Erinnerungen
an
junge Prediger.
einigen Erläuterungen,
bey Anlaſs
einer öffentlichen Prüfung
bey Joſeph Lentner, Buchhändler.
1791.
[][]
Præſentem Diſſertationem de Requiſitis in
Prædicatore Verbi Dei etc. a P. R. D. Mi-
chaele Sailer, Ss. Theol. Doctore, \& in Uni-
verſitate Dilingana Theologiæ Paſtoralis Pro-
feſſore editam, eoquod nihil contra catholi-
cam fidem, \& ſanam Morum doctrinam con-
tineat, Clericisque univerſim, præcipue vero
Verbi Dei Prædicatoribus utilifſima ſit, typo
digniſſimam cenſeo. Auguſtæ Vindelicorum
die 13 Julii Anno 1791.
Imprimatur.
Datum ex Revdmo Vicariatu.
Auguſt. Vindelicor. 13. Julii
Anno 1791.
Thomas Joſephus
de Haiden, J. U. D.
Eminentiſſ. \& Sereniſſimi
D. D. Archiepiſcopi, \& Ele-
ctoris Trevirenſis, Epiſcopi
Auguſtani \&c. Conſiliarius
intimus, Provicarius gene-
ralis, Vice-Officialis. \& Ca-
nonicus Eccleſ. Colleg. ad
S. Gertrudem.
Joſeph. Anton. Steiner,
SS. Theol. Doctor, Eminen-
tiſſ. ac Sereniſſ. Elect. Ar-
chiepiſc. Trevirenſ. Epiſcopi
Auguſtani Conſil. Eccleſ.
Major Pœnitentiarius, Con-
ſiſtorii Aſſeſſor, Viſitator
Generalis, ad inſign. Colleg.
S. Mauritii Canonicus, \&
librorum Cenſor.
[]
Und das iſt ſein Gebot, daſs wir an den
Namen ſeines Sohnes, Jeſu Chriſti, glau-
ben, und uns untereinander lieben.
(I. Joh. III. 23.)
[]
An
junge Prediger.
Es war einer ihrer Wünſche, daſs die freund-
lichen Räthe, die ich Ihnen in Hinſicht auf
das Predigtamt theils in öffentlichen Vorle-
ſungen, theils im täglichen Umgange mit Ih-
nen, bey mancherley Anläſſen, nach der Fülle
meiner Ueberzeugung gegeben habe, geſammelt,
in eine leichte Ordnung gebracht, zum beque-
mern Gebrauche kurz geſaſst, und für Unge-
übte hie und da erläutert werden möchten.
)( 3Zu
[]
Zu dieſem Wunſche kam noch ein Auf-
trag über einen wichtigen Gegenſtand aus dem
Paſtoralfache eine Abhandlung, nach dem Be-
dürfniſſe der Zeit, zu ſchreiben.
Jenem Wunſche und dieſem Auftrage, da
beyde von der lautern Begierde zu nützen
abſtammen, wollte ich durch die „Kurzge-
faſsten Erinnerungen an junge Prediger,“
denen ich einige Erläuterungen beygefügt habe, ein
Genüge thun.
Der groſſe Hausvater, deſſen Eigenthum
der Acker und die Aernte iſt, ſegne dieſe Ar-
beit, daſs keine Pflanze, die ſeine Hand ge-
pflanzt, dadurch Schaden leide, und keine,
die ſeine Hand nicht gepflanzt, dadurch ge-
gen ſeinen Willen in ihrem Wachsthum ge-
fördert werde!
Das
[]
Das Wichtigſte, was junge Prediger als
Prediger [denn das Predigtamt iſt, wie jeder-
mann weiſs, nur Ein Theil der ganzen, groſ-
ſen Seelenſorge], zu ihrem ſteten Augenmer-
ke, beſonders in unſern Tagen machen ſoll-
ten, liegt in der Aufgabe:
- Was und wie ſoll der chriſtliche Pre-
diger überhaupt lehren? - Wie ſoll er insbeſondere Moral pre-
digen? - Wie heiſſen denn die ſchädlicheren
Fehler, die er als Prediger zu
vermeiden hat, um der Würde
ſeines Berufes und den Bedürf-
niſſen ſeiner Zeit ein Genüge zu
thun?
Dieſe
[]
Dieſe Aufgabe ſoll für Leſer, die die
nöthigen Vorerkenntniſſe haben, und nur an
das Wichtige erinnert werden wollen, mit
geringem Wortaufwand gelöſet, und für
Ungeübtere ausführlich erläutert werden.
‘In neceſſariis unitas:
In dubiis libertas:
In omnibus caritas.’
(Auguſtinus.)
[[1]]
Erſter Abſchnitt:
Was und wie der Prediger überhaupt lehren
ſolle.
I.
Das (*), was der Prediger lehret, ſoll ihm
- 1) Wahrheit,
- 2) religiöſe Wahrheit,
- 3) recht wichtige und gemeinnützliche, alſo
entweder zum Weſen des Chriſten-
thums und der Gottſeligkeit gehörige,
oder wenigſt mit demſelben wohlthätig
verbundene Wahrheit, - 4) Den Faſſungskräften und den Bedürfniſ-
ſen, wie auch den gerechten Erwartun-
gen der Gemeine angemeſſene Wahrheit
und ‒ - 5) was das allerſchwerſte und allerſelten-
ſte iſt, in Fleiſch und Blut des Pre-
digers verwandelte, das heiſst, zu ſei-
nem Eigenthum bereits gewordene und
aus ſeinem Eigenthum hervorgedrungene
Wahrheit ſeyn.
Dieſe
A
[2]
Dieſe Begränzung des Predigtſtoffes, denke ich, wird
jedem, der den Beruf des chriſtlichen Predigers kennt,
gerade ſo, wie dieſer Beruf ſelbſt, einleuchten.
Der Prediger iſt, ſeinem Berufe nach, erſtens: ein
Zeuge der Wahrheit: und ein Zeuge der Wahrheit
ſoll doch nur von der Wahrhelt zeugen. Alſo kann
man von keinem Prediger weniger fodern, als: Was
du ſagſt, ſey dir Wahrheit.
Der Prediger legt, nach ſeiner Beſtimmung, zwey-
tens: ein Zeugniſs von der Wahrheit ab, um ſeine Hö-
rer näher zum Gut- und Wohlſeyn, und eben deſswe-
gen zur Quelle alles Guten und Wahren — zu Gott
zu führen. Er wird uns alſo doch Religion, das heiſst,
unſer wahres Verhältniſs zu Gott kennen, und in
allem, was wir denken und wollen, thun und leiden,
und gegen alle, uns und andere Menſchen, behau-
pten lehren — religiöſe Wahrheit verkünden.
Der chriſtliche Prediger iſt drittens: ein Evangeliſt
Jeines Volkes, iſt nach dem Sinn des Apoſtels ein Oeko-
nom im Hauſe Gottes, und nach dem Gleichniſſe unſers
Herrn, ein Säemann des göttlichen Samens.
Ein chriſtlicher Prediger wird alſo 1) als Evangeliſt
die froheſte Botſchaft an die Menſchen bringen, die an
ſie gebracht werden kann — die Botſchaft von der Ver-
zeihung aller Sünden. So predigte Petrus: Apoſtelg.
X. 34-43. Und Er, (Jeſus, den Gott mit ſeinem hei-
ligen Geiſt geſalbet, der wohlthuend umhergezogen,
und
[3] und alle geſund gemacht, die vom Satan gedrückt wa-
ren, den ihr ans Kreuz geſchlagen und getödtet, den
aber Gott am dritten Tage auferweckt und vor uns of-
fenbart hat) dieſer Jeſus gab uns den Auftrag, dem Vol-
ke zu predigen und zu bezeugen, daſs Er es iſt, den
Gott zum Richter der Lebendigen und Todten beſtellt
hat. Dieſem geben alle Propheten Zeugniſs, daſs alle,
die an Ihn glauben, auf ſeinen Namen hin Verzeihung
ihrer Sünden erhalten. Daſs die übrigen Apoſtel die
nämliche Botſchaft an die Menſchen brachten, bedarf
keines Beweiſes. Daſs aber dieſe Botſchaft für Sünder
die froheſte ſey, wird kein Menſch läugnen wollen, der
ſich unter die Sünder zählen muſs; und wer muſs ſich
nicht darunter zählen?
Ein chriſtlicher Prediger wird alſo 2) als Oekonom
im Hauſe Gottes nicht geſchehen laſſen, daſs jemand ei-
nen andern Grund in der Kirche, in dem Hauſe Gottes,
legen wolle, als der da gelegt iſt, und der der einzige
wahre Grund iſt, auſſer dem und ohne den kein Heil
iſt. Dieſen Grund wollte Petrus gelegt wiſſen:
Apoſtg. IV. 11. 12. „Dieſer, (Jeſus) den Gott von den
Todten auferweckt, dieſer iſt der Stein, den ihr Bau-
leute verworfen habt, und der zum Eckſtein gewor-
den iſt, und es iſt in keinem andern Heil, und es iſt den
Menſchen kein anderer Namen gegeben, in dem wir ſe-
lig werden können.“ Dieſen Grund wollte Paulus
gelegt wiſſen: „Wir ſind Gottes Mitarbeiter, ihr ſeyd
Gottes Acker, Gottes Gebäude. Nach der Gnade Got-
tes, die mir gegeben worden, habe ich als ein weiſer
Baumeiſter das Fundament gelegt. Ein anderer bauet
A 2nur
[4] nur darauf fort. Es ſehe aber jeder zu, was und wie
er darauf baue. Denn ein anders Fundament, als bereits
gelegt iſt, (und dieſes Fundament iſt Jeſus Chriſtus)
kann niemand legen.“ I. Cor. III. 9-11. Dieſen Grund
wollten mit Auguſtinus alle Chriſtenlehrer gelegt
wiſſen, die nicht etwa die Thorheit begiengen, das alte
Fundament verdrängen, und ihre erſonnenen Begriffe
an die Stelle des alten Fundaments einſchieben zu wol-
len. „Das gewiſſe und eigenthümliche Fundament des
katholiſchen Glaubens iſt Chriſtus: denn ein anders Fun-
dament, ſagt der Apoſtel, als das bereits gelegt iſt,
welches Chriſtus iſt, kann niemand legen.“ Certum
vero propriumque fidei catholicæ fundamentum Chri-
ſtus eſt: fundamentum enim aliud, ait Apoſtolus, ne-
mo poteſt ponere præter id, quod poſitum eſt, quod eſt
Jeſus. Chriſtus. Enchiridion C. II. n. 6. Wer alſo ent-
weder ein ſelbſt gemachtes Vernunftbild, oder eine
ſelbſterzeugte Tugend zum Fundamente ſeines Unter-
richtes und des Menſchenheils legt, der legt einen an-
dern Grund, als den Gott gelegt, und den die weiſen
Bauverſtändige nach Gottes Muſter und Willen auch ge-
legt haben, kann alſo meinetwegen ſchön reden, aber
offenbar nicht — chriſtlich predigen.
Ein chriſtlicher Prediger wird alſo 3) als Säemann
des göttlichen Samens, nach der Lehre und dem Bey-
ſpiele Jeſu, als ſein Jünger und Mitarbeiter, und nach
der Lehre und dem Beyſpiele der Apoſtel Jeſu, als ihr
treuer Nachfolger, göttlichen Samen auf das Land
ſtreuen.
Wer
[5]
Wer Gottes Wort lehret, wird z. B. von Gott
lehren, was Jeſus(*) von Ihm lehrte: daſs Gott ein
Geiſt ſey, und ſolche Anbeter ſuche, die Ihn in dem
Geiſt und in der Wahrheit anbeten, daſs Er der Al-
leingute ſey, und über alles und in allem und mit aller
Kraft der Seele ſolle geliebt werden. Joh. IV. 24.
Mark. X. 18. XII. 30.
Wer Gottes Wort lehrt, wird von dem himmli-
ſchen Vater lehten, was Jeſus lehrte: daſs der Vater
die Menſchen lieb habe, ihre Bedürfniſſe kenne, ihre
Gebete erhöre, ihre Sünden verzeihe, und ſeinen Ein-
gebohrnen aus Liebe für ſie gegeben habe. Matth. VI. 9.
VII. 11. Luk. XV. 11—32. Joh. IV. 9.
Wer Gottes Wort lehrt, wird von Jeſus
lehren, was Jeſus von ſich ſelbſt lehrte: nämlich,
daſs Er in der allervollkommenſten Einigung mit dem
Vater und in der allergenaueſten Verbindung mit
den Menſchen ſtehe, d. h. daſs Er Gottes wahrer
Sohn, Eins mit dem Vater, und ein Gegenſtand der
Verehrung wie der Vater, und zugleich unſer Licht,
unſre Nahrung, unſer Lehrer, unſer Beyſpiel, unſer
Hirt, unſer Erlöſer, unſre Wahrheit, unſre Stärke und
unſer Leben ſey; daſs ſein Daſeyn Ewigkeit und Zeit,
Zeit und Ewigkeit umfaſſe, d. h. daſs Er vor Grundle-
gung der Welt, Herrlichkeit in dem Schooſſe des Va-
A 3ters
[6] ters gehabt habe, von dem Vater geſendet auf die Erde
gekommen ſey, auf Erde alle Aufträge des Vaters zum
Wohl der Menſchen mit vollkommenſter Treue voll-
bracht habe, durch Leiden, Tod und Auferſtehung in
ſeine Herrlichkeit eingehen müſſen, und einſt wieder-
kommen werde, die Todten zu erwecken, und die Gu-
ten von den Böſen zu ſondern. Joh. IX. 35-37. X. 30.
V. 23. 24. VIII. 12. VI. 35. Matth. XVII. 5. Joh. XIII.
14. 15. X. 14. 15. III. 17. XIV. 6. XV. 5. XIV. 6.
XVII. 5. XII. 49. 50. XIV. 31. Luk. XVIII. 31-34.
Joh. XIV. 3. XVI. 7-16. Luk. XXVI. 46. Matth.
XXIV. 29. 30. Joh. V. 28. 29. Matth. XXV. 30-46.
Wer Gottes Wort lehrt, wird von dem heiligen
Geiſte lehren, was Jeſus von Ihm lehrte: daſs der hei-
lige Geiſt der Geiſt der Wahrheit ſey, den die
Welt nicht empfangen könne, und der bey den Jün-
gern Jeſu ſey und bleibe; daſs Er ein Zeuge von
Jeſus und ein Dolmetſcher ſeiner Lehre, ein Ankün-
der der Zukunft, und ein Lehrer aller Wahrheit, ein
Verklärer unſers Herrn und ein ſtrafender Ueberzeuger
der Welt ſey; daſs Ihn der Vater denen geben werde,
die darum bitten; daſs ſich ohne Ihn keine Umſchaf-
fung des Menſchen zum Guten, und ohne dieſe Um-
ſchaffung kein Antheil am Reiche Gottes hoffen laſſe.
Joh. XIV. 16. 17. 26. XV. 26. XVI. 7-15. Luk. XI. 13.
Joh. III. 5.
Wer Gottes Wort lehrt, wird von dem Men-
ſchen, ſeinen Schickſalen, ſeiner Beſtimmung,
ſeinen Pflichten, ſeinen Verirrungen, ſeinen be-
ſten
[7] ſten Hoffnungen lehren, was Jeſus davon lehrte:
daſs die Erde ein Acker, und auf dieſem guter Same
und Unkraut geſäet ſey; daſs das Gute eine Ausſaat
des Menſchenſohnes, das Böſe eine Ausſaat des Teufels
ſey; daſs Gutes und Böſes miteinander fortwachſen
werde, bis das Ende der Welt, der groſſe Aerntetag
kommen, und die Engel als Schnitter, die böſen Men-
ſchen in den Feuerofen werfen, und die Guten in Got-
tes Scheunen ſammeln werden; Matth. XIII. 24-44.
daſs die Vollkommenheit des himmliſchen Vaters der
Maaſsſtab der menſchlichen, und unſre Beſtimmung
nichts geringers ſey, als lebendige Ebenbilder Gottes
an Wahrheit und Güte, und Vorbilder der übrigen Men-
ſchen zu werden; daſs der Kinderſinn und die Sinnes-
änderung die unnachläſslichen Bedingniſſe zum Eintritte
in das Reich Gottes, Gefühl eigner Schwäche und
Dürftigkeit die Grundlage aller wahren Gröſſe, das
heiſſe Verlangen nach Gerechtigkeit ein Vorbote von
der nahen Befriedigung deſſelben, die Reinheit des Her-
zens ein Erforderniſs zum vertrauten Umgange mit
Gott, Friedensſinn ein Kennzeichen der Kinder Gottes,
Erbarmung gegen ſeines Gleichen eine Befähigung zur
Erfahrung der göttlichen, die Unvergänglichkeit das
Wahrzeichen des rechten Schatzes für den Menſchen,
Bruderliebe das Siegel der Jüngerſchaft Jeſu, das treue
Halten ſeiner Gebote der Beweis aller Liebe gegen Ihn,
das Ja und Nein die eigentliche Sprache des Chriſten,
das herzliche Wohlthun ſein einziges Vergeltungsrecht
gegen Feinde, Freygebigkeit ohne Geräuſch, Beten in
der verſchloſsnen Kammer, Faſten mit freudigem Ge-
A 4ſichte
[8] ſichte die Hinterlage auf den groffen Vergeltungstag,
und das Thun die ſichere Probe ſeiner Weisheit ſey.
Matth. V. 48. XVIII. 3. IV. 17. V. 3. 5. 8. 9. 7. VI. 19.
20. 21. Joh. XV. 10. XIII. 34. 35. Matth. V. 37. VI.
1—19. VII. 24. 25. . . . . . . . . . . . .
Daſs im Gegentheil Lüſternheit des Blickes nach einem
fremden Weibe ſchon Ehebruch, geheime Rachgier
ſchon Brudermord, und alſo das Herz eigentlich die
Quelle der Befleckungen ſey, indem von dem Herzen
böſe Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerey, Dieberey,
falſche Zeugniſſe, Läſterungen kommen; daſs ängſtli-
che Sorge um Nahrung und Kleidung, Gottesvergeſſen-
heit und Abgötterey, ſcharfes Richten fremder Splitter
nur Stoff zum ſcharfen Gerichte über uns, Sagen ohne
Thun, und Hören ohne Vollbringen eine Thorheit, die
auf Sand baut, äufferliches Faſten ohne Sinnesbeſſerung
thörichtes Aufflicken neuer Lappen auf ein altes Tuch,
herrſchende Geld- und Brodſorge das allgemeinſte Er-
ſtickungsmittel alles Tugendkeimes, die Sünde der
rechte Sklavendienſt, die Wahrheit (Joh. XIV. 6.)
die einzige Erlöſerinn aus dieſer Sklaverey, und jeder,
der Böſes thut, ein Kind ſeines Vaters ſey, deſſen, der
ein Mörder war von Beginn, und ein Lügner und ein
Vater der Lüge. Matth. V. 28. 21. 22. XV. 18. 19. VI.
25 - 33. VII. 1 - 5. 21. 26 - 29. IX. 16. XIII. 22.
Joh. VIII. 34. 32. 41. 44. 45. . . . . . . . . .
Daſs unſre Leiden, wenn wir ſie als Jünger Jeſu tragen,
nur Geburtswehen bleibender Freuden ſeyn; unſre Ge-
bete alles erflehen werden, um was wir im Sinn unſers
Herrn, und im Vertrauen auf ſeinen Namen bitten;
daſs
[9] daſs die wahren Chriſten fruchtbringende Zweige ſeyn
an dem groſſen Weinſtocke, die der Vater reiniget, da-
mit ſie immer mehr Frucht bringen; daſs alle, die den
Willen des Vaters thun, zur geheimſten Freundſchaft
mit Jeſus und mit dem himmliſchen Vater zugelaſſen,
und die ſegenvollſten Proben dieſer Vereinigung erfah-
ren werden; daſs in ihrem Innerſten das ewige Leben
hier ſchon gebohren werde, auch bey dem Sterben des
Körpers, nicht ſterben, ſondern vielmehr neulebendig
werden und ewig bleiben werde. Joh. XVI. 21. 23. XV.
1. 2. XVII. 3. vergl. mit Joh. V. 24.
Wer Gottes Wort lehret, wird lehren, was die
Apoſtel unſers Herrn nach ſeinem Lichte und mit ſeinem
Geiſte gelehrt haben, wird mit Petrus die Hoffnung
auf die Gnade bauen, die uns durch die Offenbarung
Jeſu angeboten worden, und zugleich auf heiligen
Wandel dringen nach dem Muſter deſſen, der uns be-
rufen hat und auch heilig iſt (I. Petri I. 13. 14. 15.);
wird mit Petrus zur ungefärbten Bruderliebe ermuntern,
und zugleich die Erlöſung mit dem theuren Blute des
unſchuldigen Lammes, die Auferweckung und Herr-
lichkeit unſers Herrn, und das lebendige Wort Gottes,
aus dem alle gute Menſchen gezeuget ſind, den Seinen
nahe legen (I. Pet. I. 18-25.); wird mit Petrus die Unter-
würfigkeit der Chriſten unter alle menſchliche Ordnung
einſchärfen, die edelſte Freyheit des Menſchen, ein
Knecht Gottes zu ſeyn, überall empfehlen, und zu-
gleich den Willen Gottes als ein feſtes Band aller Ord-
nung, und das Beyſpiel Jeſu als ein reines Muſter aller
Vollkommenheit darlegen (I. Pet. II. 11-25.); wird
A 5mit
[10] mit Petrus alle Gaben als ein Darlehen von Gott anſehen
lehren, womit einer dem andern dienen ſolle, und
zugleich das Ziel aller guten Haushaltung mit Gottes
Gaben, nicht auſſer Acht kommen laſſen: damit Gott in al-
len Dingen verherrlicht werde durch Jeſum Chriſtum (I. Pet.
IV. 8-11.); wird mit Petrus alle Sorge auf den werfen
lehren, der für uns alle ſorget, und zugleich wach-
ſam ſeyn gegen den, der wie ein brüllender Löwe um-
hergeht und auf den Raub lauert (I. Pet. V. 7. 8.); wird
mit Petrus die allerſchönſte Tugendlehre vortragen, daſs
wir mit dem Glauben den ſtandhaften Muth, mit dem
ſtandhaften Muth die Erkenntniſs, mit der Erkenntniſs
die Enthaltſamkeit, mit der Enthaltſamkeit die Geduld,
mit der Geduld die Gottesfurcht, mit der Gottesfurcht
die Bruderliebe, mit der Bruderliebe die allgemeine
Menſchenliebe verbinden ſollten, und zugleich die
göttliche Kraft zu dieſem göttlichen Sinn und göttlichen
Leben in Gott und Jeſus Chriſtus ſuchen und finden leh-
ren (II. Pet. I. 4-8.); wird mit Petrus das Zunehmen in
der Erkenntniſs unſers Herrn fördern, und zugleich
der Täuſchung oder Ueberredung, als wenn die ver-
heiſsne Wiederkunſt des Herrn ein frommer Traum
wäre, als einem ſchädlichen Irrthum entgegenarbeiten.
(II. Pet. III. 1-18.)
Wer Gottes Wort lehrt, wird mit Jakobus die
Menſchen aufmerkſam machen auf die Luſt, die ſie
reizt, Sünde gebiert, und durch die vollendete Sünde
den Tod, ohne doch zu vergeſſen, daſs man dem
Teufel widerſtehen müſſe, um ihn fliehen zu machen
(Jak. I. 13-15. IV. 7.); wird mit Jakobus das Glauben
ohne
[11] ohne That für nichts anders halten, als für einen Leib
ohne Geiſt, und für eine Eigenſchaft, die wir mit den
böſen Geiſtern gemein haben, und deſshalb mit allem
Nachdruck auf thätigen Glauben dringen, ohne doch
zu vergeſſen, daſs alle gute Gabe und alſo auch der
thätige Glaube von dem Vater der Lichter herabkomme
(II. 14—26. I. 16.)
Wer Gottes Wort lehrt, wird mit Paulus die
Freude, Gottes Kind zu ſeyn, obenanſetzen, aber nur
die für Gottes Kinder halten, die von Gottes Geiſte ge-
trieben werden (Röm. VIII. 15-17.); wird mit Paulus
das heilige Geſetz der Sittlichkeit für heilig halten, aber
das eiſerne Geſetz der Glieder nicht verkennen, und
den vollkommenen Sieg über dieſes Geſetz nicht von
der menſchlichen ſich ſelbſt gelaſſenen Natur, die nur
das ſchwache Wollen, aber nicht das Vollbringen in
ſich hat, ſondern von Jeſus Chriſtus, dem groſſen Welt-
überwinder erwarten (Röm. VII. 12-25.); wird mit
Paulus auch der Trübſal ſich rühmen, aber aus dem
entſcheidenden Grunde, weil die Trübſal Geduld. Ge-
duld bewährten Sinn, bewährter Sinn Hoffnung ſchafft,
und die Hoffnung nicht zu Schanden werden läſst —
ein Herz, in dem ſich die Liebe Gottes durch den heili-
gen Geiſt ergoſſen bat (Röm. V. 3-6.); wird mit Pau-
lus alle Dinge als Werkzeuge zum Beſten der Gottlie-
benden erkennen, aber bey dem Werkzeuge nicht ſte-
hen bleiben, ſondern zu der erſten Urſache aufſteigen.
die ſich ihre Freunde auserſehen und zu Ebenbildern des
Erſtgebohrnen verordnet, berufen, gerecht gemacht
und verherrlicht (Röm. VIII. 28-31.): wird mit Pau-
lus
[12] lus die Menſchen im Glauben feſt gründen, aber in ei-
nem ſolchen, der ſich durch Liebe wirkſam zeiget, und
allein gilt (Galat. V. 6.); wird mit Paulus Liebe, Liebe,
Liebe lehren, aber eine ſolche, die eine Frucht des
heiligen Geiſtes iſt (Gal. V. 22.); wird mit Johannes
Licht zu verbreiten ſuchen, aber es aus der Quelle des
des Lichts nehmen (I. Joh. I. 5. 6. 7.); wird mit Jo-
hannes feſten Sinn empfehlen, aber einen ſolchen, der
nur durch und aus Vollbringung des göttlichen Willens
werden kann (I. Joh. II. 18.); wird mit Johannes Got-
tes Erkenntniſs lehren, aber eine ſolche, die aus Gott
gebohren iſt, und durch Liebe ihre Abkunſt darthut
(I. Joh. IV. 7. 8.); wird mit Johannes überall auf inne-
re Reformation des Menſchen hin arbeiten, aber auf
die einzige Wahre, die eine neue Geburt aus Gott iſt,
und den Samen Gottes durch Gerechtigkeit und Nicht-
fündigen vor Gott und ſeinen Kindern erweiſet (I. Joh.
II. 29. III. 9. 10.); wird mit Johannes die Menſchen-
freundlichkeit Gottes darſtellen, aber vor allen, wie
ſie ſich in Sendung des Eingebohrnen ſelbſt dargeſtellt
hat (I. Joh. IV. 9.); wird mit Johannes die Seligkeit
der Kinder Gottes preiſen, aber auch die unangeneh-
me Wahrheit nicht verſchweigen, daſs es Kinder des
Teufels gebe, die Unrecht thun und ihre Brüder nicht
lieben (Joh. III. 7. 10.); wird mit Johannes gegen Men-
ſchenhaſs eifern, aber auch zugleich gegen die Welt-
liebe, weil alles, was in der Welt iſt, Fleiſchesluſt und
Augenluſt und Hoffart des Lebens iſt, und dieſs alles
aus der Welt, und nicht aus dem Vater iſt (I. Joh. II.
