[][][][][][][[I]]
Geiſt des römiſchen Rechts
auf den
verſchiedenen Stufen ſeiner Entwicklung
.


Erſter Theil.

Leipzig,:
Druck und Verlag von Breitkopf und Härtel.
1852.

[[II]][[III]]

Dem Andenken
des großen Meiſters,
Georg Friedrich Puchta.


[[IV]][[V]]

Vorrede.


Mit dem Werk, von dem ich hiermit den erſten Theil
publicire, iſt es mir eigenthümlich gegangen. Seit 11 bis 12
Jahren beſchäftige ich mich mit demſelben, und bereits 1843
beabſichtigte ich, öffentliche Vorleſungen über den Gegenſtand
dieſer Schrift, mit denen ich damals in Berlin als Privatdocent
aufgetreten war, drucken zu laſſen. Puchta, dem ich von meinem
Plan geſprochen hatte, rieth mir davon ab; er hielt es für be-
denklich ſich mit einem ſo allgemeinen Thema beim Publikum
einzuführen.


Ich wünſchte faſt, daß ich dieſem wohlgemeinten Rath kein
Gehör gegeben hätte, denn obgleich der lange Zeitraum, der
ſeitdem verfloſſen, für mein Werk nicht ohne Nutzen geweſen iſt,
ſo ſteht doch der Gewinn in keinem Verhältniß zu dem Preiſe,
den er mich gekoſtet hat. Der Geiſt des römiſchen Rechts, den
ich im jugendlichen Uebermuth citirt hatte, ward für mich bald
zum Quälgeiſt, der mich in abſolute Abhängigkeit von ſich ver-
ſetzte und keinen andern Gedanken in mir aufkommen ließ.


Zu ſpät bereute ich es, mich mit ihm eingelaſſen zu haben,
er hatte bald zu viel Gewalt über mich bekommen, als daß ich
ihm noch hätte entrinnen können; das einzige Mittel, mich von
[VI]Vorrede.
ihm zu befreien, beſtand darin, ihn der Oeffentlichkeit zu über-
geben. Im Jahre 1845 bat ich Puchta, als ich mich von ihm
trennte, um die Erlaubniß, ihm mein Werk dediciren zu dürfen.
Wenn einerſeits die Dankbarkeit für den unvergleichlichen Ge-
nuß, den mir ſein Curſus der Inſtitutionen gewährt hatte, ſo-
wie die tiefe Verehrung, die ich für den großen Meiſter hege,
den Wunſch in mir erregt hatten, ihm das Liebſte und Beſte,
was ich ihm glaubte geben zu können, zu widmen, ſo veranlaßte
mich eine andere Rückſicht, ihm dieſen Wunſch ſchon damals
mitzutheilen. Ich hoffte nämlich, wenn ich ihm meinen Quäl-
geiſt verſchriebe, ſo würde es mir eher gelingen deſſelben Herr
zu werden, und ich bin überzeugt, daß wenn Puchta noch lebte,
ich bereits ſeit Jahren damit fertig geworden wäre; die ihm
ausgeſtellte Verſchreibung würde mich angetrieben haben, jenen
Geiſt „todt oder lebendig“ in ſeine Hände zu liefern.


Mit Puchta’s Tod fiel dieſer Antrieb für mich hinweg,
und von neuem ward ich der Spielball des übermächtigen Gei-
ſtes. Je mehr ich mich meinem Ziel zu nähern glaubte, um ſo
mehr entrückte es ſich meinen Blicken; je mehr ich arbeitete, um
ſo weniger fühlte ich mich befriedigt. Meine Selbſtkritik, die
namentlich was die Redaction anbetraf, immer ängſtlicher und
pedantiſcher wurde, führte gegen das Werk einen Vernichtungs-
krieg. Meine Arbeit drehte ſich, ohne eigentlich aus der Stelle
zu kommen, im Kreiſe herum, und ich würde wohl mein ganzes
Leben dazu verdammt geweſen ſein, wenn ich hätte abwarten
ſollen, daß das Werk meinen eignen Beifall erwürbe; meine
Selbſtkritik hatte ſich ſo ſehr abgenutzt, daß ich bei manchen Aen-
derungen kaum wußte, ob ich verbeſſere oder verſchlechtere, jene
ewige Kreisbewegung hatte mich, wenn ich ſo ſagen darf,
moraliſch ſchwindlich gemacht.


[VII]Vorrede.

Ich fühlte endlich, daß ich dieſem Zuſtande ein Ende machen
müſſe, und rief daher den Setzer zu Hülfe. Ich gedachte daran,
daß die Bücher nicht mit einem Male zur Welt kommen, viel-
mehr bogenweis geſetzt und gedruckt werden, daß folglich auch
die erſten Bogen bereits das Licht der Welt erblicken können,
während die folgenden noch den Embryonenſchlaf halten. So
ließ ich denn den Setzer im Mai vorigen Jahres mit wenig
Manuſcript beginnen, mir von ihm bogenweis den Rückzug
abſchneiden, — einen einmal gedruckten Bogen reſpectire ich als
fait accompli — und mich von ihm bogenweis unaufhaltſam
weiter treiben. Meine im letzten Monat Statt findende Ueber-
ſiedlung von Kiel nach Gießen brachte unſer glückliches Aus-
tauſchgeſchäft ins Stocken. Das Werk war damals gerade zu
einem Abſchnitt gediehen, der die Herausgabe des bisher Ge-
druckten möglich machte, und da ich in nächſter Zeit keine Aus-
ſicht habe, einen regelmäßigen, ungeſtörten Verkehr mit meinem
Setzer einzuleiten, ſo habe ich mich zur vorläufigen Herausgabe
dieſes erſten Theils entſchloſſen. Der zweite Theil ſoll im Spät-
herbſt folgen.


Ich habe dieſe Perſonalia meines Buchs mitgetheilt, weil
ſie vielleicht einen Einfluß auf daſſelbe ausgeübt haben; über
Zweck und Plan deſſelben habe ich mich in der Einleitung hin-
länglich ausgeſprochen, ſo daß es überflüßig wäre darüber noch
etwas zu bemerken.


Mein Werk erſcheint unter einem Titel, der Manche von
vornherein gegen daſſelbe einnehmen wird. „Geiſt“ einer Sache
und ungründliches, ſeichtes Räſonnement wird von Manchen —
und oft nicht mit Unrecht — für gleichbedeutend gehalten. Ob
meine Schrift einen neuen Beleg für dieſe Annahme liefern
wird? Ich bin mir bewußt mit Ernſt und Aufbietung aller
[VIII]Vorrede.
meiner Kräfte gearbeitet zu haben und kann in dieſer Beziehung
mit Ruhe dem Spruch der Kritik entgegenſehen. Möge letztere
die von mir gewonnenen Reſultate verwerfen, meine Methode
bekämpfen — ich darf in dieſer Beziehung um ſo weniger auf
Schonung hoffen, als ich ſelbſt bei meinen Angriffen gegen die
herrſchende Methode ſie nicht geübt und jeden Anſpruch auf eine
milde Kritik verwirkt habe — aber die Ueberzeugung wird ſich,
hoffe ich, dem Leſer aufdrängen, daß nicht Abneigung gegen
ernſte und mühſame Arbeit mich dem „Geiſt“ des römiſchen
Rechts in die Arme geführt hat.


Der Gedanke, der mich bei meinem Werk angeſpornt hat,
iſt die Hoffnung auf Anerkennung, nicht meiner ſelbſt, ſondern
des römiſchen Rechts. Das Gefühl der höchſten Bewunderung
und Verehrung, das ich vor dieſer grandioſen Schöpfung em-
pfinde, habe ich Andern mitzutheilen geſtrebt, und mein Buch
iſt namentlich für ſolche Leſer berechnet, die mit dem römiſchen
Recht noch nicht vertraut ſind, alſo für Studierende der Rechts-
wiſſenſchaft und wiſſenſchaftlich gebildete Laien. Möchte mein
Werk bei dieſem Leſerkreiſe Verbreitung finden und im Stande
ſein, jenes Gefühl, aus dem es entſprungen iſt, auch in Andern
zu erwecken.


Ich bitte den Leſer, zwei ſinnentſtellende Druckfehler zu ver-
beſſern; auf Seite 10 Zeile 12 von oben ſteht Kapitel ſtatt
Kapital, Seite 102 Zeile 14 von oben ſichtliches Mini-
mum ſtatt ſittliches Minimum. Daß ich auf S. 94 Zeile 3
von unten Servius Tullius ſtatt Tullus Hoſtilius geſchrieben,
iſt ein ziemlich unſchädliches Verſehn.


Gießen 29. April 1852.


[[IX]]

Inhalt des erſten Theiles.


  • Einleitung.
    (S. 1—82.)
  • Die Aufgabe und die Methode ihrer Löſung.
  • §. 1. Die Zukunft des römiſchen Rechts — Veranlaſſung zu einer Beurthei-
    lung deſſelben. S. 1 — 5.
  • §. 2. Bedürfniß der Löſung unſerer Aufgabe — Unſere heutige Wiſſenſchaft und
    ihr wiſſenſchaftlicher Apparat. S. 5 — 12.
  • Methode der rechtshiſtoriſchen Darſtellung.
  • A.Anforderungen, die in der Natur des Rechts ent-
    halten ſind
    .
  • §. 3. 1. Anatomiſche Betrachtung des Rechtsorganismus — Die Beſtand-
    theile deſſelben: Rechtsſätze, Rechtsbegriffe, Rechtsinſtitute — pſychiſche
    Organiſation des Rechts — Differenz zwiſchen dem objektiven Recht
    und der ſubjektiven Erkenntniß (latente Beſtandtheile des Rechts) —
    Aufgabe der Wiſſenſchaft. S. 12 — 39.
  • §. 4. 2. Phyſiologiſche Betrachtung des Rechtsorganismus — Die Funktion
    deſſelben im Leben — Formale Realiſirbarkeit des Rechts — Die Auf-
    gabe des Hiſtorikers gegenüber dem Recht der Vergangenheit. S. 39 50.
  • B.Anforderungen, die in dem Begriff der Geſchichte liegen.
  • §. 5. Ausſcheidung der unweſentlichen Thatſachen — Der innere Zuſammen-
    hang der Thatſachen und das Moment der Zeit — Innere Chronologie
    oder abſolute und relative Zeitbeſtimmung nach inneren Kriterien.
    S. 51 — 76.
  • §. 6. Plan der folgenden Darſtellung — Die drei Syſteme des Rechts.
    S. 77 — 82.
  • Erſtes Buch.
    (S. 85—336.)
  • Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
  • §. 7. Urzuſtände — Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks — Ergänzung
    der Tradition durch Etymologie und Rückſchlüſſe vom ſpätern Recht.
    S. 85 — 90.
  • §. 8. Die römiſche Kosmogonie des Rechts — Das Charakteriſtiſche derſelben
    für die römiſche Vorſtellungsweiſe. S. 90 — 98.
  • A.Die Ausgangspunkte oder die Urelemente des
    römiſchen Rechts
    .
  • §. 9. Das Minimum geſchichtlicher Anfänge. S. 98 — 103.
  • I.Das Prinzip des ſubjektiven Willens der Urquell des
    römiſchen Rechts
    . S. 103 — 161.
  • §. 10. 1. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Begründung
    des Rechts (Recht der Beute) — Vorliebe der römiſchen Rechtsanſicht
    für originäre Erwerbungsarten. S. 103 — 115.
  • §. 11. 2. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Schutz und
    Verwirklichung des Rechts — Das Syſtem der Selbſthülfe — Die
    Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines zweifelloſen Anſpruchs — Die
    Privatrache und der Urſprung der Privatſtrafen — Zuſicherung des
    Beiſtandes von Seiten Einzelner und des ganzen Volks (testimonium
    = Garantie des Rechts). S. 115 — 143.
  • §. 12. 3. Vertragsmäßige Entſcheidung der Rechtsſtreitigkeiten — Das öffent-
    liche Richteramt in ſeinem Anſchluß an das Syſtem der Selbſthülfe —
    Geſtalt dieſes Syſtems in ſpäterer Zeit. S. 143 — 161.
  • II.Familienprinzip und Wehrverfaſſung, die Faktoren
    der organiſirten Gemeinſchaft
    . S. 161 — 255.
  • §. 13. Vorbemerkung. S. 162 — 168.
  • §. 14. 1. Das Familienprinzip. S. 168 — 238.
  • a. Die Gentilverbindung — Die Gens eine Familie im Großen und ein
    Staat im Kleinen — Einfluß auf das geſammte Recht. S. 168—192.
  • §. 15. b. Der Staat vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus — Die
    publiciſtiſche Societät der Individuen — Baſirung der Strafgewalt
    auf Rache, der geſetzgebenden Gewalt und des Rechtsſchutzes auf Ver-
    trag — lex und jus — Dualismus der vom Staat anerkannten und
    der bloß ſubjektiven Rechte. S. 192 — 219.
  • §. 16. c. Stellung außerhalb der Gemeinſchaft — Volle Negation des Rechts,
    der Kriegsfuß — Relative Berechtigung dieſes Standpunktes — Mil-
    derungen — Einfluß des Handels — Das hospitium — Entſtehung
    des internationalen Rechts aus dem Vertrage heraus — Die Clientel,
    precarium und peculium. S. 219 — 238.
  • 2. Einfluß der Wehrverfaſſung auf Staat und Recht.
    S. 239 — 255.
  • §. 17. Vortheilhafter Einfluß des Krieges auf die Verfaſſung — Die Staats-
    verfaſſung eine Wehrverfaſſung — Die militäriſche Eintheilung des
    Volks — Prinzip der Subordination — Das imperium — Militäri-
    ſcher Charakter des Königthums — Strafgewalt — Einfluß der
    Wehrverfaſſung auf die Erziehung des Volks — Sinn für äußere
    Ordnung und Geſetzlichkeit.
  • III.Das religiöſe Prinzip mit ſeinem Einfluß auf Recht
    und Staat
    . S. 256 — 281.
  • §. 18. Das Fas — Handhabung deſſelben durch das Pontifikalcollegium —
    Prozeß vor dem geiſtlichen Gericht (legis actio sacramento) — Her-
    vortreten des religiöſen Einfluſſes in den verſchiedenen Theilen des
    Rechts, namentlich im Strafrecht — Der homo sacer — Die Strafe
    als religiöſes Sühnemittel.
  • §. 19. Gemeinſames aller dieſer Ausgangspunkte. S. 281 — 285.
  • B.Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen
    Ausgangspunkten
    . S. 285 — 336.
  • §. 20. 1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes und die Prädeſtination deſſelben
    zur Cultur des Rechts — Moraliſche und intellektuelle Begabung des
    römiſchen Volks — Die Selbſtſucht — Die Idee der Zweckmäßigkeit
    — Die Energie des Willens (Conſequenz und conſervative Tendenz).
    S. 285 — 314.
  • §. 21. 2. Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen Ausgangspunk-
    ten, vor allem das praktiſche Verhältniß des römiſchen Lebens zur
    Religion. S. 314 — 336.
[[1]]

Einleitung.


Die Aufgabe und die Methode ihrer Löſung.


Die Zukunft des römiſchen Rechts — Veranlaſſung zu einer
Beurtheilung deſſelben.


I. Es tauchen von Zeit zu Zeit in jeder Wiſſenſchaft ge-
wiſſe Fragen und Richtungen auf, die durch ihre ins Leben tief-
eingreifende Bedeutung auch den gebildeten Laien ein Intereſſe
abnöthigen, und für deren Schickſal die Stimmung dieſes Pu-
blikums nicht ſelten entſcheidender wird, als der Ausgang des
Prozeſſes, den ſie in der Wiſſenſchaft zu beſtehen haben. Auch
die Jurisprudenz, ein Gebiet, das in früherer Zeit den Blick
des Laien kaum auf ſich zog, hat neuerdings bei manchen Fragen
dieſe Erfahrung machen müſſen, und zu dieſen gehört der Gegen-
ſtand der vorliegenden Schrift, das römiſche Recht. Der Auf-
ſchwung des Nationalgefühls zur Zeit der ſ. g. Freiheitskriege
lenkte faſt nothwendigerweiſe die Aufmerkſamkeit des größeren
Publikums auf dieſen fremdartigen Beſtandtheil unſeres Rechts-
lebens, und das Gefühl, mit dem man denſelben betrachtete,
konnte nicht zweifelhaft ſein. Es hätte nicht erſt der Autorität
nahmhafter Juriſten bedurft, die über das römiſche Recht den
Stab brachen, nicht des reichen Sündenregiſters, mit dem ſie ihren
Spruch rechtfertigten; die Thatſache, daß ein vor mehr als
tauſend Jahren bei einem fremden Volke entſtandenes Geſetzbuch
als Richtſchnur des heutigen Rechtsverkehrs galt, ſchien in ſich
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 1
[2]Einleitung — die Aufgabe.
ſelbſt einen ſolchen Widerſpruch, eine ſolche Verletzung des Na-
tionalitätsprinzips zu enthalten, daß der gebildete Laie auch ohne
Beihülfe der Juriſten ſich berufen halten mußte, einen ſolchen
Zuſtand zu verdammen und die Aufhebung deſſelben zu verlan-
gen. Eine wiſſenſchaftliche Richtung, die darauf ausging, das
römiſche Recht zu bekämpfen und zu verdrängen, konnte daher
von vorn herein der Sympathieen des großen Publikums ver-
ſichert ſein und mußte täglich an Terrain gewinnen. Sie war
zeitgemäß, denn ſie hatte den großen Gedanken, dem die Zeit
gehört, den der Nationalität zu ihrem Bundesgenoſſen, und die
Allgewalt, die dieſer Gedanke auf die Gebildeten wie die Maſſen
ausübt, ſichert dieſer Richtung den Sieg. Die gegenwärtige
Generation von Juriſten muß darauf gerüſtet ſein, das römiſche
Recht in ſeiner bisherigen Geſtalt ſcheiden zu ſehen; ſie hat
jedenfalls die Aufgabe, dies Ereigniß vorzubereiten, vielleicht
auch noch die, ſelbſt mit Hand ans Werk zu legen.


Jene vorausſichtliche Verdrängung des römiſchen Rechts
wird aber mehr ſeine Form, als ſeinen Inhalt treffen. Es wird
aufhören, für uns die Gültigkeit eines Geſetzbuches zu beſitzen,
aber es wird uns, wie überall, wo es früher galt und dann auf-
gehoben ward, einen bedeutenden Theil des Materials liefern,
aus dem wir den Neubau unſeres Rechts zu geſtalten haben,
und ſo wird eine große Summe der römiſchen Rechtsgrundſätze
in veränderter Form fortexiſtiren. Kein Verſtändiger nämlich
wird dieſelben als einen Krankheitsſtoff betrachten, den unſer
Rechtsorganismus, um wieder zu geneſen, ganz und gar auszu-
ſcheiden hätte. Es iſt nicht die Aufgabe, in krankhafter Erregung
des Nationalgefühls jede Partikel des römiſchen Rechts, bloß
weil ſie römiſchen Urſprunges iſt, als einen mit unſerer Natur
unverträglichen Beſtandtheil auszuſtoßen. Wie die Nationen
im Handelsverkehr ihre Produkte und Fabrikate gegen einander
umſetzen, ſo findet auch ein geiſtiges Austauſch-Geſchäft unter
ihnen Statt, und täglich entlehnt die eine von der andern in
Kunſt, Wiſſenſchaft, Recht u. ſ. w., ohne daß ſie davon eine
[3]Die Zukunft des römiſchen Rechts. §. 1.
Gefährdung ihrer Nationalität befürchtete. Dieſe Entlehnung ſoll
nur keine mechaniſche, ſondern eine Aſſimilirung, eine innerliche
Aneignung ſein. Das römiſche Recht als Geſetzbuch in frem-
der Sprache hat dieſen Aſſimilirungsprozeß nie durchmachen kön-
nen und muß darum auch wieder ausgeſtoßen werden, dahingegen
iſt von ſeinen materiellen Grundſätzen eine große Zahl im Laufe
der Jahrhunderte ganz in unſer Fleiſch und Blut übergegangen,
und dieſer Bildungsprozeß läßt ſich weder rückgängig machen
noch ignoriren.


So werden wir alſo manches behalten, manches zurück-
erſtatten. Damit wir aber nach keiner von beiden Seiten hin zu
viel oder zu wenig thun, iſt eine genaue Prüfung des Materials
unerläßlich. Es iſt gewiſſermaaßen zum Zweck der Auseinander-
ſetzung mit dem römiſchen Recht die vorherige Aufnahme einer
Abrechnung erforderlich. Was iſt uns denn das römiſche Recht
bisher geweſen, was kann und darf es uns fortan ſein, wie ſind
die Mittel, über die es gebietet und die es uns zu Gebote ſtellt,
beſchaffen u. ſ. w., das ſind Fragen, über die wir uns am Tage
jener Abrechnung bereits völlig klar geworden ſein müſſen.


Eine erſchöpfende Beurtheilung des römiſchen Rechts würde
daſſelbe von drei verſchiedenen Seiten zu betrachten haben, näm-
lich vom ſpezialhiſtoriſchen, univerſalhiſtoriſchen und legislativen
Standpunkt. Auf dem erſten Standpunkt betrachtet man daſſelbe
abſolut, d. h. als ein für ſich ſelbſtändiges Ganze, auf den bei-
den andern relativ, und zwar auf dem zweiten in Beziehung auf
die geſammte Entwicklung des Rechts in der Weltgeſchichte, auf
dem dritten in Beziehung auf die legislativen Bedürfniſſe und
Zwecke der Gegenwart. Jene erſte Betrachtungsweiſe würde das
Weſen des römiſchen Rechts zu ergründen, ſeinen geiſtigen Ge-
halt zu ermitteln haben; die zweite hätte die Frage zu beant-
worten: welchen Fortſchritt machte die Univerſal-Geſchichte des
Rechts mit dem römiſchen Recht, und welchen Einfluß hat daſ-
ſelbe auf die moderne Welt ausgeübt; die dritte hätte die legis-
lative Brauchbarkeit dieſes Rechts zum Gegenſtande.


1*
[4]Einleitung — die Aufgabe.

Es iſt nun meine Abſicht, mich nach und nach an allen dieſen
drei Fragen zu verſuchen, und die gegenwärtige Schrift, die die
erſte derſelben behandelt, ebnet mir für die Bearbeitung der bei-
den andern den Boden. So hätte ich dieſelbe denn als erſten
Theil einer Kritik des römiſchen Rechts erſcheinen laſſen können.
Allein andererſeits iſt ſie durch die Selbſtändigkeit ihrer Aufgabe
ein abgeſchloſſenes Ganze, und es iſt mir ſelbſt noch ſo ungewiß,
ob und wann ich im Stande ſein werde, die beiden andern Theile
folgen zu laſſen, daß ich es vorgezogen habe, jeden derſelben als
ſelbſtändiges Werk anzulegen und erſcheinen zu laſſen. Ich wende
mich denn fortan ausſchließlich der erſten Frage zu, d. h. der
Charakteriſtik des römiſchen Rechts auf den verſchiedenen Stufen
ſeiner Entwicklung.


Es iſt nun meine Abſicht, dieſe Aufgabe in einer auch für
gebildete Laien faßlichen Weiſe zu behandeln. Denn wenn, um
an die obige Bemerkung wieder anzuknüpfen, die Exiſtenzfrage
des römiſchen Rechts vor das große Publikum gezogen iſt, wenn
ſie das Intereſſe der Gebildeten mit Recht auf ſich ziehen kann,
ſo halte ich es für eine Pflicht der Wiſſenſchaft gegen ſich ſelbſt
wie gegen ihre Zeit, dieſem Intereſſe auf halbem Wege entgegen
zu kommen und dem Laien die Gelegenheit zu bieten, ſich über
das römiſche Recht ein richtiges Urtheil zu bilden. Schon man-
cher Laie mag das Bedürfniß gefühlt haben, ſich über ein Recht
zu belehren, das durch ſeine merkwürdigen Schickſale und ſeine
außerordentliche Bedeutung für die moderne Welt zu den her-
vorragendſten geſchichtlichen Erſcheinungen gehört; ein Recht,
deſſen praktiſche Beziehung zur Gegenwart ihm ſo oft und räth-
ſelhaft entgegentritt; ohne daß er jedoch geneigt oder im Stande
wäre, zu dem Zweck den langen Weg der Schule einzuſchlagen.
Der ſpeziellen Veranlaſſungen, die der Hiſtoriker, Philologe,
Philoſoph hat, ſich eine Einſicht in das römiſche Recht und ein
Urtheil über daſſelbe zu verſchaffen, will ich gar nicht einmal
gedenken.


Ich habe nun bei der Ausarbeitung dieſer Schrift die Be-
[5]Die Löſung — unſere heutige Wiſſenſchaft. §. 2.
dürfniſſe dieſes Publikums zu berückſichtigen geſucht, ohne doch,
wie ich glaube, dadurch die Theilnahme meiner Fachgenoſſen auf
eine zu ſchwere Probe geſtellt zu haben. Ehr möchten umgekehrt
neben dem weſentlichen Kern des Werks, der jedem Gebildeten
verſtändlich ſein wird, einzelne Ausführungen vorkommen, die
ſein Intereſſe nicht in Anſpruch nehmen oder ohne Beihülfe eines
Juriſten ihm weniger zugänglich ſind. Dieſe Berechnung auf
zwei Leſerkreiſe mag manchen unthunlich erſcheinen, denn unter
allen Umſtänden, könnte man ſagen, geſchieht daran für den
einen ſchon zu viel, was für den andern eben ausreicht, und für
jenen genügt wiederum, was für dieſen zu wenig iſt. Dies iſt
aber nur ſcheinbar, und gerade umgekehrt halte ich die Berück-
ſichtigung jener beiden Leſerkreiſe bei wiſſenſchaftlichen Gegen-
ſtänden, die ſich überhaupt für eine populäre Darſtellungsweiſe
eignen, — und den vorliegenden zähle ich dazu — für ſehr vor-
theilhaft. Die Rückſicht auf den Laien zwingt zur Klarheit, die
Rückſicht auf den Leſer vom Fach verhindert, daß dieſe Klarheit
in Plattheit übergehe oder daß der Schriftſteller ſich der Be-
gründung
ſeiner Behauptungen überhebe. Die Wiſſenſchaft
ſelbſt kann dadurch nur gewinnen, daß man ſie dem unbefange-
nen Blicke des Laien bloß zu ſtellen verſucht, indem man dadurch
veranlaßt wird, aus Rückſicht auf ihn traditionelle Anordnungen
und Begriffsformulirungen zu verändern, das den freien geiſti-
gen Blick nicht ſelten ſtörende gelehrte Beiwerk fallen zu laſſen,
den weſentlichen Kern der Wiſſenſchaft herauszuſuchen und ohne
Hülfe der Schulſprache faßlich darzuſtellen.


Bedürfniß der Löſung unſerer Aufgabe — Unſere heutige Wiſſen-
ſchaft und ihr wiſſenſchaftlicher Apparat. —


II. Bedarf denn unſere Aufgabe noch erſt der Löſung?
Sollte man nicht erwarten, daß ſie bei der Fülle der geiſtigen Kraft,
über die das römiſche Recht ſeit Jahrhunderten geboten hat,
längſt gelöſt ſei? Zu allen Zeiten wiederholten ſich die Angriffe auf
[6]Einleitung — die Aufgabe.
dieſes Recht, zu allen Zeiten ſuchte man ſie mit der Verweiſung
auf den hohen Werth deſſelben zurückzuſchlagen; worin beſteht
denn derſelbe? Welchen dankbareren Stoff zur Bethätigung hätte
die Verehrung, die man dieſem Recht zollte, finden können, als
die Lichtſeiten deſſelben hervorzuheben, und wie hätte man die
Gegner wirkſamer zum Schweigen bringen können? Aber unſere
Literatur ſtraft dieſe Erwartung Lügen, denn ſtatt einer einge-
henden Kritik des römiſchen Rechts gewährt ſie uns nur gele-
gentliche allgemeine Ausſprüche über die Trefflichkeit deſſelben,
den eminenten Scharfſinn und praktiſchen Takt der römiſchen
Juriſten u. ſ. w. Weihrauch hat man dem römiſchen Recht
genug geſtreut, und es lagert ſich, möchte ich ſagen, um daſſelbe
eine glänzende Atmoſphäre, durch die der Unkundige erſt hin-
durchdringen muß, um ſich ihm zu nähern; aber ſobald er ſie
hinter ſich hat, ſobald der Gegenſtand ſelbſt in ſeiner Nacktheit
ſich ihm zeigt, tritt eine bittere Enttäuſchung ein, und man be-
greift nicht, worin die viel geprieſene Größe deſſelben beſtehen
ſoll. Bei längerer Beſchäftigung mit demſelben offenbart ſie ſich
freilich, aber mehr dem Gefühl, als der Erkenntniß; es verhält
ſich damit, wie mit dem Zauber, den manche Perſönlichkeiten
ausüben: man fühlt ihn, ohne ſich bewußt zu ſein, worin er
eigentlich beruhe. So hat auch das römiſche Recht auf tauſende
und aber tauſende ſeiner Jünger die höchſte Anziehungskraft
ausgeübt; in ihnen allen lebte das Gefühl ſeiner Größe und
artete nicht ſelten in fanatiſche Blindheit aus, aber an die wiſſen-
ſchaftliche Begründung dieſes Gefühls hat man kaum gedacht.
Man begnügte ſich, den Gegenſtand auf das ſorgfältigſte zu
erforſchen und, wo es galt, ein Urtheil abzugeben, ihm in den
allgemeinſten Ausdrücken ein glänzendes Zeugniß auszuſtellen.
Bedürfte es aber eines ſolchen, käme es darauf an, die Größe
des römiſchen Rechts auch für den Unkundigen in das rechte
Licht zu ſetzen und dem Zweifler den Mund zu ſchließen, ſo
brauchte man nur die Thatſachen ſprechen zu laſſen; die Geſchichte
ſelbſt hat dem römiſchen Recht das beſte Zeugniß ausgeſtellt.
[7]Die Löſung — der Werth des römiſchen Rechts. §. 2.
Denn als das Volk, dem daſſelbe angehörte, längſt vom Schau-
platz abgetreten, als im Laufe der Jahrhunderte eine neue Welt
auf den Trümmern Roms ſich gebildet hatte, da regte ſich unter
ihnen das Recht dieſes Volks, das wieder erwachte aus der
Erſtarrung, der es lange verfallen geweſen. Wie es nun hervor-
trat in ſeinem fremdartigen, entſtellten Aeußern, ſchwerfällig und
einem abgelebten Greiſe ähnlich, wer hätte da glauben ſollen,
daß die blühenden, kräftigen Geſtalten der jugendlichen Völker,
denen jetzt die Welt gehörte, ſich vor dieſem Fremdling beugen
und ihn an ihren Heerd aufnehmen würden; daß er aus einem
Lehrer allmählig ihr Gebieter werden und ihnen ſeine Geſetze
aufzwingen würde? Wenn man weiß, mit wie feſten Banden,
mit wie viel tauſend Fäden jedes Recht an das Volk ſeiner Hei-
math geknüpft iſt; wenn man bedenkt, welchen Widerſtand das
Nationalgefühl ſo wie das Leben mit ſeinen unendlichen Intereſſen
und Mitteln dem Eindringen eines fremden Rechts entgegenzu-
ſetzen vermag, ſo wird man ermeſſen, welche rieſige Kraft dem
römiſchen Recht inne wohnen mußte, um dieſen Widerſtand zu
brechen und Völkern fremder Sprache und Sitte ſein Joch auf-
zulegen. Mich hat jenes Wiedererwachen und das ſpätere Schick-
ſal des römiſchen Rechts oft an ein bekanntes morgenländiſches
Märchen erinnert. Ein Zauberer bannt einen Geiſt in ein ver-
ſchloſſenes Gefäß. Lange liegt es verborgen auf dem Meeres-
grunde, bis es in die Netze eines Fiſchers geräth. Er öffnet es,
und damit erhält der gebannte Geiſt ſeine Freiheit zurück und
beginnt ſofort, ſie zum Heile oder Unheile des Finders zu benu-
tzen. So war auch der Genius des römiſchen Rechts zu einer
Unthätigkeit von Jahrhunderten verdammt, bis das Behältniß,
in das er im ſechſten Jahrhundert eingeſchloſſen worden war,
wieder geöffnet ward, und jetzt ſtrömte er aus faſt über den
ganzen europäiſchen Continent, zerſtörend und ſchaffend, und
keine Macht der Lebendigen war dieſem Geiſte des Alterthums
gewachſen.


In dieſer Apotheoſe des römiſchen Rechts liegt die Größe
[8]Einleitung — die Aufgabe.
deſſelben in unverkennbaren Zügen ausgeſprochen, nichts iſt alſo
leichter, als den Beweis dieſer Größe zu erbringen. Aber wenn
man weiter dringt, wenn man frägt: worauf beruht ſie denn,
wodurch unterſcheidet ſich das römiſche Recht ſo ſehr zu ſeinem
Vortheile von andern Rechten, dann geben uns ſelbſt die größten
Kenner deſſelben nur ungenügende Antwort. Man preiſt den
Scharfſinn und die Conſequenz der römiſchen Juriſten, aber
damit iſt nichts gewonnen. Dieſelbe Eigenſchaft findet ſich in
nicht minderem Grade, ja vielleicht mit einer noch ſchärferen
Spitze in der talmudiſchen Jurisprudenz 1) und in der juriſtiſchen
und moraliſchen Caſuiſtik der Jeſuiten, 2) und wie ſehr treten
doch beide hinter das römiſche Recht in den Schatten. Wenn
man auch noch ſo viele Vorzüge der römiſchen Juriſten nahmhaft
machen will, ſo führen ſie alle nur zu dem einen Satze, daß
letztere große Meiſter geweſen. Wer aber von irgend einem Pro-
dukt nachweiſen will, daß und warum es ein Meiſterſtück ſei,
wird gewiß nicht den Weg einſchlagen, daß er zeigt, der Urhe-
ber habe alle Eigenſchaften beſeſſen, um ein ſolches Meiſterſtück
zu liefern, ſondern er wird ſich an das Werk ſelbſt halten und
auf jeden einzelnen Vorzug deſſelben aufmerkſam machen.


Es iſt nun höchſt auffallend, wie wenig Sinn für eine
ſolche Materialkritik des römiſchen Rechts in unſerer Literatur
hervortritt. Es iſt weder der Verſuch einer Beurtheilung des
römiſchen Rechts im ganzen und großen gemacht, noch pflegt
auch bei der Bearbeitung einzelner Lehren eine ſolche kritiſche
Betrachtungsweiſe hervorzutreten. Man begnügt ſich, das
römiſche Recht möglichſt rein darzuſtellen, ich möchte ſagen, man
müht ſich ab, täglich von neuem den Aktenauszug zu verbeſſern,
ohne zu gedenken, daß ſich ihm ein Urtheilsentwurf nebſt Ent-
ſcheidungsgründen anſchließen ſoll. Worin liegt der Grund die-
[9]Unſere heutige Wiſſenſchaft. §. 2.
ſes Verſäumniſſes? Hält man dieſe Aufgabe einer Urtheilsfäl-
lung für ſo leicht, daß die Literatur ſich ihr nicht erſt zu unter-
ziehen brauche, ihre Löſung ſich vielmehr von ſelbſt ergebe? Das
wäre ein großer Irrthum; man müßte gar keine Ahnung von
der Bedeutung und dem Umfang dieſer Aufgabe haben. Oder
iſt unſere Jurisprudenz bei ihrer praktiſchen Tendenz gleichgültig
gegen alle Fragen, die ſich nicht unmittelbar auf die praktiſche
Anwendbarkeit des Rechts beziehen? Dies iſt eben ſo wenig der
Fall, wie ja die eifrige Cultur der römiſchen Rechtsgeſchichte am
beſten bezeugt.


Nein, ſcheuen wir uns nicht, den Vorwurf auszuſprechen:
der Grund jenes Verſäumniſſes liegt nicht im Nicht-Wollen,
ſondern im Nicht-Können. Zu einer wahrhaften Kritik des rö-
miſchen Rechts, zur Erforſchung ſeines innerſten Weſens und
ſeiner letzten Gründe fehlt es unſerer romaniſtiſchen Jurisprudenz
ſowohl an der ſubjektiven Fähigkeit wie an dem objektiven
wiſſenſchaftlichen Apparat. Die Beſchaffenheit des Stoffes, dem
ihre ganze Thätigkeit gewidmet iſt, zwingt ſie, denſelben ſtets in
größter Nähe, ich möchte ſagen mit der exegetiſchen Lupe in der
Hand zu betrachten, und dieſe Fertigkeit iſt durch Uebung ſo
ſehr in ihr ausgebildet, ihr wiſſenſchaftlicher Apparat, ihre
Lupen und Mikroſkope ſind ſo ſcharf geſchliffen, daß ſie in der
kleinſten, unſcheinbarſten Stelle aus den Pandekten oder Gajus
gewiſſermaaßen das Blut circuliren ſehen kann. Aber wie da-
durch einerſeits das Auge für ſolche mikroſkopiſche Beobachtun-
gen geſchärft wird, nimmt andererſeits die Weitſichtigkeit deſſel-
ben ab, und es ſtellt ſich eine Abneigung gegen die Einnahme
entfernterer Standpunkte ein. Iſt es nicht erklärlich, daß man-
cher, der jedes Sandkorn in der Nähe ſieht, in allgemeineren
Geſichtspunkten nichts erblickt, als verſchwimmende Umriſſe,
Seifenblaſen, an denen nur ungründliche Naturen Gefallen fin-
den können? Unſere gegenwärtige Aufgabe erfordert aber durch-
weg ein Operiren mit allgemeinen Geſichtspunkten, eine Be-
trachtung aus der Ferne. Um das römiſche Recht zu beurtheilen,
[10]Einleitung — die Aufgabe.
können wir uns nicht an einzelne Beſtimmungen deſſelben halten,
ſondern wir müſſen daſſelbe prinzipiell erfaſſen, wir ſind daher
beſtändig gezwungen zu abſtrahiren. Statt der Lupe bedürfen
wir, wenn der Vergleich erlaubt iſt, der Teleſkope d. h. ſtatt
einer Kritik, die die Ueberlieferungsform des römiſchen Rechts,
die Handſchriften, Varianten u. ſ. w. zum Gegenſtand hat,
einer Kritik des Rechts überhaupt, einer allgemeinen Natur-
lehre deſſelben. Wer meſſen will, bedarf eines Maaßſtabs, und
den Maaßſtab zur Beurtheilung eines einzelnen Rechts kann
uns nur die allgemeine Lehre von der Natur und Erſcheinungs-
form des Rechts überhaupt geben. Wie dürftig iſt es aber mit
dieſer Lehre beſtellt, wie gering iſt das Kapitel von Begriffen,
Anſchauungen und Geſichtspunkten, das uns die heutige Juris-
prudenz zu dieſem Zwecke zu Gebote ſtellt. Mir iſt dieſer Mangel
bei meiner Arbeit ſehr fühlbar geworden. An wie mancher Er-
ſcheinung mußte ich ohne Ausbeute vorübergehen, bei der es
mir doch gewiß war, daß ſie einen geiſtigen Gehalt in ſich
ſchließe, den zu finden es nur einer Erweiterung der rechtsphi-
loſophiſchen Auffaſſung bedürfte. Was uns im Leben täglich
begegnet, geſchieht auch in der Wiſſenſchaft; gedankenlos gehen
wir vor manchen merkwürdigen Erſcheinungen vorbei, und
wenn wir aufmerkſam darauf gemacht ſind, erſcheint uns
unſer früheres Ueberſehen unbegreiflich. So wird auch eine
kommende Zeit es unerklärlich finden, daß unſere gegenwärtige
Jurisprudenz, die eine ſo hohe Kenntniß des römiſchen Rechts
beſitzt, doch eine ſo geringe Beobachtungsgabe für die
charakteriſtiſchen Eigenſchaften deſſelben gehabt hat, und daß
uns verſchloſſen blieb, was demnächſt, wenn der rechte Begriff
dafür gefunden, dem blöden Auge ſichtbar wird. Mich hat bei
meiner Aufgabe öfter das Gefühl beſchlichen, als hätte ich vor
mir den geſtirnten Himmel; die Reſultate meiner Beobachtung
erhöhen täglich in mir die Ueberzeugung, daß ſich hier dem For-
ſchergeiſte noch ein unendliches Feld von Entdeckungen öffnet,
aber bei jedem Schritte, den ich ſelbſt vorwärts zu machen ſtrebe,
[11]Unſere heutige Wiſſenſchaft. §. 2.
hemmt mich, um im Bilde zu bleiben, der dürftige Apparat der
Sternwarte und drängt mir die Ueberzeugung auf, daß er ſelbſt
erſt vermehrt und verbeſſert werden muß, damit die Ausbeute loh-
nender werde. In demſelben Maaße, in dem die allge-
meine Naturlehre des Rechts auf rechtsphiloſophi-
ſchem und empiriſch-comparativem Wege ſich ver-
vollkommnet und an neuen Begriffen und Geſichts-
punkten ſich bereichert, wird auch die Einſicht in
das wahre Weſen des römiſchen Rechts ſteigen
. Jene
Naturlehre ſelbſt liegt heutzutage noch in der Kindheit und die
vorliegende Schrift hat neben ihrer Hauptaufgabe zugleich die
Beſtimmung, dieſe Lehre um einige Beiträge zu bereichern, bei
Gelegenheit der Beurtheilung eines einzelnen Rechts Geſichts-
punkte aufzuſtellen, die dem Weſen des Rechts überhaupt ent-
nommen ſind, eine allgemeinere Wahrheit beanſpruchen. Ihre
Benutzung für unſern ſpeziellen Zweck wird eine nähere Begrün-
dung derſelben unvermeidlich machen, aber auch nur ſoweit jener
Zweck es erheiſcht, werden wir es uns verſtatten, dieſelben aus-
zuführen.


Mit dieſer Verſicherung ſcheinen ſchon die nächſten Para-
graphen in Widerſpruch zu treten. Dieſelben ſollen nämlich die
richtige Methode für eine rechtshiſtoriſche Darſtellung vorzeich-
nen, und daß unſere Aufgabe rechtshiſtoriſcher Art iſt, liegt auf
der Hand, denn das römiſche Recht läßt ſich ohne Eingehen auf
ſeine Geſchichte nicht beurtheilen. In wie fern unſere Aufgabe
von der der römiſchen Rechtsgeſchichte abweicht, wird ſich bei der
Begründung der Methode am beſten beſtimmen laſſen. Ich gehe
nun bei dieſer Begründung von der Idee aus, daß jede Dar-
ſtellung der Geſchichte des Rechts den beiden Begriffen des
Rechts und der Geſchichte eine Genüge thun ſoll — ein gewiß
höchſt unſchuldiger Satz, den, möchte man ſagen, kein Rechts-
hiſtoriker je außer Augen gelaſſen hat. Aber in wie manchen
Darſtellungen der römiſchen Rechtsgeſchichte zeigt ſich das Ge-
gentheil, wie manche enthalten in Wahrheit weder eine Ge-
[12]Einleitung — die Methode.
ſchichte, noch eine Geſchichte des Rechts, ſondern eine nach
Zeit und Inhalt angeordnete Zuſammenſtellung von rechtshiſto-
riſchem Material, ein Inventarium der römiſchen Rechtsgeſchichte.
Die folgende Darſtellung wird die Grundgebrechen der herr-
ſchenden Methode bezeichnen, und ſie ſind ſo tief eingewurzelt,
daß es nicht ausreichte, ſie durch die That zu widerlegen, ſondern
daß ich es für unerläßlich hielt, dem Verſuch einer ſolchen that-
ſächlichen Widerlegung die Begründung der nach meiner Anſicht
richtigen Methode vorauszuſchicken. Letzteres ſelbſt war nur durch
eine zuſammenhängende Entwicklung der aus den beiden Begrif-
fen des Rechts und der Geſchichte ſich für den Rechtshiſtoriker
ergebenden Conſequenzen möglich. Es iſt aber nicht auf eine
philoſophiſche Analyſe beider Begriffe abgeſehen, ſondern unſer
Zweck verſtattet es uns von einfachen, unbeſtrittenen Wahrhei-
ten auszugehen und uns mit einfachen Reſultaten zu begnügen.
Die einfachſten Wahrheiten werden aber bekanntlich nicht ſelten
überſehen oder nicht zur Anwendung gebracht, und dieſer alte
Satz bewährt ſich auch hier.


Methode der rechtshiſtoriſchen Darſtellung.


1. Anforderungen die in der Natur des Rechts enthalten ſind.


1. Anatomiſche Betrachtung des Rechtsorganismus — Die Be-
ſtandtheile deſſelben: Rechtsſätze, Rechtsbegriffe, Rechtsinſtitute
— pſychiſche Organiſation des Rechts — Differenz zwiſchen dem
objektiven Recht und der ſubjektiven Erkenntniß (latente Be-
ſtandtheile des Rechts) — Aufgabe der Wiſſenſchaft.

III. Wir gehen von der heutzutage herrſchenden Auffaſſung
des Rechts als eines objektiven Organismus der menſchlichen
Freiheit aus. Es iſt gegenwärtig kein Streit mehr darüber, daß
das Recht nicht, wie man es früher betrachtete, ein äußerliches
Aggregat willkührlicher Beſtimmungen iſt, der Reflexion der
[13]Das Recht ein Organismus. §. 3.
Geſetzgeber ſeinen Urſprung verdankt, ſondern wie die Sprache
eines Volkes ein innerlich zuſammenhängendes Produkt der Ge-
ſchichte iſt. Menſchliche Abſicht und Berechnung hat freilich
ihren Antheil an der Bildung deſſelben, aber ſie findet mehr,
als daß ſie ſchafft, denn die Verhältniſſe, in denen ſich das
Gattungsleben der Menſchheit bewegt, warten nicht erſt auf ſie,
daß ſie ſie aufrichtete und geſtaltete. Der Drang des Lebens hat
das Recht mit ſeinen Anſtalten hervorgetrieben und unterhält
daſſelbe in unausgeſetzter äußerer Wirklichkeit. Die Geſtalt, die
die Sinnesart des Volks und ſeine ganze Lebensweiſe demſelben
aufgedrückt hat, iſt das, was jede legislative Reflexion und
Willkühr vorfindet, und woran ſie nicht rütteln kann, ohne ſelbſt
zu Schanden zu werden. In ſteter Abhängigkeit von dem Cha-
rakter, der Bildungsſtufe, den materiellen Verhältniſſen, den
Schickſalen des Volks verläuft die Bildungsgeſchichte des Rechts
und neben den gewaltigen hiſtoriſchen Mächten, die dieſelbe
beſtimmen, ſchrumpft die Mitwirkung menſchlicher Einſicht,
wenn ſie ſtatt Werkzeug Schöpferin ſein wollte, in Nichts zu-
ſammen.


Die reale, objektive Schöpfung des Rechts, wie ſie uns in
der Geſtaltung und Bewegung des Lebens und Verkehrs als
verwirklicht erſcheint, läßt ſich als ein Organismus bezeichnen,
und an dieſes Bild des Organismus wollen wir unſere ganze
Betrachtung anknüpfen. Indem wir dieſes Bild benutzen, legen
wir damit dem Recht die Eigenſchaften eines Naturproduktes
bei, alſo Einheit in der Vielheit, Individualität, Wachsthum
von innen heraus u. ſ. w. Dieſe Vergleichung, die Bezeichnung:
organiſch, naturwüchſig u. ſ. w. iſt heutzutage eine ſehr beliebte
geworden, aber nicht ſelten iſt ſie ein prunkendes Aushängeſchild,
hinter dem ſich eine ganz mechaniſche Behandlungsweiſe verbirgt,
ein Glaubensbekenntniß in Worten, das man im erſten Para-
graphen ablegt, um es nachher durch die That verläugnen zu
dürfen.


Jeder Organismus macht nun eine doppelte Betrachtung
[14]Einleitung — die Methode.
möglich, eine anatomiſche und eine phyſiologiſche; jene
hat die Beſtandtheile deſſelben und ihr Ineinandergreifen, alſo
ſeine Structur, dieſe die Functionen deſſelben zum Gegenſtand.
Wir wollen nun das Recht dieſen beiden Betrachtungsweiſen
unterwerfen und zwar wenden wir uns in dieſem Paragraphen
zuerſt der Structur deſſelben zu.


Wie jeder Organismus zuſammengeſetzt iſt aus verſchie-
denen Theilen, ſo auch der des Rechts. Je edler aber und zarter
dieſe Theile organiſirt ſind, je weniger ſie alſo auf der Ober-
fläche liegen, deſto ſpäter kommen ſie dem Menſchen zum Be-
wußtſein, und dies gilt auch vom Recht. Bei jedem Volke hat
die Kunde von der Organiſation des Rechts, vom Aeußerlichen
immer weiter zum Innerlichen aufſteigend, eine lange Stufen-
leiter zurücklegen müſſen. Die Frucht dieſer auf die Erkenntniß
des Rechts gerichteten Thätigkeit iſt das Ausſprechen des Er-
kannten, ich nenne es das Formuliren des Rechts. Es ge-
ſchieht theils aus dem Volke heraus, indem die thatſächlich beach-
teten Normen in Form von Rechtsſprüchwörtern ausgedrückt
werden, theils durch den Geſetzgeber, indem er beſtehende Ge-
wohnheitsrechte anerkennt oder neue Normen, die ihm als Recht
erſcheinen, aufſtellt, theils endlich durch Doctrin und Praxis, in-
dem ſie ſich geltender Rechtsſätze oder ihrer Conſequenzen bewußt
werden. Alle dieſe Beiträge ſind Verſuche, das Recht ins Bewußt-
ſein zu bringen, und für alle dieſe Verſuche gilt jener Satz, daß
die Erkenntniß mit dem Aeußerlichen beginnend erſt allmählig
zum Innerlichen aufſteigt. Dies wollen wir nun im folgenden
ausführen und, indem wir dem menſchlichen Geiſt in dieſer ſei-
ner Arbeit folgen, die Stufenleiter in der Organiſation des
Rechts ſelbſt kennen lernen.


Das erſte, das er erblickt, ſind die äußeren, praktiſchen
Spitzen des Rechts, die Theile, deren Thätigkeit ihm ſofort in
die Augen ſpringen muß, nämlich die Rechtsſätze. Er ſieht,
daß etwas geſchieht und ſich ſtets wiederholt, er fühlt, daß es
geſchehen muß, und faßt dies Müſſen in Worte. So entſtehen
[15]Organiſation des Rechts — die Rechtsſätze. §. 3.
die Rechtsſätze. Aber wie weit bleiben dieſe Abſtractionen hinter
der Wirklichkeit, der ſie entnommen ſind, zurück; wie roh und
lückenhaft iſt das Bild, das ſie uns von derſelben gewähren.
Sie gleichen den erſten plaſtiſchen Verſuchen eines Volkes. So
wenig wie man aus letzteren folgern dürfte, daß Menſchen und
Thiere zu jenen Zeiten ſo ausgeſehen hätten, wie ſie in dieſen
unvollkommnen Nachbildungen erſcheinen, ſo wenig iſt die An-
nahme verſtattet, daß ſämmtliche Rechtsregeln aus der Kind-
heitsperiode eines Volkes ein getreues Bild ſeines Rechts ge-
währen. In qualitativer ſowohl wie quantitativer Hinſicht
bleiben dieſelben vielmehr hinter dem Rechte, wie es lebte und
leibte, weit zurück.


Iſt dies nicht eine kecke Behauptung? Wie wiſſen wir denn,
daß das Recht einen andern Umfang und Inhalt gehabt habe,
als die uns erhaltenen Rechtsſätze bekunden? Die Sache iſt
einfach. Um einen Gegenſtand richtig darzuſtellen, iſt eine dop-
pelte Fähigkeit nöthig, nämlich die, ihn getreu in ſich aufzuneh-
men und die, ihn getreu wieder zu geben, oder mit andern Wor-
ten Beobachtungsgabe und Darſtellungstalent. Auf
das Recht angewandt alſo iſt erforderlich, daß der Darſtellende
unter der bunten Hülle der concreten Lebensverhältniſſe, aus
denen er die Regel abſtrahiren ſoll, den rechtlichen Kern wahr-
nehme, und ſodann daß er denſelben entſprechend zu formuliren
verſtehe. Wie wir aber in der uns umgebenden äußeren Natur
täglich manche bedeutungsvolle Erſcheinung überſehen, und oft
erſt ein Zufall den Beobachter aufmerkſam macht und zu den
wichtigſten Entdeckungen den Anſtoß gibt, ſo iſt daſſelbe auch in
der moraliſchen Welt der Fall, ja es gilt für ſie, die nur mit
dem geiſtigen Auge wahrgenommen werden kann, in einem noch
höheren Grade. Wir finden eine beſtimmte Organiſation derſel-
ben vor und haben uns an die gleichmäßige Fortdauer derſelben
ſo gewöhnt, daß wir gar nicht auf die Frage kommen, in wie
weit dieſe Ordnung bloß faktiſcher, in wie weit ſie rechtlicher,
nothwendiger Art ſei. Da macht der Zufall, daß Jemand in
[16]Einleitung — die Methode.
irgend einem Punkt dieſer Ordnung zuwider handelt, uns auf-
merkſam; wir werfen jene Frage auf, und mit der Frage iſt auch
die Antwort, die Erkenntniß da. So verdankt vielleicht auch die
Kunde der moraliſchen Welt dem Zufall ihre folgenreichſten
Entdeckungen. Bei vielen Entdeckungen iſt die Antwort weniger
ſchwierig geweſen, als die Frage, und der Wiſſenſchaft, die vor
lauter Anworten nicht zum Fragen kam, hat oft der Zufall zu
Hülfe kommen und die rechten Fragen hinwerfen müſſen.


Mühſam und langſam ſchleicht auf dem Gebiete des Rechts
die Erkenntniß und auch bei hoher Reife entzieht ſich noch man-
ches ihrem Blicke. So groß die Virtuoſität der klaſſiſchen römi-
ſchen Juriſten war, ſo gab es doch auch zu ihrer Zeit in jedem
Moment Rechtsſätze, die da waren, ohne von ihnen erkannt zu
ſein, und die erſt durch die Bemühungen ihrer Nachfolger ans
Tageslicht gebracht ſind. Wenn man uns frägt: wie war dies
möglich, da ſie doch, um angewandt zu werden, erkannt ſein
mußten, ſo können wir ſtatt aller Antwort auf die Sprachgeſetze
verweiſen. Dieſelben werden von Tauſenden täglich ange-
wandt
, die nie etwas von ihnen gehört haben; was der Er-
kenntniß gebricht, erſetzt das Gefühl, der Takt. 3)


[17]Beobachtungsgabe und Formulirungsvermögen. §. 3.

Alſo die Entdeckung der vorhandenen Rechtsregeln iſt be-
dingt durch die Beobachtungsgabe. 4) Daß letztere aber nach
Verſchiedenheit der Zeiten und Individuen großer Abſtufungen
fähig iſt, liegt eben ſo ſehr auf der Hand, als daß das Maß
derſelben im allgemeinen ſich nach der geiſtigen Bildung des
Beobachtenden beſtimmt. Wir werden alſo nicht Unrecht thun,
wenn wir ungebildeten, rohen Völkern zurufen: Das wenigſte
von der Rechtswelt, die Euch umgibt, habt Ihr begriffen, das
meiſte entzieht ſich Eurem Auge und lebt bloß in Eurem Gefühl;
Ihr ſteht in Rechtsverhältniſſen, ohne es zu wiſſen, Ihr handelt
nach Normen, die Keiner von Euch ausgeſprochen hat; die
Rechtsſätze, von denen Ihr Kunde habt, ſind nur vereinzelte
Streiflichter, die die Welt des thatſächlichen Rechts in Euer
Bewußtſein wirft.


Als zweite bei der Aufſtellung von Rechtsſätzen mitwirkende
Eigenſchaft bezeichneten wir das Formulirungsvermögen
oder die Fähigkeit, den entdeckten Rechtsſätzen ihren angemeſſe-
nen Ausdruck zu geben. Sie ſetzt eine richtige Erkenntniß vor-
aus, aber iſt noch nicht mit ihr gegeben; wie manche Anſchau-
ung ſteht klar und beſtimmt vor unſerer Seele, die wir doch nur
höchſt unvollkommen in Worte bringen können. Jedes, auch
das relativ vollendetſte Recht bietet uns Beiſpiele von mißlun-
genen Formulirungen d. h. nicht von Mißgriffen in den Beſtim-
3)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 2
[18]Einleitung — die Methode.
mungen ſelbſt, ſondern in ihrer Faſſung, und beweiſt damit die
hohe Schwierigkeit der hier zu betrachtenden Operation. Wenn
letztere ſelbſt zu Zeiten der höchſten geiſtigen Reife nicht immer
gelingt, wie unvollkommen muß ſie ausfallen bei einem Ge-
ſchlechte, das geiſtiger Arbeit wenig gewohnt iſt, wie groß
alſo muß hier die Differenz zwiſchen dem thatſäch-
lichen und dem formulirten Recht ſein
. Die Formuli-
rung wird bald zu eng, bald zu weit ſein. Bald werden weſent-
liche Vorausſetzungen der Regel verſchwiegen, vielleicht weil
man ihrer gar nicht gedachte, vielleicht auch weil man ſie für
ſelbſtverſtändlich anſah; bald lautet die Regel allgemein, ohne
der nothwendigen Modifikationen zu erwähnen; bald erſcheint
ſie geknüpft an eine beſonders hervortretende Spezies, während
ſie doch ihrer praktiſchen Gültigkeit nach die ganze Gattung be-
traf u. ſ. w.


Jene Differenz zwiſchen dem formulirten und thatſächlichen
Recht iſt nun ſowohl quantitativer als qualitativer, extenſiver als
intenſiver Art oder m. a. W. neben den ausgeſprochenen Rechtsſä-
tzen gibt es noch latente Rechtsſätze, und die ausgeſprochenen
ſelbſt enthalten nicht immer eine adäquate Formulirung, ſo daß
alſo die Theorie es in ihrer Hand hat, aus dem beſtehenden Recht
ſowohl die Summe der Rechtsſätze zu vermehren, als letztere ſelbſt
zu verbeſſern. Je nach Verſchiedenheit der Zeiten und Völker iſt
jene Differenz verſchieden; es iſt nicht bloß die Culturſtufe, die
ſie beſtimmt, ſondern auch die Verſchiedenheit der natürlichen
Anlage, des angebornen Talents. Manchem Volke iſt es weni-
ger Bedürfniß, ſich ſein Recht zum Bewußtſein zu bringen und
es äußerlich zu fixiren, ein anderes iſt von vorneherein von dieſem
Triebe beſeelt, und beſitzt auch die erforderliche natürliche Bega-
bung. Letztere äußert ſich weniger quantitativ, in der Menge der
Rechtsſätze, als in ihrer Beſchaffenheit; ja es kann die quanti-
tative Produktivität gerade ein Zeichen von Schwäche ſein. 5)


[19]Differenz zwiſchen dem thatſächlichen und formulirten Recht. §. 3.

Wie graduell verſchieden aber auch jene Differenz bei ver-
ſchiedenen Völkern ſein möge, ganz gehoben wird ſie nie. Bis
jetzt wenigſtens hat die Erfahrung bewährt, daß das Recht eine
unverſiegbare Quelle iſt, aus der Theorie und Praxis täglich
ſubjektiv neue d. h. bis dahin noch nicht erkannte Rechtsſätze
ſchöpfen, und bis jetzt noch haben ſich die Formulirungen aller
Zeiten als bildungs- und vervollkommungsfähig bewieſen.
Daß die rein doctrinellen Formulirungen beſtändig im flüſſigen
Zuſtande begriffen ſind, täglich neue Formen annehmen, braucht
kaum geſagt zu werden. Für den Laien aber bedarf es der Be-
merkung, daß daſſelbe auch bei den durch Geſetze ausgeſpro-
chenen Rechtsſätzen der Fall iſt und zwar nicht etwa — was ſich
von ſelbſt verſteht — bloß in der Weiſe, daß der Geſetzgeber
ſelbſt ſeine Verſehen rectificirte, ſondern auch ohne ſeine Bei-
hülfe rein auf dem Wege doctrineller Thätigkeit. Dies geſchieht
theils durch die Interpretation, indem der wahre Sinn des
Geſetzes einer zu engen oder zu weiten Wortfaſſung gegenüber
feſtgeſtellt wird, theils durch die analoge Ausdehnung, die eine
Fortbildung des Geſetzes ſelbſt enthält, indem ſie zeigt, daß die
geſetzliche Beſtimmung fälſchlich an einen unweſentlichen That-
beſtand geknüpft war, an eine einzelne Spezies anſtatt an die
Gattung, und folglich über die engen Gränzen, die ſie ſelbſt
ſich ſetzte, ausgedehnt werden müſſe. 6)


2*
[20]Einleitung — die Methode.

Nachdem wir jetzt dies Reſultat gefunden haben, daß zwi-
ſchen dem objektiven Recht, wie es thatſächlich lebt und leibt,
und ſeiner Faſſung in Form von Rechtsſätzen (wir können ſie
auch die Theorie des Rechts nennen) keine vollſtändige Congruenz
beſteht, wollen wir eine Frage beantworten, die ſich gewiß man-
chem Leſer aufdrängt. Nämlich man könnte meinen, daß jene
mangelhaften Formulirungen eine nachtheilige Rückwirkung auf
das Recht ſelbſt ausüben müßten. Wie verhält es ſich damit?
Man muß unterſcheiden. Gerade zu den Zeiten, wo ſie am un-
vollkommenſten ſind, weil das Formulirungsvermögen auf der
niedrigſten Stufe ſteht. droht dieſe Gefahr am wenigſten. Wo
nämlich die Anwendung derſelben zu einem Widerſpruch mit dem
Recht, wie es objektiv in der Wirklichkeit und ſubjektiv in dem
Gefühl und der Anſchauung lebt, führen würde, tritt letztere
rectificirend dazwiſchen. 7) Zwiſchen den Rechtsſätzen und dem
wirklichen Recht beſteht hier alſo das Verhältniß, welches ein
römiſcher Juriſt 8) für die regulae juris dahin angibt: regula
est, quae rem, quae est, breviter enarrat; non ut ex
regula jus sumatur
, sed ex jure, quod est, regula
fiat.
Auch verdient dabei wohl beachtet zu werden, daß dieſe
Rechtsſätze den Zeitgenoſſen, die die concreten Rechtsverhältniſſe
täglich vor Augen haben, in einem ganz andern Lichte erſcheinen,
als dem ſpäteren Beobachter; jenen genügt eine unvollkommne
Skizze, ſie reproducirt in ihnen das vollſtändige Bild, während
dieſer eben nichts darin erblickt, als rohe Umriſſe. Man könnte
ſie auch Notizen nennen, die ſich ein Volk über die Erweiterung
ſeines Rechtsbewußtſeins macht. So dürftig ſie ſind, ſo unver-
ſtändlich für jeden Dritten, der die Vorausſetzung ihres Ver-
[21]Das Leben gegenüber den falſchen Formulirungen. §. 3.
ſtändniſſes nicht mitbringt, ſo gewähren ſie doch dem, der ſie
ſelbſt ſich entworfen hat, nicht bloß einen Anhaltspunkt für
ſein Gedächtniß, ſondern die bloßen Andeutungen leiſten ihm
den Dienſt ausführlicher Schilderungen; er bemerkt die Lücken
gar nicht. So wird auch die abſolute Unvollkommenheit alter
Rechtsſätze relativ für die alte Zeit ſelbſt ausgeſchloſſen, weil ſie
den objektiv wahren Sinn derſelben, der in ihnen nicht ausge-
ſprochen vorliegt, aus ſich ſelbſt, aus ihrer Rechtsanſchauung
in ſie hineinträgt.


Je mehr nun im Laufe der Zeit die Friſche und Lebendig-
keit der unmittelbaren Anſchauung des Rechts abnimmt, um ſo
mehr ſteigt (wie bei der Sprache) der Einfluß der Theorie auf
die Anwendung des Rechts und damit auch die Möglichkeit, daß
die Mißgriffe, die letztere bei der Formulirung ihrer Rechtsſätze
begangen hat, praktiſche Nachtheile hervorrufen. Aber in dem-
ſelben Maße, in welchem das Bedürfniß nach richtiger theore-
tiſcher Erfaſſung des Rechts fühlbarer und dringender wird,
mehren und verbeſſern ſich auch die Verſuche zu ſeiner Befriedi-
gung, und es ſucht die Theorie in ſich ſelbſt, in ihrer eignen
Uebung und Reife das Sicherungsmittel zu gewinnen, das ihr
früher die ungebrochene Jugendkraft des Rechts gefühls ge-
währte. Je mehr es ihr gelingt, die ſubſtantiellen Bildungen
des Lebens getreu zu formuliren, um ſo ehr wird ſie aus einem
bloßen Spiegel des Rechts eine Quelle deſſelben; je weniger ſie
dieſer ihrer Aufgabe entſpricht, je weiter ſie ſich vom Leben ent-
fernt, um ſo mehr weiſt letzteres ihre nutzloſe Beihülfe zurück,
und die natürliche Heilkraft des Rechtsorganismus erſetzt wie-
der, wie in der Kindheitszeit deſſelben, die Geſchicklichkeit des
Heilkünſtlers. 9)


Welchen Nutzen kann uns nun die bisherige Ausführung
für unſere ſpeziellen Zwecke leiſten, welches ſind die Conſequen-
[22]Einleitung — die Methode.
zen, die ſich aus derſelben für die Methode der Darſtellung des
Rechts ergeben? Zwei Sätze ſind es, oder richtiger ein Gedanke,
der uns nach zwei Seiten hin nutzbar werden kann. Der
Grundgedanke nämlich, den wir bisher entwickelt haben, daß
die Rechtsſätze nur die praktiſchen Spitzen des Rechts ſind und
ſowohl extenſiv als intenſiv hinter letzterem zurück bleiben, dieſer
Grundgedanke richtet an uns nach der einen Seite eine War-
nung, nach der andern eine Aufforderung. Eine Warnung,
nämlich die, das Recht irgend einer Zeit nicht mit ihren Rechts-
ſätzen zu identifiren. Je niedriger die Bildung dieſer Zeit, je
geringer ihre Fertigkeit zu abſtrahiren und zu formuliren, um ſo
weniger dürfen wir glauben, in ihren Rechtsſätzen, und wären
ſie uns auch ſämmtlich erhalten, ein getreues Bild ihres Rechts
zu beſitzen. 10) Was wir an demſelben haben, iſt das Bewußt-
ſein der Zeit über ihr Recht
in ſeiner unmittelbar prakti-
ſchen Form, nicht das Recht, wie es in der Wirklichkeit beſtand.
An dieſe Warnung knüpft ſich denn faſt nothwendig die Auffor-
derung, das Recht ſelbſt, oder da wir es hier nur zunächſt mit
einem Theile des Rechts, den Rechtsſätzen zu thun haben, ſie
ſelbſt richtiger zu formuliren und die latenten Rechtsſätze aus
Tageslicht zu bringen. Es ſcheint freilich ſehr gewagt, wenn der
vielleicht um mehre Jahrhunderte ſpäter ſtehende Hiſtoriker ſich
vermeſſen will, den Rechtsſätzen der Vergangenheit erſt ihre
wahre Geſtalt zu geben; es klingt paradox, daß ein Rechtsſatz
lange, nachdem er aufgehört hat zu exiſtiren, erſt entdeckt werden
ſoll. Aber iſt dies in der That ſo auffällig und unerhört? Wie
manche geſchichtliche Erſcheinung wird erſt begriffen, nachdem
ſie längſt vorüber gegangen iſt, wie manche Perſönlichkeit erſt
richtig gewürdigt, nachdem ſich das Grab über ihr geſchloſſen
[23]Conſequenzen für den Rechtshiſtoriker. §. 3.
hat. Wenn der Blick der Nachwelt nicht weiter trüge, als der
der Zeitgenoſſen, ſo wäre die Geſchichte eine todte Wiſſenſchaft
und könnte ſich darauf beſchränken, für jede Periode die gleich-
zeitigen Darſtellungen abdrucken zu laſſen. Wie aber der Hiſto-
riker dieſe Referate einer Kritik unterwirft und ſie nur als Quellen
für ſeine eigne Darſtellung benutzt, ſo ſoll es auch der Rechts-
hiſtoriker mit den Formulirungen der Vergangenheit thun. Der
Erfolg dieſes Unternehmens hängt freilich von der Reichhaltig-
keit ſeines Materials ab, aber es würde verkehrt ſein zu glauben,
als ob nur Mittheilungen der Zeitgenoſſen über den Sinn und die
Anwendbarkeit der Rechtsſätze ihn zu demſelben in Stand ſetzen
könnten. Sehr oft laſſen letztere ſich aus ſich ſelbſt ſowohl berich-
tigen als vermehren. Jenes, indem z. B. ein Rechtsſatz durch
einen andern ergänzt oder beſchränkt wird, dieſes, indem derſelbe
zu ſeinen Conſequenzen verfolgt, oder aus mehren detaillirten
Beſtimmungen ein höheres Prinzip abſtrahirt wird. Es iſt nicht
ſelten, daß ein Rechtsſatz ſtückweis ins Bewußtſein tritt. Zuerſt
nämlich wird man ſich ſeiner nur in Anwendung auf einen be-
ſonders dringenden Fall bewußt und er verſteinert ſich in der
beſchränkten Form, in der er hier zum erſten Mal erſchien. Hin-
terher ruft ein etwas verſchiedener Fall eine andere Seite deſſel-
ben Rechtſatzes hervor, und es entſteht ein zweiter ſelbſtändiger
Rechtsſatz. So kommen nach und nach vielleicht alle Seiten und
Anwendungsfälle eines einzigen generellen Rechtsſatzes als be-
ſondere ſelbſtändige Partikeln zur Welt, und in dieſer Zerſplit-
terung kann er vielleicht lange Zeit fortexiſtiren, da ein prakti-
ſches Intereſſe, die einzelnen Lichtſtrahlen in ihrem Brennpunkt
zu vereinigen, nicht vorhanden war, und die Theorie aus eignem
Impulſe ſich dieſer Aufgabe nicht unterzog. Iſt hier nicht jedem
Späteren Gelegenheit gegeben, den latenten Rechtsſatz, der ver-
gebens gerungen hat ſich in ſeiner wahren Geſtalt zu zeigen, ans
Tageslicht zu bringen, und zwar ohne ein weiteres Material,
als was jene vereinzelten Rechtsſätze ſelbſt ihm bieten? Dem
Dogmatiker wird man die Berechtigung zu einer ſolchen Erwei-
[24]Einleitung — die Methode.
terung und Vervollkommnung ſeines Stoffes nicht abſprechen
wollen, wenn gleich die wenigſten von derſelben Gebrauch ma-
chen, aber es kann nicht genug hervorgehoben werden, daß auch
vom Rechtshiſtoriker ganz daſſelbe gilt, 11) und daß eine gedeih-
liche Behandlung der Rechtsgeſchichte ſich ohne die Ausübung
jener Berechtigung nicht denken läßt.


[25]Syſtematiſche Gliederung der Rechtsſätze. §. 3.

Wir gehen jetzt in der Betrachtung der Structur des Rechts-
organismus einen Schritt weiter. Die Rechtsſätze, welche wir
bisher behandelt haben, wurden oben von uns die praktiſchen
Spitzen des Rechts genannt; ſie bilden gewiſſermaßen die
äußere ſichtbare Oberfläche des Rechts und bezeichnen, wo ſie
in irgend einem Recht ausſchließlich und in ihrer urſprünglichen
imperativiſchen Form gefunden werden, eine niedere Entwick-
lungsſtufe deſſelben. Wie ſich nun ſowohl neben ihnen als aus
ihnen höhere Bildungen des Rechts erheben, ſoll jetzt gezeigt
werden.


Die Rechtsſätze ſind abſtrahirt aus einer Betrachtung der
Lebensverhältniſſe und beſtimmt, die denſelben innewohnende
Natur auszuſprechen und ſie ihnen zu ſichern. Zur Bildung der
rechtlichen Form eines einzigen Lebensverhältniſſes können aber
mehre Rechtsſätze zuſammenwirken; ſie finden alſo in dieſem
ihrem gemeinſamen Gegenſtande ihren Vereinigungspunkt und
lagern ſich um ihn wie die Muskeln um den Knochen. Das in
dieſer Weiſe rechtlich geformte Lebensverhältniß kann ſeinerſeits
wiederum in abhängiger Beziehung zu einem andern ſtehen, ſich
zu demſelben verhalten z. B. als Phaſe, als ein tranſitoriſches
Moment deſſelben, wie der Erwerb und Verluſt der Rechte zu
den Rechten ſelbſt; oder als Folge, wie die Succeſſion des Erben
in die Schulden des Erblaſſers zu der Antretung der Erbſchaft;
oder als Spezies zu der Gattung, wie der Kaufcontrakt zu den
Contrakten, und dieſe zu den Obligationen. Auf dieſe Weiſe
ſchießen denn die vielen mannigfaltigen Rechtsverhältniſſe zu
einigen weiten Grundformen zuſammen, die ihrem Begriff,
Zweck und ihrer Structur nach von einander geſchieden ſind;
man nennt ſie Rechtsinſtitute. 12) Sie bilden gewiſſermaßen das
feſte Knochengerippe des Rechts, um das die ganze Subſtanz
deſſelben ſich lagert.


[26]Einleitung — die Methode.

Es iſt nun die Aufgabe der Wiſſenſchaft, dieſe Gliederung
des Rechts zu erforſchen, für das Kleinſte wie das Größte die
richtige Stelle aufzuſuchen. Dieſe ſyſtematiſche Seite der Juris-
prudenz iſt für die Erkenntniß des Rechts von ungleich höherer
Bedeutung, als es auf den erſten Blick ſcheint, und wir wollen
ſie daher einer genaueren Betrachtung unterziehen.


Dieſe Bedeutung beſteht nicht darin, daß das Rechtohne
ſeinen ſyſtematiſchen Zuſammenhang nicht verſtanden werden
kann, denn das iſt bei jedem Gegenſtande der Erkenntniß der
Fall. Auch bedarf das heutzutage wohl keiner Bemerkung, daß
das Syſtem ebenſowenig beim Recht wie bei jedem andern Ge-
genſtande eine Ordnung ſein ſoll, die man in die Sache hin-
ein
bringt, ſondern eine ſolche, die man herausholt. Jene
iſt die der Sache ſelbſt fremde Logik eines Schematismus, in
den ſie gewaltſam hineingepreßt wird; es iſt ein Netz, das man
ebenſogut über dies als über jenes Recht werfen könnte, und
das die Auffaſſung der Structur des individuellen Gegenſtandes
mehr erſchwert, als erleichtert. Syſtem iſt gleichbedeutend mit
innerer Ordnung der Sache ſelbſt und iſt daher immer ganz
individuell; dieſem Rechte iſt ein anderes Syſtem eigenthümlich,
als jenem. Bei dem Rechte beſteht nun das Unterſcheidende der
ſyſtematiſchen Thätigkeit darin, daß dadurch nicht bloß wie bei
jeder andern Wiſſenſchaft das einzelne an ſeine richtige Stelle
gebracht wird, ſondern daß dieſer formale Prozeß eine mate-
rielle
Rückwirkung auf den Stoff ausübt, daß mit letzterem,
nämlich den Rechtsſätzen, eine innere Umwandlung vor ſich
geht. Die Rechtsſätze treten gewiſſermaßen in einen
höhern Aggregatzuſtand
, ſie ſtreifen ihre Form als Gebote
und Verbote ab und verflüchtigen ſich zu Elementen und Qua-
litäten der Rechtsinſtitute. So bilden ſich aus ihnen z. B. die
Begriffe der Inſtitute, der Thatbeſtand der Rechtsgeſchäfte, die
Eigenſchaften der Perſonen, Sachen, Rechte, Eintheilungen
aller Art u. ſ. w. Ein Laie, der gewohnt iſt, ſich einen Rechts-
ſatz in imperativiſcher Form zu denken, würde es kaum für mög-
[27]Die dogmatiſche Logik des Rechts. §. 3.
lich halten, welch’ bedeutender Theil des Rechtsſyſtems ſich ganz
dieſer Form entledigen, und ebenſowenig wie den Rechtsbegriffen,
Eintheilungen u. ſ. w. kurz der dogmatiſchen Logik eine inten-
ſivere praktiſche Bedeutung innewohnen kann, als den Rechts-
ſätzen. Dieſe Logik des Rechts iſt gewiſſermaßen die Blüthe, das
Präcipitat der Rechtsſätze; in einen einzigen richtig gefaßten
Begriff iſt vielleicht der praktiſche Inhalt von zehn früheren
Rechtsſätzen aufgenommen. Wir wollen einige Beiſpiele geben,
und zwar nehmen wir zuerſt einige Eigenſchaften der Sachen,
von denen man am wenigſten ſagen ſollte, daß ſie aus Rechts-
ſätzen entſprungen ſeien und ſich wieder in ſolche umſetzen ließen.
Bei der Eintheilung in res in commercio und extra com-
mercium
läßt ſich dies noch am erſten einſehen; der Rechtsſatz,
der ſich unter derſelben verbirgt, lautet: an gewiſſen Sachen
ſollen gar keine Rechtsverhältniſſe entſtehen. Schwieriger iſt es
bei der Eintheilung der zuſammengeſetzten und einfachen, theil-
baren und untheilbaren Sachen, denn ſie betrifft nicht einmal
eine juriſtiſche, ſondern eine bloß natürliche Eigenſchaft der
Sachen. Und doch ruht auch in ihr praktiſche Kraft, es liegt in
ihr z. B. folgender Rechtsſatz: Wenn eine Sache mit einer
andern in Verbindung gebracht wird und zwar von der und der
Beſchaffenheit, ſo gehen alle bisher an der hinzutretenden Sache
beſtandenen Rechtsverhältniſſe unter; iſt ſie von der und der
Beſchaffenheit, ſo geht nun der Beſitz unter und das Eigenthum
und andere Rechte dauern fort; ſo lange die Verbindung dau-
ert, ſteht der Eigenthümer der zuſammengeſetzten Sache in den
und den Rechtsverhältniſſen zu den einzelnen Theilen; wird ſie
aber wieder aufgehoben, ſo gilt hinſichtlich des Beſitzes und der
Uſucapion dieſes, hinſichtlich der reivindicatio und des Eigen-
thumes u. ſ. w. jenes. Kurz es ſind viele praktiſche Fragen, die
ſich bei der Auflöſung einer Sache in mehre und der Zuſam-
menſetzung mehrer zu einer aufwerfen laſſen, und die mittelbar
durch die Entwicklung der hier in Rede ſtehenden Eigenſchaften
der Sachen beantwortet werden. Nehmen wir als anderes
[28]Einleitung — die Methode.
Beiſpiel den Begriff irgend eines Rechtes z. B. des Pfandrech-
tes. Die Definition deſſelben lautet: Pfandrecht iſt ein Recht
an einer fremden Sache, vermöge deſſen man ſie verkaufen und
den Erlös zur Befriedigung einer Forderung verwenden darf.
Darin liegen folgende Rechtsſätze: 1) es iſt die Verabredung
rechtlich ſtatthaft, daß ein Gläubiger zur Befriedigung ſeiner
Forderung eine fremde Sache verkaufe; 2) wenn die Sache ihm
abhanden kömmt, ſo hat er eine Klage gegen den dritten Beſitzer
auf Herausgabe derſelben (in rem actio); 3) die verpfändete
Sache ſoll eine fremde ſein; an eigner Sache kann kein Pfand-
recht beſtehen, daher geht daſſelbe unter, wenn der Gläubiger
das Eigenthum an der verpfändeten Sache erwirbt; 4) die
Exiſtenz einer Forderung iſt Vorausſetzung des Pfandrechts,
mithin geht es unter, wenn die Forderung erliſcht, und entſteht
erſt in dem Augenblick, wo die Forderung exiſtent wird u. ſ. w.


Dieſe Präcipitirung der Rechtsſätze zu Rechtsbegriffen ſchei-
det die wiſſenſchaftliche Auffaſſung und Behandlung eines
Rechts von der Darſtellung deſſelben in einem Geſetzbuch. Der
Geſetzgeber kann ſich darauf beſchränken, ſeine Anforderungen
in ihrer urſprünglichen, unmittelbar praktiſchen Form aufzuſtel-
len, die Wiſſenſchaft aber hat nicht bloß die Aufgabe, dieſelben
zu erläutern und zu ordnen, ſondern ſie auf logiſche Momente
des Syſtems zu reduciren. Der Geſetzgeber gibt uns, ſo zu ſa-
gen, zuſammengeſetzte Körper, die ihn bloß von Seiten ihrer
unmittelbaren Brauchbarkeit intereſſiren, die Wiſſenſchaft hin-
gegen nimmt eine Analyſe derſelben vor und zerlegt ſie in einfache
Körper. Dabei zeigt ſich denn, daß manche ſcheinbar heterogene
Rechtsſätze aus denſelben Elementen gebildet ſind, alſo geſtri-
chen, geſpart werden können; daß der eine vor dem andern nur
das Plus eines einzigen Momentes voraus hat, alſo die Angabe
deſſelben genügt; daß mancher Rechtsſatz ganz und gar aus
verſchiedenen einfachen begrifflichen Elementen beſteht, alſo um-
gekehrt durch Zuſammenſetzung derſelben gewonnen werden kann.
So bringt alſo dieſe Analyſe erſt die wahre Natur der Rechts-
[29]Productivität der dogmatiſchen Logik. §. 3.
ſätze zur Erkenntniß, und ihr Reſultat beſteht darin, daß die
Wiſſenſchaft ſtatt der endloſen Menge der verſchiedenartigſten
Rechtsſätze eine überſichtliche Zahl einfacher Körper gewinnt,
aus denen ſie auf Verlangen die einzelnen Rechtsſätze wieder
zuſammenſetzen kann. 13) Der Nutzen beſchränkt ſich aber nicht
bloß auf dieſe Vereinfachung, die gewonnenen Begriffe ſind
nicht bloße Auflöſungen der gegebenen Rechtsſätze, aus denen
immer nur letztere ſelbſt ſich wieder herſtellen ließen; ſondern
ein noch höherer Vortheil liegt in der hierdurch bewerkſtelligten
Möglichkeit einer Vermehrung des Rechts aus ſich ſelbſt,
eines Wachsthums von innen heraus. Durch Combination der
verſchiedenen Elemente kann die Wiſſenſchaft neue Begriffe und
Rechtsſätze bilden; die Begriffe ſind productiv, ſie paaren ſich
und zeugen neue. Die Rechtsſätze als ſolche haben nicht dieſe
befruchtende Kraft, ſie ſind und bleiben nur ſie ſelbſt, bis ſie auf
ihre einfachen Beſtandtheile reducirt werden und dadurch ſowohl
in aufſteigender als abſteigender Linie zu andern in Verwand-
ſchaftsverhältniſſe treten d. h. ihre Abſtammung von andern
Begriffen offenbaren und ſelbſt ihrerſeits wieder andere aus ſich
hervorgehen laſſen. 14)


Bisher haben wir den Einfluß betrachtet, den dieſe Analyſe
[30]Einleitung — die Methode.
und ſyſtematiſche Verarbeitung der Rechtsſätze auf das Recht
ſelbſt äußert; wir können ihn mit einem Worte bezeichnen als
die Erhebung der Rechtsſätze zu logiſchen Momenten des Sy-
ſtems. Auch dem Leben gegenüber hat dieſe Operation die größte
Bedeutung; ſie liefert uns nämlich, können wir ſagen, die ein-
fachen Reagentien für die unendlich complicirten concreten Fälle
des Lebens. Wer letztere nur mit Rechtsſätzen in der Hand ent-
ſcheiden wollte, würde in unaufhörlicher Verlegenheit ſein, denn
die Combinationskunſt des Lebens iſt ſo unerſchöpflich, daß die
reichſte Caſuiſtik eines Geſetzbuches ihren ewig neuen Fällen
gegenüber dürftig erſcheinen würde. Vermöge jener wenigen
Reagentien hingegen löſen wir jeden Fall auf. Ich möchte mich
noch eines anderen Vergleichs bedienen, nämlich jene ſyſtema-
tiſche oder logiſche Structur des Rechts das Alphabet deſſelben
nennen. Das Verhältniß, in dem ein caſuiſtiſch abgefaßtes
Geſetzbuch zu einem auf ſeine logiſche Form reducirten Recht
ſteht, iſt daſſelbe, worin die chineſiſche Schriftſprache zu der unſern
ſteht. Die Chineſen haben für jeden Begriff ein beſonderes
Zeichen, ein Menſchenleben reicht kaum aus, ſie zu erlernen,
und neue Begriffe erfordern bei ihnen erſt eine Feſtſtellung ihrer
Zeichen. Wir hingegen haben ein kleines Alphabet, mittelſt
deſſen wir jedes Wort auflöſen und zuſammenſetzen können;
leicht zu erlernen und nie uns im Stiche laſſend. So enthält
auch ein caſuiſtiſches Geſetzbuch eine Menge von Zeichen für
beſtimmte einzelne Fälle; ein auf ſeine logiſchen Momente redu-
cirtes Recht hingegen bietet uns das Alphabet des Rechts, mit-
telſt deſſen wir alle noch ſo ungewöhnlichen Wortbildungen des
Lebens entziffern und darſtellen können.


Es läßt ſich jetzt auch die Bemerkung begreiflich machen,
die wir früher hinwarfen, daß nämlich der quantitative Reich-
thum an Rechtsſätzen ein Zeichen der Schwäche ſei. Er bekun-
det nämlich die Schwäche der intellektuellen Verdauungskraft,
das Unvermögen, aus der Menge der Rechtsſätze die logiſche
Quinteſſenz herauszuziehen und in Fleiſch und Blut aufzuneh-
[31]Erkenntniß der logiſchen Natur des Rechts. §. 3.
men. Dies Vermögen iſt gerade die charakteriſtiſche Eigenſchaft
der Jurisprudenz und die beſtändige Bethätigung deſſelben an
den Rechtsſätzen ihre unerläßliche Pflicht.


Kehren wir nun mit dem im bisherigen gewonnenen Re-
ſultat zu unſerm Ausgangspunkt zurück, ſo hat ſich alſo unſere
Kenntniß des Rechtsorganismus dahin erweitert, daß die meiſten
Rechtsſätze ſich zu logiſchen Momenten des Rechts und dieſe
wieder zu höheren Ordnungen geſtalten, ſo daß von eigentlichen
Rechtsſätzen als ſolchen nur ſehr wenig zurückbleibt. Dieſe, wie
wir ſie oben nannten, Präcipitirung der Rechtsſätze im Syſtem
iſt nicht ein Werk ſubjektiven Beliebens, keine von der Wiſſen-
ſchaft vorgenommene Verarbeitung des Stoffes, ſondern ſie liegt
in dem Rechte ſelbſt; indem wir ſie vornehmen und uns von
den Rechtsſätzen freimachen, vertauſchen wir eine unvollkommne,
äußerliche Betrachtung des Gegenſtandes mit einer innerlichen
Auffaſſung deſſelben. So wie das Syſtem nichts äußerlich in den
Gegenſtand hineingetragenes iſt, ſondern ſeine eigne Ordnung, ſo
iſt auch die ſcheinbar durch die ſyſtematiſche Thätigkeit bewirkte
logiſche Gliederung und Transſubſtantiation der Rechtsſätze in
der That nur das Erkennen der wahren Natur des Rechts. Dem
geübten Auge erſcheint das Recht als ein logiſcher Organismus
von Rechtsinſtituten und Rechtsbegriffen, dem ungeübten als
ein Complex von Rechtsſätzen; jenes iſt die innere Natur des
Rechts, dieſes die dem praktiſchen Leben zugewandte Außenſeite.


Wenn wir nun ſchon hinſichtlich dieſer Außenſeite des
Rechts zu dem Satze gekommen ſind, daß die Erkenntniß derſel-
ben mit Schwierigkeiten verbunden und daher oft ſehr mangel-
haft iſt, ſo gilt dies von jener logiſchen Structur des Rechts in
einem noch viel höheren Grade. Das unmittelbar praktiſche
Bedürfniß führt nur zu der Erkenntniß von Rechtsſätzen, es ge-
hört eine beſonders glückliche Naturanlage eines Volkes dazu,
wenn es von den Rechtsſätzen frühzeitig zur Entdeckung des
Rechts-Alphabets gelangt. Wir werden ſehen, daß darin
gerade die ungewöhnliche Prädeſtination des römiſchen Volks
[32]Einleitung — die Methode.
zur Cultur des Rechts ſich manifeſtirt hat. Die hohen Schwie-
rigkeiten dieſer Methode der Behandlung des Rechts wurden
aber ſelbſt noch den klaſſiſchen römiſchen Juriſten fühlbar.
Omnis definitio in jure civili (Bildung des Begriffs aus dem
Material der Rechtsſätze) ſagen ſie, 15)periculosa est; parum
est enim ut non subverti possit;
und es kommen Fälle vor,
wo ſie ſich für unvermögend erklären, den Begriff genau zu be-
ſtimmen und darauf dringen, daß man ſich aus dem Leben eine
Anſchauung deſſelben erwerben müſſe. 16)


Auch hier alſo iſt wieder dem ſpäter Stehenden die Gele-
genheit gegeben, die Auffaſſung des Rechts der Vergangenheit
von Seiten der Zeitgenoſſen zu verbeſſern, ſich zum Bewußtſein
zu bringen, was ihnen verſchloſſen blieb. Wenn ſie ihm bloß
ein Aggregat von Rechtsſätzen überlieferten, ſo ſoll er verſuchen,
aus ihnen den logiſchen Organismus des Rechts wieder herzu-
ſtellen; wenn ſie ihm bloß die dem Leben zugewandte Außen-
ſeite des Rechts zeigten, ſoll er bemüht ſein, die innere logiſche
Subſtanz deſſelben zu entdecken.


Wir ſchreiten jetzt in unſerer Betrachtung des Rechtsorga-
nismus abermals einen Schritt weiter, und zwar iſt es der letzte,
den wir zu thun haben. Wenn wir das Recht eines und deſſelben
Volkes zu verſchiedenen Zeiten betrachten, ſo finden wir, daß
[33]Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.
die einzelnen Rechtsinſtitute, ſo groß auch immer ihr logiſcher
Gegenſatz bleiben möge, z. B. das Erbrecht, Obligationenrecht,
die Vormundſchaft u. ſ. w., dennoch zu einer und derſelben
Periode etwas gemeinſames, wir wollen ſagen, eine gewiſſe
Aehnlichkeit in ihrem phyſiognomiſchen Ausdruck haben, ja daß
dieſelbe höher, offenſichtlicher ſein kann, als die Aehnlichkeit
eines und deſſelben Inſtitutes in ſeinen verſchiedenen Entwick-
lungsphaſen mit ſich ſelbſt. 17) Jedenfalls iſt völlig unbeſtreit-
bar, daß die Altersſtufe bei aller ſonſtigen Verſchiedenheit der
Individuen eine gewiſſe Aehnlichkeit im Habitus und Charakter
mit ſich führt, einen beſtimmten Typus aufprägt.


Wenn wir nun in der Rechtswelt dieſelbe Bemerkung ma-
chen, ſo berechtigt ſie uns zu dem Schluſſe, daß die gleichmäßi-
gen Erſcheinungen, die wir um eine und dieſelbe Zeit in den
verſchiedenartigſten Inſtituten wahrnehmen, in derſelben Urſache
ihren Grund haben, daß mit andern Worten in dem geſammten
Rechtsorganismus gewiſſe Kräfte thätig ſind, die auf alle einzel-
nen Theile wirken. Die äußere Erſcheinung dieſer Einwirkung
kann nach Verſchiedenheit der Inſtitute verſchieden ſein; eine und
dieſelbe Kraft mag hier ſo, dort ſo ſich manifeſtiren. Wer würde
auch die mechaniſche Gleichheit der Aeußerung erwarten? Wa-
rum ſollte nicht auch in der ſittlichen Welt ſo gut wie in der
Natur die Ungleichheit der Aeußerungsform bei Gleichheit der
treibenden Kräfte möglich ſein. Daß z. B. die Cultur des römi-
ſchen Rechts einen Aufſchwung nimmt zu derſelben Zeit, wo die
römiſche Freiheit zu ſiechen beginnt, iſt äußerlich ebenſo verſchie-
den, als wenn im Thale die Bäume blühen und auf den Ber-
gen der Schnee ſchmilzt — aber in beiden Fällen war eine
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 3
[34]Einleitung — die Methode.
Urſache wirkſam. Je üppiger die Lebenskraft, um ſo mannigfal-
tiger die Form ihrer Aeußerung, je matter, um ſo ärmer. So
können denn auch im Recht dieſelben Kräfte in dem einen Inſti-
tut eine Beſchränkung, in dem andern eine Erweiterung, dort
eine Abſchwächung, hier eine Kräftigung bewirken.


In dieſen treibenden Kräften nun bewährt ſich erſt recht
die Einheit und Individualität des Organismus, und wären
ſie nicht vorhanden, ſo würde das Recht nur ein Aggregat von
einzelnen Inſtituten ſein, und man könnte auf die Idee kommen,
ein Recht in der Weiſe zuſammenzuſetzen, daß man von jedem
Volke das Rechtsinſtitut entlehnte, das gerade bei ihm vor-
zugsweiſe ausgebildet und zur Reife gelangt wäre. Indem wir
aber das Recht einen Organismus nennen, indem wir von dem
Charakter eines Rechtes ſprechen, gehen wir ſchon von der An-
nahme ſolcher das ganze Recht gleichmäßig geſtaltenden und
beherrſchenden Kräfte aus. Der Sitz dieſer Kräfte iſt die Indivi-
dualität des Volks, ſie iſt gewiſſermaßen das Herz des Rechts-
organismus, von dem aus belebend und erwärmend das Blut
durch alle Theile ſtrömt und dadurch auf dem allgemeinen logi-
ſchen Knochenſyſtem des Rechts Fleiſch und Haut anſetzt, ihm
den individuellen Charakter verleiht, an dem man eben erkennt,
daß das Recht dieſem Volke und dieſer Zeit angehört. In jeder
Ader fühlen wir bald ſchwächer, bald ſtärker den Pulsſchlag
allgemeiner nationaler Ideen und Anſchauungen, langſam und
kaum merklich führen ſie den feſten Theilen den Nahrungsſtoff
zu und bewirken, indem ſie ſelbſt dem Wechſel der Zeit ausge-
ſetzt ſind, auch eine entſprechende Veränderung im ganzen Orga-
nismus. So iſt denn der Geiſt des Volks und der Geiſt der
Zeit auch der Geiſt des Rechts.


Wir wollen dieſe allgemeinen Ideen und Grundanſchauun-
gen eines Volks, die den einzelnen Inſtituten ihren Ausdruck
geben, die Beſtrebungen und Tendenzen der Zeit, die im Recht
ſich verwirklichen, kurz den ganzen Inbegriff aller Triebkräfte, die
im Rechte thätig werden, die pſychiſche Organiſation deſſel-
[35]Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.
ben nennen, die Inſtitute des Rechts, den geſammten Complex
ſeiner praktiſchen Organe den Körper deſſelben. Was da treibt,
läßt ſich nicht unmittelbar erkennen, und es iſt ein Nothbehelf,
wenn wir zur Erklärung von Wirkungen, die wir ſehen, treibende
Kräfte, die wir nicht wahrnehmen, ſupponiren; ſie ſind Ab-
ſtractionen, zu denen die Gebrechlichkeit unſerer Erkenntniß uns
zwingt. In dieſem Sinne machen wir denn auch im Recht
von den Wirkungen den Schluß auf treibende Kräfte; letztere
ſind eine Abſtraction, mittelſt deren wir uns im Grunde nur
die Wirkungen ins Bewußtſein bringen, die Urſache ſelbſt bleibt
eine Hypotheſe.


Dieſe Abſtractionen werden nicht ſelten eine gewiſſe Weite
haben müſſen, um ſämmtliche einzelne Erſcheinungen in ſich zu
ſchließen; ich möchte ſagen, die Verwandſchaft mancher Bildungen
des Rechts wird nicht die der erſten Generation ſein, ſondern wir
werden, um ſie zu entdecken, im Stammbaum weit zurückgreifen
müſſen. Die nächſten Gedanken, von denen die einzelnen Inſtitute
abſtammen, und die man beim erſten Blick in ihnen erkennt, wer-
den unter ſich vielleicht wenig Aehnlichkeit haben, aber die Ab-
ſtraction wird dann einige Generationen zurückgehen und dort
in einem allgemeineren Gedanken den gemeinſamen Ausgangs-
punkt entdecken. Für unſere Zwecke wollen wir darauf verzichten,
dieſe genealogiſchen Unterſuchungen bis zu dem Punkte fortzu-
führen, wo ſie uns auf ganz allgemeine logiſche Kategorieen
führen, auf Ahnen, die dem gemeinen Bewußtſein zweifelhaft
oder unbekannt ſind und in die graue an fingirten Ahnen nicht
arme Vorzeit der Spekulation fallen. Unſere letzten und höch-
ſten Begriffe ſollen nicht entlegener ſein, als daß ſie nicht auch
dem Nichtphiloſophen bekannt wären.


Um ſo viel höher nun dieſe pſychiſche Organiſation des
Rechts über dem leiblichen Organismus deſſelben erhaben iſt,
um eben ſo viel ſteigen auch die Schwierigkeiten der Erfor-
ſchung. Während die Rechtsſätze ſichtbar auf der Oberfläche
liegen, während die Rechtsinſtitute und Rechtsbegriffe durch
3*
[36]Einleitung — die Methode.
ihre praktiſche Anwendung ſich faſt von ſelbſt dem Bewußtſein
aufdringen, ruhen jene treibenden Kräfte des Rechts im tiefſten
Innern, wirken höchſt allmählig, durchdringen zwar den ganzen
Organismus, aber treten vielleicht an keinem einzigen Punkte
ſo deutlich hervor, daß man ſich ihrer Beobachtung nicht entzie-
hen könnte. Kein praktiſches Bedürfniß drängt dazu, ſich ihrer
bewußt zu werden, denn ſie ſind keine Rechtsſätze, laſſen ſich
nicht in Form derſelben faſſen, ſondern ſie ſind nur Qualitä-
ten
der Rechtsinſtitute, allgemeine Prinzipien, die als ſolche
gar keiner Anwendung fähig ſind, ſondern nur Zuthaten zu den
praktiſchen Bildungen des Rechts geliefert haben. Was wären
die Gedanken, die wir bei der Charakteriſtik des römiſchen Rechts
in demſelben nachweiſen werden, z. B. der Gedanke der perſön-
lichen Natur der Berechtigungen, der ſubſtantiellen oder realen
Natur des Willens, der Starrheit und Flüſſigkeit der Rechts-
verhältniſſe u. ſ. w. als Rechtsſätze gedacht in der Praxis!


Kann es uns denn Wunder nehmen, daß dieſe Seite des
Rechts ſich dem geiſtigen Auge am ſpäteſten und ſpärlichſten
entſchließt, daß die Tendenzen und Gedanken, an deren Ver-
wirklichung und Ausbildung im Recht dieſe Generation arbei-
tet, ihr ſelbſt verborgen bleiben und erſt einem nachfolgenden
Geſchlecht klar werden? Wenn irgend etwas erſt die göttliche
Natur des Rechts bewähren müßte, zeigen, daß es nicht Men-
ſchenwerk, nicht bloßes Produkt der Reflexion iſt, ſo würde man
nur auf dieſe Erſcheinung zu verweiſen haben. Ein Geſetzgeber,
der mit Bewußtſein ſeiner Zwecke und Mittel ſeine Geſetze er-
läßt, lebt ſelbſt vielleicht des Glaubens, daß ſie nur aus ihm
kommen, nur ſoviel enthalten, als er habe hineinlegen wollen,
und doch ſchiebt ihm, ohne daß er es ahnt, der Geiſt der Zeit
den Stoff unter, aus dem er ſie formt, und ſein ganzes Thun
und Treiben, deſſen Einheit und Nothwendigkeit er ſelbſt nicht
begriff, erſcheint dem ſpätern Beobachter als ein völlig abge-
ſchloſſener einzelner Moment der geſammten Entwicklung des
Rechts. Wie die Pflanze, die ſichtbar nichts äußeres aufnimmt,
[37]Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.
doch aus der Erde und der Luft ihre ganze Nahrung zieht, ſo
erhält auch jedes Recht aus dem Erdreich, in dem es wurzelt
und aus der Atmoſphäre, in der es wächſt, unmerklich die Ele-
mente ſeines Lebens. Während es geſchieht, ſieht unſer ſtumpfes
Auge es nicht, aber nachdem es geſchehen, kommen wir durch
die Wirkung zur Erkenntniß der Urſache. Und wie manches,
das wir ſehen, begreifen wir nicht, weil es noch nicht fertig,
noch in den erſten Anfängen der Entwicklung begriffen iſt, wäh-
rend ſich das Verſtändniß deſſelben dem ſpätern Beobachter,
der auf den vollendeten Entwicklungsprozeß zurückſchaut, leicht
erſchließt.


Wenn das geſagte nun ſelbſt für das vorgerückte Lebens-
alter der Völker gilt, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß es auf
die Jugend- und Kindheit-Zeit derſelben in einem weit höheren
Grade Anwendung findet. Dem Hiſtoriker kann es vielleicht
mit leichter Mühe gelingen, ihrem ganzen Ringen und Streben
die richtige Deutung zu geben, und ihnen ſelbſt blieb daſſelbe
ein Räthſel. Aus jedem Rechtsinſtitute können gewiſſe nationale
Grundanſchauungen uns entgegentreten, aber das Volk ſelbſt,
das von ihnen erfüllt war, ſah ſie nicht oder nur im Halbdun-
kel des Gefühls und der Ahnung. Denn das iſt freilich nicht
ſelten, daß dieſe unausgeſprochenen Gedanken, für die der Be-
griff noch fehlte, in der Mythe, der Etymologie und Symbo-
lik u. ſ. w. in geheimnißvoller, verſchleierter Weiſe ſich einen
Ausdruck verſchafft haben. Der träumende Genius des Volks
hat hier in naiver Weiſe ein Selbſtgeſtändniß abgelegt, deſſen
er im wachenden Zuſtande ſich nicht bewußt iſt.


Der Hiſtoriker findet hier alſo ein fruchtbares Feld für ſeine
Thätigkeit vor, aber verhehlen wir es uns nicht, zugleich ein
ſehr ſchlüpfriges. Je weiter er auf demſelben vorzudringen, je
mehr er ſich der Werkſtätte der Geſchichte zu nahen ſucht, um ſo
nebelhafter, verſchwimmender werden die Geſtalten, die ihm
begegnen, um ſo mehr ſtellen ſich ſtatt der Geiſter, die er ver-
folgt, Irrlichter ein, die ihn vom wahren Wege abzuleiten drohen.
[38]Einleitung — die Methode.
Schon mit Manchem, der ausging, den Geiſt einer Sache zu
ſuchen, hat dieſer Geiſt ein neckiſches Spiel getrieben, ihn bald
hierhin, bald dorthin gelockt und ihm ſtatt ſeiner ein Phan-
tom in die Hände geſpielt, das nur dem Suchenden ſelbſt, aber
keinem Dritten als das erſchien, was es ſein ſollte. Dadurch
ſind denn dieſe Verſuche bei Vielen in Mißcredit gekommen, und
die wiſſenſchaftlichen Spießbürger, die nur glauben, was ſie
mit den Händen greifen können, betrachten ſie als Spielerei, an
der nur ungründliche Naturen Gefallen finden können. Es iſt
begreiflich, daß gerade unter den Juriſten eine ſolche Stimmung
ſehr verbreitet iſt; der ungläubige Thomas, der auch vom Füh-
len mehr hielt, als vom Sehen, wäre viel geeigneter, ihren
Schutzpatron abzugeben als der heilige Ivo.


Jene Erfahrungen können uns behutſam machen, ſollen
uns aber von unſerm Plan ſelbſt nicht abhalten. Wo eine Auf-
gabe der Löſung ſo würdig iſt, als die unſere, kann die Gefahr,
die ſie dem Schriftſteller droht, gar nicht in Erwägung gezogen
werden.


Während uns nun unſere ganze Betrachtung immer auf
den Satz zurückgeführt hat, daß das Recht ſelbſt nicht zuſammen-
fällt mit dem ſubjektiven Bewußtſein und ſich uns daraus für
die Bearbeitung deſſelben die Anforderung ergeben hat, die la-
tenten Seiten und Theile des Rechts mehr und mehr ins Be-
wußtſein zu bringen, beſchränkt ſich die herrſchende Methode
auf eine Reproduction der Rechtsſätze und Begriffe, die
von den Römern ſelbſt aufgeſtellt ſind. Ihr beſtändiger Refrain
iſt Quellenſtudium, und der kühnſte Gedanke, deſſen ſie fähig
iſt, beſteht in der Wiedererweckung der reinen römiſchen Theo-
rie. Wäre es möglich, ſo würfe ſie wohl alles, was nicht direkt
im römiſchen Recht ausgeſprochen iſt, über Bord und ſchraubte
unſere wiſſenſchaftliche Bildung auf den Standpunkt von Ulpian
und Paulus zurück. Aber die Zeiten von Ulpian und Paulus
[39]Phyſiologiſche Betrachtung des Rechts. §. 4.
ſind vorüber und werden trotz aller Bemühungen nicht wieder
kehren. Um ſie zurückzuwünſchen, muß man vergeſſen, daß jede
Zeit Original und nicht Copie einer andern ſein ſoll, daß jede
Zeit einen und denſelben hiſtoriſchen Gegenſtand unter dem ihr
eigenthümlichen Geſichtspunkt betrachten darf und muß, und
daß auf dieſe Weiſe mit jedem neuen Geſchlecht neue Seiten des
Gegenſtandes ſich enthüllen. Dieſer Richtung gegenüber that es
Noth, unſere Anſicht näher zu begründen und der Bearbeitung
des römiſchen Rechts, ſowohl der dogmatiſchen als rechtshiſto-
riſchen, ein höheres Ziel zu ſtecken, als das der bloßen Repro-
duction des römiſchen Bewußtſeins. So lange man bloß dies
Ziel verfolgt, kann man zu einem Urtheil über das römiſche
Recht, zu einer Einſicht in ſein wahres Weſen nicht gelangen.
Wer ſich letzteres, wie wir gethan haben, zur Aufgabe geſtellt
hat, wird von ſelbſt über jenes beſchränkte Ziel hinausgetrieben.


2. Phyſiologiſche Betrachtung des Rechtsorganismus —
Die Function deſſelben im Leben — Formale Realiſirbarkeit des
Rechts — Die Aufgabe des Hiſtorikers gegenüber dem
Recht der Vergangenheit.

IV. Der Zweck der Organe liegt in ihren Functionen; die
Organe ſind vorhanden, damit ſie beſtimmte Verrichtungen aus-
üben. In dieſem Zwecke beruht wiederum der Grund ihrer gan-
zen Organiſation; letztere iſt ſo beſchaffen, wie ſie durch jene
Functionen geboten iſt. Wie dies vom phyſiſchen Organismus
gilt, ſo auch von dem des Rechts. Auch hier führt alſo erſt
die Kenntniß der Functionen des Rechts zum Verſtändniß ſeiner
Organe, die Phyſiologie zum wahren Verſtändniß der Anatomie.


Nichts iſt mithin verkehrter, als ein Recht gleich einem
philoſophiſchen Syſtem bloß von Seiten ſeines geiſtigen Gehal-
tes, ſeiner logiſchen Gliederung und Einheit zu beurtheilen. Möge
es unter dieſem Geſichtspunkt auch als Meiſterſtück erſcheinen,
ſo iſt damit über ſeinen wahren Werth noch nichts ermittelt,
[40]Einleitung — die Methode.
denn letzterer liegt in ſeinen Functionen d. h. in ſeiner praktiſchen
Brauchbarkeit. Was nützt es, daß eine Maſchine den Eindruck
eines Kunſtwerkes macht, wenn ſie als Maſchine untauglich iſt?
Man ſollte nun glauben, daß dieſe functionelle Seite des Rechts
ſo ſehr hervortrete, daß ihr die gebührende Beachtung gar nicht
entgehen könne. Und doch finden wir nicht ſelten das Gegen-
theil. In demſelben Maße nämlich, in dem die im vorigen
Paragraphen beſprochene Logik des Rechts wiſſenſchaftlich ent-
wickelt wird, die Rechtsſätze ſich verflüchtigen zu logiſchen Mo-
menten des Syſtems, wird jene functionelle Seite des Rechts
dem Blick entrückt. Die imperativiſche Form der Gebote und
Verbote, der Ausdruck „ſo und ſo ſoll es ſein“ erregt faſt noth-
wendig die Frage nach dem „warum“; anders aber, wenn die
Rechtsſätze dieſe Form abgeſtreift und ſich zu Rechtsbegriffen
vergeiſtigt haben. Hier wendet ſich die Kritik viel eher ihrer
logiſchen Prüfung zu, als einer Betrachtung ihrer prakti-
ſchen
Brauchbarkeit. Ja, es kann der Darſtellende leicht ſich
der Täuſchung hingeben, es ſei etwas Hohes und Großes, das
Material ſo zu verarbeiten, als ſei daſſelbe eine Emanation des
Begriffes, der Begriff alſo das urſprüngliche, ſeiner ſelbſt wegen
da ſeiende, während doch in der That die ganze logiſche Gliede-
rung des Rechts, und ſei ſie noch ſo vollendet, nur das Sekun-
däre, das Produkt der Zwecke iſt, denen ſie dienen ſoll. Daß die
Begriffe ſo und ſo geſtaltet ſind, hat ſeinen Grund eben darin,
daß ſie nur in dieſer Geſtalt den Bedürfniſſen des Lebens genü-
gen, und ſehr häufig iſt aus dieſer Rückſicht die freie logiſche
Entwicklung derſelben unterbrochen oder gehemmt. Ohne ſolche
Eingriffe würde oft der logiſche Kunſtwerth des Rechts ein hö-
herer, die praktiſche Brauchbarkeit deſſelben aber eine geringere
ſein. 18)


[41]Function des Rechts — das Leben. §. 4.

