſſes darzuthun, und das Majorat, welches jetzt
nach dem Recht der Succeſſion dem Baron Hubert
von R. zugefallen, zu vindiziren. Durch den Tod
des Vaters ſey der Beſitz unmittelbar auf den Sohn
uͤbergegangen; es habe keiner Erklaͤrung uͤber den
Erbſchaftsantritt bedurft, da der Majoratsfolge
[219] nicht entſagt werden koͤnne, mithin duͤrfe der jetzige
Majoratsherr in dem Beſitze nicht durch ganz illi¬
quide Anſpruͤche turbirt werden. Was der Verſtor¬
bene fuͤr Grund gehabt habe, einen andern Ma¬
joratsherrn aufzuſtellen, ſey ganz gleichguͤltig, nur
werde bemerkt, daß er ſelbſt, wie aus den nachge¬
laſſenen Papieren erforderlichen Falls nachgewieſen
werden koͤnne, eine Liebſchaft in der Schweiz gehabt
habe, und ſo ſey vielleicht der angebliche Bruders¬
ſohn der eigne, in einer verbotenen Liebe erzeugte,
dem er in einem Anfall von Reue das reiche Ma¬
jorat zuwenden wollen. —


So ſehr auch die Wahrſcheinlichkeit fuͤr die im
Teſtament behaupteten Umſtaͤnde ſprach, ſo ſehr
auch die Richter hauptſaͤchlich die letzte Wendung,
in der der Sohn ſich nicht ſcheute, den Verſtorbenen
eines Verbrechens anzuklagen, empoͤrte, ſo blieb
doch die Anſicht der Sache, wie ſie aufgeſtellt wor¬
den, die richtige, und nur den raſtloſen Bemuͤhun¬
gen V..s, der beſtimmten Verſicherung, daß der
die Legitimation des Freiherrn Roderich von R. be¬
[220] wirkende Beweis in kurzer Zeit auf das buͤndigſte
gefuͤhrt werden ſolle, konnte es gelingen, daß die
Uebergabe des Majorats noch ausgeſetzt und die
Fortdauer der Adminiſtration bis nach entſchiedener
Sache verfuͤgt wurde.


V. ſah nur zu gut ein, wie ſchwer es ihm wer¬
den wuͤrde, ſein Verſprechen zu halten. Er hatte
alle Briefſchaften des alten Roderich durchſtoͤbert,
ohne die Spur eines Briefes oder ſonſt eines Auf¬
ſatzes zu finden, der Bezug auf jenes Verhaͤltniß
Wolfgangs mit dem Fraͤulein von St. Val gehabt
haͤtte. Gedankenvoll ſaß er in R — ſitten in
dem Schlafkabinett des alten Roderich, das er ganz
durchſucht, und arbeitete an einem Aufſatze fuͤr den
Notar in Genf, der ihm als ein ſcharfſinniger
thaͤtiger Mann empfohlen worden, und der ihm
einige Notizen ſchaffen ſollte, die die Sache des
jungen Freiherrn ins Klare bringen konnten. — Es
war Mitternacht worden, der Vollmond ſchien hell
hinein in den anſtoßenden Saal, deſſen Thuͤr offen
ſtand. Da war es, als ſchritte jemand langſam
[221] und ſchwer die Treppe herauf, und klirre und klap¬
pere mit Schluͤſſeln. V. wurde aufmerkſam, er
ſtand auf, ging in den Saal, und vernahm nun
deutlich, daß jemand ſich durch den Flur der Thuͤre
des Saals nahte. Bald darauf wurde dieſe geoͤffnet,
und ein Menſch mit leichenblaſſem entſtellten Antlitz
in Nachtkleidern, in der einen Hand den Armleuch¬
ter mit brennenden Kerzen, in der andern den
großen Schluͤſſelbund, trat langſam hinein. V. er¬
kannte augenblicklich den Hausverwalter, und war
im Begriff, ihm zuzurufen, was er ſo ſpaͤt in der
Nacht wolle, als ihn in dem ganzen Weſen des
Alten, in dem zum Tode erſtarrten Antlitz etwas
unheimliches geſpenſtiſches mit Eiskaͤlte anhauchte.
Er erkannte, daß er einen Nachtwandler vor ſich
habe. Der Alte ging mit gemeſſenen Schritten
queer durch den Saal, gerade los auf die vermauerte
Thuͤr, die ehemals zum Thurm fuͤhrte. Dicht
vor derſelben blieb er ſtehen, und ſtieß aus tiefer
Bruſt einen heulenden Laut aus, der ſo entſetzlich
in dem ganzen Saale wiederhallte, daß V. erbebte
[222] vor Grauſen. Dann, den Armleuchter auf den
Fußboden geſtellt, den Schluͤſſelbund an den Guͤrtel
gehaͤngt, fing Daniel an mit beiden Haͤnden an der
Mauer zu kratzen, daß bald das Blut unter den
Naͤgeln hervorquoll, und dabei ſtoͤhnte er und aͤchzte,
wie gepeinigt von einer nahmenloſen Todesqual.
Nun legte er das Ohr an die Mauer, als wolle er
irgend etwas erlauſchen, dann winkte er mit der
Hand, wie jemanden beſchwichtigend, buͤckte ſich,
den Armleuchter wieder vom Boden aufhebend, und
ſchlich mit leiſen gemeſſenen Schritten nach der
Thuͤre zuruͤck. V. folgte ihm behutſam mit dem
Leuchter in der Hand. Es ging die Treppe herab,
der Alte ſchloß die große Hauptthuͤr des Schloſſes
auf, V. ſchluͤpfte geſchickt hindurch; nun begab er
ſich nach dem Stall, und nachdem er zu V..s
tiefem Erſtaunen den Armleuchter ſo geſchickt hin¬
geſtellt hatte, daß das ganze Gebaͤude genugſam
erhellt wurde, ohne irgend eine Gefahr, holte er
Sattel und Zeug herbei, und ruͤſtete mit großer
Sorglichkeit, den Gurt feſt, die Steigbuͤgel hinauf¬
[223] ſchnallend, ein Pferd aus, das er losgebunden von
der Krippe. Nachdem er noch ein Buͤſchel Haare
uͤber den Stirnriemen weg durch die Hand gezogen,
nahm er, mit der Zunge ſchnalzend und mit der
einen Hand ihm den Hals klopfend, das Pferd beim
Zuͤgel und fuͤhrte es heraus. Draußen im Hofe
blieb er einige Sekunden ſtehen in der Stellung,
als erhalte er Befehle, die er kopfnickend auszu¬
fuͤhren verſprach. Dann fuͤhrte er das Pferd zuruͤck
in den Stall, ſattelte es wieder ab, und band es an
die Krippe. Nun nahm er den Armleuchter, ver¬
ſchloß den Stall, kehrte in das Schloß zuruͤck, und
verſchwand endlich in ſein Zimmer, das er ſorgfaͤltig
verriegelte. V. fuͤhlte ſich von dieſem Auftritt im
Innerſten ergriffen, die Ahnung einer entſetzlichen
That erhob ſich vor ihm wie ein ſchwarzes hoͤlliſches
Geſpenſt, das ihn nicht mehr verließ. Ganz erfuͤllt
von der bedrohlichen Lage ſeines Schuͤtzlings, glaubte
er wenigſtens das, was er geſehen, nuͤtzen zu muͤſſen
zu ſeinem Beſten. Andern Tages, es wollte ſchon
die Daͤmmerung einbrechen, kam Daniel in ſein
[224] Zimmer, um irgend eine ſich auf den Hausſtand
beziehende Anweiſung einzuholen. Da faßte ihn
V. bei beiden Aermen, und fing an, indem er ihn
zutraulich in den Seſſel niederdruͤckte: „Hoͤre,
alter Freund Daniel! lange habe ich dich fragen
wollen, was haͤltſt du denn von dem verworrenen
Kram, den uns Huberts ſonderbares Teſtament
uͤber den Hals gebracht hat? — Glaubſt du denn
wohl, daß der junge Menſch wirklich Wolfgangs
in rechtsguͤltiger Ehe erzeugter Sohn iſt?“ Der
Alte, ſich uͤber die Lehne des Stuhls wegbeugend
und V..s ſtarr auf gerichteten Blicken aus¬
weichend, rief muͤrriſch: „Pah! — er kann es
ſeyn; er kann es auch nicht ſeyn. Was ſchiert's
mich, mag nun hier Herr werden, wer da will.“ —
„Aber ich meine,“ fuhr V. fort, indem er dem
Alten naͤher ruͤckte, und die Hand auf ſeine Schul¬
ter legte, „aber ich meine, da du des alten Frei¬
herrn ganzes Vertrauen hatteſt, ſo verſchwieg er dir
gewiß nicht die Verhaͤltniſſe ſeiner Soͤhne. Er er¬
zaͤhlte dir von dem Buͤndniß, das Wolfgang wider
[225] ſeinen Willen geſchloſſen?“ — „Ich kann mich auf
dergleichen gar nicht beſinnen,“ erwiederte der Alte,
indem er auf ungezogene Art laut gaͤhnte. — „Du
biſt ſchlaͤfrig, Alter, ſprach V., haſt du vielleicht
eine unruhige Nacht gehabt?“ — „Daß ich nicht
wuͤßte,“ entgegnete der Alte froſtig, „aber ich will
nun gehen und das Abendeſſen beſtellen“ Hiemit
erhob er ſich ſchwerfaͤllig vom Stuhl, indem er ſich
den gekruͤmmten Ruͤcken rieb und abermahls und
zwar noch lauter gaͤhnte als zuvor. „Bleibe doch
noch Alter,“ rief V. indem er ihn bey der Hand
ergriff und zum Sitzen noͤthigen wollte, der Alte
blieb aber vor dem Arbeitstiſch ſtehen, auf den er
ſich mit beiden Haͤnden ſtemmte, den Leib uͤber¬
gebogen nach V. hin, und muͤrriſch fragend. „Nun
was ſoll's denn, was ſchiert mich das Teſta¬
ment, was ſchiert mich der Streit um das
Majorat“ — Davon, fiel ihm V. in die Rede,
wollen wir auch gar nicht mehr ſprechen: von
ganz etwas Anderm, lieber Daniel! — Du biſt
muͤrriſch, du gaͤhnſt, das alles zeugt von beſonderer
P[226] Abſpannung und nun moͤcht' ich beinahe glauben,
daß du es wirklich geweſen biſt, in dieſer Nacht. —
„Was bin ich geweſen in dieſer Nacht,“ frug der
Alte, in ſeiner Stellung verharrend. „Als ich,
ſprach V. weiter, geſtern Mitternacht dort oben
in dem Kabinett des alten Herrn neben dem großen
Saal ſaß, kamſt du zur Thuͤre herein, ganz ſtarr
und bleich, ſchritteſt auf die zugemauerte Thuͤr
los, kratzteſt mit beyden Haͤnden an der Mauer
und ſtoͤhnteſt, als wenn du große Qualen empfaͤn¬
deſt. Biſt du denn ein Nachtwandler, Daniel?“
Der Alte ſank zuruͤck in den Stuhl, den ihm V.
ſchnell unterſchob. Er gab keinen Laut von ſich,
die tiefe Daͤmmerung ließ ſein Geſicht nicht erken¬
nen, V. bemerkte nur, daß er kurz Athem holte
und mit den Zaͤhnen klapperte. — „Ja,“ fuhr
V. nach kurzem Schweigen fort, „ja es iſt ein
eignes Ding mit den Nachtwandlern. Andern
Tages wiſſen ſie von dieſem ſonderbaren Zuſtande,
von Allem, was ſie wie in vollem Wachen begon¬
nen haben, nicht das allermindeſte.“ — Daniel
blieb ſtill. — „Aehnliches“ ſprach V. weiter, „wie
[227] geſtern mit dir, habe ich ſchon erlebt. Ich hatte
einen Freund, der ſtellte, ſo wie du, trat der Voll¬
mond ein, regelmaͤßig naͤchtliche Wanderungen an.
Ja, manchmal ſetzte er ſich hin und ſchrieb Briefe:
Am merkwuͤrdigſten war es aber, daß, fing ich
an ihm ganz leiſe in's Ohr zu fluͤſtern, es mir
bald gelang ihn zum Sprechen zu bringen. Er
antwortete gehoͤrig auf alle Fragen und ſelbſt das,
was er im Wachen ſorglich verſchwiegen haben
wuͤrde, floß nun unwillkuͤhrlich, als koͤnne er der
Kraft nicht widerſtehen, die auf ihn einwirkte,
von ſeinen Lippen. — Der Teufel! ich glaube,
verſchwiege ein Mondſuͤchtiger irgend eine began¬
gene Unthat noch ſo lange, man koͤnnte ſie ihm
abfragen in dem ſeltſamen Zuſtande. — Wohl
dem, der ein reines Gewiſſen hat, wie wir beide,
guter Daniel, wir koͤnnen ſchon immer Nacht¬
wandler ſeyn, uns wird man kein Verbrechen
abfragen. — Aber hoͤre Daniel, gewiß willſt du
herauf in den aſtronomiſchen Thurm, wenn du
ſo abſcheulich an der zugemauerten Thuͤre krat¬
P 2[228] zeſt? — Du willſt gewiß laboriren wie der
alte Roderich? — Nun, das werd' ich dir
naͤchſtens abfragen!“ — Der Alte hatte, waͤh¬
rend V. dieſes ſprach, immer ſtaͤrker und ſtaͤrker
gezittert, jetzt flog ſein ganzer Koͤrper von heillo¬
ſem Krampf hin und hergeworfen, und er brach
aus in ein gellendes, unverſtaͤndiges Geplapper.
V. ſchellte die Diener herauf. Man brachte Lich¬
ter, der Alte ließ nicht nach, wie ein willkuͤhrlos
bewegtes Automat hob man ihn auf und brachte
ihn in's Bette. Nachdem beinahe eine Stunde
dieſer heilloſe Zuſtand gedauert, verfiel er in tie¬
fer Ohnmacht aͤhnlichen Schlaf. Als er erwachte,
verlangte er Wein zu trinken, und als man ihm
dieſen gereicht, trieb er den Diener, der bei ihm
wachen wollte, fort und verſchloß ſich, wie ge¬
woͤhnlich, in ſein Zimmer. V. hatte wirklich be¬
ſchloſſen, den Verſuch anzuſtellen, in dem Augen¬
blick als er davon gegen Daniel ſprach, wiewohl
er ſich ſelbſt geſtehen mußte, einmal, daß Daniel,
vielleicht erſt jetzt von ſeiner Mondſucht unterrich¬
[229] tet alles anwenden werde, ihm zu entgehen, dann
aber, daß Geſtaͤndniſſe in dieſem Zuſtande abge¬
legt eben nicht geeignet ſeyn wuͤrden, darauf wei¬
ter fortzubauen. Dem unerachtet begab er ſich
gegen Mitternacht in den Saal, hoffend, daß Da¬
niel, wie es in dieſer Krankheit geſchieht, gezwun¬
gen werden wuͤrde, willkuͤhrlos zu handeln. Um
Mitternacht erhob ſich ein großer Laͤrm auf dem
Hofe. V. hoͤrte deutlich ein Fenſter einſchlagen,
er eilte herab und als er die Gaͤnge durchſchritt,
wallte ihm ein ſtinkender Dampf entgegen, der,
wie er bald gewahrte, aus dem geoͤffneten Zimmer
des Hausverwalters herausquoll. Dieſen brachte
man eben todtſtarr herausgetragen, um ihn in
einem andern Zimmer ins Bette zu legen. Um
Mitternacht wurde ein Knecht, ſo erzaͤhlten die
Diener, durch ein ſeltſames, dumpfes Pochen ge¬
weckt, er glaubte dem Alten ſei etwas zugeſtoßen
und ſchickte ſich an aufzuſtehen, um ihm zu Huͤlfe
zu kommen als, der Waͤchter auf dem Hofe laut
rief: Feuer, Feuer! in der Stube des Herrn
[230] Verwalters brennt's lichterloh! — Auf dies
Geſchrei waren gleich mehrere Diener bei der
Hand, aber alles Muͤhen die Thuͤr des Zim¬
mers einzubrechen, blieb umſonſt. Nun eilten
ſie heraus auf den Hof, aber der entſchloſſene
Waͤchter hatte ſchon das Fenſter des niedrigen, im
Erdgeſchoſſe befindlichen Zimmers eingeſchlagen und
die brennenden Gardinen herabgeriſſen, worauf
ein paar hineingegoſſene Eimer Waſſer den Brand
augenblicklich loͤſchten. Den Hausverwalter fand
man mitten im Zimmer auf der Erde liegend
in tiefer Ohnmacht. Er hielt noch feſt den
Armleuchter in der Hand, deſſen brennende Ker¬
zen die Gardinen erfaßt, und ſo das Feuer
veranlaßt hatten. Brennende herabfallende Lap¬
pen hatten dem Alten die Augenbraunen und ein
gut Theil Kopfhaare weggeſengt. Bemerkte der
Waͤchter nicht das Feuer, ſo haͤtte der Alte huͤlf¬
los verbrennen muͤſſen. Zu nicht geringer Ver¬
wunderung fanden die Diener, daß die Thuͤr des
Zimmers von innen durch zwei ganz neu ange¬
[231] ſchrobene Riegel, die noch den Abend vorher nicht
da geweſen, verwahrt war. V. ſah ein, daß der
Alte ſich hatte das Hinausſchreiten aus dem Zim¬
mer unmoͤglich machen wollen; widerſtehen konnte
er dem blinden Triebe nicht. Der Alte verfiel
in eine ernſte Krankheit; er ſprach nicht, er nahm
nur wenig Nahrung zu ſich und ſtarrte, wie feſt
geklammert von einem entſetzlichen Gedanken, mit
Blicken, in denen ſich der Tod mahlte, vor ſich
hin. V. glaubte, daß der Alte von dem Lager
nicht erſtehen werde. Alles, was ſich fuͤr ſeinen
Schuͤtzling thun ließ, hatte V. gethan, er mußte
ruhig den Erfolg abwarten, und wollte deshalb
nach K. zuruͤck. Die Abreiſe war fuͤr den fol¬
genden Morgen beſtimmt. V. packte ſpaͤt Abends
ſeine Scripturen zuſammen, da fiel ihm ein klei¬
nes Packet in die Haͤnde, welches ihm der Frei¬
herr Hubert von R. verſiegelt und mit der Auf¬
ſchrift: Nach Eroͤffnung meines Teſtaments zu
leſen, zugeſtellt und das er unbegreiflicher Weiſe
noch nicht beobachtet hatte. Er war im Begriff
[232] dieſes Packet zu entſiegeln, als die Thuͤr auf¬
ging und mit leiſen geſpenſtiſchen Schritten Daniel
hereintrat. Er legte eine ſchwarze Mappe, die er
unter dem Arm trug, auf den Schreibtiſch, dann
mit einem tiefen Todesſeufzer auf beide Knie ſin¬
kend, V..s Haͤnde mit den ſeinen krampfhaft
faſſend, ſprach er hohl und dumpf, wie aus tie¬
fem Grabe: Auf dem Schaffott ſtuͤrb' ich nicht
gern! — der dort oben richtet! — dann richtete
er ſich unter angſtvollem Keuchen muͤhſam auf und
verließ das Zimmer, wie er gekommen.


V. brachte die ganze Nacht hin, alles das zu
leſen, was die ſchwarze Mappe und Huberts Paket
enthielt. Beides hing genau zuſammen, und be¬
ſtimmte von ſelbſt die weitern Maßregeln, die nun
zu ergreifen. So wie V. in K. angekommen,
begab er ſich zum Freiherrn Hubert von R., der
ihn mit rauhem Stolz empfing. Die merkwuͤrdige
Folge einer Unterredung, welche Mittags anfing
und bis ſpaͤt in die Nacht hinein ununterbrochen
fortdauerte, war aber, daß der Freiherr andern
[233] Tages vor Gericht erklaͤrte, daß er den Praͤten¬
denten des Majorats dem Teſtamente ſeines Va¬
ters gemaͤß fuͤr den in rechtsguͤltiger Ehe von dem
aͤlteſten Sohn des Freiherrn Roderich von R.
Wolffgang von R. mit dem Fraͤulein Julie von
St. Val erzeugten Sohn, mithin fuͤr den rechts¬
guͤltig legitimirten Majorats-Erben anerkenne. Als
er von dem Gerichtsſaal herabſtieg, ſtand ſein Wa¬
gen mit Poſtpferden vor der Thuͤre, er reiſte
ſchnell ab und ließ Mutter und Schweſter zuruͤck.
Sie wuͤrden ihn vielleicht nie wieder ſehen, hatte
er ihnen mit andern raͤthſelhaften Aeußerungen
geſchrieben. Roderich's Erſtaunen uͤber dieſe Wen¬
dung, die die Sache nahm, war nicht gering,
er drang in V. ihm doch nur zu erklaͤren, wie
dies Wunder habe bewirkt werden koͤnnen, welche
geheimnißvolle Macht im Spiele ſey. V. ver¬
troͤſtete ihn indeſſen auf kuͤnftige Zeiten, und zwar,
wenn er Beſitz genommen haben wuͤrde von dem
Majorat. Die Uebergabe des Majorats konnte
nehmlich deshalb nicht geſchehen, weil nun die
[234] Gerichte, nicht befriedigt durch jene Erklaͤrung
Hubert's, außerdem die vollſtaͤndige Legitimation
Roderich's verlangten. V. bot dem Freiherrn die
Wohnung in R. — ſitten an, und ſetzte hinzu:
daß Hubert's Mutter und Schweſter, durch ſeine
ſchnelle Abreiſe in augenblickliche Verlegenheit ge¬
ſetzt, den ſtillen Aufenthalt auf dem Stammgute
der geraͤuſchvollen theuren Stadt vorziehen wuͤr¬
den. Das Entzuͤcken, womit Roderich den Ge¬
danken ergriff, mit der Baronin und ihrer Toch¬
ter wenigſtens eine Zeitlang unter einem Dache
zu wohnen, bewies, welchen tiefen Eindruck Se¬
raphine, das holde, anmuthige Kind, auf ihn ge¬
macht hatte. In der That wußte der Freiherr
ſeinen Aufenthalt in R — ſitten ſo gut zu benutzen,
daß er, wenige Wochen waren vergangen, Sera¬
phinens innige Liebe und der Mutter beifaͤllig
Wort zur Verbindung mit ihr gewonnen hatte.
Dem V. war das Alles zu ſchnell, da bis jetzt
Roderich's Legitimation als Majoratsherr von
R — ſitten noch immer zweifelhaft geblieben. Briefe
[235] aus Curland unterbrachen das Idyllenleben auf
dem Schloſſe. Hubert hatte ſich gar nicht auf
den Guͤtern ſehen laſſen, ſondern war unmittelbar
nach Petersburg gegangen, dort in Militaͤrdienſte
getreten, und ſtand jetzt im Felde gegen die Per¬
ſer, mit denen Rußland gerade im Kriege begriffen.
Dies machte die ſchnelle Abreiſe der Baronin mit
ihrer Tochter nach den Guͤtern, wo Unordnung
und Verwirrung herrſchte, noͤthig. Roderich, der
ſich ſchon als den aufgenommenen Sohn betrach¬
tete, unterließ nicht die Geliebte zu begleiten und
ſo wurde, da V. ebenfalls nach K. zuruͤckkehrte,
das Schloß einſam, wie vorher. Des Hausver¬
walters boͤſe Krankheit wurde ſchlimmer und ſchlim¬
mer, ſo daß er nicht mehr daraus zu erſtehen
glaubte, ſein Amt wurde einem alten Jaͤger,
Wolfgangs treuem Diener, Franz geheißen, uͤber¬
tragen. Endlich nach langem Harren erhielt V.
die guͤnſtigſten Nachrichten aus der Schweiz. Der
Pfarrer, der Roderichs Trauung vollzogen, war
laͤngſt geſtorben, indeſſen fand ſich in dem Kir¬
[236] chenbuche von ſeiner Hand notirt, daß derjenige,
den er unter dem Namen Born mit dem Fraͤu¬
lein Julie St. Val ehelich verbunden, ſich bei
ihm als Freiherr Wolffgang von R., aͤlteſten Sohn
des Freiherrn Roderich von R. auf R — ſitten,
vollſtaͤndig legitimirt habe. Außerdem wurden noch
zwei Trauzeugen, ein Kaufmann in Genf, und
ein alter franzoͤſiſcher Kapitaͤn, der nach Lyon
gezogen, ausgemittelt, denen Wolffgang ebenfalls
ſich entdeckt hatte, und ihre eidlichen Ausſagen
bekraͤftigten den Vermerk des Pfarrers im Kir¬
chenbuche. Mit den in rechtlicher Form ausge¬
fertigten Verhandlungen in der Hand fuͤhrte nun
V. den vollſtaͤndigen Nachweis der Rechte ſeines
Machtgebers und nichts ſtand der Uebergabe des
Majorats im Wege, die im kuͤnftigen Herbſt er¬
folgen ſollte. Hubert war gleich in der erſten
Schlacht, der er beiwohnte, geblieben, ihn hatte
das Schickſal ſeines juͤngern Bruders, der ein
Jahr vor ſeines Vaters Tode ebenfalls im Felde
blieb, getroffen; ſo fielen die Guͤter in Curland der
[237] Baroneſſe Seraphine von R. zu, und wurden
eine ſchoͤne Mitgift fuͤr den uͤbergluͤcklichen Ro¬
derich.