16. 17.); wird mit Johannes die Menſchen zum Ver-
trauen
[13] trauen auf Gott ermuntern, aber auch beſtimmt er-
klären, daſs unſer Vertrauen auf Gott nie freymüthig
werden könne, ſo lange uns unſer Herz Vorwürfe
macht (I. Joh. III. 20. 21.); wird nach der ſchönen Pa-
ſtoralvorſchrift: (Dieſs lehre, dieſs ſchärfe ihnen ein:
Wer aber anders lehrt, und den geſunden Lehren un-
ſers Herrn Jeſu Chriſti, und dem Unterrichte, der die
Gottſeligkeit zum Zwecke hat, kein Gehör giebt, der iſt
aufgeblaſen, ob er gleich nichts weiſs, und kränkelt an
Grübeley und Wortgezänke, woraus Neid. Entzweyung,
Läſterung, Argwohn und allerley Streitgeſchwätze ſol-
cher Menſchen entſtehen, die die Wahrheit nicht haben,
und aus der Gottſeligkeit eine Kram- und Gewinnſtſache
machen I. Timoth. VI. 3-6.), kein ander Chriſtenthum
lehren, als das die Wurzel der Gottſeligkeit, und
keine andere Gottſeligkeit, als die die Frucht des
Chriſtenthums iſt, und alſo überall und durchaus
auf die Hauptſache dringen, und nur das einſchärfen,
was entweder zum Weſen des Chriſtenthums und der
Gottſeligkeit als Beſtandtheil gehört, oder mit dem-
ſelben in einer wohlthätigen Verbindung ſteht.
Der Prediger iſt viertens: ein Zeuge der Wahr-
heit vor Menſchen, die nur das ſind, was ſie ſind, ihre
beſtimmten Faſſungskräfte, ihre beſtimmten Bedürfniſſe
und ihre beſtimmten Erwartungen mitbringen.
Die Wahrheit, die er ihnen vorträgt, muſs alſo
1) ihren Faſſungskräften angemeſſen ſeyn. Er
hat, wie Paulus Milch für den ſchwachen, und ſtärke-
re Speiſe für den ſtarken Magen. (I. Cor. III. 1.) Er
hat,
[14] hat, wie Paulus, Elemente für die Anfänger, und hö-
here Weisheit für die Vollkommnen. (I. Cor. II. 6.
Hebr. V. 11-34. VI. 1. 2. 3.) Und da die rechte, ſelig-
machende Wahrheit für alle und jede, für die Unge-
lehrten wie die Gelehrten iſt: ſo muſs der Lehrer, wie
Jeſus, ſeinen Zuhörer jedesmal ſo viel von ihr geben,
als ſie tragen können (Joh. XVI. 12.), und immer die
einleuchtendſten Seiten derſelben vorzeigen. Hat ſich
doch das ewige Leben, das bey dem Vater war und
für uns unſichtbar, in der menſchlichen Geſtalt und Ge-
berde und Sprache offenbaret, damit es die Menſchen
ſehen, hören, betaſten und von ihm zeugen konnten
(I. Joh. I. 1. 2. 3. 4.). Und dieſs Zeugniſs war die ei-
gentliche Predigt der Apoſtel: wir haben Ihn ge-
hört, geſehen. Da wir nun dieſs Zeugniſs der Apo-
ſtel nicht wörtlich nachſagen können: wir haben
Ihn gehört, geſehen: ſo ſollen wir wenigſt die
Menſchen auf das Zeugniſs der Apoſtel aufmerkſam
machen; ſollen nach dem Beyſpiele der Apoſtel die
Wahrheit von der Seite zeigen, von welcher ſie am
meiſten Licht für unſre Augen hat; ſollen die göttli-
che Vollkommenheit nicht wie ſie ſich in unzugäng-
licher Tiefe verliert, ſondern wie ſie ſich in Chriſtus
zugänglich gemacht hat, uns und unſern Zuhörern dar-
zuſtellen ſuchen. Und wenn dieſes von allen Men-
ſchen gilt, um wie viel mehr von dem Volke, dem
eigentlichen Publikum der Prediger? Wenn jedes
Menſchenwort den Zweck hat oder haben ſoll, ver-
ſtanden zu werden: um wie vielmehr eine Rede an
Viele über ihre allerwichtigſte Angelegenheit — eine
Predigt?
[15] Predigt? Und, wenn das „verſtanden werden“ offen-
bar von der Fähigkeit zu verſtehen — von der Faſ-
ſungskraft abhängt: ſo kann ſich der Prediger wohl
nicht zu oft fragen, nicht bloſs: verſtehe ich mich
auch? ſondern: verſteht mich auch mein Volk?
Die Wahrheit, die der Prediger vorträgt, muſs
2) den geiſtigen Bedürfniſſen ſeiner Zuhorer an-
gemeſſen ſeyn. Man kann ſie, in dieſer Hinſicht, be-
quem in drey Klaſſen theilen. Einige dienen noch blind
und kalt der Sünde, und dieſe bedürfen aus ihrem To-
desſchlummer aufgeweckt zu werden. Andere ſind
aufgeweckt, und kämpfen mit ſich und der Sünde, und
dieſe bedürfen zum ferneren Streite angeleitet und ge-
ſtärkt zu werden. Wieder andere haben ſich bis zur
Tugend durchgekämpft, können aber unter dem Dru-
cke der Leiden in ihrer Lage keinen Troſt finden, und
dieſe bedürfen getröſtet zu werden. Es wird alſo der
Prediger ſeine Belehrungen ſo einrichten, daſs ſie we-
cken, was ſchläft, ſtärken, was ſinkt, und tröſten,
was nach Troſt ſchmachtet. Es hat das göttliche Ev-
angelium Kraft genug zu wecken, zu ſtärken, zu trö-
ſten. Wohl uns, wenn daſſelbe zuerſt den Prediger
geweckt, geſtärkt und getröſtet hat, und durch ihn
Weckſtimme, Stärkungsmittel und Troſtquelle für an-
dere wird! „Es iſt ein Vater im Himmel, der die
Liebe und Erbarmung ſelbſt iſt; ein Freund, der für
uns aus Liebe ſtarb, nachdem Er uns das Gute durch
Lehre und Wandel vorgezeichnet hat, und ein Rich-
ter, der jedem nach ſeinen Werken vergelten wird;
ein heiliger Geiſt, der uns das Gute recht kennen lehrt
und
[16] und vollbringen hilft, wenn wir uns ſeiner Gabe fähig
machen, und mit ihr muthig arbeiten.“ Dahin weiſet
uns unſer Evangelium, und ich glaube, da kann es an
Kraft zu wecken, zu ſtärken, zu tröſten nicht fehlen.
Die Wahrheit, die der Prediger vorträgt, muſs
3) den gerechlen Erwartungen ſeiner Zuhörer angemeſ-
ſen ſeyn.
Daſs das Chriſtenvolk alte, apoſtoliſche Chriſten-
lehre von Chriſtenlehrern erwartet, wird wohl keine
überſpannte Erwartung heiſſen? Nachdem das Chri-
ſtenvolk in ihrem alten, öffentlichen Bekenntniſſe, das
mit dem Inhalt der Evangelien, Apoſtelgeſchichte,
apoſtoliſchen Briefe und mit den übrigen Denkmälern
der älteſten Tradition offenbar übereinſtimmt, täglich
bekennt: Ich glaube an Gott, den Vater, allmächtigen
Schöpfer Himmels und der Erde: an Jeſus Chriſtus ſei-
nen einzigen Sohn, unſern Herrn, der empfangen iſt
von dem heiligen Geiſt, gebohren aus Maria der Jung-
frau, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuziget, ge-
ſtorben und begraben, abgeſtiegen zur Hölle, am drit-
ten Tage wieder auferſtanden von den Todten, aufge-
fahren zu den Himmeln, ſitzet zur Rechten Gottes, des
allmächtigen Vaters, woher er kommen wird zu richten
die Lebendigen und die Todten: ich glaube an den hei-
legen Geiſt, eine heilige, allgemeine, chriſtliche Kirche.
Gemeinſchaft der Heiligen, Ablaſs der Sünden. Aufer-
ſtehung des Fleiſches, und ein ewiges Leben; ſo wird
das chriſtliche Volk von ſeinem Prediger wohl auch
erwarten und fodern dürfen, daſs er nicht etwa von
dem
[17] dem Vater, Sohn, Geiſte, von Jeſus Chriſtus, ſeiner
Geburt, ſeinem Tode, ſeiner Auferſtehung, ſeiner Him-
melfahrt, ſeiner Herrlichkeit, ſeiner Wiederkunft, ſei-
nem Gerichte etc. abſtrahire, ſondern den Sinn und den
Grund dieſes ſchönen Bekenntniſſes und die groſſen
Pflichten, Hoffnungen, Erwartungen, die darauf ge-
bauet ſind oder darinn liegen, mit aller Treue darlege?
Es bedarf übrigens hier nicht viel Auslegens; der
alte Sinn des Bekenntniſſes iſt ziemlich klar bis auf
das Wie, und das Wie läſst ſich gar nicht mehr ausle-
gen. Wollte man aber einen neuen Sinn hineinlegen:
ſo bedarf man zwar allerdings viel künſtliche Zwangs-
mittel: es wird aber das Chriſtenthum ſolchen Ausle-
gungen nicht viel Dank wiſſen, die den alten Sinn neh-
men, und nur curſirende Zeitmeynungen geben.
Nachdem das Chriſtenvolk das Andenken an die
Geburt, die Erſcheinung vor den Heiden, die Leiden,
das Sterben, die Auferſtehung, die Himmelfahrt und
die Geiſtesſendung Jeſu an beſtimmten Jahrtagen
feyert: ſo wird es eine billige Erwartung des Chri-
ſtenvolkes ſeyn, daſs die Prediger an dieſen Tagen
nicht von der Geſchichte Jeſu abſtrahiren, ſondern
den wohlthätigen Inhalt und groſſen Zweck der Feyer
erklären, und die Freunde und Verehrer Jeſu noch nä-
her an Ihn anſchlieſſen. Was würde aus dem Chri-
ſtenthum werden, wenn ſogar Prediger die Menſchen
von ihrem Heilande wegführten, da Sinnlichkeit und
Fleiſchesluſt und Brodſorgen und irrgegangene Speku-
lation und Thorheiten aller Art etc. geſchäfftig genug
ſind, die Menſchen von ihrem wahren Heile wegzu-
führen?
BDas
[18]
Das letzte Requiſit: Die Wahrheit, die der
Prediger lehrt, ſey ihm wie zum Eigenthum geworden.
und aus dem Eigenthum hervorgedrungen, fehlt wohl
den meiſten Predigten: darum ſind ſie auch ſo [kraftlos],
oder wirken wenigſt nicht, was Predigten wirken
könnten. Wenn der Maler in der Stunde der Begeiſte-
rung von ſeinem Gegenſtande ſpricht: ſo exiſtirt er in
ihm, und der Mund überflieſst nur von dem, wovon
ſeine Seele voll iſt. Er denkt nicht an ſich und nicht
an ſeine Zuhörer, denn er lebt nur in ſeinem Fache, und
worinn er lebt, daraus und davon ſpricht er nur. Der
Verſtand ſieht’s, und das Herz empfindt’s, was die Zun-
ge ausſpricht. Es iſt ihm nicht fremde, nicht ferne, was
er ſagt, es iſt ſein, iſt eins mit ihm, und er ſpricht aus
dem Seinen. Dieſer Maler iſt der rechte Prediger. Il
penſe, il ſent, \& la parole ſuit, ſagt Fenelon (*) von
ihm, und wuſste es aus Erfahrung, was er ſagte. Die
Predigt muſs alſo kein Kunſtgemächte, ſondern nur
aus der innern Anſchauung der Wahrheit, und aus
der lebendigen Empfindung gebohren ſeyn.
Die Predigt muſs kein Ausguſs einer fremden Seele,
ſondern ein Ausguſs der deinen ſeyn.
„Aber, wie kann religiöſe Wahrheit mein Ei-
genthum werden?“ Dieſe Frage iſt meinen Leſern
gewiſs aus ihrer Seele geholt: möchte es auch die Ant-
wort ſeyn!
II.
[19]
II.
Leſen und Hören mit leichter Anſtrengung der
Aufmerkſamkeit mag die Idee der Wahrheit
in das Gedächtniſs bringen. Forſchen,
Nachdenken, Betrachten kann ſie, die Idee
der Wahrheit, in den Verſtand bringen.
Liebe zur Wahrheit von ganzem Herzen,
Selbſtverläugnung und Reinigung des Her-
zens von Eigenliebe aller Art, und beſon-
ders von Eitelkeit, Thun des erkannten Wah-
ren und Treuſeyn im Kleinen, Erfahrung
und Trübſal, Gebet und der göttliche Licht-
ſtral, der jedem gegeben wird, der darum
bittet und ſich deſſelben fähig macht, bringen
die Wahrheit in den innerſten Grund alles
menſchlichen Lebens hinein. Wer aus die-
ſem innerſten Grunde redet, iſt ein Pre-
diger, wer aus dem Verſtande, ein Pro-
feſſor, und wer bloſs aus dem Gedächt-
niſſe, ein Schwätzer.
B 2Es
[20]
Es iſt mit der Wahrheit für unſre Seele, wie
mit der Speiſe für unſern Körper. So lange die Speiſe
noch im Speiſegewölbe aufbehalten wird, nährt ſie
nicht. Wenn ſie im Munde zertheilt wird, nährt ſie
noch nicht. Auch ſo lange ſie im Magen erſt verar-
beitet wird, nährt ſie noch nicht. Aber wenn die
nährenden Theile der Speiſe in Milchſäfte aufgelöſet,
und dieſe in Blut übergegangen ſind: dann nährt die
Speiſe, dann wird ſie unſer Fleiſch. So kann die Idee
der Wahrheit in Büchern aufbehalten werden, und
nährt uns nicht. Sie kann im Gedächtniſſe, wie ein
müſſiges Hausgeräth im Winkel eines Zimmers, hän-
gen, und nährt uns noch nicht. Sie kann ſelbſt von
dem Verſtande auf mancherley Weiſe verarbeitet wer-
den, und nährt uns noch nicht. Aber wenn ſie, die
Wahrheit, nach der beſten Erkenntniſs, die wir von
derſelben haben, von dem Willen geliebt, ange-
wandt und ein Prinzip unſers ganzen Verhal-
tens wird: dann lebt ſie in uns, und nährt und
ſtärkt den menſchlichen Geiſt. Was bloſs im Gedächt-
niſſe aufbehalten wird und nicht vom Verſtande durch-
gedacht iſt, wird gar bald von andern Begriffen und
Leidenſchaften verdrängt, iſt nicht recht unſer. Was
auch vom Verſtande gedacht, aber noch nicht der
Schatz des Herzens geworden iſt, kann von dem,
was der Schatz des Herzens iſt, gar leicht verdrängt
werden, kann wenigſt von allem thätigen Einfluſſe
auf das Herz ausgeſchloſſen werden, iſt nicht ganz
unſer.
[21] unſer. Aber, was die Seele unſrer Seele geworden
iſt, d. h. unſre Seele belebt, wie dieſe den Leib: das
iſt ganz unſer.
Ganz unſer kann die Wahrheit nicht werden,
wenn wir 1) ſie nicht von ganzem Herzen lieben.
Denn a. ohne Liebe zu ihr ſuchen wir ſie nicht mit
der ausharrenden Eiferſucht eines Freundes, und nur
dieſer Eifer im Suchen findet ſie am ſicherſten. Ohne
Liebe wird kein treibender Hunger nach ihr, und ohne
Hunger keine Seligkeit der Sättigung (Matth. V. 6.).
Selbſt die Meditation, dieſe ſchöne Handlung unſ-
rer Vernunft, kann ohne Wahrheitsliebe gar leicht ein
ſchicklicheres Mittel werden, uns die Wahrheit noch
mehr zu verhüllen, als ſie zu enthüllen. So oft das
Licht in uns nicht mehr nach ſeinem Beruf gebraucht
wird, um das Finſtere aufzuhellen, ſondern gegen ſei-
nen Beruf, dem finſtern Willen dienen muſs, um deſſen
Lüſte befriedigen zu helfen: ſo oft wird die Summe
der Finſterniſſe und Irwiſche durch die Meditation in
uns vergröſſert.
Ohne Liebe zur Wahrheit kann ſie b. nie unſre
Vertraute werden. Denn wir verſtehen ihre Stimme
nicht. Den Freund verſteht der Freund, die Wahrheit
ihr Vertrauter. Wer aus der Wahrheit iſt, verſteht
meine Stimme. (Joh. XVIII. 37.)
Ohne gebietende Liebe zu ihr erhält ſie c. kei-
nen feſten Ruhepunkt in uns: Eigenliebe, Sinnenluſt,
Ehrgeiz u. ſ. f. nehmen die ganze Seele ein, und laſſen
B 3der
[22] der Wahrheit kein Plätzgen über, um für ſich eine
Hütte zu bauen. Wie könnt ihr glauben, da ihr Ehre
von einander nehmet? (Joh. V. 44.) Wenn wir die
Wahrheit nicht von ganzem Herzen lieben, ſo lieben
wir etwas anders von ganzem Herzen. Iſt dieſes
Andere — Gott: ſo lieben wir eben darum die
Wahrheit von ganzem Herzen, weil ſie ein Stral aus
dem Lichte iſt, das Gott heiſst. Iſt dieſes Andere —
nicht Gott: ſo wird dieſs Andere von ganzem Herzen
geliebt — die Liebe Gottes und der Wahrheit als eine
feindſelige Neigung, im Herzen nicht recht aufkommen
laſſen. Das erſte Gebot (Matth. XXII. 37.) iſt alſo auch
in Abſicht auf die Wahrheit das erſte Gebot: und was
Jeſus von der Liebe Gottes ſagt, das gilt auch von der
Wahrheitsliebe. Denn wer die Wahrheit nicht über
alles liebt, der ſucht und findet ſie nicht, verſteht ſie
nicht, behält ſie nicht — ſie wird nicht ſein.
Ganz unſer wird die Wahrheit nicht 2) ohne
Selbſtverläugnung und ohne fortſchreitende Reinigung
des Herzens von Eigenliebe aller Art und beſonders von
Eitelkeit. Denn wir können die Wahrheit nicht von
ganzem Herzen lieben, ohne alles zu haſſen und zu
unterdrücken, was ihr widerſtreitet. Und die Eigen-
liebe und beſonders die Eitelkeit widerſtreitet ihr auf
mancherley Weiſe. Alſo iſt der Muth, die Eigenliebe
zu verläugnen, eines mit dem Muth, die Wahrheit
über alles zu lieben.
Es läſst ſich aber dieſe wichtige Lehre „von
der Unentbehrlichkeit der Selbſtverläugnung, um mit
der
[23] der Wahrheit vertraut zu werden“, noch mit andern
Gründen darthun.
Man muſs a. doch dem Lichte nachfolgen, um
im Lichte zu wandeln. (Joh. VIII. 12.) Und dem
Lichte nachfolgen kann man nicht, ohne den fin-
ſtern Neigungen zu widerſtehen, und dieſer Wider-
ſtand heiſst Selbſtverläugnung. Es iſt eine ſchöne
Bemühung, die Finſterniſs aus dem Verſtande zu ver-
bannen: aber man kommt in dieſer ſchönen Bemü-
hung nicht fort, wenn man nicht die Wurzel der ſchäd-
lichſten und hartnäckigſten Finſterniſſe im Herzen
ſucht, und da die Axt anlegt. Und die Axt an die
Wurzel anlegen, heiſst ſich ſelbſt verläugnen, weil
man gegen ſeine Neigungen geradezu angehen muſs.
Es kennt b. niemand Jeſum recht, auſser der
ſeine Gebote hält. (I. Joh. II. 3. 4.) Und die Gebote
Jeſu halten — können wir nicht, wenn wir den Ge-
boten der Eigenliebe nicht ſtandhaft entgegen handeln.
Und dieſes ſtandhafte Verachten deſſen, was die Eigen-
liebe gebeut, iſt Selbſtverläugnung.
Ein krankes Auge ſieht c. bey dem hellſten
Mittagslichte nicht recht, und ein geſchloſsnes Auge
gar nicht. So gehört auch wohl zum Anblicke der
Wahrheit ein offner, geſunder Sinn. Wenn ich nun
die Wahrheit nicht ſehen will, weil ſie gegen meine
Neigungen ſtreitet, oder nicht mehr ſehen kann, weil
meine Neigungen den Verſtand ſchon beſtochen und
zerrüttet haben: ſo gehört offenbar Beſiegung meiner
B 4Nei-
[24] Neigungen dazu, um die Wahrheit ſehen zu wollen
und ſehen zu können. Und dieſe Beſiegung läſst ſich
ohne Kampf, d. h. ohne Selbſtverläugnung nicht
denken.
Wenn aber die Eigenliebe überhaupt das Ver-
trautwerden mit der Wahrheit hindert: ſo hindert es
d. gewiſs jene Eigenliebe, die nach eigner Ehre gei-
zet, am meiſten. Um die Wahrheit zu lernen, muſs
man belehrſam ſeyn, und der Stolz iſt ſeiner Natur
nach unbelehrſam. Denn er weiſs ja ſchon alles, was
ihn andere lehren könnten. Um die Wahrheit kennen
zu lernen, muſs man ſchweigen, fragen und hören
können, und der Stolz kann ſeiner Natur nach nicht
ſchweigen, fragen, hören, will nur gefragt und ge-
hört werden. Denn er hat ja das Vorrecht zu reden.
Um die Wahrheit zu lernen, um ſtille nachdenken zu
können, muſs man in ſich ruhig ſeyn, und der Stolz
iſt ſeiner Natur nach eine ewige Unruhe — denkt
nur auf Eroberung, will Anbetung, aber nicht die
Wahrheit.
Ganz unſer wird die Wahrheit nicht 3) ohne
Thun des erkannten Wahren und ohne Treuſeyn im
Kleinen. Denn wer nicht thut, was die Wahrheit fo-
dert, der liebt die Wahrheit nicht von ganzem Her-
zen. Und ohne Liebe zu ihr, wird ſie nicht ganz un-
ſer. Ferner:
Wer das erkannte Wahre wohl anwendet, ge-
braucht a. das Licht, das er hat, und kommt durch
dieſen
[25] dieſen Gebrauch zur hellern und feſtern Anſicht des
Erkannten. Wer z. B. der Lehre: Widerſteh den Ein-
ſprechungen der Eigenliebe, der Eitelkeit, der Rache,
treu nachkommt, wird durch den Widerſtand gegen
dieſe Foderungen erſt den Sinn der Lehre recht verſte-
hen lernen, und tiefer in ſich graben laſſen. Die Ue-
bung ſchärft doch in allem die Kraft: man wird alſo
auch, durch Erfüllung der Pflicht, mit der Pflicht ſelbſt
vertrauter werden.
Wer das erkannte Wahre wohl anwendet, wird
b. nach und nach ſelbſt eine Copie des Wahren, des Gu-
ten, wird im gegebnen Falle immer reiner von Eigen-
liebe, Eitelkeit, Rachbegier; kann alſo nicht mehr an
der Anwendbarkeit der Lehre zweifeln, da er ſie le-
bendig in ſich trägt; wird die Lehre nicht mehr ſo
leicht aus ſeinem Andenken verlieren, da er ſie nicht
mehr bloſs in Büchern, ſondern in ſich hat.
Wer das erkannte Wahre wohl anwendet, wird
c. nach und nach an Reinheit des Sinnes den groſſen
Zeugen der Wahrheit, Johannes, Paulus etc. ähnlich;
dieſe Aehnlichkeit macht ihn nicht nur geneigter den
Zeugen zu glauben, ſondern auch fähiger, die Bedeu-
tung des Zeugniſſes zu verſtehen, weil er etwas von
ihrem Geiſte in ſich hat, und man doch den Geiſt
dieſer Zeugen haben muſs, um dieſe Zeugen ganz zu
verſtehen.
Es giebt uns auch d. die Erziehung einen Fin-
gerzeig, den kein wahrheitliebender Menſch überſehen
oder gering achten ſoll. Wird nicht das Kind durch
B 5Thun
[26] Thun geſchickter zum Verſtehen? Lernt es nicht durch
Gehorſam am beſten den Gehorſam, den Vater und noch
vieles Andere kennen? Darum ſo laſst uns auch in die-
ſem Sinn Kinder werden, um in das Reich der Wahrheit
einzugehen.
Endlich wird doch ein Jünger Jeſu die bedeu-
tende Lehre ſeines Herrn: Wer hat, dem wird gegeben,
wer im Geringen treu iſt, dem wird Groſſes anvertraut
werden, nicht auſſer Acht gelaſſen, und alſo durch Voll-
bringung dieſer Lehre erfahren haben, daſs die Treue
gegen die geringern Erkenntniſſe uns den Schlüſſel zu
höheren verſchaffe.
Die Wahrheit kann 4) ohne Erfahrung und
Trübſal nicht ganz unſer werden. Wer die unzwey-
deutigen wahrhaft göttlichen Früchte der Wahrheit,
Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlich-
keit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmuth, Lau-
terkeit (Gal. V. 22. 23.) in ſich hat, und alſo das himm-
liſche Reich aus Erfahrung kennet, wird den Baum aus
den Früchten, die Sonne aus ihren Stralen, und die
Wahrheit aus ihrem Segen auf eine eigne, beſonders
überzeugende Weiſe kennen gelernt haben, und an ih-
rem Daſeyn ſo wenig als an ſeinem zweifeln kön-
nen. So lange das Samenkorn in der Erde ſchläft, mag
der Vorübergehende nicht wiſſen, was geſäet iſt: aber
wenn das Fruchtkorn in ſeiner Herrlichkeit daſteht,
dann bedarf es keines Fragens mehr, was man ausgeſäet
hatte. Dieſen Erfahrungsbeweis der göttlichen
Wahrheit hat auch Jeſus nachdruckſam empfohlen, und
wenn
[27] wenn ſich die Menſchen ſtandhaft daran gehalten hätten,
ſo würde das Eine groſſe Reich des Irthums und Zankes,
Laſters und Jammers nicht ſo groſs ſeyn, als es wirklich
iſt. So jemand will Gottes Willen thun, der wird inne
werden, ob dieſe Lehre aus Gott ſey, oder ob ich von
mir ſelbſt rede. (Joh. VII. 17.)
Unter allen Erfahrungen iſt aber die Trübſal
die wohlthätigſte für uns, auch in Abſicht auf die le-
bendige Erkenntniſs der Wahrheit.
Sie ſchafft Ruhe im Innern, daſs die leiſe Spra-
che der Wahrheit gehört werden könne.
Sie zeigt das Unvermögen der vergänglichen
Dinge, den Durſt nach Wahrheit zu befriedigen, und
treibt dadurch zur Fülle aller Weisheit.
Sie deckt die Irgänge der Lügengeiſter auf, in-
dem das Ende ihrer Wege als Jammer erſcheint, und
weiſet dadurch auf den geraden Pfad zur Wahrheit.
Sie öffnet in uns den Sinn für Wahrheit,
nachdem wir aus bittern Erfahrungen das Nichts der
trügeriſchen Erwartungen, mit denen uns die Eigenliebe
hintergangen hat, kennen gelernt haben.
Wenn endlich der Freund der Wahrheit um der
Wahrheit willen recht viel Widriges leiden muſste, und
in ihr allein Troſt finden konnte: ſo muſs ihm ſeine
Freundinn durch Trübſal noch ungleich theurer gewor-
den ſeyn, aus keinem andern Grunde, als weil er für ſie
ſo viel gelitten, und ſie ihn mit ſo viel Troſt geſalbet
hat.
[28] hat. Daraus können wir zum Theil die ſchöne, groſſe
Anhänglichkeit der Apoſtel an ihren Herrn erklären. Sie
litten ſo viel für ihn, und Er ſtärkte ſie in allen ihren
Leiden.
Ganz unſer kann die Wahrheit nicht werden 5)
ohne Gebet und ohne den göttlichen Lichtſtral.