Die Function des Rechts im allgemeinen beſteht nun darin,
ſich zu verwirklichen. Was ſich nicht realiſirt, iſt kein Recht,
und umgekehrt was dieſe Function ausübt, iſt Recht, auch wenn
es noch nicht als ſolches erkannt iſt (Gewohnheits Recht). Die
Wirklichkeit beglaubigt erſt den Text, den das Geſetz oder
eine andere Formulirung des Rechts aufſtellt, als wahrhaftes
Recht, ſie iſt mithin das einzige ſichere Erkenntnißmittel deſſel-
ben. Aber ſie iſt mehr, ſie iſt zugleich der Gegenſtand und der
Commentar jenes Textes. Kein Geſetzbuch, keine theoretiſche
Zuſammenſtellung des Rechts irgend einer Zeit und irgend eines
Volkes läßt ſich ohne die Kenntniß der realen Zuſtände dieſes
Volkes und dieſer Zeit begreifen. Warum die Rechtsſätze da
ſind, was ſie ſollen, wie ſie durch das Leben in ihrer Wirkſam-
keit beeinträchtigt oder unterſtützt werden u. ſ. w. — auf alle
dieſe Fragen ertheilt nur das Leben ſelbſt eine Antwort. Die
Formulirung des Rechts, die wir vor uns liegen haben, iſt
nichts als der Plan einer Maſchine; die beſte Erläuterung und
zugleich die Kritik deſſelben gibt uns die Maſchine, wenn ſie
geht. Gar manche unbeachtete Feder offenbart dann eine tief-
eingreifende Wichtigkeit, und manche ſehr in die Augen ſprin-
gende und ſcheinbar ſehr nöthige Walze ſtellt ſich als ziemlich
entbehrlich heraus. In den Zwecken und Bedürfniſſen dieſer
beſtimmten Zeit liegt der Grund, warum dieſes Inſtitut vor-
handen iſt oder dieſe beſtimmte Geſtalt trägt; in den Voraus-
ſetzungen, die ſie mitbringt, der Grund, der jenes Inſtitut mög-
lich und wiederum ein anderes überflüßig macht. Eine weitere
18)
[42]Einleitung — die Methode.
Ausführung dieſes Gedankens, daß jedes Recht nur vom Stand-
punkt des wirklichen Lebens aus begriffen werden kann, iſt ſelbſt
für Laien unnöthig, 19) aber eine Eigenſchaft des Rechts muß
ich hervorheben, die durch den Zweck der Verwirklichung deſſel-
ben geboten iſt, ich nenne ſie die formale Realiſirbarkeit
oder Anwendbarkeit
.


Ich unterſcheide nämlich zwiſchen materieller und for-
maler
Realiſirbarkeit eines Rechts und verſtehe unter jener die
Brauchbarkeit oder Angemeſſenheit der materiellen Beſtimmun-
gen des Rechts. Sie iſt natürlich durchaus relativ, bedingt durch
die oben bezeichneten Beziehungen des Rechts zum Leben, die
Anforderungen dieſer Zeit, die Eigenthümlichkeit dieſes Vol-
kes, die Geſtalt dieſes Lebens. Unter formaler Realiſirbarkeit
aber verſtehe ich die Leichtigkeit und Sicherheit der Anwen-
dung des abſtracten Rechts auf die concreten Fälle. Je nachdem
dieſe Operation einen geringeren oder höhern Aufwand geiſtiger
Kraft erfordert, und ihr Reſultat ſicherer oder unſicherer iſt,
ſpreche ich von einer höhern oder geringeren formalen Realiſir-
barkeit. Es iſt aber nicht die Leichtigkeit oder Schwierigkeit des
[43]Formale Realiſirbarkeit. §. 4.
Verſtändniſſes der anzuwendenden Rechtsſätze gemeint. Sobald
man einen Rechtsſatz einmal richtig begriffen hat, iſt dieſe
Aufgabe ein für alle Mal gelöſt und wiederholt ſich nicht bei
jedem einzelnen Fall ſeiner Anwendung. Die Aufgabe hingegen,
von deren Schwierigkeit oder Leichtigkeit hier die Rede iſt, be-
trifft die Anwendung des Rechtsſatzes, den Umſatz der ab-
ſtracten Regel in concrete Verhältniſſe, und ſie iſt bei jedem
einzelnen Fall von neuem zu löſen. Die Anwendung des Rechts-
ſatzes beſteht darin, daß das, was er abſtract hinſtellt, con-
cret
ermittelt und ausgedrückt wird, und dies kann ſehr leicht,
aber auch unendlich ſchwer ſein. Es hängt dabei zwar viel von
der Geſchicklichkeit und dem richtigen Blick des Anwendenden
ab (wir können dieſe Fertigkeit die juriſtiſche Diagnoſe nen-
nen), allein die objektive Schwierigkeit oder Leichtigkeit der An-
wendung des Rechtsſatzes wird durch ihn ſelbſt beſtimmt, dadurch
nämlich ob er ſeine Beſtimmungen an ſchwer oder leicht erkenn-
bare Kriterien angeknüpft hat. Jeder Rechtsſatz knüpft an eine
beſtimmte Vorausſetzung („wenn Jemand dies und das ge-
than hat“) eine beſtimmte Folge („ſo ſoll dies und das eintre-
ten“); 20) ihn anwenden heißt alſo 1) unterſuchen, ob die Vor-
ausſetzung im concreten Fall vorliegt und 2) die bloß abſtract
ausgedrückte Folge concret ausdrücken, z. B. den Schaden,
den Jemand erſetzen ſoll, in Geld abſchätzen. Nun hängt be-
greiflicherweiſe ſehr viel davon ab, wie jene Vorausſetzung und
Folge lautet. Nehmen wir einmal beiſpielsweiſe die Behandlung
der Injurie im ältern und ſpätern römiſchen Recht. In jenem
beſtand die Folge der Injurie d. h. ihre Strafe in einer beſtimm-
[44]Einleitung — die Methode.
ten Geldſumme (25 As), in dieſem war ſie dem Ermeſſen des
Richters überlaſſen. Stand dort einmal feſt, daß eine Injurie
begangen war, ſo ergab ſich die Folge (Verurtheilung in 25 As)
von ſelbſt; hier hingegen bedurfte es zu dem Zweck noch erſt
einer genauen Würdigung der individuellen Verhältniſſe dieſes
Falles, z. B. der perſönlichen Stellung des Beleidigenden und
des Beleidigten, der Zeit, des Ortes u. ſ. w., und die Feſtſtel-
lung der Strafe mochte dem Richter oft ſehr ſchwer fallen. Hin-
ſichtlich der „Vorausſetzung“ liegt ebenſo ſehr auf der Hand, daß
wenn ſie allgemein auf „Ehrenkränkung“ geſtellt iſt, die Unterſu-
chung, ob dieſe Vorausſetzung im concreten Fall begründet ſei,
weit ſchwieriger iſt, als wenn ſie, wie in manchen alten Geſe-
tzen, auf ein beſtimmtes, äußerlich leicht erkennbares Faktum
lautet z. B. „wenn einer den andern geſchlagen, eines Ver-
brechens beſchuldigt hat“ u. ſ. w.


Je allgemeiner und innerlicher die Vorausſetzung und Folge
eines Rechtsſatzes beſtimmt iſt, deſto ſchwieriger die concrete
Ermittlung derſelben; je concreter und äußerlicher, deſto leich-
ter. Dieſe Leichtigkeit der concreten Erkennbarkeit des abſtrac-
ten iſt aber praktiſch wichtiger, als die logiſche Vollendung des
abſtracten Inhalts. Beſtimmungen, die in materieller Beziehung
plump zugeſchnitten, aber an äußerliche, in concreto leicht zu
erkennende Kriterien geknüpft ſind, wiegen in praktiſcher Bezie-
hung Rechtsſätze auf, deren geiſtiger Gehalt und Zuſchnitt noch
ſo tadellos iſt, bei denen aber die formale Realiſirbarkeit außer
Acht gelaſſen iſt. Denn die Wichtigkeit dieſer letzteren Eigenſchaft
liegt nicht bloß darin, daß die Operation der Anwendung des
Rechts erleichtert und vereinfacht wird, alſo auch be-
ſchleunigt
werden kann, ſondern daß die gleichmäßige
Verwirklichung des Rechts dadurch geſichert wird. Je äußer-
licher und in die Augen ſpringend die Merkmale für eine Klaſſi-
fikation beſtimmt ſind, um ſo ſicherer die Ausſicht, daß jedes
Stück richtig klaſſificirt wird; je innerlicher, um ſo mehr ſteigt
die Gefahr der Mißgriffe.


[45]Formale Realiſirbarkeit §. 4.

Dieſe Rückſicht nun auf die Leichtigkeit der Anwendung
übt auf die logiſche Entwicklung des Rechts einen beſtimmenden
Einfluß aus, zwingt die Rechtsbegriffe häufig, von ihrer ur-
ſprünglichen Reinheit nachzulaſſen, um eine Geſtalt anzunehmen,
in der ſie praktiſch leichter gehandhabt werden können. Was ſie
an abſtractem Gehalt einbüßen, gewinnen ſie wieder an concre-
ter Anwendbarkeit. Wir wollen dies an dem Beiſpiel der pri-
vatrechtlichen und politiſchen Handlungsfähigkeit (Volljährig-
keit und Wahlrecht) deutlich machen. Angenommen ein Geſetz-
geber wollte dieſelbe rechtlich beſtimmen und ginge von der Idee
aus: volljährig ſoll derjenige ſein, welcher die nöthige Einſicht
und Charakterfeſtigkeit beſitzt, um ſeinen Angelegenheiten ſelb-
ſtändig vorzuſtehen, wahlfähig und wählbar derjenige, der die
Fähigkeit und den Willen hat, das Beſte des Staats zu beför-
dern. So richtig nun dieſe Idee iſt, ſo verkehrt würde es ſein,
ſie ſelbſt als Geſetz aufzuſtellen, alſo Volljährigkeit und Wahl-
fähigkeit von dieſen Vorausſetzungen abhängig zu machen.
Welche Zeit und Mühe würde verloren gehen, um die Exiſtenz
dieſer Vorausſetzungen im concreten Fall zu ermitteln, welche
unerſchöpfliche Quelle von Streitigkeiten würde der Geſetzgeber
damit geöffnet, wie damit die ſubjektive Willkühr des Richters
möglich gemacht, und ſelbſt bei untadelhafter Anwendung ſeines
Geſetzes die Klagen über Parteilichkeit provocirt haben! Wie kann
er dies alles vermeiden? Er ſtellt ſtatt jener Vorausſetzungen
andere auf, die mit denſelbem in einem gewiſſen regelmäßigen,
wenn auch nicht nothwendigen Nexus ſtehen und den Vorzug
einer leichteren und ſicherern concreten Erkennbarkeit voraus
haben, alſo z. B. das zurückgelegte 25ſte Jahr bei der Volljäh-
rigkeit, den Beſitz eines gewiſſen Vermögens, die Ausübung
gewiſſer Berufsarten oder die Einnahme einer gewiſſen Stel-
lung u. ſ. w. bei der Wahlfähigkeit. Dieſes Ablaſſen von
der urſprünglichen legislativen Idee, dieſe Vertauſchung der
in abſtracter Beziehung offenbar richtigeren Vorausſetzung mit
einer weniger richtigen und zutreffenden, aber praktiſch leich-
[46]Einleitung — die Methode.
ter erkennbaren Vorausſetzung wird alſo durch den Zweck des
Rechts, durch die wünſchenswerthe Leichtigkeit und Sicherheit
ſeiner Functionirung geboten. Möge es auch in der Anwendung
hie und da zu Mißverhältniſſen führen, in unſerm Beiſpiel alſo
die Volljährigkeit und Wahlfähigkeit in einzelnen Fällen aus-
geſchloſſen oder gegeben ſein, wo ſie es der abſtracten Idee nach
nicht ſollte; immer wird jene Behandlungsweiſe vom Stand-
punkt des Lebens aus den Vorzug verdienen, und dieſer Stand-
punkt iſt ja für das Recht der allein richtige.


Der Gedanke der formalen Realiſirbarkeit des Rechts iſt
alſo ein der logiſchen Innerlichkeit der Rechtsbegriffe fremdes
Prinzip, das die freie Entwicklung derſelben vielfach modificirt
und beeinträchtigt. Dieſes Prinzip zwingt dazu, die Innerlich-
keit des Begriffes auf die Außenſeite zu verlegen, für die inneren
Unterſchiede und Begriffe äußere möglichſt zutreffende Kriterien
aufzuſuchen, kurz es führt zur Ausbildung einer juriſtiſchen
Symptomatik
. Als einzelne Ausflüſſe dieſes Prinzips mögen
hier außer der ſo eben beſprochenen Veräußerlichung der „Vor-
ausſetzungen“ und der damit auf gleicher Linie ſtehenden Ver-
äußerlichung der „Folgen“ 21) noch genannt werden die geſetzli-
chen Präſumtionen, 22) die durch Gegenbeweis entkräftet
werden können, die Fictionen, 23) bei denen dieſe Möglich-
keit ausgeſchloſſen iſt, die Formen der Rechtsgeſchäfte 24) u. ſ. w.


[47]Dogmatiſirende Tendenz der Rechtshiſtoriker. §. 4.

So erklärt und rechtfertigt ſich denn unſere obige Behaup-
tung, daß ein Geſetzbuch in abſtracter Beziehung ein Meiſter-
ſtück und doch daneben unbrauchbar ſein könne. Die Beſtim-
mungen deſſelben könnten materiell noch ſo realiſirbar, dem Geiſt
des Volks und der Zeit entſprechend, die Begriffe noch ſo klar
und ſcharf ſein, es wäre aber kein Gewicht gelegt auf die formale
Realiſirbarkeit, d. h. vergeſſen, daß das Recht die Func-
tion hat, ſich leicht, raſch und ſicher in Wirklich-
keit umzuſetzen
.


Der Gedanke, den wir bisher ausgeführt haben, daß das
Recht irgend eines Volkes und irgend einer Zeit nicht begriffen
und beurtheilt werden kann, wenn man es bloß von Seiten
ſeiner anatomiſchen Structur, ſeiner logiſchen Durchbildung, kurz
als Rechts ſyſtem erforſchen und darſtellen will, hat etwas ſo
einleuchtendes, daß man kaum begreift, wie man bei der Behand-
lung der römiſchen Rechtsgeſchichte, vor allem bei der des Pri-
vatrechts dieſen Fehler begehen konnte. 25) Und doch herrſcht er
hier in hohem Maße. Die meiſten Darſtellungen der römiſchen
Rechtsgeſchichte enthalten nichts, als eine Geſchichte des Dog-
mas d. h. der Geſetzgebung und Doctrin, nicht aber eine Dar-
ſtellung des Rechts, wie es leibte und lebte. Das Dogma ent-
behrt dabei ſeines lebendigen Hintergrundes, es iſt herausge-
riſſen aus ſeinem Zuſammenhange mit der thatſächlichen Welt,
in der es den Grund und die Vorausſetzungen ſeiner Exiſtenz
24)
[48]Einleitung — die Methode.
und damit ſeine Rechtfertigung und ſein Verſtändniß fand. Kein
Wunder, daß manche Rechtsinſtitute dadurch eine Geſtalt erhal-
ten, in der ſie einem Unbefangenen als Zerrbilder erſcheinen, daß
eine Unbegreiflichkeit ſich an die andere reiht. Einem Hiſtoriker
von Fach, der die römiſche Rechtsgeſchichte ſchreiben ſollte, würde
dieſer Verſtoß, den die Romaniſten täglich begehen, völlig un-
möglich fallen, und es würde der römiſchen Rechtsgeſchichte ſehr
zum Heil gereicht haben, — davon bin ich überzeugt — wenn
die Hiſtoriker von Fach ſich ihrer mehr angenommen hätten. 26)
Der Grund liegt auf der Hand. Der Blick des Hiſtorikers iſt
von vornherein nicht auf juriſtiſche Abſtractionen und Formuli-
rungen der Vergangenheit gerichtet, ſondern auf das ſubſtantielle
rechtliche und ſittliche Leben derſelben in ſeiner ganzen Totalität,
und jene können ihm daher nie iſolirt erſcheinen. Dem Juriſten
hingegen iſt es zur zweiten Natur geworden, in den ſubſtantiellen
Verhältniſſen nur das rein juriſtiſche zu bemerken, und ſein Blick
iſt daher, auch wenn er das Gebiet der römiſchen Rechtsgeſchichte
betritt, ausſchließlich oder vorwiegend auf den dogmatiſchen In-
halt gerichtet. Hierzu kömmt noch, daß die Quellen, aus denen
er ſein Material entnehmen ſoll, für ihre Zeit dogmatiſche Ar-
beiten waren, und in dieſen findet ſich jener reale Hintergrund,
von dem wir ſprachen, aus dem Grund natürlich nicht, weil
die Verfaſſer derſelben für ihre Zeitgenoſſen und nicht für zu-
künftige Rechtshiſtoriker ſchrieben, die Vorausſetzung ihres Ver-
ſtändniſſes, nämlich die Anſchauung des ganzen römiſchen Le-
bens, mithin bei ihren Leſern nicht erſt zu begründen brauchten.
[49]Dogmatiſirende Tendenz der Rechtshiſtorie. §. 4.
Der Stoff alſo, den der Rechtshiſtoriker hier vorfindet, iſt de-
ductiver
, nicht deſcriptiver Art; er iſt, ob er auch aus
der Zeit von Labeo oder Ulpian ſtammt, ſeiner Tendenz nach
ebenſo dogmatiſch, als ob er aus einem heutigen Pandekten-
compendium entlehnt wäre. Dieſer dogmatiſche Stoff wird ſo-
dann in ein Gefäß geleitet, das wiederum rein dogmatiſcher
Natur iſt, in ein Syſtem der Theorie des Rechts, in dem das
Leben mit ſeinen faktiſchen Verhältniſſen, mit der Sitte und der
Sittlichkeit kein Unterkommen finden kann, weil dieſe Mächte
und Verhältniſſe eben keine Rechtsbegriffe ſind. Und ſo erhalten
wir im Grunde ſtatt der Rechtsgeſchichte nichts als Inſtitu-
tionen- oder Pandekten-Compendien der verſchiede-
nen Perioden der römiſchen Geſchichte
, — Darſtellun-
gen, die ein Richter aus jener Zeit vielleicht mit Erfolg zu prak-
tiſchen Zwecken hätte benutzen können, nicht aber ein Juriſt der
heutigen Zeit, um ſich eine Einſicht in das Rechtsleben der Ver-
gangenheit zu verſchaffen. Jener würde die Anſchauung dieſes
Rechtslebens mitbringen und das dogmatiſche Präparat, das
man ihm böte, wäre ihm ſofort verſtändlich, dieſem hingegen
gewährt daſſelbe nicht das, was es ſollte, ein Bild des lebendi-
gen Rechts der Vergangenheit, ſondern bloß eine Reproduction
ihrer Theorie.


Wenn wir im vorigen Paragraphen an die Bearbeiter des
römiſchen Rechts die Aufforderung gerichtet und begründet ha-
ben, nicht bei der Formulirung der römiſchen Theorie ſtehen zu
bleiben, ſo können wir dieſelbe Aufforderung hier in einem an-
dern Sinn wiederholen. Die dogmatiſche Bearbeitung des
Rechts irgend einer Zeit von einem Zeitgenoſſen darf einem
Spätern bei ſeiner hiſtoriſchen Darſtellung deſſelben nie als
Maßſtab oder Vorbild erſcheinen, denn ſein Vorgänger ſagt
manches nicht, was er könnte, weil es für ſeine Leſer über-
flüſſig iſt, — und dies muß dieſer für ſein Publikum aus andern
hiſtoriſchen Quellen zu ergänzen ſuchen; und manches kann er
nicht ſagen, weil es ihm noch entgeht — und dies ſoll die-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 4
[50]Einleitung — die Methode.
ſer, der nicht, wie jener, bloß einen Theil, ſondern den ganzen
Verlauf der hiſtoriſchen Entwicklung vor ſich hat, zu entdecken
ſuchen. Jene Ergänzung hat zur Aufgabe, die Theorie ans
Leben anzuknüpfen, dieſe, ſie von innen heraus zu vervollſtän-
digen und zu vergeiſtigen.


Bei der vorliegenden Arbeit können wir nun unſere Auf-
gabe nicht löſen, ohne nach beiden Seiten hin dieſe Ergänzung
zu verſuchen. Der „Geiſt eines Rechts“ iſt in unſern Augen nicht
der Geiſt der nationalen Theorie dieſes Rechts. Wir wären nicht
im Stande, den Geiſt des römiſchen Rechts zu beſtimmen, ohne
an den Geiſt des Volks und der Zeit anzuknüpfen, nicht im
Stande, eine Einſicht in das Weſen deſſelben und ein Urtheil
über daſſelbe zu ermöglichen, ohne die realen Zuſtände des Le-
bens, die Wirklichkeit des Rechts zu berückſichtigen. Es iſt
aber nicht unſere Aufgabe, eine römiſche Rechtsgeſchichte zu lie-
fern, die römiſche Theorie und das römiſche Rechtsleben in ihrer
ganzen Breite und Länge darzuſtellen. Was wir wollen, läßt
ſich jetzt nach den Ausführungen der beiden erſten Paragraphen
in zwei Worten ausſprechen. Es iſt uns nämlich zu thun um
die pſychiſche Organiſation des römiſchen Rechtsorganismus
und zwar, da ſie zu verſchiedenen Zeiten eine verſchiedene war,
um die geſchichtliche Entwicklung derſelben. Da nun jener Or-
ganismus nicht eine Theorie, ein logiſches Syſtem, ſondern die
rechtliche Geſtaltung der Wirklichkeit war, ſo gehört letztere
inſoweit in den Kreis unſerer Darſtellung, als eben jene pſychi-
ſche Organiſation des Rechts ſich an ihr bewährt oder ſich aus
ihr erklärt, und ſo dürfte, wenn uns „der Geiſt“ den Zugang
zur materiellen Wirklichkeit zu verſchließen ſcheint, doch die reale
Natur „des Rechts“ uns denſelben offen halten.


[51]Der Begriff der Geſchichte. §. 5.

2. Anforderungen, die in dem Begriff der Geſchichte liegen —
Ausſcheidung der unweſentlichen Thatſachen — Der innere Zu-
ſammenhang der Thatſachen und das Moment der Zeit — Innere
Chronologie oder abſolute und relative Zeitbeſtimmung
nach inneren Kriterien.


V. Daß das Recht wie alles, was exiſtirt, ſich im Laufe
der Zeit verändert, iſt eine Thatſache, die uns an ſich noch nicht
berechtigt von einer Geſchichte des Rechts zu ſprechen. Wenn die
Geſchichte nichts wäre, als ein buntes Spiel von äußern Ereig-
niſſen, eine Reihe von Veränderungen, ſo würde es auch
eine Geſchichte von Wind und Wetter geben, und eine Rechts-
geſchichte würde ſich auf den chronologiſch geordneten Abdruck
von Geſetzen und Gewohnheitsrechten beſchränken können.


Es drängt ſich aber ſchon dem einfachen Verſtande die
Bemerkung auf, daß nicht alles, was da geſchieht, Ge-
ſchichte
iſt und folglich auch die Geſchichte nicht bloß darin be-
ſteht, daß etwas geſchieht, ſondern daß es darauf ankömmt,
was geſchieht. Auf der niedrigſten Stufe der Geſchichtſchrei-
bung tritt bereits die Scheidung zwiſchen weſentlichen und
unweſentlichen, geſchichtlichen und ungeſchichtli-
chen
Ereigniſſen ein. Wie von Seiten des Individuums täglich
und ſtündlich Handlungen vorgenommen werden, die kein Bio-
graph der Mittheilung würdigen kann, ſo gibt es auch im Le-
ben der Gattung derartige tägliche Verrichtungen, die ſelbſt der
genauſte Annaliſt als völlig ungeſchichtliche Facta gar nicht
erwähnt.


So ſehr aber jene Scheidung zwiſchen Ereigniſſen, die der
Mittheilung werth und unwerth ſind, bei den Geſchichtſchreibern
aller Zeiten ſich zeigt, ſo iſt begreiflich, daß der Maßſtab,
nach dem man dieſelbe vornimmt, nach Zeit und Ort verſchieden
ſein kann. Was dem gleichzeitigen Berichterſtatter der Aufbe-
wahrung würdig zu ſein ſcheint, wird ſchon vom Geſchichtſchrei-
4*
[52]Einleitung — die Methode.
ber der folgenden Generation als völlig werthloſe Notiz bei
Seite geworfen, letzterem geſchieht von ſeinem Nachfolger
daſſelbe, und ſo ſichtet jede Zeit immer von neuem den über-
lieferten Stoff. Iſt es aber auf dem Gebiete des Rechts anders,
als auf jedem andern, iſt hier alles, was geſchieht, auch Ge-
ſchichte? Gibt es nicht auch Geſetze, die ihrer tranſitoriſchen
Beſtimmung oder ihrem untergeordneten, nichtsſagenden Inhalt
nach ſo bedeutungslos ſind, daß ſie ſich zu der Geſchichte des
Rechts verhalten, wie etwa die gewöhnlichen Lebensverrichtun-
gen eines Individuums zu deſſen Lebensgeſchichte? Sollte wohl
ein künftiger Geſchichtſchreiber unſerer jetzigen Zeit die Ehre
erzeigen, alle ihre Geſetze über Stempeltaxen, Verjährungsfri-
ſten u. ſ. w. aufzuzählen? Dieſe Geſetze mögen immerhin für die
Gegenwart ſehr wichtig ſein, ſo wie das Eſſen, Trinken, Schla-
fen u. ſ. w. für das Individuum, aber was hat der Hiſtoriker
damit zu thun! Die ſubjektive Willkühr, die man darin finden
könnte, daß der Darſtellende auswählt, was ihm bedeutend er-
ſcheint, iſt keine andere, als die jeder, der uns den geringſten
Vorfall erzählen will, ausüben muß; der Blick für das weſent-
liche iſt eben eine unerläßliche Eigenſchaft eines jeden Referen-
ten. Wer aus falſcher Gründlichkeit alles mittheilen will, was
er in ſeinen Akten findet, ſollte lieber letztere ſelbſt vorleſen d. h.
gar nicht referiren, und ein Rechtshiſtoriker, der ſich nicht ent-
ſchließen kann, rechtshiſtoriſche Notizen, die er gefunden, dem
Leſer vorzuenthalten, hätte ſtatt Geſchichtſchreiber Abſchreiber
werden müſſen. 27)


[53]Der hiſtoriſche Zuſammenhang. §. 5.

Verfolgen wir die Aufgabe der Geſchichtſchreibung weiter.
Die Geſchichte beſteht nicht aus einzelnen wichtigen Er-
eigniſſen, ſondern das weſentliche iſt der Zuſammenhang
derſelben, die Einheit der Entwicklung. Wie nun bereits auf
der niederſten Stufe der Geſchichtſchreibung das hiſtoriſche Un-
terſcheidungsvermögen, die Empfänglichkeit für den Unterſchied
geſchichtlicher und ungeſchichtlicher Thatſachen in ſeinem erſten
ſchwachen Keime ſich zeigt, ſo gilt daſſelbe von dem Sinn für
den hiſtoriſchen Zuſammenhang
. Denn die Thatſache,
an der dieſer Sinn ſich bethätigen ſoll, drängt ſich faſt ebenſo
nothwendig der Wahrnehmung auf, als jene, daß nicht alles,
was geſchieht, geſchichtlich iſt. Man bemerkt bald, daß gewiſſe
der Mittheilung für würdig geachtete Facta, ungeachtet ſie der
Zeit nach weit auseinander liegen, dennoch ſächlich im innigſten
Zuſammenhange mit einander ſtehen, andere hingegen, unge-
achtet ſie in denſelben Zeitmoment zuſammentreffen, dennoch
eine ungleich loſere Beziehung zu einander haben, m. a. W. daß
die innere Verwandſchaft und Zuſammengehörigkeit
der Thatſachen ein weſentlicheres Moment iſt, als
die äußere Verbindung derſelben durch die Zeit
. Jede
Geſchichtſchreibung verfolgt denn, wenn auch unbewußt und mit
27)
[54]Einleitung — die Methode.
ſchwachen Erfolgen, dieſes Ziel, den ſachlichen Zuſammenhang
der Thatſachen aufzudecken. Von dem erſten rohen Verſuch, dieſe
Verbindung in Form eines äußerlichen Cauſalnexus herzuſtellen,
bis zu dem verwegenen Uebermuth, die ganze geſchichtliche Bewe-
gung dialektiſch zu conſtruiren, ſtreckt ſich ein langer Weg, aber
allen, die denſelben wandeln, iſt wenigſtens die Idee gemeinſam,
daß die Geſchichte in einem nicht bloß durch das Moment der
Zeit bewerkſtelligten Aneinanderreihen ſächlich geſchiedener Er-
eigniſſe beſteht, ſondern daß eine innere Verbindung unter ihnen
Statt findet. Dieſe Verbindung iſt aber nicht die einer Kette, ſon-
dern die Einheit, Planmäßigkeit eines vollendeten Kunſtwerks.
Die Gedanken, die ſich in der Geſchichte entfalten, und in denen
die bunte Erſcheinung ihre Einheit findet, fügen ſich ſelbſt wie-
der zu einem harmoniſchen Ganzen zuſammen, nicht freilich als
ein ſich aus ſich ſelbſt bewegendes perpetuum Mobile der Dia-
lektik, ſondern als eine freie That Gottes.


Hat nun auch das Recht eine Geſchichte, oder iſt es ein
von Gott verlaſſenes Spiel der Willkühr, ein Auf- und Abwo-
gen von Veränderungen? Man möchte zweifelhaft werden, wenn
man ſeinen Blick auf ſo manche geſchichtliche Periode wendet, in
denen das Recht den Launen eines Individuums Preis gege-
ben zu ſein und regellos wie Wind und Wetter ſich zu verändern
ſcheint, oder auf Zeiten der politiſchen Kriſe, in denen das Recht
der Leidenſchaft der Partheien dient, eine Waffe wird in der
Hand des Siegers und mit den Partheien wechſelt. Und dennoch
trotz aller menſchlichen Willkühr hat das Recht eine Geſchichte,
und die lenkende Hand Gottes iſt in ihr, nur tritt dieſelbe nicht
immer ſo erkennbar hervor, wie in der Natur. Man lehrt uns,
Gott zu erkennen in der Blume und dem Baume, man weiſt
uns auf die Geſtirne, um in der Unermeßlichkeit ihrer Zahl und
in den Geſetzen ihrer Bewegung das erhabenſte Beiſpiel göttli-
cher Allmacht zu finden. Aber ſo hoch der Geiſt ſteht über der
Materie, ſo hoch ſteht auch die Ordnung und Majeſtät der gei-
ſtigen Welt über der der ſubſtantiellen. Wunderbarer als die
[55]Die Geſchichte des Rechts. §. 5.
Bewegung der Weltkörper im Raum iſt die Bewegung der ſitt-
lichen Gedanken in der Zeit, denn ſie gehen nicht unangefochten
einher wie die Geſtirne, ſondern ſie ſtoßen bei jedem Schritt auf
den Widerſtand, den menſchlicher Eigenſinn und Unverſtand und
alle böſen Gewalten des menſchlichen Herzens ihnen entgegen-
ſetzen. Wenn ſie dennoch ſich verwirklichen im bunten Gewirre
widerſtrebender Kräfte, wenn das ſittliche Planetenſyſtem mit
derſelben Ordnung und Harmonie ſich bewegt, wie das Plane-
tenſyſtem des Himmels, ſo liegt darin ein glänzenderer Beweis
der göttlichen Weltleitung, als in allem, was man der äußeren
Natur entnehmen kann. Man hat von der Poeſie im Recht ge-
ſprochen und darunter die Aeußerung der ſinnigen, gemüthlichen
Auffaſſung verſtanden, wie ſie auf dem Gebiete des Rechts in
manchen Formen ſich kund gibt. Aber dies iſt eine Poeſie unter-
geordneter Art und ſpielt im Recht nur eine höchſt kümmerliche
Rolle, die wahre Poeſie des Rechts liegt in der Erhabenheit
ſeines Problems und in ſeiner an Majeſtät und Geſetzmäßigkeit
dem Laufe der Geſtirne vergleichbaren Bewegung. Das römiſche
Recht iſt nun vor allem geeignet, uns dieſe Poeſie der Ordnung
und Gedankenmäßigkeit der Rechtsentwicklung zu bewähren; in
meinen Augen iſt die Geſchichte dieſes Rechts ein unübertroffe-
nes Kunſtwerk, in dem die höchſte Einfachheit und Einheit mit
der reichſten Fülle der Entwicklung ſich paart. Zu dieſem Aus-
ſpruche bilden freilich die meiſten Darſtellungen der römiſchen
Rechtsgeſchichte einen ſchneidenden Contraſt. Statt die Einheit
in der hiſtoriſchen Bewegung ſämmtlicher Inſtitute nachzuweiſen,
führen ſie uns nur eine Reihe von Veränderungen vor, die nichts
mit einander gemein zu haben ſcheinen, zerreißen den Stoff in
innere und äußere Rechtsgeſchichte, ſtellen letztern nach Perio-
den dar (ſogenannte ſynchroniſtiſche Methode) dieſe hingegen
nicht (ſ. g. chronologiſche Methode), negiren alſo damit von
vornherein die Geſchichte des Rechts in ſeiner Totalität. Der
Grund, mit dem ſie dies Verfahren zu rechtfertigen ſuchen, daß
die einzelnen Inſtitute ſich nicht gleichmäßig entwickelt hät-
[56]Einleitung — die Methode.
ten, ſich nicht für alle dieſelben Perioden aufſtellen ließen, be-
deutet nichts anders als: Die Rechtsinſtitute haben eine Ge-
ſchichte, nicht aber das Recht als Ganzes. 28) Die berühmte
Rechtsgeſchichte von Hugo faßt zwar die innere und äußere
Rechtsgeſchichte zuſammen und behandelt beide in denſelben
Perioden, aber die Verbindung beider wie die Perioden ſelbſt
ſind der alleräußerlichſten Art, und das Zerſtücklungsſyſtem iſt
gerade hier auf die höchſte Spitze getrieben. 29)


[57]Gleichartige Entwicklung der einzelnen Inſtitute. §. 5.

Iſt es denn wahr, daß die einzelnen Inſtitute ſich nicht
gleichmäßig entwickeln? Wäre es möglich, daß das eine Inſti-
tut dieſem, das andere jenem Gedanken diente, oder, wenn die-
ſelben Gedanken ſich auch bei allen Inſtituten wiederholten, daß
ſie bei dieſem in dieſer, bei jenem in gerade entgegengeſetzter
Reihenfolge aufträten? Dann würde freilich von einer Geſchichte
des Rechts keine Rede ſein können, denn wo jeder einzelne
Theil ſich ſelbſtändig bewegt, gibt es kein Ganzes, keine
Einheit.


Damit alſo von einer Geſchichte des Rechts geredet werden
könne, wird eine gewiſſe Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit
in der Bewegung der einzelnen Inſtitute nothwendig vorausge-
ſetzt. Dieſe Vorausſetzung iſt in der That vorhanden, es kömmt
aber nur darauf an, ſich durch den Schein des Gegentheils
nicht irre machen zu laſſen. Wenn man ſie nicht aufzufinden
vermag, ſo liegt dies nur darin, daß man ſie ſelbſt zu mecha-
niſch nimmt, nicht die innere Gleichheit der treibenden Kräfte,
ſondern die äußere der Erſcheinungsform ins Auge faßt, die
Gleichzeitigkeit aber nach einem für das Recht zu engen Zeitmaß
beſtimmt.


Betrachten wir beide Punkte etwas näher.


1. Gleichartigkeit der hiſtoriſchen Bewegung.

Niemand wird Bedenken tragen von einer Erkrankung oder
totalen Umgeſtaltung eines Organismus zu ſprechen, ungeachtet
dieſelbe an einzelnen unedlen Theilen nicht hervortritt. Wenn
wir nun im Recht von einer totalen Neubildung ſeines Organis-
mus ſprechen, ſo wird kein Verſtändiger die Anforderung an uns
ſtellen, daß wir dieſelbe an jedem Atom deſſelben nachweiſen ſollen.
Die Grundgedanken, die jene Neubildung hervorgerufen haben,
werden ſich in manchen Partikeln des Rechts nicht äußern kön-
nen
, indem letztere auf ſie gar nicht reagiren.


An dieſer Beobachtung nun, daß nicht an jedem einzel-
[58]Einleitung — die Methode.
nen Punkte des Rechts ſich dieſelbe Erſcheinung wiederholt,
würde auch die römiſche Rechtsgeſchichte nie Anſtoß genommen
haben. Die einzige Beſchränktheit, die ihr gefährlich wurde, be-
trifft die Erkenntniß der Gleichartigkeit in der Umgeſtaltung der
einzelnen Inſtitute. Dieſe Gleichartigkeit iſt in den wenigſten
Fällen eine mechaniſche, augenfällige; ich darf eine obige Be-
merkung (S. 30) wiederholen, daß Gleichheit der Aeußerung das
Zeichen der Schwäche iſt, die Kraft aber ſich in der Mannigfal-
tigkeit der Aeußerungsformen bewährt. Auch im Recht kleidet
nur der Winter ſich in eine Farbe, die andern Jahreszeiten
aber in ſehr verſchiedene.


Dieſe Mannigfaltigkeit der Aeußerungsformen wird aber
der Erkenntniß der inneren Gleichartigkeit nicht ſelten gefährlich.
Der Proteus der Geſchichte taucht im Wellenſpiel der hiſtoriſchen
Erſcheinung bald hier bald dort in veränderter Geſtalt auf und
ſucht uns durch den Wechſel dieſer Geſtalt zu täuſchen. Dieſer
Gefahr zu entgehen, müſſen wir uns eben nicht an das Trug-
bild der Erſcheinung halten, letztere nicht mit den Gedanken
meſſen, die oben aufſchwimmen, ſondern mit denen, die ihren
Kern, ihr Weſen ausmachen. Um letztere aufzufinden, iſt eine
gewiſſe Weite der Abſtraction, ein Zurückſteigen von den durch
die Individualität der Inſtitute tingirten und daher ſcheinbar
verſchiedenen nächſten Gedanken zu ihrem gemeinſamen abſtrac-
teren Einheitspunkt erforderlich. Um ein Beiſpiel aus unſerer
ſpäteren Darſtellung zu geben, ſo ſind gewiß die Einführung des
Formular-Prozeſſes, die Privilegien der Soldaten, Frauen u.ſ.w.,
die Condemnation auf das Intereſſe ſtatt auf den objektiven
Werth der Sache, die Berückſichtigung der absentia, die actio
injuriarum aestimatoria
u. ſ. w. äußerlich ſehr verſchieden, ſie
finden aber ihre Vereinigung in dem Gedanken der individuali-
ſirenden Tendenz des ſpäteren römiſchen Rechts. Ebenſo hat die
grammatiſche Interpretation der ältern römiſchen Jurisprudenz
auf den erſten Blick nichts gemeinſames mit der Präponderanz
der Sache und der phyſiſchen Gewalt im ältern Recht, und doch
[59]Gleichzeitige Entwicklung der einzelnen Inſtitute. §. 5.
laſſen auch ſie ſich auf denſelben Geſichtspunkt des Uebergewichts
der Aeußerlichkeit zurückführen.


Wie nun die Gleichartigkeit der hiſtoriſchen Bewegung bei
den einzelnen Inſtituten nicht in einem ermüdenden Uniſono be-
ſteht, ſo iſt dies eben ſo wenig innerhalb eines und deſſelben
Inſtitutes der Fall. Auch hier finden wir Freiheit, Mannigfaltig-
keit der Aeußerungsformen bei Identität des inneren Weſens,
und auch hier iſt es wiederum die Aufgabe, ſich durch dieſe
wechſelnden Formen nicht irre führen zu laſſen. Die Tonart, die
Octavenlage, möchte ich ſagen, können bei einem und demſelben
Inſtitut vielleicht öfter wechſeln, das Thema mannigfaltig vari-
irt werden, aber dennoch iſt es eben dieſes Thema, das immer
wieder durchklingt.


2. Die Gleichzeitigkeit der hiſtoriſchen Bewegung.

Das Maß der Zeit, mit dem man dauernde Zuſtände oder
vorübergehende Ereigniſſe beſtimmen will, iſt bekanntlich ſehr
relativ und richtet ſich im Allgemeinen nach der Länge oder Kürze
der Zeit, die der zu meſſende Gegenſtand einnimmt. Hiernach
kann eine Minute bereits ein zu weites, ein Jahrhundert ein zu
enges Maß ſein. In der politiſchen Geſchichte ſind wir ge-
wohnt nach Jahren zu rechnen und übertragen dies Maß auf die
Rechtsgeſchichte, ohne die Frage aufzuwerfen, ob es ihr entſpricht.
Wir werden unten zeigen, daß dieſe Frage verneint werden muß,
daß die Rechtsgeſchichte ein ungleich weiteres Maß erfordert,
als die politiſche Geſchichte; hier betrachten wir dieſen Fehler
nur in ſeiner Anwendung auf die poſtulirte Gleichzeitigkeit in
der Bewegung der einzelnen Inſtitute.


Mißt man dieſelbe nach Jahren, ſo wird ſie faſt nie vor-
handen ſein, und zwar nicht bloß wegen der Langſamkeit der
Entwicklung des Rechts im Allgemeinen, ſondern wegen der
verſchiedenen Beweglichkeit der einzelnen Inſtitute. Manche der-
ſelben zeichnen ſich durch Schwerfälligkeit und Tenacität, andere
[60]Einleitung — die Methode.
durch Beweglichkeit und Bildſamkeit aus, und derſelbe Entwick-
lungsprozeß, der bei letzteren ſich leicht und mühelos vollzieht
und in einem Jahrhundert beendet iſt, dehnt ſich dort in müh-
ſamer Arbeit über mehre Jahrhunderte aus.


So ſtehen z. B. das öffentliche und das Privatrecht, der
Kriminalprozeß und Civilprozeß und im Privatrecht die einzel-
nen Theile deſſelben nicht auf gleicher Stufe. Das Familienrecht
und auch, inſoweit es mit dieſem zuſammenhängt, das Erbrecht
ſind langſamer und weniger bildſam, als das Vermögensrecht,
und letzteres zeigt wiederum bei unbeweglichen Sachen eine grö-
ßere Hartnäckigkeit, als bei beweglichen, und hinſichtlich der
letzteren tritt bei den dem Handelsverkehr beſtimmten Verhält-
niſſen die höchſte Steigerung der Bildungsfähigkeit hervor.


Wenn alſo ein und derſelbe Entwicklungsprozeß auch gleich-
zeitig bei allen Inſtituten begönne, ſo würde doch der fernere Fort-
gang deſſelben durch dieſe verſchiedene Empfänglichkeit derſelben
beſtimmt ſein, und je nach dieſer Verſchiedenheit wäre er bei
dem einen vielleicht beendet, während er bei dem andern erſt zur
vollen Thätigkeit gelangte. Aus dem langen Zeitraum von den
XII Tafeln bis zu Juſtinian läßt ſich daher kein Jahr, ja nicht
einmal ein Abſchnitt von 50 oder 100 Jahren als Normalpunkt
für alle Inſtitute herausheben; für einige derſelben zutreffend
würde er für andere zu früh, für andre zu ſpät ſein.


Aber was folgt hieraus? Nicht der Mangel der Gleichzei-
tigkeit, ſondern nur das Bedürfniß einer weiteren Faſſung der-
ſelben. Wie die von uns geſuchte Identität der Bewegung in
den einzelnen Inſtituten hinſichtlich ihrer Erſcheinungs form
eine große Elaſticität beſitzt, ſo auch hinſichtlich ihrer Erſchei-
nungs zeit, und es kömmt, um beide zu finden, nur auf den
richtigen Maßſtab an. Die folgende Ausführung wird dieſe
freiere Behandlung der Zeit für die Geſchichte des Rechts in
einem noch weiteren Umfange begründen; begnügen wir uns
hier zunächſt mit dem Reſultat, daß bei richtiger Wahl der Ge-
ſichtspunkte die von unſern Rechtshiſtorikern bezeichnete Confor-
[61]Einheit in der Geſammtentwicklung des Rechts. §. 5.
mität in der Entwicklung der einzelnen Inſtitute ſich allerdings
auffinden läßt.


Dieſe Conformität in der Bewegung der einzelnen Theile
wird nun zwar vorausgeſetzt, damit von einer Geſchichte der
Totalität des Rechts die Rede ſein kann, allein ſie fällt mit letzte-
rer nicht zuſammen. Die Bewegung ſämmtlicher einzelner In-
ſtitute könnte ja eine planloſe, ein regelloſes Spiel gleichmäßi-
ger Veränderungen derſelben ſein, und dann wäre von einer
Geſchichte des Rechts keine Rede. Es genügt alſo nicht nachzu-
weiſen, daß die einzelnen Inſtitute gleichzeitig dieſelben Entwick-
lungsſtadien zurücklegen, ſondern daß auch die Reihenfolge
ihrer verſchiedenen Phaſen eine innerlich zuſammenhängende iſt,
die Geſchichte des Rechts alſo ſowohl vom Standpunkt eines
einzelnen gegebenen Zeitmoments als vom Standpunkt ihres
ganzen ſucceſſiven Verlaufs den Eindruck der Einheit gewähre,
ich möchte ſagen: die Einheit ſowohl im Nebeneinander als Hin-
tereinander, in die Breite wie in die Länge Statt finde.


Daß nun in der Geſchichte des Rechts eine ſolche ſucceſſive
Einheit vorhanden iſt, dürfen wir ſchon von vornherein anneh-
men. Da nämlich die Individualität eines Volkes nicht heute
ſo, morgen ſo iſt, und ebenſo das äußere Leben und der Verkehr
deſſelben ſich nicht ſprungweiſe und launenhaft verändert, ſo
kann daſſelbe ebenſo wenig mit der correſpondirenden Bewegung
des Rechts der Fall ſein. Findet dort eine Einheit der Entwick-
lung Statt, ſo wird ſie auch hier vorhanden ſein. So leicht ſich
nun dieſe Einheit von vornherein deduciren läßt, ſo ſchwierig
ſcheint es zu ſein, ſie an einem beſtimmten einzelnen Recht nach-
zuweiſen. Eine Anleitung dazu läßt ſich natürlich nicht geben,
aber es läßt ſich wenigſtens negativ ein Hinderniß aus dem
Wege räumen, das mir ſehr nachtheilig gewirkt zu haben ſcheint.
Das iſt nämlich der ungebührliche Einfluß, den man hier dem
[62]Einleitung — die Methode.
Moment der Zeit zu verſtatten pflegt. Ich kann an die obige Be-
merkung anknüpfen, daß die innere Verbindung der Thatſachen
weſentlicher iſt, als die äußere Verbindung durch die Zeit. Dieſe
Bemerkung hat für die Geſchichte des Rechts eine geſteigerte
Bedeutung; das Moment der Zeit tritt hier in einem weit hö-
heren Grade zurück, als in der politiſchen Geſchichte. Wir wol-
len in folgendem
die Bedeutung des Moments der Zeit für die
Geſchichte des Rechts

ſowie die Conſequenzen, die ſich daraus für die Darſtellung
ergeben, näher entwickeln.


Dieſe Bedeutung beſteht nun zunächſt darin, daß die Ge-
ſchichte auf dieſem Gebiete außerordentlich langſam arbeitet, bei
geringer Production ungemein viel Zeit gebraucht. Geſetze kön-
nen freilich in kurzer Zeit viele erlaſſen werden, aber nicht jedes
Geſetz betrachte ich als ein geſchichtliches Ereigniß. Die
Geſetze können ſich drängen wie die Wolken bei bewegtem Him-
mel, aber wenn ſie ebenſo wie letztere raſch vorüberziehen und
keine Spur zurücklaſſen, ſo rechne ich ſie nicht zu den Produc-
tionen, von denen ich hier ſpreche, ſondern zu dem Abfall, den
Spänen, die davon fliegen, wenn die Geſchichte arbeitet. Die
Productivität der Geſchichte des Rechts hat die Entwicklung des
Rechtsorganismus zum Gegenſtande und bewährt ſich nicht dar-
an, was derſelbe conſumirt, ſondern was er verdaut.
Dieſe
Arbeit geht ſehr langſam von Statten und liefert viel-
leicht in einem Jahrtauſend nicht ſo viel, als die politiſche,
Kunſt- und Literaturgeſchichte in einem Jahrhundert. Selten
ſind für das Recht die Fälle, wo daſſelbe unter dem Einfluſſe
plötzlicher gewaltſamer Impulſe in raſche Bewegung geräth und,
ich möchte ſagen, auf dem Wege vulkaniſcher Bildung neue fer-
tige Schichten aus ſich heraustreibt; auch wird hier dem plötz-
lichen Ausbruch eine lange Zeit der Vorbereitung vorangegan-
gen ſein. Die Regel iſt die, daß dieſe Schichten durch höchſt
[63]Langſamkeit der Entwicklung des Rechts. §. 5.
allmähligen und unmerklichen Niederſchlag der Atome ſich an-
ſetzen und ablagern, ſo daß die Bildung einer neuen Formation
viele Jahrhunderte erfordern kann. 30) Der Grund dieſer unge-
wöhnlichen Schwerfälligkeit des Rechts iſt leicht zu finden; es
iſt derſelbe, aus dem die Entwicklung des Charakters langſamer,
mühſamer von Statten geht, als die intellektuelle Ausbildung.
Der Charakter eines Individuums und ein Recht — letzteres iſt
ja der Charakter eines Volksindividuums — die ſich beſtändig
ändern, die nach Art der intellektuellen Thätigkeit in beſtändiger
Bewegung und Spannung begriffen ſind, taugen beide nicht
viel. Eine gewiſſe Stetigkeit und Hartnäckigkeit iſt bei beiden das
Zeichen der Geſundheit und Kraft. Wenn jede Generation das
von der Vergangenheit ererbte Recht als „eine ewige Krankheit“
von ſich ſtoßen und dafür das Recht, „das mit uns geboren“, an die
Stelle ſetzen wollte, ſo würde die ſittliche Kraft des Rechts über
die Gemüther raſch abnehmen, und das Recht im ewigen Rollen
begriffen dem Abgrunde entgegeneilen. Je leichter, raſcher und
häufiger in einem Staat das Recht producirt, deſto geringer jene
moraliſche Kraft; 31) je ſeltner dieſe Productionen, je länger der
Zwiſchenraum zwiſchen der Empfängniß und der Geburt, je
ſchmerzhafter die Geburtswehen, deſto feſter und kräftiger das
Product. Darum kann das Recht nur bei einem willenskräftigen
Volk gedeihen, denn nur bei einem ſolchen Volk iſt die conſer-
vative wie progreſſive Kraft in dem Maße ausgebildet, daß das
Recht nur unter Schmerzen gebären kann. Als Beiſpiel nenne
ich das ältere Rom und England; für das gegenüberſtehende
[64]Einleitung — die Methode.
Extrem einer Eintagsfliegen-Fruchtbarkeit braucht man leider
weniger nach Beiſpielen zu ſuchen.


Dieſe eben entwickelte Schwerfälligkeit und Langſamkeit des
Rechts läßt ſich mit andern Worten auch ſo ausdrücken: das
Recht bedarf zu ſeinen Productionen langer Zeiträume. Wir
ſtellen dem nun gegenüber eine zweite Eigenthümlichkeit der Be-
ziehung der Zeit zur Rechtsgeſchichte, nämlich die Unbeſtimmtheit
und Unſicherheit des Zeitpunktes. Dieſelbe hängt mit der
Länge der Zeiträume nicht nothwendig zuſammen; letztere kann
mit ſcharfer Beſtimmung der Zeitpunkte und umgekehrt die Kürze
der Zeiträume mit Unbeſtimmtheit jener verbunden ſein.


Der Erlaß eines Geſetzes läßt ſich nach Tag und Stunde
beſtimmen, und wäre die Geſchichte des Rechts nichts als eine
Geſchichte der Geſetze, ſo würde hier für manche Zeiten die
äußerſte chronologiſche Genauigkeit herrſchen können. Aber ſo
wichtig es ſtets in praktiſcher Beziehung iſt, von welchem
Zeit moment an ein Geſetz gilt, ſo wenig iſt dies in hiſtoriſcher
Beziehung der Fall. Als einziger äußerer Anhaltspunkt mag
uns auch hier das Datum des Geſetzes brauchbar ſein, aber
überſchätzen wir nicht den Werth deſſelben. Nichts wäre irriger,
als zu glauben, daß die Geburtsſtunde der in dem Geſetz aufge-
ſtellten Rechtsgrundſätze mit jenem Augenblick zuſammenträfe.
Beide können vielmehr weit auseinanderfallen; wir erinnern an
unſere Ausführung über die Formulirung der Rechtsſätze. Längſt
bevor das Geſetz einen Rechtsgrundſatz ſanctionirte, kann der-
ſelbe bereits im Leben gegolten haben, und es iſt Zufall, daß er
gerade jetzt, nicht früher und ſpäter ausgeſprochen wird.
Wie verkehrt wäre es hier, die Entſtehung jenes Grundſatzes
nach dem Tage des Geſetzes zu datiren.


Aber ſelbſt dieſer äußere Anhaltspunkt des Publikations-
tages der Geſetze fehlt häufig. Wie manches wichtige Geſetz
tritt in der römiſchen Rechtsgeſchichte auf, von dem uns nicht
einmal das Jahrhundert, in das es fiel, bezeichnet wird. Und
wie vieles bildet ſich auf dem Boden des Rechts, ohne nur
[65]Aeußere Chronologie der Rechtsgeſchichte. §. 5.
einmal in einem Geſetze erwähnt zu werden. Was die ſchöpferiſche
Kraft des Lebens oder die Praxis der Gerichte auf gewohnheits-
rechtlichem Wege zu Tage fördert, was die Wiſſenſchaft allmäh-
lig in Umlauf ſetzt und in Aufnahme bringt, dafür läßt ſich kein
Datum angeben. Oder ſollten wir es darnach datiren, wann es
zuerſt in unſern Quellen erwähnt wird, das Jahr, in dem es in
der uns erhaltenen Literatur auftaucht, und das vielleicht
das funfzigſte oder hundertſte ſeiner Exiſtenz iſt, für das erſte
derſelben halten? Die glänzenden Thaten einzelner Individuen,
Schlachten und merkwürdige Vorfälle und ebenſo auch die wich-
tigen Geſetze werden ſorgfältig berichtet, weil ſie äußerlich in
die Augen und der Zeit nach in ein beſtimmtes Jahr fallen, und
kein Annaliſt, der dieſes Jahr vor ſich hat, wird ſie übergehen;
hingegen die allmählige und unmerkliche Bildung des Rechts
aus dem Leben heraus entzieht ſich leicht dem Auge und erhält
ſelten einen ſo eklatanten, in einen beſtimmten Zeitmoment fal-
lenden Abſchluß, daß derſelbe als ein Ereigniß dieſes beſtimmten
Jahres aufgezeichnet werden müßte. So ſchleicht ſich das auf
dieſem Wege gebildete Rechtsproduct, eben weil ſeine Bildung
nicht mit Geräuſch verbunden iſt und nicht in ein einzelnes Jahr
fällt, unbeachtet durch manches Jahr dahin, bis ein Zufall ihm
die erſte ſchriftliche Aufzeichnung verſchafft; die aber wiederum
ein anderer Zufall der Nachwelt vorenthalten kann. Bei der Be-
trachtung des Rechtsorganismus (§. 3) fanden wir eine drei-
theilige Gliederung deſſelben: Rechtsſätze, Rechtsbegriffe, pſy-
chiſche Organiſation deſſelben, und im allgemeinen möchte die
chronologiſche Beſtimmtheit in derſelben Weiſe abnehmen, wie
wir in jener Gliederung vom ſpeziellen zum allgemeineren auf-
ſteigen. Ein Rechtsſatz wird zu ſeiner Bildung kürzere Zeit ge-
brauchen, als ein Rechtsbegriff, ein Rechtsbegriff kürzere Zeit,
als ein Umſchwung in der Rechtsanſchauung. Für die Perioden
der Geſchichte, in denen die Bildung der Rechtsſätze vorzugs-
weiſe dem Geſetzgeber anheimfällt, iſt dieſer Satz offenbar am
zutreffendſten, hier ließe er ſich auch ſo ausdrücken: Der Geſetz-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 5
[66]Einleitung — die Methode.
geber arbeitet raſcher, als die Doctrin, die Doctrin raſcher als
der Volksgeiſt, je langſamer aber hier die Production, um ſo
unbeſtimmter der Zeitpunkt ihres Abſchluſſes.


Aus dem bisherigen geht zur Genüge hervor, wie unvoll-
kommen es mit der Chronologie der Rechtsgeſchichte für entle-
gene, quellenarme Zeitalter beſchaffen ſein muß. Für manche
völlig gleichgültige Geſetze kann ſie Jahr und Tag angeben, und
für die wichtigſten Ereigniſſe, für den Umſchwung der Ideen und
die durch denſelben hervorgerufene Umgeſtaltung des Rechts
kaum das Jahrhundert. Die Zuſammenſtellung von Jahreszah-
len, zu der ſie ſich durch ihre Quellen in Stand geſetzt ſieht, iſt
daher nothwendigerweiſe ſehr lückenhaft, und die einzelnen An-
gaben enthalten dem bisherigen nach nur ſehr ſelten den wirkli-
chen, wahrhaften Zeitmoment eines rechtshiſtoriſchen Ereigniſ-
ſes. Das unmittelbare Intereſſe einer ſo unvollkommenen Chro-
nologie kann ich daher nur höchſt gering anſchlagen; dagegen
wird ſich unten bei dem, was wir an ihre Stelle ſetzen werden,
ein hoher mittelbarer Werth derſelben ergeben.


Als Reſultat haben wir gefunden, daß das Moment der
Zeit in der Geſchichte des Rechts eine geringere Bedeutung hat,
als in der politiſchen Geſchichte, indem nämlich die Bewegung
des Rechts eine mehr innerliche und darum ſehr langſame und
unmerkliche iſt, die Zeiträume alſo lang und die Zeit-
punkte unbeſtimmt ſind.


Es iſt nur ein anderer Ausdruck dieſes Reſultates, wenn
wir ſagen: Der Rechtshiſtoriker muß die Zeit mit einem weite-
ren und elaſtiſcheren Maße meſſen, als ſonſt üblich iſt. Je enger
die zeitlichen oder räumlichen Gränzen eines Gegenſtandes ſind,
deſto genauer kann das zeitliche oder räumliche Maß, deſto nä-
her der Standpunkt der Betrachtung ſein; je weiter aber die
Dimenſionen in Zeit oder Raum, deſto weiter darf auch das
Maß, deſto entfernter ſoll der Standpunkt der Betrachtung
ſein, damit ein richtiger Totaleindruck gewonnen werde, der
Zuſammenhang des Gegenſtandes in die Augen ſpringe. Ein
[67]Elaſticität der Perioden. §. 5.
Rechtshiſtoriker wird daher kleinere und nach Jahren beſtimmte
Zeiträume, die für die Darſtellung der politiſchen Geſchichte
durchaus geeignet wären, nicht zu Grunde legen können, ohne
ſich von vornherein die Verfolgung ſeines letzten Ziels — die
Aufdeckung des ſachlichen Zuſammenhanges in der Entwicklung
des Rechts — ſehr zu erſchweren. Er wird ſich vielmehr von
vornherein anſchicken müſſen dieſer Entwicklung ununterbrochen
während einer Reihe von Jahrhunderten zu folgen, ich möchte
ſagen, der Zeit Zeit, laſſen ſich ihm verſtändlich zu machen.
Ebenſo wird er, wenn der Verlauf dieſer Entwicklung ihn zwingt,
einen Abſchnitt zu machen, ſich nicht ein beſtimmtes Jahr als
Gränzpunkt ſetzen, über den er ſeinen Blick nicht hinausſchweifen
laſſen dürfte, und mit dem er ſpäter wieder begönne. Denn
wenn die Geſchichte ſelbſt ihm die Feſtſtellung eines ſolchen
Normaljahres auch noch ſehr erleichtert hätte, auch noch ſo ſehr
den ſchmalen Streifen eines Jahres zur äußeren Gränzſcheide
zweier innerlich geſchiedener Perioden gemacht hätte, ſo würde
doch ſelbſt in dieſem glücklichſten Fall manches dieſſeits des Nor-
maljahres fallen, was ſachlich zur folgenden Periode, manches
jenſeits deſſelben, was ſachlich zur vorhergehenden Periode ge-
hörte. Der ſcharfe Einſchnitt nach Seiten der Zeit würde hier alſo
das Zuſammengehörige trennen, das Heterogene unvermittelt
neben einander ſtellen. Um dieſe innere Connexität zu retten, wird
daher der Rechtshiſtoriker ſeinen Perioden ſtatt des Jahres viel-
leicht nur ein Jahrhundert als Gränze anweiſen können und ſich
trotzdem dabei noch vorbehalten müſſen, manche Erſcheinung, die
in die ſpätere Periode fällt, zu anticipiren und umgekehrt andere,
die der früheren Periode angehören, in die folgende zu verwei-
ſen. Man wird daher den Perioden des Rechtshiſtorikers noth-
wendigerweiſe eine gewiſſe Elaſticität zugeſtehen müſſen. Dies
Poſtulat enthält im Grunde nichts als die Anwendung unſeres
oben aufgeſtellten Fundamentalſatzes, daß die innere Verwand-
ſchaft der Thatſachen weſentlicher iſt, als ihre äußere Verbin-
dung durch die Zeit. Die Geſchichte eines jeden Rechtes wird
5*
[68]Einleitung — die Methode.
es bewähren, daß die Vorboten eines neuen Syſtems ſich bereits
einſtellen, während das alte noch in voller Kraft ſteht, und daß
umgekehrt Nachzügler des letzteren ſich ſo lange verſpäten können,
daß erſteres inzwiſchen zur vollſtändigſten Herrſchaft gelangt iſt.
Jene Vorboten, der Zeit nach früher, als dieſe Nachzügler, wer-
den nur vom Standpunkt des neuen Syſtems aus, dieſe Nach-
zügler nur von dem des alten aus richtig gewürdigt werden
können, und dieſe ihre ſyſtematiſche Beziehung, nicht aber ihr
chronologiſches Verhältniß wird ihnen ihre wahre Stellung an-
weiſen.


Die bisherige Ausführung hat uns bereits zu einem Punkt
geführt, von wo aus wir nur noch einen Schritt zu thun haben,
um bei dem in der Rechtsgeſchichte nicht ſeltenen Fall eines Con-
fliktes zwiſchen dem Moment der Zeit und dem des ſachlichen
Zuſammenhanges der hiſtoriſchen Entwicklung (dem chronolo-
giſchen und ſyſtematiſchen Moment) jenes erſte Moment für das
ſecundäre und acceſſoriſche, dieſes zweite aber für das weſent-
liche und beſtimmende zu erklären. Die Zeit ſoll durch das
Syſtem verdrängt werden, letzteres ſoll ſich aus ſich ſelbſt her-
aus frei entwickeln, ohne durch die Zeit beengt zu ſein, und
nur ſoweit als letztere im Stande iſt, ſich zu einem ſyſtematiſchen
Moment zu geſtalten, ſoll ſie Zutritt finden. Vielleicht treibt
mich die ungebührliche Wichtigkeit, welche man dem Moment
der Zeit in der Rechtsgeſchichte beilegt, in das entgegengeſetzte
Extrem, wie ja ein Extrem das andere hervorzurufen pflegt, aber
ich habe bis jetzt keinen Grund gefunden, die Richtigkeit meiner
Anſicht, deren Begründung ich jetzt verſuchen will, zu be-
zweifeln.


Die zwei äußerſten Extreme, die hier möglich ſind, würden
ſein die ausſchließliche Anordnung der Rechtsgeſchichte nach dem
Moment der Zeit und die ausſchließliche, jegliche Zeitangabe
[69]Einſeitige Verfolgung des ſyſtem. Geſichtspunktes. §. 5.
verſchmähende Verfolgung des inneren Zuſammenhanges der
Entwicklung. Jenes erſte Extrem, die rein annaliſtiſche Darſtel-
lungsmethode, würde eine Einſicht in die Totalentwicklung des
Rechts weder vorausſetzen noch gewähren; es würde hier nicht
einmal der erſte Anſatz zu einer Rechtsgeſchichte vorhanden ſein,
und man könnte von dieſem Standpunkt aus ſich dem ſyſtemati-
ſchen Moment gar nicht nähern, geſchweige beide Momente
miteinander verſchmelzen.


Ganz anders verhält es ſich mit dem entgegengeſetzten Ex-
trem. Vorausgeſetzt daß es gelänge, den realen Zuſammenhang
der Entwicklung des Rechts wahrhaft zu erfaſſen und darzuſtel-
len, worüber unten ein weiteres, ſo würde damit die weſent-
liche Aufgabe des Hiſtorikers gelöſt ſeyn, und was fehlte, würde
ſich leicht nachtragen laſſen, es wären eben nur die Jahreszahlen,
und ſie ſind das rein Zufällige, Aeußerliche in der Zeit. 32) Es
würde hier nicht derſelbe Verſtoß gegen das chronologiſche Mo-
ment begangen, wie dort gegen das ſyſtematiſche, die Zeit ne-
girt, wie dort das Syſtem, ſondern das Syſtem würde in der
That ſelbſt ohne Wiſſen und Wollen des Darſtellenden implicite
das weſentliche des Moments der Zeit in ſich aufgenommen
haben, indem eben die Schilderung der realen Entwicklung des
Rechts (was ich hier Syſtem nenne) ſich parallel mit der
Zeit ſelbſt bewegen
würde. Der Fortſchritt des Syſtems
involvirt nothwendigerweiſe den Fortſchritt der Zeit, nicht aber
umgekehrt, denn die Zeit iſt nicht die vis movens, ſondern der
bloße Rahmen, in den die Evolutionen des Syſtems hinein-
fallen. Das Andersſein des Gegenſtandes ſetzt nothwendiger-
[70]Einleitung — die Methode.
weiſe ein Andersſein der Zeit voraus, und wer das Verhältniß
in den Veränderungen des Gegenſtandes ſyſtematiſch, ſachlich
begriffen hat, wird ſie im weſentlichen in dieſelbe Ordnung
bringen, in der ſie in der Zeit aufeinander folgen. Dieſer Ge-
danke der parallelen Bewegung des Syſtems und der Zeit wird
unten noch weiter ausgeführt werden, hier genügt uns das Zu-
geſtändniß, daß die einſeitige Verfolgung des ſyſtematiſchen
Moments den ſachlichen Zuſammenhang der Dinge, alſo den
weſentlichen Kern der Geſchichte zur Anſchauung bringen würde
und das Moment der Zeit auch bis in ſein Detail hinein jeden
Augenblick in ſich aufnehmen könnte.


Iſt nun aber in der That dieſe einſeitige Verfolgung wirklich
möglich, würden wir z. B., wenn uns für die römiſche Rechts-
geſchichte von den XII Tafeln bis auf Juſtinian gar keine äußere
Zeitbeſtimmung gegeben wäre, den Stoff dennoch nach ſeiner
wirklichen hiſtoriſchen Reihenfolge anordnen können? Abſtrahi-
ren wir einmal von der Geſchichte des Rechts und nehmen ein
anderes Beiſpiel, nämlich die Geſchichte der Bildung der Erd-
oberfläche. Dem Geologen, der ſie uns ſchildern ſoll, iſt kein
äußeres Zeugniß der Zeit gegeben, ihm iſt nicht berichtet, in
welcher Reihenfolge und in welchen Intervallen die Verände-
rungen der Erdoberfläche vor ſich gegangen ſind. Und doch kann
er uns dieſe Reihenfolge aufs unwiderſprechlichſte darthun, ja
er kann, wenn auch nur mit einem ſehr weiten Maßſtabe,
die Zeit beſtimmen, die über dieſen Bildungen verfloſſen iſt.
Denn die Geſchichte, die er darſtellt, hat ſich dem Gegenſtande
ſelbſt incruſtirt, das Moment der Zeit hat ſich entſprechend
im Raum ausgedrückt, die Schichten und Syſteme, aus denen
dieſe Geſchichte beſteht, lagern ſo über einander, wie ſie in der
Zeit nach einander folgten, und zwar iſt dieſe räumliche und zeit-
liche Reihenfolge keine Zufälligkeit, ſondern eine ſyſtematiſche
d. h. in der Natur der verſchiedenen Schichten begründete Noth-
wendigkeit. Hier dient alſo der ſyſtematiſche Zuſammenhang
als chronologiſches Beſtimmungsmittel; was dem Syſtem nach
[71]Beſtimmbarkeit der Zeit nach ſyſtem. Kriterien. §. 5.
geſchieden, iſt es auch der Zeit nach, und ſyſtematiſche Nähe
und Ferne, wenn ich ſo ſagen darf, iſt der Maßſtab der chro-
nologiſchen
Entfernung. Das Moment der Zeit erſcheint
hier alſo in vollkommenſter Abhängigkeit von dem des Syſtems,
es bewegt ſich, wie ich oben ſagte, parallel mit letzterem, und
andererſeits gewinnt es wiederum die höchſte Weihe, indem es
nichts äußerliches, nicht ein Rahmen des Gegenſtandes iſt,
ſondern ſich der Sache ſelbſt incarnirt hat.


Dieſe Beſtimmbarkeit der Zeit nach ſyſtematiſchen Kriterien
iſt nun keineswegs auf die Geſchichte der Natur beſchränkt, ſon-
dern findet ſich eben ſo gut auf dem Gebiete der moraliſchen
Welt. Nehmen wir z. B. die Geſchichte einer Literatur und
Sprache. Wenn nach Jahrtauſenden einem Literarhiſtoriker und
Sprachforſcher die Hauptwerke der deutſchen Literatur von An-
beginn derſelben bis auf die heutige Zeit in bunter Unordnung
und mit Ausmerzung jeglicher darin enthaltenen Jahreszahlen
übergeben würden, ſollte es ihm nicht gelingen, nach ſyſtemati-
ſchen Kriterien die Zeitfolge derſelben zu beſtimmen und eine
Geſchichte der deutſchen Sprache und Literatur zu ſchreiben,
bei der nichts weiter fehlte, als die Jahreszahlen? Und gäbe
man ihm für jede Periode nur einige äußere chronologiſche
Anhaltspunkte, ſo würde er auch im Stande ſein, die fehlen-
den
Zeitbeſtimmungen ſelbſt zu machen.


Sollte daſſelbe nun nicht auch beim Rechte möglich ſein,
ſollte man, wenn man verſchiedene Phaſen eines und deſſelben
Rechtsinſtitutes vor ſich hat, nicht an ihnen ſelbſt erkennen kön-
nen, welche die ältere, welche die jüngere iſt? Wir wollen dies
näher unterſuchen.


Ich werde dieſe Beſtimmung der Zeit nach inneren Kriterien
fortan die innere Chronologie nennen, und ihr als äußere
diejenige entgegenſetzen, die nur auf äußeren hiſtoriſchen Zeug-
niſſen beruht. Für das Verhältniß beider möchte ich nun im
allgemeinen folgende Regel aufſtellen. Je concreter, individuel-
ler ein hiſtoriſches Ereigniß, je mehr es aus der perſönlichen
[72]Einleitung — die Methode.
Freiheit hervorgegangen iſt und in einen beſtimmten ſchmalen
Zeitmoment fällt, um ſo weniger wird ſich die innere Chrono-
logie daran bethätigen können, um ſo mehr wird aber auch
die äußere Chronologie ſie hier dieſer Mühe überheben. Umge-
kehrt aber je unperſönlicher, innerlicher, naturwüchſiger eine
Entwicklung, je langſamer ſie von Statten geht, je weniger der
Anfang oder das Ende derſelben in einen beſtimmten Zeitmo-
ment fällt, um ſo dürftiger wird die äußere Chronologie, um ſo
nöthiger und um ſo ſicherer und erfolgreicher die innere Chro-
nologie. In ihrer Anwendung auf das Recht führt dieſe Regel
zu dem gewiß richtigen Reſultat, daß die Möglichkeit der inne-
ren Chronologie hier im hohen Grade vorhanden iſt und zwar
in einem um ſo höhern, je naturgemäßer die Entwicklung eines
beſtimmten Rechts iſt, je mehr dieſelbe alſo auf gewohnheits-
rechtlichem Wege vor ſich geht; in einem um ſo geringeren, je
mehr die Verfaſſung die Wirkſamkeit der allgemeinen Trieb-
kräfte des Rechts erſchwert und die Fortbildung des Rechts auf
den Willen eines einzelnen Subjekts ſtellt. Für das römiſche
Recht iſt daher jene Möglichkeit bis in die ſpätere Kaiſerzeit
hinein in hohem Maße vorhanden.


Am wenigſten Schwierigkeiten wird dieſe chronologiſche Be-
ſtimmung haben, ſobald ſie nicht abſolut verfahren d. h. die
Zeit ermitteln will, in welche die einzelnen rechtshiſtoriſchen
Ereigniſſe fallen, ſondern ſich darauf beſchränkt, relativ die
Reihenfolge derſelben zu entdecken. Den drei Rechtsſyſtemen,
die wir ſpäterhin charakteriſiren werden, ſteht ihr verſchiedenes
Alter und die Folge derſelben ſo deutlich auf der Stirn geſchrie-
ben, daß kein Verſtändiger ein äußeres Zeugniß dafür begehren
würde. Daſſelbe gilt für jeden, der derartige Schrift leſen kann,
von den verſchiedenen Entwicklungsphaſen der einzelnen In-
ſtitute. Man vergleiche z. B. die verſchiedenen Formen der Ehe;
wer ſähe nicht ſofort, daß die Ehe mit manus älter iſt, als die
ohne manus, die Eingehung der erſteren durch confarreatio
älter, als die durch coemptio? Man nehme ferner die Errich-
[73]Möglichkeit der inneren Chronologie. §. 5.
tung des Teſtaments in den Comitien, durch aes et libram, die
prätoriſche Teſtamentsform; die Antretung der Erbſchaft durch
cretio, hereditatis aditio, pro herede gestio; die Obligations-
formen des nexum, der Stipulation, die Obligirung durch blo-
ßen Conſens; die Vindication in Form der legis actio sacra-
mento,
der sponsio, der arbitraria actio; die Handhabung der
Strafgerichtsbarkeit durch die Comitien, die quaestiones per-
petuae,
die Einzelnrichter; die Strafen des sacer esse, des
Exils, der Verurtheilung ad bestias, metalla u. ſ. w.; den
Legisactionen-, Formular-Proceß, das Verfahren extra ordi-
nem;
die Perſonalexecution, die bonorum venditio, das pig-
nus ex causa iudicati captum;
das Legat, Fideicommiß; Er-
richtung der Servituten, Freilaſſung u. ſ. w. auf ſolenne und
nichtſolenne Weiſe u. ſ. w. Wer brauchte ſich in allen dieſen
Fällen die Reihenfolge der verſchiedenen Formen erſt ſagen zu
laſſen? Wie bei allem, was entſteht und vergeht, die verſchie-
denen Stufen der Entwicklung ihren beſtimmten Typus tragen,
ſo auch beim Recht, und ſo wenig ein Jüngling den Typus
eines Greiſes, ein Mann den eines Kindes an ſich haben kann,
ſo wenig können auch Rechtsideen, die erfahrungsmäßig einer
gewiſſen Altersſtufe angehören, wie z. B. die Präponderanz der
Religion im Recht der Kindheit deſſelben eigenthümlich iſt, bei
einem einzelnen Recht ſich von dieſer Verbindung losreißen.
Die Auffaſſung der Strafe als eines religiöſen Sühnemittels,
als Privatgenugthuung, als Bethätigung der Sittlichkeit des
Staats weiſt auf verſchiedene Culturſtufen hin, deren Reihen-
folge wo ſie überhaupt ſich finden, eine nothwendige iſt. Es
laſſen ſich über die Priorität der verſchiedenen Rechtsbildun-
gen gewiſſe allgemeine Sätze aufſtellen, z. B. daß das relativ
vollkommnere Rechtsmittel oder Rechtsinſtitut jünger iſt, als das
unvollkommnere, der gerade Weg ſpäter aufgefunden iſt, als
der Umweg (die mittelbare Erreichung eines rechtlichen Geſchäf-
tes durch Scheingeſchäfte, Fictionen u. ſ. w.), die materielle,
äußerliche Auffaſſung der innerlichen, ſpirituellen, die gramma-
[74]Einleitung — die Methode.
tiſche Interpretation der logiſchen der Zeit nach vorgeht u. ſ. w.
Der comparativen Jurisprudenz der Zukunft wird es möglich
werden, ſtatt ſolcher abgeriſſenen Abſtractionen eine zuſammen-
hängende Theorie der Altersſtufen des Rechts aufzuſtellen; es iſt
dies eine von den Aufgaben der allgemeinen Phyſiologie des
Rechts, welche letztere aber, wie wir oben bereits erwähnten,
noch in der Kindheit liegt. Für unſere gegenwärtige Zwecke wer-
den wir ſelten in die Lage kommen, zu ſolchen allgemeinen
Sätzen unſere Zuflucht zu nehmen, indem uns die chronologiſch
feſtſtehenden Punkte des römiſchen Rechts für die Beſtimmung
der chronologiſch unſicheren faſt überall Anhaltspunkte ge-
währen.


Dieſe Anhaltspunkte ſind für die abſolute Zeitbeſtim-
mung, der wir uns jetzt zuwenden, völlig unentbehrlich. Um
zu beſtimmen, welcher Zeit irgend eine ohne Bezeichnung der-
ſelben uns überlieferte Rechtsbildung angehört, müſſen wir den
Charakter der verſchiedenen Zeiten, ihre Eigenthümlichkeiten in
Auffaſſung und Geſtaltung des Rechtsſtoffes kennen. Hier iſt
dann der Punkt, auf dem die äußere Chronologie uns die we-
ſentlichſten Dienſte erzeigt. Dieſe Dienſte können wir ihr aber
in doppelter Weiſe reichlich erwidern, einmal nämlich indem
wir die Lücken, die ſie läßt, ausfüllen, und ſodann indem wir
dem Moment der Zeit, das ſie nur in einſeitiger und rein äu-
ßerlicher Weiſe hervortreten läßt, zu ſeiner wahren Bedeutung
verhelfen. Beide Aufgaben ſind auf einem Wege, aber auch
nur auf dieſem erreichbar, nämlich auf dem oben bereits ange-
gebenen der Aufſuchung der Lagerungsſchichten oder Syſteme
der Rechtsbildung. Man wird freilich, auch ohne dieſen Weg
einzuſchlagen, einzelne rechtshiſtoriſche Erſcheinungen, für die
keine Zeitangabe ſich findet, nach ihrer Aehnlichkeit oder Ver-
wandſchaft mit anderen chronologiſch beſtimmten lociren können,
allein dies bleibt Stückwerk, und wo es mehr iſt, wird dies nur
dadurch möglich, daß man ſich dabei durch ſeine Anſchauungen von
dem Charakter der verſchiedenen Zeiten, der Totalität
[75]Möglichkeit der inneren Chronologie. §. 5.
ihres rechtlichen Seins und Denkens leiten läßt. Wir verlan-
gen aber eben auch nichts anderes, als daß dieſe Anſchauungen,
die jeder Kenner des römiſchen Rechts beſitzt, ausgeſprochen,
geläutert und zu einem Ganzen verbunden werden. Sobald
man eine rechtshiſtoriſche Erſcheinung in eine beſtimmte Zeit
verlegt, weil ſie mit den übrigen Erſcheinungen derſelben eine
ähnliche Tendenz verfolgt, auf derſelben Idee beruht, ſo operirt
man bereits mit dem Mittel, das wir hier anwenden wollen.
Dieſe Operation kann aber nur zu einem gedeihlichen Ziele füh-
ren, wenn ſie nicht bloß hie und da, wie es das Bedürfniß
einer rechtshiſtoriſchen Aufgabe mit ſich bringt und unter Be-
ziehung auf einzelne unbewieſene oder vorgefaßte Anſchauungen
vorgenommen wird, ſondern wenn ſie die Syſteme der Rechts-
bildung in ihrer Totalität zu ihrer Grundlage nimmt. Erſt in
dieſer Totalität des Syſtems tritt die innere Aehnlichkeit des
einzelnen, äußerlich ſehr verſchiedenen Stoffes hervor, erſt hier
gewinnt man einen ſicheren Maßſtab zur Beurtheilung ſeines
Alters. Nehmen wir nun an, daß es gelingt, für die verſchie-
denen Zeiten verſchiedene Syſteme der Rechtsbildung nachzu-
weiſen, ſo werden wir mit derſelben Sicherheit, mit der ein
Literarhiſtoriker und Sprachforſcher eine ihm vorgelegte Schrift
in die und die Zeit verweiſt, daſſelbe wenigſtens hinſichtlich
mancher rechtshiſtoriſcher Erſcheinung zu thun vermögen. Wie
er werden auch wir ſagen können: dieſe Form des Rechtsin-
ſtituts paßte nur in dieſes Syſtem hinein, jene nur in jenes;
dieſe Neuerung konnte nur unter dem Einfluſſe der Tendenzen
dieſer beſtimmten Zeit entſtehen, nur in dieſer Atmoſphäre
gedeihen. Nicht immer freilich können wir mit ſolcher apodik-
tiſcher Gewißheit ſprechen, werden vielmehr zugeben müſſen,
daß manche rechtshiſtoriſche Erſcheinung für verſchiedene Zeiten
denkbar, möglich geweſen wäre; aber ſobald ſich nachweiſen
läßt, daß ſie nur für eine beſtimmte Zeit naturgemäß, motivirt,
für jede andere zwecklos, überflüſſig war, ſo wird nur ein Skep-
tiker über die richtige Stellung in Zweifel bleiben können. Miß-
[76]Einleitung — die Methode.
griffe ſind hierbei möglich, allein die Methode ſelbſt dürfen wir
uns im Intereſſe der Wiſſenſchaft dadurch nicht verkümmern
laſſen. Sie beruht, mit einem Worte bezeichnet, auf der At-
tractionskraft des Syſtems
, auf dem Gedanken, daß,
was in dem Syſtem der einen Periode als Abnormität, Unbe-
greiflichkeit, in dem einer andern aber als harmoniſcher Be-
ſtandtheil deſſelben erſcheinen würde, dieſem letzterem zuzuweiſen
iſt, weil die Geſchichte nicht planlos und launenhaft, ſondern
zuſammenhängend und gedankenmäßig zu ſchaffen pflegt.


Die bisherige Ausführung gewährt uns für die Behandlung
des Momentes der Zeit in der Rechtsgeſchichte folgendes Reſul-
tat. Es iſt eine Verkehrtheit, Zeiträume zu machen und damit
die Zeit zum fundamentum dividendi zu erheben, es iſt eine
Verkehrtheit in der Rechtsgeſchichte mit Jahreszahlen zu operi-
ren, denn abgeſehen davon, daß ſich dies doch nicht immer durch-
führen läßt, ſo faßt man dabei nur das rein Zufällige in der
Zeit auf. Die richtige Behandlungsweiſe beſteht darin, daß
man das chronologiſche Moment dem ſyſtematiſchen unterord-
net, daß man die Schichten des Rechts als das weſentliche
ſeiner Geſchichte betrachtet. Hat man ſich ihrer bemächtigt, ſo
läßt ſich das chronologiſche Material leicht verarbeiten und ſich,
ſobald man nur mit einem weiten Zeitmaß operirt, in eine ſo
innerliche Beziehung zum Gegenſtande bringen, daß die Zeit
nicht mehr als äußerer Rahmen der hiſtoriſchen Entwicklung,
ſondern als eine Incarnation derſelben erſcheint, und mithin
aus ihr die Lücken der äußeren Chronologie ergänzt werden
können.


Von dieſer Auffaſſung ausgehend werden wir bei unſerer
Darſtellung dem Moment der Zeit nur eine geringe Beachtung
ſchenken, eine um ſo geringere, als unſere Aufgabe nicht darin
beſteht, dem Leſer das ganze Material der römiſchen Rechtsge-
ſchichte vorzuführen, ſondern die leitenden Gedanken dieſer Ge-
ſchichte nachzuweiſen.


[77]Plan der Anordnung. §. 6.

Plan der folgenden Darſtellung.


VI. Wir unterſcheiden in der Geſchichte des römiſchen
Rechts drei Syſteme, von denen das zweite, deſſen Blüthe mit
der der Republik zuſammenfällt, das ſpecifiſch römiſche iſt, den
Triumph und die ausſchließliche Herrſchaft der rein nationalen
Anſicht enthält. Die beiden andern Syſteme ſind die Endpunkte,
durch die dieſes Recht mit der außerrömiſchen Geſchichte zuſam-
menhängt, und zwar durch das erſte mit der Vorgeſchichte,
durch das dritte mit der Nachgeſchichte Roms. Das erſte iſt das
urſprüngliche Betriebskapital, das Rom von der Geſchichte ent-
lehnt, das dritte die reichlich verzinſte Schuld und Errungen-
ſchaft, die es ihr dafür zurückerſtattet, und welche die Geſchichte
wiederum anderen Völkern zuwendet. Zur Zeit des erſten Sy-
ſtems iſt die römiſche Nationalität erſt in der Bildung, zur Zeit
des dritten bereits in der Abnahme begriffen, an beiden bewährt
ſich aber die römiſche Kraft, an dem erſten, indem ſie daſſelbe
umgeſtaltet, an dem dritten, indem ſie daſſelbe ſchafft. Die erſte
That des römiſchen Geiſtes auf dem Boden des Rechts beſteht
darin, daß er ſich ein beſonderes Gebiet auf demſelben ausſchei-
det, in das er ſich zurückzieht, um ſich zur höchſten Kraft zu ent-
wickeln, die letzte That, daß er ſelbſt die Schranken aufhebt und
wieder in die Welt hinaustritt.


Das erſte Syſtem findet er bereits vor. Die urſprüngliche
Bildung deſſelben fällt über alle urkundliche Geſchichte hinaus
in jene Zeit, als die Trennung der indogermaniſchen Völker
noch nicht erfolgt war. Noch in der Geſtalt, die es in der älte-
ſten römiſchen Zeit an ſich trägt, hat es unverkennbare Aehn-
lichkeit mit dem Recht, das achthundert bis tauſend Jahr ſpäter
bei den Germanen ſichtbar wird. 33) Dies Syſtem nun wie es
[78]Einleitung — Plan der folgenden Darſtellung.
beim Beginn der römiſchen Geſchichte auftritt, enthält noch den
Grundzug jeglicher Anfangsbildung in ſich, nämlich die Unun-
terſchiedenheit, die Gebundenheit der inneren Verſchiedenheiten.
Recht und Religion, öffentliches und Privat-Recht, Staat und
Individuum ſchlummern noch friedlich neben einander, haben
ſich noch nicht von einander geſchieden, um jeder in ſeinem
Kreiſe ſich ſelbſtändig zum Beſten des Ganzen zu bewegen.
Das öffentliche Recht trägt einen privatrechtlichen, das Privat-
recht einen öffentlichen Charakter, die Religion iſt an das Recht
und das Recht an die Religion gefeſſelt. Das ganze Syſtem iſt
nichts weiter als eine Erweiterung und Verſteinerung der Fa-
milie, die Conſervirung und Ausbildung der Familienverbin-
dung zu rechtlichen Zwecken und die Beibehaltung jener Unun-
terſchiedenheit, in welcher in der Familie Religion, Sittlichkeit,
Gemeinſchaft, Individuum neben einander auftreten.


Die wandernden Germanen mochten noch ein Jahrtauſend
auf dieſer niederſten Stufe ſtehen bleiben, aber das römiſche
Volk, das eine Begabung zur Cultur des Rechts in ſich trug,
wie kein anderes, ließ ſie bald hinter ſich und legte in unſerm
zweiten Syſtem, deſſen Bildung bereits in der zweiten Hälfte
der Königszeit beginnt, eine glänzende Probe dieſer Befähigung
ab. Dies Syſtem zeigt uns zunächſt die Aufhebung jenes
Zuſtandes der Ununterſchiedenheit. Recht und Religion, Staat
und Individuum ſondern ſich, und innerhalb der einzelnen Theile
des Rechts ſetzt ſich der Sonderungsprozeß mit der höchſten
Meiſterſchaft fort und treibt hier im einzelnen Bildungen her-
vor, die durch die Schärfe ihres Gegenſatzes in Form wie Kern,
durch die Fülle und ungebrochene Conſequenz ihres Inhaltes,
kurz durch ihre ſcharfgeprägte Individualität den Eindruck pla-
ſtiſcher Geſtalten machen. Was in dieſem Syſtem zur Erſchei-
nung kömmt, das iſt kernig, wie die Römer jener Zeit ſelbſt;
33)
[79]Die drei Syſteme. §. 6.
nichts halbes, nichts unbeſtimmtes, nichts zuſammengeſetztes
und übergangsartiges, nichts mildes und zartes, ſondern alles
entweder ganz — oder gar nicht vorhanden; kenntlich bis zur Un-
möglichkeit eines Mißgriffes, einfach und aus einem Gedanken
heraus gearbeitet, aber dieſer mit unerbittlicher und grauſamer
Conſequenz durchgeführt. Dies Recht macht den Eindruck einer
durch ihre ingeniöſe Einfachheit großartigen Maſchine. Sie
arbeitet eben wegen ihrer Einfachheit mit der größten Sicher-
heit
und Gleichmäßigkeit, aber wehe dem Unvorſichtigen,
der ihre Handhabung nicht verſteht und ihr zu nahe kömmt:
ihre eiſernen Räder zermalmen ihn. Jene Gleichmäßigkeit be-
ruht freilich zugleich auf einer Unvollkommenheit; es gibt keine
Vorrichtung, die Maſchine zu ſtellen, ſie producirt immer nur
dieſelben ſich aufs Haar gleichenden Stücke d. h. das Recht iſt
außer Stand ſich den individuellen Zuſtänden und Bedürfniſſen
anzuſchmiegen, die Gleichheit, die es erſtrebt und bewirkt, iſt
eine rein mechaniſche, äußerliche, jene, von der es heißt: Sum-
mum jus, summa injuria.
Nichts thut das Recht von ſelbſt,
ſondern es wartet darauf, daß es durch den, der ſeiner bedarf,
in Bewegung geſetzt werde, und zu dem Zweck iſt nöthig, daß
letzterer die Kraft und Geſchicklichkeit dazu beſitze und ſelbſt mit-
handle
. Thut er dies, ſo garantirt das Recht ihm anderer-
ſeits die höchſte Sicherheit des Erfolges, denn der Erfolg, die
Anwendung des Rechts läßt ſich ſo beſtimmt und leicht berech-
nen, wie ein einfaches mathematiſches Exempel; das Reſultat
deſſelben aber iſt unumſtößlich.


Der Gedanke, von dem das ganze Privatrecht durchdrungen
iſt, iſt der der Autonomie des Individuums, die Idee, daß das
individuelle Recht nicht dem Staat ſeine Exiſtenz verdankt,
ſondern aus eigner Machtvollkommenheit exiſtirt, ſeine Berech-
tigung in ſich ſelber trägt. Das privatrechtliche Prinzip iſt in
den rechtlichen Abſtractionen ſo auf die Spitze getrieben, daß
es dem Staatsprinzip Hohn zu ſprechen und der Gedanke der
ſubjektiven Willensfreiheit ſich zur Entfeſſelung der reinen ſub-
[80]Einleitung — Plan der folgenden Darſtellung.
jektiven Willkühr verirrt zu haben ſcheint. Die Vermittlung
aber dieſer abſtracten ſubjektiven Ungebundenheit mit dem In-
tereſſe der Gemeinſchaft und des Staats ſowie mit der Sittlich-
keit lag in der Sitte, in dem Charakter des Volks, den realen
Zuſtänden des römiſchen Lebens. Nie hat es wohl ein Recht
gegeben, in dem die abſtracte Formulirung deſſen, was geſche-
hen konnte und durfte, ſich ſo weit von dem, was wirklich
geſchah, entfernte, aber wo die Charakterſtärke des Indivi-
duums ſowie die Macht der öffentlichen Meinung dem Miß-
brauch
der Freiheit zu wehren vermag, kann letztere ſelbſt in
unbegränztem Maße verſtattet werden. Das ganze römiſche
Privatrecht aber und ebenſo das Staatsrecht dieſer Zeit iſt ge-
tragen durch die Vorausſetzung, daß der Inhaber einer privat-
rechtlichen oder öffentlichen Gewalt dieſelbe würdig gebrauchen
werde. Die Möglichkeit des ſchmählichſten Mißbrauches der-
ſelben iſt an ſich ſtets vorhanden, in der Macht der Beamten
liegt z. B. die Möglichkeit, den Staat zum Stocken zu bringen,
das Volk in der Ausübung ſeiner Souveränetät zu beeinträchti-
gen und zu hofmeiſtern, in der des Vaters, das Kind grundlos
zu ermorden; aber das römiſche Recht geht von der Anſicht aus,
daß die ſchärfſten Meſſer die beſten ſind, und daß man dieſelben
Männern, die damit umzugehn verſtehn, getroſt anvertrauen
kann und nicht eines möglichen Mißbrauchs wegen ſie abzu-
ſtumpfen braucht. Jene Gewalten werden daher nicht durch das
Recht ſelbſt beſchränkt, ſondern dem Inhaber bleibt überlaſſen,
je nach dem Bedürfniß des einzelnen Falls, ſie in ihrer äußer-
ſten Wucht zur Anwendung zu bringen oder die durch Billigkeit,
Zweckmäßigkeit, Staatsintereſſe u. ſ. w. gebotene Mäßigung
aus freier Selbſtbeſchränkung zu beachten.


Das ganze Recht war auf die Römer der alten Zeit berech-
net, ſowohl hinſichtlich der Gewalt, die es gewährte, als hin-
ſichtlich der Vorſicht und Sorgſamkeit, mit der man ſich auf
dem Gebiete des Rechts zu bewegen hatte. Ein anderes Ge-
ſchlecht, eine andere Geſinnung, eine unerfahrene Hand, und
[81]Die drei Syſteme des Rechts. §. 6.
die Freiheit war Zügelloſigkeit, die Sicherheit des Rechts Un-
ſicherheit deſſelben. Mit dem ſiebenten Jahrhundert der Stadt
tritt dieſe Wandlung ein, und wie das Maß römiſcher Kraft
auf das der gewöhnlichen menſchlichen Kraft herabſinkt, ſo
accommodirt ſich auch das Recht dieſer Thatſache, läßt immer
mehr von ſeinem ſtreng römiſchen Charakter ab und nimmt einen
allgemeineren, kosmopolitiſchen an.


Damit gelangen wir zum dritten Syſtem. Das zweite war
ſeinem Inhalt wie ſeinen Formen nach auf Römer berechnet und
auf ſie beſchränkt. Für den Verkehr mit Auswärtigen bildete
ſich allmählig ein internationales Recht aus, nicht gebunden
an römiſche Formen, nicht unterworfen dem Rigorismus der
ſtarren römiſchen Conſequenz und Einſeitigkeit, aber auch nicht
theilhaftig jener im römiſchen Recht liegenden Machtfülle. An
dieſem Recht vermochte ſich eine freiere, geiſtigere Erfaſſung und
Behandlung des Rechts ungehindert zu bethätigen, und in der
Beſtimmung deſſelben für den Weltverkehr lag die Aufforderung
an die Jurisprudenz, ſich bei der Ausbildung deſſelben der rein
national römiſchen Eigenthümlichkeiten zu entſchlagen, alſo vor-
her ſich derſelben bewußt zu werden. So ward dies Recht ein
Spiegel der Selbſterkenntniß für das reine römiſche
Recht und nachdem der Denationaliſirungsprozeß des römiſchen
Volks und in Folge deſſen des Rechts ſelbſt begonnen, auch
Muſter und Quelle für daſſelbe.


Eiſerne Willensſtärke hatte das zweite Syſtem geſchaffen
und aufrecht erhalten, die Abnahme derſelben führte den Un-
tergang deſſelben herbei, und das dritte Syſtem läßt ſich in die-
ſer
Beziehung als die Brandſtätte römiſcher Größe und Herr-
lichkeit bezeichnen. Aber es iſt in anderer Beziehung unendlich
mehr als ein bloßes farbloſes und mattes Reſiduum des natio-
nalen Rechts; in dieſer anderen Beziehung erſcheint es nicht als
eine Stufe, zu der man aus Mangel an Kraft hinab gefallen,
ſondern zu der man hinauf geſtiegen iſt. An die Stelle der
moraliſchen Qualifikation des römiſchen Volks, die der
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 6
[82]Einleitung — Plan des Werks.
Hauptfaktor des zweiten Syſtems geweſen, tritt hier mit glei-
cher Bedeutung für die Schöpfung des dritten Syſtems die höchſte
intellektuelle Begabung. Auf den feſten, unverwüſtlichen
Grundlagen, die ihr überliefert wurden, führte ſie ein Meiſter-
ſtück juriſtiſcher Kunſt aus, wie die Welt deſſen gleichen nicht
kennt, ein Gebäude von ſolcher Vollendung und Feſtigkeit, daß
noch beinah ein Jahrtauſend ſpäter fremde Völker die verſchloße-
nen Pforten deſſelben wieder öffnen, um hier ihre Lehr- und
Gerichtsſäle einzurichten.


Der Stoff zur Charakteriſtik dieſes dritten Syſtems drängt
in ſolcher Fülle, daß es unmöglich iſt, das Weſentliche deſſelben
in wenig Züge zuſammenzudrängen, ein Mehres wäre aber an
dieſer Stelle, wo es uns nicht um eine concentrirte Anticipirung
unſerer Reſultate, ſondern nur um die Mittheilung unſeres
Planes zu thun iſt, völlig ungeeignet, ein Minderes hingegen,
weil es ein ſchiefes Bild gewähren würde, eher nachtheilig, als
vortheilhaft. Mögen wir alſo vorläufig dies Syſtem als das
ſupranationale oder freiere bezeichnen und der Darſtellung ſelbſt
den Nachweis vorbehalten, in welchen Punkten dies Syſtem
von den ſpecifiſch römiſchen Ideen ſich entfernt und woran die
geiſtig freiere Behandlung ſich bethätigt hat.


Es wird ſchließlich noch die Bemerkung erlaubt ſein, daß,
wenn es uns gleich nur um die allgemeinen Charakterzüge des
römiſchen Rechts zu thun iſt, die Begründung unſerer Urtheile
ſtets ein Eingehen auf den concreten rechtshiſtoriſchen Stoff un-
entbehrlich macht. Ueberzeugt, daß abſtrachte Geſichtspunkte ohne
eine gewiſſe ſtoffliche Schwere keinen rechten Eingang gewinnen,
habe ich in letzterer Beziehung eher zu viel, als zu wenig ge-
than, und der Juriſt, dem dieſer Stoff bekannt iſt, möge ſich
erinnern, daß dieſes Werk zugleich für Laien beſtimmt iſt.


[[83]]

Erſtes Buch.
Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.


6*
[[84]][[85]]

Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.


Urzuſtände — Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks —
Ergänzung der Tradition durch Etymologie und Rückſchlüſſe
vom ſpätern Recht. —


VII. Die Urzuſtände der Völker, die erſten Anfänge der
Rechts- und Staaten-Bildung haben ein ſehr hohes culturhiſto-
riſches Intereſſe. Der Reiz, den ſie auf den Hiſtoriker ausüben,
und der ihn trotz aller Mühſeligkeit der Aufgabe immer wieder
zu ihnen zurückführt, iſt derſelbe, den das erſte Erwachen des
Geiſtes im Kinde für den Pſychologen hat. Beide lockt zur
Beobachtung dieſelbe Ausſicht, die Ausſicht nämlich den ſchaffen-
den Weltgeiſt in ſeiner Werkſtätte zu belauſchen und in das Ge-
heimniß des Werdens einzudringen. Aber die Lage des Hiſto-
rikers iſt ungleich ungünſtiger, denn während der Pſycholog
jenes Erwachen des Geiſtes täglich vor Augen hat, reicht das
Erwachen aller hiſtoriſchen Völker in eine weite Vergangenheit
hinauf, und aus Mittheilungen von ſehr trügeriſcher und unvoll-
kommner Beſchaffenheit ſoll der Hiſtoriker ſich erſt die Kenntniß
derſelben entnehmen. Nicht die Kürze oder Länge der Zeit, die
Reihe der Jahrhunderte oder Jahrtauſende iſt es, die dies Zu-
rückgehen auf die hiſtoriſchen Anfänge leichter oder ſchwieriger
macht, ſondern die nach Verſchiedenheit der Völker geringere
oder höhere Treue und Stärke des nationalen Gedächtniſſes.
[86]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Wie bei den Individuen ſo iſt auch bei den Völkern das Erin-
nerungsvermögen, namentlich ſoweit es die Kindheitszeit zum
Gegenſtande hat, ein ſehr verſchiedenes. In manchen Völkern
lebt treu und unverfälſcht das Bild der vergangenen Tage fort;
bei manchen andern hingegen ſtattet eine raſtlos thätige Phan-
taſie die Vergangenheit ſofort mit poetiſchen Farben aus und ver-
wandelt Geſchichte in Dichtung; bei einem andern Volke end-
lich iſt der Sinn ſo vorwiegend auf die praktiſchen Zwecke der
Gegenwart gerichtet, daß ſich bei dem Drange des thätigen
Lebens die Kunde abgeſtorbner Zuſtände raſch verflüchtigt.


Von welcher Art war das nationale Erinnerungsvermögen
des römiſchen Volks? Die Römer hielten freilich am Alten feſt,
und das Gedächtniß großer Thaten ging bei ihnen nie unter,
aber zwei Umſtände bewirkten dennoch, daß die Zuſtände ihrer
Kindheit nur ſchwach in ihrem Gedächtniß fortlebten. 1) Ein-
mal nämlich ging ihre ganze Thätigkeit Jahrhunderte lang in
den praktiſchen Zwecken der Gegenwart auf. Nun vertrug ſich
damit allerdings ihre hohe Achtung vor dem Hergebrachten;
was lebte, genoß der kräftigſten Geſundheit bis ins höchſte
Alter hinein, allein war es dem Leben einmal völlig abge-
ſtorben, ſo ward es bald vergeſſen. Auch bei den noch geltenden
Inſtitutionen pflegte man wenig nach deren hiſtoriſcher Ent-
ſtehung und Entwicklung zu forſchen. Ein anderer Grund liegt
in dem Charakter der älteſten römiſchen Geſchichte. Wenn die
Kindheitszeit eines Volkes in idylliſcher Stille und Gleich-
mäßigkeit dahin fließt, dann mag die Erinnerung, wie im glei-
[87]Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks. §. 7.
chen Fall beim Individuum, noch lange ein getreues, wenn auch
etwas idealiſirtes Bild derſelben bewahren. Anders hingegen,
wenn jene Zeit in einem unſtäten, wechſelvollen Treiben, in
innern und auswärtigen Kämpfen verläuft, wenn ein Eindruck
den andern verdrängt, und vor allem wenn die Bevölkerung
ſelbſt noch nicht zur compakten Feſtigkeit gediehen iſt, ſondern
durch beſtändig neue Zuflüſſe von außen ſowie durch das Fluc-
tuiren und Drängen ihrer verſchiedenen Schichten lange im Fluß
erhalten wird. Das iſt aber gerade in der älteſten Geſchichte Roms
der Fall. Kämpfe im Innern und nach außen hin, Gegenſätze
in Abſtammung, Recht und Beſtrebung bezeichnen bereits das
erſte Blatt dieſer Geſchichte, und Jahrhunderte vergehen, bis
die Elemente des römiſchen Volks zur Einheit eines Subjekts
verſchmolzen ſind. Für dieſes Subjekt iſt jene Periode des
Bildungsprozeſſes gewiſſermaßen eine Vorzeit, die es ſelbſt nicht
erlebt hat, und in der es ſich fremd fühlt. Dem römiſchen Volke
der Republik erſchien das ganze Königthum in einem entſtellten
Lichte, und erſt die Republik bezeichnete in ſeinen Augen den
Anfang einer neuen Aera, von der an es ſich und ſeine Freiheit
datirte. Das Verhältniß der ſpätern Jahrhunderte zu der Königs-
zeit ließe ſich etwa vergleichen mit dem des Proteſtantismus zu
ſeiner Vorzeit, dem mittelalterlichen Katholicismus. Der Maſſe
der Proteſtanten wird der mittelalterliche Katholicismus als et-
was fremdes erſcheinen, das für ſie keine Beziehungen hat; ihr
confeſſionelles Intereſſe und Gedächtniß beginnt erſt mit der
Reformation.


Dürftig iſt alſo die Kunde der ſpätern Zeit von den Urzu-
ſtänden Roms, und manche von ihren dürftigen Mittheilungen
tragen die offenbaren Spuren der Erfindung oder entſtellender
Auffaſſung an ſich. Die neuere hiſtoriſche Kritik hat dies aufs
ſchlagendſte nachgewieſen und zugleich den Beweis geführt, daß
man zu haltbaren poſitiven Reſultaten gelangen kann, die den
römiſchen Geſchichtſchreibern entgingen. Iſt gleich das hiſto-
riſche Material, das unſerer heutigen Wiſſenſchaft zu Gebote
[88]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſteht, ungleich geringer als das der römiſchen Geſchichtſchreiber,
ſo iſt doch die Methode der Benutzung deſſelben eine andere,
der hiſtoriſche Blick ein ſchärferer geworden.


Indem wir nun, was die älteſte Geſchichte Roms anbetrifft,
auf jenen poſitiven Reſultaten der heutigen Wiſſenſchaft fußen,
beſchränken wir unſere eigne Unterſuchung lediglich auf das
Recht der älteſten Zeit. Daß manche der Anſichten, zu denen
ſie uns führen wird, nur den Werth von mehr oder minder
wahrſcheinlichen Vermuthungen haben, geſtehe ich bereitwillig
ein, und Mißtrauen iſt hier gewiß mehr am Platz, als Leicht-
gläubigkeit. Allein andererſeits bin ich von der Möglichkeit
einer der Auffaſſung der Römer gegenüber ſich ſelbſtändig ver-
haltenden Forſchung völlig durchdrungen, ja ich bin überzeugt,
daß manche der auf dieſem Wege gefundenen Reſultate einen
höhern Grad hiſtoriſcher Sicherheit in Anſpruch nehmen können,
als wenn ſie uns durch ſämmtliche römiſche Gewährsmänner
bezeugt wären. Dies gilt namentlich von den Rechtsanſchau-
ungen der Urzeit, deren wir uns mit Hülfe der Etymologie be-
mächtigen können. Die Etymologie iſt eine der beredſten und
zuverläſſigſten Quellen über die primitiven Anſchauungen der
Völker; was längſt im Leben abgeſtorben, was aus der Erinne-
rung des Volks völlig verſchwunden, das bewahrt ſie noch der
Wißbegier kommender Zeiten auf. Sie iſt eine Darſtellung der
Urzuſtände in einer Hieroglyphen-Schrift, zu der vielleicht erſt
nach Jahrtauſenden der Schlüſſel gefunden wird. Die Römer
verſtanden den hiſtoriſchen Schatz, der in ihrer Sprache aufbe-
wahrt war, nicht zu heben, die Geheimſchrift, in der die Denk-
und Sinnes-Weiſe ihrer Vorfahren zu ihnen ſprach, nicht zu
enträthſeln, während uns heutzutage der Zugang zu dieſem
Schatze offen ſteht. Es iſt vor allem das Erwachen des Sans-
kritſtudiums und einer auf dieſer Grundlage ſich ſtützenden
Sprachvergleichung, das den auf eine ſpezielle Sprache gerich-
teten etymologiſchen Unterſuchungen erſt die wahre Fruchtbar-
keit und Sicherheit verliehen hat und allen hiſtoriſchen Wiſſen-
[89]Die Etymologie und Rückſchlüſſe vom ſpätern Recht. §. 7.
ſchaften eine Perſpective öffnet von der man vorher keine Ahnung
hatte. Auch die Geſchichte des Rechts wird ihren Antheil daran
bekommen, und ſchon jetzt, wo jenes Studium erſt ſeit kurzer
Zeit betrieben iſt, wird es möglich, einige Früchte deſſelben für
unſere ſpeziellen Zwecke zu verwenden.


