zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
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zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
bei Johann Friedrich Hartknoch.
114.
Aber warum muͤſſen Voͤlker auf Voͤlker
wirken, um einander die Ruhe zu ſtoͤren?
Man ſagt, der fortgehend-wachſenden Cul-
tur wegen; wie gar etwas anders ſagt
das Buch der Geſchichte!
Hatten jene Berg- und Steppen-
voͤlker aus Nord-Aſien, die ewigen Be-
unruhiger der Welt, es je zur Abſicht,
oder waren ſie je im Stande, Cultur zu
[6] verbreiten? Machten die Chaldaͤer nicht
einem großen Theil der alten Herrlichkeit
des Vorder-Aſiens eben ein Ende? At-
tila, ſo viele Voͤlker, die ihm vorgingen
und nachfolgten, wollten ſie die Fortbil-
dung des Menſchengeſchlechts befoͤrdern?
Haben ſie ſie befoͤrdert?
Ja die Phoͤnicier, die Karthager
mit ihren geruͤhmten Colonien, die Grie-
chen ſelbſt mit ihren Pflanzſtaͤdten, die
Roͤmer mit ihren Eroberungen, hatten
ſie dieſen Zweck? Und wenn ſich durch
das Reiben der Voͤlker an einander hier
etwa dieſe Kunſt, dort jene Bequemlichkeit
verbreitete; leiſten dieſe wohl Erſatz fuͤr
die Uebel, die das Draͤngen der Nationen
auf einander dem Siegenden und dem Be-
ſiegten gaben? Wer vermag das Elend
zu ſchildern, das die Griechiſchen und Roͤ-
miſchen Eroberungen dem Erdkreiſe, den
[7] ſie umfaßten, mittelbar und unmittelbar
brachten? *)
Selbſt das Chriſtenthum, ſobald es
als Staatsmaſchiene auf fremde Voͤlker
wirkte, druͤckte ſie ſchrecklich; bei einigen
verſtuͤmmelte es dergeſtalt ihren eigenthuͤm-
lichen Charakter, daß keine anderthalb-
tauſend Jahre ihn haben zurechtbringen
moͤgen. Wuͤnſchten wir nicht, daß z. B.
der Geiſt der nordiſchen Voͤlker, der Deut-
ſchen, der Galen, Slaven u. f. un-
[8] geſtoͤrt und rein aus ſich ſelber haͤtte her-
vorgehen moͤgen?
Und was nutzten die Kreuzzuͤge dem
Orient? Welches Gluͤck haben ſie den
Kuͤſten der Oſtſee gebracht? Die alten
Preußen ſind vertilget; Liwen, Ehſten
und Letten im aͤrmſten Zuſtande fluchen
im Herzen noch jetzt ihren Unterjochern,
den Deutſchen.
Was endlich iſt von der Cultur zu ſa-
gen, die von Spaniern, Portugie-
ſen, Englaͤndern und Hollaͤndern
nach Oſt- und Weſtindien, unter die Ne-
gern nach Afrika, in die friedlichen Inſeln
der Suͤdwelt gebracht iſt? Schreien nicht
alle dieſe Laͤnder, mehr oder weniger, um
Rache? Um ſo mehr um Rache, da ſie
auf eine unuͤberſehliche Zeit in ein fort-
gehend-wachſendes Verderben geſtuͤrzt ſind.
Alle dieſe Geſchichten liegen in Reiſebe-
[9] ſchreibungen zu Tage; ſie ſind bei Gele-
genheit des Negerhandels zum Theil auch
laut zur Sprache gekommen. Von den
Spaniſchen Grauſamkeiten, vom Geiz der
Englaͤnder, von der kalten Frechheit der
Hollaͤnder, von denen man im Taumel des
Eroberungswahnes Heldengedichte ſchrieb,
ſind in unſrer Zeit Buͤcher geſchrieben, die
ihnen ſo wenig Ehre bringen, daß viel-
mehr, wenn ein Europaͤiſcher Geſammtgeiſt
anderswo als in Buͤchern lebte, wir uns des
Verbrechens beleidigter Menſch-
heit faſt vor allen Voͤlkern der Erde ſchaͤ-
men muͤßten. Nenne man das Land, wo-
hin Europaͤer kamen, und ſich nicht durch
Beeintraͤchtigungen, durch ungerechte Kriege,
Geiz, Betrug, Unterdruͤckung, durch Krank-
heiten und ſchaͤdliche Gaben an der unbe-
wehrten, zutrauenden Menſchheit, vielleicht
auf alle Aeonen hinab, verſuͤndigt haben!
[10] Nicht der weiſe, ſondern der anmaa-
ßende, zudringliche, uͤbervor-
theilende Theil der Erde muß unſer
Welttheil heißen; er hat nicht cultivirt,
ſondern die Keime eigner Cultur der
Voͤlker, wo und wie er nur konnte, zer-
ſtoͤret. *)
Was iſt uͤberhaupt eine aufgedrungene,
fremde Cultur? eine Bildung, die nicht
aus eignen Anlagen und Beduͤrfniſſen her-
[11] vorgeht? Sie unterdruͤckt und mißgeſtaltet,
oder ſie ſtuͤrzt gerade in den Abgrund.
Ihr armen Schlachtopfer, die ihr von den
Suͤdſeeinſeln nach England gebracht wur-
det, um Cultur zu empfangen, ihr ſeyd
Sinnbilder des Guten, das die Europaͤer
uͤberhaupt andern Voͤlkern mittheilen! *)
Nicht anders alſo als gerecht und weiſe
handelte der gute Kien-Long, da er
dem fremden Vice-Koͤnig ſchnell und hoͤf-
*)
[12] lich mit tauſend Freudenfeuern den Weg
aus ſeinem Reich zeigen ließ. Moͤchte
jede Nation klug und ſtark gnug geweſen
ſeyn, den Europaͤern dieſen Weg zu zei-
gen! —
Wenn wir nun ſogar laͤſternd vorge-
ben, daß durch dieſe Beeintraͤchtigungen
der Welt der Zweck der Vorſehung erfuͤllt
werde, die uns ja eben dazu Macht und
Liſt und Werkzeuge gegeben habe, die Raͤu-
ber, Stoͤrer, Aufwiegler und Verwuͤſter
aller Welt zu werden, wer ſchauderte nicht
vor dieſer Menſchenfeindlichen Frechheit?
Freilich ſind wir, auch mit Thorheiten und
Laſterthaten, Werkzeuge in den Haͤnden der
Vorſehung; aber nicht zu unſerm Ver-
dienſt, ſondern vielleicht eben dazu, daß
wir durch eine Raſtloſe hoͤlliſche Thaͤtigkeit
im groͤßeſten Reichthum arm, von Begier-
den gefoltert, von uͤppiger Traͤgheit ent-
[13] nervt, am geraubten Gift eckel und lang-
weilig ſterben.
Und wenn einige Neulinge mit An-
maaßungen ſolcher Art alle Wiſſenſchaften
beflecken, wenn ſie die geſammte Geſchichte
der Menſchheit dahin abzweckend finden,
daß auf keinem andern, als dieſem Wege
den Nationen Heil und Troſt wiederfahren
koͤnne; ſollte man da unſer ganzes
Geſchlecht nicht aufs empfindlichſte be-
dauren?
Ein Menſch, ſagt das Sprichwort, iſt
dem andern ein Wolf, ein Gott, ein En-
gel, ein Teufel; was ſind die auf einander
wirkende Menſchenvoͤlker einander? Der
Neger mahlt den Teufel weiß; und der
Lette will nicht in den Himmel, ſobald
Deutſche da ſind. „Warum gießeſt du mir
Waſſer auf den Kopf?“ ſagte jener ſter-
bende Sklave zum Mißionar. — „Daß
[14] du in den Himmel kommeſt.“ — „Ich
mag in keinen Himmel, wo Weiße ſind“
ſprach er, kehrte das Geſicht ab und ſtarb.
Traurige Geſchichte der Menſchheit!
[15]
Neger-Idyllen.
[16]
Behut-
[17]
Zehnte Sammlung. B
[18]
[19]
B 2
[20]
[21]
[22]
[23]
[24]
[25]
[26]
[27]
[28]
[29]
[30]
[31]
[32]
Der
[33]
Zehnte Sammlung. C
[34]
[35]
C 2
[36]
[37]
[38]
115.
Allerdings eine gefaͤhrliche Gabe, Macht
ohne Guͤte, Erfindungsreiche
Schlauigkeit ohne Verſtand. Nur
koͤnnen, haben, herrſchen, genie-
ßen will der verdorben-cultivirte Menſch,
ohne zu uͤberlegen, wozu er koͤnne? was
er habe? und ob was er Genuß nenne,
nicht zuletzt eine Ertoͤdtung alles Genuſſes
werde. Welche Philoſophie wird die Na-
tionen Europa's von dem Stein des
[39] Siſyphus, vom Rade Ixions erloͤſen, da-
zu ſie eine luͤſterne Politik verdammt hat?
In Romanen beweinen wir den Schmet-
terling, dem der Regen die Fluͤgel netzt;
in Geſpraͤchen kochen wir von großen Ge-
ſinnungen uͤber; und fuͤr jene moraliſche
Verfallenheit unſres Geſchlechts, aus der
alles Uebel entſpringt, haben wir kein
Auge. Dem Geiz, dem Stolz, unſrer
traͤgen Langenweile ſchlachten wir tauſend
Opfer, die uns keine Thraͤne koſten. Man
hoͤrt von dreiſſigtauſend um nichts auf
dem Platz gebliebenen Menſchen, wie
man von herabgeſchuͤttelten Maikaͤfern,
von einem verhagelten Fruchtfelde hoͤrt,
und wird den letzten Unfall vielleicht mehr
als jene bedauren. Oder man tadelt, was
in Peru, Iſmail, Warſchau geſchah, in-
dem man, ſobald unſer Vorurtheil, unſre
Habſucht dabei ins Spiel kommt, ein
[40] Gleiches und ein Aergeres, mit verbiſſe-
nem Zorn wuͤnſchet.
So iſts freilich. Es iſt ein bekannter,
und trauriger Spruch, daß das menſch-
liche Geſchlecht nie weniger liebenswerth
erſcheine, als wenn es Nationen-weiſe
auf einander wirket.
Sind aber auch die Maſchienen, die
ſo auf einander wirken, Nationen? oder
mißbraucht man ihren Namen?
Die Natur geht von Familien aus.
Familien ſchließen ſich an einander; ſie
bilden einen Baum mit Zweigen, Stamm
und Wurzeln. Jede Wurzel graͤbt ſich in
den Boden und ſuchet ihre Nahrung in
der Erde, wie jeder Zweig bis zum Gipfel
ſie in der Luft ſucht. Sie laufen nicht
aus einander; ſie ſtuͤrzen nicht uͤber ein-
ander.
Die Natur hat Voͤlker durch Sprache,
[41] Sitten, Gebraͤuche, oft durch Berge, Meere,
Stroͤme und Wuͤſten getrennt; ſie that
gleichſam alles, damit ſie lange von ein-
ander geſondert blieben, und in ſich
ſelbſt bekleibten. Eben jenes Nimrods
Weltvereinigendem Entwurf zuwider, wur-
den, (wie die alte Sage ſagt) die Sprachen
verwirrt; es trenneten ſich die Voͤlker.
Die Verſchiedenheit der Sprachen, Sitten,
Neigungen und Lebensweiſen ſollte ein Rie-
gel gegen die anmaaſſende Verkettung
der Voͤlker, ein Damm gegen fremde Ueber-
ſchwemmungen werden: denn dem Haus-
halter der Welt war daran gelegen, daß
zur Sicherheit des Ganzen, jedes Volk
und Geſchlecht ſein Gepraͤge, ſeinen
Charakter erhielt. Voͤlker ſollten neben
einander, nicht durch und uͤber einander
druͤckend wohnen.
Keine Leidenſchaften wirken daher in
[42] allem Lebendigen ſo maͤchtig, als die auf
Selbſtvertheidigung hinausgehn.
Mit Lebensgefahr, mit vielfach-verdoppel-
ten Kraͤften ſchuͤtzt eine Henne ihre Jun-
gen gegen Geier und Habicht; ſie hat ſich
ſelbſt, ſie hat ihre Schwaͤche vergeſſen und
fuͤhlt ſich nur als Mutter ihres Geſchlechts,
eines jungen Volkes. So alle Nationen,
die man Wilde nennt; moͤgen ſie ſich ge-
gen fremde Beſucher mit Liſt oder mit
Gewalt vertheidigen. Armſelige Denkart,
die ihnen dies veruͤbelt, ja gar die Voͤlker
nach der Sanftmuth, mit der ſie ſich be-
truͤgen und fangen laſſen, claſſificiret. *)
[43] Gehoͤrte ihnen nicht ihr Land? und iſts
nicht die groͤßeſte Ehre, die ſie dem Euro-
paͤer goͤnnen koͤnnen, wenn ſie ihn bei ih-
rem Mahl verzehren? Um in Buͤſchings
Geographie genauer aufgezeichnet zu ſtehn,
um in geſtochenen Kupfern den muͤßigen
Europaͤer zu ergoͤtzen und mit den Pro-
ducten ihres Landes den Geiz einer Han-
delsgeſellſchaft zu bereichern; ich weiß nicht,
warum ſie ſich dazu ſollten geſchaffen
glauben?
Leider iſts alſo wahr, daß eine Reihe
Schriften, Engliſch, Franzoͤſiſch, Spaniſch
und Deutſch, in dieſem anmaaſſenden, hab-
ſuͤchtigen Eigenduͤnkel verfaſſet, zwar Euro-
paͤiſch, aber gewiß nicht menſchlich ge-
ſchrieben ſeyn; die Nation iſt bekannt, die
ſich hierinn ganz Zweifellos aͤußert. „Rule,
Britannia, rule the waves“; mit dieſem
Wahlſpruch, glaubt mancher, ſeyn ihnen
[44] die Kuͤſten, die Laͤnder, die Nationen und
Reichthuͤmer der Welt gegeben. Der
Captain und ſein Matroſe ſeyn die Haupt-
raͤder der Schoͤpfung, durch welche die
Vorſehung ihr ewiges Werk ausſchließend
zur Ehre der Brittiſchen Nation, und zum
Vortheil der Indiſchen Compagnie bewir-
ket. Politiſch und fuͤrs Parlament moͤgen
ſolche Berechnungen und Selbſtſchaͤtzungen
gelten; dem Sinn und Gefuͤhl der Menſch-
heit ſind ſie unertraͤglich. *) Vollends
wenn wir arme, Schuldloſe Deutſche
[45] hierinn den Britten nachſprechen; Jammer
und Elend!
Was ſoll uͤberhaupt eine Meſſung al-
ler Voͤlker nach uns Europaͤern? wo
iſt das Mittel der Vergleichung? Jene
Nation, die ihr wild oder barbariſch nennt,
iſt im Weſentlichen viel menſchlicher als
ihr; und wo ſie unter dem Druck des
Klima erlag, wo eine eigne Organiſation,
oder beſondre Umſtaͤnde im Lauf ihrer Ge-
ſchichte ihr die Sinne verruͤckten; da
ſchlage ſich doch jeder an die Bruſt, und
*)
[46] ſuche den Queerbalken ſeines eignen Ge-
hirnes. Alle Schriften, die den an ſich
ſchon unertraͤglichen Stolz der Europaͤer
durch ſchiefe, unerwieſene oder offenbar
unerweisbare Behauptungen naͤhren; —
verachtend wirft ſie der Genius der Menſch-
heit zuruͤck und ſpricht: „ein Unmenſch hat
ſie geſchrieben!“
Ihr edleren Menſchen, von welchem
Volk ihr ſeyd, Las Caſas, Fenelon,
ihr beiden guten St. Pierre, ſo mancher
ehrliche Quacker, Montesquieu, Fi-
langieri, deren Grundſaͤtze nicht auf
Verachtung ſondern auf Schaͤtzung und
Gluͤckſeligkeit aller Menſchen-Nationen
hinausgehn; ihr Reiſenden, die ihr euch,
wie Pages und andre, in die Sitten und
Lebensart mehrerer, ja aller Nationen zu
ſetzen wußtet, und es nicht unwerth fan-
det, unſre Erde, wie eine Kugel zu be-
[47] trachten, auf der mit allen Klimaten und
Erzeugniſſen der Klimate, auch mancherlei
Voͤlker, in jedem Zuſtande, ſeyn muͤſſen,
und ſeyn werden; Vertreter, und Schutz-
engel der Menſchheit, wer aus Eurer
Mitte, von Eurer heilbringenden Denkart,
giebt uns eine Geſchichte derſelben, wie
wir ſie beduͤrfen?
Nachſchrift des Herausgebers.
Da es verſchiedenen Leſern angenehm
ſeyn moͤchte, etwas mehr von den eben-
genannten Vorſprechern der Menſchheit zu
wiſſen, als ihre Namen, ſo fuͤge ich zu
Erlaͤuterung des Briefes dies Wenige bei.
De Las Caſas, (Fray Bartolomé)
Biſchof von Chiapa, war der edle Mann,
der nicht nur in ſeiner kurzen Erzaͤhlung
[48] von der Zerſtoͤrung von Indien, ſondern
auch in Schriften an die hoͤchſten Gerichte
und an den Koͤnig ſelbſt die Graͤuel ans
Licht ſtellte, die ſeine Spanier gegen die
Eingebohrnen Indiens veruͤbten. Man
warf ihm Uebertreibung und eine gluͤhende
Einbildungskraft vor; der Luͤge aber hat
ihn niemand uͤberwieſen. Und warum
ſollte das was man gluͤhende Einbildungs-
kraft nennet, nicht lieber ein edles Feuer
des Mitgefuͤhls mit den Ungluͤcklichen ge-
weſen ſeyn, ohne welches er freilich nicht,
auch nicht alſo geſchrieben haͤtte. Die
Zeit hat ihn gerechtfertigt, und ſeinen
Gegner Sepulveda mehr als ihn der
Unwahrheit uͤberwieſen. Daß er mit ſei-
nen Vorſtellungen nicht viel ausgerich-
tet hat, vermindert ſein Verdienſt nicht;
Friede ſei mit ſeiner Aſche!