Wer ſich ſelbſt kennt, wird auch die Finſterniſs kennen,
die um ſeine Erkenntniſskraft, um den göttlichen Funken
in ihm gelagert iſt, und alſo das Licht in der Sonne ſu-
chen, wo es zu finden iſt; wird zwar die Erkenntniſs-
kräfte, die er hat, mit allem Fleiſſe üben und anwenden,
aber nach dem freundlichen Rathe des Weiſen die Weis-
heit doch von dem begehren, der ſie hat, und allein giebt
und ſeine Gabe niemand aufrückt (Jak. I. 5.); wird die
[Aufhellung] der Lehre Jeſu doch vorzüglich bey dem
ſuchen, der ſie hat und giebt (Joh. XIV. 26.); wird dem
erleuchteten Apoſtel nicht widerſprechen mögen, daſs
nur der Geiſt des Menſchen wiſſe, was im Menſchengeiſt,
und nur der Geiſt Gottes, was in Gott iſt, daſs man alſo
den Sinn des Herrn haben müſſe, um den Herrn zu verſte-
hen, und daſs dieſer Sinn geſchenkt werden müſſe, da wir
ihn uns ſelbſt nicht ſchaffen können; wird mit den Jüngern
des Herrn im Gebete verharren (Apoſtg. I. 14.), ehe er
von der Wahrheit zeuget; wird die Unzulänglichkeit
der menſchlichen Natur, ſich ſelbſt Licht zu ſchaffen, mit
Jeſus Chriſtus, der die Natur des Menſchen am beſten
kennen muſste, willig anerkennen, und das klare, durch
keine Auslegung verſchraubbare Zeugniſs: Niemand
kennt den Sohn, als der Vater, niemand kennt den Vater
als der Sohn, und dem es der Sohn offenbaren will
(Matth.
[29] (Matth. XI. 27.) in ſeiner ganzen Bedeutungskraft zeu-
gen laſſen.
Sollte übrigens jemand das Gebet in allem Ernſte
von den Erwerbmitteln der Weisheit ausſchlieſſen, der
müſste entweder weiſer ſeyn als Salomo, der ſich nicht
ſchämte zu bekennen, daſs er durch Anrufen weiſe ge-
worden ſey, und noch weiſer als der, der mehr iſt als
Salomo, und uns zum Gebete weiſet, oder eine Weisheit
haben, die nicht ſehr beneidenswerth, und vielleicht
ſogar des ſchönen Schildes unwerth wäre.
Dieſe kurzen Erläuterungen der Antwort, wie die
Wahrheit in unſer Fleiſch und Blut verwandelt werden
könne, ſollen wenigſt ſo viel erläutert haben, daſs die
würdigſten Verkünder der Wahrheit nicht ſo faſt im Fel-
de der Rhetorik und Dialectik, (ſo nützlich dieſe Ue-
bungen immer ſeyn mögen — auch einem Prediger),
als in der groſſen Schule der Erfahrung, der Trübſal, der
Selbſtverläugnung, des Gebetes und des treuen Wandels
nach der erkannten Wahrheit, erzogen werden, und
daſs Meditatio, Oratio und Tentatio nicht bloſs die
beſten Theologen, ſondern auch die beſten Prediger
bilden.
III.
[30]
III.
Wie der Prediger das, was er lehret, lehren
ſoll, wird
- 1. Durch die Natur der Sache, und des
Menſchen, - 2. Durch den Zweck des Evangeliums,
und des Predigtamtes, - 3. Durch die Fähigkeiten ſeiner Zu-
hörer. - 4. Durch die Umſtände des Orts, der
Zeit, durch die beſondern Anläſſe,
feſtgeſetzte Gedächtniſstage, Ge-
wohnheiten etc. - 5. Durch die Talente, das Alter, die
Verdienſte, den Credit, und die
individuelle Faſſung des Predigers
beſtimmt.
Zuerſt muſs in allem, alſo auch im Predigen
die Natur der Sache und des Menſchen zu Rathe gezo-
gen werden.
Lehre ſo, wie es die Natur der Sache und
des Menſchen gebeut.
Es ſind eigentlich drey Geſetze der menſchli-
chen Natur, bey allem, was Sprechen und Wirkſamkeit
des Sprechens heiſst, weſentlich:
Es
[31]
- Es iſt keine Wärme dem Sprecher natürlich, als die
aus dem Herzen kommt: dieſs iſt das erſte Geſetz. - Es dringt keine Wärme zum Herzen, als die vom Her-
zen gekommen iſt: dieſs iſt das zweyte Geſetz. - Es muſs die Wärme zum Herzen dringen, damit das
Herz gebeſſert werden könne: dieſs iſt das dritte
Geſetz.
In dieſen Naturgeſetzen kann keine Kunſt und
keine Meynung des Zeitalters diſpenſiren, eben deſs-
wegen, weil Natur Natur iſt, und Kunſt und Meynung
des Zeitalters aus zweymalzwey vier — nicht zwey-
malzwey fünf machen können.
Ich bin nicht gerührt, wenn es mein Herz nicht
iſt; und wenn ich nicht gerührt bin, ſo kann ich dich
nicht rühren. Und was nicht rührt, das beſſert nicht.
Die Lebensquelle muſs beleben: ſonſt iſt alle Mühe zu
beleben, eitel. Nun die Lebensquelle im Menſchen
iſt das menſchliche Herz, von da fleuſst die Begeiſte-
rung in alle Gedanken aus, und beflügelt die Rede,
und geht mit der Rede in den Hörenden über, und
trifft ſein Herz, und belebet es. — Das iſt das rechte
Continuum vom leben und beleben und belebt werden;
und wo dieſes Continuum fehlt, da fehlt die Bered-
ſamkeit.
Man ſagt von gewiſſen Gedanken, daſs ſie Pfeile
ſind, und wie Pfeile treffen; aber ſie ſind nicht, und
treffen nicht wie Pfeile, wenn ſie nicht in dem Zeug-
hauſe des menſchlichen Herzens geſchmiedet worden,
und von dieſem auch ihre Wurfkraft genommen haben.
Um
[32]
Um alſo den Menſchen zu beſſern, ſo begnüge
dich nicht, daſs du ſeinen Verſtand belehreſt, über-
zeugeſt, ſondern ſuche auch ſein Herz zu rühren; und
um ſein Herz zu rühren: ſo ſey zuerſt das deine ge-
rührt; damit aber das deine gerührt — von der Wahr-
heit durchdrungen und beſeelet werde: ſo predige zu-
erſt dir ſelbſt, und wage es nicht den Mund aufzuthun,
bis du auf dem Wege, gut und heilig zu werden, eine
ſchöne, groſſe Strecke vorausgewandelt haſt.
So iſt es nun klar, daſs der Prediger nicht nur
ein frommer Mann, d. h. im Guten gegründet und ge-
übet ſeyn ſoll, um zu lehren, was er ſoll, ſondern
auch um zu lehren, wie er ſoll. (*)
Daher denn auch der groſſe Unterſchied zwi-
ſchen Aufſätze machen und Predigen. Aufſätze ma-
chen
[33] chen lehrt die Schule und die Uebung: predigen lehrt
nur das Herz, das die Wahrheit der Lehre und die Hei-
ligkeit des Lebens über alles liebt, und die Eigenliebe
bereits unterdrückt hat, um die Wahrheit und Heilig-
keit über alles lieben zu können.
Daher der groſſe Unterſchied zwiſchen Rede-
kunſt und Predigt, zwiſchen Beredſamkeit des Marktes
und Beredſamkeit der Kirche. Eine Rede für Milo, die
alle Jahrhunderte als ein Muſter der bürgerlichen Be-
redſamkeit anſehen, kann der Redner Cicero halten.
Aber predigen, das heiſst, eine Rede für das Gute hal-
ten, die die Böſen rührt, und die Kalten erwärmt, und
beyde zum Gutwerden mächtig treibt, kann nur der
Gute, oder wer auf dem rechten Wege iſt, es zu wer-
den. Um den Mörder Milo zu vertheidigen, darf man
nur des Milo Freund ſeyn: aber um das Gute von gan-
zem Herzen zu empfehlen, muſs man des Guten
Freund ſeyn, und das wird man durch Leſen, Schrei-
ben, Aufſätze machen — nicht.
Daher endlich der groſſe Unterſchied zwiſchen
dem Prediger und dem Schauſpieler. Dieſer darf hie
und da den Guten nur ſpielen, jener muſs ſelbſt gut ſeyn;
dieſer muſs ſich in die Lage eines andern Menſchen hin-
einſetzen können, jener ſelbſt der andere Menſch ſeyn,
in den er ſeine Hörer umſchaffen will.
Kurz: je natürlicher, deſto beſſer, und natür-
lich wird uns „die Rede von dem Guten“ nicht, bis
wir ſelbſt gut ſind, und aus dem Guten reden, und
das verfliegende Lob der Tugend durch ein bleibendes
CGemäl-
[34] Gemälde derſelben, durch einen tugendhaften Wandel
figirt haben.
Zweytens: um zu lehren, wie man ſoll, muſs
man den Zweck des Evangeliums und des Predigtamtes
gewiſſenhaft im Auge behalten.
Lehre ſo, wie es der Zweck des Evangeliums
und des Predigtamtes gebeut.
Das Evangelium und das Predigtamt haben nun
offenbar keinen andern Zweck, als die Menſchen zu
Jeſus, und durch Jeſus zum Vater zu führen, und auf
dieſe Weiſe mit der Urquelle aller Weisheit, Güte und
Seligkeit zu vereinen, und durch dieſe Einigung und in
derſelben gut, weiſe und ſelig zu machen. Das wollte
Jeſus, das wollten ſeine Jünger, das lehrt der klare
Buchſtabe, das der Geiſt der evangeliſchen und apoſto-
liſchen Geſchichte, darinn weben die Briefe der Apoſtel,
dahin arbeiteten alle erleuchtete Väter der Kirche, von
dem erſten bis zum letzten; dahin zielten alle wahr-
haft chriſtliche Prediger, von Paulus bis auf ſeinen
jüngſten Nachfolger.
Der chriſtliche Prediger ſoll alſo chriſtlich, das
heiſst: ſo predigen, daſs ſeine Hörer, ſtatt die Bered-
ſamkeit des Redners zu bewundern, ihr eigen Elend,
die Sünde und die traurigen Folgen derſelben, lebendig
fühlen, ihren Erlöſer treu ſuchen, und durch Ihn Heil
finden.
Der chriſtliche Prediger ſoll alſo chriſtlich, das
heiſst: ſo predigen, daſs ſeine Zuhörer im Glauben und
Ver-
[35] Vertrauen wahre Buſſe thun, der Heiligung ſtandhaft
nachjagen, gottſelig, nüchtern und gerecht leben, die
Gnade Jeſu durch einen göttlichen Wandel überall ver-
künden, und ihr Licht zum Preiſe des himmliſchen
Vaters möchten leuchten laſſen.
Nach dem Inhalte und Zwecke des Evangeliums
ſoll alſo der Prediger kein Ariſtoteliſcher, und kein Leib-
nitziſcher, und kein — — ſcher Sittenredner, ſondern
ein Verkünder der Gnade Gottes durch Jeſus, und ein
ſolcher Verkünder der Gnade Gottes durch Jeſus ſeyn,
daſs der ganze Vortrag, Ausdruck und Ton und alles,
was an dem Prediger ſpricht, die Offenbarung der gött-
lichen Gnade, und nicht die Offenbarung der Predigt-
talente, die Verherrlichung Gottes, und nicht die Ver-
herrlichung des Predigers bezielen. O! man merkt es
ſogleich an den Einleitungen, Uebergängen, Lieblings-
themen, Beweisarten, Anwendungen, ob der Prediger
mit Paulus Jeſum, den Gekreuzigten kenne, oder ſich
deſſen mit den Antipauliſchgeſinnten ſchäme; ob er
den Menſchen auf ſich, oder auf die Quelle alles Guten
aufmerkſam machen wolle; ob der Trieb, zu gefallen,
oder der Trieb, das Verlorne zu ſuchen und ſelig zu ma-
chen, aus dem Redner ſpreche. Noch zuverläſſiger
kennt man, nach den Worten Jeſu, den Baum aus den
Früchten. Und es iſt ein ſchlimmes Zeichen für die Pre-
diger, oder doch gewiſs für die Zuhörer, wenn ſie
beym Herausgehen aus der Predigt, wetteifernd den
Scharfſinn des Predigers rühmen, ſtatt an ihre Bruſt zu
ſchlagen; oder ihm gar ein Bravo zurufen, ſtatt ein
Peccavi vor Gott anzuſtimmen.
C 2Drit-
[36]
Drittens: um zu lehren, wie man ſoll, muſs
man die Fähigkeit der Zuhörer, nicht nur nicht auſſer
Acht laſſen, ſondern bey der Wahl der Gedanken und
der Ausdrücke, und ſo viel es ſeyn kann, bey jedem
Gedanken und Ausdruck, den man wählt, im Sinn be-
halten.
Lehre ſo, wie es die Fähigkeit deiner Zuhörer
und ihr Vermögen, zu tragen, erheiſcht.
Denn der Prediger iſt Lehrer des Volkes, und zum
Beſten des Volkes. Wenn er alſo von den Meiſten nicht
verſtanden wird, und von den Meiſten, die ihn doch
gerne verſtehen möchten, nicht verſtanden werden kann:
ſo iſt es gerade ſo viel, als wenn er vor deutſchem Vol-
ke eine hebräiſche Vorleſung gehalten hätte.
Hebräiſch iſt dem deutſchen Volke (*) 1) der
philoſophiſchſpekulative Klingklang allgemeiner Begriffe
von Tugend, Weisheit, Glückſeligkeit, Religion, Pflicht,
Natur, Menſchheit, u. ſ. f. wenn der Sinn dieſer Worte
nicht durch Beyſpiele, einzele Fälle, Bilder, Geſchichte
und gemeinen Ausdruck den unphiloſophiſchen Köpfen
genieſsbar gemacht wird. Könnte der Prediger ahnen,
was
[37] was die Wittwe, der Roſshirt, die Magd, der Taglöh-
ner, der Greis beym Schall dieſer Worte denken: es
würde ihn Schamröthe, wie den verrathenen Dieb der
Schrecken, überfallen, und ſprachlos machen.
Hebräiſch iſt dem deutſchen Volke 2) der theo-
logiſchſpekulative Klingklang ſpitziger Fragen und
ſpitziger Erörterungen über Geheimniſſe, welche, ihrer
Beſtimmung nach, das Herz mehr zur ſtillen Anbe-
tung und zum unbegränzten Vertrauen leiten, als den
Verſtand zur unvollendbaren Enträthſelung derſelben
reizen ſollen, und deren klare Seite allein dem Volke
vorgezeigt werden darf.
Hebräiſch iſt dem deutſchen Volke 3) alles ge-
lehrte Schriftauslegen, das etwa in einem theologiſchen
Hörſale Stelle finden mag, aber wofür das Volk we-
der Sinn noch Bedürfniſs hat, und will’s Gott, nie
haben ſoll.
Es giebt eine Darlegung des planen Schriftſin-
nes, die dem Prediger nicht genug empfohlen werden
kann, und die der nüchterne Baco in einem hellern
Momente ſeines Forſchens erblickt hat: Certe, quem-
admodum vina, quæ ſub primam calcationem molliter
defluunt, ſunt ſuaviora, quam quæ torculari exprimun-
tur; quoniam hæc ex acino \& cute uvæ aliquid ſa-
piant: ſimiliter ſalubres admodum ac ſuaves ſunt do-
ctrinæ, quæ ex ſcripturis leniter expreſſis emanant,
nec ad controverſias aut locos communes trahunt. De
Augment. Scient. L. IX. n. 3.
C 3Von
[38]
Von dieſer ſanften Emanation des Schriftſinnes
ſcheint der heilige Biſchof unſers Kirchenſprengels,
Ulrich, Begriff gehabt zu haben, wie es einer ſeiner
Denkſprüche wahrſcheinlich macht:
„Die heilige Schrift ſanft ausgedrückt — giebt Milch,
gewaltſam ausgepreſst — giebt ſie Blut.“
Dieſem heiligen Manne wollen wir nachahmen, und
alle Schrauben kühn verachten, womit die Schrift kühn
gepreſst wird. — Alle Schrauben müſſen abgethan
werden, aber die Wahrheit bleibt ewig, und wer ihr
anhängt, auch. Laſst uns dem Volke immer klares
und planes Wort Gottes geben, damit es ſich daran hal-
ten könne!
Hebräiſch iſt dem deutſchen Volke 4) die abge-
zogne, gedrängte, poetiſchſublime, deutſche Sprache,
die nur ein feines Ohr ſchön finden, und nur ein ge-
übter Kopf verſtehen kann. Es iſt die Kirchenkanzel
nicht dazu beſtimmt, daſs wir eine Probe unſerer groſ-
ſen Sprachkenntniſs ablegen. Auch wäre es von dem
Volke zu viel gefodert, wenn es die Wolkenſprache
des Predigers erſt in ſeine gemeine Landſprache über-
ſetzen müſste, um ihn verſtehen zu können. Und
doch kann unſer deutſches Volk ohne dieſe Ueber-
ſetzung nicht fortkommen, wenn der Prediger ſein
Sublimdeutſches nicht zuvor in Gemeindeutſches über-
ſetzt, ehe er predigt.
So lächerlich es nun wäre, wenn wir Prediger
vor unſern deutſchen Gemeinen das Bereſchit bara Elo-
him \&c. das wir in hebräiſchen Stunden gelernt haben,
aufſagen wollten: gerade ſo lächerlich iſt es, wenn
wir
[39] wir mit unſern feinen, ausgezirkelten Begriffen, Wör-
tern, das arme Volk, darunter viele nicht einmal buch-
ſtabiren, die wenigſten leſen können, belehren, nicht
belehren, (denn was nicht verſtanden werden kann,
kann auch nicht belehren), ſondern übertäuben und
martern wollten. Doch es iſt nicht lächerlich — es
wäre lächerlich, wenn nicht das Heil des Volkes daran-
hienge. Aber da kann man nur mitleiden, und die Men-
ſchen beweinen, die ihre kindiſche Eitelkeit auch auf
dem Lehrſtuhl der Demuth nicht unterdrücken können,
und ihr Bisgen Philologie am unrechten Orte zu Markt
dringen.
Zwar fühle ich es lebhaft, wie ſchwer es ſey,
dem Volke auch nur erſt verſtändlich zu werden, und
ich klage niemand an, als etwa mich, weil ich bey al-
lem Ringen nach Klarheit mir ſelbſt noch nie genug ge-
than habe. Aber das muſs doch geſagt werden: wenn
es auch denen, die dem Volke verſtändlich werden
wollen, ſo ſchwer iſt, ihren Zweck zu erreichen: was
muſs man von denen denken, die, auch in Predigten
vor dem Volke, darauf ausgehen, daſs ſie ſich und den
Wenigen gefallen, die ein feiner Ohr und eine feinere
Mundart haben?
Liebſten Freunde! wir müſſen Kinder werden,
um Kinder zu Männern zu erziehen; wir müſſen allen
alles werden, um alle ſelig zu machen: was zögern
wir, Volk zu werden, um auch das Volk zu Chriſtus
zu führen? Wir müſſen unſer Leben im Dienſte der
Wahrheit opfern: was hängen wir an Wörtern, Aus-
C 4drücken?
[40]drücken? wenn wir das Geringſte nicht darangeben, wie
werden wir das Gröſte opfern? Wem übrigens ein
äſthetiſches Blümlein lieber iſt, als das göttliche Evan-
gelium, mit dem will ich nicht zanken; noch weniger
will ich aem eine Apologie halten, welcher die niedrig-
ſte Gaſſenſprache auf die Kanzel bringt, nicht um ver-
ſtanden zu werden; denn dieſe Sprache iſt auch dem
Volke zu nieder, ſondern um ſich die Mühe der Vor-
bereitung zu erſparen. Aber, wenn gebildete Männer
unter dem Volkshaufen ſitzen? — Antwort:
Kann der gebildete Mann über den Werth deiner
Predigt urtheilen: ſo wird er wiſſen, daſs mehr Ver-
ſtand, und oft auch mehr Sprachkenntniſs dazu gehöre,
ſich mit Würde zu dem niedern Kreiſe des Volkes her-
unterzulaſſen, als das Volk in eine Staubwolke unver-
ſtandner Ausdrücke einzuhüllen, und mit ſich auf eine
ſchwindelmachende Höhe fortzureiſſen. Kann er aber
nicht urtheilen, ſo wäre es eine unverzeihliche Thor-
heit für einen Boten der Wahrheit, die Wahrheit zu
verdunkeln, und das hungrige Volk ohne Nahrung zu
laſſen — um den Beyfall des Unverſtändigen einzuärn-
ten. Iſt der gebildete Mann — edel genug, dem Pre-
diger zuzuhören, nicht um den Prediger, ſondern um
ſich zu richten: ſo wird ihm die einfältige Wahrheit,
ohne Schmink — lieber ſeyn, als aller Redeprunk, der
mit dem Schalle wie Wind dahin iſt. Hört aber der
gebildete Mann nur deſshalb der Predigt zu, um nach
A — oder B — eine Predigtcenfur einzuſenden: ſo den-
ke du an die Freudenthräne der Wittwe, die ihr
bey dem klaren Worte aus deinem Munde, ins Auge
tritt,
[41] tritt, oder an den Händedruck des Greiſen, der dir mit
verweinten Augen nach der Predigt für das Wort Got-
tes dankt, oder an die verſchreyte Sünderinn, die dich,
nach der Predigt, in den Beichtſtuhl ruft, und mit der
Frage anfängt: Herr! was muſs ich thun, daſs ich ſelig
werde? oder an die ſterbende Mutter, die mit dem
Worte: Ihre letzte Predigt macht mir das Sterben leicht,
einſchläft; oder an die fromme Magd, die nach der
Predigt laut ausruft: Noch zwey ſolche Predigten; dann
ſterbe ich gern. Und dieſe Erfahrungen werden allen
widrigen Urtheilen, die in der Nähe empfangen, und
in der Nähe oder in der Ferne gebohren werden, das
Uebergewicht halten; und du wirſt den unverdienten
Tadel der Welt, wie die Jünger Jeſu die Skorpionen,
zertreten, und durch den Tadel geſtärkt, noch tiefer
in das Heiligthum der Wahrheit eindringen, und im
vertrauten Umgange mit ihr — um die Meynungen der
Menſchen ſo unbekümmert dahinleben, wie der Fiſch
im Waſſer ſichs wohlſeyn läſſet — und alle Urtheile
der Naturforſcher über ihn glücklich ignoritt.
Es giebt eine Gröſſe, meine Theuren, die die
[ſcharfſichtigſten] Augen nicht ſehen, und die glücklich-
ſten Genie’s nicht richten, und die geheimſten Griffe
der ſeindſeligen und gekränkten Leidenſchaft nicht an-
rühren können. Wer dieſe Gröſſe hat, der hat auch
die Demuth, ſie in ſich zu verſchlieſsen, und kann das
Wort der Läſterung nicht achten, nachdem er die gute
Sache des Friedens in ſich hat.
C 5Vier-
[42]
Viertens: um zu lehren, wie man ſoll, muſs
man auf die Umſtände des Ortes, der Zeit, die Anläſſe,
Gedächtniſstage, Gewohnheiten, die Vorurtheile, La-
ſter, und alle die Eigenheiten, die von Seite der Ge-
meine den Vortrag noch näher beſtimmen können,
Acht haben.
Lehre ſo, wie deiner Lehre durch Umſtände,
Anläſſe, [Bedürfniſſe] etc. Bahn gemacht wor-
den, und werden kann.
Dadurch unterſcheidet ſich eine Predigt insbe-
ſondere von einer gelehrten Abhandlung, daſs dieſe
mehr im Allgemeinen bleiben darf, jene weſentlich
ein Wort zur rechten Zeit, und zu dieſer Zeit, und an
dieſe Zuhörer, an dieſem Orte ſeyn ſoll. Und in dieſem
Sinne iſt es wahr, daſs die Predigten ſich in dem Ver-
hältniſſe dem Ideal einer Predigt nähern, in welchem
ſie ſich von dem Ideal einer ſcientifiſchen Abhandlung
und ihrem Charakter, der Allgemeinheit, entfernen. Und
auch ſchon deſshalb iſt die Lehrart Jeſu die beſte, weil
ſie ganz Caſual iſt. Was nun unſre gewöhnlichen Pre-
digten daran verlieren, daſs ſie nicht mehr ſo ganz
caſual ſeyn können: das ſollen ſie wenigſt zum Theil
dadurch zu erſetzen ſuchen, daſs ſie dem ganzen Zu-
ſtande der Gemeine, und den Umſtänden und Anläſſen,
ſo viel es ſeyn kann, angepaſſet werden. Dem, wel-
cher nur nützen will, iſt keine Rückſicht, die den Nut-
zen fördert, kleinfügig, vielmehr jede Kleinigkeit, die
zum Ziele führet, wichtig.
Unter
[43]
Unter den Rückſichten auf die Zeit iſt die
Rückſicht auf den Feſttag eine der gemeinſten und
wirkſamſten.
Freudenworte z. B. mögen am Oſterfeſte mehr
wirken, als ſonſt, weil der Tag in den beſſern Seelen
ein Wegbereiter der Freude wird. Ein Freudenwort
vom ewigen Leben mag am Oſterfeſte noch mehr wir-
ken, als ein anderes, weil das Beyſpiel des ewigen
Lebens in dem erſtandenen Jeſus ſo nahe liegt. Und
ſelbſt der Ton und die Geberde des Predigers ſollen an
ſolchen Feſttagen Ton und Sprache des freudigen Her-
zens — Wahrheit und paſſende Wahrheit — ſeyn, um
Freude zu wecken.
Und ſo muſs hier das, was ich anderswo von
Vorſätzen erinnert habe, auch von Predigten geſagt
werden: je individueller, deſto beſſer. Univerſalpre-
digten ſind als Predigten, was die Univerſalarzneyen
als Arzneyen ſind — verheiſſen viel, und geben we-
nig oder nichts. Wenn der Vater ſein Herz in dem
Kreiſe ſeiner Kinder reden läſst: ſo ſchlägt er nicht erſt
im Ariſtoteles alter oder neuer Zeiten nach, was er
etwa vor den Kindern reden ſollte. Es redet der Vater,
in dieſer Stunde, zu ſeinen Kindern, von dem, was der
Vater in dieſer Stunde ſeinen Kindern das nützlichſte zu
ſeyn glaubet. Nur muſs der Prediger ein Vaterherz im
Leibe haben, und von der Lage ſeiner Kinder unter-
richtet ſeyn. Das iſt die ganze Eloquentia ſacra in nuce:
Durch das Evangelium retten wollen, und zu retten wiſ-
ſen, was noch einer Rettung fähig und bedürftig iſt.
Letz-
[44]
Letzlich: darf und ſoll der Prediger auch auf
ſein Talent, ſein Alter, ſein Verdienſt, ſeinen Credit,
und die inviduelle Stimmung ſeines Gemüthes ſehen, um
zu lehren, wie er ſoll.
Lehre ſo, wie du lehren kannſt und muſst,
um die Kraft des Evangeliums nicht zu hem-
men, ſelbſt durch deine Bemühung, ihre Wir-
kung zu fördern.
Trägheit und Eitelkeit hindern auch unter Predi-
gern, wie unter den übrigen Menſchenklaſſen, den
rechten Gebrauch der Talente. Der Träge wuchert gar
nicht; der Eitle nicht mit ſeiner Gabe. Es hat jeder
Menſch, ſo wie eine eigne Perſon, alſo auch ein eigen
Vermögen zu überzeugen von dem, und zu rühren
durch das, wovon er überzeugt iſt, und was ihn
rührt.
Dieſes Vermögen aus Trägheit — ungeübt, oder
aus Eitelkeit überſpannt oder verſchraubt — bildet
ſchlechte Prediger. Lehre alſo, wie du nach deinen
Gaben lehren kannſt. Predige nicht, wie die berühm-
teſten Männer deiner Zeit predigen: denn du biſt du,
und kein anderer; du machſt dich lächerlich, wenn du
mehr ſeyn willſt, als du kannſt; und du macheſt dich
ſtrafwürdig, wenn du nicht all das biſt, was du ſeyn
kannſt — zum Beſten anderer.
Auch das Alter des Predigers kann ſeinen War-
nungen, Bitten und brüderlichen Beſtrafungen Gewicht
geben oder nehmen. Und es liegt groſſe Weisheit in
den
[45] den Worten Paulus an Timotheus: Nemo adoleſcentiam
tuam contemnat. Kein Wort, keine Mine, keine Be-
wegung der Hand gebe Anlaſs, deiner Jugend zu ſpot-
ten. Beſcheidenheit iſt überall die erſte Empfehlung des
jungen Mannes, alſo auch des jungen Predigers. Und
gewiſſe Belehrungen fodern ſchlechtweg ein bärtig
Kinn, um mit Würde vorgetragen zu werden.