Ein anderer Punkt, in dem das Uebergewicht unſerer heuti-
gen Wiſſenſchaft über die Römer gleichfalls zweifellos iſt, be-
trifft das Recht ſelbſt; es iſt der Sinn für die hiſtoriſche Ent-
wicklung deſſelben, die Kenntniß ſeiner Erſcheinungsformen, ſei-
ner hiſtoriſchen Natur u. ſ. w. So groß die römiſchen Juriſten
als Dogmatiker waren, ſo beſaßen ſie doch gar keinen Sinn für
die hiſtoriſche Entwicklung des Rechts. Wenn aber die Römer
es verſäumten, das rechtshiſtoriſche Material, das ſie uns mit-
theilen, zu benutzen, ſo können wir das Verſäumniß nachholen
und dürfen die Zuverſicht hegen, daß eine ſorgſame Beobach-
tung uns ſelbſt bei Dürftigkeit des Materials zu neuen Ent-
deckungen verhelfe. So kann uns namentlich auch das ſpätere
römiſche Recht für die Kenntniß des älteſten ergiebig werden.
Wie in der Sprache, ſo dauern auch im Recht nicht ſelten Nach-
klänge einer Vergangenheit fort, die dem Gedächtniß des Volks
längſt entſchwunden iſt. 2) Auch ohne hiſtoriſches Zeugniß ſind
wir im Stande, ſie als ſolche Nachklänge zu bezeichnen, geſtützt
nämlich theils auf hiſtoriſche Analogieen, theils auf den innern
Gegenſatz, oder, um im Bilde zu bleiben, auf das irrationale
Verhältniß, in dem dieſe Nachklänge zum herrſchenden Ton-
[90]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſyſtem ſtehen. Auch im römiſchen Recht der Republik haben ſich
einzelne Spuren erhalten, die offenbar aus ganz andern An-
ſchauungen hervorgegangen ſind, als denen das Recht der Re-
publik ſeinen Urſprung verdankt, die wie einzelne erhaltene
Punkte einer Peripherie auf ein beſtimmtes Centrum der ge-
ſammten Rechtsauffaſſung hinweiſen. Werden nun dieſe An-
zeichen verſtärkt durch ähnliche Andeutungen der Etymologie,
verweiſen beide uns endlich auf Ausgangspunkte des Rechts,
die ſich erfahrungsmäßig als die gewöhnlichen darſtellen und
als vernünftige begreifen laſſen, dann dürfen wir mit einiger
Sicherheit dieſen Spuren folgen und die Behauptung wagen:
von jenen Ausgangspunkten aus hat ſich das römiſche Recht
entwickelt, jenes primitive Syſtem der Rechtsanſchauung hat
einmal exiſtirt, ſelbſt wenn das römiſche Volk der hiſtoriſchen
Zeit ſich deſſelben nicht mehr erinnert. Wann, wo und wie
lange es exiſtirt hat, das läßt ſich freilich nicht angeben, aber
man beſcheide ſich zu wiſſen, daß das römiſche Recht ſich von
dieſer Grundlage aus emporgehoben hat.


Wir werden jetzt im folgenden


  • 1. Die Entſtehung des römiſchen Rechts nach der Sage,
    ſo zu ſagen, die römiſche Kosmogonie des Rechts einer
    Kritik unterwerfen; ſodann
  • 2. Die hiſtoriſch nachweisbaren Ausgangspunkte oder die
    urſprünglichen Elemente dieſes Rechts und
  • 3. Das Verhalten des römiſchen Geiſtes zu dieſen vorgefun-
    denen Ausgangspunkten zu ermitteln ſuchen.

Die römiſche Kosmogonie des Rechts — das Charakteriſtiſche
derſelben für die römiſche Vorſtellungsweiſe.


VIII. Der Anfang Roms iſt nach der Sage der Zuſtand der
Wildheit und Geſetzloſigkeit. Die Gründer Roms ſind Räuber
und Abentheurer, die von den Ihrigen ausgeſtoßen ſind oder
einem zügelloſen Leben zu Liebe ſich von ihnen losgeriſſen haben,
Götter und Familie daheim laſſend und nichts mitbringend,
[91]Die römiſche Kosmogonie des Rechts. §. 8.
als ihren Arm und ihr Schwert. Sie ſind ein Aggregat von
Individuen, von Atomen, durch nichts vereinigt als durch
ihren wilden Sinn und den gemeinſamen Zweck des Raubens.
Nicht einmal Frauen bringen ſie mit, und die benachbarten
Völker, denen ſie ein Gräuel ſind, weiſen mit Hohn und Ent-
rüſtung die Zumuthung zurück, ihnen ihre Töchter zur Ehe zu
geben. Aber was ihnen nicht gegeben wird, nehmen ſie ſich.
Sie laden ihre Nachbarn zur Feier von Spielen ein, überfallen
dann die Gaſtfreunde, deren Verletzung nach den Begriffen des
Alterthums eins der frevelhafteſten Verbrechen war, und rauben
ihnen die Töchter. Ihr Anführer Romulus, den die Sage zu
den Göttern erhebt, geht ihnen mit gutem Beiſpiel voran;
Brudermord verſchafft ihm die Alleinherrſchaft. Die Sage ſcheint
an dieſer Unthat keinen Anſtoß zu nehmen; letztere geht, möchte
man ſagen, noch auf Rechnung des urſprünglichen Zuſtandes
der Wildheit und Willkühr, dem aber bald durch Romulus ſelbſt
ein Ende gemacht wird.


Als die einzigen Bindemittel des bunten Haufens werden
Ordnung und Recht zur Herrſchaft gebracht, 3) und zwar lehnen
ſie ihrerſeits ſich auf die königliche Gewalt, die Romulus zu
dem Zweck mit äußerm Glanz und Anſehn ausſtattet, 4) und
welcher er einen Senat mit berathender Stimme zur Seite ſtellt.
Nachdem nun der Staat eingerichtet, folgt dem Raube der Sa-
binerinnen die Gründung des Hausſtandes und der Familie und
durch die Vermittlung dieſer Familienbande eine Verbindung
mit einem organiſch gegliederten Volke.


[92]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Der Staat und die Familie waren gegründet, und jetzt kam
die Reihe an die Religion. Romulus gedachte zwar ſchon der
Götter, aber ſeine Hauptthätigkeit war doch dem Staate zuge-
wandt. Sein Nachfolger Numa, den nach der Sage der Ruf
ſeiner Gottesfurcht und Gerechtigkeit auf den Thron brachte,
erſcheint als der Repräſentant des religiöſen Prinzips. Er be-
ſchränkt ſeine Sorge aber nicht auf das rein Gottesdienſtliche,
auf Einführung von neuen Göttern und die Regulirung des
Cultus, ſondern ſeine Abſicht war auch darauf gerichtet „die mit
Gewalt und Waffen gegründete Stadt von neuem zu gründen
durch Geſetz und Sitte“, 5) und er erreicht ſie, indem er auch
ſeinen weltlichen Einrichtungen eine religiöſe Weihe verleiht,
auch ſie als Eingebungen der ihm befreundeten Nymphe Egeria
bezeichnet.


Jetzt blieb nichts mehr übrig als das Völkerrecht, und als
Repräſentant dieſer Seite des Rechts tritt in der Sage der vierte
König Ancus Martius auf. 6) Bemerkenswerth iſt dabei aber,
daß die Sage, die alles übrige in Rom entſtehen läßt, hier die
Entlehnung von einem fremden Volke zugeſteht.


Dies iſt in wenig Zügen die Entſtehungsgeſchichte des
Rechts, wie ſie dem römiſchen Volke der ſpätern Zeit als die
natürliche erſcheint. Denn daß die Sage den Ausdruck der
volksthümlichen Denkweiſe enthält, daß ſie, auch wenn ſämmt-
liche Fakta, die ſie berichtet, unhiſtoriſch ſind, dennoch pſycho-
logiſche Wahrheit enthält, bedeutungsvoll iſt für die ganze Denk-
und Sinnesweiſe des Volks das braucht heutzutage nicht mehr
geſagt zu werden. So iſt auch die römiſche Sage in dieſer Be-
ziehung ſehr charakteriſtiſch, was wir an einigen Zügen nach-
weiſen wollen.


[93]Das Charakteriſtiſche der römiſchen Kosmogonie. §. 8.

Gewöhnlich liebt es die Sage, die Bildungen einer relativ
ſpätern Zeit in eine weite Ferne, in eine dunkle, ungekannte
Vorzeit zu verlegen, das Menſchenwerk und natürliche Erzeug-
niß einheimiſcher Geſchichte als das Geſchenk der Götter hinzu-
ſtellen und die älteſte Zeit als das goldne Zeitalter zu bezeich-
nen, in dem die Götter ſelbſt unter den Menſchen wandelten.
Aber von alle dem findet ſich in der römiſchen Sage nichts.
Rom ſelbſt hat keine Vorzeit gehabt, die der Sage als myſti-
ſcher Hintergrund diente, Rom bildet den Rahmen, der die
ganze römiſche Welt einſchließt. 7) Alles, was Rom iſt, erwirbt
und leiſtet, verdankt es ſich ſelbſt und ſeiner Kraft; alles wird
gemacht und organiſirt, in allem iſt Planmäßigkeit, Abſicht,
Berechnung. Nichts bildet ſich von ſelbſt, nicht einmal die Gen-
tes, die doch das unmittelbarſte Produkt des natürlichen Wachs-
thums der Familien ſind, nicht das Recht, das doch größten-
theils aus der Sitte hervorgeht. Nichts wird von außen ent-
lehnt mit Ausnahme des Völkerrechts; Staat, Recht, Religion,
alles producirt Rom aus ſich heraus.


Dies iſt alſo ein Grundzug der römiſchen Anſchauung: Rom
hat nichts von außen entlehnt, und was in Rom ſich gebildet
hat, das verdankt Rom ſich ſelbſt und iſt mit Bewußtſein
und Abſicht eingerichtet.


[94]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

So muß denn auch die Geſchichte in Rom gewiſſermaßen
von neuem beginnen, den langen Weg von der natürlichen
Wildheit eines vorſtaatlichen Zuſtandes, dem atomiſtiſchen Ne-
beneinanderſtehen der Individuen bis zur Bildung eines Volks
und Staats und zur Geſittung und Religion hier von vorne zu-
rücklegen. Selbſt die Familien müſſen ſich erſt in Rom bilden;
Rom erhält zur Ausſteuer nichts als Männer, die auf der An-
fangsſtufe der Geſchichte ſtehen, Schiffbrüchige, die in ſittlicher
Beziehung nackt ans Land getrieben werden, alſo ſo gut ſind als
wären es die erſten Menſchen, die die Natur producirt hat.
Sie haben keine Vergangenheit, gehören nicht einem und dem-
ſelben Volke an, ſondern ſind von allen Ecken zuſammengelau-
fen, bringen kein gemeinſames Recht, keine gemeinſamen Götter
mit, keine Scheu vor alle dem, was den damaligen Völkern werth
und heilig war, und werden daher auch von dieſen wie ein Aus-
wurf der Menſchheit betrachtet.


Die erſte Scene alſo in dieſer Kosmogonie der römiſchen
Welt iſt die abſolut erſte Stufe der Geſchichte überhaupt, die
Herrſchaft der Willkühr und Gewalt.


Sodann folgt als zweite Scene die Entſtehung der Ge-
meinſchaft
, eine Verbindung zu räuberiſchen Zwecken und
aufrecht erhalten durch Gewalt oder militäriſche Disciplin, aber
doch bereits der Anfang des Staates. Dazu geſellt ſich die Fa-
milie, die Conſolidirung des Königthums und die Verbindung
mit einem andern Volk.


Erſt jetzt erſcheint mit Numa Religion und Sittlichkeit. Die
Ruhe nach außen hin iſt geſichert, im Innern ſind die Bedin-
gungen des äußern Lebens gewährt, die wilde Thatkraft kann fei-
ern, und ſo iſt denn der Zeitpunkt gekommen, wo die ſittliche Er-
ziehung des Volkes beginnen kann. Noch einmal zwar unter Ser-
vius Tullius wacht die alte Wildheit wieder auf, aber ſie wen-
det ſich nach außen hin, und ſein Nachfolger, der Repräſentant
des Völkerrechts, gibt ihr legale Formen, völkerrechtliche Schran-
[95]Das Charakteriſtiſche der römiſchen Kosmogonie. §. 8.
ken, und weiß den Geiſt der Numaiſchen Zeit wieder lebendig
zu machen.


Damit ſchließt die Schöpfungsgeſchichte der römiſchen Welt,
denn was nachher geſchieht, betrifft nur Veränderungen des
bereits vorhandenen. Sie hat darin eine gewiſſe Aehnlichkeit
mit der altteſtamentlichen Kosmogonie, daß ſie in kurzer Zeit
aus einem Nichts oder einem Chaos heraus jene ganze Welt
hervorgehen und auch die einzelnen Theile derſelben hinter-
einander
und abgeſondert, wie an jenen bibliſchen
Schöpfungstagen, zur Exiſtenz gelangen läßt. Die Reihenfolge
hat etwas charakteriſtiſches. Daß das Chaos, jener Zuſtand
des individuellen Treibens und der Willkühr den Anfang, das
Völkerrecht aber den Beſchluß macht, iſt durchaus in der Ord-
nung. Aber bezeichnend iſt, daß die Religion erſt nach dem
Recht erſcheint, denn hier iſt die hiſtoriſche Ordnung, wornach
das Recht urſprünglich einen religiöſen Charakter hat und
erſt ſpäter einen profanen Charakter annimmt, geradezu um-
gekehrt. Es iſt dieſe Erſcheinung bereits von andern 8) als merk-
würdig bezeichnet, und ich bin geneigt, ſie als Ausdruck der
römiſchen Sinnesweiſe zu betrachten, wornach der Staat die
erſte, die Religion die zweite Stelle einnahm.


Schon an dieſer Umſtellung einer nach aller hiſtoriſchen Er-
fahrung durchaus conſtanten Ordnung verräth ſich, daß in der
Bildungsgeſchichte der römiſchen ſittlichen Welt etwas gemach-
tes iſt, und daſſelbe ergibt ſich auch aus andern Gründen.
Niebuhrs bekannte Unterſuchungen überheben uns der Mühe,
auf das einzelne einzugehen, und es genügt hier, im allgemeinen
auf die innere Unwahrſcheinlichkeit der römiſchen Sage aufmerk-
ſam zu machen. Indem letztere von dem Beſtreben ausgeht, den
[96]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
den Anfang Roms ſo winzig wie möglich zu machen, damit die
ſpätere Größe deſſelben dagegen einen um ſo ehrenvolleren Con-
traſt bilde, ſtellt ſie die urſprüngliche Bevölkerung als eine
durch nichts verbundene Maſſe einzelner Individuen dar und
gibt letzteren die moraliſche Ausſtattung von „erſten Menſchen.“
Iſt dies denn denkbar? Hatte denn nicht jeder, der Rom mit
erbauen half, bereits einem geordneten Gemeinweſen angehört,
brachte er von dort nicht bereits eine hiſtoriſche Ausſtattung
mit oder hätte er ſeine Götter, ſeine Rechtsbegriffe, ſeine ganze
ſittliche Ausbildung von ſich werfen und ſich wieder zum wilden
Thiere machen können? Und unter dieſen Räubern und Mör-
dern hätte ſich in kürzeſter Zeit ein Recht bilden oder vielmehr
Romulus hätte nach ſeinem Belieben ein Recht machen ſollen,
das aber ſofort trotz der disparaten Zuſammenſetzung der Be-
völkerung und trotz ihrer Zügelloſigkeit die Macht und den Ein-
fluß eines angeſtammten, ererbten Rechts ausgeübt hätte? Hegel,
der im übrigen das Weſen des römiſchen Geiſtes treffend auf-
gefaßt hat, hat ſich freilich zu dieſer Annahme entſchloſſen. Er
läßt „den Geiſt der ſtrengen Geſetzlichkeit der Römer aus jener
Entſtehung aus der erſten Räubergeſellſchaft“ hervorgehn, denn
„dieſe Stiftung des Staates führte unmittelbar die härteſte Dis-
ciplin mit ſich, ſowie die Aufopferung für den Zweck des Bun-
des.“ Rom iſt ihm „etwas von Hauſe aus Gemachtes, Gewalt-
ſames, nichts Urſprüngliches,“ und das römiſche Leben nimmt
ſeinen Anfang „in verwilderter Roheit mit Ausſchluß der Empfin-
dungen der natürlichen Sittlichkeit.“9) Das Recht wäre hier-
nach gewiſſermaßen ein Zaum, der einem wilden, unbändigen
Thiere angelegt würde, nicht etwas dem Subjekt ſelbſt eignes,
der Staat aber ein Käfig, aus dem das Thier nur entlaſſen
wäre, um unter Aufſicht ſeines Bändigers bei den Nachbarn
zu wüthen und plündern. Ohne in dieſer Auffaſſung ein ge-
wiſſes Moment der Wahrheit, auf das wir an einer ſpätern
[97]Kritik der römiſchen Kosmogonie des Rechts. §. 8.
Stelle zurückkommen werden, zu verkennen, — es iſt nämlich die
Anknüpfung des ſtrengen Geſetzlichkeitsſinnes an die militäriſche
Disciplin, — müſſen wir dennoch dieſe der Sage zu Liebe ange-
nommene Entſtehung des Rechts und Staats aus einem ſittlichen
Sumpfe heraus entſchieden beſtreiten. Die römiſche Sage will
den Römern den Ruhm vindiciren, mit nichts angefangen und
alles aus ſich heraus producirt zu haben; darum exiſtirt beim
Beginn der römiſchen Geſchichte keine Nationalität, keine Reli-
gion, kein Recht. Das wahre Sachverhältniß aber iſt das, daß
alles dies bereits vor Rom vorhanden war, und daß ſich die
Gründer Roms etwa mit Auswanderern vergleichen ließen, die
eine Gemeinſchaft, in der ſie bereits daheim ſtanden, anderwärts
fortſetzen und ihre Familien und ihr Beſitzthum, ihre Religion und
ihre Einrichtungen mitbringen. Mochten immerhin noch ſo viele
einzelne Individuen nach Rom ziehen, mochte Rom wirklich ein
Aſyl ſein, zu dem Verbrecher von weither ihre Zuflucht nahmen:
es gab jedenfalls einen feſten Kern der Bevölkerung, einen
Stamm, an den ſich jene atomiſtiſchen Beſtandtheile anſchloſſen,
und dem ſie ſich aſſimilirten. Dieſer Kern war der Träger der
ererbten Einrichtungen, er ſicherte dem Staate und ſeinen In-
ſtitutionen die Feſtigkeit, die ſie gleich von vornherein genoſſen.
Die römiſche Rechts- und Staatsbildung iſt alſo, mit dem
Kunſtausdruck bezeichnet, keine primäre, ſondern eine ſe-
kundäre
d. h. ſie erfolgt auf Grundlage und aus den Mitteln
bereits vorhandener Bildungen, Rom bringt von vornherein
eine hiſtoriſche Mitgift mit. In ſeinem Rechte, in ſeiner Sprache
kommen Reminiscenzen einer weit über Rom hinausreichenden
Vergangenheit vor, finden ſich, möchte ich ſagen, Spuren eines
antediluvianiſchen Syſtems, einer Entwicklung des Rechts, de-
ren Anfänge und Fortgänge längſt vor Rom fallen, und deren
Reſultate die Grundlage abgeben, auf der Rom weiter fortbaut.
Dieſe hiſtoriſche Mitgift, die Rom bei ſeinem Eintritt in die
Welt miterhält, wollen wir jetzt zu beſtimmen, den Weg, den
die Rechtsentwicklung zurückgelegt hatte, bevor ſie in Rom an-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 7
[98]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
langte, zu entdecken ſuchen. Wenn die Erinnerung daran ſich
auch im Gedächtniß des Volks verloren hat, ſo finden ſich doch,
wie bereits im vorigen Paragraphen angegeben, im geiſtigen
Beſitzthum der ſpätern Zeit, dem Recht wie der Sprache, noch
Verſteinerungen aus jener frühern Zeit. Auch wir werden wie
die Sage zu den erſten Anfängen des Rechtes zurückgehen und
mit ihr gleichen Schritt halten, indem wir nämlich an die Stelle
jener vier Abſtufungen in der Bildungsgeſchichte des Rechts,
die ſie uns vorführt, dem vorſtaatlichen Treiben der Indivi-
duen, der Bildung des Staats, dem Auftreten der Religion,
der Annahme des Völkerrechts drei Prinzipe ſetzen werden, näm-
lich das Prinzip des ſubjektiven Rechts, jener erſten Stufe ent-
ſprechend, das Prinzip der Familie und der Wehrverfaſſung,
mit ſeiner ſtaatsbildenden Kraft der zweiten Stufe correſpondi-
rend, und ſodann das religiöſe Prinzip, welches mit der dritten
zugleich jene vierte Stufe in ſich ſchließt, indem nämlich das
Völkerrecht unter dem Schutze deſſelben ſteht.


Die Ausgangspunkte oder die Urelemente d. röm. Rechts.


Das Minimum geſchichtlicher Anfänge.

IX. Weit, unendlich weit iſt die Kluft, die uns mit unſerer
modernen Rechtsauffaſſung von jenen erſten Anfängen der
Rechts- und Staatsbildung trennt, zu denen wir uns jetzt zu-
rückverſetzen wollen. Nicht den Abſtand der Zeit meine ich, ob-
gleich auch er ein gewaltiger iſt, denn jene erſten Anfänge fallen
weit über Rom hinaus, ſondern ich meine den Gegenſatz in der
Rechtsanſchauung, und dieſer iſt ein ſo bedeutender, daß es uns
Mühe koſtet, uns ganz in die der Kindheitszeit des Rechts hin-
einzudenken und ſie begreiflich und natürlich zu finden. Mögen
wir nie vergeſſen, daß das, was uns jetzt als natürlich und
vernünftig erſcheint, nur das Produkt eines langen und
mühſamen Prozeſſes iſt. Ohne die Kenntniß der Geſchichte
würden wir nicht wiſſen, daß Rechtsanſchauungen, die uns
[99]Abſtand moderner Rechtsanſchauung von der der Kindheitszeit. §. 9.
ſonſt als ewiges Eigenthum der menſchlichen Vernunft erſchei-
nen könnten, in der That nichts ſind, als Reſultate jenes Pro-
zeſſes. Und es ſind dies gerade ſolche, die in der heutigen Zeit
im Niedrigſten wie im Höchſten lebendig und das Gemeingut
aller Völker ſind. Daß der Menſch als ſolcher Rechtsſubjekt iſt,
nicht bloß der Bürger, daß die Kriegsgefangenſchaft keine Skla-
verei begründet, daß die Selbſthülfe der Rechtsordnung wider-
ſtreitet, daß der Staat etwas anderes, höheres iſt, als die
Summe der Individuen, andere Aufgaben und andere Mittel
hat, als die letzteren zukommen, vor allem aber die Aufgabe,
Recht und Gerechtigkeit bis in die kleinſten Kreiſe hinein zu ver-
wirklichen — dieſe Sätze ſind unſerer heutigen Auffaſſung ſo zu
eigen geworden, daß wir kaum begreifen, wie hinſichtlich ihrer
je eine Abweichung möglich geweſen iſt. Darin aber offenbart
ſich ſo recht der rieſige Fortſchritt der Geſchichte, daß die folgen-
reichſten Wahrheiten, zu denen ſich in früherer Zeit kaum der
kühnſte Flug hervorragender Geiſter erhob, aus jener, möchte
ich ſagen, Schnee- und Eisregion, in der ſie Jahrtauſende un-
zugänglich und verborgen lagen, in die tiefſten Niederungen hin-
abgewälzt und Gemeingut der Gebildeten wie der Ungebildeten
geworden ſind. In dieſen einfachen Wahrheiten ſteckt ein ganz
anderer Werth und eine viel mühſamere Arbeit des menſchlichen
Geiſtes, als in allen jenen Erfindungen und Entdeckungen, die
den Stolz unſeres Jahrhunderts bilden, und wollte man die
Fortſchritte zuſammenſtellen, die unſere Zeit vor den erſten An-
fängen der Cultur oder auch nur vor der Cultur des Alterthums
voraus hat: in meinen Augen verdienten jene einfachen Wahr-
heiten obenanzuſtehn. Alle Schätze der Wiſſenſchaft kommen
gegen den Werth ſolcher dem Volke eingeimpfter und darum un-
vergänglicher und das Leben geſtaltender Wahrheiten gar nicht
in Betracht. Die Wiſſenſchaft kann ſteigen und fallen und mit
ihr gehen die Schätze unter, die ſie angeſammelt hat, aber die
einfachen, grandioſen Wahrheiten, deren ſie ſich einmal zu Gun-
ſten des Volks entäußert hat, dauern fort als unvergängliches
7*
[100]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Reſultat ihrer Arbeit. Der eine Satz, daß der Menſch als ſolcher
Rechtsſubjekt iſt, — ein Satz, zu dem das römiſche Recht ſich
praktiſch niemals erhoben hat — wiegt für die Menſchheit mehr,
als alle Triumphe der Induſtrie, und dieſer eine Satz ſchon be-
zeichnet einen Fortſchritt des heutigen Rechts gegen das römi-
ſche, gegen den die Ueberlegenheit des letztern hinſichtlich der
techniſchen Vollendung ganz in den Schatten tritt. Um dieſen
Satz zu verwirklichen, hat die Geſchichte Jahrtauſende arbeiten
müſſen; Millionen Menſchen haben in Sklaverei geſeufzt, ganze
Völker ſind vom Erdboden vertilgt und haben mit ihrem Blute
den Boden düngen müſſen, dem jene einfache Wahrheit ent-
ſproſſen iſt.


Warum dieſe Betrachtung? Um eine Warnung eindringlich
zu machen, die wir für den ganzen Verlauf der folgenden Unter-
ſuchung nie außer Acht laſſen dürfen, nämlich nie zu vergeſſen,
daß Rechtsanſchauungen, die allen heutigen Völkern gemeinſam
ſind und uns als Ausflüſſe der reinen Vernunft erſcheinen, in
der That nur das Ergebniß der Geſchichte ſind. Gerade
bei ſolchen Anſichten, von deren Natürlichkeit und Nothwendig-
keit jeder ſo durchdrungen iſt, daß er ſich gar nicht die Mög-
lichkeit des Gegentheils denkt, iſt dieſe Warnung am erſten er-
forderlich.


Die Geſchichte beginnt mit unendlich ſchwachen Keimen.
An der Stelle, wo ſpäter ein zahlreiches Volk ſich bewegt, und
über demſelben ein mächtiges Staatsgebäude ſich wölbt, hat es
zu irgend einer Zeit nichts gegeben, als Individuen, Familien,
auf deren Gemeinſchaft ſich der Name Staat nicht anwenden
läßt. Und doch iſt dieſe Gemeinſchaft zweifellos der Keim des
ſpätern Staats und Rechts geweſen, und es muß ſich, da die
Geſchichte ſowenig wie die Natur Sprünge kennt, der Staat
allmählig aus ihr entwickelt haben. Wie iſt dies geſchehen?
Die heutige Wiſſenſchaft ſcheint uns dieſe Frage zu verwehren,
denn ihr zufolge beginnt Recht und Geſchichte erſt mit dem
Staat. Wir dürften uns alſo hinſichtlich unſerer Aufgabe be-
[101]Anfangspunkt der Rechtsgeſchichte. §. 9.
ſcheiden, den römiſchen Staat und das römiſche Recht als fer-
tige Thatſachen entgegenzunehmen und wir brauchten oder rich-
tiger wir dürften gar nicht die Frage aufwerfen, wie ſich beide
von jenem erſten Keim aus entwickelt hätten. Ließe ſich auf
jene Frage nur mit vagen Muthmaßungen antworten, deutete
keine Spur den Weg an, den die Geſchichte, um vom Indivi-
duum zum Staat zu gelangen zurückgelegt hat, dann wäre die
Abweiſung jener Frage durchaus gerechtfertigt. Wenn es ſich
aber entgegengeſetzt verhält — und ich glaube, daß dies hinſichtlich
des römiſchen Rechts der Fall iſt — warum mit einem ſolchen
Lehrſatz der Wißbegierde entgegentreten, warum nicht die Ge-
legenheit benutzen, die Wurzeln des Baumes, die ein glück-
licher Zufall entblößt hat, kennen zu lernen? Staat und Recht
ſind nicht über Nacht und auf geheimnißvolle Weiſe zur Welt
gekommen, wir können nicht einen beſtimmten hiſtoriſchen Mo-
ment bezeichnen, wo der Staat anfienge, und vor dem ein recht-
loſer Zuſtand exiſtirt hätte. Wenn Recht und Staat nicht im
Individuum ihren innerlichen Grund hätten, wenn nicht ſchon
jede dauernde Gemeinſchaft von Individuen eine rechts- und
ſtaatsbildende Kraft in ſich trüge: woher wäre denn Recht und
Staat in die Welt gekommen? Können wir alſo dieſe Abſtam-
mung des Rechts und Staats aus der Gemeinſchaft der Indi-
viduen irgendwo noch erkennen: warum unſere Augen verſchlie-
ßen? Und wo wir ſie nicht mehr erkennen können: warum uns
da nicht bewußt werden, wie weit Staat und Recht hier von
jenem nothwendigen Ausgangspunkt ſich bereits entfernt haben?
Ich meine, daß jede Rechtsgeſchichte damit beginnen ſollte, ſich
dieſer Entfernung bewußt zu werden und zu verſuchen, ob ſie
noch die Verbindungslinie zwiſchen Staat und Recht, wie ſie
ihr in der Geſchichte zuerſt entgegentreten, auf der einen Seite
und dem Individuum oder der Gemeinſchaft der Individuen
auf der andern Seite erkennen kann; nicht mit der Idee ans
Werk gehn, daß nur der fertige Staat ſie intereſſiren dürfe,
[102]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſondern mit der Idee, daß es irgend einmal keinen
Staat gegeben habe
.


Mit dieſer Idee wollen wir an unſere Aufgabe treten, alſo
hinſichtlich des älteſten römiſchen Staats und Rechts uns be-
wußt zu werden 'ſuchen, wie weit ſie ſich bereits von jenem ab-
ſoluten Ausgangspunkt der Geſchichte, dem Individuum oder
der Gemeinſchaft der Individuen entfernt haben, und in welchen
Punkten ſie noch die Spuren dieſes Ausgangspunktes an ſich
tragen. Mögen uns dabei Mißgriffe unvermeidlich ſein: ich
halte es für richtiger und lehrreicher, von der Vorausſetzung
auszugehn, daß die Geſchichte mit unendlich wenig
angefangen
habe, und demgemäß den Verſuch zu machen,
die erſten Gebilde, die innerhalb ihrer für uns ſichtbar werden,
an ein ſichtliches Minimum anzuknüpfen, als ſich mit der ge-
gebenen Thatſache des Staats und Rechts zu beruhigen und
unter dem Einfluß einer gereiften Rechts- und Staatsverfaſſung
den ſittlichen Gehalt jener Bildungen zu überſchätzen — ein
Fehler, den man ſich dem älteren römiſchen Recht gegenüber
vielfältig hat zu Schulden kommen laſſen.


Was nun den Plan der folgenden Darſtellung anbetrifft, ſo
ordne ich den Stoff, den die Geſchichte uns hinſichtlich des älte-
ſten Rechts darbietet, nach drei Geſichtspunkten oder Prinzipien
und werde verſuchen Rechenſchaft darüber zu geben, was jedes
derſelben zu dem Bau der römiſchen ſittlichen Welt beigeſteuert
hat. Es ſind dies jene bereits im vorigen Paragraphen erwähn-
ten Prinzipien, nämlich:


I. Das des rein ſubjektiven Rechts, beruhend auf der Idee,
daß das Individuum den Grund ſeines Rechts in ſich ſelber,
in ſeinem Rechtsgefühl und ſeiner Thatkraft trägt und hinſicht-
lich der Verwirklichung deſſelben auf ſich ſelbſt und ſeine eigne
Kraft angewieſen iſt. Dieſe Idee iſt in meinen Augen der durch
Rückſchlüſſe zu ermittelnde, äußerſte Ausgangspunkt des römi-
ſchen Rechts, und die beiden folgenden Prinzipien haben jene
[103]I. Prinzip des ſubjektiven Willens. §. 10.
Idee nicht verdrängt, ſondern bauen auf dieſer Baſis fort.
Der geſellſchaftliche Zuſtand, den dieſe Idee hervorruft, iſt nichts
weniger als jener erträumte vorſtaatliche Zuſtand eines bellum
omnium contra omnes,
ſondern iſt ein Rechtszuſtand, in
dem ein Recht exiſtirt und ſich verwirklicht.


II. Das ſtaatsbildende Prinzip und als Ausflüſſe deſſelben
die Gemeinſchaft auf Grundlage der Familienverbindung und
der Einfluß der Wehrverfaſſung auf die Gemeinſchaft.


III. Das religiöſe Prinzip mit ſeinem Einfluß auf Recht
und Staat.


Dieſe drei Prinzipien folgen ſich hinſichtlich ihrer ſittlichen
Gradation in der hier gewählten Reihenfolge, und mit Rückſicht
hierauf werden wir ſie fortan auch als Stufen der Rechtsbil-
dung bezeichnen. Eine entſprechende zeitliche Reihenfolge der-
ſelben ſoll damit nicht prädicirt ſein. Mit dem Individuum iſt
wie das ſubjektive Rechtsgefühl, ſo auch ſchon die Familie und
die Religion gegeben; welche von dieſen drei Mächten aber ur-
ſprünglich die mächtigere geweſen iſt: wer möchte ſich darüber
in leere Vermuthungen ergehen?


I. Das Prinzip des ſubjektiven Willens der Urquell des
römiſchen Rechts.

1. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Be-
gründung des Rechts (Recht der Beute) — Vorliebe der römi-
ſchen Rechtsanſicht für originäre Erwerbungsarten.

X. Wo hätte es ein Recht gegeben, das nicht aus der
Thatkraft der Individuen hervorgegangen wäre, und deſſen Ur-
ſprünge ſich nicht in den dunkeln Hintergrund der phyſiſchen Ge-
walt verlören? Aber bei manchen Völkern iſt das Thor, durch
das ſie in die Geſchichte hinaustreten, jene Periode der That-
kraft und der gewaltſamen Bildung des Rechts, im Laufe der
Zeit völlig verſchüttet, und ihre Tradition weiß nichts mehr zu
[104]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
berichten von den Ahnherrn des Volks, die mit der Gewalt des
Arms die Rechtswelt gründeten, ſondern ſtatt deren von Göttern
oder Dienern Gottes, die das Recht den Menſchen ſchenkten
oder ihnen als Satzung auferlegten. Der menſchliche Schweiß
und das Blut, das dem Urſprung des Rechts anklebt, wird hier
durch den Nimbus göttlicher Entſtehung deſſelben völlig ver-
dunkelt.


Anders aber im römiſchen Recht; jene Schweiß- und Blut-
flecke menſchlicher Arbeit, die ihm anhaften, hat keine Zeit ver-
nichten können; noch Jahrhunderte hindurch vibrirt im gelten-
den Recht die Idee nach, daß die perſönliche Thatkraft die
Quelle des Rechts iſt.


Perſönliche Thatkraft die Quelle des Rechts — für uns faſt
ein unverſtändliches Wort! Gewohnt, dem Staate alles in die
Hand zu legen, das Recht als den Willen des Staates zu de-
finiren und die Verwirklichung deſſelben ihm zu überlaſſen,
kennen wir für das Recht die perſönliche Thatkraft kaum, und
wo ſie ohne Autoriſation des Staats ſich geltend machen will,
verpönen und verfolgen wir ſie als Eingriff in die Rechtsord-
nung. Aber ſo weit in unſern Augen Gewalt und Recht von
einander liegen, ſo weit iſt unſere heutige Auffaſſung dieſer bei-
den Begriffe von der altrömiſchen entfernt, und wir müſſen
unſere ganze heutige Vorſtellungsweiſe von Staat und Rechts-
ordnung daheim laſſen, wenn wir altrömiſchen Grund und
Boden betreten.


Iſt denn unſere ſtrenge Scheidung von Recht und Gewalt
in der That eine richtige, gibt es nicht auch heutzutage Gebiete,
in denen beide Hand in Hand gehn? In den kleinen Kreiſen
des bürgerlichen Lebens haben wir der Gewalt den Krieg erklärt,
und wenn ſie heutzutage nur noch ſchüchtern und verſtohlen ſich
hier blicken laſſen darf, ahnen wir nicht, daß ihr einſt auf die-
ſem Gebiete die ausgedehnteſte Herrſchaft zuſtand. Aber zurück-
gedrängt von unſerer Theorie aus dieſen Niederungen des Pri-
vatlebens flüchtet ſich die Gewalt auf jene Höhen, auf denen
[105]I. Prinzip des ſubjektiven Willens. §. 10.
die Weltgeſchichte arbeitet. Wenn ein unterdrücktes Volk ſich
ſeines Tyrannen entledigt, wenn eine Regierung das im Zu-
ſtande der höchſten Erſchlaffung ihr von der Maſſe aufgelegte
Neſſusgewand einer verderblichen Verfaſſung von ſich wirft,
wenn das Schwert des Eroberers einen morſchen Staat zer-
trümmert und dem beſiegten Volke Geſetze auferlegt — — was
antwortet darauf unſere Theorie von Recht und Gewalt? Sie
erkennt die Aenderung als vollendete Thatſache, als rettende
That an d. h. ſie kann dem Geſtändniß nicht ausweichen, daß
die Thatkraft als ſolche Recht tilgen und ſchaffen kann. Die
Geſchichte mit ihren gigantiſchen, naturkraftartig wirkenden
Mächten läßt ſich nicht durch unſer theoretiſches Spinnenge-
webe feſſeln; wenn ſie lebendig wird, zerreißt ſie es mit einem
Schlage an allen Stellen und überläßt der Theorie die Mühe,
es in veränderter Geſtalt wieder zuſammen zu weben.


Nun, was ſoll es? Sehen wir noch heutzutage, daß die
Thatkraft das Recht gebiert, welche andere Mutter, als ſie ſollte
das Recht am Anfang der Geſchichte gehabt haben? Nennen wir
aber darum beide nicht eins, ſagen wir nicht, daß ſtatt des
Rechts die Gewalt regiert habe. Auch das Recht war da, wenn
auch in ganz anderer Weiſe als heutzutage; nicht nämlich als
eine objektive Macht, die ſich durch ſich ſelbſt verwirklicht, ſon-
dern als innerliche, als ſubjektives Rechtsgefühl. Was die
Thatkraft geſchaffen, was ſie erworben und erkämpft, dem drückte
das Rechtsgefühl ſeinen Stempel auf, machte es zu einem Theile
der Perſon ſelbſt und verdoppelte damit die Kraft, mit der es
behauptet ward. Der erſte Anſatz des Rechtsgefühls iſt das Ge-
fühl der eignen Berechtigung, geſtützt auf die Bewährung der
eignen Kraft und gerichtet auf die Reſultate derſelben. Dies
Gefühl involvirt begrifflich freilich auch die Anerkennung des
fremden Rechtsgefühls, aber praktiſch entwickelt ſich die Achtung
vor dem Rechte Anderer nur ſehr mühſam und allmählig. Ur-
ſprünglich iſt ſie auf den engen Kreis der Genoſſen beſchränkt;
wer draußen ſteht, iſt rechtlos, gegen ihn mag man der Gewalt
[106]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
völlig freien Lauf laſſen, und Sieg begründet das Recht. Auch
gegen die Genoſſen iſt Gewalt erlaubt, ſobald ſie die Perſon
oder den Beſitz des andern kränken; durch Selbſthülfe verſchafft
man ſich das Verlorne wieder, iſt dies aber unmöglich, ſo kühlt
man wenigſtens die Rachluſt.


Dies ſind die Umriſſe einer rohen Rechtsanſchauung, von
der die Römer oder ihre Vorfahren nicht bloß einmal ausgegan-
gen ſind, um ſie dann zu vergeſſen, ſondern die wenn auch in
verfeinerter und veredelter Geſtalt ſich ſtets bei ihnen erhielt.
Der perſönlichen Thatkraft gehört die Welt, in ſich ſelbſt trägt
der Einzelne den Grund ſeines Rechts, durch ſich ſelbſt muß er
es ſchützen, das iſt die Quinteſſenz altrömiſcher Lebensanſchau-
ung, wie wir jetzt näher nachweiſen wollen, indem wir die
Spuren, die Recht, Mythe und Etymologie uns aufbewahrt
haben, zuſammenſtellen.


Mit dem Schwerte iſt die römiſche Welt gegründet, und
das Schwert oder der Speer iſt das älteſte Symbol des römi-
ſchen Rechts. Nicht die Götter gaben den Römern ihre erſte
Ausſtattung, wie einſt der Gott Israels den Juden das gelobte
Land verlieh, nicht Kauf und Liſt wurden angewandt, wie einſt
von Dido bei der Gründung Karthagos; nein die Römer haben
kein „abgeleitetes“ Eigenthum im Sinne der Rechtsſprache,
abgeleitet von Gott oder andern Menſchen, ſondern ſie haben
ein „urſprüngliches,“ bei dem der Eigenthümer ſein eigner Auctor
iſt, ſie haben es ſich genommen, wo ſie es fanden. Leicht aber
war dieſer Erwerb nicht. Die lateiniſche Sprache wirft hier ein
beachtenswerthes Streiflicht auf unſern Gegenſtand. Hoch
ſtellte die römiſche Vorſtellungsweiſe die äußern Glücksgüter,
bona, divitiae, denn die Sprache bezeichnet dieſelben als etwas
Göttliches. 10) Aber nicht war es die Glücksgöttin, die „Glücks-
[107]I. Prinzip des ſubjektiven Willens. §. 10.
güter“ gewährte; die römiſche „Fortuna“ geht nur mit dem
„fortis,“ dem Tapfern, und die Güter fallen nur dem zu, der
die Kraft hat ſie zu erwerben, die opes und der Reichthum, die
copia, ſind das Produkt mühſeliger Arbeit, der operae. Ar-
beiten, wünſchen und wählen können, reich, mächtig und der beſte
ſein — alles dies leitet die lateiniſche Sprache von einer Wurzel
ab 11) und beweiſt damit, wie nahe dieſe Begriffe in der Vor-
ſtellungsweiſe der Römer zuſammenhiengen. Der Beſte, optumus,
iſt der, welcher die opes hat, opulentus iſt, er kann wünſchen
und wählen (optare — optio), aber da die opes nur der Preis der
operae ſind, ſo hat er durch den Erwerb derſelben ſeine Tüch-
tigkeit an den Tag gelegt, ſie ſind, wie die spolia opima, die
der römiſche Feldherr dem des beſiegten Feindes abnahm, die
Trophäen ſeiner Kraft.


Der Erwerb des Römers beſtand im capere, Eigenthum
iſt ihm, was er mit der Hand genommen hat, manu-captum,
mancipium,
Eigenthum übertragen wird nicht, wie in ſpäterer
Zeit, durch Hingabe (trans-datio, traditio), ſondern wo ein
Römer dem andern Eigenthum überläßt, wird dies in alter Zeit
der Form wie der Sache nach aufgefaßt als einſeitiges Nehmen
des Erwerbers (mancipatio, manu capere). Den Begriff der
Succeſſion, der Ableitung des Eigenthums kennt das älteſte
Recht nicht, es behilft ſich, wie im zweiten Syſtem nachgewie-
ſen werden ſoll, mit originären Erwerbungsarten.


Nehmen iſt das der römiſchen Vorſtellungsweiſe allein ent-
ſprechende, und die lateiniſche Sprache iſt bei ihrer ſonſtigen
10)
[108]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Armuth doch reich an Ausdrücken, die urſprünglich dieſe Be-
deutung gehabt haben. Emere heißt im ſpätern Latein kaufen,
aber wo die Römer der ſpätern Zeit kauften, pflegten ihre Vor-
fahren zu nehmen; emere hieß bei ihnen nichts als nehmen. 12)
Rapere (das deutſche rauben, gothiſch raubon) hat im ſpätern
Latein die deutſche Bedeutung, und rapina erſcheint hier als
Delikt, allein in alter Zeit kannte man ein eignes Delikt des
Raubes nicht, 13) und rapere hieß nichts als reißen, gewaltſam
an ſich ziehen, ohne daß die Sprache die Nüancirung des Uner-
laubten hineingelegt hätte. Ebenſowenig unterſcheidet die Sprache
zwiſchen dem Fall, wo man mühelos eine herrenloſe Sache zu
ſich nimmt, und dem, wo man ſie erbeutet; beides heißt occu-
pare
. Von dieſen drei Stammwörtern emere, capere und ra-
pere,
hat die lateiniſche Sprache einen großen Reichthum ab-
geleiteter und zuſammengeſetzter gebildet, deren Bedeutungen
ſpäterhin weit auseinander fallen ſowie die jener drei Wörter
ſelbſt; aber um ſo bezeichnender iſt die urſprüngliche Identität
aller dieſer Bedeutungen in dem Begriffe des Nehmens.


Der Hauptfall der gewaltſamen Aneignung war der der
kriegeriſchen Erbeutung, letztere ward, wie Gajus uns berich-
tet, 14) als die beſte Erwerbsart des Eigenthums angeſehn,
maxime enim, ſagt er, sua esse credebant, quae ex hostibus
cepissent.
Raub vom Feinde hat von jeher bei allen jugend-
lichen, kriegeriſchen Völkern als ehrenvoller Erwerb gegolten;
ſo war z. B. nach altgriechiſcher und altnordiſcher Anſicht See-
raub ein anſtändiges Gewerbe, aber den Handel verachtete man,
denn mit ihm verträgt ſich Feigheit und Betrug, wie ja Mercur
[109]I. Prinzip des ſubjektiven Willens — Erbeutung. §. 10.
zugleich der Gott des Handels und der Diebe iſt. Jene Mitthei-
lung von Gajus iſt wohl nichts weiter, als ein Schluß, den er
ſelbſt macht, allein ſie iſt doch inſofern nicht ohne Gewicht, als
hier ein römiſcher Juriſt, dem für die Kenntniß des ältern
Rechts ganz andere Materialien zu Gebote ſtanden, als uns, in
demſelben jene Anſchauung ausgeprägt fand, die wir hier nach-
weiſen wollen. Dem Worte praedium, Grundſtück, ſcheint noch
jene Anſicht, die er den alten Römern unterlegt, anzukleben,
denn der Zuſammenhang mit praeda,15) der Beute, liegt auf
der Hand, und es iſt gewiß höchſt charakteriſtiſch, daß die Sprache
bei der Bezeichnung des Grund und Bodens, ſtatt ſich an das
ſo vorwiegende Moment der Unbeweglichkeit zu halten das fern
liegende der Erbeutung wählt. Auch die Eintheilung der Sachen
in res mancipi und nec mancipi hat man mit der kriegeriſchen
Erbeutung in Beziehung ſetzen wollen; 16) die res mancipi, bei
denen nur mancipatio oder ein ſonſtiger civilrechtlicher Erwer-
bungsact Eigenthum übertrug, ſollen die Sachen geweſen ſein,
die die Römer bei ihren Raubzügen mit fort zu ſchleppen pfleg-
ten. Und in der That bleibt, da die Erbeutung, das manu ca-
pere
im wirklichen Sinn, nicht bloß als Form, doch keine An-
wendung gegen die Genoſſen fand, nichts übrig, als die Rich-
tung derſelben gegen den Feind, und ſomit auch die Beziehung
jener res mancipi auf die Erbeutung. Dieſe Sachen werden
alſo aufgefaßt als Beute, und wir können jetzt den urſprüng-
lichen Begriff des Eigenthums, wie er in mancipium enthalten
iſt, und den wir zunächſt auf das Nehmen ſtellten, näher dahin
präciſiren, daß er das Eigenthum nach Kriegsrecht, das Recht
[110]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
an der Beute bezeichnet. Dies Eigenthum nach Kriegsrecht,
alſo dieſer Preis der bloßen Thatkraft als ſolcher, iſt nun der
Ausgangspunkt und Prototyp des Eigenthums überhaupt, und
wie von ihm zunächſt die Ausdrücke mancipium, mancipare auf
das Eigenthum überhaupt übertragen ſind, ſo auch der Speer
als das Symbol deſſelben. In einzelnen Anwendungsfällen iſt
auch die Form des rechtlichen Erwerbes der der Erbeutung nach-
gebildet. Was zuerſt letztere betrifft, ſo iſt ſie freilich in der
Mancipatio bereits zu einem bloßen Ergreifen mit der Hand
hinabgeſunken, allein in zwei Gebräuchen hat ſie ſich noch er-
halten. Den einen derſelben treffen wir bei einer Gelegenheit,
bei der uns auch der Speer begegnet (ſ. u.), nämlich bei der
römiſchen Hochzeit. Hier ward die Braut vom Manne aus dem
Schooße der Ihrigen geraubt; wie Feſtus 17) naiv hinzufügt,
darum, weil dies dem Romulus glücklich von Statten gegangen
ſei. Die Sage vom Raube der Sabinerinnen iſt aber vielleicht
ehr die Wirkung, als die Urſache dieſer Sitte. Der zweite Ge-
brauch war religiöſer Art. Wo die Menſchen rauben und im
Raube die Wurzel des Eigenthums erblicken, da müſſen auch
die Götter auf würdige Weiſe d. h. durch Raub ſich ihre Die-
ner verſchaffen. So wurden denn die veſtaliſchen Jungfrauen
und der flamen Dialis geraubt (capiuntur); ob nur ſie und,
wenn dies der Fall, warum nur ſie, ſteht dahin.


In dem Symbol des Eigenthums, dem Speer, tritt die
urſprüngliche Beziehung deſſelben auf die Erbeutung recht ſchla-
gend hervor, und Gajus macht uns zum Ueberfluß noch darauf
aufmerkſam. Wo es ſich in Rom öffentlich um Eigenthum han-
delte, ward dies durch Aufſtecken des Speeres kund gegeben, ſo
z. B. beim Centumviralgericht, das vorzugsweiſe über ächt rö-
miſches Eigen erkannte, ſo ferner bei öffentlichen Verkäufen (sub
hasta vendere),
18) von welcher Sitte ſich der in unſere heutige
[111]I. Prinzip des ſubjektiven Willens — Erbeutung. §. 10.
Geſchäftsſprache übertragene Ausdruck „ſubhaſtiren“ herſchreibt.
Bei der Freilaſſung der Sklaven vor dem Prätor erſcheint gleich-
falls der Speer, ſpäter ſtatt deſſen ein Stab, in officieller Sprache
vindicta; dies führt uns aber ſchon zu der Vindikation, von
der erſt unten die Rede ſein kann. Dahingegen liefert uns auch
hier das Hochzeitsceremoniel einen paſſenden Beleg. Der Mann
pflegte der Braut bei der Vermählung mit einem Speere (coeli-
baris hasta
19) das Haar zu ſcheiteln, und Feſtus, der uns dieſe
Notiz aufbewahrt hat, führt neben mehren unhaltbaren Erklä-
rungsverſuchen auch die Deutung an, daß der Speer das höchſte
Zeichen der Macht ſei („summa armorum et imperii“) und da-
durch alſo der Braut angedeutet werden ſolle, wie ſie als Frau
völlig der Gewalt des Mannes unterworfen ſei. Daß die Men-
ſchen den Göttern das höchſte Symbol der Herrſchaft nicht ver-
ſagt haben werden, liegt zu ſehr auf der Hand, als daß uns die
Notiz, 20) die Römer hätten in älteſter Zeit alle Götter unter
der Geſtalt der Lanze verehrt, Wunder nehmen könnte. In ſpäte-
rer Zeit wird die Lanze aus einem Symbol ein Attribut der Götter,
und wenn ſie hier bei den friedlichen Gottheiten als hasta pura
d. h. als Stab erſcheint, 21) ſo kann dies bei ihr die urſprüng-
liche Geſtalt wohl ebenſo wenig verkennen laſſen, wie dies bei
der vindicta möglich iſt; beide ſind urſprünglich Speere, denen
die ſpätere Zeit die Spitze abgebrochen und ihnen damit zwar
die Beziehung auf den Krieg, aber nicht die des Symbols der
Macht und Herrſchaft genommen hat.


Wo phyſiſche Kraft den Erwerb vermittelt, da ſpielt na-
türlich die Hand als Inſtrument derſelben eine Hauptrolle;
kämpfen iſt „handgemein werden“, „manum conserere“ (ſ. u.
bei der Vindikation), angreifen „Handanlegen“ „manum in-
jicere,“ manus injectio“
(ſ. u. bei der Selbſthülfe). Wie das
[112]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
entferntere Inſtrument des Kampfes, der Speer, als Symbol
der rechtlichen Herrſchaft dient, ſo das nächſte Inſtrument
deſſelben, die manus zur Bezeichnung derſelben; ich ſage der
rechtlichen, und dies eben macht die Sache charakteriſtiſch,
denn wenn die phyſiſche Herrſchaft, der Beſitz mit dieſem Aus-
druck gemeint wäre, würde es nichts auffälliges haben. Im
ſpätern Recht bezeichnet manus zwar nur eine Art der recht-
lichen Herrſchaft, nämlich die über die Ehefrau, allein aus den
Zuſammenſetzungen des Wortes, die noch im ſpätern Recht in
Uebung geblieben ſind, ergibt ſich die frühere generelle Bedeu-
tung deſſelben. Dahin gehört außer dem bereits bei capere er-
wähnten mancipium und mancipare noch manu mittere und
emancipare. Die eherechtliche Gewalt des Mannes über die
Frau hat offenbar die Spuren der älteſten Rechtsanſicht am
beſten conſervirt; ſie heißt manus, wird begründet durch Raub,
und der Speer iſt ihr Symbol.


Die Thatkraft, die Gewalt alſo iſt die Mutter des Rechts,
das iſt das Reſultat der bisherigen Ausführung. In dieſem
Satz liegt ſchon die kriegeriſche Geſinnungsweiſe des Volkes
ausgeſprochen, liegt, möchte ich ſagen, ein Stück vorrömiſcher
Geſchichte. Die Etymologie bietet uns außer den im bisherigen
bereits benutzten Spuren dieſer Geſinnungsweiſe noch manche
andere, von denen mir noch folgende zu benutzen verſtattet ſein
möge. Wie die lateiniſche Sprache das Grundſtück nicht nach
der ſo offenbar vorwiegenden Eigenſchaft der Unbeweglichkeit,
ſondern als Gegenſtand der Beute bezeichnet, ſo nennt ſie auch
den Mann nicht nach ſeinem Geſchlecht, ſondern nach ſeinem
kriegeriſchen Beruf. Der Sanskritausdruck für Mann iſt nri
und nara,22) und die griechiſche Sprache hat in ihrem ᾽ανήϱ
denſelben beibehalten, die lateiniſche hingegen ihn fallen laſſen
und dafür das Wort wira, welches im Sanskrit Krieger, Held
bedeutet, zur Bezeichnung des Mannes, vir gewählt d. h. die
[113]I. Prinzip des ſubj. Willens — vis die Quelle des Rechts. §. 10.
römiſchen Männer ſind nicht bloß männlichen Geſchlechts, ſon-
dern ſie ſind Krieger. Die römiſche Tugend, vir-tus, iſt alſo
urſprünglich der Beſitz der Männlichkeit d. h. kriegeriſcher Tüch-
tigkeit. Mit vir hängt dem Wortlaut und dieſer altrömiſchen
Auffaſſungsweiſe nach vis, die Kraft, Gewalt, zu nahe zuſam-
men, als daß man nicht auf eine urſprüngliche 23) etymologiſche
Verwandſchaft ſchließen möchte, ſo daß vis urſprünglich etwa
als die Eigenſchaft des vir aufgefaßt wäre. Ein Krieger, vir,
mit der hasta ſeine vis bewährend und Perſonen und Sachen
in ſeine manus bringend, wäre der perſönliche Ausdruck der Idee,
mit der wir uns hier beſchäftigen. Der Name des Volks, Qui-
rites
hängt nach einer gewöhnlichen Ableitung gleichfalls hier-
mit zuſammen. Quiris, curis iſt die altſabiniſche Lanze, die
Quiriten alſo ſind die Lanzenträger. Ueber die Ableitung von
quiris möge mir erlaubt ſein, eine Vermuthung zu äußern.
Eine nahmhafte Auctorität 24) ſtellt die Abſtammung der Wörter
curia, decuria u. ſ. w. von com viria, decem viria als möglich
hin. Curia, hiernach alſo die Männergemeinſchaft, Mannſchaft,
ſowie decuria, centuria hatte eine militäriſche Bedeutung ähnlich
wie unſer „Mannſchaft“; es bezeichnete eine Heeresabtheilung,
worüber im §. 17 ein näheres. Curia aber und curis oder qui-
ris (cu-
und qui- wechſeln bekanntlich oft mit einander) ſtehen
ſich zu nahe, als daß man nicht eine urſprüngliche Verwand-
ſchaft annehmen möchte. Iſt nun curia von com-viria, Mann-
ſchaft abgeleitet, ſo würde — jene Verwandſchaft angenommen —
von dieſem Worte curis abſtammen, und zwar in dem Sinn
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 8
[114]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
„das, was der curia eigen iſt,“ das iſt aber der kriegeriſche Speer
in ſeiner dienſtmäßigen, allen gemeinſamen Geſtalt. 25)Quirites
wären dann alſo die Träger dieſer Lanze, und jene unvermeid-
liche Lanze, die wir bereits bei Göttern wie Menſchen, bei Hoch-
zeiten wie Verkäufen, Freilaſſungen wie Gerichtsſitzungen ge-
troffen haben, würde freilich nirgends beſſer am Platz ſein, als
im Namen dieſes lanzenſüchtigen Volkes ſelbſt. Noch einmal
(§. 12) wird ſie uns begegnen, aber nicht mit der Beſtimmung
um Recht zu begründen, ſondern um es zu wahren.


Bisher betrachteten wir die phyſiſche Kraft in einer Qua-
lität, in der ſie ſich nur dem Feinde gegenüber praktiſch erwies,
nämlich in der als die primitive Begründerin des Eigenthums.
Es iſt das Recht der Beute, an dem der römiſche Eigenthums-
begriff ſich zuerſt zeigt, und an den auch die friedliche, vertrags-
mäßige Erweiterung deſſelben anknüpft. Was Jemand dem
Feinde abgeſtritten, gebührt ihm als Kampfpreis, iſt ſein eigen;
die phyſiſche Kraft kehrt heim mit dem Begriffe des Rechts, der
Gegenſtand, an dem ſie ſich bethätigt hat, iſt für die Genoſſen
kein Objekt der Beute, ſondern rechtlich unantaſtbar, wie die
Perſon ſelbſt. Darin liegt eben der Begriff des Beuterechts;
er wäre negirt, wenn es ſich anders verhielte. An dieſe der
Zeit und dem Begriff nach erſte, originäre Erwerbungsart lehnen
ſich die derivativen an. Uns erſcheint der Vertrag als eine ſo
[115]I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.
natürliche Begründungsart von Rechtsverhältniſſen, daß wir
keinen Anſtand nehmen, dieſe Auffaſſung auch den Römern
unterzulegen, allein ich halte das für grundfalſch, wie ich im
zweiten Syſtem ausführlicher nachzuweiſen gedenke. An dieſer
Stelle genügt die Bemerkung, daß die Uebertragung des Ei-
genthums durch Vertrag im älteſten Recht nicht als ſolche Kraft
und Gültigkeit hatte, ſondern dadurch, daß ſie ſich der Idee des
Beuterechts accommodirte. Eigenthum iſt urſprünglich nichts,
als Recht am erbeuteten Gegenſtand, entſteht mithin nur durch
Erbeutung. Wenn alſo Jemand, anſtatt ſich die Sache, deren
er bedarf, vom Feinde zu holen, einen Genoſſen darum angeht,
und dieſer ſie ihm nicht bloß zum Beſitz, ſondern als Eigenthum
d. h. als „ſein nach dem Recht der Beute“ übertragen will, ſo
kann dies nur in der Weiſe geſchehen, daß letzterer ſie ſich ent-
reißen läßt, der neue Innehaber alſo als „der, welcher die Sache
erbeutet hat“ d. h. als Eigenthümer erſcheint.


Wir wenden uns jetzt der Gewalt zu in ihrer Richtung auf
den Schutz, die Verwirklichung des Rechts.


2. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Schutz
und Verwirklichung des Rechts — Das Syſtem der Selbſthülfe —
Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines zweifelloſen An-
ſpruchs — Die Privatrache und der Urſprung der Privatſtrafen —
Zuſicherung des Beiſtandes von Seiten Einzelner und des
ganzen Volks (testimonium = Garantie des Rechts).

XI. Die erſten unausbleiblichen Regungen des verletzten
Rechtsgefühls beſtehen in der gewaltſamen Reaction gegen das
zugefügte Unrecht, in der Selbſthülfe und Rache; mit Selbſt-
hülfe und Rache hat daher ein jedes Recht begonnen. Aber die-
ſer Anfang iſt nach unſerer heutigen Auffaſſung nichts als das
vorſtaatliche Chaos, in dem Recht und Gewalt ſich noch nicht
geſondert haben, und von Recht alſo keine Rede ſein kann.
Letzteres ſoll erſt entſtehn, wenn der Staat jene Aufwallungen
des ſubjektiven Rechtsgefühls bezwungen und Organe zur Ver-
8*
[116]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
wirklichung des Rechts aus ſich heraus getrieben hat. Die Ent-
ſtehung des Rechts datirt ſich nach unſerer heutigen Auffaſſung
erſt von der des Richteramts an.


Dieſe Auffaſſung iſt erklärlich vom Standpunkt unſerer
heutigen Rechtsordnung aus, ich hoffe aber am älteſten römi-
ſchen Recht die Unrichtigkeit derſelben nachweiſen zu können.
Das weſentliche nämlich im Begriff der Rechtsordnung iſt die
geſicherte und conſtante Verwirklichung des Rechts, verkehrt iſt
es aber zu glauben, als ob dieſe Verwirklichung nur durch den
Staat und ſeine Behörden, nicht aber durch die unmittelbare
Macht des Lebens erfolgen könne. Urſprünglich hat jedes Be-
dürfniß des Lebens ſich durch das Leben befriedigt, und bevor
eine geſteigerte Entwicklung nach und nach beſondere Organe
für die verſchiedenen Aufgaben und Intereſſen der Gemeinſchaft
ausgeſchieden hat, waren letztere nicht dem Zufall Preis gege-
ben, ſondern die natürliche Selbſthülfe oder Heilkraft des Lebens
half ſich ſelber. Wir haben es erleben müſſen, daß man an den
Staat die abentheuerliche Anforderung einer „Organiſation der
Arbeit“ geſtellt hat, aber ſo ſehr man heutzutage auch mit der
Idee eines Organiſirens von Staatswegen vertraut iſt, ſo hat
man doch jene äußerſte Conſequenz dieſer Idee zurückgewieſen
und die Antwort ertheilt: die Arbeit organiſirt ſich ſelbſt, der
Staat kann ſich nicht hineinmiſchen. Wie wenn nun zu irgend
einer Zeit auch die Juſtiz ſich ohne Zuthun des Staats von
ſelbſt organiſirt hätte, wenn der Staat den Individuen damals
ſo wenig hätte behülflich zu ſein brauchen, daß ſie Recht fänden,
als heutzutage, daß ſie Arbeit finden?


Wenn wir heutzutage die Menge von Intereſſen, die der
Beaufſichtigung oder Leitung der Staatsbehörden anvertraut
ſind, überſchauen, ſo finden wir darunter manche, die noch vor
nicht gar langer Zeit ſich ſelbſt überlaſſen waren, und bei denen
uns doch bereits heutzutage eine Einmiſchung des Staats un-
entbehrlich erſcheint. Um wie viel mehr muß letzteres der Fall
ſein hinſichtlich jener Intereſſen, für die die Vorſorge des Staats
[117]I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.
in eine ungekannte Vorzeit hinaufreicht, wie dies z. B. beim
Recht der Fall iſt. Hinſichtlich des Rechts hat die Staatsthä-
tigkeit gegenüber der unmittelbaren ſchöpferiſchen und helfenden
Kraft des Lebens ein ſolches Uebergewicht erlangt, dieſelbe ſo
ſehr zurückgedrängt, daß letztere lange Zeit von der Jurispru-
denz kaum mehr beachtet, die Geſetzgebung vielmehr als die ein-
zige Quelle des Rechts hingeſtellt ward. Erſt in neuerer Zeit
iſt die Bildung des Rechts auf unmittelbarem Wege — das Ge-
wohnheitsrecht — von der Wiſſenſchaft wieder zu Ehren gebracht,
und Niemand würde es heutzutage wagen, den Anfang eines
Rechts erſt von dem Auftreten des Geſetzgebers zu datiren. Ob-
gleich man ſich nun, was die Bildung des Rechts anbetrifft,
von jenem Wahn, als müſſe alles durch den Staat geſchehen,
frei gemacht hat, ſo hat man ſich doch, was die Verwirklichung
deſſelben anbelangt, noch nicht zu einer gleich freien Auffaſſung
erheben können. Den Richter, der im Namen des Staats
Recht ſpricht, hält man als erſtes Requiſit der Rechtsordnung
feſt; er ſoll der Wächter ſein, der in der Geſchichte des Rechts
den Anbruch des Tages verkündet, und gegen die vermeintliche
Nacht, die vorher geherrſcht haben ſoll, fühlt man ein inneres
Grauen, ja man hat gar nicht einmal die Frage aufgeworfen,
ob denn jene unmittelbare Organiſationskraft des Lebens, die
lange Zeit hindurch den Geſetzgeber entbehrlich gemacht hat,
nicht daſſelbe hinſichtlich des Richters hätte bewirken können.
Um ſo überraſchender iſt dieſes Vorurtheil, als gerade das
ältere römiſche Recht wie vielleicht kein anderes den Ungrund
deſſelben darzuthun vermag; vorausgeſetzt nämlich daß man es
nicht mit den Ideen des neunzehnten Jahrhunderts beurtheilt.
Das Richteramt des älteren römiſchen Rechts hat eine ſo außer-
ordentlich beſcheidene Stellung, iſt noch ſo wenig erfüllt von
der Idee der Handhabung der Rechtspflege durch den Staat,
daß man es mit vollem Recht als ein aus dem Syſtem der un-
mittelbaren Verwirklichung des Rechts, dem Syſtem der Selbſt-
hülfe, heraus gebornes und zur Ergänzung deſſelben beſtimmtes
[118]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Inſtitut bezeichnen kann. Man ſieht es dem Recht der damali-
gen Zeit an allen Punkten an, daß jenes ächtrömiſche Prinzip
des ſubjektiven Willens, das erſt mit dem römiſchen Volk unter-
ging, jene Idee, daß der Urquell des Rechts nicht im Staat,
ſondern in der ſubjektiven Perſönlichkeit liege, damals noch in
voller, ungebrochener Kraft beſtand. Die Selbſthülfe aber iſt
nur eine Conſequenz dieſer Idee, und darin zeigt ſich von vorn-
herein die außerordentlich intenſive Kraft des römiſchen Rechts-
gefühls und die geſunde Conſtitution des römiſchen Lebens, daß
die Selbſthülfe nicht wie einſt in Deutſchland zur Zeit des Fauſt-
rechts zu Fehden führte, in denen die Macht des Stärkeren den
Ausſchlag gab, und ſo ſich ſelbſt verzehrte, ſondern daß ſie ſich
in Rom zu einem praktiſchen Syſtem der Verwirklichung des
Rechts geſtaltete, welches der Beihülfe und der Regulirung durch
Staatsbehörden entbehren konnte. Das öffentliche Richteramt
tritt zwar innerhalb dieſes Syſtems auf, aber in beſchränkter
Weiſe und — was das weſentliche iſt — der Grundidee jenes
Syſtems untergeordnet und dienſtbar.


Die Geſtalt, in der uns dieſes Syſtem für die hiſtoriſche
Zeit bezeugt wird, und in der es uns namentlich in den XII Ta-
feln begegnet, trägt, wie ich glaube, noch ſo manche Spuren
ſeiner urſprünglichen Bildung an ſich, daß wir hier von jenem
Mittel, deſſen Benutzung wir uns in §. 7 ausbedungen haben,
den Rückſchlüſſen vom ſpätern aufs frühere Recht Gebrauch und
den Verſuch machen werden, die urſprüngliche, vorhiſtoriſche
Geſtalt dieſes Syſtems zu reconſtruiren. Der Zuſtand der Feſtig-
keit, in dem es uns in hiſtoriſcher Zeit begegnet, und in dem es
bereits in ſcharfe Formen cryſtalliſirt iſt, wird uns in Stand
ſetzen, uns daſſelbe im Zuſtande der urſprünglichen Flüßigkeit
zu denken, und zwar werden wir, da es uns vor allem darauf
ankommt, jenes Syſtem der hiſtoriſchen Zeit dem Verſtändniß
zugänglich zu machen, mit der Schilderung des Urzuſtandes be-
ginnen. Möge vorläufig unſere Conſtruction des Urſyſtems der
Selbſthülfe immerhin als ein bloßes Phantaſiebild erſcheinen,
[119]I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.
je mehr der Verlauf der Darſtellung uns Gelegenheit geben
wird, Spuren aus der hiſtoriſchen Zeit in ſie aufzunehmen, um
ſo mehr wird hoffentlich jener Schein verſchwinden. Es würde
die Anſchaulichkeit der Darſtellung darunter leiden, wenn wir
gleich von vornherein mit Beweiſen beginnen wollten; die Be-
weiskraft ruht im Geſammtzuſammenhange. Vorläufig betrachte
man alſo den Punkt, von dem wir ausgehen, als ein hypothe-
tiſches Centrum, deſſen Richtigkeit erſt hinterher dadurch erwie-
ſen wird, daß ſämmtliche einzelne hiſtoriſch noch erkennbare
Punkte der Peripherie ſich zu einem Kreiſe zuſammenfügen, der
auf jenes Centrum hinweiſt.


Wir verſetzen uns jetzt im Geiſt in eine Zeit hinein, in der
die Gemeinſchaft noch keine Organe für die Verwirklichung des
Rechts aus ſich hervorgetrieben hatte, es vielmehr als reine
Privatſache der Individuen betrachtete, ſich Recht zu verſchaffen.
Ein ſolcher Zuſtand hat beſtanden; ob er der Zeit nach lange
vor das Syſtem der XII Tafeln fällt und ſelbſt weit über Rom
hinausreicht, das iſt Nebenſache, die Hauptſache iſt die, daß er
im weſentlichen wenig von dem zu dieſer ſpätern Zeit Statt
findenden verſchieden iſt, wie dies nachher gezeigt werden ſoll.


Nicht aber der Zufall herrſchte hier ſtatt des Rechts, nicht
das Maß der den beiden ſtreitenden Partheien zu Gebote ſtehen-
den phyſiſchen Macht gab den Ausſchlag, ſondern die Idee des
Rechts verwirklichte ſich hier, wenn auch auf formloſe Weiſe
und ohne Mitwirkung des Staats, durch die unmittelbare Macht
des Lebens. Wer wegen erlittenen Unrechts zur Selbſthülfe
ſchreiten wollte, war nicht auf ſeine eigne geringe Kraft ange-
wieſen, ſondern jenes Unrecht rief in der Gemeinſchaft dieſelbe
Reaction des Rechtsgefühls hervor, wie in ihm ſelbſt, nämlich
eine thätige, reelle; er fand Beiſtand ſo viel er deſſen bedurfte,
[120]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
das Uebergewicht der phyſiſchen Kraft warf ſich
wie heutzutage im Syſtem der öffentlichen Rechtspflege 26) regel-
mäßig auf Seiten deſſen, der Recht hatte. Im Rechts-
gefühl liegt einmal der Trieb ſich zu realiſiren, und eine Ver-
letzung deſſelben, treffe ſie nun zunächſt auch nur den Einzelnen,
wird nicht bloß in ihm, ſondern in der Geſammtheit jenen Trieb
in Bewegung ſetzen. Findet er kein verfaſſungsmäßiges Organ
zu ſeiner Realiſirung vor, ſo wird er ſie ſich in unmittelbarer
Weiſe zu verſchaffen ſuchen. Möge kein Richter da ſein, der
den Verbrecher zur Rechenſchaft zieht und ſtraft, letzteren ereilt
dennoch die Strafe und vielleicht ſicherer und raſcher, als bei
der ausgebildetſten Organiſation der Strafrechtspflege; es iſt
die Volks juſtiz, die die verletzte Volks moral zur Anerkennung
bringt. Was aber in unſern jetzigen Zuſtänden die Furcht vor
der Strafe des Geſetzes und dem Richtſchwert der Obrigkeit
bewirkt, das leiſtet dort die Furcht vor dem allgegenwärtigen
Arme jener Volksjuſtiz. Es wäre alſo ſehr verkehrt, ſich jenen
Zuſtand in der Weiſe auszumalen, als ob Scenen der Volks-
juſtiz und einer gewaltſamen Privatſelbſthülfe an der Tages-
ordnung geweſen ſeien. Wenn die Furcht vor der Strafe von
dem Verbrechen, die Ausſicht auf die Erfolgloſigkeit des Wider-
ſtandes von einem Privatunrecht abzuhalten vermag, ſo that ſie
das dort ſowohl wie heutzutage bei uns. Was half es dem
[121]I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.
Schuldner die Selbſthülfe des Gläubigers zu provociren, da,
die Evidenz des gegneriſchen Anſpruches vorausgeſetzt, die Er-
folgloſigkeit des eignen Widerſtandes vorauszuſehen war? Nur
bei Zweifelhaftigkeit dieſes Anſpruches lohnte es ſich der Mühe
und dies, werden wir ſehen, iſt gerade der Punkt, wo die Ent-
ſtehung des Richteramtes ergänzend in das Syſtem der Selbſt-
hülfe eingreift. Wir werden nun bei der folgenden Darſtellung
zunächſt den Fall ins Auge faſſen, wo der durch Selbſthülfe
geltend zu machende Anſpruch ein zweifelloſer war, ſei es daß die
Gegenparthei denſelben zugeſtand, oder daß Zeugen bei Begrün-
dung deſſelben gegenwärtig geweſen waren — hier lag keine
Rechtsfrage vor, ſondern es bedurfte nur der Exekution — und
ſodann in §. 12 den Fall, wo dieſer Anſpruch ein zweifelhafter
war — hier bedurfte es, um der Selbſthülfe des Berechtigten
die ſichere Ausſicht auf Erfolg zu gewähren, zunächſt eines Mit-
tels, wodurch ſein Recht außer Frage geſtellt ward.


Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines
zweifelloſen Anſpruches
.


Bei einem Delikt hängt es vom Zufall ab, ob Zeugen ge-
genwärtig ſind, bei Rechtsgeſchäften hingegen können dieſelben
ſtets hinzugezogen werden. Dieſer Unterſchied iſt für den Ge-
ſichtspunkt, von dem wir uns hier leiten laſſen, dem der Zweifel-
loſigkeit des Anſpruches, von Einfluß und veranlaßt uns, die
Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines begangenen Delikts — die
Privatrache — von der Selbſthülfe in ihrer Richtung auf ver-
mögensrechtliche Anſprüche zu ſondern. So innerlich verſchie-
den uns beide Fälle der Selbſthülfe erſcheinen mögen, ſo wenig
hat in älteſter Zeit ein Gegenſatz zwiſchen ihnen beſtanden. Beide
umfaßt gemeinſam der Ausdruck vindicta; nicht in ſeiner ſpä-
teren Bedeutung, 27) in der er ſich nur auf die Rache bezieht,
ſondern in ſeinem urſprünglichen Sinn, wie derſelbe noch in
[122]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
der vindicta der Vindikation durchſchimmert. 28) In beiden
Fällen geht die älteſte Anſchauung von dem Geſichtspunkt der
perſönlichen Kränkung und Verletzung aus; ob der Dieb mich
hat beſtehlen wollen, oder der Schuldner mir die Schuld nicht
entrichtet, macht keinen Unterſchied, beide afficiren mit meinem
Vermögen zugleich meine Perſönlichkeit. Darum trifft auch noch
nach den XII Tafeln beide gleiche Strafe, ja den zahlungsun-
fähigen Schuldner im Fall des Concurſes die grauſamſte Strafe,
die das Geſetz überhaupt kennt. Da die folgende Darſtellung
uns zwingen wird, den Cardinalpunkt, worauf dieſe Identität
der Privatrache und Selbſthülfe beruht, nämlich die enge Ver-
bindung zwiſchen Perſon und Vermögen, bei einer andern Ge-
legenheit hervorzuheben, ſo dürfen wir hier darauf verweiſen,
müſſen aber nochmals bemerken, daß, wenn wir fortan Selbſt-
hülfe und Privatrache unterſcheiden, wir uns dieſer Abſtraction
einer ſpätern Zeit nur im Intereſſe unſeres an die Spitze geſtell-
ten Geſichtspunktes, der Zweifelloſigkeit des Anſpruches bedienen.


Wir betrachten zuerſt die Selbſthülfe gegen ein begangenes
Delikt, die Privatrache. Das römiſche Recht hat uns noch
manche Spuren derſelben erhalten. 29) Wenn der Ehemann, der
den Ehebrecher auf der That ertappt, im gerechten Zorn ihn
tödtet, ſo ſichert noch das ſpätere Recht ihm Strafloſigkeit zu.
Hinſichtlich des Diebes, der bei Nachtzeit ſtiehlt, erlauben die
XII Tafeln daſſelbe, bei Tage aber, wenn er ſich zur Wehr ſetzt;
unter allen Umſtänden fällt der ertappte Dieb (fur manifestus)
durch Addiction von Seiten der Obrigkeit dem Beſtohlenen
zu. 30) Bei gewiſſen körperlichen Verletzungen (membrum rup-
tum
) ſpricht jenes Geſetz die Strafe der Talion aus.


In allen dieſen drei Fällen war das Unrecht des Delin-
[123]I. Prinzip d. ſubj. Willens—Syſtem d. Selbſthülfe—Privatrache. §. 11.
quenten klar, und das Geſetz enthielt nichts, als die Anerken-
nung deſſen, was der Verletzte unter dem Einfluß der erlittenen
Kränkung ſei es ſofort bei der That oder nachher zu thun pflegte.
Eine von der Sitte, wie es ſcheint, beſonders begünſtigte Form
der Rache mag die geweſen ſein, daß der Verletzte ſich der Per-
ſon ſeines Gegners bemächtigte und ihn nicht eher wieder ent-
ließ, bis derſelbe ſich losgekauft hatte. Ich folgere dies daraus,
daß das ſpätere Recht in manchen Fällen die Befugniß dazu
ausdrücklich anerkannte z. B. in dem oben erwähnten Fall des
furtum manifestum, bei dem Gegner, der der Aufforderung des
Klägers, mit ihm vor den Richter zu gehn, nicht Folge leiſtete,
bei dem zahlungsunfähigen Schuldner, bei allen Delikten, die
von Sklaven oder Hauskindern begangen waren. Wenn der
Herr oder Vater es nicht vorzog, den durch dieſe Perſonen ange-
ſtifteten Schaden zu erſetzen, ſo mußte er ſie noxae dare, d. h.
dem Beſchädigten überliefern, damit letzterer ſich ſelbſt an ihnen
Genugthuung verſchaffen oder durch ihre Dienſtleiſtungen ſich
ſchadlos halten konnte. Es iſt die Vermuthung ausgeſprochen, 31)
und ich trete ihr bei, daß „die Noxalklagen urſprünglich die ab-
ſolute Forderung auf Auslieferung der Schaden bringenden Per-
ſon zum Zweck der Ausübung der Privatrache enthalten haben.“
Auch im völkerrechtlichen Verkehr finden wir ein gleiches Recht
auf Auslieferung anerkannt. Diejenigen Römer, welche nach
völkerrechtlichen Begriffen ſich an einem fremden Volk vergangen
hatten, wurden der Rache deſſelben überantwortet, ſo z. B. der-
jenige, welcher ſich an den Geſandten deſſelben vergriffen, ſo
der Feldherr, welcher eine sponsio mit dem Feinde geſchloſſen,
die vom römiſchen Volk oder Senat verworfen war. 32) Die
Auslieferung erfolgt, „ut populus religione solvatur“, damit
das Volk ſelbſt ſich außer Schuld ſetze und in Ausdrücken, die
[124]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
auch bei jener privatrechtlichen noxae deditio vorkommen (quan-
doque ....... noxam nocuerunt .... ob eam rem hosce
homines vobis dedo
). 33) In jenem erſten Fall liegt eine völ-
kerrechtliche obligatio ex delicto vor, im zweiten eine obligatio
ex contractu
(aus der sponsio), deren Nichterfüllung auch im
privatrechtlichen Verkehr Schuldhaft und demnächſtige Sklave-
rei des Schuldners zur Folge hatte. Der bei der Auslieferung
angeführte Grund: ut populus religione solvatur und die Natur
der Sache ſelbſt führt uns dazu, für den Privatverkehr denſelben
Grundſatz anzunehmen, daß nämlich derjenige, welcher den
Verbrecher oder Schuldner der berechtigten Selbſthülfe des Ver-
letzten oder Gläubigers zu entziehen ſuchte, ſich an dem Unrecht
deſſelben betheiligte, gleiche Schuld auf ſich lud. 34) Eine Nach-
wirkung dieſes Grundſatzes finde ich noch in der Verpflichtung,
die der vindex im römiſchen Prozeß übernehmen mußte. Wer
als vindex35)libertatis auftritt d. h. einen andern, der nach
ſeiner Angabe unrechtmäßiger Weiſe in Sklaverei gehalten wird,
durch Klage gegen den Innehaber daraus befreien will, muß
ein Succumbenzgeld (sacramentum) deponiren, und wer in
gleicher Qualität ſich des zur Schuldhaft gezogenen Schuldners
annehmen will, tritt damit in deſſen Verbindlichkeit ein, ſo daß
er im Fall des Unterliegens als Strafe dafür, daß er die Recht-
mäßigkeit der Selbſthülfe des Gläubigers beſtritten, den Schuld-
betrag entrichten muß 36) ohne den Schuldner ſelbſt dadurch von
[125]I. Prinzip d. ſubj. Willens—Syſtem d. Selbſthülfe—Privatrache. §. 11.
ſeiner Verbindlichkeit zu befreien. Setzte nun noch im Syſtem
der öffentlichen Rechtspflege der vindex ſich wegen unbegründe-
ten Einſpruches gegen eine rechtmäßige Selbſthülfe einer
ſolchen Strafe aus, ſo wird um ſo ehr im Syſtem der Selbſt-
hülfe der Satz gegolten haben, daß jeder, der der Rache des
Verletzten gegen ſeinen Gegner entgegentrat, ſich an dem Un-
recht deſſelben betheiligte. Letzterer war gewiſſermaßen ein Aus-
ſätziger, deſſen Reinigung nur dem Verletzten möglich war, und
der jeden anſteckte, der ihn der Strafe zu entziehen ſuchte. Wenn
Jemand wegen öffentlichen Verbrechens ins Exil getrieben ward,
wurde es ausdrücklich allen verboten, ihm irgend welche Unter-
ſtützung angedeihen zu laſſen; hinſichtlich deſſen, der gerechter
Selbſthülfe verfallen, verſtand es ſich dem bisherigen nach von
ſelbſt.


Die Rache des Verletzten alſo hatte freies Spiel, ob ſie aber
bei jedem geringfügigen Delikt bis zum Aeußerſten vorſchreiten
durfte, oder ob ihr je nach Verſchiedenheit der Fälle durch die
Sitte engere und weitere Schranken vorgezeichnet waren, läßt
ſich nicht beſtimmen. Bei bürgerlichen Verletzungen erlauben
die XII Tafeln die Talion, den Schuldner und Dieb trifft Frei-
heitsberaubung, im Fall eines Concurſes darf erſterer ſogar von
ſeinem Gläubiger in Stücken geſchnitten werden. 37) Statt der
wirklichen Ausübung der Rache aber mochte eben ſo häufig ein
Abkaufen derſelben vorkommen; die Privatſtrafe (poena) 38) der
36)
[126]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſpätern Zeit iſt nichts, als eine Fixirung dieſes Löſegeldes. 39)
Wo das Vermögen in der Schätzung des Volks ſo hoch ſteht,
daß Verletzung deſſelben für den Dieb Verluſt der Freiheit und
für den Bankerutirer Verluſt des Lebens nach ſich zieht, wo man,
möchte ich ſagen, vom Gelde ausgehend bis zur ſchwerſten
Strafe gelangen kann, da mag man auch rückwärts wieder von
der verwirkten Strafe zum Gelde kommen. Für eine beträcht-
liche Abfindungsſumme verzichtete der Verletzte wohl auf die
Ausübung der Talion, und ſeinem Rachegefühl mochte nicht
weniger ein Genüge geſchehen, wenn ſein Gegner ihm das beſte,
was er hatte, abtreten mußte, als wenn er ſelbſt ihm einige
ſchwere Wunden beigebracht hätte. In unſerer heutigen Zeit,
ſo erwerbſüchtig und geldgierig ſie ſein mag, iſt doch die Be-
ziehung des Eigenthums zur Perſönlichkeit eine unendlich loſere,
als im alten Rom; 40) dort war daſſelbe gewiſſermaßen Fleiſch
und Blut des Eigenthümers, und unter dieſer Vorausſetzung
muß es eben ſo natürlich erſcheinen, daß eine Beſchädigung
fremden Vermögens mit Leib und Leben gebüßt, als daß eine
Verletzung der Perſon mit Vermögen abgekauft ward. Wie der
Feind für einen Gefangenen Löſegeld annahm und wie, wenn
letzterer ſelbſt es nicht aufzubringen vermochte, Verwandte und
Freunde beiſteuerten, ſo mochte ein gleiches eintreten in dem
38)
[127]I. Prinzip d. ſubj. Willens—Syſtem d. Selbſthülfe—Privatrache. §. 11.
Fall, von dem wir hier ſprechen. Schreiben doch die XII Tafeln
vor, daß der von ſeinem Gläubiger bereits zur Haft gebrachte
Schuldner an drei Markttagen öffentlich ausgeſtellt werden ſolle,
um zu verſuchen, ob nicht irgend Jemand ihn einlöſen werde,
und aus dem vierten Jahrhundert weiß die Geſchichte von M.
Manlius zu berichten, daß er an vierhundert Schuldner auf
dieſe Weiſe aus den Händen ihrer Gläubiger rettete. 41)
Spannte der Verletzte ſeine Forderungen nicht zu hoch, ſo zahlte
der Vater lieber, als daß er ſich zur noxae deditio ſeiner Kinder
entſchloß, und wo der Thäter ſelbſt Vermögen beſaß, opferte
er lieber einen Theil deſſelben, als daß er ſich der Rache des
Gegners Preis gab. Reichten ſeine Mittel nicht aus, und hatte
er ſich des Beiſtandes ſeiner Verwandten nicht unwürdig ge-
macht, ſo mochten letztere ihm das Fehlende vorſtrecken. Lebte
der, gegen den er ſich vergangen, nicht mehr, ſo traten die Ver-
wandten als Rächer an deſſen Stelle; 42) ob auch ſie die Rache,
die ſie dem Verſtorbenen ſchuldig waren, ſich abkaufen laſſen
durften, ob dies den Thäter gegen die vindicta publica, von der
wir ſprechen werden, geſichert haben würde, laſſen wir dahin
geſtellt.


Die Höhe der Abfindungsſumme beſtimmte ſich begreif-
licherweiſe nach Verſchiedenheit der Fälle ſehr verſchieden. Die
Vermögensumſtände der beiden Partheien, ihre Stellung und
ihr bisheriges Verhältniß zu einander, das Maß der Rachſucht
auf der einen, das des Trotzes auf der andern Seite, Fürſprache
von befreundeten Perſonen u. ſ. w. übten hier einen beſtimmen-
den Einfluß aus. Es ſtand zwar bei dem Verletzten ſeine For-
derungen ins maßloſe zu ſpannen, ähnlich wie dies im römi-
ſchen Prozeß derjenige kann, der durch ein juramentum in litem
die litis aestimatio beſtimmen ſoll, allein ſein eignes Intereſſe
veranlaßte ihn, ſeinem Gegner die Auslöſung nicht unmöglich
[128]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
zu machen. 43) Auch die öffentliche Meinung und die Sitte war
hier gewiß nicht ohne Einfluß. Hatte letztere, wie anzunehmen
iſt, wenigſtens einige allgemeinere Anhaltspunkte für die Be-
ſtimmung der Abfindungsſumme aufgebracht, z. B. nach Ver-
ſchiedenheit der Delikte das Vierfache, Doppelte des Schadens
oder eine beſtimmte Anzahl Rinder und Schaafe u. ſ. w., ſo
mochte ein Einzelner, um die öffentliche Meinung nicht gegen
ſich zu erbittern, es nicht wagen, ſich bei ſeiner Forderung gar
zu weit von dieſen Anhaltspunkten zu entfernen. Wir haben
uns hier einen Handel zu denken, bei dem von der einen Seite
vorgeſchlagen, von der andern ſo lange accordirt ward, bis man
endlich handelseinig geworden war. Der Ausdruck dafür war
pacere,44)pacisci, depecisci und für die Einigung ſelbſt pactum.
Die urſprüngliche Bedeutung von pactum iſt alſo nicht die eines
Vertrages überhaupt, ſondern die von pax, Frieden, nämlich
Beilegung der Feindſeligkeiten; der „Vertrag“ macht der „Un-
verträglichkeit“ ein Ende. 45)


[129]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Syſtem d. Selbſthülfe — Privatrache. §. 11.

Die Ausübung der Privatrache mochte alſo in beiderſeiti-
gem Intereſſe in der Regel mit dem Abkaufen derſelben enden,
und für die Beſtimmung der Abfindungsſumme im einzelnen
Fall konnte es nicht an einer Menge von Präcedentien fehlen,
die den Partheien als Anhaltspunkte dienten. Im Syſtem der
öffentlichen Rechtspflege finden wir nun anfänglich noch bei
manchen Delikten dieſe Vereinbarung völlig den Partheien über-
laſſen, ſpäterhin aber nimmt die Obrigkeit die Sache in die
Hand, und anſtatt alſo, wenn es z. B. zur Talion hätte kommen
müſſen, weil die eine der Partheien zu viel forderte, die andere
zu wenig bot, anſtatt alſo hier auf Talion zu erkennen, ſetzte
der Richter ſelbſt eine Abfindungsſumme feſt. Dies iſt die rö-
miſche Privatſtrafe. Die Anhaltspunkte zur Beſtimmung der-
ſelben fand der Richter, wie es eben bemerkt iſt, in der Sitte
vor, und ein nahe liegender Schritt zur Vervollkommnung die-
ſes Verfahrens war der, im Anſchluß an dieſe Anhaltspunkte
ein für alle Male einen Tarif von feſten Abfindungsſummen
aufzuſtellen. Für einige Delikte finden wir bereits in den XII
Tafeln feſte Summen vorgeſchrieben z. B. für die Injurien und
einige Fälle des Diebſtahls, für andere hingegen treten dieſelben
erſt ſpäter im prätoriſchen Edikt auf z. B. für das furtum mani-
festum.
Endlich mochte man bei einigen Delikten aus guten
Gründen auf eine ſolche geſetzliche Fixirung der Abfindungs-
ſumme verzichten, um es nämlich dem Richter möglich zu machen,
je nach Verſchiedenheit des concreten Falles bald auf eine höhere,
bald auf eine geringere Summe zu erkennen. Dieſe Behand-
lungsweiſe ſcheint man z. B. beim membrum ruptum vorgezo-
gen zu haben, und in ſpäterer Zeit adoptirte man ſie auch bei
den Injurien, weil das Syſtem der „feſten Preiſe“ ſich bei ihnen
nicht bewährt hatte.


45)


Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 9
[130]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Zur Zeit der XII Tafeln war alſo jenes Syſtem der Privat-
ſtrafen noch in der Bildung begriffen. Hinſichtlich einiger De-
likte wird noch das alte Recht des Verletzten auf Rache aus-
drücklich anerkannt, wenn auch vielleicht in ſeiner Ausübung an
die Autoriſation der Behörde geknüpft z. B. die Talion beim
membrum ruptum, die Addiction beim furtum manifestum; bei
andern iſt, wie eben geſagt, die fixirte Geldſtrafe bereits an die
Stelle der Rache getreten. Zwar wird uns hinſichtlich dieſer
letzteren Fälle nicht ausdrücklich bezeugt, daß hier früher die
Privatrache gegolten, allein beim furtum manifestum und mem-
brum ruptum
können wir den wirklichen Hergang noch erkennen,
und er gewährt uns einen wichtigen Fingerzeig für das ganze
Syſtem der Privatſtrafen überhaupt. Hinſichtlich ihrer nämlich
ſchimmert zwar in den XII Tafeln die Idee durch, daß es zum
pacisci kommen würde, 46) allein als letztes Mittel laſſen ſie doch
noch die Talion und Addiction beſtehen. In der ſpätern Praxis
hingegen iſt von der Anwendung dieſes äußerſten Mittels keine
Rede mehr; ſelbſt gegen den Willen der Partheien erkennt der
Richter auf eine Abfindungsſumme. Es machte ſich dies,
wie Gellius 47) berichtet, in der Weiſe, daß der Richter auf Ta-
lion erkannte, und wenn der Beklagte, qui depecisci noluerat,
judici talionem imperanti non parebat, aestimata lite judex
hominem pecuniae damnabat.
Dieſer Modus, daß der Richter
zuerſt auf das eigentliche Klagobjekt erkannte und hinterher ab-
ſchätzte, iſt zwar dem ſpätern Recht fremd, allein wir wiſſen aus
andern Zeugniſſen, daß er urſprünglich üblich geweſen iſt. 48)


Die Privatſtrafen des römiſchen Rechts erſcheinen alſo dem
bisherigen nach als die geſetzlich oder gewohnheitsrechtlich fixir-
ten Preiſe, für die die urſprünglich ſtatthaft geweſene Privat-
[131]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Syſtem d. Selbſthülfe — Privatſtrafe. §. 11.
rache abgekauft werden konnte und mußte. Es erklärt ſich aus
dieſem Geſichtspunkte, warum die Deliktsklagen des ſpätern
Rechts, wie z. B. die actio legis Aquiliae wegen Beſchädigung
oder Vernichtung von Sachen, ſelbſt ſoweit ſie reinen Scha-
denserſatz zum Gegenſtand haben, nicht gegen die Erben des
Thäters gerichtet werden können. Daß Leiſtung des Schadens-
erſatzes als Strafe aufgefaßt wird, hat für uns etwas Befrem-
dendes, und unſer heutiges Recht hat in dieſer Beziehung ſich
vom römiſchen entfernt. Dieſe Sonderbarkeit erklärt ſich aber
ganz befriedigend aus der bisher dargeſtellten Anſicht. Beſchä-
digung fremder Sachen iſt ein Delikt, das die Privatrache des
Eigenthümers hervorruft. Mit dem Tode des Thäters aber fällt
die Rache hinweg, denn ſein Erbe übernimmt zwar das Ver-
mögen und damit die Schulden deſſelben, nicht aber deſſen
Feindſchaften und Fehden. Da nun die Strafe gezahlt wird,
um ſich der Fehde zu entziehen, ſo hat nur der Thäter ſie zu
entrichten, nicht aber der Erbe. Als natürliche Folge des De-
likts gilt nicht die Verpflichtung zum Schadenserſatz, ſondern
die Privatrache, letztere geht aber über den bloßen Schadens-
erſatz hinaus, denn es iſt neben der Sache zugleich die Perſön-
lichkeit des Eigenthümers gekränkt, und wenn letzterer ſich eine
poena oder Abfindungsſumme zahlen läßt, ſo hat dieſelbe die Be-
ſtimmung, ein Surrogat der Rache zu ſein oder, man kann auch
ſagen eine Befriedigung der Rachluſt zu gewähren. Ueber die-
ſer perſönlichen Richtung des Delikts iſt die ſächliche im
römiſchen Recht gar nicht zu beſonderer Anerkennung gelangt. 49)


9*
[132]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Wir wenden uns jetzt der auf Verfolgung rein vermögens-
rechtlicher Anſprüche gerichteten Selbſthülfe zu und erinnern
daran, daß wir auch hier von dem Fall der Zweifelloſigkeit des
Anſpruches ausgehen. Dieſe Zweifelloſigkeit gab, wie wir
ſahen, im Syſtem der Selbſthülfe den Ausſchlag, indem ſie es
dem Berechtigten ebenſo leicht machte, für eine etwa nöthig
werdende gewaltſame Vollſtreckung der Selbſthülfe ausreichende
Unterſtützung zu finden, als ſie umgekehrt dem Verpflichteten
es erſchwerte, ſeinerſeits fremden Beiſtand zu gewinnen. Sie
ließ ſich aber hinſichtlich aller vermögensrechtlichen Anſprüche
und Erwerbungen dadurch ſtets herbeiführen, daß man zu den
Rechtsgeſchäften, durch die ſie begründet wurden, Zeugen hin-
zuzog. Wie wir nun im vindex einen Beiſtand des Ver-
pflichteten gefunden haben, der ſich derſelben Gefahr ausſetzte,
der letzterer ſelbſt unterlag, ſo werden wir jetzt in den Zeugen
des Rechtsgeſchäftes Beiſtände des Klägers kennen lernen, die
die Realiſirung ſeines Anſpruches zu ihrer eignen Sache machen.


Der ſolenne Akt der Eingehung eines Rechtsgeſchäftes vor
Zeugen hieß in ſeiner Anwendung auf Begründung des Eigen-
thums und anderer unmittelbarer Herrſchaftsverhältniſſe man-
cipatio,
in ſeiner Anwendung auf Obligationen nexum. Die
uns bekannte Geſtalt deſſelben iſt offenbar eine ſpätere, denn
der libripens weiſt auf die Zeit hin, als bereits das Metall all-
gemeines
Tauſchmittel geworden war, 50) ſowie höchſt wahr-
49)
[133]I. Prinz. d. ſubj. Willens — Syſt. d. Selbſthülfe — Zeugengeſchäft. §. 11.
ſcheinlich die fünf Zeugen dieſes Aktes erſt in Folge der Serviani-
ſchen Verfaſſung aufgekommen ſind, nämlich als Vertreter der
fünf Cenſusklaſſen. Worin nun aber auch die älteſte Form der
mancipatio beſtanden haben möge, das Zeugengeſchäft ſelbſt
gehört bereits dem Syſtem der Selbſthülfe an, die Function der
Zeugen iſt hier auf dieſer Bildungsſtufe des Rechts ungleich
weſentlicher und unentbehrlicher, als auf den ſpätern Bildungs-
ſtufen.


Wenn nämlich der Berechtigte wegen eines vor Zeugen er-
worbenen Rechtes zur Selbſthülfe ſchreiten mußte, ſo waren es
die Zeugen, die er zuerſt um thätige Mitwirkung angieng, 51)
und letztere erſchienen der herrſchenden Rechtsanſicht nach ver-
pflichtet, dieſelbe zu gewähren. Für das ſpätere Recht, in dem
die Thätigkeit des Zeugen auf ein Ausſagen zuſammenge-
ſchrumpft iſt, beſtimmen die XII Tafeln: 52)qui se sierit testa-
rier libripensve fuerit, ni testimonium fariatur, improbus in-
testabilis esto;
im Syſtem der Selbſthülfe wird mithin der-
jenige Zeuge für improbus und intestabilis gegolten haben,
welcher jene thätliche Mitwirkung bei Ausführung des Ge-
ſchäftes verſagte. Daß dieſe Art der Mitwirkung eventuell vom
Zeugen erwartet und verlangt wurde, ſoll jetzt näher erwieſen
werden; es möge aber hier an die obige Bemerkung erinnert
50)
[134]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
werden, daß es gewiß in den wenigſten Fällen zu wirklichen
Thätlichkeiten kam, indem das moraliſche und phyſiſche Gewicht,
das der Beiſtand der Zeugen dem Anſpruche des Berechtigten
gewährte, nutzloſe Verſuche des Widerſtandes im Keim unter-
drückte.


Unſer Beweisſatz iſt alſo der: der Zeuge der älteſten Zeit
ſichert der intereſſirten Parthei im voraus ſeinen Beiſtand zu,
oder, wie wir es mit einem Wort ausdrücken können, testis
heißt Garant.


In einer Zeit, in der die Parthei ſelbſt ihr Recht reali-
ſirt
, iſt nothwendigerweiſe die Stellung und Aufgabe des
zugezogenen Zeugen eine ganz andere, als in einer Zeit, in der
der Richter jene Realiſirung auf ſich genommen hat. In dieſem
letztern Fall mag und muß der Zeuge ſich auf die Ausſage
deſſen, was er geſehn hat, beſchränken, und ihn ſelbſt kann man
als Wiſſenden bezeichnen. So thut es z. B. das germaniſche
Recht. 53) Dort hingegen, wo es nicht auf Sagen und Klagen,
ſondern auf Handeln ankömmt, würde der zugezogene Zeuge
durch ein bloßes Sagen dem ihm geſchenkten Vertrauen nicht
Genüge leiſten; die Wahrheit, die er bezeugen ſoll, ruht ur-
ſprünglich in den Fäuſten. Wahr iſt nach der Etymologie ſo-
wohl der lateiniſchen als der deutſchen Sprache dasjenige, was
bewährt, gewahrt wird; 54) Wahrheit alſo dasjenige, wo-
für man einſteht. Wenn dies der urſprüngliche Begriff der
Wahrheit iſt, ſo hat vor allem der Zeuge die Aufgabe, die Wahr-
[135]I. Prinz. d. ſubj. Willens — Syſt. d. Selbſthülfe — Zeugengeſchäft. §. 11.
heit zu bewähren. Es wäre eine Feigheit von ihm, der Par-
thei, die zum Gegner geht, um ſich Recht zu verſchaffen, nicht zu
dieſem zu folgen, eine Feigheit, ſie dort, wenn ſie Widerſtand
findet, im Stich zu laſſen. So finden wir, daß bei dem Schein-
kampf in der reivindicatio von beiden Seiten Gefährten (super-
stites)
mitgehn; wenn dies beim Scheinkampf nöthig ſchien,
ſo wird es auch bei der wirklichen Selbſthülfe der Fall geweſen
ſein, und wer hätte hier ehr mitgehn müſſen, als die Zeugen
des Geſchäfts, das zu dieſer Selbſthülfe Veranlaſſung gab?
Auch bei Beginn des Prozeſſes erſcheinen die beiderſeitigen Bei-
ſtände, und wenn der Streit anhängig gemacht iſt, ruft man ſie
zu Zeugen auf (contestari; daher jener Akt litis contestatio).
Warum? Für einen Akt, der vor dem Prätor (in jure) geſchah,
bedurfte es doch wohl nicht der Privatzeugen, ſonſt hätte man
ja zu jedem andern Akt vor dem Prätor z. B. der confessio in
jure,
der in jure cessio u. ſ. w. gleichfalls Zeugen zuziehen
und aufrufen müſſen, während davon doch nirgends die Rede iſt.
Sind jene Zeugen der Litis contestatio nicht vielleicht die alten
Beiſtände bei der Selbſthülfe, die jetzt mit den Partheien vor
den Prätor gehn?


Der Zeuge des älteſten Rechts, der ſich noch lange in der
mancipatio erhielt und in der Teſtamentsform des neuſten rö-
miſchen Rechts letztere ſogar überlebte, iſt Solennitäts-
zeuge
d. h. die Zuziehung deſſelben iſt ein formelles Requiſit
des Geſchäftes ſelbſt, der Zeuge nimmt Theil an demſelben, iſt
ein Mithandelnder und muß als ſolcher zur Theilnahme aufge-
fordert ſein und ſich dazu bereit erklärt haben. Wer nur beim
Akt gegenwärtig war, ohne zugezogen zu ſein, iſt nicht Solen-
nitätszeuge, ungeachtet er das glaubwürdigſte Zeugniß abzu-
legen vermag. Daſſelbe gilt von Perſonen weiblichen Geſchlech-
tes; an Glaubwürdigkeit ſtehen ſie nicht zurück, aber was ihnen
fehlt, iſt jene phyſiſche Kraft des Mannes, durch die er nöthi-
genfalls ſeine Worte bewährt, und wegen dieſes Mangels
ſind ſie wie zur Vormundſchaft, bei der gleichfalls in älteſter
[136]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Zeit die phyſiſche Kraft erforderlich iſt, ſo auch zum Zeugniß
ungeeignet. Beim Solennitätszeugniß kommt es nicht auf
Glaubwürdigkeit an, darum können die Intereſſenten ihre eig-
nen Verwandten zuziehen, und auch im neuern Recht noch iſt
z. B. das Teſtament gültig, wenn die zugezogenen Zeugen
ſämmtlich Brüder des eingeſetzten Erben ſind. Alle dieſe Sätze
ſtimmen nicht mit dem Geſichtspunkt, daß der Werth des Zeu-
gen in ſeinem Wiſſen liegt, wohl aber erklären ſie ſich, wenn
man von unſerm Geſichtspunkt ausgeht, daß der Zeuge der
älteſten Zeit eine Garantie des Geſchäfts übernehmen ſoll. Lei-
ſten ſie uns auch keinen weitern Dienſt, ſo zeigen ſie wenigſtens,
daß unſere Anſicht mit dem Zuſchnitt des ſolennen Zeugniſſes
verträglich iſt.


Die Etymologie wird uns innerhalb dieſes erſten Syſtems
noch oft Aufſchlüſſe gewähren; vermag ſie es auch hier? Ich
glaube allerdings. Die lateiniſche Sprache bietet uns für
testis einen Anhaltspunkt in testudo dar. Offenbar muß der bei-
den Wörtern gemeinſame Stamm test eine Bedeckung, Sicherung
ausdrücken; bei der Schildkröte liegt dieſe Eigenſchaft ſo auf
der Hand, daß ſie die natürlichſte Bezeichnung des Thieres ge-
währt, und darum hat ja unſere deutſche Sprache den treffenden
Ausdruck Schild-kröte gewählt. Heißt nun im Lateiniſchen
testudo die Bedeckte, Geſchützte, ſo wird man unwillkührlich
auf tegere und damit zu der Annahme geführt, daß das g die-
ſes Wortes, welches in ſonſtigen Ableitungen entweder bleibt
(z. B. tegmen, tegula) oder in ct übergeht (z. B. tectum), hier
in st übergegangen iſt — eine Annahme, die ich dem Urtheil
der Etymologen anheimſtelle. Das Wort testiculus, das ſonſt
ſeinem Sinn nach mit beiden gar nicht vereinbar ſcheint, würde
ſich unter dieſer Vorausſetzung gleichfalls an ſie anknüpfen
laſſen. 55)Testis wäre darnach der Deckende, Sichernde, oder
unſern obigen Ausdruck zu wählen, der Garant.


[137]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Syſtem d. Selbſthülfe — testis. §. 11.

Dies etymologiſche Argument möge zur Unterſtützung un-
ſerer Anſicht dienen, es hat dieſelbe aber nicht veranlaßt. Was
mich zuerſt auf dieſelbe führte, ſind zwei Gründe, zuerſt nämlich
die Ueberzeugung, daß der ganze Charakter der Rechtsſtufe, von
der wir hier ſprechen, jene Präponderanz des phyſiſchen Mo-
ments auch im Inſtitut der Zeugen wiederkehren, ihm eine be-
ſtimmte, in das Syſtem der Selbſthülfe hineinpaſſende Stellung
anweiſen mußte. Sodann aber zweitens eine Erſcheinung, deren
Betrachtung uns über den engen Geſichtskreis der bisherigen
Aufgabe hinausführen wird. Das iſt nämlich das testamentum
in comitiis calatis
. Man hat darüber geſtritten, ob das Volk
bei dieſer Art der Teſtamentserrichtung abgeſtimmt oder bloß die
Funktion eines Zeugen ausgeübt habe, und für dieſe letztere
Anſicht ſich auf die Ausdrücke testari, testamentum u. ſ. w. be-
rufen, 56) indem man vorausſetzte, daß ihnen der Begriff des
gewöhnlichen Zeugniſſes zu Grunde liege. Aber man muß das
Argument umdrehen und ſagen: testis, testari u. ſ. w. hat in
älteſter Zeit eine andere Bedeutung gehabt, weil es undenkbar
iſt, daß das ganze römiſche Volk bei jener Teſtamentserrichtung
die Rolle eines gewöhnlichen Zeugen geſpielt hätte. Warum in
aller Welt zum bloßen Zweck der Conſtatirung einer Thatſache
das geſammte Volk als Zeugen zuziehen? Man begreift in der
That dies praktiſche Volk nicht, daß es einen Zweck, der ſich auf
die einfachſte und natürlichſte Weiſe durch einige wenige Zeugen
erreichen ließ, auf die umſtändlichſte und läſtigſte Art hätte ver-
55)
[138]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
folgen ſollen. Zwar wurden dieſe Comitien nur zwei Mal im
Jahr gehalten, allein gerade darin liegt ein Argument für unſere
Anſicht. Denn wenn das Volk nichts bieten konnte, als ein
Zeugniß: in welchem Mißverhältniß ſtand zu dieſer Gabe jene
Beſchränkung auf zwei beſtimmte Zeitpunkte im Jahr! Andere
Zeugen konnte man zuziehen, wenn das Bedürfniß drängte, oder
der Zufall den Abſchluß eines Geſchäfts herbeiführte. Warum
ſich denn eines Zeugniſſes wegen an das Volk wenden?