Fene-
[49]
Fenelons billige und liebreiche Denk-
art iſt allbekannt. So eifrig er an ſeiner
Kirche hing, und deßhalb uͤber die Prote-
ſtanten hart urtheilte, *) weil er ſie nicht
kannte: ſo ſehr verabſcheuete er, ſelbſt als
Miſſionar zu Bekehrung derſelben, ihre
Verfolgung. „Vor allen Dingen, ſagt er
zum Ritter St. Georg, zwingt eure Un-
terthanen nie, ihre Weiſe des Gottesdienſtes
zu aͤndern. Eine menſchliche Macht iſt
nicht im Stande, die undurchdringliche
Bruſtwehr, Freiheit des Herzens zu uͤber-
waͤltigen. Sie macht nur Heuchler. Wenn
Koͤnige, ſtatt ſie zu beſchuͤtzen, ſich in die
Zehnte Sammlung. D
[50] Gottesverehrung gebietend mengen: ſo brin-
gen ſie dieſelbe in Knechtſchaft.“
In ſeiner Anweiſung, das Ge-
wiſſen eines Koͤniges zu leiten, *)
giebt er Rathſchlaͤge, die, wenn ſie befolgt
wuͤrden, jeder Revolution zuvorkaͤmen.
Ich fuͤhre von ihnen nur einige an, blos
wie ſie der vorſtehende Brief fodert.
„Habt Ihr das wahre Beduͤrfniß eures
Staats gruͤndlich unterſucht und mit dem
Unangenehmen der Auflagen zuſammen-
gehalten, ehe Ihr Euer Volk damit be-
ſchwertet? Habt Ihr nicht Nothdurft des
Staats genannt, was nur Eurer Ehrſucht
zu ſchmeicheln diente? Staatsbeduͤrfniß,
was blos eure perſoͤnliche Anmaaßung
war? — Perſoͤnliche Praͤtenſionen habt
[51] Ihr blos auf Eure Privatkoſten geltend
zu machen und hoͤchſtens das zu erwarten,
was die reine Liebe Eures Volks freiwil-
lig dazu beitraͤgt. Als Karl 8. nach Nea-
pel ging, um ſich die Succeſſion des Hau-
ſes Anjou zu vindiciren, unternahm er
den Krieg auf ſeine Koſten; der Staat
glaubte ſich zu Unternehmung derſelben
nicht verbunden.“
„Habt Ihr auswaͤrtigen Nationen kein
Unrecht zugefuͤgt? Ein armer Ungluͤcklicher
kommt an den Galgen, weil er in hoͤchſter
Noth auf der Landſtraße einige Thaler
raubte; und ein Eroberer, das iſt, ein
Mann der ungerechter Weiſe dem Nachbar
Laͤnder wegnimmt, wird als ein Held ge-
prieſen. Eine Wieſe, oder einen Weinberg
unbefugt zu nutzen, wird als eine uner-
laͤßliche Suͤnde angeſehen, im Fall man
den Schaden nicht erſetzt; Staͤdte und
D 2
[52] Provinzen zu uſurpiren, rechnet man fuͤr
nichts. Dem einzelnen Nachbar ein Feld
wegnehmen, iſt ein Verbrechen; einer Na-
tion ein Land wegnehmen, iſt eine unſchul-
dige, Ruhmbringende Handlung. Wo iſt
hier Gerechtigkeit? wird Gott ſo richten?
„Glaubſt Du, daß ich ſeyn werde,
wie Du?“ Muß man nur im Kleinen,
nicht im Großen gerecht ſeyn? Millionen
Menſchen, die eine Nation ausmachen,
ſind ſie weniger unſre Bruͤder, als Ein
Menſch? Darf man Millionen ein Un-
recht uͤber Provinzen thun, das man ei-
nem Einzelnen uͤber eine Wieſe nicht thun
doͤrfte? Zwingt Ihr, weil Ihr der Staͤr-
kere ſeyd, einen Nachbar den von Euch
vorgeſchriebenen Frieden zu unterzeichnen,
damit er groͤßeren Uebeln aus dem Wege
gehe, ſo unterzeichnet er, wie der Reiſende
dem Straßenraͤuber den Beutel reicht,
[53] weil ihm das Piſtol vor der Bruſt
ſtehet.“
„Friedensſchluͤſſe ſind nichtig, nicht nur
wenn in ihnen die Uebermacht Ungerech-
tigkeiten erpreßt hat, ſondern auch wenn
ſie mit Hinterliſt zweideutig abgefaßt wer-
den, um eine guͤnſtige Zweideutigkeit gele-
gentlich geltend zu machen. Euer Feind
iſt Euer Bruder; das koͤnnt Ihr nicht ver-
geſſen, ohne auf die Menſchheit ſelbſt Ver-
zicht zu thun. Bei Friedensſchluͤſſen iſt
nicht mehr von Waffen und Krieg; ſon-
dern von Friede, von Gerechtigkeit, Menſch-
lichkeit, Treu und Glauben die Rede. Im
Friedensſchluß ein nachbarliches Volk zu
betruͤgen iſt Ehrloſer und ſtrafbarer, als
im Contrakt eine Privatperſon zu hinter-
gehen. Mit Zweideutigkeiten und ver-
faͤnglichen Ausdruͤcken im Friedensſchluß
bereitet man ſchon den Samen zu kuͤnfti-
[54] gen Kriegen; d. i. man bringt Pulverfaͤſ-
ſer unter Haͤuſer, die man bewohnet.“
„Als die Frage vom Kriege war, habt
Ihr unterſucht und unterſuchen laſſen, was
Ihr fuͤr Recht dazu hattet; und dies zwar
von den Verſtaͤndigſten, die Euch am we-
nigſten ſchmeicheln. Oder hattet Ihr nicht
Eure perſoͤnliche Ehre dabei im Auge,
doch etwas unternommen zu haben, was
Euch von andern Fuͤrſten unterſchiede.
Als ob es Fuͤrſten eine Ehre waͤre, das
Gluͤck der Voͤlker zu ſtoͤren, deren Vaͤter
ſie ſeyn ſollen! Als ob ein Hausvater
durch Handlungen, die ſeine Kinder un-
gluͤcklich machen, ſich Achtung erwuͤrbe!
Als ob ein Koͤnig anderswoher Ruhm zu
hoffen haͤtte, als von der Tugend, d. i.
von der Gerechtigkeit und von einer guten
Regierung ſeines Volks!“ —
Dies ſind einige der ſechs- und
[55]dreiſſig Artikel Fenelons, die allen Vaͤ-
tern des Volks Morgen- und Abendlection
ſeyn ſollten. Zu gleichem Zweck ſind ſeine
Geſpraͤche, ſein Telemach, ja alle
ſeine Schriften geſchrieben; der Genius
der Menſchlichkeit ſpricht in ihnen ohne
Kuͤnſtelei und Zierrath. „Ich liebe meine
Familie, ſagt der edle Mann, mehr als
mich; mehr als meine Familie mein Va-
terland; mehr als mein Vaterland die
Menſchheit.“
Der Abbt St. Pierre iſt ungerechter
Weiſe faſt durch nichts als durch ſein
Projekt zum ewigen Frieden bekannt;
eine ſehr gutmuͤthige, ja edle Schwachheit,
die doch ſo ganz Schwachheit nicht iſt,
als man meinet. In dieſem Vorſchlage
ſowohl als in manchen andern war er mit
[56] Fleiß etwas pedantiſch; er wiederholte ſich,
damit, wie er ſagte, wenn man ihn zehn-
mal uͤberhoͤrt haͤtte, man ihn das eilftemal
anhoͤre; er ſchrieb trocken und wollte
nicht vergnuͤgen. *)
Schwerlich giebts eine honettere
Denkart, als die der Abbt St. Pierre
in allen Schriften aͤußert. Allgemeine
Vernunft und Gerechtigkeit, Tugend und
Wohlthaͤtigkeit waren ihm die Regel,
die Tendenz unſres Geſchlechts und deſ-
[57] ſen Wahlſpruch: donner et pardonner,
Geben und Vergeben. Dazu las, da-
zu ſah und hoͤrte er; ohne Anmaaßung.
„Eine Eintrittsrede in die Akademie, ſagte
er, verdient hoͤchſtens zwei Stunden, die
man darauf wendet; ich habe vier dar-
auf gewandt, und denke, das ſei honnet
gnug; unſre Zeit gehoͤrt dem Nutzen
des Staates.“ —
Ueber den koͤrperlichen Schmerz dachte
er nicht wie ein Stoiker, ſondern hielt ihn
fuͤr ein wahres, ja vielleicht fuͤr das ein-
zige Uebel, das die Vernunft weder ab-
wenden, noch ſchwaͤchen koͤnne; die mei-
ſten andern Uebel, meinte er, ſeyn abwend-
bar oder nur von einem eingebildeten
Werthe. Seine Mitmenſchen des Schmer-
zes zu uͤberheben, ſei die reichſte Wohl-
that. —
„Man iſt nicht verbunden, andre zu
[58]amuſiren, wohl aber niemand zu be-
truͤgen“ und ſo befliß er ſich aufs ſtrengſte
der Wahrheit.
Einzig beſchaͤftigt, das hinwegzubringen,
was dem gemeinen Wohl ſchadete, war er
ein Feind der Kriege, des Kriegesruhms
und jeder Bedruͤckung des Volkes; den-
noch aber glaubte er, daß die Welt durch
die ſchrecklichen Kriege der Roͤmer weniger
gelitten habe, als durch die Tibere, die
Neronen. „Ich weiß nicht, ſagt er, ob
Caligula, Domitian und ihres Glei-
chen Goͤtter waren; das nur weiß ich,
Menſchen waren ſie nicht. Ich glaube
wohl, daß man ſie bei ihren Lebzeiten uͤber
das Gute, das ſie ſtifteten, gnug mag ge-
prieſen haben; einzig Schade nur, daß
ihre Voͤlker von dieſem Guten nichts ge-
wahr wurden.“ Er hatte oft die ſchoͤne
Maxime Franz des erſten im Munde:
[59] „Regenten gebieten den Voͤlkern; die Ge-
ſetze den Regenten.“
Da er nicht heirathen dorfte; ſo erzog
er Kinder, ohne alle Eitelkeit, nur zum
Nuͤtzlichen, zum Beſten. Er freuete ſich
auf eine Zeit, da, von Vorurtheilen frei,
der einfaͤltigſte Capuciner ſo viel wiſſen
wuͤrde, als der geſchickteſte Jeſuit, und
hielt dieſe Zeit, ſo lange man ſie auch
verſpaͤtete, fuͤr unhintertreiblich. Traͤgheit
und boͤſe Gewohnheiten der Menſchen,
vorzuͤglich aber den Deſpotismus klagte er
als muthwillige Urſachen dieſes Aufhaltens
an: denn auch die Wiſſenſchaften, meinte
er, liebe man nur unter der Bedingung,
daß ſie dem Volk nicht zu gut kaͤmen.
So ſagte jener Karthaͤuſer, als ein Frem-
der ſeine Karthauſe, wie ſchoͤn ſie ſei,
lobte: „Fuͤr die Vorbeigehenden iſt ſie al-
lerdings ſchoͤn.“ —
[60]
Eine andre Urſache der Verſpaͤtung des
Guten in der Welt fand St. Pierre
darinn, daß ſo wenig Menſchen wuͤßten,
was ſie wollten, und unter dieſen noch
weniger das Herz haͤtten, zu wiſſen,
daß ſie es wiſſen, zu wollen, was
ſie wollen. Selbſt uͤber die gleichguͤl-
tigſten Dinge der Literatur folge man an-
genommenen fremden Meinungen, und habe
nicht das Herz zu ſagen, was man ſelbſt
denket; hingegen, meint er, ſei nur Ein
Mittel, daß jeder Mann von Wiſſenſchaft
ein Teſtament mache, und ſich wenig-
ſtens nach ſeinem Tode wahr zu ſeyn ge-
traue. —
Er ſchrieb eine Abhandlung, wie „auch
Predigten nuͤtzlich werden koͤnnten“; und
war inſonderheit der Mahomedaniſchen
Religion feind, weil ſie die Unwiſſenheit
[61] aus Grundſaͤtzen beguͤnſtigt und die Voͤl-
ker thieriſch macht. (abrutiret.)
Chriſtliche Verfolger, meinte er, muͤſſe
man als Narren aufs Theater bringen,
wenn man ſie nicht als Unſinnige einſper-
ren wollte.
Hinter ſeine Abhandlungen ſetzte er
oft die Deviſe: Paradis aux Bienfaiſans!
und gewiß genoß dieſer bis an ſeinen letz-
ten Augenblick gleich- und wohldenkende
Mann dieſes innern Paradieſes. Als man
ihn in den letzten Zuͤgen fragte: ob er
nicht noch etwas zu ſagen habe? ſagte er:
„ein Sterbender hat wenig zu ſagen, wenn
er nicht aus Eitelkeit oder aus Schwaͤche
redet.“ — Lebend ſprach er nie aus die-
ſen Gruͤnden; und o moͤchte einſt jeder
Buchſtab von dem, das er damals in ei-
nem engen Nationalgeſichtskreiſe ſchrieb,
im weiteſten Umfange erfuͤllt werden!
[62] Nach ſeiner Ueberzeugung wird ers wer-
den*)
Sein Namensgenannter, Bernardin de
St. Pierre, ein aͤchter Schuͤler Fenelons,
hat jede ſeiner Schriften bis zur kleinſten
Erzaͤhlung im Geiſt der Menſchenliebe und
Einfalt des Herzens geſchrieben. Gern
verbindet er die Natur mit der Geſchichte
der Menſchen, deren Gutes er ſo froh,
deren Boͤſes er allenthalben mit Milde er-
zaͤhlet. „Ich werde glauben, ſagt er, **)
dem menſchlichen Geſchlecht genutzt zu ha-
ben, wenn das ſchwache Gemaͤhlde vom
[63] Zuſtande der ungluͤcklichen Schwarzen, ih-
nen einen einzigen Peitſchenſchlag erſparen
kann, und die Europaͤer, (ſie, die in Eu-
ropa wider die Tyrannei eifern und ſo
ſchoͤne moraliſche Abhandlungen ausarbei-
ten,) aufhoͤren in Indien die grauſamſten
Tyrannen zu ſeyn.“ In gleich edelm Sinn
ſind ſein Paul und Virginie, das
Caffeehaus von Surate, die Indi-
ſche Strohhuͤtte und die Studien
der Natur geſchrieben. *) Mit Seelen
dieſer Art lebt man ſo gern, und freuet
ſich, daß ihrer noch Einige da ſind.
[64]
Die Quacker, an welche der Brief
denkt, bringen von Penn an, eine Reihe
der Verdienſtvolleſten Maͤnner in Erinne-
rung, die zum Beſten unſres Geſchlechts
mehr gethan haben, als tauſend Helden
und pomphafte Weltverbeſſerer. Die thaͤ-
tigſten Bemuͤhungen zu Abſchaffung des
ſchaͤndlichen Negerhandels und Sklaven-
dienſtes ſind ihr Werk; wobei indeß uͤber-
haupt auch Methodiſten und Presbyteria-
nern, jeder ſchwachen oder ſtarken Stimme
jedes Landes ihr Verdienſt bleibt, wenn
ſie taubſten Ohren und haͤrteſten Menſchen-
herzen, geizigen Handelsleuten, hieruͤber
etwas zurief. Eine Geſchichte des aufge-
hobenen Negerhandels und der abgeſtelle-
ten Sklaverei in allen Welttheilen wird
einſt ein ſchoͤnes Denkmal im Vorhofe
des
[65] des Tempels allgemeiner Menſchlichkeit
ſeyn, deſſen Bau kuͤnftigen Zeiten bevor-
ſtehet; mehrere Quacker-Namen werden
an den Pfeilern dieſes Vorhofes mit ſtil-
lem Ruhm glaͤnzen. In unſerm Jahr-
hundert ſcheints die erſte Pflicht zu ſeyn,
den Geiſt der Frivolitaͤt zu verbannen,
der alles wahrhaft Gute und Große ver-
nichtet. Dies thaten die Quacker.
Montesquieu verdiente unter den
Befoͤrderern des Wohls der Menſchen ge-
nannt zu werden: denn ſeine Grundſaͤtze
haben uͤber die Mode hinaus Gutes ver-
breitet, geſetzt, daß er auch den ganzen
Lobſpruch, den ihm Voltaire gab, *)
Zehnte Sammlung. E
[66] nicht haͤtte erreichen moͤgen. Am Willen
des edeln Mannes lag es nicht; viele Ka-
pitel ſeines Werks ſind, wie die Aufſchrift
deſſelben ſagt, flores fine ſemine nati, Blu-
men, denen es an einem Boden und an
echten Samenkoͤrnern gebrach; eine Menge
derſelben aber ſind Heilbringende Blumen
und Fruͤchte. Auch ſeinen Perſiſchen
Briefen, ſeiner Schrift uͤber die Groͤ-
ße und den Verfall der Roͤmer, ja
ſeinen kleinſten Aufſaͤtzen fehlet es daran
nicht; mehrere Kapitel ſeines Werks vom
Geiſt der Geſetze ſind in Aller Gedaͤchtniß.
*)
[67]Montesquieu hat viele und große Schuͤ-
ler gehabt; auch der gute Filangieri
iſt in der Zahl. *)
Da der vorſtehende Brief der Schot-
ten und Englaͤnder, eines Bakon, Har-
rington, Milton, Sidnei, Locke,
Ferguſon, Smith, Millar und an-
derer nicht erwaͤhnt, ohne Zweifel, weil er
einen vielgeprieſenen Ruhm nicht wieder-
holen wollte, dagegen aber einige Neapo-
litaniſche Schriftſteller nennet, ſo ſei es er-
laubt, das ziemlich vergeſſene Andenken
eines Mannes zu erneuern, der zu einer
Schule menſchlicher Wiſſenſchaft
im echten Sinne des Worts an ſeinem
Ort vor andern den Grund legte, Giam-
battiſta Vico. Ein Kenner und Be-
wunderer der Alten ging er ihren Fuß-
E 2
[68] tapfen nach, indem er in der Phyſik, Mo-
ral, im Recht, und im Recht der Voͤlker
gemeinſchaftliche Grundſaͤtze ſuchte. Plato,
Tacitus, unter den Neuen Bacon und
Grotius waren, wie er ſelbſt ſagt, ſeine
Lieblingsautoren; in ſeiner neuen Wiſ-
ſenſchaft*) ſuchte er das Principium
der Humanitaͤt der Voͤlker(dell'
umanità delle Nazioni) und fand dies in
der Vorausſicht(provvedenza) und
Weisheit. Alle Elemente der Wiſſen-
ſchaft goͤttlicher und menſchlicher Dinge
ſetzte er in Kennen, Wollen, Ver-
moͤgen, (noſſe, velle, poſſe) deren einzi-
ges Principium der Verſtand, deſſen
Auge die Vernunft ſei, vom Lichte der
ewigen Wahrheit erleuchtet. — Er gruͤn-
[69] dete den Katheder dieſer Wiſſenſchaften in
Neapel, den nachher Genoveſi, Ga-
lanti betraten; *) uͤber die Philoſophie
der Menſchheit, uͤber die Haushaltung der
Voͤlker haben wir trefliche Werke aus je-
ner Gegend erhalten, da Freiheit im Den-
ken vor allen Laͤndern in Italien die Kuͤſte
von Neapel begluͤcket und werth haͤlt.