Das anerkannte Verdienſt eines Predigers um
ſeine Gemeine, und zugleich der ausgebreitete Glaube,
daſs er nie wehe thun, ſondern nur ſegnen, nie das
Fett ſeiner Herde, ſondern nur ihr ewiges Wohlſeyn
ſuche, nie unerträgliche Laſten, ſondern nur die leichte
Bürde Jeſu auf die Schultern legen wolle; und erſt
nachdem er dieſelbe auf ſeinen eignen ſchon vorausge-
tragen hat; und beſonders das leuchtende Beyſpiel ſeines
untadelichen Wandels, geben ihm ein eignes Recht, die
herrſchenden Laſter mit einem freymüthigen Mitleiden
zu ſtrafen, und dem einreiſſenden Verderben einen
Damm entgegenzuſetzen.
Die Faſſung des Gemüthes, in der ſich der Pre-
diger wirklich befindet, hat offenbar den nächſten Ein-
fluſs auf ſeinen Vortrag; und wer gegen dieſe ſeine
Faſſung ſpricht, ſchwimmt gegen den Strom, wer
aber aus dieſer Faſſung ſpricht, wird getragen von der
Fülle des Herzens, und kommt ſchnell zum Ziele.
Er wird, z. B. nie eindringender von der Liebe gegen
Gott reden, als wenn ſein Herz davon überflieſset,
und dieſe Empfindung durch Begebenheiten, Schick-
ſale, Zeiten, auf einen höhern Grad geſpannt worden.
Er
[46] Er wird nie treffender gegen den Wucher oder Zank \&c.
ſprechen, als wenn ſeine Seele das Schändliche und
Entehrende deſſelben durch Erfahrung etwas lebhafter
hat einſehen lernen. Die Ader der Wahrheit fleuſst
nie reicher, als wenn gerade das Stündchen geſchlagen
hat, und es iſt gewiſs auch dem Prediger geſagt: Ne
quid invita Minerva.
Weil ſich aber die rechte Stimmung, treffende
Wahrheit auf die treffendſte Weiſe zu ſagen, niemand
geben kann, der ſie nicht ſchon hat, oder eben em-
pfängt: ſo [empfiehlt] ſich jedem fühlenden Herzen der
ſchöne Wetteifer der Chriſten, vor dem öffentlichen
Unterrichte den göttlichen Geiſt mit einem glaubens-
vollen Geſange anzuflehen, daſs Er dem Prediger die
göttliche Faſſung, Wahrheit zu lehren, ſchenken, Er
durch den Prediger predigen, Er in den Zuhörern Sei-
ner Wahrheit Eingang ſchaffen möchte.
Dieſer göttliche Geiſt wolle auch in meinen
Leſern wirken, was keine Abhandlung vermag —
die Groſsmuth, ſich von der Wahrheit beherrſchen
zu laſſen, und den edeln Eifer, ihrer ſanften Herr-
ſchaft recht viele Menſchen zu unterwerfen!
Beylage
[47]
Beylage
zum erſten Abſchnitte.
Fenelons Idee
von
der wahren Beredſamkeit.
Alle Regeln der wahren Beredſamkeit laſſen ſich auf
die drey zurückführen, wie man darſtellen, überzeu-
gen, einnehmen könne, darſtellen für Sinn und Einbil-
dungskraft, überzeugen den Verſtand, einnehmen das
Herz.
Der wahre Redner kennet keine andere Schön-
heiten ſeines Vortrages, als
„lichte Wahrheiten und edle Empfindungen, in klare,
natürliche Ausdrücke gekleidet.“
Er denkt und empfindet: die Worte kommen von
ſelbſt.
Um darzuſtellen, ahmt er den Raphaels und Car-
rachs nach, die der reinen Natur in allem nacharbeite-
ten, und nie den Pinſel ſpielen lieſsen, um ihrer ſchö-
nen Einbildungskraft Bewunderer zu ſchaffen. Der
Redner tritt in Geſellſchaft mit allen Weſen, die ihn
umgeben, auch mit den lebloſen, belebet ſie, leiht ih-
nen Gedanken, Empfindung, Liebe; redet mit ihnen,
und
[48] und läſst ſie antworten, aber nur das, was die reine
Natur antworten würde, wenn ſie aus ihnen ſpräche,
Er verwirft nicht, was man kühne Wendungen, ſtark-
treſſende Bilder, ſchöne Gemälde nennt, aber alle dieſe
Schönheiten müſſen jenen der Baukunſt gleichen, die
die weſentlichen Beſtandtheile eines Gebäudes zu den
Zieraten deſſelben macht.
Um den Verſtand zu überzeugen, iſt der Redner
ein geordneter Kopf, ein wahrer Wahrheitsfreund,
der keine Schönheit, als die Wahrheit kennt; der die
Grundſätze in ihren rechten Geſichtspunkt ſtellt; der
von dieſem Geſichtspunkte, als dem Mittelpunkte aus,
Licht in die ganze Rede ausflieſsen läſst; der jede
Wahrheit an ihre Stelle ſetzt, von der aus eine die an-
dere vorbereiten, eine die andere unterſtützen hilft;
der endlich aus allen Wahrheiten Ein ſchönes Ganze
zu machen weiſs.
Um das Herz einzunehmen, einiget er klare
Vorſtellungen mit edlen Empfindungen. Er kennt das
menſchliche Herz und alle Triebfedern, die es in Be-
wegung ſetzen; er iſt durchdrungen von all dem, wo-
von er andere überzeugen will; er läſst das Herz zum
Herzen reden, indeſs der Verſtand — zu dem Verſtan-
de ſpricht; die Liebe zum Wahren und Groſſen beſeelt,
erhebt, entzückt den Redner, daſs er ſeiner ſelbſt ver-
geſſen — ſich gleichſam unſichtbar machen kann, um
nur die Wahrheit und Tugend ſichtbar zu machen.
Dieſs ſind die Kennzeichen der wahren Beredſam-
keit: wer ſie kennt, kennt eben darum auch die falſche.
Fern
[49]
Fern von Einfalt und Natur, hat ſie es nur mit
gekünſtelten Gegenſätzen, zugeründeten Perioden,
blendendem Putz zu thun. Sie hat keinen Zweck, als
durch die Harmonie der Töne dem Ohre zu ſchmei-
cheln, und nur immer an der Sprache zu feilen. Sie
weiſst nicht, daſs der blühende Styl, ſo angenehm
er immer ſey, ſich nie über die Mittelmäſſigkeit er-
heben kann. Feinheit der Gedanken und ausgeſuchte
Geſichtspunkte müſſen bey ihr die Stelle der lichten
Wahrheiten vertreten. Nie geht ſie bis zu den er-
ſten Grundſätzen hinauf. Nie kann ſie ſich mit der
einfältigen Wahrheit begnügen. Ueberall ſchüttet ſie
zu viel Salz aus. Sie weiſs nicht, daſs übertriebene
Feinheit in eitle Spitzfindigkeit ausarte; daſs der gute
Geſchmack nichts ſo ſehr ſcheue, als das Zu viel auch
in Sachen des Verſtandes; daſs zu viel Verſtand zei-
gen und zu wenig haben — eines ſey. O, was wahr-
haft ſublim iſt, das iſt ſo voll Einfalt und Natur, daſs
man glauben ſollte, es hätte jedem zuerſt einfallen
müſſen; ſo gemein, daſs jeder in Verſuchung geräth
zu glauben, er hätte es ohne Mühe gefunden. In-
deſs finden es ſehr wenige, weil ſich nur wenige ſo
zu vereinfachen wiſſen, daſs ſie überall der reinen
Natur folgen. — Die falſche Beredſamkeit ſetzt end-
lich an die Stelle der Empfindungen des Herzens,
Maximen des Verſtandes, und wo ſtarke Bewegun-
gen einer von der Liebe zum Schönen ergriffenen
Seele ſeyn ſollten, da kommt ein Gericht trockner
Sittenſprüche vor. So lange man glaubt, daſs die
Eigenliebe die Quelle aller Tugend ſey, ſo lange
Dmuſs
[50] muſs man Verzicht thun, etwas Groſſes zu ſagen.
Man iſt immer in ſich eingeſchloſſen, und dieſe Sphä-
re iſt zu begränzt, als daſs man einen kühnen, ed-
len Flug wagen könnte — — —
Edler Mann! du wollteſt reine Menſchen
bilden, um gute Prediger zu ſchaffen, weil du
ſelbſt nur dadurch ein guter Prediger geworden biſt,
daſs du zuerſt ein reiner Menſch zu werden ſtreb-
teſt. Sanft war dein Leben, und mild dein Sterben,
und noch haſt du viele Freunde auf Erde! Hätten
die Menſchen deinem Rathe (*) und deinem Bey-
ſpiele gefolgt: es würde itzt mehr Ruhe in deinem
Vaterlande ſeyn. Wir wollen ihm folgen, um gute
Menſchen und gute Verkünder des Guten zu wer-
den. — Und du, edler Mann, verſchmäh dieſe Blume
nicht, die ich auf dein Grab lege!
Zweyter
[51]
Zweyter Abſchnitt:
Wie der Prediger die chriſtliche Moral insbe-
ſondere lehren ſolle.
Wer die wahren Eigenheiten der chriſtlichen Moral
kennt, und ſie, mit feſter Hinſicht auf dieſe Eigenhei-
ten, lehret, der lehrt die chriſtliche Moral, wie er
ſoll. Weil aber das Hinſehen keines beſondern Unter-
richtes bedarf, wo das Kennen vorausgegangen iſt: ſo
werde ich mich darauf einſchränken, daſs ich die Ei-
genheiten der chriſtlichen Moral nenne, und denn
erläutere.
IV.
Die chriſtliche Moral iſt einzig und unver-
gleichbar. Man muſs aber nicht ſeinen, oder
einen andern denkenden, noch ſo geprieſenen
Kopf fragen, um dieſes Einzige und Unver-
gleichbare zu finden. Man muſs noch weniger
die Lebensarten, Neigungen und Sitten der
Menſchen fragen, um das Einzige der chriſtli-
chen zu beſtimmen. Man muſs die älteſten Ur-
kunden des Chriſtenthums ehrlich fragen, und
wenn man ſie ehrlich fragt: ſo wird man etwas
anderes und höheres finden, als man vielleicht
erwartet hätte. Nach dem Inhalte dieſer Ur-
kunden unterſcheidet ſich die chriſtliche Moral
von jeder andern
D 2A. durch
[52]
- A. durch die Lehre von der Liebe gegen Gott und
den Nächſten, d. h. durch das erſte und gröſte
Gebot von der Liebe gegen Gott, das ſie vor-
ſchreibt; durch die Prüfſteine, die ſie uns
angiebt, die Beobachtung des Gebotes
daran zu erproben; durch die göttliche
Kraft, daſſelbe zu erfüllen, an die ſie an-
weiſet; durch die vornehmſten Bedingniſſe
und Uebungsmittel, die ſie für uns Menſchen
beſtimmet; durch die Ausdehnung, die ſie
der Liebe gegen Gott giebt; durch das
Ziel, wozu ſie durch Erfüllung des Gebo-
tes führt; durch das Gebot der Menſchen-
und Nächſtenliebe, das ſie dem erſten und
gröſten Gebote gleichſtellet, und deſſen
Norm, Abkunft, Werth und Vielbefaſſung
ſie namhaft macht; endlich durch das Ge-
bot der Demuth, wodurch die Gottes- und
Nächſtenliebe in ihrer Reinheit erhalten
wird, und ihre Lieblichkeit offenbart. - B. Durch den ſchönen, feſten Zuſammenhang
zwiſchen den ſittlichen Vorſchriften und den
Glaubenslehren. - C. Durch ihre Angemeſſenheit für alle Zuſtände,
Faſſungen und Stuffen, in denen ſich die Mo-
ralität oder Unmoralität des Menſchen befinden
kann, und durch das, was man ihre Me-
thodik
[53]thodik die Menſchen gut zu machen, nen-
nen kann. - D. Durch ihr Verdienſt um die innere und äuſſere
Ruhe der Menſchen, Familien, Länder.
Hier iſt Erläuterung gewiſs nicht über-
flüſſig, und ſie ſoll auch zur Genüge gegeben
werden.
A.
Die chriſtliche Moral iſt ganz eigen in der Lehre
von der Liebe gegen Gott und die Menſchen. Sie macht
1) die Liebe gegen Gott, und zwar die Liebe von gan-
zem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe
und aus allen Kräften des Menſchen, zum erſten und vor-
nehmſten Geſetze aller Sittlichkeit. Matth. XXII. 37.
Man mag über dieſe Liebe klügeln, ſo lange man will.
Aber dieſe zwey Wahrheiten kann man aus der Lehre
Jeſu nicht wegklügeln: Jeſus fodert Liebe gegen Gott,
und fodert Liebe von ganzem Herzen. Und Liebe iſt
Liebe, und Liebe von ganzem Herzen iſt Liebe von
ganzem Herzen. Man mag darüber Worte wechſeln,
ſo lange man will: es kommt nicht auf das Wortwech-
ſeln, ſondern auf die Liebe von ganzem Herzen an.
Einige haben ſich über den Begriff der Liebe entzweyt,
dieſe Liebe wirklich ſo erk[lä]rt, daſs in der Liebe
nichts mehr von der Liebe geblieben iſt. Das heiſst
aber nicht: erklären, klar machen, was Jeſus ſagt,
ſondern nicht lehren, was Jeſus klar genug ſagt, und
D 3das
[54] das Etwas ſeiner Lehre durch willkührliche Deutung
zu Nichts machen. Kann es doch keinem Kinde von
ſechs Jahren, das an der Mutter hängt, unbekannt
ſeyn, was lieben heiſſe! — Andern ſcheint vielleicht
dieſs Gebot der Liebe nicht rein genug zu ſeyn. Was
läſst ſich denn aber reineres denken, als: „das reinſte
Weſen von ganzem Herzen lieben?“ Kann man wohl
noch einer unreinen Triebfeder dienen, wenn man das
höchſte Gut von ganzem Herzen liebt? Wie ſelig iſt
doch der Menſch, der ſich an die Lehre Jeſu halten
kann! Hätten ſich die Chriſten und Weltweiſen im-
mer daran gehalten: ſo wäre die Welt verſchont ge-
blieben mit den unſeligen Streiten über reine und un-
reine Liebe des Guten, die ehemals die theologiſchen
und philoſophiſchen Köpfe entzweyet haben, und nun
die philoſophiſchen wieder entzweyen, gewiſs nicht
zum Vortheile der uneigennützigen Liebe, die nie mehr
verliert, als bey Streiten, Prozeſſen, Kriegen, die
doch nur durch das Feuer der Eigenliebe unterhalten
werden können.
Die chriſtliche Moral giebt 2) durchaus zuver-
läſſige und allgemeingültige Prüfſteine der vollkommnen
Liebe gegen Gott an — den vollſtändigen, ſtandhaf-
ten, lautern Gehorſam gegen allen erkannten Willen
Gottes aus Achtung gegen Ihn, I. Joh. V. 3. und die
furchtloſe Zuverſicht zu Ihm. I. Joh. IV. 17. 18.
Den Willen Gottes aus Achtung gegen Ihn
vollbringen, oder gehorſam ſeyn, beweiſet die Liebe,
und
[55] und vollkommne Liebe treibt alle Furcht aus. Ich
weiſs nicht, ob je ein Menſch einen tiefern Blick in
die Seele gethan, als der bey dieſen zwey Schriftleh-
ren zu Grunde liegt. Wenn die Liebe gegen Gott das
erſte Geſetz iſt, ſo ſoll es auch die erſte Angelegenheit
des Menſchen ſeyn, ſich hierinn nicht zu täuſchen.
Die angegebnen Prüfſteine entfernen nun wirklich von
jedem, der ſie brauchen kann und will, alle Gefahr
einer Täuſchung. „Nicht ſchöne, ſüſse Worte, nicht
verfliegende Gefühle, nicht helle Erkenntniſſe, nicht mu-
thige Entſchlieſsungen, ſondern der bleibende Sinn des
Gehorſams, der allen erkannten Willen Gottes voll-
bringt, und der bleibende Sinn der Zuverſicht, die alle
Furcht meiſtert, und die Seele mit Frieden tränkt, be-
weiſen das Daſeyn der heiligen Liebe.“ Dieſs lehrt die
Schrift. Wenn nun der gewöhnliche Menſch ſein In-
neres, auch nur Einen Tag über, ſtrenge beobachtet:
ſo wird er in ſich unzählige Abweichungen von dem
erkannten Willen Gottes und zugleich Unruhe und
Mangel am Vertrauen entdecken, Beweiſe genug, wie
ſehr es ihm an Liebe gegen Gott noch fehle. Und ſo
wird jeder aufmerkſame Selbſtbeobachter die Wahr-
heit der Schrift, in ſo ferne ſie die Prüfſteine der Liebe
angiebt, an ſeinem Herzen erfahren können. Der
Nachdenkende wird ſich überdieſs leicht überzeugen
können, daſs es zur Natur der Liebe gehöre, groſſe
Opfer dem Willen des Geliebten zu bringen, und eine
ſtarke Zuverſicht zu dem, für den die ganze Seele thä-
tig iſt, in das Herz zu legen. Die gegebnen Prüf-
ſteine dienen auch, die Stuffen der Liebe gegen Gott
D 4zuver-
[56] zuverläſſig zu beſtimmen. Es ſind offenbar zwiſchen
Gehorſam und Gehorſam, zwiſchen Vertrauen und Ver-
trauen, unzählige Unterſchiede, und man muſs un-
zählige Verſuche gemacht haben, bis der Muth zu ge-
horſamen, allen Willen Gottes umfaſſen und das
Vertrauen alle Furcht beſiegen kann.
Die Lehre von dem Gehorſam insbeſondere,
wird noch einleuchtender, wenn man bemerkt, daſs
Jeſus und ſeine Jünger den Gehorſam oder das Voll-
bringen des göttlichen Willens gerade ſo allgemein
und ſo nachdruckſam empfehlen, als die Liebe. So
macht Jeſus (Matth. VII. 21.) nur denen, die den Wil-
len ſeines Vaters thun, die Thür in das Himmelreich
auf. So lehrt uns Paulus prüfen, was dem Herrn
wohlgefällig, und des Herrn Wille ſey (Epheſ. V. 10. 17.).
So dringt Petrus (I. Br. IV. 2.) darauf, daſs wir nicht der
eignen Luſt, ſondern dem Willen des Herrn folgen.
Die chriſtliche Moral giebt 3) den heiligen
Geiſt als das thätige Principium dieſer Liebe an. „Die
Liebe Gottes iſt ausgegoſſen in unſer Herz durch den
heiligen Geiſt“ (Röm. V. 5.). „Das Reich Gottes be-
ſteht nicht im Eſſen und Trinken, ſondern in Gerechtig-
keit, und Friede, und Freude in dem heiligen Geiſt.“
(Röm. XIV. 17.) Dieſe Liebe iſt alſo wahrhaft eine
göttliche Tugend — göttlich, nicht bloſs, weil es ihr
Gegenſtand, ſondern und vorzüglich, weil es auch
ihre Quelle iſt. Das Geſetz, ſagt ein Weiſer des chriſt-
lichen Alterthums ſo wahr als ſchön, beobachtet man
nicht durch das Geſetz. Nemo poteſt legem implere per
legem.
[57]legem. Denn die Fülle des Geſetzes iſt die Liebe, und
die Liebe wird in unſerm Innern nicht durch das Geſetz
ausgegoſſen, ſondern durch den heiligen Geiſt.
Den praktiſchen Beweis dieſer tröſtlichen Wahr-
heit haben alle Edle aller Zeiten dadurch gegeben,
daſs ſie zu Gott um die Tugend, als die erſte Gabe,
gebeten, und für dieſelbe, als für die erſte Gabe, ge-
dankt haben.
Und gerade hier zeigt ſich die chriſtliche Mo-
ral von ihrer ſchönſten und wohlthätigſten Seite. Sie
fodert nicht zu viel, wenn ſie eine Liebe gegen Gott
fodert, die ihm das ganze Herz weiht; denn ſie baut
auf die Verheiſſung einer göttlichen Kraft, die dieſe
göttliche Liebe ſchafft.
Dieſe göttliche Kraft iſt denn auch der Triumph
des Chriſtenthums über Fleiſch und Blut, und alle
Kräfte, die ſich gegen die reine Tugend empören.
Jeſus iſt kein Profeſſor, der nur das Beſſere kennen
lehrt, kein bloſſer Tugendfreund, der nur das Beſſere in
ſeinem Wandel vorzeigt; Er iſt der Erretter unſeres
Geſchlechtes, der das Herz umändert, und die heilige
Liebe des Guten, und des Alleinguten, ſeines Vaters
in uns entzündet.
Seine Worte ſind Geiſt und Leben. Und wer
die chriſtliche Sittenlehre ohne dieſe göttliche Kraft,
die Geiſter beſſert und neuſchafft, für Chriſtenthum
hält, der hält den todten Leib ohne belebenden Geiſt
für einen lebendigen Menſchen. Und ſo lange ſich die
menſchliche Vernunft weigert, an dieſe göttliche
D 5Kraft
[58] Kraft zu glauben: ſo muſs ſie entweder das Gutwer-
den für unmöglich, und alſo die Foderungen des Evan-
geliums und ſelbſt der menſchlichen Natur für über-
ſpannt, oder die menſchlichen Mühungen, gut zu wer-
den, aus einer an ſich vermeidlichen Täuſchung, für
lauteres Gutſeyn halten, oder endlich im Streben nach
Gutſeyn verzweifelnd unterliegen. Da nun das Erſte
mit der Idee des reinen Gutſeyns, die wir in uns ha-
ben, ſtreitet, und das Evangelium und ſelbſt das reine
Geſetz in unſrer Natur entehret; das Zweyte als Täu-
ſchung, der Vernunft wenigſt keine Ehre macht, und
das Letzte den Zweck aller Moral vereitelt: ſo bleibt
der nüchternen Vernunft nichts übrig, als mit den hei-
ligen Apoſteln — thun, was Menſchen können, und das,
was Menſchen nicht können, von der Allmacht gläu-
big begehren und demüthig annehmen. Dieſs iſt der
Glaube der ganzen chriſtlichen Kirche von Gnade,
heiligem Geiſt u. ſ. f. Ueber Worte und über das
Wie zankt kein Vernünftiger, der weiſs, was er
thut.
Hier löſet ſich auch die Frage: ob die Moral
Jeſu für die Menſchen unſerer oder anderer Zeiten,
zu ſublim ſey oder nicht? Sie iſt zu ſublim, und nicht
zu ſublim. Zu ſublim ohne ſeinen Geiſt; nicht zu
ſublim mit ſeinem Geiſt. Hieraus erhellet es auch,
daſs die Moral Jeſu predigen, und zugleich die Men-
ſchen von dem Geiſte Jeſu wegführen, nicht mehr
und nicht weniger ſey, als: Dem Lahmen die Pflicht
zu gehen, nachdruckſam einſchärfen, ohne die kranken
Beine zu heilen, oder ihn an den Arzt zu weiſen.
Die
[59]
Die chriſtliche Moral beſtimmt 4) die Selbſt-
verläugnung und das Gebet als die vornehmſten Ar-
beiten des menſchlichen Geiſtes, die theils der Liebe ge-
gen Gott Platz machen, theils ihre Gebote vollbringen,
theils ihre Flamme unterhalten helfen.
Selbſtverläugnung, die auch die Hand und den
Fuſs abſchneidet, und das Auge ausreiſſet, d. h. das
Allerliebſte darangiebt, und das Allerſchmerzlichſte dul-
det, um nur nicht zu ſündigen (Matth. XVIII. 8-10.);
die vor Grundlegung zum Thurmbau, die Baukoſten,
und ihr Vermögen, ob es hinlänglich ſey, den Thurm
auszubauen, genau berechnet; die Kriegsmacht ge-
nug beſitzt, um nicht Friedensvorſchläge zu thun,
d. h. Muth und Luſt hat allem abzuſagen, um ein Jün-
ger Jeſu zu werden (Luk. XIV. 26-35.) … dieſe
evangeliſche, nicht übertriebene und nicht ge-
ſchmälerte Selbſtverläugnung muſs offenbar voran-
gehen, um der lautern Liebe gegen Gott Platz zu
machen, und muſs ſtets ihre Begleiterinn ſeyn, um
ihre Befehle zu vollbringen, und alles wegzu-
räumen, was dieſelbe ſchwächen kann. Wie könn-
ten wir Gott von ganzem Herzen lieben, wenn wir
Menſchenlob oder Sinnenluſt oder Reichthum, oder
einen andern Götzen von ganzem Herzen liebten?
Ebendeſswegen erklärt ſich das Evangelium gegen
alle Heucheley (Matth. XXIII. 25-28. VI. 16-18.), ge-
gen alle Eitelkeit (Joh. V. 44. Luk. XIV. 7-12.), gegen
alle Selbſtrechtfertigung (Luk. XIV. 15.), gegen alle
Anhänglichkeit des Herzens an den Reichthum (Luk.
XII. 15. 19. 20. Matth. VI. 19. 20. 24.), gegen alle un-
nöthige
[60]nöthige Vorſichtigkeit in Abſicht auf die zeitliche Ver-
pflegung (Matth. VI. 31-33.), gegen allen Keim der
Unzucht, des Zorns, der Unmäſſigkeit (Matth. V. 22-
28. Luk. XXI. 34.)
So iſt auch das Gebet theils eine Bedingniſs,
ohne die die Liebe gegen Gott nicht in unſer Herz ge-
pflanzt werden kann (Luk. XI. 9-13.), theils eine
Uebung der Liebe (Röm. VIII. 26. 27. Matth. VI. 9-11.),
theils ein Mittel, uns und die übrigen Feinde der Tu-
gend ſtandhaft zu beſiegen (Matth. XXVI. 41. Luk.
XXII. 40. Matth. VI. 12. 13. 14.)
Deſswegen werden wir auf allen Blättern der
evangeliſchen Geſchichte zum Vertrauen getrieben;
deſswegen ſind dem vertrauenden Gebete ſo ſchöne Ver-
heiſſungen gegeben (Joh. XVI. 23. 24.); deſswegen
wird dem Gebete nicht ſo faſt Eine Zeit angewieſen,
als vielmehr das Allzeitbeten empfohlen (Luk. XVIII.
1. 8.); deſswegen hat uns unſer Lehrer ein ſo unaus-
denkliches Muſter des Gebetes hinterlaſſen (Matth. VI.
9. 15.), das mit den höhern Bedürfniſſen unſerer Natur
ſo vollkommen übereinſtimmt. Der Menſch hat einen
Trieb zum Gutſeyn, und einen Trieb zum Wohlſeyn
in ſich. Nun ſtimmen die Bitten; Vater, dein Name
werde geheiliget, dein Reich komme, dein Wille geſchehe,
offenbar mit dem Triebe zum Gutſeyn, und weil das
Gutſeyn die Wurzel des Wohlſeyns iſt, auch mit un-
ferm Wohlſeyn überein. Wenn die lauterſte Liebe ge-
gen Gott, wenn die reinſte Tugend ſprechen könnte:
ſo würde ſie nichts anders ausſprechen können, als den
regen Wunſch, daſs die Quelle alles Guten in allem ver-
herr-
[61]herrlichet, das Reich der Weisheit über alle Reiche der
Eigenliebe erhaben, und der Wille des beſten Weſens in
allem erfüllet werden möchte!!
Eine reinere Sittenlehre giebt es im Himmel
und auf Erde nicht, kann keine geben! Die letztern
Bitten: Gieb uns unſer täglich Brod, vergieb uns un-
ſere Schulden, führe uns nicht in Verſuchung, erlöſe
uns von allem Böſen, harmoniren eben ſo genau mit
unſerm wahren Wohlſeyn, und eben darum mit dem
wahren Gutſeyn.
Die chriſtliche Sittenlehre weiſet 5) der Liebe
gegen Gott das herrlichſte Ziel an — Die innigſte Ver-
einigung mit Gott, die hier anfängt und nach dieſem
Leben vollendet wird. (Joh. XIV. 20. 21. 23. I. Cor. VI.