Nein, das Volk hatte etwas anderes zu bieten, als ein bloßes
Zeugniß, und die Thätigkeit deſſelben beſtand nicht im bloßen
Hören, ſondern erforderte Abſtimmung, das Teſtament ward
durch eine lex genehmigt. Der Geſichtspunkt, daß das Teſta-
ment eine lex ſei, hat ſich noch im ſpätern Recht in manchen
Punkten erhalten. An die Teſtamentszeugen wird, wie an das
Volk bei einem Geſetzvorſchlage, eine „rogatio“ gerichtet, die
Thätigkeit des Teſtators wird mit „legare“ bezeichnet, ſeine
Anordnungen müſſen in imperativiſcher Form gehalten ſein, und
in ſeinen materiellen Wirkungen geht das Teſtament, wie erſt
im zweiten Syſtem gezeigt werden kann, weit über die Kraft der
Privatgeſchäfte hinaus und äußert eine Wirkſamkeit, wie ſie
ſonſt nur bei Geſetzen oder vom Volk ausgehenden Maßregeln
vorkömmt. 57) Vom Standpunkt des älteſten Rechts aus können
wir von zwei verſchiedenen Seiten zu der Einſicht gelangen, daß
die Beſtätigung des Teſtaments durch einen Beſchluß des Volks
eine Conſequenz dieſes Rechts enthielt. Einmal nämlich von
Seiten des Familienprinzips als eine durch das Intereſſe der
Gentes gebotene Sicherungsmaßregel gegen die Willkühr letzt-
williger Dispoſitionen — davon kann erſt in §. 14 die Rede
[139]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Syſtem d. Selbſthülfe — testari. §. 11.
ſein — ſodann aber von Seiten des hier zur Behandlung ſtehen-
den ſubjektiven Prinzips als durch das eigne Intereſſe des Teſta-
tors ſelbſt geboten. Wenn irgendwo, ſo empfahl es ſich gerade
beim Teſtament als beſonders zweckmäßig, das Geſchäft ſtatt
unter die Garantie bloßer Privatzeugen unter die des ganzen
Volks zu ſtellen. Denn das Teſtament griff mehr als irgend ein
anderes Geſchäft in eine Menge von Intereſſen verletzend ein,
Intereſſen nicht bloß einzelner Privatperſonen, ſondern ganzer
Gentes, traf alſo auf einen unvergleichlich mächtigeren Wider-
ſtand, als irgend ein anderes Geſchäft. Sodann ſteht es aber
darin einzig in ſeiner Art, daß es erſt nach dem Tode des Dis-
ponenten zur Ausführung kommen kann, daß in ihm alſo nur
der ehemalige Wille eines jetzt Willenloſen vorliegt, der
Wille hier den Anſpruch erhebt, über ſein natürliches Ziel hin-
aus bindende Kraft auszuüben. So wenig wir heutzutage da-
ran Anſtoß nehmen, ſo wenig dies die Römer ſelbſt ſpäter ge-
than haben, ſo iſt doch die Teſtirfreiheit urſprünglich auch ihnen
gewiß nichts weniger als natürlich erſchienen. Manche Völker
haben ſich nie zu dieſem Gedanken erheben können, ſind viel-
mehr im weſentlichen immer bei der Inteſtaterbfolge ſtehen ge-
blieben; ſollte die Rechtsanſchauung der älteſten Römer ſo ab-
norm organiſirt geweſen ſein, daß ihnen gleich von vornherein
als natürlich erſchienen wäre, was ſich jenen Völkern für immer
entzog? Nein, gerade die Anſchauung, mit der wir uns hier be-
ſchäftigen, jener Einfluß des phyſiſchen Moments im Recht macht
es mehr als wahrſcheinlich, daß auch die Römer urſprünglich
die Erſtreckung des ſubjektiven Willens über die phyſiſche Exi-
ſtenz der Perſon hinaus als etwas exorbitantes betrachteten,
als etwas nicht ſchon an ſich im ſubjektiven Recht liegendes.
Da nun aber dennoch, wie wir in §. 14 ſehen werden, ge-
rade die ſchroffe Conſequenz des römiſchen Familienprinzips
das Bedürfniß letztwilliger Dispoſitionen hervorrief, den Rö-
mern die Teſtamente aufzwang, ſo lag es am nächſten,
Streitigkeiten über die Wirkſamkeit eines bloß vor Privatgaran-
[140]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ten ausgeſprochenen letzten Willens dadurch auszuſchließen, daß
man denſelben unter die Garantie des Volks ſtellte, d. h. eine
lex zur Beſtätigung deſſelben nachſuchte. Wie bei jedem andern
Beſchluß erfolgte auch hier eine rogatio an das Volk, und letz-
teres ſtimmte ab, konnte alſo ſelbſtverſtändlich dieſe Garantie
ſogut verſagen als ertheilen. Der Teſtator erlangte durch Er-
theilung derſelben eine Sicherheit der demnächſtigen Ausführung
ſeines Willens, wie ſie ihm die Zuziehung noch ſo vieler Zen-
gen zu einem an ſich exorbitanten und rechtlich zweifelhaften
Geſchäft nicht hätte gewähren können.


Wenn nun das Volk bei der Teſtamentserrichtung in den
Comitien nicht bloß die paſſive Function eines Zeugen ausübte,
ſondern abſtimmte, als Gegenſtand der Abſtimmung ſich aber
nur die Bekräftigung oder Verwerfung des Teſtamentes denken
läßt, ſo folgt daraus, daß die dieſen Akt bezeichnenden Aus-
drücke testamentum, testari u. ſ. w. nicht den Sinn von Zeug-
niß u. ſ. w., ſondern die oben etymologiſch in testis nachge-
wieſene Bedeutung von „Sicherung“ „Garantie“ haben, unſerer
Anſicht alſo eine bedeutende Unterſtützung verleihen.


Der Zweck, im testis des älteſten Rechts einen Privatga-
ranten des unter ſeiner Mitwirkung geſchloſſenen Geſchäfts
nachzuweiſen, führte uns ſo eben auf einen Fall, in dem dieſe
Garantie für unzureichend erkannt und die des Volks an deren
Stelle geſetzt ward. An dieſen Fall knüpfen wir im folgenden
noch eine Vermuthung über den Uebergang der Privatgarantie
in öffentliche Garantie an.


An die Stelle des testamentum in comitiis calatis tritt
ſpäter das testamentum per aes et libram (d. h. in Mancipa-
tionsform). Hatte man ſich damit über die urſprüngliche Idee,
daß das Teſtament der Garantie des Volks bedürfe, bereits hin-
weggeſetzt? Eine andere Erklärung liegt nahe. Wenn nämlich
die fünf Zeugen der Mancipation, wie allgemein angenommen
wird, die Vertreter der fünf Cenſusklaſſen des römiſchen Volks
ſind, ſo bleibt das Mancipationsteſtament jener urſprünglichen
[141]I. Prinz. d. ſubj. Willens — Syſt. d. Selbſthülfe — Volksgarantie. §. 11.
Idee treu, die Kraft deſſelben beruht dann auf der vom Volk
durch ſeine Vertreter ertheilten Approbation. Es liegt auf der
Hand, daß jene Deutung der fünf Zeugen durch Aufdeckung
eines Falles, in dem dieſelben nachweisbar an die
Stelle des geſammten Volks treten
, den höchſten
Grad der Wahrſcheinlichkeit gewinnt. Wenn wir nun mit dieſer
Idee, daß dieſe Zeugen das Volk repräſentiren, weiter operiren,
ſo führt ſie uns zu dem Reſultat, daß die Mancipation 58) das
Mittel iſt, um rechtlichen Geſchäften auf leichte Weiſe den
Charakter öffentlicher Garantie zu verleihen. Vielleicht pflegte
man früher auch für wichtige Dispoſitionen unter Lebenden ähn-
lich wie bei Teſtamenten ſich den Schutz des Volks zuſichern
zu laſſen; wie es ſich damit aber auch verhält, kurz die durch
mancipatio begründeten Rechte ſtützen ſich auf die Autorität des
Volks, wir können ſie „öffentlich garantirte“ nennen. Durch den
in der mancipatio eröffneten Weg, einem Recht dieſe höhere
Sanktion zu verleihen, war nun an ſich der Grundſatz, daß das
Individuum in ſich ſelbſt den Grund ſeines Rechts trägt, nicht
aufgehoben, es alſo Keinem verwehrt, einen Rechtsakt auch in
anderer Form als der des Mancipationsrituals vorzunehmen,
allein es iſt begreiflich, daß die Anwendung des letzteren bei
allen wichtigern Gegenſtänden immer üblicher wurde, und daß
im Laufe der Zeit die Unterlaſſung dieſer Form bei einem Ge-
ſchäft, bei dem ſie einmal ganz conſtant geworden war, als
Nichtigkeitsgrund betrachtet wurde. In dieſen Fällen wurde
jener Grundſatz, daß die individuelle Thatkraft die Quelle des
Rechts ſei, zurückgedrängt oder wenigſtens durch das Requiſit
einer öffentlichen Anerkennung und Sanktion des Rechts modi-
ficirt; für dieſe Fälle wird alſo der Begriff des Rechts ein höhe-
[142]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
rer, das formelle Fundament deſſelben ein breiteres. Doch hier-
mit gelangen wir bereits über das urſprüngliche Fundament des
Rechts, auf dem wir gegenwärtig noch ſtehen, über unſer Prin-
zip des ſubjektiven Willens hinaus und gerathen auf einen Bo-
den, den wir erſt in §. 15 betreten werden. Es genügt uns hier,
gefunden zu haben, daß die testes im Syſtem der Selbſthülfe
bei allen durch mancipatio abgeſchloſſenen Geſchäften einen
öffentlichen Charakter annehmen. Nicht ſie ſelbſt allein verpflich-
ten ſich, das unter ihrer Mitwirkung entſtandene Recht nöthi-
genfalls mit zu realiſiren, ſondern durch ſie als ſeine Vertreter
thut dies auch das römiſche Volk. Kränkung, Verletzung eines
ſolchen Rechts, Widerſtand gegen die in Folge derſelben vom
Berechtigten vorgenommene Selbſthülfe iſt daher ein Angriff
gegen das römiſche Volk, ein Attentat gegen die
anerkannte Rechtsordnung
. Der Berechtigte, der zur
Selbſthülfe ſchreitet, kömmt im Namen des römiſchen Volks,
ausgeſtattet mit der Macht und Würde, die in unſern Augen
einen mit der Ausführung der Geſetze beauftragten Diener des
Staats umgiebt. Wen er um Hülfe anſpricht, der iſt berechtigt
und moraliſch verpflichtet, ſie ihm zu gewähren — vor allem
ſind es die Zeugen; — wer aber dem etwaigen Widerſtands-
verſuch des Gegners Vorſchub leiſtet, der iſt mit letzterem ſelbſt
in gleicher Verdammniß. Dieſelben Gründe, die heutzutage
einen thätlichen Widerſtandsverſuch gegen die mit Exekution
beauftragten Beamten zur größten Seltenheit machen, die
Achtung vor dem Geſetz und die Vorausſicht der Erfolgloſigkeit
jenes Verſuchs, dieſelben Gründe müſſen in Rom daſſelbe be-
wirkt haben. Nirgends in der Welt iſt der, welcher im Namen
des Geſetzes kam, ſo geachtet geweſen, als hier; daß aber der
Glanz, den dieſe Qualität verleiht, nicht dadurch bedingt iſt, ob
ſie, wie heutzutage, an die ſtändige Perſon eines Beamten ge-
knüpft iſt, oder wie bei den Römern jeder Privatperſon für vor-
übergehende Zwecke zukommen konnte, daß dieſer Glanz alſo
[143]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Zweifelhaftigkeit d. Anſpruchs. §. 12.
nicht dadurch, ſondern durch das Maß der einem Volke inne
wohnenden Achtung vor dem Geſetze bedingt iſt — das bedarf
keiner weitern Ausführung.


3. Vertragsmäßige Entſcheidung der Rechtsſtreitigkeiten — Das
öffentliche Richteramt in ſeinem Anſchluß an das Syſtem der
Selbſthülfe — Geſtalt dieſes Syſtems in ſpäterer Zeit.

XII. Die bisherige Darſtellung hat uns zu dem Reſultat
geführt, daß es im Fall der Zweifelloſigkeit eines Rechts der
Beihülfe des Staats zur Verwirklichung deſſelben nicht be-
durfte
; wir werden ſofort ſehen, daß der römiſche Staat noch
auf der höchſten Stufe ſeiner Entwicklung von derſelben An-
nahme ausgieng.


Wie aber, wenn es an jener Vorausſetzung eines zweifel-
loſen Rechts gebrach? Konnte auch hier der Staat die Partheien
ſich ſelbſt überlaſſen? Hätte das nicht gehießen, ſie zu Thätlich-
keiten zu provociren und den Zufall zum Richter zu machen?
War hier alſo nicht die Handhabung der Rechtspflege von
Seiten des Staats unentbehrlich? So ſcheint es, allein ich
hoffe zeigen zu können, daß dies bloßer Schein iſt, das Syſtem
der unmittelbaren Verwirklichung des Rechts vielmehr auch hier
völlig ausreichend war.


Das Bedürfniß einer Entſcheidung der Rechtsſtreitigkei-
ten hat ſich nicht überall auf dieſelbe Weiſe befriedigt. Bei
einigen Völkern iſt es die Gottheit, an die man ſich zu die-
ſem Zweck wendet, und die durch Gottesurtheile, Orakel,
Loos u. ſ. w. die Entſcheidung abgibt; bei andern iſt es die
Obrigkeit, die um Hülfe angegangen wird. In beiden Fällen
aber unterwerfen ſich die Partheien einer höhern Macht. Einen
ganz andern Weg hat das römiſche oder dasjenige Volk einge-
ſchlagen, von dem das römiſche abſtammt, und er iſt für die
ganze Geſinnungsweiſe deſſelben ſehr bezeichnend. In hiſto-
[144]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
riſcher Zeit ſcheint freilich das römiſche Volk bereits in den
gewöhnlichen Weg der Entſcheidung der Rechtsſtreitigkeiten
durch den Richter eingelenkt zu haben, allein in der That iſt
dieſer Weg nichts weniger als der gewöhnliche, ſondern nur
eine Erhöhung und Regulirung des urſprünglichen; der alte
Unterbau und die alte Richtung ſind beibehalten und ſchimmern
noch an vielen Stellen auf unverkennbare Weiſe durch. Jener
urſprüngliche Modus der rechtlichen Entſcheidung beſtand darin,
daß der vermeintlich Berechtigte ſie entweder ſeinem Gegner
ſelbſt überließ, d. h. ihm den Eid zuſchob oder ihm proponirte,
ſie von einem Dritten, dem Schiedsrichter, einzuholen. Ging
derſelbe darauf ein, ſo verſtand ſich das weitere von ſelbſt; die
durch den Schiedsrichter oder den Eid bewirkte Entſcheidung
ſtützte ſich auf beiderſeitige Einwilligung, war alſo für beide
Theile bindend, und die Verwirklichung derſelben fiel unter die
im vorigen Paragraphen aufgeſtellten Geſichtspunkte. Wie aber
wenn der Gegner jeden Vorſchlag des Berechtigten zurückwies?
Durch dieſe Weigerung brach er über ſich ſelbſt den Stab; denn
warum ſich weigern, wenn er wirklich von ſeinem Recht über-
zeugt war? Er bewies, daß er zur Gerechtigkeit ſeiner Sache
kein Vertrauen hatte, und man that ihm, der dem Gegner da-
mit jede Möglichkeit der Entſcheidung abſchnitt, kein Unrecht,
wenn man in ſeiner Weigerung ein indirektes Eingeſtändniß
ſeiner Schuld fand. 59) Mit der öffentlichen Meinung warf ſich
auch das phyſiſche Uebergewicht bei der Selbſthülfe auf Seiten
ſeines Gegners.


Das Inſtitut der Schiedsrichter ſowie der außergerichtliche
Eid ſchloſſen das Syſtem der Selbſthülfe ab, indem ſie dem
vermeintlich Berechtigten die Möglichkeit gewährten, entweder
[145]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Privatentſcheidung des Streits. §. 12.
den Streit zur Entſcheidung zu bringen oder wenigſtens den
Gegner moraliſch in die Enge zu treiben und ihn durch ſeine
Weigerung zum indirekten Geſtändniß ſeines Unrechts zu zwin-
gen. Beide Mittel waren in Rom noch in ſpäter Zeit außer-
ordentlich populär und üblich, beide kehren in ſolenner Form
im römiſchen Prozeß wieder. In letzterem erblicke ich nichts,
als den in feſte Formen cryſtalliſirten Niederſchlag dieſer längſt
vor ihm beſtandenen vertragsmäßigen Entſcheidung des Rechts-
ſtreites durch die Partheien ſelbſt. Der außergerichtliche Eid
wird zum gerichtlichen, der Schiedsrichter zum öffentlichen Rich-
ter, ohne daß beide damit ihr früheres Weſen aufgeben. Die
Einführung des Richteramts bezeichnet gegenüber dem eben ge-
ſchilderten Zuſtande durchaus keinen Wendepunkt in der Ge-
ſchichte des Rechts.


Das im bisherigen geſchilderte Syſtem der unmittelbaren
Verwirklichung des Rechts iſt uns nicht direkt bezeugt, allein
im Recht der hiſtoriſchen Zeit ſchimmert daſſelbe, wie ich glaube,
noch deutlich genug durch. Letzteres iſt nämlich nichts anders,
als unſer obiges Syſtem, nur mit dem Unterſchiede, daß daſ-
ſelbe darin beſtimmte Formen angenommen hat, aus dem Zu-
ſtande der Flüſſigkeit und Beweglichkeit in den der Feſtigkeit
übergegangen iſt. Bei keinem Volke war der Trieb nach For-
men, jener Sinn für ſtrenge äußere Ordnung und Gleichmä-
ßigkeit ſtärker, als bei den Römern; jede Idee, die bei ihnen
auftritt, ſtrebt ſofort wenn auch auf Koſten ihres materiellen
Gehaltes ſich beſtimmte Formen anzueignen. Tritt uns nun
eine ſolche Idee, zuſammengeſchrumpft zu einer engen Geſtalt,
entgegen, ſo ſollen wir uns dadurch über ihren urſprünglichen
Umfang und wahren Sinn nicht täuſchen laſſen, und um dieſe
Warnung für die vorliegende Aufgabe eindringlich zu machen,
habe ich das Recht der hiſtoriſchen Zeit ſeiner beſtimmten For-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 10
[146]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
men entkleidet und die demſelben zu Grunde liegenden Ideen
nackt und rein hinzuſtellen verſucht. Der Grund, warum dies
geſchah, war nicht ſowohl der Wunſch über die hiſtoriſche Zeit
hinaus einen Blick zu werfen in eine ungekannte Vorzeit, als
die Hoffnung, auf dieſem Wege das richtige Verſtändniß des
Syſtems der hiſtoriſchen Zeit ſicher zu ſtellen. Indem wir uns
jetzt letzterm zuwenden, ſoll alſo als die daſſelbe durchdringende
Grundanſchauung nachgewieſen werden der Gedanke, daß der
Urquell des Rechts nicht im Staat, ſondern im Individuum
liegt, und daß folglich auch die Verwirklichung des Rechts nicht
Sache des Staats, ſondern des Berechtigten ſelbſt iſt. Zu dem
Zweck wollen wir 1) den Umfang und die Bedeutung der Selbſt-
hülfe im ältern Recht kennen lernen und 2) nachweiſen, daß der
römiſche Prozeß auf der vertragsmäßigen Entſcheidung durch
die Partheien beruht.


1. Die Selbſthülfe iſt im ältern Recht nicht bloß nicht ver-
boten, ſondern eine weſentliche Vorausſetzung der ganzen Rechts-
ordnung.


Das Recht der Republik kennt keine Verwirklichung des
Rechts von Staatswegen, ſondern überläßt ſie lediglich dem
Berechtigten, geht damit alſo von der im vorigen Paragraphen
begründeten Annahme aus, daß letzterer ſich ſtets die erforder-
lichen Mittel verſchaffen werde, um einen etwaigen Wider-
ſtandsverſuch des Gegners zu brechen. Nirgends wird meines
Wiſſens des Bedürfniſſes oder nur der Möglichkeit einer amt-
lichen Mitwirkung bei der Privatexekution gedacht.


Es gibt nun zwei Arten der Selbſthülfe, die ſolenne in
Form der legis actio und die formloſe. Die ſolenne, bei der
es namentlich des Ausſprechens einer gewiſſen Formel be-
darf, iſt in Anwendung auf Perſonen die manus injectio, auf
Sachen die pignoris capio. Für beide Fälle ſtellt das Recht be-
ſondere Vorausſetzungen auf, die theils die Natur des gel-
tend zu machenden Anſpruches, theils deſſen formelle Wahrheit
[147]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Selbſthülfe des ſpätern Rechts. §. 12.
betreffen. Zu dieſen Vorausſetzungen gehört aber wohl gemerkt
nicht die obrigkeitliche Autoriſation. 60)


Die pignoris capio war Privatpfändung und fand nur für
Forderungen Statt, die eine militäriſche, religiöſe oder politi-
ſche Beziehung hatten. 61) Die reguläre Form der ſolennen
Selbſthülfe beſtand in der manus injectio; man bemächtigte
ſich der Perſon des Gegners, führte ihn mit ſich zu Hauſe und
hielt ihn ſo lange in Feſſeln, bis er entweder den Berechtigten
zufrieden geſtellt hatte oder der Termin, ihn trans Tiberim
zu verkaufen, gekommen war.


Die manus injectio fand in einer Reihe von Fällen Statt,
die ſich unter den Geſichtspunkt bringen laſſen, daß der, gegen
den ſie gerichtet ward, ſich ſelbſt für ſchuldig erklärt hatte, sua
sententia damnatus
war, nur daß in ähnlicher Weiſe, wie die
Selbſthülfe hier in der ſolennen Form der manus injectio auf-
tritt, ſo auch jene Selbſtverurtheilung des Schuldigen beſtimmte
Formen angenommen hat. Dahin gehörte zuerſt der Fall der
confessio in jure, d. h. wenn der Beklagte gleich bei Erhebung
der Klage vor dem Prätor geſtand; einer Verurtheilung bedurfte
es dann nicht mehr. Daſſelbe nehme ich an für den Fall, wenn
der Kläger den ihm vom Beklagten zugeſchobenen oder zurückge-
ſchobenen Eid abgeleiſtet hatte, 62) nur daß auch hier wie dort
10*
[148]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
die Wirkung, die urſprünglich dem Eide als ſolchem zukam, an
die Ableiſtung deſſelben in jure geknüpft ſein mochte. Die
Selbſtverurtheilung des Beklagten war hier eine bedingte, be-
dingt nämlich dadurch, daß der Kläger den Eid ſchwören würde.
Ein dritter Fall trat ein hinſichtlich aller Anſprüche, die durch
ein in Mancipationsform abgeſchloſſenes Geſchäft begründet
waren. Auch hier ſtützte ſich die manus injectio auf das Einge-
ſtändniß des Schuldigen, auf ein in ſolenner Weiſe vor den
Repräſentanten des ganzen Volks abgelegtes Bekenntniß ſeiner
Schuld. Ein vierter Fall war der, wenn der Beklagte der in
jus vocatio
des Klägers nicht Folge leiſtete; ſeine Weigerung
ſich auf den Prozeß einzulaſſen wird, wie oben bemerkt wurde,
als indirektes Eingeſtändniß betrachtet. Sodann fand ſchließlich
die manus injectio Statt zum Zweck der Exekution richterlicher
Urtheile. Nach der herrſchenden Anſicht hätte dieſer letzte Fall
obenan geſtellt werden müſſen, denn ihr zufolge iſt das richter-
liche Urtheil die normale Vorausſetzung der Exekution, und
die übrigen Fälle der manus injectio erſcheinen ihr nur als
ſolche, auf die die Kraft des richterlichen Urtheils übertragen
iſt. Für unſere heutige Zeit und auch für die der klaſſiſchen rö-
miſchen Juriſten iſt dieſe Auffaſſung durchaus richtig, und letz-
tere bezeichnen geradezu Eid und Geſtändniß als Surrogate des
richterlichen Urtheils. Allein ich halte es für grundfalſch, eine
ſolche Auffaſſung ins ältere römiſche Recht hinüberzutragen; 63)
62)
[149]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Selbſthülfe des ſpätern Rechts. §. 12.
das Verhältniß zwiſchen dem richterlichen Urtheil und dem Ge-
ſtändniß u. ſ. w. iſt hier gerade das umgekehrte. Das richter-
liche Urtheil ſtützt ſeine Kraft lediglich darauf, daß der Beklagte
daſſelbe im voraus für verbindlich anerkannt hat. Anſtatt daß
nach jener Anſicht die Parthei ihr Recht zur manus injectio
mittelbar oder unmittelbar erſt vom Richter ableiten müßte,
empfängt umgekehrt, wie wir gleich ſehen werden, letzterer ſeine
ganze Machtbefugniß erſt aus der Hand der Partheien.


Der Unterſchied der manus injectio von der formloſen Selbſt-
hülfe lag, abgeſehen von ihrer Form und ihren Vorausſetzun-
gen darin, daß dem, gegen den ſie gerichtet war, nicht bloß der
factiſche Widerſtand unterſagt, ſondern auch der Rechtsweg ver-
ſchloſſen war. Die manus injectio entzog ihm, um es mit dem
Kunſtausdruck zu bezeichnen, die persona standi judicio. Dritte
Perſonen durften ihm bei ſeinem factiſchen Widerſtandsverſuch
keine Beihülfe leiſten; das einzige Rettungsmittel lag darin,
daß Jemand als vindex für ihn auftrat und die rechtliche Statt-
haftigkeit der manus injectio zum Gegenſtand richterlicher Ent-
ſcheidung machte. Es iſt aber bereits im vorigen Paragraphen
bemerkt, welcher Gefahr ſich der vindex ausſetzte; unterlag er,
ſo mußte er zur Strafe für ſeine unbefugte Einmiſchung den
ganzen Betrag der Schuld entrichten, ohne damit den Schuld-
ner von ſeiner Verbindlichkeit zu befreien.


In ſpäterer Zeit tritt das Beſtreben hervor, die manus in-
jectio
immer mehr zu verdrängen oder abzuſchwächen. Die alte
Idee, auf der ſie beruhte, machte bei der ſteigenden politiſchen
Entwicklung naturgemäß der Anſicht Platz, daß die manus in-
jectio
als Exekutionsmittel der richterlichen Autoriſation be-
dürfe, und ſo finden wir ſie zuletzt auf die Exekution richterlicher
Urtheile und einen andern ſingulären Fall beſchränkt, bis ſie
mit dem Legisactionen-Syſtem auch hier unterging. In allen
63)
[150]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
übrigen Fällen aber hob man ſie nach der bekannten Weiſe der
Römer nicht geradezu auf, ſondern ließ ſie in abgeſchwächter
Geſtalt, als manus injectio pura, fortbeſtehen. Dem Schuld-
ner ward nämlich erlaubt, wie man es ausdrückte, manum sibi
depellere
d. h. ſelbſt die Rolle des vindex zu übernehmen, die
Statihaftigkeit der manus injectio in eigner Perſon zu beſtrei-
ten. Die manus injectio war damit Einleitungsform eines
Prozeſſes geworden, der ſich nur dadurch auszeichnete, daß der
Schuldner im Fall ſeines Unterliegens den doppelten Betrag der
Schuld zu entrichten hatte, eine Folge, die ihn daran mahnte,
daß mit dem Recht auch die Strafe des alten vindex auf ihn
übertragen war. 64)


In dieſer jüngſten Geſtalt der manus injectio iſt nun von
ihrer urſprünglichen Bedeutung nichts übrig geblieben, ſie hat
ſich hier völlig der Idee gefügt, daß die Befugniß zur Exekution
von der Oberhoheit des Staats abgeleitet werden müſſe. Nichts
iſt aber verkehrter, als dieſe Idee in die Zeit der XII Tafeln zu
verlegen; der Geiſt des ältern Rechts weiſt ſie überall zurück.
Die manus injectio war nichts, als die ſolenne Selbſthülfe,
bedingt durch eine gewiſſe Evidenz des geltend zu machenden
Anſpruches und ausgeſtattet mit einer beſonders energiſchen
Wirkung. In dieſer Form und Anwendung erſcheint die Selbſt-
hülfe im ältern Recht nicht bloß als erlaubt, ſondern als un-
entbehrliche Vorausſetzung, als vis agens der ganzen Rechts-
ordnung.


Dadurch unterſcheidet ſich nun von ihr die formloſe Selbſt-
hülfe, die wir jetzt kennen lernen wollen. Auch ſie gewährt in
ihrer neuſten Geſtalt kaum einen Schatten von dem, was ſie
[151]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Selbſthülfe des ſpätern Rechts. §. 12.
früher war. Als gegen das Ende der Republik die Bande der
Ordnung immer lockerer wurden, und die Gewaltthätigkeiten
einen immer großartigeren und gefährlicheren Charakter annah-
men, ward es nöthig dem Uebel mit energiſchen Mitteln ent-
gegen zu treten, und dies thaten die leges Juliae de vi publica
und privata von Auguſt, indem ſie eine Menge von verſchiede-
nen Gewaltthätigkeiten mit ſchweren Strafen belegten. Spä-
terhin kamen noch Privatſtrafen für die Selbſthülfe hinzu, und
im neuſten Recht iſt ſie überall, wo ſie ſich blicken läßt verpönt,
mit Ausnahme eines kleinen Kreiſes, den eine Eigenthümlich-
keit der römiſchen Beſitztheorie 65) ihr erhielt, und den ſie heut-
zutage gleichfalls eingebüßt hat.


Ganz anders im älteren Recht. Die Selbſthülfe wurzelte
zu tief in der ganzen ältern Rechtsauffaſſung, als daß man ſie
ſelbſt da, wo ſie wegen Nichtexiſtenz des angeblichen Anſpruchs
unberechtigt war, mit Strafe hätte belegen, ſie, die auch in
dieſem Fall nichts als eine Bethätigung des ſubjektiven Rechts-
gefühls enthielt, zum Delikt hätte ſtempeln ſollen; die einzige
Folge, die in dieſem Fall eintrat, beſtand in der Herausgabe
des gewaltſam Entriſſenen. Erſt wenn der Prätor ausdrücklich
die Anwendung der vis unterſagt hatte, führte das Uebertreten
dieſes Verbots nachtheilige Folgen herbei. Umgekehrt aber
pflegte der Prätor, ähnlich wie es das Civilrecht in der manus
injectio
that, zur Selbſthülfe zu autoriſiren und zwar in der
Weiſe, daß er durch Interdikt verbot, dem dazu Ermächtigten
Gewalt entgegenzuſtellen (ne vis fiat ei, qui u. ſ. w.). In die-
ſer prätoriſchen Autoriſation der Selbſthülfe kann ich nur eine
ſpätere Form der Sache finden; bevor der Prätor ſich hinein-
miſchte, hatte ſich das Leben ſelbſt geholfen.


Auch ohne jede obrigkeitliche Autoriſation war aber zur Zeit
der Republik die Selbſthülfe in manchen Fällen durchaus ſtatt-
haft, namentlich zum Zweck der Wiedererlangung des Beſitzes.
[152]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
Wer eine bewegliche Sache, die ihm abhanden gekommen war,
bei irgend einem Dritten antraf, konnte ſich unter gewiſſen
Vorausſetzungen 66) derſelben gewaltſam bemächtigen; dem ge-
genwärtigen Innehaber ward jeder Rechtsſchutz verſagt. Bei
unbeweglichen Sachen ging man nicht ſoweit, ſondern verſtat-
tete die gewaltſame Dejection nur gegen den, der entweder das
Grundſtück bloß im Namen des andern detinirte oder, wie man
es ausdrückte, ihm gegenüber eine injusta possessio hatte. 67)
Fehlte es an dieſen Vorausſetzungen, ſo mußte der Dejicient,
ohne daß er mit der Berufung auf ſein etwaiges Eigenthum ge-
hört ward, den Beſitz vorläufig reſtituiren.


Es gab aber einen andern Weg, der ihn ſicherer zum Ziele
führte; er mußte nämlich, anſtatt ſeinem Gegner gewaltſam die
Sache zu entreißen, ihn durch Drohungen zu zwingen ſuchen,
daß er ſelbſt ihm dieſelbe auslieferte. Das ältere Recht gab dem
Gezwungenen keine Klage auf Aufhebung des von ihm einge-
gangenen Geſchäfts, indem es ſich durch die Anſicht beſtimmen
ließ, daß Niemand ſich zwingen laſſen ſolle. Aber ſelbſt als der
Prätor eine ſolche Klage eingeführt hatte, lehrten doch noch die
römiſchen Juriſten, daß wer gezwungen worden ſei zu zahlen
oder herauszugeben, was er ſchuldig war, ſich dieſer Klage nicht
bedienen könne. 68) Bewies alſo der Zwingende nur die Exiſtenz
ſeines Rechts, ſo traf ihn nicht nur keine Strafe, ſondern er
behielt, was er hatte.


[153]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Selbſthülfe des ſpätern Rechts. §. 12.

Zu der ſolennen und formloſen Gewalt kömmt endlich noch
eine ſymboliſche, nämlich der Scheinkampf im Eigenthums-
prozeß.


Der zur Bezeichnung deſſelben dienende Name vindicatio,
ſo wie die dabei vorkommende vindicta, jener unvermeidliche
hier in einen Stab verwandelte Speer, zeigen, daß es ſich hier
um ein vim dicere d. h. nicht ein „Anſagen“, ſondern ein „Er-
ſcheinen laſſen“ 69) von Gewalt handelte; der Akt wird auch mit
dem Ausdruck manum conserere, handgemein werden, bezeich-
net. Man hat in dieſer Aufnahme der Gewalt in den Prozeß
die Idee ausgeſprochen finden wollen, daß die Gewalt dem Recht
weichen müſſe, aber man könnte wohl mit mehr Recht ſagen:
die Selbſthülfe erſcheint den Römern als etwas ſo natürliches
und ſo wenig unrechtes, daß ſie dieſelbe ſelbſt im Prozeß nicht
entbehren können. Jener Scheinkampf enthält weniger eine
Verurtheilung der Selbſthülfe, als umgekehrt einen Beleg da-
für, wie tief dieſelbe in der Volksanſicht gewurzelt war. Wie
in der mancipatio nach unſerer Ausführung im §. 10 die Ge-
walt als die urſprüngliche Quelle des Eigenthums erſcheint,
ſo in der vindicatio als das urſprüngliche Schutzmittel deſſelben.


Indem wir jetzt die Selbſthülfe verlaſſen, um uns


2. dem römiſchen Prozeß zuzuwenden, begleitet uns daſſelbe
Prinzip des ſubjektiven Willens, das wir dort in ſeinem unmittel-
barſten Ausdruck kennen lernten, auch fernerhin; die Form iſt
eine andere, die Sache dieſelbe. Wir mußten bereits im bisheri-
gen den Geſichtspunkt andeuten, den wir jetzt durchführen wollen,
nämlich daß der Richter des ältern römiſchen Rechts 70) nichts
[154]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
iſt, als ein Schiedsrichter, den die Partheien ſich von der Obrig-
keit erbitten. Mit unſerm heutigen Richter hat derſelbe gar keine
Aehnlichkeit. Letzterer leitet ſeine Machtbefugniß nicht von den
Partheien, ſondern vom Staat ab, und dieſe Machtbefugniß
beſteht nicht bloß darin, das Recht zu weiſen, ſondern es zu
verwirklichen; er hat ein Monopol auf die Exekution.


Von dem iſt nun beim römiſchen Richter keine Rede; was
wir bei ihm finden, ſind dieſelben Functionen, die jedem Schieds-
richter zukommen. Die auffallende Aehnlichkeit beider veranlaßte
einen römiſchen Juriſten zu der Bemerkung: compromissum
(Wahl eines Schiedsrichters) ad similitudinem judiciorum re-
digitur.
71) Für die ſpätere Zeit mochte es nahe liegen, im Rich-
teramt das Original, im Inſtitut der Schiedsrichter die Copie
zu erblicken, für die ältere Zeit wird man das Verhältniß ge-
rade umkehren müſſen.


Es mochte öfter vorkommen, daß die Partheien einen Ma-
giſtrat, der ſich durch ſeine Rechtskenntniß oder Rechtlichkeit
auszeichnete, um ſchiedsrichterlichen Spruch angingen. Die
Erfüllung ihres Wunſches von ſeiner Seite ward urſprünglich
als Ehrenſache angeſehn, zuletzt als amtliche Pflicht. Ueber-
häufung mit ſolchen Aufträgen führte den Magiſtrat darauf,
den Partheien eine andere geeignete Perſon an ſeiner Statt vor-
zuſchlagen, ſowie manche Streitigkeiten ein für alle Male zu-
rückzuweiſen; auch das ſpätere Recht kargt mit den Klagen, um
wie viel mehr das ältere. Der einzige Unterſchied zwiſchen dem
gewöhnlichen Schiedsrichter und dem vom Magiſtrat beſtellten
oder, wenn er ſelbſt erkannte, ihm ſelbſt beſtand darin, daß
man erſteren um Uebernahme des Auftrages erſt erſuchen mußte,
des letzteren hingegen in allen Fällen, wo Sitte oder Geſetz
70)
[155]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Der Prozeß e. Vertragsverhältniß. §. 12.
ſeine Mitwirkung eingeführt hatten, gewiß war; im übrigen
waren beide ſich gleich. Der Schiedsrichter verdankt ſeine Macht
der Wahl der Partheien, iſt ein bloßer Mandatar derſelben, und
ſeine Function beſchränkt ſich darauf, Recht zu ſprechen, die
Verwirklichung deſſelben bleibt den Partheien ſelbſt überlaſſen.
Ebenſo erhält der Richter des ältern römiſchen Rechts ſeine
Macht nur durch den Auftrag der Partheien. Am evidentſten
geht dies daraus hervor, daß ein Prozeß nicht anhängig ge-
macht werden kann, wenn die Gegenparthei ihre Zuſtimmung
verweigert. Wie ſollte eine Entſcheidung des Magiſtrats oder
des von ihm beſtellten Richters, der ſie ſich nicht im voraus
unterworfen, bindende Kraft für ſie haben? Der Streit, den
ſie mit dem Gegner hat, iſt eine reine Privatangelegenheit;
wie dürfte der Magiſtrat ohne Aufforderung von beiden Sei-
ten ſich hineinmiſchen? So kann alſo, wenn der Beklagte ſich
weigert, ein Prozeß gegen ihn gar nicht eingeleitet werden;
der Kläger muß ſich ſelbſt zu helfen ſuchen und thut dies, wie
wir oben ſahen, indem er zur manus injectio ſchreitet. Hatte
der Beklagte den Vorſchlag des Klägers, richterliche Entſchei-
dung einzuholen, zurückgewieſen, ſo braucht andererſeits letzte-
rer, wenn der Beklagte denſelben jetzt wieder aufnehmen will,
ſich nicht mehr darauf einzulaſſen; die Selbſthülfe in Form der
manus injectio hat ihren freien Lauf.


Kann ein Prozeß nicht ohne den Willen des Beklagten an-
hängig gemacht werden, ſo ergibt ſich daraus, wie das Ver-
hältniß aufzufaſſen iſt, wenn er ſich auf denſelben einläßt. Der
ganze Prozeß beruht auf dem Vertrage der Partheien. Beide
werden ſich einig über die Perſon des Richters, den der Magi-
ſtrat ihnen beſtellen ſoll, 72) und verſprechen ſich unter einander,
daß es bei dem Ausſpruche deſſelben ſein Bewenden behalten
[156]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
ſolle. Die entſcheidende Kraft, die dem Richterſpruch zukömmt,
beruht alſo nicht darauf, daß er von einem öffentlichen Richter
ausgeht, ſondern darauf, daß die Partheien dies gewollt ha-
ben. Wir können ihren Vertrag als ein bedingtes Verſprechen
bezeichnen; ſie verſprechen, daß dem Sieger das werden ſolle,
was der Richter ihm zuerkennen wird.


Die Conſequenzen dieſer Auffaſſung ſind im ältern Prozeß
in aller ihrer Strenge durchgeführt. Die alte Verbindlichkeit
gilt als erloſchen, folglich kann der Kläger die Klage nicht mehr
fallen laſſen und eine neue anſtellen, und der Beklagte ebenſo-
wenig durch Vornahme der geforderten Leiſtung ſich der Verur-
theilung entziehen. An die Stelle der alten Verbindlichkeit iſt
durch den Vertrag der Partheien eine neue, bedingte geſetzt, und
ſie haben fortan nur auf die Erfüllung der Bedingung zu war-
ten. Da dieſe neue ſich auf einen Vertrag ſtützt, ſo nimmt die
frühere, wenn ſie aus einem Delikt entſtand, bei dieſer Meta-
morphoſe alle Eigenthümlichkeiten der Obligationen aus Ver-
trägen in ſich auf, wird z. B. vererblich, während ſie dies frü-
her nicht war.


Der Vertrag, der in dieſer Weiſe zum Fundament des gan-
zen Prozeſſes gemacht wird, heißt Litis contestatio; er ward
vor dem Prätor unter Aufrufung von Zeugen (contestari) ab-
geſchloſſen. Man hat die Vertragsnatur der Litiscontestatio
beſtritten und ihr die „Natur des Prozeſſes“ entgegengeſtellt, aus
der ſich ſchon mit Nothwendigkeit die Folgen der Litiscontesta-
tio
ergeben ſollten, gleich als wenn die alten Römer die Natur
des Prozeſſes mit unſern heutigen Augen angeſehn hätten und
nicht vielmehr überall, wo heutzutage Jemanden auch ohne ſei-
nen Willen eine Verpflichtung, ein Nachtheil trifft, erſt die aus-
drückliche, wenn auch indirekt erzwingbare Einwilligung deſſel-
ben verlangt hätten. Es iſt in meinen Augen dem Geiſte des
ältern Rechts durchaus widerſtrebend, daß die Litiscontestatio
alle Folgen eines contraktlichen Verhältniſſes ſollte nach ſich ge-
zogen haben, ohne ſelbſt ein Contrakt geweſen zu ſein. Man
[157]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Der Prozeß e. Vertragsverhältniß. §. 12.
werde ſich nur darüber klar, daß es ſich bei derſelben nicht um
„Unterwerfung“ unter den Richter handelte, ſondern daß der
Richterſpruch nichts iſt als eine Bedingung, unter der die Par-
theien ſich etwas verſprochen haben. Hätten ſie ihr Verſprechen
darauf geſtellt, „wenn der X dies und das thun würde“, ſo
würde beim Eintritt der Bedingung der Grund der entſtehenden
Verbindlichkeit nicht in der Handlung des X, ſondern in ihrem
Verſprechen liegen. In derſelben Weiſe iſt der Einfluß, welchen
die richterliche Sentenz ausübt, auf die Vereinbarung der Par-
theien als auf ihre wahre Urſache zurückzuführen.


Das Verhältniß der Partheien zu dem Richter iſt alſo nichts
weniger als das einer Unterordnung. Seine Qualität als öffent-
licher Richter führt eine ſolche Unterordnung ebenſowenig nach
ſich, als dies heutzutage gegenüber ſolchen Perſonen der Fall
zu ſein pflegt, die vom Staat im Intereſſe des Publikums zur
Betreibung irgend eines Berufes angeſtellt ſind. Der Richter
war nichts mehr, als ein in der Kaiſerzeit vom Staat mit dem
jus respondendi verſehener Juriſt. Beide waren vom Staat
angeſtellt, um den Partheien durch Ertheilung eines Gutach-
tens zu dienen. 73) Darum kann der Richter den Partheien im
Lauf des Prozeſſes nichts auferlegen, ſie nicht citiren, keine
Strafe für den Fall des Nichterſcheinens im Termin androhen
u. ſ. w. Darum findet das Veto der Tribunen, das gegen den
mit der Handhabung der Rechtspflege betrauten Magiſtrat mög-
lich iſt, nicht gegen den Richter Statt; er iſt gar kein öffentli-
cher Beamter, ſondern ein Schiedsrichter der Partheien, zu deſ-
ſen Beſtellung ein öffentlicher Beamter mitgewirkt hat.


[158]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Darum endlich iſt die richterliche Sentenz kein an die ver-
lierende Parthei gerichtetes Gebot oder Verbot, ſondern eine
bloße Meinung„sententia“, eine Erklärung„pronun-
tiatio“,
die der Richter über die Streitfrage abgibt. Am klar-
ſten tritt dies hervor in der älteſten Prozeßform, der legis actio
sacramento.
Der Prozeß wird hier in die Form einer Wette
gekleidet und jede Parthei deponirt eine beſtimmte Summe (sa-
cramentum),
74) deren ſie im Fall des Unterliegens verluſtig
geht. Dem Richter wird dieſe Wette zur Entſcheidung vorge-
legt, und er erkennt in der Form, daß er das sacramentum
der Parthei, die in ſeinen Augen Recht hat, für justum, das
der andern alſo für verloren erklärt. Von einer Verurtheilung
iſt dabei keine Rede, ja der Anſpruch, der zum Prozeß Ver-
anlaſſung gab, wird im Urtheil gar nicht einmal erwähnt; es
wird oſtenſibel über eine ganz andere Frage erkannt, als um die
es den Partheien eigentlich zu thun iſt, und nur mittelbar wird
auch letztere entſchieden. Wie wenig aber ſelbſt dieſer mittelba-
ren Entſcheidung die Idee einer Verurtheilung inne wohnt, geht
am beſten daraus hervor, daß die Anwendung dieſer Prozeß-
form in Fällen vorkam, wo eine Verurtheilung oder Exekution
undenkbar war, weil es ſich gar nicht um einen rechtlichen An-
ſpruch, ſondern um den Beweis einer beliebigen Behauptung
handelte. 75) Auch im ſpätern Recht noch erhielt ſich für manche
Fälle, namentlich für ſolche, bei denen die Klage nicht auf Geld
und Geldeswerth lautete, eine ähnliche Urtheilsform, die pro-
[159]I. Prinzip d. ſubj. Willens — Der Prozeß e. Vertragsverhältniß. §. 12.
nuntiatio; der Richter erkannte bloß dahin, daß Jemand ser-
vus, libertus, ingenuus
u. ſ. w. ſei und überließ es der intereſ-
ſirten Parthei, die daraus folgenden praktiſchen Reſultate zu
ziehen und zu verwirklichen.


Neben jenen Urtheilsformen kömmt eine andere vor, die
condemnatio, aber erſt im neuern Recht. Dort lautet der Rich-
terſpruch objektiv, der Parthei bleibt es überlaſſen, die prakti-
ſchen Folgerungen zu ziehen und erforderlichen Falls ſich über
die litis aestimatio, die Schätzung des zugeſprochenen Objekts,
zu einigen, hier hingegen faßt der Richter ſeinen Spruch rela-
tiv
, er verurtheilt den Beklagten und zwar verbindet er
damit bei allen Klagen, die auf ein in Geld ſchätzbares Objekt
gehen, ſogleich die litis aestimatio, d. h. er verurtheilt von
vornherein in Geld.


Der Richter des ältern Rechts legt alſo dem Beklagten nichts
auf, erläßt keinen Befehl an ihn im Namen des Staats, ſon-
dern er kömmt den Partheien bloß mit ſeiner Rechtskenntniß zu
Hülfe. Die Sprache hat das Verhältniß der richterlichen Thä-
tigkeit zu der des Klägers treffend ausgedrückt. Der Richter ſoll
bloß das Recht weiſen (dicere, ſ. Note 69), daher judex ge-
nannt, und er thut dies, indem er ſeine Meinung (sententia)
abgibt. Der Kläger hingegen iſt der Handelnde (actor);76) er
„handelt“ wirklich, denn er legt „Hand“ an (manum injicere,
conserere; vindicare),
je nach Verſchiedenheit des Prozeſſes an
Perſon oder Sachen (agere in personam, in rem). Unſer heu-
tiger Richter hingegen „richtet“, d. h. er iſt der Handelnde, der
„Kläger“ hingegen handelt nicht, ſondern er „klagt“ dem Richter
ſein Leid, damit letzterer ihm helfe. Um Hülfe iſt es dem römi-
ſchen Kläger nicht zu thun; in allen Fällen, wo ſein Recht zwei-
fellos iſt, bedarf er des Richters gar nicht, ſondern ſchreitet ſo-
[160]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
fort zur manus injectio. Das römiſche Richteramt iſt alſo nur
eingeführt, um für zweifelhafte Fälle den Partheien Gelegenheit
zu geben, ſich das Recht weiſen zu laſſen. Der Richterſpruch
aber übt keine Wirkung aus, die die Partheien nicht ebenſo gut
auf anderm Wege erreichen könnten, und der Grund, warum
ihm überhaupt eine entſcheidende Wirkung zukömmt, liegt nicht
im öffentlichen Charakter des Richteramts, ſondern im Willen
der Partheien. Der Richter iſt alſo nichts als ein Schiedsrich-
ter (arbiter), und es gab eine unendliche Menge von Fällen, in
denen er officiell mit dieſem Namen bezeichnet wurde.


Wenn wir jetzt einen Rückblick werfen wollen auf den Weg,
den wir in den letzten drei Paragraphen zurückgelegt haben, ſo
führte uns derſelbe von jenem niedrigſten Punkte an, wo Recht
und Gewalt noch zuſammen fallen, der Erbeutung vom Feinde,
durch die Selbſthülfe hindurch bis zur Organiſation der Rechts-
pflege, aber es blieb uns doch eine und dieſelbe Idee beſtändig
zur Seite, jene Idee nämlich, daß perſönliche Thatkraft die
Mutter und darum auch die legitime Beſchützerin des Rechts
iſt. Dieſe Thatkraft iſt nicht die nackte, phyſiſche Gewalt, ſon-
dern die reale Bewährung der Perſönlichkeit, eine im Dienſte
der Rechtsidee thätige Kraft, ja das Prinzip des Privatrechts
ſelbſt in ſeiner urſprünglichen Friſche und Energie.


Jene Idee erſcheint nun als das äußerſte Minimum, mit
dem die Rechtsbildung beginnen kann, als abſolut erſte Pro-
duction des Rechtsbewußtſeins überhaupt, und darum durfte
und mußte ſie an die Spitze unſerer ganzen Darſtellung geſetzt
werden. Aus dieſem ſchwachen Keim heraus hat ſich auch bei
andern Völkern das Recht entwickelt, aber nicht überall ſind wir
ſo glücklich, wie im vorliegenden Fall, an der Blüthe und der
reifen Frucht noch den urſprünglichen Keim nachweiſen zu kön-
nen. Unvermögend, jene Idee auf die Dauer mit der ſteigenden
[161]1. Prinzip d. ſubj. Willens — Schluß — Uebergang. §. 12.
Entfaltung des Staats-Prinzips zu verſöhnen, hat manches
Volk dieſelbe fallen laſſen und in demüthiger Erniedrigung des
perſönlichen Selbſt- und Rechtsgefühls den Staat als Schöpfer
und Vormund des ſubjektiven Rechts hingeſtellt. Aber in der
römiſchen Rechtsanſchauung — Dank ſei es ihrer unverwüſt-
lichen Natur und jenem männlichen Selbſtgefühl der Römer —
wurzelte dieſe Idee feſter, und der juriſtiſche Inſtinkt der Römer
wußte dieſelbe ſo zu geſtalten, daß ſie ſelbſt mit der höchſten
Entwicklung des Staats ſich vertrug. Dies geſtaltende Talent
bewährte ſich vor allem daran, daß jene Idee von vornherein in
feſte Formen getrieben wurde. Dieſe Formen mochten im Laufe
der Zeit immer enger werden, mit jeder Verjüngung ihrer Form
mochte die Idee ſelbſt an ihrer urſprünglichen Schärfe einbüßen,
aber trotzdem bleibt ſie Jahrhunderte lang der rothe Faden, der
ſich durch das ganze Recht hindurch zieht.


Wir gehen jetzt zum Prinzip des älteſten Staats über und
werden bei der Darſtellung deſſelben unterſuchen, wie unſere
Idee ſich zu demſelben verhält. Eine exaggerirende Auffaſſung
dieſes Prinzips, die daſſelbe mit dem patriciſchen Recht identi-
ficirte, hat dahin geführt, jene durch und durch national-römi-
ſche Anſchauung, jene Uridee eines jeden Rechts für die älteſte
Zeit Roms zu läugnen und dieſelbe, indem ſie nur den Aus-
druck plebejiſcher Sinnesweiſe enthalten ſoll, erſt mit dem Er-
ſtarken des Plebejerthums auftreten zu laſſen. Dieſe Anſicht hat
keinen weitern Grund für ſich, als die vorgefaßte Meinung,
daß jene Idee mit dem Prinzip des älteſten Staats unverträg-
lich geweſen. Ich hoffe zeigen zu können, daß dieſe Meinung
auf einem Irrthum beruht, der römiſche Geiſt vielmehr von
Anfang an die Kraft beſeſſen hat, beide Prinzipien, das des
Privatrechts und des Staats, aus ſich hervorzutreiben und bei-
den gerecht zu werden.


Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 11
[162]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
II. Familienprinzip und Wehrverfaſſung, die Faktoren
der organiſirten Gemeinſchaft.

Vorbemerkung.

XIII. In der Rechtsanſchauung, die wir bisher erörtert
haben, lag gleichmäßig eine negative und poſitive, eine abſto-
ßende und vereinigende Kraft. Eine negative und abſtoßende,
inſofern ſie den Fremden als rechtlos, ihn ſelbſt und alle ſeine
Habe als Gegenſtand der Erbeutung hinſtellt; eine poſitive und
vereinigende Kraft, inſofern ſie die Verwirklichung des Rechts
lediglich dem Subjekt überläßt und damit daſſelbe veranlaßt,
ſich fremder Hülfe zu verſichern, die Gemeinſchaft zu ſuchen.
Gerade jene Feindſeligkeit, die der Idee des Rechts urſprünglich
inne wohnt, kettet, ſo paradox dies klingt, die Gemeinſchaft
um ſo feſter; die Rechtloſigkeit des Menſchen erzeugt die
Rechtsfähigkeit des Bürgers. Indem wir die weitere Aus-
führung dieſes Gedankens dem §. 16 vorbehalten müſſen, ge-
nügt hier die Bemerkung, daß unſer Prinzip des ſubjektiven
Willens bereits den Keim ſtaatlicher Gemeinſchaft in ſich trägt
und uns zur Betrachtung deſſelben den Weg bahnt.


Das Schutzbedürfniß führt zur Gemeinſchaft, aber im Laufe
der Zeit wirkt letztere auf das ſubjektive Rechtsprinzip im hohen
Grade zurück. Iſt dies ſchon im älteſten römiſchen Recht der
Fall, erſcheint hier mit andern Worten der Staat noch als eine
bloße Vereinigung gleichberechtigter Individuen, eine Verbrüde-
rung zum Schutz und Trutz oder beruht er, wie der heutige, be-
reits auf Ueber- und Unterordnung? Die Frage iſt von großer
Wichtigkeit, und es iſt nichts verkehrter, als den altrömiſchen
Staat, weil in ihm ein König, geſetzgebende, richterliche Ge-
walt u. ſ. w. auftreten, mit unſerm heutigen auf eine Linie zu
ſtellen. Das weſentliche ſind die Ideen, worauf die königliche,
geſetzgebende Gewalt u. ſ. w. ſich ſtützen, und ſie können in
[163]2. Der Staat — allgemeine Betrachtung. §. 13.
verſchiedenen Verfaſſungen himmelweit auseinander gehen. Hin-
ſichtlich der richterlichen Gewalt habe ich im vorigen Para-
graphen darzuthun geſucht, daß ſie nicht aus der Idee ſtaatlicher
Ueberordnung, ſondern aus dem Prinzip des ſubjektiven Wil-
lens hervorgegangen iſt; ſchon dies eine Beiſpiel muß uns be-
hutſam machen, uns lehren, daß wir uns nicht dabei beruhi-
gen dürfen, im alten römiſchen Staate die weſentlichen Be-
ſtandtheile des heutigen wiedergefunden zu haben, ſondern daß
wir vor allem den ſpecifiſch-ſtaatlichen Gehalt derſelben einer
Prüfung unterwerfen müſſen.


Dies ſoll nun im nachfolgenden geſchehen, und ich hoffe
zeigen zu können, daß dieſer Gehalt, nämlich die Idee der Un-
terordnung der Individuen unter die Staatsgewalt, ein außer-
ordentlich geringer iſt, ſich nämlich beſchränkt auf das militäri-
ſche Intereſſe. Die Idee der Unterordnung erſcheint meiner
Anſicht nach in Rom urſprünglich zuerſt im Heerweſen. Eine
unabweisbare Nothwendigkeit ſchließt hier das Verhältniß der
Coordination der Individuen aus und ſetzt das der Subordi-
nation an deren Stelle. Im übrigen aber, ſoweit dieſe Rückſicht
nicht entgegentritt, iſt Coordination das reguläre Verhältniß
der Gemeinſchaft, und ſowohl die geſetzgebende als ſtrafrichter-
liche und polizeiliche Gewalt fügen ſich dieſem Geſichtspunkt.


Die Form dieſes coordinirten Verhältniſſes wird beſtimmt
durch das Familienprinzip, es iſt die des Geſchlechterſtaats.
Die älteſte römiſche Verfaſſung enthält ſonach eine Combination
zweier Prinzipien, eines coordinirenden, des Familienprinzips,
und eines ſubordinirenden, der Wehrverfaſſung. Der älteſte
Staat ſteht mit ſeinen Füßen im Familienprinzip, mit ſeinen
Spitzen und Mittelgliedern in der Wehrverfaſſung, d. h. die
Gentes und die Stellung der Individuen innerhalb derſelben
werden durch jenes Prinzip, die Curien, Tribus mit dem Kö-
nig und den Vorſtänden ſämmtlicher Genoſſenſchaften durch das
militäriſche Intereſſe beſtimmt. Wir wollen, bevor wir die Ge-
ſtalt, die dieſe beiden Prinzipien dem römiſchen Staat und Recht
11*
[164]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
gegeben haben, kennen lernen, dieſelben einer flüchtigen allge-
meinen Betrachtung unterwerfen.


Die Familie oder die verwandſchaftliche Verbindung iſt auf
den höhern Stufen der Rechtsbildung wenigſtens in ihren ent-
fernteren Schwingungen ein durchaus freies Verhältniß der in-
dividuellen Liebe. Von weſentlicher Bedeutung für den Staat
ſind nur die zwei engſten Familienverhältniſſe, die Ehe und das
elterliche Verhältniß, und hinſichtlich ihrer iſt er berechtigt und
verpflichtet, ſelbſt durch Rechtsvorſchriften, ſoweit dies
möglich iſt
, dafür zu ſorgen, daß dieſe beiden Hauptquellen
der Sittlichkeit nicht getrübt werden. Ueber dieſe beiden Kreiſe
hinaus überläßt der Staat die Familie ſich ſelbſt, ihrer eignen
ſittlichen Lebenskraft d. h. der Liebe. Die Erfahrung aber zeigt,
daß dieſe Lebenskraft eine ſchwache iſt. Mit jeder Generation
werden die Schwingungen einer Familie weiter; neue und
engere Bande beeinträchtigen die ererbten, und mit der raſch
abnehmenden Liebe und der Pflege der Verwandſchaft verliert
ſich allmählig auch die Erinnerung derſelben.


Ganz anders auf den niedrigen Stufen des ſtaatlichen Le-
bens. Es läßt ſich im allgemeinen der Satz aufſtellen, daß die
äußere, rechtliche Organiſation der Familie im umgekehrten
Verhältniß zur Reife der Staatsentwicklung ſteht; je unvoll-
kommner letztere, deſto ausgebildeter jene und umgekehrt. Der
Grund liegt auf der Hand. Im entwickelten Staat hat die Fa-
milie weder für ihn ſelbſt, noch für das Individunm ein recht-
liches
Intereſſe; der Staat ſteht im unmittelbaren Verhältniß
zum Einzelnen, und letzterer beſitzt an ihm ſeinen rechtlichen
Schutz. Wo aber der Staat erſt in der Bildung begriffen und
darum unvermögend iſt, rechtliche Hülfe zu gewähren, da be-
friedigt ſich das Bedürfniß derſelben durch ein gegenſeitiges
Schutz- und Trutzbündniß der einzelnen Individuen, und zwar
liegt es am nächſten, das bereits von der Natur ſelbſt dargebo-
tene Verhältniß der Familienverbindung dazu zu verwenden.
Letztere erlangt auf dieſe Weiſe durch die Hülfloſigkeit des Staats
[165]2. Der Staat — allgemeine Betrachtung. §. 13.
eine ganz andere Stellung und Bedeutung und eine ganz an-
dere Feſtigkeit, als ihr im entwickelten Staat zukömmt; ſie dient
als Surrogat des Staats, und nimmt als ſolches bedeutende
politiſche Elemente in ſich auf.


Im Laufe der Zeit verwandelt ſich die durch das ſtaatliche
Prinzip beſtimmte Familie in einen durch das Familienprinzip
beſtimmten Staat. Mehre Familien vereinigen ſich, eine Fa-
milie erweitert ſich zu einem Geſchlecht oder Stamm, der ſeiner-
ſeits ſich wieder in mehre Zweige, Geſchlechter und Familien
ſpaltet. So entſteht der Geſchlechterſtaat, ein Geſchiebe von
kleinern oder größern compakten Einheiten, die urſprünglich die
Verwandſchaft zum Prinzip hatten. Die Verbindung dieſes
Geſchlechterſtaates iſt ungleich loſer, als die jener kleineren
Kreiſe in ſich. In letzteren liegt die eigentliche Lebenskraft der
Verfaſſung; ſie ſind Staaten im Kleinen, die ſich zu einem
Staatenbund vereinigt haben.


Der Geſchlechterſtaat in ſeiner Jugendkraft bezeichnet nicht
bloß eine beſtimmte Form ſtaatlicher Verbindung, ſondern eine
beſtimmte Stufe der geſammten politiſchen und rechtlichen Ent-
wicklung. Einerſeits gibt die politiſche Function der Familie ihr
auch in privatrechtlicher Beziehung eine eigenthümliche Geſtal-
tung, die wiederum auf das Vermögen zurückwirkt. Anderer-
ſeits aber influirt die privatrechtliche Natur dieſes Verhältniſſes
auf den Staat ſelbſt und die ganze politiſche Geſinnungsweiſe.
Dies bewährt ſich auch in der excluſiven Stellung des Staats
nach außen hin. Da nur derjenige politiſch berechtigt iſt, der
zu einem Geſchlecht gehört, die Geſchlechter alſo die Pforten des
Staats ſind, ſo wird der Einlaß Fremder in den Staat ſehr
erſchwert; er ſetzt ja Aufnahme in die enge, über die bloß poli-
tiſchen Intereſſen weit hinausreichende Verbindung eines Ge-
ſchlechts voraus.


Findet nun eine Reception Fremder auf das Staats gebiet
ohne Aufnahme in die Geſchlechter in einem irgend erheb-
lichen Maße Statt, ſo liegt in dieſem Verhältniß der Keim
[166]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
einer reichen politiſchen Entwicklung. Je mehr die Klaſſe dieſer
Staatsangehörigen, die von der activen Theilnahme am Staat
ausgeſchloſſen ſind und ſich als Unterthanen des herrſchenden
Standes bezeichnen laſſen, an numeriſcher Stärke und Wohl-
ſtand zunimmt, um ſo mehr ſtrebt ſie, ihre rechtliche Stellung
zu verbeſſern, und dieſe Beſtrebungen mit der ewigen Friction,
die ſie hervorrufen, ſind für die ganze Rechts- und Staatsent-
wicklung von den wohlthätigſten Folgen. Sie ſpornen auf beiden
Seiten die vorhandenen Kräfte auf ihr höchſtes Maß und er-
ſchließen eine unverſiegbare Quelle politiſcher Intelligenz und
Thatkraft. Es iſt dies Verhältniß treffend verglichen 77) mit
„zwei aufeinander gefügten Mühlſteinen, durch deren Bewegung
das wahre politiſche Leben erſt hervortritt“; man könnte auch
auf die Funken verweiſen, die dem Feuerſtein entſprühen, wenn
der Stahl ihn trifft.


Neben dem Geſchlechterſtaat gibt es noch einen andern Aus-
fluß des Familienprinzips, den patriarchaliſchen Staat. Der
Unterſchied beider liegt darin, daß die Familie dort bloß zur
rechtlichen Baſis des Staats gemacht wird, hier aber den Pro-
totypus der ganzen Verfaſſung und Verwaltung gewährt. Das
Verhältniß der ſtaatlichen Unterordnung iſt dem der Kinder zum
Vater nachgebildet, die Macht des Staatsoberhauptes iſt eine
erweiterte väterliche Gewalt und wird in dieſem Geiſte gehand-
habt. Beide Ausflüſſe des Familienprinzips können in einer und
derſelben Staatsverfaſſung zuſammentreffen; der Geſchlechter-
ſtaat begründet dann das Verhältniß in der „Seitenlinie“, die
politiſche Verbrüderung; der Patriarchalſtaat das Verhält-
niß in „auf- und abſteigender Linie“, die politiſche patria
potestas
.


[167]2. Der Staat — allgemeine Betrachtung. §. 13.

Es iſt nun bemerkenswerth, daß dieſer zweite Ausfluß des
Familienprinzips in Rom nicht oder nicht mehr hervortritt. Die
Punkte, die er ſonſt einnehmen würde, nämlich die der Ueber-
und Unterordnung, fallen hier der Wehrverfaſſung zu. Die
Wehrverfaſſung ſteht auf der Stufenleiter von Formen der ſtaat-
lichen Gemeinſchaft höher, als die Familienverfaſſung; inſofern
ſie nämlich erſtens nicht ein bloßes Naturprodukt, ſondern ein
Werk menſchlicher Ordnung und Einſicht iſt, und zweitens trotz
der härtern Disciplin, die ſie in den Staat hineinbringt, doch
der privatrechtlichen Freiheit einen größeren Spielraum gewährt,
die politiſche und privatrechtliche Exiſtenz des Individuums nicht
in dem Grade vermengt, wie dies in der Familienverfaſſung
geſchieht. Sie tritt als Form des Staats nicht ſelten auf, na-
mentlich gern in Verbindung mit dem Grundeigenthum, näm-
lich im Lehnsſtaat wie z. B. bei den Germanen und Osmanen,
und dann auch wie in Rom und bei den Germanen zur Zeit
ihres erſten Auftretens in der Geſchichte in Verbindung mit dem
Familienprinzip. Mit dem Patriarchalſtaat iſt ſie incompatibel;
die demſelben eigenthümliche Vererbung der Staatsämter würde
ihrem Intereſſe ſchnurſtracks entgegenlaufen, und ebenſo iſt auch
die ſtaatliche Unterordnung, die beide begründen, ihrem Geiſt
nach eine völlig verſchiedene. Es liegt die Vermuthung nahe,
daß wo wir, wie bei den alten Römern und Germanen, die
Wehrverfaſſung in Verbindung mit dem Geſchlechterſtaat auf-
treten ſehen, erſtere den Patriarchalſtaat verdrängt hat. Der
urſprünglich dieſe beiden Ausflüſſe des Familienprinzips in ſich
vereinigende Familienſtaat erwies ſich bei fortgeſetzter kriegeri-
ſcher Lebensweiſe unzureichend. Das militäriſche Intereſſe war
prädominirend und bewirkte, daß die erblichen Würden des Pa-
triarchalſtaats den nach perſönlicher Tüchtigkeit vergebenen mi-
litäriſchen Aemtern Platz machten, die Geſchlechtereintheilung
aber ſich den Anforderungen der Wehrverfaſſung fügte.


Indem wir uns jetzt unſerer eigentlichen Aufgabe zuwenden,
bemerken wir, daß dieſelbe nicht bloß darin beſteht, darzuthun,
[168]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
daß der ältere römiſche Staat auf dem Familienprinzip und
der Wehrverfaſſung beruhte, ſondern ebenſowohl darin den Ein-
fluß nachzuweiſen, den dieſe beiden Motive auf das ganze
Recht ausgeübt haben. Wir befolgen dabei folgende Anord-
nung:


  • 1. Das Familienprinzip.
    • a. das Weſen der Gentilverbindung §. 14.
    • b. Stellung des Individuums zur Gemeinſchaft §. 15.
    • c. Stellung außerhalb der Gentilverbindung §. 16.
  • 2. Der Einfluß der Wehrverfaſſung auf Staat und Recht §. 17.

1. Das Familienprinzip.

Die Gentilverbindung — Die Gens eine Familie im Großen
und ein Staat im Kleinen — Einfluß auf das geſammte Recht.

XIV. Der römiſche Geſchlechterſtaat gleicht einer Pyramide.
Die Baſis deſſelben bilden dreihundert Gentes, die in pyrami-
daliſcher Abſtufung zuerſt in dreißig Curien, ſodann in drei
Tribus und endlich in die perſönliche Spitze des Ganzen, den
König, zuſammenlaufen. Nur die Gentes ſtehen hier zur Be-
trachtung; es iſt bereits im vorigen Paragraphen bemerkt, daß
nur ſie dem Familienprinzip, die Curien und Tribus aber ſowie
das Königthum der Wehrverfaſſung angehören. Daß die Gen-
tes in der That auf dem Familienprinzip beruhen, iſt zwar in
Abrede geſtellt, allein man hat dabei auf Unweſentliches Ge-
wicht gelegt. Ob nämlich alle Mitglieder einer Gens wirklich
denſelben Stammvater gehabt haben, ob die Idee der Verwand-
ſchaft ſich im Laufe der Zeit völlig verloren und die Gens ſich
in eine gewöhnliche politiſche Corporation verwandelt hat, das
iſt gleichgültig. Das weſentliche iſt, ob die Gens in ihrem gan-
zen Geiſt und Zuſchnitt urſprünglich auf der Idee der Familien-
verbindung beruht, und ein Blick, ſollte man ſagen, müßte dies
[169]2. Der Staat — 1. Familienprinzip — die Gentilverbindung. §. 14.
zur Evidenz erheben. Die Sprache gibt uns in der Bezeich-
nung gens, Geſchlecht, den deutlichſten Fingerzeig. 78)


Wir wenden uns zuerſt der inneren Organiſation der Gens
zu und faſſen das Reſultat der folgenden Ausführung in den
Satz zuſammen, daß die Gens die Identität der Familie und
des Staats iſt, ſich, wie man es will, als eine Familie mit
ſtaatsrechtlichem Charakter und als ein Staat mit familienarti-
gem Charakter bezeichnen läßt. Sie geht hervor aus der Fami-
lie und bewahrt ſich die Innigkeit dieſer Verbindung; indem ſie
aber andererſeits eine politiſche Größe wird, wirkt dieſe ihre
politiſche Seite ebenſo ſehr auf ihre familienrechtliche Seite zu-
rück, wie letztere auf jene. Beide Seiten laufen ſo in einander
über, daß eine genaue Scheidung derſelben kaum möglich iſt.


Da die Gentilitätsverbindung ſchon früh ihre weſentliche
Bedeutung verlor, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß un-
ſere Nachrichten über ſie nur dürftig und unvollſtändig ſind.
Aber es ragen doch noch einzelne erhaltene Punkte hervor, aus
denen ſich mit Hülfe ſonſtiger hiſtoriſcher Analogien und der
inneren Conſequenz der Sache ſelbſt das Weſen jener Verbin-
dung beſtimmen läßt. Wir wollen dieſen Verſuch machen.


Die Verbindung, die die Gens begründet, umfaßt die ganze
Exiſtenz des Einzelnen; alle Intereſſen, die ſein Leben bewe-
gen, weiſen ihn auf ſie zurück und finden innerhalb ihrer theils
ihre ausſchließliche Befriedigung, theils wenigſtens Anknü-
pfungspunkte. Die Verehrung der Götter wie der Waffendienſt
und die Ausübung politiſcher Thätigkeit führt die Gentilen ſtets
wieder zuſammen. In den heiligſten und ernſteſten Momenten
des Lebens, im Tempel wie auf dem Schlachtfelde, ſtehen ſie
ſich zur Seite; Schande und Ehre, Glück und Unglück iſt ge-
meinſam. Der Glanz und der Ruhm der Gens kömmt dem Ein-
[170]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
zelnen zu Gute, wie umgekehrt ſeine Thaten auf ſie Schatten
oder Licht werfen. Darum nimmt die Gens an den Schickſalen
und Handlungen des Einzelnen das lebendigſte Intereſſe; er
ſteht ja zu ihr nicht in dem loſen Verbande eines Corporations-
mitgliedes, das nur gemeinſame Rechte mit ihr auszuüben hat,
ſondern in dem eines Familienmitgliedes, deſſen Wohl und
Wehe, Schande und Ehre die ganze Familie berühren.


Dies äußert ſich auf doppelte Weiſe, nämlich theils in dem
Anrecht, das der Einzelne an die Gens, theils in dem, das ſie
an ihn hat. Jenes beſteht in dem Anſpruch auf Schutz und Un-
terſtützung, dieſes in den Beſchränkungen, denen der Einzelne
im Intereſſe der Gens unterworfen iſt.


Die gegenſeitige Unterſtützungspflicht der Verwandten iſt
einer der natürlichſten und regulärſten Ausflüſſe des Familien-
prinzips. Die Form, in der, und das Maß, bis zu dem ſie Statt
findet, iſt bei verſchiedenen Völkern verſchieden; ſo ſteigert ſie
ſich bei einigen bis zur Blutrache, bei andern wie z. B. den
Germanen äußert ſie ſich in der Verpflichtung, einen Antheil
am Wehrgeld beizuſteuern. 79)


Was nun den Umfang dieſer Verpflichtung im älteſten rö-
miſchen Recht anbetrifft, ſo wird zunächſt die Annahme einer
rechtlichen Vertretungspflicht ſchwerlich auf Widerſpruch ſto-
ßen. Ein Anwendungsfall derſelben iſt uns ausdrücklich be-
zeugt, nämlich die Vormundſchaft. 80) Fehlte es nämlich an ei-
nem Vormunde, ſo traten zur Aushülfe die Gentilen ein. Dies
iſt begreiflicherweiſe nicht ſo zu verſtehen, als ob ſämmtliche
[171]2. Der Staat — 1. Familienprinzip — Verpflichtung der Gens. §. 14.
Mitglieder der Gens die Vormundſchaft geführt hätten, ſondern
durch ein Dekret derſelben wurde ſie einem unter ihnen übertra-
gen. Die Vorſorge der Gens beſchränkte ſich aber nicht bloß auf
die Beſtellung des Vormundes, ſondern ſchloß ohne Zweifel
auch eine Beaufſichtigung deſſelben in ſich. Dem unfähi-
gen und verdächtigen Vormund gab die Gens auf, ſein Amt
niederzulegen oder zu cediren; ſträubte er ſich, ſo konnte ſie ur-
ſprünglich gewiß ſelbſt ſeine Abſetzung verfügen, im ſpätern
Recht aber dieſelbe dadurch herbeiführen, daß ſie Einen aus
ihrer Mitte zur Anſtellung der actio suspecti tutoris veran-
laßte. Dieſe Klage war eine Popularklage, die jeder aus dem
Volk erheben konnte, und das ältere Recht kennt noch einige
andere, mittelſt deren Jemand in gleicher Weiſe das Intereſſe
einer andern Perſon wahrnehmen kann. Sie bilden zu der
Strenge, mit der dies Recht im übrigen an der Sachlegitima-
tion feſthält, einen auffallenden Gegenſatz, und ich bin geneigt,
ſie als Ausflüſſe des Familienprinzips aufzufaſſen. 81) Wenn
Jemand außer Stand war ſich ſelbſt zu vertheidigen und dem
Mangel durch Beſtellung eines Vormundes nicht abzuhelfen
war, ſo lag es, wenn nicht die nächſten Verwandten ſich ſeiner
annahmen, der Gens ob, ihm den nöthigen Schutz zu erthei-
len. Dahin gehört z. B. der Fall, wenn er ſich in feindlicher
Gefangenſchaft befand. Sein zurückgelaſſenes Vermögen war
hier ohne Aufſicht, es bedurfte offenbar eines Schutzes. Das
ſpätere Recht gewährt denſelben in Form einer Popularklage,
[172]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
der actio furti gegen jeden, der Sachen aus dieſem Vermögen
entwandt hat; im älteſten Recht erſetzte die Gentilitätsverbin-
dung dieſen Mangel. Hierher gehört ferner der Fall, wenn ein
Gentile unrechtmäßigerweiſe in Rom ſelbſt in Haft gehalten
wurde, ſei es als angeblicher Sklave oder wegen behaupteter
Schuld. Trat hier nicht aus eignem Antriebe Jemand als vin-
dex libertatis
auf, ſo war es Sache der Gens, für die Beſtel-
lung eines ſolchen Sorge zu tragen. Sie verfolgt damit nicht
bloß ihr eignes Intereſſe, ſondern erfüllt zugleich eine ihr oblie-
gende Pflicht. Derſelbe Geſichtspunkt wird, wenn eins ihrer
Mitglieder erſchlagen, und kein näherer Verwandter vorhanden
oder fähig war, ihn zu rächen, ihr das Rächeramt übertragen
haben. Noch in ſpäterer Zeit wird es den Verwandten zur Pflicht
gemacht, in rechtlichem Wege den Mörder zu verfolgen; was
aber in ſpäterer Zeit in Form der Klage bewirkt wird, geſchah
urſprünglich in Form der Selbſthülfe. In einer Einrichtung,
die auf ein angebliches Geſetz des Numa zurückgeführt ward,
läßt ſich noch eine Spur der alten Blutrache erkennen. 82) Wenn
Jemand einen andern aus Verſehn getödtet hatte, ſo mußte
er den Verwandten deſſelben einen Widder ſtellen; es war der
Sündenbock, an dem ſie ſtatt ſeiner die Todesſtrafe vollzogen. 83)
Das vergoſſene Blut forderte wieder Blut; hatten die Ver-
wandten
im Fall des unvorſätzlichen Todtſchlages dieſe For-
derung geltend zu machen, ſo galt das um ſo eher im Fall des
Mordes.


[173]2. Der Staat. 1. Familienprinzip. Unterſtützungspflicht d. Gens. §. 14.

Wie das Unvermögen des einzelnen Gentilen, ſich ſelbſt zu
rächen oder ſein Recht geltend zu machen, die Gens zur Rache
oder zum Beiſtand verpflichtete, ſo legte auch pekuniäres Unver-
mögen deſſelben ihr die Verpflichtung zur Unterſtützung auf.
Die Klaſſiker 84) bezeugen uns dies für den Fall des Loskaufes
aus feindlicher Gefangenſchaft, für ſchwere, ungewöhnliche
Staatsabgaben und ſelbſt für die über ein einzelnes Mitglied
verhängten Geldbußen. Ob dieſe Verpflichtung mehr ſittlicher,
als juriſtiſcher Art war, ob ſie im letztern Fall ſogar, wie dies
bei den Germanen hinſichtlich der Pflicht, einen Theil des Wehr-
geldes zu entrichten, Statt fand, 85) von dritten Perſonen gel-
tend gemacht werden konnte, ob ſie alſo mit andern Worten
eine eventuelle Haftungspflicht der Gens in ſich ſchloß, läßt
ſich nicht beſtimmen. Dagegen darf man annehmen, daß es ein
Ehrenpunkt für die Gens war, ihre durch unverſchuldete Armuth
in Noth z. B. in Schuldhaft gerathenen Mitglieder nicht im
Stich zu laſſen. Ob ſie in feindlicher Gefangenſchaft oder in
Rom ſelbſt im Kerker ſchmachteten und den Verkauf trans Ti-
berim
zu gewärtigen hatten, war in der That gleichgültig.


Die erforderliche Beiſteuer mochte theils durch freiwillige
Beiträge aufgebracht, theils durch ein Dekret der Gens ausge-
ſchrieben werden. Es iſt denkbar, daß auch das Vermögen der
Gens, worüber nachher ein mehres, für ſolche Zwecke in An-
ſpruch genommen ward.


Dieſe gegenſeitige Unterſtützungspflicht, man möchte ſie eine
Aſſekuranz gegen Noth und Unbill nennen, gab den Patriciern
den Plebejern gegenüber ein außerordentliches Uebergewicht.
In dieſer privatrechtlichen Verbrüderung lag vielleicht ebenſo
[174]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
ſehr der Grund ihrer unverwüſtlichen Widerſtandskraft, als in
ihrer dominirenden ſtaatsrechtlichen Stellung.


Es liegt auf der Hand, daß dieſem Anrecht, das der Ein-
zelne an der Gens hatte, Beſchränkungen und Verpflichtungen
von ſeiner Seite correſpondiren mußten. War er auf die Gens,
ſo war ſie wiederum auf ihn verwieſen; beide Seiten dieſes
Verhältniſſes waren Ausflüſſe deſſelben Familienprinzips und
bedingten ſich gegenſeitig.


Der Geſichtspunkt, der dieſen Beſchränkungen, die wir
gleich im einzelnen kennen lernen wollen, zu Grunde liegt, iſt
der eines coordinirten Verhältniſſes ſämmtlicher Gentilen, das
gegenſeitige Rechte und Verpflichtungen mit ſich führt. Ich muß
dieſe Bemerkung um ſo mehr betonen, als der Anſchein mit ihr
in Widerſpruch ſteht, die richtige Auffaſſung jenes Verhältniſ-
ſes meiner Anſicht nach aber eine den engen Kreis der Gens
weit überragende Bedeutung hat. Es ſoll im folgenden Para-
graphen nachgewieſen werden, daß auch das Verhältniß des
Einzelnen ſowie der Gens zum Geſammtſtaat das der Coordina-
tion iſt, und nur innerhalb der Wehrverfaſſung eine Subordi-
nation hervortritt. Inſofern nun der Geſammtſtaat nur eine
Gens im vergrößerten Maßſtabe iſt, ſowie man die Gens einen
Staat im verkleinerten nennen kann, müſſen wir bereits hier
jenes durchgehende Verhältniß der ſtaatlichen Gemeinſchaft ge-
nau ins Auge faſſen. Die Beſchränkungen, die wir hier finden
werden, wiederholen ſich dort; überzeugen wir uns hier gleich,
daß ſie nicht auf der Idee ſtaatlicher Unterordnung beruhen.


Die Gens iſt nichts, als der Complex ſämmtlicher Gentilen,
und ihre Bezeichnung mit dem Ausdruck: gentiles drückt mit
einem Wort das wahre Weſen derſelben aus. Iſt ſie nämlich
nur der Complex der Gentilen, ſo kann ſie auch keine höhere
Macht haben, als letztere ſelbſt oder mit andern Worten das
einzelne Mitglied ſteht nicht unter der Gens, ſondern neben
den Gentilen. Das Verhältniß wird dadurch kein anderes, daß
dieſelben einen aus ihrer Mitte zum Vorſteher (decurio) wäh-
[175]2. Der Staat — 1. Familienprinzip — Beſchränkung d. Gentilen. §. 14.
len. Abgeſehen von ſeiner militäriſchen Function, nach der er
ſeinen Namen trägt, hat er nichts zu befehlen, ſondern nur die
Verhandlungen der Gens zu leiten und in ihrem Namen das
Opfer darzubringen. Die Conſervirung des urſprünglichen Fa-
milienbandes in der Gens beſchränkt ſich auf das Verhältniß
der Brüder untereinander; das der patria potestas iſt weder
in der Gens noch in dem Geſammtſtaat ſtaatsrechtlich nach-
gebildet.


Wenn nun dies coordinirte Verhältniß der Verbrüderung
dem Einzelnen Beſchränkungen auferlegt, ſo ſind dieſelben nicht
anders aufzufaſſen, als der Preis, um den er der Vortheile die-
ſes Verhältniſſes theilhaftig iſt; ſie tragen keinen andern Cha-
rakter, als die Beſchränkungen, denen ſich Jemand durch Ein-
tritt in irgend eine privatrechtliche Verbindung, ja durch Ab-
ſchluß eines Vertrages unterwirft. Wenn das Mitglied einer
ſolchen Verbindung ſich durch ſein Benehmen derſelben unwür-
dig macht, was liegt näher, als ihn zu exkludiren? Eine an-
dere Bewandtniß aber hat es auch nicht mit jener ſittenrichter-
lichen Gewalt der Gens, von der uns als einzelnes Beiſpiel
die Verdammung des Gedächtniſſes eines unwürdigen Gentilen
nach ſeinem Tode ſo wie der Beſchluß, daß Niemand fortan
ſeinen Namen tragen ſolle, gemeldet wird. Man hat darauf
den gewiß unbedenklichen Schluß gebaut, daß jenes Mitglied
bei Lebzeiten die Strafe des Ausſchluſſes aus der Gens erlitten
haben würde. Das enge Verhältniß der Gentilen und die So-
lidarität ihrer Ehre ſchloß eine ſolche Sorge für die ſittliche
Reinheit und den guten Namen ihrer Genoſſenſchaft nothwen-
digerweiſe in ſich.


Als geringere Strafe erſcheint die Ausſchließung von dem
gentilitiſchen Gottesdienſt. Andere Strafen werden uns zwar
nicht bezeugt, allein ſie ſind mittelbar durch jene beiden möglich
gemacht. Wenn die Gens z. B. über ein Mitglied, das ſich
gegen ſie vergangen, eine Geldſtrafe verhängt hatte, ſo brauchte
letzteres ſich dem Beſchluß zwar nicht zu fügen — denn wie
[176]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
konnten ſeine Genoſſen ihn ſtrafen, ihm etwas von dem Sei-
nigen entziehen? — aber andererſeits konnten letztere dann er-
klären, daß ſie ihn nicht länger beim Gottesdienſt oder über-
haupt nicht länger in ihrer Mitte dulden wollten. In dieſer
Negative lag das indirekte Zwangsmittel zur Entrichtung
der poſitiven Strafe. Dieſe Entrichtung ſtützte ſich alſo auf die
eigne Wahl des Beſtraften, auf ſeine Einwilligung, und ich
darf hier, wo uns zum erſten Mal auf dem Gebiete des älteſten
Rechts die Strafe begegnet, gleich darauf aufmerkſam machen,
daß auch ſie ſich jenem Fundamentalgrundſatz fügt, den wir in
§. 12 in dem ältern Civilprozeß nachgewieſen haben, daß näm-
lich der ſubjektive Wille der Urquell der Berechtigung und Ver-
pflichtung iſt. Wie dort die manus injectio auf indirektem Wege
die vertragsmäßige Unterwerfung unter den Richter bewirkt, ſo
hier die Ausſicht auf Ausſtoßung aus der Gens die Unterwer-
fung unter das gefällte Strafurtheil.


Dies negative Strafmittel erſetzte alſo der Gens vollſtändig
den Mangel einer poſitiven Strafgewalt oder richtiger ſie ſchloß
letztere dem Erfolg nach in ſich, ähnlich wie die Excommunica-
tion für die kirchliche Strafgewalt im Mittelalter dieſelbe Be-
deutung hatte. Es war damit der Gens möglich gemacht, eine
ſittenrichterliche Gewalt über das einzelne Mitglied auszuüben,
auf indirektem Wege jene, ſoll ich ſagen, theoretiſch unbe-
ſchränkte Freiheit des Individuums in höchſt wirkſamer Weiſe
zu temperiren. Es iſt nun meine feſte Ueberzeugung, daß dies
in ausgedehntem Maße geſchah, und zwar ſtütze ich ſie auf fol-
gende Erwägung. Es war eine ächt römiſche Idee, daß zwar
die individuelle Freiheit eines möglichen Mißbrauches wegen
rechtlich nicht beſchränkt zu werden brauche oder dürfe, dem
Mißbrauch aber auf anderm Wege, nämlich durch die ſittenpo-
lizeiliche Gewalt des Cenſors geſteuert werden müſſe. Wenn
nun dieſes für unſere Auffaſſung im hohen Grade befremdliche
Eingreifen des Cenſors in das Privatleben der römiſchen Sin-
nesweiſe ſelbſt zur Zeit der höchſten Freiheitsentwicklung nicht
[177]2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Gentil. Sittenpolizei. §. 14.
widerſtrebte, ſo darf man um ſo ehr der ältern Zeit eine gleiche
Anſicht unterlegen. Theils nämlich, weil dieſe Idee überhaupt
eine patriarchaliſche, kindlich naive iſt, theils und vor allem
aber weil dieſe ſittenrichterliche Gewalt in der alten Gentilver-
faſſung ungleich motivirter iſt, als in der ſpätern. Daß ein
öffentlicher Beamter den Bürger wegen Unfleißes, Leichtſinnes
u. ſ. w. zur Verantwortung zieht, hat etwas viel herberes, ent-
hält eine weit draſtiſchere Remedur, als wenn die Genoſſen, die
ihn im Nothfall unterſtützen ſollen, dies thun. Hinſichtlich der
letztern iſt es ein durch ihr eigenes Intereſſe und die Rückſicht
auf den guten Ruf ihrer Genoſſenſchaft gebotenes Sicherungs-
mittel; es ſind Familienmitglieder, die ihm eine Warnung er-
theilen, und kein Dritter wird hinzugezogen. Jene ſittenrichter-
liche Gewalt des Cenſors hat in der Familie ihren natürlichen
Ausgangspunkt.


Weit entfernt alſo, die Einführung der ſittenrichterlichen
Gewalt in Rom von der der Cenſur an zu datiren, erblicke ich
in letzterer nichts als die ſpätere Geſtalt einer uralten Einrich-
tung, eine Handhabung derſelben von Seiten des Geſammt-
ſtaats
gegenüber Plebejern ſowohl wie Patriciern, wäh-
rend dieſelbe bis dahin an die patriciſche Gentilverfaſſung ge-
knüpft geweſen war. Es iſt bezeichnend, daß die Cenſur zwei
Jahre nach der lex Canuleja, die den Plebejern das connubium
mit den Patriciern verlieh, eingeführt ward, und daß ſie in
demſelben Maße an Macht und Einfluß zunimmt, wie die alte
Gentilverfaſſung abnimmt. Nachdem durch jenes Geſetz die fa-
milienrechtliche Scheidewand zwiſchen Patriciern und Plebejern
niedergeriſſen war, legte die Cenſur den Keim zu einer Verall-
gemeinerung jener urſprünglich patriciſchen Sittenpolizei. Die
Idee war eine alte, die Form eine neue und bedingt durch den
Mangel des Gentilitätsverbandes bei den Plebejern. Die Straf-
mittel, die dem Cenſor zu Gebote ſtanden, hatten denſelben
Charakter, wie die der Gens, nämlich den der Ausſchließung
(von der Tribus, dem Senat, den Rittern); ſie beruhten auf
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 12
[178]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
derſelben Idee, wie bei ihr, nämlich daß die Gemeinſchaft kein
Recht habe, den Einzelnen wegen ſeiner Unwürdigkeit zu
ſtrafen, wohl aber ſich von ihm loszuſagen.


Dieſe charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit der cenſoriniſchen
Strafen möge noch als Argument für meine Anſicht aufgeführt
werden. 86) Der wahre, innere Grund derſelben aber liegt darin,
daß die römiſche Sittenpolizei ein Ausfluß des Familien-
prinzips
iſt, in dem Maße, daß die Handhabung derſelben
von Seiten des Cenſors nicht bloß berechtigt, auf eine frühere
Ausübung derſelben durch die Gens zurückzuſchließen, ſondern
ſelbſt erſt vermittelſt dieſer Anknüpfung an die Familie verſtänd-
lich wird. Jene Gewalt des Cenſors konnte nur dadurch gedei-
hen, daß ſie ein Pfropfreis von der der Gens war; auf dem
Boden der Gentilverfaſſung hatte ſie ſich erſt bilden und entwickeln
müſſen, um ſodann auch außerhalb deſſelben fortzukommen.


Dem bisherigen nach wird es keinem Bedenken unterliegen,
dieſer Sittenpolizei in ihrer urſprünglichen Geſtalt mindeſtens
denſelben Umfang zuzuweiſen, den ſie ſpäter in den Händen des
Cenſors hat. Es iſt aber bekannt, daß der Cenſor nicht bloß
wegen grauſamer, unehrenhafter, unſittlicher Handlungen zur
Verantwortung zog, ſondern auch wegen verkehrter oder leicht-
ſinniger ökonomiſcher Lebensweiſe. Sein Einſchreiten läßt ſich
auf den Geſichtspunkt zurückführen, daß es Statt fand, wo
Jemand der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, unter der das
Recht ihm eine unbeſchränkte Freiheit zugeſtanden hatte, näm-
lich der eines würdigen, verſtändigen Gebrauchs nicht entſpro-
chen; es gewährte das außerhalb des Privatrechts liegende Tem-
perament und Gegengewicht jener extremen Freiheit. So dürfen
wir der gleichen Gewalt der Gens dieſelbe Bedeutung für die
älteſte Zeit beilegen. Sie vermittelt das Prinzip des ſubjektiven
Willens, das als ſolches kein höheres ſittliches Motiv enthält,
[179]2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Gentil. Sittenpolizei. §. 14.
ſondern das reine Produkt des Egoismus iſt und die unſitt-
lichſten Conſequenzen in ſich ſchließt, mit der Sittlichkeit. Sie
ſchützt die Kinder, Frauen und Sklaven, die jenes Prinzip
der Gewalt des Hausherrn ohne Einſchränkungen überliefert,
gegen grauſame und tyranniſche Behandlung. Glaubte der
Vater oder Ehemann zur Ausübung ſeines jus necis ac vitae
berechtigt zu ſein, ſo lag nichts näher, als die Gens zur Aſſi-
ſtenz aufzufordern, und die Familiengerichte der ſpätern Zeit
ſind ſchwerlich das Produkt dieſer ſpätern Zeit, 87) ſondern fin-
den ihren natürlichen Ausgangspunkt in der Gentilverfaſſung,
in der Sittenpolizei der Gens ſowohl als in ihrer Verpflich-
tung, ſich auch ihrer in der patria potestas ſtehenden Mitglie-
der anzunehmen. Die Gens mahnt ferner den Verſchwender,
der nach der Conſequenz des Eigenthumsbegriffes das Erbthum
ſeiner Väter durchbringen und die Seinen darben laſſen, ja ſie
ſelbſt verkaufen kann, dem Unfug Einhalt zu thun. Beachtet
er die Mahnung nicht, ſo entzieht ſie ihm die Vermögensadmi-
niſtration durch eine cura prodigi. Daß wir in letzterer einen
Ausfluß und Reſt des Familienprinzips vor uns haben, bedarf
wohl keiner Bemerkung; ſie ſichert ebenſo ſehr das Erbrecht der
nächſten Verwandten des Verſchwenders, wie die Gens ſelbſt
gegen die Gefahr, daß letzterer ihr demnächſt zur Laſt falle.


Indem wir jetzt dieſe ſittenpolizeiliche Gewalt der Gens ver-
laſſen, mögen wir auch hier, wie wir es oben hinſichtlich ihrer
Unterſtützungspflicht thaten, der politiſchen Bedeutung derſel-
ben gedenken. Dieſe Gewalt verlieh der feſten korporativen
Stellung der Patricier erſt ihren Abſchluß. Ein Stand, der
feſt zuſammenhält und ſeine Mitglieder in der Noth unterſtützt,
wird immer ein bedeutendes Uebergewicht über alle andern ha-
ben. Dies Uebergewicht läßt ſich aber nur dann dauernd be-
haupten, wenn ein höherer Grad der Ehre und ſittlicher Reinheit
den Widerſpruch, der ſich ſtets dagegen erheben wird, verſöhnt.
12*
[180]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
Durch ſittenpolizeiliche Gewalt der Corporation über ihre Mit-
glieder kann dies letzte Gut nicht geſchaffen, wohl aber erhalten
und gefördert werden, und jene Einfachheit und Reinheit pa-
triciſcher Sitte, die ſelbſt der Parteihaß der Plebejer nicht in
Abrede zu ſtellen wagte, 88) und die begreiflicherweiſe die poli-
tiſche Poſition der Patricier außerordentlich verſtärken mußte, ſie
kömmt vor allem mit auf Rechnung jener gentilitiſchen Sitten-
polizei. Der praktiſche Inſtinkt der Römer hatte von vornherein
erkannt, daß die Freiheit, um Macht zu ſein, ſich ſelbſt Schran-
ken auflegen muß, und jener wilde Sinn, aus dem das Prin-
zip des ſubjektiven Willens hervorging, nahm keinen Anſtoß
daran, daß dies Prinzip dem Erfolge nach Beſchränkungen
unterworfen ward, die ſelbſt unſerm ſiechen Perſönlichkeitsge-
fühl als unerträgliche Bevormundung erſcheinen würden. Der
weſentliche Unterſchied liegt freilich darin, daß dieſe Beſchrän-
kungen in Rom das Werk des eignen Willens waren,
den gern gezahlten Preis enthielten, um den man ein Gut er-
kaufte, das in dieſem Prinzip ſelbſt nicht lag, nämlich Schutz,
Hülfe und Unterſtützung von Seiten der Genoſſen.


Faſſen wir jetzt die übrigen Beſchränkungen ins Auge, die die
Gentilverfaſſung nach ſich zog. Von dem in derſelben liegenden
Autonomierecht der Gens braucht weiter nichts geſagt zu wer-
den, als daß auch hier die bindende Kraft ihrer Beſchlüſſe ſich
auf vertragsmäßige gegenſeitige Verpflichtung der einzelnen Mit-
glieder zurückführen läßt. — Der Wirkung nach kommen dieſe
Beſchlüſſe Geſetzen gleich, der Form nach ſind ſie Verabredungen
der einzelnen Gentilen. Auch das Geſetz knüpft in Rom an den
Geſichtspunkt des Vertrages ſämmtlicher Einzelnen d. h. an
unſer Prinzip des ſubjektiven Willens an, und wir werden im
[181]2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Einfluß auf die Ehe. §. 14.
folgenden Paragraphen den Verſuch machen, die geſetzgebende
Gewalt des Geſammtſtaats ebenſowohl unter dieſen Geſichts-
punkt zu bringen, wie hier die der Gens.


Die Beſchränkungen, die wir jetzt noch kennen zu lernen ha-
ben, beziehen ſich auf das ältere Familien- und Vermögens-
recht. Wir dürfen dabei auch diejenigen berückſichtigen, die,
ohne gerade im Intereſſe der Gens eingeführt zu ſein, ſich doch
als Conſequenzen oder Ausflüſſe des Familienprinzips darſtel-
len. Als ſolche erſcheinen uns namentlich die hinſichtlich der
Ehe Statt findenden. Im ſpätern römiſchen Recht iſt die Ehe
ein ſehr profanes und hinſichtlich ihrer Dauer ganz in das
Belieben der Gatten geſtelltes Verhältniß. Im ältern Staat,
der ganz auf das Familienprinzip gebaut war, ward ſie mit be-
ſonderm Ernſt behandelt. Die Eingehung war ein religiöſer
Akt, und die Auflöſung derſelben nur in ſehr wenig Fällen und
nur unter Mitwirkung der Prieſter möglich. Zehn Zeugen nah-
men bei beiden Akten Theil; ſie vertraten entweder die zehn
Gentes der Curie oder die zehn Curien der Tribus, zu der der
Mann gehörte. In ihrer Zuziehung liegt der Gedanke ausge-
ſprochen, daß die Ehe des Einzelnen für den ganzen Stamm
Bedeutung und Intereſſe hat, ein öffentliches Ereigniß iſt. Viel-
leicht hatte dieſe Form auch den praktiſchen Zweck, die juriſtiſche
Möglichkeit der Ehe zu conſtatiren. Dieſe juriſtiſche Möglichkeit
war vor allem bedingt durch das connubium. Letzteres iſt nicht zu
verwechſeln mit einem Eheverbot. Das römiſche Recht erlaubte
ſich nicht 89) den Eingriff in die private Rechtsſphäre, Verbin-
dungen mit Perſonen, denen das connubium fehlte, zu unter-
ſagen
; ſondern es beſchränkte ſich darauf, dieſen Verbindungen
den Charakter einer römiſchen Ehe abzuſprechen d. h. auf
Frau und Kinder fand das römiſche Familienrecht keine Anwen-
[182]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
dung, und die ganze Nachkommenſchaft war von der Gens aus-
geſchloſſen. Auch dieſe Beſchränkung des connubium ſtellt ſich
alſo wieder nicht als eine abſolut bindende dar, ſondern als
eine ſolche, der man ſich freiwillig unterwarf, um ſeinen Kin-
dern das Gentilitätsrecht zu ſichern. Die Idee des connubium
iſt übrigens für die Rechtsanſchauung, mit der wir uns hier
beſchäftigen, ganz charakteriſch. Sie beruht auf jenem horror
alieni,
der die Kehrſeite des feſten, familienartigen Zuſam-
menhaltens bildet, auf jenem Beſtreben, alle fremdartigen Ele-
mente fernzuhalten und ſich nur aus ſich ſelbſt zu ergänzen. 90)
Seiner urſprünglichen Idee nach war das connubium auf die
Mitglieder des Geſchlechterſtaats beſchränkt; über ſie hinaus
mußte es ſelbſt ſtammverwandten Völkern erſt verliehen oder
mit ihnen vereinbart werden.


Wo die Familie frei und beweglich iſt, kann auch das Ver-
mögen es ſein; wo jene gebunden iſt, zieht dies für letztere die-
ſelbe Folge nach ſich. Die römiſche Gentilverfaſſung war nicht
vereinbar mit der vermögensrechtlichen Freiheit der ſpätern Zeit,
letztere kann ſich erſt auf den Trümmern jener gebildet haben.
Sollte die Gens ſtetig und feſt ſein, ſo mußte ſie ein feſtes ma-
terielles Fundament unter ſich haben, es mußte eine gewiſſe
Verbindung zwiſchen ihr und dem in ihr befindlichen Vermögen
geſichert ſein. Wir haben bereits die Sittenpolizei der Gens als
ein Mittel kennen lernen, der Dilapidation des Vermögens
vorzubeugen, aber es war nur von beſchränkter Wirkſamkeit.
Denn wie, wenn ein Mitglied mit ſeinem ganzen Vermögen in
eine andere Gens übertreten oder es in ſeinem Teſtament Nicht-
mitgliedern zuwenden wollte? War dies unbedingt erlaubt, ſo
[183]2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Einfluß aufs Vermögen. §. 14.
konnte eine Gens verarmen, die Laſten derſelben hätten für den
Einzelnen in demſelben Maße drückender, der Trieb, ſich ihnen
durch Austritt aus der Gens zu entziehen, in eben dem Grade
ſtärker werden können.


Von dieſer politiſchen Bedeutung des Vermögens ausge-
hend haben manche ſich zu der Annahme verleiten laſſen, das
Privateigenthum an Grund und Boden für den älteſten Staat
völlig zu läugnen und den ager publicus an deſſen Stelle zu
ſetzen. 91) Es ſcheint mir dies aber ein gefährlicher, weit über
ſein Ziel hinausfliegender Schluß zu ſein. 92) Unſere Quellen
widerſprechen dieſer Annahme mehr, als daß ſie dieſelbe beſtäti-
gen, 93) und abgeſehen von ihnen müßte man die dringendſten
allgemeinen Gründe haben, um einem Volke, bei dem das
Prinzip des Privatrechts von Anfang an in größter Schärfe
und Beſtimmtheit hervortritt, gerade das wichtigſte Eigenthum,
nämlich das an Grund und Boden, abzuſprechen. Zur Zeit der
XII Tafeln erſcheint letzteres bereits in ausgebildeter Geſtalt, 94)
keine Spur, kein leiſer Anklang findet ſich darin von dem an-
geblichen frühern Zuſtande. Hatte jenes plebejiſche Prinzip,
dem man das Privateigenthum an Grund und Boden zuweiſt,
bereits zur Zeit der XII Tafeln das patriciſche Prinzip ſo voll-
ſtändig und ſeit ſo langer Zeit über den Haufen geſtürzt, daß
[184]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
auch nicht eine einzige Reminiscenz davon übrig geblieben?
Und dies ſoll beim Grundeigenthum und noch dazu während
der Dauer des Geſchlechterſtaats geſchehen ſein? — zwei Ver-
hältniſſen, an denen ſich jene bekannte conſervative Kraft der
römiſchen Rechtsideen im verdoppelten und vervierfachten Maße
hätte bewähren müſſen? Dies hätte ferner durch die Plebejer ge-
ſchehen ſollen, ſie, die damals noch in einer ſehr beſcheidenen
und gedrückten Stellung lebten, ſie, die nach jener Annahme
Privateigenthum an Grund und Boden kannten und gar kein
Intereſſe daran hatten, den Patriciern daſſelbe aufzuzwingen?


Die ganze Anſicht enthält eine Häufung von Undenkbarkei-
ten und einen Verſtoß gegen den ſonſtigen Charakter der rö-
miſchen Rechtsbildung, indem ſie ihr zumuthet, daß ſie ihre
gewohnte Langſamkeit, Gleichmäßigkeit und Entwicklung von
innen heraus dies eine Mal völlig hätte verläugnen, an ſich
ſelbſt hätte untreu werden ſollen. Eine der fundamentalſten
Einrichtungen des römiſchen Staats hätte in der erſten Hälfte
der Königszeit noch in Blüthe ſtehen und bereits in der zweiten
Hälfte in ihr gerades Gegentheil umſchlagen müſſen. Und dieſe
coloſſale Revolution des ganzen Rechtszuſtandes — denn in
ihren Folgen war ſie das — wird nur motivirt durch den Sieg
eines angeblich von vornherein völlig entgegengeſetzten Prin-
zips; nicht durch inneres Bedürfniß, nicht durch Entwicklung
von innen heraus, ſondern durch die Macht des plebejiſchen
Beiſpiels und durch äußeres Hineintragen eines an ſich Frem-
den. Ohne Erſchütterungen wäre dieſe Revolution vorüberge-
gangen, keine Spur davon hätte ſich in der Erinnerung des
Volks, keine leiſe Reminiscenz im Recht ſelbſt erhalten! Das
freie unbeſchränkte Privateigenthum aber, wie es bei den Ple-
bejern beſtanden, hätte jetzt an die Stelle treten ſollen, ohne
daß die Gentilverfaſſung, deren innerſtes Weſen ſich dagegen
ſträubte, ſofort den Todesſtoß erhalten hätte?


Nein, es iſt dieſelbe Verkehrtheit, das urſprüngliche Pri-
vateigenthum innerhalb des Geſchlechterſtaates zu läugnen, als
[185]2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Einfluß aufs Vermögen. §. 14.
dann mit einem Salto mortale ins entgegengeſetzte Extrem ein
völlig freies und ungebundenes Privateigenthum anzunehmen.
Die Wahrheit liegt zwiſchen beiden Extremen in der Mitte. Es
gab nämlich von jeher in Rom an Grund und Boden theils
öffentliches theils ein durch das Intereſſe der Gens gebundenes
Privateigenthum.


Das öffentliche Eigenthum des Staats, der ager publicus,
iſt bekannt. Es unterliegt für mich aber keinem Zweifel, daß
dies Verhältniß ſich keineswegs auf den Geſammtſtaat be-
ſchränkte, vielmehr innerhalb jeder Gens ſich wiederholte, ja
ehr umgekehrt von der Gens auf den Geſammtſtaat, als von letz-
terem auf jene übertragen wurde. Ich berufe mich darauf, daß
die Gens den Staat im Kleinen darſtellt, daß von den drei In-
tereſſen, die ihren höchſten Brennpunkt im Geſammtſtaat fin-
den, den politiſchen, religiöſen und militäriſchen, jedes an der
Gens ihren niedern hat, daß, wenn zur Verſehung jener In-
tereſſen dort das Verhältniß des ager publicus nöthig iſt, es
hier mindeſtens ebenſo unentbehrlich erſcheinen muß. Der
Schwerpunkt und die Laſten des älteſten Staates ruhen nicht
ſowohl in und auf ihm ſelber, als in und auf den Gentes; be-
durfte er für das Dach, das er über die einzelnen Geſchlechter-
häuſer ſpannte, und das auf ihnen als auf ſeinen Pfeilern
ruhte, des ager publicus, ſo war daſſelbe Bedürfniß für die ein-
zelne Gens in einem noch höhern Grade vorhanden.


Die Benutzung der Gentilgrundſtücke läßt ſich auf verſchie-
denartige Weiſe denken, theils nämlich als eine allen Gentilen
gemeinſame und unentgeltliche, theils als eine getheilte und
entgeltliche, etwa auf Grund einer unter ihnen vorgenomme-
nen Verpachtung an die Meiſtbietenden. Das erſte Verhältniß
fand zweifellos hinſichtlich der Gentilbegräbniſſe Statt; 95) im
germaniſchen Geſchlechterſtaat finden wir es auch bei Ackerland, 96)
[186]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
für Weideland iſt es bei weitem das natürlichſte, und hierfür
wird es auch in Rom vorgekommen ſein.


Jene Gemeinſamkeitsverhältniſſe haben ſich nun, abgeſehen
vom Gentilbegräbniß, im ſpätern Recht nicht mehr erhalten,
wohl aber, wie ich glaube, eine wichtige, mittelbare, von ihrer
Beziehung zur Gentilverfaſſung befreite Nachwirkung derſelben
— die Popularklagen. Dieſe Klagen ſind eine merkwürdige Er-
ſcheinung; nicht bloß vom Standpunkt unſeres heutigen öffent-
lichen Rechts aus, indem nämlich mittelſt ihrer Privatperſonen
eine unter beſtimmte Rechtsgrundſätze geſtellte Polizei aus-
üben, 97) ſondern auch von dem des römiſchen, inſofern näm-
lich dies Recht im übrigen aufs allerſtrengſte an dem Grundſatz
der Sachlegitimation des Klägers feſthält, hier aber ſogar Kla-
gen gewährt, die nicht im geringſten ein ſpezielles Intereſſe deſ-
ſelben vorausſetzen.


Das Befremdende dieſer Erſcheinung verſchwindet, wenn
man ſie mit jener eigenthümlichen Gemeinſamkeit des Rechts,
wie ſie innerhalb der Gentilverfaſſung Statt fand, in Beziehung
ſetzt. Die Sachen der Gens gehörten ſämmtlichen Gentilen
zuſammen. 98) Dies Recht unterſchied ſich von dem, was Je-
manden als Einzelnen zuſtand, dadurch, daß es kein exkluſives,
ſondern ein ihm mit ſeinen Genoſſen ungetheilt-gemeinſames
und ſodann, daß es kein veräußerliches, ſondern ein untrennbar
mit der corporativen Gemeinſchaft verknüpftes war — eine Art
des Rechts, die im deutſchen Recht ſehr verbreitet, im ſpätern
römiſchen aber dem Prinzip der Exkluſivität des Rechts erlegen
[187]2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Gentilvermögen. §. 14.
iſt. 99) Die Popularklagen ſind nun ihrer urſprünglichen Idee
nach beſtimmt, jenes eigenthümliche Verhältniß des
ungetheilt-gemeinſamen Rechts
zu ſchützen. Jedes
Mitglied iſt an ſich klagberechtigt; wer wirklich Klage erhebt
z. B. wegen Verletzung des gemeinſamen Begräbniſſes, der ver-
tritt dadurch, daß er ſein eigenes Recht geltend macht, zu-
gleich das Intereſſe ſeiner Genoſſen. Sein Klagfundament aber
liegt in ſeinem eignen Recht, und der Umſtand, daß ſeine
Thätigkeit zugleich den andern zu Gute kömmt, gibt ihr keines-
weges den Charakter der Stellvertretung. 100) Dieſe Klagen laſ-
ſen ſich alſo wegen jener familienartigen Gemeinſamkeit, die ſie
zu ſchützen beſtimmt ſind, als Ausflüſſe des Familienprinzips
bezeichnen. Wenn die ſpätern römiſchen Juriſten in ihnen eine
Ausnahme von dem Grundſatz: nemo alieno nomine lege agere
potest
erblicken, nämlich als ob der Kläger mittelſt ihrer das
Recht und Intereſſe des Staats vertrete, ſo iſt dies von ihrem
Standpunkt aus richtig, für die ältere Zeit aber verkehrt, und
zwar ſelbſt für die res publicae verkehrt. Denn ſowie die Gen-
tilſachen nicht im Eigenthum der Gens als gedachter juriſtiſcher
Perſönlichkeit, ſondern in dem der Gentilen ſtehen, ſo auch die res
publicae
nicht in dem des Staats, ſondern ſämmtlicher Staats-
angehörigen. Der einzelne alſo, der z. B. wegen Verletzung
der Landſtraße klagt, ſtützt ſich auf ſein eignes Recht und In-
tereſſe, nur daß die Beziehung dieſer Sache zu ihm hier eine
ſchwächere und weniger in die Augen ſpringende iſt, als bei
[188]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
den Gentilgrundſtücken. Je ausgedehnter der Kreis derer wird,
die zur ungetheilt-gemeinſamen Benutzung und zur klageweiſen
Geltendmachung derſelben berufen ſind, um ſo mehr kann ſich
der Geſichtspunkt, daß jeder hier ſein eignes Recht ausübt, der
Beobachtung entziehen, und er mußte völlig verdrängt und aus-
geſchloſſen werden, als die Jurisprudenz die Theorie der juri-
ſtiſchen Perſonen aufbrachte und durchführte. An den res pu-
blicae
hatte jetzt der Staat als beſonderes Rechtsſubjekt Eigen-
thum; und wenn dennoch nach wie vor der Einzelne dieſerhalb
klagte, ſo konnte man fortan in ihm nur einen Vertreter er-
blicken.