Der November war angebrochen, als die Ba¬
ronin, Roderich mit ſeiner Braut in R..ſitten
anlangte. Die Uebergabe des Majorats erfolgte
und dann Roderichs Verbindung mit Seraphinen.
Manche Woche verging im Taumel der Luſt, bis
endlich die uͤberſaͤttigten Gaͤſte nach und nach das
Schloß verließen zur großen Zufriedenheit V..s,
der von R..ſitten nicht ſcheiden wollte, ohne
den jungen Majoratsherrn auf das genaueſte einzu¬
weihen in alle Verhaͤltniſſe des neuen Beſitzthums.
Mit der ſtrengſten Genauigkeit hatte Roderichs
Oheim die Rechnungen uͤber Einnahme und Aus¬
gabe gefuͤhrt, ſo daß, da Roderich nur eine gerin¬
ge Summe jaͤhrlich zu ſeinem Unterhalt bekam,
durch die Ueberſchuͤſſe der Einnahme jenes baare
Capital, das man in des alten Freiherrn Nachlaß
vorfand, einen bedeutenden Zuſchuß erhielt. Nur
in den erſten drei Jahren hatte Hubert die Einkuͤnf¬
[238] te des Majorats in ſeinen Nutzen verwandt, daruͤ¬
ber aber ein Schuldinſtrument ausgeſtellt und es
auf den ihm zuſtehenden Antheil der Guͤter in
Curland verſichern laſſen. — V. hatte ſeit der Zeit,
als ihm Daniel als Nachtwandler erſchien, das
Schlafgemach des alten Roderich zu ſeinem Wohn¬
zimmer gewaͤhlt, um deſto ſicherer das erlauſchen
zu koͤnnen, was ihm Daniel nachher freiwillig of¬
fenbarte. So kam es, daß dies Gemach und der
anſtoßende große Saal der Ort blieb, wo der Frei¬
herr mit V. im Geſchaͤft zuſammenkam. Da ſa¬
ßen nun beide beim helllodernden Kaminfeuer an
dem großen Tiſche, V. mit der Feder in der Hand,
die Summen notirend und den Reichthum des Ma¬
joratsherrn berechnend, dieſer mit aufgeſtemmtem
Arm hineinblinzelnd in die aufgeſchlagenen Rech¬
nungsbuͤcher, in die gewichtigen Dokumente. Kei¬
ner vernahm das dumpfe Brauſen der See, das
Angſtgeſchrei der Moͤven, die das Unwetter verkuͤn¬
dend im Hin- und Herflattern an die Fenſterſcheiben
ſchlugen, keiner achtete des Sturms, der um Mit¬
[239] ternacht heraufgekommen in wildem Toſen das
Schloß durchſauſte, ſo daß alle Unkenſtimmen in den
Caminen, in den engen Gaͤngen erwachten und wi¬
derlich durcheinander pfiffen und heulten. Als end¬
lich nach einem Windſtoß, vor dem der ganze Bau
erdroͤhnte, ploͤtzlich der ganze Saal im duͤſtern
Feuer des Vollmonds ſtand, rief V : „Ein boͤſes
Wetter!“ — Der Freiherr, ganz vertieft in die
Ausſicht des Reichthums, der ihm zugefallen, er¬
wiederte gleichguͤltig, indem er mit zufriedenem
Laͤcheln ein Blatt des Einnahmebuchs umſchlug:
„In der That, ſehr ſtuͤrmiſch.“ Aber wie fuhr er
von der eiſigen Fauſt des Schreckens beruͤhrt in die
Hoͤhe, als die Thuͤr des Saals aufſprang und eine
bleiche, geſpenſtiſche Geſtalt ſichtbar wurde, die den
Tod im Antlitz hineinſchritt. Daniel, den V. ſo
wie Jedermann in tiefer Krankheit ohnmaͤchtig da¬
liegend, nicht fuͤr faͤhig hielt ein Glied zu ruͤhren,
war es, der abermals von der Mondſucht befallen
ſeine naͤchtliche Wanderung begonnen. Lautlos
ſtarrte der Freiherr den Alten an, als dieſer nun
[240] aber unter angſtvollen Seufzern der Todesqual an
der Wand kratzte, da faßte den Freiherrn tiefes
Entſetzen. Bleich im Geſicht wie der Tod, mit
emporgeſtraͤubtem Haar ſprang er auf, ſchritt in be¬
drohlicher Stellung zu auf den Alten und rief mit
ſtarker Stimme, daß der Saal erdroͤhnte: „Da¬
niel! — Daniel! — was machſt du hier zu dieſer
Stunde!“ Da ſtieß der Alte jenes grauenvolle
heulende Gewimmer aus, gleich dem Todeslaut des
getroffenen Thiers, wie damals, als ihm Wolffgang
Gold fuͤr ſeine Treue bot und ſank zuſammen. V.
rief die Bedienten herbei, man hob den Alten auf,
alle Verſuche ihn zu beleben blieben vergebens. Da
ſchrie der Freiherr wie außer ſich: „Herr Gott! —
Herr Gott! habe ich denn nicht gehoͤrt, daß Nacht¬
wandler auf der Stelle des Todes ſeyn koͤnnen,
wenn man ſie beim Namen ruft? — Ich! — Ich
Ungluͤckſeligſter — ich habe den armen Greis er¬
ſchlagen! — Zeit meines Lebens habe ich keine ru¬
hige Stunde mehr!“ — V., als die Bedienten
den Leichnam fortgetragen und der Saal leer gewor¬
den,[241] den, nahm den immerfort ſich anklagenden Frei¬
herrn bei der Hand, fuͤhrte ihn in tiefem Schwei¬
gen vor die zugemauerte Thuͤr und ſprach: „Der
hier todt zu Ihren Fuͤßen niederſank, Freiherr Ro¬
derich, war der verruchte Moͤrder Ihres Vaters!“
— Als ſaͤh' er Geiſter der Hoͤlle, ſtarrte der Frei¬
herr den V. an. Dieſer fuhr fort: „Es iſt nun
wohl an der Zeit, Ihnen das graͤßliche Geheimniß
zu enthuͤllen, das auf dieſem Unhold laſtete und
ihn, den Fluchbeladenen, in den Stunden des
Schlafs umhertrieb. Die ewige Macht ließ den
Sohn Rache nehmen an dem Moͤrder des Vaters
— Die Worte, die Sie dem entſetzlichen Nacht¬
wandler in die Ohren donnerten, waren die letzten,
die Ihr ungluͤcklicher Vater ſprach!“ — Bebend,
unfaͤhig ein Wort zu ſprechen, hatte der Freiherr
neben V., der ſich vor den Camin ſetzte, Platz ge¬
nommen. V. fing mit dem Inhalt des Aufſatzes
an, den Hubert fuͤr V. zuruͤckgelaſſen und den er
erſt nach Eroͤffnung des Teſtaments entſiegeln ſollte.
Hubert klagte ſich mit Ausdruͤcken, die von der
Q[242] tiefſten Reue zeigten, des unverſoͤhnlichen Haſſes
an, der in ihm gegen den aͤltern Bruder Wurzel
faßte von dem Augenblick, als der alte Roderich
das Majorat geſtiftet hatte. Jede Waffe war ihm
entriſſen, denn waͤr' es ihm auch gelungen auf haͤ¬
miſche Weiſe, den Sohn mit dem Vater zu ent¬
zweien, ſo blieb dies ohne Wirkung, da Roderich
ſelbſt nicht ermaͤchtigt war, dem aͤlteſten Sohn die
Rechte der Erſtgeburt zu entreißen, und es, wandte
ſich auch ſein Herz und Sinn ganz ab von ihm,
doch nach ſeinen Grundſaͤtzen nimmermehr gethan
haͤtte. Erſt als Wolffgang in Genf das Liebesver¬
haͤltniß mit Julien von St. Val begonnen, glaubte
Hubert den Bruder verderben zu koͤnnen. Da fing
die Zeit an, in der er im Einverſtaͤndniße mit Da¬
niel auf buͤbiſche Weiſe den Alten zu Entſchluͤſſen
noͤthigen wollte, die den Sohn zur Verzweiflung
bringen mußten.


Er wußte, daß nur die Verbindung mit einer
der aͤlteſten Familien des Vaterlandes nach dem
[243] Sinn des alten Roderich den Glanz des Majorats
auf ewige Zeiten begruͤnden konnte. Der Alte hatte
dieſe Verbindung in den Geſtirnen geleſen und jedes
freveliche Zerſtoͤren der Conſtellation konnte nur
Verderben bringen uͤber die Stiftung. Wolffgangs
Verbindung mit Julien erſchien in dieſer Art dem
Alten ein verbrecheriſches Attentat, wider Beſchluͤſſe
der Macht gerichtet, die ihm beigeſtanden im irdi¬
ſchen Beginnen, und jeder Anſchlag. Julien, die
wie ein daͤmoniſches Princip ſich ihm entgegenge¬
worfen, zu verderben, gerechtfertigt. Hubert kann¬
te des Bruders an Wahnſinn ſtreifende Liebe zu Ju¬
lien, ihr Verluſt mußte ihn elend machen, vielleicht
toͤdten, und um ſo lieber wurde er thaͤtiger Hel¬
fershelfer bei den Plaͤnen des Alten, als er ſelbſt
ſtraͤfliche Neigung zu Julien gefaßt und ſie fuͤr ſich
zu gewinnen hoffte. Eine beſondere Schickung des
Himmels wollt' es, daß die giftigſten Anſchlaͤge an
Wolffgangs Entſchloſſenheit ſcheiterten, ja daß es
ihm gelang den Bruder zu taͤuſchen. Fuͤr Hubert
blieb Wolffgangs wirklich vollzogene Ehe, ſo wie die
Q 2[244] Geburt eines Sohnes ein Geheimniß. Mit der
Vorahnung des nahen Todes kam dem alten Rode¬
rich zugleich der Gedanke, daß Wolffgang jene ihm
feindliche Julie geheirathet habe; in dem Briefe,
der dem Sohn befahl, am beſtimmten Tage nach
R..ſitten zu kommen, um das Majorat anzu¬
treten, fluchte er ihm, wenn er nicht jene Verbin¬
dung zerreiſſen werde. Dieſen Brief verbrannte
Wolffgang bei der Leiche des Vaters.


An Hubert ſchrieb der Alte, daß Wolffgang
Julien geheirathet habe, er werde aber dieſe Ver¬
bindung zerreiſſen. Hubert hielt dies fuͤr die Ein¬
bildung des traͤumeriſchen Vaters, erſchrack aber
nicht wenig, als Wolffgang in R..ſitten ſelbſt
mit vieler Freimuͤthigkeit die Ahnung des Alten
nicht allein beſtaͤtigte, ſondern auch hinzufuͤgte,
daß Julie ihm einen Sohn geboren, und daß er
nun in kurzer Zeit Julien, die ihn bis jetzt fuͤr den
Kaufmann Born aus M. gehalten, mit der Nach¬
richt ſeines Standes und ſeines reichen Beſitzthums
hoch erfreuen werde. Selbſt wolle er hin nach
[245] Genf, um das geliebte Weib zu holen. Noch ehe
er dieſen Entſchluß ausfuͤhren konnte, ereilte ihn
der Tod. Hubert verſchwieg ſorglich was ihm von
dem Daſeyn eines in der Ehe mit Julien erzeugten
Sohnes bekannt und riß ſo das Majorat an ſich,
das dieſem gebuͤhrte. Doch nur wenige Jahre wa¬
ren vergangen, als ihn tiefe Reue ergriff. Das
Schickſal mahnte ihn an ſeine Schuld auf fuͤrchter¬
liche Weiſe durch den Haß, der zwiſchen ſeinen bei¬
den Soͤhnen mehr und mehr emporkeimte. „Du
biſt ein armer duͤrftiger Schlucker,“ ſagte der aͤlte¬
ſte, ein zwoͤlfjaͤhriger Knabe zu dem juͤngſten,
„aber ich werde, wenn der Vater ſtirbt, Majorats¬
herr von R..ſitten, und da mußt du demuͤthig
ſeyn und mir die Hand kuͤſſen, wenn ich dir Geld
geben ſoll zum neuen Rock“ — Der juͤngſte, in
volle Wuth gerathen uͤber des Bruders hoͤhnenden
Stolz, warf das Meſſer, das er gerade in der
Hand hatte, nach ihm hin und traf ihn beinahe
zum Tode. Hubert, großes Ungluͤck fuͤrchtend,
ſchickte den juͤngſten fort nach Petersburg, wo er
[246] ſpaͤter als Officier unter Suwarow wider die Fran¬
zoſen focht und blieb. Vor der Welt das Geheimniß
ſeines unredlichen betruͤgeriſchen Beſitzes kund zu
thun, davon hielt ihn die Scham, die Schande,
die uͤber ihn gekommen, zuruͤck, aber entziehen
wollte er dem rechtmaͤßigen Beſitzer keinen Groſchen
mehr. Er zog Erkundigungen ein in Genf, und
erfuhr, daß die Frau Born, troſtlos uͤber das
unbegreifliche Verſchwinden ihres Mannes, geſtor¬
ben, daß aber der junge Roderich Born von einem
wackern Mann, der ihn aufgenommen, erzogen
werde. Da kuͤndigte ſich Hubert unter fremden
Namen als Verwandter des auf der See umgekom¬
menen Kaufmann Born an und ſchickte Summen ein,
die hinreichten, den jungen Majoratsherrn ſorglich
und anſtaͤndig zu erziehn. Wie er die Ueberſchuͤſſe
der Einkuͤnfte des Majorats ſorgfaͤltig ſammelte; wie
er dann teſtamentariſch verfuͤgte, iſt bekannt. Ue¬
ber den Tod ſeines Bruders ſprach Hubert in ſon¬
derbaren raͤthſelhaften Ausdruͤcken, die ſo viel erra¬
then ließen, daß es damit eine geheimnißvolle Be¬
[247] wandtniß haben mußte, und daß Hubert wenigſtens
mittelbar Theil nahm an einer graͤßlichen That.
Der Inhalt der ſchwarzen Mappe klaͤrte alles auf.
Der verraͤtheriſchen Correſpondenz Huberts mit Da¬
niel lag ein Blatt bei, das Daniel beſchrieben und
unterſchrieben hatte. V. las ein Geſtaͤndniß, vor
dem ſein Innerſtes erbebte. Auf Daniels Veran¬
laſſung war Hubert nach R...ſitten gekommen,
Daniel war es, der ihm von den gefundenen Ein¬
hundert und funfzigtauſend Reichsthalern geſchrie¬
ben. Man weiß, wie Hubert von dem Bruder
aufgenommen wurde, wie er getaͤuſcht in allen ſei¬
nen Wuͤnſchen und Hoffnungen fort wollte, wie
ihn V. zuruͤckhielt. In Daniels Innerm kochte
blutige Rache, die er zu nehmen hatte an dem jun¬
gen Menſchen, der ihn ausſtoßen wollen, wie einen
raͤudigen Hund. Der ſchuͤrte und ſchuͤrte an dem
Brande, von dem der verzweifelnde Hubert ver¬
zehrt wurde. Im Foͤhrenwalde auf der Wolfsjagd,
im Sturm und Schneegeſtoͤber wurden ſie einig
uͤber Wolffgangs Verderben. „Wegſchaffen“ —


[248]

murmelte Hubert, indem er ſeitwaͤrts wegblickte
und die Buͤchſe anlegte. „Ja, wegſchaffen,“
grinzte Daniel, „aber nicht ſo, nicht ſo“ —
Nun vermaß er ſich hoch und theuer, er werde den
Freiherrn ermorden und kein Hahn ſolle darnach
kraͤhen. Hubert, als er endlich Geld erhalten,
that der Anſchlag leid, er wollte fort, um jeder
weitern Verſuchung zu widerſtehen. Daniel ſelbſt
ſattelte in der Nacht das Pferd und fuͤhrte es aus
dem Stalle, als aber der Baron ſich aufſchwingen
wollte, ſprach Daniel mit ſchneidender Stimme:
„Ich daͤchte, Freiherr Hubert, du bliebſt auf dem
Majorat, das dir in dieſem Augenblick zugefallen,
denn der ſtolze Majoratsherr liegt zerſchmettert in
der Gruft des Thurms!“ — Daniel hatte beobach¬
tet, daß, von Golddurſt geplagt, Wolffgang oft
in der Nacht aufſtand, vor die Thuͤr trat, die ſonſt
zum Thurme fuͤhrte und mit ſehnſuͤchtigen Blicken
hinabſchaute in die Tiefe, die nach Daniels Verſi¬
cherung noch bedeutende Schaͤtze bergen ſollte.
Darauf gefaßt ſtand in jener verhaͤngnißvollen
[249][N]acht Daniel vor der Thuͤre des Saals. So wie
er den Freiherrn die zum Thurm fuͤhrende Thuͤr
oͤffnen hoͤrte, trat er hinein und dem Freiherrn
nach, der dicht an dem Abgrunde ſtand. Der
Freiherr drehte ſich um und rief, als er den ver¬
ruchten Diener, dem der Mord ſchon aus den Au¬
gen blitzte, gewahrte, entſetzt: „Daniel, Daniel,
was machſt du hier zu dieſer Stunde!“ Aber da
kreiſchte Daniel wild auf: „Hinab mit dir, du
raͤudiger Hund,“ und ſchleuderte mit einem kraͤf¬
tigen Fußſtoß den Ungluͤcklichen hinunter in die
Tiefe! — Ganz erſchuͤttert von der graͤßlichen Un¬
that fand der Freiherr keine Ruhe auf dem Schloſ¬
ſe, wo ſein Vater ermordet. Er ging auf ſeine
Guͤter nach Curland und kam nur jedes Jahr zur
Herbſtzeit nach R..ſitten. Franz, der alte
Franz, behauptete, daß Daniel, deſſen Verbrechen
er ahnde, noch oft zur Zeit des Vollmonds ſpuke
und beſchrieb den Spuk gerade ſo, wie ihn V. ſpaͤ¬
ter erfuhr und bannte. — Die Entdeckung dieſer
Umſtaͤnde, welche das Andenken des Vaters ſchaͤn¬
[250] deten, trieben auch den jungen Freiherrn Hubert
fort in die Welt. So hatte der Großonkel Alles
erzaͤhlt, nun nahm er meine Hand und ſprach, in¬
dem ihm volle Thraͤnen in die Augen traten, mit
ſehr weicher Stimme: „Vetter — Vetter —
auch ſie, die holde Frau, hat das boͤſe Verhaͤng¬
niß, die unheimliche Macht, die dort auf dem
Stammſchloſſe hauſet, ereilt! Zwei Tage nachdem
wir R..ſitten verlaſſen, veranſtaltete der Frei¬
herr zum Beſchluß eine Schlittenfarth. Er ſelbſt
faͤhrt ſeine Gemahlin, doch, als es Thalabwaͤrts
geht, reißen die Pferde ploͤtzlich auf unbegreifliche
Weiſe ſcheu geworden aus in vollem wuͤthenden
Schnauben und Toben. „Der Alte — der Alte iſt
hinter uns her,“ ſchreit die Baronin auf mit
ſchneidender Stimme! In dem Augenblick wird
ſie durch den Stoß, der den Schlitten umwirft,
weit fortgeſchleudert. — Man findet ſie leblos —
ſie iſt hin! — Der Freiherr kann ſich nimmer troͤſten,
ſeine Ruhe iſt die eines Sterbenden! — Nimmer
kommen wir wieder nach R..ſitten, Vetter! —


[251]

Der alte Großonkel ſchwieg, ich ſchied von ihm
mit zerriſſenem Herzen, und nur die Alles beſchwich¬
tigende Zeit konnte den tiefen Schmerz lindern, in
dem ich vergehen zu muͤſſen glaubte.


Jahre waren vergangen. V. ruhte laͤngſt im Grabe,
ich hatte mein Vaterland verlaſſen. Da trieb mich
der Sturm des Krieges, der verwuͤſtend uͤber ganz
Deutſchland hinbrauſte, in den Norden hinein, fort
nach Petersburg. Auf der Ruͤckreiſe, nicht mehr
weit von K., fuhr ich in einer finſtern Sommer¬
nacht dem Geſtade der Oſtſee entlang, als ich vor
mir am Himmel einen großen funkelnden Stern er¬
blickte. Naͤher gekommen gewahrte ich wohl an
der rothen flackernden Flamme, daß das, was ich
fuͤr einen Stern gehalten, ein ſtarkes Feuer ſeyn
muͤſſe, ohne zu begreifen, wie es ſo hoch in den
Luͤften ſchweben koͤnne. „Schwager! was iſt das
fuͤr ein Feuer, dort vor uns?“ frug ich den Po¬
ſtillion. „Ei,“ erwiederte dieſer, „ei, das iſt kein
Feuer, das iſt der Leuchtthurm von R..ſitten.“
R..ſitten! — ſo wie der Poſtillion den Na¬
[252] men nannte, ſprang in hellem Leben das Bild jener
verhaͤngnißvollen Herbſttage hervor, die ich dort
verlebte. Ich ſah den Baron — Seraphinen,
aber auch die alten wunderlichen Tanten, mich
ſelbſt mit blankem Milchgeſicht, ſchoͤn friſirt und
gepudert, in zartes Himmelblau gekleidet — ja
mich den Verliebten, der wie ein Ofen ſeufzt, mit
Jammerlied auf ſeiner Liebſten Braue! — In der
tiefen Wehmuth, die mich durchbebte, flackerten
wie bunte Lichterchen V..s derbe Spaͤße auf, die
mir nun ergoͤtzlicher waren als damals. So von
Schmerz und wunderbarer Luſt bewegt, ſtieg ich am
fruͤhen Morgen in R..ſitten aus dem Wagen,
der vor der Poſtexpedition hielt. Ich erkannte das
Haus des Oekonomieinſpektors, ich frug nach ihm.
„Mit Verlaub,“ ſprach der Poſtſchreiber, indem
er die Pfeife aus dem Munde nahm und an der
Nachtmuͤtze ruͤckte, „mit Verlaub, hier iſt kein
Oekonomieinſpektor, es iſt ein koͤnigliches Amt und
der Herr Amtsrath belieben noch zu ſchlafen.“ Auf
weiteres Fragen erfuhr ich, daß ſchon vor ſechszehn
[253] Jahren der Freiherr Roderich von R., der letzte
Majoratsbeſitzer, ohne Deszendenten geſtorben und
das Majorat der Stiftungsurkunde gemaͤß dem
Staate anheimgefallen ſey. — Ich ging hinauf
nach dem Schloſſe, es lag in Ruinen zuſammenge¬
ſtuͤrzt. Man hatte einen großen Theil der Steine
zu dem Leuchtthurm benutzt, ſo verſicherte ein alter
Bauer, der aus dem Foͤhrenwalde kam und mit
dem ich mich ins Geſpraͤch einließ. Der wußte
auch noch von dem Spuk zu erzaͤhlen, wie er auf
dem Schloſſe gehauſt haben ſollte und verſicherte,
daß noch jetzt ſich oft, zumal beim Vollmonde,
grauenvolle Klagelaute in dem Geſtein hoͤren ließen.


Armer alter, kurzſichtiger Roderich! welche boͤſe
Macht beſchworſt du herauf, die den Stamm, den
du mit feſter Wurzel fuͤr die Ewigkeit zu pflanzen
gedachteſt, im erſten Aufkeimen zum Tode ver¬
giftete.


[254]

Das Geluͤbde.