18. 19. II. 9. Joh. XVII. 20-25.) Da alle Liebe, als
Liebe gegen ein liebewürdiges Weſen, nach Vereini-
gung ſtrebet; da der Menſchengeiſt, als ein Ebenbild
Gottes, der Vereinigung mit Gott fähig ſeyn muſs; da
die Liebe gegen Gott die mächtigſte Scheidewand zwi-
ſchen Gott und dem Menſchen, die Sünde, nieder-
reiſſet; da nichts Vergängliches die unvergängliche
Natur unſers Geiſtes ſättigen kann; da in uns ein un-
auslöſchliches Sehnen nach dem höchſten Gute gelegt
iſt; da ſich auſſer der Quelle des Guten, und ohne Ei-
nigung mit ihr kein vollkommen Gutſeyn denken läſst;
Da Jeſus, Johannes und Paulus von dieſer Vereinigung
als der Beſtimmung des Menſchen ſo würdig ſprechen;
da all das, was wir Schöpfung, Erlöſung und Heili-
gung nennen, keinen edlern Zweck haben kann, als
den
[62] den Menſchen mit ſeinem Gott zu vereinigen; da die
Plagen, Verſuchungen, Kämpfe dieſes Lebens eine
ausnehmende Schicklichkeit haben, die Menſchen die-
ſer Vereinigung fähig zu machen; da alſo die Sache
mit den Fähigkeiten und Bedürfniſſen der menſchlichen
Natur, mit der Natur der Liebe, mit der Idee des
höchſten Gutes, mit dem Zwecke aller Religion, und mit
dem Zwecke des Chriſtenthums insbeſondere, und mit
der Einrichtung dieſes Lebens übereinſtimmt: ſo wird
wohl kein Weiſer über die Sache abſprechen, und es
nur den Thoren überlaſſen, die Perle um des Wortes,
oder des Misbrauches, oder des Kothes wegen, das
daran hängt, wegzuwerfen. In dieſer Vereinigung
ſtand z. B. Paulus, da er ſagen konnte: Wer will uns
ſcheiden von der Liebe Gottes etc.? Röm. VIII. 35-38.
Dieſe Einigung zwiſchen Gott und dem Menſchen-
geiſte, die in der Harmonie zweyer Freunde ein ſo
ſchönes, obgleich ſchwaches Bild hat, wird nach dem
Sinne der heiligen Schriften, in Beziehung auf Gott,
vollkommene Verherrlichung Gottes, und in Beziehung
auf den Menſchen, göttlicher Friede, der alle Vorſtel-
lungskraft überſteigt, heiſſen können. Denn was
ſollte Gottes Güte, Weisheit und Macht herrlicher of-
fenbaren können, als dieſe Freundſchaft zwiſchen dem
höchſten Geiſte und ſeinen Ebenbildern, den erſchaffe-
nen, guten Geiſtern? Und was ſollte dieſen Geiſtern
mehr Ruhe ſchaffen können, als dieſe ihre Einigung
mit dem Mittelpunkte aller Seligkeit? Mögen ſich doch
die Menſchen auch von dieſer Sache noch ſo ebenteur-
liche Begriffe gebildet haben: die Sache bleibt immer
die
[63]die nämliche Sache. Muſs denn in den Händen der Un-
reinen nicht auch das Reinſte unrein werden? Und was
kann ſelbſt die Vernunft von Dingen, die auſſer ihrem
Kreiſe liegen, anders als ſchweigen, vermuthen oder
dichten? Da ſie nun das Schweigen ſo oft zu hart und
das Vermuthen zu unanſehnlich findet: was wollen wir
uns an ihren Dichtungen ärgern, und vor Aerger die
Sache verſchreyen? Und, wenn ſelbſt die Vernunft
hierinn keinen Beſcheid geben kann, was ſoll die Ein-
bildungskraft, die nicht einmal dem Unſinn das Färb-
lein der Weisheit leihen kann? Paulus konnte aus
Erfahrung ſprechen, und ſein Wort ſoll gelten, und
wird gelten, ſo lange die Wahrheit Wahrheit iſt:
Wer Gott anhängt, iſt Ein Geiſt mit Ihm. Zu dieſem
Einsſeyn und zu keinem andern führt uns die Liebe
rechter Art, und von dieſem und von keinem andern
ward hier das Nöthigſte berühret.
Die chriſtliche Sittenlehre begreift unter der
Liebe gegen Gott 6) auch die Liebe gegen Jeſus Chri-
ſtus, den Sohn Gottes. Die Liebe gegen Jeſus, und
zwar die Liebe von ganzem Herzen, iſt ein Geſetz
für Chriſten: wer Vater oder Mutter mehr liebet, als
Mich, der iſt Meiner nicht werth; wer Sohn oder
Tochter mehr liebet, als Mich, der iſt Meiner nicht
werth (Matth. X. 37.). Und was Jeſus von Petrus
foderte, das fodert er, nach Fähigkeit des Chriſten,
von jedem Chriſten: Simon, liebſt du mich? Joh. XXI. 16.
Dieſe Liebe gegen Jeſus hat den nämlichen Prüfſtein:
Wer meine Gebote hat und hält ſie, der iſts, der Mich
lieb hat (Joh. XIV. 21.): und nun, Kinder, bleibt
bey
[64] bey Ihm, damit wir bey ſeiner Oſſenbarung Freudig-
keit haben, und nicht zu Schanden werden vor ſeiner
Zukunft (I. Joh. II. 28.). Dieſe Liebe hat das nämliche
Principium: Daran erkennen wir, daſs Jeſus in uns bleibt,
an dem Geiſt, den Er uns gegeben hat (I. Joh. III. 24.).
Dieſe Liebe hat die nämlichen Bedingniſſe und Uebungs-
mittel — Selbſtverläugnung und Gebet: Wer nicht ſein
Kreuz auf ſich nimmt, und Mir nachfolgt, der iſt Mei-
ner nicht werth (Matth. X. 38.): Was ihr bitten wer-
det in meinem Namen, das werde Ich thun, damit der
Vater geehrt werde in dem Sohne (Joh. XIV. 13.).
Dieſe Liebe hat das nämliche Ziel, die innigſte Verei-
nigung mit Jeſus (Joh. XIV. 21. Matth. XII. 50.), und
die nämliche Verheiſſung, das ewige Leben. (Joh.
XVII. 22.)
Hieraus läſst ſich abnehmen, wie eigenmächtig
jene mit der chriſtlichen Sittenlehre verfahren, die die
Menſchen nur an den todten Unterricht Jeſu anklam-
mern, und von ſeiner lebendigen Perſon ganz weg-
ziehen wollen. Sie thun wenigſtens das gerade Ge-
gentheil von dem, was die heiligen Apoſtel gethan
haben. Und das ſollten ſie doch nicht. Am allerwe-
nigſten ſollten ſie das Gegentheil von dem, was die
Apoſtel gethan haben, für apoſtoliſches Chriſtenthum
ausgeben.
Am ſicherſten wird es wohl ſeyn, wenn wir
es in Abſicht auf Jeſus, mit Jeſus ſelbſt halten, und
dieſer ſprach’s: Der Vater richtet niemand, ſondern
alles Gericht hat Er dem Sohne übergeben, damit alle
den Sohn ehren, wie den Vater. Wer den Sohn nicht
ehret,
[65]ehret, der ehret auch den Vater, der Ihn geſandt hat,
nicht (Joh. V. 22. 23.). Und was Jeſus ſprach, darauf
hin — wollen wir, lieben Freunde! leben und ſter-
ben, und es ſoll uns nie gereuen.
Die chriſtliche Sittenlehre iſt eben ſo unver-
gleichbar 7) in der Lehre von der Menſchen- und Näch-
ſtenliebe.
Sie ſtellt a. das Geſetz der Menſchen- und
Nächſtenliebe dem erſten und gröſten Gebote, der
Liebe gegen Gott, gleich (Matth. XXII. 39.): das
zweyte iſt dieſem gleich. Es giebt, in dem Sinne Jeſu,
kein eigentliches zweytes Gebot. Denn Gott über
alles lieben, und den Nächſten wie ſich — iſt alles
Gebot, und den Nächſten lieben — dem erſten gleich.
Dadurch ſollten wir aufmerkſam gemacht werden, daſs
Wohlthun, wie Jünger Jeſu wohlthun, ein wahrer
Gottesdienſt, und Wittwen und Waiſen beſuchen ein
ſchöner Actus der heiligen Religion ſey (Jak. I. 27.).
Wahrhaftig, höher wird die reine Menſchlich-
keit in keiner Religion geehrt, als in der Chriſtlichen,
Denn „Menſchen lieben“ — iſt am Werthe gleichgeltend,
und im Grunde Eines mit: „Gott lieben.“
Sie macht b. die Liebe Gottes gegen uns zur
Norm, zum Beyſpiele der Menſchen- und Nächſtenliebe.
Sie ſtellt die Liebe Gottes gegen uns, wie ſie
ſich in der Natur offenbaret, zur Norm der Menſchen-
liebe auf. Liebet eure Feinde — damit ihr Kinder ſeyd
Eeures
[66]eures Vaters im Himmel, denn Er läſſet die Sonne auf-
gehen über die Böſen und Guten — — ſeyd vollkommen,
wie euer Vater im Himmel. (Matth. V. 44-48.)
Sie ſtellt die Liebe Gottes gegen uns, wie ſie
ſich in der Sendung Jeſu offenbaret, zur Norm der
Nächſtenliebe auf: Daran iſt die Liebe Gottes gegen
uns erſchienen, daſs Gott ſeinen Eingebohrnen in die
Welt geſandt, damit wir durch Ihn leben ſollten. — —
Ihr Lieben! Gott hat uns ſo geliebet: wir ſollen uns
auch ſo untereinander lieben, d. i. das Liebſte für ein-
ander daran geben. (I. Joh. IV. 9. 11.)
Sie ſtellt uns endlich die göttliche Liebe Jeſu
als Norm unſerer Liebe auf: Daran haben wir erkannt
die Liebe, daſs er ſein Leben für uns gelaſſen hat:
wir ſollen alſo auch das Leben für die Brüder laſſen.
(I. Joh. III. 16. 17.)
Und Er ſelbſt, der für uns ſtarb, machte ſeine
Liebe zur Norm der unſrigen: Das iſt mein Gebot, daſs
ihr einander liebet, wie Ich euch geliebet habe. (Joh.
XV. 12. 13.) Nach dieſer Richtſchnur — kann unſere
Nächſtenliebe nie zu rein, nie zu thätig, nie zu viel
umfaſſend werden; denn der Vater gab den Sohn aus
Liebe für alle, und der Sohn ſtarb aus Liebe für alle.
O heiliges Evangelium! wie rein müſsten die
Menſchen einander lieben, wenn ſie deine Richtſchnur
nicht auſſer Acht lieſſen! wie rein müſsten die Men-
ſchen wenigſtens lehren, wenn ſie nach deiner Richt-
ſchnur lehrten! Umſonſt ſuchen ſie ein höheres Ideal,
als
[67] als Du uns giebſt! Und nicht nur das reinſte Ideal aller
Liebe giebſt uns Du, es iſt auch das lebendigſte. „Der
Vater — der Menſchen, ein Exempel der Liebe, wirk-
ſam als Beyſpiel, und wirkſamer noch als Quelle alles
Guten.“
Sie betrachtet c. die Menſchen- Nächſten- und
Brüderliebe(*)als eine Folge der Liebe gegen Gott,
und als einen Funken, der von dieſer heiligen Flamme
aufſteigt. Wer glaubt, daſs Jeſus der Geſalbte ſey,
der iſt aus Gott gebohren; und wer ſeinen Vater liebet,
der liebet auch den, welcher mit ihm von dem nämli-
chen Vater herſtammet (I. Joh. V. 1. 2.). Die Menſchen
lieben heiſst alſo nichts anders, als den Einen Vater in
ſeinen Kindern lieben. Und ſo iſt die rechte Liebe ge-
gen andere, nicht nur göttliches Geſchlechtes, wie
die Liebe gegen Gott, ſondern auch eine Probe der
Liebe gegen Gott: So jemand ſpricht: ich liebe Gott,
und haſſet ſeinen Bruder, der iſt ein Lügner. Denn,
wer ſeinen Bruder nicht liebet, den er doch ſieht, wie
kann er Gott lieben, den er nicht ſieht? (I. Joh. IV. 20.)
Und dieſe Probe iſt in dem angegebenen allgemeinen
Prüfſteine, dem Gehorſam gegen den erkannten Willen
Gottes, ſchon mitbegriffen. Denn ſeinen Nächſten lie-
ben, heiſst Gott gehorſamen, der uns die Nächſtenliebe
zur Pflicht macht.
E 2Um
[68]
Um uns noch mehr von dem Werthe der Men-
ſchen- und Nächſtenliebe zu überzeugen, macht die
chriſtliche Sittenlehre ſie d. zum Merkzeichen des
wahren Chriſtenthums (Joh. XIII. 35.); zur Fülle und
Summe des Geſetzes (I. Tim. I. 5. Röm. XIII. 8-10.
Gal. V. 14.); zur Vollkommenheit, die nicht zum Stück-
werke gehört, und über Glaube, Hoffnung, Weiſſa-
gungen und alle übrige Geiſtesgaben erhaben iſt (I. Cor.
XIII. XIV.); zum Charakter der Gottähnlichkeit und
der Einigung mit Gott: Gott iſt die Liebe, und wer
in der Liebe bleibet, der bleibt in Gott (I. Joh. IV. 16.);
zum Dienſte, den wir Chriſto in den Armen, Kranken,
Hungrigen, Durſtigen, Nackten, Gefangenen erwei-
ſen, und zum Aſſignate an ſeine belohnende Groſs-
muth, das am Tage des Gerichts beſtehen wird (Matth.
XXV. 34-40.)
Sie lehrt uns 8) die Liebe gegen Gott und den
Nächſten durch Demuth in ihrer Reinheit bewahren, und
ihre Lieblichkeit offenbaren. Wer nach dem Sinn und
Muſter Jeſu Gott und den Nächſten liebt, ſieht auch
dieſe Liebe als eine Gabe an, die von oben kommt
(Jak. I. 16.); denkt wohl daran, daſs er die Wahrheit
und das Leben nicht von ſich, ſondern von der Wahr-
heit und dem Leben habe (Joh. XIV. 6.); glaubt feſt, daſs
er ſich das Gutſeyn ſo wenig, als das Seyn gegeben,
und daſs ſeine Tugend, wie ſein Weſen, in Gott lebe,
webe und ſey (Apoſtelg. XVII. 28.); hält ſich für einen
unnützen Knecht, wenn er auch alles gethan hat, was
er thun ſollte (Luk. XVII. 10.); richtet nicht, ſondern
wartet
[69]wartet auf den Tag, der alles Verborgene ans Licht
bringen wird (I. Cor. IV. 3-5.); thut auch den Gerin-
gern gerne Knechtesdienſte (Joh. XIII. 15.), und lebt
nicht der Ehre ſeines Namens, ſondern der Ehre deſſen,
der Knechtsgeſtalt annahm, und ſich unter alle ernie-
drigte (Phil. II. 3-21.). Dieſer ſtille Sinn bewahrt den
Schatz der Liebe gegen Gott und den Menſchen, daſs
ihn kein Hauch der Eitelkeit beflecke, und keine Re-
gung der Selbſtgefälligkeit ſchwäche. Dieſer ſtille Sinn
zeigt die Liebe gegen Gott und den Nächſten in ihrer
lieblichſten Geſtalt, daſs Engel und Menſchen, die Zeu-
gen derſelben werden können, Freude daran haben.
Es iſt keine Falte des Stolzes in dem Antlitze der de-
müthigen Liebe, und keine Mine bettelt um Lob. Der
Demüthige iſt der menſchlichſte Menſch, er mag mit Gott
im Umgang ſeyn oder mit Menſchen.
— — — Dieſe Linien von dem Bilde der Liebe
weiſen allerdings auf den Werth der chriſtlichen Moral.
Und doch iſt es nicht ſo faſt die göttliche Lehre, die
ſie empfiehlt, als die göttliche Kraft, die die Her-
zen der Menſchen wandelt. Es iſt nicht die Lehre, es
iſt Chriſtus, der gerecht macht; es iſt nicht die Lehre,
es iſt der heilige Geiſt, der heilig macht. —
B.
Die chriſtliche Sittenlehre iſt den verſchiedenen
Zuſtänden, Faſſungen, Stuffen, in denen ſich die Mo-
ralität oder Unmoralität der Menſchen befinden kann,
angemeſſen, und iſt auch, nach dieſer Angemeſſenheit
betrachtet, einzig.
E 3Sie
[70]
Sie weckt a. den, der nur durch die Folgen
der Sünde geweckt werden kann, durch die Schrecken
der Zukunft vom Schlummer auf, und hält den, der
dieſes Zaumes bedarf, durch dieſen Zaum — in Zucht.
Zu dem Ende verkündet ſie Angſt und Trübſal allen,
die Böſes thun (Röm. II. 9.); einen Richter, der die
ganze Welt richten wird (Apoſtelg. X. 42. XVII. 31.);
einen Tag der Gerechtigkeit, auf den hin — der ver-
ſtockte Sinn ſich einen Schatz der Strafe ſammelt, und
an welchem jedem nach ſeinen Werken wird vergolten
werden von dem Gott, bey dem kein Anſehen der Per-
ſon gilt (Röm. II. 5-12.) — und der Leib und Seele ver-
derben kann (Matth. X. 28.); eine Rechenſchaft, die von
jedem unnützen Worte wird gefodert werden (Matth.
XII. 36.); ein unabänderliches Geſetz, das den Ehebruch,
die Hurerey und alle Unreinigkeit, Feindſchaft, Neid,
Zorn, Zank, Zwietracht, Haſs, Neid, Sauſen, Freſſen, und
alle, die ſolches thun, vom Reiche Gottes ausſchlieſst
(Gal. V. 19-22.); und endlich eine Sonderung der Gu-
ten von den Böſen, und einen Richterſpruch, der die
Böſen der ewigen Pein überantwortet (Matth. XXV. 32.).
So weiſe benützt die chriſtliche Sittenlehre den Glück-
ſeligkeitstrieb des Menſchen. Sie ſchärft ihm den Blick
auf das Ende ſeines Weges, um ihn abzuhalten, daſs
er darauf nicht weiter fortſchreite.
Sie fängt b. bey allen Sündern, die ſie bereits
auf ſich aufmerkſam gemacht, mit der Predigt der Sin-
nesänderung (der Buſſe) an, weil die Sünder doch nicht
gut werden können, wenn ihr ganzer Sinn nicht ge-
ändert
[71]ändert wird. Weil aber, nach dem Gebote des Evan-
geliums, keine wahre Sinnesänderung geſchehen kann,
wenn nicht das ganze Herz von der Sünde weg, und
zu Gott hingewendet wird, und alſo das höchſte Gut
nach allen Kräften zu lieben anfängt: ſo treibt die
chriſtliche Sittenlehre die Sünder bey allen Anläſſen
zum Glauben an den, der iſt und ſich finden läſſet von
denen, die Ihn ſuchen (Hebr. XI. 6.); zum Vertrauen
auf den Vater, der den zurückkehrenden Sohn freudig
in ſeine Arme ſchlieſſet (Luk. XV. 11-32.); zum Ver-
trauen auf den Sohn, der ſein Leben hingab, um ſeinen
Schafen ewiges Leben zu geben (Joh. X. 15. 28.), und
der mit ſeinem Blute reiniget, was unrein iſt (I. Joh.
II. 2.); zur Liebe gegen das liebenswürdigſte Weſen,
das den Menſchen gut haben will, um ihn ſelig zu ma-
chen (Matth. XXII. 37.); zur Erkenntniſs und Bekennt-
niſs der Sünde (I. Joh. I. 9.); zum Gebete um den guten
Geiſt, ohne den in uns kein guter Sinn werden kann
(Luk. XI. 13. Joh. III. 5.); zum zerſchlagenen, reu-
vollen Sinn, den Gott nicht verſchmähen kann, und
der dem guten Sinne Platz machen muſs (Luk. XV.
20. 21.); zum ernſten Entſchluſſe, den ſchmalen Weg
zu wandeln, und durch die enge Pforte durchzudrin-
gen (Matth. VII. 13. 14.); zur edlen Verläugnung alles
deſſen, was noch nicht mit dem heiligen Willen Got-
tes in uns übereinſtimmt (Matth. XVI. 24.), und zum
Nichtzurückſehen, wenn man einmal die Hand an den
Pflug gelegt hat (Luk. IX. 62.)
Die chriſtliche Sittenlehre lehrt alſo gerade das
was wir alle am meiſten bedürfen; was der Leichtſinn
E 4ſo
[72] ſo gerne verſchiebt; was allein im Stande iſt, uns den
Eingang in das Reich Gottes zu öffnen; was am ſchwer-
ſten zur Vollkommenheit gedeihet; was durch nichts
anders erſetzt werden kann; womit Jeſus, Petrus, Jo-
hannes, Paulus ihr Predigtamt anfiengen — — Buſſe.
Und ſie wäre wahrhaftig keine Chriſtenlehre für Men-
ſchen, wenn ſie dieſelben, ſtatt zur Sinnesänderung zu
führen, nach Art der gemeinen Wiſſenſchaften, nur mit
Entwicklung der Begriffe, worinn doch kein ewiges
Heil für unſterbliche, des ewigen Wohlſeyns fähige
Geiſter iſt, beſchäftigte. Sie will zuerſt gute Bäume ha-
ben: dann kommen die guten Früchte von ſelbſt. Sie
dringt zuerſt auf Erneurung des Grundes: dann gedei-
hen die guten Gewächſe im geſunden Boden.
Sie zieht c. den, welcher fähig iſt, durch die
ſanftern Seile der Dankbarkeit gezogen zu werden,
durch dieſe ſanftern Seile zur Gegenliebe: Darum ſo
laſſet uns Gott lieben, denn Er hat uns zuvor geliebet
(I. Joh. IV. 19.). „Die höchſte Liebe nicht nur ein Ge-
genſtand — ſondern auch ein Motiv der Liebe!“
So wird beſonders die Vergebung der Sünden,
dieſe groſſe Wohlthat, die keine Bemühung verdienen,
und kein Unerfahrner nach ihrem Werthe ſchätzen
kann, in dem Menſchen, der Gnade gefunden, eine
unſterbliche Nahrung der Liebe gegen Gott; wie
die Sünderinn vor den Füſſen Jeſu, ſeine Gleichniſs-
rede von den zweyen Schuldnern (Luk. VII.), und
die Beyſpiele des liebenden Petrus und des liebenden Pau-
lus etc. beweiſen, die in der Gnade des Sündennach-
laſſes
[73] laſſes einen kräftigen Sporn zum Eifer, für Jeſus zu
leben und für Jeſus zu ſterben, gefunden hatten.
Daſs es übrigens auch eine reine Dankbarkeit ge-
ben könne, und daſs die Dankbarkeit gerade iſt, wie
das Herz, rein wie dieſes, oder eigenſüchtig wie die-
ſes, und zwar nach allen Stuffen der Reinheit auf-
wärts, und der Eigenſucht abwärts, iſt ſo gewiſs, als
daſs die Liebe für Gaben, die andern zu Theil werden,
eben ſo dankbar werden kann, als für Gaben, die uns
ſelbſt geworden ſind, und daſs die reine Liebe das Mein
und Dein vergiſst, und vor Freude — an dem Geber,
auch der Gabe. Hätten wir nur die Sache, die dank-
bare, gebietende Liebe: wir würden uns um den Be-
griff nicht viel zanken, hätten auch gewiſs immer et-
was wichtigers zu thun. Aber, eben weil wir die
Sache nicht haben: ſo haben wir Stoff und Luſt und Zeit
zum Streiten über die Vorſtellungen von der Sache.
Sie ſpornet d. den, der ſich durch Beyſpiele
ſpornen läſst, durch Beyſpiele zur höhern Vollkommen-
heit. Bald iſt es Jeſus, von dem wir die Geduld, das
Nichtwiderſchelten (I. Petr. II. 21-25.), die Liebe ge-
geneinander (I. Joh. III. 16.), die Demuth und die Ent-
äuſſerung aller Vorzüge, um andern zu dienen (Phil.
II. 5.) lernen ſollen; bald wird uns die Liebe des Va-
ters zum Muſter vorgeſtellt (I. Joh. IV. 9. 10. Epheſ.
IV. 32.); bald werden uns die Beyſpiele der Heiligen,
und die ganze Wolke der Zeugen vorgehalten (Hebr. XI.).
Dieſe Beyſpiele ſind uns deſto unentbehrlicher, je mehr
theils die Sorgen und Bedürfniſſe dieſes Lebens, theils
E 5die
[74] die geiſtzerdrückende Sinnlichkeit, theils die reizenden
Beyſpiele des Laſters, das Licht, das uns zum Guten
weiſet, in uns verdunkeln; und wer der Beyſpiele,
die zur Tugend locken, ſo leicht entbehren zu kön-
nen glaubt, der kennt ſich nicht und die Tugend nicht,
und die kritiſchen Augenblicke nicht, in denen der En-
gel vom Satan, Unſchuld von Sünde, um kein Jota
mehr — von einander ſind. Ein Stab auf ſchlüpfrigen
Wegen thut gute Dienſte dem, der ihn hat und ge-
brauchen will und gebrauchen kann. Dieſs iſt der
Werth der Tugendbeyſpiele.
Sie führt e. den, der ſich der Hoffnung freut,
Jeſum in ſeiner Herrlichkeit zu ſehen, durch eben dieſe
Hoffnung, zum neuen Eifer, ſich zu reinigen, wie
Jeſus rein iſt, damit er fähig und würdig werde, Ihn
zu ſehen, wie Er iſt. „Meine Lieben, ſpricht ſie, wir
ſind Kinder Gottes, und noch iſt nicht erſchienen, was
wir ſeyn werden. Wir wiſſen, wenn Er erſcheinen
wird, daſs wir Ihm gleich ſeyn werden; denn wir wer-
den Ihn ſehen, wie Er iſt. Und ein jeder, der ſolche
Hoffnung hat zn Ihm, der reiniget ſich, gleichwie
auch Er rein iſt (I. Joh. III. 2. 3.).
Die herrliche Zukunft — gründet alſo in den
Kindern Gottes die Hoffnung, und die Hoffnung treibt
ſie zur vollkommnern Reinigung, und die vollkomm-
nere Reinigung macht ſie einer herrlichern Zukunft
fähig und werth. So kann denn auch ſogar die Hoff-
nung ein Triebrad zur Reinigung werden — wenn
wir nur wollen.
Sie
[75]
Sie ſtärket f. die Kämpfenden durch die Aus-
ſichten auf die kommende Herrlichkeit zu neuem Muth,
um der Gerechtigkeit willen zu leiden.
„Und was ſind alle Leiden dieſer Tage? ich
halte ſie wie nichts gegen die Herrlichkeit, die an uns
ſoll offenbar werden (Röm. VIII. 18-26.); unſere Trüb-
ſal, die zeitlich und leicht iſt, ſchaffet uns ewige und
übergewichtige Herrlichkeit — uns, die wir nicht auf
das Sichtbare, ſondern auf das Unſichtbare ſehen. (II.
Cor. IV. 17. 18.). Wenn nun Paulus, deſſen Liebe ſo
rein war, daſs er für ſeine Brüder gerne ein Fluch ge-
worden wäre, ſich nicht ſchämt, auf das Unſichtbare
hinauszuſehen, um Muth für das Sichtbare zu holen:
was ſollen wir, und alle, die noch mit Fleiſch und
Blut zu ſtreiten haben, uns ſchämen, unſern Muth da-
her zu holen, woher ihn die edelſten Menſchen auch
genommen haben? Dem Reinen iſt alles rein: alſo
gewiſs auch der Blick in das Land der Seligkeiten, von
dem uns die Idee und der Wunſch nicht umſonſt gelaſ-
ſen iſt, zu dem die Weisheit nicht umſonſt den Weg
bahnt, dazu uns die Güte nicht umſonſt geſchaffen,
und davon die Tugend hier ſchon, nicht umſonſt einen
Vorſchmack hat.