Neben dem Geſammteigenthum der Gentilen gab es nun,
wie wir oben zu begründen verſuchten, auch Privateigenthum
an unbeweglichen wie beweglichen Sachen. Es iſt bereits be-
merkt, daß die Ungebundenheit, mit der ſich ſpäter die Idee des
Eigenthums entwickelt, mit der Gentilverfaſſung unvereinbar
war. Welcher Art die Beſchränkungen waren, denen die Dispo-
ſitionsbefugniß des Eigenthümers im Intereſſe der Gens un-
terlag, läßt ſich für die Veräußerung einzelner Sachen nicht
näher beſtimmen. 101)


Dahingegen glaube ich nachweiſen zu können, daß die
Gens gegen die Gefahr, ein Geſammtvermögen zu ver-
lieren, geſichert war. Ein ſolcher Verluſt war für ſie auf dop-
pelte Weiſe möglich, nämlich theils durch Austritt, theils durch
teſtamentariſche Dispoſitionen ihrer Mitglieder. Was jenen
erſten Fall anbetrifft, ſo ging das römiſche Recht von der An-
ſicht aus, daß dem Bürger der Austritt aus dem Staatsver-
bande jeder Zeit frei ſtehe, und damit ſeine Rechte wie ſeine
Pflichten gegen den Staat und die Einzelnen erlöſchen. Die
Gens konnte von ihrem Standpunkt aus der Aufgabe des
Staatsbürgerrechts nichts in den Weg legen; wer von ihr
[189]2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Veräußerung d. Vermög. §. 14.
nichts mehr begehrte, von dem durfte ſie auch ihrerſeits nichts
fordern. In dieſer Freizügigkeit lag auch in der That keine
ſonderliche Gefahr, wie wir in §. 16 ſehen werden. Ganz
anders aber ſtand die Sache, wenn Jemand ſeine Gens ver-
laſſen wollte, nicht um ſein Staatsbürgerrecht aufzugeben, ſon-
dern um in eine andere Gens überzutreten; ein Erfolg, der
auf dem Wege der Arrogation erreicht werden konnte, indem
nämlich der Austretende ſich von einem Mitgliede der neuen
Gens als Sohn annehmen ließ. Sein ganzes Vermögen fiel
damit dem Adoptivvater zu, kam alſo aus ſeiner bisherigen
Gens heraus. 102) Derſelbe Erfolg konnte dadurch eintreten,
daß Jemand das Mitglied einer andern Gens zum Erben ein-
ſetzte. In beiden Fällen hieng aber nach älterm Recht dieſe
Dispoſition weder ganz von der Zuſtimmung der betheiligten
Gens ab, noch war ſie ganz ins Belieben des Subjekts ge-
ſtellt. Das Syſtem der öffentlichen Garantie, das bereits
S. 141 angedeutet ward, und das wir im folgenden Paragra-
phen näher kennen lernen werden, gab dem Volk Gelegenheit,
den Conflikt zwiſchen dem Intereſſe der Gens und dem Willen
eines ihrer Mitglieder je nach Befund der Umſtände zu Gunſten
des einen oder andern Theils zu ſchlichten. Es konnte eben-
ſowohl Vorausſetzungen geben, unter denen jene beiden Maß-
regeln durchaus gerechtfertigt und wohl gar dem Intereſſe des
Staats förderlich erſchienen, als umgekehrte Fälle, in denen
der Widerſpruch der Gens zu reſpectiren war. Die der Ab-
ſtimmung des Volks vorausgehende Verhandlung gab den
intereſſirten Perſonen, wozu bei der Arrogation auch die Gläu-
biger gehörten, Gelegenheit, ihr Intereſſe geltend zu machen.
Wenn wir aber annehmen, daß urſprünglich in den zum Zweck
der Teſtamentserrichtung und der Arrogation abgehaltenen Co-
[190]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
mitien wirklich eine Abſtimmung erfolgt ſei, ſo darf wegen der
nähern Begründung dieſer Behauptung auf §. 11 u. 15 verwie-
ſen und mag an dieſer Stelle nur darauf aufmerkſam gemacht
werden, wie ſehr uns auch die Stellung der Gens zu derſelben
Annahme drängt.


Wir haben im bisherigen die innere Organiſation der
Gens betrachtet, und damit iſt das Weſentliche der Gentilver-
faſſung angegeben. Das Verhältniß der Gentes zum Ge-
ſammtſtaat läßt ſich für unſern Zweck mit wenig Worten erle-
digen. Letzterer iſt ein Staatenbund, der ſeinem letzten Grunde
nach auf den Gentes beruht. Nach den Gentes ſind die Rechte
und Laſten des Staats vertheilt, mit dem einzelnen Bürger ſteht
der Staat in keiner unmittelbaren politiſchen Beziehung. Die
Curien und Tribus ſind Zuſammenſetzungen der Gentes, deren
urſprüngliches Motiv ich in dem Intereſſe der Wehrverfaſſung
erblicke; ihre politiſche Bedeutung und ihre corporative In-
nigkeit tritt gegen die der Gentes ganz in den Hintergrund.
Letztere ſind ſittlich und juriſtiſch am ſtärkſten entwickelt, die
Verbindung wird loſer, je weiter ſie hinaufſteigt, und der Ge-
ſammtſtaat ſteht nicht über den Gentes, ſondern beſteht aus
ihnen d. h. ſeine Macht iſt nur die Summe der ihrigen. Wie
die Gens nur ein coordinirtes Verhältniß der Gentilen begrün-
det, ſo auch der Geſammtſtaat nur eine coordinirte Verbindung
der einzelnen Gentes. Die weitere Ausführung dieſes Ge-
dankens verſchieben wir paſſender auf den nächſten Paragraphen
und gedenken hier nur noch, bevor wir die Gens verlaſſen, der
Rückwirkung, die ſie unſerer Anſicht nach auf die Familie aus-
geübt hat.


Im ältern römiſchen Recht hat ſich die Familie von ihrer
natürlichen Baſis, der Blutsverwandtſchaft, weit entfernt.
Blutsverwandtſchaft iſt hier eine ſo ziemlich gleichgültige That-
ſache geworden; die civilen Verwandten, die Agnaten, haben
[191]2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Agnation. §. 14.
die Blutsverwandten, die Cognaten, in den Hintergrund ge-
drängt. Der entfernteſte Agnat und die Gentilen ſchließen den
emancipirten Sohn beim Tode ſeines Vaters oder den Enkel
bei dem ſeines mütterlichen Großvaters von der Erbſchaft aus;
beiden dem Verſtorbenen ſo nahe ſtehenden Perſonen, vielleicht
ſeinen einzigen Deſcendenten, erkennt das Recht, das in ihnen
nur Fremde erblickt, kein Erbrecht zu, ſelbſt nicht an letzter
Stelle. Woher dieſe ſcheinbare Härte? Sie war eine Conſe-
quenz der formaliſtiſchen Behandlung des Verwandtſchaftsver-
hältniſſes, die durch die politiſche Function deſſelben in der
Gentilverfaſſung nothwendig gemacht wurde. Indem die Fa-
milie eine politiſche Corporation wird, nimmt ſie nothwendi-
gerweiſe Beſtandtheile in ſich auf, legt ſich Beſchränkungen auf,
die ihrem urſprünglichen Weſen, der Einheit des Bluts und der
Liebe, fremd ſind. Es bereitet ſich damit eine Spaltung, die
Möglichkeit eines Auseinanderfallens der natürlichen und juri-
ſtiſchen Familie vor; dieſe durch das Geſetz mit den weſentlich-
ſten rechtlichen Vortheilen des Familienverhältniſſes ausgeſtat-
tet, jene derſelben beraubt und nur auf das freie Walten der
individuellen Liebe angewieſen. Aus der Oppoſition, in der
ſich die natürliche Familienliebe in einem ſolchen Fall zu der
juriſtiſchen Behandlungsweiſe fühlte, ging das Beſtreben her-
vor, der natürlichen Familie durch Rechtsgeſchäfte zu erſetzen,
was das Geſetz ihr verſagt hatte, namentlich alſo durch Teſta-
mente das Erbrecht. Bei den vor-römiſchen Völkern trat die Fa-
milie der teſtamentariſchen Freiheit entgegen, bei den Römern
treibt ſie durch ihre theilweiſe verſchobene Stellung dieſelbe her-
vor, wenigſtens läßt ſich dieſe Stellung als zureichender Grund
bezeichnen, der das Bedürfniß der Teſtamente in Rom motivirt,
während man abgeſehn davon auf eine ſolche Motivirung ver-
zichten, annehmen müßte, daß die Teſtamente nicht einem ſitt-
lichen Motive, ſondern der Willkühr, dem Widerſpruch gegen
die bei allen Völkern bemerkbare Verbindung des Erbrechts mit
der Familie ihren Urſprung verdankten. Im Zweifel darf man
[192]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
vermuthen, daß ein Rechtsinſtitut an dem Punkt zuerſt zum
Vorſchein gekommen iſt, wo das Bedürfniß nach demſelben am
dringendſten war. Wir haben für die römiſchen Teſtamente
einen ſolchen Punkt aufgedeckt und halten es für wahrſcheinli-
cher, daß daſſelbe ſittliche Motiv, dem das Erbrecht überhaupt
ſeine Exiſtenz verdankt, und das gerade in der älteſten Verfaſ-
ſung eine ſo mächtige Wirkſamkeit entfaltet, das der Familien-
liebe, auch die Teſtamente hervorgerufen, als daß die bloße
Willkühr dies hätte vollbringen können; daß mit andern Wor-
ten die Teſtamente nicht als Widerſacher, ſondern als Diene-
rinnen der Familie in der Geſchichte des Rechts auftreten.


Der Staat vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus — Die
publiciſtiſche Societät der Individuen — Baſirung der Strafge-
walt auf Rache, der geſetzgebenden Gewalt und des Rechts-
ſchutzes auf Vertrag — lex und jus — Dualismus der vom
Staat anerkannten und der bloß ſubjektiven Rechte.

XV. Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, hat
uns vom Individuum aus durch die Familie zur Gens geführt,
und wenn wir jetzt den letzten Schritt machen, den von der
Gens zum Staat, ſo iſt es nicht ſowohl der Punkt, bei dem
wir damit anlangen, der unſere Aufmerkſamkeit in Anſpruch
nehmen ſoll — jene vielbeſprochene älteſte Verfaſſung des rö-
miſchen Staats —, als der Schritt ſelbſt, den wir zu dem Zweck
zu thun haben. Unſere Frage iſt nämlich die: erſcheint der
Staat gegenüber den Ideen, die wir bisher haben kennen ler-
nen, als Schritt oder als Sprung, mit andern Worten mittelſt
ihrer conſtruirbar oder als etwas ſpezifiſch Neues?


Dieſe Frage mag befremdend erſcheinen; denn iſt, kann
man ſagen, der Staat gegenüber den Individuen nicht ſtets
etwas ſpezifiſch Neues, iſt er nicht eine von ihnen verſchiedene,
ihnen übergeordnete Macht, thätig werdend durch eigne Organe
und Vertreter, ein Weſen höherer Art mit höheren Zwecken und
[193]2. Der Staat — Verhältniß zum ſubjektiven Prinzip. §. 15.
höheren Mitteln? Das iſt allerdings der Staat der Gegenwart,
aber es iſt nichts verkehrter, als dieſe Auffaſſung überall, wo
der Staat in der Geſchichte ſich zeigt, zu ſupponiren; denn ſie
ſelbſt ſowohl wie der Staat, dem ſie entſpricht, iſt das Werk
eines langen hiſtoriſchen Prozeſſes. Uns erſcheint dieſe Auf-
faſſung ſo natürlich, daß wir nur gar zu leicht in den Fehler
verfallen, ſie in die Vergangenheit zu übertragen, während doch
letztere mit ihrem Staat völlig andere Ideen verband. So wie
ein und derſelbe Gegenſtand in verſchiedenen Sprachen von ſehr
verſchiedenen Geſichtspunkten aus benannt ſein kann, der Rö-
mer ſich, wenn er das lateiniſche Wort gebrauchte, den Gegen-
ſtand von einer ganz andern Seite, in ganz anderer Weiſe
dachte, als wir bei dem entſprechenden Ausdruck unſerer Sprache,
ſo iſt es auch mit dem Staat und allen ſeinen Gewalten und
Functionen der Fall. Civitas, res publica bezeichnet denſelben
Gegenſtand, den wir Staat nennen, lex überſetzen wir mit
Geſetz, judex mit Richter, poena mit Strafe u. ſ. w., und es
erſcheint uns unbedenklich, den älteſten römiſchen Staat, weil
wir leges und judices in ihm antreffen, mit einer geſetzgeben-
den und richterlichen Gewalt auszuſtatten. An dieſen moder-
nen Ausdrücken klebt aber die ganze Staatsanſchauung unſeres
Jahrhunderts; unbewußt tragen wir mit jedem Wort etwas
Falſches in den römiſchen Staat hinein und überſetzen ihn in
unſere heutige Vorſtellungsweiſe.


Dieſer Fehler iſt es, den ich im folgenden unausgeſetzt be-
kämpfen werde. Ich hoffe zeigen zu können, daß der älteſte
römiſche Staat auf ganz andern Ideen beruhte, als die wir mit
dem Staat verbinden, daß die Römer unter res publica, jus
publicum, judex, poena publica
u. ſ. w. ſich etwas ganz an-
ders dachten, als wir unter den entſprechenden Ausdrücken un-
ſerer Sprache, ſich dies alles nämlich dachten vom Standpunkt
des ſubjektiven Prinzips aus. Dieſes Prinzip haben wir oben
§. 10—12 als den Ausgangspunkt der ganzen römiſchen Rechts-
anſchauung kennen lernen, von dieſem bereits gewonnenen
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 13
[194]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
Punkt aus müſſen wir uns den Staat zu conſtruiren ſuchen.
Möge vorläufig unſer Verſuch den Schein einer aprioriſtiſchen
Conſtruction auf ſich laden, im Verlaufe der Darſtellung wird
dieſer Schein hoffentlich mehr und mehr ſchwinden, und ich
halte meinen Zweck für völlig erreicht, wenn mir ſchließlich nur
die bloße Möglichkeit meiner Anſicht zugeſtanden wird. Die
erwieſene Möglichkeit einer Entſtehung des römiſchen Staats
aus dem ſubjektiven Prinzip heraus hat für die Annahme ihrer
Wirklichkeit daſſelbe Gewicht, das man jeder Hypotheſe ein-
räumt, die zwei hiſtoriſch beglaubigte Punkte durch eine Ver-
bindungslinie zu verknüpfen weiß. Da die Geſchichte wie die
Natur keine Sprünge kennt, da beide das Größte aus dem klein-
ſten Keim hervorgehn laſſen, ſo ſind wir ganz in unſerm Recht,
wenn wir für den Staat und ſeine Inſtitutionen uns nach ge-
ringen Anfängen umſehn, ſie an jenes ſittliche Minimum, das
wir bisher gefunden haben, anzuknüpfen verſuchen.


Vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus ſtellt ſich die
ſtaatliche Gemeinſchaft als ein Vertragsverhältniß dar. Der
Zuſtand der Verträglichkeit, in dem der Einzelne mit dem
Einzelnen lebt, iſt die Folge eines ausdrücklichen oder ſtill-
ſchweigenden Vertrages, der Friede, pax, die des pactum.
Das begründete Gemeinſchaftsverhältniß aber iſt das der
Gleichheit, der Coordination, und nach innen hin läßt
ſich unter Aufrechthaltung dieſes Geſichtspunktes eine Rechts-
und Staatsentwicklung denken, wie dies im folgenden nachge-
wieſen werden ſoll. Aber ſowie Gefahren von außen drohen,
treibt die Macht der Umſtände, das Bedürfniß der Selbſterhal-
tung das Subordinationsverhältniß hervor. Der äußere Feind
kömmt der Entwicklung des Staats zu Hülfe, zwingt ihm eine
ſtreng militäriſche Ordnung und Verfaſſung auf, die zwar zu-
nächſt nur zur Abwehr des Feindes beſtimmt iſt, unvermerkt
aber eine Rückwirkung auf die innere Organiſation des Staats
[195]2. Der Staat — publiciſt. Societät — öffentl. Rechte. §. 15.
ſelbſt ausübt. Wir werden nun dieſen Punkt, von dem aus
in Rom die Idee ſtaatlicher Ober- und Unterordnung ſich ent-
wickelt hat, bei Gelegenheit der Wehrverfaſſung ins Auge faſ-
ſen, hier aber uns zunächſt auf jenes Verhältniß der Coordina-
tion, wie es durch das ſubjektive Prinzip gegeben iſt, beſchrän-
ken, und zwar indem wir uns die Conſequenzen deſſelben für
den Staat und ſeine Verfaſſung im einzelnen vergegenwärtigen.


1. Der Staat verhält ſich zu den Bürgern ebenſo, wie die
Gens zu den Gentilen d. h. er iſt nichts von ihnen verſchiede-
nes, nichts außer und über ihnen, ſondern der Staat ſind
ſie ſelbſt
, Staat und Volk iſt gleichbedeutend. Wenn die
natürlichen Perſonen bei der Bildung der Gens der Abſtraction
einer von ihnen verſchiedenen Perſönlichkeit noch nicht erlegen
ſind, ſo folgt daraus, daß das bloße Addiren mehrer Gentes
zu einem Geſammtſtaate, das Zuſammentreten mehrer Perſo-
nen auf der einen mit mehren Perſonen auf der andern Seite
dies Verhältniß nicht ändert. Beide Verhältniſſe laſſen ſich
mit einer Societät vergleichen und im Gegenſatz dazu das Ver-
hältniß des heutigen und auch des ſpätern römiſchen Staats zu
den Bürgern als das einer juriſtiſchen Perſon zu ihren Mit-
gliedern. Aus dieſem Hauptgeſichtspunkt folgt nun:


2. Soweit dieſe publiciſtiſche Societät reicht, erſcheint als
Subjekt der daraus fließenden Rechte, als Vertreter ihrer In-
tereſſen nicht der Staat, ſondern das geſammte Volk, die
ſämmtlichen Bürger und folglich auch jeder einzelne derſelben.
Privatrechte und öffentliche Rechte unterſcheiden ſich nicht durch
Verſchiedenheit des Subjekts von einander; Subjekt iſt für
beide die natürliche Perſon, und der Unterſchied liegt nur
darin, daß die Privatrechte auf den Einzelnen eine ausſchließ-
liche Beziehung haben, während an den öffentlichen jeder par-
ticipirt. Der Ausdruck für jene ausſchließliche Beziehung iſt
proprium (pro privo), 103) für dieſe dem Volk gemeinſamen
13*
[196]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
Intereſſen populicum, publicum, popularis. Res publica, nach
ſpäterer Auffaſſung der Staat als Perſönlichkeit gedacht, be-
zeichnet daher urſprünglich nichts weiter, als was allen ge-
meinſam iſt, res publicae die einzelnen Sachen der publiciſti-
ſchen Societät z. B. öffentliche Wege, Plätze u. ſ. w., an
denen jeder gleiches Recht hat. 104)


Wenn nun die einzelnen Individuen als Subjekte der öf-
fentlichen Rechte aufzufaſſen, die öffentlichen Intereſſen nichts
ſind, als die Intereſſen Aller und darum auch jedes Einzelnen,
ſo folgt daraus, daß jeder Einzelne berufen und berechtigt iſt,
dieſe Intereſſen wahrzunehmen, eine Verletzung derſelben zu
verhindern, oder, wenn ſie geſchehen, ſich in derſelben Weiſe
Genugthuung zu verſchaffen, wie in ſeinen Privatangelegenhei-
ten. Hinſichtlich letzterer beſtand das urſprüngliche Mittel in
der Selbſthülfe, und erſt im Laufe der Zeit ward daſſelbe durch
die Klage verdrängt. Denſelben Entwicklungsgang dürfen wir
auch hier annehmen, und zwar können wir dabei in gleicher
Weiſe, wie auf dem Gebiete des Privatrechts, eine Selbſthülfe
im engern Sinn und eine Privatrache unterſcheiden. Eine
Beeinträchtigung des freien Gebrauchs der öffentlichen Sachen,
eine Gefährdung der Sicherheit der Paſſage u. ſ. w. würde nur
zur Selbſthülfe im engern Sinn Veranlaſſung gegeben haben,
ſie enthält keine Verletzung der Perſönlichkeit des Berechtigten.
In ſpäterer Zeit tritt an die Stelle dieſer vom Volk in form-
loſer Weiſe gehandhabten Polizei die actio popularis, über die
bereits bei Gelegenheit eines ähnlichen Verhältniſſes innerhalb
der Gens (S. 187) das nöthige bemerkt iſt. Wie ſehr ſich
in der actio popularis, die jeder Bürger als ſolcher anſtellen
[197]2. Der Staat — vindicta publica. §. 15.
kann, die ganze Auffaſſung, um die es uns hier zu thun iſt,
daß nämlich die Bürger, nicht der Staat das Subjekt der öf-
fentlichen Rechte ſind, abſpiegelte, darauf braucht wohl nicht
erſt beſonders aufmerkſam gemacht zu werden.


Die Privatrache hatte Genugthuung für eine zugefügte Unbill
zum Zweck, die Handlung, die ſie veranlaßte, war ein delictum
privatum,
bezog ſich ausſchließlich auf das Recht dieſer verletz-
ten Perſon. War aber durch das Delikt dem ganzen Volk eine
Unbill zugefügt (delictum, crimen publicum) — und dies war
mittelbar auch bei einer Handlung möglich, die zunächſt nur
gegen eine Privatperſon gerichtet war — ſo verſtand ſich auch
hier die Rache des Verletzten von ſelbſt, das ganze Volk übte
Rache (vindicta publica). In einzelnen Spuren ſchimmert die-
ſer primitive Zuſtand, von dem die Geſchichte uns bei andern
Völkern ſo viele Beiſpiele gewährt und täglich unter unſern
Augen wiederholt, noch deutlich genug durch. 105) Den fal-
ſchen Zeugen ſtürzte das Volk vom tarpejiſchen Felſen, und
den homo sacer, über den wir erſt bei Gelegenheit des religiö-
ſen Prinzips handeln können, ſchlug todt, wer da Luſt hatte.
Wie nun aus der Privatrache ſich die Klage auf Privatſtrafe
entwickelte, ſo aus der vindicta publica die auf öffentliche Strafe
(judicium publicum). In ſpäterer Zeit, als der Staat, nicht
die Totalität der Einzelnen als der Verletzte aufgefaßt wird,
fallen Delikt und Verbrechen, Privat- und öffentliche Strafe
ſowohl ihrem Begriff als der Form des Verfahrens nach weit
auseinander, allein das urſprüngliche iſt auch hier die Identität
der Gegenſätze, wie ſie ſich noch darin ausſpricht, daß die Aus-
drücke delictum, vindicta, poena ebenſowohl von Verbrechen
als Privatdelikten gebraucht wurden.


Der Uebergang von der Volksjuſtiz zur organiſirten Straf-
[198]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
rechtspflege erfolgte weit früher, als der der Privatrache zu dem
Syſtem der Privatſtrafen. Zur Zeit der XII Tafeln, wo dieſe
Umwandlung hinſichtlich der Privatrache noch im Werden be-
griffen iſt, war ſie hinſichtlich der vindicta publica bereits voll-
ſtändig abgeſchloſſen. Woher dieſe Erſcheinung? Vielleicht da-
her, weil die öffentliche Rache, ich möchte ſagen, weit unbehol-
fener, ſchwerfälliger und darum weniger lebensfähig war, als
die Privatrache. Während nämlich bei letzterer nur zwei Per-
ſonen ſich gegenüber ſtanden, der endliche Zweck der Rache alſo,
die Satisfaction, ſich hier durch einen Vertrag beider Perſonen
leicht erreichen ließ, drohten dem Thäter bei der öffentlichen
Rache ſo viel Gegner, als Verletzte — und verletzt war ja
jeder Bürger — es nützte ihm alſo nichts, ſich mit Einem oder
Mehren von ihnen abzufinden, denn es blieben immer nicht-
abgefundene Perſonen übrig. Das einzige Mittel zur Erle-
digung der Sache beſtand darin, mit dem geſammten, in den
Comitien verſammelten Volk oder mit Einem, der daſſelbe in
dieſer Beziehung zu vertreten ermächtigt war, den Abfindungs-
vertrag abzuſchließen. Die Organiſirung der Strafrechtspflege
war alſo in der That ein Fortſchritt im Intereſſe des Ver-
brechers
. Statt daß ihm früher Rache drohte, wo er ſtand
und ging, ſtatt daß dieſelbe früher völlig maßlos und unbe-
ſtimmt war, und kein Vertrag, keine Berufung auf bereits er-
littene Strafe ihn gegen eine abermalige Zufügung derſelben
ſchützte, gewährte ihm jene Veränderung nicht bloß den Vor-
theil einer beſtimmten, definitiv feſtgeſtellten Strafe, ſondern
auch die Möglichkeit, auf die Feſtſtellung derſelben zu influiren.


Die erkannte Strafe ließ ſich wie die Privatſtrafe unter ei-
nen doppelten Geſichtspunkt bringen, unter den einer Abfin-
dung der Rache und den einer in veränderter Form vollzogenen
Ausübung derſelben. Von beiden Geſichtspunkten aus war
ein Uebergang von der Volksjuſtiz zur Strafrechtspflege mög-
lich. Sie gehen übrigens ſo in einander über, daß man ſich
ſchwerlich ausſchließlich für den einen oder andern entſcheiden
[199]2. Der Staat — vindicta publica. §. 15.
kann. Auch der Geiſt, in dem das römiſche Volk zur Zeit der
Republik die Strafgerichtsbarkeit handhabte, verträgt gleich-
mäßig die Unterlegung des einen wie des andern Geſichtspunk-
tes. Bei den Verhandlungen, die vor dem Volke Statt fan-
den, hing der Erfolg bekanntlich nicht ſo ſehr von der Größe
und Strafwürdigkeit des Verbrechens ab, als von dem Maße,
in dem das Rachegefühl des Volks erregt, die Verletzung
empfunden ward. An einem verhaßten Bürger rächte ſich das
Volk bei Gelegenheit eines verhältnißmäßig leichten Verbre-
chens, und bei einem ſchweren Verbrechen, das aber von einem
populären Bürger verübt war, ließ es mit ſich handeln und
ſich deſſen gute Geſinnung und dem Staat geleiſtete Dienſte
als Abfindungspreis gefallen.


Der Verſuch, die Strafgewalt des Volks aus dem Ge-
ſichtspunkt zu erklären, daß das Verbrechen alle verletzt hat
und darum auch die Rache aller herausfordert, würde dieſe
Gewalt mit der Grundidee, die wir hier verfolgen, daß näm-
lich der Einzelne der Maſſe coordinirt ſei, in Uebereinſtimmung
bringen. Die erkannten Strafen, wenn ſie auch in Todesſtrafe,
Exil, Beſchlagnahme des Vermögens u. ſ. w. beſtanden, wei-
ſen durchaus nicht auf eine Ueber- und Unterordnung, auf
eine Macht über Leben und Tod hin. Die Privatrache, bei der
ja zwiſchen dem Verbrecher und dem Verletzten zweifellos ein
coordinirtes Verhältniß Statt fand, gewährt faſt zu jeder
Strafe ein Seitenſtück. Zur Todesſtrafe — ich erinnere an den
nächtlichen Dieb, den Ehebrecher, den Banquerotteur; zum
Verkauf in fremde Sklaverei, den das Volk bei dem, der ſich
zum Cenſus oder zur Aushebung nicht geſtellt hatte (dem in-
census
und infrequens), vornahm — ich verweiſe auf den zah-
lungsunfähigen Schuldner; zur publicatio bonorum — auch
der Gläubiger nimmt das zurückgelaſſene Vermögen ſeines
Schuldners in Beſitz. Hinſichtlich des Exils bedarf es keiner
Bemerkung, daß das Recht der Ausſchließung, welches jeder
[200]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
Geſellſchaft zuſteht, niemals eine Ueberordnung vorausſetzt,
ſondern ſich rein vom Standpunkt der Societät aus ergibt.


Den bisher entwickelten Ideen ſteht die Anſicht entgegen,
daß das Volk erſt zur Zeit der Republik in den Beſitz der Straf-
gewalt gekommen, letztere früher den Händen des Königs an-
vertraut geweſen und einen urſprünglichen Beſtandtheil der kö-
niglichen Gewalt gebildet haben ſolle. So ſehr dieſe Anſicht
durch unſere Quellen unterſtützt zu ſein ſcheint, ſo halte ich ſie
doch für verkehrt. Allerdings ſtand dem Könige eine ſehr wirk-
ſame Strafgewalt zu, wir werden aber in §. 17 nachweiſen,
daß ſie ſowohl wie die ganze Würde des Königs urſprünglich
rein militäriſcher Natur war. Es muß zugegeben werden, daß
ſie im Laufe der Zeit die Strafgerichtsbarkeit des Volks beein-
trächtigte, ja ſie ganz in den Schatten drängte, und ich hoffe,
an der angegebenen Stelle dies leicht erklären und motiviren zu
können, finde es auch ganz begreiflich, daß unſere Quellen nur
den König als Innehaber der Strafgewalt erwähnen. Aber
andererſeits ward doch dem Volk nicht jeglicher Antheil an der
Strafrechtspflege entzogen, wie das Provokationsrecht beweiſt
(§. 17), und einzelne Spuren der vindicta publica haben ſich
erhalten.


Wenn nun zur Zeit der Republik das Volk im Beſitz der
höchſten Strafgerichtsbarkeit erſcheint, ſo haben wir uns dies
nicht ſo zu denken, als ob das Volk erſt jetzt erhalten hätte,
was es bis dahin nie gehabt hatte, ſondern die ganze Aende-
rung gegenüber der Königszeit beſtand darin, daß die militä-
riſche Strafgewalt, die bis dahin auch innerhalb Roms com-
petent geweſen und mit Ueberſchreitung ihrer Schranken die
Strafgerichtsbarkeit des Volks beeinträchtigt hatte, von Rom
exilirt d. h. den Magiſtraten, ſolange ſie in Rom verweilten,
das militäriſche imperium und als Sinnbild deſſelben die Beile
von den fasces genommen wurden. 106). Mit jedem Diktator
[201]2. Der Staat — Das Geſetz ein Vertrag Aller. §. 15.
kehrten das imperium und die Beile vorübergehend zurück, und
die ganze Strafrechtspflege ward dann nach Kriegsrecht geübt.


Wir erinnern jetzt des Zuſammenhanges wegen an den
Satz, von dem wir ausgingen, nämlich daß nicht der Staat,
ſondern das geſammte Volk und mithin jeder Einzelne das Sub-
jekt des jus publicum war. Iſt dieſer Satz richtig, ſo muß er
wie von den aus dem jus publicum fließenden Rechten ſo auch
von den durch daſſelbe auferlegten Pflichten gelten, und in der
That gewährt uns das römiſche Völkerrecht eine ſchlagende
Conſequenz. Ein mit einem fremden Volke abgeſchloſſener Ver-
trag verpflichtet nicht die beiderſeitigen Staatsgewalten, ſon-
dern ſämmtliche Angehörige beider Völker, darum wird der
Einzelne, der dieſen Vertrag verletzt, weil er damit eine ihm
obliegende Verpflichtung gebrochen, dem fremden Volk überlie-
fert. Krieg und Frieden zwiſchen zwei Staaten iſt Krieg und
Frieden zwiſchen ſämmtlichen Individuen.


3. Wille des Staats iſt Wille der Individuen,
Geſetz ein Vertrag, wodurch ſich letztere gegen-
ſeitig zu einer gewiſſen Handlungsweiſe ver-
pflichten, das Recht im objektiven Sinn die dar-
aus entſtehende Verpflichtung Aller
. Nicht der Staat,
ſondern die Individuen ſind das Subjekt der geſetzgebenden
Gewalt; auch letztere alſo erhebt ſich wie die ſtrafrichterliche
vom Boden des ſubjektiven Prinzips aus, die urſprüngliche
Form, in der ſie erſcheint, iſt nicht die eines Gebotes und Ver-
botes über Gehorchende, ſondern einer zwiſchen gleichgeſtellten
Perſonen getroffenen Uebereinkunft — eine Entwicklung des
Rechts im objektiven Sinn aus dem Vertrage heraus, die ſich
vielerwärts nachweiſen läßt. 107)


106)


[202]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Da das Geſetz die Geſammtheit binden ſoll, ſo muß es auch
von ihr erlaſſen werden; es iſt nichts, als eine auf das ganze
Volk angewandte Obligationsform. Ebenſo wie bei der Obli-
girung Einzelner Frage und Antwort (Stipulationsform) nö-
thig iſt, ſo auch hier; das Volk wird rogirt 108) und ertheilt
durch Abſtimmung ſeine Antwort. Im Geiſte dieſes urſprüng-
lichen Verhältniſſes nennt daher ein römiſcher Juriſt 109) das
Geſetz eine communis reipublicae sponsio.


Etymologiſch weiſt uns der Ausdruck lex auf die Vorſtel-
lung des Legens hin, lex wäre alſo etwa gleichbedeutend mit
Auflage. 110) Der Sprachgebrauch, der dieſen Ausdruck gleich-
mäßig von Geſetzen wie von Privatvereinbarungen 111) ge-
braucht, zeigt, daß beide urſprünglich in der Vorſtellung der
Römer auf einer Linie ſtanden. Geſetz und Vertrag ſind ur-
ſprünglich nicht durch ihre intenſive, ſondern bloß durch ihre
extenſive Wirkſamkeit unterſchieden, ebenſo wie die vindicta
107)
[203]2. Der Staat — Das Geſetz ein Vertrag Aller. §. 15.
publica und privata. Eine lex publica iſt ein Vertrag Aller,
und umgekehrt eine Privatvereinbarung ein Geſetz für die bei-
den Contrahenten. Wie nun der Privatvertrag, um wirkſam
zu ſein, die Angelegenheiten der Contrahenten zum Gegen-
ſtande haben muß, ſo gleichfalls der öffentliche Vertrag, die
lex, die Intereſſen ſämmtlicher Bürger. Der Satz: jus publi-
cum privatorum pactis mutari non potest,
läßt ſich dahin um-
drehen: jus privatum pactis publicis mutari non potest, d. h.
das Geſetz ſoll keine lex privi d. i. privi-legium einfüh-
ren. 112)


Die Wirkung des Geſetzes für den Einzelnen iſt die eines
Vertrages, den er ſelbſt mit abgeſchloſſen hat. 113) Eine Ueber-
tretung des Geſetzes iſt alſo die Verletzung einer übernommenen
Verbindlichkeit, und je nachdem das Volk ſelbſt oder ein Ein-
zelner das Subjekt iſt, dem das jener Verbindlichkeit correſpon-
dirende Recht zugedacht war, und das mithin durch die Ver-
letzung deſſelben beeinträchtigt wird, kann das Volk oder der
Einzelne zur Selbſthülfe ſchreiten.


Dieſe Wirkung des Geſetzes, daß jeder gebunden wird,
drückt der Ausdruck jus aus. Lex bezeichnet den Grund des
Rechts, den Akt des Auferlegens, jus die Folge, den dauern-
den Zuſtand des Gebundenſeins. Die lex publica begründet
das jus im objektiven Sinn, die Rechtsſätze; die lex privata,
der Vertrag, das jus im ſubjektiven Sinn, die Berechtigung.
Wie Geſetz und Vertrag, die ſpäter ſo weit auseinander gehn,
urſprünglich identiſch geweſen ſind, ſo auch Recht im objektiven
und ſubjektiven Sinn.


[204]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Jus114) iſt das Band, das Bindende, die Rechtsnorm und
zwar jus im objektiven Sinn das, welches alle bindet, allen
eine Pflicht auflegt, beziehungsweiſe ein Anrecht gewährt, jus
im ſubjektiven Sinn das bloß einen Einzelnen bindet und da-
durch einem andern ein Recht gewährt. Dieſer letztere hat durch
die zwiſchen ihnen beiden vereinbarte lex eine auf ſie beſchränkte
Rechtsnorm des Inhalts, daß der andere dies und das leiſten
ſolle, ins Leben gerufen, und da die Handhabung, Vollzie-
hung derſelben ihm zuſteht (jus ei est), ſo iſt das Recht ſein
(jus ejus est). Die Normen, die die Geſammtheit ſich geſetzt
hat oder ſtillſchweigend anerkennt, und über deren Befolgung
ſie wacht, verhalten ſich zu ihr in derſelben Weiſe, d. h. ſie
erſcheinen ſubjektiv als Berechtigung.


Wir gehen jetzt zu einem Punkt von hoher Wichtigkeit über,
[205]2. Der Staat — Verhältniß zum Privatrecht. §. 15.
bei dem unſere Ausführung über das Prinzip des ſubjektiven
Willens gewiſſermaßen ihre Probe zu beſtehen hat, es iſt dies
nämlich:


4. Das Verhältniß des Staats zum Privatrecht.


Nach einer verbreiteten Anſicht, die auf den erſten Blick et-
was Scheinbares hat, hätte das Privatrecht in älteſter Zeit in
völliger Abhängigkeit vom Staat geſtanden und ſich erſt nach
und nach daraus befreit, während umgekehrt unſer Prinzip des
ſubjektiven Willens uns zur Annahme des gerade entgegenge-
ſetzten Extrems zwingt, nämlich der urſprünglichen völligen
Unabhängigkeit des Privatrechts vom Staat. Der Schein,
den jene Anſicht für ſich hat, beſteht in den öffentlichen Formen,
in denen das Privatrecht jener Zeit auftritt, ſo wie in der Gegen-
ſatzloſigkeit des geſammten Rechts, die wir in §. 19 berühren
werden. Aber gerade jene Formen beweiſen, daß der Staat an
ſich mit dem Privatrecht nichts zu thun hat, ſie werden eben nur
angewandt, um ihn mit demſelben in eine Beziehung zu ſetzen,
die von vornherein nicht exiſtirt. Jene Gegenſatzloſigkeit aber
beſteht nicht darin, daß der Staat das Privatrecht, ſondern das
Privatrecht den Staat dominirt d. h. daß der Staat nach pri-
vatrechtlichen Prinzipien conſtruirt iſt. Es wäre gegen alle
Geſchichte, daß der Staat das Privatrecht aus ſich ſollte ge-
boren haben; das Gefühl der individuellen Selbſtändigkeit iſt
das abſolut erſte, und erſt im mühſamen, allmähligen Kampfe
mit demſelben gelangt das Staatsprinzip zur Herrſchaft.


Die von uns eben behauptete urſprüngliche Selbſtändigkeit
des Privatrechts iſt eine nothwendige Conſequenz des Prinzips
des ſubjektiven Willens. Der Staat kann auf indirektem Wege
einen Einfluß auf das Privatrecht ausüben, z. B. durch Ent-
ziehung politiſcher Rechte (Cenſor), aber er hat keine direkte
Macht über daſſelbe. Er hat das Privatrecht nicht verliehen
und darf es darum auch nicht beſchränken. Die Gemeinſchaft,
deren Ausdruck er iſt, beſchränkt ſich auf die öffentlichen d. h.
[206]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Allen gemeinſamen Intereſſen; nur ſie bilden den Gegenſtand ſei-
ner Sorgfalt, den Gegenſtand des allgemeinen Vertrages, der lex
publica
. Das Privatrecht aber hat ſeinen Grund in der Privat-
perſon ſelbſt, letztere ſelbſt muß es durch eigne Thätigkeit begrün-
den und geltend machen; die ganze privatrechtliche Sphäre liegt
außerhalb des Bereiches des Staats, ſo wie die perſönlichen
Verhältniſſe eines Geſellſchafters außerhalb des der Societät.
Selbſt als der Staat immer mehr in dieſe Sphäre eingriff, be-
ſchränkend und ſchützend, läßt ſich doch noch deutlich jene Grund-
anſicht von dem Verhältniß des Staats zum Privatrecht erken-
nen, wie dies im zweiten Syſtem nachgewieſen werden ſoll.
Indem wir dieſer Erörterung hier nicht vorgreifen, beſchränken
wir uns darauf, den Punkt aufzuſuchen, an dem ſich das Gebiet
des Privatrechts der Einwirkung des Staats zuerſt öffnet, und
die daraus zwiſchen beiden entſtehenden Beziehungen ins Auge
zu faſſen.


Wir ſind bei unſerer Darſtellung der Selbſthülfe bereits auf
dieſen Punkt gelangt (S. 141) — es war die Sicherung der
Rechtsgeſchäfte durch Einholung der Garantie des Volks —
und wir nehmen den Faden der Entwicklung, den wir dort
fallen laſſen mußten, hier wieder auf. Die Hauptgeſchäfte des
älteſten Rechts wurden unter öffentlicher Garantie vorgenom-
men, alle wichtigeren Rechte ſtützten ſich entweder unmittelbar
oder mittelbar auf Anerkennung und Zuſicherung von Seiten
des Volks. Unmittelbar erfolgte dieſe Garantie bei dem testa-
mentum in comitiis calatis
und in procinctu und der arrogatio,
mittelbar bei der mancipatio (S. oben S. 141) mit ihren ver-
ſchiedenen Anwendungsfällen wie z. B. dem nexum und der
Eingehung der Ehe durch coemptio, bei der confarreatio
(S. oben S. 181) der usucapio (S. unten) dem census. Die
in jure cessio, eine Schein-Vindikation, bei der die Partheien
darüber einig waren, daß dem Kläger das in Anſpruch genom-
mene Recht zugeſprochen werden ſollte, ließe ſich gleichfalls unter
dieſen Geſichtspunkt bringen; denn der Spruch des Prätors
[207]2. Der Staat — Garantie der Rechte durch das Volk. §. 15.
ſtützte ſich mittelbar auf die Autorität des Volks, das ihn ge-
wählt hatte. Dieſe Geſchäftsform aber gehört nicht mehr dem
Syſtem der Selbſthülfe an, ſondern einer Zeit, die das recht-
liche Verfahren bereits mit einer gewiſſen Freiheit zu handhaben
verſtand, inſofern ſie es nämlich zum Mittel für einen fremden
Zweck machte. Gewiß iſt auch, nachdem die in jure cessio
einmal aufgekommen, der Kreis ihrer Anwendbarkeit erſt nach
und nach erweitert, und manche rechtliche Dispoſition, die
mittelſt ihrer getroffen werden konnte, mag urſprünglich in einer
anderen Form vorgenommen ſein, von der wir jetzt keine Kunde
mehr haben. So möchte ich z. B. für die Freilaſſung die Be-
wirkung derſelben durch vindicta d. h. in jure cessio für eine
neuere, bequemere, weil jeder Zeit anwendbare Form halten
(wie denn auch von den Römern ſelbſt der erſte Fall ihrer An-
wendung im richtigen Takt erſt in den Anfang der Republik
gelegt wird) gegenüber der älteren, läſtigeren, weil nur alle 5
Jahr anwendbaren, Form durch census. Jene ſteht zu dieſer
in demſelben Verhältniß der Erleichterung hinſichtlich der Zeit
und der Vornahme des Akts, als das Mancipationsteſtament
zu der nur zwei Mal im Jahr Statt findenden Teſtamentser-
richtung vor den Comitien. Die Freilaſſung durch census ge-
währt uns einen unzweifelhaften Fall der mittelbaren Volks-
garantie; gewiß wurde dieſe Form auch bei andern Geſchäften
z. B. Beſtellung von Urbanalſervituten, Uebertragung von
Eigenthum u. ſ. w. benutzt. Aber während für die Freilaſſung
die neuere Form der in jure cessio die ältere nicht verdrängt
hat, iſt dies vielleicht bei manchen andern der Fall geweſen, und
in der in jure cessio mögen ebenſoſehr längſt bekannte, an
läſtigere Formen geknüpfte Geſchäfte ſich verjüngt, wie andere
in ihr zuerſt eine ſicherſtellende Form gewonnen haben. Darum
iſt es mir ſehr bedenklich, von der Anwendbarkeit der in jure
cessio
Schlüſſe auf das älteſte Recht zu ziehen; ſie hat in mei-
nen Augen nicht jenen urſprünglichen Charakter, wie die übrigen
eben genannten Formen.


[208]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts

Mit Hülfe nun der bisher betrachteten Formen des älteſten
Rechts ließen ſich alle wichtigeren Rechte unter Garantie des
Volks ſtellen. Die Freiheit durch den census, die Ehe durch
confarreatio und coemtio und folglich auch die väterliche Ge-
walt über die aus dieſer Ehe erzeugten Kinder, die Begründung
der letzteren ohne Ehe durch arrogatio (die adoptio im engern
Sinn erfolgt in Form der in jure cessio), die Vormundſchaft
durch Teſtament, das Eigenthum und die Ruſticalſervituten
durch mancipatio (Urbanal- und perſönliche Servituten durch
in jure cessio), Obligationen durch nexum, Erbeseinſetzung,
Legate u. ſ. w. durch die beiden öfters genannten Teſtaments-
formen.


Die Bedeutung dieſer Volksgarantie für die Entwicklung
des Rechts beſteht in folgendem. Zuerſt in unmittelbar prakti-
ſcher Beziehung darin, daß ſie der Selbſthülfe den höchſten Grad
der Sicherheit verlieh, indem ſie die Verſuche des Widerſtandes
in der Geburt unterdrückte; der Widerſtand gegen den, der auf
Grund eines vom Volk garantirten Geſchäfts zur Selbſthülfe
ſchritt, war Widerſtand gegen das geſammte Volk, eine Provo-
kation aller Bürger, ihre Schutzpflicht zu erfüllen. Sodann
aber in rechtsphiloſophiſcher Beziehung darin, daß dieſe Volks-
garantie das Medium wird, durch das der Rechtsbegriff ſelbſt
eine höhere Stufe beſchritt. Das Concrete war hier, wie ſo oft
in der Geſchichte des römiſchen Rechts, die Brücke zum Ab-
ſtracten; aus dem Schutz der Rechte entwickelte ſich der Schutz
des Rechts. Die üblich gewordene Gewährleiſtung der ein-
zelnen concreten Privat-Rechte ſetzt als Bodenſatz die Idee
an, daß das Privatrecht im abſtracten Sinn Gegenſtand der
Fürſorge und der Gewährleiſtung des Staats ſei, und aus der
Berechtigung der Gemeinde, die nachgeſuchte Garantie an Be-
dingungen zu knüpfen, entwickelt ſich die Idee, daß der Staat
berechtigt ſei, durch beſchränkende Geſetze in das Gebiet des
Privatrechts einzugreifen. Berechtigt der Schutz der Rechte
zu Beſchränkungen, ſo auch der Schutz des Rechts.


[209]2. Der Staat — öffentl. garantirte Rechte. §. 15.

Die urſprünglichſte Form alſo, in der die ſchützende und
beſchränkende Macht des Staats auf dem Gebiete des Privat-
rechts ſich zeigt, iſt die eines Vertragsverhältniſſes. Die
Gemeinde ſichert durch Vertrag ihren Schutz zu, und der Nach-
ſuchende läßt ſich die Bedingungen gefallen, an die die Gemeinde
dieſe Garantie knüpft. Beides alſo, der Schutz wie dieſer Kauf-
preis deſſelben, ſtützt ſich auf den freien Willen der Partheien,
beruht auf einem coordinirten Verhältniß. Begehrt der
Berechtigte die Garantie des Volks nicht, ſo kann dieſes ihn
nicht beſchränken; ſein eigner Wille erſchließt die Privatrechts-
ſphäre der Einwirkung des Staats.


Während aber dieſe Zuziehung des Staats urſprünglich
ganz vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus erfolgt und
einerſeits als eine Conſolidirung dieſes Prinzips aufgefaßt
werden kann, liegt andererſeits darin doch bereits der Keim
einer Abſchwächung deſſelben. Es entſteht ein Gegenſatz des ſub-
jektiven Prinzips und der Intervention von Seiten des Staats,
es erhebt ſich innerhalb des Rechts der Dualismus der öffent-
lich garantirten und nicht garantirten Rechte
,
und es iſt begreiflich, daß die erſteren die letzteren überflügeln
und herabdrücken. Fragen wir zunächſt, wie ſich dies Verhält-
niß innerhalb des Syſtems der Selbſthülfe ſtellte, ſo war
der Innehaber eines nicht garantirten Rechts zur Selbſthülfe
ſo gut berechtigt, wie der eines garantirten, und nur in der
Beziehung war ſeine Lage eine ungünſtigere, daß der Erfolg
der Selbſthülfe ihm vom Volk nicht verbürgt war. Sein Recht
konnte aber trotzdem ſo zweifellos ſein z. B. wenn ein Delikt
gegen ihn verübt war, daß es ihn keine Mühe koſtete, den nöthi-
gen Beiſtand zu gewinnen. Es gab manche Fälle, in denen
man die Garantie des Volks gar nicht im voraus nachſuchen
konnte, nämlich bei allen Delikten, andere, in denen man wegen
Unbedeutendheit des Objekts dies zu unterlaſſen pflegte.


Die Divergenz zwiſchen den garantirten und nicht garan-
tirten Rechten nahm aber in eben dem Maße zu, als das Sy-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 14
[201[210]]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſtem der Klagen ſich conſolidirte. Nicht als ob eine Klage,
dieſe Form, in der ſich ſpäter der Schutz der Gemeinde wirkſam
erweiſt, nur für garantirte Rechte gegeben worden wäre; — viel-
leicht zeichnete ſie ſich in dieſem Falle durch den Zuſatz ex jure
Quiritium
(ſ. u.) und ein eigenthümliches Verfahren 115) aus —
in allen Fällen, in denen eine Garantieertheilung von Seiten
des Volks von jeher entweder nicht möglich oder nicht üblich
war, mußte nicht weniger eine Klage zugeſtanden werden. Da-
hingegen blieb ſie verſagt, wenn Jemand bei Rechtsgeſchäften,
die garantirt zu werden pflegten, die nöthige Form nicht beob-
achtet hatte. Darin aber liegt das Beſondere dieſes Falles —
und es bewährt ſich daran, wie feſt das ſubjektive Prinzip in
der römiſchen Rechtsanſicht wurzelte — daß hier dennoch ein
[211]2. Der Staat — öffentl. garantirte Rechte. §. 15.
Recht angenommen ward, ein Recht freilich von ſehr geringer
praktiſcher Bedeutung und nicht durch Klage geſchützt, aber den-
noch ein Recht. Wer eine Ehe abgeſchloſſen hatte ohne die Form
der confarreatio oder coemtio, bekam weder an der Frau, noch
den Kindern die römiſche potestas; aber es war doch nach der
natürlichen Rechtsanſicht (naturalis ratio) eine Ehe. Wer ſich
eine Sache, die mancipirt zu werden pflegte, ohne Mancipations-
form hatte zu eigen geben laſſen, bekam daran kein römiſches
Eigenthum, war nicht zur Vindikation berechtigt, aber nach
natürlicher Rechtsanſicht galt er als Eigenthümer. Inſofern
man nun Recht und Klage mit einander identificirte, mußte
man in dieſen und ähnlichen Fällen die Exiſtenz eines Rechtes
verneinen und den begründeten Zuſtand als eine bloß faktiſche
Ausübung deſſelben bezeichnen (in facto magis consistit, quam
in jure);
inſofern man dies Verhältniß aber vom Standpunkt
des ſubjektiven Prinzips aus beurtheilte, mußte man ſagen:
nach der naturalis ratio liegt hier ein Rechtsverhältniß vor,
dem es nur an der Anerkennung von Seiten des Staats gebricht.


Man könnte mir einwenden, das angebliche Rechtsverhält-
niß beſtehe in nichts anderm, als daß Jemand, der objektiv kein
Recht erworben, weil er die nöthigen Formen vernachläſſigt
habe, ſich dennoch einbilde, ein Recht zu haben. Allein gerade
dieſer Einwand charakteriſirt den Gegenſatz der heutigen und
altrömiſchen Auffaſſung. Für uns, die wir den Staat als die
Quelle des Rechts betrachten, würde in jenem Falle nichts, als
die ſubjektive Einbildung eines Rechts vorliegen; für die
Römer aber, die den ſubjektiven Willen als letzten Grund des
Rechts auffaßten, fiel der Begriff des Rechtes und des Staats-
ſchutzes aus einander. Wie es Rechte gab, bevor der Staat
ſie ſchützte, ſo auch, nachdem letzteres die Regel geworden war,
ohne daß er ſie ſchützte. Nur die Klage, nicht das Recht ſelbſt
gewährt und entzieht der Staat. 116) Spricht der Richter ein
14*
[212]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
in Anſpruch genommenes Recht ab, ſo heißt das genauer aus-
gedrückt: er erklärt bloß die Unzuläſſigkeit der Klage, nicht die
Nichtexiſtenz des Rechts ſelbſt. Ebenſo bezieht ſich die geſammte
Thätigkeit des Prätors nur auf die Klage; er verleiht, verwei-
gert Klagen, ohne daß dadurch das Recht ſelbſt getroffen würde,
und wenn er einem Berechtigten die faktiſche Ausübung des
Rechts völlig entzogen hätte und ihm jegliche rechtliche Geltend-
machung deſſelben verwehrte, das Recht ſelbſt kann er nicht auf-
heben. Die ganze Privatrechtspflege auch der ſpätern Zeit
weiſt auf dieſen Geſichtspunkt hin.


Worin lag nun die praktiſche Realität eines vom Staat
nicht anerkannten, aber nach natürlicher Anſicht vorhandenen
Rechts? Sie lag theils in der Macht dieſer Anſicht ſelbſt d. h.
in der thatſächlichen Anerkennung, die man unter dem Einfluſſe
einer ſolchen Rechtsanſchauung einem derartigen Recht zukom-
men ließ, theils in der formloſen Selbſthülfe, ſoweit dieſelbe
erfolgreich war d. h. in ihrer Richtung auf Schutz im Beſitz, 117)
theils bei einigen Rechten in einem Inſtitut, das den Uebergang
derſelben in rechtlich anerkannte vermittelte, der Uſucapion.
Letztere bildet für dieſe Rechte die Brücke vom ſubjektiven Prinzip
zum Gebiet des Staatsſchutzes; ſie verſchafft dem vom Stand-
punkt des ſubjektiven Prinzips aus vorhandenen Recht — wir
wollen es ein rein ſubjektives nennen — den Charakter eines
öffentlich anerkannten. Eine formloſe öffentliche Anerkennung
kann man darin finden, daß jenes Recht längere Zeit hindurch
116)
[213]2. Der Staat — rein ſubjektive Rechte. §. 15.
unangetaſtet geblieben. Dieſe ſtillſchweigende Anerkennung in
der Uſucapion verhält ſich zur ausdrücklichen in der Mancipa-
tionsform, wie die ſtillſchweigende Anerkennung von Rechts-
ſätzen durch den usus, das Gewohnheitsrecht, zur ausdrücklichen
durch eine lex. Die Uſucapion iſt keine Conſequenz des ſub-
jektiven Prinzips, ſondern ein Glied vom Syſtem der Staats-
garantie; darum findet ſie ſowenig wie irgend eine Form, durch
welche die Staatsgarantie ausdrücklich ertheilt wird, auf Nicht-
römer oder auf Provinzialgrundſtücke Anwendung.


Die ſpätere Entwicklung der ſubjektiven Rechte fällt in eine
zu ferne Zeit, als daß wir ſie hier berückſichtigen könnten; es
genügt uns, in ihnen den letzten Reſt der urſprünglichen
Selbſtändigkeit des ſubjektiven Prinzips, der Unabhängigkeit
des Privatrechts vom Staat nachgewieſen zu haben. Der
Dualismus zwiſchen ihnen und den vom Staate anerkannten
Rechten reicht ſeinem Keime nach in die älteſten Zeiten, viel-
leicht weit über Rom hinauf; er begann mit dem erſten Ge-
ſchäft, das unter den Schutz der Gemeinde geſtellt wurde. Die
erſte Form deſſelben war die des Gegenſatzes zwiſchen ſpeziell
vom Volk garantirten Rechtsgeſchäften und allen übrigen Recht
erzeugenden Thatſachen, die zweite Form die des Gegenſatzes
zwiſchen allen vom Staat anerkannten und nicht anerkannten
d. h. klagbaren und klagloſen Rechten, von denen jene wiederum
in concret und abſtract anerkannte zerfielen, erſtere ſich ſtützend
auf eine von Seiten des Volks mittelbar oder unmittelbar vor-
genommene Genehmigung des einzelnen Geſchäfts, dieſe auf
einen allgemeinen, ſie abſtract anerkennenden Rechtsſatz.


Aus dieſer ſpätern Verſchiebung des urſprünglichen Gegen-
ſatzes erklärt es ſich vielleicht, daß jene für die ganze Entwicklung
des Rechtsbegriffs ſo außerordentlich bedeutungsvolle concrete
Anerkennung der Rechtsgeſchäfte durch das Volk von den römi-
ſchen Juriſten ſo wenig beachtet wird; auch kömmt ja hinzu,
daß ſie nur beim alten testamentum in comitiis calatis und der
arrogatio direkt zu Tage liegt, bei der Mancipation, Uſucapion
[214]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
u. ſ. w. erſt durch Schlußfolgerungen ermittelt werden muß.
Innerhalb des Klagenſyſtems ſtanden die garantirten Geſchäfte,
möchte ich ſagen, in Reih und Glied, während ſie früher die
Vorkämpfer geweſen waren, welche der Idee des Staatsſchutzes
erſt Bahn brechen mußten. Als dies geſchehen, als ſie das Pri-
vatrecht von ſeinem Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus
auf dem natürlichſten Wege mit dem Staat zuſammengebracht
hatten, da war ihre Aufgabe beendet, ihre wahre Bedeutung
dahin und konnte in Vergeſſenheit gerathen. Aber hat die
Sprache, die treue Pflegerin ſo mancher Reminiscenzen, uns
keine Spur jenes älteſten Dualismus innerhalb des Rechts auf-
bewahrt? Vielleicht ſteckt eine ſolche Spur in dem viel beſtrit-
tenen Ausdruck jus Quiritium. Einen Anhaltspunkt für dieſe
Vermuthung gewährt uns die Vindikation und Mancipation
ex jure Quiritium. Ein leerer Zuſatz kann dieſer Ausdruck bei
der Vindikation 118) nicht geweſen ſein, das widerſtrebt der Weiſe
der Römer, ihrer allbekannten Genauigkeit in der Formulirung
der Klagen. Derſelbe kann alſo nicht bloß bedeutet haben, daß
dieſe Klage nach ſtreng römiſchem Recht beurtheilt werden ſolle,
wie hätte er dann bei den andern Klagen des ſtreng römiſchen
jus civile fehlen können? Er hat eine engere Bedeutung gehabt,
eine höhere Gradation des römiſchen Rechts ſelbſt aus-
gedrückt, und eine ſolche hat ſich uns ergeben bei den vom Volk
garantirten Rechten. Im Formular des Mancipationsteſtaments
werden die Quiriten ausdrücklich als testes aufgerufen, bei der
gewöhnlichen Mancipation 119) wird auf das Recht der Quiriten
Bezug genommen. Wenn nun die auf ſolche Weiſe erworbenen
Rechte durch eine Vindikation ex jure Quiritium120) geltend
gemacht werden und zwar geltend gemacht vor dem Centum-
[215]2. Der Staat — Rechte ex jure Quiritium. §. 15.
viralgerichtshofe, ſo liegt es nahe, in dieſem Ausdruck eine Hin-
weiſung auf die Eigenthümlichkeit dieſes ganzen Verhältniſſes zu
erblicken. Ein Recht ex jure Quiritium würde alſo ein nach der
Weiſe der Quiriten unter den Schutz der Gemeinde geſtelltes
Recht ſein, ausgezeichnet im Syſtem der Selbſthülfe durch Ver-
bot und Erfolgloſigkeit des Widerſtandes gegen die Selbſthülfe,
im Klagenſyſtem durch den von dem Centumviralgericht als
einer das Volk vertretenden Behörde ertheilten Schutz. 121) Wie
es ſich übrigens mit dieſer Vermuthung über den Sinn jenes
Ausdrucks auch verhalten möge, für das materielle Reſultat der
obigen Ausführung iſt dies gleichgültig.


Es bleibt uns jetzt noch ein Punkt übrig, an dem wir gleich-
falls die Wirkſamkeit der im bisherigen verfolgten Ideen zu er-
proben hätten, nämlich das Königthum. Daſſelbe entſpricht nun
zwar nach einer Seite hin dem ſubjektiven Prinzip, inſofern
nämlich die Wahl des Königs ſich als ein Vertrag zwiſchen
Volk und König bezeichnen läßt, allein andererſeits reicht es da-
durch über daſſelbe hinaus, daß es von vornherein ein Verhält-
niß der Ueber- und Unterordnung begründet und wird daher
am zweckmäßigſten bei Gelegenheit der Wehrverfaſſung (§. 17)
zu betrachten ſein.


Bevor wir den Gegenſtand, der uns bisher beſchäftigte, ver-
laſſen, mögen mir noch einige Bemerkungen über den Werth der
gefundenen Reſultate verſtattet ſein. Dürfen wir ſie Reſultate
nennen, oder ſind ſie nicht vielmehr reine Conſtruktionen? Ich
[216]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
räume gern ein, daß ich conſtruirt habe, allein wer mir dies ver-
wehren will, der beſtreite mir vorher das Recht, aus gegebenen
Thatſachen Schlüſſe zu ziehen, läugne den Satz, daß die Rechts-
anſchauung jeder Periode der Geſchichte eine einige iſt, keine
Widerſprüche in ſich ſchließen kann. Bequem iſt es, die Geſchichte
gleich mit einem großen Kapital von Begriffen beginnen zu
laſſen, den erſten Aeußerungen der Staats- und Rechtsbildung
von vornherein unſere heutigen Ideen unterzulegen, res publica,
lex, poena, judex
u. ſ. w. mit Staat, Geſetz, Strafe, Richter
u. ſ. w. zu überſetzen — dann iſt man mit einem Male über
alle Schwierigkeiten hinweg. Aber trägt man hier nicht mehr
hinein, als ich mit allen meinen Conſtruktionen? Der Gedanke,
der mich geleitet hat, iſt der: man darf ſich nicht beruhigen bei
den äußern Formen des Staats- und Rechtslebens, denn ſie
können bei äußerer Aehnlichkeit unendlich verſchieden ſein, ſon-
dern es kömmt darauf an, ihren inneren Gehalt d. h. die Ideen,
auf denen ſie beruhen, zu ermitteln. Nun gewährt noch das
ſpätere römiſche Recht Anhaltspunkte genug, um dieſe Operation
wenigſtens hinſichtlich einiger Punkte vorzunehmen. Wenn aber
an ihnen eine beſtimmte Rechts- und Staatsanſchauung ſich
manifeſtirt, ſo kann dieſelbe ſich nicht ſelbſt widerſprochen haben,
wir ſind berechtigt, ihre nothwendigen Vorausſetzungen und
Conſequenzen zu entwickeln und uns die ganze Rechtswelt im
Geiſte dieſer Anſchauung zu denken. Ein mehres haben wir
nicht gethan. Wir haben uns den Staat gedacht vom Stand-
punkt des ſubjektiven Prinzips aus, unter der Herrſchaft privat-
rechtlicher Auffaſſung. Das Gewicht der ſpeziellen äußern
Gründe, die uns zur Einnahme dieſes Standpunktes veran-
laßten, wird verſtärkt durch naheliegende 122) hiſtoriſche Ana-
[217]2. Der Staat — Bedeutung des Vertrages. §. 15.
logien, ſo wie durch die Natur der Sache ſelbſt. Dem menſch-
lichen Geiſte iſt die Abſtraction eines Staates als eines von
den natürlichen Perſonen verſchiedenen und ihnen übergeordne-
ten Weſens nichts weniger als angeboren, ſondern erſt durch
ein langes Beſtehen und Wirken der Staatsgewalt mühſam ab-
gerungen. Die urſprüngliche, kindliche Anſicht erblickt in der
Staatsgewalt nur das Recht und die Macht dieſer concreten
Perſon (Patrimonialſtaat) oder ſämmtlicher Perſonen, die zu
ihm gehören (Republik), und in dieſem Geiſte wird dieſe Macht
urſprünglich gehandhabt.


Wenn wir alſo Veranlaſſung genug hatten zu dem Verſuch,
dem älteſten Staat eine rein privatrechtliche Auffaſſung unter
zu legen, ſo haben wir, glaube ich, keine Urſache, dieſen Ver-
ſuch zu bereuen. Er hat uns mehr gezeigt, als die bloße prak-
tiſche Möglichkeit
eines von rein privatrechtlichen Ideen
getragenen Staats, er hat uns einen Blick in die innerſte Bil-
dungsgeſchichte des römiſchen Rechts und Staats thun laſſen
und uns auf die verſteckten Wurzeln mancher Inſtitute aufmerk-
ſam gemacht. Ich hebe hier vor allem hervor die urſprüngliche
Identität der lex publica und lex privata, des jus im objek-
tiven und ſubjektiven Sinn, der vindicta publica und privata
und ſodann namentlich die hohe Bedeutung des Ver-
trages
. Der Vertrag iſt das Mittel, wodurch das Recht aus
dem primitiven Zuſtand unmittelbarer Exiſtenz und Verwirk-
lichung im Leben heraustritt und feſte Formen gewinnt. Dem
Gewohnheitsrecht gegenüber, das eben der Zuſtand der Unmit-
telbarkeit des Rechts iſt, tritt im Geſetz eine Aenderung und Er-
weiterung des Rechts durch gemeinſamen Vertrag auf. Die
vindicta privata und publica führen durch Vertrag zur poena
122)
[218]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
und damit zur Entſtehung der Klagen auf Privatſtrafen und
der Strafrechtspflege. Der Selbſthülfe entkeimt zuerſt durch den
Vertrag die ſchiedsrichterliche Entſcheidung, ſodann das Rich-
teramt und der Civilprozeß. Vertrag iſt das Medium, wodurch
Staat und Privatrecht zuerſt in Berührung treten; aus der
vertragsmäßigen Garantie der Rechte entwickelt ſich die Idee von
der Garantie des Rechts durch den Staat und der Unterwürfig-
keit des Privatrechts unter den geſetzgeberiſchen Willen des
Staats. Als Vertrag läßt ſich auch die Wahl der Könige und
Magiſtrate bezeichnen, auf Vertrag beruht, wie wir im folgen-
den Paragraphen ſehen werden, das ganze Völkerrecht. So
knüpft alſo die Entſtehung der Geſetzgebung, der Strafrechts-
pflege, des Civilprozeſſes, des Beamtenthums ſo wie die Idee
des öffentlichen Rechtsſchutzes an den Vertrag an, der ſtaatlichen
Gemeinſchaft ſelbſt liegt der Vertragsgeſichtspunkt zu Grunde,
das ganze Völkerrecht löſt ſich in Verträge auf. Es nimmt ſich
faſt ſo aus, als ob uns hier das älteſte römiſche Recht als Be-
leg für die Wahrheit der naturrechtlichen Conſtruktion des Staats
hätte dienen ſollen, und im vorigen Jahrhundert zur Zeit der
Herrſchaft des Naturrechts würde der eben hervorgehobene Ge-
ſichtspunkt auf eine ebenſo günſtige Aufnahme haben rechnen
dürfen, wie er jetzt unter der Ungunſt eines partiellen Zuſam-
mentreffens mit naturrechtlichen Ideen leiden kann. Dies Zu-
ſammentreffen iſt kein zufälliges. Der Vertragsſtandpunkt iſt die
niedrigſte Stufe, die der Staat ſelbſt ſowohl als die wiſſen-
ſchaftliche Betrachtung deſſelben einnehmen kann; kein Wunder,
daß auf ihm das Naturrecht und das älteſte römiſche Recht ſich
begegnen. Wie in Rom der Staat ſelbſt dieſen Standpunkt im
Lauf der Zeit praktiſch überwand, ſo hat auch unſere heutige
Theorie des Staats ihn zurückgelegt, aber mögen wir im Beſitz
einer würdigeren Auffaſſung des Staats die relative Berechti-
gung jenes Standpunktes nicht verkennen und nicht mit der-
ſelben Einſeitigkeit, mit der die naturrechtliche Doctrin ihre der
Kindheitszeit des Staats entſprechende Anſicht dem Staat über-
[219]2. Der Staat — Stellung außerhalb deſſelben. §. 16.
haupt unterlegte, ſo umgekehrt unſere heutige dem Mannesalter
entnommene Auffaſſung deſſelben auf alle Zeiten übertragen.
Fiel jene Doctrin in den Fehler, den Staat zu verflachen und
zu erniedrigen, ſo droht uns die Gefahr, von der Höhe unſeres
heutigen Standpunktes die wirklichen Flächen und Niederungen
in der Geſchichte des Staats zu überſehn, ſo ſind wir geneigt
der Frage nach dem Werden des Staats und Rechts lieber gänz-
lich auszuweichen und beide für gewiſſermaßen auf übernatür-
liche Weiſe von Gott fertig in die Welt geſetzte Inſtitutionen
zu erklären, als zuzugeben, daß ſie in proſaiſcher Weiſe durch
Menſchenhand gemacht ſind. Der Romantik unſerer heutigen
hiſtoriſchen Anſicht könnte ein Zuſatz von etwas derber Proſa
gar nicht ſchaden, und es heißt gewiß den Gott, den man in
der Geſchichte ſucht, würdiger erkennen, wenn man ihn im
Menſchenwerk nachweiſt, wenn man zeigt, daß er auf die
natürlichſte und verſtändlichſte Weiſe durch den frei handelnden
Menſchen aus dem Kleinſten das Höchſte hervorbringt, als
wenn man ihn auf übernatürliche Weiſe durch Wunder thätig
werden läßt.


Stellung außerhalb der Gemeinſchaft — Volle Negation des
Rechts, der Kriegsfuß — Relative Berechtigung dieſes Stand-
punktes — Milderungen — Einfluß des Handels — Das hospi-
tium
— Entſtehung des internationalen Rechts aus dem Ver-
trage heraus — Die Clientel, precarium und peculium.

XVI. Es iſt bereits früher (S. 100) bemerkt, daß das
römiſche Recht ſich nie zur praktiſchen Anerkennung der Rechts-
ſubjektivität des Menſchen als ſolchen erhoben hat. Daſſelbe
beſchränkt die Rechtsfähigkeit auf die römiſchen Bürger und die
Mitglieder der Staaten, mit denen Rom Verträge abgeſchloſſen
hat. Neben dem Zugeſtändniß, daß die Menſchen nach dem
theoretiſchen jus naturale frei geboren würden, lehren doch noch
die klaſſiſchen Juriſten als praktiſches Recht den Satz: 123)si
[220]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
cum gente aliqua neque amicitiam neque hospitium neque
foedus amicitiae causa factum habemus, hi hostes quidem non
sunt, quod autem ex nostro ad eos pervenerit, illorum fit et
liber homo noster ab eis captus servus fit eorum. Idemque
est, si ab illis ad nos aliquid perveniat.
Der Kriegsfuß alſo
gilt noch zu ihrer Zeit als das von vornherein gegebene völker-
rechtliche Verhältniß, der Friede, pax, iſt erſt das Reſultat des
pacisci. Jener Kriegsfuß iſt aber völlig gleichbedeutend mit
gänzlicher Rechtloſigkeit aller dem Staat, mit dem man nicht
paciscirt hat, angehörigen Individuen.


Dieſe Auffaſſung, die uns noch in ſo ſpäter Zeit ausdrück-
lich bezeugt wird, ergibt ſich nun für die älteſte Zeit als eine ſo
nothwendige Conſequenz des ganzen Rechts, daß wir, auch ver-
laſſen von allen poſitiven Zeugniſſen, ſie mit völliger Sicherheit
ſupponiren dürften. Die Anerkennung der privatrechtlichen
Rechtsfähigkeit des Fremden würde eine totale Scheidung des
Privatrechts vom öffentlichen, eine Selbſtändigkeit beider vor-
ausſetzen. Wir haben aber geſehen, daß dieſe beiden Seiten des
Rechts urſprünglich ganz und gar in einander verwachſen ſind,
daß ferner die Idee des vom Staate zu leiſtenden Rechtsſchutzes
an einen mit dem Staat geſchloſſenen Vertrag anknüpft. Wie
hätte ein Fremder den Schutz des römiſchen Volks oder der
Magiſtrate fordern können, da die Bürger ſelbſt ſich denſelben
erſt ausdrücklich zuſichern laſſen mußten? Wie konnte er ſich
auf römiſche Geſetze berufen, die doch nur eine Vereinbarung
der römiſchen Bürger unter ſich enthielten, wie Theil zu nehmen
begehren an Inſtitutionen, die ſie für ſich eingeführt?


Das römiſche Recht iſt wie der Staat für die Römer da,
oder näher bezeichnet es iſt beſchränkt auf die Gentilitätsverbin-
dung. Gentilität und volle Rechtsfähigkeit, Nicht-Gentilität
und volle Rechtloſigkeit iſt urſprünglich gleichbedeutend, es gibt
von vornherein keine Gradationen der Rechtsfähigkeit. Nur
wer innerhalb der Gens ſteht, iſt ingenuus; wer draußen ſteht,
der ex-gens iſt rechtlos, elend, extrarius est, qui extra focum,
[221]2. Der Staat — Stellung außerhalb deſſelben — Exil. §. 16.
sacramentum jusque sit,124) ſeine Ausſchließung iſt eine totale,
auch die Religion baut ihm keine Brücke, denn auch ſie iſt ein
Inſtitut dieſes Staates. Es iſt ein ſeltſames Spiel des Zu-
falls, daß egens gerade das Loos des exgens ausdrückt, und
die Römer leiteten wirklich egens von gens ab 125) — eine
Ableitung, die wenn ſie richtig wäre, für jene Anſchauung eben-
ſo bezeichnend wäre, wie im Deutſchen das Wort Elend (Aus-
land). Eine unzweifelhafte Spur jener Anſchauung hat uns
die Sprache in dem Wort hostis erhalten, es bedeutet urſprüng-
lich den Gaſt, den Fremden und den Feind. 126) In dieſer
Doppelbedeutung drückt ſich treffend die Unbeſtimmtheit des
Looſes der Fremden aus, daß ſie nämlich eben ſowohl die Be-
handlung von Gäſten als die von Feinden gewärtigen mußten.


Mit dieſer urſprünglichen Rechtloſigkeit des Fremden hängt
die Furchtbarkeit des Exils nach antiker Vorſtellung zuſammen.
Das Exil der heutigen Zeit iſt nicht ein Schatten von dem des
Alterthums, es beſteht nur in einem Wechſel des Wohnorts,
dem Verluſt der Heimath. Eine ſolche Strafe raubt nicht das
Glück ſelbſt, ſondern nur die lokale Form, in der man es bisher
genoß; überall findet der Verwieſene Anerkennung ſeiner Per-
ſönlichkeit und Schutz ſeines Rechts. Ganz anders die urſprüng-
liche Geſtalt des Exils im Alterthum. Der Fremde iſt rechtlos;
[222]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
wer daher ausgeſtoßen wird aus der Gemeinſchaft ſeiner Ge-
noſſen oder wegen Verbrechen ſich flüchtet, deſſen harrt, möchte
ich ſagen, das Loos des Wildes auf dem Felde, das unſtät,
ruhelos umherirrt und gejagt wird, wo es ſich blicken läßt.
Alles, was ihm theuer war, läßt der Verbannte daheim, ſeinen
Heerd, ſeine Genoſſen, den Frieden des Rechts und die gemein-
ſame Verehrung der Götter, und was er mit ſich nimmt, iſt das
Gefühl des unſäglichen Elends, die Ausſicht auf ein dem Zu-
fall, der Verfolgung, Entbehrung u. ſ. w. Preis gegebenes
Leben, auf Knechtſchaft oder eine von der Willkühr und Gnade
ſeiner Schutzherrn abhängige und durch Demüthigungen aller
Art erkaufte Freiheit. Wird er angegriffen und verfolgt, ſo
ſtehen ihm keine Genoſſen zur Seite; fällt er im Kampf, ſo gibt
es für ihn keine Freunde, die ihn rächen, ihm daheim ein Tod-
tenopfer bereiten und ſeinem unſtätt irrenden Schatten Ruhe
verſchaffen.


Das iſt das Exil des Alterthums in ſeiner urſprünglichen
Geſtalt. Es enthält nicht, wie ſpäter, eine bloße capitis demi-
nutio magna,
den Verluſt des Bürgerrechts, ſondern den bür-
gerlichen Tod, die Verſtoßung des Menſchen von dem Boden
des Rechts in eine grauenvolle Einöde, in einen Zuſtand der
Schande und Rechtloſigkeit. Darum erſchien das Exil den Rö-
mern noch in ſpäter Zeit, als demſelben die ſchärfſten Spitzen
bereits abgebrochen waren, dennoch als eine ſo ſchwere Strafe,
daß man dem wegen eines Verbrechens in Anklagezuſtand Ver-
ſetzten bis zum Augenblick des Urtheils es frei ſtellte, durch frei-
williges Exil die Unterſuchung nieder zu ſchlagen.


Die im bisherigen dargeſtellte Rechtsanſchauung, wornach
das Recht urſprünglich mit dem Staat völlig zuſammenfällt und
mit der höchſten Exkluſivität nach außen hin beginnt, mag auf
den erſten Blick als eine der Entwicklung des Rechtsbegriffes
in der Geſchichte hinderliche erſcheinen, während ſie ſich doch bei
näherm Nachdenken gerade umgekehrt als höchſt förderlich ergibt,
als die ſchützende Decke, die den Embryo des Rechts und Staats
[223]2. Der Staat — Stellung außerhalb deſſelben. §. 16.
umgibt und ihm unentbehrlich iſt. Ich erblicke in ihr eins der
wirkſamſten Mittel, das die Geſchichte für die Bildung und
Erhaltung der Staaten in Bewegung geſetzt hat. Indem näm-
lich jene Anſicht den Staat zum Fundament der geſammten ſitt-
lichen Exiſtenz des Individuums macht, ihn in der Wüſte der
Rechtloſigkeit und Willkühr als die Oaſe des Rechts und Frie-
dens erſcheinen läßt, treibt ſie die Individuen aus dieſer Wüſte
in den Staat hinein und kettet ſie mit eiſernen Banden an die-
ſen
Staat feſt. Er iſt ihnen ihr Alles, ihn zu verlaſſen heißt
ſich ſelbſt aufzugeben; ſein Sturz bedeckt ihr ganzes Glück mit
Trümmern. An den Austritt aus dem Staat ſo wie an den Un-
tergang deſſelben knüpft ſich die Ausſicht auf den Verluſt der Per-
ſönlichkeit, den Untergang des geſammten Privatglücks, und ſo
wird der Selbſterhaltungstrieb des Individuums in doppelter Be-
ziehung eins der wirkſamſten Mittel der Erhaltung des Staats
ſelbſt, zuerſt nämlich indem er dem Staat die vorhandenen
Kräfte ſichert, ſodann aber indem er ſie bei einer Gefährdung
deſſelben von außen her auf ihr höchſtes Maß ſpannt. In erſte-
rer Beziehung nämlich iſt es für den entſtehenden Staat ſehr
wichtig, von dem verhältnißmäßig geringen Bevölkerungs-
Kapital, mit dem er beginnt, nichts einzubüßen, während es
umgekehrt für den erwachſenen Staat vortheilhaft ſein kann,
ſich der nicht verwendbaren Ueberſchüſſe dieſes Kapitals durch
Colonien, Auswanderungen u. ſ. w. zu entledigen. Jener be-
darf eines feſten Verſchluſſes, dieſer mitunter eines Ventils,
jener befindet ſich in dieſer Beziehung in einer weit ungünſtige-
ren Lage, als dieſer. Während letzterer ein in der Schule der
Zucht und Ordnung aufgewachſenes Volk vorfindet, das mit
tauſend Banden in ſich und mit ihm verkettet iſt, Banden, die
nur das Reſultat eines langjährigen Prozeſſes ſind, ſoll erſterer
die rauhe Schule der Zucht und Ordnung erſt beginnen, ohne
dem unbändigen Sinne, der dieſer Zucht widerſtrebt, ohne dem
Reiz des Wanderlebens, der Verſuchung ſich von der Gemein-
ſchaft los zu reißen, ein anderes Gegengewicht gegenüber ſtellen
[224]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
zu können, als das Recht, das er gewährt und ſchützt. Wäre
der Werth dieſer Gabe für jene Zeit nicht ein unendlich höherer,
als heutzutage, wäre bereits jene Zeit zur praktiſchen Aner-
kennung der Rechtsſubjektivität des Menſchen als ſolchen ge-
langt, wie hätte das Recht jenen Dienſt leiſten können? Wer
heutzutage ſich einmal entſchloſſen hat, den Staat, dem er bis-
her angehörte, zu verlaſſen, den hält die Rückſicht auf das Recht
nicht zurück, denn wohin er geht, findet er eine Rechtsatmo-
ſphäre vor, nimmt ſeine Rechtsfähigkeit mit ſich, ja kann ſogar
in dieſer Beziehung gewinnen. Wer aber in jener Zeit, von der
wir hier ſprechen, aus der Staatsverbindung, in der er ſtand,
heraus treten wollte, der ließ ſein Recht zurück, trat aus der
Rechtsatmoſphäre, die ſich für ihn nur über dieſen Staat
lagerte, in die Stickluft der Rechtloſigkeit, die dieſen Staat von
allen Seiten umgab. Der Selbſterhaltungstrieb alſo feſſelte
ihn an dieſen Staat, und ſo übte der Staat mittelſt des Rechts
eine Anziehungskraft aus, von der wir keine Ahnung mehr
haben, und Recht, Freiheit, Vermögen u. ſ. w. ſo wie der Staat
ſelbſt als Schirmherr derſelben erſchienen durch die Folie der
Rechtloſigkeit als unſchätzbare Güter, deren Werth jeder kannte.
Mit dem Wegfallen dieſer Folie in der neuern Welt hat ſich die
Werthſchätzung des Rechts bedeutend vermindert, iſt das Recht,
möchte ich ſagen, aus einem Gegenſtande des Privateigenthums,
den jedes Volk ausſchließlich auf ſich bezieht, eine res commu-
nis omnium,
wie Luft und Waſſer geworden, an der jeder
Menſch, der Einheimiſche wie der Fremde, participirt, und deren
Werth man überſieht, weil man ſie überall vorfindet.


Dies alſo die eine Wirkung der hier in Rede ſtehenden ur-
ſprünglichen Rechtsanſicht; ſie reſervirt dem Staat die vorhan-
denen Kräfte. Die zweite ſetzten wir darin, daß ſie zum Schutz
des Staats die vorhandenen Kräfte auf ihr höchſtes Maß
ſpannt. Bei jedem Angriff auf Einzelne wie auf Staaten richtet
ſich die höhere oder geringere Spannung der vorhandenen Wi-
derſtandskraft nach dem Werth oder der ſubjektiven Werth-
[225]2. Der Staat — Stellung außerhalb deſſelben. §. 16.
ſchätzung der bedrohten Güter. Zu dieſen Gütern gehörte nun
für den Fall eines Krieges in der Zeit, von der wir hier ſprechen,
die totale Privatexiſtenz ſämmtlicher Staatsangehörigen. Unter-
liegen war ihnen gleichbedeutend mit Verluſt des Lebens oder
der Freiheit, Ehre, Familie und des Vermögens. Ihre eigne
Selbſterhaltung war alſo von der des Staats abhängig; es
trifft auch hier der im vorigen Paragraphen ausgeſprochene Satz
zu: der Staat ſind ſie ſelbſt. So erſcheint alſo jenes Ver-
hältniß der Individuen zum Staat, vermöge deſſen der indivi-
duelle Selbſterhaltungstrieb ganz und gar dem Staate dienſt-
bar wird, als das Mittel, wodurch die Geſchichte dem jungen
Staat das Leben ſichert, ihn zwingt ſtets mit der ganzen Kraft
der Verzweiflung um ſeine Exiſtenz zu ringen. Durch die häu-
figen Frictionen, die ſie in dieſer Zeit herbeiführt, und die inten-
ſive Stärke derſelben bringt ſie raſch die ſchlummernden Kräfte
zur vollſten Entwicklung. Dem heutigen Staat iſt eine ſolche
Spannung ſeiner Widerſtandskraft gar nicht möglich. Unſere
heutige Scheidung des Staats und der Individuen bewährt
ſich auch im Kriege; der Staat führt mit dem Staat Krieg,
und ſo viele Poſten auch das individuelle Wohl, die nationale
Ehre, das religiöſe oder confeſſionelle Intereſſe u. ſ. w. auf
ſeine Hypothek eingetragen und mithin zu retten hat, der rein
privatrechtlichen Exiſtenz, Freiheit, Familie, Vermögen droht
ſein Sturz nicht den Untergang, der Selbſterhaltungstrieb alſo
der gemeinen Natur, der an jenen höhern Gütern keinen Antheil
hat, iſt dabei weniger intereſſirt. 127)


Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 15
[226]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

An die bisher erörterte urſprüngliche Rechtloſigkeit des
Nichtbürgers knüpft die fernere Entwicklung des römiſchen
Rechts in mannigfacher Weiſe an. Zuerſt nämlich das Sachen-
recht mit ſeinem Recht der Beute, das wir früher (§. 10) als die
Wurzel des römiſchen Eigenthumsbegriffs bezeichnet haben.
Das römiſche Eigenthum entſteht durch die Bethätigung römi-
ſcher Kraft am rechtloſen Fremden. Aber wenn es einerſeits
ſich auf den Krieg ſtützt und ihn veranlaßt, ſo birgt es anderer-
ſeits in ſich auch die Keime des friedlichen Verkehrs. Austauſch
der Eigenthumsgegenſtände baut die Brücke zwiſchen den iſolir-
ten oder befeindeten Völkern, und dem Soldaten, der den Krieg
brachte, folgt der Kaufmann, der den Frieden ſucht. Der Han-
del iſt nicht bloß daheim für die Entwicklung des Privatrechts
die treibende Kraft, ſondern auch für die Ausbildung des Völ-
kerrechts. Für den Handel mit ſeiner unaufhaltſam thätigen,
expanſiven Tendenz iſt die auf die Scholle beſchränkte Natur des
Rechts am fühlbarſten und läſtigſten; wie er die Hemmniſſe des
freien Verkehrs hinwegzuräumen ſtrebt, die die Natur ihm ent-
gegenſetzt, ſo auch die, welche eine beſchränkte Rechtsanſicht ihm
bereitet. Er iſt es, der gegenüber der Exkluſivität der nationa-
len Rechtsanſicht das kosmopolitiſche Element im römiſchen
Recht zur Exiſtenz und Ausbildung gebracht hat. Ein Zwiſchen-
händler war der erſte Vorkämpfer der Cultur; er vermittelte mit
dem Austauſch der materiellen Güter auch den der geiſtigen 128)
127)
[227]2. Der Staat — Die Fremden — das hospitium. §. 16.
und bahnte die Straßen des Friedens. In demſelben Maße,
in dem der Handel zunahm, wurden dieſe Straßen geebneter
und ausgedehnter, ſo daß ſie zuletzt über den größten Theil der
bekannten Welt reichten. Was das Chriſtenthum in dieſer Be-
ziehung der modernen Welt leiſtete, erſetzte der alten der Handel.


In welcher Weiſe verfuhr er dabei? Die beſchränkteſte
Form, deren er ſich bediente, war das hospitium,129) das von
unſerer heutigen Gaſtfreundſchaft ebenſoweit entfernt iſt, wie
aus demſelben Grunde das Exil des Alterthums von unſerer
heutigen Verbannung. Der Zweck des hospitium liegt nämlich
nicht ſowohl in der gaſtlichen Aufnahme, obgleich es auch auf
dieſe mit gerichtet iſt, als in der gegenſeitigen Zuſicherung des
Rechtsſchutzes; es macht die Recht- und Schutzloſigkeit des
hostis dadurch unſchädlich, daß der Gaſtfreund ihn unter ſeinen
rechtlichen Schutz nimmt und deſſen Rechtsanſprüche als die
ſeinigen vor Gericht vertritt. Gegen Betrug und Treuloſigkeit
des Gaſtfreundes ſelbſt gewährte das Recht keinen Schutz —
denn der hostis ſtand ja außerhalb des Rechts — einen um ſo
höhern aber die Religion und Sitte. Gerade dieſe Schutzloſig-
keit deſſelben und das von ſeiner Seite bewieſene höchſte Ver-
trauen ſtempelten einen Mißbrauch deſſelben zu einem der infa-
mirendſten und ſchmählichſten Vergehen, die das Alterthum
kannte.


Ein betriebſamer Kaufmann mochte nun aller Orten Gaſt-
freunde ſuchen, allein für einen ausgebreiteten Handelsverkehr
reichte doch dieſe private Gaſtfreundſchaft nicht aus, und ſo
gingen öfter Staat und Staat dies Verhältniß mit einander
ein (hospitium publice datum). Eine höhere Stufe in der Ent-
wicklung des internationalen Verkehrs bezeichnete es, als man
Staatsverträge abſchloß, wodurch den Angehörigen des einen
Staats gegen die des andern ſtatt des mittelbaren, abgeleiteten
Schutzes, den das hospitium gewährte, ein unmittelbarer Schutz
15*
[228]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ausgewirkt wurde. Die Formen, in denen er ertheilt wurde,
waren gewiß ſehr verſchieden und wechſelnd; die höchſte Spitze
derſelben beſtand in der Verleihung des römiſchen commercium,
wodurch dem Fremden Theilnahme am römiſchen Vermögens-
recht, alſo auch Provokation auf den vom Staat gewährten
Rechtsſchutz freigeſtellt wurde. Hiermit reicht das römiſche Recht
bereits an die Höhe unſerer heutigen Rechtsentwicklung an, auf
der wir den Fremden nach unſerm Recht beurtheilen, nur mit
dem freilich ſehr wichtigen Unterſchiede, daß dies in Rom Folge
eines beſonders ertheilten Privilegiums oder eines Staats-
vertrages war, bei uns aber Anwendung eines allgemeinen
Grundſatzes, Wirkung einer höhern Rechtsanſchauung iſt.


Die Ertheilung des commercium war aber bei den Rö-
mern nichts weniger als die reguläre Form, in der der interna-
tionale Rechtsverkehr vermittelt wurde. Am Ende des fünften
Jahrhunderts der Stadt finden wir in Rom einen eignen Ge-
richtshof für die Rechtsſtreitigkeiten der Peregrinen und Römer,
den des Praetor peregrinus, und es entwickelt ſich hier auf
Grundlage der bisherigen Staatsverträge und unter Mitwirkung
der Theorie und Praxis ein allgemeines internationales Han-
delsrecht, das jus gentium, das wir erſt im dritten Syſtem,
wo ſeine Rückwirkungen auf das römiſche Recht kenntlich her-
vortreten, ins Auge faſſen werden. Der Einführung jener Ma-
giſtratur aber gingen andere Formen vorher, von denen uns
nur hinſichtlich einiger wie z. B. der von den Fetialen vorzu-
nehmenden clarigatio und des bald ſtändigen, bald im einzelnen
Fall eingeſetzten und mit ihm aufhörenden Rekuperatorengerichts
dürftige Kunde erhalten iſt. 130) So intereſſant es wäre, die all-
mählige Ausbildung des internationalen Rechtsverkehrs im einzel-
nen verfolgen zu können, ſo dürfen und müſſen wir uns hier doch
mit dem allgemeinen Geſichtspunkt begnügen, daß jener Rechts-
[229]2. Der Staat — Der internationale Rechtsverkehr. §. 16.
verkehr nur das Werk ſpezieller zwiſchen den einzelnen Staaten
abgeſchloſſener Verträge war und der Ausdehnung wie der Art
und dem Maß nach durch ſie beſtimmt war. Das internatio-
nale Recht löſte ſich alſo auf in Rechte, die zwei Völker ſich
für ihren Verkehr gegenſeitig eingeräumt hatten, erſcheint als
ein Inbegriff von Vertragsnormen, die gegenüber dieſem Volke
dieſen, gegenüber jenem einen andern Inhalt hatten. Der Ver-
trag, deſſen ſchöpferiſche Kraft uns ſchon im Innern des Staats
bei ſo manchem Inſtitute begegnet iſt, zeigt ſich uns auch hier
wieder in gleicher Weiſe wirkſam. Wie er im Innern den Ue-
bergang von der öffentlichen und Privatſelbſthülfe zur Crimi-
nal- und Civilgerichtsbarkeit vermittelt, ſo hier den von dem
primitiven Kriegsfuß zur rechtlichen Organiſirung des interna-
tionalen Verkehrs. Vom Standpunkt unſerer heutigen Rechts-
anſicht aus, der nichts natürlicher erſcheint, als daß auch der
Fremde den Rechtsſchutz unſeres Staates in Anſpruch nehmen
könne, betrachten wir die praktiſche Verwirklichung dieſer An-
ſicht, die Thatſache, daß das über den civiliſirten Theil der
Welt ſich ausſpannende Gebiet des Rechts dem Menſchen als
ſolchem, ſei er Staatsbürger oder Fremder die freiſte Bewegung
möglich macht, als eine nothwendige, ſich von ſelbſt verſtehende
und denken nicht daran, wie allmählig und mühſam das Recht,
nachdem es einmal ſich von ſeiner engumgränzten Heimath,
dem einzelnen Staat, loszureißen und weitere Kreiſe zu ſuchen
wagte, ſich jeden Zoll Landes hat erkämpfen müſſen. Was
uns heutzutage in der Natur des Rechts ſelbſt zu liegen ſcheint,
iſt zum großen Theil nichts weniger als eine dem Menſchen-
Geſchlecht von vornherein mitgegebene Anſchauung und ver-
dankt ſeine praktiſche Realität nicht der Macht der rechtlichen
Ueberzeugung, der Idee der Gerechtigkeit, ſondern iſt das Werk
einer durch materielle Gründe, durch die Noth des Lebens und
den Drang der Umſtände in Bewegung geſetzten und erhaltenen
und durch Motive der Zweckmäßigkeit geleiteten menſch-
lichen Thätigkeit. Erſt wenn dieſe Kräfte die ſchwerſte Arbeit
[230]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
verrichtet haben, zieht die Idee der Gerechtigkeit ein und nimmt
das Werk als ein ihr gebührendes Eigenthum in Beſitz und
unter ihren Schutz.


Die Exkluſivität des Staats und Rechts, die wir bisher
in ihrer Richtung nach außen hin verfolgten, muß ſich auch im
Innern an denen bewährt haben, die, ohne Aufnahme in die
Gentilverbindung zu erreichen, ſich auf dem Staatsgebiet nie-
derzulaſſen wünſchten. Ihre rechtliche Lage war von vornherein
der des hostis völlig gleich, und wie letzterer urſprünglich nur
mittelbar durch das hospitium rechtlichen Schutz gewinnen
konnte, ſo auch ſie nur dadurch, daß ſie ſich als Clienten unter
das Patronat eines römiſchen Bürgers ſtellten. Dies Verhält-
niß iſt ſeinem Grunde, Zwecke und Weſen nach dem hospitium
völlig gleich; wie dieſes, veranlaßt durch die mangelnde Rechts-
fähigkeit des einen Theils, berechnet auf mittelbaren Erſatz der-
ſelben durch die Rechtsfähigkeit des andern Theils und lediglich
durch die Sitte geſchützt. Der Punkt, in dem es abweicht, liegt
in der Gegenleiſtung. Denn während dieſelbe beim hospitium
in der Erwiderung des gewährten Schutzes liegt, fällt dies
beim Clienten natürlich hinweg, und es tritt Dienſtpflicht dafür
an die Stelle, und inſofern war das Verhältniß faktiſch ein
abhängigeres. Dieſe Abhängigkeit prägt ſich auch in den Aus-
drücken patronus und cliens (Höriger) 131) aus. Der erſte Aus-
druck ſtellt dies Verhältniß als eine Nachbildung der väterlichen
Gewalt dar, und mit dieſer Bezeichnung hat die Sprache das
Weſen deſſelben treffend ausgedrückt. Wie der Sohn hat auch
der Client keine Rechte gegen den, der Vaterſtelle an ihm ver-
[231]2. Der Staat — Die Nichtbürger — Die Clientel. §. 16.
tritt; rechtlich ſind beide gänzlich ſeiner Gewalt unterworfen.
Nur die Sitte und die Pietät des Verhältniſſes ſchützt beide
gegen den Mißbrauch dieſer Gewalt. Ein angebliches Geſetz
von Romulus erklärte den Patron für vogelfrei, der ſeinen Cli-
enten betrogen, und auf der Stufenleiter der Pflichten, die uns
Gellius aufbewahrt hat, nahm die gegen den Clienten eine aus-
gezeichnete Stelle ein. 132)


War jener Vergleich des Patronats mit der patria potestas
nicht bloß von der perſönlichen Seite des Verhältniſſes herge-
nommen, ſondern auch für die vermögensrechtliche Stellung der
Clienten zutreffend, ſo würde letztere ſich nach den Grundſätzen
über das Pekulium des Hausſohns beſtimmen laſſen. Faktiſch
zwar können beide ein eignes Vermögen haben, allein juriſtiſch
gilt ihr Gewalthaber als Subjekt deſſelben und vertritt ſie ſo-
wohl activ als paſſiv gegenüber dritten Perſonen. Dieſe active
Vertretung, die Klagerhebung für den Clienten, iſt der Zweck
des Verhältniſſes; 133) juriſtiſch erſcheint ſie aber nicht als Stell-
vertretung, ſondern als Geltendmachung eines dem Patron
ſelbſt zuſtehenden Rechts. Bei der paſſiven Vertretung, die eine
nothwendige Folge des Verhältniſſes war, haftete der Patron
vielleicht nach Analogie der Pekulien- und der Noxal-Klage
d. h. je nach Umſtänden bis zum Betrage des Vermögens ſeines
Clienten oder auf Auslieferung (noxae deditio) ſeiner Perſon.
Während aber, um dieſe active und paſſive Vertretung möglich
zu machen, der Patron juriſtiſch als Innehaber jenes Vermö-
gens angeſehn wird, alſo auch die unbeſchränkteſte Dispoſitions-
befugniß über daſſelbe hat, ſo daß er z. B. es dem Clienten
völlig entziehen kann, legt die Sitte dem Patron mancherlei
Beſchränkungen auf und verpflichtet ihn, dem Clienten das
[232]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Maß faktiſcher Selbſtändigkeit, das, ſei es hergebracht, ſei es
durch Vereinbarung mit ihm feſtgeſtellt iſt, unverkümmert zu
gewähren, das Vermögen des Clienten faktiſch nicht als das
ſeinige zu betrachten. Es gab zwar Nothfälle, in denen er ohne
Anſtand dem Clienten eine Contribution auferlegen konnte, 134)
ebenſo war es in der Ordnung, daß der Client für den ihm ge-
währten Schutz Dienſte leiſtete; allein dieſe Leiſtungen fanden
an der Sitte ihr Maß, und die Vereinbarungen beider Par-
theien, die rechtlich völlig wirkungslos waren, an ihr ihren
Schutz. Bei dem Tode des Clienten war der Patron ſeiner
Verpflichtung ledig, konnte alſo das Vermögen einziehen, und
nur wenn Kinder vorhanden waren, mochte es Ehrenſache für
ihn ſein, es ihnen zu laſſen. 135)


Es iſt begreiflich, daß dies Verhältniß von Seiten des
Patrons, der um eine geringe Leiſtung wichtige Vortheile ein-
tauſchte, bereitwillig ſowohl mit dem Clienten ſelbſt als deſſen
Nachkommenſchaft fortgeſetzt wurde, und daß ſein eignes Inter-
eſſe ihn veranlaßte, ſeine Clienten gut zu behandeln und mög-
lichſt günſtig zu ſtellen, ſowohl um ihnen keinen Grund zu ge-
ben, das Verhältniß aufzuheben — was ihnen nämlich ſchwer-
lich verweigert werden konnte — als um neue zu gewinnen.
Für den, der Land genug und Arbeitskräfte zu wenig beſaß,
mochte es ein vortheilhaftes Geſchäft ſein, durch unentgeltliche
Ueberlaſſung kleiner Parzellen Landes Clienten an ſich zu ziehen
und ſeine Arbeitskräfte damit zu vermehren. Dieſe Verleihung
von Land, die an ſich dem Weſen des Inſtituts fremd iſt, 136)
[233]2. Der Staat — Die Nichtbürger — Die Clientel. §. 16.
war ein ſehr wirkſames Mittel, den Clienten an der Aufrecht-
haltung des Verhältniſſes zu intereſſiren und mochte als ſolches
in allgemeinen Gebrauch kommen 137) und die uns von Diony-
ſius bezeugte Thatſache bewirken, daß das Verhältniß von bei-
den Seiten von einer Generation auf die andere überging. Zur
Erklärung dieſer Erſcheinung braucht man nicht mit Niebuhr
im Widerſpruch mit Dionyſius zu der Annahme zu greifen, daß
jenes Verhältniß von Seiten des Clienten unauflösbar gewe-
ſen; das beiderſeitige Intereſſe, die Macht der Gewohnheit,
die untergeordnete Stellung des Clienten u. ſ. w. konnten auch
ohne dieſe Vorausſetzung daſſelbe Reſultat herbeiführen.


Auffallend iſt das Schweigen der lateiniſchen Sprache über
die vermögensrechtliche Seite jenes Verhältniſſes; es wird uns
kein Ausdruck für jene Landverleihung an den Clienten berichtet,
kein Ausdruck für das Clienten-Vermögen, ungeachtet daſſelbe
doch von den „bonis“ eines römiſchen pater familias, dem „pa-
trimonium,“
der „familia“ (dem Hausſtand deſſelben, Perſo-
nen und Sachen gleichmäßig umfaſſend) ſich rechtlich ſo ſehr un-
terſchied. Auffallend nenne ich dies Schweigen, weil wichtige
Unterſchiede, die im Leben ſelbſt in auffälliger Weiſe hervortre-
ten, auch in der Sprache ſich abzuſpiegeln pflegen. Die lateini-
ſche Sprache muß Ausdrücke für jene Verhältniſſe gehabt haben;
ſind dieſelben mit letztern ſelbſt untergegangen, oder ſollten ſie
vielleicht mit veränderter Bedeutung in der neuern lateiniſchen
Sprache noch fortexiſtiren? Ich nehme letzteres an und erblicke
im precarium138) und peculium zwei Ausdrücke und Inſtitute,
136)
[234]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
die urſprünglich dem Clientelarverhältniß angehörten. Beide
ſtehen außer dem Boden des eigentlichen Rechts, ſind Inſtitute,
von denen die ſpätern römiſchen Juriſten ſagen: magis facti
sunt, quam juris,
die Clientel ſelbſt aber konnte nur Inſtitute
von dieſem Charakter kennen. Sodann aber ſind beide, wie die
Clientel ſelbſt, Verhältniſſe auf Gnade und Ungnade, nicht
durch das Recht geſchützt, jeden Augenblick widerruflich. Es
läßt ſich das clientelariſche Vermögensrecht, wie es ſeiner juriſti-
ſchen Natur und innern Conſequenz nach ſein mußte, nicht bloß
ohne Zwang unter die Grundſätze jener beiden Inſtitute brin-
gen, ſondern ich glaube, daß dieſe Anknüpfung auf letztere ſelbſt
einiges Licht wirft.


Ich denke mir die Sache in folgender Weiſe. Precarium
hieß alles, was der Patron dem Clienten auf deſſen Bitten
(preces, daher precarium) zum Gebrauch einräumte; am häufig-
ſten war dies wohl ein Grundſtück, doch mochte auch Wohnung
(ein Anknüpfungspunkt für die habitatio des ſpätern Rechts)
nicht ſelten verliehen werden. Der beliebige Widerruf deſſelben
verſtand ſich nach dem Verhältniß, in dem beide Perſonen zu
einander ſtanden, von ſelbſt, er brauchte weder ausgemacht zu
werden, noch konnte ein Verzicht darauf irgendwie juriſtiſch
wirkſam ſein. Eine civilrechtliche Obligation war auf beiden
Seiten undenkbar; es konnte weder der Patron ſich obligiren,
dem Clienten die Sache eine beſtimmte Zeit zu laſſen, noch
letzterer, ſie demnächſt zurückzugeben. Begehrte der Patron ſie
zurück, ſo nahm er ſie. Dritten Perſonen gegenüber mochte der
Client ſich zur Wehr ſetzen, dem Patron gegenüber war dies ſelbſt
dann unzuläſſig, wenn letzterer vor Ablauf der dem Clienten zu-
geſicherten Nutzungszeit die Sache herausbegehrte. Als das pre-
carium
ſich von ſeiner urſprünglichen Beziehung zum Clientelar-
138)
[235]2. Der Staat — Die Nichtbürger — Clientel, precarium. §. 16.
verhältniß ablöſte und auch zwiſchen römiſchen Bürgern vorkam,
behielt es doch dieſe ſeine Structur bei und nahm keinen obli-
gatoriſchen Zuſatz in ſich auf, ſo daß weder der Verleiher an
ſein Verſprechen, die Sache dem Empfänger eine beſtimmte Zeit
zu laſſen, gebunden war, nach letzterer in Form einer Obligation
zur Zurückgabe gezwungen werden konnte. Ein precarium zwi-
ſchen Römern eingegangen hieß nichts anders, als Stellung
des Verhältniſſes unter das Recht der patronatiſchen Leihe, ich
darf mich vielleicht des Vergleichs mit dem deutſchen „Hofrecht“
bedienen. Von Anwendung der Grundſätze des römiſchen Rechts
konnte hier keine Rede ſein, das Verhältniß ſelbſt verdankte ja
ſeine Entſtehung der Unanwendbarkeit dieſer Grundſätze, und
ſeine beſtimmt ausgebildete, jedem geläufige, durch den Namen
ſelbſt angedeutete Natur widerſtrebte jedem Gedanken an eine
Obligation. Den Vereinbarungen beider Partheien über Art,
Zeit u. ſ. w. der Rückgabe obligatoriſche Wirkung beizulegen,
hätte in alter Zeit nichts geheißen, als ein precarium zu gleicher
Zeit eingehen und nicht eingehen; römiſches Recht und nicht-
römiſches Recht gleichmäßig zur Anwendung zu bringen. Pre-
carium
und rechtliche Möglichkeit eines obligatoriſchen Ver-
hältniſſes zwiſchen beiden Theilen waren von vornherein abſo-
lute Widerſprüche, und es gehörten viele Jahrhunderte dazu,
um den Charakter des precarium ſo zu verwiſchen, daß man
keinen Anſtand mehr zu nehmen brauchte, die Theorie der Inno-
minatcontrakte darauf anzuwenden.


Das Vermögen, das der Client ſich ſelbſt erworben hatte,
ſein Inventar und Vieh hieß peculium und ſtand unter denſel-
ben Grundſätzen, nach denen im neuern Recht das peculium
des Hausſohns und Sklaven beurtheilt wird d. h. faktiſch ge-
hörte es zwar dem Clienten, juriſtiſch aber galt der Patron als
Eigenthümer deſſelben. Der Name weiſt auf die Beziehung die-
ſes Vermögens zur Landwirthſchaft hin; wörtlich überſetzt be-
deutet er „kleines Vieh“ d. h. einen von der Hauptheerde geſon-
derten Viehſtand. Dieſer Wink, den die Etymologie uns über
[236]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
den urſprünglichen Inhalt des peculium gibt, iſt für unſere
Frage nicht außer Acht zu laſſen; er weiſt uns nämlich auf einen
von dem des Hauptgutes getrennten landwirthſchaftlichen Be-
trieb hin, und ich brauche nicht zu ſagen, wie viel natürlicher
es iſt, uns den Clienten als Subjekt deſſelben zu denken, denn
den Hausſohn oder den Sklaven. Bei jenem enthält dieſes
Neben- oder kleine Vieh einen charakteriſtiſchen Hinweis auf
das nothwendige Verhältniß, in dem er, etwa nach Art unſerer
heutigen Tagelöhner auf den Gütern, mit ſeiner Landwirth-
ſchaft zu der des Patrons ſtand. Bei dem Sohn erſcheint die
darin ausgedrückte ſeparirte Landwirthſchaft ungleich weniger
wahrſcheinlich, beim Sklaven unbegreiflich. Am Vermögen des
Clienten bildete ſich der Begriff des peculium aus, hier war
das Bedürfniß der Sonderung eines kleineren Vermögens von
dem Hauptvermögen des Herrn am dringendſten, oder die Son-
derung war hier ſchon durch das Verhältniß ſelbſt gegeben;
dem Sohn oder Sklaven ein Sondervermögen einzuräumen war
nichts weniger als nothwendig; wenn es aber geſchah, lag es
nahe, den bereits bekannten Ausdruck peculium darauf zu über-
tragen. Vielleicht dürfte man ſagen, daß ähnlich wie das
precarium ſo auch das peculium aus einem urſprünglich clien-
telariſchen Inſtitut ein allgemein römiſches geworden ſei. Iſt
dieſe Vermuthung richtig, ſo konnte Feſtus in der [Note 137]
mitgetheilten Stelle mit Recht die vermögensrechtliche Stellung
der Clienten und Kinder identificiren; die Worte perinde ac
liberis propriis
enthalten dann nicht bloß einen äußerlichen
Vergleich beider Claſſen von Perſonen, ſondern den ihrer recht-
lichen Lage, und ebenſo drückt unter dieſer Vorausſetzung der
im Wort patronus liegende Vergleich mit pater die juriſtiſche
Natur des Verhältniſſes erſchöpfend aus.