[70]
116.
Sie wuͤnſchen eine Naturgeſchichte
der Menſchheit in rein-menſchlichem
Sinne geſchrieben; ich wuͤnſche ſie auch:
denn daruͤber ſind wir einig, daß eine zu-
ſammengeleſene Beſchreibung der Voͤlker
nach ſogenannten Racen, Varietaͤten, Spiel-
arten, Begattungsweiſen u. f. dieſen Na-
men noch nicht verdiene. Laſſen Sie mich
den Traum einer ſolchen Geſchichte ver-
folgen.
[71]
1. Vor allem ſei man unpartheiiſch
wie der Genius der Menſchheit ſelbſt; man
habe keinen Lieblingsſtamm, kein Favorit-
volk auf der Erde. Leicht verfuͤhrt eine
ſolche Vorliebe, daß man der beguͤnſtigten
Nation zu viel Gutes, andern zu viel Boͤ-
ſes zuſchreibe. Waͤre vollends das ge-
liebte Volk blos ein collectiver Name, (Cel-
ten, Semiten, Cuſchiten u. f.) der vielleicht
nirgend exſiſtirt hat, deſſen Abſtammung
und Fortpflanzung man nicht erweiſen
kann: ſo haͤtte man ins Blaue des Him-
mels geſchrieben.
2. Noch minder beleidige man verach-
tend irgend eine Voͤlkerſchaft, die uns nie
beleidigt hat. Wenn Schriftſteller auch
nicht hoffen doͤrften, daß die guten Grund-
ſaͤtze, die ſie verbreiten, uͤberall ſchnellen
Eingang finden, ſo iſt die Hut, gefaͤhrliche
[72] Grundſaͤtze zu veranlaſſen, ihnen die groͤ-
ßeſte Pflicht. Um ſchwarze Thaten, wilde
Neigungen zu rechtfertigen ſtuͤtzt man ſich
gern auf verachtende Urtheile uͤber andre
Voͤlker. Pabſt Niklas der fuͤnfte hat,
(es iſt ſchon lange) die unbekannte Welt
verſchenkt; den weißen und edleren Men-
ſchen hat er alle Unglaͤubige zu Sklaven
zu machen, pontificaliſch erlaubet. Mit
unſern Bullen kommen wir zu ſpaͤt. Der
Kakiſtokratismus behauptet praktiſch ſeine
Rechte, ohne daß wir ihn dazu theoretiſch
bevollmaͤchtigen und deßhalb die Geſchichte
der Menſchheit umkehren muͤßten. Aeußerte
z. B. jemand die Meinung, daß „wenn
erwieſen werden kann, daß ohne Neger
keine Kaffee- Zucker- Reis- und Tobacks-
pflanzungen beſtehen koͤnnen, ſo ſei zu-
gleich die Rechtmaͤßigkeit des Neger-
handels bewieſen, indem dieſer Handel
[73] dem ganzen menſchlichen Geſchlecht, d. i.
den weißen edleren Menſchen mehr zum
Vortheil als zum Nachtheil gereichet:“ ſo
zerſtoͤrte ein Grundſatz der Art ſofort die
ganze Geſchichte der Menſchheit. Ad ma-
iorem Dei gloriam privilegirte er die frech-
ſten Anmaaßungen, die grauſamſten Uſur-
pationen. Gebe man doch keinem Volk
der Erde den Scepter uͤber andre Voͤlker
wegen „angebohrner Vornehmig-
keit“ in die Haͤnde; vielweniger das
Schwert und die Sklavenpeitſche.
3. Der Naturforſcher ſetzt keine
Rangordnung unter den Geſchoͤpfen
voraus, die er betrachtet; alle ſind ihm
gleich lieb und werth. So auch der Na-
turforſcher der Menſchheit. Der Neger
hat ſo viel Recht, den Weißen fuͤr eine
Abart, einen gebohrnen Kackerlacken zu
[74] halten, als wenn der Weiße ihn fuͤr eine
Beſtie, fuͤr ein ſchwarzes Thier haͤlt. So
der Amerikaner, ſo der Mungale. In je-
ner Periode, da ſich Alles bildete, hat die
Natur den Menſchen-Typus ſo viel-
fach ausgebildet, als ihre Werkſtatt es er-
forderte und zuließ. Nicht verſchiedene
Keime, *) (ein leeres und der Menſchen-
bildung widerſprechendes Wort,) aber ver-
ſchiedne Kraͤfte hat ſie in verſchiedner
Proportion ausgebildet, ſo viel deren in
ihrem Typus lagen und die verſchiednen
Klimate der Erde ausbilden konnten. Der
Neger, der Amerikaner, der Mongol hat
Gaben, Geſchicklichkeiten, praͤformirte An-
lagen, die der Europaͤer nicht hat. Viel-
[75] leicht iſt die Summe gleich; nur in ver-
ſchiednen Verhaͤltniſſen und Compenſatio-
nen. Wir koͤnnen gewiß ſeyn, daß was
ſich im Menſchen-Typus auf unſrer run-
den Erde entwickeln konnte, entwickelt hat,
oder entwickeln werde; denn wer koͤnnte
es daran verhindern? Das Urbild, der
Prototyp der Menſchheit liegt alſo
nicht in Einer Nation Eines Erdſtriches;
er iſt der abgezogne Begriff von allen Ex-
emplaren der Menſchennatur in beiden He-
miſphaͤren. Der Cherokeſe und Hus-
wana, der Mungal und Gonaqua
iſt ſo wohl ein Buchſtab im großen Wort
unſres Geſchlechts, als der gebildetſte Eng-
laͤnder und Franzoſe.
4. Jede Nation muß alſo einzig auf
ihrer Stelle, mit allem was ſie
iſt und hat, betrachtet werden; willkuͤhr-
[76] liche Sonderungen, Verwerfungen einzel-
ner Zuͤge und Gebraͤuche durch einander
geben keine Geſchichte. Bei ſolchen Samm-
lungen tritt man in ein Beinhaus, in eine
Geraͤth- und Kleiderkammer der Voͤlker;
nicht aber in die lebendige Schoͤpfung, in
jenen großen Garten, in dem Voͤlker, wie
Gewaͤchſe erwuchſen, zu dem ſie gehoͤren,
in dem Alles, Luft, Erde, Waſſer, Sonne,
Licht, ſelbſt die Raupe, die auf ihnen kriecht
und der Wurm, der ſie verzehrt, zu ihnen
gehoͤret *). Lebendige Haushaltung
iſt der Begriff der Natur, wie bei allen
Organiſationen, ſo bei der vielgeſtaltigen
[77] Menſchheit. Leid und Freude, Mangel
und Habe, Unwiſſenheit und Bewußtſeyn,
ſtehen im Buch der großen Haushaͤlterinn
neben einander, und ſind gegen einander
berechnet.
5. Am wenigſten kann alſo unſre Eu-
ropaͤiſche Cultur das Maas allgemei-
ner Menſchenguͤte und Menſchenwerthes
ſeyn; ſie iſt kein oder ein falſcher Maas-
ſtab. Europaͤiſche Cultur iſt ein abgezogener
Begriff, ein Name. Wo exſiſtirt ſie ganz?
bei welchem Volk? in welchen Zeiten?
Ueberdem ſind mit ihr (wer darf es laͤug-
nen?) ſo viele Maͤngel und Schwaͤchen,
ſo viel Verzuckungen und Abſcheulichkeiten
verbunden, daß nur ein unguͤltiges Weſen
dieſe Veranlaſſungen hoͤherer Cultur zu ei-
nem Geſammt-Zuſtande unſres ganzen Ge-
ſchlechts machen koͤnnte. Die Cultur der
[78] Menſchheit iſt eine andre Sache; Ort-
und Zeitmaͤßig ſprießt ſie allenthalben
hervor, hier reicher und uͤppiger, dort aͤr-
mer und kaͤrger. Der Genius der Men-
ſchen-Naturgeſchichte lebt in und mit je-
dem Volk, als ob dies das einzige auf
Erden waͤre.
6. Und er lebt in ihm menſchlich.
Alle Abſonderungen und Zergliederungen,
durch die der Charakter unſres Geſchlechts
zerſtoͤrt wird, geben halbe oder Wahnbe-
griffe, Speculationen. Auch der Peſche-
raͤh iſt ein Menſch; auch der Albinos.
Lebensweiſe(habitus) iſts, was eine
Gattung beſtimmt; in unſrer vielartigen
Menſchheit iſt ſie aͤußerſt verſchieden. Und
doch iſt zuletzt Alles an wenige Puncte ge-
knuͤpfet; in der groͤßeſten Verſchiedenheit
zeigt ſich die einfachſte Ordnung. Der
[79]Neger offenbahrt ſich in ſeinem Fußtritt,
wie der Hindu in ſeiner Fingerſpitze; ſo
beide in Liebe und Haß, im kleinſten und
groͤßeſten Geſchaͤfte. Ein durchſchauendes
Weſen, das jede moͤgliche Abaͤnderung des
Menſchen-Typus nach Situationen unſres
Erdballs genetiſch erkennete, wuͤrde aus
wenig gegebnen Merkmahlen die Summe
der ganzen Conformation und des
ganzen Habitus eines Volks, ei-
nes Stammes, eines Individuums
leicht finden.
Zu dieſer Anerkennung der Menſchheit
im Menſchen fuͤhren treue Reiſebeſchrei-
bungen viel ſicherer als Syſteme. Mich
freuete es, daß Ihr Brief *) unter denen,
die ſich in die Sitten fremder Voͤlker-
ſchaften innig verſetzt, auch Pages
[80] nannte. *) Man leſe ſeine Gemaͤhlde vom
Charakter mehrerer Nationen in Ame-
rika, **) der Voͤlker auf den Philippi-
nen, ***) und was er vom Betragen der
Europaͤer gegen ſie hie und da urtheilt;
wie er ſich der Denkart der Hindu's,
der Araber, der Druſen u. f. auch
durch Theilnahme an ihrer Lebensweiſe
gleichſam einzuverleiben ſuchte. †) — Rei-
ſebeſchreibungen ſolcher Art, deren wir
(Dank ſei es der Menſcheit!) viele ha-
ben, ††) erweitern den Geſichtskreis und
ver-
[81] vervielfaͤltigen die Empfindung fuͤr jede
Situation unſrer Bruͤder. Ohne daruͤber
ein Wort zu verlieren, predigen ſie Mitge-
fuͤhl, Duldung, Entſchuldigung, Lob, Be-
dauren, vielſeitige Cultur des Gemuͤths,
Zufriedenheit, Weisheit. Freilich ſucht auch
in Reiſebeſchreibungen, wie auf Reiſen,
Jeder das Seine. Der Niedrige ſucht
ſchlechte Geſellſchaft, und da wird ſich ja
††)
Zehnte Sammlung. F
[82] unter hundert Nationen Eine finden, die
ſein Vorurtheil beguͤnſtige, die ſeinen
Wahn naͤhre. Der edle Menſch ſucht al-
lenthalben das Beſſere, das Beſte, wie
der Zeichner mahleriſche Gegenden aus-
waͤhlt. Auch hinter dem Schleier boͤſer
Gewohnheiten wird Jener urſpruͤnglich-
gute, aber mißgebrauchte Grundſaͤtze be-
merken, und auch aus dem Abgrunde des
Meers nicht Schlamm ſondern Perlen ho-
len. — Eine Claſſification der Reiſebe-
ſchreibungen, nicht etwa nur nach Merk-
wuͤrdigkeiten der Naturgeſchichte, ſondern
auch nach dem innern Gehalt der Rei-
ſebeſchreiber ſelbſt, wiefern ſie ein rei-
nes Auge und in ihrer Bruſt allgemei-
nen Natur- und Menſchenſinn hat-
ten — ein ſolches Werk waͤre fuͤr die
zerſtreuete Heerde von Leſern, die nicht
[83] wiſſen, was rechts und links iſt, ſehr
nuͤtzlich. *)
F 2
[84]
Eine Mißions-Erzaͤhlung aus Paraquai. *)
[85]
[86]
[87]
[88]
[89]
[90]
[91]
[92]
117.
Gewiß, es iſt nicht gleichguͤltig, nach
welchen Grundſaͤtzen Voͤlker auf ein-
ander wirken; und doch giebt es nicht eine
Geſchichte der Voͤlker, der alle Grund-
ſaͤtze uͤber das Verhalten der Nationen
gegen einander fehlen? Giebt es nicht
eine andre, in der die verderblichſten
Grundſaͤtze als billige und Preiswuͤrdige
Maasregeln aufgeſtellt ſind? Eben deß-
[93] halb wiſſen manche nicht, warum ſie nur
das Betragen der Europaͤer gegen die
Neger und die Wilden verdammen ſol-
len, da ja aͤhnliche Grundſaͤtze in der ge-
ſammten Voͤlkergeſchichte mit mehr
oder minder Modificationen zu herrſchen
ſcheinen.
Die meiſten Kriege und Eroberungen
aller Welttheile, auf welchen Gruͤnden be-
ruheten ſie? welche Grundſaͤtze haben ſie
geleitet? Nicht etwa nur jene Streife-
reien der Aſiatiſchen Horden, auch die
meiſten Kriege der Griechen und Roͤmer,
der Araber, der Barbaren. Vollends die
Ketzer- und Kreuzzuͤge, das Verhalten der
Europaͤer gegen Zauberer und Juden, ihre
Unternehmungen in beiden Indien. — Wie
bedauret man in allem dieſem manchen
großen Mann, der faſt uͤbermenſchliche
Thaten als ein Betrogener, als ein Ver-
[94] ruͤckter that! Mit der edelſten Seele ward
er ein Beſtuͤrmer und Raͤuber der Welt,
der fuͤr ſeine Thaten von Hoͤfen, die ſo
undankbar gegen ihn, als barbariſch ge-
gen die Voͤlker waren, meiſtens auch boͤ-
ſen Lohn erntete. Man erſtaunt uͤber die
Gegenwart des Geiſtes, die Vaſko di
Gama, Albuquerque, Cortes, Piz-
zarro, und viele unter ihnen, in Umſtaͤn-
den der groͤßeſten Gefahr zeigten; See-
und Straſſenraͤuber zeigten oft ein Glei-
ches. Wer aber, der kein Spanier und
Portugieſe iſt, wird ſich getrauen, die Tha-
ten dieſer Helden, Cortes, Pizarro's
oder des großen Albuquerque vor
Suez, Ormuz, Kalekut, Goa, Ma-
lakka, zum Gegenſtande eines Helden-
gedichts zu machen, und die damals
geltenden Grundſaͤtze noch jetzt zu prei-
[95] ſen? *) Die Lobredner der Bartholomaͤus-
nacht, der Juden-Ermordungen ſind mit
Schimpf und Schande bedeckt; zu hof-
fen iſts, daß auch die Raͤuber und
Moͤrder der Voͤlker, Trotz aller erwieſenen
Heldenthaten, blos und allein den Grund-
ſaͤtzen einer reinen Menſchengeſchichte
nach, einſt damit bedeckt ſtehen werden.
Ein Gleiches gilt von den Grundſaͤtzen
uͤber das, was man ſich im Kriege erlaubt
haͤlt. Erkennt man Pluͤndern, Verſtuͤm-
meln, Schaͤnden, Vergiften der Brunnen
und der Waffen fuͤr ehrloſe Mittel des
Krieges; ſind es inwaͤrtige Aufhetzungen
der Unterthanen, die nicht zum Heer ge-
hoͤren, Vendeekriege, Entwuͤrfe zur Aus-
[96] hungerung der Nationen, treuloſe Vor-
ſpiegelungen nicht eben ſowohl? Jeder-
mann verabſcheuet Albuquerque's Ent-
wuͤrfe, der ganz Aegypten in eine Wuͤſte
verwandeln wollte, indem man ihm den
Nil naͤhme, der Mekka und Medina,
Laͤnder, die in keinem Kriege mit den Por-
tugieſen begriffen waren, pluͤndern wollte. —
Dergleichen Gewaltſamkeiten gegen fremde
ruhige Voͤlker, Anſtiftungen von Treuloſig-
keit im Herzen des Feindes u. f. ſtrafen
am Ende ſich ſelbſt. Wer einen offenen
und geheimen Krieg zugleich fuͤhrt, verlaͤßt
ſich meiſtens auf die Wirkung ſeiner ge-
heimen Mittel ſo ſehr, daß auch die offe-
nen ihm mißrathen. Aufwiegelung und
Verrath lohnten ſelten ihre Urheber an-
ders als mit Verluſt und Schande. Wer
Grundſaͤtze wegdraͤngt, auf denen einzig
noch der Reſt von Ehre und gutem
Namen
[97] Namen der Voͤlker im Kriege beruhet,
vergiftet die Quellen der Geſchichte und
des Rechts der Voͤlker bis auf den letzten
Tropfen. —
Eine traurige Ueberſicht gaͤbe es, wenn
man jede geſchriebene Geſchichte der Voͤlker
in ihren Kriegen und Eroberungen, in ih-
ren Unterhandlungen, in ihren Handels-
entwuͤrfen nach den Grundſaͤtzen
durchginge, in welchen gehandelt und ge-
ſchrieben wurde. Wie ehrlicher waren
unſre Vaͤter, die alten Barbaren, die bei
ihren Zweikaͤmpfen nicht nur auf Gleich-
heit der Waffen ſahen, ſondern Platz, Licht
und Sonne unpartheiiſch theilten. Wie
ehrlicher ſind die Wilden in ihren Unter-
handlungen und Friedensſchluͤſſen, in ihrem
Tauſch und Handel! Gewalt und Willkuͤhr
moͤgen gebieten, woruͤber ſie Macht haben,
nur nicht uͤber Grundſaͤtze des Rechts
Zehnte Sammlung. G
[98] und Unrechts in der Menſchen-
geſchichte. *)
[99]
G 2
[100]
[101]
[102]
[103]
[104]
[105]
[106]
[107]
[108]
[109]
[110]
[111]
118.