Am Michaelistage, eben als bei den Carmelitern
die Abendhora eingelaͤutet wurde, fuhr ein mit
vier Poſtpferden beſpannter ſtattlicher Reiſewagen,
donnernd und raſſelnd durch die Gaſſen des klei¬
nen polniſchen Graͤnzſtaͤdtchens L., und hielt end¬
lich ſtill vor der Hausthuͤr des alten teutſchen
Buͤrgermeiſters. Neugierig ſteckten die Kinder
die Koͤpfe zum Fenſter heraus, aber die Hausfrau
ſtand auf von ihrem Sitze und rief: indem ſie
ganz unmuthig ihr Naͤhzeug auf den Tiſch warf,
dem Alten, der aus dem Nebenzimmer ſchnell
eintrat, entgegen: „Schon wieder Fremde, die
unſer ſtilles Haus fuͤr eine Gaſtwirthſchaft halten,
das kommt aber von dem Wahrzeichen her. War¬
[255] um haſt du auch die ſteinerne Taube uͤber der
Thuͤr auf's neue vergolden laſſen?“ Der Alte
laͤchelte ſchlau und bedeutſam ohne etwas zu er¬
wiedern; im Augenblick hatte er den Schlafrock
abgeworfen, das Ehrenkleid, das vom Kirchgange
her noch wohlgebuͤrſtet uͤber der Stuhllehne hing,
angezogen, und ehe die ganz erſtaunte Frau den
Mund zur Frage oͤffnen konnte, ſtand er ſchon,
ſein Sammtmuͤtzchen unterm Arm, ſo daß ſein
ſilberweißes Haupt in der Daͤmmerung hell auf¬
ſchimmerte, vor dem Kutſchenſchlage, den indeſſen
ein Diener geoͤffnet. Eine aͤltliche Frau im grauen
Reiſemantel ſtieg aus dem Wagen, ihr folgte eine
hohe jugendliche Geſtalt mit dicht verhuͤlltem Antlitz
die auf des Buͤrgermeiſters Arm geſtuͤtzt, in das
Haus hinein mehr wankte als ſchritt, und kaum
in's Zimmer getreten, wie halb entſeelt in den
Lehnſtuhl ſank, den die Hausfrau auf des Alten
Wink ſchnell herangeruͤckt. Die aͤltere Frau ſprach
leiſe und ſehr wehmuͤthig zu dem Buͤrgermeiſter:
„Das arme Kind!“ — „ich muß wohl noch einige
[256] Augenblicke bei ihr verweilen,“ damit machte ſie
Anſtalt ihren Reiſemantel herunterzuziehen, worin
ihr des Buͤrgermeiſters aͤltere Tochter beiſtand,
ſo daß bald ihr Nonnengewand, ſo wie ein auf
der Bruſt funkelndes Kreuz ſichtbar wurde, wel¬
ches ſie als Aebtiſſin eines Ciſterzienſer Nonnen¬
kloſters darſtellte. Die verhuͤllte Dame hatte un¬
terdeſſen nur durch ein leiſes, kaum vernehmbares
Aechzen kund gethan, daß ſie noch lebe und end¬
lich die Hausfrau um ein Glas Waſſer gebeten.
Die brachte aber allerley ſtaͤrkende Tropfen und
Eſſenzen herbei, und pries ihre Wunderkraft, in¬
dem ſie die Dame bat, doch nur die dicken, ſchwe¬
ren Schleier, die ihr alles freie Athmen verhin¬
dern muͤßten, abzulegen. Mit der Hand jede
Annaͤherung der Hausfrau abwehrend, mit allen
Zeichen des Abſcheues den Kopf zuruͤckbeugend, ver¬
warf aber die Kranke den Vorſchlag, und ſelbſt,
als ſie endlich es ſich gefallen ließ, den Duft einer
ſtarken Lebenseſſenz einzuziehen, als ſie etwas von
dem verlangten Waſſer, in das die beſorgte Haus¬
[257] frau einige Tropfen eines bewaͤhrten Elixirs hin¬
eingethan, genoß, that ſie alles dies unter den
Schleiern, ohne ſie nur im mindeſten zu luͤpfen.
„Ihr habt doch, mein lieber, alter Herr!“ wandte
ſich die Aebtiſſin zum Buͤrgermeiſter, „ihr habt doch
Alles ſo bereitet, wie es gewuͤnſcht worden?“ „Ja
wohl,“ erwiederte der Alte, „ja wohl! ich hoffe,
mein durchlauchtigſter Fuͤrſt ſoll mit mir zufrieden
ſeyn, ſo wie die Dame, fuͤr die ich Alles zu
thun bereit bin, was nur in meinen Kraͤften
ſteht.“ „So laßt mich,“ fuhr die Aebtiſſin fort,
„mit meinem armen Kinde noch einige Augenblicke
allein.“ Die Familie mußte das Zimmer verlaſſen.
Man hoͤrte, wie die Aebtiſſin eifrig und ſalbungs¬
voll der Dame zuſprach, und wie dieſe endlich auch
zu reden begann mit einem Ton, der tief bis in's
Herz drang. Ohne gerade zu horchen, blieb denn
doch die Hausfrau an der Thuͤre des Zimmers ſte¬
hen, indeſſen wurde italiaͤniſch geſprochen, und ſelbſt
dies machte fuͤr ſie den ganzen Auftritt geheim¬
nißvoller und vermehrte die Beklommenheit, welche
R[258] ihr den Mund verſchloß. Frau und Tochter trieb
der Alte fort, um fuͤr Wein und andere Erfri¬
ſchungen zu ſorgen, er ſelbſt ging in das Zimmer
zuruͤck. Getroͤſteter, gefaßter ſchien die verſchlei¬
erte Dame, welche mit gebeugtem Haupt und ge¬
falteten Haͤnden vor der Aebtiſſin ſtand. Dieſe
verſchmaͤhte es nicht, etwas von den Erfriſchungen
anzunehmen, die ihr die Hausfrau darbot, dann rief
ſie: „Nun iſt es Zeit!“ Die verſchleierte Dame
ſank nieder auf die Knie, die Aebtiſſin legte die
Haͤnde auf ihr Haupt und ſprach leiſe Gebete.
Als dieſe geendet, ſchloß ſie, indem haͤufige Thraͤ¬
nen ihr uͤber die Wangen rollten, die Verſchleierte
in die Arme und druͤckte ſie heftig wie im Ueber¬
maß des Schmerzes an die Bruſt, dann gab ſie
gefaßt und wuͤrdevoll der Familie die Bene¬
diktion und eilte, vom Alten geleitet, raſch in den
Wagen, vor dem die friſch angelegten Poſtpferde
laut wieherten. In vollem Juchzen und Blaſen
jug der Poſtillion durch die Gaſſen zum Thore
hinaus. Als nun die Hausfrau gewahrte, daß
[259] die verſchleierte Dame, fuͤr die man ein paar
ſchwere Koffer vom Wagen abgepackt und hinein¬
getragen, da blieb, wohl gar auf lange Zeit ein¬
gezogen ſey, konnte ſie ſich gar nicht laſſen vor
peinlicher Neugier und Sorge. Sie trat hinaus
auf den Hausflur und dem Alten, der eben in das
Zimmer wollte, in den Weg. „Um Chriſtus willen,“
fluͤſterte ſie leiſe und aͤngſtlich. „um Chriſtus willen,
welch' einen Gaſt bringſt du mir ins Haus, denn
du weißt doch ja von Allem und haſt es mir nur
verſchwiegen.“ „Alles was ich weiß, ſollſt du auch
erfahren,“ erwiederte der Alte ganz ruhig. „Ach
ach!“ fuhr die Frau noch aͤngſtlicher fort, „du
weißt aber vielleicht nicht Alles; waͤr'ſt du nur
jetzt im Zimmer geweſen. So wie die Frau Aeb¬
tiſſin abgefahren, mochte es der Dame doch wohl
zu beklommen werden in ihren dicken Schleiern.
Sie nahm den großen ſchwarzen Kreppflor, der ihr
bis an die Knie reichte, herab, und da ſah ich“ —
„Nun was ſahſt du denn,“ fiel der Alte der Frau,
die zitternd ſich umſchaute, als erblicke ſie Ge¬
R 2[260] ſpenſter, in die Rede. „Nein,“ ſprach die Frau
weiter, „die Geſichtszuͤge konnte ich unter den
duͤnnen Schleiern gar nicht deutlich erkennen, aber
wohl die Todtenfarbe, ach die grauliche Todten¬
farbe. Aber nun Alter, nun merk' auf: deutlich,
nur zu deutlich, ganz ſonnenklar liegts am Tage,
daß die Dame guter Hoffnung iſt. In wenigen
Wochen kommt ſie in's Kindbett.“ „Das weiß
ich ja, Frau,“ ſprach der Alte ganz muͤrriſch,
„und damit du nur nicht umkommen moͤgeſt vor
Neugier und Unruhe, will ich dir mit zwei Wor¬
ten alles erklaͤren. Wiſſe alſo, daß Fuͤrſt Z. un¬
ſer hoher Goͤnner mir vor einigen Wochen ſchrieb,
die Aebtiſſin des Ciſterzienſerkloſters in O. werde
mir eine Dame bringen, die ich bei mir in
meinem Hauſe aufnehmen ſolle, in aller Stille,
jedes Aufſehen ſorglich vermeidend. Die Dame,
welche nicht anders genannt ſeyn wolle, als ſchlecht¬
weg Coͤleſtine, werde bei mir ihre nahe Entbin¬
dung abwarten, und dann nebſt dem Kinde, das
ſie geboren, wieder abgeholt werden. Fuͤge ich nun
[261] noch hinzu, daß der Fuͤrſt mir mit den eindring¬
lichſten Worten die ſorgſamſte Pflege der Dame
empfohlen und fuͤr die erſten Auslagen und Be¬
muͤhungen einen tuͤchtigen Beutel mit Dukaten,
den du in meiner Commode finden und beaͤugeln
kannſt, beigefuͤgt hat, ſo werden wohl alle Be¬
denken aufhoͤren.“ „So muͤſſen wir,“ ſprach die
Hausfrau, „vielleicht arger Suͤnde, wie ſie die
Vornehmen treiben, die Hand bieten.“ Noch ehe
der Alte darauf etwas erwiedern konnte, trat die
Tochter zum Zimmer heraus, und rief ihn zur
Dame, welche ſich nach Ruhe ſehne und in das
fuͤr ſie beſtimmte Gemach gefuͤhrt zu werden
wuͤnſche. Der Alte hatte die beiden Zimmerchen
des obern Stocks ſo gut ausſchmuͤcken laſſen, als
er es nur vermochte, und war nicht wenig betreten,
als Coͤleſtine frug, ob er außer dieſen Gemaͤchern
nicht noch eins, deſſen Fenſter hinten heraus gin¬
gen, beſitze. Er verneinte das und fuͤgte nur, um
ganz gewiſſenhaft zu ſeyn, hinzu, daß zwar noch
ein einziges Gemach mit einem Fenſter nach dem
[262] Garten heraus, vorhanden, dies duͤrfte aber gar
kein Zimmer, ſondern nur eine ſchlechte Kammer
genannt werden; kaum ſo geraͤumig, um ein Bette,
einen Tiſch und einen Stuhl hinein zu ſtellen,
ganz einer elenden Kloſterzelle gleich. Coͤleſtine
verlangte augenblicklich dieſe Kammer zu ſehen,
und erklaͤrte, kaum hineingekommen, daß eben die¬
ſes Gemach ihren Wuͤnſchen und Beduͤrfniſſen
angemeſſen ſey, daß ſie nur in dieſem und keinem
andern wohnen, und es nur dann, wenn ihr Zu¬
ſtand durchaus groͤßeren Raum und eine Kran¬
kenwaͤrterin erfordern ſolle, mit einem groͤßern
vertauſchen werde. Verglich der Alte ſchon jetzt
dieſes enge Gemach mit einer Kloſterzelle, ſo war
es andern Tages ganz dazu geworden. Coͤleſtine
hatte ein Marienbild an die Wand geheftet und
auf den alten hoͤlzernen Tiſch, der unter dem
Bilde ſtand, ein Cruzifix hingeſtellt. Das Bette
beſtand in einem Strohſack und einer wollenen
Decke und außer einem hoͤlzernen Schemmel und
noch einem kleinen Tiſch, litt Coͤleſtine kein ande¬
[263] res Geraͤth. Die Hausfrau, ausgeſoͤhnt mit der
Fremden durch den tiefen zehrenden Schmerz, der
ſich in ihrem ganzen Weſen offenbarte, glaubte
nach gewoͤhnlicher Weiſe ſie aufheitern, unterhal¬
ten zu muͤſſen, die Fremde bat aber mit den ruͤh¬
rendſten Worten, eine Einſamkeit nicht zu verſtoͤ¬
ren, in der allein mit ganz der Jungfrau und
den Heiligen zugewandtem Sinn ſie Troͤſtung
finde. Jedes Tages, ſo wie der Morgen graute,
begab ſich Coͤleſtine zu den Carmelitern, um die
Fruͤhmeſſe zu hoͤren; den uͤbrigen Tag ſchien ſie
unausgeſetzt Andachtsuͤbungen gewidmet zu haben,
denn ſo oft es auch noͤthig wurde ſie in ihrem
Zimmer aufzuſuchen, fand man ſie entweder betend
oder in frommen Buͤchern leſend. Sie verſchmaͤhte
andere Speiſe als Gemuͤſe, anderes Getraͤnk als
Waſſer, und nur die dringendſten Vorſtellungen
des Alten, daß ihr Zuſtand, das Weſen, das in
ihr lebe, beſſere Koſt fordere, konnten ſie endlich
vermoͤgen zuweilen Fleiſchbruͤhe und etwas Wein
zu genießen. Dieſes ſtrenge kloͤſterliche Leben
[264] hielt es auch jeder im Hauſe fuͤr die Buße be¬
gangener Suͤnde, erweckte doch zu gleicher Zeit
inniges Mitleiden und tiefe Ehrfurcht, wozu denn
auch der Adel ihrer Geſtalt, die ſiegende Anmuth
jeder ihrer Bewegungen nicht wenig beitrug. Was
aber dieſen Gefuͤhlen fuͤr die fremde Heilige etwas
ſchauerliches beimiſchte, war der Umſtand, daß
ſie die Schleier durchaus nicht ablegte, ſo daß
keiner ihr Geſicht zu erſchauen vermochte. Nie¬
mand kam in ihre Naͤhe, als der Alte und der
weibliche Theil ſeiner Familie, und dieſe, niemals
aus dem Staͤdtchen gekommen, konnten unmoͤglich
durch das Wiedererkennen eines Geſichts, das
ſie vorher nicht geſehen, dem Geheimniß auf
die Spur kommen. Wozu alſo die Verhuͤllung? —
Die geſchaͤftige Fantaſie der Weiber erfand bald
ein grauliches Maͤhrchen. Ein fuͤrchterliches Ab¬
zeichen (ſo lautete die Fabel), die Spur der Teu¬
felskralle, hatte das Geſicht der Fremden graͤßlich
verzerrt, und darum die dicken Schleier. Der
Alte hatte Muͤhe dem Gewaͤſche zu ſteuern und
[265] zu verhindern, daß wenigſtens vor der Thuͤre
ſeines Hauſes nicht abenteuerliches von der Frem¬
den geſchwatzt wurde, deren Aufenthalt in des Buͤr¬
germeiſters Hauſe freilich in der Stadt bekannt
geworden. Ihre Gaͤnge nach dem Carmeliterklo¬
ſter blieben auch nicht unbemerkt und bald nannte
man ſie des Buͤrgermeiſters ſchwarze Frau, wo¬
mit freilich ſich von ſelbſt die Idee einer ſpukhaf¬
ten Erſcheinung verband. Der Zufall wollte, daß
eines Tages, als die Tochter der Fremden die
Speiſen in das Zimmer brachte, der Luftſtrom
den Schleier erfaßte und aufhob; mit Blitzes¬
ſchnelle wandte ſich die Fremde, ſo daß ſie ſich
in demſelben Moment dem Blick des Maͤdchens
entzog. Dieſe kam aber erblaßt und an allen
Gliedern zitternd herab. Keine Verzerrung, aber
ſo wie die Mutter ein todtenbleiches, hatte ſie ein
marmorweißes Antlitz erſchaut, aus deſſen tiefen
Augenhoͤhlen es ſeltſam hervorblitzte. Der Alte
ſchob mit Recht vieles auf des Maͤdchens Einbil¬
dung, aber auch ihm war es, im Grunde genom¬
[266] men, ſo zu Muthe wie allen; er wuͤnſchte das
verſtoͤrende Weſen, trotz aller Froͤmmigkeit, die es
bewies, fort aus ſeinem Hauſe. Bald darauf
weckte in einer Nacht der Alte die Hausfrau und
ſagte ihr, daß er ſchon ſeit einigen Minuten ein
leiſes Wimmern und Aechzen, ein Klopfen ver¬
nehme, das von Coͤleſtinens Zimmer zu kommen
ſcheine. Die Frau, von der Ahnung ergriffen,
was das ſeyn koͤnne, eilte hinauf. Sie fand Coͤ¬
leſtinen angezogen und in ihre Schleier gewickelt,
auf dem Bette halb ohnmaͤchtig liegen und uͤber¬
zeugte ſich bald, daß die Niederkunft nahe ſey.
Schnell traf man die laͤngſt vorbereiteten Anſtal¬
ten, und in weniger Zeit war ein geſundes hol¬
des Knaͤblein geboren. Dies Ereigniß, hatte man
es auch laͤngſt vorausgeſehen, trat doch wie uner¬
wartet ein, und vernichtete in ſeinen Folgen das
druͤckende unheimliche Verhaͤltniß mit der Frem¬
den, welches auf der Familie ſchwer gelaſtet hatte.
Der Knabe ſchien, wie ein ſuͤhnender Mittler,
Coͤleſtinen dem Menſchlichen wieder naͤher zu brin¬
[267] gen. Ihr Zuſtand litt keine ſtrenge ascetiſche
Uebungen, und indem ihre Huͤlfloſigkeit ihr die
Menſchen, welche ſie mit liebender Sorgfalt pfleg¬
ten, aufnoͤthigte, gewoͤhnte ſie ſich mehr und
mehr an ihren Umgang. Die Hausfrau dagegen,
die nun die Kranke warten, ihr ſelbſt die nahr¬
hafte Suppe kochen und darreichen konnte, vergaß
in dieſer haͤuslichen Sorge alles Boͤſe, was ihr
ſonſt uͤber die raͤthſelhafte Fremde in den Sinn
gekommen. Sie dachte nicht mehr daran, daß
ihr ehrbares Haus vielleicht zum Schlupfwinkel
der Schande dienen ſollte. Der Alte jubelte ganz
verjuͤngt und haͤtſchelte den Knaben, als ſey ihm
ein Enkelkind geboren, und er, wie Alle uͤbrige,
hatten ſich daran gewoͤhnt, daß Coͤleſtine ver¬
ſchleiert blieb, ja ſelbſt waͤhrend der Entbindung.
Die Wehmutter hatte ihr ſchwoͤren muͤſſen, daß,
trete ja ein Zuſtand der Bewußtloſigkeit ein, doch
die Schleier nicht geluͤpft werden ſollten, außer
von ihr, der Wehmutter ſelbſt, im Fall der Todes¬
gefahr. Es war gewiß, daß die Alte Coͤleſtinen
[268] unverſchleiert geſehen, ſie ſagte aber daruͤber nichts,
als: Die arme junge Dame muß ſich ja wohl ſo
verhuͤllen! — Nach einigen Tagen erſchien der
Carmelitermoͤnch, der den Knaben getauft hatte.
Seine Unterredung mit Coͤleſtinen, niemand durfte
zugegen ſeyn, dauerte laͤnger als zwei Stunden.
Man hoͤrte ihn eifrig ſprechen und beten. Als
er fortgegangen, fand man Coͤleſtinen im Lehn¬
ſtuhl ſitzend, auf dem Schooße den Knaben, um
deſſen kleine Schultern ein Skapulier gelegt war,
und der ein Agnusdei auf der Bruſt trug. Wo¬
chen und Monate vergingen, ohne daß, wie der
Buͤrgermeiſter geglaubt hatte, und wie es ihm
auch vom Fuͤrſten Z. geſagt worden, Coͤleſtine
mit dem Kinde abgeholt wurde. Sie haͤtte ganz
eintreten koͤnnen in den friedlichen Kreis der Fa¬
milie, waͤren die fatalen Schleier nicht geweſen,
die immer den letzten Schritt zur freundlichen
Annaͤherung hemmten. Der Alte nahm es ſich
heraus, dies der Fremden ſelbſt freimuͤthig zu
aͤußern, doch als ſie mit dumpfem feierlichen Ton
[269] erwiederte: Nur im Tode fallen dieſe Schleier,
ſchwieg er davon und wuͤnſchte aufs Neue, daß der
Wagen mit der Aebtiſſin erſcheinen moͤge. Der
Fruͤhling war herangekommen, von einem Spatzier¬
gange kehrte die Familie des Buͤrgermeiſters heim,
Blumenſtraͤuße in den Haͤnden tragend, deren
ſchoͤnſte der frommen Coͤleſtine beſtimmt waren.
Eben als ſie ins Haus treten wollten, ſprengte
ein Reiter heran, eifrig nach dem Buͤrgermeiſter
fragend. Der Alte ſprach, er ſei ſelbſt der Buͤr¬
germeiſter und ſtehe vor ſeinem Hauſe. Da ſprang
der Reiter herab vom Pferde, das er feſtband
an den Pfoſten und ſtuͤrzte mit dem gellenden
Ruf: „Sie iſt hier, ſie iſt hier,“ ins Haus und
die Treppe herauf. Man hoͤrte eine Thuͤr ein¬
ſchlagen und Coͤleſtinens Angſtgeſchrei. Der Alte,
von Entſetzen erfaßt, eilte nach. Der Reiter —
wie nun ſichtlich, war ein Offizier von der fran¬
zoͤſiſchen Jaͤgergarde mit vielen Orden geſchmuͤckt,
hatte den Knaben aus der Wiege geriſſen und in
den linken, mit dem Mantel umſchlungenen Arm
[270] genommen; den Rechten hatte Coͤleſtine erfaßt,
alle Kraft aufbietend, den Raͤuber des Kindes
zuruͤckzuhalten. Im Ringen riß der Offizier den
Schleier herab — ein todtſtarres marmorweißes
Antlitz, von ſchwarzen Locken umſchattet, blickte
ihn an, gluͤhende Strahlen aus den tiefen Augen¬
hoͤhlen ſchießend, waͤhrend ſchneidende Jammertoͤne
aus den halbgeoͤffneten unbewegten Lippen quollen.
Der Alte nahm wahr, daß Coͤleſtine eine weiße,
dicht anſchließende Maske trug. „Entſetzliches
Weib! willſt du, daß auch mich deine Raſerei
ergreife?“ ſchrie der Offizier, indem er ſich mit
Gewalt losriß, ſo daß Coͤleſtine zu Boden ſtuͤrzte.
Nun umfaßte ſie aber ſeine Knie, indem ſie mit
dem Ausdruck des unſaͤglichſten Schmerzes, mit
einem Ton, der das Herz durchſchnitt, flehte:
„Laß mir das Kind! — o laß mir das Kind! —
nicht um die ewige Seligkeit ſollſt du mich brin¬
gen. — Um Chriſtus — um der heiligen Jung¬
frau willen — laß mir das Kind — laß mir
das Kind.“ — Und bei dieſen Jammertoͤnen regte
[271] ſich keine Muskel, regten ſich nicht die Lippen
des Todtenantlitzes, ſo daß dem Alten, der Haus¬
frau — Allen, die ihm gefolgt, vor Grauen das
Blut in den Adern ſtockte! „Nein,“ ſchrie der
Offizier wie in heller Verzweiflung, „nein, un¬
menſchliches, unerbittliches Weib, das Herz konn¬
teſt du aus dieſer Bruſt reißen, aber verderben
ſollſt du nicht im heilloſen Wahnſinn das Weſen,
das ſich troͤſtend an die blutende Wunde legt!“ —
Feſter druͤckte der Offizier das Kind an ſich, ſo
daß es laut zu weinen begann — da brach Coͤle¬
ſtine aus in ein dumpfes Heulen: „Rache —
des Himmels Rache uͤber dich — du Moͤrder“ —
„Laß ab! — laß ab — fort mit dir, du Hoͤl¬
lenſpuk“ — kreiſchte der Offizier, und ſchleuderte mit
einer konvulſiviſchen Bewegung des Fußes Coͤleſti¬
nen weit von ſich, und wollte zur Thuͤre heraus.
Der Alte trat ihm in den Weg, er riß aber ſchnell
ein Terzerol hervor, rief, die Muͤndung gegen
den Alten gekehrt: „die Kugel durch den Kopf
dem, der dem Vater ſein Kind zu entreißen gedenkt,“
[272] ſtuͤrzte die Treppe herab, ſchwang ſich auf's Pferd
ohne das Kind zu laſſen, und ſprengte in vollem
Galopp davon. — Die Hausfrau voll Herzens¬
angſt, wie es nun um Coͤleſtinen ſtehen, und
was nun mit ihr anzufangen ſeyn wuͤrde, uͤber¬
wand ihr Grauen vor der entſetzlichen Todten¬
maske, und eilte herauf ihr beizuſtehen. Wie er¬
ſtaunte ſie, als ſie Coͤleſtinen mitten im Zimmer
gleich einer Statue mit herabhaͤngenden Armen
lautlos ſtehend fand. — Sie redete ſie an, keine
Antwort. Nicht vermoͤgend den Anblick der Maske
zu tragen, hing ſie ihr die Schleier um, die auf
dem Boden lagen, kein Regen und Bewegen.
Coͤleſtine war in einen automataͤhnlichen Zuſtand
geſunken, der die Hausfrau mit neuer Angſt und
Pein erfuͤllte, ſo daß ſie ganz inbruͤnſtig zu Gott
flehte, ſie nur von dieſer unheimlichen Fremden
zu befreien. Ihre Bitte wurde zur Stelle erhoͤrt,
denn eben hielt derſelbe Wagen, der Coͤleſtinen ge¬
bracht, vor der Thuͤre. Die Aebtiſſin kam, mit ihr
Fuͤrſt Z. des alten Buͤrgermeiſters hoher Goͤnner.


[273]

Als der erfahren, was ſich ſo oben zugetragen,
ſprach er ſehr mild und ruhig: „So kamen wir
zu ſpaͤt, und muͤſſen uns wohl in Gottes Fuͤgung
ſchicken.“ Man brachte Coͤleſtinen herab, die ſich
ſtarr und lautlos, ohne Zeichen eignen Willens
und eigner Willkuͤhr, fortfuͤhren und in den Wagen
ſetzen ließ, der ſchnell fortrollte. Dem Alten, der
ganzen Familie war ſo zu Muthe, als erwachten ſie
nun erſt aus einem boͤſen ſpukhaften Traum, der
ſie ſehr geaͤngſtet. —


Bald darauf, als ſich dies in dem Hauſe des
Buͤrgermeiſters von L. begeben, wurde in dem
Ciſterzienſer Nonnenkloſter zu O. eine Logenſchweſter
mit ungewoͤhnlicher Feierlichkeit begraben und ein
dumpfes Geruͤcht ging, daß dieſe Logenſchweſter die
Graͤfin Hermenegilda von C. geweſen, von der man
glaubte, ſie ſey mit ihres Vaters Schweſter, der Fuͤr¬
ſtin von Z., nach Italien gegangen. Zur ſelbigen Zeit
erſchien Graf Nepomuk von C., Hermenegilda's
Vater, in Warſchau und trat, ſich nur ein kleines
Guͤtchen in der Ukraine vorbehaltend, ſeine ſaͤmmt¬
S[274] lichen uͤbrigen betraͤchtlichen Beſitzungen den beiden
Soͤhnen des Fuͤrſten Z., ſeinen Neffen, vermoͤge
eines gerichtlichen Akts ohne Einſchraͤnkung ab.
Man fragte nach der Ausſtattung ſeiner Tochter,
da hob er den duͤſtern thraͤnenſchweren Blick gen
Himmel und ſagte mit dumpfer Stimme: „Sie
iſt ausgeſtattet!“ — Er nahm gar keinen Anſtand,
nicht allein jenes Geruͤcht von Hermenegilda's Tode
im Kloſter zu O. zu beſtaͤtigen, ſondern auch das
beſondere Verhaͤngniß zu offenbaren, das uͤber Her¬
menegilda gewaltet und ſie einer duldenden Maͤrty¬
rin gleich fruͤhzeitig in das Grab gezogen. Man¬
che Patrioten, gebeugt, aber nicht zerknickt durch
den Fall des Vaterlandes, gedachten den Grafen
aufs neue in geheime Verbindungen zu ziehen, die
die Herſtellung des polniſchen Staats bezweckten,
aber nicht mehr den feurigen, fuͤr Freiheit und Va¬
terland beſeelten Mann, der ſonſt zu jeder gewag¬
ten Unternehmung mit unerſchuͤtterlichem Muthe die
Hand bot, fanden ſie, ſondern einen ohnmaͤchtigen,
von wildem Schmerz zerriſſenen Greis, der allen
[275] Welthaͤndeln entfremdet im Begriff ſtand, ſich in
tiefer Einſamkeit zu vergraben. Sonſt, zu jener
Zeit, als nach der erſten Theilung Polens die In¬
ſurrection vorbereitet wurde, war des Grafen Ne¬
pomuk von C. Stammgut der geheime Sammel¬
platz der Patrioten. Dort entzuͤndeten ſich die Ge¬
muͤther bei feierlichen Mahlen zum Kampf fuͤr das
gefallene Vaterland. Dort erſchien wie ein Engels¬
bild vom Himmel geſendet zur heiligen Weihe Her¬
menegilda in dem Kreiſe der jungen Helden. Wie
es den Frauen ihrer Nation eigen, nahm ſie Theil
an allen, ſelbſt an politiſchen Verhandlungen und
aͤußerte, die Lage der Dinge wohl beachtend und
erwaͤgend, in einem Alter von noch nicht ſiebzehn
Jahren, oft manchmal allen uͤbrigen entgegen, eine
Meinung, die von dem außerordentlichſten Scharf¬
ſinn, von der klarſten Umſicht zeigte und die meh¬
rentheils den Ausſchlag gab. Naͤchſt ihr war nie¬
manden das Talent des ſchnellen Ueberblicks, des
Auffaſſens und ſcharfgeruͤndeten Darſtellens der La¬
ge der Dinge mehr eigen, als dem Grafen Stanis¬
S 2[276] laus von R., einem feurigen, hochbegabten Juͤng¬
linge von zwanzig Jahren. So geſchah es, daß
Hermenegilda und Stanislaus oft allein in ra¬
ſchen Diſcuſſionen die zur Sprache gebrachten Ge¬
genſtaͤnde verhandelten, Vorſchlaͤge pruͤften — an¬
nahmen — verwarfen, andere aufſtellten, und daß
die Reſultate des Zweigeſpraͤchs zwiſchen dem Maͤd¬
chen und dem Juͤnglinge oft ſelbſt von den alten
ſtaatsklugen Maͤnnern, die zu Rathe ſaßen, als
das Kluͤgſte und Beſte, was zu beginnen, anerkannt
werden mußten. Was war natuͤrlicher, als an die
Verbindung dieſer beiden zu denken, in deren
wunderbaren Talenten das Heil des Vaterlandes em¬
porzukeimen ſchien. Außerdem war aber auch die
naͤhere Verzweigung beider Familien ſchon deshalb
in dem Augenblick politiſch wichtig, weil man ſie
von verſchiedenem Intereſſe beſeelt glaubte, wie der
Fall bey manchen andern Familien in Polen zutraf.
Hermenegilda, ganz durchdrungen von dieſen An¬
ſichten, nahm den ihr beſtimmten Gatten als ein
Geſchenk des Vaterlandes auf, und ſo wurden mit
[277] ihrer feierlichen Verlobung die patriotiſchen Zuſam¬
menkuͤnfte auf dem Gute des Vaters beſchloſſen.
Es iſt bekannt, daß die Polen unterlagen, daß mit
Kosziusko's Fall eine zu ſehr auf Selbſtvertrauen
und falſch vorausgeſetzte Rittertreue baſirte Unter¬
nehmung ſcheiterte. Graf Stanislaus, dem ſeine
fruͤhere militaͤriſche Laufbahn, ſeine Jugend und
Kraft eine Stelle im Heer anwies, hatte mit Loͤ¬
wenmuth gefochten. Mit Noth ſchmaͤhlicher Ge¬
fangenſchaft entgangen, auf den Tod verwundet,
kam er zuruͤck. Nur Hermenegilda feſſelte ihn
noch ans Leben, in ihren Armen glaubte er Troſt,
verlorne Hoffnung wiederzufinden. So wie er nur
leidlich von ſeinen Wunden geneſen, eilte er auf die
Guͤter des Grafen Nepomuk, um dort aufs neue,
aufs ſchmerzlichſte verwundet zu werden. Herme¬
negilda empfing ihn mit beinahe hoͤhnender Verach¬
tung. „Seh' ich den Helden, der in den Tod ge¬
hen wollte fuͤr das Vaterland?“ — So rief ſie
ihm entgegen; es war, als wenn ſie in thoͤrichtem
Wahnſinn den Braͤutigam fuͤr einen jener Paladine
[278] der fabelhaften Ritterzeit gehalten, deſſen Schwert
allein Armeen vernichten konnte. Was halfen alle
Betheurungen, daß keine menſchliche Kraft zu wi¬
derſtehen vermochte dem brauſenden, alles verſchlin¬
genden Strom, der ſich uͤber das Vaterland hin¬
waͤlzte, was half alles Flehen der inbruͤnſtigen Lie¬
be, Hermenegilda, als koͤnne ſich ihr todtkaltes
Herz nur im wilden Treiben der Welthaͤndel ent¬
zuͤnden, blieb bei dem Entſchluß, ihre Hand nur
dann dem Grafen Stanislaus geben zu wollen,
wenn die Fremden aus dem Vaterlande vertrieben
ſeyn wuͤrden. Der Graf ſah' zu ſpaͤt ein, daß
Hermenegilda ihn nie liebte, ſo wie er ſich uͤberzeu¬
gen mußte, daß die Bedingniß, die Hermenegilda
aufſtellte, vielleicht niemals, wenigſtens erſt in ge¬
raumer Zeit erfuͤllt werden konnte. Mit dem
Schwur der Treue bis in den Tod verließ er die
Geliebte und nahm franzoͤſiſche Dienſte, die ihn
in den Krieg nach Italien fuͤhrten. — Man ſagt
den polniſchen Frauen nach, daß ein eignes lau¬
niſches Weſen ſie auszeichne. Tiefes Gefuͤhl, ſich
[279] hingebender Leichtſinn, ſtoiſche Selbſtverlaͤugnung,
gluͤhende Leidenſchaft, todtſtarre Kaͤlte, alles das,
wie es bunt gemiſcht in ihrem Gemuͤthe liegt, er¬
zeugt das wunderliche unſtete Treiben auf der
Oberflaͤche, das dem Spiel gleicht der in ſtetem
Wechſel fortplaͤtſchernden Wellen des im tiefſten
Grunde bewegten Bachs. — Gleichguͤltig ſah Her¬
menegilda den Braͤutigam ſcheiden, aber kaum wa¬
ren einige Tage vergangen, als ſie ſich von ſolch' un¬
ausſprechlicher Sehnſucht befangen fuͤhlte, wie ſie
nur die gluͤhendſte Liebe erzeugen kann. Der Sturm
des Krieges war verrauſcht, die Amneſtie wurde
proklamirt, man entließ die polniſchen Offiziere
aus der Gefangenſchaft. So geſchah es, daß meh¬
rere von Stanislaus Waffenbruͤdern ſich nach und
nach auf des Grafen Gute einfanden. Mit tiefem
Schmerz gedachte man jener ungluͤcklichen Tage,
aber auch mit hoher Begeiſterung des Loͤwenmuths,
womit alle, aber keiner mehr als Stanislaus ge¬
fochten. Er hatte die zuruͤckweichenden Bataillo¬
ne, da, wo ſchon alles verloren ſchien, aufs neue
[280] ins Feuer gefuͤhrt, es war ihm gegluͤckt, die feind¬
lichen Reihen mit ſeiner Reuterei zu durchbrechen.
Das Schickſal des Tages wankte, da traf ihn eine
Kugel und mit dem Ausruf: Vaterland — Her¬
menegilda! ſtuͤrzte er in Blut gebadet vom Pferde
herab. Jedes Wort dieſer Erzaͤhlung war ein
Dolchſtich, der tief in Hermenegilda's Herz fuhr.
„Nein! ich wußt' es nicht, daß ich ihn unaus¬
ſprechlich liebte ſeit dem erſten Augenblick, als ich ihn
ſah! — Welch ein hoͤlliſches Blendwerk konnte mich
Aermſte verfuͤhren, daß ich zu leben gedachte ohne
ihn, der mein einziges Leben iſt! — Ich habe ihn
in den Tod geſchickt — er kehrt nicht wieder!“ —
So brach Hermenegilda aus in ſtuͤrmiſche Klagen,
die allen in die Seele drangen. Schlaflos, von
ſteter Unruhe gefoltert, durchirrte ſie zur Nachtzeit
den Park, und, als vermoͤge der Nachtwind ihre
Worte hinzutragen zu dem fernen Geliebten, rief
ſie in die Luͤfte hinein: „Stanislaus — Stanis¬
laus — kehre zuruͤck — ich bin es — Hermene¬
gilda iſt es, die dich ruft — hoͤrſt du mich denn
[281] nicht — kehre zuruͤck, ſonſt muß ich vergehen in
banger Sehnſucht, in troſtloſer Verzweiflung!“ —