Sie weiſet g. die Frommen, die dieſes Na-
mens werth ſind, bey ihren täglichen Fehltritten, de-
ren ſie ſich nicht erwehren können, in den unaus-
ſprechlichen Beklemmungen, denen auch die reinſte Seele
nicht entgehen mag, und in allen geheimen oder offen-
baren Anliegen, die keine menſchliche Vernunft weg-
denken
[76] denken und keine menſchliche Kraft wegheben kann,
an Einen Fürſprecher, der gerecht iſt und gerecht ma-
chet (I. Joh. II. 1. 2.), an einen Hoheprieſter, der ſelig
iſt, mitleiden kann mit unſern Schwachheiten, und
ſelbſt in allem, doch ohne Sünde, verſucht worden
(Ebr. IV. 15.); an einen Freund, der uns nicht waiſe
laſſen kann, und dem Vertrauen mit Troſt und Hülfe
antwortet, wie es die ganze Apoſtelgeſchichte bewei-
ſet; an einen Schutzherrn der Wahrheit und Tugend,
der alle Dinge trägt mit ſeinem kräftigen Worte (Hebr.
I. 3.), und erhöhet über alle andere Höhen (Phil. II. 9.),
alle Gewalt im Himmel und auf Erde in ſeiner Hand
hat und bis an das Ende der Welt bey den Seinen iſt
(Matth. XXVIII. 18-20.). Da nun keine Menſchen-
ſatzung, es ſey die beſte oder die ſchlechteſte, alt oder
neu, dieſen Gnadenſtuhl (Hebr. IV. 16.) umſtoſſen kann,
aus dem natürlichen Grunde, weil ſie ihn nicht errich-
tet hat und nicht errichten konnte; da keine Meynung
oder Sekte, es ſey die weiſeſte oder ſinnloſeſte, ſie
hülle ſich in einen philoſophiſchen oder theologiſchen
oder politiſchen Mantel, dieſen feſten Anker unſerer
Hoffnung zertrümmern kann: ſo können alle, die zu
dieſem Gnadenſtuhle wirklich freyen Zutritt haben, und
an dieſem Anker wirklich feſthalten, ihretwegen — un-
bekümmert ſeyn; für ihre Kinder und Kindeskinder
aber, und für alle Unmündige, die noch nicht zwi-
ſchen Korn und Spreu unterſcheiden können, oder die
ſich von der Thorheit ſchon haben bethören laſſen,
müſſen ſie allerdings bekümmert ſeyn, und jeden, der
ſich noch führen läſst, der Weisheit in die Arme zu
bringen
[77] bringen trachten; damit nicht etwa die falſche Weis-
heit eben ſo viel oder mehr Schaden anrichte, als Un-
wiſſenheit und Barbarey angerichtet haben.
Sie läſst h. keinen Guten, er ſey ſo vollkom-
men und ſo rein, als er wolle, auf dem Wege des Gut-
ſeyns ſtehen, ſondern treibt ihn weiter, und hebt ihn
noch höher empor. Sie treibt ihn weiter, indem ſie ihn
ſeine täglichen Fehler erkennen, bekennen, und beſ-
ſern lehret: ſprechen wir, wir haben nicht geſündiget,
ſo täuſchen wir uns ſelbſt (I. Joh. I. 8.), und machen
Gott zum Lügner (10.). Sie treibt ihn weiter, indem
ſie ihm Gott, als das Licht, das allerreinſte Weſen, als
Muſter darſtellt, und die Beſtimmung des Menſchen,
mit dem allerreinſten Weſen in Gemeinſchaft zu treten,
und wie im Licht zu wandeln, ohne Unterlaſs vorhält
(I. Joh. I. 5-7.). Sie hebt ihn höher, indem ſie ihn an
den groſſen Weingärtner addreſſirt, der jede Rebe, die
nicht Frucht bringt, vom Weinſtocke wegnimmt, und
jede, die Frucht bringt, reiniget, daſs ſie noch mehr
Frucht bringe (Joh. XV. 1. 2.). Sie hebt ihn höher,
weil ſie ihn allen, allen, allen Regungen der Eigenlie-
be, die die reine Liebe des Guten beflecket, wider-
ſtehen lehrt, und auf eine vollendete Heiligung dringt,
die uns fähig macht, Gott zu ſchauen (II. Cor. VII. 1.
I. Theſſ. V. 22. I. Petr. I. 14. 15.).
Sie läſst i. keinen Bürger im Staate Gottes
müſſig gehen, und ruft jedem zu: Arbeite: brauche
was du haſt: ſey, was du itzt ſeyn kannſt: wuchere
mit
[78] mit deinem Talente: jede Stunde iſt eine Stunde, in
den Weinberg zu gehen: wer gebraucht, was er hat,
dem wird gegeben werden, was er nicht hat: wer
nicht gebraucht, was er hat, wird auch das verlieren,
was er hat: wache, damit dich der Herr wachend
finde: vergrab die Gabe nicht, Er fodert ſie mit Wu-
cherzinſe zurück: du darfſt nur Ein Pfund wohl anwen-
den, wenn du nur Eines empfangen: ſey treu im Klei-
nen, damit dir das Gröſſere anvertraut werden könne:
itzt iſt die Arbeitsſtunde, einſt kommt die Lohnſtunde
(Matth. XXV. 13-29. XX. 1-16.). In dieſer Vor-
ſchrift hat der Reiche, Mächtige, Angebetete, Gelehrte
ſeine Moral, wie der Arme, Schwache, Niedere, Un-
wiſſende. Jeder kann und ſoll mit ſeiner Kraft arbei-
ten; jeder muſs nur wegen des Gebrauches, Nichtge-
brauches und Misbrauches ſeiner Kraft Rechenſchaft ge-
ben; jeder iſst von den Früchten ſeiner Ausſaat.
Sie bewahrt k. die Trägen vor falſcher Si-
cherheit, die Frommen vor dem, was man frommen
Müſſiggang nennt, und die Denkenden vor unnützen
Spekulationen, in Abſicht auf Begnadigung, da ſie kein
ander Kennzeichen des Gnadenſtandes gelten läſst, als
das Rechtthun aus gebeſſertem Herzen. Wer
recht thut, der iſt gerecht, wie Er gerecht iſt (I. Joh. III. 7.).
Wer nicht recht thut, und wer (insbeſondere) ſeinen Bru-
der nicht liebt, der iſt nicht aus Gott gebohren (I. Joh.
III. 10.). Dieſs Kennzeichen giebt der nämliche Johan-
nes an, der bey allen Anläſſen von Jeſus Tod, als dem
Opfer für die Sünden der Welt redet (I. Joh. I. 7. II. 2. 3.)
Dieſs
[79] Dieſs Kennzeichen iſt im Grunde Eines mit dem ange-
gebenen Prüfſteine der Liebe gegen Gott, dem Gehor-
ſam. Wer weiſs, wie viel über dieſs Kennzeichen ge-
ſtritten worden, wird es dem Jünger der Wahrheit
danken, daſs er ſich hierüber ſo beſtimmt erklärt hat,
wie die Wahrheit ſelbſt, die die guten Früchte zum
Wahrzeichen des guten Baumes gemacht hat, und
zuerſt nach der Gerechtigkeit ſtreben lehrt, und dem
Hunger nach Gerechtigkeit Sättigung verheifst. Doch
wir wollen keine kalte Lobredner des Lehrers, ſon-
dern Thäter der Lehre werden!
Die chriſtliche Sittenlehre ſchlieſst endlich keine
Tugend aus, zu der ſie nicht ermahnet, und kein La-
ſter, vor dem ſie nicht warnet. Uebrigens, Brüder,
was wahrhaft, was ehrwürdig, was gerecht, was rein,
was liebenswürdig, was löblich iſt, jede Tugend, jede
ſchöne That ſey euer Beſtreben (Phil. IV. 8.). In dieſem
Geiſte ermuntert ſie uns ſo oft, die Werke der Finſter-
niſs abzuthun, und als Söhne des Lichts zu wandeln
(Röm. XIII. 11-13.); mit Chriſtus der Sünde zu ſter-
ben, und mit Chriſtus der Gerechtigkeit zu leben (Röm.
VI. 3-11.); die Glieder des Leibes nicht, als Waffen
des Unrechts, der Sünde zu leihen, ſondern als Werk-
zeuge der Gerechtigkeit Gott zu übergeben (Röm. VI.
13. 14.); Freygelaſſene der Sünde und Knechte der
Gerechtigkeit zu werden (Röm. VI. 18.); nicht nach
dem Fleiſche, ſondern nach dem Geiſte zu wandeln
(Röm. VIII. 1-12.); nicht nach dem Weltſinne, ſon-
dern nach dem vollkommnen Willen Gottes zu leben
(Röm.
[80] (Röm. XII. 1-3.); Unmäſſigkeit und Unzucht, Hader
und Neid etc. zu meiden, und den Herrn Jeſum anzu-
ziehen (Röm. XIII. 13. 14.); den alten Sauerteig weg-
zuſchaffen und ein Süſsteig zu werden (I. Cor. V. 6-8.);
nicht zu ſuchen, was unſer iſt, ſondern was des an-
dern iſt, und alles zur Ehre Gottes zu thun (I. Cor. X.
24-31.); nicht mehr uns zu leben, ſondern dem, der
für alle geſtorben iſt (II. Cor. V. 14. 15.); niemanden
ein Aergerniſs zu geben, ſondern uns in allen Dingen
als Diener Gottes zu beweiſen (II. Cor. VI. 3-10.);
kein Götzenbild in uns zu dulden, ſondern vielmehr
ſelbſt ein Tempel des lebendigen Gottes zu ſeyn (II.
Cor. VI. 14-18.); das Fleiſch ſamt den Lüſten zu kreu-
zigen und ſich vom Geiſte regieren zu laſſen (Gal. V.
16-24. VI. 25.); Gutes zu thun und im Gutesthun
nicht müde zu werden (Gal. VI. 9.); den alten Men-
ſchen auszuziehen und den neuen anzulegen (Epheſ.
IV. 22-24.); Gottes Nachfolger zu ſeyn und in Liebe
zu wandeln, wie Chriſtus uns geliebt hat, und alle Un-
reinigkeit, allen Geiz, ſchändliche Worte etc. zu mei-
den (Epheſ. V. 1-6.); den Harniſch Gottes anzuziehen
und gegen alles Böſe zu ſtreiten (Epheſ. VI. 16. 17.)
u. ſ. f. Alle dieſe und noch viele andere Vorſtellungs-
arten ſagen im Grunde nur das Eine: Liebet, achtet,
thut und fördert alles Gute, und haſſet, verabſcheut,
meidet, hindert alles Böſe — nach der ganzen Kraft,
die euch gegeben iſt.
— — — — — — — —
Aus dieſem, was von a. bis k. bloſs hiſtoriſch geſagt
worden, läſst ſich ganz leicht ein Begriff abſtrahiren
von
[81] von der Methodik der chriſtlichen Moral, gute Men-
ſchen zu bilden. Sie iſt ſo lauter, daſs ſie die lauterſte
Liebe des Beſten zum Grundgeſetze ihrer Sittlichkeit
macht, und dabey ſo menſchlich, daſs ſie Furcht und
Hoffnung, Dankbarkeit und Beyſpiel, Zukunft und
Gegenwart in Bewegung ſetzt, um jeden, nach ſei-
nem Bedürfniſſe, der Tugend empfänglich zu machen.
Sie iſt ſo erhaben, daſs ſie dem Menſchen keine ge-
ringere Beſtimmung anweiſet, als die, im Lichte zu
wandeln, wie Gott im Lichte iſt, und dabey ſo ge-
recht, daſs ſie von keinem mehr fodert, als mit der
Kraft zu wuchern, die er wirklich hat, und das zu
ſeyn, was er in jedem Abſchnitte des Lebens ſeyn
kann. Sie iſt ſo eiferſüchtig auf Heiligung, daſs ſie
keine Mackel duldet, und dabey ſo milde, daſs ſie je-
dem Sünder Erbarmung, und jedem Leidenden Troſt,
und jedem Kämpfenden Stärkung anbeut. Sie iſt ſo
ed[e]l, daſs ſie im Grunde nichts als Liebe fodert, und
zugleich ſo weiſe, daſs ſie zuerſt durch Buſſe die Hin-
derniſſe wegräumt, um der vollkommnern Liebe eine
Stätte vorzubereiten. Kurz, ſie iſt wie die Liebe, und
weiſs allen alles zu werden, um alle der Liebe, d. i.
der Vollkommenheit näher zu bringen. Dieſe gött-
liche Methode gebrauchten Jeſus, Paulus, Petrus, Jo-
hannes, und von dieſen Lehrern gilt alles, was ich
von der chriſtlichen Sittenlehre geſagt habe, und ſagen
werde. Denn die Abſtrakta leben nur in den Indivi-
duen, und man muſs ein loſer Schwätzer werden, ſo-
bald man die Vollkommenheit anderswo, als in den
Vollkommenen, die Weisheit anderswo, als in Wei-
Fſen,
[82] ſen, die Tugend anderswo, als in Tugendhaften, und
die Lehre anderswo, als in den Lehrern ſucht. Zu
dieſen Lehrern wollen wir noch ferners in die Schule
gehen, um noch einige Spuren von ihrer Methode zu
finden.
C.
Die chriſtliche Sittenlehre knüpfet ihre Vorſchrif-
ten an die Glaubenslehren, und fürchtet ſich nicht, jene
durch Anknüpfung an dieſe zu verunreinen. Es iſt
dieſs ein Faktum, und ein Faktum wird durch den Au-
genſchein am richtigſten bewieſen.
So hängen in der Lehre Jeſu die groſſen Fode-
rungen der Herzensreinigung, der Friedensliebe, der
Barmherzigkeit, des muthvollen Ausharrens in unver-
dienten Leiden, mit den groſſen Verheiſſungen, Gott
zu ſchauen, Gottes Kinder zu heiſſen, Barmherzigkeit
zu erlangen, das Himmelreich zu erben (Matth. V.
4-12.); die Pflichten, die erſten Regungen des Bruder-
haſſes zu unterdrücken, Herz und Blick von Lüſtern-
heit rein zu bewahren, ſich des Schwörens zu enthal-
ten, dem Unrecht nicht zu widerſtehen, die Feinde
zu lieben, mit dem Glauben an die Autorität des
Geſetzgebers: Ich aber ſage euch, Ich aber ſage euch
(Matth. V. 20-44.); die Geſetze, nicht um des Men-
ſchenlobes willen zu faſten, zu beten, Almoſen zu
geben, mit dem Glauben an den himmliſchen Vater,
der im Verborgenen ſieht und öffentlich vergilt (Matth.
VI. 1-18.); das Gebot, alle bange Sorgen um Brod
und
[83] und Decke aus dem Herzen zu ſchaffen, und zuerſt
nach dem Himmelreiche zu trachten, mit dem Glauben
an die Vorſehung, die Lilgen kleidet und Sperlinge
nährt (Matth. VI. 25-34.); der Eifer zu bitten, an-
zuklopfen, zu ſuchen mit der Ueberzeugung von der
väterlichen Güte Gottes, die dem Bittenden antwortet,
dem Anklopfenden aufthut, und den Suchenden fin-
den läſst (Matth. VII. 7-12.), zuſamm. Die groſſe
Pflicht, Geiſt und Leib der Verherrlichung Gottes zu
weihen, knüpft Paulus an die zwey Glaubenslehren,
daſs wir durch den Sohn Gottes erkauft, und des heili-
gen Geiſtes Tempel ſind. „Oder wiſſet ihr nicht, daſs
euer Leib ein Tempel des heiligen Geiſtes iſt, der
in euch iſt, daſs ihr nicht euer ſelbſt ſeyd? Denn ihr
ſeyd theuer erkauft: darum ſo preiſet Gott an eurem
Leibe und an eurem Geiſte, welche Gottes ſind“ (I. Cor.
VI. 19. 20.). Die Pflicht, dem zu leben, der für uns
geſtorben iſt, knüpft Paulus an die Troſtlehre, daſs Je-
ſus für uns geſtorben iſt (II. Cor. V. 14. 15.); die
Pflicht, für die Obrigkeit und alle Menſchen zu bitten,
knüpft Paulus an die Glaubenslehre, daſs Gott alle
Menſchen will ſelig haben, und Jeſus für alle geſtor-
ben iſt. „Denn ſolches (das Fürbitten) iſt gut, und an-
genehm vor Gott, der will, daſs alle Menſchen ſelig
werden und zur Erkenntniſs der Wahrheit kommen.
Denn es iſt Ein Gott, und Ein Mittler zwiſchen Gott
und Menſchen, nämlich der Menſch Jeſus Chriſtus, der
ſich für alle zur Erlöſung hingegeben hat“ (I. Tim. II.
1-7.). Die Ermahnung der Corinther zur milden Bey-
ſteuer für die Armen, knüpft Paulus an den Glauben,
F 2daſs
[84] daſs Jeſus um ihretwillen arm geworden ſey, um ſie
durch ſeine Armuth reich zu machen; daſs auf eine
reiche Ausſaat eine geſegnete Aernte folgen werde,
und daſs Gott einen fröhlichen Geber lieb habe (II. Cor.
VIII. 8. 10. IX. 6. 7.). Paulus knüpft die ganze Sitten-
lehre an das Evangelium. „Die Gnade Gottes iſt dar-
um in Chriſto erſchienen, damit ſie uns in Zucht näh-
me, und wir die Gottloſigkeit und irdiſche Luſt ver-
läugneten, und mäſſig und gerecht und gottſelig in
der Welt lebten — in Erwartung und ſeliger Hoff-
nung der herrlichen Offenbarung des groſſen Gottes
und unſers Heilandes Jeſu Chriſti, der ſich für uns ge-
opfert, um uns von aller Ungerechtigkeit zu erlöſen,
und ſich ein auserleſenes Volk zu reinigen, das tüch-
tig zu guten Werken wäre“ (Tit. II. 11-15.). Mäſ-
ſig, gerecht und gottſelig leben — iſt wohl die
ganze Sittenlehre, und dieſe ganze Sittenlehre hängt
zwiſchen der erſten und zweyten Ankunft Jeſu, die
im Grunde — unſre ganze Glaubenslehre ausmachen.
Paulus fühlte wohl ſelbſt die Wichtigkeit dieſes Lehr-
inhaltes und Vortrages, denn er ſetzt bey: Das lehre,
dazu ermahne, das ſchärfe mit allem Ernſte ein. So
hängt auch Petrus die Pflicht, Buſſe zu thun, unmittel-
bar an die Lehre von dem Tode, der Auferſtehung
Jeſu, und von Erfüllung der göttlichen Rathſchlüſſe,
und unterſtützt die Ermahnung zur Buſſe wieder durch
die Lehren von der Wiederkunft Jeſu etc. (Apoſtelg.
III. 13-26.). Gleich in ſeiner erſten Predigt (Apoſtelg.
II. 14-40.) wird das Gebot, Buſſe zu thun, zwiſchen
Glaubenslehren vorwärts und rückwärts gleichſam ein-
gemauert.
[85] gemauert. Daſs Johannes die Pflicht, Gott und uns
einander zu lieben, an die zuvorkommende Liebe des
Vaters und des Sohnes angeknüpft, bedarf keiner
Wiederholung mehr (I. Joh. IV. 9-11. 19-20. III. 16. 17.).
Wenn nun Jeſus, Paulus, Petrus, Johannes
ihre Sittenlehren mit ihren Glaubenslehren ſo genau zu-
ſammen banden, daſs beyde Lehren nur Eine Lehre
waren, und erſt das Auge der Spekulation dazu kom-
men muſste, um zu trennen, was ſie vereinigt hatten:
ſo läſst ſich ſchon daraus auf einen innern, feſten
Zuſammenhang zwiſchen Glaubens- und Sittenlehren
ſchlieſſen.
In dieſem, nicht unwichtigen Gedanken mögen
uns noch andere Betrachtungen befeſtigen.
Jede Sittenlehre Jeſu trägt 1) den Stempel der
göttlichen Auctorität, und wird von den Chriſten nicht
bloſs als ein Ausſpruch des Gewiſſens und der Ver-
nunft, ſondern als ein ausdrückliches Wort Gottes ver-
ehrt und ausgeübt. Seine Lehre iſt Gottes Wort (Joh.
VII. 17.); Er iſt von dem Vater als göttlicher Lehrer,
den wir hören ſollten, erkläret (Matth. XVII. 5.);
Er iſt das Licht, das alle Menſchen erleuchtet (Joh. I. 9)
und dem wir folgen ſollen (Joh. VIII. 12.); Er redete
nicht aus ſich, ſondern was Er von ſeinem Vater ge-
ſehen hatte (Joh. VIII. 38.); Er als Eingebohrner,
der iſt in des Vaters Schooſs, hat es uns erzählet (Joh.
I. 18.); ſein Geiſt wird ſeinen Jüngern eine neue, nie
verſiegende Erkenntniſsquelle (Joh. VII. 38-40.). Die
Sittenlehre Jeſu wird alſo für uns durch den Glauben
F 3an
[86] an Ihn göttliche Sittenlehre. Die nicht an Jeſus glau-
ben und ſeine Sittenlehre nur annehmen, weil und in
ſo ferne ſie dieſelbe mit ihrem ſittlichen Gefühle oder
ihrer praktiſchen Vernunft einigen können, glauben
nur an ihr Gefühl oder ihre Vernunft, und nicht an die
Lehre Jeſu. So glaubten aber die Apoſtel und die
erſten Chriſten nicht. Sie glaubten Ihm, nicht bloſs
ſich; ſie richteten nicht mit dem Funken ihrer Einſicht
das groſſe Licht, das ihnen leuchtete, ſondern ſie zün-
deten von dem groſſen Lichte, das ihnen leuchtete,
an, um den Funken in ſich neu zu beleben. Da nun
in unſern Tagen ſo viel Geiſter umgekehrt zu Werke
gehen: ſo kann nichts anders daraus entſtehen, als
daſs der Funke, ſtatt Belebung von dem groſſen Lichte
zu empfangen, durch die Bemühung das groſſe Licht
zu dollmetſchen und zu meiſtern, immer noch mehr
verdunkelt werde. Und dieſs iſt, wie es mir nicht
erſcheint, ſondern einleuchtet, Geſchichte meines den-
kenden Jahrhunderts. Ganz anders Baco, der doch
den Funken in ſich wohl auch zu ſchätzen wuſste, und
beſſer, auch in litteräriſcher Hinſicht, gepfleget hatte,
als viele, die noch vieles von ihm lernen könnten.
Dieſer helle Kopf vergab ſonſt den Rechten der Ver-
nunft gar nichts: aber wenn eine höhere Vernunft
ſpricht, ſo glaubte er, ſey es Pflicht der niedern, zu
ſchweigen und zu hören. Und die menſchliche Vernunft
vergebe ihren Rechten da am meiſten, wenn ſie ihre alt-
adelichen Anſpruche, ſich von einer höhern Vernunft
belehren zu laſſen, mit Füſſen trete. Dieſs drückt er
ſehr ſcharf und ſehr ſchön aus: Prærogativa Dei totum
homi-
[87] hominem complectitur: nec minus ad rationem quam
ad voluntatem humanam extenditur: ut homo ſcilicet
in univerſum ſe abneget \& accedat Deo. Quare ſicut
legi divinæ obedire tenemur, licet reluctetur voluntas:
ita \& verbo Dei fidem habere, licet reluctetur ratio.
Etenim ſi ea duntaxat credamus, quæ ſunt rationi no-
ſtræ conſentanea, rebus aſſentimur, non auctori: quod
etiam ſuſpectæ fidei teſtibus præſtare ſolemus.
De Augment. Scient. Lib. IX. n. 1. Er redet darauf
von Abraham, der groſs genug war, glauben zu kön-
nen, und von Sarah, die klein genug war, um zu ſpot-
ten, und findet an Sarah ein Bild derjenigen menſch-
lichen Vernunft, die ſpottet, wo ſie glauben ſollte,
denn die nüchterne Vernunft glaubt gerne, wo ſie ſoll,
und iſt auch hier nicht das Weib, ſondern der Mann
Abraham.
2. Die chriſtliche Sittenlehre kann den Gang
und die Folgen der reinſten Tugend an der Geſchichte
Jeſu, die ein Gegenſtand des Glaubens iſt, als in dem
unvergleichlichſten Beyſpiele, darſtellen. Es iſt das
Loos der reinſten Tugend, daſs ſie hier den Leidens-
kelch trinken und am Kreuze ſterben muſs, ehe ſie
von den Todten auferſtehen, gen Himmel fahren, und
zur Rechten Gottes Beſitz von ihrer Herrlichkeit neh-
men kann. Der Gang iſt dunkel, der Ausgang herr-
lich: ſieh hier den Geiſt der Geſchichte Jeſu, und den
Geiſt aller wahren Tugend! Das Leben Jeſu auf Erde
iſt das Muſter von der unangenehmen, und ſein neu-
himmliſches Leben ein Muſter von der angenehmen,
F 4beloh-
[88] belohnenden Seite der allerreinſten Tugend. Laſst uns
anbeten — und das Kleinod feſthalten.
Die chriſtliche Sittenlehre bedarf 3) nicht erſt
Gottes Daſeyn und des Menſchengeiſtes Unſterblichkeit
mühſam zu poſtuliren, oder noch mühſamer zu de-
monſtriren; ſie kann Gottes Güte, Weisheit und Macht
in Jeſus Chriſtus, und die Unſterblichkeit der menſch-
lichen Natur in ſeiner Auferſtehung etc. ſichtbar ma-
chen — für alle, die gut und ſelig genug ſind, an Je-
ſus Chriſtus von ganzem Herzen zu glauben. Und
dieſe Gnade, an Chriſtus von ganzem Herzen zu glau-
ben, beut die Liebe ſo vielen Menſchen an, und ſie ſagen
zu ihr: wir wollen dich nicht. Heilige Wahrheit! was
thun wir doch, um deiner los zu werden? Wollen
wir denn immer lernen, um nur dich nicht zu finden?
Werden wir dich immer in der Nähe finden können
und nicht ſuchen, und in der Ferne ſuchen, und nicht
finden können? Ich wiederhole: Laſſet uns das Klei-
nod, die Geſchichte, feſtbehalten, denn es ruht viel Gu-
tes darauf.
In der chriſtlichen Sittenlehre ſind 4) alle ein-
zele Lehren ſo v ele Radien, die von Gott ausgehen,
und den Menſchen mit ſich zu Gott als dem Mittel-
punkte zurückführen: und auch in dieſer Hinſicht iſt ſie
die vollkommenſte Lehre. Solche Radien ſind alle
Geſetze; weil ſie von Gott gegeben, von Gott geoffen-
bart, von Gott in das Herz geſchrieben — und dazu
gegeben, geoffenbart und ins Herz geſchrieben wer-
den,
[89] den, um uns durch Liebe mit dem höchſten Gute zu
vereinigen. Solche Radien ſind die Kräfte, die uns
gegeben werden, alle Geſetze der Sittlichkeit zu er-
füllen; ſie kommen von Gott und führen zu Ihm.
Solche Radien ſind die Muſter, die uns vorgehalten
ſind, um uns zur vollkommenſten Erfüllung der Ge-
ſetze zu führen — die Liebe Gottes, die Liebe Jeſu
Chriſti, die Liebe aller reinen Geiſter. Solche Radien
ſind die Belohnungen oder Folgen der Heiligkeit, die
uns in der Ferne gewieſen werden, theils um den ſin-
kenden Muth zu ſtärken, theils den Glückſeligkeits-
trieb zu ordnen, theils uns zu reizen, damit wir uns
derſelben fähig und würdig zu machen ſtreben.