Da jetzt im unſeligſten Kriege, in dem
ein zeitiger Friede ſo ſchwer wird, von
Entwuͤrfen zum ewigen Frieden viel
geſprochen wird, ſo theile ich Ihnen einen
zu dieſem Zweck gemachten wirklichen Ver-
ſuch in den Worten deſſen mit, der ihn
berichtet.
Zum ewigen Frieden.
Eine Irokeſiſche Anſtalt.
„Die Delawaren wohnten ehedem in der
Gegend von Philadelphia und weiterhin
[112] nach der See zu. Von da aus thaten ſie
oftmals Einfaͤlle in die Doͤrfer der Chero-
keſen, miſchten ſich unerkannt in ihre
naͤchtlichen Taͤnze und ermordeten waͤhrend
derſelben ploͤtzlich viele. Noch heftiger und
aͤlter waren die Kriege der Delawaren mit
den Irokeſen. Nach dem Vorgeben der
Delawaren waren ſie den Irokeſen immer
uͤberlegen, ſo daß dieſe endlich einſahen,
daß bei laͤngerer Fortſetzung des Krieges
ihr voͤlliger Untergang die unausbleibliche
Folge ſeyn muͤßte.
Sie ſandten alſo Geſandte an die De-
lawaren mit folgender Botſchaft: „Es iſt
nicht gut, daß alle Nationen Krieg fuͤhren;
denn das wird endlich den Untergang der
Indianer nach ſich ziehen. Darum haben
wir auf ein Mittel gedacht, dieſem Uebel
vorzubeugen; es ſoll naͤmlich Eine Nation
die Frau ſeyn. Die wollen wir in die
Mitte
[113] Mitte nehmen; die andern Kriegfuͤhrenden
Nationen aber ſollen die Maͤnner ſeyn
und um die Frau herum wohnen. Nie-
mand ſoll die Frau antaſten, noch ihr
etwas zu Leide thun; und wenn es jemand
thaͤte, ſo wollen wir ihn gleich anreden
und zu ihm ſagen: „warum ſchlaͤgſt du
die Frau?“ Dann ſollen alle Maͤnner
uͤber den herfallen, der die Frau geſchla-
gen hat. Die Frau ſoll nicht in den
Krieg ziehen, ſondern ſo viel moͤglich den
Frieden zu erhalten ſuchen. Wenn alſo
die Maͤnner um ſie herum ſich einmal
mit einander ſchlagen, und der Krieg hef-
tig werden will, ſo ſoll die Frau Macht
haben, ſelbige anzureden und zu ihnen zu
ſagen: Ihr Maͤnner, was macht ihr, daß
ihr euch ſo herum ſchlagt? Bedenkt doch,
daß eure Weiber und Kinder umkommen
muͤſſen, wo ihr nicht aufhoͤrt. Wollt ihr
Zehnte Sammlung. H
[114] euch denn ſelbſt vom Erdboden vertilgen?
Und die Maͤnner ſollen alsdann auf die
Frau hoͤren, und ihr gehorchen.“
Die Delawaren ließen ſichs gefallen,
die Frau zu werden. Nun ſtellten die
Irokeſen eine große Feierlichkeit an, luden
die Delawar-Nation dazu ein und hielten
an die Bevollmaͤchtigten derſelben eine
nachdruͤckliche Rede, die aus drei Haupt-
ſaͤtzen beſtand. In dem erſten erklaͤrten
ſie die Delawar-Nation fuͤr die Frau,
welches ſie durch die Redensarten: „wir
ziehen euch einen langen Weiberrock an,
der bis auf die Fuͤße reicht, und ſchmuͤcken
euch mit Ohrgehaͤngen“ ausdruͤckten, und
ihnen damit zu verſtehen gaben, daß ſie
von nun an mit den Waffen ſich nicht
weiter abgeben ſollten. Der zweite Satz
war ſo gefaßt: „wir haͤngen euch einen
Kalabaſch mit Oel und mit Arznei an den
[115] Arm. Mit dem Oel ſollt ihr die Ohren
der uͤbrigen Nationen reinigen, damit ſie
aufs Gute und nicht aufs Boͤſe hoͤren;
die Arznei aber ſollt ihr bei ſolchen Voͤl-
kern brauchen, die ſchon auf thoͤrichte Wege
gerathen ſind, damit ſie wieder zu ſich ſelbſt
kommen und ihr Herz zum Frieden wen-
den.“ Der dritte Satz, darinn ſie den
Delawaren den Ackerbau zu ihrer kuͤnfti-
gen Beſchaͤftigung anwieſen, war ſo aus-
gedruͤckt: „Wir geben euch hiemit einen
Welſchkornſtengel und eine Hacke in die
Hand.“ Jeder Satz wurde mit einem
Belt of Wampon (Guͤrtel von Muſchel-
ſchalen) bekraͤftigt. Dieſe Belte ſind bis
daher ſorgfaͤltig aufgehoben und ihre
Bedeutung von Zeit zu Zeit wiederholt
worden.
Seit dieſem ſonderbaren Friedensſchluß
ſind die Delawaren von den Irokeſen
H 2
[116]Schweſterkinder benannt worden; die
drei Delawar-Staͤmme heißen einander
Mitgeſpielinnen. Dieſe Titel aber
werden nur in ihren Rathsverſammlungen,
und wenn ſie einander etwas erhebliches
zu ſagen haben, gebraucht. Von beſagter
Zeit iſt die Delawar-Nation die Frie-
densbewahrerinn geweſen, der der
große Friedensbelt in Verwahrung gege-
ben und die Kette der Freundſchaft anver-
trauet iſt. Sie hat daruͤber zu wachen,
daß dieſelbe unverletzt erhalten werde.
Nach der Vorſtellung der Indianer liegt
die Mitte der Kette auf ihrer Schulter
und wird von ihr feſtgehalten; die uͤbrigen
Indianernationen faſſen das Eine Ende,
und die Europaͤer das andre an.“ *) —
[117]
So die Irokeſen. Es waren Zeiten
in Europa, da die Hierarchie die Stelle
dieſer Frau vertreten ſollte. Auch ſie
trug das lange Kleid; Oel und Arznei
waren in ihrer Hand. Man giebt ihr
Schuld, daß ſie, ſtatt ihr Friedens-Amt
zu verwalten, oft ſelbſt Kriege zwiſchen den
Maͤnnern erregt und angefacht habe; we-
nigſtens hat ihr Oel die Ohren der Voͤl-
ker noch nicht gereinigt, ihre Arznei die
Kranken noch nicht geheilet.
Sollen wir ſtatt ihrer in der Mitte
Europa's einer wirklichen Nation
Weibskleider anziehen, und ihr das Frie-
densrichteramt auftragen? Welcher?
Wie koͤnnte ſies aber verwalten, da
oft uͤber einige Pelze an der Hudſonsbai,
uͤber einige Flecken am Paraquaiſtrom, in
deren Lage bisweilen die Kriegfuͤhrenden
ſelbſt ſich geirrt haben, uͤber einen Hafen-
[118] platz im ſtillen Meer, uͤber Neckereien der
Gouverneurs gegen einander Weltverwuͤ-
ſtende Kriege gefuͤhrt werden? Ja wie
oft entſprangen dieſe aus einer Grille des
Monarchen, aus einer niedrigen Kabale
des Miniſters! Eine Geſchichte vom wah-
ren Urſprunge der Kriege in Europa ſeit
den Kreuzzuͤgen waͤre ein ſiebenfacher Hu-
dibras, das niedrigſte Spottgedicht, das
geſchrieben werden koͤnnte. In einer Welt,
in der dunkle Cabinette Kriege anſpinnen
und fortleiten, waͤre alle Muͤhe der Frie-
densfrau verlohren.
Leider auch bei den Wilden ſelbſt er-
reichte dieſe Anſtalt ihren Zweck nicht
lange. Als die Europaͤer naͤher drangen,
ſollte auf Erfordern der Maͤnner ſelbſt die
Frau an der Gegenwehr mit Antheil
nehmen. Man wollte, wie man ſich aus-
druͤckte, zuerſt ihr den Rock kuͤrzen, ſodann
[119] gar wegnehmen und ihr das Kriegsbeil
in die Hand geben. Eine fremde unvor-
hergeſehene Uebergewalt ſtoͤrte das ſchoͤne
Projekt der Wilden zum Frieden unter ein-
ander; und dies wird jedesmal der Fall ſeyn,
ſolange der Baum des Friedens nicht mit
veſten, unausreißbaren Wurzeln von In-
nen heraus den Nationen bluͤhet.
Wie manche andre Mittel haben die
Menſchen ſchon verſucht, Streitſuͤchtigen
Nationen Einhalt zu thun und ihnen die
Wege zu ſperren. Zwiſchen Gebuͤrgen wur-
den ungeheure Mauern errichtet, Zwiſchen-
laͤnder zur Wuͤſte gemacht, abſchreckende
Fabeln erſonnen und in dieſe Wuͤſte ge-
pflanzet. In Aſien ſollte ein heiliges
Reich den Streifereien der Mogolen ein
Ziel ſetzen; der große Lama ſollte die
Friedensfrau ſeyn. In Afrika wurden
Obelisken und Tempel die Freiſtaͤten
[120] des Handels, die Mutter von Geſetzgebun-
gen und Colonieen. In Griechenland ſoll-
ten Orakel, Amphiktyonen, das
Panionium, Panaͤtelium, der
Achaͤerbund u. f. wo nicht einen ewi-
gen, ſo doch einen langen Frieden bewir-
ken; mit welchem Erfolg hat die Zeit ge-
lehret. Am beſten waͤre es, wenn, wie
bei jenem Handel im innern Afrika, die
Nationen einander ſelbſt gar nicht ſe-
hen doͤrften. Sie legen die Waaren
hin, und entfernen ſich, bieten und tau-
ſchen. Einander erblickend, iſt Betrug
und Zank unvermeidlich. — Meine große
Friedensfrau hat einen andern Na-
men. Ihre Arznei wirket ſpaͤt, aber un-
fehlbar; vergoͤnnen Sie mir dazu einen
andern Brief.
[121]
[122]
[123]
[124]
[125]
119.
Meine große Friedensfrau hat nur
Einen Namen: ſie heißt allgemeine
Billigkeit, Menſchlichkeit, thaͤ-
tige Vernunft.
Ich habe ein ſehr ſinnreiches Manu-
ſcript geleſen, in dem der Menſchenge-
ſchichte folgende Saͤtze zum Grunde lagen:
1. Menſchen ſterben um Menſchen Platz
zu machen. 2. Und da ihrer weniger ſter-
ben, als gebohren werden: ſo macht die
[126] Natur durch gewaltſame Mittel Raum.
3. Dahin gehoͤren nicht nur Peſt, Mis-
wachs, Erdbeben, Erdrevolutionen; ſon-
dern auch Voͤlkerrevolutionen, Verwuͤſtun-
gen, Kriege. 4. Wie Eine Thierart die
andre vermindert: ſo ſetzt das Menſchen-
geſchlecht ſich ſelbſt in Proportion und wehrt
der Ueberzahl. 5. Es giebt in ihm alſo
erhaltende und zerſtoͤrende Charak-
tere. — Schreckliches Syſtem, das uns
vor unſrem eignen Geſchlecht Schauder
und Furcht einjagt, indem wir nach ihm
Jedem ins Angeſicht, auf ſeinen Gang
und auf ſeine Haͤnde ſehen muͤſſen, ob er
ein Fleiſch- oder Grasfreſſendes Thier ſei?
ob er einen erhaltenden oder zerſtoͤ-
renden Charakter an ſich trage? Gewiß
hat uns die Natur an Mitteln nicht ent-
bloͤßt, uns vor dieſer zerſtoͤrenden Gat-
tung unſeres eignen Geſchlechts zu ſichern;
[127] nur ſie gab uns dieſe Mittel als Waffen
nicht in die Haͤnde, ſondern in Kopf und
Herz. Die allgemeine Menſchen-
vernunft und Billigkeit iſt die Ma-
trone, die Oel und Arznei am Arm, die
einen Fruchtſtengel in der Hand traͤgt,
nicht etwa nur als Symbole, ſondern als
die ſtillwirkenden Mittel wo nicht zu einem
ewigen Frieden, ſo gewiß doch zu einer
allmaͤlichen Verminderung der Kriege. Laſ-
ſen Sie mich, da wir hier auf des ehrli-
chen St. Pierre Wege gerathen, auch
ſeiner Methode uns nicht ſchaͤmen und die
große Friedensfrau(pax ſempiterna)
mit veſten Grundſaͤtzen in ihr Amt weiſen.
Sie iſt dazu da, ihrem Namen und ihrer
Natur nach Friedens-Geſinnungen
einzufloͤßen.
[128]
Erſte Geſinnung.
Abſcheu gegen den Krieg.
Der Krieg, wo er nicht erzwungene
Selbſtvertheidigung, ſondern ein toller An-
griff auf eine ruhige, benachbarte Nation
iſt, iſt ein unmenſchliches, aͤrger als thie-
riſches Beginnen, indem er nicht nur der
Nation, die er angreift, unſchuldiger Weiſe
Mord und Verwuͤſtung drohet, ſondern
auch die Nation, die ihn fuͤhret, eben ſo
unverdient als ſchrecklich hinopfert. Kann
es einen abſcheulichern Anblick fuͤr ein hoͤ-
heres Weſen geben, als zwei einander
gegenuͤber ſtehende Menſchenheere, die un-
beleidigt einander morden? Und das Ge-
folge des Krieges, ſchrecklicher als er ſelbſt,
ſind Krankheiten, Lazarethe, Hunger, Peſt,
Raub, Gewaltthat, Veroͤdung der Laͤnder,
Ver-
[129] Verwilderung der Gemuͤther, Zerſtoͤrung
der Familien, Verderb der Sitten auf
lange Geſchlechter. Alle edle Menſchen
ſollten dieſe Geſinnung mit warmem Men-
ſchengefuͤhl ausbreiten, Vaͤter und Muͤtter
ihre Erfahrungen daruͤber den Kindern
einfloͤßen, damit das fuͤrchterliche Wort
Krieg, das man ſo leicht ausſpricht, den
Menſchen nicht nur verhaßt werde, ſon-
dern daß man es mit gleichem Schauder
als den St. Veitstanz, Peſt, Hungersnoth,
Erdbeben, den ſchwarzen Tod zu nennen
oder zu ſchreiben, kaum wage.
Zweite Geſinnung.
Verminderte Achtung gegen den Hel-
denruhm.
Immer mehr muß ſich die Geſinnung
verbreiten, daß der Laͤnder-erobernde Hel-
Zehnte Sammlung. I
[130]dengeiſt nicht nur ein Wuͤrgengel der
Menſchheit ſei, ſondern auch in ſeinen Ta-
lenten lange nicht die Achtung und den
Ruhm verdiene, die man ihm aus Tradi-
tion von Griechen, Roͤmern und Barbaren
her zollet. So viel Gegenwart des Gei-
ſtes, ſo viel zuſammenfaſſende Vorſicht und
Vorausſicht und ſchnellen Blick er fodern
moͤge: ſo wird der edelſte Held vor und
nach der Schlacht nicht nur das Geſchaͤft
beweinen, dem er ſeine Gaben aufopfert,
ſondern auch gern geſtehen, daß um Va-
ter eines Volks zu ſeyn, wenn nicht
mehr, ſo doch edlere Gaben in fortge-
hender Bemuͤhung und ein Charak-
ter erfodert werde; ein Charakter, der
ſeinen Kampfpreis weder Einem Tage zu
verdanken hat, noch ihn mit dem Zufall
oder dem blinden Gluͤck theilet. Alle Ver-
ſtaͤndige ſollten ſich vereinigen, durch echte
[131] Kenntniß alter und neuer Zeiten den fal-
ſchen Schimmer wegzublaſen, der um ei-
nen Marius, Sulla, Attila, Gen-
gischan, Tamerlan gaukelt, bis end-
lich jeder gebildeten Seele Geſaͤnge auf ſie
und auf Lips Tullian gleich heroiſch er-
ſchienen.
Dritte Geſinnung.
Abſcheu der falſchen Staatskunſt.
Immer mehr muß ſich die falſche
Staatskunſt entlarven, die den Ruhm
eines Regenten und das Gluͤck ſeiner Re-
gierung in Erweiterung der Grenzen, in
Erjagung oder Erhaſchung fremder Pro-
vinzen, in vermehrte Einkuͤnfte, ſchlaue
Unterhandlungen, in willkuͤhrliche Macht,
I 2
[132] Liſt und Betrug ſetzt. Die Mazarins,
Louvois, du Terrai und ihres glei-
chen muͤſſen nicht nur im Angeſicht des
ehrlichen Volks, ſondern der Weichlinge
ſelbſt wie ſie ſind erſcheinen, ſo daß es
wie das Einmal Eins klar wird, daß je-
der Betrug einer falſchen Staatskunſt am
Ende ſich ſelbſt betruͤge. Die allge-
meine Stimme muß uͤber den Werth des
bloßen Staats-Ranges und ſeiner
Zeichen, ſelbſt uͤber die aufdringendſten
Gaukeleien der Eitelkeit, ſelbſt uͤber fruͤh-
eingeſogene Vorurtheile ſiegen. Mich duͤnkt,
man ſei im Verachten einiger dieſer Dinge
jetzt ſchon weit und vielleicht zu weit fort-
geſchritten; es kommt darauf an, daß man
das Schaͤtzenswerthe bei Allem was uns
der Staat auflegt, auch redlich und um
ſo hoͤher achte, je mehr es die Menſchheit
der Menſchen foͤrdert.
[133]
Vierte Geſinnung.
Gelaͤuterter Patriotismus.