Hermenegilda's uͤberreizter Zuſtand ſchien uͤber¬
gehen zu wollen in wirklichen hellen Wahnſinn,
der ſie zu tauſend Thorheiten trieb. Graf Nepo¬
muk, voll Kummer und Angſt um das geliebte
Kind, glaubte, daß aͤrztliche Huͤlfe hier vielleicht
wirkſam ſeyn koͤnnte, und es gelang ihm in der
That, einen Arzt zu finden, der es ſich gefallen
ließ einige Zeit auf dem Gute zu bleiben und ſich
der Leidenden anzunehmen. So richtig berechnet
ſeine mehr pſychiſche als phyſiſche Curmethode aber
auch ſeyn mochte, ſo wenig ſich ihre Wirkung auch
ganz ableugnen ließ, ſo blieb es doch zweifelhaft,
ob von wirklichem Geneſen jemals die Rede wuͤrde
ſeyn koͤnnen, da nach langer Stille ſich ganz uner¬
wartet wieder die ſeltſamſten Paroxismen einſtellten.
Ein eignes Abenteuer gab der Sache eine andere
Wendung. Hermenegilda hatte eben dem klei¬
nen Uhlanen, einem Puͤppchen, das ſie ſonſt
[282] wie den Geliebten ans Herz gedruͤckt, dem
ſie die ſuͤßeſten Namen gegeben, unwillig ins
Feuer geworfen, weil er durchaus nicht ſingen
wollte : Podrosz twoia nam ńiemiła, milsza
przyiaszń w Kraiwbyła etc
. Im Begriff, von
dieſer Expedition in ihr Zimmer zuruͤck zu kehren,
befand ſie ſich auf dem Vorſaal, als es klingend
und klirrend hinter ihr her ſchritt. Sie ſchaute
um ſich, erblickte einen Offizier in voller Uniform
der franzoͤſiſchen Jaͤgergarde, der den linken Arm
in der Binde trug, und ſtuͤrzte mit dem lauten
Ruf: „Stanislaus, mein Stanislaus!“ ihm ohn¬
maͤchtig in die Arme. Der Offizier, eingewurzelt
im Boden vor Erſtaunen und Ueberraſchung, hatte
nicht wenig Muͤhe Hermenegilda, die groß und
uͤppig gebaut, eben keine geringe Laſt war, mit
einem Arm, deſſen er nur maͤchtig, aufrecht
zu erhalten. Er druͤckte ſie feſt und feſter an ſich,
und indem er Hermenegilda's Herz an ſeiner
Bruſt ſchlagen fuͤhlte, mußte er ſich geſtehen, daß
dies eins der entzuͤckendſten Abenteuer ſey, das
[283] er je erlebt. Sekunde auf Sekunde verging, der
Offizier ganz entzuͤndet vom Liebesfeuer, das in
tauſend elektriſchen Funken der holden Geſtalt,
die er in ſeinen Armen hielt, entſtroͤmte, druͤckte
gluͤhende Kuͤſſe auf die ſuͤßen Lippen. So fand
ihn Graf Nepomuk, der aus ſeinen Zimmern
trat. Auch er rief aufjauchzend vor Freude:
„Graf Stanislaus!“ — In dem Augenblick er¬
wachte Hermenegilda, und umſchlang ihn inbruͤn¬
ſtig, indem ſie ganz außer ſich von neuem rief:
„Stanislaus! — mein Geliebter! mein Gatte!“ —
Der Offizier im ganzen Geſicht gluͤhend, zit¬
ternd — außer aller Faſſung, trat einen Schritt
zuruͤck, indem er ſich ſanft Hermenegilda's ſtuͤr¬
miſcher Umarmung entzog. „Es iſt der ſuͤßeſte
Augenblick meines Lebens — aber nicht ſchwelgen
will ich in der Seligkeit, die mir nur ein Irr¬
thum bereitet — ich bin ja nicht Stanislaus —
ach ich bin es ja nicht.“ — So ſprach der Offi¬
zier ſtotternd und zagend; entſetzt prallte Herme¬
negilda zuruͤck, und als ſie ſich, den Offizier ſchaͤrfer
[284] ins Auge faſſend, uͤberzeugt, daß die freilich ganz
wunderbare Aehnlichkeit des Offiziers mit dem
Geliebten ſie getaͤuſcht, eilte ſie fort laut jammernd
und klagend. Graf Nepomuk konnte, da der
Offizier ſich nun als den juͤngern Vetter des Gra¬
fen Stanislaus, als den Grafen Xaver von R.
kund that, es kaum fuͤr moͤglich halten, daß der
Knabe in ſo kurzer Zeit zum kraͤftigen Juͤnglinge
herangewachſen. Freilich kam hinzu, daß die Stra¬
pazen des Kriegs dem Geſicht, der ganzen Hal¬
tung, einen maͤnnlichern Charakter gaben, als es
ſonſt der Fall geweſen ſeyn wuͤrde. Graf Xaver
hatte nehmlich mit ſeinem aͤltern Vetter Stanis¬
laus zugleich das Vaterland verlaſſen, wie er, fran¬
zoͤſiſche Kriegsdienſte genommen und in Italien ge¬
fochten. Damals kaum achtzehn Jahre alt, zeich¬
nete er ſich doch bald, als beſonnener und loͤwen¬
kuͤhner Kriegsheld auf ſolche Weiſe aus, daß ihn
der Feldherr zu ſeinem Adjutanten erhob, und
jetzt war er, ein zwanzigjaͤhriger Juͤngling, ſchon
zum Obriſten heraufgeſtiegen. Erhaltene Wunden,
[285] noͤthigten ihn einige Zeit auszuruhen. Er kehrte
in das Vaterland zuruͤck, und Auftraͤge von Sta¬
nislaus an die Geliebte fuͤhrten ihn auf den
Landſitz des Grafen Nepomuk, wo er empfangen
wurde, als ſey er der Geliebte ſelbſt. Graf
Nepomuk und der Arzt, beide gaben ſich alle nur
erſinnliche Muͤhe, Hermenegilda, die ganz ver¬
nichtet von Scham und bitterm Schmerz, ihr
Zimmer nicht verlaſſen wollte, ſo lange Xaver im
Hauſe, zu beruhigen, aber umſonſt. Xaver war
außer ſich, daß er Hermenegilda nicht wieder
ſehen ſollte. Er ſchrieb ihr, daß er unverſchuldet
eine fuͤr ihn ungluͤckliche Aehnlichkeit zu hart buͤße.
Aber nicht ihn allein, ſondern den Geliebten Sta¬
nislaus ſelbſt traͤfe das von jenem verhaͤngni߬
vollen Moment erzeugte Mißgeſchick, da ihm, dem
Ueberbringer ſuͤßer Liebesbotſchaft, jetzt alle Ge¬
legenheit geraubt worden, ihr ſelbſt, wie er ge¬
ſollt, den Brief, den er von Stanislaus bei ſich
trage, einzuhaͤndigen, und noch alles von Mund
zu Mund hinzuzufuͤgen, was Stanislaus in der
[286] Haſt des Augenblicks nicht mehr ſchreiben konnte.
Hermenegilda's Kammerfrau, die Xaver in ſein
Intereſſe gezogen, uͤbernahm die Beſtellung zur
guͤnſtigen Stunde, und was dem Vater, dem
Arzt nicht gelungen, bewirkte Xaver durch ſein
Schreiben. Hermenegilda entſchloß ſich ihn zu
ſehen. In tiefem Schweigen, mit niedergeſenktem
Blick empfing ſie ihn in ihrem Gemach. Xaver
nahte ſich mit leiſem ſchwankenden Schritt, er
nahm Platz vor dem Sopha, auf dem ſie ſaß,
aber indem er ſich herabbeugte von dem Stuhl,
kniete er mehr vor Hermenegilda, als daß er ſaß,
und ſo flehte er in den ruͤhrendſten Ausdruͤcken,
mit einem Ton, als habe er ſich des unverzeih¬
lichſten Verbrechens anzuklagen, nicht auf ſein
Haupt moͤge ſie die Schuld des Irrthums laden,
der ihn die Seligkeit des geliebten Freundes em¬
pfinden laſſen. Nicht ihn, nein Stanislaus ſelbſt
habe ſie in der Wonne des Wiederſehens umarmt.
Er uͤbergab den Brief, und fing an von Stanis¬
laus zu erzaͤhlen, wie er mit aͤchtritterlicher Treue
[287] ſelbſt im blutigen Kampf ſeiner Dame gedenke,
wie nur ſein Herz gluͤhe fuͤr Freiheit und Vater¬
land u. ſ. w. Xaver erzaͤhlte mit lebendigem Feuer,
er riß Hermenegilden hin, die alle Scheu bald
uͤberwunden, den zauberiſchen Blick ihrer Him¬
melsaugen unverwandt auf ihn richtete, ſo daß
er, ein neuer, von Turandot's Blick getroffener,
Calaf, durchbebt von ſuͤßer Wonne, nur muͤhſam
die Erzaͤhlung fortſpann. Ohne es ſelbſt zu wiſſen,
bedraͤngt von dem innern Kampf gegen die Lei¬
denſchaft, die in hellen Flammen auflodern wollte,
verlor er ſich in die weitlaͤuftige Beſchreibung ein¬
zelner Gefechte. Er ſprach von Cavallerieangrif¬
fen — geſprengten Maſſen — eroberten Batte¬
rien. — Ungeduldig unterbrach ihn Hermene¬
gilda, indem ſie rief: „O, weg mit dieſen bluti¬
gen Szenen eines Schauſpiels der Hoͤlle — ſage! —
ſage mir nur, daß er mich liebt, daß Stanislaus
mich liebt!“ — Da ergriff Xaver, ganz ermuthigt,
Hermenegilda's Hand, die er heftig an ſeine
Bruſt druͤckte. „Hoͤre ihn ſelbſt, deinen Stanis¬
[288] laus!“ ſo rief er, und nun ſtroͤmten die Betheu¬
rungen der gluͤhendſten Liebe, wie ſie nur dem
Wahnſinn der verzehrendſten Leidenſchaft eigen,
von ſeinen Lippen. Er war zu Hermenegilda's
Fuͤßen geſunken, ſie hatte ihn mit beiden Armen
umſchlungen, aber indem er ſchnell aufgeſprungen
ſie an ſeine Bruſt druͤcken wollte, fuͤhlte er ſich
heftig zuruͤckgeſtoßen. Hermenegilda ſah ihn mit
ſtarrem ſeltſamen Blick an, und ſprach mit dum¬
pfer Stimme: „Eitle Puppe, wenn ich dich
auch zum Leben erwaͤrme an meiner Bruſt, ſo
biſt du doch nicht Stanislaus, und kannſt es
auch nimmer werden!“ — Hierauf verließ ſie das
Zimmer mit leiſen langſamen Schritten. Xaver
ſah' zu ſpaͤt ſeine Unbeſonnenheit ein. Daß er
bis zum Wahnſinn in Hermenegilda, in die Braut
des verwandten Freundes verliebt ſey, fuͤhlte er
nur zu lebhaft, eben ſo aber auch, daß er bei
jedem Schritt, den er zu Gunſten ſeiner thoͤrich¬
ten Leidenſchaft zu thun geſonnen, ſich wuͤrde
treuloſen Freundſchaftsbruch vorwerfen muͤſſen.
[289] Schnell abreiſen, ohne Hermenegilda wieder zu
ſehen, das war der heroiſche Entſchluß, den er
wirklich auf der Stelle ſo weit ausfuͤhrte, daß er
zu packen und ſeinen Wagen anzuſpannen befahl.
Graf Nepomuk war hoch verwundert, als Xaver
von ihm Abſchied nahm; er bot alles auf ihn feſtzu¬
halten, doch mit einer Feſtigkeit, mehr von einer Art
Krampf, als von wahrer Geiſtesſtaͤrke erzeugt, blieb
Xaver dabei, daß beſondere Urſachen ihn forttrieben.
Den Saͤbel umgeſchnallt, die Feldmuͤtze in der
Hand, ſtand er in der Mitte des Zimmers, der
Bediente mit dem Mantel auf dem Vorſaal —
Unten vor der Thuͤre wieherten ungeduldig die
Pferde. — Da ging die Thuͤr auf, Hermene¬
gilda trat herein, mit unbeſchreiblicher Anmuth
ſchritt ſie auf den Grafen zu, und ſprach hold¬
laͤchelnd: „Sie wollen fort, lieber Xaver?“ —
und noch ſo vieles dacht' ich von meinem gelieb¬
ten Stanislaus zu hoͤren! — Wiſſen Sie wohl,
daß mich Ihre Erzaͤhlungen wunderbar troͤſten? —
Xaver ſchlug hocherroͤthend die Augen nieder,
T[290] man nahm Platz, Graf Nepomuk verſicherte ein¬
mal uͤber das andere, ſeit vielen Monaten habe
er Hermenegilda nicht in dieſer heitern unbefan¬
genen Stimmung geſehen. Auf ſeinen Wink
wurde, da die Zeit herangekommen, die Abendtafel
in demſelben Zimmer bereitet. Der edelſte Ungar¬
wein perlte in den Glaͤſern, und volle Gluth auf
den Wangen nippte Hermenegilda aus dem ge¬
fuͤllten Pokal hochfeiernd das Andenken des Ge¬
liebten, Freiheit und Vaterland. Zur Nacht
reiſe ich fort, dachte Xaver im Innern, und frug
in der That, als die Tafel aufgehoben, den Be¬
dienten, ob der Wagen warte; der, erwiederte
der Bediente, ſey laͤngſt, wie Graf Nepomuk
befohlen, abgepackt und abgeſpannt in die Remiſe
geſchoben, die Pferde fraͤßen im Stall und
Woyciech ſchnarche unten auf dem Strohſack.
Xaver ließ es dabei bewenden. Hermenegilda's
unvermuthete Erſcheinung hatte den Grafen uͤber¬
zeugt, daß es nicht allein moͤglich, ſondern auch
raͤthlich und angenehm ſey zu bleiben, und von
[291] dieſer Ueberzeugung kam er zu der andern, daß
es nur darauf ankomme ſich zu beſiegen, das heißt,
Ausbruͤchen der innern Leidenſchaft zu wehren, die,
den geiſteskranken Zuſtand Hermenegilda's aufrei¬
zend, nur ihm in jeder Hinſicht verderblich werden
koͤnnten. Wie dann nun alles ſich weiter fuͤgen wuͤrde,
ſo beſchloß Xaver ſeine Betrachtung, ſollte ſelbſt Her¬
menegilda aus ihren Traͤumen erwacht, die heitere
Gegenwart der duͤſtern Zukunft vorziehen, das
liege denn alles in der Conſtellation zuſammen¬
wirkender Umſtaͤnde und an Treuloſigkeit, an
Freundſchaftsbruch ſey nicht zu denken. So wie
Xaver andern Tages Hermenegilden wieder ſah,
gelang es ihm in der That, indem er ſorglich
auch das Kleinſte vermied, was ſein zu heißes
Blut haͤtte in Wallung ſetzen koͤnnen, ſeine Lei¬
denſchaft niederzukaͤmpfen. In den Schranken
der ſtrengſten Sitte bleibend, ja ſelbſt ein froſtig
Ceremoniell beachtend, gab er nur dem Geſpraͤch
die Schwingen jener Galanterie, die den Weibern
mit ſuͤßem Zucker verderbliches Gift beibringt.
T 2[292] Xaver, ein zwanzigjaͤhriger Juͤngling, in eigent¬
lichen Liebeshaͤndeln unerfahren, entfaltete, von
dem ſichern Takt fuͤrs Boͤſe im Innern geleitet,
die Kunſt des erfahrnen Meiſters. Nur von
Stanislaus, von ſeiner unausſprechlichen Liebe
zur ſuͤßen Braut, ſprach er, aber durch die volle
Gluth, die er dann entzuͤndet, wußte er geſchickt
ſein eignes Bild durchſchimmern zu laſſen, ſo daß
Hermenegilda in arger Verwirrung ſelbſt nicht
wußte, wie beide Bilder, das des abweſenden
Stanislaus und das des gegenwaͤrtigen Xaver, tren¬
nen. Xavers Geſellſchaft wurde bald der aufge¬
regten Hermenegilda zum Beduͤrfniß, und ſo
geſchah es, daß man ſie beinahe beſtaͤndig, und
oft wie im traulichen Liebesgeſpraͤch zuſammenſah.
Die Gewohnheit uͤberwand mehr und mehr Her¬
menegilda's Scheu und in eben dem Grade uͤber¬
ſchritt Xaver jene Schranken des froſtigen Cere¬
moniells, in die er ſich Anfangs mit klugem Vor¬
bedacht gebannt hatte. Arm in Arm gingen Her¬
menegilda und Xaver in dem Park umher, und
[293] ſorglos ließ ſie ihre Hand in der ſeinigen, wenn
er im Zimmer neben ihr ſitzend von dem gluͤck¬
lichen Stanislaus erzaͤhlte. Kam es nicht auf
Staatshaͤndel, auf die Sache des Vaterlandes an,
ſo war Graf Nepomuk eben keines Blickes in
die Tiefe faͤhig, er begnuͤgte ſich mit dem, was
er auf der Oberflaͤche wahrzunehmen im Stande,
ſein fuͤr alles uͤbrige todtes Gemuͤth vermochte
die voruͤberfliehenden Bilder des Lebens nur dem
Spiegel gleich im Moment zu reflektiren, ſpurlos
ſchwanden ſie dahin. Ohne Hermenegilda's inne¬
res Weſen zu ahnen, hielt er es fuͤr gut, daß
ſie endlich die Puͤppchen, die bei ihrem thoͤrigten
wahnſinnigen Treiben den Geliebten vorſtellen
mußten, mit einem lebendigen Juͤngling vertauſcht,
und glaubte mit vieler Schlauheit vorauszuſehen,
daß Xaver, der ihm als Schwiegerſohn eben ſo
lieb, bald ganz in Stanislaus Stelle treten werde.
Er dachte nicht mehr an den treuen Stanislaus.
Xaver glaubte dieſes ebenfalls, da nun, nachdem
ein Paar Monate vergangen, Hermenegilda, ſo
[294] ſehr ihr ganzes Weſen auch von dem Andenken
an Stanislaus erfuͤllt ſchien, es ſich doch gefallen
ließ, daß Xaver mehr und mehr ſich ihr annaͤ¬
herte mit eigner Bewerbung. Eines Morgens
hieß es, daß Hermenegilda ſich in ihre Gemaͤcher
mit der Kammerfrau eingeſchloſſen habe, und
durchaus niemanden ſehen wolle. Graf Nepomuk
glaubte nicht anders, als daß ein neuer Paroxis¬
mus eingetreten ſey, der ſich bald legen werde.
Er bat den Grafen Xaver, die Gewalt, die er
uͤber Hermenegilda gewonnen, jetzt zu ihrem Heil
zu uͤben, wie erſtaunte er aber, als Xaver es
nicht allein durchaus verweigerte, ſich Hermene¬
gilden auf irgend eine Weiſe zu naͤhern, ſondern
ſich auch in ſeinem ganzen Weſen auf eigne Art
veraͤndert zeigte. Statt wie ſonſt beinahe zu keck
aufzutreten, war er verſchuͤchtert, als habe er Ge¬
ſpenſter geſehen, der Ton ſeiner Stimme ſchwan¬
kend — der Ausdruck matt und unzuſammenhaͤn¬
gend. — Er ſprach davon, daß er nun durchaus
nach Warſchau muͤßte, daß er Hermenegilden wohl
[295] niemals wieder ſehen werde — daß in der letzten
Zeit ihr verſtoͤrtes Weſen ihm Grauen und Ent¬
ſetzen erregt — daß er Verzicht geleiſtet auf alles
Gluͤck der Liebe, daß er nun erſt in der an
Wahnſinn graͤnzenden Treue Hermenegilda's, die
Treuloſigkeit, die er an dem Freunde begehen
wollen, zu ſeiner tiefſten Beſchaͤmung fuͤhle, daß
ſchleunige Flucht ſein einziges Rettungsmittel ſey.
Graf Nepomuk begriff alles nicht, nur ſchien es
ihm endlich klar zu werden, daß Hermenegilda's
wahnſinnige Schwaͤrmerei den Juͤngling angeſteckt.
Er ſuchte ihm dies zu beweiſen, doch umſonſt.
Xaver widerſtrebte um ſo heftiger als dringender
Nepomuk ihm die Nothwendigkeit bewies, daß
er Hermenegilda von allen Bizarrerien heilen,
folglich ſie wieder ſehen muͤſſe. Schnell war der
Streit geendet, als Xaver, wie von unſichtbarer
unwiderſtehlicher Gewalt getrieben, hinabrannte,
ſich in den Wagen warf und davon fuhr.


Graf Nepomuk, voller Gram und Zorn uͤber
Hermenegilda's Betragen, bekuͤmmerte ſich nicht mehr
[296] um ſie, und ſo geſchah es, daß mehrere Tage ver¬
gingen, die ſie ungeſtoͤrt, auf ihrem Zimmer einge¬
ſchloſſen, von niemanden als ihrer Kammerfrau ge¬
ſehen, zubrachte.