Wenn nun aber die Glaubenslehren und Sitten-
lehren Jeſu ſo genau miteinander verknüpft ſind: ſo
müſſen die Bemühungen, jene entbehrlich zu machen,
auch den Zweck dieſer vereiteln helfen. Ich wüſste
zwar wohl, wie die Menſchen von ſolchen Bemühun-
gen könnten zurückgebracht werden. Aber das Mit-
tel hat ſo viel Unangenehmes in der bloſſen Darſtel-
lung, daſs wenige Muth genug behalten werden, an
die Anwendung deſſelben auch nur zu denken. Ge-
nannt ſoll es indeſs doch werden, weil ich gerade
nichts beſſeres zu thun weiſs, als es zu nennen. So-
bald wir darauf ausgehen, wie wir irgend eine gege-
bene Sittenregel nicht mehr bloſs mit dem Kopfe be-
greifen, ſondern mit dem Herzen anfaſſen, und in der
That ausüben mögen; ſobald uns mehr um die voll-
kommenſte Beobachtung der Pflicht, als die präciſeſte
F 5Defini-
[90] Definition derſelben, zu thun ſeyn wird: dann wer-
den wir den ganzen Widerſtand der ſinnlichen Natur
gegen die lautere Rechtſchaffenheit des Willens fühlen,
und aus dieſem Widerſtande die Beſchwerniſſe, die mit
der Erfüllung der Pflicht verknüpft find, in ihrem
Umfange kennen lernen. Dieſe vorher ungeglaubten,
itzt aber aus Erfahrung erkannten Beſchwerniſſe zu he-
ben, werden wir ein Gegengewicht gegen die nieder-
beugende Sinnlichkeit aufſuchen müſſen, und da uns
das bloſſe Ideal von der Schönheit der Tugend dieſes
Gegengewicht unmöglich wird ſchaffen können: ſo
werden wir durch die Erfahrung gedrungen werden,
es bey dem höchſten Gute ſelbſt zu ſuchen. Um
aber dieſe überwiegende Kraft in dem höchſten Gute
zu ſuchen, werden wir zuerſt glauben müſſen, daſs ein
höchſtes Gut ſey, und daſs es uns eine überwiegende
Kraft zum Guten ſchenken könne und wolle. So wird
uns der Eifer, die Pflicht zu erfüllen, einen weſent-
lichen Zuſammenhang zwiſchen Glaubens- und Sitten-
lehren wieder finden lehren: ſo wie uns vielleicht der
Eifer, die Pflicht bloſs zu zergliedern, dieſen Zuſam-
menhang aus dem Auge gerückt hat. Die Pflicht er-
füllen wollen, und von ganzem Herzen erfüllen wollen,
ſtatt bloſs von derſelben zu diskuriren, iſt alſo das
Mittel, den unſeligen Bemühungen der Menſchen,
die Sittenlehre von aller Glaubenslehre zu trennen,
ein Ende zu machen. Wohl dem, der nicht weiter
liest, ehe er den Entſchluſs gefaſst, die Wirkſamkeit
dieſes Mittels an ſich zu probiren!
D. Die
[91]
D.
Die chriſtliche Sittenlehre zeichnet ſich aus durch
ihre Verdienſte um das Wohl des einzelen Menſchen,
um die Ordnung und Ruhe in den Familien, der Kir-
che und der bürgerlichen Verfaſſung.
Ihr Verdienſt um das Wohl des Menſchen er-
hellt, ohne ausführlichere Deduction, aus der Natur der
Vorſchriften, die ſie giebt, der Verheiſſungen, die ſie
vorausſetzt und auf die ſie baut, und aus den Folgen
der lautern Gottſeligkeit, wozu ſie uns anhält.
Sie lehrt uns (um nur ein unvollkommenes
Bild deſſen zu entwerfen, was ein wahrer Chriſt, als
ſolcher iſt, thut, wird,) die Sinnlichkeit der Vernunft
und die Vernunft — Gott, als der Quelle aller Ver-
nunft und alles Guten, aus Liebe und Achtung gegen
dieſe Quelle, unterwerfen, und verſtopft alſo alle
Quellen der Unruhe, die theils in unſerm ungeordne-
ten Streben, theils in unſerm regelloſen Denken, theils
in der Unzulänglichkeit der menſchlichen Natur, in
ſich ſelbſt vollkommnes Wohlſeyn zu finden, liegen.
Sie lehrt uns insbeſondere dem Geize, dem Neide, der
Eitelkeit, der Herrſchſucht, der Wolluſt, aus denen
ganze Ströme des menſchlichen Elendes in unſerm In-
wendigen hervorbrechen, und denn auch das Aeuſſere
mit Jammer überſchwemmen, mit aushaltendem Mu-
the widerſtehen, und den entgegengeſetzten Tugen-
den nachſtreben, die das Herz zur lauterſten Freude
tüchtig machen. Sie lehrt uns, (wie auch eine demü-
thige
[92]thige Vernunftmoral lehren oder wenigſtens wünſchen
muſs,) die Kräfte brauchen, die wir haben, und Kräfte
ſuchen, die wir noch nicht haben, um die Harmonie
zwiſchen uns und dem allerhöchſten Geiſte herzuſtel-
len, und macht uns dadurch des Friedens empfänglich,
den die Welt nicht hat und nicht kennt und nicht em-
pfangen kann, weil ſie den Geiſt des Friedens nicht
hat und nicht kennt und nicht empfangen kann. Sie
lehrt uns arbeiten und genügſam ſeyn, und die Früchte
der Arbeit und Genügſamkeit in Liebe ausſpenden. Sie
lehrt uns alle unſere Sorgen in einen Vaterſchooſs wer-
fen, der groſs genug iſt, ſie aufzunehmen, und auch im
Leiden den Finger der Liebe finden, die den Ihrigen alles
Uebel zum Fuſsgeſtelle des Wohlſeyns macht. Sie lehrt
uns an alles Wahre glauben und alles Falſche verach-
ten, das Beſte über alles hochachten und das Schönſte
über alles lieben, das Gute thun und das Böſe meiden,
das Widrige dulden und das Beſſere erwarten, das Zer-
rüttete ordnen und das Verſäumte hereinbringen, das
Unvergängliche ſuchen und das Vergängliche gebrau-
chen, als wenn wir es nicht brauchten, und durch alle
dieſe Uebungen und Prüfungen des höchſten Guts fä-
hig werden. Sie lehrt uns Gott vor allen andern Din-
gen, und in Gott — je länger je mehr nur Gott ſuchen
und finden — ein Beweis ihrer Reinheit; ſie lehrt
uns aber auch, um Gott zu ſuchen, wie wir ſollen
und zu finden, wie wir wünſchen, „zuerſt die Eigen-
„liebe, als die Säule, die alle Unordnung im Men-
„ſchen unterhält, mit groſsherzigem Eifer umwerfen,
„weil, wenn dieſe umgeworfen iſt, alle Mauren der
„Un-
[93] „Unordnung von ſelbſt zu Boden ſtürzen“ — ein Be-
weis ihrer göttlichen Weisheit, deren Sonnenglanz
ſchon, vor dem Morgenroth der unſrigen, leuchtete.
Sie lehrt uns endlich, auf jeder Stuffe unſers ſittlichen
Lebens vorwärts ſtreben, damit wir nicht eitel; auf-
wärts ſchauen, damit wir nicht muthlos, und in unſerm
Kreiſe Hand anlegen, damit wir weder gelehrte noch
frömmelnde Müſſiggänger werden — ein Beweis ih-
rer Brauchbarkeit für Menſchen, die immer zwi-
ſchen Abgründen links und rechts wandeln, und ſich
ſogar verirren können, wenn ſie gut werden wollen,
und ſelten mehr, als wenn ſie weiſe werden wollen.
Iſt einmal das wahre Wohlſeyn im Innern des
Menſchen gegründet: ſo kann das Aeuſſere, als eine
Frucht des Innern, nicht fehlen, oder wenn es durch
fremde Urſache entzogen wird, im Beſitze des Beſ-
ſern — leicht vermiſst werden.
Solche Menſchen, die im Guten nur das Gute,
und deſshalb Gott über alles Gute liebten, und in dieſer
edlen Liebe arbeiten, leiden, ſterben konnten, z. B.
Paulus, Johannes u. f. f. hat freylich nieht die chriſt-
liche Sittenlehre ohne Chriſtus gebildet. Aber eine
Sittenlehre, die von der Quelle iſolirt iſt, meyne ich
auch nicht und kann ſie auch nicht meynen, und ein
bloſſes Buchſtabenreich wird wohl keiner empfeh-
len, der ein lebendiges kennt, oder auch nur ahnt
(S. 64. 57.)
Die
[94]
Die Grundſätze der chriſtlichen Sittenlehre ſind
recht geſchickt, Ordnung und Ruhe in Familien zu
ſichern.
Da ſie den Eheſtand auf ſeine urſprüngliche Ein-
ſetzung zurückführt (Matth. XIX. 1-12.), d. h. dem
Manne nur Ein Weib, und dem Weibe nur Einen
Mann zugiebt, und dieſen Bund der Treue zwiſchen
zwey, eigentlich nur von dem Tode will gelöſet wiſ-
ſen, wie es ſchon der Begriff einer wahren Freund-
ſchaft fodert; da ſie überdieſs das Weib verpflichtet,
dem Manne, wie Chriſtus, gehorſam zu ſeyn, und
den Mann, ſein Weib mit jener zärtlichen Treue zu
lieben, mit welcher Chriſtus ſeine Kirche geliebt hat
(Epheſ. V. 22. Col. III. 18. 19.); da ſie den Aeltern
gebeut, ihre Kinder in aller Milde dem Herrn zu er-
ziehen, und den Kindern, ihren Aeltern als dem Herrn
gehorſam zu ſeyn; da ſie von den Knechten und Haus-
genoſſen einen Gehorſam fodert, der ſtets auf Chriſtus
ſieht, und wie vor ſeinem Auge arbeitet, und in Erfül-
lung der Menſchengebote den Willen Gottes thut, und
den Herrſchaften eine Menſchlichkeit nahe legt, die ſie
nie vergeſſen läſst, daſs ſie auch einen Herrn im Himmel
haben, bey dem kein Anſehen der Perſon gelte (Epheſ.
VI. 1-10. Coll. III. 20-25. IV. 1.); da ſie nur eine
Umänderung der Herzen, eine Neugeburt der Geſin-
nungen betreibt, und keine Aenderung der äuſſern Be-
rufsarten begünſtiget, noch weniger gebeut, ſondern
vielmehr jeden an ſeinen Beruf feſter knüpft und nur
Treue fodert (I. Cor. VII. 17-21.); da ſie jeden, der
arbeiten kann, zur Arbeit anhält, und den, der nicht
mehr
[95] mehr arbeiten kann, der Groſsmuth der arbeitenden
Brüder übergiebt (II. Theſſ. III. 12. I. Tim. V. 16.); da
ſie überall Gerechtigkeit gegen die, die einen gerechten
Anſpruch auf unſre Güter haben, und gegen alle Liebe
vorſchreibt: ſo legt ſie den feſteſten Grund zu einer
glücklichen Familie. Die Gewalt des Mannes hat
nichts Drückendes mehr; denn es iſt die Herrſchaft der
Liebe, und einer ſolchen Liebe, wie Chriſtus gegen
Chriſten beweiſet. Der Gehorſam des Weibes hat
nichts Läſtiges mehr; denn es iſt der Gehorſam der
Liebe, und einer ſolchen Liebe, wie die Chriſten ge-
gen Chriſtus beweiſen. Die Aeltern bewahren ihre
Kinder, als Unterpfänder der göttlichen Liebe, denen
ſie die zärtlichſte Aufſicht ſchuldig ſind; die Kinder
ehren in den Aeltern nicht nur ihre Wohlthäter, ſon-
dern den Vater ihrer Wohlthäter — und den ihren;
die Hausgenoſſen dienen nicht um des Soldes, ſondern
um deſſen willen, der für ſie Knechtsgeſtalt annahm,
und die Herrſchaften beweiſen an ihren Hausgenoſſen,
daſs ſie ſichs zur erſten Ehre rechnen, Knechte Jeſu
zu ſeyn, und ihre Hausgenoſſen als Miterben einer beſ-
ſern Welt zu achten — — Dieſs Ideal iſt zu ſchön und
die Sitte der Welt zu abſtechend, als daſs ich es ganz
ausmalen darf. Zwar iſt das Evangelium nicht Schuld
daran, daſs das Ideal faſt überall nur ein Ideal iſt, und
in ſo wenigen Familien Porträt wird. Wer wünſchte
aber doch nicht, daſs es anders wäre? — Und wer
wird mir dieſen Wunſch verargen, zumal da er uns
die Sache ſelbſt nicht geben kann?
Ihre
[96]
Ihre Grundſätze ſind recht geſchickt, Ordnung
und Ruhe in der Kirche zu ſichern.
Jene, die den Hirtenſtab führen, ſollen nach
der Lehre und dem Beyſpiele deſſen, dem Jeſus die
Schlüſſel des Himmelreiches in die Hände gab, ihre
Anvertrauten nicht als ihr Eigenthum, ſondern als eine
Herde Gottes anſehen, dieſelbe nicht aus Gewinnſucht,
ſondern mit überflieſsender Liebe, nicht aus Zwang,
ſondern mit williger Aufſicht zu dem Erzhirten, nicht
als Volksherrſcher, ſondern als Vorbilder der Gemeine,
zu ihrem Heile führen (I. Petr. V. 1-4.); ſollen nach
der Lehre und dem Beyſpiele Paulus weder ihrem Pflan-
zen noch ihrem Begieſſen, ſondern allein dem Gedei-
hen, das Gott giebt, die Ehre der Fruchtbarkeit zu-
ſchreiben, und als Gottes Mitarbeiter ſich den Lohn
nicht ſelbſt nehmen, ſondern erwarten (I. Cor. III.
6-10.); ſollen nach der Lehre und dem Beyſpiele Je-
ſu, der ſich ſein Volk durch ſein Blut erkauft, nicht
Lohnhirten, die nur das Ihre ſuchen, nicht Diebe, die
anderswo einſteigen, nicht Wölfe, die nur das Zeit-
liche rauben und nichts Ewiges geben können, ſon-
dern wahre Hüter der Schafe ſeyn, bereit, ihr Leben
für ſie zu geben (Joh. X.); der Gröſte unter ihnen
ſoll der Kleinſte, der Vornehmſte aller Diener, das
Herrſchen der Völkerkönige ihnen durchaus fremde,
und das Beyſpiel Jeſu, der kam zu dienen — das
einzige Muſter ihrer Hoheit ſeyn (Luk. XXII. 24-27.).
Dieſs iſt der rechte Spiegel, in den alle Geiſtliche,
von dem erſten bis zum letzten, der Papſt wie der
jüngſte Diakon, Biſchöfe und Pfarrer, Welt- und
Ordens-
[97] Ordens-Prieſter, Prediger und Kinderlehrer, Domher-
ren und Frühmeſſer etc. hineinſchauen ſollen. Gegen
dieſe Verbindlichkeit gilt keine Verjährung von un-
denklichen Zeiten, keine Diſpenſation von geiſtlichen
oder weltlichen Stellen, und keine contraria praxis
älterer oder neuer Zeiten. Gegen dieſes Jus Canoni-
cum hat das gefürchtete Brachium Seculare in den er-
ſten Zeiten nichts vermocht. Die zeitlichen Güter,
und ſelbſt das zeitliche Leben konnte den Hirten der
Kirche geraubet werden: aber der Spiegel blieb, und
es wird ihn keine Pforte der Hölle zertrümmern kön-
nen. Die chriſtlichen Gemeinen ſollen in Einerley Sinn
und Einerley Rede feſt aneinander halten, und den
Stolz, der nichts als Unruhe, Spalt und Ketzerey
zeugt, in ihrer Mitte nicht aufkommen laſſen (I. Cor.
I. 10-13.); ſollen Zank, Zwietracht und Rechthaberey
als Werke des fleiſchlichen Sinnes verabſcheuen, und
die Diener des Herrn, nie für den Herrn ſelbſt, der
ſich allein für uns kreuzigen lieſs, noch die Haus-
hälter für den Hausvater halten (I. Cor. III. 3-6.);
ſollen die Thorkeit der Welt, die die Köpfe mit dem Dün-
kel der Weisheit anfüllt, und das Wiſſen ohne Liebe,
das nur aufbläſet, und das Reich Gottes, dieſes Reich
der Kraft in ein bloſſes Wörterreich auflöſet, nicht
Wurzel faſſen laſſen (I. Cor. III. 18-21. IV. 20. VIII. 2.);
ſollen mit Demuth und Sanftmuth, mit Geduld und
Liebe einander tragen, und Einen Leib Chriſti geſtal-
ten, als die alle Ein Evangelium, Einen Geiſt, Einen
Herrn, Einen Glauben, Eine Taufe, Einen Altar, Ei-
nen Vater haben (Epheſ. IV. 2-6. Hebr. XIII. 10.).
GWür-
[98]
Würden dieſe Grundſätze in der Kirche ſtrenge
und allgemein befolgt, ſo würde in ihr ſo wenig Zwiſt
und Unordnung Platz haben, als wenig in dem geſunden
Körper eines Weiſen die Glieder eine Spaltung anrichten.
Das Auge würde nur ſehen und die Hand nur arbeiten,
und indem jedes Glied an ſeiner Stelle thäte, was es
ſollte, ein liebliches Ganze, voll Harmonie entſtehen.
Da die Chriſten ihre Feinde liebten: ſo würden ſie ihren
Wohlthätern, die ihnen an Chriſtus Stelle die Wahrheit
verkünden, das Vertrauen und die Liebe nicht entzie-
hen wollen. Da ſie den Armen, die gar kein Verdienſt,
als etwa ihre Armuth aufzuweiſen haben, Speiſ’ und
Decke reichten: ſo würden ſie den Mitarbeitern Gottes
an ihrem Heil, die ihnen das Geiſtliche ſäen, die Aernte
des Zeitlichen nicht vorenthalten (I. Cor. IX. 1-15.).
Da ſie jedem Ehre erwieſen, dem Ehre gebührt: ſo
würden ſie dieſelbe ihren Vätern in Chriſto nicht ent-
ziehen. Da ſie Gottes Stimme im Säuſeln der Luft hör-
ten: ſo würden ſie Gottes Stimme, die ſich durch ihre
Hirten hören läſst, nicht verachten. Da ſie Gottes
Willen auch in denen, die ſie drücken, groſsmüthig
reſpectirten: ſo würden ſie ſich der Wahrheit, die ſie
ſelig macht, von ihren Vorſtehern verkündet — mit
vollkommnem Gehorſam ergeben. Da ihnen Gott ein
Gott der Ordnung und des Friedens, und der Geiſt des
Chriſtenthums ein ſanfter, heiliger Geiſt wäre: ſo wür-
den ſie, die wahren Chriſten, alles meiden, was die
Ordnung und den Frieden ſtören, und den Geiſt des
Chriſtenthums verdunkeln könnte. Da die Chriſten,
ihrer Natur nach, Friedensſtifter wären: ſo würden ſie
im
[99] im Schooſse ihrer Mutter nicht Hader anrichten. — —
Wenn nun aber dieſe Grundſätze nicht ſtrenge genug
und nicht allgemein befolgt werden, (wie wir es zu
unſrer Beſchämung geſtehen müſſen, und um wenigſt
redlich zu ſeyn, auch geſtehen wollen): ſo müſſen wir
der Fürſehung doch dafür danken, daſs Sie uns in den
neuteſtamentiſchen Schriften ein Bild für alle Zei-
ten, und in den Beyſpielen einiger Hirten ein Bild
für jedes Zeitalter gelaſſen hat, läſst, und laſſen
wird, an dem wir unſre Pflichten erkennen, und vor
dem wir Kräfte ſammeln können, unſre Sünden zu ſtra-
fen, und unſre Fehler zu verbeſſern. Und dieſer iſt,
ohne Zweifel, der beſte Gebrauch, den wir von dem
geſchriebenen Evangelium machen können, dieſer:
„Wenn wir weder in uns noch in unſerm Kreiſe
das Bild des reinen Sinnes finden, das in unſerm Wan-
del und in jeder Geberde zurückſtralen ſollte: ſo dürfen
wir nur das Geſchichtbuch Jeſu und ſeiner Freunde auf-
ſchlagen, und das Bild des reinſten Sinnes ſteht vor
unſerm Auge da; und wir dürfen nicht lange fragen,
nicht mühſam grübeln — dürfen nur niederfallen und
anbeten, und beſchämt in uns blicken, und mit dem
glühenden Vorſatze, die groſſe Unähnlichkeit zwiſchen
uns und dem Bilde nicht länger in uns zu dulden, auf-
ſtehen — und mit neuem Muthe ausgerüſtet, an
unſer Tagwerk gehen.“
Verzeih, Göttlicher! verzeih, daſs wir deine
heilige Geſchichte ſelten auf dieſe Weiſe gebrau-
chen! — — —
G 2Die
[100]
Die Grundſätze der chriſtlichen Moral ſind recht
geſchickt, Ordnung und Ruhe im Staate zu ſichern.
Der Unterthan ſieht a. mit dem Blicke des
Chriſten, ſeine Obrigkeit als Gottes Statthälterinn an,
und gehorſamt ſeinem Gott, indem er der Dienerinn
ſeines Gottes Gehorſam leiſtet (Röm. XIII. 1-7.). Die
Obrigkeit ſieht mit dem Blicke des Chriſten, ihre Un-
terthanen als Ebenbilder ihres gemeinſamen Vaters an,
und ehrt in ihnen den Schöpfer, der uns alle nach ſei-
nem Bilde geſchaffen, alle aus Einem Blute gemacht;
und den Erretter, der ſich für alle in den Tod hinge-
geben. Die Krone, die der König trägt, iſt ihm in dem
chriſtlichen Syſtem von der Hand Gottes aufgeſetzt,
und wer die Krone antaſten will, muſs ſich zuerſt an
der Hand des Allmächtigen, die ſie feſthält, vergreiſen.
Es iſt göttliche Ordnung, daſs wir uns unter die menſch-
liche beugen. Dieſs macht die Ehrfurcht der Völker
ſtandhafter. Der König trägt aber die Krone nur, um
Menſchen, die ihm ſein Gott angewieſen, und die Men-
ſchen ſind, wie Er, im Namen ſeines Gottes zu ihrem
Glück zu leiten. Der geringſte Unterthan iſt ihm ein
Augapfel ſeines Gottes, und wenn er ſeine Hand aus-
ſtreckt, um einen ſeiner Unterthanen zu kränken, ſo
verwundet er, in dem Actus dieſer Kränkung, den
Augapfel ſeines Gottes. Dieſs macht die Groſſen
menſchlicher.
Obrigkeit und Unterthan haben b. nach der
Lehre des Chriſtenthums ein gemeinſames, ſtets gegen-
wärtiges, heiliges Tribunal, von dem ſich nicht appel-
liren,
[101] liren, das ſich nicht beſtechen läſst, und dem beyde
nicht entfliehen mögen — den Richterſtuhl Gottes, der
hier durch das Gewiſſen ſtraft und einſt durch Jeſus
Chriſtus alle Menſchen, Unterthan und Fürſt, jeden
nach ſeinem Werke richten, und von jedem die ſtreng-
ſte Rechenſchaft fodern wird. Wo der lebendige Glau-
be an dieſen Richter, da iſt Scheu vor Unrecht, und
Unrecht iſt ſowohl jeder unnöthige Druck auf einer,
als jede Aufruhr auf der andern Seite. Der lebendige
Glaube an dieſen gerechten Richter bindet dem Unter-
than und der Obrigkeit die Hand, daſs ſie die Conſtitu-
tion des Landes, von deren feſter Beobachtung das
ganze politiſche Heil abhängt, nicht frevelhaft umſtoſ-
ſen, und an den Fundamentalgeſetzen derſelben nicht
eigenſinnig rütteln — und ohne dieſen Glauben ſind
am Ende alle andere Binden zu ſchwach.
Unterthan und Obrigkeit haben c. an dem
Evangelium eine feſtſtehende Norm ihres Rechtverhal-
tens: Gieb Gott, was Gottes, und dem Kaiſer, was des
Kaiſers iſt: Ehre, dem Ehre, Abgabe, dem Abgabe ge-
bührt. Und: Die Obrigkeit ſey ein Schrecken nur des
Böſen, und eine Erquickung für den ſtillen, rechtſchaffe-
nen Mann: ſie trage das Schwert im Namen der unſicht-
baren Gerechtigkeit, nur um Unordnung zu hindern
und zu ſtrafen (Röm. XIII.); an Jeſus Chriſtus ein
leuchtend Beyſpiel der vollkommenſten Unterwür-
figkeit gegen menſchliche Gewalt, und zugleich ein
Muſter der vollkommenſten Menſchlichkeit gegen
alles, was Menſch iſt; an dem öffentlichen Got-
tesdienſte ein kraftvolles Stärkungsmittel der edlern
G 3Geſin-
[102] Geſinnungen. Wehe daher den Predigern, die ihrer
Pflicht vergeſſen, entweder der Obrigkeit ſchmeicheln,
oder das Volk reizen, und wie immer dazu beytragen,
daſs die Wahrheit auch am Fuſſe des Altars nicht alle-
mal ſicher ſey, wo ſie immer ihr Aſyl finden ſollte.
Das Chriſtenthum knüpft d. auch dadurch die
Bande zwiſchen Obrigkeit und Unterthän feſter, daſs
ſie in den Unterthanen die ſchwärmeriſchen Begriffe
von Freyheit, die ſo viel Jammer in der Welt anrich-
ten, rectificirt, und den Hang nach Freyheit vor Zü-
gelloſigkeit bewahrt; in der Obrigkeit den Hang, die
Obergewalt über ihre Gränzen auszudehnen, in Ord-
nung bringt und in Ordnung hält. Es giebt, nach dem
Geiſte der Lehre Jeſu, keine wahre Freyheit, als die im
Freyſeyn von Sünde und den Folgen der Sünde beſteht.
Wer ſündiget, der iſt ein Knecht der Sünde. Jeder Sou-
verän iſt, nach dem Geiſte des Chriſtenthums, Unter-
than eines höhern Souveräns, der Kronen giebt und
nimmt. Jeder Menſch, er ſey Bürger oder Herrſcher,
trägt die Willkühr in ſich, das ſchreckliche Ding,
das (nach einem Worte zu rechter Zeit — Asmus
V. Th. von der Freyheit,) in dem Bürger nicht genug
gehorſamen, und in dem Herrſcher zu viel befehlen
will. Wenn alſo dieſe Willkühr, dieſe Luſt zu thun,
was gelüſtet, nicht durch Religion, durch Glaube an
den Vater und Richter der Menſchen geordnet und dem
heiligen Geſetze unſrer Natur unterworfen wird: ſo
muſs dieſe zügelloſe Willkühr, ſie mag nun in dem
Volke oder in der Obrigkeit oder in beyden zügellos
ſeyn, eine Zerrüttung hervorbringen, gegen die we-
der
[103] der in den Geſetzen des Landes, denen die Willkühr
ihr Anſehen genommen hat oder nehmen wird, noch
in den ſtehenden Armeen, die auch von der Willkühr
commandirt werden können, ein heilend Kräutlein zu
finden ſeyn wird. Es wäre alſo keine geringe Ver-
blendung. glauben, man dürfe nur den Trieb nach
Freyheit in den Völkern reizen, um der Uebermacht
der Groſſen Einhalt zu thun. Das hieſse doch den
ſchlafenden, mächtigſten Feind wecken, um Ruhe zu
ſchaffen, und das Uebel zuerſt recht groſs machen, um
es heilen zu können, und die Zügel des Staates ab-
ſchneiden, um die belluam multorum capitum, die
blinde Willkühr der blinden Menge blindlings zu leiten.
Iſt denn die regelloſe Willkühr des Volkes nicht eben
ſo ſchrecklich, oder vielmehr noch ungleich ſchreck-
licher als die Willkühr eines Einzigen? Und trägt nicht
jeder Menſch, ſo wie er den Keim des Stolzes in ſich
hat, um mit dem Verfaſſer der einfaltigen Lebens-
weisheit zu reden, auch den Deſpoten in ſich? Du und
ich, und jeder Adamsſohn, wenn uns die Religion nicht
zuvor mild und ſanft, gut und menſchlich, weiſe und
ſchonend gegen die Rechte unſers Nächſten gemacht hat,
werden als gebohrne Deſpoten, d. h., als Menſchen,
die den Verſuchungen des Hochmuths und anderer Lei-
denſchaften, kraft ihrer ſinnlichen Natur hingegeben
ſind, und mit dem Egoismus, der der Deſpotismus
ſelbſt iſt oder ſein Vater, gewaltig zu kämpfen haben,
— — ich und du, und jeder Adamsſohn, werden ohne
gebietende Achtung für die Gerechtigkeit, ohne prak-
tiſche Religion — das Volk drücken, ſobald wir eines
G 4zu
[104]zu drücken haben. Laſst uns alſo, ſelbſt von den Zei-
ten belehrt, den letzten, heiligſten Anker (*) der
Menſchheit feſthalten. Laſst uns dem Evangelium auf
ein neues huldigen, denn ſo lange die Thronen das
Evangelium ehren, ſo lange ſtehen die Thronen;
ſo lange die Länder das Evangelium ehren, ſo
lange haben die Länder Ruhe. Der Chriſt kann
ſo wenig ein Tyrann werden, als ein Rebell. Dir, du
Kind des Friedens und auch Mutter des Friedens, Evan-
gelium, huldigen wir hiemit aufs neue! Und huldigen
ſollten dir die Menſchen, wenn nicht um deinetwillen,
doch um ihretwillen, und wenn nicht um ihres ewigen
Wohlſeyns, doch gewiſs um ihres zeitlichen willen —
damit ſie ihr Brod ruhig e [...]en können, und nicht vor
ihrer Stunde in das Grab gelegt werden.