Der Patriotismus muß ſich noth-
wendig immer mehr von Schlacken reini-
gen und laͤutern. Jede Nation muß es
fuͤhlen lernen, daß ſie nicht im Auge An-
drer, nicht im Munde der Nachwelt, ſon-
dern nur in ſich, in ſich ſelbſt groß, ſchoͤn,
edel, reich, wohlgeordnet, thaͤtig und gluͤck-
lich werde; und daß ſodann die fremde
wie die ſpaͤte Achtung ihr wie der Schatte
dem Koͤrper folge. Mit dieſem Gefuͤhl
muß ſich nothwendig Abſcheu und Verach-
tung gegen jedes leere Auslaufen der Ih-
rigen in fremde Laͤnder, gegen das Nutz-
loſe Einmiſchen in auslaͤndiſche Haͤndel,
gegen jede leere Nachaͤffung und Theilneh-
mung verbinden, die unſer Geſchaͤft, unſre
[134] Pflicht, unſre Ruhe und Wohlfahrt ſtoͤren.
Laͤcherlich und veraͤchtlich muß es werden,
wenn Einheimiſche ſich uͤber auslaͤndiſche
Angelegenheiten, die ſie weder kennen noch
verſtehen, in denen ſie nichts aͤndern koͤn-
nen und die ſie gar nicht angehn, ſich
entzweien, haſſen, verfolgen, verſchwaͤrzen
und verlaͤumden. Wie fremde Banditen
und Meuchelmoͤrder muͤſſen die erſcheinen,
die aus toller Brunſt fuͤr oder gegen ein
fremdes Volk die Ruhe ihrer Mitbruͤder
untergraben. Man muß lernen, daß man
nur auf dem Platz etwas ſeyn kann, auf
dem man ſtehet, wo man etwas ſeyn ſoll.
Fuͤnfte Geſinnung.
Gefuͤhl der Billigkeit gegen andre
Nationen.
Dagegen muß jede Nation allgemach
es unangenehm empfinden, wenn eine andre
[135] Nation beſchimpft und beleidigt wird; es
muß allmaͤlich ein gemeines Gefuͤhl
erwachen, daß jede ſich an die Stelle je-
der andern fuͤhle. Haſſen wird man den
frechen Uebertreter fremder Rechte, den
Zerſtoͤrer fremder Wohlfahrt, den kecken
Beleidiger fremder Sitten und Meinun-
gen, den pralenden Aufdringer ſeiner eig-
nen Vorzuͤge an Voͤlker, die dieſe nicht be-
gehren. Unter welchem Vorwande Jemand
uͤber die Grenze tritt, dem Nachbar als
einem Sklaven das Haar abzuſcheren, ihm
ſeine Goͤtter aufzuzwingen, und ihm dafuͤr
ſeine Nationalheiligthuͤmer in Religion,
Kunſt, Vorſtellungsart und Lebensweiſe zu
entwenden; im Herzen jeder Nation wird
er einen Feind finden, der in ſeinen eig-
nen Buſen blickt und ſagt: „wie? wenn
das mir geſchaͤhe?“ — Waͤchſt dies Ge-
[136] fuͤhl, ſo wird unvermerkt eine Allianz
aller gebildeten Nationen gegen
jede einzelne anmaaßende Macht. Auf
dieſen ſtillen Bund iſt gewiß fruͤher zu
rechnen, als nach St. Pierre auf ein
foͤrmliches Einverſtaͤndniß der Cabinette und
Hoͤfe. Von dieſen darf man keine Vor-
ſchritte erwarten; aber auch ſie muͤſſen
endlich ohne Wiſſen und wider Willen der
Stimme der Nationen folgen.
Sechſte Geſinnung.
Ueber Handelsanmaaßungen.
Laut empoͤrt ſich das menſchliche Ge-
fuͤhl gegen freche Anmaaßungen im Han-
del, ſobald ihm unſchuldige froͤhnende Na-
tionen um einen Gewinn, der ihnen nicht
[137] einmal zu Theil wird, aufgeopfert werden.
Handel ſoll, wenn auch nicht aus den
edelſten Trieben, die Menſchen vereini-
gen, nicht trennen; er ſoll ſie, wenn gleich
nicht im edelſten Gewinn, ihr gemeinſchaft-
liches und eigenes Intereſſe wenigſtens als
Kinder kennen lehren. Dazu iſt das Welt-
meer da; dazu wehen die Winde; dazu
fließen die Stroͤme. Sobald Eine Nation
allen andern das Meer verſchließen, den
Wind nehmen will, ihrer ſtolzen Habſucht
wegen; ſo muß, jemehr die Einſicht ins
Verhaͤltniß der Voͤlker gegen ein-
ander zunimmt, der Unmuth aller Na-
tionen gegen eine Unterjocherinn des freie-
ſten Elements, gegen die Raͤuberinn jedes
hoͤchſten Gewinnes, die anmaaßende Be-
ſitzerinn aller Schaͤtze und Fruͤchte der
Erde erwachen. Ihrem Stolz, ihrer Hab-
ſucht zu dienen wird kein fremder Bluts-
[138] tropfe willig fließen, je mehr der wahre
Satz eines vortreflichen Mannes anerkannt
wird, „daß die Vortheile der han-
delnden Maͤchte einander nicht
durchkreuzen, und daß dieſe Maͤch-
te von einem gegenſeitigen allge-
meinen Wohlſtande, und von der
Erhaltung eines ununterbroche-
nen Friedens vielmehr den groͤße-
ſten Nutzen haben wuͤrden.“ *)
[139]
Siebende Geſinnung.
Thaͤtigkeit.
Endlich der Kornſtengel in der
Hand der Indiſchen Frau iſt ſelbſt eine
Waffe gegen das Schwert. Je mehr die
Menſchen Fruͤchte einer nuͤtzlichen Thaͤtig-
keit kennen, und einſehen lernen, daß
durchs Kriegsbeil nichts gewonnen, aber
viel verheert wird; je mehr die ſchmaͤhen-
*)
[140] den Vorurtheile von einer mit goͤttlichem
Beruf zum Kriege gebohrnen Caſte, in der
von Vater Cain, Nimrod und Og zu
Baſan an Heldenblut fließe, veraͤchtlich
und laͤcherlich werden, deſto mehr Anſehen
wird der Aehrenkranz, der Apfel- und
Palmzweig, vor dem traurigen Lorbeer er-
halten, der neben dunkeln Cypreſſen waͤchſt
und ſammt Neſſeln und Dornen nur La-
certen und Bubonen unter ſich liebet.
Die ſanfte Verbreitung dieſer Grund-
ſaͤtze ſind das Oel und die Arznei der
*)
[141] großen Friedensgoͤttinn Vernunft, de-
ren Sprache ſich endlich niemand entziehen
kann. Unvermerkt wirkt die Arznei, ſanft
fließt das Oel hinunter. Leiſe tritt ſie zu
dieſem und jenem Volk und ſpricht in der
Sprache der Indianer: „Bruder, Enkel,
Vater, hier bringe ich dir ein Bundes-
zeichen, und Oel und Arznei. Damit will
ich deine Augen reinigen, daß ſie ſcharf
ſehen; ich will damit deine Ohren ſaͤubern,
daß ſie recht hoͤren; ich will deinen Hals
glaͤtten, daß meine Worte geſchmeidig hin-
untergehen: denn ich komme nicht umſonſt;
ich bringe Worte des Friedens.“
Und der Angeredete wird antworten:
„Schweſter, dieſer String of Wam-
pum ſoll dich willkommen heißen. Ich
will die Dornen aus deinen Fuͤßen ziehen,
die dir etwa moͤchten hineingefahren ſeyn.
Ich will die Muͤdigkeit, die dich auf der
[142] Reiſe befallen hat, wegſchaffen, daß deine
Kniee wieder ſtark und muthig werden.
Das rothe Kriegsbeil und die Keule ſollen
in die Erde verſcharret ſeyn, und uͤber ſie
wollen wir einen Baum pflanzen, der bis
in den Himmel wachſe. Solange Sonne
und Mond ſcheinen und auf und nieder-
gehen, ſolange die Sterne am Himmel ſte-
hen und die Fluͤſſe mit Waſſer fließen, ſoll
unſre Freundſchaft dauren.“ *) —
Wenn, wie ich faſt glaube, ein ewiger
Friede foͤrmlich erſt am juͤngſten Tage
geſchloſſen werden wird, ſo iſt dennoch kein
Grundſatz, kein Tropfe Oel vergebens, der
dazu auch nur in der weitſten Ferne vor-
bereitet.
[143]
120.
Jede Aufmunterung zu guten Geſinnun-
gen ohne auf die Foͤrmlichkeit ihrer
Ausfuͤhrung aͤngſtliche Ruͤckſicht zu neh-
men, iſt eine Troſtpredigt. Oft ſagt der
Bloͤde: „wenn wird, wenn kann dies ge-
ſchehen?“ und thut daruͤber gar nichts.
Oft haͤlt er ſich zu fruͤh und zu genau an
die Beſtimmung der Foͤrmlichkeiten des
Ausgangs, und vergißt daruͤber das We-
[144] fentliche der Huͤlfsmittel, dieſen Ausgang
zu foͤrdern. Viele Beiſpiele der Geſchichte
legen dies klar an den Tag.
In den alten Schriften der Ebraͤiſchen
Nation z. B. waren ſchoͤne Wuͤnſche und
Entwuͤrfe fuͤr die Zukunft gepflanzet. Hoff-
nungen eines großen Lichts, das allen Voͤl-
kern aufgehen, eines Bandes der Freund-
ſchaft, das alle Nationen umfaſſen ſollte,
einer Religion, die ins Herz geſchrieben,
eines goldnen Friedens, an dem Alles
Theilnehmen wuͤrde, glaͤnzten wie eine
Morgenroͤthe. Sobald man in dieſen Ent-
wuͤrfen und Ahnungen den Geiſt des Weiſ-
ſagenden, ſeinen Zweck und die herrſchende
Geſinnung der Rede verkannte, als man
ſich an den Buchſtaben hing, und die Er-
fuͤllung foͤrmlich beſtimmte; da kamen
Thorheiten ans Licht; Traͤumereien, mit
deren Jeder man um ſo weiter vom Sinn
der
[145] der Weißagung abwich, je foͤrmlicher
man beſtimmte.
Nicht anders wars im Chriſtenthum,
als man auf die ſichtbare Ankunft des
Herren hofte. In allen Schwaͤrmer-
ſekten, die das tauſendjaͤhrige Reich zu
Stande bringen wollten, wars nicht an-
ders. Mit mancher neuen Philoſophie,
fuͤrchte ich, iſts eben alſo. Wie nahe der
Erfuͤllung hat man ſich bei manchen Sy-
ſtemen geglaubt, und wie ſchrecklich ward
man betrogen! Die glaͤnzende Hoͤhe, die
man dicht vor ſich ſah, ruͤckte weiter und
weiter. Da giebt der Getaͤuſchte dann
alle Hoffnung auf und laͤßt die Haͤnde
ſinken. —
Verbreiter guter Geſinnungen, ſchadet
ihnen, ſchadet euch ſelbſt nicht durch Be-
zeichnung eines Aeußern, das blos von
der Zeit und von Umſtaͤnden beſtimmt wer-
Zehnte Sammlung. K
[146] den kann! Pflanzt den Baum; er wird
von ſelbſt wachſen; Erde, Luft, Sonne
werden ihm Gedeihen geben. Sichert gute
Grundſaͤtze; durch eigne Kraft werden ſie
wirken — nicht anders aber als mit Mo-
dificationen, die Zeit und Ort ihnen allein
geben koͤnnen und geben werden.
[147]
K 2
[148]
[149]
[150]
[151]
[152]
[153]
[154]
[155]
[156]
121.
Wenn in Einem Felde der Wiſſenſchaft
menſchliche Geſinnungen herrſchen
ſollten, ſo iſts im Felde der Geſchichte:
denn erzaͤhlt dieſe nicht menſchliche Hand-
lungen? und entſcheiden dieſe nicht uͤber
den Werth des Menſchen? bauen dieſe
nicht unſres Geſchlechts Gluͤck und Un-
gluͤck?
Man ſagt: „die Geſchichte erzaͤhle Be-
gebenheiten“, und iſt beinah geneigt,
[157] dieſe fuͤr ſo unwillkuͤhrlich, ja fuͤr ſo uner-
klaͤrbar anzuſehen, wie man in den dun-
kelſten Jahrhunderten die Naturbegeben-
heiten nicht anſah, ſondern anſtaunte.
Ein erregter Krieg oder Aufruhr gilt der
gemeinen Geſchichte wie ein Ungewitter,
wie ein Erdbeben; die ihn erregten, wer-
den als Geißel der Gottheit, als maͤchtige
Zauberer betrachtet; und damit gnug!
Eine Geſchichte dieſer Art kann die
kluͤgſte oder die ſtupideſte werden,
nachdem der Sinn ihres Verfaſſers war.
Die ſtupideſte wird ſie, wenn ſie in
einem ſogenannt - großen und goͤttlichen
Mann alles bewundert, und keine ſeiner
Unternehmungen an ein Richtmaas menſch-
licher Vernunft zu bringen ſich erkuͤhnet.
Manche morgenlaͤndiſche Geſchichte von
Nadir-Schah, Timur-Long u. f.
ſind ſo geſchrieben; wir leſen eine lob-
[158] jauchzende Epopee, mit einer duͤrren oder
abſcheulichen Thatenreihe froͤlich durch-
webet.
Europa hat an dieſem morgenlaͤndiſchen
Geſchmack vielen Antheil genommen, nicht
etwa nur in den Zeiten der Kreuzzuͤge,
ſondern auch in den meiſten Lebensbeſchrei-
bungen einzelner Helden, in der Geſchichte
ganzer Sekten, Familien und Familien-
kriege. Man ſtaunt, wenn man die
Andacht und Anhaͤnglichkeit des Schrift-
ſtellers an ſeinen verehrten Gegenſtand
wahrnimmt, und kann nichts anders ſa-
gen, als: „er hat aus dem Becher der
Betaͤubung getrunken; Wein der Daͤmo-
nen hat ihm die Sinne benebelt.“
Die kluͤgſte Geſchichte dieſer Art iſt
die kaͤlteſte, etwa wie Machiavell ſie
trieb und anſah. Auch ſie vergißt Recht
und Unrecht, Laſter und Tugend, indem
[159] ſie, rein wie ein Geometer, den Erfolg ge-
gebener Kraͤfte ausmißt und fortgehend
einen Plan berechnet.
Daß aus dieſer Machiavelliſchen
Geſchichte, wenn ſie ſcharf ſiehet und rich-
tig rechnet, viel zu lernen ſei, iſt keine
Frage. Beſchaͤftigt ſie ſich nicht mit dem
verflochtenſten, wichtigſten Problem, das
unſerm Geſchlechte vorliegt? Menſchen-
kraͤfte im Verhaͤltniß ihrer Wir-
kungen und Folgen.
Waͤre nur dies Problem auch rein auf-
zuloͤſen! Auf dem Schauplatz der Erde,
ſelbſt in ihren engeſten Winkeln laͤuft ſo
Vieles durch einander; gegenſeitige Kraͤfte
ſtoͤren einander, und in alles miſchen ſich
Umſtaͤnde, Zeit, Gluͤck, der tauſendarmige
Zufall. Der Kluͤgſte ward hintergangen;
der Beſonnenſte verfehlte ſeinen Zweck.
Alſo wird dieſe Schule des Unterrichts
[160] oft eine Romanſchule, da man dem
gluͤcklichen Helden Klugheit leihet, die er
nicht hatte, und von ſchimmernden Erfol-
gen nach einem falſchen Calcul ruͤckwaͤrts
rechnet; oder ſie wird, wenn die beſten
Kraͤfte durch einen Zufall mißrathen, eine
niederſchlagende Lection, eine Schule der
Verzweiflung. Ueberhaupt aber macht
dieſer Wetzſtein der Klugheit das Gemuͤth
leicht zu ſcharf, zu ſchartig.
Wer kann Machiavells Prinzen
ohne Schauder leſen? Wenn ihm auch
alles gelaͤnge, waͤre er ein wuͤrdiger Fuͤrſt?
waͤre er in ſeinem Buſen gluͤcklich? Ent-
ſetzlich iſts, die Menſchheit nur als eine
Linie zu betrachten, die man nach Ge-
fallen zu ſeinem Zweck kruͤmmen, ſchnei-
den, verlaͤngern und verkuͤrzen darf, da-
mit ein Plan erreicht, damit die Aufgabe
nur geloͤſet werde.
Alſo
[161]
Alſo koͤnnen wir uns vom Menſchen-
gefuͤhl nicht trennen, indem wir die Ge-
ſchichte ſchreiben oder leſen; ihr hoͤchſtes
Intereſſe, ihr Werth beruhet auf die-
ſer Menſchenempfindung, der Regel des
Rechts und Unrechts. Wer blos fuͤr
Klugheit ſchreibt, geraͤth leicht in Duͤnkel;
wer nur fuͤr die Neugierde ſchreibt, ſchreibt
fuͤr Kinder.
Was beſtimmt aber dieſe Regel des
Rechts? Auch hier giebts eine zu warme
und zu kalte Geſchichte.
Die erhitzte will zur Ehre Gottes
alles bewirken, und erlaubt ſich zu dieſem
vermeinten Zweck Frevel und Unſinn. So
unterjochte Timur eine halbe Welt, den
Muhammedaniſchen Glauben auszubreiten,
und wollte im hoͤchſten Alter noch das ru-
hige China bekriegen. So zogen die Na-
tionen Europa's zum heiligen Grabe: ſo
Zehnte Sammlung. L
[162] wuͤrgten die Spanier in Amerika; ſo mar-
terte und verfolgte die Inquiſition. Schreck-
liche Leidenſchaften der Menſchen umhuͤlle-
ten ſich mit dem Mantel Gottes und zer-
ſtoͤrten und quaͤlten. —
Die kalte Geſchichte rechnet unter der
Regel eines angeblichen poſitiven Rechts
nach Staatsplanen; und auch ſie
wird in Befolgung dieſer oft ſehr warm.