In tiefen Gedanken, ganz erfuͤllt von den Hel¬
denthaten jenes Mannes, den die Polen damahls
anbeteten wie ein falſches Goͤtzenbild, ſaß Nepomuk
eines Tages in ſeinem Zimmer, als die Thuͤr auf¬
ging und Hermenegilda in voller Trauer mit lang
herabhaͤngendem Witwenſchleier eintrat. Langſa¬
men feierlichen Schrittes nahte ſie ſich dem Grafen,
ließ ſich dann auf die Knie nieder und ſprach mit
bebender Stimme: „O mein Vater — Graf Sta¬
nislaus, mein geliebter Gatte, iſt hinuͤber — er fiel
als Held im blutigen Kampf: — vor dir kniet ſei¬
ne bejammernswerthe Witwe!“ — Graf Nepo¬
muk mußte dies um ſo mehr fuͤr einen neuen Aus¬
bruch der zerruͤtteten Gemuͤthsſtimmung Hermene¬
gilda's halten, als noch Tages zuvor Nachrichten
von dem Wohlbefinden des Grafen Stanislaus ein¬
gelaufen waren. Er hob Hermenegilden ſanft auf,
[297] indem er ſprach: „Beruhige dich liebe Tochter,
Stanislaus iſt wohl, bald eilt er in deine Arme.“
— Da athmete Hermenegilda auf wie im ſchweren
Todesſeufzer und ſank von wildem Schmerz zerriſſen
neben dem Grafen hin in die Polſter des Sophas.
Doch nach wenigen Sekunden wieder zu ſich ſelbſt
gekommen, ſprach ſie mit wunderbarer Ruhe und
Faſſung: „Laß es mich dir ſagen, lieber Vater!
wie ſich alles begeben, denn du mußt es wiſſen, da¬
mit du in mir die Witwe des Grafen Stanislaus
von R..erkenneſt. — Wiſſe, daß ich vor ſechs
Tagen in der Abenddaͤmmerung mich in dem Pavil¬
lon an der Suͤdſeite unſeres Parks befand. Alle
meine Gedanken, mein ganzes Weſen dem Geliebten
zugewendet, fuͤhlt' ich meine Augen ſich unwillkuͤhr¬
lich ſchließen, nicht in Schlaf, nein, in einen ſeltſa¬
men Zuſtand verſank ich, den ich nicht anders nen¬
nen kann, als waches Traͤumen. Aber bald ſchwirr¬
te und droͤhnte es um mich her, ich vernahm ein
wildes Getuͤmmel, es fiel ganz in der Naͤhe Schuß
auf Schuß. Ich fuhr auf, und war nicht wenig er¬
[298] ſtaunt mich in einer Feldhuͤtte zu befinden. Vor
mir kniete er ſelbſt — mein Stanislaus. — Ich
umſchlang ihn mit meinen Armen, ich druͤckte ihn
an meine Bruſt — Gelobt ſey Gott, rief er, du
lebſt, du biſt mein! — Er ſagte mir, ich ſey gleich
nach der Trauung in tiefe Ohnmacht geſunken, und
ich thoͤrigt Ding erinnerte mich jetzt erſt, daß ja Pa¬
ter Cyprianus, den ich in dieſem Augenblick erſt zur
Feldhuͤtte hinausſchreiten ſah, uns ja eben in der
nahen Kapelle unter dem Donner des Geſchuͤtzes,
unter dem wilden Toben der nahen Schlacht getraut
hatte. Der goldne Trauring blinkte an meinem
Finger. Die Seligkeit, mit der ich nun aufs neue
den Gatten umarmte, war unbeſchreiblich; nie ge¬
fuͤhltes nahmenloſes Entzuͤcken des begluͤckten Wei¬
bes durchbebte mein Inneres — mir ſchwanden die
Sinne — da wehte es mich an mit eiskaltem Froſt
— Ich ſchlug die Augen auf — entſetzlich! mitten
im Gewuͤhl der wilden Schlacht — vor mir die
brennende Feldhuͤtte, aus der man mich wahrſchein¬
lich gerettet! — Stanislaus bedraͤngt von feindli¬
[299] chen Reitern — Freunde ſprengen heran ihn zu
retten — zu ſpaͤt, von hinten haut ihn ein Reiter
herab vom Pferde.“ — Aufs neue ſank Hermene¬
gilda uͤberwaͤltigt von dem entſetzlichen Schmerz ohn¬
maͤchtig zuſammen. Nepomuk eilte nach ſtaͤrkenden
Mitteln, doch es bedurfte ihrer nicht, mit wunder¬
barer Kraft faßte ſich Hermenegilda zuſammen.
„Der Wille des Himmels iſt erfuͤllt,“ ſprach ſie dumpf
und feierlich, „nicht zu klagen ziemt es mir, aber bis
zum Tode dem Gatten treu, ſoll kein irdiſches Buͤnd¬
niß mich von ihm trennen. Um ihn trauern, fuͤr
ihn, fuͤr unſer Heil beten, das iſt jetzt meine Be¬
ſtimmung, und nichts ſoll dieſe mir verſtoͤren.“
Graf Nepomuk mußte mit vollem Recht glauben,
daß der innerlich bruͤtende Wahnſinn Hermenegil¬
da's ſich durch jene Viſion Luft gemacht habe und
da die ruhige kloͤſterliche Trauer Hermenegilda's um
den Gatten kein ausſchweifendes beunruhigendes
Treiben zuließ, ſo war dem Grafen Nepomuk dieſer
Zuſtand, den die Ankunft des Grafen Stanislaus
ſchnell enden mußte, ganz recht. Ließ Nepomuk
[300] zuweilen etwas von Traͤumereien und Viſionen fal¬
len, ſo laͤchelte Hermenegilda ſchmerzlich, dann druͤck¬
te ſie aber den goldnen Ring, den ſie am Finger trug,
an den Mund und benetzte ihn mit heißen Thraͤnen.
Graf Nepomuk bemerkte mit Erſtaunen, daß dieſer
Ring wirklich ein ganz fremder war, den er nie bei
ſeiner Tochter geſehen, da es indeſſen tauſend Faͤlle
gab, wie ſie dazu gekommen ſeyn konnte, ſo gab er
ſich nicht einmahl die Muͤhe weiter nachzuforſchen.
Wichtiger war ihm die boͤſe Nachricht, daß Graf
Stanislaus in feindliche Gefangenſchaft gerathen
ſey. Hermenegilda fing an auf eigne Weiſe zu
kraͤnkeln, ſie klagte oft uͤber eine ſeltſame Empfin¬
dung, die ſie eben nicht Krankheit nennen koͤnne, die
aber ihr ganzes Weſen auf ſeltſame Art durchbebe.
Um dieſe Zeit kam Fuͤrſt Z. mit ſeiner Gemahlin.
Die Fuͤrſtin hatte, als Hermenegildas Mutter fruͤh¬
zeitig ſtarb, ihre Stelle vertreten und ſchon deshalb
wurde ſie von ihr mit kindlicher Hingebung empfan¬
gen. Hermenegilda erſchloß der wuͤrdigen Frau ihr
ganzes Herz und klagte mit der bitterſten Wehmuth,
[301] daß, unerachtet ſie fuͤr die Wahrheit aller Umſtaͤnde
Ruͤckſichts der wirklich vollzogenen Trauung mit
Stanislaus, die uͤberzeugendſten Beweiſe habe, man
ſie doch eine wahnſinnige Traͤumerin ſchelte. Die
Fuͤrſtin, von allem unterrichtet und von Hermene¬
gilda's zerruͤttetem Gemuͤthszuſtande uͤberzeugt, huͤ¬
tete ſich wohl ihr zu widerſprechen; ſie begnuͤgte ſich
damit, ihr zu verſichern, daß die Zeit alles aufklaͤren
werde und daß es wohlgethan ſey, ſich in frommer
Demuth dem Willen des Himmels ganz zu ergeben.
Aufmerkſamer wurde die Fuͤrſtin, als Hermenegilda
von ihrem koͤrperlichen Zuſtande ſprach und die ſon¬
derbaren Anfaͤlle beſchrieb, die ihr Inneres zu ver¬
ſtoͤren ſchienen. Man ſah, wie die Fuͤrſtin mit der
aͤngſtlichſten Sorgfalt uͤber Hermenegilda wachte
und wie ihre Bekuͤmmerniß in dem Grade ſtieg,
als Hermenegilda ſich ganz zu erholen ſchien. Die
todtblaßen Wangen und Lippen roͤtheten ſich wieder,
die Augen verloren das duͤſtre unheimliche Feuer,
der Blick wurde mild und ruhig, die abgemagerten
Formen rundeten ſich mehr und mehr, kurz Herme¬
[302] negilda bluͤhte ganz auf in voller Jugend und Schoͤn¬
heit. Und doch ſchien die Fuͤrſtin ſie fuͤr kraͤnker als
jemahls zu halten, denn: „Wie iſt dir, was haſt du
mein Kind? — was fuͤhlſt du?“ ſo frug ſie, quaͤ¬
lende Beſorgniß im Geſicht, ſo bald Hermenegilda
nur ſeufzte oder im mindeſten erblaßte. Graf
Nepomuk, der Fuͤrſt, die Fuͤrſtin beratheten ſich,
was es denn nun werden ſolle mit Hermenegilda
und ihrer fixen Idee, Stanislaus Witwe zu ſeyn.
„Ich glaube leider,“ ſprach der Fuͤrſt, „daß ihr
Wahnſinn unheilbar bleiben wird, denn ſie iſt koͤr¬
perlich kerngeſund und naͤhrt den zerruͤtteten Zu¬
ſtand ihrer Seele mit voller Kraft — Ja,“ fuhr
er fort, als die Fuͤrſtin ſchmerzlich vor ſich hin¬
blickte, „ja ſie iſt kerngeſund, unerachtet ſie zur
Ungebuͤhr und zu ihrem offenbaren Nachtheil wie
eine Kranke gepflegt, gehaͤtſchelt und geaͤngſtet
wird.“ Die Fuͤrſtin, welche dieſe Worte trafen,
faßte den Grafen Nepomuk ins Auge und ſprach
raſch und entſchieden: „Nein! — Hermenegilda
iſt nicht krank, aber, laͤge es nicht im Reich der
[303] Unmoͤglichkeit, daß ſie ſich vergangen haben koͤnn¬
te, ſo wuͤrde ich uͤberzeugt ſeyn, daß ſie ſich in
guter Hoffnung befinde.“ Damit ſtand ſie auf
und verließ das Zimmer. Wie vom Blitz getrof¬
fen ſtarrten ſich Graf Nepomuk und der Fuͤrſt
an. Dieſer, zuerſt das Wort aufnehmend, mein¬
te, „daß ſeine Frau auch zuweilen von den ſon¬
derbarſten Viſionen heimgeſucht werde.“ Graf Ne¬
pomuk ſprach aber ſehr ernſt: „Die Fuͤrſtin hat
darin recht, daß ein Vergehen der Art von Seiten
Hermenegildas durchaus im Reich der Unmoͤglichkeit
liegt, wenn ich dir aber ſage, daß, als Hermene¬
gilda geſtern vor mir herging, mir es ſelbſt wie
ein naͤrriſcher Gedanke durch den Sinn fuhr: nun
ſeht einmahl, die junge Witwe iſt ja guter Hoff¬
nung; daß dieſer Gedanke offenbar nur durch das
Betrachten ihrer Geſtalt erzeugt werden konnte,
wenn ich dir das alles ſage, ſo wirſt du es na¬
tuͤrlich finden, wie die Worte der Fuͤrſtin mich
mit truͤber Beſorgniß, ja mit der peinlichſten
Angſt erfuͤllen.“ „So muß,“ erwiederte der Fuͤrſt,
[304] „der Arzt oder die weiſe Frau entſcheiden und
entweder das vielleicht voreilige Urtheil der Fuͤr¬
ſtin vernichtet oder unſere Schande beſtaͤtiget wer¬
de.“ Mehrere Tage ſchwankten Beide von Ent¬
ſchluß zu Entſchluß. Beiden wurden Hermenegil¬
da's Formen verdaͤchtig, die Fuͤrſtin ſollte entſchei¬
den was jetzt zu thun. Sie verwarf die Ein¬
miſchung eines vielleicht plauderhaften Arztes und
meinte, daß andere Huͤlfe wohl erſt in fuͤnf Mo¬
nathen noͤthig ſeyn wuͤrde. „Welche Huͤlfe?“
ſchrie Graf Nepomuk entſetzt. „Ja,“ fuhr die
Fuͤrſtin mit erhoͤhter Stimme fort, „es iſt nun
gar kein Zweifel mehr, Hermenegilda iſt entweder
die verruchteſte Heuchlerin, die jemahls gebohren,
oder es waltet ein unerforſchliches Geheimniß —
genug, ſie iſt guter Hoffnung!“ — Ganz erſtarrt
vor Schreck fand Graf Nepomuk keine Worte; end¬
lich ſich muͤhſam ermannend beſchwor er die Fuͤrſtin,
koſte es was es wolle, von Hermenegilda ſelbſt zu
erforſchen, wer der Ungluͤckſelige ſey, der die unaus¬
loͤſchliche Schmach uͤber ſein Haus gebracht.


[305]

„Noch,“ ſprach die Fuͤrſtin, „noch ahnet Hermene¬
gilda nicht, daß ich um ihren Zuſtand weiß. Von
dem Moment, wenn ich es ihr ſagen werde, wie es
um ſie ſteht, verſpreche ich mir Alles. Ueberraſcht
wird ſie die Larve der Heuchlerin fallen laſſen oder
es muß ſich ſonſt ihre Unſchuld auf eine wunderbare
Weiſe offenbaren, unerachtet ich es auch nicht zu
traͤumen vermag, wie dies ſollte geſchehen koͤnnen.“
— Noch denſelben Abend war die Fuͤrſtin mit Her¬
menegilda, deren muͤtterliches Anſehn mit jeder
Stunde zuzunehmen ſchien, allein auf ihrem Zim¬
mer. Da ergriff die Fuͤrſtin das arme Kind bey
beiden Armen, blickte ihr ſcharf ins Auge und ſagte
mit ſchneidendem Ton: „Liebe, du biſt guter Hoff¬
nung!“ Da ſchlug Hermenegilda den wie von
himmliſcher Wonne verklaͤrten Blick in die Hoͤhe
und rief mit dem Ton des hoͤchſten Entzuͤckens:
„O Mutter, Mutter, ich weiß es ja! — Lange fuͤhlt'
ich es, daß ich, fiel auch der theure Gatte unter den
moͤrderiſchen Streichen der wilden Feinde, dennoch
unausſprechlich gluͤcklich ſeyn ſollte. Ja! — jener
U[306] Moment meines hoͤchſten irdiſchen Gluͤcks lebt in
mir fort, ich werde ihn ganz wieder haben den ge¬
liebten Gatten in dem theuern Pfande des ſuͤßen
Bundes.“ Der Fuͤrſtin war es, als finge ſich alles
an um ſie zu drehen, als wollten ihr die Sinne
ſchwinden. Die Wahrheit in Hermenegilda's Aus¬
druck — ihr Entzuͤcken, ihre wahrhafte Verklaͤrung
ließ keinen Gedanken an erheucheltes Weſen, an
Trug aufkommen und doch konnte nur toller Wahn¬
ſinn auf ihre Behauptung etwas geben. Von dem
letzten Gedanken ganz erfaßt, ſtieß die Fuͤrſtin Her¬
menegilda von ſich, indem ſie heftig rief: „Unſin¬
nige! Ein Traum hatte dich in den Zuſtand verſetzt,
der Schmach und Schande uͤber uns alle bringt!
— glaubſt du, daß du mich mit albernen Maͤhrchen
zu hintergehen vermagſt? — Beſinne dich — laß
alle Ereigniſſe der vorigen Tage dir voruͤbergehen.
Ein reuiges Bekenntniß kann uns vielleicht verſoͤh¬
nen.“ In Thraͤnen gebadet, ganz aufgeloͤſt von
herbem Schmerz ſank Hermenegilda vor der Fuͤr¬
ſtin auf die Knie und jammerte: „Mutter, auch
[307] du ſchiltſt mich eine Traͤumerin, auch du glaubſt
nicht daran, daß die Kirche mich mit Stanislaus
verband, daß ich ſein Weib bin? — Aber ſieh' doch
nur hier den Ring an meinem Finger — was ſage
ich! — Du, du kennſt ja meinen Zuſtand, iſt
denn das nicht genug dich zu uͤberzeugen, daß ich
nicht traͤumte?“ Die Fuͤrſtin nahm mit dem tief¬
ſten Erſtaunen wahr, daß Hermenegilden der Gedan¬
ke eines Vergehens gar nicht einkam, daß ſie die
Hindeutung darauf gar nicht aufgefaßt, gar nicht
verſtanden. Der Fuͤrſtin ihre Haͤnde heftig an
die Bruſt druͤckend, flehte Hermenegilda immer
fort, ſie moͤge doch nur jetzt, da es ihr Zuſtand
außer Zweifel ſetze, an ihren Gatten glauben, und
die ganz beſtuͤrzte, ganz außer ſich geſetzte Frau
wußte in der That ſelbſt nicht mehr, was ſie der
Armen ſagen, welchen Weg ſie uͤberhaupt einſchla¬
gen ſollte, dem Geheimniß, das hier walten mu߬
te, auf die Spur zu kommen. Erſt nach mehre¬
ren Tagen erklaͤrte die Fuͤrſtin dem Gemahl und
dem Grafen Nepomuk, daß es unmoͤglich ſey von
U 2[308] Hermenegilda, die ſich von dem Gatten ſchwan¬
ger glaube, mehr heraus zu bringen, als wovon ſie
ſelbſt im Innerſten der Seele uͤberzeugt ſey. Die
Maͤnner voller Zorn ſchalten Hermenegilda eine
Heuchlerin und inſonderheit ſchwur Graf Nepomuk,
daß, wenn gelinde Mittel ſie nicht von dem wahn¬
ſinnigen Gedanken, ihm ein abgeſchmacktes Maͤhrchen
aufzuheften, zuruͤckbringen wuͤrden, er es mit ſtren¬
gen Maßregeln verſuchen werde. Die Fuͤrſtin
meinte dagegen, daß jede Strenge eine zweckloſe
Grauſamkeit ſeyn wuͤrde. Ueberzeugt ſey ſie nehm¬
lich, wie geſagt, daß Hermenegilda keinesweges
heuchle, ſondern daran, was ſie ſage, mit voller See¬
le glaube. „Es giebt,“ fuhr ſie fort, „noch man¬
ches Geheimniß in der Welt, das zu begreifen wir
gaͤnzlich außer Stande ſind. Wie, wenn das leb¬
hafte Zuſammenwirken des Gedankens auch eine
phyſiſche Wirkung haben koͤnnte, wie wenn eine gei¬
ſtige! Zuſammenkunft zwiſchen Stanislaus und Her¬
menegilda ſie in den uns unerklaͤrlichen Zuſtand ver¬
ſetzte?“ Unerachtet alles Zorns, aller Bedraͤngniß
[309] des fatalen Augenblicks konnten ſich der Fuͤrſt und
Graf Nepomuk doch des lauten Lachens nicht ent¬
halten, als die Fuͤrſtin dieſen Gedanken aͤußerte,
den die Maͤnner den ſublimſten nannten, der je
das Menſchliche aͤtheriſirt habe. Die Fuͤrſtin blut¬
roth im ganzen Geſicht meinte, daß den rohen
Maͤnnern der Sinn fuͤr dergleichen abginge, daß
ſie das ganze Verhaͤltniß, in das ihr armes Kind,
an deſſen Unſchuld ſie unbedingt glaube, gerathen,
anſtoͤßig und abſcheulich finde, und daß eine Reiſe,
die ſie mit ihr zu unternehmen gedenke, das einzige
und beſte Mittel ſey, ſie der Argliſt, dem Hohne ihrer
Umgebung zu entziehen. Graf Nepomuk war mit
dieſem Vorſchlage ſehr zufrieden, denn da Hermene¬
gilda ſelbſt gar kein Geheimniß aus ihrem Zuſtande
machte, ſo mußte ſie, ſollte ihr Ruf verſchont blei¬
ben, freilich aus dem Kreiſe der Bekannten entfernt
werden.


Dies ausgemacht, fuͤhlten ſich alle beruhigt.
Graf Nepomuk dachte kaum mehr an das beaͤngſti¬
gende Geheimniß ſelbſt, als er nur die Moͤglichkeit
[310] ſah, es der Welt, deren Hohn ihm das Bitterſte
war, zu verbergen, und der Fuͤrſt urtheilte ſehr
richtig, daß bei der ſeltſamen Lage der Dinge, bei
Hermenegilda's unerheucheltem Gemuͤthszuſtande
freilich gar nichts anders zu thun ſey, als die Auf¬
loͤſung des wunderbaren Raͤthſels der Zeit zu uͤber¬
laſſen. Eben wollte man nach geſchloſſener Bera¬
thung auseinander gehen, als die ploͤtzliche Ankunft
des Grafen Xaver von R. uͤber alle neue Verle¬
genheit neue Kuͤmmerniß brachte. Erhitzt von
dem ſcharfen Ritt, uͤber und uͤber mit Staub be¬
deckt, mit der Haſt eines von wilder Leidenſchaft
getriebenen ſtuͤrzte er ins Zimmer und rief, ohne
Gruß, alle Sitte nicht beachtend, mit ſtarker Stim¬
me: „Er iſt todt, Graf Stanislaus! — nicht in
Gefangenſchaft gerieth er — nein — er wurde
niedergehauen von den Feinden — hier ſind die
Beweiſe!“ — Damit ſteckte er mehrere Briefe,
die er ſchnell hervorgeriſſen, dem Grafen Nepomuk
in die Haͤnde. Dieſer fing ganz beſtuͤrzt an zu
leſen. Die Fuͤrſtin ſah in die Blaͤtter hinein, kaum
[311] hatte ſie wenige Zeilen erhaſcht, als ſie mit zum
Himmel emporgerichteten Blick die Haͤnde zuſam¬
menſchlug und ſchmerzlich ausrief: „Hermenegil¬
da! — armes Kind! — welches unerforſchliche
Geheimniß!“ — Sie hatte gefunden, daß Sta¬
nislaus Todestag gerade mit Hermenegilda's An¬
gabe zuſammentraf, daß ſich alles ſo begeben, wie
ſie es in dem verhaͤngnißvollen Augenblick geſchaut
hatte. „Er iſt todt,“ ſprach nun Xaver raſch und
feurig, „Hermenegilda iſt frei, mir, der ich ſie
liebe wie mein Leben, ſteht nichts mehr entgegen,
ich bitte um ihre Hand!“ — Graf Nepomuk ver¬
mochte nicht zu antworten, der Fuͤrſt nahm das
Wort und erklaͤrte, daß gewiſſe Umſtaͤnde es ganz
unmoͤglich machten, jetzt auf ſeinen Antrag einzuge¬
hen, daß er in dieſem Augenblick nicht einmal Her¬
menegilda ſehen koͤnne, daß es alſo das Beſte ſey,
ſich wieder ſchnell zu entfernen, wie er gekommen.
Xaver entgegnete, daß er Hermenegilda's zerruͤtte¬
ten Gemuͤthszuſtand, von dem wahrſcheinlich die
Rede ſey, recht gut kenne, daß er dies aber um ſo
[312] weniger fuͤr ein Hinderniß halte, als gerade ſeine
Verbindung mit Hermenegilda jenen Zuſtand enden
wuͤrde. Die Fuͤrſtin verſicherte ihm, daß Herme¬
negilda ihrem Stanislaus Treue bis in den Tod
geſchworen, jede andere Verbindung daher ver¬
werfen wuͤrde, uͤbrigens befinde ſie ſich gar nicht
mehr auf dem Schloſſe. Da lachte Xaver laut auf
und meinte, nur des Vaters Einwilligung beduͤrfe
er; Hermenegilda's Herz ruͤhren, das ſolle man
nur ihm uͤberlaſſen. Ganz erzuͤrnt uͤber des Juͤng¬
lings ungeſtuͤme Zudringlichkeit erklaͤrte Graf Ne¬
pomuk, daß er in dieſem Augenblick vergebens auf
ſeine Einwilligung hoffe und nur ſogleich das Schloß
verlaſſen moͤge. Graf Xaver ſah ihn ſtarr an, oͤff¬
nete die Thuͤr des Vorſaals und rief hinaus, Woy¬
ciech ſolle den Mantelſack hereinbringen, die Pferde
abſatteln und in den Stall fuͤhren. Dann kam er
ins Zimmer zuruͤck, warf ſich in den Lehnſtuhl,
der dicht am Fenſter ſtand, und erklaͤrte ruhig und
ernſt: Ehe er Hermenegilda geſehen und geſprochen,
werde ihn nur off'ne Gewalt vom Schloſſe weg¬
[313] treiben. Graf Nepomuk meinte, daß er dann auf
einen recht langen Aufenthalt rechnen koͤnne, uͤbri¬
gens aber erlauben muͤſſe, daß er ſeiner Seits
das Schloß verlaſſe. Alle, Graf Nepomuk, der
Fuͤrſt und ſeine Gemahlin giengen hierauf aus dem
Zimmer, um ſo ſchnell als moͤglich Hermenegilda
fortzuſchaffen. Der Zufall wollte indeſſen, daß ſie
gerade in dieſer Stunde, ganz wider ihre ſonſtige
Gewohnheit, in den Park gegangen war. Xaver,
durch das Fenſter blickend, an dem er ſaß, gewahrte
ſie ganz in der Ferne wandelnd. Er rannte hinun¬
ter in den Park und erreichte endlich Hermenegilda,
als ſie eben in jenen verhaͤngnißvollen Pavillon an
der Suͤdſeite des Parks trat. Ihr Zuſtand war
nun ſchon beinahe jedem Auge ſichtlich. „O all' ihr
Maͤchte des Himmels,“ rief Xaver, als er vor
Hermenegilda ſtand, dann ſtuͤrzte er aber zu ihren
Fuͤßen und beſchwor ſie, unter den heiligſten Be¬
theurungen ſeiner gluͤhendſten Liebe, ihn zum gluͤck¬
lichſten Gatten aufzunehmen. Hermenegilda, ganz
außer ſich vor Schreck und Ueberraſchung, ſagte
[314] ihm: „Ein boͤſes Geſchick habe ihn hergefuͤhrt, ihre
Ruhe zu ſtoͤren — niemals, niemals wuͤrde ſie,
dem geliebten Stanislaus zur Treue bis in den
Tod verbunden, die Gattin eines andern werden.“
Als nun aber Xaver nicht aufhoͤrte mit Bitten und
Betheurungen, als er endlich in toller Leidenſchaft
ihr vorhielt, daß ſie ſich ſelbſt taͤuſche, daß ſie ihm
ja ſchon die ſuͤßeſten Liebesaugenblicke geſchenkt,
als er, aufgeſprungen vom Boden, ſie in ſeine Arme
ſchließen wollte, da ſtieß ſie ihn, den Tod im
Antlitz, mit Abſcheu und Verachtung zuruͤck, in¬
dem ſie rief: „Elender, ſelbſtſuͤchtiger Thor, eben
ſo wenig, wie du das ſuͤße Pfand meines Bundes
mit Stanislaus vernichten kannſt, eben ſo wenig
vermagſt du mich zum verbrecheriſchen Bruch der
Treue zu verfuͤhren — Fort aus meinen Augen!“
Da ſtreckte Xaver die geballte Fauſt ihr entgegen,
lachte laut auf in wildem Hohn und ſchrie: „Wahn¬
ſinnige, brachſt du denn nicht ſelbſt jenen albernen
Schwur? — Das Kind, das du unter dem Her¬
zen traͤgſt, mein Kind iſt es, mich umarmteſt du
[315] hier an dieſer Stelle — meine Buhlſchaft warſt
du und bleibſt du, wenn ich dich nicht erhebe zu
meiner Gattin.“ — Hermenegilda blickte ihn an,
die Gluth der Hoͤlle in den Augen, dann kreiſchte
ſie auf: „Ungeheuer!“ und ſank wie zum Tode
getroffen nieder auf den Boden.


Wie von allen Furien verfolgt rannte Xaver in
das Schloß zuruͤck, er traf auf die Fuͤrſtin, die er
mit Ungeſtuͤm bei der Hand ergriff und hineinzog
in die Zimmer. „Sie hat mich verworfen mit Ab¬
ſcheu — mich, den Vater ihres Kindes!“ — „Um
aller Heiligen willen! Du? — Xaver! — mein
Gott! — ſprich, wie war es moͤglich?“ — ſo
rief von Entſetzen ergriffen die Fuͤrſtin. „Mag
mich verdammen,“ fuhr Xaver gefaßter fort,
„mag mich verdammen wer da will, aber gluͤht
ihm gleich mir das Blut in den Adern, gleich mir
wird er in ſolchem Moment ſuͤndigen. — In dem
Pavillon traf ich Hermenegilda in einem ſeltſamen
Zuſtande, den ich nicht zu beſchreiben vermag. Sie
[316] lag wie feſtſchlafend und traͤumend auf dem Kana¬
pee. Kaum war ich eingetreten, als ſie ſich erhob,
auf mich zukam, mich bei der Hand ergriff und fei¬
erlichen Schritts durch den Pavillon ging. Dann
kniete ſie nieder, ich that ein gleiches, ſie betete und
ich bemerkte bald, daß ſie im Geiſte einen Prieſter
vor uns ſah. Sie zog einen Ring vom Finger,
den ſie dem Prieſter darreichte, ich nahm ihn und
ſteckte ihr einen goldnen Ring an, den ich von mei¬
nem Finger zog, dann ſank ſie mit der inbruͤnſtig¬
ſten Liebe in meine Arme — Als ich entfloh, lag
ſie in tiefem bewußtloſen Schlaf.“ — „Entſetzlicher
Menſch! — ungeheurer Frevel!“ ſchrie die Fuͤrſtin
ganz außer ſich. — Graf Nepomuk und der Fuͤrſt
traten hinein, in wenigen Worten erfuhren ſie Xa¬
vers Bekenntniſſe, und wie tief wurde der Fuͤrſtin
zartes Gemuͤth verwundet, als die Maͤnner Xavers
freveliche That ſehr verzeihlich und durch ſeine Ver¬
bindung mit Hermenegilda geſuͤhnt fanden. „Nein,“
ſprach die Fuͤrſtin, „nimmer wird Hermenegilda
dem die Hand als Gattin reichen, der es wagte,
[317] wie der haͤmiſchte Geiſt der Hoͤlle, den hoͤchſten
Moment ihres Lebens mit dem ungeheuerſten Fre¬
vel zu vergiften.“ „Sie wird,“ ſprach Graf Xa¬
ver mit kaltem hoͤhnenden Stolz, „ſie wird mir die
Hand reichen muͤſſen, um ihre Ehre zu retten — ich
bleibe hier und alles fuͤgt ſich“ — In dieſem Augen¬
blick entſtand ein dumpfes Geraͤuſch, man brachte
Hermenegilda, die der Gaͤrtner im Pavillon leblos
gefunden, in das Schloß zuruͤck. Man legte ſie
auf das Sopha; ehe es die Fuͤrſtin verhindern
konnte, trat Xaver hinan und faßte ihre Hand.
Da fuhr ſie mit einem entſetzlichen Schrei, nicht
menſchlicher Ton, nein, dem ſchneidenden Jam¬
merlaut eines wilden Thiers aͤhnlich, in die Hoͤhe
und ſtarrte in graͤßlicher Verzuckung den Grafen
mit funkenſpruͤhenden Augen an. Der taumelte
wie vom toͤdtenden Blitz getroffen zuruͤck und lallte
kaum verſtaͤndlich: „Pferde!“ — Auf den Wink
der Fuͤrſtin brachte man ihn herab — „Wein! —
Wein!“ ſchrie er, ſtuͤrzte einige Glaͤſer hinunter,
warf ſich dann erkraͤftigt aufs Pferd und jug da¬
[318] von. — Hermenegilda's Zuſtand, der aus dum¬
pfen Wahnſinn in wilde Raſerei uͤbergehen zu wol¬
len ſchien, aͤnderte auch Nepomuks und des Fuͤrſten
Geſinnungen, die nun erſt das Entſetzliche, Un¬
ſuͤhnbare von Xavers That einſahen. Man wollte
nach dem Arzt ſenden, aber die Fuͤrſtin verwarf
alle aͤrztliche Huͤlfe, wo nur geiſtlicher Troſt viel¬
leicht wirken koͤnne. Statt des Arztes erſchien alſo
der Carmelitermoͤnch Cyprianus, Beichtvater des
Hauſes. Auf wunderbare Weiſe gelang es ihm,
Hermenegilda aus der Bewußtloſigkeit des ſtieren
Wahnſinns zu erwecken. Noch mehr! — bald
wurde ſie ruhig und gefaßt; ſie ſprach ganz zuſam¬
menhaͤngend mit der Fuͤrſtin, der ſie den Wunſch
aͤußerte, nach ihrer Niederkunft ihr Leben im Ci¬
ſterzienſer Kloſter zu O. in ſteter Reue und Trauer
hinzubringen. Ihren Trauerkleidern hatte ſie
Schleier hinzugefuͤgt, die ihr Geſicht undurchdring¬
lich verhuͤllten und die ſie niemals luͤpfte. Pater
Cyprianus verließ das Schloß, kam aber nach eini¬
gen Tagen wieder. Unterdeſſen hatte der Fuͤrſt Z.