Hier, wo uns dieſe Clientel nur von einer beſtimmten Seite
intereſſirt, nämlich als ein durch die Rechtloſigkeit des Nicht-
bürgers hervorgerufenes Inſtitut, genügt uns das bisher Ge-
ſagte. Wir haben in ihr den nothwendigen Ausgangspunkt des
[237]2. Der Staat — Nichtbürger — Clientel. §. 16.
Rechts der dem Staat angehörigen Nichtbürger erkannt, und
es kann in meinen Augen nicht zweifelhaft ſein, daß alle
Nichtbürger, alſo urſprünglich auch die Freigelaſſenen 139) in
dieſem Verhältniß ſtanden. Der Strenge des Rechtsbegriffs
nach war daſſelbe gar kein rechtliches, aber wenn es, möchte
ich ſagen, auch der Form des Rechts entbehrte, ſo barg es doch
eine rechtliche Subſtanz in ſich. Die feſten Grundſätze, die ſich
durch die Sitte über das Verhältniß zwiſchen Patron und
Clienten ausgebildet hatten, der indirekte Schutz, den das Cri-
minalrecht mit ſeiner Beſtrafung der fraus patroni gewährte,
machten die Lage des Clienten zu einer ziemlich geſicherten und
den Mangel einer Klage gegen den Patron ſelbſt weniger fühl-
bar. Ideen von einem Recht niederer Art ſetzten ſich dem Inſti-
tut an, es condenſirte und conſolidirte ſich in der Anſicht des
Volks zu einem Rechtsverhältniß, das nur in der Art ſeines
Schutzes von den übrigen abwich, 140) und ſo mochte ein
Schritt vorbereitet werden und als ein wenig bedeutungsvoller
erſcheinen, der im Grunde die Vernichtung des Inſtituts ſelber
enthält, nämlich der, daß dem Clienten das Recht der eignen
Klage verliehen ward. Von der alten Unfähigkeit des Clien-
ten, Klage zu erheben, blieb als Reminiscenz noch die, daß
er ohne ſpezielle Erlaubniß des Prätors ſeinen Patron nicht in
jus
vociren d. h. ihn wider ſeinen Willen nicht verklagen durfte.
Jener Schritt ſelbſt aber ward gewiß weſentlich beſchleunigt
[238]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
durch den Vorſprung, den das Plebejerthum in dieſer Bezie-
hung erlangt hatte. Mit den Plebejern aber ſind wir über die
Ausgangspunkte des Rechts bereits weit hinaus, in ihnen iſt
jene Trennung des Privatrechts vom öffentlichen, die gerade
dem urſprünglichen Charakter des Rechts ſo ſehr widerſtrebt,
bereits im weſentlichen vollzogen. In ihnen begegnet uns im
Innern des römiſchen Staats jenes commercium zwiſchen
Bürgern und Nichtbürgern, das wir oben S. 228 in ſeiner
internationalen Beziehung haben kennen lernen, und es iſt nicht
unmöglich, daß das commercium erſt nach außen hin durch
Vertrag zwiſchen zwei verſchiedenen Völkern hat ins Leben ge-
rufen werden müſſen, um ſodann auch im Innern des Staats
zwiſchen den Bürgern und Nichtbürgern Anwendung zu finden.
Das Völkerrecht iſt vielleicht die Stätte, wo ſich jene Trennung
des Privatrechts vom Staat vollzog, die commercielle Berüh-
rung mit einem fremden Volk der Impuls zu dieſem Fortſchritt,
der dann, nachdem er einmal nach außen hin vollzogen, dem
Staat ſelbſt im Innern auf die natürlichſte Weiſe dadurch zu
gute kommen, ich möchte ſagen aufgezwungen werden konnte,
daß Mitglieder des fremden Volks ſich dauernd auf ſein Gebiet
überſiedelten und ſo das commercium von außen in ihn hin-
einbrachten, das er, der für ſeine ihm angehörigen Nichtbürger
nur die niedere Form des Clientelarverhältniſſes kannte, von
dieſer niederſten Stufe aus weit langſamer würde erreicht ha-
ben. Verhält ſich dies in dieſer Weiſe, ſo würden wir in dieſer
Rückwirkung der friedlichen Berührung des Staats mit dem
Ausland auf ſeine eigne innere Organiſation ein Seitenſtück
zu der Rückwirkung ſeiner feindlichen Berührung mit dem Aus-
land haben, die bereits früher angedeutet und der Gegenſtand
iſt, zu dem wir jetzt übergehn.


[239]2. Der Staat. — 2 die Wehrverfaſſung. §. 17.
2. Einfluß der Wehrverfaſſung auf Staat und Recht.

Vortheilhafter Einfluß des Krieges auf die Verfaſſung — Die
Staatsverfaſſung eine Wehrverfaſſung — Die militäriſche Ein-
theilung des Volks — Prinzip der Subordination — Das im-
perium
— Militäriſcher Charakter des Königthums — Strafge-
walt — Einfluß der Wehrverfaſſung auf die Erziehung des
Volks — Sinn für äußere Ordnung und Geſetzlichkeit.

XVII. Daß der Krieg auf die Entwicklung des Rechts und
Staats den heilſamſten Einfluß ausüben kann, iſt weniger pa-
radox, als es klingt. Ein Krieg zur rechten Zeit kann dieſe Ent-
wicklung in wenig Jahren mehr fördern, als Jahrhunderte
friedlicher Exiſtenz. Einem Gewitter gleich reinigt er die Luft,
macht der politiſchen und moraliſchen Stagnation ein raſches
Ende, wirft das morſche Gebäude einer ſchwerfälligen Staats-
verfaſſung und drückender ſocialer Inſtitutionen mit einem
Stoße zu Boden und macht ſo einen politiſchen und ſocialen
Verjüngungsprozeß nothwendig. Was dem alterſchwachen Staat
vielleicht das Leben koſtet, dient bei einem andern dazu, ihn
zur Anſpannung ſeiner Kräfte zu zwingen, ein neues, friſches
Leben in ihm anzuregen.


Bei den Römern war der Krieg bekanntlich nicht ein Aus-
nahmszuſtand, ſondern die Regel; es war die Schule, in der
ſie groß geworden ſind, und deren eigenthümlicher, ſtählender
Einfluß ſich auch in ihrem Recht vielfältig erkennen läßt. Schon
an der älteſten Verfaſſung, die Rom mitbringt, iſt derſelbe
nachweisbar; ſie iſt, möchte ich ſagen, eine Rüſtung, die zwar
dem Kriege ihren Urſprung verdankt und für ihn beſtimmt iſt,
die Rom aber, um ſtets gerüſtet zu ſein, auch im Frieden nicht
ablegt. Dank der kriegeriſchen Geſinnungs- und Lebensweiſe
der Römer, die ſie dauernd in dieſer kampfbereiten Lage erhielt,
denn darin eben daß dieſe Lage keine vorübergehende, ſondern
ein perpetuirliche Schule der militäriſchen Zucht war, lag ein
[240]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
unſchätzbarer Vortheil. Die Unbändigkeit des römiſchen Sin-
nes, die der ruhigen, friedlichen Exiſtenz widerſtrebte und ſtets
der Kriege bedurfte, fand in der durch dieſe Kriege bedingten
militäriſchen Disciplin ihr Gegengewicht, band ſich ſelbſt die
Ruthe, durch die ſie erzogen werden ſollte. Das älteſte Rom
war ein immerwährendes Lager; die Ordnung und ſtrenge Zucht
des Lagers regierten hier, und die Staatsverfaſſung ging auf
in der Wehrverfaſſung. Bei andern Völkern ward das Lager
abgebrochen, wenn der Krieg beendet war; die Kriegsverfaſ-
ſung mit ihrer Disciplin war nur für den vorübergehenden Zu-
ſtand der Spannung beſtimmt; mit dem Frieden fiel ſie, möchte
ich ſagen, in die behaglichere Form einer Friedensverfaſſung
zurück. 141)


Den Kern der folgenden Ausführung können wir in den
Satz zuſammenfaſſen: das militäriſche Intereſſe iſt das Motiv,
das den Staat um einen Gedanken bereichert, den wir bis jetzt
noch nicht kennen, den der Ueber- und Unterordnung, und dem
Geſchlechterſtaat die Form der Wehrverfaſſung aufzwingt. Nicht
[241]2. Einfluß der Wehrverfaſſung — Volk und Heer identiſch. §. 17.
in Rom iſt dieſe Bildung vor ſich gegangen, das Königthum
und die ſonſtigen militäriſch-politiſchen Inſtitutionen erſcheinen
hier bereits als fertige, auf den neuen Staat nur übertragene;
aber wenn wir auch hinſichtlich ihrer, wie wir es bisher gethan
haben, nach einem Ausgangspunkt ſuchen, die Ideen zu ermitteln
ſtreben, denen ſie entwachſen ſind, ſo werden wir, glaube ich,
ſtets auf jenes militäriſche Intereſſe zurückgewieſen, wie dies
jetzt ausgeführt werden ſoll.


Betrachten wir zuerſt die Eintheilung des Volks. Es ergibt
ſich auf den erſten Blick, daß dieſelbe etwas gemachtes iſt. Die
10 Curien der Tribus, die 10 Gentes der Curien ſind nicht das
Reſultat einer ſ. g. organiſchen Entwicklung, ſondern ſie ſind
mit Abſicht und eines Zweckes wegen eingerichtet. Worin be-
ſtand dieſer Zweck? Fragen wir uns, wo das Bedürfniß einer
Eintheilung des Volks zuerſt und am dringendſten ſich zeigt.
Ohne Zweifel im Heerweſen. Die erſte vom Staat eingeführte
mechaniſche Ordnung iſt die Schlachtordnung, hier bedarf
es vor allem einer nach einem durchgehenden Zahlenverhältniß
geregelten Eintheilung des Volks. Bei den Römern und man-
chen germaniſchen Völkern finden wir das Decimalſyſtem, 142)
bei letztern iſt die militäriſche Beſtimmung der Eintheilung aus-
gemacht, bei den Römern kann ſie meiner Anſicht nach keinem
gegründeten Zweifel unterliegen. Man laſſe ſich dadurch nicht
irre machen, daß dieſe Eintheilung zugleich politiſche und reli-
giöſe Beziehungen hat, es beſteht eben das Charakteriſtiſche
der ganzen Verfaſſung darin, daß die Wehrverfaſſung die
Grundformen des Staats beſtimmt, die religiöſen und poli-
tiſchen Intereſſen aber ſich der dadurch gegebenen Ordnung an-
ſchmiegen. Man könnte das Verhältniß vielleicht am beſten in
der Weiſe ausdrücken, daß man ſagt: das Volk iſt Heer, 143)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 16
[242]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
das ganze Heer hat ſeinen Gottesdienſt und ſeine politiſchen
Functionen, ebenſo aber auch jede Heeresabtheilung. Die Cu-
rie iſt nicht eine politiſche Genoſſenſchaft, die zugleich religiöſe
und militäriſche Bedeutung hat, noch weniger eine religiöſe
Einheit, die auch politiſche und militäriſche Functionen aus-
übt, 144) ſondern ſie iſt eine dauernde Heeresabtheilung oder,
weil das Volk und Heer gleichbedeutend ſind, eine Abtheilung
des Volks. Auch die Gens iſt eine Heeresabtheilung, aber
keine gemachte; gemacht iſt bloß die Zahl der Gentes. Inſo-
fern die Aufrechthaltung dieſer Zahl aber nicht dem Zufall der
natürlichen Fortpflanzung überlaſſen werden konnte, für eine
ſei es durch Ausſterben oder auf ſonſtige Weiſe ausgefallene
Gens vielmehr eine neue gebildet werden mußte, greift aber
auch, wenn ich ſo ſagen darf, die Kunſt in dieſen ſonſt der Na-
tur anheimfallenden Kreis der Gens ein.


Die Schlachtordnung alſo iſt der erſte Fall der Ordnung,
aber damit letztere im Kriege ihre Dienſte leiſte, muß ſie auch
im Frieden aufrecht erhalten werden. Das Volk, das nach Be-
endigung des Krieges heimkehrt, behält ſeine Heeres einthei-
lung
bei, ja es bleibt Heer, der Frieden zeigt uns im Volk
nur das Heer in Ruhe, wie der Krieg im Heere das Volk in
Thätigkeit. 145) Volksverſammlungen ſind alſo Heeresverſamm-
lungen, nur der Oberbefehlshaber kann ſie berufen, 146) und die
[243]2. Einfluß der Wehrverfaſſung — Heer und Volk identiſch. §. 17.
einzelnen Abtheilungen verſammeln ſich unter ihren militäri-
ſchen Vorgeſetzten. Wer das dienſtfähige Alter noch nicht er-
reicht oder bereits überſchritten hat, kann mithin an der Volks-
verſammlung keinen Antheil nehmen. Die Alten, die senes,
bilden den Senatus, der keinen Beſchluß zu faſſen, ſondern
nur Rath zu ertheilen hat; ihr Alter ſetzt ſie dazu und nur dazu
in Stand, und jene Einrichtung des Senats iſt nichts, als die
verfaſſungsmäßige Geſtaltung des Einfluſſes, den Alter und
Erfahrung immer ausüben. Aber mit der den Alten fehlenden
Kraft, gefaßte Beſchlüſſe auszuführen, fehlt ihnen auch die
Fähigkeit, an der Beſchlußnahme des Volks Theil zu nehmen.
In den Volksverſammlungen erſcheinen alſo nur die Jungen,
die Krieger, nur ſie haben einen Willen, denn als Wille gilt
nur der thatkräftige, der das Gewollte auszuführen vermag.
Das Volk, populus, iſt daher gleichbedeutend mit der Maſſe
der Jungen, was die Etymologie beſtätigt, 147) und ebenſo
jung mit waffenfähig. Pubes, mündig, wird Jemand und da-
mit Mitglied des populus, ſowie er dienſtfähig iſt; wer die
Waffen führen kann, bedarf keines tutor mehr und darf mit-
ſtimmen in der Volksverſammlung.


Es iſt bereits früher (S. 113) der Verſuch gemacht, in den
Ausdrücken curiae, decuriae, welche die Abtheilungen des
Volks bezeichnen, etymologiſch eine militäriſche Beziehung nach-
zuweiſen. Vir iſt der Krieger (S. 112), conviria oder curia,
alſo eine Gemeinſchaft derſelben, eine Mannſchaft, decemvi-
16*
[244]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ria, decuria eine kleinere Abtheilung von 10 Mann. 148) Der
letzte Ausdruck bezeichnet die Gens von Seiten ihrer Stellung
in der Wehrverfaſſung, der Ausdruck gens abſolut als einen
Verein der durch Geburt Verbundenen. Die urſprüngliche
Wehrverfaſſung enthält 10 Curien, jede Curie 10 Decurien,
alſo im Ganzen 100 Decurien; durch die Vereinigung von drei
in dieſer Weiſe organiſirten Völkern verdreifachte ſich in Rom
dieſe Zahl.


Die Etymologie lehrt uns alſo, daß die comitia curiata ur-
ſprünglich Verſammlungen des Heeres geweſen, und der Aus-
druck Quirites, mit dem das Volk angeredet wird, gewährt uns
ein anderes Argument. Die etymologiſche Erklärung deſſelben
iſt gleichfalls bereits S. 103 gegeben, und darnach bedeutet er
die Krieger, die die quiris, die dienſtmäßige Lanze, tragen.
Populus Romanus Quiritium iſt alſo die junge römiſche Mann-
ſchaft der Lanzenträger, das Heer in ſeinen Verſammlungen.
Man muß ſich dadurch nur nicht irre machen laſſen, daß der
Ausdruck Quirites ſpäter, als die Begriffe Volk und Heer prak-
tiſch auseinander gefallen waren, die Bürger bezeichnete, und
ſeine Anwendung auf die Soldaten einen Schimpf enthielt; eine
ſolche Abnutzung des Ausdruckes durch Umgeſtaltung der Sache
ſelbſt iſt nichts ungewöhnliches. Ebenſo wenig darf uns die
ſpätere Competenz der Curiatcomitien über ihre urſprüngliche
Beſtimmung und ihren urſprünglichen Charakter täuſchen.


Nachdem die Verfaſſung des Servius Tullius, die ganz im
Geiſte der Idee, mit der wir uns hier beſchäftigen, die Wehr-
verfaſſung als Fundament des Staats beibehielt, 149) längere
[245]2. Einfluß der Wehrverfaſſung — Heer und Volk identiſch. §. 17.
Zeit beſtanden hatte, konnte es für alle, die nur den gegen-
wärtigen Beſtand der Centuriat- und Curiat-Comitien kann-
ten, den Anſchein gewinnen, als ob letztere mit der Wehrver-
faſſung nichts gemein gehabt hätten. Allein der Kenner des
Alterthums wußte das Gegentheil, 150) und in der Verlei-
hung des imperium, des militäriſchen Oberbefehls, die nach
wie vor den Curiatcomitien vorbehalten blieb, 151) dauerte noch
ein wichtiger Ueberreſt ihres militäriſchen Charakters fort. Daß
die Curiatcomitien innerhalb, die Centuriatcomitien außerhalb
der Stadt auf dem Campus Martius Statt fanden, hängt mit
der Geſchichte des imperium zuſammen. In der Königszeit er-
ſtreckte ſich der Heerbann, das imperium, auch auf die Stadt,
folglich konnten die Verſammlungen des Heeres auch in der
Stadt gehalten werden, mit dem Königthum aber wurde dies
imperium aus der Stadt exilirt, und die Centuriatcomitien der
ſervianiſchen Wehrverfaſſung, die erſt jetzt wieder ins Leben
traten, wurden conſequenterweiſe vor die Stadt und zwar in
bezeichnender Weiſe auf das dem Kriegsgott gewidmete Feld
verlegt. 152) Daß die Curiatcomitien berufen wurden (calata),
während die Centuriatcomitien in militäriſcher Weiſe durch
Hornbläſer entboten wurden, ſteht ihrem militäriſchen Charak-
ter ebenſowenig im Wege; jene Berufung war ein an die Be-
fehlshaber der Curien (ſpäter für gewiſſe Zwecke durch die Lic-
toren vertreten) gerichteter Befehl, die Mannſchaft zu ver-
ſammeln.


149)


[246]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Wir wenden uns jetzt dem Königthum zu oder, um gleich
unſere Anſicht über die Stellung deſſelben zur römiſchen Ver-
faſſung auszuſprechen, der Heerführung und dem damit gege-
benen Prinzip der Subordination. Die Anſichten über den Ur-
ſprung und den Charakter des römiſchen Königthums gehen
weit auseinander, 153) es iſt hier aber nicht der Ort, ſie zu kri-
tiſiren, und beſchränke ich mich auf Mittheilung und Begrün-
dung meiner eigenen.


Rex, der Richtende (von reg-ere), heißt der König, nicht
weil er richtet im juriſtiſchen, ſondern im militäriſchen Sinn.
Wie die militäriſche Ordnung bei einem kriegeriſchen Volk die
wichtigſte, älteſte und der Ausgangspunkt für die politiſche iſt,
ſo auch das Amt des Heerführers, der dieſe äußerliche, mecha-
niſche Ordnung einrichtet und erhält, unentbehrlicher und älter,
als das des Magiſtrats, der die abſtractere Ordnung und Ein-
richtung des Staats überwacht. An Wichtigkeit gewinnt letzte-
res erſt in Folge der zunehmenden Einmiſchung des Staats
in Intereſſen, die früher ſich ſelbſt überlaſſen geweſen waren.
In älteſter Zeit aber treten die politiſchen Functionen des Kö-
nigs gegen ſeine militäriſchen weit in den Schatten. Ein mu-
thiger, geſchickter Feldherr war einem kriegeriſchen Volke we-
ſentlicher, als ein weiſer Friedensfürſt. Der Akt der erſten
Unterordnung vollzieht ſich bei jenem leichter, als bei dieſem.
Nun beruht aber in der That die Macht des Königs auf einer
ſolchen freiwilligen Unterordnung, auf Wahl. Man muß ſich des
republikaniſchen Geiſtes erinnern, aus dem das römiſche Recht
hervorgegangen iſt, jener Ideen der perſönlichen Freiheit, der
Coordination der Individuen, der Abneigung gegen die Einmi-
ſchung der Staatsbeamten u. ſ. w., um beurtheilen zu können, daß
der Durchbruch des Subordinationsprinzips, und das iſt ja das
Königthum, nur an einem Punkt geſchehen konnte, an dem es
[247]2. Einfluß der Wehrverfaſſung — das Königthum. §. 17.
die wichtigſten Intereſſen galt, und die unabweisbare Rothwen-
digkeit der Unterordnung jedem einleuchten mußte, und dieſer
Punkt war die Wehrverfaſſung. Der erſte rex war nichts als
ein Feldherr, den man mit Rückſicht auf ſeine militäriſche Tüch-
tigkeit wählte, und dem man die unentbehrliche Macht eines ſol-
chen, eine unumſchränkte Gewalt, imperium, verlieh. Aber
während derſelbe bei den Germanen abtrat, ſowie der Krieg
beendet, behielten die Vorfahren der Römer ihn lebenslänglich
bei. Da das ganze Volk beſtändig auf dem Kriegsfuß blieb,
ſo konnte als weſentliches Glied der Heerverfaſſung auch der
Feldherr nicht fehlen. Damit war aber der Uebergang vom
Feldherrnthum zum Königthum gebahnt. Wenn das Volk auch
im Frieden Heer iſt, ſo wird leicht aus dem Feldherrn ein
König. Die Identität oder Ungetrenntheit der militäriſchen und
politiſchen Functionen, die in den untern Kreiſen des Staats
wahrnehmbar iſt, muß ſich auch bis in die Spitze hinein wie-
derholen. Das Heer kann nicht zuſammentreten, ohne daß der
Feldherr es beruft, es kann nicht beſchließen, ohne daß er dem-
ſelben Anträge vorlegt; die politiſche Thätigkeit des Heeres
bedingt eine gleiche Thätigkeit auf Seiten des Feldherrn, er iſt
nothwendigerweiſe das politiſche Oberhaupt des Volks, weil
daſſelbe ſeine politiſchen Functionen als Heer ausübt.


So wie nun die politiſche Macht des Königs nur als Aus-
fluß und Appendix ſeiner militäriſchen Gewalt erſcheint, ebenſo
ſeine religiöſe Stellung und Machtbefugniß. Wie könnte er
eine Schlacht wagen, ohne ſich vorher durch Auſpicien der Zu-
ſtimmung der Götter verſichert zu haben, und wie könnte er auf
ihren Beiſtand rechnen, ohne ſie durch Opfer ſich und ſeinem
Heere geneigt gemacht zu haben? Das jus auspicandi und das
Opferprieſterthum iſt ihm durch ſeine militäriſche Würde noth-
wendig gegeben. Die Religion erſcheint bei den Römern als
unzertrennliche Begleiterin jeder wichtigen Inſtitution, jeder
Verbindung im Innern des Staats und nach außen hin, jeder
Würde und jeder wichtigen Maßregel des öffentlichen und Pri-
[248]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
vatlebens. Aber was wohl zu beachten: als Begleiterin. Sie
erhebt nicht den Anſpruch auf Selbſtändigkeit, wie ſie es im
Orient oder im Chriſtenthum thut, ſie begehrt nicht, daß der
König, um für das Volk opfern zu können, erſt von ihr mit
prieſterlicher Weihe ausgeſtattet ſei, ſo wenig wie der Haus-
vater, um für die Seinen daſſelbe zu thun, deſſen bedarf. Die
Götter Roms verlangten nicht die Vermittlung der Prieſter,
um ſich verehren zu laſſen, letztere mochten die Weiſe lehren,
die den Göttern wohlgefällig war, aber die Fähigkeit, für ſich
und alle, die er vertrat, ſich ihnen zu nahen, wohnte jedem
inne.


So erſcheint alſo die königliche Würde nicht als eine Cu-
mulation dreier ſelbſtändiger Gewalten, der militäriſchen, po-
litiſchen und religiöſen, der König iſt nicht Feldherr, politiſches
Oberhaupt und Prieſter, ſondern er iſt Feldherr, und in dieſer
Qualität iſt er zugleich berechtigt, das Heer zu politiſchen
Zwecken zu verſammeln und für daſſelbe zu opfern. 154) Die
Unterſcheidung jener drei Qualitäten, die Ablöſung einzelner
Machtausflüſſe derſelben und ihre Geſtaltung zu eignen Aem-
tern iſt erſt das Werk eines längern Entwicklungsprozeſſes.
Von dieſem ſpätern Standpunkt aus konnte man das impe-
rium
155) als Inbegriff dreier verſchiedenen Gewalten bezeich-
nen, ſeiner urſprünglichen Natur nach iſt es nichts, als mili-
täriſcher Oberbefehl. Wie es das Weſen der militäriſchen Dis-
ciplin erheiſcht, lag darin das Recht über Leben und Tod (gla-
dii potestas),
angedeutet durch die Beile auf den fasces, und
[249]2. Einfluß der Wehrverfaſſung — das Königthum. §. 17.
dieſes Recht mußte dem gewählten König erſt durch einen be-
ſonderen Beſchluß der Comitien übertragen werden. Dieſer
Akt enthält die vertragsmäßige Unterwerfung des Heeres unter
den Oberbefehl des Gewählten, und darum mußte letzterer
ſelbſt zugegen ſein, um dieſen Vertrag mit demſelben abzuſchlie-
ßen, mußte ſelbſt der Verſammlung den Antrag ſtellen.


Auch das imperium alſo läßt ſich auf einen Vertrag zurück-
führen, aber auch nur die Verleihung deſſelben. Die Fort-
dauer und die Ausübung deſſelben im einzelnen Fall iſt von der
Einwilligung des Volks unabhängig; es begründet, ſowie es
ertheilt iſt, ein dauerndes Subjektionsverhältniß. Der Umfang
deſſelben ward durch das militäriſche Intereſſe beſtimmt; ſoweit
letzteres, ſo weit jenes, bei einem kriegeriſchen Volk aber reicht
jenes Intereſſe außerordentlich weit. In dem imperium lag
natürlich das Recht, die militäriſche Disciplin durch eine un-
beſchränkte Strafgewalt aufrecht zu erhalten. Was dem Feld-
herrn zur Zeit der Republik nicht verſagt ward, konnte auch
dem König nicht fehlen. An ſich war dieſe militäriſche Straf-
gewalt mit der des Volks durchaus verträglich; beide bewegten
ſich ja in ganz verſchiedenen Kreiſen, die eine war auf den Sol-
daten, die andere auf den Bürger verwieſen. Zur Zeit der Re-
publik wurden dieſe Kreiſe ſtreng inne gehalten, und nur, wenn
man in der Noth zur Ernennung eines Dictators ſchritt — der
heutigen Verhängung des Belagerungszuſtandes oder Prokla-
mirung des Standrechts — ward die ganze Bevölkerung unter
die Strenge des Kriegsgeſetzes geſtellt. Zur Königszeit hin-
gegen hatte jene militäriſche Strafgerichtsbarkeit eine ungleich
größere Ausdehnung und griff mit eiſerner Hand auch ins bür-
gerliche Leben ein. Man braucht aber dieſe Ausdehnung nicht
als ein Werk der reinen Gewalt, als eine Uſurpation der Kö-
nige zu betrachten, ſondern es laſſen ſich Geſichtspunkte auf-
finden, die dieſelbe motiviren, wenigſtens begreiflich machen.
Zunächſt nämlich war ja die militäriſche Gewalt des Königs
keinesweges auf die Zeit des Marſches beſchränkt, für die Dauer
[250]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
des Friedens und des Aufenthaltes in Rom ſelbſt aber ſuspen-
dirt. Behielt das Volk ſeine Qualität als Heer auch in Rom
bei, ſo dauerte auch die Disciplin und mit ihr die militäriſche
Strafgewalt fort. Die Disciplin iſt aber ein ſehr elaſtiſcher
Begriff und ließ ſich in den Händen eines herrſchſüchtigen Kö-
nigs ohne Gewaltſamkeit ſo ſpannen, daß von einem dienſt-
fähigen Bürger kaum ein Verbrechen begangen werden konnte,
das der König, wenn er wollte, nicht hätte beſtrafen dürfen.
Ein zweiter Geſichtspunkt gab dem König eine Strafgewalt
auch über die nicht mehr zum aktiven Herr gehörigen Perſonen.
Als Befehlshaber der bewaffneten Macht ſollte er den Staat
gegen ſeine Feinde ſchützen, die öffentliche Sicherheit, wo ſie
geſtört war, wieder herſtellen. Ob dieſe Feinde aber äußere
oder innere und im letzteren Fall der militäriſchen Strafgewalt
unterworfen waren oder nicht, machte keinen Unterſchied; ſie
verfielen gleichmäßig der Schärfe des Schwertes. So wenig
das Volk das Schickſal gefangener Feinde zu beſtimmen hatte,
ſondern wie dies dem Feldherrn allein überlaſſen blieb, ſo auch
die Beſtrafung der inneren Feinde. 156) Die Sprache gibt uns
dieſe Gleichheit beider durch den Ausdruck perduellio157) zu er-
kennen; perduellis iſt die Bethätigung feindſeliger Geſinnung
von Seiten eines römiſchen Bürgers. 158) Wer ſeinerſeits als
[251]2. Einfluß der Wehrverfaſſung — das Königthum. §. 17.
Feind verfährt, gegen den wird auch wieder ſo verfahren, d. h.
der König richtet ihn nach Kriegsrecht, und eine Provokation
ans Volk iſt unſtatthaft.


Wie weit nun immerhin ſelbſt über dieſe Geſichtspunkte
hinaus die Strafgerichtsbarkeit des Königs ſich ausgedehnt ha-
ben möge, der urſprüngliche Grund und das Gebiet derſelben
lag innerhalb der Wehrverfaſſung. Hier erſcheint ihre Bildung
ebenſo begreiflich, ja nothwendig, wie ſie umgekehrt abgeſehn
davon gegenüber den Ideen über vindicta publica räthſelhaft
ſein würde. Daß ſie von hier aus Uebergriffe in das Gebiet
der Strafgerichtsbarkeit des Volks machte, iſt gleichfalls er-
klärlich, und ich erblicke in der gegen die Urtheilsſprüche der
Könige eingelegten Provokation ans Volk nichts, als eine Ab-
wehr dieſer Uebergriffe, eine Reklamation des Volksgerichts in
Fällen, wo der Verurtheilte die Competenz des Königs glaubte
beſtreiten zu dürfen 159) und ein Intereſſe daran hatte, dies zu
thun. Es braucht aber nicht ausgeführt zu werden, daß und
warum bei dieſem Conflikt beider Strafgewalten die Lage des
Königs eine unendlich viel günſtigere war, als die des Volks,
das erſt durch den König zuſammenberufen werden mußte.
[252]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Kein Wunder, daß es im Lauf der Zeit ſeinen Antheil an der
Strafrechtspflege auf das Minimum beſchränkt ſah, das der
König ihm einzuräumen für gut fand.


Hat uns die bisherige Darſtellung gezeigt, daß die Wehr-
verfaſſung mit ihrer Volkseintheilung und dem Königthum ei-
nen bedeutenden Einfluß auf die äußere Organiſation des Staats
ausgeübt hat, ſo bleibt uns jetzt ihre mittelbare Einwirkung
auf die Entwicklung des römiſchen Rechts, und ſo wenig die-
ſelbe auf den erſten Blick in die Augen fällt, ſo wird man doch,
wie ich glaube, bei näherer Prüfung nicht umhin können, ſie
als höchſt nachhaltig und bedeutungsvoll anzuerkennen.


Mit der Wehrverfaſſung tritt auf dem Schauplatz der Bil-
dungsgeſchichte des Staats und Rechts, auf dem wir bisher
nur das privatrechtliche Prinzip des ſubjektiven Willens in un-
gehemmter Weiſe ſich bewegen ſahen, ein neues Prinzip auf,
das der Ueber- und Unterordnung, zunächſt zwar beſchränkt
auf den Kreis der militäriſchen Intereſſen, aber ſelbſt in dieſer
Beſchränkung ein heilſames Schutzmittel gegen die dem ſub-
jektiven Prinzip drohende Gefahr einer Selbſtverzehrung, ge-
gen den verführeriſchen Reiz, den berauſchenden und zugleich
ſchwächenden Einfluß einer zügelloſen Begeiſterung für Freiheit
und Unabhängigkeit. Wir bedauern die Völker, in deren Bruſt
nie der edle Funke einer ſolchen Begeiſterung gefallen, dieſer
Funke, der wie ein elektriſcher Strahl belebend, erwärmend
und zündend durch den ganzen Organismus dringt; aber wehe
andererſeits den Völkern, in denen der Trieb der Freiheit kein
Maß, kein Gegengewicht vorfindet und der Funke zur verzeh-
renden Flamme emporlodert! Von den drei Völkern, dem grie-
chiſchen, römiſchen und germaniſchen, die einſt ein Volk bilde-
ten, hatte jedes den Sinn für individuelle und politiſche Freiheit
[253]2. Einfluß der Wehrverfaſſung — Sinn für Ordnung. §. 17.
und Unabhängigkeit bei ſeiner Trennung mitgenommen und
entwickelte denſelben in eigenthümlicher Weiſe, aber nur das
römiſche war ſo glücklich, die Schule der ſtrengen Zucht und
Ordnung, in der jener Sinn erſt wahrhaft durchgebildet ward,
zu finden und lange genug zu benutzen. Der Freiheitstrieb der
Römer war Jahrhunderte lang unzertrennlich verbunden mit
dem Sinn für Ordnung und Geſetzlichkeit, und erſt der Verfall
Roms zeigt uns das Gegentheil. Jene Schule nun, was brauche
ich es zu ſagen, daß es die Wehrverfaſſung war? — jene eiſerne
Zuchtruthe der militäriſchen Disciplin, die wie ein Zauberſtab
den Sinn für äußere Ordnung und Geſetzlichkeit im Menſchen
hervortreibt. Dieſer Sinn iſt allerdings nur eine untergeord-
nete Form des ſittlichen Geiſtes, er hat etwas unfreies, beruht
mehr auf mechaniſcher Gewöhnung, als auf innerlicher ſitt-
licher Durchbildung, iſt mehr auf die äußere Form und ſtereo-
type Gleichmäßigkeit der Ordnung, als auf ihr inneres Weſen
gerichtet. Seine relative Berechtigung bedarf aber kaum des
Nachweiſes; es gibt Völker und Zeiten, in denen die militä-
riſche Disciplin erſt jenen Sinn ausbilden muß, damit eine
höhere Stufe der Sittlichkeit überhaupt ermöglicht werde. In
Zeiten der Noth, wenn die Fieberhitze des Freiheitstaumels den
Staat und die Ordnung zu verzehren droht, treibt der Inſtinkt
die Völker zu auswärtigen Kriegen und mit ihnen zu den eiſen-
haltigen Quellen der militäriſchen Disciplin, an denen ſie mit
dem Sinn für Ordnung und Gehorſam am raſcheſten ihre Ge-
ſundheit wieder finden. Nicht in der Strenge der Zucht allein
liegt die heilende Kraft der militäriſchen Disciplin; ein despo-
tiſches Regiment kann ſie darin weit überbieten und entnervt
und demoraliſirt doch ein Volk mehr, als daß es daſſelbe
ſtählt. Während letzteres aber nur die Strenge der Willkühr
übt, handhabt die militäriſche Disciplin die Strenge der Ord-
nung, und es gibt vielleicht kein Verhältniß, welches in dem
Grade die Nothwendigkeit der äußern Ordnung dem Menſchen
begreiflich macht, und ihm eine ſo unvertilgbare Abneigung
[254]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
gegen alle Unordnung, Regelloſigkeit u. ſ. w. einprägt, als
die militäriſche Zucht.


Das römiſche Volk der Königszeit war nun ſo glücklich, eine
Verfaſſung mitzubringen, die daſſelbe im Frieden wie im Krieg
in dieſer Zucht erhielt. Nachdem es darin ſeine Erziehung ge-
funden, 160) der Geiſt der Ordnung und Geſetzlichkeit dem Volk
zur zweiten Natur geworden, mochte dieſe Schule ohne Gefahr
auf die Zeiten des Krieges beſchränkt werden. Die Erobe-
rungsſucht der Römer ſtürzte ſie unaufhörlich in neue Kriege
und wandte damit jeder neuen Generation den Vortheil einer
militäriſchen Erziehung zu. Der Krieg lehrte den Werth der
Ordnung kennen, der Frieden den der Freiheit, und die
Jugend des römiſchen Volks erwarb ſich in der ſtrengen Schule
des Gehorſams, die übrigens ſchon im Hauſe mit der patria
potestas
begann, die Würdigkeit und Fähigkeit zum Herrſchen.


In der Geſchichte des römiſchen Volks wie in dem Recht
ſelbſt tritt der Einfluß jener Erziehung in höchſtem Grade her-
vor, und es gereicht wahrlich unſerer römiſchen Rechtshiſtorie,
die für das unbedeutendſte ein ſo ſcharfes Auge hat, wenig zur
Ehre, daß ſie ſich erſt von Hegel 161) über den Grund und die
Art des römiſchen Geſetzlichkeitsſinnes aufmerkſam machen laſ-
ſen mußte oder richtiger geſagt trotzdem nicht aufmerkſam wurde.
Es iſt bereits oben (S. 96, 97) bemerkt, daß Hegels Auffaſ-
ſung der Bildung des römiſchen Rechts und Staats outrirt iſt,
aber ſeine Hervorhebung des Einfluſſes, den die militäriſche
Disciplin auf die römiſche Sinnesweiſe ausübte, 162) iſt eine
[255]2. Einfluß der Wehrverfaſſung — Sinn für Ordnung. §. 17.
durch ihre Wahrheit überraſchende Beobachtung, deren Werth
am erſten vom Rechtshiſtoriker anerkannt werden ſollte, inſofern
nur er den Fingerzeig, den ſie gibt, weiter verfolgen kann.
Jener Formalismus des römiſchen Rechts, den wir im zweiten
Syſtem als einen der hervorſtechendſten Charakterzüge deſſelben
kennen lernen werden, wo fände er, wenn man ihn nicht un-
vermittelt und unerklärt als einfache Thatſache ſtehn laſſen will,
einen beſſern Anknüpfungspunkt, als in dem Formalismus der
militäriſchen Disciplin? Was iſt er anders, als wie letzterer
die Ordnung der Ordnung wegen, die Disciplin der Rechts-
geſchäfte, die auf ſtrenge Gleichmäßigkeit unerbittlich hält und
jedes Verſehn, jede an ſich gleichgültige, bedeutungsloſe Ab-
weichung von der äußern Ordnung unnachſichtlich ſtraft? Für
das römiſche Recht enthält er dieſelbe Schule der Zucht und
Ordnung, die das Volk im Lager fand. Hier im Lager wurde
das Volk an jene Subordination, an jene Strenge des Buch-
ſtabens gewöhnt, die es nachher in den Formen ſeines Rechts-
lebens wiederfand, und ein im Dienſt ergrauter Feldherr hätte
nicht mit größerer Pedanterie und Strenge die äußere Ordnung
des Rechtsverkehrs feſtſtellen und beaufſichtigen können, als die
Juriſten zur Zeit der Republik. Den ſegensreichen Einfluß, den
dieſe militäriſche Disciplinirung der Rechtsgeſchäfte auf die
Entwicklung des römiſchen Rechts ausübte, können wir erſt im
zweiten Syſtem ſchildern, aber ſchon hier iſt der Ort zu der
Bemerkung, daß an der Größe des römiſchen Rechts der kriege-
riſche Sinn der Bevölkerung einen Hauptantheil des Verdien-
ſtes hat, und daß für die ſegensreichen Rückwirkungen des
Krieges auf Recht und Staat, deren wir am Anfang dieſes
Paragraphen gedachten, gerade das römiſche Recht einen
ſprechenden Beleg enthält.


162)


[256]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
III. Das religiöſe Prinzip mit ſeinem Einfluß auf
Recht und Staat.

Das fas — Handhabung deſſelben durch das Pontifikalcollegium
— Prozeß vor dem geiſtlichen Gericht (legis actio sacramento)
— Hervortreten des religiöſen Einfluſſes in den verſchiedenen
Theilen des Rechts, namentlich im Strafrecht — der homo sa-
cer
— Die Strafe als religiöſes Sühnemittel. —

XVIII. Recht und Religion ſind ein Zwillingspaar, das
überall, wohin wir in der Geſchichte blicken, ſeine Kinderjahre
in innigſter Gemeinſchaft verbringt, ſich gegenſeitig helfend und
ergänzend. Soweit beide, wenn ſie zur Selbſtſtändigkeit und
Kraft gelangt ſind, auch auseinander gehn mögen, ohne ſich
die Löſung ihrer Aufgabe zu erſchweren, ſo unentbehrlich ſind
ſie ſich doch in jener Periode der Schwäche und Unſelbſtändig-
keit. Was würde aus dem Recht, wenn es von vornherein als
eitel Menſchenwerk in der Geſchichte aufträte, wenn nicht die
Religion daſſelbe mit göttlicher Weihe ausſtattete? „Was ein
Volk aus der eignen Mitte ſchöpfen ſoll, ſagt treffend Jakob
Grimm, 163) wird ſeines gleichen, was es mit Händen anfaſſen
darf, wird entweiht; ohne Unnahbarkeit wäre kein Heiligthum,
woran der Menſch hangen und haften ſoll, gegründet.“ Jeder
Keim, der ſich erſchließen ſoll, bedarf zuerſt des Schutzes gegen
äußere Betaſtung, eines ſtillen, ungeſtörten Wachsthums von
innen heraus. Die zarte Schöpfung des Rechts, die unter plum-
per Betaſtung, unter den Eingriffen und Angriffen der Will-
kühr, Laune, Rohheit erliegen würde, ſichert ſich gegen dieſel-
ben, indem es ſich mit dem Heiligenſchein religiöſer Weihe
umgibt. In demſelben Maße, in dem dieſer Glanz erblaßt,
dürfen wir auf die Zunahme der eignen Kraft des Rechts ſchlie-
ßen, und je mehr ein Volk zur Cultur des Rechts und Staats
[257]3. Das religiöſe Prinzip — das Fas. §. 18.
berufen iſt, um ſo früher kann es jener Beihülfe der Religion
entrathen, um ſo früher gelangt es dazu, Staat und Recht
ihrer ſelbſt, nicht der Götter wegen zu achten und heilig zu
halten.


Wir haben nun ein Volk vor uns, das einerſeits ebenſo
ſehr zur Cultur jener beiden Inſtitutionen prädeſtinirt war, wie
es andererſeits dauernd der Religion die größte Beachtung
ſchenkte. Erſt bei der Charakteriſtik des römiſchen Geiſtes (§. 20)
werden wir Gelegenheit haben, das praktiſche Verhältniß, in
dem die Religion zur römiſchen Welt ſtand, zu unterſuchen, hier
hingegen, wo uns noch die Ausgangspunkte des römiſchen
Rechts beſchäftigen, die vielleicht weit über Rom hinaufreichen,
beſchränken wir uns auf den Antheil, den das religiöſe Prinzip
am Bau jener Welt genommen hat, auf die Spuren des reli-
giöſen Einfluſſes im älteſten Recht und Staat. Dieſer Ein-
fluß hat ſich im Laufe der Zeit ehr vermindert, als vermehrt;
wo alſo der Zufall der hiſtoriſchen Ueberlieferung uns denſelben
erſt in ſpäterer Zeit wahrnehmbar macht, dürfen wir ihn min-
deſtens in demſelben Umfang auch für die älteſte Zeit annehmen.


Wir beginnen unſere Darſtellung mit dem Begriff, der alle
Einflüſſe der Religion auf Staat und Recht in ſich begreift, es
iſt der des Fas.164) Das Fas ſchließt ſowohl die Religion, ſo-
weit ſie rechtliche Geſtaltung annimmt, alſo in unſerer heutigen
Sprache das Kirchenrecht in ſich, als das Privat- und öffent-
liche Recht, ſoweit es eine religiöſe Beziehung hat — ein Unter-
ſchied, den wir benutzen können, um uns den Umfang des Fas
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 17
[258]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
klar zu machen, der übrigens im Fas ſelbſt nicht hervortritt. Zu
dem Jus, das wir in §. 15 haben kennen lernen, geſellt ſich alſo
im Fas ein Seitenſtück, und dieſer Gegenſatz iſt von hoher
Bedeutung. Er zeigt uns, daß die Scheidung zwiſchen profa-
nem und religiöſem Recht, die wir im Orient vergebens ſuchen,
in Rom von altersher vollbracht iſt.


Nicht das ganze Recht hat einen religiöſen Charakter, die
religiöſe Subſtanz durchdringt, wenn ich ſo ſagen darf, nicht
mehr den ganzen Organismus, ſondern Gott und Menſchen,
Religion und Staat haben ſich bereits getheilt, eine Gränzſchei-
dung vorgenommen. Das Jus iſt Menſchenſatzung und als
ſolche veränderlich, bildſam. Die bindende Kraft deſſelben be-
ruht auf der gemeinſamen Vereinbarung des Volks, die Nicht-
achtung deſſelben verletzt bloß menſchliche Intereſſen. Das Fas
hingegen ſtützt ſich auf den Willen der Götter, iſt alſo unabän-
derlich, inſoweit nicht die Götter ſelbſt eine Neuerung belieben;
die Uebertretung deſſelben enthält einen Frevel gegen die Göt-
ter. Mit dem Fas blickt das römiſche Recht, möchte ich ſagen,
nach dem Orient, mit dem Jus nach dem Occident; jenes iſt
die ſtabile, dieſes die progreſſive Seite deſſelben. So bewährt
alſo dieſer ſprachlich ausgeprägte, d. h. zum Bewußtſein ge-
kommene Dualismus des Rechts, dem wir beim erſten Eintritt
in unſer Gebiet begegnen, bereits die zerſetzende Kraft des rö-
miſchen Geiſtes. In culturhiſtoriſcher Beziehung iſt er eine ſehr
beachtenswerthe Erſcheinung und bezeichnet einen höchſt wich-
tigen Fortſchritt des menſchlichen Selbſtbewußtſeins.


Stellte dieſer Dualismus ſich nun auch äußerlich dar durch
eine Verſchiedenheit der Behörden, die die beiden Seiten des
Rechts zur Anwendung zu bringen hatten? Allerdings. Zwar
ſchloß das Königthum an ſich auch die volle geiſtliche Gewalt
in ſich, allein wenn ſchon Romulus nach der Sage aus jeder
Tribus einen Augur beſtellt, wenn Numa das Pontificalcolle-
gium und Ancus die Fetialen einführt, ſo heißt das nichts an-
ders, als die Einſetzung dieſer drei geiſtlichen Aemter verliert
[259]3. Das religiöſe Prinzip — das Fas, die pontifices. §. 18.
ſich in graues Alterthum, iſt eine der urſprünglichſten Einrich-
tungen, die Rom kennt. Die Innehaber dieſer Aemter waren
aber die Träger und Pfleger des Fas. Den weltlichen Beam-
ten verblieben zwar ſtets die unentbehrlichen religiöſen Functio-
nen ihres Amtes, wie z. B. die Auſpicien und Opfer, aber
Zweifel, Streitfälle, Verſtöße gegen die religiöſe Ordnung
u. ſ. w. fielen ausſchließlich der Cognition jener geiſtlichen
Beamten anheim. 165) Ihre urſprüngliche Function ſcheint we-
nig anders als begutachtender Natur geweſen zu ſein, aber,
wie ſo oft, gewann auch hier das Gutachten bald den Einfluß
des Richterſpruches. Das Pontificalcollegium wenigſtens dür-
fen wir als ein geiſtliches Gericht bezeichnen und brauchen,
wenn wir mit dieſer Bezeichnung an die geiſtlichen Gerichte des
Mittelalters erinnern, eine nähere Vergleichung beider keines-
wegs zu ſcheuen. Wir wollen die geiſtliche Gerichtsbarkeit die-
ſes Collegiums, inſoweit ſie auf das römiſche Civilrecht einen
Einfluß ausgeübt hat, einer nähern Betrachtung unterwerfen.
Es iſt in der That eine überraſchende Erſcheinung, daß faſt die-
ſelben civiliſtiſchen Lehren, an denen im Mittelalter die Legis-
lation des Pontifex Romanus ſich verſuchte, und deren prakti-
ſche Anwendung den geiſtlichen Gerichten zuſtand, bereits vor
mehr als einem Jahrtauſend der Pflege des Pontifex maximus
anvertraut waren, 166) und nachdem ſie in der Praxis des Pon-
tificalcollegiums, beziehungsweiſe der geiſtlichen Gerichte, ihre
Ausbildung gefunden hatten, mit dem Prozeß ſelbſt in die welt-
lichen Gerichte ihrer Zeit übergingen. Das Fas des alten Rom
17*
[260]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
iſt das jus canonicum des ſpätern; zu beiden Zeiten gab es das
jus utrumque, in dem ſowohl geiſtliche wie weltliche Richter
bewandert ſein mußten. Zu dem jus pontificium, qua ex parte
cum jure civili conjunctum esset (Cic. Brut. c.
42) gehörte,
wie Rubino 167) bemerkt hat, namentlich das Familienrecht,
und es finden ſich noch in den Pandekten Spuren der Pontifi-
caljurisprudenz. „Ob eine Ehe gültig vollzogen, um Rubino
ſelbſt reden zu laſſen, ob ein Eheverbot überſchritten ſei, ob
rechtmäßige Vaterſchaft und Verwandſchaft beſtanden habe,
war ebenſo ſehr von Einfluß auf die Verpflichtung zur Trauer,
zur Vollziehung der Sacra, zur Expiation des Inceſtes, als
auf bürgerliche Verhältniſſe. Aehnliches mußte auch im Sachen-
recht z. B. bei Eigenthumsfragen, ſo oft es ſich um die Unter-
ſcheidung heiliger Orte von Privatgrundſtücken handelte, ins-
beſondere aber bei Erbſchaften wegen der damit verbundenen
Sacra und in vielen andern Fällen vorkommen. Hieraus mußte
die Wechſelwirkung entſtehen, daß die an dem einen Ort an-
genommenen Regeln an dem andern nicht unbeachtet bleiben
konnten; es läßt ſich jedoch vorausſetzen, daß ſich hierbei in
ältern Zeiten das Uebergewicht auf die Seite der Prieſter, ſchon
wegen ihrer umfaſſenden Gelehrſamkeit, neigte.“ Aber der
Einfluß der Pontifices auf das Civilrecht war doch wohl ein
noch unmittelbarerer, als hier angenommen iſt; es gab wahr-
ſcheinlich Klagen und Anſprüche, die, wie im Mittelalter, ur-
ſprünglich nur bei dem geiſtlichen Gericht erhoben werden konn-
ten, 168) andere, die wenn auch beim weltlichen Gericht durch-
[261]3. Das religiöſe Prinzip — das Fas, die pontifices. §. 18.
zuführen, doch erſt eine Entſcheidung des Pontificalcollegiums
über eine Präjudicialfrage des Fas vorausſetzten. Außer den
bereits von Rubino und in der Note hervorgehobenen Beiſpie-
len nenne ich als ſolche Lehren, die dem geiſtlichen Recht ihre
Ausbildung verdankten, namentlich die Lehre von der Zeit, 169)
der pignoris capio,170) von dem votum,171) die Römer ſelbſt
nennen auch die usucapio pro herede. Bei einigen Rechtsge-
ſchäften wie der Eingehung der Ehe durch confarreatio, der
arrogatio und dem testamentum in comitiis calatis fand eine
Zuziehung des Pontifex maximus oder des ganzen Collegium
Statt, und damit war der geiſtlichen Jurisprudenz die Gele-
genheit gegeben, auf die Theorie dieſer Rechtsgeſchäfte zu in-
fluiren. 172) Auch auf die Ausbildung des Kriminalrechts muß
168)
[262]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſie eingewirkt haben, denn aus den Pontificalbüchern wußte die
ſpätere Zeit, daß unter den Königen von den Straferkenntniſ-
ſen derſelben eine Provokation aus Volk Statt gefunden, und
ohne praktiſche Veranlaſſung hätten jene Bücher dieſe Notiz nicht
aufgenommen. Das Pontificalcollegium muß alſo in einer
uns unbekannten Weiſe bei der Provokation zugezogen worden
ſein, und der religiöſe Charakter des älteſten Strafrechts, den
wir nachher kennen lernen werden, macht es wahrſcheinlich,
daß dieſe Mitwirkung nicht bloß auf den Fall der Provokation
beſchränkt war, ſondern überall Statt fand, wo das Verbrechen
als ein Frevel gegen die Götter aufgefaßt werden konnte. Ob
die ſelbſtändige Strafgewalt der Pontifices ſich auf die von
geiſtlichen Perſonen begangenen Verbrechen gegen die Religion
beſchränkte, iſt ſtreitig. 173) Wenn aber der Verführer einer
veſtaliſchen Jungfrau von ihnen mit dem Tode beſtraft wird, 174)
ſo macht ſchon dies eine Beiſpiel eine weitere Ausdehnung ihrer
Strafgewalt gewiß.


Nach den Berichten ſpäterer Referenten 175) wäre in den er-
ſten Jahrhunderten der Republik die Kenntniß, Fortbildung
und Handhabung des Civilrechts ausſchließlich bei jenem
Collegium geweſen. Wenn unſere heutige Kritik dieſer Nach-
richt keinen Glauben ſchenken will, ſo iſt ſie gewiß inſoweit in
ihrem Recht, als ſie es für undenkbar erklärt, daß das Recht
aus einem Gemeingut des Volks eine Geheimlehre der Ponti-
fices hätte werden ſollen. Andererſeits aber geht ſie zu weit,
wenn ſie jene Nachricht bloß darauf reduciren will, daß die For-
mulare für rechtliche Geſchäfte vorzugsweiſe bei den Pontifices
[263]3. Das religiöſe Prinzip — geiſtliches Gericht. Eid. §. 18.
aufbewahrt geweſen ſeien. 176) Damit jene übereinſtimmende
Tradition von der ausſchließlichen Handhabung und Geheim-
haltung des Rechts durch die Pontifices ſich bilden konnte,
muß den Pontifices mindeſtens ein bedeutender Antheil an der
Rechtspflege zugeſtanden haben, eine Gerichtsbarkeit, die nicht
bloß auf rein religiöſe Intereſſen beſchränkt war, ſondern ins
bürgerliche Leben, in den privatrechtlichen Verkehr in ſehr be-
merklicher Weiſe eingriff. Es kömmt darauf an, einen Geſichts-
punkt aufzufinden, der dieſe Ausdehnung der geiſtlichen Ge-
richtsbarkeit auf profane Geſchäfte motivirt, d. h. ein Mittel,
eine Form anzugeben, wodurch dieſen Geſchäften eine religiöſe
Beziehung gegeben und dadurch die Competenz des geiſtlichen
Gerichts begründet werden konnte. Als ein ſolches Mittel ſtellt
ſich der promiſſoriſche Eid dar; jedem Verſprechen, jedem
Rechtsgeſchäft kann er als Beſtärkungsmittel hinzugefügt wer-
den, und die tägliche Erfahrung lehrt uns den Gebrauch dieſes
Mittels. Der Verkehr pflegt namentlich dann und da zu dem-
ſelben zu greifen, wo er ſich durch das Recht in ſeiner freien
Bewegung gehemmt ſieht. 177) Geſchäfte, für die keine rechtlich
bindende Form exiſtirt, oder die materiellen Beſchränkungen
unterliegen, die dem Verkehr läſtig ſind, flüchten ſich vom Bo-
den des Rechts auf den der Religion, und der Eid erweiſt ſich
trotz des mangelnden äußern Zwanges in der Regel als ein
ebenſo wirkſames Bindemittel, als das Recht. Den Römern
war von altersher die Anwendung dieſes Mittels ſehr geläu-
fig. 178) Die Beamte leiſteten den Eid auf die Geſetze, die Sol-
[264]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
daten bei der Aushebung den Dienſteid (sacramentum), dann
den Lagereid, 179) und unter einander urſprünglich freiwillig,
ſpäter nach Vorſchrift, den Eid, nicht die Flucht zu ergreifen,
ihre Reihen nur aus gewiſſen Gründen zu verlaſſen 180) u. ſ. w.
Die Benutzung des promiſſoriſchen Eides für den Rechtsverkehr
wird uns von Dionys ausdrücklich bezeugt, 181) und manche
theils bereits benutzte, theils überſehene Argumente bekräftigen
ſein Zeugniß. Daß sponsio, das ſolenne Verſprechen, etymo-
logiſch auf ein religiöſes Bindemittel hinweiſt, iſt ſchon von
den Römern bemerkt. 182) Daß dies Bindemittel der Eid ge-
weſen, ſagt Feſtus, indem er consponsor durch conjurator
erklärt. 183) Beachtung verdient ferner der unzweifelhaft reli-
giöſe Charakter der völkerrechtlichen sponsio184) und der Finger-
178)
[265]3. Das religiöſe Prinzip — geiſtliches Gericht. Eid. §. 18.
zeig, den uns die Etymologie in den Wörtern jurare und jura-
mentum
gewährt. Woher kommen beide zu der Bedeutung des
Schwörens? Sie ſtammen von jus, Band, Recht, würden alſo
wörtlich überſetzt bedeuten: ein Band, einen Bund, ein Recht
begründen, beziehungsweiſe: ein Bindemittel, ein Mittel des
Rechts. Wenn ſie aber durch den Sprachgebrauch die aus-
ſchließliche Bedeutung des Schwörens und eines Eides erhalten
haben, ſo darf man daraus, glaube ich, entnehmen, daß ſich
verbinden, ein Recht begründen und ſchwören lange Zeit hin-
durch für gleichbedeutend gegolten haben muß. Die Wirkung,
das Sich verpflichten, trat dann ſpäter zurück gegen die Urſache,
das Schwören, und ſo erhält jurare ſeine neuere Bedeutung.


Die eidliche Bekräftigung eines Verſprechens mochte na-
mentlich da üblich ſein, wo daſſelbe juriſtiſch unwirkſam gewe-
ſen ſein würde. 185) Wenn der Eid nicht erfüllt wurde, wenn
Zweifel und Streitigkeiten hinſichtlich deſſelben ſich erhoben, ſo
lag es am nächſten, die Pontifices anzugehn. 186) Ob ſie wie
die geiſtlichen Gerichte des Mittelalters berechtigt waren, den,
der den Eid abgeleiſtet hatte, wir wollen ihn den Beklagten
nennen, zur Verantwortung zu ziehen, bleibe dahin geſtellt.
Aber wenn beide Partheien ſich einig waren, erfolgte Unter-
ſuchung und Urtheil, und zwar, wie ich glaube, in der Weiſe,
daß jede von ihnen für den Fall des Unterliegens ein Succum-
benzgeld (sacramentum) deponirte, welches demnächſt an ei-
nen Tempel fiel. Dies Succumbenzgeld enthält je nach dem
Ausgang des Prozeſſes die Strafe für den gebrochenen Eid oder
die fälſchliche Beſchuldigung der Eidbrüchigkeit. Der Ruf der
Rechtskenntniß, in dem die Pontifices ſtanden, der Vorzug der
Ständigkeit der Behörde, einer conſtanten Praxis und Tradi-
[266]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
tion, den dieſes Gericht vor dem weltlichen Richter voraus
hatte, konnte auch im Fall eines gewöhnlichen Rechtsſtreites,
bei dem es ſich nicht um einen Eid handelte, es den Partheien
wünſchenswerth machen, denſelben vor das geiſtliche Gericht
zur Entſcheidung zu bringen. Die Kompetenz deſſelben, wenn
man überhaupt hierbei von einer Kompetenz ſprechen will, ließ
ſich jeden Augenblick durch Ableiſtung eines auf den Rechtsſtreit
bezüglichen Eides begründen, vielleicht ward auch der Eid durch
Fiction erſetzt, ſo daß es lediglich auf Depoſition des sacra-
mentum
ankam. 187) Dies iſt die legis actio sacramento in ih-
rer urſprünglichen Geſtalt. Je ſeltener der Eid ward, um ſo
eher konnte man ſich daran gewöhnen, unter der actio sacra-
mento,
die urſprünglich Eides-Klage bedeutete — denn sacra-
mentum
188) heißt ſonſt der Eid — eine Klage mit Succum-
benzſtrafe, und unter sacramentum ſelbſt das Succumbenzgeld
zu verſtehen. Der Uebertragung einer ſolchen der religiöſen Be-
ziehungen entkleideten Prozeßform auf die weltlichen Gerichte
ſtand nichts im Wege, und ſo erfolgte dieſelbe, in ähnlicher
[267]3. Das religiöſe Prinzip — legis actio sacramento. §. 18.
Weiſe, wie viele Jahrhunderte ſpäter der bei den geiſtlichen Ge-
richten des Mittelalters ausgebildete Prozeß auf die weltlichen
Gerichte überging. Das Succumbenzgeld fiel aber conſequen-
terweiſe nicht mehr an die Götter, ſondern an den Staat. 189)


Die hier aufgeſtellte Anſicht erklärt es, wie das Pontifical-
collegium zu einer ſo ausgebreiteten und generellen Gerichts-
barkeit in rein weltlichen Dingen gelangen konnte, daß ſich ſpä-
ter daraus die Sage von einer ausſchließlichen Handhabung
der Civilrechtspflege durch die Pontifices bildete. Der natür-
lichen Anziehungskraft, die das Pontificalcollegium, wie oben
bereits erwähnt, aus manchen Gründen ausüben mußte, bot
die actio sacramento eine entſprechende, überall anwendbare
Form. Was man von den Pontifices begehrte, war mehr ein
Gutachten, als ein Urtheil in unſerem heutigen Sinn, wie noch
aus der Erkenntnißform: sacramentum justum esse und aus
der früher bereits entwickelten allgemeinen Function des römi-
ſchen Richters (§. 12) hervorgeht. Jenes Gutachten wurde aber
in beſtimmten Formen nachgeſucht und ertheilt, und daß die
Kenntniß dieſes Verfahrens und der Praxis des geiſtlichen Ge-
richts Niemanden in dem Maße zu eigen ſein konnte, als den
Pontifices ſelbſt, verſteht ſich von ſelbſt. Daraus machte eine
ſpätere Zeit die Fabel von der Geheimhaltung des Civilrechts
durch die Pontifices.


Das römiſche Recht hat der Praxis des geiſtlichen Gerichts
gewiß viel zu danken, nicht bloß wegen der relativ hohen In-
telligenz und Rechtskunde, die ſich bei denſelben fand, ſondern
vor allem darum, weil ſich hier am erſten eine conſtante
Praxis bilden konnte und bildete. Es war hier nicht einem
Einzelnen die Rechtspflege anvertraut, wie bei dem Könige,
Conſul und Prätor, ſondern einer Behörde und zwar, was
[268]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
noch mehr ſagen will, einer geiſtlichen. Die Macht der Tradi-
tion hielt hier den Einflüſſen der individuellen Meinung das
Gegengewicht, der Wechſel der Mitglieder des Gerichts war
unſchädlich. So war das geiſtliche Gericht der paſſende, abge-
legene Ort, an dem der Ablagerungs-Prozeß des Rechts, wenn
ich ſo ſagen darf, der Uebergang deſſelben aus dem Zuſtande
der Flüſſigkeit und Formloſigkeit in den der Feſtigkeit und for-
mellen Beſtimmtheit am ſicherſten und raſcheſten erfolgen konnte.


Vielleicht haben wir uns mit dem Pontificalcollegium als
der Behörde, in der das Fas ſich äußerlich darſtellte, ſchon zu
weit von der älteſten Zeit entfernt, und wir kehren jetzt zu der-
ſelben zurück, um die urſprünglichen Beziehungen der Religion
zu Staat und Recht kennen zu lernen.


Schon der Grund und Boden, den wir betreten, zeigt uns
die Einwirkungen der Religion. Götter, Staat und Indivi-
duen hatten ſich zu gleichen Theilen darin getheilt, aber nicht
bloß das Drittheil der Götter genießt des Schutzes derſelben,
auch die Mauern der Stadt, die Gränzen der Privatgrund-
ſtücke, wie Steine, Bäume und Gräben, die Früchte auf dem
Felde u. ſ. w. participiren daran, und wer die Mauern ver-
letzt, die Gränzen verrückt, die Früchte bei nächtlicher Weile
ſtiehlt, der verſündigt ſich gegen die Götter und ladet den Zorn
derſelben und die ſchwerſte Strafe auf ſich.


Aber näher, als der Boden, ſteht den Göttern die ſittliche
Welt, die ſich darauf erhebt. Der Staat mit ſeiner Ordnung
iſt durch einen religiöſen Weiheakt unter den Schutz derſelben
geſtellt, gewiſſermaßen zu einem Gotteshaus gemacht, an dem
man ohne Willen der Götter, die es bewohnen, nichts ändern
darf. Wer gegen dieſe heilige Ordnung des Staats frevelt,
verſündigt ſich daher auch gegen die Götter. Kein Theil dieſes
Gebäudes, das nicht einem beſondern Gotte heilig wäre. Po-
[269]3. Das religiöſe Prinzip — Staatsreligion. §. 18.
litiſche Verbindung ohne religiöſe iſt den Rö-
mern undenkbar
, daher hat nicht bloß jede Gens, Curie
und Tribus ihre beſondere Gottesverehrung, ſondern wenn
Rom mit andern Völkern eine dauernde politiſche Gemeinſchaft
eingehen will, ſo muß auch eine religiöſe Gemeinſchaft begrün-
det werden. Aus dieſem Grunde nimmt Rom die Götter aller
Völker, die es mit ſich vereinigt, in ſich auf, wie es ſeinerſeits
letztere zum Jupiter Capitolinus als dem Schirmherrn des ge-
ſammten römiſchen Staates zuläßt. Die Götter ſind Staats-
götter; ihr Gebiet kann nicht weiter reichen, als das des
Staats, aber nothwendigerweiſe auch ſo weit, als dieſes, ſo
daß es ſich in demſelben Maße erweitert, als der Staat ſich
ausdehnt, und andererſeits verengt, ſo weit dies bei letzterm
der Fall iſt. Politiſche Trennung des Volks hob daher die ur-
ſprünglich nationelle Einheit des Cultus auf, 190) mit jedem
Staat, der ſich in mehre auflöſte, ſpaltete ſich auch die Gott-
heit in ebenſo viel beſondere ſich fortan fremd gegenüberſtehende
Götter. Politiſche und religiöſe Peregrinität deckten ſich, wie
umgekehrt politiſche und religiöſe Gemeinſchaft. Der Nicht-
[270]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
bürger kann die Götter Roms nicht verehren, der Bür-
ger muß es, durch Anbetung fremder Götter würde er ſeine
ſtaatsbürgerlichen Pflichten verletzen.


Wer den Staat oder irgend eine politiſche Einheit repräſen-
tirt, vertritt dieſelben auch den Göttern gegenüber, die Beam-
ten ſind geborne Prieſter; die religiöſen Functionen bilden
fortwährend einen nothwendigen Beſtandtheil ihrer Amtsthä-
tigkeit. Die Kenntniß des Ritus mögen ſie ſich immerhin von
Perſonen des geiſtlichen Standes ſuppeditiren laſſen, aber die
religiöſe Handlung ſelbſt geht von ihnen aus, die Fähigkeit iſt
ihnen durch das Staatsamt verliehen. Der König, wie ſpäter
der Conſul, opfert und ſtellt die Auſpicien an in Rom wie im
Felde.


Sich die Gunſt der Götter zu erhalten, iſt die erſte Sorge
des Staats, 191) und mit Aengſtlichkeit wacht er ihres Dien-
ſtes. Opfer, Feſte und Spiele reihen ſich eins ans andere, jede
Unthat, jedes Verſehn, das die Götter reizen könnte, wird
geſühnt, jedes Zeichen und Wunder, aus dem ſich ihr Wille
entnehmen läßt, beachtet, und wenn ſie dennoch zürnen d. h.
wenn Rom Unglück hat, ſo erſchöpfen ſich Prieſter und Zei-
chendeuter in Nachforſchungen, um den Grund zu ermitteln,
und Volk, Senat und Beamte in Gelübden, Beſchlüſſen und
wohlgefälligen Werken, um die Götter wieder geneigt zu
machen. Bei jeder wichtigen Unternehmung verſichert man ſich
zuerſt durch Auſpicien ihrer Zuſtimmung, Opfer und Gebet er-
öffnen die Verhandlungen, und je nach Art derſelben ſind im
Fas die Tage beſtimmt, an denen ſie Statt finden können. Auch
zu weltlichem Thun verſammelt man ſich an heiliger Stätte; ſo
diente den Curien und dem Senat ein Tempel zum Verſamm-
[271]3. Das religiöſe Prinzip — publiciſtiſche Seite des Fas. §. 18.
lungsort, und die Beamten pflegten von einem Tempel aus die
Concionen zu halten. 192)


Ein Verſtoß gegen das Fas macht jede ſtaatsrechtliche Hand-
lung nichtig. Das Fas aber enthält nicht bloß Vorſchriften
über die äußere Form der Geſchäfte, ſondern eine Menge ma-
teriell ſtaatsrechtlicher Grundſätze. 193) Wir haben bereits er-
wähnt, daß die älteſte Verfaſſung religiös geweiht war, aber
auch zur Zeit der Republik dauern die Beziehungen zwiſchen
Religion und Staatsrecht fort. So z. B. war es gegen das
Fas, daß der Dictator länger als 6 Monat im Amt blieb, ſo
waren die leges sacratae mit den Tribunen, die ſie einführten,
durch den Eid des ganzen Volks unter den Schutz der Religion
geſtellt, und jeder, der ſie verletzte, für sacer erklärt. Hier lei-
ſtete die Religion auch den Plebejern einmal den Dienſt, ihre
politiſchen Rechte zu ſchützen, während ſie ſonſt gerade umge-
kehrt ihnen dadurch hinderlich war, daß ſie die Vorrechte der
Patricier unter ihren Schutz genommen hatte. Dadurch daß
die älteſte Verfaſſung durch und durch mit religiöſen Elementen
verwachſen war, ward ſie ein mächtiges Vollwerk. Den Pa-
triciern, die daſſelbe gegen die andringenden Plebejer zu ver-
theidigen ſuchten, ſtanden die Götter zur Seite, und religiöſe
Ideen unterſtützen und adelten den politiſchen Widerſtand.


Wie die Einzelnen zur Bekräftigung ihrer Verpflichtungen
zum Eide griffen, ſo auch der Staat ſelbſt. Es iſt bereits frü-
her des Eides der Soldaten, der Beamten und ſo eben des
des ganzen Volks gedacht, der Hauptfall aber iſt der des völ-
kerrechtlichen Vertrages, mochte derſelbe nun vom Feldherrn
einſeitig und unter Vorbehalt der Genehmigung des Volks ab-
geſchloſſen werden — (die sponsio) — oder im Auftrage des
[272]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Volks von den Fetialen (das foedus). 194) Gerade für das Völker-
recht, das den Gedanken des Rechts zu allen Zeiten am mühſam-
ſten realiſirt, war die Unterſtützung von Seiten der Religion
am unentbehrlichſten. Die beiderſeitigen Götter überwachten
die beſchwornen Verträge, und darum wurden auch die Urkun-
den derſelben im Tempel des capitoliniſchen Jupiter, dieſem
religiöſen Centralpunkt des geſammten Staates, aufbewahrt. 195)
Erhebung eines Krieges gegen ein Volk, mit dem früher ein
ſolcher Vertrag abgeſchloſſen, war daher eine religiöſe Frage
und erforderte zunächſt einen religiös-völkerrechtlichen Prozeß
gegen das wortbrüchige Volk und ſodann den Ausſpruch der
Fetialen, daß der Krieg ein purum piumque bellum ſei. Der
beſchloſſene Krieg ward von ihnen in feierlicher Weiſe angekün-
digt. So kleidete ſich Krieg und Frieden in religiöſe Formen!


Der Theil des Rechts, an dem der Einfluß religiöſer Ideen
bei allen Völkern auf einer gewiſſen Stufe ihrer Entwicklung
in beſonders hohem Grade hervortritt, iſt das Strafrecht. Auch
das römiſche Recht beſtätigt dieſe Beobachtung. Im Privat-
recht ſind nur mit Mühe einige religiöſe Beziehungen und Spu-
ren wahrnehmbar, 196) im Kriminalrecht hingegen hat die reli-
giöſe Anſchauung recht eigentlich ihren Sitz aufgeſchlagen. Die
beiden Grundbegriffe deſſelben, das Verbrechen und die Strafe,
erſcheinen der älteſten Zeit im Lichte dieſer Auffaſſung, das
Verbrechen als Vergehn gegen die Gottheit, die Strafe als
Sühnemittel. Wenn wir uns bei dieſem Punkt etwas verweilen,
[273]3. Das religiöſe Prinzip — der homo sacer. §. 18.
ſo wird dies darin ſeine Rechtfertigung finden, daß es ſich hier
nicht um vereinzelte Spuren des religiöſen Prinzips handelt,
ſondern um eine Fundamentalanſchauung, einen uns bisher
noch unbekannt gebliebenen Ausgangspunkt des ganzen Straf-
rechts.


Nicht jedes Unrecht oder Vergehn, wenn es auch die vin-
dicta
des Einzelnen wie des Volks oder die Strafgewalt des
Königs in Thätigkeit verſetzte, erſchien als ein Frevel gegen die
Götter. Der Dieb, der Räuber hatten ſich gegen Menſchen ver-
gangen, und Menſchen forderten Strafe von ihnen. Aber ge-
wiſſe Verbrechen ſchloſſen zugleich eine Verletzung der Götter
in ſich und zogen den Zorn und die Rache derſelben auf das
ſchuldige Haupt herab. Die Entweihung der Altäre, die Schän-
dung einer veſtaliſchen Jungfrau enthielt einen unmittelbaren
Frevel gegen die Götter, der Fluch der von ihren Kindern miß-
handelten Eltern, die Klagen des von ſeinem Patron verrathe-
nen Clienten drangen zu ihrem Ohr, vergoſſenes Blut ſchrie um
Rache gen Himmel. Welche Verbrechen alle dieſer Auffaſſung
unterlagen, können wir nicht mehr beſtimmen, aber der Unter-
ſchied der bloß gegen Menſchen und der zugleich auch gegen die
Götter gerichteten Verbrechen iſt völlig unzweifelhaft. Die Folge
dieſer letzteren, die wir fortan vorzugsweiſe Verbrechen nennen
werden, beſtand darin, daß der Verbrecher ein homo sacer
wurde d. i. den Göttern heilig, ihrer Rache verfallen. Es war
dies nicht ſowohl eine Strafe, als ein Zuſtand des Verbre-
chers, der mit ſeiner That ſelbſt gegeben war, der Zuſtand der
Verworfenheit und weltlicher und religiöſer Acht.


Die Sacertät war meiner Anſicht nach die nothwendige
Folge einer jeden That, die im Geiſte der ältern Auffaſſung als
Verbrechen betrachtet wurde. Der Verbrecher hatte die Rache
der Götter und Menſchen auf ſich geladen und war, ſo lange
er ſich nicht mit beiden ausgeſöhnt hatte, von ihrer Gemein-
ſchaft ausgeſchloſſen. Nicht nahen durfte ſich der Unreine den
Altären, um durch Opfer die zürnenden Götter zu erwei-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 18
[274]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
chen, 197) und die Menſchen flohen ſeine verpeſtete Nähe,
wenn nicht Jemand es für ein gutes Werk hielt, ihn aus der
Welt zu ſchaffen, was jedem frei ſtand. 198) Auf keinen Fall
aber durfte er ſo ungeſühnt unter den Seinen bleiben, die Güter
der menſchlichen Gemeinſchaft und unter ihnen vor allem die
Symbole der Reinheit, Feuer und Waſſer, konnte man nicht
mit ihm theilen, ohne ſie zu verunehren, den Verächter der Göt-
ter nicht unter ſich dulden, ohne ſelbſt einen Antheil der Schuld
auf ſich zu laden. Denn nach einer im Alterthum ſehr verbrei-
teten Anſicht droht bei jedem Verbrechen die Gefahr, daß der
Zorn der Götter ſich nicht auf das Haupt des Schuldigen be-
ſchränke, ſondern ſich auch gegen das Gemeinweſen wende,
deſſen Mitglied er war. 199) Die Römer aber waren in religiöſen
Dingen bekanntlich ſehr ängſtlich, und religiöſe Reinheit und
Reinigung des Einzelnen wie des Volks lag ihnen ſehr am
Herzen. 200) Daraus erklärt es ſich denn, daß, wenn der Ver-
[275]3. Das religiöſe Prinzip — der homo sacer. §. 18.
brecher ſich ſelbſt durch ſeine Flucht faktiſch von der Gemein-
ſchaft ausgeſchloſſen hatte, noch ein Beſchluß des Volks erfolgte,
wodurch daſſelbe ihn auch ſeinerſeits ausſtieß. Dies war die
aqua et igni interdictio. Sie iſt nämlich nicht eine gewöhnliche
Verbannung, ſondern ſie hat eine religiöſe Beziehung, es be-
thätigt ſich in ihr die Sorge für die Erhaltung der Reinheit der
Gemeinſchaft durch Säuberung derſelben von unreinen Elemen-
ten. Denn Feuer 201) und Waſſer ſind Symbole der Reinheit,
und bei keinem Akte, der eine Gemeinſchaft mit religiöſen Be-
ziehungen begründen ſoll, z. B. dem Opfer, das Gott und Men-
ſchen einigt, der Eingehung der Ehe, eines Bündniſſes u. ſ. w.
dürfen ſie fehlen. 202) Nicht alſo als zum Leben unentbehrliche
Elemente, wie man gewöhnlich ſagt, werden ſie dem flüchtigen
Verbrecher daheim verweigert, ſondern mit ihnen als den Sym-
bolen einer reinen Gemeinſchaft, die der Verbrecher durch fer-
nern Gebrauch verunreinigen würde, wird ihm ſeine Theilnahme
an dieſer Gemeinſchaft entzogen. Was er an Gütern daheim
läßt, wird zum Tempel gebracht und zum Dienſt der Götter ver-
wandt, 203) und ſo, indem die Gemeinde ſich von der Perſon
wie der Habe des Verbrechers losſagt, darf ſie der Hoffnung
200)
18*
[276]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
leben, daß die Götter die That eines ihrer Mitglieder ſie nicht
werde entgelten laſſen.


Auf dem homo sacer ſelbſt aber ruhte lebenslänglich der
Fluch der Götter und Menſchen, und wagte er es je in ſeine
Heimath zurückzukehren, ſo mochte, wer da wollte, die Welt
von ihm befreien. Gab es nun kein Mittel dieſem lebensläng-
lichen Elend zu entgehn, mit Göttern und Menſchen ſich aus-
zuſöhnen? Konnte doch die ſchwerſte Buße und der Tod ſelbſt,
wenn er dieſe Entſühnung bewirkte, Manchem wünſchenswer-
ther erſcheinen, als ein dauernder Zuſtand der Verworfenheit.
Jenes Mittel — was brauche ich es zu nennen? — war die
Strafe. Nicht als Uebel erſcheint ſie uns hier, ſondern als ein
Mittel, das vom Uebel befreit. Die Sacertät, und wenn ſie
ewig dauerte, trägt nicht den Keim der Verſöhnung in ſich, denn
ſie iſt nur der Riß, aber der Riß verwächſt nicht von ſelbſt, der
Unreine wird nicht durch bloßen Ablauf der Zeit wieder rein,
ſondern es bedarf eines Heil- und Reinigungsmittels. Wenn
wir nun nachweiſen können, daß das älteſte römiſche Recht
wirklich von dieſer Auffaſſung der Strafe als eines Reinigungs-
mittels ausgegangen iſt, ſo iſt letztere damit in den beſtimmte-
ſten Gegenſatz zur Sacertät geſtellt, ſo kann dieſe ſelbſt nicht
gleichfalls als Strafe gegolten haben.


Wenden wir uns nun mit unſerer Frage zuerſt an jene un-
trügliche Zeugin primitiver Rechtsanſchauungen, die Etymolo-
gie, ſo gewährt ſie uns auch hier wieder höchſt werthvolle Auf-
ſchlüſſe. Poena, worin man wie im griechiſchen ποινή zunächſt
das Sühnegeld erblicken will, 204) weiſt etymologiſch auf die
Idee der Reinheit hin, 205) ebenſo castigatio (castum agere),
[277]3. Das religiöſe Prinzip — der homo sacer. §. 18.
der incastus, incestus, der Schmutzige, wird dadurch gerei-
nigt, und luere, büßen, namentlich auch in Verbindung poenas
luere,
iſt lavere, lavare, waſchen. 206)Supplicium, die Todes-
ſtrafe, führt etymologiſch auf Beſänftigung der Götter zurück
(sub-placare, supplex).


Tritt nun in den Strafen ſelbſt dieſelbe religiöſe Beziehung
hervor? Hinſichtlich der Todes- und Vermögensſtrafe läßt es ſich
darthun und iſt bereits von Andern geſchehn. Man hat, was
zunächſt die Todesſtrafe im allgemeinen anbetrifft, auf die beim
supplicium üblichen supplicationes verwieſen, hinſichtlich der
Vollziehung derſelben durch Erhenkung auf den den unterirdi-
ſchen Göttern gewidmeten arbor infelix, hinſichtlich der Ent-
hauptung auf die Verhüllung des Hauptes, die Analogie des
Opferbeiles 207) und auch die Menſchenopfer der Urzeit 208) da-
mit in Verbindung gebracht. Lehrreich für dieſe Frage iſt auch
der bekannte Fall des Horatius. Ut caedes manifesta, ſagt
Livius, aliquo tamen piaculo lueretur, imperatum patri, ut
filium expiaret pecunia publica.
Hätte den Mörder alſo die
eigentlich verdiente Todesſtrafe getroffen, ſo würde es dieſer
Entſühnung nicht bedurft haben.


Die religiöſe Beziehung der Vermögens ſtrafen tritt un-
verkennbar in der Conſekration des Vermögens hervor, die die
Sacertät noch lange überlebte. 209) Strafgelder, die ad pios usus
beſtimmt waren, werden noch ſpät erwähnt, 210) und eine ur-
ſprüngliche religiöſe Beziehung darf man auch bei ihnen wohl
vorausſetzen. Uebrigens erwuchs der consecratio bonorum in
der publicatio bonorum eine gefährliche Concurrentin; in dem-
[278]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſelben Maße, als die religiöſe Auffaſſung des Kriminalrechts
einer profanen Platz machte, verlor die Sacertät und mit ihr
die Conſekration an Terrain, und der Staat übte, wo kein re-
ligiöſes Bedenken entgegen ſtand, die Vermögensentziehung im
eignen Intereſſe aus, 211) wie er ja gleichfalls ſpäterhin das sa-
cramentum
aus Civilprozeſſen (S. 267 Anm. 189) ſich aneignete.
Wer mit der herrſchenden Meinung die Sacertät und die aqua
et igni interdictio
als Strafen auffaßt, dem bieten auch ſie Bei-
ſpiele des religiöſen Charakters derſelben dar. Wie aus der
bisherigen Darſtellung hervorgeht, theile ich dieſe Meinung
nicht, und es iſt jetzt an der Zeit, uns wegen der von uns auf-
geſtellten Anſicht über die Sacertät zu rechtfertigen.


Jener Geſichtspunkt, vermöge deſſen die Strafe als Reini-
gungsmittel erſcheint, ſchließt die Sacertät vom Syſtem der
Strafen aus. Für letztere bleibt alſo kein anderer Platz übrig,
als die Zeit vor Vollziehung der Strafe, und keine andere Be-
deutung, als die eines Zuſtandes der Verworfenheit und Ver-
dammniß, aus dem erſt die Strafe den Verbrecher errettet. Die
Sacertät iſt alſo der Nullpunkt des Kriminalrechts in religiöſer
Beziehung, ähnlich wie die vindicta publica und privata es in
profaner Beziehung iſt, und im Geiſte des Racheprinzips, das
die Völker, wenn ſie es für ſich ſelbſt anerkennen, auch auf ihre
Götter übertragen, dürfen wir ſie als den Zuſtand des der Rache
der Götter verfallenen Verbrechers bezeichnen. Durch dieſe Auf-
faſſung reiht ſich nun die Sacertät als eine Vorſtufe der Strafe
in den Geſammtzuſammenhang der ſtrafrechtlichen Entwicklung
natürlich ein, während ſie, als Strafe betrachtet, den Grund-
charakter der Strafe verläugnet. Wie die vindicta publica und
privata zur Vereinbarung über die Strafe drängen, ſo auch die
Sacertät. In allen drei Fällen erſcheint die Strafe, möchte ich
ſagen, eingeleitet und präparirt, wie die Conſonanz durch die
Diſſonanz, in allen drei Fällen iſt dieſe Auflöſung der Diſſonanz
[279]3. Das religiöſe Prinzip — der homo sacer. §. 18.
ein Fortſchritt, ein Gewinn im Intereſſe des Schuldigen wie
des Rechtszuſtandes. Die Sacertät ſchloß ein unbegränztes
Maß des Uebels in ſich, und jede Strafe an Leib und
Leben wie an Ehre und Vermögen war darin faktiſch bereits
enthalten, denn dem sacer als dem religiös und rechtlich Ge-
ächteten mochte jedes Uebel zugefügt werden, und entzog er ſich
demſelben durch Flucht, ſo trat wenigſtens die Recht- und Ehr-
loſigkeit, die aqua et igni interdictio212) und die Conſekration
des Vermögens ein. So läßt ſich die Sacertät auch als der ur-
ſprüngliche Inbegriff aller ſpätern Strafübel bezeichnen.


Die Sacertät iſt im bisherigen als der unmittelbare Aus-
druck der ſittlichen Entrüſtung des Volks aufgefaßt, im Gegen-
ſatz zu der Anſicht, die in ihr eine legislative Schöpfung findet;
auch hierüber muß ich mich erklären. Daß ein Geſetz zuerſt die
Acht eingeführt haben ſoll, hat nichts widerſtrebendes; daß
aber der Geſichtspunkt, der Verbrecher habe ſich gegen die Göt-
ter vergangen — und das iſt ja das Weſentliche bei der Sacer-
tät — das Wort legislativer Beſtimmung ſein ſollte, ſcheint mir
eben ſo unglaublich, als daß die Infamie ihren Urſprung der
Geſetzgebung verdanke. Solche Inſtitute, wie die Sacertät und
Infamie, kann der Geſetzgeber, wenn ſie einmal vorhanden ſind,
benutzen, normiren, umgeſtalten; aber er vermag dies auch nur
dadurch, daß er an die beſtehende Anſicht, an den Abſcheu des
Volks vor dem, der durch eigne That sacer und infamis gewor-
den, anknüpft. Die ſittliche Entrüſtung, die beide Inſtitute in
ſich ſchließen, und ohne die ſie nichts ſind, läßt ſich durch ihn
nicht hineintragen, und andererſeits wartet ſie, um ſich Genug-
thuung zu verſchaffen, nicht erſt auf ihn. Gibt man dies für
die Infamie zu, ungeachtet ſie ſpäter als ein geſetzlich regulirtes
[280]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Inſtitut erſcheint, ſo darf man auch, um daſſelbe für die Sacer-
tät anzunehmen, daran keinen Anſtoß nehmen, daß ſie ſpäter
der Geſetzgebung in die Hände fällt. Dieſe ſpätere Entwicklung
der Sacertät, bei der ſie ſich immer mehr von ihrem urſprüng-
lichen Weſen entfernt und zuletzt zu einer bloßen Vermögensent-
ziehung zuſammenſchrumpft, hat kein Intereſſe mehr für uns.


Indem wir jetzt die Religion mit ihrer Einwirkung auf das
Recht verlaſſen, gedenken wir ſchließlich noch des mildernden
Einfluſſes, mit dem ſie bei mancherlei Anläſſen der Strenge der
Strafe entgegentrat. Die römiſchen Götter, mit der einen Hand
die Beleidigungen rächend, die ihnen widerfahren, ſtreckten
ſchützend die andere über die Verfolgten und Schutzloſen aus.
Es gab heilige Orte und Zeiten, an denen Verfolgung und
Strafe ruhte. Vor dem Zorn des Hausherrn flohen die Unter-
gebenen zum Hausaltar, vor der Rache des Verletzten der Schul-
dige zum Tempel oder zum Aſyl. An die Idee des Aſyls knüpft
Roms Entſtehung an, und wenn hier gleich das Aſyl als Mittel
zu politiſchen Zwecken erſcheint, ſo iſt es doch die Religion, die
daſſelbe unantaſtbar macht. 213) An den Lectiſternien, wo Haß
und Zank ruhte, nahm man den Gefangenen die Feſſeln ab und
hielt es für eine Gewiſſensſache, ſie nachher wieder anzulegen. 214)
An den Saturnalien, dem Feſte des Gottes, der Segen und
Wohlleben ſpendete, ließ man auch Sklaven und Verbrecher
an der allgemeinen Freude Theil nehmen. Jene koſteten vor-
übergehend das Glück der Freiheit, dieſe entließ man dauernd
ihren Ketten die ſie dem Gotte zu bringen pflegten, der ſie davon
befreit hatte. 215) Wenn der Prieſter des Jupiter (flamen dialis)
ein Haus betrat, in dem ſich ein Gefeſſelter befand, ſo gebot das
Fas, ihm ſeine Banden abzunehmen und über das Dach aus dem
[281]Gemeinſame Betrachtung derſelben. §. 19.
Hauſe zu ſchaffen. Wenn Jemand, der zur Geißelung abgeführt
ward, ihm begegnete und ihm zu Füßen fiel, ſo mußte die Exe-
kution aufgeſchoben werden. 216) So durchbrach die Religion ge-
wiß noch in manchen Fällen die ſtrenge Ordnung des Rechts
und des bürgerlichen Lebens, und auch in die kalte römiſche
Rechtswelt fällt doch, zurückgeſtrahlt von den Göttern, der
warme Sonnenblick eines menſchlichen Gefühls.


Gemeinſames aller dieſer Ausgangspunkte.

XIX. Der normale Charakter einer Anfangsbildung be-
ſteht in der Einheit ohne Verſchiedenheit, d. h. der Gebunden-
heit der Gegenſätze, der Unſelbſtändigkeit der einzelnen Theile.
Bevor die Unterſchiede, die dem Keime nach in ihr bereits vor-
handen ſind, ſich regen und bewegen dürfen, muß eine Zeit vor-
ausgegangen ſein, die das Moment der Einheit möglichſt kräftig,
wenn auch einſeitig entwickelte, ſoll anders letzteres nicht im
verfrühten Kampf der Gegenſätze raſch erliegen. Zu dieſer Be-
merkung veranlaßt uns ein Rückblick auf unſere bisherige Dar-
ſtellung. Der Grundzug des bisher geſchilderten Rechtsſyſtems
— wenn wir es nämlich ein Syſtem nennen wollen, worüber
unten das Weitere — beſteht eben in jener urſprünglichen Ge-
bundenheit der Gegenſätze, jener Unſelbſtändigkeit, Ununter-
ſchiedenheit der einzelnen Theile deſſelben. Erſt jetzt, nachdem
wir die Ausgangspunkte des Rechts im Einzelnen haben kennen
lernen, iſt es uns möglich gemacht, dieſe ſie alle gemeinſchaftlich
betreffende Bemerkung unter Bezugnahme auf frühere Ausfüh-
rungen raſch zu erledigen.


Wir erinnern daran, daß es ſich hier nur um die ur-
[282]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſprüngliche Geſtalt dieſes Syſtems handelt, nicht um die,
in der es in Rom ſelbſt auftritt, denn hier begegnen uns ſchon
gleich von vornherein manche Gegenſätze, von denen einige be-
reits erwähnt, andere an gelegener Stelle nachgetragen werden
ſollen. Richten wir unſern Blick zuerſt auf den Staat, ſo zeigte
uns das Gentilitätsprinzip die Identität des Staats und der
Familie, den Staat mit familienartiger Organiſation, die Fa-
milie mit politiſchen Functionen. Unſere Ausführung über das
Verhältniß des Staats zum ſubjektiven Prinzip (§. 15) hat uns
die urſprüngliche Identität des Staats und des Volks, der Ge-
ſetzgebung und des Vertrages, der vindicta publica und privata
nachgewieſen; unſere Darſtellung der Wehrverfaſſung die Iden-
tität der militäriſchen und politiſchen Ordnung, der Volks- und
Heeres-Verſammlung, des Feldherrn und Königs. Die Reli-
gion fügt ſich ganz dieſer Ordnung; politiſche Verbindungen
ſind zugleich religiöſe, die politiſche Gewalt ſchließt die religiöſe
in ſich, politiſche Peregrinität iſt religiöſe Peregrinität.


Faſſen wir die Rechtsſphäre des Individuums ins Auge,
ſo erinnere ich an die urſprüngliche Identität der Selbſthülfe
und der Rache, hervorgehend aus der Identificirung des Ver-
mögens mit der Perſon, an die Unzertrennlichkeit des öffent-
lichen und Privatrechts. Verluſt jenes iſt Verluſt dieſes, man-
gelnde Theilnahme an jenem ſchließt die privatrechtliche Rechts-
fähigkeit aus, und die Ertheilung jener erfordert Aufnahme in
die Gens, alſo in eine an privatrechtlichen Beziehungen reiche
Gemeinſchaft. Die rein privatrechtliche Exekution führt umge-
kehrt zum bürgerlichen Tode, zum Verluſt der geſammten Rechts-
fähigkeit.


Doch es möge der Beiſpiele genug ſein! Es reicht ſchon
eine oberflächliche Betrachtung jenes Syſtems hin, um ſich zu
überzeugen, daß die Fäden, die ſpäter weit aus einander gehen,
hier nahe in einem engverſchlungenen Knoten vereint ſind. Das
Reich des Gegenſatzes beſchränkt ſich urſprünglich auf das Ver-
[283]Gemeinſame Betrachtung derſelben. §. 19.
hältniß des Staates nach außen hin, und hier iſt der Gegenſatz
ein klaffender, eine vollſtändige Negation alles deſſen, was der
Staat im Innern in ſich birgt.


Wir haben von einem urſprünglichen Syſtem dieſer Aus-
gangspunkte geſprochen; dürfen wir dies? Der Sinn der Frage
iſt folgender. Es iſt möglich, daß das römiſche Volk, das aus
verſchiedenen Volksſtämmen zu einem Volke zuſammenwuchs,
von jedem derſelben irgend ein Element ſeiner ſittlichen Welt
überkam, von dem einen, bei dem der Einfluß der Religion
prävalirte, etwa das religiöſe, von dem andern, deſſen Sinn
vorzugsweiſe auf Krieg gerichtet war, das militäriſche, von dem
dritten das rein privatrechtliche. Und in der That iſt die Be-
hauptung aufgeſtellt, daß das römiſche Recht aus einer ſolchen
Miſchung entſtanden, und der Verſuch gemacht, es auf ſeine
ethniſchen Urbeſtandtheile zurückzuführen. 217) Sind wir nun
für unſere Ausgangspunkte des römiſchen Rechts zu derſelben
Annahme gezwungen, ſei es durch äußere hiſtoriſche Zengniſſe,
ſei es durch innere Gründe? Bei einem kriegeriſchen Volke, das
in beſtändiger Bewegung begriffen iſt, verſteht ſich der Einfluß
des militäriſchen Intereſſes auf die Verfaſſung von ſelbſt. Das
Geſchlechterprinzip fügt ſich dem Zweck des Ganzen ungezwun-
gen ein, und das ſubjektive Prinzip mit ſeiner Erbeutung und
Selbſthülfe findet kaum eine paſſendere Stätte, als bei einem
ſolchen Volke. Und das religiöſe Prinzip? So wenig an ſich
die religiöſe Stimmung dem kriegeriſchen Sinn widerſtrebt, ſo
könnte man doch am erſten in Verſuchung kommen, in einigen
Spuren des religiöſen Prinzips im römiſchen Recht Reſte eines
religiös gefärbten Rechtsſyſtems zu erblicken, das bei einem
andern Volke ſeine Ausbildung erhalten hätte. Wir ſtellen dieſe
Spuren, und zur Vergleichung die entſprechenden Punkte des
profanen Syſtems, hier zuſammen.


[284]Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Dieſe Spuren ſind aber meiner Anſicht nach nicht genügend,
um darauf jenen Schluß zu bauen; höchſtens würden die beiden
Formen der Ehe einen ſchwachen Anhaltspunkt gewähren. 218)


So wenig nun auch das älteſte römiſche Recht uns ſichere
Spuren einer ſynkretiſtiſchen Entſtehungsgeſchichte darbietet, ſo
darf man doch die Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit der letzte-
ren keineswegs in Abrede ſtellen, nur daß man bis jetzt wenig-
ſtens darauf verzichten muß, die urſprünglichen verſchiedenen
Elemente des Rechts nachzuweiſen. Aber die Annahme einer
ſolchen urſprünglichen Verſchiedenheit im Recht iſt mit der An-
nahme einer ethniſchen Verſchiedenheit der Urelemente der rö-
miſchen Bevölkerung hinlänglich gerechtfertigt. Für unſern jetzi-
gen Zweck genügt die Bemerkung, daß ſich eine Beziehung der
[285]Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
verſchiedenen von uns aufgeſtellten Ausgangspunkte auf natio-
nale Gegenſätze nicht rechtfertigen läßt. 219)


Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, um zu den
Quellen des römiſchen Rechts zu gelangen, war von der Art,
daß uns die Vermuthung faſt beſtändig eine Brücke ſchlagen
mußte. Mögen wir ihn im Einzelnen öfter verfehlt haben —
wie wäre das bei der Natur der Aufgabe auch anders möglich?
— das erreichte Ziel halte ich im Allgemeinen für das richtige.
Wir dürfen jetzt dies ſchlüpfrige Terrain verlaſſen, um uns
dem römiſchen Volk, das mit dem im bisherigen entwickelten
Kapital von Ideen und Einrichtungen ſeine Arbeit begann, zu-
zuwenden.


Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen
Ausgangspunkten.


1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes und die Prädeſtination
deſſelben zur Cultur des Rechts.

XX. Man hat die Bemerkung gemacht, daß die aus einer
Miſchung verſchiedener nationaler Elemente entſtandenen Völker
ſich durch nachhaltige Kraft auszeichnen, und für das römiſche
Volk und dasjenige, welches unter den neuern die meiſte Aehn-
lichkeit mit demſelben hat, das engliſche, trifft dieſe Bemerkung
in hohem Grade zu. Liegt der Grund darin, daß die Entſtehung
dieſer Völker mit ſchweren Geburtswehen verbunden war, daß
ſie ſich erſt unter gewaltigen Anſtrengungen, nach vorheriger Ue-
berwindung der durch die Verſchiedenheit der Abſtammung ge-
gebenen Gegenſätze in Sitte, Recht u. ſ. w. das Gut erwerben
mußten, das andern Völkern als das bloße Reſultat ihres län-
gern Beſtehens mühelos zufiel — die Nationalität? Uebt die
Kraftanſtrengung, mit der die Exiſtenz des Volks beginnt,
[286]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
eine dauernde Nachwirkung auf ſeinen Charakter aus? Der
Grund liegt wohl in etwas anderm, nämlich darin, daß jener
Bildungsprozeß die Nationalitäten, die er zur Einheit verbinden
ſoll, nicht bloß in ihrem innerſten Weſen erregt und zerſetzt,
ſondern von ihnen nur das Feſte, Kernige, Eiſerne übrig läßt.
Das Feuer, das dem Metall unſchädlich iſt, verbrennt und ver-
flüchtigt die brennbaren und ätheriſchen Subſtanzen. Was von
den Eigenthümlichkeiten der verſchiedenen Nationalitäten dieſe
Feuerprobe nicht beſtehen kann, geht unter; was ſich gehalten
hat und in der neu gebildeten Nationalität fortdauert, hat damit
ſeine feuerfeſte Natur bewährt. So gewinnt der Charakter des
aus dieſen Elementen gebildeten Volks an Energie, Ernſt,
Strenge, Härte, Lebensklugheit, was er an Kindlichkeit, Naivi-
tät, Laune und allen Eigenſchaften, die eine gewiſſe Harmloſig-
keit der Lebensanſchauung und ein ungetrübtes äußeres Glück
vorausſetzen, einbüßt — ein Charakter, gemacht, die Welt zu
beherrſchen, nicht ſie zu gewinnen. Solche Völker ſind es, die,
wie ſie ihrerſeits die Werke der Phantaſie von andern Völkern
entlehnen müſſen, letztern dafür Einrichtungen und Geſetze zu-
rückgeben können. Denn ſie, mit ihrer nüchternen Lebensanſicht
und ihrer der Uebereilungen und des Wankelmuths unfähigen
Natur ſind vor allem zur Cultur des Rechts berufen. Aus der
Gegenwart liefert uns England mit ſeinen Staatseinrichtungen,
aus dem Alterthum Rom mit ſeinem Privatrecht den Beleg zu
dieſer Behauptung.


So iſt alſo gleich die Bildungsgeſchichte des römiſchen
Volks für das Recht bedeutungsvoll. Die erſte Scene der rö-
miſchen Rechtsgeſchichte beginnt mit einer Gegenüberſtellung
und folgeweiſe einer Kritik der Einrichtungen und Rechtsan-
ſchauungen, die jeder der drei Stämme, der latiniſche, ſabiniſche
und etruriſche, mit brachte, und endet mit einer Auswahl unter
denſelben von Seiten des neu entſtandenen römiſchen Volks.
Die Geſchichte hat es uns zwar verwehrt, einen Blick hinter
den Vorhang zu werfen, und öffnet ihn erſt, als das römiſche
[287]Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
Recht fertig da ſteht. Aber können wir uns die Vorgeſchichte
in anderer Weiſe ausmalen? Wenn drei Völker mit verſchiede-
nen Einrichtungen, Sitten und Rechtsanſichten ſich zu einem
Staat zuſammenthun, wenn ſchließlich nur ein einiges Recht
übrig bleibt, an dem keine Spuren nationalen Gegenſatzes er-
kennbar ſind, ſo muß nothwendigerweiſe der Widerſpruch aus-
geglichen, d. h. alſo das Eine oder Andere geopfert worden ſein.
Dieſer Läuterungsprozeß, bei dem die Schlacken ausgeſchieden
wurden, und nur das Kernige zurückblieb, erforderte keine ge-
waltſamen Mittel. Wo Starkes und Schwaches ſich im Leben
zum freien Kampf begegnen, verleiht das innere Uebergewicht,
das jenem inne wohnt, von ſelbſt den Sieg.


Drücken wir dieſen Vorgang, bei dem die Stammesver-
ſchiedenheiten im Intereſſe des Staats überwunden werden,
dahin aus, daß das Staats- und Rechts-Prinzip hier das der
Nationalität überwältigt, ſo haben wir damit bereits für das
erſte Auftreten Roms den Satz gewonnen, der auch die ſpätere
Bedeutung Roms, deſſen eigenthümliche univerſalhiſtoriſche
Stellung und Aufgabe bezeichnet. An keinen Namen knüpft ſich
ſo, wie an den Roms, der Gedanke eines Confliktes zwiſchen
dem Nationalitäts- und dem abſtrakten Staats- und Rechts-
Prinzip oder, wenn man dabei auch die kirchliche Bedeutung
des modernen Roms mit ins Auge faſſen darf, der Gedanke des
Gegenſatzes der Nationalität und allgemeiner, ſupranationaler
Tendenzen. Die geiſtige Subſtanz, die Rom in ſich birgt, iſt
ein Scheidewaſſer, das, ſowie es mit dem lebendigen Organis-
mus einer Nationalität in Berührung tritt, ihn ſchmerzhaft er-
regt, ja wohl gar zerſetzt und auflöſt. Mit der eignen nationa-
len Selbſtüberwindung beginnt die Geſchichte Roms, ihr höchſter
Glanzpunkt zeigt uns den römiſchen Staat, ſtehend an der
Gränzſcheide der antiken und modernen Welt, zu ſeinen Füßen,
zermalmt und zerrieben die Völker der damaligen Zeit. Nach
dem Sturz dieſer politiſchen Weltherrſchaft erhebt ſich auf der-
ſelben Stätte die Weltherrſchaft der Kirche, eine Herrſchaft des
[288]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Geiſtes, mächtiger noch, als die des Schwertes, und, als wäre
dadurch jener Centraliſations- und Expanſionstrieb des römiſchen
Geiſtes ſo lange nach dem Untergang des römiſchen Volks
von neuem wieder angeregt, die Weltherrſchaft des römiſchen
Rechts. Wehe der Nationalität, wenn Rom ſich naht — ſo
möchte man rufen vom untergeordneten Standpunkt der Natio-
nalität aus. Wenn wir aber gedenken, daß die Beſonderheit und
Trennung nicht das Ziel der Geſchichte iſt, ſondern die Gemein-
ſchaft und Einheit, daß die Individualität der Menſchen und
Völker durch das Moment der Allgemeinheit nicht zerſtört, ſon-
dern geadelt und erhoben wird, dann werden wir in Rom nicht
den Würgengel der Nationalitäten, den Geiſt, der bloß verneint,
erblicken, ſondern einen Träger und Vorkämpfer der Idee der
Univerſalität gegenüber der einſeitigen, beſchränkten Herrſchaft
des Nationalitätsprinzips. Freilich ohne ſchmerzhafte Berüh-
rung fremder Nationalitäten hat Rom ſeine Aufgabe nicht er-
füllen können. Wie die Schärfe des Schwertes den Völkern
der alten Welt blutige Wunden ſchlug, ſo die Schärfe des Be-
griffs, die im römiſchen Recht hervortritt, dem nationalen
Rechtsleben der modernen Welt. Aber die Wunden und Schmer-
zen ſind der Preis der Kur.


Von dieſem Standpunkt aus begrüßen wir das römiſche
Volk bei ſeinem Eintritt in die Welt mit den treffenden Worten
Huſchke’s 220) „als eins jener Centralvölker, in denen ſich die
auseinandergegangenen Strahlen der Menſchheit wie in einem
Brennpunkt ſammeln.“ Da ſchon ſeine Bildungsgeſchichte uns
Anlaß gegeben hat, ſeiner Miſſion und Eigenthümlichkeit zu ge-
denken, und da im ſpätern Verlauf der Darſtellung das römiſche
Volk gegenüber ſeinem Werk, dem Recht, zurücktritt, ſo halte ich
es am geeignetſten, den Charakter des römiſchen Volks und
deſſen eigenthümliche Prädeſtination zur Cultur des Rechts be-
reits an dieſer Stelle zur Sprache zu bringen.


[289]1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.

Der Nachweis jener Prädeſtination erfordert ein Eingehn
in die Eigenſchaften, den Charakter wie die intellektuelle Be-
gabung des römiſchen Volks; nicht als ob daraus jene Präde-
ſtination ſelbſt erklärt werden ſollte — denn für ſie läßt ſich kein
anderer Grund angeben, als daß einmal die Geſchichte den Rö-
mern dieſe Miſſion der Cultur des Rechts zuertheilt hatte.
Nicht weil die Römer dieſe und jene Eigenſchaften hatten, wa-
ren ſie zur Cultur des Rechts prädeſtinirt, ſondern umgekehrt,
weil ihnen nach der Oekonomie der Geſchichte dieſe Aufgabe zu-
gefallen war, waren ſie ſubjektiv zur Löſung derſelben befähigt.
Es iſt aber von Intereſſe, dieſe Befähigung im Einzelnen zu
verfolgen, nachzuweiſen, wie der hiſtoriſche Beruf der Römer
ihr ganzes Weſen durchdringt, Eigenſchaften, Kräfte, Einrich-
tungen hervorruft, die ſämmtlich dem Zweck jener Aufgabe dienſt-
bar ſind.