Wohl des Vaterlandes, Ehre der
Nation wird in ihr das Feldgeſchrei und
bei truͤglichen Unterhandlungen die Staats-
loſung. Die Athener, die Roͤmer — was
rechneten ſie nicht zum Wohl ihres Va-
terlandes, zu ihrem Ruhm, mithin
zu ihrem Recht? Was erlaubten ſich
der Papſt, die Cleriſei, die chriſtlichen Koͤ-
nige nicht zum angeblichen Wohl ihrer
Reiche? Erzaͤhlt die Geſchichte dies alles
gleichguͤltig, oder gar zutrauend, glaubend:
[163] ſo geraͤth man mit ihr in ein Labyrinth
der verflochtenſten, widrigſten Staatsin-
tereſſe, perſoͤnlicher Anmaaßungen und
Staatsliſten. Ein großer Theil der Bege-
benheiten unſrer zwei letzten Jahrhunderte,
die ſogenannten Denkwuͤrdigkeiten, (me-
moires) Lebensbeſchreibungen, politiſche
Teſtamente ſind in dieſem Sinn, dem Geiſt
Richelieu's, Mazarin's, und fruͤ-
her noch Carls 5., Philipp 2., Phi-
lipps des ſchoͤnen, Ludwigs 11. 13. 14.
kurz im Geiſt der Spaniſch-Fran-
zoͤſiſchen Staatspolitik geſchrieben.
Ein fuͤrchterlicher Geiſt, der ſich zum Wohl
des Staats, d. i. zum Ruhm und zur
groͤßeren Macht der Koͤnige, zur Sicher-
heit und Groͤße ihrer Miniſter alles erlaubt
hielt! In welcher Geſchichte er durch-
blickt, ſchwaͤrzt er das Glaͤnzendſte mit
dem Schatten der Eitelkeit, der Trugliſt,
L 2
[164] der Anmaaßung, der Verſchwendung. Ver-
geſſen iſt in ihm die Menſchheit, die nach
ihm blos fuͤr den Staat, d. i. fuͤr Koͤ-
nige und Miniſter lebet.
Allgemach ſind wir auch dieſem Nebel
entkommen; aber ein anderes Glanzphan-
tom ſteigt in der Geſchichte auf; naͤmlich,
die Berechnung der Unternehmun-
gen zu einer kuͤnftigen beſſern
Republik, zur beſten Form des
Staats, ja aller Staaten. Dies
Phantom taͤuſchet ungemein, indem es of-
fenbar einen edleren Maasſtab des Ver-
dienſtes in die Geſchichte bringt, als den
jene willkuͤhrliche Staatsplane enthielten,
ja gar mit den Namen Freiheit, Aufklaͤ-
rung, hoͤchſte Gluͤckſeligkeit der Voͤlker blen-
det. Wollte Gott, daß es nie taͤuſchte!
Die Gluͤckſeligkeit Eines Volks
laͤßt ſich dem andern und jedem andern
[165] nicht aufdringen, aufſchwaͤtzen, aufbuͤrden.
Die Roſen zum Kranze der Freiheit
muͤſſen von eignen Haͤnden gepfluͤckt wer-
den, und aus eignen Beduͤrfniſſen, aus
eigner Luſt und Liebe froh erwachſen. Die
ſogenannt - beſte Regierungsform,
die ungluͤcklicher Weiſe noch nicht gefun-
den iſt, taugt gewiß nicht fuͤr alle Voͤlker,
auf Einmal, in derſelben Weiſe; mit dem
Joch auslaͤndiſcher, uͤbel eingefuͤhrter Frei-
heit wuͤrde ein fremdes Voͤlk aufs aͤrgſte
belaͤſtigt. Eine Geſchichte alſo, die bei al-
len Laͤndern auf dieſen utopiſchen Plan
nach unbewieſenen Grundſaͤtzen alles berech-
net, iſt die glaͤnzendſte Truggeſchichte.
Ein fremder Firniß, der den Geſtalten
unſrer und der vorigen Welt ihre wahre
Haltung, ſelbſt ihre Umriſſe raubet. Viele
Schriften unſrer Zeit wird man zwanzig
Jahr ſpaͤter als wohl- oder uͤbelgemeinte
[166] Fieber-Phantaſieen leſen; reifere Gemuͤ-
ther leſen ſie jetzt ſchon alſo.
Alſo bleibt der Geſchichte einzig und
ewig nichts, als der Geiſt ihres aͤlteſten
Schreibers, Herodots, der unan-
geſtrengte milde Sinn der Menſchheit.
Unbefangen ſieht dieſer alle Voͤlker und
zeichnet jedes auf ſeiner Stelle, nach
ſeinen Sitten und Gebraͤuchen. Unbe-
fangen erzaͤhlt er die Begebenheiten, und
bemerkt, wie allenthalben nur Maͤßi-
gung die Voͤlker gluͤcklich mache und je-
der Uebermuth ſeine Nemeſis hinter ſich
habe. Dies Maas der Nemeſis, nach
feineren oder groͤßeren Verhaͤltniſſen ange-
wandt, iſt der einzige und ewige Maas-
ſtab aller Menſchengeſchichte.
„Was du nicht willſt, das dir geſchehe,
das thue keinem andern;“ die Rache
kommt, ja ſie iſt da, bei jeder Verirrung,
[167] bei jedem Frevel. Alle Misverhaͤltniſſe und
Unbilligkeiten, jede ſtolze Anmaaßung,
jede feindſelige Verhetzung, jede Treuloſig-
keit hat ihre Strafe mit oder hinter ſich;
je ſpaͤter, deſto ſchrecklicher und ernſter.
Die Schuld der Vaͤter haͤuft ſich mit zer-
ſchmetterndem Gewicht auf Kinder und
Enkel. Gott hat den Menſchen nicht er-
laubt, laſterhaft zu ſeyn als unter dem
harten Geſetz der Strafe.
Wiederum belohnt ſich auch in der Ge-
ſchichte das kleinſte Gute. Kein vernuͤnf-
tiges Wort, was je ein Weiſer ſprach,
kein gutes Beiſpiel, kein Stral auch in
der dunkelſten Nacht war je verlohren.
Unbemerkt wirkte es fort und that Gutes.
Kein Blut des Unſchuldigen ward frucht-
los vergoſſen; jeder Seufzer des Unter-
druͤckten ſtieg gen Himmel und fand zu
ſeiner Zeit einen Helfer. Auch Thraͤnen
[168] ſind in der Saat der Zeit Samenkoͤrner
der gluͤcklichſten Ernte. Das Menſchen-
geſchlecht iſt Ein Ganzes; wir arbeiten
und dulden, ſaͤen und ernten fuͤr ein-
ander.
Wie milde, wie ſanft aufmunternd;
aber auch wie ernſt und zuſammenhaltend
iſt dieſer Geiſt der Menſchengeſchichte! Er
laͤßt jedes Volk an Stelle und Ort: denn
jedes hat ſeine Regel des Rechts, ſein
Maas der Gluͤckſeligkeit in ſich. Er ſcho-
net alle und verzaͤrtelt keines. Suͤndigen
die Voͤlker, ſo buͤßen ſie; und buͤßen ſo
lange und ſchwer, bis ſie nicht mehr ſuͤn-
digen. Wollen ſie nicht Kinder ſeyn, ſo
erzieht die Natur ſie als Sklaven.
Keiner politiſchen Verfaſſung tritt die-
ſer Geiſt der Geſchichte zerſtoͤrend in den
Weg. Er wirft nicht das Haus dem Ru-
higen uͤber den Kopf zuſammen, ehe ein
[169] anderes beſſeres da iſt; zeigt aber dem
zu Sichern mit freundlicher Hand Fehler
und Maͤngel des Hauſes, und fuͤhrt mit
ſtillem Fleiß Materialien herbei zur Stuͤz-
zung des alten, oder zum Bau eines
beſſern.
Nationalvorurtheile taſtet er nicht an:
denn in ihnen als Huͤlfen oder harten
Schalen muß manche gute Geſinnung
wachſen. Er laͤßt ſie wachſen. Wenn die
Frucht reif iſt, verdorret die Huͤlſe, die
Schale zerſpringt. Ihm iſts recht, wenn
der Franzmann und der Englaͤnder ſich ihre
humanité und humanity Engliſch und
Franzoͤſiſch mahlen; deſto weniger wird
der Auslaͤnder um ſie zu ſeinem Verderb
buhlen. Aus ſeinem Herzen muß eine
Geliebte hervorgehn, die fuͤr ihn gehoͤret.
Am heiligſten ſind dem Geiſt der Men-
ſchengeſchichte gutmuͤthige Thoren und
[170] Schwaͤrmer; ſie ſind ihm unter der beſon-
derſten goͤttlichen Obhut. Ohne Begeiſte-
rung geſchah nichts Großes und Gutes
auf der Erde; die man fuͤr Schwaͤrmer
hielt, haben dem menſchlichen Geſchlecht
die nuͤtzlichſten Dienſte geleiſtet. Trotz al-
les Spottes, Trotz jeder Verfolgung und
Verachtung drangen ſie durch; und wenn
ſie nicht zum Ziel kamen, ſo kamen ſie
doch weiter und brachten weiter. Le-
bendige Winde waren ſie uͤber dem abge-
ſtandenen Sumpf; oder ſie daͤmmeten ihn
und machten ihn fruchtbar. Leeren Spott
uͤber ſie erlaubt ſich nie der Geiſt der Ge-
ſchichte; hoͤchſtens bedauren wird er ſie,
nicht brandmalen.
Alle uͤberfeinen Eintheilungen der Men-
ſchen nach Principien, aus denen ſie aus-
ſchließend handeln ſollen, ſind dem Geiſt
der Geſchichte ganz fremde. Er weiß, daß
[171] in der Menſchennatur das Principium
der Sinnlichkeit, der Einbildungs-
kraft, des Eigennutzes, der Ehre,
des Mitgefuͤhls mit andern, der
Gottſeligkeit, des moraliſchen
Sinnes, des Glaubens u. f. nicht in
abgetrennten Kammern wohnen, ſondern
daß in einer lebendigen Organiſation, die
von mehreren Seiten geregt wird, viele
von ihnen, oft alle lebendig zuſammen-
wirken. Jedem von ihnen laͤßt er ſeinen
Werth, ſeinen Rang, ſeinen Ort, ſeine Zeit
der Entwicklung; uͤberzeugt, daß alle, auch
unbewußt, zu Einem Zweck, dem großen
Principium der Menſchlichkeit wirken. Alle
alſo laͤßt er zu ihrer Zeit an Stelle und
Ort bluͤhn, Sinnlichkeit und die
Kuͤnſte der Phantaſie, Verſtand
und Sympathie, Ehre, morali-
ſchen Sinn und heilige Andacht.
[172] Er zwingt ſo wenig den Magen zu den-
ken, als den Kopf zu verdauen und quaͤlet
niemand mit der Zergliederung, ob auch
jeder Biſſen Brodt, den er in den Mund
ſteckt, ein allgemeines moraliſches Grund-
geſetz aller vernuͤnftigen Weſen im Kauen
und Verdauen gebe? Kaue jeder wie er
kann; die Geſchichte behandelt die Men-
ſchen nicht als Wortfinder und Kritiker,
ſondern als Thaͤter eines moraliſchen Na-
turgeſetzes, das in ihnen allen ſpricht, das
zuerſt linde warnet, dann haͤrter ſtraft,
und jede gute Geſinnung durch ſich und
ihre Folgen reich belohnet. Reizet Sie
nicht dieſer Geiſt der Menſchenge-
ſchichte?
[173]
122.
Sie ſcheinen zu glauben, daß eine Ge-
ſchichte der Menſchheit nicht ſtatt habe,
ſolange man den Ausgang der Dinge
nicht weiß, oder wie man zu ſagen pflegt,
den juͤngſten Tag noch nicht erlebt hat.
Ich bin nicht dieſer Meinung. Moͤge ſich
das Menſchengeſchlecht verbeſſern oder ver-
ſchlimmern, moͤge es einſt zu Engeln oder
Daͤmonen, zu Sylphen oder zu Gnomen
werden; wir wiſſen, was wir zu thun
[174] haben. Nach veſten Grundſaͤtzen unſrer
Ueberzeugung von Recht und Unrecht be-
trachten wir die Geſchichte unſres Ge-
ſchlechts, moͤge ſein letzter Act ausgehn,
wie er wolle.
Monboddo z. B. ſiehet in ſeiner Ge-
ſchichte und Philoſophie des Menſchen *)
ihn als ein Syſtem lebendiger Kraͤfte an,
in welchem ſich das Elementariſche, das
Pflanzen- Thier- und Verſtandes-Leben
unterſcheide. Das animaliſche Leben, meint
er, ſei im beſten Zuſtande geweſen, da die
Menſchen Thieraͤhnlich lebten. Er findet
hievon noch Aehnlichkeit bei den Kindern.
Die Alter, die der Menſch als Indivi-
duum durchgehe, haͤlt er auch fuͤr die
[175] Laufbahn des ganzen Geſchlechtes. Dies
fuͤhrt er alſo in ſeinen erſten nackten Zu-
ſtand in freier Luft, in Regen, in Kaͤlte
zuruͤck, und zeigt, was die Bekleidung, das
Wohnen in Haͤuſern, der Gebrauch des
Feuers, die Sprache auf das Menſchen-
geſchoͤpf gewirkt haben. Er zeigt die Faͤ-
higkeiten, die es hatte, zu ſchwimmen, auf-
recht zu gehen, Uebungen anzuſtellen, und
findet in dieſem Zuſtande den Grund jenes
laͤngeren Lebens, jener groͤßeren Geſtalt
und Staͤrke, von der uns die Sage der
Urwelt erzaͤhlet. Aus Beiſpielen und Nach-
richten erweiſet er, wie durch Veraͤnderung
der Lebensweiſe, durchs Fleiſcheſſen und
den Trank geiſtiger Getraͤnke, durch die
ſitzende Lebensart bei Kuͤnſten, Gewerben,
Spielen, durch feinere Nahrungsmittel,
Wohlluͤſte und Zeitvertreibe der Koͤrper
des Menſchen geſchwaͤcht, verkleinert, ſein
[176] Leben verkuͤrzt worden. — Dagegen zeigt
er, wie der Verſtand des Menſchen durch
Geſellſchaft und Kuͤnſte zugenommen; wie
die Sagacitaͤt eines Naturmenſchen von
der Klugheit des civiliſirten Mannes ſich
unterſcheide; wie alle Kuͤnſte aus Nachah-
mung entſprungen und die Idee des Schoͤ-
nen blos dem civiliſirten Zuſtande eigen
ſei. In beiden Altern der Menſchheit fin-
det er Nationen, Familien, Individuen
unterſchieden, unſer Geſchlecht aber uͤber-
haupt in Abnahme animaliſcher
Kraͤfte, und hat hieruͤber Erinnerungen
gegeben, die jeder anwende, wie er mag
und kann. —
Gehen wir in dies Alles ein, (wie denn
Monboddo's Syſtem, einiger Eigenhei-
ten des Verfaſſers wegen, gewiß nicht laͤ-
cherlich gemacht zu werden verdienet,) neh-
men wir an, was auch die Geſchichte leh-
ret,
[177] ret, daß faſt alle Voͤlker der Erde einmal
in einem roheren Zuſtande gelebet, und
nur von wenigen die Cultur auf andre
gebracht ſei; was folget daraus?
1. Daß auf unſrer runden Erde
noch alle Zeitalter der Menſchheit
leben und weben. Da giebts Voͤlker-
ſchaften im Kindes- Juͤnglings- Mannes-
Alter, und wird deren wahrſcheinlich noch
lange geben, ehe es den Seefahrenden
Greiſen Europa's gelingt, durch gebrannte
Waſſer, Krankheiten und Sklavenkuͤnſte
ſie zum Greiſesalter zu befoͤrdern. Wie
uns nun jede Pflicht der Menſchlichkeit
gebeut, einem Kinde, einem Juͤnglinge
ſein Lebensalter, das Syſtem ſeiner Kraͤfte
und Vergnuͤgen nicht zu ſtoͤren; ſo gebie-
tet ſie ſolches auch Nationen gegen Na-
tionen. Sehr angenehm ſind mir in die-
ſem Betracht mehrere Unterredungen der
Zehnte Sammlung. M
[178] Europaͤer, inſonderheit der Miſſionare mit
auslaͤndiſchen Voͤlkern, z. B. Indiern,
Amerikanern; die naivſten Antworten voll
guten Herzens und geſunden Verſtandes
waren faſt immer auf Seite der Auslaͤn-
der. Sie antworteten kindiſch-treffend
und richtig; dagegen die Europaͤer mit
Aufdringung ihrer Kuͤnſte, Sitten und
Lehren meiſtens die Rolle abgelebter Alten
ſpielten, die voͤllig vergeſſen hatten, was
einem Kinde gehoͤrte.
2. Da die Unterſcheidung elementari-
ſcher, animaliſcher, vegetativer und Ver-
ſtandeskraͤfte nur ein Gedanke iſt, in dem
jeder Menſch aus allen dieſen, wenn gleich
in verſchiedenem Verhaͤltniß, beſtehet: ſo
huͤte man ſich, dieſe und jene Na-
tion ganz fuͤr animaliſch zu hal-
ten, um ſie als Laſtthiere zu gebrauchen.
Der reine Intellectus bedarf keines Laſt-
[179] thiers; und ſo wenig alſo der intellectuelſte
Europaͤer der Pflanzen- und Thierkraͤfte
in ſeinem Lebensſyſtem entbehren kann, ſo
wenig ermangelt irgend eine Nation ganz
des Verſtandes. Vielgeſtaltig iſt dieſer
allerdings in Anſehung der ihn regenden
Sinnlichkeit nach der verſchiedenen Orga-
niſation der Voͤlker; indeſſen iſt und bleibt
er in allen Menſchengeſtalten nur Ein
und Derſelbe. Das Geſetz der Bil-
ligkeit iſt keiner Nation fremd; die
Uebertretung deſſelben haben Alle gebuͤßet,
jede in ihrer Weiſe.
3. Wenn intellectuelle Kraͤfte in meh-
rerer Ausbildung der Vorzug der Euro-
paͤer ſind: ſo koͤnnen ſie dieſen Vor-
zug nicht anders als durch Ver-
ſtand und Guͤte, (beide ſind im Grunde
nur Eins) beweiſen. Handeln ſie im-
potent, in wuͤtenden Leidenſchaften, aus
M 2
[180] kaltem Geiz, in niedrig-vermeſſenem Stol-
ze; ſo ſind ſie die Thiere, die Daͤmo-
nen gegen ihre Mitmenſchen. Und wer
leiſtet den Europaͤern Buͤrgſchaft, daß es
ihnen nicht an mehreren Enden der Erde,
wie in Abeſſinien, China, Japan ergehen
koͤnne und ergehen werde? Je mehr ihre
Kraͤfte und Staaten in Europa altern, je
mehr ungluͤckliche Europaͤer einſt dieſen
Welttheil verlaſſen, um dort und hier mit
den Unterdruͤckten gemeinſchaftliche Sache
zu machen; ſo koͤnnen intellectuelle und
animaliſche Kraͤfte ſich in einer Weiſe ver-
binden, die wir jetzt kaum vermuthen.