[319] an den Buͤrgermeiſter zu L. geſchrieben, dort ſollte
Hermenegilda ihre Niederkunft abwarten und von
der Aebtiſſin des Ciſterzienſer Kloſters, einer Ver¬
wandten des Hauſes, dahingebracht werden, waͤh¬
rend die Fuͤrſtin nach Italien reiſte, und angeblich
Hermenegilda mitnahm. — Es war Mitternacht,
der Wagen, der Hermenegilda nach dem Kloſter
bringen ſollte, ſtand vor der Thuͤre. Von Gram
gebeugt erwartete Nepomuk, der Fuͤrſt, die Fuͤr¬
ſtin, das ungluͤckliche Kind, um von ihr Abſchied
zu nehmen. Da trat ſie in Schleier gehuͤllt, an
der Hand des Moͤnchs, in das von Kerzen hell er¬
leuchtete Zimmer. Cyprianus ſprach mit feierlicher
Stimme: „Die Layenſchweſter Coͤleſtina ſuͤndigte
ſchwer, als ſie ſich noch in der Welt befand, denn
der Frevel des Teufels befleckte ihr reines Gemuͤth,
doch ein unaufloͤsliches Geluͤbde bringt ihr Troſt
— Ruhe und ewige Seligkeit! — Nie wird die
Welt mehr das Antlitz ſchauen, deſſen Schoͤnheit
den Teufel anlockte — Schaut her! — ſo beginnt
und vollendet Coͤleſtina ihre Buße!“ Damit hob
[320] der Moͤnch Hermenegilda's Schleier auf, und ſchnei¬
dendes Weh durchfuhr alle, da ſie die blaſſe Todten¬
larve erblickten, in die Hermenegilda's engelſchoͤnes
Antlitz auf immer verſchloſſen! — Sie ſchied, kei¬
nes Wortes maͤchtig, von dem Vater, der ganz
aufgeloͤſt von verzehrendem Schmerz nicht mehr le¬
ben zu koͤnnen dachte. Der Fuͤrſt, ſonſt ein gefa߬
ter Mann, badete ſich in Thraͤnen, nur der Fuͤr¬
ſtin gelang es, mit aller Macht den Schrecken jenes
grauenvollen Geluͤbdes niederkaͤmpfend, ſich auf¬
recht zu erhalten in milder Faſſung —


Wie Graf Xaver Hermenegilda's Aufenthalt
und ſogar den Umſtand, daß das geborne Kind der
Kirche geweiht ſeyn ſollte, erfahren, iſt unerklaͤrlich.
Wenig nutzte ihm der Raub des Kindes, denn als
er nach P. gekommen, und es in die Haͤnde einer
vertrauten Frau zur Pflege geben wollte, war es
nicht, wie er glaubte, von der Kaͤlte ohnmaͤchtig
geworden, ſondern todt. Darauf verſchwand
Graf Xaver ſpurlos, und man glaubte, er habe ſich
den[321] den Tod gegeben: Mehrere Jahre waren vergan¬
gen, als der junge Fuͤrſt Boleslaw von Z. auf ſei¬
nen Reiſen nach Neapel in die Naͤhe des Poſilippo
kam. Dort in der anmuthigſten Gegend liegt ein
Kamaldulenſerkloſter, zu dem der Fuͤrſt heraufſtieg,
um eine Ausſicht zu genießen, die ihm als die rei¬
zendſte in ganz Neapel geſchildert worden. Eben
im Begriff, auf die herausſpringende Felſenſpitze
im Garten zu treten, die ihm als der ſchoͤnſte
Punkt beſchrieben, bemerkte er einen Moͤnch, der
vor ihm auf einem großen Stein Platz genommen
und, ein aufgeſchlagenes Gebetbuch auf dem Schooß,
in die Ferne hinausſchaute. Sein Antlitz, in
den Grundzuͤgen noch jugendlich, war nur durch
tiefen Gram entſtellt. Dem Fuͤrſten kam, als
er den Moͤnch naͤher und naͤher betrachtete, eine
dunkle Erinnerung. Er ſchlich naͤher heran und
es fiel ihm gleich ins Auge, daß das Gebet¬
buch in polniſcher Sprache abgefaßt war. Dar¬
auf redete er den Moͤnch polniſch an, dieſer
wandte ſich voller Schreck um, kaum hatte er
X[322] aber den Fuͤrſten erblickt, als er ſein Geſicht ver¬
huͤllte und ſchnell, wie vom boͤſen Geiſt getrie¬
ben, durch die Gebuͤſche entfloh. Fuͤrſt Boles¬
law verſicherte, als er dem Grafen Nepomuk
das Abenteuer erzaͤhlte, dieſer Moͤnch ſey nie¬
mand anders geweſen, als der Graf Xaver
von R.
[323]

Das ſteinerne Herz.

Jedem Reiſenden, der bei guter Tageszeit ſich
dem Staͤdtchen G. von der ſuͤdlichen Seite bis
auf eine halbe Stunde Weges genaͤhert, faͤllt der
Landſtraße rechts ein ſtattliches Landhaus in die
Augen, welches mit ſeinen wunderlichen bunten
Zinnen aus finſterm Gebuͤſch blickend, emporſteigt.
Dieſes Gebuͤſch umkraͤnzte den weitlaͤuftigen Gar¬
ten, der ſich in weiter Strecke Thal abwaͤrts hin¬
zieht. Kommſt du einmal, vielgeliebter Leſer!
des Weges, ſo ſcheue weder den kleinen Aufenthalt
deiner Reiſe, noch das kleine Trinkgeld, das du
etwa dem Gaͤrtner geben duͤrfteſt, ſondern ſteige
fein aus dem Wagen, und laß dir Haus und
Garten aufſchließen, vorgebend, du haͤtteſt den
X 2[324] verſtorbenen Eigenthuͤmer des anmuthigen Land¬
ſitzes, den Hofrath Reutlinger in G., recht gut
gekannt. Im Grunde genommen kannſt du dies als¬
dann mit gutem Fug thun, wenn es dir gefal¬
len ſollte, alles, was ich dir zu erzaͤhlen eben im
Begriff ſtehe, bis ans Ende durchzuleſen; denn
ich hoffe, der Hofrath Reutlinger ſoll dir alsdann
mit all' ſeinem ſonderbaren Thun und Treiben
ſo vor Augen ſtehen, als ob du ihn wirklich ſelbſt
gekannt haͤtteſt. Schon von außen findeſt du das
Landhaus auf alterthuͤmliche groteske Weiſe mit bun¬
ten gemahlten Zierathen verſchmuͤckt, du klagſt mit
Recht uͤber die Geſchmackloſigkeit dieſer zum Theil
widerſinnigen Wandgemaͤhlde, aber bei naͤherer
Betrachtung weht dich ein beſonderer wunderbarer
Geiſt aus dieſen bemahlten Steinen an und mit
einem leiſen Schauer, der dich uͤberlaͤuft, trittſt
du in die weite Vorhalle. Auf den in Felder
abgetheilten, mit weißem Gipsmarmor bekleideten
Waͤnden erblickeſt du mit grellen Farben gemahlte
Arabesken, die in den wunderlichſten Verſchlingun¬
[325] gen, Menſchen- und Thiergeſtalten, Blumen,
Fruͤchte, Geſteine, darſtellen, und deren Bedeu¬
tung du ohne weitere Verdeutlichung zu ahnen
glaubſt. Im Saal, der den untern Stock in der
Breite einnimmt und bis uͤber den zweiten Stock
hinaufſteigt, ſcheint in vergoldeter Bilderei alles
das plaſtiſch ausgefuͤhrt, was erſt durch Gemaͤhlde
angedeutet wurde. Du wirſt im erſten Augenblick
vom verdorbenen Geſchmack des Zeitalters Ludwig
des Vierzehnten reden, du wirſt weidlich ſchmaͤh¬
len uͤber das Barocke, Ueberladene, Grelle, Ge¬
ſchmackloſe dieſes Styls, aber biſt du nur was
weniges meines Sinnes, fehlt es dir nicht an
reger Fantaſie, welches ich allemal bei dir, mein
guͤtiger Leſer! vorausſetze, ſo wirſt du bald allen
in der That gegruͤndeten Tadel vergeſſen. Es
wird dir ſo zu Muthe werden, als ſey die regel¬
loſe Willkuͤhr nur das kecke Spiel des Meiſters
mit Geſtaltungen, uͤber die er unumſchraͤnkt zu
herrſchen wußte, dann aber, als verkette ſich alles
zur bitterſten Ironie des irdiſchen Treibens, die
[326] nur dem tiefen, aber an einer Todeswunde kraͤn¬
kelnden Gemuͤth eigen. Ich rathe Dir, geliebter
Leſer! die kleinen Zimmer des zweiten Stocks,
die wie eine Gallerie den Saal umgeben, und aus
deren Fenſtern man hinabſchaut in den Saal, zu
durchwandern. Hier ſind die Verzierungen ſehr
einfach, aber hin und wieder ſtoͤßeſt du auf teut¬
ſche, arabiſche und tuͤrkiſche Inſchriften, die ſich
wunderlich genug ausnehmen. Du eilſt jetzt nach
dem Garten, er iſt nach altfranzoͤſiſcher Art mit
langen, breiten, von hohen Taxuswaͤnden um¬
ſchloſſenen Gaͤngen, mit geraͤumigen Casketts an¬
gelegt, und mit Statuen, mit Fontainen geſchmuͤckt.
Ich weiß nicht, ob du, geliebter Leſer, nicht auch
den ernſten feierlichen Eindruck, den ſolch' ein alt¬
franzoͤſiſcher Garten macht, mit mir fuͤhlſt, und
ob du ſolch' ein Gartenkunſtwerk nicht der alber¬
nen Kleinigkeitskraͤmerei vorziehſt, die in unſern
ſogenannten engliſchen Gaͤrten mit Bruͤckchen und
Fluͤßlein, und Tempelchen und Groͤttchen getrieben
wird. Am Ende des Gartens trittſt du in einen
[317] finſtern Hain von Trauerweiden, Haͤngebirken und
Weymoutskiefern. Der Gaͤrtner ſagt dir, daß
dies Waͤldchen, wie man es von der Hoͤhe des
Hauſes hinabſchauend, deutlich wahrnehmen kann,
die Form eines Herzens hat. Mitten darin iſt
ein Pavillon von dunklem ſchleſiſchen Marmor in
der Form eines Herzens erbaut. Du trittſt hin¬
ein, der Boden iſt mit weißen Marmorplatten
ausgelegt, in der Mitte erblickſt du ein Herz in
gewoͤhnlicher Groͤße. Es iſt ein dunkelrother in
den weißen Marmor eingefugter Stein. Du buͤckſt
dich herab, und entdeckeſt die in den Stein ein¬
gegrabenen Worte: Es ruht! In dieſem Pa¬
villon, bei dieſem dunkelrothen ſteinernen Herzen,
das damals jene Inſchrift noch nicht trug, ſtan¬
den am Tage Mariaͤ Geburt, das heißt am achten
September des Jahres 180 — ein großer ſtattli¬
cher alter Herr und eine alte Dame, beide ſehr
reich und ſchoͤn nach der Mode der ſechsziger Jahre
gekleidet. „Aber,“ ſprach die alte Dame, „aber
wie kam Ihnen, lieber Hofrath, denn wieder die
[328] bizarre, ich moͤchte lieber ſagen, die ſchauervolle
Idee, in dieſem Pavillon das Grabmal ihres Her¬
zens, das unter dem rothen Stein ruhen ſoll,
bauen zu laſſen?“ „Laſſen Sie Uns,“ erwiederte
der alte Herr, „laſſen Sie Uns, liebe Geheime-
Raͤthin, von dieſen Dingen ſchweigen! — Nen¬
nen Sie es das krankhafte Spiel eines wunden
Gemuͤths, nennen Sie es wie Sie wollen, aber
erfahren Sie, daß, wenn mich mitten unter dem
reichen Gut, das das haͤmiſche Gluͤck wie ein Spiel¬
zeug dem einfaͤltigen Kinde, das daruͤber die To¬
deswunden vergißt, mir zuwarf, der bitterſte Un¬
muth ergreift, wenn alles erfahrne Leid von neuem
auf mich zutritt, daß ich dann hier in dieſen
Mauern Troſt und Beruhigung finde. Meine
Blutstropfen haben den Stein ſo roth gefaͤrbt,
aber er iſt eiskalt, bald liegt er auf meinem Her¬
zen und kuͤhlt die verderbliche Gluth, welche darin
loderte.“ Die alte Dame ſah mit einem Blick der
tiefſten Wehmuth herab zum ſteinernen Herzen,
und indem ſie ſich etwas herabbuͤckte, fielen ein
[319] paar große perlenglaͤnzende Thraͤnen auf den rothen
Stein. Da faßte der alte Herr ſchnell heruͤber und
ergriff ihre Hand. Seine Augen erblitzten im ju¬
gendlichen Feuer; wie ein fernes mit Bluͤthen und
Blumen reich geſchmuͤcktes herrliches Land im ſchim¬
mernden Abendroth lag eine laͤngſt vergangene Zeit
voll Liebe und Seligkeit in ſeinen gluͤhenden Blicken.
„Julie! — Julie! und auch Sie konnten dieſes
arme Herz ſo auf den Tod verwunden.“ — So
rief der alte Herr mit von der ſchmerzlichſten Weh¬
muth halberſtickter Stimme: „Nicht mich,“ erwie¬
derte die alte Dame ſehr weich und zaͤrtlich, „nicht
mich, klagen Sie an, Maximilian! — War es
denn nicht ihr ſtarrer unverſoͤhnlicher Sinn, ihr
traͤumeriſcher Glaube an Ahnungen, an ſeltſame,
Unheil verkuͤndende Viſionen, der Sie forttrieb von
mir, und der mich zuletzt beſtimmen mußte, dem
ſanfteren, beugſameren Mann, der mit Ihnen zu¬
gleich ſich um mich bewarb, den Vorzug zu geben.
Ach! Maximilian, Sie mußten es ja wohl fuͤhlen,
wie innig Sie geliebt wurden, aber Ihre ewige
[330] Selbſtqual, peinigte ſie mich nicht bis zur Todes¬
ermattung?“ Der alte Herr unterbrach die Dame,
indem er ihre Hand fahren ließ: „O Sie haben
Recht, Frau Geheime Raͤthin, ich muß allein ſtehen,
kein menſchliches Herz darf ſich mir anſchmiegen,
alles was Freundſchaft, was Liebe vermag, prallt
wirkungslos ab von dieſem ſteinernen Herzen.“ „Wie
bitter“ fiel die Dame dem alten Herrn in die Rede,
„wie bitter, wie ungerecht gegen ſich ſelbſt, und an¬
dere ſind Sie, Maximilian! — Wer kennt Sie
denn nicht als den freigebigſten Wohlthaͤter der
Beduͤrftigen, als den unwandelbarſten Verfechter
des Rechts, der Billigkeit, aber welches boͤſe Ge¬
ſchick warf jenes entſetzliche Mißtrauen in ihre Seele,
das in einem Wort, in einem Blick, ja in irgend
einem von jeder Willkuͤhr unabhaͤngigen Ereigniß
Verderben und Unheil ahnet?“ „Hege ich denn nicht
alles,“ ſprach der alte Herr mit weicherer Stimme
und Thraͤnen in den Augen, „hege ich denn nicht
alles, was ſich mir naͤhert, mit der vollſten Liebe.
Aber dieſe Liebe zerreißt mir das Herz, ſtatt es zu
[331] naͤhren.“ — „Ha!“ fuhr er mit erhoͤhter Stimme
fort, „dem unerforſchlichen Geiſt der Welten gefiel es
mich mit einer Gabe auszuſtatten, die, mich dem
Tode entreißend, mich hundertmal toͤdtet! —
Gleich dem ewigen Juden, ſehe ich das unſichtbare
Cainszeichen auf der Stirne des gleißneriſchen Meu¬
ters! — Ich erkenne die geheimen Warnungen,
die oft wie ſpielende Raͤthſel der geheimnißvolle
Koͤnig der Welt, den wir Zufall nennen, uns in
den Weg wirft. Eine holde Jungfrau ſchaut uns
mit hellen klaren Iſisaugen an, aber wer ihre Raͤth¬
ſel nicht loͤſt, den ergreift ſie mit kraͤftigen Loͤwen¬
tatzen, und ſchleudert ihn in den Abgrund.“ „Noch
immer,“ ſprach die alte Dame, noch immer dieſe
verderblichen Traͤume. Wo blieb der ſchoͤne, artige
Knabe, ihres juͤngern Bruders Sohn, den Sie vor
einigen Jahren ſo liebreich aufgenommen, in dem
ſo viel Liebe und Troſt fuͤr Sie aufzukeimen ſchien?“
„Den,“ erwiederte der alte Herr mit rauher Stim¬
me, „den habe ich verſtoßen, es war ein Boͤſewicht,
eine Schlange, die ich mir zum Verderben im Bu¬
[332] ſen naͤhrte.“ „Ein Boͤſewicht! — der Knabe von
ſechs Jahren?“ — fragte die Dame ganz beſtuͤrzt.
„Sie wiſſen,“ fuhr der alte Herr fort, „die Geſchichte
meines juͤngern Bruders; Sie wiſſen, daß er mich
mehrmals auf buͤbiſche Weiſe taͤuſchte, daß, alles
bruͤderliche Gefuͤhl in ſeiner Bruſt ertoͤdtend, ihm
jede Wohlthat, die ich ihm erzeigte, zur Waffe
gegen mich diente. An ihm, an ſeinem raſtloſen
Streben lag es nicht, daß nicht meine Ehre, meine
buͤrgerliche Exiſtenz verloren ging. Sie wiſſen, wie
er vor mehreren Jahren, in das tiefſte Elend ver¬
ſunken, zu mir kam, wie er mir Aenderung ſeiner
verworrenen Lebensweiſe, wieder erwachte Liebe
heuchelte, wie ich ihn hegte und pflegte, wie er dann
ſeinen Aufenthalt in meinem Hauſe nutzte, um gewiſſe
Dokumente — doch genug davon. Sein Knabe
gefiel mir, und dieſen behielt ich bei mir, als der
Schaͤndliche, nachdem ſeine Raͤnke, die mich in
einen meine Ehre vernichtenden Criminalprozeß ver¬
wickeln ſollten, entdeckt worden, fliehen mußte.
Ein warnender Wink des Schickſals befreiete mich
[333] von dem Boͤſewicht.“ „Und dieſer Wink des Schick¬
ſals war gewiß einer ihrer boͤſen Traͤume.“ So
ſprach die alte Dame, doch der alte Herr fuhr fort:
„Hoͤren Sie, urtheilen Sie Julie! — Sie wiſſen,
daß meines Bruders Teufelei mir den haͤrteſten
Stoß gab, den ich erlitten — es ſey denn, daß —
doch ſtill davon. Mag es ſeyn, daß ich der Seelen¬
krankheit, die mich befallen, den Gedanken zuſchrei¬
ben muß, mir in dieſem Waͤldchen eine Grabſtaͤtte
fuͤr mein Herz bereiten zu laſſen. Genug, es ge¬
ſchah! — Das Waͤldchen war in Herzform ange¬
pflanzt, der Pavillon erbaut, die Arbeiter beſchaͤf¬
tigten ſich mit der Marmortaͤfelung des Fußbodens.
Ich trete hinan, um nach dem Werk zu ſehen. Da
bemerke ich, daß in einiger Entfernung der Knabe,
ſo wie ich, Max geheißen, etwas hin und herkugelt
unter allerlei tollen Bocksſpruͤngen und lautem Ge¬
laͤchter. Eine finſtere Ahnung geht durch meine
Seele! — Ich gehe los auf den Knaben und er¬
ſtarre, als ich ſehe, daß es der rothe herzfoͤrmig aus¬
gearbeite Stein iſt, der zum Einlegen in dem Pavil¬
[334] lon bereit lag, den er mit Muͤhe herausgekugelt
hat und mit dem er nun ſpielt! — Bube! Du
ſpielſt mit meinem Herzen, wie dein Vater! —
Mit dieſen Worten ſtieß ich ihn voll Abſcheu von
mir, als er ſich weinend mir nahte. — Mein
Verwalter erhielt die noͤthigen Befehle ihn fortzu¬
ſchaffen, ich habe den Knaben nicht wieder geſehen!“
„Entſetzlicher Mann!“ rief die alte Dame, die
aber der alte Herr ſich hoͤflich verbeugend, und mit
den Worten: „des Schickſals große Grundſtriche fuͤ¬
gen ſich nicht dem feinen Nonpareil der Damen,“
unter dem Arm faßte, und aus dem Pavillon hin¬
ausfuͤhrte durch das Waͤldchen in den Garten. —
Der alte Herr war der Hofrath Reutlinger, die
alte Dame aber die Geheimeraͤthin Foerd. — —
Der Garten bot das allermerkwuͤrdigſte Schauſpiel
dar, was man nur ſehen konnte. Eine große Ge¬
ſellſchaft alter Herren, Geheime Raͤthe, Hofraͤthe u. a.
nebſt ihren Familien aus den benachbarten Staͤdt¬
chen hatte ſich verſammelt. Alle, ſelbſt die jungen
Leute und Maͤdchen waren ganz ſtreng nach der
[335] Mode des Jahres 1760 gekleidet mit großen Peruͤk¬
ken, geſteiften Kleidern, hohen Friſuren, Reifroͤk¬
ken u. ſ. w., welches denn um ſo mehr einen wun¬
derlichen Eindruck machte, als die Anlagen des Gar¬
tens ganz zu jenem Coſtum paßten. Jeder glaubte
ſich, wie durch einen Zauberſchlag, in eine laͤngſt
verfloſſene Zeit zuruͤckverſetzt. Der Maskerade lag
eine wunderliche Idee Reutlingers zum Grunde.
Er pflegte alle drei Jahre am Tage Mariaͤ Geburt
auf ſeinem Landſitz das Feſt der alten Zeit
zu feiern, wozu er alles aus dem Staͤdtchen, was
nur kommen wollte, einlud, jedoch war es uner¬
laͤßliche Bedingung, daß jeder Gaſt ſich in das
Coſtum des Jahres 1760 werfen mußte. Jungen
Leuten, denen es laͤſtig geweſen ſeyn wuͤrde, der¬
gleichen Kleider herbei zu ſchaffen, half der Hofrath
aus mit ſeiner eigenen reichen Garderobe. — Offenbar
wollte der Hofrath dieſe Zeit hindurch (das Feſt
dauerte zwei bis drei Tage) in Ruͤckerinnerungen
der alten Jugendzeit recht ſchwelgen.