Es möge vorher noch mit wenig Worten die angebliche
Abſtammung und Aehnlichkeit der Römer von und mit den Grie-
chen berührt werden. In der That ſind beide Völker in ihren Be-
ſtrebungen und in ihrer Begabung ſo unendlich verſchieden, daß
man Mühe hat, über der Verſchiedenheit die Aehnlichkeit aufzu-
finden. Aber ſchon die Römer der ſpätern Zeit gefielen ſich in
der Idee von den Griechen abzuſtammen, und man beutete die
vorhandenen Aehnlichkeiten in Sprache, Recht, Religion —
theils und vorzugsweiſe die Reſte der urſprünglichen Gemein-
ſchaft aller indogermaniſchen Völker, theils die Reſultate ſpäte-
rer Berührung beider Völker — in dieſem Sinne aus. Es hat
auch für die moderne Philologie eine Zeit gegeben, wo dieſer
Irrthum an der Tagesordnung und verzeihlich war, wo man
berechtigt war, namentlich die Verwandſchaft der griechiſchen
und lateiniſchen Sprache aus der Annahme zu erklären, daß
letztere eine Tochter der erſteren ſei. 221) Das Studium des
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 19
[290]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Sanskrit hat nachgewieſen, daß dieſe Annahme eine irrige, die
lateiniſche Sprache vielmehr eine Schweſter der griechiſchen iſt,
die die gemeinſame Mutterſprache in vielen Stücken reiner und
getreuer bewahrt hat, als letztere. 222) Das Verhältniß der
Sprachen aber bezeichnet das der Völker ſelbſt; ſie ſind Ge-
ſchwiſter, die einſt mit den übrigen indogermaniſchen Völkern
unter einem Dache lebten, und als ſie ſich trennten, eine ge-
meinſame Ausſtattung an Sprache, Sitte, Religion u. ſ. w.
mitnahmen. 223) Aber wie verſchieden entwickelte ſich ihr Cha-
rakter nach jener Trennung, wie weit ging Recht, Religion,
Sprache u. ſ. w. bei den verſchiedenen Völkern aus einander.
Was insbeſondere das Recht anbetrifft, ſo iſt bis jetzt zwar der
Verſuch noch nicht gemacht, die Spuren der urſprünglichen
Rechts-Gemeinſchaft aller indogermaniſchen Völker zu ſammeln,
allein ſo viel läßt ſich ſchon jetzt ſagen, daß die Sprache wenig
Aufſchlüſſe gewähren wird. Für den Begriff des Rechts wie
die meiſten Inſtitute deſſelben hat jede indogermaniſche Sprache
eine andere, dieſelben von einer verſchiedenen Seite auffaſſende
Bezeichnung. Was alſo auch die indogermaniſche Völker-Fa-
milie an gemeinſamen Rechtseinrichtungen urſprünglich beſaß:
die Thätigkeit der Sprache in der Bezeichnung derſelben d. h.
das Erwachen des Bewußtſeins über dieſelben fällt in die Zeit
nach der Trennung. Dies gilt nun insbeſondere auch von dem
Verhältniß des griechiſchen zum römiſchen Recht. So groß auch
die Zahl der in der griechiſchen und lateiniſchen Sprache gleich
221)
[291]1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
lautenden und gleich bedeutenden Ausdrücke ſein mag: die Rechts-
terminologie beider iſt völlig verſchieden, jedes der beiden Völ-
ker hat alſo die begriffliche Erfaſſung und Geſtaltung ſeines
Rechts völlig ſelbſtändig vollbracht. Was man auch an ein-
zelnen Einrichtungen, Geſetzen, Gebräuchen u. ſ. w., die Grie-
chen und Römern gemeinſchaftlich waren, aufzählen möge: auf
keinem Gebiet läßt ſich die Unabhängigkeit der Römer von den
Griechen und die Eigenthümlichkeit ihres ganzen Weſens ſo
leicht und ſicher erkennen, als auf dem des Rechts.


Das Weſen des römiſchen Geiſtes.224)

Haben wir oben die Bedeutung Roms in die Geltend-
machung einer abſtrakten Allgemeinheit in Staat und Recht
gegenüber der Partikularität des Nationalitätsprinzips geſetzt,
ſo könnte, wer vom römiſchen Volkscharakter nichts wüßte,
19*
[292]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
glauben, als ob ſein Weſen in kosmopolitiſcher Allgemeinheit
beſtände. Wer aber die Römer nur irgendwie kennt, weiß, daß
kaum ein anderes Volk eine ſo unverwüſtliche Nationalität be-
ſeſſen und ſo feſt daran gehalten, wie ſie. Nicht der Abſperrung
bedurfte dieſe Nationalität, um ſich rein zu halten, nicht der
Abwehr fremder Elemente; ſie forderte alle Völker heraus, ſich
mit ihr zu meſſen, nahm maſſenweis fremde Elemente in ſich
auf, aber raſch zerſetzt aſſimilirten ſich dieſelben dem römiſchen
Weſen, ohne ihrerſeits Rückwirkungen auf daſſelbe auszuüben.
In der Blüthezeit Roms, auf die wir uns bei dieſer Charakte-
riſtik beſchränken, ſteht die römiſche Nationalität da wie ein
Fels im Meere, an dem die Völker der alten Welt wie Wogen
ſich brechen.


Wie verträgt ſich mit dieſer Energie, die das Nationalitäts-
prinzip in Rom entfaltet, jene univerſelle, antinationale Miſſion
des römiſchen Volks? Das univerſelle Moment im römiſchen
Charakter geht hervor aus einer Eigenſchaft, die nach der einen
Seite ebenſowohl eine expanſive, univerſelle, wie nach der an-
dern eine contraktive, exkluſive Tendenz hat — der Selbſtſucht.
Die Selbſtſucht, die ſich ſelbſt zum Mittelpunkt der Welt macht,
alles nur auf ſich bezieht, kömmt nicht in Gefahr, ſich zu ver-
geſſen, ihre partikulariſtiſch-exkluſive Stellung aufzugeben; ihre
Univerſalität beſteht bloß darin, daß ſie alles begehrt. Dieſe
Expanſionskraft des Begehrungsvermögens wie ſehr ſie im-
merhin mit der engherzigſten Geſinnung verbunden ſein möge,
dient doch objektiv der Geſchichte als ein ſehr wirkſames Mittel
für den Gedanken der Univerſalität. Rom liefert uns dazu den
glänzendſten Beleg.


Selbſtſucht alſo iſt das Motiv der römiſchen Univerſalität,
Selbſtſucht — und damit wenden wir uns unſerer eigentlichen
Aufgabe zu — der Grundzug des römiſchen Weſens. Es gibt
nun eine kleinliche Selbſtſucht, kleinlich in moraliſcher und in-
tellektueller Beziehung, kurzſichtig in ihren Berechnungen, ohne
Energie in der Ausführung, in augenblicklichen, kleinlichen Vor-
[293]1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
theilen ihre Befriedigung findend. Es gibt aber auch eine gran-
dioſe Selbſtſucht, großartig durch die Ziele, die ſie ſich geſetzt
hat, bewundernswürdig in ihren Conceptionen, ihrer Logik und
Fernſichtigkeit, imponirend durch die eiſerne Energie, die Aus-
dauer und Hingebung, mit der ſie ihre fernen Ziele verfolgt.
Dieſe zweite Art der Selbſtſucht gewährt uns das Schauſpiel
der vollſten Anſpannung der moraliſchen und intellektuellen
Kräfte, ſie iſt die Quelle großartiger Thaten und Tugenden.
Kein Charakter iſt ſo geeignet, um ihre Natur kennen zu lernen,
als der römiſche. Es hat kein Intereſſe, die römiſche Selbſt-
ſucht in ihren nächſten, kleinlichen Schwingungen zu verfolgen,
in jenen Eigenſchaften der Habſucht, des Geizes, der Härte
und Liebloſigkeit u. ſ. w.; hier zeigt ſie ſich noch in ihrer gan-
zen Nacktheit. Aber in demſelben Maße, in dem die Verhält-
niſſe, in denen das Individuum ſteht, und die Zwecke, denen
es ſich widmet, ſteigen, werden die Einwirkungen der Selbſt-
ſucht unkenntlicher, ihre Formen glänzender, und auf dem Hö-
henpunkt römiſcher Größe, der Hingebung an den römiſchen
Staat, überwindet ſich ſogar die individuelle Selbſtſucht, um
ſich ſelbſt der des Staats zum Opfer zu bringen.


Es klingt paradox, daß auch jene Eigenſchaften des römi-
ſchen Charakters, wie die Tapferkeit, Vaterlandsliebe, Religiö-
ſität, die Achtung vor dem Geſetz u. ſ. w., Tugenden, die ſchein-
bar keine Beziehung zur Selbſtſucht haben oder wohl gar eine
Entäußerung derſelben vorausſetzen, dennoch ihre Wurzeln in
der Selbſtſucht finden ſollen. Um ſich davon zu überzeugen,
muß man nur den richtigen Standpunkt der Betrachtung wäh-
len, nicht die römiſchen Individuen, ſondern das Walten
des römiſchen Volksgeiſtes ins Auge faſſen.


Wenn ein Volk von einem Gedanken ganz und gar durch-
drungen iſt, ſein ganzes Weſen, Sein und Thun in dieſem einen
Gedanken aufgeht, ſo geſtaltet ſich natürlich der Charakter deſſel-
ben dem entſprechend. Die Tugenden, die Kräfte kommen zur
Entwicklung, die jenem Zweck am förderlichſten ſind. Jene
[294]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Selbſtſucht nun, die wir oben charakteriſirt haben, erfordert zu
ihrem moraliſchen Apparat eine hohe Energie des Charakters,
Tapferkeit, Selbſtüberwindung, Ausdauer, Hingabe des In-
dividuums an den allgemeinen Zweck, kurz die Eigenſchaften,
die wir bei den Römern wahrnehmen. Objektiv betrachtet ſind
dieſelben alſo der nationalen Selbſtſucht dienſtbar, wenn auch
ſubjektiv die Ausbildung und Bethätigung derſelben gerade eine
Selbſtverläugnung enthalten ſollte. Das einzelne Subjekt wird
hier ohne ſein Wiſſen und Wollen durch den Nationalgeiſt be-
ſtimmt; ob es ſich ſeiner Beſtimmung bewußt iſt oder nicht, iſt
völlig gleichgültig. Von ſeinem Standpunkt aus mag die ein-
zelne Handlung aus dem Pflichtgefühl oder unmittelbar aus
dem unbewußten Drange der innerſten Natur heraus hervorge-
gangen ſein; daß es dieſe Natur hat, daß ihm dies als Pflicht
erſcheint, das iſt dem Walten des Nationalgeiſtes zuzuſchreiben.
Letzterer geſtaltet den Volkscharakter, die ſittlichen Inſtitutionen,
das ganze Leben in der Weiſe, in der ſie ſeinen Zwecken am
förderlichſten ſind.


An dieſem Objektivirungsprozeß der nationalen Selbſtſucht
hat allerdings auch die Reflexion, die bewußte Berechnung ihren
Antheil 224 a) — gerade der römiſche Volkscharakter verträgt bei
[295]1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
ſeiner durchaus praktiſchen Richtung mehr, als ein anderer die
Suppoſition eines bewußten, abſichtlichen Thuns — aber die
Hauptrolle ſpielt doch dabei der unvergleichliche nationale In-
ſtinkt. Was iſt dieſer Inſtinkt, iſt er eine Naturanlage, die ſich
nicht weiter begründen läßt, eine primäre Eigenſchaft des römi-
ſchen Geiſtes? Ich erblicke in ihm nur die Folge jener Richtung
auf praktiſche Zwecke, jener zur zweiten Natur gewordenen Ge-
wohnheit der Römer, ihre ganze geiſtige und moraliſche Kraft
im Dienſt der Selbſtſucht zu verwenden. Die Römer können,
möchte ich behaupten, nichts zweckwidriges thun; bewußt oder
unbewußt betrachten ſie alles unter dem Geſichtspunkt der Zweck-
mäßigkeit, und wie die Griechen auch ohne Abſicht und Bewußt-
ſein das Schöne finden, weil ihr ganzes Weſen von der Idee
des Schönen durchdrungen iſt, ſo treffen die Römer mechaniſch
das Zweckmäßige.


Die Idee der Zweckmäßigkeit alſo iſt das Prisma römiſcher
Anſchauung, und den ſchlagendſten Beweis dafür bietet uns die
römiſche Götterwelt. 225) Die Römer konnten nur anerkennen
und ehren, was einen Zweck hatte; Götter, die ohne beſtimm-
ten Beruf bloß ſich ſelbſt gelebt hätten, wären ihnen als Müßig-
gänger erſchienen. Darum hatte jeder römiſche Gott ſeinen
praktiſchen Wirkungskreis, ſo zu ſagen, ſeinen Poſten, für den
und von dem er lebte. Das Prinzip der Theilung der Arbeit
war in der römiſchen Götterlehre ins Lächerliche getrieben, die
römiſche Erfindungsgabe war unerſchöpflich darin, neue Ge-
ſchäftszweige, Verrichtungen und Handlangerdienſte aufzuſuchen,
wofür ſich ein eigner Gott anſtellen ließ. Es gab kein Intereſſe,
ſo nichtig und unbedeutend, keinen Moment des menſchlichen
Lebens, von der Geburt bis zum Tode, des Landbaus, von der
Saat bis zur Erndte u. ſ. w., deſſen Obhut der proſaiſche Sinn
der Römer nicht einem ſehr langweiligen Gott anvertraut
[296]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
hätte. 226) Dieſe Götter gehn aber, wie die Römer ſelbſt, ganz
und gar in ihren Zwecken auf, ſind nichts als perſonificirte
Zwecke.


Auch die Religioſität der Römer, von ihnen ſelbſt und an-
dern ſo viel geprieſen, war im weſentlichen durch das Motiv
der Zweckmäßigkeit oder der Selbſtſucht beſtimmt. Die Römer
ehrten die Götter nicht, weil ſie Götter waren, ſondern damit
letztere ihnen dafür ihren Beiſtand zuwendeten. Das Maß der
Beiſtandsbedürftigkeit, der Noth, in der man ſich befand, war
zugleich das der römiſchen Religiöſität. Natürlich unterhielt man
auch in glücklichen Zeiten ein gutes Vernehmen mit den Göttern
und ließ es an nichts fehlen, worauf ſie einmal ein Recht hatten;
man zahlte ihnen, wenn es erlaubt iſt, das obige Bild weiter
auszuführen, ihren Gehalt, den Preis, um den ſie im allge-
meinen Rom ihre Gunſt bewahrten, unverkürzt aus. Begehrte
Jemand aber außergewöhnliche Dienſtleiſtungen von ihnen —
der Staat, wie die Einzelnen — ſo mußte er, da auch die Göt-
ter nichts umſonſt thaten, ſie dafür entſprechend entſchädigen.
Eine beliebte Form, um die Götter zu gewinnen, war das Vo-
tum;
beliebt nämlich, weil man dabei am ſicherſten ging d. h.
den Göttern erſt ſeinerſeits das Verſprechen zu leiſten hatte,
wenn ſie ihrerſeits den erwarteten Dienſt erwieſen hatten. Das
Votum enthält eine Uebertragung des Obligationenrechts auf die
Götter und bewegte ſich auch in der Terminologie deſſelben.


Je ehr dies Urtheil über die römiſche Religiöſität, das den
Egoismus zur Triebfeder derſelben macht, auf Widerſpruch
ſtoßen wird, und je weniger der Verſuch einer ausführlichen
Begründung deſſelben hier am Ort ſein würde, um ſo mehr muß
ich an die obige Bemerkung von dem inſtinktartigen Walten des
römiſchen Geiſtes erinnern. Es iſt nicht meine Meinung, als
ob bewußte Abſicht und Berechnung in Rom mit dem heiligſten
[297]1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
ihr Spiel getrieben hätten, 227) aber ebenſo wenig kann ich glau-
ben, daß in der Religion allein ſich die römiſche Sinnesweiſe
ſollte verläugnet haben. An einer andern Stelle (§. 21) erhal-
ten wir Gelegenheit zu zeigen, wie die religiöſen Inſtitutionen
ſich den Zwecken des römiſchen Staats fügten. So verkehrt es
ſein würde auf Grund dieſer Thatſache den Römern die Mei-
nung unterzuſchieben, als ob dieſe Inſtitutionen und die Götter
ſelbſt nur ein Werkzeug in den Händen des römiſchen Staats
ſein ſollten, ſo iſt doch ſoviel gewiß, daß objektiv jene Inſtitutio-
nen dem Staat die weſentlichſten Dienſte leiſteten. Den Grund
davon kann man aber nur in jener Eigenſchaft des römiſchen
Geiſtes ſuchen, vermöge deren er allem und jedem, was inner-
halb der römiſchen Welt zur Erſcheinung kam, wie wenig es
auch ſeinem Urſprunge nach mit der Nützlichkeitsidee in Be-
ziehung ſtand, eine praktiſche Seite abzugewinnen wußte. 228)


Bewährt ſich dieſer Trieb ſelbſt auf dem religiöſen Gebiet,
um wie viel mehr auf dem der profanen Welt.


Dieſe Welt im Ganzen und Großen enthält den Triumph
der Idee der Zweckmäßigkeit; ſie ſelbſt ſowie alle intellektuellen
und moraliſchen Kräfte, die innerhalb derſelben thätig werden,
ſind der Zwecke wegen da, mit Rückſicht auf ſie beſtimmt und ge-
ſtaltet. Die Selbſtſucht iſt die Triebfeder des Ganzen; jene
ganze Schöpfung mit allen ihren Inſtitutionen und allen den
[298]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Tugenden, die ſich an ihr bethätigen, läßt ſich als die Objekti-
vität, als der Organismus der nationalen Selbſtſucht be-
zeichnen.


Dieſer Ausdruck bezeichnet vielleicht am kürzeſten die Art
und Weiſe, in der ſich dieſe Selbſtſucht bethätigt. Die römi-
ſchen Inſtitutionen, Tugenden u. ſ. w. ordnen ſich zu einem
Organismus zuſammen, der durch den Gedanken der Selbſt-
ſucht getrieben wird. Dieſe Triebkraft aber offenbart ſich nur
in der Structur und Thätigkeit des Ganzen, nicht der ein-
zelnen Theile; letztere werden nicht ſelbſtändig durch das Motiv
der Selbſtſucht, ſondern durch das Bedürfniß des Geſammt-
organismus beſtimmt, und gerade dadurch, daß ſie den unmittel-
baren Einflüſſen der Selbſtſucht nicht ausgeſetzt ſind, werden ſie
um ſo geeignetere Werkzeuge derſelben. Die Virtuoſität der
römiſchen Selbſtſucht bewährt ſich daran, daß ſie ſtets den
Geſammtzuſammenhang vor Augen hat und nie auf Koſten
deſſelben eine momentane Befriedigung erſtrebt.


Machen wir dies durch Beiſpiele klar. Die kleinliche, kurz-
ſichtige Selbſtſucht hat nur den einzelnen Vortheil im Auge,
ſie verfolgt ihn nöthigenfalls auf Koſten des Rechts, der Ehre,
des Vaterlandes, kurz in einer Weiſe, die, wenn ſie allgemein
wäre, die zweckwidrigſte von der Welt wäre. Der Römer hin-
gegen weiß, daß ſein individuelles Wohl durch das des Staats
bedingt iſt, ſeine Selbſtſucht umſpannt alſo zugleich den Staat.
Er weiß, daß ſtrenge Befolgung und Handhabung der Geſetze
dem allgemeinen und folglich auch ſeinem eignen Intereſſe ent-
ſpricht. Er weiß, daß Vortheile, die durch Ehrloſigkeit, Feig-
heit u. ſ. w. erkauft werden, bloß ſcheinbare ſind, daß die Selbſt-
ſucht nur in Verbindung mit der Ehre, Tapferkeit, Rechtlich-
keit u. ſ. w. dauerhafte Reſultate erringen kann. Dies Wiſſen
iſt aber zugleich ein Sollen und Wollen, d. h. das nationale
Pflichtgefühl gebietet dem Römer eine ſolche Handlungsweiſe,
und die Energie des Volks bewährt ſich daran, daß es dieſem
Pflichten-Codex der nationalen Selbſtſucht blindlings nachlebt.
[299]1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
So verfolgt dann der Römer nicht den ſubjektiven Vortheil auf
Koſten des Staats, nicht den momentanen Gewinn auf Koſten
des Endziels, nicht die materiellen Güter auf Koſten der imma-
teriellen, ſondern er ordnet das relativ Niedrige dem relativ
Höhern, das Einzelne dem Allgemeinen unter. Und ſchließlich
alles dies doch nur im Intereſſe einer weitſichtigen Selbſtſucht.
Faßt man nun eine einzelne Tugend ins Auge, die Tapferkeit,
die Vaterlandsliebe, die Achtung vor dem Geſetz u. a., ſo iſt
die [Beziehung] derſelben zur Selbſtſucht gar nicht wahrzuneh-
men, ja ſie ſcheint geradezu eine Entäußerung derſelben zu ent-
halten. Es iſt nicht anders, als wenn man aus dem Leben eines
Individuums einzelne Akte der Selbſtüberwindung herausgrei-
fen wollte, die in der That weit entfernt eine Entäußerung der
Selbſtſucht zu bezeugen gerade eine Bethätigung derſelben ent-
hielten — jene Opfer der relativ niedrigen Regungen der Selbſt-
ſucht, die um ſo unerläßlicher ſind, je entfernter und großartiger
das endliche Ziel iſt, das man ſich geſteckt hat. Die römiſche
Selbſtſucht beſchränkt ſich darauf, den Operationsplan zu dicti-
ren, jeder Kraft die richtige Stellung anzuweiſen und ihr die
Behauptung derſelben zur Pflicht zu machen. Die ausführen-
den Gewalten nehmen die Vorſtellung des großen Ziels, das
ihrer harrt, ſowie das Bewußtſein, daß ihre Thätigkeit zur Er-
reichung deſſelben unerläßlich ſei, mit. Dies genügt ihnen,
damit iſt ihre Selbſtſucht abgefunden, und jetzt reflektiren, fragen
und zweifeln ſie nicht, ſondern ſie handeln und handeln mit
ganzer Hingebung, unermüdlicher Ausdauer, eiſerner Kraft.


So läßt ſich der römiſche Charakter mit ſeinen Tugenden
und Fehlern als das Syſtem des disciplinirten Egoismus be-
zeichnen. Der Hauptgrundſatz dieſes Syſtems iſt, daß das Un-
tergeordnete dem Höhern, das Individuum dem Staat, der ein-
zelne Fall der abſtrakten Regel, der Moment dem dauernden
Zuſtand geopfert werden müſſe. Dieſe Anforderung, objektiv
in der That nichts, als ein Ausfluß der Zweckmäßigkeitsidee,
iſt durch die nationale Anſicht zur ethiſchen Nothwendigkeit,
[300]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Sittlichkeit, Pflicht geſtempelt, und die gewaltige moraliſche
Kraft des römiſchen Volks bewährt ſich vor allem an der Be-
reitwilligkeit, mit der es ſich dieſem, wenn ich ſo ſagen darf,
conventionellen Pflichtencodex fügt, ſich der durch die bloße
Nützlichkeitsidee diktirten Nothwendigkeit unbedingt unterwirft.
Sich ſelbſt zu bezwingen iſt ſchwerer, als Andere; ein Volk,
dem bei der höchſten Freiheitsliebe dennoch die Tugend der
Selbſtüberwindung zur zweiten Natur geworden, iſt zur Herr-
ſchaft über andere berufen. Aber der Preis der römiſchen Größe
war freilich ein theurer. Der unerſättliche Dämon der römiſchen
Selbſtſucht opfert alles ſeinem Zweck, das Glück und Blut der
eignen Bürger, wie die Nationalität fremder Völker. Gemüth
und Phantaſie ſchrecken vor ſeinem eiſigen Hauch zurück, die Gra-
zien fliehen ſeine Nähe; für ihn ſelbſt hat nur Werth, was Zweck
oder Mittel zum Zweck iſt. Die Welt, die ihm gehört, iſt eine ent-
ſeelte, der ſchönſten Güter beraubte, eine Welt, nicht von Men-
ſchen, ſondern von abſtrakten Maximen und Regeln regiert —
eine großartige Maſchinerie, bewundernswürdig durch ihre
Feſtigkeit, die Gleichmäßigkeit und Sicherheit, mit der ſie arbei-
tet, durch die Kraft, die ſie entwickelt, alles zermalmend, was
ſich ihr widerſetzt, aber eben eine Maſchine; ihr Herr war zu-
gleich ihr Sklave.


Die bisherige Darſtellung hat uns den Weg gebahnt zu
einer Aufgabe, mit der wir uns dem eigentlichen Gegenſtand
dieſer Schrift, dem Recht, wieder nähern, das iſt die Prädeſti-
nation des römiſchen Volks zur Cultur des Rechts. Das Recht
iſt der höchſte Punkt der römiſchen Welt. Wer ſie und das rö-
miſche Weſen kennen lernen will, muß ſich auf dieſen Punkt ver-
ſetzen. Nicht bloß die Sinnes- und Denkweiſe der Römer tritt uns
hier im hellſten Licht entgegen, ſondern an keinem Punkte offen-
bart ſich zugleich ſo ſehr der Umfang und die Art ihrer geſamm-
ten moraliſchen und intellektuellen Begabung. Wer die Schrift-
züge des Rechts zu leſen verſteht, dem melden ſie mehr von den
Römern, als alle Berichte ihrer Hiſtoriker zu thun vermögen.


[301]1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.

Aus der obigen Entwicklung über das Weſen des römi-
ſchen Geiſtes ergibt ſich, warum und nach welcher Seite hin
derſelbe in ſo hohem Grade zur Cultur des Rechts berufen war.
Das Recht iſt die Religion der Selbſtſucht, am Recht kann und
darf die Idee der objektiven Zweckmäßigkeit wenn auch nicht
ausſchließlich, ſo doch in einem ausgezeichneten Grade ſich be-
thätigen, und gerade nach dieſer Seite hin hat der römiſche
Geiſt das Recht erfaßt und ausgebildet. Den Römern iſt es
von alters her gelungen, das Recht aus dem Bereich des Ge-
fühls in das des berechnenden Verſtandes zu verſetzen, aus dem
Recht einen von den Einflüſſen der momentanen ſubjektiv-ſitt-
lichen Anſicht unabhängigen, äußern Mechanismus zu machen,
den jeder, ſei er Römer oder Nichtrömer, ſobald er die Con-
ſtruktion deſſelben kennen gelernt hat, handhaben kann. Dieſe
Losreißung des Rechts vom ſubjektiv-ſittlichen Gefühl, ſeine
Veräußerlichung und Objektivirung iſt für die Geſchichte des
Rechts daſſelbe, was für die Culturgeſchichte die Erfindung der
Buchſtabenſchrift — das Recht iſt damit darſtellbar und lesbar
geworden. Sie bezeichnet den Sieg der Zweckmäßigkeitsidee
über das ſubjektive Sittlichkeitsgefühl; erſt von jetzt an kann er-
ſtere ihre Thätigkeit am Recht ungeſtört entfalten.


Nicht der einzelne Fall aber iſt Objekt ihrer
Thätigkeit, ſondern die abſtrakte Regel
. Der ein-
zelne Fall wird der allgemeinen Regel untergeordnet, geopfert;
es iſt dieſelbe Hingabe des relativ Niedrigen an das Höhere,
die wir oben (S. 298) als charakteriſtiſchen Zug der römiſchen
Zweckmäßigkeitstheorie haben kennen lernen. Dieſe Unterord-
nung iſt ein Poſtulat der Zweckmäßigkeit, ſie gewährt dem Ver-
kehr erſt die nöthige Sicherheit, indem ſie ihm gleichmäßige,
im voraus zu berechnende Entſcheidungen der Rechtsſtreitig-
keiten in Ausſicht ſtellt. Die praktiſche Verwirklichung dieſer
Unterordnung aber iſt in der That nicht ſo leicht, wie ſie ſcheint;
nur zu oft ſetzt das ſubjektive Rechtsgefühl ihr Widerſpruch ent-
gegen, und es gehört Charakterfeſtigkeit oder die Sicherheit
[302]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
einer habituellen juriſtiſchen Anſchauungsweiſe dazu, um dieſem
Widerſpruch jeden Einfluß auf ſich zu verſagen, die abſtrakte
Regel der Regel wegen anzuwenden. Dieſe rückſichtsloſe Un-
terordnung des einzelnen Falls unter die abſtrakte Regel, ich
möchte ſie die Tyrannei der juriſtiſchen Disciplin nennen, war
den Römern von früh auf eben ſo geläufig und verſtändlich,
als die unerbittliche Handhabung einer eiſernen militäriſchen
Disciplin im Felde. Wir werden ſehen, daß das römiſche Recht
jener Eigenſchaft nicht weniger ſeine Größe verdankt, als der
römiſche Staat die ſeinige dieſer letzten.


Nicht das ſittliche Gefühl, nicht die Gerechtigkeit erfordert
dieſe eiſerne Disciplin — ich kann es nicht genug hervorheben, ſon-
dern bloß die Zweckmäßigkeit. Die wahre Gerechtigkeit begehrt
etwas mehr, als jene mechaniſche Gleichheit, die das Reſultat
einer ſolchen Tyrannei der todten Regel iſt; die ächte, innere
Gleichheit, die ihr entſpricht, iſt auf dieſem Wege nicht zu ge-
winnen. Das unbefangene ſittliche Gefühl ſträubt ſich dagegen,
daß eine Rechtsfrage wie ein Rechenexempel gelöſ’t, das Recht
zu einer Maſchine erniedrigt werden ſoll. Ich müßte die Cha-
rakteriſtik des zweiten Syſtems hier anticipiren, um nachzu-
weiſen, wie ſehr die oben entwickelte Richtung des römiſchen
Geiſtes auf praktiſche Zwecke vortheilhaft auf die techniſche Aus-
bildung des Rechts eingewirkt hat. Daß im Syſtem des dis-
ciplinirten Egoismus das Recht eine Hauptſtelle einnimmt, daß
alſo die Römer ihr Hauptaugenmerk auf das Recht richten, ſich
zur Cultur der praktiſchen Seite des Rechts vorzugsweiſe be-
rufen fühlen mußten — das, glaube ich, bedarf wohl keines
langen Beweiſes.


Wie ſehr die Römer ſich zum Recht hingezogen fühlten,
welche hervorragende Stelle daſſelbe in der römiſchen Anſicht
einnahm, iſt zur Genüge bekannt. Was dem Volke Gottes die
Religion, dem griechiſchen die Kunſt, das war den Römern
Recht und Staat, der Gegenſtand des Nationalſtolzes allen
fremden Völkern gegenüber, der Punkt, an dem ſie ſich ihrer
[303]1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
Ueberlegenheit am meiſten bewußt waren, der Magnet des Ehr-
geizes und der Kraft. Wenn das Volk Gottes ſeine Propheten,
und Griechenland ſeine Philoſophen, Künſtler und Dichter am
höchſten verehrte, ſo traf dieſe Verehrung in Rom die Bürger,
die ſich um den Staat verdient gemacht oder das Recht ſei es
durch ihre Handlungsweiſe, wie Brutus und Regulus, ver-
herrlicht oder durch ihren Scharfſinn gefördert hatten. Wie hoch
ein Volk einen Beruf, eine Kunſt, Wiſſenſchaft u. ſ. w. ſtellt,
dafür bietet die Achtung, die ſie den Individuen, die ſich dem
fraglichen Beruf widmen, erweiſt, den natürlichſten Maßſtab
dar. Rom trieb die Künſtler aus der Stadt, die Perſonen geiſt-
lichen Standes bildeten als ſolche nirgends weniger einen
Gegenſtand der Verehrung, als in Rom, 229) und die Juriſten
umgekehrt haben nirgends eine größere Popularität, einen
höhern Einfluß und höhere Achtung genoſſen. Die Macht, die
das Recht über die Römer ausübte, beſchränkte ſich nicht auf
den Verſtand, beruhte nicht bloß darin, daß ſie ſich im Recht
in ihrem Elemente fühlten, ſich hier ihrer Virtuoſität bewußt
waren; ihr Stolz war nicht bloß intellektueller, ſondern mora-
liſcher Art. Wohl mochten ſie in erſterer Beziehung ſich rühmen,
daß kein Volk ſo weiſe Geſetze, ſo erprobte Einrichtungen beſitze,
kein Volk es in der Erkenntniß des Rechts ſo weit gebracht, wie
ſie; höher aber ſtand ihnen doch der Ruhm, daß nirgends das
Recht die Herrſchaft ausübte, nirgends die Gebote deſſelben ſo
befolgt wurden, als zu Rom. Dieſe moraliſche Achtung vor
dem Recht, die bereitwillige Unterordnung des Römers unter
die Satzungen des Rechts, die Gerechtigkeitsliebe des Volks,
der Abſcheu deſſelben vor Rechtsverletzungen, das Gefühl der
Sicherheit, das in Rom das Recht verlieh, das Vertrauen auf
den Sieg deſſelben — das eben iſt es, was den Römer am
meiſten mit Stolz erfüllen konnte. Glänzende Beweiſe einer
ſolchen Geſinnung ſtellte die öffentliche Meinung ebenſo hoch,
[304]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
wie es grobe Verſtöße gegen dieſelbe brandmarkte. Eine Rechts-
verletzung führte den Sturz des Königthums und des Decem-
virats herbei, und den Anfang der neuen Zeit, die Einführung
der Republik, bezeichnet ein Triumph der Gerechtigkeit über
die elterliche Liebe, die Hinrichtung der Söhne des Brutus
durch den eignen Vater. Dieſe moraliſche Macht des Rechts
über die Gemüther, dieſe Unfähigkeit des Römers, möchte ich
ſagen, ohne das Recht zu exiſtiren, verläugnet ſich auch im Ver-
kehr mit fremden Völkern nicht. Mit welcher Spitzfindigkeit der
römiſche Staat mitunter auch den Buchſtaben des Rechts gegen-
über fremden Völkern zu handhaben, die Politik ſich in den
Mantel des Rechts zu hüllen verſtand, ihre Politik erkannte ſich
gebunden durch die Prinzipien des Rechts und wagte ihnen
nicht offenbar Hohn zu ſprechen. Dieſelben völkerrechtlichen
Grundſätze, die Rom gegen andere Völker geltend machte, er-
kannte es auch in ihrem ganzen Umfang gegen ſich ſelbſt an.
Einem ſolchen Volke war es daher auch Bedürfniß und blieb
ihm vorbehalten, den privatrechtlichen Verkehr mit Auswärtigen
juriſtiſch zu organiſiren (jus gentium).


Die Anziehungskraft, die das Recht auf den römiſchen
Geiſt ausübte, mögen wir von ſeinem Standpunkt aus dadurch
zu motiviren verſuchen, daß das Recht für ſeine Zwecke von
äußerſter Wichtigkeit war. Aber der Grund, warum die Rö-
mer
ſo ſehr des Rechts bedurften, lag wiederum darin, daß
die Geſchichte ihrer für das Recht bedurfte. Ihr eignes In-
tereſſe zwang ſie, die Miſſion zu erfüllen, die ihnen hinſichtlich
des Rechts zugedacht war; ſich ſelbſt lebend dienten ſie der
Welt.


Haben wir im bisherigen die vorwiegende Richtung des
römiſchen Geiſtes auf das Recht als eine nothwendige zu zeigen
verſucht, ſo reiht ſich daran die Frage, welche Mittel ſtanden
demſelben zu Gebote, um ſeine Aufgabe am Recht zu erfüllen,
welchen Umſtänden, welchen Eigenſchaften des römiſchen Volks
u. ſ. w. haben wir es zuzuſchreiben, daß jene Aufgabe in einem
[305]1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
ſo hohen Grade gelang. In der Regel beantwortet man dieſe
Frage mit einer Verweiſung auf die intellektuelle Begabung der
Römer, ihren ſcharfen, zerſetzenden Verſtand, ihren praktiſchen
Takt u. ſ. w., und der Einfluß dieſes Moments iſt allerdings ſo
in die Augen ſpringend, daß ich darüber kein Wort verlieren
mag. Aber was man nur zu oft vergißt, und was doch meiner
Anſicht nach für das ältere Recht viel weſentlicher, iſt die mo-
raliſche Kraft, die Willensenergie des römiſchen Volks.


Das Recht iſt nicht Ueberzeugung, Anſicht, Wiſſen u. ſ. w.
kurz keine intellektuelle Größe, ſondern eine moraliſche, es iſt
Wille. Nur der Wille vermag dem Recht das zu geben, worin
das Weſen deſſelben beruht — die Wirklichkeit, nur er hat eine
real geſtaltende, ſchöpferiſche Kraft. Ein Volk möge intellektuell
noch ſo begabt ſein, fehlt ihm die moraliſche Kraft, die Energie
und Beharrlichkeit des Willens, ſo wird das Recht nie bei dem-
ſelben gedeihen. Seine Geſetze ſind nichts anders, als die
guten Vorſätze eines charakterloſen Menſchen, Eingebungen des
Augenblicks, die die Wirklichkeit Lügen ſtraft und der folgende
Augenblick verdrängt. Nur die Rechtsſätze und rechtlichen Inſti-
tutionen, die aus der Wirklichkeit des Lebens hervorgehn, haben
Beſtand und einen um ſo feſteren, dauerhafteren, als ſie durch
die moraliſche Kraft des Volks getragen werden. Ihre Feſtig-
keit und Dauerhaftigkeit iſt ſogar die Vorausſetzung ihrer tech-
niſch-juriſtiſchen Vollendung. Wie kann das geiſtige Auge des
Verſtandes das Recht erforſchen, wenn der Wille nicht ver-
mögend iſt, das Objekt der Beobachtung mit feſter Hand zu
halten? Wie troſtlos unter einer ſolchen Vorausſetzung der
Beruf, ſich geiſtig in das Objekt zu verſenken, der unſtäten,
wankelmüthigen Wirklichkeit eine Theorie abzugewinnen! Wie
unſicher die Ausſicht, die entdeckten Wahrheiten in Wirklichkeit
umzuſetzen, wie werthlos der Beſitz einer Lehre, die nur auf
dem Papiere ſteht! Die beſſern geiſtigen Kräfte der Nation
wenden ſich mit Unmuth von dieſer Beſchäftigung ab; die phi-
loſophiſche Ergründung des Rechts im allgemeinen mag ſie an-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 20
[306]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
ziehen — das Recht, wie es iſt, d. h. die juriſtiſch-praktiſche
Bearbeitung und techniſche Vervollkommnung deſſelben hat
keinen Reiz für ſie. Darum kann eine Jurisprudenz nur bei
einem willensſtarken Volk gedeihen; ohne Liebe, ohne Hingabe
an ihren Gegenſtand iſt ſie ein kümmerliches Ding, dieſe Liebe
aber iſt nicht möglich, wenn das Recht keinen innern Halt in
ſich hat und wo das Volk oder die Zeit ihn nicht beſitzt, wie
ſollte das Recht dazu kommen?


Kein Recht iſt geeigneter, uns dieſe Bedeutung des Wil-
lensmoments, und die Wechſelwirkung zwiſchen moraliſcher und
intellektueller Kraft zu veranſchaulichen, als das ältere römiſche;
einer Zeit, wie der unſrigen, kann es als Spiegel dienen, wo-
rin ſie erkennt, was ihr fehlt. Was jene beiden Kräfte aus
dem ältern römiſchen Recht gemacht haben, wie ſie unmittelbar
in den Inſtituten deſſelben ſich bethätigen, das wird das fol-
gende Syſtem lehren, hier aber möge es mir erlaubt ſein, an
einigen allgemeinen Tendenzen und Eigenſchaften des römiſchen
Charakters ſowohl die gewaltige Kraft, die dem römiſchen Volk
innewohnte, als die Relevanz moraliſcher Eigenſchaf-
ten für die techniſche Ausbildung des Rechts
zu
veranſchaulichen.


Ich hebe zuerſt zwei Eigenſchaften hervor, die ſich beide —
nur nach verſchiedenen Seiten hin — als Ausflüſſe eines feſten,
energiſchen Willens bezeichnen laſſen, die Conſequenz und die
conſervative Tendenz des römiſchen Charakters. Etwas wirklich
wollen, heißt es ganz und dauernd wollen; Conſequenz und
Ausdauer ſind die Kennzeichen und unzertrennlichen Begleiter
der Willensſtärke.


Der Verſtand mag die Conſequenzen ziehen, aber der Wille
iſt es, der ſie verwirklicht. Hier iſt ſo recht Gelegenheit gegeben
ſich von der Wahrheit der obigen Bemerkung, daß auf dem Ge-
biete des Rechts Wille und Verſtand nur gemeinſchaftlich ope-
riren können, zu überzeugen. Wenn das römiſche Recht ſich
mehr als irgend ein anderes durch ſeine Logik auszeichnet, ſo
[307]1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
gebührt das Verdienſt nicht ſo ſehr dem Verſtande, der ſie er-
kannte
, als dem Willen, der ſich praktiſch ihr unterordnete,
und ihr erſt dadurch reale Exiſtenz verſchaffte. Dieſe praktiſche
Realität jener Logik, die bereitwillige Unterordnung des römi-
ſchen Volks unter, ich darf ſagen, die rückſichtsloſeſte Tyrannei
der Conſequenz iſt viel bewundernswürdiger, als die höchſte
Anſpannung der bloß intellektuellen Conſequenz. Wenn andere
Völker für ihre religiöſen Ueberzeugungen gelitten haben, ſo
hat das römiſche Volk es für ſeine rechtlichen. Daß die römiſche
Rechtswiſſenſchaft ein einfaches, conſequentes Recht vorfand,
das war das moraliſche Verdienſt des frühern römiſchen
Volks, das trotz ſeines Freiheitsgefühls ſich das Joch einer eiſer-
nen Conſequenz Jahrhunderte lang hatte gefallen laſſen. Daß
es ein Joch war und worin das Drückende deſſelben beſtand,
wird das folgende Syſtem zeigen.


Die Wechſelwirkung zwiſchen Verſtand und Wille tritt hier
noch an einem Punkte ſchlagend hervor; es iſt dies jene dem
Kenner des römiſchen Rechts wohlbekannte Weiſe der Römer,
die Conſequenz mit dem praktiſchen Bedürfniß durch Kunſtgriffe,
auf Umwegen u. ſ. w. zu vermitteln. Der moraliſche Wi-
derwille der Römer gegen eine Uebertretung oder Nichtachtung
der einmal anerkannten Prinzipien drückt und preßt, möchte ich
ſagen, den Verſtand, ſeinen ganzen Scharfſinn aufzubieten,
um Mittel und Wege zu finden, durch die jene Vermittlung der
Conſequenz mit dem praktiſchen Bedürfniß ſich erreichen läßt.
Die Noth macht erfinderiſch. Mögen die Erfindungen der Rö-
mer mitunter immerhin den Vorwurf einer hohlen Sophiſtik,
einer bloßen Scheinconſequenz und wohl gar der Abſurdität ver-
dienen, unläugbar iſt es, daß dieſer Conflikt zwiſchen der Con-
ſequenz und dem praktiſchen Bedürfniß die juriſtiſche Erfin-
dungsgabe der Römer zum größten Vortheil der techniſchen
Vollendung des Rechts in Bewegung geſetzt und ausgebildet hat.
Ein Volk von noch ſo hoher intellektueller, aber geringer mora-
liſcher Kraft wird dieſen moraliſchen Nothſtand und damit auch
20*
[308]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
den vortheilhaften Einfluß deſſelben auf die juriſtiſche Ausbil-
dung ſeines Rechts nie kennen lernen; wo die Conſequenzen
ſeines Rechts zu praktiſchen Unzuträglichkeiten führen, ſetzt es
ſich einfach über dieſelben hinweg. Dem Laien wird dies heut-
zutage als höchſt natürlich und nothwendig erſcheinen, dem Ju-
riſten fällt es oft ſchwer ſich vom Gegentheil zu überzeugen.


Die eben gemachte Bemerkung gilt auch von der conſerva-
tiven Tendenz der Römer, der wir uns jetzt zuwenden. Auch
ſie war ein mächtiger Hebel für den römiſchen Scharfſinn; die
Anhänglichkeit an das althergebrachte Recht rief, wo ſie ſich
durch unabweisbare Anforderungen des ſtets in der Fortbildung
begriffenen Lebens gefährdet ſah, die juriſtiſche Kunſt zu Hülfe
oder ſagen wir, trieb ſie hervor. Die Bedürfniſſe der Gegen-
wart mit den Traditionen der Vergangenheit zu vermitteln,
erſteren gerecht zu werden, ohne nach Form und Inhalt mit den
Ueberlieferungen der Vorzeit zu brechen, den Verkehr zu disci-
pliniren, die rechtsbildende Kraft in die rechten Bahnen zu lei-
ten, das war Jahrhunderte lang in Rom der edle ächt vater-
ländiſche Beruf der juriſtiſchen Kunſt. In demſelben Maße, in
dem die Schwierigkeit dieſer Aufgabe ſtieg, ſtieg ſie ſelbſt.


Des Zuſammenhanges wegen haben wir hier zuerſt des
Einfluſſes gedacht, den die conſervative Tendenz ähnlich wie die
Conſequenz auf die Entwicklung der juriſtiſchen Kunſt ausgeübt
hat. Indem wir die genauere Betrachtung dieſes Einfluſſes der
Stelle vorbehalten, wo derſelbe uns in der Geſchichte des Rechts
begegnet, beſchränken wir uns auf den eben hervorgehobenen
Geſichtspunkt und eine Verweiſung auf die obige Bemerkung,
(S. 305) daß eine gewiſſe Stetigkeit des Rechts für die in-
tellektuelle Entwicklung deſſelben unentbehrlich iſt.


Dieſe Stetigkeit tritt nun in der Geſchichte des römiſchen
Rechts im höchſten Grade hervor, 230) und daß ſie bei den Rö-
[309]1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
mern nicht wie im Orient in einer negativen Eigenſchaft — der
mangelnden Bildungsfähigkeit — ihren Grund hat, ſondern in
Charakterfeſtigkeit und Beharrlichkeit, das braucht kaum geſagt
zu werden. Es gibt einen Conſervatismus der Angſt, der nicht
den Muth hat, einer neuen Zeit ins Angeſicht zu blicken und
durch ſeine Kurzſichtigkeit ſeinen eignen Beſtrebungen mehr hin-
derlich, als förderlich wird; mit dieſem hat der römiſche keine
Gemeinſchaft. Die Römer haben ſich nie geſcheut, einer neuen
Zeit gerecht zu werden, alte Einrichtungen, die ſich überlebt
hatten, fallen zu laſſen, neue einzuführen, und der flüchtigſte
Blick auf das römiſche Recht genügt, um ſich zu überzeugen,
daß im Innern deſſelben Revolutionen vor ſich gegangen ſind,
die nirgends ihres gleichen finden. Aber dieſe Revolutionen
waren freilich wie die, welche die Natur durchgemacht hat, nicht
das Werk einer wilden Kraft, die in kurzer Zeit ſich erſchöpft
und nur ſtoßweiſe wirken kann. Sie vollziehen ſich höchſt all-
mählig und unmerklich, die neuen Ideen und Tendenzen treten
anfänglich ſchüchtern und faſt nur verſuchsweiſe auf, das Be-
ſtehende ſetzt ihnen einen gewaltigen Widerſtand entgegen, und
ihr endlicher Sieg beruht nie auf einer Ueberrumpelung oder
einer Uebereilung, ſondern auf dem hinlänglich erprobten Ue-
bergewicht ihrer Kraft. 231) Dem Neuen muß der Zutritt ſchwer
gemacht werden, daſſelbe muß ſich ſeine Aufnahme erſt mühſam
und allmählig erkämpfen; wo dies nicht der Fall, hat es auch
keine Ausſicht auf Dauer leicht gewonnen, wird es auch leicht
wieder aufgegeben. Ein Volk, das, wie das römiſche und
engliſche, feſt am Alten hängt und dem Neuen nur weicht, wenn
der Widerſtand unmöglich geworden, hält dieſes Neue anderer-
[310]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
ſeits auch um ſo feſter. Denn dieſelbe Kraft, die der Neuerung
den Zutritt erſchwerte, wendet ſich ihr zu, ſobald ſie denſelben
erzwungen hat.


Eine Kraft aber iſt es und nicht die bloße vis inertiae, in
der die conſervative Tendenz des römiſchen Volks ihren Grund
hat; es iſt die Kraft, mit der ein feſter Charakter die Grund-
ſätze aufrecht hält, die er ſich einmal gebildet hat, die Gleich-
mäßigkeit und Ausdauer, die bei Individuen wie Völkern das
Kennzeichen der Energie ſind.


Die moraliſche Kraft, die dem römiſchen Geiſte innewohnte,
erprobt ſich aufs glänzendſte an den Gegenſätzen, die im Ver-
lauf der Geſchichte in Rom auftreten, ich meine ſowohl Gegen-
ſätze in der Bevölkerung, wie die der urſprünglichen drei Tribus,
der Patricier und Plebejer, als Gegenſätze im Recht, wie vor
allem den Dualismus des jus civile und jus gentium. Das
Maß der moraliſchen Kraft, die einem Volk beſchieden, erkennt
man vielleicht am beſten an ſeinem Verhalten gegenüber derar-
tigen Gegenſätzen, ſo wie ja auch für das Individuum die Wi-
derſprüche der menſchlichen Natur der Prüfſtein des Charakters
ſind. Ein ſchwacher Charakter iſt bei beiden der Spielball die-
ſer Gegenſätze; die Einheit im Weſen, der feſte Punkt fehlt,
und der Prozeß endet ſich mit einer moraliſchen Auflöſung. Es
bewährt bereits eine gewiſſe Kraft, aber doch andererſeits eine
Schwäche und einen Mangel an Selbſtvertrauen, wenn man
dem Gegenſatz zu entrinnen oder ihn gewaltſam zu unterdrücken
ſucht. Es iſt das Vorrecht der wahren Kraft, die Gegenſätze
ſich frei entwickeln und bekämpfen zu laſſen, ohne die innere
Einheit dadurch einzubüßen; jene Gegenſätze zurückzuführen
auf ihre relative Berechtigung und als die verſchiedenen Seiten
erſcheinen zu laſſen, in denen ſich die Einheit in vollendeter
Weiſe darſtellt.


Bedürfte es der Belege für dieſe Behauptung, — die Gegen-
wart könnte ſie uns in Menge gewähren; ich verzichte darauf
und beſchränke mich lediglich auf Rom. Die römiſche Welt
[311]1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
liefert uns den Beweis, bis zu welchem Grade die wahre Kraft
die Gegenſätze zu ertragen und wie ſie ſich derſelben zu ihrer
eignen Stärkung zu bedienen vermag. Um der ethniſchen Ver-
ſchiedenheit der urſprünglichen Bevölkerung nicht zu gedenken,
ſo erinnere ich vor allem an den Gegenſatz der Patricier und
Plebejer. Wie gewaltig war hier der Stoß und der Gegenſtoß,
von welcher Dauer der Kampf! Und doch: hat derſelbe je den
römiſchen Staat geſchwächt, auf die Einheit des Staats und
Volks, das gemeinſame Nationalbewußtſein nachtheilig einge-
wirkt, hat nicht gerade umgekehrt die Vertheilung der progreſ-
ſiven und conſervativen Kräfte und Beſtrebungen auf zwei ver-
ſchiedene Volksmaſſen für die politiſche Entwicklung unendlich
vortheilhaft gewirkt?


Um ein anderes Beiſpiel zu wählen, ſo gedenke ich des
Gegenſatzes zwiſchen dem individuellen Freiheitstriebe und dem
Prinzip ſtaatlicher Unordnung. Wo wären beide kräftiger ent-
wickelt, als in Rom! Das höchſte Maß der privatrechtlichen
und politiſchen Freiheit auf der einen, die freigebigſte Dotirung
und die Popularität des Beamtenthums, der bereitwilligſte Ge-
horſam auf der andern Seite.


Das römiſche Volk unter der äußerſten Strenge des Kriegs-
geſetzes ſowohl im Felde als, wenn ein Diktator ernannt war,
auch daheim; der freie Römer wegen ſeines Privatlebens vor
den Cenſor geladen; die Volksverſammlungen in mannigfaltig-
ſter Weiſe abhängig von dem Beamten. Und andererſeits da-
gegen die Souveränität und der Stolz und die Eiferſucht des
Volks auf ſeine Freiheit, die unumſchränkte privatrechtliche Au-
tonomie des Individuums. Ein Blick auf die Geſchichte lehrt,
wie ſchwer es den Völkern fällt, das Gleichgewicht zwiſchen
Freiheit und Gehorſam herzuſtellen; es iſt der beſte Prüfſtein
ihrer moraliſchen Kraft.


Ich führte oben auch den Gegenſatz zwiſchen dem jus civile
und jus gentium an; es iſt der zwiſchen Nationalität und Uni-
verſalität des Rechts. Den anderen Völkern iſt dies letzte
[312]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Moment durch die Reception des römiſchen Rechts von außen
und auf Koſten des Moments der Nationalität aufgezwungen.
In Rom entwickelt ſich dieſer Gegenſatz auf natürlichem Wege
von innen heraus, und beiden Momenten wird die freiſte, vollſte
Entfaltung zu Theil, ohne daß das Gleichgewicht des Rechts
dadurch geſtört, die Einheit deſſelben gefährdet worden wäre.


Wer den von uns aufgeſtellten Geſichtspunkt an der Ver-
faſſung Roms zur Zeit der Republik erproben will, dem bietet
ſie mit ihren vielen latenten Widerſprüchen reichen Stoff. Die
Gewalten, die wir hier finden, die verſchiedenen Volksverſamm-
lungen, der Senat, das Beamtenthum, ſchloſſen die rechtliche
Möglichkeit der Unverträglichkeit und Gegenſätzlichkeit im hohen
Grade in ſich; das Tribunat war ja ſogar die erklärte Negation,
der autoriſirte Widerſpruch. Einer Zeit, wie der unſrigen, die
in ihren Verfaſſungen die Kreiſe der verſchiedenen Staats-
gewalten aufs genaueſte abzirkelt und dennoch das tägliche
Schauſpiel der Entzweiung derſelben vor Augen hat, muß es
als ein Wunder erſcheinen, daß die römiſche Verfaſſung bei
allem Stoff des Widerſpruchs und der Gegenſätzlichkeit, der in
ihr lag, das gerade entgegengeſetzte Schauſpiel darbietet. Das
Wunder iſt aber nichts, als die einfache Wirkung der moraliſchen
Kraft, die das römiſche Volk charakteriſirt. Mit feſter Hand
weiß ſie die Gewalten zu zügeln und zum harmoniſchen Zuſam-
menwirken zu veranlaſſen. In dieſer Kraft liegt überall in der
römiſchen Welt der Grund der Einheit, die wir hier wahrneh-
men; ſie kann es wagen, die Gegenſätze zu entfeſſeln, weil ſie
den Conflikt derſelben nicht zu befürchten hat.


Ich darf hieran eine Bemerkung reihen, mit der ich die
bisherige Betrachtung beſchließe; ſie betrifft die centraliſirende
Tendenz des römiſchen Geiſtes. Für die Rechts- und Staats-
entwicklung iſt der Umſtand, daß ſie auf die Stadt Rom be-
ſchränkt war, daß Rom trotz der Ausdehnung des Reichs doch
der lebendige Mittelpunkt des Ganzen, der Sitz der Intelligenz,
des politiſchen Lebens, Handels u. ſ. w. blieb, von allergrößtem
[313]1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
Einfluß geweſen. Dieſe Thatſache kann ich aber nicht als eine
glückliche Fügung des Schickſals, als einen äußern Zufall gelten
laſſen, ſondern ich erblicke in ihr ebenſowohl einen Ausfluß
römiſcher Eigenthümlichkeit, wie man die entgegengeſetzte Er-
ſcheinung, die uns Deutſchland darbietet, die Zerſplitterung
deſſelben, den Mangel an einem politiſchen oder geiſtigen Cen-
tralpunkt, auf eine entgegengeſetzte Eigenſchaft des deutſchen
Charakters zurückführt. Die dauernde Concentrirung des römi-
ſchen Lebens auf die Stadt Rom iſt ein Verdienſt des römiſchen
Geiſtes, eine Bethätigung des Centraliſationstriebes, der den
Römern überhaupt eigenthümlich iſt. Wie dieſer Trieb mit dem
römiſchen Weſen und der hiſtoriſchen Aufgabe des römiſchen
Volks zuſammenhängt, braucht wohl nicht geſagt zu werden,
und ebenſo wenig, warum derſelbe für keine Seite der geſamm-
ten Exiſtenz eines Volks ſo vortheilhaft iſt, als für das Recht.


Ich habe durch die bisherigen allgemeinen Betrachtungen
die Geduld des Leſers vielleicht ſchon zu ſehr auf die Probe ge-
ſtellt, als daß ich ſie noch weiter fortſetzen möchte. Ich hätte ſie
mir völlig erſparen können, wenn es nicht galt, dem verbreite-
ten Vorurtheil entgegen zu treten, als ob das Recht vorzugs-
weiſe vom Verſtande ſein Heil zu erwarten habe. Wäre dies
Vorurtheil begründet, ſo wäre es unerklärlich, wie die Römer
die Griechen, denen ſie in geiſtiger Beziehung ſo tief unterge-
ordnet waren, dennoch auf dem Gebiete des Rechts ſo weit
übertreffen konnten. Zu zeigen, worin das Uebergewicht der
Römer lag, wie nämlich erſtens die ganze Richtung des römi-
ſchen Geiſtes ihn vorzugsweiſe dem Recht zuführen mußte, und
wie zweitens die moraliſche Kraft der Römer dem Verſtande bei
ſeiner Arbeit am Recht weſentlich behülflich war und dieſe Ar-
beit erſt wahrhaft fruchtbringend machte — das war die Auf-
gabe, auf die es hier ankam.


[314]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
2. Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen
Ausgangspunkten.

XXI. Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts, die wir
früher haben kennen lernen, geben uns die erſte Gelegenheit,
die ſo eben charakteriſirte Eigenthümlichkeit des römiſchen Gei-
ſtes daran zu erproben. Jene Ausgangspunkte als ſolche ent-
halten an ſich noch nichts eigenthümliches; die ihnen zu Grunde
liegenden Prinzipien werden ſich in den Rechten der meiſten
Völker nachweiſen laſſen. Was das römiſche anbetrifft, ſo reichen
ſie, wie früher bereits bemerkt, weit über Rom hinaus, und es
mag ſich noch manches Einzelne, das wir oben bei Gelegenheit
derſelben haben kennen lernen, aus der frühern Gemeinſchaft
aller indogermaniſchen Völker herſchreiben.


Wie ſehr aber immerhin die Anfänge des Rechts bei den
meiſten Völkern ſich gleichen mögen, die allmählige Entwicklung
der Volksindividualität, die Verſchiedenheit der Schickſale und
äußeren Verhältniſſe wirkt bald auf das Recht zurück. Bei man-
chen Völkern dauern jene Ausgangsprinzipien noch lange fort,
aber ihr inneres Verhältniß zu einander wird ein anderes, bald
überwiegt das eine Prinzip, bald das andere. Manches Volk
ſtreift umgekehrt früh die Formen ſeiner Kindheit ab und nimmt
vollendetere an; kurz die fernern Wege gehen weit aus einander.


Wir wollen jetzt unterſuchen, welche Schickſale jene Aus-
gangsprinzipien in Rom gefunden haben, und wir wenden uns
zuerſt dem religiöſen zu, weil dies meiner Anſicht nach am früh-
ſten ſeine urſprüngliche Bedeutung verliert und am erſten eine
abgeſonderte Darſtellung verträgt.


Heftet man ſeinen Blick bloß auf die äußere Erſcheinung,
ſo ſollte man glauben, daß das religiöſe Prinzip noch lange in
Rom in vollſter Kraft beſtanden habe. Wohin man ſieht, im
öffentlichen wie im Privatleben, drängt ſich noch bis gegen das
Ende der Republik die Religion in den Vordergrund; kein
[315]2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
wichtiger Akt deſſelben, dem ſie nicht aſſiſtirte. Und trotzdem
muß ich entſchieden in Abrede ſtellen, daß die Religion in Rom
zur Zeit der Republik auf Recht und Staat einen beſtimmenden
Einfluß ausgeübt hat. 232) Nicht darauf kommt es an, ob ſie
äußerlich überall hervortritt, an allem Antheil nimmt, ob ihre
Formen beobachtet, ihre Gebote befolgt werden — dies Alles
war der Fall und doch trägt es nichts aus. Das Weſentliche
iſt, daß der römiſche Geiſt die Religion in das Verhältniß eines
Mittels zum Zweck herabdrückte, daß ſie im römiſchen Staat
nicht Herrin, ſondern Dienerin war. Ich wiederhole die bereits
im vorigen Paragraphen eingelegte Verwahrung, daß meine
Meinung nicht dahin geht, als ob die Römer in bewuß-
ter Schlechtigkeit mit dem Heiligſten ihr Spiel getrieben hät-
ten, 233) ſondern daß es eine im Weſen des römiſchen Charak-
ters liegende Nothwendigkeit war, unbewußt und inſtinktartig
alle Dinge ſeinen Zwecken unterzuordnen, ihnen die Seite ab-
zugewinnen, nach der hin ſie für dieſe Zwecke die größte Brauch-
barkeit beſaßen. Dies praktiſche Verhältniß der Religion zum
römiſchen Staat und Leben will ich jetzt nachzuweiſen verſuchen.


Unſere Unterſuchung wendet ſich natürlicherweiſe vorzüglich
[316]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
der Seite der römiſchen Religion und Kirchenverfaſſung zu,
die zu Staat und Recht eine praktiſche Beziehung hatte. Die
ausſchließlich religiöſe Seite derſelben hat für uns nur ein ne-
gatives Intereſſe, inſofern ſie uns nämlich zeigt, wie weit ſie
hinter der erſten zurückſtand. Die Prieſterthümer, die dieſer
Seite angehörten, 234) waren als politiſch einflußlos wenig
geſucht und darum von den Plebejern bei ihren Kämpfen um
die geiſtlichen Stellen gar nicht begehrt. 235) Bei der Aeußerlich-
keit der ganzen römiſchen Religiöſität läßt ſich an einen ſittlichen
Einfluß der Prieſter auf das Volk, wie er anderwärts ſo oft
vorkommt, gar nicht denken. Bei einem wirklich religiöſen
Volke beſchränkt die Religion ſich nicht auf ſich ſelbſt, auf ihre
Dogmen und Formen, ſondern ſie durchdringt und erfaßt das
ganze ſittliche Leben der Nation. Der Beruf der Prieſter iſt
dem entſprechend von derſelben Ausdehnung, ſie ſind moraliſche
Bildner des Volks und haben als ſolche den größten Einfluß
auf daſſelbe. Ganz anders bei den Römern. Die Prieſter ſind
hier bloß Diener der Götter, und ihre Aufgabe beſchränkt ſich
auf die Verrichtung oder Ueberwachung des äußern Dienſtes,
das religiöſe Dogma tritt dem gegenüber in den Hintergrund,
ja kömmt in den letzten Jahrhunderten der Republik faſt ganz
in Vergeſſenheit, ſo daß jener Dienſt vielfach nichts als eine
mechaniſche Vornahme unverſtandner und dadurch bedeutungs-
los gewordner Formen ward und nur durch den conſervativen
Trieb der Römer ſo lange ſein kümmerliches Daſein friſtete.
Bei einer ſolchen Beſchränkung auf das rein Ceremonielle
konnten dieſe Prieſter keinen Einfluß aufs Leben gewinnen,
und was keinen Einfluß hatte, war in Rom auch wenig ge-
[317]2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
achtet. 236) Einen ſehr charakteriſtiſchen Gegenſatz zu ihnen bil-
det die ſittenrichterliche Gewalt des Cenſors; die von der Reli-
gion verſäumte Moral flüchtet ſich zum Staat, und er über-
nimmt das Amt des moraliſchen Lehr- und Zuchtmeiſters.


Wenden wir uns jetzt einer andern Seite der Religion zu,
die ihre praktiſchen Beziehungen zum Staat umfaßt. Wir ſahen
bei Gelegenheit des religiöſen Prinzips (§. 18), daß die Staats-
verfaſſung durch und durch mit religiöſen Elementen verſetzt
war, und daß auch das Privat- und Strafrecht mannigfaltige
Einwirkungen jenes Prinzips aufzuweiſen hatten. Die An-
ſchauung, aus der dieſe Einwirkungen hervorgegangen waren,
war eine tief religiöſe geweſen; letztere verweiſen uns auf das
innige Verhältniß, in dem das Volk ſich die Götter zu ſich und
ſeinem ganzen Sein dachte, auf den Antheil, den die Götter
jener Anſicht zufolge an dem Staat und dem menſchlichen Trei-
ben nehmen, auf das innere Bedürfniß des Volks, für ſeine Ein-
richtungen eine höhere Weihe zu ſuchen und ſeine Handlungen
ganz dem Willen der Götter anzupaſſen. Aber wie ſo oft, über-
dauerte auch hier die äußere Einrichtung lange den Geiſt, aus
dem ſie hervorgegangen; jene blieb, dieſer wurde ein anderer.


Schon die römiſche Königszeit iſt nicht mehr von jener
Geſinnung beſeelt, aus der die religiöſen Einrichtungen hervor-
gegangen ſind, 237) der Anfang der Republik und die erſten
[318]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Jahrhunderte derſelben bezeichnen aber eine entſchiedene Hinten-
anſetzung der religiöſen Traditionen, 238) motivirt freilich durch
dringende Umſtände, aber undenkbar, wenn der religiöſe Geiſt
noch der alte geweſen wäre. Dieſe zwingenden Umſtände wa-
ren die Ueberhebung des Königthums und die wachſende Macht
und Oppoſition der Plebejer, jene führte zur Aufhebung des
Königthums, einer ſchreienden Verletzung der inaugurirten Ver-
faſſung, die durch die Scheinfortdauer des Königthums im rex
sacrificulus
wenig verdeckt ward und als Präcedenz, auf die
die Plebejer ſtets verweiſen konnten, 239) beſonders gefährlich —
dieſe zu ſo manchen Conceſſionen, die eben ſo viele Verſtöße
gegen das Fas waren. Ein von wahrhaft religiöſer Geſinnung
beſeeltes Volk hätte ehr die Plebejer aus der Stadt ziehen laſ-
ſen oder bis zum letzten Blutstropfen Widerſtand geleiſtet, als
daß es ihnen z. B. das connubium240) eingeräumt oder, wenn
237)
[319]2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
einmal eingeräumt, Ehen mit ihnen eingegangen, ſie zum Con-
ſulat zugelaſſen u. ſ. w., und ebenſo hätte es, anſtatt das Kö-
nigthum aufzuheben, für den vertriebenen Tarquinius einen
andern gewählt.


Man thut daher den Patriciern ſchwerlich Unrecht, wenn
man annimmt, daß die Idee der religiöſen Unverletzlichkeit der
Verfaſſung, die ſie ſo gern als Vorwand benutzten, um den
Forderungen der Plebejer auszuweichen, ihre unbeſchränkte Ge-
walt über die Gemüther bereits verloren hatte. Uebrigens iſt
die Emancipation des Staats von der Religion und die ſchon
ſo früh erfolgende Entkräftung des religiöſen Prinzips vorzugs-
weiſe auf Rechnung der Plebejer zu ſetzen; ihre politiſchen Be-
ſtrebungen führten jenes Reſultat mit Nothwendigkeit herbei.
Jede Niederlage der Patricier war zugleich eine Niederlage des
religiöſen Prinzips, jeder Sieg der Plebejer ein Sieg über die
Idee der religiöſen Unantaſtbarkeit des Staatsrechts. Für die
römiſche Religiöſität überhaupt iſt es von unheilvollen Folgen
geweſen, daß das religiöſe Prinzip in der alten Verfaſſung ei-
nen zuweit vorgeſchobenen Poſten bildete, eine zu ſehr exponirte
Stellung einnahm und daher von den politiſchen Partheikäm-
pfen ſtets berührt wurde. Zu ſehen, wie die Religion ihre Po-
ſitionen nach und nach aufgab, und ich möchte ſagen, den Kür-
zern zog — das mußte auf die religiöſe Geſinnung beider Par-
theien überhaupt die nachtheiligſte Rückwirkung äußern, es
hieß, ſie zu der Einſicht bringen, daß das politiſche Intereſſe
in Rom ſtärker ſei, als das religiöſe. Inſofern daran nun die
Miſſion des römiſchen Volks ſich bewährt, können wir ſagen,
daß die Plebejer, indem ſie die Patricier mit Gewalt aus den
Banden des religiöſen Prinzips befreiten, etwas Großes und
Hohes leiſteten; ſie zwangen ſie Römer zu werden.


Jener Rückzug der Religion aus der Verfaſſung erſtreckte
ſich nicht weiter, als das Intereſſe der Plebejer es erheiſchte,
[320]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
und es verblieb ihr innerhalb der Verfaſſung noch ein beträcht-
licher Raum, auf dem ſie einen unbeſtrittenen Einfluß ausüben
konnte. Aber die Macht, die ihr hier gelaſſen, gehörte in der
That nicht ihr ſelbſt, ſondern dem Staat. Die Römer hatten
bei jenen Partheikämpfen gelernt, die Religion dem politiſchen
Intereſſe unterzuordnen; ihre ferneren Leiſtungen machten die-
ſer Schule Ehre. Darin beruhte ja, wie wir früher gezeigt, das
römiſche Weſen, daß alles, was auf dem Boden der römiſchen
Welt wuchs und beſtand, den Zwecken derſelben dienſtbar wer-
den mußte. Die Religion, durch die oft wiederholten Schläge
ihrer wahren lebendigen Kraft beraubt, fügte ſich leicht, und
dieſe Fügſamkeit, die den Anlaß zu einem Conflikt mit dem po-
litiſchen Intereſſe zu vermeiden verſtand, gewährte ihr den
Schein der Macht und Unabhängigkeit. Der römiſche Staat ent-
ſprach in allen Dingen ihren Satzungen und Geboten, ſchien
ſich ganz ihrer Autorität zu unterwerfen, aber er konnte es ſon-
der Gefahr thun, denn ihre Gebote waren ſo eingerichtet, wie
ſie ihm am beſten paßten, und ihre Autorität bekräftigte nur
das, was er ſelbſt wollte, ſo daß er im Endreſultat die Mit-
wirkung dieſer Bundesgenoſſin gewann, ohne ſeinerſeits we-
ſentliche Opfer dafür gebracht zu haben. 241)


[321]2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.

Wir wollen jetzt die Richtigkeit dieſer Auffaſſung an den
hauptſächlichſten hierher gehörigen religiös-politiſchen Einrich-
tungen, Grundſätzen u. ſ. w. nachzuweiſen verſuchen. 242) Wer-
fen wir zuerſt einen Blick auf die mit der Handhabung oder Ue-
berwachung derſelben betrauten Perſonen. Es gehören hierhin
die Pontifices, die Augurn, die Fetialen und die Bewahrer der
ſibylliniſchen Bücher. Alle dieſe Perſonen hatten einen großen
Einfluß, aber derſelbe war bedingt durch eine von
der Staatsbehörde an ſie gerichtete Aufforde-
rung in Function zu treten
. Sie antworteten nur, wenn
und wie ſie gefragt wurden, ihnen ſelbſt fehlte die Initiative.
Der Beamte konnte, wenn er wollte, die Auſpicien allein vor-
nehmen, oder einen Zeichendeuter zuziehn, der nicht zum Colle-
gium der Augurn gehörte; eine ohne ſeine Aufforderung von
einem Augur vorgenommene Beobachtung band ihn nicht. 243)
Das Collegium konnte wegen eines Fehlers bei Anſtellung der
Auſpicien den vorgenommenen Akt z. B. die Wahl eines Be-
amten in den Comitien, für nichtig erklären, aber meines Wiſ-
ſens nur, wenn es befragt war. Die Fetialen entſchieden völ-
kerrechtliche Streitfragen, aber gleichfalls nur, wenn ſie aufge-
fordert waren. Die Pontifices waren die Wächter des geiſtli-
chen Rechts, höchſt geachtet und einflußreich, aber bei einem
241)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 21
[322]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Conflikt mit dem Willen des Volks machtlos. Von ihren Straf-
erkenntniſſen konnte ans Volk appellirt werden, und umgekehrt
kam es ſpäter vor, daß das Volk ihre freiſprechenden Urtheile
kaſſirte, ja ſogar ſchon im fünften Jahrhunderte der Stadt, daß
das Volk den Pontifex maximus zwang, eine dienſtliche Hand-
lung vorzunehmen, die er aus Gründen des geiſtlichen Rechts
für unſtatthaft erklärt hatte. 244)


Wie groß oder wie klein nun immerhin der Einfluß ſein
mochte, der dieſen Perſonen zuſtand: vergeſſen wir nicht, daß
alle jene Aemter als Staatsämter betrachtet und verwaltet
wurden. Sie fielen Perſonen zu, die bisher ganz dem Staat
gelebt hatten und mit der Uebernahme jener Aemter weder ihre
politiſche Laufbahn als geſchloſſen, die Gunſt des Volks alſo
fortan als überflüſſig betrachteten, noch dem Intereſſe des
Staats irgendwie entfremdet wurden. Ein Standesintereſſe
verführte ſie nicht, ihre Gewalt auf Koſten des Staats zu miß-
brauchen und auszudehnen; an dieſem, wie an jedem andern
Platze fühlten ſie ſich nur als Bürger und Römer, und die Ge-
ſinnung, die ſie als ſolche beſeelte, leitete ſie auch bei der Ver-
waltung ihres Amts. Oft mochte dieſe Geſinnung einen mög-
lichen Conflikt des geiſtlichen Rechts mit dem politiſchen In-
tereſſe ſchon im Keim erſticken; ſie beſtimmte ja den Geiſt, mit
dem man die heiligen Bücher, die Zeichen u. ſ. w. auffaßte,
und ein dem Staat ergebener Pontifex und Augur gab, ohne
ſich einer Schlechtigkeit und der Abſichtlichkeit bewußt zu ſein,
ihnen die Deutung, die dem politiſchen Bedürfniß am meiſten
entſprach. Als die Patricier noch im Alleinbeſitz jener Stellen
waren, bedienten ſie ſich derſelben im Intereſſe ihrer Par-
thei; 245) was bereits damals im Intereſſe der Parthei möglich
war, war es auch ſpäter in dem des Vaterlandes.


[323]2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.

Ich darf hier noch auf die von Manchen 246) bereits gemachte
Beobachtung aufmerkſam machen, daß es römiſche Regierungs-
maxime war, den religiöſen Strömungen, denen man zu wei-
chen für nöthig hielt, von Staatswegen ein beſtimmtes Bett
vorzuzeichnen und ſie dadurch in Abhängigkeit zu bringen.
Oeffentliche Anerkennung und Gleichſtellung eines neuen Cul-
tus ſchien den Römern weniger gefährlich, als die bloße Dul-
dung deſſelben; wo eine Unterdrückung deſſelben nicht mehr
möglich war, entſchloß man ſich zu jener, und vom bloß politi-
ſchen Standpunkt beurtheilt, bewährte man damit einen richti-
gern Blick, als die neuere Zeit mit ihrer Mittelſtufe bloß tolerirter
Glaubensbekenntniſſe. Rom kannte keine Prieſter, die durch
245)
21*
[324]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
hemmende Verbote zum Groll gegen den Staat veranlaßt, ihre
Macht über die Gemüther zum Nachtheil des Staats benutzt
hätten; die Macht, die ſie beſaßen, gehörte ihm, weil er, wenn
er ſie überhaupt in der Stadt duldete, ſie ohne rechtliche Zurück-
ſetzung der ihm dienſtbaren politiſch-religiöſen Hierarchie ein-
verleibte.


Wenden wir uns jetzt den Einrichtungen, Formen, Dogma
u. ſ. w. der römiſchen Religion zu, ſoweit ſie eine prakti-
ſche Beziehung zum Staat haben, ſo gibt es in der ganzen
römiſchen Welt ſchwerlich eine widerwärtigere Erſcheinung,
als ſie uns darbieten — die Traditionen einer von tief reli-
giöſem Gefühl beſeelten Vorzeit verſteinert zu bloßen Formen
und unter den Händen eines ſie für ſeine Zwecke geſtaltenden
Verſtandes. Nicht darin liegt das Widerwärtige, daß jener
Geiſt, aus dem ſie hervorgegangen, aus ihnen gewichen und
ſie ſelbſt dennoch fortdauern — dieſe Erſcheinung wiederholt
ſich täglich — ſondern daß der geiſt- und gemüthloſe Verſtand
ſich ihrer bemächtigt, mit der Abſicht zwar einerſeits ſie zu er-
halten, 247) andererſeits aber doch ſie ſeinen Zwecken anzupaſ-
[325]2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
ſen. Dieſe Verſündigung des Verſtandes an einem Gegenſtande,
dem er ewig fern bleiben ſollte, dieſer bewußte oder unbewußte
Jeſuitismus, der die gleichgültigen Formen beobachtet, weil
ſie ihm nicht hinderlich ſind, und die wirklichen Hinderniſſe,
die die Religion ihm entgegenſetzt, mit elender Sophiſtik aus
dem Wege räumt, dies Gemiſch von Aberglauben und einer an
religiöſen Dingen ſich bethätigenden Schlauheit und juriſtiſchen
Kunſt — es iſt die abſtoßende Schattenſeite des römiſchen Cha-
rakters, aber höchſt geeignet, um das wahre Weſen deſſelben
daran zu erkennen.


Prüfen wir denn einmal die religiöſen Grundſätze und For-
men, auf deren ſtrenge Beachtung ſich im Grunde das Lob re-
ducirt, das man der römiſchen Religiöſität in ſo übertriebenem
Maße geſpendet hat; 248) ſtimmen ſie nicht ganz zu den welt-
lichen Zwecken der Römer? Ihre politiſchen Inſtitutionen ge-
nießen den Schutz religiöſer Weihe — aber die Religion iſt füg-
ſam genug, ſich auf Verlangen allen Aenderungen zu unterzie-
hen. Die religiöſe Beziehung kann, wie ein äußeres Gewand,
den Verhältniſſen umgehängt und wieder entzogen werden. Die
Inauguration läßt ſich bei günſtigen Auſpicien rückgängig ma-
chen, 249) die durch confarreatio in religiöſe Weihe eingegan-
gene Ehe durch diffarreatio löſen, die Heiligkeit des Orts wie-
der aufheben, ſelbſt die Götter können zum Umzug aus dieſem
Tempel in einen andern gezwungen werden. Umgekehrt iſt dieſe
Weihe nicht durch die religiöſe Beziehung des Gegenſtandes
bedingt, ſie läßt ſich jeder Inſtitution ertheilen. Die Sacertät
[326]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
beruhte urſprünglich auf dem ſittlichen Abſcheu vor dem Frevel
gegen die Götter, die Geſetzgebung aber disponirte über dies
durch religiöſe Ideen getragene und bedingte Inſtitut wie über
ein gewöhnliches Strafmittel, wandte es z. B. als das poli-
tiſch brauchbarſte Mittel zum Schutz der Tribunen an.


Die Fetialen ſollten bei der Kriegsankündigung den Speer
in Feindes Land werfen — aber als dieſe Vorſchrift bei der
Ausdehnung des Reichs beſchwerlich wurde, half man ſich, in-
dem man einen Platz vor dem Tempel der Bellona durch einen
gefangenen Soldaten des Pyrrhus ankaufen ließ und ihn als
Feindes Land behandelte. 250) Der Feldherr, den ein Unfall be-
troffen, ſollte in Rom ſelbſt neue günſtige Auſpicien erwarten;
auch von dieſer läſtigen Vorſchrift befreiten ſich die Römer in
ähnlicher Weiſe — ein beliebiger Platz auf dem Kriegsſchau-
platz ward zum ager Romanus gemacht und hier die Erneue-
rung der Auſpicien vorgenommen. 251) Das gelobte Opfer ſollte
gebracht werden — „aber man muß wiſſen, ſagt Servius, 252)
daß bei den Opfern der Schein für die Wirklichkeit genommen
wird; wenn daher ſchwer aufzutreibende Thiere zum Opfer ge-
fordert werden, ſo formt man dieſelben von Brod oder Wachs
und bringt die Bilder dar;“ ſtatt der erforderlichen Hirſchkühe
ſchlachtete man Schaafe, nannte ſie aber Hirſchkühe. Der Fla-
men Dialis
durfte nicht ſchwören, der Magiſtrat mußte ſei-
nen Amtseid leiſten, beide Aemter waren alſo unvereinbar.
Als man dennoch einen Flamen Dialis zum Aedilen wählte, 253)
und zwar zufälligerweiſe gerade einen ſolchen, der wegen ſeiner
Strenge allgemeines Aufſehn erregt hatte, 254) ſo half man ſich
[327]2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
dadurch, daß man einen Stellvertreter für ihn ſchwören ließ,
und der ſtrenge Verfechter des geiſtlichen Rechts nahm daran
keinen Anſtoß, daß ein Volksbeſchluß ausdrücklich beſtimmt
hatte, was übrigens ſich ja auch von ſelbſt verſtand, daß es ſo
angeſehn werden ſollte, als hätte er ſelbſt geſchworen, daß alſo
im Grunde ihm nur der Akt des Schwörens, nicht aber der
Eid ſelbſt abgenommen war. — Der Feſttag ſollte geheiligt
werden, für eine bewußte Uebertretung dieſes Gebots nicht ein-
mal eine Sühne möglich ſein — aber dem praktiſchen Bedürf-
niß ordnete die Religion ſich unter, nothwendige Arbeit durfte
auch an Feſttagen verrichtet werden. 255)


Statt mehr einzelne Beiſpiele anzuführen, will ich lieber
einmal eine ganze Lehre des geiſtlichen Rechts, die für den
Staat gerade von der eingreifendſten Bedeutung war, einer
Prüfung unterwerfen, die Lehre von den Auſpicien und Zei-
chen. 256) Es war ein Bedürfniß des religiöſen Gefühls, für
eine einigermaßen wichtige Handlung die Zuſtimmung der Göt-
[328]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
ter einzuholen, und dem Glauben thaten der Himmel und die
Vögel als Götterboten den Willen der Götter kund. Eine ſpä-
tere Zeit brachte noch manche andere Erkenntnißmittel hinzu,
das Freſſen der Hühner, die Eingeweide des Opferthieres u.
ſ. w., und der Glaube war geſchäftig, ſelbſt den Handlungen
der Menſchen, Unfällen gewöhnlicher Art, den Namen u. ſ. w.
einen Glück oder Unglück ankündenden Sinn abzugewinnen.


Daneben aber verläugnete ſich doch die römiſche Schlauheit
nicht, die Lehre von den Vorzeichen war ſo eingerichtet, daß
nicht der Menſch den Zeichen, ſondern die Zeichen dem Men-
ſchen untergeben waren.


Wir müſſen die eigentlichen Auſpicien, die nach den Regeln
der Kunſt beobachtet und gedeutet wurden, von den bloßen An-
zeichen unterſcheiden, die ſich ungeſucht darboten. Was letztere
anbetrifft, ſo lehrte man, 257) daß ſie ganz in der Hand deſſen
ſeien, der ſie beobachtet hatte, er konnte ſie annehmen (accipio
omen
) oder zurückweiſen (ad me non pertinet), ja ihnen eine
andere Richtung 258) und Bedeutung geben. Sowie er im Au-
genblick, wo ſie von ihm bemerkt wurden, der zunächſt ſich
aufdrängenden ungünſtigen Bedeutung eine paſſende günſtige
zu ſubſtituiren wußte, ſo war die Kraft des Zeichens gebrochen,
die anſcheinende Drohung in eine Verheißung verwandelt. 259)
[329]2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
Ein ungünſtiges Zeichen, das von dem Handelnden nicht be-
obachtet wurde, hatte keine Bedeutung für ihn, darum pflegte
man beim Opfer ſich das Geſicht zu verhüllen, um kein Zeichen
wahrzunehmen, und beim Ausſprechen feierlicher Gebete, Ei-
desformeln u. ſ. w. einen Flötenbläſer ſpielen zu laſſen, um
auch die Ohren zu ſichern. 260)


Was nun die Auſpicien anbetrifft, ſo enthält die Augural-
disciplin einen recht ſchlagenden Beweis meiner obigen Behaup-
tung. Sie war ſtreng, ſehr ſtreng, was die genaue Beobach-
tung der Formen anbetraf, aber wer die Formen genau erfüllte,
der konnte viel erreichen. Wie wohlthätig einerſeits dieſe
Strenge, die an den geringſten Formfehler Nichtigkeit des
ganzen Akts knüpfte! wie geeignet, um ſtaatsrechtliche Akte
z. B. Wahl eines untauglichen Beamten von Seiten des Volks,
durch die man überrumpelt war, hinterher wieder zu entkräf-
ten! 261) Andererſeits aber wie fügſam jene Disciplin, wenn
es galt, ſchlechte oder gute Zeichen aufzufinden! Der Grund-
ſatz, der bei Geſetzen galt, daß das ſpätere das frühere auf-
hebe, war auch auf die Auſpicien übertragen 262) und gab die
Auſpicien ganz in die Hand des Suchenden. Geſetzt es ſollte
durch ſie eine Maßregel hintertrieben, eine von unruhigem Geiſt
beſeelte Volksverſammlung geſprengt werden, ſo ſetzte der die
Auſpicien beobachtende Beamte ſeine Beobachtung ſo lange fort,
bis er endlich ein ungünſtiges Auſpicium erhalten hatte. Um-
gekehrt, wenn es darauf ankam, ein günſtiges zu gewinnen;
259)
[330]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
er ſtellte ſeine Beobachtung ein, ſowie er das Gewünſchte er-
halten, alle vorhergehenden ungünſtigen Zeichen wurden durch
das letzte günſtige entkräftet. Um eine Volksverſammlung zu
hintertreiben, genügte es ſogar, daß an demſelben Tage irgend
ein magistratus, ſelbſt ein minor, ein servare de coelo vorge-
nommen und dem Convokanten davon Anzeige gemacht hatte. 263)


Die Himmelszeichen, wenn ſie auch dem Suchenden bei be-
harrlicher Fortſetzung ſeiner Beobachtung endlich zu Theil wer-
den mußten, konnten doch einige Zeit auf ſich warten laſſen.
Im Felde, wo oft der Augenblick entſcheidet, bedurfte man ſolcher
Zeichen, auf deren ſofortiges Eintreten ſich zählen ließ, wie
z. B. das tripudium, das Freſſen der Hühner. 264) Zu dem
Zweck führte jeder Feldherr Hühner mit ſich, die im beſtändigen
Zuſtande des Hungers gehalten wurden, und es iſt wohl über-
flüſſig zu bemerken, wie ſehr dies Zeichen in der Gewalt des
Suchenden war. Von den ſibylliniſchen Büchern läßt ſich, wie
es ſcheint, daſſelbe behaupten, ſie waren ſo unbeſtimmt abge-
faßt, ſo vieldeutig, daß man alles, was man wollte, aus ih-
nen herausleſen konnte. 265)


Es verdient wohl beachtet zu werden, daß in allen dieſen
Fällen ſubjektiv gar kein Betrug erforderlich war, vielmehr die
Religion die Regeln und Einrichtungen ſo elaſtiſch gemacht hatte,
daß ſie ſich auch bei ſtrenger Beobachtung derſelben ſtets den
augenblicklichen Zwecken fügten. Mochte ſie es verantworten,
daß ſie die Zeichen in die Hände des Suchenden gegeben, letz-
[331]2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
teren ſelbſt konnte kein Vorwurf treffen, wenn er das fand,
was er im Intereſſe des Staats ſuchte.


Vom religiöſen Standpunkt aus hat dieſe Entartung eines
urſprünglich aus religiöſem Bedürfniß hervorgegangenen Inſti-
tuts etwas Widerwärtiges, und ſie beweiſt den frühen Verfall
der wahrhaft innerlichen Religiöſität in Rom. Letztere würde
ſich nicht in der Weiſe an den Göttern haben verſündigen kön-
nen, daß ſie die Nachſuchung ihrer Zuſtimmung zur leeren
Poſſe herabgewürdigt hätte. Faßt man aber das ganze Inſtitut
mit ſeinen in den Willen der Staatsregierung gegebenen geiſt-
lichen Beamten, Zeichen, Nichtigkeitsgründen u. ſ. w., wie
man es muß, als ein politiſches Inſtitut auf, ſo verdient
es freilich von dieſem Standpunkt aus eben ſo hoch geſtellt zu
werden, wie es in religiöſer Beziehung niedrig ſteht. Die aus-
gezeichnete Brauchbarkeit des Inſtituts ſetze ich nicht ſowohl in
ſeine poſitive Seite, daß es nämlich der Regierung als Mittel
diente, dem Volk Vertrauen einzuflößen, ihren Anordnungen
durch die eingeholte Zuſtimmung der Götter Auctorität und Ge-
horſam zu verſchaffen, als vielmehr in ſeine negative Function
d. i. ſeine Macht, politiſche Maßregeln zu hemmen und zu ent-
kräften. Ungünſtige Auſpicien, ja das bloße servare de coelo
gewährten das legale Mittel, eine angeſetzte Volksverſammlung
zu vertagen, und bei einer vorübergehenden leidenſchaftlichen
Erregung des Volks war dies ſchon ein großer Gewinn. Form-
fehler, bei Abhaltung der Auſpicien vorgekommen, machten es
möglich, Uebereilungen, Mißgriffe der Beamten und des Volks,
die ſonſt durch kein verfaſſungsmäßiges Mittel mehr zu redreſſiren
waren, als nichtig aus dem Wege zu räumen, 266) ſo daß man das
Collegium der Augurn, das über dieſe Nichtigkeitsfälle erkannte,
als höchſten politiſchen Caſſationshof bezeichnen könnte.


[332]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.

Das ſchließliche Reſultat unſerer Erörterung beſteht darin,
daß das religiöſe Prinzip die Bedeutung, die wir ihm bei der Bil-
dungsgeſchichte des Rechts vindiciren mußten, für die Zeit des
ſpezifiſch-römiſchen Rechts verloren hat. Die religiös-rechtli-
chen Inſtitute und Formen dauern zwar äußerlich noch lange
fort, allein der Geiſt iſt gewichen, die römiſche Sittlichkeit wur-
zelt nicht mehr in der Religion, ſondern im Staats- und Rechts-
prinzip. Die Blüthezeit der Republik liefert uns den Beweis,
welch eine ſittliche Kraft das bloße Staats- und Rechtsprinzip,
ſobald es den Menſchen ganz und gar durchdrungen hat, zu
entwickeln vermag. 267) Die Allgewalt dieſes Prinzips bethä-
tigte ſich auch daran, daß es die Religion in ihren Beziehungen
zur Politik zu einem bloßen Mittel zum Zweck herabdrückte.
Daß dies Mittel nicht zu ſchlechten Zwecken, ſondern im
wahren Intereſſe des Staats, daß es mit Mäßigung und äu-
ßerm Anſtand benutzt ward, und die Römer nicht durch eine zu
raſche Abnutzung es gehäſſig und werthlos machten — davon
haben wir den Grund weniger in der Religion ſelbſt, als in
dem politiſchen Takt und Charakter der Römer zu ſuchen.


Was nun die drei übrigen Ausgangspunkte des römiſchen
Rechts anbetrifft, ſo dürfen wir den einen derſelben, das ſub-
jektive Prinzip, hier mit der Bemerkung erledigen, daß das fol-
gende Syſtem vorzugsweiſe als ſein Werk aufzufaſſen iſt, wir
dort alſo Gelegenheit erhalten werden, dies Prinzip in ſeiner
[333]2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
ganzen ſpätern Ausdehnung, auf dem Höhenpunkte ſeiner Kraft
und Vollendung kennen zu lernen. Wie es ſich hiſtoriſch ent-
wickelt hat, welche Bedeutung die Beſtrebungen der Plebejer,
die Zwölftafelgeſetzgebung u. ſ. w. dafür haben, das gehört
nicht hierher, und müſſen wir der römiſchen Rechtsgeſchichte
überlaſſen. Für unſern Zweck genügt es zu wiſſen, daß die rö-
miſche Rechtsbildung vorzugsweiſe dies Prinzip herausgreift,
in meiſterhaft conſequenter Weiſe entwickelt und daſſelbe von
den beſchränkenden Einflüſſen der übrigen Ausgangsprinzipien
befreit. Dieſe Entwicklung des ſubjektiven Prinzips ſteht im
umgekehrten Verhältniß mit der der beiden andern Prinzipien.
Ihre Zeit war dahin, das römiſche Volk, das über den Ge-
genſatz der Patricier und Plebejer ſich erhob, bedurfte anderer
Formen und Prinzipien, als die Urbevölkerung Roms. Dauern
auch manche der hierher gehörigen Einrichtungen äußerlich fort:
ihre innere Bedeutung, ihre conſtitutive, productive Kraft iſt,
wie die der Religion, erloſchen, und wir können uns hier von
ihnen auf immer trennen; das folgende Syſtem wird ihrer nicht
mehr gedenken. Da wir hier nicht, wie bei dem religiöſen Prin-
zip, Veranlaſſung haben, der herrſchenden Anſicht entgegenzu-
treten, ſo kann die Trennung raſch von Statten gehn. Was
zuerſt das Familienprinzip anbetrifft, ſo nimmt die Bedeutung
deſſelben ſowohl in politiſcher wie privatrechtlicher Beziehung in
demſelben Maße ab, als die Macht der Plebejer wächſt. Auch
hier haben ſie wieder das Verdienſt, einen für die Entwicklung
des politiſchen Lebens ſowohl wie für die freie Entfaltung des
Privatrechts höchſt wichtigen Fortſchritt erzwungen zu haben.
In letzterer Beziehung enthält ihre urſprüngliche Stellung die
Unabhängigkeit des Privatrechts vom öffentlichen Recht und
die des Vermögensrechts von der Familie. Ihnen verdankt alſo
das reine, vom Einfluß des Familienprinzips emancipirte Pri-
vatrecht ſeinen Urſprung, und dies iſt eben das ſpätere römiſche
Privatrecht. In politiſcher Beziehung vertreten ſie die Berech-
[334]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
tigung der perſönlichen Kraft, ſowohl der geiſtigen und ſittlichen
als der materiellen, gegenüber dem Recht der Geburt, die Su-
periorität des freien Willens gegenüber einer durch die Natur
beſtimmten Nothwendigkeit, das lebendige Bedürfniß und Recht
der Gegenwart gegenüber den ererbten Satzungen der Vergan-
genheit. Der Punkt, auf dem dies plebejiſche Prinzip auf Ko-
ſten des Familienprinzips zuerſt zum Durchbruch kömmt, iſt die
Wehrverfaſſung. Das militäriſche Intereſſe ſetzt ſich vielleicht
überall am leichteſten über das Prinzip der Geburt hinweg.
Die Servianiſche Verfaſſung, deren vorherrſchend militäriſche
Beſtimmung bereits (S. 244) erwähnt ward, zeigt uns Patri-
cier und Plebejer zu einem Heer vereint, als Maßſtab der
Wehrpflicht und des Stimmrechts, ſoweit es den Centuriat-
comitien zuſtand, das Vermögen. Das Vermögen aber iſt
nichts als die materielle Kraft des Einzelnen, und im hohen
Grade dem Wechſel unterworfen, iſt zu erwerben und zu ver-
lieren, es bildet alſo den entſchiedenſten Gegenſatz zum Fami-
lienprinzip. Daſſelbe praktiſch als Maßſtab politiſcher Pflichten
und Rechte aufzuſtellen, wenn auch anfänglich in noch ſo be-
ſchränkter Weiſe, hieß dem Geſchlechterſtaat die Art an die
Wurzel legen. Es war dies aber nicht eine vereinzelte Erſchei-
nung, ſondern es tritt in der Regierung der drei letzten Könige
überhaupt die Tendenz hervor, ſich von den Traditionen und
dem Stabilitätsprinzip des Geſchlechterſtaats frei zu machen.
Die Reaction gegen dieſe Richtung ging zwar aus ihrem Kampfe
mit dem Königthum ſiegreich hervor, daß ſie aber nach und nach
dem Plebejerthum weichen mußte und ſchließlich völlig erlag,
iſt bekannt. Die Schilderung dieſes Kampfes gehört nicht hier-
her; daß er, anſtatt die vorhandenen Kräfte zu ſchwächen, ſie
umgekehrt im höchſten Grade anſpannte und entwickelte, iſt be-
reits oben (S. 166) erwähnt. 268)


[335]2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.

Das militäriſche Prinzip, dem wir uns jetzt zuwenden, hatte
dem Königthum das Leben gegeben, aber das Königthum hielt
ſich nicht innerhalb der Schranken, die jenes Prinzip ihm an-
wies (S. 249—252). Die fortgeſetzte Ueberhebung deſſelben,
die endliche Ausartung deſſelben in Willkühr führte ſeinen Sturz
herbei, ohne daß aber damit auch das imperium ſelbſt aufgeho-
ben worden wäre. Bekannt iſt aber, daß dem imperium für
den Umfang der Stadt Rom die ſchärfſte Spitze — das Recht
über Leben und Tod — abgebrochen ward, ſo wie daß es im
Fall der Ernennung eines Diktators vorübergehend ſeine alte
Vollgewalt wieder erhielt. Der politiſche Inſtinkt der Römer
fühlte es heraus, daß die königliche Gewalt nicht abſolut ver-
werflich geweſen, daß der Mißbrauch, den ſie ſich hatte zu
Schulden kommen laſſen, vorzugsweiſe in der lebenslänglichen
Dauer ſeinen Grund gehabt hätte, daß aber eine raſch vorüber-
gehende Wiederherſtellung derſelben, bei der die Gefahr eines
Mißbrauchs ungleich weniger zu befürchten war, 269) für Zeiten
eines politiſchen Fiebertaumels das einzige genügende Heilmit-
tel ſein könne. So bewahrte ſich die römiſche Verfaſſung neben
der Ausbreitung der politiſchen Gewalt über Volk, Senat und
Beamte auch die Möglichkeit einer äußerſten Concentrirung der-
ſelben in den Händen eines Einzelnen, neben der Wucht ſchwer-
fälliger republikaniſcher Inſtitutionen die Schnellkraft einer ab-
ſoluten Monarchie. Im Felde blieb das imperium immer in
ungeſchwächter Kraft 270) beſtehen, und wenn in der Königszeit
268)
[336]Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
das ganze Volk unausgeſetzt unter der Zuchtruthe der militäri-
ſchen Disciplin geſtanden hatte, ſo machte noch Jahrhunderte
lang jede Generation wenigſtens in ihrer Jugend die heilſame
Schule der militäriſchen Erziehung durch. Der Kriegsdienſt
war die Vorſtufe und Vorbereitung zum eigentlichen Staats-
dienſt, und von wie heilſamen Folgen dies für den römiſchen
Charakter war, iſt bereits früher (S. 254, 255) bemerkt.