Daſs e. der Geiſt des Chriſtenthums, da, wo
er herrſcht, die Geſinnungen der Gerechtigkeit und
der Menſchenliebe, der Keuſchheit und Mäſſigkeit, der
Sanftmuth und Demuth herrſchend mache, und alſo
auch die allentnervende Unzucht und den allzer-
malmenden Eroberungsgeiſt, dieſe zwey Mordgru-
ben der Menſchheit abthue, und auf dieſe Weiſe die
Entvölkerung und Barbarey verhüte, und daſs dieſes
Verdienſt um das Menſchengeſchlecht nicht geringe ſey,
wird in unſern Tagen, die auf Cultur aller Art ſo groſſe
Anſprüche machen, keiner Erwähnung bedürfen.
V.
[105]
V.
Wer alſo die chriſtliche Sittenlehre lehrt, wie
er ſoll, der lehrt ſie nach ihrem Grundgeſetze,
in dem alle übrigen Geſetze liegen; weiſet ſtets
auf die Kraft, ſie zu erfüllen; giebt die zuver-
läſſigſten Prüfſteine der Geſetzerfüllung an, da-
mit in der wichtigſten Sache keine falſche Si-
cherheit und keine ſchädliche Täuſchung um
ſich greife; treibt zu den unnachläſſigſten Gei-
ſtesübungen, Selbſtverläugnung und Gebet; giebt
der Liebe gegen Gott die gehörige Ausdehnung;
knüpft das Gebot der Menſchen-Nächſten-
Brüderliebe an das erſte Gebot an, und macht
es dieſem gleich; ſtellt die Liebe Gottes gegen
uns zur Norm der Menſchenliebe auf, und macht
dieſe zum Merkzeichen des wahren Chriſtenthums,
und legt über die zwey ſchönſten Perlen im
Himmel und auf Erde — Gottes- und Nächſten-
liebe, den feinen Schleyer der Demuth, wodurch
der Schatz bewahrt und verſchönert wird (A);
zäumt durch Furcht, was für itzt nur bezäumt
und nur durch Furcht bezäumt werden kann;
legt überall den Grund zum neuen Sinn durch
Wegſchaffung des alten, und ſchämt ſich nicht,
G 5im
[106] im würdigſten Sinne des Amtes und nach dem
Beyſpiele Jeſu, ein Prediger der Buſſe zu ſeyn;
lenkt durch den Zug der Dankbarkeit, was ſich
durch Dankbarkeit lenken läſſet; reizt und
ſpornt durch Beyſpiele, was ſich durch Beyſpiele
reizen und ſpornen läſst; treibt durch Hoffnung
der Seligkeit zum Eifer, ſich derſelben fähiger
und würdiger zu machen; ſtützt den ſinkenden
Muth des Kämpfers und des Leidenden durch
die frohe Ausſichten in die Zukunft, die ſich dem
ausharrenden Muthe öffnen; läſst den Müſſigen
nicht müſſig gehen, und den Guten nicht ſtille
ſtehen; lehrt jeden von ſeiner Gabe den beſten
Gebrauch machen, und wird, wie Paulus, oder
wie die Liebe, allen Alles, um alles Schwa-
che ſtark, alles Unreine rein, alles Starke ſtär-
ker, und alles Reine reiner zu machen (B);
zeigt die Sittenlehren in dem ſchönen Zuſammen-
hange mit den Glaubenslehren, wie ſie Jeſus und
ſeine Apoſtel gezeigt haben, und bauet überall
auf die Erbarmungen, Verheiſſungen und Offen-
barungen der göttlichen Liebe und Weisheit,
von denen die ganze Welt, das Herz des Men-
ſchen und die heilige Schrift Ein einſtimmig
Zeugniſs ablegen; will nie den Menſchen ohne
Gott gut, ohne den Vater zum Kinde des Va-
ters,
[107] ters, ohne Chriſtus chriſtlichgeſinnt, ohne hei-
ligen Geiſt heilig machen; ſo wenig der Menſch
ohne ſich Menſch ſeyn kann, und ſo gewiſs
Gott durch Menſchen auf Menſchen wirkt (C);
kennt in allem Unterrichte kein ander Ziel, als
beyzutragen, daſs in einzelen Menſchen und
in Familien, in der Kirche und im Staate Ruhe
und Ordnung gegründet und erhalten werde;
dringt überall darauf, daſs weder der Stolz, der
nicht gehorſamen mag, noch die Neugierde, die
nur unterhalten ſeyn will, noch die Unwiſſen-
heit, die mitſchreyt, ohne zu wiſſen, mit wem
ſie ſchreyt, noch die falſche Weisheit, die Para-
dieſe verheiſst und die Thräne nicht trocknen
kann, noch der Druck der Groſſen, der die
Abſchüttelung des Jochs beſchleunigt, noch der
Frevel der Kleinen, die bey dem allgemeinen
Verluſt nichts zu verlieren hätten, die Bande
auflöſen, die nöthig ſind, um das meiſte Gute,
deſſen das Menſchengeſchlecht itzt fähig iſt,
mit der kleinſten Portion des Uebels zu erhal-
ten; bewahrt den Haufen vor der unſeligen
Kunſt zu ſpekuliren, ſtatt zu arbeiten, zu rä-
ſonniren, ſtatt zu gehorſamen, mit Spielwer-
ken groſs zu thun, ſtatt die Laſten des Tages
zu tragen; lehrt den Knaben und Jüngling
ſchwei-
[108] ſchweigen, fragen, hören, gehorſamen: den
Mann denken, unternehmen, leiden, ordnen:
das Weib haushalten, Kinder erziehen, das
Geſicht mit der Farbe der Keuſchheit ſchmin-
ken, und dem Manne treu ſeyn: jeden an
ſeiner Stelle das Auge aufthun, und dieſe Stelle
ganz ausfüllen, und nicht meiſtern, was auſſer
ſeinem Kreiſe liegt — — — lehrt mit
Petrus I. B. II. 17-25.
welches ich, noch itzt, für die beſte Weisheit
halte, und, wills Gott, in alle Ewigkeit hal-
ten werde.
Dritter
[109]
Dritter Abſchnitt:
Von
den ſchädlichen Fehlern, die der Prediger
vermeiden ſoll.
Nur ein Reſultat des Vorangehenden.
VI.
Wenn der Prediger Wahrheit, religiöſe Wahr-
heit, zu dem Weſen des Chriſtenthums und der
Gottſeligkeit gehörige, oder mit demſelben ver-
bundene Wahrheit, den Faſſungskräften, Be-
dürfniſſen und gerechten Erwartungen ſeiner
Zuhörer angemeſſene, und endlich eine ſolche
Wahrheit lehren ſoll, die ſein Eigenthum ge-
worden, und aus demſelben hervorgedrungen
iſt (I. II.): ſo wird es wohl ein ſchädlicher Feh-
ler ſeyn, lehren, was nicht Wahrheit iſt, oder
lehren, was nicht religiöſe Wahrheit iſt, oder
lehren, was nicht gemeinnützliche, zum Weſen
des Chriſtenthums und der Gottſeligkeit gehö-
rige, oder mit demſelben verbundene Wahrheit
iſt, oder lehren, was nicht den Faſſungskräften
ſeiner Zuhörer angemeſſene Wahrheit iſt, oder
eine noch ſo nützliche Wahrheit ohne alle Theil-
nehmung ſeines Herzens lehren.
Wer
[110]
Wer die Regel hat und kennt, wird auch die
Abweichung von der Regel, den Fehler wenigſt be-
urtheilen können, und nach und nach auch meiden
lernen. Da dieſe Fehler an einem andern Ort aufrich-
tig genug angegeben ſind (Paſtoralth. II. B. S. 18-25):
ſo will ich ſie hier nicht wiederholen. Nur bitten
will ich noch meine jüngern Leſer, um der Wahr-
heit willen, für die Jeſus ſtarb, nie ein unnützes Ge-
mächte des Verſtandes, nie ein eitel Spielwerk des
Witzes, nie ein Süſsgeſchwätz von Modetugend auf
die Stätte zu bringen, von der nur Wort Gottes
durch Menſchen an Menſchen kommen ſoll.
VII.
Wenn der Prediger bey ſeinem Vortrage
die Natur der Sache, den Zweck des Evange-
liums und Predigtamtes, die Fähigkeit ſeiner
Zuhörer, die Umſtände des Orts, der Zeit etc.
und ſeine eigne Perſon zu Rathe ziehen ſoll (III);
ſo wird es wohl ein ſchädlicher Fehler ſeyn,
entweder ſeine eigne Eitelkeit, die nur glänzen
will, entſcheiden laſſen, was man ſagen ſolle;
oder die Eitelkeit einiger Zuhörer, die durch
einen akademiſchen Discours prononcè avec mille
graces unterhalten ſeyn wollen: oder die literä-
riſchen Vorurtheile anderer, die gewiſſen Wahr-
heiten
[111] heiten den Krieg angekündet haben, und die-
ſen Krieg auch auf Kirchenkanzeln gerne fort-
geſetzt wiſſen möchten: oder die politiſche
Gährung des Zeitalters, das allemal die Pre-
diger mit in die bürgerlichen Händel verflicht,
und ſie zu Beförderern ſeiner Abſichten machen
will: oder die gemeinſame Schwachheit der
Menſchen, die die treffende Wahrheit nicht hö-
ren mögen: oder die Trägheit und Gefühlloſig-
keit des Predigers, die ohne alle Ueberlegung
und Vorbereitung ausſpricht, was der Zufall
auf die Zunge legt.
VIII.
Wenn ſich die chriſtliche Moral durch ihr
Grundgeſetz der Sittlichkeit, durch ihre Ange-
meſſenheit für alle Stuffen der Moralität und
Immoralität der Menſchen, durch ihren Zu-
ſammenhang mit der Religion, durch ihre Ein-
flüſſe auf das dauerhafte Wohlſeyn einzeler
Menſchen, der Familien, der Kirche, der Län-
der auszeichnet: ſo wird es wohl ein ſchädli-
cher Fehler ſeyn, nicht das zur Summe aller
Gebote machen, was Jeſus dazu machte, und
nicht die Hauptſache Hauptſache ſeyn laſſen,
die Jeſus dazu machte; nicht da Kraft ſuchen
lehren,
[112] lehren, wo ſie Jeſus ſuchen lehrte: nicht auf
Selbſtverläugnung und Gebet dringen, wie Je-
ſus darauf drang: nicht die Liebe zu Jeſu för-
dern, die Jeſus ſelbſt von ſeinen Jüngern fodert,
und ohne Anmaſſung, zu unſerm Beſten fodern
muſste: nicht die Demuth empfehlen, die Je-
ſus empfahl: nicht zur Buſſe treiben, wie
Jeſus dazu trieb: nicht Zaum und Sporn ge-
brauchen, wo Jeſus Zaum und Sporn gebrauch-
te: den Foderungen nicht die Verheiſſungen
zur Seite geben, die Jeſus gab: die Lehren
nicht auf Geſchichte bauen, wie Jeſus und ſeine
Jünger darauf bauten: nicht alle Sittenlehren
zu Radien machen, die von Gott ausgehen und
zu Gott führen, wie ſie Jeſus und ſeine Freunde
dazu machten: nicht überall auf Ordnung
hinarbeiten, wie Jeſus dahin arbeitete u. ſ. f.
Von dieſen Fehlern will ich einige näher be-
ſtimmen, damit ſie gekannt — vermieden oder we-
nigſt nicht mehr für Tugenden des Predigtamtes möch-
ten gehalten werden.
Ein
[113]
Ein ſchädlicher Fehler iſt es 1) ſich und ſeinen
Freunden auf eine noch ſo feine Weiſe ſchmeicheln.
Dieſe Schmeicheleyen, die der Prediger ſich ſelbſt nicht
geſteht, die aber ſeine Eigenliebe trefflich anzubringen
weiſs, ſind zweyfacher Art. Iſt der Prediger ein hel-
ler Kopf nach den neuern Denkformen: ſo wird er in
den Bemühungen ſeiner Gegner den leibhaften Phari-
ſäismus finden. Er wird alſo, wenn er die Beſchei-
denheit in ſeiner Art aufs höchſte treibt, die Phariſäer
der Zeit Jeſu malen, und die ſeiner Zeit meynen, und
durch jenes Malen und dieſes Meynen ſeiner Lei-
denſchaft Luft machen, ſo oft er kann. Zwar iſt die
Kanzel dazu nicht der rechte Ort, und dem armen
Völklein, das ſich die Woche über müde gearbeitet,
wird der Schweiſs auf der Stirne nicht getrocknet durch
alle Ausfälle auf den Phariſäismus. Allein der Predi-
ger hat ſich und ſeinen Freunden, ohne es ſich deutlich
zu geſtehen, ein Feſt geben wollen, und dieſe geheime
Abſicht iſt leider! erreicht. Man darf auch nicht glau-
ben, daſs ſich die gemeynten Phariſäer durch den ſchnei-
denden Angriff des Phariſäismus wirklich zur Beſſerung
hätten bewegen laſſen. Denn ſieh! nun tritt der Mann
von älterer Denkform auf die Kanzel, und braucht nicht
mehr den ſeinen Kunſtgriff, etwa die Saduzäer der Zeit
Jeſu zu ſchildern und die ſeiner Zeit bloſs zu meynen,
ſondern er fällt, wie das Sprichwort ſagt, mit der Thür
zum Hauſe hinein, geht gerade auf den Unglauben und
die Freygeiſterey los, und ſpricht ſo breit und bunt ge-
gen die Ungläubigen, daſs die Köpfe des Volkes vol-
lends brennend werden. So hat nun denn auch der
HMann
[114] Mann älterer Denkart ſich und ſeinen Freunden ein Feſt
gegeben, und das Volk verlor dieſsmal wie das vorige-
mal, und die Kanzel ward dieſsmal entweiht wie das
vorigemal. Das Schlimmſte bey der Sache iſt wohl,
daſs weder der hellere Kopf noch der feſtere Mann die
Triebfeder ihres Eifers kennen. Beyde glauben der
Religion einen Dienſt gethan zu haben; jener ſieht ſich
noch dazu für einen Apoſtel der Aufklärung, dieſer
für einen Hammer der alten Wahrheit an, und beyde
nehmen Glückwünſchungen von ihren Partheyen an,
da ſie doch vor Gott niederfallen und ihre Thorheit
beweinen ſollten. Wer nichts Wichtigeres zu thun
weiſs, als wider ſeine Gegner heimlich oder öffentlich
ſtreiten: der darf ſicherlich von der chriſtlichen Kanzel
wegbleiben. Dazu iſt ſie nicht. Wenn du aber ſchlecht-
weg gegen Feinde angehen willſt: ſo ſtreite gegen
Fleiſchesluſt, Augenluſt und Hoffart des Lebens, die in
dem Geſchlechte der Menſchen die ſchrecklichſten Zer-
rüttungen anrichten, die durch feindliche Kräfte kön-
nen angerichtet werden. So polemiſirte Johannes!
Ein ſchädlicher Fehler iſt es 2) ſeine Lehre
den wechſelnden Formen der Philoſophic anbequemen.
Denn die menſchlichen Vorſtellungsarten, die jeder
Denkende philoſophiſch nennen mag, um ſich den glän-
zenden Titul eines Weiſen und ſeiner Idee einen höhern
Werth zu verſchaffen, ſind veränderlich, wie die Men-
ſchen: aber der Rathſchluſs Gottes, die Menſchen durch
Chriſtus heilig und unbefleckt in Liebe, d. h., gut und
ſelig zu machen, iſt unabänderlich wie Gott, und ge-
faſst
[115] faſst vor Grundlegung der Welt (Epheſ. I. 1-15.).
Nun ſollte, nach aller Vernunft, das erkannte (und
dieſe Erkenntniſs ſollte doch bey einem Prediger vor-
ausgeſetzt werden dürfen?) das erkannte Unwandel-
bare, Göttliche eine Norm für das Wandelbare, Menſch-
liche, und nicht umgekehrt, das Wandelbare eine
Norm für das Unwandelbare ſeyn. Alſo iſt es nach
aller Vernunft ein offenbarer Fehler, das erkannte Un-
wandelbare dem Wandelbaren zu unterwerfen, und
weil es die erſte Angelegenheit, gut und ſelig zu wer-
den, betrifft, ein ſchädlicher Fehler.
Ich weiſs zwar, daſs es nicht wohl möglich
ſey, einen geſunden Saft in ein Gefäſs zu gieſſen, und
darinn aufzubehalten, ohne daſs er nach und nach den
Geruch des Gefäſses annimmt. Allein: ein anders iſt,
den geſunden Saft in ein Gefäſs gieſſen, und in dieſem
Gefäſse darreichen, und ein anders: die Form des Ge-
fäſses für den geſunden Saft ſelbſt ausgeben, oder we-
nigſt das Behältniſs zur Quelle und zum Richter des
Saftes machen.
Es war jüngſt eine Zeit, in der nur Witz,
(manchmal ſo lahm als niedrig), auf der Kanzel er-
ſchien, und die Zuhörer waren wenigſt unterhalten,
daſs ſie nicht gähnten. Wenn nun eine andere Zeit
käme, in der ſich nur willkührliche Vorſtellungsart
unter dem Namen Vernunft auf der Kanzel zur Schau
ausſtellte: ſo dürfte man wohl fragen: wann werden
denn die Tage kommen, die Jeſum Chriſtum —
dieſs Aergerniſs für Juden und dieſen Unſinn für Grie-
H 2chen
[116] chen — dieſe Seele der apoſtoliſchen Predigten, auf
unſre Kanzeln wiederbringen werden? Unverſtänd-
liche, ältere Scholaſtik hat lange genug geherrſcht: ſie
wird doch nicht durch eine neuere, eben ſo unver-
ſtändliche Spekulation wieder von den Todten erweckt
werden? Sollte wohl der Prediger vergeſſen können,
daſs eine Predigt, die die Menſchen nicht zur Quelle
des Guten treibt, unnütz, und eine unnütze Predigt
ſo wenig der Verantwortung entgehen werde, als ein
müſſiges Wort?
Der allerſchädlichſte Fehler des Predigers
wäre 3) wohl dieſer, wenn er zuerſt, theils durch
ſeine Leidenſchaften, theils durch die von denſelben
beſtochene Vernunft die natürliche Moral verderbte,
und denn mit dieſer ſelbſtverderbten natürlichen Moral
die chriſtliche Glaubens- und Sittenlehre verbeſſern und
durch dieſes ſein neuverbeſſertes Evangelium das alte
verdrängen wollte.
Die Liebe hoffet das Beſſere und glaubt das
Schlimmere nicht. Gott gebe, daſs ſie nie durch Er-
fahrung widerlegt werde!
Ein ſchädlicher Fehler iſt es 4) die verdorbenen
Geſinnungen, Denkarten und Sitten ſeines Zeitalters
mit dem Evangelium ausgleichen, und den Frieden
zwiſchen dem Wort Gottes und der unbändigen Sinn-
lichkeit herſtellen wollen, ohne dieſer wehe zu thun.
Denn da ſich das Evangelium zum Genius des verdor-
benen Zeitalters verhält wie eine gerade Linie zu einer
krum-
[117] krummen: ſo kann zwiſchen dieſen zweyen keine Ei-
nigung hervorgebracht werden, auſſer es wird ent-
weder das gerade Evangelium nach der Sinnlichkeit
umgebogen, und dieſs iſt Verbrechen an der göttlichen
Wahrheit, oder es wird die krumme Sinnlichkeit der
Norm des Evangeliums unterworfen, und dieſs gehört
zur eigentlichen Umſchaffung des Menſchen, die ſich
ohne den Schmerzen der Selbſtverläugnung nicht wohl
denken läſst. Wer nun das delikate Ohr der Welt mit
dem unangenehmen Prozeſſe der Selbſtverläugnung ver-
ſchonen, den ſchmalen Weg breit, und die enge Pforte
weit machen will, um den Menſchen nicht wehe zu
thun; der thut den Menſchen ſchrecklich wehe, denn
er wiegt ſie am Rande des Verderbens in einen gefahr-
vollen Schlummer ein; und wer dieſs noch dazu als
Prediger thut, der verſündigt ſich gröblich an dem
Evangelium, das kein halbes Herz, und an ſeinem hei-
ligen Beruf, der keinen halben Mann leiden kann.
Wer hat mehrere Menſchen gebeſſert, als die Apoſtel,
und wer hat dem verdorbnen Zeitalter weniger ge-
ſchmeichelt, als die Apoſtel? Sie muſsten ſich zwar
den Lohn des Zeitalters, Hohn, Geiſſel, Kerker, Tod
— gefallen laſſen, aber das iſt eben das Kennzeichen
der geprieſenen Freymüthigkeit, daſs man
Wahrheit verkündet, nicht um ſich und ſeiner Parthey
den Genuſs der zeitlichen Ehre oder eines andern zeit-
lichen Gutes, ſondern um die Menſchenherzen der ſe-
ligmachenden, ewigen Wahrheit zu gewinnen. Der
Prediger kann bald inne werden, was ſeine Zuhörer
am liebſten hören — denn ſie ſind Menſchen, und
H 3die
[118] die Menſchen (Ausnahmen ſtoſſen die Wahrheit der
Regel nicht um), mögen die Wahrheit nur ſo lange
hören, bis ſie ſich das Recht herausnimmt, die Hören-
den ſelbſt zu ſtrafen. „Das iſt eine unverzeihliche
Unhöflichkeit: wir hören dem Prediger ſo viele Jahre
geduldig zu, und er will unſre Schwachheiten nicht
keilig ſprechen, und unſre Thorheiten nicht entſchuldi-
gen, und unſre Krankheiten nicht ſanft ſtreichen, und
das Ende unſers Weges nicht vor uns verbergen.“ So
denken die verwundeten Menſchen, wenn ſie es gleich
nicht ſagen. Wenn nun der Prediger ſeine Lehre nach
dieſer geheimen Denkart ſeiner Zuhörer zuſchneidet,
und ihre Höflichkeit mit einer andern bezahlt — ihre
Thorheiten, Schwächen, Verbrechen, wie ein Hei-
ligthum ſchonet: ſo werden ſeine Vorträge gern ge-
hört werden, aber ſtatt das Unkraut auszurotten, ſelbſt
nach Feindes Art neues ſäen.
Ein entgegengeſetzter Fehler iſt es 5) in allen
Predigten nur von der Sünde ſprechen, nur ſtra-
fen, daſs ſich auch der beſſere Theil mit Grunde be-
klagen kann: unſer Prediger wird das ganze Jahr
nie gut mit uns. Wozu iſt denn die Liebe Gottes
gegen uns, als daſs ſie die Menſchen zur Gegenliebe
reize? Wozu die Freundlichkeit Jeſu, als daſs
ſie die fähigen Herzen an ſich ziehe? Zwar ſind nicht
alle fähig, den Zug jener Liebe und dieſer Freundlich-
keit zu fühlen: aber einige ſind es doch, und dieſe ei-
nige wollen auch Vortheile aus der Predigt haben.
Es iſt dieſs überhaupt das ſeltenſte Kunſtſtück des Pre-
digers,
[119] digers, daſs er, wie die chriſtliche Sittenlehre, allen
Alles werde, um alle zu gewinnen (Zweyter Ab-
ſchnitt B.). Zudem hat alles ſeine Zeit; es iſt eine
Zeit, die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes,
und eine Zeit, die Güte und Freundlichkeit Got-
tes darzuſtellen. Auch ſollte uns die Natur des Men-
ſchen leiten. Wir haben einen Schauer vor dem
Unrecht und eine Liebe zum Guten in uns, und
beyde ſind ſchwach, zum Beweiſe, daſs jener Schauer
und dieſe Liebe ſollten befeſtiget werden. Und wenn
der Fehler der Einſeitigkeit je ein Menſchenwerk ver-
unſtaltet: ſo verunſtaltet er gewiſs die Predigten.
Noch ſchlimmer wäre es, wenn wir uns unſern Gott
nach unſerm Temperament oder gar nach der Laune
bildeten, und dieſes Gebilde zur Verehrung aus-
ſtellten.
Laſst uns vielmehr gut, gerecht, heilig, auf-
richtig werden, damit wir von der Güte, von der
Gerechtigkeit, von der Heiligkeit, von der Wahr-
heit, d. i. von Gott würdig und nützlich reden
lernen, Amen.
[]
Appendix A
Rath
eines Alten an junge Prediger.
Um recht zu predigen, thu vor jeder Predigt drey Blicke,
einen auf die Tiefe deines Elends, einen andern auf die Tiefe
des menſchlichen Elends um dich her, und den dritten auf die
göttliche Liebe in Jeſus, damit du leer von dir, und voll des
Erbarmens gegen deines Gleichen, Gottes Troſt in die Men-
ſchenherzen legen kannſt.
[][][]
gröſſern, die Erläuterungen mit kleinern Lettern gedruckt.
vollſtändigen Inhalt der göttlichen Lehre Jeſu anzugehen:
aber das Göttliche wird ſich doch auch an dieſen Fragmen-
ten ſchon wahrnehmen laſſen.
über Beredſamkeit, die ich aus ſeiner Lebensgeſchichte
überſetzt habe, am Ende dieſes Abſchnittes bey. Er ſoll
noch wirken, da er nicht mehr pilgert.
böſe Menſchen Wahrheit ſagen können. Es kann aller-
dings auch der Straſſenräuber Menſchenliebe, der Harpax
Freygebigkeit, und ein Wolluſtthier Keuſchheit [empfehlen].
Chriſtus ſagt es ja deutlich: „Alles, was die Schriftgelehr-
ten und Phariſäer, auf dem Stuhl Moſis ſitzend -- lehren,
das ſoll man thun, aber nach ihren Werken ſoll man nicht
thun.“ Matth. XXIII. 2. 3. Allein, das bleibt doch auch
unumſtöſslich wahr: wenn der Straſſenräuber Menſchen-
liebe, und der Harpax Freygebigkeit, und das Wolluſt-
thier Keuſchheit empfehlen: ſo wird die Wahrheit, die ſie
in den Mund nehmen, in ihrem Mund entweiht, und kann
nicht wirken, was ſie von edlen, freygebigen, reinen
Menſchen ausgeſprochen -- wirken muſs. Denn ſie ver-
ſtehen ſelbſt nicht, was ſie lehren; und können nicht mit
Kraft verkünden, was an ihnen keine bewieſen hat.
Dieſs iſt die Sache.
Steht dein Volk, lieber Mann, höher als das unſre: ſo darf
dein Vortrag vor deinem Volke auch einen höhern Flug
nehmen, als etwa in unſern Gegenden. Uebrigens ver-
giſs nie, daſs zehn Köpfe das Volk nicht ausmachen; daſs
Volk überall Volk ſey; daſs die Predigt nicht leicht zu klar
werden könne; daſs die Unwiſſenden, Schwachen auch
unſterbliche Seelen haben, und der Arzt nur für die Kran-
ken ſey.
ſo rein, als wie die, welche er als Prediger in ſeinen Vor-
trägen, und als Menſch in ſeinem Leben, befolgt hat.
liebe, Brüderliebe geboten, d. h. Wohlwollen ſoll der Chriſt
gegen alle haben, dem Nächſten Hülfe leiſten, und ſeinen
Mitchriſten mit der zärtlichſten Brüderliebe umfaſſen.
die Religion.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnv4.0