Wer ſiehet in die vielleicht ſchon gepflanzte
Saat der Zukunft? Cultivirte Staaten
koͤnnen entſtehen, wo wir ſie kaum moͤg-
lich glauben; cultivirte Staaten koͤnnen
verdorren, die wir fuͤr unſterblich hielten.
4. Sollte in Europa auf Wegen, die
[181] wir zu beſtimmen nicht vermoͤgen, die Ver-
nunft einmal ſo viel Werth gewinnen, daß
ſie ſich mit Menſchenguͤte vereinigte: welch
eine ſchoͤne Jahrszeit fuͤr die Glie-
der der Geſellſchaft unſres gan-
zen Geſchlechtes! Alle Nationen wuͤr-
den daran Theil nehmen und ſich dieſes
Herbſtes der Beſonnenheit freuen.
Sobald im Handel und Wandel das Ge-
ſetz der Billigkeit allenthalben auf Erden
herrſchet, ſind alle Nationen Bruͤder; der
juͤngere wird dem aͤlteren, das Kind dem
verſtaͤndigen Greiſe mit dem was es hat
und kann, willig dienen. *)
5. Und waͤre dieſe Zeit undenkbar?
Mich duͤnkt, ſie muͤſſe ſelbſt auf dem
[182] Wege der Noth und des Calculs
erſcheinen. Selbſt unſre Aus-
ſchweifungen und Laſterthaten
muͤſſen ſie foͤrdern. In Verhaͤltniſſen
des Menſchengeſchlechts muͤßte keine Re-
gel, in ſeiner Natur keine Natur herr-
ſchen, wenn nicht durch innere Geſetze
dieſes Geſchlechts ſelbſt und den
Antagonismus ſeiner Kraͤfte dieſe
Periode herbeigebracht wuͤrde. — Gewiſſe
Fieber und Thorheiten der Menſchheit
muͤſſen mit Fortruͤckung der Jahrhun-
derte und Lebensalter abbrauſen. Europa
muß erſetzen was es verſchuldet, gut-
machen was es verbrochen hat; nicht aus
Belieben, ſondern nach der Natur der
*)
[183] Dinge ſelbſt: denn uͤbel waͤre es mit der
Vernunft beſtellt, wenn ſie nicht allenthal-
ben Vernunft, und das Allgemeingute
nicht auch das Allgemeinnuͤtzlichſte waͤre.
Die Magnetnadel unſrer Beſtrebungen
ſucht dieſen Pol; nach allen Irren und
Schwankungen wird und muß ſie ihn fin-
den. —
6. Daß alſo niemand aus dem
Ergrauen Europa's den Verfall
und Tod unſres ganzen Ge-
ſchlechts augurire! Was ſchadete es
dieſem, wenn ein ausgearteter Theil von
ihm unterginge? wenn einige verdorrete
Zweige und Blaͤtter des Saftreichen Bau-
mes abfielen? Andre treten in der Ver-
dorreten Stelle und bluͤhen friſcher empor.
Warum ſollte der weſtliche Winkel unſres
Nord-Hemiſphaͤrs die Cultur allein be-
ſitzen? und beſitzet er ſie allein?
[184]
7. Die groͤßeſten Revolutionen
des Menſchengeſchlechts hingen
bisher von Erfindungen, oder
von Revolutionen der Erde ab;
wer kennet dieſe in der unabſehlichen Folge
der Zeiten? Climate koͤnnen ſich aͤndern;
aus mehreren Urſachen kann manches be-
wohnte Land unbewohnbar, manche Colo-
nie zum Mutterlande werden. Wenige
neue Erfindungen koͤnnen viele aͤltere auf-
heben; und da uͤberhaupt die hoͤchſte An-
ſtrengung, (unlaͤugbar der Charakter faſt
aller Europaͤiſchen Staatskunſt) nothwendig
nachlaſſen oder uͤberſtuͤrzen muß; wer ver-
mag die Folgen hievon zu berechnen?
Wahrſcheinlich iſt unſre Erde ein organi-
ſches Weſen; wir kriechen auf dieſer Pom-
meranze wie kleine, kaum merkbare Inſek-
ten umher, quaͤlen einander und bauen
uns hie und da an. Wenn der Himmel
[185] faͤllt, ſagt das Spruͤchwort, wo bleiben die
Sperlinge? Wenn hier oder dort die Pom-
meranze modert, tritt vielleicht eine andre
Generation auf; ohne daß deßhalb die erſte
eben am intellectuellen Theil ihres Syſtems,
am Verſtande, untergegangen waͤre.
Was ſie eher hinrichten konnte, war Aus-
ſchweifung, Laſter, Misbrauch ihres Ver-
ſtandes. Gewiß ſind die Perioden der Na-
tur in Anſehung aller Geſchlechter auf
einander calculiret, daß wenn die Erde
Menſchen nicht mehr waͤrmen und naͤhren
kann, Menſchen ihre Beſtimmung auf ihr
auch erfuͤllt haben werden. Die Bluͤthe
welket, ſobald ſie ausgebluͤhet hat; ſie laͤſſet
aber auch Frucht nach. Waͤre alſo die
hoͤchſte Aeußerung intellectueller Kraft unſre
Beſtimmung, ſo foderte eben dieſe von
uns, dem kuͤnftigen, uns unbekannten
Aeon einen guten Saamen nachzulaſſen,
[186] damit wir nicht als weichliche Moͤrder
ſterben.
Monboddo ſieht unſere Erde als
eine Erziehungsanſtalt an, aus der unſre
Seelen gerettet werden. Der einzelne
Menſch kann und darf ſie nicht anders
anſehen: denn er kommt und geht vor-
uͤber. Auf der Stelle, auf welcher er
ohne ſein Wollen erſcheinet, muß er ſich
helfen, ſo gut er kann, und das Syſtem
ſeiner elementar- und vegetativen, ſei-
ner animaliſchen und intellectuellen Kraͤfte
ordnen lernen. Allmaͤlich ſterben ſie ihm
ab, bis der ausgebildete Geiſt verflieget.
— Auch hier iſt Monboddo's Syſtem
conſequent, das ich, unvollendet wie es
iſt, mancher andern kaufmaͤnniſch-po-
litiſchen Geſchichte der Menſchheit vor-
ziehe. Zu einer Geſchichte unſres Ge-
ſchlechts gehoͤren kaufmaͤnniſch-politiſche
[187] Conſiderationen nur als ein Bruchſtuͤck;
ihr Geiſt iſt ſenſus humanitatis,Sinn
und Mitgefuͤhl fuͤr die geſammte
Menſchheit.
[188]
[189]
[190]
[191]
[192]
Das
[193]
Zehnte Sammlung. N
[194]
[195]
[196]
123.
Von fruͤhen Jahren habe ich mich auch
in die fremdeſten Hypotheſen zu ſetzen ge-
ſucht, und ich kam faſt von allen mit dem
Gewinn einer neuen Seite der Wahrheit,
oder ihrer Beſtaͤrkung zuruͤck; darf ich
aber bekennen, daß ich der Hypotheſe von
einer radicalen boͤſen Grundkraft
im menſchlichen Gemuͤth und Wil-
len durchaus nichts Gutes abgewinnen
[197] kann. *) Ich laſſe ſie jedem Liebhaber;
meinem Verſtande bringt ſie kein Licht,
meinem Herzen keine freudige Regung.
Gewoͤhnlich leitet man die Hypotheſe
von zweien einander feindſeligen Grundur-
ſachen der Dinge von den Perſern her;
ihre boͤſe Anwendung aber ſollte man nicht
daher leiten. In der Phyſik wars offen-
bar Kindheit der Wiſſenſchaft, wenn
man die Nacht fuͤr boͤſe, den Tag fuͤr gut
erklaͤrte; die Geſetze, die beide hervor-
bringen, ſind gut und hoͤchſt einfach. In
der Moral ſind ſie es eben ſo ſehr; und
die Philoſophie der Perſer ging gerade
darauf hin, dies auszufuͤhren. Die Fin-
ſterniß, ſagte ſie, ſei Unform; das Licht,
[198] ſeiner Natur nach, bilde, leuchte und er-
waͤrme. Trotz aller Widerſtrebungen ſei
Ahriman ſchwach; Ormuzd werde und
muͤſſe ihn uͤberwinden. Ihre Religion fo-
derte alſo in Gedanken, Worten, Hand-
lungen zu dieſem Siegeskampf als zum ei-
gentlichen Geſchaͤft des menſchlichen Lebens
auf. Licht zu ſchaffen und fortzubreiten,
wirkſam zu ſeyn in jedem Guten, zu rei-
nigen, zu erfreuen ſey unſer Geſchaͤft.
Eben deshalb ſtehen wir zwiſchen Licht
und Dunkel. —
Das Chriſtenthum ging mit tiefer-
greifenden Regungen auf dieſem Wege
fort. Kein ſklaviſches Volk, das ſich ewig
unter dem Joch kruͤmmt und an Ketten
windet, ſollte nach ihm das Menſchenge-
ſchlecht ſeyn, ſondern ein freies, froͤhliches
Geſchlecht, das ohne Furcht eines Macht-
habenden Henkergeiſtes, das Gute des
[199] Guten wegen, aus innrer Luſt, aus ange-
bohrner Art und hoͤherer Natur thue, deſ-
ſen Geſetz ein koͤnigliches Geſetz der
Freiheit, ja dem eigentlich kein Geſetz
gegeben ſei, weil die Gottesnatur in
uns, die reine Menſchheit des Geſetzes
nicht bedoͤrfe.
Unverkennbar iſt dies der Geiſt des
Chriſtenthums, ſeine native Geſtalt und
Art. Nur dunkle barbariſche Zeiten ha-
ben den großen Lehnsherren des Boͤſen,
deſſen angebohrnes Erbvolk wir ſeyn, von
dem uns Gebraͤuche, Buͤßungen und Ge-
ſchenke zwar nicht wirklich, aber Ge-
wandsweiſe befreien koͤnnten, der Stu-
piditaͤt und Brutalitaͤt antichriſtlich wieder-
gegeben. Wer wollte in dieſe Miltonſche
Hoͤlle greifbarer Nacht und ſolider Finſter-
niß zuruͤckkehren? —
Ueber der Erde ſehen wir von dieſer
[200] maſſiven Urhoͤlle nichts. Wo Boͤſes iſt,
iſt die Urſache des Boͤſen Unart unſres
Geſchlechts, nicht ſeine Natur und Art.
Traͤgheit, Vermeſſenheit, Stolz, Irrthum,
Hartſinn, Leichtſinn, Vorurtheile, boͤſe Er-
ziehung, boͤſe Gewohnheit; lauter Uebel,
die vermeidlich oder heilbar ſind, wenn
neues Leben, Munterkeit zum Guten, Ver-
nunft, Beſcheidenheit, Billigkeit, Wahr-
heit, eine beßre Erziehung, beſſere Gewohn-
heiten von Jugend auf, einzeln und allge-
mein einkehren. Die Menſchheit ruft und
ſeufzet, daß dieſes geſchehe, da offenbar
jede Untugend und Untauglichkeit ſich ſelbſt
ſtraft, indem ſie keinen wahren Genuß ge-
waͤhret, und eine Menge Uebel auf ſich
und auf andre haͤufet. Offenbar ſehen
wir, daß wir dazu da ſind, dies Reich der
Nacht zu zerſtoͤren, indem niemand es fuͤr
uns thun kann und ſoll. Nicht nur tra
[201] gen wir die Laſt unſres Ungluͤcks; ſon-
dern unſre Natur iſt zu dieſem und zu
keinem andern Werk eingerichtet; es
iſt Zweck unſres Geſchlechts, der End-
punkt unſrer Beſtimmung, uns dieſer Un-
art zu entladen. Das ganze Univerſum
treibt, wenn uns die Fruͤchte des Werks
nicht locken, mit Neſſeln und Dornen. —
Was ſoll alſo Verzweiflung als unter ei-
nem nie abzuwerfenden Joch? wozu der
Traum einer von der Wurzel aus unwi-
derbringlichen Menſchheit?
Keine Hypotheſe kann uns werth ſeyn,
die unſer Geſchlecht aus ſeinem Standort
ruͤckt, die es bald an die Stelle der ge-
fallenen Engel ſtellt, bald unter ihre Vor-
mundſchaft und Oberherrſchaft erniedrigt.
Die gefallenen Engel kennen wir nicht,
aber uns kennen wir, und wiſſen, wenn
[202] und warum wir gefallen ſind? fallen und
fallen werden? —
Das Daſeyn jedes Menſchen iſt mit
ſeinem ganzen Geſchlecht verwebet. Sind
unſre Begriffe uͤber unſre Beſtimmung
nicht rein; was ſoll dieſe und jene kleine
Verbeſſerung? Sehet ihr nicht, daß die-
ſer Kranke in verpeſteter Luft liegt? rettet
ihn aus derſelben und er wird von ſelbſt
geneſen. Beim Radicaluͤbel greift die
Wurzeln an; ſie tragen den Baum mit
Gipfel und Zweigen.
Das Werk iſt groß; es ſoll aber auch
ſo lange fortgeſetzt werden, als die Menſch-
heit dauret; es iſt das eigenſte und ein-
zige, das belohnendſte und froͤhlichſte Ge-
ſchaͤft unſres Geſchlechtes.
Und wie wird dies Geſchaͤft betrieben?
Blos durch Erweiterung und Verfeinerung
der Verſtandeskraͤfte? Intelligenz iſt
[203] des Menſchen edler Vorzug, das unent-
behrliche Werkzeug ſeiner Beſtimmung.
Wiſſenſchaft alles Wiſſenswuͤrdigen, Ver-
ſtand alles Brauchbaren, Schoͤnen und
Edeln iſt erleuchtender Sonnenglanz in der
dunkeln Dunſtkugel der Erde; er darf und
muß ſich ſoweit erſtrecken als er ſich er-
ſtrecken kann; vom letzten Nebelſtern uͤber
die geſammte Natur an die Grenzen der
werdenden Schoͤpfung.
Verſtand iſt der Gemeinſchatz des menſch-
lichen Geſchlechts; wir alle haben daraus
empfangen, wir alle ſollen unſre beſten Ge-
danken und Geſinnungen hineintragen. Wir
rechnen mit Combinationen der Vorzeit;
die Nachwelt ſoll mit unſern Combinatio-
nen rechnen, und allerdings geht dieſer
Calcul ins Große, Weite, Unendliche hin-
aus. Wer unternimmts zu ſagen, wohin
das Menſchengeſchlecht in ſeinen fortgeſetz-
[204] ten, auf einander gebaueten Bemuͤhungen
gelangen koͤnne und vielleicht gelangen
werde? Jede neuerlangte Potenz iſt die
Wurzel zu einer Zahlloſen Reihe neuer
Potenzen.
Verſtand indeſſen thuts nicht allein;
auch den Daͤmonen ſchreiben wir einen
daͤmoniſchen Verſtand zu; der unſre ſei
menſchlich, von thaͤtiger Guͤte begleitet.
Blicke umher. Wie viel wahre und echte
Wiſſenſchaft iſt ungebraucht in der Welt !
wie viel Verſtand liegt unterdruͤckt und
begraben! wie viel andrer wird mißge-
brauchet! Scheinwahrheit, ſtarres Vorur-
theil, heuchelnde Luͤge, traͤge Luſt, Ver-
nunftloſe Willkuͤhr verwirren unſer Ge-
ſchlecht. Ein geſtaͤrkter großer und
guter Wille alſo, Uebungen von Ju-
gend auf, Kampfpreiſe und Gewoͤhnung,
daß uns das Schwerſte zum Leichteſten
[205] werde, und vor allem jenes unerlaͤßliche
Beſtreben nach dem Nothwendigen,
was unſer Geſchlecht fodert, mit Vorbei-
laſſung alles Entbehrlichen und Schlech-
ten; ſie allein koͤnnen den Verſtand zum
Guten geltend machen, ihm aufhelfen
und das Werk foͤrdern. Wie lange haben
wir uns mit dem Unnuͤtzen beſchaͤftigt?
Zeigen uns nicht Jahrtauſende der Men-
ſchengeſchichte unſern Unverſtand, unſre
kindiſche Trivialitaͤt und Feigheit?
Einheit unſrer Kraͤfte alſo, Vereinigung
der Kraͤfte mehrerer zu Befoͤrderung Eines
Ganzen im Wohl Aller — mich duͤnkt,
dies iſt das Problem, das uns am Herzen
liegen ſollte, weil Jedem es ſein innerſtes
Bewußtſeyn wie ſein Beduͤrfniß ſtille und
laut ſaget.
„Geſetzgeber, Erzieher, Freunde der
Menſchheit, ſagt ein edler Mann unſrer
[206] Nation, *) laſſet uns unſre Kraͤfte verei-
nigen, um dem Menſchen zu beweiſen, daß
in den unendlich- verſchiedenen La-
gen des Lebens er das innere Gluͤck nir-
gend finde, als in der wirkſamen und
thaͤtigen Einheit ſeines Charak-
ters. Strebend nach eigner Vollkommen-
heit, die Vorſchriften einer allgemeinen
und wohlthaͤtigen Vernunft frei und ſtand-
haft befolgend wird er Verirrungen, Ver-
[207] brechen, inneren Vorwuͤrfen entgehen. Als
Menſch und Buͤrger wird er die Gluͤckſe-
ligkeit im Zeugniß ſeines Gewiſſens finden.