270)


[][][]
Notes
1).
Man vergleiche z. B. den Schulchan Aruch, von dem eine abge-
kürzte Ueberſetzung 1838 zu Hamburg erſchien.
2).
Namentlich in der Lehre vom Eide und von der Ehe.
3).
Ich kann es mir nicht verſagen, hier eine Bemerkung von einem
Sprachforſcher, deſſen Reſultate ich im Laufe des Werks noch oft benutzen
werde, mitzutheilen, nämlich von Pott Etymologiſche Forſchungen auf dem
Gebiete der Indo-Germaniſchen Sprachen u. ſ. w. Bd. 1. 1833. S. 146:
„Jene umgekehrte Kurzſichtigkeit, welche wohl entfernte Punkte, aber nicht die
ganz nahe liegenden wahrnehmen läßt, offenbart ſich im geiſtigen Sinne am
Menſchen vorzüglich rückſichtlich der Kenntniß ſeiner Mutterſprache. Dieſe
bietet dem Fremden auf den erſten Blick eine Menge auffallender und hervor-
ſtechender Punkte dar, die der, welcher ſie von Kindesbeinen an redet, eben der
Gewohnheit wegen entweder nie oder nur ſchwer inne wird; jener wird
ſchon äußerlich gezwungen darauf ſein Augenmerk zu richten, während dieſer
erſt den Reiz des Aufmerkens durch Willenskraft hervorbringen muß. Daher
die bekannte Erſcheinung, daß man ſich in der Regel der Mutterſprache erſt
durch die Erlernung fremder Sprachen recht bewußt wird und daß es faſt
ſchwerer iſt, eine Grammatik der Mutterſprache als einer
4).
Auch bei der Aufſtellung neuer Rechtsſätze durch den Geſetzgeber iſt
die Beobachtungsgabe erforderlich; ſie hat hier nur ein anderes Objekt, näm-
lich ſtatt der vorhandenen Regel das Bedürfniß nach einer neu zu
bildenden Regel.
3).
fremden zu verfaſſen. Ferner würde der größte Sprachvirtuoſe vielleicht der
ſchlechteſte Grammatiker ſein und umgekehrt. Doch wozu dies? Um uns dem
Wahne derer entgegenzuſtellen, welche die Autorität eines Nationalgram-
matikers
in All’ und Jedem für heilig halten. Es gibt aber ſolche Böotier,
und ſie kehren wieder, ſo oft man ſie auch mit den Zinken austreibt.“ Statt
Sprache und Nationalgrammatiker ſetze man Recht und Nationaljuriſt und
mutato nomine de nobis fabula narratur.
5).
Bei Gelegenheit der unten folgenden Betrachtung der ſyſtematiſchen
Seite des Rechts wird ſich dies leichter entwickeln laſſen.
6).
Die analoge Ausdehnung wird am häufigſten in dem Falle eintreten,
wenn zur Zeit der Erlaſſung des Geſetzes nur beſtimmte einzelne Spezies der
Gattung bekannt waren, und hinterher erſt andere aufkamen z. B. ein Geſetz
aus alter Zeit ſpricht bei der Münzfälſchung von gemünztem Gelde, ſpäterhin
aber kömmt Papiergeld auf. Indem nun die Doctrin das Geſetz auf letzteres
ausdehnt, geht ſie von der Idee aus: Das Geſetz war für den Gattungsbe-
griff Geld (öffentlich beglaubigtes Tauſchmittel) beſtimmt, es erſcheint aber an
eine Spezies (Metallgeld) geknüpft, weil zur Zeit ſeiner Abfaſſung die Gat-
tung noch mit dieſer einen Spezies zuſammenfiel; das weſentliche ſeines That-
beſtandes liegt aber nicht in dem, was die Spezies auszeichnet (Metall), ſon-
dern in dem, was der Gattung gemein iſt (Geld).
7).
Auch hier verweiſe ich wieder auf die Analogie der Sprache. Unrich-
tige grammatikaliſche Regeln ſchaden dem Sprachgebrauch des Lebens zu den
Zeiten am wenigſten, wo die Fertigkeit grammatikaliſcher Abſtractionen am
wenigſten ausgebildet iſt.
8).
Paulus in der L. 1 de R. l. (50. 17).
9).
Von den Geſetzen gilt daſſelbe, nur daß hier der Widerſtand von
Seiten des Lebens mehr erſchwert iſt.
10).
So wenig wie in den erſten dürftigen Grammatiken einer Sprache
ein getreues Bild der Sprache ſelbſt. Was ich im folgenden verlange, iſt
nichts anders, als daß der Juriſt, wie der Philologe es täglich bei der Sprache
thut, ſtatt jener Grammatiken des Rechts das Recht ſelbſt zur Hand nehme.
11).
Er ſoll nur natürlich Rechenſchaft darüber geben, wie er ſeine
Reſultate gewonnen hat und eine Abſtraction, die er macht, als ſolche be-
zeichnen. Ich will hier eine Stelle mittheilen, die mich anfänglich ſehr frap-
pirte, nämlich aus Pott Etymologiſche Unterſuchungen auf dem Gebiete der
Indo-Germaniſchen Sprachen Bd. 1 S. 145: „In jeder urſprünglichen
Sprache liegt eine Unendlichkeit von Bildungskeimen, deren nur ein ſehr klei-
ner Theil zur wirklichen Entwicklung gediehen iſt; jede enthält einen Vorrath
von wirklichen und bloß möglichen Wörtern und Formen; jene ſind ein
baares Kapital, worüber ſie jeden Augenblick frei verfügen kann, dieſe ein ein-
gebildetes, das nur erſt dann wahrhaften Werth erhält, wenn ihm der Gebrauch
dieſen zugeſtanden hat. Ohne dieſe öffentliche Beglaubigung bleibt daſſelbe
immer, wie ſicher und feſt auch übrigens ſeine Gewähr ſei, null und nichtig.
— — — Hieraus fließt nun für den Sprachforſcher, wenn
er nicht Geſetzgeber
, ſondern bloßer Berichterſtatter des Realbeſtandes
einer Sprache ſein will, die Verpflichtung, nur die Befundnahme des wirk-
lich
in ihr vorhandenen Schatzes einzubringen, in keine Weiſe aber ihn zu
vergrößern. Hierin wird nun aber unendlich oft gefehlt, in-
dem man ganz willkührlich von dem wirklichen Befunde auf
das, was möglicher Weiſe vorhanden ſein könnte, ſchließt
und ſo die Sprache reicher macht, als ſie wirklich iſt
.“ Die
Wahrheit dieſer Bemerkung iſt ſo einleuchtend, daß ich, während ich ſie las,
Gewiſſensbiſſe empfand, ob ich nicht für das Recht denſelben Verſtoß begangen
habe, gegen den jener Gelehrte für ſein Gebiet mit Recht ſich erklärt. Da es
mir hier nur um die Sache zu thun iſt, ſo habe ich jene Stelle abdrucken laſſen;
wenn meine im Text vertheidigte Anſicht irrig iſt, ſo führt dieſe Stelle ſofort
auf den Geſichtspunkt, aus dem ſie widerlegt werden kann. Ich glaube jenes
aber nicht, denn ich will der Vergangenheit keinen potentiellen Reichthum als
actuellen, wirklichen andichten, ſondern die Formulirung, die ſie der Wirklich-
keit gegeben, einer Kritik unterwerfen, alſo wenn ich die Analogie mit der
Sprache beibehalten will, die grammatikaliſchen Abſtractionen der Vergan-
genheit aus der Sprache, wie ſie leibte und lebte und aus der auf uns gekom-
menen Literatur erkenntlich iſt, berichtigen und vervollſtändigen.
12).
So ſpricht man z. B. von dem Rechtsinſtitut des Eigenthums,
Erbrechts, Prozeſſes, der Vormundſchaft u. ſ. w.
13).
Es kann freilich auch völlig unauflösbare Beſtimmungen geben, rein
poſitive Vorſchriften, die jeder Bemühung der Wiſſenſchaft ſpotten, und die
ſich eben nur als Rechtsſätze an der betreffenden Stelle des Syſtems auffüh-
ren laſſen.
14).
Um ein Beiſpiel zu geben, ſo nehmen wir an, ein neuerer Geſetzgeber
habe das ganze Pfandrecht neu regulirt. Die Thätigkeit der Wiſſenſchaft wird
darin beſtehn, daß ſie das Pfandrecht zuerſt in ſeine beiden Elemente auflöſt:
das dingliche (das Recht an einer fremden Sache) und obligatoriſche (die
perſönlichen Forderungs-Verhältniſſe zwiſchen Pfandgläubiger und Pfand-
ſchuldner). Sodann unterſucht ſie weiter, welche Modifikation der Begriff
eines Rechts an der Sache und der Begriff der Forderung in dieſer Combina-
tion im Pfandrecht erleidet; dieſe Modifikation iſt dann das Spezifiſche des
Pfandrechts, das allein einer nähern Verarbeitung bedarf, und in dem das
productive Prinzip des Pfandrechts liegt.
15).
L. 202 de R. I. (50. 17).
16).
Z. B. bei der Mora. L. 32 pr. de usuris (22. 1) … nam diffici-
lis est hujus rei definitio. Divus quoque Pius Tullio Balbo rescripsit:
an mora facta intelligatur, neque constitutione ulla, neque juris aucto-
rum quaestione decidi posse, cum sit magis facti, quam juris.
So wenig
aber auch die Begriffsformulirungen der römiſchen Juriſten immer genügen, ſo
ſehr lebten doch die Begriffe in ihnen, wie die meiſterhafte Anwendung der-
ſelben zeigt.
17).
Man vergleiche z. B. im römiſchen Recht die Geſtalt der einzel-
nen Rechtsinſtitute zur Blüthezeit der Republik mit den neuen Formen, in
denen ſie zur Kaiſerzeit auftreten, namentlich das Eigenthum (dominium und
in bonis esse) Erbrecht (hereditas und bonorum possessio) Vermächtniß
(legatum und fideicommissum) u. ſ. w.
18).
Dieſe Eingriffe des Lebens in die logiſche Entwicklung des Rechts
nennen die Römer jus singulare, die Logik des Rechts ſelbſt ratio, auch re-
gula juris
z. B. L. 16 de legib (l. 3) Jussingulare est, quod contra
18).
tenorem rationis propter aliquam utilitatem auctoritate con-
stituentium
introductum est L. 15 ibid. In his, quae contra ra-
tionem juris
constituta sunt, non possumus sequi regulam ju-
ris
.
Dem jus singulare ſelbſt wird von den römiſchen Juriſten mit Recht
die logiſche Productivität abgeſprochen, damit der Riß im Recht nicht größer
werde, als nöthig. Es gilt alſo zwar ſeinem ganzen Inhalt nach, aber iſt
kein productives PrinzipL. 14 ibid: Quod vero contra rationem
juris receptum est, non est producendum ad consequentias.
19).
Ich will mir nur noch erlauben auf das Verhältniß, das hinſichtlich
der einzelnen Rechtsinſtitute zwiſchen ihrer anatomiſchen Structur und Lage
und ihren Functionen Statt findet aufmerkſam zu machen. Es kann Inſtitute
geben von verſchiedener anatomiſcher Structur mit gleichen oder ähnlichen
Functionen z. B. das Vermächtniß und die donatio mortis causa, die alt-
römiſche Verpfändung in Form der fiducia (Eigenthumsübertragung) und
das neuere pignus, die Ceſſion und Delegation, die cura und tutela, der Un-
tergang der Klage und der Verluſt des Rechts durch jenſeitige Erſitzung u. ſ. w.
Umgekehrt kann die Structur eine ähnliche ſein oder bei einem und demſelben
Inſtitut im weſentlichen dieſelbe bleiben, die Functionen aber ſehr auseinander
gehen, wie z. B. bei der Staatsverfaſſung der Republik, die im Anfang der
Kaiſerzeit ihrer anatomiſchen Structur nach dieſelbe blieb (Volk, Senat,
Magiſtrat). — Unſere juriſtiſche Methode legt leider ein gar zu großes Ge-
wicht auf die anatomiſche Structur der Inſtitute, und ein zu geringes auf die
Functionen. Von dieſem Standpunkt aus iſt es eine Conſequenz, wenn z. B.
Puchta die Vormundſchaft ins Obligationenrecht ſtellt.
20).
Dieſe Form („wenn — ſo“) iſt die einfachſte, deutlichſte und liegt
jedem Rechtsſatz zu Grunde, wenn ſie gleich äußerlich nicht hervortritt z. B.
„Unmündige ſollen bis zum 25. Jahr unter Vormundſchaft ſtehen, Bürg-
ſchaften der Frauen ſind ungültig u. ſ. w.“ Die Vorausſetzung iſt hier:
wenn Jemand noch nicht 25 Jahr alt iſt, wenn eine Bürgſchaft vorgenom-
men wird und zwar von einer Frau; die Folge die: ſo ſoll er unter Vor-
mundſchaft ſtehen u. ſ. w.
21).
Z. B. ſtatt der Zuerkennung des im einzelnen Falle erſt zu liquidi-
renden Intereſſes die Annahme eines Averſionalquantums (im römiſchen
Recht Verzugszinſen, duplum des Werthes der Sache und der Früchte, be-
ſtimmte Geldſtrafe, sponsio tertiae partis, Uebertragung des Beſitzes zur
Strafe, fructus licitatio u. ſ. w.)
22).
Die bona fides wird bei der Uſucapion präſumirt, bis das Gegentheil
erwieſen iſt, die ununterbrochene Fortdauer des Beſitzes, ein anderes Re-
quiſit der Uſucapion, wird angenommen, wenn das Vorhandenſein des Beſitzes
zu einzelnen Zeitpunkten dargethan werden kann.
23).
Z. B. Fiction der Zahlung, wenn Jemand eine vor längerer Zeit
ausgeſtellte Quittung producirt.
24).
Z. B. beim Teſtament. Ohne ſolche Formen würde die Frage, ob
25).
Auf die rechtshiſtoriſche Behandlung des römiſchen Staatsrechts
und Kriminalprozeſſes erſtreckt ſich mein Vorwurf nicht.
24).
und was Jemand über ſeinen Nachlaß verfügt habe, in concreto ſehr ſchwer
zu beantworten ſein; man könnte in Verſuchung kommen, Aeußerungen einer
Perſon über ihre beabſichtigte demnächſtige Verfügung für eine letzt-
willige Dispoſition zu halten.
26).
An dem kurzen Abriß der römiſchen Rechtsgeſchichte in dem bekann-
ten 44. Kapitel von Gibbon habe ich früh dieſe Erfahrung gemacht, ohne mir
freilich damals bewußt zu ſein, warum derſelbe auf mich eine unendlich höhere
Anziehungskraft ausübte, als die damals bereits erſchienenen ausführlicheren,
von Juriſten verfaßten Darſtellungen. Bei Gibbon trat mir zum erſten Mal
ein zwar kurzes, aber zuſammenhängendes Ganze in lebensvoller Weiſe ent-
gegen, in den letztern aber ein zerſchnittenes und zerſtückeltes Syſtem von
Rechtsſätzen, Geſetzen u. ſ. w.
27).
Dem Kundigen wird es nicht unbekannt ſein, daß die römiſche Rechts-
geſchichte in manchen neuen Darſtellungen ſich dazu hergeben muß, eine Vor-
rathskammer zu ſein, in der das völlig werthloſe neben dem werthvollen mit
gleicher Sorgſamkeit aufbewahrt wird. Der Grund, warum die beſprochene
erſte und natürlichſte Anforderung an die Geſchichtſchreibung gerade von den
Rechtshiſtorikern weniger beachtet wird, ſcheint mir darin zu liegen, daß letz-
tere nicht mit völliger wiſſenſchaftlicher Freiheit ſich ihrer Aufgabe hingeben,
die Geſchichte des Rechts nicht ihrer ſelbſt willen darſtellen, ſondern eines an-
27).
deren Zweckes wegen. Die Rechtsgeſchichte ſoll den Schlüſſel der Dogmatik
abgeben, das iſt der Unſtern, der über ihr ſchwebt. Neben das hiſtoriſche In-
tereſſe, das auf ihrem Gebiet allein berechtigt iſt, tritt hier das ihr an ſich
fremde praktiſch-dogmatiſche, und ſie ſelbſt erliegt dieſem Conflikt beider In-
tereſſen. Was der Hiſtoriker als völlig unweſentlich ausſcheiden müßte, läßt
der Dogmatiker als exegetiſches Hülfsmittel ſich nicht nehmen und bringt es,
da es einmal eine hiſtoriſche Notiz iſt, in die Rechtsgeſchichte. Wenn das rö-
miſche Recht gar nicht bei uns gölte, ſo würden unſere Rechtsgeſchichten le-
diglich dem hiſtoriſchen Intereſſe dienen können und folglich beſſer ſein, als
jetzt, wo ſie von Vielen im Grunde nur als hiſtoriſche Vorrathskammern für
die Pandekten betrachtet werden. Das praktiſche Intereſſe irgend eines
Theiles oder Abſchnittes der Geſchichte erſchwert ſehr die ungetrübte Verfol-
gung des hiſtoriſchen Geſichtspunktes und das unpraktiſche eignet ſich
in der That am beſten zur hiſtoriſchen Darſtellung.
28).
Auf die Frage, ob dieſe Behandlung ſich nicht beim akademiſchen
Vortrag aus methodologiſchen Gründen rechtfertigen laſſe, kann ich hier nicht
eingehn.
29).
Hugo’s Perioden ſind nichts als Stationen, auf denen die einzelnen
Inſtitute ſich ausruhen, um, wenn alle ſich eingefunden, ſich jedes für ſich
allein wieder auf den Weg zu machen. Kein Inſtitut bekümmert ſich um das
andere, ſie haben nur das mit einander gemein, daß ſie bei derſelben Sta-
tion einkehren müſſen
. Manche würden gern früher einen Ruhepunkt
machen, andere umgekehrt, da ſie gerade in beſter Bewegung ſind, noch etwas
über die Station hinausgehen, aber beides wird nicht verſtattet, ſie müſſen
ausruhen, wo Hugo es ihnen befohlen hat. Dafür rühmt aber Hugo ſeinen
Perioden einen Vorzug nach, den man auch bei Poſtſtationen möglichſt zu er-
ſtreben ſucht, nämlich daß ſie gleich lang ſeien, und ſucht den Leſer durch die
Bemerkung zu gewinnen, daß es „beinahe nur zur Bequemlichkeit des Leſers
(und etwa dazu, einzelne Begebenheiten recht auszuheben) dient, wenn Ab-
ſchnitte gemacht werden, wie viele und welche es ſind.“ Es ſcheint dem die
Idee zu Grunde zu liegen, daß die Kräfte eines ſchwachen Menſchenkindes
nicht ausreichen, um mit der Geſchichte, die ohne zu ermüden, ihren Lauf un-
unterbrochen fortſetzt, gleichen Schritt zu halten. Hiernach würde es alſo
ganz auf das Maß der Kräfte ankommen, das der Leſer mitbringt, und man
könnte, wenn es ſich fragte, ob man ihn lieber bei Cicero oder Auguſtus, lie-
ber bei Alexander Sever oder Conſtantin einkehren laſſen ſollte, noch ſeine
ſpezielle Vorliebe für die eine oder die andere dieſer Perſönlichkeiten berück-
ſichtigen.
Dieſer Hugo’ſchen Willkühr und ſeinem Zerſtücklungsſyſtem gegenüber
verdient die herrſchende Methode, die jedes Inſtitut den ganzen Weg zwar für
ſich allein, aber doch ohne Unterbrechung zurücklegen läßt, offenbar noch den
Vorzug; ſie gibt, wenn auch keine Geſchichte des Rechts, doch wenigſtens die
der einzelnen Rechtsinſtitute.
30).
Am meiſten Aehnlichkeit hat auch in dieſer Beziehung mit dem Recht
die Sprache. Die Verſchiedenheit des Nationalcharakters bewirkt auch hier
eine große Abſtufung der Bildſamkeit, wofür beiſpielsweiſe auf „die größere
Tenacität des Dorismus am Alten und die verſatilere Volubilität der Mund-
arten Joniſchen Stammes“ verwieſen werden mag.
31).
Perditissima republica plurimae leges. Auch bei Individuen iſt
ja die Productivität an guten Vorſätzen ein Zeichen von Charakterſchwäche.
32).
Ich nenne ſie zufällig in demſelben Sinn, in welchem man es Zufall
nennen kann, daß in einem beſtimmten Zeitraum die und die Perſonen geſtor-
ben ſind, während man nach ſtatiſtiſchen Beobachtungen es als vorausſicht-
lich nothwendig bezeichnen konnte, daß ſo viel Procente der Bevölkerung
ſterben mußten. So läßt ſich auch begreifen und motiviren, daß eine hiſto-
riſche Thatſache in dies Jahrhundert, nicht aber, daß es in dieſes Jahr und
auf dieſen Tag fiel.
33).
Nämlich wie es neuerdings von Sybel in ſeiner Entſtehung des
deutſchen Königthums meiner Anſicht nach am richtigſten aufgefaßt iſt. Die
gleichzeitig erſchienene, höchſt verdienſtvolle Schrift von Waitz, deutſche Ver-
33).
faſſungsgeſchichte B. I. hat den Einfluß des Familienprinzips, das jener
Schriftſteller mit Recht an die Spitze ſtellt, zu gering angeſchlagen.
1).
Huſchke, in der Vorrede zu ſeiner Verfaſſung des Servius Tullius
S. VII u. fl. gelangte zu einem andern Reſultat. In ſeinen Augen beſaß
das römiſche Volk „eine zuſammenfaſſende Gewalt und Macht des Volks-
geiſtes, welche auch die fernſten Zeiten ſeiner Kindheit ſtets in der Einheit
des gegenwärtigen Bewußtſeins feſthält, weßhalb er auch wegen ſeines Hän-
gens am Alten ſo ſehr geprieſen oder getadelt wird.“ Ich bedauere auf die
gediegene Begründung Huſchkes nicht näher eingehn zu können, die beiden
im Text hervorgehobenen Gründe werden aber durch dieſelbe nicht getroffen.
2).
Es iſt wunderbar, wie lange ſich namentlich gewiſſe Gebräuche, ſym-
boliſche Geſchäfte u. ſ. w. noch erhalten können, nachdem ſie ihre eigentliche
Bedeutung verloren haben. Es iſt z. B. zweifellos, daß noch heutzutage bei
uns manche Gebräuche fortdauern, die ſich aus der Heidenzeit herſchreiben,
ja nach der ihnen zu Grunde liegenden urſprünglichen Idee auf die frühere
Gemeinſchaft der indogermaniſchen Völker hinweiſen. S. z. B. die Abhand-
lung von Kuhn über Wodan in der Zeitſchrift für deutſches Alterthum von
Haupt B. 5 S. 472. Ein hieſiger College und Freund von mir wird nächſtens
in einer Vergleichung der Hochzeitsgebräuche der indogermaniſchen Völker
einen neuen, überraſchenden Beitrag geben.
3).
Liv. I. c. 8 … multitudine, quae coalescere in populi unius cor-
pus nulla re praeterquam legibus poterat.
4).
Liv. ibid.... jura, quae ita sancta … fore ratus, si se ipse ve-
nerabilem insignibus imperii fecisset, quum cetero habitu se augustio-
rem tum maxime lictoribus duodecim sumtis fecit.
Bei ſeinem Rückblick
auf die Königszeit in Lib. II. c. 1. bezeichnet Livius die königliche Gewalt
als die Trägerin oder das Lebensprinzip des älteſten Staats und frägt, was
aus Rom geworden ſein würde, wenn jener Haufe von Abentheurern nicht
durch die Furcht vor dem König im Zaum gehalten worden wäre.
5).
Liv. I. c. 19.
6).
Liv. I. c. 32. Ut tamen, quoniam Numa in pace religiones in-
stituisset, a se bellicae ceremoniae proderentur, nec gererentur solum,
sed etiam indicerentur bella aliquo ritu, jus ab antiqua gente Aequico-
lis, quod nunc fetiales habent, descripsit, quo res repetuntur.
7).
Ein intereſſantes Seitenſtück zu dem folgenden giebt uns auch der
religiöſe Mythus in ſeiner Sage von der Entwendung der Kühe des Herkules
(Liv. I. c. 7). Es iſt dies nichts, als die indiſche Sage von den Kühen des
Indras, und der in letzterer vorkommende Sarameyas der griechiſche Ἑϱμείας,
Ἑϱμῆς, wie Kuhn in der Zeitſchrift für deutſches Alterthum von Haupt B. 6
S. 118 u. f. trefflich nachgewieſen hat, aber Griechen wie Römer verlegen
jene Sage, mit der Kuhn auch die altgermaniſche Mythologie in Beziehung
geſetzt hat, nach ihrer eignen Heimath. Die vergleichende Mythologie der
indogermaniſchen Völker wird gewiß noch in einer Menge von religiöſen My-
then und Gebräuchen die urſprüngliche Gemeinſamkeit jener Völker nachwei-
ſen, die letztern ſelbſt ſo ſehr entſchwand, daß ſie jenes gemeinſame Beſitz-
thum als etwas ihnen ganz eigenthümliches betrachteten und es in ihren Tra-
ditionen daheim entſtehen ließen.
8).
z. B. Hegel Philoſophie der Geſchichte S. 361: „Dieſer Zug iſt da-
durch ſehr merkwürdig, daß die Religion ſpäter als die Staatsverbindung auf-
tritt, während bei andern Völkern die religiöſen Traditionen ſchon in den älte-
ſten Zeiten und vor allen bürgerlichen Einrichtungen erſcheinen.“
9).
S. Hegels Philoſ. der Geſchichte S. 344, 346, 348, 351.
10).
Bona und divitiae ſtammen beide von einer Wurzel, ſo unkenntlich
hier auch die äußere Aehnlichkeit geworden iſt. Wer ſich des weitern belehren
will, den verweiſe ich auf Pott a. a. O. B. 1 S. 101 u. fl. u. S. 265.
Hinſichtlich divitiae liegt der Zuſammenhang mit div-us, deus u. ſ. w. auf
11).
S. über die Ableitung dieſer Wörter Pott a. a. O. B. 1. S. 255,
256 und über copia (com-opes) S. 40.
10).
der Hand; der urſprüngliche Ausgangspunkt für den Begriff des Göttlichen
iſt in den Indogermaniſchen Sprachen der Himmel (Sanskr. div, wie auch im
Lateiniſchen sub divo von diw glänzen). Bonus lautete früher duonus (Fe-
stus h. voc.)
d. i. der göttliche (von deus) und wie hier du in b übergegan-
gen iſt, ſo in beatus dw in b (dweatus, dweare von dewa Gott). — Hängt
dominus mit duonus zuſammen? Früher lautete dies Wort dubenus (Fest.
h. voc.).
Eigenthümer wäre dann der mit Glücksgütern Geſegnete.
12).
Festus sub voc. Abemito significat demito vel auferto; emere
enim antiqui dicebant pro accipere;
ebenſo sub voc. Redemptores. S.
auch Pott a. a. O. B. 1 S. 261. Die urſprüngliche Bedeutung hat ſich noch
in Zuſammenſetzungen erhalten z. B. adimere (ad-emere), zu ſich nehmen.
13).
Raub fiel unter den Begriff des Diebſtahls, nämlich des furtum
manifestum.
14).
Gaj. IV. §. 16.
15).
Ueber praeda, zuſammengezogen aus prae-hida von prae hendere,
prendere,
Wurzel hed ſ. Pott a. a. O. 1 S. 142, 199. Praedium anſtatt
mit praeda mit praes, dem Bürgen, zuſammen bringen zu wollen, nämlich
als Sicherungsobjekt, heißt die Frage nur verändern, nicht ſie löſen. Denn
hängt praes, praedis nicht ſelbſt mit praeda zuſammen? Iſt praes nicht der
Nehmende d. h. der etwas auf ſich nimmt?
16).
Puchta Curſus der Inſtitutionen B. 2. §. 238.
17).
Sub voc. rapi.
18).
Daher hasta auch noch in ſpäterer Zeit kurzweg für Auction z. B.
fiscalis hastae fides.
19).
S. Festus sub hac voce.
20).
Justin 43, 23.
21).
Pellegrino Andeutungen über den urſprünglichen Religionsunter-
ſchied der römiſchen Patricier und Plebejer. Leipz. 1842. S. 49 u. flg.
22).
Pott a. a. O. 1 S. 106.
23).
Der Zuſammenhang von vis und vir iſt etymologiſch möglich, denn
das r des letzteren Wortes findet ſich bei jenem noch im Plural. S. Pott
a. a. O. B. 1 S. 205, dem der Wegfall des r im Singular freilich nicht un-
bedenklich erſcheint. Da vir zu den wenigen Wörtern gehört, bei denen auch
in der ältern lateiniſchen Sprache das r ſich fand, ſo läßt ſich hier ein Ueber-
gang von s in r, der in der ſpätern Sprache bekanntlich ſehr häufig vorkam,
nicht annehmen.
24).
Pott a. a. O. 1 S. 123.
25).
Man wende mir nicht ein, daß es abnorm ſei, wenn die Sprache
den Speer nach der Mannſchaft benannt hätte. Nicht die bloße hasta iſt dar-
nach benannt, ſondern die hasta euriae, die hasta quiris d. h. der Speer
wie er eben der ganzen Curie gemeinſam, alſo dienſtmäßig iſt. Auf eine Ana-
logie der deutſchen Sprache hat mich mein hieſiger Freund und College Mül-
lenhoff aufmerkſam gemacht. Die „Kunkel“ (chonacla, kunkela, cuncla), das
Symbol der Frau, iſt gebildet von quenâ oder konâ (γυνή), Frau, warum
nicht das Zeichen der „Mannſchaft“ curis von der „Mannſchaft,“ curia ſelbſt?
26).
In dieſem Syſtem iſt ebenſowohl das Gegentheil möglich, wie dort.
In Zeiten, wo die Staatsgewalt lahm und ohnmächtig iſt, vermag der Arm
der Gerechtigkeit nicht auszuführen, was der Mund des Geſetzes geſprochen.
Das Jahr 1848 hat uns ja Beiſpiele die Menge gegeben. An der überlegenen
Widerſtandskraft und der Erregtheit der Maſſe kann im wohlorganiſirten
Staat die Verwirklichung des Rechts nicht weniger ſcheitern, wie im Syſtem
der Selbſthülfe an der Uebermacht einzelner Familien. Wir werden nachher
zeigen, daß der ganze römiſche Prozeß auf die Vorausſetzung gebaut iſt, von
der wir hier ausgehen. Der römiſche Richter exekutirt nicht, ſondern überläßt
dies dem Sieger, ſupponirt alſo, daß die phyſiſchen Mittel des
Rechts der phyſiſchen Widerſtandskraft des Unrechts über-
legen ſind
.
27).
Die z. B. in den actiones vindictam spirantes des ſpätern Rechts
hervortritt.
28).
Hierüber und zugleich über die Ableitung des Wortes von vis
ſ. §. 12.
29).
Die Literatur iſt ſorgfältig zuſammengeſtellt von Rein Kriminal-
recht der Römer. S. 36 u. fl.
30).
Es war zweifelhaft, ob als Sklav oder adjudicatus Gaj. III. §. 189.
31).
Dirkſen, civil. Abh. B. 1 S. 104.
32).
Geſchichte des Völkerrechts im Alterthum von Mauritius Müller-
Jochmus §. 71 und §. 82.
33).
Livius IX. c. 10.
34).
Später werden eigne Klagen gegen ihn gegeben. S. z. B. die Ti-
tel: Ne quis eum, qui in jus vocabitur, vi eximat (2. 7) namentlich L. 5
§. 1 und L. 6 (is, qui debitorem vi exemit, si solverit, reum non liberat,
quia poenam suam solvit
) und Tit. De eo, per quem factum erit, quo
minus quis in judicio sistat
(2. 10).
35).
Fest. vindex, qui vindicat, quominus is, qui prensus est, ab
aliquo teneatur.
36).
Dies erhielt ſich noch, als ſtatt des vindex der Beklagte ſelbſt den
Prozeß übernehmen durfte. Da er gewiſſermaßen als ſein eigner vindex auf-
trat, ſo mußte er ſelbſt, wenn er unterlag, das Duplum zahlen. Ebenſo
37).
Das in partes secare der XII Tafeln auf künſtliche Weiſe aus dem
Wege räumen zu wollen, beweiſt eine völlige Unfähigkeit, ſich in den Geiſt
des alten Rechts hineinzudenken.
38).
Es iſt bereits von Andern z. B. Rein das Kriminalrecht der Römer
S. 284 und Rubino Unterſuchung über römiſche Verfaſſung und Geſchichte
36).
konnte er das irrthümlich gezahlte simplum nicht zurückfordern. Wäre
das ſtatthaft geweſen, ſo hätte jeder ſich der manus injectio dadurch ent-
ziehen können daß er bezahlte und hinterher, ohne einen vindex nöthig zu
haben und die Strafe des Duplum zu fürchten, die Zahlung anfocht, während
vor der Zahlung die Beſtreitung der Forderung nur durch den vindex und
mit dem periculum dupli möglich war.
39).
Zu dieſer Anſicht ſind auch Andere gekommen z. B. Köſtlin die Lehre
vom Mord und Todtſchlag. S. 29 u. flg., bei dem ſich auch die einzelnen
Fälle, für die uns aus dem ältern Recht Privatſtrafen beglaubigt werden,
zuſammengeſtellt finden.
40).
Im zweiten Syſtem werden wir die römiſche Anſchauungsweiſe mit
ihrer tiefeingreifenden Einwirkung auf das Recht zu ſchildern verſuchen.
38).
B. 1 S. 460 hervorgehoben, daß poena wie das griechiſche ποινὴ ur-
ſprünglich die Bedeutung von Sühngeld hat, daher Ausdrücke wie poenas
dare, solvere, pendere, petere, exigere, sumere, capere,
die ſämmtlich
nicht auf die Vorſtellung von „Strafeleiden,“ ſondern von Zahlen einer Ab-
findungsſumme hinweiſen. Ueber die auf einen religiöſen Geſichtspunkt ver-
weiſende Etymologie von poena wird bei Darſtellung des religiöſen Prinzips
eingegangen werden.
41).
Liv. VI, 20.
42).
Als Ausfluß des Familienprinzips gehört dies in §. 14.
43).
Man nehme z. B. an, daß er dem ihm zugeſprochenen Schuldner
das doppelte von dem abforderte, was letzterer als Sklav werth war, und was
er alſo bei dem vorgeſchriebenen Verkauf trans Tiberim aus ihm löſen konnte.
War letzterer alt und ſchwach, ſo brachte jener Verkauf wenig auf. Eine
weiſe Beſtimmung der XII Tafeln war die, daß ſie die Friſt, innerhalb deren
der Gläubiger den Schuldner bei ſich behalten durfte, feſt beſtimmten und
zwar ſehr eng zumaßen (60 Tage). Dem Gläubiger war damit das Mittel
entzogen, den Schuldner durch fortgeſetzte Quälereien mürbe zu machen, und
andererſeits mußte auch der Schuldner ſelbſt innerhalb dieſer 60 Tage ſeinen
Entſchluß faſſen. Eine billige Auslöſungsſumme brachte letzterer innerhalb
dieſer Zeit vielleicht zuſammen; wies der Gläubiger ſie bis zu Ablauf der
Friſt von ſich, ſo mußte er jenen Verkauf vornehmen, der ihm vielleicht viel
weniger einbrachte.
44).
Sanskr. Wurzel pac (binden), daher Sanskr. paca Strick. Pott
a. a. O. B. 1 S. 267.
45).
„Pactum“ und „Vertrag“, weiſen alſo urſprünglich auf dieſelbe
Idee hin, nämlich auf die des „ſich vertragens“ „pacem condere.“ Dieſen
urſprünglichen Begriff von pactum, der alſo ein bereits beſtehendes
Rechtsverhältniß
vorausſetzt und ein Ablaſſen von einem der Strenge
nach zuſtändigen Recht in ſich ſchließt, darf man für das römiſche
45).
Recht nie außer Acht laſſen. Hätte man ihn ſtets im Auge behalten, ſo würde
die falſche Theorie von der nach ſpäterm römiſchen Recht aus einem pactum
entſpringenden obligatio naturalis ſich ſchwerlich ſo ſehr eingeniſtet haben.
46).
Hinſichtlich der Talion beſtimmen ſie ausdrücklich: ni cum eo
pacit, talio esto
,
hinſichtlich des furtum wiſſen wir, ohne gerade die
Worte zu kennen, daß die XII Tafeln das pacisci erwähnten.
47).
Gellius XX. 1.
48).
Gaj. IV. §. 48 „sicut olim fieri solebat.“
49).
Daß der Erbe des Thäters das, was durch das Delikt ins Vermögen
ſeines Erblaſſers und ſo durch Erbgang auf ihn gekommen iſt, reſtituiren
muß, enthält nur einen Ausfluß des Condiktionenprinzips. Daß aber, wie
im Text behauptet, das römiſche Recht über dem Geſichtspunkt des Delikts
und der darin liegenden Anforderung einer perſönlichen, gemüthlichen Genug-
thuung den Geſichtspunkt des Schadenserſatzes, d. i. der rein vermögens-
rechtlichen, ſachlichen Genugthuung hintenangeſetzt hat, iſt unläugbar, und
man ſollte ſich bewußt ſein, daß hierin eine Grundverſchiedenheit altrömiſcher
50).
Die allgemeine Benutzung des Metalls als Tauſchmittels iſt jünger,
als der unmittelbare Austauſch der Objekte, pecu-nia erſt eine Ableitung von
pecus, dem urſprünglichſten beweglichen Werthobjekt. In Vieh wurde ge-
brücht, daher peculatus = Diebſtahl an dem öffentlichen Vieh. Neben Vieh
kömmt auch das Getreide vor, stips, daher stipendium (stipem dare) Sold
49).
und heutiger Auffaſſung und ein bedeutender Fortſchritt der letzteren vorliegt.
Die Anknüpfung dieſer Eigenthümlichkeit an das Syſtem der Privatrache iſt
hier nur im Vorübergehn geſchehen und erklärt dieſelbe nur von einer Seite;
von einer andern Seite wird dies im zweiten Syſtem bei Gelegenheit einer
Unterſuchung über den obligatoriſchen Grund der römiſchen Obligationen ge-
ſchehen.
51).
Für den Fall, daß ihm Eigenthum beſtritten ward, wendete er ſich
im ſpätern Recht mit einer litis denunciatio an den Autor, der es ihm be-
ſtellt hatte. Der prozeſſualiſche Beiſtand, den letzterer hier zu leiſten hat, mag
nur die ſpätere Form eines urſprünglich materiellen Beiſtandes, und die litis
denunciatio
im Syſtem der Selbſthülfe eine Aufforderung zur materiellen
Beihülfe geweſen ſein.
52).
Gellius XV. c. 13.
50).
und stipulatio = Leihcontrakt. Das aes mit ſeinen Ableitungen aerarium, aes-
timare
(auf Erz zurückführen d. i. ſchätzen) ſowie das aes militare (der Ge-
treideſold auf Geld reducirt), equestre, hordearium gehört erſt einer relativ
ſpätern Zeit an; Naturallieferungen ſind überall das frühſte und der Tauſch
früher, als der Kauf.
53).
Hier wird die Benennung des Zeugen von dem Wiſſen entlehnt z. B.
althochd. gewizo (Wiſſender) Kiwizida, giwiznessi, gewizscaf (Zeugniß)
angelſ. gevita, altnord. vitus (Zeugniß). Das gothiſche veitvôds (Zeuge)
ſoll auch mit vitan (wiſſen) zuſammenhängen. Das Mittelhochdeutſche ge-
ziuge, ziuc
u. ſ. w. und das Niederdeutſche getüge leitet Grimm von zie-
hen ab d. i. der Zugezogene.
54).
Wahr und verus ſtammen beide von der Sanskr. Wurzel wri (be-
decken, wahren), wovon z. B. auch Goth. varjan (wehren) Poln. wara,
wiera,
Litt. wer-tas; und was gewehrt, gewahrt, bewährt iſt, iſt wahr.
S. Pott a. a. O. B. 1 S. 223.
55).
Tegere iſt etymologiſch das deutſche decken (tectum Dach, tegula
56).
z. B. Dernburg Beiträge zur Geſchichte der römiſchen Teſtamente
S. 16 u. fl.
55).
Ziegel, Deckel). Es iſt nun beachtenswerth, daß die deutſche Sprache den
Ausdruck „bedecken“ bei Thieren von derſelben Function gebraucht, auf die
testiculus in der lateiniſchen Sprache hinweiſt, und dieſes Zuſammentreffen
in beiden Sprachen vermehrt in meinen Augen die Wahrſcheinlichkeit, daß
jene drei Wörter testudo, testis, testiculus von tegere ſtammen. Die beiden
letzten könnten wir im gleichen Doppelſinn mit der lateiniſchen Sprache be-
zeichnen als „die zur Bedeckung dienenden.“
57).
Beiſpielshalber mache ich hier auf zwei Punkte aufmerkſam. Der
Legatar erwirbt das Eigenthum der legirten Sache ipso jure ohne Beſitzan-
eignung, was ſonſt nur bei Verleihungen von Seiten des Volks oder ſeiner
Beauftragten vorkömmt. Ferner tritt jedes Rechtsgeſchäft des alten Rechts
ſofort in Wirkſamkeit, das Teſtament aber disponirt wie ein Geſetz über
zukünftige Verhältniſſe.
58).
Es iſt bereits oben bemerkt, daß das Nexum nur eine Anwendung
der Mancipation auf obligatoriſche Zwecke enthält, und darum braucht das
Nexum nicht beſonders genannt zu werden.
59).
Man vergleiche die Aeußerung des römiſchen Juriſten in L. 48 de
jurejur. (12, 2): manifestae turpitudinis et confessionis est nolle
nec jurare nec jusjurandum referre
.
60).
Nach der von Gaius IV §. 29 uns mitgetheilten Regel ſollten zwar
die Legisactionen in jure d. h. vor dem Prätor vorgenommen werden, allein
jene Regel ſcheint nichts, als die theoretiſche Abſtraction einer ſpätern Zeit zu
ſein, denn hinſichtlich der pignoris capio wird ausdrücklich bemerkt, daß ſie
extra jus vorgenommen wurde, und bei der Beſchreibung der manus injectio
IV
§. 24, 25 vergißt Gaius ſeine eigene Regel oder ſtellt wenigſtens den
Hergang ſo dar, als ob die Perſon, an der der Berechtigte die manus injectio
vornahm, nisi vindicem dabat, domum ducebatur ab actore et vincieba-
tur.
Jedenfalls iſt aber dieſe Wiederholung der manus injectio an der Ge-
richtsſtätte nicht mit einer Nachſuchung um obrigkeitliche Autoriſation zu
verwechſeln.
61).
Gaj. IV. §. 26—28.
62).
In L. 1. quar. rer. (44. 5) heißt es vom Eide: vicem rei judica-
63).
Aus Gajus IV. §. 21—23 folgern zu wollen, daß nach dem Vor-
bilde der manus injectio judicatijede andere im älteren Recht pro judi-
cato
genannt worden ſei, halte ich für verkehrt. Denn Gajus beſchränkt ſich
bei ſeiner Darſtellung auf die eine species der manus injectio judicati und
deren Nachbildungen, und letztere nennt er pro judicato; von den andern
Anwendungsfällen der manus injectio im ältern Recht hingegen, von denen
62).
tae obtinet; non immerito, cum ipse quis judicem adversarium suum
de causa sua fecerit, deferendo ei jusjurandum;
in L. 26 §. 2 de jure-
jur. (12. 2): proficiscitur ex conventione, quamvis et habeat instar ju-
dicii
und in L. 2 ibid. ſogar majorem auctoritatem habet quam res ju-
dicata.
63).
einige ſchon früh unpraktiſch wurden z. B. die wegen nexum, ſpricht er gar
nicht.
64).
Bezeichnet wird dieſe Folge mit dem Ausdruck: lis erescit in du-
plum,
und ſie ward ſpäter auch in Fällen eingeführt, bei denen früher nie
eine manus injectio Statt gefunden hatte, ſo wie ſie umgekehrt in Fällen,
wo letztere früher beſtanden hatte, ſpäter weggelaſſen ward. Im allgemeinen
darf man aber den Zuſammenhang zwiſchen der manus injectio und jener
Strafe des Läugnens nicht außer Acht laſſen.
65).
S. Note 67.
66).
Im interdictum utrubi waren ſie angegeben.
67).
Z. B. alſo gegen den Pächter, Miether, bei beweglichen Sachen gegen
den Depoſitar, Commodatar, Mandatar u. ſ. w.; ferner gegen den, der ſich
gewaltſam oder heimlich den Beſitz verſchafft oder ihn nur auf Widerruf er-
halten hatte. Die römiſche Beſitztheorie brachte dieſe Fälle, in denen nach
natürlicher Auffaſſung eine Selbſthülfe vorliegt, dadurch unter den Geſichts-
punkt des Schutzes im Beſitz, der Defenſive, daß ſie den Beſitz des Angegrif-
fenen als factiſche Detention oder fehlerhaften Beſitz qualificirte und dem An-
greifenden den gegenwärtigen Beſitz zuſchrieb.
68).
L. 1. §. 2. quod met. c. (4. 2). Die wenn auch erzwungene Zah-
lung der Schuld wurde nämlich nicht als ein erlittener Schaden betrachtet.
69).
Die Wurzel die bedeutet im Lateiniſchen wie im Sanskrit und Grie-
chiſchen (δείκνυμι) zeigen z. B. dicis causa, digitus, indicare; dicere
ſagen iſt = zeigen mit Worten. Vindicare aus vim dicere heißt alſo Ge-
walt zeigen. S. Pott a. a. O. B. 1 S. 266 und Ottfried Müller im Rhein.
Muſeum für Jurisprudenz B. V S. 190 flg.
70).
Daß der Prätor nicht ſelbſt die Sache entſchied, ſondern den Par-
theien einen Richter beſtellte, war zur Zeit der Republik der gewöhnliche Mo-
71).
L. 1. de receptis (4. 8).
70).
dus, hierin beſtand der ordo judiciorum privatorum. Die folgende Aus-
führung hält ſich an dieſen Fall; was aber von ihm gilt, muß auch von dem
Fall gegolten haben, wenn der Prätor ſelbſt den Prozeß entſchied, denn ob er
dies mittelbar oder unmittelbar that, war der Sache nach völlig gleich.
72).
Neminem, ſagt Cicero pro Cluentio c. 43, voluerunt majores
nostri non modo de existimatione cujusquam, sed ne pecuniaria quidem
de re minima esse judicem, nisi qui inter adversarios convenisset.
73).
Bei beiden wiederholt ſich auch derſelbe hiſtoriſche Hergang. Wie
der Staat das Schiedsrichteramt in ſeine Hände nimmt, ohne anfänglich
das Weſen deſſelben zu verändern, ſo auch das Inſtitut der reſpondirenden
Juriſten. Neben dem öffentlichen Richter und Reſpondenten bleiben Schieds-
richter und nicht mit dem jus respondendi betraute Reſpondenten in Thätig-
keit und zwar längere Zeit ohne rechtliche Zurückſetzung, bis endlich letztere
erfolgt, und Richter und öffentliche Reſpondenten im Namen des Staats und
mit rechtlich verbindender Kraft Recht ſprechen.
74).
Beim religiöſen Prinzip kommen wir auf das sacramentum zurück.
75).
Valerius Maximus Lib. II. c. 8. no. 74 berichtet uns, daß der
Streit zwiſchen einem Conſul und Prätor, wer von beiden das Verdienſt ei-
ner ſiegreichen Seeſchlacht habe, und wem daher der Triumph hätte bewilligt
werden müſſen, in dieſer Weiſe zum Gegenſtand eines Prozeſſes gemacht ſei;
nur daß hier ſtatt der ältern Form des sacramentum die neuere der sponsio
benutzt wird. Valerius sponsione Lutatium provocavit: „ni suo ductu
Punica classis esset oppressa.“ Nec dubitavit restipulari Lutatius.
Itaque judex inter eos convenit Atilius Calatinus.
Letzterer gibt ſeine
Entſcheidung mit Worten ab: secundum te litem do.
76).
Auch in jurgare, litigare iſt dies agere, nur muß man das zweite
Wort nicht als Zuſammenziehung von litem agere, ſondern von lite
agere
(wie jurgare non jure agere) bezeichnen.
77).
Von Göttling Geſchichte der röm. Staatsverf. S. 285. Wenn er
aber hinzufügt: „bis der härtere Stein des plebejiſchen Prinzips den wei-
cheren
des patriciſchen mürbe gerieben hatte“, ſo mag dieſe Vertheilung der
Härte und Weichheit für die beiden Mühlſteine durchaus zutreffen, für Pa-
tricier und Plebejer aber nichts weniger, als das.
78).
Gens, genus vom Sanskr. dschan, geboren werden. Der Name
decuria bezeichnet die gens von Seiten ihrer Stellung in der Wehrverfaſ-
ſung. S. §. 17.
79).
S. von Sybel Entſtehung des deutſchen Königthums S. 20 und
flg. und Waitz deutſche Verfaſſungsgeſchichte B. 1 S. 212—215 u. Beil. 1
von der ſ. g. Geſammtbürgſchaft.
80).
Cicero de invent. II. 50 nennt zwar nur die cura prodigi, es kann
aber ſchon wegen des durchgehenden Parallelismus zwiſchen Erbrecht und
Vormundſchaft keinem Zweifel unterliegen, daß die Gentilen, wie ſie hinter
den Agnaten zur Erbſchaft, ſo auch hinter ihnen zur Tutel gerufen waren.
S. des weitern Rudorff das Recht der Vormundſchaft B. 1 S. 210 u. flg.
81).
Die ſpätern römiſchen Juriſten nehmen an, daß das ältere Recht
hier ſeinen Grundſatz: nemo alieno nomine lege agere potest verlaſſen
habe. Allein nach der im Text verſuchten Anknüpfung dieſer Klage an die
alte Gentilverfaſſung würde die vermeintliche Singularität verſchwinden.
Die Gens iſt nicht irregulärerweiſe berechtigt, für ihr hülfloſes Mitglied
eine Klage erheben zu laſſen, ſondern ſie iſt verpflichtet, ſich ſeiner an-
zunehmen. Die angeſtellte Klage macht alſo zunächſt Recht und Pflicht
der Gens ſelbſt geltend, und nur mittelbar kömmt ſie dem Intereſſirten zu
Gute.
82).
Serv. ad Virg. Eclog. IV. 43. In legibus Numae cautum est,
ut si quis imprudens occidisset hominem pro capite occisi agnatis
(nach
der glücklichen Conjektur von Huſchke ſtatt des handſchriftlichen et natis) ejus
in concione offerret arietem
.
83).
Fest. Subigere arietem in eodem libro Antistius esse ait dare
arietem, qui pro se agatur, caedatur
. Ueber den Zweck des Opfers laufen
die Anſichten freilich ſehr auseinander. S. Rein das röm. Kriminalrecht
S. 403. Die im Text vorgetragene iſt die von Platner Quaest. de jure
crimin. p.
37.
84).
S. die Zeugniſſe bei Walter Röm. Rechtsgeſch. Buch 1 Kap. 2.
Anm. 40—42.
85).
Das angelſächſiſche Recht iſt in dieſer Beziehung am weiteſten ge-
gangen, indem es neben den Verwandten die gegyldan d. h. nach Sybels
treffender Bezeichnungsweiſe die Erſatzmänner der alten Gentilen, zu einem
Drittheil, eventuell zur Hälfte des Wehrgeldes heranzog.
86).
Es wird auch der Spruch der Gens gerade wie der des Cenſors
nota genannt. Liv. VI. 20 gentilicia nota adjecta.
87).
Klenze Zeitſchr. für hiſt. Rechtsw. Bd. 6 S. 21 u. flg.
88).
„Niemals wird ihnen von den Plebejern Mangel an sanctitas und
castitas vorgeworfen.“ Rubino Unterſuchungen über röm. Verf. u. Geſch.
B. 1 S. 230 Anm. 3, der auch das Zeugniß von Cicero de republ. II. 34
anführt: quum honore longe antecellerent ceteris, voluptatibus erant
inferiores.
89).
Wie z. B. das Recht orientaliſcher Völker. Selbſt bei den Sachſen
ſoll Ehe zwiſchen Nicht-Standesgenoſſen bei Todesſtrafe verboten geweſen
ſein. S. Waitz deutſche Verfaſſungsgeſch. B. 1 S. 84 Anm. 2.
90).
Die Beſchränkung der Freigelaſſenen weiblichen Geſchlechts, nicht
aus der Gens herauszuheirathen, beruhte auf einem andern Grunde, nämlich
auf dem Intereſſe der Gens, dieſelben in ihrem Hörigkeitsverhältniß zu ihr
zu erhalten. Durch Verheirathung mit einem zu einer andern Gens gehöri-
gen Freigelaſſenen oder Klienten trat die Freigelaſſene aus jenem Verbande
heraus. Mitunter wurde dies, d. h. die gentis enuptio, bewilligt.
91).
Wenn man an dieſem ager publicus ein vererbliches und
veräußerliches
Recht der Benutzung annehmen will, ſo führt man in der
That das Privateigenthum, das man läugnen will, unter anderm Namen wie-
der ein. Der Sache nach wäre dies Recht ebenſo gut Privateigenthum ge-
weſen wie das an Provinzialgrundſtücken, die theoretiſch im Eigenthum des
römiſchen Staats ſtanden, und das Intereſſe der Gentilverfaſſung hätte ge-
gen die freie Veräußerlichkeit unter Lebenden und im Teſtament ebenſo geſchützt
ſein müſſen, wie wir es nachher im Text ausführen werden.
92).
Huſchke hat ihn meiner Anſicht nach mit Recht als einen Grund-
irrthum Niebuhrs bezeichnet.
93).
S. Walter Rechtsgeſchichte Buch 1 Kap. 2. Anm. 4—10.
94).
Ich erinnere z. B. an die Beſtimmung der XII Tafeln über die
Uſucapion unbeweglicher Sachen, die Servituten u. ſ. w.
95).
Göttling Geſch. der röm. Staatsverf. §. 40 a. E.
96).
Caesar de bello Gallico IV. 1 VI. 22. S. darüber namentlich
von Sybel Entſtehung des deutſchen Königthums S. 5 u. flg.
97).
Solche Popularklagen gibt das römiſche Recht jedem, der Luſt
hat, z. B. gegen den, der an öffentlichen Plätzen, Landſtraßen, Gewäſſern
u. ſ. w. polizeiwidrige Aenderungen vorgenommen, aus ſeinem Fenſter oder
von ſeinem Dache Sachen hängen hat, die herunter zu fallen drohen und
dadurch die Paſſage gefährden u. ſ. w.
98).
Nicht ihr als einer juriſtiſchen Perſon; das iſt eine Abſtraction,
deren erſt der entwickelte juriſtiſche Verſtand fähig iſt, die wir alſo nicht
in die Kindheitszeit des Rechts verlegen dürfen.
99).
d. h. das ungetheilt-gemeinſame Eigenthum aller Mitglieder einer
Corporation ward ſpäter als Eigenthum einer juriſtiſchen Perſon darge-
ſtellt. Es wird vielleicht die Zeit kommen, wo man dieſen Schritt wieder zu-
rückmacht und mit Aufgabe dieſer Fiction jenes natürliche Verhältniß juri-
ſtiſch zu conſtruiren verſucht. Wenn der Verſuch erſt für das deutſche Recht
befriedigend gelungen iſt, wird dies für das römiſche Recht ſchwerlich ohne
Einfluß bleiben.
100).
Es läßt ſich hier der Satz anwenden, den die L. 12 pr. de reb.
auct. jud.
(42. 5) enthält: aliquid ex ordine facit et ideo ceteris quoque
prodest.
101).
Von der gänzlichen Entziehung der Dispoſitionsbefugniß durch
eine cura prodigi iſt bereits oben die Rede geweſen.
102).
Die in adoptionem datio konnte gleichfalls einen Uebertritt in
eine fremde Gens begründen, allein hier ging kein Vermögen mit über, weil
der Hausſohn vermögensunfähig war, und darum brauchte man hier dem
Willen des Vaters keine Beſchränkung aufzulegen.
103).
Wegfall des v wie bei dewa, divus, deus. Pott a. a. O. B. 1
S. 266.
104).
Dieſer Geſichtspunkt iſt namentlich bei der Geſchichte des ager
publicus
nicht außer Acht zu laſſen. Er iſt das Gemeinde-Land ſämmtlicher
Patricier, ein gemeinſchaftliches, ungetheiltes Eigenthum derſelben, und von
dieſem Geſichtspunkt aus konnten ſie die darauf zielenden Beſtrebungen der
Plebejer im vollen Gefühl ihres Rechts als Angriffe auf ihr Eigenthum zu-
rückweiſen.
105).
Rubino Unterſuchungen über römiſche Verf. S. 478 u. f. hebt
die Provokation „als einen geringen Ueberreſt einer in der Vorzeit gegen
die innern Feinde der Staatsgeſellſchaft üblichen Volksjuſtiz“ hervor.
106).
Cicero de republ. I. 40. Noster populus in pace et domi im-
107).
In Deutſchland z. B. bei der Geſchichte der landſtändiſchen Ver-
106).
perat et ipsis magistratibus minatur, recusat, appellat, provocat; in
bello sic paret ut regi.
108).
Lex rogatur, testes rogati (aufs Mancipationsteſtament hin-
übergenommen von dem testamentum in comitiis calatis) arrogatio (bei-
läufig geſagt liegt in dieſem bei der Teſtamentserrichtung und der Arrogation
vorkommenden Ausdruck rogare ein neuer Beweisgrund für die Anſicht, daß
bei beiden Akten eine wirkliche Abſtimmung des Volks vorgekommen iſt).
Uebrigens hat bereits Rubino a. a. O. S. 255 in der Form der Befragung
und Abſtimmung des Volks die Aehnlichkeit mit der Stipulation erkannt,
ohne aber freilich im übrigen den Weg, den ich hier eingeſchlagen habe, zu
betreten.
109).
Papinian in L. 1 de legib. (1. 3).
110).
Auch unſer deutſches Legen, Liegen iſt von Geſetz und Verpflich-
tung gebraucht z. B. Auflage, Obliegenheit, alth. lag, das Geſetz. Die
Etymologen ſtreiten aber darüber, ob neben der Wurzel leg im Sinne von
zuſammenſuchen, ſammeln (legere in der Bedeutung von Leſen = das Sam-
meln, Zuſammenleſen der Buchſtaben) noch eine eigne Wurzel λεχ (legen,
lectum = worauf man ſich legt d. i. Bett, lex = Auf-lag-e) anzuneh-
men iſt. Pott a. a. O. S. 257, 258.
111).
Z. B. vendere, dare hac lege, lex commissoria, leges vena-
lium vendendorum
u. ſ. w.
107).
faſſung. Das Staatsrecht erſcheint hier als der Inbegriff der den Ständen
vertragsmäßig eingeräumten Rechte.
112).
Der bekannte Satz aus den XII Tafeln: privilegia ne irro-
ganto
.
113).
Ob er für oder gegen das Geſetz ſtimmte, oder an der Abſtim-
mung keinen Antheil nahm, iſt für dieſe Auffaſſung gleichgültig. Indem er
im Staate bleibt, erkennt er das Geſetz hinterher auch für ſich als bin-
dend an.
114).
Von der Sanskrit-Wurzel ju „verbinden“, von der auch jugum,
das deutſche Joch, jumentum, jungere und eine Menge anderer Wörter in
verſchiedenen Sprachen ſtammt. S. des weitern Pott a. a. O. S. 213.
Aus dieſer Wurzel erklärt Pott auch das ſeltſame Zuſammentreffen der zwei
Bedeutungen von jus, nämlich Recht und Brühe. Im Lettiſchen findet ſich
nach ſeiner Angabe das Wort jaut d. h. Mehl mit Waſſer einrühren, ver-
binden
. Unſer deutſches „Jauche“ iſt vielleicht daſſelbe Wort mit jus im
Sinn von Brühe. — Intereſſant iſt die Verſchiedenheit der römiſchen und
griechiſchen Bezeichnung des Rechtsbegriffs. Beide Sprachen bedienen ſich
zu dem Zweck verſchiedener Wurzeln, die übrigens in jeder derſelben vorkom-
men, die griechiſche der Wurzel dic (δίκη), zeigen, weiſen, von der in der
lateiniſchen Sprache dicere, digitus u. ſ. w. ſtammt, letztere der Wurzel
ju, von der in der griechiſchen Sprache ζυγὸν, jugum. Das griechiſche
Wort entſpricht unſerm deutſchen „Weiſe“ und hat, wie letzteres, die dop-
pelte Bedeutung von „Art und Weiſe“ und die von Norm, Regel (wie im
Deutſchen z. B. die Geſang weiſe). Δίκαιος iſt ſeiner urſprünglichen Be-
deutung nach der, der die Art befolgt, der Art-ige. Das beide Bedeutungen
vermittelnde Moment iſt das des Muſters, Vorbildes; aus dem Vorbilde, der
Präcedenz wird Brauch, Sitte, Recht. Die griechiſche Sprache faßt alſo
bei ihrer Bezeichnung des Rechtsbegriffs das Moment des Hergebrachten,
Ueblichen ins Auge, die Entſtehung aus der Gewohnheit, die lateiniſche
Sprache die Wirkung, nämlich die verbindende Kraft des Rechts. Ich
brauche nicht hinzuzufügen, welche Auffaſſung die höhere iſt.
115).
War vielleicht der Centumviralgerichtshof für die Geltendmachung
der öffentlich garantirten Rechte beſtimmt? Die Zuſage des Schutzes, die
das Volk unmittelbar oder durch Repräſentanten gegeben, wäre hier durch
einen Ausſchuß des Volks gelöſt. Alle Fälle, die Cicero in der bekannten
Stelle de oratore I. c. 38. der Competenz dieſes Gerichtshofes zuweiſt,
gehören zur Klaſſe der garantirten; die jura gentilitatum, agnationum,
geſtützt auf die ſtaatsrechtlich anerkannte Verbindung der Gens und die ur-
ſprünglich römiſche d. h. durch confarreatio, coemtio oder usus begründete
Ehe mit manus; die jura testamentorum und tutelarum auf lex und öffent-
liches Teſtament; die jura mancipationum, nexorum, parietum, lumiuum
u. ſ. w. auf die Mancipationsform und die in jure cessio; hinſichtlich der
usucapio ſ. S. 212. Daß im Centumviralgericht der Staat in einer enge-
ren Beziehung zum Individuum erſcheint, als bei dem judex privatus, hat
man herausgefühlt, den Grund davon aber darin geſucht (Puchta, Curſus
der Inſtit. B. 2. §. 153), daß der Staat hier ſein Intereſſe geltend mache
— was dem Zweck der Rechtspflege gegenüber weniger wahrſcheinlich iſt —,
während nach meiner Vermuthung es ſich als höchſt natürlich ergibt, daß der
Staat oder das Volk den rechtlichen Schutz ſolcher Verhältniſſe, die aus-
drücklich unter ſeine Garantie geſtellt ſind, ſelbſt in die Hände nimmt und
nicht dem judex privatus überweiſt, wenigſtens nicht gegen den Willen des
Berechtigten. Erſt hier war für meine Auffaſſung des älteſten Rechts der
paſſende Ort, das Centumviralgericht zu erwähnen, was ich nur bemerke, um
mich zu rechtfertigen, wenn ich daſſelbe bei der Entſtehung des Richteramts
mit Stillſchweigen überging.
116).
Cicero pro Caecina c. 26 und c. 33. Nam ut perveniat ad me
117).
In Anwendung auf eine obligatio naturalis beſtand dies in der
soluti retentio gegenüber der condictio indebiti.
116).
fundus, testamento alicujus fieri potest; ut retineam, quod meum factum
est, sine jure civili non potest. Fundus a patre relinqui potest, at usu-
capio fundi, hoc est finis sollicitudinis ac periculi litium non a patre
relinquitur, sed a legibus. Aquaeductus, haustus, iter, actus a patre,
sed rata auctoritas harum rerum omnium a jure civili sumitur. — Pri-
mum illud concedis non quidquid populus jusserit, ratum esse oportere

u. ſ. w.
118).
Gaj. IV. §. 16.
119).
Gaj. I. §. 119.
120).
Ob der Zuſatz früher bei jeder Vindikation vorkam, ob er nicht in
ſpäterer Zeit, als er ſeine Bedeutung verloren, hier aufgenommen, dort weg-
gelaſſen wurde u. ſ. w., das läßt ſich nicht ermitteln.
121).
Den Schutz des Volks anrufen hieß Quiritare. Varro de ling.
lat. VI. 68. Quiritare dicitur is, qui Quiritum fidem clamans implorat.
Fides Quiritium
darum, weil und inſofern das Recht unter dem Schutz der
Quiriten ſtand, ihre fides alſo erforderte, daß ſie denſelben gewährten.
Fides iſt daher der ſtehende Ausdruck ſ. die Beiſpiele bei Brissonius de
voc. ac formul. lib. VIII. c.
21.
122).
Wenn wir unſern Blick auch nur auf Deutſchland beſchränken, ſo
finden wir ſchon genug Analogien. Der Lehnsſtaat war ein Staat mit pri-
vatrechtlicher Conſtruktion, die Patrimonialgerichtsbarkeit beruht auf privat-
rechtlicher Auffaſſung des Richteramtes; die Capitulationen der Churfürſten
mit dem Kaiſer, die Verträge der Stände mit dem Landesherrn u. ſ. w. ge-
122).
währen Seitenſtücke zu meiner Auffaſſung der lex als eines Vertrages, die
Baſirung der Rechtsfähigkeit der Juden als kaiſerlicher Kammerknechte auf den
erwirkten kaiſerlichen Schutz ein Seitenſtück zu meiner Anſicht von der ver-
tragsmäßigen Garantie der Rechte durch das Volk, das Fehderecht des Mit-
telalters zu meinem Syſtem der Selbſthülfe u. ſ. w.
123).
L. 5. §. 2. de capt. (49. 15).
124).
Festus sub voc. extrarium.
125).
Festus sub voc. egens velut exgens, cui ne gens quidem sit
reliqua.
Möglich wäre dieſe Ableitung, man denke z. B. an iners (von ars),
de-mens
u. ſ. w., und ohne das Zeitwort egeo würde man nicht in Ver-
ſuchung kommen nach einer andern zu ſuchen. Es iſt auch denkbar, daß in
dem einen Wort ſich exgens von gens und egens von egeo zuſammengefunden
hätten; es wäre nicht das einzige Mal, daß ſo etwas vorgekommen wäre.
126).
Hostis iſt daſſelbe Wort mit dem Goth. gasts und dem Mittel-
hochdeutſchen gast, und letztere haben dieſelbe Doppelbedeutung. Ueber die
Verwandſchaft des g und h ſ. Pott a. a. O. B. 1. S. 143. und über die
muthmaßliche Ableitung von Sanskr. ghas eſſen daſelbſt S. 279. Der ur-
ſprüngliche Sinn dieſer Wörter wäre alſo: der Bewirthete. Hostire (ſchla-
gen) und hostia (Schlachtopfer) haben ſich davon freilich weit entfernt.
127).
Unſer moderne Staat hat ein ganz geeignetes Mittel entdeckt, um
auch das materielle Privatintereſſe unmittelbar an ſeiner Erhaltung zu be-
theiligen, die Staatsſchulden. In anderer und freilich ungleich unvollkommne-
rer Weiſe, als der Staat des Alterthums, umſpannt er damit das Privatver-
mögen. Die Wirkſamkeit dieſes Mittels reicht übrigens über ſein eignes
Staatsgebiet hinaus; eine Anleihe im Ausland iſt ein Anker, den der Staat
dort auswirft, unter Umſtänden eine wirkſamere Allianz, als ein mit der
128).
Ich kann mir nicht verſagen darauf aufmerkſam zu machen, wie
die lateiniſche Sprache ſelbſt darauf hinweiſt. Ihr Interpres, der Vermittler
und Ausleger, iſt urſprünglich nichts, als unſer „Zwiſchenhändler.“ Das
Wort ſtammt her von inter und pretium, bezeichnet alſo einen, der den Preis
zwiſchen trägt. Dieſer Zwiſchenhändler war der erſte Dollmetſch und Ver-
mittler, und auf dieſe beſonders in die Augen fallende Eigenſchaft hat ſich
ſpäter der Sinn des Wortes reducirt.
127).
Staatsregierung abgeſchloſſener Allianzvertrag. Das materielle Intereſſe des
Auslands, das durch dieſes und andere Mittel an dem Beſtehen unſeres
Staats betheiligt wird, iſt ein mächtigerer Bundesgenoſſe, als nationale
Sympathieen, und unter den Friedensapoſteln einer der wirkſamſten.
129).
Von hostem petere, den Fremden einladen.
130).
Ich verweiſe wegen dieſer Inſtitute beiſpielsweiſe auf Puchta
Curſus der Inſtit. B. 1 §. 83.
131).
Von cluere, κλύειν, hören. Im Deutſchen haben wir das Hören
in demſelben Sinn z. B. Gehorſam, gehorchen, angehörig, Höriger.
132).
Gellius V c. 13 … patrem primum, deinde patronum proxi-
mum nomen habere .... neque clientes sine summa infamia deseri
possunt.
133).
Daher patronus noch in ſpäterer Zeit = Fürſprecher.
134).
z. B. wenn er eine Tochter auszuſteuern, ſich ſelbſt oder Familien-
mitglieder aus feindlicher Gefangenſchaft loszukaufen, ungewöhnliche Abga-
ben, Sühnen, Brüche u. ſ. w. zu entrichten hatte.
135).
Dieſes aus dem Eigenthum des Patrons fließende Recht, den
Nachlaß des Clienten an ſich zu ziehen, ließe ſich als der Ausgangspunkt des
patronatiſchen Erbrechts bezeichnen.
136).
Im Gegenſatz zum Vaſallenthum des Mittelalters, an das Nie-
137).
Darauf zielt wohl die oft benutzte Stelle von Feſtus: Patres se-
natores ideo appellati sunt, quia agrorum partes attribuebant tenuiori-
bus perinde ac liberis propriis.
Die letzten Worte drücken das
Verhältniß treffender aus, als es auf den erſten Blick ſcheint.
138).
Savigny Recht des Beſitzes §. 42 hat bereits eine ähnliche Anſicht
136).
buhr bei Gelegenheit der Clientel erinnert (röm. Geſch. B. 1 S. 342), und
das ſein rechtliches Fundament nicht in der Schutzloſigkeit des Vaſallen, ſon-
dern in dem ihm verliehenen Lehn hatte.
138).
von precarium aufgeſtellt. Ich wurde durch den Zuſammenhang darauf
geführt, ohne mir anfänglich jenes Zuſammentreffens mit Savigny, das
übrigens auch nur partiell iſt, bewußt zu ſein.
139).
Daß ich mit Niebuhr Röm. Geſch. 4. Aufl. B. 1 S. 622,
Göttling röm. Staatsverf. S. 147 u. a. den Freigelaſſenen für die älteſte
Zeit das Bürgerrecht abſpreche, bedarf, glaube ich, keiner Rechtfertigung.
140).
Hinſichtlich der perſönlichen und vermögensrechtlichen Stellung
der Kinder gebraucht derſelbe Prozeß der Entwicklung vom Factum zum Recht
oder von der nur durch die Sitte gebundenen Willkühr des Vaters zur Aner-
kennung der privatrechtlichen Selbſtändigkeit des Kindes unendlich viel längere
Zeit; es braucht wohl nicht geſagt zu werden, worin der Grund der Verſchie-
denheit liegt.
141).
So ließen manche germaniſche Völkerſtämme die vortheilhaften
Einrichtungen, zu denen ſie bei Ausbruch eines Krieges griffen, und die bei
nicht bloß vorübergehender Exiſtenz den Keim einer heilſamen politiſchen Ent-
wicklung hätten abgeben können, fallen, ſowie der Krieg beendet war. Caesar
de b. g. VI, 23: Quum bellum civitas aut illatum defendit aut infert,
magistratus, qui ei bello praesint, ut vitae necisque habeant
potestatem
, deliguntur. In pace nullus communis magistratus, sed

u. ſ. w. Aus Waitz deutſcher Verfaſſungsgeſchichte B. 1 S. 101 entnehme
ich eine andere Stelle Beda hist. eccl. V, 10: Non enim habent regem
iidem antiqui Saxones, sed satrapas plurimos suae genti praepositos,
qui ingruente belli articulo mittunt aequaliter sortes, et quemcunque
sors ostenderit, hunc tempore belli ducem omnes sequuntur; huic
obtemperant, peracto autem bello rursum aequalis potentiae
fiunt satrapae
.
Die Einheit und die Disciplin dauerte nur ſo lange,
als die Noth, wie es ja auch mit der Energie bei manchen Individuen der
Fall zu ſein pflegt. Das Glück für die Römer lag darin, daß ihre Vorfah-
ren, denen ſie ihre Verfaſſung verdankten, in beſtändiger Noth geweſen
waren.
142).
Bei einigen auch das Duodecimalſyſtem. S. Waitz a. a. O.
Beil. 2 S. 275 u. flg.
143).
Bei den Germanen fand urſprünglich dieſelbe Identität des Volks
und Heeres Statt. S. Waitz a. a. O. S. 32.
144).
Es iſt freilich ſelbſt dieſe Anſicht ausgeſprochen, die aber ſo wie
das Buch ſelbſt, in dem dies geſchehen, keine Beachtung verdient. Zinser-
ling Histoire Romaine tom 1. Varsovie
1824. S. 93: Partout, où il est
fait mention de curies, on voit, qu’il n’est question que de religion!
145).
Exercitus d. h. außerhalb der Burg, ex-arce. Exarcere, exer-
cere
im Felde ſein, den Feind angreifen oder abwehren, daher thätig ſein,
üben. So knüpft der Begriff des Uebens urſprünglich an die kriegeriſche
Thätigkeit an; Uebung iſt kriegeriſche Uebung, das Volk in Uebung
exercitus.
146).
calare, daher classis = Volk, classis procincta = Heer. S. die
Zeugniſſe bei Huſchke Verf. des Serv. Tull. S. 134.
147).
Ich nehme die Ableitung an, die Kuhn zur älteſten Geſchichte der
indogerm. Völker S. 4 angibt, nämlich von pulus, jung. Seiner Mitthei-
lung nach ſoll in den Veden noch die Form puli in Zuſammenſetzungen vor-
kommen. Auch puer, pubes u. ſ. w. gehört hierhin. Im Lateiniſchen haben
wir disci-pulus, Lehrjunge, mani-pulus, eine Handvoll Junger, und po-
pulus,
worin die erſte Sylbe nach Kuhn durch Reduplikation entſtanden iſt.
Pott, der ſonſt in etymologiſchen Dingen mein Führer iſt, hat eine andere
Ableitung. B. 1 S. 193.
148).
Wie bei allen ſolchen eine Zahl enthaltenden Ausdrücken bleibt der
Name derſelbe, auch wenn die Zahl im Laufe der Zeit ſich ändert.
149).
Dies zeigt ſich auch in der militäriſchen Form der Abhaltung der
Centuriatcomitien. „Das Volk erſchien in den Centuriatcomitien dem Be-
griff der centuriae gemäß als bewaffnetes Heer, in ſeine Centurien und
unter ſeine Fähnlein geordnet, die Centurionen an der Spitze, daher man
auch die Anſagung von Centuriatcomitien exercitum (zum Unterſchiede vom
150).
S. z. B. Livius V. 52. Comitia curiata, quae rem militarem
continent.
151).
Cic. de leg. agr. II. 12. Consuli, si legem curiatam non ha-
bet, attingere rem militarem non licet.
152).
Gellius XV, 27. — — quia exercitum extra urbem imperari
oporteat, intra urbem imperari jus non sit, propterea centuriata in
campo Martio haberi. Liv. 39, 15. cum vexillo in arce posito comitio-
rum causa exercitus eductus esset.
149).
Kriegsheere auch wohl exercitum urbanum) imperare, ihre Entlaſſung
exercitum remittere nannte.“ Huſchke Verf. des Serv. Tull. S. 414.
153).
Hat man doch unter Ableitung des Wortes rex von ῥέζειν,
opfern, jenen Urſprung in ein Prieſterthum ſetzen wollen.
154).
Daſſelbe wiederholte ſich in den kleineren Kreiſen der Curien und
der Gentes mit den Vorſtehern derſelben, den Curionen und den Decurio-
nen, wie denn überhaupt die Verfaſſung des älteſten Staats auf Imitation
beruht.
155).
Die etymologiſche Abſtammung des Wortes iſt noch nicht ermit-
telt. Man hat wohl an parere (gehorchen), par (gleich) gedacht, allein im
Oskiſchen findet ſich die Form embratur für imperator und macht eine
andere Ableitung wahrſcheinlich.
156).
Daß der König den perduellis richtete, geht aus dem bekannten
Fall des Horatius hervor, ebenſo richtet Brutus als Innehaber des impe-
rium
die Verſchwornen, welche dem Tarquinius die Stadt verrathen wollten.
Auch im letztern Fall lag eine perduellio vor, und es ſcheint mir nicht ſtatt-
haft aus den hier und anderwärts gebrauchten Ausdrücken: proditores, pro-
ditio
u. ſ. w. mit Rubino S. 466 u. ſ. ein eignes Verbrechen der proditio
im Gegenſatz der perduellio zu bilden. Wäre es ſtatthaft, ſo würde aber
auch dieſes Verbrechen nach dem im Text aufgeſtellten Geſichtspunkt der
Strafgerichtsbarkeit des Königs anheim gefallen ſein.
157).
Perduellis (von para, ſehr, und duellum, dem ſpätern bellum)
Festus sub voc. hostis apud antiquos peregrinus dicebatur et qui nunc
hostis, perduellis.
158).
L. 11 ad leg. Iul. maj. (48. 4): Perduellionis reus est, hostili
animo adversus rem publicam vel principem animatus.
159).
Alſo nicht eine Appellation an eine höhere Inſtanz, ſondern wenn
man will, eine Nichtigkeitsbeſchwerde wegen Incompetenz. Bei militäriſchen
Vergehn fiel die Provokation aus dieſem Grunde hinweg, denn für ſie war ja
die Competenz des Königs zweifellos, und hierauf ſind die Nachrichten zu be-
ziehen, welche die Zuläßigkeit der Provokation in der Königszeit verneinen.
Bei gemeinen Verbrechen hingegen waren die Volksgerichte competent, und
wenn hier dennoch der König eingeſchritten war, ſo mochte der Verurtheilte
auf ſein competentes Gericht provociren; hierauf beziehe ich die Nachrichten,
welche bezeugen, provocationem etiam a regibus fuisse. In dem bekann-
ten Fall des Horatius (Liv. I. 25, 26) enthielt die Verſtattung der Provo-
kation eine große Vergünſtigung, denn Horatius tödtete die Schweſter, als
er mit dem ſiegreichen Heere in Rom einzog, alſo als Soldat. Dies war
der Grund, der dieſe Provokation ſo auffällig machte, und warum der Vater
des Fabius (Liv. VIII. 33) ſich auf ſie berief, denn auch er wollte eine Pro-
vokation gegen ein militäriſches Vergehen verſtattet wiſſen.
160).
Die Römer ſelbſt erkannten dies an; ſ. z. B. Livius lib. II. 1 in
ſeiner Reflexion über die Königszeit.
161).
Philoſ. der Geſchichte. Die römiſche Welt. Abſchn. 1.
162).
In der Ausgabe von 1840 z. B. auf S. 346: „Denn ſie (die
Stiftung des Staats) führt unmittelbar die härteſte Disciplin mit ſich, ſowie
die Aufopferung für den Zweck des Bundes. Ein Staat, der ſich ſelbſt erſt
gebildet hat und auf Gewalt beruht, muß mit Gewalt zuſammengehalten
werden. Es iſt da nicht ein ſittlicher, liberaler Zuſammenhang, ſondern ein
162).
gezwungener Zuſtand der Subordination, der ſich aus ſolchem Urſprunge
herleitet;“ vor allem aber S. 350, wo er namentlich auch hervorhebt, daß
„die Plebs im Aufſtande und in der Auflöſung der geſetzlichen Ordnung ſo
oft durch das bloß Formelle wieder zur Ruhe gebracht ſei.“
163).
Zeitſchrift für geſch. Rechtswiſſ. B. 2 S. 28.
164).
Die Sanskrit-Wurzel bhâ, von der man dies Wort abzuleiten
pflegt, bedeutet: ſcheinen, daher auch das griech. φαίνειν und φάος das
Licht. Pott a. a. O. S. 194: Verwandt damit ſind φημί und fari von
der Wurzel bhash (ſprechen). Pott S. 271. Es waltet hier ein ähnlicher
Zuſammenhang zwiſchen ſcheinen, zeigen und ſagen (mit Worten zeigen),
wie bei dicere (S. 153 Anm. 69). Fas iſt etymologiſch alſo entweder
das Scheinende, das Licht, oder eine Weiſung (der Götter), ein Götter-
ausſpruch, wie fatum.
165).
Hinſichtlich der pontifices iſt dies zur Genüge bekannt, hinſichtlich
der Fetialen darf ich auf jede Schrift verweiſen, in der ſie berührt werden,
z. B. Rubino a. a. O. S. 170 flg. (in der ſolennen Formel bei Livius I, 32
wird ausdrücklich auf das Fas Beziehung genommen: audiat fas), von den
Augurn erwähnen die Quellen manche Ausſprüche über das Fas z. B. den
berühmten des Attus Navius (Livius I, 36) u. andere (Rubino S. 219, 220).
166).
Es waren dies namentlich die Lehren von der Ehe, den Verwand-
ſchaftsgraden als Ehehinderniſſen, dem Trauerjahr, dem Eide, dem Votum,
den Teſtamenten. Auch die Sorge für dem Kalender findet ſich bei beiden.
167).
Rubino in ſeinem bekannten Werk S. 218 hat meines Wiſſens
zuerſt den Zuſammenhang des jus civile mit dem jus pontificium in Anre-
gung gebracht und an einzelnen Punkten nachgewieſen. Möchte er das Ver-
dienſt, das er ſich dadurch erworben, noch erhöhen, indem er ſelbſt ſich zu
einer umfaſſenderen Behandlung dieſes Gegenſtandes, von dem er mit Recht
wichtige Aufſchlüſſe über den Entwicklungsgang der römiſchen Jurisprudenz
erwartet, entſchlöſſe! Hüllmanns „Jus pontificium der Römer“ hat den Ge-
genſtand nach der Seite, nach der er uns hier intereſſirt, wenig gefördert.
168).
Dies möchte ich z. B. annehmen hinſichtlich der Anſprüche, die
169).
Vor allem die computatio civilis, über deren Anwendung auf die
Begründung der manus durch usus ein Ausſpruch des Pontifex Quint. Mu-
cius
von Gellius III. 2 mitgetheilt wird, den Schalttag u. ſ. w.
170).
Inſoweit ſie eine Beziehung auf das geiſtliche Recht hatte. Die
XII Tafeln erkannten ſie in dieſer Richtung an. Gajus IV. §. 28.
171).
Wenn Beamte oder das Volk ein Votum ablegten, ſo pflegte der
Pontifex maximus die Formel vorzuſagen Liv. XXXI. 9, XXXVI. 2,
XLI. 21. Valerius Maximus VIII, 13,
2 rühmt es dem Metellus nach, daß
er senex admodum pont. max. creatus tutelam caeremoniarum per duos
et viginti annos neque ore in votis nuncupandis haesitante, neque …
gessit. Brissonius de vocibus ac formul. lib. l cap.
128.
172).
Mit Recht hebt Rubino S. 213 hervor, daß es ſich hierbei nicht
bloß oder auch nur vorzugsweiſe um die sacra gehandelt habe.
168).
ſich auf ein Begräbniß bezogen, alſo namentlich hinſichtlich der actio fune-
raria
(nachher ins Edikt des Prätors übertragen, ihrer ganzen Structur nach
aber unverkennbar nicht unter dem Einfluß civiliſtiſcher Ideen entſtanden),
hinſichtlich der legis actio sacramento (ſ. u.). Noch zu Papinians Zeit
konnte der Erbe zur Erfüllung der vom Teſtator in ſeinem Teſtament ihm
zur Pflicht gemachten Errichtung eines Monuments durch das Pontifical-
collegium gezwungen werden, L. 50. §. 1 de her. pet. (5. 3) … tamen
Principali vel Pontificali autoritate compelluntur ad obsequium supre-
mae voluntatis.
— Daß die jura sepulchrorum dem indignus, dem die
Erbſchaft entzogen ward (L. 33 de relig. 11. 7) und dem suus heres, der
ſich abſtinirte (L. 6 ibid.) verblieben, war gegen die Conſequenz des Civil-
rechts, und ich möchte dieſe Abnormität dem Einfluß des geiſtlichen Rechts
zuſchreiben.
173).
Geib Geſchichte des röm. Kriminalprozeſſes S. 74 u. flg. ver-
theidigt im Widerſpruch mit der gangbaren Anſicht die Beſchränkung auf den
im Text bezeichneten ſehr engen Kreis.
174).
Livius XXII, 5, 7.
175).
Z. B. Pomponius in L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2) Valer. Max.
II.
5 §. 2. Auch Livius IX, 46 ſpricht ſchon von einem jus civile repositum
in penetralibus pontificum.
176).
Rubino a. a. O. S. 225.
177).
So im Mittelalter beim Eindringen des römiſchen Rechts gegen-
über manchen Beſtimmungen deſſelben, die mit den bisherigen Sitten und
Ideen in Widerſpruch traten z. B. der Unzuläſſigkeit der Erbverzichte. Ebenſo
gegenüber dem verkehrswidrigen Verbot der Zinſen durch das kanoniſche
Recht.
178).
Auch der aſſertoriſche Eid als Mittel zur Entſcheidung von Rechts-
ſtreitigkeiten war bei ihnen ſowohl in als außer dem Prozeß im ausgedehnte-
179).
Gellius XVI, 4.
180).
Ruperti Handbuch der römiſchen Alterthümer. Theil 2. S. 883.
181).
Dionys. I, 40.
182).
Festus voc. spondere … ex Graeco dictum ait, quod ii σπον-
δάς interpositis rebus divinis faciant. Gaj. III. §. 93 quamvis
dicatur a Graeca voce figurata esse.
σπένδω, σπονδή bezeichnet ur-
ſprünglich die Libation (Spende), daher σπονδαί der Friedensſchluß, das
Bündniß, bei deſſen Abſchluß dieſe Libationen vor allem vorkamen.
183).
sub voce: consponsor. Ich weiß nicht, ob Jemand bereits auf
dieſes höchſt wichtige Argument aufmerkſam gemacht hat, aber in der Schrift,
worin zuletzt die sponsio berührt und als ein in religiöſer Form abgelegtes
Verſprechen aufgefaßt iſt (Girtanner die Bürgſchaft nach gem. Civilrecht.
Jena 1850. Buch 1 Kap. 3 §. 3) vermiſſe ich es. Wenn consponsor = con-
jurator,
ſo iſt sponsor derjenige, der ſich eidlich zur Erfüllung eines Ver-
ſprechens verpflichtet hat. Zur Annahme einer ſakralen Form der Obligatio-
nen haben ſich übrigens ſchon Manche veranlaßt geſehn z. B. Huſchke das
Nexum S. 101, 102. Danz Rechtsgeſchichte B. 2 S. 107.
184).
Osenbrüggen de jure belli et pacis S. 77 u. flg. Der Feldherr,
der eine vom Volk nicht genehmigte sponsio abgeſchloſſen, ward dem Feinde
überliefert „ut populus religione solvatur“ oder „ut populus R. scelere
impio sit solutus“.
Cicero de leg. II, 16 gebraucht sponsio beim votum:
voti sponsio, qua obligamur deo.
178).
ſten Gebrauch. Die Cenſusangaben erfolgten eidlich Liv. XLIII, 14: com-
mune omnium civium jusjurandum; Gellius IV, 20: de uxoribus so-
lemne jusjurandum.
Huſchke Verf. des Serv. Tullius. S. 574.
185).
Z. B. die Verträge zwiſchen Patron und Clienten; daher vielleicht
noch im neuern Recht die jurata operarum promissio des Freigelaſſenen. —
Ferner Verſprechen, denen keine res zu Grunde lag. (S. zweites Syſtem.)
186).
Dionys. II, 73: Ποντὶφικες γὰϱ δικάζουσιν τὰς ἱεϱὰς δίκας
ἁπάσας ἰδιώταις τε καὶ ἄϱχουσι καὶ λειτουϱγοῖς ϑεῶν.
187).
Die Depoſition erfolgte, wie Varro de L. L. V. 180 uns berich-
tet, bei der pons … ad pontem deponebant … qui judicio vicerat, suum
sacramentum e sacro auferebat.
Die pons war die pons sublicius, von
der Varro den Namen der pontifices ableitete (ib. V. 15), und an der letztere
zu opfern hatten. Ruperti Handb. der röm. Alterth. Thl. 2 Abth. 2 S. 565.
Die Depoſition erfolgte alſo bei den Pontifices.
188).
Später vorzugsweiſe beim Soldateneid in Gebrauch geblieben.
Daß sacrare, sacramentum u. ſ. w. auch abgeſehn von dieſem Fall eine
beſondere Beziehung zum Eide hat, dafür berufe ich mich auf folgende Stel-
len des Feſtus: sub voc: Sacramento dicitur quod [jurisjurandi sa-
crati]one interposita actum est; [unde quis sacramen] to dicitur inter-
rogari, quia [jusjurandum interponitur] etc., sub voc: Sacrosanctum
dicitur, quod jurejurando interposito est institutum etc.
Uebrigens
brauche ich wohl kaum zu bemerken, daß für die im Text vorgetragene An-
ſicht die Bedeutung des Wortes sacramentum nur ein einzelnes Argument
bildet, die eigentliche Beweiskraft aber in dem Geſammtzuſammenhang des
Ganzen ruht, und ich darf hinzuſetzen, daß ich ſelbſt auf jenes Argument erſt
aufmerkſam geworden bin, nachdem jener Geſammtzuſammenhang mir die
vertheidigte Anſicht aufgedrungen hatte.
189).
Gaj. IV. §. 17 in publicum cadebat (Prozeß vor dem weltlichen
Gericht), Festus sub voc: Sacramentum .... quod consumebatur in re-
bus divinis
(beim geiſtlichen Gericht).
190).
Ich kann mir nicht verſagen aus den an trefflichen Aufſchlüſſen
reichen „Studien und Andeutungen im Gebiete des altrömiſchen Bodens und
Cultus“ von Ambroſch Heft 1. Bresl. 1839 eine hierher gehörige Bemerkung
abdrucken zu laſſen: „War auch, heißt es dort S. 178, Jupiter und Juno
aus einer allen Lateinern gemeinſamen Anſchauung hervorgegangen, ſo wurde
doch dieſe Einheit der Anſchauung zu einer vielfachen, als in Alba, Präneſte,
Gabii, Rom ſich ein politiſches Leben geſtaltete; der Nationalgott wurde ein
römiſcher, gabiniſcher u. ſ. w. ſomit auch die religio Gabina für Rom eine
peregrina, kurz: die urſprünglich-nationelle Einheit des Cul-
tus durch die politiſche Sonderung des Volks aufgeho-
ben
, ſo daß, falls nun die Glieder der Nation ſich wieder im Lauf ihrer po-
litiſchen Entwicklung begegneten, die Gemeinſchaft der Götter erſt nach einem
völkerrechtlichen Vertrag eintreten konnte. Natürlich war dies Ver-
hältniß der Peregrinität ein gegenſeitiges. Der Römer galt in Lavi-
nium vor dem letzten Frieden mit den Lateinern in Bezug auf die sacra La-
nuvina
als Fremder, wie der Lanuviner in Rom in Bezug auf die sacra pu-
blica
des römiſchen Volks.“
191).
Liv. XXX VIII, 48: civitas, quae omnibus rebus incipiendis
gerendisque deos adhibet. Cicero de nat. deor. II, 2: civitas, quae
nunquam profecto sine summa placatione deorum immortalium tanta
esse potuisset.
192).
Rubino a. a. O. S. 241.
193).
Darum pflegte, wer einen Geſetzvorſchlag zu machen hatte, die
offenbar aus älteſter Zeit ſtammende Klauſel hinzuzufügen: si quid fas non
sit rogari, ejus rei hac lege nihil rogato.
194).
Beruhte der Name des pater patratus, der den Eid ableiſtete,
vielleicht auf der Idee, daß er das römiſche Volk nach außen hin ebenſo ver-
trete, wie der Vater ſeine Kinder? Die völkerrechtliche noxae deditio wäre
dadurch mit der privatrechtlichen von Seiten des Vaters auf denſelben Ge-
ſichtspunkt zurückgeführt.
195).
Hartung Relig. der Römer Bd. 2 S. 11.
196).
Sie ſind bereits gelegentlich angegeben, nämlich die Eingehung
der Ehe durch confarreatio, die eidliche Bekräftigung der Verträge, die Zu-
ziehung der Pontifices zur arrogatio und zum testamentum in comitiis ca-
latis.
197).
Festus sub voc. sacer .... neque fas est, eum immolari (lies
immolare).
198).
Man hat, weil man ſich in die alte Zeit nicht hinein zu verſetzen
vermochte, dies beſtritten oder, was daſſelbe iſt, es dadurch beſchränkt, daß
der Verbrecher erſt durch Urtheil habe für sacer erklärt werden müſſen. Es
iſt hier nicht der Ort zu einer eingehenden Polemik; aber die Stelle von
Feſtus, sacer mons, die dieſer Anſicht mit den Worten: homo sacer est,
quem populus judicavit ob maleficium
eine ſcheinbare Unterſtützung
gewährt, widerlegt ſie zugleich mit den Worten: nam lege tribunitia prima
cavetur: si quis eum, qui eo plebiscito sacer sit
[d. h. alſo nach der juri-
ſtiſchen Redeweiſe der Römer: unmittelbar, durch die That ſelbſt, ipso jure,
wie der techniſche Ausdruck lautete,] occiderit, parricida ne sit. Jene
Worte: quem populus judicavit ſind zu überſetzen: der der Volksjuſtiz ver-
fallen war, den das Volk d. i. die Maſſe richtete.
199).
Darum pflegten Schwörende, wenn ſie für den Fall der Eid-
brüchigkeit die Strafe des Himmels auf ſich herabbeſchworen, einen Vorbe-
halt zu Gunſten des Gemeinweſens hinzuzufügen Festus sub voce lapidem
… „si sciens fallo, tum me Diespiter salva urbe arceque bonis
ejiciat etc.
200).
Ich erinnere an die censualis lustratio des Volks, die Reinigung
der Kinder, (Fest. sub voc. lustrici) der Familie des Verſtorbenen (Fest.
201).
So erklärt ſich das Zuſammentreffen von πῦϱ und Feuer mit pu-
rus,
rein, exfir, Reinigungsmittel (Festus h. v.), februare reinigen.
202).
S. Hartung Religion der Römer Thl. 1 S. 198 flg. Pellegrino
Andeutung über den urſprünglichen Religionsunterſchied der Patricier und
Plebejer S. 27 flg. Serv. ad Virg. Aen. IV, 103: aqua et igne adhibitis
u. XII, 119: Sane ad facienda foedera aqua et ignis adhibentur. Festus
sub voc. facem
u. aqua.
203).
Hinſichtlich des Vermögens der Hingerichteten wird uns von Isidor
VI,
29 berichtet: supplicia dicuntur supplicationes, quae fiebant de bonis
passorum supplicia.
Das Vermögen des homo sacer wird in manchen
wirklichen und angeblichen Geſetzen ausdrücklich einem beſtimmten Tem-
pel, namentlich dem der Ceres zugewieſen z. B. in den leges sacratae
Liv. III,
55.
200).
sub voc.: denicales) das piaculum für den freigeſprochenen Horatier (Liv.
I,
26) u. ſ. w.
204).
S. z. B. Rubino a. a. O. S. 460: „wer ſie erleidet, gibt ſie
(dat, solvit, pendit), wer ſie zufügen will, fordert ſie ein (petit, expetit,
exigit),
wer ſie vollzieht, nimmt ſie an (sumit, capit, habet poenas).“
Rein Kriminalrecht der Römer S. 284 will gar nur eine Privatgenugthuung
darin finden.
205).
Pott Etymol. Unterſ. B. 1 S. 252. Damit zuſammenhängend
ſind pu-rus, πῦϱ, pu-tus, pu-teus, pu-nire.
206).
In dieſem urſprünglichen Sinn hat ſich luere noch in lustrum,
lustratio, lustricus
u. ſ. w. erhalten.
207).
Statt Anderer nenne ich Platner de jure criminum Rom. p. 36 sq.
208).
Niebuhr Röm. Geſch. B. 1 S. 557. Nein Röm. Kriminalrecht
S. 34.
209).
Z. B. in der perduellio. Cicero pro domo c. 47. Plinius hist.
nat. 7, 47.
210).
Livius X, 23. 33. 47.
211).
Z. B. bei den Decemvirn Liv. III, 58: bona publicata sunt.
212).
Die darum auch nicht als Strafe gilt. Ein Uebel war ſie, aber
keins, das den Schuldigen mit der Gemeinſchaft wieder verſöhnt. Cicero
pro Caecina c. 34: Exilium enim non supplicium est, sed perfugium
portusque supplicii. Nam qui volunt poenam subterfugere
aut aliquam calamitatem, eo solum vertunt
u. ſ. w.
213).
Hartung Relig. der Römer B. 2 S. 57.
214).
Liv. V, 13 .... jurgiis ac litibus temperatum; vinctis quoque
demta in eos dies vincula; religioni deinde fuisse, quibus eam
opem Dii
tulissent, vinciri.
215).
Hartung a. a. O. II. S. 125, 126.
216).
Gellius X, 15.
217).
Göttling römiſche Staatsverfaſſung. Einleitung.
218).
Man könnte fragen: woher für ein und daſſelbe Volk zwei Formen
der Ehe? Allein dieſe Mehrheit der Eingehungsarten der Ehe iſt gar nicht
auffällig. Das moſaiſche Recht kennt zwei Eingehungsarten, mit und ohne
Verkauf (Michaelis moſaiſch. Recht B. II. §. 85, 86) das indiſche acht, frei-
lich auf wunderlichen Unterſchieden beruhende Arten der Ehe (von Bohlen das
alte Indien B. 2 S. 141 fl.) in den ſlaviſchen Ländern findet ſich in chriſt-
licher Zeit neben der kanoniſchen Form der Eingehung noch die alte weltliche
(Maciejowski Slaviſche Rechtsgeſchichte B. 2 §. 194), und ſelbſt die Gegen-
wart mit ihrer Civilehe kann uns als Beiſpiel dienen.
219).
In §. 20 kommen wir auf die Frage nach der ſynkretiſtiſchen Bil-
dung des römiſchen Rechts noch einmal zurück.
220).
Verfaſſung des Servius Tullius. Vorrede S. 17.
221).
Dieſe Annahme hat auf die etymologiſche Beſtimmung römiſcher
Rechtsausdrücke und damit auf die Auffaſſung der durch ſie bezeichneten In-
222).
Pott hat ſich an vielen Stellen ſeines oft citirten Werkes hierüber
ausgeſprochen z. B. B. 1. S. XXVIII, S. 75, B. 2. S. 433 u. fl.
223).
Ein gewiſſer Grad der Cultur war damals bereits erreicht. Das
Gottesbewußtſein war entwickelt (in den meiſten Sprachen hat ſich noch das
Wort dewa, Gott, erhalten. Pott B. 1. S. LVI), die Stufe des Noma-
denthums zurückgelegt, man kannte Häuſer, Dörfer, den Pflug, Müh-
len u. ſ. w. Vergleiche hierüber Kuhn zur älteſten Geſchichte der indogerma-
niſchen Völker. S. 12, 16, 17.
221).
ſtitute ſelbſt einen ſehr nachtheiligen Einfluß ausgeübt; namentlich in Hüll-
manns Grundverfaſſung und Ballhorn-Roſen über dominium.
224).
Der Philoſoph von Fach möge es mir verzeihen, wenn ich mich im
folgenden an einer Aufgabe der Philoſophie der Geſchichte vergreife, der meine
Kräfte nicht gewachſen ſind; hätte ich es gedurft, gern wäre ich ihr ausge-
wichen. Nur mit Widerſtreben habe ich die folgende Ausführung dem Druck
übergeben, und nur nachdem das Vorrücken des Drucks mich zwang, dieſen
Punkt, an dem ich lange nutzlos mich abgemüht habe, zu verlaſſen. — Daß
eine Aufzählung aller Eigenſchaften des römiſchen Charakters nicht genügte,
brauche ich kaum zu ſagen. Eine ſolche Aufzählung, die das ganze geiſtige
und leibliche Beſitzthum des Volks inventariſirt und in ihrer Genauigkeit
wohl gar auch den Hausthieren als „Gehülfen des Menſchen bei der Arbeit“
einen freundlichen Blick zuwirft, erſcheint mir nicht beſſer, als die Charakte-
riſtik eines Steckbriefes. Man erfährt daraus, daß die allgemein menſch-
liche Natur ſich auch bei dieſem Volk nicht verläugnet habe, dieſe und jene
Eigenſchaften ſich hier in dieſem und jenem Grade wieder fanden, aber
das eigentlich Spezifiſche und durch eine bloße Addition an Eigenſchaften
nicht Wiederzugebende der Volksindividualität bleibt dabei unberückſichtigt.
Auf letzteres, das allen jenen Eigenſchaften Richtung und Ausdruck gibt,
habe ich im folgenden mein Augenmerk gerichtet, ohne es für erforderlich zu
halten, es ins Einzelne hinein zu verfolgen.
224 a).
Es hätte dieſer Punkt etwas mehr hervorgehoben werden können;
ich benutze die Correktur, um dies einigermaßen nachzuholen. Den Römern war
es Bedürfniß, die Dinge zu geſtalten, es widerſtrebte ihnen, ſie nach der Theorie
der Naturwüchſigkeit ſich ſelbſt zu überlaſſen. Es iſt bereits S. 93 darauf auf-
merkſam gemacht, wie dieſer Zug auch in der römiſchen Sage hervortritt, und
Keiner, der mit dieſer Rückſicht die römiſche Welt betrachtet, wird den großen
Antheil, den die Reflexion, Abſichtlichkeit u. ſ. w. an ihr hat, verkennen kön-
nen; überall iſt ein Trieb nach intellektueller Erfaſſung und Beherrſchung des
Vorhandenen, ſo wie die nachhelfende und organiſirende Hand des Menſchen
wahrnehmbar. „Kein Theil des Staatslebens, ſagt Rubino a. a. O. S. 205,
blieb, wie die Geſtalt aller Inſtitute deſſelben beweiſt, der ſpontanen Bewe-
gung überlaſſen, noch beruhte er auf einer Maſſe unverbundener Traditionen;
überall gibt ſich das Beſtreben kund, einen oberſten Grundſatz zum Bewußt-
ſein zu bringen und ihn mit der ſtrengſten Conſequenz durch die Einzelnheiten
aller Regeln, Formen, Symbole durchzuführen.“
225).
Ich verweiſe des weitern auf Hegel in ſeiner Religionsphiloſophie
Theil 2, Abſch. 2. der die römiſche Religion ganz treffend als die Religion
der Zweckmäßigkeit bezeichnet.
226).
Ich verweiſe vor allem auf die Abhandlung von Ambroſch über die
Religionsbücher der Römer. Bonn 1843. S. 11 u. fl.
227).
Dies iſt natürlich ſchon behauptet, es entſprach der rationaliſtiſchen
Anſicht, die in der Religion nur ein Werk der Täuſchung und Berechnung zu
erblicken vermochte. S. z. B. Buchholz Philoſoph. Unterſuchungen über die
Römer. 3 B. Berlin 1819, ein Werk, in dem die Philoſophie ſich auf den
Titel beſchränkt. B. 1. S. 144 u. fl. Die religiöſen Feſte werden S. 147 für
nichts weiter erklärt, „als Mittel, wodurch die römiſche Regierung die Auf-
merkſamkeit des großen Haufens von ſich ab und auf andere Gegenſtände
hinleitete.“
228).
An dem engliſchen Volk kann man ähnliche Beobachtungen machen.
Wie manche Erſcheinung läßt ſich auch hier aufführen, die aus ſittlichen Mo-
tiven hervorgegangen, wie z. B. die Sklaven-Emancipationsbeſtrebungen,
das Miſſionsweſen u. ſ. w., deren ſich ſofort der praktiſche Geiſt der Nation
zu politiſchen Zwecken mit großem Erfolg bemächtigt hat.
229).
S. den folgenden Paragraphen.
230).
Es iſt dies ſo bekannt, und der Verlauf der Darſtellung wird uns
noch ſo manche Belege dafür geben, daß ich es für überflüſſig halte, dies
hier weiter auszuführen.
231).
Dieſe Langſamkeit der Entwicklung geben die Römer ſelbſt als
Grund der Vorzüglichkeit ihrer Verfaſſung an. S. z. B. Cicero de republ.
II. c. 1… ob hanc causam praestare nostrae civitatis statum ceteris civi-
tatibus.... quod nostra respublica non unius esset ingenio, sed multo-
rum, nec unius hominis vita, sed aliquot constituta saeculis et aeta-
tibus.
232).
Wenn ich, ohne eigne Studien über die römiſche Religion haben
anſtellen zu können, und in dieſer Beziehung alſo von meinen Gewährsmän-
nern abhängig, dennoch in meinem Urtheil mich von ihnen emancipirt habe,
ſo wird man darin keine Anmaßung erblicken. Der Romaniſt, der den römi-
ſchen Charakter gerade von ſeiner eigenthümlichſten Seite am meiſten kennen
lernt, ſteht, wie ich glaube, auf einem Standpunkt, von dem aus ſich minde-
ſtens manches in der Religion am beſten begreifen läßt. Möge ich im folgen-
den die Farben auch etwas zu ſtark aufgetragen haben, gegenüber einer Rich-
tung, die den Einfluß des religiöſen Moments auf die römiſche Welt ent-
ſchieden übertreibt, iſt ein Outriren nach der andern Seite hin vielleicht gerade
an der Zeit.
233).
So faßte man früher wohl die Sache auf, und Polybius VI, 56
ging mit einem ſchlechten Beiſpiel voran. Er betrachtet die römiſche Religion
bloß als ein Mittel, beſtimmt, die große Menge durch Furcht vor den Göttern
in Zaum zu halten, von dem herrſchenden Stande mit dieſer bewußten In-
tention ausgebildet und in Anwendung gebracht.
234).
Die Pontifices, Augurn, Fetialen und Decemvirn haben eine ganz
andere Stellung, und ſie ſind hier natürlich nicht gemeint, ſondern nur die
eigentlichen Geiſtlichen, die flamines, der rex sacrificulus, die Veſtalinnen
u. ſ. w.
235).
Es kam vor, daß ausſchweifende junge Leute zur Strafe vom Pont.
max.
zu flamines beſtimmt wurden (capti). Liv. XXVII. 8.
236).
Siehe z. B. Liv. XXVII, 8. Die flamines Diales hatten das
Recht, im Senat zu erſcheinen, wagten aber nicht, es auszuüben … rem in-
termissam per multos annos ob indignitatem priorum flaminum,
und als
C. Flaccus es zum erſten Mal wieder in Anſpruch zu nehmen wagte und ſeinen
Anſpruch durchſetzte, war, wie Livius ſagt, nur eine Stimme darüber: magis
sanctitate vitae, quam sacerdotii jure rem eam flaminem obtinuisse.
237).
Ich freue mich, für dieſe Anſicht eine Autorität wie die von Am-
broſch in ſeinen öfter citirten Studien u. ſ. w. S. 57. anführen zu können:
„So viel iſt gewiß, daß jener Zuſtand der Ruhe und Einförmigkeit, in wel-
chem allein jenes an tauſend Obſervanzen geknüpfte Prieſterthum und Reli-
gionsſyſtem entſtehen konnte, ſchon in der Königszeit Aenderungen erlitt.
Die Sage hat dieſen Uebergang von Religion und Frieden zu Irreligiöſität
238).
Ambroſch a. a. O. S. 64 Anm. 111 ſetzt den Anfang des Ver-
falls der pontificiſchen Theologie ſowie der Auguraldisciplin in die Zeit nach
dem zweiten puniſchen Kriege. S. auch S. 66. Was mußte vorhergegangen
ſein, ehe ein ſolcher Verfall der Lehre möglich war! Daß ſich bereits vor
dem erſten puniſchen Krieg Spuren der ſinkenden Achtung vor der Religion
nachweiſen laſſen, hat er ſelbſt bemerkt. S. 65 Anm. 116.
239).
Wie dies auch geſchah. Liv. IV c. 6.
240).
Der Geſichtspunkt, der daſſelbe ausſchloß, lag darin: quod nemo
plebejus auspicia haberet ideoque decemviros connubium diremisse, ne
incerta prole auspicia turbarentur.
237).
und Unfrieden, dieſe Verwandlung eines geiſtlichen Königthums in ein welt-
liches, nicht anzudeuten vergeſſen. Der Eroberer Tullus iſt der alten Satzun-
gen der Religion unkundig, vernachläſſigt ſie, erſcheint als Feind der Götter.
Sein Nachfolger, mit welchem unverkennbar ein höheres politiſches Leben
ſeinen Anfang nimmt, macht ſich und das Königthum freier von den Oblie-
genheiten der Religion, indem er einen nicht geringen Theil ſeiner geiſtlichen
Functionen berechtigten Stellvertretern übergibt. Noch mehr überwiegt unter
den folgenden Regierungen die politiſche Richtung ....... Der letzte König
Roms ſteht als ein Verächter einheimiſcher Religionsweiſen, als Anhänger
ausländiſcher Culten da.“ Der Plan des ältern Tarquinius, die alte inau-
girirte Verfaſſung durch Einrichtung von drei neuen Tribus eigenmächtig um-
zugeſtalten, iſt für den Geiſt jener Zeit gleichfalls ſehr charakteriſtiſch.
241).
Man könnte mir den Einwurf machen: was nützte die Mitwirkung
der Religion, da ſie dem bisherigen nach ihrer wahren lebendigen Kraft be-
raubt war. Es ließe ſich darauf erwidern, zunächſt daß das von mir ange-
nommene Verhältniß zwiſchen der Religion und Politik für die höhern Kreiſe
der Bevölkerung, in denen es ja im Grunde allein praktiſch wurde, Statt
gefunden haben kann, ohne daß daſſelbe für die große Maſſe gegolten hätte.
Für Ciceros Zeit trifft dies bekanntlich zu; Unglauben oben, Aberglauben
unten! Wir haben aber nicht nöthig für die ältere Zeit zu dieſer immer ſehr
mißlichen Annahme zu greifen, vielmehr, glaube ich, kann die menſchliche
Natur uns den ſcheinbaren Widerſpruch löſen. Wenn man glaubt, was man
wünſcht, wenn alſo der Wille dem Glauben die Richtung vorſchreibt, ſo ſollte
ein ſolcher Glaube gar keine Macht über uns haben, und doch wie groß kann
dieſe Macht ſein. Dieſer Selbſtbetrug liegt einmal tief in der menſchlichen
Natur, und in welchem Maßſtabe und mit welchem Erfolge ein ganzes Volk
deſſelben fähig iſt, das lehrt uns vielleicht keins ſo ſehr, wie das römiſche.
242).
Manche gute Bemerkungen finden ſich bei Beaufort la republ.
Rom. lib. I c. V.
243).
S. über die Stellung der Augurn namentlich die lehrreiche Aus-
führung von Rubino a. a. O. S. 44—62. und über die der Fetialen eben-
daſelbſt S. 170 u. flg. Ueber die Bewahrer der ſibylliniſchen Bücher ſ.
Hartung röm. Relig. B. 1. S. 135.
241).
Mangel ächter Religiöſität und an deren Stelle ein Aberglaube, der trotzdem
daß er in der Regel nur das ſieht, was ihm lieb iſt, dennoch eine große
Macht über das Volk ausübt! Man begehrte Zeichen, aber ſie ſollten und
mußten günſtige ſein — im erſten puniſchen Krieg ließ P. Claudius die Hüh-
ner, die das gewünſchte Zeichen verweigerten, ins Meer werfen — ſie waren
natürlich in der Regel ganz nach Wunſch, und trotzdem hob es den Muth des
Heeres, wenn es hieß, daß die Zeichen ſehr günſtig ausgefallen!
244).
Livius IX c. 46: coactusque consensu populi Cornelius Bar-
batus Pontifex maximus praeire verba, quum more majorum negaret
nisi consulem aut imperatorem posse templum dedicare.
245).
Z. B. Liv. IV c. 7. (a. 310 U.C.) … augurum decreto perinde
246).
Z. B. Rubino a. a. O. S. 204 Anm.: „Es braucht hier nur
kurz an das ſpätere Verfahren in Bezug auf die haruspices, die ſibylliniſchen
Bücher, die vates, die Aufnahme der griechiſchen Culte und vieles Andere
erinnert zu werden, was zu einem Schluſſe auf die Vorzeit berechtigt. Un-
empfänglich gegen den Eindruck neuer religiöſer Erſcheinungen und Künſte
blieben die principes nicht, ſie zogen ſie in ihren Kreis, verarbeiteten und be-
nutzten ſie in ihrer Weiſe.“ Mäcen empfahl dieſe Maxime dem Auguſtus
[Dio Cassius LII, 36. Hartung röm. Relig. I S. 236]: „Wahrſagung
müßte zwar ſein, doch ſo, daß ſie durch öffentliche dem Staate bekannte
Diener, nicht durch herumziehende Betrüger ausgeübt werde.“ Auguſt be-
folgte ſie treulich, und ſeine Erfindung des jus respondendi enthält nur eine
Uebertragung derſelben Maxime auf die Juriſten. Puchta Curſus der Inſtit.
B. 1 S. 559.
245).
ac vitio, creati honore abiere (tribuni militum), quod C. Curtius, qui
comitiis eorum praefuerat, parum recte tabernaculum cepisset. Liv.
VIII c. 23. (a. 428 U. C.) … consulti augures vitiosum videri dictato-
rem pronuntiaverunt. Eam rem tribuni suspectam infamem-
que criminando fecerunt
. … nec quemque mortalium exstare,
qui se vidisse aut audivisse quid dicat, quod auspicium dirimeret, neque
augures divinare Romae sedentes potuisse, quid in castris consuli vitii
obvenisset. Cui non apparere, quod plebejus dictator sit, id vitium
auguribus visum.
Schon im Jahre 293 läßt Livius III c. 10 einen Aus-
ſpruch der Duumviri librorum sacrorum durch die Tribunen verdächtigen:
id factum ad impediendam legem tribuni criminabantur ingensque ad-
erat certamen.
247).
Es wäre eine höchſt intereſſante Aufgabe, die ſich hier aber natür-
lich nicht behandeln läßt, die Aehnlichkeiten zwiſchen der römiſchen Jurispru-
denz und der Behandlung der Religion nachzuweiſen. Dieſelben Erſcheinun-
gen, die jene uns darbietet (wie z. B. der Formalismus, die Conſequenz, die
Fictionen, die Scheingeſchäfte u. ſ. w. ſelbſt manche materielle Grundſätze)
wiederholen ſich hier, aber mit gerade entgegengeſetzter Wirkung — was dem
Recht angemeſſen war und die Ausbildung deſſelben im höchſten Grade beför-
derte, war für die Religion in demſelben Grade nachtheilig und entfremdete
ſie immer mehr ihrem wahren Weſen. Juriſtiſche Fragen theologiſch behan-
delt zu ſehn iſt noch erträglicher, als theologiſche Fragen juriſtiſch. Rubino
a. a. O. S. 219 Not. 2 macht darauf aufmerkſam, daß „charakteriſtiſch ge-
nug für die römiſche Denkweiſe die justi atque injusti seientia auch die Re-
ligion umfaßte.“ Dem Juriſten iſt die Legaldefinition der Jurisprudenz als
einer rerum divinarum atque humanarum notitia, justi atque injusti
scientia (L. 10 §. 2 de just. et jure)
bekannt, und ebenſo daß die Lehre
von den sacra zum jus publicum gezählt wird (L. 1 §. 2 ibid.).
248).
Hartung a. a. O. I. S. 186 ſagt z. B.: … „ſo muß man den
ältern Römern nachrühmen, daß ſie eine ſo allgemeine, ſo durchreichende und
ſo unerſchütterliche Religiöſität beſeſſen und geübt haben, wie kaum ein an-
deres Volk der Erde.“
249).
Schon von Tarquinius dem Jüngern erzählt Livius I c. 55: ex-
augurare fana sacellaque statuit … omnium sacellorum exaugurationes
admittebant aves.
250).
Die Stellen bei Hartung a. a. O. II. S. 271.
251).
Die Stellen bei Rubino a. a. O. S. 89.
252).
ad Aen. II, 116. Hartung a. a. O. I S. 160.
253).
a. U. C. 552. Liv. XXXI, 50.
254).
Liv. XXVII, 8, worauf Ambroſch S. 67 Anm. 127 aufmerkſam
macht. In Note 236 war bereits von ihm die Rede.
255).
Hartung a. a. O. I S. 188.
256).
Eine ſo große Rolle die Auſpicien, Vorbedeutungen u. ſ. w. auch im
römiſchen Privatleben ſpielten, ſo iſt es doch höchſt charakteriſtiſch, daß wir im
römiſchen Privatrecht auch nicht die geringſte Spur eines Einfluſſes derſelben
nachzuweiſen im Stande ſind. Zwar iſt in einer neuern Schrift der abentheuer-
liche Verſuch gemacht, dem omen einen ſolchen Einfluß zu vindiciren, doch hat
der Verfaſſer ſeine gegen die römiſche Jurisprudenz begangene Jugendſünde
dadurch wieder gut gemacht, daß er ihr frühzeitig den Rücken gewandt hat.
Die abergläubiſchen Ideen des Volks prallten an dem Meiſterſtücke der juri-
ſtiſchen Vernunft kraftlos ab. Die juriſtiſche Behandlung des Eides gewährt
einen ſchlagenden Beweis, wie ſehr das Gebiet des Privatrechts ſich gegen
jegliche, ihm an ſich fremde Idee abzuſchließen wußte. Der promiſſoriſche
Eid war juriſtiſch völlig wirkungslos (man erinnere ſich dabei des Gegen-
ſatzes wegen an das Kanoniſche Recht), der aſſertoriſche bloß unter dem Ge-
ſichtspunkt des Vergleichs aufgefaßt, einerlei ob wahr oder falſch geſchworen.
Contemta jurisjurandi religio satis deum habet ultorem (L. 2 Cod. de
reb. cred. 4. 1).
257).
Hartung a. a. O. I S. 101 Servius ad Aen.: nam nostri arbitrii
est, visa omina vel improbare vel recipere.
258).
Durch Schlauheit und ſelbſt durch Betrug konnte man ſich ein
Zeichen aneignen, das einem Andern zu Theil geworden. Ich verweiſe z. B.
auf den von dem Prieſter der Diana verübten Betrug, von dem Livius I, 45
erzählt, auf einen ähnlichen, aber durch Vorſicht von der andern Seite ver-
eitelten Verſuch, den Plinius Hist. natur. lib. XXVIII cap. II §. 15 be-
richtet: (transiturum fuisse fatum in Etruriam, ni prae-
moniti .. legati Romani respondissent etc.
).
259).
Hartung a. a. O. I S. 101, der unter andern das bekannte Bei-
ſpiel von Cäſar anführt, der, als er an der afrikaniſchen Küſte aus dem Schiff
260).
Plin. Hist. nat. lib. XXVIII. c. 2 §. 11 … tibicinem canere,
ne quid aliud exaudiatur.
261).
Es ſind Beiſpiele bereits oben Note 245 vorgekommen.
262).
Rubino a. a. O. S. 69 Anm. 1 und die dort citirten Stellen von
Servius ad Aen. II, 691: si dissimilia sunt posteriora, solvuntur priora.
XII, 183: in auguriis prima posterioribus cedere.
259).
ans Land ſprang, ſtürzte und ſich ſchnell faſſend ausrief: ich habe Dich,
Afrika.
263).
Einerlei, ob die Beobachtung eine günſtige oder ungünſtige ge-
weſen war, der bloße Akt des servare de coelo war ausreichend. S. Ru-
bino a. a. O. S. 74 u. f.
264).
Es kam darauf an, daß ſie gierig über das Eſſen herfielen, und
daß beim Freſſen etwas von dem vorgeſetzten Futter auf die Erde fiel — für
ausgehungerte Hühner, namentlich wenn man das Futter darnach wählte,
eben keine ſehr ſchwierige Zumuthung!
265).
Hartung a. a. O. I S. 135.
266).
Ich verweiſe z. B. auf den Fall in Note 245, die Ernennung des
Diktators betreffend, Liv. VIII, 23.
267).
Darauf macht ſchon Auguſtinus in einer von Ambroſch angeführ-
ten Stelle, de civit. Dei V, 12 aufmerkſam: … qui (Romani) causa ho-
noris, laudis et gloriae consulerent patriae, in qua ipsam gloriam
requirebant salutemque ejus saluti suae praeponere non dubitarent,
pro isto uno vitio i. e. amore laudis, pecuniae cupidita-
tem et multa alia vitia comprimentes
.
268).
Daß einzelne Ausflüſſe des Familienprinzips im römiſchen
269).
Die Diktatur durfte bekanntlich nur 6 Monate dauern.
270).
Intereſſante Belege dazu finden ſich im Titel der Pandekten de
re militari
(49. 16) und de captivis (49. 15); aus letzteren kann ich
mir nicht verſagen das Bruchſtück einer Stelle vom Juriſten Paulus mit-
zutheilen, L. 19 §. 7: Filius quoque familias transfuga non potest
268).
Staat und Recht d. h. als ganz allgemeine Einrichtungen fortdauerten,
iſt bereits früher erwähnt z. B. die Cenſur (S. 177), die cura prodigi
(S. 179), die actio popularis (S. 171).
270).
postliminio reverti neque vivo patre, quia pater sic illum amisit,
quemadmodum patria, et quia disciplina castrorum anti-
quior fuit parentibus Romanis, quam caritas libero-
rum
;
aus jenem Titel L. 3 §. 15: In bello qui rem a Duce prohibi-
tam fecit aut mandata non servavit, capite punitur, etiamsi res bene
gesserit.

License
CC-BY-4.0
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Jhering, Rudolf von. Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnv1.0