In einer Seitenallee begegneten ſich Ernſt und
[336] Willibald. Beide ſahen ſich eine Weile ſchwei¬
gend an und brachen dann in ein helles Gelaͤch¬
ter aus. „Du kommſt mir vor,“ rief Willibald,
„wie der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde
Cavalier.“ — „Und mich duͤnkt,“ erwiederte Ernſt,
„ich haͤtte dich ſchon in der aſiatiſchen Baniſe er¬
blickt.“ — „Aber in der That,“ fuhr Willibald
fort, „des alten Hofraths Einfall iſt ſo uͤbel nicht.
Er will nun einmahl ſich ſelbſt myſtifiziren, er will
eine Zeit hervorzaubern, in der er wahrhaft lebte,
unerachtet er noch jetzt ein munterer ſtarker Greis
mit unverwuͤſtlicher Lebenskraft und herrlicher Friſch¬
heit des Geiſtes, an Erregbarkeit und fantaſiereicher
Laune es manchem vor der Zeit abgeſtumpften Juͤng¬
linge zuvorthut. Er darf nicht dafuͤr ſorgen, daß
jemand in Wort und Gebehrde aus dem Coſtum
falle, denn dafuͤr ſteckt jeder eben in den Kleidern
die ihm das ganz unmoͤglich machen. Sieh' nur wie
juͤngferlich und zunferlich unſere jungen Damen in
ihren Reifroͤcken einhertrippeln, wie ſie ſich des Faͤ¬
chers zu bedienen wiſſen — Wahrhaftig mich ſelbſt
[337] ergreift unter der Peruͤcke, die ich auf meinen Titus
geſtuͤlpt, ein ganz beſonderer Geiſt alterthuͤmlicher
Courtoiſie, da ich eben das allerliebſte Kind des geh.
Rathes Foerd juͤngſte Tochter, die holde Julia er¬
blicke, ſo weiß ich gar nicht was mich abhaͤlt, mich
ihr in demuͤthiger Stellung zu nahen und mich alſo
zu appliziren und expliziren: „Allerſchoͤnſte Julia!
„wenn wird mir doch die laͤngſt gewuͤnſchte Ruhe
„durch deine Gegenliebe gewaͤhrt werden! Es iſt ja
„unmoͤglich, daß den Tempel dieſer Schoͤnheit ein
„ſteinerner Abgott bewohnen koͤnne. Den Mar¬
„mor bezwingt der Regen und der Diamant wird
„durch ſchlechtes Blut erweichet; dein Herz will
„aber einem Amboße gleichen, welches ſich nur durch
„Schlaͤge verhaͤrtet; je mehr nun mein Herze klo¬
„pfet, je unempfindlicher wirſt du. Laß mich doch
„das Ziel deines Blicks ſeyn, ſchaue doch wie mein
„Herz kocht und meine Seele nach der Erquickung
„lechzet, welche aus deiner Anmuth quillt. Ach!
„— willſt du mich durch Schweigen betruͤben, un¬
„empfindliche Seele? Die todten Felſen antworten
„ja den Fragenden durch ein Echo und du willſt
Y[338] „mich Troſtloſen keiner Antwort wuͤrdigen? —
„O Allerſchoͤnſte“ — „Ich bitte dich,“ unterbrach
hier Ernſt den Freund, der mit dem wunderlichſten
Gebehrdenſpiel das alles geſprochen, „ich bitte dich,
halt ein, du biſt nun einmahl wieder in deiner tollen
Laune und merkſt nicht, wie Julie, erſt ſich uns
freundlich naͤhernd, mit einem Mahl ganz ſcheu aus¬
bog. Ohne dich zu verſtehen, glaubt ſie gewiß ſo
wie alle in gleichem Fall, ſchonungslos von dir be¬
ſpoͤttelt zu ſeyn, und ſo bewaͤhrſt du deinen Ruf als
eingefleiſchten ironiſchen Satan und ziehſt mich neu¬
en Ankoͤmmling ins Ungluͤck, denn ſchon ſprechen
alle mit zweideutigem Seitenblick und bitterſuͤßem
Laͤcheln: es iſt Wilibalds Freund.“ „Laß es gut
ſeyn,“ ſprach Wilibald, „ich weiß es ja, daß viele
Leute, zumahl junge hoffnungsvolle Maͤdchen von
ſechszehn, ſiebzehn Jahren mir ſorglich ausweichen,
aber ich kenne das Ziel, wohin alle Wege fuͤhren,
und weiß auch, daß ſie dort mir begegnend oder viel¬
mehr mich wie im eignen Hauſe angeſiedelt treffend,
recht mit vollem freundlichen Gemuͤth mir die Hand
reichen werden.“ „Du meinſt,“ ſprach Ernſt, „ei¬
[339] ne Verſoͤhnung, wie im ewgen Leben, wenn der
Drang des Irdiſchen abgeſchuͤttelt.“ „O ich bitte
dich,“ unterbrach ihn Wilibald, „laß uns doch ge¬
ſcheut ſeyn und nicht alte laͤngſt beſprochene Dinge
aufs neue und gerade zur unguͤnſtigſten Stunde
aufruͤhren. Unguͤnſtig fuͤr derley Geſpraͤche nenne
ich nehmlich deshalb eben dieſe Stunden, weil wir
gar nichts beſſeres thun koͤnnen, als uns dem ſeltſa¬
men Eindruck alles des Wunderlichen, womit uns
Reutlingers Laune, wie in einen Rahmen eingefaßt
hat, hingeben. Siehſt du wohl jenen Baum, deſſen
ungeheure weiße Bluͤthen der Wind hin und her¬
ſchuͤttelt? — Cactus grandiflorus kann es nicht
ſeyn, denn der bluͤht nur Mitternachts und ich ſpuͤre
auch nicht das Aroma, welches ſich bis hieher ver¬
breiten muͤßte — Weiß der Himmel, welchen Wun¬
derbaum der Hofrath wieder in ſein Tusculum
verpflanzt hat.“ — Die Freunde gingen auf den
Wunderbaum los und wunderten ſich in der That
nicht wenig, als ſie einen dicken dunklen Holunder¬
buſch trafen, deſſen Bluͤthen nichts anders waren,
als hineingehaͤngte weißgepuderte Peruͤcken, die mit
Y 2[340] ihren daran gehaͤngten Haarbeuteln und Zoͤpfchen,
ein kurioſes Spielzeug des launigten Suͤdwinds,
auf und niederſchaukelten. Lautes Lachen verkuͤn¬
dete was hinter den Buͤſchen verborgen. Eine gan¬
ze Geſellſchaft alter gemuͤthlicher lebenskraͤftiger
Herren hatte ſich auf einem breiten von buntem
Buſchwerk umgebenen Raſenplatz verſammelt. Die
Roͤcke ausgezogen, die laͤſtigen Peruͤcken in den Ho¬
lunder gehaͤngt, ſchlugen ſie Ballon. Aber niemand
uͤbertraf den Hofrath Reutlinger, der den Ballon
bis zu einer unglaublichen Hoͤhe und ſo geſchickt zu
treiben wußte, daß er jedesmahl dem Gegenſpieler
ſchlaggerecht niederfiel. In dem Augenblick ließ ſich
eine abſcheuliche Muſik von kleinen Pfeifen und
dumpfen Trommeln hoͤren. Die Herren endeten
ſchnell ihr Spiel und griffen nach ihren Roͤcken und
Peruͤcken. „Was iſt denn das nun wieder?“ ſprach
Ernſt. „Ich wette,“ erwiederte Wilibald, „der
tuͤrkiſche Geſandte zieht ein.“ „Der tuͤrkiſche Ge¬
ſandte?“ frug Ernſt ganz erſtaunt. „So nenne
ich,“ fuhr Wilibald fort, „den Baron von Exter,
der ſich in G. aufhaͤlt und den Du noch viel zu we¬
[341] nig geſehn haſt, um in ihm nicht eins der wunder¬
lichſten Originale zu erkennen, die es geben mag.
Er iſt ehemahls Geſandter unſeres Hofes in Con¬
ſtantinopel geweſen und noch immer ſonnt er ſich in
dem Reflex dieſer wahrſcheinlich genußreichſten Fruͤh¬
lingszeit ſeines Lebens. Seine Beſchreibung des
Pallaſtes, den er in Pera bewohnte, erinnert an die
diamantnen Feen-Pallaͤſte in Tauſend und einer
Nacht, und ſeine Lebensweiſe an den weiſen Koͤnig
Salomo, dem er auch darin gleichen will, daß er
ſich wirklich der Herrſchaft uͤber unbekannte Natur¬
kraͤfte ruͤhmt. In der That hat dieſer Baron Ex¬
ter ſeiner luͤgneriſchen Prahlerey, ſeiner Charlatane¬
rie unerachtet, doch etwas myſtiſches, das mich
wenigſtens in drolligem Abſtich mit ſeiner aͤußern
etwas ſkurrilen Erſcheinung oft wirklich myſtifizirt.
Davon, ich meine von ſeinem wirklich myſtiſchen
Treiben geheimer Wiſſenſchaften, ruͤhrt auch ſeine
enge Verbindung mit Reutlingern her, der dieſem We¬
ſen ganz ergeben iſt mit Leib und Seele — Bei¬
de ſind wunderliche Traͤumer, aber jeder auf ſeine
Weiſe, uͤbrigens aber entſchiedene Mesmerianer.
[342] — Unter dieſem Geſpraͤch waren die Freunde bis
an des Gartens großes Gatterthor gelangt, durch
welches ſo eben der tuͤrkiſche Geſandte einzog. Ein
kleiner rundlicher Mann mit einem ſchoͤnen tuͤrkiſchen
Pelz und hohem aus farbigten Shawls aufgewickel¬
tem Turban angethan. Aus Gewohnheit hatte er
ſich aber nicht von der eng anſchließenden Zopfperuͤ¬
cke mit kleinen Loͤckchen, aus Beduͤrfniß nicht von
den filznen Podagriſtenſtiefeln trennen koͤnnen, wo¬
durch freilich das tuͤrkiſche Coſtuͤm ſchwer verletzt
wurde. Seine Begleiter, die das abſcheuliche muſi¬
kaliſche Geraͤuſch machten und in denen Wilibald
trotz der Vermummung Exters Koch und anderes
Hausgeſinde erkannten, waren zu Mohren angerußt
und trugen ſpitze gemahlte Papiermuͤtzen, den San¬
benitos nicht unaͤhnlich, welches drollig genug aus¬
ſah. Den tuͤrkiſchen Geſandten fuͤhrte am Arm ein
alter Offizier, nach ſeiner Tracht von irgend einem
Schlachtfelde des ſiebenjaͤhrigen Krieges erwacht und
erſtanden. Es war der General Rixendorf, Com¬
mandant von G., der dem Hofrath zu Gefallen
ſammt ſeinen Offizieren ſich in das alte Coſtuͤme ge¬
[343] worfen hatte. „Salama milek!“ ſprach der Hof¬
rath den Baron Exter umarmend, der ſofort den
Turban abnahm, und ihn wieder auf die Peruͤcke
ſtuͤlpte, nachdem er ſich den Schweiß von der Stirne
mit einem oſtindiſchen Tuch weggetrocknet. In dem
Augenblick bewegte ſich auch in den Zweigen eines
Spaͤtkirſchenbaums der goldſtrahlende Fleck, den
Ernſt ſchon lange betrachtet hatte, ohne entraͤthſeln
zu koͤnnen, was da oben ſitze. Es war blos der ge¬
heime Commerzien Rath Harſcher in einem gold¬
ſtoffnen Ehrenkleide, eben ſolchen Beinkleidern und
ſilberſtoffner mit blauen Roſenbouquets beſtreuter
Weſte, der nun ſich aus den Blaͤttern des Kirſchbaums
entwickelte, und fuͤr ſein Alter behende genug auf der
angelehnten Leiter herab ſtieg und mit ganz fei¬
ner etwas quaͤckender Stimme ſingend oder vielmehr
kreiſchend: „Ah! che vedo — o dio che ſen¬
to!
“ dem tuͤrkiſchen Geſandten in die Arme eilte.
Der Commerzien-Rath hatte ſeine Jugendzeit in
Italien zugebracht, war ein großer Muſikus und
wollte noch immer mittelſt eines lang geuͤbten Fal¬
ſetts ſingen wie Farinelli. „Ich weiß,“ ſprach Wi¬
[344] libald, „daß Harſcher ſich die Taſchen mit Spaͤtkir¬
ſchen vollgeſtopft hat, die er, irgend ein Madrigal
ſuͤß lamentirend, den Damen praͤſentiren wird.
Da er aber wie Friedrich der zweite den Spaniol
ohne Doſe in der Taſche ausgeſchuͤttet traͤgt, wird
er mit ſeiner Galanterie nur widerwilliges Ab¬
lehnen und finſtre Geſichter einaͤrndten.“ —
Ueberall war nun der tuͤrkiſche Geſandte ſo wie
der Held des ſiebenjaͤhrigen Krieges mit Freude
und Jubel empfangen worden. Letzterer wurde
von Julchen Foerd mit kindlicher Demuth be¬
gruͤßt, tief beugte ſie ſich vor dem alten Herrn
und wollte ihm die Hand kuͤßen, da ſprang aber
der tuͤrkiſche Geſandte wild dazwiſchen, rief: „Narr¬
heiten, tolles Zeug!“ umarmte Julchen mit Hef¬
tigkeit, wobey er dem Commerzien-Rath Harſcher
ſehr hart auf die Fuͤße trat, der aber vor Schmerz
nur ein ganz klein wenig miaute und rannte dann
mit Julien, die er unter den Arm gefaßt, davon.
— Man ſah, daß er ſehr eifrig mit den Haͤnden
focht, den Turban auf und abſtuͤlpte u. ſ. w.
„Was hat der Alte mit dem Maͤdchen vor?“
[345] ſprach Ernſt. „In der That,“ erwiederte Wili¬
bald, „es ſcheint Wichtiges, denn, iſt Exter gleich
des Maͤdchens Pathe und ganz vernarrt in ſie,
ſo pflegt er doch nicht ſogleich aus der Geſellſchaft
mit ihr davon zu laufen.“ — In dem Augenblick
blieb der tuͤrkiſche Geſandte ſtehen, ſtreckte den rech¬
ten Arm weit von ſich und rief mit ſtarker Stimme,
daß es im ganzen Garten wiederhallte: „Appor¬
te!“ — Wilibald brach in ein lautes Gelaͤchter aus,
„Wahrhaftig,“ ſprach er dann, „es iſt weiter nichts,
als daß Exter Julien zum tauſendſtenmahl die merk¬
wuͤrdige Geſchichte vom Seehunde erzaͤhlt.“ Ernſt
wollte dieſe merkwuͤrdige Geſchichte durchaus wiſſen.
„Erfahre denn,“ ſprach Wilibald, „daß Exters
Pallaſt dicht am Bosphorus lag, ſo daß Stufen
von dem feinſten karariſchen Marmor hinabfuͤhrten
ins Meer. Eines Tages ſteht Exter auf der Gal¬
lerie in die tiefſinnigſten Betrachtungen verſunken,
aus denen ihn ein durchdringender gellender Schrey
hinausreißt. Er ſchaut hinab und ſiehe, ein unge¬
heurer Seehund iſt aus dem Meer hinaufgetaucht
und hat einem armen tuͤrkiſchen Weibe, die auf den
[346] Marmorſtufen ſaß, den Knaben von dem Arm hin¬
abgeriſſen, mit dem er eben abfaͤhrt in die Mee¬
reswellen. Exter eilt hinab, das Weib faͤllt ihm
troſtlos weinend und heulend zu Fuͤßen, Exter be¬
ſinnt ſich nicht lange, er tritt dicht ans Meer auf
die letzte Stufe, ſtreckt den Arm aus und ruft mit
ſtarker Stimme: „Apporte!“ — Sogleich ſteigt
der Seehund aus der Tiefe des Meers, im weiten
Maule den Knaben, den er zierlich und geſchickt, wie
auch ganz unverſehrt dem Magier uͤberreicht und
ſodann jedem Dank ausweichend, ſich wieder ent¬
fernt in das Meer niedertaucht.“ „Das iſt ſtark
— das iſt ſtark,“ rief Ernſt. „Siehſt du wohl,“
fuhr Wilibald fort, „ſiehſt du wohl wie Exter jetzt
einen kleinen Ring vom Finger zieht und ihn Juli¬
en zeigt? Keine Tugend bleibt unbelohnt! —
Außer dem, daß Exter dem tuͤrkiſchen Weibe den Kna¬
ben gerettet hatte, ſo beſchenkte er ſie noch, als er
vernahm, daß ihr Mann ein armer Laſttraͤger, kaum
das taͤgliche Brod zu verdienen vermochte, mit eini¬
gen Juwelen und Goldſtuͤcken, freilich nur eine Lum¬
perei, hoͤchſtens zwanzig bis dreißigtauſend Thaler
[347] an Werth; darauf zog das Weib einen kleinen
Sapphir vom Finger und drang ihn Extern auf mit
der Verſicherung, es ſey ein theures ererbtes Fami¬
lienſtuͤck, das nur durch Exters That gewonnen
werden koͤnne. Exter nahm den Ring, der ihm
von geringem Werthe ſchien und erſtaunte nicht we¬
nig, als er ſpaͤter durch eine kaum ſichtbare arabi¬
ſche Inſchrift an des Ringes Reif belehrt wurde,
daß er des großen Alis Siegelring am Finger trage,
mit dem er jetzt zuweilen Mahomeds Tauben heran¬
lockt und mit ihnen konverſirt. „Das ſind ganz er¬
ſtaunliche Dinge,“ rief Ernſt lachend, „doch laß'
uns ſehen, was dort in dem geſchloſſenen Kreiſe vor¬
geht, in deſſen Mitte ein klein Ding, wie ein kar¬
teſianiſches Teufelchen, auf- und niedergaukelt und
quinkelirt“ — Die Freunde traten auf einen run¬
den Raſenplatz, rings umher ſaßen alte und junge
Herren und Damen, in der Mitte ſprang ein ſehr
bunt gekleidetes, kaum vier Fuß hohes Daͤmchen,
mit einem etwas zu großen Apfelkoͤpfchen umher,
und ſchnippte mit den Fingerchen und ſang
mit einem ganz kleinen, duͤnnen Stimmchen:


[348]Amenez vos troupeaux bergeres!“ — „Sollteſt
du wohl glauben,“ ſprach Wilibald, „daß dies
putzige Figurchen, die ſo uͤberaus naiv und ſchar¬
mant thut, Juliens aͤltere Schweſter iſt? Du
merkſt, daß ſie leider zu den Weibern gehoͤrt, die
die Natur mit recht bittrer Ironie myſtifizirt, in¬
dem ſie trotz alles Straͤubens zu ewiger Kindheit
verdammt, vermoͤge ihrer Figur und ihres ganzen
Weſens im Alter noch mit jener kindiſchen Naivitaͤt
koquettirend ſich und andern herzlich zur Laſt werden
muͤſſen, wobei es denn oft an gehoͤriger Verhoͤh¬
nung nicht mangelt.“ — Beiden Freunden wurde
das Daͤmchen mit ihrer franzoͤſiſchen Faſelei recht
fatal, ſie ſchlichen daher fort wie ſie gekommen und
ſchloſſen ſich lieber an den tuͤrkiſchen Geſandten an,
der ſie fortfuͤhrte in den Saal, wo eben, da die
Sonne ſchon niederſank, alles zu der Muſik vorbe¬
reitet wurde, die man heute zu geben im Sinne
hatte. Der Oeſterleiniſche Fluͤgel wurde geoͤffnet
und jedes Pult fuͤr die Kuͤnſtler an ſeinen Ort ge¬
ſtellt. Die Geſellſchaft ſammelte ſich nach und
nach, Erfriſchungen wurden herumgereicht in altem
[349] reichen Porzellan; dann ergriff Reutlinger eine
Geige und fuͤhrte mit Geſchicklichkeit und Kraft eine
Sonate von Corelli aus, wozu ihn der General
Rixendorf auf dem Fluͤgel begleitete, dann bewaͤhr¬
te ſich der goldſtoffne Harſcher als Meiſter auf der
Theorbe. Hierauf begann die geheime Raͤthin
Foerd eine große italieniſche Szene von Anfoſſi mit
ſeltenem Ausdruck. Die Stimme war alt, tremu¬
lirend und ungleich, aber noch wurde alles dieſes
durch die ihr eigne Meiſterſchaft des Geſanges be¬
ſiegt. In Reutlingers verklaͤrtem Blick glaͤnzte
das Entzuͤcken laͤngſt vergangener Jugend. Das
Adagio war geendet, Rixendorf begann das Alle¬
gro, als ploͤtzlich die Thuͤr des Saals aufgeriſſen
wurde und ein junger wohlgekleideter Menſch, von
huͤbſchem Anſehen, ganz erhitzt und athemlos hin¬
ein und zu Rixendorfs Fuͤßen ſtuͤrzte. „O Herr
General! — Sie haben mich gerettet — Sie al¬
lein — Es iſt alles gut — Alles gut! O mein
Gott, wie ſoll ich Ihnen denn danken.“ So ſchrie
der junge Menſch wie außer ſich, der General ſchien
verlegen, er hob den jungen Menſchen ſanft auf,
[350] und fuͤhrte ihn mit beſchwichtigenden Worten heraus
in den Garten. Die Geſellſchaft war von dem Auf¬
tritt uͤberraſcht worden, jeder hatte in dem Juͤng¬
ling den Schreiber des geheimen Rathes Foerd er¬
kannt und ſchaute dieſen mit neugierigen Blicken
an. Der nahm aber eine Priſe nach der andern
und ſprach mit ſeiner Frau franzoͤſiſch, bis er end¬
lich, da ihm der tuͤrkiſche Geſandte naͤher auf den
Leib ruͤckte, rund heraus erklaͤrte: „Ich weiß,
Hochzuverehrende! durchaus mir nicht zu erklaͤren,
welcher boͤſe Geiſt meinen Max hier ſo ploͤtzlich mit
exaltirten Dankſagungen hineingeſchleudert hat,
werde aber ſogleich die Ehre haben“ — Damit
ſchluͤpfte er zur Thuͤre heraus und Wilibald folgte
ihn auf dem Fuße. Das dreiblaͤttrige Kleeblatt der
Foerdſchen Familie, nemlich die drei Schweſtern,
Nannette, Clementine und Julie, aͤußerten ſich auf
ganz verſchiedene Weiſe. Nannette ließ den Faͤcher auf-
und niederrauſchen, ſprach von Etourderie und woll¬
te endlich wieder ſingen: Amenez vos troupeaux,
worauf aber niemand achtete. Julie war abſeits in
den Winkel getreten und der Geſellſchaft den Ruͤcken

[351] zugewendet, war es, als wolle ſie nicht allein ihr
gluͤhendes Geſicht, ſondern auch einige Thraͤnen
verbergen, die ihr, wie man ſchon bemerkt, in die
Augen getreten. „Freude und Schmerz verwun¬
den, mit gleichem Weh die Bruſt des armen Men¬
ſchen, aber faͤrbt der, dem verletzenden Dorn nach¬
quillende Blutstropfe nicht mit hoͤherem Roth die
verbleichende Roſe?“ So ſprach mit vielem Pa¬
thos die jeanpauliſirende Clementine, indem ſie ver¬
ſtohlen die Hand eines huͤbſchen jungen, blonden Men¬
ſchen faßte, der gar zu gern ſich aus den Roſenban¬
den, womit ihn Clementine bedrohlich umſtrickt und
in denen er etwas zu ſpitze Dornen verſpuͤrt hatte,
losgewickelt. Der laͤchelte aber etwas fade und
ſprach nur: „O ja, Beſte!“ — Dabei ſchielte er
nach einem ſeitwaͤrts ſtehenden Glaſe Wein, wel¬
ches er gern auf Clementinens ſentimentalen Spruch
geleert. Das ging aber nicht, da Clementine ſeine
linke Hand feſthielt, er aber mit der Rechten ſo
eben das Beſitzthum eines Stuͤcks Kuchen ergrif¬
fen. In dem Augenblick trat Willibald zur Saal¬
thuͤr herein und alles ſtuͤrzte auf ihn zu mit tauſend
[352] Fragen, wie, was, warum und woher? Er wollte
durchaus nichts wiſſen, zog aber ein verſchmitzteres
Geſicht als jemals. Man ließ nicht ab von ihm,
weil man deutlich bemerkt, daß er im Garten ſich
mit dem geheimen Rath Foerd zum General Rixen¬
dorf und zum Schreiber Max geſellt, und heftig
mitgeſprochen hatte. „Soll ich denn,“ fing er end¬
lich an, „ſoll ich denn in der That die wichtigſte
aller Begebenheiten vor der Zeit ausplaudern, ſo
muß es mir vergoͤnnt werden, zuvoͤrderſt an Sie,
meine hochzuverehrenden Damen und Herren, einige
Fragen zu richten.“ — Man erlaubte das gern.
„Iſt Ihnen,“ fuhr Willibald nun pathetiſch fort,
„iſt Ihnen nicht allen der Schreiber des Herrn ge¬
heimen Rath Foerd, Max geheißen, als ein wohlge¬
bildeter, von der Natur reichlich ausgeſtatteter Juͤng¬
ling bekannt?“ „Ja, ja, ja!“ rief der Chor der
Damen. „Iſt Ihnen,“ frug Willibald weiter,
„iſt Ihnen nicht ſein Fleiß, ſeine wiſſenſchaftliche
Bildung, ſeine Geſchicklichkeit im Geſchaͤft be¬
kannt?“ „Ja — ja!“ rief der Chor der Herren
und wieder „Ja, ja, ja!“ der vereinigte Chor der
[353] Herren und Damen, als Willibald noch frug, ob
Max nicht weiter als der aufgeweckteſte Kopf, vol¬
ler Poſſen und Schnurren, ſo wie endlich als ſolch
geſchickter Zeichner bekannt ſey, daß Rixendorf, der
als Dilettant in der Mahlerei Ungewoͤhnliches lei¬
ſte, es nicht verſchmaͤht habe, ſelbſt ihm zweckmaͤ¬
ßigen Unterricht zu ertheilen. „Es begab ſich,“
erzaͤhlte nun Willibald, „daß vor einiger Zeit ein
junges Meiſterlein von der ehrſamen Schneider¬
zunft ſeine Hochzeit feierte. Es ging dabei hoch
her, Baͤſſe ſchnurrten, Trompeten ſchmetterten
durch die Gaſſe. Mit rechter Wehmuth ſah des
Herrn geheimen Raths Bedienter, Johann, zu den
erleuchteten Fenſtern herauf, das Herz wollte ihm
ſpringen, wenn er unter den Tanzenden Jettchens
Tritte zu vernehmen glaubte, die, wie er wußte,
auf der Hochzeit war. Als nun aber Jettchen
wirklich zum Fenſter herausguckte, da konnte er es
nicht laͤnger aushalten, er lief nach Hauſe, warf
ſich in ſeinen beſten Staat und ging keck herauf in
den Hochzeitſaal. Er wurde wirklich zugelaſſen,
freilich unter der ſchmerzlichen Bedingung, daß im
Tanz jeder Schneider vor ihm den Vorzug haben
ſollte, wodurch er freilich auf die Maͤdchen angewie¬
ſen wurde, mit denen, ob ihrer Haͤßlichkeit oder
Z[354] ſonſtigen Untugenden, niemand tanzen mochte.
Jettchen war auf alle Taͤnze verſagt, aber ſo wie
ſie den Geliebten ſah, vergaß ſie alles, was ſie ver¬
ſprochen, und der beherzte Johann ſtieß das duͤnn¬
leibige Schneiderlein, das ihm Jettchen abtrotzen
wollte, zu Boden, daß es uͤber und uͤber purzelte.
Dies gab das Signal zum allgemeinen Aufſtande.
Johann wehrte ſich wie ein Loͤwe, Rippenſtoͤße und
Ohrfeigen nach allen Seiten austheilend, doch
er mußte der Menge ſeiner Feinde erliegen und
wurde auf ſchmaͤhliche Weiſe von Schneidergeſellen
die Treppe herabgeworfen. Voll Wuth und Ver¬
zweiflung wollte er die Fenſter einwerfen, er
ſchimpfte und fluchte, da kam Max, der nach
Hauſe ging, des Weges und befreite den ungluͤckli¬
chen Johann aus den Haͤnden der Schaarwacht,
die eben uͤber ihn herzufallen im Begriff ſtand.
Nun klagte Johann ſein Ungluͤck und wollte durch¬
aus nicht abſtehen von tumultuariſcher Rache, doch
gelang es endlich dem kluͤgern Max ihn zu beruhi¬
gen, wiewohl nur unter dem Verſprechen, daß er
ſich ſeiner annehmen und die ihm geſchehene Unbill
ſo raͤchen wolle, daß er ganz gewiß zufrieden ſeyn
werde“ — Willibald hielt ploͤtzlich ein. — „Nun?
— nun? Und weiter? — Eine Schneiderhoch¬
[355] zeit — ein Liebespaar — Pruͤgel — was ſoll
das dann werden?“ — So rief es von allen Sei¬
ten. „Erlauben Sie,“ fuhr Willibald fort, „er¬
lauben Sie, Hochzuverehrende! zu bemerken, daß,
um mit dem beruͤhmten Weber Zettel zu reden, in
dieſer Komoͤdie von Johann und Jettchen Dinge
vorkommen, die nimmermehr gefallen werden. —
Es koͤnnte ſogar wider den feinſten Anſtand geſuͤn¬
digt werden.“ „Sie werden's ſchon einzurichten
wiſſen, lieber Herr Willibald,“ ſprach die alte
Stiftsraͤthin von Krain, indem ſie ihn auf die
Schulter klopfte, „ich fuͤr meinen Theil kann einen
Puff vertragen.“ — „Der Schreiber Max,“ er¬
zaͤhlte Willibald weiter, „ſetzte ſich andern Tages
hin, nahm ein großes ſchoͤnes Blatt Velinpapier,
Bleifeder und Tuſche, und zeichnete mit der vollen¬
detſten Wahrheit einen großen ſtattlichen Ziegen¬
bock hin. Die Phyſiognomie dieſes wunderbaren
Thiers gab jedem Phyſiognomen reichlichen Stoff
zum Studium. In dem Blick der geiſtreichen Au¬
gen lag etwas Ueberſchwengliches, wiewohl um das
Maul und um den Bart herum einige Convul¬
ſionen zitternd zu ſpielen ſchienen. Das Ganze
zeugte von innerer unausſprechlicher Qual. In
der That war auch der gute Bock beſchaͤftigt, auf
Z 2[356] eine ſehr natuͤrliche, wiewohl ſchmerzliche Weiſe
ganz kleine allerliebſte, mit Scheere und Buͤgeleiſen
bewaffnete Schneiderlein zur Welt zu befoͤrdern,
die in den wunderlichſten Gruppen ihre Lebensthaͤ¬
tigkeit bewieſen. Unter dem Bilde ſtand ein Vers,
den ich leider vergeſſen, doch irr' ich nicht, ſo hieß
die erſte Zeile: Ei was hat der Bock — gegeſſen.
Ich kann uͤbrigens verſichern, daß dieſer wunder¬
bare Bock“ — „Genug — genug,“ riefen die
Damen, „genug von dem garſtigen Thier — von
Max, von Max wollen wir hoͤren.“ — „Beſagter
Max,“ nahm Willibald das Wort wieder auf,
„beſagter Max gab das wohlausgefuͤhrte und voll¬
kommen gerathene Tableau dem gekraͤnkten Johann,
der es ſo geſchickt an die Schneiderherberge anzu¬
heften wußte, daß einen ganzen Tag hindurch das
muͤßige Volk nicht von dem Bildniß wegkam. Die
Straßenjungen ſchwenkten jubelnd die Muͤtzen und
tanzten jedem Schneiderlein, das ſich ſehen ließ,
hinterher, und ſangen und kreiſchten gewaltig: Ei
was hat der Bock gegeſſen. — Niemand anders hat
das Blatt gezeichnet, als des geheimen Raths Max,
ſagten die Mahler, niemand hat die Worte geſchrie¬
ben, als des geheimen Raths Max, riefen die
Schreibmeiſter, als die ehrſame Schneiderzunft
[357] die noͤthigen Erkundigungen einzog. Max wurde
verklagt und ſah, da er nicht wohl leugnen konnte,
einer empfindlichen Gefaͤngnißſtrafe entgegen. Da
rannte er voll Verzweiflung zu ſeinem Goͤnner, dem
General Rixendorf; bei allen Advokaten war er
ſchon geweſen. Die runzelten die Stirn, ſchuͤttel¬
ten die Koͤpfe und ſprachen von hartnaͤckigem Ab¬
leugnen u. ſ. w., was dem ehrlichen Max nicht
wohlgefiel. Der General ſprach dagegen, du haſt
einen dummen Streich gemacht, lieber Sohn! die
Advokaten werden dich nicht retten, aber ich, und
blos darum, weil in deinem Bilde, das ich bereits
geſehen, korrekte Zeichnung und verſtaͤndige Anord¬
nung iſt. Der Bock, als Hauptfigur, hat Aus¬
druck und Haltung, ſo wie die bereits auf dem Bo¬
den liegenden Schneider eine gute Pyramidalgrup¬
pe bilden, die reich iſt, ohne das Auge zu verwir¬
ren. Sehr weiſe haſt du den im Schmerz der
Quetſchung ſich hervorarbeitenden Schneider wieder
als Hauptfigur der untern Gruppe behandelt, in
ſeinem Geſicht liegt laokoontiſches Weh! Eben ſo
ruͤhmlich iſt es, daß die fallenden Schneider nicht
etwa ſchweben, ſondern wirklich fallen, wiewohl
nicht aus dem Himmel; manche zu gewagte Ver¬
kuͤrzungen ſind recht huͤbſch durch die Buͤgeleiſen
[358] maskirt, auch haſt du mit reger Fantaſie die Hoff¬
nung neuer Geburten angedeutet.“ — Die Damen
fingen an ungeduldig zu murmeln, und der Gold¬
ſtoffne liſpelte: „Aber Maxens Prozeß, Ver¬
ehrter?“ — „Indeſſen nimm mirs nicht uͤbel, ſprach
der General, (ſo fuhr Willibald fort) die Idee des
Bildes iſt nicht die Deinige, ſondern uralt; doch das
iſt es eben, was dich rettet. Mit dieſen Worten
kramte der General in ſeinem alten Schreibſchranke,
holte einen Tabaksbeutel hervor, auf dem ſich
Maxens Gedanke ſauber und zwar beinahe ganz
nach Maxens Weiſe ausgefuͤhrt befand, uͤberließ
denſelben ſeinem Liebling zum Gebrauch und nun
war alles gut.“ „Wie das, wie das?“ rief alles
durch einander, aber die Juriſten, die ſich in der
Geſellſchaft befanden, lachten laut, und der geheime
Rath Foerd, der unterdeſſen auch hineingetreten war,
ſprach laͤchelnd: „Er leugnete den animum inju¬
riandi
, die Abſicht zu beleidigen, und wurde freige¬
ſprochen.“ „Will ſo viel heißen,“ fiel Willibald
ihm im die Rede, „als daß Max ſprach: Ich kann
nicht leugnen, daß das Bild von meiner Hand iſt;
abſichtslos und ohne irgend die von mir ſo hochver¬
ehrte Schneiderzunft kraͤnken zu wollen, kopirte ich
das Blatt nach dem Original, das ich hier mit die¬
[359] ſem Tabaksbeutel, der dem General Rixendorf,
meinem Lehrer in der Zeichenkunſt, gehoͤrt, uͤber¬
reiche. Einige Variationen habe ich meiner ſchaf¬
fenden Fantaſie zu danken. Das Bild iſt mir
aus den Haͤnden gekommen, ich habe es weder
Jemanden ſonſt gezeigt, noch gar etwa angeheftet.
Ueber dieſen Umſtand, in dem allein die Injurie
liegt, erwarte ich den Nachweis. — Dieſen Nach¬
weis iſt die ehrſame Schneiderzunft ſchuldig geblie¬
ben und Max heute freigeſprochen worden. Daher
ſein Dank, ſeine unmaͤßige Freude.“ — Man
fand allgemein, daß doch die halb wahnſinnige Art
und Weiſe, wie Max ſeinen Dank geaͤußert, durch
die erzaͤhlten Umſtaͤnde nicht ganz motivirt werde,
nur die geheime Raͤthin Foerd ſprach mit bewegter
Stimme: „Der Juͤngling hat ein leicht verwund¬
bares Gemuͤth und ein zarteres Ehrgefuͤhl, als je
ein anderer. Koͤrperliche Strafe erdulden zu muͤſ¬
ſen haͤtte ihn elend gemacht, ihn auf immer von G.
vertrieben.“ „Vielleicht,“ fiel Willibald ein,
„liegt hier noch etwas ganz Beſonderes im Hinter¬
grunde.“ „So iſt es, lieber Willibald,“ ſprach
Rixendorf, der hineingetreten war und die Worte
der geheimen Raͤthin vernommen hatte, „ſo iſt es,
und will es Gott, ſo ſoll ſich bald alles recht hell
[360] und froͤhlich aufklaͤren.“ — Clementine fand die
ganze Geſchichte ſehr unzart. Nannette dachte gar
nichts, aber Julie war ſehr heiter geworden.
Jetzt ermunterte Reutlinger die Geſellſchaft zum
Tanze. Sogleich ſpielten vier Theorbiſten, unter¬
ſtuͤtzt von ein paar Zinken, Violinen und Baͤſſen,
eine pathetiſche Sarabande. Die Alten tanzten,
die Jungen ſchauten zu. Der Goldſtoffne zeichnete
ſich aus durch zierliche und gewagte Spruͤnge. Der
Abend ging ganz heiter hin, ſo auch der andere
Morgen. Wie geſtern ſollte auch heute Concert
und Ball den feſtlichen Tag beſchließen. Der Ge¬
neral Rixendorf ſaß ſchon am Fluͤgel, der Gold¬
ſtoffne hatte die Theorbe im Arm, die geheime Raͤ¬
thin Foerd die Partie in der Hand. Man war¬
tete nur auf die Ruͤckkehr des Hofraths Reutlinger.
Da hoͤrte man im Garten aͤngſtlich rufen und ſah
die Bedienten herausrennen. Bald trugen ſie den
Hofrath mit geiſterbleichem entſtelltem Geſicht herein,
der Gaͤrtner hatte ihn unweit des Herzpavillons in
tiefer Ohnmacht auf der Erde liegend gefunden.
— Mit einem Schrei des Entſetzens ſprang
Rixendorf auf vom Fluͤgel. Man eilte herbei mit
ſpirituoͤſen Mitteln, man fing an, dem Hofrath,
der auf einem Kanape lag, die Stirne mit koͤlni¬
[361] ſchem Waſſer zu reiben, der tuͤrkiſche Geſandte ſtieß
aber alle zuruͤck, indem er unaufhoͤrlich rief: „Zu¬
ruͤck, zuruͤck, ihr unwiſſenden ungeſchickten Leute! —
ihr macht mir den kerngeſunden, muntern Hofrath
nur matt und elend! — Damit ſchleuderte er ſeinen
Turban uͤber alle Koͤpfe weg in den Garten hinein,
den Pelz hinterher. Nun beſchrieb er mit der fla¬
chen Hand ſeltſame Kreiſe um den Hofrath, die
enger und enger werdend, zuletzt beinahe Schlaͤfe
und Herzgrube beruͤhrten. Dann hauchte er den
Hofrath an, der ſogleich die Augen aufſchlug und
mit matter Stimme ſprach: „Exter! Du haſt nicht
gut gethan mich zu wecken! — Die dunkle Macht
hat mir den nahen Tod verkuͤndet, und vielleicht
war es mir vergoͤnnt in dieſer tiefen Ohnmacht hin¬
ein zu ſchlummern in den Tod“ — „Poſſen,
Traͤumer,“ rief Exter, deine Zeit iſt noch nicht ge¬
kommen. Schau dich nur um, Herr Bruder, wo
du biſt, und ſey fein munter wie es ſich ſchickt.“ —
Der Hofrath wurde nun gewahr, daß er ſich im
Saal in voller Geſellſchaft befand. Er erhob ſich
ruͤſtig vom Kanape, trat in die Mitte des Saals,
und ſprach mit anmuthigem Laͤcheln: „Ich gab Ih¬
nen ein boͤſes Schauſpiel, Verehrte! aber an mir
lag es nicht, daß das ungeſchickte Volk mich gerade
[362] in den Saal trug. Laſſen ſie uns uͤber das ſtoͤrende
Intermezzo ſchnell hinweggehen, laſſen ſie uns tan¬
zen!“ — Die Muſik begann ſofort, aber als ſich
alles in der erſten Menuett pathetiſch wandte und
drehte, verſchwand der Hofrath mit Exter und
Rixendorf aus dem Saal. Als ſie in ein entfern¬
tes Zimmer gekommen, warf ſich Reutlinger er¬
ſchoͤpft in einen Lehnſeſſel, hielt beide Haͤnde vor's
Geſicht und ſprach mit von Schmerz gepreßter
Stimme: „O, meine Freunde! meine Freunde!“
Exter und Rixendorf vermutheten mit Recht, daß
irgend etwas Entſetzliches den Hofrath erfaßt haben
muͤſſe, und daß er ſich jetzt daruͤber erklaͤren werde.
„Sag's nur heraus, alter Freund,“ ſprach Rixen¬
dorf, „ſag's nur heraus, dir iſt, Gott weiß auf
welche Weiſe, Schlimmes im Garten begegnet.“
„Aber,“ fiel letzter ein, „ich begreife gar nicht, wie
dem Hofrath heute, und uͤberhaupt in dieſen Tagen
Schlimmes begegnen konnte, da eben jetzt ſein ſide¬
riſches Prinzip reiner und herrlicher ſich geſtaltet
als jemals.“ „Doch, doch!“ fing der Hofrath mit
dumpfer Stimme an, „Exter! es iſt bald aus mit
uns, der kecke Geiſterſeher klopfte nicht ungeſtraft
an die dunklen Pforten. Ich wiederhole es dir,
daß die geheimnißvolle Macht mich hinter den
[363] Schleier ſchauen ließ — der nahe, vielleicht graͤ߬
liche Tod iſt mir verkuͤndet.“ „So erzaͤhle nur was
dir geſchah,“ fiel Rixendorf ihm ungeduldig in die
Rede, „ich wette, daß alles auf eine wunderliche
Einbildung hinauslaͤuft, ihr verderbt Euch beide
das Leben mit Euern Fantaſtereien, Du und Exter.“