So bringt der Menſch die unendliche
Verſchiedenheit ſeiner Empfin-
dungen, Gedanken, Beſtrebungen
zur Einheit eines wahren, reinen,
wirkſamen moraliſchen Charak-
ters.“
Und, darf ich dies edle Bild weiter
hinauspraͤgen: ſo liegt im Menſchenge-
ſchlecht eine unendliche Verſchiedenheit von
Empfindungen, Gedanken, Beſtrebungen
zur Einheit eines wahren, wirkſamen,
rein-moraliſchen Charakters, der dem
ganzen Geſchlecht gehoͤret. Wie
jede Claſſe von Naturgeſchoͤpfen ein eignes
Reich ausmacht, auf andre Reiche bauend,
in andre hineingreifend: ſo das Menſchen-
geſchlecht mit dem beſondern und hoͤchſten
[208] Abzeichen, daß die Gluͤckſeligkeit Aller von
den Beſtrebungen Aller abhaͤngt und in
ihm bei der groͤßeſten Verſchiedenheit in
dieſer ſehr erhabnen Einheit allein
ſtatt finde. Wir koͤnnen nicht gluͤcklich
oder ganz wuͤrdig und moraliſch-gut ſeyn,
ſo lange z. B. Ein Sklave durch Schuld
der Menſchen ungluͤcklich iſt: denn die
Laſter und boͤſe Gewohnheiten, die ihn un-
gluͤcklich machen, wirken auch auf uns
oder kommen von uns her. Die Anmaaſ-
ſung, der Geiz, die Weichlichkeit, die alle
Welttheile betruͤgt und verwuͤſtet, haben
ihren Sitz bei und in uns; es iſt die-
ſelbe Herzloſigkeit, die Europa wie Ame-
rika unter dem Joch haͤlt. Dagegen auch
jede gute Empfindung und Uebung eines
Menſchen auf alle Welttheile wirket. Die
Tendenz der Menſchennatur faſſet
ein Univerſum in ſich, deſſen Aufſchrift
iſt:
[209] iſt: „Keiner fuͤr ſich allein, jeder fuͤr Alle;
ſo ſeyd ihr alle euch einander werth und
gluͤcklich.“ Eine unendliche Verſchiedenheit,
zu einer Einheit ſtrebend, die in allen liegt,
die alle foͤrdert. Sie heißt, (ich wills
immer wiederholen,) Verſtand, Billigkeit,
Guͤte, Gefuͤhl der Menſchheit.
Zehnte Sammlung. O
[210]
[211]
[212]
124.
Und warum verhelen wir eine Norm der
Ausbreitung des moraliſchen Geſetzes der
Menſchheit, die uns ſo nahe lieget? Das
Chriſtenthum gebietet die reinſte
Humanitaͤt auf dem reinſten We-
ge. Menſchlich und fuͤr jedermann faß-
lich; demuͤthig, nicht ſtolz-avtonomiſch;
ſelbſt nicht als Geſetzſondern als Evan-
gelium zur Gluͤckſeligkeit Aller gebietet und
giebt es verzeihende Duldung, eine das
[213] Boͤſe mit Gutem uͤberwindende thaͤtige
Liebe. Es gebietet ſolche nicht als einen
Gegenſtand der Spekulation, ſondern giebt
ſie als Licht und Leben der Menſchheit,
durch Vorbild und liebende That, durch
fortwirkende Gemeinſchaft. Es dienet
allen Claſſen und Staͤnden der Menſch-
heit, bis in jeder jedes Widrige zu ſeiner
Zeit von ſelbſt verdorret und abfaͤllt. Der
Misbrauch des Chriſtenthums hat Zahllo-
ſes Boͤſe in der Welt verurſacht; ein Er-
weis, was ſein rechter Gebrauch vermoͤge.
Eben daß, wie es gediehen iſt, es ſo viel
gutzumachen, zu erſetzen, zu entſchaͤdigen
hat, zeigt nach der Regel, die in ihm liegt,
daß es dies thun muͤſſe und thun werde.
Der Labyrinth ſeiner Misbraͤuche und Irr-
wege iſt nicht unendlich; auf ſeine reine
Bahn zuruͤckgefuͤhrt kann es nicht anders
als zu dem Ziel ſtreben, den ſein Stifter
[214] ſchon in dem von ihm gewaͤhlten Namen
„Menſchenſohn“ (d. i. Menſch) und
im Gerichtsſpruch des letzten Tages aus-
druͤckte. Wenn die ſchlechte Moral ſich
an dem Satz begnuͤgt: „Jeder fuͤr ſich,
Niemand fuͤr alle!“ ſo iſt der Spruch:
„niemand fuͤr ſich allein, jeder fuͤr Alle!“
des Chriſtenthums Loſung.
[215]
[216]
[]
Inhalt.
- Brief 114. Vom Wirken der Voͤlker auf ein-
ander. Seite 5 - Neger-Idyllen. Die Frucht
am Baume. S. 15 - Die rechte Hand. S. 18
- Die Bruͤder. S. 21
- Zimeo. S. 26
- Der Geburtstag. S. 34
- Br. 115. Selbſtvertheidigung die Bruſtwehr
der Voͤlker. Falſche Geſichts-
punkte und Maasſtaͤbe zu Schaͤ-
tzung der Nationen. Edlere
Menſchengeiſter. S. 38 - Nachſchrift. Las Caſas.
Fenelon. Die beiden St.
Pierre. Quacker. Mon-
tesquieu. Giambattiſta
Vico. S. 47 - Br. 116. Grundſaͤtze zu einer Naturgeſchichte
der Menſchheit. De Pages,
le Vaillants Reiſen. S. 70 - Die Waldhuͤtte. Eine Mißionser-
zaͤhlung aus Paraquay. S. 84 - Br. 117. Verderbliche Grundſaͤtze der Voͤl-
ker- und Kriegsgeſchichte. S. 92 - Der Hunnenfuͤrſt. S. 99
- Das Kriegsgebet. S. 101
- Kahira. S. 102
- Das Kriegsrecht. S. 105
- Das Seerecht. S. 107
- Der betrogne Unterhaͤndler. S. 109
- Br. 118. Zum ewigen Frieden, eine Iroke-
ſiſche Anſtalt. Andre Anſtalten
zu demſelben Zweck. S. 111 - Al-Hallils Rede an ſeinen Schuh. S. 121
- Br. 119. Sieben Geſinnungen der großen
Friedensfrau. S. 125 - Br. 120. Ob zu Geſinnungen dieſer Art
eine beſtimmte Foͤrmlichkeit ge-
hoͤre? S. 143 - Der Fuͤrſt. S. 147
- Ruhm und Verachtung. S. 150
- Al-Hallils Klagegeſang. S. 153
- Br. 121. Vom Geiſt der Voͤlkergeſchichte.
Geſchichte der Begebenheiten,
klug oder ſtupid erzaͤhlet. Ma-
chiavells Geiſt der Geſchichte.
Geſchichte zur Ehre Gottes.
Geſchichte nach Staatsplanen.
Geſchichte zur kuͤnftigen beſten
Form der Staaten. Vom ein-
zigen wahren Geiſt der Ge-
ſchichte. S. 156 - Br. 122. Ob man zu einer Geſchichte der
Menſchheit den Ausgang der
Dinge wiſſen muͤſſe? Mon-
boddo's Geſchichte der
Menſchheit. Betrachtungen und
Ausſichten. S. 173 - Der Geiſt der Schoͤpfung. S. 188
- Die Zeitenfolge. S. 190
- Das Gegengift. S. 193
- Br. 123. Vom radicalen Boͤſen in der
Menſchheit. Syſtem der Per-
ſer, des Chriſtenthums. Ob
Verſtandeskraͤfte allein unſre
Beſtimmung zu erreichen ver-
moͤgen? Einheit der Kraͤfte
und des Zwecks unſres ganzen
Geſchlechtes. S. 196 - Freude. S. 210
- Br. 124. Tendenz des Chriſtenthums. S. 212
- Der Himmliſche. S. 215
blique ou conſiderations ſur le ſort des
hommes dans les differentes epoques de
l'hiſtoire. Amſterd. 1772. behandelt ein
Thema, dem nicht gnug Aufmerkſamkeit ge-
widmet werden kann. Wozu die Geſchichte,
wenn ſie uns nicht das Bild der gluͤcklichen
oder ungluͤcklichen, der verfallenden oder ſich
aufrichtenden Menſchheit zeiget?
le Vaillants neuere Reiſen ins Innere
von Afrika, Berl. 1796. mit Reinhold
Forſters Anmerkungen. „Nicht nur am
Vorgebuͤrge der guten Hoffnung,
ſagt dieſer ſchaͤtzbare Gelehrte, (Th. 1. S. 69.)
ſondern auch in Nordamerika, an der
Hudſonsbay, in Senegal, am Gam-
bia, in Indien, kurz allenthalben wohin
Europaͤer kommen, betriegen ſie die armen
Eingebohrnen im Handel. Beſonders macht
England, das neue Karthago, den Namen
kungen daruͤber findet man in Reinhold
Forſters Anmerkungen wie zu mehreren
ſo zu Hamiltons Reiſe um die Welt.
Berlin 1794.
verabſcheuet.“ — So Forſter. Und waͤre
es mit dem Betriegen allein ausgerichtet!
Der Hefen von Europa hat Gaͤhrungen ge-
macht und erhaͤlt Gaͤhrungen in allen Welt-
theilen. A. d. H.
ſchichtſchreiber die Namen derer, die 1572
zum Bartholomaͤusfeſt ihre Haͤnde nicht bie-
ten wollten: la cour ordonna dans toutes
les provinces les mêmes maſſacres qu'à
Paris; mais pluſieurs commandans refuſe-
rent d'obeir. Vn Sr Herem en Auvergne,
vn la Guiche à Macon, vn vicomte
d'Orte à Bayonne et pluſieurs autres
ecrivirent à Charles IX. la ſubſtance de
ces paroles: qu'ils periroient pour ſon
ſervice, mais qu'ils n'aſſaſſineroient per-
ſonne pour lui obeir. Was dieſe Maͤnner
mit geſunder Hand ſchrieben, zeigte der
Neger.
que Philippe II. donna le coup de la
mort par vn mot de reprimande: Car-
dinal, lui dit-il, ſouvenés-vous que
je ſuis le Preſident. Eſpinoſa en
mourut de douleur quelques jours après.
Dans vne ſyncope qui lui prit, on ſe preſſa
tant de l'ouvrir pour l'embaumer, qu'il
porta la main au raſoir du Chirurgien;
et que ſon coeur palpita encore après l'ou-
verture de l'eſtomac. La crainte qu'on
avoit que ce Cardinal ne revint en ſanté,
ſit hater ſa mort, pour contenter le Prince,
les Grands etc. Memoir. hiſtoriques po-
litiques par Amelot de la Houſſaye.
T. I. p. 210.
blik, deren Unabhaͤngigkeit im Jahr 1738
von den Englaͤndern anerkannt und beſtaͤtigt
werden mußte.
Die Quacker nennen ſich Freunde.
Stelle in Home's Geſchichte der Menſch-
heit, der es bei großem Reichthum der Ma-
terialien in mehreren Stuͤcken an veſten
Grundſaͤtzen mangeln doͤrfte. — In den
meiſten Commerz- und Eroberungsreiſen wer-
den die Voͤlker auf gleiche Weiſe geſchichtet.
A. d. H.
zur Geſchichte der Menſchheit auch unter
uns bekannt ſind, des D. Tuckers, eines
eifrigen Staatsſchriftſtellers true baſis of
civil government las, ſagte er: when the
benevolence of this writer is exalted into
charity, when the ſpirit of his religion
(er war ein Geiſtlicher, Dechant von Briſtol,)
phy, he will aknowledge in the
moſt intutored tribes ſome glim-
merings of humanity, and ſome
deciſive indications of a moral
nature. Manchem Schriftſteller moͤchte man
dieſen Geiſt der Anerkennung der Menſch-
heit im Menſchen wuͤnſchen. A. d. [S].
den Aufſaͤtzen ſeines Zoͤglings, des Herzogs
von Bourgogne iſt dieſes erſichtlich.
nachgedruckt à la Haye 1747.
ſchriften nicht viel; bei unſern Urenkeln,
glaubte er, wuͤrden ſie ganz außer Mode
ſeyn. Als unter lautem Beifall ein derglei-
chen Gedicht vorgeleſen ward, und man ihn
fragte, was er von dieſem Kunſtwerk denke?
Eh mais, cela eſt encore fort beau, ant-
wortete er und meinte, dies encore werde
nicht ewig dauren. S. Eloge de St. Pierre
von d'Alembert.
l'Abbé de St. Pierre (Charles Jrenée Caſtel)
T. 1 - 16. Rotterd. 1741.
bon, Altenb. 1774. Vorrede S. 3.
wartet jetzt von ihm ein Werk, Harmonie
de la Nature pour ſervir aux elemens de
la Morale, das nicht anders als in einem
guten Geiſt abgefaßt ſeyn kann. Waͤhrend
der Revolution hat er ſich weiſe betragen.
perdu ſes titres; Montesquieu les a re-
auch dagegen ſage, die Menſchheit viel
ſchuldig. Eine Reihe von Aufſaͤtzen zur Ge-
ſchichte, zur Philoſophie und Geſetzgebung,
zur Aufklaͤrung des Verſtandes u. f. bald in
ſpottendem bald in lehrendem Ton ſind ihr
geſchrieben. Seine Alzire, Zaire u. f.
deßgleichen. A. d. [S].
herausgegeben 1725.
mie iſt im Deutſchen durch eine Ueberſetzung
bekannt; GalantiBeſchreibung beider
Sicilien desgleichen. Des erſten Storia
del Commercio della gran Brettagna von
Cary, und ſeine Lehrbuͤcher zeigen eben
ſo viel Kaͤnntniſſe als philoſophiſchen und
buͤrgerlichthaͤtigen Geiſt. Auch Montes-
quieu hat er mit Anmerkungen herausge-
geben. A. d. [S].
eine beſondre Abhandlung entworfen, die aber
hieher nicht gehoͤret. A. d. S.
Menſchengeſchlechts hie und da, hierin und
darin, als Regiſter, als Repertorien zu ge-
brauchen ſind, wollte der Verf. dieſes Brie-
fes nicht laͤugnen; nur ſie ſind, als ſolche,
noch keine Geſchichte. A. d. S.
1783.
ſters und le Vaillants, vom letzten in-
ſon-
ſaͤtze, die in ihnen herrſchen, wie Menſchen
und Thiere zu betrachten und zu behandeln
ſind, geben eine Hodopaͤdie, die inſon-
derheit den Englaͤndern zu mangeln ſcheinet.
Ihre Urtheile uͤber fremde Nationen verra-
then immer den diviſum toto orbe Bri-
tannum, wo nicht gar den monarchiſchen
Kaufmann; da ein Reiſebeſchreiber eigent-
lich kein ausſchließendes Vaterland haben
muͤßte. A. d. S.
ſter geben? auch nur, wenn er ein ſchon ge-
drucktes Verzeichniß von Reiſebeſchreibungen
mit ſeinen Urtheilen begleiten wollte.
A. d. S.
ſeiner Geſchichte der Abiponen Th. 1. S. 113.
Wien 1788. Eine aͤhnliche erzaͤhlt er S. 83.
u. f., die eine gleiche Darſtellung verdiente.
genroͤthe.
tes; er hoͤrte aber weislich auf.
ihren beſten Zeiten leſe man den Lipſius
(doctrina politica mit ihrem Commentar,
den Grotius(de jure belli et pacis),
oder auch den guten Montague (B. 1.
K. 5. 6.) Sie iſt fuͤr unſre Zeiten ſehr be-
ſchaͤmend. A. d. H.
rika. S. 160.
ſind aus einer kleinen Schrift von vier Bo-
gen gezogen, Reden al Hallils, Stendal
1781. Der Verfaſſer, den ich zu kennen
wuͤnſchte, verzeihet gewiß, daß ſie hier in
einer veraͤnderten Geſtalt erſcheinen.
A. d. S.
ſetzt in der Sammlung von Aufſaͤtzen,
die groͤßtentheils wichtige Puncte
der Staatswiſſenſchaft betreffen.
Liegnitz, 1776. Der Verfaſſer erſtgenannter
Abhandlung hat ihr folgende Stelle aus
Buffou vorgeſetzt: „Dieſe Zeiten, wo der
Menſch ſein Erbtheil verliert, dieſe barbari-
ſchen Jahrhunderte, wo alles umkommt, ha-
ben jederzeit den Krieg zu ihrem Vorlaͤufer,
und fangen mit Hungersnoth und Entvoͤlke-
Menge etwas vermag, der blos in der Ver-
einigung und Verbindung mit Seinesgleichen
ſtark iſt, der nicht anders als durch den Frie-
den gluͤcklich iſt, hat die Wuth, ſich zu ſei-
nem Ungluͤck zu bewafnen, und zu ſeinem
Untergange zu ſtreiten. Gereizt durch einen
unerſaͤttlichen Geiz, verblendet durch eine
noch unerſaͤttlichere Ehrſucht entſagt er den
Empfindungen der Menſchlichkeit, wendet alle
ſeine Kraͤfte gegen ſich ſelbſt an, bemuͤhet
und verurſacht endlich ſeinen wirklichen Un-
tergang. Und nach dieſen Blut- und Mord-
tagen, wenn der Nebel des Ruhms ver-
ſchwunden iſt, ſo ſieht er mit einem trauri-
gen Auge die Erde verwuͤſtet, die Kuͤnſte be-
graben, die Nationen geſchwaͤcht, ſein eigen
Gluͤck zu Grunde und ſeine wahre Macht
vernichtet.
Friedensſchluͤſſen und bei der Einweihung ih-
rer Friedensfrau.
Dieſer Theil des großen Werks waͤre wegen
der geſammleten Thatſachen eines Deutſchen
Auszuges gewiß werth. A. d. S.
mals an le Vaillants neuere Reiſe. Der
Unterſchied, den er zwiſchen Nationen, die
von Europaͤern verderbt ſind oder mißhandelt
bemerkt, iſt ſchneidend. Seine Grundſaͤtze,
wie mit dieſen umzugehen ſei, ſind auf der
ganzen Erde anwendbar.
die Rede: denn dieſe iſt Krankheit.
A. d. S.
jutor von Dalberg. In dieſem Entwurf
ſowohl, als in der Schrift vom Bewußt-
ſeyn, als allgemeinem Grunde der
Weltweisheit, (Erfurt 1793. in den
Betrachtungen uͤber das Univer-
ſum (Erfurt 1777.) und in jedem kleinſten
Aufſatz iſt das Thema dieſer Schrift l'vnité
compoſée, de l'inſini Inhalt und Sinnbild,
und le caractère vrai, pur, energique et
moral Charakter.
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CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Briefe zu Beförderung der Humanität. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bntx.0