„So vernehmt es denn,“ fuhr der Hofrath
fort, indem er aufſtand von dem Lehnſtuhl, und
zwiſchen beide Freunde trat, „ſo vernehmt es denn,
was mich vor Entſetzen und Graus in tiefe Ohn¬
macht warf. Ihr hattet Euch ſchon alle in dem
Saal verſammelt, als ich, ſelbſt weiß ich nicht wo¬
durch, angetrieben wurde noch einſam einen
Gang durch den Garten zu machen. Unwillkuͤhrlich
lenkten ſich meine Schritte nach dem Waͤldchen.
Es war mir, als hoͤre ich ein leiſes, hohles Pochen
und eine leiſe klagende Stimme. — Die Toͤne
ſchienen aus dem Pavillon zu kommen — ich trete
naͤher, die Thuͤr des Pavillons ſteht offen — ich
erblicke — mich ſelbſt! — mich ſelbſt! — aber ſo
wie ich war vor dreißig Jahren, in demſelben Kleide,
das ich trug an jenem verhaͤngnißvollen Tage, als
ich in troſtloſer Verzweiflung mein elendes Leben
enden wollte, als Julie wie ein Engel des Lichts mir
erſchien im braͤutlichen Schmuck — es war ihr
[364] Hochzeitstag — die Geſtalt — ichich lag
auf dem Boden vor dem Herzen, und darauf klo¬
pfend, daß es hohl wiederhallte, murmelte ich:
Nie — nie kannſt du dich erweichen, du ſtei¬
nernes Herz! — Regungslos ſtarrte ich hin, wie
der eiskalte Tod rannte es durch meine Adern.
Da trat Julie braͤutlich geſchmuͤckt, in voller Pracht
der bluͤhendſten Jugend, aus den Gebuͤſchen hervor,
und ſtreckte voll ſuͤßen Verlangens die Arme aus
nach der Geſtalt, nach mir — nach mir dem Juͤng¬
linge! Bewußtlos ſtuͤrzte ich zu Boden!“
Der Hofrath ſank halb ohnmaͤchtig in den Lehn¬
ſtuhl zuruͤck, aber Rixendorf faßte ſeine beiden
Haͤnde, ruͤttelte ſie, und rief mit ſtarker Stimme:
„Das ſahſt Du, das ſahſt Du, Bruder, weiter
nichts? — Viktoria laß ich ſchießen aus deinen ja¬
paniſchen Kanonen! — mit Deinem nahen Tode,
mit der Erſcheinung iſt es nichts, gar nichts! Ich
ruͤttle dich auf aus deinen boͤſen Traͤumen, damit
du geneſen, und noch lange leben moͤgeſt auf Er¬
den.“ — Damit ſprang Rixendorf ſchneller, als
es ſein Alter zuzulaſſen ſchien, zum Zimmer heraus.
Der Hofrath hatte wohl wenig von Rixendorfs
Worten vernommen, er ſaß da mit geſchloſſenen
Augen. Exter ging mit großen Schritten auf und
[365] ab, runzelte mißmuͤthig die Stirn und ſprach: „Ich
wette, der Menſch will wieder alles auf gewoͤhnli¬
che Manier erklaͤren, aber das ſoll ihm ſchwer
werden, nicht wahr, Hofraͤthchen? — wir verſte¬
hen uns auf Erſcheinungen! — Ich wollt' nur,
ich haͤtte meinen Turban und meinen Pelz!“ —
Dies wuͤnſchend pfiff er ſehr ſtark auf einer kleinen
ſilbernen Pfeife, die er beſtaͤndig bei ſich trug, und
ſogleich brachte auch ein Mohr aus ſeinem Gefolge
beides, Turban und Pelz. Bald darauf trat die
Geheime Raͤthin Foerd hinein, ihr folgte der Ge¬
heime Rath mit Julien. Der Hofrath raffte ſich
auf, und in den Verſicherungen, daß ihm wieder
ganz wohl geworden, wurde er es wirklich. Er bat,
des ganzen Vorfalls zu vergeſſen, und eben wollten
alle bis auf Exter, der ſich in ſeiner tuͤrkiſchen Klei¬
dung auf's Sopha geſtreckt, und aus einer uͤbermaͤßig
langen Pfeife, deren Kopf, auf [Raͤder] geſtellt, am Bo¬
den hin und herſchurrte, Tabak ſchmauchte und Kaffee
trank, in den Saal zuruͤckkehren, als die Thuͤr aufging,
und Rixendorf haſtig hereintrat. An der Hand hielt er
einen jungen Menſchen in alttatariſcher Kleidung.
Es war Max, bei deſſen Anblick der Hofrath er¬
ſtarrte. „Sieh hier dein Ich, dein Traumbild,“
hub Rixendorf an: „es iſt mein Werk, daß mein
[366] treflicher Max hier blieb, und von deinem Kammer¬
diener aus deiner Garderobe Kleider empfing, um
gehoͤrig koſtumirt erſcheinen zu koͤnnen. Er war
es, der im Pavillon an dem Herzen kniete. — Ja,
an deinem ſteinernen Herzen, du harter unempfind¬
licher Oheim! kniete der Neffe, den du unbarm¬
herzig verſtießeſt, einer traͤumeriſchen Einbildung
halber! Verging ſich der Bruder ſchwer gegen den
Bruder, ſo hat er es laͤngſt gebuͤßt mit dem Tode
im tiefſten Elend — da ſteht die vaterloſe Waiſe,
dein Neffe — Max, wie du, geheißen, dir aͤhnlich
an Leib und Seele, wie der Sohn dem Vater — tapfer
hielt ſich der Knabe, der Juͤngling auf den Wellen
des brauſenden Lebensſtroms empor — da — nimm ihn
auf — erweiche dein Herz! — reiche ihm die
wohlthaͤtige Hand, daß er eine Stuͤtze habe, wenn zu
ſehr der Sturm auf ihn einbricht.“ — In demuͤthiger
gebeugter Stellung, heiße Thraͤnen in den Augen,
hatte ſich der Juͤngling dem Hofrath genaͤhert. Der
ſtand da geiſterbleich, mit blitzenden Augen, den
Kopf ſtolz in die Hoͤhe geworfen, ſtumm und ſtarr,
aber ſo wie der Juͤngling ſeine Hand erfaſſen wollte,
wich er, ihn mit beiden Haͤnden von ſich abwehrend,
zwei Schritte zuruͤck, und rief mit fuͤrchterlicher
Stimme: Verruchter — willſt du mich mor¬
[367] den? — „Fort — aus meinen Augen, ja du
ſpielſt mit meinem Herzen, mit mir! — Und auch
du Rixendorf verſchworen zum laͤppiſchen Puppen¬
ſpiel, das ihr mir auftiſcht? — fort — fort aus
meinen Augen — dudu, der du zu meinem
Untergange geboren — du Sohn des ſchaͤndlichſten
Ver —“ „Halt ein, brach Max ploͤtzlich los, indem
Zorn und Verzweiflung gluͤhende Blitze aus ſeinen
Augen ſchoſſen, halt ein, unnatuͤrlicher Oheim —
herzloſer, unnatuͤrlicher Bruder. Schuld auf Schuld,
Schande und Schmach haſt du auf meines armen
ungluͤcklichen Vaters Haupt gehaͤuft, der verderbli¬
chen Leichtſinn, aber nie Verbrechen in ſich hegen
konnte! — Ich wahnſinniger Thor, daß ich
glaubte, jemals dein ſteinernes Herz ruͤhren, jemals,
mit Liebe dich umfangend; meines Vaters Vergehen
ſuͤhnen zu koͤnnen! — Elend — verlaſſen von aller
Welt, aber an der Bruſt eines Sohnes hauchte
mein Vater ſein muͤhſeliges Leben aus — „Max! —
ſey brav! — ſuͤhne den unverſoͤhnlichen Bruder —
werde ſein Sohn,“ das war das Letzte, was er ſprach —
Aber du verwirfſt mich, ſo wie du alles verwirfſt,
was ſich dir naht mit Liebe und Ergebung, waͤhrend
der Teufel ſelbſt dich mit truͤgeriſchen Traͤumen um¬
gaukelt. — Nun, ſo ſtirb denn einſam und verlaſ¬
A a[368] ſen! — Moͤgen habſuͤchtige Diener auf deinen
Tod lauern und ſich in die Beute theilen, wenn
du kaum die lebensmuͤden Augen geſchloſſen — ſtatt
der Seufzer, ſtatt der troſtloſen Klagen derer, die
dir mit treuer Liebe bis in den Tod anhaͤngen woll¬
ten, magſt du ſterbend das Hohngelaͤchter, die
frechen Scherze der Unwuͤrdigen hoͤren, die dich
pflegten, weil du ſie bezahlteſt mit ſchnoͤdem Gol¬
de! — Niemals, niemals ſiehſt du mich wieder!“ —
Der Juͤngling wollte zur Thuͤre hinausſtuͤrzen, da
ſank Julie laut ſchluchzend nieder, ſchnell ſprang
Max zuruͤck, fing ſie in ſeinen Armen auf, und hef¬
tig ſie an ſeine Bruſt druͤckend, rief er mit dem herz¬
zerreißenden Ton des troſtloſeſten Jammers: „O Ju¬
lie, Julie, alle Hoffnung iſt verloren!“ — Der Hof¬
rath hatte da geſtanden, zitternd an allen Gliedern,
ſprachlos — kein Wort konnte ſich entwinden den
bebenden Lippen, doch als er Julien in Maxens Ar¬
men ſah, ſchrie er laut auf, wie ein Wahnſinniger.
Er ging mit ſtarkem kraͤftigen Schritt auf ſie los,
er riß ſie von Maxens Bruſt hinweg, hob ſie hoch
in die Hoͤhe und frug kaum vernehmbar: „Liebſt du
dieſen Max, Julie?“ — „Wie mein Leben“ erwie¬
derte Julie voll tiefen Schmerzes, „wie mein Leben.
Der Dolch, den ſie in ſein Herz ſtoßen, trift auch
[369] das meine!“ — Da ließ ſie der Hofrath langſam her¬
ab, und ſetzte ſie behutſam nieder in einen Lehnſtuhl.
Dann blieb er ſtehen, die gefaltenen Haͤnde an die
Stirn gedruͤckt. — Es war todtenſtill rings um¬
her. — Kein Laut — keine Bewegung der Anwe¬
ſenden! — Dann ſank der Hofrath auf beide Knie.
Lebensroͤthe im Geſicht, helle Thraͤnen in den Au¬
gen hob er das Haupt empor, beide Arme hoch aus¬
geſtreckt zum Himmel, ſprach er leiſe und feierlich:
„Ewig waltende unerforſchliche Macht dort oben, das
war dein Wille, — Mein verworrenes Leben nur
der Keim, der im Schooß der Erde ruhend, den
friſchen Baum emportreibt mit herrlichen Bluͤthen
und Fruͤchten? — O Julie, Julie! — o ich armer
verblendeter Thor“ — Der Hofrath verhuͤllte ſein
Geſicht, man vernahm ſein Weinen. — So dauerte
es einige Sekunden, dann ſprang der Hofrath ploͤtz¬
lich auf, ſtuͤrzte auf Max, der wie betaͤubt da ſtand,
los, riß ihn an ſeine Bruſt, und ſchrie, wie außer
ſich: „Du liebſt Julien, du biſt mein Sohn — nein
mehr als das, du biſt ich ich ſelbſt — Alles gehoͤrt
dir — du biſt reich, ſehr reich — du haſt ein Land¬
gut — Haͤuſer, baares Geld — laß mich bei dir
bleiben, du ſollſt mir das Gnadenbrot geben in mei¬
nen alten Tagen — nicht wahr, du thuſt das? —
Aa 2[370] Du liebſt mich ja! — nicht wahr, du mußt mich
ja lieben, du biſt ja ich ſelbſt — ſcheue dich nicht
vor meinem ſteinernen Herzen, druͤcke mich nur feſt
an deine Bruſt, deine Lebenspulſe erweichen es ja! —
Max — Max mein Sohn — mein Freund, mein
Wohlthaͤter!“ — So ging es fort, daß allen vor
dieſen Ausbruͤchen des uͤberreizten Gefuͤhls bange
wurde. Rixendorf, dem beſonnenen Freunde, ge¬
lang es endlich, den Hofrath zu beſchwichtigen,
der, ruhiger geworden, nun erſt ganz einſah, was
er an dem herrlichen Juͤnglinge gewonnen, und
mit tiefer Ruͤhrung gewahrte, wie auch die
Geheime-Raͤthin Foerd in der Verbindung ihrer
Julie mit Reutlingers Neffen das neue Aufkeimen
einer alten verlornen Zeit erblickte. Großes
Wohlgefallen aͤußerte der Geheime-Rath, der viel
Tabak ſchnupfte und ſich in wohlgeſtelltem nationell
ausgeſprochenem Franzoͤſiſch daruͤber ausließ. Zu¬
foͤrderſt ſollten nun Juliens Schweſtern von dem
Ereigniß benachrichtigt werden, die waren aber nir¬
gends aufzufinden. Nannettens halber hatte man
ſchon in allen großen japaniſchen Vaſen, die in dem
Veſtibule herumſtanden, nachgeſehen, ob ſie, zu ſehr
ſich uͤber den Rand beugend, vielleicht hineingefallen,
aber vergebens, endlich fand man die Kleine unter
[371] einem Roſenbuͤſchchen eingeſchlafen, wo man ſie nur
nicht gleich bemerkt, und eben ſo holte man Clemen¬
tinen in einer entfernteren Allee ein, wo ſie dem ent¬
fliehenden blonden Juͤngling, dem ſie vergebens
nachgeſetzt, eben mit lauter Stimme nachrief: „O
der Menſch ſieht es oft ſpaͤt ein, wie ſehr er geliebt
wurde, wie vergeßlich und undankbar er war und
wie groß das verkannte Herz!“ — Beide Schwe¬
ſtern waren etwas mißmuͤthig uͤber die Heirath der
juͤngern, wiewohl viel ſchoͤneren und reizenderen
Schweſter, und vorzuͤglich ruͤmpfte die ſchmaͤhſuͤchti¬
ge Nannette das kleine Stuͤlpnaͤschen; Rixendorf
nahm ſie aber auf den Arm und meinte, ſie koͤnnte
wohl einmahl einen viel vornehmeren Mann mit
einem noch ſchoͤneren Gute bekommen. Da wurde
ſie vergnuͤgt und ſang wieder: „Amenez vos
troupeaux bergeres
!“ Clementine ſprach aber
ſehr ernſt und vornehm: „In der haͤuslichen Gluͤck¬
ſeligkeit ſind die windſtillen, zwiſchen vier engen
Waͤnden vorgetriebnen bequemen Freuden nur der
zufaͤlligſte Beſtandtheil: ihr Nerven- und Lebensgeiſt
ſind die lodernden Naphtaquellen der Liebe, die aus
den verwandten Herzen in einander ſpringen.“ —
Die Geſellſchaft im Saal, die ſchon Kunde bekom¬
men von den wunderlichen aber froͤhlichen Ereig¬
[372] niſſen, erwartete mit Ungeduld das Brautpaar, um
mit den gehoͤrigen Gluͤckwuͤnſchen losfahren zu koͤn¬
nen. Der Goldſtoffne, der am Fenſter alles
angehoͤrt und angeſchaut, bemerkte ſchlau: „Nun
weiß ich, warum der Ziegenbock dem armen Max ſo
wichtig war. Haͤtte er einmahl im Gefaͤngniß ge¬
ſteckt, ſo war durchaus an keine Ausſoͤhnung zu den¬
ken.“ Alles applaudirte dieſer Meinung, wozu Wil¬
libald die Loſung gab. Schon wollte man fort aus
dem Nebenzimmer in den Saal, als der tuͤrkiſche
Geſandte, der ſo lange auf dem Sopha geblieben,
nichts geſprochen‚ ſondern nur durch Hin und Her¬
rutſchen und durch die ſeltſamſten Grimaſſen ſeine
Theilnahme zu erkennen gegeben hatte, wie toll auf¬
ſprang und zwiſchen die Brautleute fuhr: „Was
— was,“ rief er, „nun gleich heirathen, gleich hei¬
rathen? — Deine Geſchicklichkeit, deinen Fleiß in
Ehren, Max! aber du biſt ein Kiek-in-die-Welt, oh¬
ne Erfahrung, ohne Lebensklugheit, ohne Bildung.
Du ſetzeſt deine Fuͤße einwaͤrts und biſt grob in dei¬
nen Redensarten wie ich vorhin vernommen, als
du deinen Oheim den Hofrath Reutlinger Du nann¬
teſt. Fort in die Welt! — nach Conſtantinopel!
— da lernſt du alles was du brauchſt fuͤr's Leben —
dann kehre wieder und heirathe getroſt mein liebes
[373] holdes Kind, das ſchoͤne Julchen.“ Alle waren ganz
erſtaunt uͤber Exters ſeltſames Begehren. Der
nahm aber den Hofrath auf die Seite; beide ſtell¬
ten ſich gegen uͤber, legten einander die Haͤnde auf
die Achſeln und wechſelten einige arabiſche Worte.
Darauf kam Reutlinger zuruͤck, nahm Maxens
Hand und ſprach ſehr mild und freundlich: „Mein
lieber guter Sohn, mein theurer Max, thue mir
den Gefallen und reiſe nach Conſtantinopel, es
kann hoͤchſtens ſechs Monate dauern, dann richte
ich hier die Hochzeit aus!“ — Aller Proteſtatio¬
nen der Braut unerachtet mußte Max fort nach
Conſtantinopel.


Nun koͤnnte ich, ſehr geliebter Leſer! wohl
fuͤglich meine Erzaͤhlung ſchließen, denn du magſt
es dir vorſtellen, daß Max, nachdem er aus Con¬
ſtantinopel, wo er die Marmorſtufe, wohin der
Seehund Extern das Kind apportirt, nebſt vielem
andern Merkwuͤrdigen geſchaut hatte, zuruͤckgekehrt
war, wirklich Julien heirathete, und verlangſt wohl
nicht noch zu wiſſen, wie die Braut geputzt war
und wie viel Kinder das Paar bis jetzt erzeugt
hat. Hinzuſetzen will ich nur noch, daß am Ta¬
ge Mariaͤ Geburt des Jahres 18— Max und
[374] Julie einander gegenuͤber im Pavillon bei dem
rothen Herzen knieten. Haͤufige Thraͤnen fielen
auf den kalten Stein, denn unter ihm lag das
Ach! nur zu oft blutende Herz des wohlthaͤtigen
Oheims. Nicht um des Lord Horions Grabmal
nachzuahmen, ſondern weil er des armen Onkels
ganze Lebens- und Leidensgeſchichte darin ange¬
deutet fand, hatte Max mit eigner Hand die Wor¬
te in den Stein gegraben:


Es ruht!

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Nachtstücke. Nachtstücke. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnvn.0